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Wirtschaftswoche Ausgabe vom 10.11.2014 (Vorschau)

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46<br />

<strong>10.11.2014</strong>|Deutschland €5,00<br />

4 6<br />

4 1 98065 805008<br />

Störung<br />

Bericht zum Stillstand der Nation<br />

Schweiz CHF 8,20 | Österreich €5,30 | Benelux€5,30 | Griechenland€6,00 | GroßbritannienGBP 5,40 | Italien€6,00 | Polen PLN27,50 | Portugal€6,10 | Slowakei €6,10 | Spanien€6,00 | Tschechische Rep. CZK200,- | Ungarn FT 2140,-<br />

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Einblick<br />

Die GDL legt wieder einmal die Republik lahm.<br />

Der Streik ist auch ein Symbol: Es herrscht die<br />

Unbeweglichkeit. Von Miriam Meckel<br />

Lähmung des Landes<br />

FOTO: FRANK SCHEMMANN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

Einheit ist ein großes Wort. Nicht<br />

nur in diesen Tagen, in denen der<br />

25-jährige Jahrestag der Maueröffnung<br />

groß gefeiert wird. Einheit<br />

ist auch in der Tarifpolitik ein großes<br />

Wort, das die Bundesregierung zu einem<br />

Gesetz formen will. Tarifpolitik soll endlich<br />

wieder eine übersichtliche Sache<br />

werden. Die Einheitslösung für alle muss<br />

her, damit fährt man in Deutschland eigentlich<br />

immer gut.<br />

Gar nicht fährt zuweilen, wer auf die Bahn<br />

angewiesen ist. Da steht wieder alles still.<br />

Die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer<br />

(GDL) hat der Tarifeinheit und dem Gesetzesentwurf<br />

von Bundesarbeitsministerin<br />

Andrea Nahles den Kampf angesagt und legt<br />

mit ihren Streiks die Republik lahm. Sie trifft<br />

die Menschen und die globalisierte Wirtschaft<br />

an ihrer empfindlichsten Stelle: der<br />

Beweglichkeit.<br />

Das ist mehr als ärgerlich. Hunderttausende<br />

stehen an den Gleisen herum, müssen<br />

auf andere Verkehrsmittel ausweichen. Die<br />

Kosten durch die Produktionsunterbrechungen<br />

können sich nach Schätzungen des<br />

Instituts der deutschen Wirtschaft auf 100<br />

Millionen Euro pro Tag addieren. So weit die<br />

realwirtschaftliche Dimension.<br />

Die symbolische Dimension reicht weiter.<br />

Stillstand ist nicht nur Streikfolge, sondern<br />

Programm bei allen Beteiligten. Der Streik<br />

ist nur ein Teil einer Mobilitätsstörung, die<br />

das Land seit Längerem befallen hat.<br />

Zum Ersten: Der Entwurf des Tarifeinheitsgesetzes<br />

setzt da an, wo politische Lösungen<br />

der großen Koalition immer ansetzen: beim<br />

großen Ganzen. Eine Lösung soll für alle gelten,<br />

die Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern<br />

für alle entscheiden. Einfacher mag<br />

das sein, muss aber nicht zur besten Lösung<br />

führen. In der Tarifpolitik ist es wie im Bundestag:<br />

Die Opposition wird bis zur Unkenntlichkeit<br />

geschrumpft. Mit Wettbewerb<br />

und dem produktiven Streit im Pluralismus<br />

hat das wenig zu tun. Widerstand verschwindet<br />

in der Dehnungsfuge zähflüssigen Regierens.<br />

Es ist ein Zeichen für Unbeweglichkeit,<br />

wenn nurdie großeLösung gesuchtwird, die<br />

meist auf den kleinsten gemeinsamen Nenner<br />

zusammenschnurrt. Das Gesetz wird<br />

übrigens mit an Sicherheit grenzender<br />

Wahrscheinlichkeit vor dem Bundesverfassungsgericht<br />

in Karlsruhe landen.<br />

Zum Zweiten: Was hat die Bahn der GDL<br />

zuletzt angeboten, um sie derart auf die Zinnen<br />

zu schicken? Aus Gewerkschaftskreisen<br />

verlautet, es sei um eine Unterwerfungsklausel<br />

gegangen. Nach dem Prinzip: Wenn die<br />

Bahn sich mit der Konkurrenzgewerkschaft<br />

einigt und die GDL das Angebot ablehnt, gilt<br />

für sie Friedenspflicht. Sie darf dann nicht<br />

mehr streiken. Übersetzt heißt das nicht:<br />

friss oder stirb. Es heißt:friss und stirb.<br />

BEHARRUNGSVERMÖGEN<br />

Zum Dritten: Das Streikrecht ist ein hohes<br />

Gut, aber die GDL missbraucht es durch<br />

Zweckentfremdung. Der Streik ist nicht<br />

mehr Mittel zum Zweck des Tarifabschlusses,<br />

er ist längst auf eine höhere Zielebene<br />

gehoben. GDL-Chef Claus Weselsky will mit<br />

seiner Gewerkschaft künftig nicht mehr nur<br />

für die Lokführer, sondern für alle Eisenbahner<br />

verhandeln. Er spielt sein institutionelles<br />

Machtspiel auf der Klaviatur eines Freiheitsrechts<br />

und setzt damit ein Zeichen der Verbohrtheit<br />

und des mangelnden Einigungswillens.<br />

Auch hier: Unbeweglichkeit.<br />

Für den Standort Deutschland sind das<br />

keine guten Signale, nicht nach innen und<br />

nicht nach außen an die Welt, der wir gelegentlich<br />

gerne erläutern, wie die Dinge laufen<br />

sollten. Es ist missvergnüglich, wie Gewerkschaften,<br />

Politik und Wirtschaft nur<br />

noch im Beharren die eigenen Grenzen<br />

überschreiten. Auf Dauer muss das nicht gut<br />

gehen, wie ein historisches Beispiel zeigt:<br />

der „Winter of Discontent“ in Großbritannien<br />

1978/79, heute rückblickend gedeutet<br />

als tief greifender gesellschaftlicher Umbruch<br />

und als Ende des Nachkriegskonsenses.<br />

Was auch damals als Machtspiel zwischen<br />

Regierung und Gewerkschaften<br />

startete, brachte die Lähmung des Landes.<br />

Und dann kam der wirtschaftspolitische<br />

Umsturz. Margaret Thatcher entmachtete<br />

die Gewerkschaften und läutete eine fast<br />

20-jährige Ära konservativen Regierens ein.<br />

In Deutschland ist die CDU schon dran.<br />

Nicht nur für Lokführer und Gewerkschaftschefs<br />

gilt: Vorsicht an der Bahnsteigkante. n<br />

WirtschaftsWoche <strong>10.11.2014</strong> Nr. 46 3<br />

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Überblick<br />

VORGESTELLT<br />

Chefredakteurin Miriam Meckel<br />

präsentiert im Video diese <strong>Ausgabe</strong>.<br />

QR-Code bitte mit dem Smartphone scannen.<br />

Sie benötigen dafür eine App wie RedLaser.<br />

Menschen der Wirtschaft<br />

6 Seitenblick Rikscha versus Uber und Co.<br />

8 DeinBus: Fernbus-Pionier beantragt<br />

Insolvenzverfahren<br />

9 Freihandelsabkommen: Chemiemanager<br />

skeptisch | VW: Brennstoffzellen nur Show<br />

10 Interview: Sparkassen-Präsident Georg<br />

Fahrenschon lehnt Strafzinsen ab | Tarifgesetz:<br />

Gewerkschaften bereiten Klage vor<br />

12 Start-ups: Die besten Gründer-Unis |<br />

Handel: Hoffen auf Weihnachten | Drei<br />

Fragen zum Informatikunterricht<br />

14 Bilfinger: Neuer Umbau | Bilster Berg: Streit<br />

ums Geld | Valeo: Zuwachs in Deutschland<br />

16 Chefsessel | Start-up My Schoko World<br />

18 Chefbüro Ulrich Walter, D2-Astronaut und<br />

Professor für Raumfahrttechnik<br />

Titel Störfall Deutschland<br />

Die Blockade des Bahnverkehrs ist ein<br />

Symbol für den Stillstand des ganzen<br />

Landes. Egoismus und Reformstau<br />

greifen um sich, wirtschaftliche und<br />

gesellschaftliche Probleme nehmen zu,<br />

die Politik ruht sich auf den Erfolgen<br />

der Vergangenheit aus. Seite 20<br />

Politik&Weltwirtschaft<br />

20 Störfall Der Bahnstreik wirft ein Schlaglicht<br />

auf die Blockaden des Landes | Welche<br />

Schäden die GDL schon angerichtet hat<br />

28 Europa Als Wettbewerbskommissarin ist<br />

Margrethe Vestager überaus mächtig<br />

29 Global Briefing<br />

31 Essay Das Ende der Geschichte ist auch<br />

25 Jahre nach der Entdeckung durch Francis<br />

Fukuyama nicht in Sicht<br />

34 Thailand Die politische Lage im Königreich<br />

ist weiter hochexplosiv<br />

37 Berlin intern<br />

Der Volkswirt<br />

38 Kommentar<br />

39 Konjunktur Deutschland<br />

40 Pro & Contra Ulrich van Suntum und<br />

Thorsten Polleit streiten über Negativzinsen<br />

42 Nachgefragt Ökonom Jesús Huerta de Soto<br />

über Deflation in der Euro-Zone<br />

Unternehmen&Märkte<br />

48 Tönnies Wer ist eigentlich Neffe Robert, der<br />

seinem mächtigen Onkel Clemens das<br />

Sagen im Fleischkonzern streitig macht? |<br />

Interview: Familienunternehmen-Experte<br />

Arist von Schlippe über Streitvorbeugung<br />

58 HypoVereinsbank Die Münchner machen<br />

fast die Hälfte ihrer Filialen dicht – ein hochriskantes<br />

Experiment<br />

62 International Bankers Forum Mitglieder<br />

klagen über mangelnde Transparenz<br />

64 Air Berlin So tickt der künftige Vorstandschef<br />

Stefan Pichler<br />

66 Interview: Stefan Winners Wie der Digitalchef<br />

des Burda-Verlags Media-Markt und<br />

Saturn angreifen will<br />

68 Serie: Mauerfall (II) Drei Unternehmen,<br />

die dem Osten Mut machen<br />

Duell der Metzger<br />

Innenansichten eines Familienkrachs: Beim milliardenschweren<br />

Tönnies-Konzern kämpft Onkel gegen Neffe vor Gericht um die<br />

Hackordnung bei Deutschlands größtem Schlachter. Seite 48<br />

Vorhut im All<br />

Zum ersten Mal landet eine<br />

Sonde auf einem Kometen – die<br />

Mission ist ein Testlauf für<br />

kommerzielle Projekte, um<br />

wertvolle Rohstoffe im Weltraum<br />

zu schürfen. Seite 92<br />

TITELILLUSTRATION: FOTOLIA<br />

4 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Nr. 46, <strong>10.11.2014</strong><br />

FOTOS: FOTOLIA, MARKUS SCHWALENBERG FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, MONTAGE: DMITRI BROIDO, FRANK BEER FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, ILLUSTRATIONEN: CYPRIAN LOTHRINGER, CARLO GIAMBARRESI<br />

In Zukunft<br />

CEO<br />

Sie sind jung, talentiert,<br />

zielstrebig: Jenseits der<br />

Diskussion über die Quote<br />

machen hoch qualifizierte<br />

Frauen unbeirrt Karriere.<br />

Auf welche Top-<br />

Managerinnen Sie<br />

achten sollten.<br />

Seite 96<br />

Krisenanlagen<br />

Fonds investieren in Technik gegen Hacker- und Terror-Attacken,<br />

sie kaufen Katastrophen-Bonds und Aktien von Ebola-Forschern.<br />

Selbst in Russland bieten einige Papiere Chancen. Seite 104<br />

Lob des Imitats<br />

Originalität wird überschätzt, behauptet<br />

der Management-Professor Oded<br />

Shenkar. Unternehmen, die gut kopieren,<br />

statt Neues zu erfinden, werden in<br />

Zukunft Erfolg haben. Seite 126<br />

72 Spezial Mittelstand Digitalisierung |<br />

Factoring | Weiterbildung<br />

86 Serie: Fit for Future (V) Wie Mittelständler<br />

Firmenintegrationen meistern<br />

Technik&Wissen<br />

88 Recycling Wie aus Müll hochwertige neue<br />

Produkte und wertvoller Brennstoff werden<br />

92 Raumfahrt Mit der Rosetta-Mission landet<br />

erstmals eine Sonde auf einem Kometen<br />

94 Auto Das Start-up Local Motors druckt<br />

komplette Pkws nach Kundenwunsch<br />

95 Valley Talk<br />

Management&Erfolg<br />

96 Top-Managerinnen Während Politiker und<br />

Unternehmen noch über die Frauenquote<br />

streiten, schaffen erfolgreiche Managerinnen<br />

Fakten. Drei Frauen im Porträt<br />

Geld&Börse<br />

104 Fonds Wie Sie in Krisensituationen investieren<br />

und dabei moralisch sauber bleiben<br />

110 Pimco Andrew Balls soll helfen, Starinvestor<br />

Bill Gross zu ersetzen<br />

114 Börsengang Autozulieferer Hella attraktiv<br />

116 Steuern und Recht Schwarzgeld Luxemburg<br />

| Scheidungskosten | Patientenverfügung<br />

| Elternunterhalt | Kindergeld<br />

118 Geldwoche Kommentar: Strafzinsen |<br />

Trend der Woche: Goldpreis | Dax-Aktien:<br />

RWE, E.On | Hitliste: Öl | Aktien: Daimler |<br />

Anleihe: Türkei in Dollar | Fonds: DWS<br />

Global Value | Zertifikate: Börse Japan<br />

Perspektiven&Debatte<br />

126 Interview: Oded Shenkar Innovationen<br />

werden gemeinhin überbewertet, sagt der<br />

Forscher der Ohio State University<br />

130 Kost-Bar<br />

Rubriken<br />

3 Einblick, 132 Leserforum,<br />

133 Firmenindex | Impressum, 134 Ausblick<br />

n Lesen Sie Ihre WirtschaftsWoche<br />

weltweit auf iPad oder iPhone:<br />

In dieser <strong>Ausgabe</strong> erzählen drei<br />

Kandidatinnen für den CEO-Posten<br />

das Geheimnis ihres<br />

Erfolges. Zudem zeigen<br />

wir das Netzwerk von<br />

Schalke-Boss Clemens<br />

Tönnies in Bildern.<br />

wiwo.de/apps<br />

n ManagementCup In unserem<br />

Planspiel winken Preise in Höhe von<br />

35 000 Euro. Registrieren Sie sich<br />

noch bis zum 18. November unter<br />

managementcup.wiwo.de<br />

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wirtschaftswoche<br />

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wiwo<br />

WirtschaftsWoche <strong>10.11.2014</strong> Nr. 46 5<br />

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Seitenblick<br />

TAXI<br />

Straßenkampf<br />

Indiens traditionelle Rikschas müssen jetzt gegen neue<br />

Taxidienste konkurrieren. Das amerikanische<br />

Unternehmen Uber mischt auch in Schwellenländern<br />

die Mitfahrbranche auf.<br />

6000Rikschas werden im<br />

indischen Kalkutta noch von Hand gezogen. Ein<br />

drohendes Verbot dieser Gefährte konnte die<br />

Gewerkschaft der Rikscha-Zieher bisher verhindern.<br />

6,50Euro verdient ein Rikscha-<br />

Zieher – am Tag. Mit ihm kommen Reisende<br />

im verstopften Kalkutta noch heute am schnellsten<br />

ans Ziel. Doch neue Angebote wie der US-Taxischreck<br />

Uber breiten sich auch in Indien aus.<br />

Der lokale Uber-Konkurrent Ola hat gerade 210<br />

Millionen Dollar Kapital eingesammelt.<br />

1Million Taxis fahren laut Schätzungen in<br />

Indien. Bis vor einem Jahr saßen fast nur Männer am<br />

Steuer. Doch die Zahl der Frauentaxis steigt. Autos,<br />

die von Frauen gesteuert werden und nur Frauen<br />

mitnehmen. Auslöser sind Übergriffe männlicher<br />

Fahrer auf weibliche Passagiere.<br />

thomas.stoelzel@wiwo.de<br />

6<br />

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Gegen den Zug der Zeit<br />

Fast alle Rikscha-Zieher<br />

wie Mohammed Salim<br />

stammen aus Bihar, dem<br />

ärmsten Bundesstaat Indiens<br />

FOTO: GETTY IMAGES/PALANI MOHAN<br />

7<br />

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Menschen der Wirtschaft<br />

Preiskampf verloren<br />

DeinBus-Gründer Christian Janisch,<br />

Ingo Mayr-Knoch, Alexander Kuhr<br />

(von links)<br />

FERNBUSSE<br />

Pionier vor dem Aus<br />

Die Fernbusse sind gefragt wie nie. Doch<br />

der Konkurrenzkampf wird härter. Mit<br />

DeinBus muss nun der Wegbereiter des<br />

Booms Insolvenz anmelden.<br />

Der Bahnstreik bescherte den Betreibern von Fernbussen<br />

Rekordumsätze. Auch an normalen Tagen<br />

steigen immer mehr Reisende auf die Alternative<br />

zur Bahn um. Doch ausgerechnet der Wegbereiter<br />

des Booms kann <strong>vom</strong> Wachstum nicht profitieren:<br />

Das Offenbacher Unternehmen DeinBus.de stellte<br />

einen Insolvenzantrag. Nach dem Rückzug von City2City<br />

aus Deutschland steht damit schon der<br />

zweite Fernbusanbieter vor der Aufgabe. Denn die<br />

Unternehmen liefern sich einen teilweise ruinösen<br />

Preiskampf. Laut der Berliner Mobilitätsberatung<br />

Iges liegen die Ticketpreise im Schnitt bei vier Cent<br />

pro Kilometer, auf hoch umkämpften Strecken weit<br />

darunter. Sechs Cent pro Kilometer gelten als Minimum,<br />

um betriebswirtschaftlich auf Dauer mit<br />

schwarzen Zahlen zu fahren.<br />

Besonders tragisch: Mit DeinBus wird ausgerechnet<br />

der Fernbus-Pionier Opfer seines politischen<br />

Erfolgs. Von drei Studenten umAlexander Kuhr<br />

gegründet, startete DeinBus Ende 2009 als „Bus-<br />

Mitfahrzentrale“, wogegen die Deutsche Bahn 2010<br />

klagte. Nach Auffassung der Bahn verstieß das Angebot<br />

gegen das Personenbeförderungsgesetz, das<br />

ihr besonderen Schutz auf der Fernstrecke ein-<br />

räumte. Deinbus setzte sich allerdings vor Gericht<br />

gegen die Bahn durch und machte so den Weg frei<br />

für Fernbus-Angebote; die Bundesregierung liberalisierte<br />

dann Ende 2012 den Markt.<br />

Nach und nach stiegen Konzerne wie National<br />

Express und die Deutsche Post gemeinsam mit<br />

dem ADAC in das Segment ein, Daimler beteiligte<br />

sich an FlixBus. Für DeinBus wurde es schwieriger,<br />

sich gegen die finanzstarken Riesen zu behaupten.<br />

Zudem fokussierte sich das Start-up auf Süddeutschland,<br />

während die Konkurrenz schnell<br />

bundesweite Netze aufbaute. DeinBus kam mit seinen<br />

25 Mitarbeitern zuletzt nur auf einen Marktanteil<br />

von zwei Prozent – weit abgeschlagen von den<br />

Marktführern MeinFernbus (45 Prozent) und Flix-<br />

Bus (24 Prozent). DeinBus-Gründer Kuhr wollte<br />

sich auf Anfrage nicht äußern. In Unternehmenskreisen<br />

hieß es, der Bahnstreik helfe zwar kurzfristig,<br />

ein langfristiges Überleben sei aber vermutlich<br />

nur mit einem starken Investor möglich.<br />

Noch bedient DeinBus die knapp zwei Dutzend<br />

Strecken. „Wir haben mit unseren Busunternehmern<br />

eine Lösung gefunden, die garantiert, dass<br />

wir den Betrieb vorerst aufrechterhalten können“,<br />

sagt der vorläufige Insolvenzverwalter Christian<br />

Feketija von der Kanzlei Schneider Geiwitz. Eigene<br />

Busse setzt das Unternehmen nicht ein: Es verkauft<br />

Tickets, die Strecken werden von mittelständischen<br />

Busunternehmern bedient.<br />

christian.schlesiger@wiwo.de, florian.zerfass@wiwo.de<br />

Abgehängt<br />

Marktanteil nach angebotenen<br />

Fahrplankilometern<br />

(in Prozent)<br />

MeinFernbus<br />

FlixBus<br />

Deutsche Bahn*<br />

12<br />

ADAC Postbus<br />

8<br />

DeinBus.de<br />

2<br />

Sonstige<br />

9<br />

24<br />

* IC Bus, Berlinlinienbus;<br />

Quelle: Iges<br />

45<br />

FOTOS: LAIF/TIM WEGNER, CARO FOTOAGENTUR/SVEN HOFFMANN<br />

8 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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EU-USA-ABKOMMEN<br />

Top-Manager<br />

skeptisch<br />

Deutschlands Chemiemanager<br />

stehen dem geplanten transatlantischen<br />

Freihandelsabkommen<br />

(TTIP) skeptisch gegenüber.<br />

Dies ergab eine Umfrage<br />

von Camelot Management<br />

Consultants unter 300 führenden<br />

Managern der Branche.<br />

Laut Camelot-Partner Sven<br />

Mandewirth rechnet zwar die<br />

eine Hälfte der Befragten „mit<br />

Kosteneinsparungen bei Rohstoffimporten<br />

sowie einer größeren<br />

Zuliefer- und Kundenbasis“.<br />

Die andere Hälfte „erwartet<br />

aber auch einen steigenden<br />

Wettbewerbs- und Margendruck“.<br />

Den befürchten vor allem<br />

kleine und mittlere Unternehmen.<br />

Insgesamt geht jeder<br />

Zweite davon aus, dass TTIP<br />

seinem Unternehmen „weder<br />

Vor- noch Nachteile“ bringt.<br />

In den Verlautbarungen des<br />

Chemieverbandes VCI klingt<br />

das Bekenntnis zu TTIP viel positiver.<br />

Das Abkommen biete etwa<br />

die Chance auf mehr Jobs.<br />

Die USA sind – neben den<br />

Niederlanden – der wichtigste<br />

Auslandsmarkt. 2013 exportierte<br />

Deutschland Chemikalien<br />

und Pharmazeutika für 15 Milliarden<br />

Euro in die USA.<br />

juergen.salz@wiwo.de<br />

Aufgeschnappt<br />

Düstere Stunden Bei der Sonnenfinsternis<br />

am 20. März wird<br />

die Sonne zwar nur auf den Färöer-Inseln<br />

komplett verdeckt,<br />

aber auch in Deutschland wird<br />

es dunkler – mit Folgen für die<br />

Stromversorgung. Bei wolkenlosem<br />

Himmel sinkt die bundesweite<br />

Solarstromleistung binnen<br />

einer guten Stunde von 17,5<br />

Gigawatt auf 6,2 Gigawatt ab,<br />

haben Forscher der Berliner<br />

Hochschule HTW errechnet.<br />

Das ist so, als fielen zehn Atomkraftwerke<br />

aus. Einen Blackout<br />

fürchten die Wissenschaftler<br />

trotzdem nicht, raten aber Kraftwerk-<br />

und Netzbetreibern, das<br />

Ereignis einzuplanen.<br />

Heitere Stunden Fußball ist für<br />

Ex-EnBW-Chef Utz Claassen<br />

Familiensache. Erst kauft er sich<br />

beim Zweitligisten Real Mallorca<br />

ein. Jetzt kürt der Verwaltungsrat<br />

seine Frau Annette Claassen<br />

noch zur Bevollmächtigten des<br />

Clubs.<br />

VOLKSWAGEN<br />

Neuheiten fürs Museum<br />

Blitzaktion<br />

VW-Manager<br />

Neußer<br />

Auf der Los Angeles Auto Show<br />

streiten kommende Woche die<br />

beiden größten Autohersteller<br />

um die Technologieführerschaft.<br />

Toyota enthüllt auf der<br />

Automesse die Serienversion<br />

des FCV, des weltweit ersten<br />

Elektroautos mit Brennstoffzellenantrieb.<br />

Volkswagen lädt zu<br />

Probefahrten mit Elektroversionen<br />

des VW Golf Variant und<br />

einem Passat ein, bei denen der<br />

Fahrstrom ebenfalls mit Wasserstoff<br />

in einer Brennstoffzelle<br />

erzeugt wird.<br />

Allerdings bietet Toyota den<br />

FCV Ende März in Japan und<br />

von August an auch in Deutschland<br />

an. Die VW-Modelle hingegen<br />

werden nach der PR-Aktion<br />

in Kalifornien im Museum<br />

verschwinden. Denn VW-Entwicklungsvorstand<br />

Hans-<br />

Jakob Neußer hält im Unterschied<br />

zu den Japaner nicht viel<br />

von der Brennstoffzellentechnik.<br />

Der Aufbau eines Netzes<br />

von Wasserstoff-Tankstellen<br />

dauere zu lange, und der technische<br />

Aufwand sei zu groß.<br />

Die Show-Stücke wurden in<br />

aller Eile als Reaktion auf Toyota<br />

gebaut. Der VW-Konzern will<br />

so beweisen, dass er die Technik<br />

beherrscht und dank des<br />

Baukastenprinzips kurzfristig<br />

marktreif machen könnte. Tatsächlich<br />

setzt Neußer auf batteriegetriebene<br />

Elektromobile. Er<br />

erwartet, dass die Akkupreise<br />

bald fallen und das Leistungsvermögen<br />

in Kürze für Strecken<br />

von 400 Kilometern reicht.<br />

franz.rother@wiwo.de<br />

4,9 5,3<br />

2009<br />

2010<br />

Steigende Nebenkosten<br />

Was der Staat beim Hauskauf abkassiert<br />

6,4<br />

2011<br />

7,4<br />

2012<br />

8,4<br />

* ab Januar 2015, in Klammern derzeit gültiger Satz; ** Schätzung; Quelle: BMF<br />

9,2<br />

2014**<br />

2013<br />

Gesamte Einnahmen<br />

aus der Grunderwerbsteuer<br />

(in Milliarden Euro)<br />

5,0<br />

6,5*<br />

(5,5)<br />

6,5*<br />

(5,0)<br />

5,0<br />

6,0<br />

5,0<br />

6,5<br />

5,0<br />

5,0<br />

4,5<br />

5,0<br />

3,5<br />

5,0<br />

5,0<br />

3,5<br />

6,0<br />

Grunderwerbsteuersätze<br />

in den Bundesländern<br />

(in Prozent)<br />

WirtschaftsWoche <strong>10.11.2014</strong> Nr. 46 9<br />

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Menschen der Wirtschaft<br />

GEWERKSCHAFTEN<br />

Klage<br />

vorbereitet<br />

Zimmer schon gebucht<br />

DBB-Vize Russ<br />

Der Deutsche Beamtenbund<br />

(DBB), dem auch die Lokführergewerkschaft<br />

GDL angehört,<br />

will das geplante Gesetz<br />

zur Tarifeinheit kippen. Er hat<br />

schon eine Kanzlei beauftragt,<br />

es notfalls vor dem Verfassungsgericht<br />

in Karlsruhe zu<br />

Fall zu bringen. Das Gesetz,<br />

das am 3. Dezember im Kabinett<br />

beraten wird, legt fest, dass<br />

künftig nur der Tarifvertrag der<br />

mitgliederstärksten Gewerkschaft<br />

in einem Betrieb gilt.<br />

Spartengewerkschaften sehen<br />

sich dadurch in ihrer Existenz<br />

bedroht. „Wenn das Gesetz<br />

verabschiedet ist, geht die Musik<br />

erst richtig los. Die Zimmer<br />

in Karlsruhe sind gebucht“,<br />

sagt DBB-Vize Willi Russ.<br />

Auch die Ärztegewerkschaft<br />

Marburger Bund und die Pilotenvereinigung<br />

Cockpit bereiten<br />

eine Verfassungsklage vor.<br />

Cockpit wird <strong>vom</strong> früheren<br />

Bundesinnenminister Gerhart<br />

Baum von der Düsseldorfer<br />

Kanzlei Baum, Reiter & Collegen<br />

vertreten. Der Marburger<br />

Bund hat den Göttinger<br />

Rechtsprofessor Frank Schorkopf<br />

verpflichtet und <strong>vom</strong><br />

Ex-Verfassungsrichter Udo<br />

di Fabio ein Gutachten eingeholt.<br />

„Wir gehen zum frühstmöglichen<br />

Zeitpunkt nach<br />

Karlsruhe“, sagt der Vorsitzende<br />

des Marburger Bundes,<br />

Rudolf Henke.<br />

bert.losse@wiwo.de<br />

INTERVIEW Georg Fahrenschon<br />

»Eine gesellschaftliche<br />

Zeitbombe tickt hier«<br />

Der Sparkassen-Präsident fordert mehr Anreize<br />

zum Sparen und warnt vor gefährlichen Folgen<br />

der Politik der Europäischen Zentralbank.<br />

Herr Fahrenschon, wie legen<br />

Sie Ihr Geld an?<br />

Ich rede mit meinem Sparkassenberater<br />

und halte mich an<br />

die Regel, nicht alle Eier in einen<br />

Korb zu legen. Das ist gerade in<br />

Zeiten mit starken Ausschlägen<br />

an den Finanzmärkten wichtig.<br />

Aber Sparen lohnt doch<br />

nicht mehr in Zeiten von Miniund<br />

Negativzinsen.<br />

Von dieser einzelnen Bank...<br />

...Sie meinen die Skatbank...<br />

...möchte ich mich abgrenzen.<br />

Negativzinsen auf Spareinlagen<br />

wird es bei den Sparkassen<br />

nicht geben. Geld zurückzulegen<br />

für spätere Zeiten ist selbstverständlich<br />

auch in Zeiten<br />

niedrigster Zinsen sinnvoll.<br />

Wissen Sie, wie viel Zinsen die<br />

Sparkassen anbieten?<br />

Das sind im Schnitt je nach<br />

Anlage und Laufzeit zwischen<br />

0,5 und 1,2 Prozent.<br />

Nach Abzug der Inflation<br />

ergibt sich aber auch bei Ihnen<br />

ein negativer Zinssatz.<br />

Moment, wir dürfen hier bitte<br />

nicht Ursache und Wirkung verwechseln.<br />

Seit drei, vier Jahren<br />

haben wir es mit einer extrem<br />

DER SPARFUCHS<br />

Fahrenschon, 48, leitet seit 2012<br />

den Deutschen Sparkassen- und<br />

Giroverband. Von 2002 bis 2007<br />

saß der Diplom-Ökonom für die<br />

CSU im Bundestag, danach war<br />

er in Bayern Finanz-Staatssekretär<br />

und später Finanzminister.<br />

unorthodoxen Geldpolitik der<br />

Europäischen Zentralbank<br />

(EZB) zu tun. Für uns wird es<br />

immer schwieriger, die Sparer<br />

vor den Auswirkungen dieser<br />

EZB-Politik zu schützen und ihnen<br />

neben einer sicheren auch<br />

eine einigermaßen verzinsliche<br />

Geldanlage zu ermöglichen.<br />

Sollte die EZB die Niedrigstzinspolitik<br />

bald beenden?<br />

Die EZB sollte ähnlich wie die<br />

Federal Reserve in den USA<br />

wenigstens ankündigen, demnächst<br />

die Zinsen wieder anzuheben.<br />

Denn je länger die<br />

Niedrigzinspolitik andauert,<br />

desto weniger setzen sich die<br />

Krisenländer mit den notwendigen<br />

Reformen auseinander.<br />

Und für die Sparer in allen Euro-Ländern<br />

hat die EZB-Politik<br />

auf Dauer gefährliche Folgen.<br />

Welche denn?<br />

Rund die Hälfte der 14- bis<br />

29-Jährigen sagt, dass sie nicht<br />

mehr sparen will. Dabei weiß jeder,<br />

dass die gesetzliche Rente<br />

im Alter nicht ausreicht, das<br />

Wohlstandsniveau auch nur annähernd<br />

zu halten. Hier tickt eine<br />

gesellschaftliche Zeitbombe.<br />

Es wäre ein wichtiges Signal von<br />

der Politik, Anreize dafür zu<br />

geben, wieder mehr zu sparen.<br />

Auch weil die klassischen Instrumente<br />

der Vermögensbildung<br />

auf einem Niveau gedeckelt<br />

sind, das überhaupt nicht<br />

mehr in die heutige Zeit passt.<br />

Sprechen Sie von den vermögenswirksamen<br />

Leistungen?<br />

Ja, die vermögenswirksamen<br />

Leistungen sind ein wichtiger<br />

Bestandteil der Maßnahmen<br />

zur Vermögensbildung. Es ist<br />

höchste Zeit, diese Instrumente<br />

angesichts ultraniedriger Zinsen<br />

neu zu justieren. Derzeit<br />

wird nur ein Anlagehöchstbetrag<br />

von 470 Euro pro Jahr<br />

durch die Zulage gefördert. Nur<br />

mit einer deutlichen Anhebung<br />

oder Dynamisierung der Anlagehöchstbeträge<br />

ließen sich<br />

wieder die notwendigen Anreize<br />

zur Vermögensbildung<br />

schaffen.<br />

Welche Grenzwerte wären jetzt<br />

angemessen?<br />

Eine genaue Hausnummer<br />

kann und will ich Ihnen nicht<br />

nennen, diese Zahlen müssen<br />

von der politischen Seite kommen.<br />

Heute wird die Arbeitnehmer-Sparzulage<br />

nur bei einem<br />

jährlich zu versteuernden Einkommen<br />

bis 20 000 Euro bei<br />

Einzelveranlagung gewährt.<br />

Das heißt, dass nicht einmal<br />

mehr ein junger Maurer oder<br />

Bürokaufmann bei der Vermögensbildung<br />

gefördert wird. Es<br />

kann gesamtgesellschaftlich<br />

doch nicht richtig sein, dass die<br />

vermögensbildenden Maßnahmen<br />

nur noch für die Niedrigstverdiener<br />

gelten, aber nicht<br />

mehr für die breiten Bevölkerungsschichten.<br />

Da haben wir<br />

uns weit <strong>vom</strong> ursprünglichen<br />

Ziel entfernt.<br />

christian.ramthun@wiwo.de | Berlin<br />

FOTOS: MARKO PRISKE, DPA PICTURE-ALLIANCE/BERND SETTNIK<br />

10 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Menschen der Wirtschaft<br />

WEIHNACHTSGESCHÄFT<br />

Händler leicht optimistisch<br />

Für die Einzelhändler beginnt<br />

jetzt die wichtigste Zeit des Jahres:<br />

Das Weihnachtsgeschäft<br />

startet. In Euphorie versetzt es<br />

die Branche nicht, aber sie ist<br />

zuversichtlich. So zeigt sich<br />

Alain Caparros, Chef der Rewe-Gruppe,<br />

„verhalten optimistisch“.<br />

Einerseits sei die Stimmung<br />

der Verbraucher „durch<br />

die gesamtwirtschaftlich eher<br />

schwache Entwicklung etwas<br />

eingetrübt“, so Caparros. Andererseits<br />

verzichteten sie öfter<br />

auf den Besuch von Restaurants<br />

– zugunsten eines größeren<br />

Dinners zu Hause. „Das ist für<br />

den Lebensmitteleinzelhandel<br />

selbstverständlich positiv“, sagt<br />

Caparros. Insgesamt hofft der<br />

Zu Hause tafeln<br />

lohnt Rewe-Chef<br />

Caparros<br />

Rewe-Frontmann „auf ein<br />

Weihnachtsgeschäft, das so gut<br />

verläuft wie im vergangenen<br />

Jahr“.<br />

Die Douglas-Gruppe, zu der<br />

neben den Parfümerien auch<br />

die Buchhandelskette Thalia<br />

gehört, äußert sich optimistischer.<br />

„Wir glauben, dass wir im<br />

diesjährigen Weihnachtsgeschäft<br />

im Vergleich zu 2013<br />

noch weiter zulegen werden –<br />

insbesondere bei unseren Douglas-Parfümerien“,<br />

sagt Vorstandschef<br />

Henning Kreke.<br />

Auch Kaufhof-Chef Lovro<br />

Mandac sieht „Chancen für ein<br />

leichtes Plus“. Ebenso Alexander<br />

Birken. Der Konzernvorstand<br />

der Otto Group geht für<br />

den Web-Shop otto.de von einem<br />

„deutlichen Anstieg der<br />

Besucherzahlen“ aus.<br />

Ein Fest der Freude erwartet<br />

auch Serge van der Hooft, Chef<br />

des Erotikhändlers Beate Uhse.<br />

Er rechne „mit einem erfreulichen<br />

Weihnachtsgeschäft, insbesondere<br />

in unserem Kernmarkt<br />

Deutschland“.<br />

henryk.hielscher@wiwo.de<br />

DREI FRAGEN...<br />

...zum Informatikunterricht<br />

in Schulen<br />

Sylvia<br />

Löhrmann<br />

57, Präsidentin<br />

der Kultusministerkonferenz<br />

n Unternehmer fordern<br />

mehr Informatikunterricht<br />

an den Schulen. Wann werden<br />

die Lehrpläne geändert?<br />

Informatik wird in der Sekundarstufe<br />

I als Pflichtfach,<br />

Wahlpflichtfach und in Form<br />

von Arbeitsgemeinschaften<br />

angeboten; in der gymnasialen<br />

Oberstufe kann Informatik<br />

– auch als Abiturprüfungsfach<br />

– gewählt werden. Die Vermittlung<br />

einer informationstechnischen<br />

Grundbildung<br />

durch die Schule ist in unserem<br />

digitalen Zeitalter überaus<br />

wichtig – in welchem Umfang<br />

dies geschieht, liegt in<br />

der Entscheidung der einzelnen<br />

Länder.<br />

Die besten Unis für Gründer<br />

Große Hochschulen*<br />

1 TU München<br />

2 Hochschule München<br />

3 Karlsruher Institut für<br />

Technologie (KIT)<br />

4<br />

5<br />

Technische Universität Berlin<br />

Universität Potsdam<br />

* groß: >15 000, mittel: 5000–15 000, klein: >5000 Studierende; Quelle: Stifterverband Gründungsradar 2013; Hochschulbefragung<br />

HOCHSCHULEN<br />

Mehr Hilfen<br />

für Start-ups<br />

An diesem Montag stellt<br />

Andreas Pinkwart, Rektor der<br />

Handelshochschule Leipzig<br />

(HHL), sein neues Projekt vor:<br />

das SpinLab. Von Januar an soll<br />

es Start-ups helfen, die aus<br />

Hochschulen ausgegründet<br />

werden. Schon jetzt bietet die<br />

Mittlere Hochschulen<br />

1 Leuphana Universität Lüneburg<br />

2 Europa-Universität Viadrina<br />

3 BTU Cottbus-Senftenberg<br />

4<br />

5<br />

Technische Universität Kaiserslautern<br />

Technische Universität Bergakademie<br />

Freiberg<br />

HHL ausgezeichnete Voraussetzungen<br />

für Start-ups. Zu dem<br />

Ergebnis kommt der Gründungsradar<br />

2013, den der Stifterverband<br />

für die Deutsche<br />

Wissenschaft jetzt erstellt hat.<br />

Die HHL siegte in der Kategorie<br />

der kleinen Hochschulen (siehe<br />

Tabelle). Die Technische Universität<br />

München liegt unter<br />

den großen Hochschulen vorn<br />

und die Leuphana Universität<br />

Lüneburg unter den mittleren.<br />

Alle drei hatten schon im Vor-<br />

Kleine Hochschulen<br />

1 HHL Leipzig Graduate School of Management<br />

2 WHU Otto Beisheim School of Management<br />

3 Private Hochschule Göttingen<br />

4<br />

5<br />

Fachhochschule Mainz<br />

Fachhochschule Potsdam<br />

jahr Spitzenplätze belegt. Am<br />

stärksten verbesserten sich die<br />

Universitäten in Trier und Passau<br />

sowie die WHU Otto Beisheim<br />

School of Management.<br />

Insgesamt wurden an den<br />

deutschen Hochschulen 2013<br />

fast 1800 Start-ups gegründet,<br />

rund 600 mehr als im Vorjahr.<br />

Das Budget der Hochschulen<br />

für Gründungsförderung stieg<br />

um 28 Prozent auf knapp 63<br />

Millionen Euro.<br />

jens.toennesmann@wiwo.de<br />

n Sollte Informatik ein<br />

Pflichtfach werden?<br />

Es kann nicht darum gehen,<br />

Informatik zulasten anderer,<br />

für eine allgemeine Bildung<br />

mindestens ebenso notwendiger<br />

Fächer in die Stundentafel<br />

aufzunehmen. Die Einführung<br />

eines Pflichtfachs Informatik<br />

in der Sekundarstufe I ist<br />

Sache der Länder. In einigen<br />

Ländern ist das Fach bereits<br />

mit bestimmtem Stundenkontingent<br />

in einzelnen Jahrgangsstufen<br />

vorgesehen.<br />

n Wie stärkt die Kultusministerkonferenz<br />

(KMK)<br />

den Informatikunterricht?<br />

Die KMK misst der Medienbildung<br />

von Schülerinnen und<br />

Schülern eine zentrale Bedeutung<br />

bei. Sie hat dazu mehrere<br />

Empfehlungen verabschiedet.<br />

Außerdem ist in den Lehrplänen<br />

aller Länder die Medienbildung<br />

verankert.<br />

oliver.voss@wiwo.de<br />

FOTOS: VALERY KLOUBERT, PR<br />

12 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Menschen der Wirtschaft<br />

VALEO<br />

Franzose auf<br />

Deutschkurs<br />

TOP-TERMINE VOM 10.11. BIS 16.11.<br />

10.11. Apec-Gipfel In Peking beraten am Montag die<br />

21 Länder des asiatisch-pazifischen Bündnisses<br />

Apec. Auch US-Präsident Barack Obama kommt.<br />

BILSTER BERG<br />

Zoff um Graf<br />

Oeynhausen<br />

Der französische Autozulieferer<br />

Valeo investiert in seine deutschen<br />

Werke. „Deutschland ist<br />

und bleibt für uns als Produktionsstandort<br />

absolut notwendig“,<br />

sagt Konzernchef Jacques<br />

Aschenbroich. Die deutschen<br />

Kunden tragen 30 Prozent zum<br />

Konzernumsatz bei, der sich<br />

2013 auf 10,3 Milliarden Euro<br />

belief. Vor fünf Jahren lag der<br />

deutsche Umsatzanteil erst bei<br />

20 Prozent.<br />

Zudem beschäftigt das Unternehmen<br />

mehr deutsche Mitarbeiter.<br />

Deren Zahl wuchs<br />

zwischen Oktober 2013 und<br />

Oktober 2014 um 498 auf 4558.<br />

Von weltweit 1200 neuen Ingenieuren<br />

heuerte Valeo 163 in<br />

Deutschland an. Und es sollen<br />

noch mehr werden. Allerdings<br />

ist es für die Franzosen schwieriger<br />

als für die deutschen<br />

Wettbewerber Bosch und Continental,<br />

deutsche Fachkräfte<br />

zu gewinnen. Deshalb wolle<br />

Valeo bekannter werden, sagt<br />

Aschenbroich. Valeo unterhält<br />

hierzulande fünf Werke sowie<br />

sechs Forschungs- und Entwicklungszentren.<br />

Weltweit<br />

liegt der Konzern auf Platz 14<br />

der größten Erstausrüster der<br />

Autoindustrie.<br />

rebecca.eisert@wiwo.de<br />

BILFINGER<br />

Vor neuem<br />

Umbau<br />

In diesen Tagen rückt der frühere<br />

Daimler-, Metro- und Haniel-<br />

Manager Eckard Cordes in<br />

den Aufsichtsrat des Bau- und<br />

Dienstleistungskonzerns Bilfinger<br />

ein, schon zeichnet sich<br />

ein weiterer Umbau im Top-<br />

Mann fürs Grobe Designierter<br />

Aufsichtsratschef Cordes<br />

11.11. Metall- und Elektroindustrie Der Vorstand der<br />

IG Metall stellt am Dienstag seine Forderungen<br />

für die Tarifrunde vor, die im Januar<br />

beginnt. Neben einer Erhöhung<br />

der Löhne setzt er sich für eine<br />

Ausweitung der Altersteilzeit ein<br />

und für neue Regeln zur Weiterbildung.<br />

Hella-Börsengang Die Aktie des westfälischen Autozulieferers<br />

Hella wird erstmals an der Börse in<br />

Frankfurt notiert. Zunächst werden nur 15 Prozent<br />

gelistet, mittelfristig will die Eignerfamilie 60 Prozent<br />

behalten.<br />

12.11. Wirtschaftsweisen Die fünf Mitglieder des Sachverständigenrats<br />

stellen am Mittwoch ihr Gutachten<br />

2014/15 vor. Im November des vergangenen<br />

Jahres hatten sie der deutschen Wirtschaft für<br />

2014 ein Plus von 1,6 Prozent vorausgesagt, im<br />

März hatten sie nachgebessert: auf 1,9 Prozent.<br />

13.11. Bundeshaushalt Der Haushaltausschuss des Bundestages<br />

beschließt am Donnerstag den Bundeshaushalt<br />

für 2015. Der Bund will 2015 keine neuen<br />

Kredite aufnehmen.<br />

14.11. Konjunktur Das Statistische Bundesamt informiert<br />

am Freitag über das Bruttoinlandsprodukt<br />

(BIP) im dritten Quartal. Im zweiten sank es gegenüber<br />

dem ersten um 0,2 Prozent. Eurostat veröffentlicht<br />

BIP und Inflationsrate für die EU.<br />

15.11. G20-Gipfel Die Delegierten der 20 wichtigsten Industrie-<br />

und Schwellenländer treffen sich am<br />

Samstag in der australischen Stadt Brisbane.<br />

Management ab. Cordes, der<br />

den Job im Auftrag des schwedischen<br />

Hauptaktionärs Cevian<br />

Capital übernimmt, dürfte sich<br />

nach Einschätzung von Aufsichtsratskollegen<br />

zügig von<br />

Joachim Enenkel trennen.<br />

Enenkel führt nur noch die<br />

Bausparte, die zum größten Teil<br />

verkauft wird. Zuvor hat er auch<br />

die Kraftwerks- und Rohrleitungssparte<br />

geleitet, deren Verluste<br />

binnen weniger Monate<br />

vier Gewinnwarnungen auslösten.<br />

Vorstandschef Roland<br />

Koch, Finanzchef Joachim Müller<br />

und Aufsichtsratschef Bernhard<br />

Walter verloren ihren Job.<br />

Unternehmenskenner erwarten<br />

zudem, dass Cordes schnell<br />

einen Nachfolger für Interims-<br />

Vorstandschef Herbert Bodner<br />

präsentiert, der Bilfinger seit<br />

August führt.<br />

harald.schumacher@wiwo.de<br />

Muss sich vielen Fragen stellen<br />

Geschäftsführer Oeynhausen<br />

Die Geldgeber der privaten<br />

Rennstrecke Bilster Berg im<br />

Teutoburger Wald erheben<br />

schwere Vorwürfe gegen Geschäftsführer<br />

Marcus Graf von<br />

Oeynhausen-Sierstorpff. 34 Millionen<br />

Euro haben 180 vermögende<br />

Anleger in den Bau der<br />

Anlage gesteckt, die 2013 eröffnet<br />

wurde. Jetzt kritisiert ein<br />

Sonderbericht des Beirats, wie<br />

der Graf mit dem Geld umgegangen<br />

ist. So habe die Bad Driburger<br />

Unternehmensgruppe<br />

des Grafen, zu der Rehakliniken,<br />

ein Hotel und ein Mineralwasserabfüller<br />

gehören, der Strecke<br />

mehrere Abschlagsrechnungen<br />

über insgesamt 1,35 Millionen<br />

Euro zuzüglich Umsatzsteuer<br />

für Projektsteuerungsleistungen<br />

beim Bau gestellt. Leistungen<br />

seien allerdings „nicht ersichtlich“,<br />

heißt es im Sonderbericht.<br />

Eine Schlussrechnung und eine<br />

Abnahme der Leistungen habe<br />

es nie gegeben. Der Beirat fordert<br />

daher das Geld samt Zinsen<br />

zurück.<br />

Oeynhausen widerspricht.<br />

Die geschuldeten Leistungen<br />

seien vollständig erbracht worden.<br />

„Die Vorwürfe“, so sein<br />

Sprecher, „sind unberechtigt<br />

und werden kurzfristig geklärt<br />

werden.“<br />

florian.zerfass@wiwo.de<br />

FOTOS: PUBLIC ADDRESS, DIETER MÜLLER, FRANK ZAURITZ<br />

14 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Menschen der Wirtschaft<br />

CHEFSESSEL<br />

START-UP<br />

DEUTSCHE POST DHL<br />

Melanie Kreis, 54, ist in<br />

den Vorstand des Logistikkonzerns<br />

aufgerückt und<br />

verantwortet dort das Personalressort.<br />

Vorgängerin Angela<br />

Titzrath hatte Posten<br />

und Unternehmen im Juli<br />

überraschend verlassen.<br />

Kreis, studierte Physikerin,<br />

muss im nächsten Jahr einen<br />

neuen Tarifvertrag verhandeln.<br />

Zudem läuft 2015 der<br />

Beschäftigungspakt aus, der<br />

betriebsbedingte Kündigungen<br />

verhindert.<br />

VOLKSWAGEN<br />

Achim Schaible, 45, ist der<br />

zweite langjährige Renault-<br />

Deutschland-Chef, der im<br />

Volkswagen-Konzern eine<br />

neue Heimat gefunden hat.<br />

Am 1. November übernahm<br />

der Betriebswirt und Vertriebsexperte<br />

die Leitung der<br />

Volkswagen Group Polska.<br />

Sein Vorgänger als Vorstandschef<br />

von Renault<br />

Deutschland, Jacques Rivoal,<br />

56, hatte vor einem Jahr<br />

die Leitung der Volkswagen<br />

Group France übernommen.<br />

Beide Manager mussten erfahren,<br />

dass Renault Arbeitsverträge<br />

trotz nachweisbarer Absatzerfolge<br />

nicht verlängerte.<br />

GOOGLE<br />

Andre Rubin, 52, beherzigt<br />

den Vorsatz, dann zu gehen,<br />

wenn es am besten läuft. 2005<br />

stieß der Unternehmer zu Google,<br />

um das von ihm ersonnene<br />

Betriebssystem Android zum<br />

dominanten Betriebssystem für<br />

Smartphones und Tablets zu<br />

machen. Zeitweilig wurde er sogar<br />

als Nachfolger von Google-<br />

Chef Larry Page, 41, gehandelt.<br />

Doch dann setzte sich Sundar<br />

Pichai, 42, als neuer starker<br />

Mann durch, der im März auch<br />

die Android-Sparte übernahm.<br />

Rubin wurde mit der wachsenden<br />

Roboter-Sparte abgefunden.<br />

Nun will er einen Brutkasten<br />

für Start-ups aufbauen.<br />

OSRAM<br />

Olaf Berlien, 52, bis Ende 2012<br />

ThyssenKrupp-Vorstand, löst<br />

im Januar Wolfgang Dehen, 60,<br />

als Vorstandschef des Lichtkonzerns<br />

ab. Zudem leitet Berlien<br />

dann noch Osrams Technikressort.<br />

Derzeit führt er die<br />

M+W Group, die Reinraumfabriken<br />

baut. Dehens Vertrag lief<br />

zwar noch bis März 2016, ihm<br />

wird aber schlechtes Management<br />

vorgeworfen (Wirtschafts-<br />

Woche 45/2014).<br />

KREUZFAHRTEN<br />

15,9 Millionen Deutsche<br />

favorisierten in diesem Jahr Ferien auf dem Schiff, 160 000 mehr<br />

als 2013. Tatsächlich buchten 1,7 Millionen Bundesbürger im vergangenen<br />

Jahr eine Hochseekreuzfahrt, 2012 waren es 1,5 Millionen.<br />

75 Prozent der Passagiere bevorzugen europäische Regionen.<br />

Am beliebtesten ist das Mittelmeer, gefolgt von Nordeuropa.<br />

MY SCHOKO WORLD<br />

Schokolade mit Gesicht<br />

Fakten zum Start<br />

Team derzeit drei Mitarbeiter<br />

Absatz Schoko-Memo im Einzelhandel<br />

in drei Jahren 800 000<br />

Stück<br />

Umsatz von Mastertrade im<br />

Vorjahr 740 000 Euro<br />

Schokolade als Puzzle und Memory – damit hat Christian Keller<br />

angefangen. Adventskalender wollte er eigentlich nicht anbieten.<br />

„Für die drei Wochen Geschäft im Jahr lohnt sich der Aufwand<br />

nicht“, dachte sich der Gründer des Start-ups My Schoko World.<br />

Doch als das Reiseportal Weg.de nach Adventskalendern fragte,<br />

änderte Keller seine Meinung. Jetzt verlost das Reiseunternehmen<br />

die Kalender auf seiner Internet-Seite – die 24 Türchen zeigen Urlaubsbilder<br />

von Mitarbeitern des Touristikportals.<br />

Inzwischen kann jeder bei My Schoko World Schokokalender<br />

mit eigenen Fotos bestellen. Das Unternehmen in Gröbenzell bei<br />

München personalisiert noch weitere Leckereien aus belgischer<br />

Schokolade – auch Puzzles und Memorys. Früher erwarb Keller<br />

mit seinem Unternehmen Mastertrade, aus dem My Schoko<br />

World hervorging, Lizenzen für klassische Puzzles. Dann brachte<br />

ihn seine Nichte auf die Idee zu dem Schokoladen-Memory. Er<br />

bedruckte die Tafeln mit Star-Wars-Figuren, Tiermotiven und Hello<br />

Kitty und vertrieb sie über den Einzelhandel. „Doch ein großer<br />

Mittelständler kopiert jetzt das Schoko-Memo“, sagt Keller. Da er<br />

im Preiskampf nicht mithalten<br />

konnte, stieg er auf<br />

die personalisierbare Version<br />

um. Dafür gebe es<br />

von privaten und Firmenkunden<br />

viel Zuspruch.<br />

„Andere Anbieter fangen<br />

bei 2000 Stück an, wir<br />

machen es ab 50 Stück.“<br />

oliver.voss@wiwo.de<br />

FOTOS: PR (2), DOC-STOCK<br />

16 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Menschen der Wirtschaft | Chefbüro<br />

Ulrich Walter<br />

D2-Astronaut und Professor für Raumfahrttechnik.<br />

Das Gefühl, wieder festen Boden<br />

unter den Füßen zu haben,<br />

kennt Ulrich Walter, 60, ehemaliger<br />

Astronaut der D2-Mission<br />

und jetzt Professor für Raumfahrttechnik<br />

an der Technischen<br />

Universität München.<br />

Den 10. November verfolgt er<br />

deshalb besonders. Dann kehrt<br />

Alexander Gerst als zehnter<br />

deutscher Raumfahrer von der<br />

Internationalen Raumstation<br />

ISS zur Erde zurück. „Trotz der<br />

jüngsten Raumfahrt-Unfälle<br />

habe ich keine Angst um ihn“,<br />

sagt Walter, „ein Risiko wie bei<br />

der Explosion des Raumgleiters<br />

SpaceShipTwo besteht nicht,<br />

da er ja antriebslos zur Erde<br />

schwebt.“ Dabei zeigt Walter<br />

auf ein Modell des US-Raumgleiters<br />

Columbia,<br />

360 Grad<br />

In unseren App-<br />

<strong>Ausgabe</strong>n finden<br />

Sie an dieser<br />

Stelle ein interaktives<br />

360°-Bild<br />

das zusammen mit<br />

einem Modell der<br />

Trägerrakete Ariane 5<br />

und einem des Benz-<br />

Patent- Motorwagens<br />

auf seinem Arbeitstisch<br />

steht. Seit März<br />

2003 lehrt der Ex-Astronaut<br />

Raumfahrttechnik an<br />

der TU München. Sein Büro im<br />

zweiten Stock des Uni-Gebäudes<br />

ist bodenständig eingerichtet.<br />

„Das bekommt man im<br />

öffentlichen Dienst so gestellt“,<br />

sagt der ehemalige Leutnant<br />

der Reserve. Nur den Vitra-<br />

Chefsessel hat er selbst gekauft.<br />

Nach dem Militärdienst studierte<br />

er an der Universität<br />

Köln Physik. Dort<br />

promovierte er auch.<br />

Nach einem Zwischenstopp<br />

an der<br />

amerikanischen Berkeley-Universität<br />

bewarb er sich als<br />

Wissenschaftsastronaut<br />

bei der damaligen<br />

Deutschen Forschungsund<br />

Versuchsanstalt für Luftund<br />

Raumfahrt in Köln. „Am<br />

26. April 1993 hob ich ab ins<br />

All“, erinnert sich Walter. In den<br />

Regalen seines Büros konkurrieren<br />

Vortragsordner mit<br />

Fotobänden und Büchern des<br />

Raumfahrtpioniers Wernher<br />

von Braun. Ein Bild des Malers<br />

und Weltraum-Illustrators<br />

Detlev van Ravenswaay zeigt<br />

Walter gemeinsam mit seiner<br />

D2-Crew. Die Sehnsucht nach<br />

der grenzenlosen Freiheit ist<br />

geblieben. „Wenn Sie ein Weltraum-Ticket<br />

haben, fliege ich<br />

sofort“, sagt er , „aber sagen<br />

Sie’s bitte nicht meiner Frau.“<br />

ulrich.groothuis@wiwo.de<br />

FOTO: DIETER MAYR FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

18 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

Wir streiken!<br />

Weiter<br />

REFORMEN | Die Blockade des Bahnverkehrs ist Symbol für den Stillstand des Landes.<br />

Egoismus und Reformstau greifen um sich, wirtschaftliche Risiken und gesellschaftliche<br />

Probleme wachsen. Die Politik ruht sich auf den Erfolgen der Vergangenheit aus.<br />

20 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Der Hashtag im Kurznachrichtendienst<br />

Twitter ist<br />

vulgär, und auch die Botschaften<br />

sind heftig. Auf<br />

#Fuckyougdl lassen frustrierte<br />

Streikopfer ihren<br />

Verwünschungen freien Lauf: „Wenn ihr weniger<br />

arbeiten wollt, beantragt Hartz IV“,<br />

empfiehlt @Reyson1990 den Lokführern im<br />

Ausstand. „Zwar habt ihr nicht mehr Geld,<br />

aber eine Forderung ist wenigstens erfüllt.“<br />

@MhhhKathi schimpft: „Ich opfere für Donnerstag<br />

und Freitag jetzt meine letzten beiden<br />

Urlaubstage. Danke, Arschlöcher.“ Und<br />

@didi577 versteigt sich gar zu einem Gewaltaufruf:<br />

„Bindet Weselsky aufs Gleis, solange<br />

noch Züge fahren.“<br />

Allzu gefährlich war das für den Vorsitzenden<br />

der GDL, Claus Weselsky, noch nicht.<br />

Die meisten Züge blieben zunächst im Depot,<br />

nur die Reisenden auf der Strecke. Es ist<br />

der größte Eisenbahnerstreik in der bundesrepublikanischen<br />

Geschichte, der in sechs<br />

Abschnitten in diesem Jahr bereits an 13<br />

Tagen für Stillstand sorgen sollte. Organisiert<br />

durch eine Minigewerkschaft mit 34000 Mitgliedern,<br />

der es nicht um mehr Lohn für ihre<br />

Mitglieder geht, sondern um mehr Macht für<br />

ihre Funktionäre.<br />

Der Bahnstreik ist Symptom einer selbstvergessenen<br />

Gesellschaft – und Symbol für<br />

den Stillstandort Deutschland, für Egoismus<br />

und Reformstau, die überall um sich greifen.<br />

Die wirtschaftlichen Risiken und die gesellschaftlichen<br />

Probleme nehmen zu, die Investitionslücke<br />

wächst, doch die Gesellschaft<br />

hält fest an kommoden Besitzständen.<br />

Deutschland ist noch nicht wieder der<br />

kranke Mann Europas wie um die Jahrtausendwende.<br />

Aber statt im Fitnessclub der<br />

Reformen zu ackern, fläzt es im Liegestuhl.<br />

Statt sich für die Zukunft zu wappnen, verharrt<br />

es selbstzufrieden.<br />

Gerhard Schröder startete seine Agenda<br />

erst, als er mit dem Rücken zur Wand stand.<br />

Die schwarz-rote Koalition hat daraus<br />

nichts gelernt. Sie wartet ab, bis sie vor die<br />

Wand läuft.<br />

Die Generalimmobilmachung auf der<br />

Schiene – und vielleicht bald wieder in der<br />

Luft durch die streikfreudigen Piloten –<br />

trifft mitten hinein in die Sorge um die Konjunktur.<br />

Eine Rezession ist nicht in Sicht. Aber dass<br />

die Wirtschaftslage flauer wird, bestreitet<br />

niemand, nicht einmal die Regierung. Ähnlich<br />

wie die Forschungsinstitute hat sie ihre<br />

Wachstumsprognose auf 1,2 Prozent für dieses<br />

und 1,3 Prozent fürs nächste Jahr zurückgenommen.<br />

Chefskeptiker und Konjunkturforscher<br />

Hans Werner Sinn <strong>vom</strong> ifo Institut<br />

verortet die Entwicklung inzwischen gar<br />

„nochmals ein Stück tiefer, in der Gegend<br />

von etwa einem Prozent“. Denn der Geschäftsklimaindex<br />

des Instituts bröckelt beständig<br />

ab, deute also auf eine Stagnation<br />

hin. Die Mehrheit der Großunternehmen<br />

rechnet zudem mit einer Rückkehr der Euro-<br />

Krise, hat die Beratungsgesellschaft Deloitte<br />

ermittelt (siehe Seite 26). Doch die satte, müde<br />

Republik und ihre Bewohner ficht das<br />

nicht an, getreu dem Egoistenmotto: „Wenn<br />

jeder an sich denkt, ist an alle gedacht.“<br />

Industrieverbände, Gewerkschaften, Lobbytruppen<br />

aller Art, aber auch jeder einzelne<br />

Bürger fühlen sich berechtigt, lieber doch<br />

noch ein etwas größeres Stück <strong>vom</strong> Kuchen<br />

abzuschneiden. Mehr Macht, mehr Mitglieder,<br />

mehr Subventionen – danach gieren die<br />

Organisationen. Mehr Rente, weniger Sozialbeiträge,<br />

weniger Steuern – danach sehnen<br />

sich Arbeitnehmer und Verbraucher.<br />

Und der Staat steht nicht hintan: Mehr Steuern,<br />

mehr Gebühren, mehr Regulierung – so<br />

weitet er seinen Einfluss aus.<br />

Inzwischen sind die häufigen Gesetzesänderungen<br />

und staatlichen Eingriffe durch<br />

die Politik für die Unternehmen gefährlicher<br />

als Fachkräftemangel, Lohnerhöhungen<br />

oder steigende Energiekosten, klagten die<br />

Finanzvorstände in der Deloitte-Umfrage.<br />

Einziger Trost: Die Firmen haben aus der<br />

letzten Krise gelernt und ihr Eigenkapital<br />

deutlich aufgepolstert.<br />

Deutschland, nach den Schröder-Reformen<br />

vor gut zehn Jahren zum Musterknaben<br />

Europas avanciert, verspielt nicht nur seine<br />

Zukunft, sondern auch seinen moralischen<br />

Anspruch, die Nachbarn zu vernünftiger<br />

Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik zu ermahnen.<br />

Längere Lebensarbeitszeit? Frankreich<br />

soll die Arbeitnehmer später in den<br />

Ruhestand schicken, während Arbeitsministerin<br />

Andrea Nahles (SPD) und die große<br />

Koalition die Rente mit 63 einführen. Sparsame<br />

Haushaltsführung? Griechenland soll<br />

liefern, während Bundesfinanzminister<br />

Wolfgang Schäuble (CDU) den Etat vor allem<br />

über höhere Einnahmen ausgleicht. Die<br />

Steuerschätzung der vergangenen Woche<br />

ermittelte für den Bund für das kommende<br />

Jahr sogar noch einmal ein unerwartetes<br />

Plus von 700 Millionen Euro – kein Grund,<br />

den spendablen Kurs zu ändern. Sozialer<br />

Friede? Italien und Belgien sollen nicht mit<br />

Arbeitskämpfen ihren Standort schädigen,<br />

während hierzulande die Räder stillstehen.<br />

Der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann<br />

macht sich keine Illusionen über die Folgen<br />

für den Stillstandort. Der aktuelle Arbeitskampf<br />

schade dem Ansehen Deutschlands,<br />

urteilt er. Bisher gilt das Land als streikarm,<br />

und die Sozialpartner gelten als vorbildlich<br />

darin, die Interessen aller Mitarbeiter einzubeziehen.<br />

„Der Bahnstreik fördert dieses<br />

Image wirklich nicht.“<br />

Gewerkschaften<br />

Jeder ist sich selbst der Nächste<br />

Selten klang der Begriff „Einheitsgewerkschaft“<br />

so deplatziert wie in diesen Tagen –<br />

und das liegt nicht nur daran, dass die gut<br />

organisierte Spartenorganisation GDL das<br />

deutsche Arbeitnehmerlager spaltet. Der<br />

Kampf um die Tarifeinheit (ein Betrieb, ein<br />

Tarifvertrag), der 2010 mit einem gemeinsamen<br />

Eckpunktepapier des DGBs und der<br />

Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände<br />

begann, wird auf Gewerkschaftsseite<br />

längst nicht mehr geschlossen<br />

geführt. Verdi, die zweitgrößte Gewerkschaft<br />

im Land, scherte auf Druck ihrer Basis<br />

aus und will die Tarifeinheit nun lieber<br />

doch nicht wiederhaben. Das führt zu bisweilen<br />

bizarren Reaktionen. Vertreter des<br />

Verdi-Bezirks Südhessen sandten jüngst eine<br />

Solidaritätsadresse an die eigentlich verhasste<br />

GDL und ermunterten diese, kräftig<br />

weiterzustreiken. Die Pläne der Bundesregierung<br />

zur Tarifeinheit richteten sich „im<br />

Kern gegen alle Gewerkschaften“.<br />

Genau diese Pläne aber muss DGB-Chef<br />

Hoffmann verteidigen. Auf dem DGB-Bundeskongress<br />

im Mai gab es einen kryptischen<br />

Kompromiss, wonach der DGB die<br />

Tarifeinheit wolle, aber keinerlei Einschränkung<br />

des Streikrechts akzeptieren werde –<br />

auch nicht für Spartengewerkschaften. „Das<br />

eine aber lässt sich <strong>vom</strong> anderen nicht trennen“,<br />

sagt Richard Giesen, Arbeitsrechtler<br />

an der Universität München.<br />

Der Bahn-Konflikt gefährdet das Ansehen<br />

der Gewerkschaften insgesamt. Der DGB<br />

bekomme es immer wieder mit empörten<br />

Bürgern zu tun, denen nicht klar sei, dass<br />

die Lokführergewerkschaft nicht zum DGB<br />

gehöre, berichtet Hoffmann. „Insofern<br />

schadet der Machtkampf der GDL – Kompromisslosigkeit<br />

ist kein Weg, zu gestalten.“<br />

Die Bahngewerkschaft des DGB, die EVG,<br />

verhandele derzeit, ohne zu streiken. Hoffmann:<br />

„Das ist unser Ruf – und der wird gerade<br />

geschädigt.“<br />

Die Bundesregierung hat mit ihrem Gesetzentwurf<br />

zur Tarifeinheit die Lage noch<br />

verschärft. „Wenn es die Gesetzespläne der<br />

großen Koalition nicht gäbe, wäre der<br />

»<br />

WirtschaftsWoche <strong>10.11.2014</strong> Nr. 46 21<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

Für mehr Geld Verdi-Chef Bsirkse streikt mit dem öffentlichen Dienst<br />

»<br />

Tarifkonflikt bei der Bahn längst gelöst“,<br />

glaubt der frühere Bundesinnenminister<br />

Gerhart Baum, der als Anwalt die Pilotenvereinigung<br />

Cockpit vertritt. Die Spartengewerkschaften<br />

sehen sich in ihrer Existenz<br />

bedroht; sowohl Cockpit als auch der Beamtenbund<br />

(als Dachverband der GDL)<br />

und die Ärztegewerkschaft Marburger Bund<br />

wollen vor dem Bundesverfassungsgericht<br />

klagen (siehe Seite 10). „Sobald das Gesetz<br />

in Kraft getreten ist, werde ich für Cockpit eine<br />

verfassungsgerichtliche Klärung in die<br />

Wege leiten“, kündigt Baum an.<br />

Die Angst, als Minderheitstruppe künftig<br />

keine Rolle zu spielen, sorgt bei den Spartengewerkschaften<br />

für Bewegung. Die Flugbegleitergewerkschaft<br />

Ufo, derzeit fürs Kabinenpersonal<br />

zuständig, will eine berufsübergreifende<br />

„Industriegewerkschaft Luftfahrt<br />

(IGL)“ gründen. Der Ufo-Vorsitzende<br />

Nicoley Baublies versucht, andere kleine Interessenverbände<br />

wie die Gewerkschaft der<br />

Flugsicherung, die Technik Gewerkschaft<br />

Luftfahrt und die Vertretung des Bodenpersonals<br />

(Agil) ins Boot zu holen.<br />

Der Vorstoß ist ein Angriff auf die Großgewerkschaft<br />

Verdi, die mehr als 1000 Berufe<br />

unter einem Dach vereint. Auch fast 14 Jahre<br />

nach ihrer Gründung hat sie keine wirkliche<br />

Bindungskraft im Arbeitnehmerlager<br />

entwickelt. Fast alle Spartengewerkschaften<br />

tummeln sich in ihrem Beritt.<br />

Als sei die Zersplitterung nicht Problem<br />

genug, rangeln nun auch DGB-Gewerkschaften<br />

miteinander um Macht und Mitglieder.<br />

In der Energie- und Wasserwirtschaft<br />

liegen Verdi und IG BCE über Kreuz.<br />

Im sächsischen Annaberg rief Verdi zum<br />

Warnstreik beim lokalen Wasserversorger<br />

auf, obwohl es dort einen Tarifvertrag der IG<br />

BCE gab. So etwas habe „es in der Geschichte<br />

des DGB bislang nicht gegeben“, tobt IG-<br />

BCE-Boss Michael Vassiliadis. Auch zwischen<br />

Verdi und IG Metall hängt der Haussegen<br />

schief. Konkreter Anlass: Beim Bremer<br />

Logistikunternehmen Stute, ursprünglich<br />

Verdi-Land, warb die IG Metall Mitglieder<br />

und schloss einen eigenen Tarifvertrag ab –<br />

den wiederum Verdi mit einem neuen Vertrag<br />

zu übertrumpfen versuchte. Das hätten<br />

die Bahngewerkschaften EVG und GDL<br />

nicht besser hingekriegt.<br />

Generationen<br />

Zukunft? Nicht mit uns!<br />

Union und SPD verschaffen mit ihrer erdrückenden<br />

Mehrheit im Bundestag den Älteren<br />

und Etablierten in der Gesellschaft einen<br />

Einfluss, der ihren stetig wachsenden<br />

Anteil an der Gesellschaft noch übertrifft.<br />

Das durchschnittliche Parteimitglied bei<br />

Christ- wie Sozialdemokraten ist um die 60<br />

Jahre. Bei der jüngsten Bundestagswahl<br />

stimmten 50 Prozent der über 60-jährigen<br />

Wähler für CDU oder CSU. Ein knappes<br />

Drittel der Bürger ist heute bereits über 60 –<br />

und diese Älteren gehen überdurchschnittlich<br />

oft zur Wahl.<br />

Statt sich um Aufstiegschancen für Jüngere<br />

oder Zuwanderer zu kümmern, sorgen<br />

Die Wahlgeschenke<br />

zielten vor allem auf<br />

die ältere Generation<br />

Gegen den Verschleiß Es fehlen sieben Milliarden Euro pro Jahr<br />

sich beide Regierungsparteien eher um die<br />

Wahrung des Besitzstands ihrer Klientel.<br />

Das Müttergeld, das Frauen (und Männern)<br />

zugutekommt, die vor 1992 Kinder bekommen<br />

haben, kostet rund sechs Milliarden<br />

Euro im Jahr. Bis zu eine Milliarde Euro extra<br />

könnte durch die abschlagsfreie Rente mit<br />

63 aus der Sozialversicherung abfließen.<br />

Jüngere bezahlen diese Änderungen später<br />

durch Steuern, wenn ab 2017 die derzeit<br />

üppige Reserve der Rentenkasse für die<br />

Wahlgeschenke aufgezehrt ist. Außerdem<br />

senken die <strong>Ausgabe</strong>n das Rentenniveau für<br />

künftige Alte.<br />

Die Pflegeversicherung soll sechs Milliarden<br />

Euro mehr bekommen, vor allem für<br />

Demenzkranke, die bisher nur wenig aus<br />

der Versicherung bekommen haben.<br />

Für die Jüngsten dagegen ist weniger Geld<br />

im Topf. Die große Koalition will für den Kita-Ausbau<br />

zwar eine weitere Milliarde Euro<br />

zur Verfügung stellen. Doch in der Vergangenheit<br />

konnten die Betreiber der Einrichtungen<br />

nie dauerhaft mit derart zugesagtem<br />

Geld rechnen.<br />

Verkehr<br />

Auf der Strecke geblieben<br />

Arbeitsverweigerung kann man dem Bundesverkehrsminister<br />

nicht vorwerfen. Alexander<br />

Dobrindt (CSU) hat viele Themen<br />

angepackt – zuletzt legte er den Gesetzentwurf<br />

für die Pkw-Maut vor. Doch Fleiß ist<br />

keine Garantie für Qualität. Die Maut-Aufgabe<br />

hat Dobrindt zwar gelöst – allerdings<br />

am Thema vorbei.<br />

Auf sieben Milliarden Euro pro Jahr beziffern<br />

Experten die Summe, die der Bund investieren<br />

müsste, um die Verkehrswege<br />

22 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Für schöne Landschaften CSU-Chef Seehofer bekämpft Stromtrassen<br />

Gegen die Jugend Die große Koalition bedient vor allem ihre Klientel<br />

FOTOS: ACTION/PRESSBECKER+BREDEL, BLICKWINKEL, WAZ-FOTOPOOL/SASCHA FROMM, DDP IMAGES/LUTZ WALLROTH, FOTOLIA<br />

wieder auf ein vernünftiges Niveau zu heben.<br />

Die kaputte Rheinbrücke auf der A 1<br />

bei Leverkusen ist ja nur das bekannteste<br />

von vielen Beispielen für das Verrotten der<br />

Verkehrswege. Nun sollen Ausländer laut<br />

Dobrindt durch die Maut 500 Millionen Euro<br />

pro Jahr zusätzlich in die Staatskasse<br />

pumpen – Peanuts im Vergleich zu dem,<br />

was gebraucht wird. Zudem bezweifeln<br />

Experten die Höhe der Einnahmen.<br />

Immerhin: Finanzminister Schäuble hat<br />

vergangene Woche ein Investitionspaket in<br />

Höhe von zehn Milliarden Euro angekündigt,<br />

um Straßen und Brücken zu sanieren.<br />

Das Geld soll von 2016 bis 2018 fließen.<br />

Bis dahin verkämpft sich Deutschland im<br />

Klein-Klein. Wenn es um Erhalt und Ausbau<br />

der Verkehrswege geht, finden alle Bundesländer<br />

Argumente, warum ausgerechnet<br />

bei ihnen der Bedarf am höchsten ist. Gerade<br />

erstellt der Bund den neuen Verkehrswegeplan,<br />

der definiert, wohin die Neubauinvestitionen<br />

fließen sollen. Etwas Regionalproporz<br />

ist bei der Vergabe der Milliarden<br />

unvermeidbar, aber erstmals soll es um<br />

bundesweite Prioritäten gehen.<br />

Ein Lob an Baden-Württemberg und<br />

Hamburg, die ihre Top-Projekte vorab ausgesucht<br />

haben. Bayern dagegen hat alles<br />

nach Berlin gemeldet, was gebaut werden<br />

könnte – die Beamten verzweifeln. Grundsätzlich<br />

werden Vorhaben von den Ländern<br />

schöngerechnet, indem sie die Kosten niedrig<br />

ansetzen. „Wir akzeptieren nicht mehr<br />

eins zu eins die Angaben der Länder“, sagt<br />

ein hochrangiger Beamter des Bundesverkehrsministeriums.<br />

Bis 2015 soll der neue<br />

Bau- und Fahrplan stehen.<br />

So etwas könnte Deutschland auch für<br />

die digitale Infrastruktur brauchen. Es hinkt<br />

beim Glasfaseranschluss international<br />

deutlich hinterher. Der Anteil der Haushalte<br />

mit ultraschnellem Internet liegt unter zehn<br />

Prozent. Zum Vergleich: In Japan und Südkorea<br />

surft jeder Zweite über ein hochgerüstetes<br />

Glasfasernetz.<br />

Energie<br />

Kurzer Draht statt lange Leitung<br />

Ein Verfechter der Energiewende ist Horst<br />

Seehofer schon, sagt er. Doch wenn es um<br />

den Bau von Stromtrassen durch das schöne<br />

Bayern geht, reiht sich der CSU-Chef gerne<br />

in die demonstrierende Phalanx der Gegner<br />

ein. Wie in Bergen im Chiemgau. „Ich werde<br />

mich dafür einsetzen, dass diese Trasse<br />

nicht kommt“, rief er den applaudierenden<br />

400 Einwohnern zu.<br />

Großprojekte geraten in Deutschland immer<br />

öfter ins Stocken. In den Siebzigerjahren<br />

wurden 10000 Kilometer Stromtrassen<br />

durchs Land gezogen – ohne großen Widerstand.<br />

Heute wächst der Unmut bei einem<br />

Drittel an neuen Starkstromstrippen. Ein Dilemma:<br />

Der Netzausbau ist für das Gelingen<br />

der Energiewende unabdingbar, um vor allem<br />

den Windstrom aus dem Norden in den<br />

Westen und Süden zu leiten, wo die Industrie<br />

ihn braucht.<br />

Nun lässt die Bundesregierung untersuchen,<br />

wie der wachsende Widerstand gegen<br />

Großprojekte zu brechen wäre. Forschungsministerin<br />

Johanna Wanka (CDU) unterstützt<br />

Begleitstudien mit 30 Millionen Euro.<br />

Die sollen ans Licht bringen, welche Art der<br />

Bürgerbeteiligung bei Großprojekten funktioniert.<br />

Ergebnisse werden aber erst in zwei<br />

bis drei Jahren vorliegen.<br />

Bis dahin hat sich der Widerstand weiter<br />

professionalisiert. Schon beim Bahnhofsbau<br />

Stuttgart 21 wurde deutlich: Die Gegner sind<br />

hoch gebildet und arbeiten sich in Details<br />

ein. Auf Informationsveranstaltungen und<br />

Dialogforen muss man inzwischen „Fachgespräche<br />

führen“, heißt es bei einem Übertragungsnetzbetreiber.<br />

Finanzausgleich<br />

Die Länder als kassenlose Gesellschaft<br />

Wenn beim Schachspiel das Zeitlimit erreicht<br />

ist, wird traditionell das Spiel unterbrochen,<br />

die Spieler notieren den nächsten<br />

Zug, und es gibt eine Pause. Schachspieler<br />

lieben das, es ist die große Zeit der Analyse.<br />

Sie nennen es eine „Hängepartie“.<br />

In der Politik liegt die Sache anders. Hängepartien<br />

sind hier nur eine Metapher und<br />

nicht Ausnahme, sondern Regel. Und die<br />

besagt: Stockt die Partie, kann man die Reform<br />

gleich ganz vergessen.<br />

Da klang es gut, was Hamburgs Erster Bürgermeister<br />

Olaf Scholz (SPD) im Sommer<br />

vorschlug: „Nach meinen Gesprächen mit<br />

vielen Beteiligten bin ich optimistisch, dass<br />

es keine Hängepartie geben wird.“<br />

2019 stehen in Deutschland einige der<br />

wichtigsten Reformen der kommenden Dekade<br />

an. Der Länderfinanzausgleich läuft<br />

aus, zugleich endet der Solidarpakt, und die<br />

Schuldenbremse tritt auch für die Länder in<br />

Kraft. 2019 klingt weit weg, doch große Reformen<br />

brauchen Zeit und Mehrheiten. Bis<br />

zur „Mitte der Legislaturperiode“, also zum<br />

Sommer 2015, müsse man sich einigen, um<br />

den Zeitplan zu halten, heißt es deshalb im<br />

Koalitionsvertrag. Um das zu schaffen, sollten<br />

sich die Finanzminister von Bund und<br />

Ländern im Herbst einigen, die Ministerpräsidenten<br />

bis Anfang 2015 zustimmen. So<br />

weit der Plan.<br />

»<br />

WirtschaftsWoche <strong>10.11.2014</strong> Nr. 46 23<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

»<br />

Doch Scholz’ Hoffnung trug nur einen<br />

Sommer. Schon die Finanzminister scheitern<br />

an der Einigung, manche sind inzwischen<br />

schon stolz, dass es inzwischen wenigstens<br />

gelungen ist, alle Reformvorschläge<br />

zusammenzutragen. Dabei liegt vielleicht<br />

genau darin das Problem.<br />

Ein paar Beispiele: Scholz und Schäuble<br />

möchten den Solidaritätszuschlag abschaffen<br />

und stattdessen die Länderanteile an den<br />

gemeinsamen Steuern erhöhen; NRW-Finanzminister<br />

Norbert Walter-Borjans (SPD)<br />

will den Soli durch einen Altschuldentilgungsfonds<br />

ersetzen; aus Hessen kommt die<br />

Idee, Berlin aus dem Länderfinanzausgleich<br />

herauszulösen und direktdurch den Bund zu<br />

finanzieren; Baden-Württemberg und Bayern<br />

schlagen vor, den Ländern mehr Freiheiten<br />

beider Festsetzungeinzelner Steuersätze<br />

einzuräumen; die ostdeutschen Bundesländer<br />

und NRW fordern, die Steuerkraft der<br />

Kommunen zu 100 Prozent in die Ausgleichsberechnung<br />

einzubeziehen; Bayern<br />

will vor allem, dass die Gesamtzahlungen<br />

sinken.<br />

So ist halt Politik, sagen die Achselzucker.<br />

Jeder trägt vor, was er will, und sucht sich<br />

Verbündete. Am Ende gibt es einen Kompromiss,<br />

der keinem gefällt. Macht gegen<br />

Macht, auf dass der Stärkere gewinnt.<br />

Kompromissvorschläge sind heute reine<br />

Deals. Schäuble bietet den Ländern, die<br />

Schuldenbremse abzuschwächen, wenn sie<br />

dafür seinem Stabilitätsrat mehr Macht geben.<br />

Gib du mir, dann gebe ich dir. Flankiert<br />

wird all das von Drohungen und Anfeindungen.<br />

SaarlandsMinisterpräsidentin Annegret<br />

Kramp-Karrenbauer (CDU) meint, ihr Bundesland<br />

seiohne die TilgungvonAltschulden<br />

nicht lebensfähig. Es werde dann Länderfusionen<br />

„geben müssen“. Bayerns Finanzminister<br />

Markus Söder (CSU) will nur noch „gegen<br />

Auflagen“ Geld nach Norden schicken.<br />

So beginnt die Eskalationsspirale: Je höher<br />

die Forderungen, desto größer der potenzielle<br />

Gesichtsverlust und umso geringer die<br />

Kompromissbereitschaft. Am Ende der Hängepartie<br />

steht ein Ergebnis, bei dem jeder<br />

ein bisschen was bekommt – und sich an<br />

den Problemen nichts ändert.<br />

Beim Schach gibt es heutzutage übrigens<br />

kaum noch Hängepartien. Da in den Pausen<br />

immer öfter per Schachcomputer geschummelt<br />

wurde, wird heutzutage einfach<br />

durchgespielt. Egal, wie lange es dauert. Nur<br />

so als Idee.<br />

n<br />

henning.krumrey@wiwo.de, konrad fischer, bert losse,<br />

christian schlesiger | Berlin, cordula tutt | Berlin<br />

Lesen Sie weiter auf Seite 26 »<br />

STREIKFOLGEN<br />

Stillstand<br />

am Band<br />

Der Ausstand der Lokführer kommt<br />

die Wirtschaft teuer.<br />

Der Streik der GDL-Lokführer<br />

hat nicht nur private<br />

Bahnfahrer in Rage<br />

versetzt. Unternehmen<br />

der Automobilwirtschaft,<br />

Chemie-, Energie- und<br />

Stahlindustrie kostete der aufgezwungene<br />

Stillstand im Güterverkehr nach ersten<br />

Schätzungen des Instituts der deutschen<br />

Wirtschaft Köln mehr als 100 Millionen Euro<br />

pro Tag – durch nicht eingehaltene Liefertermine,<br />

fehlende Teile, Stillstand am<br />

Band. „Viele Unternehmen haben einen<br />

Puffer für 24 Stunden“, sagt Christian Kille,<br />

Professor für Handelslogistik an der Hochschule<br />

Würzburg. „Ab 48 Stunden kann es<br />

kritisch werden.“ Logistik sei nicht mit dem<br />

Personenverkehr vergleichbar: „Man kann<br />

nicht an einem Streiktag auf Auto oder<br />

Fernbus umsteigen.“<br />

Steht die Bahn still, schlägt das auf die<br />

gesamte Logistikbranche durch. „In den<br />

Häfen und Güterbahnhöfen müssen die<br />

Mitarbeiter jetzt Überstunden machen“,<br />

sagt Frank Huster, Hauptgeschäftsführer<br />

des Deutschen Speditions- und Logistikverbands.<br />

Dort müssten nun Güter auf<br />

Lkws umgeladen werden. Huster: „Das<br />

bedeutet höhere Kosten für die Spediteure<br />

und damit am Ende für die Kunden.“<br />

Im Duisburger Hafen wird rund ein Drittel<br />

der ankommenden Waren über die<br />

374 Mio. Tonnen Güter<br />

wurden 2013 in Deutschland auf der Schiene<br />

befördert, darunter:<br />

Metall<br />

Erze, Steine, Erden<br />

Mineralölerzeugnisse<br />

Chemie<br />

13 Mio. t<br />

30 Mio. t<br />

Fahrzeuge<br />

Quelle: Statistisches Bundesamt<br />

52 Mio. t<br />

47 Mio. t<br />

61 Mio. t<br />

Schiene abtransportiert. Die Deutsche<br />

Bahn sei für gut 50 Prozent des Schienenverkehrs<br />

verantwortlich, so Hafen-Chef<br />

Erich Staake. „Bei den vergangenen<br />

Streiks fuhr gut ein Dutzend Züge nicht.<br />

Jetzt rechne ich mit der drei- bis vierfachen<br />

Menge.“ Die Wettbewerber der Bahn<br />

können nur einen Teil zusätzlich aufs Gleis<br />

bringen.<br />

In Branchen wie der Automobilindustrie<br />

regiert die Just-in-time-Produktion, Zuliefer-<br />

und Herstellungstermine sind aufeinander<br />

abgestimmt. Die Konzerne und ihre<br />

Zulieferer gehören zu den größten Kunden<br />

der Bahn, für sie sind täglich rund 200 Güterzüge<br />

unterwegs. Wie viel die <strong>vom</strong> Verband<br />

der Automobilindustrie prophezeiten<br />

„erheblichen Behinderungen in den Transportabläufen“<br />

tatsächlich gekostet haben,<br />

sagen die Hersteller nicht.<br />

LKW STATT GÜTERZUG<br />

Bei Ford in Köln gelangten 1000 Autos, die<br />

mit der Bahn transportiert werden sollten,<br />

per Lkw und Schiff ans Ziel. In Saarlouis<br />

lud der Hersteller 250 Autos kurzerhand<br />

in Lkws statt auf den Güterzug. Weitere<br />

500 Pkws wurden vor Ort zwischengelagert.<br />

„Diese Maßnahmen gehen mit zusätzlichen<br />

Kosten einher“, hieß es bei Ford,<br />

konkreter wollte man nicht werden. Auch<br />

Audi, zu dessen Werk in Ingolstadt täglich<br />

rund 15 Güterzüge rollen, wich punktuell<br />

auf Lkws aus.<br />

„Die subtile Botschaft ist, dass die Bahn<br />

kein zuverlässiger Verkehrsträger ist“, sagt<br />

Gunnar Gburek <strong>vom</strong> Bundesverband Materialwirtschaft,<br />

Einkauf und Logistik. Unter<br />

den rund 9500 Mitgliedern würden sich<br />

Entscheider„sehr gut überlegen, ob sie das<br />

Risiko eingehen, dass die benötigte Ware<br />

nicht kommt, weil die Bahn streikt“.<br />

„Für den Handel ist der Streik eine Katastrophe“,<br />

sagt Stefan Genth, Hauptgeschäftsführer<br />

des Handelsverbands<br />

Deutschland. „Wenn die Kunden aus Angst<br />

vor dem Verkehrschaos zu Hause bleiben,<br />

schlägt das auch auf die Umsätze der<br />

Händler in den Innenstädten durch“, befürchtet<br />

er – „und das ausgerechnet zum<br />

Start ins Weihnachtsgeschäft.“ Zudem kämen<br />

Tausende Beschäftigte üblicherweise<br />

mit der Bahn zur Arbeit. Die Mitarbeiter<br />

seien im Verkauf und an den Kassen unverzichtbar,<br />

so Genth: „Da hilft auch kein<br />

Home Office.“<br />

rebecca.eisert@wiwo.de, sebastian schaal,<br />

thomas glöckner, jacqueline goebel, henryk hielscher<br />

FOTO: FOTOLIA<br />

24 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

UNTERNEHMEN<br />

»Hohe Cash-Reserven«<br />

Im Gegensatz zur Politik hält sich die deutsche Wirtschaft konsequent an ihr Fitnessprogramm. Mit viel<br />

Eigenkapital und stetigen Innovationen ist sie für den absehbaren konjunkturellen Abschwung gut gerüstet.<br />

Es war der nützliche Schock fürs Leben.<br />

„Seit der Finanzkrise haben sich die deutschen<br />

Unternehmen permanent solide<br />

aufgestellt“, sagt Alexander Börsch, Leiter<br />

Research beim Prüfungs- und Beratungsunternehmen<br />

Deloitte. „Bis heute<br />

agieren sie vorsichtig, betreiben kontinuierlich<br />

aktives Kostenmanagement,<br />

konzentrieren sich auf Innovationen und<br />

Mit Substanz in den Abschwung<br />

Eigenkapital und Eigenkapitalquote der Dax-Unternehmen<br />

Name<br />

Adidas<br />

Allianz<br />

BASF<br />

Bayer<br />

BMW<br />

Beiersdorf<br />

Commerzbank<br />

Continental<br />

Daimler<br />

Deutsche Bank<br />

Deutsche Börse<br />

Deutsche Lufthansa<br />

Deutsche Post<br />

Deutsche Telekom<br />

E.On<br />

Fresenius Medical Care<br />

Fresenius<br />

HeidelbergCement<br />

Henkel<br />

Infineon Technologies<br />

K+S<br />

Lanxess<br />

Linde<br />

Merck<br />

Munich Re<br />

RWE<br />

SAP<br />

Siemens<br />

ThyssenKrupp<br />

Volkswagen<br />

Zahlen gerundet, Quelle: Deloitte. 2. Quartal 2014<br />

halten hohe Cash-Reserven bereit.“ Die<br />

Wirtschaft, so lautet die Erkenntnis einer<br />

breit angelegten Umfrage bei 148 Finanzvorständen<br />

(CFO) von deutschen Großunternehmen,<br />

hält sich bis heute fit. Auch<br />

um notfalls für einen neuen Schock gerüstet<br />

zu sein.<br />

Der Gegensatz zur Politik könnte kaum<br />

größer sein. In Berlin ist die große Koalition<br />

Eigenkapital 2014<br />

(in Mrd. Euro)<br />

5,5<br />

57,8<br />

26,9<br />

19,5<br />

36,4<br />

3,5<br />

27,3<br />

10,1<br />

42,7<br />

68,4<br />

3,3<br />

5,0<br />

8,9<br />

32,5<br />

35,4<br />

10,3<br />

14,2<br />

12,6<br />

10,4<br />

3,9<br />

3,6<br />

2,3<br />

13,5<br />

11,2<br />

27,7<br />

11,7<br />

16,2<br />

28,3<br />

3,2<br />

89,7<br />

Eigenkapitalquote 2014<br />

(in Prozent)<br />

46,3<br />

7,7<br />

39,3<br />

35,6<br />

25,1<br />

57,3<br />

4,7<br />

35,7<br />

24,3<br />

4,1<br />

1,2<br />

16,6<br />

26,1<br />

27,5<br />

27,3<br />

42,8<br />

40,0<br />

46,4<br />

53,9<br />

65,7<br />

45,6<br />

32,3<br />

40,8<br />

52,2<br />

10,5<br />

13,8<br />

57,2<br />

28,0<br />

8,7<br />

26,7<br />

Veränderung zu 2008<br />

(in Prozentpunkten)<br />

14,5<br />

3,4<br />

–1,8<br />

1,7<br />

1,3<br />

5,1<br />

2,2<br />

9,8<br />

–3,3<br />

2,4<br />

–1,0<br />

–11,3<br />

21,5<br />

–7,6<br />

–4,6<br />

2,8<br />

0,8<br />

14,8<br />

19,5<br />

20,8<br />

9,0<br />

–1,2<br />

4,7<br />

–9,4<br />

0,1<br />

1,3<br />

11,1<br />

–8,9<br />

–17,2<br />

4,0<br />

von Union und SPD vor einem Jahr angetreten,<br />

Sozialleistungen für Zigmilliarden<br />

Euro zu verteilen. Entsprechend hoch<br />

sind die Soziallasten, die auf die Erträge<br />

der Unternehmen drücken. Vorbei sind<br />

die Zeiten der rot-grünen Agenda 2010,<br />

die überzogene Ansprüche an den Sozialstaat<br />

beschnitten hat und der deutschen<br />

Wirtschaft dabei half, ihre Wettbewerbsfähigkeit<br />

zurückzugewinnen. Mit ihren gesetzlichen<br />

Eingriffen avanciert die große<br />

Koalition zu einem der größten Risikofaktoren<br />

für die Wirtschaft, lautet ein Ergebnis<br />

der Deloitte-Umfrage unter Finanzvorständen.<br />

Die Sorge vor einer politischen<br />

Strangulierung übersteigt die vor höheren<br />

Lohn- oder Energiekosten.<br />

Die guten Zeiten des fünfjährigen Aufschwungs<br />

sind dabei schon passé. 68<br />

Prozent der Finanzvorstände rechnen damit,<br />

dass die aktuelle Konjunkturschwäche<br />

in der Euro-Zone nur der Vorbote einer<br />

längeren Stagnation ist. 37 Prozent<br />

erwarten sogar eine Rückkehr der Euro-<br />

Krise, nur drei Prozent glauben, diese sei<br />

überwunden. Das deckt sich mit dem aktuellen<br />

Wirtschaftsausblick der OECD:<br />

„Die Finanzrisiken sind nach wie vor hoch<br />

und könnten dazu führen, dass sich<br />

Marktschwankungen verstärken“, warnte<br />

OECD-Generalsekretär Angel Gurría am<br />

Donnerstag vergangener Woche in Paris.<br />

Vor allem im Euro-Raum bestehe die Gefahr<br />

einer Stagnation.<br />

MITARBEITER NICHT ENTLASSEN<br />

Trotzdem wollen sich die Unternehmen<br />

nicht von ihrem Kurs der vergangenen<br />

Jahre verabschieden. „Die strategischen<br />

Prioritäten und Investitionsplanungen<br />

sind weitgehend konstant“, heißt es im<br />

CFO-Survey von Deloitte. Die Neigung<br />

nimmt sogar leicht zu, die Wettbewerbsfähigkeit<br />

durch neue Produkte und Expansion<br />

in neue Märkte abzusichern. Die<br />

meisten Unternehmen wollen auch weiterhin<br />

Mitarbeiter einstellen. Den Abbau<br />

von Personal plant allein die Energiebranche.<br />

Statt Fachkräfte zu entlassen, wollen<br />

26 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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FOTO: FOTOLIA<br />

die meisten Unternehmen in den nächsten<br />

Monaten lieber niedrigere Gewinne in Kauf<br />

nehmen.<br />

Wie gut Deutschlands Wirtschaft für<br />

schlechtere Zeiten gerüstet ist, zeigt ein<br />

Blick in die Geschäftsberichte, genauer gesagt<br />

auf die Entwicklung des Eigenkapitals.<br />

Allein die 30 großen Dax-Unternehmen verfügten<br />

Mitte dieses Jahres über insgesamt<br />

642 Milliarden Euro Eigenmittel, das sind<br />

158 Milliarden Euro mehr als 2008, also am<br />

Ende des vorangegangenen Konjunkturaufschwungs.<br />

Die Eigenkapitalquoten verbesserten<br />

sich dabei um durchschnittlich fast<br />

drei Prozentpunkte auf 31,4 Prozent.<br />

Noch besser sind die großen Familienunternehmen<br />

aufgestellt. Die 4500 größten<br />

von ihnen kamen Ende 2013 auf eine<br />

durchschnittliche Eigenkapitalquote von<br />

37,3 Prozent, geht aus einer gemeinsamen<br />

Studie des Industrieverbandes BDI und der<br />

Deutschen Bank hervor.<br />

BERUHIGENDER CASH-FLOW<br />

Manche Familienunternehmen haben in<br />

Wirklichkeit noch viel besser vorgebaut.<br />

68 Prozent<br />

der Finanzvorstände<br />

erwarten<br />

eine Stagnation<br />

Das Motorsägen-Imperium Stihl weist offiziell<br />

bereits beachtliche 68 Prozent Eigenkapital<br />

aus. Einschließlich Rückstellungen,<br />

Genussrechten der Mitarbeiter und Gesellschafterdarlehen<br />

steigt die Zahl aber auf<br />

weit über 90 Prozent. An Verbindlichkeiten<br />

gegenüber Kreditinstituten stehen in den<br />

Büchern lediglich 1,3 Prozent der Bilanzsumme.<br />

Schwäbische Solidität bedeutet im<br />

Hause Stihl, den größten Teil der Gewinne<br />

zu reinvestieren. Davon könnte sich die<br />

Bundesregierung eine Scheibe abschneiden,<br />

die den Großteil ihrer Steuereinnahmen<br />

für Soziales ausgibt und sich für<br />

ihre schwarze Null abquält, während die<br />

Investitionsquote auf historisch niedrigem<br />

Niveau dahindümpelt.<br />

Eine weitere Lehre aus der großen Finanzkrise<br />

2009 lautet für die Wirtschaft:<br />

Immer an die Liquidität denken! Denn<br />

damals, als Aufträge und Kreditlinien<br />

wegbrachen, ging so manches kerngesundes<br />

Unternehmen an plötzlichem<br />

Geldmangel zugrunde. Die Optimierung<br />

des operativen Cash-Flows, ein Indikator<br />

für die Selbstfinanzierungskraft, „steht<br />

für viele Unternehmen ganz oben auf der<br />

Agenda“, sagt Markus Seeger, Experte<br />

für CFO Services bei Deloitte. „Auch<br />

die Barreserven sind auf einem Stand,<br />

der die Unternehmen unabhängiger von<br />

externen Finanziers macht.“<br />

Von einem solchen Polster mag Bundesfinanzminister<br />

Wolfgang Schäuble<br />

nicht einmal träumen. Keine neuen<br />

Schulden machen, das ist sein großes<br />

Ziel. Ein moderner Juliusturm mit milliardenschweren<br />

Reserven für schlechte Zeiten<br />

ist offenbar fern jeder Vorstellungskraft<br />

im Berliner Regierungsviertel. n<br />

christian.ramthun@wiwo.de | Berlin<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

Nahbarer Profi<br />

EU-KOMMISSION | Als Chefin der Wettbewerbsbehörde ist Margrethe Vestager eine der mächtigsten<br />

Personen in Brüssel. In Dänemark diente die Liberale als Vorbild für die Erfolgsserie „Borgen“.<br />

Seit sie in Brüssel ist, wundert sie sich<br />

über dieses seltsame Konzept von<br />

oben und unten. Auf der Suche nach<br />

einem neuen Zuhause für sich und ihre Familie<br />

ließ sich Margrethe Vestager von<br />

Maklern durch diverse Häuser führen. „Im<br />

Untergeschoss angekommen, deuteten<br />

Makler auf Kammern und empfahlen sie<br />

für Dienstboten“, erzählt Vestager und<br />

schaut entsetzt.<br />

Die Anekdote sagt etwas aus über den<br />

Brüsseler Immobilienmarkt, wo Investoren<br />

mit leichter Hand Keller zu Wohnraum<br />

umdeklarieren und auf Diplomaten als<br />

Kunden hoffen. Sie sagt aber vor allem viel<br />

aus über eine Frau, die es in der dänischen<br />

Politik nach ganz oben geschafft hat und<br />

dabei ihr einstiges Image als kalte Liberale<br />

ablegte. Vestager lässt es menscheln, zeigt<br />

eine persönliche Seite. Dennoch verfolgt<br />

sie ihre Ziele mit großer Entschlossenheit.<br />

In ihrer Heimat führte sie als Vize-Ministerpräsidentin<br />

regelmäßig die Rangfolge<br />

der einflussreichsten Politiker an. Als sie<br />

von 2007 bis 2011 an der Spitze der sozialliberalen<br />

Oppositionspartei Radikale Venstre<br />

stand, faszinierte sie die dänische Öffentlichkeit<br />

so sehr, dass sie der Erfolgs-<br />

Fernsehserie „Borgen“ als Vorbild diente.<br />

Seit Monatsbeginn hat die Mutter dreier<br />

Töchter (11, 15 und 18 Jahre alt) nun einen<br />

der mächtigsten Posten in der neuen EU-<br />

Kommission unter Präsident Jean-Claude<br />

Juncker inne: Als Wettbewerbskommissarin<br />

kann sie Kartellstrafen in Milliardenhöhe<br />

verhängen, Fusionen untersagen und<br />

den Mitgliedstaaten auf die Finger klopfen,<br />

wenn diese unerlaubte Subventionen verteilen.<br />

Ihre anstehende Entscheidung im<br />

Fall Google, den sie von Vorgänger Joaquín<br />

Almunia geerbt hat, wird Europas Antwort<br />

auf die Vormacht von US-Internet-Giganten<br />

bestimmen. Von ihr wird abhängen, ob Europa<br />

Steuerschlupflöcher schließt, die Konzerne<br />

wie Apple und Starbucks in Ländern<br />

wie Luxemburg bisher ausgenutzt haben.<br />

Diejenigen, die Vestager gut kennen,<br />

halten sie für eine Idealbesetzung. „Sie ist<br />

ein Glücksfall“, sagt ein hoher EU-Beamter,<br />

Es dürfte ihr relativ<br />

leicht fallen, sich<br />

zu profilieren<br />

Vom Rand in die Mitte Margrethe Vestager<br />

begann ihre Karriere im eher linken Lager<br />

der mit ihr in ihrer Zeit als dänische Wirtschaftsministerin<br />

eng zusammengearbeitet<br />

hat. Im Oktober 2011 trat sie dieses Amt<br />

an, nachdem sie 1998 mit nur 29 Jahren<br />

zum ersten Mal Ministerin geworden war,<br />

damals für Bildung und Kirche. Nie zuvor<br />

hatte es in Dänemark ein so junges Kabinettsmitglied<br />

gegeben.<br />

CHARMEOFFENSIVE<br />

An ihrem zweiten Arbeitstag als Wirtschaftsministerin<br />

stand ein Treffen des<br />

Wirtschafts- und Finanzministerrats (Ecofin)<br />

in Brüssel an. Als sie drei Monate später<br />

den Vorsitz der dänischen Ratspräsidentschaft<br />

übernahm, fielen ihre gute Vorbereitung<br />

auf und ihr Talent, Brücken zu<br />

bauen. „Sie vermittelte zwischen Kampfhähnen<br />

und war dabei nicht ideologisch fixiert“,<br />

heißt es in Brüssel.<br />

Von der Masse ihrer Kollegen, nur eine<br />

Handvoll davon weiblich, hob sie sich<br />

durch ihren Charme ab. „Sie kennt ihre<br />

Wirkung und setzt sie gezielt ein“, sagt ein<br />

Lesen Sie weiter auf Seite 30 »<br />

FOTO: PICTURE-ALLIANCE/SCANPIX/JONAS SKOVBJERG<br />

28 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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NEW YORK | Aus<br />

dem Central Park<br />

sollen die Pferde<br />

verschwinden.<br />

Warum nur? Von<br />

Martin Seiwert<br />

Pferde raus,<br />

Autos rein<br />

FOTO: SASCHA PFLAEGING FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

Wenn die Zeit reicht,<br />

gehe ich morgens durch<br />

den Central Park in die<br />

Redaktion. Dabei stets in<br />

Sichtweite: die Pferdekutschen,<br />

in denen sich<br />

Touristen durch die grüne Oase Manhattans<br />

befördern lassen. Die Tiere haben in<br />

einem der schönsten Parks der Welt wohl<br />

kein echtes, aber sicherlich auch kein<br />

schlechtes Pferdeleben.<br />

Für New Yorker Tierschützer ist das<br />

Kutschengeschirr dagegen per se eine<br />

Quälerei. Mit ihrer Forderung, die traditionellen<br />

Pferdewagen abzuschaffen,<br />

mischten sie sich 2013 in den Bürgermeister-Wahlkampf<br />

ein. Damit blitzten sie<br />

zwar bei einem Großteil der New Yorker<br />

ab, doch der demokratische Kandidat Bill<br />

de Blasio schielte auf die Wählerstimmen<br />

von Tierfreunden, outete sich als Kutschengegner<br />

– und gewann.<br />

„Sehr schnell“, tönte de Blasio kürzlich,<br />

werde er nun die Pferde aus dem<br />

Central Park verbannen. Doch geht es<br />

ihm mit seiner unpopulären Mission vielleicht<br />

gar nicht um die Pferde? Steht er<br />

nicht vielmehr bei seinem alten Buddy<br />

Stephen Nislick in der Pflicht – einem<br />

Parkplatz-Magnaten, der die Pferdeställe<br />

am Central Park durch einen multimillionenteuren<br />

Garagenkomplex ersetzen<br />

möchte? Nislick hatte sich im Wahlkampf<br />

mit den Tierschützern verbündet, ideell<br />

wie finanziell. Diese verdächtige Verbindung<br />

untersucht inzwischen das FBI.<br />

Ein korrupter Bürgermeister, Tierschützer<br />

als heimliche Vorkämpfer für<br />

Autogaragen und FBI-Agenten auf den<br />

Spuren eines Parteispendenskandals?<br />

Der Central Park, so viel steht fest, ist nur<br />

für den flüchtigen Betrachter ein Idyll.<br />

Martin Seiwert ist Korrespondent der<br />

WirtschaftsWoche in New York.<br />

WirtschaftsWoche <strong>10.11.2014</strong> Nr. 46 29<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

»<br />

Mann, der dabei war. „Es geht ihr dabei<br />

aber immer um einen Zweck.“<br />

Die Euro-Krise drückte damals auf die<br />

Stimmung, machte unangenehme Entscheidungen<br />

notwendig. Während andere<br />

an ihrem Amt litten, blühte Vestager bei<br />

den Sitzungen in den fensterlosen Räumen<br />

des Justus-Lipsius-Gebäudes auf. „Was an<br />

der Arbeit im Ecofin so Spaß macht, ist der<br />

Umstand, dass man die Märkte wirklich<br />

beeinflusst“, sagt sie heute. Sie genoss den<br />

engen Kontakt zu den anderen Ministern,<br />

die sie bei den Sitzungen im Monatstakt<br />

kennenlernte. Trotz unterschiedlicher Interessen<br />

war die Zusammenarbeit oft einfacher<br />

als in der Koalition zu Hause: „Man<br />

hat ja nicht dieselben Wähler.“<br />

In ihrer Zeit im Ecofin bekam sie Lust auf<br />

ein Brüsseler Amt. Als feststand, dass die<br />

dänische Regierungschefin Helle Thorning-Schmidt<br />

nicht nach Brüssel wechseln<br />

würde, kam Vestagers Chance. Nachdem<br />

Juncker angekündigt hatte, Frauen mit<br />

wichtigen Posten zu betrauen, war klar,<br />

dass die studierte Ökonomin ein einflussreiches<br />

Amt bekommen würde.<br />

Von ihrem Vorgänger übernimmt Vestager<br />

eine lange Liste komplexer Fälle, neben<br />

Google auch die politisch heikle Untersuchung<br />

gegen Gazprom wegen einer möglichen<br />

Manipulation von Gaspreisen. Vestager<br />

geht mit einer gewissen Bescheidenheit<br />

ins Amt:„Man sollte nicht den Ehrgeiz<br />

haben, die europäische Wettbewerbspolitik<br />

zu revolutionieren.“<br />

MITTELMÄSSIGE VORGÄNGER<br />

Es dürfte ihr relativ leicht fallen, sich zu<br />

profilieren, hinterließ doch keiner ihrer<br />

beiden Vorgänger eine glanzvolle Bilanz.<br />

Die Niederländerin Neelie Kroes legte sich<br />

zwar ausdauernd mit Microsoft an, vermittelte<br />

aber nie den Eindruck, das Thema<br />

Wettbewerb intellektuell zu durchdringen.<br />

Der spanische Ökonom Almunia neigte so<br />

sehr zur Schwatzhaftigkeit, dass nun der<br />

EU-Ombudsmann wegen Äußerungen im<br />

laufenden Verfahren zu Euribor gegen ihn<br />

ermittelt. Seine politischen Kehrtwenden<br />

demotivierten die eigenen Mitarbeiter und<br />

ließen die Kommission nicht nur im Fall<br />

Google schlecht aussehen. Vestager hat<br />

verstanden, was ihre Generaldirektion, das<br />

Heer der Brüsseler Kartellanwälte, aber<br />

auch die Öffentlichkeit von ihr erwarten.<br />

Sie sagt nun Sätze wie: „Berechenbarkeit ist<br />

ein hohes Gut, wenn es um Wettbewerbsentscheidungen<br />

geht.“<br />

Bei ihrer Anhörung im EU-Parlament<br />

legte sie einen souveränen Auftritt hin.<br />

Dickes Fell Auf Wettbewerbskommissarin<br />

Vestager warten heikle Fälle<br />

Routiniert antwortete sie auf die Fragen<br />

der Abgeordneten, verzichtete im Zweifel<br />

darauf, zu viel zu sagen. Auch das zeichnet<br />

sie als erfahrene Politikerin aus.<br />

Im neuen Job wird sie oft Härte zeigen<br />

müssen, um sich dem Druck von Konzernen<br />

und Regierungen zu entziehen. „Sie<br />

hat keine Angst davor, Nein zu sagen“, beobachtet<br />

ihre Biografin Elisabet Svane.<br />

Konflikte zeichnen sich schon zu Beginn<br />

ihrer Amtszeit ab, auch mit Kommissionschef<br />

Juncker. Die Steuerschlupflöcher in<br />

»Die Dänen<br />

mögen sie oder<br />

lehnen sie ab«<br />

Biografin Elisabet Svane<br />

Junckers Heimat Luxemburg sind in seiner<br />

Zeit als Premier entstanden. Es ist nicht zu<br />

erwarten, dass er seiner Wettbewerbskommissarin<br />

den Rücken stärken wird, hart gegen<br />

die Steuerprivilegien vorzugehen.<br />

Auch bei den digitalen Märkten, die Vestager<br />

ausdrücklich als eine ihrer Prioritäten<br />

nennt, steuert sie auf eine Kollision mit<br />

Juncker sowie mit Digitalkommissar Günther<br />

Oettinger zu. Juncker hat im Wahlkampf<br />

ein Umdenken bei den Wettbewerbsregeln<br />

gefordert, um etwa Fusionen<br />

im Telekombereich möglich zu machen.<br />

Auch Oettinger betont in diesen Tagen gerne,<br />

dass Europa die großen Player im Telekombereich<br />

fehlen. Vestager hält von einer<br />

solchen Art der Industriepolitik nichts, bei<br />

der Unternehmen auf Kosten der Verbrau-<br />

cher geschützt werden. „Die beste Art, sich<br />

auf Wettbewerb im Ausland vorzubereiten,<br />

ist zu Hause wettbewerbsfähig zu sein“,<br />

lautet ihr Credo.<br />

Ihre liberale Grundeinstellung hat Vestager<br />

von ihren Eltern mitbekommen, beide<br />

Pastoren und beide Mitglieder von Radikale<br />

Venstre. Mit 25 bewarb sich Vestager, damals<br />

Beamtin im Finanzministerium, erstmals<br />

um ein Parlamentsmandat, allerdings<br />

auf einem aussichtslosen Listenplatz.<br />

Doch andere von ihren Ansichten zu überzeugen<br />

machte ihr so viel Spaß, dass ihr<br />

Weg in die Politik vorgezeichnet war. Parteiführerin<br />

Marianne Jelved machte sie<br />

früh zu ihrer Kronprinzessin, vor sieben<br />

Jahren übernahm Vestager den Parteivorsitz,<br />

den sie nun mit ihrem Wechsel nach<br />

Brüssel abgegeben hat.<br />

Vestager verhalf der Partei, die damals ihre<br />

zentrale Rolle als Königsmacherin in der<br />

dänischen Politik verloren hatte und unter<br />

der Abspaltung ihres rechten Flügels litt, zu<br />

neuer Macht. 2011 kamen die Sozialliberalen<br />

als kleiner Koalitionspartner der Sozialdemokraten<br />

an die Macht. Als Wirtschaftsministerin<br />

setzte sie durch, dass Arbeitslosengeld<br />

von vier auf zwei Jahre gekürzt wurde.<br />

Noch in der Opposition war sie treibende<br />

Kraft für eine Reform der Frührente. Sie<br />

sieht die Rolle des Staates darin, Menschen<br />

zur Selbsthilfe zu verhelfen. Die Konsequenz,<br />

mit der sie ihre Ziele verfolgt, hat ihr<br />

Bewunderung und Abneigung gleichermaßen<br />

eingebracht. „Dänen mögen sie oder<br />

lehnen sie ab, dazwischen gibt es nichts“,<br />

sagt Biografin Svane.<br />

Vestager hat geschickt den Nachrichtendienst<br />

Twitter genutzt, um sich als anfassbar<br />

darzustellen. Vor dem Abschied aus Kopenhagen<br />

buk sie ihren Mitarbeitern in der<br />

Parteizentrale Kekse. Das ist dort ebenso<br />

nachzulesen wie ihre Kommentare zu gemütlichen<br />

Abenden auf dem Sofa mit Mann<br />

und Töchtern vor dem Fernseher. Gatte<br />

Thomas Jensen wird seinem Job übrigens<br />

künftig aus Brüssel nachgehen – er lehrt<br />

Mathematik und Philosophie per Internet.<br />

Parteifreunde haben abgestritten, dass<br />

die Politikerin das Vorbild für Brigitte Nyborg<br />

in der Erfolgsserie „Borgen“ war.<br />

Doch die Parallelen sind nicht zufällig.<br />

Hauptdarstellerin Sidse Babett Knudsen<br />

hat Vestager begleitet, um sich für ihre Rolle<br />

vorzubereiten. Das Ergebnis sieht sich<br />

Vestager gerne an, den politischen Alltag<br />

findet sie akkurat abgebildet. Allerdings<br />

mit einer Ausnahme: „Die vielen langatmigen<br />

Sitzungen fehlen.“<br />

n<br />

silke.wettach@wiwo.de | Brüssel<br />

FOTO: PICTURE-ALLIANCE/SCANPIX/JONAS SKOVBJERG<br />

30 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

Das Ende <strong>vom</strong> Ende<br />

ESSAY | Vor 25 Jahren rief Francis Fukuyama das „Ende der Geschichte“ aus. Was auf den Kalten Krieg<br />

folgen würde, sei eine unendliche Friedensperiode des konstruktiven Miteinanders. Was für ein Irrtum!<br />

Der Westen wird weltweit herausgefordert – und ist sich selbst feind geworden. Von Dieter Schnaas<br />

FOTO: LAIF/CHRISTIAN BURKERT<br />

Das „Ende der Geschichte“ zieht sich nun auch schon 25 Jahre<br />

hin. Bekanntlich hat der amerikanische Politikwissenschaftler<br />

Francis Fukuyama es ausgerufen, damals, nach<br />

dem Fall der Mauer, in den glücklichsten Monaten des 20. Jahrhunderts.<br />

Der Zusammenbruch der Sowjetunion und ihrer Satellitenstaaten<br />

nährte 1989/90 die Hoffnung auf ein postideologisches<br />

Zeitalter. Der Liberalismus hatte gesiegt, die Idee der Demokratie,<br />

das Prinzip der Marktwirtschaft. Eine zeitlose Zeit universell<br />

geltender Werte schien anzubrechen, eine Ära der Internationalisierung<br />

des Rechtsstaats und der Menschenrechte. Haben wir<br />

damals nicht alle geglaubt,<br />

dass dem Westen nur noch die<br />

Aufgabe verbleibt, sein allgemein<br />

anerkanntes Zivilisations- und<br />

Wohlstandsprojekt zu globalisieren?<br />

Dass der Rest der Welt nur<br />

darauf wartet, mit den Vorzügen<br />

unseres Fortschrittsmodells beglückt<br />

zu werden? Das „Ende der<br />

Geschichte“, so dachten wir, sei eine<br />

ins Unendliche laufende Friedensperiode<br />

des konstruktiven<br />

Miteinanders. Die ereignishafte<br />

Zeit der Kriege und Schlachten löse<br />

sich auf in einem gemeinsamen<br />

Weltregieren nach Maßstab der<br />

abendländischen Vernunft, in der<br />

ständigen Verfeinerung von Global<br />

Governance – in der Lösung<br />

der großen Menschheitsaufgabe,<br />

aus der harmonia mundi eine<br />

maxima harmonia mundi zu machen.<br />

Welch ein Irrtum!<br />

25 Jahre nach dem Fall der Mauer<br />

ist der Westen fast überall auf der Welt in der Defensive. Militärisch<br />

überfordert, finanziell erschöpft und ideologisch ausgepumpt,<br />

hat er rund um den Globus an Attraktivität eingebüßt. Einer<br />

Studie der Bertelsmann-Stiftung zufolge gab es in den meisten<br />

Demokratien zwischen 2011 und 2013 Rückschritte. Indien und<br />

Brasilien verzichten auf die Rezepte westlich dominierter Organisationen<br />

wie IWF und Weltbank. In Japan und in der Türkei machen<br />

sich militante Kulturnationalismen breit. Chinesische Parteikader<br />

verbitten sich mit provozierend gelangweilter Routine Belehrungen<br />

in Sachen Meinungsfreiheit und Menschenrechte. Wladimir<br />

Putin bringt in Russland völkisches Testosteron in Stellung<br />

gegen alles, was er als Dekadenz des Liberalismus verunglimpft.<br />

Und religiöse Fundamentalisten in der arabisch-afrikanischen<br />

Welt haben für unsere Toleranz- und Pluralitätsvorstellungen nur<br />

Hass und Verachtung übrig.<br />

Gute Zeiten Im Kosovo 1999 wurde der USA-geführte Westen<br />

als Garant der Freiheit und Selbstbestimmung gefeiert<br />

Noch schwerer als die Anfeindungen von außen wiegt der<br />

Druckabfall im Innern des transatlantischen Wertesystems. Der<br />

Westen hat sich, so der Politikwissenschaftler Herfried Münkler, zu<br />

einem Ensemble „postheroischer“ Nationen entwickelt, das weltpolizeiliche<br />

Aufgaben, wenn überhaupt, nicht wehrhaft-entschlossen<br />

(Europa), sondern nur noch sporadisch-selektiv wahrnimmt<br />

(USA) – zu einem Ensemble, das demografisch schwächelt, wirtschaftlich<br />

kriselt und seine Herausforderung provoziert. Zugleich<br />

ist der Westen sich selbst beängstigend fremd, ja: feind geworden.<br />

Er hat im Namen der Freiheit völkerrechtswidrige Kriege geführt<br />

(Kosovo), erfundene Schuldbeweise<br />

zur Rechtfertigung für Militäraktionen<br />

herangezogen (Irak),<br />

Hunderte Zivilisten durch Drohnenangriffe<br />

getötet (Afghanistan),<br />

sich rechtsfreie Räume erschlossen,<br />

um im Wege der Folter Informationen<br />

zu erzwingen (Guantanamo),<br />

und sich zuletzt sogar – unter<br />

Freunden, die stolz sind auf ihre<br />

Kultur der Gedankenfreiheit –<br />

selbst ausspioniert (NSA, BND).<br />

Das Selbst-Vertrauen in die<br />

„westliche Wertegemeinschaft“, das<br />

in den viereinhalb Jahrzehnten des<br />

Ost-West-Konflikts viel „mehr war<br />

als eine Beschwörungsformel“, so<br />

der Historiker Heinrich August<br />

Winkler, ist fürs Erste dahin. Das zuweilen<br />

übermütige Gefühl moralischer<br />

Meisterschaft ist Minderwertigkeitsängsten<br />

gewichen. Der missionarische<br />

Glaube an die Überlegenheit<br />

einer wettbewerblich organisierten<br />

Marktgesellschaft mündiger Staatsbürger droht in Ohnmachtszynismus,<br />

Politikverachtung und Selbsthass umzuschlagen.<br />

Viele Menschen in den USA und Europa sind von den Wachstumserträgen<br />

der kapitalistischen Wirtschaftsform abgeschnitten. Sie haben<br />

die Gürtel-enger-schnallen-Rhetorik so gründlich satt wie den prinzipienlosen<br />

Liberalismus ihrer Regierungen. Sie gehen hurrapatriotisch,<br />

chauvinistisch, fremdenfeindlich und antisolidarisch wählen.<br />

DER AUFSTAND DER RECHTSPOPULISTEN<br />

Im Ressentiment, das Wohlstandsverluste und Abstiegsängste an<br />

Vorurteile und Befangenheiten bindet, liegen die gemeinsamen<br />

Grundlagen der konservativ-fundamentalreligiös grundierten Tea<br />

Party in den USA und der Rechtspopulisten in Europa. Beide Strömungen<br />

initiieren einen Aufstand gegen das staatspolitische<br />

Establishment mit seinen bürokratisch-zentralistischen Interes-<br />

»<br />

WirtschaftsWoche <strong>10.11.2014</strong> Nr. 46 31<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

»<br />

sen. Beide führen einen Feldzug gegen den linksliberalen Inklusionsdruck<br />

und die Toleranzimperative der Guten und Gütigen.<br />

Beide machen rhetorisch mobil gegen eine Permissivität, die ihnen<br />

im Namen der Mitmenschlichkeit permanent Verständnis<br />

und Einsicht abverlangt für alles, was ihnen gegen den Strich geht:<br />

Homosexualität, Libertinage, Feminismus, Migration, das internationale<br />

Kapital... „Putin verteidigt Europas Zivilisation“, sagt dann<br />

zum Beispiel die französische Rechtsradikale Marine Le Pen, um<br />

gegen Barack Obama, das geplante Freihandelsabkommen mit<br />

den USA und die „europäische Sowjetunion“ in Brüssel zu wettern:<br />

„Ich will die EU zerstören“, das „antidemokratische Monster“,<br />

denn „Europa, das ist der Krieg, der Wirtschaftskrieg“.<br />

GEDANKENLOSES FORTSCHREITEN<br />

Das Problem ist, dass der Westen auf diesen Destruktionswillen<br />

keine konstruktive Antwort mehr weiß. Das Ende des Kalten Krieges<br />

und der politischen Religion hat in den USA und Europa nicht<br />

etwa intellektuelle Energien freigesetzt, sondern, so der amerikanische<br />

Wirtschaftswissenschaftler Mark Lilla, ein „geistiges Vakuum“<br />

hinterlassen. „Seit den westlichen Demokratien die Herausforderung<br />

in Gestalt des Kommunismus abhandengekommen ist“,<br />

führt Winkler aus, „fehlt ihnen der<br />

Ansporn, über die eigenen normativen<br />

Grundlagen... nachzudenken.“<br />

Insofern ist es bezeichnend,<br />

dass wir uns an diesem 9. November<br />

vor allem ex negativo unserer<br />

selbst vergewissern: Wir stehen auf<br />

gegen Unterdrückung, Gewalt, Nepotismus<br />

und Machtanmaßung.<br />

Aber wissen wir auch noch, wofür<br />

wir einstehen? Offenbar reicht uns<br />

die Positivität eines Liberalismus<br />

nicht aus, dessen dünne, noch dazu<br />

bitter enttäuschte Versprechen<br />

darin bestehen, „Wohlstand für alle“<br />

zu schaffen und jedem Einzelnen<br />

so viel Freiheit wie möglich<br />

einzuräumen. Ein Liberalismus,<br />

der keine Verbindungslinien mehr<br />

zu ziehen weiß zwischen 1789 und<br />

1989. Dem der Sinn fehlt für die<br />

lange, gewaltvolle Geschichte der<br />

Säkularisierung und Emanzipation<br />

im Abendland – und alles rückständig<br />

schimpft, was er nicht auf der Höhe seiner Zeit meint. Es ist<br />

ein Liberalismus, der gedankenlos fortschreitet, ohne Richtung<br />

und ohne Ziel, über Traditionen und Milieus hinweg, über familiäre<br />

Beziehungen und soziale Normen – Hauptsache, nach vorne,<br />

immer nach vorne. Er grenzt das Außen, Andere und Fremde nicht<br />

aus, sondern verwandelt es sich an und verleibt es sich ein. Auf der<br />

Strecke bleibt das, wofür früher einmal der Begriff der „kollektiven<br />

Identität“ zur Verfügung stand. Zu seiner Verteidigung will im Westen<br />

niemandem mehr etwas einfallen.<br />

Arnold Gehlen, der kulturkritisch-fortschrittsfreundliche Philosoph<br />

und Anthropologe, hat die Ambivalenz des seelenlosen Fortschritts<br />

bereits 1961 auf den Punkt gebracht: „Die Prämissen (der<br />

Aufklärung) sind tot“, allein „ihre Konsequenzen laufen (noch)<br />

weiter“. Angesichts von Jakobinismus, Faschismus und Stalinismus<br />

war Gehlen selbstverständlich mit Theodor W. Adorno und<br />

Schlechte Zeiten In Russland 2014 wird der USA-geführte<br />

Westen als dekadente, imperiale Macht beschimpft<br />

Max Horkheimer der Meinung, alle Hoffnung auf einen qualitativen<br />

Vernunftfortschritt sei restlos überspannt. Den technisch-wissenschaftlich-ökonomischen<br />

Fortschritt hingegen würdigte er „als<br />

undurchbrechliches Lebensgesetz der Menschheit“. Gehlen<br />

glaubte, dass das Haus der Moderne auf soliden Fundamenten stehe.<br />

Sein Ausbau kenne kein immanentes Ziel mehr, gab er zu bedenken,<br />

auch die Kultur drehe nur noch Pirouetten. Gleichwohl<br />

werde der Ausbau zivilisatorisch vorangehen. Gehlen prägte dafür<br />

– drei Jahrzehnte vor Fukuyama – den Begriff „post-histoire“. Er<br />

meinte damit ein „Zeitalter der Unaufhörlichkeit“ mit anonymen<br />

Superstrukturen, in der der Politik nur noch die Aufgabe verbleibe,<br />

für Komfortoptimierung zu sorgen. Aus dem Ablauf der Ereignisse<br />

sei jeder Wille, jeder Sinn, jedes Telos verschwunden. Der Rest der<br />

Geschichte sei „Weitermachen um seiner selbst willen“, gepflegte<br />

Langeweile: grau, zwangsläufig – und alternativlos.<br />

Während Fukuyamas end of history im Anschluss an Hegel eine<br />

optimistische Geschichtsphilosophie bezeichnet, in der sich die<br />

Ideale Liberalismus, Marktwirtschaft und Demokratie im „absoluten,<br />

vernünftigen Endzweck der Welt“ verwirklichen, ist Gehlens<br />

post-histoire ein Synonym für das sinnlose Ausklingen historischer<br />

Abläufe. Den Kern der westlichen Identitätskrise schält man daher<br />

besser mit Gehlen als mit einer Widerlegung<br />

von Fukuyama heraus:<br />

Wenn schon politischer Fortschritt<br />

als Folge von Alternativlosigkeiten<br />

auf der Stelle tritt und auch die<br />

Kultur sich in Selbstzitaten erschöpft,<br />

darf nicht auch noch der<br />

Kapitalismus als Wohlstandsmaschine<br />

seinen Weltgeist aufgeben.<br />

Genau das ist aber der Fall. Der Kapitalismus<br />

ist zunehmend dysfunktional<br />

geworden, er stellt die<br />

Prinzipien der Marktwirtschaft<br />

(Wettbewerb und Machtdiffusion)<br />

zuweilen auf den Kopf, produziert<br />

Macht und Ungleichheit und protegiert<br />

die Macht globaler Banken<br />

und Konzerne. Auch der demokratische<br />

„Wandel durch Handel“, die<br />

Lieblings-Leerformel der internationalen<br />

Geschäftswelt, ist allzu oft<br />

ausgeblieben. Stattdessen gerieren<br />

sich autoritäre Kapitalismen<br />

selbstbewusst als politökonomische<br />

Konkurrenzprodukte. Das Nachsehen hat der Liberalismus<br />

des Westens, nicht der globale Konzern. Der streut das Eigentum<br />

seiner Aktionäre auch in Katar, Kuwait, Abu Dhabi. Berührt von<br />

dieser Entwicklung sind auch Mitarbeiter, Kunden, Konsumenten:<br />

Wenn das Kapital besonders gern dorthin geht, wo entweder die<br />

Steuersätze oder die Löhne oder die Sozialstandards oder die Umweltauflagen<br />

oder aber alles zugleich niedrig sind, stützt der Markt<br />

nicht mehr die Funktionalität liberaler Ordnungen, sondern dann<br />

akzeptiert er die Bedingungen, die er vorfindet – um den Preis seiner<br />

Akzeptanz. Was der Westen daher derzeit dringend braucht, ist<br />

interrogative Kraft. Seine Grundlagen – Liberalismus, Marktwirtschaft,<br />

Demokratie – sind nach wie vor anziehend: Fast alle Staaten<br />

weltweit meinen sich (abwehrend) auf sie beziehen zu müssen.<br />

Sich infrage stellen hieße daher nichts weiter als: sich auf seine<br />

Grundlagen besinnen. Und wieder bejahen lernen.<br />

n<br />

FOTO: IMAGO/ITAR TASS<br />

32 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

Panik im Paradies<br />

THAILAND | Die Ruhe nach dem Militärputsch trügt. Die politischen<br />

Lager im Königreich stehen sich unversöhnlich gegenüber.<br />

Nicht nur an der Basis, auch in der Führungsmannschaft<br />

der Roten herrscht eine<br />

Mischung aus Furcht und Zorn. Einer der<br />

Top-Leute der United Front for Democracy<br />

against Dictatorship (UDD) versteckt sich<br />

in einem kleinen Büro. „Die einfachen<br />

Leute haben seit dem Putsch nichts mehr<br />

zu sagen, und die Militärs wollen das Rad<br />

in nächster Zeit noch weiter zurückdrehen“,<br />

klagt der Funktionär, der seit 2006 sieben<br />

Mal im Gefängnis saß und aus Furcht<br />

vor Repressalien anonym bleiben will. Die<br />

UDD ist die größte formale Organisation<br />

innerhalb der Bewegung der Roten.<br />

Rot, so weit das Auge reicht. Die<br />

Schaufenster der Buchhandlung im<br />

sechsten Stock des Imperial World<br />

sind von breiten roten Rahmen eingefasst.<br />

Wenige Meter weiter hat der Fernsehsender<br />

TV 24 seine Zentrale. Die Leuchtreklame<br />

und Werbeplakate davor: alle rot. Gegenüber<br />

geben zwei Glastüren den Blick<br />

frei auf ein großzügiges Büro. Auch dort<br />

sind die Wände rot gestrichen. Die sechste<br />

Etage des Kaufhauses in der Bangkoker Innenstadt<br />

ist so etwas wie das Hauptquartier<br />

der sogenannten Rothemden, jener<br />

politischen Bewegung, die dem 2006 geschassten<br />

und immer noch populären Premier<br />

Thaksin Shinawatra nahesteht.<br />

Seit fast acht Jahren, mit einigen Unterbrechungen,<br />

halten die Roten das Land mit<br />

Protesten und Massendemonstrationen in<br />

Atem. Ihre Gegner sind die Gelben, eine<br />

Allianz aus großstädtischem Establishment,<br />

dem Militär und Anhängern der Demokratischen<br />

Partei. Immer wieder hatten<br />

diese versucht, Macht und Einfluss der roten<br />

Bewegung und ihrer demokratisch legitimierten<br />

Regierungen zu beschneiden.<br />

Ende Mai kehrte vorerst Ruhe auf den Straßen<br />

der thailändischen Hauptstadt ein: Die<br />

Armee unter ihrem Chef Prayuth Chanocha<br />

verhängte das Kriegsrecht und<br />

Schutzpatron der alten Machthaber General<br />

und Premierminister Prayuth Chan-ocha<br />

putschte die demokratisch gewählte Regierung<br />

unter Thaksins Schwester Yingluck<br />

und ihrer Pheu-Thai-Partei von der Macht.<br />

Jetzt sitzen ihre Anhänger auf den Fluren<br />

des Kaufhauses zwischen Büros, kleinen<br />

Läden, Cafés und Gemüseständen und<br />

vertreiben sich die Zeit mit Kartenspielen.<br />

Gesprochen wird im Flüsterton, denn die<br />

Angst ist groß, die Wut kaum weniger. Regelmäßig<br />

patrouillieren Soldaten; wegen<br />

des Kriegsrechts kann jeder ohne Begründung<br />

verhaftet werden.<br />

Wird verehrt wie ein Gott<br />

König Bhumibol Adulyadej<br />

xx Millionen Hier<br />

steht ein Quote mit Zahl<br />

über xx Zeilen ada asdads<br />

asdsdf<br />

FURCHT VOR NEUEN UNRUHEN<br />

Es herrscht Ruhe im Königreich. Auf den<br />

Straßen ist kaum Militär zu sehen. Demonstrationen<br />

gibt es nicht. Doch der Unmut<br />

der Thais, die sich in den vergangenen<br />

Jahrzehnten an freie Wahlen, unabhängige<br />

Presse und Demonstrationsrecht in ihrem<br />

Land gewöhnt hatten, ist groß. Nur die<br />

Angst, ohne Begründung für lange Zeit in<br />

einem Gefängnis zu verschwinden, hält die<br />

Menschen zurzeit zu Hause.<br />

Doch die Furcht der Militärregierung vor<br />

neuen Unruhen ist kaum weniger groß.<br />

Darum denkt General Prayuth auch mehr<br />

als fünf Monate nach dem Putsch noch<br />

nicht daran, das Kriegsrecht aufzuheben.<br />

„Die viel zitierte Stabilität gibt es nicht“,<br />

sagt ein westlicher Diplomat in Bangkok.<br />

Auch am 21. November, wenn sich Spitzenvertreter<br />

der deutschen Wirtschaft sowie<br />

Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel<br />

im vietnamesischen Ho-Chi-Minh-<br />

Stadt zur Asien-Pazifik-Konferenz treffen,<br />

dürfte die Krise in Thailand Thema sein.<br />

Erst wenn es dunkel wird in Bangkok<br />

und sich die Straßen geleert haben, trauen<br />

sich die Menschen offen auszusprechen,<br />

was ihnen unter den Nägeln brennt. Jutathip<br />

Wanaporn betreibt in einer kaum zwei<br />

Meter breiten Gasse im Norden der Stadt<br />

einen kleinen Laden. In den Regalen stehen<br />

Waschpulver, Süßigkeiten und Whisky.<br />

Im Hintergrund plärrt ein Fernseher. Eine<br />

Neonröhre an der Decke spendet Licht.<br />

„Es muss einen durch Wahlen legitimierten<br />

Regierungschef geben“, sagt Jutathip,<br />

die bei den großen Demonstrationen im<br />

Frühjahr genauso dabei war wie 2010 und<br />

2008. Der Militärjunta traut sie kaum etwas<br />

zu. „Die werden doch nichts für das Volk<br />

tun.“ Eine Nachbarin kommt aus ihrem<br />

Haus. „Keiner kann mir vorschreiben, was<br />

ich zu denken habe“, sagt die Frau. Wenn<br />

das Kriegsrecht aufgehoben ist, will sie<br />

wieder demonstrieren. Mehr als eine<br />

»<br />

FOTOS: DDP IMAGES/ZUMAJACK KURTZ, REUTERS/SUKREE SUKPLANG<br />

34 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

»<br />

halbe Stunde diskutieren die beiden<br />

Frauen über den künftigen politischen<br />

Kurs in Thailand. Die Regierung der Militärs<br />

lehnen sie rundweg ab.<br />

Gerade die einfachen Leute, so scheint<br />

es, haben in den vergangenen Jahren ein<br />

ausgeprägtes politisches Bewusstsein entwickelt.<br />

Mit dafür gesorgt hat ausgerechnet<br />

Thaksin. Als er und seine Partei „Thais lieben<br />

Thailand“ 2001 an die Macht kamen,<br />

beglückte er die Bauern im rückständigen<br />

Nordosten des Landes mit Subventionen,<br />

führte eine kostenlose Gesundheitsversorgung<br />

für die Landbevölkerung sowie Studentenkredite<br />

für einkommensschwache<br />

Familien ein. Für seine populistische Politik<br />

musste sich der damalige Premier, der<br />

als Telekomunternehmer Milliarden verdient<br />

hatte und sich bis heute gegen Korruptionsvorwürfe<br />

wehren muss, heftige<br />

Kritik anhören. Doch Kenner des Landes<br />

betonen auch, dass er der erste Politiker in<br />

der jüngeren Geschichte Thailands war,<br />

der den einfachen Menschen das Gefühl<br />

gab, dass sich jemand um sie kümmert und<br />

ihnen die Teilhabe am gesellschaftlichen<br />

Leben ermöglicht.<br />

KATE STIRBT IM KUGELHAGEL<br />

Eine, die sich ihr Recht auf Mitsprache von<br />

den Militärs nicht nehmen lassen will, ist<br />

Payao Akahat. An einem heißen Samstagvormittag<br />

sitzt die 49-Jährige vor ihrem Laden<br />

am nördlichen Rand von Bangkok. Auf<br />

der Straße donnern Motorräder vorbei.<br />

Payao flicht aus Orchideen kleine Kränze.<br />

Die Gebinde verkauft sie für ein paar Cent<br />

in der Nachbarschaft. „Ich will, dass die Todesschützen<br />

vor Gericht kommen“, bricht<br />

es auf einmal aus Payao hervor.<br />

Es ist der 19. Mai 2010, als Soldaten gegen<br />

Abend das Feuer auf den Tempel Pathumwanaran<br />

eröffnen. Wochenlang hatten<br />

die Rothemden in Bangkoks Straßen demonstriert.<br />

Im Tempel kümmern sich Studenten<br />

um Verletzte. Auch Payaos Tochter<br />

Kate, 25, ist dabei – die Mutter wird ihr<br />

Mädchen nicht mehr lebend wiedersehen.<br />

Kate stirbt im Kugelhagel der thailändischen<br />

Armee. Seitdem kämpft Payao dafür,<br />

dass die Schützen vor Gericht kommen.<br />

Erst kürzlich saß sie wieder für einige Tage<br />

im Gefängnis, weil sie Flugblätter verteilt<br />

hatte. Auf den Papieren standen die Namen<br />

der angeblich für das Massaker Verantwortlichen.<br />

„Ich war nie besonders politisch“,<br />

sagt Payao, „aber hier geht es um<br />

Gerechtigkeit für meine Tochter.“<br />

Die Thailänderin will Antworten, Antworten,<br />

die sie von der Militärregierung<br />

Stetig aufwärts<br />

Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner<br />

in Thailand (in Dollar)<br />

ab 2013 Prognose, preisbereinigt;<br />

Quelle: IHS<br />

5500<br />

5000<br />

4500<br />

4000<br />

3500<br />

3000<br />

2000 2003 2006 2009 2012 2015<br />

Wo die Wut wächst<br />

Reisbauern in Thailand<br />

unter General Prayuth, der inzwischen<br />

auch Premierminister ist, wohl nicht bekommen<br />

dürfte. Denn der ist dabei, das<br />

Rad mit Schwung zurückzudrehen. Demokratie<br />

und Meinungsfreiheit wie im Westen<br />

passten im Grunde gar nicht zur „thailändischen<br />

Seele“, betonen die Militärs jetzt<br />

häufig. Die thailändische Seele und das Besondere<br />

am „Thai sein“ streichen die Generäle<br />

inzwischen bei fast jeder Gelegenheit<br />

heraus und wollen das Land damit politisch<br />

<strong>vom</strong> Westen abgrenzen. An den<br />

Hochschulen sollen die Studenten demnächst<br />

Patriotismusunterricht bekommen,<br />

ganz so wie im kommunistischen China. Es<br />

ist eine Entwicklung, die an die Debatte um<br />

sogenannte asiatische Werte und deren<br />

angebliche Unvereinbarkeit mit dem westlichen<br />

Pluralismus in den Neunzigerjahren<br />

erinnert.<br />

„Die Soldaten können das Volk doch<br />

nicht zum Thai sein zwingen“, empört sich<br />

der UDD-Funktionär, der aus Angst vor Repressalien<br />

ungenannt bleiben will. Er und<br />

viele andere aus dem roten Lager glauben,<br />

die konservative Allianz aus Militärregierung,<br />

Kräften aus dem Königshaus, großstädtischer<br />

Bildungselite und reichen Geschäftsleuten<br />

könne das alte System der<br />

Klassenunterschiede erhalten, von dem sie<br />

in den vergangenen Jahrzehnten so sehr<br />

profitiert haben. „Die wollen die feudalistische<br />

Gesellschaftsordnung um jeden Preis<br />

bewahren“, schimpft der UDD-Mann.<br />

Doch nicht nur durch die thailändische<br />

Gesellschaft geht ein tiefer Riss, auch die<br />

Militärregierung, so betonen Experten, ist<br />

gespalten zwischen erzkonservativen und<br />

gemäßigt fortschrittlichen Kräften. General<br />

Prayuth gilt als schwach. „Er hat seine<br />

beste Zeit hinter sich“, sagt ein westlicher<br />

Diplomat in Bangkok, „ab jetzt geht es<br />

bergab.“ Wenig vertrauenserweckend war<br />

etwa Prayuths Erklärung für sein akutes<br />

Rückenleiden vor einigen Wochen. Mithilfe<br />

schwarzer Magie, hatte der General dem<br />

staunenden Publikum erklärt, hätten Feinde<br />

ihn verhext.<br />

EINE FRAGE VON MONATEN<br />

Doch die größte Gefahr für Thailands Stabilität<br />

droht aus dem Königspalast. Bhumibol<br />

Adulyadej, seit 1946 Staatsoberhaupt,<br />

ist schwer krank; manche in Bangkok sagen,<br />

der Tod des 86-jährigen Monarchen<br />

sei eher eine Frage von Monaten als von<br />

Jahren. Dann beginnt die schwierige Suche<br />

nach einem Nachfolger für den König, den<br />

die Thais wie einen Gott verehren.<br />

Das Kempinski Hotel am Münchner<br />

Flughafen ist ein lichtdurchfluteter Bau aus<br />

viel Glas und Stahl. In der Empfangshalle<br />

stehen rote Ledermöbel und künstliche<br />

Palmen. In den Gängen und Treppenhäusern<br />

der Nobelherberge patrouillieren<br />

zu jeder Tages- und Nachtzeit muskelbepackte<br />

Thais in dunklen Trainingsanzügen<br />

– Leibwächter von Maha Vajiralongkorn,<br />

Sohn des greisen Königs und damit<br />

Thronfolger. Der 62-jährige Kronprinz<br />

FOTO: GETTY IMAGES/LIGHTROCKET/ PETER CHARLESWORTH<br />

36 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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FOTOS: WERNER SCHUERING FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, PICTURE-ALLIANCE/DPA<br />

verbringt dort die meiste Zeit. Einerseits,<br />

heißt es, sei er schönen Dingen wie etwa<br />

dem Glücksspiel zugeneigt. Andererseits,<br />

versichern Insider mit guten Kontakten<br />

zum Königshaus, lasse sich Maha in München<br />

wegen einer HIV-Infektion behandeln.<br />

Offizielle Bestätigungen hierfür gibt<br />

es nicht. So oder so: Ein idealer Thronfolger<br />

für ein Land, in dem die Monarchie einen<br />

so großen Stellenwert hat und der König<br />

oberste moralische Instanz ist, sieht anders<br />

aus. Wegen der unsicheren Thronfolge<br />

könnte in Thailand, das bei vielen Deutschen<br />

immer noch als Paradies gilt, Panik<br />

ausbrechen.<br />

LEICHTES WACHSTUM<br />

Um die Stimmung im Volk zu heben, versucht<br />

die Regierung, mit <strong>Ausgabe</strong>nprogrammen<br />

die Wirtschaft anzukurbeln.<br />

Umgerechnet allein 60 Milliarden Euro<br />

wollen die Militärs in den kommenden sieben<br />

Jahren für den Ausbau der Infrastruktur<br />

ausgeben. Priorität genießt der Ausbau<br />

des Schienennetzes und der Aufbau einer<br />

Hochgeschwindigkeitstrasse, die das Königreich<br />

von Nord nach Süd durchqueren<br />

soll. Mit Steuer- und Zollerleichterungen<br />

wollen die Militärs zudem Investoren aus<br />

dem Ausland nach Thailand locken.<br />

Fürs Erste scheint sich die Wirtschaft stabilisiert<br />

zu haben. Schrumpfte das Bruttoinlandsprodukt<br />

zwischen Januar und März<br />

noch um 0,5 Prozent, verzeichneten die<br />

Statistiker für das zweite und dritte Quartal<br />

wieder ein leichtes Wachstum von weniger<br />

als einem Prozent. Vom einstigen Boom<br />

mit Raten zwischen fünf und sieben Prozent<br />

ist Thailand allerdings weit entfernt.<br />

Dass das Vertrauen schnell zurückkehrt,<br />

ist jedoch wenig wahrscheinlich. Unternehmen<br />

aus dem Ausland klagen über zunehmende<br />

Rechtsunsicherheit und eine<br />

grassierende Korruption. Im Korruptionswahrnehmungsindex<br />

von Transparency<br />

International ist Thailand innerhalb eines<br />

Jahres von Rang 88 auf Rang 102 gefallen.<br />

Auch die Touristenzahlen liegen noch weit<br />

unter dem Niveau aus der Zeit vor der politischen<br />

Krise. Schwierig in einem Land, in<br />

dem der Fremdenverkehr fast zehn Prozent<br />

zur Wirtschaftsleistung beiträgt.<br />

Das Volk versucht General Prayuth indes<br />

mit Reformversprechen zu beruhigen.<br />

Ende kommenden Jahres, so beteuert er,<br />

würden in Thailand Wahlen abgehalten.<br />

Wirklich fruchten wollen solche Zusagen<br />

nicht. „Ich glaube den Militärs gar nichts“,<br />

sagt der UDD-Funktionär.<br />

n<br />

matthias.kamp@wiwo.de | München<br />

BERLIN INTERN | Wenn Angela Merkel und Sigmar<br />

Gabriel nicht gegen–, sondern nur nacheinander<br />

reden – dann gewinnt Rot. Ist für den Sieger bloß kein<br />

Grund zur Freude. Von Max Haerder<br />

Kanzlernichtduell<br />

Angela Merkel dürfte ganz zufrieden<br />

gewesen sein. Es ist ohnehin<br />

nicht anzunehmen, dass die Bundeskanzlerin<br />

sehr häufig unzufrieden<br />

mit sich ist. Wenn alle Welt quasi permanent<br />

auf einem herumhackt, kann man es ja<br />

nicht ständig auch noch selber tun. Sie hat<br />

diese Selbstwerterhaltungsstrategie mal im<br />

Beisein von Russlands Präsident Wladimir<br />

Putin formuliert, der einst beklagte, er käme<br />

in deutschen Medien ach so schlecht weg.<br />

Merkels Heul-doch-Replik ging sinngemäß<br />

so: Falls sie sich alles zu Herzen nähme, was<br />

Ein Pult, zwei Posten Merkel gegen<br />

Gabriel beim Deutschen Arbeitgebertag<br />

über sie geschrieben würde, dann könne sie<br />

morgens auch gleich mit Depressionen im<br />

Bett bleiben. Angesichts dieses trockenen<br />

uckermärkischen Konters machte Putin ein<br />

Gesicht, als habe er gerade verschimmelten<br />

Borschtsch probiert.<br />

Die Bundeskanzlerin wird auch vergangene<br />

Woche recht zufrieden mit sich gewesen<br />

sein, als sie nach getanem Werke von der<br />

Bühne des Arbeitgebertages stieg. Merkel hat<br />

sich in den Jahren ihrer Regentschaft den Ruf<br />

einer Meisterin des sedierenden Wortes erarbeitet.So<br />

einen Titel schenkt man nicht einfach<br />

so her.Im Gegensatz zu ihrem Auftritt<br />

beim jüngsten IT-Gipfel musste die Regierungschefin<br />

nicht mal nach einem altmodischen<br />

F-Wort suchen. Also: Ablesen, Abgang,<br />

höflicher Respekts-Applaus.<br />

Mehr war nicht drin, das weiß niemand<br />

besser als Deutschlands oberste Real(ismus)politikerin.<br />

Wer im Manuskript als<br />

Highlight nur das Versprechen stehen hat, die<br />

Regierung werde nicht mehr tun als im Koalitionsvertrag,<br />

aber eben doch fleißig alles angehen,<br />

was in diesem Werk vereinbart sei,<br />

wirklich alles – der darf sich nicht wundern,<br />

wenn die versammelte Wirtschaftselite (von<br />

Gastgeber und Arbeitgeber-Präsident<br />

Ingo Kramer bis zu BDI-Chef Ulrich Grillo)<br />

nicht gleich vor Begeisterung die gute Unterwäsche<br />

auf die Bühne schmeißt.<br />

Nach dem Pausen-Kaffee durfte dann der<br />

Vizekanzler ran. Ein Kontrast, wie man ihn<br />

sich intensiver kaum vorstellen kann. Wenn<br />

Sigmar Gabriel so richtig in Fahrt gerät, könnte<br />

er für seine Performance eigentlich Eintritt<br />

nehmen, und selbst wenn er nur halb Gas<br />

gibt, ist eine vergnügliche halbe Stunde sicher.Als<br />

Appetizer seiner Rede stellte er den<br />

anwesenden und nach ihm sprechenden<br />

CSU-Chef Horst Seehofer so charmant in<br />

den Senkel, dass der nicht einmal böse sein<br />

durfte: „Du hast gesagt, du seist nur hier, um<br />

derKanzlerin hinterher zu berichten. Es gibt<br />

allerdings Leute in der CDU, die glauben, du<br />

seist der zweite Sozialdemokrat in der großen<br />

Koalition.“Erster Lacher.„Und hier im Saal<br />

gibt es vielleicht ein paar, die das befürchten.“Zweiter<br />

Treffer.<br />

Wenn Gabriel latente SPD-Allergien im<br />

Raum sprachtherapeutisch behandeln kann,<br />

ist er besonders gut. Spätestens als er bei den<br />

„irren Zuständen“ der Energiewende ankommt<br />

– die er natürlich so vorgefunden hat,<br />

ist doch klar – und schildert, wie süddeutsche<br />

Atomkraftwerke abgeschaltet werden,<br />

um sich stattdessen den Strom von österreichischen<br />

Öl-Dreckschleudern zu importieren,<br />

hat er den Saal kurzzeitkuriert. „Die Kollegen<br />

in Österreich“, sagt Gabriel, „kommen<br />

vor Lachen gar nicht in den Schlaf.“<br />

Mitleid gibt es an diesem Tag nur mit zwei<br />

Personen: Mit Gabriels Redenschreiber, denn<br />

der Chef guckt gefühlt kein einziges Mal in<br />

seinen sicher höchst ausgefeilten Sprechzettel.<br />

Und, trotz allem, mit dem Vortragenden<br />

selbst. Denn wer zuvor gesehen hat, wie ein<br />

Anti-Frauenquoten-Publikum beim schnippischen<br />

merkelschen Pro-Quoten-Kommentar<br />

(„Sie werden das noch als große Bereicherung<br />

empfinden“) applaudiert, der ahnt: Die<br />

Kanzlerin verliert das Pultduell gegen ihren<br />

Vize. Aber das Kreuz machen die Leute dann<br />

doch bei ihr.<br />

WirtschaftsWoche <strong>10.11.2014</strong> Nr. 46 37<br />

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Der Volkswirt<br />

KOMMENTAR | Die neue Steuerschätzung hält den Bundesfinanzminister nicht <strong>vom</strong> Projekt<br />

„Schwarze Null“ im kommenden Jahr ab. Denn die Bremswirkung der konjunkturellen<br />

Delle auf die Steuereinnahmen ist überraschend gering. Jetzt muss er nur noch die <strong>Ausgabe</strong>nwünsche<br />

von Politik und Lobbyisten abwehren. Von Christian Ramthun<br />

Schäubles magisches Jahr<br />

Export-Champion, Euro-<br />

Anker und natürlich<br />

Fußballweltmeister.<br />

Es lief lange gut für<br />

Deutschland. So gut, dass wir<br />

uns kaum noch vorstellen können,<br />

wie sehr das Leben in<br />

Wellen verläuft. Doch nach fünf<br />

guten Jahren läuft die Konjunktur<br />

nicht mehr rund, im dritten<br />

Quartal dürfte die Wirtschaft<br />

nur minimal gewachsen sein.<br />

Naturgemäß schlägt sich die<br />

wirtschaftliche Entwicklung<br />

auch auf das Steueraufkommen<br />

nieder. Und so ist es keine<br />

Überraschung, dass die Steuerschätzer<br />

von Bund, Ländern<br />

und aus der Wissenschaft in<br />

der vorigen Woche zu dem Ergebnis<br />

kamen: Die Staatseinnahmen<br />

steigen weniger stark<br />

als noch vor einem halben Jahr<br />

prognostiziert.<br />

Die eigentliche Überraschung<br />

ist, dass die konjunkturelle<br />

Bremswirkung nur schwach ausfällt.<br />

In diesem Jahr nimmt der<br />

Fiskus sogar 900 Millionen Euro<br />

mehr ein, als in der Mai-Schätzung<br />

erwartet wurde – obwohl<br />

die Bundesregierung zwischenzeitlich<br />

ihre Wachstumsprognose<br />

von 1,8 auf 1,2 Prozent abgesenkt<br />

hat.<br />

GELD VON DER EU<br />

Das kann man noch damit begründen,<br />

dass die Steuereinnahmen<br />

stets mit einer gewissen<br />

Verzögerung auf die wirtschaftliche<br />

Entwicklung reagieren. Im<br />

nächsten Jahr indes, wenn sich<br />

die ökonomischen Bremsspuren<br />

schon im Staatssäckel bemerkbar<br />

machen sollten, kommt es<br />

lediglich zu einer Korrektur um<br />

6,4 Milliarden Euro nach unten.<br />

Damit würden die Steuereinnahmen<br />

gegenüber 2014 immer<br />

noch um fast 27 Milliarden Euro<br />

Weiter aufwärts<br />

Entwicklung der Steuereinnahmen<br />

(in Mrd. €)<br />

750<br />

Gesamt<br />

700<br />

650<br />

Veränderung zur<br />

Mai-Schätzung<br />

(in Mrd. €)<br />

+0,9 –6,4 –6,9 –4,6 –3,9<br />

600<br />

2014* 15** 16 17 18<br />

Quelle: Arbeitskreis Steuerschätzungen <strong>vom</strong> 6.<br />

November; * Schätzung; ** ab 2015 Prognosen<br />

wachsen. Dem Bund kommt dabei<br />

2015 – quasi als Aperçu – zugute,<br />

dass er 2,1 Milliarden Euro<br />

weniger an die EU abführen muss,<br />

weil es für die Jahre 1995 bis<br />

2013 zu Nachberechnungen<br />

kam. Dadurch kann Finanzminister<br />

Wolfgang Schäuble für das<br />

kommende Jahr nahezu unverändert<br />

planen. Was für ein Glück!<br />

Der Bundesfinanzminister reitet<br />

nicht auf der Konjunkturwelle, es<br />

scheint, als ob er die Welle macht.<br />

Virtuos spielt der seit 42 Jahren<br />

im Bundestag sitzende Unions-<br />

Politiker mit den jüngsten Zahlen<br />

und erklärt: „Wir wollen zusätzliche<br />

investive Mittel von zehn Milliarden<br />

Euro im Haushalt 2016 bereitstellen.“<br />

Damit raubt er den<br />

Dränglern ihren Schwung, die seit<br />

Monaten mehr Geld für Investitionen<br />

fordern, vor allem in die Infrastruktur.<br />

Er kommt auch dem neuen<br />

EU-Kommissionspräsidenten<br />

Jean-Claude Juncker entgegen,<br />

der 300 Milliarden Euro Investitionen<br />

für Europa im Kampf gegen<br />

Stagnation und Arbeitslosigkeit<br />

verlangt. Und er schiebt die zusätzlichen<br />

<strong>Ausgabe</strong>n auf das Jahr<br />

nach 2015.<br />

2015 soll Schäubles magisches<br />

Jahr werden. Dann will der Bund<br />

keine neuen Schulden mehr aufnehmen.<br />

Das wäre das erste Mal<br />

seit 1969, ein historischer Moment,<br />

für den sich ein Politikerleben<br />

zu leben lohnt. Natürlich lässt<br />

sich leicht sagen: Mit diesen sprudelnden<br />

Einnahmen kann das jeder<br />

schaffen! Tatsächlich steigen<br />

die Steuereinnahmen allein für<br />

den Bund von 2009, dem Beginn<br />

von Schäubles Amtszeit, bis 2015<br />

um voraussichtlich 50 Milliarden<br />

auf 279 Milliarden Euro.<br />

Allerdings gehört es zu den Naturgesetzen<br />

im politischen Berlin,<br />

dass jede Mehreinnahme ein Vielfaches<br />

an Begehrlichkeiten<br />

weckt. Allein ein Blick in die Lobbyliste<br />

des Bundestages mit den<br />

Der Staat kassiert<br />

Wie sich die Steuereinnahmen<br />

zusammensetzen (in Mrd. €)<br />

Sonstiges 91,5<br />

Tabaksteuer 14,3<br />

Solidaritätszuschlag<br />

14,9<br />

Körperschaftsteuer<br />

18,1<br />

Energiesteuer 39,5<br />

Gewerbesteuer 44,0<br />

Quelle: Arbeitskreis Steuerschätzungen,<br />

2014<br />

Lohn- und<br />

Einkommensteuer<br />

203,4<br />

214,2<br />

Umsatzsteuer<br />

dort registrierten 2216 Organisationen<br />

zeigt, welchen Begehrlichkeiten<br />

Parlament und Regierung<br />

ausgesetzt sind. Hinzu kommt der<br />

Drang von Politikern, sich ein<br />

Denkmal zu setzen, das natürlich<br />

von den Steuerzahlern zu finanzieren<br />

ist. Kreativ und durchsetzungsstark<br />

ist insbesondere Ursula<br />

von der Leyen, die sich bereits<br />

mit dem Kita-Ausbau und dem Elterngeld<br />

kostspielige Denkmäler<br />

gesetzt hat und nun als Verteidigungsministerin<br />

versucht, Schäuble<br />

Geld aus der Rippe zu leiern.<br />

Auch die Wirtschaft ist aktiv geworden.<br />

Die Stiftung Familienunternehmen<br />

entdeckt wieder die<br />

degressive Afa, mit deren Hilfe<br />

Unternehmen ihre Maschinen<br />

am Anfang besonders stark abschreiben<br />

könnten. Damit, so<br />

sagt sie, würde mehr investiert<br />

werden und so die Konjunktur<br />

wieder anspringen.<br />

WÜNSCHE, WÜNSCHE<br />

Der Industrieverband BDI hätte<br />

gern eine steuerliche Förderung<br />

von Forschung und Entwicklung,<br />

um die Unternehmen noch innovativer<br />

zu machen und um mit<br />

anderen Ländern gleichzuziehen,<br />

die längst solche Anreize<br />

anbieten. Der Handwerksverband<br />

wiederum plädiert eindringlich<br />

für eine Förderung der<br />

energetischen Gebäudesanierung.<br />

Dabei sind Deutschlands<br />

Unternehmen auch ohne Steuerbonus<br />

ausgesprochen innovativ<br />

(siehe auch Seite 26). Und<br />

dank niedrigster Zinsen brummt<br />

das Baugeschäft, einschlägige<br />

Handwerker sind bisweilen über<br />

Monate nicht zu bekommen.<br />

Doch Schäuble fällt es nicht<br />

allzu schwer, solche Begehrlichkeiten<br />

an sich abperlen zu lassen.<br />

Problematischer sind für<br />

ihn da schon Forderungen der<br />

Bundesländer. Immer wieder<br />

knickt er ein, sei es bei der Übernahme<br />

von Unterkunftskosten<br />

für ALG-II-Bezieher, dem Kita-<br />

Ausbau, bei Bafög oder Eingliederungshilfen.<br />

Bei den laufenden<br />

Gesprächen zur<br />

Neugliederung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen<br />

zeichnet<br />

sich ein Verhältnis von 16 zu<br />

1 ab, wenn es darum geht, den<br />

Bund weiter zu schröpfen.<br />

Ganz ohne Anstrengung wird<br />

Schäuble seine schwarze Null<br />

für 2015 nicht bekommen.<br />

FOTO: WERNER SCHUERING FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

38 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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KONJUNKTUR DEUTSCHLAND<br />

Earlybird-Frühindikator<br />

sagt Erholung voraus<br />

Aufatmen in der deutschen Industrie:<br />

Nach einem Auftragseinbruch<br />

im August haben die<br />

Bestellungen im September<br />

wieder zugelegt. Der Zuwachs<br />

gegenüber dem Vormonat fiel<br />

mit 0,8 Prozent allerdings geringer<br />

aus als von Analysten erwartet.<br />

Die Aufträge aus dem Ausland<br />

kletterten zwar deutlich<br />

um 3,7 Prozent, gleichzeitig<br />

aber fragten inländische Kunden<br />

2,8 Prozent weniger Güter<br />

und Dienstleistungen nach.<br />

Dass es mit der Wirtschaft<br />

gleichwohl vorsichtig nach<br />

oben geht, zeigt auch der Earlybird-Frühindikator,<br />

den die<br />

Commerzbank jeden Monat exklusiv<br />

für die WirtschaftsWoche<br />

berechnet. Das Konjunkturbarometer,<br />

das einen Vorlauf gegenüber<br />

der Realwirtschaft von<br />

sechs bis neun Monaten hat,<br />

kletterte im Oktober von 0,49<br />

auf 0,53 Punkte (siehe Grafik).<br />

Der Indikator erfasst den Außenwert<br />

des Euro, die kurzfristigen<br />

Realzinsen sowie (als Messgröße<br />

für die Lage der<br />

Weltwirtschaft) den Einkaufsmanagerindex<br />

für die US-Industrie<br />

(ISM). Grund für den<br />

aktuellen Anstieg war neben einer<br />

etwas stärkeren Weltwirtschaft<br />

der gesunkene Euro-<br />

Kurs. Dieser lag um etwa zwei<br />

Prozent unter dem Niveau von<br />

Oktober 2013. Das geldpolitische<br />

Umfeld blieb stabil.<br />

Insgesamt gebe der Earlybird<br />

„Anlass zur Hoffnung, dass die<br />

deutsche Wirtschaft 2015 nach<br />

einem schwachen zweiten<br />

Halbjahr 2014 wieder zulegen<br />

wird“, schreiben die Commerzbank-Ökonomen<br />

in ihrer Analyse<br />

für die WirtschaftsWoche. Die<br />

Experten rechnen damit, dass<br />

bald auch der seit Monaten anhaltende<br />

Rückgang des ifo-Geschäftsklimas<br />

endet. „In den<br />

vergangenen Zyklen lief der<br />

Earlybird dem ifo-Geschäftsklima<br />

immer voraus. Da der<br />

Earlybird im Januar seinen Tiefpunkt<br />

erreicht hat, würde dies<br />

beim ifo-Index für eine Wende<br />

nach oben um den Jahreswechsel<br />

2014/15 herum sprechen“, so<br />

die Ökonomen.<br />

Aufwärtstrend hält an<br />

Bruttoinlandsprodukt und Earlybird-Konjunkturbarometer<br />

bert.losse@wiwo.de<br />

Die Stimmung in der Industrie<br />

hat sich leicht verbessert. Der<br />

<strong>vom</strong> Forschungsinstitut Markit<br />

ermittelte Einkaufsmanagerindex<br />

für das verarbeitende Gewerbe<br />

ist im Oktober um 1,5 auf<br />

51,4 Zähler gestiegen. Damit<br />

liegt das Barometer wieder über<br />

der Schwelle von 50 Punkten,<br />

ab der gemeinhin wirtschaftliche<br />

Expansion einsetzt. Gleichzeitig<br />

sackte der entsprechende<br />

Index für den Dienstleistungssektor<br />

um 1,3 auf 54,4 Punkte<br />

ab. Das ist der niedrigste Stand<br />

seit sieben Monaten.<br />

Insgesamt dürfte das Bruttoinlandsprodukt<br />

von Juli bis September<br />

nur um magere 0,1 Prozent<br />

zum Vorquartal gestiegen<br />

sein, prognostiziert das Deutsche<br />

Institut für Wirtschaftsforschung.<br />

Eine erste offizielle<br />

Schätzung für das dritte Quartal<br />

gibt das Statistische Bundesamt<br />

am Freitag dieser Woche bekannt.<br />

1,00<br />

0,75<br />

0,50<br />

Earlybird 2<br />

4,0<br />

3,0<br />

2,0<br />

0,25<br />

0<br />

1,0<br />

0<br />

–0,25<br />

–1,0<br />

–0,50<br />

Bruttoinlandsprodukt<br />

–2,0<br />

–0,75<br />

1 ( )<br />

–3,0<br />

–1,00<br />

1993 1996 1999 2002 2005 2008 2011<br />

–4,0<br />

2014<br />

1<br />

zum Vorquartal (in Prozent); 2 gewichtete Summe aus kurzfristigem realem Zins, effektivem<br />

realem Außenwert des Euro und Einkaufsmanagerindizes; Quelle: Commerzbank<br />

Zurück in der<br />

Wachstumszone<br />

Volkswirtschaftliche<br />

Gesamtrechnung<br />

Real. Bruttoinlandsprodukt<br />

Privater Konsum<br />

Staatskonsum<br />

Ausrüstungsinvestitionen<br />

Bauinvestitionen<br />

Sonstige Anlagen<br />

Ausfuhren<br />

Einfuhren<br />

Arbeitsmarkt,<br />

Produktion und Preise<br />

Industrieproduktion 1<br />

Auftragseingänge 1<br />

Einzelhandelsumsatz 1<br />

Exporte 2<br />

ifo-Geschäftsklimaindex<br />

Einkaufsmanagerindex<br />

GfK-Konsumklimaindex<br />

Verbraucherpreise 3<br />

Erzeugerpreise 3<br />

Importpreise 3<br />

Arbeitslosenzahl 4<br />

Offene Stellen 4<br />

Beschäftigte 4, 5<br />

2012 2013<br />

Durchschnitt<br />

0,4<br />

0,8<br />

1,0<br />

–4,0<br />

–1,4<br />

3,4<br />

3,2<br />

1,4<br />

2012 2013<br />

Durchschnitt<br />

–0,9<br />

–4,2<br />

0,1<br />

3,3<br />

105,0<br />

46,7<br />

5,9<br />

2,0<br />

1,6<br />

2,1<br />

2896<br />

478<br />

29355<br />

0,1<br />

0,9<br />

0,4<br />

–2,4<br />

–0,2<br />

3,0<br />

0,9<br />

1,5<br />

–0,2<br />

2,5<br />

0,2<br />

–0,2<br />

106,9<br />

50,6<br />

6,5<br />

1,5<br />

–0,1<br />

–2,5<br />

2950<br />

458<br />

29722<br />

II/13 III/13 IV/13 I/14 II/14<br />

Veränderung zum Vorquartal in Prozent<br />

0,8<br />

0,6<br />

0,0<br />

2,3<br />

3,0<br />

0,0<br />

1,4<br />

1,3<br />

Juli<br />

2014<br />

1,6<br />

4,8<br />

–0,9<br />

4,8<br />

107,9<br />

52,4<br />

8,9<br />

0,9<br />

–0,8<br />

–1,7<br />

2912<br />

484<br />

30259<br />

1 Volumen, produzierendes Gewerbe, Veränderung zum Vormonat in Prozent; 2 nominal, Veränderung zum Vormonat in<br />

Prozent; 3 Veränderung zum Vorjahr in Prozent; 4 in Tausend, saisonbereinigt; 5 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte;<br />

alle Angaben bis auf Vorjahresvergleiche saisonbereinigt; Quelle: Thomson Reuters<br />

0,3<br />

0,7<br />

0,6<br />

–0,5<br />

1,8<br />

0,2<br />

0,7<br />

1,7<br />

Aug.<br />

2014<br />

–4,0<br />

–4,2<br />

1,5<br />

–5,8<br />

106,3<br />

51,4<br />

8,9<br />

0,9<br />

–0,8<br />

–1,9<br />

2900<br />

494<br />

30257<br />

0,5<br />

–0,8<br />

–0,1<br />

2,1<br />

0,7<br />

0,2<br />

1,7<br />

0,7<br />

Sept.<br />

2014<br />

–<br />

0,8<br />

–3,2<br />

–<br />

104,7<br />

49,9<br />

8,6<br />

0,9<br />

–1,0<br />

–1,6<br />

2909<br />

500<br />

–<br />

0,7<br />

0,8<br />

0,4<br />

2,1<br />

4,1<br />

1,2<br />

0,0<br />

0,5<br />

Okt.<br />

2014<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–<br />

103,2<br />

51,4<br />

8,4<br />

0,8<br />

–<br />

–<br />

2887<br />

509<br />

–<br />

–0,2<br />

0,1<br />

0,1<br />

–0,4<br />

–4,2<br />

0,1<br />

0,9<br />

1,6<br />

Nov.<br />

2014<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–<br />

8,5<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–<br />

Letztes Quartal<br />

zum Vorjahr<br />

in Prozent<br />

0,8<br />

1,0<br />

1,0<br />

2,1<br />

0,7<br />

1,6<br />

2,5<br />

4,1<br />

Letzter Monat<br />

zum Vorjahr<br />

in Prozent<br />

–5,9<br />

2,0<br />

2,3<br />

–1,1<br />

–4,2<br />

0,2<br />

19,7<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–2,6<br />

11,1<br />

1,6<br />

WirtschaftsWoche <strong>10.11.2014</strong> Nr. 46 39<br />

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Der Volkswirt<br />

PRO UND CONTRA | Die steile Talfahrt der Zinsen unter dem Einfluss der expansiven Geldpolitik der Zentralbanken<br />

hat unter Ökonomen eine heftige Debatte über die Natur des Zinses und seine angemessene Höhe ausgelöst.<br />

Strittig ist, ob der Zins auf einem freien Markt in den negativen Bereich rutschen kann.<br />

Kann der natürliche Zins negativ werden?<br />

Pro<br />

Ulrich von Suntum ist Professor<br />

für Volkswirtschaftslehre<br />

in Münster. Zuvor hat er<br />

unter anderem für die „Fünf<br />

Wirtschaftsweisen“ gearbeitet.<br />

Der natürliche Zins ist<br />

derjenige Zinssatz,<br />

der sich ohne Manipulation<br />

durch die<br />

Zentralbank einstellen würde.<br />

Der österreichische Ökonom<br />

Eugen von Böhm-Bawerk<br />

nannte drei Bestimmungsgründe<br />

für seine Höhe. Erstens sind<br />

die Konsumenten ungeduldig –<br />

sie konsumieren im Zweifel lieber<br />

heute als morgen. Diese<br />

„Zeitpräferenz“ bringt tendenziell<br />

einen positiven Zinssatz<br />

hervor, der die Sparer für ihre<br />

Geduld entschädigt. Zweitens<br />

steigen nach Böhm-Bawerk die<br />

Einkommen der meisten Menschen<br />

im Zeitverlauf. Daher<br />

nehmen sie in jungen Jahren,<br />

beispielsweise als Studenten<br />

oder Häuslebauer, gerne Kredite<br />

auf. Denn diese können später<br />

aus dem dann höheren<br />

Wohlstand leicht zurückgezahlt<br />

werden. Drittens schließlich<br />

bringen die Ersparnisse bei<br />

produktiver Anlage auch einen<br />

realen Mehrertrag hervor. Alle<br />

drei Gründe unterstützen offenbar<br />

die These eines positiven natürlichen<br />

Zinssatzes.<br />

Trotzdem kann er theoretisch<br />

negativ werden. Denn anders als<br />

zu Böhm-Bawerks Zeiten müssen<br />

in der alternden Gesellschaft von<br />

heute viele Menschen mit einem<br />

sinkenden Einkommen in der Zukunft<br />

rechnen. Die Renten sind<br />

niedriger als die Erwerbseinkommen,<br />

woraus ein starker Anreiz<br />

zum Sparen entsteht. Gleichzeitig<br />

gibt es immer weniger junge Menschen,<br />

die als Kreditnehmer infrage<br />

kommen. Böhm-Bawerks<br />

zweiter Bestimmungsfaktor für<br />

den Zins kehrt sich dann um, er<br />

senkt tendenziell den Zinssatz,<br />

statt ihn zu erhöhen. Im Extremfall<br />

kann er die beiden anderen Gründe<br />

sogar gänzlich überlagern.<br />

Dies hat schon 1958 der spätere<br />

Nobelpreisträger Paul Samuelson<br />

in einem bahnbrechenden Aufsatz<br />

gezeigt. In seinem Modell der<br />

„überlappenden Generationen“<br />

wird so viel gespart, dass der Zinssatz<br />

schließlich negativ wird. In einem<br />

solchen Fall würde auch die<br />

Investitionsrendite (Böhm-Bawerk<br />

nannte sie Produktionsumwege)<br />

entsprechend sinken. Die<br />

Investitionen werden aber trotzdem<br />

getätigt, weil man ja für das<br />

Sparkapital nicht nur nichts bezahlen<br />

muss, sondern sogar noch<br />

einen Bonus in Form des Negativzinses<br />

erhält. Prinzipiell stehen also<br />

negative Zinsen aufgrund einer<br />

Sparschwemme („savings glut“)<br />

durchaus im Einklang mit Böhm-<br />

Bawerks Zinstheorie. Aktuell dürften<br />

sie allerdings in erster Linie<br />

auf die expansive Geldpolitik zurückzuführen<br />

sein. Deren Einfluss<br />

hat Böhm-Bawerk leider in seiner<br />

Theorie vernachlässigt, obwohl er<br />

zeitweise österreichischer Notenbankpräsident<br />

gewesen ist.<br />

Contra<br />

Thorsten Polleit ist Chefvolkswirt<br />

der Degussa und Honorarprofessor<br />

an der Uni Bayreuth.<br />

Zudem leitet er das Ludwig von<br />

Mises-Institut Deutschland.<br />

Den Zins kennt man als<br />

Entgelt für die Nutzung<br />

von Kapital. Ökonomisch<br />

betrachtet resultiert<br />

er aus einer Wertdifferenz.<br />

Menschen werten Güter, die sie<br />

gegenwärtig haben können, höher<br />

als Güter, die erst künftig verfügbar<br />

sind. Anders gesprochen:<br />

Künftige Güter erleiden einen<br />

Preisabschlag gegenüber gegenwärtigen<br />

Gütern. Es ist die – wie<br />

Frank A. Fetter (1863–1949) sie<br />

bezeichnete – „Zeitpräferenz“,<br />

die den Zins erklärt.<br />

Ludwig von Mises (1881–1973)<br />

zeigte auf, dass der Zins – er<br />

spricht <strong>vom</strong> „Urzins“ oder „neutralen<br />

Zins“ – elementar für das<br />

menschliche Handeln ist und sich<br />

allein aus der Zeitpräferenz erklärt.<br />

Damit ging er über die Zinstheorie,<br />

die Eugen von Böhm-Bawerk<br />

(1850–1914) vorgelegt<br />

hatte, hinaus.<br />

Der Urzins hat mit der Ertragsrate<br />

auf Kapital und mit Psychologie<br />

nichts zu tun. Selbst bei einer<br />

negativen Kapitalertragsrate werden<br />

gegenwärtig vorhandene<br />

Güter höher geschätzt als künftig<br />

verfügbare Güter. Der Urzins,<br />

den der Mensch quasi in sich<br />

trägt, bleibt auch hier positiv.<br />

Der Zins kann nicht auf null<br />

fallen. Es würde bedeuten, dass<br />

man zwei Äpfel, die man erst in<br />

1000 Jahren essen kann, einem<br />

heute verfügbaren Apfel vorzieht.<br />

Das klingt nicht nur realitätsfremd,<br />

es ist ein irrtümlicher<br />

Gedanke. Er liefe auf die Aussage<br />

hinaus, dass der Mensch niemals<br />

konsumiert, dass er sein<br />

Einkommen vollständig spart.<br />

Der Zins kann auch nicht negativ<br />

werden. Denn das hieße,<br />

dass man einen Apfel, den man<br />

erst in 1000 Jahren verspeisen<br />

kann, einem heute zum Konsum<br />

bereitstehenden Apfel vorzieht.<br />

Nullzins und Negativzins laufen<br />

der Logik des menschlichen<br />

Handelns zuwider. In einem freien<br />

Markt richtet sich der Marktzins<br />

am Urzins aus. Im heutigen<br />

ungedeckten Papiergeldwesen<br />

sorgen jedoch die Zentralbanken<br />

mit ihrem Geldmonopol dafür,<br />

dass der Marktzins künstlich<br />

herabgedrückt wird, dass er<br />

unter den Urzins fällt. Das führt<br />

zu gefährlichen Boom-Bust-<br />

Zyklen und zerstört den Anreiz<br />

zum Sparen. Knappe Ressourcen<br />

wandern in den Konsum,<br />

es kommt zu Kapitalverzehr.<br />

Ein negativer Marktzins ist ein<br />

Frontalangriff auf die Marktwirtschaft.<br />

Er zerstört die arbeitsteilige<br />

Wirtschaftsordnung. Die<br />

Idee, den Zins abzuschaffen,<br />

hatten schon die Marxisten und<br />

Nationalsozialisten. Damit wollten<br />

sie das kapitalistische System<br />

zerstören.<br />

Ein negativer Marktzins würde<br />

das „antikapitalistische“ Zerstörungswerk<br />

perfektionieren.<br />

FOTOS: PR, CHRISTOF MATTES FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

40 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Der Volkswirt<br />

NACHGEFRAGT Jesús Huerta de Soto<br />

»Wie der Goldstandard«<br />

Der spanische Ökonom warnt vor einer Deflationsphobie in Europa – und<br />

sieht im Euro einen Garanten für nachhaltige Austeritätspolitik.<br />

Professor Huerta de Soto, die<br />

Inflationsrate in der Euro-Zone<br />

beträgt nur noch 0,4 Prozent.<br />

Droht uns eine Deflation, wie<br />

viele Experten behaupten?<br />

Deflation bedeutet, dass die<br />

Geldmenge schrumpft. Davon<br />

kann in der Euro-Zone keine<br />

Rede sein. Die breit definierte<br />

Geldmenge M3 wächst um etwa<br />

zwei Prozent, die enger gefasste<br />

Geldmenge M1 sogar um mehr<br />

als sechs Prozent. Die Teuerungsrate<br />

in der Euro-Zone liegt<br />

zwar unter dem Ziel der Euro-<br />

derlegen die Horrorszenarien<br />

von der bösen Deflation.<br />

Heißt das, wir sollten uns über<br />

Deflation freuen?<br />

Durchaus. Besonders segensreich<br />

ist sie, wenn sie sich durch<br />

das Zusammenspiel eines stabilen<br />

Geldangebots mit einer<br />

steigenden Produktivität ergibt.<br />

Beispielhaft dafür ist der Goldstandard<br />

im 19. Jahrhundert.<br />

Damals wuchs die Goldmenge<br />

nur um ein bis zwei Prozent pro<br />

Jahr. Zugleich erwirtschafteten<br />

die Industriegesellschaften die<br />

größten Wohlstandszuwächse<br />

in der Geschichte. Die EZB sollte<br />

sich daher am Goldstandard<br />

orientieren und den Zielwert<br />

für das M3-Geldmengenwachstum<br />

von 4,5 auf rund 2,0 Prozent<br />

senken. Wächst die Euro-<br />

Wirtschaft um rund drei<br />

Prozent pro Jahr – wozu sie in<br />

der Lage wäre, wenn man sie<br />

von den Fesseln staatlicher Regulierungen<br />

befreite –, gingen<br />

die Preise um etwa ein Prozent<br />

pro Jahr zurück.<br />

Wenn Deflation so segensreich<br />

ist, warum haben die Menschen<br />

dann Angst vor ihr?<br />

Ich glaube nicht, dass die normalen<br />

Bürger Angst vor sinkenden<br />

Preisen haben. Es sind die<br />

Vertreter des ökonomischen<br />

Mainstreams, die die Deflationsphobie<br />

schüren. Sie argumentieren,<br />

Deflation lasse die<br />

reale Schuldenlast steigen und<br />

würge so die gesamtwirtschaftliche<br />

Nachfrage ab. Dabei lassen<br />

die Deflationswarner unter<br />

den Tisch fallen, dass bei Deflation<br />

die Gläubiger gewinnen –<br />

was deren Nachfrage ankurbelt.<br />

Gerade der mit Deflation verbundene<br />

Anstieg der realen<br />

Schuldenlast entfaltet eine heilsame<br />

Wirkung. Denn er mindert<br />

den Anreiz, Kredite aufzunehmen<br />

und stoppt so den<br />

Marsch in die Überschuldung.<br />

Besteht nicht die Gefahr, dass<br />

die Bürger ihre Konsumausgaben<br />

zurückfahren, wenn<br />

morgen alles billiger wird?<br />

Das ist ein abstruses Argument,<br />

das man immer wieder hört.<br />

Schauen Sie mal, welch reißenpäischen<br />

Zentralbank (EZB)<br />

von knapp zwei Prozent. Aber<br />

das ist noch kein Grund, Deflationsängste<br />

zu schüren, wie<br />

manche Zentralbanker das tun.<br />

Sie suggerieren damit, sinkende<br />

Preise seien etwas Schlechtes.<br />

Das ist falsch. Preisdeflation ist<br />

keine Katastrophe, sondern ein<br />

Segen.<br />

Das müssen Sie erklären.<br />

Nehmen Sie mein Heimatland<br />

Spanien. Dort gehen die Verbraucherpreise<br />

derzeit zurück.<br />

Zugleich wächst die Wirtschaft,<br />

ÜBERZEUGUNGSTÄTER<br />

Huerta de Soto ist Professor für<br />

Wirtschaftspolitik an der Universität<br />

Rey Juan Carlos in Madrid.<br />

Der Träger des Adam-Smith-<br />

Preises zählt zu den führenden<br />

Vertretern der staatskritischen<br />

Österreichischen Schule.<br />

auf das Jahr gerechnet, um rund<br />

zwei Prozent. 2013 entstanden<br />

275 000 neue Arbeitsplätze, die<br />

Arbeitslosenquote sank von 26<br />

auf 23 Prozent. Die Fakten wi-<br />

FOTOS: ARNE WEYCHARDT FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

42 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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den Absatz neue Smartphones<br />

finden, obwohl die Käufer wissen,<br />

dass die Geräte in ein paar<br />

Monaten billiger angeboten<br />

werden. In Amerika herrschte<br />

nach dem Bürgerkrieg jahrzehntelang<br />

Deflation. Trotzdem<br />

nahm der Konsum zu. Würden<br />

die Menschen wegen sinkender<br />

Preise den Konsum aufschieben,<br />

würden sie letztlich allesamt<br />

verhungern.<br />

Sinkende Preise drücken aber<br />

die Umsätze der Unternehmen<br />

nach unten und schmälern<br />

ihre Investitionsbereitschaft.<br />

Wollen Sie das ignorieren?<br />

Entscheidend für die Unternehmen<br />

sind nicht die Umsätze,<br />

sondern die Gewinne, also die<br />

Differenz zwischen Erlösen und<br />

Kosten. Sinkende Absatzpreise<br />

erhöhen den Druck, die Kosten<br />

zu reduzieren. Die Unternehmen<br />

ersetzen daher Arbeitskräfte<br />

durch Maschinen. Also<br />

müssen mehr Maschinen produziert<br />

werden, was die Arbeitskräftenachfrage<br />

im Investitionsgütersektor<br />

erhöht. Auf<br />

diese Weise finden die Arbeitnehmer,<br />

die im Zuge der Preisdeflation<br />

im Konsumgütersektor<br />

ihren Job verloren haben, im<br />

Investitionsgütersektor eine<br />

neue Beschäftigung. Der Kapitalstock<br />

wächst, ohne dass es zu<br />

Massenarbeitslosigkeit kommt.<br />

Machen Sie es sich da nicht zu<br />

einfach? In der Realität klaffen<br />

die Qualifikationen von Arbeitslosen<br />

und die Anforderungen<br />

der Unternehmen zuweilen<br />

erheblich auseinander.<br />

Ich behaupte nicht, dass der<br />

Markt perfekt ist. Es ist daher<br />

entscheidend, dass der Arbeitsmarkt<br />

flexibel genug ist, damit<br />

er kreativen Unternehmern Anreize<br />

bietet, neue Arbeitskräfte<br />

einzustellen.<br />

Welche Rolle spielt dabei die<br />

Politik?<br />

Das Problem ist, dass Politiker<br />

einen zu kurzen Zeithorizont<br />

haben. Deshalb benötigen wir<br />

einen währungspolitischen<br />

Rahmen, der sie und die Gewerkschaften<br />

diszipliniert. In<br />

Europa kommt dem Euro diese<br />

Aufgabe zu. Die Gemeinschaftswährung<br />

hat den Regierungen<br />

die Möglichkeit genommen, die<br />

nationale Notenpresse anzuwerfen<br />

und ihre Währung abzuwerten,<br />

um so ihre fehlgeleitete<br />

Wirtschaftspolitik zu kaschieren.<br />

Wirtschaftspolitische Fehler<br />

machen sich jetzt direkt in<br />

einem Verlust der Wettbewerbsfähigkeit<br />

des betroffenen Landes<br />

bemerkbar. Das zwingt die<br />

Politiker zu harten Reformen. In<br />

Spanien haben zwei Regierungen<br />

innerhalb von anderthalb<br />

Jahren Reformen umgesetzt,<br />

von denen ich bisher nicht zu<br />

träumen wagte. Mittlerweile<br />

bessert sich die wirtschaftliche<br />

Lage, und Spanien fährt die Ernte<br />

der Reformen ein.<br />

Für Spanien mögen Sie ja recht<br />

haben, aber in Italien und<br />

Frankreich ist von durchgreifenden<br />

Reformen bisher nichts<br />

zu sehen...<br />

...weshalb sich die Lage dort zunächst<br />

weiter verschlechtern<br />

muss, bevor es zu Reformen<br />

kommt. Die Erfahrung lehrt:Je<br />

miserabler die wirtschaftliche<br />

Lage, desto höher der Reformdruck.<br />

Die Reformerfolge, die<br />

Spanien und andere Euro-Länder<br />

erzielt haben, erhöhen den<br />

Druck auf Paris und Rom. Die<br />

hohe Arbeitslosigkeit hat in Spanien<br />

die Lohnkosten gedrückt.<br />

Mit durchschnittlich rund 20<br />

Euro je Stunde sind sie nur noch<br />

halb so hoch wie in Frankreich.<br />

Die Franzosen werden daher<br />

um eine wirtschaftspolitische<br />

Rosskur nicht umhinkommen,<br />

auch wenn diese in der Bevölkerung<br />

auf Widerstände stößt.<br />

Um den Reformdruck auf<br />

Frankreich und Italien mög-<br />

lichst hoch zu halten, sollte<br />

Deutschland an seiner Haushaltskonsolidierung<br />

festhalten.<br />

Die EZB gerät zunehmend<br />

unter Druck, die Geldschleusen<br />

zu öffnen und den Euro abzuwerten.<br />

Der Druck kommt aus<br />

der Wissenschaft, den Finanzmärkten<br />

und der Politik.<br />

Der ökonomische Mainstream<br />

des Keynesianismus und des<br />

Monetarismus erklärt die Große<br />

Depression der Dreißigerjahre<br />

durch eine Unterversorgung<br />

mit Geld. Das hat in der<br />

Wissenschaft eine Anti-Deflationsmentalität<br />

entstehen lassen.<br />

Die Politiker nutzen den akademischen<br />

Resonanzboden, um<br />

die EZB zur Re-Inflationierung<br />

zu drängen. Die Regierungen<br />

lieben die Inflation, weil sie ihnen<br />

die Möglichkeit gibt, über<br />

die Verhältnisse zu leben und<br />

riesige Schuldenberge aufzutürmen,<br />

die die Zentralbank durch<br />

»Preisdeflation<br />

ist keine<br />

Katastrophe,<br />

sondern ein<br />

Segen«<br />

Inflation entwertet. Es ist kein<br />

Wunder, dass ausgerechnet die<br />

Gegner der Austeritätspolitik<br />

vor Deflation warnen und das<br />

stabilitätspolitische Regelwerk<br />

des Euro verteufeln. Sie scheuen<br />

sich, den Bürgern die wahren<br />

Kosten des Wohlfahrtsstaates<br />

zu präsentieren.<br />

EZB-Chef Mario Draghi hat mit<br />

dem Versprechen, den Euro<br />

notfalls durch das Anwerfen<br />

der Notenpresse zu retten,<br />

dem Druck nachgegeben. Ein<br />

Fehler?<br />

Vorsicht. Bisher hat Draghi in<br />

erster Linie Versprechungen<br />

gemacht, aber kaum gehandelt.<br />

Zwar hat die EZB großzügige<br />

Geldleihgeschäfte aufgelegt<br />

und die Leitzinsen gesenkt.<br />

Doch die realen Renditen für<br />

zehnjährige Staatsanleihen aus<br />

den Euro-Krisenländern liegen<br />

über denen in Amerika. Gemessen<br />

an der Bilanzsumme, hat<br />

die EZB weniger getan als andere<br />

westliche Notenbanken. Solange<br />

die Euro-Hüter nur reden,<br />

aber nicht handeln, stehen<br />

Italien und Frankreich weiter<br />

unter Reformdruck. Daher ist<br />

es entscheidend, dass die EZB<br />

dem Druck der Regierungen<br />

und der angelsächsischen<br />

Finanzwelt trotzt und keine<br />

Staatsanleihen kauft.<br />

Welche Rolle spielen speziell<br />

die angelsächsischen Finanzmärkte?<br />

Die angelsächsische Presse und<br />

die Finanzmärkte ziehen ostentativ<br />

gegen den Euro und die<br />

durch ihn erzwungene Austeritätspolitik<br />

in Kontinentaleuropa<br />

zu Felde. Ich bin eigentlich kein<br />

Anhänger von Verschwörungstheorien.<br />

Aber die Frontalangriffe<br />

aus Washington und London<br />

gegen den Euro lassen auf eine<br />

versteckte Agenda schließen.<br />

Die Amerikaner fürchten, dass<br />

die Tage des Dollar als Weltleitwährung<br />

gezählt sind, wenn<br />

der Euro als harte Währung<br />

überlebt. Amerika hat seine<br />

geldpolitische Disziplin nach<br />

dem Zweiten Weltkrieg verloren.<br />

Kann der Euro denn ohne<br />

politische Union auf Dauer<br />

überleben?<br />

Eine politische Union ist in der<br />

Bevölkerung nicht mehrheitsfähig.<br />

Sie ist auch nicht wünschenswert.<br />

Denn sie schmälert<br />

den Druck zur fiskalischen<br />

Sparsamkeit. Das beste Währungsregime<br />

für eine freie Gesellschaft<br />

ist der Goldstandard<br />

mit voller Reservedeckung aller<br />

Einlagen und ohne staatliche<br />

Zentralbanken. Solange wir den<br />

nicht haben, sollten wir den Euro<br />

verteidigen. Denn er entzieht<br />

den Regierungen den Zugriff<br />

auf die nationalen Notenpressen<br />

und zwingt sie zur Konsolidierung<br />

der Staatshaushalte<br />

sowie zu Reformen. In gewisser<br />

Weise wirkt er damit wie der<br />

Goldstandard.<br />

malte.fischer@wiwo.de<br />

WirtschaftsWoche <strong>10.11.2014</strong> Nr. 46 43<br />

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Unternehmen&<br />

Märkte<br />

Crystal Mett<br />

48 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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TÖNNIES | General gegen Schütze,<br />

Platzhirsch gegen Frischling,<br />

Schalke-04-Boss gegen Freizeit-<br />

Volleyballer: Ungleicher könnte<br />

die Gewichtsklasse im Kampf von<br />

Großschlachter Clemens Tönnies<br />

gegen seinen Neffen Robert<br />

Tönnies kaum sein. Wie ticken die<br />

beiden Protagonisten des Familienstreits,<br />

bei dem es um die Macht im<br />

milliardenschweren, größten<br />

deutschen Fleischkonzern geht –<br />

und um dessen Zukunft?<br />

Kurz, sehr kurz reichen die beiden Männer<br />

einander die Hand. Ein knapper Blick,<br />

ein dünnes „Hallo“, dann trennen sie sich<br />

eilig, während im Hintergrund der Spielmannszug<br />

Marschmusik schmettert. Wie<br />

gleichgerichtete Pole eines Magneten streben sie<br />

auseinander, „der eine an den Bierstand, der andere<br />

an die Würstchenbude“, erzählt einer, der dabei war –<br />

nur möglichst schnell weit weg.<br />

Das ist gar nicht so einfach beim 181. Schützenfest<br />

von Rheda-Wiedenbrück, dem Höhepunkt des gesellschaftlichen<br />

Lebens der ostwestfälischen Kleinstadt.<br />

Am Freitagabend marschieren die Schützen in<br />

vollem Wichs mit Schärpe und Gewehr zum Ehrenmal<br />

der Gefallenen beider Weltkriege, danach geht<br />

es zum Fassanstich. Samstags trifft man sich zum gemeinsamen<br />

Frühstück. Und am Sonntagabend an<br />

diesem 15. Juni schwofen alle auf dem Großen<br />

Schützenball zu den Schlagern der holländischen<br />

Partyband Feeling.<br />

Immer feste dabei: die Familie Tönnies. Früher<br />

waren sie ein verschworener Clan, Fleisch-Großunternehmer,<br />

Selfmade-Männer aus dem Ort und<br />

selbstredend Mitglieder des Schützenvereins zu<br />

Rheda e. V. von 1833. Clemens Tönnies ist General<br />

der Schützengruppe „Clemens“ in der 1. Kompanie;<br />

sein Neffe Robert Tönnies marschiert als einfacher<br />

Schütze der 2. Kompanie in der Gruppe „Busche“.<br />

Doch heute ist die Stimmung zwischen den Blutsverwandten<br />

so eisig wie die Luft in den Tiefkühlhäusern<br />

des Fleischriesen, wo gefrorene Schweinefüße<br />

für den Export nach China lagern: minus 18 Grad.<br />

Clemens<br />

Tönnies<br />

Die Fleischbranche ist kein Hort für zarte Gemüter.<br />

Mitarbeiter der Tönnies-Schlachthöfe killen jedes<br />

Jahr 16 Millionen Schweine, halbieren und zerlegen<br />

sie in alle ihre Einzelteile – bis hin zum Darmschleim,<br />

aus dem der Konzern seit wenigen Tagen<br />

den Blutgerinnungshemmer Heparin gewinnt.<br />

Doch was sich seit rund drei Jahren im größten<br />

deutschen Fleischimperium mit mehr als fünf Milliarden<br />

Euro Umsatz und 8000 Beschäftigten abspielt,<br />

verstört selbst hartgesottene Insider. Auf der einen<br />

Seite steht Clemens Tönnies, bundesweit bekannt als<br />

Aufsichtsratschef des Fußballbundesligisten Schalke<br />

04 und Gesprächspartner mächtiger Männer wie<br />

Wladimir Putin oder Gerhard Schröder. Der 58-Jährige<br />

beansprucht für sich, den Konzern zu heutiger<br />

Größe geführt zu haben.<br />

Auf der anderen Seite sein in der Öffentlichkeit<br />

weitgehend unbekannter Neffe Robert, 36, wie Clemens<br />

gelernter Metzger und studierter Betriebswirt.<br />

Für ihn steht fest, dass nicht Clemens, sondern Roberts<br />

früh verstorbener Vater Bernd Tönnies die<br />

Grundlagen für das Milliardenimperium schuf und<br />

der liebe Onkel die Nachkommen des Bruders über<br />

den Tisch ziehen wollte – was Clemens bestreitet.<br />

Von diesem Montag an treffen sich die verfeindeten<br />

Stämme zum entscheidenden Verfahren vor<br />

dem Bielefelder Landgericht. Noch gehört beiden jeweils<br />

die Hälfte der Tönnies Lebensmittel GmbH &<br />

Co. KG. Das ist so, seit Robert 2009 seinem Onkel<br />

Clemens fünf Prozent der Firmenanteile schenkte.<br />

Diese fordert er nun wegen angeblichen „groben Undanks“<br />

des Onkels zurück.<br />

Vor Gericht geht es nun darum, ein Dickicht zu<br />

entwirren aus Erpressungsvorwürfen und Tricksereien,<br />

Gutachten und Gegengutachten, Halbwahrheiten<br />

und Intrigen. Ein übles Gemisch, mitunter so<br />

irre, als entstamme es dem Hirn eines durchgeknallten<br />

Hollywood-Autors, unter dem Einfluss bewusstseinserweiternder<br />

Drogen zurechtfantasiert – Crystal<br />

Mett sozusagen.<br />

Im Kern dreht sich der Hickhack im Metzgerclan<br />

um die so simple wie womöglich folgenschwere<br />

Frage: Wer hat künftig die Macht in einem der größten<br />

Fleischkonzerne Europas? Platzhirsch Clemens<br />

oder Frischling Robert? Und Tausende von Tönnies-<br />

Mitarbeitern und die gesamte Fleischbranche wollen<br />

jetzt wissen, was passiert, falls der große Unbekannte<br />

Robert Tönnies tatsächlich die Mehrheit im<br />

Familienunternehmen übernehmen sollte.<br />

Sie fragen sich: Wie tickt der Angreifer, der seinen<br />

scheinbar übermächtigen Verwandten in die Knie<br />

zwingen will? Verkauft der 1,90-Meter-Mann das Unternehmen<br />

an die internationale Konkurrenz?<br />

Robert<br />

WirtschaftsWoche <strong>10.11.2014</strong> Nr. 46 Tönnies<br />

49<br />

»<br />

FOTOS: REINHARD HUNGER, TEAM2, PR<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

Auf Schalke<br />

Clemens Tönnies ist<br />

als Boss des Fußballbundesligisten<br />

die<br />

harte Gangart des<br />

Gegners gewöhnt<br />

Schock<br />

Zähleinheit,<br />

1 Schock =<br />

60 Stück*<br />

Rippchen<br />

Pökelware <strong>vom</strong><br />

Schwein*<br />

»<br />

Will er die Zerschlagung – ein häufiger Weg zur<br />

Streitschlichtung in Familienunternehmen (siehe<br />

Seite 56)? Gefährdet der Krach zwischen den Verwandten<br />

womöglich sogar den Bestand des Konzerns?<br />

Recherchen der WirtschaftsWoche zeichnen<br />

nun erstmals ein Bild des Herausforderers.<br />

ROHSTOFF FLEISCH<br />

Auf dem Keramik-Kugelgrill der Marke Monolith im<br />

Garten des Einfamilienhauses im schnieken Stadtteil<br />

Wiedenbrück brutzeln die Rippchen, die Tochter<br />

tollt auf einem im Rasen versenkten Trampolin herum,<br />

für das Vater Robert eigenhändig im weißen<br />

Feinripp-Hemd die Grube ausgehoben hat.<br />

Studienkollegen, Schulfreunde und Schützenbrüder<br />

beschreiben den Kontrahenten von „Kotelett-<br />

Kaiser“ Clemens Tönnies als geselligen, stets gut gelaunten<br />

Gastgeber. Die Feuerstelle, die ihm Ehefrau<br />

Sarah zum Geburtstag schenkte, blieb deshalb in<br />

diesem Sommer selten kalt.<br />

Zu Gast seien meist „ganz normale Leute“, sagt einer,<br />

der oft dabei ist, Arbeiter und Angestellte, einer<br />

sei Baggerführer. Gepflegt wird Humor à la Ostwestfalen:<br />

Die Truppe, mit der Robert beim Beachvolleyballturnier<br />

„Herzebrocker Affentenniscup“ im Rhedaer<br />

Nachbarort vor mehr als 1000 Zuschauern auf<br />

Sand antrat, nennt sich „Fliegende Mettwürstchen“.<br />

Onkel Clemens dagegen mag es ein paar Nummern<br />

größer. Den Sportplatz baute er sich auf dem<br />

Firmengelände gleich selbst: das Fußballstadion<br />

„Tönnies-Arena“ mit 4000 Sitzplätzen und einem Geläuf<br />

aus Kunstrasen. Zur Eröffnung im September<br />

2012 kam nicht nur Franz Beckenbauer sowie aktuelle<br />

und ehemalige Profis im Schock, sondern auch<br />

Ex-Bertelsmann-Chef Hartmut Ostrowski und<br />

Modeunternehmer Gerhard „Gerry“ Weber. Auf der<br />

Tribüne schwenkte Bertelsmann-Matriarchin Liz<br />

Mohn an der Seite von Clemens’ zweiter Ehefrau<br />

Margit einen blau-weißen Tönnies-Fanschal.<br />

Dagegen wirkt Robert weit bescheidener, obwohl<br />

ihm Magazine wie „Bilanz“ ein Vermögen von rund<br />

einer halben Milliarde Euro zurechnen. Jagdreviere<br />

oder Zweitwohnsitze im Süden, wie sie der Onkel besitzt,<br />

seien „nicht so sein Ding“, berichten Freunde.<br />

Der größte Teil seines Vermögens stecke ohnehin im<br />

Unternehmen. Wie Vater Bernd ist er Schalke-Fan,<br />

im Garten schlappt die Vereinsfahne im Wind. Zu<br />

den Spielen der Knappen fährt Robert derzeit lieber<br />

nicht. Zwar mietet der Konzern, der ihm zur Hälfte<br />

gehört, eine Loge in der Arena auf Schalke. Doch<br />

da residiert schon Clemens: „Und große Ausweichmöglichkeiten<br />

gibt es dort nicht“, sagt ein Freund.<br />

Eine Extravaganz, die er sich erlaubt – so viel ist in<br />

Rheda bekannt –, sind Autos. Mit Vorliebe heizt er im<br />

Porsche Cayenne durchs Ostwestfälische. Ab und an<br />

holt er auch den <strong>vom</strong> Vater geerbten weißen Jaguar<br />

E-Type aus der Garage. Statt abgeschottet in einer<br />

Villa verbringe er die Ferien gern in familienfreundlichen<br />

Hotels auf Fuerteventura oder letztens am Gardasee<br />

– Robert liebt es bodenständig.<br />

Wie soll es auch anders sein, wird er doch in eine<br />

ostwestfälische Metzger-Dynastie hineingeboren.<br />

Sieben Jahre vor seiner Geburt hatte sich sein Vater<br />

Bernd 1971 als gerade 18-jähriger Jungspund mit einer<br />

cleveren Geschäftsidee selbstständig gemacht –<br />

Metzger-Start-up in Rheda. Das Geschäftsmodell ist<br />

FOTOS: WAZ FOTOPOOL/SEBASTIAN KONOPKA, PR<br />

50 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Auf Krawall<br />

Robert Tönnies will<br />

sich mit einem<br />

scharfen Konter die<br />

Mehrheit im Fleischkonzern<br />

zurückholen<br />

so einfach wie schlau: Bernd liefert keine kompletten<br />

Schweine an die Metzger, sondern zerlegt sie direkt<br />

im Schlachthof und sucht und findet Abnehmer für<br />

so gut wie alle verwertbaren Tierteile.<br />

So liefert er nur das Fleisch als Rohstoff an Wursthersteller,<br />

das diese für ihre Produkte wirklich <strong>vom</strong><br />

Tier brauchen. Tönnies perfektioniert Schlachtung<br />

und Zerlegung – gestorben und verwertet wird am<br />

Fließband. Noch heute ist das die Basis für das Geschäftsmodell<br />

des Milliardenkonzerns.<br />

Bernds Bruder Clemens ist da 15 Jahre alt. Nachdem<br />

auch er eine Metzgerlehre absolviert hat, beteiligt<br />

ihn Bernd Mitte der Achtzigerjahre mit 40 Prozent<br />

an dem inzwischen florierenden Betrieb. Rund<br />

zehn Jahre lang malochen die beiden Schulter an<br />

Schulter: Clemens ist zuständig für Verkauf und Vertrieb,<br />

Bernd für Einkauf und Finanzen. Dann stirbt<br />

Bernd, bundesweit gerade bekannt geworden als<br />

frischgebackener Präsident von Schalke 04, am 1. Juli<br />

1994 an den Folgen einer Nierentransplantation. Er<br />

wird nur 42 Jahre alt.<br />

NARBEN AN DER HAND<br />

Damals, so steht es in einer 40-seitigen Gedenkschrift,<br />

die die Söhne jüngst anlässlich des Gottesdienstes<br />

zum 20. Todestag des Unternehmers an<br />

Trauergäste verteilten, habe Bernd seiner Frau Evelin<br />

und den beiden Söhnen Robert und Clemens junior<br />

„die Verantwortung für insgesamt 4000 Mitarbeiter<br />

in 14 Betrieben mit mehr als umgerechnet einer<br />

Milliarde Euro Umsatz“ hinterlassen.<br />

Clemens junior wird im Familienstreit von Robert<br />

vertreten. Der Bruder halte sich, um seinen Gesundheitszustand<br />

nach einer Nierentransplantation nicht<br />

zu gefährden, aus allen Streitereien heraus. Seine Firmenanteile<br />

hatte Clemens Anfang 2012 auf Robert<br />

übertragen. „Zwischen die beiden passt kein Blatt<br />

Papier“, berichtet einer, der die Familie schon lange<br />

kennt, über die enge Bindung.<br />

Die Zahlen aus der Gedenkschrift bergen Sprengstoff,<br />

stehen sie doch in krassem Gegensatz zur Darstellung<br />

von Clemens Tönnies, nach dessen Lesart<br />

das Unternehmen vor 20 Jahren nur umgerechnet<br />

150 Millionen Euro erlöste, das Eigenkapital nahezu<br />

aufgezehrt war und die Verbindlichkeiten bei rund<br />

50 Millionen Euro gelegen hätten.<br />

Die Zahlen belegen aus seiner Sicht, dass es keine<br />

Zweifel daran geben kann, wer die Tönnies-Gruppe<br />

groß gemacht hat – er. Wie viel der Konzern wann genau<br />

erlöste, das wird eine der Fragen sein, mit der<br />

sich der Bielefelder Richter beschäftigen muss. Denn<br />

verschleiert und getarnt wurde bei den Tönnies-Brüdern<br />

schon von Beginn an.<br />

Nach dem Tod des Bruders bestimmt Clemens<br />

jahrelang, wo es langgeht im Konzern. Denn<br />

Bernd hatte zwar im August 1993 in seinem Testament<br />

verfügt, dass seine Söhne die Mehrheit am Unternehmen<br />

besitzen sollten. Doch „über das ihnen<br />

zustehende Vermächtnis (jeweils 30 Prozent der Firmenanteile<br />

– Anm. d. Red.) dürfen meine Kinder erst<br />

verfügen, wenn sie das 30. Lebensjahr vollendet und<br />

zu diesem Zeitpunkt eine Metzgerlehre und kaufmännische<br />

Ausbildung abgeschlossen haben“, heißt<br />

es in dem Dokument.<br />

Bernds letzter Wille ist für Robert und Clemens junior<br />

praktisch Gesetz. Von juvenilem Aufbegehren<br />

»<br />

Bindung<br />

Beschaffenheitsbegriff<br />

für homogenes<br />

Brät, optimale<br />

Bindung von Eiweiß,<br />

Fett und Wasser*<br />

Schulter<br />

Teilstück des<br />

Schlachttierkörpers*<br />

WirtschaftsWoche <strong>10.11.2014</strong> Nr. 46 51<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

Sattel<br />

Rückenpartie von<br />

ganzen Schlachttierkörpern<br />

(Kalb,<br />

Lamm)*<br />

Gekröse<br />

aufgeschlitzter, gesäuberter<br />

Dünndarmtrakt<br />

von Kälbern<br />

unter 100 kg<br />

Lebendgewicht*<br />

»<br />

gegen die rigiden Vorgaben des Papas weiß keiner<br />

der Vertrauten zu berichten. Stattdessen jobbt Robert,<br />

der wie sein drei Jahre älterer Bruder Clemens<br />

laut Vertrauten der Familie „stets kurzgehalten wird“,<br />

bereits als Jugendlicher im väterlichen Betrieb. Nach<br />

der Schule steht er am Band und verpackt Schinken<br />

und anderes Gekröse, erzählt er im Freundeskreis.<br />

Nach Abitur und Wehrdienst bricht der Junior seine<br />

Zelte in Westfalen ab. Er beginnt eine Metzgerlehre<br />

bei Micarna in der Schweiz, einem der führenden<br />

Fleischbetriebe der Eidgenossen. Die Metzgerprüfung<br />

legt er schon nach zwei statt der sonst üblichen<br />

drei Jahre ab, als einer der drei Besten seines Jahrgangs.<br />

Narben auf der linken Hand zeugen davon,<br />

dass das Zerlegen von Schweinen ein gefährlicher<br />

Job sein kann. 2001 kehrt er zurück nach Deutschland,<br />

noch steht er unter Testamentsvollstreckung.<br />

Dafür zuständig ist der langjährige Steuerberater<br />

von Familie und Unternehmen, Josef Schnusenberg,<br />

nebenbei langjähriger Funktionär beim FC Schalke.<br />

Er soll mit den 60 Prozent von Bernd Tönnies im Rücken<br />

als Generalbevollmächtigter die Interessen der<br />

Kinder vertreten. Doch Schnusenberg, so heute der<br />

Vorwurf von Robert Tönnies, habe seinem Freund<br />

und Vereinsgenossen Clemens die Unternehmensführung<br />

komplett überlassen. Außerdem habe er befürwortet,<br />

dass Clemens parallel zum Familien-Konzern<br />

etwa in Russland eigene Geschäfte aufbaute.<br />

Dabei habe es sich jedoch um riskante Investitionen<br />

gehandelt, die Clemens bewusst und in Absprache<br />

mit den Neffen auf seine Kappe genommen habe,<br />

um den Konzern nicht zu gefährden, heißt es dazu<br />

im Clemens-Lager.<br />

Robert Tönnies schreibt sich für ein betriebswirtschaftliches<br />

Studium an der Fachhochschule in Hannover<br />

ein und schließt es 2004 ab. Danach tritt er ins<br />

Unternehmen ein, wird Geschäftsführer am Tönnies-Standort<br />

im niedersächsischen Sögel, wechselt<br />

nach Sachsen-Anhalt als Geschäftsführer des Betriebs<br />

in Weißenfels bei Leipzig und übernimmt zusätzlich<br />

Funktionen im dänischen Brörup. Im September<br />

2009 geht er in die Zentrale nach Rheda, wenig<br />

später wieder zurück nach Weißenfels. Seine Erfolge<br />

dabei werden höchst unterschiedlich eingeschätzt.<br />

Auffällig ist, dass er nie länger als zwei Jahre,<br />

mitunter sogar nur wenige Monate, in einer Position<br />

im Sattel saß. Clemens habe ihn nach Gutdünken<br />

im Konzern verschoben, berichten Vertraute von Robert.<br />

Aus dem „CT“-Lager verlautet nichts Gutes<br />

über Roberts Manager-Wirken: Er sei stets nur faktisch<br />

Geschäftsführer gewesen, habe zudem in Brörup<br />

das Ziel deutlich verfehlt, die Produktion auf das<br />

höhere deutsche Niveau zu bringen. Im Werk in Weißenfels<br />

seien unter seiner Führung die Schlachtzahlen<br />

immer schlechter geworden.<br />

Zudem, so wird gestreut, hätten nirgendwo die<br />

Mitarbeiter gern mit ihm zusammenarbeiten wollen.<br />

Vertraute von Robert berichten hingegen, die Zahl<br />

der Schweineschlachtungen sei während Roberts<br />

Amtszeit in Weißenfels kontinuierlich gestiegen.<br />

INTERNER VERMERK<br />

Währenddessen drängt angeblich Clemens Tönnies<br />

seine Neffen immer wieder, ihm doch endlich je fünf<br />

Prozent ihrer Konzernanteile zu überlassen. Schließlich<br />

habe sein Bruder Bernd ihm das versprochen.<br />

Robert Tönnies und sein Rechtsbeistand zweifeln<br />

das massiv an, dies sei ein nicht belegbares „Sterbebett-Versprechen“<br />

gewesen. Wie sie den Zweifel aufrechterhalten<br />

wollen, bleibt bislang ihr Geheimnis.<br />

Denn laut internem Aktenvermerk eines Notars <strong>vom</strong><br />

Januar 1989 hatten sich Bernd und Clemens in der Tat<br />

über eine 50-zu-50-Teilung geeinigt und strebten eine<br />

„Gleichstellung“ an – bereits fünf Jahre vor Bernds<br />

frühem Tod. Dieser hat diese Absicht auch in den Folgejahren<br />

offenbar nicht revidiert, sondern gegenüber<br />

Zeugen – einer seiner Schwestern und einem damaligen<br />

Geschäftsführer – bestätigt: ein Pfund, mit dem<br />

die Verteidigung wuchern wird. Warum allerdings<br />

Bernd die Einigung mit dem Bruder nicht ins Testament<br />

schrieb, wird das Gericht beschäftigen.<br />

Im Januar 2008, kurz bevor die Testamentsvollstreckung<br />

von Schnusenberg endet, ist Clemens am Ziel.<br />

Robert und Clemens junior bieten ihm die Schen-<br />

Schweinebacken<br />

Die fünf größten Schlachtunternehmen für<br />

Schweine in Deutschland (Schlachtungen*)<br />

Rindernacken<br />

Die fünf größten Schlachtunternehmen für<br />

Rinder in Deutschland (Schlachtungen*)<br />

Wurst verpacken<br />

Die fünf größten Wursthersteller in<br />

Deutschland (Umsatz*)<br />

Tönnies Gruppe<br />

Vion Deutschland<br />

9,5 Mio.<br />

16,4 Mio.<br />

Vion Deutschland<br />

Tönnies-Gruppe<br />

405000<br />

888000<br />

Zur-Mühlen-Gruppe** (Böklunder)<br />

H. Kemper<br />

400 Mio.<br />

825 Mio.<br />

Westfleisch<br />

Danish Crown<br />

2,7 Mio.<br />

7,4 Mio.<br />

Westfleisch<br />

Müller-Gruppe<br />

372000<br />

298000<br />

Bell-Gruppe (Abraham, Zimbo)<br />

Reinert<br />

393 Mio.<br />

350 Mio.<br />

Vogler Fleisch<br />

2,3 Mio.<br />

Gausepohl<br />

255000<br />

Wolf<br />

280 Mio.<br />

* 2013; ** gehört Clemens Tönnies; Quelle: Allgemeine Fleischerzeitung<br />

52 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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FOTOS: PRIVAT<br />

kung von je fünf Prozent der Anteile an, die 2009 vollzogen<br />

und in mehreren weiteren Stufen bis 2010 sogar<br />

auf weitere Unternehmen der Gruppe ausgeweitet<br />

wird. Zusammen mit dem Doppelstimmrecht in<br />

der Geschäftsführung, das CT für sich beansprucht,<br />

hat er nun auch auf dem Papier und nicht länger nur<br />

faktisch das Sagen im Konzern.<br />

Er nutzte dies, so der Vorwurf von Robert, jedoch<br />

vor allem zum eigenen Vorteil. Clemens habe über<br />

Jahre Gewinne in Gesamthöhe einer niedrigen dreistelligen<br />

Millionensumme entnommen, während<br />

die Gewinnanteile der Neffen im Unternehmen verblieben.<br />

Angeblich sollen Robert und Clemens junior<br />

ihrerseits weniger, nämlich 30 Millionen Euro<br />

entnommen haben.<br />

LÄSTIGE GESELLSCHAFTER<br />

Mit dem Geld habe sich Clemens hinter dem Rücken<br />

der Neffen die Mehrheit am größten deutschen<br />

Wurstkonzern einverleibt, der Zur-Mühlen-Gruppe<br />

aus Böklund bei Flensburg mit den Marken Böklunder,<br />

Könecke und Schulte. Außerdem, so der Vorwurf,<br />

habe er auf eigene Rechnung und hinter dem<br />

Rücken der Verwandtschaft riesige Schweinemastbetriebe<br />

in Russland aufgebaut. Systematisch habe<br />

er den Neffen Informationsrechte als Gesellschafter<br />

versagt, sagen Insider und Beobachter.<br />

Anders die Darstellung der Gegenseite: Demnach<br />

investierte CT auf eigenes Risiko den ihm zustehenden<br />

Anteil am Gewinn des prosperierenden Unternehmens,<br />

etwa in Russland oder beim Zur-Mühlen-<br />

Kauf. Und allein durch seine Funktion als Geschäftsführer<br />

und Gesellschafter hätte Robert stets über diese<br />

Aktivitäten Bescheid wissen müssen. Von einem<br />

„Schattenreich“ könne daher keine Rede sein.<br />

Alle Versuche, die Vorwürfe aufzuarbeiten und die<br />

leidige Angelegenheit außergerichtlich beizulegen,<br />

scheitern. Stattdessen wird Robert Tönnies Ziel einer<br />

mysteriösen Attacke, die ihn bis ins Mark erschüttert.<br />

Als sich Mitte 2013 abzeichnet, dass die verfeindeten<br />

Parteien vor Gericht landen, bekommt der Erfurter<br />

Fachhochschullehrer Norbert Drees den Auftrag,<br />

sich Roberts Diplomarbeit vorzuknöpfen, ob denn<br />

alles mit rechten Dingen zugegangen sei.<br />

Drees kommt „auftragsgemäß zum bestellten Ergebnis“,<br />

wie es aus dem Umfeld von Robert Tönnies<br />

heißt: Der Autor habe in seiner Arbeit die Prüfer getäuscht.<br />

Seinen Auftraggeber hat der Professor bis<br />

heute nicht geoutet. Man werde diesen peinlichen<br />

Sachverhalt publik machen, wenn er nicht langsam<br />

klein beigebe, machen Robert die Kölner Anwälte<br />

seines Ex-Testamentsvollstreckers Schnusenberg<br />

unmissverständlich klar, mit dem er sich inzwischen<br />

ebenfalls überworfen hatte.<br />

Robert wird jetzt von dem so prominenten wie<br />

umstrittenen Stuttgarter Anwalt Mark Binz vertreten,<br />

einem laut Eigenwerbung ausgewiesenen Fachmann<br />

für „zerstrittene Gesellschafter und Gesellschafterstämme“.<br />

Binz, so werfen ihm Kritiker vor,<br />

befeuere schwelende Familienzwistigkeiten erst so<br />

richtig. Das Drehbuch für diese Fälle hat Binz selbst<br />

verfasst: Es trägt den Titel „Lästige Gesellschafter in<br />

Familienunternehmen. Opfer und Täter“.<br />

Binz nimmt den Neffen eng an die Kette: Er rät<br />

ihm, sich keinesfalls einschüchtern zu lassen und<br />

sich nicht mehr öffentlich zu äußern. Robert zieht<br />

sich – offenbar auf Anraten von Binz – komplett aus<br />

dem Tagesgeschäft zurück. Damit kommt es zum<br />

Bruch. Der seit Längerem intern glimmende Konflikt<br />

wird zum öffentlich ausgetragenen Familiendrama.<br />

Roberts Anwalt bombardiert binnen weniger Monate<br />

das Tönnies-Management mit annähernd 100<br />

Auskunftsersuchen, nervt damit die Geschäftsführung<br />

und setzt so Clemens Tönnies unter erhöhten<br />

Einigungsdruck. Richtig schmutzig wird es wenige<br />

Monate später, Ende 2013. Da landet das Thema Diplomarbeit<br />

in den Medien. Robert Tönnies habe bei<br />

seinem Werk „Zerlegeoptimierung in einem industriellen<br />

Schweinezerlegebetrieb“ gepfuscht, schreibt<br />

der „Spiegel“. In Auftrag gegeben worden sei das Gutachten<br />

aus der Umgebung von Clemens Tönnies,<br />

will das Magazin wissen. Der bestreitet das.<br />

Robert ein Trickser und Täuscher? Er selbst macht<br />

keinen Hehl daraus, das ihm im theoretischen Teil<br />

»<br />

Vater und Sohn<br />

Bernd und Robert<br />

Tönnies auf dem<br />

Werksgelände in<br />

Rheda 1992<br />

Gründerfamilie<br />

Evelin und Bernd<br />

Tönnies mit Clemens<br />

junior (links) bei<br />

Roberts Taufe 1978<br />

Kette<br />

Bindegewebsreiche<br />

Muskelstrang im<br />

Bereich der Wirbelknochen*<br />

Mark<br />

Das Innere der<br />

Röhrenknochen<br />

(Beinröhre)*<br />

WirtschaftsWoche <strong>10.11.2014</strong> Nr. 46 53<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

Halbe-halbe<br />

Mehr als 16 Millionen<br />

Schweine werden<br />

in den Tönnies-<br />

Schlachthöfen pro<br />

Jahr komplett zerlegt<br />

Überläufer<br />

Wildschwein im<br />

2. Lebensjahr,<br />

Gewicht bis 45 kg*<br />

* aus: Fachlexikon für<br />

Fleischer, Hans Fuchs,<br />

Martin Fuchs<br />

Mit über 5.000 Fachbegriffen<br />

von A wie<br />

Aalrauch bis Z wie<br />

Zwischenrippenkotelett,<br />

158 Seiten, gebunden,<br />

afz EDITION<br />

»<br />

etliche Zitierfehler unterlaufen seien. Doch im<br />

60-seitigen praktischen Teil der mit „gut“ bewerteten<br />

Arbeit habe er sauber gearbeitet. Das attestiert ihm<br />

wiederum der Bielefelder Universitätsprofessor und<br />

Lehrstuhlinhaber Hermann Jahnke, der ein Gegengutachten<br />

verfasst hat.<br />

Statt dem öffentlichen Druck nachzugeben, schalten<br />

Robert und sein Rechtsbeistand noch stärker auf<br />

Attacke. Sie verlangen die geschenkten fünf Prozent<br />

am Konzern zurück – wegen groben Undanks. „Die<br />

Anordnung der bis 2008 andauernden Testamentsvollstreckung<br />

hat allein den Zweck verfolgt, die Söhne<br />

vor unbedachten Entscheidungen, insbesondere<br />

vor ihrem ungleich erfahreneren, ja übermächtigen<br />

Onkel zu schützen“, ledert Binz los: „Und was macht<br />

der Testamentsvollstrecker, dem der Vater seine Neffen<br />

anvertraut hatte? Er wechselt die Fronten.“<br />

Heute, so Binz weiter, behaupte der angebliche<br />

Überläufer, „es wäre schon immer gewollt gewesen,<br />

Clemens Tönnies die alleinige Macht im Unternehmen<br />

einzuräumen“. Daran zweifelt die Robert-Seite<br />

und führt in ihrer 150-seitigen Klageschrift nicht weniger<br />

als 30 Gründe auf, die Clemens Tönnies’ Undankbarkeit<br />

belegen sollen.<br />

Wie Robert den angeblichen Undank belegen will,<br />

wird wohl Anwalt Binz’ ganzer Kunst bedürfen. Denn<br />

in der Präambel der Schenkungsurkunde bieten die<br />

Neffen ihrem Onkel „in Dankbarkeit“ ihre<br />

jeweils fünf Prozent am Unternehmen an.<br />

Sie offerieren ihm die Anteile ausdrücklich<br />

„in Anerkennung der Leistung seit dem<br />

Tod“ ihres Vaters Bernd.<br />

Ein Satz, den Clemens Tönnies mit Genuss<br />

zitieren dürfte: „Wir werden den Prozess<br />

nutzen, um viele Dinge klarzustellen“,<br />

sagte er kürzlich in einem Interview, „ich<br />

habe 20 Jahre lang keine Sekunde darüber<br />

Fotos<br />

In unseren App-<br />

<strong>Ausgabe</strong>n finden<br />

Sie Bilder <strong>vom</strong><br />

Netzwerk des<br />

Clemens Tönnies<br />

nachgedacht, dass ich mich vor Gericht für meinen<br />

Einsatz und meine Lebensleistung rechtfertigen<br />

muss. Das empfinde ich natürlich als undankbar.“<br />

Die Zeit seit seinem Ausscheiden aus dem Unternehmen<br />

im Dezember 2012 hat Robert Tönnies<br />

nicht nur zur Vorbereitung auf den entscheidenden<br />

Prozess genutzt.<br />

Gleichzeitig, sagen Vertraute, habe er sich Gedanken<br />

über die künftige Aufstellung des Konzerns gemacht.<br />

Demnach arbeite Robert in diesen Wochen<br />

intensiv an einem Strategiepapier.<br />

Eine Zerschlagung oder einen Verkauf seiner Anteile<br />

werde es mit ihm nicht geben, heißt es übereinstimmend<br />

aus seinem Umfeld. Stattdessen wolle er<br />

etwa auch den Wursthersteller Zur Mühlen in die<br />

Tönnies-Gruppe integrieren. Zusätzlich fordert Robert<br />

für den Konzern ein neutrales, noch zu bildendes<br />

Kontrollgremium. Zudem müsse die operative<br />

Leitung des Konzerns nicht zwingend von Familienangehörigen<br />

ausgeübt werden.<br />

Ob es nach der Schlacht der Schlachter noch eine<br />

gemeinsame Zukunft für Onkel und Neffe im Konzern<br />

geben kann, ist völlig offen. Vergleichbare Fälle<br />

von Familienkrach wie beim Keks-Konzern Bahlsen<br />

führten letztlich zur Spaltung des Unternehmens –<br />

ein Szenario, das in auswegloser Situation auch bei<br />

Tönnies drohen könnte. Eine Zerschlagung würde<br />

die Wettbewerbsfähigkeit des Fleischriesen<br />

gefährden, da die Unternehmensteile sehr<br />

eng verflochten sind.<br />

Dabei berufen sich bei dem Streit beide<br />

Seiten paradoxerweise auf das Gleiche – auf<br />

den Willen eines Toten.<br />

Sein Wille geschehe.<br />

n<br />

mario.brueck@wiwo.de, peter steinkirchner<br />

Lesen Sie weiter auf Seite 56 »<br />

FOTO: PICTURE-ALLIANCE/DPA<br />

54 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

INTERVIEW Arist von Schlippe<br />

»48-Stunden-Regel«<br />

Der Experte für Konfliktmanagement erklärt, warum Streitigkeiten<br />

in Familienunternehmen schneller eskalieren.<br />

Herr Professor von Schlippe, von<br />

Montag an treffen sich Fleischbaron<br />

Clemens Tönnies und sein Neffe Robert<br />

erneut vor Gericht. Seit zwei Jahren<br />

tragen die beiden ihren Zwist auch in<br />

der Öffentlichkeit aus. Überrascht<br />

Sie der Eskalationsgrad?<br />

Nein, eigentlich nicht. Familienunternehmen<br />

sind eben selten Mittelmaß. Sie<br />

profitieren entweder enorm <strong>vom</strong> guten<br />

Zusammenhalt in der Familie. Oder sie<br />

leiden massiv darunter, wenn es interne<br />

Spannungen gibt. Wenn es nicht gelingt,<br />

diese Spannungen auszubalancieren,<br />

fallen Konflikte in Familienunternehmen<br />

dann oft heftiger aus und eskalieren<br />

schneller.<br />

Heißt das, Familienunternehmer sind<br />

besonders streitsüchtig?<br />

Nein. Sie streiten nicht unbedingt häufiger<br />

als die Eigentümer anderer Unternehmen,<br />

aber wenn, dann heftiger.<br />

Woran liegt das?<br />

Familien haben ein ganz anderes Verständnis<br />

von Gerechtigkeit als Unternehmen.<br />

In der Familie gilt eine Logik der<br />

Gleichheit – eine Mutter muss immer alle<br />

Kinder gleich lieb haben. Die Gerechtigkeitslogik<br />

des Unternehmens beruht<br />

aber auf Ungleichheit: Der, der am meisten<br />

leistet oder die beste Qualifikation hat,<br />

soll auch am meisten bekommen. An dieser<br />

Diskrepanz arbeiten sich viele Unternehmerfamilien<br />

ab.<br />

In welchen Fällen macht es Sinn, familiäre<br />

Streitigkeiten vor Gericht auszutragen?<br />

Das ist die Ultima Ratio, wenn die Familie<br />

keine Möglichkeiten mehr hat, sich selbst<br />

zu helfen. Es kommt häufig vor bei hocheskalierten<br />

Konflikten. Da ist dann die Verzweiflung<br />

oder Verbitterung der Beteiligten<br />

so groß, dass sie eine dritte, übergeordnete<br />

Instanz brauchen, um sie aus dem Konflikt<br />

zu erlösen. Und das ist im Zweifelsfall nur<br />

noch das Gericht.<br />

Vor allem Geschwister zerstreiten sich<br />

häufig, wie etwa bei Haribo, Bahlsen oder<br />

den Oetkers. Woran liegt das?<br />

Da gibt es oft alte Streitigkeiten, die meist<br />

noch aus dem Sandkasten stammen. Die<br />

werden manchmal über Jahre und Jahrzehnte<br />

als kalte Konflikte mitgetragen. Ein<br />

DER MEDIATOR<br />

Von Schlippe, 63, ist Professor am Institut<br />

für Familienunternehmen an der Universität<br />

Witten-Herdecke. Der Psychologe ist Experte<br />

für das Thema Konfliktmanagement und<br />

berät dazu auch Unternehmen.<br />

neuer Zwist kann dazu führen, dass alte<br />

Konflikte dann heftig aufbrechen.<br />

Bei Bahlsen endete der Streit mit einer<br />

Teilung des Unternehmens: Der eine<br />

Bruder übernahm die Kekssparte, der<br />

andere die Knabberartikel, die heute<br />

unter der Marke Lorenz verkauft werden.<br />

Wann macht eine Spaltung Sinn?<br />

Wenn man sich nicht einigen kann, dann<br />

kann das eine gar nicht so schlechte Lösung<br />

sein.<br />

Wie können Familienunternehmen<br />

vorbeugen, damit es erst gar nicht zu<br />

solch dramatischen Konflikten kommt?<br />

Eine frühe Sensibilisierung für Konfliktpotenziale<br />

ist wichtig. Viele erarbeiten<br />

sich eine Familienverfassung, in der sie<br />

elementare Werte festlegen, die sie<br />

schriftlich festhalten. Dieser Prozess<br />

kann auch schon konflikthaft ablaufen,<br />

aber dadurch übt sich die Familie im<br />

Umgang mit Konflikten.<br />

Was sind die wichtigsten Punkte in<br />

diesen Familienverfassungen?<br />

Da ist ein ganzes Paket möglich: Die Gesellschafter<br />

bekennen sich zur Verantwortung<br />

für das Unternehmen und die<br />

Mitarbeiter. Sie erklären sich dazu bereit,<br />

in Krisenzeiten geringere Ausschüttungen<br />

in Kauf zu nehmen. Sie legen fest,<br />

wer zum Gesellschafterkreis gehören<br />

darf und wer nicht – was ist zum Beispiel<br />

mit nicht ehelichen Partnern? Zudem<br />

können Unternehmerfamilien Gremien<br />

bilden und eben auch Konfliktklauseln.<br />

Wie können die aussehen?<br />

Ich kenne eine interessante Regelung in<br />

einem Unternehmen, die eine 48-Stunden-Regel<br />

vorsieht. Die Familie wählt jedes<br />

Jahr aus ihrem Kreis einen Kümmerer,<br />

der regelmäßige Treffen organisiert,<br />

aber auch bei Konflikten zuständig ist.<br />

Sobald ein Streitthema auftaucht, muss<br />

man sich innerhalb von 48 Stunden an<br />

diesen wenden. Der sucht dann nach<br />

Lösungen, bevor der Konflikt weiter eskaliert.<br />

Wer sich nicht an den Kümmerer<br />

wendet, der hat das Recht verwirkt, das<br />

Ereignis bei späteren Konflikten wieder<br />

in den Ring zu werfen.<br />

Was hätten Sie Clemens und Robert Tönnies<br />

geraten, um den Streit beizulegen?<br />

Das ist schwer zu sagen bei einem so<br />

hocheskalierten Konflikt. Man hätte sich<br />

frühzeitig Unterstützung suchen müssen.<br />

Je früher man einen Spiegel vorgehalten<br />

bekommt, desto besser.<br />

n<br />

jacqueline.goebel@wiwo.de<br />

FOTO: PR<br />

56 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

Das Experiment<br />

HYPOVEREINSBANK | Mit einem Schlag macht die Bank aus Bayern<br />

fast die Hälfte ihrer Filialen dicht. Der beispiellose Schritt ist eine<br />

radikale Wette auf die Zukunft. Ein Modell für die ganze Branche?<br />

niskirche ab, drinnen steht ein weißer<br />

Schreibtisch, den die Berater nach jedem<br />

Gespräch aufgeräumt zurücklassen müssen.<br />

Daneben hängt ein Flachbildschirm.<br />

Das alles soll Offenheit, Nähe zum Kunden<br />

und Diskretion signalisieren. Doch<br />

was so harmlos aussieht, ist Teil einer riskanten<br />

Revolution. Denn der frisch renovierte<br />

Standort ist einer der ersten fertigen<br />

Bausteine des größten Umbaus im deutschen<br />

Privatkundengeschäft seit der Fusion<br />

von Dresdner und Commerzbank 2008.<br />

Die HVB setzt alles auf eine Karte,<br />

streicht ihr Filialnetz radikal zusammen<br />

und motzt zeitgleich die übrigen Standorte<br />

mit neuen Möbeln und vor allem mit Technik<br />

auf. Sie setzt darauf, dass neue Technologien<br />

wie die Beratung per Video und Internet<br />

bei ihren Kunden schon so akzeptiert<br />

sind, dass diese den Rückzug aus der<br />

Fläche nicht mit der Kontokündigung bestrafen.<br />

Wenn der Plan funktioniert, taugt<br />

er als Modell für andere Institute.<br />

Doch die Risiken sind groß. Viel spricht<br />

dafür, dass die Bank damit zu schnell ist<br />

und ihre Kunden überfordert. Die sind womöglich<br />

noch nicht bereit, den Ansprechpartner<br />

vor Ort gegen virtuelle Ratgeber<br />

einzutauschen. Viele dürften sich im Stich<br />

gelassen fühlen und das Institut wechseln.<br />

Das Experiment läuft seit Anfang Oktober.<br />

Seitdem renoviert die HVB im Schnelldurchlauf<br />

sämtliche Zweigstellen, im Tagestakt<br />

machen generalüberholte Filialen<br />

wieder auf. Aktuell sind es 40, schon Ende<br />

2015 sollen alle fertig sein – und so aussehen<br />

wie die in Berlin. Überall gibt es dann<br />

die gleichen Glaswürfel, die gleichen Bildschirme,<br />

den gleichen Schriftzug an der<br />

Wand und, wenn genug Platz da ist, die<br />

gleichen Kaffee-Ecken.<br />

Katrin Hesse ist etwas nervös, denn<br />

für den Abend hat sie fast 150 Gäste<br />

eingeladen. Die Berliner Filialleiterin<br />

der HypoVereinsbank will ihren wichtigen<br />

Kunden zeigen, wie schick und schön<br />

und neu es jetzt bei ihr zugeht. Sechs Wochen<br />

hat der Umbau der Zweigstelle im<br />

Stadtteil Charlottenburg gedauert. Nun ist<br />

er fertig, der aus München angereiste Vorstand<br />

wird ein rotes Band durchschneiden,<br />

dann gibt es Häppchen.<br />

Unsere Bank soll<br />

schöner werden<br />

HVB-Privatkundenvorstand<br />

Buschbeck<br />

Im Schnelldurchlauf führt Hesse durch<br />

ihr überarbeitetes Reich. Die Geldautomaten<br />

stehen jetzt vorne im Hauptraum statt<br />

in einem blickdicht abgetrennten Vorzimmer,<br />

an einem Pult sitzt eine Art Lotse als<br />

erster Ansprechpartner für alle Kundenfragen.<br />

Es gibt eine Sofaecke mit Kaffeeautomat,<br />

über die Filiale verteilen sich sogenannte<br />

Beratungswürfel aus Glas. Von außen<br />

schirmt die ein milchiger Sichtschutz<br />

mit Motiven wie Reichstag und Gedächt-<br />

BRACHIAL-KONZEPT<br />

Überall da jedenfalls, wo es dann noch Filialen<br />

gibt. Denn zeitgleich macht die Bank<br />

240 ihrer bisher 580 Zweigstellen dicht.<br />

Auch dieser Rückzug läuft schon. Vor allem<br />

an kleineren Standorten sind die Türen geschlossen,<br />

die Schilder abgeschraubt. Mit<br />

ihnen müssen auch rund 1500 Bankangestellte<br />

gehen. Die Kunden sollen zur nächsten<br />

Filiale fahren oder ihre Geschäfte per<br />

Telefon und im Internet erledigen.<br />

Der Mann hinter dem Brachial-Konzept<br />

heißt Peter Buschbeck und ist seit 2009 im<br />

HVB-Vorstand für die Privatkunden zuständig.<br />

Da hat er schon so einiges probiert:<br />

einige Filialen zugemacht, ein Franchise-Konzept<br />

gestartet und verworfen, eine<br />

„Online-Filiale“ aufgemacht, in der per-<br />

FOTO: GÖTZ SCHLESER FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

58 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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sönliche Berater den Internet-Kunden via<br />

Web zur Seite stehen. Das war aber nur das<br />

Vorspiel für das eigentliche Drama.<br />

Seit die Umbaupläne bekannt sind, muss<br />

Buschbeck erklären, dass es um einen Befreiungs-<br />

und keinen Kahlschlag geht, dass<br />

er kein Totengräber, sondern ein Erneuerer<br />

ist, dass die Bank 300 Millionen Euro für<br />

die Modernisierung ausgibt. „Auch wenn<br />

wir deutlich Kosten sparen, senden wir ein<br />

klares Zukunftssignal“, sagt er. „Die Filiale<br />

ist und bleibt ein zentraler Beratungspunkt.<br />

Sie behält einen hohen Stellenwert,<br />

wir passen unser Netz aber an das veränderte<br />

Kundenverhalten an.“<br />

Das macht den Banken schwer zu schaffen.<br />

Die Kosten für Mieten und Personal<br />

sind unverändert hoch, aber ähnlich wie<br />

im Einzelhandel erledigen Kunden ihre<br />

Geschäfte immer öfter online statt vor Ort.<br />

Hinzu kommen immer neue Vorschriften<br />

zum Schutz der Sparer, die Kreditinstitute<br />

teuer und aufwendig umsetzen müssen.<br />

Die Niedrigzinspolitik der Notenbanken<br />

erhöht den Druck noch weiter. Sie sorgt dafür,<br />

dass der für das Ergebnis im Filialgeschäft<br />

entscheidende Zinsüberschuss fällt.<br />

Der ergibt sich im Wesentlichen aus der<br />

Auf Sparkurs<br />

Entwicklung der Zweigstellen und<br />

Beschäftigten deutscher Kreditinstitute<br />

(in Tausend)<br />

50<br />

45<br />

40<br />

Filialen<br />

Beschäftigte<br />

750<br />

700<br />

650<br />

35<br />

600<br />

2004 2013<br />

Quelle: Deutsche Bundesbank, Arbeitgeberverband<br />

Banken<br />

Differenz zwischen den Zinsen, die eine<br />

Bank für Einlagen zahlt, und denen, die sie<br />

für von ihr eingesetztes Geld bekommt.<br />

Vergibt sie dieses als Kredit, kassiert sie<br />

kaum noch etwas, kauft sie einigermaßen<br />

solide Wertpapiere, bringen die auch nur<br />

wenig ein. Die Rendite zehnjähriger Bundesanleihen<br />

lag zuletzt bei 0,9 Prozent.<br />

All das wird sich so schnell nicht ändern.<br />

Deshalb gibt es Raum für drastische Szenarien.<br />

Gerade erst haben die im Privatkundengeschäft<br />

einflussreichen Berater von<br />

Bain & Company in einer Studie vorgerechnet,<br />

dass deutsche Banken ihre Kosten<br />

in den kommenden Jahren um 25 Milliarden<br />

Euro drücken müssten, um ausreichend<br />

profitabel zu bleiben.<br />

Der Weg dahin klingt brutal: 11 000 von<br />

derzeit noch 37 000 Zweigstellen müssten<br />

schließen, 125 000 von aktuell 630 000<br />

Bankbeschäftigten sich einen neuen Job<br />

suchen. Der Umbruch sei vergleichbar mit<br />

dem der Stahlindustrie im vergangenen<br />

Jahrhundert, urteilen die Bain-Berater.<br />

Das sind keine abstrusen Fantasien abgehobener<br />

PowerPoint-Artisten. Als die<br />

obersten deutschen Finanzaufseher jüngst<br />

die Ergebnisse des Stresstests der EZB vorstellten,<br />

mussten sie keine Durchfaller verkünden,<br />

machten aber deutlich, dass die<br />

Banken nicht einfach so weitermachen<br />

können wie bisher. Sie müssten mehr verdienen<br />

und dafür mehr sparen. „Dabei<br />

können sie an ihr vergleichsweise üppiges<br />

Filialnetz denken“, sagt der zuständige<br />

Bundesbankvorstand Andreas Dombret.<br />

Dass nun ausgerechnet die HVB zum<br />

großen Schlag ausholt, ist kein Zufall. Das<br />

Institut aus München zählt zwar im Ge-<br />

»<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

»<br />

schäft mit deutschen Unternehmen zu<br />

den ersten Adressen, ist bei Sparern und<br />

Hausbauern aber eine ziemlich kleine<br />

Nummer. Die HVB-Privatkunden sind im<br />

Durchschnitt zwar recht wohlhabend, es<br />

gibt aber auch nur gut vier Millionen von<br />

ihnen. Zum Vergleich: Die Deutsche Bank<br />

kommt zusammen mit ihrer Tochter Postbank<br />

auf 24 Millionen. Wirklich flächendeckend<br />

ist die HVB nur in Bayern und Teilen<br />

Norddeutschlands vertreten.<br />

IMMER ETWAS NEUES<br />

Mehrmals wollte die Bank, die seit 2005 zur<br />

italienischen UniCredit gehört, deshalb einen<br />

Konkurrenten kaufen, erhielt aber nie<br />

den Zuschlag. Deshalb probiert es Buschbeck<br />

nun auf die harte Tour. Dass er das<br />

kann, hat er bewiesen. In der Bankenwelt<br />

hat er einen Ruf wie der Trainer Felix Magath<br />

im Bundesliga-Fußball. Er gilt als harter<br />

Hund, der Leute ordentlich rannimmt.<br />

Als er das Geschäft der schwedischen SEB<br />

in Deutschland leitete, mussten die Angestellten<br />

einmal pro Woche Rechenschaft<br />

über ihre Verkaufserfolge ablegen. Das<br />

machte die SEB zum abschreckenden Beispiel<br />

für übertriebenen Vertriebsdruck.<br />

Die Mehrheit ist online<br />

Anteil der Bankkunden, die Geschäfte im<br />

Internet erledigen (in Prozent)<br />

60<br />

50<br />

40<br />

30<br />

20<br />

10<br />

0<br />

06 07 08 09 10 11 12 13 14<br />

Quelle: Bankenverband, ipos, GfK<br />

Allerdings berichten Weggefährten, dass<br />

Buschbeck es bei der HVB nun etwas lockerer<br />

angehen lässt. Deren Kunden sind<br />

anspruchsvoller, legen mehr Wert auf Beratung.<br />

Ein Konzept, das nur auf schnelle<br />

Abschlüsse setzt, funktioniert da nicht.<br />

Buschbeck will deshalb nun auch mehr<br />

als Techniker denn als Schleifer glänzen,<br />

will beim Banking via Internet und<br />

Smartphone ganz vorne mit dabei sein.<br />

Ständig präsentiert er etwas Neues: Demnächst<br />

stellt die HVB ein besseres Sicherheitskonzept<br />

für mobile Bankgeschäfte vor.<br />

Aber auch in den Filialen soll es innovativ<br />

vorangehen, wenn auch unaufdringlich.<br />

„Wir wollen sie nicht zu Technik-Kathedralen<br />

machen. Sie finden dort nichts, was<br />

dem Kunden nicht nutzt“, sagt Buschbeck.<br />

So gibt es auf jedem Schreibtisch ein sogenanntes<br />

Signpad, mit dem die Kunden Dokumente<br />

digital unterschreiben können.<br />

Das spart den Ausdruck auf Papier.<br />

Besonders große Stücke hält Buschbeck<br />

auf die Beratung per Videoschaltung. Über<br />

den Bildschirm können Experten so jederzeit<br />

bei Fachthemen weiterhelfen, auch<br />

wenn sie nicht vor Ort sind. Die Bank spart<br />

Kosten und verspricht dem Kunden gleichzeitig<br />

eine noch qualifiziertere Beratung.<br />

Drei Jahre hat die HVB das Konzept getestet,<br />

nun kommt es überall zum Einsatz.<br />

Auch in Berlin. Um zu zeigen, wie gut es<br />

klappt, knipst Filialleiterin Hesse den Bildschirm<br />

an. Dort erscheint dann Sandra<br />

Schenkhut. Sie ist blond, lächelt, trägt ein<br />

Headset und steht in einem Leipziger Bürobau<br />

vor einer Wand mit HVB-Logo.<br />

Schenkhut ist Expertin für Immobilienfinanzierungen,<br />

sie rechnet aus, ob sich ein<br />

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Kunde eine eigene Wohnung wirklich leisten<br />

kann. Sie fragt, wie viel er verdient, wie<br />

viel er im Monat ausgibt, wie viel er gespart<br />

hat. Das wirkt ein wenig schematisch, ein<br />

wenig unpersönlich.<br />

Aber immerhin funktioniert es. Kaum ein<br />

Experte bezweifelt, dass solche Technologien<br />

eine wichtigere Rolle spielen werden.<br />

Die Frage ist nur, ob schon genug Kunden<br />

reif dafür sind, um den Filialschwund in der<br />

Fläche zu kompensieren. „Der Weg der<br />

HVB ist mutig. Er ist an sich richtig und<br />

nachvollziehbar, kann aber etwas zu früh<br />

kommen“, sagt Oliver Mihm, Chef der Beratung<br />

Investors Marketing in Frankfurt. „Für<br />

viele Kunden ist die Filiale immer noch der<br />

wichtigste Bezugspunkt<br />

zu ihrer Bank.“<br />

So zeigt eine aktuelle<br />

Studie von Investors<br />

Marketing, dass rund ein<br />

Fünftel der Kunden<br />

Bankgeschäfte immer<br />

noch ausschließlich über<br />

die Filiale abwickelt. Für<br />

70 Prozent ist sie der<br />

wichtigste Weg zur Kontaktaufnahme<br />

mit der<br />

Bank, 80 Prozent nutzen<br />

sie zum Abschluss von Finanzprodukten<br />

und für ausführliche Beratungsgespräche.<br />

Das ist auch eine Generationenfrage. So<br />

nutzen zwar 80 Prozent der Kunden unter<br />

40, aber nur ein Drittel der über 60-Jährigen<br />

das Internet für Bankgeschäfte. Dabei<br />

sind die Älteren an sich interessant:Sie haben<br />

vielleicht wenig Ahnung von Computern,<br />

dafür aber oft ordentlich Geld.<br />

GROSSE SKEPSIS<br />

„Der Weg ist hochriskant, die Entwicklung<br />

im Kundenverhalten ist schnell, aber nicht<br />

so schnell“, sagt Klaus Grünewald, der seit<br />

mehr als 20 Jahren für die Gewerkschaft<br />

Verdi im Aufsichtsrat der HVB sitzt. Er hat<br />

schon etliche Sparrunden mitgemacht, die<br />

aktuelle sieht er besonders skeptisch. Grünewald<br />

bezweifelt, dass es zum Anspruch<br />

einer Premium-Bank passt, wenn sie die<br />

Kunden vor allem per Video informiert –<br />

vor allem, wenn die Technik mal ausfällt.<br />

Auch die Mitarbeiter sind verunsichert.<br />

Wenn eine Filiale schließt, kommen sie oft<br />

erst mal in der nächsten unter. Ob sie da<br />

bleiben können, ist nicht sicher. Allerdings<br />

berichten HVBler auch, dass das Interesse<br />

an den Abfindungsangeboten sehr hoch<br />

ist:„Viele wollen sich den Stress nicht mehr<br />

antun“, sagt einer. Vor allem aber irritiert<br />

sie, dass das alles so verdammt schnell<br />

300<br />

Millionen Euro<br />

investiert die HVB in<br />

die Modernisierung<br />

ihrer Filialen<br />

geht. Die Gewerkschafter wollten den Umbau<br />

zumindest bis 2018 strecken, um erst<br />

mal abzuwarten, ob er funktioniert.<br />

„Wir haben die Entscheidungen lange<br />

und intensiv vorbereitet“, sagt Buschbeck.<br />

„Jetzt setzen wir sie rasch um, weil die Kunden<br />

schnell von der Modernisierung profitieren<br />

sollen.“ Die Branche habe die Dynamik<br />

des Wandels zu lange unterschätzt<br />

und müsse reagieren. Buschbeck: „Wir<br />

freuen uns, wenn wir vorne mit dabei sind.“<br />

NICHT SCHÖN GENUG<br />

Hinten runterfallen dabei dann Standorte<br />

wie Au in der Hallertau. Noch im Herbst<br />

vergangenen Jahres feierte die Zweigstelle<br />

im 6000-Einwohner-Ort<br />

im Landkreis Freising<br />

nördlich von München<br />

ihr 100-jähriges Jubiläum,<br />

die HVB verfasste<br />

eigens ein festliches<br />

Faltblatt. „Die Filiale<br />

spiegelt aufs Schönste<br />

die lange Geschichte<br />

der Bank wider“, heißt es<br />

darin. Offenbar nicht<br />

schön genug. In einer<br />

Woche ist Schluss.<br />

Der schnelle Abschied verärgert selbst<br />

Bürgermeister Karl Ecker. „Das ist überhaupt<br />

nicht nachvollziehbar“, sagt er. Die<br />

Bank hatte ihren Sitz schließlich in Bestlage,<br />

direkt am Marktplatz, im Gebäude des<br />

traditionellen Gasthofs „Zur Post“. Und es<br />

sei immer viel los gewesen, der vor allem<br />

für den Anbau von Hopfen bekannte Ort<br />

sei alles andere als arm.<br />

Für Ecker ist klar: „Das haben sich abgehobene<br />

Manager in der Zentrale so ausgedacht.“<br />

Der Bürgermeister hat zwei böse<br />

Briefe nach München geschickt, nun soll<br />

vielleicht ein Geldautomat bleiben. Die<br />

Bank habe einigen Kunden 50 Euro geboten,<br />

damit sie ihr treu bleiben. „Aber warum<br />

sollten die zwölf Kilometer bis zur<br />

nächsten Filiale fahren?“, fragt Ecker.<br />

Wo doch die Konkurrenz vor Ort sofort in<br />

die Bresche springt. Die Raiffeisenbank<br />

wirbt aktiv um HVB-Kunden, die Sparkasse<br />

hat Plakate und Anzeigen gestaltet. „Wir<br />

bleiben vor Ort“ sind die überschrieben, zu<br />

sehen sind darauf acht Sparkassenmitarbeiter,<br />

die sich in Dirndl und Lederhose<br />

um einen Traktor versammelt haben. Sie<br />

lachen zuversichtlich, sie lachen für Tradition<br />

und Nähe und Zuverlässigkeit. Und<br />

gegen Peter Buschbeck.<br />

Wer wohl zuletzt lacht?<br />

n<br />

cornelius.welp@wiwo.de | Frankfurt<br />

WirtschaftsWoche <strong>10.11.2014</strong> Nr. 46 61<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

Unter Druck IBF-Präsident Maleki wird von<br />

Mitgliedern aus Düsseldorf attackiert<br />

Zoff ums Geld<br />

INTERNATIONAL BANKERS FORUM | Mitglieder des hochkarätigen<br />

Vereins klagen über mangelnde Transparenz bei den Finanzen.<br />

Wenn in der kommenden Woche in<br />

Frankfurt mit der Euro Finance<br />

Week die wichtigste deutsche<br />

Bankenkonferenz stattfindet, wird Veranstalter<br />

Nader Maleki vermutlich wie jedes<br />

Jahr strahlend durch die Messehalle<br />

schreiten und den geladenen Promis die<br />

Hand schütteln. Rund 200 Sprecher werden<br />

auftreten, darunter Jürgen Fitschen,<br />

Co-Chef der Deutschen Bank, Europas<br />

oberster Währungshüter Mario Draghi und<br />

Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble.<br />

Für seine Verdienste um den Finanzplatz<br />

Frankfurt erhielt der gebürtige Iraner sogar<br />

das Bundesverdienstkreuz. Doch aktuell ist<br />

dem 66-Jährigen nicht nach Lachen zumute.<br />

Sein tadelloser Ruf ist in Gefahr.<br />

Darum geht es: Maleki ist Präsident des<br />

International Bankers Forum (IBF), eines<br />

Vereins für Banker, mit rund 900 persönlichen<br />

und institutionellen Mitgliedern. Zugleich<br />

ist er auch Chef und Gesellschafter<br />

der Maleki Communications Group, die<br />

die Euro Finance Week organisiert. Zu ihr<br />

gehört auch die IBF GmbH, die für den IBF<br />

Verwaltungsarbeiten erledigt.<br />

Die Aktivitäten des Vereins und von Malekis<br />

Privatfirmen greifen also ineinander.<br />

So zahlte der Verein im vergangenen Jahr<br />

etwa 82 000 Euro als Verwaltungspauschale<br />

an die IBF GmbH und mietete für 11 000<br />

Euro einen Stand auf der Euro Finance<br />

Week.<br />

Der Düsseldorfer Ausschuss des IBF – eine<br />

Art regionales Organisationskomitee,<br />

das mit Mitarbeitern unter anderem von<br />

Deutscher Bank und WGZ Bank besetzt ist<br />

– hält das für problematisch. Er bat den<br />

Vorstand darum, die Zahlungsströme zwischen<br />

dem IBF und Malekis Unternehmen<br />

im Detail offenzulegen, was offenbar nicht<br />

in befriedigendem Umfang geschah.<br />

Der elfköpfige Ausschuss tritt nun zum<br />

Jahresende zurück, weil die „mehrfach vorgetragenen<br />

Bedenken“ hinsichtlich Finanzierung,<br />

Transparenz und Governance<br />

„bislang nicht ausgeräumt werden konnten“,<br />

heißt es in einem Brief an den IBF-<br />

Vorstand. Die WGZ Bank trat infolgedessen<br />

aus dem Verein aus. Die Düsseldorfer<br />

Börse lässt ihre Mitgliedschaft ruhen.<br />

»Die vorgetragenen<br />

Bedenken<br />

konnten nicht ausgeräumt<br />

werden«<br />

Düsseldorfer Regionalausschuss des IBF<br />

Im Kern forderten die Düsseldorfer Auskünfte<br />

zu zwei <strong>Ausgabe</strong>-Positionen:<br />

n Verwaltungspauschale Circa ein Drittel<br />

seiner Mitgliedsbeiträge überwies der IBF<br />

2013 an Malekis IBF GmbH, damit die das<br />

Clubleben organisiert. Die Düsseldorfer<br />

wollten wissen, wofür das Geld genau ausgegeben<br />

wurde. Maleki sagt hierzu gegenüber<br />

der WirtschaftsWoche, das Geld werde<br />

unter anderem für die Betreuung der<br />

Mitglieder, die Büromiete und circa 60 Veranstaltungen<br />

pro Jahr verwendet.<br />

n Vereinsmagazin 2012 verkaufte Maleki<br />

60 Prozent seiner Unternehmensgruppe<br />

an den Deutschen Fachverlag mit Sitz in<br />

Frankfurt, der unter anderem die Blätter<br />

„Textilwirtschaft“ und „Lebensmittelzeitung“<br />

herausgibt.<br />

Nach dem Einstieg des Fachverlags legte<br />

die Maleki-Gruppe ein 50 Seiten starkes<br />

professionell gemachtes Hochglanzmagazin<br />

namens „International Bankers Forum“<br />

auf, das IBF-Mitglieder alle zwei Monate automatisch<br />

erhalten. Der Verein zahlt zwar<br />

nur 12,50 Euro pro <strong>Ausgabe</strong> statt des Einzelverkaufspreises<br />

von 21 Euro. Im Jahr kommen<br />

so aber dennoch 60 000 Euro zusammen.<br />

Die Kosten seien zu hoch, und inhaltlich<br />

könnten sie die Zeitschrift auch nicht<br />

mitgestalten, kritisieren die Düsseldorfer.<br />

Maleki sagt, das Ziel, eine Zeitschrift<br />

herauszugeben sei bereits vor Jahrzehnten<br />

in der IBF-Satzung festgehalten worden.<br />

MEHR PROMINENZ ERWÜNSCHT<br />

Bei einem Treffen der Düsseldorfer mit Vorständen<br />

des Vereins ist der Zwist dann eskaliert.<br />

Die Opponenten wollen die erbetenen<br />

Auskünfte nicht erhalten haben. Der IBF bestreitet<br />

das. Aus den Düsseldorfer Reihen<br />

heißt es gar, dass ein IBF-Vorstand ihnen<br />

verboten habe, das Gespräch mitzuschreiben.<br />

Der IBF sagt, es habe sich nicht um ein<br />

Treffen eines beschlussfassenden Gremiums<br />

gehandelt. Entsprechend sei auch<br />

nicht protokolliert worden.<br />

Maleki vermutet persönliche Motive<br />

hinter der Attacke. Das Düsseldorfer Gremium<br />

solle prominenter besetzt werden.<br />

„Das hat einigen Personen aus dem alten<br />

Regionalausschuss nicht gepasst“, sagt er.<br />

Da er die restlichen Anteile an seinem Unternehmen<br />

nicht „mit in den Himmel nehmen“<br />

will, wird sich das Problem von allein<br />

lösen. Nach einem Verkauf hätte er nur<br />

noch den Hut des IBF-Präsidenten auf. n<br />

melanie.bergermann@wiwo.de | Frankfurt<br />

FOTO: LESANDLIGHT/SALOME RÖSSLER<br />

62 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Unternehmen&Märkte | Dossier<br />

Vorbilder<br />

Weit und endlos<br />

Ex-Kollegen lästern gerne,<br />

bei den Umgangsformen<br />

habe sich Pichler wohl an<br />

Alfred Tetzlaff orientiert,<br />

dem TV-Ekel der Siebzigerjahre.<br />

Mit Sicherheit inspiriert<br />

wurde der Ex-Profilangläufer<br />

von afrikanischen<br />

Marathonläufern und deren<br />

Motto „Easy Going“. Soll heißen:<br />

Die Leistungsfähigkeit<br />

steigt, wenn ein Läufer bei<br />

hoher Belastung möglichst<br />

entspannt bleibt. Auch wenn<br />

Rückkehr aus<br />

der Südsee<br />

Künftiger<br />

Air-Berlin-Chef<br />

Pichler<br />

Motiviert und bescheiden Ex-<br />

Südafrika-Präsident Mandela<br />

Pichler auf Fotos noch so<br />

grimmig blickt wie früher,<br />

die Zeit beim australischen<br />

Billigflieger Virgin Blue von<br />

2004 bis 2009 hat ihn wohl<br />

verändert. „Wer Stefan von<br />

damals kennt, erkennt ihn<br />

kaum wieder“, so ein Freund.<br />

So nennt Pichler als wichtigstes<br />

Vorbild Nelson Mandela,<br />

den ehemaligen Präsidenten<br />

Südafrikas, den er<br />

mehrfach traf. Der sei trotz<br />

aller Widerstände motiviert<br />

und bescheiden geblieben.<br />

Ebenso zu Pichlers Leitbildern<br />

gehört der französische<br />

Schriftsteller Antoine de<br />

Saint-Exupéry. Der riet: Wer<br />

ein Schiff bauen wolle, der<br />

teile die Männer nicht zur<br />

Arbeit ein, sondern „lehre sie<br />

die Sehnsucht nach dem<br />

weiten, endlosen Meer“.<br />

Geläutertes Raubein<br />

Der neue Vorstandschef Stefan Pichler ist die letzte Hoffnung für Air Berlin,<br />

vorausgesetzt der arabische Großaktionär Etihad gibt ihm genug Freiheit.<br />

Wenig sorgte in der Luftfahrt zuletzt so sehr<br />

für Gähnen wie das Gerücht, Stefan Pichler<br />

werde Chef von Air Berlin. Der 57-Jährige<br />

war schon Favorit, bevor Gründer Joachim<br />

Hunold 2011 rausflog. Lange als Deutschlands<br />

ehrgeizigster Manager gefeiert, manövrierte<br />

sich Pichler jedoch ins Abseits.<br />

2003 war er an der Spitze des Reisekonzerns<br />

Thomas Cook gescheitert und zuvor als<br />

Verkaufschef bei der Lufthansa wegen<br />

seines raubeinigen Führungsstils angeeckt.<br />

Danach wechselte er zu Billigfliegern in<br />

Australien und Kuwait und war zuletzt Leiter<br />

der Fluggesellschaft der Fidschi-Inseln.<br />

Wenn der begeisterte Taucher nun die<br />

Südsee für die Spree aufgibt, liegt das am<br />

Umdenken beider Seiten. Air Berlin ist<br />

weiterhin tiefrot, trotz Sparrunden, zweier<br />

Chefwechsel in drei Jahren und 800 Millionen<br />

Euro <strong>vom</strong> arabischen Großaktionär<br />

Etihad. Da hilft nur noch ein Maniac wie<br />

Pichler, um Deutschlands zweitgrößte Fluggesellschaft<br />

durch überfällige Einschnitte<br />

vor dem Absturz retten. Der gebürtige<br />

Münchner wiederum gilt im Umgang als<br />

geläutert. „Er dreht Air Berlin, wenn ihm<br />

Etihad die Freiheit lässt“, so ein Weggefährte.<br />

ruediger.kiani-kress@wiwo.de<br />

64 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Vorlieben<br />

Sportle und arbeite<br />

Auch wenn er heute beteuert,<br />

vor allem die Kochkünste seiner<br />

australischen Ehefrau Leonie<br />

begeisterten ihn: Bei wenigen<br />

Managern verschmelzen<br />

Sport und Arbeit derart zur<br />

Passion. Pichler startete nach<br />

dem Abitur eine Karriere als<br />

Profilangläufer, die ihn dank<br />

zwei Stunden zwölf Minuten<br />

im Marathon in die deutsche<br />

Leichtathletik-Nationalmannschaft<br />

brachte. Es folgte eine<br />

Managerkarriere beim US-<br />

Sportartikelhersteller Nike.<br />

Die erhoffte Stelle beim Konkurrenten<br />

Adidas hatte ihm<br />

Entspannte Ausdauer<br />

Ex-Marathon-Star Pichler<br />

der heutige Konzernchef Herbert<br />

Hainer weggeschnappt.<br />

Seitdem hat sich Pichlers Faible<br />

für Sport erweitert. Er machte<br />

nach dem Rauswurf bei Thomas<br />

Cook auf den Seychellen eine<br />

Ausbildung zum Tauchlehrer.<br />

Heute springt er auch mit dem<br />

Fallschirm und müht sich<br />

beim Triathlon.<br />

Ziele und<br />

Visionen<br />

Verbissener Einsatz<br />

Leistung und Veränderung –<br />

auf den ersten Blick hat Pichler<br />

die gleichen Ziele wie viele<br />

andere Manager. Doch der<br />

ehemalige Sportprofi verfolgt<br />

sie eine Spur konsequenter<br />

und mit größerem<br />

Einsatz. „Wenn er sich in eine<br />

Sache verbeißt, dann lässt<br />

er nicht locker, egal, wie unbeliebt<br />

er sich macht“, sagt<br />

ein Weggefährte. Nachdem<br />

FOTOS: PR (2), AAPIMAGES, BILDFOLIO/BOSTELMANN, LAIF/NEDDEN, PICTURE-ALLIANCE/DPA/SVEN SIMON,<br />

Freunde und Gegner<br />

Ungebrochene Sympathie<br />

L’Tur-Gründer Kögel<br />

Offen für Wechsel<br />

Pichler polarisiert wie wenige<br />

andere. „Das liegt daran, dass<br />

er schroff auftritt und wenige<br />

an sich heran lässt“, sagt ein<br />

Vertrauter. Im Ausland landet<br />

er damit eher, etwa beim<br />

Gründer der US-Reisebürokette<br />

Travel Leaders, Mike<br />

Batt, oder bei James Hogan,<br />

auch wenn dieser ihm den Job<br />

als Etihad-Chef wegschnappte.<br />

Zu den deutschen Freunden<br />

zählt Karlheinz Kögel,<br />

Gründer des Lastminute-Veranstalters<br />

L’Tur. Pichler wendet<br />

sich von Freunden ab,<br />

wenn sie ihn enttäuschen. So<br />

brach er mit Ex-Lufthansa-<br />

Chef Jürgen Weber, als der ihn<br />

bei Thomas Cook – offenbar<br />

trotz gegenteiliger Bekundungen<br />

– nicht mehr stützte. Doch<br />

der Wechsel funktioniert auch<br />

anders herum. So galt Air-Berlin-Aufsichtsratschef<br />

Hans-<br />

Joachim Körber als Pichlers<br />

Gegner, weil er den Karrieremenschen<br />

angeblich als Air-<br />

Berlin-Chef ablehnte. „Jetzt ist<br />

das Verhältnis recht positiv“,<br />

sagt ein Air-Berlin-Insider.<br />

Enttäuschendes Verhalten<br />

Ex-Lufthansa-Chef Weber<br />

Stärken und<br />

Schwächen<br />

Überall zu Hause<br />

Nur wenige Manager können<br />

von sich sagen, solche<br />

Einblicke zu haben. Im Alter<br />

von 13 Jahren schlug Pichler<br />

sich als Austauschschüler<br />

ohne Eltern durch Paris. Die<br />

Arbeit in der Zentrale des<br />

weltgrößten Sportartikelherstellers<br />

Nike im US-Bundesstaat<br />

Oregon brachte ihm die<br />

globale Sicht der Dinge –<br />

und verhalf ihm zum Blitzaufstieg<br />

bei der Lufthansa,<br />

wo er zunächst das Frankreich-Geschäft<br />

und später<br />

den Vertrieb leitete. Zugleich<br />

hat sich Pichler in Branchen<br />

außerhalb der Luftfahrt eingearbeitet<br />

– als Kontrolleur<br />

des Frankfurter Flughafens,<br />

der Steigenberger Hotels, der<br />

Deutschen Bank, von Messegesellschaften<br />

und der Deutsche<br />

Sporthilfe. Wie schön<br />

wäre es da, wenn er nicht<br />

mehr so schneidend und<br />

ausfallend wie früher wäre.<br />

Beim Cocktail vereint Pichler<br />

(links), Ehefrau Leonie, Branson<br />

er mit seiner Art in Deutschland<br />

gescheitert ist, hat er<br />

sich offenbar geändert. Dazu<br />

trugt seine Zeit als Vizechef<br />

beim australischen Billigflieger<br />

Virgin Blue bei. Dort<br />

lernte er von Hauptaktionär<br />

Richard Branson, dass es effektivere<br />

Mittel als brachiales<br />

Auftreten gibt. Von dem britischen<br />

Multiunternehmer<br />

nahm Pichler die Erkenntnis<br />

mit, dass er am Ende weiter<br />

kommt, wenn er seine Ziele<br />

anderen nicht einfach aufzwingt,<br />

sondern seine introvertierte<br />

Art aufbricht und<br />

die Leute mitreißt. Mit diesem<br />

Vorsatz tritt Pichler nun<br />

seinen neuen Job an. „Er will<br />

den durch Stillstand und<br />

Sparrunden gelähmten Air-<br />

Berlin-Spirit neu beleben“,<br />

sagt ein Vertrauter.<br />

WirtschaftsWoche <strong>10.11.2014</strong> Nr. 46 65<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

»Schräg angeguckt«<br />

INTERVIEW | Stefan Winners Der Digitalchef des Burda-Verlags über seinen Angriff auf MediaMarkt und<br />

Saturn, neue Geschäfte beim Karrierenetzwerk Xing und den Kampf gegen die Macht von Google.<br />

Herr Winners, einen Großteil <strong>vom</strong> Umsatz<br />

macht Hubert Burda Media heute nicht<br />

mehr im Verlagsgeschäft, sondern im<br />

E-Commerce, etwa mit dem Heimelektronikhändler<br />

Cyberport oder dem Tierbedarfshandel<br />

Zooplus. Passt das in das Profil<br />

eines Medienhauses?<br />

Diese Beteiligungen stammen noch aus der<br />

Zeit von 1998 bis 2008, als Burda ein Corporate-Venture-Capital-Geschäft<br />

betrieben hat<br />

– und wir sind heute sehr glücklich, dass wir<br />

diese Unternehmen haben. Cyberport etwa<br />

wird 2014 mehr als eine halbe Milliarde Euro<br />

Umsatz machen, zweistellig wachsen und<br />

dabei trotz hoher Investitionen profitabel<br />

sein. Außerdem passen Medien und<br />

E-Commerce gut zusammen.<br />

Weil Sie die Burda-Medien nutzen, um den<br />

eigenen E-Commerce zu beleben?<br />

Ja. Ein Beispiel: Als unsere Beteiligung<br />

Tomorrow Focus 2006 das Hotelbewertungsportal<br />

HolidayCheck übernommen<br />

hat, gab es auf Focus Online freitags immer<br />

DER EINKÄUFER<br />

Winners, 47, ist seit Oktober 2012 Digitalvorstand<br />

beim Münchner Medienriesen<br />

Hubert Burda Media mit Publikationen wie<br />

„Focus“, „Bunte“ und „Chip“. Der Digitalbereich<br />

trug 2013 die Hälfte zum Konzernumsatz<br />

von 2,6 Milliarden Euro bei. 2005<br />

bis 2012 war Winners Vorstandschef der<br />

Digitaltochter Tomorrow Focus. Heute leitet<br />

er dort den Aufsichtsrat.<br />

eine von HolidayCheck präsentierte Kolumne<br />

über die schlechtesten Hotels Deutschlands.<br />

Das war eine der am stärksten gelesenen<br />

Rubriken. So haben wir HolidayCheck<br />

den deutschsprachigen Lesern bekannt gemacht.<br />

So haben wir es auch im letzten Jahr<br />

für Marken wie Cyberport gemacht, die wir<br />

durch Print- und Online-Anzeigen sehr erfolgreich<br />

entwickelt haben. Zudem findet<br />

man die unabhängigen „Chip“-Testergebnisse<br />

auch auf Cyberport-Angebotsseiten.<br />

Content und Commerce – das funktioniert.<br />

Sie expandieren mit Cyberport jetzt sogar<br />

in den stationären Einzelhandel. Warum?<br />

Wir haben festgestellt, dass das Abholen online<br />

bestellter Ware für viele Menschen<br />

wichtig ist. Bei Cyberport macht das teilweise<br />

30 Prozent <strong>vom</strong> Gesamtumsatz eines<br />

Stores aus. So gewinnen wir Leute für uns,<br />

die E-Commerce eigentlich kritisch sehen.<br />

Werden Sie also weitere Läden eröffnen?<br />

Ja. Cyberport hat bereits 14 Stores – etwa in<br />

Berlin, Köln, Dresden, München sowie<br />

Wien –, und wir werden in Städten mit<br />

mehr als 500 000 Einwohnern in hochfrequentierten<br />

Lagen weitere Stores aufmachen.<br />

Zunächst steht ein zweiter in Wien<br />

auf dem Programm. An weiteren Standorten<br />

sind wir auf der Suche nach geeigneten<br />

Immobilien. Die werden aber kleiner sein<br />

als die unserer Wettbewerber MediaMarkt<br />

und Saturn.<br />

Bei Cyberport hat sich Ihr Wagniskapital offenbar<br />

ausgezahlt, trotzdem kaufen Sie bei<br />

Digitalbeteiligungen heute nur gestandene<br />

Unternehmen zu. Warum so konservativ?<br />

Wir waren in der Vergangenheit in vielen<br />

Frühphasen-Unternehmen mit Minderheitsbeteiligungen<br />

investiert. Heute wollen<br />

wir profitable Mehrheiten, um die Unternehmen<br />

dann weiter zu entwickeln.<br />

Selbst, wenn bei Frühphasen-Investments<br />

höhere Renditen möglich sind?<br />

Unternehmen, die noch kein bewiesenes<br />

Geschäftsmodell haben, sind schwieriger zu<br />

entwickeln, und die Ausfallquote ist viel höher.<br />

Für uns haben sich in den letzten Jahren<br />

vor allem die Beteiligungen gelohnt, die ein<br />

FOTO: PR<br />

66 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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etabliertes Geschäftsmodell hatten und<br />

schon profitabel oder kurz davor waren. Die<br />

konnten wir mit unserer Erfahrung, der<br />

Reichweite unserer Medien und dem technischen<br />

Know-how stark wachsen lassen.<br />

Bei Frühphasen-Investments schreibt man<br />

in Deutschland mindestens 75 Prozent der<br />

Unternehmen ab.<br />

Können Sie den Erfolg Ihrer Strategie mit<br />

Zahlen belegen?<br />

Nehmen Sie das 2003 gegründete Karrierenetzwerk<br />

Xing, an dem wir 51 Prozent halten.<br />

Dessen Aktien haben wir bei der Übernahme<br />

der Mehrheit im Dezember 2012 zu<br />

einem Preis von 44 Euro gekauft. Der Xing-<br />

Vorstand hat das Wachstum in den letzten<br />

zwei Jahren erheblich beschleunigt. Das Unternehmen<br />

wächst jetzt im Umsatz wieder<br />

sehr erfreulich mit 20 Prozent gegenüber<br />

Vorjahr – und im Ergebnis sogar noch stärker.<br />

Heute steht der Kurs bei 84 Euro.<br />

Wo kommt das Wachstum her?<br />

Xing hat unter anderem das Premium-Abo-<br />

Modell forciert, bei dem die Nutzer für Zusatzservices<br />

zahlen. Die Community ist heute<br />

zudem besser durchsuchbar für Unternehmen<br />

und Personalberater. Personaler<br />

können dort leichter exzellente Kandidaten<br />

finden und ansprechen. Xing bietet dafür<br />

kostenpflichtig das Werkzeug Xing Talentmanager<br />

an. Außerdem gibt es einen neuen<br />

Stellenmarkt und noch bessere Möglichkeiten<br />

für Unternehmen, sich gegenüber potenziellen<br />

Kandidaten darzustellen.<br />

So gut läuft’s bei Ihrer Web-Tochter Tomorrow<br />

Focus nicht. Es hakt bei HolidayCheck<br />

und dem Partnervermittler ElitePartner.<br />

Bei HolidayCheck gab es ein schwaches erstes<br />

Halbjahr wegen der Fußball-WM. Der<br />

Reisemarkt war insgesamt schwächer als geplant,<br />

das hat HolidayCheck gespürt. Aber<br />

jetzt im zweiten Halbjahr setzt das Unternehmen<br />

zu einer Jahresendrallye an, der<br />

Vorstand ist optimistisch, was die Geschäftsentwicklung<br />

bis Jahresende angeht. Und ElitePartner<br />

bewegt sich in einem extrem wettbewerbsintensiven<br />

Markt, in dem die Unternehmen<br />

im Kampf um die Kunden Millionen<br />

Euro für Werbung ausgeben.<br />

Heißt das, Sie werden sich in absehbarer<br />

Zeit von ElitePartner trennen?<br />

Solche Entscheidungen trifft grundsätzlich<br />

der Vorstand von Tomorrow Focus.<br />

Burda hat kürzlich seine Anteile an der erfolgreichen<br />

Internet-Zoohandlung Zooplus<br />

auf 33,8 Prozent reduziert. Warum?<br />

Wir sind dort seit 15 Jahren investiert. Zooplus<br />

ist ein ausgezeichnetes Unternehmen,<br />

und das Team hat es in vielen Ländern Europas<br />

sehr erfolgreich entwickelt, was man<br />

»Bei Wagniskapital<br />

schreibt man<br />

75 Prozent ab«<br />

auch an der sehr erfreulichen Aktienkursentwicklung<br />

sehen kann. Wir haben aber<br />

festgestellt, dass das Geschäft von Zooplus<br />

kaum noch Bezug zu unserem sonstigen<br />

Business hat. Daher haben wir entschieden,<br />

unsere Anteile zu reduzieren, bleiben aber<br />

trotzdem weiter investiert.<br />

Vor einem Jahr haben Sie die US-Internet-<br />

Zeitung „Huffington Post“ nach Deutschland<br />

gebracht. Wie läuft das?<br />

Sie hat es in kürzester Zeit unter die Top-<br />

20-Nachrichtenseiten Deutschlands geschafft,<br />

auch durch eine intelligente VernetzungmitFocusOnline.Beide<br />

Portale verweisen<br />

etwa auf die Inhalte des anderen. Ob die<br />

„Huffington Post“ Deutschland nachhaltig<br />

profitabel ist, soll in zwei Jahren beantwortet<br />

werden. Im Moment sieht alles positiv aus.<br />

Was haben Sie in den zwei Jahren als Digitalvorstand<br />

von Burda verändert?<br />

Ihr Umsatz schrumpft dadurch nicht?<br />

Nein, der Digitalbereich ist in den ersten<br />

sechs Monaten um fast 15 Prozent gewachsen.<br />

Klar ist aber auch, dass wir aufgrund der<br />

Anteilsreduzierung bei Zooplus im digitalen<br />

Bereich im zweiten Halbjahr eher langsamer<br />

als 2013 wachsen werden.<br />

Wann muss eine Beteiligung profitabel sein?<br />

Bei den meisten Beteiligungen sehen Sie<br />

nach drei bis vier Jahren, ob sie erfolgreich<br />

werden. Dann sollte man auch erkennen,<br />

wann die Gewinnschwelle erreicht wird, wie<br />

nachhaltig das Geschäftsmodell ist und wie<br />

robust gegen Angreifer.<br />

Wo kaufen Sie zurzeit zu?<br />

Wir scannen den Markt kontinuierlich nach<br />

neuen Beteiligungsmöglichkeiten. Dieses<br />

Jahr haben wir uns über 150 Unternehmen<br />

angeschaut. Uns geht es um Unternehmen,<br />

die eine Chance haben, einen Umsatz in hoher<br />

zweistelliger Millionenhöhe zu erzielen<br />

und nachhaltig profitabel zu sein. Vergleichsportale<br />

und E-Commerce stehen besonders<br />

in unserem Fokus.<br />

Sie kämpfen seit Jahren für eine kritischere<br />

Haltung der europäischen Politik gegen<br />

Google. Wie sehen Sie das heute?<br />

Wir sind hier gut vorangekommen. Vor<br />

drei Jahren hatte in Deutschland kaum<br />

Liebe, Karriere, Urlaub, News...<br />

Die digitalen Geschäfte von Hubert Burda Media und ausgewählte Beteiligungen<br />

- Paket Plus<br />

- Debitor Inkasso<br />

- Ino 24<br />

- Valentins<br />

Blumen & Geschenke<br />

Quelle: Unternehmen<br />

- Chip<br />

- Cyberport<br />

- Computer Universe<br />

Burda Digital<br />

100% 100% ca. 60% 51%<br />

BurdaDirect BurdaTech Tomorrow Focus Xing<br />

Wir haben das Portfolio einem Check-up<br />

unterzogen und uns dabei auf die Profitabilität<br />

unserer Geschäfte konzentriert. Dazu gehörte<br />

es auch, einzelne zu schließen oder<br />

umzubauen, die keine Aussicht auf Profit<br />

haben. So haben wir etwa in Köln das Unternehmen<br />

Sevenload geschlossen, das eine<br />

Nischen-Alternative zu YouTube werden<br />

sollte. Dort haben wir über Jahre investiert,<br />

aber inzwischen war klar, das klappt nicht. In<br />

unserem Geschäft kommt man nur weiter,<br />

wenn Fehler kein Tabu sind. Man muss aus<br />

ihnen schnell lernen und Konsequenzen<br />

ziehen. Dieser Fokus auf Profitabilität führt<br />

dazu, dass sich das operative Ergebnis im<br />

Digitalbereich 2014 deutlich verbessert.<br />

- HolidayCheck.de<br />

- ElitePartner<br />

- Jameda<br />

- The Huffington Post<br />

- Netmoms<br />

- Focus Online<br />

- Finanzen 100<br />

- Kununu<br />

- Xing Events<br />

Zooplus.de<br />

- Zooplus.de<br />

ca.<br />

38%<br />

einer verstanden, was US-Konzerne mit<br />

ihrer Marktmacht anstellen. Heute zeigen<br />

die Debatten über Datenschutz, Kartellrecht<br />

und Steuerharmonisierung: Allen ist<br />

klar, dass es um knallharte Marktinteressen<br />

in dieser Zukunftsindustrie geht. Es ist<br />

gut, dass die EU das Kartellverfahren<br />

gegen Google nicht voreilig beendet hat,<br />

sondern Googles Bevorzugung eigener Angebote<br />

in den Suchergebnissen weiter untersucht<br />

und vielleicht sogar ein zusätzliches<br />

Verfahren mit Blick auf Googles<br />

Betriebssystem Android einleitet. Wir brauchen<br />

gleiche Rahmenbedingungen und<br />

Spielregeln für alle.<br />

n<br />

thomas.stoelzel@wiwo.de<br />

WirtschaftsWoche <strong>10.11.2014</strong> Nr. 46 67<br />

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O ST<br />

WE ST<br />

Seltener Humus<br />

SERIE MAUERFALL (II) | Hie und da blühen sie doch, die Landschaften im Osten: der mühsame,<br />

aber erfolgreiche Aufstieg dreier Privatunternehmer aus den Ruinen der DDR-Planwirtschaft.<br />

Gestern Raubbau, heute Wirtschaftswunder:<br />

Im Dresdner Stadtteil Gittersee<br />

überdecken die neu und wieder<br />

gegründeten Unternehmen die untergegangenen<br />

aus DDR-Zeiten.<br />

Bis Anfang der Sechzigerjahre panschte<br />

hier noch der berüchtigte deutsch-sowjetische<br />

Rohstoffkonzern Wismut mit Uranerz<br />

und Schwefelsäure. Dann breitete sich auf<br />

einem Teil des Geländes eine staatseigene<br />

Chemie- und Reifenfabrik aus. Die schädlichen<br />

Hinterlassenschaften mussten nach<br />

der Wende für 46 Millionen Euro Steuergeld<br />

Kubikmeter für Kubikmeter weggeschaufelt<br />

werden, um 2001 ein neues Gewerbegebiet<br />

einzurichten.<br />

Heute residieren auf dem Areal 60 Privatbetriebe<br />

– mittendrin die Stollenbäckerei<br />

Dr. Quendt. Das Unternehmen, benannt<br />

nach seinem Gründer, dem promovierten<br />

ostdeutschen Lebensmitteltechniker Hartmut<br />

Quendt, macht inzwischen 20 Millionen<br />

Euro Jahresumsatz, beschäftigt zur<br />

Hochsaison wie gerade im Herbst 200 Mitarbeiter<br />

und ist Marktführer bei Stollen mit<br />

dem Dresdner Herkunftssiegel. Kaum zu<br />

glauben, dass die weit über Sachsen hinaus<br />

bekannte Marke aus den Resten eines staubigen<br />

DDR-Backkombinats hervorgegangen<br />

ist, welches damals „die Versorgung der<br />

lokalen Bevölkerung mit Backwaren sicherstellen“<br />

sollte, wie es in einer dürren Anweisung<br />

der SED-Wirtschaftsbürokratie hieß.<br />

Alte Technik, neue Marke Die Dresdner<br />

Stollenbäcker Matthias und Hartmut<br />

Quendt mit einer DDR-Backmaschine<br />

ERNÜCHTERNDE BILANZ<br />

25 Jahre nach dem Mauerfall am 9. November<br />

1989 blüht der Osten längst nicht überall<br />

wie <strong>vom</strong> Einheitskanzler Helmut Kohl<br />

(CDU) versprochen, dafür aber hie und da.<br />

Dabei bildeten Reste der einst volkseigenen<br />

Betriebe, kurz: VEB, nicht nur ein Ruinenfeld,<br />

sondern wie bei Dr. Quendt bisweilen<br />

auch den seltenen Humus für einen<br />

Neuanfang. Keine Frage, die Ostunternehmer<br />

haben es weiterhin schwer auf dem<br />

Markt, die Bilanz für die Zeit nach der Wende<br />

fällt insgesamt ernüchternd aus. Trotz<br />

rasanter Aufholjagd sind die neuen Bundesländer<br />

in Deutschland immer noch<br />

Schlusslicht bei der Wirtschaftsleistung je<br />

Einwohner. Innovative Großbetriebe, bei<br />

denen Produktivität und Löhne höher sind<br />

als im gesamtdeutschen Durchschnitt,<br />

sind nach wie vor die große Seltenheit.<br />

„Gegenüber Westdeutschland weist Ostdeutschland<br />

auch 25 Jahre nach dem Mauerfall<br />

erhebliche Strukturschwächen auf“,<br />

diagnostiziert das Institut für Wirtschaftsforschung<br />

Halle (IWH) und listet die wichtigsten<br />

auf:<br />

n Laut IWH fehlen dem Osten Unternehmenszentralen,<br />

die in Forschung und Entwicklung<br />

investieren und damit Wertschöpfung<br />

sowie Produktivität nach oben<br />

treiben.<br />

FOTOS: WERNER SCHÜRING FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, CHRISTOPH BUSSE FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

68 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

n Die ostdeutschen Firmen sind im Schnitt<br />

nur halb so groß wie ihre westdeutschen<br />

Konkurrenten. Da die kleinen aber über<br />

weniger Kapital und Managementkapazität<br />

verfügen, haben sie auch einen schlechteren<br />

Zugang zu lukrativen Auslandsmärkten.<br />

n Der Anteil der Unternehmen aus exportstarken<br />

Disziplinen wie dem Auto- und<br />

Maschinenbau ist im Osten niedriger als<br />

im Westen. Ausnahme ist Sachsen mit seiner<br />

forschungsstarken Halbleiterindustrie,<br />

die dem Freistaat den Beinamen Silicon<br />

Saxony eingebracht hat.<br />

Die Ursache des Rückstands geht auch<br />

auf die früheren Kombinate zurück. So<br />

nannte die DDR ihre Staatskonzerne, die<br />

nicht selten eine kunterbunte Mischung an<br />

Sparten besaßen. Die Kolosse waren so<br />

schlecht für den Wettbewerb geeignet, dass<br />

Investoren und Gründer sie in kleine Einheiten<br />

aufspalteten.<br />

ZWEI MAL VOR DEM NICHTS<br />

So passierte es beim Stollenbäcker Dr.<br />

Quendt in Dresden, beim Steuerberatungsunternehmen<br />

Connex aus Halle,<br />

das aus den Resten eines Buchführungskombinats<br />

entstand, oder beim Schifffahrtsunternehmen<br />

Deutsche Seereederei,<br />

dem einstigen Stolz der DDR-Staatswirtschaft,<br />

aus dem ein Tourismus- und Immobilienunternehmen<br />

geworden ist.<br />

Wer sich auf Spurensuche begibt, erlebt<br />

Überraschungen, welch lebendiges Unternehmertum<br />

trotz aller Strukturschwächen<br />

aus den Ruinen erwachsen ist.<br />

Als die Mauer fiel, fiel der damals<br />

48-jährige Lebensmittelingenieur Quendt<br />

in Dresden erst einmal ins Nichts. Das<br />

Ende der DDR machte ihn plötzlich zum<br />

Arbeitslosen, ein Schicksal, das er sich<br />

bis dahin nicht vorstellen konnte. Bei seinem<br />

bisherigen Brötchengeber, dem VEB<br />

Dauerbackwaren, wie der Betrieb in sozialistischer<br />

Nomenklatur hieß, waren die<br />

Öfen ausgegangen.<br />

Für Quendt war der Mauerfall „ein Signal,<br />

das Schicksal in die eigene Hand zu<br />

nehmen“, erinnert er sich. Geistesgegenwärtig<br />

rettete er eine von ihm entwickelte<br />

Spezialmaschine zur Herstellung von Russisch<br />

Brot vor der Verschrottung. Gesandte<br />

des hannoverschen Keksgiganten Bahlsen<br />

waren in Dresden angerückt, um zu inspizieren,<br />

welche Produktionsanlagen des<br />

VEB sich weiterhin nutzen ließen. Für<br />

Rückstand in exportstarken Branchen<br />

Anteil von Ost- und Westunternehmen am Umsatz im verarbeitenden Gewerbe je Disziplin*<br />

24,1<br />

14,0<br />

Autobau<br />

* 2013; Quelle: KfW<br />

13,3<br />

8,7 8,6 7,4<br />

5,0 4,0 3,6<br />

5,3<br />

Maschinenbau Chemie Elektroausrüstung<br />

Vom Ost-Statthalter zum ostdeutschen<br />

Unternehmer Connex-Chef und Gesellschafter<br />

Bischoff<br />

Datenverarbeitung/<br />

Elektronik<br />

West<br />

2,2 4,5<br />

Pharma<br />

Ost<br />

Quendts Unikat hatten die „Wessis“ keine<br />

Verwendung.<br />

Der „Ossi“ aber reagiert schnell, packt<br />

die sperrige Maschine kurzerhand auf einen<br />

Lkw und bunkert sie in einer Garage.<br />

Das gerettete Relikt, das er mit viel Herzblut<br />

entwickelt hatte, wird zum Grundstein<br />

eines privaten Backunternehmens, dem er<br />

seinen Namen verleiht. Dafür nimmt er<br />

1991 einen Bankkredit von umgerechnet<br />

gut 750 000 Euro auf.<br />

Zum zweiten Mal vor dem Nichts fühlte<br />

sich Quendt, als seine Maschine zwar gewohnt<br />

zuverlässig lief, er seine Backwaren<br />

jedoch ohne Kenntnisse in Marketing und<br />

Vertrieb plötzlich auf dem Markt losschlagen<br />

musste. Da ihm wie fast allen frischgebackenen<br />

Ostunternehmern Kontakte<br />

zu den Einkäufern großer Supermarktketten<br />

fehlen, setzt er sich persönlich hinter<br />

das Steuer eines Transporters und beliefert<br />

nach Gutdünken Bäcker, Metzger<br />

und kleine Lebensmittelläden der Umgebung<br />

mit Russisch Brot in verkaufsfertigen<br />

Tüten. Guerillamarketing würde man<br />

heute dazu sagen.<br />

Es war eine harte Zeit für den gelernten<br />

DDR-Bürger. Erst Mitte der Neunzigerjahre<br />

kam für das Unternehmen der Durchbruch,<br />

als Einzelhändler und Verbraucher<br />

gezielt nach Traditionswaren made in<br />

Ostdeutschland fragten. Quendts Sohn<br />

Matthias erkannte das Marketingpotenzial<br />

von Dresdener Christstollen, deren Produktion<br />

1994 aufgenommen wurde. Bei<br />

der Errichtung der neuen Produktlinie<br />

und der Herstellung des Weihnachtsgebäcks<br />

halfen neue Mitarbeiter von einem<br />

weiteren Dresdner Backkombinat, das<br />

schließen musste. Heute ist der Dresdener<br />

Christstollen Paradeprodukt des Unternehmens.<br />

HARTE WENDE<br />

Für Gründer wie Quendt bestand die größte<br />

Herausforderung darin, ohne Vorkenntnisse<br />

die Regeln der Marktwirtschaft zu beherrschen.<br />

Noch härter war die Wende für<br />

Silvia Herrmann. Für die heute 57-jährige<br />

Steuerberaterin änderten sich sämtliche<br />

für ihre Arbeit relevanten Gesetze.<br />

Doch die komplexen westdeutschen<br />

Rechtsnormen und Vorschriften schockten<br />

sie nicht. Eine Resignation hätte sich die<br />

32-Jährige auch gar nicht leisten können,<br />

musste sie ihren Sohn doch nach einer frühen<br />

Scheidung allein erziehen. Das kam<br />

öfter vor zu DDR-Zeiten, weil junge Paare<br />

überstürzt heirateten, um eine der knappen<br />

Wohnungen zu ergattern.<br />

»<br />

WirtschaftsWoche <strong>10.11.2014</strong> Nr. 46 69<br />

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O ST<br />

WE ST<br />

Verwandlung zum Hotelier Investor Rahe<br />

baute die Deutsche Seereederei in einen<br />

Tourismus- und Immobilienkonzern um<br />

»<br />

Also saß die Alleinerziehende zwei Jahre<br />

lang jeden Samstag in Seminaren, um 1995<br />

die nach bundesdeutschem Recht vorgeschriebene<br />

anspruchsvolle Prüfung zur<br />

Steuerberaterin zu bestehen. „Ich habe<br />

einfach fest daran geglaubt, dass ich es packen<br />

kann“, sagt Herrmann. Heute arbeitet<br />

sie bei Connex am Standort Halle. Der<br />

Dienstleister mit 300 Mitarbeitern, 6000<br />

Mandanten und rund 16 Millionen Euro<br />

Umsatz führt die Finanz- und Lohnbuchhaltung<br />

und erstellt Bilanzen sowie Steuererklärungen<br />

für kleine und mittlere Unternehmen,<br />

die sich dafür keine eigene Abteilung<br />

leisten können. Das Angebot passt zur<br />

kleinteiligen ostdeutschen Unternehmenslandschaft.<br />

Connex entstand ebenfalls aus den Resten<br />

eines volkseigenen Betriebs, dem VEB<br />

Rechnungsführung und Wirtschaftsberatung<br />

des Bezirks Halle. Dort verdiente<br />

Herrmann zu DDR-Zeiten ihr Geld. Denn<br />

auch in der Planwirtschaft mussten die<br />

Kleinunternehmen, die nicht in Kombinaten<br />

aufgegangen waren, Abgaben entrichten.<br />

Zudem waren kleinere VEB ohne eigene<br />

Buchhaltung gezwungen, sich an staatliche<br />

Buchführungsfirmen zu wenden.<br />

„Zu DDR-Zeiten war ich eher Erfüllungsgehilfin<br />

des Finanzamts“, sagt Herrmann.<br />

„Heute ist es dagegen mein Job, die Steuerlast<br />

für die Mandanten möglichst niedrig<br />

zu halten.“ 25 Jahre nach dem Mauerfall<br />

gibt Connex einigen ehemaligen VEB-Mitarbeitern<br />

immer noch einen Arbeitsplatz.<br />

Rund zehn Prozent der Belegschaft stammen<br />

aus den Reihen einstiger volkseigener<br />

Buchhaltungsfirmen.<br />

HOHES RISIKO<br />

Dass Herrmanns früherer Arbeitgeber unter<br />

dem neuen Namen Connex überlebte,<br />

hat die Anhaltinerin ihrem heutigen Chef<br />

Detlef Walter Bischoff zu verdanken. Der<br />

Badener kam 1990 als junger Anwalt in den<br />

Osten, sein Kanzleichef in Pforzheim hatte<br />

gemeinsam mit anderen mittelständischen<br />

Steuerberatern und Wirtschaftsprüfern<br />

den ehemaligen Staatsbetrieb für drei<br />

Millionen Euro von der Treuhandanstalt<br />

übernommen. Heute wäre das ein<br />

Schnäppchen, damals gingen die Westler<br />

mit der Investition aber ein hohes Risiko<br />

ein, da niemand den Erfolg des Unternehmens<br />

vorhersehen konnte. „Für mich war<br />

die Wende eine Chance, mich fern der Heimat<br />

zu bewähren“, sagt Bischoff. Berührungsängste<br />

mit dem Osten kannte er<br />

nicht. „Leipzig und Halle sind traumhaft,<br />

auch wenn mein badischer Akzent noch<br />

manchmal ein Lächeln hervorruft.“<br />

Bischoff wollte Connex weiter ausbauen,<br />

während die Eigentümer im Schwarzwald<br />

Wenig weltgewandt<br />

Anteil der Exporte am Umsatz der Unternehmen<br />

(in Prozent)*<br />

55,1<br />

53,2<br />

52,6<br />

52,5<br />

52,2<br />

50,9<br />

46,4<br />

44,4<br />

42,6<br />

40,1<br />

35,4<br />

30,1<br />

28,9<br />

28,3<br />

27,0<br />

23,8<br />

* 2013; Quelle: IWH<br />

Bremen<br />

Berlin<br />

Baden-Württemberg<br />

Rheinland-Pfalz<br />

Bayern<br />

Hessen<br />

Saarland<br />

Niedersachsen<br />

Nordrhein-Westfalen<br />

Schleswig-Holstein<br />

Sachsen<br />

Thüringen<br />

Mecklenburg-Vorpommern<br />

Brandenburg<br />

Sachsen-Anhalt<br />

Hamburg<br />

vor allem auf hohe Ausschüttungen schielten.<br />

Also kaufte er 1996 den Altgesellschaftern<br />

ihre Anteile ab, wurde <strong>vom</strong> Ost-Statthalter<br />

zum selbstständigen ostdeutschen<br />

Unternehmer und baute die Steuerberatung<br />

zur heutigen Größe aus.<br />

Während Connex und Dr. Quendt ihren<br />

Branchen treu blieben, mussten andere<br />

ehemals volkseigene Betriebe ihren Weg in<br />

die privatwirtschaftliche Zukunft fernab<br />

der bisherigen Domäne suchen. Wie<br />

schmerzhaft dies für die Beschäftigten war,<br />

zeigte die Deutsche Seereederei, einst maritimes<br />

Aushängeschild der DDR-Staatswirtschaft.<br />

Nur rund 1600 Mitarbeiter beschäftigt<br />

die DSR-Gruppe heute noch – fast 90 Prozent<br />

der Arbeitsplätze der alten DSR mit<br />

14 500 Mitarbeitern gingen auf dem Weg in<br />

den Kapitalismus verloren. Ganze fünf Angehörige<br />

der heutigen Belegschaft waren<br />

schon vor 25 Jahren dabei, einer macht immer<br />

noch das Gleiche wie vor dem Mauerfall:<br />

Frank Kletzsch, inzwischen 55 Jahre<br />

alt, war damals Direktionsfahrer. Heute<br />

chauffiert er Firmenchef Horst Rahe.<br />

Der Hamburger Kaufmann hatte DSR im<br />

Juni 1993 gemeinsam mit dem Reeder Nikolaus<br />

Schües von der Treuhandanstalt<br />

übernommen. Rahes Kompagnon fusio-<br />

FOTO: ARCHIV-KLAR<br />

70 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

nierte die Frachtschiffsparte mit seiner<br />

Reederei F. Laeisz und lieferte damit den<br />

Auftakt zu mehreren Strategiewechseln,<br />

die das Unternehmen für Jahrzehnte zu einer<br />

Dauerbaustelle machten, bei der kein<br />

Stein auf dem anderen blieb. 1999 löste<br />

Schües die Handelsschifffahrt aus dem Unternehmen<br />

heraus, seitdem führt Rahe die<br />

DSR allein.<br />

Heute ist die DSR ein Tourismus- und<br />

Immobilienunternehmen, das Kapitel<br />

Schifffahrt ist beendet. Wirtschaftlich hat<br />

sich der Kurswechsel ausgezahlt, Rahe hat<br />

aus der hochdefizitären DDR-Staatsreederei<br />

ein ertragsstarkes Unternehmen mit<br />

rund 150 Millionen Euro Jahresumsatz gemacht.<br />

Gut zwei Drittel davon entfallen auf<br />

die acht Hotels, die 2013 im Jahresschnitt<br />

zu gut 65 Prozent ausgelastet waren und einen<br />

operativen Gewinn von knapp 21 Millionen<br />

Euro erwirtschafteten.<br />

HILFE VOM KONKURRENTEN<br />

Die Schifffahrt des Ex-VEB lebt derweil unter<br />

dem Dach anderer Unternehmen weiter.<br />

So hatte DSR-Chef Rahe die Idee, die<br />

heutigen Kreuzfahrtschiffe Aida zu bauen<br />

und über die Meere zu schicken. Die Marke<br />

sowie die schwimmenden Halligalli-<br />

Herbergen mit dem charakteristischen<br />

Kussmund am Bug gehören heute allerdings<br />

nicht mehr zur DSR, sondern zum<br />

US-Kreuzfahrtriesen Carnival.<br />

Auch die Dresdner Stollenbäckerei Dr.<br />

Quendt sicherte ihr Überleben kürzlich<br />

durch den Einstieg eines anderen Unternehmens,<br />

des Konkurrenten Lambertz aus<br />

Westdeutschland. 2013 war ein Krisenjahr<br />

für Dr. Quendt und eine Bewährungsprobe<br />

für Gründersohn Matthias, der 2006 die<br />

Führung von seinem Vater Hartmut übernommen<br />

hatte.<br />

Dem Unternehmen war ein wichtiger<br />

Kunde abgesprungen. Zudem explodierte<br />

der Butterpreis nach der Flutkatastrophe,<br />

was die Kosten der wichtigsten Zutat für<br />

die Stollen in die Höhe schießen ließ. Die<br />

Banken forderten mehr Eigenkapital.<br />

Quendt blieb nur, einen Mehrheitsanteil<br />

am Unternehmen an den Aachener Backwarenhersteller<br />

Lambertz zu verkaufen.<br />

Der Printen-Platzhirsch ist mit 3500 Mitarbeitern<br />

und 585 Millionen Euro Jahresumsatz<br />

deutlich größer. Doch dank des Anteils<br />

an Dr. Quendt ist Lambertz nun in allen<br />

drei wichtigen Märkten für traditionelles<br />

Weihnachtsgebäck mit Herkunftssiegeln<br />

vertreten: Aachener Printen, Nürnberger<br />

Lebkuchen und Dresdner Stollen. n<br />

mark.fehr@wiwo.de | Frankfurt, hans-jürgen klesse<br />

WirtschaftsWoche <strong>10.11.2014</strong> Nr. 46 71<br />

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Spezial | Mittelstand<br />

Aufrüsten, umbauen, zukaufen<br />

DIGITALISIERUNG | Autoschlüssel oder Frankiermaschinen braucht eigentlich kein Mensch<br />

mehr — dafür gibt es längst digitalen Ersatz. Wie gehen die mittelständischen Hersteller solcher<br />

Alltagsgegenstände mit dem technologischen Umbruch um?<br />

Manche Gegenstände werden<br />

gleich drei Mal neu erfunden. Der<br />

Walkman, zum Beispiel: 1973 ging<br />

der tragbare Kassettenspieler von Sony an<br />

den Start. Ein Jahrzehnt später verdrängte<br />

ihn der Disc-Man, dann kam der<br />

MP3-Player mit Speicherchip. Und heute?<br />

Lädt man die Lieblingslieder einfach auf<br />

das Smartphone. Die meisten Musikliebhaber<br />

sind froh, dass sie sich nicht mehr<br />

mit verhedderten Kassettenbändern herumärgern<br />

müssen. Die Digitalisierung der<br />

Technik macht es möglich.<br />

Das Schicksal des Walkmans wiederholt<br />

sich heute 100-fach. Ständig verschwinden<br />

Gegenstände, die gerade noch zu unserem<br />

Alltag gehörten, aus den Regalen und<br />

schnell auch aus unserem Leben: Statt<br />

Briefe werden E-Mails geschrieben. Bücher<br />

lesen immer mehr Menschen auf dem<br />

Spezial | Mittelstand<br />

72 Digitalisierung So reagieren<br />

Mittelständler auf den Umsturz<br />

ihrer Geschäftsmodelle<br />

78 Factoring Was der Verkauf ihrer<br />

Forderungen Unternehmen bringt<br />

82 Weiterbildung Mitarbeiter erweitern<br />

das Wissen ihrer Kollegen<br />

Tablet oder dem E-Reader. Und Filme<br />

werden nicht mehr als DVD gesammelt –<br />

und erst recht nicht auf Videokassetten –,<br />

sondern übers Internet gestreamt.<br />

Immer mehr physische Produkte werden<br />

durch digitale verdrängt. Weil diese kleiner<br />

sind, billiger, einfacher zu bedienen und<br />

meistens auch noch viel mehr können. Alltagsgegenstände<br />

werden intelligent und<br />

vernetzen sich miteinander: Fernseher mit<br />

Festplattenrekorder lassen sich via<br />

Smartphone programmieren, Waschmaschinen<br />

schalten sich an, wenn der intelligente<br />

Stromzähler einen günstigen Strompreis<br />

signalisiert, Autos kommunizieren<br />

mit Verkehrsampeln und wissen dadurch<br />

schon vorher, wann die Ampel auf Grün<br />

springen wird.<br />

Mit der nächsten Stufe der Digitalisierung<br />

wird dadurch aus dem Internet der<br />

Kommunikation ein Internet der Dinge.<br />

Und das bringt auch die Geschäftsmodelle<br />

von mittelständischen Herstellern durcheinander.<br />

Der Wandel ist allgegenwärtig und längst<br />

noch nicht abgeschlossen: „Wir stehen erst<br />

am Anfang einer fundamentalen Veränderung“,<br />

sagt Walter Sinn, Deutschland-<br />

»<br />

ILLUSTRATION: THOMAS FUCHS<br />

72 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Spezial | Mittelstand<br />

»<br />

Chef der Managementberatung Bain mit<br />

Sitz in München.<br />

Treiber sind Smartphones und kleine<br />

Tablets, die Internet und digitale Speicherkapazitäten<br />

für jedermann und zu jeder<br />

Zeit buchstäblich „tragbar“ machen. Bis<br />

2017 werden weltweit mehr als 2,2 Milliarden<br />

Smartphones und mehr als 400 Millionen<br />

Tablets verkauft, schätzt die Beratung<br />

Accenture aus Kronberg im Taunus. Im<br />

gleichen Zeitraum soll sich der Markt für<br />

digitale Produkte auf mehr als 200 Milliarden<br />

Dollar verdoppeln. Smartphone und<br />

Tablet drängen sich in unseren Alltag,<br />

übernehmen neue Aufgaben und verdrängen<br />

Alltagsgegenstände – zum Schaden jener,<br />

die diese herstellen.<br />

„Inzwischen sind sich die meisten Unternehmen<br />

der Gefahr der Digitalisierung<br />

bewusst, sie rüsten auf, bauen ihre Geschäftsmodelle<br />

um oder entwerfen sie<br />

ganz neu“, sagt Matthias Ziegler, Leiter für<br />

neue Technologien und Innovationen bei<br />

Accenture. Doch viele Unternehmen haben<br />

immer noch großen Aufholbedarf. Bei<br />

einer Befragung der DZ Bank antworteten<br />

35 Prozent der mittelständischen Unternehmen,<br />

dass die Digitalisierung in ihrem<br />

Geschäft noch keine Rolle spiele (siehe<br />

Grafik Seite 77).<br />

Was bedeutet das in der Praxis? Wie gut<br />

sind die Betroffenen für diesen Wandel<br />

aufgestellt? Die WirtschaftsWoche zeigt an<br />

vier Beispielen, wie Hersteller damit umgehen,<br />

wenn ihre Produkte durch Digitalisierung<br />

bedroht werden.<br />

CHIP STATT SCHLÜSSEL<br />

Eine Karte, die man an die Windschutzscheibe<br />

hält: Mehr braucht es nicht, um die<br />

Autos der Carsharing-Anbieter Drive Now<br />

oder Car2Go zu öffnen. Die Autos kann jeder<br />

nutzen, der sich vorher als Fahrer registriert<br />

hat, die Karte wird zum Autoschlüssel.<br />

Dessen Aufgabe übernimmt ein sogenannter<br />

RFID-Chip, der die Autotür entriegelt,<br />

die Blockade des Lenkradschlosses<br />

aufhebt und die Zündung aktiviert. Und<br />

Autos lassen sich auch mit<br />

Chipkarten oder Handys öffnen<br />

selbst diese Technologie bleibt möglicherweise<br />

nicht mehr lang aktuell. Denn längst<br />

können auch Handys (Auto-)Türen öffnen:<br />

Wissenschaftler des Darmstädter Fraunhofer-Instituts<br />

für sichere Informationstechnologie<br />

haben die App Key2Share entwickelt.<br />

Das Schloss wird von einem auf<br />

dem Smartphone gespeicherten Code geöffnet.<br />

Wird der echte Schlüssel aus Metall damit<br />

demnächst zum Alteisen? Im nordrhein-westfälischen<br />

Velbert hält sich die<br />

Angst davor bisher noch in Grenzen.<br />

Der Ort ist Deutschlands Schlüssel-<br />

Hauptstadt: Viele Hersteller haben hier ihren<br />

Sitz, darunter Silca, ein Tochterunternehmen<br />

der Schweizer Kaba Gruppe. „Der<br />

Schlüssel wird langfristig etwas an Bedeutung<br />

verlieren, aber jeder Autofahrer hat<br />

immer noch einen real existierenden Notschlüssel“,<br />

tröstet sich Reinhard Sperling,<br />

Geschäftsführer von Silca in Deutschland.<br />

Zudem stellt das Unternehmen neben<br />

Schlüsseln auch Fräsmaschinen her.<br />

Auch der ebenfalls in Velbert ansässige<br />

Wettbewerber Huf bleibt vorerst gelassen.<br />

„Handytechnologien sind bislang viel zu<br />

unsicher“, sagt Geschäftsführer Ulrich<br />

Hülsbeck, „da kann sich jeder reinhacken.“<br />

Huf produziert für Branchengrößen wie<br />

Mercedes, BMW, VW und Porsche und hat<br />

bei deutschen Autobauern 20 Prozent<br />

Marktanteil. Auch für ausländische Hersteller<br />

wie Toyota oder Ford stellt Huf die<br />

Schlüssel her.<br />

Das Unternehmen tastet sich langsam<br />

an die Digitalisierung heran: Die Gesamtproduktion<br />

von 56 Millionen Schlüsseln im<br />

Jahr verteilt sich derzeit zu jeweils der Hälfte<br />

auf mechanische und elektronische, die<br />

dann auch Zusatzinformationen speichern<br />

können. Dazu zählen zum Beispiel Fahrerprofile,<br />

mit denen sich die Höchstgeschwindigkeit<br />

regulieren lässt, damit etwa<br />

der Sohn mit Papas Auto nicht zu schnell<br />

über die Autobahn heizt. Oder eine zusätzliche<br />

Diebstahlsicherung, bei der erst über<br />

das Handy ein Code zum Entriegeln des<br />

Autos eingegeben werden muss.<br />

Gerade bei teuren Autos sei der Schlüssel<br />

mit dem Markenzeichen aber auch ein<br />

Prestigeträger, sagt Geschäftsführer Hülsbeck.<br />

„Deshalb erwarte ich nicht, dass er<br />

komplett wegfällt.“ Auch aus Sicherheitsgründen<br />

stellt Huf weiterhin mechanische<br />

Schlüssel her: Denn wenn die Batterie des<br />

Autos leer ist oder die Elektronik versagt,<br />

ließe sich der Wagen sonst nicht öffnen.<br />

Doch auf den ewigen Fortbestand der<br />

Schlüssel allein will Hülsbeck sich nicht<br />

»<br />

ILLUSTRATION: THOMAS FUCHS<br />

74 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Spezial | Mittelstand<br />

Durch die Digitalisierung werden<br />

Hersteller zu App-Entwicklern<br />

»<br />

verlassen. Das Unternehmen mit einem<br />

Umsatz von mehr als 1,1 Milliarden Euro<br />

und weltweit 6800 Mitarbeitern expandiert<br />

auch in neue Bereiche wie sogenannte<br />

Telematikboxen, von denen 2013 bereits<br />

etwa 4000 ausgeliefert wurden. Sie ermöglichen<br />

über ein GPS-Modul die weltweite<br />

Ortung des Fahrzeugs. Vor allem bei teuren<br />

Karossen soll diese Technik den Diebstahlschutz<br />

verbessern.<br />

E-POST STATT FRANKIERMASCHINE<br />

Die meisten Deutschen haben die Lust am<br />

Briefeschreiben schon lange verloren.<br />

Doch in Unternehmen spielt der Geschäftsbrief<br />

noch eine große Rolle – und<br />

damit auch die Maschinen von Francotyp-<br />

Postalia. Das Unternehmen aus dem brandenburgischen<br />

Birkenwerder stellt Frankiermaschinen<br />

her, mit denen Anwaltskanzleien<br />

und Arztpraxen ihre Rechnungen<br />

und Dokumente schnell beschriften<br />

und frankieren können. Mit knapp 170 Millionen<br />

Euro Jahresumsatz ist Francotyp-<br />

Postalia der drittgrößte Hersteller weltweit.<br />

Etwa zehn Prozent Marktanteile hat das<br />

Unternehmen erobert.<br />

Während Instant-Messenger-Dienste<br />

wie WhatsApp, SMS und E-Mails den Brief<br />

in der privaten Kommunikation verdrängt<br />

haben, warten Standards für die Geschäftskorrespondenz<br />

wie De-Mail oder E-Postbrief<br />

noch auf den Durchbruch.<br />

Trotz dieser Gnadenfrist weiß Francotyp-<br />

Postalia-Vorstand Thomas Grethe, dass die<br />

Bedeutung seines Kernprodukts weiter abnehmen<br />

wird: „Geschäftsbriefe wird es<br />

auch noch in zehn Jahren geben“, sagt er.<br />

„Doch der Briefmarkt in Deutschland ist in<br />

den vergangenen sechs Jahren im Schnitt<br />

um 1,2 Prozent jährlich geschrumpft, da<br />

immer mehr Post elektronisch verschickt<br />

wird und mittelfristig weniger Frankiermaschinen<br />

gebraucht werden.“<br />

Das Unternehmen stellt sein Geschäft<br />

deshalb völlig um. Bereits 2011 beteiligte<br />

sich Francotyp-Postalia an Mentana<br />

Claimsoft aus dem brandenburgischen<br />

Fürstenwalde. Der De-Mail-Provider bietet<br />

eine Möglichkeit für einen rechtssicheren<br />

und geschützten E-Mail-Verkehr auch mit<br />

Behörden. Grethe: „Mittelfristig wollen wir<br />

15 bis 20 Millionen Euro Umsatz mit De-<br />

Mail erzielen.“<br />

Das zweite Standbein ist die Dokumentenverwaltung.<br />

Für Krankenhäuser, kleinere<br />

Unternehmen oder Behörden digitalisiert<br />

und archiviert Francotyp-Postalia deren<br />

Kunden- und Geschäftsunterlagen.<br />

APP STATT KUNDENKARTE<br />

Mit neuen Geschäftsmodellen experimentiert<br />

auch Robert Wolny, Vorstand des Kartenherstellers<br />

Exceet Card Group aus Paderborn.<br />

In Deutschland werden pro Jahr<br />

mehrere Hundert Millionen der Plastikkärtchen<br />

hergestellt, mit denen Unternehmen<br />

Daten über das Kaufverhalten ihrer<br />

Kunden sammeln, allein rund 350 Millionen<br />

von Exceet. Rund 46 Millionen Euro<br />

Umsatz erzielte der Anbieter im vergangenen<br />

Jahr in diesem Segment. Das ist fast ein<br />

Viertel des gesamten Umsatzes des Unternehmens,<br />

das auch Bankkarten oder Nahverkehrsausweise<br />

herstellt.<br />

Doch die klassische Kundenkarte ist ein<br />

Auslaufmodell. Schuld daran sind Gründer<br />

wie David Handlos und seine Kollegen mit<br />

ihrem Ludwigshafener Start-up Stocard:<br />

Das bündelt mehr als 300 Anbieter von<br />

Kundenkarten, darunter Ikea Family und<br />

Payback, und speichert sie in einer kostenlosen<br />

App. Der Kunde kann im App-Menü<br />

seine Kundenkarte auswählen und den<br />

Barcode der Karte einscannen oder manuell<br />

über das Tastenfeld eintippen.<br />

2,5 Millionen Kunden in zehn Ländern<br />

haben bereits über 15 Millionen der kleinen<br />

Plastikkärtchen eingescannt und digitalisiert.<br />

Die Vorteile: Im Portemonnaie ist<br />

mehr Platz, die Karten können nicht mehr<br />

vergessen werden. Für die Unternehmen<br />

bieten sich ebenfalls neue Möglichkeiten:<br />

Sie können SMS mit Werbung und Sonderangeboten<br />

oder Coupons und sogar den<br />

neuen Ikea-Katalog verschicken.<br />

Kundenkartenhersteller Exceet versucht<br />

sich an derselben Idee: Gemeinsam mit<br />

Bluesource aus Österreich hat Exceet die<br />

App Mobile-Pocket entwickelt, ein Konkurrenzmodell<br />

zu Stocard. Auch Mobile-<br />

Pocket speichert alle Kundenkarten, zum<br />

Punktesammeln muss beim Einkaufen nur<br />

das Smartphone vorgezeigt werden.<br />

Die Kooperation ist für Exceet eine Versicherung<br />

für den Fortbestand im Digitalzeitalter<br />

– und die Chance zum Ausbau des<br />

Geschäftsmodells: „Für uns erweitert sich<br />

das Geschäft durch Marketingmaßnahmen<br />

rund um die App“, sagt Exceet-Chef<br />

ILLUSTRATION: THOMAS FUCHS<br />

76 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Wolny. Zudem hätten die Karten auch einen<br />

Imagefaktor: „Der Bedarf an Kundenkarten<br />

wird zwar auf Dauer zurückgehen.<br />

Aber es werden sich immer noch Menschen<br />

finden, die bestimmte hochwertige<br />

Karten als Statussymbol bei sich tragen<br />

wollen.“ Plötzlich aussterben, hofft Wolny,<br />

wird die Plastikkarte deshalb nicht.<br />

Mittelstand hat Aufholbedarf<br />

Umfrage: Welche Rolle spielen digitale<br />

Technologien in Ihrem Unternehmen?<br />

Eine sehr<br />

wichtige Rolle 22% 35%<br />

Eine wichtige Rolle<br />

29%<br />

14%<br />

Quelle: GfK und DZ Bank, Befragung von 1000<br />

mittelständischen Unternehmen, 2014<br />

Keine Rolle<br />

Eine geringe Rolle<br />

WHITEBOARD STATT TAFEL<br />

Das Nürnberger Unternehmen Degen ist<br />

ein Saurier – eigentlich längst zum Aussterben<br />

verurteilt. Degen produziert seit 1999<br />

klassische schwarze oder dunkelgrüne<br />

Kreidetafeln. Aber wer braucht die noch,<br />

wenn immer mehr Schulen und Universitäten<br />

ihre Vorlesungen ins Internet stellen,<br />

Sprachkurse und Weiterbildungen in virtuellen<br />

Online-Klassen angeboten werden?<br />

Grundschüler lernen auf den Kreidetafeln<br />

zwar noch Schreiben. Aber wer braucht die<br />

grünen Tafeln noch in den weiterführenden<br />

Schulen, wo heute schon ganze Klassen<br />

mit iPads und Computern ausgerüstet<br />

werden?<br />

Die Degens haben ihr Geschäft deshalb<br />

längst umgestellt, erzählt Andreas Degen,<br />

in dem Familienunternehmen als Geschäftsführer<br />

für den Bereich Marketing<br />

zuständig. Sein wichtigstes Produkt sind<br />

heute digitale Tafeln – überdimensionale<br />

Touchpads oder sogenannte Whiteboards<br />

– Leinwände, bei denen der Beamer die<br />

Bewegungen des Vortragenden liest. Über<br />

diese Tafeln können Videos, Grafiken,<br />

oder Computerprogramme wie Excel aufgerufen<br />

und leere Felder mit einem speziellen<br />

Stift ausgefüllt werden.<br />

„Hersteller, die nicht auf den Zug mit den<br />

interaktiven Tafeln aufgesprungen sind,<br />

existieren heute nicht mehr“, sagt Degen.<br />

Die klassischen Kreidetafeln machen weniger<br />

als die Hälfte des Umsatzes im oberen<br />

einstelligen Millionenbereich aus. Degen<br />

wächst vor allem durch den Verkauf interaktiver<br />

Tafeln und Whiteboards.<br />

Während die Whiteboards aus den eigenen<br />

Werkshallen stammen, fehlt den<br />

Nürnbergern für die nächste technische<br />

Stufe – Tafeln mit Touch-Oberfläche – das<br />

Know-how. Auf dem Markt dominieren<br />

ausländische Anbieter wie die britische<br />

Promethean. Auch große TV-Hersteller aus<br />

Asien wie Samsung oder Sharp versuchen<br />

sich an den High-Tech-Tafeln.<br />

Ein Mittelständler wie Degen hat es da<br />

schwerer: „Kleine Unternehmen haben<br />

nicht immer die Kapazitäten, um der Veränderung<br />

im Markt zu begegnen“, sagt<br />

Bain-Berater Sinn, „aber die digitale Welt<br />

ist auch eine Welt, in der man sich Partner<br />

sucht.“ Das hat Degen getan: Die Nürnberger<br />

vertreiben nun die Touch-Tafeln von<br />

Promethean und verdienen hauptsächlich<br />

an der Montage.<br />

n<br />

jacqueline.goebel@wiwo.de, nele hansen<br />

Lesen Sie weiter auf Seite 78 »<br />

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Spezial | Mittelstand<br />

Besser als sein Ruf<br />

FACTORING | Der Verkauf von Forderungen war lange verpönt,<br />

doch aktuell meldet die Branche hohe Zuwachsraten. Wie<br />

Unternehmen durch den Verkauf ihrer Forderungen ihre Liquidität<br />

verbessern können und für wen Factoring geeignet ist.<br />

Als Norbert Steinhauer, Leiter der<br />

Buchhaltung bei der Kaufmann Spedition<br />

in Wunstorf bei Hannover, vor<br />

vier Jahren das erste Mal <strong>vom</strong> Factoring<br />

hörte, war er begeistert. Bis dahin dienten<br />

die offenen Forderungen des Mittelständlers<br />

schlicht als Sicherheit für den Kontokorrentkredit<br />

bei der Hausbank. Doch<br />

Steinhauer stellte schnell fest, dass Factoring<br />

besser für die Bedürfnisse des Unternehmens<br />

geeignet war:„Wir mussten nicht<br />

nur weniger Zinsen bezahlen, sondern waren<br />

zum Großteil vor Forderungsausfällen<br />

geschützt.“<br />

Beim Factoring verkaufen Unternehmen<br />

offene Rechnungen an einen Finanzdienstleister<br />

und bekommen sofort einen<br />

Teil des Rechnungsbetrages ausgezahlt.<br />

Der Finanzdienstleister, Factor genannt –<br />

häufig ein Tochterunternehmen einer<br />

Bank –, kümmert sich dann oft auch noch<br />

darum, die Forderungen einzutreiben.<br />

„Als wir vor vier Jahren angefangen haben,<br />

hatte Factoring aber noch einen<br />

schlechten Ruf“, erinnert sich Steinhauer.<br />

Wer Rechnungen abtrat, so das Vorurteil,<br />

müsse doch Zahlungsschwierigkeiten haben.<br />

Der 1928 in vierter Generation geführte<br />

Familienbetrieb – Umsatz: rund sieben<br />

Millionen Euro, 70 Mitarbeiter – entschied<br />

sich dennoch für den Forderungsverkauf.<br />

Damit konnte sich die Spedition schneller<br />

als geplant neue, umweltfreundlichere<br />

Lkws zulegen.<br />

RABATT VOM LIEFERANTEN<br />

Der sofortige Liquiditätsschub ist einer der<br />

Vorteile des Factoring. Unternehmen müssen<br />

nicht mehrere Wochen lang warten, bis<br />

ihre Kunden bezahlen, sondern sie haben<br />

einen Großteil des Geldes sofort auf dem<br />

Konto. Damit können sie dann investieren<br />

oder ihrerseits die eigenen Lieferanten<br />

schneller bezahlen – dafür gewähren die<br />

schließlich oft einen Nachlass. Unternehmen,<br />

die Factoring nutzen, verbessern indirekt<br />

auch ihre Bilanz. Wenn sie Schulden<br />

begleichen und so ihre Eigenkapitalquote<br />

steigern, erhalten sie ein günstigeres Kreditrating.<br />

Das schätzen immer mehr Unternehmen:<br />

2013 haben die deutschen Factoring-<br />

Umsätze im Vergleich zum Vorjahr um<br />

neun Prozent zugelegt. Knapp 18 000 Unternehmen<br />

haben, so die Statistik des<br />

Deutschen Factoring-Verbandes, Forderungen<br />

im Rekordwert von mehr als 171<br />

Milliarden Euro abgetreten (siehe Grafik<br />

Seite 80). Am häufigsten nutzen Händler<br />

den Forderungsverkauf. Auch metall-<br />

»<br />

ILLUSTRATION: THOMAS FUCHS<br />

78 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Spezial | Mittelstand<br />

Knapp 18 000 deutsche Unternehmen<br />

haben 2013 Forderungen verkauft<br />

»<br />

verarbeitende Betriebe, Maschinenund<br />

Fahrzeugbauer sowie Nahrungsmittelhersteller<br />

greifen laut Branchenverband<br />

gerne auf das Factoring zurück.<br />

Factoring eignet sich vor allem für Unternehmen,<br />

die viele relativ niedrige Forderungen<br />

an einen möglichst gleich bleibenden<br />

Kundenkreis haben. „Für den Factor<br />

ist dann das Risiko geringer“, sagt Thomas<br />

Farrant, Leiter der Forderungsfinanzierung<br />

bei HSBC Trinkaus & Burkhardt in Düsseldorf.<br />

Bei der Factoring-Gesellschaft der<br />

deutschen Tochter der britischen Großbank<br />

darf kein Kunde eines Factoring-<br />

Gläubigers diesem mehr als 40 Prozent der<br />

angekauften Forderungen schuldig sein –<br />

sonst wäre der Schaden zu groß, sollte der<br />

sogenannte Debitor die Rechnungen nicht<br />

bezahlen.<br />

Voraussetzung fürs Factoring ist immer,<br />

dass der Factoring-Kunde die Leistung bereits<br />

komplett erbracht hat – und dass der<br />

Abnehmer keine Gegenforderungen hat.<br />

Dann bekommt der Factoring-Kunde, Kreditor<br />

genannt, einen Teil der Rechnungssumme<br />

sofort ausgezahlt. „Der Factor behält<br />

in der Regel noch einen Puffer ein für<br />

eventuelle Reklamationen oder Abzüge“, erläutert<br />

Farrant. Bei HSBC sind das üblicherweise<br />

zehn Prozent der Rechnungssumme.<br />

Das heißt, der Factoring-Kunde erhält in<br />

der Regel bis zu 90 Prozent sofort und den<br />

Rest, sobald der Debitor bezahlt hat.<br />

Aber nicht zum Nulltarif: Die Factoring-<br />

Gesellschaften berechnen üblicherweise<br />

Zinsen und Gebühren. Die durchschnittlichen<br />

Kosten liegen nach Branchenschätzungen<br />

aktuell zwischen 0,5 Prozent und<br />

3,5 Prozent der verkauften Forderungssummen.<br />

Bei 50000 Euro kassiert der<br />

Factor also zwischen 250 und 1750 Euro.<br />

Rund zwei Drittel der Gesamtkosten<br />

entfallen auf den Zinsaufwand. Die Factoring-Gesellschaft<br />

lässt es sich bezahlen,<br />

Boomendes Factoring<br />

Abgetretene Forderungen deutscher<br />

Unternehmen (in Milliarden Euro)<br />

Quelle: Deutscher Factoring-Verband<br />

180<br />

150<br />

120<br />

30<br />

2004 2006 2008 2010 2012 13<br />

90<br />

60<br />

dass sie ihrem Kunden sofort Liquidität bereitstellt,<br />

obwohl sie die Forderung erst in<br />

einigen Tagen oder Wochen eintreiben<br />

kann. Zusätzlich wird eine nach dem Umsatz<br />

berechnete Servicegebühr für die<br />

Übernahme der Forderung und des Ausfallrisikos<br />

fällig.<br />

Die tatsächlichen Factoring-Kosten hängen<br />

stark <strong>vom</strong> konkreten Einzelfall ab – etwa<br />

von der Höhe des Ausfallrisikos und des<br />

Zeitraums, den sich der Kunde vorfinanzieren<br />

lässt. Zudem gilt: „Je kleiner die verkaufte<br />

Forderung, desto teurer wird tendenziell<br />

das Factoring“, erläutert Alexander<br />

Moseschus, Sprecher des Deutschen<br />

Factoring-Verbandes.<br />

Speditionsmanager Steinhauer zahlt mit<br />

insgesamt rund vier Prozent etwas mehr<br />

als der durchschnittliche Factoring-Kunde,<br />

dennoch geht für ihn die Rechnung auf:<br />

„Factoring ist eine günstige Form der Liquiditätsbeschaffung.<br />

Der Kontokorrentkredit<br />

ist teurer.“<br />

Die Spedition Kaufmann verkauft inzwischen<br />

60 bis 70 Prozent ihrer Forderungen<br />

weiter, mit Zahlungszielen zwischen 45 und<br />

60 Tagen. 85 Prozent des Rechnungsbetrages<br />

bekommt Kaufmann sofort ausgezahlt.<br />

Bisher nutzen vor allem größere Unternehmen<br />

Factoring: 60 Prozent der Factoring-Kunden<br />

erwirtschaften einen Jahresumsatz<br />

von mehr als zehn Millionen Euro,<br />

hat eine Studie der Universität Köln ergeben.<br />

Dabei eignet sich das Verfahren auch<br />

für kleinere Mittelständler.<br />

ERST ANRUFEN, DANN MAHNEN<br />

Letztlich ist Factoring eine Art Kredit, weil<br />

der Factor die offenen Rechnungen vorfinanziert.<br />

Die einzige Sicherheit für den<br />

Dienstleister sind die Rechnungen selbst.<br />

Jede Forderung, die platzt oder sich nur mit<br />

viel Mühe eintreiben lässt, ist ein Risiko. Also<br />

prüfen Factoring-Gesellschaften die Bonitäten<br />

von Kreditor und Debitor und berechnen<br />

individuelle Zinsen, die Kreditoren<br />

für den Zeitraum zahlen müssen, bis<br />

der Debitor das Geld überwiesen hat.<br />

Hat der Factoring-Kunde eine Forderungsausfallversicherung,<br />

wird es billiger.<br />

Soll der Factor zusätzlich noch die Rechnungen<br />

verbuchen und eintreiben, wird es<br />

teurer. Zahlt ein Debitor nicht, wirft der<br />

Factor seine professionelle Mahnabteilung<br />

an. In der Regel verschickt sie automatisch<br />

nach der verstrichenen Frist Mahnungen.<br />

Kommt auch nach dem dritten Nachfassen<br />

kein Geld, wird der säumige Zahler verklagt.<br />

Die Regeln sind allerdings mitunter individuell<br />

verhandelbar. Factoring-Kunden<br />

ILLUSTRATION: THOMAS FUCHS<br />

80 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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können mit ihrem Dienstleister auch absprechen,<br />

wie schnell gemahnt und geklagt<br />

werden soll. Das kann entscheidend sein,<br />

wenn das Verhältnis mit dem Kunden<br />

nicht leiden soll. Spediteur Steinhauer etwa<br />

hat mit seinem Factor vereinbart, dass<br />

dieser zuerst anruft, bevor er eine Mahnung<br />

verschickt. „Wir kennen die meisten<br />

Kunden schon sehr lange“, sagt Steinhauer,<br />

„deshalb wollen wir uns erst einmal erkundigen,<br />

was da los ist.“<br />

Die guten Erfahrungen mit dem Factoring<br />

machte die Spedition allerdings erst<br />

im zweiten Anlauf. Der erste Dienstleister<br />

war nicht so kooperativ wie erhofft. Steinhauer<br />

fühlte sich hintergangen: „Es kamen<br />

immer wieder neue Gebühren dazu, und<br />

die Kommunikation war schlecht“, erinnert<br />

er sich.<br />

Mit der neuen Gesellschaft ist er aber<br />

sehr zufrieden. Immerhin konnte er 2013<br />

von seinem 40 Lkws großen Fuhrpark 20<br />

schneller durch neue, umweltverträglichere<br />

Lkws ersetzen, als dies ohne den Forderungsverkauf<br />

möglich gewesen wäre.<br />

lina liu | unternehmen@wiwo.de, thomas glöckner<br />

Lesen Sie weiter auf Seite 82 »<br />

FACTORING-ARTEN<br />

Für jeden etwas<br />

Die gängigsten Varianten des Forderungsverkaufs<br />

und für welche Unternehmen<br />

sie sich eignen.<br />

1.<br />

Full-Service-/Standard-Factoring<br />

Der Factor kauft die Rechnungen,<br />

zahlt sofort einen Teil der Summe und<br />

übernimmt das Risiko, dass die Forderung<br />

nicht bezahlt wird. Er treibt die Forderungen<br />

ein – und mahnt bei überfälligen<br />

Rechnungen. Dieses Verfahren nutzen<br />

eher kleinere Unternehmen.<br />

2.<br />

Inhouse-Factoring<br />

Die Factoring-Kunden schreiben<br />

ihre Mahnungen selbst. Dies eignet sich<br />

besonders für Unternehmen, die bereits<br />

ein professionelles Mahnwesen haben.<br />

3.<br />

Fälligkeits-Factoring<br />

Dieses Verfahren entspricht dem<br />

Standard-Factoring, aber das Unterneh-<br />

men bekommt den Rechnungsbetrag<br />

nicht sofort ausgezahlt, sondern erst zu<br />

einem vereinbarten Termin – unabhängig<br />

davon, wann der Schuldner zahlt.<br />

4.<br />

Export-/Import-Factoring<br />

Nehmen deutsche Unternehmen<br />

als Exporteure Factoring in Anspruch,<br />

handelt es sich um Export-Factoring. Wollen<br />

ausländische Unternehmen für Importgeschäfte<br />

Factoring mit einem deutschen<br />

Factor betreiben, wird das<br />

Import-Factoring genannt.<br />

5.<br />

Stilles/Offenes Factoring<br />

Beim stillen Verfahren wissen die<br />

Debitoren nicht, dass ihre Rechnungen<br />

weiterverkauft werden. Beim offenen<br />

Factoring wissen die Abnehmer Bescheid<br />

und bezahlen direkt beim Factor.<br />

6.<br />

Echtes/Unechtes Factoring:<br />

Beim echten Factoring übernimmt<br />

der Factor das Ausfallrisiko, beim unechten<br />

nicht. In Deutschland gibt es fast ausschließlich<br />

das echte Verfahren.<br />

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Spezial | Mittelstand<br />

Aus eigener Kraft<br />

WEITERBILDUNG | Mittelständische Unternehmen setzen im Werben<br />

um Fachkräfte zunehmend auf Fortbildung – auch mit Wissen aus<br />

den eigenen Reihen.<br />

Bald beginnt sie wieder, die Nacht der<br />

Spinnerei. Beim „Hackathon“ sitzen<br />

die Softwareentwickler der Nürnberger<br />

Conplement AG bis zum Morgengrauen<br />

an ihren Laptops.Jeder bastelt an einem Projekt,<br />

das er spannend findet, das aber noch<br />

keinen direkten Nutzen für das Unternehmen<br />

hat. Nach der „durchhackten“ Nacht<br />

präsentieren sie ihre Ergebnisse – die sich<br />

vielleicht irgendwann für das Unternehmen<br />

auszahlen. Udo Wiegärtner ist als Ressource<br />

Manager für die Entwicklung und Weiterbildung<br />

der rund 60 Mitarbeiter zuständig.<br />

„Wir haben als Beratungshaus kein Produkt<br />

im eigentlichen Sinn“, erklärt er, „unser Produktistvielmehr<br />

dasWissen, daswirim Kopf<br />

und manchmal im Bauch haben.“<br />

Aus diesem Grund hat der Softwareentwickler,<br />

der im vergangenen Jahr 6,3 Millionen<br />

Euro umsetzte, ein Bündel an eher<br />

ungewöhnlichen Weiterbildungsformaten<br />

geschnürt. Beim „World Café“ bekritzeln<br />

die Mitarbeiter Papiertischdecken mit ihren<br />

Ideen. Im „Conplement Lab“ bewerben<br />

sich Teams auf Stundenkontingente, um<br />

sich etwa mit neuen Technologien vertraut<br />

zu machen.<br />

„So können wir Umsetzungskompetenz<br />

in Themen aufbauen, in denen es noch gar<br />

keine realen Projekte gibt“, preist Wiegärtner<br />

die Herangehensweise. Im Idealfall kämen<br />

die Anregungen für neue Fortbildungsthemen<br />

und -formate aus der Belegschaft:<br />

„Wir als Betrieb können nur den<br />

Rahmen dafür schaffen, dass die Leute<br />

Lust haben, sich zu engagieren.“<br />

Trockene Vorträge in düsteren Seminarräumen<br />

mit schlechtem Automatenkaffee:<br />

Die Zeiten standardmäßig verordneter<br />

Fortbildungen haben die meisten mittelständischen<br />

Betriebe hinter sich gelassen.<br />

In vielen Betrieben wächst dagegen die Bereitschaft,<br />

mehr in die Weiterbildung zu investieren<br />

– immer öfter mit Kompetenz aus<br />

den eigenen Reihen.<br />

Als Gründe für das steigende Interesse<br />

an Fortbildung nennen Personalverantwortliche<br />

in einer TNS-Infratest-Studie die<br />

Entwicklung von Fachkräften aus dem eigenen<br />

Haus, erhöhte Motivation und Wertschätzung<br />

der Mitarbeiter sowie den Aufbau<br />

von Wissen und Know-how.<br />

KLARE MARSCHROUTE<br />

Aber nur wenn die Fortbildungen 100-prozentig<br />

passen, entfalten Investitionen in<br />

die Mitarbeiter ihre volle Wirkung. Dabei<br />

gibt es im Mittelstand Nachholbedarf: „Oft<br />

ist die Weiterbildung nicht strukturiert“, bemängelt<br />

Walter Niemeier, Leiter des Instituts<br />

für wissenschaftliche Weiterbildung<br />

an der Fachhochschule des Mittelstands in<br />

Bielefeld. „Die Ziele aller Seminare müssen<br />

von der Unternehmensstrategie abgeleitet<br />

werden, sonst laufen die Mitarbeiter in die<br />

falsche Richtung.“<br />

Wie wichtig eine klare Marschroute ist,<br />

hat auch der Leuchtenhersteller Trilux festgestellt.<br />

Im Wandel hin zu modernen LED-<br />

Leuchten steht das Unternehmen mit zuletzt<br />

513 Millionen Euro Umsatz unter hohem<br />

technologischem Druck. Daher<br />

»<br />

ILLUSTRATION: THOMAS FUCHS<br />

82 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Spezial | Mittelstand<br />

»Wir müssen uns viel weniger Wissen<br />

von außen holen als früher«<br />

»<br />

sucht es nach Wegen, seine weltweit<br />

5000 Mitarbeiter dabei besser mitzunehmen.<br />

2011 vereinbarte der Betrieb am<br />

Hauptsitz im nordrhein-westfälischen<br />

Arnsberg drei Stunden unbezahlte Mehrarbeit<br />

mehr pro Woche, dafür investierte die<br />

Geschäftsführung große Teile der so erzielten<br />

Einsparungen in Fortbildungen. Für jeden<br />

Mitarbeiter waren ab da zwei Bildungstage<br />

an der neu gegründeten Trilux-<br />

Akademie pro Jahr bis einschließlich 2013<br />

Udo Wiegärtner, Ressource Manager Conplement AG<br />

Pflicht. Geschäftsführer Johannes Huxol<br />

war wichtig, „dass das Bewusstsein für den<br />

Wandel in allen Bereichen ankommt“. Führungskräfte<br />

und Mitarbeiter besprechen<br />

heute gemeinsam, wo sinnvoller Nachholbedarf<br />

besteht. Am Anfang war das Angebot<br />

sehr breit und umfasste etwa auch Seminare<br />

zur Kundenzufriedenheit für Reinigungskräfte.<br />

Mittlerweile ist das Fortbildungsprogramm<br />

freiwillig und stärker auf<br />

den Technologiewandel fokussiert. Geschäftsführer<br />

Huxol denkt aber noch weiter:<br />

„Gerade auch vor der Perspektive des<br />

demografischen Wandels müssen wir unsere<br />

Mitarbeiter weiterentwickeln.“<br />

Dieses Bewusstsein nimmt im Mittelstand<br />

zu. Sebastian Gradinger, Geschäftsführer<br />

der Wöhrl Akademie im mittelfränkischen<br />

Reichenschwand, beobachtet, dass<br />

Familienunternehmen oft deutlich mehr in<br />

ihre Mitarbeiter investieren, „weil sie an<br />

einer nachhaltigen Personalentwicklung<br />

interessiert sind“. Der Nürnberger Textilhändler<br />

Wöhrl, der nach der Übernahme<br />

von SinnLeffers mit über 4000 Mitarbeitern<br />

mehr als 600 Millionen Euro umsetzt, unterhält<br />

seit mehr als 25 Jahren die hauseigene<br />

Fortbildungsstätte.<br />

Wöhrl bezeichnet die Akademie, die in<br />

einem Schloss bei Nürnberg residiert, als<br />

„Lerninsel“ für die Beschäftigten. Dabei<br />

lässt Gradinger, sooft es geht, eigene Mitarbeiter<br />

als Dozenten auftreten. Albrecht<br />

Kresse, der als Trainer arbeitet und für sein<br />

Berliner Unternehmen Edutrainment den<br />

Deutschen Weiterbildungspreis erhalten<br />

hat, hält das für eine gute Idee: „Sie haben<br />

bei den Kollegen eine hohe Reputation,<br />

weil sie wissen, wie das Tagesgeschäft<br />

funktioniert. Sie wissen, was die Kollegen<br />

brauchen, um erfolgreich zu sein.“<br />

Diese Erfahrung hat auch Conplement-<br />

Manager Wiegärtner gemacht: „Wir müssen<br />

uns viel weniger Wissen von außen hereinholen,<br />

als wir das früher gemacht haben.“<br />

Bei den Nürnbergern gibt es immer<br />

mal wieder Vorträge von Mitarbeitern über<br />

ihre jeweiligen Methoden oder Produkte.<br />

Nicht nur die Zuhörer profitieren, bemerkt<br />

ILLUSTRATION: THOMAS FUCHS<br />

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Wiegärtner. „Mancher Kollege wächst vor<br />

Stolz um drei Zentimeter, wenn er sieht,<br />

dass sein Wissen das Team weiterbringt.“<br />

So können auch Unternehmen mit kleinem<br />

Budget effektive Weiterbildungen anbieten.<br />

„Je kleiner das Unternehmen, desto<br />

weniger institutionalisiert ist die Personalentwicklung“,<br />

sagt Berater Kresse. In einigen<br />

Regionen haben Handwerks- oder<br />

Handelskammern gemeinsame Weiterbildungsinstitute<br />

geschaffen, wo Betriebe<br />

Kosten und Erfahrungen teilen können.<br />

LUST AUFS LERNEN<br />

Unabhängig von der Größe haben viele Betriebe<br />

gelernt: Die Fortbildungen müssen<br />

sich schnell und flexibel an mögliche Änderungen<br />

anpassen. Bei Liebherr – die<br />

schwäbische Unternehmensgruppe setzt<br />

unter anderem mit Kränen, Baumaschinen<br />

und Kühlschränken etwa 8,9 Milliarden<br />

Euro um – organisiert jede Gesellschaft die<br />

Weiterbildung nach dem eigenen Bedarf.<br />

Am Unternehmenssitz in Ehingen gibt es<br />

seit acht Jahren ein zentrales Schulungszentrum<br />

für die 3100 Mitarbeiter<br />

Das Team mit 23 Mitarbeitern unter Leitung<br />

von Sascha Brenner tauscht sich eng<br />

mit der Geschäftsführung aus, kann daher<br />

schnell reagieren. So kam 2013 ein neues<br />

Abstützsystem für Mobilkräne gut am Markt<br />

an. Das zog eine Kette an Weiterbildungsmaßnahmen<br />

nach sich: Einer der Trainer<br />

aus Brenners Team machte sich mit dem<br />

System vertraut, probierte es selbst aus, recherchierte<br />

in allen wichtigen Dokumenten<br />

– und bereitete dann Schulungsunterlagen<br />

für Mitarbeiter in der Produktion, im Vertrieb<br />

und im Service auf. „Das ging einmal<br />

komplett rum im Betrieb“, erzählt Brenner.<br />

In den vergangenen Jahren wuchs die<br />

Teilnehmerzahl jedes Jahr um sieben bis<br />

acht Prozent – 2013 zählte Brenner 8700<br />

Teilnehmer in 500 Schulungen zu 170 verschiedenen<br />

Themen.<br />

Das Schulungszentrum ist den ganzen<br />

Tag über gut gebucht: Frühmorgens und<br />

am späten Nachmittag finden Kurse statt,<br />

bei denen auch Kollegen aus Asien oder<br />

den USA via Internet zuschauen und mitmachen<br />

können. Und an manchen Abenden<br />

wird aus dem Schulungszentrum eine<br />

betriebsinterne Volkshochschule: Liebherr-Fremdsprachenkorrespondentinnen<br />

laden ihre Kollegen zum Sprachenlernen<br />

ein, ambitionierte Hobbyfotografen geben<br />

Kurse in Digitalfotografie. Brenner sieht<br />

das mit Freude: „Es herrscht eine große Bereitschaft,<br />

sein Wissen weiterzugeben.“ n<br />

manuel heckel | unternehmen@wiwo.de<br />

WirtschaftsWoche <strong>10.11.2014</strong> Nr. 46 85<br />

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Weltweit gefragt<br />

Die Ausrüstung des<br />

Burj Khalifa in Dubai<br />

kommt von Dorma<br />

Vom Ja-Wort zur Nagelprobe<br />

Wie Mittelständler Probleme bei der Integration übernommener Unternehmen vermeiden, schildert<br />

der fünfte Teil der Serie in Kooperation mit der Unternehmensberatung Deloitte.<br />

Bei Dorma gibt es fünf- bis sechsmal im Jahr<br />

eine Neue: So häufig stemmt das Familienunternehmen<br />

mit 7000 Mitarbeitern aus dem<br />

nordrhein-westfälischen Ennepetal Firmenzukäufe.<br />

Die Fensterbeschläge, Glastüren und Einbruchssicherungen<br />

von Dorma sind weltweit gefragt: Die Technik<br />

steckt im 163 Stockwerke hohen Burj Khalifa in Dubai,<br />

im Berliner Hauptbahnhof und in der Dresdner Frauenkirche.<br />

Das Management weiß aus Erfahrung, dass<br />

Übernahmen so ähnlich sind wie Hochzeiten: Die<br />

Phase der Bewährung beginnt erst nach dem Ja-Wort.<br />

Waren die Verhandlungen der Antrag und die Vertragsunterschrift<br />

der Gang zum Standesamt, dann ist<br />

die Integration das Ringen um das Funktionieren der<br />

jungen Beziehung. Wer Fehler macht, wird enttäuscht.<br />

Und das passiert häufig: Mehr als 60 Prozent aller<br />

Integrationen – so eine Studie der Universität Münster<br />

und der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Deloitte<br />

– erfüllen nicht die in sie gesetzten Erwartungen. „Die<br />

Integrationsphase ist mitentscheidend für den Erfolg<br />

einer Übernahme“, sagt Jörg Niemeyer, Partner im<br />

Corporate-Finance-Bereich bei Deloitte. Wenn Mittelständler<br />

auf Brautschau gehen, ist die Gefahr des<br />

Scheiterns besonders groß. Konzerne können die<br />

misslungene Integration eines Übernahmekandidaten<br />

notfalls verschmerzen, weil sie größere Rücklagen<br />

haben. „Mittelständische Unternehmen müssen da-<br />

SERIE<br />

Mittelstand<br />

Fit for Future<br />

Fusionen & Übernahmen<br />

Der richtige Partner (I)<br />

Finanzinvestoren (II)<br />

Finanzierung (III)<br />

Osteuropa/Asien IV)<br />

Integration (V)<br />

Quo vadis M&A? (VI)<br />

Interview (VII)<br />

rauf achten, dass ihnen die Übernahme nicht entgleitet“,<br />

warnt Andreas Kuckertz, Professor für Betriebswirtschaftslehre<br />

an der Universität Hohenheim, „die<br />

Integration muss gelingen.“ Nur wer vor der Unterschrift<br />

die richtigen Fragen stellt, kann nachher ohne<br />

Krisen zusammenwachsen.<br />

Bei Dorma ist die zentrale Frage bei der Prüfung<br />

eines neuen Übernahmekandidaten darum immer<br />

die gleiche: Passen wir wirklich zusammen? Kommen<br />

bei der Analyse Zweifel auf, etwa weil die Vertriebswege<br />

zu verschieden sind, wird der Kandidat von der<br />

Einkaufsliste gestrichen. „Sonst müssten wir das zugekaufte<br />

Unternehmen ja komplett umstricken“, sagt<br />

Achim Rademächer, der bei Dorma – Jahresumsatz<br />

zuletzt 1,03 Milliarden Euro – den Bereich Merger &<br />

Acquisition (M&A) leitet. Je mehr Restrukturierungen<br />

notwendig sind, desto größer die Gefahr, dass das gekaufte<br />

Unternehmen an Effizienz und Wert einbüßt.<br />

Potenzielle Synergien werden dazu gegen mögliche<br />

Dyssynergien aufgerechnet: Müssen wir neues<br />

Personal einstellen? Könnten wir wichtige Kunden<br />

verlieren? Welche Investitionen erfordert der Zukauf?<br />

Geht dieser Vergleich positiv aus, erarbeitet Rademächer<br />

mit den Fachleuten exakte Zielvorgaben, etwa,<br />

welche Umsatzsteigerungen erreicht werden sollen:<br />

„Wer pauschal sagt, fünf Prozent mehr Umsatz<br />

gehen immer, kann eine böse Überraschung erleben.“<br />

FOTOS: PICTURE-ALLIANCE/DPA, PR<br />

86 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Mit Unterstützung von Deloitte*<br />

Damit die Integration funktioniert, muss das eigentliche<br />

Übernahmeziel klar formuliert sein: Soll ein<br />

Konkurrent <strong>vom</strong> Markt gekauft werden? Soll das Produktportfolio<br />

wachsen? Geht es um die Erschließung<br />

neuer Märkte? Von diesen Zielen hängt zum Beispiel<br />

ab, wer im neu entstandenen Konglomerat die Hosen<br />

anhat. Ins zweite Glied zurückzutreten ist dabei nicht<br />

für jeden eine Option: „Manchmal müssen die alten<br />

Chefs gehen, um den Integrationsprozess nicht zu<br />

stören“, sagt ein erfahrener M&A-Spezialist.<br />

Häufig können die Chefs des Übernahmekandidaten<br />

aber auch gute Partner für die Integration sein –<br />

wie beim Softwareentwickler USU aus der Nähe von<br />

Stuttgart. Mit seinen 450 Mitarbeitern hat USU 2013<br />

rund 60 Millionen Euro umgesetzt. Dazu beigetragen<br />

hat das 2010 übernommene Aachener Unternehmen<br />

Aspera. Durch den Zukauf wollten die Schwaben ihre<br />

Position auf dem Softwarelizenzierungsmarkt stärken.<br />

„Aber“, so USU-Vorstandssprecher Bernhard<br />

Oberschmidt, „wir haben dann eingesehen, dass die<br />

das viel besser konnten als wir.“ Deshalb verpflichtete<br />

Oberschmidt die Aspera-Gründer vertraglich, für eine<br />

bestimmte Zeit im Unternehmen zu bleiben.<br />

Nicht nur der Umgang mit den alten Chefs ist entscheidend,<br />

fast noch wichtiger sind die sogenannten<br />

Kernmitarbeiter. Diese Angestellten sind letztlich entscheidend<br />

für den langfristigen Erfolg der Übernahme,<br />

auch weil sie eine Vorbildfunktion haben. „Mit einem<br />

höheren Gehalt allein lassen sich diese Angestellten<br />

meist nicht binden“, warnt Experte Kuckertz,<br />

„Geld kann eine intrinsische Motivation zerstören.“<br />

Sinnvoller sei es, diese Gruppe in das Projektteam<br />

einzubinden, das nach dem Zusammenschluss die<br />

eigentliche Kleinarbeit der Integration erledigt: Sie<br />

verzahnt etwa die IT-Systeme oder passt die Buchhaltungen<br />

an. Der TÜV Rheinland in Köln hat etwa gute<br />

Erfahrungen damit gemacht, jede Position im Team<br />

mit einem alten und einem neuen Mitarbeiter zu besetzen.<br />

„Damit wollen wir zeigen: Ihr gehört jetzt zu<br />

uns, wir brauchen euch, um das hinzukriegen“, sagt<br />

Marco Pietrek, Leiter M&A und Strategie.<br />

Die Leiter solcher Teams auszusuchen ist eine besondere<br />

Herausforderung: „Die für die Integration<br />

zuständigen Projektleiter müssen Zugang zu den Entscheidern<br />

haben“, sagt Deloitte-Partner Niemeyer.<br />

„Und sie müssen die Mitarbeiter auf die Übernahme<br />

einschwören“, ergänzt TÜV-Manager Pietrek. Bei den<br />

Rheinländern, die pro Jahr rund 1,6 Milliarden Euro<br />

umsetzen, werden die Teamleiter für die Dauer der<br />

Integration komplett freigestellt.<br />

Auch wenn die Integration erfolgreich über die<br />

Bühne gegangen ist, sollten diese Mitarbeiter möglichst<br />

gehalten werden. Was nur selten gelingt: „Circa<br />

80 Prozent der Teamleiter verlassen ihre Arbeitgeber<br />

nach Beendigung des Projektes“, sagt Niemeyer. Mutmaßlicher<br />

Grund: Viele fühlen sich durch das anschließende<br />

Alltagsgeschäft unterfordert.<br />

Als Gegenmittel empfiehlt der Deloitte-Berater:<br />

„Sobald Unternehmen den Projektleiter bestimmt<br />

Mit mehr<br />

Geld allein<br />

lassen sich<br />

wichtige<br />

Angestellte<br />

meist nicht<br />

binden<br />

Integrationsexperte<br />

Deloitte-Partner<br />

Niemeyer<br />

Risikofaktor<br />

Beitrag der einzelnen<br />

Phasen für den Gesamterfolg<br />

einer Firmenübernahme<br />

(in Prozent)<br />

Vorbereitungsphase<br />

Bewertungsphase<br />

Verhandlungsphase<br />

Integrationsphase<br />

Quelle: Deloitte<br />

27<br />

22<br />

17<br />

34<br />

haben, sollten sie mit ihm darüber sprechen, wie sein<br />

Karrierepfad nach der Integration aussehen kann.“<br />

An der Basis herrscht nach der Vertragsunterzeichnung<br />

häufig große Verunsicherung. Um diese Phase<br />

abzukürzen, sollten schmerzhafte Einschnitte, etwa<br />

durch Kündigungen, nicht zu lange hinausgezögert<br />

werden. Doch es gibt auch andere Ängste: Wie sieht<br />

meine neue Aufgabe aus? Wer wird mein neuer Chef?<br />

Welche Aufstiegschancen habe ich?<br />

Um der Belegschaft eines Übernahmekandidaten<br />

möglichst schnell Orientierung zu geben, erarbeitet<br />

der TÜV Rheinland schon im Vorfeld einen Kommunikationsplan.<br />

Bereits am Tag nach der Übernahme<br />

stellen die Kölner ihr Unternehmen und die neuen<br />

Ziele vor, „um die Mitarbeiter vorzubereiten und so<br />

die Veränderungsbereitschaft zu nutzen, die anfangs<br />

oft am größten ist“, sagt Manager Pietrek.<br />

Zudem werden die Angestellten des zugekauften<br />

Unternehmens per Mail mit Informationen zur Übernahme<br />

versorgt. Bei kleineren Zukäufen lässt sich<br />

auch schon mal durch Aktionen wie ein gemeinsames<br />

Grillfest der notwendige Goodwill erzeugen.<br />

Wichtig ist es auch, früh auf die Sorgen der Kunden<br />

einzugehen: Bleiben Auswahl und Qualität der Produkte<br />

wie bisher? Ändern sich die Preise? Bleiben<br />

meine Ansprechpartner dieselben? USU-Chef Oberschmidt<br />

hat bei der Aspera-Übernahme persönliche<br />

Überzeugungsarbeit geleistet: „Wir erklären den<br />

Kunden die Vorteile, die sie durch die Übernahme haben.“<br />

Lassen sich die Unternehmen damit zu viel Zeit,<br />

riskieren sie, dass Kunden abspringen, was wiederum<br />

auch den Mitarbeitern Angst macht und so den Integrationsprozess<br />

bremst.<br />

Die sogenannte Post-Merger-Phase braucht aber<br />

nicht nur intensive Kommunikation nach innen und<br />

außen, sondern auch detaillierte Kontrolle. Bei Dorma<br />

etwa wird während der Integration ein gutes Dutzend<br />

Kennziffern beobachtet: Umsatz und Ertrag,<br />

Cash-Flow und die Höhe des Working Capital, also<br />

die Entwicklung des Netto-Umlaufvermögens. „Eine<br />

Integration kann durchaus ein bis eineinhalb Jahre<br />

dauern“, sagt Deloitte-Berater Niemeyer. „Aber bis<br />

zwei eigenständige Unternehmen kulturell zusammengewachsen<br />

sind, dauert es in der Regel länger.“<br />

Nicht alles muss unbedingt nach den Regeln des<br />

Käufers eingenordet werden: „Unterschiede in der<br />

Unternehmenskultur können belebend wirken“, sagt<br />

Niemeyer. Manchmal sind solche Unterschiede und<br />

das innovative Klima sogar der Grund, ein Unternehmen<br />

zu kaufen.<br />

Für die Führungsspitze wird die Integration so oder<br />

so zur Nagelprobe. Wissenschaftler Kuckertz: „Wenn<br />

ich meinen neuen Mitarbeitern eine tolerante und innovative<br />

Kultur versprochen habe, kann ich nicht<br />

beim ersten Problem draufhauen und abstrafen.“ n<br />

lukas zdrzalek | unternehmen@wiwo.de<br />

* Die Inhalte auf diesen Seiten wurden von der<br />

WirtschaftsWoche redaktionell unabhängig erstellt.<br />

WirtschaftsWoche <strong>10.11.2014</strong> Nr. 46 87<br />

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Technik&Wissen<br />

Der große Fluff<br />

RECYCLING | Verbrennen oder verwerten: Die Frage nach dem richtigen Umgang mit<br />

dem Abfall ist längst ein Dogmenstreit. Jetzt schaffen es innovative Unternehmen,<br />

beides intelligent zu verknüpfen. Sie verwandeln Müll in hochwertige neue Produkte –<br />

und wertvollen Brennstoff.<br />

Uwe Greye verbringt seine Tage<br />

allein mit Tausenden Tonnen<br />

Müll in einem Bunker. Der<br />

Kranführer der Müllverbrennungsanlage<br />

im Hamburger<br />

Stadtteil Stellingen ist um seinen Job nicht<br />

zu beneiden. Umgeben von Dunkelheit,<br />

hockt er in einer verglasten Kanzel 20 Meter<br />

über dem Grund. Zu seinen Füßen Berge<br />

von Hausmüll. Windeln, Staubsaugerbeutel,<br />

zusammengeknüllte Tüten und Folien,<br />

Teppichreste, kaputte Möbel, faules<br />

Obst und Gemüse – die Überbleibsel unserer<br />

Konsumgesellschaft.<br />

Greye durchwühlt mit dem Kran den<br />

Haufen und wuchtet ihn in einen Trichter.<br />

Von dort fällt der Abfall in einen 900 Grad<br />

heißen Ofen. 100 Tonnen Müll bewegt der<br />

Hamburger pro Schicht, so viel wie rund<br />

45 000 Haushalte am Tag produzieren.<br />

Eigentlich müssten Männer wie Greye<br />

um ihren Job bangen. Deutschland gilt<br />

schließlich als Paradies des Recyclings.<br />

Doch der 55-Jährige arbeitet in einer<br />

Boombranche. Denn immer mehr Abfall<br />

landet in der Verbrennung. Waren es 2004<br />

noch 28 Millionen Tonnen, sind es heute<br />

schon 45 Millionen Tonnen. Rund die Hälfte<br />

des deutschen Haus- und Gewerbemülls<br />

wird einfach verheizt.<br />

Den Politikern in Brüssel und Berlin<br />

passt das gar nicht. „Wir wollen aus Europa<br />

eine Gesellschaft ohne Abfall machen“,<br />

hatte noch im Juli der gerade abgelöste EU-<br />

Umweltkommissar, der Slowene Janez<br />

Potocnik, verkündet. Auch die Bundesregierung<br />

hegt ähnliche Ambitionen. Und<br />

die neue EU-Kommission arbeitet schon<br />

mit Hochdruck daran, die Abfallgesetze in<br />

Europa zu vereinheitlichen.<br />

Das Ziel: Kein Müll soll unsortiert bleiben,<br />

nichts direkt auf Deponien landen, die<br />

Recyclingquoten sollen steigen. Statt Rohstoffe<br />

der Erde abzuringen, sollen wir Abfälle,<br />

so die Idee, in neue Produkte verwandeln<br />

und so die Umwelt schonen. Kreislaufwirtschaft<br />

nennen Fachleute das.<br />

Bei Papier und Glas klappt das bereits<br />

heute. Sie werden zu nahezu 100 Prozent<br />

recycelt (siehe Grafik Seite 90). Doch unsere<br />

Kunststoffabfälle aus dem gelben Sack<br />

landen überwiegend in einem der Öfen der<br />

mehr als 100 großen deutschen Verbrennungsanlagen.<br />

Die Frage ist:Ist die sogenannte „thermische<br />

Verwertung“ wirklich so schlimm? Ist<br />

es immer besser, Abfall in neue Produkte<br />

zu verwandeln, statt ihn zu verbrennen?<br />

Wer in diesen Tagen der Spur des Abfalls<br />

folgt, erlebt es immer wieder – das Entweder-oder<br />

funktioniert nicht mehr. Die<br />

Müllmänner der Zukunft holen aus Reststoffen,<br />

was sich effizient wiederverwerten<br />

lässt. Aus dem Rest machen sie wertvollen<br />

Brennstoff. „Recycling und energetische<br />

Verwertung sind keine Gegensätze, beide<br />

Zurück auf Los Recyceltes Plastik<br />

(vorn) wird wieder zu Stiften (hinten)<br />

Verfahren ergänzen sich“, sagt etwa der<br />

Berliner Müllexperte Karl Thomé-<br />

Kozmiensky, emeritierter Professor für<br />

Abfallwirtschaft an der Technischen Universität<br />

Berlin.<br />

Selbst die Forscher des Freiburger Öko-<br />

Instituts räumen ein: „Auch bei noch so<br />

viel Recycling bleiben Abfälle, die auf andere<br />

Art genutzt werden müssen“, schreiben<br />

die Wissenschaftler Anfang dieses Jahres<br />

in einer Studie. Sie empfehlen, Müll in<br />

Industrieprozessen und leistungsstarken<br />

Kraftwerken zu verbrennen.<br />

Gemessen an den erbitterten Diskussionen<br />

der Vergangenheit, ist das fast ein<br />

Tabubruch.<br />

MÜLL ZUM TANKEN<br />

Es geht dabei nicht nur um einen Glaubensstreit<br />

zwischen Ökos und Verbrennern,<br />

sondern um ein Milliardengeschäft.<br />

Die Entsorgungs- und Recyclingbranche in<br />

Deutschland setzt im Jahr etwa 50 Milliarden<br />

Euro um und beschäftigt 500 000 Menschen.<br />

Rund 330 Millionen Tonnen Müll<br />

fallen jährlich hierzulande an. Das meiste<br />

ist Bauschutt, knapp ein Drittel ist Müll aus<br />

Privathaushalten und von Unternehmen.<br />

Wie die Grenzen zwischen Recycling<br />

und Verbrennung verschwimmen, zeigt<br />

sich derzeit wohl nirgendwo so gut, wie<br />

im Städtchen Ennigerloh in Westfalen.<br />

Dort will der Ingenieur Jürn Düsterloh,<br />

Technischer Leiter des Start-ups Dieselwest,<br />

aus Abfall Benzin herstellen. In einem<br />

kleinen Reaktor wird Kunststoffabfall<br />

bei 360 Grad Hitze wieder eine Art Erdöl,<br />

aus dem anschließend eine Raffinerie<br />

Treibstoff destilliert. Insgesamt acht Millionen<br />

Euro haben ein Privatinvestor, der<br />

FOTOS: MTM/BENEDIKT FRINGS-NEß, MICHAEL BILLIG<br />

88 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Frisch geschnetzelt Aufbereitung von<br />

Kunststoffabfall bei MTM in Thüringen<br />

Remscheider Anlagenbauer Recenso, das<br />

Land Nordrhein-Westfalen und die EU für<br />

die Entwicklung Dieselwest zur Verfügung<br />

gestellt. Im Sommer 2015 soll die Pilotanlage<br />

ihre erste Testphase beenden. Schon<br />

jetzt rufen bei Dieselwest Bürger an und<br />

fragen, wo sie das „neue Benzin“ denn tanken<br />

können.<br />

Die Pilotanlage von Dieselwest befindet<br />

sich auf dem Gelände der kommunalen<br />

Abfallwirtschaftsgesellschaft des Kreises<br />

Warendorf (AWG). Hier arbeiten bei Ecowest,<br />

einer AWG-Tochter, die wahrscheinlich<br />

fortschrittlichsten Müllmänner der Republik.<br />

In einer orangenen Warnweste<br />

führt Chefingenieur Thomas Kohlhaas<br />

über das 37-Hektar-Gelände und zeigt, wie<br />

moderne Abfallwirtschaft funktioniert.<br />

Herzstück ist die Sortieranlage. Der<br />

Riese aus Hunderten Meter Förderband,<br />

das in mattem Schwarz seine Bahnen<br />

zieht, verwandelt Abfall in ein wattegleiches<br />

Gemisch aus winzigen Kunststoffschnipseln,<br />

das Kohlhaas Fluff nennt. Ein<br />

Teil davon geht zu den Kraftstoff-Forschern<br />

von Dieselwest. Alles andere vermarktet<br />

Ecowest als Ersatzbrennstoff, kurz<br />

EBS. Der enthält pro Tonne so viel Energie<br />

wie Braunkohle.<br />

Aber nicht alles, was der Müllfresser<br />

schluckt, wird zu Fluff. Die Suche nach<br />

dem edelsten Abfall beginnt wie in einer<br />

Goldmine. Schredder zermalmen das<br />

Material, eine wilde Mischung aus Gewerbe-<br />

und Hausabfall, wie Erz im Bergwerk.<br />

Magnetbänder fischen Metalle für den<br />

»<br />

WirtschaftsWoche <strong>10.11.2014</strong> Nr. 46 89<br />

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Technik&Wissen<br />

»<br />

Schrotthandel heraus. Siebe fangen<br />

feuchten Biomüll ab, der auf die Deponie<br />

kommt. Teerpappen, Holzteile und Hartplastik<br />

wie Zahnbürsten landen mit den<br />

anderen Resten in der klassischen Müllverbrennung.<br />

Ecowest war eines der ersten deutschen<br />

Unternehmen, das den hochwertigen Fluff<br />

herstellte. Mittlerweile gibt es bundesweit<br />

mehr als 40 ähnliche kommunale und private<br />

Anlagen. Sie verkaufen den aufgepäppelten<br />

Müll vor allem an Zementfabriken.<br />

Bis zu 20 Euro bringt das pro Tonne, sagen<br />

Branchenkenner. Am Ende spart das den<br />

Bürgern in Ennigerloh Geld, weil ihre Gemeinde<br />

weniger Abfall in klassische Verbrennungsanlagen<br />

schicken muss. Dort<br />

kostet die Entsorgung von unbehandeltem<br />

Hausmüll bis zu 200 Euro pro Tonne.<br />

MÜLL DER EXTRAKLASSE<br />

Neben der Kostenersparnis winkt auch ein<br />

Gewinn für die Umwelt. Weil die Abnehmer<br />

des Fluffs, die deutschen Zementhersteller,<br />

heute so viel Müll verfeuern wie nie<br />

zuvor, decken sie nur noch ein Drittel ihres<br />

Energiebedarfs mit Kohle, Öl und Gas.<br />

Der Abfallforscher Matthias Franke <strong>vom</strong><br />

Fraunhofer-Institut für Umwelt-, Sicherheits-<br />

und Energietechnik im oberpfälzischen<br />

Sulzbach-Rosenberg hat kürzlich eine<br />

genaue Ökobilanz der EBS-Verbrennung<br />

in Zementwerken erstellt. Das Ergebnis:<br />

„Die Verbrennung ist teilweise sinnvoller<br />

als das Recycling“, sagt Franke. Bei einigen<br />

Kunststoffabfällen aus dem gelben<br />

Sack ist der Energieaufwand zu hoch, um<br />

die Stoffe fürs Recycling zu trennen. Außerdem<br />

produziert die Verbrennung von Fluff<br />

Buntes Vielerlei Zementwerke lieben<br />

aufbereiteten Fluff<br />

Gepresstes <strong>vom</strong> Plastik Die Pellets<br />

brennen wie Braunkohle<br />

im Zementwerk weniger klimaschädliches<br />

Kohlendioxid als Kohle.<br />

Die Aussicht auf einen kostengünstigen<br />

und umweltfreundlichen Brennstoff hat<br />

mit den EBS-Kraftwerken inzwischen sogar<br />

eine neue Generation von Verbrennern<br />

hervorgebracht, die einzig auf Müll der Extraklasse<br />

eingestellt sind. Sie arbeiten effizienter<br />

als die meisten herkömmlichen<br />

Müllverbrennungsanlagen und produzieren<br />

Strom und Wärme für Papierfabriken,<br />

die Chemie- und die Stahlindustrie.<br />

Das neueste und größte EBS-Kraftwerk<br />

soll kommendes Jahr im Industriepark<br />

Höchst in Frankfurt am Main starten. Die<br />

rund 350 Millionen Euro teure Anlage wird<br />

die mehr als 90 dort angesiedelten Unternehmen<br />

mit Elektrizität und Dampf für ihre<br />

Produktion versorgen. Dafür verfeuert<br />

sie jährlich einen Abfallberg, wie er in<br />

Hamburg anfällt.<br />

ZWEITES LEBEN FÜRS BOBBY CAR<br />

Aber ob Zementfabriken oder EBS-<br />

Kraftwerke: Nicht mit jeder Sorte Müll<br />

werden die Anlagen zu Umweltschützern.<br />

Bestimmte Kunststoffabfälle sind besser<br />

im Recycling aufgehoben. Ausgediente<br />

Gartenstühle etwa und löchrige Gießkannen<br />

aus Plastik, das kaputt gespielte<br />

Bobby Car, Folien, die Spargelfelder bedeckten<br />

oder Strohballen umhüllten, oder<br />

die Gehäuse von Elektrogeräten. „Wichtig<br />

fürs Recycling ist, dass die Abfälle sauber<br />

und sortenrein sortiert werden“, sagt<br />

Recyclingexperte Thomas Probst <strong>vom</strong><br />

Bundesverband Sekundärrohstoffe und<br />

Entsorgung.<br />

Ist das der Fall, haben Unternehmer wie<br />

Michael Scriba leichtes Spiel. Der Geschäftsführer<br />

von MTM Plastics im thüringischen<br />

Niedergebra gehört zu den Pionieren<br />

bei der Verwertung von Polyolefinen.<br />

Aus diesen Kunststoffen bestehen Dosen,<br />

Tuben, Tüten, Folien, Becher und Flaschen<br />

– also vieles von dem, was sich im gelben<br />

Sack der Verbraucher findet.<br />

Früher ließ Scriba noch von Hand sortieren,<br />

erzählt er bei der Führung durch seinen<br />

Betrieb. Heute trennen Zentrifugen<br />

und andere Maschinen die Abfälle. Infrarotstrahlen<br />

schießen auf die Kunststoffe,<br />

anhand des reflektierten Lichts erkennen<br />

Scanner die begehrten Polyolefine. Sie<br />

wandern in einen Extruder, der die bunten<br />

Das Leben nach der Tonne<br />

Was mit den 44 Millionen Tonnen Abfall passiert, den deutsche Privatleute und Unternehmen<br />

jährlich in Mülltonnen und Sammelcontainer werfen<br />

2 392 000<br />

Tonnen<br />

Glas<br />

100 %<br />

recycelt<br />

5 462 000<br />

Tonnen<br />

80 %<br />

recycelt*<br />

20 %<br />

verbrannt<br />

8 098 000<br />

Tonnen<br />

99 %<br />

recycelt<br />

9 249 000<br />

Tonnen<br />

99 %<br />

recycelt<br />

13 989 000<br />

Tonnen<br />

16 %<br />

recycelt<br />

84 %<br />

verbrannt<br />

2 398 000<br />

Tonnen<br />

Verpackungen Papier Biomüll** Restmüll Spermüll<br />

* einschließlich der Reststoffe, die sich beim Recycling nicht nutzen lassen und dann ebenfalls verbrannt werden; ** Park- und Gartenabfälle sowie Abfall aus Biotonnen;<br />

Quelle: Statistisches Bundesamt, Stand 2012<br />

57 %<br />

recycelt<br />

43 %<br />

verbrannt<br />

FOTOS: PICTURE-ALLIANCE/DPA, MICHAEL BILLIG, PR, IMAGO (4)<br />

90 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Kunststoffteilchen auf bis zu 240 Grad erhitzt,<br />

bis sie zu einer Masse verschmelzen.<br />

Im weiteren Prozess wird sie entgast, gereinigt,<br />

mit Zusatzstoffen vermischt und<br />

schließlich durch ein Sieb gepresst. Kühlt<br />

die Masse ab, entsteht ein pfefferkorngroßes<br />

Granulat, das in Säcken an 60 Kunststoffverarbeiter<br />

in ganz Europa geht. Sie<br />

stellen daraus Mülltonnen, Kisten, Eimer<br />

sowie Bauteile für Autos oder Büromöbel<br />

her und auch neue Gartengeräte.<br />

Die Vielfalt an Produkten ist ein Fortschritt.<br />

Denn aus eingesammelten Kunststoffgemischen<br />

Lärmschutzwände und<br />

Parkbänke herzustellen, wie es vielfach<br />

noch geschieht, „macht ökologisch überhaupt<br />

keinen Sinn“, kritisiert Fraunhofer-<br />

Forscher Franke. Der Grund: Bei diesen<br />

Anwendungen verdrängt das Recyclingmaterial<br />

das viel klimafreundlichere Holz.<br />

Beim sortenreinen Recycling der Polyolefine<br />

aber kann sich die Umweltbilanz<br />

sehen lassen. Mit den 27 000 Tonnen Plastik,<br />

die Scriba im Jahr herstellt, vermeiden<br />

seine Kunden den Ausstoß von 59 000<br />

Tonnen Treibhausgas, wie Forscher der<br />

Hochschule Magdeburg-Stendal ausgerechnet<br />

haben. Das entspricht der Menge,<br />

die ein Mittelklassewagen ausstößt,<br />

wenn er die Erde 8000 Mal umkurvt. Zudem<br />

sparen Kunststoffverarbeiter, die statt<br />

Neuware die Granulate aus Thüringen einsetzen,<br />

pro Jahr insgesamt 32 000 Liter<br />

Erdöl ein.<br />

RAHMEN, GRANULAT, RAHMEN<br />

Am Ende kann aber selbst Kunststoffretter<br />

Scriba nicht alle Abfälle verwerten, die Laster<br />

täglich auf seinen Hof kippen. Ein Drittel,<br />

rund 20 000 Tonnen im Jahr, sortiert<br />

auch er aus und schickt sie Abfallbehandlungsanlagen<br />

wie Ecowest. Die sortieren<br />

den Müll ein weiteres Mal und verarbeiten<br />

ihn zu Fluff. So landen Zehntausende Tonnen<br />

Kunststoffabfälle in Deutschland doch<br />

noch über Umwege in der Verbrennung.<br />

Die Kombination aus beidem, aus sortenreinem<br />

Recycling und der Produktion<br />

hochwertiger Brennstoffe, sei letztlich das<br />

ideale Verwertungssystem, sagen die Forscher<br />

des Öko-Instituts.<br />

Das Problem aber ist: Noch immer gelangen<br />

– trotz aller deutschen Gelbmüll-<br />

Sortier-Freude – zu viele Kunststoffabfälle<br />

unsortiert in ineffiziente, klassische Verbrennungsanlagen.<br />

Sie decken ihren Bedarf<br />

außerdem mit Sperrmüll und Importen.<br />

Zu Niedrigpreisen schlucken sie auch<br />

unsortierte Firmenabfälle. Viel Plastik,<br />

aber auch Holz und Papier geht verloren.<br />

Es ist aufgeschichtet Für PVC-Fenster<br />

existiert ein Wertstoff-Kreislauf<br />

Damit Kunststoffe erst gar nicht in die<br />

Hände klassischer Verbrenner geraten,<br />

bauen Firmen wie Veka Umwelttechnik<br />

aus dem thüringischen Hörselberg-Hainich<br />

geschlossene Kreislaufsysteme für<br />

einzelne Produkte auf. Zum Beispiel für die<br />

PVC-Fenster des Mutterhauses, dem Fensterprofilhersteller<br />

Veka. Das Ziel von Geschäftsführer<br />

Norbert Bruns: alle Profile,<br />

die Veka verkauft, am Ende wieder einzusammeln.<br />

Dafür arbeitet er mit Fensterbauern<br />

und Containerdiensten zusammen<br />

und bezahlt sie für Altfenster. Bruns verarbeitet<br />

die Rahmen zu Granulat, das zu neuen<br />

Fensterrahmen wird. Das ist umweltschonender<br />

und billiger als –Neuware.<br />

Auch für PET-Flaschen gibt es ein solches<br />

geschlossenes System. Die Firma Petcycle,<br />

mit Sitz im rheinland-pfälzischen<br />

Bad Neuenahr-Ahrweiler und getragen<br />

von mehr als 100 Unternehmen aus der<br />

Getränke- und Recyclingindustrie, hat<br />

Journalisten-Stipendium<br />

Nachhaltige Wirtschaft<br />

Der Text entstand im Rahmen des<br />

Recherchestipendiums, das die WirtschaftsWoche<br />

Green Economy 2014<br />

erstmals an sechs Journalistinnen,<br />

Journalisten und Rechercheteams vergeben<br />

hat. Alle Informationen zum Stipendium<br />

und die aktuellen Texte finden<br />

Sie unter green.wiwo.de/journalistenstipendium-nachhaltige-wirtschaft/<br />

mittlerweile 40 Millionen Kästen mit Mineralwasser<br />

und Limonaden im Umlauf. Die<br />

Kunden bringen sie in die Supermärkte zurück,<br />

die sie dann an die Petcycle-Mitglieder<br />

schicken, die aus den gebrauchten Flaschen<br />

neue machen.<br />

Und auch die Verbrenner selbst haben<br />

Recyclingpotenzial. Müllverbrennungsanlagen<br />

gewinnen heute schon Metalle aus<br />

ihrer Asche. 2012 waren es in Deutschland<br />

mehr als 300 000 Tonnen Eisen, Aluminium<br />

und Kupfer. Selbst der mit Schwermetallen<br />

belastete Staub aus der Abgasreinigung,<br />

der bislang als Sondermüll unter Tage<br />

deponiert wird, birgt große Schätze.<br />

„Die Metallkonzentration im Filterstaub ist<br />

höher als in den meisten natürlichen Lagerstätten“,<br />

sagt der Berliner Experte Thomé-Kozmiensky.<br />

Vor zwei Jahren errichtete<br />

das Schweizer Unternehmen BSH Umweltservice<br />

in Zuchwil nördlich von Bern<br />

für rund neun Millionen Euro die weltweit<br />

erste Anlage, die täglich fast eine Tonne reines<br />

Zink aus Giftmüll herausholt.<br />

Am Ende der Tour zu Recyclinghöfen,<br />

Wertstoffsammlern und Müllverbrennern<br />

steht damit die Erkenntnis, dass die Präferenz<br />

fürs Recycling zwar im Grundsatz<br />

richtig ist – aber eben kein Dogma. Was zu<br />

aufwendig zu trennen und zu säubern ist,<br />

sollte zu Brennstoff oder Sprit werden, um<br />

Kohle oder Öl zu ersetzen. Aus Kunststoffen,<br />

die in Bechern, Bobby Cars und Elektrogeräten<br />

stecken, sollten Recycler neues<br />

Plastik herstellen, für das Erdöl im Boden<br />

bleibt. Und was sich gar nicht verwerten<br />

lässt, kann in Verbrennungsanlagen wandern.<br />

Müllwerker wie Uwe Greye in Hamburg<br />

haben also auch künftig zu tun. n<br />

michael billig | technik@wiwo.de<br />

WirtschaftsWoche <strong>10.11.2014</strong> Nr. 46 91<br />

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Technik&Wissen<br />

Per Anhalter durch die Galaxis<br />

RAUMFAHRT | Es ist eine Premiere: Die Sonde Philae reist ab Mittwoch<br />

Huckepack auf dem Kometen 67P/Churyumov-Gerasimenko. Mit der<br />

riskanten Rosetta-Mission wollen Forscher der Europäischen Raumfahrtagentur<br />

herausfinden, wie das Sonnensystem entstanden ist. Und sie ist<br />

auch ein Testlauf für kommerzielle Projekte: Raumschiffe sollen metallhaltige<br />

Asteroiden ansteuern – und wertvolle Rohstoffe zur Erde bringen.<br />

Staubsensor<br />

Registriert Aufprall von<br />

Staub- und Eisteilchen<br />

Die Landung<br />

Für die 22,5 Kilometer bis zur<br />

Kometenoberfläche braucht<br />

Philae sieben Stunden.<br />

Philae<br />

Magnetometer<br />

Misst das Magnetfeld<br />

von 67P<br />

Elektroden, Mikrofon<br />

Ermitteln unter anderem<br />

den Wassergehalt der<br />

oberen Bodenschicht<br />

Bohrer<br />

Nimmt Bodenproben<br />

für chemische Analyse<br />

Spektrometer<br />

Untersucht mit einem Lichtsensor<br />

die chemische Zusammensetzung<br />

der Kometenoberfläche<br />

Thermometer<br />

Misst die Temperatur<br />

in oberen Bodenschichten<br />

Quelle: www.esa.int; Planetary Resources; eigene Recherche<br />

92 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Bahn des Kometen 67P/<br />

Churyumov-Gerasimenko<br />

Flugbahn von Rosetta<br />

5<br />

Mutterschiff Rosetta<br />

Seine Solarsegel<br />

haben eine Spannweite<br />

von 32 Metern<br />

Asteroidengürtel<br />

1<br />

Erde<br />

Rosettas Reise<br />

Seit seinem Start im März 2004 (1) hat das<br />

Raumschiff Rosetta 6,5 Milliarden Kilometer<br />

zurückgelegt. Es flog dreimal an der Erde und<br />

einmal am Mars vorbei (2), um Schwung für<br />

den Weg bis zur Umlaufbahn des Planeten<br />

Jupiter zu nehmen. Im Mai schwenkte<br />

Rosetta in die Umlaufbahn um den Kometen<br />

67P ein (3). Am 12. November löst sich das<br />

Landegerät Philae <strong>vom</strong> Mutterschiff und<br />

landet auf dem Kometen (4). Die Forscher auf<br />

der Erde können nicht eingreifen, denn<br />

Signale von der Erde zur Sonde brauchen 28<br />

Minuten. Sobald Philae den Kometen berührt,<br />

rammt sie Harpunen in den eisigen Boden von<br />

67P. Bis spätestens Ende 2015 (5) wird der<br />

Roboter den Kometen untersuchen.<br />

Jupiter<br />

67P<br />

4100 m<br />

2500 m<br />

Matterhorn<br />

4478 m<br />

Landezone Agilkia<br />

Bietet viel Sonne für<br />

Philaes Solarzellen<br />

Distanz zur Erde:<br />

502 Mio. Kilometer<br />

3<br />

2025<br />

4<br />

Mars<br />

2<br />

Komet 67P<br />

Kometen sind so alt wie<br />

das Sonnensystem. Sie<br />

bestehen aus Eis, Staub<br />

und lockerem Gestein.<br />

67P kreist binnen<br />

sechseinhalb Jahren<br />

einmal um die Sonne.<br />

2023<br />

2020<br />

2019<br />

Deep Space Industries<br />

Bereits in acht Jahren will<br />

das Start-up aus den<br />

USA Metalle und Wasser aus<br />

Asteroiden gewinnen.<br />

Asteroid Redirect Mission<br />

Die Nasa will einen sieben Meter großen<br />

Himmelsbrocken mit einem Raumtransporter<br />

abschleppen und in eine Mondumlaufbahn bugsieren.<br />

Nächstes Ziel: Asteroiden<br />

Sie enthalten Schätze aus Gold, Platin oder<br />

Wasser – Asteroiden sind das nächste Ziel der<br />

Raumfahrt. Diese Missionen planen Weltraumagenturen<br />

und private Raumfahrtfirmen:<br />

Hayabusa 2<br />

Die staatliche japanische Sonde landet<br />

auf dem Asteroiden 1999 JU3<br />

und bringt Gestein zur Erde zurück.<br />

New Horizons<br />

Die Sonde der US-Weltraumbehörde Nasa<br />

fliegt hinaus zum Zwergplaneten Pluto<br />

und soll dort Asteroiden fotografieren.<br />

Planetary Resources<br />

Das Start-up aus den USA will Rohstoffe im<br />

All schürfen – und könnte schon 2020 eine erste<br />

Sonde zu einem Asteroiden schicken.<br />

OSIRIS-REx<br />

Der Nasa-Roboter soll 2016 starten und sieben Jahre<br />

später Gesteinsproben <strong>vom</strong> 500 Meter großen Asteroiden<br />

Bennu zur Erde bringen.<br />

Ein 500 Meter großer Asteroid enthält...<br />

*<br />

...Platin im Wert von 2,9 Billionen<br />

Dollar – 174-mal so viel, wie pro Jahr<br />

auf der Erde geschürft wird.<br />

...Wasser im Wert von 5 Billionen<br />

Dollar. Derzeit kostet es 20000<br />

Dollar, einen Liter Wasser von der<br />

Erde in den Weltraum zu bringen.<br />

ILLUSTRATION: CYPRIAN LOTHRINGER<br />

WirtschaftsWoche <strong>10.11.2014</strong> Nr. 46 Redaktion: Andreas Menn<br />

93<br />

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Technik&Wissen<br />

Trabbi wiederbelebt<br />

AUTO | Das US-Unternehmen Local Motors will mit Wunschvehikeln<br />

aus dem 3-D-Drucker die Pkw-Produktion revolutionieren.<br />

die Karosse fertig war. Grund für diese<br />

drastisch beschleunigte Produktion ist der<br />

enorme Leistungssprung der 3-D-Drucker.<br />

Auch wenn der Strati an eine Kreuzung<br />

aus Strandbuggy, VW Käfer und Smart<br />

Roadster erinnert und Kritiker die teils<br />

noch welligen Oberflächen bespötteln –<br />

der Wagen fährt. Der US-Journalist Lance<br />

Ulanoff lenkte ihn durch New York und befand,<br />

„das Plastik-Chassis fühlt sich extrem<br />

stabil an“. Gründer Rogers strotzt denn<br />

auch vor Zuversicht: „Tesla hat den Elektroantrieb<br />

weltberühmt gemacht – wir werden<br />

das ganze Auto verändern.“<br />

Was John Jay Rogers plant, klingt<br />

in der von Großkonzernen dominierten<br />

Autowelt wie ein Totalschaden<br />

mit Ansage. Der 40-jährige Finanzanalyst<br />

mit dem markanten Kinn<br />

und dem militärisch kurzen Haarschnitt<br />

will das Geschäftsmodell der Branche mit<br />

seinem Start-up Local Motors kurzerhand<br />

auf den Kopf stellen. Statt der üblichen<br />

Großserien von Zigtausenden Fahrzeugen<br />

will der vor Selbstbewusstsein strotzende<br />

Harvard-Absolvent individuelle<br />

Autos exakt nach Kundenwunsch in Rekordzeit<br />

produzieren. Ganz gleich, wie<br />

klein der Kundenkreis ist.<br />

Ein erster spektakulärer Schritt ist dem<br />

Mann, den US-Medien bereits als Henry<br />

Ford des 21. Jahrhunderts feiern, gerade<br />

geglückt. Der Strati, ein fahrfähiges E-Mobil<br />

entstand in nur fünf Tagen – auf einem<br />

3-D-Drucker. Während Monteure sonst<br />

Wagen aus rund 10 000 Einzelteilen zusammensetzen,<br />

besteht der Buggy-artige<br />

Renner, Ende September in Chicago vorgestellt,<br />

aus nur 50 Komponenten.<br />

In 44 Stunden schmolz ein 3-D-Drucker<br />

in der Größe eines Schiffscontainers 227<br />

Lagen des schlagfesten Kunststoffs Acrylnitril-Butadien-Styrol<br />

(ABS) übereinander.<br />

15 Stunden dauerte es dann, die Grate per<br />

CNC-Fräsen zu entfernen. Noch zwei Tage<br />

später – nach dem Einbau von Batterie,<br />

Schnell gemacht In 44 Stunden formt ein<br />

schiffscontainergroßer Drucker (oben) die<br />

Bauteile fürs Kunststoff-Auto Strati (unten)<br />

Elektronik und 45-Kilowatt-Elektromotor<br />

aus dem Renault Twizy – war der Wagen<br />

fertig.<br />

So flott ging das noch nie. Und zwar<br />

nicht nur verglichen mit dem traditionellem<br />

Autobau – bei dem zwischen den ersten<br />

Entwürfen und fertigen Fahrzeugen<br />

schon mal vier Jahre Entwicklung liegen.<br />

Selbst beim Urbee 2, einem der ersten mit<br />

3-D-Druckverfahren produzierten Pkw-<br />

Prototypen, brauchten die Maschinen vor<br />

zwei Jahren noch rund 2500 Stunden, bis<br />

In zehn Jahren<br />

sollen mehr als<br />

100 Minifabriken<br />

Autos produzieren<br />

EXPANSION NACH EUROPA<br />

Tatsächlich stecken in seinem Geschäftsmodell<br />

weitere Innovationen. Local Motors<br />

mit Sitz in Arizona und Massachusetts<br />

hat nur rund 100 Mitarbeiter, nutzt aber die<br />

Ideen einer Online-Community von mehr<br />

als 45 000 Entwicklern aus 130 Ländern.<br />

Darunter sind Ingenieure und Techniker<br />

ebenso wie Amateure, die auf alle Baupläne<br />

zugreifen und sie weiterentwickeln können.<br />

Schreibt ein Kunde auf der Plattform<br />

von Local Motors sein Wunschfahrzeug<br />

aus, werden sie aktiv: Wer liefert das beste<br />

virtuelle Concept Car? Für die überzeugendsten<br />

Lösungen gibt es jeweils ein paar<br />

Tausend Dollar aus dem Projektbudget.<br />

Die Fahrzeuge will Rogers nicht in großen<br />

Werken bauen wie etablierte Autohersteller,<br />

sondern in Kleinfabriken voller<br />

3-D-Drucker. Die ersten stehen in Phoenix<br />

und in Las Vegas. Weitere, auch in<br />

Deutschland, sollen folgen. „In zehn Jahren<br />

wollen wir mehr als 100 Standorte haben“,<br />

sagt Damien Declercq, der gerade in<br />

Berlin die Europa-Dependance von Local<br />

Motors aufbaut. Ob Pizzawagen, Strandbuggy<br />

oder Oldtimer wie der Trabi – alles<br />

ließe sich so schnell dezentral produzieren.<br />

Das US-Militär interessiert sich bereits<br />

für die schnelle Entwicklung von Sonderfahrzeugen,<br />

Autohersteller beäugen die<br />

Idee dagegen noch skeptisch. Allein BMW<br />

nutzte die Plattform von Local Motors vor<br />

zwei Jahren, um Ideen für künftige Fahrzeugmodelle<br />

zu sammeln. Mehr als 400 innovative<br />

Konzepte kamen so zusammen.<br />

Rogers dagegen will den Strati schon<br />

kommendes Jahr im Handel haben – zu<br />

Preisen von rund 18 000 Euro. Dafür allerdings<br />

braucht er nicht nur gefälligere Oberflächen.<br />

Viel wichtiger ist, dass die gedruckten<br />

Autos bei einem Unfall nicht wie<br />

Papier in sich zusammenfallen. Mit den<br />

Tests will Rogers jetzt beginnen.<br />

n<br />

juergen.rees@wiwo.de<br />

94 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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VALLEY TALK | Googles Kreative erfinden die<br />

Zukunft. Doch bei einem ganz gegenwärtigen<br />

Problem versagen sie. Von Matthias Hohensee<br />

Internet aus der Kaserne<br />

FOTOS: LOCAL MOTORS/NYKO DE PEYER (2), JEFFREY BRAVERMAN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

Im Januar 2002 hatte ich mein erstes<br />

Interview mit Eric Schmidt als neuem<br />

Google-Chef. Sechs Monate zuvor<br />

hatte er von Gründer Larry Page übernommen.<br />

Das Start-up zählte da 350 Köpfe,<br />

die in zweistöckigen Baracken in einem<br />

Industriepark in Mountain View arbeiteten.<br />

Seine Aufgabe, erzählte mir Schmidt,<br />

sei, die Leute „süchtig nach Google zu<br />

machen“. Das überraschte nicht.<br />

Wohl aber seine Reaktion auf die Frage,<br />

ob er seinen Leuten das Arbeiten von zu<br />

Hause aus gestatten werde? Immerhin setzten<br />

damals zum Beispiel der Computerhersteller<br />

Sun Microsystems und der Telekommunikationskonzern<br />

Cisco auf Heimarbeit,<br />

um die knappen Büroflächen im teuren<br />

Silicon Valley besser auszulasten.<br />

Schmidt hingegen hielt das für kontraproduktiv:<br />

„Die Leute müssen praktisch<br />

aufeinander sitzen, nur dann kommt die Arbeit<br />

wirklich voran.“ Er bot seinen Mitarbeitern<br />

damals schon Massagen am Arbeitsplatz<br />

an und beschäftigte einen eigenen<br />

Koch. Niemand sollte das Büro verlassen<br />

müssen. Eine Rundumversorgung, die<br />

Google später durch Friseur, Fitnessstudio,<br />

Kleiderreinigung und Buffets erweiterte.<br />

Das Diktat, dass möglichst viele Mitarbeiter<br />

beisammenhocken sollen, gilt bis heute.<br />

Nicht nur bei Google. Facebook konzentriert<br />

seine Mitarbeiter im Hauptquartier in<br />

Menlo Park und lässt gegenüber eine neue,<br />

von Frank Gehry entworfene Zentrale errichten.<br />

Apples neuer, von Sir Norman Forster<br />

gestalteter, Ufo-förmiger Konzernsitz<br />

soll 14 000 Mitarbeiter fassen.<br />

Es klingt widersinnig: Ausgerechnet die<br />

Unternehmen, die dank Internet die Kommunikation<br />

von überallher ermöglichen und<br />

propagieren, kasernieren ihre eigenen Mitarbeiter.<br />

Aber Google, Apple und Facebook<br />

sind erfolgreich. Cisco dagegen plagen<br />

Wachstumsschwierigkeiten. Sun<br />

Microsystems gibt es nicht einmal mehr.<br />

Doch das vermeintliche Erfolgsmodell<br />

hat Grenzen. Das zeigt sich in Mountain<br />

View, wo Google jeden Quadratmeter Gewerbefläche<br />

rund um sein aktuelles und<br />

künftiges Hauptquartier aufgekauft hat, um<br />

die Mitarbeiterzahl dort von 13 000 auf<br />

24 000 auszubauen. Etwa 600 Millionen<br />

Dollar hat Google in den vergangenen drei<br />

Jahren dafür ausgegeben. Doch die Infrastruktur<br />

der ehemaligen Kleinstadt hält mit<br />

der Google-Expansion nicht Schritt.<br />

TEURE FLUCHT VOR DEM CHAOS<br />

Auch das Herankarren der Mitarbeiter aus<br />

San Francisco mit den berühmt-berüchtigten<br />

Google-Bussen ist keine Lösung. Das<br />

tägliche Verkehrschaos auf der Hauptverkehrsader<br />

Highway 101 und rund um den<br />

Google-Campus ist für die Mitarbeiter ein<br />

Grund, dichter an oder gleich ganz nach<br />

Mountain View zu ziehen.<br />

Dadurch hat sich der durchschnittliche<br />

Hauspreis seit dem Zuzug Googles vor 13<br />

Jahren auf 1,1 Millionen Dollar verdoppelt.<br />

Die Durchschnittsmiete am Ort beträgt fast<br />

4000 Dollar pro Monat. Und wo die Personalabteilung<br />

von Google für Manager Wohnungen<br />

mietet und gleich noch die Renovierung<br />

organisiert, haben normale Mieter<br />

gleich gar keine Chance mehr. Für die klingt<br />

es wie Hohn, wenn der inzwischen an die<br />

Google-Spitze zurückgekehrte Gründer<br />

Larry Page in einem Interview befand, ein<br />

Haus im Silicon Valley solle nicht mehr<br />

als 50 000 Dollar kosten. Zwar ist im Süden<br />

der Region noch Platz. Doch schon jetzt<br />

ist das Trinkwasser viel zu knapp. Ganz zu<br />

schweigen von der Verkehrsdichte.<br />

Damit wird klar: Ausgerechnet Google,<br />

dessen Forscher sonst – sei es bei selbstfahrenden<br />

Autos oder digitaler Gesundheitsanalytik<br />

– weit in die Zukunft schauen,<br />

hat für sein drängendstes Problem derzeit<br />

keine Lösung. Vielleicht bekommt Telearbeit<br />

ja doch noch eine Chance, selbst wenn<br />

Larry Page bei dem Thema ganz auf der<br />

Linie seines Vorgängers Schmidt ist: weil er<br />

schlicht keine Alternative hat.<br />

Der Autor ist WirtschaftsWoche-Korrespondent<br />

im Silicon Valley und beobachtet<br />

von dort seit Jahren die Entwicklung der<br />

wichtigsten US-Technologieunternehmen.<br />

WirtschaftsWoche <strong>10.11.2014</strong> Nr. 46 95<br />

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Management&Erfolg<br />

In Zukunft CEO<br />

TOP-MANAGERINNEN | Sie sind jung, talentiert, zielstrebig: Während Politik, Verbände und<br />

Unternehmen in einer zunehmend ermüdenden Diskussion über Pro und Contra der<br />

Frauenquote feststecken, machen immer mehr qualifizierte Frauen unbeirrt Karriere.<br />

Auf welche Top-Managerinnen Sie achten sollten.<br />

Hände schütteln, die alten Geschäfte<br />

Revue passieren lassen,<br />

die künftige Beziehung<br />

zwischen Kunde und Lieferant<br />

diskutieren: Eigentlich<br />

wollte Theresa von Fugler ganz in Ruhe bei<br />

der Betreiberin des Kosmetikinstituts in der<br />

Nähe von Karlsruhe vorbeischauen. Eben<br />

so, wie sie es seit ihrem Start als Geschäftsleiterin<br />

für den Bereich professionelle<br />

Haut-, Nagel- und Körperpflege im<br />

Deutschland-Geschäft von L’Oréal Ende<br />

September regelmäßig tut. Von Fuglers Ziel:<br />

zusammen mit ihren Außendienstmitarbeitern<br />

ein besseres Gefühl bekommen für<br />

Kundenwünsche und Produktpalette. Vor<br />

allem die der Marken Decléor und Carita,<br />

die erst seit Mai zum Portfolio des französischen<br />

Kosmetikkonzerns gehören.<br />

Doch was als routinierter Antrittsbesuch<br />

geplant ist, wird schnell zum Krisengespräch:<br />

Für mehrere Hundert Euro hatte die<br />

Kosmetikerin Tagescremes von Decléor bestellt.<br />

Die Verpackungen der hochwertigen<br />

Produkte aber sind völlig eingedrückt. Von<br />

Fugler entschuldigt sich bei der Kundin und<br />

spricht offen über die Probleme, wenn Marken<br />

den Eigentümer wechseln. In diesem<br />

Fall im L’Oréal-Logistikzentrum in Karlsruhe,<br />

in dem bisher nur Haarpflege-, aber keine<br />

Kosmetikprodukte verpackt wurden.<br />

Von Fugler fotografiert die zerknautschte<br />

Schachtel, schickt das Foto an den verantwortlichen<br />

Manager und fragt direkt nach,<br />

wie die Ware künftig unbeschadet beim<br />

Kunden ankommen könne. 24 Stunden<br />

später haben die Logistiker eine Lösung:<br />

Ein zusätzlicher Karton im Karton verhindert<br />

nun, dass die Schachteln im Paket verrutschen<br />

und zerknautschen.<br />

„Gerade in einer solchen Übergangsphase<br />

kommen viele kleine Herausforderungen<br />

zusammen“, sagt von Fugler. „Da muss<br />

man rasch und kreativ reagieren.“<br />

Jung, talentiert, zielstrebig: Während Politik,<br />

Verbände und Unternehmen in einer zunehmend<br />

ermüdenden Diskussion über Pro<br />

und Contra der Frauenquote feststecken,<br />

machen immer mehr hoch qualifizierte<br />

Frauen unbeirrt Karriere. Übernehmen<br />

hochrangige Managementposten und Aufsichtsratssitze<br />

in global agierenden Unternehmen.<br />

Schaffen durch ihren Aufstieg Fakten,<br />

statt sich im Klein-Klein einer leidigen<br />

»Wir sind die<br />

erste Generation,<br />

die den Bann<br />

brechen kann«<br />

Theresa von Fugler<br />

Quotendiskussion aufzureiben. Vertrauen<br />

lieber ihrem Können statt darauf, dass ein<br />

Gesetz den Weg nach oben frei räumt.<br />

Frauen wie Theresa von Fugler, die die<br />

Frauenquote schlicht für „schwierig“ hält.<br />

„Wir sind die erste Generation, die die<br />

Chance hat, den Bann zu durchbrechen“,<br />

sagt sie. „Eine Generation, die wirklich erfolgreiche<br />

Frauen hervorbringt.“<br />

Frauen wie Monika Wiederhold, Managerin<br />

bei Lufthansa Cargo, die schon im<br />

Mathematikstudium oft allein unter Männern<br />

war und „die Quote nie für ein Thema<br />

hielt“ (siehe Seite 99).<br />

Oder Frauen wie Gloria Glang, beim US-<br />

Lackhersteller PPG Industries, einem global<br />

tätigen Konzern mit Milliardenumsatz,<br />

für Strategie und Zukäufe zuständig. „Dass<br />

Leistung ein wichtiges Kriterium ist, gefällt<br />

mir an unserer Unternehmenskultur gut“,<br />

sagt die 34-Jährige. „Geschlecht und Alter<br />

spielen kaum eine Rolle“ (siehe Seite 101).<br />

Zugegeben: Top-Managerinnen wie von<br />

Fugler, Wiederhold oder Glang sind in<br />

deutschen Unternehmen nach wie vor eher<br />

die Ausnahme als die Regel. Laut aktueller<br />

Erhebungen der Initiative für mehr Frauen<br />

in die Aufsichtsräte (Fidar) sind nur knapp<br />

6 Prozent der Vorstandsposten und 18 Prozent<br />

der 1669 Kontrollposten der in Dax,<br />

MDax, TecDax und SDax gelisteten Unternehmen<br />

mit Frauen besetzt. Noch.<br />

Denn geht es nach der Bundesregierung,<br />

wird sich das ab 2016 ändern: Im November<br />

soll sich das Kabinett mit dem Gesetzentwurf<br />

zur Frauenquote befassen, damit sie<br />

2015 in Kraft treten kann. Demnach sollen<br />

alle börsennotierten und voll mitbestimmungspflichtigen<br />

Unternehmen die Zahl<br />

ihrer weiblichen Aufsichtsräte auf 30 Prozent<br />

anheben. Das heißt: Alle frei werdenden<br />

Mandate müssen so lange an Frauen<br />

verteilt werden, bis die Zielmarke geknackt<br />

ist. Betroffen wären etwa 100 Unternehmen,<br />

davon 24 der 30 größten börsennotierten<br />

– allein diese müssten in den kommenden<br />

Jahren 38 Aufsichtsratsposten an<br />

Frauen vergeben –, also rund ein Drittel<br />

mehr als derzeit (siehe Seite 102).<br />

Zahlreiche Unternehmen stellen sich<br />

schon jetzt darauf ein: Adidas hat Henkel-<br />

Personalvorstand Kathrin Menges und<br />

Katja Kraus, Geschäftsführerin bei der<br />

Werbeagentur Jung von Matt/Sports, in<br />

»<br />

FOTO: FRANK BEER FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

96 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Theresa von Fugler, 36<br />

Geschäftsleiterin<br />

professionelle Pflegeprodukte<br />

L’Oréal<br />

»Hinterfragt<br />

sich und ihre<br />

Entscheidungen<br />

permanent«<br />

WirtschaftsWoche <strong>10.11.2014</strong> Nr. 46 97<br />

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Management&Erfolg<br />

» sein Kontrollgremium geholt, im Bayer-<br />

Aufsichtsrat sitzt seit Ende April Henkelnes<br />

Abends völlig unvermittelt. Ein Feuerlöscherjob,<br />

stand doch die dortige Landesgesellschaft<br />

ringstes Problem: Vor allem muss sie die<br />

Geschäfte transparenter machen und die<br />

Aufsichtsratschefin Simone Bagel-Trah.<br />

kurzfristig ohne Führung da. Prozesse dokumentieren. „Die Zeit war<br />

Die Deutsche Post hat Melanie Kreis vor<br />

wenigen Tagen zum Personalvorstand befördert<br />

und Outdoor-Unternehmen Jack<br />

Wolfskin Melody Harris-Jensbach an die<br />

Spitze gesetzt.<br />

„Für Aufsichtsräte wie Vorstandsetagen<br />

gibt es ausreichend qualifizierte Bewerberinnen“,<br />

sagt Personalberater Heiner Thorborg,<br />

der vor sieben Jahren das Frauennetzwerk<br />

Generation CEO gegründet hat,<br />

dem mittlerweile 160 hochkarätige Frauen<br />

angehören. Darunter Sandrine Piret-Gérard<br />

(WirtschaftsWoche 45/2013), die im<br />

Februar zur Deutschland-Chefin des Pharmakonzerns<br />

Hexal aufstieg.<br />

Dass solche Personalien künftig eher die<br />

Regel werden, bestätigt auch eine internationale<br />

Langzeitstudie der Unternehmensberatung<br />

Strategy&. „Wir erwarten, dass<br />

2040 mehr als ein Drittel aller neu besetzten<br />

CEO-Posten an Frauen gehen“, sagt<br />

Klaus-Peter Gushurst, Sprecher der Geschäftsführung<br />

von Strategy&.<br />

Dass sie schon früh das Zeug für eine<br />

steile Karriere mitbringt, beweist Theresa<br />

von Fugler mit Anfang 30: Damals arbeitet<br />

die promovierte Biochemikerin in Shanghai<br />

für den L’Oréal-Konkurrenten Henkel,<br />

bei dem sie fünf Jahre zuvor als Markenmanagerin<br />

angeheuert hatte. „Möchtest du<br />

Länderchefin für Vietnam werden?“, fragte<br />

„Du kannst die Nacht drüber schlafen.“<br />

Muss sie nicht. „Ich war sofort begeistert“,<br />

erinnert sich von Fugler. Dabei plagen<br />

sie nicht nur rückläufige Absatzzahlen,<br />

sondern auch regelmäßige Stromausfälle<br />

im Büro und Ratten in der Fabrik.<br />

HELMFESTES HAARGEL<br />

„In dieser Zeit hat sie unter Beweis gestellt,<br />

wie stark sie ist“, sagt Personalberater Thorborg.<br />

„Und dass sie sich unheimlich gut auf<br />

neue Situationen einstellen kann.“<br />

So auch bei der Einführung eines neuen<br />

Haargels, das andernorts beliebt ist, aber in<br />

Vietnam zum Ladenhüter verkommt. Fuglers<br />

Erkenntnis, nach langen Gesprächen<br />

mit ihrem vietnamesischen Marketingleiter:<br />

Weil Motorräder in Vietnam Fortbewegungsmittel<br />

Nummer eins sind und die<br />

Helme nach Auffassung der Kunden ohnehin<br />

jede Frisur zerstörten, ist Haargel kein<br />

Thema. Von Fuglers Lösung: Riesige Plakate<br />

in den größten Städten des Landes. „Wir<br />

haben unser Gel für helmfest erklärt.“ Der<br />

Umsatz des Produkts steigt – und trägt als<br />

eines von vielen Puzzleteilen dazu bei, das<br />

kränkelnde Geschäft zu beleben.<br />

Doch nicht nur die Konsumenten ticken<br />

in Vietnam anders als in Europa – auch die<br />

Mitarbeiter. Dass von Fugler an einem ihrer<br />

ersten Tage über einen Mitarbeiter stolpert,<br />

strapaziös“, sagt von Fugler. Weiß seitdem<br />

aber auch: „Nach Vietnam schaffe ich alles.“<br />

Lohn ihrer akribischen Arbeit: ein Turnaround<br />

nach nicht mal sechs Monaten.<br />

Und das Angebot, die Stelle als Vietnam-<br />

Chefin unbefristet zu übernehmen. Doch<br />

sie lehnt ab. Geht erst mehrere Monate zurück<br />

in ihren alten Job, um danach ein halbes<br />

Jahr durch Asien zu reisen und in Laos<br />

Englisch zu unterrichten. Im Herbst 2010<br />

kehrt sie nach Deutschland zurück, übernimmt<br />

bei Henkel die internationale Markenführung<br />

für Haarfärbemittel und wechselt<br />

ein Jahr später als Marketingdirektorin<br />

zum Konkurrenten L’Oréal. „Ich bin nicht<br />

ängstlich, aber ich habe damals erkannt,<br />

dass die Zeit noch nicht reif war“, sagt die<br />

Managerin. „Wenn man Menschen zu früh<br />

überfordert, hilft das niemandem.“<br />

Diese gesunde Selbstwahrnehmung hat<br />

sie sich bis heute bewahrt. „Sie hört nie<br />

auf, sich und ihre Entscheidungen zu hinterfragen“,<br />

sagt von Fuglers Ex-Chefin Jutta<br />

Langer von L’Oréal.<br />

Unumstößlich ist dagegen ein Termin<br />

Anfang 2015 – die Geburt ihres ersten Kindes.<br />

Läuft alles nach Plan, ist sie im Frühjahr<br />

nach zwei Monaten Babypause wieder<br />

zurück. Wie sie die Kinderbetreuung neben<br />

dem Vollzeitjob organisiert, weiß sie<br />

zwar im Detail noch nicht. „Aber nach Vietnam<br />

sie der damalige Asien-Pazifik-Chef des der auf dem Boden im Besprechungsraum<br />

werde ich auch das schaffen.“ n<br />

Düsseldorfer Konsumgüterherstellers ei- seinen Mittagsschlaf hält, ist noch ihr ge-<br />

kristin.schmidt@wiwo.de, manfred engeser<br />

Gekommen, um zu bleiben Die neuen Talente im Frauennetzwerk Generation CEO<br />

CHRISTINA SCHROTBERGER<br />

Live Holding<br />

Seit Juni 2013 Marketingdirektorin<br />

NORA KLUG<br />

BSH Bosch und Siemens<br />

Haushaltsgeräte<br />

leitet die Rechtsabteilung<br />

seit<br />

Oktober 2013<br />

NINA SMIDT<br />

Zeit-Stiftung<br />

Seit 2011 verantwortlich<br />

für strategische<br />

Planung und<br />

Internationalisierung<br />

ANNE GREWLICH<br />

Ashurst<br />

Seit 2008 Partnerin und Spezialistin<br />

für Bank- und Finanzrecht<br />

LAURA MEYER<br />

NZZ Mediengruppe<br />

Seit Januar 2014 Leiterin Großkundengeschäft,<br />

Verkaufsstrategie und -prozesse<br />

98 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Monika Wiederhold, 46<br />

Leiterin Produktmanagement<br />

und Innovation<br />

Lufthansa Cargo<br />

»Kann blitzschnell<br />

komplexe Zusammenhänge<br />

zu einer<br />

Idee verknüpfen«<br />

FOTOS: JÜRGEN FRANK, PR (4), CHRISTOF MATTES FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

Kreative Analytikerin<br />

Der letzte Pinselstrich ist getan und Monika<br />

Wiederhold zufrieden mit dem Ergebnis:<br />

In vier gleich große Quadrate hat<br />

sie das Gemälde aufgeteilt, jedes geprägt<br />

von roten Kreisen unterschiedlicher Größe,<br />

platziert auf farblich unterschiedlichen<br />

Untergründen – mal in Orange-Rot<br />

gehalten, mal gelb, mal grün, mal blau dominiert.<br />

Was auf den ersten Blick wie ein nettes,<br />

abstraktes Farbenspiel wirkt, ist Wiederholds<br />

Versuch, den Begriff Zeitmanagement<br />

auf Leinwand zu bannen. Die Managerin<br />

von Lufthansa Cargo malt seit mehr<br />

als zehn Jahren Bilder über eher ungewöhnliche<br />

Themen: Mathematische<br />

Theorien in Öl oder Acryl gehören zu ihren<br />

Werken ebenso wie ein Gemälde über<br />

Change Management. Titel des Gemäldes<br />

über den optimalen Umgang mit der Zeit:<br />

„Golfbälle im Bierglas.“<br />

Inspiriert hat sie zu der Arbeit eine<br />

Anekdote, die ihr eine Freundin per<br />

E-Mail geschickt hatte und die sie immer<br />

wieder gerne erzählt: Ein Professor tritt<br />

vor seine Studenten und füllt wortlos Golfbälle<br />

in einen Krug. Der scheint schon voll<br />

zu sein, doch der Mann schüttet Kies dazu,<br />

rüttelt so lange, bis sich die Steinchen<br />

in die Lücken zwischen die Golfbälle verteilen.<br />

Dasselbe wiederholt er mit feinem<br />

Sand. Zum Schluss gießt er eine Dose Bier<br />

in den Krug. Was die Geschichte lehre?<br />

Nun, zwei Dinge: Erledige die großen,<br />

wichtigen Aufgaben immer zuerst und<br />

nutze die übrige Zeit für die kleineren, weniger<br />

dringenden Anliegen. Und zweitens:<br />

Ein Bier geht immer noch rein. Wiederhold<br />

lacht.<br />

»<br />

WirtschaftsWoche <strong>10.11.2014</strong> Nr. 46 99<br />

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Management&Erfolg<br />

» Abgesehen davon, dass sie lieber<br />

gar mit Maschinenbau und Atomphysik<br />

Wein als Bier trinkt: So wie auf ihrem Gemälde<br />

organisiert die zweifache Mutter seit<br />

an die Phase nach dem Abitur. Schließlich<br />

geliebäugelt“, erinnert sich die Managerin<br />

»Wenn man seinen<br />

Jahren ihren Alltag aus Arbeit, Familie –<br />

Job mit Leidenschaft<br />

macht, läuft Abitur in diesem Fach mit Höchstpunkt-<br />

entscheidet sie sich fürs Mathematik-Studium<br />

– warum auch nicht, wenn man das<br />

und der Kunst. „Meine Bilder entstehen<br />

nicht spontan“, sagt Wiederhold. „Ich feile<br />

lange am Konzept. Sobald das aber steht,<br />

zahl besteht?<br />

setze ich es zügig um.“ es von alleine«<br />

„Über die Jahre hat sie sich auf ihre Stärken<br />

fokussiert“, lobt Wilken. „Sie kann<br />

In Freizeit wie im Beruf verbindet die<br />

Monika Wiederhold<br />

studierte Mathematikern genau diese zwei<br />

blitzschnell komplexe Zusammenhänge zu<br />

scheinbar gegensätzlichen Welten – Analyse<br />

und Kreativität. „Das macht sie so besonders“,<br />

sagt der ehemalige Deutsche- der Automobilhersteller sollen Kunden des<br />

einer Idee verknüpfen und verschiedene<br />

Perspektiven einnehmen.“<br />

Dazu nutzt sie auch ihre unterschiedlichen<br />

Bank-Manager Bernd Wilken, der Wiederhold<br />

Logistikunternehmens künftig ihren<br />

Mandate. Ob als Mitglied im Kunden-<br />

als junge Führungskraft gecoacht hat<br />

und seitdem Kontakt zu ihr hält.<br />

Transport zusammenstellen können wie<br />

bei einem Baukasten. Muss die Ware gekühlt<br />

werden? Wie schnell müssen die Güter<br />

beirat der Commerzbank, wo sie zweieinhalb<br />

Jahre beobachten konnte, wie die<br />

Bank ihre Kunden miteinbezieht oder die<br />

IHR GOLFBALL-PROJEKT<br />

Seit fast 20 Jahren arbeitet die 45-jährige<br />

Managerin für den Lufthansa-Konzern.<br />

Zuerst in der Netzplanung in Frankfurt,<br />

dann viereinhalb Jahre am Standort in Norderstedt<br />

nahe Hamburg und nun seit 2001<br />

wieder im hessischen Hauptquartier. Hier<br />

verantwortete sie unter anderem die Einsatzpläne<br />

für 17 000 Crewmitglieder, später<br />

prägte sie als stellvertretende Leiterin die<br />

Konzernstrategie. Wiederholds Erfolgsrezept:<br />

„Wenn man seinen Job mit Leidenschaft<br />

macht, dann läuft es von alleine.“<br />

Seit dem Spätsommer 2011 verantwortet<br />

sie bei Lufthansa Cargo unter anderem das<br />

Beschwerdemanagement sowie die Bereiche<br />

Innovation und Spezialtransporte, etwa<br />

von Tieren oder Medikamenten.<br />

Eines ihrer großen Golfball-Projekte: der<br />

Aufbruch des Konzerns ins digitale Zeitalter.<br />

Zum Beispiel über einen Online-Konfigurator:<br />

Ähnlich wie auf den Web-Seiten<br />

am Zielort sein? Soll der Transport kabeirat<br />

meraüberwacht sein?<br />

Um Antworten auf diese und andere Fragen<br />

zu erhalten, legt Wiederhold Wert auf<br />

den Austausch mit Kunden, organisiert<br />

zweimal jährlich ein Innovationsforum.<br />

Diskutiert die laufende Zusammenarbeit<br />

und vereinbart Projekte, um die Kooperation<br />

zu verbessern. Mit Unternehmen aus<br />

dem Anlagenbau etwa suchen sie und ihr<br />

Team derzeit nach Wegen, wie bei einem<br />

Notfall in einer Fabrik Ingenieure der Anlagenbauer<br />

mit Ersatzteilen noch schneller<br />

an den Ort des Geschehens kommen.<br />

„Monika Wiederhold ist blitzgescheit“,<br />

sagt Ex-Mentor Wilken.<br />

Und das nicht nur auf einem Gebiet:<br />

Schon in der Schule wollte sie am liebsten<br />

kein Fach abwählen. „Ich hätte gerne etwas<br />

mit Sprachen studiert, hatte aber auch<br />

einen Studienplatz für Architektur in<br />

Darmstadt sicher und zwischendurch so-<br />

Übernahme der Dresdner Bank managt.<br />

Oder als Aufsichtsrätin beim Airmail Center<br />

Frankfurt, an dem ihr Arbeitgeber neben<br />

Deutscher Post und Fraport beteiligt ist.<br />

„Als Managerin muss ich Entscheidungen<br />

fällen und das Unternehmen voranbringen.<br />

Im Aufsichtsrat muss ich mich mit<br />

meinem Umsetzungsdrang zurückhalten,<br />

schließlich geht es dabei um Aufsicht und<br />

Rat“, beschreibt Wiederhold den Reiz der<br />

zusätzlichen Aufgabe.<br />

Eine dritte Perspektive eröffnet sich Wiederhold<br />

als Mentorin von Nachwuchskräften.<br />

Mit ihnen bespricht sie nämlich nicht<br />

nur deren Fragen, sondern fordert auch<br />

Impulse für sich ein. „Die Meinung einer<br />

anderen Generation ist mir sehr wichtig“,<br />

sagt Wiederhold, „vor allem in Fragen zur<br />

Digitalisierung.“<br />

Das gilt auch zu Hause, wenn sie mit ihrer<br />

kleinen Tochter Geisterfigürchen produziert<br />

– an ihrem privaten 3-D-Drucker.<br />

ANNA-LENA JEPPSSON<br />

MAN Diesel & Turbo<br />

Seit 2012 zuständig für den<br />

Bereich Strategie<br />

NURTEN ERDOGAN<br />

Commerzbank<br />

Sie leitet seit Januar 2014<br />

den Bereich Fusionen<br />

KERSTIN<br />

WAGNER<br />

Deutsche Bahn<br />

Leitet seit<br />

2012 die Bereiche<br />

Recruiting<br />

und Arbeitgebermarke<br />

GABRIELE RAM-BEYER<br />

Salzgitter<br />

Leitet seit Februar 2011 das<br />

Konzerncontrolling<br />

100 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Gloria Glang, 34<br />

Leiterin Strategie<br />

und Fusionen<br />

PPG Industries<br />

Europe<br />

»Hat keine<br />

Angst vor<br />

großen<br />

Namen«<br />

FOTOS: PR (3), LUX-FOTOGRAFEN.DE/PHILIPP VON RECKLINGHAUSEN, BERNHARD HASELBECK FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

Alles im Lack<br />

Wie entwickelt sich die Altersstruktur unserer<br />

Gesellschaft? Wie verändert die Digitalisierung<br />

unsere Art, zu wirtschaften, zu konsumieren?<br />

Und was bedeutet das alles für<br />

unser weltweit tätiges Unternehmen?<br />

Wenn Gloria Glang von ihren „globalen<br />

Hobbys“ spricht, meint sie weder Golfspielen<br />

in Schottland, einen Segeltörn in der<br />

Karibik oder einen Kochkurs für thailändische<br />

Küche. Sondern zum Beispiel die Auseinandersetzung<br />

mit den Auswirkungen<br />

weltweiter Megatrends auf die Strategie ihres<br />

Arbeitgebers – den amerikanischen<br />

Lackhersteller PPG Industries.<br />

Ihr jüngstes Hobby dieser Art: Wie können<br />

wir uns mithilfe von Risikokapital am<br />

besten an Start-ups beteiligen?<br />

Denn ein Weltkonzern wie PPG, so die<br />

Überzeugung der 34-jährigen Managerin,<br />

kann „auf Dauer nur innovativ sein, wenn<br />

er Partnerschaften mit und Übernahmen<br />

von Start-ups in Betracht zieht“.<br />

Ihre Position erläutert Glang im Sommer<br />

ihrem Vorstandsvorsitzenden Charles<br />

Bunch, den sie nur Chuck nennt. Erklärt<br />

ihm, wie PPG mithilfe kleiner, junger Unternehmen<br />

schnell auf Trends reagieren und<br />

an innovative Technologien kommen<br />

könnte. Präsentiert ihm eine detaillierte<br />

Marktanalyse und kann ihn nach nur fünf<br />

Minuten von dem Projekt überzeugen.<br />

Heute, wenige Monate später, ist Glang<br />

schon auf der Suche nach Akquisitionen<br />

aus der Start-up-Szene – weltweit.<br />

»<br />

WirtschaftsWoche <strong>10.11.2014</strong> Nr. 46 101<br />

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Management&Erfolg<br />

Unter Plan<br />

So viele Frauen fehlen in den Aufsichtsräten*<br />

bei einer Frauenquote von 30 Prozent<br />

20 Mitglieder:<br />

Bayer<br />

BMW<br />

Commerzbank<br />

Continental<br />

Daimler<br />

Deutsche Bank<br />

Deutsche Post<br />

Lufthansa<br />

Munich Re<br />

RWE<br />

Siemens<br />

Telekom<br />

ThyssenKrupp<br />

Volkswagen<br />

16 Mitglieder:<br />

Henkel<br />

K+S<br />

Merck<br />

Zwölf Mitglieder:<br />

Adidas<br />

Beiersdorf<br />

Fresenius<br />

Heidelberg-<br />

Cement<br />

Infineon<br />

Lanxess<br />

Linde<br />

30-Prozent-Grenze<br />

Legende:<br />

Arbeitnehmerbank<br />

Frauen<br />

Männer<br />

Anteilseignerbank<br />

Frauen<br />

Männer<br />

* Aufsichtsräte der<br />

Dax 30, die unter<br />

das Quotengesetz<br />

fallen würden;<br />

Quelle: Hans-<br />

Böckler-Stiftung,<br />

eigene Recherche<br />

Lesebeispiel: Im Aufsichtsrat von Bayer sitzen je zwei Frauen<br />

auf Arbeitnehmerseite ( ) und auf Anteilseignerseite ( ).<br />

Um die 30-Prozent-Quote (rote Grenze) zu erfüllen, muss je<br />

ein Mann ( ) weichen.<br />

»<br />

„Das gehört zwar nicht zu meiner Rollenbeschreibung“,<br />

sagt die Managerin,<br />

„aber ich hatte ein paar gute Ideen, die ich<br />

nicht für mich behalten wollte.“<br />

Eigentlich ist die Betriebswirtin seit Januar<br />

2013 beim Chemiekonzern für die Strategieentwicklung<br />

in Europa, dem Nahen Osten<br />

und Afrika zuständig. Macht sich in diesen<br />

Regionen auf die Suche nach Übernahmekandidaten,<br />

lotet Beteiligungen aus –<br />

mit dem globalen Geschäft hat sie nichts zu<br />

tun. Eigentlich.<br />

VORBEREITUNG IST ALLES<br />

Aber Dienst nach Vorschrift war für Glang<br />

noch nie eine Option – schon als sie nach<br />

dem Abitur ihr duales Studium am BASF-<br />

Standort in Münster begann: Gerade neun<br />

Monate war die damals 20-Jährige an Bord,<br />

als sie in der Chefetage anklopfte<br />

und dem Vorstandsvorsitzenden<br />

der Lacksparte vorschlug, eine<br />

Wettbewerbsdatenbank anzulegen.<br />

In welchen Kundensegmenten<br />

tummeln sich Wettbewerber?<br />

Welche Lacke produzieren sie?<br />

Was bedeutet das für BASF?<br />

Fast zehn Jahre arbeitet Glang<br />

in verschiedenen Positionen bei<br />

BASF. Nach ihrem dualen Studium wechselt<br />

sie in die damals neu gegründete interne<br />

Beratung des Konzerns am Stammsitz in<br />

Ludwigshafen, übernimmt anschließend<br />

die Betreuung von einem der zehn größten<br />

Kunden des Chemiekonzerns.<br />

Mit 29 Jahren heuert sie als Beraterin bei<br />

KPMG in Frankfurt an. Akquiriert neue<br />

Kunden – obwohl diese Aufgabe eigentlich<br />

den Senior Managern vorbehalten ist.<br />

„Ich hatte das Gefühl, da könnte noch<br />

mehr getan werden“, lautet ihre Haltung,<br />

die nicht bei allen Kollegen auf Gegenliebe<br />

stößt, ihre Vorgesetzten aber überzeugt.<br />

„Wir haben sie schon nach wenigen Monaten<br />

zur Senior Managerin befördert“, sagt<br />

Chris Stirling, der damals bei KPMG die<br />

Chemieindustrie auf europäischer Ebene<br />

verantwortete. „Normalerweise dauert das<br />

mindestens ein Jahr, aber sie hatte das Talent<br />

und keine Angst vor großen Namen.“<br />

So ruft sie auf der Suche nach dem<br />

nächsten großen Auftrag einfach im Vorstandsbüro<br />

eines großen Schweizer Chemieunternehmens<br />

an und verlangt erfolgreich<br />

einen Termin mit dem Vorstandsvorsitzenden.<br />

„Ein Nein hab ich schon, ein Ja<br />

kann ich noch kriegen“, kommentiert Glang<br />

ihren Anruf in der Chefetage. Mit Erfolg:<br />

Glang überzeugt den CEO und gewinnt ihn<br />

als neuen Kunden.<br />

Audio<br />

Den Rat ihres<br />

Lebens verraten<br />

die Protagonistinnen<br />

in unserer<br />

App-<strong>Ausgabe</strong><br />

„Vorbereitung ist alles“, fasst Glang ihre<br />

Strategie zusammen. Bevor sie Gesprächspartner<br />

angeht, analysiert sie das Unternehmen,<br />

findet heraus, mit welchen Problemen<br />

sich ihr Gegenüber beschäftigt, welche Lösung<br />

sie anbieten kann und wie sie am besten<br />

auf die Menschen zugeht. Da greift die<br />

Frau, im Zeitalter von Computer und E-Mail<br />

aufgewachsen, schon mal zu Füllfederhalter<br />

und Briefpapier, um älteren Vorständen in<br />

konservativen Unternehmen die Ernsthaftigkeit<br />

ihres Anliegens zu demonstrieren.<br />

Schnell landet sie im KPMG-Förderprogramm<br />

für die 30 talentiertesten Frauen in<br />

der europäischen Belegschaft, ihre Karriere<br />

in einem global präsenten Unternehmen ist<br />

vorgezeichnet – und doch wechselt sie. Ihr<br />

Ziel: der Industrielackehersteller Becker, ein<br />

Familienunternehmen mit mehr als 100 Jahren<br />

Tradition. Ihre Aufgabe: die<br />

erste globale Strategie für den Mittelständler<br />

entwickeln.<br />

„Großkonzern, Beratung, Marketing,<br />

Vertrieb – ich hatte bis dahin<br />

schon viel gemacht“, begründet<br />

Glang den Wechsel. „Diese<br />

strategische Aufgabe bei einem<br />

weltweit agierenden Mittelständler<br />

war ein herausfordernder,<br />

nächster Karriereschritt.“<br />

Eigene Vorstellungen klar kommunizieren,<br />

die größten Herausforderungen annehmen:<br />

Das hält Glang seit Kindesbeinen so.<br />

Etwa, als sie sich mit elf Jahren in den Kopf<br />

setzt, mit Springreiten anzufangen. „Damals<br />

haben mir viele Leute gesagt, ich sei zu alt<br />

für eine Sportkarriere“, sagt Glang. „Das hat<br />

mich zusätzlich angespornt.“<br />

Sie trainiert täglich, analysiert mit ihrem<br />

Trainer anhand von Videoaufnahmen, was<br />

sie besser machen kann, nimmt jedes Wochenende<br />

an einem Turnier teil. Schafft es<br />

bis in den Nationalkader. Kurz: „Die schönste<br />

Kindheit, die ich mir vorstellen kann.“<br />

Ehrgeiz, der sie bis heute trägt: Fünf Programme<br />

für Top-Manager hat sie berufsbegleitend<br />

an der französischen Managementschmiede<br />

Insead absolviert – das letzte zum<br />

Thema Risikokapital – Basis ihres jüngsten<br />

Karriereschritts.<br />

„Neue Aufgaben sind das schönste Lob,<br />

das man bekommen kann“, sagt Glang. Auch<br />

ihre nächsten, möglichen Karriereschritte<br />

bespricht sie bereits mit ihren Vorgesetzten.<br />

„Ich sehe Gloria Glang in einigen Jahren<br />

in einem Vorstand, egal, ob bei PPG oder<br />

woanders“, sagt Personalberater Thorborg.<br />

„Sie ist keine, die bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag<br />

wartet.“<br />

n<br />

kristin.schmidt@wiwo.de<br />

FOTOS: MARTIN KROLL, PR