Wirtschaftswoche Ausgabe vom 10.11.2014 (Vorschau)
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10.11.2014|Deutschland €5,00
4 6
4 1 98065 805008
Störung
Bericht zum Stillstand der Nation
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Einblick
Die GDL legt wieder einmal die Republik lahm.
Der Streik ist auch ein Symbol: Es herrscht die
Unbeweglichkeit. Von Miriam Meckel
Lähmung des Landes
FOTO: FRANK SCHEMMANN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE
Einheit ist ein großes Wort. Nicht
nur in diesen Tagen, in denen der
25-jährige Jahrestag der Maueröffnung
groß gefeiert wird. Einheit
ist auch in der Tarifpolitik ein großes
Wort, das die Bundesregierung zu einem
Gesetz formen will. Tarifpolitik soll endlich
wieder eine übersichtliche Sache
werden. Die Einheitslösung für alle muss
her, damit fährt man in Deutschland eigentlich
immer gut.
Gar nicht fährt zuweilen, wer auf die Bahn
angewiesen ist. Da steht wieder alles still.
Die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer
(GDL) hat der Tarifeinheit und dem Gesetzesentwurf
von Bundesarbeitsministerin
Andrea Nahles den Kampf angesagt und legt
mit ihren Streiks die Republik lahm. Sie trifft
die Menschen und die globalisierte Wirtschaft
an ihrer empfindlichsten Stelle: der
Beweglichkeit.
Das ist mehr als ärgerlich. Hunderttausende
stehen an den Gleisen herum, müssen
auf andere Verkehrsmittel ausweichen. Die
Kosten durch die Produktionsunterbrechungen
können sich nach Schätzungen des
Instituts der deutschen Wirtschaft auf 100
Millionen Euro pro Tag addieren. So weit die
realwirtschaftliche Dimension.
Die symbolische Dimension reicht weiter.
Stillstand ist nicht nur Streikfolge, sondern
Programm bei allen Beteiligten. Der Streik
ist nur ein Teil einer Mobilitätsstörung, die
das Land seit Längerem befallen hat.
Zum Ersten: Der Entwurf des Tarifeinheitsgesetzes
setzt da an, wo politische Lösungen
der großen Koalition immer ansetzen: beim
großen Ganzen. Eine Lösung soll für alle gelten,
die Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern
für alle entscheiden. Einfacher mag
das sein, muss aber nicht zur besten Lösung
führen. In der Tarifpolitik ist es wie im Bundestag:
Die Opposition wird bis zur Unkenntlichkeit
geschrumpft. Mit Wettbewerb
und dem produktiven Streit im Pluralismus
hat das wenig zu tun. Widerstand verschwindet
in der Dehnungsfuge zähflüssigen Regierens.
Es ist ein Zeichen für Unbeweglichkeit,
wenn nurdie großeLösung gesuchtwird, die
meist auf den kleinsten gemeinsamen Nenner
zusammenschnurrt. Das Gesetz wird
übrigens mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit vor dem Bundesverfassungsgericht
in Karlsruhe landen.
Zum Zweiten: Was hat die Bahn der GDL
zuletzt angeboten, um sie derart auf die Zinnen
zu schicken? Aus Gewerkschaftskreisen
verlautet, es sei um eine Unterwerfungsklausel
gegangen. Nach dem Prinzip: Wenn die
Bahn sich mit der Konkurrenzgewerkschaft
einigt und die GDL das Angebot ablehnt, gilt
für sie Friedenspflicht. Sie darf dann nicht
mehr streiken. Übersetzt heißt das nicht:
friss oder stirb. Es heißt:friss und stirb.
BEHARRUNGSVERMÖGEN
Zum Dritten: Das Streikrecht ist ein hohes
Gut, aber die GDL missbraucht es durch
Zweckentfremdung. Der Streik ist nicht
mehr Mittel zum Zweck des Tarifabschlusses,
er ist längst auf eine höhere Zielebene
gehoben. GDL-Chef Claus Weselsky will mit
seiner Gewerkschaft künftig nicht mehr nur
für die Lokführer, sondern für alle Eisenbahner
verhandeln. Er spielt sein institutionelles
Machtspiel auf der Klaviatur eines Freiheitsrechts
und setzt damit ein Zeichen der Verbohrtheit
und des mangelnden Einigungswillens.
Auch hier: Unbeweglichkeit.
Für den Standort Deutschland sind das
keine guten Signale, nicht nach innen und
nicht nach außen an die Welt, der wir gelegentlich
gerne erläutern, wie die Dinge laufen
sollten. Es ist missvergnüglich, wie Gewerkschaften,
Politik und Wirtschaft nur
noch im Beharren die eigenen Grenzen
überschreiten. Auf Dauer muss das nicht gut
gehen, wie ein historisches Beispiel zeigt:
der „Winter of Discontent“ in Großbritannien
1978/79, heute rückblickend gedeutet
als tief greifender gesellschaftlicher Umbruch
und als Ende des Nachkriegskonsenses.
Was auch damals als Machtspiel zwischen
Regierung und Gewerkschaften
startete, brachte die Lähmung des Landes.
Und dann kam der wirtschaftspolitische
Umsturz. Margaret Thatcher entmachtete
die Gewerkschaften und läutete eine fast
20-jährige Ära konservativen Regierens ein.
In Deutschland ist die CDU schon dran.
Nicht nur für Lokführer und Gewerkschaftschefs
gilt: Vorsicht an der Bahnsteigkante. n
WirtschaftsWoche 10.11.2014 Nr. 46 3
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Überblick
VORGESTELLT
Chefredakteurin Miriam Meckel
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Menschen der Wirtschaft
6 Seitenblick Rikscha versus Uber und Co.
8 DeinBus: Fernbus-Pionier beantragt
Insolvenzverfahren
9 Freihandelsabkommen: Chemiemanager
skeptisch | VW: Brennstoffzellen nur Show
10 Interview: Sparkassen-Präsident Georg
Fahrenschon lehnt Strafzinsen ab | Tarifgesetz:
Gewerkschaften bereiten Klage vor
12 Start-ups: Die besten Gründer-Unis |
Handel: Hoffen auf Weihnachten | Drei
Fragen zum Informatikunterricht
14 Bilfinger: Neuer Umbau | Bilster Berg: Streit
ums Geld | Valeo: Zuwachs in Deutschland
16 Chefsessel | Start-up My Schoko World
18 Chefbüro Ulrich Walter, D2-Astronaut und
Professor für Raumfahrttechnik
Titel Störfall Deutschland
Die Blockade des Bahnverkehrs ist ein
Symbol für den Stillstand des ganzen
Landes. Egoismus und Reformstau
greifen um sich, wirtschaftliche und
gesellschaftliche Probleme nehmen zu,
die Politik ruht sich auf den Erfolgen
der Vergangenheit aus. Seite 20
Politik&Weltwirtschaft
20 Störfall Der Bahnstreik wirft ein Schlaglicht
auf die Blockaden des Landes | Welche
Schäden die GDL schon angerichtet hat
28 Europa Als Wettbewerbskommissarin ist
Margrethe Vestager überaus mächtig
29 Global Briefing
31 Essay Das Ende der Geschichte ist auch
25 Jahre nach der Entdeckung durch Francis
Fukuyama nicht in Sicht
34 Thailand Die politische Lage im Königreich
ist weiter hochexplosiv
37 Berlin intern
Der Volkswirt
38 Kommentar
39 Konjunktur Deutschland
40 Pro & Contra Ulrich van Suntum und
Thorsten Polleit streiten über Negativzinsen
42 Nachgefragt Ökonom Jesús Huerta de Soto
über Deflation in der Euro-Zone
Unternehmen&Märkte
48 Tönnies Wer ist eigentlich Neffe Robert, der
seinem mächtigen Onkel Clemens das
Sagen im Fleischkonzern streitig macht? |
Interview: Familienunternehmen-Experte
Arist von Schlippe über Streitvorbeugung
58 HypoVereinsbank Die Münchner machen
fast die Hälfte ihrer Filialen dicht – ein hochriskantes
Experiment
62 International Bankers Forum Mitglieder
klagen über mangelnde Transparenz
64 Air Berlin So tickt der künftige Vorstandschef
Stefan Pichler
66 Interview: Stefan Winners Wie der Digitalchef
des Burda-Verlags Media-Markt und
Saturn angreifen will
68 Serie: Mauerfall (II) Drei Unternehmen,
die dem Osten Mut machen
Duell der Metzger
Innenansichten eines Familienkrachs: Beim milliardenschweren
Tönnies-Konzern kämpft Onkel gegen Neffe vor Gericht um die
Hackordnung bei Deutschlands größtem Schlachter. Seite 48
Vorhut im All
Zum ersten Mal landet eine
Sonde auf einem Kometen – die
Mission ist ein Testlauf für
kommerzielle Projekte, um
wertvolle Rohstoffe im Weltraum
zu schürfen. Seite 92
TITELILLUSTRATION: FOTOLIA
4 Nr. 46 10.11.2014 WirtschaftsWoche
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Nr. 46, 10.11.2014
FOTOS: FOTOLIA, MARKUS SCHWALENBERG FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, MONTAGE: DMITRI BROIDO, FRANK BEER FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, ILLUSTRATIONEN: CYPRIAN LOTHRINGER, CARLO GIAMBARRESI
In Zukunft
CEO
Sie sind jung, talentiert,
zielstrebig: Jenseits der
Diskussion über die Quote
machen hoch qualifizierte
Frauen unbeirrt Karriere.
Auf welche Top-
Managerinnen Sie
achten sollten.
Seite 96
Krisenanlagen
Fonds investieren in Technik gegen Hacker- und Terror-Attacken,
sie kaufen Katastrophen-Bonds und Aktien von Ebola-Forschern.
Selbst in Russland bieten einige Papiere Chancen. Seite 104
Lob des Imitats
Originalität wird überschätzt, behauptet
der Management-Professor Oded
Shenkar. Unternehmen, die gut kopieren,
statt Neues zu erfinden, werden in
Zukunft Erfolg haben. Seite 126
72 Spezial Mittelstand Digitalisierung |
Factoring | Weiterbildung
86 Serie: Fit for Future (V) Wie Mittelständler
Firmenintegrationen meistern
Technik&Wissen
88 Recycling Wie aus Müll hochwertige neue
Produkte und wertvoller Brennstoff werden
92 Raumfahrt Mit der Rosetta-Mission landet
erstmals eine Sonde auf einem Kometen
94 Auto Das Start-up Local Motors druckt
komplette Pkws nach Kundenwunsch
95 Valley Talk
Management&Erfolg
96 Top-Managerinnen Während Politiker und
Unternehmen noch über die Frauenquote
streiten, schaffen erfolgreiche Managerinnen
Fakten. Drei Frauen im Porträt
Geld&Börse
104 Fonds Wie Sie in Krisensituationen investieren
und dabei moralisch sauber bleiben
110 Pimco Andrew Balls soll helfen, Starinvestor
Bill Gross zu ersetzen
114 Börsengang Autozulieferer Hella attraktiv
116 Steuern und Recht Schwarzgeld Luxemburg
| Scheidungskosten | Patientenverfügung
| Elternunterhalt | Kindergeld
118 Geldwoche Kommentar: Strafzinsen |
Trend der Woche: Goldpreis | Dax-Aktien:
RWE, E.On | Hitliste: Öl | Aktien: Daimler |
Anleihe: Türkei in Dollar | Fonds: DWS
Global Value | Zertifikate: Börse Japan
Perspektiven&Debatte
126 Interview: Oded Shenkar Innovationen
werden gemeinhin überbewertet, sagt der
Forscher der Ohio State University
130 Kost-Bar
Rubriken
3 Einblick, 132 Leserforum,
133 Firmenindex | Impressum, 134 Ausblick
n Lesen Sie Ihre WirtschaftsWoche
weltweit auf iPad oder iPhone:
In dieser Ausgabe erzählen drei
Kandidatinnen für den CEO-Posten
das Geheimnis ihres
Erfolges. Zudem zeigen
wir das Netzwerk von
Schalke-Boss Clemens
Tönnies in Bildern.
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n ManagementCup In unserem
Planspiel winken Preise in Höhe von
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WirtschaftsWoche 10.11.2014 Nr. 46 5
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Seitenblick
TAXI
Straßenkampf
Indiens traditionelle Rikschas müssen jetzt gegen neue
Taxidienste konkurrieren. Das amerikanische
Unternehmen Uber mischt auch in Schwellenländern
die Mitfahrbranche auf.
6000Rikschas werden im
indischen Kalkutta noch von Hand gezogen. Ein
drohendes Verbot dieser Gefährte konnte die
Gewerkschaft der Rikscha-Zieher bisher verhindern.
6,50Euro verdient ein Rikscha-
Zieher – am Tag. Mit ihm kommen Reisende
im verstopften Kalkutta noch heute am schnellsten
ans Ziel. Doch neue Angebote wie der US-Taxischreck
Uber breiten sich auch in Indien aus.
Der lokale Uber-Konkurrent Ola hat gerade 210
Millionen Dollar Kapital eingesammelt.
1Million Taxis fahren laut Schätzungen in
Indien. Bis vor einem Jahr saßen fast nur Männer am
Steuer. Doch die Zahl der Frauentaxis steigt. Autos,
die von Frauen gesteuert werden und nur Frauen
mitnehmen. Auslöser sind Übergriffe männlicher
Fahrer auf weibliche Passagiere.
thomas.stoelzel@wiwo.de
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Gegen den Zug der Zeit
Fast alle Rikscha-Zieher
wie Mohammed Salim
stammen aus Bihar, dem
ärmsten Bundesstaat Indiens
FOTO: GETTY IMAGES/PALANI MOHAN
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Menschen der Wirtschaft
Preiskampf verloren
DeinBus-Gründer Christian Janisch,
Ingo Mayr-Knoch, Alexander Kuhr
(von links)
FERNBUSSE
Pionier vor dem Aus
Die Fernbusse sind gefragt wie nie. Doch
der Konkurrenzkampf wird härter. Mit
DeinBus muss nun der Wegbereiter des
Booms Insolvenz anmelden.
Der Bahnstreik bescherte den Betreibern von Fernbussen
Rekordumsätze. Auch an normalen Tagen
steigen immer mehr Reisende auf die Alternative
zur Bahn um. Doch ausgerechnet der Wegbereiter
des Booms kann vom Wachstum nicht profitieren:
Das Offenbacher Unternehmen DeinBus.de stellte
einen Insolvenzantrag. Nach dem Rückzug von City2City
aus Deutschland steht damit schon der
zweite Fernbusanbieter vor der Aufgabe. Denn die
Unternehmen liefern sich einen teilweise ruinösen
Preiskampf. Laut der Berliner Mobilitätsberatung
Iges liegen die Ticketpreise im Schnitt bei vier Cent
pro Kilometer, auf hoch umkämpften Strecken weit
darunter. Sechs Cent pro Kilometer gelten als Minimum,
um betriebswirtschaftlich auf Dauer mit
schwarzen Zahlen zu fahren.
Besonders tragisch: Mit DeinBus wird ausgerechnet
der Fernbus-Pionier Opfer seines politischen
Erfolgs. Von drei Studenten umAlexander Kuhr
gegründet, startete DeinBus Ende 2009 als „Bus-
Mitfahrzentrale“, wogegen die Deutsche Bahn 2010
klagte. Nach Auffassung der Bahn verstieß das Angebot
gegen das Personenbeförderungsgesetz, das
ihr besonderen Schutz auf der Fernstrecke ein-
räumte. Deinbus setzte sich allerdings vor Gericht
gegen die Bahn durch und machte so den Weg frei
für Fernbus-Angebote; die Bundesregierung liberalisierte
dann Ende 2012 den Markt.
Nach und nach stiegen Konzerne wie National
Express und die Deutsche Post gemeinsam mit
dem ADAC in das Segment ein, Daimler beteiligte
sich an FlixBus. Für DeinBus wurde es schwieriger,
sich gegen die finanzstarken Riesen zu behaupten.
Zudem fokussierte sich das Start-up auf Süddeutschland,
während die Konkurrenz schnell
bundesweite Netze aufbaute. DeinBus kam mit seinen
25 Mitarbeitern zuletzt nur auf einen Marktanteil
von zwei Prozent – weit abgeschlagen von den
Marktführern MeinFernbus (45 Prozent) und Flix-
Bus (24 Prozent). DeinBus-Gründer Kuhr wollte
sich auf Anfrage nicht äußern. In Unternehmenskreisen
hieß es, der Bahnstreik helfe zwar kurzfristig,
ein langfristiges Überleben sei aber vermutlich
nur mit einem starken Investor möglich.
Noch bedient DeinBus die knapp zwei Dutzend
Strecken. „Wir haben mit unseren Busunternehmern
eine Lösung gefunden, die garantiert, dass
wir den Betrieb vorerst aufrechterhalten können“,
sagt der vorläufige Insolvenzverwalter Christian
Feketija von der Kanzlei Schneider Geiwitz. Eigene
Busse setzt das Unternehmen nicht ein: Es verkauft
Tickets, die Strecken werden von mittelständischen
Busunternehmern bedient.
christian.schlesiger@wiwo.de, florian.zerfass@wiwo.de
Abgehängt
Marktanteil nach angebotenen
Fahrplankilometern
(in Prozent)
MeinFernbus
FlixBus
Deutsche Bahn*
12
ADAC Postbus
8
DeinBus.de
2
Sonstige
9
24
* IC Bus, Berlinlinienbus;
Quelle: Iges
45
FOTOS: LAIF/TIM WEGNER, CARO FOTOAGENTUR/SVEN HOFFMANN
8 Nr. 46 10.11.2014 WirtschaftsWoche
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EU-USA-ABKOMMEN
Top-Manager
skeptisch
Deutschlands Chemiemanager
stehen dem geplanten transatlantischen
Freihandelsabkommen
(TTIP) skeptisch gegenüber.
Dies ergab eine Umfrage
von Camelot Management
Consultants unter 300 führenden
Managern der Branche.
Laut Camelot-Partner Sven
Mandewirth rechnet zwar die
eine Hälfte der Befragten „mit
Kosteneinsparungen bei Rohstoffimporten
sowie einer größeren
Zuliefer- und Kundenbasis“.
Die andere Hälfte „erwartet
aber auch einen steigenden
Wettbewerbs- und Margendruck“.
Den befürchten vor allem
kleine und mittlere Unternehmen.
Insgesamt geht jeder
Zweite davon aus, dass TTIP
seinem Unternehmen „weder
Vor- noch Nachteile“ bringt.
In den Verlautbarungen des
Chemieverbandes VCI klingt
das Bekenntnis zu TTIP viel positiver.
Das Abkommen biete etwa
die Chance auf mehr Jobs.
Die USA sind – neben den
Niederlanden – der wichtigste
Auslandsmarkt. 2013 exportierte
Deutschland Chemikalien
und Pharmazeutika für 15 Milliarden
Euro in die USA.
juergen.salz@wiwo.de
Aufgeschnappt
Düstere Stunden Bei der Sonnenfinsternis
am 20. März wird
die Sonne zwar nur auf den Färöer-Inseln
komplett verdeckt,
aber auch in Deutschland wird
es dunkler – mit Folgen für die
Stromversorgung. Bei wolkenlosem
Himmel sinkt die bundesweite
Solarstromleistung binnen
einer guten Stunde von 17,5
Gigawatt auf 6,2 Gigawatt ab,
haben Forscher der Berliner
Hochschule HTW errechnet.
Das ist so, als fielen zehn Atomkraftwerke
aus. Einen Blackout
fürchten die Wissenschaftler
trotzdem nicht, raten aber Kraftwerk-
und Netzbetreibern, das
Ereignis einzuplanen.
Heitere Stunden Fußball ist für
Ex-EnBW-Chef Utz Claassen
Familiensache. Erst kauft er sich
beim Zweitligisten Real Mallorca
ein. Jetzt kürt der Verwaltungsrat
seine Frau Annette Claassen
noch zur Bevollmächtigten des
Clubs.
VOLKSWAGEN
Neuheiten fürs Museum
Blitzaktion
VW-Manager
Neußer
Auf der Los Angeles Auto Show
streiten kommende Woche die
beiden größten Autohersteller
um die Technologieführerschaft.
Toyota enthüllt auf der
Automesse die Serienversion
des FCV, des weltweit ersten
Elektroautos mit Brennstoffzellenantrieb.
Volkswagen lädt zu
Probefahrten mit Elektroversionen
des VW Golf Variant und
einem Passat ein, bei denen der
Fahrstrom ebenfalls mit Wasserstoff
in einer Brennstoffzelle
erzeugt wird.
Allerdings bietet Toyota den
FCV Ende März in Japan und
von August an auch in Deutschland
an. Die VW-Modelle hingegen
werden nach der PR-Aktion
in Kalifornien im Museum
verschwinden. Denn VW-Entwicklungsvorstand
Hans-
Jakob Neußer hält im Unterschied
zu den Japaner nicht viel
von der Brennstoffzellentechnik.
Der Aufbau eines Netzes
von Wasserstoff-Tankstellen
dauere zu lange, und der technische
Aufwand sei zu groß.
Die Show-Stücke wurden in
aller Eile als Reaktion auf Toyota
gebaut. Der VW-Konzern will
so beweisen, dass er die Technik
beherrscht und dank des
Baukastenprinzips kurzfristig
marktreif machen könnte. Tatsächlich
setzt Neußer auf batteriegetriebene
Elektromobile. Er
erwartet, dass die Akkupreise
bald fallen und das Leistungsvermögen
in Kürze für Strecken
von 400 Kilometern reicht.
franz.rother@wiwo.de
4,9 5,3
2009
2010
Steigende Nebenkosten
Was der Staat beim Hauskauf abkassiert
6,4
2011
7,4
2012
8,4
* ab Januar 2015, in Klammern derzeit gültiger Satz; ** Schätzung; Quelle: BMF
9,2
2014**
2013
Gesamte Einnahmen
aus der Grunderwerbsteuer
(in Milliarden Euro)
5,0
6,5*
(5,5)
6,5*
(5,0)
5,0
6,0
5,0
6,5
5,0
5,0
4,5
5,0
3,5
5,0
5,0
3,5
6,0
Grunderwerbsteuersätze
in den Bundesländern
(in Prozent)
WirtschaftsWoche 10.11.2014 Nr. 46 9
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Menschen der Wirtschaft
GEWERKSCHAFTEN
Klage
vorbereitet
Zimmer schon gebucht
DBB-Vize Russ
Der Deutsche Beamtenbund
(DBB), dem auch die Lokführergewerkschaft
GDL angehört,
will das geplante Gesetz
zur Tarifeinheit kippen. Er hat
schon eine Kanzlei beauftragt,
es notfalls vor dem Verfassungsgericht
in Karlsruhe zu
Fall zu bringen. Das Gesetz,
das am 3. Dezember im Kabinett
beraten wird, legt fest, dass
künftig nur der Tarifvertrag der
mitgliederstärksten Gewerkschaft
in einem Betrieb gilt.
Spartengewerkschaften sehen
sich dadurch in ihrer Existenz
bedroht. „Wenn das Gesetz
verabschiedet ist, geht die Musik
erst richtig los. Die Zimmer
in Karlsruhe sind gebucht“,
sagt DBB-Vize Willi Russ.
Auch die Ärztegewerkschaft
Marburger Bund und die Pilotenvereinigung
Cockpit bereiten
eine Verfassungsklage vor.
Cockpit wird vom früheren
Bundesinnenminister Gerhart
Baum von der Düsseldorfer
Kanzlei Baum, Reiter & Collegen
vertreten. Der Marburger
Bund hat den Göttinger
Rechtsprofessor Frank Schorkopf
verpflichtet und vom
Ex-Verfassungsrichter Udo
di Fabio ein Gutachten eingeholt.
„Wir gehen zum frühstmöglichen
Zeitpunkt nach
Karlsruhe“, sagt der Vorsitzende
des Marburger Bundes,
Rudolf Henke.
bert.losse@wiwo.de
INTERVIEW Georg Fahrenschon
»Eine gesellschaftliche
Zeitbombe tickt hier«
Der Sparkassen-Präsident fordert mehr Anreize
zum Sparen und warnt vor gefährlichen Folgen
der Politik der Europäischen Zentralbank.
Herr Fahrenschon, wie legen
Sie Ihr Geld an?
Ich rede mit meinem Sparkassenberater
und halte mich an
die Regel, nicht alle Eier in einen
Korb zu legen. Das ist gerade in
Zeiten mit starken Ausschlägen
an den Finanzmärkten wichtig.
Aber Sparen lohnt doch
nicht mehr in Zeiten von Miniund
Negativzinsen.
Von dieser einzelnen Bank...
...Sie meinen die Skatbank...
...möchte ich mich abgrenzen.
Negativzinsen auf Spareinlagen
wird es bei den Sparkassen
nicht geben. Geld zurückzulegen
für spätere Zeiten ist selbstverständlich
auch in Zeiten
niedrigster Zinsen sinnvoll.
Wissen Sie, wie viel Zinsen die
Sparkassen anbieten?
Das sind im Schnitt je nach
Anlage und Laufzeit zwischen
0,5 und 1,2 Prozent.
Nach Abzug der Inflation
ergibt sich aber auch bei Ihnen
ein negativer Zinssatz.
Moment, wir dürfen hier bitte
nicht Ursache und Wirkung verwechseln.
Seit drei, vier Jahren
haben wir es mit einer extrem
DER SPARFUCHS
Fahrenschon, 48, leitet seit 2012
den Deutschen Sparkassen- und
Giroverband. Von 2002 bis 2007
saß der Diplom-Ökonom für die
CSU im Bundestag, danach war
er in Bayern Finanz-Staatssekretär
und später Finanzminister.
unorthodoxen Geldpolitik der
Europäischen Zentralbank
(EZB) zu tun. Für uns wird es
immer schwieriger, die Sparer
vor den Auswirkungen dieser
EZB-Politik zu schützen und ihnen
neben einer sicheren auch
eine einigermaßen verzinsliche
Geldanlage zu ermöglichen.
Sollte die EZB die Niedrigstzinspolitik
bald beenden?
Die EZB sollte ähnlich wie die
Federal Reserve in den USA
wenigstens ankündigen, demnächst
die Zinsen wieder anzuheben.
Denn je länger die
Niedrigzinspolitik andauert,
desto weniger setzen sich die
Krisenländer mit den notwendigen
Reformen auseinander.
Und für die Sparer in allen Euro-Ländern
hat die EZB-Politik
auf Dauer gefährliche Folgen.
Welche denn?
Rund die Hälfte der 14- bis
29-Jährigen sagt, dass sie nicht
mehr sparen will. Dabei weiß jeder,
dass die gesetzliche Rente
im Alter nicht ausreicht, das
Wohlstandsniveau auch nur annähernd
zu halten. Hier tickt eine
gesellschaftliche Zeitbombe.
Es wäre ein wichtiges Signal von
der Politik, Anreize dafür zu
geben, wieder mehr zu sparen.
Auch weil die klassischen Instrumente
der Vermögensbildung
auf einem Niveau gedeckelt
sind, das überhaupt nicht
mehr in die heutige Zeit passt.
Sprechen Sie von den vermögenswirksamen
Leistungen?
Ja, die vermögenswirksamen
Leistungen sind ein wichtiger
Bestandteil der Maßnahmen
zur Vermögensbildung. Es ist
höchste Zeit, diese Instrumente
angesichts ultraniedriger Zinsen
neu zu justieren. Derzeit
wird nur ein Anlagehöchstbetrag
von 470 Euro pro Jahr
durch die Zulage gefördert. Nur
mit einer deutlichen Anhebung
oder Dynamisierung der Anlagehöchstbeträge
ließen sich
wieder die notwendigen Anreize
zur Vermögensbildung
schaffen.
Welche Grenzwerte wären jetzt
angemessen?
Eine genaue Hausnummer
kann und will ich Ihnen nicht
nennen, diese Zahlen müssen
von der politischen Seite kommen.
Heute wird die Arbeitnehmer-Sparzulage
nur bei einem
jährlich zu versteuernden Einkommen
bis 20 000 Euro bei
Einzelveranlagung gewährt.
Das heißt, dass nicht einmal
mehr ein junger Maurer oder
Bürokaufmann bei der Vermögensbildung
gefördert wird. Es
kann gesamtgesellschaftlich
doch nicht richtig sein, dass die
vermögensbildenden Maßnahmen
nur noch für die Niedrigstverdiener
gelten, aber nicht
mehr für die breiten Bevölkerungsschichten.
Da haben wir
uns weit vom ursprünglichen
Ziel entfernt.
christian.ramthun@wiwo.de | Berlin
FOTOS: MARKO PRISKE, DPA PICTURE-ALLIANCE/BERND SETTNIK
10 Nr. 46 10.11.2014 WirtschaftsWoche
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Menschen der Wirtschaft
WEIHNACHTSGESCHÄFT
Händler leicht optimistisch
Für die Einzelhändler beginnt
jetzt die wichtigste Zeit des Jahres:
Das Weihnachtsgeschäft
startet. In Euphorie versetzt es
die Branche nicht, aber sie ist
zuversichtlich. So zeigt sich
Alain Caparros, Chef der Rewe-Gruppe,
„verhalten optimistisch“.
Einerseits sei die Stimmung
der Verbraucher „durch
die gesamtwirtschaftlich eher
schwache Entwicklung etwas
eingetrübt“, so Caparros. Andererseits
verzichteten sie öfter
auf den Besuch von Restaurants
– zugunsten eines größeren
Dinners zu Hause. „Das ist für
den Lebensmitteleinzelhandel
selbstverständlich positiv“, sagt
Caparros. Insgesamt hofft der
Zu Hause tafeln
lohnt Rewe-Chef
Caparros
Rewe-Frontmann „auf ein
Weihnachtsgeschäft, das so gut
verläuft wie im vergangenen
Jahr“.
Die Douglas-Gruppe, zu der
neben den Parfümerien auch
die Buchhandelskette Thalia
gehört, äußert sich optimistischer.
„Wir glauben, dass wir im
diesjährigen Weihnachtsgeschäft
im Vergleich zu 2013
noch weiter zulegen werden –
insbesondere bei unseren Douglas-Parfümerien“,
sagt Vorstandschef
Henning Kreke.
Auch Kaufhof-Chef Lovro
Mandac sieht „Chancen für ein
leichtes Plus“. Ebenso Alexander
Birken. Der Konzernvorstand
der Otto Group geht für
den Web-Shop otto.de von einem
„deutlichen Anstieg der
Besucherzahlen“ aus.
Ein Fest der Freude erwartet
auch Serge van der Hooft, Chef
des Erotikhändlers Beate Uhse.
Er rechne „mit einem erfreulichen
Weihnachtsgeschäft, insbesondere
in unserem Kernmarkt
Deutschland“.
henryk.hielscher@wiwo.de
DREI FRAGEN...
...zum Informatikunterricht
in Schulen
Sylvia
Löhrmann
57, Präsidentin
der Kultusministerkonferenz
n Unternehmer fordern
mehr Informatikunterricht
an den Schulen. Wann werden
die Lehrpläne geändert?
Informatik wird in der Sekundarstufe
I als Pflichtfach,
Wahlpflichtfach und in Form
von Arbeitsgemeinschaften
angeboten; in der gymnasialen
Oberstufe kann Informatik
– auch als Abiturprüfungsfach
– gewählt werden. Die Vermittlung
einer informationstechnischen
Grundbildung
durch die Schule ist in unserem
digitalen Zeitalter überaus
wichtig – in welchem Umfang
dies geschieht, liegt in
der Entscheidung der einzelnen
Länder.
Die besten Unis für Gründer
Große Hochschulen*
1 TU München
2 Hochschule München
3 Karlsruher Institut für
Technologie (KIT)
4
5
Technische Universität Berlin
Universität Potsdam
* groß: >15 000, mittel: 5000–15 000, klein: >5000 Studierende; Quelle: Stifterverband Gründungsradar 2013; Hochschulbefragung
HOCHSCHULEN
Mehr Hilfen
für Start-ups
An diesem Montag stellt
Andreas Pinkwart, Rektor der
Handelshochschule Leipzig
(HHL), sein neues Projekt vor:
das SpinLab. Von Januar an soll
es Start-ups helfen, die aus
Hochschulen ausgegründet
werden. Schon jetzt bietet die
Mittlere Hochschulen
1 Leuphana Universität Lüneburg
2 Europa-Universität Viadrina
3 BTU Cottbus-Senftenberg
4
5
Technische Universität Kaiserslautern
Technische Universität Bergakademie
Freiberg
HHL ausgezeichnete Voraussetzungen
für Start-ups. Zu dem
Ergebnis kommt der Gründungsradar
2013, den der Stifterverband
für die Deutsche
Wissenschaft jetzt erstellt hat.
Die HHL siegte in der Kategorie
der kleinen Hochschulen (siehe
Tabelle). Die Technische Universität
München liegt unter
den großen Hochschulen vorn
und die Leuphana Universität
Lüneburg unter den mittleren.
Alle drei hatten schon im Vor-
Kleine Hochschulen
1 HHL Leipzig Graduate School of Management
2 WHU Otto Beisheim School of Management
3 Private Hochschule Göttingen
4
5
Fachhochschule Mainz
Fachhochschule Potsdam
jahr Spitzenplätze belegt. Am
stärksten verbesserten sich die
Universitäten in Trier und Passau
sowie die WHU Otto Beisheim
School of Management.
Insgesamt wurden an den
deutschen Hochschulen 2013
fast 1800 Start-ups gegründet,
rund 600 mehr als im Vorjahr.
Das Budget der Hochschulen
für Gründungsförderung stieg
um 28 Prozent auf knapp 63
Millionen Euro.
jens.toennesmann@wiwo.de
n Sollte Informatik ein
Pflichtfach werden?
Es kann nicht darum gehen,
Informatik zulasten anderer,
für eine allgemeine Bildung
mindestens ebenso notwendiger
Fächer in die Stundentafel
aufzunehmen. Die Einführung
eines Pflichtfachs Informatik
in der Sekundarstufe I ist
Sache der Länder. In einigen
Ländern ist das Fach bereits
mit bestimmtem Stundenkontingent
in einzelnen Jahrgangsstufen
vorgesehen.
n Wie stärkt die Kultusministerkonferenz
(KMK)
den Informatikunterricht?
Die KMK misst der Medienbildung
von Schülerinnen und
Schülern eine zentrale Bedeutung
bei. Sie hat dazu mehrere
Empfehlungen verabschiedet.
Außerdem ist in den Lehrplänen
aller Länder die Medienbildung
verankert.
oliver.voss@wiwo.de
FOTOS: VALERY KLOUBERT, PR
12 Nr. 46 10.11.2014 WirtschaftsWoche
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Menschen der Wirtschaft
VALEO
Franzose auf
Deutschkurs
TOP-TERMINE VOM 10.11. BIS 16.11.
10.11. Apec-Gipfel In Peking beraten am Montag die
21 Länder des asiatisch-pazifischen Bündnisses
Apec. Auch US-Präsident Barack Obama kommt.
BILSTER BERG
Zoff um Graf
Oeynhausen
Der französische Autozulieferer
Valeo investiert in seine deutschen
Werke. „Deutschland ist
und bleibt für uns als Produktionsstandort
absolut notwendig“,
sagt Konzernchef Jacques
Aschenbroich. Die deutschen
Kunden tragen 30 Prozent zum
Konzernumsatz bei, der sich
2013 auf 10,3 Milliarden Euro
belief. Vor fünf Jahren lag der
deutsche Umsatzanteil erst bei
20 Prozent.
Zudem beschäftigt das Unternehmen
mehr deutsche Mitarbeiter.
Deren Zahl wuchs
zwischen Oktober 2013 und
Oktober 2014 um 498 auf 4558.
Von weltweit 1200 neuen Ingenieuren
heuerte Valeo 163 in
Deutschland an. Und es sollen
noch mehr werden. Allerdings
ist es für die Franzosen schwieriger
als für die deutschen
Wettbewerber Bosch und Continental,
deutsche Fachkräfte
zu gewinnen. Deshalb wolle
Valeo bekannter werden, sagt
Aschenbroich. Valeo unterhält
hierzulande fünf Werke sowie
sechs Forschungs- und Entwicklungszentren.
Weltweit
liegt der Konzern auf Platz 14
der größten Erstausrüster der
Autoindustrie.
rebecca.eisert@wiwo.de
BILFINGER
Vor neuem
Umbau
In diesen Tagen rückt der frühere
Daimler-, Metro- und Haniel-
Manager Eckard Cordes in
den Aufsichtsrat des Bau- und
Dienstleistungskonzerns Bilfinger
ein, schon zeichnet sich
ein weiterer Umbau im Top-
Mann fürs Grobe Designierter
Aufsichtsratschef Cordes
11.11. Metall- und Elektroindustrie Der Vorstand der
IG Metall stellt am Dienstag seine Forderungen
für die Tarifrunde vor, die im Januar
beginnt. Neben einer Erhöhung
der Löhne setzt er sich für eine
Ausweitung der Altersteilzeit ein
und für neue Regeln zur Weiterbildung.
Hella-Börsengang Die Aktie des westfälischen Autozulieferers
Hella wird erstmals an der Börse in
Frankfurt notiert. Zunächst werden nur 15 Prozent
gelistet, mittelfristig will die Eignerfamilie 60 Prozent
behalten.
12.11. Wirtschaftsweisen Die fünf Mitglieder des Sachverständigenrats
stellen am Mittwoch ihr Gutachten
2014/15 vor. Im November des vergangenen
Jahres hatten sie der deutschen Wirtschaft für
2014 ein Plus von 1,6 Prozent vorausgesagt, im
März hatten sie nachgebessert: auf 1,9 Prozent.
13.11. Bundeshaushalt Der Haushaltausschuss des Bundestages
beschließt am Donnerstag den Bundeshaushalt
für 2015. Der Bund will 2015 keine neuen
Kredite aufnehmen.
14.11. Konjunktur Das Statistische Bundesamt informiert
am Freitag über das Bruttoinlandsprodukt
(BIP) im dritten Quartal. Im zweiten sank es gegenüber
dem ersten um 0,2 Prozent. Eurostat veröffentlicht
BIP und Inflationsrate für die EU.
15.11. G20-Gipfel Die Delegierten der 20 wichtigsten Industrie-
und Schwellenländer treffen sich am
Samstag in der australischen Stadt Brisbane.
Management ab. Cordes, der
den Job im Auftrag des schwedischen
Hauptaktionärs Cevian
Capital übernimmt, dürfte sich
nach Einschätzung von Aufsichtsratskollegen
zügig von
Joachim Enenkel trennen.
Enenkel führt nur noch die
Bausparte, die zum größten Teil
verkauft wird. Zuvor hat er auch
die Kraftwerks- und Rohrleitungssparte
geleitet, deren Verluste
binnen weniger Monate
vier Gewinnwarnungen auslösten.
Vorstandschef Roland
Koch, Finanzchef Joachim Müller
und Aufsichtsratschef Bernhard
Walter verloren ihren Job.
Unternehmenskenner erwarten
zudem, dass Cordes schnell
einen Nachfolger für Interims-
Vorstandschef Herbert Bodner
präsentiert, der Bilfinger seit
August führt.
harald.schumacher@wiwo.de
Muss sich vielen Fragen stellen
Geschäftsführer Oeynhausen
Die Geldgeber der privaten
Rennstrecke Bilster Berg im
Teutoburger Wald erheben
schwere Vorwürfe gegen Geschäftsführer
Marcus Graf von
Oeynhausen-Sierstorpff. 34 Millionen
Euro haben 180 vermögende
Anleger in den Bau der
Anlage gesteckt, die 2013 eröffnet
wurde. Jetzt kritisiert ein
Sonderbericht des Beirats, wie
der Graf mit dem Geld umgegangen
ist. So habe die Bad Driburger
Unternehmensgruppe
des Grafen, zu der Rehakliniken,
ein Hotel und ein Mineralwasserabfüller
gehören, der Strecke
mehrere Abschlagsrechnungen
über insgesamt 1,35 Millionen
Euro zuzüglich Umsatzsteuer
für Projektsteuerungsleistungen
beim Bau gestellt. Leistungen
seien allerdings „nicht ersichtlich“,
heißt es im Sonderbericht.
Eine Schlussrechnung und eine
Abnahme der Leistungen habe
es nie gegeben. Der Beirat fordert
daher das Geld samt Zinsen
zurück.
Oeynhausen widerspricht.
Die geschuldeten Leistungen
seien vollständig erbracht worden.
„Die Vorwürfe“, so sein
Sprecher, „sind unberechtigt
und werden kurzfristig geklärt
werden.“
florian.zerfass@wiwo.de
FOTOS: PUBLIC ADDRESS, DIETER MÜLLER, FRANK ZAURITZ
14 Nr. 46 10.11.2014 WirtschaftsWoche
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Menschen der Wirtschaft
CHEFSESSEL
START-UP
DEUTSCHE POST DHL
Melanie Kreis, 54, ist in
den Vorstand des Logistikkonzerns
aufgerückt und
verantwortet dort das Personalressort.
Vorgängerin Angela
Titzrath hatte Posten
und Unternehmen im Juli
überraschend verlassen.
Kreis, studierte Physikerin,
muss im nächsten Jahr einen
neuen Tarifvertrag verhandeln.
Zudem läuft 2015 der
Beschäftigungspakt aus, der
betriebsbedingte Kündigungen
verhindert.
VOLKSWAGEN
Achim Schaible, 45, ist der
zweite langjährige Renault-
Deutschland-Chef, der im
Volkswagen-Konzern eine
neue Heimat gefunden hat.
Am 1. November übernahm
der Betriebswirt und Vertriebsexperte
die Leitung der
Volkswagen Group Polska.
Sein Vorgänger als Vorstandschef
von Renault
Deutschland, Jacques Rivoal,
56, hatte vor einem Jahr
die Leitung der Volkswagen
Group France übernommen.
Beide Manager mussten erfahren,
dass Renault Arbeitsverträge
trotz nachweisbarer Absatzerfolge
nicht verlängerte.
GOOGLE
Andre Rubin, 52, beherzigt
den Vorsatz, dann zu gehen,
wenn es am besten läuft. 2005
stieß der Unternehmer zu Google,
um das von ihm ersonnene
Betriebssystem Android zum
dominanten Betriebssystem für
Smartphones und Tablets zu
machen. Zeitweilig wurde er sogar
als Nachfolger von Google-
Chef Larry Page, 41, gehandelt.
Doch dann setzte sich Sundar
Pichai, 42, als neuer starker
Mann durch, der im März auch
die Android-Sparte übernahm.
Rubin wurde mit der wachsenden
Roboter-Sparte abgefunden.
Nun will er einen Brutkasten
für Start-ups aufbauen.
OSRAM
Olaf Berlien, 52, bis Ende 2012
ThyssenKrupp-Vorstand, löst
im Januar Wolfgang Dehen, 60,
als Vorstandschef des Lichtkonzerns
ab. Zudem leitet Berlien
dann noch Osrams Technikressort.
Derzeit führt er die
M+W Group, die Reinraumfabriken
baut. Dehens Vertrag lief
zwar noch bis März 2016, ihm
wird aber schlechtes Management
vorgeworfen (Wirtschafts-
Woche 45/2014).
KREUZFAHRTEN
15,9 Millionen Deutsche
favorisierten in diesem Jahr Ferien auf dem Schiff, 160 000 mehr
als 2013. Tatsächlich buchten 1,7 Millionen Bundesbürger im vergangenen
Jahr eine Hochseekreuzfahrt, 2012 waren es 1,5 Millionen.
75 Prozent der Passagiere bevorzugen europäische Regionen.
Am beliebtesten ist das Mittelmeer, gefolgt von Nordeuropa.
MY SCHOKO WORLD
Schokolade mit Gesicht
Fakten zum Start
Team derzeit drei Mitarbeiter
Absatz Schoko-Memo im Einzelhandel
in drei Jahren 800 000
Stück
Umsatz von Mastertrade im
Vorjahr 740 000 Euro
Schokolade als Puzzle und Memory – damit hat Christian Keller
angefangen. Adventskalender wollte er eigentlich nicht anbieten.
„Für die drei Wochen Geschäft im Jahr lohnt sich der Aufwand
nicht“, dachte sich der Gründer des Start-ups My Schoko World.
Doch als das Reiseportal Weg.de nach Adventskalendern fragte,
änderte Keller seine Meinung. Jetzt verlost das Reiseunternehmen
die Kalender auf seiner Internet-Seite – die 24 Türchen zeigen Urlaubsbilder
von Mitarbeitern des Touristikportals.
Inzwischen kann jeder bei My Schoko World Schokokalender
mit eigenen Fotos bestellen. Das Unternehmen in Gröbenzell bei
München personalisiert noch weitere Leckereien aus belgischer
Schokolade – auch Puzzles und Memorys. Früher erwarb Keller
mit seinem Unternehmen Mastertrade, aus dem My Schoko
World hervorging, Lizenzen für klassische Puzzles. Dann brachte
ihn seine Nichte auf die Idee zu dem Schokoladen-Memory. Er
bedruckte die Tafeln mit Star-Wars-Figuren, Tiermotiven und Hello
Kitty und vertrieb sie über den Einzelhandel. „Doch ein großer
Mittelständler kopiert jetzt das Schoko-Memo“, sagt Keller. Da er
im Preiskampf nicht mithalten
konnte, stieg er auf
die personalisierbare Version
um. Dafür gebe es
von privaten und Firmenkunden
viel Zuspruch.
„Andere Anbieter fangen
bei 2000 Stück an, wir
machen es ab 50 Stück.“
oliver.voss@wiwo.de
FOTOS: PR (2), DOC-STOCK
16 Nr. 46 10.11.2014 WirtschaftsWoche
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Menschen der Wirtschaft | Chefbüro
Ulrich Walter
D2-Astronaut und Professor für Raumfahrttechnik.
Das Gefühl, wieder festen Boden
unter den Füßen zu haben,
kennt Ulrich Walter, 60, ehemaliger
Astronaut der D2-Mission
und jetzt Professor für Raumfahrttechnik
an der Technischen
Universität München.
Den 10. November verfolgt er
deshalb besonders. Dann kehrt
Alexander Gerst als zehnter
deutscher Raumfahrer von der
Internationalen Raumstation
ISS zur Erde zurück. „Trotz der
jüngsten Raumfahrt-Unfälle
habe ich keine Angst um ihn“,
sagt Walter, „ein Risiko wie bei
der Explosion des Raumgleiters
SpaceShipTwo besteht nicht,
da er ja antriebslos zur Erde
schwebt.“ Dabei zeigt Walter
auf ein Modell des US-Raumgleiters
Columbia,
360 Grad
In unseren App-
Ausgaben finden
Sie an dieser
Stelle ein interaktives
360°-Bild
das zusammen mit
einem Modell der
Trägerrakete Ariane 5
und einem des Benz-
Patent- Motorwagens
auf seinem Arbeitstisch
steht. Seit März
2003 lehrt der Ex-Astronaut
Raumfahrttechnik an
der TU München. Sein Büro im
zweiten Stock des Uni-Gebäudes
ist bodenständig eingerichtet.
„Das bekommt man im
öffentlichen Dienst so gestellt“,
sagt der ehemalige Leutnant
der Reserve. Nur den Vitra-
Chefsessel hat er selbst gekauft.
Nach dem Militärdienst studierte
er an der Universität
Köln Physik. Dort
promovierte er auch.
Nach einem Zwischenstopp
an der
amerikanischen Berkeley-Universität
bewarb er sich als
Wissenschaftsastronaut
bei der damaligen
Deutschen Forschungsund
Versuchsanstalt für Luftund
Raumfahrt in Köln. „Am
26. April 1993 hob ich ab ins
All“, erinnert sich Walter. In den
Regalen seines Büros konkurrieren
Vortragsordner mit
Fotobänden und Büchern des
Raumfahrtpioniers Wernher
von Braun. Ein Bild des Malers
und Weltraum-Illustrators
Detlev van Ravenswaay zeigt
Walter gemeinsam mit seiner
D2-Crew. Die Sehnsucht nach
der grenzenlosen Freiheit ist
geblieben. „Wenn Sie ein Weltraum-Ticket
haben, fliege ich
sofort“, sagt er , „aber sagen
Sie’s bitte nicht meiner Frau.“
ulrich.groothuis@wiwo.de
FOTO: DIETER MAYR FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE
18 Nr. 46 10.11.2014 WirtschaftsWoche
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Politik&Weltwirtschaft
Wir streiken!
Weiter
REFORMEN | Die Blockade des Bahnverkehrs ist Symbol für den Stillstand des Landes.
Egoismus und Reformstau greifen um sich, wirtschaftliche Risiken und gesellschaftliche
Probleme wachsen. Die Politik ruht sich auf den Erfolgen der Vergangenheit aus.
20 Nr. 46 10.11.2014 WirtschaftsWoche
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FOTO: FOTOLIA
Der Hashtag im Kurznachrichtendienst
Twitter ist
vulgär, und auch die Botschaften
sind heftig. Auf
#Fuckyougdl lassen frustrierte
Streikopfer ihren
Verwünschungen freien Lauf: „Wenn ihr weniger
arbeiten wollt, beantragt Hartz IV“,
empfiehlt @Reyson1990 den Lokführern im
Ausstand. „Zwar habt ihr nicht mehr Geld,
aber eine Forderung ist wenigstens erfüllt.“
@MhhhKathi schimpft: „Ich opfere für Donnerstag
und Freitag jetzt meine letzten beiden
Urlaubstage. Danke, Arschlöcher.“ Und
@didi577 versteigt sich gar zu einem Gewaltaufruf:
„Bindet Weselsky aufs Gleis, solange
noch Züge fahren.“
Allzu gefährlich war das für den Vorsitzenden
der GDL, Claus Weselsky, noch nicht.
Die meisten Züge blieben zunächst im Depot,
nur die Reisenden auf der Strecke. Es ist
der größte Eisenbahnerstreik in der bundesrepublikanischen
Geschichte, der in sechs
Abschnitten in diesem Jahr bereits an 13
Tagen für Stillstand sorgen sollte. Organisiert
durch eine Minigewerkschaft mit 34000 Mitgliedern,
der es nicht um mehr Lohn für ihre
Mitglieder geht, sondern um mehr Macht für
ihre Funktionäre.
Der Bahnstreik ist Symptom einer selbstvergessenen
Gesellschaft – und Symbol für
den Stillstandort Deutschland, für Egoismus
und Reformstau, die überall um sich greifen.
Die wirtschaftlichen Risiken und die gesellschaftlichen
Probleme nehmen zu, die Investitionslücke
wächst, doch die Gesellschaft
hält fest an kommoden Besitzständen.
Deutschland ist noch nicht wieder der
kranke Mann Europas wie um die Jahrtausendwende.
Aber statt im Fitnessclub der
Reformen zu ackern, fläzt es im Liegestuhl.
Statt sich für die Zukunft zu wappnen, verharrt
es selbstzufrieden.
Gerhard Schröder startete seine Agenda
erst, als er mit dem Rücken zur Wand stand.
Die schwarz-rote Koalition hat daraus
nichts gelernt. Sie wartet ab, bis sie vor die
Wand läuft.
Die Generalimmobilmachung auf der
Schiene – und vielleicht bald wieder in der
Luft durch die streikfreudigen Piloten –
trifft mitten hinein in die Sorge um die Konjunktur.
Eine Rezession ist nicht in Sicht. Aber dass
die Wirtschaftslage flauer wird, bestreitet
niemand, nicht einmal die Regierung. Ähnlich
wie die Forschungsinstitute hat sie ihre
Wachstumsprognose auf 1,2 Prozent für dieses
und 1,3 Prozent fürs nächste Jahr zurückgenommen.
Chefskeptiker und Konjunkturforscher
Hans Werner Sinn vom ifo Institut
verortet die Entwicklung inzwischen gar
„nochmals ein Stück tiefer, in der Gegend
von etwa einem Prozent“. Denn der Geschäftsklimaindex
des Instituts bröckelt beständig
ab, deute also auf eine Stagnation
hin. Die Mehrheit der Großunternehmen
rechnet zudem mit einer Rückkehr der Euro-
Krise, hat die Beratungsgesellschaft Deloitte
ermittelt (siehe Seite 26). Doch die satte, müde
Republik und ihre Bewohner ficht das
nicht an, getreu dem Egoistenmotto: „Wenn
jeder an sich denkt, ist an alle gedacht.“
Industrieverbände, Gewerkschaften, Lobbytruppen
aller Art, aber auch jeder einzelne
Bürger fühlen sich berechtigt, lieber doch
noch ein etwas größeres Stück vom Kuchen
abzuschneiden. Mehr Macht, mehr Mitglieder,
mehr Subventionen – danach gieren die
Organisationen. Mehr Rente, weniger Sozialbeiträge,
weniger Steuern – danach sehnen
sich Arbeitnehmer und Verbraucher.
Und der Staat steht nicht hintan: Mehr Steuern,
mehr Gebühren, mehr Regulierung – so
weitet er seinen Einfluss aus.
Inzwischen sind die häufigen Gesetzesänderungen
und staatlichen Eingriffe durch
die Politik für die Unternehmen gefährlicher
als Fachkräftemangel, Lohnerhöhungen
oder steigende Energiekosten, klagten die
Finanzvorstände in der Deloitte-Umfrage.
Einziger Trost: Die Firmen haben aus der
letzten Krise gelernt und ihr Eigenkapital
deutlich aufgepolstert.
Deutschland, nach den Schröder-Reformen
vor gut zehn Jahren zum Musterknaben
Europas avanciert, verspielt nicht nur seine
Zukunft, sondern auch seinen moralischen
Anspruch, die Nachbarn zu vernünftiger
Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik zu ermahnen.
Längere Lebensarbeitszeit? Frankreich
soll die Arbeitnehmer später in den
Ruhestand schicken, während Arbeitsministerin
Andrea Nahles (SPD) und die große
Koalition die Rente mit 63 einführen. Sparsame
Haushaltsführung? Griechenland soll
liefern, während Bundesfinanzminister
Wolfgang Schäuble (CDU) den Etat vor allem
über höhere Einnahmen ausgleicht. Die
Steuerschätzung der vergangenen Woche
ermittelte für den Bund für das kommende
Jahr sogar noch einmal ein unerwartetes
Plus von 700 Millionen Euro – kein Grund,
den spendablen Kurs zu ändern. Sozialer
Friede? Italien und Belgien sollen nicht mit
Arbeitskämpfen ihren Standort schädigen,
während hierzulande die Räder stillstehen.
Der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann
macht sich keine Illusionen über die Folgen
für den Stillstandort. Der aktuelle Arbeitskampf
schade dem Ansehen Deutschlands,
urteilt er. Bisher gilt das Land als streikarm,
und die Sozialpartner gelten als vorbildlich
darin, die Interessen aller Mitarbeiter einzubeziehen.
„Der Bahnstreik fördert dieses
Image wirklich nicht.“
Gewerkschaften
Jeder ist sich selbst der Nächste
Selten klang der Begriff „Einheitsgewerkschaft“
so deplatziert wie in diesen Tagen –
und das liegt nicht nur daran, dass die gut
organisierte Spartenorganisation GDL das
deutsche Arbeitnehmerlager spaltet. Der
Kampf um die Tarifeinheit (ein Betrieb, ein
Tarifvertrag), der 2010 mit einem gemeinsamen
Eckpunktepapier des DGBs und der
Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände
begann, wird auf Gewerkschaftsseite
längst nicht mehr geschlossen
geführt. Verdi, die zweitgrößte Gewerkschaft
im Land, scherte auf Druck ihrer Basis
aus und will die Tarifeinheit nun lieber
doch nicht wiederhaben. Das führt zu bisweilen
bizarren Reaktionen. Vertreter des
Verdi-Bezirks Südhessen sandten jüngst eine
Solidaritätsadresse an die eigentlich verhasste
GDL und ermunterten diese, kräftig
weiterzustreiken. Die Pläne der Bundesregierung
zur Tarifeinheit richteten sich „im
Kern gegen alle Gewerkschaften“.
Genau diese Pläne aber muss DGB-Chef
Hoffmann verteidigen. Auf dem DGB-Bundeskongress
im Mai gab es einen kryptischen
Kompromiss, wonach der DGB die
Tarifeinheit wolle, aber keinerlei Einschränkung
des Streikrechts akzeptieren werde –
auch nicht für Spartengewerkschaften. „Das
eine aber lässt sich vom anderen nicht trennen“,
sagt Richard Giesen, Arbeitsrechtler
an der Universität München.
Der Bahn-Konflikt gefährdet das Ansehen
der Gewerkschaften insgesamt. Der DGB
bekomme es immer wieder mit empörten
Bürgern zu tun, denen nicht klar sei, dass
die Lokführergewerkschaft nicht zum DGB
gehöre, berichtet Hoffmann. „Insofern
schadet der Machtkampf der GDL – Kompromisslosigkeit
ist kein Weg, zu gestalten.“
Die Bahngewerkschaft des DGB, die EVG,
verhandele derzeit, ohne zu streiken. Hoffmann:
„Das ist unser Ruf – und der wird gerade
geschädigt.“
Die Bundesregierung hat mit ihrem Gesetzentwurf
zur Tarifeinheit die Lage noch
verschärft. „Wenn es die Gesetzespläne der
großen Koalition nicht gäbe, wäre der
»
WirtschaftsWoche 10.11.2014 Nr. 46 21
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Politik&Weltwirtschaft
Für mehr Geld Verdi-Chef Bsirkse streikt mit dem öffentlichen Dienst
»
Tarifkonflikt bei der Bahn längst gelöst“,
glaubt der frühere Bundesinnenminister
Gerhart Baum, der als Anwalt die Pilotenvereinigung
Cockpit vertritt. Die Spartengewerkschaften
sehen sich in ihrer Existenz
bedroht; sowohl Cockpit als auch der Beamtenbund
(als Dachverband der GDL)
und die Ärztegewerkschaft Marburger Bund
wollen vor dem Bundesverfassungsgericht
klagen (siehe Seite 10). „Sobald das Gesetz
in Kraft getreten ist, werde ich für Cockpit eine
verfassungsgerichtliche Klärung in die
Wege leiten“, kündigt Baum an.
Die Angst, als Minderheitstruppe künftig
keine Rolle zu spielen, sorgt bei den Spartengewerkschaften
für Bewegung. Die Flugbegleitergewerkschaft
Ufo, derzeit fürs Kabinenpersonal
zuständig, will eine berufsübergreifende
„Industriegewerkschaft Luftfahrt
(IGL)“ gründen. Der Ufo-Vorsitzende
Nicoley Baublies versucht, andere kleine Interessenverbände
wie die Gewerkschaft der
Flugsicherung, die Technik Gewerkschaft
Luftfahrt und die Vertretung des Bodenpersonals
(Agil) ins Boot zu holen.
Der Vorstoß ist ein Angriff auf die Großgewerkschaft
Verdi, die mehr als 1000 Berufe
unter einem Dach vereint. Auch fast 14 Jahre
nach ihrer Gründung hat sie keine wirkliche
Bindungskraft im Arbeitnehmerlager
entwickelt. Fast alle Spartengewerkschaften
tummeln sich in ihrem Beritt.
Als sei die Zersplitterung nicht Problem
genug, rangeln nun auch DGB-Gewerkschaften
miteinander um Macht und Mitglieder.
In der Energie- und Wasserwirtschaft
liegen Verdi und IG BCE über Kreuz.
Im sächsischen Annaberg rief Verdi zum
Warnstreik beim lokalen Wasserversorger
auf, obwohl es dort einen Tarifvertrag der IG
BCE gab. So etwas habe „es in der Geschichte
des DGB bislang nicht gegeben“, tobt IG-
BCE-Boss Michael Vassiliadis. Auch zwischen
Verdi und IG Metall hängt der Haussegen
schief. Konkreter Anlass: Beim Bremer
Logistikunternehmen Stute, ursprünglich
Verdi-Land, warb die IG Metall Mitglieder
und schloss einen eigenen Tarifvertrag ab –
den wiederum Verdi mit einem neuen Vertrag
zu übertrumpfen versuchte. Das hätten
die Bahngewerkschaften EVG und GDL
nicht besser hingekriegt.
Generationen
Zukunft? Nicht mit uns!
Union und SPD verschaffen mit ihrer erdrückenden
Mehrheit im Bundestag den Älteren
und Etablierten in der Gesellschaft einen
Einfluss, der ihren stetig wachsenden
Anteil an der Gesellschaft noch übertrifft.
Das durchschnittliche Parteimitglied bei
Christ- wie Sozialdemokraten ist um die 60
Jahre. Bei der jüngsten Bundestagswahl
stimmten 50 Prozent der über 60-jährigen
Wähler für CDU oder CSU. Ein knappes
Drittel der Bürger ist heute bereits über 60 –
und diese Älteren gehen überdurchschnittlich
oft zur Wahl.
Statt sich um Aufstiegschancen für Jüngere
oder Zuwanderer zu kümmern, sorgen
Die Wahlgeschenke
zielten vor allem auf
die ältere Generation
Gegen den Verschleiß Es fehlen sieben Milliarden Euro pro Jahr
sich beide Regierungsparteien eher um die
Wahrung des Besitzstands ihrer Klientel.
Das Müttergeld, das Frauen (und Männern)
zugutekommt, die vor 1992 Kinder bekommen
haben, kostet rund sechs Milliarden
Euro im Jahr. Bis zu eine Milliarde Euro extra
könnte durch die abschlagsfreie Rente mit
63 aus der Sozialversicherung abfließen.
Jüngere bezahlen diese Änderungen später
durch Steuern, wenn ab 2017 die derzeit
üppige Reserve der Rentenkasse für die
Wahlgeschenke aufgezehrt ist. Außerdem
senken die Ausgaben das Rentenniveau für
künftige Alte.
Die Pflegeversicherung soll sechs Milliarden
Euro mehr bekommen, vor allem für
Demenzkranke, die bisher nur wenig aus
der Versicherung bekommen haben.
Für die Jüngsten dagegen ist weniger Geld
im Topf. Die große Koalition will für den Kita-Ausbau
zwar eine weitere Milliarde Euro
zur Verfügung stellen. Doch in der Vergangenheit
konnten die Betreiber der Einrichtungen
nie dauerhaft mit derart zugesagtem
Geld rechnen.
Verkehr
Auf der Strecke geblieben
Arbeitsverweigerung kann man dem Bundesverkehrsminister
nicht vorwerfen. Alexander
Dobrindt (CSU) hat viele Themen
angepackt – zuletzt legte er den Gesetzentwurf
für die Pkw-Maut vor. Doch Fleiß ist
keine Garantie für Qualität. Die Maut-Aufgabe
hat Dobrindt zwar gelöst – allerdings
am Thema vorbei.
Auf sieben Milliarden Euro pro Jahr beziffern
Experten die Summe, die der Bund investieren
müsste, um die Verkehrswege
22 Nr. 46 10.11.2014 WirtschaftsWoche
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Für schöne Landschaften CSU-Chef Seehofer bekämpft Stromtrassen
Gegen die Jugend Die große Koalition bedient vor allem ihre Klientel
FOTOS: ACTION/PRESSBECKER+BREDEL, BLICKWINKEL, WAZ-FOTOPOOL/SASCHA FROMM, DDP IMAGES/LUTZ WALLROTH, FOTOLIA
wieder auf ein vernünftiges Niveau zu heben.
Die kaputte Rheinbrücke auf der A 1
bei Leverkusen ist ja nur das bekannteste
von vielen Beispielen für das Verrotten der
Verkehrswege. Nun sollen Ausländer laut
Dobrindt durch die Maut 500 Millionen Euro
pro Jahr zusätzlich in die Staatskasse
pumpen – Peanuts im Vergleich zu dem,
was gebraucht wird. Zudem bezweifeln
Experten die Höhe der Einnahmen.
Immerhin: Finanzminister Schäuble hat
vergangene Woche ein Investitionspaket in
Höhe von zehn Milliarden Euro angekündigt,
um Straßen und Brücken zu sanieren.
Das Geld soll von 2016 bis 2018 fließen.
Bis dahin verkämpft sich Deutschland im
Klein-Klein. Wenn es um Erhalt und Ausbau
der Verkehrswege geht, finden alle Bundesländer
Argumente, warum ausgerechnet
bei ihnen der Bedarf am höchsten ist. Gerade
erstellt der Bund den neuen Verkehrswegeplan,
der definiert, wohin die Neubauinvestitionen
fließen sollen. Etwas Regionalproporz
ist bei der Vergabe der Milliarden
unvermeidbar, aber erstmals soll es um
bundesweite Prioritäten gehen.
Ein Lob an Baden-Württemberg und
Hamburg, die ihre Top-Projekte vorab ausgesucht
haben. Bayern dagegen hat alles
nach Berlin gemeldet, was gebaut werden
könnte – die Beamten verzweifeln. Grundsätzlich
werden Vorhaben von den Ländern
schöngerechnet, indem sie die Kosten niedrig
ansetzen. „Wir akzeptieren nicht mehr
eins zu eins die Angaben der Länder“, sagt
ein hochrangiger Beamter des Bundesverkehrsministeriums.
Bis 2015 soll der neue
Bau- und Fahrplan stehen.
So etwas könnte Deutschland auch für
die digitale Infrastruktur brauchen. Es hinkt
beim Glasfaseranschluss international
deutlich hinterher. Der Anteil der Haushalte
mit ultraschnellem Internet liegt unter zehn
Prozent. Zum Vergleich: In Japan und Südkorea
surft jeder Zweite über ein hochgerüstetes
Glasfasernetz.
Energie
Kurzer Draht statt lange Leitung
Ein Verfechter der Energiewende ist Horst
Seehofer schon, sagt er. Doch wenn es um
den Bau von Stromtrassen durch das schöne
Bayern geht, reiht sich der CSU-Chef gerne
in die demonstrierende Phalanx der Gegner
ein. Wie in Bergen im Chiemgau. „Ich werde
mich dafür einsetzen, dass diese Trasse
nicht kommt“, rief er den applaudierenden
400 Einwohnern zu.
Großprojekte geraten in Deutschland immer
öfter ins Stocken. In den Siebzigerjahren
wurden 10000 Kilometer Stromtrassen
durchs Land gezogen – ohne großen Widerstand.
Heute wächst der Unmut bei einem
Drittel an neuen Starkstromstrippen. Ein Dilemma:
Der Netzausbau ist für das Gelingen
der Energiewende unabdingbar, um vor allem
den Windstrom aus dem Norden in den
Westen und Süden zu leiten, wo die Industrie
ihn braucht.
Nun lässt die Bundesregierung untersuchen,
wie der wachsende Widerstand gegen
Großprojekte zu brechen wäre. Forschungsministerin
Johanna Wanka (CDU) unterstützt
Begleitstudien mit 30 Millionen Euro.
Die sollen ans Licht bringen, welche Art der
Bürgerbeteiligung bei Großprojekten funktioniert.
Ergebnisse werden aber erst in zwei
bis drei Jahren vorliegen.
Bis dahin hat sich der Widerstand weiter
professionalisiert. Schon beim Bahnhofsbau
Stuttgart 21 wurde deutlich: Die Gegner sind
hoch gebildet und arbeiten sich in Details
ein. Auf Informationsveranstaltungen und
Dialogforen muss man inzwischen „Fachgespräche
führen“, heißt es bei einem Übertragungsnetzbetreiber.
Finanzausgleich
Die Länder als kassenlose Gesellschaft
Wenn beim Schachspiel das Zeitlimit erreicht
ist, wird traditionell das Spiel unterbrochen,
die Spieler notieren den nächsten
Zug, und es gibt eine Pause. Schachspieler
lieben das, es ist die große Zeit der Analyse.
Sie nennen es eine „Hängepartie“.
In der Politik liegt die Sache anders. Hängepartien
sind hier nur eine Metapher und
nicht Ausnahme, sondern Regel. Und die
besagt: Stockt die Partie, kann man die Reform
gleich ganz vergessen.
Da klang es gut, was Hamburgs Erster Bürgermeister
Olaf Scholz (SPD) im Sommer
vorschlug: „Nach meinen Gesprächen mit
vielen Beteiligten bin ich optimistisch, dass
es keine Hängepartie geben wird.“
2019 stehen in Deutschland einige der
wichtigsten Reformen der kommenden Dekade
an. Der Länderfinanzausgleich läuft
aus, zugleich endet der Solidarpakt, und die
Schuldenbremse tritt auch für die Länder in
Kraft. 2019 klingt weit weg, doch große Reformen
brauchen Zeit und Mehrheiten. Bis
zur „Mitte der Legislaturperiode“, also zum
Sommer 2015, müsse man sich einigen, um
den Zeitplan zu halten, heißt es deshalb im
Koalitionsvertrag. Um das zu schaffen, sollten
sich die Finanzminister von Bund und
Ländern im Herbst einigen, die Ministerpräsidenten
bis Anfang 2015 zustimmen. So
weit der Plan.
»
WirtschaftsWoche 10.11.2014 Nr. 46 23
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Politik&Weltwirtschaft
»
Doch Scholz’ Hoffnung trug nur einen
Sommer. Schon die Finanzminister scheitern
an der Einigung, manche sind inzwischen
schon stolz, dass es inzwischen wenigstens
gelungen ist, alle Reformvorschläge
zusammenzutragen. Dabei liegt vielleicht
genau darin das Problem.
Ein paar Beispiele: Scholz und Schäuble
möchten den Solidaritätszuschlag abschaffen
und stattdessen die Länderanteile an den
gemeinsamen Steuern erhöhen; NRW-Finanzminister
Norbert Walter-Borjans (SPD)
will den Soli durch einen Altschuldentilgungsfonds
ersetzen; aus Hessen kommt die
Idee, Berlin aus dem Länderfinanzausgleich
herauszulösen und direktdurch den Bund zu
finanzieren; Baden-Württemberg und Bayern
schlagen vor, den Ländern mehr Freiheiten
beider Festsetzungeinzelner Steuersätze
einzuräumen; die ostdeutschen Bundesländer
und NRW fordern, die Steuerkraft der
Kommunen zu 100 Prozent in die Ausgleichsberechnung
einzubeziehen; Bayern
will vor allem, dass die Gesamtzahlungen
sinken.
So ist halt Politik, sagen die Achselzucker.
Jeder trägt vor, was er will, und sucht sich
Verbündete. Am Ende gibt es einen Kompromiss,
der keinem gefällt. Macht gegen
Macht, auf dass der Stärkere gewinnt.
Kompromissvorschläge sind heute reine
Deals. Schäuble bietet den Ländern, die
Schuldenbremse abzuschwächen, wenn sie
dafür seinem Stabilitätsrat mehr Macht geben.
Gib du mir, dann gebe ich dir. Flankiert
wird all das von Drohungen und Anfeindungen.
SaarlandsMinisterpräsidentin Annegret
Kramp-Karrenbauer (CDU) meint, ihr Bundesland
seiohne die TilgungvonAltschulden
nicht lebensfähig. Es werde dann Länderfusionen
„geben müssen“. Bayerns Finanzminister
Markus Söder (CSU) will nur noch „gegen
Auflagen“ Geld nach Norden schicken.
So beginnt die Eskalationsspirale: Je höher
die Forderungen, desto größer der potenzielle
Gesichtsverlust und umso geringer die
Kompromissbereitschaft. Am Ende der Hängepartie
steht ein Ergebnis, bei dem jeder
ein bisschen was bekommt – und sich an
den Problemen nichts ändert.
Beim Schach gibt es heutzutage übrigens
kaum noch Hängepartien. Da in den Pausen
immer öfter per Schachcomputer geschummelt
wurde, wird heutzutage einfach
durchgespielt. Egal, wie lange es dauert. Nur
so als Idee.
n
henning.krumrey@wiwo.de, konrad fischer, bert losse,
christian schlesiger | Berlin, cordula tutt | Berlin
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STREIKFOLGEN
Stillstand
am Band
Der Ausstand der Lokführer kommt
die Wirtschaft teuer.
Der Streik der GDL-Lokführer
hat nicht nur private
Bahnfahrer in Rage
versetzt. Unternehmen
der Automobilwirtschaft,
Chemie-, Energie- und
Stahlindustrie kostete der aufgezwungene
Stillstand im Güterverkehr nach ersten
Schätzungen des Instituts der deutschen
Wirtschaft Köln mehr als 100 Millionen Euro
pro Tag – durch nicht eingehaltene Liefertermine,
fehlende Teile, Stillstand am
Band. „Viele Unternehmen haben einen
Puffer für 24 Stunden“, sagt Christian Kille,
Professor für Handelslogistik an der Hochschule
Würzburg. „Ab 48 Stunden kann es
kritisch werden.“ Logistik sei nicht mit dem
Personenverkehr vergleichbar: „Man kann
nicht an einem Streiktag auf Auto oder
Fernbus umsteigen.“
Steht die Bahn still, schlägt das auf die
gesamte Logistikbranche durch. „In den
Häfen und Güterbahnhöfen müssen die
Mitarbeiter jetzt Überstunden machen“,
sagt Frank Huster, Hauptgeschäftsführer
des Deutschen Speditions- und Logistikverbands.
Dort müssten nun Güter auf
Lkws umgeladen werden. Huster: „Das
bedeutet höhere Kosten für die Spediteure
und damit am Ende für die Kunden.“
Im Duisburger Hafen wird rund ein Drittel
der ankommenden Waren über die
374 Mio. Tonnen Güter
wurden 2013 in Deutschland auf der Schiene
befördert, darunter:
Metall
Erze, Steine, Erden
Mineralölerzeugnisse
Chemie
13 Mio. t
30 Mio. t
Fahrzeuge
Quelle: Statistisches Bundesamt
52 Mio. t
47 Mio. t
61 Mio. t
Schiene abtransportiert. Die Deutsche
Bahn sei für gut 50 Prozent des Schienenverkehrs
verantwortlich, so Hafen-Chef
Erich Staake. „Bei den vergangenen
Streiks fuhr gut ein Dutzend Züge nicht.
Jetzt rechne ich mit der drei- bis vierfachen
Menge.“ Die Wettbewerber der Bahn
können nur einen Teil zusätzlich aufs Gleis
bringen.
In Branchen wie der Automobilindustrie
regiert die Just-in-time-Produktion, Zuliefer-
und Herstellungstermine sind aufeinander
abgestimmt. Die Konzerne und ihre
Zulieferer gehören zu den größten Kunden
der Bahn, für sie sind täglich rund 200 Güterzüge
unterwegs. Wie viel die vom Verband
der Automobilindustrie prophezeiten
„erheblichen Behinderungen in den Transportabläufen“
tatsächlich gekostet haben,
sagen die Hersteller nicht.
LKW STATT GÜTERZUG
Bei Ford in Köln gelangten 1000 Autos, die
mit der Bahn transportiert werden sollten,
per Lkw und Schiff ans Ziel. In Saarlouis
lud der Hersteller 250 Autos kurzerhand
in Lkws statt auf den Güterzug. Weitere
500 Pkws wurden vor Ort zwischengelagert.
„Diese Maßnahmen gehen mit zusätzlichen
Kosten einher“, hieß es bei Ford,
konkreter wollte man nicht werden. Auch
Audi, zu dessen Werk in Ingolstadt täglich
rund 15 Güterzüge rollen, wich punktuell
auf Lkws aus.
„Die subtile Botschaft ist, dass die Bahn
kein zuverlässiger Verkehrsträger ist“, sagt
Gunnar Gburek vom Bundesverband Materialwirtschaft,
Einkauf und Logistik. Unter
den rund 9500 Mitgliedern würden sich
Entscheider„sehr gut überlegen, ob sie das
Risiko eingehen, dass die benötigte Ware
nicht kommt, weil die Bahn streikt“.
„Für den Handel ist der Streik eine Katastrophe“,
sagt Stefan Genth, Hauptgeschäftsführer
des Handelsverbands
Deutschland. „Wenn die Kunden aus Angst
vor dem Verkehrschaos zu Hause bleiben,
schlägt das auch auf die Umsätze der
Händler in den Innenstädten durch“, befürchtet
er – „und das ausgerechnet zum
Start ins Weihnachtsgeschäft.“ Zudem kämen
Tausende Beschäftigte üblicherweise
mit der Bahn zur Arbeit. Die Mitarbeiter
seien im Verkauf und an den Kassen unverzichtbar,
so Genth: „Da hilft auch kein
Home Office.“
rebecca.eisert@wiwo.de, sebastian schaal,
thomas glöckner, jacqueline goebel, henryk hielscher
FOTO: FOTOLIA
24 Nr. 46 10.11.2014 WirtschaftsWoche
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Politik&Weltwirtschaft
UNTERNEHMEN
»Hohe Cash-Reserven«
Im Gegensatz zur Politik hält sich die deutsche Wirtschaft konsequent an ihr Fitnessprogramm. Mit viel
Eigenkapital und stetigen Innovationen ist sie für den absehbaren konjunkturellen Abschwung gut gerüstet.
Es war der nützliche Schock fürs Leben.
„Seit der Finanzkrise haben sich die deutschen
Unternehmen permanent solide
aufgestellt“, sagt Alexander Börsch, Leiter
Research beim Prüfungs- und Beratungsunternehmen
Deloitte. „Bis heute
agieren sie vorsichtig, betreiben kontinuierlich
aktives Kostenmanagement,
konzentrieren sich auf Innovationen und
Mit Substanz in den Abschwung
Eigenkapital und Eigenkapitalquote der Dax-Unternehmen
Name
Adidas
Allianz
BASF
Bayer
BMW
Beiersdorf
Commerzbank
Continental
Daimler
Deutsche Bank
Deutsche Börse
Deutsche Lufthansa
Deutsche Post
Deutsche Telekom
E.On
Fresenius Medical Care
Fresenius
HeidelbergCement
Henkel
Infineon Technologies
K+S
Lanxess
Linde
Merck
Munich Re
RWE
SAP
Siemens
ThyssenKrupp
Volkswagen
Zahlen gerundet, Quelle: Deloitte. 2. Quartal 2014
halten hohe Cash-Reserven bereit.“ Die
Wirtschaft, so lautet die Erkenntnis einer
breit angelegten Umfrage bei 148 Finanzvorständen
(CFO) von deutschen Großunternehmen,
hält sich bis heute fit. Auch
um notfalls für einen neuen Schock gerüstet
zu sein.
Der Gegensatz zur Politik könnte kaum
größer sein. In Berlin ist die große Koalition
Eigenkapital 2014
(in Mrd. Euro)
5,5
57,8
26,9
19,5
36,4
3,5
27,3
10,1
42,7
68,4
3,3
5,0
8,9
32,5
35,4
10,3
14,2
12,6
10,4
3,9
3,6
2,3
13,5
11,2
27,7
11,7
16,2
28,3
3,2
89,7
Eigenkapitalquote 2014
(in Prozent)
46,3
7,7
39,3
35,6
25,1
57,3
4,7
35,7
24,3
4,1
1,2
16,6
26,1
27,5
27,3
42,8
40,0
46,4
53,9
65,7
45,6
32,3
40,8
52,2
10,5
13,8
57,2
28,0
8,7
26,7
Veränderung zu 2008
(in Prozentpunkten)
14,5
3,4
–1,8
1,7
1,3
5,1
2,2
9,8
–3,3
2,4
–1,0
–11,3
21,5
–7,6
–4,6
2,8
0,8
14,8
19,5
20,8
9,0
–1,2
4,7
–9,4
0,1
1,3
11,1
–8,9
–17,2
4,0
von Union und SPD vor einem Jahr angetreten,
Sozialleistungen für Zigmilliarden
Euro zu verteilen. Entsprechend hoch
sind die Soziallasten, die auf die Erträge
der Unternehmen drücken. Vorbei sind
die Zeiten der rot-grünen Agenda 2010,
die überzogene Ansprüche an den Sozialstaat
beschnitten hat und der deutschen
Wirtschaft dabei half, ihre Wettbewerbsfähigkeit
zurückzugewinnen. Mit ihren gesetzlichen
Eingriffen avanciert die große
Koalition zu einem der größten Risikofaktoren
für die Wirtschaft, lautet ein Ergebnis
der Deloitte-Umfrage unter Finanzvorständen.
Die Sorge vor einer politischen
Strangulierung übersteigt die vor höheren
Lohn- oder Energiekosten.
Die guten Zeiten des fünfjährigen Aufschwungs
sind dabei schon passé. 68
Prozent der Finanzvorstände rechnen damit,
dass die aktuelle Konjunkturschwäche
in der Euro-Zone nur der Vorbote einer
längeren Stagnation ist. 37 Prozent
erwarten sogar eine Rückkehr der Euro-
Krise, nur drei Prozent glauben, diese sei
überwunden. Das deckt sich mit dem aktuellen
Wirtschaftsausblick der OECD:
„Die Finanzrisiken sind nach wie vor hoch
und könnten dazu führen, dass sich
Marktschwankungen verstärken“, warnte
OECD-Generalsekretär Angel Gurría am
Donnerstag vergangener Woche in Paris.
Vor allem im Euro-Raum bestehe die Gefahr
einer Stagnation.
MITARBEITER NICHT ENTLASSEN
Trotzdem wollen sich die Unternehmen
nicht von ihrem Kurs der vergangenen
Jahre verabschieden. „Die strategischen
Prioritäten und Investitionsplanungen
sind weitgehend konstant“, heißt es im
CFO-Survey von Deloitte. Die Neigung
nimmt sogar leicht zu, die Wettbewerbsfähigkeit
durch neue Produkte und Expansion
in neue Märkte abzusichern. Die
meisten Unternehmen wollen auch weiterhin
Mitarbeiter einstellen. Den Abbau
von Personal plant allein die Energiebranche.
Statt Fachkräfte zu entlassen, wollen
26 Nr. 46 10.11.2014 WirtschaftsWoche
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die meisten Unternehmen in den nächsten
Monaten lieber niedrigere Gewinne in Kauf
nehmen.
Wie gut Deutschlands Wirtschaft für
schlechtere Zeiten gerüstet ist, zeigt ein
Blick in die Geschäftsberichte, genauer gesagt
auf die Entwicklung des Eigenkapitals.
Allein die 30 großen Dax-Unternehmen verfügten
Mitte dieses Jahres über insgesamt
642 Milliarden Euro Eigenmittel, das sind
158 Milliarden Euro mehr als 2008, also am
Ende des vorangegangenen Konjunkturaufschwungs.
Die Eigenkapitalquoten verbesserten
sich dabei um durchschnittlich fast
drei Prozentpunkte auf 31,4 Prozent.
Noch besser sind die großen Familienunternehmen
aufgestellt. Die 4500 größten
von ihnen kamen Ende 2013 auf eine
durchschnittliche Eigenkapitalquote von
37,3 Prozent, geht aus einer gemeinsamen
Studie des Industrieverbandes BDI und der
Deutschen Bank hervor.
BERUHIGENDER CASH-FLOW
Manche Familienunternehmen haben in
Wirklichkeit noch viel besser vorgebaut.
68 Prozent
der Finanzvorstände
erwarten
eine Stagnation
Das Motorsägen-Imperium Stihl weist offiziell
bereits beachtliche 68 Prozent Eigenkapital
aus. Einschließlich Rückstellungen,
Genussrechten der Mitarbeiter und Gesellschafterdarlehen
steigt die Zahl aber auf
weit über 90 Prozent. An Verbindlichkeiten
gegenüber Kreditinstituten stehen in den
Büchern lediglich 1,3 Prozent der Bilanzsumme.
Schwäbische Solidität bedeutet im
Hause Stihl, den größten Teil der Gewinne
zu reinvestieren. Davon könnte sich die
Bundesregierung eine Scheibe abschneiden,
die den Großteil ihrer Steuereinnahmen
für Soziales ausgibt und sich für
ihre schwarze Null abquält, während die
Investitionsquote auf historisch niedrigem
Niveau dahindümpelt.
Eine weitere Lehre aus der großen Finanzkrise
2009 lautet für die Wirtschaft:
Immer an die Liquidität denken! Denn
damals, als Aufträge und Kreditlinien
wegbrachen, ging so manches kerngesundes
Unternehmen an plötzlichem
Geldmangel zugrunde. Die Optimierung
des operativen Cash-Flows, ein Indikator
für die Selbstfinanzierungskraft, „steht
für viele Unternehmen ganz oben auf der
Agenda“, sagt Markus Seeger, Experte
für CFO Services bei Deloitte. „Auch
die Barreserven sind auf einem Stand,
der die Unternehmen unabhängiger von
externen Finanziers macht.“
Von einem solchen Polster mag Bundesfinanzminister
Wolfgang Schäuble
nicht einmal träumen. Keine neuen
Schulden machen, das ist sein großes
Ziel. Ein moderner Juliusturm mit milliardenschweren
Reserven für schlechte Zeiten
ist offenbar fern jeder Vorstellungskraft
im Berliner Regierungsviertel. n
christian.ramthun@wiwo.de | Berlin
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Politik&Weltwirtschaft
Nahbarer Profi
EU-KOMMISSION | Als Chefin der Wettbewerbsbehörde ist Margrethe Vestager eine der mächtigsten
Personen in Brüssel. In Dänemark diente die Liberale als Vorbild für die Erfolgsserie „Borgen“.
Seit sie in Brüssel ist, wundert sie sich
über dieses seltsame Konzept von
oben und unten. Auf der Suche nach
einem neuen Zuhause für sich und ihre Familie
ließ sich Margrethe Vestager von
Maklern durch diverse Häuser führen. „Im
Untergeschoss angekommen, deuteten
Makler auf Kammern und empfahlen sie
für Dienstboten“, erzählt Vestager und
schaut entsetzt.
Die Anekdote sagt etwas aus über den
Brüsseler Immobilienmarkt, wo Investoren
mit leichter Hand Keller zu Wohnraum
umdeklarieren und auf Diplomaten als
Kunden hoffen. Sie sagt aber vor allem viel
aus über eine Frau, die es in der dänischen
Politik nach ganz oben geschafft hat und
dabei ihr einstiges Image als kalte Liberale
ablegte. Vestager lässt es menscheln, zeigt
eine persönliche Seite. Dennoch verfolgt
sie ihre Ziele mit großer Entschlossenheit.
In ihrer Heimat führte sie als Vize-Ministerpräsidentin
regelmäßig die Rangfolge
der einflussreichsten Politiker an. Als sie
von 2007 bis 2011 an der Spitze der sozialliberalen
Oppositionspartei Radikale Venstre
stand, faszinierte sie die dänische Öffentlichkeit
so sehr, dass sie der Erfolgs-
Fernsehserie „Borgen“ als Vorbild diente.
Seit Monatsbeginn hat die Mutter dreier
Töchter (11, 15 und 18 Jahre alt) nun einen
der mächtigsten Posten in der neuen EU-
Kommission unter Präsident Jean-Claude
Juncker inne: Als Wettbewerbskommissarin
kann sie Kartellstrafen in Milliardenhöhe
verhängen, Fusionen untersagen und
den Mitgliedstaaten auf die Finger klopfen,
wenn diese unerlaubte Subventionen verteilen.
Ihre anstehende Entscheidung im
Fall Google, den sie von Vorgänger Joaquín
Almunia geerbt hat, wird Europas Antwort
auf die Vormacht von US-Internet-Giganten
bestimmen. Von ihr wird abhängen, ob Europa
Steuerschlupflöcher schließt, die Konzerne
wie Apple und Starbucks in Ländern
wie Luxemburg bisher ausgenutzt haben.
Diejenigen, die Vestager gut kennen,
halten sie für eine Idealbesetzung. „Sie ist
ein Glücksfall“, sagt ein hoher EU-Beamter,
Es dürfte ihr relativ
leicht fallen, sich
zu profilieren
Vom Rand in die Mitte Margrethe Vestager
begann ihre Karriere im eher linken Lager
der mit ihr in ihrer Zeit als dänische Wirtschaftsministerin
eng zusammengearbeitet
hat. Im Oktober 2011 trat sie dieses Amt
an, nachdem sie 1998 mit nur 29 Jahren
zum ersten Mal Ministerin geworden war,
damals für Bildung und Kirche. Nie zuvor
hatte es in Dänemark ein so junges Kabinettsmitglied
gegeben.
CHARMEOFFENSIVE
An ihrem zweiten Arbeitstag als Wirtschaftsministerin
stand ein Treffen des
Wirtschafts- und Finanzministerrats (Ecofin)
in Brüssel an. Als sie drei Monate später
den Vorsitz der dänischen Ratspräsidentschaft
übernahm, fielen ihre gute Vorbereitung
auf und ihr Talent, Brücken zu
bauen. „Sie vermittelte zwischen Kampfhähnen
und war dabei nicht ideologisch fixiert“,
heißt es in Brüssel.
Von der Masse ihrer Kollegen, nur eine
Handvoll davon weiblich, hob sie sich
durch ihren Charme ab. „Sie kennt ihre
Wirkung und setzt sie gezielt ein“, sagt ein
Lesen Sie weiter auf Seite 30 »
FOTO: PICTURE-ALLIANCE/SCANPIX/JONAS SKOVBJERG
28 Nr. 46 10.11.2014 WirtschaftsWoche
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NEW YORK | Aus
dem Central Park
sollen die Pferde
verschwinden.
Warum nur? Von
Martin Seiwert
Pferde raus,
Autos rein
FOTO: SASCHA PFLAEGING FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE
Wenn die Zeit reicht,
gehe ich morgens durch
den Central Park in die
Redaktion. Dabei stets in
Sichtweite: die Pferdekutschen,
in denen sich
Touristen durch die grüne Oase Manhattans
befördern lassen. Die Tiere haben in
einem der schönsten Parks der Welt wohl
kein echtes, aber sicherlich auch kein
schlechtes Pferdeleben.
Für New Yorker Tierschützer ist das
Kutschengeschirr dagegen per se eine
Quälerei. Mit ihrer Forderung, die traditionellen
Pferdewagen abzuschaffen,
mischten sie sich 2013 in den Bürgermeister-Wahlkampf
ein. Damit blitzten sie
zwar bei einem Großteil der New Yorker
ab, doch der demokratische Kandidat Bill
de Blasio schielte auf die Wählerstimmen
von Tierfreunden, outete sich als Kutschengegner
– und gewann.
„Sehr schnell“, tönte de Blasio kürzlich,
werde er nun die Pferde aus dem
Central Park verbannen. Doch geht es
ihm mit seiner unpopulären Mission vielleicht
gar nicht um die Pferde? Steht er
nicht vielmehr bei seinem alten Buddy
Stephen Nislick in der Pflicht – einem
Parkplatz-Magnaten, der die Pferdeställe
am Central Park durch einen multimillionenteuren
Garagenkomplex ersetzen
möchte? Nislick hatte sich im Wahlkampf
mit den Tierschützern verbündet, ideell
wie finanziell. Diese verdächtige Verbindung
untersucht inzwischen das FBI.
Ein korrupter Bürgermeister, Tierschützer
als heimliche Vorkämpfer für
Autogaragen und FBI-Agenten auf den
Spuren eines Parteispendenskandals?
Der Central Park, so viel steht fest, ist nur
für den flüchtigen Betrachter ein Idyll.
Martin Seiwert ist Korrespondent der
WirtschaftsWoche in New York.
WirtschaftsWoche 10.11.2014 Nr. 46 29
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Politik&Weltwirtschaft
»
Mann, der dabei war. „Es geht ihr dabei
aber immer um einen Zweck.“
Die Euro-Krise drückte damals auf die
Stimmung, machte unangenehme Entscheidungen
notwendig. Während andere
an ihrem Amt litten, blühte Vestager bei
den Sitzungen in den fensterlosen Räumen
des Justus-Lipsius-Gebäudes auf. „Was an
der Arbeit im Ecofin so Spaß macht, ist der
Umstand, dass man die Märkte wirklich
beeinflusst“, sagt sie heute. Sie genoss den
engen Kontakt zu den anderen Ministern,
die sie bei den Sitzungen im Monatstakt
kennenlernte. Trotz unterschiedlicher Interessen
war die Zusammenarbeit oft einfacher
als in der Koalition zu Hause: „Man
hat ja nicht dieselben Wähler.“
In ihrer Zeit im Ecofin bekam sie Lust auf
ein Brüsseler Amt. Als feststand, dass die
dänische Regierungschefin Helle Thorning-Schmidt
nicht nach Brüssel wechseln
würde, kam Vestagers Chance. Nachdem
Juncker angekündigt hatte, Frauen mit
wichtigen Posten zu betrauen, war klar,
dass die studierte Ökonomin ein einflussreiches
Amt bekommen würde.
Von ihrem Vorgänger übernimmt Vestager
eine lange Liste komplexer Fälle, neben
Google auch die politisch heikle Untersuchung
gegen Gazprom wegen einer möglichen
Manipulation von Gaspreisen. Vestager
geht mit einer gewissen Bescheidenheit
ins Amt:„Man sollte nicht den Ehrgeiz
haben, die europäische Wettbewerbspolitik
zu revolutionieren.“
MITTELMÄSSIGE VORGÄNGER
Es dürfte ihr relativ leicht fallen, sich zu
profilieren, hinterließ doch keiner ihrer
beiden Vorgänger eine glanzvolle Bilanz.
Die Niederländerin Neelie Kroes legte sich
zwar ausdauernd mit Microsoft an, vermittelte
aber nie den Eindruck, das Thema
Wettbewerb intellektuell zu durchdringen.
Der spanische Ökonom Almunia neigte so
sehr zur Schwatzhaftigkeit, dass nun der
EU-Ombudsmann wegen Äußerungen im
laufenden Verfahren zu Euribor gegen ihn
ermittelt. Seine politischen Kehrtwenden
demotivierten die eigenen Mitarbeiter und
ließen die Kommission nicht nur im Fall
Google schlecht aussehen. Vestager hat
verstanden, was ihre Generaldirektion, das
Heer der Brüsseler Kartellanwälte, aber
auch die Öffentlichkeit von ihr erwarten.
Sie sagt nun Sätze wie: „Berechenbarkeit ist
ein hohes Gut, wenn es um Wettbewerbsentscheidungen
geht.“
Bei ihrer Anhörung im EU-Parlament
legte sie einen souveränen Auftritt hin.
Dickes Fell Auf Wettbewerbskommissarin
Vestager warten heikle Fälle
Routiniert antwortete sie auf die Fragen
der Abgeordneten, verzichtete im Zweifel
darauf, zu viel zu sagen. Auch das zeichnet
sie als erfahrene Politikerin aus.
Im neuen Job wird sie oft Härte zeigen
müssen, um sich dem Druck von Konzernen
und Regierungen zu entziehen. „Sie
hat keine Angst davor, Nein zu sagen“, beobachtet
ihre Biografin Elisabet Svane.
Konflikte zeichnen sich schon zu Beginn
ihrer Amtszeit ab, auch mit Kommissionschef
Juncker. Die Steuerschlupflöcher in
»Die Dänen
mögen sie oder
lehnen sie ab«
Biografin Elisabet Svane
Junckers Heimat Luxemburg sind in seiner
Zeit als Premier entstanden. Es ist nicht zu
erwarten, dass er seiner Wettbewerbskommissarin
den Rücken stärken wird, hart gegen
die Steuerprivilegien vorzugehen.
Auch bei den digitalen Märkten, die Vestager
ausdrücklich als eine ihrer Prioritäten
nennt, steuert sie auf eine Kollision mit
Juncker sowie mit Digitalkommissar Günther
Oettinger zu. Juncker hat im Wahlkampf
ein Umdenken bei den Wettbewerbsregeln
gefordert, um etwa Fusionen
im Telekombereich möglich zu machen.
Auch Oettinger betont in diesen Tagen gerne,
dass Europa die großen Player im Telekombereich
fehlen. Vestager hält von einer
solchen Art der Industriepolitik nichts, bei
der Unternehmen auf Kosten der Verbrau-
cher geschützt werden. „Die beste Art, sich
auf Wettbewerb im Ausland vorzubereiten,
ist zu Hause wettbewerbsfähig zu sein“,
lautet ihr Credo.
Ihre liberale Grundeinstellung hat Vestager
von ihren Eltern mitbekommen, beide
Pastoren und beide Mitglieder von Radikale
Venstre. Mit 25 bewarb sich Vestager, damals
Beamtin im Finanzministerium, erstmals
um ein Parlamentsmandat, allerdings
auf einem aussichtslosen Listenplatz.
Doch andere von ihren Ansichten zu überzeugen
machte ihr so viel Spaß, dass ihr
Weg in die Politik vorgezeichnet war. Parteiführerin
Marianne Jelved machte sie
früh zu ihrer Kronprinzessin, vor sieben
Jahren übernahm Vestager den Parteivorsitz,
den sie nun mit ihrem Wechsel nach
Brüssel abgegeben hat.
Vestager verhalf der Partei, die damals ihre
zentrale Rolle als Königsmacherin in der
dänischen Politik verloren hatte und unter
der Abspaltung ihres rechten Flügels litt, zu
neuer Macht. 2011 kamen die Sozialliberalen
als kleiner Koalitionspartner der Sozialdemokraten
an die Macht. Als Wirtschaftsministerin
setzte sie durch, dass Arbeitslosengeld
von vier auf zwei Jahre gekürzt wurde.
Noch in der Opposition war sie treibende
Kraft für eine Reform der Frührente. Sie
sieht die Rolle des Staates darin, Menschen
zur Selbsthilfe zu verhelfen. Die Konsequenz,
mit der sie ihre Ziele verfolgt, hat ihr
Bewunderung und Abneigung gleichermaßen
eingebracht. „Dänen mögen sie oder
lehnen sie ab, dazwischen gibt es nichts“,
sagt Biografin Svane.
Vestager hat geschickt den Nachrichtendienst
Twitter genutzt, um sich als anfassbar
darzustellen. Vor dem Abschied aus Kopenhagen
buk sie ihren Mitarbeitern in der
Parteizentrale Kekse. Das ist dort ebenso
nachzulesen wie ihre Kommentare zu gemütlichen
Abenden auf dem Sofa mit Mann
und Töchtern vor dem Fernseher. Gatte
Thomas Jensen wird seinem Job übrigens
künftig aus Brüssel nachgehen – er lehrt
Mathematik und Philosophie per Internet.
Parteifreunde haben abgestritten, dass
die Politikerin das Vorbild für Brigitte Nyborg
in der Erfolgsserie „Borgen“ war.
Doch die Parallelen sind nicht zufällig.
Hauptdarstellerin Sidse Babett Knudsen
hat Vestager begleitet, um sich für ihre Rolle
vorzubereiten. Das Ergebnis sieht sich
Vestager gerne an, den politischen Alltag
findet sie akkurat abgebildet. Allerdings
mit einer Ausnahme: „Die vielen langatmigen
Sitzungen fehlen.“
n
silke.wettach@wiwo.de | Brüssel
FOTO: PICTURE-ALLIANCE/SCANPIX/JONAS SKOVBJERG
30 Nr. 46 10.11.2014 WirtschaftsWoche
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Politik&Weltwirtschaft
Das Ende vom Ende
ESSAY | Vor 25 Jahren rief Francis Fukuyama das „Ende der Geschichte“ aus. Was auf den Kalten Krieg
folgen würde, sei eine unendliche Friedensperiode des konstruktiven Miteinanders. Was für ein Irrtum!
Der Westen wird weltweit herausgefordert – und ist sich selbst feind geworden. Von Dieter Schnaas
FOTO: LAIF/CHRISTIAN BURKERT
Das „Ende der Geschichte“ zieht sich nun auch schon 25 Jahre
hin. Bekanntlich hat der amerikanische Politikwissenschaftler
Francis Fukuyama es ausgerufen, damals, nach
dem Fall der Mauer, in den glücklichsten Monaten des 20. Jahrhunderts.
Der Zusammenbruch der Sowjetunion und ihrer Satellitenstaaten
nährte 1989/90 die Hoffnung auf ein postideologisches
Zeitalter. Der Liberalismus hatte gesiegt, die Idee der Demokratie,
das Prinzip der Marktwirtschaft. Eine zeitlose Zeit universell
geltender Werte schien anzubrechen, eine Ära der Internationalisierung
des Rechtsstaats und der Menschenrechte. Haben wir
damals nicht alle geglaubt,
dass dem Westen nur noch die
Aufgabe verbleibt, sein allgemein
anerkanntes Zivilisations- und
Wohlstandsprojekt zu globalisieren?
Dass der Rest der Welt nur
darauf wartet, mit den Vorzügen
unseres Fortschrittsmodells beglückt
zu werden? Das „Ende der
Geschichte“, so dachten wir, sei eine
ins Unendliche laufende Friedensperiode
des konstruktiven
Miteinanders. Die ereignishafte
Zeit der Kriege und Schlachten löse
sich auf in einem gemeinsamen
Weltregieren nach Maßstab der
abendländischen Vernunft, in der
ständigen Verfeinerung von Global
Governance – in der Lösung
der großen Menschheitsaufgabe,
aus der harmonia mundi eine
maxima harmonia mundi zu machen.
Welch ein Irrtum!
25 Jahre nach dem Fall der Mauer
ist der Westen fast überall auf der Welt in der Defensive. Militärisch
überfordert, finanziell erschöpft und ideologisch ausgepumpt,
hat er rund um den Globus an Attraktivität eingebüßt. Einer
Studie der Bertelsmann-Stiftung zufolge gab es in den meisten
Demokratien zwischen 2011 und 2013 Rückschritte. Indien und
Brasilien verzichten auf die Rezepte westlich dominierter Organisationen
wie IWF und Weltbank. In Japan und in der Türkei machen
sich militante Kulturnationalismen breit. Chinesische Parteikader
verbitten sich mit provozierend gelangweilter Routine Belehrungen
in Sachen Meinungsfreiheit und Menschenrechte. Wladimir
Putin bringt in Russland völkisches Testosteron in Stellung
gegen alles, was er als Dekadenz des Liberalismus verunglimpft.
Und religiöse Fundamentalisten in der arabisch-afrikanischen
Welt haben für unsere Toleranz- und Pluralitätsvorstellungen nur
Hass und Verachtung übrig.
Gute Zeiten Im Kosovo 1999 wurde der USA-geführte Westen
als Garant der Freiheit und Selbstbestimmung gefeiert
Noch schwerer als die Anfeindungen von außen wiegt der
Druckabfall im Innern des transatlantischen Wertesystems. Der
Westen hat sich, so der Politikwissenschaftler Herfried Münkler, zu
einem Ensemble „postheroischer“ Nationen entwickelt, das weltpolizeiliche
Aufgaben, wenn überhaupt, nicht wehrhaft-entschlossen
(Europa), sondern nur noch sporadisch-selektiv wahrnimmt
(USA) – zu einem Ensemble, das demografisch schwächelt, wirtschaftlich
kriselt und seine Herausforderung provoziert. Zugleich
ist der Westen sich selbst beängstigend fremd, ja: feind geworden.
Er hat im Namen der Freiheit völkerrechtswidrige Kriege geführt
(Kosovo), erfundene Schuldbeweise
zur Rechtfertigung für Militäraktionen
herangezogen (Irak),
Hunderte Zivilisten durch Drohnenangriffe
getötet (Afghanistan),
sich rechtsfreie Räume erschlossen,
um im Wege der Folter Informationen
zu erzwingen (Guantanamo),
und sich zuletzt sogar – unter
Freunden, die stolz sind auf ihre
Kultur der Gedankenfreiheit –
selbst ausspioniert (NSA, BND).
Das Selbst-Vertrauen in die
„westliche Wertegemeinschaft“, das
in den viereinhalb Jahrzehnten des
Ost-West-Konflikts viel „mehr war
als eine Beschwörungsformel“, so
der Historiker Heinrich August
Winkler, ist fürs Erste dahin. Das zuweilen
übermütige Gefühl moralischer
Meisterschaft ist Minderwertigkeitsängsten
gewichen. Der missionarische
Glaube an die Überlegenheit
einer wettbewerblich organisierten
Marktgesellschaft mündiger Staatsbürger droht in Ohnmachtszynismus,
Politikverachtung und Selbsthass umzuschlagen.
Viele Menschen in den USA und Europa sind von den Wachstumserträgen
der kapitalistischen Wirtschaftsform abgeschnitten. Sie haben
die Gürtel-enger-schnallen-Rhetorik so gründlich satt wie den prinzipienlosen
Liberalismus ihrer Regierungen. Sie gehen hurrapatriotisch,
chauvinistisch, fremdenfeindlich und antisolidarisch wählen.
DER AUFSTAND DER RECHTSPOPULISTEN
Im Ressentiment, das Wohlstandsverluste und Abstiegsängste an
Vorurteile und Befangenheiten bindet, liegen die gemeinsamen
Grundlagen der konservativ-fundamentalreligiös grundierten Tea
Party in den USA und der Rechtspopulisten in Europa. Beide Strömungen
initiieren einen Aufstand gegen das staatspolitische
Establishment mit seinen bürokratisch-zentralistischen Interes-
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WirtschaftsWoche 10.11.2014 Nr. 46 31
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Politik&Weltwirtschaft
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sen. Beide führen einen Feldzug gegen den linksliberalen Inklusionsdruck
und die Toleranzimperative der Guten und Gütigen.
Beide machen rhetorisch mobil gegen eine Permissivität, die ihnen
im Namen der Mitmenschlichkeit permanent Verständnis
und Einsicht abverlangt für alles, was ihnen gegen den Strich geht:
Homosexualität, Libertinage, Feminismus, Migration, das internationale
Kapital... „Putin verteidigt Europas Zivilisation“, sagt dann
zum Beispiel die französische Rechtsradikale Marine Le Pen, um
gegen Barack Obama, das geplante Freihandelsabkommen mit
den USA und die „europäische Sowjetunion“ in Brüssel zu wettern:
„Ich will die EU zerstören“, das „antidemokratische Monster“,
denn „Europa, das ist der Krieg, der Wirtschaftskrieg“.
GEDANKENLOSES FORTSCHREITEN
Das Problem ist, dass der Westen auf diesen Destruktionswillen
keine konstruktive Antwort mehr weiß. Das Ende des Kalten Krieges
und der politischen Religion hat in den USA und Europa nicht
etwa intellektuelle Energien freigesetzt, sondern, so der amerikanische
Wirtschaftswissenschaftler Mark Lilla, ein „geistiges Vakuum“
hinterlassen. „Seit den westlichen Demokratien die Herausforderung
in Gestalt des Kommunismus abhandengekommen ist“,
führt Winkler aus, „fehlt ihnen der
Ansporn, über die eigenen normativen
Grundlagen... nachzudenken.“
Insofern ist es bezeichnend,
dass wir uns an diesem 9. November
vor allem ex negativo unserer
selbst vergewissern: Wir stehen auf
gegen Unterdrückung, Gewalt, Nepotismus
und Machtanmaßung.
Aber wissen wir auch noch, wofür
wir einstehen? Offenbar reicht uns
die Positivität eines Liberalismus
nicht aus, dessen dünne, noch dazu
bitter enttäuschte Versprechen
darin bestehen, „Wohlstand für alle“
zu schaffen und jedem Einzelnen
so viel Freiheit wie möglich
einzuräumen. Ein Liberalismus,
der keine Verbindungslinien mehr
zu ziehen weiß zwischen 1789 und
1989. Dem der Sinn fehlt für die
lange, gewaltvolle Geschichte der
Säkularisierung und Emanzipation
im Abendland – und alles rückständig
schimpft, was er nicht auf der Höhe seiner Zeit meint. Es ist
ein Liberalismus, der gedankenlos fortschreitet, ohne Richtung
und ohne Ziel, über Traditionen und Milieus hinweg, über familiäre
Beziehungen und soziale Normen – Hauptsache, nach vorne,
immer nach vorne. Er grenzt das Außen, Andere und Fremde nicht
aus, sondern verwandelt es sich an und verleibt es sich ein. Auf der
Strecke bleibt das, wofür früher einmal der Begriff der „kollektiven
Identität“ zur Verfügung stand. Zu seiner Verteidigung will im Westen
niemandem mehr etwas einfallen.
Arnold Gehlen, der kulturkritisch-fortschrittsfreundliche Philosoph
und Anthropologe, hat die Ambivalenz des seelenlosen Fortschritts
bereits 1961 auf den Punkt gebracht: „Die Prämissen (der
Aufklärung) sind tot“, allein „ihre Konsequenzen laufen (noch)
weiter“. Angesichts von Jakobinismus, Faschismus und Stalinismus
war Gehlen selbstverständlich mit Theodor W. Adorno und
Schlechte Zeiten In Russland 2014 wird der USA-geführte
Westen als dekadente, imperiale Macht beschimpft
Max Horkheimer der Meinung, alle Hoffnung auf einen qualitativen
Vernunftfortschritt sei restlos überspannt. Den technisch-wissenschaftlich-ökonomischen
Fortschritt hingegen würdigte er „als
undurchbrechliches Lebensgesetz der Menschheit“. Gehlen
glaubte, dass das Haus der Moderne auf soliden Fundamenten stehe.
Sein Ausbau kenne kein immanentes Ziel mehr, gab er zu bedenken,
auch die Kultur drehe nur noch Pirouetten. Gleichwohl
werde der Ausbau zivilisatorisch vorangehen. Gehlen prägte dafür
– drei Jahrzehnte vor Fukuyama – den Begriff „post-histoire“. Er
meinte damit ein „Zeitalter der Unaufhörlichkeit“ mit anonymen
Superstrukturen, in der der Politik nur noch die Aufgabe verbleibe,
für Komfortoptimierung zu sorgen. Aus dem Ablauf der Ereignisse
sei jeder Wille, jeder Sinn, jedes Telos verschwunden. Der Rest der
Geschichte sei „Weitermachen um seiner selbst willen“, gepflegte
Langeweile: grau, zwangsläufig – und alternativlos.
Während Fukuyamas end of history im Anschluss an Hegel eine
optimistische Geschichtsphilosophie bezeichnet, in der sich die
Ideale Liberalismus, Marktwirtschaft und Demokratie im „absoluten,
vernünftigen Endzweck der Welt“ verwirklichen, ist Gehlens
post-histoire ein Synonym für das sinnlose Ausklingen historischer
Abläufe. Den Kern der westlichen Identitätskrise schält man daher
besser mit Gehlen als mit einer Widerlegung
von Fukuyama heraus:
Wenn schon politischer Fortschritt
als Folge von Alternativlosigkeiten
auf der Stelle tritt und auch die
Kultur sich in Selbstzitaten erschöpft,
darf nicht auch noch der
Kapitalismus als Wohlstandsmaschine
seinen Weltgeist aufgeben.
Genau das ist aber der Fall. Der Kapitalismus
ist zunehmend dysfunktional
geworden, er stellt die
Prinzipien der Marktwirtschaft
(Wettbewerb und Machtdiffusion)
zuweilen auf den Kopf, produziert
Macht und Ungleichheit und protegiert
die Macht globaler Banken
und Konzerne. Auch der demokratische
„Wandel durch Handel“, die
Lieblings-Leerformel der internationalen
Geschäftswelt, ist allzu oft
ausgeblieben. Stattdessen gerieren
sich autoritäre Kapitalismen
selbstbewusst als politökonomische
Konkurrenzprodukte. Das Nachsehen hat der Liberalismus
des Westens, nicht der globale Konzern. Der streut das Eigentum
seiner Aktionäre auch in Katar, Kuwait, Abu Dhabi. Berührt von
dieser Entwicklung sind auch Mitarbeiter, Kunden, Konsumenten:
Wenn das Kapital besonders gern dorthin geht, wo entweder die
Steuersätze oder die Löhne oder die Sozialstandards oder die Umweltauflagen
oder aber alles zugleich niedrig sind, stützt der Markt
nicht mehr die Funktionalität liberaler Ordnungen, sondern dann
akzeptiert er die Bedingungen, die er vorfindet – um den Preis seiner
Akzeptanz. Was der Westen daher derzeit dringend braucht, ist
interrogative Kraft. Seine Grundlagen – Liberalismus, Marktwirtschaft,
Demokratie – sind nach wie vor anziehend: Fast alle Staaten
weltweit meinen sich (abwehrend) auf sie beziehen zu müssen.
Sich infrage stellen hieße daher nichts weiter als: sich auf seine
Grundlagen besinnen. Und wieder bejahen lernen.
n
FOTO: IMAGO/ITAR TASS
32 Nr. 46 10.11.2014 WirtschaftsWoche
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Politik&Weltwirtschaft
Panik im Paradies
THAILAND | Die Ruhe nach dem Militärputsch trügt. Die politischen
Lager im Königreich stehen sich unversöhnlich gegenüber.
Nicht nur an der Basis, auch in der Führungsmannschaft
der Roten herrscht eine
Mischung aus Furcht und Zorn. Einer der
Top-Leute der United Front for Democracy
against Dictatorship (UDD) versteckt sich
in einem kleinen Büro. „Die einfachen
Leute haben seit dem Putsch nichts mehr
zu sagen, und die Militärs wollen das Rad
in nächster Zeit noch weiter zurückdrehen“,
klagt der Funktionär, der seit 2006 sieben
Mal im Gefängnis saß und aus Furcht
vor Repressalien anonym bleiben will. Die
UDD ist die größte formale Organisation
innerhalb der Bewegung der Roten.
Rot, so weit das Auge reicht. Die
Schaufenster der Buchhandlung im
sechsten Stock des Imperial World
sind von breiten roten Rahmen eingefasst.
Wenige Meter weiter hat der Fernsehsender
TV 24 seine Zentrale. Die Leuchtreklame
und Werbeplakate davor: alle rot. Gegenüber
geben zwei Glastüren den Blick
frei auf ein großzügiges Büro. Auch dort
sind die Wände rot gestrichen. Die sechste
Etage des Kaufhauses in der Bangkoker Innenstadt
ist so etwas wie das Hauptquartier
der sogenannten Rothemden, jener
politischen Bewegung, die dem 2006 geschassten
und immer noch populären Premier
Thaksin Shinawatra nahesteht.
Seit fast acht Jahren, mit einigen Unterbrechungen,
halten die Roten das Land mit
Protesten und Massendemonstrationen in
Atem. Ihre Gegner sind die Gelben, eine
Allianz aus großstädtischem Establishment,
dem Militär und Anhängern der Demokratischen
Partei. Immer wieder hatten
diese versucht, Macht und Einfluss der roten
Bewegung und ihrer demokratisch legitimierten
Regierungen zu beschneiden.
Ende Mai kehrte vorerst Ruhe auf den Straßen
der thailändischen Hauptstadt ein: Die
Armee unter ihrem Chef Prayuth Chanocha
verhängte das Kriegsrecht und
Schutzpatron der alten Machthaber General
und Premierminister Prayuth Chan-ocha
putschte die demokratisch gewählte Regierung
unter Thaksins Schwester Yingluck
und ihrer Pheu-Thai-Partei von der Macht.
Jetzt sitzen ihre Anhänger auf den Fluren
des Kaufhauses zwischen Büros, kleinen
Läden, Cafés und Gemüseständen und
vertreiben sich die Zeit mit Kartenspielen.
Gesprochen wird im Flüsterton, denn die
Angst ist groß, die Wut kaum weniger. Regelmäßig
patrouillieren Soldaten; wegen
des Kriegsrechts kann jeder ohne Begründung
verhaftet werden.
Wird verehrt wie ein Gott
König Bhumibol Adulyadej
xx Millionen Hier
steht ein Quote mit Zahl
über xx Zeilen ada asdads
asdsdf
FURCHT VOR NEUEN UNRUHEN
Es herrscht Ruhe im Königreich. Auf den
Straßen ist kaum Militär zu sehen. Demonstrationen
gibt es nicht. Doch der Unmut
der Thais, die sich in den vergangenen
Jahrzehnten an freie Wahlen, unabhängige
Presse und Demonstrationsrecht in ihrem
Land gewöhnt hatten, ist groß. Nur die
Angst, ohne Begründung für lange Zeit in
einem Gefängnis zu verschwinden, hält die
Menschen zurzeit zu Hause.
Doch die Furcht der Militärregierung vor
neuen Unruhen ist kaum weniger groß.
Darum denkt General Prayuth auch mehr
als fünf Monate nach dem Putsch noch
nicht daran, das Kriegsrecht aufzuheben.
„Die viel zitierte Stabilität gibt es nicht“,
sagt ein westlicher Diplomat in Bangkok.
Auch am 21. November, wenn sich Spitzenvertreter
der deutschen Wirtschaft sowie
Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel
im vietnamesischen Ho-Chi-Minh-
Stadt zur Asien-Pazifik-Konferenz treffen,
dürfte die Krise in Thailand Thema sein.
Erst wenn es dunkel wird in Bangkok
und sich die Straßen geleert haben, trauen
sich die Menschen offen auszusprechen,
was ihnen unter den Nägeln brennt. Jutathip
Wanaporn betreibt in einer kaum zwei
Meter breiten Gasse im Norden der Stadt
einen kleinen Laden. In den Regalen stehen
Waschpulver, Süßigkeiten und Whisky.
Im Hintergrund plärrt ein Fernseher. Eine
Neonröhre an der Decke spendet Licht.
„Es muss einen durch Wahlen legitimierten
Regierungschef geben“, sagt Jutathip,
die bei den großen Demonstrationen im
Frühjahr genauso dabei war wie 2010 und
2008. Der Militärjunta traut sie kaum etwas
zu. „Die werden doch nichts für das Volk
tun.“ Eine Nachbarin kommt aus ihrem
Haus. „Keiner kann mir vorschreiben, was
ich zu denken habe“, sagt die Frau. Wenn
das Kriegsrecht aufgehoben ist, will sie
wieder demonstrieren. Mehr als eine
»
FOTOS: DDP IMAGES/ZUMAJACK KURTZ, REUTERS/SUKREE SUKPLANG
34 Nr. 46 10.11.2014 WirtschaftsWoche
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Politik&Weltwirtschaft
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halbe Stunde diskutieren die beiden
Frauen über den künftigen politischen
Kurs in Thailand. Die Regierung der Militärs
lehnen sie rundweg ab.
Gerade die einfachen Leute, so scheint
es, haben in den vergangenen Jahren ein
ausgeprägtes politisches Bewusstsein entwickelt.
Mit dafür gesorgt hat ausgerechnet
Thaksin. Als er und seine Partei „Thais lieben
Thailand“ 2001 an die Macht kamen,
beglückte er die Bauern im rückständigen
Nordosten des Landes mit Subventionen,
führte eine kostenlose Gesundheitsversorgung
für die Landbevölkerung sowie Studentenkredite
für einkommensschwache
Familien ein. Für seine populistische Politik
musste sich der damalige Premier, der
als Telekomunternehmer Milliarden verdient
hatte und sich bis heute gegen Korruptionsvorwürfe
wehren muss, heftige
Kritik anhören. Doch Kenner des Landes
betonen auch, dass er der erste Politiker in
der jüngeren Geschichte Thailands war,
der den einfachen Menschen das Gefühl
gab, dass sich jemand um sie kümmert und
ihnen die Teilhabe am gesellschaftlichen
Leben ermöglicht.
KATE STIRBT IM KUGELHAGEL
Eine, die sich ihr Recht auf Mitsprache von
den Militärs nicht nehmen lassen will, ist
Payao Akahat. An einem heißen Samstagvormittag
sitzt die 49-Jährige vor ihrem Laden
am nördlichen Rand von Bangkok. Auf
der Straße donnern Motorräder vorbei.
Payao flicht aus Orchideen kleine Kränze.
Die Gebinde verkauft sie für ein paar Cent
in der Nachbarschaft. „Ich will, dass die Todesschützen
vor Gericht kommen“, bricht
es auf einmal aus Payao hervor.
Es ist der 19. Mai 2010, als Soldaten gegen
Abend das Feuer auf den Tempel Pathumwanaran
eröffnen. Wochenlang hatten
die Rothemden in Bangkoks Straßen demonstriert.
Im Tempel kümmern sich Studenten
um Verletzte. Auch Payaos Tochter
Kate, 25, ist dabei – die Mutter wird ihr
Mädchen nicht mehr lebend wiedersehen.
Kate stirbt im Kugelhagel der thailändischen
Armee. Seitdem kämpft Payao dafür,
dass die Schützen vor Gericht kommen.
Erst kürzlich saß sie wieder für einige Tage
im Gefängnis, weil sie Flugblätter verteilt
hatte. Auf den Papieren standen die Namen
der angeblich für das Massaker Verantwortlichen.
„Ich war nie besonders politisch“,
sagt Payao, „aber hier geht es um
Gerechtigkeit für meine Tochter.“
Die Thailänderin will Antworten, Antworten,
die sie von der Militärregierung
Stetig aufwärts
Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner
in Thailand (in Dollar)
ab 2013 Prognose, preisbereinigt;
Quelle: IHS
5500
5000
4500
4000
3500
3000
2000 2003 2006 2009 2012 2015
Wo die Wut wächst
Reisbauern in Thailand
unter General Prayuth, der inzwischen
auch Premierminister ist, wohl nicht bekommen
dürfte. Denn der ist dabei, das
Rad mit Schwung zurückzudrehen. Demokratie
und Meinungsfreiheit wie im Westen
passten im Grunde gar nicht zur „thailändischen
Seele“, betonen die Militärs jetzt
häufig. Die thailändische Seele und das Besondere
am „Thai sein“ streichen die Generäle
inzwischen bei fast jeder Gelegenheit
heraus und wollen das Land damit politisch
vom Westen abgrenzen. An den
Hochschulen sollen die Studenten demnächst
Patriotismusunterricht bekommen,
ganz so wie im kommunistischen China. Es
ist eine Entwicklung, die an die Debatte um
sogenannte asiatische Werte und deren
angebliche Unvereinbarkeit mit dem westlichen
Pluralismus in den Neunzigerjahren
erinnert.
„Die Soldaten können das Volk doch
nicht zum Thai sein zwingen“, empört sich
der UDD-Funktionär, der aus Angst vor Repressalien
ungenannt bleiben will. Er und
viele andere aus dem roten Lager glauben,
die konservative Allianz aus Militärregierung,
Kräften aus dem Königshaus, großstädtischer
Bildungselite und reichen Geschäftsleuten
könne das alte System der
Klassenunterschiede erhalten, von dem sie
in den vergangenen Jahrzehnten so sehr
profitiert haben. „Die wollen die feudalistische
Gesellschaftsordnung um jeden Preis
bewahren“, schimpft der UDD-Mann.
Doch nicht nur durch die thailändische
Gesellschaft geht ein tiefer Riss, auch die
Militärregierung, so betonen Experten, ist
gespalten zwischen erzkonservativen und
gemäßigt fortschrittlichen Kräften. General
Prayuth gilt als schwach. „Er hat seine
beste Zeit hinter sich“, sagt ein westlicher
Diplomat in Bangkok, „ab jetzt geht es
bergab.“ Wenig vertrauenserweckend war
etwa Prayuths Erklärung für sein akutes
Rückenleiden vor einigen Wochen. Mithilfe
schwarzer Magie, hatte der General dem
staunenden Publikum erklärt, hätten Feinde
ihn verhext.
EINE FRAGE VON MONATEN
Doch die größte Gefahr für Thailands Stabilität
droht aus dem Königspalast. Bhumibol
Adulyadej, seit 1946 Staatsoberhaupt,
ist schwer krank; manche in Bangkok sagen,
der Tod des 86-jährigen Monarchen
sei eher eine Frage von Monaten als von
Jahren. Dann beginnt die schwierige Suche
nach einem Nachfolger für den König, den
die Thais wie einen Gott verehren.
Das Kempinski Hotel am Münchner
Flughafen ist ein lichtdurchfluteter Bau aus
viel Glas und Stahl. In der Empfangshalle
stehen rote Ledermöbel und künstliche
Palmen. In den Gängen und Treppenhäusern
der Nobelherberge patrouillieren
zu jeder Tages- und Nachtzeit muskelbepackte
Thais in dunklen Trainingsanzügen
– Leibwächter von Maha Vajiralongkorn,
Sohn des greisen Königs und damit
Thronfolger. Der 62-jährige Kronprinz
FOTO: GETTY IMAGES/LIGHTROCKET/ PETER CHARLESWORTH
36 Nr. 46 10.11.2014 WirtschaftsWoche
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FOTOS: WERNER SCHUERING FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, PICTURE-ALLIANCE/DPA
verbringt dort die meiste Zeit. Einerseits,
heißt es, sei er schönen Dingen wie etwa
dem Glücksspiel zugeneigt. Andererseits,
versichern Insider mit guten Kontakten
zum Königshaus, lasse sich Maha in München
wegen einer HIV-Infektion behandeln.
Offizielle Bestätigungen hierfür gibt
es nicht. So oder so: Ein idealer Thronfolger
für ein Land, in dem die Monarchie einen
so großen Stellenwert hat und der König
oberste moralische Instanz ist, sieht anders
aus. Wegen der unsicheren Thronfolge
könnte in Thailand, das bei vielen Deutschen
immer noch als Paradies gilt, Panik
ausbrechen.
LEICHTES WACHSTUM
Um die Stimmung im Volk zu heben, versucht
die Regierung, mit Ausgabenprogrammen
die Wirtschaft anzukurbeln.
Umgerechnet allein 60 Milliarden Euro
wollen die Militärs in den kommenden sieben
Jahren für den Ausbau der Infrastruktur
ausgeben. Priorität genießt der Ausbau
des Schienennetzes und der Aufbau einer
Hochgeschwindigkeitstrasse, die das Königreich
von Nord nach Süd durchqueren
soll. Mit Steuer- und Zollerleichterungen
wollen die Militärs zudem Investoren aus
dem Ausland nach Thailand locken.
Fürs Erste scheint sich die Wirtschaft stabilisiert
zu haben. Schrumpfte das Bruttoinlandsprodukt
zwischen Januar und März
noch um 0,5 Prozent, verzeichneten die
Statistiker für das zweite und dritte Quartal
wieder ein leichtes Wachstum von weniger
als einem Prozent. Vom einstigen Boom
mit Raten zwischen fünf und sieben Prozent
ist Thailand allerdings weit entfernt.
Dass das Vertrauen schnell zurückkehrt,
ist jedoch wenig wahrscheinlich. Unternehmen
aus dem Ausland klagen über zunehmende
Rechtsunsicherheit und eine
grassierende Korruption. Im Korruptionswahrnehmungsindex
von Transparency
International ist Thailand innerhalb eines
Jahres von Rang 88 auf Rang 102 gefallen.
Auch die Touristenzahlen liegen noch weit
unter dem Niveau aus der Zeit vor der politischen
Krise. Schwierig in einem Land, in
dem der Fremdenverkehr fast zehn Prozent
zur Wirtschaftsleistung beiträgt.
Das Volk versucht General Prayuth indes
mit Reformversprechen zu beruhigen.
Ende kommenden Jahres, so beteuert er,
würden in Thailand Wahlen abgehalten.
Wirklich fruchten wollen solche Zusagen
nicht. „Ich glaube den Militärs gar nichts“,
sagt der UDD-Funktionär.
n
matthias.kamp@wiwo.de | München
BERLIN INTERN | Wenn Angela Merkel und Sigmar
Gabriel nicht gegen–, sondern nur nacheinander
reden – dann gewinnt Rot. Ist für den Sieger bloß kein
Grund zur Freude. Von Max Haerder
Kanzlernichtduell
Angela Merkel dürfte ganz zufrieden
gewesen sein. Es ist ohnehin
nicht anzunehmen, dass die Bundeskanzlerin
sehr häufig unzufrieden
mit sich ist. Wenn alle Welt quasi permanent
auf einem herumhackt, kann man es ja
nicht ständig auch noch selber tun. Sie hat
diese Selbstwerterhaltungsstrategie mal im
Beisein von Russlands Präsident Wladimir
Putin formuliert, der einst beklagte, er käme
in deutschen Medien ach so schlecht weg.
Merkels Heul-doch-Replik ging sinngemäß
so: Falls sie sich alles zu Herzen nähme, was
Ein Pult, zwei Posten Merkel gegen
Gabriel beim Deutschen Arbeitgebertag
über sie geschrieben würde, dann könne sie
morgens auch gleich mit Depressionen im
Bett bleiben. Angesichts dieses trockenen
uckermärkischen Konters machte Putin ein
Gesicht, als habe er gerade verschimmelten
Borschtsch probiert.
Die Bundeskanzlerin wird auch vergangene
Woche recht zufrieden mit sich gewesen
sein, als sie nach getanem Werke von der
Bühne des Arbeitgebertages stieg. Merkel hat
sich in den Jahren ihrer Regentschaft den Ruf
einer Meisterin des sedierenden Wortes erarbeitet.So
einen Titel schenkt man nicht einfach
so her.Im Gegensatz zu ihrem Auftritt
beim jüngsten IT-Gipfel musste die Regierungschefin
nicht mal nach einem altmodischen
F-Wort suchen. Also: Ablesen, Abgang,
höflicher Respekts-Applaus.
Mehr war nicht drin, das weiß niemand
besser als Deutschlands oberste Real(ismus)politikerin.
Wer im Manuskript als
Highlight nur das Versprechen stehen hat, die
Regierung werde nicht mehr tun als im Koalitionsvertrag,
aber eben doch fleißig alles angehen,
was in diesem Werk vereinbart sei,
wirklich alles – der darf sich nicht wundern,
wenn die versammelte Wirtschaftselite (von
Gastgeber und Arbeitgeber-Präsident
Ingo Kramer bis zu BDI-Chef Ulrich Grillo)
nicht gleich vor Begeisterung die gute Unterwäsche
auf die Bühne schmeißt.
Nach dem Pausen-Kaffee durfte dann der
Vizekanzler ran. Ein Kontrast, wie man ihn
sich intensiver kaum vorstellen kann. Wenn
Sigmar Gabriel so richtig in Fahrt gerät, könnte
er für seine Performance eigentlich Eintritt
nehmen, und selbst wenn er nur halb Gas
gibt, ist eine vergnügliche halbe Stunde sicher.Als
Appetizer seiner Rede stellte er den
anwesenden und nach ihm sprechenden
CSU-Chef Horst Seehofer so charmant in
den Senkel, dass der nicht einmal böse sein
durfte: „Du hast gesagt, du seist nur hier, um
derKanzlerin hinterher zu berichten. Es gibt
allerdings Leute in der CDU, die glauben, du
seist der zweite Sozialdemokrat in der großen
Koalition.“Erster Lacher.„Und hier im Saal
gibt es vielleicht ein paar, die das befürchten.“Zweiter
Treffer.
Wenn Gabriel latente SPD-Allergien im
Raum sprachtherapeutisch behandeln kann,
ist er besonders gut. Spätestens als er bei den
„irren Zuständen“ der Energiewende ankommt
– die er natürlich so vorgefunden hat,
ist doch klar – und schildert, wie süddeutsche
Atomkraftwerke abgeschaltet werden,
um sich stattdessen den Strom von österreichischen
Öl-Dreckschleudern zu importieren,
hat er den Saal kurzzeitkuriert. „Die Kollegen
in Österreich“, sagt Gabriel, „kommen
vor Lachen gar nicht in den Schlaf.“
Mitleid gibt es an diesem Tag nur mit zwei
Personen: Mit Gabriels Redenschreiber, denn
der Chef guckt gefühlt kein einziges Mal in
seinen sicher höchst ausgefeilten Sprechzettel.
Und, trotz allem, mit dem Vortragenden
selbst. Denn wer zuvor gesehen hat, wie ein
Anti-Frauenquoten-Publikum beim schnippischen
merkelschen Pro-Quoten-Kommentar
(„Sie werden das noch als große Bereicherung
empfinden“) applaudiert, der ahnt: Die
Kanzlerin verliert das Pultduell gegen ihren
Vize. Aber das Kreuz machen die Leute dann
doch bei ihr.
WirtschaftsWoche 10.11.2014 Nr. 46 37
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Der Volkswirt
KOMMENTAR | Die neue Steuerschätzung hält den Bundesfinanzminister nicht vom Projekt
„Schwarze Null“ im kommenden Jahr ab. Denn die Bremswirkung der konjunkturellen
Delle auf die Steuereinnahmen ist überraschend gering. Jetzt muss er nur noch die Ausgabenwünsche
von Politik und Lobbyisten abwehren. Von Christian Ramthun
Schäubles magisches Jahr
Export-Champion, Euro-
Anker und natürlich
Fußballweltmeister.
Es lief lange gut für
Deutschland. So gut, dass wir
uns kaum noch vorstellen können,
wie sehr das Leben in
Wellen verläuft. Doch nach fünf
guten Jahren läuft die Konjunktur
nicht mehr rund, im dritten
Quartal dürfte die Wirtschaft
nur minimal gewachsen sein.
Naturgemäß schlägt sich die
wirtschaftliche Entwicklung
auch auf das Steueraufkommen
nieder. Und so ist es keine
Überraschung, dass die Steuerschätzer
von Bund, Ländern
und aus der Wissenschaft in
der vorigen Woche zu dem Ergebnis
kamen: Die Staatseinnahmen
steigen weniger stark
als noch vor einem halben Jahr
prognostiziert.
Die eigentliche Überraschung
ist, dass die konjunkturelle
Bremswirkung nur schwach ausfällt.
In diesem Jahr nimmt der
Fiskus sogar 900 Millionen Euro
mehr ein, als in der Mai-Schätzung
erwartet wurde – obwohl
die Bundesregierung zwischenzeitlich
ihre Wachstumsprognose
von 1,8 auf 1,2 Prozent abgesenkt
hat.
GELD VON DER EU
Das kann man noch damit begründen,
dass die Steuereinnahmen
stets mit einer gewissen
Verzögerung auf die wirtschaftliche
Entwicklung reagieren. Im
nächsten Jahr indes, wenn sich
die ökonomischen Bremsspuren
schon im Staatssäckel bemerkbar
machen sollten, kommt es
lediglich zu einer Korrektur um
6,4 Milliarden Euro nach unten.
Damit würden die Steuereinnahmen
gegenüber 2014 immer
noch um fast 27 Milliarden Euro
Weiter aufwärts
Entwicklung der Steuereinnahmen
(in Mrd. €)
750
Gesamt
700
650
Veränderung zur
Mai-Schätzung
(in Mrd. €)
+0,9 –6,4 –6,9 –4,6 –3,9
600
2014* 15** 16 17 18
Quelle: Arbeitskreis Steuerschätzungen vom 6.
November; * Schätzung; ** ab 2015 Prognosen
wachsen. Dem Bund kommt dabei
2015 – quasi als Aperçu – zugute,
dass er 2,1 Milliarden Euro
weniger an die EU abführen muss,
weil es für die Jahre 1995 bis
2013 zu Nachberechnungen
kam. Dadurch kann Finanzminister
Wolfgang Schäuble für das
kommende Jahr nahezu unverändert
planen. Was für ein Glück!
Der Bundesfinanzminister reitet
nicht auf der Konjunkturwelle, es
scheint, als ob er die Welle macht.
Virtuos spielt der seit 42 Jahren
im Bundestag sitzende Unions-
Politiker mit den jüngsten Zahlen
und erklärt: „Wir wollen zusätzliche
investive Mittel von zehn Milliarden
Euro im Haushalt 2016 bereitstellen.“
Damit raubt er den
Dränglern ihren Schwung, die seit
Monaten mehr Geld für Investitionen
fordern, vor allem in die Infrastruktur.
Er kommt auch dem neuen
EU-Kommissionspräsidenten
Jean-Claude Juncker entgegen,
der 300 Milliarden Euro Investitionen
für Europa im Kampf gegen
Stagnation und Arbeitslosigkeit
verlangt. Und er schiebt die zusätzlichen
Ausgaben auf das Jahr
nach 2015.
2015 soll Schäubles magisches
Jahr werden. Dann will der Bund
keine neuen Schulden mehr aufnehmen.
Das wäre das erste Mal
seit 1969, ein historischer Moment,
für den sich ein Politikerleben
zu leben lohnt. Natürlich lässt
sich leicht sagen: Mit diesen sprudelnden
Einnahmen kann das jeder
schaffen! Tatsächlich steigen
die Steuereinnahmen allein für
den Bund von 2009, dem Beginn
von Schäubles Amtszeit, bis 2015
um voraussichtlich 50 Milliarden
auf 279 Milliarden Euro.
Allerdings gehört es zu den Naturgesetzen
im politischen Berlin,
dass jede Mehreinnahme ein Vielfaches
an Begehrlichkeiten
weckt. Allein ein Blick in die Lobbyliste
des Bundestages mit den
Der Staat kassiert
Wie sich die Steuereinnahmen
zusammensetzen (in Mrd. €)
Sonstiges 91,5
Tabaksteuer 14,3
Solidaritätszuschlag
14,9
Körperschaftsteuer
18,1
Energiesteuer 39,5
Gewerbesteuer 44,0
Quelle: Arbeitskreis Steuerschätzungen,
2014
Lohn- und
Einkommensteuer
203,4
214,2
Umsatzsteuer
dort registrierten 2216 Organisationen
zeigt, welchen Begehrlichkeiten
Parlament und Regierung
ausgesetzt sind. Hinzu kommt der
Drang von Politikern, sich ein
Denkmal zu setzen, das natürlich
von den Steuerzahlern zu finanzieren
ist. Kreativ und durchsetzungsstark
ist insbesondere Ursula
von der Leyen, die sich bereits
mit dem Kita-Ausbau und dem Elterngeld
kostspielige Denkmäler
gesetzt hat und nun als Verteidigungsministerin
versucht, Schäuble
Geld aus der Rippe zu leiern.
Auch die Wirtschaft ist aktiv geworden.
Die Stiftung Familienunternehmen
entdeckt wieder die
degressive Afa, mit deren Hilfe
Unternehmen ihre Maschinen
am Anfang besonders stark abschreiben
könnten. Damit, so
sagt sie, würde mehr investiert
werden und so die Konjunktur
wieder anspringen.
WÜNSCHE, WÜNSCHE
Der Industrieverband BDI hätte
gern eine steuerliche Förderung
von Forschung und Entwicklung,
um die Unternehmen noch innovativer
zu machen und um mit
anderen Ländern gleichzuziehen,
die längst solche Anreize
anbieten. Der Handwerksverband
wiederum plädiert eindringlich
für eine Förderung der
energetischen Gebäudesanierung.
Dabei sind Deutschlands
Unternehmen auch ohne Steuerbonus
ausgesprochen innovativ
(siehe auch Seite 26). Und
dank niedrigster Zinsen brummt
das Baugeschäft, einschlägige
Handwerker sind bisweilen über
Monate nicht zu bekommen.
Doch Schäuble fällt es nicht
allzu schwer, solche Begehrlichkeiten
an sich abperlen zu lassen.
Problematischer sind für
ihn da schon Forderungen der
Bundesländer. Immer wieder
knickt er ein, sei es bei der Übernahme
von Unterkunftskosten
für ALG-II-Bezieher, dem Kita-
Ausbau, bei Bafög oder Eingliederungshilfen.
Bei den laufenden
Gesprächen zur
Neugliederung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen
zeichnet
sich ein Verhältnis von 16 zu
1 ab, wenn es darum geht, den
Bund weiter zu schröpfen.
Ganz ohne Anstrengung wird
Schäuble seine schwarze Null
für 2015 nicht bekommen.
FOTO: WERNER SCHUERING FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE
38 Nr. 46 10.11.2014 WirtschaftsWoche
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KONJUNKTUR DEUTSCHLAND
Earlybird-Frühindikator
sagt Erholung voraus
Aufatmen in der deutschen Industrie:
Nach einem Auftragseinbruch
im August haben die
Bestellungen im September
wieder zugelegt. Der Zuwachs
gegenüber dem Vormonat fiel
mit 0,8 Prozent allerdings geringer
aus als von Analysten erwartet.
Die Aufträge aus dem Ausland
kletterten zwar deutlich
um 3,7 Prozent, gleichzeitig
aber fragten inländische Kunden
2,8 Prozent weniger Güter
und Dienstleistungen nach.
Dass es mit der Wirtschaft
gleichwohl vorsichtig nach
oben geht, zeigt auch der Earlybird-Frühindikator,
den die
Commerzbank jeden Monat exklusiv
für die WirtschaftsWoche
berechnet. Das Konjunkturbarometer,
das einen Vorlauf gegenüber
der Realwirtschaft von
sechs bis neun Monaten hat,
kletterte im Oktober von 0,49
auf 0,53 Punkte (siehe Grafik).
Der Indikator erfasst den Außenwert
des Euro, die kurzfristigen
Realzinsen sowie (als Messgröße
für die Lage der
Weltwirtschaft) den Einkaufsmanagerindex
für die US-Industrie
(ISM). Grund für den
aktuellen Anstieg war neben einer
etwas stärkeren Weltwirtschaft
der gesunkene Euro-
Kurs. Dieser lag um etwa zwei
Prozent unter dem Niveau von
Oktober 2013. Das geldpolitische
Umfeld blieb stabil.
Insgesamt gebe der Earlybird
„Anlass zur Hoffnung, dass die
deutsche Wirtschaft 2015 nach
einem schwachen zweiten
Halbjahr 2014 wieder zulegen
wird“, schreiben die Commerzbank-Ökonomen
in ihrer Analyse
für die WirtschaftsWoche. Die
Experten rechnen damit, dass
bald auch der seit Monaten anhaltende
Rückgang des ifo-Geschäftsklimas
endet. „In den
vergangenen Zyklen lief der
Earlybird dem ifo-Geschäftsklima
immer voraus. Da der
Earlybird im Januar seinen Tiefpunkt
erreicht hat, würde dies
beim ifo-Index für eine Wende
nach oben um den Jahreswechsel
2014/15 herum sprechen“, so
die Ökonomen.
Aufwärtstrend hält an
Bruttoinlandsprodukt und Earlybird-Konjunkturbarometer
bert.losse@wiwo.de
Die Stimmung in der Industrie
hat sich leicht verbessert. Der
vom Forschungsinstitut Markit
ermittelte Einkaufsmanagerindex
für das verarbeitende Gewerbe
ist im Oktober um 1,5 auf
51,4 Zähler gestiegen. Damit
liegt das Barometer wieder über
der Schwelle von 50 Punkten,
ab der gemeinhin wirtschaftliche
Expansion einsetzt. Gleichzeitig
sackte der entsprechende
Index für den Dienstleistungssektor
um 1,3 auf 54,4 Punkte
ab. Das ist der niedrigste Stand
seit sieben Monaten.
Insgesamt dürfte das Bruttoinlandsprodukt
von Juli bis September
nur um magere 0,1 Prozent
zum Vorquartal gestiegen
sein, prognostiziert das Deutsche
Institut für Wirtschaftsforschung.
Eine erste offizielle
Schätzung für das dritte Quartal
gibt das Statistische Bundesamt
am Freitag dieser Woche bekannt.
1,00
0,75
0,50
Earlybird 2
4,0
3,0
2,0
0,25
0
1,0
0
–0,25
–1,0
–0,50
Bruttoinlandsprodukt
–2,0
–0,75
1 ( )
–3,0
–1,00
1993 1996 1999 2002 2005 2008 2011
–4,0
2014
1
zum Vorquartal (in Prozent); 2 gewichtete Summe aus kurzfristigem realem Zins, effektivem
realem Außenwert des Euro und Einkaufsmanagerindizes; Quelle: Commerzbank
Zurück in der
Wachstumszone
Volkswirtschaftliche
Gesamtrechnung
Real. Bruttoinlandsprodukt
Privater Konsum
Staatskonsum
Ausrüstungsinvestitionen
Bauinvestitionen
Sonstige Anlagen
Ausfuhren
Einfuhren
Arbeitsmarkt,
Produktion und Preise
Industrieproduktion 1
Auftragseingänge 1
Einzelhandelsumsatz 1
Exporte 2
ifo-Geschäftsklimaindex
Einkaufsmanagerindex
GfK-Konsumklimaindex
Verbraucherpreise 3
Erzeugerpreise 3
Importpreise 3
Arbeitslosenzahl 4
Offene Stellen 4
Beschäftigte 4, 5
2012 2013
Durchschnitt
0,4
0,8
1,0
–4,0
–1,4
3,4
3,2
1,4
2012 2013
Durchschnitt
–0,9
–4,2
0,1
3,3
105,0
46,7
5,9
2,0
1,6
2,1
2896
478
29355
0,1
0,9
0,4
–2,4
–0,2
3,0
0,9
1,5
–0,2
2,5
0,2
–0,2
106,9
50,6
6,5
1,5
–0,1
–2,5
2950
458
29722
II/13 III/13 IV/13 I/14 II/14
Veränderung zum Vorquartal in Prozent
0,8
0,6
0,0
2,3
3,0
0,0
1,4
1,3
Juli
2014
1,6
4,8
–0,9
4,8
107,9
52,4
8,9
0,9
–0,8
–1,7
2912
484
30259
1 Volumen, produzierendes Gewerbe, Veränderung zum Vormonat in Prozent; 2 nominal, Veränderung zum Vormonat in
Prozent; 3 Veränderung zum Vorjahr in Prozent; 4 in Tausend, saisonbereinigt; 5 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte;
alle Angaben bis auf Vorjahresvergleiche saisonbereinigt; Quelle: Thomson Reuters
0,3
0,7
0,6
–0,5
1,8
0,2
0,7
1,7
Aug.
2014
–4,0
–4,2
1,5
–5,8
106,3
51,4
8,9
0,9
–0,8
–1,9
2900
494
30257
0,5
–0,8
–0,1
2,1
0,7
0,2
1,7
0,7
Sept.
2014
–
0,8
–3,2
–
104,7
49,9
8,6
0,9
–1,0
–1,6
2909
500
–
0,7
0,8
0,4
2,1
4,1
1,2
0,0
0,5
Okt.
2014
–
–
–
–
103,2
51,4
8,4
0,8
–
–
2887
509
–
–0,2
0,1
0,1
–0,4
–4,2
0,1
0,9
1,6
Nov.
2014
–
–
–
–
–
–
8,5
–
–
–
–
–
–
Letztes Quartal
zum Vorjahr
in Prozent
0,8
1,0
1,0
2,1
0,7
1,6
2,5
4,1
Letzter Monat
zum Vorjahr
in Prozent
–5,9
2,0
2,3
–1,1
–4,2
0,2
19,7
–
–
–
–2,6
11,1
1,6
WirtschaftsWoche 10.11.2014 Nr. 46 39
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Der Volkswirt
PRO UND CONTRA | Die steile Talfahrt der Zinsen unter dem Einfluss der expansiven Geldpolitik der Zentralbanken
hat unter Ökonomen eine heftige Debatte über die Natur des Zinses und seine angemessene Höhe ausgelöst.
Strittig ist, ob der Zins auf einem freien Markt in den negativen Bereich rutschen kann.
Kann der natürliche Zins negativ werden?
Pro
Ulrich von Suntum ist Professor
für Volkswirtschaftslehre
in Münster. Zuvor hat er
unter anderem für die „Fünf
Wirtschaftsweisen“ gearbeitet.
Der natürliche Zins ist
derjenige Zinssatz,
der sich ohne Manipulation
durch die
Zentralbank einstellen würde.
Der österreichische Ökonom
Eugen von Böhm-Bawerk
nannte drei Bestimmungsgründe
für seine Höhe. Erstens sind
die Konsumenten ungeduldig –
sie konsumieren im Zweifel lieber
heute als morgen. Diese
„Zeitpräferenz“ bringt tendenziell
einen positiven Zinssatz
hervor, der die Sparer für ihre
Geduld entschädigt. Zweitens
steigen nach Böhm-Bawerk die
Einkommen der meisten Menschen
im Zeitverlauf. Daher
nehmen sie in jungen Jahren,
beispielsweise als Studenten
oder Häuslebauer, gerne Kredite
auf. Denn diese können später
aus dem dann höheren
Wohlstand leicht zurückgezahlt
werden. Drittens schließlich
bringen die Ersparnisse bei
produktiver Anlage auch einen
realen Mehrertrag hervor. Alle
drei Gründe unterstützen offenbar
die These eines positiven natürlichen
Zinssatzes.
Trotzdem kann er theoretisch
negativ werden. Denn anders als
zu Böhm-Bawerks Zeiten müssen
in der alternden Gesellschaft von
heute viele Menschen mit einem
sinkenden Einkommen in der Zukunft
rechnen. Die Renten sind
niedriger als die Erwerbseinkommen,
woraus ein starker Anreiz
zum Sparen entsteht. Gleichzeitig
gibt es immer weniger junge Menschen,
die als Kreditnehmer infrage
kommen. Böhm-Bawerks
zweiter Bestimmungsfaktor für
den Zins kehrt sich dann um, er
senkt tendenziell den Zinssatz,
statt ihn zu erhöhen. Im Extremfall
kann er die beiden anderen Gründe
sogar gänzlich überlagern.
Dies hat schon 1958 der spätere
Nobelpreisträger Paul Samuelson
in einem bahnbrechenden Aufsatz
gezeigt. In seinem Modell der
„überlappenden Generationen“
wird so viel gespart, dass der Zinssatz
schließlich negativ wird. In einem
solchen Fall würde auch die
Investitionsrendite (Böhm-Bawerk
nannte sie Produktionsumwege)
entsprechend sinken. Die
Investitionen werden aber trotzdem
getätigt, weil man ja für das
Sparkapital nicht nur nichts bezahlen
muss, sondern sogar noch
einen Bonus in Form des Negativzinses
erhält. Prinzipiell stehen also
negative Zinsen aufgrund einer
Sparschwemme („savings glut“)
durchaus im Einklang mit Böhm-
Bawerks Zinstheorie. Aktuell dürften
sie allerdings in erster Linie
auf die expansive Geldpolitik zurückzuführen
sein. Deren Einfluss
hat Böhm-Bawerk leider in seiner
Theorie vernachlässigt, obwohl er
zeitweise österreichischer Notenbankpräsident
gewesen ist.
Contra
Thorsten Polleit ist Chefvolkswirt
der Degussa und Honorarprofessor
an der Uni Bayreuth.
Zudem leitet er das Ludwig von
Mises-Institut Deutschland.
Den Zins kennt man als
Entgelt für die Nutzung
von Kapital. Ökonomisch
betrachtet resultiert
er aus einer Wertdifferenz.
Menschen werten Güter, die sie
gegenwärtig haben können, höher
als Güter, die erst künftig verfügbar
sind. Anders gesprochen:
Künftige Güter erleiden einen
Preisabschlag gegenüber gegenwärtigen
Gütern. Es ist die – wie
Frank A. Fetter (1863–1949) sie
bezeichnete – „Zeitpräferenz“,
die den Zins erklärt.
Ludwig von Mises (1881–1973)
zeigte auf, dass der Zins – er
spricht vom „Urzins“ oder „neutralen
Zins“ – elementar für das
menschliche Handeln ist und sich
allein aus der Zeitpräferenz erklärt.
Damit ging er über die Zinstheorie,
die Eugen von Böhm-Bawerk
(1850–1914) vorgelegt
hatte, hinaus.
Der Urzins hat mit der Ertragsrate
auf Kapital und mit Psychologie
nichts zu tun. Selbst bei einer
negativen Kapitalertragsrate werden
gegenwärtig vorhandene
Güter höher geschätzt als künftig
verfügbare Güter. Der Urzins,
den der Mensch quasi in sich
trägt, bleibt auch hier positiv.
Der Zins kann nicht auf null
fallen. Es würde bedeuten, dass
man zwei Äpfel, die man erst in
1000 Jahren essen kann, einem
heute verfügbaren Apfel vorzieht.
Das klingt nicht nur realitätsfremd,
es ist ein irrtümlicher
Gedanke. Er liefe auf die Aussage
hinaus, dass der Mensch niemals
konsumiert, dass er sein
Einkommen vollständig spart.
Der Zins kann auch nicht negativ
werden. Denn das hieße,
dass man einen Apfel, den man
erst in 1000 Jahren verspeisen
kann, einem heute zum Konsum
bereitstehenden Apfel vorzieht.
Nullzins und Negativzins laufen
der Logik des menschlichen
Handelns zuwider. In einem freien
Markt richtet sich der Marktzins
am Urzins aus. Im heutigen
ungedeckten Papiergeldwesen
sorgen jedoch die Zentralbanken
mit ihrem Geldmonopol dafür,
dass der Marktzins künstlich
herabgedrückt wird, dass er
unter den Urzins fällt. Das führt
zu gefährlichen Boom-Bust-
Zyklen und zerstört den Anreiz
zum Sparen. Knappe Ressourcen
wandern in den Konsum,
es kommt zu Kapitalverzehr.
Ein negativer Marktzins ist ein
Frontalangriff auf die Marktwirtschaft.
Er zerstört die arbeitsteilige
Wirtschaftsordnung. Die
Idee, den Zins abzuschaffen,
hatten schon die Marxisten und
Nationalsozialisten. Damit wollten
sie das kapitalistische System
zerstören.
Ein negativer Marktzins würde
das „antikapitalistische“ Zerstörungswerk
perfektionieren.
FOTOS: PR, CHRISTOF MATTES FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE
40 Nr. 46 10.11.2014 WirtschaftsWoche
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Der Volkswirt
NACHGEFRAGT Jesús Huerta de Soto
»Wie der Goldstandard«
Der spanische Ökonom warnt vor einer Deflationsphobie in Europa – und
sieht im Euro einen Garanten für nachhaltige Austeritätspolitik.
Professor Huerta de Soto, die
Inflationsrate in der Euro-Zone
beträgt nur noch 0,4 Prozent.
Droht uns eine Deflation, wie
viele Experten behaupten?
Deflation bedeutet, dass die
Geldmenge schrumpft. Davon
kann in der Euro-Zone keine
Rede sein. Die breit definierte
Geldmenge M3 wächst um etwa
zwei Prozent, die enger gefasste
Geldmenge M1 sogar um mehr
als sechs Prozent. Die Teuerungsrate
in der Euro-Zone liegt
zwar unter dem Ziel der Euro-
derlegen die Horrorszenarien
von der bösen Deflation.
Heißt das, wir sollten uns über
Deflation freuen?
Durchaus. Besonders segensreich
ist sie, wenn sie sich durch
das Zusammenspiel eines stabilen
Geldangebots mit einer
steigenden Produktivität ergibt.
Beispielhaft dafür ist der Goldstandard
im 19. Jahrhundert.
Damals wuchs die Goldmenge
nur um ein bis zwei Prozent pro
Jahr. Zugleich erwirtschafteten
die Industriegesellschaften die
größten Wohlstandszuwächse
in der Geschichte. Die EZB sollte
sich daher am Goldstandard
orientieren und den Zielwert
für das M3-Geldmengenwachstum
von 4,5 auf rund 2,0 Prozent
senken. Wächst die Euro-
Wirtschaft um rund drei
Prozent pro Jahr – wozu sie in
der Lage wäre, wenn man sie
von den Fesseln staatlicher Regulierungen
befreite –, gingen
die Preise um etwa ein Prozent
pro Jahr zurück.
Wenn Deflation so segensreich
ist, warum haben die Menschen
dann Angst vor ihr?
Ich glaube nicht, dass die normalen
Bürger Angst vor sinkenden
Preisen haben. Es sind die
Vertreter des ökonomischen
Mainstreams, die die Deflationsphobie
schüren. Sie argumentieren,
Deflation lasse die
reale Schuldenlast steigen und
würge so die gesamtwirtschaftliche
Nachfrage ab. Dabei lassen
die Deflationswarner unter
den Tisch fallen, dass bei Deflation
die Gläubiger gewinnen –
was deren Nachfrage ankurbelt.
Gerade der mit Deflation verbundene
Anstieg der realen
Schuldenlast entfaltet eine heilsame
Wirkung. Denn er mindert
den Anreiz, Kredite aufzunehmen
und stoppt so den
Marsch in die Überschuldung.
Besteht nicht die Gefahr, dass
die Bürger ihre Konsumausgaben
zurückfahren, wenn
morgen alles billiger wird?
Das ist ein abstruses Argument,
das man immer wieder hört.
Schauen Sie mal, welch reißenpäischen
Zentralbank (EZB)
von knapp zwei Prozent. Aber
das ist noch kein Grund, Deflationsängste
zu schüren, wie
manche Zentralbanker das tun.
Sie suggerieren damit, sinkende
Preise seien etwas Schlechtes.
Das ist falsch. Preisdeflation ist
keine Katastrophe, sondern ein
Segen.
Das müssen Sie erklären.
Nehmen Sie mein Heimatland
Spanien. Dort gehen die Verbraucherpreise
derzeit zurück.
Zugleich wächst die Wirtschaft,
ÜBERZEUGUNGSTÄTER
Huerta de Soto ist Professor für
Wirtschaftspolitik an der Universität
Rey Juan Carlos in Madrid.
Der Träger des Adam-Smith-
Preises zählt zu den führenden
Vertretern der staatskritischen
Österreichischen Schule.
auf das Jahr gerechnet, um rund
zwei Prozent. 2013 entstanden
275 000 neue Arbeitsplätze, die
Arbeitslosenquote sank von 26
auf 23 Prozent. Die Fakten wi-
FOTOS: ARNE WEYCHARDT FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE
42 Nr. 46 10.11.2014 WirtschaftsWoche
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den Absatz neue Smartphones
finden, obwohl die Käufer wissen,
dass die Geräte in ein paar
Monaten billiger angeboten
werden. In Amerika herrschte
nach dem Bürgerkrieg jahrzehntelang
Deflation. Trotzdem
nahm der Konsum zu. Würden
die Menschen wegen sinkender
Preise den Konsum aufschieben,
würden sie letztlich allesamt
verhungern.
Sinkende Preise drücken aber
die Umsätze der Unternehmen
nach unten und schmälern
ihre Investitionsbereitschaft.
Wollen Sie das ignorieren?
Entscheidend für die Unternehmen
sind nicht die Umsätze,
sondern die Gewinne, also die
Differenz zwischen Erlösen und
Kosten. Sinkende Absatzpreise
erhöhen den Druck, die Kosten
zu reduzieren. Die Unternehmen
ersetzen daher Arbeitskräfte
durch Maschinen. Also
müssen mehr Maschinen produziert
werden, was die Arbeitskräftenachfrage
im Investitionsgütersektor
erhöht. Auf
diese Weise finden die Arbeitnehmer,
die im Zuge der Preisdeflation
im Konsumgütersektor
ihren Job verloren haben, im
Investitionsgütersektor eine
neue Beschäftigung. Der Kapitalstock
wächst, ohne dass es zu
Massenarbeitslosigkeit kommt.
Machen Sie es sich da nicht zu
einfach? In der Realität klaffen
die Qualifikationen von Arbeitslosen
und die Anforderungen
der Unternehmen zuweilen
erheblich auseinander.
Ich behaupte nicht, dass der
Markt perfekt ist. Es ist daher
entscheidend, dass der Arbeitsmarkt
flexibel genug ist, damit
er kreativen Unternehmern Anreize
bietet, neue Arbeitskräfte
einzustellen.
Welche Rolle spielt dabei die
Politik?
Das Problem ist, dass Politiker
einen zu kurzen Zeithorizont
haben. Deshalb benötigen wir
einen währungspolitischen
Rahmen, der sie und die Gewerkschaften
diszipliniert. In
Europa kommt dem Euro diese
Aufgabe zu. Die Gemeinschaftswährung
hat den Regierungen
die Möglichkeit genommen, die
nationale Notenpresse anzuwerfen
und ihre Währung abzuwerten,
um so ihre fehlgeleitete
Wirtschaftspolitik zu kaschieren.
Wirtschaftspolitische Fehler
machen sich jetzt direkt in
einem Verlust der Wettbewerbsfähigkeit
des betroffenen Landes
bemerkbar. Das zwingt die
Politiker zu harten Reformen. In
Spanien haben zwei Regierungen
innerhalb von anderthalb
Jahren Reformen umgesetzt,
von denen ich bisher nicht zu
träumen wagte. Mittlerweile
bessert sich die wirtschaftliche
Lage, und Spanien fährt die Ernte
der Reformen ein.
Für Spanien mögen Sie ja recht
haben, aber in Italien und
Frankreich ist von durchgreifenden
Reformen bisher nichts
zu sehen...
...weshalb sich die Lage dort zunächst
weiter verschlechtern
muss, bevor es zu Reformen
kommt. Die Erfahrung lehrt:Je
miserabler die wirtschaftliche
Lage, desto höher der Reformdruck.
Die Reformerfolge, die
Spanien und andere Euro-Länder
erzielt haben, erhöhen den
Druck auf Paris und Rom. Die
hohe Arbeitslosigkeit hat in Spanien
die Lohnkosten gedrückt.
Mit durchschnittlich rund 20
Euro je Stunde sind sie nur noch
halb so hoch wie in Frankreich.
Die Franzosen werden daher
um eine wirtschaftspolitische
Rosskur nicht umhinkommen,
auch wenn diese in der Bevölkerung
auf Widerstände stößt.
Um den Reformdruck auf
Frankreich und Italien mög-
lichst hoch zu halten, sollte
Deutschland an seiner Haushaltskonsolidierung
festhalten.
Die EZB gerät zunehmend
unter Druck, die Geldschleusen
zu öffnen und den Euro abzuwerten.
Der Druck kommt aus
der Wissenschaft, den Finanzmärkten
und der Politik.
Der ökonomische Mainstream
des Keynesianismus und des
Monetarismus erklärt die Große
Depression der Dreißigerjahre
durch eine Unterversorgung
mit Geld. Das hat in der
Wissenschaft eine Anti-Deflationsmentalität
entstehen lassen.
Die Politiker nutzen den akademischen
Resonanzboden, um
die EZB zur Re-Inflationierung
zu drängen. Die Regierungen
lieben die Inflation, weil sie ihnen
die Möglichkeit gibt, über
die Verhältnisse zu leben und
riesige Schuldenberge aufzutürmen,
die die Zentralbank durch
»Preisdeflation
ist keine
Katastrophe,
sondern ein
Segen«
Inflation entwertet. Es ist kein
Wunder, dass ausgerechnet die
Gegner der Austeritätspolitik
vor Deflation warnen und das
stabilitätspolitische Regelwerk
des Euro verteufeln. Sie scheuen
sich, den Bürgern die wahren
Kosten des Wohlfahrtsstaates
zu präsentieren.
EZB-Chef Mario Draghi hat mit
dem Versprechen, den Euro
notfalls durch das Anwerfen
der Notenpresse zu retten,
dem Druck nachgegeben. Ein
Fehler?
Vorsicht. Bisher hat Draghi in
erster Linie Versprechungen
gemacht, aber kaum gehandelt.
Zwar hat die EZB großzügige
Geldleihgeschäfte aufgelegt
und die Leitzinsen gesenkt.
Doch die realen Renditen für
zehnjährige Staatsanleihen aus
den Euro-Krisenländern liegen
über denen in Amerika. Gemessen
an der Bilanzsumme, hat
die EZB weniger getan als andere
westliche Notenbanken. Solange
die Euro-Hüter nur reden,
aber nicht handeln, stehen
Italien und Frankreich weiter
unter Reformdruck. Daher ist
es entscheidend, dass die EZB
dem Druck der Regierungen
und der angelsächsischen
Finanzwelt trotzt und keine
Staatsanleihen kauft.
Welche Rolle spielen speziell
die angelsächsischen Finanzmärkte?
Die angelsächsische Presse und
die Finanzmärkte ziehen ostentativ
gegen den Euro und die
durch ihn erzwungene Austeritätspolitik
in Kontinentaleuropa
zu Felde. Ich bin eigentlich kein
Anhänger von Verschwörungstheorien.
Aber die Frontalangriffe
aus Washington und London
gegen den Euro lassen auf eine
versteckte Agenda schließen.
Die Amerikaner fürchten, dass
die Tage des Dollar als Weltleitwährung
gezählt sind, wenn
der Euro als harte Währung
überlebt. Amerika hat seine
geldpolitische Disziplin nach
dem Zweiten Weltkrieg verloren.
Kann der Euro denn ohne
politische Union auf Dauer
überleben?
Eine politische Union ist in der
Bevölkerung nicht mehrheitsfähig.
Sie ist auch nicht wünschenswert.
Denn sie schmälert
den Druck zur fiskalischen
Sparsamkeit. Das beste Währungsregime
für eine freie Gesellschaft
ist der Goldstandard
mit voller Reservedeckung aller
Einlagen und ohne staatliche
Zentralbanken. Solange wir den
nicht haben, sollten wir den Euro
verteidigen. Denn er entzieht
den Regierungen den Zugriff
auf die nationalen Notenpressen
und zwingt sie zur Konsolidierung
der Staatshaushalte
sowie zu Reformen. In gewisser
Weise wirkt er damit wie der
Goldstandard.
malte.fischer@wiwo.de
WirtschaftsWoche 10.11.2014 Nr. 46 43
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Unternehmen&
Märkte
Crystal Mett
48 Nr. 46 10.11.2014 WirtschaftsWoche
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TÖNNIES | General gegen Schütze,
Platzhirsch gegen Frischling,
Schalke-04-Boss gegen Freizeit-
Volleyballer: Ungleicher könnte
die Gewichtsklasse im Kampf von
Großschlachter Clemens Tönnies
gegen seinen Neffen Robert
Tönnies kaum sein. Wie ticken die
beiden Protagonisten des Familienstreits,
bei dem es um die Macht im
milliardenschweren, größten
deutschen Fleischkonzern geht –
und um dessen Zukunft?
Kurz, sehr kurz reichen die beiden Männer
einander die Hand. Ein knapper Blick,
ein dünnes „Hallo“, dann trennen sie sich
eilig, während im Hintergrund der Spielmannszug
Marschmusik schmettert. Wie
gleichgerichtete Pole eines Magneten streben sie
auseinander, „der eine an den Bierstand, der andere
an die Würstchenbude“, erzählt einer, der dabei war –
nur möglichst schnell weit weg.
Das ist gar nicht so einfach beim 181. Schützenfest
von Rheda-Wiedenbrück, dem Höhepunkt des gesellschaftlichen
Lebens der ostwestfälischen Kleinstadt.
Am Freitagabend marschieren die Schützen in
vollem Wichs mit Schärpe und Gewehr zum Ehrenmal
der Gefallenen beider Weltkriege, danach geht
es zum Fassanstich. Samstags trifft man sich zum gemeinsamen
Frühstück. Und am Sonntagabend an
diesem 15. Juni schwofen alle auf dem Großen
Schützenball zu den Schlagern der holländischen
Partyband Feeling.
Immer feste dabei: die Familie Tönnies. Früher
waren sie ein verschworener Clan, Fleisch-Großunternehmer,
Selfmade-Männer aus dem Ort und
selbstredend Mitglieder des Schützenvereins zu
Rheda e. V. von 1833. Clemens Tönnies ist General
der Schützengruppe „Clemens“ in der 1. Kompanie;
sein Neffe Robert Tönnies marschiert als einfacher
Schütze der 2. Kompanie in der Gruppe „Busche“.
Doch heute ist die Stimmung zwischen den Blutsverwandten
so eisig wie die Luft in den Tiefkühlhäusern
des Fleischriesen, wo gefrorene Schweinefüße
für den Export nach China lagern: minus 18 Grad.
Clemens
Tönnies
Die Fleischbranche ist kein Hort für zarte Gemüter.
Mitarbeiter der Tönnies-Schlachthöfe killen jedes
Jahr 16 Millionen Schweine, halbieren und zerlegen
sie in alle ihre Einzelteile – bis hin zum Darmschleim,
aus dem der Konzern seit wenigen Tagen
den Blutgerinnungshemmer Heparin gewinnt.
Doch was sich seit rund drei Jahren im größten
deutschen Fleischimperium mit mehr als fünf Milliarden
Euro Umsatz und 8000 Beschäftigten abspielt,
verstört selbst hartgesottene Insider. Auf der einen
Seite steht Clemens Tönnies, bundesweit bekannt als
Aufsichtsratschef des Fußballbundesligisten Schalke
04 und Gesprächspartner mächtiger Männer wie
Wladimir Putin oder Gerhard Schröder. Der 58-Jährige
beansprucht für sich, den Konzern zu heutiger
Größe geführt zu haben.
Auf der anderen Seite sein in der Öffentlichkeit
weitgehend unbekannter Neffe Robert, 36, wie Clemens
gelernter Metzger und studierter Betriebswirt.
Für ihn steht fest, dass nicht Clemens, sondern Roberts
früh verstorbener Vater Bernd Tönnies die
Grundlagen für das Milliardenimperium schuf und
der liebe Onkel die Nachkommen des Bruders über
den Tisch ziehen wollte – was Clemens bestreitet.
Von diesem Montag an treffen sich die verfeindeten
Stämme zum entscheidenden Verfahren vor
dem Bielefelder Landgericht. Noch gehört beiden jeweils
die Hälfte der Tönnies Lebensmittel GmbH &
Co. KG. Das ist so, seit Robert 2009 seinem Onkel
Clemens fünf Prozent der Firmenanteile schenkte.
Diese fordert er nun wegen angeblichen „groben Undanks“
des Onkels zurück.
Vor Gericht geht es nun darum, ein Dickicht zu
entwirren aus Erpressungsvorwürfen und Tricksereien,
Gutachten und Gegengutachten, Halbwahrheiten
und Intrigen. Ein übles Gemisch, mitunter so
irre, als entstamme es dem Hirn eines durchgeknallten
Hollywood-Autors, unter dem Einfluss bewusstseinserweiternder
Drogen zurechtfantasiert – Crystal
Mett sozusagen.
Im Kern dreht sich der Hickhack im Metzgerclan
um die so simple wie womöglich folgenschwere
Frage: Wer hat künftig die Macht in einem der größten
Fleischkonzerne Europas? Platzhirsch Clemens
oder Frischling Robert? Und Tausende von Tönnies-
Mitarbeitern und die gesamte Fleischbranche wollen
jetzt wissen, was passiert, falls der große Unbekannte
Robert Tönnies tatsächlich die Mehrheit im
Familienunternehmen übernehmen sollte.
Sie fragen sich: Wie tickt der Angreifer, der seinen
scheinbar übermächtigen Verwandten in die Knie
zwingen will? Verkauft der 1,90-Meter-Mann das Unternehmen
an die internationale Konkurrenz?
Robert
WirtschaftsWoche 10.11.2014 Nr. 46 Tönnies
49
»
FOTOS: REINHARD HUNGER, TEAM2, PR
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Unternehmen&Märkte
Auf Schalke
Clemens Tönnies ist
als Boss des Fußballbundesligisten
die
harte Gangart des
Gegners gewöhnt
Schock
Zähleinheit,
1 Schock =
60 Stück*
Rippchen
Pökelware vom
Schwein*
»
Will er die Zerschlagung – ein häufiger Weg zur
Streitschlichtung in Familienunternehmen (siehe
Seite 56)? Gefährdet der Krach zwischen den Verwandten
womöglich sogar den Bestand des Konzerns?
Recherchen der WirtschaftsWoche zeichnen
nun erstmals ein Bild des Herausforderers.
ROHSTOFF FLEISCH
Auf dem Keramik-Kugelgrill der Marke Monolith im
Garten des Einfamilienhauses im schnieken Stadtteil
Wiedenbrück brutzeln die Rippchen, die Tochter
tollt auf einem im Rasen versenkten Trampolin herum,
für das Vater Robert eigenhändig im weißen
Feinripp-Hemd die Grube ausgehoben hat.
Studienkollegen, Schulfreunde und Schützenbrüder
beschreiben den Kontrahenten von „Kotelett-
Kaiser“ Clemens Tönnies als geselligen, stets gut gelaunten
Gastgeber. Die Feuerstelle, die ihm Ehefrau
Sarah zum Geburtstag schenkte, blieb deshalb in
diesem Sommer selten kalt.
Zu Gast seien meist „ganz normale Leute“, sagt einer,
der oft dabei ist, Arbeiter und Angestellte, einer
sei Baggerführer. Gepflegt wird Humor à la Ostwestfalen:
Die Truppe, mit der Robert beim Beachvolleyballturnier
„Herzebrocker Affentenniscup“ im Rhedaer
Nachbarort vor mehr als 1000 Zuschauern auf
Sand antrat, nennt sich „Fliegende Mettwürstchen“.
Onkel Clemens dagegen mag es ein paar Nummern
größer. Den Sportplatz baute er sich auf dem
Firmengelände gleich selbst: das Fußballstadion
„Tönnies-Arena“ mit 4000 Sitzplätzen und einem Geläuf
aus Kunstrasen. Zur Eröffnung im September
2012 kam nicht nur Franz Beckenbauer sowie aktuelle
und ehemalige Profis im Schock, sondern auch
Ex-Bertelsmann-Chef Hartmut Ostrowski und
Modeunternehmer Gerhard „Gerry“ Weber. Auf der
Tribüne schwenkte Bertelsmann-Matriarchin Liz
Mohn an der Seite von Clemens’ zweiter Ehefrau
Margit einen blau-weißen Tönnies-Fanschal.
Dagegen wirkt Robert weit bescheidener, obwohl
ihm Magazine wie „Bilanz“ ein Vermögen von rund
einer halben Milliarde Euro zurechnen. Jagdreviere
oder Zweitwohnsitze im Süden, wie sie der Onkel besitzt,
seien „nicht so sein Ding“, berichten Freunde.
Der größte Teil seines Vermögens stecke ohnehin im
Unternehmen. Wie Vater Bernd ist er Schalke-Fan,
im Garten schlappt die Vereinsfahne im Wind. Zu
den Spielen der Knappen fährt Robert derzeit lieber
nicht. Zwar mietet der Konzern, der ihm zur Hälfte
gehört, eine Loge in der Arena auf Schalke. Doch
da residiert schon Clemens: „Und große Ausweichmöglichkeiten
gibt es dort nicht“, sagt ein Freund.
Eine Extravaganz, die er sich erlaubt – so viel ist in
Rheda bekannt –, sind Autos. Mit Vorliebe heizt er im
Porsche Cayenne durchs Ostwestfälische. Ab und an
holt er auch den vom Vater geerbten weißen Jaguar
E-Type aus der Garage. Statt abgeschottet in einer
Villa verbringe er die Ferien gern in familienfreundlichen
Hotels auf Fuerteventura oder letztens am Gardasee
– Robert liebt es bodenständig.
Wie soll es auch anders sein, wird er doch in eine
ostwestfälische Metzger-Dynastie hineingeboren.
Sieben Jahre vor seiner Geburt hatte sich sein Vater
Bernd 1971 als gerade 18-jähriger Jungspund mit einer
cleveren Geschäftsidee selbstständig gemacht –
Metzger-Start-up in Rheda. Das Geschäftsmodell ist
FOTOS: WAZ FOTOPOOL/SEBASTIAN KONOPKA, PR
50 Nr. 46 10.11.2014 WirtschaftsWoche
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Auf Krawall
Robert Tönnies will
sich mit einem
scharfen Konter die
Mehrheit im Fleischkonzern
zurückholen
so einfach wie schlau: Bernd liefert keine kompletten
Schweine an die Metzger, sondern zerlegt sie direkt
im Schlachthof und sucht und findet Abnehmer für
so gut wie alle verwertbaren Tierteile.
So liefert er nur das Fleisch als Rohstoff an Wursthersteller,
das diese für ihre Produkte wirklich vom
Tier brauchen. Tönnies perfektioniert Schlachtung
und Zerlegung – gestorben und verwertet wird am
Fließband. Noch heute ist das die Basis für das Geschäftsmodell
des Milliardenkonzerns.
Bernds Bruder Clemens ist da 15 Jahre alt. Nachdem
auch er eine Metzgerlehre absolviert hat, beteiligt
ihn Bernd Mitte der Achtzigerjahre mit 40 Prozent
an dem inzwischen florierenden Betrieb. Rund
zehn Jahre lang malochen die beiden Schulter an
Schulter: Clemens ist zuständig für Verkauf und Vertrieb,
Bernd für Einkauf und Finanzen. Dann stirbt
Bernd, bundesweit gerade bekannt geworden als
frischgebackener Präsident von Schalke 04, am 1. Juli
1994 an den Folgen einer Nierentransplantation. Er
wird nur 42 Jahre alt.
NARBEN AN DER HAND
Damals, so steht es in einer 40-seitigen Gedenkschrift,
die die Söhne jüngst anlässlich des Gottesdienstes
zum 20. Todestag des Unternehmers an
Trauergäste verteilten, habe Bernd seiner Frau Evelin
und den beiden Söhnen Robert und Clemens junior
„die Verantwortung für insgesamt 4000 Mitarbeiter
in 14 Betrieben mit mehr als umgerechnet einer
Milliarde Euro Umsatz“ hinterlassen.
Clemens junior wird im Familienstreit von Robert
vertreten. Der Bruder halte sich, um seinen Gesundheitszustand
nach einer Nierentransplantation nicht
zu gefährden, aus allen Streitereien heraus. Seine Firmenanteile
hatte Clemens Anfang 2012 auf Robert
übertragen. „Zwischen die beiden passt kein Blatt
Papier“, berichtet einer, der die Familie schon lange
kennt, über die enge Bindung.
Die Zahlen aus der Gedenkschrift bergen Sprengstoff,
stehen sie doch in krassem Gegensatz zur Darstellung
von Clemens Tönnies, nach dessen Lesart
das Unternehmen vor 20 Jahren nur umgerechnet
150 Millionen Euro erlöste, das Eigenkapital nahezu
aufgezehrt war und die Verbindlichkeiten bei rund
50 Millionen Euro gelegen hätten.
Die Zahlen belegen aus seiner Sicht, dass es keine
Zweifel daran geben kann, wer die Tönnies-Gruppe
groß gemacht hat – er. Wie viel der Konzern wann genau
erlöste, das wird eine der Fragen sein, mit der
sich der Bielefelder Richter beschäftigen muss. Denn
verschleiert und getarnt wurde bei den Tönnies-Brüdern
schon von Beginn an.
Nach dem Tod des Bruders bestimmt Clemens
jahrelang, wo es langgeht im Konzern. Denn
Bernd hatte zwar im August 1993 in seinem Testament
verfügt, dass seine Söhne die Mehrheit am Unternehmen
besitzen sollten. Doch „über das ihnen
zustehende Vermächtnis (jeweils 30 Prozent der Firmenanteile
– Anm. d. Red.) dürfen meine Kinder erst
verfügen, wenn sie das 30. Lebensjahr vollendet und
zu diesem Zeitpunkt eine Metzgerlehre und kaufmännische
Ausbildung abgeschlossen haben“, heißt
es in dem Dokument.
Bernds letzter Wille ist für Robert und Clemens junior
praktisch Gesetz. Von juvenilem Aufbegehren
»
Bindung
Beschaffenheitsbegriff
für homogenes
Brät, optimale
Bindung von Eiweiß,
Fett und Wasser*
Schulter
Teilstück des
Schlachttierkörpers*
WirtschaftsWoche 10.11.2014 Nr. 46 51
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Unternehmen&Märkte
Sattel
Rückenpartie von
ganzen Schlachttierkörpern
(Kalb,
Lamm)*
Gekröse
aufgeschlitzter, gesäuberter
Dünndarmtrakt
von Kälbern
unter 100 kg
Lebendgewicht*
»
gegen die rigiden Vorgaben des Papas weiß keiner
der Vertrauten zu berichten. Stattdessen jobbt Robert,
der wie sein drei Jahre älterer Bruder Clemens
laut Vertrauten der Familie „stets kurzgehalten wird“,
bereits als Jugendlicher im väterlichen Betrieb. Nach
der Schule steht er am Band und verpackt Schinken
und anderes Gekröse, erzählt er im Freundeskreis.
Nach Abitur und Wehrdienst bricht der Junior seine
Zelte in Westfalen ab. Er beginnt eine Metzgerlehre
bei Micarna in der Schweiz, einem der führenden
Fleischbetriebe der Eidgenossen. Die Metzgerprüfung
legt er schon nach zwei statt der sonst üblichen
drei Jahre ab, als einer der drei Besten seines Jahrgangs.
Narben auf der linken Hand zeugen davon,
dass das Zerlegen von Schweinen ein gefährlicher
Job sein kann. 2001 kehrt er zurück nach Deutschland,
noch steht er unter Testamentsvollstreckung.
Dafür zuständig ist der langjährige Steuerberater
von Familie und Unternehmen, Josef Schnusenberg,
nebenbei langjähriger Funktionär beim FC Schalke.
Er soll mit den 60 Prozent von Bernd Tönnies im Rücken
als Generalbevollmächtigter die Interessen der
Kinder vertreten. Doch Schnusenberg, so heute der
Vorwurf von Robert Tönnies, habe seinem Freund
und Vereinsgenossen Clemens die Unternehmensführung
komplett überlassen. Außerdem habe er befürwortet,
dass Clemens parallel zum Familien-Konzern
etwa in Russland eigene Geschäfte aufbaute.
Dabei habe es sich jedoch um riskante Investitionen
gehandelt, die Clemens bewusst und in Absprache
mit den Neffen auf seine Kappe genommen habe,
um den Konzern nicht zu gefährden, heißt es dazu
im Clemens-Lager.
Robert Tönnies schreibt sich für ein betriebswirtschaftliches
Studium an der Fachhochschule in Hannover
ein und schließt es 2004 ab. Danach tritt er ins
Unternehmen ein, wird Geschäftsführer am Tönnies-Standort
im niedersächsischen Sögel, wechselt
nach Sachsen-Anhalt als Geschäftsführer des Betriebs
in Weißenfels bei Leipzig und übernimmt zusätzlich
Funktionen im dänischen Brörup. Im September
2009 geht er in die Zentrale nach Rheda, wenig
später wieder zurück nach Weißenfels. Seine Erfolge
dabei werden höchst unterschiedlich eingeschätzt.
Auffällig ist, dass er nie länger als zwei Jahre,
mitunter sogar nur wenige Monate, in einer Position
im Sattel saß. Clemens habe ihn nach Gutdünken
im Konzern verschoben, berichten Vertraute von Robert.
Aus dem „CT“-Lager verlautet nichts Gutes
über Roberts Manager-Wirken: Er sei stets nur faktisch
Geschäftsführer gewesen, habe zudem in Brörup
das Ziel deutlich verfehlt, die Produktion auf das
höhere deutsche Niveau zu bringen. Im Werk in Weißenfels
seien unter seiner Führung die Schlachtzahlen
immer schlechter geworden.
Zudem, so wird gestreut, hätten nirgendwo die
Mitarbeiter gern mit ihm zusammenarbeiten wollen.
Vertraute von Robert berichten hingegen, die Zahl
der Schweineschlachtungen sei während Roberts
Amtszeit in Weißenfels kontinuierlich gestiegen.
INTERNER VERMERK
Währenddessen drängt angeblich Clemens Tönnies
seine Neffen immer wieder, ihm doch endlich je fünf
Prozent ihrer Konzernanteile zu überlassen. Schließlich
habe sein Bruder Bernd ihm das versprochen.
Robert Tönnies und sein Rechtsbeistand zweifeln
das massiv an, dies sei ein nicht belegbares „Sterbebett-Versprechen“
gewesen. Wie sie den Zweifel aufrechterhalten
wollen, bleibt bislang ihr Geheimnis.
Denn laut internem Aktenvermerk eines Notars vom
Januar 1989 hatten sich Bernd und Clemens in der Tat
über eine 50-zu-50-Teilung geeinigt und strebten eine
„Gleichstellung“ an – bereits fünf Jahre vor Bernds
frühem Tod. Dieser hat diese Absicht auch in den Folgejahren
offenbar nicht revidiert, sondern gegenüber
Zeugen – einer seiner Schwestern und einem damaligen
Geschäftsführer – bestätigt: ein Pfund, mit dem
die Verteidigung wuchern wird. Warum allerdings
Bernd die Einigung mit dem Bruder nicht ins Testament
schrieb, wird das Gericht beschäftigen.
Im Januar 2008, kurz bevor die Testamentsvollstreckung
von Schnusenberg endet, ist Clemens am Ziel.
Robert und Clemens junior bieten ihm die Schen-
Schweinebacken
Die fünf größten Schlachtunternehmen für
Schweine in Deutschland (Schlachtungen*)
Rindernacken
Die fünf größten Schlachtunternehmen für
Rinder in Deutschland (Schlachtungen*)
Wurst verpacken
Die fünf größten Wursthersteller in
Deutschland (Umsatz*)
Tönnies Gruppe
Vion Deutschland
9,5 Mio.
16,4 Mio.
Vion Deutschland
Tönnies-Gruppe
405000
888000
Zur-Mühlen-Gruppe** (Böklunder)
H. Kemper
400 Mio.
825 Mio.
Westfleisch
Danish Crown
2,7 Mio.
7,4 Mio.
Westfleisch
Müller-Gruppe
372000
298000
Bell-Gruppe (Abraham, Zimbo)
Reinert
393 Mio.
350 Mio.
Vogler Fleisch
2,3 Mio.
Gausepohl
255000
Wolf
280 Mio.
* 2013; ** gehört Clemens Tönnies; Quelle: Allgemeine Fleischerzeitung
52 Nr. 46 10.11.2014 WirtschaftsWoche
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FOTOS: PRIVAT
kung von je fünf Prozent der Anteile an, die 2009 vollzogen
und in mehreren weiteren Stufen bis 2010 sogar
auf weitere Unternehmen der Gruppe ausgeweitet
wird. Zusammen mit dem Doppelstimmrecht in
der Geschäftsführung, das CT für sich beansprucht,
hat er nun auch auf dem Papier und nicht länger nur
faktisch das Sagen im Konzern.
Er nutzte dies, so der Vorwurf von Robert, jedoch
vor allem zum eigenen Vorteil. Clemens habe über
Jahre Gewinne in Gesamthöhe einer niedrigen dreistelligen
Millionensumme entnommen, während
die Gewinnanteile der Neffen im Unternehmen verblieben.
Angeblich sollen Robert und Clemens junior
ihrerseits weniger, nämlich 30 Millionen Euro
entnommen haben.
LÄSTIGE GESELLSCHAFTER
Mit dem Geld habe sich Clemens hinter dem Rücken
der Neffen die Mehrheit am größten deutschen
Wurstkonzern einverleibt, der Zur-Mühlen-Gruppe
aus Böklund bei Flensburg mit den Marken Böklunder,
Könecke und Schulte. Außerdem, so der Vorwurf,
habe er auf eigene Rechnung und hinter dem
Rücken der Verwandtschaft riesige Schweinemastbetriebe
in Russland aufgebaut. Systematisch habe
er den Neffen Informationsrechte als Gesellschafter
versagt, sagen Insider und Beobachter.
Anders die Darstellung der Gegenseite: Demnach
investierte CT auf eigenes Risiko den ihm zustehenden
Anteil am Gewinn des prosperierenden Unternehmens,
etwa in Russland oder beim Zur-Mühlen-
Kauf. Und allein durch seine Funktion als Geschäftsführer
und Gesellschafter hätte Robert stets über diese
Aktivitäten Bescheid wissen müssen. Von einem
„Schattenreich“ könne daher keine Rede sein.
Alle Versuche, die Vorwürfe aufzuarbeiten und die
leidige Angelegenheit außergerichtlich beizulegen,
scheitern. Stattdessen wird Robert Tönnies Ziel einer
mysteriösen Attacke, die ihn bis ins Mark erschüttert.
Als sich Mitte 2013 abzeichnet, dass die verfeindeten
Parteien vor Gericht landen, bekommt der Erfurter
Fachhochschullehrer Norbert Drees den Auftrag,
sich Roberts Diplomarbeit vorzuknöpfen, ob denn
alles mit rechten Dingen zugegangen sei.
Drees kommt „auftragsgemäß zum bestellten Ergebnis“,
wie es aus dem Umfeld von Robert Tönnies
heißt: Der Autor habe in seiner Arbeit die Prüfer getäuscht.
Seinen Auftraggeber hat der Professor bis
heute nicht geoutet. Man werde diesen peinlichen
Sachverhalt publik machen, wenn er nicht langsam
klein beigebe, machen Robert die Kölner Anwälte
seines Ex-Testamentsvollstreckers Schnusenberg
unmissverständlich klar, mit dem er sich inzwischen
ebenfalls überworfen hatte.
Robert wird jetzt von dem so prominenten wie
umstrittenen Stuttgarter Anwalt Mark Binz vertreten,
einem laut Eigenwerbung ausgewiesenen Fachmann
für „zerstrittene Gesellschafter und Gesellschafterstämme“.
Binz, so werfen ihm Kritiker vor,
befeuere schwelende Familienzwistigkeiten erst so
richtig. Das Drehbuch für diese Fälle hat Binz selbst
verfasst: Es trägt den Titel „Lästige Gesellschafter in
Familienunternehmen. Opfer und Täter“.
Binz nimmt den Neffen eng an die Kette: Er rät
ihm, sich keinesfalls einschüchtern zu lassen und
sich nicht mehr öffentlich zu äußern. Robert zieht
sich – offenbar auf Anraten von Binz – komplett aus
dem Tagesgeschäft zurück. Damit kommt es zum
Bruch. Der seit Längerem intern glimmende Konflikt
wird zum öffentlich ausgetragenen Familiendrama.
Roberts Anwalt bombardiert binnen weniger Monate
das Tönnies-Management mit annähernd 100
Auskunftsersuchen, nervt damit die Geschäftsführung
und setzt so Clemens Tönnies unter erhöhten
Einigungsdruck. Richtig schmutzig wird es wenige
Monate später, Ende 2013. Da landet das Thema Diplomarbeit
in den Medien. Robert Tönnies habe bei
seinem Werk „Zerlegeoptimierung in einem industriellen
Schweinezerlegebetrieb“ gepfuscht, schreibt
der „Spiegel“. In Auftrag gegeben worden sei das Gutachten
aus der Umgebung von Clemens Tönnies,
will das Magazin wissen. Der bestreitet das.
Robert ein Trickser und Täuscher? Er selbst macht
keinen Hehl daraus, das ihm im theoretischen Teil
»
Vater und Sohn
Bernd und Robert
Tönnies auf dem
Werksgelände in
Rheda 1992
Gründerfamilie
Evelin und Bernd
Tönnies mit Clemens
junior (links) bei
Roberts Taufe 1978
Kette
Bindegewebsreiche
Muskelstrang im
Bereich der Wirbelknochen*
Mark
Das Innere der
Röhrenknochen
(Beinröhre)*
WirtschaftsWoche 10.11.2014 Nr. 46 53
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Unternehmen&Märkte
Halbe-halbe
Mehr als 16 Millionen
Schweine werden
in den Tönnies-
Schlachthöfen pro
Jahr komplett zerlegt
Überläufer
Wildschwein im
2. Lebensjahr,
Gewicht bis 45 kg*
* aus: Fachlexikon für
Fleischer, Hans Fuchs,
Martin Fuchs
Mit über 5.000 Fachbegriffen
von A wie
Aalrauch bis Z wie
Zwischenrippenkotelett,
158 Seiten, gebunden,
afz EDITION
»
etliche Zitierfehler unterlaufen seien. Doch im
60-seitigen praktischen Teil der mit „gut“ bewerteten
Arbeit habe er sauber gearbeitet. Das attestiert ihm
wiederum der Bielefelder Universitätsprofessor und
Lehrstuhlinhaber Hermann Jahnke, der ein Gegengutachten
verfasst hat.
Statt dem öffentlichen Druck nachzugeben, schalten
Robert und sein Rechtsbeistand noch stärker auf
Attacke. Sie verlangen die geschenkten fünf Prozent
am Konzern zurück – wegen groben Undanks. „Die
Anordnung der bis 2008 andauernden Testamentsvollstreckung
hat allein den Zweck verfolgt, die Söhne
vor unbedachten Entscheidungen, insbesondere
vor ihrem ungleich erfahreneren, ja übermächtigen
Onkel zu schützen“, ledert Binz los: „Und was macht
der Testamentsvollstrecker, dem der Vater seine Neffen
anvertraut hatte? Er wechselt die Fronten.“
Heute, so Binz weiter, behaupte der angebliche
Überläufer, „es wäre schon immer gewollt gewesen,
Clemens Tönnies die alleinige Macht im Unternehmen
einzuräumen“. Daran zweifelt die Robert-Seite
und führt in ihrer 150-seitigen Klageschrift nicht weniger
als 30 Gründe auf, die Clemens Tönnies’ Undankbarkeit
belegen sollen.
Wie Robert den angeblichen Undank belegen will,
wird wohl Anwalt Binz’ ganzer Kunst bedürfen. Denn
in der Präambel der Schenkungsurkunde bieten die
Neffen ihrem Onkel „in Dankbarkeit“ ihre
jeweils fünf Prozent am Unternehmen an.
Sie offerieren ihm die Anteile ausdrücklich
„in Anerkennung der Leistung seit dem
Tod“ ihres Vaters Bernd.
Ein Satz, den Clemens Tönnies mit Genuss
zitieren dürfte: „Wir werden den Prozess
nutzen, um viele Dinge klarzustellen“,
sagte er kürzlich in einem Interview, „ich
habe 20 Jahre lang keine Sekunde darüber
Fotos
In unseren App-
Ausgaben finden
Sie Bilder vom
Netzwerk des
Clemens Tönnies
nachgedacht, dass ich mich vor Gericht für meinen
Einsatz und meine Lebensleistung rechtfertigen
muss. Das empfinde ich natürlich als undankbar.“
Die Zeit seit seinem Ausscheiden aus dem Unternehmen
im Dezember 2012 hat Robert Tönnies
nicht nur zur Vorbereitung auf den entscheidenden
Prozess genutzt.
Gleichzeitig, sagen Vertraute, habe er sich Gedanken
über die künftige Aufstellung des Konzerns gemacht.
Demnach arbeite Robert in diesen Wochen
intensiv an einem Strategiepapier.
Eine Zerschlagung oder einen Verkauf seiner Anteile
werde es mit ihm nicht geben, heißt es übereinstimmend
aus seinem Umfeld. Stattdessen wolle er
etwa auch den Wursthersteller Zur Mühlen in die
Tönnies-Gruppe integrieren. Zusätzlich fordert Robert
für den Konzern ein neutrales, noch zu bildendes
Kontrollgremium. Zudem müsse die operative
Leitung des Konzerns nicht zwingend von Familienangehörigen
ausgeübt werden.
Ob es nach der Schlacht der Schlachter noch eine
gemeinsame Zukunft für Onkel und Neffe im Konzern
geben kann, ist völlig offen. Vergleichbare Fälle
von Familienkrach wie beim Keks-Konzern Bahlsen
führten letztlich zur Spaltung des Unternehmens –
ein Szenario, das in auswegloser Situation auch bei
Tönnies drohen könnte. Eine Zerschlagung würde
die Wettbewerbsfähigkeit des Fleischriesen
gefährden, da die Unternehmensteile sehr
eng verflochten sind.
Dabei berufen sich bei dem Streit beide
Seiten paradoxerweise auf das Gleiche – auf
den Willen eines Toten.
Sein Wille geschehe.
n
mario.brueck@wiwo.de, peter steinkirchner
Lesen Sie weiter auf Seite 56 »
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54 Nr. 46 10.11.2014 WirtschaftsWoche
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Unternehmen&Märkte
INTERVIEW Arist von Schlippe
»48-Stunden-Regel«
Der Experte für Konfliktmanagement erklärt, warum Streitigkeiten
in Familienunternehmen schneller eskalieren.
Herr Professor von Schlippe, von
Montag an treffen sich Fleischbaron
Clemens Tönnies und sein Neffe Robert
erneut vor Gericht. Seit zwei Jahren
tragen die beiden ihren Zwist auch in
der Öffentlichkeit aus. Überrascht
Sie der Eskalationsgrad?
Nein, eigentlich nicht. Familienunternehmen
sind eben selten Mittelmaß. Sie
profitieren entweder enorm vom guten
Zusammenhalt in der Familie. Oder sie
leiden massiv darunter, wenn es interne
Spannungen gibt. Wenn es nicht gelingt,
diese Spannungen auszubalancieren,
fallen Konflikte in Familienunternehmen
dann oft heftiger aus und eskalieren
schneller.
Heißt das, Familienunternehmer sind
besonders streitsüchtig?
Nein. Sie streiten nicht unbedingt häufiger
als die Eigentümer anderer Unternehmen,
aber wenn, dann heftiger.
Woran liegt das?
Familien haben ein ganz anderes Verständnis
von Gerechtigkeit als Unternehmen.
In der Familie gilt eine Logik der
Gleichheit – eine Mutter muss immer alle
Kinder gleich lieb haben. Die Gerechtigkeitslogik
des Unternehmens beruht
aber auf Ungleichheit: Der, der am meisten
leistet oder die beste Qualifikation hat,
soll auch am meisten bekommen. An dieser
Diskrepanz arbeiten sich viele Unternehmerfamilien
ab.
In welchen Fällen macht es Sinn, familiäre
Streitigkeiten vor Gericht auszutragen?
Das ist die Ultima Ratio, wenn die Familie
keine Möglichkeiten mehr hat, sich selbst
zu helfen. Es kommt häufig vor bei hocheskalierten
Konflikten. Da ist dann die Verzweiflung
oder Verbitterung der Beteiligten
so groß, dass sie eine dritte, übergeordnete
Instanz brauchen, um sie aus dem Konflikt
zu erlösen. Und das ist im Zweifelsfall nur
noch das Gericht.
Vor allem Geschwister zerstreiten sich
häufig, wie etwa bei Haribo, Bahlsen oder
den Oetkers. Woran liegt das?
Da gibt es oft alte Streitigkeiten, die meist
noch aus dem Sandkasten stammen. Die
werden manchmal über Jahre und Jahrzehnte
als kalte Konflikte mitgetragen. Ein
DER MEDIATOR
Von Schlippe, 63, ist Professor am Institut
für Familienunternehmen an der Universität
Witten-Herdecke. Der Psychologe ist Experte
für das Thema Konfliktmanagement und
berät dazu auch Unternehmen.
neuer Zwist kann dazu führen, dass alte
Konflikte dann heftig aufbrechen.
Bei Bahlsen endete der Streit mit einer
Teilung des Unternehmens: Der eine
Bruder übernahm die Kekssparte, der
andere die Knabberartikel, die heute
unter der Marke Lorenz verkauft werden.
Wann macht eine Spaltung Sinn?
Wenn man sich nicht einigen kann, dann
kann das eine gar nicht so schlechte Lösung
sein.
Wie können Familienunternehmen
vorbeugen, damit es erst gar nicht zu
solch dramatischen Konflikten kommt?
Eine frühe Sensibilisierung für Konfliktpotenziale
ist wichtig. Viele erarbeiten
sich eine Familienverfassung, in der sie
elementare Werte festlegen, die sie
schriftlich festhalten. Dieser Prozess
kann auch schon konflikthaft ablaufen,
aber dadurch übt sich die Familie im
Umgang mit Konflikten.
Was sind die wichtigsten Punkte in
diesen Familienverfassungen?
Da ist ein ganzes Paket möglich: Die Gesellschafter
bekennen sich zur Verantwortung
für das Unternehmen und die
Mitarbeiter. Sie erklären sich dazu bereit,
in Krisenzeiten geringere Ausschüttungen
in Kauf zu nehmen. Sie legen fest,
wer zum Gesellschafterkreis gehören
darf und wer nicht – was ist zum Beispiel
mit nicht ehelichen Partnern? Zudem
können Unternehmerfamilien Gremien
bilden und eben auch Konfliktklauseln.
Wie können die aussehen?
Ich kenne eine interessante Regelung in
einem Unternehmen, die eine 48-Stunden-Regel
vorsieht. Die Familie wählt jedes
Jahr aus ihrem Kreis einen Kümmerer,
der regelmäßige Treffen organisiert,
aber auch bei Konflikten zuständig ist.
Sobald ein Streitthema auftaucht, muss
man sich innerhalb von 48 Stunden an
diesen wenden. Der sucht dann nach
Lösungen, bevor der Konflikt weiter eskaliert.
Wer sich nicht an den Kümmerer
wendet, der hat das Recht verwirkt, das
Ereignis bei späteren Konflikten wieder
in den Ring zu werfen.
Was hätten Sie Clemens und Robert Tönnies
geraten, um den Streit beizulegen?
Das ist schwer zu sagen bei einem so
hocheskalierten Konflikt. Man hätte sich
frühzeitig Unterstützung suchen müssen.
Je früher man einen Spiegel vorgehalten
bekommt, desto besser.
n
jacqueline.goebel@wiwo.de
FOTO: PR
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Unternehmen&Märkte
Das Experiment
HYPOVEREINSBANK | Mit einem Schlag macht die Bank aus Bayern
fast die Hälfte ihrer Filialen dicht. Der beispiellose Schritt ist eine
radikale Wette auf die Zukunft. Ein Modell für die ganze Branche?
niskirche ab, drinnen steht ein weißer
Schreibtisch, den die Berater nach jedem
Gespräch aufgeräumt zurücklassen müssen.
Daneben hängt ein Flachbildschirm.
Das alles soll Offenheit, Nähe zum Kunden
und Diskretion signalisieren. Doch
was so harmlos aussieht, ist Teil einer riskanten
Revolution. Denn der frisch renovierte
Standort ist einer der ersten fertigen
Bausteine des größten Umbaus im deutschen
Privatkundengeschäft seit der Fusion
von Dresdner und Commerzbank 2008.
Die HVB setzt alles auf eine Karte,
streicht ihr Filialnetz radikal zusammen
und motzt zeitgleich die übrigen Standorte
mit neuen Möbeln und vor allem mit Technik
auf. Sie setzt darauf, dass neue Technologien
wie die Beratung per Video und Internet
bei ihren Kunden schon so akzeptiert
sind, dass diese den Rückzug aus der
Fläche nicht mit der Kontokündigung bestrafen.
Wenn der Plan funktioniert, taugt
er als Modell für andere Institute.
Doch die Risiken sind groß. Viel spricht
dafür, dass die Bank damit zu schnell ist
und ihre Kunden überfordert. Die sind womöglich
noch nicht bereit, den Ansprechpartner
vor Ort gegen virtuelle Ratgeber
einzutauschen. Viele dürften sich im Stich
gelassen fühlen und das Institut wechseln.
Das Experiment läuft seit Anfang Oktober.
Seitdem renoviert die HVB im Schnelldurchlauf
sämtliche Zweigstellen, im Tagestakt
machen generalüberholte Filialen
wieder auf. Aktuell sind es 40, schon Ende
2015 sollen alle fertig sein – und so aussehen
wie die in Berlin. Überall gibt es dann
die gleichen Glaswürfel, die gleichen Bildschirme,
den gleichen Schriftzug an der
Wand und, wenn genug Platz da ist, die
gleichen Kaffee-Ecken.
Katrin Hesse ist etwas nervös, denn
für den Abend hat sie fast 150 Gäste
eingeladen. Die Berliner Filialleiterin
der HypoVereinsbank will ihren wichtigen
Kunden zeigen, wie schick und schön
und neu es jetzt bei ihr zugeht. Sechs Wochen
hat der Umbau der Zweigstelle im
Stadtteil Charlottenburg gedauert. Nun ist
er fertig, der aus München angereiste Vorstand
wird ein rotes Band durchschneiden,
dann gibt es Häppchen.
Unsere Bank soll
schöner werden
HVB-Privatkundenvorstand
Buschbeck
Im Schnelldurchlauf führt Hesse durch
ihr überarbeitetes Reich. Die Geldautomaten
stehen jetzt vorne im Hauptraum statt
in einem blickdicht abgetrennten Vorzimmer,
an einem Pult sitzt eine Art Lotse als
erster Ansprechpartner für alle Kundenfragen.
Es gibt eine Sofaecke mit Kaffeeautomat,
über die Filiale verteilen sich sogenannte
Beratungswürfel aus Glas. Von außen
schirmt die ein milchiger Sichtschutz
mit Motiven wie Reichstag und Gedächt-
BRACHIAL-KONZEPT
Überall da jedenfalls, wo es dann noch Filialen
gibt. Denn zeitgleich macht die Bank
240 ihrer bisher 580 Zweigstellen dicht.
Auch dieser Rückzug läuft schon. Vor allem
an kleineren Standorten sind die Türen geschlossen,
die Schilder abgeschraubt. Mit
ihnen müssen auch rund 1500 Bankangestellte
gehen. Die Kunden sollen zur nächsten
Filiale fahren oder ihre Geschäfte per
Telefon und im Internet erledigen.
Der Mann hinter dem Brachial-Konzept
heißt Peter Buschbeck und ist seit 2009 im
HVB-Vorstand für die Privatkunden zuständig.
Da hat er schon so einiges probiert:
einige Filialen zugemacht, ein Franchise-Konzept
gestartet und verworfen, eine
„Online-Filiale“ aufgemacht, in der per-
FOTO: GÖTZ SCHLESER FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE
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sönliche Berater den Internet-Kunden via
Web zur Seite stehen. Das war aber nur das
Vorspiel für das eigentliche Drama.
Seit die Umbaupläne bekannt sind, muss
Buschbeck erklären, dass es um einen Befreiungs-
und keinen Kahlschlag geht, dass
er kein Totengräber, sondern ein Erneuerer
ist, dass die Bank 300 Millionen Euro für
die Modernisierung ausgibt. „Auch wenn
wir deutlich Kosten sparen, senden wir ein
klares Zukunftssignal“, sagt er. „Die Filiale
ist und bleibt ein zentraler Beratungspunkt.
Sie behält einen hohen Stellenwert,
wir passen unser Netz aber an das veränderte
Kundenverhalten an.“
Das macht den Banken schwer zu schaffen.
Die Kosten für Mieten und Personal
sind unverändert hoch, aber ähnlich wie
im Einzelhandel erledigen Kunden ihre
Geschäfte immer öfter online statt vor Ort.
Hinzu kommen immer neue Vorschriften
zum Schutz der Sparer, die Kreditinstitute
teuer und aufwendig umsetzen müssen.
Die Niedrigzinspolitik der Notenbanken
erhöht den Druck noch weiter. Sie sorgt dafür,
dass der für das Ergebnis im Filialgeschäft
entscheidende Zinsüberschuss fällt.
Der ergibt sich im Wesentlichen aus der
Auf Sparkurs
Entwicklung der Zweigstellen und
Beschäftigten deutscher Kreditinstitute
(in Tausend)
50
45
40
Filialen
Beschäftigte
750
700
650
35
600
2004 2013
Quelle: Deutsche Bundesbank, Arbeitgeberverband
Banken
Differenz zwischen den Zinsen, die eine
Bank für Einlagen zahlt, und denen, die sie
für von ihr eingesetztes Geld bekommt.
Vergibt sie dieses als Kredit, kassiert sie
kaum noch etwas, kauft sie einigermaßen
solide Wertpapiere, bringen die auch nur
wenig ein. Die Rendite zehnjähriger Bundesanleihen
lag zuletzt bei 0,9 Prozent.
All das wird sich so schnell nicht ändern.
Deshalb gibt es Raum für drastische Szenarien.
Gerade erst haben die im Privatkundengeschäft
einflussreichen Berater von
Bain & Company in einer Studie vorgerechnet,
dass deutsche Banken ihre Kosten
in den kommenden Jahren um 25 Milliarden
Euro drücken müssten, um ausreichend
profitabel zu bleiben.
Der Weg dahin klingt brutal: 11 000 von
derzeit noch 37 000 Zweigstellen müssten
schließen, 125 000 von aktuell 630 000
Bankbeschäftigten sich einen neuen Job
suchen. Der Umbruch sei vergleichbar mit
dem der Stahlindustrie im vergangenen
Jahrhundert, urteilen die Bain-Berater.
Das sind keine abstrusen Fantasien abgehobener
PowerPoint-Artisten. Als die
obersten deutschen Finanzaufseher jüngst
die Ergebnisse des Stresstests der EZB vorstellten,
mussten sie keine Durchfaller verkünden,
machten aber deutlich, dass die
Banken nicht einfach so weitermachen
können wie bisher. Sie müssten mehr verdienen
und dafür mehr sparen. „Dabei
können sie an ihr vergleichsweise üppiges
Filialnetz denken“, sagt der zuständige
Bundesbankvorstand Andreas Dombret.
Dass nun ausgerechnet die HVB zum
großen Schlag ausholt, ist kein Zufall. Das
Institut aus München zählt zwar im Ge-
»
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Unternehmen&Märkte
»
schäft mit deutschen Unternehmen zu
den ersten Adressen, ist bei Sparern und
Hausbauern aber eine ziemlich kleine
Nummer. Die HVB-Privatkunden sind im
Durchschnitt zwar recht wohlhabend, es
gibt aber auch nur gut vier Millionen von
ihnen. Zum Vergleich: Die Deutsche Bank
kommt zusammen mit ihrer Tochter Postbank
auf 24 Millionen. Wirklich flächendeckend
ist die HVB nur in Bayern und Teilen
Norddeutschlands vertreten.
IMMER ETWAS NEUES
Mehrmals wollte die Bank, die seit 2005 zur
italienischen UniCredit gehört, deshalb einen
Konkurrenten kaufen, erhielt aber nie
den Zuschlag. Deshalb probiert es Buschbeck
nun auf die harte Tour. Dass er das
kann, hat er bewiesen. In der Bankenwelt
hat er einen Ruf wie der Trainer Felix Magath
im Bundesliga-Fußball. Er gilt als harter
Hund, der Leute ordentlich rannimmt.
Als er das Geschäft der schwedischen SEB
in Deutschland leitete, mussten die Angestellten
einmal pro Woche Rechenschaft
über ihre Verkaufserfolge ablegen. Das
machte die SEB zum abschreckenden Beispiel
für übertriebenen Vertriebsdruck.
Die Mehrheit ist online
Anteil der Bankkunden, die Geschäfte im
Internet erledigen (in Prozent)
60
50
40
30
20
10
0
06 07 08 09 10 11 12 13 14
Quelle: Bankenverband, ipos, GfK
Allerdings berichten Weggefährten, dass
Buschbeck es bei der HVB nun etwas lockerer
angehen lässt. Deren Kunden sind
anspruchsvoller, legen mehr Wert auf Beratung.
Ein Konzept, das nur auf schnelle
Abschlüsse setzt, funktioniert da nicht.
Buschbeck will deshalb nun auch mehr
als Techniker denn als Schleifer glänzen,
will beim Banking via Internet und
Smartphone ganz vorne mit dabei sein.
Ständig präsentiert er etwas Neues: Demnächst
stellt die HVB ein besseres Sicherheitskonzept
für mobile Bankgeschäfte vor.
Aber auch in den Filialen soll es innovativ
vorangehen, wenn auch unaufdringlich.
„Wir wollen sie nicht zu Technik-Kathedralen
machen. Sie finden dort nichts, was
dem Kunden nicht nutzt“, sagt Buschbeck.
So gibt es auf jedem Schreibtisch ein sogenanntes
Signpad, mit dem die Kunden Dokumente
digital unterschreiben können.
Das spart den Ausdruck auf Papier.
Besonders große Stücke hält Buschbeck
auf die Beratung per Videoschaltung. Über
den Bildschirm können Experten so jederzeit
bei Fachthemen weiterhelfen, auch
wenn sie nicht vor Ort sind. Die Bank spart
Kosten und verspricht dem Kunden gleichzeitig
eine noch qualifiziertere Beratung.
Drei Jahre hat die HVB das Konzept getestet,
nun kommt es überall zum Einsatz.
Auch in Berlin. Um zu zeigen, wie gut es
klappt, knipst Filialleiterin Hesse den Bildschirm
an. Dort erscheint dann Sandra
Schenkhut. Sie ist blond, lächelt, trägt ein
Headset und steht in einem Leipziger Bürobau
vor einer Wand mit HVB-Logo.
Schenkhut ist Expertin für Immobilienfinanzierungen,
sie rechnet aus, ob sich ein
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Kunde eine eigene Wohnung wirklich leisten
kann. Sie fragt, wie viel er verdient, wie
viel er im Monat ausgibt, wie viel er gespart
hat. Das wirkt ein wenig schematisch, ein
wenig unpersönlich.
Aber immerhin funktioniert es. Kaum ein
Experte bezweifelt, dass solche Technologien
eine wichtigere Rolle spielen werden.
Die Frage ist nur, ob schon genug Kunden
reif dafür sind, um den Filialschwund in der
Fläche zu kompensieren. „Der Weg der
HVB ist mutig. Er ist an sich richtig und
nachvollziehbar, kann aber etwas zu früh
kommen“, sagt Oliver Mihm, Chef der Beratung
Investors Marketing in Frankfurt. „Für
viele Kunden ist die Filiale immer noch der
wichtigste Bezugspunkt
zu ihrer Bank.“
So zeigt eine aktuelle
Studie von Investors
Marketing, dass rund ein
Fünftel der Kunden
Bankgeschäfte immer
noch ausschließlich über
die Filiale abwickelt. Für
70 Prozent ist sie der
wichtigste Weg zur Kontaktaufnahme
mit der
Bank, 80 Prozent nutzen
sie zum Abschluss von Finanzprodukten
und für ausführliche Beratungsgespräche.
Das ist auch eine Generationenfrage. So
nutzen zwar 80 Prozent der Kunden unter
40, aber nur ein Drittel der über 60-Jährigen
das Internet für Bankgeschäfte. Dabei
sind die Älteren an sich interessant:Sie haben
vielleicht wenig Ahnung von Computern,
dafür aber oft ordentlich Geld.
GROSSE SKEPSIS
„Der Weg ist hochriskant, die Entwicklung
im Kundenverhalten ist schnell, aber nicht
so schnell“, sagt Klaus Grünewald, der seit
mehr als 20 Jahren für die Gewerkschaft
Verdi im Aufsichtsrat der HVB sitzt. Er hat
schon etliche Sparrunden mitgemacht, die
aktuelle sieht er besonders skeptisch. Grünewald
bezweifelt, dass es zum Anspruch
einer Premium-Bank passt, wenn sie die
Kunden vor allem per Video informiert –
vor allem, wenn die Technik mal ausfällt.
Auch die Mitarbeiter sind verunsichert.
Wenn eine Filiale schließt, kommen sie oft
erst mal in der nächsten unter. Ob sie da
bleiben können, ist nicht sicher. Allerdings
berichten HVBler auch, dass das Interesse
an den Abfindungsangeboten sehr hoch
ist:„Viele wollen sich den Stress nicht mehr
antun“, sagt einer. Vor allem aber irritiert
sie, dass das alles so verdammt schnell
300
Millionen Euro
investiert die HVB in
die Modernisierung
ihrer Filialen
geht. Die Gewerkschafter wollten den Umbau
zumindest bis 2018 strecken, um erst
mal abzuwarten, ob er funktioniert.
„Wir haben die Entscheidungen lange
und intensiv vorbereitet“, sagt Buschbeck.
„Jetzt setzen wir sie rasch um, weil die Kunden
schnell von der Modernisierung profitieren
sollen.“ Die Branche habe die Dynamik
des Wandels zu lange unterschätzt
und müsse reagieren. Buschbeck: „Wir
freuen uns, wenn wir vorne mit dabei sind.“
NICHT SCHÖN GENUG
Hinten runterfallen dabei dann Standorte
wie Au in der Hallertau. Noch im Herbst
vergangenen Jahres feierte die Zweigstelle
im 6000-Einwohner-Ort
im Landkreis Freising
nördlich von München
ihr 100-jähriges Jubiläum,
die HVB verfasste
eigens ein festliches
Faltblatt. „Die Filiale
spiegelt aufs Schönste
die lange Geschichte
der Bank wider“, heißt es
darin. Offenbar nicht
schön genug. In einer
Woche ist Schluss.
Der schnelle Abschied verärgert selbst
Bürgermeister Karl Ecker. „Das ist überhaupt
nicht nachvollziehbar“, sagt er. Die
Bank hatte ihren Sitz schließlich in Bestlage,
direkt am Marktplatz, im Gebäude des
traditionellen Gasthofs „Zur Post“. Und es
sei immer viel los gewesen, der vor allem
für den Anbau von Hopfen bekannte Ort
sei alles andere als arm.
Für Ecker ist klar: „Das haben sich abgehobene
Manager in der Zentrale so ausgedacht.“
Der Bürgermeister hat zwei böse
Briefe nach München geschickt, nun soll
vielleicht ein Geldautomat bleiben. Die
Bank habe einigen Kunden 50 Euro geboten,
damit sie ihr treu bleiben. „Aber warum
sollten die zwölf Kilometer bis zur
nächsten Filiale fahren?“, fragt Ecker.
Wo doch die Konkurrenz vor Ort sofort in
die Bresche springt. Die Raiffeisenbank
wirbt aktiv um HVB-Kunden, die Sparkasse
hat Plakate und Anzeigen gestaltet. „Wir
bleiben vor Ort“ sind die überschrieben, zu
sehen sind darauf acht Sparkassenmitarbeiter,
die sich in Dirndl und Lederhose
um einen Traktor versammelt haben. Sie
lachen zuversichtlich, sie lachen für Tradition
und Nähe und Zuverlässigkeit. Und
gegen Peter Buschbeck.
Wer wohl zuletzt lacht?
n
cornelius.welp@wiwo.de | Frankfurt
WirtschaftsWoche 10.11.2014 Nr. 46 61
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Unter Druck IBF-Präsident Maleki wird von
Mitgliedern aus Düsseldorf attackiert
Zoff ums Geld
INTERNATIONAL BANKERS FORUM | Mitglieder des hochkarätigen
Vereins klagen über mangelnde Transparenz bei den Finanzen.
Wenn in der kommenden Woche in
Frankfurt mit der Euro Finance
Week die wichtigste deutsche
Bankenkonferenz stattfindet, wird Veranstalter
Nader Maleki vermutlich wie jedes
Jahr strahlend durch die Messehalle
schreiten und den geladenen Promis die
Hand schütteln. Rund 200 Sprecher werden
auftreten, darunter Jürgen Fitschen,
Co-Chef der Deutschen Bank, Europas
oberster Währungshüter Mario Draghi und
Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble.
Für seine Verdienste um den Finanzplatz
Frankfurt erhielt der gebürtige Iraner sogar
das Bundesverdienstkreuz. Doch aktuell ist
dem 66-Jährigen nicht nach Lachen zumute.
Sein tadelloser Ruf ist in Gefahr.
Darum geht es: Maleki ist Präsident des
International Bankers Forum (IBF), eines
Vereins für Banker, mit rund 900 persönlichen
und institutionellen Mitgliedern. Zugleich
ist er auch Chef und Gesellschafter
der Maleki Communications Group, die
die Euro Finance Week organisiert. Zu ihr
gehört auch die IBF GmbH, die für den IBF
Verwaltungsarbeiten erledigt.
Die Aktivitäten des Vereins und von Malekis
Privatfirmen greifen also ineinander.
So zahlte der Verein im vergangenen Jahr
etwa 82 000 Euro als Verwaltungspauschale
an die IBF GmbH und mietete für 11 000
Euro einen Stand auf der Euro Finance
Week.
Der Düsseldorfer Ausschuss des IBF – eine
Art regionales Organisationskomitee,
das mit Mitarbeitern unter anderem von
Deutscher Bank und WGZ Bank besetzt ist
– hält das für problematisch. Er bat den
Vorstand darum, die Zahlungsströme zwischen
dem IBF und Malekis Unternehmen
im Detail offenzulegen, was offenbar nicht
in befriedigendem Umfang geschah.
Der elfköpfige Ausschuss tritt nun zum
Jahresende zurück, weil die „mehrfach vorgetragenen
Bedenken“ hinsichtlich Finanzierung,
Transparenz und Governance
„bislang nicht ausgeräumt werden konnten“,
heißt es in einem Brief an den IBF-
Vorstand. Die WGZ Bank trat infolgedessen
aus dem Verein aus. Die Düsseldorfer
Börse lässt ihre Mitgliedschaft ruhen.
»Die vorgetragenen
Bedenken
konnten nicht ausgeräumt
werden«
Düsseldorfer Regionalausschuss des IBF
Im Kern forderten die Düsseldorfer Auskünfte
zu zwei Ausgabe-Positionen:
n Verwaltungspauschale Circa ein Drittel
seiner Mitgliedsbeiträge überwies der IBF
2013 an Malekis IBF GmbH, damit die das
Clubleben organisiert. Die Düsseldorfer
wollten wissen, wofür das Geld genau ausgegeben
wurde. Maleki sagt hierzu gegenüber
der WirtschaftsWoche, das Geld werde
unter anderem für die Betreuung der
Mitglieder, die Büromiete und circa 60 Veranstaltungen
pro Jahr verwendet.
n Vereinsmagazin 2012 verkaufte Maleki
60 Prozent seiner Unternehmensgruppe
an den Deutschen Fachverlag mit Sitz in
Frankfurt, der unter anderem die Blätter
„Textilwirtschaft“ und „Lebensmittelzeitung“
herausgibt.
Nach dem Einstieg des Fachverlags legte
die Maleki-Gruppe ein 50 Seiten starkes
professionell gemachtes Hochglanzmagazin
namens „International Bankers Forum“
auf, das IBF-Mitglieder alle zwei Monate automatisch
erhalten. Der Verein zahlt zwar
nur 12,50 Euro pro Ausgabe statt des Einzelverkaufspreises
von 21 Euro. Im Jahr kommen
so aber dennoch 60 000 Euro zusammen.
Die Kosten seien zu hoch, und inhaltlich
könnten sie die Zeitschrift auch nicht
mitgestalten, kritisieren die Düsseldorfer.
Maleki sagt, das Ziel, eine Zeitschrift
herauszugeben sei bereits vor Jahrzehnten
in der IBF-Satzung festgehalten worden.
MEHR PROMINENZ ERWÜNSCHT
Bei einem Treffen der Düsseldorfer mit Vorständen
des Vereins ist der Zwist dann eskaliert.
Die Opponenten wollen die erbetenen
Auskünfte nicht erhalten haben. Der IBF bestreitet
das. Aus den Düsseldorfer Reihen
heißt es gar, dass ein IBF-Vorstand ihnen
verboten habe, das Gespräch mitzuschreiben.
Der IBF sagt, es habe sich nicht um ein
Treffen eines beschlussfassenden Gremiums
gehandelt. Entsprechend sei auch
nicht protokolliert worden.
Maleki vermutet persönliche Motive
hinter der Attacke. Das Düsseldorfer Gremium
solle prominenter besetzt werden.
„Das hat einigen Personen aus dem alten
Regionalausschuss nicht gepasst“, sagt er.
Da er die restlichen Anteile an seinem Unternehmen
nicht „mit in den Himmel nehmen“
will, wird sich das Problem von allein
lösen. Nach einem Verkauf hätte er nur
noch den Hut des IBF-Präsidenten auf. n
melanie.bergermann@wiwo.de | Frankfurt
FOTO: LESANDLIGHT/SALOME RÖSSLER
62 Nr. 46 10.11.2014 WirtschaftsWoche
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Unternehmen&Märkte | Dossier
Vorbilder
Weit und endlos
Ex-Kollegen lästern gerne,
bei den Umgangsformen
habe sich Pichler wohl an
Alfred Tetzlaff orientiert,
dem TV-Ekel der Siebzigerjahre.
Mit Sicherheit inspiriert
wurde der Ex-Profilangläufer
von afrikanischen
Marathonläufern und deren
Motto „Easy Going“. Soll heißen:
Die Leistungsfähigkeit
steigt, wenn ein Läufer bei
hoher Belastung möglichst
entspannt bleibt. Auch wenn
Rückkehr aus
der Südsee
Künftiger
Air-Berlin-Chef
Pichler
Motiviert und bescheiden Ex-
Südafrika-Präsident Mandela
Pichler auf Fotos noch so
grimmig blickt wie früher,
die Zeit beim australischen
Billigflieger Virgin Blue von
2004 bis 2009 hat ihn wohl
verändert. „Wer Stefan von
damals kennt, erkennt ihn
kaum wieder“, so ein Freund.
So nennt Pichler als wichtigstes
Vorbild Nelson Mandela,
den ehemaligen Präsidenten
Südafrikas, den er
mehrfach traf. Der sei trotz
aller Widerstände motiviert
und bescheiden geblieben.
Ebenso zu Pichlers Leitbildern
gehört der französische
Schriftsteller Antoine de
Saint-Exupéry. Der riet: Wer
ein Schiff bauen wolle, der
teile die Männer nicht zur
Arbeit ein, sondern „lehre sie
die Sehnsucht nach dem
weiten, endlosen Meer“.
Geläutertes Raubein
Der neue Vorstandschef Stefan Pichler ist die letzte Hoffnung für Air Berlin,
vorausgesetzt der arabische Großaktionär Etihad gibt ihm genug Freiheit.
Wenig sorgte in der Luftfahrt zuletzt so sehr
für Gähnen wie das Gerücht, Stefan Pichler
werde Chef von Air Berlin. Der 57-Jährige
war schon Favorit, bevor Gründer Joachim
Hunold 2011 rausflog. Lange als Deutschlands
ehrgeizigster Manager gefeiert, manövrierte
sich Pichler jedoch ins Abseits.
2003 war er an der Spitze des Reisekonzerns
Thomas Cook gescheitert und zuvor als
Verkaufschef bei der Lufthansa wegen
seines raubeinigen Führungsstils angeeckt.
Danach wechselte er zu Billigfliegern in
Australien und Kuwait und war zuletzt Leiter
der Fluggesellschaft der Fidschi-Inseln.
Wenn der begeisterte Taucher nun die
Südsee für die Spree aufgibt, liegt das am
Umdenken beider Seiten. Air Berlin ist
weiterhin tiefrot, trotz Sparrunden, zweier
Chefwechsel in drei Jahren und 800 Millionen
Euro vom arabischen Großaktionär
Etihad. Da hilft nur noch ein Maniac wie
Pichler, um Deutschlands zweitgrößte Fluggesellschaft
durch überfällige Einschnitte
vor dem Absturz retten. Der gebürtige
Münchner wiederum gilt im Umgang als
geläutert. „Er dreht Air Berlin, wenn ihm
Etihad die Freiheit lässt“, so ein Weggefährte.
ruediger.kiani-kress@wiwo.de
64 Nr. 46 10.11.2014 WirtschaftsWoche
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Vorlieben
Sportle und arbeite
Auch wenn er heute beteuert,
vor allem die Kochkünste seiner
australischen Ehefrau Leonie
begeisterten ihn: Bei wenigen
Managern verschmelzen
Sport und Arbeit derart zur
Passion. Pichler startete nach
dem Abitur eine Karriere als
Profilangläufer, die ihn dank
zwei Stunden zwölf Minuten
im Marathon in die deutsche
Leichtathletik-Nationalmannschaft
brachte. Es folgte eine
Managerkarriere beim US-
Sportartikelhersteller Nike.
Die erhoffte Stelle beim Konkurrenten
Adidas hatte ihm
Entspannte Ausdauer
Ex-Marathon-Star Pichler
der heutige Konzernchef Herbert
Hainer weggeschnappt.
Seitdem hat sich Pichlers Faible
für Sport erweitert. Er machte
nach dem Rauswurf bei Thomas
Cook auf den Seychellen eine
Ausbildung zum Tauchlehrer.
Heute springt er auch mit dem
Fallschirm und müht sich
beim Triathlon.
Ziele und
Visionen
Verbissener Einsatz
Leistung und Veränderung –
auf den ersten Blick hat Pichler
die gleichen Ziele wie viele
andere Manager. Doch der
ehemalige Sportprofi verfolgt
sie eine Spur konsequenter
und mit größerem
Einsatz. „Wenn er sich in eine
Sache verbeißt, dann lässt
er nicht locker, egal, wie unbeliebt
er sich macht“, sagt
ein Weggefährte. Nachdem
FOTOS: PR (2), AAPIMAGES, BILDFOLIO/BOSTELMANN, LAIF/NEDDEN, PICTURE-ALLIANCE/DPA/SVEN SIMON,
Freunde und Gegner
Ungebrochene Sympathie
L’Tur-Gründer Kögel
Offen für Wechsel
Pichler polarisiert wie wenige
andere. „Das liegt daran, dass
er schroff auftritt und wenige
an sich heran lässt“, sagt ein
Vertrauter. Im Ausland landet
er damit eher, etwa beim
Gründer der US-Reisebürokette
Travel Leaders, Mike
Batt, oder bei James Hogan,
auch wenn dieser ihm den Job
als Etihad-Chef wegschnappte.
Zu den deutschen Freunden
zählt Karlheinz Kögel,
Gründer des Lastminute-Veranstalters
L’Tur. Pichler wendet
sich von Freunden ab,
wenn sie ihn enttäuschen. So
brach er mit Ex-Lufthansa-
Chef Jürgen Weber, als der ihn
bei Thomas Cook – offenbar
trotz gegenteiliger Bekundungen
– nicht mehr stützte. Doch
der Wechsel funktioniert auch
anders herum. So galt Air-Berlin-Aufsichtsratschef
Hans-
Joachim Körber als Pichlers
Gegner, weil er den Karrieremenschen
angeblich als Air-
Berlin-Chef ablehnte. „Jetzt ist
das Verhältnis recht positiv“,
sagt ein Air-Berlin-Insider.
Enttäuschendes Verhalten
Ex-Lufthansa-Chef Weber
Stärken und
Schwächen
Überall zu Hause
Nur wenige Manager können
von sich sagen, solche
Einblicke zu haben. Im Alter
von 13 Jahren schlug Pichler
sich als Austauschschüler
ohne Eltern durch Paris. Die
Arbeit in der Zentrale des
weltgrößten Sportartikelherstellers
Nike im US-Bundesstaat
Oregon brachte ihm die
globale Sicht der Dinge –
und verhalf ihm zum Blitzaufstieg
bei der Lufthansa,
wo er zunächst das Frankreich-Geschäft
und später
den Vertrieb leitete. Zugleich
hat sich Pichler in Branchen
außerhalb der Luftfahrt eingearbeitet
– als Kontrolleur
des Frankfurter Flughafens,
der Steigenberger Hotels, der
Deutschen Bank, von Messegesellschaften
und der Deutsche
Sporthilfe. Wie schön
wäre es da, wenn er nicht
mehr so schneidend und
ausfallend wie früher wäre.
Beim Cocktail vereint Pichler
(links), Ehefrau Leonie, Branson
er mit seiner Art in Deutschland
gescheitert ist, hat er
sich offenbar geändert. Dazu
trugt seine Zeit als Vizechef
beim australischen Billigflieger
Virgin Blue bei. Dort
lernte er von Hauptaktionär
Richard Branson, dass es effektivere
Mittel als brachiales
Auftreten gibt. Von dem britischen
Multiunternehmer
nahm Pichler die Erkenntnis
mit, dass er am Ende weiter
kommt, wenn er seine Ziele
anderen nicht einfach aufzwingt,
sondern seine introvertierte
Art aufbricht und
die Leute mitreißt. Mit diesem
Vorsatz tritt Pichler nun
seinen neuen Job an. „Er will
den durch Stillstand und
Sparrunden gelähmten Air-
Berlin-Spirit neu beleben“,
sagt ein Vertrauter.
WirtschaftsWoche 10.11.2014 Nr. 46 65
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Unternehmen&Märkte
»Schräg angeguckt«
INTERVIEW | Stefan Winners Der Digitalchef des Burda-Verlags über seinen Angriff auf MediaMarkt und
Saturn, neue Geschäfte beim Karrierenetzwerk Xing und den Kampf gegen die Macht von Google.
Herr Winners, einen Großteil vom Umsatz
macht Hubert Burda Media heute nicht
mehr im Verlagsgeschäft, sondern im
E-Commerce, etwa mit dem Heimelektronikhändler
Cyberport oder dem Tierbedarfshandel
Zooplus. Passt das in das Profil
eines Medienhauses?
Diese Beteiligungen stammen noch aus der
Zeit von 1998 bis 2008, als Burda ein Corporate-Venture-Capital-Geschäft
betrieben hat
– und wir sind heute sehr glücklich, dass wir
diese Unternehmen haben. Cyberport etwa
wird 2014 mehr als eine halbe Milliarde Euro
Umsatz machen, zweistellig wachsen und
dabei trotz hoher Investitionen profitabel
sein. Außerdem passen Medien und
E-Commerce gut zusammen.
Weil Sie die Burda-Medien nutzen, um den
eigenen E-Commerce zu beleben?
Ja. Ein Beispiel: Als unsere Beteiligung
Tomorrow Focus 2006 das Hotelbewertungsportal
HolidayCheck übernommen
hat, gab es auf Focus Online freitags immer
DER EINKÄUFER
Winners, 47, ist seit Oktober 2012 Digitalvorstand
beim Münchner Medienriesen
Hubert Burda Media mit Publikationen wie
„Focus“, „Bunte“ und „Chip“. Der Digitalbereich
trug 2013 die Hälfte zum Konzernumsatz
von 2,6 Milliarden Euro bei. 2005
bis 2012 war Winners Vorstandschef der
Digitaltochter Tomorrow Focus. Heute leitet
er dort den Aufsichtsrat.
eine von HolidayCheck präsentierte Kolumne
über die schlechtesten Hotels Deutschlands.
Das war eine der am stärksten gelesenen
Rubriken. So haben wir HolidayCheck
den deutschsprachigen Lesern bekannt gemacht.
So haben wir es auch im letzten Jahr
für Marken wie Cyberport gemacht, die wir
durch Print- und Online-Anzeigen sehr erfolgreich
entwickelt haben. Zudem findet
man die unabhängigen „Chip“-Testergebnisse
auch auf Cyberport-Angebotsseiten.
Content und Commerce – das funktioniert.
Sie expandieren mit Cyberport jetzt sogar
in den stationären Einzelhandel. Warum?
Wir haben festgestellt, dass das Abholen online
bestellter Ware für viele Menschen
wichtig ist. Bei Cyberport macht das teilweise
30 Prozent vom Gesamtumsatz eines
Stores aus. So gewinnen wir Leute für uns,
die E-Commerce eigentlich kritisch sehen.
Werden Sie also weitere Läden eröffnen?
Ja. Cyberport hat bereits 14 Stores – etwa in
Berlin, Köln, Dresden, München sowie
Wien –, und wir werden in Städten mit
mehr als 500 000 Einwohnern in hochfrequentierten
Lagen weitere Stores aufmachen.
Zunächst steht ein zweiter in Wien
auf dem Programm. An weiteren Standorten
sind wir auf der Suche nach geeigneten
Immobilien. Die werden aber kleiner sein
als die unserer Wettbewerber MediaMarkt
und Saturn.
Bei Cyberport hat sich Ihr Wagniskapital offenbar
ausgezahlt, trotzdem kaufen Sie bei
Digitalbeteiligungen heute nur gestandene
Unternehmen zu. Warum so konservativ?
Wir waren in der Vergangenheit in vielen
Frühphasen-Unternehmen mit Minderheitsbeteiligungen
investiert. Heute wollen
wir profitable Mehrheiten, um die Unternehmen
dann weiter zu entwickeln.
Selbst, wenn bei Frühphasen-Investments
höhere Renditen möglich sind?
Unternehmen, die noch kein bewiesenes
Geschäftsmodell haben, sind schwieriger zu
entwickeln, und die Ausfallquote ist viel höher.
Für uns haben sich in den letzten Jahren
vor allem die Beteiligungen gelohnt, die ein
FOTO: PR
66 Nr. 46 10.11.2014 WirtschaftsWoche
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etabliertes Geschäftsmodell hatten und
schon profitabel oder kurz davor waren. Die
konnten wir mit unserer Erfahrung, der
Reichweite unserer Medien und dem technischen
Know-how stark wachsen lassen.
Bei Frühphasen-Investments schreibt man
in Deutschland mindestens 75 Prozent der
Unternehmen ab.
Können Sie den Erfolg Ihrer Strategie mit
Zahlen belegen?
Nehmen Sie das 2003 gegründete Karrierenetzwerk
Xing, an dem wir 51 Prozent halten.
Dessen Aktien haben wir bei der Übernahme
der Mehrheit im Dezember 2012 zu
einem Preis von 44 Euro gekauft. Der Xing-
Vorstand hat das Wachstum in den letzten
zwei Jahren erheblich beschleunigt. Das Unternehmen
wächst jetzt im Umsatz wieder
sehr erfreulich mit 20 Prozent gegenüber
Vorjahr – und im Ergebnis sogar noch stärker.
Heute steht der Kurs bei 84 Euro.
Wo kommt das Wachstum her?
Xing hat unter anderem das Premium-Abo-
Modell forciert, bei dem die Nutzer für Zusatzservices
zahlen. Die Community ist heute
zudem besser durchsuchbar für Unternehmen
und Personalberater. Personaler
können dort leichter exzellente Kandidaten
finden und ansprechen. Xing bietet dafür
kostenpflichtig das Werkzeug Xing Talentmanager
an. Außerdem gibt es einen neuen
Stellenmarkt und noch bessere Möglichkeiten
für Unternehmen, sich gegenüber potenziellen
Kandidaten darzustellen.
So gut läuft’s bei Ihrer Web-Tochter Tomorrow
Focus nicht. Es hakt bei HolidayCheck
und dem Partnervermittler ElitePartner.
Bei HolidayCheck gab es ein schwaches erstes
Halbjahr wegen der Fußball-WM. Der
Reisemarkt war insgesamt schwächer als geplant,
das hat HolidayCheck gespürt. Aber
jetzt im zweiten Halbjahr setzt das Unternehmen
zu einer Jahresendrallye an, der
Vorstand ist optimistisch, was die Geschäftsentwicklung
bis Jahresende angeht. Und ElitePartner
bewegt sich in einem extrem wettbewerbsintensiven
Markt, in dem die Unternehmen
im Kampf um die Kunden Millionen
Euro für Werbung ausgeben.
Heißt das, Sie werden sich in absehbarer
Zeit von ElitePartner trennen?
Solche Entscheidungen trifft grundsätzlich
der Vorstand von Tomorrow Focus.
Burda hat kürzlich seine Anteile an der erfolgreichen
Internet-Zoohandlung Zooplus
auf 33,8 Prozent reduziert. Warum?
Wir sind dort seit 15 Jahren investiert. Zooplus
ist ein ausgezeichnetes Unternehmen,
und das Team hat es in vielen Ländern Europas
sehr erfolgreich entwickelt, was man
»Bei Wagniskapital
schreibt man
75 Prozent ab«
auch an der sehr erfreulichen Aktienkursentwicklung
sehen kann. Wir haben aber
festgestellt, dass das Geschäft von Zooplus
kaum noch Bezug zu unserem sonstigen
Business hat. Daher haben wir entschieden,
unsere Anteile zu reduzieren, bleiben aber
trotzdem weiter investiert.
Vor einem Jahr haben Sie die US-Internet-
Zeitung „Huffington Post“ nach Deutschland
gebracht. Wie läuft das?
Sie hat es in kürzester Zeit unter die Top-
20-Nachrichtenseiten Deutschlands geschafft,
auch durch eine intelligente VernetzungmitFocusOnline.Beide
Portale verweisen
etwa auf die Inhalte des anderen. Ob die
„Huffington Post“ Deutschland nachhaltig
profitabel ist, soll in zwei Jahren beantwortet
werden. Im Moment sieht alles positiv aus.
Was haben Sie in den zwei Jahren als Digitalvorstand
von Burda verändert?
Ihr Umsatz schrumpft dadurch nicht?
Nein, der Digitalbereich ist in den ersten
sechs Monaten um fast 15 Prozent gewachsen.
Klar ist aber auch, dass wir aufgrund der
Anteilsreduzierung bei Zooplus im digitalen
Bereich im zweiten Halbjahr eher langsamer
als 2013 wachsen werden.
Wann muss eine Beteiligung profitabel sein?
Bei den meisten Beteiligungen sehen Sie
nach drei bis vier Jahren, ob sie erfolgreich
werden. Dann sollte man auch erkennen,
wann die Gewinnschwelle erreicht wird, wie
nachhaltig das Geschäftsmodell ist und wie
robust gegen Angreifer.
Wo kaufen Sie zurzeit zu?
Wir scannen den Markt kontinuierlich nach
neuen Beteiligungsmöglichkeiten. Dieses
Jahr haben wir uns über 150 Unternehmen
angeschaut. Uns geht es um Unternehmen,
die eine Chance haben, einen Umsatz in hoher
zweistelliger Millionenhöhe zu erzielen
und nachhaltig profitabel zu sein. Vergleichsportale
und E-Commerce stehen besonders
in unserem Fokus.
Sie kämpfen seit Jahren für eine kritischere
Haltung der europäischen Politik gegen
Google. Wie sehen Sie das heute?
Wir sind hier gut vorangekommen. Vor
drei Jahren hatte in Deutschland kaum
Liebe, Karriere, Urlaub, News...
Die digitalen Geschäfte von Hubert Burda Media und ausgewählte Beteiligungen
- Paket Plus
- Debitor Inkasso
- Ino 24
- Valentins
Blumen & Geschenke
Quelle: Unternehmen
- Chip
- Cyberport
- Computer Universe
Burda Digital
100% 100% ca. 60% 51%
BurdaDirect BurdaTech Tomorrow Focus Xing
Wir haben das Portfolio einem Check-up
unterzogen und uns dabei auf die Profitabilität
unserer Geschäfte konzentriert. Dazu gehörte
es auch, einzelne zu schließen oder
umzubauen, die keine Aussicht auf Profit
haben. So haben wir etwa in Köln das Unternehmen
Sevenload geschlossen, das eine
Nischen-Alternative zu YouTube werden
sollte. Dort haben wir über Jahre investiert,
aber inzwischen war klar, das klappt nicht. In
unserem Geschäft kommt man nur weiter,
wenn Fehler kein Tabu sind. Man muss aus
ihnen schnell lernen und Konsequenzen
ziehen. Dieser Fokus auf Profitabilität führt
dazu, dass sich das operative Ergebnis im
Digitalbereich 2014 deutlich verbessert.
- HolidayCheck.de
- ElitePartner
- Jameda
- The Huffington Post
- Netmoms
- Focus Online
- Finanzen 100
- Kununu
- Xing Events
Zooplus.de
- Zooplus.de
ca.
38%
einer verstanden, was US-Konzerne mit
ihrer Marktmacht anstellen. Heute zeigen
die Debatten über Datenschutz, Kartellrecht
und Steuerharmonisierung: Allen ist
klar, dass es um knallharte Marktinteressen
in dieser Zukunftsindustrie geht. Es ist
gut, dass die EU das Kartellverfahren
gegen Google nicht voreilig beendet hat,
sondern Googles Bevorzugung eigener Angebote
in den Suchergebnissen weiter untersucht
und vielleicht sogar ein zusätzliches
Verfahren mit Blick auf Googles
Betriebssystem Android einleitet. Wir brauchen
gleiche Rahmenbedingungen und
Spielregeln für alle.
n
thomas.stoelzel@wiwo.de
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Seltener Humus
SERIE MAUERFALL (II) | Hie und da blühen sie doch, die Landschaften im Osten: der mühsame,
aber erfolgreiche Aufstieg dreier Privatunternehmer aus den Ruinen der DDR-Planwirtschaft.
Gestern Raubbau, heute Wirtschaftswunder:
Im Dresdner Stadtteil Gittersee
überdecken die neu und wieder
gegründeten Unternehmen die untergegangenen
aus DDR-Zeiten.
Bis Anfang der Sechzigerjahre panschte
hier noch der berüchtigte deutsch-sowjetische
Rohstoffkonzern Wismut mit Uranerz
und Schwefelsäure. Dann breitete sich auf
einem Teil des Geländes eine staatseigene
Chemie- und Reifenfabrik aus. Die schädlichen
Hinterlassenschaften mussten nach
der Wende für 46 Millionen Euro Steuergeld
Kubikmeter für Kubikmeter weggeschaufelt
werden, um 2001 ein neues Gewerbegebiet
einzurichten.
Heute residieren auf dem Areal 60 Privatbetriebe
– mittendrin die Stollenbäckerei
Dr. Quendt. Das Unternehmen, benannt
nach seinem Gründer, dem promovierten
ostdeutschen Lebensmitteltechniker Hartmut
Quendt, macht inzwischen 20 Millionen
Euro Jahresumsatz, beschäftigt zur
Hochsaison wie gerade im Herbst 200 Mitarbeiter
und ist Marktführer bei Stollen mit
dem Dresdner Herkunftssiegel. Kaum zu
glauben, dass die weit über Sachsen hinaus
bekannte Marke aus den Resten eines staubigen
DDR-Backkombinats hervorgegangen
ist, welches damals „die Versorgung der
lokalen Bevölkerung mit Backwaren sicherstellen“
sollte, wie es in einer dürren Anweisung
der SED-Wirtschaftsbürokratie hieß.
Alte Technik, neue Marke Die Dresdner
Stollenbäcker Matthias und Hartmut
Quendt mit einer DDR-Backmaschine
ERNÜCHTERNDE BILANZ
25 Jahre nach dem Mauerfall am 9. November
1989 blüht der Osten längst nicht überall
wie vom Einheitskanzler Helmut Kohl
(CDU) versprochen, dafür aber hie und da.
Dabei bildeten Reste der einst volkseigenen
Betriebe, kurz: VEB, nicht nur ein Ruinenfeld,
sondern wie bei Dr. Quendt bisweilen
auch den seltenen Humus für einen
Neuanfang. Keine Frage, die Ostunternehmer
haben es weiterhin schwer auf dem
Markt, die Bilanz für die Zeit nach der Wende
fällt insgesamt ernüchternd aus. Trotz
rasanter Aufholjagd sind die neuen Bundesländer
in Deutschland immer noch
Schlusslicht bei der Wirtschaftsleistung je
Einwohner. Innovative Großbetriebe, bei
denen Produktivität und Löhne höher sind
als im gesamtdeutschen Durchschnitt,
sind nach wie vor die große Seltenheit.
„Gegenüber Westdeutschland weist Ostdeutschland
auch 25 Jahre nach dem Mauerfall
erhebliche Strukturschwächen auf“,
diagnostiziert das Institut für Wirtschaftsforschung
Halle (IWH) und listet die wichtigsten
auf:
n Laut IWH fehlen dem Osten Unternehmenszentralen,
die in Forschung und Entwicklung
investieren und damit Wertschöpfung
sowie Produktivität nach oben
treiben.
FOTOS: WERNER SCHÜRING FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, CHRISTOPH BUSSE FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE
68 Nr. 46 10.11.2014 WirtschaftsWoche
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Unternehmen&Märkte
n Die ostdeutschen Firmen sind im Schnitt
nur halb so groß wie ihre westdeutschen
Konkurrenten. Da die kleinen aber über
weniger Kapital und Managementkapazität
verfügen, haben sie auch einen schlechteren
Zugang zu lukrativen Auslandsmärkten.
n Der Anteil der Unternehmen aus exportstarken
Disziplinen wie dem Auto- und
Maschinenbau ist im Osten niedriger als
im Westen. Ausnahme ist Sachsen mit seiner
forschungsstarken Halbleiterindustrie,
die dem Freistaat den Beinamen Silicon
Saxony eingebracht hat.
Die Ursache des Rückstands geht auch
auf die früheren Kombinate zurück. So
nannte die DDR ihre Staatskonzerne, die
nicht selten eine kunterbunte Mischung an
Sparten besaßen. Die Kolosse waren so
schlecht für den Wettbewerb geeignet, dass
Investoren und Gründer sie in kleine Einheiten
aufspalteten.
ZWEI MAL VOR DEM NICHTS
So passierte es beim Stollenbäcker Dr.
Quendt in Dresden, beim Steuerberatungsunternehmen
Connex aus Halle,
das aus den Resten eines Buchführungskombinats
entstand, oder beim Schifffahrtsunternehmen
Deutsche Seereederei,
dem einstigen Stolz der DDR-Staatswirtschaft,
aus dem ein Tourismus- und Immobilienunternehmen
geworden ist.
Wer sich auf Spurensuche begibt, erlebt
Überraschungen, welch lebendiges Unternehmertum
trotz aller Strukturschwächen
aus den Ruinen erwachsen ist.
Als die Mauer fiel, fiel der damals
48-jährige Lebensmittelingenieur Quendt
in Dresden erst einmal ins Nichts. Das
Ende der DDR machte ihn plötzlich zum
Arbeitslosen, ein Schicksal, das er sich
bis dahin nicht vorstellen konnte. Bei seinem
bisherigen Brötchengeber, dem VEB
Dauerbackwaren, wie der Betrieb in sozialistischer
Nomenklatur hieß, waren die
Öfen ausgegangen.
Für Quendt war der Mauerfall „ein Signal,
das Schicksal in die eigene Hand zu
nehmen“, erinnert er sich. Geistesgegenwärtig
rettete er eine von ihm entwickelte
Spezialmaschine zur Herstellung von Russisch
Brot vor der Verschrottung. Gesandte
des hannoverschen Keksgiganten Bahlsen
waren in Dresden angerückt, um zu inspizieren,
welche Produktionsanlagen des
VEB sich weiterhin nutzen ließen. Für
Rückstand in exportstarken Branchen
Anteil von Ost- und Westunternehmen am Umsatz im verarbeitenden Gewerbe je Disziplin*
24,1
14,0
Autobau
* 2013; Quelle: KfW
13,3
8,7 8,6 7,4
5,0 4,0 3,6
5,3
Maschinenbau Chemie Elektroausrüstung
Vom Ost-Statthalter zum ostdeutschen
Unternehmer Connex-Chef und Gesellschafter
Bischoff
Datenverarbeitung/
Elektronik
West
2,2 4,5
Pharma
Ost
Quendts Unikat hatten die „Wessis“ keine
Verwendung.
Der „Ossi“ aber reagiert schnell, packt
die sperrige Maschine kurzerhand auf einen
Lkw und bunkert sie in einer Garage.
Das gerettete Relikt, das er mit viel Herzblut
entwickelt hatte, wird zum Grundstein
eines privaten Backunternehmens, dem er
seinen Namen verleiht. Dafür nimmt er
1991 einen Bankkredit von umgerechnet
gut 750 000 Euro auf.
Zum zweiten Mal vor dem Nichts fühlte
sich Quendt, als seine Maschine zwar gewohnt
zuverlässig lief, er seine Backwaren
jedoch ohne Kenntnisse in Marketing und
Vertrieb plötzlich auf dem Markt losschlagen
musste. Da ihm wie fast allen frischgebackenen
Ostunternehmern Kontakte
zu den Einkäufern großer Supermarktketten
fehlen, setzt er sich persönlich hinter
das Steuer eines Transporters und beliefert
nach Gutdünken Bäcker, Metzger
und kleine Lebensmittelläden der Umgebung
mit Russisch Brot in verkaufsfertigen
Tüten. Guerillamarketing würde man
heute dazu sagen.
Es war eine harte Zeit für den gelernten
DDR-Bürger. Erst Mitte der Neunzigerjahre
kam für das Unternehmen der Durchbruch,
als Einzelhändler und Verbraucher
gezielt nach Traditionswaren made in
Ostdeutschland fragten. Quendts Sohn
Matthias erkannte das Marketingpotenzial
von Dresdener Christstollen, deren Produktion
1994 aufgenommen wurde. Bei
der Errichtung der neuen Produktlinie
und der Herstellung des Weihnachtsgebäcks
halfen neue Mitarbeiter von einem
weiteren Dresdner Backkombinat, das
schließen musste. Heute ist der Dresdener
Christstollen Paradeprodukt des Unternehmens.
HARTE WENDE
Für Gründer wie Quendt bestand die größte
Herausforderung darin, ohne Vorkenntnisse
die Regeln der Marktwirtschaft zu beherrschen.
Noch härter war die Wende für
Silvia Herrmann. Für die heute 57-jährige
Steuerberaterin änderten sich sämtliche
für ihre Arbeit relevanten Gesetze.
Doch die komplexen westdeutschen
Rechtsnormen und Vorschriften schockten
sie nicht. Eine Resignation hätte sich die
32-Jährige auch gar nicht leisten können,
musste sie ihren Sohn doch nach einer frühen
Scheidung allein erziehen. Das kam
öfter vor zu DDR-Zeiten, weil junge Paare
überstürzt heirateten, um eine der knappen
Wohnungen zu ergattern.
»
WirtschaftsWoche 10.11.2014 Nr. 46 69
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Verwandlung zum Hotelier Investor Rahe
baute die Deutsche Seereederei in einen
Tourismus- und Immobilienkonzern um
»
Also saß die Alleinerziehende zwei Jahre
lang jeden Samstag in Seminaren, um 1995
die nach bundesdeutschem Recht vorgeschriebene
anspruchsvolle Prüfung zur
Steuerberaterin zu bestehen. „Ich habe
einfach fest daran geglaubt, dass ich es packen
kann“, sagt Herrmann. Heute arbeitet
sie bei Connex am Standort Halle. Der
Dienstleister mit 300 Mitarbeitern, 6000
Mandanten und rund 16 Millionen Euro
Umsatz führt die Finanz- und Lohnbuchhaltung
und erstellt Bilanzen sowie Steuererklärungen
für kleine und mittlere Unternehmen,
die sich dafür keine eigene Abteilung
leisten können. Das Angebot passt zur
kleinteiligen ostdeutschen Unternehmenslandschaft.
Connex entstand ebenfalls aus den Resten
eines volkseigenen Betriebs, dem VEB
Rechnungsführung und Wirtschaftsberatung
des Bezirks Halle. Dort verdiente
Herrmann zu DDR-Zeiten ihr Geld. Denn
auch in der Planwirtschaft mussten die
Kleinunternehmen, die nicht in Kombinaten
aufgegangen waren, Abgaben entrichten.
Zudem waren kleinere VEB ohne eigene
Buchhaltung gezwungen, sich an staatliche
Buchführungsfirmen zu wenden.
„Zu DDR-Zeiten war ich eher Erfüllungsgehilfin
des Finanzamts“, sagt Herrmann.
„Heute ist es dagegen mein Job, die Steuerlast
für die Mandanten möglichst niedrig
zu halten.“ 25 Jahre nach dem Mauerfall
gibt Connex einigen ehemaligen VEB-Mitarbeitern
immer noch einen Arbeitsplatz.
Rund zehn Prozent der Belegschaft stammen
aus den Reihen einstiger volkseigener
Buchhaltungsfirmen.
HOHES RISIKO
Dass Herrmanns früherer Arbeitgeber unter
dem neuen Namen Connex überlebte,
hat die Anhaltinerin ihrem heutigen Chef
Detlef Walter Bischoff zu verdanken. Der
Badener kam 1990 als junger Anwalt in den
Osten, sein Kanzleichef in Pforzheim hatte
gemeinsam mit anderen mittelständischen
Steuerberatern und Wirtschaftsprüfern
den ehemaligen Staatsbetrieb für drei
Millionen Euro von der Treuhandanstalt
übernommen. Heute wäre das ein
Schnäppchen, damals gingen die Westler
mit der Investition aber ein hohes Risiko
ein, da niemand den Erfolg des Unternehmens
vorhersehen konnte. „Für mich war
die Wende eine Chance, mich fern der Heimat
zu bewähren“, sagt Bischoff. Berührungsängste
mit dem Osten kannte er
nicht. „Leipzig und Halle sind traumhaft,
auch wenn mein badischer Akzent noch
manchmal ein Lächeln hervorruft.“
Bischoff wollte Connex weiter ausbauen,
während die Eigentümer im Schwarzwald
Wenig weltgewandt
Anteil der Exporte am Umsatz der Unternehmen
(in Prozent)*
55,1
53,2
52,6
52,5
52,2
50,9
46,4
44,4
42,6
40,1
35,4
30,1
28,9
28,3
27,0
23,8
* 2013; Quelle: IWH
Bremen
Berlin
Baden-Württemberg
Rheinland-Pfalz
Bayern
Hessen
Saarland
Niedersachsen
Nordrhein-Westfalen
Schleswig-Holstein
Sachsen
Thüringen
Mecklenburg-Vorpommern
Brandenburg
Sachsen-Anhalt
Hamburg
vor allem auf hohe Ausschüttungen schielten.
Also kaufte er 1996 den Altgesellschaftern
ihre Anteile ab, wurde vom Ost-Statthalter
zum selbstständigen ostdeutschen
Unternehmer und baute die Steuerberatung
zur heutigen Größe aus.
Während Connex und Dr. Quendt ihren
Branchen treu blieben, mussten andere
ehemals volkseigene Betriebe ihren Weg in
die privatwirtschaftliche Zukunft fernab
der bisherigen Domäne suchen. Wie
schmerzhaft dies für die Beschäftigten war,
zeigte die Deutsche Seereederei, einst maritimes
Aushängeschild der DDR-Staatswirtschaft.
Nur rund 1600 Mitarbeiter beschäftigt
die DSR-Gruppe heute noch – fast 90 Prozent
der Arbeitsplätze der alten DSR mit
14 500 Mitarbeitern gingen auf dem Weg in
den Kapitalismus verloren. Ganze fünf Angehörige
der heutigen Belegschaft waren
schon vor 25 Jahren dabei, einer macht immer
noch das Gleiche wie vor dem Mauerfall:
Frank Kletzsch, inzwischen 55 Jahre
alt, war damals Direktionsfahrer. Heute
chauffiert er Firmenchef Horst Rahe.
Der Hamburger Kaufmann hatte DSR im
Juni 1993 gemeinsam mit dem Reeder Nikolaus
Schües von der Treuhandanstalt
übernommen. Rahes Kompagnon fusio-
FOTO: ARCHIV-KLAR
70 Nr. 46 10.11.2014 WirtschaftsWoche
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Unternehmen&Märkte
nierte die Frachtschiffsparte mit seiner
Reederei F. Laeisz und lieferte damit den
Auftakt zu mehreren Strategiewechseln,
die das Unternehmen für Jahrzehnte zu einer
Dauerbaustelle machten, bei der kein
Stein auf dem anderen blieb. 1999 löste
Schües die Handelsschifffahrt aus dem Unternehmen
heraus, seitdem führt Rahe die
DSR allein.
Heute ist die DSR ein Tourismus- und
Immobilienunternehmen, das Kapitel
Schifffahrt ist beendet. Wirtschaftlich hat
sich der Kurswechsel ausgezahlt, Rahe hat
aus der hochdefizitären DDR-Staatsreederei
ein ertragsstarkes Unternehmen mit
rund 150 Millionen Euro Jahresumsatz gemacht.
Gut zwei Drittel davon entfallen auf
die acht Hotels, die 2013 im Jahresschnitt
zu gut 65 Prozent ausgelastet waren und einen
operativen Gewinn von knapp 21 Millionen
Euro erwirtschafteten.
HILFE VOM KONKURRENTEN
Die Schifffahrt des Ex-VEB lebt derweil unter
dem Dach anderer Unternehmen weiter.
So hatte DSR-Chef Rahe die Idee, die
heutigen Kreuzfahrtschiffe Aida zu bauen
und über die Meere zu schicken. Die Marke
sowie die schwimmenden Halligalli-
Herbergen mit dem charakteristischen
Kussmund am Bug gehören heute allerdings
nicht mehr zur DSR, sondern zum
US-Kreuzfahrtriesen Carnival.
Auch die Dresdner Stollenbäckerei Dr.
Quendt sicherte ihr Überleben kürzlich
durch den Einstieg eines anderen Unternehmens,
des Konkurrenten Lambertz aus
Westdeutschland. 2013 war ein Krisenjahr
für Dr. Quendt und eine Bewährungsprobe
für Gründersohn Matthias, der 2006 die
Führung von seinem Vater Hartmut übernommen
hatte.
Dem Unternehmen war ein wichtiger
Kunde abgesprungen. Zudem explodierte
der Butterpreis nach der Flutkatastrophe,
was die Kosten der wichtigsten Zutat für
die Stollen in die Höhe schießen ließ. Die
Banken forderten mehr Eigenkapital.
Quendt blieb nur, einen Mehrheitsanteil
am Unternehmen an den Aachener Backwarenhersteller
Lambertz zu verkaufen.
Der Printen-Platzhirsch ist mit 3500 Mitarbeitern
und 585 Millionen Euro Jahresumsatz
deutlich größer. Doch dank des Anteils
an Dr. Quendt ist Lambertz nun in allen
drei wichtigen Märkten für traditionelles
Weihnachtsgebäck mit Herkunftssiegeln
vertreten: Aachener Printen, Nürnberger
Lebkuchen und Dresdner Stollen. n
mark.fehr@wiwo.de | Frankfurt, hans-jürgen klesse
WirtschaftsWoche 10.11.2014 Nr. 46 71
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Spezial | Mittelstand
Aufrüsten, umbauen, zukaufen
DIGITALISIERUNG | Autoschlüssel oder Frankiermaschinen braucht eigentlich kein Mensch
mehr — dafür gibt es längst digitalen Ersatz. Wie gehen die mittelständischen Hersteller solcher
Alltagsgegenstände mit dem technologischen Umbruch um?
Manche Gegenstände werden
gleich drei Mal neu erfunden. Der
Walkman, zum Beispiel: 1973 ging
der tragbare Kassettenspieler von Sony an
den Start. Ein Jahrzehnt später verdrängte
ihn der Disc-Man, dann kam der
MP3-Player mit Speicherchip. Und heute?
Lädt man die Lieblingslieder einfach auf
das Smartphone. Die meisten Musikliebhaber
sind froh, dass sie sich nicht mehr
mit verhedderten Kassettenbändern herumärgern
müssen. Die Digitalisierung der
Technik macht es möglich.
Das Schicksal des Walkmans wiederholt
sich heute 100-fach. Ständig verschwinden
Gegenstände, die gerade noch zu unserem
Alltag gehörten, aus den Regalen und
schnell auch aus unserem Leben: Statt
Briefe werden E-Mails geschrieben. Bücher
lesen immer mehr Menschen auf dem
Spezial | Mittelstand
72 Digitalisierung So reagieren
Mittelständler auf den Umsturz
ihrer Geschäftsmodelle
78 Factoring Was der Verkauf ihrer
Forderungen Unternehmen bringt
82 Weiterbildung Mitarbeiter erweitern
das Wissen ihrer Kollegen
Tablet oder dem E-Reader. Und Filme
werden nicht mehr als DVD gesammelt –
und erst recht nicht auf Videokassetten –,
sondern übers Internet gestreamt.
Immer mehr physische Produkte werden
durch digitale verdrängt. Weil diese kleiner
sind, billiger, einfacher zu bedienen und
meistens auch noch viel mehr können. Alltagsgegenstände
werden intelligent und
vernetzen sich miteinander: Fernseher mit
Festplattenrekorder lassen sich via
Smartphone programmieren, Waschmaschinen
schalten sich an, wenn der intelligente
Stromzähler einen günstigen Strompreis
signalisiert, Autos kommunizieren
mit Verkehrsampeln und wissen dadurch
schon vorher, wann die Ampel auf Grün
springen wird.
Mit der nächsten Stufe der Digitalisierung
wird dadurch aus dem Internet der
Kommunikation ein Internet der Dinge.
Und das bringt auch die Geschäftsmodelle
von mittelständischen Herstellern durcheinander.
Der Wandel ist allgegenwärtig und längst
noch nicht abgeschlossen: „Wir stehen erst
am Anfang einer fundamentalen Veränderung“,
sagt Walter Sinn, Deutschland-
»
ILLUSTRATION: THOMAS FUCHS
72 Nr. 46 10.11.2014 WirtschaftsWoche
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Spezial | Mittelstand
»
Chef der Managementberatung Bain mit
Sitz in München.
Treiber sind Smartphones und kleine
Tablets, die Internet und digitale Speicherkapazitäten
für jedermann und zu jeder
Zeit buchstäblich „tragbar“ machen. Bis
2017 werden weltweit mehr als 2,2 Milliarden
Smartphones und mehr als 400 Millionen
Tablets verkauft, schätzt die Beratung
Accenture aus Kronberg im Taunus. Im
gleichen Zeitraum soll sich der Markt für
digitale Produkte auf mehr als 200 Milliarden
Dollar verdoppeln. Smartphone und
Tablet drängen sich in unseren Alltag,
übernehmen neue Aufgaben und verdrängen
Alltagsgegenstände – zum Schaden jener,
die diese herstellen.
„Inzwischen sind sich die meisten Unternehmen
der Gefahr der Digitalisierung
bewusst, sie rüsten auf, bauen ihre Geschäftsmodelle
um oder entwerfen sie
ganz neu“, sagt Matthias Ziegler, Leiter für
neue Technologien und Innovationen bei
Accenture. Doch viele Unternehmen haben
immer noch großen Aufholbedarf. Bei
einer Befragung der DZ Bank antworteten
35 Prozent der mittelständischen Unternehmen,
dass die Digitalisierung in ihrem
Geschäft noch keine Rolle spiele (siehe
Grafik Seite 77).
Was bedeutet das in der Praxis? Wie gut
sind die Betroffenen für diesen Wandel
aufgestellt? Die WirtschaftsWoche zeigt an
vier Beispielen, wie Hersteller damit umgehen,
wenn ihre Produkte durch Digitalisierung
bedroht werden.
CHIP STATT SCHLÜSSEL
Eine Karte, die man an die Windschutzscheibe
hält: Mehr braucht es nicht, um die
Autos der Carsharing-Anbieter Drive Now
oder Car2Go zu öffnen. Die Autos kann jeder
nutzen, der sich vorher als Fahrer registriert
hat, die Karte wird zum Autoschlüssel.
Dessen Aufgabe übernimmt ein sogenannter
RFID-Chip, der die Autotür entriegelt,
die Blockade des Lenkradschlosses
aufhebt und die Zündung aktiviert. Und
Autos lassen sich auch mit
Chipkarten oder Handys öffnen
selbst diese Technologie bleibt möglicherweise
nicht mehr lang aktuell. Denn längst
können auch Handys (Auto-)Türen öffnen:
Wissenschaftler des Darmstädter Fraunhofer-Instituts
für sichere Informationstechnologie
haben die App Key2Share entwickelt.
Das Schloss wird von einem auf
dem Smartphone gespeicherten Code geöffnet.
Wird der echte Schlüssel aus Metall damit
demnächst zum Alteisen? Im nordrhein-westfälischen
Velbert hält sich die
Angst davor bisher noch in Grenzen.
Der Ort ist Deutschlands Schlüssel-
Hauptstadt: Viele Hersteller haben hier ihren
Sitz, darunter Silca, ein Tochterunternehmen
der Schweizer Kaba Gruppe. „Der
Schlüssel wird langfristig etwas an Bedeutung
verlieren, aber jeder Autofahrer hat
immer noch einen real existierenden Notschlüssel“,
tröstet sich Reinhard Sperling,
Geschäftsführer von Silca in Deutschland.
Zudem stellt das Unternehmen neben
Schlüsseln auch Fräsmaschinen her.
Auch der ebenfalls in Velbert ansässige
Wettbewerber Huf bleibt vorerst gelassen.
„Handytechnologien sind bislang viel zu
unsicher“, sagt Geschäftsführer Ulrich
Hülsbeck, „da kann sich jeder reinhacken.“
Huf produziert für Branchengrößen wie
Mercedes, BMW, VW und Porsche und hat
bei deutschen Autobauern 20 Prozent
Marktanteil. Auch für ausländische Hersteller
wie Toyota oder Ford stellt Huf die
Schlüssel her.
Das Unternehmen tastet sich langsam
an die Digitalisierung heran: Die Gesamtproduktion
von 56 Millionen Schlüsseln im
Jahr verteilt sich derzeit zu jeweils der Hälfte
auf mechanische und elektronische, die
dann auch Zusatzinformationen speichern
können. Dazu zählen zum Beispiel Fahrerprofile,
mit denen sich die Höchstgeschwindigkeit
regulieren lässt, damit etwa
der Sohn mit Papas Auto nicht zu schnell
über die Autobahn heizt. Oder eine zusätzliche
Diebstahlsicherung, bei der erst über
das Handy ein Code zum Entriegeln des
Autos eingegeben werden muss.
Gerade bei teuren Autos sei der Schlüssel
mit dem Markenzeichen aber auch ein
Prestigeträger, sagt Geschäftsführer Hülsbeck.
„Deshalb erwarte ich nicht, dass er
komplett wegfällt.“ Auch aus Sicherheitsgründen
stellt Huf weiterhin mechanische
Schlüssel her: Denn wenn die Batterie des
Autos leer ist oder die Elektronik versagt,
ließe sich der Wagen sonst nicht öffnen.
Doch auf den ewigen Fortbestand der
Schlüssel allein will Hülsbeck sich nicht
»
ILLUSTRATION: THOMAS FUCHS
74 Nr. 46 10.11.2014 WirtschaftsWoche
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Spezial | Mittelstand
Durch die Digitalisierung werden
Hersteller zu App-Entwicklern
»
verlassen. Das Unternehmen mit einem
Umsatz von mehr als 1,1 Milliarden Euro
und weltweit 6800 Mitarbeitern expandiert
auch in neue Bereiche wie sogenannte
Telematikboxen, von denen 2013 bereits
etwa 4000 ausgeliefert wurden. Sie ermöglichen
über ein GPS-Modul die weltweite
Ortung des Fahrzeugs. Vor allem bei teuren
Karossen soll diese Technik den Diebstahlschutz
verbessern.
E-POST STATT FRANKIERMASCHINE
Die meisten Deutschen haben die Lust am
Briefeschreiben schon lange verloren.
Doch in Unternehmen spielt der Geschäftsbrief
noch eine große Rolle – und
damit auch die Maschinen von Francotyp-
Postalia. Das Unternehmen aus dem brandenburgischen
Birkenwerder stellt Frankiermaschinen
her, mit denen Anwaltskanzleien
und Arztpraxen ihre Rechnungen
und Dokumente schnell beschriften
und frankieren können. Mit knapp 170 Millionen
Euro Jahresumsatz ist Francotyp-
Postalia der drittgrößte Hersteller weltweit.
Etwa zehn Prozent Marktanteile hat das
Unternehmen erobert.
Während Instant-Messenger-Dienste
wie WhatsApp, SMS und E-Mails den Brief
in der privaten Kommunikation verdrängt
haben, warten Standards für die Geschäftskorrespondenz
wie De-Mail oder E-Postbrief
noch auf den Durchbruch.
Trotz dieser Gnadenfrist weiß Francotyp-
Postalia-Vorstand Thomas Grethe, dass die
Bedeutung seines Kernprodukts weiter abnehmen
wird: „Geschäftsbriefe wird es
auch noch in zehn Jahren geben“, sagt er.
„Doch der Briefmarkt in Deutschland ist in
den vergangenen sechs Jahren im Schnitt
um 1,2 Prozent jährlich geschrumpft, da
immer mehr Post elektronisch verschickt
wird und mittelfristig weniger Frankiermaschinen
gebraucht werden.“
Das Unternehmen stellt sein Geschäft
deshalb völlig um. Bereits 2011 beteiligte
sich Francotyp-Postalia an Mentana
Claimsoft aus dem brandenburgischen
Fürstenwalde. Der De-Mail-Provider bietet
eine Möglichkeit für einen rechtssicheren
und geschützten E-Mail-Verkehr auch mit
Behörden. Grethe: „Mittelfristig wollen wir
15 bis 20 Millionen Euro Umsatz mit De-
Mail erzielen.“
Das zweite Standbein ist die Dokumentenverwaltung.
Für Krankenhäuser, kleinere
Unternehmen oder Behörden digitalisiert
und archiviert Francotyp-Postalia deren
Kunden- und Geschäftsunterlagen.
APP STATT KUNDENKARTE
Mit neuen Geschäftsmodellen experimentiert
auch Robert Wolny, Vorstand des Kartenherstellers
Exceet Card Group aus Paderborn.
In Deutschland werden pro Jahr
mehrere Hundert Millionen der Plastikkärtchen
hergestellt, mit denen Unternehmen
Daten über das Kaufverhalten ihrer
Kunden sammeln, allein rund 350 Millionen
von Exceet. Rund 46 Millionen Euro
Umsatz erzielte der Anbieter im vergangenen
Jahr in diesem Segment. Das ist fast ein
Viertel des gesamten Umsatzes des Unternehmens,
das auch Bankkarten oder Nahverkehrsausweise
herstellt.
Doch die klassische Kundenkarte ist ein
Auslaufmodell. Schuld daran sind Gründer
wie David Handlos und seine Kollegen mit
ihrem Ludwigshafener Start-up Stocard:
Das bündelt mehr als 300 Anbieter von
Kundenkarten, darunter Ikea Family und
Payback, und speichert sie in einer kostenlosen
App. Der Kunde kann im App-Menü
seine Kundenkarte auswählen und den
Barcode der Karte einscannen oder manuell
über das Tastenfeld eintippen.
2,5 Millionen Kunden in zehn Ländern
haben bereits über 15 Millionen der kleinen
Plastikkärtchen eingescannt und digitalisiert.
Die Vorteile: Im Portemonnaie ist
mehr Platz, die Karten können nicht mehr
vergessen werden. Für die Unternehmen
bieten sich ebenfalls neue Möglichkeiten:
Sie können SMS mit Werbung und Sonderangeboten
oder Coupons und sogar den
neuen Ikea-Katalog verschicken.
Kundenkartenhersteller Exceet versucht
sich an derselben Idee: Gemeinsam mit
Bluesource aus Österreich hat Exceet die
App Mobile-Pocket entwickelt, ein Konkurrenzmodell
zu Stocard. Auch Mobile-
Pocket speichert alle Kundenkarten, zum
Punktesammeln muss beim Einkaufen nur
das Smartphone vorgezeigt werden.
Die Kooperation ist für Exceet eine Versicherung
für den Fortbestand im Digitalzeitalter
– und die Chance zum Ausbau des
Geschäftsmodells: „Für uns erweitert sich
das Geschäft durch Marketingmaßnahmen
rund um die App“, sagt Exceet-Chef
ILLUSTRATION: THOMAS FUCHS
76 Nr. 46 10.11.2014 WirtschaftsWoche
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Wolny. Zudem hätten die Karten auch einen
Imagefaktor: „Der Bedarf an Kundenkarten
wird zwar auf Dauer zurückgehen.
Aber es werden sich immer noch Menschen
finden, die bestimmte hochwertige
Karten als Statussymbol bei sich tragen
wollen.“ Plötzlich aussterben, hofft Wolny,
wird die Plastikkarte deshalb nicht.
Mittelstand hat Aufholbedarf
Umfrage: Welche Rolle spielen digitale
Technologien in Ihrem Unternehmen?
Eine sehr
wichtige Rolle 22% 35%
Eine wichtige Rolle
29%
14%
Quelle: GfK und DZ Bank, Befragung von 1000
mittelständischen Unternehmen, 2014
Keine Rolle
Eine geringe Rolle
WHITEBOARD STATT TAFEL
Das Nürnberger Unternehmen Degen ist
ein Saurier – eigentlich längst zum Aussterben
verurteilt. Degen produziert seit 1999
klassische schwarze oder dunkelgrüne
Kreidetafeln. Aber wer braucht die noch,
wenn immer mehr Schulen und Universitäten
ihre Vorlesungen ins Internet stellen,
Sprachkurse und Weiterbildungen in virtuellen
Online-Klassen angeboten werden?
Grundschüler lernen auf den Kreidetafeln
zwar noch Schreiben. Aber wer braucht die
grünen Tafeln noch in den weiterführenden
Schulen, wo heute schon ganze Klassen
mit iPads und Computern ausgerüstet
werden?
Die Degens haben ihr Geschäft deshalb
längst umgestellt, erzählt Andreas Degen,
in dem Familienunternehmen als Geschäftsführer
für den Bereich Marketing
zuständig. Sein wichtigstes Produkt sind
heute digitale Tafeln – überdimensionale
Touchpads oder sogenannte Whiteboards
– Leinwände, bei denen der Beamer die
Bewegungen des Vortragenden liest. Über
diese Tafeln können Videos, Grafiken,
oder Computerprogramme wie Excel aufgerufen
und leere Felder mit einem speziellen
Stift ausgefüllt werden.
„Hersteller, die nicht auf den Zug mit den
interaktiven Tafeln aufgesprungen sind,
existieren heute nicht mehr“, sagt Degen.
Die klassischen Kreidetafeln machen weniger
als die Hälfte des Umsatzes im oberen
einstelligen Millionenbereich aus. Degen
wächst vor allem durch den Verkauf interaktiver
Tafeln und Whiteboards.
Während die Whiteboards aus den eigenen
Werkshallen stammen, fehlt den
Nürnbergern für die nächste technische
Stufe – Tafeln mit Touch-Oberfläche – das
Know-how. Auf dem Markt dominieren
ausländische Anbieter wie die britische
Promethean. Auch große TV-Hersteller aus
Asien wie Samsung oder Sharp versuchen
sich an den High-Tech-Tafeln.
Ein Mittelständler wie Degen hat es da
schwerer: „Kleine Unternehmen haben
nicht immer die Kapazitäten, um der Veränderung
im Markt zu begegnen“, sagt
Bain-Berater Sinn, „aber die digitale Welt
ist auch eine Welt, in der man sich Partner
sucht.“ Das hat Degen getan: Die Nürnberger
vertreiben nun die Touch-Tafeln von
Promethean und verdienen hauptsächlich
an der Montage.
n
jacqueline.goebel@wiwo.de, nele hansen
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Spezial | Mittelstand
Besser als sein Ruf
FACTORING | Der Verkauf von Forderungen war lange verpönt,
doch aktuell meldet die Branche hohe Zuwachsraten. Wie
Unternehmen durch den Verkauf ihrer Forderungen ihre Liquidität
verbessern können und für wen Factoring geeignet ist.
Als Norbert Steinhauer, Leiter der
Buchhaltung bei der Kaufmann Spedition
in Wunstorf bei Hannover, vor
vier Jahren das erste Mal vom Factoring
hörte, war er begeistert. Bis dahin dienten
die offenen Forderungen des Mittelständlers
schlicht als Sicherheit für den Kontokorrentkredit
bei der Hausbank. Doch
Steinhauer stellte schnell fest, dass Factoring
besser für die Bedürfnisse des Unternehmens
geeignet war:„Wir mussten nicht
nur weniger Zinsen bezahlen, sondern waren
zum Großteil vor Forderungsausfällen
geschützt.“
Beim Factoring verkaufen Unternehmen
offene Rechnungen an einen Finanzdienstleister
und bekommen sofort einen
Teil des Rechnungsbetrages ausgezahlt.
Der Finanzdienstleister, Factor genannt –
häufig ein Tochterunternehmen einer
Bank –, kümmert sich dann oft auch noch
darum, die Forderungen einzutreiben.
„Als wir vor vier Jahren angefangen haben,
hatte Factoring aber noch einen
schlechten Ruf“, erinnert sich Steinhauer.
Wer Rechnungen abtrat, so das Vorurteil,
müsse doch Zahlungsschwierigkeiten haben.
Der 1928 in vierter Generation geführte
Familienbetrieb – Umsatz: rund sieben
Millionen Euro, 70 Mitarbeiter – entschied
sich dennoch für den Forderungsverkauf.
Damit konnte sich die Spedition schneller
als geplant neue, umweltfreundlichere
Lkws zulegen.
RABATT VOM LIEFERANTEN
Der sofortige Liquiditätsschub ist einer der
Vorteile des Factoring. Unternehmen müssen
nicht mehrere Wochen lang warten, bis
ihre Kunden bezahlen, sondern sie haben
einen Großteil des Geldes sofort auf dem
Konto. Damit können sie dann investieren
oder ihrerseits die eigenen Lieferanten
schneller bezahlen – dafür gewähren die
schließlich oft einen Nachlass. Unternehmen,
die Factoring nutzen, verbessern indirekt
auch ihre Bilanz. Wenn sie Schulden
begleichen und so ihre Eigenkapitalquote
steigern, erhalten sie ein günstigeres Kreditrating.
Das schätzen immer mehr Unternehmen:
2013 haben die deutschen Factoring-
Umsätze im Vergleich zum Vorjahr um
neun Prozent zugelegt. Knapp 18 000 Unternehmen
haben, so die Statistik des
Deutschen Factoring-Verbandes, Forderungen
im Rekordwert von mehr als 171
Milliarden Euro abgetreten (siehe Grafik
Seite 80). Am häufigsten nutzen Händler
den Forderungsverkauf. Auch metall-
»
ILLUSTRATION: THOMAS FUCHS
78 Nr. 46 10.11.2014 WirtschaftsWoche
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Spezial | Mittelstand
Knapp 18 000 deutsche Unternehmen
haben 2013 Forderungen verkauft
»
verarbeitende Betriebe, Maschinenund
Fahrzeugbauer sowie Nahrungsmittelhersteller
greifen laut Branchenverband
gerne auf das Factoring zurück.
Factoring eignet sich vor allem für Unternehmen,
die viele relativ niedrige Forderungen
an einen möglichst gleich bleibenden
Kundenkreis haben. „Für den Factor
ist dann das Risiko geringer“, sagt Thomas
Farrant, Leiter der Forderungsfinanzierung
bei HSBC Trinkaus & Burkhardt in Düsseldorf.
Bei der Factoring-Gesellschaft der
deutschen Tochter der britischen Großbank
darf kein Kunde eines Factoring-
Gläubigers diesem mehr als 40 Prozent der
angekauften Forderungen schuldig sein –
sonst wäre der Schaden zu groß, sollte der
sogenannte Debitor die Rechnungen nicht
bezahlen.
Voraussetzung fürs Factoring ist immer,
dass der Factoring-Kunde die Leistung bereits
komplett erbracht hat – und dass der
Abnehmer keine Gegenforderungen hat.
Dann bekommt der Factoring-Kunde, Kreditor
genannt, einen Teil der Rechnungssumme
sofort ausgezahlt. „Der Factor behält
in der Regel noch einen Puffer ein für
eventuelle Reklamationen oder Abzüge“, erläutert
Farrant. Bei HSBC sind das üblicherweise
zehn Prozent der Rechnungssumme.
Das heißt, der Factoring-Kunde erhält in
der Regel bis zu 90 Prozent sofort und den
Rest, sobald der Debitor bezahlt hat.
Aber nicht zum Nulltarif: Die Factoring-
Gesellschaften berechnen üblicherweise
Zinsen und Gebühren. Die durchschnittlichen
Kosten liegen nach Branchenschätzungen
aktuell zwischen 0,5 Prozent und
3,5 Prozent der verkauften Forderungssummen.
Bei 50000 Euro kassiert der
Factor also zwischen 250 und 1750 Euro.
Rund zwei Drittel der Gesamtkosten
entfallen auf den Zinsaufwand. Die Factoring-Gesellschaft
lässt es sich bezahlen,
Boomendes Factoring
Abgetretene Forderungen deutscher
Unternehmen (in Milliarden Euro)
Quelle: Deutscher Factoring-Verband
180
150
120
30
2004 2006 2008 2010 2012 13
90
60
dass sie ihrem Kunden sofort Liquidität bereitstellt,
obwohl sie die Forderung erst in
einigen Tagen oder Wochen eintreiben
kann. Zusätzlich wird eine nach dem Umsatz
berechnete Servicegebühr für die
Übernahme der Forderung und des Ausfallrisikos
fällig.
Die tatsächlichen Factoring-Kosten hängen
stark vom konkreten Einzelfall ab – etwa
von der Höhe des Ausfallrisikos und des
Zeitraums, den sich der Kunde vorfinanzieren
lässt. Zudem gilt: „Je kleiner die verkaufte
Forderung, desto teurer wird tendenziell
das Factoring“, erläutert Alexander
Moseschus, Sprecher des Deutschen
Factoring-Verbandes.
Speditionsmanager Steinhauer zahlt mit
insgesamt rund vier Prozent etwas mehr
als der durchschnittliche Factoring-Kunde,
dennoch geht für ihn die Rechnung auf:
„Factoring ist eine günstige Form der Liquiditätsbeschaffung.
Der Kontokorrentkredit
ist teurer.“
Die Spedition Kaufmann verkauft inzwischen
60 bis 70 Prozent ihrer Forderungen
weiter, mit Zahlungszielen zwischen 45 und
60 Tagen. 85 Prozent des Rechnungsbetrages
bekommt Kaufmann sofort ausgezahlt.
Bisher nutzen vor allem größere Unternehmen
Factoring: 60 Prozent der Factoring-Kunden
erwirtschaften einen Jahresumsatz
von mehr als zehn Millionen Euro,
hat eine Studie der Universität Köln ergeben.
Dabei eignet sich das Verfahren auch
für kleinere Mittelständler.
ERST ANRUFEN, DANN MAHNEN
Letztlich ist Factoring eine Art Kredit, weil
der Factor die offenen Rechnungen vorfinanziert.
Die einzige Sicherheit für den
Dienstleister sind die Rechnungen selbst.
Jede Forderung, die platzt oder sich nur mit
viel Mühe eintreiben lässt, ist ein Risiko. Also
prüfen Factoring-Gesellschaften die Bonitäten
von Kreditor und Debitor und berechnen
individuelle Zinsen, die Kreditoren
für den Zeitraum zahlen müssen, bis
der Debitor das Geld überwiesen hat.
Hat der Factoring-Kunde eine Forderungsausfallversicherung,
wird es billiger.
Soll der Factor zusätzlich noch die Rechnungen
verbuchen und eintreiben, wird es
teurer. Zahlt ein Debitor nicht, wirft der
Factor seine professionelle Mahnabteilung
an. In der Regel verschickt sie automatisch
nach der verstrichenen Frist Mahnungen.
Kommt auch nach dem dritten Nachfassen
kein Geld, wird der säumige Zahler verklagt.
Die Regeln sind allerdings mitunter individuell
verhandelbar. Factoring-Kunden
ILLUSTRATION: THOMAS FUCHS
80 Nr. 46 10.11.2014 WirtschaftsWoche
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können mit ihrem Dienstleister auch absprechen,
wie schnell gemahnt und geklagt
werden soll. Das kann entscheidend sein,
wenn das Verhältnis mit dem Kunden
nicht leiden soll. Spediteur Steinhauer etwa
hat mit seinem Factor vereinbart, dass
dieser zuerst anruft, bevor er eine Mahnung
verschickt. „Wir kennen die meisten
Kunden schon sehr lange“, sagt Steinhauer,
„deshalb wollen wir uns erst einmal erkundigen,
was da los ist.“
Die guten Erfahrungen mit dem Factoring
machte die Spedition allerdings erst
im zweiten Anlauf. Der erste Dienstleister
war nicht so kooperativ wie erhofft. Steinhauer
fühlte sich hintergangen: „Es kamen
immer wieder neue Gebühren dazu, und
die Kommunikation war schlecht“, erinnert
er sich.
Mit der neuen Gesellschaft ist er aber
sehr zufrieden. Immerhin konnte er 2013
von seinem 40 Lkws großen Fuhrpark 20
schneller durch neue, umweltverträglichere
Lkws ersetzen, als dies ohne den Forderungsverkauf
möglich gewesen wäre.
lina liu | unternehmen@wiwo.de, thomas glöckner
Lesen Sie weiter auf Seite 82 »
FACTORING-ARTEN
Für jeden etwas
Die gängigsten Varianten des Forderungsverkaufs
und für welche Unternehmen
sie sich eignen.
1.
Full-Service-/Standard-Factoring
Der Factor kauft die Rechnungen,
zahlt sofort einen Teil der Summe und
übernimmt das Risiko, dass die Forderung
nicht bezahlt wird. Er treibt die Forderungen
ein – und mahnt bei überfälligen
Rechnungen. Dieses Verfahren nutzen
eher kleinere Unternehmen.
2.
Inhouse-Factoring
Die Factoring-Kunden schreiben
ihre Mahnungen selbst. Dies eignet sich
besonders für Unternehmen, die bereits
ein professionelles Mahnwesen haben.
3.
Fälligkeits-Factoring
Dieses Verfahren entspricht dem
Standard-Factoring, aber das Unterneh-
men bekommt den Rechnungsbetrag
nicht sofort ausgezahlt, sondern erst zu
einem vereinbarten Termin – unabhängig
davon, wann der Schuldner zahlt.
4.
Export-/Import-Factoring
Nehmen deutsche Unternehmen
als Exporteure Factoring in Anspruch,
handelt es sich um Export-Factoring. Wollen
ausländische Unternehmen für Importgeschäfte
Factoring mit einem deutschen
Factor betreiben, wird das
Import-Factoring genannt.
5.
Stilles/Offenes Factoring
Beim stillen Verfahren wissen die
Debitoren nicht, dass ihre Rechnungen
weiterverkauft werden. Beim offenen
Factoring wissen die Abnehmer Bescheid
und bezahlen direkt beim Factor.
6.
Echtes/Unechtes Factoring:
Beim echten Factoring übernimmt
der Factor das Ausfallrisiko, beim unechten
nicht. In Deutschland gibt es fast ausschließlich
das echte Verfahren.
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Spezial | Mittelstand
Aus eigener Kraft
WEITERBILDUNG | Mittelständische Unternehmen setzen im Werben
um Fachkräfte zunehmend auf Fortbildung – auch mit Wissen aus
den eigenen Reihen.
Bald beginnt sie wieder, die Nacht der
Spinnerei. Beim „Hackathon“ sitzen
die Softwareentwickler der Nürnberger
Conplement AG bis zum Morgengrauen
an ihren Laptops.Jeder bastelt an einem Projekt,
das er spannend findet, das aber noch
keinen direkten Nutzen für das Unternehmen
hat. Nach der „durchhackten“ Nacht
präsentieren sie ihre Ergebnisse – die sich
vielleicht irgendwann für das Unternehmen
auszahlen. Udo Wiegärtner ist als Ressource
Manager für die Entwicklung und Weiterbildung
der rund 60 Mitarbeiter zuständig.
„Wir haben als Beratungshaus kein Produkt
im eigentlichen Sinn“, erklärt er, „unser Produktistvielmehr
dasWissen, daswirim Kopf
und manchmal im Bauch haben.“
Aus diesem Grund hat der Softwareentwickler,
der im vergangenen Jahr 6,3 Millionen
Euro umsetzte, ein Bündel an eher
ungewöhnlichen Weiterbildungsformaten
geschnürt. Beim „World Café“ bekritzeln
die Mitarbeiter Papiertischdecken mit ihren
Ideen. Im „Conplement Lab“ bewerben
sich Teams auf Stundenkontingente, um
sich etwa mit neuen Technologien vertraut
zu machen.
„So können wir Umsetzungskompetenz
in Themen aufbauen, in denen es noch gar
keine realen Projekte gibt“, preist Wiegärtner
die Herangehensweise. Im Idealfall kämen
die Anregungen für neue Fortbildungsthemen
und -formate aus der Belegschaft:
„Wir als Betrieb können nur den
Rahmen dafür schaffen, dass die Leute
Lust haben, sich zu engagieren.“
Trockene Vorträge in düsteren Seminarräumen
mit schlechtem Automatenkaffee:
Die Zeiten standardmäßig verordneter
Fortbildungen haben die meisten mittelständischen
Betriebe hinter sich gelassen.
In vielen Betrieben wächst dagegen die Bereitschaft,
mehr in die Weiterbildung zu investieren
– immer öfter mit Kompetenz aus
den eigenen Reihen.
Als Gründe für das steigende Interesse
an Fortbildung nennen Personalverantwortliche
in einer TNS-Infratest-Studie die
Entwicklung von Fachkräften aus dem eigenen
Haus, erhöhte Motivation und Wertschätzung
der Mitarbeiter sowie den Aufbau
von Wissen und Know-how.
KLARE MARSCHROUTE
Aber nur wenn die Fortbildungen 100-prozentig
passen, entfalten Investitionen in
die Mitarbeiter ihre volle Wirkung. Dabei
gibt es im Mittelstand Nachholbedarf: „Oft
ist die Weiterbildung nicht strukturiert“, bemängelt
Walter Niemeier, Leiter des Instituts
für wissenschaftliche Weiterbildung
an der Fachhochschule des Mittelstands in
Bielefeld. „Die Ziele aller Seminare müssen
von der Unternehmensstrategie abgeleitet
werden, sonst laufen die Mitarbeiter in die
falsche Richtung.“
Wie wichtig eine klare Marschroute ist,
hat auch der Leuchtenhersteller Trilux festgestellt.
Im Wandel hin zu modernen LED-
Leuchten steht das Unternehmen mit zuletzt
513 Millionen Euro Umsatz unter hohem
technologischem Druck. Daher
»
ILLUSTRATION: THOMAS FUCHS
82 Nr. 46 10.11.2014 WirtschaftsWoche
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Spezial | Mittelstand
»Wir müssen uns viel weniger Wissen
von außen holen als früher«
»
sucht es nach Wegen, seine weltweit
5000 Mitarbeiter dabei besser mitzunehmen.
2011 vereinbarte der Betrieb am
Hauptsitz im nordrhein-westfälischen
Arnsberg drei Stunden unbezahlte Mehrarbeit
mehr pro Woche, dafür investierte die
Geschäftsführung große Teile der so erzielten
Einsparungen in Fortbildungen. Für jeden
Mitarbeiter waren ab da zwei Bildungstage
an der neu gegründeten Trilux-
Akademie pro Jahr bis einschließlich 2013
Udo Wiegärtner, Ressource Manager Conplement AG
Pflicht. Geschäftsführer Johannes Huxol
war wichtig, „dass das Bewusstsein für den
Wandel in allen Bereichen ankommt“. Führungskräfte
und Mitarbeiter besprechen
heute gemeinsam, wo sinnvoller Nachholbedarf
besteht. Am Anfang war das Angebot
sehr breit und umfasste etwa auch Seminare
zur Kundenzufriedenheit für Reinigungskräfte.
Mittlerweile ist das Fortbildungsprogramm
freiwillig und stärker auf
den Technologiewandel fokussiert. Geschäftsführer
Huxol denkt aber noch weiter:
„Gerade auch vor der Perspektive des
demografischen Wandels müssen wir unsere
Mitarbeiter weiterentwickeln.“
Dieses Bewusstsein nimmt im Mittelstand
zu. Sebastian Gradinger, Geschäftsführer
der Wöhrl Akademie im mittelfränkischen
Reichenschwand, beobachtet, dass
Familienunternehmen oft deutlich mehr in
ihre Mitarbeiter investieren, „weil sie an
einer nachhaltigen Personalentwicklung
interessiert sind“. Der Nürnberger Textilhändler
Wöhrl, der nach der Übernahme
von SinnLeffers mit über 4000 Mitarbeitern
mehr als 600 Millionen Euro umsetzt, unterhält
seit mehr als 25 Jahren die hauseigene
Fortbildungsstätte.
Wöhrl bezeichnet die Akademie, die in
einem Schloss bei Nürnberg residiert, als
„Lerninsel“ für die Beschäftigten. Dabei
lässt Gradinger, sooft es geht, eigene Mitarbeiter
als Dozenten auftreten. Albrecht
Kresse, der als Trainer arbeitet und für sein
Berliner Unternehmen Edutrainment den
Deutschen Weiterbildungspreis erhalten
hat, hält das für eine gute Idee: „Sie haben
bei den Kollegen eine hohe Reputation,
weil sie wissen, wie das Tagesgeschäft
funktioniert. Sie wissen, was die Kollegen
brauchen, um erfolgreich zu sein.“
Diese Erfahrung hat auch Conplement-
Manager Wiegärtner gemacht: „Wir müssen
uns viel weniger Wissen von außen hereinholen,
als wir das früher gemacht haben.“
Bei den Nürnbergern gibt es immer
mal wieder Vorträge von Mitarbeitern über
ihre jeweiligen Methoden oder Produkte.
Nicht nur die Zuhörer profitieren, bemerkt
ILLUSTRATION: THOMAS FUCHS
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Wiegärtner. „Mancher Kollege wächst vor
Stolz um drei Zentimeter, wenn er sieht,
dass sein Wissen das Team weiterbringt.“
So können auch Unternehmen mit kleinem
Budget effektive Weiterbildungen anbieten.
„Je kleiner das Unternehmen, desto
weniger institutionalisiert ist die Personalentwicklung“,
sagt Berater Kresse. In einigen
Regionen haben Handwerks- oder
Handelskammern gemeinsame Weiterbildungsinstitute
geschaffen, wo Betriebe
Kosten und Erfahrungen teilen können.
LUST AUFS LERNEN
Unabhängig von der Größe haben viele Betriebe
gelernt: Die Fortbildungen müssen
sich schnell und flexibel an mögliche Änderungen
anpassen. Bei Liebherr – die
schwäbische Unternehmensgruppe setzt
unter anderem mit Kränen, Baumaschinen
und Kühlschränken etwa 8,9 Milliarden
Euro um – organisiert jede Gesellschaft die
Weiterbildung nach dem eigenen Bedarf.
Am Unternehmenssitz in Ehingen gibt es
seit acht Jahren ein zentrales Schulungszentrum
für die 3100 Mitarbeiter
Das Team mit 23 Mitarbeitern unter Leitung
von Sascha Brenner tauscht sich eng
mit der Geschäftsführung aus, kann daher
schnell reagieren. So kam 2013 ein neues
Abstützsystem für Mobilkräne gut am Markt
an. Das zog eine Kette an Weiterbildungsmaßnahmen
nach sich: Einer der Trainer
aus Brenners Team machte sich mit dem
System vertraut, probierte es selbst aus, recherchierte
in allen wichtigen Dokumenten
– und bereitete dann Schulungsunterlagen
für Mitarbeiter in der Produktion, im Vertrieb
und im Service auf. „Das ging einmal
komplett rum im Betrieb“, erzählt Brenner.
In den vergangenen Jahren wuchs die
Teilnehmerzahl jedes Jahr um sieben bis
acht Prozent – 2013 zählte Brenner 8700
Teilnehmer in 500 Schulungen zu 170 verschiedenen
Themen.
Das Schulungszentrum ist den ganzen
Tag über gut gebucht: Frühmorgens und
am späten Nachmittag finden Kurse statt,
bei denen auch Kollegen aus Asien oder
den USA via Internet zuschauen und mitmachen
können. Und an manchen Abenden
wird aus dem Schulungszentrum eine
betriebsinterne Volkshochschule: Liebherr-Fremdsprachenkorrespondentinnen
laden ihre Kollegen zum Sprachenlernen
ein, ambitionierte Hobbyfotografen geben
Kurse in Digitalfotografie. Brenner sieht
das mit Freude: „Es herrscht eine große Bereitschaft,
sein Wissen weiterzugeben.“ n
manuel heckel | unternehmen@wiwo.de
WirtschaftsWoche 10.11.2014 Nr. 46 85
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Weltweit gefragt
Die Ausrüstung des
Burj Khalifa in Dubai
kommt von Dorma
Vom Ja-Wort zur Nagelprobe
Wie Mittelständler Probleme bei der Integration übernommener Unternehmen vermeiden, schildert
der fünfte Teil der Serie in Kooperation mit der Unternehmensberatung Deloitte.
Bei Dorma gibt es fünf- bis sechsmal im Jahr
eine Neue: So häufig stemmt das Familienunternehmen
mit 7000 Mitarbeitern aus dem
nordrhein-westfälischen Ennepetal Firmenzukäufe.
Die Fensterbeschläge, Glastüren und Einbruchssicherungen
von Dorma sind weltweit gefragt: Die Technik
steckt im 163 Stockwerke hohen Burj Khalifa in Dubai,
im Berliner Hauptbahnhof und in der Dresdner Frauenkirche.
Das Management weiß aus Erfahrung, dass
Übernahmen so ähnlich sind wie Hochzeiten: Die
Phase der Bewährung beginnt erst nach dem Ja-Wort.
Waren die Verhandlungen der Antrag und die Vertragsunterschrift
der Gang zum Standesamt, dann ist
die Integration das Ringen um das Funktionieren der
jungen Beziehung. Wer Fehler macht, wird enttäuscht.
Und das passiert häufig: Mehr als 60 Prozent aller
Integrationen – so eine Studie der Universität Münster
und der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Deloitte
– erfüllen nicht die in sie gesetzten Erwartungen. „Die
Integrationsphase ist mitentscheidend für den Erfolg
einer Übernahme“, sagt Jörg Niemeyer, Partner im
Corporate-Finance-Bereich bei Deloitte. Wenn Mittelständler
auf Brautschau gehen, ist die Gefahr des
Scheiterns besonders groß. Konzerne können die
misslungene Integration eines Übernahmekandidaten
notfalls verschmerzen, weil sie größere Rücklagen
haben. „Mittelständische Unternehmen müssen da-
SERIE
Mittelstand
Fit for Future
Fusionen & Übernahmen
Der richtige Partner (I)
Finanzinvestoren (II)
Finanzierung (III)
Osteuropa/Asien IV)
Integration (V)
Quo vadis M&A? (VI)
Interview (VII)
rauf achten, dass ihnen die Übernahme nicht entgleitet“,
warnt Andreas Kuckertz, Professor für Betriebswirtschaftslehre
an der Universität Hohenheim, „die
Integration muss gelingen.“ Nur wer vor der Unterschrift
die richtigen Fragen stellt, kann nachher ohne
Krisen zusammenwachsen.
Bei Dorma ist die zentrale Frage bei der Prüfung
eines neuen Übernahmekandidaten darum immer
die gleiche: Passen wir wirklich zusammen? Kommen
bei der Analyse Zweifel auf, etwa weil die Vertriebswege
zu verschieden sind, wird der Kandidat von der
Einkaufsliste gestrichen. „Sonst müssten wir das zugekaufte
Unternehmen ja komplett umstricken“, sagt
Achim Rademächer, der bei Dorma – Jahresumsatz
zuletzt 1,03 Milliarden Euro – den Bereich Merger &
Acquisition (M&A) leitet. Je mehr Restrukturierungen
notwendig sind, desto größer die Gefahr, dass das gekaufte
Unternehmen an Effizienz und Wert einbüßt.
Potenzielle Synergien werden dazu gegen mögliche
Dyssynergien aufgerechnet: Müssen wir neues
Personal einstellen? Könnten wir wichtige Kunden
verlieren? Welche Investitionen erfordert der Zukauf?
Geht dieser Vergleich positiv aus, erarbeitet Rademächer
mit den Fachleuten exakte Zielvorgaben, etwa,
welche Umsatzsteigerungen erreicht werden sollen:
„Wer pauschal sagt, fünf Prozent mehr Umsatz
gehen immer, kann eine böse Überraschung erleben.“
FOTOS: PICTURE-ALLIANCE/DPA, PR
86 Nr. 46 10.11.2014 WirtschaftsWoche
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Mit Unterstützung von Deloitte*
Damit die Integration funktioniert, muss das eigentliche
Übernahmeziel klar formuliert sein: Soll ein
Konkurrent vom Markt gekauft werden? Soll das Produktportfolio
wachsen? Geht es um die Erschließung
neuer Märkte? Von diesen Zielen hängt zum Beispiel
ab, wer im neu entstandenen Konglomerat die Hosen
anhat. Ins zweite Glied zurückzutreten ist dabei nicht
für jeden eine Option: „Manchmal müssen die alten
Chefs gehen, um den Integrationsprozess nicht zu
stören“, sagt ein erfahrener M&A-Spezialist.
Häufig können die Chefs des Übernahmekandidaten
aber auch gute Partner für die Integration sein –
wie beim Softwareentwickler USU aus der Nähe von
Stuttgart. Mit seinen 450 Mitarbeitern hat USU 2013
rund 60 Millionen Euro umgesetzt. Dazu beigetragen
hat das 2010 übernommene Aachener Unternehmen
Aspera. Durch den Zukauf wollten die Schwaben ihre
Position auf dem Softwarelizenzierungsmarkt stärken.
„Aber“, so USU-Vorstandssprecher Bernhard
Oberschmidt, „wir haben dann eingesehen, dass die
das viel besser konnten als wir.“ Deshalb verpflichtete
Oberschmidt die Aspera-Gründer vertraglich, für eine
bestimmte Zeit im Unternehmen zu bleiben.
Nicht nur der Umgang mit den alten Chefs ist entscheidend,
fast noch wichtiger sind die sogenannten
Kernmitarbeiter. Diese Angestellten sind letztlich entscheidend
für den langfristigen Erfolg der Übernahme,
auch weil sie eine Vorbildfunktion haben. „Mit einem
höheren Gehalt allein lassen sich diese Angestellten
meist nicht binden“, warnt Experte Kuckertz,
„Geld kann eine intrinsische Motivation zerstören.“
Sinnvoller sei es, diese Gruppe in das Projektteam
einzubinden, das nach dem Zusammenschluss die
eigentliche Kleinarbeit der Integration erledigt: Sie
verzahnt etwa die IT-Systeme oder passt die Buchhaltungen
an. Der TÜV Rheinland in Köln hat etwa gute
Erfahrungen damit gemacht, jede Position im Team
mit einem alten und einem neuen Mitarbeiter zu besetzen.
„Damit wollen wir zeigen: Ihr gehört jetzt zu
uns, wir brauchen euch, um das hinzukriegen“, sagt
Marco Pietrek, Leiter M&A und Strategie.
Die Leiter solcher Teams auszusuchen ist eine besondere
Herausforderung: „Die für die Integration
zuständigen Projektleiter müssen Zugang zu den Entscheidern
haben“, sagt Deloitte-Partner Niemeyer.
„Und sie müssen die Mitarbeiter auf die Übernahme
einschwören“, ergänzt TÜV-Manager Pietrek. Bei den
Rheinländern, die pro Jahr rund 1,6 Milliarden Euro
umsetzen, werden die Teamleiter für die Dauer der
Integration komplett freigestellt.
Auch wenn die Integration erfolgreich über die
Bühne gegangen ist, sollten diese Mitarbeiter möglichst
gehalten werden. Was nur selten gelingt: „Circa
80 Prozent der Teamleiter verlassen ihre Arbeitgeber
nach Beendigung des Projektes“, sagt Niemeyer. Mutmaßlicher
Grund: Viele fühlen sich durch das anschließende
Alltagsgeschäft unterfordert.
Als Gegenmittel empfiehlt der Deloitte-Berater:
„Sobald Unternehmen den Projektleiter bestimmt
Mit mehr
Geld allein
lassen sich
wichtige
Angestellte
meist nicht
binden
Integrationsexperte
Deloitte-Partner
Niemeyer
Risikofaktor
Beitrag der einzelnen
Phasen für den Gesamterfolg
einer Firmenübernahme
(in Prozent)
Vorbereitungsphase
Bewertungsphase
Verhandlungsphase
Integrationsphase
Quelle: Deloitte
27
22
17
34
haben, sollten sie mit ihm darüber sprechen, wie sein
Karrierepfad nach der Integration aussehen kann.“
An der Basis herrscht nach der Vertragsunterzeichnung
häufig große Verunsicherung. Um diese Phase
abzukürzen, sollten schmerzhafte Einschnitte, etwa
durch Kündigungen, nicht zu lange hinausgezögert
werden. Doch es gibt auch andere Ängste: Wie sieht
meine neue Aufgabe aus? Wer wird mein neuer Chef?
Welche Aufstiegschancen habe ich?
Um der Belegschaft eines Übernahmekandidaten
möglichst schnell Orientierung zu geben, erarbeitet
der TÜV Rheinland schon im Vorfeld einen Kommunikationsplan.
Bereits am Tag nach der Übernahme
stellen die Kölner ihr Unternehmen und die neuen
Ziele vor, „um die Mitarbeiter vorzubereiten und so
die Veränderungsbereitschaft zu nutzen, die anfangs
oft am größten ist“, sagt Manager Pietrek.
Zudem werden die Angestellten des zugekauften
Unternehmens per Mail mit Informationen zur Übernahme
versorgt. Bei kleineren Zukäufen lässt sich
auch schon mal durch Aktionen wie ein gemeinsames
Grillfest der notwendige Goodwill erzeugen.
Wichtig ist es auch, früh auf die Sorgen der Kunden
einzugehen: Bleiben Auswahl und Qualität der Produkte
wie bisher? Ändern sich die Preise? Bleiben
meine Ansprechpartner dieselben? USU-Chef Oberschmidt
hat bei der Aspera-Übernahme persönliche
Überzeugungsarbeit geleistet: „Wir erklären den
Kunden die Vorteile, die sie durch die Übernahme haben.“
Lassen sich die Unternehmen damit zu viel Zeit,
riskieren sie, dass Kunden abspringen, was wiederum
auch den Mitarbeitern Angst macht und so den Integrationsprozess
bremst.
Die sogenannte Post-Merger-Phase braucht aber
nicht nur intensive Kommunikation nach innen und
außen, sondern auch detaillierte Kontrolle. Bei Dorma
etwa wird während der Integration ein gutes Dutzend
Kennziffern beobachtet: Umsatz und Ertrag,
Cash-Flow und die Höhe des Working Capital, also
die Entwicklung des Netto-Umlaufvermögens. „Eine
Integration kann durchaus ein bis eineinhalb Jahre
dauern“, sagt Deloitte-Berater Niemeyer. „Aber bis
zwei eigenständige Unternehmen kulturell zusammengewachsen
sind, dauert es in der Regel länger.“
Nicht alles muss unbedingt nach den Regeln des
Käufers eingenordet werden: „Unterschiede in der
Unternehmenskultur können belebend wirken“, sagt
Niemeyer. Manchmal sind solche Unterschiede und
das innovative Klima sogar der Grund, ein Unternehmen
zu kaufen.
Für die Führungsspitze wird die Integration so oder
so zur Nagelprobe. Wissenschaftler Kuckertz: „Wenn
ich meinen neuen Mitarbeitern eine tolerante und innovative
Kultur versprochen habe, kann ich nicht
beim ersten Problem draufhauen und abstrafen.“ n
lukas zdrzalek | unternehmen@wiwo.de
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WirtschaftsWoche 10.11.2014 Nr. 46 87
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Technik&Wissen
Der große Fluff
RECYCLING | Verbrennen oder verwerten: Die Frage nach dem richtigen Umgang mit
dem Abfall ist längst ein Dogmenstreit. Jetzt schaffen es innovative Unternehmen,
beides intelligent zu verknüpfen. Sie verwandeln Müll in hochwertige neue Produkte –
und wertvollen Brennstoff.
Uwe Greye verbringt seine Tage
allein mit Tausenden Tonnen
Müll in einem Bunker. Der
Kranführer der Müllverbrennungsanlage
im Hamburger
Stadtteil Stellingen ist um seinen Job nicht
zu beneiden. Umgeben von Dunkelheit,
hockt er in einer verglasten Kanzel 20 Meter
über dem Grund. Zu seinen Füßen Berge
von Hausmüll. Windeln, Staubsaugerbeutel,
zusammengeknüllte Tüten und Folien,
Teppichreste, kaputte Möbel, faules
Obst und Gemüse – die Überbleibsel unserer
Konsumgesellschaft.
Greye durchwühlt mit dem Kran den
Haufen und wuchtet ihn in einen Trichter.
Von dort fällt der Abfall in einen 900 Grad
heißen Ofen. 100 Tonnen Müll bewegt der
Hamburger pro Schicht, so viel wie rund
45 000 Haushalte am Tag produzieren.
Eigentlich müssten Männer wie Greye
um ihren Job bangen. Deutschland gilt
schließlich als Paradies des Recyclings.
Doch der 55-Jährige arbeitet in einer
Boombranche. Denn immer mehr Abfall
landet in der Verbrennung. Waren es 2004
noch 28 Millionen Tonnen, sind es heute
schon 45 Millionen Tonnen. Rund die Hälfte
des deutschen Haus- und Gewerbemülls
wird einfach verheizt.
Den Politikern in Brüssel und Berlin
passt das gar nicht. „Wir wollen aus Europa
eine Gesellschaft ohne Abfall machen“,
hatte noch im Juli der gerade abgelöste EU-
Umweltkommissar, der Slowene Janez
Potocnik, verkündet. Auch die Bundesregierung
hegt ähnliche Ambitionen. Und
die neue EU-Kommission arbeitet schon
mit Hochdruck daran, die Abfallgesetze in
Europa zu vereinheitlichen.
Das Ziel: Kein Müll soll unsortiert bleiben,
nichts direkt auf Deponien landen, die
Recyclingquoten sollen steigen. Statt Rohstoffe
der Erde abzuringen, sollen wir Abfälle,
so die Idee, in neue Produkte verwandeln
und so die Umwelt schonen. Kreislaufwirtschaft
nennen Fachleute das.
Bei Papier und Glas klappt das bereits
heute. Sie werden zu nahezu 100 Prozent
recycelt (siehe Grafik Seite 90). Doch unsere
Kunststoffabfälle aus dem gelben Sack
landen überwiegend in einem der Öfen der
mehr als 100 großen deutschen Verbrennungsanlagen.
Die Frage ist:Ist die sogenannte „thermische
Verwertung“ wirklich so schlimm? Ist
es immer besser, Abfall in neue Produkte
zu verwandeln, statt ihn zu verbrennen?
Wer in diesen Tagen der Spur des Abfalls
folgt, erlebt es immer wieder – das Entweder-oder
funktioniert nicht mehr. Die
Müllmänner der Zukunft holen aus Reststoffen,
was sich effizient wiederverwerten
lässt. Aus dem Rest machen sie wertvollen
Brennstoff. „Recycling und energetische
Verwertung sind keine Gegensätze, beide
Zurück auf Los Recyceltes Plastik
(vorn) wird wieder zu Stiften (hinten)
Verfahren ergänzen sich“, sagt etwa der
Berliner Müllexperte Karl Thomé-
Kozmiensky, emeritierter Professor für
Abfallwirtschaft an der Technischen Universität
Berlin.
Selbst die Forscher des Freiburger Öko-
Instituts räumen ein: „Auch bei noch so
viel Recycling bleiben Abfälle, die auf andere
Art genutzt werden müssen“, schreiben
die Wissenschaftler Anfang dieses Jahres
in einer Studie. Sie empfehlen, Müll in
Industrieprozessen und leistungsstarken
Kraftwerken zu verbrennen.
Gemessen an den erbitterten Diskussionen
der Vergangenheit, ist das fast ein
Tabubruch.
MÜLL ZUM TANKEN
Es geht dabei nicht nur um einen Glaubensstreit
zwischen Ökos und Verbrennern,
sondern um ein Milliardengeschäft.
Die Entsorgungs- und Recyclingbranche in
Deutschland setzt im Jahr etwa 50 Milliarden
Euro um und beschäftigt 500 000 Menschen.
Rund 330 Millionen Tonnen Müll
fallen jährlich hierzulande an. Das meiste
ist Bauschutt, knapp ein Drittel ist Müll aus
Privathaushalten und von Unternehmen.
Wie die Grenzen zwischen Recycling
und Verbrennung verschwimmen, zeigt
sich derzeit wohl nirgendwo so gut, wie
im Städtchen Ennigerloh in Westfalen.
Dort will der Ingenieur Jürn Düsterloh,
Technischer Leiter des Start-ups Dieselwest,
aus Abfall Benzin herstellen. In einem
kleinen Reaktor wird Kunststoffabfall
bei 360 Grad Hitze wieder eine Art Erdöl,
aus dem anschließend eine Raffinerie
Treibstoff destilliert. Insgesamt acht Millionen
Euro haben ein Privatinvestor, der
FOTOS: MTM/BENEDIKT FRINGS-NEß, MICHAEL BILLIG
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Frisch geschnetzelt Aufbereitung von
Kunststoffabfall bei MTM in Thüringen
Remscheider Anlagenbauer Recenso, das
Land Nordrhein-Westfalen und die EU für
die Entwicklung Dieselwest zur Verfügung
gestellt. Im Sommer 2015 soll die Pilotanlage
ihre erste Testphase beenden. Schon
jetzt rufen bei Dieselwest Bürger an und
fragen, wo sie das „neue Benzin“ denn tanken
können.
Die Pilotanlage von Dieselwest befindet
sich auf dem Gelände der kommunalen
Abfallwirtschaftsgesellschaft des Kreises
Warendorf (AWG). Hier arbeiten bei Ecowest,
einer AWG-Tochter, die wahrscheinlich
fortschrittlichsten Müllmänner der Republik.
In einer orangenen Warnweste
führt Chefingenieur Thomas Kohlhaas
über das 37-Hektar-Gelände und zeigt, wie
moderne Abfallwirtschaft funktioniert.
Herzstück ist die Sortieranlage. Der
Riese aus Hunderten Meter Förderband,
das in mattem Schwarz seine Bahnen
zieht, verwandelt Abfall in ein wattegleiches
Gemisch aus winzigen Kunststoffschnipseln,
das Kohlhaas Fluff nennt. Ein
Teil davon geht zu den Kraftstoff-Forschern
von Dieselwest. Alles andere vermarktet
Ecowest als Ersatzbrennstoff, kurz
EBS. Der enthält pro Tonne so viel Energie
wie Braunkohle.
Aber nicht alles, was der Müllfresser
schluckt, wird zu Fluff. Die Suche nach
dem edelsten Abfall beginnt wie in einer
Goldmine. Schredder zermalmen das
Material, eine wilde Mischung aus Gewerbe-
und Hausabfall, wie Erz im Bergwerk.
Magnetbänder fischen Metalle für den
»
WirtschaftsWoche 10.11.2014 Nr. 46 89
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Technik&Wissen
»
Schrotthandel heraus. Siebe fangen
feuchten Biomüll ab, der auf die Deponie
kommt. Teerpappen, Holzteile und Hartplastik
wie Zahnbürsten landen mit den
anderen Resten in der klassischen Müllverbrennung.
Ecowest war eines der ersten deutschen
Unternehmen, das den hochwertigen Fluff
herstellte. Mittlerweile gibt es bundesweit
mehr als 40 ähnliche kommunale und private
Anlagen. Sie verkaufen den aufgepäppelten
Müll vor allem an Zementfabriken.
Bis zu 20 Euro bringt das pro Tonne, sagen
Branchenkenner. Am Ende spart das den
Bürgern in Ennigerloh Geld, weil ihre Gemeinde
weniger Abfall in klassische Verbrennungsanlagen
schicken muss. Dort
kostet die Entsorgung von unbehandeltem
Hausmüll bis zu 200 Euro pro Tonne.
MÜLL DER EXTRAKLASSE
Neben der Kostenersparnis winkt auch ein
Gewinn für die Umwelt. Weil die Abnehmer
des Fluffs, die deutschen Zementhersteller,
heute so viel Müll verfeuern wie nie
zuvor, decken sie nur noch ein Drittel ihres
Energiebedarfs mit Kohle, Öl und Gas.
Der Abfallforscher Matthias Franke vom
Fraunhofer-Institut für Umwelt-, Sicherheits-
und Energietechnik im oberpfälzischen
Sulzbach-Rosenberg hat kürzlich eine
genaue Ökobilanz der EBS-Verbrennung
in Zementwerken erstellt. Das Ergebnis:
„Die Verbrennung ist teilweise sinnvoller
als das Recycling“, sagt Franke. Bei einigen
Kunststoffabfällen aus dem gelben
Sack ist der Energieaufwand zu hoch, um
die Stoffe fürs Recycling zu trennen. Außerdem
produziert die Verbrennung von Fluff
Buntes Vielerlei Zementwerke lieben
aufbereiteten Fluff
Gepresstes vom Plastik Die Pellets
brennen wie Braunkohle
im Zementwerk weniger klimaschädliches
Kohlendioxid als Kohle.
Die Aussicht auf einen kostengünstigen
und umweltfreundlichen Brennstoff hat
mit den EBS-Kraftwerken inzwischen sogar
eine neue Generation von Verbrennern
hervorgebracht, die einzig auf Müll der Extraklasse
eingestellt sind. Sie arbeiten effizienter
als die meisten herkömmlichen
Müllverbrennungsanlagen und produzieren
Strom und Wärme für Papierfabriken,
die Chemie- und die Stahlindustrie.
Das neueste und größte EBS-Kraftwerk
soll kommendes Jahr im Industriepark
Höchst in Frankfurt am Main starten. Die
rund 350 Millionen Euro teure Anlage wird
die mehr als 90 dort angesiedelten Unternehmen
mit Elektrizität und Dampf für ihre
Produktion versorgen. Dafür verfeuert
sie jährlich einen Abfallberg, wie er in
Hamburg anfällt.
ZWEITES LEBEN FÜRS BOBBY CAR
Aber ob Zementfabriken oder EBS-
Kraftwerke: Nicht mit jeder Sorte Müll
werden die Anlagen zu Umweltschützern.
Bestimmte Kunststoffabfälle sind besser
im Recycling aufgehoben. Ausgediente
Gartenstühle etwa und löchrige Gießkannen
aus Plastik, das kaputt gespielte
Bobby Car, Folien, die Spargelfelder bedeckten
oder Strohballen umhüllten, oder
die Gehäuse von Elektrogeräten. „Wichtig
fürs Recycling ist, dass die Abfälle sauber
und sortenrein sortiert werden“, sagt
Recyclingexperte Thomas Probst vom
Bundesverband Sekundärrohstoffe und
Entsorgung.
Ist das der Fall, haben Unternehmer wie
Michael Scriba leichtes Spiel. Der Geschäftsführer
von MTM Plastics im thüringischen
Niedergebra gehört zu den Pionieren
bei der Verwertung von Polyolefinen.
Aus diesen Kunststoffen bestehen Dosen,
Tuben, Tüten, Folien, Becher und Flaschen
– also vieles von dem, was sich im gelben
Sack der Verbraucher findet.
Früher ließ Scriba noch von Hand sortieren,
erzählt er bei der Führung durch seinen
Betrieb. Heute trennen Zentrifugen
und andere Maschinen die Abfälle. Infrarotstrahlen
schießen auf die Kunststoffe,
anhand des reflektierten Lichts erkennen
Scanner die begehrten Polyolefine. Sie
wandern in einen Extruder, der die bunten
Das Leben nach der Tonne
Was mit den 44 Millionen Tonnen Abfall passiert, den deutsche Privatleute und Unternehmen
jährlich in Mülltonnen und Sammelcontainer werfen
2 392 000
Tonnen
Glas
100 %
recycelt
5 462 000
Tonnen
80 %
recycelt*
20 %
verbrannt
8 098 000
Tonnen
99 %
recycelt
9 249 000
Tonnen
99 %
recycelt
13 989 000
Tonnen
16 %
recycelt
84 %
verbrannt
2 398 000
Tonnen
Verpackungen Papier Biomüll** Restmüll Spermüll
* einschließlich der Reststoffe, die sich beim Recycling nicht nutzen lassen und dann ebenfalls verbrannt werden; ** Park- und Gartenabfälle sowie Abfall aus Biotonnen;
Quelle: Statistisches Bundesamt, Stand 2012
57 %
recycelt
43 %
verbrannt
FOTOS: PICTURE-ALLIANCE/DPA, MICHAEL BILLIG, PR, IMAGO (4)
90 Nr. 46 10.11.2014 WirtschaftsWoche
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Kunststoffteilchen auf bis zu 240 Grad erhitzt,
bis sie zu einer Masse verschmelzen.
Im weiteren Prozess wird sie entgast, gereinigt,
mit Zusatzstoffen vermischt und
schließlich durch ein Sieb gepresst. Kühlt
die Masse ab, entsteht ein pfefferkorngroßes
Granulat, das in Säcken an 60 Kunststoffverarbeiter
in ganz Europa geht. Sie
stellen daraus Mülltonnen, Kisten, Eimer
sowie Bauteile für Autos oder Büromöbel
her und auch neue Gartengeräte.
Die Vielfalt an Produkten ist ein Fortschritt.
Denn aus eingesammelten Kunststoffgemischen
Lärmschutzwände und
Parkbänke herzustellen, wie es vielfach
noch geschieht, „macht ökologisch überhaupt
keinen Sinn“, kritisiert Fraunhofer-
Forscher Franke. Der Grund: Bei diesen
Anwendungen verdrängt das Recyclingmaterial
das viel klimafreundlichere Holz.
Beim sortenreinen Recycling der Polyolefine
aber kann sich die Umweltbilanz
sehen lassen. Mit den 27 000 Tonnen Plastik,
die Scriba im Jahr herstellt, vermeiden
seine Kunden den Ausstoß von 59 000
Tonnen Treibhausgas, wie Forscher der
Hochschule Magdeburg-Stendal ausgerechnet
haben. Das entspricht der Menge,
die ein Mittelklassewagen ausstößt,
wenn er die Erde 8000 Mal umkurvt. Zudem
sparen Kunststoffverarbeiter, die statt
Neuware die Granulate aus Thüringen einsetzen,
pro Jahr insgesamt 32 000 Liter
Erdöl ein.
RAHMEN, GRANULAT, RAHMEN
Am Ende kann aber selbst Kunststoffretter
Scriba nicht alle Abfälle verwerten, die Laster
täglich auf seinen Hof kippen. Ein Drittel,
rund 20 000 Tonnen im Jahr, sortiert
auch er aus und schickt sie Abfallbehandlungsanlagen
wie Ecowest. Die sortieren
den Müll ein weiteres Mal und verarbeiten
ihn zu Fluff. So landen Zehntausende Tonnen
Kunststoffabfälle in Deutschland doch
noch über Umwege in der Verbrennung.
Die Kombination aus beidem, aus sortenreinem
Recycling und der Produktion
hochwertiger Brennstoffe, sei letztlich das
ideale Verwertungssystem, sagen die Forscher
des Öko-Instituts.
Das Problem aber ist: Noch immer gelangen
– trotz aller deutschen Gelbmüll-
Sortier-Freude – zu viele Kunststoffabfälle
unsortiert in ineffiziente, klassische Verbrennungsanlagen.
Sie decken ihren Bedarf
außerdem mit Sperrmüll und Importen.
Zu Niedrigpreisen schlucken sie auch
unsortierte Firmenabfälle. Viel Plastik,
aber auch Holz und Papier geht verloren.
Es ist aufgeschichtet Für PVC-Fenster
existiert ein Wertstoff-Kreislauf
Damit Kunststoffe erst gar nicht in die
Hände klassischer Verbrenner geraten,
bauen Firmen wie Veka Umwelttechnik
aus dem thüringischen Hörselberg-Hainich
geschlossene Kreislaufsysteme für
einzelne Produkte auf. Zum Beispiel für die
PVC-Fenster des Mutterhauses, dem Fensterprofilhersteller
Veka. Das Ziel von Geschäftsführer
Norbert Bruns: alle Profile,
die Veka verkauft, am Ende wieder einzusammeln.
Dafür arbeitet er mit Fensterbauern
und Containerdiensten zusammen
und bezahlt sie für Altfenster. Bruns verarbeitet
die Rahmen zu Granulat, das zu neuen
Fensterrahmen wird. Das ist umweltschonender
und billiger als –Neuware.
Auch für PET-Flaschen gibt es ein solches
geschlossenes System. Die Firma Petcycle,
mit Sitz im rheinland-pfälzischen
Bad Neuenahr-Ahrweiler und getragen
von mehr als 100 Unternehmen aus der
Getränke- und Recyclingindustrie, hat
Journalisten-Stipendium
Nachhaltige Wirtschaft
Der Text entstand im Rahmen des
Recherchestipendiums, das die WirtschaftsWoche
Green Economy 2014
erstmals an sechs Journalistinnen,
Journalisten und Rechercheteams vergeben
hat. Alle Informationen zum Stipendium
und die aktuellen Texte finden
Sie unter green.wiwo.de/journalistenstipendium-nachhaltige-wirtschaft/
mittlerweile 40 Millionen Kästen mit Mineralwasser
und Limonaden im Umlauf. Die
Kunden bringen sie in die Supermärkte zurück,
die sie dann an die Petcycle-Mitglieder
schicken, die aus den gebrauchten Flaschen
neue machen.
Und auch die Verbrenner selbst haben
Recyclingpotenzial. Müllverbrennungsanlagen
gewinnen heute schon Metalle aus
ihrer Asche. 2012 waren es in Deutschland
mehr als 300 000 Tonnen Eisen, Aluminium
und Kupfer. Selbst der mit Schwermetallen
belastete Staub aus der Abgasreinigung,
der bislang als Sondermüll unter Tage
deponiert wird, birgt große Schätze.
„Die Metallkonzentration im Filterstaub ist
höher als in den meisten natürlichen Lagerstätten“,
sagt der Berliner Experte Thomé-Kozmiensky.
Vor zwei Jahren errichtete
das Schweizer Unternehmen BSH Umweltservice
in Zuchwil nördlich von Bern
für rund neun Millionen Euro die weltweit
erste Anlage, die täglich fast eine Tonne reines
Zink aus Giftmüll herausholt.
Am Ende der Tour zu Recyclinghöfen,
Wertstoffsammlern und Müllverbrennern
steht damit die Erkenntnis, dass die Präferenz
fürs Recycling zwar im Grundsatz
richtig ist – aber eben kein Dogma. Was zu
aufwendig zu trennen und zu säubern ist,
sollte zu Brennstoff oder Sprit werden, um
Kohle oder Öl zu ersetzen. Aus Kunststoffen,
die in Bechern, Bobby Cars und Elektrogeräten
stecken, sollten Recycler neues
Plastik herstellen, für das Erdöl im Boden
bleibt. Und was sich gar nicht verwerten
lässt, kann in Verbrennungsanlagen wandern.
Müllwerker wie Uwe Greye in Hamburg
haben also auch künftig zu tun. n
michael billig | technik@wiwo.de
WirtschaftsWoche 10.11.2014 Nr. 46 91
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Technik&Wissen
Per Anhalter durch die Galaxis
RAUMFAHRT | Es ist eine Premiere: Die Sonde Philae reist ab Mittwoch
Huckepack auf dem Kometen 67P/Churyumov-Gerasimenko. Mit der
riskanten Rosetta-Mission wollen Forscher der Europäischen Raumfahrtagentur
herausfinden, wie das Sonnensystem entstanden ist. Und sie ist
auch ein Testlauf für kommerzielle Projekte: Raumschiffe sollen metallhaltige
Asteroiden ansteuern – und wertvolle Rohstoffe zur Erde bringen.
Staubsensor
Registriert Aufprall von
Staub- und Eisteilchen
Die Landung
Für die 22,5 Kilometer bis zur
Kometenoberfläche braucht
Philae sieben Stunden.
Philae
Magnetometer
Misst das Magnetfeld
von 67P
Elektroden, Mikrofon
Ermitteln unter anderem
den Wassergehalt der
oberen Bodenschicht
Bohrer
Nimmt Bodenproben
für chemische Analyse
Spektrometer
Untersucht mit einem Lichtsensor
die chemische Zusammensetzung
der Kometenoberfläche
Thermometer
Misst die Temperatur
in oberen Bodenschichten
Quelle: www.esa.int; Planetary Resources; eigene Recherche
92 Nr. 46 10.11.2014 WirtschaftsWoche
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Bahn des Kometen 67P/
Churyumov-Gerasimenko
Flugbahn von Rosetta
5
Mutterschiff Rosetta
Seine Solarsegel
haben eine Spannweite
von 32 Metern
Asteroidengürtel
1
Erde
Rosettas Reise
Seit seinem Start im März 2004 (1) hat das
Raumschiff Rosetta 6,5 Milliarden Kilometer
zurückgelegt. Es flog dreimal an der Erde und
einmal am Mars vorbei (2), um Schwung für
den Weg bis zur Umlaufbahn des Planeten
Jupiter zu nehmen. Im Mai schwenkte
Rosetta in die Umlaufbahn um den Kometen
67P ein (3). Am 12. November löst sich das
Landegerät Philae vom Mutterschiff und
landet auf dem Kometen (4). Die Forscher auf
der Erde können nicht eingreifen, denn
Signale von der Erde zur Sonde brauchen 28
Minuten. Sobald Philae den Kometen berührt,
rammt sie Harpunen in den eisigen Boden von
67P. Bis spätestens Ende 2015 (5) wird der
Roboter den Kometen untersuchen.
Jupiter
67P
4100 m
2500 m
Matterhorn
4478 m
Landezone Agilkia
Bietet viel Sonne für
Philaes Solarzellen
Distanz zur Erde:
502 Mio. Kilometer
3
2025
4
Mars
2
Komet 67P
Kometen sind so alt wie
das Sonnensystem. Sie
bestehen aus Eis, Staub
und lockerem Gestein.
67P kreist binnen
sechseinhalb Jahren
einmal um die Sonne.
2023
2020
2019
Deep Space Industries
Bereits in acht Jahren will
das Start-up aus den
USA Metalle und Wasser aus
Asteroiden gewinnen.
Asteroid Redirect Mission
Die Nasa will einen sieben Meter großen
Himmelsbrocken mit einem Raumtransporter
abschleppen und in eine Mondumlaufbahn bugsieren.
Nächstes Ziel: Asteroiden
Sie enthalten Schätze aus Gold, Platin oder
Wasser – Asteroiden sind das nächste Ziel der
Raumfahrt. Diese Missionen planen Weltraumagenturen
und private Raumfahrtfirmen:
Hayabusa 2
Die staatliche japanische Sonde landet
auf dem Asteroiden 1999 JU3
und bringt Gestein zur Erde zurück.
New Horizons
Die Sonde der US-Weltraumbehörde Nasa
fliegt hinaus zum Zwergplaneten Pluto
und soll dort Asteroiden fotografieren.
Planetary Resources
Das Start-up aus den USA will Rohstoffe im
All schürfen – und könnte schon 2020 eine erste
Sonde zu einem Asteroiden schicken.
OSIRIS-REx
Der Nasa-Roboter soll 2016 starten und sieben Jahre
später Gesteinsproben vom 500 Meter großen Asteroiden
Bennu zur Erde bringen.
Ein 500 Meter großer Asteroid enthält...
*
...Platin im Wert von 2,9 Billionen
Dollar – 174-mal so viel, wie pro Jahr
auf der Erde geschürft wird.
...Wasser im Wert von 5 Billionen
Dollar. Derzeit kostet es 20000
Dollar, einen Liter Wasser von der
Erde in den Weltraum zu bringen.
ILLUSTRATION: CYPRIAN LOTHRINGER
WirtschaftsWoche 10.11.2014 Nr. 46 Redaktion: Andreas Menn
93
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Technik&Wissen
Trabbi wiederbelebt
AUTO | Das US-Unternehmen Local Motors will mit Wunschvehikeln
aus dem 3-D-Drucker die Pkw-Produktion revolutionieren.
die Karosse fertig war. Grund für diese
drastisch beschleunigte Produktion ist der
enorme Leistungssprung der 3-D-Drucker.
Auch wenn der Strati an eine Kreuzung
aus Strandbuggy, VW Käfer und Smart
Roadster erinnert und Kritiker die teils
noch welligen Oberflächen bespötteln –
der Wagen fährt. Der US-Journalist Lance
Ulanoff lenkte ihn durch New York und befand,
„das Plastik-Chassis fühlt sich extrem
stabil an“. Gründer Rogers strotzt denn
auch vor Zuversicht: „Tesla hat den Elektroantrieb
weltberühmt gemacht – wir werden
das ganze Auto verändern.“
Was John Jay Rogers plant, klingt
in der von Großkonzernen dominierten
Autowelt wie ein Totalschaden
mit Ansage. Der 40-jährige Finanzanalyst
mit dem markanten Kinn
und dem militärisch kurzen Haarschnitt
will das Geschäftsmodell der Branche mit
seinem Start-up Local Motors kurzerhand
auf den Kopf stellen. Statt der üblichen
Großserien von Zigtausenden Fahrzeugen
will der vor Selbstbewusstsein strotzende
Harvard-Absolvent individuelle
Autos exakt nach Kundenwunsch in Rekordzeit
produzieren. Ganz gleich, wie
klein der Kundenkreis ist.
Ein erster spektakulärer Schritt ist dem
Mann, den US-Medien bereits als Henry
Ford des 21. Jahrhunderts feiern, gerade
geglückt. Der Strati, ein fahrfähiges E-Mobil
entstand in nur fünf Tagen – auf einem
3-D-Drucker. Während Monteure sonst
Wagen aus rund 10 000 Einzelteilen zusammensetzen,
besteht der Buggy-artige
Renner, Ende September in Chicago vorgestellt,
aus nur 50 Komponenten.
In 44 Stunden schmolz ein 3-D-Drucker
in der Größe eines Schiffscontainers 227
Lagen des schlagfesten Kunststoffs Acrylnitril-Butadien-Styrol
(ABS) übereinander.
15 Stunden dauerte es dann, die Grate per
CNC-Fräsen zu entfernen. Noch zwei Tage
später – nach dem Einbau von Batterie,
Schnell gemacht In 44 Stunden formt ein
schiffscontainergroßer Drucker (oben) die
Bauteile fürs Kunststoff-Auto Strati (unten)
Elektronik und 45-Kilowatt-Elektromotor
aus dem Renault Twizy – war der Wagen
fertig.
So flott ging das noch nie. Und zwar
nicht nur verglichen mit dem traditionellem
Autobau – bei dem zwischen den ersten
Entwürfen und fertigen Fahrzeugen
schon mal vier Jahre Entwicklung liegen.
Selbst beim Urbee 2, einem der ersten mit
3-D-Druckverfahren produzierten Pkw-
Prototypen, brauchten die Maschinen vor
zwei Jahren noch rund 2500 Stunden, bis
In zehn Jahren
sollen mehr als
100 Minifabriken
Autos produzieren
EXPANSION NACH EUROPA
Tatsächlich stecken in seinem Geschäftsmodell
weitere Innovationen. Local Motors
mit Sitz in Arizona und Massachusetts
hat nur rund 100 Mitarbeiter, nutzt aber die
Ideen einer Online-Community von mehr
als 45 000 Entwicklern aus 130 Ländern.
Darunter sind Ingenieure und Techniker
ebenso wie Amateure, die auf alle Baupläne
zugreifen und sie weiterentwickeln können.
Schreibt ein Kunde auf der Plattform
von Local Motors sein Wunschfahrzeug
aus, werden sie aktiv: Wer liefert das beste
virtuelle Concept Car? Für die überzeugendsten
Lösungen gibt es jeweils ein paar
Tausend Dollar aus dem Projektbudget.
Die Fahrzeuge will Rogers nicht in großen
Werken bauen wie etablierte Autohersteller,
sondern in Kleinfabriken voller
3-D-Drucker. Die ersten stehen in Phoenix
und in Las Vegas. Weitere, auch in
Deutschland, sollen folgen. „In zehn Jahren
wollen wir mehr als 100 Standorte haben“,
sagt Damien Declercq, der gerade in
Berlin die Europa-Dependance von Local
Motors aufbaut. Ob Pizzawagen, Strandbuggy
oder Oldtimer wie der Trabi – alles
ließe sich so schnell dezentral produzieren.
Das US-Militär interessiert sich bereits
für die schnelle Entwicklung von Sonderfahrzeugen,
Autohersteller beäugen die
Idee dagegen noch skeptisch. Allein BMW
nutzte die Plattform von Local Motors vor
zwei Jahren, um Ideen für künftige Fahrzeugmodelle
zu sammeln. Mehr als 400 innovative
Konzepte kamen so zusammen.
Rogers dagegen will den Strati schon
kommendes Jahr im Handel haben – zu
Preisen von rund 18 000 Euro. Dafür allerdings
braucht er nicht nur gefälligere Oberflächen.
Viel wichtiger ist, dass die gedruckten
Autos bei einem Unfall nicht wie
Papier in sich zusammenfallen. Mit den
Tests will Rogers jetzt beginnen.
n
juergen.rees@wiwo.de
94 Nr. 46 10.11.2014 WirtschaftsWoche
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VALLEY TALK | Googles Kreative erfinden die
Zukunft. Doch bei einem ganz gegenwärtigen
Problem versagen sie. Von Matthias Hohensee
Internet aus der Kaserne
FOTOS: LOCAL MOTORS/NYKO DE PEYER (2), JEFFREY BRAVERMAN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE
Im Januar 2002 hatte ich mein erstes
Interview mit Eric Schmidt als neuem
Google-Chef. Sechs Monate zuvor
hatte er von Gründer Larry Page übernommen.
Das Start-up zählte da 350 Köpfe,
die in zweistöckigen Baracken in einem
Industriepark in Mountain View arbeiteten.
Seine Aufgabe, erzählte mir Schmidt,
sei, die Leute „süchtig nach Google zu
machen“. Das überraschte nicht.
Wohl aber seine Reaktion auf die Frage,
ob er seinen Leuten das Arbeiten von zu
Hause aus gestatten werde? Immerhin setzten
damals zum Beispiel der Computerhersteller
Sun Microsystems und der Telekommunikationskonzern
Cisco auf Heimarbeit,
um die knappen Büroflächen im teuren
Silicon Valley besser auszulasten.
Schmidt hingegen hielt das für kontraproduktiv:
„Die Leute müssen praktisch
aufeinander sitzen, nur dann kommt die Arbeit
wirklich voran.“ Er bot seinen Mitarbeitern
damals schon Massagen am Arbeitsplatz
an und beschäftigte einen eigenen
Koch. Niemand sollte das Büro verlassen
müssen. Eine Rundumversorgung, die
Google später durch Friseur, Fitnessstudio,
Kleiderreinigung und Buffets erweiterte.
Das Diktat, dass möglichst viele Mitarbeiter
beisammenhocken sollen, gilt bis heute.
Nicht nur bei Google. Facebook konzentriert
seine Mitarbeiter im Hauptquartier in
Menlo Park und lässt gegenüber eine neue,
von Frank Gehry entworfene Zentrale errichten.
Apples neuer, von Sir Norman Forster
gestalteter, Ufo-förmiger Konzernsitz
soll 14 000 Mitarbeiter fassen.
Es klingt widersinnig: Ausgerechnet die
Unternehmen, die dank Internet die Kommunikation
von überallher ermöglichen und
propagieren, kasernieren ihre eigenen Mitarbeiter.
Aber Google, Apple und Facebook
sind erfolgreich. Cisco dagegen plagen
Wachstumsschwierigkeiten. Sun
Microsystems gibt es nicht einmal mehr.
Doch das vermeintliche Erfolgsmodell
hat Grenzen. Das zeigt sich in Mountain
View, wo Google jeden Quadratmeter Gewerbefläche
rund um sein aktuelles und
künftiges Hauptquartier aufgekauft hat, um
die Mitarbeiterzahl dort von 13 000 auf
24 000 auszubauen. Etwa 600 Millionen
Dollar hat Google in den vergangenen drei
Jahren dafür ausgegeben. Doch die Infrastruktur
der ehemaligen Kleinstadt hält mit
der Google-Expansion nicht Schritt.
TEURE FLUCHT VOR DEM CHAOS
Auch das Herankarren der Mitarbeiter aus
San Francisco mit den berühmt-berüchtigten
Google-Bussen ist keine Lösung. Das
tägliche Verkehrschaos auf der Hauptverkehrsader
Highway 101 und rund um den
Google-Campus ist für die Mitarbeiter ein
Grund, dichter an oder gleich ganz nach
Mountain View zu ziehen.
Dadurch hat sich der durchschnittliche
Hauspreis seit dem Zuzug Googles vor 13
Jahren auf 1,1 Millionen Dollar verdoppelt.
Die Durchschnittsmiete am Ort beträgt fast
4000 Dollar pro Monat. Und wo die Personalabteilung
von Google für Manager Wohnungen
mietet und gleich noch die Renovierung
organisiert, haben normale Mieter
gleich gar keine Chance mehr. Für die klingt
es wie Hohn, wenn der inzwischen an die
Google-Spitze zurückgekehrte Gründer
Larry Page in einem Interview befand, ein
Haus im Silicon Valley solle nicht mehr
als 50 000 Dollar kosten. Zwar ist im Süden
der Region noch Platz. Doch schon jetzt
ist das Trinkwasser viel zu knapp. Ganz zu
schweigen von der Verkehrsdichte.
Damit wird klar: Ausgerechnet Google,
dessen Forscher sonst – sei es bei selbstfahrenden
Autos oder digitaler Gesundheitsanalytik
– weit in die Zukunft schauen,
hat für sein drängendstes Problem derzeit
keine Lösung. Vielleicht bekommt Telearbeit
ja doch noch eine Chance, selbst wenn
Larry Page bei dem Thema ganz auf der
Linie seines Vorgängers Schmidt ist: weil er
schlicht keine Alternative hat.
Der Autor ist WirtschaftsWoche-Korrespondent
im Silicon Valley und beobachtet
von dort seit Jahren die Entwicklung der
wichtigsten US-Technologieunternehmen.
WirtschaftsWoche 10.11.2014 Nr. 46 95
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Management&Erfolg
In Zukunft CEO
TOP-MANAGERINNEN | Sie sind jung, talentiert, zielstrebig: Während Politik, Verbände und
Unternehmen in einer zunehmend ermüdenden Diskussion über Pro und Contra der
Frauenquote feststecken, machen immer mehr qualifizierte Frauen unbeirrt Karriere.
Auf welche Top-Managerinnen Sie achten sollten.
Hände schütteln, die alten Geschäfte
Revue passieren lassen,
die künftige Beziehung
zwischen Kunde und Lieferant
diskutieren: Eigentlich
wollte Theresa von Fugler ganz in Ruhe bei
der Betreiberin des Kosmetikinstituts in der
Nähe von Karlsruhe vorbeischauen. Eben
so, wie sie es seit ihrem Start als Geschäftsleiterin
für den Bereich professionelle
Haut-, Nagel- und Körperpflege im
Deutschland-Geschäft von L’Oréal Ende
September regelmäßig tut. Von Fuglers Ziel:
zusammen mit ihren Außendienstmitarbeitern
ein besseres Gefühl bekommen für
Kundenwünsche und Produktpalette. Vor
allem die der Marken Decléor und Carita,
die erst seit Mai zum Portfolio des französischen
Kosmetikkonzerns gehören.
Doch was als routinierter Antrittsbesuch
geplant ist, wird schnell zum Krisengespräch:
Für mehrere Hundert Euro hatte die
Kosmetikerin Tagescremes von Decléor bestellt.
Die Verpackungen der hochwertigen
Produkte aber sind völlig eingedrückt. Von
Fugler entschuldigt sich bei der Kundin und
spricht offen über die Probleme, wenn Marken
den Eigentümer wechseln. In diesem
Fall im L’Oréal-Logistikzentrum in Karlsruhe,
in dem bisher nur Haarpflege-, aber keine
Kosmetikprodukte verpackt wurden.
Von Fugler fotografiert die zerknautschte
Schachtel, schickt das Foto an den verantwortlichen
Manager und fragt direkt nach,
wie die Ware künftig unbeschadet beim
Kunden ankommen könne. 24 Stunden
später haben die Logistiker eine Lösung:
Ein zusätzlicher Karton im Karton verhindert
nun, dass die Schachteln im Paket verrutschen
und zerknautschen.
„Gerade in einer solchen Übergangsphase
kommen viele kleine Herausforderungen
zusammen“, sagt von Fugler. „Da muss
man rasch und kreativ reagieren.“
Jung, talentiert, zielstrebig: Während Politik,
Verbände und Unternehmen in einer zunehmend
ermüdenden Diskussion über Pro
und Contra der Frauenquote feststecken,
machen immer mehr hoch qualifizierte
Frauen unbeirrt Karriere. Übernehmen
hochrangige Managementposten und Aufsichtsratssitze
in global agierenden Unternehmen.
Schaffen durch ihren Aufstieg Fakten,
statt sich im Klein-Klein einer leidigen
»Wir sind die
erste Generation,
die den Bann
brechen kann«
Theresa von Fugler
Quotendiskussion aufzureiben. Vertrauen
lieber ihrem Können statt darauf, dass ein
Gesetz den Weg nach oben frei räumt.
Frauen wie Theresa von Fugler, die die
Frauenquote schlicht für „schwierig“ hält.
„Wir sind die erste Generation, die die
Chance hat, den Bann zu durchbrechen“,
sagt sie. „Eine Generation, die wirklich erfolgreiche
Frauen hervorbringt.“
Frauen wie Monika Wiederhold, Managerin
bei Lufthansa Cargo, die schon im
Mathematikstudium oft allein unter Männern
war und „die Quote nie für ein Thema
hielt“ (siehe Seite 99).
Oder Frauen wie Gloria Glang, beim US-
Lackhersteller PPG Industries, einem global
tätigen Konzern mit Milliardenumsatz,
für Strategie und Zukäufe zuständig. „Dass
Leistung ein wichtiges Kriterium ist, gefällt
mir an unserer Unternehmenskultur gut“,
sagt die 34-Jährige. „Geschlecht und Alter
spielen kaum eine Rolle“ (siehe Seite 101).
Zugegeben: Top-Managerinnen wie von
Fugler, Wiederhold oder Glang sind in
deutschen Unternehmen nach wie vor eher
die Ausnahme als die Regel. Laut aktueller
Erhebungen der Initiative für mehr Frauen
in die Aufsichtsräte (Fidar) sind nur knapp
6 Prozent der Vorstandsposten und 18 Prozent
der 1669 Kontrollposten der in Dax,
MDax, TecDax und SDax gelisteten Unternehmen
mit Frauen besetzt. Noch.
Denn geht es nach der Bundesregierung,
wird sich das ab 2016 ändern: Im November
soll sich das Kabinett mit dem Gesetzentwurf
zur Frauenquote befassen, damit sie
2015 in Kraft treten kann. Demnach sollen
alle börsennotierten und voll mitbestimmungspflichtigen
Unternehmen die Zahl
ihrer weiblichen Aufsichtsräte auf 30 Prozent
anheben. Das heißt: Alle frei werdenden
Mandate müssen so lange an Frauen
verteilt werden, bis die Zielmarke geknackt
ist. Betroffen wären etwa 100 Unternehmen,
davon 24 der 30 größten börsennotierten
– allein diese müssten in den kommenden
Jahren 38 Aufsichtsratsposten an
Frauen vergeben –, also rund ein Drittel
mehr als derzeit (siehe Seite 102).
Zahlreiche Unternehmen stellen sich
schon jetzt darauf ein: Adidas hat Henkel-
Personalvorstand Kathrin Menges und
Katja Kraus, Geschäftsführerin bei der
Werbeagentur Jung von Matt/Sports, in
»
FOTO: FRANK BEER FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE
96 Nr. 46 10.11.2014 WirtschaftsWoche
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Theresa von Fugler, 36
Geschäftsleiterin
professionelle Pflegeprodukte
L’Oréal
»Hinterfragt
sich und ihre
Entscheidungen
permanent«
WirtschaftsWoche 10.11.2014 Nr. 46 97
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Management&Erfolg
» sein Kontrollgremium geholt, im Bayer-
Aufsichtsrat sitzt seit Ende April Henkelnes
Abends völlig unvermittelt. Ein Feuerlöscherjob,
stand doch die dortige Landesgesellschaft
ringstes Problem: Vor allem muss sie die
Geschäfte transparenter machen und die
Aufsichtsratschefin Simone Bagel-Trah.
kurzfristig ohne Führung da. Prozesse dokumentieren. „Die Zeit war
Die Deutsche Post hat Melanie Kreis vor
wenigen Tagen zum Personalvorstand befördert
und Outdoor-Unternehmen Jack
Wolfskin Melody Harris-Jensbach an die
Spitze gesetzt.
„Für Aufsichtsräte wie Vorstandsetagen
gibt es ausreichend qualifizierte Bewerberinnen“,
sagt Personalberater Heiner Thorborg,
der vor sieben Jahren das Frauennetzwerk
Generation CEO gegründet hat,
dem mittlerweile 160 hochkarätige Frauen
angehören. Darunter Sandrine Piret-Gérard
(WirtschaftsWoche 45/2013), die im
Februar zur Deutschland-Chefin des Pharmakonzerns
Hexal aufstieg.
Dass solche Personalien künftig eher die
Regel werden, bestätigt auch eine internationale
Langzeitstudie der Unternehmensberatung
Strategy&. „Wir erwarten, dass
2040 mehr als ein Drittel aller neu besetzten
CEO-Posten an Frauen gehen“, sagt
Klaus-Peter Gushurst, Sprecher der Geschäftsführung
von Strategy&.
Dass sie schon früh das Zeug für eine
steile Karriere mitbringt, beweist Theresa
von Fugler mit Anfang 30: Damals arbeitet
die promovierte Biochemikerin in Shanghai
für den L’Oréal-Konkurrenten Henkel,
bei dem sie fünf Jahre zuvor als Markenmanagerin
angeheuert hatte. „Möchtest du
Länderchefin für Vietnam werden?“, fragte
„Du kannst die Nacht drüber schlafen.“
Muss sie nicht. „Ich war sofort begeistert“,
erinnert sich von Fugler. Dabei plagen
sie nicht nur rückläufige Absatzzahlen,
sondern auch regelmäßige Stromausfälle
im Büro und Ratten in der Fabrik.
HELMFESTES HAARGEL
„In dieser Zeit hat sie unter Beweis gestellt,
wie stark sie ist“, sagt Personalberater Thorborg.
„Und dass sie sich unheimlich gut auf
neue Situationen einstellen kann.“
So auch bei der Einführung eines neuen
Haargels, das andernorts beliebt ist, aber in
Vietnam zum Ladenhüter verkommt. Fuglers
Erkenntnis, nach langen Gesprächen
mit ihrem vietnamesischen Marketingleiter:
Weil Motorräder in Vietnam Fortbewegungsmittel
Nummer eins sind und die
Helme nach Auffassung der Kunden ohnehin
jede Frisur zerstörten, ist Haargel kein
Thema. Von Fuglers Lösung: Riesige Plakate
in den größten Städten des Landes. „Wir
haben unser Gel für helmfest erklärt.“ Der
Umsatz des Produkts steigt – und trägt als
eines von vielen Puzzleteilen dazu bei, das
kränkelnde Geschäft zu beleben.
Doch nicht nur die Konsumenten ticken
in Vietnam anders als in Europa – auch die
Mitarbeiter. Dass von Fugler an einem ihrer
ersten Tage über einen Mitarbeiter stolpert,
strapaziös“, sagt von Fugler. Weiß seitdem
aber auch: „Nach Vietnam schaffe ich alles.“
Lohn ihrer akribischen Arbeit: ein Turnaround
nach nicht mal sechs Monaten.
Und das Angebot, die Stelle als Vietnam-
Chefin unbefristet zu übernehmen. Doch
sie lehnt ab. Geht erst mehrere Monate zurück
in ihren alten Job, um danach ein halbes
Jahr durch Asien zu reisen und in Laos
Englisch zu unterrichten. Im Herbst 2010
kehrt sie nach Deutschland zurück, übernimmt
bei Henkel die internationale Markenführung
für Haarfärbemittel und wechselt
ein Jahr später als Marketingdirektorin
zum Konkurrenten L’Oréal. „Ich bin nicht
ängstlich, aber ich habe damals erkannt,
dass die Zeit noch nicht reif war“, sagt die
Managerin. „Wenn man Menschen zu früh
überfordert, hilft das niemandem.“
Diese gesunde Selbstwahrnehmung hat
sie sich bis heute bewahrt. „Sie hört nie
auf, sich und ihre Entscheidungen zu hinterfragen“,
sagt von Fuglers Ex-Chefin Jutta
Langer von L’Oréal.
Unumstößlich ist dagegen ein Termin
Anfang 2015 – die Geburt ihres ersten Kindes.
Läuft alles nach Plan, ist sie im Frühjahr
nach zwei Monaten Babypause wieder
zurück. Wie sie die Kinderbetreuung neben
dem Vollzeitjob organisiert, weiß sie
zwar im Detail noch nicht. „Aber nach Vietnam
sie der damalige Asien-Pazifik-Chef des der auf dem Boden im Besprechungsraum
werde ich auch das schaffen.“ n
Düsseldorfer Konsumgüterherstellers ei- seinen Mittagsschlaf hält, ist noch ihr ge-
kristin.schmidt@wiwo.de, manfred engeser
Gekommen, um zu bleiben Die neuen Talente im Frauennetzwerk Generation CEO
CHRISTINA SCHROTBERGER
Live Holding
Seit Juni 2013 Marketingdirektorin
NORA KLUG
BSH Bosch und Siemens
Haushaltsgeräte
leitet die Rechtsabteilung
seit
Oktober 2013
NINA SMIDT
Zeit-Stiftung
Seit 2011 verantwortlich
für strategische
Planung und
Internationalisierung
ANNE GREWLICH
Ashurst
Seit 2008 Partnerin und Spezialistin
für Bank- und Finanzrecht
LAURA MEYER
NZZ Mediengruppe
Seit Januar 2014 Leiterin Großkundengeschäft,
Verkaufsstrategie und -prozesse
98 Nr. 46 10.11.2014 WirtschaftsWoche
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Monika Wiederhold, 46
Leiterin Produktmanagement
und Innovation
Lufthansa Cargo
»Kann blitzschnell
komplexe Zusammenhänge
zu einer
Idee verknüpfen«
FOTOS: JÜRGEN FRANK, PR (4), CHRISTOF MATTES FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE
Kreative Analytikerin
Der letzte Pinselstrich ist getan und Monika
Wiederhold zufrieden mit dem Ergebnis:
In vier gleich große Quadrate hat
sie das Gemälde aufgeteilt, jedes geprägt
von roten Kreisen unterschiedlicher Größe,
platziert auf farblich unterschiedlichen
Untergründen – mal in Orange-Rot
gehalten, mal gelb, mal grün, mal blau dominiert.
Was auf den ersten Blick wie ein nettes,
abstraktes Farbenspiel wirkt, ist Wiederholds
Versuch, den Begriff Zeitmanagement
auf Leinwand zu bannen. Die Managerin
von Lufthansa Cargo malt seit mehr
als zehn Jahren Bilder über eher ungewöhnliche
Themen: Mathematische
Theorien in Öl oder Acryl gehören zu ihren
Werken ebenso wie ein Gemälde über
Change Management. Titel des Gemäldes
über den optimalen Umgang mit der Zeit:
„Golfbälle im Bierglas.“
Inspiriert hat sie zu der Arbeit eine
Anekdote, die ihr eine Freundin per
E-Mail geschickt hatte und die sie immer
wieder gerne erzählt: Ein Professor tritt
vor seine Studenten und füllt wortlos Golfbälle
in einen Krug. Der scheint schon voll
zu sein, doch der Mann schüttet Kies dazu,
rüttelt so lange, bis sich die Steinchen
in die Lücken zwischen die Golfbälle verteilen.
Dasselbe wiederholt er mit feinem
Sand. Zum Schluss gießt er eine Dose Bier
in den Krug. Was die Geschichte lehre?
Nun, zwei Dinge: Erledige die großen,
wichtigen Aufgaben immer zuerst und
nutze die übrige Zeit für die kleineren, weniger
dringenden Anliegen. Und zweitens:
Ein Bier geht immer noch rein. Wiederhold
lacht.
»
WirtschaftsWoche 10.11.2014 Nr. 46 99
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Management&Erfolg
» Abgesehen davon, dass sie lieber
gar mit Maschinenbau und Atomphysik
Wein als Bier trinkt: So wie auf ihrem Gemälde
organisiert die zweifache Mutter seit
an die Phase nach dem Abitur. Schließlich
geliebäugelt“, erinnert sich die Managerin
»Wenn man seinen
Jahren ihren Alltag aus Arbeit, Familie –
Job mit Leidenschaft
macht, läuft Abitur in diesem Fach mit Höchstpunkt-
entscheidet sie sich fürs Mathematik-Studium
– warum auch nicht, wenn man das
und der Kunst. „Meine Bilder entstehen
nicht spontan“, sagt Wiederhold. „Ich feile
lange am Konzept. Sobald das aber steht,
zahl besteht?
setze ich es zügig um.“ es von alleine«
„Über die Jahre hat sie sich auf ihre Stärken
fokussiert“, lobt Wilken. „Sie kann
In Freizeit wie im Beruf verbindet die
Monika Wiederhold
studierte Mathematikern genau diese zwei
blitzschnell komplexe Zusammenhänge zu
scheinbar gegensätzlichen Welten – Analyse
und Kreativität. „Das macht sie so besonders“,
sagt der ehemalige Deutsche- der Automobilhersteller sollen Kunden des
einer Idee verknüpfen und verschiedene
Perspektiven einnehmen.“
Dazu nutzt sie auch ihre unterschiedlichen
Bank-Manager Bernd Wilken, der Wiederhold
Logistikunternehmens künftig ihren
Mandate. Ob als Mitglied im Kunden-
als junge Führungskraft gecoacht hat
und seitdem Kontakt zu ihr hält.
Transport zusammenstellen können wie
bei einem Baukasten. Muss die Ware gekühlt
werden? Wie schnell müssen die Güter
beirat der Commerzbank, wo sie zweieinhalb
Jahre beobachten konnte, wie die
Bank ihre Kunden miteinbezieht oder die
IHR GOLFBALL-PROJEKT
Seit fast 20 Jahren arbeitet die 45-jährige
Managerin für den Lufthansa-Konzern.
Zuerst in der Netzplanung in Frankfurt,
dann viereinhalb Jahre am Standort in Norderstedt
nahe Hamburg und nun seit 2001
wieder im hessischen Hauptquartier. Hier
verantwortete sie unter anderem die Einsatzpläne
für 17 000 Crewmitglieder, später
prägte sie als stellvertretende Leiterin die
Konzernstrategie. Wiederholds Erfolgsrezept:
„Wenn man seinen Job mit Leidenschaft
macht, dann läuft es von alleine.“
Seit dem Spätsommer 2011 verantwortet
sie bei Lufthansa Cargo unter anderem das
Beschwerdemanagement sowie die Bereiche
Innovation und Spezialtransporte, etwa
von Tieren oder Medikamenten.
Eines ihrer großen Golfball-Projekte: der
Aufbruch des Konzerns ins digitale Zeitalter.
Zum Beispiel über einen Online-Konfigurator:
Ähnlich wie auf den Web-Seiten
am Zielort sein? Soll der Transport kabeirat
meraüberwacht sein?
Um Antworten auf diese und andere Fragen
zu erhalten, legt Wiederhold Wert auf
den Austausch mit Kunden, organisiert
zweimal jährlich ein Innovationsforum.
Diskutiert die laufende Zusammenarbeit
und vereinbart Projekte, um die Kooperation
zu verbessern. Mit Unternehmen aus
dem Anlagenbau etwa suchen sie und ihr
Team derzeit nach Wegen, wie bei einem
Notfall in einer Fabrik Ingenieure der Anlagenbauer
mit Ersatzteilen noch schneller
an den Ort des Geschehens kommen.
„Monika Wiederhold ist blitzgescheit“,
sagt Ex-Mentor Wilken.
Und das nicht nur auf einem Gebiet:
Schon in der Schule wollte sie am liebsten
kein Fach abwählen. „Ich hätte gerne etwas
mit Sprachen studiert, hatte aber auch
einen Studienplatz für Architektur in
Darmstadt sicher und zwischendurch so-
Übernahme der Dresdner Bank managt.
Oder als Aufsichtsrätin beim Airmail Center
Frankfurt, an dem ihr Arbeitgeber neben
Deutscher Post und Fraport beteiligt ist.
„Als Managerin muss ich Entscheidungen
fällen und das Unternehmen voranbringen.
Im Aufsichtsrat muss ich mich mit
meinem Umsetzungsdrang zurückhalten,
schließlich geht es dabei um Aufsicht und
Rat“, beschreibt Wiederhold den Reiz der
zusätzlichen Aufgabe.
Eine dritte Perspektive eröffnet sich Wiederhold
als Mentorin von Nachwuchskräften.
Mit ihnen bespricht sie nämlich nicht
nur deren Fragen, sondern fordert auch
Impulse für sich ein. „Die Meinung einer
anderen Generation ist mir sehr wichtig“,
sagt Wiederhold, „vor allem in Fragen zur
Digitalisierung.“
Das gilt auch zu Hause, wenn sie mit ihrer
kleinen Tochter Geisterfigürchen produziert
– an ihrem privaten 3-D-Drucker.
ANNA-LENA JEPPSSON
MAN Diesel & Turbo
Seit 2012 zuständig für den
Bereich Strategie
NURTEN ERDOGAN
Commerzbank
Sie leitet seit Januar 2014
den Bereich Fusionen
KERSTIN
WAGNER
Deutsche Bahn
Leitet seit
2012 die Bereiche
Recruiting
und Arbeitgebermarke
GABRIELE RAM-BEYER
Salzgitter
Leitet seit Februar 2011 das
Konzerncontrolling
100 Nr. 46 10.11.2014 WirtschaftsWoche
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Gloria Glang, 34
Leiterin Strategie
und Fusionen
PPG Industries
Europe
»Hat keine
Angst vor
großen
Namen«
FOTOS: PR (3), LUX-FOTOGRAFEN.DE/PHILIPP VON RECKLINGHAUSEN, BERNHARD HASELBECK FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE
Alles im Lack
Wie entwickelt sich die Altersstruktur unserer
Gesellschaft? Wie verändert die Digitalisierung
unsere Art, zu wirtschaften, zu konsumieren?
Und was bedeutet das alles für
unser weltweit tätiges Unternehmen?
Wenn Gloria Glang von ihren „globalen
Hobbys“ spricht, meint sie weder Golfspielen
in Schottland, einen Segeltörn in der
Karibik oder einen Kochkurs für thailändische
Küche. Sondern zum Beispiel die Auseinandersetzung
mit den Auswirkungen
weltweiter Megatrends auf die Strategie ihres
Arbeitgebers – den amerikanischen
Lackhersteller PPG Industries.
Ihr jüngstes Hobby dieser Art: Wie können
wir uns mithilfe von Risikokapital am
besten an Start-ups beteiligen?
Denn ein Weltkonzern wie PPG, so die
Überzeugung der 34-jährigen Managerin,
kann „auf Dauer nur innovativ sein, wenn
er Partnerschaften mit und Übernahmen
von Start-ups in Betracht zieht“.
Ihre Position erläutert Glang im Sommer
ihrem Vorstandsvorsitzenden Charles
Bunch, den sie nur Chuck nennt. Erklärt
ihm, wie PPG mithilfe kleiner, junger Unternehmen
schnell auf Trends reagieren und
an innovative Technologien kommen
könnte. Präsentiert ihm eine detaillierte
Marktanalyse und kann ihn nach nur fünf
Minuten von dem Projekt überzeugen.
Heute, wenige Monate später, ist Glang
schon auf der Suche nach Akquisitionen
aus der Start-up-Szene – weltweit.
»
WirtschaftsWoche 10.11.2014 Nr. 46 101
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Management&Erfolg
Unter Plan
So viele Frauen fehlen in den Aufsichtsräten*
bei einer Frauenquote von 30 Prozent
20 Mitglieder:
Bayer
BMW
Commerzbank
Continental
Daimler
Deutsche Bank
Deutsche Post
Lufthansa
Munich Re
RWE
Siemens
Telekom
ThyssenKrupp
Volkswagen
16 Mitglieder:
Henkel
K+S
Merck
Zwölf Mitglieder:
Adidas
Beiersdorf
Fresenius
Heidelberg-
Cement
Infineon
Lanxess
Linde
30-Prozent-Grenze
Legende:
Arbeitnehmerbank
Frauen
Männer
Anteilseignerbank
Frauen
Männer
* Aufsichtsräte der
Dax 30, die unter
das Quotengesetz
fallen würden;
Quelle: Hans-
Böckler-Stiftung,
eigene Recherche
Lesebeispiel: Im Aufsichtsrat von Bayer sitzen je zwei Frauen
auf Arbeitnehmerseite ( ) und auf Anteilseignerseite ( ).
Um die 30-Prozent-Quote (rote Grenze) zu erfüllen, muss je
ein Mann ( ) weichen.
»
„Das gehört zwar nicht zu meiner Rollenbeschreibung“,
sagt die Managerin,
„aber ich hatte ein paar gute Ideen, die ich
nicht für mich behalten wollte.“
Eigentlich ist die Betriebswirtin seit Januar
2013 beim Chemiekonzern für die Strategieentwicklung
in Europa, dem Nahen Osten
und Afrika zuständig. Macht sich in diesen
Regionen auf die Suche nach Übernahmekandidaten,
lotet Beteiligungen aus –
mit dem globalen Geschäft hat sie nichts zu
tun. Eigentlich.
VORBEREITUNG IST ALLES
Aber Dienst nach Vorschrift war für Glang
noch nie eine Option – schon als sie nach
dem Abitur ihr duales Studium am BASF-
Standort in Münster begann: Gerade neun
Monate war die damals 20-Jährige an Bord,
als sie in der Chefetage anklopfte
und dem Vorstandsvorsitzenden
der Lacksparte vorschlug, eine
Wettbewerbsdatenbank anzulegen.
In welchen Kundensegmenten
tummeln sich Wettbewerber?
Welche Lacke produzieren sie?
Was bedeutet das für BASF?
Fast zehn Jahre arbeitet Glang
in verschiedenen Positionen bei
BASF. Nach ihrem dualen Studium wechselt
sie in die damals neu gegründete interne
Beratung des Konzerns am Stammsitz in
Ludwigshafen, übernimmt anschließend
die Betreuung von einem der zehn größten
Kunden des Chemiekonzerns.
Mit 29 Jahren heuert sie als Beraterin bei
KPMG in Frankfurt an. Akquiriert neue
Kunden – obwohl diese Aufgabe eigentlich
den Senior Managern vorbehalten ist.
„Ich hatte das Gefühl, da könnte noch
mehr getan werden“, lautet ihre Haltung,
die nicht bei allen Kollegen auf Gegenliebe
stößt, ihre Vorgesetzten aber überzeugt.
„Wir haben sie schon nach wenigen Monaten
zur Senior Managerin befördert“, sagt
Chris Stirling, der damals bei KPMG die
Chemieindustrie auf europäischer Ebene
verantwortete. „Normalerweise dauert das
mindestens ein Jahr, aber sie hatte das Talent
und keine Angst vor großen Namen.“
So ruft sie auf der Suche nach dem
nächsten großen Auftrag einfach im Vorstandsbüro
eines großen Schweizer Chemieunternehmens
an und verlangt erfolgreich
einen Termin mit dem Vorstandsvorsitzenden.
„Ein Nein hab ich schon, ein Ja
kann ich noch kriegen“, kommentiert Glang
ihren Anruf in der Chefetage. Mit Erfolg:
Glang überzeugt den CEO und gewinnt ihn
als neuen Kunden.
Audio
Den Rat ihres
Lebens verraten
die Protagonistinnen
in unserer
App-Ausgabe
„Vorbereitung ist alles“, fasst Glang ihre
Strategie zusammen. Bevor sie Gesprächspartner
angeht, analysiert sie das Unternehmen,
findet heraus, mit welchen Problemen
sich ihr Gegenüber beschäftigt, welche Lösung
sie anbieten kann und wie sie am besten
auf die Menschen zugeht. Da greift die
Frau, im Zeitalter von Computer und E-Mail
aufgewachsen, schon mal zu Füllfederhalter
und Briefpapier, um älteren Vorständen in
konservativen Unternehmen die Ernsthaftigkeit
ihres Anliegens zu demonstrieren.
Schnell landet sie im KPMG-Förderprogramm
für die 30 talentiertesten Frauen in
der europäischen Belegschaft, ihre Karriere
in einem global präsenten Unternehmen ist
vorgezeichnet – und doch wechselt sie. Ihr
Ziel: der Industrielackehersteller Becker, ein
Familienunternehmen mit mehr als 100 Jahren
Tradition. Ihre Aufgabe: die
erste globale Strategie für den Mittelständler
entwickeln.
„Großkonzern, Beratung, Marketing,
Vertrieb – ich hatte bis dahin
schon viel gemacht“, begründet
Glang den Wechsel. „Diese
strategische Aufgabe bei einem
weltweit agierenden Mittelständler
war ein herausfordernder,
nächster Karriereschritt.“
Eigene Vorstellungen klar kommunizieren,
die größten Herausforderungen annehmen:
Das hält Glang seit Kindesbeinen so.
Etwa, als sie sich mit elf Jahren in den Kopf
setzt, mit Springreiten anzufangen. „Damals
haben mir viele Leute gesagt, ich sei zu alt
für eine Sportkarriere“, sagt Glang. „Das hat
mich zusätzlich angespornt.“
Sie trainiert täglich, analysiert mit ihrem
Trainer anhand von Videoaufnahmen, was
sie besser machen kann, nimmt jedes Wochenende
an einem Turnier teil. Schafft es
bis in den Nationalkader. Kurz: „Die schönste
Kindheit, die ich mir vorstellen kann.“
Ehrgeiz, der sie bis heute trägt: Fünf Programme
für Top-Manager hat sie berufsbegleitend
an der französischen Managementschmiede
Insead absolviert – das letzte zum
Thema Risikokapital – Basis ihres jüngsten
Karriereschritts.
„Neue Aufgaben sind das schönste Lob,
das man bekommen kann“, sagt Glang. Auch
ihre nächsten, möglichen Karriereschritte
bespricht sie bereits mit ihren Vorgesetzten.
„Ich sehe Gloria Glang in einigen Jahren
in einem Vorstand, egal, ob bei PPG oder
woanders“, sagt Personalberater Thorborg.
„Sie ist keine, die bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag
wartet.“
n
kristin.schmidt@wiwo.de
FOTOS: MARTIN KROLL, PR (4), KARL MICHALSKI
102 Nr. 46 10.11.2014 WirtschaftsWoche
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ALEXA HERGENRÖTHER
K+S Kali
Geschäftsführerin seit
Juni 2014
EVELINE METZEN
Atlantik-Brücke
Seit Januar 2011 Geschäftsführerin
SABINE ECKHARDT
SevenOne Media
Seit Januar 2013 Geschäftsführerin
MARIA
CONZELMANN
Beiersdorf
Seit Januar
2014 für die
Konzernentwicklung
zuständig
TANJA GABRIELE FALLER
Afrikanische Entwicklungsbank
Seit 2011 Projektleiterin im
Bereich Energie
CHRISTINE THEODOROVICS
Zürich Versicherungs-Aktiengesellschaft
Seit 2013 Vorstandsmitglied Österreich für
den Bereich Lebensversicherungen
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Geld&Börse
Kaufen, wenn die
Schlagzeilen schreien
FONDS | Terrorgefahr, Epidemien und Krieg versetzen die Märkte in Unruhe.
Was vielen Investoren Angst macht, bietet aber auch Chancen. Wie Anleger in
Krisensituationen investieren und moralisch trotzdem sauber bleiben.
Sicher, von der Not anderer Menschen
zu profitieren ist verwerflich.
Krisengewinnler will niemand
sein. Aber: Unternehmen,
die in Krisen Lösungen anbieten,
brauchen Kapital. Und wenn deren
Aktien an der Börse nach oben schießen,
sollen Anleger dieses Geld dann liegen lassen?
Aktuell stehen Unternehmen, die
Schutzanzüge und Gesichtsmasken herstellen,
hoch im Kurs. Ganz so, als müssten
sich künftig nicht nur Ärzte und Pfleger, die
Ebola-Patienten versorgen, in die Plastikungetüme
zwängen, sondern jeder Bürger
ein Exemplar im Schrank haben. Die Folge:
Der Aktienkurs des Schutzanzugproduzenten
Lakeland Industries verdreifachte
sich binnen einer
Woche, als die Ebola-Epidemie
im Oktober die USA erreichte.
Die Aktie von Alpha Pro Tech,
die Gesichtsmasken produzieren,
legte an einem Tag über 30
Prozent zu.
Jede Krise – von Ebola bis
Ukraine – hat ihre Profiteure.
Anleger können sie auf eigene
Faust suchen oder dies Fondsmanagern
überlassen, die Geld
in Sicherheitstechnik, Biotechnologie
oder osteuropäische Aktien investieren.
„Aus kommerzieller Sicht liegt das
Umsatzpotenzial bei Ebola nicht so sehr in
den afrikanischen Entwicklungsländern,
sondern in den Lagerbeständen, die Industriestaaten
für Notfälle aufbauen“, sagt Molekularbiologe
Mario Linimeier, der die
Biotech-Aktienfonds des Münchner Investmentberaters
Medical Strategy lenkt
(siehe Tabelle Seite 108). Um eine Ebola-
Mehr zur Geldanlage
2015 bietet
unsere Konferenz:
www.wiwo-invest
mentgipfel.de/
Ausbreitung in den USA zu verhindern, bestellte
das US-Verteidigungsministerium
160 000 Schutzanzüge. Und es überweist
dem kanadischen Biotech-Unternehmen
Tekmira 140 Millionen Dollar, damit es ein
Medikament herstellt, das die Vermehrung
des Virus im Körper der Infizierten hemmt.
Anfang Oktober schoss die Aktie an einem
Tag um 20 Prozent nach oben.
DER MARKT LEIDET
Wenn sich Krisen verschärfen, profitieren
einzelne Werte, der Dax und die Börse generell
aber leiden. In der zweiten Oktoberhälfte
etwa wurden die Dax-Gewinne des
gesamten Jahres binnen einer Woche zunichte
gemacht: Die Lage im
vom Terror der „IS“-Kämpfer erschütterten
Nahen Osten verschärfte
sich. Deutsche Unternehmen
fürchteten im Russlandgeschäft
um Aufträge, die
Ebola-Angst grassierte, der Internationale
Währungsfonds senkte
seine globale Wachstumsprognose.
Steve Kolano, Investmentstratege
beim Fondshaus
BNY Mellon, blickt deshalb derzeit
primär auf die geopolitische
Entwicklung in Russland und im
Nahen Osten sowie auf den Verlauf der
Ebola-Epidemie. „Das sind Dinge, deren
Richtung sich kaum vorhersagen läßt, die
aber schnell zu massiven Schwankungen
an der Börse führen.“ Seine Botschaft an
die Investoren: „Für Bullenmärkte mit
langfristig steigenden Kursen sind langsame
Anstiege und schnelle Kursverluste typisch.
Eine Chance zum Einstieg in solch
einen Markt hat der Anleger allerdings nur
dann, wenn es gerade viel Lärm gibt.“ Aktuell
bieten vier Kategorien Chancen:
n Aktien von Sicherheitstechnik-Spezialisten,
die von der Angst vor Terror- und
Hacker-Attacken profitieren;
n Biotechnologieunternehmen, die an
Impfstoffen arbeiten;
n Aktien russischer Unternehmen, denen
die Sanktionen zusätzliche
Umsätze bescheren – etwa, weil
sie westliche Importwaren ersetzen
und die Preise steigen;
n Katastrophen-Anleihen (Cat-
Bonds), die Risiken von Versicherern
aus Naturkatastrophen
abdecken. Anleger gewinnen,
wenn die Stürme und Fluten ausbleiben.
Wer sich nicht auf die Suche
nach Einzelwerten machen will,
kann diese Papiere über Fonds kaufen.
Auch die sind riskant, aber das
höhere Risiko kann sich auszahlen:
Während der Dax in diesem Jahr 2,6 Prozent
im Minus liegt, haben Fonds, die sich
auf Sicherheitsthemen konzentrieren, dabei
aber Rüstungsfirmen aus ethischen
Gründen ausklammern, rund 15 Prozent
zugelegt. Bei den Biotech-Fonds ging es im
Schnitt 25 Prozent aufwärts, mit Fonds für
Katastrophen-Anleihen ließen sich 15 Prozent
verdienen. Jeweils rund zehn Prozentpunkte
dieser Renditen stammen aus
Währungsgewinnen des Dollar gegenüber
dem Euro, denn Fonds der Kategorien investieren
stark in Dollar-Papiere.
Chaotische Welt Wenn Krisenmeldungen die
Börsen bewegen, gibt es stets auch Gewinner
»
104 Nr. 46 10.11.2014 WirtschaftsWoche
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105
Geld&Börse
TERRORSCHUTZ: KAMERA LÄUFT
Die Märkte fürchten Anschläge der Organisation
„Islamischer Staat“ („IS“). Vergangenen
Mittwoch stieg der Ölpreis plötzlich
von seinem Vier-Jahres-Tief, nachdem Gerüchte
aufkamen, „IS“-Terroristen könnten
für ein Feuer an einer Ölpipeline in Saudi-
Arabien verantwortlich sein. Nachdem ein
mutmaßlicher Sympathisant der „IS“ ins
kanadische Parlament eingedrungen war,
fielen die Aktienkurse. In Kanada und den
USA werden die Sicherheitskontrollen in
öffentlichen Gebäuden verstärkt. Die Folge:
„Die Ausgaben für die innere Sicherheit
steigen“, sagt Patrick Kolb, der bei Credit
Suisse Aktien von Unternehmen aufspürt,
die mit IT-Sicherheit, Umwelt- und Verkehrssicherheit,
Gesundheits- sowie Kriminalitätsschutz
Geld verdienen.
Kolb hat zum Beispiel den schwedischen
Hersteller von Überwachungskameras, Axis
Communications, in seinem Fonds CS
Equity Global Security. Dank Kameraüberwachung
können Täter, wie beim Boston-
Marathon, schneller gefasst werden. Digitale
Kameras von Axis warnen sogar vor
Gefahren. Sie schlagen etwa in der Sicherheitszentrale
Alarm, wenn ein herrenloser
Koffer an einer Bushaltestelle herumsteht
oder wenn eine Person über eine Mauer
klettert. Börsianer rechnen damit, dass
Axis mit dieser Technik gut verdienen wird.
Sie sind deshalb bereit, an der Börse für
Axis das 25-Fache der für 2014 erwarteten
Gewinne zu zahlen.
Wachstumsfantasie hat ihren Preis: Die
Umsätze von 190 Sicherheitsunternehmen
sind in den vergangenen zehn Jahren jährlich
im Schnitt um 6,8 Prozent gestiegen,
gegenüber einem Anstieg der weltweiten
Wirtschaftsleistung um 2,6 Prozent.
Weitere Werte im Credit-Suisse-Fonds
sind die kalifornische Osi Systems, die Personen-
und Frachtscanner baut, sowie
Transdigm, ein US-Spezialist für Flugzeugausstattung,
der etwa schusssichere Cockpittüren
herstellt. Mit einem Anteil von drei
Prozent am Fondsvermögen sind die Amerikaner
eine von Kolbs größten Positionen.
„Da Zulieferer im Flugsektor extrem scharfe
Sicherheitsanforderungen erfüllen müssen,
sind die Eintrittshürden in den Markt
für neue Anbieter sehr hoch“, sagt Kolb.
Frédéric Dupraz, Fondsmanager des
ähnlich gestrickten Fonds Pictet Security,
setzt unter anderem auf einen schwedischen
Anbieter von Schließsystemen: Assa
Abloy profitiere von der zunehmenden
Verstädterung in den Schwellenländern.
Assa Abloy hat einen starken weltweiten
Vertrieb und hat sich von den rein mechanischen
Schlossvarianten längst auch auf
elektronische spezialisiert. Als die Aktie im
Oktober mit dem breiten Markt fiel, hat
Dupraz nachgekauft.
Angst vor Konfliktausweitung Staaten
geben mehr Geld für innere Sicherheit aus
IT-SECURITY: HACKER SCHRECKEN
Hacker dringen in Bankenrechner ein und
schlagen Breschen in lokale Netzwerke.
Die US-Bank JP Morgan meldete unlängst,
dass bei ihr Daten von über 86 Millionen
Konten gehackt wurden. Schlagzeilen
machte auch die Veröffentlichung von Prominenten-Nacktfotos,
die Hacker aus
Rechnern geklaut hatten. Gravierender
wären terroristische Angriffe auf unsere Infrastruktur
– vom Stromnetz bis zur Ampelanlage.
Das Thema IT-Sicherheit nimmt
deshalb in den Fonds breiten Raum ein.
Softwareschmieden wie die amerikanischen
Citrix und Symantec, bekannt durch
ihr Antivirenprogramm Norton, gelten als
Profiteure des Wachstumsmarkts IT-Sicherheit.
Als Senkrechtstarter beim Schutz
vor neueren Bedrohungen im Netz gilt das
US-Unternehmen FireEye, das in Deutschland
mit der Telekom kooperiert. Das Unternehmen
ist seit einem Jahr an der Börse,
der Aktienkurs schwankt stark. Schätzungen
zufolge erwartet es für 2014 einen Verlust
von 461 Millionen Dollar bei einem
Umsatz von 424 Millionen. Vor dem Jahr
2017 wird es die Gewinnschwelle nicht erreichen.
Für die Sicherheitsfonds ist diese
Aktie noch zu heiß.
Deutsche Unternehmen, das wird beim
Blick in die Fonds schnell klar, haben in Sachen
Sicherheit nicht viel zu bieten. Eine
Ausnahme ist Wirecard, die Kolb in seinem
Fonds hält. Das Unternehmen aus dem
bayrischen Aschheim hat sichere Zahlungsverkehrslösungen
im Programm. Wirecard
ist etwa für die Zahlungsabwicklung
beim Online-Ticketkauf von Turkish Airlines
zuständig. Wer per Kreditkarte zahlt,
dessen Transaktion übernimmt Wirecard,
die dazu extra eine Banklizenz haben.
Dupraz von Pictet hat zudem Aktien von
Fiserv gekauft. Der Anbieter sicherer Zahlungssysteme
hat jüngst den Konkurrenten
Global Collect übernommen und könnte
jetzt mit geballter Kraft auch Wirecard unter
Druck setzen. Generell gilt hier: Die Branchenriesen
kaufen zu, weil ihr Wachstum
schwächer wird, ihre Kassen voll sind und
die Finanzierung angesichts der niedrigen
Zinsen günstig ist. Für Pictet-Fondsmanager
Dupraz gehören Qualys, ein kalifornischer
Sicherheitsexperte für Cloud-Daten,
sowie der Netzwerk-Sicherheitsexperte Fortinet
zu den nächsten Übernahmekandidaten.
BIOTECH: EBOLA-PROFITEURE
Im Gesundheitsbereich setzen Kolb und
Dupraz auf Laborausrüster wie Thermo
Fisher Scientific, mit deren Instrumen-
Schön unsicher Cyber-Attacken bedrohen
Privates (hier: Schauspielerin Jennifer
Lawrence), Unternehmen und Infrastruktur
»
106 Nr. 46 10.11.2014 WirtschaftsWoche
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Geld&Börse
»
Bio vorn
Kursentwicklung von Krisenmärkten und
-profiteuren im Vergleich zum Dax
150
Biotech
140
130
120 Deutschland, Dax
Sicherheit
110
100
90
80
Russland
70
J F M A M J J A S O N
Januar 2014=100; Indizes von MSCI für Russland
und Biotech; Sicherheit Pictet-Security-Fonds;
Quelle: Thomson Reuters
ten die Diagnose von Krankheiten wie
Ebola möglich ist. Mit dem US-Unternehmen
Stericycle haben sie zudem einen
Dienstleister im Portfolio, der für Kliniken
die Abfallentsorgung übernimmt. Stericycle
beseitigt Schutzanzüge der Ebola-Stationen
oder auch Spritzen sowie menschliches
Gewebe, also all das, was nicht einfach
in der städtischen Müllabfuhr landen
darf.
Pictet-Manager Dupraz hat mit 3M den
für seine Post-it-Blöcke bekannten US-
Mischkonzern im Portfolio. Er stellt auch
Ebola-Schutzkleidung, Atemschutzmasken
und Augenvisiere her. Der Gesundheitsbereich
ist eines von sechs Standbeinen
von 3M. Dupraz hält den Konzern für
einen der innovativsten weltweit.
Der studierte Mediziner Rudi Van den
Eynde steigt noch viel tiefer in das Thema
Ebola ein. Er ist für die Aktienauswahl des
Biotechnologiefonds der belgischen Fondsgesellschaft
Candriam zuständig und
schätzt auch ab, welche Medikamente im
Kampf gegen das Todesvirus Erfolg haben
könnten. Anfangs, so gibt er zu, habe er das
Virus unterschätzt, als es im Februar wieder
Schlagzeilen machte. „Früher kam Ebola
aus dem Busch und war schnell verschwunden.
Dadurch ist es schwer, Menschen zu
impfen“, sagt er. Die jetzige Epidemie blieb
nicht auf abgelegene Dörfer beschränkt.
Die Furcht vor der Ausbreitung wuchs, als
Ebola die USA erreichte.
Die Pharmabranche nimmt er in Schutz:
„Es ist schwierig, bei derart seltenen Krankheiten
Gegenmittel zu entwickeln.“ Ebola-
Impfungen allerdings könnten wirtschaftlich
attraktiv sein. Tests mit manch aussichtsreichem
Impfstoff gibt es etwa von
den US-Pharmariesen GlaxoSmithKline,
Johnson&Johnson sowie der Biotech-
Schmiede Inovio und der dänischen Bavarian
Nordic.
In seinem Fonds hält Van den Eynde die
Aktien der US-Unternehmen Biocryst und
Chimerix mit sehr kleinen Positionen. Beide
forschen an Medikamenten, die bei Ebola
zum Einsatz kommen. Einzelne Erfolge an
Ebola-Patienten, die überlebt haben, ließen
die Kurse der Aktien stark steigen. Ein von
Biocryst entwickelter Wirkstoff hat bei Affen
Ebola und das ähnliche Marburg-Virus bekämpft.
„Bei einer weltweiten Pandemie
würde der Kurs von Biocryst zwar stark steigen,
aber ich hoffe nicht darauf. Eine massive
Verbreitung würde weltweit zu einem Aktiencrash
führen“, sagt Van den Eynde.
Chimerix hat Brincidofovir entwickelt, ein
Medikament, das die Virenverbreitung im
Körper hemmt. Bei US-Tests am Centers for
Disease Control wirkte es auch gegen Ebola.
Inzwischen sind Ebola-Patienten in den
USA mit Brincidofovir behandelt worden.
Selbst wenn der breite Einsatz der Medikamente
fehlschlagen würde, bleiben die Unternehmen
in den Augen von Van den
Eynde attraktiv: „Biocryst and Chimerix haben
noch andere Stoffe in der Pipeline, die
ihre Aktienkurse stützen, wenn das Thema
Ebola nicht mehr in den Schlagzeilen ist.“
Da die Forschung nicht immer erfolgreich
ist, etwa auch die derzeit als heißer
Ebola-Profiteur gefeierte Tekmira schon
mal mit ihrem Medikament wegen Nebenwirkungen
zurückgepfiffen wurde, hält
sich auch Van den Eynde aus mancher
Spekulation um das Todesvirus heraus.
„Sogar Fujifilm ist über seine Tochter Toyama
Chemical mit einem Medikament bei
der Ebola-Bekämpfung erfolgreich. Allerdings
hat dieser Bereich am Gesamterfolg
des Konzerns nur einen so geringen Anteil,
dass ich keine Aktien der Japaner halte“,
sagt Van den Eynde. Er hofft, dass Ebola in
den nächsten Monaten wieder in den Hintergrund
rückt. Nigeria und Senegal gelten
als ebolafrei, in Liberia gehen die Infektionen
bereits zurück. Im Fonds hält Van den
Eynde derzeit 93 Einzeltitel. Im Vordergrund
stehen dabei Krankheiten wie Krebs,
Hepatitis oder Malaria.
RUSSLAND: ZURÜCK ZUM ACKER
Wesentlich länger als Ebola dürfte die
Ukraine-Krise die Welt und damit auch die
Märkte in Atem halten. Angelika Millendorfer,
Leiterin für Schwellenländer-Aktien
bei der österreichischen Raiffeisen Capital,
legt Geld unter anderem in Russland an,
»
Jenseits von Afrika Virus belastet den
Welthandel, Hoffnung ruht auf Erfolgen in
der Biotech-Forschung
WirtschaftsWoche 10.11.2014 Nr. 46 107
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Geld&Börse
An den Brandherden der Welt
Empfehlenswerte Fonds für Aktien aus der Sicherheitsbranche, für Biotech, Russland und Katastrophen-Anleihen
Fondsname
Pictet Security
Credit Suisse Equity Global Security
Candriam Equities Biotechnology
FCP OP Medical BioHealth Trends (Medical Strategy)
Raiffeisen-Russland-Aktien
db x-trackers MSCI Russia Capped ETF
JPMorgan Emerging Markets Dividend
GAM Star Cat Bonds
Schroders GAIA Cat Bonds
ISIN
LU0256846139
LU0909471251
LU0108459040
LU0119891520
AT0000A07FR35
LU0322252502
LU0862449856
IE00B4VZPG27
LU0951570505
Wertentwicklung in Prozent 1
1 Jahr 5 Jahre
17,8
21,3
50,2
32,7
–19,5
–21,0
8,6
13,7
13,1
1 jährlicher Durchschnitt (in Euro gerechnet), zum Vergleich: MSCI-Welt-Aktienindex Wertentwicklung 1 Jahr: 15,1 Prozent, 5 Jahre pro Jahr 12,2 Prozent; 2 je höher die Jahresvolatilität
(Schwankungsintensität) in den vergangenen drei Jahren, desto riskanter der Fonds; Quelle: Morningstar, eigene Recherchen; Stand: 6. November 2014
17,4
18,0
35,5
22,8
2,5
–0,3
neu
neu
neu
Volatilität
2
8,4
9,7
18,9
14,8
21,7
20,8
–
–
–
Aktuelle Strategie der aktiv gemanagten Fonds, Zusammensetzung
des börsengehandelten Indexfonds (ETF)
70 Aktien zum Thema Sicherheit (IT, Überwachung)
50 Einzelwerte mit Sicherheitsbezug (ohne Rüstung)
93 Einzelwerte, davon rund 30 Biotech-Riesen
90 Biotech-Werte, viele forschungsstarke Kleinfirmen
45 günstige russische Aktien mit hoher Dividende
Indexfonds aus den 22 größten russischen Unternehmen
Schwellenländer-Dividenden-Aktien, 7 Prozent Russland
Katastrophen-Anleihen, überwiegend Hurrican-Risiken USA
Katastrophen-Anleihen, 50000 Dollar Mindestanlage
»
therington. Im Nachhinein erwiesen sich
Abstürze aber häufig als Einstiegsgelegenheiten.
Am russischen Bankriesen Sberbank
sowie am Ölwert Lukoil hält er deshalb
fest, obwohl sich deren Kurse innerhalb
eines Jahres halbiert haben.
Sicher, die russische Wirtschaft spürt die
Sanktionen. Manche westliche Bank gibt
russischen Unternehmen keinen Kredit
mehr. Zudem schreckt das Verfahren gegen
den Oligarchen Wladimir Jewtuschenkow
ausländische Investoren ab. Dessen
Mischkonzern Sistema hält die Aktien-
einem Markt, der crasht. Kleine Entspannungen,
etwa durch die Einigung zwischen
Russland und der Ukraine im Streit
um Gaslieferungen, wurden durch neue
Spannungen nach den Wahlen in der Ostukraine
abgelöst.
Mit mehr als 20 Jahren Markterfahrung
hat Millendorfer in Russland genug erlebt,
um zu wissen, dass politisch bedingte Krisen
und Börsenkorrekturen oft kurzlebiger
sind als gedacht. Als Russland die Krim annektierte,
fielen die russischen Kurse innerhalb
kürzester Zeit um fast 25 Prozent.
Danach konnte sich der russische Aktienindex
RTS bis Juli um 30 Prozent erholen.
Der Abschuss der Malaysian-Airline-Passagiermaschine
über der Ostukraine, bei
dem 298 Menschen starben, ließ dann
aber auch hartgesottene Investoren nicht
mehr kalt. Es begann ein Kursrutsch, von
dem sich der russische Aktienmarkt bis
heute nicht erholt hat. Der fallende Rubel
erhöhte für ausländische Anleger die Verluste.
Als großes Ölförderland leidet Russland
zudem unter dem niedrigen Ölpreis.
„Jede Markterholung kann das sein, was
als dead-cat-bounce bezeichnet wird, als
Hüpfer einer toten Katze“, sagt Werner
Hedrich, Deutschland-Chef des Fondsanalysehauses
Morningstar.
Abgeklärter sieht das Richard Titherington.
Der Chefanleger für Schwellenländeraktien
bei JP Morgan Asset Management ist
krisengestählt. Er verwaltet insgesamt 46
Milliarden Dollar, rund 3,5 Milliarden davon
in russischen Aktien. „Der Markt war
immer sehr zyklisch, die Beziehungen zu
den Nachbarn selten gut, die Börse hat immer
sensibel auf fallende Rohstoffpreise
und politische Eingriffe reagiert“, sagt Timehrheit
am Ölkonzern Bashneft, den
Wladimir Putin offenbar lieber beim staatlichen
russischen Ölkonzern Rosneft sähe.
Der Rosneft-Chef gilt als Freund Putins.
Jewtuschenkow steht unter Hausarrest.
Das Vertrauen in den russischen Staat und
dessen Rechtssicherheit wird abermals erschüttert,
ähnlich wie 2003, als Yukos-Chef
Michail Chodorkowskij wegen angeblicher
Steuerhinterziehung in Haft kam und um
sein Vermögen gebracht wurde.
Doch Fondsmanager sehen einen wichtigen
Unterschied zu früheren Jahren: Die Aktien
sind nach klassischen Kriterien megabillig,
so billig, dass mancher Investor doch
noch ins Grübeln kommt. Die Dividendenrendite
liegt im Schnitt bei fünf Prozent.
Anleger zahlen nur das 4,7-Fache der Jahresgewinne
für russische Unternehmen,
gegenüber dem Zehnfachen im Schnitt der
restlichen Schwellenländer. Das Kurs-
Buchwert-Verhältnis liegt bei 0,6 – die Vermögenswerte
der Unternehmen sind also
größer als ihr Börsenwert. „Investmentchancen
gibt es in Schwellenländern immer
dann, wenn die meisten Anleger einen
Markt sehr negativ sehen“, sagt Titherington.
Ins Beuteschema der Fondsmanager
passen derzeit private Unternehmen, die
möglichst wenig Nähe zur Politik aufweisen,
verlässlich Dividenden zahlen und deren
Marktanteil steigt. Das Management
sollte nicht nur Vertrauen erwecken, sondern
möglichst auch selbst am Unternehmen
beteiligt sein.
Das Boot Die Börsenkurse reagieren sensibel
auf die unterschwelligen Drohungen
Russlands mit seinem Waffenarsenal
108 Nr. 46 10.11.2014 WirtschaftsWoche
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Extremes Wetter Für Schäden aus Flut,
Sturm oder Bränden haften Anleger mit
„Die Rubel-Schwäche hilft lokalen Produzenten
gegenüber der ausländischen Konkurrenz“,
sagt Millendorfer. Ein Profiteur der
politischen Entwicklung ist etwa das russische
Agrarunternehmen Cherkizovo. Weil
Putin als Reaktion auf die Sanktionen des
Westens Importe von Lebensmitteln aus
der EU drastisch beschnitt, steigt die Nachfrage
nach Produkten von russischen
Äckern. Die mehrheitlich einer Familie gehörende
Cherkizovo-Gruppe hat bereits in
den vergangenen drei Quartalen ihre Produktion
an Fleisch und Getreide steigern
können. Weil der Importstopp die Warenpreise
steigen lässt, macht auch der Handelsriese
Magnit, das russische Pendant zu
Aldi, mehr Umsatz. Ihm trauen Fondsmanager
noch weiteres Wachstum zu, weil sie
daran glauben, dass Magnit den kleineren
Händlern Marktanteile abjagen werde.
Millendorfer hält zudem, wegen der hohen
Dividendenrenditen von mehr als sieben
Prozent, an den Vorzugsaktien der Ölund
Gasproduzenten Surgutneftegas und
Tatneft fest. Sie glaubt daran, dass die Unternehmen
trotz des niedrigen Ölpreises
noch Geld verdienen und genug für die Dividenden
übrig bleiben wird.
KATASTROPHALE ANLEIHEN
Odile, Dolly und Cristobal haben in diesem
Herbst Fondsmanager John Seo auf Trab
gehalten: verheerende Stürme mit ganz
harmlosen Namen, die die Küsten Mexikos
und der Bermudas entlangbrausten. Der
Amerikaner mit koreanischen Wurzeln ist
Fondsmanager beim US-Vermögensverwalter
Fermat Capital Management und
auf Katastrophen-Anleihen – kurz Cat-
Bonds – spezialisiert. Das sind Zinspapiere,
die Versicherer, Rückversicherer oder Staaten
ausgeben, um sich gegen hohe Schäden
durch tropische Hurrikans, europäische
Stürme, Erdbeben, Überschwemmungen
oder Feuersbrünste abzusichern.
Anleger, die diese Papiere kaufen, treten
damit an die Stelle von Rückversicherern
und haften für die Schäden aus versicherten
Naturkatastrophen. Nehmen die überhand,
fallen Zinszahlungen und im Extremfall
die Rückzahlung der Anleihen aus.
Dieses Risiko wird mit Zinsen vergütet, die
deutlich über denen normaler Unternehmensanleihen
liegen. Durchschnittlich
werfen die Papiere im von Manager Seo gelenkten
GAM Star Cat Bonds-Fonds noch
4,5 Prozent Rendite ab, bei nur etwas mehr
als zwei Jahren Restlaufzeit der Anleihen.
Jüngst kam eine von Florida emittierte
Sturm-Anleihe heraus, die ihm jährlich 7,5
Prozent Zinsen zahlt und mit sieben Prozent
rentiert. Das Rating der Anleihe entspricht
der Bonitätsnote B von Standard &
Poor’s, die etwa auch der französische Telekommunikations-
und Netzwerkspezialist
Alcatel-Lucent hat. Aber eine noch zwei
Jahre laufende Anleihe der Franzosen
bringt nur 2,6 Prozent Rendite.
Die Hurrikan-Saison in den USA ist bald
vorbei, dann kann Seo durchatmen. Rund
60 Prozent seines Portfolios stecken in Cat-
Bonds, mit denen Sturmschäden in Florida,
New York, Texas und North Carolina
abgedeckt werden müssten. Bleiben – wie
in diesem Jahr – die großen Verwüstungen
aus, können sich die Anleger mit der Bevölkerung
der verschonten Regionen freuen.
Sie bekommen die Zinsen und das investierte
Geld zurück, wenn bis zur Fälligkeit
nichts mehr passiert.
Wegen des Hurrikans Odile stehen jetzt
allerdings für Cat-Bonds-Investoren rund
50 Millionen Dollar auf dem Spiel. Mexiko
hatte sein Hurrikan-Risiko in der von Odile
getroffenen Region Baja California zusammen
mit anderen Risiken in einem Paket
verkauft. Noch berechnen Experten die genaue
Schadenssumme. Da das Mexiko-Risiko
in Seos Fonds nur weniger als ein Prozent
ausmacht, rechnet er nicht mit wesentlichen
Einbußen bei der Performance.
Insgesamt hat er rund 100 verschiedene
Anleihen im Portfolio, die Risiken aus einzelnen
Katastrophen werden auf diese
Weise breit gestreut.
Der Renditevorsprung gegenüber anderen
Anleihen macht Cat-Bonds beliebt.