Wirtschaftswoche Ausgabe vom 10.11.2014 (Vorschau)
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46<br />
<strong>10.11.2014</strong>|Deutschland €5,00<br />
4 6<br />
4 1 98065 805008<br />
Störung<br />
Bericht zum Stillstand der Nation<br />
Schweiz CHF 8,20 | Österreich €5,30 | Benelux€5,30 | Griechenland€6,00 | GroßbritannienGBP 5,40 | Italien€6,00 | Polen PLN27,50 | Portugal€6,10 | Slowakei €6,10 | Spanien€6,00 | Tschechische Rep. CZK200,- | Ungarn FT 2140,-<br />
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Einblick<br />
Die GDL legt wieder einmal die Republik lahm.<br />
Der Streik ist auch ein Symbol: Es herrscht die<br />
Unbeweglichkeit. Von Miriam Meckel<br />
Lähmung des Landes<br />
FOTO: FRANK SCHEMMANN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
Einheit ist ein großes Wort. Nicht<br />
nur in diesen Tagen, in denen der<br />
25-jährige Jahrestag der Maueröffnung<br />
groß gefeiert wird. Einheit<br />
ist auch in der Tarifpolitik ein großes<br />
Wort, das die Bundesregierung zu einem<br />
Gesetz formen will. Tarifpolitik soll endlich<br />
wieder eine übersichtliche Sache<br />
werden. Die Einheitslösung für alle muss<br />
her, damit fährt man in Deutschland eigentlich<br />
immer gut.<br />
Gar nicht fährt zuweilen, wer auf die Bahn<br />
angewiesen ist. Da steht wieder alles still.<br />
Die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer<br />
(GDL) hat der Tarifeinheit und dem Gesetzesentwurf<br />
von Bundesarbeitsministerin<br />
Andrea Nahles den Kampf angesagt und legt<br />
mit ihren Streiks die Republik lahm. Sie trifft<br />
die Menschen und die globalisierte Wirtschaft<br />
an ihrer empfindlichsten Stelle: der<br />
Beweglichkeit.<br />
Das ist mehr als ärgerlich. Hunderttausende<br />
stehen an den Gleisen herum, müssen<br />
auf andere Verkehrsmittel ausweichen. Die<br />
Kosten durch die Produktionsunterbrechungen<br />
können sich nach Schätzungen des<br />
Instituts der deutschen Wirtschaft auf 100<br />
Millionen Euro pro Tag addieren. So weit die<br />
realwirtschaftliche Dimension.<br />
Die symbolische Dimension reicht weiter.<br />
Stillstand ist nicht nur Streikfolge, sondern<br />
Programm bei allen Beteiligten. Der Streik<br />
ist nur ein Teil einer Mobilitätsstörung, die<br />
das Land seit Längerem befallen hat.<br />
Zum Ersten: Der Entwurf des Tarifeinheitsgesetzes<br />
setzt da an, wo politische Lösungen<br />
der großen Koalition immer ansetzen: beim<br />
großen Ganzen. Eine Lösung soll für alle gelten,<br />
die Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern<br />
für alle entscheiden. Einfacher mag<br />
das sein, muss aber nicht zur besten Lösung<br />
führen. In der Tarifpolitik ist es wie im Bundestag:<br />
Die Opposition wird bis zur Unkenntlichkeit<br />
geschrumpft. Mit Wettbewerb<br />
und dem produktiven Streit im Pluralismus<br />
hat das wenig zu tun. Widerstand verschwindet<br />
in der Dehnungsfuge zähflüssigen Regierens.<br />
Es ist ein Zeichen für Unbeweglichkeit,<br />
wenn nurdie großeLösung gesuchtwird, die<br />
meist auf den kleinsten gemeinsamen Nenner<br />
zusammenschnurrt. Das Gesetz wird<br />
übrigens mit an Sicherheit grenzender<br />
Wahrscheinlichkeit vor dem Bundesverfassungsgericht<br />
in Karlsruhe landen.<br />
Zum Zweiten: Was hat die Bahn der GDL<br />
zuletzt angeboten, um sie derart auf die Zinnen<br />
zu schicken? Aus Gewerkschaftskreisen<br />
verlautet, es sei um eine Unterwerfungsklausel<br />
gegangen. Nach dem Prinzip: Wenn die<br />
Bahn sich mit der Konkurrenzgewerkschaft<br />
einigt und die GDL das Angebot ablehnt, gilt<br />
für sie Friedenspflicht. Sie darf dann nicht<br />
mehr streiken. Übersetzt heißt das nicht:<br />
friss oder stirb. Es heißt:friss und stirb.<br />
BEHARRUNGSVERMÖGEN<br />
Zum Dritten: Das Streikrecht ist ein hohes<br />
Gut, aber die GDL missbraucht es durch<br />
Zweckentfremdung. Der Streik ist nicht<br />
mehr Mittel zum Zweck des Tarifabschlusses,<br />
er ist längst auf eine höhere Zielebene<br />
gehoben. GDL-Chef Claus Weselsky will mit<br />
seiner Gewerkschaft künftig nicht mehr nur<br />
für die Lokführer, sondern für alle Eisenbahner<br />
verhandeln. Er spielt sein institutionelles<br />
Machtspiel auf der Klaviatur eines Freiheitsrechts<br />
und setzt damit ein Zeichen der Verbohrtheit<br />
und des mangelnden Einigungswillens.<br />
Auch hier: Unbeweglichkeit.<br />
Für den Standort Deutschland sind das<br />
keine guten Signale, nicht nach innen und<br />
nicht nach außen an die Welt, der wir gelegentlich<br />
gerne erläutern, wie die Dinge laufen<br />
sollten. Es ist missvergnüglich, wie Gewerkschaften,<br />
Politik und Wirtschaft nur<br />
noch im Beharren die eigenen Grenzen<br />
überschreiten. Auf Dauer muss das nicht gut<br />
gehen, wie ein historisches Beispiel zeigt:<br />
der „Winter of Discontent“ in Großbritannien<br />
1978/79, heute rückblickend gedeutet<br />
als tief greifender gesellschaftlicher Umbruch<br />
und als Ende des Nachkriegskonsenses.<br />
Was auch damals als Machtspiel zwischen<br />
Regierung und Gewerkschaften<br />
startete, brachte die Lähmung des Landes.<br />
Und dann kam der wirtschaftspolitische<br />
Umsturz. Margaret Thatcher entmachtete<br />
die Gewerkschaften und läutete eine fast<br />
20-jährige Ära konservativen Regierens ein.<br />
In Deutschland ist die CDU schon dran.<br />
Nicht nur für Lokführer und Gewerkschaftschefs<br />
gilt: Vorsicht an der Bahnsteigkante. n<br />
WirtschaftsWoche <strong>10.11.2014</strong> Nr. 46 3<br />
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Überblick<br />
VORGESTELLT<br />
Chefredakteurin Miriam Meckel<br />
präsentiert im Video diese <strong>Ausgabe</strong>.<br />
QR-Code bitte mit dem Smartphone scannen.<br />
Sie benötigen dafür eine App wie RedLaser.<br />
Menschen der Wirtschaft<br />
6 Seitenblick Rikscha versus Uber und Co.<br />
8 DeinBus: Fernbus-Pionier beantragt<br />
Insolvenzverfahren<br />
9 Freihandelsabkommen: Chemiemanager<br />
skeptisch | VW: Brennstoffzellen nur Show<br />
10 Interview: Sparkassen-Präsident Georg<br />
Fahrenschon lehnt Strafzinsen ab | Tarifgesetz:<br />
Gewerkschaften bereiten Klage vor<br />
12 Start-ups: Die besten Gründer-Unis |<br />
Handel: Hoffen auf Weihnachten | Drei<br />
Fragen zum Informatikunterricht<br />
14 Bilfinger: Neuer Umbau | Bilster Berg: Streit<br />
ums Geld | Valeo: Zuwachs in Deutschland<br />
16 Chefsessel | Start-up My Schoko World<br />
18 Chefbüro Ulrich Walter, D2-Astronaut und<br />
Professor für Raumfahrttechnik<br />
Titel Störfall Deutschland<br />
Die Blockade des Bahnverkehrs ist ein<br />
Symbol für den Stillstand des ganzen<br />
Landes. Egoismus und Reformstau<br />
greifen um sich, wirtschaftliche und<br />
gesellschaftliche Probleme nehmen zu,<br />
die Politik ruht sich auf den Erfolgen<br />
der Vergangenheit aus. Seite 20<br />
Politik&Weltwirtschaft<br />
20 Störfall Der Bahnstreik wirft ein Schlaglicht<br />
auf die Blockaden des Landes | Welche<br />
Schäden die GDL schon angerichtet hat<br />
28 Europa Als Wettbewerbskommissarin ist<br />
Margrethe Vestager überaus mächtig<br />
29 Global Briefing<br />
31 Essay Das Ende der Geschichte ist auch<br />
25 Jahre nach der Entdeckung durch Francis<br />
Fukuyama nicht in Sicht<br />
34 Thailand Die politische Lage im Königreich<br />
ist weiter hochexplosiv<br />
37 Berlin intern<br />
Der Volkswirt<br />
38 Kommentar<br />
39 Konjunktur Deutschland<br />
40 Pro & Contra Ulrich van Suntum und<br />
Thorsten Polleit streiten über Negativzinsen<br />
42 Nachgefragt Ökonom Jesús Huerta de Soto<br />
über Deflation in der Euro-Zone<br />
Unternehmen&Märkte<br />
48 Tönnies Wer ist eigentlich Neffe Robert, der<br />
seinem mächtigen Onkel Clemens das<br />
Sagen im Fleischkonzern streitig macht? |<br />
Interview: Familienunternehmen-Experte<br />
Arist von Schlippe über Streitvorbeugung<br />
58 HypoVereinsbank Die Münchner machen<br />
fast die Hälfte ihrer Filialen dicht – ein hochriskantes<br />
Experiment<br />
62 International Bankers Forum Mitglieder<br />
klagen über mangelnde Transparenz<br />
64 Air Berlin So tickt der künftige Vorstandschef<br />
Stefan Pichler<br />
66 Interview: Stefan Winners Wie der Digitalchef<br />
des Burda-Verlags Media-Markt und<br />
Saturn angreifen will<br />
68 Serie: Mauerfall (II) Drei Unternehmen,<br />
die dem Osten Mut machen<br />
Duell der Metzger<br />
Innenansichten eines Familienkrachs: Beim milliardenschweren<br />
Tönnies-Konzern kämpft Onkel gegen Neffe vor Gericht um die<br />
Hackordnung bei Deutschlands größtem Schlachter. Seite 48<br />
Vorhut im All<br />
Zum ersten Mal landet eine<br />
Sonde auf einem Kometen – die<br />
Mission ist ein Testlauf für<br />
kommerzielle Projekte, um<br />
wertvolle Rohstoffe im Weltraum<br />
zu schürfen. Seite 92<br />
TITELILLUSTRATION: FOTOLIA<br />
4 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Nr. 46, <strong>10.11.2014</strong><br />
FOTOS: FOTOLIA, MARKUS SCHWALENBERG FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, MONTAGE: DMITRI BROIDO, FRANK BEER FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, ILLUSTRATIONEN: CYPRIAN LOTHRINGER, CARLO GIAMBARRESI<br />
In Zukunft<br />
CEO<br />
Sie sind jung, talentiert,<br />
zielstrebig: Jenseits der<br />
Diskussion über die Quote<br />
machen hoch qualifizierte<br />
Frauen unbeirrt Karriere.<br />
Auf welche Top-<br />
Managerinnen Sie<br />
achten sollten.<br />
Seite 96<br />
Krisenanlagen<br />
Fonds investieren in Technik gegen Hacker- und Terror-Attacken,<br />
sie kaufen Katastrophen-Bonds und Aktien von Ebola-Forschern.<br />
Selbst in Russland bieten einige Papiere Chancen. Seite 104<br />
Lob des Imitats<br />
Originalität wird überschätzt, behauptet<br />
der Management-Professor Oded<br />
Shenkar. Unternehmen, die gut kopieren,<br />
statt Neues zu erfinden, werden in<br />
Zukunft Erfolg haben. Seite 126<br />
72 Spezial Mittelstand Digitalisierung |<br />
Factoring | Weiterbildung<br />
86 Serie: Fit for Future (V) Wie Mittelständler<br />
Firmenintegrationen meistern<br />
Technik&Wissen<br />
88 Recycling Wie aus Müll hochwertige neue<br />
Produkte und wertvoller Brennstoff werden<br />
92 Raumfahrt Mit der Rosetta-Mission landet<br />
erstmals eine Sonde auf einem Kometen<br />
94 Auto Das Start-up Local Motors druckt<br />
komplette Pkws nach Kundenwunsch<br />
95 Valley Talk<br />
Management&Erfolg<br />
96 Top-Managerinnen Während Politiker und<br />
Unternehmen noch über die Frauenquote<br />
streiten, schaffen erfolgreiche Managerinnen<br />
Fakten. Drei Frauen im Porträt<br />
Geld&Börse<br />
104 Fonds Wie Sie in Krisensituationen investieren<br />
und dabei moralisch sauber bleiben<br />
110 Pimco Andrew Balls soll helfen, Starinvestor<br />
Bill Gross zu ersetzen<br />
114 Börsengang Autozulieferer Hella attraktiv<br />
116 Steuern und Recht Schwarzgeld Luxemburg<br />
| Scheidungskosten | Patientenverfügung<br />
| Elternunterhalt | Kindergeld<br />
118 Geldwoche Kommentar: Strafzinsen |<br />
Trend der Woche: Goldpreis | Dax-Aktien:<br />
RWE, E.On | Hitliste: Öl | Aktien: Daimler |<br />
Anleihe: Türkei in Dollar | Fonds: DWS<br />
Global Value | Zertifikate: Börse Japan<br />
Perspektiven&Debatte<br />
126 Interview: Oded Shenkar Innovationen<br />
werden gemeinhin überbewertet, sagt der<br />
Forscher der Ohio State University<br />
130 Kost-Bar<br />
Rubriken<br />
3 Einblick, 132 Leserforum,<br />
133 Firmenindex | Impressum, 134 Ausblick<br />
n Lesen Sie Ihre WirtschaftsWoche<br />
weltweit auf iPad oder iPhone:<br />
In dieser <strong>Ausgabe</strong> erzählen drei<br />
Kandidatinnen für den CEO-Posten<br />
das Geheimnis ihres<br />
Erfolges. Zudem zeigen<br />
wir das Netzwerk von<br />
Schalke-Boss Clemens<br />
Tönnies in Bildern.<br />
wiwo.de/apps<br />
n ManagementCup In unserem<br />
Planspiel winken Preise in Höhe von<br />
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wirtschaftswoche<br />
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wiwo<br />
WirtschaftsWoche <strong>10.11.2014</strong> Nr. 46 5<br />
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Seitenblick<br />
TAXI<br />
Straßenkampf<br />
Indiens traditionelle Rikschas müssen jetzt gegen neue<br />
Taxidienste konkurrieren. Das amerikanische<br />
Unternehmen Uber mischt auch in Schwellenländern<br />
die Mitfahrbranche auf.<br />
6000Rikschas werden im<br />
indischen Kalkutta noch von Hand gezogen. Ein<br />
drohendes Verbot dieser Gefährte konnte die<br />
Gewerkschaft der Rikscha-Zieher bisher verhindern.<br />
6,50Euro verdient ein Rikscha-<br />
Zieher – am Tag. Mit ihm kommen Reisende<br />
im verstopften Kalkutta noch heute am schnellsten<br />
ans Ziel. Doch neue Angebote wie der US-Taxischreck<br />
Uber breiten sich auch in Indien aus.<br />
Der lokale Uber-Konkurrent Ola hat gerade 210<br />
Millionen Dollar Kapital eingesammelt.<br />
1Million Taxis fahren laut Schätzungen in<br />
Indien. Bis vor einem Jahr saßen fast nur Männer am<br />
Steuer. Doch die Zahl der Frauentaxis steigt. Autos,<br />
die von Frauen gesteuert werden und nur Frauen<br />
mitnehmen. Auslöser sind Übergriffe männlicher<br />
Fahrer auf weibliche Passagiere.<br />
thomas.stoelzel@wiwo.de<br />
6<br />
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Gegen den Zug der Zeit<br />
Fast alle Rikscha-Zieher<br />
wie Mohammed Salim<br />
stammen aus Bihar, dem<br />
ärmsten Bundesstaat Indiens<br />
FOTO: GETTY IMAGES/PALANI MOHAN<br />
7<br />
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Menschen der Wirtschaft<br />
Preiskampf verloren<br />
DeinBus-Gründer Christian Janisch,<br />
Ingo Mayr-Knoch, Alexander Kuhr<br />
(von links)<br />
FERNBUSSE<br />
Pionier vor dem Aus<br />
Die Fernbusse sind gefragt wie nie. Doch<br />
der Konkurrenzkampf wird härter. Mit<br />
DeinBus muss nun der Wegbereiter des<br />
Booms Insolvenz anmelden.<br />
Der Bahnstreik bescherte den Betreibern von Fernbussen<br />
Rekordumsätze. Auch an normalen Tagen<br />
steigen immer mehr Reisende auf die Alternative<br />
zur Bahn um. Doch ausgerechnet der Wegbereiter<br />
des Booms kann <strong>vom</strong> Wachstum nicht profitieren:<br />
Das Offenbacher Unternehmen DeinBus.de stellte<br />
einen Insolvenzantrag. Nach dem Rückzug von City2City<br />
aus Deutschland steht damit schon der<br />
zweite Fernbusanbieter vor der Aufgabe. Denn die<br />
Unternehmen liefern sich einen teilweise ruinösen<br />
Preiskampf. Laut der Berliner Mobilitätsberatung<br />
Iges liegen die Ticketpreise im Schnitt bei vier Cent<br />
pro Kilometer, auf hoch umkämpften Strecken weit<br />
darunter. Sechs Cent pro Kilometer gelten als Minimum,<br />
um betriebswirtschaftlich auf Dauer mit<br />
schwarzen Zahlen zu fahren.<br />
Besonders tragisch: Mit DeinBus wird ausgerechnet<br />
der Fernbus-Pionier Opfer seines politischen<br />
Erfolgs. Von drei Studenten umAlexander Kuhr<br />
gegründet, startete DeinBus Ende 2009 als „Bus-<br />
Mitfahrzentrale“, wogegen die Deutsche Bahn 2010<br />
klagte. Nach Auffassung der Bahn verstieß das Angebot<br />
gegen das Personenbeförderungsgesetz, das<br />
ihr besonderen Schutz auf der Fernstrecke ein-<br />
räumte. Deinbus setzte sich allerdings vor Gericht<br />
gegen die Bahn durch und machte so den Weg frei<br />
für Fernbus-Angebote; die Bundesregierung liberalisierte<br />
dann Ende 2012 den Markt.<br />
Nach und nach stiegen Konzerne wie National<br />
Express und die Deutsche Post gemeinsam mit<br />
dem ADAC in das Segment ein, Daimler beteiligte<br />
sich an FlixBus. Für DeinBus wurde es schwieriger,<br />
sich gegen die finanzstarken Riesen zu behaupten.<br />
Zudem fokussierte sich das Start-up auf Süddeutschland,<br />
während die Konkurrenz schnell<br />
bundesweite Netze aufbaute. DeinBus kam mit seinen<br />
25 Mitarbeitern zuletzt nur auf einen Marktanteil<br />
von zwei Prozent – weit abgeschlagen von den<br />
Marktführern MeinFernbus (45 Prozent) und Flix-<br />
Bus (24 Prozent). DeinBus-Gründer Kuhr wollte<br />
sich auf Anfrage nicht äußern. In Unternehmenskreisen<br />
hieß es, der Bahnstreik helfe zwar kurzfristig,<br />
ein langfristiges Überleben sei aber vermutlich<br />
nur mit einem starken Investor möglich.<br />
Noch bedient DeinBus die knapp zwei Dutzend<br />
Strecken. „Wir haben mit unseren Busunternehmern<br />
eine Lösung gefunden, die garantiert, dass<br />
wir den Betrieb vorerst aufrechterhalten können“,<br />
sagt der vorläufige Insolvenzverwalter Christian<br />
Feketija von der Kanzlei Schneider Geiwitz. Eigene<br />
Busse setzt das Unternehmen nicht ein: Es verkauft<br />
Tickets, die Strecken werden von mittelständischen<br />
Busunternehmern bedient.<br />
christian.schlesiger@wiwo.de, florian.zerfass@wiwo.de<br />
Abgehängt<br />
Marktanteil nach angebotenen<br />
Fahrplankilometern<br />
(in Prozent)<br />
MeinFernbus<br />
FlixBus<br />
Deutsche Bahn*<br />
12<br />
ADAC Postbus<br />
8<br />
DeinBus.de<br />
2<br />
Sonstige<br />
9<br />
24<br />
* IC Bus, Berlinlinienbus;<br />
Quelle: Iges<br />
45<br />
FOTOS: LAIF/TIM WEGNER, CARO FOTOAGENTUR/SVEN HOFFMANN<br />
8 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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EU-USA-ABKOMMEN<br />
Top-Manager<br />
skeptisch<br />
Deutschlands Chemiemanager<br />
stehen dem geplanten transatlantischen<br />
Freihandelsabkommen<br />
(TTIP) skeptisch gegenüber.<br />
Dies ergab eine Umfrage<br />
von Camelot Management<br />
Consultants unter 300 führenden<br />
Managern der Branche.<br />
Laut Camelot-Partner Sven<br />
Mandewirth rechnet zwar die<br />
eine Hälfte der Befragten „mit<br />
Kosteneinsparungen bei Rohstoffimporten<br />
sowie einer größeren<br />
Zuliefer- und Kundenbasis“.<br />
Die andere Hälfte „erwartet<br />
aber auch einen steigenden<br />
Wettbewerbs- und Margendruck“.<br />
Den befürchten vor allem<br />
kleine und mittlere Unternehmen.<br />
Insgesamt geht jeder<br />
Zweite davon aus, dass TTIP<br />
seinem Unternehmen „weder<br />
Vor- noch Nachteile“ bringt.<br />
In den Verlautbarungen des<br />
Chemieverbandes VCI klingt<br />
das Bekenntnis zu TTIP viel positiver.<br />
Das Abkommen biete etwa<br />
die Chance auf mehr Jobs.<br />
Die USA sind – neben den<br />
Niederlanden – der wichtigste<br />
Auslandsmarkt. 2013 exportierte<br />
Deutschland Chemikalien<br />
und Pharmazeutika für 15 Milliarden<br />
Euro in die USA.<br />
juergen.salz@wiwo.de<br />
Aufgeschnappt<br />
Düstere Stunden Bei der Sonnenfinsternis<br />
am 20. März wird<br />
die Sonne zwar nur auf den Färöer-Inseln<br />
komplett verdeckt,<br />
aber auch in Deutschland wird<br />
es dunkler – mit Folgen für die<br />
Stromversorgung. Bei wolkenlosem<br />
Himmel sinkt die bundesweite<br />
Solarstromleistung binnen<br />
einer guten Stunde von 17,5<br />
Gigawatt auf 6,2 Gigawatt ab,<br />
haben Forscher der Berliner<br />
Hochschule HTW errechnet.<br />
Das ist so, als fielen zehn Atomkraftwerke<br />
aus. Einen Blackout<br />
fürchten die Wissenschaftler<br />
trotzdem nicht, raten aber Kraftwerk-<br />
und Netzbetreibern, das<br />
Ereignis einzuplanen.<br />
Heitere Stunden Fußball ist für<br />
Ex-EnBW-Chef Utz Claassen<br />
Familiensache. Erst kauft er sich<br />
beim Zweitligisten Real Mallorca<br />
ein. Jetzt kürt der Verwaltungsrat<br />
seine Frau Annette Claassen<br />
noch zur Bevollmächtigten des<br />
Clubs.<br />
VOLKSWAGEN<br />
Neuheiten fürs Museum<br />
Blitzaktion<br />
VW-Manager<br />
Neußer<br />
Auf der Los Angeles Auto Show<br />
streiten kommende Woche die<br />
beiden größten Autohersteller<br />
um die Technologieführerschaft.<br />
Toyota enthüllt auf der<br />
Automesse die Serienversion<br />
des FCV, des weltweit ersten<br />
Elektroautos mit Brennstoffzellenantrieb.<br />
Volkswagen lädt zu<br />
Probefahrten mit Elektroversionen<br />
des VW Golf Variant und<br />
einem Passat ein, bei denen der<br />
Fahrstrom ebenfalls mit Wasserstoff<br />
in einer Brennstoffzelle<br />
erzeugt wird.<br />
Allerdings bietet Toyota den<br />
FCV Ende März in Japan und<br />
von August an auch in Deutschland<br />
an. Die VW-Modelle hingegen<br />
werden nach der PR-Aktion<br />
in Kalifornien im Museum<br />
verschwinden. Denn VW-Entwicklungsvorstand<br />
Hans-<br />
Jakob Neußer hält im Unterschied<br />
zu den Japaner nicht viel<br />
von der Brennstoffzellentechnik.<br />
Der Aufbau eines Netzes<br />
von Wasserstoff-Tankstellen<br />
dauere zu lange, und der technische<br />
Aufwand sei zu groß.<br />
Die Show-Stücke wurden in<br />
aller Eile als Reaktion auf Toyota<br />
gebaut. Der VW-Konzern will<br />
so beweisen, dass er die Technik<br />
beherrscht und dank des<br />
Baukastenprinzips kurzfristig<br />
marktreif machen könnte. Tatsächlich<br />
setzt Neußer auf batteriegetriebene<br />
Elektromobile. Er<br />
erwartet, dass die Akkupreise<br />
bald fallen und das Leistungsvermögen<br />
in Kürze für Strecken<br />
von 400 Kilometern reicht.<br />
franz.rother@wiwo.de<br />
4,9 5,3<br />
2009<br />
2010<br />
Steigende Nebenkosten<br />
Was der Staat beim Hauskauf abkassiert<br />
6,4<br />
2011<br />
7,4<br />
2012<br />
8,4<br />
* ab Januar 2015, in Klammern derzeit gültiger Satz; ** Schätzung; Quelle: BMF<br />
9,2<br />
2014**<br />
2013<br />
Gesamte Einnahmen<br />
aus der Grunderwerbsteuer<br />
(in Milliarden Euro)<br />
5,0<br />
6,5*<br />
(5,5)<br />
6,5*<br />
(5,0)<br />
5,0<br />
6,0<br />
5,0<br />
6,5<br />
5,0<br />
5,0<br />
4,5<br />
5,0<br />
3,5<br />
5,0<br />
5,0<br />
3,5<br />
6,0<br />
Grunderwerbsteuersätze<br />
in den Bundesländern<br />
(in Prozent)<br />
WirtschaftsWoche <strong>10.11.2014</strong> Nr. 46 9<br />
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Menschen der Wirtschaft<br />
GEWERKSCHAFTEN<br />
Klage<br />
vorbereitet<br />
Zimmer schon gebucht<br />
DBB-Vize Russ<br />
Der Deutsche Beamtenbund<br />
(DBB), dem auch die Lokführergewerkschaft<br />
GDL angehört,<br />
will das geplante Gesetz<br />
zur Tarifeinheit kippen. Er hat<br />
schon eine Kanzlei beauftragt,<br />
es notfalls vor dem Verfassungsgericht<br />
in Karlsruhe zu<br />
Fall zu bringen. Das Gesetz,<br />
das am 3. Dezember im Kabinett<br />
beraten wird, legt fest, dass<br />
künftig nur der Tarifvertrag der<br />
mitgliederstärksten Gewerkschaft<br />
in einem Betrieb gilt.<br />
Spartengewerkschaften sehen<br />
sich dadurch in ihrer Existenz<br />
bedroht. „Wenn das Gesetz<br />
verabschiedet ist, geht die Musik<br />
erst richtig los. Die Zimmer<br />
in Karlsruhe sind gebucht“,<br />
sagt DBB-Vize Willi Russ.<br />
Auch die Ärztegewerkschaft<br />
Marburger Bund und die Pilotenvereinigung<br />
Cockpit bereiten<br />
eine Verfassungsklage vor.<br />
Cockpit wird <strong>vom</strong> früheren<br />
Bundesinnenminister Gerhart<br />
Baum von der Düsseldorfer<br />
Kanzlei Baum, Reiter & Collegen<br />
vertreten. Der Marburger<br />
Bund hat den Göttinger<br />
Rechtsprofessor Frank Schorkopf<br />
verpflichtet und <strong>vom</strong><br />
Ex-Verfassungsrichter Udo<br />
di Fabio ein Gutachten eingeholt.<br />
„Wir gehen zum frühstmöglichen<br />
Zeitpunkt nach<br />
Karlsruhe“, sagt der Vorsitzende<br />
des Marburger Bundes,<br />
Rudolf Henke.<br />
bert.losse@wiwo.de<br />
INTERVIEW Georg Fahrenschon<br />
»Eine gesellschaftliche<br />
Zeitbombe tickt hier«<br />
Der Sparkassen-Präsident fordert mehr Anreize<br />
zum Sparen und warnt vor gefährlichen Folgen<br />
der Politik der Europäischen Zentralbank.<br />
Herr Fahrenschon, wie legen<br />
Sie Ihr Geld an?<br />
Ich rede mit meinem Sparkassenberater<br />
und halte mich an<br />
die Regel, nicht alle Eier in einen<br />
Korb zu legen. Das ist gerade in<br />
Zeiten mit starken Ausschlägen<br />
an den Finanzmärkten wichtig.<br />
Aber Sparen lohnt doch<br />
nicht mehr in Zeiten von Miniund<br />
Negativzinsen.<br />
Von dieser einzelnen Bank...<br />
...Sie meinen die Skatbank...<br />
...möchte ich mich abgrenzen.<br />
Negativzinsen auf Spareinlagen<br />
wird es bei den Sparkassen<br />
nicht geben. Geld zurückzulegen<br />
für spätere Zeiten ist selbstverständlich<br />
auch in Zeiten<br />
niedrigster Zinsen sinnvoll.<br />
Wissen Sie, wie viel Zinsen die<br />
Sparkassen anbieten?<br />
Das sind im Schnitt je nach<br />
Anlage und Laufzeit zwischen<br />
0,5 und 1,2 Prozent.<br />
Nach Abzug der Inflation<br />
ergibt sich aber auch bei Ihnen<br />
ein negativer Zinssatz.<br />
Moment, wir dürfen hier bitte<br />
nicht Ursache und Wirkung verwechseln.<br />
Seit drei, vier Jahren<br />
haben wir es mit einer extrem<br />
DER SPARFUCHS<br />
Fahrenschon, 48, leitet seit 2012<br />
den Deutschen Sparkassen- und<br />
Giroverband. Von 2002 bis 2007<br />
saß der Diplom-Ökonom für die<br />
CSU im Bundestag, danach war<br />
er in Bayern Finanz-Staatssekretär<br />
und später Finanzminister.<br />
unorthodoxen Geldpolitik der<br />
Europäischen Zentralbank<br />
(EZB) zu tun. Für uns wird es<br />
immer schwieriger, die Sparer<br />
vor den Auswirkungen dieser<br />
EZB-Politik zu schützen und ihnen<br />
neben einer sicheren auch<br />
eine einigermaßen verzinsliche<br />
Geldanlage zu ermöglichen.<br />
Sollte die EZB die Niedrigstzinspolitik<br />
bald beenden?<br />
Die EZB sollte ähnlich wie die<br />
Federal Reserve in den USA<br />
wenigstens ankündigen, demnächst<br />
die Zinsen wieder anzuheben.<br />
Denn je länger die<br />
Niedrigzinspolitik andauert,<br />
desto weniger setzen sich die<br />
Krisenländer mit den notwendigen<br />
Reformen auseinander.<br />
Und für die Sparer in allen Euro-Ländern<br />
hat die EZB-Politik<br />
auf Dauer gefährliche Folgen.<br />
Welche denn?<br />
Rund die Hälfte der 14- bis<br />
29-Jährigen sagt, dass sie nicht<br />
mehr sparen will. Dabei weiß jeder,<br />
dass die gesetzliche Rente<br />
im Alter nicht ausreicht, das<br />
Wohlstandsniveau auch nur annähernd<br />
zu halten. Hier tickt eine<br />
gesellschaftliche Zeitbombe.<br />
Es wäre ein wichtiges Signal von<br />
der Politik, Anreize dafür zu<br />
geben, wieder mehr zu sparen.<br />
Auch weil die klassischen Instrumente<br />
der Vermögensbildung<br />
auf einem Niveau gedeckelt<br />
sind, das überhaupt nicht<br />
mehr in die heutige Zeit passt.<br />
Sprechen Sie von den vermögenswirksamen<br />
Leistungen?<br />
Ja, die vermögenswirksamen<br />
Leistungen sind ein wichtiger<br />
Bestandteil der Maßnahmen<br />
zur Vermögensbildung. Es ist<br />
höchste Zeit, diese Instrumente<br />
angesichts ultraniedriger Zinsen<br />
neu zu justieren. Derzeit<br />
wird nur ein Anlagehöchstbetrag<br />
von 470 Euro pro Jahr<br />
durch die Zulage gefördert. Nur<br />
mit einer deutlichen Anhebung<br />
oder Dynamisierung der Anlagehöchstbeträge<br />
ließen sich<br />
wieder die notwendigen Anreize<br />
zur Vermögensbildung<br />
schaffen.<br />
Welche Grenzwerte wären jetzt<br />
angemessen?<br />
Eine genaue Hausnummer<br />
kann und will ich Ihnen nicht<br />
nennen, diese Zahlen müssen<br />
von der politischen Seite kommen.<br />
Heute wird die Arbeitnehmer-Sparzulage<br />
nur bei einem<br />
jährlich zu versteuernden Einkommen<br />
bis 20 000 Euro bei<br />
Einzelveranlagung gewährt.<br />
Das heißt, dass nicht einmal<br />
mehr ein junger Maurer oder<br />
Bürokaufmann bei der Vermögensbildung<br />
gefördert wird. Es<br />
kann gesamtgesellschaftlich<br />
doch nicht richtig sein, dass die<br />
vermögensbildenden Maßnahmen<br />
nur noch für die Niedrigstverdiener<br />
gelten, aber nicht<br />
mehr für die breiten Bevölkerungsschichten.<br />
Da haben wir<br />
uns weit <strong>vom</strong> ursprünglichen<br />
Ziel entfernt.<br />
christian.ramthun@wiwo.de | Berlin<br />
FOTOS: MARKO PRISKE, DPA PICTURE-ALLIANCE/BERND SETTNIK<br />
10 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Menschen der Wirtschaft<br />
WEIHNACHTSGESCHÄFT<br />
Händler leicht optimistisch<br />
Für die Einzelhändler beginnt<br />
jetzt die wichtigste Zeit des Jahres:<br />
Das Weihnachtsgeschäft<br />
startet. In Euphorie versetzt es<br />
die Branche nicht, aber sie ist<br />
zuversichtlich. So zeigt sich<br />
Alain Caparros, Chef der Rewe-Gruppe,<br />
„verhalten optimistisch“.<br />
Einerseits sei die Stimmung<br />
der Verbraucher „durch<br />
die gesamtwirtschaftlich eher<br />
schwache Entwicklung etwas<br />
eingetrübt“, so Caparros. Andererseits<br />
verzichteten sie öfter<br />
auf den Besuch von Restaurants<br />
– zugunsten eines größeren<br />
Dinners zu Hause. „Das ist für<br />
den Lebensmitteleinzelhandel<br />
selbstverständlich positiv“, sagt<br />
Caparros. Insgesamt hofft der<br />
Zu Hause tafeln<br />
lohnt Rewe-Chef<br />
Caparros<br />
Rewe-Frontmann „auf ein<br />
Weihnachtsgeschäft, das so gut<br />
verläuft wie im vergangenen<br />
Jahr“.<br />
Die Douglas-Gruppe, zu der<br />
neben den Parfümerien auch<br />
die Buchhandelskette Thalia<br />
gehört, äußert sich optimistischer.<br />
„Wir glauben, dass wir im<br />
diesjährigen Weihnachtsgeschäft<br />
im Vergleich zu 2013<br />
noch weiter zulegen werden –<br />
insbesondere bei unseren Douglas-Parfümerien“,<br />
sagt Vorstandschef<br />
Henning Kreke.<br />
Auch Kaufhof-Chef Lovro<br />
Mandac sieht „Chancen für ein<br />
leichtes Plus“. Ebenso Alexander<br />
Birken. Der Konzernvorstand<br />
der Otto Group geht für<br />
den Web-Shop otto.de von einem<br />
„deutlichen Anstieg der<br />
Besucherzahlen“ aus.<br />
Ein Fest der Freude erwartet<br />
auch Serge van der Hooft, Chef<br />
des Erotikhändlers Beate Uhse.<br />
Er rechne „mit einem erfreulichen<br />
Weihnachtsgeschäft, insbesondere<br />
in unserem Kernmarkt<br />
Deutschland“.<br />
henryk.hielscher@wiwo.de<br />
DREI FRAGEN...<br />
...zum Informatikunterricht<br />
in Schulen<br />
Sylvia<br />
Löhrmann<br />
57, Präsidentin<br />
der Kultusministerkonferenz<br />
n Unternehmer fordern<br />
mehr Informatikunterricht<br />
an den Schulen. Wann werden<br />
die Lehrpläne geändert?<br />
Informatik wird in der Sekundarstufe<br />
I als Pflichtfach,<br />
Wahlpflichtfach und in Form<br />
von Arbeitsgemeinschaften<br />
angeboten; in der gymnasialen<br />
Oberstufe kann Informatik<br />
– auch als Abiturprüfungsfach<br />
– gewählt werden. Die Vermittlung<br />
einer informationstechnischen<br />
Grundbildung<br />
durch die Schule ist in unserem<br />
digitalen Zeitalter überaus<br />
wichtig – in welchem Umfang<br />
dies geschieht, liegt in<br />
der Entscheidung der einzelnen<br />
Länder.<br />
Die besten Unis für Gründer<br />
Große Hochschulen*<br />
1 TU München<br />
2 Hochschule München<br />
3 Karlsruher Institut für<br />
Technologie (KIT)<br />
4<br />
5<br />
Technische Universität Berlin<br />
Universität Potsdam<br />
* groß: >15 000, mittel: 5000–15 000, klein: >5000 Studierende; Quelle: Stifterverband Gründungsradar 2013; Hochschulbefragung<br />
HOCHSCHULEN<br />
Mehr Hilfen<br />
für Start-ups<br />
An diesem Montag stellt<br />
Andreas Pinkwart, Rektor der<br />
Handelshochschule Leipzig<br />
(HHL), sein neues Projekt vor:<br />
das SpinLab. Von Januar an soll<br />
es Start-ups helfen, die aus<br />
Hochschulen ausgegründet<br />
werden. Schon jetzt bietet die<br />
Mittlere Hochschulen<br />
1 Leuphana Universität Lüneburg<br />
2 Europa-Universität Viadrina<br />
3 BTU Cottbus-Senftenberg<br />
4<br />
5<br />
Technische Universität Kaiserslautern<br />
Technische Universität Bergakademie<br />
Freiberg<br />
HHL ausgezeichnete Voraussetzungen<br />
für Start-ups. Zu dem<br />
Ergebnis kommt der Gründungsradar<br />
2013, den der Stifterverband<br />
für die Deutsche<br />
Wissenschaft jetzt erstellt hat.<br />
Die HHL siegte in der Kategorie<br />
der kleinen Hochschulen (siehe<br />
Tabelle). Die Technische Universität<br />
München liegt unter<br />
den großen Hochschulen vorn<br />
und die Leuphana Universität<br />
Lüneburg unter den mittleren.<br />
Alle drei hatten schon im Vor-<br />
Kleine Hochschulen<br />
1 HHL Leipzig Graduate School of Management<br />
2 WHU Otto Beisheim School of Management<br />
3 Private Hochschule Göttingen<br />
4<br />
5<br />
Fachhochschule Mainz<br />
Fachhochschule Potsdam<br />
jahr Spitzenplätze belegt. Am<br />
stärksten verbesserten sich die<br />
Universitäten in Trier und Passau<br />
sowie die WHU Otto Beisheim<br />
School of Management.<br />
Insgesamt wurden an den<br />
deutschen Hochschulen 2013<br />
fast 1800 Start-ups gegründet,<br />
rund 600 mehr als im Vorjahr.<br />
Das Budget der Hochschulen<br />
für Gründungsförderung stieg<br />
um 28 Prozent auf knapp 63<br />
Millionen Euro.<br />
jens.toennesmann@wiwo.de<br />
n Sollte Informatik ein<br />
Pflichtfach werden?<br />
Es kann nicht darum gehen,<br />
Informatik zulasten anderer,<br />
für eine allgemeine Bildung<br />
mindestens ebenso notwendiger<br />
Fächer in die Stundentafel<br />
aufzunehmen. Die Einführung<br />
eines Pflichtfachs Informatik<br />
in der Sekundarstufe I ist<br />
Sache der Länder. In einigen<br />
Ländern ist das Fach bereits<br />
mit bestimmtem Stundenkontingent<br />
in einzelnen Jahrgangsstufen<br />
vorgesehen.<br />
n Wie stärkt die Kultusministerkonferenz<br />
(KMK)<br />
den Informatikunterricht?<br />
Die KMK misst der Medienbildung<br />
von Schülerinnen und<br />
Schülern eine zentrale Bedeutung<br />
bei. Sie hat dazu mehrere<br />
Empfehlungen verabschiedet.<br />
Außerdem ist in den Lehrplänen<br />
aller Länder die Medienbildung<br />
verankert.<br />
oliver.voss@wiwo.de<br />
FOTOS: VALERY KLOUBERT, PR<br />
12 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Menschen der Wirtschaft<br />
VALEO<br />
Franzose auf<br />
Deutschkurs<br />
TOP-TERMINE VOM 10.11. BIS 16.11.<br />
10.11. Apec-Gipfel In Peking beraten am Montag die<br />
21 Länder des asiatisch-pazifischen Bündnisses<br />
Apec. Auch US-Präsident Barack Obama kommt.<br />
BILSTER BERG<br />
Zoff um Graf<br />
Oeynhausen<br />
Der französische Autozulieferer<br />
Valeo investiert in seine deutschen<br />
Werke. „Deutschland ist<br />
und bleibt für uns als Produktionsstandort<br />
absolut notwendig“,<br />
sagt Konzernchef Jacques<br />
Aschenbroich. Die deutschen<br />
Kunden tragen 30 Prozent zum<br />
Konzernumsatz bei, der sich<br />
2013 auf 10,3 Milliarden Euro<br />
belief. Vor fünf Jahren lag der<br />
deutsche Umsatzanteil erst bei<br />
20 Prozent.<br />
Zudem beschäftigt das Unternehmen<br />
mehr deutsche Mitarbeiter.<br />
Deren Zahl wuchs<br />
zwischen Oktober 2013 und<br />
Oktober 2014 um 498 auf 4558.<br />
Von weltweit 1200 neuen Ingenieuren<br />
heuerte Valeo 163 in<br />
Deutschland an. Und es sollen<br />
noch mehr werden. Allerdings<br />
ist es für die Franzosen schwieriger<br />
als für die deutschen<br />
Wettbewerber Bosch und Continental,<br />
deutsche Fachkräfte<br />
zu gewinnen. Deshalb wolle<br />
Valeo bekannter werden, sagt<br />
Aschenbroich. Valeo unterhält<br />
hierzulande fünf Werke sowie<br />
sechs Forschungs- und Entwicklungszentren.<br />
Weltweit<br />
liegt der Konzern auf Platz 14<br />
der größten Erstausrüster der<br />
Autoindustrie.<br />
rebecca.eisert@wiwo.de<br />
BILFINGER<br />
Vor neuem<br />
Umbau<br />
In diesen Tagen rückt der frühere<br />
Daimler-, Metro- und Haniel-<br />
Manager Eckard Cordes in<br />
den Aufsichtsrat des Bau- und<br />
Dienstleistungskonzerns Bilfinger<br />
ein, schon zeichnet sich<br />
ein weiterer Umbau im Top-<br />
Mann fürs Grobe Designierter<br />
Aufsichtsratschef Cordes<br />
11.11. Metall- und Elektroindustrie Der Vorstand der<br />
IG Metall stellt am Dienstag seine Forderungen<br />
für die Tarifrunde vor, die im Januar<br />
beginnt. Neben einer Erhöhung<br />
der Löhne setzt er sich für eine<br />
Ausweitung der Altersteilzeit ein<br />
und für neue Regeln zur Weiterbildung.<br />
Hella-Börsengang Die Aktie des westfälischen Autozulieferers<br />
Hella wird erstmals an der Börse in<br />
Frankfurt notiert. Zunächst werden nur 15 Prozent<br />
gelistet, mittelfristig will die Eignerfamilie 60 Prozent<br />
behalten.<br />
12.11. Wirtschaftsweisen Die fünf Mitglieder des Sachverständigenrats<br />
stellen am Mittwoch ihr Gutachten<br />
2014/15 vor. Im November des vergangenen<br />
Jahres hatten sie der deutschen Wirtschaft für<br />
2014 ein Plus von 1,6 Prozent vorausgesagt, im<br />
März hatten sie nachgebessert: auf 1,9 Prozent.<br />
13.11. Bundeshaushalt Der Haushaltausschuss des Bundestages<br />
beschließt am Donnerstag den Bundeshaushalt<br />
für 2015. Der Bund will 2015 keine neuen<br />
Kredite aufnehmen.<br />
14.11. Konjunktur Das Statistische Bundesamt informiert<br />
am Freitag über das Bruttoinlandsprodukt<br />
(BIP) im dritten Quartal. Im zweiten sank es gegenüber<br />
dem ersten um 0,2 Prozent. Eurostat veröffentlicht<br />
BIP und Inflationsrate für die EU.<br />
15.11. G20-Gipfel Die Delegierten der 20 wichtigsten Industrie-<br />
und Schwellenländer treffen sich am<br />
Samstag in der australischen Stadt Brisbane.<br />
Management ab. Cordes, der<br />
den Job im Auftrag des schwedischen<br />
Hauptaktionärs Cevian<br />
Capital übernimmt, dürfte sich<br />
nach Einschätzung von Aufsichtsratskollegen<br />
zügig von<br />
Joachim Enenkel trennen.<br />
Enenkel führt nur noch die<br />
Bausparte, die zum größten Teil<br />
verkauft wird. Zuvor hat er auch<br />
die Kraftwerks- und Rohrleitungssparte<br />
geleitet, deren Verluste<br />
binnen weniger Monate<br />
vier Gewinnwarnungen auslösten.<br />
Vorstandschef Roland<br />
Koch, Finanzchef Joachim Müller<br />
und Aufsichtsratschef Bernhard<br />
Walter verloren ihren Job.<br />
Unternehmenskenner erwarten<br />
zudem, dass Cordes schnell<br />
einen Nachfolger für Interims-<br />
Vorstandschef Herbert Bodner<br />
präsentiert, der Bilfinger seit<br />
August führt.<br />
harald.schumacher@wiwo.de<br />
Muss sich vielen Fragen stellen<br />
Geschäftsführer Oeynhausen<br />
Die Geldgeber der privaten<br />
Rennstrecke Bilster Berg im<br />
Teutoburger Wald erheben<br />
schwere Vorwürfe gegen Geschäftsführer<br />
Marcus Graf von<br />
Oeynhausen-Sierstorpff. 34 Millionen<br />
Euro haben 180 vermögende<br />
Anleger in den Bau der<br />
Anlage gesteckt, die 2013 eröffnet<br />
wurde. Jetzt kritisiert ein<br />
Sonderbericht des Beirats, wie<br />
der Graf mit dem Geld umgegangen<br />
ist. So habe die Bad Driburger<br />
Unternehmensgruppe<br />
des Grafen, zu der Rehakliniken,<br />
ein Hotel und ein Mineralwasserabfüller<br />
gehören, der Strecke<br />
mehrere Abschlagsrechnungen<br />
über insgesamt 1,35 Millionen<br />
Euro zuzüglich Umsatzsteuer<br />
für Projektsteuerungsleistungen<br />
beim Bau gestellt. Leistungen<br />
seien allerdings „nicht ersichtlich“,<br />
heißt es im Sonderbericht.<br />
Eine Schlussrechnung und eine<br />
Abnahme der Leistungen habe<br />
es nie gegeben. Der Beirat fordert<br />
daher das Geld samt Zinsen<br />
zurück.<br />
Oeynhausen widerspricht.<br />
Die geschuldeten Leistungen<br />
seien vollständig erbracht worden.<br />
„Die Vorwürfe“, so sein<br />
Sprecher, „sind unberechtigt<br />
und werden kurzfristig geklärt<br />
werden.“<br />
florian.zerfass@wiwo.de<br />
FOTOS: PUBLIC ADDRESS, DIETER MÜLLER, FRANK ZAURITZ<br />
14 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Menschen der Wirtschaft<br />
CHEFSESSEL<br />
START-UP<br />
DEUTSCHE POST DHL<br />
Melanie Kreis, 54, ist in<br />
den Vorstand des Logistikkonzerns<br />
aufgerückt und<br />
verantwortet dort das Personalressort.<br />
Vorgängerin Angela<br />
Titzrath hatte Posten<br />
und Unternehmen im Juli<br />
überraschend verlassen.<br />
Kreis, studierte Physikerin,<br />
muss im nächsten Jahr einen<br />
neuen Tarifvertrag verhandeln.<br />
Zudem läuft 2015 der<br />
Beschäftigungspakt aus, der<br />
betriebsbedingte Kündigungen<br />
verhindert.<br />
VOLKSWAGEN<br />
Achim Schaible, 45, ist der<br />
zweite langjährige Renault-<br />
Deutschland-Chef, der im<br />
Volkswagen-Konzern eine<br />
neue Heimat gefunden hat.<br />
Am 1. November übernahm<br />
der Betriebswirt und Vertriebsexperte<br />
die Leitung der<br />
Volkswagen Group Polska.<br />
Sein Vorgänger als Vorstandschef<br />
von Renault<br />
Deutschland, Jacques Rivoal,<br />
56, hatte vor einem Jahr<br />
die Leitung der Volkswagen<br />
Group France übernommen.<br />
Beide Manager mussten erfahren,<br />
dass Renault Arbeitsverträge<br />
trotz nachweisbarer Absatzerfolge<br />
nicht verlängerte.<br />
GOOGLE<br />
Andre Rubin, 52, beherzigt<br />
den Vorsatz, dann zu gehen,<br />
wenn es am besten läuft. 2005<br />
stieß der Unternehmer zu Google,<br />
um das von ihm ersonnene<br />
Betriebssystem Android zum<br />
dominanten Betriebssystem für<br />
Smartphones und Tablets zu<br />
machen. Zeitweilig wurde er sogar<br />
als Nachfolger von Google-<br />
Chef Larry Page, 41, gehandelt.<br />
Doch dann setzte sich Sundar<br />
Pichai, 42, als neuer starker<br />
Mann durch, der im März auch<br />
die Android-Sparte übernahm.<br />
Rubin wurde mit der wachsenden<br />
Roboter-Sparte abgefunden.<br />
Nun will er einen Brutkasten<br />
für Start-ups aufbauen.<br />
OSRAM<br />
Olaf Berlien, 52, bis Ende 2012<br />
ThyssenKrupp-Vorstand, löst<br />
im Januar Wolfgang Dehen, 60,<br />
als Vorstandschef des Lichtkonzerns<br />
ab. Zudem leitet Berlien<br />
dann noch Osrams Technikressort.<br />
Derzeit führt er die<br />
M+W Group, die Reinraumfabriken<br />
baut. Dehens Vertrag lief<br />
zwar noch bis März 2016, ihm<br />
wird aber schlechtes Management<br />
vorgeworfen (Wirtschafts-<br />
Woche 45/2014).<br />
KREUZFAHRTEN<br />
15,9 Millionen Deutsche<br />
favorisierten in diesem Jahr Ferien auf dem Schiff, 160 000 mehr<br />
als 2013. Tatsächlich buchten 1,7 Millionen Bundesbürger im vergangenen<br />
Jahr eine Hochseekreuzfahrt, 2012 waren es 1,5 Millionen.<br />
75 Prozent der Passagiere bevorzugen europäische Regionen.<br />
Am beliebtesten ist das Mittelmeer, gefolgt von Nordeuropa.<br />
MY SCHOKO WORLD<br />
Schokolade mit Gesicht<br />
Fakten zum Start<br />
Team derzeit drei Mitarbeiter<br />
Absatz Schoko-Memo im Einzelhandel<br />
in drei Jahren 800 000<br />
Stück<br />
Umsatz von Mastertrade im<br />
Vorjahr 740 000 Euro<br />
Schokolade als Puzzle und Memory – damit hat Christian Keller<br />
angefangen. Adventskalender wollte er eigentlich nicht anbieten.<br />
„Für die drei Wochen Geschäft im Jahr lohnt sich der Aufwand<br />
nicht“, dachte sich der Gründer des Start-ups My Schoko World.<br />
Doch als das Reiseportal Weg.de nach Adventskalendern fragte,<br />
änderte Keller seine Meinung. Jetzt verlost das Reiseunternehmen<br />
die Kalender auf seiner Internet-Seite – die 24 Türchen zeigen Urlaubsbilder<br />
von Mitarbeitern des Touristikportals.<br />
Inzwischen kann jeder bei My Schoko World Schokokalender<br />
mit eigenen Fotos bestellen. Das Unternehmen in Gröbenzell bei<br />
München personalisiert noch weitere Leckereien aus belgischer<br />
Schokolade – auch Puzzles und Memorys. Früher erwarb Keller<br />
mit seinem Unternehmen Mastertrade, aus dem My Schoko<br />
World hervorging, Lizenzen für klassische Puzzles. Dann brachte<br />
ihn seine Nichte auf die Idee zu dem Schokoladen-Memory. Er<br />
bedruckte die Tafeln mit Star-Wars-Figuren, Tiermotiven und Hello<br />
Kitty und vertrieb sie über den Einzelhandel. „Doch ein großer<br />
Mittelständler kopiert jetzt das Schoko-Memo“, sagt Keller. Da er<br />
im Preiskampf nicht mithalten<br />
konnte, stieg er auf<br />
die personalisierbare Version<br />
um. Dafür gebe es<br />
von privaten und Firmenkunden<br />
viel Zuspruch.<br />
„Andere Anbieter fangen<br />
bei 2000 Stück an, wir<br />
machen es ab 50 Stück.“<br />
oliver.voss@wiwo.de<br />
FOTOS: PR (2), DOC-STOCK<br />
16 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Menschen der Wirtschaft | Chefbüro<br />
Ulrich Walter<br />
D2-Astronaut und Professor für Raumfahrttechnik.<br />
Das Gefühl, wieder festen Boden<br />
unter den Füßen zu haben,<br />
kennt Ulrich Walter, 60, ehemaliger<br />
Astronaut der D2-Mission<br />
und jetzt Professor für Raumfahrttechnik<br />
an der Technischen<br />
Universität München.<br />
Den 10. November verfolgt er<br />
deshalb besonders. Dann kehrt<br />
Alexander Gerst als zehnter<br />
deutscher Raumfahrer von der<br />
Internationalen Raumstation<br />
ISS zur Erde zurück. „Trotz der<br />
jüngsten Raumfahrt-Unfälle<br />
habe ich keine Angst um ihn“,<br />
sagt Walter, „ein Risiko wie bei<br />
der Explosion des Raumgleiters<br />
SpaceShipTwo besteht nicht,<br />
da er ja antriebslos zur Erde<br />
schwebt.“ Dabei zeigt Walter<br />
auf ein Modell des US-Raumgleiters<br />
Columbia,<br />
360 Grad<br />
In unseren App-<br />
<strong>Ausgabe</strong>n finden<br />
Sie an dieser<br />
Stelle ein interaktives<br />
360°-Bild<br />
das zusammen mit<br />
einem Modell der<br />
Trägerrakete Ariane 5<br />
und einem des Benz-<br />
Patent- Motorwagens<br />
auf seinem Arbeitstisch<br />
steht. Seit März<br />
2003 lehrt der Ex-Astronaut<br />
Raumfahrttechnik an<br />
der TU München. Sein Büro im<br />
zweiten Stock des Uni-Gebäudes<br />
ist bodenständig eingerichtet.<br />
„Das bekommt man im<br />
öffentlichen Dienst so gestellt“,<br />
sagt der ehemalige Leutnant<br />
der Reserve. Nur den Vitra-<br />
Chefsessel hat er selbst gekauft.<br />
Nach dem Militärdienst studierte<br />
er an der Universität<br />
Köln Physik. Dort<br />
promovierte er auch.<br />
Nach einem Zwischenstopp<br />
an der<br />
amerikanischen Berkeley-Universität<br />
bewarb er sich als<br />
Wissenschaftsastronaut<br />
bei der damaligen<br />
Deutschen Forschungsund<br />
Versuchsanstalt für Luftund<br />
Raumfahrt in Köln. „Am<br />
26. April 1993 hob ich ab ins<br />
All“, erinnert sich Walter. In den<br />
Regalen seines Büros konkurrieren<br />
Vortragsordner mit<br />
Fotobänden und Büchern des<br />
Raumfahrtpioniers Wernher<br />
von Braun. Ein Bild des Malers<br />
und Weltraum-Illustrators<br />
Detlev van Ravenswaay zeigt<br />
Walter gemeinsam mit seiner<br />
D2-Crew. Die Sehnsucht nach<br />
der grenzenlosen Freiheit ist<br />
geblieben. „Wenn Sie ein Weltraum-Ticket<br />
haben, fliege ich<br />
sofort“, sagt er , „aber sagen<br />
Sie’s bitte nicht meiner Frau.“<br />
ulrich.groothuis@wiwo.de<br />
FOTO: DIETER MAYR FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
18 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
Wir streiken!<br />
Weiter<br />
REFORMEN | Die Blockade des Bahnverkehrs ist Symbol für den Stillstand des Landes.<br />
Egoismus und Reformstau greifen um sich, wirtschaftliche Risiken und gesellschaftliche<br />
Probleme wachsen. Die Politik ruht sich auf den Erfolgen der Vergangenheit aus.<br />
20 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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FOTO: FOTOLIA<br />
Der Hashtag im Kurznachrichtendienst<br />
Twitter ist<br />
vulgär, und auch die Botschaften<br />
sind heftig. Auf<br />
#Fuckyougdl lassen frustrierte<br />
Streikopfer ihren<br />
Verwünschungen freien Lauf: „Wenn ihr weniger<br />
arbeiten wollt, beantragt Hartz IV“,<br />
empfiehlt @Reyson1990 den Lokführern im<br />
Ausstand. „Zwar habt ihr nicht mehr Geld,<br />
aber eine Forderung ist wenigstens erfüllt.“<br />
@MhhhKathi schimpft: „Ich opfere für Donnerstag<br />
und Freitag jetzt meine letzten beiden<br />
Urlaubstage. Danke, Arschlöcher.“ Und<br />
@didi577 versteigt sich gar zu einem Gewaltaufruf:<br />
„Bindet Weselsky aufs Gleis, solange<br />
noch Züge fahren.“<br />
Allzu gefährlich war das für den Vorsitzenden<br />
der GDL, Claus Weselsky, noch nicht.<br />
Die meisten Züge blieben zunächst im Depot,<br />
nur die Reisenden auf der Strecke. Es ist<br />
der größte Eisenbahnerstreik in der bundesrepublikanischen<br />
Geschichte, der in sechs<br />
Abschnitten in diesem Jahr bereits an 13<br />
Tagen für Stillstand sorgen sollte. Organisiert<br />
durch eine Minigewerkschaft mit 34000 Mitgliedern,<br />
der es nicht um mehr Lohn für ihre<br />
Mitglieder geht, sondern um mehr Macht für<br />
ihre Funktionäre.<br />
Der Bahnstreik ist Symptom einer selbstvergessenen<br />
Gesellschaft – und Symbol für<br />
den Stillstandort Deutschland, für Egoismus<br />
und Reformstau, die überall um sich greifen.<br />
Die wirtschaftlichen Risiken und die gesellschaftlichen<br />
Probleme nehmen zu, die Investitionslücke<br />
wächst, doch die Gesellschaft<br />
hält fest an kommoden Besitzständen.<br />
Deutschland ist noch nicht wieder der<br />
kranke Mann Europas wie um die Jahrtausendwende.<br />
Aber statt im Fitnessclub der<br />
Reformen zu ackern, fläzt es im Liegestuhl.<br />
Statt sich für die Zukunft zu wappnen, verharrt<br />
es selbstzufrieden.<br />
Gerhard Schröder startete seine Agenda<br />
erst, als er mit dem Rücken zur Wand stand.<br />
Die schwarz-rote Koalition hat daraus<br />
nichts gelernt. Sie wartet ab, bis sie vor die<br />
Wand läuft.<br />
Die Generalimmobilmachung auf der<br />
Schiene – und vielleicht bald wieder in der<br />
Luft durch die streikfreudigen Piloten –<br />
trifft mitten hinein in die Sorge um die Konjunktur.<br />
Eine Rezession ist nicht in Sicht. Aber dass<br />
die Wirtschaftslage flauer wird, bestreitet<br />
niemand, nicht einmal die Regierung. Ähnlich<br />
wie die Forschungsinstitute hat sie ihre<br />
Wachstumsprognose auf 1,2 Prozent für dieses<br />
und 1,3 Prozent fürs nächste Jahr zurückgenommen.<br />
Chefskeptiker und Konjunkturforscher<br />
Hans Werner Sinn <strong>vom</strong> ifo Institut<br />
verortet die Entwicklung inzwischen gar<br />
„nochmals ein Stück tiefer, in der Gegend<br />
von etwa einem Prozent“. Denn der Geschäftsklimaindex<br />
des Instituts bröckelt beständig<br />
ab, deute also auf eine Stagnation<br />
hin. Die Mehrheit der Großunternehmen<br />
rechnet zudem mit einer Rückkehr der Euro-<br />
Krise, hat die Beratungsgesellschaft Deloitte<br />
ermittelt (siehe Seite 26). Doch die satte, müde<br />
Republik und ihre Bewohner ficht das<br />
nicht an, getreu dem Egoistenmotto: „Wenn<br />
jeder an sich denkt, ist an alle gedacht.“<br />
Industrieverbände, Gewerkschaften, Lobbytruppen<br />
aller Art, aber auch jeder einzelne<br />
Bürger fühlen sich berechtigt, lieber doch<br />
noch ein etwas größeres Stück <strong>vom</strong> Kuchen<br />
abzuschneiden. Mehr Macht, mehr Mitglieder,<br />
mehr Subventionen – danach gieren die<br />
Organisationen. Mehr Rente, weniger Sozialbeiträge,<br />
weniger Steuern – danach sehnen<br />
sich Arbeitnehmer und Verbraucher.<br />
Und der Staat steht nicht hintan: Mehr Steuern,<br />
mehr Gebühren, mehr Regulierung – so<br />
weitet er seinen Einfluss aus.<br />
Inzwischen sind die häufigen Gesetzesänderungen<br />
und staatlichen Eingriffe durch<br />
die Politik für die Unternehmen gefährlicher<br />
als Fachkräftemangel, Lohnerhöhungen<br />
oder steigende Energiekosten, klagten die<br />
Finanzvorstände in der Deloitte-Umfrage.<br />
Einziger Trost: Die Firmen haben aus der<br />
letzten Krise gelernt und ihr Eigenkapital<br />
deutlich aufgepolstert.<br />
Deutschland, nach den Schröder-Reformen<br />
vor gut zehn Jahren zum Musterknaben<br />
Europas avanciert, verspielt nicht nur seine<br />
Zukunft, sondern auch seinen moralischen<br />
Anspruch, die Nachbarn zu vernünftiger<br />
Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik zu ermahnen.<br />
Längere Lebensarbeitszeit? Frankreich<br />
soll die Arbeitnehmer später in den<br />
Ruhestand schicken, während Arbeitsministerin<br />
Andrea Nahles (SPD) und die große<br />
Koalition die Rente mit 63 einführen. Sparsame<br />
Haushaltsführung? Griechenland soll<br />
liefern, während Bundesfinanzminister<br />
Wolfgang Schäuble (CDU) den Etat vor allem<br />
über höhere Einnahmen ausgleicht. Die<br />
Steuerschätzung der vergangenen Woche<br />
ermittelte für den Bund für das kommende<br />
Jahr sogar noch einmal ein unerwartetes<br />
Plus von 700 Millionen Euro – kein Grund,<br />
den spendablen Kurs zu ändern. Sozialer<br />
Friede? Italien und Belgien sollen nicht mit<br />
Arbeitskämpfen ihren Standort schädigen,<br />
während hierzulande die Räder stillstehen.<br />
Der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann<br />
macht sich keine Illusionen über die Folgen<br />
für den Stillstandort. Der aktuelle Arbeitskampf<br />
schade dem Ansehen Deutschlands,<br />
urteilt er. Bisher gilt das Land als streikarm,<br />
und die Sozialpartner gelten als vorbildlich<br />
darin, die Interessen aller Mitarbeiter einzubeziehen.<br />
„Der Bahnstreik fördert dieses<br />
Image wirklich nicht.“<br />
Gewerkschaften<br />
Jeder ist sich selbst der Nächste<br />
Selten klang der Begriff „Einheitsgewerkschaft“<br />
so deplatziert wie in diesen Tagen –<br />
und das liegt nicht nur daran, dass die gut<br />
organisierte Spartenorganisation GDL das<br />
deutsche Arbeitnehmerlager spaltet. Der<br />
Kampf um die Tarifeinheit (ein Betrieb, ein<br />
Tarifvertrag), der 2010 mit einem gemeinsamen<br />
Eckpunktepapier des DGBs und der<br />
Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände<br />
begann, wird auf Gewerkschaftsseite<br />
längst nicht mehr geschlossen<br />
geführt. Verdi, die zweitgrößte Gewerkschaft<br />
im Land, scherte auf Druck ihrer Basis<br />
aus und will die Tarifeinheit nun lieber<br />
doch nicht wiederhaben. Das führt zu bisweilen<br />
bizarren Reaktionen. Vertreter des<br />
Verdi-Bezirks Südhessen sandten jüngst eine<br />
Solidaritätsadresse an die eigentlich verhasste<br />
GDL und ermunterten diese, kräftig<br />
weiterzustreiken. Die Pläne der Bundesregierung<br />
zur Tarifeinheit richteten sich „im<br />
Kern gegen alle Gewerkschaften“.<br />
Genau diese Pläne aber muss DGB-Chef<br />
Hoffmann verteidigen. Auf dem DGB-Bundeskongress<br />
im Mai gab es einen kryptischen<br />
Kompromiss, wonach der DGB die<br />
Tarifeinheit wolle, aber keinerlei Einschränkung<br />
des Streikrechts akzeptieren werde –<br />
auch nicht für Spartengewerkschaften. „Das<br />
eine aber lässt sich <strong>vom</strong> anderen nicht trennen“,<br />
sagt Richard Giesen, Arbeitsrechtler<br />
an der Universität München.<br />
Der Bahn-Konflikt gefährdet das Ansehen<br />
der Gewerkschaften insgesamt. Der DGB<br />
bekomme es immer wieder mit empörten<br />
Bürgern zu tun, denen nicht klar sei, dass<br />
die Lokführergewerkschaft nicht zum DGB<br />
gehöre, berichtet Hoffmann. „Insofern<br />
schadet der Machtkampf der GDL – Kompromisslosigkeit<br />
ist kein Weg, zu gestalten.“<br />
Die Bahngewerkschaft des DGB, die EVG,<br />
verhandele derzeit, ohne zu streiken. Hoffmann:<br />
„Das ist unser Ruf – und der wird gerade<br />
geschädigt.“<br />
Die Bundesregierung hat mit ihrem Gesetzentwurf<br />
zur Tarifeinheit die Lage noch<br />
verschärft. „Wenn es die Gesetzespläne der<br />
großen Koalition nicht gäbe, wäre der<br />
»<br />
WirtschaftsWoche <strong>10.11.2014</strong> Nr. 46 21<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
Für mehr Geld Verdi-Chef Bsirkse streikt mit dem öffentlichen Dienst<br />
»<br />
Tarifkonflikt bei der Bahn längst gelöst“,<br />
glaubt der frühere Bundesinnenminister<br />
Gerhart Baum, der als Anwalt die Pilotenvereinigung<br />
Cockpit vertritt. Die Spartengewerkschaften<br />
sehen sich in ihrer Existenz<br />
bedroht; sowohl Cockpit als auch der Beamtenbund<br />
(als Dachverband der GDL)<br />
und die Ärztegewerkschaft Marburger Bund<br />
wollen vor dem Bundesverfassungsgericht<br />
klagen (siehe Seite 10). „Sobald das Gesetz<br />
in Kraft getreten ist, werde ich für Cockpit eine<br />
verfassungsgerichtliche Klärung in die<br />
Wege leiten“, kündigt Baum an.<br />
Die Angst, als Minderheitstruppe künftig<br />
keine Rolle zu spielen, sorgt bei den Spartengewerkschaften<br />
für Bewegung. Die Flugbegleitergewerkschaft<br />
Ufo, derzeit fürs Kabinenpersonal<br />
zuständig, will eine berufsübergreifende<br />
„Industriegewerkschaft Luftfahrt<br />
(IGL)“ gründen. Der Ufo-Vorsitzende<br />
Nicoley Baublies versucht, andere kleine Interessenverbände<br />
wie die Gewerkschaft der<br />
Flugsicherung, die Technik Gewerkschaft<br />
Luftfahrt und die Vertretung des Bodenpersonals<br />
(Agil) ins Boot zu holen.<br />
Der Vorstoß ist ein Angriff auf die Großgewerkschaft<br />
Verdi, die mehr als 1000 Berufe<br />
unter einem Dach vereint. Auch fast 14 Jahre<br />
nach ihrer Gründung hat sie keine wirkliche<br />
Bindungskraft im Arbeitnehmerlager<br />
entwickelt. Fast alle Spartengewerkschaften<br />
tummeln sich in ihrem Beritt.<br />
Als sei die Zersplitterung nicht Problem<br />
genug, rangeln nun auch DGB-Gewerkschaften<br />
miteinander um Macht und Mitglieder.<br />
In der Energie- und Wasserwirtschaft<br />
liegen Verdi und IG BCE über Kreuz.<br />
Im sächsischen Annaberg rief Verdi zum<br />
Warnstreik beim lokalen Wasserversorger<br />
auf, obwohl es dort einen Tarifvertrag der IG<br />
BCE gab. So etwas habe „es in der Geschichte<br />
des DGB bislang nicht gegeben“, tobt IG-<br />
BCE-Boss Michael Vassiliadis. Auch zwischen<br />
Verdi und IG Metall hängt der Haussegen<br />
schief. Konkreter Anlass: Beim Bremer<br />
Logistikunternehmen Stute, ursprünglich<br />
Verdi-Land, warb die IG Metall Mitglieder<br />
und schloss einen eigenen Tarifvertrag ab –<br />
den wiederum Verdi mit einem neuen Vertrag<br />
zu übertrumpfen versuchte. Das hätten<br />
die Bahngewerkschaften EVG und GDL<br />
nicht besser hingekriegt.<br />
Generationen<br />
Zukunft? Nicht mit uns!<br />
Union und SPD verschaffen mit ihrer erdrückenden<br />
Mehrheit im Bundestag den Älteren<br />
und Etablierten in der Gesellschaft einen<br />
Einfluss, der ihren stetig wachsenden<br />
Anteil an der Gesellschaft noch übertrifft.<br />
Das durchschnittliche Parteimitglied bei<br />
Christ- wie Sozialdemokraten ist um die 60<br />
Jahre. Bei der jüngsten Bundestagswahl<br />
stimmten 50 Prozent der über 60-jährigen<br />
Wähler für CDU oder CSU. Ein knappes<br />
Drittel der Bürger ist heute bereits über 60 –<br />
und diese Älteren gehen überdurchschnittlich<br />
oft zur Wahl.<br />
Statt sich um Aufstiegschancen für Jüngere<br />
oder Zuwanderer zu kümmern, sorgen<br />
Die Wahlgeschenke<br />
zielten vor allem auf<br />
die ältere Generation<br />
Gegen den Verschleiß Es fehlen sieben Milliarden Euro pro Jahr<br />
sich beide Regierungsparteien eher um die<br />
Wahrung des Besitzstands ihrer Klientel.<br />
Das Müttergeld, das Frauen (und Männern)<br />
zugutekommt, die vor 1992 Kinder bekommen<br />
haben, kostet rund sechs Milliarden<br />
Euro im Jahr. Bis zu eine Milliarde Euro extra<br />
könnte durch die abschlagsfreie Rente mit<br />
63 aus der Sozialversicherung abfließen.<br />
Jüngere bezahlen diese Änderungen später<br />
durch Steuern, wenn ab 2017 die derzeit<br />
üppige Reserve der Rentenkasse für die<br />
Wahlgeschenke aufgezehrt ist. Außerdem<br />
senken die <strong>Ausgabe</strong>n das Rentenniveau für<br />
künftige Alte.<br />
Die Pflegeversicherung soll sechs Milliarden<br />
Euro mehr bekommen, vor allem für<br />
Demenzkranke, die bisher nur wenig aus<br />
der Versicherung bekommen haben.<br />
Für die Jüngsten dagegen ist weniger Geld<br />
im Topf. Die große Koalition will für den Kita-Ausbau<br />
zwar eine weitere Milliarde Euro<br />
zur Verfügung stellen. Doch in der Vergangenheit<br />
konnten die Betreiber der Einrichtungen<br />
nie dauerhaft mit derart zugesagtem<br />
Geld rechnen.<br />
Verkehr<br />
Auf der Strecke geblieben<br />
Arbeitsverweigerung kann man dem Bundesverkehrsminister<br />
nicht vorwerfen. Alexander<br />
Dobrindt (CSU) hat viele Themen<br />
angepackt – zuletzt legte er den Gesetzentwurf<br />
für die Pkw-Maut vor. Doch Fleiß ist<br />
keine Garantie für Qualität. Die Maut-Aufgabe<br />
hat Dobrindt zwar gelöst – allerdings<br />
am Thema vorbei.<br />
Auf sieben Milliarden Euro pro Jahr beziffern<br />
Experten die Summe, die der Bund investieren<br />
müsste, um die Verkehrswege<br />
22 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Für schöne Landschaften CSU-Chef Seehofer bekämpft Stromtrassen<br />
Gegen die Jugend Die große Koalition bedient vor allem ihre Klientel<br />
FOTOS: ACTION/PRESSBECKER+BREDEL, BLICKWINKEL, WAZ-FOTOPOOL/SASCHA FROMM, DDP IMAGES/LUTZ WALLROTH, FOTOLIA<br />
wieder auf ein vernünftiges Niveau zu heben.<br />
Die kaputte Rheinbrücke auf der A 1<br />
bei Leverkusen ist ja nur das bekannteste<br />
von vielen Beispielen für das Verrotten der<br />
Verkehrswege. Nun sollen Ausländer laut<br />
Dobrindt durch die Maut 500 Millionen Euro<br />
pro Jahr zusätzlich in die Staatskasse<br />
pumpen – Peanuts im Vergleich zu dem,<br />
was gebraucht wird. Zudem bezweifeln<br />
Experten die Höhe der Einnahmen.<br />
Immerhin: Finanzminister Schäuble hat<br />
vergangene Woche ein Investitionspaket in<br />
Höhe von zehn Milliarden Euro angekündigt,<br />
um Straßen und Brücken zu sanieren.<br />
Das Geld soll von 2016 bis 2018 fließen.<br />
Bis dahin verkämpft sich Deutschland im<br />
Klein-Klein. Wenn es um Erhalt und Ausbau<br />
der Verkehrswege geht, finden alle Bundesländer<br />
Argumente, warum ausgerechnet<br />
bei ihnen der Bedarf am höchsten ist. Gerade<br />
erstellt der Bund den neuen Verkehrswegeplan,<br />
der definiert, wohin die Neubauinvestitionen<br />
fließen sollen. Etwas Regionalproporz<br />
ist bei der Vergabe der Milliarden<br />
unvermeidbar, aber erstmals soll es um<br />
bundesweite Prioritäten gehen.<br />
Ein Lob an Baden-Württemberg und<br />
Hamburg, die ihre Top-Projekte vorab ausgesucht<br />
haben. Bayern dagegen hat alles<br />
nach Berlin gemeldet, was gebaut werden<br />
könnte – die Beamten verzweifeln. Grundsätzlich<br />
werden Vorhaben von den Ländern<br />
schöngerechnet, indem sie die Kosten niedrig<br />
ansetzen. „Wir akzeptieren nicht mehr<br />
eins zu eins die Angaben der Länder“, sagt<br />
ein hochrangiger Beamter des Bundesverkehrsministeriums.<br />
Bis 2015 soll der neue<br />
Bau- und Fahrplan stehen.<br />
So etwas könnte Deutschland auch für<br />
die digitale Infrastruktur brauchen. Es hinkt<br />
beim Glasfaseranschluss international<br />
deutlich hinterher. Der Anteil der Haushalte<br />
mit ultraschnellem Internet liegt unter zehn<br />
Prozent. Zum Vergleich: In Japan und Südkorea<br />
surft jeder Zweite über ein hochgerüstetes<br />
Glasfasernetz.<br />
Energie<br />
Kurzer Draht statt lange Leitung<br />
Ein Verfechter der Energiewende ist Horst<br />
Seehofer schon, sagt er. Doch wenn es um<br />
den Bau von Stromtrassen durch das schöne<br />
Bayern geht, reiht sich der CSU-Chef gerne<br />
in die demonstrierende Phalanx der Gegner<br />
ein. Wie in Bergen im Chiemgau. „Ich werde<br />
mich dafür einsetzen, dass diese Trasse<br />
nicht kommt“, rief er den applaudierenden<br />
400 Einwohnern zu.<br />
Großprojekte geraten in Deutschland immer<br />
öfter ins Stocken. In den Siebzigerjahren<br />
wurden 10000 Kilometer Stromtrassen<br />
durchs Land gezogen – ohne großen Widerstand.<br />
Heute wächst der Unmut bei einem<br />
Drittel an neuen Starkstromstrippen. Ein Dilemma:<br />
Der Netzausbau ist für das Gelingen<br />
der Energiewende unabdingbar, um vor allem<br />
den Windstrom aus dem Norden in den<br />
Westen und Süden zu leiten, wo die Industrie<br />
ihn braucht.<br />
Nun lässt die Bundesregierung untersuchen,<br />
wie der wachsende Widerstand gegen<br />
Großprojekte zu brechen wäre. Forschungsministerin<br />
Johanna Wanka (CDU) unterstützt<br />
Begleitstudien mit 30 Millionen Euro.<br />
Die sollen ans Licht bringen, welche Art der<br />
Bürgerbeteiligung bei Großprojekten funktioniert.<br />
Ergebnisse werden aber erst in zwei<br />
bis drei Jahren vorliegen.<br />
Bis dahin hat sich der Widerstand weiter<br />
professionalisiert. Schon beim Bahnhofsbau<br />
Stuttgart 21 wurde deutlich: Die Gegner sind<br />
hoch gebildet und arbeiten sich in Details<br />
ein. Auf Informationsveranstaltungen und<br />
Dialogforen muss man inzwischen „Fachgespräche<br />
führen“, heißt es bei einem Übertragungsnetzbetreiber.<br />
Finanzausgleich<br />
Die Länder als kassenlose Gesellschaft<br />
Wenn beim Schachspiel das Zeitlimit erreicht<br />
ist, wird traditionell das Spiel unterbrochen,<br />
die Spieler notieren den nächsten<br />
Zug, und es gibt eine Pause. Schachspieler<br />
lieben das, es ist die große Zeit der Analyse.<br />
Sie nennen es eine „Hängepartie“.<br />
In der Politik liegt die Sache anders. Hängepartien<br />
sind hier nur eine Metapher und<br />
nicht Ausnahme, sondern Regel. Und die<br />
besagt: Stockt die Partie, kann man die Reform<br />
gleich ganz vergessen.<br />
Da klang es gut, was Hamburgs Erster Bürgermeister<br />
Olaf Scholz (SPD) im Sommer<br />
vorschlug: „Nach meinen Gesprächen mit<br />
vielen Beteiligten bin ich optimistisch, dass<br />
es keine Hängepartie geben wird.“<br />
2019 stehen in Deutschland einige der<br />
wichtigsten Reformen der kommenden Dekade<br />
an. Der Länderfinanzausgleich läuft<br />
aus, zugleich endet der Solidarpakt, und die<br />
Schuldenbremse tritt auch für die Länder in<br />
Kraft. 2019 klingt weit weg, doch große Reformen<br />
brauchen Zeit und Mehrheiten. Bis<br />
zur „Mitte der Legislaturperiode“, also zum<br />
Sommer 2015, müsse man sich einigen, um<br />
den Zeitplan zu halten, heißt es deshalb im<br />
Koalitionsvertrag. Um das zu schaffen, sollten<br />
sich die Finanzminister von Bund und<br />
Ländern im Herbst einigen, die Ministerpräsidenten<br />
bis Anfang 2015 zustimmen. So<br />
weit der Plan.<br />
»<br />
WirtschaftsWoche <strong>10.11.2014</strong> Nr. 46 23<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
»<br />
Doch Scholz’ Hoffnung trug nur einen<br />
Sommer. Schon die Finanzminister scheitern<br />
an der Einigung, manche sind inzwischen<br />
schon stolz, dass es inzwischen wenigstens<br />
gelungen ist, alle Reformvorschläge<br />
zusammenzutragen. Dabei liegt vielleicht<br />
genau darin das Problem.<br />
Ein paar Beispiele: Scholz und Schäuble<br />
möchten den Solidaritätszuschlag abschaffen<br />
und stattdessen die Länderanteile an den<br />
gemeinsamen Steuern erhöhen; NRW-Finanzminister<br />
Norbert Walter-Borjans (SPD)<br />
will den Soli durch einen Altschuldentilgungsfonds<br />
ersetzen; aus Hessen kommt die<br />
Idee, Berlin aus dem Länderfinanzausgleich<br />
herauszulösen und direktdurch den Bund zu<br />
finanzieren; Baden-Württemberg und Bayern<br />
schlagen vor, den Ländern mehr Freiheiten<br />
beider Festsetzungeinzelner Steuersätze<br />
einzuräumen; die ostdeutschen Bundesländer<br />
und NRW fordern, die Steuerkraft der<br />
Kommunen zu 100 Prozent in die Ausgleichsberechnung<br />
einzubeziehen; Bayern<br />
will vor allem, dass die Gesamtzahlungen<br />
sinken.<br />
So ist halt Politik, sagen die Achselzucker.<br />
Jeder trägt vor, was er will, und sucht sich<br />
Verbündete. Am Ende gibt es einen Kompromiss,<br />
der keinem gefällt. Macht gegen<br />
Macht, auf dass der Stärkere gewinnt.<br />
Kompromissvorschläge sind heute reine<br />
Deals. Schäuble bietet den Ländern, die<br />
Schuldenbremse abzuschwächen, wenn sie<br />
dafür seinem Stabilitätsrat mehr Macht geben.<br />
Gib du mir, dann gebe ich dir. Flankiert<br />
wird all das von Drohungen und Anfeindungen.<br />
SaarlandsMinisterpräsidentin Annegret<br />
Kramp-Karrenbauer (CDU) meint, ihr Bundesland<br />
seiohne die TilgungvonAltschulden<br />
nicht lebensfähig. Es werde dann Länderfusionen<br />
„geben müssen“. Bayerns Finanzminister<br />
Markus Söder (CSU) will nur noch „gegen<br />
Auflagen“ Geld nach Norden schicken.<br />
So beginnt die Eskalationsspirale: Je höher<br />
die Forderungen, desto größer der potenzielle<br />
Gesichtsverlust und umso geringer die<br />
Kompromissbereitschaft. Am Ende der Hängepartie<br />
steht ein Ergebnis, bei dem jeder<br />
ein bisschen was bekommt – und sich an<br />
den Problemen nichts ändert.<br />
Beim Schach gibt es heutzutage übrigens<br />
kaum noch Hängepartien. Da in den Pausen<br />
immer öfter per Schachcomputer geschummelt<br />
wurde, wird heutzutage einfach<br />
durchgespielt. Egal, wie lange es dauert. Nur<br />
so als Idee.<br />
n<br />
henning.krumrey@wiwo.de, konrad fischer, bert losse,<br />
christian schlesiger | Berlin, cordula tutt | Berlin<br />
Lesen Sie weiter auf Seite 26 »<br />
STREIKFOLGEN<br />
Stillstand<br />
am Band<br />
Der Ausstand der Lokführer kommt<br />
die Wirtschaft teuer.<br />
Der Streik der GDL-Lokführer<br />
hat nicht nur private<br />
Bahnfahrer in Rage<br />
versetzt. Unternehmen<br />
der Automobilwirtschaft,<br />
Chemie-, Energie- und<br />
Stahlindustrie kostete der aufgezwungene<br />
Stillstand im Güterverkehr nach ersten<br />
Schätzungen des Instituts der deutschen<br />
Wirtschaft Köln mehr als 100 Millionen Euro<br />
pro Tag – durch nicht eingehaltene Liefertermine,<br />
fehlende Teile, Stillstand am<br />
Band. „Viele Unternehmen haben einen<br />
Puffer für 24 Stunden“, sagt Christian Kille,<br />
Professor für Handelslogistik an der Hochschule<br />
Würzburg. „Ab 48 Stunden kann es<br />
kritisch werden.“ Logistik sei nicht mit dem<br />
Personenverkehr vergleichbar: „Man kann<br />
nicht an einem Streiktag auf Auto oder<br />
Fernbus umsteigen.“<br />
Steht die Bahn still, schlägt das auf die<br />
gesamte Logistikbranche durch. „In den<br />
Häfen und Güterbahnhöfen müssen die<br />
Mitarbeiter jetzt Überstunden machen“,<br />
sagt Frank Huster, Hauptgeschäftsführer<br />
des Deutschen Speditions- und Logistikverbands.<br />
Dort müssten nun Güter auf<br />
Lkws umgeladen werden. Huster: „Das<br />
bedeutet höhere Kosten für die Spediteure<br />
und damit am Ende für die Kunden.“<br />
Im Duisburger Hafen wird rund ein Drittel<br />
der ankommenden Waren über die<br />
374 Mio. Tonnen Güter<br />
wurden 2013 in Deutschland auf der Schiene<br />
befördert, darunter:<br />
Metall<br />
Erze, Steine, Erden<br />
Mineralölerzeugnisse<br />
Chemie<br />
13 Mio. t<br />
30 Mio. t<br />
Fahrzeuge<br />
Quelle: Statistisches Bundesamt<br />
52 Mio. t<br />
47 Mio. t<br />
61 Mio. t<br />
Schiene abtransportiert. Die Deutsche<br />
Bahn sei für gut 50 Prozent des Schienenverkehrs<br />
verantwortlich, so Hafen-Chef<br />
Erich Staake. „Bei den vergangenen<br />
Streiks fuhr gut ein Dutzend Züge nicht.<br />
Jetzt rechne ich mit der drei- bis vierfachen<br />
Menge.“ Die Wettbewerber der Bahn<br />
können nur einen Teil zusätzlich aufs Gleis<br />
bringen.<br />
In Branchen wie der Automobilindustrie<br />
regiert die Just-in-time-Produktion, Zuliefer-<br />
und Herstellungstermine sind aufeinander<br />
abgestimmt. Die Konzerne und ihre<br />
Zulieferer gehören zu den größten Kunden<br />
der Bahn, für sie sind täglich rund 200 Güterzüge<br />
unterwegs. Wie viel die <strong>vom</strong> Verband<br />
der Automobilindustrie prophezeiten<br />
„erheblichen Behinderungen in den Transportabläufen“<br />
tatsächlich gekostet haben,<br />
sagen die Hersteller nicht.<br />
LKW STATT GÜTERZUG<br />
Bei Ford in Köln gelangten 1000 Autos, die<br />
mit der Bahn transportiert werden sollten,<br />
per Lkw und Schiff ans Ziel. In Saarlouis<br />
lud der Hersteller 250 Autos kurzerhand<br />
in Lkws statt auf den Güterzug. Weitere<br />
500 Pkws wurden vor Ort zwischengelagert.<br />
„Diese Maßnahmen gehen mit zusätzlichen<br />
Kosten einher“, hieß es bei Ford,<br />
konkreter wollte man nicht werden. Auch<br />
Audi, zu dessen Werk in Ingolstadt täglich<br />
rund 15 Güterzüge rollen, wich punktuell<br />
auf Lkws aus.<br />
„Die subtile Botschaft ist, dass die Bahn<br />
kein zuverlässiger Verkehrsträger ist“, sagt<br />
Gunnar Gburek <strong>vom</strong> Bundesverband Materialwirtschaft,<br />
Einkauf und Logistik. Unter<br />
den rund 9500 Mitgliedern würden sich<br />
Entscheider„sehr gut überlegen, ob sie das<br />
Risiko eingehen, dass die benötigte Ware<br />
nicht kommt, weil die Bahn streikt“.<br />
„Für den Handel ist der Streik eine Katastrophe“,<br />
sagt Stefan Genth, Hauptgeschäftsführer<br />
des Handelsverbands<br />
Deutschland. „Wenn die Kunden aus Angst<br />
vor dem Verkehrschaos zu Hause bleiben,<br />
schlägt das auch auf die Umsätze der<br />
Händler in den Innenstädten durch“, befürchtet<br />
er – „und das ausgerechnet zum<br />
Start ins Weihnachtsgeschäft.“ Zudem kämen<br />
Tausende Beschäftigte üblicherweise<br />
mit der Bahn zur Arbeit. Die Mitarbeiter<br />
seien im Verkauf und an den Kassen unverzichtbar,<br />
so Genth: „Da hilft auch kein<br />
Home Office.“<br />
rebecca.eisert@wiwo.de, sebastian schaal,<br />
thomas glöckner, jacqueline goebel, henryk hielscher<br />
FOTO: FOTOLIA<br />
24 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
UNTERNEHMEN<br />
»Hohe Cash-Reserven«<br />
Im Gegensatz zur Politik hält sich die deutsche Wirtschaft konsequent an ihr Fitnessprogramm. Mit viel<br />
Eigenkapital und stetigen Innovationen ist sie für den absehbaren konjunkturellen Abschwung gut gerüstet.<br />
Es war der nützliche Schock fürs Leben.<br />
„Seit der Finanzkrise haben sich die deutschen<br />
Unternehmen permanent solide<br />
aufgestellt“, sagt Alexander Börsch, Leiter<br />
Research beim Prüfungs- und Beratungsunternehmen<br />
Deloitte. „Bis heute<br />
agieren sie vorsichtig, betreiben kontinuierlich<br />
aktives Kostenmanagement,<br />
konzentrieren sich auf Innovationen und<br />
Mit Substanz in den Abschwung<br />
Eigenkapital und Eigenkapitalquote der Dax-Unternehmen<br />
Name<br />
Adidas<br />
Allianz<br />
BASF<br />
Bayer<br />
BMW<br />
Beiersdorf<br />
Commerzbank<br />
Continental<br />
Daimler<br />
Deutsche Bank<br />
Deutsche Börse<br />
Deutsche Lufthansa<br />
Deutsche Post<br />
Deutsche Telekom<br />
E.On<br />
Fresenius Medical Care<br />
Fresenius<br />
HeidelbergCement<br />
Henkel<br />
Infineon Technologies<br />
K+S<br />
Lanxess<br />
Linde<br />
Merck<br />
Munich Re<br />
RWE<br />
SAP<br />
Siemens<br />
ThyssenKrupp<br />
Volkswagen<br />
Zahlen gerundet, Quelle: Deloitte. 2. Quartal 2014<br />
halten hohe Cash-Reserven bereit.“ Die<br />
Wirtschaft, so lautet die Erkenntnis einer<br />
breit angelegten Umfrage bei 148 Finanzvorständen<br />
(CFO) von deutschen Großunternehmen,<br />
hält sich bis heute fit. Auch<br />
um notfalls für einen neuen Schock gerüstet<br />
zu sein.<br />
Der Gegensatz zur Politik könnte kaum<br />
größer sein. In Berlin ist die große Koalition<br />
Eigenkapital 2014<br />
(in Mrd. Euro)<br />
5,5<br />
57,8<br />
26,9<br />
19,5<br />
36,4<br />
3,5<br />
27,3<br />
10,1<br />
42,7<br />
68,4<br />
3,3<br />
5,0<br />
8,9<br />
32,5<br />
35,4<br />
10,3<br />
14,2<br />
12,6<br />
10,4<br />
3,9<br />
3,6<br />
2,3<br />
13,5<br />
11,2<br />
27,7<br />
11,7<br />
16,2<br />
28,3<br />
3,2<br />
89,7<br />
Eigenkapitalquote 2014<br />
(in Prozent)<br />
46,3<br />
7,7<br />
39,3<br />
35,6<br />
25,1<br />
57,3<br />
4,7<br />
35,7<br />
24,3<br />
4,1<br />
1,2<br />
16,6<br />
26,1<br />
27,5<br />
27,3<br />
42,8<br />
40,0<br />
46,4<br />
53,9<br />
65,7<br />
45,6<br />
32,3<br />
40,8<br />
52,2<br />
10,5<br />
13,8<br />
57,2<br />
28,0<br />
8,7<br />
26,7<br />
Veränderung zu 2008<br />
(in Prozentpunkten)<br />
14,5<br />
3,4<br />
–1,8<br />
1,7<br />
1,3<br />
5,1<br />
2,2<br />
9,8<br />
–3,3<br />
2,4<br />
–1,0<br />
–11,3<br />
21,5<br />
–7,6<br />
–4,6<br />
2,8<br />
0,8<br />
14,8<br />
19,5<br />
20,8<br />
9,0<br />
–1,2<br />
4,7<br />
–9,4<br />
0,1<br />
1,3<br />
11,1<br />
–8,9<br />
–17,2<br />
4,0<br />
von Union und SPD vor einem Jahr angetreten,<br />
Sozialleistungen für Zigmilliarden<br />
Euro zu verteilen. Entsprechend hoch<br />
sind die Soziallasten, die auf die Erträge<br />
der Unternehmen drücken. Vorbei sind<br />
die Zeiten der rot-grünen Agenda 2010,<br />
die überzogene Ansprüche an den Sozialstaat<br />
beschnitten hat und der deutschen<br />
Wirtschaft dabei half, ihre Wettbewerbsfähigkeit<br />
zurückzugewinnen. Mit ihren gesetzlichen<br />
Eingriffen avanciert die große<br />
Koalition zu einem der größten Risikofaktoren<br />
für die Wirtschaft, lautet ein Ergebnis<br />
der Deloitte-Umfrage unter Finanzvorständen.<br />
Die Sorge vor einer politischen<br />
Strangulierung übersteigt die vor höheren<br />
Lohn- oder Energiekosten.<br />
Die guten Zeiten des fünfjährigen Aufschwungs<br />
sind dabei schon passé. 68<br />
Prozent der Finanzvorstände rechnen damit,<br />
dass die aktuelle Konjunkturschwäche<br />
in der Euro-Zone nur der Vorbote einer<br />
längeren Stagnation ist. 37 Prozent<br />
erwarten sogar eine Rückkehr der Euro-<br />
Krise, nur drei Prozent glauben, diese sei<br />
überwunden. Das deckt sich mit dem aktuellen<br />
Wirtschaftsausblick der OECD:<br />
„Die Finanzrisiken sind nach wie vor hoch<br />
und könnten dazu führen, dass sich<br />
Marktschwankungen verstärken“, warnte<br />
OECD-Generalsekretär Angel Gurría am<br />
Donnerstag vergangener Woche in Paris.<br />
Vor allem im Euro-Raum bestehe die Gefahr<br />
einer Stagnation.<br />
MITARBEITER NICHT ENTLASSEN<br />
Trotzdem wollen sich die Unternehmen<br />
nicht von ihrem Kurs der vergangenen<br />
Jahre verabschieden. „Die strategischen<br />
Prioritäten und Investitionsplanungen<br />
sind weitgehend konstant“, heißt es im<br />
CFO-Survey von Deloitte. Die Neigung<br />
nimmt sogar leicht zu, die Wettbewerbsfähigkeit<br />
durch neue Produkte und Expansion<br />
in neue Märkte abzusichern. Die<br />
meisten Unternehmen wollen auch weiterhin<br />
Mitarbeiter einstellen. Den Abbau<br />
von Personal plant allein die Energiebranche.<br />
Statt Fachkräfte zu entlassen, wollen<br />
26 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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FOTO: FOTOLIA<br />
die meisten Unternehmen in den nächsten<br />
Monaten lieber niedrigere Gewinne in Kauf<br />
nehmen.<br />
Wie gut Deutschlands Wirtschaft für<br />
schlechtere Zeiten gerüstet ist, zeigt ein<br />
Blick in die Geschäftsberichte, genauer gesagt<br />
auf die Entwicklung des Eigenkapitals.<br />
Allein die 30 großen Dax-Unternehmen verfügten<br />
Mitte dieses Jahres über insgesamt<br />
642 Milliarden Euro Eigenmittel, das sind<br />
158 Milliarden Euro mehr als 2008, also am<br />
Ende des vorangegangenen Konjunkturaufschwungs.<br />
Die Eigenkapitalquoten verbesserten<br />
sich dabei um durchschnittlich fast<br />
drei Prozentpunkte auf 31,4 Prozent.<br />
Noch besser sind die großen Familienunternehmen<br />
aufgestellt. Die 4500 größten<br />
von ihnen kamen Ende 2013 auf eine<br />
durchschnittliche Eigenkapitalquote von<br />
37,3 Prozent, geht aus einer gemeinsamen<br />
Studie des Industrieverbandes BDI und der<br />
Deutschen Bank hervor.<br />
BERUHIGENDER CASH-FLOW<br />
Manche Familienunternehmen haben in<br />
Wirklichkeit noch viel besser vorgebaut.<br />
68 Prozent<br />
der Finanzvorstände<br />
erwarten<br />
eine Stagnation<br />
Das Motorsägen-Imperium Stihl weist offiziell<br />
bereits beachtliche 68 Prozent Eigenkapital<br />
aus. Einschließlich Rückstellungen,<br />
Genussrechten der Mitarbeiter und Gesellschafterdarlehen<br />
steigt die Zahl aber auf<br />
weit über 90 Prozent. An Verbindlichkeiten<br />
gegenüber Kreditinstituten stehen in den<br />
Büchern lediglich 1,3 Prozent der Bilanzsumme.<br />
Schwäbische Solidität bedeutet im<br />
Hause Stihl, den größten Teil der Gewinne<br />
zu reinvestieren. Davon könnte sich die<br />
Bundesregierung eine Scheibe abschneiden,<br />
die den Großteil ihrer Steuereinnahmen<br />
für Soziales ausgibt und sich für<br />
ihre schwarze Null abquält, während die<br />
Investitionsquote auf historisch niedrigem<br />
Niveau dahindümpelt.<br />
Eine weitere Lehre aus der großen Finanzkrise<br />
2009 lautet für die Wirtschaft:<br />
Immer an die Liquidität denken! Denn<br />
damals, als Aufträge und Kreditlinien<br />
wegbrachen, ging so manches kerngesundes<br />
Unternehmen an plötzlichem<br />
Geldmangel zugrunde. Die Optimierung<br />
des operativen Cash-Flows, ein Indikator<br />
für die Selbstfinanzierungskraft, „steht<br />
für viele Unternehmen ganz oben auf der<br />
Agenda“, sagt Markus Seeger, Experte<br />
für CFO Services bei Deloitte. „Auch<br />
die Barreserven sind auf einem Stand,<br />
der die Unternehmen unabhängiger von<br />
externen Finanziers macht.“<br />
Von einem solchen Polster mag Bundesfinanzminister<br />
Wolfgang Schäuble<br />
nicht einmal träumen. Keine neuen<br />
Schulden machen, das ist sein großes<br />
Ziel. Ein moderner Juliusturm mit milliardenschweren<br />
Reserven für schlechte Zeiten<br />
ist offenbar fern jeder Vorstellungskraft<br />
im Berliner Regierungsviertel. n<br />
christian.ramthun@wiwo.de | Berlin<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
Nahbarer Profi<br />
EU-KOMMISSION | Als Chefin der Wettbewerbsbehörde ist Margrethe Vestager eine der mächtigsten<br />
Personen in Brüssel. In Dänemark diente die Liberale als Vorbild für die Erfolgsserie „Borgen“.<br />
Seit sie in Brüssel ist, wundert sie sich<br />
über dieses seltsame Konzept von<br />
oben und unten. Auf der Suche nach<br />
einem neuen Zuhause für sich und ihre Familie<br />
ließ sich Margrethe Vestager von<br />
Maklern durch diverse Häuser führen. „Im<br />
Untergeschoss angekommen, deuteten<br />
Makler auf Kammern und empfahlen sie<br />
für Dienstboten“, erzählt Vestager und<br />
schaut entsetzt.<br />
Die Anekdote sagt etwas aus über den<br />
Brüsseler Immobilienmarkt, wo Investoren<br />
mit leichter Hand Keller zu Wohnraum<br />
umdeklarieren und auf Diplomaten als<br />
Kunden hoffen. Sie sagt aber vor allem viel<br />
aus über eine Frau, die es in der dänischen<br />
Politik nach ganz oben geschafft hat und<br />
dabei ihr einstiges Image als kalte Liberale<br />
ablegte. Vestager lässt es menscheln, zeigt<br />
eine persönliche Seite. Dennoch verfolgt<br />
sie ihre Ziele mit großer Entschlossenheit.<br />
In ihrer Heimat führte sie als Vize-Ministerpräsidentin<br />
regelmäßig die Rangfolge<br />
der einflussreichsten Politiker an. Als sie<br />
von 2007 bis 2011 an der Spitze der sozialliberalen<br />
Oppositionspartei Radikale Venstre<br />
stand, faszinierte sie die dänische Öffentlichkeit<br />
so sehr, dass sie der Erfolgs-<br />
Fernsehserie „Borgen“ als Vorbild diente.<br />
Seit Monatsbeginn hat die Mutter dreier<br />
Töchter (11, 15 und 18 Jahre alt) nun einen<br />
der mächtigsten Posten in der neuen EU-<br />
Kommission unter Präsident Jean-Claude<br />
Juncker inne: Als Wettbewerbskommissarin<br />
kann sie Kartellstrafen in Milliardenhöhe<br />
verhängen, Fusionen untersagen und<br />
den Mitgliedstaaten auf die Finger klopfen,<br />
wenn diese unerlaubte Subventionen verteilen.<br />
Ihre anstehende Entscheidung im<br />
Fall Google, den sie von Vorgänger Joaquín<br />
Almunia geerbt hat, wird Europas Antwort<br />
auf die Vormacht von US-Internet-Giganten<br />
bestimmen. Von ihr wird abhängen, ob Europa<br />
Steuerschlupflöcher schließt, die Konzerne<br />
wie Apple und Starbucks in Ländern<br />
wie Luxemburg bisher ausgenutzt haben.<br />
Diejenigen, die Vestager gut kennen,<br />
halten sie für eine Idealbesetzung. „Sie ist<br />
ein Glücksfall“, sagt ein hoher EU-Beamter,<br />
Es dürfte ihr relativ<br />
leicht fallen, sich<br />
zu profilieren<br />
Vom Rand in die Mitte Margrethe Vestager<br />
begann ihre Karriere im eher linken Lager<br />
der mit ihr in ihrer Zeit als dänische Wirtschaftsministerin<br />
eng zusammengearbeitet<br />
hat. Im Oktober 2011 trat sie dieses Amt<br />
an, nachdem sie 1998 mit nur 29 Jahren<br />
zum ersten Mal Ministerin geworden war,<br />
damals für Bildung und Kirche. Nie zuvor<br />
hatte es in Dänemark ein so junges Kabinettsmitglied<br />
gegeben.<br />
CHARMEOFFENSIVE<br />
An ihrem zweiten Arbeitstag als Wirtschaftsministerin<br />
stand ein Treffen des<br />
Wirtschafts- und Finanzministerrats (Ecofin)<br />
in Brüssel an. Als sie drei Monate später<br />
den Vorsitz der dänischen Ratspräsidentschaft<br />
übernahm, fielen ihre gute Vorbereitung<br />
auf und ihr Talent, Brücken zu<br />
bauen. „Sie vermittelte zwischen Kampfhähnen<br />
und war dabei nicht ideologisch fixiert“,<br />
heißt es in Brüssel.<br />
Von der Masse ihrer Kollegen, nur eine<br />
Handvoll davon weiblich, hob sie sich<br />
durch ihren Charme ab. „Sie kennt ihre<br />
Wirkung und setzt sie gezielt ein“, sagt ein<br />
Lesen Sie weiter auf Seite 30 »<br />
FOTO: PICTURE-ALLIANCE/SCANPIX/JONAS SKOVBJERG<br />
28 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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NEW YORK | Aus<br />
dem Central Park<br />
sollen die Pferde<br />
verschwinden.<br />
Warum nur? Von<br />
Martin Seiwert<br />
Pferde raus,<br />
Autos rein<br />
FOTO: SASCHA PFLAEGING FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
Wenn die Zeit reicht,<br />
gehe ich morgens durch<br />
den Central Park in die<br />
Redaktion. Dabei stets in<br />
Sichtweite: die Pferdekutschen,<br />
in denen sich<br />
Touristen durch die grüne Oase Manhattans<br />
befördern lassen. Die Tiere haben in<br />
einem der schönsten Parks der Welt wohl<br />
kein echtes, aber sicherlich auch kein<br />
schlechtes Pferdeleben.<br />
Für New Yorker Tierschützer ist das<br />
Kutschengeschirr dagegen per se eine<br />
Quälerei. Mit ihrer Forderung, die traditionellen<br />
Pferdewagen abzuschaffen,<br />
mischten sie sich 2013 in den Bürgermeister-Wahlkampf<br />
ein. Damit blitzten sie<br />
zwar bei einem Großteil der New Yorker<br />
ab, doch der demokratische Kandidat Bill<br />
de Blasio schielte auf die Wählerstimmen<br />
von Tierfreunden, outete sich als Kutschengegner<br />
– und gewann.<br />
„Sehr schnell“, tönte de Blasio kürzlich,<br />
werde er nun die Pferde aus dem<br />
Central Park verbannen. Doch geht es<br />
ihm mit seiner unpopulären Mission vielleicht<br />
gar nicht um die Pferde? Steht er<br />
nicht vielmehr bei seinem alten Buddy<br />
Stephen Nislick in der Pflicht – einem<br />
Parkplatz-Magnaten, der die Pferdeställe<br />
am Central Park durch einen multimillionenteuren<br />
Garagenkomplex ersetzen<br />
möchte? Nislick hatte sich im Wahlkampf<br />
mit den Tierschützern verbündet, ideell<br />
wie finanziell. Diese verdächtige Verbindung<br />
untersucht inzwischen das FBI.<br />
Ein korrupter Bürgermeister, Tierschützer<br />
als heimliche Vorkämpfer für<br />
Autogaragen und FBI-Agenten auf den<br />
Spuren eines Parteispendenskandals?<br />
Der Central Park, so viel steht fest, ist nur<br />
für den flüchtigen Betrachter ein Idyll.<br />
Martin Seiwert ist Korrespondent der<br />
WirtschaftsWoche in New York.<br />
WirtschaftsWoche <strong>10.11.2014</strong> Nr. 46 29<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
»<br />
Mann, der dabei war. „Es geht ihr dabei<br />
aber immer um einen Zweck.“<br />
Die Euro-Krise drückte damals auf die<br />
Stimmung, machte unangenehme Entscheidungen<br />
notwendig. Während andere<br />
an ihrem Amt litten, blühte Vestager bei<br />
den Sitzungen in den fensterlosen Räumen<br />
des Justus-Lipsius-Gebäudes auf. „Was an<br />
der Arbeit im Ecofin so Spaß macht, ist der<br />
Umstand, dass man die Märkte wirklich<br />
beeinflusst“, sagt sie heute. Sie genoss den<br />
engen Kontakt zu den anderen Ministern,<br />
die sie bei den Sitzungen im Monatstakt<br />
kennenlernte. Trotz unterschiedlicher Interessen<br />
war die Zusammenarbeit oft einfacher<br />
als in der Koalition zu Hause: „Man<br />
hat ja nicht dieselben Wähler.“<br />
In ihrer Zeit im Ecofin bekam sie Lust auf<br />
ein Brüsseler Amt. Als feststand, dass die<br />
dänische Regierungschefin Helle Thorning-Schmidt<br />
nicht nach Brüssel wechseln<br />
würde, kam Vestagers Chance. Nachdem<br />
Juncker angekündigt hatte, Frauen mit<br />
wichtigen Posten zu betrauen, war klar,<br />
dass die studierte Ökonomin ein einflussreiches<br />
Amt bekommen würde.<br />
Von ihrem Vorgänger übernimmt Vestager<br />
eine lange Liste komplexer Fälle, neben<br />
Google auch die politisch heikle Untersuchung<br />
gegen Gazprom wegen einer möglichen<br />
Manipulation von Gaspreisen. Vestager<br />
geht mit einer gewissen Bescheidenheit<br />
ins Amt:„Man sollte nicht den Ehrgeiz<br />
haben, die europäische Wettbewerbspolitik<br />
zu revolutionieren.“<br />
MITTELMÄSSIGE VORGÄNGER<br />
Es dürfte ihr relativ leicht fallen, sich zu<br />
profilieren, hinterließ doch keiner ihrer<br />
beiden Vorgänger eine glanzvolle Bilanz.<br />
Die Niederländerin Neelie Kroes legte sich<br />
zwar ausdauernd mit Microsoft an, vermittelte<br />
aber nie den Eindruck, das Thema<br />
Wettbewerb intellektuell zu durchdringen.<br />
Der spanische Ökonom Almunia neigte so<br />
sehr zur Schwatzhaftigkeit, dass nun der<br />
EU-Ombudsmann wegen Äußerungen im<br />
laufenden Verfahren zu Euribor gegen ihn<br />
ermittelt. Seine politischen Kehrtwenden<br />
demotivierten die eigenen Mitarbeiter und<br />
ließen die Kommission nicht nur im Fall<br />
Google schlecht aussehen. Vestager hat<br />
verstanden, was ihre Generaldirektion, das<br />
Heer der Brüsseler Kartellanwälte, aber<br />
auch die Öffentlichkeit von ihr erwarten.<br />
Sie sagt nun Sätze wie: „Berechenbarkeit ist<br />
ein hohes Gut, wenn es um Wettbewerbsentscheidungen<br />
geht.“<br />
Bei ihrer Anhörung im EU-Parlament<br />
legte sie einen souveränen Auftritt hin.<br />
Dickes Fell Auf Wettbewerbskommissarin<br />
Vestager warten heikle Fälle<br />
Routiniert antwortete sie auf die Fragen<br />
der Abgeordneten, verzichtete im Zweifel<br />
darauf, zu viel zu sagen. Auch das zeichnet<br />
sie als erfahrene Politikerin aus.<br />
Im neuen Job wird sie oft Härte zeigen<br />
müssen, um sich dem Druck von Konzernen<br />
und Regierungen zu entziehen. „Sie<br />
hat keine Angst davor, Nein zu sagen“, beobachtet<br />
ihre Biografin Elisabet Svane.<br />
Konflikte zeichnen sich schon zu Beginn<br />
ihrer Amtszeit ab, auch mit Kommissionschef<br />
Juncker. Die Steuerschlupflöcher in<br />
»Die Dänen<br />
mögen sie oder<br />
lehnen sie ab«<br />
Biografin Elisabet Svane<br />
Junckers Heimat Luxemburg sind in seiner<br />
Zeit als Premier entstanden. Es ist nicht zu<br />
erwarten, dass er seiner Wettbewerbskommissarin<br />
den Rücken stärken wird, hart gegen<br />
die Steuerprivilegien vorzugehen.<br />
Auch bei den digitalen Märkten, die Vestager<br />
ausdrücklich als eine ihrer Prioritäten<br />
nennt, steuert sie auf eine Kollision mit<br />
Juncker sowie mit Digitalkommissar Günther<br />
Oettinger zu. Juncker hat im Wahlkampf<br />
ein Umdenken bei den Wettbewerbsregeln<br />
gefordert, um etwa Fusionen<br />
im Telekombereich möglich zu machen.<br />
Auch Oettinger betont in diesen Tagen gerne,<br />
dass Europa die großen Player im Telekombereich<br />
fehlen. Vestager hält von einer<br />
solchen Art der Industriepolitik nichts, bei<br />
der Unternehmen auf Kosten der Verbrau-<br />
cher geschützt werden. „Die beste Art, sich<br />
auf Wettbewerb im Ausland vorzubereiten,<br />
ist zu Hause wettbewerbsfähig zu sein“,<br />
lautet ihr Credo.<br />
Ihre liberale Grundeinstellung hat Vestager<br />
von ihren Eltern mitbekommen, beide<br />
Pastoren und beide Mitglieder von Radikale<br />
Venstre. Mit 25 bewarb sich Vestager, damals<br />
Beamtin im Finanzministerium, erstmals<br />
um ein Parlamentsmandat, allerdings<br />
auf einem aussichtslosen Listenplatz.<br />
Doch andere von ihren Ansichten zu überzeugen<br />
machte ihr so viel Spaß, dass ihr<br />
Weg in die Politik vorgezeichnet war. Parteiführerin<br />
Marianne Jelved machte sie<br />
früh zu ihrer Kronprinzessin, vor sieben<br />
Jahren übernahm Vestager den Parteivorsitz,<br />
den sie nun mit ihrem Wechsel nach<br />
Brüssel abgegeben hat.<br />
Vestager verhalf der Partei, die damals ihre<br />
zentrale Rolle als Königsmacherin in der<br />
dänischen Politik verloren hatte und unter<br />
der Abspaltung ihres rechten Flügels litt, zu<br />
neuer Macht. 2011 kamen die Sozialliberalen<br />
als kleiner Koalitionspartner der Sozialdemokraten<br />
an die Macht. Als Wirtschaftsministerin<br />
setzte sie durch, dass Arbeitslosengeld<br />
von vier auf zwei Jahre gekürzt wurde.<br />
Noch in der Opposition war sie treibende<br />
Kraft für eine Reform der Frührente. Sie<br />
sieht die Rolle des Staates darin, Menschen<br />
zur Selbsthilfe zu verhelfen. Die Konsequenz,<br />
mit der sie ihre Ziele verfolgt, hat ihr<br />
Bewunderung und Abneigung gleichermaßen<br />
eingebracht. „Dänen mögen sie oder<br />
lehnen sie ab, dazwischen gibt es nichts“,<br />
sagt Biografin Svane.<br />
Vestager hat geschickt den Nachrichtendienst<br />
Twitter genutzt, um sich als anfassbar<br />
darzustellen. Vor dem Abschied aus Kopenhagen<br />
buk sie ihren Mitarbeitern in der<br />
Parteizentrale Kekse. Das ist dort ebenso<br />
nachzulesen wie ihre Kommentare zu gemütlichen<br />
Abenden auf dem Sofa mit Mann<br />
und Töchtern vor dem Fernseher. Gatte<br />
Thomas Jensen wird seinem Job übrigens<br />
künftig aus Brüssel nachgehen – er lehrt<br />
Mathematik und Philosophie per Internet.<br />
Parteifreunde haben abgestritten, dass<br />
die Politikerin das Vorbild für Brigitte Nyborg<br />
in der Erfolgsserie „Borgen“ war.<br />
Doch die Parallelen sind nicht zufällig.<br />
Hauptdarstellerin Sidse Babett Knudsen<br />
hat Vestager begleitet, um sich für ihre Rolle<br />
vorzubereiten. Das Ergebnis sieht sich<br />
Vestager gerne an, den politischen Alltag<br />
findet sie akkurat abgebildet. Allerdings<br />
mit einer Ausnahme: „Die vielen langatmigen<br />
Sitzungen fehlen.“<br />
n<br />
silke.wettach@wiwo.de | Brüssel<br />
FOTO: PICTURE-ALLIANCE/SCANPIX/JONAS SKOVBJERG<br />
30 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
Das Ende <strong>vom</strong> Ende<br />
ESSAY | Vor 25 Jahren rief Francis Fukuyama das „Ende der Geschichte“ aus. Was auf den Kalten Krieg<br />
folgen würde, sei eine unendliche Friedensperiode des konstruktiven Miteinanders. Was für ein Irrtum!<br />
Der Westen wird weltweit herausgefordert – und ist sich selbst feind geworden. Von Dieter Schnaas<br />
FOTO: LAIF/CHRISTIAN BURKERT<br />
Das „Ende der Geschichte“ zieht sich nun auch schon 25 Jahre<br />
hin. Bekanntlich hat der amerikanische Politikwissenschaftler<br />
Francis Fukuyama es ausgerufen, damals, nach<br />
dem Fall der Mauer, in den glücklichsten Monaten des 20. Jahrhunderts.<br />
Der Zusammenbruch der Sowjetunion und ihrer Satellitenstaaten<br />
nährte 1989/90 die Hoffnung auf ein postideologisches<br />
Zeitalter. Der Liberalismus hatte gesiegt, die Idee der Demokratie,<br />
das Prinzip der Marktwirtschaft. Eine zeitlose Zeit universell<br />
geltender Werte schien anzubrechen, eine Ära der Internationalisierung<br />
des Rechtsstaats und der Menschenrechte. Haben wir<br />
damals nicht alle geglaubt,<br />
dass dem Westen nur noch die<br />
Aufgabe verbleibt, sein allgemein<br />
anerkanntes Zivilisations- und<br />
Wohlstandsprojekt zu globalisieren?<br />
Dass der Rest der Welt nur<br />
darauf wartet, mit den Vorzügen<br />
unseres Fortschrittsmodells beglückt<br />
zu werden? Das „Ende der<br />
Geschichte“, so dachten wir, sei eine<br />
ins Unendliche laufende Friedensperiode<br />
des konstruktiven<br />
Miteinanders. Die ereignishafte<br />
Zeit der Kriege und Schlachten löse<br />
sich auf in einem gemeinsamen<br />
Weltregieren nach Maßstab der<br />
abendländischen Vernunft, in der<br />
ständigen Verfeinerung von Global<br />
Governance – in der Lösung<br />
der großen Menschheitsaufgabe,<br />
aus der harmonia mundi eine<br />
maxima harmonia mundi zu machen.<br />
Welch ein Irrtum!<br />
25 Jahre nach dem Fall der Mauer<br />
ist der Westen fast überall auf der Welt in der Defensive. Militärisch<br />
überfordert, finanziell erschöpft und ideologisch ausgepumpt,<br />
hat er rund um den Globus an Attraktivität eingebüßt. Einer<br />
Studie der Bertelsmann-Stiftung zufolge gab es in den meisten<br />
Demokratien zwischen 2011 und 2013 Rückschritte. Indien und<br />
Brasilien verzichten auf die Rezepte westlich dominierter Organisationen<br />
wie IWF und Weltbank. In Japan und in der Türkei machen<br />
sich militante Kulturnationalismen breit. Chinesische Parteikader<br />
verbitten sich mit provozierend gelangweilter Routine Belehrungen<br />
in Sachen Meinungsfreiheit und Menschenrechte. Wladimir<br />
Putin bringt in Russland völkisches Testosteron in Stellung<br />
gegen alles, was er als Dekadenz des Liberalismus verunglimpft.<br />
Und religiöse Fundamentalisten in der arabisch-afrikanischen<br />
Welt haben für unsere Toleranz- und Pluralitätsvorstellungen nur<br />
Hass und Verachtung übrig.<br />
Gute Zeiten Im Kosovo 1999 wurde der USA-geführte Westen<br />
als Garant der Freiheit und Selbstbestimmung gefeiert<br />
Noch schwerer als die Anfeindungen von außen wiegt der<br />
Druckabfall im Innern des transatlantischen Wertesystems. Der<br />
Westen hat sich, so der Politikwissenschaftler Herfried Münkler, zu<br />
einem Ensemble „postheroischer“ Nationen entwickelt, das weltpolizeiliche<br />
Aufgaben, wenn überhaupt, nicht wehrhaft-entschlossen<br />
(Europa), sondern nur noch sporadisch-selektiv wahrnimmt<br />
(USA) – zu einem Ensemble, das demografisch schwächelt, wirtschaftlich<br />
kriselt und seine Herausforderung provoziert. Zugleich<br />
ist der Westen sich selbst beängstigend fremd, ja: feind geworden.<br />
Er hat im Namen der Freiheit völkerrechtswidrige Kriege geführt<br />
(Kosovo), erfundene Schuldbeweise<br />
zur Rechtfertigung für Militäraktionen<br />
herangezogen (Irak),<br />
Hunderte Zivilisten durch Drohnenangriffe<br />
getötet (Afghanistan),<br />
sich rechtsfreie Räume erschlossen,<br />
um im Wege der Folter Informationen<br />
zu erzwingen (Guantanamo),<br />
und sich zuletzt sogar – unter<br />
Freunden, die stolz sind auf ihre<br />
Kultur der Gedankenfreiheit –<br />
selbst ausspioniert (NSA, BND).<br />
Das Selbst-Vertrauen in die<br />
„westliche Wertegemeinschaft“, das<br />
in den viereinhalb Jahrzehnten des<br />
Ost-West-Konflikts viel „mehr war<br />
als eine Beschwörungsformel“, so<br />
der Historiker Heinrich August<br />
Winkler, ist fürs Erste dahin. Das zuweilen<br />
übermütige Gefühl moralischer<br />
Meisterschaft ist Minderwertigkeitsängsten<br />
gewichen. Der missionarische<br />
Glaube an die Überlegenheit<br />
einer wettbewerblich organisierten<br />
Marktgesellschaft mündiger Staatsbürger droht in Ohnmachtszynismus,<br />
Politikverachtung und Selbsthass umzuschlagen.<br />
Viele Menschen in den USA und Europa sind von den Wachstumserträgen<br />
der kapitalistischen Wirtschaftsform abgeschnitten. Sie haben<br />
die Gürtel-enger-schnallen-Rhetorik so gründlich satt wie den prinzipienlosen<br />
Liberalismus ihrer Regierungen. Sie gehen hurrapatriotisch,<br />
chauvinistisch, fremdenfeindlich und antisolidarisch wählen.<br />
DER AUFSTAND DER RECHTSPOPULISTEN<br />
Im Ressentiment, das Wohlstandsverluste und Abstiegsängste an<br />
Vorurteile und Befangenheiten bindet, liegen die gemeinsamen<br />
Grundlagen der konservativ-fundamentalreligiös grundierten Tea<br />
Party in den USA und der Rechtspopulisten in Europa. Beide Strömungen<br />
initiieren einen Aufstand gegen das staatspolitische<br />
Establishment mit seinen bürokratisch-zentralistischen Interes-<br />
»<br />
WirtschaftsWoche <strong>10.11.2014</strong> Nr. 46 31<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
»<br />
sen. Beide führen einen Feldzug gegen den linksliberalen Inklusionsdruck<br />
und die Toleranzimperative der Guten und Gütigen.<br />
Beide machen rhetorisch mobil gegen eine Permissivität, die ihnen<br />
im Namen der Mitmenschlichkeit permanent Verständnis<br />
und Einsicht abverlangt für alles, was ihnen gegen den Strich geht:<br />
Homosexualität, Libertinage, Feminismus, Migration, das internationale<br />
Kapital... „Putin verteidigt Europas Zivilisation“, sagt dann<br />
zum Beispiel die französische Rechtsradikale Marine Le Pen, um<br />
gegen Barack Obama, das geplante Freihandelsabkommen mit<br />
den USA und die „europäische Sowjetunion“ in Brüssel zu wettern:<br />
„Ich will die EU zerstören“, das „antidemokratische Monster“,<br />
denn „Europa, das ist der Krieg, der Wirtschaftskrieg“.<br />
GEDANKENLOSES FORTSCHREITEN<br />
Das Problem ist, dass der Westen auf diesen Destruktionswillen<br />
keine konstruktive Antwort mehr weiß. Das Ende des Kalten Krieges<br />
und der politischen Religion hat in den USA und Europa nicht<br />
etwa intellektuelle Energien freigesetzt, sondern, so der amerikanische<br />
Wirtschaftswissenschaftler Mark Lilla, ein „geistiges Vakuum“<br />
hinterlassen. „Seit den westlichen Demokratien die Herausforderung<br />
in Gestalt des Kommunismus abhandengekommen ist“,<br />
führt Winkler aus, „fehlt ihnen der<br />
Ansporn, über die eigenen normativen<br />
Grundlagen... nachzudenken.“<br />
Insofern ist es bezeichnend,<br />
dass wir uns an diesem 9. November<br />
vor allem ex negativo unserer<br />
selbst vergewissern: Wir stehen auf<br />
gegen Unterdrückung, Gewalt, Nepotismus<br />
und Machtanmaßung.<br />
Aber wissen wir auch noch, wofür<br />
wir einstehen? Offenbar reicht uns<br />
die Positivität eines Liberalismus<br />
nicht aus, dessen dünne, noch dazu<br />
bitter enttäuschte Versprechen<br />
darin bestehen, „Wohlstand für alle“<br />
zu schaffen und jedem Einzelnen<br />
so viel Freiheit wie möglich<br />
einzuräumen. Ein Liberalismus,<br />
der keine Verbindungslinien mehr<br />
zu ziehen weiß zwischen 1789 und<br />
1989. Dem der Sinn fehlt für die<br />
lange, gewaltvolle Geschichte der<br />
Säkularisierung und Emanzipation<br />
im Abendland – und alles rückständig<br />
schimpft, was er nicht auf der Höhe seiner Zeit meint. Es ist<br />
ein Liberalismus, der gedankenlos fortschreitet, ohne Richtung<br />
und ohne Ziel, über Traditionen und Milieus hinweg, über familiäre<br />
Beziehungen und soziale Normen – Hauptsache, nach vorne,<br />
immer nach vorne. Er grenzt das Außen, Andere und Fremde nicht<br />
aus, sondern verwandelt es sich an und verleibt es sich ein. Auf der<br />
Strecke bleibt das, wofür früher einmal der Begriff der „kollektiven<br />
Identität“ zur Verfügung stand. Zu seiner Verteidigung will im Westen<br />
niemandem mehr etwas einfallen.<br />
Arnold Gehlen, der kulturkritisch-fortschrittsfreundliche Philosoph<br />
und Anthropologe, hat die Ambivalenz des seelenlosen Fortschritts<br />
bereits 1961 auf den Punkt gebracht: „Die Prämissen (der<br />
Aufklärung) sind tot“, allein „ihre Konsequenzen laufen (noch)<br />
weiter“. Angesichts von Jakobinismus, Faschismus und Stalinismus<br />
war Gehlen selbstverständlich mit Theodor W. Adorno und<br />
Schlechte Zeiten In Russland 2014 wird der USA-geführte<br />
Westen als dekadente, imperiale Macht beschimpft<br />
Max Horkheimer der Meinung, alle Hoffnung auf einen qualitativen<br />
Vernunftfortschritt sei restlos überspannt. Den technisch-wissenschaftlich-ökonomischen<br />
Fortschritt hingegen würdigte er „als<br />
undurchbrechliches Lebensgesetz der Menschheit“. Gehlen<br />
glaubte, dass das Haus der Moderne auf soliden Fundamenten stehe.<br />
Sein Ausbau kenne kein immanentes Ziel mehr, gab er zu bedenken,<br />
auch die Kultur drehe nur noch Pirouetten. Gleichwohl<br />
werde der Ausbau zivilisatorisch vorangehen. Gehlen prägte dafür<br />
– drei Jahrzehnte vor Fukuyama – den Begriff „post-histoire“. Er<br />
meinte damit ein „Zeitalter der Unaufhörlichkeit“ mit anonymen<br />
Superstrukturen, in der der Politik nur noch die Aufgabe verbleibe,<br />
für Komfortoptimierung zu sorgen. Aus dem Ablauf der Ereignisse<br />
sei jeder Wille, jeder Sinn, jedes Telos verschwunden. Der Rest der<br />
Geschichte sei „Weitermachen um seiner selbst willen“, gepflegte<br />
Langeweile: grau, zwangsläufig – und alternativlos.<br />
Während Fukuyamas end of history im Anschluss an Hegel eine<br />
optimistische Geschichtsphilosophie bezeichnet, in der sich die<br />
Ideale Liberalismus, Marktwirtschaft und Demokratie im „absoluten,<br />
vernünftigen Endzweck der Welt“ verwirklichen, ist Gehlens<br />
post-histoire ein Synonym für das sinnlose Ausklingen historischer<br />
Abläufe. Den Kern der westlichen Identitätskrise schält man daher<br />
besser mit Gehlen als mit einer Widerlegung<br />
von Fukuyama heraus:<br />
Wenn schon politischer Fortschritt<br />
als Folge von Alternativlosigkeiten<br />
auf der Stelle tritt und auch die<br />
Kultur sich in Selbstzitaten erschöpft,<br />
darf nicht auch noch der<br />
Kapitalismus als Wohlstandsmaschine<br />
seinen Weltgeist aufgeben.<br />
Genau das ist aber der Fall. Der Kapitalismus<br />
ist zunehmend dysfunktional<br />
geworden, er stellt die<br />
Prinzipien der Marktwirtschaft<br />
(Wettbewerb und Machtdiffusion)<br />
zuweilen auf den Kopf, produziert<br />
Macht und Ungleichheit und protegiert<br />
die Macht globaler Banken<br />
und Konzerne. Auch der demokratische<br />
„Wandel durch Handel“, die<br />
Lieblings-Leerformel der internationalen<br />
Geschäftswelt, ist allzu oft<br />
ausgeblieben. Stattdessen gerieren<br />
sich autoritäre Kapitalismen<br />
selbstbewusst als politökonomische<br />
Konkurrenzprodukte. Das Nachsehen hat der Liberalismus<br />
des Westens, nicht der globale Konzern. Der streut das Eigentum<br />
seiner Aktionäre auch in Katar, Kuwait, Abu Dhabi. Berührt von<br />
dieser Entwicklung sind auch Mitarbeiter, Kunden, Konsumenten:<br />
Wenn das Kapital besonders gern dorthin geht, wo entweder die<br />
Steuersätze oder die Löhne oder die Sozialstandards oder die Umweltauflagen<br />
oder aber alles zugleich niedrig sind, stützt der Markt<br />
nicht mehr die Funktionalität liberaler Ordnungen, sondern dann<br />
akzeptiert er die Bedingungen, die er vorfindet – um den Preis seiner<br />
Akzeptanz. Was der Westen daher derzeit dringend braucht, ist<br />
interrogative Kraft. Seine Grundlagen – Liberalismus, Marktwirtschaft,<br />
Demokratie – sind nach wie vor anziehend: Fast alle Staaten<br />
weltweit meinen sich (abwehrend) auf sie beziehen zu müssen.<br />
Sich infrage stellen hieße daher nichts weiter als: sich auf seine<br />
Grundlagen besinnen. Und wieder bejahen lernen.<br />
n<br />
FOTO: IMAGO/ITAR TASS<br />
32 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
Panik im Paradies<br />
THAILAND | Die Ruhe nach dem Militärputsch trügt. Die politischen<br />
Lager im Königreich stehen sich unversöhnlich gegenüber.<br />
Nicht nur an der Basis, auch in der Führungsmannschaft<br />
der Roten herrscht eine<br />
Mischung aus Furcht und Zorn. Einer der<br />
Top-Leute der United Front for Democracy<br />
against Dictatorship (UDD) versteckt sich<br />
in einem kleinen Büro. „Die einfachen<br />
Leute haben seit dem Putsch nichts mehr<br />
zu sagen, und die Militärs wollen das Rad<br />
in nächster Zeit noch weiter zurückdrehen“,<br />
klagt der Funktionär, der seit 2006 sieben<br />
Mal im Gefängnis saß und aus Furcht<br />
vor Repressalien anonym bleiben will. Die<br />
UDD ist die größte formale Organisation<br />
innerhalb der Bewegung der Roten.<br />
Rot, so weit das Auge reicht. Die<br />
Schaufenster der Buchhandlung im<br />
sechsten Stock des Imperial World<br />
sind von breiten roten Rahmen eingefasst.<br />
Wenige Meter weiter hat der Fernsehsender<br />
TV 24 seine Zentrale. Die Leuchtreklame<br />
und Werbeplakate davor: alle rot. Gegenüber<br />
geben zwei Glastüren den Blick<br />
frei auf ein großzügiges Büro. Auch dort<br />
sind die Wände rot gestrichen. Die sechste<br />
Etage des Kaufhauses in der Bangkoker Innenstadt<br />
ist so etwas wie das Hauptquartier<br />
der sogenannten Rothemden, jener<br />
politischen Bewegung, die dem 2006 geschassten<br />
und immer noch populären Premier<br />
Thaksin Shinawatra nahesteht.<br />
Seit fast acht Jahren, mit einigen Unterbrechungen,<br />
halten die Roten das Land mit<br />
Protesten und Massendemonstrationen in<br />
Atem. Ihre Gegner sind die Gelben, eine<br />
Allianz aus großstädtischem Establishment,<br />
dem Militär und Anhängern der Demokratischen<br />
Partei. Immer wieder hatten<br />
diese versucht, Macht und Einfluss der roten<br />
Bewegung und ihrer demokratisch legitimierten<br />
Regierungen zu beschneiden.<br />
Ende Mai kehrte vorerst Ruhe auf den Straßen<br />
der thailändischen Hauptstadt ein: Die<br />
Armee unter ihrem Chef Prayuth Chanocha<br />
verhängte das Kriegsrecht und<br />
Schutzpatron der alten Machthaber General<br />
und Premierminister Prayuth Chan-ocha<br />
putschte die demokratisch gewählte Regierung<br />
unter Thaksins Schwester Yingluck<br />
und ihrer Pheu-Thai-Partei von der Macht.<br />
Jetzt sitzen ihre Anhänger auf den Fluren<br />
des Kaufhauses zwischen Büros, kleinen<br />
Läden, Cafés und Gemüseständen und<br />
vertreiben sich die Zeit mit Kartenspielen.<br />
Gesprochen wird im Flüsterton, denn die<br />
Angst ist groß, die Wut kaum weniger. Regelmäßig<br />
patrouillieren Soldaten; wegen<br />
des Kriegsrechts kann jeder ohne Begründung<br />
verhaftet werden.<br />
Wird verehrt wie ein Gott<br />
König Bhumibol Adulyadej<br />
xx Millionen Hier<br />
steht ein Quote mit Zahl<br />
über xx Zeilen ada asdads<br />
asdsdf<br />
FURCHT VOR NEUEN UNRUHEN<br />
Es herrscht Ruhe im Königreich. Auf den<br />
Straßen ist kaum Militär zu sehen. Demonstrationen<br />
gibt es nicht. Doch der Unmut<br />
der Thais, die sich in den vergangenen<br />
Jahrzehnten an freie Wahlen, unabhängige<br />
Presse und Demonstrationsrecht in ihrem<br />
Land gewöhnt hatten, ist groß. Nur die<br />
Angst, ohne Begründung für lange Zeit in<br />
einem Gefängnis zu verschwinden, hält die<br />
Menschen zurzeit zu Hause.<br />
Doch die Furcht der Militärregierung vor<br />
neuen Unruhen ist kaum weniger groß.<br />
Darum denkt General Prayuth auch mehr<br />
als fünf Monate nach dem Putsch noch<br />
nicht daran, das Kriegsrecht aufzuheben.<br />
„Die viel zitierte Stabilität gibt es nicht“,<br />
sagt ein westlicher Diplomat in Bangkok.<br />
Auch am 21. November, wenn sich Spitzenvertreter<br />
der deutschen Wirtschaft sowie<br />
Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel<br />
im vietnamesischen Ho-Chi-Minh-<br />
Stadt zur Asien-Pazifik-Konferenz treffen,<br />
dürfte die Krise in Thailand Thema sein.<br />
Erst wenn es dunkel wird in Bangkok<br />
und sich die Straßen geleert haben, trauen<br />
sich die Menschen offen auszusprechen,<br />
was ihnen unter den Nägeln brennt. Jutathip<br />
Wanaporn betreibt in einer kaum zwei<br />
Meter breiten Gasse im Norden der Stadt<br />
einen kleinen Laden. In den Regalen stehen<br />
Waschpulver, Süßigkeiten und Whisky.<br />
Im Hintergrund plärrt ein Fernseher. Eine<br />
Neonröhre an der Decke spendet Licht.<br />
„Es muss einen durch Wahlen legitimierten<br />
Regierungschef geben“, sagt Jutathip,<br />
die bei den großen Demonstrationen im<br />
Frühjahr genauso dabei war wie 2010 und<br />
2008. Der Militärjunta traut sie kaum etwas<br />
zu. „Die werden doch nichts für das Volk<br />
tun.“ Eine Nachbarin kommt aus ihrem<br />
Haus. „Keiner kann mir vorschreiben, was<br />
ich zu denken habe“, sagt die Frau. Wenn<br />
das Kriegsrecht aufgehoben ist, will sie<br />
wieder demonstrieren. Mehr als eine<br />
»<br />
FOTOS: DDP IMAGES/ZUMAJACK KURTZ, REUTERS/SUKREE SUKPLANG<br />
34 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
»<br />
halbe Stunde diskutieren die beiden<br />
Frauen über den künftigen politischen<br />
Kurs in Thailand. Die Regierung der Militärs<br />
lehnen sie rundweg ab.<br />
Gerade die einfachen Leute, so scheint<br />
es, haben in den vergangenen Jahren ein<br />
ausgeprägtes politisches Bewusstsein entwickelt.<br />
Mit dafür gesorgt hat ausgerechnet<br />
Thaksin. Als er und seine Partei „Thais lieben<br />
Thailand“ 2001 an die Macht kamen,<br />
beglückte er die Bauern im rückständigen<br />
Nordosten des Landes mit Subventionen,<br />
führte eine kostenlose Gesundheitsversorgung<br />
für die Landbevölkerung sowie Studentenkredite<br />
für einkommensschwache<br />
Familien ein. Für seine populistische Politik<br />
musste sich der damalige Premier, der<br />
als Telekomunternehmer Milliarden verdient<br />
hatte und sich bis heute gegen Korruptionsvorwürfe<br />
wehren muss, heftige<br />
Kritik anhören. Doch Kenner des Landes<br />
betonen auch, dass er der erste Politiker in<br />
der jüngeren Geschichte Thailands war,<br />
der den einfachen Menschen das Gefühl<br />
gab, dass sich jemand um sie kümmert und<br />
ihnen die Teilhabe am gesellschaftlichen<br />
Leben ermöglicht.<br />
KATE STIRBT IM KUGELHAGEL<br />
Eine, die sich ihr Recht auf Mitsprache von<br />
den Militärs nicht nehmen lassen will, ist<br />
Payao Akahat. An einem heißen Samstagvormittag<br />
sitzt die 49-Jährige vor ihrem Laden<br />
am nördlichen Rand von Bangkok. Auf<br />
der Straße donnern Motorräder vorbei.<br />
Payao flicht aus Orchideen kleine Kränze.<br />
Die Gebinde verkauft sie für ein paar Cent<br />
in der Nachbarschaft. „Ich will, dass die Todesschützen<br />
vor Gericht kommen“, bricht<br />
es auf einmal aus Payao hervor.<br />
Es ist der 19. Mai 2010, als Soldaten gegen<br />
Abend das Feuer auf den Tempel Pathumwanaran<br />
eröffnen. Wochenlang hatten<br />
die Rothemden in Bangkoks Straßen demonstriert.<br />
Im Tempel kümmern sich Studenten<br />
um Verletzte. Auch Payaos Tochter<br />
Kate, 25, ist dabei – die Mutter wird ihr<br />
Mädchen nicht mehr lebend wiedersehen.<br />
Kate stirbt im Kugelhagel der thailändischen<br />
Armee. Seitdem kämpft Payao dafür,<br />
dass die Schützen vor Gericht kommen.<br />
Erst kürzlich saß sie wieder für einige Tage<br />
im Gefängnis, weil sie Flugblätter verteilt<br />
hatte. Auf den Papieren standen die Namen<br />
der angeblich für das Massaker Verantwortlichen.<br />
„Ich war nie besonders politisch“,<br />
sagt Payao, „aber hier geht es um<br />
Gerechtigkeit für meine Tochter.“<br />
Die Thailänderin will Antworten, Antworten,<br />
die sie von der Militärregierung<br />
Stetig aufwärts<br />
Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner<br />
in Thailand (in Dollar)<br />
ab 2013 Prognose, preisbereinigt;<br />
Quelle: IHS<br />
5500<br />
5000<br />
4500<br />
4000<br />
3500<br />
3000<br />
2000 2003 2006 2009 2012 2015<br />
Wo die Wut wächst<br />
Reisbauern in Thailand<br />
unter General Prayuth, der inzwischen<br />
auch Premierminister ist, wohl nicht bekommen<br />
dürfte. Denn der ist dabei, das<br />
Rad mit Schwung zurückzudrehen. Demokratie<br />
und Meinungsfreiheit wie im Westen<br />
passten im Grunde gar nicht zur „thailändischen<br />
Seele“, betonen die Militärs jetzt<br />
häufig. Die thailändische Seele und das Besondere<br />
am „Thai sein“ streichen die Generäle<br />
inzwischen bei fast jeder Gelegenheit<br />
heraus und wollen das Land damit politisch<br />
<strong>vom</strong> Westen abgrenzen. An den<br />
Hochschulen sollen die Studenten demnächst<br />
Patriotismusunterricht bekommen,<br />
ganz so wie im kommunistischen China. Es<br />
ist eine Entwicklung, die an die Debatte um<br />
sogenannte asiatische Werte und deren<br />
angebliche Unvereinbarkeit mit dem westlichen<br />
Pluralismus in den Neunzigerjahren<br />
erinnert.<br />
„Die Soldaten können das Volk doch<br />
nicht zum Thai sein zwingen“, empört sich<br />
der UDD-Funktionär, der aus Angst vor Repressalien<br />
ungenannt bleiben will. Er und<br />
viele andere aus dem roten Lager glauben,<br />
die konservative Allianz aus Militärregierung,<br />
Kräften aus dem Königshaus, großstädtischer<br />
Bildungselite und reichen Geschäftsleuten<br />
könne das alte System der<br />
Klassenunterschiede erhalten, von dem sie<br />
in den vergangenen Jahrzehnten so sehr<br />
profitiert haben. „Die wollen die feudalistische<br />
Gesellschaftsordnung um jeden Preis<br />
bewahren“, schimpft der UDD-Mann.<br />
Doch nicht nur durch die thailändische<br />
Gesellschaft geht ein tiefer Riss, auch die<br />
Militärregierung, so betonen Experten, ist<br />
gespalten zwischen erzkonservativen und<br />
gemäßigt fortschrittlichen Kräften. General<br />
Prayuth gilt als schwach. „Er hat seine<br />
beste Zeit hinter sich“, sagt ein westlicher<br />
Diplomat in Bangkok, „ab jetzt geht es<br />
bergab.“ Wenig vertrauenserweckend war<br />
etwa Prayuths Erklärung für sein akutes<br />
Rückenleiden vor einigen Wochen. Mithilfe<br />
schwarzer Magie, hatte der General dem<br />
staunenden Publikum erklärt, hätten Feinde<br />
ihn verhext.<br />
EINE FRAGE VON MONATEN<br />
Doch die größte Gefahr für Thailands Stabilität<br />
droht aus dem Königspalast. Bhumibol<br />
Adulyadej, seit 1946 Staatsoberhaupt,<br />
ist schwer krank; manche in Bangkok sagen,<br />
der Tod des 86-jährigen Monarchen<br />
sei eher eine Frage von Monaten als von<br />
Jahren. Dann beginnt die schwierige Suche<br />
nach einem Nachfolger für den König, den<br />
die Thais wie einen Gott verehren.<br />
Das Kempinski Hotel am Münchner<br />
Flughafen ist ein lichtdurchfluteter Bau aus<br />
viel Glas und Stahl. In der Empfangshalle<br />
stehen rote Ledermöbel und künstliche<br />
Palmen. In den Gängen und Treppenhäusern<br />
der Nobelherberge patrouillieren<br />
zu jeder Tages- und Nachtzeit muskelbepackte<br />
Thais in dunklen Trainingsanzügen<br />
– Leibwächter von Maha Vajiralongkorn,<br />
Sohn des greisen Königs und damit<br />
Thronfolger. Der 62-jährige Kronprinz<br />
FOTO: GETTY IMAGES/LIGHTROCKET/ PETER CHARLESWORTH<br />
36 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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FOTOS: WERNER SCHUERING FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, PICTURE-ALLIANCE/DPA<br />
verbringt dort die meiste Zeit. Einerseits,<br />
heißt es, sei er schönen Dingen wie etwa<br />
dem Glücksspiel zugeneigt. Andererseits,<br />
versichern Insider mit guten Kontakten<br />
zum Königshaus, lasse sich Maha in München<br />
wegen einer HIV-Infektion behandeln.<br />
Offizielle Bestätigungen hierfür gibt<br />
es nicht. So oder so: Ein idealer Thronfolger<br />
für ein Land, in dem die Monarchie einen<br />
so großen Stellenwert hat und der König<br />
oberste moralische Instanz ist, sieht anders<br />
aus. Wegen der unsicheren Thronfolge<br />
könnte in Thailand, das bei vielen Deutschen<br />
immer noch als Paradies gilt, Panik<br />
ausbrechen.<br />
LEICHTES WACHSTUM<br />
Um die Stimmung im Volk zu heben, versucht<br />
die Regierung, mit <strong>Ausgabe</strong>nprogrammen<br />
die Wirtschaft anzukurbeln.<br />
Umgerechnet allein 60 Milliarden Euro<br />
wollen die Militärs in den kommenden sieben<br />
Jahren für den Ausbau der Infrastruktur<br />
ausgeben. Priorität genießt der Ausbau<br />
des Schienennetzes und der Aufbau einer<br />
Hochgeschwindigkeitstrasse, die das Königreich<br />
von Nord nach Süd durchqueren<br />
soll. Mit Steuer- und Zollerleichterungen<br />
wollen die Militärs zudem Investoren aus<br />
dem Ausland nach Thailand locken.<br />
Fürs Erste scheint sich die Wirtschaft stabilisiert<br />
zu haben. Schrumpfte das Bruttoinlandsprodukt<br />
zwischen Januar und März<br />
noch um 0,5 Prozent, verzeichneten die<br />
Statistiker für das zweite und dritte Quartal<br />
wieder ein leichtes Wachstum von weniger<br />
als einem Prozent. Vom einstigen Boom<br />
mit Raten zwischen fünf und sieben Prozent<br />
ist Thailand allerdings weit entfernt.<br />
Dass das Vertrauen schnell zurückkehrt,<br />
ist jedoch wenig wahrscheinlich. Unternehmen<br />
aus dem Ausland klagen über zunehmende<br />
Rechtsunsicherheit und eine<br />
grassierende Korruption. Im Korruptionswahrnehmungsindex<br />
von Transparency<br />
International ist Thailand innerhalb eines<br />
Jahres von Rang 88 auf Rang 102 gefallen.<br />
Auch die Touristenzahlen liegen noch weit<br />
unter dem Niveau aus der Zeit vor der politischen<br />
Krise. Schwierig in einem Land, in<br />
dem der Fremdenverkehr fast zehn Prozent<br />
zur Wirtschaftsleistung beiträgt.<br />
Das Volk versucht General Prayuth indes<br />
mit Reformversprechen zu beruhigen.<br />
Ende kommenden Jahres, so beteuert er,<br />
würden in Thailand Wahlen abgehalten.<br />
Wirklich fruchten wollen solche Zusagen<br />
nicht. „Ich glaube den Militärs gar nichts“,<br />
sagt der UDD-Funktionär.<br />
n<br />
matthias.kamp@wiwo.de | München<br />
BERLIN INTERN | Wenn Angela Merkel und Sigmar<br />
Gabriel nicht gegen–, sondern nur nacheinander<br />
reden – dann gewinnt Rot. Ist für den Sieger bloß kein<br />
Grund zur Freude. Von Max Haerder<br />
Kanzlernichtduell<br />
Angela Merkel dürfte ganz zufrieden<br />
gewesen sein. Es ist ohnehin<br />
nicht anzunehmen, dass die Bundeskanzlerin<br />
sehr häufig unzufrieden<br />
mit sich ist. Wenn alle Welt quasi permanent<br />
auf einem herumhackt, kann man es ja<br />
nicht ständig auch noch selber tun. Sie hat<br />
diese Selbstwerterhaltungsstrategie mal im<br />
Beisein von Russlands Präsident Wladimir<br />
Putin formuliert, der einst beklagte, er käme<br />
in deutschen Medien ach so schlecht weg.<br />
Merkels Heul-doch-Replik ging sinngemäß<br />
so: Falls sie sich alles zu Herzen nähme, was<br />
Ein Pult, zwei Posten Merkel gegen<br />
Gabriel beim Deutschen Arbeitgebertag<br />
über sie geschrieben würde, dann könne sie<br />
morgens auch gleich mit Depressionen im<br />
Bett bleiben. Angesichts dieses trockenen<br />
uckermärkischen Konters machte Putin ein<br />
Gesicht, als habe er gerade verschimmelten<br />
Borschtsch probiert.<br />
Die Bundeskanzlerin wird auch vergangene<br />
Woche recht zufrieden mit sich gewesen<br />
sein, als sie nach getanem Werke von der<br />
Bühne des Arbeitgebertages stieg. Merkel hat<br />
sich in den Jahren ihrer Regentschaft den Ruf<br />
einer Meisterin des sedierenden Wortes erarbeitet.So<br />
einen Titel schenkt man nicht einfach<br />
so her.Im Gegensatz zu ihrem Auftritt<br />
beim jüngsten IT-Gipfel musste die Regierungschefin<br />
nicht mal nach einem altmodischen<br />
F-Wort suchen. Also: Ablesen, Abgang,<br />
höflicher Respekts-Applaus.<br />
Mehr war nicht drin, das weiß niemand<br />
besser als Deutschlands oberste Real(ismus)politikerin.<br />
Wer im Manuskript als<br />
Highlight nur das Versprechen stehen hat, die<br />
Regierung werde nicht mehr tun als im Koalitionsvertrag,<br />
aber eben doch fleißig alles angehen,<br />
was in diesem Werk vereinbart sei,<br />
wirklich alles – der darf sich nicht wundern,<br />
wenn die versammelte Wirtschaftselite (von<br />
Gastgeber und Arbeitgeber-Präsident<br />
Ingo Kramer bis zu BDI-Chef Ulrich Grillo)<br />
nicht gleich vor Begeisterung die gute Unterwäsche<br />
auf die Bühne schmeißt.<br />
Nach dem Pausen-Kaffee durfte dann der<br />
Vizekanzler ran. Ein Kontrast, wie man ihn<br />
sich intensiver kaum vorstellen kann. Wenn<br />
Sigmar Gabriel so richtig in Fahrt gerät, könnte<br />
er für seine Performance eigentlich Eintritt<br />
nehmen, und selbst wenn er nur halb Gas<br />
gibt, ist eine vergnügliche halbe Stunde sicher.Als<br />
Appetizer seiner Rede stellte er den<br />
anwesenden und nach ihm sprechenden<br />
CSU-Chef Horst Seehofer so charmant in<br />
den Senkel, dass der nicht einmal böse sein<br />
durfte: „Du hast gesagt, du seist nur hier, um<br />
derKanzlerin hinterher zu berichten. Es gibt<br />
allerdings Leute in der CDU, die glauben, du<br />
seist der zweite Sozialdemokrat in der großen<br />
Koalition.“Erster Lacher.„Und hier im Saal<br />
gibt es vielleicht ein paar, die das befürchten.“Zweiter<br />
Treffer.<br />
Wenn Gabriel latente SPD-Allergien im<br />
Raum sprachtherapeutisch behandeln kann,<br />
ist er besonders gut. Spätestens als er bei den<br />
„irren Zuständen“ der Energiewende ankommt<br />
– die er natürlich so vorgefunden hat,<br />
ist doch klar – und schildert, wie süddeutsche<br />
Atomkraftwerke abgeschaltet werden,<br />
um sich stattdessen den Strom von österreichischen<br />
Öl-Dreckschleudern zu importieren,<br />
hat er den Saal kurzzeitkuriert. „Die Kollegen<br />
in Österreich“, sagt Gabriel, „kommen<br />
vor Lachen gar nicht in den Schlaf.“<br />
Mitleid gibt es an diesem Tag nur mit zwei<br />
Personen: Mit Gabriels Redenschreiber, denn<br />
der Chef guckt gefühlt kein einziges Mal in<br />
seinen sicher höchst ausgefeilten Sprechzettel.<br />
Und, trotz allem, mit dem Vortragenden<br />
selbst. Denn wer zuvor gesehen hat, wie ein<br />
Anti-Frauenquoten-Publikum beim schnippischen<br />
merkelschen Pro-Quoten-Kommentar<br />
(„Sie werden das noch als große Bereicherung<br />
empfinden“) applaudiert, der ahnt: Die<br />
Kanzlerin verliert das Pultduell gegen ihren<br />
Vize. Aber das Kreuz machen die Leute dann<br />
doch bei ihr.<br />
WirtschaftsWoche <strong>10.11.2014</strong> Nr. 46 37<br />
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Der Volkswirt<br />
KOMMENTAR | Die neue Steuerschätzung hält den Bundesfinanzminister nicht <strong>vom</strong> Projekt<br />
„Schwarze Null“ im kommenden Jahr ab. Denn die Bremswirkung der konjunkturellen<br />
Delle auf die Steuereinnahmen ist überraschend gering. Jetzt muss er nur noch die <strong>Ausgabe</strong>nwünsche<br />
von Politik und Lobbyisten abwehren. Von Christian Ramthun<br />
Schäubles magisches Jahr<br />
Export-Champion, Euro-<br />
Anker und natürlich<br />
Fußballweltmeister.<br />
Es lief lange gut für<br />
Deutschland. So gut, dass wir<br />
uns kaum noch vorstellen können,<br />
wie sehr das Leben in<br />
Wellen verläuft. Doch nach fünf<br />
guten Jahren läuft die Konjunktur<br />
nicht mehr rund, im dritten<br />
Quartal dürfte die Wirtschaft<br />
nur minimal gewachsen sein.<br />
Naturgemäß schlägt sich die<br />
wirtschaftliche Entwicklung<br />
auch auf das Steueraufkommen<br />
nieder. Und so ist es keine<br />
Überraschung, dass die Steuerschätzer<br />
von Bund, Ländern<br />
und aus der Wissenschaft in<br />
der vorigen Woche zu dem Ergebnis<br />
kamen: Die Staatseinnahmen<br />
steigen weniger stark<br />
als noch vor einem halben Jahr<br />
prognostiziert.<br />
Die eigentliche Überraschung<br />
ist, dass die konjunkturelle<br />
Bremswirkung nur schwach ausfällt.<br />
In diesem Jahr nimmt der<br />
Fiskus sogar 900 Millionen Euro<br />
mehr ein, als in der Mai-Schätzung<br />
erwartet wurde – obwohl<br />
die Bundesregierung zwischenzeitlich<br />
ihre Wachstumsprognose<br />
von 1,8 auf 1,2 Prozent abgesenkt<br />
hat.<br />
GELD VON DER EU<br />
Das kann man noch damit begründen,<br />
dass die Steuereinnahmen<br />
stets mit einer gewissen<br />
Verzögerung auf die wirtschaftliche<br />
Entwicklung reagieren. Im<br />
nächsten Jahr indes, wenn sich<br />
die ökonomischen Bremsspuren<br />
schon im Staatssäckel bemerkbar<br />
machen sollten, kommt es<br />
lediglich zu einer Korrektur um<br />
6,4 Milliarden Euro nach unten.<br />
Damit würden die Steuereinnahmen<br />
gegenüber 2014 immer<br />
noch um fast 27 Milliarden Euro<br />
Weiter aufwärts<br />
Entwicklung der Steuereinnahmen<br />
(in Mrd. €)<br />
750<br />
Gesamt<br />
700<br />
650<br />
Veränderung zur<br />
Mai-Schätzung<br />
(in Mrd. €)<br />
+0,9 –6,4 –6,9 –4,6 –3,9<br />
600<br />
2014* 15** 16 17 18<br />
Quelle: Arbeitskreis Steuerschätzungen <strong>vom</strong> 6.<br />
November; * Schätzung; ** ab 2015 Prognosen<br />
wachsen. Dem Bund kommt dabei<br />
2015 – quasi als Aperçu – zugute,<br />
dass er 2,1 Milliarden Euro<br />
weniger an die EU abführen muss,<br />
weil es für die Jahre 1995 bis<br />
2013 zu Nachberechnungen<br />
kam. Dadurch kann Finanzminister<br />
Wolfgang Schäuble für das<br />
kommende Jahr nahezu unverändert<br />
planen. Was für ein Glück!<br />
Der Bundesfinanzminister reitet<br />
nicht auf der Konjunkturwelle, es<br />
scheint, als ob er die Welle macht.<br />
Virtuos spielt der seit 42 Jahren<br />
im Bundestag sitzende Unions-<br />
Politiker mit den jüngsten Zahlen<br />
und erklärt: „Wir wollen zusätzliche<br />
investive Mittel von zehn Milliarden<br />
Euro im Haushalt 2016 bereitstellen.“<br />
Damit raubt er den<br />
Dränglern ihren Schwung, die seit<br />
Monaten mehr Geld für Investitionen<br />
fordern, vor allem in die Infrastruktur.<br />
Er kommt auch dem neuen<br />
EU-Kommissionspräsidenten<br />
Jean-Claude Juncker entgegen,<br />
der 300 Milliarden Euro Investitionen<br />
für Europa im Kampf gegen<br />
Stagnation und Arbeitslosigkeit<br />
verlangt. Und er schiebt die zusätzlichen<br />
<strong>Ausgabe</strong>n auf das Jahr<br />
nach 2015.<br />
2015 soll Schäubles magisches<br />
Jahr werden. Dann will der Bund<br />
keine neuen Schulden mehr aufnehmen.<br />
Das wäre das erste Mal<br />
seit 1969, ein historischer Moment,<br />
für den sich ein Politikerleben<br />
zu leben lohnt. Natürlich lässt<br />
sich leicht sagen: Mit diesen sprudelnden<br />
Einnahmen kann das jeder<br />
schaffen! Tatsächlich steigen<br />
die Steuereinnahmen allein für<br />
den Bund von 2009, dem Beginn<br />
von Schäubles Amtszeit, bis 2015<br />
um voraussichtlich 50 Milliarden<br />
auf 279 Milliarden Euro.<br />
Allerdings gehört es zu den Naturgesetzen<br />
im politischen Berlin,<br />
dass jede Mehreinnahme ein Vielfaches<br />
an Begehrlichkeiten<br />
weckt. Allein ein Blick in die Lobbyliste<br />
des Bundestages mit den<br />
Der Staat kassiert<br />
Wie sich die Steuereinnahmen<br />
zusammensetzen (in Mrd. €)<br />
Sonstiges 91,5<br />
Tabaksteuer 14,3<br />
Solidaritätszuschlag<br />
14,9<br />
Körperschaftsteuer<br />
18,1<br />
Energiesteuer 39,5<br />
Gewerbesteuer 44,0<br />
Quelle: Arbeitskreis Steuerschätzungen,<br />
2014<br />
Lohn- und<br />
Einkommensteuer<br />
203,4<br />
214,2<br />
Umsatzsteuer<br />
dort registrierten 2216 Organisationen<br />
zeigt, welchen Begehrlichkeiten<br />
Parlament und Regierung<br />
ausgesetzt sind. Hinzu kommt der<br />
Drang von Politikern, sich ein<br />
Denkmal zu setzen, das natürlich<br />
von den Steuerzahlern zu finanzieren<br />
ist. Kreativ und durchsetzungsstark<br />
ist insbesondere Ursula<br />
von der Leyen, die sich bereits<br />
mit dem Kita-Ausbau und dem Elterngeld<br />
kostspielige Denkmäler<br />
gesetzt hat und nun als Verteidigungsministerin<br />
versucht, Schäuble<br />
Geld aus der Rippe zu leiern.<br />
Auch die Wirtschaft ist aktiv geworden.<br />
Die Stiftung Familienunternehmen<br />
entdeckt wieder die<br />
degressive Afa, mit deren Hilfe<br />
Unternehmen ihre Maschinen<br />
am Anfang besonders stark abschreiben<br />
könnten. Damit, so<br />
sagt sie, würde mehr investiert<br />
werden und so die Konjunktur<br />
wieder anspringen.<br />
WÜNSCHE, WÜNSCHE<br />
Der Industrieverband BDI hätte<br />
gern eine steuerliche Förderung<br />
von Forschung und Entwicklung,<br />
um die Unternehmen noch innovativer<br />
zu machen und um mit<br />
anderen Ländern gleichzuziehen,<br />
die längst solche Anreize<br />
anbieten. Der Handwerksverband<br />
wiederum plädiert eindringlich<br />
für eine Förderung der<br />
energetischen Gebäudesanierung.<br />
Dabei sind Deutschlands<br />
Unternehmen auch ohne Steuerbonus<br />
ausgesprochen innovativ<br />
(siehe auch Seite 26). Und<br />
dank niedrigster Zinsen brummt<br />
das Baugeschäft, einschlägige<br />
Handwerker sind bisweilen über<br />
Monate nicht zu bekommen.<br />
Doch Schäuble fällt es nicht<br />
allzu schwer, solche Begehrlichkeiten<br />
an sich abperlen zu lassen.<br />
Problematischer sind für<br />
ihn da schon Forderungen der<br />
Bundesländer. Immer wieder<br />
knickt er ein, sei es bei der Übernahme<br />
von Unterkunftskosten<br />
für ALG-II-Bezieher, dem Kita-<br />
Ausbau, bei Bafög oder Eingliederungshilfen.<br />
Bei den laufenden<br />
Gesprächen zur<br />
Neugliederung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen<br />
zeichnet<br />
sich ein Verhältnis von 16 zu<br />
1 ab, wenn es darum geht, den<br />
Bund weiter zu schröpfen.<br />
Ganz ohne Anstrengung wird<br />
Schäuble seine schwarze Null<br />
für 2015 nicht bekommen.<br />
FOTO: WERNER SCHUERING FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
38 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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KONJUNKTUR DEUTSCHLAND<br />
Earlybird-Frühindikator<br />
sagt Erholung voraus<br />
Aufatmen in der deutschen Industrie:<br />
Nach einem Auftragseinbruch<br />
im August haben die<br />
Bestellungen im September<br />
wieder zugelegt. Der Zuwachs<br />
gegenüber dem Vormonat fiel<br />
mit 0,8 Prozent allerdings geringer<br />
aus als von Analysten erwartet.<br />
Die Aufträge aus dem Ausland<br />
kletterten zwar deutlich<br />
um 3,7 Prozent, gleichzeitig<br />
aber fragten inländische Kunden<br />
2,8 Prozent weniger Güter<br />
und Dienstleistungen nach.<br />
Dass es mit der Wirtschaft<br />
gleichwohl vorsichtig nach<br />
oben geht, zeigt auch der Earlybird-Frühindikator,<br />
den die<br />
Commerzbank jeden Monat exklusiv<br />
für die WirtschaftsWoche<br />
berechnet. Das Konjunkturbarometer,<br />
das einen Vorlauf gegenüber<br />
der Realwirtschaft von<br />
sechs bis neun Monaten hat,<br />
kletterte im Oktober von 0,49<br />
auf 0,53 Punkte (siehe Grafik).<br />
Der Indikator erfasst den Außenwert<br />
des Euro, die kurzfristigen<br />
Realzinsen sowie (als Messgröße<br />
für die Lage der<br />
Weltwirtschaft) den Einkaufsmanagerindex<br />
für die US-Industrie<br />
(ISM). Grund für den<br />
aktuellen Anstieg war neben einer<br />
etwas stärkeren Weltwirtschaft<br />
der gesunkene Euro-<br />
Kurs. Dieser lag um etwa zwei<br />
Prozent unter dem Niveau von<br />
Oktober 2013. Das geldpolitische<br />
Umfeld blieb stabil.<br />
Insgesamt gebe der Earlybird<br />
„Anlass zur Hoffnung, dass die<br />
deutsche Wirtschaft 2015 nach<br />
einem schwachen zweiten<br />
Halbjahr 2014 wieder zulegen<br />
wird“, schreiben die Commerzbank-Ökonomen<br />
in ihrer Analyse<br />
für die WirtschaftsWoche. Die<br />
Experten rechnen damit, dass<br />
bald auch der seit Monaten anhaltende<br />
Rückgang des ifo-Geschäftsklimas<br />
endet. „In den<br />
vergangenen Zyklen lief der<br />
Earlybird dem ifo-Geschäftsklima<br />
immer voraus. Da der<br />
Earlybird im Januar seinen Tiefpunkt<br />
erreicht hat, würde dies<br />
beim ifo-Index für eine Wende<br />
nach oben um den Jahreswechsel<br />
2014/15 herum sprechen“, so<br />
die Ökonomen.<br />
Aufwärtstrend hält an<br />
Bruttoinlandsprodukt und Earlybird-Konjunkturbarometer<br />
bert.losse@wiwo.de<br />
Die Stimmung in der Industrie<br />
hat sich leicht verbessert. Der<br />
<strong>vom</strong> Forschungsinstitut Markit<br />
ermittelte Einkaufsmanagerindex<br />
für das verarbeitende Gewerbe<br />
ist im Oktober um 1,5 auf<br />
51,4 Zähler gestiegen. Damit<br />
liegt das Barometer wieder über<br />
der Schwelle von 50 Punkten,<br />
ab der gemeinhin wirtschaftliche<br />
Expansion einsetzt. Gleichzeitig<br />
sackte der entsprechende<br />
Index für den Dienstleistungssektor<br />
um 1,3 auf 54,4 Punkte<br />
ab. Das ist der niedrigste Stand<br />
seit sieben Monaten.<br />
Insgesamt dürfte das Bruttoinlandsprodukt<br />
von Juli bis September<br />
nur um magere 0,1 Prozent<br />
zum Vorquartal gestiegen<br />
sein, prognostiziert das Deutsche<br />
Institut für Wirtschaftsforschung.<br />
Eine erste offizielle<br />
Schätzung für das dritte Quartal<br />
gibt das Statistische Bundesamt<br />
am Freitag dieser Woche bekannt.<br />
1,00<br />
0,75<br />
0,50<br />
Earlybird 2<br />
4,0<br />
3,0<br />
2,0<br />
0,25<br />
0<br />
1,0<br />
0<br />
–0,25<br />
–1,0<br />
–0,50<br />
Bruttoinlandsprodukt<br />
–2,0<br />
–0,75<br />
1 ( )<br />
–3,0<br />
–1,00<br />
1993 1996 1999 2002 2005 2008 2011<br />
–4,0<br />
2014<br />
1<br />
zum Vorquartal (in Prozent); 2 gewichtete Summe aus kurzfristigem realem Zins, effektivem<br />
realem Außenwert des Euro und Einkaufsmanagerindizes; Quelle: Commerzbank<br />
Zurück in der<br />
Wachstumszone<br />
Volkswirtschaftliche<br />
Gesamtrechnung<br />
Real. Bruttoinlandsprodukt<br />
Privater Konsum<br />
Staatskonsum<br />
Ausrüstungsinvestitionen<br />
Bauinvestitionen<br />
Sonstige Anlagen<br />
Ausfuhren<br />
Einfuhren<br />
Arbeitsmarkt,<br />
Produktion und Preise<br />
Industrieproduktion 1<br />
Auftragseingänge 1<br />
Einzelhandelsumsatz 1<br />
Exporte 2<br />
ifo-Geschäftsklimaindex<br />
Einkaufsmanagerindex<br />
GfK-Konsumklimaindex<br />
Verbraucherpreise 3<br />
Erzeugerpreise 3<br />
Importpreise 3<br />
Arbeitslosenzahl 4<br />
Offene Stellen 4<br />
Beschäftigte 4, 5<br />
2012 2013<br />
Durchschnitt<br />
0,4<br />
0,8<br />
1,0<br />
–4,0<br />
–1,4<br />
3,4<br />
3,2<br />
1,4<br />
2012 2013<br />
Durchschnitt<br />
–0,9<br />
–4,2<br />
0,1<br />
3,3<br />
105,0<br />
46,7<br />
5,9<br />
2,0<br />
1,6<br />
2,1<br />
2896<br />
478<br />
29355<br />
0,1<br />
0,9<br />
0,4<br />
–2,4<br />
–0,2<br />
3,0<br />
0,9<br />
1,5<br />
–0,2<br />
2,5<br />
0,2<br />
–0,2<br />
106,9<br />
50,6<br />
6,5<br />
1,5<br />
–0,1<br />
–2,5<br />
2950<br />
458<br />
29722<br />
II/13 III/13 IV/13 I/14 II/14<br />
Veränderung zum Vorquartal in Prozent<br />
0,8<br />
0,6<br />
0,0<br />
2,3<br />
3,0<br />
0,0<br />
1,4<br />
1,3<br />
Juli<br />
2014<br />
1,6<br />
4,8<br />
–0,9<br />
4,8<br />
107,9<br />
52,4<br />
8,9<br />
0,9<br />
–0,8<br />
–1,7<br />
2912<br />
484<br />
30259<br />
1 Volumen, produzierendes Gewerbe, Veränderung zum Vormonat in Prozent; 2 nominal, Veränderung zum Vormonat in<br />
Prozent; 3 Veränderung zum Vorjahr in Prozent; 4 in Tausend, saisonbereinigt; 5 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte;<br />
alle Angaben bis auf Vorjahresvergleiche saisonbereinigt; Quelle: Thomson Reuters<br />
0,3<br />
0,7<br />
0,6<br />
–0,5<br />
1,8<br />
0,2<br />
0,7<br />
1,7<br />
Aug.<br />
2014<br />
–4,0<br />
–4,2<br />
1,5<br />
–5,8<br />
106,3<br />
51,4<br />
8,9<br />
0,9<br />
–0,8<br />
–1,9<br />
2900<br />
494<br />
30257<br />
0,5<br />
–0,8<br />
–0,1<br />
2,1<br />
0,7<br />
0,2<br />
1,7<br />
0,7<br />
Sept.<br />
2014<br />
–<br />
0,8<br />
–3,2<br />
–<br />
104,7<br />
49,9<br />
8,6<br />
0,9<br />
–1,0<br />
–1,6<br />
2909<br />
500<br />
–<br />
0,7<br />
0,8<br />
0,4<br />
2,1<br />
4,1<br />
1,2<br />
0,0<br />
0,5<br />
Okt.<br />
2014<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–<br />
103,2<br />
51,4<br />
8,4<br />
0,8<br />
–<br />
–<br />
2887<br />
509<br />
–<br />
–0,2<br />
0,1<br />
0,1<br />
–0,4<br />
–4,2<br />
0,1<br />
0,9<br />
1,6<br />
Nov.<br />
2014<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–<br />
8,5<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–<br />
Letztes Quartal<br />
zum Vorjahr<br />
in Prozent<br />
0,8<br />
1,0<br />
1,0<br />
2,1<br />
0,7<br />
1,6<br />
2,5<br />
4,1<br />
Letzter Monat<br />
zum Vorjahr<br />
in Prozent<br />
–5,9<br />
2,0<br />
2,3<br />
–1,1<br />
–4,2<br />
0,2<br />
19,7<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–2,6<br />
11,1<br />
1,6<br />
WirtschaftsWoche <strong>10.11.2014</strong> Nr. 46 39<br />
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Der Volkswirt<br />
PRO UND CONTRA | Die steile Talfahrt der Zinsen unter dem Einfluss der expansiven Geldpolitik der Zentralbanken<br />
hat unter Ökonomen eine heftige Debatte über die Natur des Zinses und seine angemessene Höhe ausgelöst.<br />
Strittig ist, ob der Zins auf einem freien Markt in den negativen Bereich rutschen kann.<br />
Kann der natürliche Zins negativ werden?<br />
Pro<br />
Ulrich von Suntum ist Professor<br />
für Volkswirtschaftslehre<br />
in Münster. Zuvor hat er<br />
unter anderem für die „Fünf<br />
Wirtschaftsweisen“ gearbeitet.<br />
Der natürliche Zins ist<br />
derjenige Zinssatz,<br />
der sich ohne Manipulation<br />
durch die<br />
Zentralbank einstellen würde.<br />
Der österreichische Ökonom<br />
Eugen von Böhm-Bawerk<br />
nannte drei Bestimmungsgründe<br />
für seine Höhe. Erstens sind<br />
die Konsumenten ungeduldig –<br />
sie konsumieren im Zweifel lieber<br />
heute als morgen. Diese<br />
„Zeitpräferenz“ bringt tendenziell<br />
einen positiven Zinssatz<br />
hervor, der die Sparer für ihre<br />
Geduld entschädigt. Zweitens<br />
steigen nach Böhm-Bawerk die<br />
Einkommen der meisten Menschen<br />
im Zeitverlauf. Daher<br />
nehmen sie in jungen Jahren,<br />
beispielsweise als Studenten<br />
oder Häuslebauer, gerne Kredite<br />
auf. Denn diese können später<br />
aus dem dann höheren<br />
Wohlstand leicht zurückgezahlt<br />
werden. Drittens schließlich<br />
bringen die Ersparnisse bei<br />
produktiver Anlage auch einen<br />
realen Mehrertrag hervor. Alle<br />
drei Gründe unterstützen offenbar<br />
die These eines positiven natürlichen<br />
Zinssatzes.<br />
Trotzdem kann er theoretisch<br />
negativ werden. Denn anders als<br />
zu Böhm-Bawerks Zeiten müssen<br />
in der alternden Gesellschaft von<br />
heute viele Menschen mit einem<br />
sinkenden Einkommen in der Zukunft<br />
rechnen. Die Renten sind<br />
niedriger als die Erwerbseinkommen,<br />
woraus ein starker Anreiz<br />
zum Sparen entsteht. Gleichzeitig<br />
gibt es immer weniger junge Menschen,<br />
die als Kreditnehmer infrage<br />
kommen. Böhm-Bawerks<br />
zweiter Bestimmungsfaktor für<br />
den Zins kehrt sich dann um, er<br />
senkt tendenziell den Zinssatz,<br />
statt ihn zu erhöhen. Im Extremfall<br />
kann er die beiden anderen Gründe<br />
sogar gänzlich überlagern.<br />
Dies hat schon 1958 der spätere<br />
Nobelpreisträger Paul Samuelson<br />
in einem bahnbrechenden Aufsatz<br />
gezeigt. In seinem Modell der<br />
„überlappenden Generationen“<br />
wird so viel gespart, dass der Zinssatz<br />
schließlich negativ wird. In einem<br />
solchen Fall würde auch die<br />
Investitionsrendite (Böhm-Bawerk<br />
nannte sie Produktionsumwege)<br />
entsprechend sinken. Die<br />
Investitionen werden aber trotzdem<br />
getätigt, weil man ja für das<br />
Sparkapital nicht nur nichts bezahlen<br />
muss, sondern sogar noch<br />
einen Bonus in Form des Negativzinses<br />
erhält. Prinzipiell stehen also<br />
negative Zinsen aufgrund einer<br />
Sparschwemme („savings glut“)<br />
durchaus im Einklang mit Böhm-<br />
Bawerks Zinstheorie. Aktuell dürften<br />
sie allerdings in erster Linie<br />
auf die expansive Geldpolitik zurückzuführen<br />
sein. Deren Einfluss<br />
hat Böhm-Bawerk leider in seiner<br />
Theorie vernachlässigt, obwohl er<br />
zeitweise österreichischer Notenbankpräsident<br />
gewesen ist.<br />
Contra<br />
Thorsten Polleit ist Chefvolkswirt<br />
der Degussa und Honorarprofessor<br />
an der Uni Bayreuth.<br />
Zudem leitet er das Ludwig von<br />
Mises-Institut Deutschland.<br />
Den Zins kennt man als<br />
Entgelt für die Nutzung<br />
von Kapital. Ökonomisch<br />
betrachtet resultiert<br />
er aus einer Wertdifferenz.<br />
Menschen werten Güter, die sie<br />
gegenwärtig haben können, höher<br />
als Güter, die erst künftig verfügbar<br />
sind. Anders gesprochen:<br />
Künftige Güter erleiden einen<br />
Preisabschlag gegenüber gegenwärtigen<br />
Gütern. Es ist die – wie<br />
Frank A. Fetter (1863–1949) sie<br />
bezeichnete – „Zeitpräferenz“,<br />
die den Zins erklärt.<br />
Ludwig von Mises (1881–1973)<br />
zeigte auf, dass der Zins – er<br />
spricht <strong>vom</strong> „Urzins“ oder „neutralen<br />
Zins“ – elementar für das<br />
menschliche Handeln ist und sich<br />
allein aus der Zeitpräferenz erklärt.<br />
Damit ging er über die Zinstheorie,<br />
die Eugen von Böhm-Bawerk<br />
(1850–1914) vorgelegt<br />
hatte, hinaus.<br />
Der Urzins hat mit der Ertragsrate<br />
auf Kapital und mit Psychologie<br />
nichts zu tun. Selbst bei einer<br />
negativen Kapitalertragsrate werden<br />
gegenwärtig vorhandene<br />
Güter höher geschätzt als künftig<br />
verfügbare Güter. Der Urzins,<br />
den der Mensch quasi in sich<br />
trägt, bleibt auch hier positiv.<br />
Der Zins kann nicht auf null<br />
fallen. Es würde bedeuten, dass<br />
man zwei Äpfel, die man erst in<br />
1000 Jahren essen kann, einem<br />
heute verfügbaren Apfel vorzieht.<br />
Das klingt nicht nur realitätsfremd,<br />
es ist ein irrtümlicher<br />
Gedanke. Er liefe auf die Aussage<br />
hinaus, dass der Mensch niemals<br />
konsumiert, dass er sein<br />
Einkommen vollständig spart.<br />
Der Zins kann auch nicht negativ<br />
werden. Denn das hieße,<br />
dass man einen Apfel, den man<br />
erst in 1000 Jahren verspeisen<br />
kann, einem heute zum Konsum<br />
bereitstehenden Apfel vorzieht.<br />
Nullzins und Negativzins laufen<br />
der Logik des menschlichen<br />
Handelns zuwider. In einem freien<br />
Markt richtet sich der Marktzins<br />
am Urzins aus. Im heutigen<br />
ungedeckten Papiergeldwesen<br />
sorgen jedoch die Zentralbanken<br />
mit ihrem Geldmonopol dafür,<br />
dass der Marktzins künstlich<br />
herabgedrückt wird, dass er<br />
unter den Urzins fällt. Das führt<br />
zu gefährlichen Boom-Bust-<br />
Zyklen und zerstört den Anreiz<br />
zum Sparen. Knappe Ressourcen<br />
wandern in den Konsum,<br />
es kommt zu Kapitalverzehr.<br />
Ein negativer Marktzins ist ein<br />
Frontalangriff auf die Marktwirtschaft.<br />
Er zerstört die arbeitsteilige<br />
Wirtschaftsordnung. Die<br />
Idee, den Zins abzuschaffen,<br />
hatten schon die Marxisten und<br />
Nationalsozialisten. Damit wollten<br />
sie das kapitalistische System<br />
zerstören.<br />
Ein negativer Marktzins würde<br />
das „antikapitalistische“ Zerstörungswerk<br />
perfektionieren.<br />
FOTOS: PR, CHRISTOF MATTES FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
40 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Der Volkswirt<br />
NACHGEFRAGT Jesús Huerta de Soto<br />
»Wie der Goldstandard«<br />
Der spanische Ökonom warnt vor einer Deflationsphobie in Europa – und<br />
sieht im Euro einen Garanten für nachhaltige Austeritätspolitik.<br />
Professor Huerta de Soto, die<br />
Inflationsrate in der Euro-Zone<br />
beträgt nur noch 0,4 Prozent.<br />
Droht uns eine Deflation, wie<br />
viele Experten behaupten?<br />
Deflation bedeutet, dass die<br />
Geldmenge schrumpft. Davon<br />
kann in der Euro-Zone keine<br />
Rede sein. Die breit definierte<br />
Geldmenge M3 wächst um etwa<br />
zwei Prozent, die enger gefasste<br />
Geldmenge M1 sogar um mehr<br />
als sechs Prozent. Die Teuerungsrate<br />
in der Euro-Zone liegt<br />
zwar unter dem Ziel der Euro-<br />
derlegen die Horrorszenarien<br />
von der bösen Deflation.<br />
Heißt das, wir sollten uns über<br />
Deflation freuen?<br />
Durchaus. Besonders segensreich<br />
ist sie, wenn sie sich durch<br />
das Zusammenspiel eines stabilen<br />
Geldangebots mit einer<br />
steigenden Produktivität ergibt.<br />
Beispielhaft dafür ist der Goldstandard<br />
im 19. Jahrhundert.<br />
Damals wuchs die Goldmenge<br />
nur um ein bis zwei Prozent pro<br />
Jahr. Zugleich erwirtschafteten<br />
die Industriegesellschaften die<br />
größten Wohlstandszuwächse<br />
in der Geschichte. Die EZB sollte<br />
sich daher am Goldstandard<br />
orientieren und den Zielwert<br />
für das M3-Geldmengenwachstum<br />
von 4,5 auf rund 2,0 Prozent<br />
senken. Wächst die Euro-<br />
Wirtschaft um rund drei<br />
Prozent pro Jahr – wozu sie in<br />
der Lage wäre, wenn man sie<br />
von den Fesseln staatlicher Regulierungen<br />
befreite –, gingen<br />
die Preise um etwa ein Prozent<br />
pro Jahr zurück.<br />
Wenn Deflation so segensreich<br />
ist, warum haben die Menschen<br />
dann Angst vor ihr?<br />
Ich glaube nicht, dass die normalen<br />
Bürger Angst vor sinkenden<br />
Preisen haben. Es sind die<br />
Vertreter des ökonomischen<br />
Mainstreams, die die Deflationsphobie<br />
schüren. Sie argumentieren,<br />
Deflation lasse die<br />
reale Schuldenlast steigen und<br />
würge so die gesamtwirtschaftliche<br />
Nachfrage ab. Dabei lassen<br />
die Deflationswarner unter<br />
den Tisch fallen, dass bei Deflation<br />
die Gläubiger gewinnen –<br />
was deren Nachfrage ankurbelt.<br />
Gerade der mit Deflation verbundene<br />
Anstieg der realen<br />
Schuldenlast entfaltet eine heilsame<br />
Wirkung. Denn er mindert<br />
den Anreiz, Kredite aufzunehmen<br />
und stoppt so den<br />
Marsch in die Überschuldung.<br />
Besteht nicht die Gefahr, dass<br />
die Bürger ihre Konsumausgaben<br />
zurückfahren, wenn<br />
morgen alles billiger wird?<br />
Das ist ein abstruses Argument,<br />
das man immer wieder hört.<br />
Schauen Sie mal, welch reißenpäischen<br />
Zentralbank (EZB)<br />
von knapp zwei Prozent. Aber<br />
das ist noch kein Grund, Deflationsängste<br />
zu schüren, wie<br />
manche Zentralbanker das tun.<br />
Sie suggerieren damit, sinkende<br />
Preise seien etwas Schlechtes.<br />
Das ist falsch. Preisdeflation ist<br />
keine Katastrophe, sondern ein<br />
Segen.<br />
Das müssen Sie erklären.<br />
Nehmen Sie mein Heimatland<br />
Spanien. Dort gehen die Verbraucherpreise<br />
derzeit zurück.<br />
Zugleich wächst die Wirtschaft,<br />
ÜBERZEUGUNGSTÄTER<br />
Huerta de Soto ist Professor für<br />
Wirtschaftspolitik an der Universität<br />
Rey Juan Carlos in Madrid.<br />
Der Träger des Adam-Smith-<br />
Preises zählt zu den führenden<br />
Vertretern der staatskritischen<br />
Österreichischen Schule.<br />
auf das Jahr gerechnet, um rund<br />
zwei Prozent. 2013 entstanden<br />
275 000 neue Arbeitsplätze, die<br />
Arbeitslosenquote sank von 26<br />
auf 23 Prozent. Die Fakten wi-<br />
FOTOS: ARNE WEYCHARDT FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
42 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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den Absatz neue Smartphones<br />
finden, obwohl die Käufer wissen,<br />
dass die Geräte in ein paar<br />
Monaten billiger angeboten<br />
werden. In Amerika herrschte<br />
nach dem Bürgerkrieg jahrzehntelang<br />
Deflation. Trotzdem<br />
nahm der Konsum zu. Würden<br />
die Menschen wegen sinkender<br />
Preise den Konsum aufschieben,<br />
würden sie letztlich allesamt<br />
verhungern.<br />
Sinkende Preise drücken aber<br />
die Umsätze der Unternehmen<br />
nach unten und schmälern<br />
ihre Investitionsbereitschaft.<br />
Wollen Sie das ignorieren?<br />
Entscheidend für die Unternehmen<br />
sind nicht die Umsätze,<br />
sondern die Gewinne, also die<br />
Differenz zwischen Erlösen und<br />
Kosten. Sinkende Absatzpreise<br />
erhöhen den Druck, die Kosten<br />
zu reduzieren. Die Unternehmen<br />
ersetzen daher Arbeitskräfte<br />
durch Maschinen. Also<br />
müssen mehr Maschinen produziert<br />
werden, was die Arbeitskräftenachfrage<br />
im Investitionsgütersektor<br />
erhöht. Auf<br />
diese Weise finden die Arbeitnehmer,<br />
die im Zuge der Preisdeflation<br />
im Konsumgütersektor<br />
ihren Job verloren haben, im<br />
Investitionsgütersektor eine<br />
neue Beschäftigung. Der Kapitalstock<br />
wächst, ohne dass es zu<br />
Massenarbeitslosigkeit kommt.<br />
Machen Sie es sich da nicht zu<br />
einfach? In der Realität klaffen<br />
die Qualifikationen von Arbeitslosen<br />
und die Anforderungen<br />
der Unternehmen zuweilen<br />
erheblich auseinander.<br />
Ich behaupte nicht, dass der<br />
Markt perfekt ist. Es ist daher<br />
entscheidend, dass der Arbeitsmarkt<br />
flexibel genug ist, damit<br />
er kreativen Unternehmern Anreize<br />
bietet, neue Arbeitskräfte<br />
einzustellen.<br />
Welche Rolle spielt dabei die<br />
Politik?<br />
Das Problem ist, dass Politiker<br />
einen zu kurzen Zeithorizont<br />
haben. Deshalb benötigen wir<br />
einen währungspolitischen<br />
Rahmen, der sie und die Gewerkschaften<br />
diszipliniert. In<br />
Europa kommt dem Euro diese<br />
Aufgabe zu. Die Gemeinschaftswährung<br />
hat den Regierungen<br />
die Möglichkeit genommen, die<br />
nationale Notenpresse anzuwerfen<br />
und ihre Währung abzuwerten,<br />
um so ihre fehlgeleitete<br />
Wirtschaftspolitik zu kaschieren.<br />
Wirtschaftspolitische Fehler<br />
machen sich jetzt direkt in<br />
einem Verlust der Wettbewerbsfähigkeit<br />
des betroffenen Landes<br />
bemerkbar. Das zwingt die<br />
Politiker zu harten Reformen. In<br />
Spanien haben zwei Regierungen<br />
innerhalb von anderthalb<br />
Jahren Reformen umgesetzt,<br />
von denen ich bisher nicht zu<br />
träumen wagte. Mittlerweile<br />
bessert sich die wirtschaftliche<br />
Lage, und Spanien fährt die Ernte<br />
der Reformen ein.<br />
Für Spanien mögen Sie ja recht<br />
haben, aber in Italien und<br />
Frankreich ist von durchgreifenden<br />
Reformen bisher nichts<br />
zu sehen...<br />
...weshalb sich die Lage dort zunächst<br />
weiter verschlechtern<br />
muss, bevor es zu Reformen<br />
kommt. Die Erfahrung lehrt:Je<br />
miserabler die wirtschaftliche<br />
Lage, desto höher der Reformdruck.<br />
Die Reformerfolge, die<br />
Spanien und andere Euro-Länder<br />
erzielt haben, erhöhen den<br />
Druck auf Paris und Rom. Die<br />
hohe Arbeitslosigkeit hat in Spanien<br />
die Lohnkosten gedrückt.<br />
Mit durchschnittlich rund 20<br />
Euro je Stunde sind sie nur noch<br />
halb so hoch wie in Frankreich.<br />
Die Franzosen werden daher<br />
um eine wirtschaftspolitische<br />
Rosskur nicht umhinkommen,<br />
auch wenn diese in der Bevölkerung<br />
auf Widerstände stößt.<br />
Um den Reformdruck auf<br />
Frankreich und Italien mög-<br />
lichst hoch zu halten, sollte<br />
Deutschland an seiner Haushaltskonsolidierung<br />
festhalten.<br />
Die EZB gerät zunehmend<br />
unter Druck, die Geldschleusen<br />
zu öffnen und den Euro abzuwerten.<br />
Der Druck kommt aus<br />
der Wissenschaft, den Finanzmärkten<br />
und der Politik.<br />
Der ökonomische Mainstream<br />
des Keynesianismus und des<br />
Monetarismus erklärt die Große<br />
Depression der Dreißigerjahre<br />
durch eine Unterversorgung<br />
mit Geld. Das hat in der<br />
Wissenschaft eine Anti-Deflationsmentalität<br />
entstehen lassen.<br />
Die Politiker nutzen den akademischen<br />
Resonanzboden, um<br />
die EZB zur Re-Inflationierung<br />
zu drängen. Die Regierungen<br />
lieben die Inflation, weil sie ihnen<br />
die Möglichkeit gibt, über<br />
die Verhältnisse zu leben und<br />
riesige Schuldenberge aufzutürmen,<br />
die die Zentralbank durch<br />
»Preisdeflation<br />
ist keine<br />
Katastrophe,<br />
sondern ein<br />
Segen«<br />
Inflation entwertet. Es ist kein<br />
Wunder, dass ausgerechnet die<br />
Gegner der Austeritätspolitik<br />
vor Deflation warnen und das<br />
stabilitätspolitische Regelwerk<br />
des Euro verteufeln. Sie scheuen<br />
sich, den Bürgern die wahren<br />
Kosten des Wohlfahrtsstaates<br />
zu präsentieren.<br />
EZB-Chef Mario Draghi hat mit<br />
dem Versprechen, den Euro<br />
notfalls durch das Anwerfen<br />
der Notenpresse zu retten,<br />
dem Druck nachgegeben. Ein<br />
Fehler?<br />
Vorsicht. Bisher hat Draghi in<br />
erster Linie Versprechungen<br />
gemacht, aber kaum gehandelt.<br />
Zwar hat die EZB großzügige<br />
Geldleihgeschäfte aufgelegt<br />
und die Leitzinsen gesenkt.<br />
Doch die realen Renditen für<br />
zehnjährige Staatsanleihen aus<br />
den Euro-Krisenländern liegen<br />
über denen in Amerika. Gemessen<br />
an der Bilanzsumme, hat<br />
die EZB weniger getan als andere<br />
westliche Notenbanken. Solange<br />
die Euro-Hüter nur reden,<br />
aber nicht handeln, stehen<br />
Italien und Frankreich weiter<br />
unter Reformdruck. Daher ist<br />
es entscheidend, dass die EZB<br />
dem Druck der Regierungen<br />
und der angelsächsischen<br />
Finanzwelt trotzt und keine<br />
Staatsanleihen kauft.<br />
Welche Rolle spielen speziell<br />
die angelsächsischen Finanzmärkte?<br />
Die angelsächsische Presse und<br />
die Finanzmärkte ziehen ostentativ<br />
gegen den Euro und die<br />
durch ihn erzwungene Austeritätspolitik<br />
in Kontinentaleuropa<br />
zu Felde. Ich bin eigentlich kein<br />
Anhänger von Verschwörungstheorien.<br />
Aber die Frontalangriffe<br />
aus Washington und London<br />
gegen den Euro lassen auf eine<br />
versteckte Agenda schließen.<br />
Die Amerikaner fürchten, dass<br />
die Tage des Dollar als Weltleitwährung<br />
gezählt sind, wenn<br />
der Euro als harte Währung<br />
überlebt. Amerika hat seine<br />
geldpolitische Disziplin nach<br />
dem Zweiten Weltkrieg verloren.<br />
Kann der Euro denn ohne<br />
politische Union auf Dauer<br />
überleben?<br />
Eine politische Union ist in der<br />
Bevölkerung nicht mehrheitsfähig.<br />
Sie ist auch nicht wünschenswert.<br />
Denn sie schmälert<br />
den Druck zur fiskalischen<br />
Sparsamkeit. Das beste Währungsregime<br />
für eine freie Gesellschaft<br />
ist der Goldstandard<br />
mit voller Reservedeckung aller<br />
Einlagen und ohne staatliche<br />
Zentralbanken. Solange wir den<br />
nicht haben, sollten wir den Euro<br />
verteidigen. Denn er entzieht<br />
den Regierungen den Zugriff<br />
auf die nationalen Notenpressen<br />
und zwingt sie zur Konsolidierung<br />
der Staatshaushalte<br />
sowie zu Reformen. In gewisser<br />
Weise wirkt er damit wie der<br />
Goldstandard.<br />
malte.fischer@wiwo.de<br />
WirtschaftsWoche <strong>10.11.2014</strong> Nr. 46 43<br />
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Unternehmen&<br />
Märkte<br />
Crystal Mett<br />
48 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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TÖNNIES | General gegen Schütze,<br />
Platzhirsch gegen Frischling,<br />
Schalke-04-Boss gegen Freizeit-<br />
Volleyballer: Ungleicher könnte<br />
die Gewichtsklasse im Kampf von<br />
Großschlachter Clemens Tönnies<br />
gegen seinen Neffen Robert<br />
Tönnies kaum sein. Wie ticken die<br />
beiden Protagonisten des Familienstreits,<br />
bei dem es um die Macht im<br />
milliardenschweren, größten<br />
deutschen Fleischkonzern geht –<br />
und um dessen Zukunft?<br />
Kurz, sehr kurz reichen die beiden Männer<br />
einander die Hand. Ein knapper Blick,<br />
ein dünnes „Hallo“, dann trennen sie sich<br />
eilig, während im Hintergrund der Spielmannszug<br />
Marschmusik schmettert. Wie<br />
gleichgerichtete Pole eines Magneten streben sie<br />
auseinander, „der eine an den Bierstand, der andere<br />
an die Würstchenbude“, erzählt einer, der dabei war –<br />
nur möglichst schnell weit weg.<br />
Das ist gar nicht so einfach beim 181. Schützenfest<br />
von Rheda-Wiedenbrück, dem Höhepunkt des gesellschaftlichen<br />
Lebens der ostwestfälischen Kleinstadt.<br />
Am Freitagabend marschieren die Schützen in<br />
vollem Wichs mit Schärpe und Gewehr zum Ehrenmal<br />
der Gefallenen beider Weltkriege, danach geht<br />
es zum Fassanstich. Samstags trifft man sich zum gemeinsamen<br />
Frühstück. Und am Sonntagabend an<br />
diesem 15. Juni schwofen alle auf dem Großen<br />
Schützenball zu den Schlagern der holländischen<br />
Partyband Feeling.<br />
Immer feste dabei: die Familie Tönnies. Früher<br />
waren sie ein verschworener Clan, Fleisch-Großunternehmer,<br />
Selfmade-Männer aus dem Ort und<br />
selbstredend Mitglieder des Schützenvereins zu<br />
Rheda e. V. von 1833. Clemens Tönnies ist General<br />
der Schützengruppe „Clemens“ in der 1. Kompanie;<br />
sein Neffe Robert Tönnies marschiert als einfacher<br />
Schütze der 2. Kompanie in der Gruppe „Busche“.<br />
Doch heute ist die Stimmung zwischen den Blutsverwandten<br />
so eisig wie die Luft in den Tiefkühlhäusern<br />
des Fleischriesen, wo gefrorene Schweinefüße<br />
für den Export nach China lagern: minus 18 Grad.<br />
Clemens<br />
Tönnies<br />
Die Fleischbranche ist kein Hort für zarte Gemüter.<br />
Mitarbeiter der Tönnies-Schlachthöfe killen jedes<br />
Jahr 16 Millionen Schweine, halbieren und zerlegen<br />
sie in alle ihre Einzelteile – bis hin zum Darmschleim,<br />
aus dem der Konzern seit wenigen Tagen<br />
den Blutgerinnungshemmer Heparin gewinnt.<br />
Doch was sich seit rund drei Jahren im größten<br />
deutschen Fleischimperium mit mehr als fünf Milliarden<br />
Euro Umsatz und 8000 Beschäftigten abspielt,<br />
verstört selbst hartgesottene Insider. Auf der einen<br />
Seite steht Clemens Tönnies, bundesweit bekannt als<br />
Aufsichtsratschef des Fußballbundesligisten Schalke<br />
04 und Gesprächspartner mächtiger Männer wie<br />
Wladimir Putin oder Gerhard Schröder. Der 58-Jährige<br />
beansprucht für sich, den Konzern zu heutiger<br />
Größe geführt zu haben.<br />
Auf der anderen Seite sein in der Öffentlichkeit<br />
weitgehend unbekannter Neffe Robert, 36, wie Clemens<br />
gelernter Metzger und studierter Betriebswirt.<br />
Für ihn steht fest, dass nicht Clemens, sondern Roberts<br />
früh verstorbener Vater Bernd Tönnies die<br />
Grundlagen für das Milliardenimperium schuf und<br />
der liebe Onkel die Nachkommen des Bruders über<br />
den Tisch ziehen wollte – was Clemens bestreitet.<br />
Von diesem Montag an treffen sich die verfeindeten<br />
Stämme zum entscheidenden Verfahren vor<br />
dem Bielefelder Landgericht. Noch gehört beiden jeweils<br />
die Hälfte der Tönnies Lebensmittel GmbH &<br />
Co. KG. Das ist so, seit Robert 2009 seinem Onkel<br />
Clemens fünf Prozent der Firmenanteile schenkte.<br />
Diese fordert er nun wegen angeblichen „groben Undanks“<br />
des Onkels zurück.<br />
Vor Gericht geht es nun darum, ein Dickicht zu<br />
entwirren aus Erpressungsvorwürfen und Tricksereien,<br />
Gutachten und Gegengutachten, Halbwahrheiten<br />
und Intrigen. Ein übles Gemisch, mitunter so<br />
irre, als entstamme es dem Hirn eines durchgeknallten<br />
Hollywood-Autors, unter dem Einfluss bewusstseinserweiternder<br />
Drogen zurechtfantasiert – Crystal<br />
Mett sozusagen.<br />
Im Kern dreht sich der Hickhack im Metzgerclan<br />
um die so simple wie womöglich folgenschwere<br />
Frage: Wer hat künftig die Macht in einem der größten<br />
Fleischkonzerne Europas? Platzhirsch Clemens<br />
oder Frischling Robert? Und Tausende von Tönnies-<br />
Mitarbeitern und die gesamte Fleischbranche wollen<br />
jetzt wissen, was passiert, falls der große Unbekannte<br />
Robert Tönnies tatsächlich die Mehrheit im<br />
Familienunternehmen übernehmen sollte.<br />
Sie fragen sich: Wie tickt der Angreifer, der seinen<br />
scheinbar übermächtigen Verwandten in die Knie<br />
zwingen will? Verkauft der 1,90-Meter-Mann das Unternehmen<br />
an die internationale Konkurrenz?<br />
Robert<br />
WirtschaftsWoche <strong>10.11.2014</strong> Nr. 46 Tönnies<br />
49<br />
»<br />
FOTOS: REINHARD HUNGER, TEAM2, PR<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Auf Schalke<br />
Clemens Tönnies ist<br />
als Boss des Fußballbundesligisten<br />
die<br />
harte Gangart des<br />
Gegners gewöhnt<br />
Schock<br />
Zähleinheit,<br />
1 Schock =<br />
60 Stück*<br />
Rippchen<br />
Pökelware <strong>vom</strong><br />
Schwein*<br />
»<br />
Will er die Zerschlagung – ein häufiger Weg zur<br />
Streitschlichtung in Familienunternehmen (siehe<br />
Seite 56)? Gefährdet der Krach zwischen den Verwandten<br />
womöglich sogar den Bestand des Konzerns?<br />
Recherchen der WirtschaftsWoche zeichnen<br />
nun erstmals ein Bild des Herausforderers.<br />
ROHSTOFF FLEISCH<br />
Auf dem Keramik-Kugelgrill der Marke Monolith im<br />
Garten des Einfamilienhauses im schnieken Stadtteil<br />
Wiedenbrück brutzeln die Rippchen, die Tochter<br />
tollt auf einem im Rasen versenkten Trampolin herum,<br />
für das Vater Robert eigenhändig im weißen<br />
Feinripp-Hemd die Grube ausgehoben hat.<br />
Studienkollegen, Schulfreunde und Schützenbrüder<br />
beschreiben den Kontrahenten von „Kotelett-<br />
Kaiser“ Clemens Tönnies als geselligen, stets gut gelaunten<br />
Gastgeber. Die Feuerstelle, die ihm Ehefrau<br />
Sarah zum Geburtstag schenkte, blieb deshalb in<br />
diesem Sommer selten kalt.<br />
Zu Gast seien meist „ganz normale Leute“, sagt einer,<br />
der oft dabei ist, Arbeiter und Angestellte, einer<br />
sei Baggerführer. Gepflegt wird Humor à la Ostwestfalen:<br />
Die Truppe, mit der Robert beim Beachvolleyballturnier<br />
„Herzebrocker Affentenniscup“ im Rhedaer<br />
Nachbarort vor mehr als 1000 Zuschauern auf<br />
Sand antrat, nennt sich „Fliegende Mettwürstchen“.<br />
Onkel Clemens dagegen mag es ein paar Nummern<br />
größer. Den Sportplatz baute er sich auf dem<br />
Firmengelände gleich selbst: das Fußballstadion<br />
„Tönnies-Arena“ mit 4000 Sitzplätzen und einem Geläuf<br />
aus Kunstrasen. Zur Eröffnung im September<br />
2012 kam nicht nur Franz Beckenbauer sowie aktuelle<br />
und ehemalige Profis im Schock, sondern auch<br />
Ex-Bertelsmann-Chef Hartmut Ostrowski und<br />
Modeunternehmer Gerhard „Gerry“ Weber. Auf der<br />
Tribüne schwenkte Bertelsmann-Matriarchin Liz<br />
Mohn an der Seite von Clemens’ zweiter Ehefrau<br />
Margit einen blau-weißen Tönnies-Fanschal.<br />
Dagegen wirkt Robert weit bescheidener, obwohl<br />
ihm Magazine wie „Bilanz“ ein Vermögen von rund<br />
einer halben Milliarde Euro zurechnen. Jagdreviere<br />
oder Zweitwohnsitze im Süden, wie sie der Onkel besitzt,<br />
seien „nicht so sein Ding“, berichten Freunde.<br />
Der größte Teil seines Vermögens stecke ohnehin im<br />
Unternehmen. Wie Vater Bernd ist er Schalke-Fan,<br />
im Garten schlappt die Vereinsfahne im Wind. Zu<br />
den Spielen der Knappen fährt Robert derzeit lieber<br />
nicht. Zwar mietet der Konzern, der ihm zur Hälfte<br />
gehört, eine Loge in der Arena auf Schalke. Doch<br />
da residiert schon Clemens: „Und große Ausweichmöglichkeiten<br />
gibt es dort nicht“, sagt ein Freund.<br />
Eine Extravaganz, die er sich erlaubt – so viel ist in<br />
Rheda bekannt –, sind Autos. Mit Vorliebe heizt er im<br />
Porsche Cayenne durchs Ostwestfälische. Ab und an<br />
holt er auch den <strong>vom</strong> Vater geerbten weißen Jaguar<br />
E-Type aus der Garage. Statt abgeschottet in einer<br />
Villa verbringe er die Ferien gern in familienfreundlichen<br />
Hotels auf Fuerteventura oder letztens am Gardasee<br />
– Robert liebt es bodenständig.<br />
Wie soll es auch anders sein, wird er doch in eine<br />
ostwestfälische Metzger-Dynastie hineingeboren.<br />
Sieben Jahre vor seiner Geburt hatte sich sein Vater<br />
Bernd 1971 als gerade 18-jähriger Jungspund mit einer<br />
cleveren Geschäftsidee selbstständig gemacht –<br />
Metzger-Start-up in Rheda. Das Geschäftsmodell ist<br />
FOTOS: WAZ FOTOPOOL/SEBASTIAN KONOPKA, PR<br />
50 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Auf Krawall<br />
Robert Tönnies will<br />
sich mit einem<br />
scharfen Konter die<br />
Mehrheit im Fleischkonzern<br />
zurückholen<br />
so einfach wie schlau: Bernd liefert keine kompletten<br />
Schweine an die Metzger, sondern zerlegt sie direkt<br />
im Schlachthof und sucht und findet Abnehmer für<br />
so gut wie alle verwertbaren Tierteile.<br />
So liefert er nur das Fleisch als Rohstoff an Wursthersteller,<br />
das diese für ihre Produkte wirklich <strong>vom</strong><br />
Tier brauchen. Tönnies perfektioniert Schlachtung<br />
und Zerlegung – gestorben und verwertet wird am<br />
Fließband. Noch heute ist das die Basis für das Geschäftsmodell<br />
des Milliardenkonzerns.<br />
Bernds Bruder Clemens ist da 15 Jahre alt. Nachdem<br />
auch er eine Metzgerlehre absolviert hat, beteiligt<br />
ihn Bernd Mitte der Achtzigerjahre mit 40 Prozent<br />
an dem inzwischen florierenden Betrieb. Rund<br />
zehn Jahre lang malochen die beiden Schulter an<br />
Schulter: Clemens ist zuständig für Verkauf und Vertrieb,<br />
Bernd für Einkauf und Finanzen. Dann stirbt<br />
Bernd, bundesweit gerade bekannt geworden als<br />
frischgebackener Präsident von Schalke 04, am 1. Juli<br />
1994 an den Folgen einer Nierentransplantation. Er<br />
wird nur 42 Jahre alt.<br />
NARBEN AN DER HAND<br />
Damals, so steht es in einer 40-seitigen Gedenkschrift,<br />
die die Söhne jüngst anlässlich des Gottesdienstes<br />
zum 20. Todestag des Unternehmers an<br />
Trauergäste verteilten, habe Bernd seiner Frau Evelin<br />
und den beiden Söhnen Robert und Clemens junior<br />
„die Verantwortung für insgesamt 4000 Mitarbeiter<br />
in 14 Betrieben mit mehr als umgerechnet einer<br />
Milliarde Euro Umsatz“ hinterlassen.<br />
Clemens junior wird im Familienstreit von Robert<br />
vertreten. Der Bruder halte sich, um seinen Gesundheitszustand<br />
nach einer Nierentransplantation nicht<br />
zu gefährden, aus allen Streitereien heraus. Seine Firmenanteile<br />
hatte Clemens Anfang 2012 auf Robert<br />
übertragen. „Zwischen die beiden passt kein Blatt<br />
Papier“, berichtet einer, der die Familie schon lange<br />
kennt, über die enge Bindung.<br />
Die Zahlen aus der Gedenkschrift bergen Sprengstoff,<br />
stehen sie doch in krassem Gegensatz zur Darstellung<br />
von Clemens Tönnies, nach dessen Lesart<br />
das Unternehmen vor 20 Jahren nur umgerechnet<br />
150 Millionen Euro erlöste, das Eigenkapital nahezu<br />
aufgezehrt war und die Verbindlichkeiten bei rund<br />
50 Millionen Euro gelegen hätten.<br />
Die Zahlen belegen aus seiner Sicht, dass es keine<br />
Zweifel daran geben kann, wer die Tönnies-Gruppe<br />
groß gemacht hat – er. Wie viel der Konzern wann genau<br />
erlöste, das wird eine der Fragen sein, mit der<br />
sich der Bielefelder Richter beschäftigen muss. Denn<br />
verschleiert und getarnt wurde bei den Tönnies-Brüdern<br />
schon von Beginn an.<br />
Nach dem Tod des Bruders bestimmt Clemens<br />
jahrelang, wo es langgeht im Konzern. Denn<br />
Bernd hatte zwar im August 1993 in seinem Testament<br />
verfügt, dass seine Söhne die Mehrheit am Unternehmen<br />
besitzen sollten. Doch „über das ihnen<br />
zustehende Vermächtnis (jeweils 30 Prozent der Firmenanteile<br />
– Anm. d. Red.) dürfen meine Kinder erst<br />
verfügen, wenn sie das 30. Lebensjahr vollendet und<br />
zu diesem Zeitpunkt eine Metzgerlehre und kaufmännische<br />
Ausbildung abgeschlossen haben“, heißt<br />
es in dem Dokument.<br />
Bernds letzter Wille ist für Robert und Clemens junior<br />
praktisch Gesetz. Von juvenilem Aufbegehren<br />
»<br />
Bindung<br />
Beschaffenheitsbegriff<br />
für homogenes<br />
Brät, optimale<br />
Bindung von Eiweiß,<br />
Fett und Wasser*<br />
Schulter<br />
Teilstück des<br />
Schlachttierkörpers*<br />
WirtschaftsWoche <strong>10.11.2014</strong> Nr. 46 51<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Sattel<br />
Rückenpartie von<br />
ganzen Schlachttierkörpern<br />
(Kalb,<br />
Lamm)*<br />
Gekröse<br />
aufgeschlitzter, gesäuberter<br />
Dünndarmtrakt<br />
von Kälbern<br />
unter 100 kg<br />
Lebendgewicht*<br />
»<br />
gegen die rigiden Vorgaben des Papas weiß keiner<br />
der Vertrauten zu berichten. Stattdessen jobbt Robert,<br />
der wie sein drei Jahre älterer Bruder Clemens<br />
laut Vertrauten der Familie „stets kurzgehalten wird“,<br />
bereits als Jugendlicher im väterlichen Betrieb. Nach<br />
der Schule steht er am Band und verpackt Schinken<br />
und anderes Gekröse, erzählt er im Freundeskreis.<br />
Nach Abitur und Wehrdienst bricht der Junior seine<br />
Zelte in Westfalen ab. Er beginnt eine Metzgerlehre<br />
bei Micarna in der Schweiz, einem der führenden<br />
Fleischbetriebe der Eidgenossen. Die Metzgerprüfung<br />
legt er schon nach zwei statt der sonst üblichen<br />
drei Jahre ab, als einer der drei Besten seines Jahrgangs.<br />
Narben auf der linken Hand zeugen davon,<br />
dass das Zerlegen von Schweinen ein gefährlicher<br />
Job sein kann. 2001 kehrt er zurück nach Deutschland,<br />
noch steht er unter Testamentsvollstreckung.<br />
Dafür zuständig ist der langjährige Steuerberater<br />
von Familie und Unternehmen, Josef Schnusenberg,<br />
nebenbei langjähriger Funktionär beim FC Schalke.<br />
Er soll mit den 60 Prozent von Bernd Tönnies im Rücken<br />
als Generalbevollmächtigter die Interessen der<br />
Kinder vertreten. Doch Schnusenberg, so heute der<br />
Vorwurf von Robert Tönnies, habe seinem Freund<br />
und Vereinsgenossen Clemens die Unternehmensführung<br />
komplett überlassen. Außerdem habe er befürwortet,<br />
dass Clemens parallel zum Familien-Konzern<br />
etwa in Russland eigene Geschäfte aufbaute.<br />
Dabei habe es sich jedoch um riskante Investitionen<br />
gehandelt, die Clemens bewusst und in Absprache<br />
mit den Neffen auf seine Kappe genommen habe,<br />
um den Konzern nicht zu gefährden, heißt es dazu<br />
im Clemens-Lager.<br />
Robert Tönnies schreibt sich für ein betriebswirtschaftliches<br />
Studium an der Fachhochschule in Hannover<br />
ein und schließt es 2004 ab. Danach tritt er ins<br />
Unternehmen ein, wird Geschäftsführer am Tönnies-Standort<br />
im niedersächsischen Sögel, wechselt<br />
nach Sachsen-Anhalt als Geschäftsführer des Betriebs<br />
in Weißenfels bei Leipzig und übernimmt zusätzlich<br />
Funktionen im dänischen Brörup. Im September<br />
2009 geht er in die Zentrale nach Rheda, wenig<br />
später wieder zurück nach Weißenfels. Seine Erfolge<br />
dabei werden höchst unterschiedlich eingeschätzt.<br />
Auffällig ist, dass er nie länger als zwei Jahre,<br />
mitunter sogar nur wenige Monate, in einer Position<br />
im Sattel saß. Clemens habe ihn nach Gutdünken<br />
im Konzern verschoben, berichten Vertraute von Robert.<br />
Aus dem „CT“-Lager verlautet nichts Gutes<br />
über Roberts Manager-Wirken: Er sei stets nur faktisch<br />
Geschäftsführer gewesen, habe zudem in Brörup<br />
das Ziel deutlich verfehlt, die Produktion auf das<br />
höhere deutsche Niveau zu bringen. Im Werk in Weißenfels<br />
seien unter seiner Führung die Schlachtzahlen<br />
immer schlechter geworden.<br />
Zudem, so wird gestreut, hätten nirgendwo die<br />
Mitarbeiter gern mit ihm zusammenarbeiten wollen.<br />
Vertraute von Robert berichten hingegen, die Zahl<br />
der Schweineschlachtungen sei während Roberts<br />
Amtszeit in Weißenfels kontinuierlich gestiegen.<br />
INTERNER VERMERK<br />
Währenddessen drängt angeblich Clemens Tönnies<br />
seine Neffen immer wieder, ihm doch endlich je fünf<br />
Prozent ihrer Konzernanteile zu überlassen. Schließlich<br />
habe sein Bruder Bernd ihm das versprochen.<br />
Robert Tönnies und sein Rechtsbeistand zweifeln<br />
das massiv an, dies sei ein nicht belegbares „Sterbebett-Versprechen“<br />
gewesen. Wie sie den Zweifel aufrechterhalten<br />
wollen, bleibt bislang ihr Geheimnis.<br />
Denn laut internem Aktenvermerk eines Notars <strong>vom</strong><br />
Januar 1989 hatten sich Bernd und Clemens in der Tat<br />
über eine 50-zu-50-Teilung geeinigt und strebten eine<br />
„Gleichstellung“ an – bereits fünf Jahre vor Bernds<br />
frühem Tod. Dieser hat diese Absicht auch in den Folgejahren<br />
offenbar nicht revidiert, sondern gegenüber<br />
Zeugen – einer seiner Schwestern und einem damaligen<br />
Geschäftsführer – bestätigt: ein Pfund, mit dem<br />
die Verteidigung wuchern wird. Warum allerdings<br />
Bernd die Einigung mit dem Bruder nicht ins Testament<br />
schrieb, wird das Gericht beschäftigen.<br />
Im Januar 2008, kurz bevor die Testamentsvollstreckung<br />
von Schnusenberg endet, ist Clemens am Ziel.<br />
Robert und Clemens junior bieten ihm die Schen-<br />
Schweinebacken<br />
Die fünf größten Schlachtunternehmen für<br />
Schweine in Deutschland (Schlachtungen*)<br />
Rindernacken<br />
Die fünf größten Schlachtunternehmen für<br />
Rinder in Deutschland (Schlachtungen*)<br />
Wurst verpacken<br />
Die fünf größten Wursthersteller in<br />
Deutschland (Umsatz*)<br />
Tönnies Gruppe<br />
Vion Deutschland<br />
9,5 Mio.<br />
16,4 Mio.<br />
Vion Deutschland<br />
Tönnies-Gruppe<br />
405000<br />
888000<br />
Zur-Mühlen-Gruppe** (Böklunder)<br />
H. Kemper<br />
400 Mio.<br />
825 Mio.<br />
Westfleisch<br />
Danish Crown<br />
2,7 Mio.<br />
7,4 Mio.<br />
Westfleisch<br />
Müller-Gruppe<br />
372000<br />
298000<br />
Bell-Gruppe (Abraham, Zimbo)<br />
Reinert<br />
393 Mio.<br />
350 Mio.<br />
Vogler Fleisch<br />
2,3 Mio.<br />
Gausepohl<br />
255000<br />
Wolf<br />
280 Mio.<br />
* 2013; ** gehört Clemens Tönnies; Quelle: Allgemeine Fleischerzeitung<br />
52 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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FOTOS: PRIVAT<br />
kung von je fünf Prozent der Anteile an, die 2009 vollzogen<br />
und in mehreren weiteren Stufen bis 2010 sogar<br />
auf weitere Unternehmen der Gruppe ausgeweitet<br />
wird. Zusammen mit dem Doppelstimmrecht in<br />
der Geschäftsführung, das CT für sich beansprucht,<br />
hat er nun auch auf dem Papier und nicht länger nur<br />
faktisch das Sagen im Konzern.<br />
Er nutzte dies, so der Vorwurf von Robert, jedoch<br />
vor allem zum eigenen Vorteil. Clemens habe über<br />
Jahre Gewinne in Gesamthöhe einer niedrigen dreistelligen<br />
Millionensumme entnommen, während<br />
die Gewinnanteile der Neffen im Unternehmen verblieben.<br />
Angeblich sollen Robert und Clemens junior<br />
ihrerseits weniger, nämlich 30 Millionen Euro<br />
entnommen haben.<br />
LÄSTIGE GESELLSCHAFTER<br />
Mit dem Geld habe sich Clemens hinter dem Rücken<br />
der Neffen die Mehrheit am größten deutschen<br />
Wurstkonzern einverleibt, der Zur-Mühlen-Gruppe<br />
aus Böklund bei Flensburg mit den Marken Böklunder,<br />
Könecke und Schulte. Außerdem, so der Vorwurf,<br />
habe er auf eigene Rechnung und hinter dem<br />
Rücken der Verwandtschaft riesige Schweinemastbetriebe<br />
in Russland aufgebaut. Systematisch habe<br />
er den Neffen Informationsrechte als Gesellschafter<br />
versagt, sagen Insider und Beobachter.<br />
Anders die Darstellung der Gegenseite: Demnach<br />
investierte CT auf eigenes Risiko den ihm zustehenden<br />
Anteil am Gewinn des prosperierenden Unternehmens,<br />
etwa in Russland oder beim Zur-Mühlen-<br />
Kauf. Und allein durch seine Funktion als Geschäftsführer<br />
und Gesellschafter hätte Robert stets über diese<br />
Aktivitäten Bescheid wissen müssen. Von einem<br />
„Schattenreich“ könne daher keine Rede sein.<br />
Alle Versuche, die Vorwürfe aufzuarbeiten und die<br />
leidige Angelegenheit außergerichtlich beizulegen,<br />
scheitern. Stattdessen wird Robert Tönnies Ziel einer<br />
mysteriösen Attacke, die ihn bis ins Mark erschüttert.<br />
Als sich Mitte 2013 abzeichnet, dass die verfeindeten<br />
Parteien vor Gericht landen, bekommt der Erfurter<br />
Fachhochschullehrer Norbert Drees den Auftrag,<br />
sich Roberts Diplomarbeit vorzuknöpfen, ob denn<br />
alles mit rechten Dingen zugegangen sei.<br />
Drees kommt „auftragsgemäß zum bestellten Ergebnis“,<br />
wie es aus dem Umfeld von Robert Tönnies<br />
heißt: Der Autor habe in seiner Arbeit die Prüfer getäuscht.<br />
Seinen Auftraggeber hat der Professor bis<br />
heute nicht geoutet. Man werde diesen peinlichen<br />
Sachverhalt publik machen, wenn er nicht langsam<br />
klein beigebe, machen Robert die Kölner Anwälte<br />
seines Ex-Testamentsvollstreckers Schnusenberg<br />
unmissverständlich klar, mit dem er sich inzwischen<br />
ebenfalls überworfen hatte.<br />
Robert wird jetzt von dem so prominenten wie<br />
umstrittenen Stuttgarter Anwalt Mark Binz vertreten,<br />
einem laut Eigenwerbung ausgewiesenen Fachmann<br />
für „zerstrittene Gesellschafter und Gesellschafterstämme“.<br />
Binz, so werfen ihm Kritiker vor,<br />
befeuere schwelende Familienzwistigkeiten erst so<br />
richtig. Das Drehbuch für diese Fälle hat Binz selbst<br />
verfasst: Es trägt den Titel „Lästige Gesellschafter in<br />
Familienunternehmen. Opfer und Täter“.<br />
Binz nimmt den Neffen eng an die Kette: Er rät<br />
ihm, sich keinesfalls einschüchtern zu lassen und<br />
sich nicht mehr öffentlich zu äußern. Robert zieht<br />
sich – offenbar auf Anraten von Binz – komplett aus<br />
dem Tagesgeschäft zurück. Damit kommt es zum<br />
Bruch. Der seit Längerem intern glimmende Konflikt<br />
wird zum öffentlich ausgetragenen Familiendrama.<br />
Roberts Anwalt bombardiert binnen weniger Monate<br />
das Tönnies-Management mit annähernd 100<br />
Auskunftsersuchen, nervt damit die Geschäftsführung<br />
und setzt so Clemens Tönnies unter erhöhten<br />
Einigungsdruck. Richtig schmutzig wird es wenige<br />
Monate später, Ende 2013. Da landet das Thema Diplomarbeit<br />
in den Medien. Robert Tönnies habe bei<br />
seinem Werk „Zerlegeoptimierung in einem industriellen<br />
Schweinezerlegebetrieb“ gepfuscht, schreibt<br />
der „Spiegel“. In Auftrag gegeben worden sei das Gutachten<br />
aus der Umgebung von Clemens Tönnies,<br />
will das Magazin wissen. Der bestreitet das.<br />
Robert ein Trickser und Täuscher? Er selbst macht<br />
keinen Hehl daraus, das ihm im theoretischen Teil<br />
»<br />
Vater und Sohn<br />
Bernd und Robert<br />
Tönnies auf dem<br />
Werksgelände in<br />
Rheda 1992<br />
Gründerfamilie<br />
Evelin und Bernd<br />
Tönnies mit Clemens<br />
junior (links) bei<br />
Roberts Taufe 1978<br />
Kette<br />
Bindegewebsreiche<br />
Muskelstrang im<br />
Bereich der Wirbelknochen*<br />
Mark<br />
Das Innere der<br />
Röhrenknochen<br />
(Beinröhre)*<br />
WirtschaftsWoche <strong>10.11.2014</strong> Nr. 46 53<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Halbe-halbe<br />
Mehr als 16 Millionen<br />
Schweine werden<br />
in den Tönnies-<br />
Schlachthöfen pro<br />
Jahr komplett zerlegt<br />
Überläufer<br />
Wildschwein im<br />
2. Lebensjahr,<br />
Gewicht bis 45 kg*<br />
* aus: Fachlexikon für<br />
Fleischer, Hans Fuchs,<br />
Martin Fuchs<br />
Mit über 5.000 Fachbegriffen<br />
von A wie<br />
Aalrauch bis Z wie<br />
Zwischenrippenkotelett,<br />
158 Seiten, gebunden,<br />
afz EDITION<br />
»<br />
etliche Zitierfehler unterlaufen seien. Doch im<br />
60-seitigen praktischen Teil der mit „gut“ bewerteten<br />
Arbeit habe er sauber gearbeitet. Das attestiert ihm<br />
wiederum der Bielefelder Universitätsprofessor und<br />
Lehrstuhlinhaber Hermann Jahnke, der ein Gegengutachten<br />
verfasst hat.<br />
Statt dem öffentlichen Druck nachzugeben, schalten<br />
Robert und sein Rechtsbeistand noch stärker auf<br />
Attacke. Sie verlangen die geschenkten fünf Prozent<br />
am Konzern zurück – wegen groben Undanks. „Die<br />
Anordnung der bis 2008 andauernden Testamentsvollstreckung<br />
hat allein den Zweck verfolgt, die Söhne<br />
vor unbedachten Entscheidungen, insbesondere<br />
vor ihrem ungleich erfahreneren, ja übermächtigen<br />
Onkel zu schützen“, ledert Binz los: „Und was macht<br />
der Testamentsvollstrecker, dem der Vater seine Neffen<br />
anvertraut hatte? Er wechselt die Fronten.“<br />
Heute, so Binz weiter, behaupte der angebliche<br />
Überläufer, „es wäre schon immer gewollt gewesen,<br />
Clemens Tönnies die alleinige Macht im Unternehmen<br />
einzuräumen“. Daran zweifelt die Robert-Seite<br />
und führt in ihrer 150-seitigen Klageschrift nicht weniger<br />
als 30 Gründe auf, die Clemens Tönnies’ Undankbarkeit<br />
belegen sollen.<br />
Wie Robert den angeblichen Undank belegen will,<br />
wird wohl Anwalt Binz’ ganzer Kunst bedürfen. Denn<br />
in der Präambel der Schenkungsurkunde bieten die<br />
Neffen ihrem Onkel „in Dankbarkeit“ ihre<br />
jeweils fünf Prozent am Unternehmen an.<br />
Sie offerieren ihm die Anteile ausdrücklich<br />
„in Anerkennung der Leistung seit dem<br />
Tod“ ihres Vaters Bernd.<br />
Ein Satz, den Clemens Tönnies mit Genuss<br />
zitieren dürfte: „Wir werden den Prozess<br />
nutzen, um viele Dinge klarzustellen“,<br />
sagte er kürzlich in einem Interview, „ich<br />
habe 20 Jahre lang keine Sekunde darüber<br />
Fotos<br />
In unseren App-<br />
<strong>Ausgabe</strong>n finden<br />
Sie Bilder <strong>vom</strong><br />
Netzwerk des<br />
Clemens Tönnies<br />
nachgedacht, dass ich mich vor Gericht für meinen<br />
Einsatz und meine Lebensleistung rechtfertigen<br />
muss. Das empfinde ich natürlich als undankbar.“<br />
Die Zeit seit seinem Ausscheiden aus dem Unternehmen<br />
im Dezember 2012 hat Robert Tönnies<br />
nicht nur zur Vorbereitung auf den entscheidenden<br />
Prozess genutzt.<br />
Gleichzeitig, sagen Vertraute, habe er sich Gedanken<br />
über die künftige Aufstellung des Konzerns gemacht.<br />
Demnach arbeite Robert in diesen Wochen<br />
intensiv an einem Strategiepapier.<br />
Eine Zerschlagung oder einen Verkauf seiner Anteile<br />
werde es mit ihm nicht geben, heißt es übereinstimmend<br />
aus seinem Umfeld. Stattdessen wolle er<br />
etwa auch den Wursthersteller Zur Mühlen in die<br />
Tönnies-Gruppe integrieren. Zusätzlich fordert Robert<br />
für den Konzern ein neutrales, noch zu bildendes<br />
Kontrollgremium. Zudem müsse die operative<br />
Leitung des Konzerns nicht zwingend von Familienangehörigen<br />
ausgeübt werden.<br />
Ob es nach der Schlacht der Schlachter noch eine<br />
gemeinsame Zukunft für Onkel und Neffe im Konzern<br />
geben kann, ist völlig offen. Vergleichbare Fälle<br />
von Familienkrach wie beim Keks-Konzern Bahlsen<br />
führten letztlich zur Spaltung des Unternehmens –<br />
ein Szenario, das in auswegloser Situation auch bei<br />
Tönnies drohen könnte. Eine Zerschlagung würde<br />
die Wettbewerbsfähigkeit des Fleischriesen<br />
gefährden, da die Unternehmensteile sehr<br />
eng verflochten sind.<br />
Dabei berufen sich bei dem Streit beide<br />
Seiten paradoxerweise auf das Gleiche – auf<br />
den Willen eines Toten.<br />
Sein Wille geschehe.<br />
n<br />
mario.brueck@wiwo.de, peter steinkirchner<br />
Lesen Sie weiter auf Seite 56 »<br />
FOTO: PICTURE-ALLIANCE/DPA<br />
54 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
INTERVIEW Arist von Schlippe<br />
»48-Stunden-Regel«<br />
Der Experte für Konfliktmanagement erklärt, warum Streitigkeiten<br />
in Familienunternehmen schneller eskalieren.<br />
Herr Professor von Schlippe, von<br />
Montag an treffen sich Fleischbaron<br />
Clemens Tönnies und sein Neffe Robert<br />
erneut vor Gericht. Seit zwei Jahren<br />
tragen die beiden ihren Zwist auch in<br />
der Öffentlichkeit aus. Überrascht<br />
Sie der Eskalationsgrad?<br />
Nein, eigentlich nicht. Familienunternehmen<br />
sind eben selten Mittelmaß. Sie<br />
profitieren entweder enorm <strong>vom</strong> guten<br />
Zusammenhalt in der Familie. Oder sie<br />
leiden massiv darunter, wenn es interne<br />
Spannungen gibt. Wenn es nicht gelingt,<br />
diese Spannungen auszubalancieren,<br />
fallen Konflikte in Familienunternehmen<br />
dann oft heftiger aus und eskalieren<br />
schneller.<br />
Heißt das, Familienunternehmer sind<br />
besonders streitsüchtig?<br />
Nein. Sie streiten nicht unbedingt häufiger<br />
als die Eigentümer anderer Unternehmen,<br />
aber wenn, dann heftiger.<br />
Woran liegt das?<br />
Familien haben ein ganz anderes Verständnis<br />
von Gerechtigkeit als Unternehmen.<br />
In der Familie gilt eine Logik der<br />
Gleichheit – eine Mutter muss immer alle<br />
Kinder gleich lieb haben. Die Gerechtigkeitslogik<br />
des Unternehmens beruht<br />
aber auf Ungleichheit: Der, der am meisten<br />
leistet oder die beste Qualifikation hat,<br />
soll auch am meisten bekommen. An dieser<br />
Diskrepanz arbeiten sich viele Unternehmerfamilien<br />
ab.<br />
In welchen Fällen macht es Sinn, familiäre<br />
Streitigkeiten vor Gericht auszutragen?<br />
Das ist die Ultima Ratio, wenn die Familie<br />
keine Möglichkeiten mehr hat, sich selbst<br />
zu helfen. Es kommt häufig vor bei hocheskalierten<br />
Konflikten. Da ist dann die Verzweiflung<br />
oder Verbitterung der Beteiligten<br />
so groß, dass sie eine dritte, übergeordnete<br />
Instanz brauchen, um sie aus dem Konflikt<br />
zu erlösen. Und das ist im Zweifelsfall nur<br />
noch das Gericht.<br />
Vor allem Geschwister zerstreiten sich<br />
häufig, wie etwa bei Haribo, Bahlsen oder<br />
den Oetkers. Woran liegt das?<br />
Da gibt es oft alte Streitigkeiten, die meist<br />
noch aus dem Sandkasten stammen. Die<br />
werden manchmal über Jahre und Jahrzehnte<br />
als kalte Konflikte mitgetragen. Ein<br />
DER MEDIATOR<br />
Von Schlippe, 63, ist Professor am Institut<br />
für Familienunternehmen an der Universität<br />
Witten-Herdecke. Der Psychologe ist Experte<br />
für das Thema Konfliktmanagement und<br />
berät dazu auch Unternehmen.<br />
neuer Zwist kann dazu führen, dass alte<br />
Konflikte dann heftig aufbrechen.<br />
Bei Bahlsen endete der Streit mit einer<br />
Teilung des Unternehmens: Der eine<br />
Bruder übernahm die Kekssparte, der<br />
andere die Knabberartikel, die heute<br />
unter der Marke Lorenz verkauft werden.<br />
Wann macht eine Spaltung Sinn?<br />
Wenn man sich nicht einigen kann, dann<br />
kann das eine gar nicht so schlechte Lösung<br />
sein.<br />
Wie können Familienunternehmen<br />
vorbeugen, damit es erst gar nicht zu<br />
solch dramatischen Konflikten kommt?<br />
Eine frühe Sensibilisierung für Konfliktpotenziale<br />
ist wichtig. Viele erarbeiten<br />
sich eine Familienverfassung, in der sie<br />
elementare Werte festlegen, die sie<br />
schriftlich festhalten. Dieser Prozess<br />
kann auch schon konflikthaft ablaufen,<br />
aber dadurch übt sich die Familie im<br />
Umgang mit Konflikten.<br />
Was sind die wichtigsten Punkte in<br />
diesen Familienverfassungen?<br />
Da ist ein ganzes Paket möglich: Die Gesellschafter<br />
bekennen sich zur Verantwortung<br />
für das Unternehmen und die<br />
Mitarbeiter. Sie erklären sich dazu bereit,<br />
in Krisenzeiten geringere Ausschüttungen<br />
in Kauf zu nehmen. Sie legen fest,<br />
wer zum Gesellschafterkreis gehören<br />
darf und wer nicht – was ist zum Beispiel<br />
mit nicht ehelichen Partnern? Zudem<br />
können Unternehmerfamilien Gremien<br />
bilden und eben auch Konfliktklauseln.<br />
Wie können die aussehen?<br />
Ich kenne eine interessante Regelung in<br />
einem Unternehmen, die eine 48-Stunden-Regel<br />
vorsieht. Die Familie wählt jedes<br />
Jahr aus ihrem Kreis einen Kümmerer,<br />
der regelmäßige Treffen organisiert,<br />
aber auch bei Konflikten zuständig ist.<br />
Sobald ein Streitthema auftaucht, muss<br />
man sich innerhalb von 48 Stunden an<br />
diesen wenden. Der sucht dann nach<br />
Lösungen, bevor der Konflikt weiter eskaliert.<br />
Wer sich nicht an den Kümmerer<br />
wendet, der hat das Recht verwirkt, das<br />
Ereignis bei späteren Konflikten wieder<br />
in den Ring zu werfen.<br />
Was hätten Sie Clemens und Robert Tönnies<br />
geraten, um den Streit beizulegen?<br />
Das ist schwer zu sagen bei einem so<br />
hocheskalierten Konflikt. Man hätte sich<br />
frühzeitig Unterstützung suchen müssen.<br />
Je früher man einen Spiegel vorgehalten<br />
bekommt, desto besser.<br />
n<br />
jacqueline.goebel@wiwo.de<br />
FOTO: PR<br />
56 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Das Experiment<br />
HYPOVEREINSBANK | Mit einem Schlag macht die Bank aus Bayern<br />
fast die Hälfte ihrer Filialen dicht. Der beispiellose Schritt ist eine<br />
radikale Wette auf die Zukunft. Ein Modell für die ganze Branche?<br />
niskirche ab, drinnen steht ein weißer<br />
Schreibtisch, den die Berater nach jedem<br />
Gespräch aufgeräumt zurücklassen müssen.<br />
Daneben hängt ein Flachbildschirm.<br />
Das alles soll Offenheit, Nähe zum Kunden<br />
und Diskretion signalisieren. Doch<br />
was so harmlos aussieht, ist Teil einer riskanten<br />
Revolution. Denn der frisch renovierte<br />
Standort ist einer der ersten fertigen<br />
Bausteine des größten Umbaus im deutschen<br />
Privatkundengeschäft seit der Fusion<br />
von Dresdner und Commerzbank 2008.<br />
Die HVB setzt alles auf eine Karte,<br />
streicht ihr Filialnetz radikal zusammen<br />
und motzt zeitgleich die übrigen Standorte<br />
mit neuen Möbeln und vor allem mit Technik<br />
auf. Sie setzt darauf, dass neue Technologien<br />
wie die Beratung per Video und Internet<br />
bei ihren Kunden schon so akzeptiert<br />
sind, dass diese den Rückzug aus der<br />
Fläche nicht mit der Kontokündigung bestrafen.<br />
Wenn der Plan funktioniert, taugt<br />
er als Modell für andere Institute.<br />
Doch die Risiken sind groß. Viel spricht<br />
dafür, dass die Bank damit zu schnell ist<br />
und ihre Kunden überfordert. Die sind womöglich<br />
noch nicht bereit, den Ansprechpartner<br />
vor Ort gegen virtuelle Ratgeber<br />
einzutauschen. Viele dürften sich im Stich<br />
gelassen fühlen und das Institut wechseln.<br />
Das Experiment läuft seit Anfang Oktober.<br />
Seitdem renoviert die HVB im Schnelldurchlauf<br />
sämtliche Zweigstellen, im Tagestakt<br />
machen generalüberholte Filialen<br />
wieder auf. Aktuell sind es 40, schon Ende<br />
2015 sollen alle fertig sein – und so aussehen<br />
wie die in Berlin. Überall gibt es dann<br />
die gleichen Glaswürfel, die gleichen Bildschirme,<br />
den gleichen Schriftzug an der<br />
Wand und, wenn genug Platz da ist, die<br />
gleichen Kaffee-Ecken.<br />
Katrin Hesse ist etwas nervös, denn<br />
für den Abend hat sie fast 150 Gäste<br />
eingeladen. Die Berliner Filialleiterin<br />
der HypoVereinsbank will ihren wichtigen<br />
Kunden zeigen, wie schick und schön<br />
und neu es jetzt bei ihr zugeht. Sechs Wochen<br />
hat der Umbau der Zweigstelle im<br />
Stadtteil Charlottenburg gedauert. Nun ist<br />
er fertig, der aus München angereiste Vorstand<br />
wird ein rotes Band durchschneiden,<br />
dann gibt es Häppchen.<br />
Unsere Bank soll<br />
schöner werden<br />
HVB-Privatkundenvorstand<br />
Buschbeck<br />
Im Schnelldurchlauf führt Hesse durch<br />
ihr überarbeitetes Reich. Die Geldautomaten<br />
stehen jetzt vorne im Hauptraum statt<br />
in einem blickdicht abgetrennten Vorzimmer,<br />
an einem Pult sitzt eine Art Lotse als<br />
erster Ansprechpartner für alle Kundenfragen.<br />
Es gibt eine Sofaecke mit Kaffeeautomat,<br />
über die Filiale verteilen sich sogenannte<br />
Beratungswürfel aus Glas. Von außen<br />
schirmt die ein milchiger Sichtschutz<br />
mit Motiven wie Reichstag und Gedächt-<br />
BRACHIAL-KONZEPT<br />
Überall da jedenfalls, wo es dann noch Filialen<br />
gibt. Denn zeitgleich macht die Bank<br />
240 ihrer bisher 580 Zweigstellen dicht.<br />
Auch dieser Rückzug läuft schon. Vor allem<br />
an kleineren Standorten sind die Türen geschlossen,<br />
die Schilder abgeschraubt. Mit<br />
ihnen müssen auch rund 1500 Bankangestellte<br />
gehen. Die Kunden sollen zur nächsten<br />
Filiale fahren oder ihre Geschäfte per<br />
Telefon und im Internet erledigen.<br />
Der Mann hinter dem Brachial-Konzept<br />
heißt Peter Buschbeck und ist seit 2009 im<br />
HVB-Vorstand für die Privatkunden zuständig.<br />
Da hat er schon so einiges probiert:<br />
einige Filialen zugemacht, ein Franchise-Konzept<br />
gestartet und verworfen, eine<br />
„Online-Filiale“ aufgemacht, in der per-<br />
FOTO: GÖTZ SCHLESER FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
58 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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sönliche Berater den Internet-Kunden via<br />
Web zur Seite stehen. Das war aber nur das<br />
Vorspiel für das eigentliche Drama.<br />
Seit die Umbaupläne bekannt sind, muss<br />
Buschbeck erklären, dass es um einen Befreiungs-<br />
und keinen Kahlschlag geht, dass<br />
er kein Totengräber, sondern ein Erneuerer<br />
ist, dass die Bank 300 Millionen Euro für<br />
die Modernisierung ausgibt. „Auch wenn<br />
wir deutlich Kosten sparen, senden wir ein<br />
klares Zukunftssignal“, sagt er. „Die Filiale<br />
ist und bleibt ein zentraler Beratungspunkt.<br />
Sie behält einen hohen Stellenwert,<br />
wir passen unser Netz aber an das veränderte<br />
Kundenverhalten an.“<br />
Das macht den Banken schwer zu schaffen.<br />
Die Kosten für Mieten und Personal<br />
sind unverändert hoch, aber ähnlich wie<br />
im Einzelhandel erledigen Kunden ihre<br />
Geschäfte immer öfter online statt vor Ort.<br />
Hinzu kommen immer neue Vorschriften<br />
zum Schutz der Sparer, die Kreditinstitute<br />
teuer und aufwendig umsetzen müssen.<br />
Die Niedrigzinspolitik der Notenbanken<br />
erhöht den Druck noch weiter. Sie sorgt dafür,<br />
dass der für das Ergebnis im Filialgeschäft<br />
entscheidende Zinsüberschuss fällt.<br />
Der ergibt sich im Wesentlichen aus der<br />
Auf Sparkurs<br />
Entwicklung der Zweigstellen und<br />
Beschäftigten deutscher Kreditinstitute<br />
(in Tausend)<br />
50<br />
45<br />
40<br />
Filialen<br />
Beschäftigte<br />
750<br />
700<br />
650<br />
35<br />
600<br />
2004 2013<br />
Quelle: Deutsche Bundesbank, Arbeitgeberverband<br />
Banken<br />
Differenz zwischen den Zinsen, die eine<br />
Bank für Einlagen zahlt, und denen, die sie<br />
für von ihr eingesetztes Geld bekommt.<br />
Vergibt sie dieses als Kredit, kassiert sie<br />
kaum noch etwas, kauft sie einigermaßen<br />
solide Wertpapiere, bringen die auch nur<br />
wenig ein. Die Rendite zehnjähriger Bundesanleihen<br />
lag zuletzt bei 0,9 Prozent.<br />
All das wird sich so schnell nicht ändern.<br />
Deshalb gibt es Raum für drastische Szenarien.<br />
Gerade erst haben die im Privatkundengeschäft<br />
einflussreichen Berater von<br />
Bain & Company in einer Studie vorgerechnet,<br />
dass deutsche Banken ihre Kosten<br />
in den kommenden Jahren um 25 Milliarden<br />
Euro drücken müssten, um ausreichend<br />
profitabel zu bleiben.<br />
Der Weg dahin klingt brutal: 11 000 von<br />
derzeit noch 37 000 Zweigstellen müssten<br />
schließen, 125 000 von aktuell 630 000<br />
Bankbeschäftigten sich einen neuen Job<br />
suchen. Der Umbruch sei vergleichbar mit<br />
dem der Stahlindustrie im vergangenen<br />
Jahrhundert, urteilen die Bain-Berater.<br />
Das sind keine abstrusen Fantasien abgehobener<br />
PowerPoint-Artisten. Als die<br />
obersten deutschen Finanzaufseher jüngst<br />
die Ergebnisse des Stresstests der EZB vorstellten,<br />
mussten sie keine Durchfaller verkünden,<br />
machten aber deutlich, dass die<br />
Banken nicht einfach so weitermachen<br />
können wie bisher. Sie müssten mehr verdienen<br />
und dafür mehr sparen. „Dabei<br />
können sie an ihr vergleichsweise üppiges<br />
Filialnetz denken“, sagt der zuständige<br />
Bundesbankvorstand Andreas Dombret.<br />
Dass nun ausgerechnet die HVB zum<br />
großen Schlag ausholt, ist kein Zufall. Das<br />
Institut aus München zählt zwar im Ge-<br />
»<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
»<br />
schäft mit deutschen Unternehmen zu<br />
den ersten Adressen, ist bei Sparern und<br />
Hausbauern aber eine ziemlich kleine<br />
Nummer. Die HVB-Privatkunden sind im<br />
Durchschnitt zwar recht wohlhabend, es<br />
gibt aber auch nur gut vier Millionen von<br />
ihnen. Zum Vergleich: Die Deutsche Bank<br />
kommt zusammen mit ihrer Tochter Postbank<br />
auf 24 Millionen. Wirklich flächendeckend<br />
ist die HVB nur in Bayern und Teilen<br />
Norddeutschlands vertreten.<br />
IMMER ETWAS NEUES<br />
Mehrmals wollte die Bank, die seit 2005 zur<br />
italienischen UniCredit gehört, deshalb einen<br />
Konkurrenten kaufen, erhielt aber nie<br />
den Zuschlag. Deshalb probiert es Buschbeck<br />
nun auf die harte Tour. Dass er das<br />
kann, hat er bewiesen. In der Bankenwelt<br />
hat er einen Ruf wie der Trainer Felix Magath<br />
im Bundesliga-Fußball. Er gilt als harter<br />
Hund, der Leute ordentlich rannimmt.<br />
Als er das Geschäft der schwedischen SEB<br />
in Deutschland leitete, mussten die Angestellten<br />
einmal pro Woche Rechenschaft<br />
über ihre Verkaufserfolge ablegen. Das<br />
machte die SEB zum abschreckenden Beispiel<br />
für übertriebenen Vertriebsdruck.<br />
Die Mehrheit ist online<br />
Anteil der Bankkunden, die Geschäfte im<br />
Internet erledigen (in Prozent)<br />
60<br />
50<br />
40<br />
30<br />
20<br />
10<br />
0<br />
06 07 08 09 10 11 12 13 14<br />
Quelle: Bankenverband, ipos, GfK<br />
Allerdings berichten Weggefährten, dass<br />
Buschbeck es bei der HVB nun etwas lockerer<br />
angehen lässt. Deren Kunden sind<br />
anspruchsvoller, legen mehr Wert auf Beratung.<br />
Ein Konzept, das nur auf schnelle<br />
Abschlüsse setzt, funktioniert da nicht.<br />
Buschbeck will deshalb nun auch mehr<br />
als Techniker denn als Schleifer glänzen,<br />
will beim Banking via Internet und<br />
Smartphone ganz vorne mit dabei sein.<br />
Ständig präsentiert er etwas Neues: Demnächst<br />
stellt die HVB ein besseres Sicherheitskonzept<br />
für mobile Bankgeschäfte vor.<br />
Aber auch in den Filialen soll es innovativ<br />
vorangehen, wenn auch unaufdringlich.<br />
„Wir wollen sie nicht zu Technik-Kathedralen<br />
machen. Sie finden dort nichts, was<br />
dem Kunden nicht nutzt“, sagt Buschbeck.<br />
So gibt es auf jedem Schreibtisch ein sogenanntes<br />
Signpad, mit dem die Kunden Dokumente<br />
digital unterschreiben können.<br />
Das spart den Ausdruck auf Papier.<br />
Besonders große Stücke hält Buschbeck<br />
auf die Beratung per Videoschaltung. Über<br />
den Bildschirm können Experten so jederzeit<br />
bei Fachthemen weiterhelfen, auch<br />
wenn sie nicht vor Ort sind. Die Bank spart<br />
Kosten und verspricht dem Kunden gleichzeitig<br />
eine noch qualifiziertere Beratung.<br />
Drei Jahre hat die HVB das Konzept getestet,<br />
nun kommt es überall zum Einsatz.<br />
Auch in Berlin. Um zu zeigen, wie gut es<br />
klappt, knipst Filialleiterin Hesse den Bildschirm<br />
an. Dort erscheint dann Sandra<br />
Schenkhut. Sie ist blond, lächelt, trägt ein<br />
Headset und steht in einem Leipziger Bürobau<br />
vor einer Wand mit HVB-Logo.<br />
Schenkhut ist Expertin für Immobilienfinanzierungen,<br />
sie rechnet aus, ob sich ein<br />
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Kunde eine eigene Wohnung wirklich leisten<br />
kann. Sie fragt, wie viel er verdient, wie<br />
viel er im Monat ausgibt, wie viel er gespart<br />
hat. Das wirkt ein wenig schematisch, ein<br />
wenig unpersönlich.<br />
Aber immerhin funktioniert es. Kaum ein<br />
Experte bezweifelt, dass solche Technologien<br />
eine wichtigere Rolle spielen werden.<br />
Die Frage ist nur, ob schon genug Kunden<br />
reif dafür sind, um den Filialschwund in der<br />
Fläche zu kompensieren. „Der Weg der<br />
HVB ist mutig. Er ist an sich richtig und<br />
nachvollziehbar, kann aber etwas zu früh<br />
kommen“, sagt Oliver Mihm, Chef der Beratung<br />
Investors Marketing in Frankfurt. „Für<br />
viele Kunden ist die Filiale immer noch der<br />
wichtigste Bezugspunkt<br />
zu ihrer Bank.“<br />
So zeigt eine aktuelle<br />
Studie von Investors<br />
Marketing, dass rund ein<br />
Fünftel der Kunden<br />
Bankgeschäfte immer<br />
noch ausschließlich über<br />
die Filiale abwickelt. Für<br />
70 Prozent ist sie der<br />
wichtigste Weg zur Kontaktaufnahme<br />
mit der<br />
Bank, 80 Prozent nutzen<br />
sie zum Abschluss von Finanzprodukten<br />
und für ausführliche Beratungsgespräche.<br />
Das ist auch eine Generationenfrage. So<br />
nutzen zwar 80 Prozent der Kunden unter<br />
40, aber nur ein Drittel der über 60-Jährigen<br />
das Internet für Bankgeschäfte. Dabei<br />
sind die Älteren an sich interessant:Sie haben<br />
vielleicht wenig Ahnung von Computern,<br />
dafür aber oft ordentlich Geld.<br />
GROSSE SKEPSIS<br />
„Der Weg ist hochriskant, die Entwicklung<br />
im Kundenverhalten ist schnell, aber nicht<br />
so schnell“, sagt Klaus Grünewald, der seit<br />
mehr als 20 Jahren für die Gewerkschaft<br />
Verdi im Aufsichtsrat der HVB sitzt. Er hat<br />
schon etliche Sparrunden mitgemacht, die<br />
aktuelle sieht er besonders skeptisch. Grünewald<br />
bezweifelt, dass es zum Anspruch<br />
einer Premium-Bank passt, wenn sie die<br />
Kunden vor allem per Video informiert –<br />
vor allem, wenn die Technik mal ausfällt.<br />
Auch die Mitarbeiter sind verunsichert.<br />
Wenn eine Filiale schließt, kommen sie oft<br />
erst mal in der nächsten unter. Ob sie da<br />
bleiben können, ist nicht sicher. Allerdings<br />
berichten HVBler auch, dass das Interesse<br />
an den Abfindungsangeboten sehr hoch<br />
ist:„Viele wollen sich den Stress nicht mehr<br />
antun“, sagt einer. Vor allem aber irritiert<br />
sie, dass das alles so verdammt schnell<br />
300<br />
Millionen Euro<br />
investiert die HVB in<br />
die Modernisierung<br />
ihrer Filialen<br />
geht. Die Gewerkschafter wollten den Umbau<br />
zumindest bis 2018 strecken, um erst<br />
mal abzuwarten, ob er funktioniert.<br />
„Wir haben die Entscheidungen lange<br />
und intensiv vorbereitet“, sagt Buschbeck.<br />
„Jetzt setzen wir sie rasch um, weil die Kunden<br />
schnell von der Modernisierung profitieren<br />
sollen.“ Die Branche habe die Dynamik<br />
des Wandels zu lange unterschätzt<br />
und müsse reagieren. Buschbeck: „Wir<br />
freuen uns, wenn wir vorne mit dabei sind.“<br />
NICHT SCHÖN GENUG<br />
Hinten runterfallen dabei dann Standorte<br />
wie Au in der Hallertau. Noch im Herbst<br />
vergangenen Jahres feierte die Zweigstelle<br />
im 6000-Einwohner-Ort<br />
im Landkreis Freising<br />
nördlich von München<br />
ihr 100-jähriges Jubiläum,<br />
die HVB verfasste<br />
eigens ein festliches<br />
Faltblatt. „Die Filiale<br />
spiegelt aufs Schönste<br />
die lange Geschichte<br />
der Bank wider“, heißt es<br />
darin. Offenbar nicht<br />
schön genug. In einer<br />
Woche ist Schluss.<br />
Der schnelle Abschied verärgert selbst<br />
Bürgermeister Karl Ecker. „Das ist überhaupt<br />
nicht nachvollziehbar“, sagt er. Die<br />
Bank hatte ihren Sitz schließlich in Bestlage,<br />
direkt am Marktplatz, im Gebäude des<br />
traditionellen Gasthofs „Zur Post“. Und es<br />
sei immer viel los gewesen, der vor allem<br />
für den Anbau von Hopfen bekannte Ort<br />
sei alles andere als arm.<br />
Für Ecker ist klar: „Das haben sich abgehobene<br />
Manager in der Zentrale so ausgedacht.“<br />
Der Bürgermeister hat zwei böse<br />
Briefe nach München geschickt, nun soll<br />
vielleicht ein Geldautomat bleiben. Die<br />
Bank habe einigen Kunden 50 Euro geboten,<br />
damit sie ihr treu bleiben. „Aber warum<br />
sollten die zwölf Kilometer bis zur<br />
nächsten Filiale fahren?“, fragt Ecker.<br />
Wo doch die Konkurrenz vor Ort sofort in<br />
die Bresche springt. Die Raiffeisenbank<br />
wirbt aktiv um HVB-Kunden, die Sparkasse<br />
hat Plakate und Anzeigen gestaltet. „Wir<br />
bleiben vor Ort“ sind die überschrieben, zu<br />
sehen sind darauf acht Sparkassenmitarbeiter,<br />
die sich in Dirndl und Lederhose<br />
um einen Traktor versammelt haben. Sie<br />
lachen zuversichtlich, sie lachen für Tradition<br />
und Nähe und Zuverlässigkeit. Und<br />
gegen Peter Buschbeck.<br />
Wer wohl zuletzt lacht?<br />
n<br />
cornelius.welp@wiwo.de | Frankfurt<br />
WirtschaftsWoche <strong>10.11.2014</strong> Nr. 46 61<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Unter Druck IBF-Präsident Maleki wird von<br />
Mitgliedern aus Düsseldorf attackiert<br />
Zoff ums Geld<br />
INTERNATIONAL BANKERS FORUM | Mitglieder des hochkarätigen<br />
Vereins klagen über mangelnde Transparenz bei den Finanzen.<br />
Wenn in der kommenden Woche in<br />
Frankfurt mit der Euro Finance<br />
Week die wichtigste deutsche<br />
Bankenkonferenz stattfindet, wird Veranstalter<br />
Nader Maleki vermutlich wie jedes<br />
Jahr strahlend durch die Messehalle<br />
schreiten und den geladenen Promis die<br />
Hand schütteln. Rund 200 Sprecher werden<br />
auftreten, darunter Jürgen Fitschen,<br />
Co-Chef der Deutschen Bank, Europas<br />
oberster Währungshüter Mario Draghi und<br />
Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble.<br />
Für seine Verdienste um den Finanzplatz<br />
Frankfurt erhielt der gebürtige Iraner sogar<br />
das Bundesverdienstkreuz. Doch aktuell ist<br />
dem 66-Jährigen nicht nach Lachen zumute.<br />
Sein tadelloser Ruf ist in Gefahr.<br />
Darum geht es: Maleki ist Präsident des<br />
International Bankers Forum (IBF), eines<br />
Vereins für Banker, mit rund 900 persönlichen<br />
und institutionellen Mitgliedern. Zugleich<br />
ist er auch Chef und Gesellschafter<br />
der Maleki Communications Group, die<br />
die Euro Finance Week organisiert. Zu ihr<br />
gehört auch die IBF GmbH, die für den IBF<br />
Verwaltungsarbeiten erledigt.<br />
Die Aktivitäten des Vereins und von Malekis<br />
Privatfirmen greifen also ineinander.<br />
So zahlte der Verein im vergangenen Jahr<br />
etwa 82 000 Euro als Verwaltungspauschale<br />
an die IBF GmbH und mietete für 11 000<br />
Euro einen Stand auf der Euro Finance<br />
Week.<br />
Der Düsseldorfer Ausschuss des IBF – eine<br />
Art regionales Organisationskomitee,<br />
das mit Mitarbeitern unter anderem von<br />
Deutscher Bank und WGZ Bank besetzt ist<br />
– hält das für problematisch. Er bat den<br />
Vorstand darum, die Zahlungsströme zwischen<br />
dem IBF und Malekis Unternehmen<br />
im Detail offenzulegen, was offenbar nicht<br />
in befriedigendem Umfang geschah.<br />
Der elfköpfige Ausschuss tritt nun zum<br />
Jahresende zurück, weil die „mehrfach vorgetragenen<br />
Bedenken“ hinsichtlich Finanzierung,<br />
Transparenz und Governance<br />
„bislang nicht ausgeräumt werden konnten“,<br />
heißt es in einem Brief an den IBF-<br />
Vorstand. Die WGZ Bank trat infolgedessen<br />
aus dem Verein aus. Die Düsseldorfer<br />
Börse lässt ihre Mitgliedschaft ruhen.<br />
»Die vorgetragenen<br />
Bedenken<br />
konnten nicht ausgeräumt<br />
werden«<br />
Düsseldorfer Regionalausschuss des IBF<br />
Im Kern forderten die Düsseldorfer Auskünfte<br />
zu zwei <strong>Ausgabe</strong>-Positionen:<br />
n Verwaltungspauschale Circa ein Drittel<br />
seiner Mitgliedsbeiträge überwies der IBF<br />
2013 an Malekis IBF GmbH, damit die das<br />
Clubleben organisiert. Die Düsseldorfer<br />
wollten wissen, wofür das Geld genau ausgegeben<br />
wurde. Maleki sagt hierzu gegenüber<br />
der WirtschaftsWoche, das Geld werde<br />
unter anderem für die Betreuung der<br />
Mitglieder, die Büromiete und circa 60 Veranstaltungen<br />
pro Jahr verwendet.<br />
n Vereinsmagazin 2012 verkaufte Maleki<br />
60 Prozent seiner Unternehmensgruppe<br />
an den Deutschen Fachverlag mit Sitz in<br />
Frankfurt, der unter anderem die Blätter<br />
„Textilwirtschaft“ und „Lebensmittelzeitung“<br />
herausgibt.<br />
Nach dem Einstieg des Fachverlags legte<br />
die Maleki-Gruppe ein 50 Seiten starkes<br />
professionell gemachtes Hochglanzmagazin<br />
namens „International Bankers Forum“<br />
auf, das IBF-Mitglieder alle zwei Monate automatisch<br />
erhalten. Der Verein zahlt zwar<br />
nur 12,50 Euro pro <strong>Ausgabe</strong> statt des Einzelverkaufspreises<br />
von 21 Euro. Im Jahr kommen<br />
so aber dennoch 60 000 Euro zusammen.<br />
Die Kosten seien zu hoch, und inhaltlich<br />
könnten sie die Zeitschrift auch nicht<br />
mitgestalten, kritisieren die Düsseldorfer.<br />
Maleki sagt, das Ziel, eine Zeitschrift<br />
herauszugeben sei bereits vor Jahrzehnten<br />
in der IBF-Satzung festgehalten worden.<br />
MEHR PROMINENZ ERWÜNSCHT<br />
Bei einem Treffen der Düsseldorfer mit Vorständen<br />
des Vereins ist der Zwist dann eskaliert.<br />
Die Opponenten wollen die erbetenen<br />
Auskünfte nicht erhalten haben. Der IBF bestreitet<br />
das. Aus den Düsseldorfer Reihen<br />
heißt es gar, dass ein IBF-Vorstand ihnen<br />
verboten habe, das Gespräch mitzuschreiben.<br />
Der IBF sagt, es habe sich nicht um ein<br />
Treffen eines beschlussfassenden Gremiums<br />
gehandelt. Entsprechend sei auch<br />
nicht protokolliert worden.<br />
Maleki vermutet persönliche Motive<br />
hinter der Attacke. Das Düsseldorfer Gremium<br />
solle prominenter besetzt werden.<br />
„Das hat einigen Personen aus dem alten<br />
Regionalausschuss nicht gepasst“, sagt er.<br />
Da er die restlichen Anteile an seinem Unternehmen<br />
nicht „mit in den Himmel nehmen“<br />
will, wird sich das Problem von allein<br />
lösen. Nach einem Verkauf hätte er nur<br />
noch den Hut des IBF-Präsidenten auf. n<br />
melanie.bergermann@wiwo.de | Frankfurt<br />
FOTO: LESANDLIGHT/SALOME RÖSSLER<br />
62 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Unternehmen&Märkte | Dossier<br />
Vorbilder<br />
Weit und endlos<br />
Ex-Kollegen lästern gerne,<br />
bei den Umgangsformen<br />
habe sich Pichler wohl an<br />
Alfred Tetzlaff orientiert,<br />
dem TV-Ekel der Siebzigerjahre.<br />
Mit Sicherheit inspiriert<br />
wurde der Ex-Profilangläufer<br />
von afrikanischen<br />
Marathonläufern und deren<br />
Motto „Easy Going“. Soll heißen:<br />
Die Leistungsfähigkeit<br />
steigt, wenn ein Läufer bei<br />
hoher Belastung möglichst<br />
entspannt bleibt. Auch wenn<br />
Rückkehr aus<br />
der Südsee<br />
Künftiger<br />
Air-Berlin-Chef<br />
Pichler<br />
Motiviert und bescheiden Ex-<br />
Südafrika-Präsident Mandela<br />
Pichler auf Fotos noch so<br />
grimmig blickt wie früher,<br />
die Zeit beim australischen<br />
Billigflieger Virgin Blue von<br />
2004 bis 2009 hat ihn wohl<br />
verändert. „Wer Stefan von<br />
damals kennt, erkennt ihn<br />
kaum wieder“, so ein Freund.<br />
So nennt Pichler als wichtigstes<br />
Vorbild Nelson Mandela,<br />
den ehemaligen Präsidenten<br />
Südafrikas, den er<br />
mehrfach traf. Der sei trotz<br />
aller Widerstände motiviert<br />
und bescheiden geblieben.<br />
Ebenso zu Pichlers Leitbildern<br />
gehört der französische<br />
Schriftsteller Antoine de<br />
Saint-Exupéry. Der riet: Wer<br />
ein Schiff bauen wolle, der<br />
teile die Männer nicht zur<br />
Arbeit ein, sondern „lehre sie<br />
die Sehnsucht nach dem<br />
weiten, endlosen Meer“.<br />
Geläutertes Raubein<br />
Der neue Vorstandschef Stefan Pichler ist die letzte Hoffnung für Air Berlin,<br />
vorausgesetzt der arabische Großaktionär Etihad gibt ihm genug Freiheit.<br />
Wenig sorgte in der Luftfahrt zuletzt so sehr<br />
für Gähnen wie das Gerücht, Stefan Pichler<br />
werde Chef von Air Berlin. Der 57-Jährige<br />
war schon Favorit, bevor Gründer Joachim<br />
Hunold 2011 rausflog. Lange als Deutschlands<br />
ehrgeizigster Manager gefeiert, manövrierte<br />
sich Pichler jedoch ins Abseits.<br />
2003 war er an der Spitze des Reisekonzerns<br />
Thomas Cook gescheitert und zuvor als<br />
Verkaufschef bei der Lufthansa wegen<br />
seines raubeinigen Führungsstils angeeckt.<br />
Danach wechselte er zu Billigfliegern in<br />
Australien und Kuwait und war zuletzt Leiter<br />
der Fluggesellschaft der Fidschi-Inseln.<br />
Wenn der begeisterte Taucher nun die<br />
Südsee für die Spree aufgibt, liegt das am<br />
Umdenken beider Seiten. Air Berlin ist<br />
weiterhin tiefrot, trotz Sparrunden, zweier<br />
Chefwechsel in drei Jahren und 800 Millionen<br />
Euro <strong>vom</strong> arabischen Großaktionär<br />
Etihad. Da hilft nur noch ein Maniac wie<br />
Pichler, um Deutschlands zweitgrößte Fluggesellschaft<br />
durch überfällige Einschnitte<br />
vor dem Absturz retten. Der gebürtige<br />
Münchner wiederum gilt im Umgang als<br />
geläutert. „Er dreht Air Berlin, wenn ihm<br />
Etihad die Freiheit lässt“, so ein Weggefährte.<br />
ruediger.kiani-kress@wiwo.de<br />
64 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Vorlieben<br />
Sportle und arbeite<br />
Auch wenn er heute beteuert,<br />
vor allem die Kochkünste seiner<br />
australischen Ehefrau Leonie<br />
begeisterten ihn: Bei wenigen<br />
Managern verschmelzen<br />
Sport und Arbeit derart zur<br />
Passion. Pichler startete nach<br />
dem Abitur eine Karriere als<br />
Profilangläufer, die ihn dank<br />
zwei Stunden zwölf Minuten<br />
im Marathon in die deutsche<br />
Leichtathletik-Nationalmannschaft<br />
brachte. Es folgte eine<br />
Managerkarriere beim US-<br />
Sportartikelhersteller Nike.<br />
Die erhoffte Stelle beim Konkurrenten<br />
Adidas hatte ihm<br />
Entspannte Ausdauer<br />
Ex-Marathon-Star Pichler<br />
der heutige Konzernchef Herbert<br />
Hainer weggeschnappt.<br />
Seitdem hat sich Pichlers Faible<br />
für Sport erweitert. Er machte<br />
nach dem Rauswurf bei Thomas<br />
Cook auf den Seychellen eine<br />
Ausbildung zum Tauchlehrer.<br />
Heute springt er auch mit dem<br />
Fallschirm und müht sich<br />
beim Triathlon.<br />
Ziele und<br />
Visionen<br />
Verbissener Einsatz<br />
Leistung und Veränderung –<br />
auf den ersten Blick hat Pichler<br />
die gleichen Ziele wie viele<br />
andere Manager. Doch der<br />
ehemalige Sportprofi verfolgt<br />
sie eine Spur konsequenter<br />
und mit größerem<br />
Einsatz. „Wenn er sich in eine<br />
Sache verbeißt, dann lässt<br />
er nicht locker, egal, wie unbeliebt<br />
er sich macht“, sagt<br />
ein Weggefährte. Nachdem<br />
FOTOS: PR (2), AAPIMAGES, BILDFOLIO/BOSTELMANN, LAIF/NEDDEN, PICTURE-ALLIANCE/DPA/SVEN SIMON,<br />
Freunde und Gegner<br />
Ungebrochene Sympathie<br />
L’Tur-Gründer Kögel<br />
Offen für Wechsel<br />
Pichler polarisiert wie wenige<br />
andere. „Das liegt daran, dass<br />
er schroff auftritt und wenige<br />
an sich heran lässt“, sagt ein<br />
Vertrauter. Im Ausland landet<br />
er damit eher, etwa beim<br />
Gründer der US-Reisebürokette<br />
Travel Leaders, Mike<br />
Batt, oder bei James Hogan,<br />
auch wenn dieser ihm den Job<br />
als Etihad-Chef wegschnappte.<br />
Zu den deutschen Freunden<br />
zählt Karlheinz Kögel,<br />
Gründer des Lastminute-Veranstalters<br />
L’Tur. Pichler wendet<br />
sich von Freunden ab,<br />
wenn sie ihn enttäuschen. So<br />
brach er mit Ex-Lufthansa-<br />
Chef Jürgen Weber, als der ihn<br />
bei Thomas Cook – offenbar<br />
trotz gegenteiliger Bekundungen<br />
– nicht mehr stützte. Doch<br />
der Wechsel funktioniert auch<br />
anders herum. So galt Air-Berlin-Aufsichtsratschef<br />
Hans-<br />
Joachim Körber als Pichlers<br />
Gegner, weil er den Karrieremenschen<br />
angeblich als Air-<br />
Berlin-Chef ablehnte. „Jetzt ist<br />
das Verhältnis recht positiv“,<br />
sagt ein Air-Berlin-Insider.<br />
Enttäuschendes Verhalten<br />
Ex-Lufthansa-Chef Weber<br />
Stärken und<br />
Schwächen<br />
Überall zu Hause<br />
Nur wenige Manager können<br />
von sich sagen, solche<br />
Einblicke zu haben. Im Alter<br />
von 13 Jahren schlug Pichler<br />
sich als Austauschschüler<br />
ohne Eltern durch Paris. Die<br />
Arbeit in der Zentrale des<br />
weltgrößten Sportartikelherstellers<br />
Nike im US-Bundesstaat<br />
Oregon brachte ihm die<br />
globale Sicht der Dinge –<br />
und verhalf ihm zum Blitzaufstieg<br />
bei der Lufthansa,<br />
wo er zunächst das Frankreich-Geschäft<br />
und später<br />
den Vertrieb leitete. Zugleich<br />
hat sich Pichler in Branchen<br />
außerhalb der Luftfahrt eingearbeitet<br />
– als Kontrolleur<br />
des Frankfurter Flughafens,<br />
der Steigenberger Hotels, der<br />
Deutschen Bank, von Messegesellschaften<br />
und der Deutsche<br />
Sporthilfe. Wie schön<br />
wäre es da, wenn er nicht<br />
mehr so schneidend und<br />
ausfallend wie früher wäre.<br />
Beim Cocktail vereint Pichler<br />
(links), Ehefrau Leonie, Branson<br />
er mit seiner Art in Deutschland<br />
gescheitert ist, hat er<br />
sich offenbar geändert. Dazu<br />
trugt seine Zeit als Vizechef<br />
beim australischen Billigflieger<br />
Virgin Blue bei. Dort<br />
lernte er von Hauptaktionär<br />
Richard Branson, dass es effektivere<br />
Mittel als brachiales<br />
Auftreten gibt. Von dem britischen<br />
Multiunternehmer<br />
nahm Pichler die Erkenntnis<br />
mit, dass er am Ende weiter<br />
kommt, wenn er seine Ziele<br />
anderen nicht einfach aufzwingt,<br />
sondern seine introvertierte<br />
Art aufbricht und<br />
die Leute mitreißt. Mit diesem<br />
Vorsatz tritt Pichler nun<br />
seinen neuen Job an. „Er will<br />
den durch Stillstand und<br />
Sparrunden gelähmten Air-<br />
Berlin-Spirit neu beleben“,<br />
sagt ein Vertrauter.<br />
WirtschaftsWoche <strong>10.11.2014</strong> Nr. 46 65<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
»Schräg angeguckt«<br />
INTERVIEW | Stefan Winners Der Digitalchef des Burda-Verlags über seinen Angriff auf MediaMarkt und<br />
Saturn, neue Geschäfte beim Karrierenetzwerk Xing und den Kampf gegen die Macht von Google.<br />
Herr Winners, einen Großteil <strong>vom</strong> Umsatz<br />
macht Hubert Burda Media heute nicht<br />
mehr im Verlagsgeschäft, sondern im<br />
E-Commerce, etwa mit dem Heimelektronikhändler<br />
Cyberport oder dem Tierbedarfshandel<br />
Zooplus. Passt das in das Profil<br />
eines Medienhauses?<br />
Diese Beteiligungen stammen noch aus der<br />
Zeit von 1998 bis 2008, als Burda ein Corporate-Venture-Capital-Geschäft<br />
betrieben hat<br />
– und wir sind heute sehr glücklich, dass wir<br />
diese Unternehmen haben. Cyberport etwa<br />
wird 2014 mehr als eine halbe Milliarde Euro<br />
Umsatz machen, zweistellig wachsen und<br />
dabei trotz hoher Investitionen profitabel<br />
sein. Außerdem passen Medien und<br />
E-Commerce gut zusammen.<br />
Weil Sie die Burda-Medien nutzen, um den<br />
eigenen E-Commerce zu beleben?<br />
Ja. Ein Beispiel: Als unsere Beteiligung<br />
Tomorrow Focus 2006 das Hotelbewertungsportal<br />
HolidayCheck übernommen<br />
hat, gab es auf Focus Online freitags immer<br />
DER EINKÄUFER<br />
Winners, 47, ist seit Oktober 2012 Digitalvorstand<br />
beim Münchner Medienriesen<br />
Hubert Burda Media mit Publikationen wie<br />
„Focus“, „Bunte“ und „Chip“. Der Digitalbereich<br />
trug 2013 die Hälfte zum Konzernumsatz<br />
von 2,6 Milliarden Euro bei. 2005<br />
bis 2012 war Winners Vorstandschef der<br />
Digitaltochter Tomorrow Focus. Heute leitet<br />
er dort den Aufsichtsrat.<br />
eine von HolidayCheck präsentierte Kolumne<br />
über die schlechtesten Hotels Deutschlands.<br />
Das war eine der am stärksten gelesenen<br />
Rubriken. So haben wir HolidayCheck<br />
den deutschsprachigen Lesern bekannt gemacht.<br />
So haben wir es auch im letzten Jahr<br />
für Marken wie Cyberport gemacht, die wir<br />
durch Print- und Online-Anzeigen sehr erfolgreich<br />
entwickelt haben. Zudem findet<br />
man die unabhängigen „Chip“-Testergebnisse<br />
auch auf Cyberport-Angebotsseiten.<br />
Content und Commerce – das funktioniert.<br />
Sie expandieren mit Cyberport jetzt sogar<br />
in den stationären Einzelhandel. Warum?<br />
Wir haben festgestellt, dass das Abholen online<br />
bestellter Ware für viele Menschen<br />
wichtig ist. Bei Cyberport macht das teilweise<br />
30 Prozent <strong>vom</strong> Gesamtumsatz eines<br />
Stores aus. So gewinnen wir Leute für uns,<br />
die E-Commerce eigentlich kritisch sehen.<br />
Werden Sie also weitere Läden eröffnen?<br />
Ja. Cyberport hat bereits 14 Stores – etwa in<br />
Berlin, Köln, Dresden, München sowie<br />
Wien –, und wir werden in Städten mit<br />
mehr als 500 000 Einwohnern in hochfrequentierten<br />
Lagen weitere Stores aufmachen.<br />
Zunächst steht ein zweiter in Wien<br />
auf dem Programm. An weiteren Standorten<br />
sind wir auf der Suche nach geeigneten<br />
Immobilien. Die werden aber kleiner sein<br />
als die unserer Wettbewerber MediaMarkt<br />
und Saturn.<br />
Bei Cyberport hat sich Ihr Wagniskapital offenbar<br />
ausgezahlt, trotzdem kaufen Sie bei<br />
Digitalbeteiligungen heute nur gestandene<br />
Unternehmen zu. Warum so konservativ?<br />
Wir waren in der Vergangenheit in vielen<br />
Frühphasen-Unternehmen mit Minderheitsbeteiligungen<br />
investiert. Heute wollen<br />
wir profitable Mehrheiten, um die Unternehmen<br />
dann weiter zu entwickeln.<br />
Selbst, wenn bei Frühphasen-Investments<br />
höhere Renditen möglich sind?<br />
Unternehmen, die noch kein bewiesenes<br />
Geschäftsmodell haben, sind schwieriger zu<br />
entwickeln, und die Ausfallquote ist viel höher.<br />
Für uns haben sich in den letzten Jahren<br />
vor allem die Beteiligungen gelohnt, die ein<br />
FOTO: PR<br />
66 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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etabliertes Geschäftsmodell hatten und<br />
schon profitabel oder kurz davor waren. Die<br />
konnten wir mit unserer Erfahrung, der<br />
Reichweite unserer Medien und dem technischen<br />
Know-how stark wachsen lassen.<br />
Bei Frühphasen-Investments schreibt man<br />
in Deutschland mindestens 75 Prozent der<br />
Unternehmen ab.<br />
Können Sie den Erfolg Ihrer Strategie mit<br />
Zahlen belegen?<br />
Nehmen Sie das 2003 gegründete Karrierenetzwerk<br />
Xing, an dem wir 51 Prozent halten.<br />
Dessen Aktien haben wir bei der Übernahme<br />
der Mehrheit im Dezember 2012 zu<br />
einem Preis von 44 Euro gekauft. Der Xing-<br />
Vorstand hat das Wachstum in den letzten<br />
zwei Jahren erheblich beschleunigt. Das Unternehmen<br />
wächst jetzt im Umsatz wieder<br />
sehr erfreulich mit 20 Prozent gegenüber<br />
Vorjahr – und im Ergebnis sogar noch stärker.<br />
Heute steht der Kurs bei 84 Euro.<br />
Wo kommt das Wachstum her?<br />
Xing hat unter anderem das Premium-Abo-<br />
Modell forciert, bei dem die Nutzer für Zusatzservices<br />
zahlen. Die Community ist heute<br />
zudem besser durchsuchbar für Unternehmen<br />
und Personalberater. Personaler<br />
können dort leichter exzellente Kandidaten<br />
finden und ansprechen. Xing bietet dafür<br />
kostenpflichtig das Werkzeug Xing Talentmanager<br />
an. Außerdem gibt es einen neuen<br />
Stellenmarkt und noch bessere Möglichkeiten<br />
für Unternehmen, sich gegenüber potenziellen<br />
Kandidaten darzustellen.<br />
So gut läuft’s bei Ihrer Web-Tochter Tomorrow<br />
Focus nicht. Es hakt bei HolidayCheck<br />
und dem Partnervermittler ElitePartner.<br />
Bei HolidayCheck gab es ein schwaches erstes<br />
Halbjahr wegen der Fußball-WM. Der<br />
Reisemarkt war insgesamt schwächer als geplant,<br />
das hat HolidayCheck gespürt. Aber<br />
jetzt im zweiten Halbjahr setzt das Unternehmen<br />
zu einer Jahresendrallye an, der<br />
Vorstand ist optimistisch, was die Geschäftsentwicklung<br />
bis Jahresende angeht. Und ElitePartner<br />
bewegt sich in einem extrem wettbewerbsintensiven<br />
Markt, in dem die Unternehmen<br />
im Kampf um die Kunden Millionen<br />
Euro für Werbung ausgeben.<br />
Heißt das, Sie werden sich in absehbarer<br />
Zeit von ElitePartner trennen?<br />
Solche Entscheidungen trifft grundsätzlich<br />
der Vorstand von Tomorrow Focus.<br />
Burda hat kürzlich seine Anteile an der erfolgreichen<br />
Internet-Zoohandlung Zooplus<br />
auf 33,8 Prozent reduziert. Warum?<br />
Wir sind dort seit 15 Jahren investiert. Zooplus<br />
ist ein ausgezeichnetes Unternehmen,<br />
und das Team hat es in vielen Ländern Europas<br />
sehr erfolgreich entwickelt, was man<br />
»Bei Wagniskapital<br />
schreibt man<br />
75 Prozent ab«<br />
auch an der sehr erfreulichen Aktienkursentwicklung<br />
sehen kann. Wir haben aber<br />
festgestellt, dass das Geschäft von Zooplus<br />
kaum noch Bezug zu unserem sonstigen<br />
Business hat. Daher haben wir entschieden,<br />
unsere Anteile zu reduzieren, bleiben aber<br />
trotzdem weiter investiert.<br />
Vor einem Jahr haben Sie die US-Internet-<br />
Zeitung „Huffington Post“ nach Deutschland<br />
gebracht. Wie läuft das?<br />
Sie hat es in kürzester Zeit unter die Top-<br />
20-Nachrichtenseiten Deutschlands geschafft,<br />
auch durch eine intelligente VernetzungmitFocusOnline.Beide<br />
Portale verweisen<br />
etwa auf die Inhalte des anderen. Ob die<br />
„Huffington Post“ Deutschland nachhaltig<br />
profitabel ist, soll in zwei Jahren beantwortet<br />
werden. Im Moment sieht alles positiv aus.<br />
Was haben Sie in den zwei Jahren als Digitalvorstand<br />
von Burda verändert?<br />
Ihr Umsatz schrumpft dadurch nicht?<br />
Nein, der Digitalbereich ist in den ersten<br />
sechs Monaten um fast 15 Prozent gewachsen.<br />
Klar ist aber auch, dass wir aufgrund der<br />
Anteilsreduzierung bei Zooplus im digitalen<br />
Bereich im zweiten Halbjahr eher langsamer<br />
als 2013 wachsen werden.<br />
Wann muss eine Beteiligung profitabel sein?<br />
Bei den meisten Beteiligungen sehen Sie<br />
nach drei bis vier Jahren, ob sie erfolgreich<br />
werden. Dann sollte man auch erkennen,<br />
wann die Gewinnschwelle erreicht wird, wie<br />
nachhaltig das Geschäftsmodell ist und wie<br />
robust gegen Angreifer.<br />
Wo kaufen Sie zurzeit zu?<br />
Wir scannen den Markt kontinuierlich nach<br />
neuen Beteiligungsmöglichkeiten. Dieses<br />
Jahr haben wir uns über 150 Unternehmen<br />
angeschaut. Uns geht es um Unternehmen,<br />
die eine Chance haben, einen Umsatz in hoher<br />
zweistelliger Millionenhöhe zu erzielen<br />
und nachhaltig profitabel zu sein. Vergleichsportale<br />
und E-Commerce stehen besonders<br />
in unserem Fokus.<br />
Sie kämpfen seit Jahren für eine kritischere<br />
Haltung der europäischen Politik gegen<br />
Google. Wie sehen Sie das heute?<br />
Wir sind hier gut vorangekommen. Vor<br />
drei Jahren hatte in Deutschland kaum<br />
Liebe, Karriere, Urlaub, News...<br />
Die digitalen Geschäfte von Hubert Burda Media und ausgewählte Beteiligungen<br />
- Paket Plus<br />
- Debitor Inkasso<br />
- Ino 24<br />
- Valentins<br />
Blumen & Geschenke<br />
Quelle: Unternehmen<br />
- Chip<br />
- Cyberport<br />
- Computer Universe<br />
Burda Digital<br />
100% 100% ca. 60% 51%<br />
BurdaDirect BurdaTech Tomorrow Focus Xing<br />
Wir haben das Portfolio einem Check-up<br />
unterzogen und uns dabei auf die Profitabilität<br />
unserer Geschäfte konzentriert. Dazu gehörte<br />
es auch, einzelne zu schließen oder<br />
umzubauen, die keine Aussicht auf Profit<br />
haben. So haben wir etwa in Köln das Unternehmen<br />
Sevenload geschlossen, das eine<br />
Nischen-Alternative zu YouTube werden<br />
sollte. Dort haben wir über Jahre investiert,<br />
aber inzwischen war klar, das klappt nicht. In<br />
unserem Geschäft kommt man nur weiter,<br />
wenn Fehler kein Tabu sind. Man muss aus<br />
ihnen schnell lernen und Konsequenzen<br />
ziehen. Dieser Fokus auf Profitabilität führt<br />
dazu, dass sich das operative Ergebnis im<br />
Digitalbereich 2014 deutlich verbessert.<br />
- HolidayCheck.de<br />
- ElitePartner<br />
- Jameda<br />
- The Huffington Post<br />
- Netmoms<br />
- Focus Online<br />
- Finanzen 100<br />
- Kununu<br />
- Xing Events<br />
Zooplus.de<br />
- Zooplus.de<br />
ca.<br />
38%<br />
einer verstanden, was US-Konzerne mit<br />
ihrer Marktmacht anstellen. Heute zeigen<br />
die Debatten über Datenschutz, Kartellrecht<br />
und Steuerharmonisierung: Allen ist<br />
klar, dass es um knallharte Marktinteressen<br />
in dieser Zukunftsindustrie geht. Es ist<br />
gut, dass die EU das Kartellverfahren<br />
gegen Google nicht voreilig beendet hat,<br />
sondern Googles Bevorzugung eigener Angebote<br />
in den Suchergebnissen weiter untersucht<br />
und vielleicht sogar ein zusätzliches<br />
Verfahren mit Blick auf Googles<br />
Betriebssystem Android einleitet. Wir brauchen<br />
gleiche Rahmenbedingungen und<br />
Spielregeln für alle.<br />
n<br />
thomas.stoelzel@wiwo.de<br />
WirtschaftsWoche <strong>10.11.2014</strong> Nr. 46 67<br />
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O ST<br />
WE ST<br />
Seltener Humus<br />
SERIE MAUERFALL (II) | Hie und da blühen sie doch, die Landschaften im Osten: der mühsame,<br />
aber erfolgreiche Aufstieg dreier Privatunternehmer aus den Ruinen der DDR-Planwirtschaft.<br />
Gestern Raubbau, heute Wirtschaftswunder:<br />
Im Dresdner Stadtteil Gittersee<br />
überdecken die neu und wieder<br />
gegründeten Unternehmen die untergegangenen<br />
aus DDR-Zeiten.<br />
Bis Anfang der Sechzigerjahre panschte<br />
hier noch der berüchtigte deutsch-sowjetische<br />
Rohstoffkonzern Wismut mit Uranerz<br />
und Schwefelsäure. Dann breitete sich auf<br />
einem Teil des Geländes eine staatseigene<br />
Chemie- und Reifenfabrik aus. Die schädlichen<br />
Hinterlassenschaften mussten nach<br />
der Wende für 46 Millionen Euro Steuergeld<br />
Kubikmeter für Kubikmeter weggeschaufelt<br />
werden, um 2001 ein neues Gewerbegebiet<br />
einzurichten.<br />
Heute residieren auf dem Areal 60 Privatbetriebe<br />
– mittendrin die Stollenbäckerei<br />
Dr. Quendt. Das Unternehmen, benannt<br />
nach seinem Gründer, dem promovierten<br />
ostdeutschen Lebensmitteltechniker Hartmut<br />
Quendt, macht inzwischen 20 Millionen<br />
Euro Jahresumsatz, beschäftigt zur<br />
Hochsaison wie gerade im Herbst 200 Mitarbeiter<br />
und ist Marktführer bei Stollen mit<br />
dem Dresdner Herkunftssiegel. Kaum zu<br />
glauben, dass die weit über Sachsen hinaus<br />
bekannte Marke aus den Resten eines staubigen<br />
DDR-Backkombinats hervorgegangen<br />
ist, welches damals „die Versorgung der<br />
lokalen Bevölkerung mit Backwaren sicherstellen“<br />
sollte, wie es in einer dürren Anweisung<br />
der SED-Wirtschaftsbürokratie hieß.<br />
Alte Technik, neue Marke Die Dresdner<br />
Stollenbäcker Matthias und Hartmut<br />
Quendt mit einer DDR-Backmaschine<br />
ERNÜCHTERNDE BILANZ<br />
25 Jahre nach dem Mauerfall am 9. November<br />
1989 blüht der Osten längst nicht überall<br />
wie <strong>vom</strong> Einheitskanzler Helmut Kohl<br />
(CDU) versprochen, dafür aber hie und da.<br />
Dabei bildeten Reste der einst volkseigenen<br />
Betriebe, kurz: VEB, nicht nur ein Ruinenfeld,<br />
sondern wie bei Dr. Quendt bisweilen<br />
auch den seltenen Humus für einen<br />
Neuanfang. Keine Frage, die Ostunternehmer<br />
haben es weiterhin schwer auf dem<br />
Markt, die Bilanz für die Zeit nach der Wende<br />
fällt insgesamt ernüchternd aus. Trotz<br />
rasanter Aufholjagd sind die neuen Bundesländer<br />
in Deutschland immer noch<br />
Schlusslicht bei der Wirtschaftsleistung je<br />
Einwohner. Innovative Großbetriebe, bei<br />
denen Produktivität und Löhne höher sind<br />
als im gesamtdeutschen Durchschnitt,<br />
sind nach wie vor die große Seltenheit.<br />
„Gegenüber Westdeutschland weist Ostdeutschland<br />
auch 25 Jahre nach dem Mauerfall<br />
erhebliche Strukturschwächen auf“,<br />
diagnostiziert das Institut für Wirtschaftsforschung<br />
Halle (IWH) und listet die wichtigsten<br />
auf:<br />
n Laut IWH fehlen dem Osten Unternehmenszentralen,<br />
die in Forschung und Entwicklung<br />
investieren und damit Wertschöpfung<br />
sowie Produktivität nach oben<br />
treiben.<br />
FOTOS: WERNER SCHÜRING FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, CHRISTOPH BUSSE FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
68 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
n Die ostdeutschen Firmen sind im Schnitt<br />
nur halb so groß wie ihre westdeutschen<br />
Konkurrenten. Da die kleinen aber über<br />
weniger Kapital und Managementkapazität<br />
verfügen, haben sie auch einen schlechteren<br />
Zugang zu lukrativen Auslandsmärkten.<br />
n Der Anteil der Unternehmen aus exportstarken<br />
Disziplinen wie dem Auto- und<br />
Maschinenbau ist im Osten niedriger als<br />
im Westen. Ausnahme ist Sachsen mit seiner<br />
forschungsstarken Halbleiterindustrie,<br />
die dem Freistaat den Beinamen Silicon<br />
Saxony eingebracht hat.<br />
Die Ursache des Rückstands geht auch<br />
auf die früheren Kombinate zurück. So<br />
nannte die DDR ihre Staatskonzerne, die<br />
nicht selten eine kunterbunte Mischung an<br />
Sparten besaßen. Die Kolosse waren so<br />
schlecht für den Wettbewerb geeignet, dass<br />
Investoren und Gründer sie in kleine Einheiten<br />
aufspalteten.<br />
ZWEI MAL VOR DEM NICHTS<br />
So passierte es beim Stollenbäcker Dr.<br />
Quendt in Dresden, beim Steuerberatungsunternehmen<br />
Connex aus Halle,<br />
das aus den Resten eines Buchführungskombinats<br />
entstand, oder beim Schifffahrtsunternehmen<br />
Deutsche Seereederei,<br />
dem einstigen Stolz der DDR-Staatswirtschaft,<br />
aus dem ein Tourismus- und Immobilienunternehmen<br />
geworden ist.<br />
Wer sich auf Spurensuche begibt, erlebt<br />
Überraschungen, welch lebendiges Unternehmertum<br />
trotz aller Strukturschwächen<br />
aus den Ruinen erwachsen ist.<br />
Als die Mauer fiel, fiel der damals<br />
48-jährige Lebensmittelingenieur Quendt<br />
in Dresden erst einmal ins Nichts. Das<br />
Ende der DDR machte ihn plötzlich zum<br />
Arbeitslosen, ein Schicksal, das er sich<br />
bis dahin nicht vorstellen konnte. Bei seinem<br />
bisherigen Brötchengeber, dem VEB<br />
Dauerbackwaren, wie der Betrieb in sozialistischer<br />
Nomenklatur hieß, waren die<br />
Öfen ausgegangen.<br />
Für Quendt war der Mauerfall „ein Signal,<br />
das Schicksal in die eigene Hand zu<br />
nehmen“, erinnert er sich. Geistesgegenwärtig<br />
rettete er eine von ihm entwickelte<br />
Spezialmaschine zur Herstellung von Russisch<br />
Brot vor der Verschrottung. Gesandte<br />
des hannoverschen Keksgiganten Bahlsen<br />
waren in Dresden angerückt, um zu inspizieren,<br />
welche Produktionsanlagen des<br />
VEB sich weiterhin nutzen ließen. Für<br />
Rückstand in exportstarken Branchen<br />
Anteil von Ost- und Westunternehmen am Umsatz im verarbeitenden Gewerbe je Disziplin*<br />
24,1<br />
14,0<br />
Autobau<br />
* 2013; Quelle: KfW<br />
13,3<br />
8,7 8,6 7,4<br />
5,0 4,0 3,6<br />
5,3<br />
Maschinenbau Chemie Elektroausrüstung<br />
Vom Ost-Statthalter zum ostdeutschen<br />
Unternehmer Connex-Chef und Gesellschafter<br />
Bischoff<br />
Datenverarbeitung/<br />
Elektronik<br />
West<br />
2,2 4,5<br />
Pharma<br />
Ost<br />
Quendts Unikat hatten die „Wessis“ keine<br />
Verwendung.<br />
Der „Ossi“ aber reagiert schnell, packt<br />
die sperrige Maschine kurzerhand auf einen<br />
Lkw und bunkert sie in einer Garage.<br />
Das gerettete Relikt, das er mit viel Herzblut<br />
entwickelt hatte, wird zum Grundstein<br />
eines privaten Backunternehmens, dem er<br />
seinen Namen verleiht. Dafür nimmt er<br />
1991 einen Bankkredit von umgerechnet<br />
gut 750 000 Euro auf.<br />
Zum zweiten Mal vor dem Nichts fühlte<br />
sich Quendt, als seine Maschine zwar gewohnt<br />
zuverlässig lief, er seine Backwaren<br />
jedoch ohne Kenntnisse in Marketing und<br />
Vertrieb plötzlich auf dem Markt losschlagen<br />
musste. Da ihm wie fast allen frischgebackenen<br />
Ostunternehmern Kontakte<br />
zu den Einkäufern großer Supermarktketten<br />
fehlen, setzt er sich persönlich hinter<br />
das Steuer eines Transporters und beliefert<br />
nach Gutdünken Bäcker, Metzger<br />
und kleine Lebensmittelläden der Umgebung<br />
mit Russisch Brot in verkaufsfertigen<br />
Tüten. Guerillamarketing würde man<br />
heute dazu sagen.<br />
Es war eine harte Zeit für den gelernten<br />
DDR-Bürger. Erst Mitte der Neunzigerjahre<br />
kam für das Unternehmen der Durchbruch,<br />
als Einzelhändler und Verbraucher<br />
gezielt nach Traditionswaren made in<br />
Ostdeutschland fragten. Quendts Sohn<br />
Matthias erkannte das Marketingpotenzial<br />
von Dresdener Christstollen, deren Produktion<br />
1994 aufgenommen wurde. Bei<br />
der Errichtung der neuen Produktlinie<br />
und der Herstellung des Weihnachtsgebäcks<br />
halfen neue Mitarbeiter von einem<br />
weiteren Dresdner Backkombinat, das<br />
schließen musste. Heute ist der Dresdener<br />
Christstollen Paradeprodukt des Unternehmens.<br />
HARTE WENDE<br />
Für Gründer wie Quendt bestand die größte<br />
Herausforderung darin, ohne Vorkenntnisse<br />
die Regeln der Marktwirtschaft zu beherrschen.<br />
Noch härter war die Wende für<br />
Silvia Herrmann. Für die heute 57-jährige<br />
Steuerberaterin änderten sich sämtliche<br />
für ihre Arbeit relevanten Gesetze.<br />
Doch die komplexen westdeutschen<br />
Rechtsnormen und Vorschriften schockten<br />
sie nicht. Eine Resignation hätte sich die<br />
32-Jährige auch gar nicht leisten können,<br />
musste sie ihren Sohn doch nach einer frühen<br />
Scheidung allein erziehen. Das kam<br />
öfter vor zu DDR-Zeiten, weil junge Paare<br />
überstürzt heirateten, um eine der knappen<br />
Wohnungen zu ergattern.<br />
»<br />
WirtschaftsWoche <strong>10.11.2014</strong> Nr. 46 69<br />
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O ST<br />
WE ST<br />
Verwandlung zum Hotelier Investor Rahe<br />
baute die Deutsche Seereederei in einen<br />
Tourismus- und Immobilienkonzern um<br />
»<br />
Also saß die Alleinerziehende zwei Jahre<br />
lang jeden Samstag in Seminaren, um 1995<br />
die nach bundesdeutschem Recht vorgeschriebene<br />
anspruchsvolle Prüfung zur<br />
Steuerberaterin zu bestehen. „Ich habe<br />
einfach fest daran geglaubt, dass ich es packen<br />
kann“, sagt Herrmann. Heute arbeitet<br />
sie bei Connex am Standort Halle. Der<br />
Dienstleister mit 300 Mitarbeitern, 6000<br />
Mandanten und rund 16 Millionen Euro<br />
Umsatz führt die Finanz- und Lohnbuchhaltung<br />
und erstellt Bilanzen sowie Steuererklärungen<br />
für kleine und mittlere Unternehmen,<br />
die sich dafür keine eigene Abteilung<br />
leisten können. Das Angebot passt zur<br />
kleinteiligen ostdeutschen Unternehmenslandschaft.<br />
Connex entstand ebenfalls aus den Resten<br />
eines volkseigenen Betriebs, dem VEB<br />
Rechnungsführung und Wirtschaftsberatung<br />
des Bezirks Halle. Dort verdiente<br />
Herrmann zu DDR-Zeiten ihr Geld. Denn<br />
auch in der Planwirtschaft mussten die<br />
Kleinunternehmen, die nicht in Kombinaten<br />
aufgegangen waren, Abgaben entrichten.<br />
Zudem waren kleinere VEB ohne eigene<br />
Buchhaltung gezwungen, sich an staatliche<br />
Buchführungsfirmen zu wenden.<br />
„Zu DDR-Zeiten war ich eher Erfüllungsgehilfin<br />
des Finanzamts“, sagt Herrmann.<br />
„Heute ist es dagegen mein Job, die Steuerlast<br />
für die Mandanten möglichst niedrig<br />
zu halten.“ 25 Jahre nach dem Mauerfall<br />
gibt Connex einigen ehemaligen VEB-Mitarbeitern<br />
immer noch einen Arbeitsplatz.<br />
Rund zehn Prozent der Belegschaft stammen<br />
aus den Reihen einstiger volkseigener<br />
Buchhaltungsfirmen.<br />
HOHES RISIKO<br />
Dass Herrmanns früherer Arbeitgeber unter<br />
dem neuen Namen Connex überlebte,<br />
hat die Anhaltinerin ihrem heutigen Chef<br />
Detlef Walter Bischoff zu verdanken. Der<br />
Badener kam 1990 als junger Anwalt in den<br />
Osten, sein Kanzleichef in Pforzheim hatte<br />
gemeinsam mit anderen mittelständischen<br />
Steuerberatern und Wirtschaftsprüfern<br />
den ehemaligen Staatsbetrieb für drei<br />
Millionen Euro von der Treuhandanstalt<br />
übernommen. Heute wäre das ein<br />
Schnäppchen, damals gingen die Westler<br />
mit der Investition aber ein hohes Risiko<br />
ein, da niemand den Erfolg des Unternehmens<br />
vorhersehen konnte. „Für mich war<br />
die Wende eine Chance, mich fern der Heimat<br />
zu bewähren“, sagt Bischoff. Berührungsängste<br />
mit dem Osten kannte er<br />
nicht. „Leipzig und Halle sind traumhaft,<br />
auch wenn mein badischer Akzent noch<br />
manchmal ein Lächeln hervorruft.“<br />
Bischoff wollte Connex weiter ausbauen,<br />
während die Eigentümer im Schwarzwald<br />
Wenig weltgewandt<br />
Anteil der Exporte am Umsatz der Unternehmen<br />
(in Prozent)*<br />
55,1<br />
53,2<br />
52,6<br />
52,5<br />
52,2<br />
50,9<br />
46,4<br />
44,4<br />
42,6<br />
40,1<br />
35,4<br />
30,1<br />
28,9<br />
28,3<br />
27,0<br />
23,8<br />
* 2013; Quelle: IWH<br />
Bremen<br />
Berlin<br />
Baden-Württemberg<br />
Rheinland-Pfalz<br />
Bayern<br />
Hessen<br />
Saarland<br />
Niedersachsen<br />
Nordrhein-Westfalen<br />
Schleswig-Holstein<br />
Sachsen<br />
Thüringen<br />
Mecklenburg-Vorpommern<br />
Brandenburg<br />
Sachsen-Anhalt<br />
Hamburg<br />
vor allem auf hohe Ausschüttungen schielten.<br />
Also kaufte er 1996 den Altgesellschaftern<br />
ihre Anteile ab, wurde <strong>vom</strong> Ost-Statthalter<br />
zum selbstständigen ostdeutschen<br />
Unternehmer und baute die Steuerberatung<br />
zur heutigen Größe aus.<br />
Während Connex und Dr. Quendt ihren<br />
Branchen treu blieben, mussten andere<br />
ehemals volkseigene Betriebe ihren Weg in<br />
die privatwirtschaftliche Zukunft fernab<br />
der bisherigen Domäne suchen. Wie<br />
schmerzhaft dies für die Beschäftigten war,<br />
zeigte die Deutsche Seereederei, einst maritimes<br />
Aushängeschild der DDR-Staatswirtschaft.<br />
Nur rund 1600 Mitarbeiter beschäftigt<br />
die DSR-Gruppe heute noch – fast 90 Prozent<br />
der Arbeitsplätze der alten DSR mit<br />
14 500 Mitarbeitern gingen auf dem Weg in<br />
den Kapitalismus verloren. Ganze fünf Angehörige<br />
der heutigen Belegschaft waren<br />
schon vor 25 Jahren dabei, einer macht immer<br />
noch das Gleiche wie vor dem Mauerfall:<br />
Frank Kletzsch, inzwischen 55 Jahre<br />
alt, war damals Direktionsfahrer. Heute<br />
chauffiert er Firmenchef Horst Rahe.<br />
Der Hamburger Kaufmann hatte DSR im<br />
Juni 1993 gemeinsam mit dem Reeder Nikolaus<br />
Schües von der Treuhandanstalt<br />
übernommen. Rahes Kompagnon fusio-<br />
FOTO: ARCHIV-KLAR<br />
70 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
nierte die Frachtschiffsparte mit seiner<br />
Reederei F. Laeisz und lieferte damit den<br />
Auftakt zu mehreren Strategiewechseln,<br />
die das Unternehmen für Jahrzehnte zu einer<br />
Dauerbaustelle machten, bei der kein<br />
Stein auf dem anderen blieb. 1999 löste<br />
Schües die Handelsschifffahrt aus dem Unternehmen<br />
heraus, seitdem führt Rahe die<br />
DSR allein.<br />
Heute ist die DSR ein Tourismus- und<br />
Immobilienunternehmen, das Kapitel<br />
Schifffahrt ist beendet. Wirtschaftlich hat<br />
sich der Kurswechsel ausgezahlt, Rahe hat<br />
aus der hochdefizitären DDR-Staatsreederei<br />
ein ertragsstarkes Unternehmen mit<br />
rund 150 Millionen Euro Jahresumsatz gemacht.<br />
Gut zwei Drittel davon entfallen auf<br />
die acht Hotels, die 2013 im Jahresschnitt<br />
zu gut 65 Prozent ausgelastet waren und einen<br />
operativen Gewinn von knapp 21 Millionen<br />
Euro erwirtschafteten.<br />
HILFE VOM KONKURRENTEN<br />
Die Schifffahrt des Ex-VEB lebt derweil unter<br />
dem Dach anderer Unternehmen weiter.<br />
So hatte DSR-Chef Rahe die Idee, die<br />
heutigen Kreuzfahrtschiffe Aida zu bauen<br />
und über die Meere zu schicken. Die Marke<br />
sowie die schwimmenden Halligalli-<br />
Herbergen mit dem charakteristischen<br />
Kussmund am Bug gehören heute allerdings<br />
nicht mehr zur DSR, sondern zum<br />
US-Kreuzfahrtriesen Carnival.<br />
Auch die Dresdner Stollenbäckerei Dr.<br />
Quendt sicherte ihr Überleben kürzlich<br />
durch den Einstieg eines anderen Unternehmens,<br />
des Konkurrenten Lambertz aus<br />
Westdeutschland. 2013 war ein Krisenjahr<br />
für Dr. Quendt und eine Bewährungsprobe<br />
für Gründersohn Matthias, der 2006 die<br />
Führung von seinem Vater Hartmut übernommen<br />
hatte.<br />
Dem Unternehmen war ein wichtiger<br />
Kunde abgesprungen. Zudem explodierte<br />
der Butterpreis nach der Flutkatastrophe,<br />
was die Kosten der wichtigsten Zutat für<br />
die Stollen in die Höhe schießen ließ. Die<br />
Banken forderten mehr Eigenkapital.<br />
Quendt blieb nur, einen Mehrheitsanteil<br />
am Unternehmen an den Aachener Backwarenhersteller<br />
Lambertz zu verkaufen.<br />
Der Printen-Platzhirsch ist mit 3500 Mitarbeitern<br />
und 585 Millionen Euro Jahresumsatz<br />
deutlich größer. Doch dank des Anteils<br />
an Dr. Quendt ist Lambertz nun in allen<br />
drei wichtigen Märkten für traditionelles<br />
Weihnachtsgebäck mit Herkunftssiegeln<br />
vertreten: Aachener Printen, Nürnberger<br />
Lebkuchen und Dresdner Stollen. n<br />
mark.fehr@wiwo.de | Frankfurt, hans-jürgen klesse<br />
WirtschaftsWoche <strong>10.11.2014</strong> Nr. 46 71<br />
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Spezial | Mittelstand<br />
Aufrüsten, umbauen, zukaufen<br />
DIGITALISIERUNG | Autoschlüssel oder Frankiermaschinen braucht eigentlich kein Mensch<br />
mehr — dafür gibt es längst digitalen Ersatz. Wie gehen die mittelständischen Hersteller solcher<br />
Alltagsgegenstände mit dem technologischen Umbruch um?<br />
Manche Gegenstände werden<br />
gleich drei Mal neu erfunden. Der<br />
Walkman, zum Beispiel: 1973 ging<br />
der tragbare Kassettenspieler von Sony an<br />
den Start. Ein Jahrzehnt später verdrängte<br />
ihn der Disc-Man, dann kam der<br />
MP3-Player mit Speicherchip. Und heute?<br />
Lädt man die Lieblingslieder einfach auf<br />
das Smartphone. Die meisten Musikliebhaber<br />
sind froh, dass sie sich nicht mehr<br />
mit verhedderten Kassettenbändern herumärgern<br />
müssen. Die Digitalisierung der<br />
Technik macht es möglich.<br />
Das Schicksal des Walkmans wiederholt<br />
sich heute 100-fach. Ständig verschwinden<br />
Gegenstände, die gerade noch zu unserem<br />
Alltag gehörten, aus den Regalen und<br />
schnell auch aus unserem Leben: Statt<br />
Briefe werden E-Mails geschrieben. Bücher<br />
lesen immer mehr Menschen auf dem<br />
Spezial | Mittelstand<br />
72 Digitalisierung So reagieren<br />
Mittelständler auf den Umsturz<br />
ihrer Geschäftsmodelle<br />
78 Factoring Was der Verkauf ihrer<br />
Forderungen Unternehmen bringt<br />
82 Weiterbildung Mitarbeiter erweitern<br />
das Wissen ihrer Kollegen<br />
Tablet oder dem E-Reader. Und Filme<br />
werden nicht mehr als DVD gesammelt –<br />
und erst recht nicht auf Videokassetten –,<br />
sondern übers Internet gestreamt.<br />
Immer mehr physische Produkte werden<br />
durch digitale verdrängt. Weil diese kleiner<br />
sind, billiger, einfacher zu bedienen und<br />
meistens auch noch viel mehr können. Alltagsgegenstände<br />
werden intelligent und<br />
vernetzen sich miteinander: Fernseher mit<br />
Festplattenrekorder lassen sich via<br />
Smartphone programmieren, Waschmaschinen<br />
schalten sich an, wenn der intelligente<br />
Stromzähler einen günstigen Strompreis<br />
signalisiert, Autos kommunizieren<br />
mit Verkehrsampeln und wissen dadurch<br />
schon vorher, wann die Ampel auf Grün<br />
springen wird.<br />
Mit der nächsten Stufe der Digitalisierung<br />
wird dadurch aus dem Internet der<br />
Kommunikation ein Internet der Dinge.<br />
Und das bringt auch die Geschäftsmodelle<br />
von mittelständischen Herstellern durcheinander.<br />
Der Wandel ist allgegenwärtig und längst<br />
noch nicht abgeschlossen: „Wir stehen erst<br />
am Anfang einer fundamentalen Veränderung“,<br />
sagt Walter Sinn, Deutschland-<br />
»<br />
ILLUSTRATION: THOMAS FUCHS<br />
72 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Spezial | Mittelstand<br />
»<br />
Chef der Managementberatung Bain mit<br />
Sitz in München.<br />
Treiber sind Smartphones und kleine<br />
Tablets, die Internet und digitale Speicherkapazitäten<br />
für jedermann und zu jeder<br />
Zeit buchstäblich „tragbar“ machen. Bis<br />
2017 werden weltweit mehr als 2,2 Milliarden<br />
Smartphones und mehr als 400 Millionen<br />
Tablets verkauft, schätzt die Beratung<br />
Accenture aus Kronberg im Taunus. Im<br />
gleichen Zeitraum soll sich der Markt für<br />
digitale Produkte auf mehr als 200 Milliarden<br />
Dollar verdoppeln. Smartphone und<br />
Tablet drängen sich in unseren Alltag,<br />
übernehmen neue Aufgaben und verdrängen<br />
Alltagsgegenstände – zum Schaden jener,<br />
die diese herstellen.<br />
„Inzwischen sind sich die meisten Unternehmen<br />
der Gefahr der Digitalisierung<br />
bewusst, sie rüsten auf, bauen ihre Geschäftsmodelle<br />
um oder entwerfen sie<br />
ganz neu“, sagt Matthias Ziegler, Leiter für<br />
neue Technologien und Innovationen bei<br />
Accenture. Doch viele Unternehmen haben<br />
immer noch großen Aufholbedarf. Bei<br />
einer Befragung der DZ Bank antworteten<br />
35 Prozent der mittelständischen Unternehmen,<br />
dass die Digitalisierung in ihrem<br />
Geschäft noch keine Rolle spiele (siehe<br />
Grafik Seite 77).<br />
Was bedeutet das in der Praxis? Wie gut<br />
sind die Betroffenen für diesen Wandel<br />
aufgestellt? Die WirtschaftsWoche zeigt an<br />
vier Beispielen, wie Hersteller damit umgehen,<br />
wenn ihre Produkte durch Digitalisierung<br />
bedroht werden.<br />
CHIP STATT SCHLÜSSEL<br />
Eine Karte, die man an die Windschutzscheibe<br />
hält: Mehr braucht es nicht, um die<br />
Autos der Carsharing-Anbieter Drive Now<br />
oder Car2Go zu öffnen. Die Autos kann jeder<br />
nutzen, der sich vorher als Fahrer registriert<br />
hat, die Karte wird zum Autoschlüssel.<br />
Dessen Aufgabe übernimmt ein sogenannter<br />
RFID-Chip, der die Autotür entriegelt,<br />
die Blockade des Lenkradschlosses<br />
aufhebt und die Zündung aktiviert. Und<br />
Autos lassen sich auch mit<br />
Chipkarten oder Handys öffnen<br />
selbst diese Technologie bleibt möglicherweise<br />
nicht mehr lang aktuell. Denn längst<br />
können auch Handys (Auto-)Türen öffnen:<br />
Wissenschaftler des Darmstädter Fraunhofer-Instituts<br />
für sichere Informationstechnologie<br />
haben die App Key2Share entwickelt.<br />
Das Schloss wird von einem auf<br />
dem Smartphone gespeicherten Code geöffnet.<br />
Wird der echte Schlüssel aus Metall damit<br />
demnächst zum Alteisen? Im nordrhein-westfälischen<br />
Velbert hält sich die<br />
Angst davor bisher noch in Grenzen.<br />
Der Ort ist Deutschlands Schlüssel-<br />
Hauptstadt: Viele Hersteller haben hier ihren<br />
Sitz, darunter Silca, ein Tochterunternehmen<br />
der Schweizer Kaba Gruppe. „Der<br />
Schlüssel wird langfristig etwas an Bedeutung<br />
verlieren, aber jeder Autofahrer hat<br />
immer noch einen real existierenden Notschlüssel“,<br />
tröstet sich Reinhard Sperling,<br />
Geschäftsführer von Silca in Deutschland.<br />
Zudem stellt das Unternehmen neben<br />
Schlüsseln auch Fräsmaschinen her.<br />
Auch der ebenfalls in Velbert ansässige<br />
Wettbewerber Huf bleibt vorerst gelassen.<br />
„Handytechnologien sind bislang viel zu<br />
unsicher“, sagt Geschäftsführer Ulrich<br />
Hülsbeck, „da kann sich jeder reinhacken.“<br />
Huf produziert für Branchengrößen wie<br />
Mercedes, BMW, VW und Porsche und hat<br />
bei deutschen Autobauern 20 Prozent<br />
Marktanteil. Auch für ausländische Hersteller<br />
wie Toyota oder Ford stellt Huf die<br />
Schlüssel her.<br />
Das Unternehmen tastet sich langsam<br />
an die Digitalisierung heran: Die Gesamtproduktion<br />
von 56 Millionen Schlüsseln im<br />
Jahr verteilt sich derzeit zu jeweils der Hälfte<br />
auf mechanische und elektronische, die<br />
dann auch Zusatzinformationen speichern<br />
können. Dazu zählen zum Beispiel Fahrerprofile,<br />
mit denen sich die Höchstgeschwindigkeit<br />
regulieren lässt, damit etwa<br />
der Sohn mit Papas Auto nicht zu schnell<br />
über die Autobahn heizt. Oder eine zusätzliche<br />
Diebstahlsicherung, bei der erst über<br />
das Handy ein Code zum Entriegeln des<br />
Autos eingegeben werden muss.<br />
Gerade bei teuren Autos sei der Schlüssel<br />
mit dem Markenzeichen aber auch ein<br />
Prestigeträger, sagt Geschäftsführer Hülsbeck.<br />
„Deshalb erwarte ich nicht, dass er<br />
komplett wegfällt.“ Auch aus Sicherheitsgründen<br />
stellt Huf weiterhin mechanische<br />
Schlüssel her: Denn wenn die Batterie des<br />
Autos leer ist oder die Elektronik versagt,<br />
ließe sich der Wagen sonst nicht öffnen.<br />
Doch auf den ewigen Fortbestand der<br />
Schlüssel allein will Hülsbeck sich nicht<br />
»<br />
ILLUSTRATION: THOMAS FUCHS<br />
74 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Spezial | Mittelstand<br />
Durch die Digitalisierung werden<br />
Hersteller zu App-Entwicklern<br />
»<br />
verlassen. Das Unternehmen mit einem<br />
Umsatz von mehr als 1,1 Milliarden Euro<br />
und weltweit 6800 Mitarbeitern expandiert<br />
auch in neue Bereiche wie sogenannte<br />
Telematikboxen, von denen 2013 bereits<br />
etwa 4000 ausgeliefert wurden. Sie ermöglichen<br />
über ein GPS-Modul die weltweite<br />
Ortung des Fahrzeugs. Vor allem bei teuren<br />
Karossen soll diese Technik den Diebstahlschutz<br />
verbessern.<br />
E-POST STATT FRANKIERMASCHINE<br />
Die meisten Deutschen haben die Lust am<br />
Briefeschreiben schon lange verloren.<br />
Doch in Unternehmen spielt der Geschäftsbrief<br />
noch eine große Rolle – und<br />
damit auch die Maschinen von Francotyp-<br />
Postalia. Das Unternehmen aus dem brandenburgischen<br />
Birkenwerder stellt Frankiermaschinen<br />
her, mit denen Anwaltskanzleien<br />
und Arztpraxen ihre Rechnungen<br />
und Dokumente schnell beschriften<br />
und frankieren können. Mit knapp 170 Millionen<br />
Euro Jahresumsatz ist Francotyp-<br />
Postalia der drittgrößte Hersteller weltweit.<br />
Etwa zehn Prozent Marktanteile hat das<br />
Unternehmen erobert.<br />
Während Instant-Messenger-Dienste<br />
wie WhatsApp, SMS und E-Mails den Brief<br />
in der privaten Kommunikation verdrängt<br />
haben, warten Standards für die Geschäftskorrespondenz<br />
wie De-Mail oder E-Postbrief<br />
noch auf den Durchbruch.<br />
Trotz dieser Gnadenfrist weiß Francotyp-<br />
Postalia-Vorstand Thomas Grethe, dass die<br />
Bedeutung seines Kernprodukts weiter abnehmen<br />
wird: „Geschäftsbriefe wird es<br />
auch noch in zehn Jahren geben“, sagt er.<br />
„Doch der Briefmarkt in Deutschland ist in<br />
den vergangenen sechs Jahren im Schnitt<br />
um 1,2 Prozent jährlich geschrumpft, da<br />
immer mehr Post elektronisch verschickt<br />
wird und mittelfristig weniger Frankiermaschinen<br />
gebraucht werden.“<br />
Das Unternehmen stellt sein Geschäft<br />
deshalb völlig um. Bereits 2011 beteiligte<br />
sich Francotyp-Postalia an Mentana<br />
Claimsoft aus dem brandenburgischen<br />
Fürstenwalde. Der De-Mail-Provider bietet<br />
eine Möglichkeit für einen rechtssicheren<br />
und geschützten E-Mail-Verkehr auch mit<br />
Behörden. Grethe: „Mittelfristig wollen wir<br />
15 bis 20 Millionen Euro Umsatz mit De-<br />
Mail erzielen.“<br />
Das zweite Standbein ist die Dokumentenverwaltung.<br />
Für Krankenhäuser, kleinere<br />
Unternehmen oder Behörden digitalisiert<br />
und archiviert Francotyp-Postalia deren<br />
Kunden- und Geschäftsunterlagen.<br />
APP STATT KUNDENKARTE<br />
Mit neuen Geschäftsmodellen experimentiert<br />
auch Robert Wolny, Vorstand des Kartenherstellers<br />
Exceet Card Group aus Paderborn.<br />
In Deutschland werden pro Jahr<br />
mehrere Hundert Millionen der Plastikkärtchen<br />
hergestellt, mit denen Unternehmen<br />
Daten über das Kaufverhalten ihrer<br />
Kunden sammeln, allein rund 350 Millionen<br />
von Exceet. Rund 46 Millionen Euro<br />
Umsatz erzielte der Anbieter im vergangenen<br />
Jahr in diesem Segment. Das ist fast ein<br />
Viertel des gesamten Umsatzes des Unternehmens,<br />
das auch Bankkarten oder Nahverkehrsausweise<br />
herstellt.<br />
Doch die klassische Kundenkarte ist ein<br />
Auslaufmodell. Schuld daran sind Gründer<br />
wie David Handlos und seine Kollegen mit<br />
ihrem Ludwigshafener Start-up Stocard:<br />
Das bündelt mehr als 300 Anbieter von<br />
Kundenkarten, darunter Ikea Family und<br />
Payback, und speichert sie in einer kostenlosen<br />
App. Der Kunde kann im App-Menü<br />
seine Kundenkarte auswählen und den<br />
Barcode der Karte einscannen oder manuell<br />
über das Tastenfeld eintippen.<br />
2,5 Millionen Kunden in zehn Ländern<br />
haben bereits über 15 Millionen der kleinen<br />
Plastikkärtchen eingescannt und digitalisiert.<br />
Die Vorteile: Im Portemonnaie ist<br />
mehr Platz, die Karten können nicht mehr<br />
vergessen werden. Für die Unternehmen<br />
bieten sich ebenfalls neue Möglichkeiten:<br />
Sie können SMS mit Werbung und Sonderangeboten<br />
oder Coupons und sogar den<br />
neuen Ikea-Katalog verschicken.<br />
Kundenkartenhersteller Exceet versucht<br />
sich an derselben Idee: Gemeinsam mit<br />
Bluesource aus Österreich hat Exceet die<br />
App Mobile-Pocket entwickelt, ein Konkurrenzmodell<br />
zu Stocard. Auch Mobile-<br />
Pocket speichert alle Kundenkarten, zum<br />
Punktesammeln muss beim Einkaufen nur<br />
das Smartphone vorgezeigt werden.<br />
Die Kooperation ist für Exceet eine Versicherung<br />
für den Fortbestand im Digitalzeitalter<br />
– und die Chance zum Ausbau des<br />
Geschäftsmodells: „Für uns erweitert sich<br />
das Geschäft durch Marketingmaßnahmen<br />
rund um die App“, sagt Exceet-Chef<br />
ILLUSTRATION: THOMAS FUCHS<br />
76 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Wolny. Zudem hätten die Karten auch einen<br />
Imagefaktor: „Der Bedarf an Kundenkarten<br />
wird zwar auf Dauer zurückgehen.<br />
Aber es werden sich immer noch Menschen<br />
finden, die bestimmte hochwertige<br />
Karten als Statussymbol bei sich tragen<br />
wollen.“ Plötzlich aussterben, hofft Wolny,<br />
wird die Plastikkarte deshalb nicht.<br />
Mittelstand hat Aufholbedarf<br />
Umfrage: Welche Rolle spielen digitale<br />
Technologien in Ihrem Unternehmen?<br />
Eine sehr<br />
wichtige Rolle 22% 35%<br />
Eine wichtige Rolle<br />
29%<br />
14%<br />
Quelle: GfK und DZ Bank, Befragung von 1000<br />
mittelständischen Unternehmen, 2014<br />
Keine Rolle<br />
Eine geringe Rolle<br />
WHITEBOARD STATT TAFEL<br />
Das Nürnberger Unternehmen Degen ist<br />
ein Saurier – eigentlich längst zum Aussterben<br />
verurteilt. Degen produziert seit 1999<br />
klassische schwarze oder dunkelgrüne<br />
Kreidetafeln. Aber wer braucht die noch,<br />
wenn immer mehr Schulen und Universitäten<br />
ihre Vorlesungen ins Internet stellen,<br />
Sprachkurse und Weiterbildungen in virtuellen<br />
Online-Klassen angeboten werden?<br />
Grundschüler lernen auf den Kreidetafeln<br />
zwar noch Schreiben. Aber wer braucht die<br />
grünen Tafeln noch in den weiterführenden<br />
Schulen, wo heute schon ganze Klassen<br />
mit iPads und Computern ausgerüstet<br />
werden?<br />
Die Degens haben ihr Geschäft deshalb<br />
längst umgestellt, erzählt Andreas Degen,<br />
in dem Familienunternehmen als Geschäftsführer<br />
für den Bereich Marketing<br />
zuständig. Sein wichtigstes Produkt sind<br />
heute digitale Tafeln – überdimensionale<br />
Touchpads oder sogenannte Whiteboards<br />
– Leinwände, bei denen der Beamer die<br />
Bewegungen des Vortragenden liest. Über<br />
diese Tafeln können Videos, Grafiken,<br />
oder Computerprogramme wie Excel aufgerufen<br />
und leere Felder mit einem speziellen<br />
Stift ausgefüllt werden.<br />
„Hersteller, die nicht auf den Zug mit den<br />
interaktiven Tafeln aufgesprungen sind,<br />
existieren heute nicht mehr“, sagt Degen.<br />
Die klassischen Kreidetafeln machen weniger<br />
als die Hälfte des Umsatzes im oberen<br />
einstelligen Millionenbereich aus. Degen<br />
wächst vor allem durch den Verkauf interaktiver<br />
Tafeln und Whiteboards.<br />
Während die Whiteboards aus den eigenen<br />
Werkshallen stammen, fehlt den<br />
Nürnbergern für die nächste technische<br />
Stufe – Tafeln mit Touch-Oberfläche – das<br />
Know-how. Auf dem Markt dominieren<br />
ausländische Anbieter wie die britische<br />
Promethean. Auch große TV-Hersteller aus<br />
Asien wie Samsung oder Sharp versuchen<br />
sich an den High-Tech-Tafeln.<br />
Ein Mittelständler wie Degen hat es da<br />
schwerer: „Kleine Unternehmen haben<br />
nicht immer die Kapazitäten, um der Veränderung<br />
im Markt zu begegnen“, sagt<br />
Bain-Berater Sinn, „aber die digitale Welt<br />
ist auch eine Welt, in der man sich Partner<br />
sucht.“ Das hat Degen getan: Die Nürnberger<br />
vertreiben nun die Touch-Tafeln von<br />
Promethean und verdienen hauptsächlich<br />
an der Montage.<br />
n<br />
jacqueline.goebel@wiwo.de, nele hansen<br />
Lesen Sie weiter auf Seite 78 »<br />
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Spezial | Mittelstand<br />
Besser als sein Ruf<br />
FACTORING | Der Verkauf von Forderungen war lange verpönt,<br />
doch aktuell meldet die Branche hohe Zuwachsraten. Wie<br />
Unternehmen durch den Verkauf ihrer Forderungen ihre Liquidität<br />
verbessern können und für wen Factoring geeignet ist.<br />
Als Norbert Steinhauer, Leiter der<br />
Buchhaltung bei der Kaufmann Spedition<br />
in Wunstorf bei Hannover, vor<br />
vier Jahren das erste Mal <strong>vom</strong> Factoring<br />
hörte, war er begeistert. Bis dahin dienten<br />
die offenen Forderungen des Mittelständlers<br />
schlicht als Sicherheit für den Kontokorrentkredit<br />
bei der Hausbank. Doch<br />
Steinhauer stellte schnell fest, dass Factoring<br />
besser für die Bedürfnisse des Unternehmens<br />
geeignet war:„Wir mussten nicht<br />
nur weniger Zinsen bezahlen, sondern waren<br />
zum Großteil vor Forderungsausfällen<br />
geschützt.“<br />
Beim Factoring verkaufen Unternehmen<br />
offene Rechnungen an einen Finanzdienstleister<br />
und bekommen sofort einen<br />
Teil des Rechnungsbetrages ausgezahlt.<br />
Der Finanzdienstleister, Factor genannt –<br />
häufig ein Tochterunternehmen einer<br />
Bank –, kümmert sich dann oft auch noch<br />
darum, die Forderungen einzutreiben.<br />
„Als wir vor vier Jahren angefangen haben,<br />
hatte Factoring aber noch einen<br />
schlechten Ruf“, erinnert sich Steinhauer.<br />
Wer Rechnungen abtrat, so das Vorurteil,<br />
müsse doch Zahlungsschwierigkeiten haben.<br />
Der 1928 in vierter Generation geführte<br />
Familienbetrieb – Umsatz: rund sieben<br />
Millionen Euro, 70 Mitarbeiter – entschied<br />
sich dennoch für den Forderungsverkauf.<br />
Damit konnte sich die Spedition schneller<br />
als geplant neue, umweltfreundlichere<br />
Lkws zulegen.<br />
RABATT VOM LIEFERANTEN<br />
Der sofortige Liquiditätsschub ist einer der<br />
Vorteile des Factoring. Unternehmen müssen<br />
nicht mehrere Wochen lang warten, bis<br />
ihre Kunden bezahlen, sondern sie haben<br />
einen Großteil des Geldes sofort auf dem<br />
Konto. Damit können sie dann investieren<br />
oder ihrerseits die eigenen Lieferanten<br />
schneller bezahlen – dafür gewähren die<br />
schließlich oft einen Nachlass. Unternehmen,<br />
die Factoring nutzen, verbessern indirekt<br />
auch ihre Bilanz. Wenn sie Schulden<br />
begleichen und so ihre Eigenkapitalquote<br />
steigern, erhalten sie ein günstigeres Kreditrating.<br />
Das schätzen immer mehr Unternehmen:<br />
2013 haben die deutschen Factoring-<br />
Umsätze im Vergleich zum Vorjahr um<br />
neun Prozent zugelegt. Knapp 18 000 Unternehmen<br />
haben, so die Statistik des<br />
Deutschen Factoring-Verbandes, Forderungen<br />
im Rekordwert von mehr als 171<br />
Milliarden Euro abgetreten (siehe Grafik<br />
Seite 80). Am häufigsten nutzen Händler<br />
den Forderungsverkauf. Auch metall-<br />
»<br />
ILLUSTRATION: THOMAS FUCHS<br />
78 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Spezial | Mittelstand<br />
Knapp 18 000 deutsche Unternehmen<br />
haben 2013 Forderungen verkauft<br />
»<br />
verarbeitende Betriebe, Maschinenund<br />
Fahrzeugbauer sowie Nahrungsmittelhersteller<br />
greifen laut Branchenverband<br />
gerne auf das Factoring zurück.<br />
Factoring eignet sich vor allem für Unternehmen,<br />
die viele relativ niedrige Forderungen<br />
an einen möglichst gleich bleibenden<br />
Kundenkreis haben. „Für den Factor<br />
ist dann das Risiko geringer“, sagt Thomas<br />
Farrant, Leiter der Forderungsfinanzierung<br />
bei HSBC Trinkaus & Burkhardt in Düsseldorf.<br />
Bei der Factoring-Gesellschaft der<br />
deutschen Tochter der britischen Großbank<br />
darf kein Kunde eines Factoring-<br />
Gläubigers diesem mehr als 40 Prozent der<br />
angekauften Forderungen schuldig sein –<br />
sonst wäre der Schaden zu groß, sollte der<br />
sogenannte Debitor die Rechnungen nicht<br />
bezahlen.<br />
Voraussetzung fürs Factoring ist immer,<br />
dass der Factoring-Kunde die Leistung bereits<br />
komplett erbracht hat – und dass der<br />
Abnehmer keine Gegenforderungen hat.<br />
Dann bekommt der Factoring-Kunde, Kreditor<br />
genannt, einen Teil der Rechnungssumme<br />
sofort ausgezahlt. „Der Factor behält<br />
in der Regel noch einen Puffer ein für<br />
eventuelle Reklamationen oder Abzüge“, erläutert<br />
Farrant. Bei HSBC sind das üblicherweise<br />
zehn Prozent der Rechnungssumme.<br />
Das heißt, der Factoring-Kunde erhält in<br />
der Regel bis zu 90 Prozent sofort und den<br />
Rest, sobald der Debitor bezahlt hat.<br />
Aber nicht zum Nulltarif: Die Factoring-<br />
Gesellschaften berechnen üblicherweise<br />
Zinsen und Gebühren. Die durchschnittlichen<br />
Kosten liegen nach Branchenschätzungen<br />
aktuell zwischen 0,5 Prozent und<br />
3,5 Prozent der verkauften Forderungssummen.<br />
Bei 50000 Euro kassiert der<br />
Factor also zwischen 250 und 1750 Euro.<br />
Rund zwei Drittel der Gesamtkosten<br />
entfallen auf den Zinsaufwand. Die Factoring-Gesellschaft<br />
lässt es sich bezahlen,<br />
Boomendes Factoring<br />
Abgetretene Forderungen deutscher<br />
Unternehmen (in Milliarden Euro)<br />
Quelle: Deutscher Factoring-Verband<br />
180<br />
150<br />
120<br />
30<br />
2004 2006 2008 2010 2012 13<br />
90<br />
60<br />
dass sie ihrem Kunden sofort Liquidität bereitstellt,<br />
obwohl sie die Forderung erst in<br />
einigen Tagen oder Wochen eintreiben<br />
kann. Zusätzlich wird eine nach dem Umsatz<br />
berechnete Servicegebühr für die<br />
Übernahme der Forderung und des Ausfallrisikos<br />
fällig.<br />
Die tatsächlichen Factoring-Kosten hängen<br />
stark <strong>vom</strong> konkreten Einzelfall ab – etwa<br />
von der Höhe des Ausfallrisikos und des<br />
Zeitraums, den sich der Kunde vorfinanzieren<br />
lässt. Zudem gilt: „Je kleiner die verkaufte<br />
Forderung, desto teurer wird tendenziell<br />
das Factoring“, erläutert Alexander<br />
Moseschus, Sprecher des Deutschen<br />
Factoring-Verbandes.<br />
Speditionsmanager Steinhauer zahlt mit<br />
insgesamt rund vier Prozent etwas mehr<br />
als der durchschnittliche Factoring-Kunde,<br />
dennoch geht für ihn die Rechnung auf:<br />
„Factoring ist eine günstige Form der Liquiditätsbeschaffung.<br />
Der Kontokorrentkredit<br />
ist teurer.“<br />
Die Spedition Kaufmann verkauft inzwischen<br />
60 bis 70 Prozent ihrer Forderungen<br />
weiter, mit Zahlungszielen zwischen 45 und<br />
60 Tagen. 85 Prozent des Rechnungsbetrages<br />
bekommt Kaufmann sofort ausgezahlt.<br />
Bisher nutzen vor allem größere Unternehmen<br />
Factoring: 60 Prozent der Factoring-Kunden<br />
erwirtschaften einen Jahresumsatz<br />
von mehr als zehn Millionen Euro,<br />
hat eine Studie der Universität Köln ergeben.<br />
Dabei eignet sich das Verfahren auch<br />
für kleinere Mittelständler.<br />
ERST ANRUFEN, DANN MAHNEN<br />
Letztlich ist Factoring eine Art Kredit, weil<br />
der Factor die offenen Rechnungen vorfinanziert.<br />
Die einzige Sicherheit für den<br />
Dienstleister sind die Rechnungen selbst.<br />
Jede Forderung, die platzt oder sich nur mit<br />
viel Mühe eintreiben lässt, ist ein Risiko. Also<br />
prüfen Factoring-Gesellschaften die Bonitäten<br />
von Kreditor und Debitor und berechnen<br />
individuelle Zinsen, die Kreditoren<br />
für den Zeitraum zahlen müssen, bis<br />
der Debitor das Geld überwiesen hat.<br />
Hat der Factoring-Kunde eine Forderungsausfallversicherung,<br />
wird es billiger.<br />
Soll der Factor zusätzlich noch die Rechnungen<br />
verbuchen und eintreiben, wird es<br />
teurer. Zahlt ein Debitor nicht, wirft der<br />
Factor seine professionelle Mahnabteilung<br />
an. In der Regel verschickt sie automatisch<br />
nach der verstrichenen Frist Mahnungen.<br />
Kommt auch nach dem dritten Nachfassen<br />
kein Geld, wird der säumige Zahler verklagt.<br />
Die Regeln sind allerdings mitunter individuell<br />
verhandelbar. Factoring-Kunden<br />
ILLUSTRATION: THOMAS FUCHS<br />
80 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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können mit ihrem Dienstleister auch absprechen,<br />
wie schnell gemahnt und geklagt<br />
werden soll. Das kann entscheidend sein,<br />
wenn das Verhältnis mit dem Kunden<br />
nicht leiden soll. Spediteur Steinhauer etwa<br />
hat mit seinem Factor vereinbart, dass<br />
dieser zuerst anruft, bevor er eine Mahnung<br />
verschickt. „Wir kennen die meisten<br />
Kunden schon sehr lange“, sagt Steinhauer,<br />
„deshalb wollen wir uns erst einmal erkundigen,<br />
was da los ist.“<br />
Die guten Erfahrungen mit dem Factoring<br />
machte die Spedition allerdings erst<br />
im zweiten Anlauf. Der erste Dienstleister<br />
war nicht so kooperativ wie erhofft. Steinhauer<br />
fühlte sich hintergangen: „Es kamen<br />
immer wieder neue Gebühren dazu, und<br />
die Kommunikation war schlecht“, erinnert<br />
er sich.<br />
Mit der neuen Gesellschaft ist er aber<br />
sehr zufrieden. Immerhin konnte er 2013<br />
von seinem 40 Lkws großen Fuhrpark 20<br />
schneller durch neue, umweltverträglichere<br />
Lkws ersetzen, als dies ohne den Forderungsverkauf<br />
möglich gewesen wäre.<br />
lina liu | unternehmen@wiwo.de, thomas glöckner<br />
Lesen Sie weiter auf Seite 82 »<br />
FACTORING-ARTEN<br />
Für jeden etwas<br />
Die gängigsten Varianten des Forderungsverkaufs<br />
und für welche Unternehmen<br />
sie sich eignen.<br />
1.<br />
Full-Service-/Standard-Factoring<br />
Der Factor kauft die Rechnungen,<br />
zahlt sofort einen Teil der Summe und<br />
übernimmt das Risiko, dass die Forderung<br />
nicht bezahlt wird. Er treibt die Forderungen<br />
ein – und mahnt bei überfälligen<br />
Rechnungen. Dieses Verfahren nutzen<br />
eher kleinere Unternehmen.<br />
2.<br />
Inhouse-Factoring<br />
Die Factoring-Kunden schreiben<br />
ihre Mahnungen selbst. Dies eignet sich<br />
besonders für Unternehmen, die bereits<br />
ein professionelles Mahnwesen haben.<br />
3.<br />
Fälligkeits-Factoring<br />
Dieses Verfahren entspricht dem<br />
Standard-Factoring, aber das Unterneh-<br />
men bekommt den Rechnungsbetrag<br />
nicht sofort ausgezahlt, sondern erst zu<br />
einem vereinbarten Termin – unabhängig<br />
davon, wann der Schuldner zahlt.<br />
4.<br />
Export-/Import-Factoring<br />
Nehmen deutsche Unternehmen<br />
als Exporteure Factoring in Anspruch,<br />
handelt es sich um Export-Factoring. Wollen<br />
ausländische Unternehmen für Importgeschäfte<br />
Factoring mit einem deutschen<br />
Factor betreiben, wird das<br />
Import-Factoring genannt.<br />
5.<br />
Stilles/Offenes Factoring<br />
Beim stillen Verfahren wissen die<br />
Debitoren nicht, dass ihre Rechnungen<br />
weiterverkauft werden. Beim offenen<br />
Factoring wissen die Abnehmer Bescheid<br />
und bezahlen direkt beim Factor.<br />
6.<br />
Echtes/Unechtes Factoring:<br />
Beim echten Factoring übernimmt<br />
der Factor das Ausfallrisiko, beim unechten<br />
nicht. In Deutschland gibt es fast ausschließlich<br />
das echte Verfahren.<br />
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Spezial | Mittelstand<br />
Aus eigener Kraft<br />
WEITERBILDUNG | Mittelständische Unternehmen setzen im Werben<br />
um Fachkräfte zunehmend auf Fortbildung – auch mit Wissen aus<br />
den eigenen Reihen.<br />
Bald beginnt sie wieder, die Nacht der<br />
Spinnerei. Beim „Hackathon“ sitzen<br />
die Softwareentwickler der Nürnberger<br />
Conplement AG bis zum Morgengrauen<br />
an ihren Laptops.Jeder bastelt an einem Projekt,<br />
das er spannend findet, das aber noch<br />
keinen direkten Nutzen für das Unternehmen<br />
hat. Nach der „durchhackten“ Nacht<br />
präsentieren sie ihre Ergebnisse – die sich<br />
vielleicht irgendwann für das Unternehmen<br />
auszahlen. Udo Wiegärtner ist als Ressource<br />
Manager für die Entwicklung und Weiterbildung<br />
der rund 60 Mitarbeiter zuständig.<br />
„Wir haben als Beratungshaus kein Produkt<br />
im eigentlichen Sinn“, erklärt er, „unser Produktistvielmehr<br />
dasWissen, daswirim Kopf<br />
und manchmal im Bauch haben.“<br />
Aus diesem Grund hat der Softwareentwickler,<br />
der im vergangenen Jahr 6,3 Millionen<br />
Euro umsetzte, ein Bündel an eher<br />
ungewöhnlichen Weiterbildungsformaten<br />
geschnürt. Beim „World Café“ bekritzeln<br />
die Mitarbeiter Papiertischdecken mit ihren<br />
Ideen. Im „Conplement Lab“ bewerben<br />
sich Teams auf Stundenkontingente, um<br />
sich etwa mit neuen Technologien vertraut<br />
zu machen.<br />
„So können wir Umsetzungskompetenz<br />
in Themen aufbauen, in denen es noch gar<br />
keine realen Projekte gibt“, preist Wiegärtner<br />
die Herangehensweise. Im Idealfall kämen<br />
die Anregungen für neue Fortbildungsthemen<br />
und -formate aus der Belegschaft:<br />
„Wir als Betrieb können nur den<br />
Rahmen dafür schaffen, dass die Leute<br />
Lust haben, sich zu engagieren.“<br />
Trockene Vorträge in düsteren Seminarräumen<br />
mit schlechtem Automatenkaffee:<br />
Die Zeiten standardmäßig verordneter<br />
Fortbildungen haben die meisten mittelständischen<br />
Betriebe hinter sich gelassen.<br />
In vielen Betrieben wächst dagegen die Bereitschaft,<br />
mehr in die Weiterbildung zu investieren<br />
– immer öfter mit Kompetenz aus<br />
den eigenen Reihen.<br />
Als Gründe für das steigende Interesse<br />
an Fortbildung nennen Personalverantwortliche<br />
in einer TNS-Infratest-Studie die<br />
Entwicklung von Fachkräften aus dem eigenen<br />
Haus, erhöhte Motivation und Wertschätzung<br />
der Mitarbeiter sowie den Aufbau<br />
von Wissen und Know-how.<br />
KLARE MARSCHROUTE<br />
Aber nur wenn die Fortbildungen 100-prozentig<br />
passen, entfalten Investitionen in<br />
die Mitarbeiter ihre volle Wirkung. Dabei<br />
gibt es im Mittelstand Nachholbedarf: „Oft<br />
ist die Weiterbildung nicht strukturiert“, bemängelt<br />
Walter Niemeier, Leiter des Instituts<br />
für wissenschaftliche Weiterbildung<br />
an der Fachhochschule des Mittelstands in<br />
Bielefeld. „Die Ziele aller Seminare müssen<br />
von der Unternehmensstrategie abgeleitet<br />
werden, sonst laufen die Mitarbeiter in die<br />
falsche Richtung.“<br />
Wie wichtig eine klare Marschroute ist,<br />
hat auch der Leuchtenhersteller Trilux festgestellt.<br />
Im Wandel hin zu modernen LED-<br />
Leuchten steht das Unternehmen mit zuletzt<br />
513 Millionen Euro Umsatz unter hohem<br />
technologischem Druck. Daher<br />
»<br />
ILLUSTRATION: THOMAS FUCHS<br />
82 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Spezial | Mittelstand<br />
»Wir müssen uns viel weniger Wissen<br />
von außen holen als früher«<br />
»<br />
sucht es nach Wegen, seine weltweit<br />
5000 Mitarbeiter dabei besser mitzunehmen.<br />
2011 vereinbarte der Betrieb am<br />
Hauptsitz im nordrhein-westfälischen<br />
Arnsberg drei Stunden unbezahlte Mehrarbeit<br />
mehr pro Woche, dafür investierte die<br />
Geschäftsführung große Teile der so erzielten<br />
Einsparungen in Fortbildungen. Für jeden<br />
Mitarbeiter waren ab da zwei Bildungstage<br />
an der neu gegründeten Trilux-<br />
Akademie pro Jahr bis einschließlich 2013<br />
Udo Wiegärtner, Ressource Manager Conplement AG<br />
Pflicht. Geschäftsführer Johannes Huxol<br />
war wichtig, „dass das Bewusstsein für den<br />
Wandel in allen Bereichen ankommt“. Führungskräfte<br />
und Mitarbeiter besprechen<br />
heute gemeinsam, wo sinnvoller Nachholbedarf<br />
besteht. Am Anfang war das Angebot<br />
sehr breit und umfasste etwa auch Seminare<br />
zur Kundenzufriedenheit für Reinigungskräfte.<br />
Mittlerweile ist das Fortbildungsprogramm<br />
freiwillig und stärker auf<br />
den Technologiewandel fokussiert. Geschäftsführer<br />
Huxol denkt aber noch weiter:<br />
„Gerade auch vor der Perspektive des<br />
demografischen Wandels müssen wir unsere<br />
Mitarbeiter weiterentwickeln.“<br />
Dieses Bewusstsein nimmt im Mittelstand<br />
zu. Sebastian Gradinger, Geschäftsführer<br />
der Wöhrl Akademie im mittelfränkischen<br />
Reichenschwand, beobachtet, dass<br />
Familienunternehmen oft deutlich mehr in<br />
ihre Mitarbeiter investieren, „weil sie an<br />
einer nachhaltigen Personalentwicklung<br />
interessiert sind“. Der Nürnberger Textilhändler<br />
Wöhrl, der nach der Übernahme<br />
von SinnLeffers mit über 4000 Mitarbeitern<br />
mehr als 600 Millionen Euro umsetzt, unterhält<br />
seit mehr als 25 Jahren die hauseigene<br />
Fortbildungsstätte.<br />
Wöhrl bezeichnet die Akademie, die in<br />
einem Schloss bei Nürnberg residiert, als<br />
„Lerninsel“ für die Beschäftigten. Dabei<br />
lässt Gradinger, sooft es geht, eigene Mitarbeiter<br />
als Dozenten auftreten. Albrecht<br />
Kresse, der als Trainer arbeitet und für sein<br />
Berliner Unternehmen Edutrainment den<br />
Deutschen Weiterbildungspreis erhalten<br />
hat, hält das für eine gute Idee: „Sie haben<br />
bei den Kollegen eine hohe Reputation,<br />
weil sie wissen, wie das Tagesgeschäft<br />
funktioniert. Sie wissen, was die Kollegen<br />
brauchen, um erfolgreich zu sein.“<br />
Diese Erfahrung hat auch Conplement-<br />
Manager Wiegärtner gemacht: „Wir müssen<br />
uns viel weniger Wissen von außen hereinholen,<br />
als wir das früher gemacht haben.“<br />
Bei den Nürnbergern gibt es immer<br />
mal wieder Vorträge von Mitarbeitern über<br />
ihre jeweiligen Methoden oder Produkte.<br />
Nicht nur die Zuhörer profitieren, bemerkt<br />
ILLUSTRATION: THOMAS FUCHS<br />
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Wiegärtner. „Mancher Kollege wächst vor<br />
Stolz um drei Zentimeter, wenn er sieht,<br />
dass sein Wissen das Team weiterbringt.“<br />
So können auch Unternehmen mit kleinem<br />
Budget effektive Weiterbildungen anbieten.<br />
„Je kleiner das Unternehmen, desto<br />
weniger institutionalisiert ist die Personalentwicklung“,<br />
sagt Berater Kresse. In einigen<br />
Regionen haben Handwerks- oder<br />
Handelskammern gemeinsame Weiterbildungsinstitute<br />
geschaffen, wo Betriebe<br />
Kosten und Erfahrungen teilen können.<br />
LUST AUFS LERNEN<br />
Unabhängig von der Größe haben viele Betriebe<br />
gelernt: Die Fortbildungen müssen<br />
sich schnell und flexibel an mögliche Änderungen<br />
anpassen. Bei Liebherr – die<br />
schwäbische Unternehmensgruppe setzt<br />
unter anderem mit Kränen, Baumaschinen<br />
und Kühlschränken etwa 8,9 Milliarden<br />
Euro um – organisiert jede Gesellschaft die<br />
Weiterbildung nach dem eigenen Bedarf.<br />
Am Unternehmenssitz in Ehingen gibt es<br />
seit acht Jahren ein zentrales Schulungszentrum<br />
für die 3100 Mitarbeiter<br />
Das Team mit 23 Mitarbeitern unter Leitung<br />
von Sascha Brenner tauscht sich eng<br />
mit der Geschäftsführung aus, kann daher<br />
schnell reagieren. So kam 2013 ein neues<br />
Abstützsystem für Mobilkräne gut am Markt<br />
an. Das zog eine Kette an Weiterbildungsmaßnahmen<br />
nach sich: Einer der Trainer<br />
aus Brenners Team machte sich mit dem<br />
System vertraut, probierte es selbst aus, recherchierte<br />
in allen wichtigen Dokumenten<br />
– und bereitete dann Schulungsunterlagen<br />
für Mitarbeiter in der Produktion, im Vertrieb<br />
und im Service auf. „Das ging einmal<br />
komplett rum im Betrieb“, erzählt Brenner.<br />
In den vergangenen Jahren wuchs die<br />
Teilnehmerzahl jedes Jahr um sieben bis<br />
acht Prozent – 2013 zählte Brenner 8700<br />
Teilnehmer in 500 Schulungen zu 170 verschiedenen<br />
Themen.<br />
Das Schulungszentrum ist den ganzen<br />
Tag über gut gebucht: Frühmorgens und<br />
am späten Nachmittag finden Kurse statt,<br />
bei denen auch Kollegen aus Asien oder<br />
den USA via Internet zuschauen und mitmachen<br />
können. Und an manchen Abenden<br />
wird aus dem Schulungszentrum eine<br />
betriebsinterne Volkshochschule: Liebherr-Fremdsprachenkorrespondentinnen<br />
laden ihre Kollegen zum Sprachenlernen<br />
ein, ambitionierte Hobbyfotografen geben<br />
Kurse in Digitalfotografie. Brenner sieht<br />
das mit Freude: „Es herrscht eine große Bereitschaft,<br />
sein Wissen weiterzugeben.“ n<br />
manuel heckel | unternehmen@wiwo.de<br />
WirtschaftsWoche <strong>10.11.2014</strong> Nr. 46 85<br />
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Weltweit gefragt<br />
Die Ausrüstung des<br />
Burj Khalifa in Dubai<br />
kommt von Dorma<br />
Vom Ja-Wort zur Nagelprobe<br />
Wie Mittelständler Probleme bei der Integration übernommener Unternehmen vermeiden, schildert<br />
der fünfte Teil der Serie in Kooperation mit der Unternehmensberatung Deloitte.<br />
Bei Dorma gibt es fünf- bis sechsmal im Jahr<br />
eine Neue: So häufig stemmt das Familienunternehmen<br />
mit 7000 Mitarbeitern aus dem<br />
nordrhein-westfälischen Ennepetal Firmenzukäufe.<br />
Die Fensterbeschläge, Glastüren und Einbruchssicherungen<br />
von Dorma sind weltweit gefragt: Die Technik<br />
steckt im 163 Stockwerke hohen Burj Khalifa in Dubai,<br />
im Berliner Hauptbahnhof und in der Dresdner Frauenkirche.<br />
Das Management weiß aus Erfahrung, dass<br />
Übernahmen so ähnlich sind wie Hochzeiten: Die<br />
Phase der Bewährung beginnt erst nach dem Ja-Wort.<br />
Waren die Verhandlungen der Antrag und die Vertragsunterschrift<br />
der Gang zum Standesamt, dann ist<br />
die Integration das Ringen um das Funktionieren der<br />
jungen Beziehung. Wer Fehler macht, wird enttäuscht.<br />
Und das passiert häufig: Mehr als 60 Prozent aller<br />
Integrationen – so eine Studie der Universität Münster<br />
und der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Deloitte<br />
– erfüllen nicht die in sie gesetzten Erwartungen. „Die<br />
Integrationsphase ist mitentscheidend für den Erfolg<br />
einer Übernahme“, sagt Jörg Niemeyer, Partner im<br />
Corporate-Finance-Bereich bei Deloitte. Wenn Mittelständler<br />
auf Brautschau gehen, ist die Gefahr des<br />
Scheiterns besonders groß. Konzerne können die<br />
misslungene Integration eines Übernahmekandidaten<br />
notfalls verschmerzen, weil sie größere Rücklagen<br />
haben. „Mittelständische Unternehmen müssen da-<br />
SERIE<br />
Mittelstand<br />
Fit for Future<br />
Fusionen & Übernahmen<br />
Der richtige Partner (I)<br />
Finanzinvestoren (II)<br />
Finanzierung (III)<br />
Osteuropa/Asien IV)<br />
Integration (V)<br />
Quo vadis M&A? (VI)<br />
Interview (VII)<br />
rauf achten, dass ihnen die Übernahme nicht entgleitet“,<br />
warnt Andreas Kuckertz, Professor für Betriebswirtschaftslehre<br />
an der Universität Hohenheim, „die<br />
Integration muss gelingen.“ Nur wer vor der Unterschrift<br />
die richtigen Fragen stellt, kann nachher ohne<br />
Krisen zusammenwachsen.<br />
Bei Dorma ist die zentrale Frage bei der Prüfung<br />
eines neuen Übernahmekandidaten darum immer<br />
die gleiche: Passen wir wirklich zusammen? Kommen<br />
bei der Analyse Zweifel auf, etwa weil die Vertriebswege<br />
zu verschieden sind, wird der Kandidat von der<br />
Einkaufsliste gestrichen. „Sonst müssten wir das zugekaufte<br />
Unternehmen ja komplett umstricken“, sagt<br />
Achim Rademächer, der bei Dorma – Jahresumsatz<br />
zuletzt 1,03 Milliarden Euro – den Bereich Merger &<br />
Acquisition (M&A) leitet. Je mehr Restrukturierungen<br />
notwendig sind, desto größer die Gefahr, dass das gekaufte<br />
Unternehmen an Effizienz und Wert einbüßt.<br />
Potenzielle Synergien werden dazu gegen mögliche<br />
Dyssynergien aufgerechnet: Müssen wir neues<br />
Personal einstellen? Könnten wir wichtige Kunden<br />
verlieren? Welche Investitionen erfordert der Zukauf?<br />
Geht dieser Vergleich positiv aus, erarbeitet Rademächer<br />
mit den Fachleuten exakte Zielvorgaben, etwa,<br />
welche Umsatzsteigerungen erreicht werden sollen:<br />
„Wer pauschal sagt, fünf Prozent mehr Umsatz<br />
gehen immer, kann eine böse Überraschung erleben.“<br />
FOTOS: PICTURE-ALLIANCE/DPA, PR<br />
86 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Mit Unterstützung von Deloitte*<br />
Damit die Integration funktioniert, muss das eigentliche<br />
Übernahmeziel klar formuliert sein: Soll ein<br />
Konkurrent <strong>vom</strong> Markt gekauft werden? Soll das Produktportfolio<br />
wachsen? Geht es um die Erschließung<br />
neuer Märkte? Von diesen Zielen hängt zum Beispiel<br />
ab, wer im neu entstandenen Konglomerat die Hosen<br />
anhat. Ins zweite Glied zurückzutreten ist dabei nicht<br />
für jeden eine Option: „Manchmal müssen die alten<br />
Chefs gehen, um den Integrationsprozess nicht zu<br />
stören“, sagt ein erfahrener M&A-Spezialist.<br />
Häufig können die Chefs des Übernahmekandidaten<br />
aber auch gute Partner für die Integration sein –<br />
wie beim Softwareentwickler USU aus der Nähe von<br />
Stuttgart. Mit seinen 450 Mitarbeitern hat USU 2013<br />
rund 60 Millionen Euro umgesetzt. Dazu beigetragen<br />
hat das 2010 übernommene Aachener Unternehmen<br />
Aspera. Durch den Zukauf wollten die Schwaben ihre<br />
Position auf dem Softwarelizenzierungsmarkt stärken.<br />
„Aber“, so USU-Vorstandssprecher Bernhard<br />
Oberschmidt, „wir haben dann eingesehen, dass die<br />
das viel besser konnten als wir.“ Deshalb verpflichtete<br />
Oberschmidt die Aspera-Gründer vertraglich, für eine<br />
bestimmte Zeit im Unternehmen zu bleiben.<br />
Nicht nur der Umgang mit den alten Chefs ist entscheidend,<br />
fast noch wichtiger sind die sogenannten<br />
Kernmitarbeiter. Diese Angestellten sind letztlich entscheidend<br />
für den langfristigen Erfolg der Übernahme,<br />
auch weil sie eine Vorbildfunktion haben. „Mit einem<br />
höheren Gehalt allein lassen sich diese Angestellten<br />
meist nicht binden“, warnt Experte Kuckertz,<br />
„Geld kann eine intrinsische Motivation zerstören.“<br />
Sinnvoller sei es, diese Gruppe in das Projektteam<br />
einzubinden, das nach dem Zusammenschluss die<br />
eigentliche Kleinarbeit der Integration erledigt: Sie<br />
verzahnt etwa die IT-Systeme oder passt die Buchhaltungen<br />
an. Der TÜV Rheinland in Köln hat etwa gute<br />
Erfahrungen damit gemacht, jede Position im Team<br />
mit einem alten und einem neuen Mitarbeiter zu besetzen.<br />
„Damit wollen wir zeigen: Ihr gehört jetzt zu<br />
uns, wir brauchen euch, um das hinzukriegen“, sagt<br />
Marco Pietrek, Leiter M&A und Strategie.<br />
Die Leiter solcher Teams auszusuchen ist eine besondere<br />
Herausforderung: „Die für die Integration<br />
zuständigen Projektleiter müssen Zugang zu den Entscheidern<br />
haben“, sagt Deloitte-Partner Niemeyer.<br />
„Und sie müssen die Mitarbeiter auf die Übernahme<br />
einschwören“, ergänzt TÜV-Manager Pietrek. Bei den<br />
Rheinländern, die pro Jahr rund 1,6 Milliarden Euro<br />
umsetzen, werden die Teamleiter für die Dauer der<br />
Integration komplett freigestellt.<br />
Auch wenn die Integration erfolgreich über die<br />
Bühne gegangen ist, sollten diese Mitarbeiter möglichst<br />
gehalten werden. Was nur selten gelingt: „Circa<br />
80 Prozent der Teamleiter verlassen ihre Arbeitgeber<br />
nach Beendigung des Projektes“, sagt Niemeyer. Mutmaßlicher<br />
Grund: Viele fühlen sich durch das anschließende<br />
Alltagsgeschäft unterfordert.<br />
Als Gegenmittel empfiehlt der Deloitte-Berater:<br />
„Sobald Unternehmen den Projektleiter bestimmt<br />
Mit mehr<br />
Geld allein<br />
lassen sich<br />
wichtige<br />
Angestellte<br />
meist nicht<br />
binden<br />
Integrationsexperte<br />
Deloitte-Partner<br />
Niemeyer<br />
Risikofaktor<br />
Beitrag der einzelnen<br />
Phasen für den Gesamterfolg<br />
einer Firmenübernahme<br />
(in Prozent)<br />
Vorbereitungsphase<br />
Bewertungsphase<br />
Verhandlungsphase<br />
Integrationsphase<br />
Quelle: Deloitte<br />
27<br />
22<br />
17<br />
34<br />
haben, sollten sie mit ihm darüber sprechen, wie sein<br />
Karrierepfad nach der Integration aussehen kann.“<br />
An der Basis herrscht nach der Vertragsunterzeichnung<br />
häufig große Verunsicherung. Um diese Phase<br />
abzukürzen, sollten schmerzhafte Einschnitte, etwa<br />
durch Kündigungen, nicht zu lange hinausgezögert<br />
werden. Doch es gibt auch andere Ängste: Wie sieht<br />
meine neue Aufgabe aus? Wer wird mein neuer Chef?<br />
Welche Aufstiegschancen habe ich?<br />
Um der Belegschaft eines Übernahmekandidaten<br />
möglichst schnell Orientierung zu geben, erarbeitet<br />
der TÜV Rheinland schon im Vorfeld einen Kommunikationsplan.<br />
Bereits am Tag nach der Übernahme<br />
stellen die Kölner ihr Unternehmen und die neuen<br />
Ziele vor, „um die Mitarbeiter vorzubereiten und so<br />
die Veränderungsbereitschaft zu nutzen, die anfangs<br />
oft am größten ist“, sagt Manager Pietrek.<br />
Zudem werden die Angestellten des zugekauften<br />
Unternehmens per Mail mit Informationen zur Übernahme<br />
versorgt. Bei kleineren Zukäufen lässt sich<br />
auch schon mal durch Aktionen wie ein gemeinsames<br />
Grillfest der notwendige Goodwill erzeugen.<br />
Wichtig ist es auch, früh auf die Sorgen der Kunden<br />
einzugehen: Bleiben Auswahl und Qualität der Produkte<br />
wie bisher? Ändern sich die Preise? Bleiben<br />
meine Ansprechpartner dieselben? USU-Chef Oberschmidt<br />
hat bei der Aspera-Übernahme persönliche<br />
Überzeugungsarbeit geleistet: „Wir erklären den<br />
Kunden die Vorteile, die sie durch die Übernahme haben.“<br />
Lassen sich die Unternehmen damit zu viel Zeit,<br />
riskieren sie, dass Kunden abspringen, was wiederum<br />
auch den Mitarbeitern Angst macht und so den Integrationsprozess<br />
bremst.<br />
Die sogenannte Post-Merger-Phase braucht aber<br />
nicht nur intensive Kommunikation nach innen und<br />
außen, sondern auch detaillierte Kontrolle. Bei Dorma<br />
etwa wird während der Integration ein gutes Dutzend<br />
Kennziffern beobachtet: Umsatz und Ertrag,<br />
Cash-Flow und die Höhe des Working Capital, also<br />
die Entwicklung des Netto-Umlaufvermögens. „Eine<br />
Integration kann durchaus ein bis eineinhalb Jahre<br />
dauern“, sagt Deloitte-Berater Niemeyer. „Aber bis<br />
zwei eigenständige Unternehmen kulturell zusammengewachsen<br />
sind, dauert es in der Regel länger.“<br />
Nicht alles muss unbedingt nach den Regeln des<br />
Käufers eingenordet werden: „Unterschiede in der<br />
Unternehmenskultur können belebend wirken“, sagt<br />
Niemeyer. Manchmal sind solche Unterschiede und<br />
das innovative Klima sogar der Grund, ein Unternehmen<br />
zu kaufen.<br />
Für die Führungsspitze wird die Integration so oder<br />
so zur Nagelprobe. Wissenschaftler Kuckertz: „Wenn<br />
ich meinen neuen Mitarbeitern eine tolerante und innovative<br />
Kultur versprochen habe, kann ich nicht<br />
beim ersten Problem draufhauen und abstrafen.“ n<br />
lukas zdrzalek | unternehmen@wiwo.de<br />
* Die Inhalte auf diesen Seiten wurden von der<br />
WirtschaftsWoche redaktionell unabhängig erstellt.<br />
WirtschaftsWoche <strong>10.11.2014</strong> Nr. 46 87<br />
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Technik&Wissen<br />
Der große Fluff<br />
RECYCLING | Verbrennen oder verwerten: Die Frage nach dem richtigen Umgang mit<br />
dem Abfall ist längst ein Dogmenstreit. Jetzt schaffen es innovative Unternehmen,<br />
beides intelligent zu verknüpfen. Sie verwandeln Müll in hochwertige neue Produkte –<br />
und wertvollen Brennstoff.<br />
Uwe Greye verbringt seine Tage<br />
allein mit Tausenden Tonnen<br />
Müll in einem Bunker. Der<br />
Kranführer der Müllverbrennungsanlage<br />
im Hamburger<br />
Stadtteil Stellingen ist um seinen Job nicht<br />
zu beneiden. Umgeben von Dunkelheit,<br />
hockt er in einer verglasten Kanzel 20 Meter<br />
über dem Grund. Zu seinen Füßen Berge<br />
von Hausmüll. Windeln, Staubsaugerbeutel,<br />
zusammengeknüllte Tüten und Folien,<br />
Teppichreste, kaputte Möbel, faules<br />
Obst und Gemüse – die Überbleibsel unserer<br />
Konsumgesellschaft.<br />
Greye durchwühlt mit dem Kran den<br />
Haufen und wuchtet ihn in einen Trichter.<br />
Von dort fällt der Abfall in einen 900 Grad<br />
heißen Ofen. 100 Tonnen Müll bewegt der<br />
Hamburger pro Schicht, so viel wie rund<br />
45 000 Haushalte am Tag produzieren.<br />
Eigentlich müssten Männer wie Greye<br />
um ihren Job bangen. Deutschland gilt<br />
schließlich als Paradies des Recyclings.<br />
Doch der 55-Jährige arbeitet in einer<br />
Boombranche. Denn immer mehr Abfall<br />
landet in der Verbrennung. Waren es 2004<br />
noch 28 Millionen Tonnen, sind es heute<br />
schon 45 Millionen Tonnen. Rund die Hälfte<br />
des deutschen Haus- und Gewerbemülls<br />
wird einfach verheizt.<br />
Den Politikern in Brüssel und Berlin<br />
passt das gar nicht. „Wir wollen aus Europa<br />
eine Gesellschaft ohne Abfall machen“,<br />
hatte noch im Juli der gerade abgelöste EU-<br />
Umweltkommissar, der Slowene Janez<br />
Potocnik, verkündet. Auch die Bundesregierung<br />
hegt ähnliche Ambitionen. Und<br />
die neue EU-Kommission arbeitet schon<br />
mit Hochdruck daran, die Abfallgesetze in<br />
Europa zu vereinheitlichen.<br />
Das Ziel: Kein Müll soll unsortiert bleiben,<br />
nichts direkt auf Deponien landen, die<br />
Recyclingquoten sollen steigen. Statt Rohstoffe<br />
der Erde abzuringen, sollen wir Abfälle,<br />
so die Idee, in neue Produkte verwandeln<br />
und so die Umwelt schonen. Kreislaufwirtschaft<br />
nennen Fachleute das.<br />
Bei Papier und Glas klappt das bereits<br />
heute. Sie werden zu nahezu 100 Prozent<br />
recycelt (siehe Grafik Seite 90). Doch unsere<br />
Kunststoffabfälle aus dem gelben Sack<br />
landen überwiegend in einem der Öfen der<br />
mehr als 100 großen deutschen Verbrennungsanlagen.<br />
Die Frage ist:Ist die sogenannte „thermische<br />
Verwertung“ wirklich so schlimm? Ist<br />
es immer besser, Abfall in neue Produkte<br />
zu verwandeln, statt ihn zu verbrennen?<br />
Wer in diesen Tagen der Spur des Abfalls<br />
folgt, erlebt es immer wieder – das Entweder-oder<br />
funktioniert nicht mehr. Die<br />
Müllmänner der Zukunft holen aus Reststoffen,<br />
was sich effizient wiederverwerten<br />
lässt. Aus dem Rest machen sie wertvollen<br />
Brennstoff. „Recycling und energetische<br />
Verwertung sind keine Gegensätze, beide<br />
Zurück auf Los Recyceltes Plastik<br />
(vorn) wird wieder zu Stiften (hinten)<br />
Verfahren ergänzen sich“, sagt etwa der<br />
Berliner Müllexperte Karl Thomé-<br />
Kozmiensky, emeritierter Professor für<br />
Abfallwirtschaft an der Technischen Universität<br />
Berlin.<br />
Selbst die Forscher des Freiburger Öko-<br />
Instituts räumen ein: „Auch bei noch so<br />
viel Recycling bleiben Abfälle, die auf andere<br />
Art genutzt werden müssen“, schreiben<br />
die Wissenschaftler Anfang dieses Jahres<br />
in einer Studie. Sie empfehlen, Müll in<br />
Industrieprozessen und leistungsstarken<br />
Kraftwerken zu verbrennen.<br />
Gemessen an den erbitterten Diskussionen<br />
der Vergangenheit, ist das fast ein<br />
Tabubruch.<br />
MÜLL ZUM TANKEN<br />
Es geht dabei nicht nur um einen Glaubensstreit<br />
zwischen Ökos und Verbrennern,<br />
sondern um ein Milliardengeschäft.<br />
Die Entsorgungs- und Recyclingbranche in<br />
Deutschland setzt im Jahr etwa 50 Milliarden<br />
Euro um und beschäftigt 500 000 Menschen.<br />
Rund 330 Millionen Tonnen Müll<br />
fallen jährlich hierzulande an. Das meiste<br />
ist Bauschutt, knapp ein Drittel ist Müll aus<br />
Privathaushalten und von Unternehmen.<br />
Wie die Grenzen zwischen Recycling<br />
und Verbrennung verschwimmen, zeigt<br />
sich derzeit wohl nirgendwo so gut, wie<br />
im Städtchen Ennigerloh in Westfalen.<br />
Dort will der Ingenieur Jürn Düsterloh,<br />
Technischer Leiter des Start-ups Dieselwest,<br />
aus Abfall Benzin herstellen. In einem<br />
kleinen Reaktor wird Kunststoffabfall<br />
bei 360 Grad Hitze wieder eine Art Erdöl,<br />
aus dem anschließend eine Raffinerie<br />
Treibstoff destilliert. Insgesamt acht Millionen<br />
Euro haben ein Privatinvestor, der<br />
FOTOS: MTM/BENEDIKT FRINGS-NEß, MICHAEL BILLIG<br />
88 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Frisch geschnetzelt Aufbereitung von<br />
Kunststoffabfall bei MTM in Thüringen<br />
Remscheider Anlagenbauer Recenso, das<br />
Land Nordrhein-Westfalen und die EU für<br />
die Entwicklung Dieselwest zur Verfügung<br />
gestellt. Im Sommer 2015 soll die Pilotanlage<br />
ihre erste Testphase beenden. Schon<br />
jetzt rufen bei Dieselwest Bürger an und<br />
fragen, wo sie das „neue Benzin“ denn tanken<br />
können.<br />
Die Pilotanlage von Dieselwest befindet<br />
sich auf dem Gelände der kommunalen<br />
Abfallwirtschaftsgesellschaft des Kreises<br />
Warendorf (AWG). Hier arbeiten bei Ecowest,<br />
einer AWG-Tochter, die wahrscheinlich<br />
fortschrittlichsten Müllmänner der Republik.<br />
In einer orangenen Warnweste<br />
führt Chefingenieur Thomas Kohlhaas<br />
über das 37-Hektar-Gelände und zeigt, wie<br />
moderne Abfallwirtschaft funktioniert.<br />
Herzstück ist die Sortieranlage. Der<br />
Riese aus Hunderten Meter Förderband,<br />
das in mattem Schwarz seine Bahnen<br />
zieht, verwandelt Abfall in ein wattegleiches<br />
Gemisch aus winzigen Kunststoffschnipseln,<br />
das Kohlhaas Fluff nennt. Ein<br />
Teil davon geht zu den Kraftstoff-Forschern<br />
von Dieselwest. Alles andere vermarktet<br />
Ecowest als Ersatzbrennstoff, kurz<br />
EBS. Der enthält pro Tonne so viel Energie<br />
wie Braunkohle.<br />
Aber nicht alles, was der Müllfresser<br />
schluckt, wird zu Fluff. Die Suche nach<br />
dem edelsten Abfall beginnt wie in einer<br />
Goldmine. Schredder zermalmen das<br />
Material, eine wilde Mischung aus Gewerbe-<br />
und Hausabfall, wie Erz im Bergwerk.<br />
Magnetbänder fischen Metalle für den<br />
»<br />
WirtschaftsWoche <strong>10.11.2014</strong> Nr. 46 89<br />
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Technik&Wissen<br />
»<br />
Schrotthandel heraus. Siebe fangen<br />
feuchten Biomüll ab, der auf die Deponie<br />
kommt. Teerpappen, Holzteile und Hartplastik<br />
wie Zahnbürsten landen mit den<br />
anderen Resten in der klassischen Müllverbrennung.<br />
Ecowest war eines der ersten deutschen<br />
Unternehmen, das den hochwertigen Fluff<br />
herstellte. Mittlerweile gibt es bundesweit<br />
mehr als 40 ähnliche kommunale und private<br />
Anlagen. Sie verkaufen den aufgepäppelten<br />
Müll vor allem an Zementfabriken.<br />
Bis zu 20 Euro bringt das pro Tonne, sagen<br />
Branchenkenner. Am Ende spart das den<br />
Bürgern in Ennigerloh Geld, weil ihre Gemeinde<br />
weniger Abfall in klassische Verbrennungsanlagen<br />
schicken muss. Dort<br />
kostet die Entsorgung von unbehandeltem<br />
Hausmüll bis zu 200 Euro pro Tonne.<br />
MÜLL DER EXTRAKLASSE<br />
Neben der Kostenersparnis winkt auch ein<br />
Gewinn für die Umwelt. Weil die Abnehmer<br />
des Fluffs, die deutschen Zementhersteller,<br />
heute so viel Müll verfeuern wie nie<br />
zuvor, decken sie nur noch ein Drittel ihres<br />
Energiebedarfs mit Kohle, Öl und Gas.<br />
Der Abfallforscher Matthias Franke <strong>vom</strong><br />
Fraunhofer-Institut für Umwelt-, Sicherheits-<br />
und Energietechnik im oberpfälzischen<br />
Sulzbach-Rosenberg hat kürzlich eine<br />
genaue Ökobilanz der EBS-Verbrennung<br />
in Zementwerken erstellt. Das Ergebnis:<br />
„Die Verbrennung ist teilweise sinnvoller<br />
als das Recycling“, sagt Franke. Bei einigen<br />
Kunststoffabfällen aus dem gelben<br />
Sack ist der Energieaufwand zu hoch, um<br />
die Stoffe fürs Recycling zu trennen. Außerdem<br />
produziert die Verbrennung von Fluff<br />
Buntes Vielerlei Zementwerke lieben<br />
aufbereiteten Fluff<br />
Gepresstes <strong>vom</strong> Plastik Die Pellets<br />
brennen wie Braunkohle<br />
im Zementwerk weniger klimaschädliches<br />
Kohlendioxid als Kohle.<br />
Die Aussicht auf einen kostengünstigen<br />
und umweltfreundlichen Brennstoff hat<br />
mit den EBS-Kraftwerken inzwischen sogar<br />
eine neue Generation von Verbrennern<br />
hervorgebracht, die einzig auf Müll der Extraklasse<br />
eingestellt sind. Sie arbeiten effizienter<br />
als die meisten herkömmlichen<br />
Müllverbrennungsanlagen und produzieren<br />
Strom und Wärme für Papierfabriken,<br />
die Chemie- und die Stahlindustrie.<br />
Das neueste und größte EBS-Kraftwerk<br />
soll kommendes Jahr im Industriepark<br />
Höchst in Frankfurt am Main starten. Die<br />
rund 350 Millionen Euro teure Anlage wird<br />
die mehr als 90 dort angesiedelten Unternehmen<br />
mit Elektrizität und Dampf für ihre<br />
Produktion versorgen. Dafür verfeuert<br />
sie jährlich einen Abfallberg, wie er in<br />
Hamburg anfällt.<br />
ZWEITES LEBEN FÜRS BOBBY CAR<br />
Aber ob Zementfabriken oder EBS-<br />
Kraftwerke: Nicht mit jeder Sorte Müll<br />
werden die Anlagen zu Umweltschützern.<br />
Bestimmte Kunststoffabfälle sind besser<br />
im Recycling aufgehoben. Ausgediente<br />
Gartenstühle etwa und löchrige Gießkannen<br />
aus Plastik, das kaputt gespielte<br />
Bobby Car, Folien, die Spargelfelder bedeckten<br />
oder Strohballen umhüllten, oder<br />
die Gehäuse von Elektrogeräten. „Wichtig<br />
fürs Recycling ist, dass die Abfälle sauber<br />
und sortenrein sortiert werden“, sagt<br />
Recyclingexperte Thomas Probst <strong>vom</strong><br />
Bundesverband Sekundärrohstoffe und<br />
Entsorgung.<br />
Ist das der Fall, haben Unternehmer wie<br />
Michael Scriba leichtes Spiel. Der Geschäftsführer<br />
von MTM Plastics im thüringischen<br />
Niedergebra gehört zu den Pionieren<br />
bei der Verwertung von Polyolefinen.<br />
Aus diesen Kunststoffen bestehen Dosen,<br />
Tuben, Tüten, Folien, Becher und Flaschen<br />
– also vieles von dem, was sich im gelben<br />
Sack der Verbraucher findet.<br />
Früher ließ Scriba noch von Hand sortieren,<br />
erzählt er bei der Führung durch seinen<br />
Betrieb. Heute trennen Zentrifugen<br />
und andere Maschinen die Abfälle. Infrarotstrahlen<br />
schießen auf die Kunststoffe,<br />
anhand des reflektierten Lichts erkennen<br />
Scanner die begehrten Polyolefine. Sie<br />
wandern in einen Extruder, der die bunten<br />
Das Leben nach der Tonne<br />
Was mit den 44 Millionen Tonnen Abfall passiert, den deutsche Privatleute und Unternehmen<br />
jährlich in Mülltonnen und Sammelcontainer werfen<br />
2 392 000<br />
Tonnen<br />
Glas<br />
100 %<br />
recycelt<br />
5 462 000<br />
Tonnen<br />
80 %<br />
recycelt*<br />
20 %<br />
verbrannt<br />
8 098 000<br />
Tonnen<br />
99 %<br />
recycelt<br />
9 249 000<br />
Tonnen<br />
99 %<br />
recycelt<br />
13 989 000<br />
Tonnen<br />
16 %<br />
recycelt<br />
84 %<br />
verbrannt<br />
2 398 000<br />
Tonnen<br />
Verpackungen Papier Biomüll** Restmüll Spermüll<br />
* einschließlich der Reststoffe, die sich beim Recycling nicht nutzen lassen und dann ebenfalls verbrannt werden; ** Park- und Gartenabfälle sowie Abfall aus Biotonnen;<br />
Quelle: Statistisches Bundesamt, Stand 2012<br />
57 %<br />
recycelt<br />
43 %<br />
verbrannt<br />
FOTOS: PICTURE-ALLIANCE/DPA, MICHAEL BILLIG, PR, IMAGO (4)<br />
90 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Kunststoffteilchen auf bis zu 240 Grad erhitzt,<br />
bis sie zu einer Masse verschmelzen.<br />
Im weiteren Prozess wird sie entgast, gereinigt,<br />
mit Zusatzstoffen vermischt und<br />
schließlich durch ein Sieb gepresst. Kühlt<br />
die Masse ab, entsteht ein pfefferkorngroßes<br />
Granulat, das in Säcken an 60 Kunststoffverarbeiter<br />
in ganz Europa geht. Sie<br />
stellen daraus Mülltonnen, Kisten, Eimer<br />
sowie Bauteile für Autos oder Büromöbel<br />
her und auch neue Gartengeräte.<br />
Die Vielfalt an Produkten ist ein Fortschritt.<br />
Denn aus eingesammelten Kunststoffgemischen<br />
Lärmschutzwände und<br />
Parkbänke herzustellen, wie es vielfach<br />
noch geschieht, „macht ökologisch überhaupt<br />
keinen Sinn“, kritisiert Fraunhofer-<br />
Forscher Franke. Der Grund: Bei diesen<br />
Anwendungen verdrängt das Recyclingmaterial<br />
das viel klimafreundlichere Holz.<br />
Beim sortenreinen Recycling der Polyolefine<br />
aber kann sich die Umweltbilanz<br />
sehen lassen. Mit den 27 000 Tonnen Plastik,<br />
die Scriba im Jahr herstellt, vermeiden<br />
seine Kunden den Ausstoß von 59 000<br />
Tonnen Treibhausgas, wie Forscher der<br />
Hochschule Magdeburg-Stendal ausgerechnet<br />
haben. Das entspricht der Menge,<br />
die ein Mittelklassewagen ausstößt,<br />
wenn er die Erde 8000 Mal umkurvt. Zudem<br />
sparen Kunststoffverarbeiter, die statt<br />
Neuware die Granulate aus Thüringen einsetzen,<br />
pro Jahr insgesamt 32 000 Liter<br />
Erdöl ein.<br />
RAHMEN, GRANULAT, RAHMEN<br />
Am Ende kann aber selbst Kunststoffretter<br />
Scriba nicht alle Abfälle verwerten, die Laster<br />
täglich auf seinen Hof kippen. Ein Drittel,<br />
rund 20 000 Tonnen im Jahr, sortiert<br />
auch er aus und schickt sie Abfallbehandlungsanlagen<br />
wie Ecowest. Die sortieren<br />
den Müll ein weiteres Mal und verarbeiten<br />
ihn zu Fluff. So landen Zehntausende Tonnen<br />
Kunststoffabfälle in Deutschland doch<br />
noch über Umwege in der Verbrennung.<br />
Die Kombination aus beidem, aus sortenreinem<br />
Recycling und der Produktion<br />
hochwertiger Brennstoffe, sei letztlich das<br />
ideale Verwertungssystem, sagen die Forscher<br />
des Öko-Instituts.<br />
Das Problem aber ist: Noch immer gelangen<br />
– trotz aller deutschen Gelbmüll-<br />
Sortier-Freude – zu viele Kunststoffabfälle<br />
unsortiert in ineffiziente, klassische Verbrennungsanlagen.<br />
Sie decken ihren Bedarf<br />
außerdem mit Sperrmüll und Importen.<br />
Zu Niedrigpreisen schlucken sie auch<br />
unsortierte Firmenabfälle. Viel Plastik,<br />
aber auch Holz und Papier geht verloren.<br />
Es ist aufgeschichtet Für PVC-Fenster<br />
existiert ein Wertstoff-Kreislauf<br />
Damit Kunststoffe erst gar nicht in die<br />
Hände klassischer Verbrenner geraten,<br />
bauen Firmen wie Veka Umwelttechnik<br />
aus dem thüringischen Hörselberg-Hainich<br />
geschlossene Kreislaufsysteme für<br />
einzelne Produkte auf. Zum Beispiel für die<br />
PVC-Fenster des Mutterhauses, dem Fensterprofilhersteller<br />
Veka. Das Ziel von Geschäftsführer<br />
Norbert Bruns: alle Profile,<br />
die Veka verkauft, am Ende wieder einzusammeln.<br />
Dafür arbeitet er mit Fensterbauern<br />
und Containerdiensten zusammen<br />
und bezahlt sie für Altfenster. Bruns verarbeitet<br />
die Rahmen zu Granulat, das zu neuen<br />
Fensterrahmen wird. Das ist umweltschonender<br />
und billiger als –Neuware.<br />
Auch für PET-Flaschen gibt es ein solches<br />
geschlossenes System. Die Firma Petcycle,<br />
mit Sitz im rheinland-pfälzischen<br />
Bad Neuenahr-Ahrweiler und getragen<br />
von mehr als 100 Unternehmen aus der<br />
Getränke- und Recyclingindustrie, hat<br />
Journalisten-Stipendium<br />
Nachhaltige Wirtschaft<br />
Der Text entstand im Rahmen des<br />
Recherchestipendiums, das die WirtschaftsWoche<br />
Green Economy 2014<br />
erstmals an sechs Journalistinnen,<br />
Journalisten und Rechercheteams vergeben<br />
hat. Alle Informationen zum Stipendium<br />
und die aktuellen Texte finden<br />
Sie unter green.wiwo.de/journalistenstipendium-nachhaltige-wirtschaft/<br />
mittlerweile 40 Millionen Kästen mit Mineralwasser<br />
und Limonaden im Umlauf. Die<br />
Kunden bringen sie in die Supermärkte zurück,<br />
die sie dann an die Petcycle-Mitglieder<br />
schicken, die aus den gebrauchten Flaschen<br />
neue machen.<br />
Und auch die Verbrenner selbst haben<br />
Recyclingpotenzial. Müllverbrennungsanlagen<br />
gewinnen heute schon Metalle aus<br />
ihrer Asche. 2012 waren es in Deutschland<br />
mehr als 300 000 Tonnen Eisen, Aluminium<br />
und Kupfer. Selbst der mit Schwermetallen<br />
belastete Staub aus der Abgasreinigung,<br />
der bislang als Sondermüll unter Tage<br />
deponiert wird, birgt große Schätze.<br />
„Die Metallkonzentration im Filterstaub ist<br />
höher als in den meisten natürlichen Lagerstätten“,<br />
sagt der Berliner Experte Thomé-Kozmiensky.<br />
Vor zwei Jahren errichtete<br />
das Schweizer Unternehmen BSH Umweltservice<br />
in Zuchwil nördlich von Bern<br />
für rund neun Millionen Euro die weltweit<br />
erste Anlage, die täglich fast eine Tonne reines<br />
Zink aus Giftmüll herausholt.<br />
Am Ende der Tour zu Recyclinghöfen,<br />
Wertstoffsammlern und Müllverbrennern<br />
steht damit die Erkenntnis, dass die Präferenz<br />
fürs Recycling zwar im Grundsatz<br />
richtig ist – aber eben kein Dogma. Was zu<br />
aufwendig zu trennen und zu säubern ist,<br />
sollte zu Brennstoff oder Sprit werden, um<br />
Kohle oder Öl zu ersetzen. Aus Kunststoffen,<br />
die in Bechern, Bobby Cars und Elektrogeräten<br />
stecken, sollten Recycler neues<br />
Plastik herstellen, für das Erdöl im Boden<br />
bleibt. Und was sich gar nicht verwerten<br />
lässt, kann in Verbrennungsanlagen wandern.<br />
Müllwerker wie Uwe Greye in Hamburg<br />
haben also auch künftig zu tun. n<br />
michael billig | technik@wiwo.de<br />
WirtschaftsWoche <strong>10.11.2014</strong> Nr. 46 91<br />
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Technik&Wissen<br />
Per Anhalter durch die Galaxis<br />
RAUMFAHRT | Es ist eine Premiere: Die Sonde Philae reist ab Mittwoch<br />
Huckepack auf dem Kometen 67P/Churyumov-Gerasimenko. Mit der<br />
riskanten Rosetta-Mission wollen Forscher der Europäischen Raumfahrtagentur<br />
herausfinden, wie das Sonnensystem entstanden ist. Und sie ist<br />
auch ein Testlauf für kommerzielle Projekte: Raumschiffe sollen metallhaltige<br />
Asteroiden ansteuern – und wertvolle Rohstoffe zur Erde bringen.<br />
Staubsensor<br />
Registriert Aufprall von<br />
Staub- und Eisteilchen<br />
Die Landung<br />
Für die 22,5 Kilometer bis zur<br />
Kometenoberfläche braucht<br />
Philae sieben Stunden.<br />
Philae<br />
Magnetometer<br />
Misst das Magnetfeld<br />
von 67P<br />
Elektroden, Mikrofon<br />
Ermitteln unter anderem<br />
den Wassergehalt der<br />
oberen Bodenschicht<br />
Bohrer<br />
Nimmt Bodenproben<br />
für chemische Analyse<br />
Spektrometer<br />
Untersucht mit einem Lichtsensor<br />
die chemische Zusammensetzung<br />
der Kometenoberfläche<br />
Thermometer<br />
Misst die Temperatur<br />
in oberen Bodenschichten<br />
Quelle: www.esa.int; Planetary Resources; eigene Recherche<br />
92 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Bahn des Kometen 67P/<br />
Churyumov-Gerasimenko<br />
Flugbahn von Rosetta<br />
5<br />
Mutterschiff Rosetta<br />
Seine Solarsegel<br />
haben eine Spannweite<br />
von 32 Metern<br />
Asteroidengürtel<br />
1<br />
Erde<br />
Rosettas Reise<br />
Seit seinem Start im März 2004 (1) hat das<br />
Raumschiff Rosetta 6,5 Milliarden Kilometer<br />
zurückgelegt. Es flog dreimal an der Erde und<br />
einmal am Mars vorbei (2), um Schwung für<br />
den Weg bis zur Umlaufbahn des Planeten<br />
Jupiter zu nehmen. Im Mai schwenkte<br />
Rosetta in die Umlaufbahn um den Kometen<br />
67P ein (3). Am 12. November löst sich das<br />
Landegerät Philae <strong>vom</strong> Mutterschiff und<br />
landet auf dem Kometen (4). Die Forscher auf<br />
der Erde können nicht eingreifen, denn<br />
Signale von der Erde zur Sonde brauchen 28<br />
Minuten. Sobald Philae den Kometen berührt,<br />
rammt sie Harpunen in den eisigen Boden von<br />
67P. Bis spätestens Ende 2015 (5) wird der<br />
Roboter den Kometen untersuchen.<br />
Jupiter<br />
67P<br />
4100 m<br />
2500 m<br />
Matterhorn<br />
4478 m<br />
Landezone Agilkia<br />
Bietet viel Sonne für<br />
Philaes Solarzellen<br />
Distanz zur Erde:<br />
502 Mio. Kilometer<br />
3<br />
2025<br />
4<br />
Mars<br />
2<br />
Komet 67P<br />
Kometen sind so alt wie<br />
das Sonnensystem. Sie<br />
bestehen aus Eis, Staub<br />
und lockerem Gestein.<br />
67P kreist binnen<br />
sechseinhalb Jahren<br />
einmal um die Sonne.<br />
2023<br />
2020<br />
2019<br />
Deep Space Industries<br />
Bereits in acht Jahren will<br />
das Start-up aus den<br />
USA Metalle und Wasser aus<br />
Asteroiden gewinnen.<br />
Asteroid Redirect Mission<br />
Die Nasa will einen sieben Meter großen<br />
Himmelsbrocken mit einem Raumtransporter<br />
abschleppen und in eine Mondumlaufbahn bugsieren.<br />
Nächstes Ziel: Asteroiden<br />
Sie enthalten Schätze aus Gold, Platin oder<br />
Wasser – Asteroiden sind das nächste Ziel der<br />
Raumfahrt. Diese Missionen planen Weltraumagenturen<br />
und private Raumfahrtfirmen:<br />
Hayabusa 2<br />
Die staatliche japanische Sonde landet<br />
auf dem Asteroiden 1999 JU3<br />
und bringt Gestein zur Erde zurück.<br />
New Horizons<br />
Die Sonde der US-Weltraumbehörde Nasa<br />
fliegt hinaus zum Zwergplaneten Pluto<br />
und soll dort Asteroiden fotografieren.<br />
Planetary Resources<br />
Das Start-up aus den USA will Rohstoffe im<br />
All schürfen – und könnte schon 2020 eine erste<br />
Sonde zu einem Asteroiden schicken.<br />
OSIRIS-REx<br />
Der Nasa-Roboter soll 2016 starten und sieben Jahre<br />
später Gesteinsproben <strong>vom</strong> 500 Meter großen Asteroiden<br />
Bennu zur Erde bringen.<br />
Ein 500 Meter großer Asteroid enthält...<br />
*<br />
...Platin im Wert von 2,9 Billionen<br />
Dollar – 174-mal so viel, wie pro Jahr<br />
auf der Erde geschürft wird.<br />
...Wasser im Wert von 5 Billionen<br />
Dollar. Derzeit kostet es 20000<br />
Dollar, einen Liter Wasser von der<br />
Erde in den Weltraum zu bringen.<br />
ILLUSTRATION: CYPRIAN LOTHRINGER<br />
WirtschaftsWoche <strong>10.11.2014</strong> Nr. 46 Redaktion: Andreas Menn<br />
93<br />
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Technik&Wissen<br />
Trabbi wiederbelebt<br />
AUTO | Das US-Unternehmen Local Motors will mit Wunschvehikeln<br />
aus dem 3-D-Drucker die Pkw-Produktion revolutionieren.<br />
die Karosse fertig war. Grund für diese<br />
drastisch beschleunigte Produktion ist der<br />
enorme Leistungssprung der 3-D-Drucker.<br />
Auch wenn der Strati an eine Kreuzung<br />
aus Strandbuggy, VW Käfer und Smart<br />
Roadster erinnert und Kritiker die teils<br />
noch welligen Oberflächen bespötteln –<br />
der Wagen fährt. Der US-Journalist Lance<br />
Ulanoff lenkte ihn durch New York und befand,<br />
„das Plastik-Chassis fühlt sich extrem<br />
stabil an“. Gründer Rogers strotzt denn<br />
auch vor Zuversicht: „Tesla hat den Elektroantrieb<br />
weltberühmt gemacht – wir werden<br />
das ganze Auto verändern.“<br />
Was John Jay Rogers plant, klingt<br />
in der von Großkonzernen dominierten<br />
Autowelt wie ein Totalschaden<br />
mit Ansage. Der 40-jährige Finanzanalyst<br />
mit dem markanten Kinn<br />
und dem militärisch kurzen Haarschnitt<br />
will das Geschäftsmodell der Branche mit<br />
seinem Start-up Local Motors kurzerhand<br />
auf den Kopf stellen. Statt der üblichen<br />
Großserien von Zigtausenden Fahrzeugen<br />
will der vor Selbstbewusstsein strotzende<br />
Harvard-Absolvent individuelle<br />
Autos exakt nach Kundenwunsch in Rekordzeit<br />
produzieren. Ganz gleich, wie<br />
klein der Kundenkreis ist.<br />
Ein erster spektakulärer Schritt ist dem<br />
Mann, den US-Medien bereits als Henry<br />
Ford des 21. Jahrhunderts feiern, gerade<br />
geglückt. Der Strati, ein fahrfähiges E-Mobil<br />
entstand in nur fünf Tagen – auf einem<br />
3-D-Drucker. Während Monteure sonst<br />
Wagen aus rund 10 000 Einzelteilen zusammensetzen,<br />
besteht der Buggy-artige<br />
Renner, Ende September in Chicago vorgestellt,<br />
aus nur 50 Komponenten.<br />
In 44 Stunden schmolz ein 3-D-Drucker<br />
in der Größe eines Schiffscontainers 227<br />
Lagen des schlagfesten Kunststoffs Acrylnitril-Butadien-Styrol<br />
(ABS) übereinander.<br />
15 Stunden dauerte es dann, die Grate per<br />
CNC-Fräsen zu entfernen. Noch zwei Tage<br />
später – nach dem Einbau von Batterie,<br />
Schnell gemacht In 44 Stunden formt ein<br />
schiffscontainergroßer Drucker (oben) die<br />
Bauteile fürs Kunststoff-Auto Strati (unten)<br />
Elektronik und 45-Kilowatt-Elektromotor<br />
aus dem Renault Twizy – war der Wagen<br />
fertig.<br />
So flott ging das noch nie. Und zwar<br />
nicht nur verglichen mit dem traditionellem<br />
Autobau – bei dem zwischen den ersten<br />
Entwürfen und fertigen Fahrzeugen<br />
schon mal vier Jahre Entwicklung liegen.<br />
Selbst beim Urbee 2, einem der ersten mit<br />
3-D-Druckverfahren produzierten Pkw-<br />
Prototypen, brauchten die Maschinen vor<br />
zwei Jahren noch rund 2500 Stunden, bis<br />
In zehn Jahren<br />
sollen mehr als<br />
100 Minifabriken<br />
Autos produzieren<br />
EXPANSION NACH EUROPA<br />
Tatsächlich stecken in seinem Geschäftsmodell<br />
weitere Innovationen. Local Motors<br />
mit Sitz in Arizona und Massachusetts<br />
hat nur rund 100 Mitarbeiter, nutzt aber die<br />
Ideen einer Online-Community von mehr<br />
als 45 000 Entwicklern aus 130 Ländern.<br />
Darunter sind Ingenieure und Techniker<br />
ebenso wie Amateure, die auf alle Baupläne<br />
zugreifen und sie weiterentwickeln können.<br />
Schreibt ein Kunde auf der Plattform<br />
von Local Motors sein Wunschfahrzeug<br />
aus, werden sie aktiv: Wer liefert das beste<br />
virtuelle Concept Car? Für die überzeugendsten<br />
Lösungen gibt es jeweils ein paar<br />
Tausend Dollar aus dem Projektbudget.<br />
Die Fahrzeuge will Rogers nicht in großen<br />
Werken bauen wie etablierte Autohersteller,<br />
sondern in Kleinfabriken voller<br />
3-D-Drucker. Die ersten stehen in Phoenix<br />
und in Las Vegas. Weitere, auch in<br />
Deutschland, sollen folgen. „In zehn Jahren<br />
wollen wir mehr als 100 Standorte haben“,<br />
sagt Damien Declercq, der gerade in<br />
Berlin die Europa-Dependance von Local<br />
Motors aufbaut. Ob Pizzawagen, Strandbuggy<br />
oder Oldtimer wie der Trabi – alles<br />
ließe sich so schnell dezentral produzieren.<br />
Das US-Militär interessiert sich bereits<br />
für die schnelle Entwicklung von Sonderfahrzeugen,<br />
Autohersteller beäugen die<br />
Idee dagegen noch skeptisch. Allein BMW<br />
nutzte die Plattform von Local Motors vor<br />
zwei Jahren, um Ideen für künftige Fahrzeugmodelle<br />
zu sammeln. Mehr als 400 innovative<br />
Konzepte kamen so zusammen.<br />
Rogers dagegen will den Strati schon<br />
kommendes Jahr im Handel haben – zu<br />
Preisen von rund 18 000 Euro. Dafür allerdings<br />
braucht er nicht nur gefälligere Oberflächen.<br />
Viel wichtiger ist, dass die gedruckten<br />
Autos bei einem Unfall nicht wie<br />
Papier in sich zusammenfallen. Mit den<br />
Tests will Rogers jetzt beginnen.<br />
n<br />
juergen.rees@wiwo.de<br />
94 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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VALLEY TALK | Googles Kreative erfinden die<br />
Zukunft. Doch bei einem ganz gegenwärtigen<br />
Problem versagen sie. Von Matthias Hohensee<br />
Internet aus der Kaserne<br />
FOTOS: LOCAL MOTORS/NYKO DE PEYER (2), JEFFREY BRAVERMAN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
Im Januar 2002 hatte ich mein erstes<br />
Interview mit Eric Schmidt als neuem<br />
Google-Chef. Sechs Monate zuvor<br />
hatte er von Gründer Larry Page übernommen.<br />
Das Start-up zählte da 350 Köpfe,<br />
die in zweistöckigen Baracken in einem<br />
Industriepark in Mountain View arbeiteten.<br />
Seine Aufgabe, erzählte mir Schmidt,<br />
sei, die Leute „süchtig nach Google zu<br />
machen“. Das überraschte nicht.<br />
Wohl aber seine Reaktion auf die Frage,<br />
ob er seinen Leuten das Arbeiten von zu<br />
Hause aus gestatten werde? Immerhin setzten<br />
damals zum Beispiel der Computerhersteller<br />
Sun Microsystems und der Telekommunikationskonzern<br />
Cisco auf Heimarbeit,<br />
um die knappen Büroflächen im teuren<br />
Silicon Valley besser auszulasten.<br />
Schmidt hingegen hielt das für kontraproduktiv:<br />
„Die Leute müssen praktisch<br />
aufeinander sitzen, nur dann kommt die Arbeit<br />
wirklich voran.“ Er bot seinen Mitarbeitern<br />
damals schon Massagen am Arbeitsplatz<br />
an und beschäftigte einen eigenen<br />
Koch. Niemand sollte das Büro verlassen<br />
müssen. Eine Rundumversorgung, die<br />
Google später durch Friseur, Fitnessstudio,<br />
Kleiderreinigung und Buffets erweiterte.<br />
Das Diktat, dass möglichst viele Mitarbeiter<br />
beisammenhocken sollen, gilt bis heute.<br />
Nicht nur bei Google. Facebook konzentriert<br />
seine Mitarbeiter im Hauptquartier in<br />
Menlo Park und lässt gegenüber eine neue,<br />
von Frank Gehry entworfene Zentrale errichten.<br />
Apples neuer, von Sir Norman Forster<br />
gestalteter, Ufo-förmiger Konzernsitz<br />
soll 14 000 Mitarbeiter fassen.<br />
Es klingt widersinnig: Ausgerechnet die<br />
Unternehmen, die dank Internet die Kommunikation<br />
von überallher ermöglichen und<br />
propagieren, kasernieren ihre eigenen Mitarbeiter.<br />
Aber Google, Apple und Facebook<br />
sind erfolgreich. Cisco dagegen plagen<br />
Wachstumsschwierigkeiten. Sun<br />
Microsystems gibt es nicht einmal mehr.<br />
Doch das vermeintliche Erfolgsmodell<br />
hat Grenzen. Das zeigt sich in Mountain<br />
View, wo Google jeden Quadratmeter Gewerbefläche<br />
rund um sein aktuelles und<br />
künftiges Hauptquartier aufgekauft hat, um<br />
die Mitarbeiterzahl dort von 13 000 auf<br />
24 000 auszubauen. Etwa 600 Millionen<br />
Dollar hat Google in den vergangenen drei<br />
Jahren dafür ausgegeben. Doch die Infrastruktur<br />
der ehemaligen Kleinstadt hält mit<br />
der Google-Expansion nicht Schritt.<br />
TEURE FLUCHT VOR DEM CHAOS<br />
Auch das Herankarren der Mitarbeiter aus<br />
San Francisco mit den berühmt-berüchtigten<br />
Google-Bussen ist keine Lösung. Das<br />
tägliche Verkehrschaos auf der Hauptverkehrsader<br />
Highway 101 und rund um den<br />
Google-Campus ist für die Mitarbeiter ein<br />
Grund, dichter an oder gleich ganz nach<br />
Mountain View zu ziehen.<br />
Dadurch hat sich der durchschnittliche<br />
Hauspreis seit dem Zuzug Googles vor 13<br />
Jahren auf 1,1 Millionen Dollar verdoppelt.<br />
Die Durchschnittsmiete am Ort beträgt fast<br />
4000 Dollar pro Monat. Und wo die Personalabteilung<br />
von Google für Manager Wohnungen<br />
mietet und gleich noch die Renovierung<br />
organisiert, haben normale Mieter<br />
gleich gar keine Chance mehr. Für die klingt<br />
es wie Hohn, wenn der inzwischen an die<br />
Google-Spitze zurückgekehrte Gründer<br />
Larry Page in einem Interview befand, ein<br />
Haus im Silicon Valley solle nicht mehr<br />
als 50 000 Dollar kosten. Zwar ist im Süden<br />
der Region noch Platz. Doch schon jetzt<br />
ist das Trinkwasser viel zu knapp. Ganz zu<br />
schweigen von der Verkehrsdichte.<br />
Damit wird klar: Ausgerechnet Google,<br />
dessen Forscher sonst – sei es bei selbstfahrenden<br />
Autos oder digitaler Gesundheitsanalytik<br />
– weit in die Zukunft schauen,<br />
hat für sein drängendstes Problem derzeit<br />
keine Lösung. Vielleicht bekommt Telearbeit<br />
ja doch noch eine Chance, selbst wenn<br />
Larry Page bei dem Thema ganz auf der<br />
Linie seines Vorgängers Schmidt ist: weil er<br />
schlicht keine Alternative hat.<br />
Der Autor ist WirtschaftsWoche-Korrespondent<br />
im Silicon Valley und beobachtet<br />
von dort seit Jahren die Entwicklung der<br />
wichtigsten US-Technologieunternehmen.<br />
WirtschaftsWoche <strong>10.11.2014</strong> Nr. 46 95<br />
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Management&Erfolg<br />
In Zukunft CEO<br />
TOP-MANAGERINNEN | Sie sind jung, talentiert, zielstrebig: Während Politik, Verbände und<br />
Unternehmen in einer zunehmend ermüdenden Diskussion über Pro und Contra der<br />
Frauenquote feststecken, machen immer mehr qualifizierte Frauen unbeirrt Karriere.<br />
Auf welche Top-Managerinnen Sie achten sollten.<br />
Hände schütteln, die alten Geschäfte<br />
Revue passieren lassen,<br />
die künftige Beziehung<br />
zwischen Kunde und Lieferant<br />
diskutieren: Eigentlich<br />
wollte Theresa von Fugler ganz in Ruhe bei<br />
der Betreiberin des Kosmetikinstituts in der<br />
Nähe von Karlsruhe vorbeischauen. Eben<br />
so, wie sie es seit ihrem Start als Geschäftsleiterin<br />
für den Bereich professionelle<br />
Haut-, Nagel- und Körperpflege im<br />
Deutschland-Geschäft von L’Oréal Ende<br />
September regelmäßig tut. Von Fuglers Ziel:<br />
zusammen mit ihren Außendienstmitarbeitern<br />
ein besseres Gefühl bekommen für<br />
Kundenwünsche und Produktpalette. Vor<br />
allem die der Marken Decléor und Carita,<br />
die erst seit Mai zum Portfolio des französischen<br />
Kosmetikkonzerns gehören.<br />
Doch was als routinierter Antrittsbesuch<br />
geplant ist, wird schnell zum Krisengespräch:<br />
Für mehrere Hundert Euro hatte die<br />
Kosmetikerin Tagescremes von Decléor bestellt.<br />
Die Verpackungen der hochwertigen<br />
Produkte aber sind völlig eingedrückt. Von<br />
Fugler entschuldigt sich bei der Kundin und<br />
spricht offen über die Probleme, wenn Marken<br />
den Eigentümer wechseln. In diesem<br />
Fall im L’Oréal-Logistikzentrum in Karlsruhe,<br />
in dem bisher nur Haarpflege-, aber keine<br />
Kosmetikprodukte verpackt wurden.<br />
Von Fugler fotografiert die zerknautschte<br />
Schachtel, schickt das Foto an den verantwortlichen<br />
Manager und fragt direkt nach,<br />
wie die Ware künftig unbeschadet beim<br />
Kunden ankommen könne. 24 Stunden<br />
später haben die Logistiker eine Lösung:<br />
Ein zusätzlicher Karton im Karton verhindert<br />
nun, dass die Schachteln im Paket verrutschen<br />
und zerknautschen.<br />
„Gerade in einer solchen Übergangsphase<br />
kommen viele kleine Herausforderungen<br />
zusammen“, sagt von Fugler. „Da muss<br />
man rasch und kreativ reagieren.“<br />
Jung, talentiert, zielstrebig: Während Politik,<br />
Verbände und Unternehmen in einer zunehmend<br />
ermüdenden Diskussion über Pro<br />
und Contra der Frauenquote feststecken,<br />
machen immer mehr hoch qualifizierte<br />
Frauen unbeirrt Karriere. Übernehmen<br />
hochrangige Managementposten und Aufsichtsratssitze<br />
in global agierenden Unternehmen.<br />
Schaffen durch ihren Aufstieg Fakten,<br />
statt sich im Klein-Klein einer leidigen<br />
»Wir sind die<br />
erste Generation,<br />
die den Bann<br />
brechen kann«<br />
Theresa von Fugler<br />
Quotendiskussion aufzureiben. Vertrauen<br />
lieber ihrem Können statt darauf, dass ein<br />
Gesetz den Weg nach oben frei räumt.<br />
Frauen wie Theresa von Fugler, die die<br />
Frauenquote schlicht für „schwierig“ hält.<br />
„Wir sind die erste Generation, die die<br />
Chance hat, den Bann zu durchbrechen“,<br />
sagt sie. „Eine Generation, die wirklich erfolgreiche<br />
Frauen hervorbringt.“<br />
Frauen wie Monika Wiederhold, Managerin<br />
bei Lufthansa Cargo, die schon im<br />
Mathematikstudium oft allein unter Männern<br />
war und „die Quote nie für ein Thema<br />
hielt“ (siehe Seite 99).<br />
Oder Frauen wie Gloria Glang, beim US-<br />
Lackhersteller PPG Industries, einem global<br />
tätigen Konzern mit Milliardenumsatz,<br />
für Strategie und Zukäufe zuständig. „Dass<br />
Leistung ein wichtiges Kriterium ist, gefällt<br />
mir an unserer Unternehmenskultur gut“,<br />
sagt die 34-Jährige. „Geschlecht und Alter<br />
spielen kaum eine Rolle“ (siehe Seite 101).<br />
Zugegeben: Top-Managerinnen wie von<br />
Fugler, Wiederhold oder Glang sind in<br />
deutschen Unternehmen nach wie vor eher<br />
die Ausnahme als die Regel. Laut aktueller<br />
Erhebungen der Initiative für mehr Frauen<br />
in die Aufsichtsräte (Fidar) sind nur knapp<br />
6 Prozent der Vorstandsposten und 18 Prozent<br />
der 1669 Kontrollposten der in Dax,<br />
MDax, TecDax und SDax gelisteten Unternehmen<br />
mit Frauen besetzt. Noch.<br />
Denn geht es nach der Bundesregierung,<br />
wird sich das ab 2016 ändern: Im November<br />
soll sich das Kabinett mit dem Gesetzentwurf<br />
zur Frauenquote befassen, damit sie<br />
2015 in Kraft treten kann. Demnach sollen<br />
alle börsennotierten und voll mitbestimmungspflichtigen<br />
Unternehmen die Zahl<br />
ihrer weiblichen Aufsichtsräte auf 30 Prozent<br />
anheben. Das heißt: Alle frei werdenden<br />
Mandate müssen so lange an Frauen<br />
verteilt werden, bis die Zielmarke geknackt<br />
ist. Betroffen wären etwa 100 Unternehmen,<br />
davon 24 der 30 größten börsennotierten<br />
– allein diese müssten in den kommenden<br />
Jahren 38 Aufsichtsratsposten an<br />
Frauen vergeben –, also rund ein Drittel<br />
mehr als derzeit (siehe Seite 102).<br />
Zahlreiche Unternehmen stellen sich<br />
schon jetzt darauf ein: Adidas hat Henkel-<br />
Personalvorstand Kathrin Menges und<br />
Katja Kraus, Geschäftsführerin bei der<br />
Werbeagentur Jung von Matt/Sports, in<br />
»<br />
FOTO: FRANK BEER FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
96 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Theresa von Fugler, 36<br />
Geschäftsleiterin<br />
professionelle Pflegeprodukte<br />
L’Oréal<br />
»Hinterfragt<br />
sich und ihre<br />
Entscheidungen<br />
permanent«<br />
WirtschaftsWoche <strong>10.11.2014</strong> Nr. 46 97<br />
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Management&Erfolg<br />
» sein Kontrollgremium geholt, im Bayer-<br />
Aufsichtsrat sitzt seit Ende April Henkelnes<br />
Abends völlig unvermittelt. Ein Feuerlöscherjob,<br />
stand doch die dortige Landesgesellschaft<br />
ringstes Problem: Vor allem muss sie die<br />
Geschäfte transparenter machen und die<br />
Aufsichtsratschefin Simone Bagel-Trah.<br />
kurzfristig ohne Führung da. Prozesse dokumentieren. „Die Zeit war<br />
Die Deutsche Post hat Melanie Kreis vor<br />
wenigen Tagen zum Personalvorstand befördert<br />
und Outdoor-Unternehmen Jack<br />
Wolfskin Melody Harris-Jensbach an die<br />
Spitze gesetzt.<br />
„Für Aufsichtsräte wie Vorstandsetagen<br />
gibt es ausreichend qualifizierte Bewerberinnen“,<br />
sagt Personalberater Heiner Thorborg,<br />
der vor sieben Jahren das Frauennetzwerk<br />
Generation CEO gegründet hat,<br />
dem mittlerweile 160 hochkarätige Frauen<br />
angehören. Darunter Sandrine Piret-Gérard<br />
(WirtschaftsWoche 45/2013), die im<br />
Februar zur Deutschland-Chefin des Pharmakonzerns<br />
Hexal aufstieg.<br />
Dass solche Personalien künftig eher die<br />
Regel werden, bestätigt auch eine internationale<br />
Langzeitstudie der Unternehmensberatung<br />
Strategy&. „Wir erwarten, dass<br />
2040 mehr als ein Drittel aller neu besetzten<br />
CEO-Posten an Frauen gehen“, sagt<br />
Klaus-Peter Gushurst, Sprecher der Geschäftsführung<br />
von Strategy&.<br />
Dass sie schon früh das Zeug für eine<br />
steile Karriere mitbringt, beweist Theresa<br />
von Fugler mit Anfang 30: Damals arbeitet<br />
die promovierte Biochemikerin in Shanghai<br />
für den L’Oréal-Konkurrenten Henkel,<br />
bei dem sie fünf Jahre zuvor als Markenmanagerin<br />
angeheuert hatte. „Möchtest du<br />
Länderchefin für Vietnam werden?“, fragte<br />
„Du kannst die Nacht drüber schlafen.“<br />
Muss sie nicht. „Ich war sofort begeistert“,<br />
erinnert sich von Fugler. Dabei plagen<br />
sie nicht nur rückläufige Absatzzahlen,<br />
sondern auch regelmäßige Stromausfälle<br />
im Büro und Ratten in der Fabrik.<br />
HELMFESTES HAARGEL<br />
„In dieser Zeit hat sie unter Beweis gestellt,<br />
wie stark sie ist“, sagt Personalberater Thorborg.<br />
„Und dass sie sich unheimlich gut auf<br />
neue Situationen einstellen kann.“<br />
So auch bei der Einführung eines neuen<br />
Haargels, das andernorts beliebt ist, aber in<br />
Vietnam zum Ladenhüter verkommt. Fuglers<br />
Erkenntnis, nach langen Gesprächen<br />
mit ihrem vietnamesischen Marketingleiter:<br />
Weil Motorräder in Vietnam Fortbewegungsmittel<br />
Nummer eins sind und die<br />
Helme nach Auffassung der Kunden ohnehin<br />
jede Frisur zerstörten, ist Haargel kein<br />
Thema. Von Fuglers Lösung: Riesige Plakate<br />
in den größten Städten des Landes. „Wir<br />
haben unser Gel für helmfest erklärt.“ Der<br />
Umsatz des Produkts steigt – und trägt als<br />
eines von vielen Puzzleteilen dazu bei, das<br />
kränkelnde Geschäft zu beleben.<br />
Doch nicht nur die Konsumenten ticken<br />
in Vietnam anders als in Europa – auch die<br />
Mitarbeiter. Dass von Fugler an einem ihrer<br />
ersten Tage über einen Mitarbeiter stolpert,<br />
strapaziös“, sagt von Fugler. Weiß seitdem<br />
aber auch: „Nach Vietnam schaffe ich alles.“<br />
Lohn ihrer akribischen Arbeit: ein Turnaround<br />
nach nicht mal sechs Monaten.<br />
Und das Angebot, die Stelle als Vietnam-<br />
Chefin unbefristet zu übernehmen. Doch<br />
sie lehnt ab. Geht erst mehrere Monate zurück<br />
in ihren alten Job, um danach ein halbes<br />
Jahr durch Asien zu reisen und in Laos<br />
Englisch zu unterrichten. Im Herbst 2010<br />
kehrt sie nach Deutschland zurück, übernimmt<br />
bei Henkel die internationale Markenführung<br />
für Haarfärbemittel und wechselt<br />
ein Jahr später als Marketingdirektorin<br />
zum Konkurrenten L’Oréal. „Ich bin nicht<br />
ängstlich, aber ich habe damals erkannt,<br />
dass die Zeit noch nicht reif war“, sagt die<br />
Managerin. „Wenn man Menschen zu früh<br />
überfordert, hilft das niemandem.“<br />
Diese gesunde Selbstwahrnehmung hat<br />
sie sich bis heute bewahrt. „Sie hört nie<br />
auf, sich und ihre Entscheidungen zu hinterfragen“,<br />
sagt von Fuglers Ex-Chefin Jutta<br />
Langer von L’Oréal.<br />
Unumstößlich ist dagegen ein Termin<br />
Anfang 2015 – die Geburt ihres ersten Kindes.<br />
Läuft alles nach Plan, ist sie im Frühjahr<br />
nach zwei Monaten Babypause wieder<br />
zurück. Wie sie die Kinderbetreuung neben<br />
dem Vollzeitjob organisiert, weiß sie<br />
zwar im Detail noch nicht. „Aber nach Vietnam<br />
sie der damalige Asien-Pazifik-Chef des der auf dem Boden im Besprechungsraum<br />
werde ich auch das schaffen.“ n<br />
Düsseldorfer Konsumgüterherstellers ei- seinen Mittagsschlaf hält, ist noch ihr ge-<br />
kristin.schmidt@wiwo.de, manfred engeser<br />
Gekommen, um zu bleiben Die neuen Talente im Frauennetzwerk Generation CEO<br />
CHRISTINA SCHROTBERGER<br />
Live Holding<br />
Seit Juni 2013 Marketingdirektorin<br />
NORA KLUG<br />
BSH Bosch und Siemens<br />
Haushaltsgeräte<br />
leitet die Rechtsabteilung<br />
seit<br />
Oktober 2013<br />
NINA SMIDT<br />
Zeit-Stiftung<br />
Seit 2011 verantwortlich<br />
für strategische<br />
Planung und<br />
Internationalisierung<br />
ANNE GREWLICH<br />
Ashurst<br />
Seit 2008 Partnerin und Spezialistin<br />
für Bank- und Finanzrecht<br />
LAURA MEYER<br />
NZZ Mediengruppe<br />
Seit Januar 2014 Leiterin Großkundengeschäft,<br />
Verkaufsstrategie und -prozesse<br />
98 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Monika Wiederhold, 46<br />
Leiterin Produktmanagement<br />
und Innovation<br />
Lufthansa Cargo<br />
»Kann blitzschnell<br />
komplexe Zusammenhänge<br />
zu einer<br />
Idee verknüpfen«<br />
FOTOS: JÜRGEN FRANK, PR (4), CHRISTOF MATTES FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
Kreative Analytikerin<br />
Der letzte Pinselstrich ist getan und Monika<br />
Wiederhold zufrieden mit dem Ergebnis:<br />
In vier gleich große Quadrate hat<br />
sie das Gemälde aufgeteilt, jedes geprägt<br />
von roten Kreisen unterschiedlicher Größe,<br />
platziert auf farblich unterschiedlichen<br />
Untergründen – mal in Orange-Rot<br />
gehalten, mal gelb, mal grün, mal blau dominiert.<br />
Was auf den ersten Blick wie ein nettes,<br />
abstraktes Farbenspiel wirkt, ist Wiederholds<br />
Versuch, den Begriff Zeitmanagement<br />
auf Leinwand zu bannen. Die Managerin<br />
von Lufthansa Cargo malt seit mehr<br />
als zehn Jahren Bilder über eher ungewöhnliche<br />
Themen: Mathematische<br />
Theorien in Öl oder Acryl gehören zu ihren<br />
Werken ebenso wie ein Gemälde über<br />
Change Management. Titel des Gemäldes<br />
über den optimalen Umgang mit der Zeit:<br />
„Golfbälle im Bierglas.“<br />
Inspiriert hat sie zu der Arbeit eine<br />
Anekdote, die ihr eine Freundin per<br />
E-Mail geschickt hatte und die sie immer<br />
wieder gerne erzählt: Ein Professor tritt<br />
vor seine Studenten und füllt wortlos Golfbälle<br />
in einen Krug. Der scheint schon voll<br />
zu sein, doch der Mann schüttet Kies dazu,<br />
rüttelt so lange, bis sich die Steinchen<br />
in die Lücken zwischen die Golfbälle verteilen.<br />
Dasselbe wiederholt er mit feinem<br />
Sand. Zum Schluss gießt er eine Dose Bier<br />
in den Krug. Was die Geschichte lehre?<br />
Nun, zwei Dinge: Erledige die großen,<br />
wichtigen Aufgaben immer zuerst und<br />
nutze die übrige Zeit für die kleineren, weniger<br />
dringenden Anliegen. Und zweitens:<br />
Ein Bier geht immer noch rein. Wiederhold<br />
lacht.<br />
»<br />
WirtschaftsWoche <strong>10.11.2014</strong> Nr. 46 99<br />
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Management&Erfolg<br />
» Abgesehen davon, dass sie lieber<br />
gar mit Maschinenbau und Atomphysik<br />
Wein als Bier trinkt: So wie auf ihrem Gemälde<br />
organisiert die zweifache Mutter seit<br />
an die Phase nach dem Abitur. Schließlich<br />
geliebäugelt“, erinnert sich die Managerin<br />
»Wenn man seinen<br />
Jahren ihren Alltag aus Arbeit, Familie –<br />
Job mit Leidenschaft<br />
macht, läuft Abitur in diesem Fach mit Höchstpunkt-<br />
entscheidet sie sich fürs Mathematik-Studium<br />
– warum auch nicht, wenn man das<br />
und der Kunst. „Meine Bilder entstehen<br />
nicht spontan“, sagt Wiederhold. „Ich feile<br />
lange am Konzept. Sobald das aber steht,<br />
zahl besteht?<br />
setze ich es zügig um.“ es von alleine«<br />
„Über die Jahre hat sie sich auf ihre Stärken<br />
fokussiert“, lobt Wilken. „Sie kann<br />
In Freizeit wie im Beruf verbindet die<br />
Monika Wiederhold<br />
studierte Mathematikern genau diese zwei<br />
blitzschnell komplexe Zusammenhänge zu<br />
scheinbar gegensätzlichen Welten – Analyse<br />
und Kreativität. „Das macht sie so besonders“,<br />
sagt der ehemalige Deutsche- der Automobilhersteller sollen Kunden des<br />
einer Idee verknüpfen und verschiedene<br />
Perspektiven einnehmen.“<br />
Dazu nutzt sie auch ihre unterschiedlichen<br />
Bank-Manager Bernd Wilken, der Wiederhold<br />
Logistikunternehmens künftig ihren<br />
Mandate. Ob als Mitglied im Kunden-<br />
als junge Führungskraft gecoacht hat<br />
und seitdem Kontakt zu ihr hält.<br />
Transport zusammenstellen können wie<br />
bei einem Baukasten. Muss die Ware gekühlt<br />
werden? Wie schnell müssen die Güter<br />
beirat der Commerzbank, wo sie zweieinhalb<br />
Jahre beobachten konnte, wie die<br />
Bank ihre Kunden miteinbezieht oder die<br />
IHR GOLFBALL-PROJEKT<br />
Seit fast 20 Jahren arbeitet die 45-jährige<br />
Managerin für den Lufthansa-Konzern.<br />
Zuerst in der Netzplanung in Frankfurt,<br />
dann viereinhalb Jahre am Standort in Norderstedt<br />
nahe Hamburg und nun seit 2001<br />
wieder im hessischen Hauptquartier. Hier<br />
verantwortete sie unter anderem die Einsatzpläne<br />
für 17 000 Crewmitglieder, später<br />
prägte sie als stellvertretende Leiterin die<br />
Konzernstrategie. Wiederholds Erfolgsrezept:<br />
„Wenn man seinen Job mit Leidenschaft<br />
macht, dann läuft es von alleine.“<br />
Seit dem Spätsommer 2011 verantwortet<br />
sie bei Lufthansa Cargo unter anderem das<br />
Beschwerdemanagement sowie die Bereiche<br />
Innovation und Spezialtransporte, etwa<br />
von Tieren oder Medikamenten.<br />
Eines ihrer großen Golfball-Projekte: der<br />
Aufbruch des Konzerns ins digitale Zeitalter.<br />
Zum Beispiel über einen Online-Konfigurator:<br />
Ähnlich wie auf den Web-Seiten<br />
am Zielort sein? Soll der Transport kabeirat<br />
meraüberwacht sein?<br />
Um Antworten auf diese und andere Fragen<br />
zu erhalten, legt Wiederhold Wert auf<br />
den Austausch mit Kunden, organisiert<br />
zweimal jährlich ein Innovationsforum.<br />
Diskutiert die laufende Zusammenarbeit<br />
und vereinbart Projekte, um die Kooperation<br />
zu verbessern. Mit Unternehmen aus<br />
dem Anlagenbau etwa suchen sie und ihr<br />
Team derzeit nach Wegen, wie bei einem<br />
Notfall in einer Fabrik Ingenieure der Anlagenbauer<br />
mit Ersatzteilen noch schneller<br />
an den Ort des Geschehens kommen.<br />
„Monika Wiederhold ist blitzgescheit“,<br />
sagt Ex-Mentor Wilken.<br />
Und das nicht nur auf einem Gebiet:<br />
Schon in der Schule wollte sie am liebsten<br />
kein Fach abwählen. „Ich hätte gerne etwas<br />
mit Sprachen studiert, hatte aber auch<br />
einen Studienplatz für Architektur in<br />
Darmstadt sicher und zwischendurch so-<br />
Übernahme der Dresdner Bank managt.<br />
Oder als Aufsichtsrätin beim Airmail Center<br />
Frankfurt, an dem ihr Arbeitgeber neben<br />
Deutscher Post und Fraport beteiligt ist.<br />
„Als Managerin muss ich Entscheidungen<br />
fällen und das Unternehmen voranbringen.<br />
Im Aufsichtsrat muss ich mich mit<br />
meinem Umsetzungsdrang zurückhalten,<br />
schließlich geht es dabei um Aufsicht und<br />
Rat“, beschreibt Wiederhold den Reiz der<br />
zusätzlichen Aufgabe.<br />
Eine dritte Perspektive eröffnet sich Wiederhold<br />
als Mentorin von Nachwuchskräften.<br />
Mit ihnen bespricht sie nämlich nicht<br />
nur deren Fragen, sondern fordert auch<br />
Impulse für sich ein. „Die Meinung einer<br />
anderen Generation ist mir sehr wichtig“,<br />
sagt Wiederhold, „vor allem in Fragen zur<br />
Digitalisierung.“<br />
Das gilt auch zu Hause, wenn sie mit ihrer<br />
kleinen Tochter Geisterfigürchen produziert<br />
– an ihrem privaten 3-D-Drucker.<br />
ANNA-LENA JEPPSSON<br />
MAN Diesel & Turbo<br />
Seit 2012 zuständig für den<br />
Bereich Strategie<br />
NURTEN ERDOGAN<br />
Commerzbank<br />
Sie leitet seit Januar 2014<br />
den Bereich Fusionen<br />
KERSTIN<br />
WAGNER<br />
Deutsche Bahn<br />
Leitet seit<br />
2012 die Bereiche<br />
Recruiting<br />
und Arbeitgebermarke<br />
GABRIELE RAM-BEYER<br />
Salzgitter<br />
Leitet seit Februar 2011 das<br />
Konzerncontrolling<br />
100 Nr. 46 <strong>10.11.2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Gloria Glang, 34<br />
Leiterin Strategie<br />
und Fusionen<br />
PPG Industries<br />
Europe<br />
»Hat keine<br />
Angst vor<br />
großen<br />
Namen«<br />
FOTOS: PR (3), LUX-FOTOGRAFEN.DE/PHILIPP VON RECKLINGHAUSEN, BERNHARD HASELBECK FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
Alles im Lack<br />
Wie entwickelt sich die Altersstruktur unserer<br />
Gesellschaft? Wie verändert die Digitalisierung<br />
unsere Art, zu wirtschaften, zu konsumieren?<br />
Und was bedeutet das alles für<br />
unser weltweit tätiges Unternehmen?<br />
Wenn Gloria Glang von ihren „globalen<br />
Hobbys“ spricht, meint sie weder Golfspielen<br />
in Schottland, einen Segeltörn in der<br />
Karibik oder einen Kochkurs für thailändische<br />
Küche. Sondern zum Beispiel die Auseinandersetzung<br />
mit den Auswirkungen<br />
weltweiter Megatrends auf die Strategie ihres<br />
Arbeitgebers – den amerikanischen<br />
Lackhersteller PPG Industries.<br />
Ihr jüngstes Hobby dieser Art: Wie können<br />
wir uns mithilfe von Risikokapital am<br />
besten an Start-ups beteiligen?<br />
Denn ein Weltkonzern wie PPG, so die<br />
Überzeugung der 34-jährigen Managerin,<br />
kann „auf Dauer nur innovativ sein, wenn<br />
er Partnerschaften mit und Übernahmen<br />
von Start-ups in Betracht zieht“.<br />
Ihre Position erläutert Glang im Sommer<br />
ihrem Vorstandsvorsitzenden Charles<br />
Bunch, den sie nur Chuck nennt. Erklärt<br />
ihm, wie PPG mithilfe kleiner, junger Unternehmen<br />
schnell auf Trends reagieren und<br />
an innovative Technologien kommen<br />
könnte. Präsentiert ihm eine detaillierte<br />
Marktanalyse und kann ihn nach nur fünf<br />
Minuten von dem Projekt überzeugen.<br />
Heute, wenige Monate später, ist Glang<br />
schon auf der Suche nach Akquisitionen<br />
aus der Start-up-Szene – weltweit.<br />
»<br />
WirtschaftsWoche <strong>10.11.2014</strong> Nr. 46 101<br />
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Management&Erfolg<br />
Unter Plan<br />
So viele Frauen fehlen in den Aufsichtsräten*<br />
bei einer Frauenquote von 30 Prozent<br />
20 Mitglieder:<br />
Bayer<br />
BMW<br />
Commerzbank<br />
Continental<br />
Daimler<br />
Deutsche Bank<br />
Deutsche Post<br />
Lufthansa<br />
Munich Re<br />
RWE<br />
Siemens<br />
Telekom<br />
ThyssenKrupp<br />
Volkswagen<br />
16 Mitglieder:<br />
Henkel<br />
K+S<br />
Merck<br />
Zwölf Mitglieder:<br />
Adidas<br />
Beiersdorf<br />
Fresenius<br />
Heidelberg-<br />
Cement<br />
Infineon<br />
Lanxess<br />
Linde<br />
30-Prozent-Grenze<br />
Legende:<br />
Arbeitnehmerbank<br />
Frauen<br />
Männer<br />
Anteilseignerbank<br />
Frauen<br />
Männer<br />
* Aufsichtsräte der<br />
Dax 30, die unter<br />
das Quotengesetz<br />
fallen würden;<br />
Quelle: Hans-<br />
Böckler-Stiftung,<br />
eigene Recherche<br />
Lesebeispiel: Im Aufsichtsrat von Bayer sitzen je zwei Frauen<br />
auf Arbeitnehmerseite ( ) und auf Anteilseignerseite ( ).<br />
Um die 30-Prozent-Quote (rote Grenze) zu erfüllen, muss je<br />
ein Mann ( ) weichen.<br />
»<br />
„Das gehört zwar nicht zu meiner Rollenbeschreibung“,<br />
sagt die Managerin,<br />
„aber ich hatte ein paar gute Ideen, die ich<br />
nicht für mich behalten wollte.“<br />
Eigentlich ist die Betriebswirtin seit Januar<br />
2013 beim Chemiekonzern für die Strategieentwicklung<br />
in Europa, dem Nahen Osten<br />
und Afrika zuständig. Macht sich in diesen<br />
Regionen auf die Suche nach Übernahmekandidaten,<br />
lotet Beteiligungen aus –<br />
mit dem globalen Geschäft hat sie nichts zu<br />
tun. Eigentlich.<br />
VORBEREITUNG IST ALLES<br />
Aber Dienst nach Vorschrift war für Glang<br />
noch nie eine Option – schon als sie nach<br />
dem Abitur ihr duales Studium am BASF-<br />
Standort in Münster begann: Gerade neun<br />
Monate war die damals 20-Jährige an Bord,<br />
als sie in der Chefetage anklopfte<br />
und dem Vorstandsvorsitzenden<br />
der Lacksparte vorschlug, eine<br />
Wettbewerbsdatenbank anzulegen.<br />
In welchen Kundensegmenten<br />
tummeln sich Wettbewerber?<br />
Welche Lacke produzieren sie?<br />
Was bedeutet das für BASF?<br />
Fast zehn Jahre arbeitet Glang<br />
in verschiedenen Positionen bei<br />
BASF. Nach ihrem dualen Studium wechselt<br />
sie in die damals neu gegründete interne<br />
Beratung des Konzerns am Stammsitz in<br />
Ludwigshafen, übernimmt anschließend<br />
die Betreuung von einem der zehn größten<br />
Kunden des Chemiekonzerns.<br />
Mit 29 Jahren heuert sie als Beraterin bei<br />
KPMG in Frankfurt an. Akquiriert neue<br />
Kunden – obwohl diese Aufgabe eigentlich<br />
den Senior Managern vorbehalten ist.<br />
„Ich hatte das Gefühl, da könnte noch<br />
mehr getan werden“, lautet ihre Haltung,<br />
die nicht bei allen Kollegen auf Gegenliebe<br />
stößt, ihre Vorgesetzten aber überzeugt.<br />
„Wir haben sie schon nach wenigen Monaten<br />
zur Senior Managerin befördert“, sagt<br />
Chris Stirling, der damals bei KPMG die<br />
Chemieindustrie auf europäischer Ebene<br />
verantwortete. „Normalerweise dauert das<br />
mindestens ein Jahr, aber sie hatte das Talent<br />
und keine Angst vor großen Namen.“<br />
So ruft sie auf der Suche nach dem<br />
nächsten großen Auftrag einfach im Vorstandsbüro<br />
eines großen Schweizer Chemieunternehmens<br />
an und verlangt erfolgreich<br />
einen Termin mit dem Vorstandsvorsitzenden.<br />
„Ein Nein hab ich schon, ein Ja<br />
kann ich noch kriegen“, kommentiert Glang<br />
ihren Anruf in der Chefetage. Mit Erfolg:<br />
Glang überzeugt den CEO und gewinnt ihn<br />
als neuen Kunden.<br />
Audio<br />
Den Rat ihres<br />
Lebens verraten<br />
die Protagonistinnen<br />
in unserer<br />
App-<strong>Ausgabe</strong><br />
„Vorbereitung ist alles“, fasst Glang ihre<br />
Strategie zusammen. Bevor sie Gesprächspartner<br />
angeht, analysiert sie das Unternehmen,<br />
findet heraus, mit welchen Problemen<br />
sich ihr Gegenüber beschäftigt, welche Lösung<br />
sie anbieten kann und wie sie am besten<br />
auf die Menschen zugeht. Da greift die<br />
Frau, im Zeitalter von Computer und E-Mail<br />
aufgewachsen, schon mal zu Füllfederhalter<br />
und Briefpapier, um älteren Vorständen in<br />
konservativen Unternehmen die Ernsthaftigkeit<br />
ihres Anliegens zu demonstrieren.<br />
Schnell landet sie im KPMG-Förderprogramm<br />
für die 30 talentiertesten Frauen in<br />
der europäischen Belegschaft, ihre Karriere<br />
in einem global präsenten Unternehmen ist<br />
vorgezeichnet – und doch wechselt sie. Ihr<br />
Ziel: der Industrielackehersteller Becker, ein<br />
Familienunternehmen mit mehr als 100 Jahren<br />
Tradition. Ihre Aufgabe: die<br />
erste globale Strategie für den Mittelständler<br />
entwickeln.<br />
„Großkonzern, Beratung, Marketing,<br />
Vertrieb – ich hatte bis dahin<br />
schon viel gemacht“, begründet<br />
Glang den Wechsel. „Diese<br />
strategische Aufgabe bei einem<br />
weltweit agierenden Mittelständler<br />
war ein herausfordernder,<br />
nächster Karriereschritt.“<br />
Eigene Vorstellungen klar kommunizieren,<br />
die größten Herausforderungen annehmen:<br />
Das hält Glang seit Kindesbeinen so.<br />
Etwa, als sie sich mit elf Jahren in den Kopf<br />
setzt, mit Springreiten anzufangen. „Damals<br />
haben mir viele Leute gesagt, ich sei zu alt<br />
für eine Sportkarriere“, sagt Glang. „Das hat<br />
mich zusätzlich angespornt.“<br />
Sie trainiert täglich, analysiert mit ihrem<br />
Trainer anhand von Videoaufnahmen, was<br />
sie besser machen kann, nimmt jedes Wochenende<br />
an einem Turnier teil. Schafft es<br />
bis in den Nationalkader. Kurz: „Die schönste<br />
Kindheit, die ich mir vorstellen kann.“<br />
Ehrgeiz, der sie bis heute trägt: Fünf Programme<br />
für Top-Manager hat sie berufsbegleitend<br />
an der französischen Managementschmiede<br />
Insead absolviert – das letzte zum<br />
Thema Risikokapital – Basis ihres jüngsten<br />
Karriereschritts.<br />
„Neue Aufgaben sind das schönste Lob,<br />
das man bekommen kann“, sagt Glang. Auch<br />
ihre nächsten, möglichen Karriereschritte<br />
bespricht sie bereits mit ihren Vorgesetzten.<br />
„Ich sehe Gloria Glang in einigen Jahren<br />
in einem Vorstand, egal, ob bei PPG oder<br />
woanders“, sagt Personalberater Thorborg.<br />
„Sie ist keine, die bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag<br />
wartet.“<br />
n<br />
kristin.schmidt@wiwo.de<br />
FOTOS: MARTIN KROLL, PR