Grundlagen der Programmarbeit Programme des Jahres
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<strong>Grundlagen</strong> <strong>Programme</strong> <strong>der</strong> <strong>Programmarbeit</strong><br />
<strong>des</strong> <strong>Jahres</strong>
»Unterwegs in <strong>der</strong> Weltgeschichte«<br />
Mit Hape Kerkeling auf Terra incognita<br />
Ende <strong>der</strong> 60er Jahre gab es die amerikanische<br />
Serie »Time Tunnel«, in <strong>der</strong> zwei Wissenschaftler<br />
in eine Zeitspirale flogen und in die<br />
Vergangenheit gesaugt wurden. Dort mussten<br />
sie spannende Abenteuer bei Ritterturnieren<br />
o<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Französischen Revolution<br />
bestehen. Wir Jugendliche kamen aus dem<br />
Staunen nicht mehr heraus. Zeitreisen sind<br />
ein ewiger Menschheitstraum, manche Wissenschaftler<br />
behaupten, mittels <strong>der</strong> so genannten<br />
»Teleportation« könnten eines Tages<br />
Menschen in die Vergangenheit transportiert<br />
werden. Auf gewisse Weise ist »Terra X« eine<br />
solche Zeitmaschine, die den Zuschauer seit<br />
nun 30 Jahren Sonntag für Sonntag in fremde<br />
Welten und ferne Zeiten entführt.<br />
Für ausgewählte Ziele hatten wir in den letzten<br />
Jahren charismatische Reiseführer wie Maximilian<br />
Schell, Thomas Reiter o<strong>der</strong> Frank Schätzing engagiert.<br />
Als wir uns jetzt an eine Geschichte <strong>der</strong> Welt<br />
machen wollten, kamen wir auf Hape Kerkeling. Er<br />
hatte mit seinem Pilgerbuch Ich bin dann mal weg<br />
glaubhaft gemacht, dass er privates Interesse für<br />
kulturgeschichtliche Themen hegt. Als wir ihn kontaktierten,<br />
stellte sich heraus, dass er bekennen<strong>der</strong><br />
»Terra X«-Fan ist und damit unser idealer Verbündeter<br />
sein würde. Kerkeling findet, dass ihm<br />
seine Schullehrer bei all ihren Bemühungen nicht<br />
vollends hätten klarmachen können, warum Geschichte<br />
und Erdkunde so wichtig sind und was<br />
sie mit seinem eigenen Leben zu tun haben.<br />
»Terra X« hingegen könne das, also reiste er für<br />
uns los, hinaus in die Welt und in die Geschichte.<br />
Mit einem Auftrag, den man hoch ambitioniert<br />
nennen konnte, nämlich die Geschichte <strong>der</strong> Welt<br />
in nur sechs Teilen zu erzählen: angefangen bei<br />
den antiken Kulturen Ägypten und Griechenland,<br />
über das Ewige Rom, das Abenteuer Mittelalter,<br />
die Zeit <strong>des</strong> Kolonialismus, die Reformation und<br />
den Dreißigjährigen Krieg, Aufklärung und Französische<br />
Revolution, bis hin zur Industrialisierung im<br />
19. Jahrhun<strong>der</strong>t und den großen Verwerfungen<br />
<strong>des</strong> 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts sowie dem Ende <strong>des</strong> Kommunismus.<br />
So beschwingt sich die Unternehmung auch anhört,<br />
war sie dennoch harte Kärrnerarbeit. Erst<br />
einmal musste <strong>der</strong> umfangreiche historische Stoff<br />
für sechs Filme recherchiert und geschrieben,<br />
dann die Drehorte fixiert werden, danach erst<br />
konnte das Kamerateam losreisen. Während bei<br />
einem Fernsehfilm die Produktion von einem großen<br />
Stab minutiös geplant wird, mit rund 20 meist<br />
Peter Arens<br />
Leiter <strong>der</strong> Hauptredaktion Kultur<br />
und Wissenschaft<br />
Hape Kerkeling auf dem Platz <strong>des</strong><br />
Himmlischen Friedens<br />
Hape Kerkeling als Kleopatra<br />
»Unterwegs in <strong>der</strong> Weltgeschichte«<br />
I 81
zusammenhängenden Drehtagen, bedeutet dokumentarisches<br />
Arbeiten mehr Drehaufwand pro<br />
Sendeminute, langes Unterwegssein, Wetterabhängigkeit,<br />
Behördenwillkür – mit einem Team,<br />
das selten mehr als fünf Personen umfasst.<br />
Mich hat beeindruckt, dass <strong>der</strong> Vielumworbene<br />
und Hochbeschäftigte über 100 mitunter beschwerliche<br />
Tage für uns auf Reisen war. Denn die<br />
weltweiten Ziele, die inhaltliche Arbeitsweise und<br />
die flexiblen Drehbedingungen waren für Hape<br />
Kerkeling ungewohnt, »terra incognita«. Dennoch<br />
hat er bis zum Schluss nichts von seinem großen<br />
Interesse und seinem Durchhaltewillen verloren.<br />
Partner auf seiner Reise durch Zeit und Raum war<br />
Autor und Regisseur Gero von Boehm. Wenn<br />
Hape Kerkeling bei <strong>der</strong> Premiere <strong>des</strong> Films im<br />
Berliner Cinema Paris <strong>der</strong> Presse sagte, das<br />
Ganze sei eher eine Studienreise und gar keine<br />
richtige Arbeit gewesen, sollte man seine Höflichkeit<br />
und Begeisterungsfähigkeit im Hinterkopf<br />
haben.<br />
Die sechs Filme nehmen die Zuschauer mit zu<br />
Weltereignissen, die die Menschen schon immer<br />
fasziniert haben. 32 Orte haben sie besucht: die<br />
Pyramiden in Ägypten, die Aztekenstadt Teotihuacan<br />
in Mexiko, die Große Mauer in China, die Akropolis,<br />
die russischen Zarenpaläste, den Londoner<br />
Tower, die Schlachtfel<strong>der</strong> von Verdun und gar<br />
das Schlafgemach von Ludwig XIV.. Kritische Beobachter<br />
<strong>des</strong> Projekts mahnten an, ob man das<br />
einen verantwortungsvollen Umgang mit Geschichte<br />
nennen könne. Müsste man über die<br />
Geschichte <strong>der</strong> Welt nicht 100 Folgen machen,<br />
statt nur sechs? Die Geschichte <strong>der</strong> Deutschen<br />
hatten wir in den Jahren 2008 und 2010 in immerhin<br />
20 Folgen erzählt. Wir glaubten dennoch an<br />
unser Konzept, weil wir uns von vorneherein auf<br />
die zentralen Ereignisse und Wendepunkte <strong>der</strong><br />
Weltgeschichte beschränken wollten. Wir wollten<br />
keine Vollständigkeit beanspruchen, son<strong>der</strong>n mit<br />
einer möglichst originellen Mischung aus Humor<br />
und Information Appetit auf Geschichte machen.<br />
Komplexe Sachverhalte vereinfachen, so einfach<br />
wie möglich, aber nicht einfacher. Intelligentes<br />
Bildungsfernsehen gestalten – mit einem Hape<br />
Kerkeling, <strong>der</strong> mit den Augen <strong>des</strong> Zuschauers die<br />
Orte und ihre Geschichten in einprägsame Mo<strong>der</strong>ationen<br />
fasst. Das alles nicht deutsch gründlich,<br />
son<strong>der</strong>n im eher angelsächsischen Stil, <strong>der</strong> das<br />
Große in feinen Parallelschwüngen erzählt. Angetrieben<br />
von jener »intellectual curiosity«, jener intellektuellen<br />
Neugierde, die übrigens Hape Kerkeling<br />
ganz wesentlich charakterisiert. Er erschließt sich<br />
die großen, bahnbrechenden Ereignisse auf seine<br />
ganz eigene Art – mit Neugier, scharfem Verstand<br />
und viel Humor. Der beson<strong>der</strong>e Witz lag darin,<br />
Hape Kerkeling für kurze, überraschende Momente<br />
in historische Rollen schlüpfen zu lassen: Er ist<br />
Alexan<strong>der</strong> <strong>der</strong> Große, Cleopatra, Ludwig XIV., Katharina<br />
die Große, <strong>der</strong> erste Kaiser von China o<strong>der</strong><br />
Hape Kerkeling als Montezuma ...<br />
... und als Michail Gorbatschow<br />
82 I<br />
2011.Jahrbuch
Hape Kerkeling als Quin Shi<br />
Huangdi, Kaiser von China ...<br />
... und als Queen Victoria<br />
Michail Gorbatschow. Wir haben auf Texte für<br />
diese Rollen schließlich verzichtet und sie statt<strong>des</strong>sen<br />
mit mo<strong>der</strong>nen Musiken unterlegt, was für<br />
unerhörte Effekte gesorgt hat. Die Werbeplakate<br />
und Kurztrailer, die Hape als Zeitreisenden in den<br />
Kostümen <strong>der</strong> Helden zeigten, haben übrigens<br />
die Bekanntheit <strong>der</strong> Reihe entscheidend gesteigert.<br />
Der Erfolg von »Unterwegs in <strong>der</strong> Weltgeschichte«<br />
war immens. Die Reihe war das erfolgreichste<br />
»Terra X«-Programm <strong>der</strong> letzten 15 Jahre. Der<br />
durchschnittliche Marktanteil bei den unter<br />
50-Jährigen betrug 13,3 Prozent, nach »Wetten,<br />
dass ..?« und Fußball war die dritte Folge, »Abenteuer<br />
Mittelalter«, das jüngste ZDF-Programm <strong>des</strong><br />
<strong>Jahres</strong> 2011. Bestnoten erreichte das Programm<br />
von den Zuschauern in punkto verständliche<br />
Sprache und Mo<strong>der</strong>ation, die als beson<strong>der</strong>s sympathisch<br />
empfunden wurde – Kerkeling habe<br />
spürbar Freude am Programm gehabt.<br />
In <strong>der</strong> Tat hat Kerkeling wie kein Präsentator vor<br />
ihm diese »Terra X«-Reihe beeinflusst. Obwohl <strong>der</strong><br />
Sechsteiler nur so vor Daten und Fakten strotzt,<br />
gelingt Kerkeling eine angenehme Entschleunigung.<br />
Man folgt ihm und hört ihm zu, weil seine<br />
unnachahmliche Präsentation alter Stoffe diese in<br />
ein neues Licht taucht. Er prägt die Reihe mit erkennbarem<br />
Amüsement, lässt aber niemals Zweifel<br />
daran aufkommen, dass ihm die Arbeit für<br />
»Terra X« ein wichtiges Anliegen ist. Zwei meiner<br />
Lieblingsszenen zeigen ihn so, wie man ihn nicht<br />
kennt. Seine Mo<strong>der</strong>ation zum Opferinferno <strong>des</strong><br />
Dreißigjährigen Krieges ist ohne Pathos und geht<br />
doch unter die Haut, wie auch sein Besuch von<br />
Yad Vashem, <strong>der</strong> Gedenkstätte jüdischer Holocaust-Opfer<br />
in Jerusalem. In nicht einmal zwei<br />
Minuten beweist diese Szene, wie auch ein Comedian<br />
mit einem solch schwierigen Ort umgehen<br />
kann: Er lässt die schier unzähligen Fotos <strong>der</strong><br />
Holocaustopfer auf sich wirken und schweigt.<br />
Seine innere Anteilnahme ist spürbar und lässt<br />
auch keinen Zuschauer unberührt.<br />
Ein weiterer Aspekt scheint mir für den Erfolg wesentlich<br />
zu sein. Kerkeling regt den Zuschauer<br />
dadurch zum Mitdenken an, dass er sich im Augenblick<br />
<strong>der</strong> Entdeckung auf dieselbe Stufe stellt.<br />
Er ist nicht Historiker, nicht Experte, son<strong>der</strong>n passionierter<br />
Laie. Der Mo<strong>der</strong>ator und sein Publikum<br />
staunen beide über die sagenhaften Schauplätze<br />
und geschichtsmächtigen Geschehnisse, ohne<br />
ein schlechtes Gewissen haben zu müssen, weil<br />
man Bildung verpasst hat und 5 000 Jahre Kulturgeschichte<br />
nicht lückenlos repetieren kann. Wir<br />
haben wohl vor allem jene Zuschauer hinzugewonnen,<br />
die sonst keine Geschichtsdokumentationen<br />
einschalten (auch weil sie zu viel Respekt<br />
vor Wissenschaftsprogrammen haben) und die<br />
sich bei dem sympathischen Durchschnittsgebildeten<br />
Kerkeling in bester Gesellschaft wähnten.<br />
»Unterwegs in <strong>der</strong> Weltgeschichte«<br />
I 83
Was beson<strong>der</strong>s auf Jugendliche zutreffen mag,<br />
die wir den Aufmerksamkeitsräubern <strong>der</strong> Social<br />
Networks und Videogames kurzfristig entrissen<br />
haben dürften.<br />
In unserem Land, das sich seit gut zwei Jahrhun<strong>der</strong>ten<br />
als eine Kulturnation versteht, mit einem tief<br />
verwurzelten und liebenswerten Sinn für das Anspruchsvolle,<br />
hat dieser augenzwinkernde Umgang<br />
mit Geschichte natürlich hitzige Debatten<br />
ausgelöst. Manche überregionalen Stimmen wie<br />
Der Spiegel und Die Süddeutsche wollten von uns<br />
mehr komisches Hape-Potenzial wachgeküsst<br />
sehen. Damit hätten wir aber die Humorschraube<br />
wohl zu weit gedreht, dem Bildungsimpetus <strong>des</strong><br />
Programms hätte noch mehr Raffinesse geschadet.<br />
Wie die Reaktionen <strong>der</strong> Stammseher von<br />
»Terra X« dann auch beweisen, vielen ging die<br />
komische Note zu weit. »Unerträgliche Zirkusnummern«,<br />
meinten die einen, »was ist mit meinem<br />
›Terra X‹ passiert?« Die an<strong>der</strong>en riefen uns zu,<br />
Kerkelings Weltgeschichte sei das Beste, was wir<br />
je gemacht hätten.<br />
Bei <strong>der</strong> Popularisierung von »Terra X« mit und<br />
wegen Kerkeling haben wir uns so weit vorgewagt<br />
wie nie zuvor, und dennoch wurde aus dem Programm<br />
weit mehr als bloße Unterhaltung. Wir<br />
haben gezielt ausprobiert, wie sich Humor mit Information<br />
vermählen lässt und erfahren, dass<br />
damit ganz neue Zuschauer für Bildungsprogramme<br />
gewonnen werden können.<br />
Gero von Boehm, Hape Kerkeling und die Redaktion<br />
unter Alexan<strong>der</strong> Hesse und Hans-Christian<br />
Huf haben im ständigen Ringen um das rechte<br />
Format aber auch gespürt, wie schwer dieser beson<strong>der</strong>e<br />
Tonfall, den die Englän<strong>der</strong> so gut beherrschen,<br />
ist. Für alle Beteiligten war die Reihe in<br />
gewisser Weise ein Schlüsselerlebnis, und ein<br />
solches muss man bekanntermaßen ja gezielt<br />
suchen, es passiert nicht einfach so.<br />
84 I<br />
2011.Jahrbuch
Liebe in Zeiten <strong>des</strong> Umbruchs<br />
»Borgia« – ein historischer Mehrteiler<br />
Die internationale Koproduktion »Borgia«, ein<br />
historischer Mehrteiler, sorgte im ausgehenden<br />
Fernsehjahr 2011 für Furore. Im Schnitt<br />
verfolgten über fünf Millionen Zuschauer an<br />
sechs Fernsehabenden in <strong>der</strong> Primetime die<br />
Familiengeschichte <strong>der</strong> Borgias. Begleitet<br />
von einer großangelegten Presse- und Marketingkampagne,<br />
eines breitgefächerten Onlineangebots<br />
und <strong>der</strong> Neukonzeption einer<br />
Dokumentation entwickelte sich das Programm<br />
zu einem zentralen Gesprächsthema<br />
in <strong>der</strong> Medienöffentlichkeit.<br />
Die Familie <strong>der</strong> Borgias, die zwei Päpste stellte,<br />
verkörpert, wie wenige an<strong>der</strong>e, den Geist <strong>der</strong> Renaissance<br />
mit ihren heute kaum vorstellbaren Wi<strong>der</strong>sprüchen.<br />
Die Borgias waren zum einen rücksichtslos,<br />
korrupt und gewalttätig; an<strong>der</strong>seits erreichte<br />
die europäische Kultur unter ihrer<br />
Herrschaft ihren höchsten Ausdruck. Eine Zivilisation<br />
im Übergang vom Mittelalter zur Renaissance,<br />
die sich bis in die Jetztzeit auswirkt, ein<br />
spannen<strong>der</strong> Erzählstoff, eine große Familiengeschichte.<br />
Im letzten Jahrzehnt <strong>des</strong> 15. Jahrhun<strong>der</strong>ts begann<br />
Leonardo da Vinci mit <strong>der</strong> Arbeit an seinem berühmten<br />
Abendmahl, Michelangelo schuf die<br />
Pietà und Dürer malte sein Selbstporträt. In Europas<br />
Städten blühte <strong>der</strong> Handel, und die Universitäten<br />
brachten bahnbrechende wissenschaftliche<br />
Erkenntnisse hervor. Die 90er Jahre <strong>des</strong> 15. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />
waren zweifelsohne ein Höhepunkt in<br />
<strong>der</strong> Kulturgeschichte <strong>der</strong> Menschheit und bieten<br />
somit reichhaltigen filmischen Erzählstoff. Rodrigo<br />
Borgia, <strong>der</strong> spätere Papst Alexan<strong>der</strong> VI., und seine<br />
Kin<strong>der</strong> Juan, Cesare und Lucrezia sind Teil und<br />
Ausdruck dieser Welt − eine <strong>der</strong> bedeutendsten<br />
Familien <strong>der</strong> Zeitgeschichte, was ihr öffentliches<br />
Leben betrifft, aber auch in ihrer exemplarischen<br />
Privatheit bis heute betrachtenswert und spannend.<br />
In dem historischen Sechsteiler erleben wir<br />
den biografischen Umbruch <strong>der</strong> Hauptfigur. Er<br />
bildet den Ausgangspunkt <strong>der</strong> Geschichte: Rodrigo<br />
erhält die Nachricht von <strong>der</strong> Ermordung seines<br />
erstgeborenen Sohnes Pedro Louis. Er beschließt<br />
daraufhin, sein Leben radikal zu än<strong>der</strong>n, erkennt<br />
seine illegitimen Kin<strong>der</strong> an und stellt sich den<br />
Missständen innerhalb <strong>der</strong> Kirche. Dabei ist ihm,<br />
getrieben von extremem Machtwillen, fast je<strong>des</strong><br />
Mittel recht, um seiner Familie die Herrschaft über<br />
ganz Italien nachhaltig zu sichern. Die Kin<strong>der</strong><br />
Rodrigo Borgias, vornehmlich Juan und Cesare,<br />
stehen in ständiger, zum Teil grausamer Konkurrenz<br />
zueinan<strong>der</strong>. Der zügellose Draufgänger Juan<br />
wird von seinem Vater bevorzugt. Cesare, <strong>der</strong><br />
Intelligentere, soll entgegen seiner Natur eine<br />
kirchliche Laufbahn einschlagen, während Lucrezia<br />
sich als Frau ihren Weg ins Erwachsenenleben<br />
hart erkämpfen muss. Allesamt Getriebene von<br />
ihrem Willen zur Macht, ihrem Streben nach Erfüllung<br />
und Liebe: die Sehnsucht nach <strong>der</strong> ersten<br />
Liebe von Lucrezia, die Liebe von Rodrigo zu<br />
Giulia, die entfesselte Sexualität von Juan, <strong>der</strong><br />
Zwiespalt von Cesare, keusch leben zu wollen<br />
und die prompte Verführung.<br />
Klaus Bassiner<br />
Leiter <strong>der</strong> Hauptredaktion Reihen<br />
und Serien (Vorabend)<br />
Wolfgang Feindt<br />
Hauptredaktion Reihen und Serien<br />
(Vorabend)<br />
Rodrigo Borgia (John Doman)<br />
hat einen Verlobten für Lucrezia<br />
(Isolda Dychauk) gefunden<br />
Liebe in Zeiten <strong>des</strong> Umbruchs<br />
I 85
Eine große Liebesgeschichte, eine durchtriebene<br />
Familiengeschichte, ein atemberauben<strong>der</strong> Krimi,<br />
bestens geeignet für ein groß angelegtes filmisches<br />
Abenteuer, an sechs Abenden zur besten<br />
Sendezeit, produziert von Atlantique Productions,<br />
EOS Entertainment GmbH, in Zusammenarbeit<br />
mit Etic Films und Les Borgia SAS, in europäischer<br />
Koproduktion mit ZDF, ORF und Canal+.<br />
Mit einem Gesamtetat von 25 Millionen Euro<br />
wurde »Borgia« zu einer <strong>der</strong> aufwändigsten Serienproduktionen<br />
in Europa. Das Projekt wurde<br />
über einen Zeitraum von vier Jahren entwickelt,<br />
bis <strong>der</strong> Startschuss zu den filmischen Arbeiten<br />
erfolgen konnte. »Borgia« wurde über mehrere<br />
Monate in den Prager Barrandov-Studios gedreht.<br />
Dort wurden die Sixtinische Kapelle und die Gemächer<br />
<strong>des</strong> vatikanischen Palastes originalgetreu<br />
nachgebaut, auf dem Außengelände <strong>der</strong> Studios<br />
zudem <strong>der</strong> Petersplatz und Straßenzüge <strong>des</strong> mittelalterlichen<br />
Roms. Weiter erfolgten Außendrehs<br />
in Prag und Teltsch, das mit seinen Renaissance-<br />
Gebäuden zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört.<br />
390 Mitglie<strong>der</strong> umfasste <strong>der</strong> Produktionsstab,<br />
1 573 Stunden Filmmaterial wurden gedreht,<br />
wobei 12 Kilometer Stoff für 340 Kostüme verwandt<br />
und allein 150 Perücken gefertigt wurden.<br />
Fast zeitgleich wurde in Amerika vom Sen<strong>der</strong><br />
Showtime TV ein Serienprojekt angeschoben, das<br />
ebenfalls die Familiengeschichte <strong>der</strong> Borgias zum<br />
Thema machte: mit Jeremy Irons in <strong>der</strong> Titelrolle,<br />
eine Produktion mit vergleichbarem Aufwand.<br />
Dieser seltsamen Koinzidenz geschuldet, wurde<br />
unter Hochdruck die Endfertigung unseres Programms<br />
vorangetrieben, mit dem Ziel, zuerst auf<br />
dem europäischen Markt auf Sendung zu gehen.<br />
Dieses Vorhaben konnte realisiert werden, und ab<br />
dem 17. Oktober 2011 erfolgte die Ausstrahlung<br />
um 20.15 Uhr. Eine beson<strong>der</strong>e Aufgabenstellung,<br />
da nicht ohne Grund die ursprüngliche Fernsehfassung<br />
von <strong>der</strong> FSK erst ab 18 Jahren freigegeben<br />
wurde. Gemeinsam mit dem Jugendschutzbeauftragten<br />
<strong>des</strong> ZDF konnte eine Schnittversion<br />
realisiert werden, die den Einsatz <strong>des</strong> Programms<br />
in <strong>der</strong> Primetime ermöglichte (Freigabe ab 12<br />
Jahren), ohne historisch fälschlich zu verharmlosen.<br />
Zudem wurde im Anschluss an die zweite Folge<br />
eine von <strong>der</strong> ZDF-Redaktion Kultur und Wissenschaft<br />
entwickelte Dokumentation mit dem Titel<br />
»Der Fall Borgia« gesendet. Um die Zuschauermotivation<br />
für dieses Programm im ZDF weiter zu<br />
stärken, wurde ein Generalvorspann gefertigt, <strong>der</strong><br />
die zentralen Protagonisten und geschichtlichen<br />
Geschehnisse vorstellt.<br />
Darüber hinaus wurde eine inhaltliche Zusammenfassung<br />
<strong>der</strong> vorangegangenen Handlung vor<br />
jede Folge gesetzt mit dem Ziel, Zuschauern auch<br />
noch einen späteren Einstieg in den Mehrteiler zu<br />
ermöglichen.<br />
Giulia Farnese (Marta Gastini)<br />
erwartet ein Kind von Rodrigo<br />
Adriana de Mila (Andrea Sawatzki)<br />
wohnt <strong>der</strong> Trauung Lucrezias bei<br />
86 I<br />
2011.Jahrbuch
Juan (Stanley Weber) und seine<br />
Schwester Lucrezia (Isolda<br />
Dychauk)<br />
Rodrigo Borgia (John Doman)<br />
verfolgt die Stimmauszählung im<br />
Konklave<br />
Durch eine breit angelegte Presse- und Marketingkampagne<br />
wurde die Spannung auf den<br />
Sechsteiler gesteigert. In allen größeren Zeitungen<br />
und Zeitschriften erschienen doppelseitige Anzeigen,<br />
und es wurden knapp 300 Trailereinsätze<br />
gefahren. Am 15. September fand im Hamburger<br />
Rathaus in Anwesenheit <strong>des</strong> gesamten Darstellerteams<br />
und <strong>der</strong> Verantwortlichen eine Pressekonferenz<br />
statt, zu <strong>der</strong> fast 100 Medienvertreter begrüßt<br />
werden konnten.<br />
Insgesamt verfolgten somit über fünf Millionen<br />
Zuschauer die einzelnen Folgen. Beson<strong>der</strong>s hervorzuheben<br />
ist hierbei das Interesse <strong>der</strong> jüngeren<br />
Zuschauer: Bei den 14- bis 49-Jährigen schalteten<br />
durchschnittlich 1,33 Millionen Zuschauer ein,<br />
was einem Marktanteil von 10,2 Prozent entsprach.<br />
Erwähnenswert sind auch die hohen Abrufzahlen<br />
im Internet. So wurden 5,86 Millionen<br />
Pageimpressions <strong>des</strong> Onlineangebots zu »Borgia«<br />
registriert. Über die gesamte zweiwöchige<br />
Sendezeit <strong>des</strong> Projekts konnten die einzelnen<br />
Folgen in <strong>der</strong> ZDFmediathek abgerufen werden.<br />
Die Abrufzahlen aller sechs Folgen lagen bei<br />
2,3 Millionen Zuschauern, was einen extrem<br />
hohen Wert darstellt. Die Abrufvideos von Teil eins<br />
bis vier sind in <strong>der</strong> aktuellen Hitliste aller Abrufvideos<br />
im aufgelaufenen Jahr unter den ersten 15<br />
Rängen. Teil eins ist das erfolgreichste Abrufvideo<br />
im Jahr 2011. Der Onlineauftritt bot neben dem<br />
Abruf <strong>der</strong> verpassten Folge auch eine Vorschau<br />
auf die kommende, Porträts <strong>der</strong> Hauptdarsteller,<br />
ein Gewinnspiel, die Möglichkeit, interaktiv historische<br />
Schauplätze zu besuchen sowie zahlreiche<br />
Informationen zur Zeitgeschichte und einen interaktiven<br />
Stammbaum.<br />
Cast und Crew von »Borgia« sind einem internationalen<br />
Publikum bekannt. Die Rolle Rodrigo Borgias,<br />
<strong>des</strong> späteren Papstes Alexan<strong>der</strong> VI., spielt<br />
John Doman, international bekannt aus »Emergency<br />
Room« und »The Wire«. Seine Tochter Lucrezia,<br />
eine <strong>der</strong> schillerndsten Frauenfiguren <strong>der</strong><br />
Renaissance, wird dargestellt von <strong>der</strong> 17-jährigen<br />
Isolda Dychauk, zuletzt das Gretchen in Alexan<strong>der</strong><br />
Sokurows »Faust«-Verfilmung, <strong>der</strong> den diesjährigen<br />
Wettbewerb um den Goldenen Löwen gewann.<br />
In weiteren durchgehenden Rollen waren<br />
unter an<strong>der</strong>en Andrea Sawatzki, Udo Kier, Vadim<br />
Glowna, Assumpta Serna, Marta Gastini und Victor<br />
Schefé beteiligt.<br />
Regie führte unter an<strong>der</strong>en Oliver Hirschbiegel<br />
(»Das Experiment«, »Invasion«), <strong>des</strong>sen Film »Der<br />
Untergang« über die letzten Tage Adolf Hitlers für<br />
den Academy Award (Oscar) als bester ausländischer<br />
Film 2005 nominiert wurde. Als Produzent<br />
zeichnet sich <strong>der</strong> Amerikaner Tom Fontana verantwortlich,<br />
bekannt durch die Serien »Oz« (HBO)<br />
und »Homicide« (NBC), <strong>der</strong> gleichzeitig auch als<br />
Headautor und Geschichtskenner die Bücher zu<br />
»Borgia« entscheidend geprägt hat.<br />
Liebe in Zeiten <strong>des</strong> Umbruchs<br />
I 87
Aufbruch in eine neue Dimension<br />
»Die Huberbuam« – Klettern in 3D<br />
Matthias Haedecke<br />
Produktionsdirektion/Leiter <strong>des</strong><br />
Geschäftsfelds Bildgestaltung<br />
Mit <strong>der</strong> Dokumentation »Die Huberbuam« realisierte<br />
das ZDF erstmals eine Produktion in<br />
3D. Eine Aufgabe, die die Macher vor große<br />
Herausfor<strong>der</strong>ungen stellte und ein gewaltiges<br />
Know-how ins Haus transportierte, denn<br />
von Planung bis Sendung war das Projekt<br />
eine Eigenproduktion.<br />
Dass sich Fernsehmacher direkt <strong>der</strong> Reaktion <strong>des</strong><br />
Publikums stellen müssen, kommt nur ganz selten<br />
vor. Und so klopften die Herzen <strong>des</strong> Teams <strong>der</strong><br />
»Huberbuam« Ende September 2011 gewaltig, als<br />
in <strong>der</strong> Konferenzzone die erste 3D-Produktion <strong>des</strong><br />
ZDF vorgeführt wurde. Der Andrang war gewaltig,<br />
<strong>der</strong> Raum mit 250 Zuschauern bis auf den letzten<br />
Platz besetzt. Aber im Dunkeln und dazu auch<br />
noch hinter 3D-Brillen war für Regisseur Jens Monath<br />
und die an<strong>der</strong>en Crewmitglie<strong>der</strong> nicht auszumachen,<br />
wie die Leute den Film fanden. Also hieß<br />
es: abwarten, bis das Licht wie<strong>der</strong> angeht.<br />
Über ein Jahr hatte die Arbeit an <strong>der</strong> Kurzdokumentation<br />
über die Extremkletterer Thomas und<br />
Alexan<strong>der</strong> Huber gedauert, und nahezu je<strong>der</strong><br />
Produktionsschritt hatte die Macher dabei auf<br />
technisches und kreatives Neuland geführt. Ende<br />
2010 kamen Mitarbeiter aus verschiedenen Bereichen<br />
<strong>des</strong> Hauses zusammen, die sich für die<br />
neue 3D-Technik interessierten: Kulturchef Peter<br />
Arens und Alexan<strong>der</strong> Hesse, Leiter <strong>der</strong> Redaktion<br />
Geschichte und Gesellschaft, hatten bei <strong>der</strong> Sichtung<br />
von 3D-Tierfilmen <strong>der</strong> BBC Lunte gerochen<br />
und fragten beim Geschäftsfeld Bildgestaltung<br />
an, ob wir im ZDF so etwas auch hinkriegen würden.<br />
Da ganz vollmundig »Ja« zu sagen, erfor<strong>der</strong>te<br />
Mut. Aber einige Erfahrung konnten wir bereits<br />
vorweisen. Kameramann Claus Köppinger hatte<br />
bei <strong>der</strong> renommierten Seminarreihe »Hands on<br />
HD« die 3D-Klasse absolviert, und Cutter Frank<br />
Flick experimentierte seit einem Jahr mit softwaregestützter<br />
Wandlung von 2D nach 3D. Eine<br />
Chance, noch mehr Wissen zum Thema 3D ins<br />
Haus zu holen, war uns allen willkommen. Und als<br />
von Redaktionsseite feststand, die Extremkletterer<br />
Thomas und Alexan<strong>der</strong> Huber durch die ultraschwere<br />
»Karma-Route« bei Berchtesgaden zu<br />
begleiten, war auch das ideale Sujet gefunden. Ist<br />
doch die Darstellung von »Steilheit«, die im zweidimensionalen<br />
Bild extrem schwierig ist, eine tolle<br />
Chance, in 3D eine regelrechte Sogwirkung zu<br />
erzielen. Idee vorhanden, Thema gefunden, Team<br />
zusammengestellt: Alles in Eigenproduktion – jetzt<br />
sollte das ZDF zeigen, ob es auch im 3D-Bereich<br />
ganz hoch hinaus kann.<br />
Zuschauer bei <strong>der</strong> 3D-Vorführung<br />
im Konferenzzentrum <strong>des</strong> ZDF<br />
88 I<br />
2011.Jahrbuch
Erst einmal hieß es für alle Beteiligten: büffeln.<br />
Das Kernteam machte sich zu Workshops in England<br />
und Deutschland auf, um sich noch tiefer in<br />
die Materie einzuarbeiten. Denn das Hinzufügen<br />
einer Bilddimension bedeutete für alle Beteiligten<br />
ein komplettes Umdenken und teilweise auch das<br />
Ignorieren von über Jahre gelernten Fähigkeiten.<br />
In <strong>der</strong> 2D-Welt versucht <strong>der</strong> Kameramann beispielsweise,<br />
durch Anschnitte eines im Bildvor<strong>der</strong>grund<br />
befindlichen Gegenstan<strong>des</strong> o<strong>der</strong> eines unscharfen<br />
Hintergrun<strong>des</strong> eine Staffelung verschiedener<br />
Ebenen zu erreichen, um den Bil<strong>der</strong>n Tiefe<br />
zu verleihen. In 3D dagegen will er genau dies<br />
vermeiden und gestaltet die Bil<strong>der</strong> durchgehend<br />
scharf. Der Zuschauer erhält so die Möglichkeit,<br />
im Bild mit den Augen »spazieren zu gehen«, so<br />
wie er es aus <strong>der</strong> Realität gewohnt ist.<br />
Immer weiter tasteten sich die verschiedenen Gewerke<br />
in die dritte Dimension. Doch während das<br />
Know-how wuchs, türmten sich auch die Schwierigkeiten.<br />
Als echte Herausfor<strong>der</strong>ung stellte sich<br />
die Zusammenstellung <strong>des</strong> passenden Equipments<br />
heraus. Vor allem eine Kamera, die klein<br />
und leicht genug war, um in <strong>der</strong> Wand ihren Dienst<br />
zu tun, konnte erst nach langer Suche kurz vor<br />
Drehbeginn gefunden werden. Immerhin musste<br />
sie von zwei Kletterkameramännern an Seilen<br />
hängend in einer extra leichten Aufhängung bedient<br />
werden können. Normale Schultercamcor<strong>der</strong><br />
wären hier völlig fehl am Platz gewesen. Und<br />
wie würde die Arbeit im Schnei<strong>der</strong>aum laufen? Die<br />
Bearbeitung zweier Datenströme <strong>der</strong> Kameras<br />
war für eine Fernsehdokumentation ohne Beispiel,<br />
denn bislang waren nur Kinofilme o<strong>der</strong> Sport- und<br />
Konzertevents in 3D produziert worden. Dass Regisseur<br />
Jens Monath und Cutter Frank Flick während<br />
<strong>der</strong> gesamten Schnittzeit bebrillt sein würden,<br />
verstand sich von selbst.<br />
Bei allem drängte die Zeit, denn neben <strong>der</strong> »klassischen«<br />
15-minütigen Kurzdoku, die am 3. Oktober<br />
um 17.15 Uhr in 2D ausgestrahlt werden sollte,<br />
würde zeitgleich die 45-minütige 3D-Version<br />
entstehen, die über die ZDFmediathek im Internet<br />
bereit gestellt werden sollte. Nur so würde es<br />
möglich sein, die Zuschauer mit 3D zu erreichen,<br />
denn noch ist die Anzahl von 3D-fähigen Fernsehern<br />
in den Haushalten zu gering. Doch dieser<br />
Ausstrahlungsweg wurde nicht als Verlegenheitslösung<br />
gewählt, son<strong>der</strong>n als willkommener Anlass,<br />
Internet und Fernsehen noch weiter miteinan<strong>der</strong><br />
zu verschmelzen. Während sich für je<strong>des</strong><br />
Problem eine Lösung fand, blieb ein natürlicher<br />
Faktor unberechenbar: das Wetter. Und es kam,<br />
wie es kommen musste. Das wechselhafte Jahr<br />
2011 machte den Dreharbeiten ein ums an<strong>der</strong>e<br />
Mal einen Strich durch die Route. Im Frühjahr war<br />
es <strong>der</strong> Schnee, im Sommer <strong>der</strong> Regen. Erst eine<br />
Nachdrehphase im August brachte die Bil<strong>der</strong>, die<br />
sich alle erhofft hatten. Und was für Bil<strong>der</strong>! Die<br />
»Huberbuam« sind nur etwas für Schwindelfreie,<br />
Aufbruch in eine neue Dimension<br />
I 89
Regisseur Jens Monath und das<br />
Team beim Dreh<br />
Die »Huberbuam« in <strong>der</strong> Steilwand<br />
denn wohl noch nie ist es einer Fernsehdokumentation<br />
gelungen, das atemberaubende Gefühl <strong>des</strong><br />
Extremkletterns so sehr einzufangen. Wenn Thomas<br />
Huber auf dem Bildschirm ins Seil stürzt,<br />
zieht <strong>der</strong> Zuschauer hörbar den Atem ein.<br />
Als am 29. September das Licht in <strong>der</strong> Konferenzzone<br />
wie<strong>der</strong> anging, setzte tosen<strong>der</strong> Applaus ein,<br />
und wohl eine komplette Felswand fiel den Machern<br />
vom Herzen. Im Schutz <strong>der</strong> Dunkelheit<br />
waren die Protagonisten Thomas und Alexan<strong>der</strong><br />
Huber in den Vorführraum gekommen und gingen<br />
nun nach vorn auf die Bühne: Zu Recht können<br />
auch die beiden stolz sein auf einen Film, mit dem<br />
das ZDF einmal mehr Innovationskraft bewiesen<br />
hat.<br />
Die Resonanz in <strong>der</strong> Presse auf den mutigen Vorstoß<br />
<strong>des</strong> ZDF war riesig. Die Fachorgane lobten<br />
den Mut und die technische Perfektion, aber auch<br />
Programmzeitschriften, Tageszeitungen und Wochenmagazine<br />
wie die BUNTE, berichteten höchst<br />
interessiert. Immer wie<strong>der</strong> wurde das ZDF mit <strong>der</strong><br />
Frage konfrontiert, ob die »Huberbuam« <strong>der</strong> Auftakt<br />
zu weiteren 3D-Aktivitäten <strong>des</strong> ZDF seien.<br />
Eine Frage, die während <strong>der</strong> Produktionszeit noch<br />
zweitrangig war: Galt es hier doch erst einmal, zu<br />
lernen und zu experimentieren.<br />
90 I<br />
2011.Jahrbuch
Höhenrausch mit den »Huberbuam«<br />
Ein Pilotprojekt, zwei Extremkletterer, drei Dimensionen<br />
Angefangen hat alles im Sommer 2010. 3D<br />
war das Thema auf den Messen und in <strong>der</strong><br />
Doku-Branche. Je<strong>der</strong> suchte seinen »Avatar«<br />
– wir machten uns mit maßgeschnei<strong>der</strong>tem<br />
Equipement auf in die Alpen. Dabei ist<br />
die Technik alles an<strong>der</strong>e als neu.<br />
Schon <strong>der</strong> erste 3D-Film <strong>der</strong> Brü<strong>der</strong> Lumière vor<br />
über 100 Jahren war das Gesprächsthema: Die<br />
Kinobesucher flüchteten aus dem Vorführsaal,<br />
weil sie Panik bekamen, als plötzlich ein Zug wie<br />
von Geisterhand gesteuert vor die Leinwand trat.<br />
Seitdem wurden viele weitere Anläufe mit <strong>der</strong> Dreidimensionalität<br />
unternommen. Meistens dann,<br />
wenn die Kinokassen und -säle leer blieben und<br />
das Fernsehen den Vorzügen <strong>des</strong> Kinos bedenklich<br />
nahe kam. 3D war über Jahrzehnte nur ein<br />
Joker in <strong>der</strong> Krise <strong>der</strong> Filmindustrie. Und fast je<strong>des</strong><br />
Mal wurde eine Zeitenwende prognostiziert mit<br />
vollmundigen Voraussagen: Niemand käme an<br />
<strong>der</strong> Technik vorbei. In wenigen Jahren würden alle<br />
nur noch im stereoskopischen Verfahren senden.<br />
Und schließlich hat bei <strong>der</strong> neuesten Diskussion<br />
ein schillern<strong>des</strong> Projekt alles verän<strong>der</strong>t. Eine Produktion,<br />
die zur Nummer eins unter den Blockbustern<br />
wurde: »Avatar« – <strong>der</strong> erfolgreichste Film aller<br />
Zeiten. Seitdem ist kein Monat, ja fast keine<br />
Woche vergangen, ohne dass unsere Redaktion<br />
mit neuen Angeboten für schicke 3D-Dokumentationen<br />
bombardiert wurde: Ägypten in 3D, Berlin in<br />
3D, die Schlacht von Waterloo in 3D, Deutschland<br />
von oben, von unten und von <strong>der</strong> Seite in 3D.<br />
»Terra X«, so die Meinung von außen, könne doch<br />
Vorreiter sein, so wie damals, als wir »Michelangelo«,<br />
die erste HD-Doku <strong>des</strong> ZDF, erstellt haben.<br />
Schließlich sei ja sogar eine Dokumentation über<br />
Tanzende ein großer Erfolg, schallte es uns entgegen:<br />
Wim Wen<strong>der</strong>s’ Film über Pina Bausch. Hat<br />
aber die neue Tiefendimension tatsächlich das<br />
Zeug, um sich zu etablieren?<br />
In den vergangenen zwei Jahren ist die Zahl <strong>der</strong><br />
3D-Kinofilme sprunghaft angestiegen. Große<br />
Kinoproduktionen wie »Harry Potter« o<strong>der</strong> »Transformers«<br />
wurden sowohl als 2D- wie auch als 3D-<br />
Version angeboten. Die Filmindustrie investiert<br />
kräftig. Die Welle bewegte auch das Fernsehen:<br />
Gab es 2010 weltweit etwa zehn Sen<strong>der</strong>, die ausschließlich<br />
in 3D ausgestrahlt haben, sind es<br />
mittlerweile über 40. Immer häufiger hören wir bei<br />
den Koproduktionsgesprächen: »Do you plan a<br />
3D version?«. In den großen Hauptprogrammen<br />
ist die Ausstrahlung mit <strong>der</strong> dritten Dimension<br />
<strong>der</strong>weil nicht gebräuchlich. Noch ist es schwer, ein<br />
Massenpublikum zu erreichen: Der entsprechende<br />
Fernsehapparat sowie die Spezialbrille für das<br />
räumliche Sehen stellen noch erhebliche Hürden<br />
dar. Außerdem fehlen noch etliche Erfahrungswerte.<br />
»Die Huberbuam« sollten als erste 3D-Eigenproduktion<br />
eines öffentlich-rechtlichen Sen<strong>der</strong>s Licht<br />
ins Dunkel bringen. Wie entwickeln sich die tatsächlichen<br />
Kosten? Wie funktioniert <strong>der</strong> Workflow?<br />
Wie beschwerlich ist es, die 3D-Effekte (die so<br />
genannte »negative Paralaxe«) zu erzeugen? Unsere<br />
Filmidee war, die Extremkletterer Thomas<br />
und Alexan<strong>der</strong> Huber bei ihrer letzten großen Herausfor<strong>der</strong>ung<br />
zu begleiten. Die bayerischen Brü<strong>der</strong><br />
gehören zur Weltklasse in ihrem Sport und<br />
blicken auf eine lange, an Höhepunkten reiche<br />
Karriere zurück. Sie haben das Freiklettern in neue<br />
Dimensionen geführt, wegen ihnen musste die<br />
Skala <strong>der</strong> Schwierigkeitsgrade neu definiert werden.<br />
Sie waren die ersten, die beim Freiklettern<br />
fast Übermenschliches leisteten: »Bei Fehlgriff tot«<br />
titelte einst die Süddeutsche Zeitung über die<br />
Alexan<strong>der</strong> Hesse<br />
Leiter <strong>der</strong> Redaktion Geschichte<br />
und Gesellschaft<br />
Jens Monath<br />
Redaktion Geschichte und<br />
Gesellschaft<br />
Höhenrausch mit den »Huberbuam«<br />
I 91
Thomas und Alexan<strong>der</strong> Huber<br />
sind am Ziel<br />
selbst gewählten Herausfor<strong>der</strong>ungen <strong>des</strong> Doppels.<br />
Vor ihrem Abschied vom Hochleistungsklettern<br />
wollten sie nun die »Karma-Route« bewältigen,<br />
eine letzte Klettertour mit höchstem Anspruch.<br />
Mit dem eher schmalen Budget für eine 15-minütige<br />
Feiertagsdoku war immerhin ein gewisser finanzieller<br />
Grundstock gelegt. Wer aber würde<br />
noch einsteigen in das Projekt, wer hat Interesse<br />
an <strong>der</strong> Innovation? Viele waren sofort dabei: ZDF<br />
Enterprises hat das Projekt von vornherein mit initiiert.<br />
Das Geschäftsfeld Bildgestaltung mit Matthias<br />
Haedecke (siehe Aufbruch in eine neue Dimension<br />
von Matthias Haedecke in diesem Band) war<br />
von Anfang an im Boot und ein Motor <strong>der</strong> Produktion.<br />
Auch die Hauptredaktion Neue Medien ist mit<br />
eingestiegen, ebenso <strong>der</strong> Kreativitätsfond-Ausschuss,<br />
das Koordinationsbüro Produktionsmanagement,<br />
ZDFneo, ZDFinfo sowie die Aus- und<br />
Fortbildung mit Andrea Brandis.<br />
Die Dreharbeiten fanden im Juni und August 2011<br />
in Berchtesgaden und in Österreich statt. Das Alpenpanorama<br />
garantierte dabei eine Kulisse mit<br />
mehreren Bildebenen – eine gute Voraussetzung,<br />
um anschauliche 3D-Effekte zu erzielen. Wie auf<br />
<strong>der</strong> Theaterbühne ergibt sich nur durch die klare<br />
Verteilung von Vor<strong>der</strong>-, Mittel- und Hintergrund<br />
eine räumliche Tiefe. Wie aber mit all dem Equipement<br />
aus <strong>der</strong> Tiefe in die schwindelerregenden<br />
Höhen kommen – mit den besten Geschwindigkeitskletterern<br />
<strong>der</strong> Nation? Kameras und Kameramänner<br />
mussten auf den Berg und in die Wand<br />
gebracht werden, was schon bei einer 2D-Produktion<br />
eine enorme Herausfor<strong>der</strong>ung darstellt.<br />
Bislang existierte auch kein bergtaugliches 3D-<br />
Kamerasystem. Ein halbes Jahr dauerte es letztlich<br />
für Produktionsleiter Peter Borig und das<br />
Team, bis geeignete Kameras umgebaut waren<br />
und zwei Berg-Kameraleute verpflichtet werden<br />
konnten. Zudem begleitete Alaric Hamacher als<br />
so genannter Stereograf das Projekt. Er war ausschließlich<br />
dafür verantwortlich, die 3D-Effekte in<br />
Abstimmung mit dem Kameramann Claus Köppinger<br />
und dem Regisseur Jens Monath umzusetzen.<br />
Entstanden ist ein facettenreiches Porträt, in<br />
dem grandiose Kletterszenen mit bewegenden<br />
Statements verknüpft sind (und ein Schnittprojekt<br />
für Cutter Frank Flick mit abenteuerlichem Speicherdurst).<br />
Die Brü<strong>der</strong> erzählen nicht nur von<br />
ihrem Sport, son<strong>der</strong>n auch von krisenhaften Lebenssituationen<br />
und schicksalhaften Momenten.<br />
Die Offenlegungen <strong>der</strong> beiden Alpinisten waren<br />
min<strong>des</strong>tens so eindrucksvoll wie die 3D-Effekte<br />
<strong>der</strong> technischen Abteilung. Die spektakulären<br />
Aufnahmen gingen <strong>des</strong>wegen unter die Haut, weil<br />
unsere Protagonisten viel von sich preisgaben<br />
und tief blicken ließen. Die Bil<strong>der</strong> – auch in <strong>der</strong><br />
schönen neuen Welt <strong>der</strong> dritten Dimension – und<br />
die Geschichte verbanden sich zu einer untrennbaren<br />
Seilschaft.<br />
92 I<br />
2011.Jahrbuch
Die »Huberbuam« in Aktion<br />
Die Reaktionen auf die Dokumentation, in <strong>der</strong><br />
langen 3D-Version nur übers Netz abrufbar, fielen<br />
wie erhofft aus: »Der Film gilt in Sachen Technik,<br />
Produktionsbedingungen und Machart als wegweisend<br />
für 3D im Fernsehen« (Medien Bulletin),<br />
»Das ZDF produziert (…) kein kleines Testvideo,<br />
son<strong>der</strong>n reichlich spektakuläres Extremst-Klettern<br />
mit den Huberbuam« (Professional Production),<br />
»Dass <strong>der</strong> Sen<strong>der</strong> damit in Deutschland als Vorreiter<br />
im 3D-Bereich zu gelten hat, steht wohl außer<br />
Frage« (Kameramann).<br />
Das Projekt hat eine Spur gezogen, auch wenn 3D<br />
im Fernsehen noch lange eine Nische bleiben<br />
wird. Fakt ist aber auch, dass man die Technik auf<br />
Spielkonsolen, Handys und Laptops immer<br />
selbstverständlicher antrifft und antreffen wird. Irgendwann<br />
werden die Spezialbrillen verschwinden<br />
und damit die größte Zugangsbarriere. Auch<br />
die bislang hohen Kosten für 3D – gegenüber<br />
2D-Produktionen ist ein knapp doppelt so großer<br />
Etat fällig – werden sich, wie bei an<strong>der</strong>en neuen<br />
technischen Verfahren, verringern. Mit den »Huberbuam«<br />
haben wir die erste Etappe auf einer<br />
ungewissen TV-Tour bewältigt und uns auf Neuland<br />
begeben. Für Kulturchef Peter Arens dürfte<br />
nun auch <strong>der</strong> nächste Schritt folgen: »Nun, wo wir<br />
Amerika entdeckt haben, sollten wir es auch besiedeln«.<br />
Wir nehmen jedenfalls gerne unsere<br />
Ausrüstung und unser Wissen wie<strong>der</strong> in die Hand:<br />
für einen weiteren Vorstoß in die gar nicht mehr so<br />
unbekannte dritte Dimension.<br />
Höhenrausch mit den »Huberbuam«<br />
I 93
»Der Heilige Krieg«<br />
O<strong>der</strong>: Die Gegenwart <strong>der</strong> Vergangenheit<br />
Stefan Brauburger<br />
Redaktion Zeitgeschichte<br />
Georg Graffe<br />
Hauptredaktion Kultur und<br />
Wissenschaft/Redaktion<br />
Geschichte und Gesellschaft<br />
Welcher Programmakzent ist für den zehnten<br />
<strong>Jahres</strong>tag <strong>des</strong> 11. September angemessen?<br />
Allein im ZDF ist <strong>der</strong> Terrorakt, <strong>der</strong> die Welt<br />
erschütterte, in hun<strong>der</strong>ten Programmstunden<br />
beleuchtet worden. Kann man <strong>der</strong> Aufarbeitung<br />
<strong>des</strong> Geschehens überhaupt noch etwas<br />
hinzufügen? Und wenn ja, was? Bei <strong>der</strong><br />
Suche nach Antworten entstand die Idee zur<br />
Reihe »Der Heilige Krieg«. Die Filme führen<br />
vor Augen, wie im Lauf <strong>der</strong> Jahrhun<strong>der</strong>te auf<br />
christlicher und muslimischer Seite religiöse<br />
Gefühle für politische Zwecke mobilisiert und<br />
missbraucht wurden. Sie zeigen aber auch,<br />
dass es immer Gemeinsamkeiten gab und die<br />
Sehnsucht nach Frieden.<br />
Der 11. September ist nicht nur eine Zäsur <strong>der</strong><br />
Weltgeschichte, er ist auch ein Moment, <strong>der</strong> die<br />
Erinnerung ganzer Generationen prägt. Die Bil<strong>der</strong><br />
von dem verheerenden Anschlag auf die Twin<br />
Towers sind von prägen<strong>der</strong> Symbolkraft, wecken<br />
immer noch Ängste, aber auch Vorurteile. Die Urheber<br />
<strong>des</strong> Anschlags sahen sich als Gotteskrieger.<br />
Al-Kaida hatte eigenmächtig den »Dschihad«<br />
ausgerufen und wollte ihn in das Herz <strong>der</strong> westlichen<br />
Supermacht tragen. Seither sehen sich<br />
Muslime oft pauschal dem Vorwurf ausgesetzt,<br />
<strong>der</strong> »Heilige Krieg« sei ein fester Bestandteil ihres<br />
Glaubens, ihre Religion neige zur Gewalt.<br />
Doch militanter Islamismus ist nicht gleichzusetzen<br />
mit Islam. Zudem wird oft übersehen, dass<br />
das Phänomen <strong>des</strong> »Heiligen Krieges« im Lauf <strong>der</strong><br />
Geschichte keineswegs auf den muslimischen<br />
Kulturkreis beschränkt war, dass viele blutige Kriege<br />
im Namen Gottes nicht zuletzt zwischen den<br />
christlichen Konfessionen geführt wurden. Dies<br />
galt es herauszuarbeiten. Insofern gab es wichtige<br />
Gründe, zum zehnten <strong>Jahres</strong>tag <strong>des</strong> Anschlags<br />
auf das World Trade Center einen Programmakzent<br />
zu setzen, <strong>der</strong> das Thema grundlegen<strong>der</strong><br />
spiegelt und auch historisch reflektiert.<br />
So beleuchtet die fünfteilige Reihe sowohl die islamische<br />
als auch die christliche Perspektive. Die<br />
Filme führen vor Augen, welchen Einfluss die<br />
Denkmuster so genannter »Heiliger Kriege« auf<br />
das Verhältnis zwischen den Religionen bis heute<br />
haben. Die Reihe soll aber auch zeigen, dass es<br />
immer auch das Miteinan<strong>der</strong> gab und eine gegenseitige<br />
Befruchtung <strong>der</strong> Kulturen.<br />
Nie zuvor wurde das Thema im Fernsehen so<br />
aufwändig und zur besten Sendezeit dargestellt.<br />
Osama bin Laden hört die Nachrichten<br />
vom Anschlag auf das<br />
World Trade Center<br />
Al-Kaida-Kämpfer<br />
94 I<br />
2011.Jahrbuch
Bei <strong>der</strong> Schlacht von Tours und<br />
Poitiers im Jahr 732 wurde <strong>der</strong><br />
Vormarsch <strong>der</strong> Muslime in Europa<br />
gestoppt<br />
Tariq ibn Ziyad erobert das Westgotenreich<br />
in Spanien<br />
Ein weiteres Mal, nach zwei Staffeln »Die Deutschen«,<br />
haben die Hauptredaktion Kultur und<br />
Wissenschaft und die Redaktion Zeitgeschichte<br />
miteinan<strong>der</strong> kooperiert, das in Jahren gewachsene<br />
Know-how eingebracht und die Autoren gestellt.<br />
Wie<strong>der</strong> war die Gruppe 5 mit Produzent Uwe<br />
Kersken mit <strong>der</strong> Herstellung beauftragt. Wie<strong>der</strong><br />
entstand in Zusammenarbeit mit <strong>der</strong> Hauptredaktion<br />
Neue Medien ein umfassen<strong>des</strong> multimediales<br />
Onlineportal. Wie<strong>der</strong> wurde das Projekt von renommierten<br />
Wissenschaftlern begleitet, und einmal<br />
mehr hat <strong>der</strong> Geschichtslehrerverband Unterrichtsmaterial<br />
zu einer historischen Dokumentarreihe<br />
erarbeitet.<br />
Dramaturgisch stellte uns das Projekt vor größere<br />
Herausfor<strong>der</strong>ungen als die Reihe »Die Deutschen«,<br />
denn dort standen prominente historische<br />
Figuren im Vor<strong>der</strong>grund, die den Blick in die historischen<br />
Epochen ebneten. Ihr Schicksal, ihr Werdegang<br />
konnte als Leitfaden für die Filme dienen.<br />
Es ist aber ungleich schwerer, vergleichbare Protagonisten<br />
für ein Thema wie »Der Heilige Krieg«<br />
zu finden. Denn hier ging es darum, entscheidende<br />
historische Momente zu markieren, die beispielhaft<br />
und symptomatisch für die Tradition <strong>der</strong><br />
angeblich »Heiligen Kriege« waren.<br />
So ergab sich eine ereignisorientierte, chronologische<br />
Glie<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Reihe. Sie setzt bei <strong>der</strong> Ausbreitung<br />
<strong>der</strong> muslimischen Religion nach ihrer<br />
Gründung durch Mohammed im siebten Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
ein. Im Gang durch die Geschichte beleuchtet<br />
die Reihe die mittelalterlichen Kreuzzüge, die<br />
Expansion <strong>des</strong> Osmanischen Reiches und den<br />
vom deutschen Kaiser Wilhelm II. angezettelten<br />
»Dschihad« im Ersten Weltkrieg. Am Ende stehen<br />
Osama bin Laden und sein Terrornetzwerk Al-<br />
Kaida. Immer wie<strong>der</strong> galt es, zu zeigen, dass es<br />
bei allen so genannten »Heiligen Kriegen« letztlich<br />
vor allem um irdische Motive ging: Beute, Macht<br />
und Einfluss.<br />
Da es sich weitgehend um historische Stoffe handelt,<br />
wurde die gesamte Reihe als szenische<br />
Dokumentation gestaltet. Lediglich bei den Folgen<br />
über den Kolonialismus und die Konflikte im<br />
20. Jahrhun<strong>der</strong>t war es möglich, Archivfilme einzubeziehen.<br />
Die erste Folge <strong>der</strong> Reihe erreichte den<br />
höchsten szenischen Anteil von etwa 60 Prozent,<br />
bei Folge fünf lag er am niedrigsten.<br />
An bewährten Drehorten in Marokko und Rumänien<br />
– insgesamt über 60 Sets – wurden wesentliche<br />
historische Momente rekonstruiert. Daran<br />
wirkten nicht nur 80 Schauspieler mit; auch 1 700<br />
Komparsentage und 200 Einsatztage für Pferde<br />
waren am Ende zu verbuchen.<br />
Die Kameraführung wurde gegenüber früheren<br />
Dokumentarreihen durch mehr subjektive Einstellungen,<br />
mehr Bewegung und unkonventionelle<br />
»Der Heilige Krieg«<br />
I 95
Gottfried von Bouillon ist einer <strong>der</strong><br />
Führer <strong>des</strong> ersten Kreuzzugs<br />
Gebet vor dem großen Aufbruch<br />
ins Heilige Land<br />
Ausschnitte modifiziert – möglichst nah an den<br />
Protagonisten. Bei den Dreharbeiten erwies sich<br />
auch, wie nah Geschichte und Gegenwart beieinan<strong>der</strong><br />
liegen können. Einige wichtige Szenen<br />
wurden in <strong>der</strong> Innenstadt von Marrakesch aufgenommen.<br />
Während <strong>der</strong> Dreharbeiten ereignete<br />
sich <strong>der</strong> blutige Anschlag Al-Kaidas auf dem<br />
»Platz <strong>der</strong> Gehenkten«, in <strong>des</strong>sen unmittelbarer<br />
Nähe das Team wohnte und arbeitete. Es war zu<br />
befürchten, dass die Regierung Drehgenehmigungen<br />
zurücknimmt o<strong>der</strong> die Filmemacher auffor<strong>der</strong>t,<br />
das Land zu verlassen. Dazu kam es zwar<br />
nicht, doch es blieb spannend. Am 2. Mai 2011<br />
ging die Nachricht vom Tod Osama bin Ladens<br />
um die Welt. Das Drehteam arbeitete gerade an<br />
einer Szene mit dem von einem Schauspieler dargestellten<br />
Al-Kaida-Führer. Die Realität hatte das<br />
Projekt nicht nur eingeholt, son<strong>der</strong>n überholt. Dem<br />
Drehbuch wurde eine weitere Szene hinzugefügt:<br />
»Osamas Ende« – gedreht wurde diese allerdings<br />
in Deutschland.<br />
Nicht nur bei <strong>der</strong> Gestaltung <strong>der</strong> Szenen stimmten<br />
sich die Autoren mit historischen Fachberatern ab.<br />
Auch bei dieser Reihe galt <strong>der</strong> Grundsatz, den<br />
aktuellen Stand <strong>der</strong> Forschung zur Geltung zu<br />
bringen. Stärker als etwa bei <strong>der</strong> Reihe »Die Deutschen«<br />
haben wir diesmal auf eine direktere Verzahnung<br />
zwischen den Statements <strong>der</strong> Fachberater<br />
und dem filmischen Ablauf geachtet, um die<br />
Aussagen organischer einzubinden. Und zwar<br />
sowohl inhaltlich als auch durch die Dynamik <strong>der</strong><br />
Kameraführung. Auf diese Weise haben wir versucht,<br />
die Authentizität bestimmter Schlüsselmomente<br />
im Film durch die Schil<strong>der</strong>ungen und<br />
Kommentare von Experten zu unterstreichen. In<br />
dieser Verwebung von Statement und Film liegen<br />
noch weitere Potenziale, um wissenschaftliche<br />
Expertise ansprechend darzustellen.<br />
Aufwändige CGI (Common Gateway Interface)<br />
verschaffen <strong>der</strong> Reihe in weiten Passagen einen<br />
kinoartigen Look: Etwa bei Massenszenen wie <strong>der</strong><br />
Schlacht bei Tours im Jahr 732, bei <strong>der</strong> Belagerung<br />
Wiens 1683 o<strong>der</strong> beim Triumphzug Wilhelms<br />
II. durch Jerusalem.<br />
Über 100 so genannte Compositings wurden gefertigt:<br />
Das sind Kombinationen von nachgestellten<br />
Szenen mit aufwändigen Computerrekonstruktionen<br />
historischer Schauplätze. Dadurch kann<br />
man die Schauspieler in eine historische Kulisse<br />
einbetten, die gar nicht mehr vorhanden ist. Auch<br />
hier half <strong>der</strong> Rat <strong>der</strong> Experten. Anhand von historischen<br />
Aufzeichnungen, Bauplänen und an<strong>der</strong>en<br />
Überlieferungen gelang es, originalgetreue<br />
Schauplätze zu rekonstruieren, etwa das frühe<br />
Mekka o<strong>der</strong> das mittelalterliche Jerusalem. Bei<br />
<strong>der</strong> Darstellung von Schlachten wurde nicht nur<br />
auf die möglichst genaue Rekonstruktion <strong>des</strong> Geschehens<br />
geachtet, son<strong>der</strong>n auch auf die landschaftlichen<br />
Verhältnisse.<br />
96 I<br />
2011.Jahrbuch
Auch bei dem Projekt »Der Heilige Krieg« beschränkt<br />
sich das redaktionelle Angebot nicht nur<br />
auf die Filme. Wie schon bei den »Deutschen« bot<br />
das ZDF in Zusammenarbeit mit dem Verband <strong>der</strong><br />
Geschichtslehrer Deutschlands (VGD) zu allen<br />
fünf Folgen didaktisch aufbereitetes Material zum<br />
Download an – von Lehrern für Lehrer erarbeitete<br />
Materialien, mit Anregungen zur Gestaltung <strong>des</strong><br />
Unterrichts. In Zusammenarbeit mit ZDF.de entstand<br />
ein reichhaltiges crossmediales Angebot in<br />
einem umfangreichen projektbegleitenden Onlineportal.<br />
Der User wird dadurch in die Lage versetzt,<br />
mithilfe eines Zeitstrahls, einer Ereigniskarte<br />
und Schlagwörtern wesentliche Facetten <strong>der</strong> Beziehungsgeschichte<br />
von Christen und Muslimen<br />
zu ergründen.<br />
Dabei zeigt sich, wie Geschichte immer wie<strong>der</strong> in<br />
die Gegenwart ragt. Die fünf Filme und Begleitmaterialien<br />
führen vor Augen, wie über die Jahrhun<strong>der</strong>te<br />
auf beiden Seiten <strong>der</strong> Glaube für politische<br />
Zwecke instrumentalisiert wurde, wie dabei Denkmuster<br />
entstanden, die zum Teil heute noch wirksam<br />
sind. Dabei soll es nicht nur um die Frage<br />
gehen, was trennte, son<strong>der</strong>n auch, was einte, und<br />
welche Gemeinsamkeiten es im Kampf gegen<br />
jede Form von religiösem Extremismus heute gibt.<br />
Die arabische Welt befindet sich im Umbruch. Es<br />
gibt begründete Hoffnungen auf eine Demokratisierung<br />
und neue Impulse zur Lösung <strong>des</strong> Nahost-Konflikts,<br />
aber auch Sorgen: Wie viel Nähe<br />
o<strong>der</strong> Ferne zum Westen steckt in den Befreiungsbewegungen,<br />
inwiefern könnten islamistische<br />
Gruppen an Einfluss gewinnen? Wird sich die<br />
junge »Arabellion« als resistent gegen fundamentalistische<br />
Einflüsse erweisen? Wie wirkt sie sich<br />
auf die Sicherheitsarchitektur <strong>des</strong> Nahen Ostens<br />
aus?<br />
Jetzt ist <strong>der</strong> Zeitpunkt, das Erbe <strong>der</strong> Vergangenheit<br />
gemeinsam zu reflektieren. Eine solche Kommunikation<br />
braucht zuallererst die Bereitschaft,<br />
etwas über den an<strong>der</strong>en erfahren zu wollen. Er<br />
bedeutet, neugierig auf das an<strong>der</strong>e zu sein, sich<br />
über Gemeinsames und Unterscheiden<strong>des</strong> auszutauschen.<br />
Ohne Wissen übereinan<strong>der</strong> gibt es<br />
kein Verständnis füreinan<strong>der</strong>.<br />
Wie viel Einvernehmen gibt es mit Millionen von<br />
islamischen Mitbürgern hierzulande, im Bemühen<br />
um Freiheit, Toleranz, Pluralismus, Demokratie<br />
und Frieden? Gemeinsam gilt es sicherzustellen,<br />
dass sich religiöse Normen nicht über Prinzipien<br />
<strong>der</strong> freiheitlichen Verfassung erheben.<br />
Dazu zählt auch <strong>der</strong> Konsens darüber, dass so<br />
genannte »Heilige Kriege«, von wem auch immer<br />
sie geführt werden, nie heilig sind und dass sie<br />
einer vergangenen Zeit angehören.<br />
»Der Heilige Krieg«<br />
I 97
Der »ZDF-Fernsehgarten«<br />
25 Jahre Musik, Show und Service nah am Zuschauer<br />
Christoph Hillenbrand<br />
Stoffführen<strong>der</strong> Redakteur in <strong>der</strong><br />
Hauptredaktion Show<br />
Im Jahr 1986 hat sich das ZDF mit dem »ZDF-<br />
Fernsehgarten« ein ganz außergewöhnliches<br />
Sendungspflänzchen in den Garten gestellt.<br />
Damals ahnte noch niemand, dass es über<br />
einen <strong>der</strong>art langen Zeitraum erfolgreich<br />
wachsen und sich ausbreiten würde.<br />
Vor 25 Jahren, am 29. Juni 1986, betrat man im<br />
ZDF mit dem »ZDF-Fernsehgarten« echtes Fernsehneuland.<br />
In Gesprächen, die man mit den Pionieren<br />
und Gründungsvätern <strong>der</strong> Sendung führt,<br />
spürt man die große Energie, die trotz aller<br />
Schwierigkeiten vom Start <strong>des</strong> Formats ausging<br />
und die dieses auch heute noch antreibt.<br />
Im Jahr 1985 hatte <strong>der</strong> damalige Intendant, Professor<br />
Dieter Stolte, die Idee, auf einer großen<br />
Freifläche auf dem Gelände <strong>des</strong> ZDF einen »Sommergarten«<br />
zu installieren. Eine Arbeitsgruppe<br />
unter <strong>der</strong> Fe<strong>der</strong>führung <strong>des</strong> damaligen Programmdirektors<br />
Alois Schardt entwickelte das<br />
Konzept einer Art »Sonntagszeitung« im Fernsehen.<br />
Inhaltlich sollte es eine Mischung aus Unterhaltung<br />
und journalistischer Information sein. Die<br />
Umsetzung wurde im Januar 1986 in die Hände<br />
<strong>der</strong> Redaktion Show III unter <strong>der</strong> Leitung von Harald<br />
Müller gelegt.<br />
Dann musste alles sehr schnell gehen, man wollte<br />
schließlich bereits wenige Monate später auf Sendung<br />
gehen. Nicht nur die Inhalte zur Sendung<br />
wurden von <strong>der</strong> damals dreiköpfigen Redaktion<br />
geplant, auch das Gelände musste in Zusammenarbeit<br />
mit allen Fachbereichen auf die bevorstehenden<br />
Programmpunkte und die Besucherinnen<br />
und Besucher vorbereitet werden. In einem riesigen<br />
Kraftakt wurde das Gelände umgestaltet und<br />
funktionell ausgebaut.<br />
In den ersten Sendungswochen <strong>des</strong> »ZDF-Fernsehgartens«<br />
mussten Redaktion, Produktion und<br />
alle beteiligten Gewerke einem Zuschaueransturm<br />
gerecht werden, <strong>der</strong> so nicht absehbar gewesen<br />
war. Der kostenlose Eintritt, die Zusammenarbeit<br />
mit einer großen deutschen Sonntagszeitung und<br />
das Staraufgebot ließen die Sendung innerhalb<br />
weniger Wochen bun<strong>des</strong>weite Popularität erreichen.<br />
Kamen zur ersten Sendung statt <strong>der</strong> erwarteten<br />
350 Zuschauerinnen und Zuschauer bereits<br />
etwa 1 000, so steigerte sich dies in den folgenden<br />
Wochen bis hin zu 5 000 Besucherinnen und<br />
Besucher. Dem war die Infrastruktur nicht gewachsen,<br />
und so musste beispielsweise schon<br />
nach wenigen Wochen ein neuer Rollrasen gelegt<br />
werden.<br />
Ilona Christen, die erste Mo<strong>der</strong>atorin<br />
<strong>des</strong> »ZDF-Fernsehgartens«<br />
Ramona Leiß mit Fernsehkoch<br />
Johann Lafer<br />
98 I<br />
2011.Jahrbuch
Inhaltlich hatte man sich auf die Fahne geschrieben,<br />
am Sonntagvormittag Attraktionen in die<br />
deutschen Wohnzimmer zu bringen, die man<br />
noch nie im Fernsehen gesehen hatte o<strong>der</strong> bestenfalls<br />
aus großen Abendshows kannte, dazu<br />
Service und Information. Man versprach in Trailern<br />
und Zeitungsanzeigen »Fernsehen zum Anfassen«.<br />
Spiegelbild <strong>des</strong>sen wurde die erste »Fernsehgärtnerin«<br />
Ilona Christen und fortan alle Mo<strong>der</strong>atorinnen<br />
und Mo<strong>der</strong>atoren, aber auch prominente<br />
Gäste, die stellvertretend für die Zuschauer<br />
alles mitmachten und ausprobierten.<br />
Nach den ersten acht erfolgreichen Wochen<br />
wurde das ganze Team <strong>des</strong> »ZDF-Fernsehgartens«<br />
auf eine harte Probe gestellt: Die Sendung<br />
vom 24. August 1986 war völlig verregnet. Aufgrund<br />
<strong>des</strong> riesigen Zuschauerzuspruchs von<br />
1 500 Besucherinnen und Besuchern entschied<br />
man sich entgegen vieler Warnungen, die Sendung<br />
im strömenden Regen live zu senden und<br />
nicht in das parallel angemietete Studio 3 auszuweichen,<br />
welches höchstens 200 Menschen Platz<br />
geboten hätte. Die Entscheidung war goldrichtig.<br />
Ilona Christen mo<strong>der</strong>ierte gewohnt fröhlich mit<br />
Regenschirm, die Künstler traten barfuß o<strong>der</strong> mit<br />
Schwimmflossen auf, und die Formationstänzer<br />
zeigten ihr Können in Regenmänteln und Gummistiefeln.<br />
Am nächsten Tag meldete sich Professor<br />
Dieter Stolte bei Ulrich Erdt, dem verantwortlichen<br />
Redakteur, und bemerkte, dies sei eine <strong>der</strong> besten<br />
Sendungen gewesen, die er je gesehen habe.<br />
Das im Jahr 1997 auf <strong>der</strong> zentralen Spielfläche<br />
angebrachte Dach wurde für die Sendung jedoch<br />
eine dringend notwendige Entlastung und wichtig<br />
für einen neuen Sicherheitsstandard. Artisten und<br />
Künstler konnten so auch bei schlechten Wetterverhältnissen<br />
auftreten.<br />
In den folgenden Jahren konnte <strong>der</strong> »ZDF-Fernsehgarten«<br />
seine Stellung in <strong>der</strong> TV-Landschaft<br />
halten und sogar ausbauen. Nationale und internationale<br />
Künstler gaben sich die Klinke in die<br />
Hand. So fanden waghalsige Artistiken und spektakuläre<br />
Stunts statt, Raketenautos und alle möglichen<br />
Arten von fahrbaren Untersätzen trafen hier<br />
aufeinan<strong>der</strong>, Hubschrauber und sogar ein Düsenjet<br />
landeten auf dem Gelände. Vor allem auch im<br />
technischen Bereich verstand sich <strong>der</strong> »ZDF-<br />
Fernsehgarten« von Anfang an als Vorreiter, ob es<br />
um neue Ton- und Kamerasysteme o<strong>der</strong> den<br />
Wechsel von analogen zu digitalen Welten ging.<br />
Für eine Openair-Sendung auf einem sehr großen<br />
Gelände waren stets beson<strong>der</strong>e Lösungen mit<br />
einem hohen Maß an technischer Kompetenz gefragt.<br />
Als Eigenproduktion ist <strong>der</strong> »ZDF-Fernsehgarten«<br />
mitten im ZDF verwurzelt und ein beson<strong>der</strong>es<br />
Erfolgs- und Identifikationsmerkmal für alle<br />
beteiligten Kolleginnen und Kollegen. Die kontinuierlich<br />
gut abgestimmte Zusammenarbeit zwischen<br />
Produktion, Redaktion und allen beteiligten<br />
Fachbereichen ermöglicht seit vielen Jahren eine<br />
vorausschauende und verantwortliche Planung<br />
und Durchführung bei einem relativ kleinen Budget.<br />
Ein ganz eigener Wert war und ist dabei <strong>der</strong><br />
Spaß, mit dem alle Kollegen zusammenarbeiten.<br />
Das Jubiläumsjahr 2011 brachte spannende Herausfor<strong>der</strong>ungen<br />
für die Mo<strong>der</strong>atorin Andrea Kiewel<br />
und das Team. Es galt, das Interesse <strong>der</strong> Zuschauerinnen<br />
und Zuschauer an Retro-Elementen<br />
mit <strong>der</strong> gewohnt aktuellen und mo<strong>der</strong>nen Unterhaltung<br />
zu verknüpfen. Im Laufe <strong>der</strong> Vorbereitungen<br />
wurde schnell klar, dass wir dieses Jubilä-<br />
Andrea Kiewel mit Armin Roßmeier<br />
Der »ZDF-Fernsehgarten«<br />
I 99
umsjahr nicht nur in Feierlaune verbringen und<br />
spektakuläre Programmpunkte auf die Beine stellen<br />
wollten, son<strong>der</strong>n unseren Erfolg nutzen, um<br />
uns für eine gute Sache einzusetzen. So konnten<br />
am Pfingstwochenende und in <strong>der</strong> »XXL-Fernsehgarten-Nacht«<br />
im Rahmen <strong>der</strong> »25-Stunden-<br />
Rutsch-Aktion« 22 222 Euro für den Ausbau <strong>des</strong><br />
Außengelän<strong>des</strong> einer integrativen Kin<strong>der</strong>tagesstätte<br />
gesammelt werden. Für die Redaktion bedeutete<br />
dies, über acht Stunden Programm zu<br />
stemmen. Darüber hinaus wurde natürlich auch<br />
gefeiert. Zum Auftakt überraschte uns unser Chefkoch<br />
Armin Roßmeier mit einer riesigen Torte in<br />
Form <strong>des</strong> »ZDF-Fernsehgarten-Gelän<strong>des</strong>«, welches<br />
er mit einem Team von 25 Konditoren hergestellt<br />
hatte. Zum Staunen gab es eine große Artistik<br />
mit dem »Vertical Orchestra«, und die Mo<strong>der</strong>atorin<br />
Andrea Kiewel wagte sich in einen Stunt, bei<br />
dem sie unter einem Helikopter festgeschnallt<br />
über das Gelände flog. Während <strong>der</strong> ganzen Saison<br />
erreichten uns viele prominente Geburtstagsgrüße<br />
aus <strong>der</strong> Medienwelt, die wir immer wie<strong>der</strong> in<br />
den Sendungen zeigten. Wir konnten auch in<br />
diesem Jahr sowohl mit den monothematischen<br />
Sendungen (Mann/Frau, Fernsehgarten Royal,<br />
Nie<strong>der</strong>lande, Mallorca-Party, 125 Jahre Automobil,<br />
Oktoberfest und das 25-Jahre-Fernsehgarten-<br />
Quiz) als auch mit den Regelsendungen einen<br />
großen Zuspruch bei den Zuschauern erreichen.<br />
Zu guter Letzt ist es mir persönlich sehr wichtig,<br />
allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die seit<br />
<strong>der</strong> Gründung <strong>des</strong> »ZDF-Fernsehgartens« ihre<br />
Beiträge zum anhaltenden Erfolg geleistet haben,<br />
einen herzlichen Dank auszusprechen. In <strong>der</strong><br />
Sommerzeit tragen am Wochenende etwa 150<br />
Kolleginnen und Kollegen dafür Sorge, dass alles<br />
reibungslos abläuft. Beson<strong>der</strong>s herzlich möchte<br />
ich mich noch bei Ulrich Erdt und Gaby Stingl<br />
bedanken, von denen ich in diesem Jahr viel über<br />
die Geschichte und die Geschichten <strong>des</strong> »ZDF-<br />
Fernsehgartens« erfahren habe.<br />
Die Mo<strong>der</strong>atorinnen und Mo<strong>der</strong>atoren <strong>des</strong><br />
»ZDF-Fernsehgartens«<br />
Ilona Christen mo<strong>der</strong>ierte den »ZDF-Fernsehgarten«<br />
von 1986 bis 1992<br />
Ramona Leiß mo<strong>der</strong>ierte den »ZDF-Fernsehgarten«<br />
von 1993 bis 1999<br />
Andrea Kiewel mo<strong>der</strong>iert den »ZDF-Fernsehgarten«<br />
seit 2000 (Ausnahme: 2008)<br />
Im Jahr 2008 mo<strong>der</strong>ierte Ernst-Marcus Thomas<br />
den »ZDF-Fernsehgarten«<br />
Der »ZDF-Fernsehgarten« in Zahlen<br />
1 402 323 Personen besuchten seit 1986 den<br />
»ZDF-Fernsehgarten« als Zuschauer<br />
2 827 musikalische Gäste traten von 1986 bis<br />
2011 auf<br />
Der Openair-Studiobereich misst zirka 30 000<br />
Quadratmeter<br />
12 Kameras kommen pro Sendung zum Einsatz<br />
Etwa 150 Personen arbeiten am Wochenende<br />
am Gelingen <strong>des</strong> »ZDF-Fernsehgartens«<br />
15 Requisitencontainer und 600 Meter Absperrgitter<br />
werden benötigt<br />
Seit 2000 erreichte <strong>der</strong> »ZDF-Fernsehgarten«<br />
durschnittlich 19,4 Prozent Marktanteil und bis<br />
zu 2,88 Millionen Zuschauer<br />
100 I<br />
2011.Jahrbuch
Das ganze Leben ist ein Quiz<br />
Jörg Pilawa und die Faszination <strong>der</strong> Quizshow<br />
Quizshows gehören gewissermaßen zum<br />
Inventar <strong>des</strong> deutschen Fernsehens und zur<br />
Grundausstattung eines jeden großen Sen<strong>der</strong>s.<br />
Spielerische Wissensvermittlung mit<br />
Mehrwert und Emotionen – das ist perfekte<br />
öffentlich-rechtliche Unterhaltung. Jörg Pilawa<br />
setzt im ZDF seit einem Jahr neue Trends<br />
und eine große Tradition fort.<br />
Die erste große Unterhaltungssendung im deutschen<br />
Fernsehen war 1953 eine Quizshow, mo<strong>der</strong>iert<br />
von Hans-Joachim Kulenkampff. Es gibt<br />
weltweit kaum ein Land, das eine so große Vielfalt<br />
an Quizshows vorzuweisen hat wie Deutschland.<br />
Quizshows gehörten schon immer zu den erfolgreichsten<br />
und beliebtesten Sendungen im deutschen<br />
Fernsehen – übrigens auch in <strong>der</strong> DDR –,<br />
die Deutschen lieben Ratesendungen. In den Anfangsjahren<br />
lockten als Gewinn zum Beispiel<br />
Lebensmittel, heute sind es hohe Gewinnsummen,<br />
die für viele Zuschauer einen beson<strong>der</strong>en<br />
Reiz bedeuten. Kandidaten mit einem großen<br />
Wissen faszinieren seit jeher und werden – zumin<strong>des</strong>t<br />
zeitweise – zu nationalen Helden. Auch das<br />
ZDF kann auf eine lange Geschichte mit beliebten<br />
Quizshows zurückblicken: »Der große Preis« mit<br />
Wim Thoelke und »Dalli-Dalli« mit Hans Rosenthal<br />
sind bis heute unvergessen und gehören zu den<br />
ganz großen Klassikern <strong>des</strong> Fernsehens.<br />
Mit Jörg Pilawa hat das ZDF heute einen <strong>der</strong> großen<br />
Quizshow-Mo<strong>der</strong>atoren <strong>des</strong> deutschen Fernsehens<br />
an Bord. Eigentlich wollte Pilawa im ZDF<br />
zunächst eine Late-Night-Talkshow mo<strong>der</strong>ieren.<br />
Zum Glück kam es an<strong>der</strong>s: Gute Talkmaster gibt<br />
es neben Pilawa einige, gute Quizmo<strong>der</strong>atoren<br />
und Showmaster nur sehr wenige. Jörg Pilawa hat<br />
das Quiz-Genre seit mehr als zehn Jahren entscheidend<br />
geprägt, mo<strong>der</strong>nisiert und vorangetrieben.<br />
Wer heutzutage an Quizshows denkt, denkt<br />
zuerst auch an Jörg Pilawa – wer an Jörg Pilawa<br />
denkt, denkt an Quiz. Eine perfekte Symbiose von<br />
Mo<strong>der</strong>ator und Genre. Davon träumt je<strong>der</strong> Showmaster,<br />
aber auch je<strong>der</strong> Sen<strong>der</strong>.<br />
Die Gründe für seinen Erfolg liegen auf <strong>der</strong> Hand:<br />
Pilawa hat eine ehrliche Neugier auf seine Kandidaten,<br />
er hat eine authentische, menschliche und<br />
dennoch humorvolle Art, mit Kandidaten umzugehen.<br />
Und Pilawa hat einen großen Hunger auf<br />
neue Spiel- und Showideen. Für mich ist Jörg<br />
Pilawa <strong>der</strong> Hans Rosenthal <strong>der</strong> Neuzeit – und das<br />
ist das größte Kompliment, das ich einem Showmaster<br />
machen kann. Beide verbindet eine große<br />
Kreativität, sehr viel Fleiß und eine wun<strong>der</strong>bare<br />
Art, ihre Kandidaten und die Sendungen in den<br />
Mittelpunkt zu stellen und nicht sich selbst.<br />
Bislang hat Pilawa im ZDF vor allem »Rette die<br />
Million!« präsentiert. Eine für das ZDF ungewöhnliche<br />
und spannende Gameshow, die aus Großbritannien<br />
nach Deutschland kam. Nachdem die<br />
Show am Anfang noch nicht <strong>der</strong> perfekt zugeschnittene<br />
Maßanzug für den Mo<strong>der</strong>ator war, hat<br />
er sie im Laufe <strong>des</strong> <strong>Jahres</strong> zu seiner Show gemacht,<br />
mehr Emotionalität in die Show gebracht<br />
und das Wissen <strong>der</strong> Kandidaten in den Vor<strong>der</strong>grund<br />
gerückt. Die Zuschauer honorieren das:<br />
»Rette die Million!« ist inzwischen auf Erfolgskurs,<br />
auch bei jungen Zuschauern.<br />
Unterhaltung bedeutet in <strong>der</strong> Regel immer auch<br />
Experiment. Jörg Pilawa steht genau dafür. In den<br />
vergangenen zehn Jahren hat er immer wie<strong>der</strong><br />
neue Show-Ideen realisiert, das Thema Bildung in<br />
seinen »PISA«-Shows für ein Millionenpublikum<br />
samstagabendfähig gemacht o<strong>der</strong> in seiner<br />
»Geschichtsshow«-Reihe im Ersten historisch re-<br />
Andreas Gerling<br />
Hauptredaktion Show/<br />
Programmbereich Quiz und<br />
Formatentwicklung<br />
Das ganze Leben ist ein Quiz<br />
I 101
Pilawa, <strong>der</strong> Mann mit <strong>der</strong> Million<br />
Spannen<strong>des</strong> Märchen-Raten:<br />
Pilawa und die kleinen Kandidaten<br />
levante Themen für ein großes Publikum attraktiv<br />
aufgearbeitet. Jetzt kommt es für ihn und vor<br />
allem für das ZDF darauf an, den nächsten Schritt<br />
zu gehen und diese Genres weiterzuentwickeln,<br />
zu mo<strong>der</strong>nisieren und neue Bereiche <strong>der</strong> Unterhaltung<br />
zu erschließen. Drei Kerngenres <strong>der</strong> Unterhaltung<br />
wird Jörg Pilawa künftig im ZDF bespielen:<br />
Quiz, Wissen und Family-Entertainment.<br />
Pilawa ist einer <strong>der</strong> großen Familien-Entertainer.<br />
Seine herausragende Qualität in diesem Bereich<br />
hat er mit »Deutschlands fantastische Märchenshow«<br />
bereits bewiesen. Diese Show war eine<br />
neue Spielform, eine Mischung aus Ranking und<br />
Quizshow. Und wenn man so will – eine Literatursendung<br />
für Millionen. Das ZDF hat damit das<br />
Märchengenre neu definiert – Märchen von den<br />
Brü<strong>der</strong>n Grimm bis zu Harry Potter, Shrek und Co.<br />
Der Bereich <strong>des</strong> Familiy-Entertainments soll 2012<br />
im ZDF mit Jörg Pilawa und weiteren Shows ausgebaut<br />
werden.<br />
Mit »Deutschlands Superhirn 2011« hat Pilawa in<br />
diesem Jahr seine erste große Wissenschaftsshow<br />
im ZDF präsentiert. Im Mittelpunkt <strong>der</strong> Show<br />
standen Kandidaten, die zu unglaublichen geistigen<br />
Höchstleistungen in <strong>der</strong> Lage sind, Kandidaten,<br />
die Millionen Zuschauer verblüfft und fasziniert<br />
haben. Wie funktionieren diese spektakulären<br />
Gedächtnisleistungen, und kann ich als<br />
Zuschauer das – zumin<strong>des</strong>t teilweise – auch lernen?<br />
Diese Fragen hat Pilawa in <strong>der</strong> Show gemeinsam<br />
mit Wissenschaftlern beantwortet. Im<br />
Bereich Wissenschaftsshow liegt eine entscheidende<br />
Stärke von Unterhaltungsformaten: Das<br />
menschliche Gehirn und seine ungewöhnlichen<br />
Leistungen. In Form einer gut gemachten Dokumentation<br />
finden diese Themen sicher ein geneigtes<br />
Publikum – als spektakuläre Show zum Staunen<br />
und Mitmachen erreichen sie gar ein Millionenpublikum.<br />
Genau hier zeigt sich, was<br />
Unterhaltung bewegen kann.<br />
Wissenschaftsshows sind die perfekte Bühne für<br />
Jörg Pilawa. Denn es gibt kaum einen Mo<strong>der</strong>ator<br />
im deutschen Fernsehen, <strong>der</strong> selbst komplizierte<br />
Zusammenhänge so leicht verständlich und dennoch<br />
so unterhaltsam präsentieren kann wie er.<br />
Auch 2012 wird Jörg Pilawa im ZDF als Quizmaster<br />
auftreten, mit einem neuen Quiz, das – im Gegensatz<br />
zu »Rette die Million!« – keine internationale<br />
Adaption sein wird. Das ZDF wird dieses<br />
neue Format für ihn maßschnei<strong>der</strong>n. Auch fast 60<br />
Jahre nach <strong>der</strong> ersten Quizshow im deutschen<br />
Fernsehen ist <strong>der</strong> Anspruch für ein neues Quiz im<br />
ZDF: Es muss frisch, unverbraucht und unverwechselbar<br />
daherkommen. Es muss das Genre in<br />
Qualität und Inhalt stets neu definieren. Das ist <strong>der</strong><br />
Maßstab, an dem wir uns messen lassen und mit<br />
dem wir die Zuschauer überraschen und gewinnen<br />
wollen.<br />
102 I<br />
2011.Jahrbuch
Traditionsformate mo<strong>der</strong>nisieren<br />
Wie das Hauptprogramm erneuert wird<br />
Traditionen pflegen und mo<strong>der</strong>nisieren – für<br />
das ZDF-Hauptprogramm geht das zusammen.<br />
Wir haben starke Traditionskerne. Doch<br />
die können wir nur weiter nutzen, wenn wir<br />
sie neu definieren. Wichtige Impulse bieten<br />
dabei die Digitalkanäle und die Onlineangebote.<br />
Am Puls <strong>der</strong> Zeit sein – was das bedeutet, haben<br />
wir in den Sendungen <strong>des</strong> ZDF im Jahr 2011 nur<br />
zu gut zu spüren bekommen. Denn <strong>der</strong> Puls <strong>der</strong><br />
Zeit war in diesem Jahr <strong>der</strong> Ereignisse so kräftig<br />
und drängend wie selten. In <strong>der</strong> arabischen Welt<br />
stürzte eine junge Demokratiebewegung alte<br />
Machthaber. Nach dem Erdbeben und dem Tsunami<br />
in Japan hielt das Reaktorunglück von Fukushima<br />
die Welt in Atem. In sieben deutschen<br />
Bun<strong>des</strong>län<strong>der</strong>n wählten die Bürger neue Län<strong>der</strong>parlamente.<br />
Und die Finanzkrise ließ Europa um<br />
die gemeinsame Währung und den Zusammenhalt<br />
bangen.<br />
Es war ein Jahr <strong>der</strong> Son<strong>der</strong>anstrengungen, <strong>der</strong><br />
»ZDF spezials«, <strong>der</strong> Online-Nachrichtenticker. Unermüdlich<br />
berichteten unsere Korrespondenten<br />
Dietmar Ossenberg, Stephan Hallmann, Johannes<br />
Hano, Antje Pieper und Udo van Kampen aus<br />
Ägypten, Tunesien, Libyen und Japan, aber auch<br />
aus den europäischen Krisenzentren Rom, Brüssel<br />
und Athen. Die Redaktionen ordneten ein und<br />
lieferten Hintergründe. Es war ein Jahr <strong>des</strong> leidenschaftlichen<br />
Journalismus. Und es war auch ein<br />
Jahr, das deutlich gemacht hat, wie wichtig das<br />
ZDF für die Zuschauer als Informationsquelle ist.<br />
So zeigte das ZDF nach <strong>der</strong> Atomkatastrophe von<br />
Fukushima tagsüber »heute spezial«-Sendungen,<br />
nach <strong>der</strong> 19-Uhr-Sendung fassten »ZDF spezials«<br />
die Ereignisse <strong>des</strong> Tages zusammen. Das »heutejournal«<br />
ging immer wie<strong>der</strong> in die Verlängerung.<br />
Wenn sich die Ereignisse überstürzen, wächst bei<br />
den Zuschauern auch das Bedürfnis nach kontinuierlicher<br />
Information. Dem kam das ZDF mit<br />
einem Son<strong>der</strong>programm auf ZDFinfo nach. Während<br />
<strong>der</strong> arabischen Revolution zeigte <strong>der</strong> Digitalkanal<br />
Livebil<strong>der</strong> <strong>des</strong> Sen<strong>der</strong>s Al-Arabiya, die ZDF-<br />
Experten einordneten. Nach <strong>der</strong> Atomkatastrophe<br />
von Fukushima sendete ZDFinfo nach dem gleichen<br />
Prinzip Bil<strong>der</strong> <strong>des</strong> japanischen Sen<strong>der</strong>s<br />
NHK. Das Zuschauerinteresse an allen Zusatzangeboten<br />
war sehr groß. Auch die Onlineangebote<br />
<strong>des</strong> ZDF stießen auf enormes Interesse. So folgten<br />
zum Beispiel Tausende User den ZDF-Reportern<br />
in Libyen auf Twitter.<br />
Am Puls <strong>der</strong> Zeit sein – das heißt es aber auch für<br />
das ZDF-Programm insgesamt. In Zeiten <strong>des</strong> rasanten<br />
technischen Wandels muss man dazu oft<br />
Neues schaffen – wie die Digitalkanäle o<strong>der</strong> die<br />
Onlineauftritte. Da heißt es: neue Plattformen bespielen,<br />
zum Beispiel die Sozialen Netzwerke,<br />
neue Formate entwickeln und die gestiegenen<br />
Bedürfnisse <strong>der</strong> Zuschauer nach Kommunikation<br />
und Interaktion bedenken. Doch Hauptprogramm,<br />
Digitalkanäle und Onlineangebote, das sind keine<br />
Säulen, die einfach so nebeneinan<strong>der</strong> stehen. Es<br />
sind verbundene Projekte, die ineinan<strong>der</strong> greifen.<br />
Mit einem gemeinsamen Ziel: <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung<br />
<strong>des</strong> ZDF als Ganzem und <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung <strong>des</strong><br />
Hauptprogramms.<br />
Denn das ZDF hat starke Marken, die wir auch in<br />
Zukunft nutzen sollten. Doch wir müssen diese<br />
Traditionskerne neu definieren. Mo<strong>der</strong>nisierung<br />
geht dabei verschiedene Wege. Optische, personelle<br />
und inhaltliche Komponenten spielen zusammen.<br />
Ein gutes Beispiel für diese Entwicklung<br />
ist das Wirtschafts- und Verbrauchermagazin<br />
»WISO«. Die Sendung ist ein wahres ZDF-Traditi-<br />
Peter Frey<br />
Chefredakteur<br />
Traditionsformate mo<strong>der</strong>nisieren<br />
I 103
onsprodukt seit inzwischen 27 Jahren. 2011 hat<br />
sie nicht nur einen neuen, mo<strong>der</strong>neren Look bekommen.<br />
Mit Martin Leutke und Marcus Niehaves<br />
führt auch ein neues, junges Leitungsteam die<br />
Redaktion. In <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ation treffen sich Tradition<br />
und Erneuerung. Martin Leutke und Michael Opoczynski<br />
führen abwechselnd durch die Sendung.<br />
Dazu kommt eine inhaltliche Neujustierung. Service<br />
verbindet Zuschauer und Redaktion. Und<br />
<strong>des</strong>halb setzt die Sendung in ihrer neuen Form<br />
deutlich stärker auf Interaktion. Die Mo<strong>der</strong>atoren<br />
beziehen das Publikum im Studio ein. Und auch<br />
die Onlineredakteure sind während <strong>der</strong> Sendung<br />
ständig präsent. So können sich Internetuser direkt<br />
beteiligen und zum Beispiel Fragen an die<br />
Experten stellen.<br />
Zusätzlich bekommt »WISO« Impulse aus dem<br />
Digitalkanal ZDFinfo, <strong>der</strong> am 5. September startete.<br />
Dort läuft werktäglich »WISO plus«. Die viertelstündige<br />
Sendung vertieft die Themenbereiche<br />
Recht, Technik, Umwelt, Leben und Geld speziell<br />
für ein junges Publikum. Die Redaktion ist wie<strong>der</strong>um<br />
im Internet sehr aktiv mit einem eigenen Blog<br />
und Auftritten bei Facebook und Twitter. In die<br />
»WISO«-Sendungen im Hauptprogramm gehen<br />
von »WISO plus« Themenideen, aber auch Rückmeldungen<br />
aus dem Netz ein. »WISO« ist im Kern<br />
»WISO« geblieben. Doch gleichzeitig hat die Sendung<br />
ein neues, mo<strong>der</strong>neres Gesicht bekommen<br />
und wird mehr und mehr auch ein Angebot für die<br />
Generation <strong>der</strong> 14- bis 49-Jährigen, die dem ZDF<br />
fehlt.<br />
Mitten im Mo<strong>der</strong>nisierungsprozess befindet sich<br />
»heute«, die Hauptnachrichtensendung <strong>des</strong> ZDF.<br />
Das Ziel ist es, noch näher an die Zuschauer heranzukommen.<br />
Auch dabei kommen wichtige Impulse<br />
aus <strong>der</strong> digitalen Welt. Auf ZDFinfo ist die<br />
Sendung »heute plus« angelaufen. Immer mittwochs<br />
können die Zuschauer dort während <strong>der</strong><br />
Sendung im Chat über den Internetauftritt von<br />
heute.de Fragen an die Redaktion und die Mo<strong>der</strong>atoren<br />
stellen. Die Palette reicht von inhaltlichen<br />
Nachfragen bis zu Fragen zum Bau <strong>der</strong> Sendung<br />
und zur Themenauswahl. Im Anschluss an die<br />
Nachrichtensendung beantworten Redakteure<br />
und Mo<strong>der</strong>atoren live die Fragen <strong>der</strong> Zuschauer.<br />
Die Redaktion kommt so mit ihrem Publikum ins<br />
Gespräch. Die Ergebnisse <strong>des</strong> Austauschs fließen<br />
in die Sendung im Hauptprogramm zurück. Im<br />
Bereich <strong>der</strong> Europaberichterstattung kommen Impulse<br />
auch von <strong>der</strong> Sendung »Europa plus«. Das<br />
wöchentliche Magazin auf ZDFinfo betrachtet europäische<br />
Themen aus einer jungen Perspektive<br />
und setzt auch stark auf den Dialog mit den Zuschauern.<br />
Mo<strong>der</strong>nisierung heißt für das ZDF auch Mo<strong>der</strong>nisierung<br />
<strong>der</strong> Verbreitungskanäle. Das traditionelle,<br />
zeitgebundene Fernsehen ist eben nur ein Ausspielweg<br />
für die Kernprodukte <strong>des</strong> ZDF. Junge<br />
Zuschauer sind mobil, sie wollen die Nachrichten<br />
auch mobil nutzen. Im Internet und auf Facebook<br />
ist die »heute«-Familie schon länger präsent. 2011<br />
kam nicht nur ein Auftritt im Sozialen Netzwerk<br />
Google+ dazu. »heute« und »heute-journal« sind<br />
nun auch als Livestream über die Webseiten von<br />
heute.de und zdf.de zu sehen. Außerdem gibt es<br />
seit diesem Jahr die App für die ZDFmediathek.<br />
Damit lassen sich die Sendungen <strong>des</strong> ZDF auf<br />
mobilen Geräten verfolgen, sowohl live als auch<br />
je<strong>der</strong>zeit als Video-on-Demand.<br />
Eine Folge <strong>des</strong> Ereignisjahrs 2011 ist auch die<br />
Stärkung <strong>der</strong> Nachrichtensendungen am Vormittag.<br />
Ab Anfang 2012 wird es jede Woche von<br />
Montag bis Freitag um neun und um zwölf Uhr<br />
»heute«-Sendungen geben. Das ermöglicht es<br />
dem ZDF nicht nur, schneller auf Ereignisse zu<br />
reagieren. Es wirkt auch auf die Onlineangebote<br />
zurück. Videomaterial <strong>des</strong> ZDF kann nun noch<br />
schneller seinen Weg ins Netz finden. Das ist für<br />
die Internetangebote <strong>des</strong> ZDF sehr wichtig, denn<br />
die setzen stark auf Bewegtbild.<br />
104 I<br />
2011.Jahrbuch
»heute« und »WISO« sind nur beson<strong>der</strong>s markante<br />
Beispiele für die Mo<strong>der</strong>nisierung <strong>des</strong> ZDF-Hauptprogramms.<br />
Ziel ist es, bis Sommer 2012 alle<br />
Sendungen <strong>der</strong> Chefredaktion im ZDF zu erneuern.<br />
Vieles ist schon geschehen. Das »heutejournal«<br />
ist mit einem neuen Design näher an die<br />
Zuschauer herangerückt. Mehr Kommentare stärken<br />
die analytische Dimension <strong>der</strong> Sendung.<br />
»maybrit illner« – ein weiteres Traditionsformat im<br />
ZDF-Hauptprogramm – feierte in diesem Jahr die<br />
500. Sendung. Das Format ist ebenfalls mo<strong>der</strong>nisiert<br />
worden. Ziel war eine stärkere Fokussierung.<br />
Die neue Sitzordnung macht intensivere Gespräche<br />
möglich. Die Zuschauer sind näher am Geschehen.<br />
Und über einen großen Flachbildschirm<br />
sind interaktive Elemente eingebunden.<br />
Einen neuen Look haben das »ZDF-Morgenmagazin«,<br />
das »ZDF-Mittagsmagazin« und das politische<br />
Magazin »Berlin direkt« bekommen. Auch<br />
das »auslandsjournal« und »Frontal 21« senden<br />
aus neuen Studios. Durch »das aktuelle sportstudio«<br />
führt mit Sven Voss ein neuer, jüngerer Mo<strong>der</strong>ator.<br />
Er gibt dem Generationswechsel, <strong>der</strong> sich<br />
bei dem erfolgreichen Sportformat vollzogen hat,<br />
ein Gesicht.<br />
Im Jahr 2011 gab es noch mehr Neuerungen: Aus<br />
dem Magazin »ZDF.umwelt« ist »planet e.« geworden.<br />
Mit dem neuen Konzept nähert sich die Redaktion<br />
Umwelt- und Nachhaltigkeitsthemen in<br />
dokumentarischer Form. Das Format ist dadurch<br />
hintergründiger und konzentrierter.<br />
Neues Konzept und neuer Sendeplatz, das hieß<br />
es für die ZDF-Dokus. Mit »ZDFzoom« ist eine<br />
ganz eigene Art <strong>der</strong> Dokumentation mit einer eigenen<br />
Bildästhetik entstanden. Die Autoren rücken<br />
nah an ein Thema heran. Der Zugang ist investigativ.<br />
Der ZDF-Doku-Platz ist jetzt <strong>der</strong> Mittwochabend<br />
um 22.45 Uhr. An an<strong>der</strong>er Stelle und mit<br />
an<strong>der</strong>em Fokus läuft auch das Traditionsformat<br />
»ML mona lisa«. Aus dem Frauen- ist ein Gesellschaftsmagazin<br />
geworden, das sich unter dem<br />
Claim »Frauen, Männer & mehr« Themen <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen<br />
Lebenswelt widmet. Am neuen Sendeplatz<br />
am Samstagnachmittag gibt es auch eine neue<br />
Mo<strong>der</strong>atorin: Barbara Hahlweg.<br />
Oft sind es viele kleine Stellschrauben, an denen<br />
gedreht werden muss, um ein Traditionsformat<br />
mo<strong>der</strong>ner zu machen. Und dabei ist klar: Mo<strong>der</strong>nisierung<br />
ist nie abgeschlossen. Das gilt beson<strong>der</strong>s<br />
angesichts <strong>des</strong> rasanten Wandels in <strong>der</strong> digitalen<br />
Welt. Aber wer wäre besser auf diesen<br />
Wandel eingestellt als wir Journalisten. Das Ereignisjahr<br />
2011 hat gezeigt, wie viel sich in wenigen<br />
Stunden verän<strong>der</strong>n kann. Darauf professionell zu<br />
reagieren, ist einfach unser Job. Und so sehen wir<br />
auch die Arbeit an unseren Formaten als »Work in<br />
progress«. Es pulsiert also weiter im ZDF.<br />
Traditionsformate mo<strong>der</strong>nisieren<br />
I 105
Mo<strong>der</strong>ne Technik sprengt alte Fesseln<br />
Die Revolution in <strong>der</strong> arabischen Welt<br />
Stephan Hallmann<br />
Hauptredaktion Politik und<br />
Zeitgeschehen/Außenpolitik<br />
Das Jahr 2011 wird vielleicht als Geburtsstunde<br />
<strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen arabischen Welt in die<br />
Geschichte eingehen. Wie aus dem Nichts<br />
stürzten Herrscher vom Thron, <strong>der</strong>en Macht<br />
in Stein gehauen schien: Ägyptens »Pharao«<br />
Hosni Mubarak, Libyens »König <strong>der</strong> Könige«<br />
Muammar al-Gaddafi o<strong>der</strong> Tunesiens Zine el-<br />
Abidine Ben Ali. Was war geschehen?<br />
Ich habe sie lange Zeit nicht verstanden, die Zeichen<br />
<strong>der</strong> Zeit. Wie oft bin ich an einem <strong>der</strong> im<br />
Orient zu Hun<strong>der</strong>ten aus dem Boden schießenden<br />
»Internetcafes« vorbeigegangen, in denen die Jugendlichen<br />
dicht gedrängt vor den Computermonitoren<br />
saßen. In ärmlichen Gegenden o<strong>der</strong> auf<br />
dem Land ist es oft nur ein karger kleiner Raum<br />
mit Plastikstühlen vor einem halben Dutzend abgenutzter<br />
PCs mit ihren flimmernden Mattscheiben,<br />
die für die Jugendlichen das Fenster zur Welt<br />
sind. Ich dachte im Vorbeigehen über die verschiedenen<br />
Traumwelten nach, in die sich die<br />
Kids da wohl flüchten mochten. Aber welche Verän<strong>der</strong>ungen<br />
die Bil<strong>der</strong> und Nachrichten aus dem<br />
World Wide Web in kurzer Zeit schon bewirken<br />
würden, welche Kräfte freisetzen, das hatte ich mir<br />
nicht träumen lassen.<br />
Ist es also das »Internet-Virus«, das die arabische<br />
Welt befallen hat und in kürzester Zeit zum Sturz<br />
einiger <strong>der</strong> mächtigsten Herrscher führte? Sind<br />
am Ende gar Bill Gates und Steve Jobs die Geburtshelfer<br />
<strong>der</strong> »Arabellion«, die wir publikumswirksam<br />
bereits gerne als »Internetrevolution« bezeichnen?<br />
Revolutionen finden nicht im Internet, son<strong>der</strong>n auf<br />
<strong>der</strong> Straße statt – mit Massendemonstrationen,<br />
Aktionen <strong>des</strong> Ungehorsams gegen die herrschende<br />
Ordnung, mit bloßen Händen, Steinen o<strong>der</strong><br />
Kalaschnikows bewaffnet. Aber das Internet hat<br />
zusammen mit den jungen internationalen arabischen<br />
Satellitenkanälen wie Al-Jazeera entscheidend<br />
dazu beigetragen, die Revolution in den<br />
Köpfen <strong>der</strong> Menschen zu entfachen. Ohne diese<br />
die Grenzen und die jeweilige Zensur überschreitenden<br />
elektronischen Medien wäre es 2011 wohl<br />
kaum so weit gekommen. Aber, wie weit ist es<br />
denn gekommen?<br />
Mutige Menschen in Ägypten, Libyen, Tunesien,<br />
Syrien, Bahrain und dem Yemen haben aus Verzweiflung<br />
begonnen, ihr Schicksal selbst in die<br />
Hand zu nehmen und gegen ihre allmächtigen<br />
Herrscher zu rebellieren. Es bleibt abzuwarten, ob<br />
die gestürzten Regime wirklich Platz machen für<br />
mo<strong>der</strong>ne, demokratischere Gesellschaften, die<br />
stärker auf die Partizipation <strong>der</strong> Bevölkerung und<br />
<strong>der</strong>en Bedürfnisse ausgerichtet sind. In Libyen,<br />
wo die radikalsten Verän<strong>der</strong>ungen bisher stattgefunden<br />
haben, ist das noch offen. In Tunesien<br />
ebenfalls. In Ägypten ist das seit bald 60 Jahren<br />
dort herrschende Militär immer noch an <strong>der</strong><br />
Macht.<br />
Die »Arabellion« hat viele Wurzeln, viele Anlässe,<br />
die sie letztlich ausgelöst haben. In Ägypten standen<br />
ganz am Anfang Arbeiterstreiks in den Industriestädten<br />
im Lan<strong>des</strong>innern gegen die aberwitzig<br />
niedrigen Löhne dort. Wir haben in unseren Informationssendungen<br />
immer wie<strong>der</strong> über die Explosion<br />
<strong>der</strong> Lebensmittelpreise und das Bevölkerungswachstum<br />
in den Län<strong>der</strong>n <strong>der</strong> arabischen<br />
Welt berichtet. Die Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen<br />
dort gehört zu <strong>der</strong> höchsten weltweit. Eine<br />
hoffnungslose Situation. Zumal jede wirtschaftliche<br />
Mo<strong>der</strong>nisierung dieser Län<strong>der</strong> durch die<br />
maßlose Bereicherung und Korruption staatlich<br />
protegierter Eliten aufgesogen wird.<br />
106 I<br />
2011.Jahrbuch
Provisorisches ZDF-Büro in einer<br />
ausgebrannten Polizeistation in<br />
Benghasi<br />
Blick aus dem »Bürofenster«<br />
Es war ein armer Tropf in einem abgelegenen<br />
Winkel <strong>der</strong> arabischen Welt, <strong>der</strong> das Fass zum<br />
Überlaufen brachte. Muhammad Bouazizi, ein<br />
kleiner Gemüsehändler in einem tunesischen Provinzkaff,<br />
hielt die Erniedrigung und die Demütigungen<br />
einfach nicht mehr aus, mit denen ihm die<br />
Behörden und die Polizei das Leben schwer<br />
machten. Seine verzweifelte Selbstverbrennung<br />
legte Anfang Januar die Lunte an die Zündschnur,<br />
die die arabische Welt im Frühling 2011 explodieren<br />
ließ. Ein Schicksal, das Millionen Menschen<br />
<strong>der</strong> Region sehr gut nachvollziehen konnten:<br />
Auch, wenn man eine noch so arme und unbedeutende<br />
»Randfigur« ist, nicht einmal dann bleibt<br />
man verschont von Korruption und Willkürherrschaft.<br />
Die Menschen haben durch die Ausbreitung <strong>des</strong><br />
Internets und <strong>der</strong> elektronischen Medien, so<br />
scheint es, viel von ihrer Naivität verloren. Der<br />
ungenierte, oft unverdiente Reichtum <strong>der</strong> Eliten im<br />
Gegensatz zu den ärmlichen Lebensverhältnissen<br />
<strong>der</strong> Masse <strong>der</strong> Bevölkerung, demütigende Behandlung<br />
und Schikane durch Behörden und Polizei,<br />
das alles sind alte Bekannte einer Untertanengesellschaft<br />
wie Ägypten o<strong>der</strong> Libyen. Aber<br />
das lässt sich nicht mehr so ohne Weiteres aufrechterhalten<br />
in einer Welt, in <strong>der</strong> auch »Provinzler«<br />
und »arme Schlucker« plötzlich einen bisher<br />
nie dagewesenen Zugang zu Information und<br />
Kommunikation haben.<br />
Und hier kommt neben dem Internet vor allem den<br />
arabischen Satellitensen<strong>der</strong>n wie Al-Arabiya und<br />
vor allem Al-Jazeera enorme Bedeutung zu. Ihre<br />
Verbreitung ist immer noch weit größer als die <strong>des</strong><br />
Internets, und ihre weitgehend ungefilterte Berichterstattung<br />
ermöglicht es vielen, Vergleiche zu<br />
ziehen und kritische Stimmen aus aller Welt zu<br />
hören. Das hat dazu beigetragen, in <strong>der</strong> arabischen<br />
Welt die Öffentlichkeit zu schaffen, die den<br />
»Arabischen Frühling« erst möglich machte.<br />
Der »Nationalstolz«, den autoritäre Regime geschickt<br />
nutzen, sozusagen als »ideelle Kompensation«<br />
für ihre in ärmlichen Verhältnissen lebende<br />
Bevölkerung, dieser sorgsam gehegte Stolz kann<br />
zu einem Bumerang werden, wenn <strong>der</strong> Blick über<br />
Lan<strong>des</strong>- und Zensurgrenzen hinweg das Bild<br />
trübt. Das Bild Ägyptens in <strong>der</strong> arabischen Welt,<br />
nicht mehr als Leitnation, die es einmal war, son<strong>der</strong>n<br />
als bezahlter »Eckpfeiler <strong>der</strong> US-Politik im<br />
Nahen Osten«, mag dazu beigetragen haben,<br />
dass mancher den letzten Respekt vor den Herrschern<br />
am Nil verloren hat. Die Libyer konnten ihrerseits<br />
sehen, wie sich die Welt über ihren »Bru<strong>der</strong>«<br />
Muammar al-Gaddafi lustig machte und außerdem<br />
Einzelheiten über den glamourösen<br />
Lebensstil <strong>der</strong> Familie Gaddafi im Ausland erfahren,<br />
die Millionen für Privatpartys in <strong>der</strong> Karibik<br />
ausgab. Den Tunesiern lieferte das Internet genauere<br />
Zahlen über das von <strong>der</strong> Präsidentenfamilie<br />
zur Seite geschaffte enorme Vermögen.<br />
Mo<strong>der</strong>ne Technik sprengt alte Fesseln<br />
I 107
Nicht zu vergessen die »neue Leichtigkeit« <strong>der</strong><br />
Kommunikation. Vor einigen Jahren haben wir<br />
noch staunend wahrgenommen, dass <strong>der</strong> »Kameltreiber«<br />
an den Pyramiden in Kairo ein Handy<br />
besaß. Inzwischen verwun<strong>der</strong>t uns das nicht mehr.<br />
Das Handy ist – auch – zum »Telefon <strong>des</strong> armen<br />
Mannes« geworden, weil es weit billiger und einfacher<br />
zu bekommen ist als bisher ein privater Telefonanschluss.<br />
Die Zeiten, in denen vom Regime gesteuerte Medien<br />
filtern, zensieren und totschweigen können,<br />
was passiert, sind vorbei. Die Geschichte vom<br />
verzweifelten Selbstmord <strong>des</strong> tunesischen Gemüsehändlers<br />
verbreitete sich im digitalen Zeitalter<br />
wie das seit alters her beschworene »Lauffeuer«.<br />
Auf zehn Millionen Tunesier kommen rein rechnerisch<br />
neun Millionen Handys, je<strong>der</strong> Dritte nutzt das<br />
Internet, je<strong>der</strong> Vierte kommuniziert per Facebook.<br />
Und selbst im Land <strong>der</strong> Pharaonen surft laut Statistik<br />
inzwischen fast je<strong>der</strong> Vierte <strong>der</strong> 84 Millionen<br />
Ägypter im Internet. In Libyen spielte das Internet,<br />
vom »Bru<strong>der</strong> Oberst« klein gehalten, weit weniger<br />
eine Rolle. Hier halfen die regionalen Unterschiede<br />
zwischen Ost und West, dass <strong>der</strong> Protest<br />
gegen das Regime so plötzlich und heftig ausbrechen<br />
konnte.<br />
Bei allen Unterschieden in den verschiedenen<br />
Län<strong>der</strong>n, es ist eine Art »bürgerliche Revolution«,<br />
die sich die arabische Welt nachzuholen anschickt.<br />
Die For<strong>der</strong>ung nach fairer Bezahlung,<br />
Gerechtigkeit und menschenwürdiger Behandlung<br />
durch Polizei und Behörden laufen auf nichts<br />
an<strong>der</strong>es hinaus als auf das, was die Menschen in<br />
Europa und den USA für sich in Anspruch nehmen.<br />
Kehren wir noch einmal zur »kleinsten« <strong>der</strong> technischen<br />
Errungenschaften zurück, die die arabische<br />
Welt erzittern lassen: dem Handy. Es ist mehr und<br />
mehr auch zu einem »Telefon mit Auge« geworden,<br />
das nicht nur Kin<strong>der</strong>geburtstage festhält,<br />
son<strong>der</strong>n Bil<strong>der</strong> von verbotenen Demonstrationen<br />
und erlittener Polizeigewalt bis hin zu Massakern<br />
dokumentiert. Und natürlich auch Momente von<br />
Zivilcourage, die an<strong>der</strong>e begeistern und mitreißen,<br />
wie das Bild jenes jungen Mannes, <strong>der</strong> sich in<br />
Kairo ganz allein einem Wasserwerfer <strong>der</strong> Polizei<br />
in den Weg stellte und ihn daran hin<strong>der</strong>te, gegen<br />
Demonstranten eingesetzt zu werden.<br />
Auch wir nutzen diese »Volkskameras« und das,<br />
was auf YouTube veröffentlicht wird, zunehmend<br />
für unsere Berichterstattung. Bei aller Vorsicht und<br />
<strong>der</strong> Notwendigkeit, solche Aufnahmen zu verifizieren<br />
und einzuordnen – wo bekommt man authentischere<br />
Fotos und Videoaufnahmen, welche professionelle<br />
Kamera wäre dichter am Geschehen?<br />
Als ich kurz nach Beginn <strong>der</strong> Aufstände in Libyen<br />
nach Benghasi kam, zeigten mir die Menschen<br />
dort Videos, die sie während <strong>der</strong> ersten zwei Tage<br />
mit ihren Handys aufgenommen hatten. Von Massendemonstrationen<br />
und Straßenkämpfen, in<br />
denen unbewaffnete Männer mit Baufahrzeugen<br />
Kasernenmauern durchbrechen. Aufnahmen, die<br />
uns halfen, uns in die Lage <strong>der</strong> Menschen zu versetzen,<br />
als sie im Begriff waren, gegen das Gaddafi-Regime<br />
aufzustehen. Und im Falle von Syrien,<br />
wo das Regime überhaupt keine o<strong>der</strong> nur<br />
ausgewählte ausländische Kameras zulässt, verhalfen<br />
mir die Handyvideos syrischer Flüchtlinge<br />
im Nordlibanon zu einem Blick über die Grenze<br />
auf das Terrorregime Bashar al-Assads.<br />
Oft haben die Machthaber selbst die Nutzung<br />
mo<strong>der</strong>ner Technik propagiert, um ihre Län<strong>der</strong> wirtschaftlich<br />
zu mo<strong>der</strong>nisieren. Dafür erlaubte Hosni<br />
Mubarak den Ägyptern Ende <strong>der</strong> 90er Jahre<br />
sogar, sich kostenlos ins Internet einzuwählen. Er<br />
unterschätzte die explosive Mischung von freiem<br />
Internetzugang, Pressezensur und Polizeiknüppel,<br />
die langfristig einfach nicht gutgehen konnte.<br />
Am 25. Januar 2010 hatte die Polizei in Alexandria<br />
den Blogger Khaled Said zu Tode geprügelt.<br />
108 I<br />
2011.Jahrbuch
Eines <strong>der</strong> wichtigsten Diskussionsforen im Internet<br />
wurde die Facebook-Gruppe »Wir sind alle<br />
Khaled Said«. An seinem ersten To<strong>des</strong>tag im Januar<br />
2011 strahlte bereits das Beispiel Tunesiens,<br />
wo <strong>der</strong> Machthaber Ben Ali gerade aus dem Land<br />
gejagt worden war, auf Ägypten als Vorbild aus. In<br />
Ägypten wuchs das Selbstvertrauen. Und man<br />
nutzte das Internet ganz praktisch als Mittel <strong>der</strong><br />
Mobilisierung und Organisation. Das Netz bot<br />
nicht nur die Möglichkeit zur schnellen und großflächigen<br />
Verbreitung von Aufrufen. Es bot auch<br />
– wichtig in Polizeistaaten – Anonymität. Anonymisierungssoftware<br />
kursierte neben technischen Anleitungen,<br />
wie man Blockaden im und die Überwachung<br />
<strong>des</strong> Internets durch Geheimdienste umgeht.<br />
Die Teilnehmer an Demonstrationen konnten<br />
im Netz erfahren, mit welchen einfachen Mitteln<br />
man sich vor Tränengas schützt.<br />
Als das Regime in Ägypten am 27. Januar 2011<br />
versuchte, die Notbremse zu ziehen und das<br />
Land für mehrere Tage vom Netz nahm, war es<br />
bereits zu spät. Das Internet, Twitter, Facebook,<br />
YouTube waren inzwischen zu einem wichtigen<br />
Instrument <strong>der</strong> Mobilisierung geworden. Man<br />
kann das Internet nicht einfach wie<strong>der</strong> abschaffen,<br />
wenn es bereits zu einem wichtigen Faktor <strong>der</strong><br />
Mo<strong>der</strong>nisierung von Wirtschaft und Verwaltung<br />
<strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> geworden ist.<br />
Der Nachteil für »alte Herrschaften«: Die mo<strong>der</strong>nen<br />
Kommunikationstechnologien wie Internet,<br />
Handy und Satellitenfernsehen beschleunigen<br />
gesellschaftliche Prozesse enorm. Auch <strong>des</strong>halb<br />
wurden so viele – Potentaten und Beobachter –<br />
von den Entwicklungen in <strong>der</strong> arabischen Welt<br />
und ihres »Frühlings« überrascht.<br />
Mo<strong>der</strong>ne Technik sprengt alte Fesseln<br />
I 109
Fukushima und die Folgen<br />
Report einer Katastrophe<br />
Johannes Hano<br />
Leiter <strong>des</strong> ZDF-Studios Peking<br />
Erdbeben, Tsunami und Super-GAU in Fukushima:<br />
Wochenlang berichten Johannes<br />
Hano und seine Mitarbeiter aus dem Auslandstudio<br />
Peking über die Natur- und Atomkatastrophe<br />
in Japan. Trotz <strong>der</strong> unübersichtlichen<br />
und sich ständig verän<strong>der</strong>nden Informationslage<br />
gelingt es ihnen, die politischen,<br />
wirtschaftlichen und technischen Entwicklungen<br />
überlegt einzuordnen – ohne zu dramatisieren.<br />
Tokio, 11. März 2011, 14.46 Uhr. Der Schlag traf<br />
Japan, uns alle, die wir da waren, so plötzlich, so<br />
unvorbereitet und so hart, dass uns nur noch ein<br />
letztes Hoffen blieb. Ausgeliefert, völlig machtlos<br />
warteten wir auf unser Schicksal – darauf, was <strong>der</strong><br />
liebe Gott mit uns vorhat, ob das Hochhaus, in<br />
<strong>des</strong>sen 13. Stock unser Büro liegt, einstürzt o<strong>der</strong><br />
nicht. Es waren vier, fünf Minuten voller Konzentration<br />
darauf, Angst und Panik nicht die Oberhand<br />
gewinnen zu lassen, in dem Bewusstsein, dass<br />
wir es selbst nicht mehr in <strong>der</strong> Hand hatten, ob wir<br />
überleben. Unser Haus und die an<strong>der</strong>en Hochhäuser,<br />
die wir aus den Fenstern sehen konnten,<br />
bewegten sich wie Grashalme im Wind.<br />
Kurz nach dem ersten Schlag dann die Tsunamiwarnung<br />
aus den Lautsprechern auf den Straßen<br />
und immer wie<strong>der</strong> schwere Nachbeben. Unsere<br />
Nerven waren zum Zerreißen gespannt, und das<br />
Schlimmste stand uns zu diesem Zeitpunkt noch<br />
bevor.<br />
Etwa 250 Kilometer weiter nordöstlich begann<br />
sich – zunächst völlig unbemerkt von <strong>der</strong> Öffentlichkeit<br />
– eine Katastrophe zu entwickeln, die bis<br />
heute anhält, die nach wie vor die Gefahr birgt,<br />
dass ganze Landstriche Japans Hun<strong>der</strong>te, vielleicht<br />
Tausende Jahre nicht mehr bewohnbar sein<br />
werden. Der nukleare Notstand, den die japanische<br />
Regierung am Abend <strong>des</strong> 11. März 2011<br />
ausrufen musste, gab diesem Tag für mich eine<br />
religiöse Dimension: Da draußen ist etwas, was<br />
man nicht hören, riechen, fühlen o<strong>der</strong> sehen kann,<br />
das sofort tötet o<strong>der</strong> einem langsam, in vielen<br />
Jahren, die Organe mit Krebs zerfrisst. Man weiß<br />
nicht, ob es erst kommt o<strong>der</strong> schon wie<strong>der</strong> gegangen<br />
ist. Das Schlimmste aber: Es pflanzt eine<br />
Angst ein, die droht, dich von innen aufzufressen,<br />
ohne dass es überhaupt bei dir war – es ist das<br />
absolut Böse.<br />
Die Angst und Verunsicherung bei vielen Kollegen<br />
war so groß, dass wir es ihnen freistellten, in<br />
Japan zu bleiben. Mehrere Kollegen nahmen das<br />
Angebot an, kaum in Tokio angekommen, in die<br />
Heimat zurückzufliegen. Viele internationale Unternehmen<br />
evakuierten ihre ausländischen Angestellten<br />
und <strong>der</strong>en Familien. Die deutsche Schule<br />
wurde geschlossen, das Abitur in Deutschland<br />
gemacht, und die deutsche Botschaft zog bis<br />
Ende April komplett in das etwa 800 Kilometer<br />
südlich von Fukushima gelegene Osaka um. Als<br />
am 15. März nach den Reaktorblöcken 1 und 3<br />
auch noch die Reaktorblöcke 2 und 4 <strong>des</strong> Atomkraftwerks<br />
Fukushima Daiichi explodierten, entschied<br />
auch ich mich dafür, Tokio vorübergehend<br />
Richtung Osaka zu verlassen.<br />
Zu diesem Zeitpunkt war völlig unklar, was eigentlich<br />
genau passiert war, wie groß die Schäden an<br />
den Reaktorkernen waren, ob es eine radioaktive<br />
Wolke geben würde, es zur Massenpanik käme,<br />
zu Hamsterkäufen. Seit Beginn <strong>der</strong> Katastrophe<br />
und noch immer gibt es wi<strong>der</strong>sprüchliche Meldungen<br />
von <strong>der</strong> Betreibergesellschaft Tepco und den<br />
japanischen Behörden. Hieß es am Morgen noch,<br />
die Atomkraftwerke, auch die in Fukushima, seien<br />
110 I<br />
2011.Jahrbuch
nach dem schweren Beben planmäßig heruntergefahren<br />
worden, so wurde am Abend plötzlich<br />
<strong>der</strong> nukleare Notstand ausgerufen. Erst hieß es,<br />
die Situation sei bei einem Reaktor außer Kontrolle,<br />
es sei möglicherweise zu einer Kernschmelze<br />
gekommen, die Kühlsysteme würden versagen,<br />
dann hieß es plötzlich, die Notkühlung über Dieselgeneratoren<br />
würde wie<strong>der</strong> funktionieren. Wir<br />
rätselten, ob die Verantwortlichen wirklich nicht<br />
wussten und wissen, was sich gerade in den Reaktoren<br />
abspielte, und vieles spricht genau dafür.<br />
Auf jede schlechte Meldung folgte eine gute, vermutlich,<br />
um die Menschen langsam auf den Super-GAU<br />
vorzubereiten.<br />
Für uns aber war relativ schnell klar, dass we<strong>der</strong><br />
Tepco noch die japanische Regierung irgendetwas<br />
unter Kontrolle hatten – und dafür musste<br />
man kein Atomphysiker sein: explodierende Reaktorgebäude,<br />
hilflose Kühlversuche aus <strong>der</strong> Luft mit<br />
Hubschraubern, die entwe<strong>der</strong> ihre Wasserlast<br />
überall abließen, nur nicht dort, wo sie gebraucht<br />
wurde, nämlich auf den Reaktoren, o<strong>der</strong> sich<br />
gleich ganz zurückziehen mussten, weil die Strahlung<br />
zu stark war. Dann Kühlversuche mit einem<br />
Wasserwerfer <strong>der</strong> Polizei, dem einzigen weit und<br />
breit.<br />
Als schließlich die US-Navy ihre Schiffe, die sie zur<br />
Unterstützung <strong>der</strong> Rettungsmaßnahmen nach<br />
dem Erdbeben und dem Tsunami geschickt hatte,<br />
aus Angst vor radioaktiver Strahlung aus dem<br />
Gebiet abzog, klingelten bei uns alle Alarmglocken.<br />
Dass sich in den Reaktoren <strong>des</strong> Atomkraftwerks<br />
Fukushima Daiichi <strong>der</strong> Super-GAU zumin<strong>des</strong>t<br />
anbahnte, war für uns offensichtlich – alles<br />
deutete darauf hin, aber mit Sicherheit wussten<br />
wir eigentlich gar nichts. Wir mussten lernen, zwischen<br />
den Zeilen all <strong>der</strong> öffentlichen Verlautbarungen<br />
zu lesen und zu diesem Zweck erst einmal<br />
verstehen, wie ein Atomreaktor funktioniert. Wir<br />
haben tagelang kaum geschlafen, mussten uns<br />
selbst, unsere Familien, Freunde und Kollegen<br />
immer wie<strong>der</strong> beruhigen und versuchen, trotz<br />
allem einen klaren Kopf zu bewahren, um keine<br />
Fehler zu machen, die uns selbst gefährden o<strong>der</strong><br />
unsere Zuschauer in Deutschland in Panik versetzen<br />
könnten. Um uns ein eigenes, von den offiziellen<br />
Informationen unabhängiges Bild machen zu<br />
können, war schnell klar, dass wir hoch Richtung<br />
Atomkraftwerk mussten. Aber die Situation war<br />
völlig unübersichtlich, und so klar es war, dass wir<br />
da hoch mussten, so klar war es mir als verantwortlichem<br />
Korrespondenten auch, dass ich keinen<br />
meiner Kollegen aus Show-Gründen <strong>der</strong> Gefahr<br />
einer radioaktiven Verstrahlung aussetzen<br />
würde. Das war ich auch den Familien daheim<br />
schuldig. Ich würde niemanden in den Norden<br />
schicken, nur damit wir in Deutschland, im medialen<br />
Konkurrenzkampf, sagen können: »Schaut mal<br />
her, wo wir sind – wir sind ganz nah dran.« Bevor<br />
wir also fahren konnten, mussten drei Kriterien<br />
erfüllt sein:<br />
Erstens musste die Geschichte einen journalistischen<br />
Mehrwert haben, das heißt, nur, um die<br />
Zerstörung in <strong>der</strong> Tsunamiregion zu drehen, fahren<br />
wir nicht hin. Solche Bil<strong>der</strong> liefen seit Tagen<br />
rund um die Uhr. Zweitens mussten wir nicht nur<br />
wissen, wie wir dort hinkommen, son<strong>der</strong>n auch,<br />
wie wir wie<strong>der</strong> zurückkommen, sollte es ganz<br />
ernst werden. Und drittens brauchten wir Schutzausrüstungen<br />
zu unserer Sicherheit. Geigerzähler,<br />
die man sich um den Hals hängen kann und die<br />
mit einem Piepton warnen, wenn die Strahlung ein<br />
gefährliches Level erreicht, weiße, reißfeste Papieranzüge,<br />
die radioaktive Partikel davon abhalten,<br />
in direkten Kontakt mit dem Körper zu kommen,<br />
und Atemmasken, die verhin<strong>der</strong>n, dass wir<br />
radioaktiven Staub einatmen. Alles haben wir<br />
schließlich bekommen. Die Kollegen aus <strong>der</strong><br />
»Grotte« 1 in Mainz, Marina Kunke, Ralf Zimmermann<br />
von Siefart und die vielen an<strong>der</strong>en, haben<br />
1 Die zentrale Koordinationsstelle für Redaktionen und Reporter<br />
im Sendezentrum Mainz<br />
Fukushima und die Folgen<br />
I 111
Johannes Hano (links sitzend)<br />
und sein Team im Studio Tokio<br />
alles getan, damit wir diese für uns sehr schwierige<br />
Situation unaufgeregt und professionell meistern<br />
konnten. Wir sind in den Norden gefahren<br />
und tun es bis heute – ausgestattet mit Dosimetern<br />
und Geigerzählern, die für uns mittlerweile zur<br />
Standard-Arbeitsausrüstung in Japan zählen.<br />
Auch wenn das Arbeiten in den verseuchten Gebieten<br />
zumeist unproblematisch ist, Geigerzähler<br />
und Dosimeter geben uns die Sicherheit, die viele<br />
Menschen in den betroffenen Gebieten so sehr<br />
vermissen. Denn die Geräte zeigen uns an, wenn<br />
es gefährlich wird, wenn die Strahlung dramatisch<br />
ansteigt, wenn wir uns in einem so genannten Hot<br />
Spot befinden.<br />
Das Gefährliche an <strong>der</strong> Arbeit ist nämlich nach wie<br />
vor, dass man die Strahlung nicht sieht, hört o<strong>der</strong><br />
riecht, dass sie auf einmal da ist. Gemeinsam mit<br />
Yvette Gerner aus <strong>der</strong> Chefredaktion und dem<br />
Arbeitsschutz haben wir Regeln für das Arbeiten in<br />
den betroffenen Regionen aufgestellt. Wir haben<br />
unsere Mitarbeiter zu Strahlenschutzseminaren<br />
und Strahlenuntersuchungen geschickt, um einen<br />
möglichst informierten Umgang mit <strong>der</strong> potenziellen<br />
Gefahr sicherzustellen.<br />
All das aber wäre nicht möglich ohne einen Arbeitgeber,<br />
zu <strong>des</strong>sen Unternehmensphilosophie es<br />
gehört, auf seine Mitarbeiter zu hören, ihnen zu<br />
vertrauen, ihre Ängste ernst zu nehmen und ihre<br />
persönliche Unversehrtheit auch im härtesten<br />
Wettbewerb über alles zu stellen. Und letztlich<br />
zahlt sich das aus. Denn wir können heute, bestens<br />
informiert und mit dem Wissen, dass man<br />
sich in <strong>der</strong> Heimat um unsere Fragen und Probleme<br />
kümmert, Dinge tun, die an<strong>der</strong>e nicht tun. Wir<br />
können aus evakuierten Gebieten mit teils erheblich<br />
erhöhter Strahlung berichten, weil wir wissen,<br />
wie lange wir uns <strong>der</strong> Strahlung aussetzen können,<br />
bevor es gefährlich wird, weil wir Ausrüstungen<br />
haben, die uns im Notfall zumin<strong>des</strong>t Zeit verschaffen.<br />
Wir haben den Umgang mit <strong>der</strong> Gefahr<br />
gelernt, aber auch, auf <strong>der</strong> Hut zu sein davor, die<br />
Situation als »normal« anzusehen. Denn sie ist es<br />
nicht, auch wenn es in <strong>der</strong> täglichen Arbeit oft<br />
schwer fällt, sich die potenzielle Gefahr zu vergegenwärtigen.<br />
Noch immer ist die Lage in dem zerstörten Atomkraftwerk<br />
Fukushima Daiichi nicht unter Kontrolle,<br />
noch immer tritt Strahlung zumin<strong>des</strong>t aus einem<br />
Reaktor aus. Immer weitere Kreise zieht die radioaktive<br />
Belastung von Lebensmitteln, und nach wie<br />
vor lässt die Information durch die Behörden mehr<br />
als zu wünschen übrig. Die meisten Japaner trauen<br />
ihrer Regierung nicht mehr, aber dafür <strong>der</strong> Berichterstattung<br />
<strong>des</strong> ZDF. Ein »Frontal 21«-Beitrag<br />
von Nicola Albrecht und Martin Niessen über die<br />
radioaktive Belastung von Lebensmitteln wurde<br />
nach <strong>der</strong> Ausstrahlung von einem Zuschauer mit<br />
japanischen Untertiteln versehen und bei YouTube<br />
hochgeladen. Der Film hat in Japan für Furore<br />
gesorgt, wurde weit über 400 000 Mal abgerufen.<br />
Viele Menschen bedankten sich per Mail und Telefon<br />
bei uns für Informationen, die sie in Japan<br />
sonst nicht bekommen hätten. Ein Professor <strong>der</strong><br />
Universität Tokio meinte sogar, das ZDF sei, was<br />
die Berichterstattung über die Krise angehe, das<br />
weltweit beste Medium. Dieser Erfolg hat mich<br />
und meine Kolleginnen und Kollegen in Japan<br />
schon ein bisschen stolz gemacht, aber er hat<br />
auch deutlich gemacht, welche Verantwortung wir<br />
bei unserer Berichterstattung in einer immer stärker<br />
vernetzten Welt nicht nur für unsere Zuschauer<br />
112 I<br />
2011.Jahrbuch
in Deutschland haben. Die großartigste Erfahrung<br />
aber war die Hingabe, die Professionalität, das<br />
Engagement und <strong>der</strong> persönliche Einsatz, mit<br />
dem Lilo Ohgo, Fuyuko Nishisato, Toby Marshall<br />
und Jörg-Hendrik Brase eine saubere und seriöse<br />
Berichterstattung in den ersten Tagen rund um die<br />
Uhr erst möglich gemacht haben. Das ZDF kann<br />
stolz auf solche Mitarbeiter sein.<br />
Fukushima und die Folgen<br />
I 113
Krisenberichterstattung für Kin<strong>der</strong><br />
Wie »logo!« Fragen von Kin<strong>der</strong>n zur Katastrophe in Japan beantwortet<br />
Markus Mörchen<br />
Verantwortlicher Redakteur »logo!«<br />
»logo!«-Erklärgrafik: Was sind<br />
Staatsanleihen?<br />
Tsunami- und Atomkatastrophe in Japan,<br />
Wirtschaftskrise in Europa, die Revolutionen<br />
in Nordafrika – das Jahr 2011 war ein Jahr<br />
großer Krisen. Kin<strong>der</strong> bekommen diese Ereignisse<br />
mit, können sie aber nicht einordnen<br />
und stellen viele Fragen. Die Kin<strong>der</strong>nachrichtensendung<br />
»logo!« gibt auf möglichst viele<br />
dieser Fragen Antworten – auch, wenn das<br />
nicht immer einfach ist.<br />
Die erste Meldung erreichte die deutschen Nachrichtenredaktionen<br />
um 6.53 Uhr am 11. März:<br />
»Starkes Erdbeben erschüttert Japan«, schrieb die<br />
Agentur Reuters. Zu diesem Zeitpunkt ahnte noch<br />
niemand, dass sich daraus eines <strong>der</strong> folgenreichsten<br />
Ereignisse <strong>des</strong> <strong>Jahres</strong> 2011 entwickeln<br />
sollte. Doch spätestens, als am 12. März vor den<br />
Augen <strong>der</strong> Weltöffentlichkeit ein Reaktor <strong>des</strong><br />
Atomkraftwerks Fukushima explodierte, führte das<br />
zu weltweiter Verunsicherung – nicht nur bei Erwachsenen,<br />
auch bei vielen Kin<strong>der</strong>n.<br />
Das Reaktorunglück in Japan ist die erste Katastrophe<br />
mit globalen Folgen, die die »logo!«-Zuschauer<br />
im Alter zwischen acht und zwölf Jahren<br />
bewusst mitbekamen. Begriffe wie »Kernschmelze«,<br />
»Reaktorsicherheit« o<strong>der</strong> »radioaktive Strahlung«,<br />
die in ihrem Wortschatz zuvor nicht vertreten<br />
waren, tauchten auf einmal überall in den<br />
Medien auf und wurden anschließend beim<br />
Abendbrot mit den Eltern diskutiert.<br />
In den Tagen nach <strong>der</strong> Katastrophe gingen täglich<br />
Hun<strong>der</strong>te von E-Mails, Chat- und Gästebucheinträge<br />
mit Fragen und Kommentaren zu Japan bei<br />
»logo!« ein: »Kann die Radioaktivität zu uns kommen?«,<br />
»Was passiert jetzt mit den Menschen in<br />
Japan?« o<strong>der</strong> »Warum werden überhaupt Atomkraftwerke<br />
gebaut, wenn sie so gefährlich sind?«.<br />
»logo!« stellte seine Berichterstattung konsequent<br />
darauf ein: In täglichen Schwerpunkten wurden<br />
verschiedene Aspekte <strong>der</strong> Katastrophe beleuchtet.<br />
In Dutzenden von Erklärstücken wurden Fragen<br />
wie: »Was ist ein Tsunami?«, »Wie funktioniert<br />
ein Atomkraftwerk?« o<strong>der</strong> »Was ist eine Kernschmelze?«<br />
anhand von Grafiken nachvollziehbar<br />
erklärt. Experteninterviews und Schaltgespräche<br />
mit den ZDF-Korrespondenten lieferten zusätzliche<br />
Einordnungen. Die Kolleginnen und Kollegen<br />
<strong>des</strong> Studios Tokio haben »logo!« dabei von Anfang<br />
an tatkräftig unterstützt. Trotz schwierigster<br />
Bedingungen vor Ort (siehe Artikel von Johannes<br />
Hano in diesem Jahrbuch) waren sie für »logo!«<br />
je<strong>der</strong>zeit ansprechbar, lieferten Beiträge aus Kin<strong>der</strong>perspektive<br />
und standen <strong>der</strong> Redaktion mehrmals<br />
für Schalten zur Verfügung.<br />
Höhepunkt <strong>der</strong> Japan-Berichterstattung war ein<br />
25-minütiges »logo! extra« (»Japan – Eure Fragen«),<br />
in dem die wichtigsten Fragen <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong><br />
beantwortet wurden. Experte im Studio war Volker<br />
Erbert, Physiker und Wissenschaftsexperte von<br />
ZDF Digital. Mit einfachen Worten, anschaulichen<br />
Beispielen und mit großer Ruhe und Gelassenheit<br />
stellte er sich den Fragen <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> – sowohl<br />
während <strong>der</strong> Sendung als auch danach.<br />
114 I<br />
2011.Jahrbuch
Die »extra«-Sendung war das erste interaktive<br />
»logo!«-Format mit direkter Zuschauerbeteiligung<br />
im Studio. Da das Studio N, das virtuelle Nachrichtenstudio,<br />
für eine Sendung mit rund 50 Kin<strong>der</strong>n<br />
nicht ausgelegt ist, musste in drei Tagen eine<br />
komplett neue Studiodeko im Studio 3 gebaut<br />
werden.<br />
Dank großem Engagement und vielen kreativen<br />
Ideen <strong>der</strong> Bühne, Regie, Produktion und Redaktion<br />
entstand ein Format, das zwar aus <strong>der</strong> Not<br />
heraus geboren wurde, sich aber gleich beim<br />
ersten Mal bewährt hat und bei unseren Zuschauern<br />
sehr gut angekommen ist. Daher soll es auch<br />
künftig für ähnliche Anlässe genutzt werden.<br />
Das »logo! extra« erreichte im KI.KA fast 800 000<br />
Zuschauer und einen Zielgruppenmarktanteil bei<br />
Drei- bis 13-Jährigen von knapp 27 Prozent.<br />
Ebenso gefragt waren die »logo!«-Onlineseiten.<br />
Hier war eine umfangreiche Hintergrundberichterstattung<br />
zum Thema Japan zu finden. Kin<strong>der</strong><br />
konnten die Erklärstücke zum Thema gebündelt<br />
abrufen und in zusätzlichen Chats und Foren ihre<br />
Fragen loswerden. Kin<strong>der</strong> haben das Angebot intensiv<br />
genutzt: Die Pageimpressions von logo.de<br />
waren im März fast doppelt so hoch wie in allen<br />
an<strong>der</strong>en Monaten <strong>des</strong> <strong>Jahres</strong> 2011. Diese Zahlen<br />
belegen, dass es gerade in Krisenzeiten einen<br />
immensen Bedarf an kindgerechter Information<br />
gibt. »logo!« ist hier erste Adresse.<br />
Auch zur Wirtschaftskrise, die 2011 globale Ausmaße<br />
annahm, hatten Kin<strong>der</strong> viele Fragen. Doch<br />
wie kann man ein Thema, das selbst bei erwachsenen<br />
Zuschauern Fragen aufwirft und das sogar<br />
erfahrenen Redakteuren Schweißperlen auf die<br />
Stirn treibt, kindgerecht aufbereiten? Auch, wenn<br />
es paradox klingt: Bei einem so komplizierten<br />
Thema ist es zunächst hilfreich, genau darauf zu<br />
hören, wie Kin<strong>der</strong> darüber denken. Im Alter von<br />
etwa zehn Jahren haben sie bereits eine Menge<br />
an Erfahrungen gesammelt. Sie entwickeln in vielen<br />
Fällen selbstständig und sehr kreativ Erklärungen<br />
für die Phänomene ihrer Lebenswelt.<br />
So war eine zentrale Frage, die Kin<strong>der</strong> im Zusammenhang<br />
mit <strong>der</strong> Wirtschaftskrise immer wie<strong>der</strong><br />
gestellt haben: »Wenn Län<strong>der</strong> Schulden haben,<br />
warum drucken sie dann nicht einfach mehr<br />
Geld?«. An<strong>der</strong>e Kin<strong>der</strong> entwickelten sogar eigene<br />
Vorschläge, wie man Griechenland helfen könnte.<br />
So schrieb die elfjährige Nadine: »Warum kann<br />
Griechenland nicht einfach eine Band gründen<br />
und die auf Weltreise schicken, um dann für Geld<br />
zu spielen?«.<br />
An Fragen und Erklärungen aus Kin<strong>der</strong>sicht knüpft<br />
»logo!« an. So dienten Fragen wie: »Wie kann es<br />
eigentlich passieren, dass ein Land pleite geht?«<br />
als Grundlage für die Konzeption von »logo!«-<br />
Beiträgen und Erklärstücken.<br />
Darüber hinaus steigt die Relevanz von Themen,<br />
wenn Kin<strong>der</strong> in die Berichterstattung integriert<br />
werden. So hat »logo!« griechische Familien in<br />
Deutschland besucht, hat berichtet, wie es an den<br />
Schulen in Griechenland aussieht o<strong>der</strong> hat eine<br />
Kin<strong>der</strong>reporterin zum Interview mit dem Chef <strong>der</strong><br />
Eurogruppe Jean-Claude Juncker geschickt. Als<br />
die Proteste gegen die Sparmaßnahmen in Athen<br />
ihren Höhepunkt erreichten, war ein »logo!«-Reporter<br />
vor Ort, um griechische Kin<strong>der</strong> zu treffen<br />
und sich mit ihnen über die Auswirkungen <strong>der</strong><br />
Krise auf ihr tägliches Leben zu unterhalten.<br />
»logo!«-Kin<strong>der</strong>reporterin Sophie<br />
trifft Jean-Claude Juncker<br />
Krisenberichterstattung für Kin<strong>der</strong><br />
I 115
sche Kin<strong>der</strong>, die im Ausland leben o<strong>der</strong> ausländische<br />
Kin<strong>der</strong>, die »logo!« sehen, um Deutsch zu<br />
lernen. Eines dieser Kin<strong>der</strong> ist <strong>der</strong> zehnjährige<br />
Malik. Er lebt in Kairo und schrieb am 3. Februar<br />
2011 ins »logo!«-Gästebuch: »Hallo, ich wohne in<br />
Kairo ziemlich nah am Tahrir-Platz. Mein Papa war<br />
heute demonstrieren. Es war friedlich, aber ich<br />
durfte nicht mit. Mubarak versteht sein Volk, glaube<br />
ich, nicht (…)«. Wir nahmen daraufhin Kontakt<br />
mit ihm auf und fragten ihn, ob er bereit sei, uns in<br />
<strong>der</strong> Sendung Fragen zu beantworten. Er stand<br />
uns dann mehrmals per Skype-Schalte Rede und<br />
Antwort und erzählte uns auf dem Höhepunkt <strong>der</strong><br />
Proteste, dass seine Schule geschlossen sei und<br />
dass er sich Sorgen um seinen Vater mache, <strong>der</strong><br />
weiterhin täglich demonstriere. Nach dem Ende<br />
<strong>der</strong> Revolution berichtete Malik, wie sehr er sich<br />
freue, dass die Proteste erfolgreich waren.<br />
Selbstgemaltes Bild <strong>der</strong> »logo!«-<br />
Zuschauerin Paula Salomon<br />
Während es bei einem Thema wie <strong>der</strong> europäischen<br />
Wirtschaftskrise relativ einfach ist, betroffene<br />
Kin<strong>der</strong> zu finden, erwies sich das bei einer an<strong>der</strong>en<br />
großen Krise <strong>des</strong> <strong>Jahres</strong> 2011 als größte<br />
Herausfor<strong>der</strong>ung für die »logo!«-Berichterstattung:<br />
bei den Revolutionen in Nordafrika – einem<br />
Thema, das »logo!« und seine Zuschauer ebenfalls<br />
das ganze Jahr über beschäftigte. Generell<br />
war die Nachrichten- und Bil<strong>der</strong>lage aus den verschiedenen<br />
Län<strong>der</strong>n schwach, und an Informationen<br />
über Kin<strong>der</strong> in den betroffenen Gebieten zu<br />
gelangen, war fast ausgeschlossen. Dabei sind<br />
persönliche Geschichten aus <strong>der</strong> Zielgruppenperspektive<br />
für unsere Berichterstattung elementar.<br />
Denn nur das, was emotional berührt, wird von<br />
Kin<strong>der</strong>n auch als relevant empfunden. In dieser<br />
Situation kam <strong>der</strong> Sendung zugute, dass »logo!«<br />
junge Zuschauer in <strong>der</strong> ganzen Welt hat: Deut-<br />
Doch während die Revolution in Ägypten zunächst<br />
verhältnismäßig glimpflich ablief, gaben<br />
die Ereignisse in Libyen und Syrien unseren Zuschauern<br />
wesentlich größeren Anlass zur Sorge.<br />
Was sie beson<strong>der</strong>s beschäftigte, war die Frage,<br />
warum einige Herrscher in Nordafrika auf ihr eigenes<br />
Volk schießen und sich so lange an <strong>der</strong> Macht<br />
halten können.<br />
Nachrichtenereignisse wie die Revolutionen in<br />
Nordafrika, die Wirtschaftskrise in Europa und die<br />
Atomkatastrophe in Japan haben eines gemeinsam:<br />
Kin<strong>der</strong> entwickeln eine große Empathie mit<br />
den Betroffenen vor Ort und geben sich mit einer<br />
kurzfristigen, schlaglichtartigen Berichterstattung<br />
nicht zufrieden. Unsere Zuschauer for<strong>der</strong>n weitere<br />
Beiträge und Erklärungen ein, sobald wir einige<br />
Tage o<strong>der</strong> Wochen über ein Thema nicht berichtet<br />
haben. Kin<strong>der</strong> wollen und brauchen Fortschreibungen,<br />
Hintergründe, Ergebnisse und bestenfalls<br />
ein Happy End. Fragen können wir (meistens)<br />
beantworten, Hintergründe und Fortschreibungen<br />
können wir liefern. Ein Happy End aber gibt es<br />
auch in Kin<strong>der</strong>nachrichten nur selten.<br />
116 I<br />
2011.Jahrbuch
Machtfaktor Erde<br />
»BURNOUT – Der erschöpfte Planet«<br />
Für Autoren ist es ein beson<strong>der</strong>er Glücksfall,<br />
wenn ein Sen<strong>der</strong> bereit ist, Geld und Sendeplätze<br />
zu investieren in eine Reportage, die<br />
mit nicht mehr beginnt als mit einer Beobachtung<br />
und einer Frage. So entstand »Machtfaktor<br />
Erde«. Die Beobachtung: Ob man nun<br />
Menschen dafür verantwortlich macht o<strong>der</strong><br />
nicht – unser Planet verän<strong>der</strong>t sich massiv.<br />
Eismeere brechen auf, Wüsten verlagern<br />
sich, die uralten Rhythmen von Dürren und<br />
Regenzeiten geraten aus dem Takt. Die Frage:<br />
Muss das nicht Folgen haben? Für Industrien,<br />
für die Militärs, für Strategien und Außenpolitik<br />
großer Mächte?<br />
Die letzte große Kältephase <strong>der</strong> Erde war eine <strong>der</strong><br />
Ursachen für die europäische Völkerwan<strong>der</strong>ung<br />
und damit für das Ende <strong>des</strong> Römischen Reiches.<br />
Gravierend genug, aber zu dieser Zeit gab es<br />
noch Platz, Völker konnten wan<strong>der</strong>n, wohin sie<br />
wollten. Und sie hatten jede Menge Zeit, weil die<br />
Verän<strong>der</strong>ungen Jahrhun<strong>der</strong>te in Anspruch nahmen.<br />
Diesmal geht es um eine globale Erwärmung<br />
– und eine ganz an<strong>der</strong>e, rasante Dynamik.<br />
Wie wird das werden für unsere dicht vernetzten,<br />
militarisierten, hochgezüchteten Industriegesellschaften?<br />
Das klingt interessant, wichtig und für die Produktion<br />
teuer. Aber es klingt ganz sicher nicht nach<br />
einem Straßenfeger. Das beginnt schon beim<br />
Reizwort »Klima«. Im »heute-journal« beobachten<br />
wir seit Jahren, dass die bloße Erwähnung <strong>des</strong><br />
Wortes »Klimawandel« Tausende von Zuschauern<br />
zum Ab- o<strong>der</strong> Umschalten bringt.<br />
Für Filmemacher, die ja auch Erfolg haben wollen,<br />
ist das also nicht unbedingt ein Themenfeld, auf<br />
das sie mit Begeisterung springen. Und doch: Als<br />
wir aus immer mehr Quellen und verschiedenen<br />
Län<strong>der</strong>n hören, dass sich Strategen zunehmend<br />
um die Gefahren <strong>des</strong> Klimawandels für den Weltfrieden<br />
sorgen, fangen wir Feuer. Nach Gesprächen<br />
im Verteidigungsministerium in Berlin, im<br />
Pentagon, bei den Vereinten Nationen, im Austausch<br />
mit Think-Tanks in China, Indien und Peru<br />
verdichtet sich <strong>der</strong> Eindruck: Überall beziehen<br />
Militärs, Städteplaner und Rohstoff-Experten die<br />
rasanten Verän<strong>der</strong>ungen <strong>des</strong> Planeten in ihr Kalkül<br />
mit ein.<br />
Die Recherche ist also vielversprechend. Peter<br />
Frey, <strong>der</strong> Chefredakteur, geht das Wagnis ein. Er<br />
setzt mit uns darauf, dass sich die Zuschauer für<br />
komplexe Sachverhalte gewinnen lassen, wenn<br />
sie Neues erfahren, das ihnen nirgendwo sonst<br />
gezeigt wird. Wer soll das anbieten, wenn nicht ein<br />
öffentlich-rechtliches Informationsprogramm? Wir<br />
bekommen den Sendeplatz, den Etat und unser<br />
»Dream-Team« in Redaktion, Produktion, Kamera<br />
und Schnitt. Unsere Dokumentation fügt sich später<br />
ein in den Programmschwerpunkt »BURNOUT<br />
– Der erschöpfte Planet«, <strong>der</strong> sich in einem großen<br />
Fernsehfilm (»Verschollen am Kap«), in Dokumentationen,<br />
Reportagen, Talk und Magazinformaten<br />
eine Woche im November mit dem Thema endlicher<br />
Ressourcen beschäftigt.<br />
Claus Kleber<br />
Hauptredaktion Aktuelles/<br />
Redaktion »heute-journal«<br />
Angela An<strong>der</strong>sen<br />
Hauptredaktion Aktuelles/<br />
Redaktion »heute-journal«<br />
Claus Kleber im Gespräch mit<br />
einem äthiopischen Bauern<br />
Machtfaktor Erde<br />
I 117
Wassertanklaster in Lima, Peru<br />
Teamfoto vor <strong>der</strong> Abreise: Jürgen<br />
Rapp, Jan Prillwitz, Claus Kleber<br />
und Angela An<strong>der</strong>sen<br />
Nun könnten die Abenteuer beginnen, tatsächlich<br />
beginnen erst mal die Probleme. Wir wollen unter<br />
an<strong>der</strong>em in Asien, Russland, Südamerika und Afrika<br />
drehen. Selbst wenn wir nicht mit <strong>der</strong> Tür ins<br />
Haus fallen und von einer Bedrohung für den<br />
Weltfrieden reden, sind nicht alle wild darauf, uns<br />
für ein solches Filmprojekt Drehgenehmigungen<br />
zu erteilen. In vielen Län<strong>der</strong>n ist <strong>der</strong> Themenkomplex<br />
»Klimawandel und nationale Sicherheit«<br />
schon längst nicht mehr so akademisch-fern wie<br />
bei uns im mild temperierten Westeuropa. Da geht<br />
es um handfeste Interessen und akute Gefahren.<br />
Fernsehteams sind da für manche ein schwer<br />
kontrollierbarer Störfaktor. Unermüdlich ringen<br />
Christoph Caron und Bernd Arens in Redaktion<br />
und Produktion mit Konsulaten, Botschaften und<br />
Behörden in den jeweiligen Hauptstädten. Oft<br />
helfen uns die deutschen Diplomaten am Ort mit<br />
großem und dankenswertem Engagement. Sie<br />
kennen die Brisanz unseres Themas aus nächster<br />
Nähe und sind froh, dass darüber ein Film im<br />
Hauptabendprogramm entstehen soll.<br />
Das Hochland von Tibet und die Gletscher im<br />
Himalaya sind die Süßwasserspeicher Asiens.<br />
Hier entspringen große Flüsse, in <strong>der</strong>en Einzugsgebiet<br />
mehr als eine Milliarde Menschen leben.<br />
Sie fließen nicht mehr wie früher. Indische und<br />
chinesische Truppen stehen sich im höchsten<br />
Gebirge <strong>der</strong> Welt gegenüber. Dort wollen wir drehen.<br />
Peking hatten wir in dieser Sache gar nicht<br />
erst um Erlaubnis gebeten. Aber auch aus Indien<br />
schallt zunächst: »Ausgeschlossen mit drei Ausrufezeichen«.<br />
Endlich bekommen wir die Visa und fliegen über<br />
Neu-Delhi nach Ladakh, in die atemberaubende<br />
Landschaft <strong>des</strong> ehemaligen Königreichs, das als<br />
das »indische Tibet« gilt. In den einschlägigen<br />
Führern wird geraten, sich in mehr als 3000 Metern<br />
Höhe mit <strong>der</strong> Akklimatisierung drei Tage Zeit<br />
zu lassen und möglichst wenig zu bewegen. Bei<br />
unserem eng gestrickten Drehplan ist es schon<br />
ein Luxus, dass wir uns den Nachmittag nach <strong>der</strong><br />
Ankunft freinehmen, uns orientieren, nach Motiven<br />
suchen und die Altstadt von Leh erkunden. Wir<br />
bummeln vorbei an flatternden Gebetsfahnen und<br />
lächeln zurück in die gegerbten Gesichter <strong>der</strong><br />
Bauern auf dem Markt, die ihre getrockneten Aprikosen<br />
und Mandeln feilbieten. Jan Prillwitz, unser<br />
Kameraassistent, weiß gar nicht, was er zuerst<br />
fotografieren soll.<br />
Beim Mango Lassi, einem Joghurtgetränk, machen<br />
wir einen Schlachtplan für den morgigen<br />
Tag. Wir wissen noch nicht, ob wir wirklich in <strong>der</strong><br />
Garnison drehen dürfen. Auf einer großen Militärbasis<br />
wird die Truppe ausgebildet, die diesen Teil<br />
<strong>der</strong> unwirtlichen Grenze zu China bewacht. Immer<br />
wie<strong>der</strong> kommt es in <strong>der</strong> Region zu Scharmützeln.<br />
Jetzt, da China vorbaut für die zunehmenden Dürren<br />
und sich daranmacht, mit riesigen Staudäm-<br />
118 I<br />
2011.Jahrbuch
men Indien das Wasser abzugraben, soll diese<br />
Elitetruppe eine unserer zentralen Geschichten<br />
sein. Wie das ausgeht, weiß je<strong>der</strong>, <strong>der</strong> den ersten<br />
Teil <strong>der</strong> Dokumentation über die »Beutezüge im<br />
Klimawandel« gesehen hat.<br />
Ein Sprung nach Gambella, Äthiopien, und dem<br />
zweiten Teil <strong>des</strong> Films: Unser zerbeulter Leihwagen<br />
rast über die Schotterpiste. Wir Westler würden<br />
weniger Gas geben bei all den uns entgegen<br />
kommenden Eselskarren und Menschen, die unglaubliche<br />
Lasten auf dem Kopf balancieren und<br />
nur manchmal ausweichen. Unser junger Fahrer<br />
Belay vertraut auf sein Reaktionsvermögen und<br />
auf die Mutter Gottes, die als Heiligenbild am<br />
Spiegel schaukelt und bei jedem Schlagloch<br />
einen Satz macht – wie wir auf den hinteren Plätzen.<br />
Wir dürften auf keinen Fall die neuen Reisfel<strong>der</strong><br />
drehen, hieß es in Addis Abeba. Das macht uns<br />
natürlich noch neugieriger. Die Repräsentanten<br />
<strong>der</strong> Firma Saudi Star hatten wohl Sorge, dass wir<br />
über »Landraub« berichten o<strong>der</strong> »Neokolonialismus«.<br />
In Äthiopien, einem Land, das eher mit erschreckendem<br />
Hunger in Verbindung gebracht<br />
wird, klopfen Geschäftsleute aus Indien, Pakistan,<br />
Japan und Saudi-Arabien bei Diktator Meles<br />
Zenawi an, um riesige Landflächen zu pachten.<br />
Der Grund: In vielen Län<strong>der</strong>n ist das Wetter beim<br />
Getreideanbau inzwischen eine unkalkulierbare<br />
Größe. Hier im Westen Äthiopiens ist <strong>der</strong> Boden<br />
gut und genug Wasser vorhanden, um Millionen<br />
Tonnen Reis im Jahr anzubauen. Am nächsten<br />
Tag geht es nach Abobo zum »verbotenen Dreh«.<br />
Wir biegen ab in eine Sandstraße, auf <strong>der</strong> Affenfamilien<br />
herumspringen, fahren ein paar Kilometer<br />
und trauen unseren Augen nicht. Auf einem schier<br />
endlos großen Platz stehen reihenweise nagelneue<br />
Planierraupen, Bagger und Traktoren. Dieser<br />
riesige Fuhrpark wirft einen um in einem Land, in<br />
dem die meisten Bauern noch schnalzend mit<br />
ihrem Ochsengespann den Boden durchfurchen.<br />
Saudi Star will am Horn von Afrika insgesamt so<br />
viel Land pachten, dass es fast <strong>der</strong> Größe Belgiens<br />
entspricht. Auf diesem Gebiet leben aber<br />
Bauern, die dann weichen müssen. Die Begegnung<br />
mit den Vertriebenen in Gambella gehört zu<br />
den Erlebnissen, die uns auf diesen Reisen am<br />
meisten berührt haben.<br />
Bei keiner an<strong>der</strong>en Produktion haben wir das<br />
große Privileg unseres Berufs intensiver und dankbarer<br />
gespürt als bei »Machtfaktor Erde«. Wir<br />
werden bezahlt für das Erleben und Berichten. Wir<br />
waren an<strong>der</strong>thalb Jahre lang – so wie es <strong>der</strong> Takt<br />
<strong>der</strong> »heute-journal«-Mo<strong>der</strong>ationen erlaubt – auf<br />
allen Erdteilen unterwegs. Wir haben Menschen<br />
kennengelernt, die sich unserer Arbeit in den Weg<br />
stellten und solche, die aus Furcht vor Repressalien<br />
nicht mit uns sprechen wollten. Aber eben<br />
auch an<strong>der</strong>e: Bauern in Gambella, Indianer in den<br />
Slums von Lima, den US-Generalstabschef und<br />
den Generalsekretär <strong>der</strong> Vereinten Nationen.<br />
Ihnen waren wir willkommen, weil sich endlich ein<br />
großer Fernsehsen<strong>der</strong> um ein Thema kümmert,<br />
das ihnen den Schlaf raubt. <br />
Aus einer Beobachtung und einer einfachen Frage<br />
ist ein Film geworden, <strong>der</strong> in seinen beiden Folgen<br />
zwei Mal rund drei Millionen Zuschauer interessierte<br />
und – wie wir erfahren haben – auch in Ministerien<br />
und Think-Tanks enormes Interesse gefunden<br />
hat. Einer <strong>der</strong> Beiträge <strong>der</strong> Chefredaktion<br />
zum viel beachteten Schwerpunkt »BURNOUT –<br />
Der erschöpfte Planet«.<br />
Machtfaktor Erde<br />
I 119
»ZDFzoom«: Als die Doku aus <strong>der</strong> Nacht kam<br />
Von <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>entdeckung <strong>der</strong> Königsdisziplin <strong>des</strong> Journalismus<br />
Christian Dezer<br />
Hauptredaktion Politik und<br />
Zeitgeschehen<br />
Das »ZDFzoom«-Team<br />
Seit dem 11. Mai 2011 hat die politische<br />
Dokumentation wie<strong>der</strong> ein Zuhause in <strong>der</strong><br />
Primetime <strong>des</strong> ZDF. Seit diesem Tag sendet<br />
»ZDFzoom« wöchentlich 30- o<strong>der</strong> 45-minütige<br />
Filme zum Zeitgeschehen und gibt <strong>der</strong> vertiefenden<br />
und hintergründigen Berichterstattung<br />
<strong>des</strong> Sen<strong>der</strong>s einen herausgehobenen<br />
Stellenwert.<br />
Alles begann an einem Nachmittag Mitte Dezember<br />
2010. In den Tagen zuvor hatte es ein wenig<br />
geschneit, <strong>der</strong> erste Frost war gekommen, und<br />
die Stimmung wurde langsam weihnachtlich. In<br />
<strong>der</strong> neugegründeten Hauptredaktion Politik und<br />
Zeitgeschehen atmeten viele nach einem aufregenden<br />
Jahr zwischen <strong>der</strong> Fusion zweier Hauptabteilungen<br />
und umfänglicher Berichterstattung<br />
gerade ein bisschen durch.<br />
Da meldete sich plötzlich <strong>der</strong> Chefredakteur Peter<br />
Frey. Seine Mitteilung war kurz und präzise und<br />
von weitreichen<strong>der</strong> Bedeutung. Er teilte mit, dass<br />
es bei <strong>der</strong> nächsten Programmschemareform im<br />
kommenden April einen neuen Sendeplatz für<br />
politische Dokumentationen geben solle. Deshalb<br />
benötige er noch vor Weihnachten ein überzeugen<strong>des</strong><br />
Konzept.<br />
Lange hatten die Dokumentaristen in <strong>der</strong> Chefredaktion<br />
auf ein solches Signal gewartet, ja, darauf<br />
gehofft. Hun<strong>der</strong>te von Dokumentationen hatte es<br />
in den vergangenen Jahren gegeben, aktuell,<br />
hintergründig, investigativ, viele gute Themen<br />
waren dabei und so mancher preisgekrönte und<br />
herausragende Film. Aber immer fehlte die feste<br />
Heimat, <strong>der</strong> feste Sendeplatz. Die politischen,<br />
auch gerne »relevant« genannten Dokumentationen<br />
liefen mal in <strong>der</strong> frühen, mal in <strong>der</strong> späten<br />
Primetime und häufig erst spät in <strong>der</strong> Nacht.<br />
»Zündstoff« – so hieß die letzte richtige Dokumentationsreihe<br />
für die hintergründige Dokumentation<br />
im ZDF. Sie behandelte die heißen Eisen aus Politik<br />
und Gesellschaft. »Zündstoff«, nur die Altvor<strong>der</strong>en<br />
erinnern sich noch daran, starb irgendwann<br />
Mitte <strong>der</strong> 90er Jahre <strong>des</strong> letzten Jahrtausends.<br />
Vielleicht zu Recht, weil eine solche Form <strong>der</strong><br />
Doku-Erzählung wie Bildungsbürgerfernsehen daherkam<br />
und nicht mehr zeitgemäß war.<br />
Im Winter 2010 gab es dann die Aussicht auf<br />
einen neuen Sendeplatz, die Chance auf ein richtiges<br />
Dokumentationsformat. Kurzerhand wurde<br />
eine Klausurtagung einberufen. Es wurde diskutiert,<br />
überlegt und gerungen, Doku-Beispiele aus<br />
dem In- und Ausland gesichtet, Rat von Grafikexperten<br />
und Designspezialisten eingeholt. Der Titel<br />
wurde aber schon bald im neuen Jahr gefunden:<br />
»ZDFzoom« sollte er lauten und für das näher<br />
Herangehen, das genaue Betrachten stehen.<br />
Jetzt, nur ein Jahr später, kann man sagen, dass<br />
»ZDFzoom« zu einem klaren publizistischen Statement<br />
geworden ist: Die Reihe steht für selbstgemachten,<br />
nachfragenden und investigativen Journalismus.<br />
Kennzeichnend für »ZDFzoom« ist die<br />
frische Optik und <strong>der</strong> ästhetische Ausdruck <strong>des</strong><br />
120 I<br />
2011.Jahrbuch
neuen Formats. Gedreht wird überwiegend mit<br />
5D-Kameras, die einen beson<strong>der</strong>en »cineastischen<br />
Look« erzeugen. Große Unterstützung kam<br />
dabei vom Geschäftsfeld Kamera, das diesen<br />
neuen Weg mit großem Engagement begleitet<br />
hat. In nur kurzer Zeit wurden für »ZDFzoom« sowohl<br />
im Kamerabereich als auch im Schnitt neue<br />
Wege beschritten, die es möglich machen, dass<br />
»ZDFzoom« mit <strong>der</strong> entsprechenden Qualität produziert<br />
werden kann.<br />
»ZDFzoom« setzt grundsätzlich auf das Thema,<br />
auf den Inhalt. Die Redaktion versteht ihre Sendung<br />
als hintergründiges Informationsmodul. Erzählt<br />
wird die Story von einem »handelnden Autor«<br />
– als Bindeglied zwischen Zuschauer und Thema.<br />
Der Autor macht seine Vorgehensweise, seine<br />
Recherche und seine Ergebnisse transparent und<br />
für den Zuschauer nachvollziehbar. Er nimmt das<br />
Publikum an die Hand o<strong>der</strong> streckt zumin<strong>des</strong>t<br />
seine Hand hilfreich aus, um durch vielschichtige<br />
und komplexe Themenbereiche zu führen.<br />
Dabei ist »ZDFzoom« kein Presenter-Format. Die<br />
Dokumentation steht vielmehr in <strong>der</strong> Tradition <strong>der</strong><br />
britischen, französischen o<strong>der</strong> skandinavischen<br />
Formate, wie »Panorma«, »envoyé speciale« o<strong>der</strong><br />
»uppdrag granskning«, was so viel wie »Auftrag<br />
aufklären« bedeutet. Bei diesen Dokumentationsformaten<br />
treten die Autoren in <strong>der</strong> Regel zurückhaltend<br />
auf, bringen die Geschichte im On voran,<br />
wenn es passend ist, und nur dann, wenn ihre<br />
Aktionen und Auftritte vor <strong>der</strong> Kamera auch Sinn<br />
machen.<br />
Kennzeichen von »ZDFzoom« sind auch die 3D-<br />
Grafiken, die in die Filme integriert werden und<br />
eine zusätzliche Informationsebene bieten. Grafiken<br />
und Zusatzinfos sind so nicht länger Bildtrenner,<br />
son<strong>der</strong>n Ergänzungen, die beiläufig mitkonsumiert<br />
werden können, ohne den Erzählfluss zu<br />
unterbrechen. Diese Form <strong>der</strong> grafischen Aufbereitung<br />
hat sich sehr schnell zu einem Markenzeichen<br />
von »ZDFzoom« gemausert. In <strong>der</strong> Welt <strong>der</strong><br />
eher klassischen Dokumentationserzählungen hat<br />
»ZDFzoom« so für Auffälligkeit gesorgt. »ZDFzoom«<br />
hat sich vorgenommen, möglichst nah an<br />
<strong>der</strong> Lebenswelt <strong>der</strong> Zuschauer zu sein. Vielleicht<br />
interessiert sich <strong>der</strong> Zuschauer nicht für die große<br />
Gesundheitsreform, aber er will wissen, warum er<br />
als Kassenpatient ein Patient zweiter Klasse ist.<br />
Beim Thema Energie interessiert ihn eher die<br />
Frage: »Wieso ist mein Strom so teuer?«. Und erst<br />
dann: »Wer ist dafür verantwortlich?«, um sich auf<br />
die Hintergründe <strong>der</strong> deutschen Energiewirtschaft<br />
einzulassen. Wenn es um ein Oligopol <strong>der</strong> Mineralölkonzerne<br />
geht, ist die naheliegende Frage:<br />
»Wer ist für die hohen Spritpreise verantwortlich?«.<br />
»ZDFzoom« hat eine komplett neue Redaktion<br />
bekommen, zusammengesetzt aus Kolleginnen<br />
und Kollegen aus vielen Bereichen <strong>der</strong> Chefredaktion.<br />
Das neue Team hat seine Wurzeln in <strong>der</strong> alten<br />
Innen- und Außenpolitik, in <strong>der</strong> Aktualität und bei<br />
den ZDF-Reportern.<br />
Mit großem Elan geht das »ZDFzoom«-Team jede<br />
Woche aufs Neue an die Herausfor<strong>der</strong>ung, die<br />
Zuschauer für politische Themen zu interessieren.<br />
Dabei stehen auch aktuelle Probleme im Fokus,<br />
sofern sie sich in kurzer Zeit dokumentarisch und<br />
hintergründig aufarbeiten lassen. Die vertiefende<br />
Information und das Erklären von politischen Zusammenhängen<br />
ist für »ZDFzoom« maßgeblich.<br />
Logo von »ZDFzoom«<br />
»ZDFzoom«: Als die Doku aus <strong>der</strong> Nacht kam<br />
I 121
Der Zuschauer soll aus dem Kleinen, das ihn direkt<br />
betrifft, zum Großen und Ganzen geführt<br />
werden. »Das Reiskorn im Wasserglas«, hat das<br />
<strong>der</strong> berühmte Dokumentarfilmer Gert Monheim<br />
einmal genannt. Was bedeutet die kleine Geschichte<br />
für den Gesamtzusammenhang? Wie<br />
steht was in welchem Verhältnis? Auf diese Fragen<br />
wünschen sich viele Zuschauer in dieser<br />
schnelllebigen Zeit Antworten, Einordnungen und<br />
Erklärungen.<br />
Ein paar <strong>der</strong> »ZDFzoom«-Themen haben das im<br />
ersten Jahr ganz gut geschafft: »ZDFzoom« berichtete<br />
über die Tricks <strong>der</strong> Versicherungen, es<br />
ging um die umstrittene Methode <strong>der</strong> Erdgasför<strong>der</strong>ung,<br />
»Fracking«, um den Organhandel im Kosovo,<br />
den illegalen Handel mit deutschem Computerschrott<br />
in Ghana o<strong>der</strong> um die Fakten beim<br />
Prozess um den Wettermo<strong>der</strong>ator Jörg Kachelmann.<br />
Gut acht Monate nach dem Sen<strong>des</strong>tart kann man<br />
festhalten: »ZDFzoom« etabliert sich als Marke,<br />
die im Interesse <strong>der</strong> Zuschauer berichtet. Das<br />
zeigt die steigende Zahl von Zuschriften und<br />
Mails, in denen uns Zuschauer auf Themen und<br />
Missstände aufmerksam machen. Im neuen Jahr<br />
wird »ZDFzoom« erstmals investigative Themen<br />
präsentieren, die von Zuschauern ins Rollen gebracht<br />
wurden. Und auch in <strong>der</strong> öffentlichen<br />
Wahrnehmung hat »ZDFzoom« erste Erfolge erzielt.<br />
Beim d44. Bun<strong>des</strong>wirtschaftsfilmpreis erhielt<br />
die Reihe gleich zwei Preise: Für kompetente<br />
wirtschaftspolitische Berichterstattung gewann<br />
»ZDFzoom« den zweiten und dritten Platz.<br />
Es begann an einem kalten Dezembertag. An<br />
diesem Tag fand die politische Dokumentation im<br />
ZDF aus <strong>der</strong> Nacht in die Hauptsendezeit zurück.<br />
Das war ein guter Tag fürs ZDF und für die Königsdisziplin<br />
<strong>des</strong> Journalismus – die Dokumentation.<br />
122 I<br />
2011.Jahrbuch
Die FIFA Frauen-Weltmeisterschaft<br />
Ein sportliches Großereignis in den Stadien und an den Fernsehgeräten<br />
Die FIFA Frauen-WM 2011 war in vielerlei Hinsicht<br />
eine Veranstaltung <strong>der</strong> Superlative. Nie<br />
zuvor fanden die Welttitelkämpfe in Deutschland<br />
statt. Noch nie war <strong>der</strong> Zuschauerzuspruch<br />
in den Stadien und an den Bildschirmen<br />
bei einer Frauensportart so groß, und<br />
erstmals zeigten ZDF und ARD alle Spiele<br />
live. Das Motto <strong>der</strong> Veranstalter »20elf von<br />
seiner schönsten Seite« beschrieb treffend<br />
die 22 Tage in diesem Sommer. Das Fazit liest<br />
sich gut, doch <strong>der</strong> Weg dahin war für alle<br />
beteiligten Bereiche hart und steinig.<br />
Schon in <strong>der</strong> ersten Sitzung mit allen relevanten<br />
Redaktionen im ZDF blies dem Frauenfußball ein<br />
kühler Wind <strong>der</strong> Skepsis und Häme entgegen. Der<br />
immer wie<strong>der</strong>kehrende Vergleich mit dem Männerfußball<br />
erschwerte die Arbeit immens. Doch<br />
das motivierte das Team, etwas gänzlich Neues<br />
auf die Beine zu stellen. Die wichtigste Aufgabe<br />
war es, dem Frauenfußball gerecht zu werden und<br />
den Leistungen <strong>der</strong> Spielerinnen Respekt zu zollen.<br />
Das Sendekonzept sah vor, die Mo<strong>der</strong>ation im<br />
Stadion <strong>des</strong> Topspiels zu platzieren. Sven Voss<br />
präsentierte das Geschehen locker und gekonnt<br />
von einer Plattform inmitten <strong>der</strong> Zuschauer gemeinsam<br />
mit Silke Rottenberg. Die langjährige<br />
Torfrau <strong>der</strong> deutschen Nationalmannschaft bestach<br />
durch ihre kompetente Art. Katrin Müller-<br />
Hohenstein präsentierte die neuesten Nachrichten<br />
und Interviews vor dem jeweiligen Hotel <strong>der</strong> deutschen<br />
Nationalmannschaft. Unterstützt wurde die<br />
Sportstudiomo<strong>der</strong>atorin von <strong>der</strong> »ZDF-<br />
Morgenmagazin«-Expertin Renate Lingor. Die frühere<br />
Mittelfeldstrategin gab wertvolle Hinweise für<br />
die programmprägende Rubrik 3D. Hier wurden<br />
exklusiv im ZDF jeden Tag (auch für die ZDFonline-Redaktion)<br />
taktische Elemente <strong>der</strong> Teams mit<br />
Hilfe mo<strong>der</strong>nster Computertechnik anschaulich<br />
aufgearbeitet. Die zweite feste Rubrik, »WM-Splitter«,<br />
befasste sich mit den kleinen abseitigen Geschichten<br />
und Stimmungen im Gastgeberland.<br />
Alle wichtigen Regelentscheidungen wurden von<br />
unserer Expertin, <strong>der</strong> FIFA-Schiedsrichterin Dr.<br />
Riem Hussein, charmant auf den Punkt gebracht.<br />
Die hohe Kompetenz <strong>der</strong> ZDF-Übertragungen<br />
wurde auch durch die Reporter gestärkt. Neben<br />
dem erfahrenen Norbert Galeske saß zum ersten<br />
Mal bei einer Fußballweltmeisterschaft eine Frau<br />
am Mikrofon. Claudia Neumann bestach durch<br />
exzellentes Fachwissen und emotionale Kommentierung.<br />
Dem ZDF-Team gelang es, den hohen Anfor<strong>der</strong>ungen<br />
an Produktion und Technik gerecht zu<br />
werden, die notwendige Distanz in <strong>der</strong> Berichterstattung<br />
zu wahren und dennoch ein emotionales<br />
Sportereignis zum Mitfiebern auf die Bildschirme<br />
zu bringen. Logistische Meisterleistungen wurden<br />
unter Fe<strong>der</strong>führung <strong>des</strong> ZDF unter an<strong>der</strong>em bei<br />
den Übertragungen aus den Stadien, den Hotels<br />
<strong>der</strong> deutschen Mannschaft und dem IBCC (Internationales<br />
Koordinationscenter) in Frankfurt erbracht.<br />
In enger Zusammenarbeit mit den Kollegen <strong>der</strong><br />
Aktualität wurden auch die gesellschaftlichen Aspekte,<br />
vor allem das Thema »Frauen und Fußball«,<br />
kompetent umgesetzt. Der von <strong>der</strong> Chefredaktion<br />
initiierte »Mannomann-Tag«, ein geglückter Weltrekordversuch<br />
elfmeterschießen<strong>der</strong> Frauen und<br />
Mädchen, war ein voller Erfolg. Als zusätzlicher<br />
Gewinn entpuppten sich die beiden ZDFneo-Dokumentationen<br />
zur Historie <strong>des</strong> Frauenfußballs<br />
und <strong>der</strong> Chefin <strong>des</strong> Organisationskomitees Steffi<br />
Andreas Lauterbach<br />
Hauptredaktion Sport<br />
Die FIFA Frauen-Weltmeisterschaft<br />
I 123
Jones, sowie die Reportage <strong>der</strong> Hauptredaktion<br />
Sport über die harte WM-Vorbereitung <strong>der</strong> deutschen<br />
Nationalmannschaft.<br />
ZDFonline hatte nie zuvor einen reichhaltigeren<br />
Rechteumfang, <strong>der</strong>, intensiv genutzt, zu einem<br />
großen Erfolg <strong>des</strong> ZDF-Internetauftritts führte. Alle<br />
Spiele, die das ZDF übertrug, gab es im Netz als<br />
Livestream, dabei wurden durchschnittlich 22 648<br />
Sichtungen erzielt. Betrachtet man nur die<br />
Livestreams mit deutscher Beteiligung, so liegt<br />
<strong>der</strong> Durchschnittswert bei 61 795 Sichtungen. Zu<br />
allen Spielen (auch denen, die von <strong>der</strong> ARD ausgestrahlt<br />
wurden) gab es Zusammenfassungen<br />
nach dem Prinzip: alle Spiele, alle Tore. Angereichert<br />
wurde die ZDFmediathek außerdem mit 3D-<br />
Analysen zu verschiedenen Teams.<br />
Neben den Videos glänzte das Onlineangebot<br />
durch eine Rundumversorgung mit Liveticker, Statistiken,<br />
Kurzmeldungen auf allen drei Plattformen<br />
(zdf.de/heute.de/ sport.zdf.de), exklusiven Berichten<br />
zur deutschen Nationalmannschaft, dem<br />
»DFB11Center« mit Silke Rottenbergs DFB-Formcheck<br />
und Notentool, dem ZDF-Fanbus, unserem<br />
WM-Blog und einer umgebauten ZDFmediathek,<br />
um das vielfältige Videoangebot übersichtlich<br />
präsentieren zu können.<br />
Diese Inhalte wurden mit einem völlig neuartigen<br />
Sendehinweis im Fernsehen präsentiert. Dabei<br />
wurde das Livebild in das Onlineangebot integriert<br />
und die gesamte Webseite ausgestrahlt. Der Mo<strong>der</strong>ator<br />
(hier Sven Voss) stand damit im Onlineangebot<br />
und konnte dem Zuschauer am Bildschirm<br />
den Onlinemehrwert eindrucksvoll präsentieren.<br />
In den Sozialen Netzwerken Twitter und Facebook<br />
wurde mit aktuellen Bil<strong>der</strong>n aus den Stadien und<br />
Links zu ZDF-Inhalten auch die junge Generation<br />
Die Frauenfußball-WM im Internet<br />
124 I<br />
2011.Jahrbuch
auf die WM-Berichterstattung aufmerksam gemacht<br />
und zur Diskussion angeregt.<br />
Mit »Celia kickt« gab es ein gemeinsam von Online-Redaktion<br />
und <strong>der</strong> Hauptredaktion Sport<br />
sowie Journalistikstudenten <strong>der</strong> TU Dortmund<br />
entwickeltes Videomodul, das vor allem auf den<br />
familiären Charakter <strong>der</strong> Frauenfußball-WM abzielte.<br />
Dabei lernten Zuschauer und User deutsche<br />
Nationalspielerinnen mal von einer ganz an<strong>der</strong>en<br />
Seite kennen. Im Fernsehen wurden immer wie<strong>der</strong><br />
Videoclips aus »Celia kickt« (145 000 Sichtungen)<br />
präsentiert und entsprechende Onlinehinweise<br />
gegeben.<br />
Trotz <strong>des</strong> frühen WM-Aus <strong>der</strong> deutschen Mannschaft<br />
sprengte die Zuschauerakzeptanz <strong>der</strong> FIFA<br />
Frauen-WM alle Rekorde. Insgesamt sahen 38,93<br />
Millionen Zuschauer min<strong>des</strong>tens ein WM-Spiel bei<br />
ARD o<strong>der</strong> ZDF. Das entspricht 54,1 Prozent <strong>des</strong><br />
gesamten Publikumpotenzials. Im Schnitt sahen<br />
2011 in Deutschland 6,70 Millionen die Livespiele<br />
im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Bei den deutschen<br />
Begegnungen stieg die Zahl <strong>der</strong> Fernsehzuschauer<br />
auf im Vorfeld nie für möglich gehaltene<br />
16,34 Millionen (55,7 Prozent Marktanteil).<br />
Den höchsten Wert <strong>des</strong> gesamten Turniers und<br />
aller Frauenspiele überhaupt erreichte das Viertelfinal-Aus<br />
<strong>der</strong> deutschen Nationalmannschaft<br />
gegen den späteren Weltmeister Japan. Die<br />
0:1-Nie<strong>der</strong>lage am Samstagabend erlebten 17,01<br />
Millionen (59,2 Prozent Marktanteil) und bescherte<br />
dem ZDF somit auch die erfolgreichste ZDF-Sendung<br />
im Fernsehjahr 2011.<br />
Wahrhaft eine Veranstaltung <strong>der</strong> Superlative.<br />
Rückblickend lässt sich festhalten, dass aus dem<br />
kühlen Wind <strong>der</strong> Skepsis ein warmer Regen geworden<br />
ist. Die WM hat wie<strong>der</strong> einmal gezeigt,<br />
dass das deutsche Publikum in den Stadien und<br />
an den Fernsehgeräten ein sportliches Großereignis<br />
als »Gesamtkunstwerk« versteht. Auch wenn<br />
die eigene Mannschaft, wie in diesem Fall mit<br />
einer Bilanz von drei Siegen und einer Nie<strong>der</strong>lage,<br />
enttäuschte, blieb das Publikum dem Fußballfest<br />
treu. Ganz im Sinne von Respekt und Fairness.<br />
Und so haben doch irgendwie alle gewonnen.<br />
Dieter Gruschwitz (Bildmitte) und<br />
sein Team sind für die Frauenfußball-WM<br />
im Einsatz<br />
Die FIFA Frauen-Weltmeisterschaft<br />
I 125