Traum als Methode - Rote Fabrik
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Um den dynamischen Aspekt unbewusster Phantasiebildungen<br />
hervorzuheben, entwirft Freud<br />
eine szenische Darstellung ihres Schicks<strong>als</strong>, die den<br />
seelischen Apparat <strong>als</strong> Bühnenraum konzipiert.<br />
In seiner Vorlesung über “Widerstand und Verdrängung”<br />
setzt er das Unbewusste einem grossen<br />
Vorraum gleich “in dem sich die seelischen<br />
Regungen wie Einzelwesen tummeln.” An diesem<br />
Vorraum schliesst sich “ein zweiter, engerer,<br />
eine Art Salon, in welchem auch das Bewusstsein<br />
verweilt.” An der Schwelle zwischen beiden<br />
Räumlichkeiten waltet aber ein Wächter seines<br />
Amtes, “der die einzelnen Seelenregungen mustert,<br />
zensuriert und sie nicht in den Salon einlässt,<br />
wenn sie sein Missfallen erregen”. Die Gestaltung<br />
dieses Raumbildes erlaubt Freud eine Ausbild-<br />
ung seiner Nomenklatur: “Die Regungen im Vor-<br />
raum des Unbewussten sind dem Blick des Bewusstseins,<br />
das sich ja im anderen Raum befindet,<br />
entzogen; sie müssen zunächst unbewusst bleiben.<br />
Wenn sie sich bereits zur Schwelle vorgedrängt<br />
haben und vom Wächter zurückgewiesen worden<br />
sind, dann sind sie bewusstseinsunfähig; wir heissen<br />
sie verdrängt. Aber die Regungen, welche der<br />
Wächter über die Schwelle gelassen, sind darum<br />
nicht notwendig auch bewusst geworden; sie können<br />
es bloss werden, wenn es ihnen gelingt, die Blicke<br />
des Bewusstseins auf sich zu ziehen”.<br />
Erst die Arbeit des Wächters <strong>als</strong>o schafft die Unterscheidung<br />
zwischen Triebvorstellungen, die zu-<br />
lässig sind, und solchen, die <strong>als</strong> bösartig befunden<br />
vom Blick des Bewusstseins verdrängt werden.<br />
Entscheidend <strong>als</strong> seiner Topologie des psychischen<br />
Apparates ist folgendes: Triebe, Affekte, Fanta-<br />
sien müssen im Unbewussten immer schon <strong>als</strong> potentiell<br />
vorstellbar vorhanden sein. Deshalb denkt<br />
Freud sie stets an eine Repräsentanz geknüpft,<br />
auch wenn diese noch nicht bewusst geworden ist.<br />
Zugleich setzt der von ihm konzipierte Wächter<br />
auch jenen Umwandlungsprozess in Gang, der aus<br />
jeglichen zurückgedrängten Regungen Wünsche,<br />
Träume und Symptome erzeugt, deren Verkleidung<br />
es ihnen ermöglichen wird, die Schwelle der Zen-<br />
sur doch zu passieren, und so nachträglich – <strong>als</strong> Spur<br />
– jenen dem Bewusstsein nicht zugänglichen Vor-<br />
raum erfahrbar zu machen. Doch erst wenn es ihnen<br />
gelingt, die Aufmerksamkeit des Bewussten auf<br />
sich zu ziehen, haben diese Fantasien ihr Ziel wirk-<br />
lich erreicht. Sie benötigen den Blick dieses<br />
Anderen, um eine bewusste Vorstellung zu werden.<br />
So tritt das Unbewusste zwar vornehmlich durch<br />
seine Abkömmlinge, durch deren affektive Kraft<br />
und deren gestalterische List in Erscheinung.<br />
Dem Nachdrängen dieser Phantasien wohnt aber<br />
ebenso untilgbar die Geste der Nachträglichkeit<br />
inne. Das Unbewusste <strong>als</strong> psychischer Raum, in dem<br />
ein Denken sich entfalten kann, das der Zensur<br />
der Vernunft vorgängig ist und diese trügen muss,<br />
um bewusst zu werden, diese schillernde Bühne<br />
unendlicher Möglichkeiten der Gestaltung lässt sich<br />
nur an den von ihr produzierten Präsenzeffekten<br />
begreifen: An neurotischen Symptomen, die ihr entstammen,<br />
sowie den Fehlleistungen im Alltag,<br />
am Witz, aber auch an jeglichen Wunschträumen.<br />
Denn dieser Raum, zu dem die Vernunft direkt<br />
keinen Zugang hat, ist zugleich nur in der Sprache<br />
des Bewussten erfahrbar. Entscheidend für den<br />
räumlichen Entwurf der Seele, den Freud anbietet ist<br />
nämlich, dass die verdrängten Wunschregungen<br />
zwar mit der Zensur des Bewussten nicht verträglich<br />
sind. Dennoch haben sie bereits Teil am Prozess<br />
psychischer Gestaltung, sind nicht gänzlich formlos.<br />
In seinem Aufsatz „Die Verdrängung“ hält Freud<br />
fest, „wir haben <strong>als</strong>o Grund eine Urverdrängung anzunehmen.“<br />
Diese erste Trennung zwischen Vorstellungen,<br />
die zutage treten und solchen, die im<br />
Dunklen bleiben müssen, stellt die Matrix dar für<br />
alle späteren psychischen Bildungen. Dieser Akt<br />
schafft den Nährboden für jenes dynamische Rückdrängen<br />
abgewiesener Triebvorstellungen, das<br />
das psychische Leben im Zeichen kultureller Beschränkungen<br />
reguliert. „Die zweite Stufe der<br />
Verdrängung, die eigentliche Verdrängung, betrifft<br />
psychische Abkömmlinge der verdrängten Repräsentanz.“<br />
„Wegen dieser Beziehung,“ fährt Freud fort, „erfahren<br />
diese Vorstellungen dasselbe Schicksal wie das Urverdrängte.<br />
Die eigentliche Verdrängung ist <strong>als</strong>o ein<br />
Nachdrängen“. Die Geste der Anziehung, die das<br />
Urverdrängte wie ein Magnet ausübt, ist dabei eben<br />
so wichtig wie die der Abstossung, denn die Verdrängung<br />
kann nur dadurch gewährleistet werden,<br />
dass es bereits vorgängig verdrängtes Material<br />
gibt, welches das vom bewussten Abgestossene aufzunehmen<br />
bereit ist. Die durch eine ursprüng-<br />
liche Verdrängung festgelegte Scheidung zwischen<br />
Bewusstem und Unbewussten unterliegt in der<br />
von Freud entworfenen Topologie des seelischen<br />
Apparats zudem einem Glauben an die Unsterblichkeit<br />
jeglicher Wunschregungen. Diese können<br />
grundsätzlich nicht absterben, sondern nur eine<br />
Umgestaltung erfahren. Die Verdrängung hindert<br />
die Treibrepräsentanz nicht daran, “im Unbewus-<br />
sten fortzubestehen, sich weiter zu organisieren,<br />
Abkömmlinge zu bilden und Verbindungen anzuknüpfen.<br />
Die Verdrängung stört wirklich nur die<br />
Beziehung zu einem psychischen System, dem<br />
des Bewussten”. Somit erweist sich der unbewusste<br />
Bereich der Seele <strong>als</strong> umtriebiger Umschlagplatz,<br />
der weitaus gestalterischer ist <strong>als</strong> die tägliche Ver-<br />
nunft. Jede Triebvorstellung kann sich “ungestörter<br />
und reichhaltiger” entwickeln, “wenn sie durch<br />
die Verdrängung dem bewussten Einfluss entzogen<br />
ist. Sie wuchert dann sozusagen im Dunklen und<br />
findet extreme Ausdrucksformen”, welche dem Men-<br />
schen, dem sie in übersetzter Gestalt vorgehalten<br />
werden, “nicht nur fremd erscheinen müssen, son-<br />
dern ihn auch durch die Vorspiegelung einer<br />
ausserordentlichen und gefährlichen Triebstärke<br />
schrecken“.<br />
Diese täuschende Triebstärke ist wiederum lediglich<br />
„das Ergebnis einer ungehemmten Entfaltung in<br />
der Phantasie und der Aufstauung infolge versagter<br />
Befriedigung”. Auf der Bühne des Unbewussten,<br />
vor der Zensur alltäglicher Verhaltenskodes, symbolischer<br />
Verbote und kollektiver Einschrän-<br />
kungen geschützt, können die Wunschregungen des<br />
Menschen sich absolut frei entfalten. Das Unbewusste<br />
fördert regelrecht das Spiel mannigfaltiger<br />
Phantasmagorien, und stellt in seiner unbeschränk-<br />
ten Kreativität zugleich sicher, dass es in der Welt<br />
des alltäglich vernünftigen Blickes zu seinem<br />
Recht kommen wird. Denn laut Freud stellt das Unbewusste<br />
auch eine Bühne dar, auf der sich jene<br />
Entstellungen erzeugen lassen, die den Wunschregungen,<br />
wenn sie sich “weit genug von der<br />
verdrängten Repräsentanz entfernt haben”, den<br />
Zugang zum Bewussten ohne weiteres freistellen.<br />
Vom Unbewussten <strong>als</strong>o geht sowohl jenes<br />
Nachdrängung aus, die das Bewusste stets an seine<br />
verdrängten, vergessenen oder verworfenen<br />
Wunschregungen erinnert, sowie die Erstellung<br />
einer Distanz zur Urverdrängung. An diesem<br />
Ort im seelischen Apparat entscheidet sich, ob die<br />
Abkömmlinge des Verdrängten endgültig im<br />
Dunkeln verschwinden oder ob sie mit Hilfe einer<br />
Umgestaltung ihrer Erscheinung den bislang<br />
ihnen versagten Gang ans Licht des Bewussten<br />
erneut anstreben dürfen. Jede Triebvorstellung<br />
hat laut Freud sein besonderes Schicksal; “ein wenig<br />
mehr oder weniger von Entstellung macht dass<br />
der ganze Erfolg umschlägt”. Aus denselben Wahrnehmungen<br />
und Erlebnissen können sowohl<br />
Ideale entstammen, wie Abscheu erregende Phantasien.<br />
Ausschlaggebend ist lediglich die Verklei-<br />
dung, die sie im Unbewussten erfahren, um ihre<br />
gemeinsame Abstammung von der Urverdrängung<br />
zu tarnen.<br />
Zugleich bleibt das Unbewusste ein in hohem Grade<br />
dynamischer Ort, weil in der Regel die Aufhebung<br />
der Verdrängung nur eine vorübergehende ist. Man<br />
darf sich die Verdrängung “nicht wie ein einmali-<br />
ges Geschehen mit Dauererfolg vorstellen.” Sie erfordert<br />
vielmehr “einen anhaltenden Kraftaufwand,<br />
mit dessen Unterlassung ihr Erfolg in frage gestellt<br />
wäre, so dass ein neuerlicher Verdrängungsakt<br />
notwendig würde. Wir dürfen uns vorstellen, dass<br />
das Verdrängte einen kontinuierlichen Druck in<br />
der Richtung zum Bewussten hin ausübt, dem durch<br />
unausgesetzten Gegendruck das Gleichgewicht<br />
gehalten werden muss. Die Erhaltung einer Verdrängung<br />
setzt <strong>als</strong>o eine beständige Kraftausgabe<br />
voraus”. Im Widerstreit zwischen dem Wächter des<br />
Bewussten und dem Widerstand der zurückgewiesenen<br />
Vorstellungen wird die Verdrängung stets neu<br />
erzeugt, und mit ihr das Phantasieleben. Entscheidend<br />
an dessen Schicksal ist lediglich, wie weit das<br />
Bewusstsein die Spur der Urverdrängung, die<br />
ihm <strong>als</strong> Erbschaft anhängt, ertragen kann. Nochm<strong>als</strong><br />
greift Freud auf seine szenische Darstellung zurück:<br />
“es kommt etwa darauf hinaus, ob ich einen unliebsamen<br />
Gast aus meinem Salon hinausbefördere<br />
oder aus meinem Vorzimmer oder ihn, nachdem<br />
ich ihn erkannt habe, überhaupt nicht über die<br />
Schwelle der Wohnungstür treten lasse”. Doch auch<br />
die Wiederherstellung der Verdrängung ist kein<br />
einmaliges Geschehen; der unliebsame Gast kann<br />
ebenso wenig endgültig aus dem Salon entfernt<br />
werden, wie es der Entstellung nicht gelingt, ihn<br />
dort auf ewig zu tarnen. Es bleibt nur jener Widerstreit,<br />
der auf die Rückkehr der Abkömmlinge<br />
der Urverdrängung beständig mit einem Gegendruck<br />
durch das Bewusste antwortet, und, sollte<br />
dieser Gelingen, einen neuen Widerstand erzeugt.<br />
Charles Laughtons noir Märchen Night of the<br />
Hunter (1955) bietet eine griffige und zugleich ergreifende<br />
kinematische Inszenierung dieser psy-<br />
choanalytischen Denkfigur. Die Häuser, die meist<br />
von harten Schatten konturiert und somit <strong>als</strong> chiaroscuro<br />
Bilder auf der Leinwand auftauchen, entsprechen<br />
einem psychischen Apparat, den die<br />
Filmgestalten gemeinsam bewohnen. In diesen<br />
Räumen wird das Nachdrängen verbotener Wunschregungen<br />
unentwegt durchgespielt, vermittels des-<br />
sen eine vererbte Schuld anerkannt und zugleich<br />
entschärft wird, und zwar <strong>als</strong> Transformation altvertrauter<br />
Geschichten, die somit ebenfalls, nun<br />
aber im Sinne eines kulturellen Erbes, nachdrängen.<br />
Während im Vorspann die Titel vor einem Sternenhimmel<br />
ablaufen, hören wir die ominösen Klänge<br />
einer Orchestermusik, die zuerst eine Stimmung<br />
der Bedrohung, der Jagd und der Flucht assoziieren<br />
lässt. Sogleich wandeln sich diese in die Stimmen<br />
eines Chors, der nur noch zaghaft von Violinen begleitet<br />
ein Wiegenlied singt. „Träum, Kleines<br />
träum,“ versichern einlullende Stimmen. „Ob-<br />
gleich der Jäger in der Nacht dein kindliches Herz<br />
mit Schreck erfasst, er ist nur ein <strong>Traum</strong>.“<br />
Die Filmgeschichte, die mit diesem Lied eingeleitet<br />
wird, ruft die alttradierte Figur des Teufels auf,<br />
um eine Hollywood Umschrift jener biblischen Geschichten<br />
anzubieten, die davon erzählen, wie man<br />
sich am besten vor diesem nächtlichen Widersacher<br />
schützen kann. Denn vor dem Sternenhimmel<br />
taucht plötzlich der alte Stummfilmstar Lilian Gish<br />
auf. In der Rolle der Rachel Cooper liesst sie<br />
ihren Ziehkindern <strong>als</strong> Bett-Geschichte aus dem<br />
Neuen Testament vor. Wir sehen – ebenfalls <strong>als</strong><br />
Collage auf den Sternenhimmel aufgetragen –<br />
die Gesichter dieser Kinder, die im Halbkreis vor ihr<br />
stehend andächtig lauschen, während ihre Stimme<br />
verkündet: „Beware of f<strong>als</strong>e prophets, which come<br />
to you in sheep‘s clothing, but inwardly they are<br />
ravening wolves. Ye shall know them by their fruits“<br />
(Matteus 7.15). Im Gegenschnitt zeigt Laughton<br />
uns wie spielende Kinder die Leiche einer Frau in<br />
einer dunklen Scheune finden. Diese böse Frucht,<br />
an der man den f<strong>als</strong>chen Propheten erkennen wird,<br />
führt Laughtons Kamera in der nächsten Einstellung<br />
zugleich zu dem fahrenden Prediger Harry Powell<br />
(Robert Mitchum), der in seinem Auto sitzend in<br />
eine Rede mit Gott verwickelt ist. Von diesem glaubt<br />
er den Auftrag erhalten zu haben, weiterhin Witwen<br />
zu töten, um mit Hilfe deren Geldes das Wort Gottes<br />
zu predigen. Der nächste Schnitt führt schliesslich<br />
zum Schaffen jenes Nährbodens, auf den die Saat des<br />
f<strong>als</strong>chen Propheten überhaupt nur fallen kann, weil<br />
die Schuld dort bereits schon angelegt worden ist:<br />
wie die Verdrängung nur nachträglich wirksam wird<br />
vor dem Hintergrund einer Urverdrängung wirkt.<br />
Am helllichten Tag stürzt Ben Harper zu seinen<br />
beiden Kindern John und Pearl. Bei einem Banküber-<br />
fall hat er zwei Menschen getötet, deshalb ist die<br />
Polizei ihm dicht auf den Fersen. Kurz bevor sie erscheint<br />
und ihn verhaftet gelingt es ihm jedoch,<br />
die gestohlenen $10‘000 in der Puppe seiner Tochter<br />
zu verstecken. Seinen Sohn lässt er sowohl schwö-<br />
ren, dass er seine Schwester immer beschützen wird<br />
wie auch, dass er niemandem sagt wo das Geld<br />
versteckt ist. Er wird die Todesstrafe erhalten, seine<br />
Tat jedoch nicht bereuen, hat er doch aus Fürsorge<br />
gehandelt. Denn in dieser Zeit wirtschaftlicher<br />
Depression, die die 30er Jahre in den USA kennzeichnet,<br />
musste auch er befürchten, seine Kinder<br />
würden, sollte er seine Arbeit verlieren, wie so viele<br />
andere zu Vagabunden werden. Ben Harper wird<br />
sich aber auch nicht von der f<strong>als</strong>chen Erlösung verführen<br />
lassen, die der Prediger Powell, der zufällig<br />
mit ihm die Gefängniszelle teilt, ihm vorgaukelt.<br />
Er stirbt ohne das Versteck des gestohlenen Geldes<br />
preiszugeben. In der Nacht der Hinrichtung sehen<br />
wir hingegen Powell, der am Gefängnisfenster<br />
stehend ein Gespräch mit seinem halluzinierten Gott<br />
führt und sich entschliesst, in dessen Auftrag nach<br />
seiner Entlassung die Witwe des Hingerichteten aufzusuchen,<br />
um an das gestohlene Gelt zu kommen.<br />
Eines Nachts taucht er vor dem Haus der Harpers<br />
auf. Pearl hat sich gerade von ihrem Bruder eine<br />
Bett-Geschichte erbeten und dieser hat deshalb begonnen,<br />
den Verlust ihres Vaters <strong>als</strong> Märchenstoff<br />
zu verarbeiten. Ein reicher König, der mit seinen<br />
beiden Kindern in einem Schloss in Afrika lebt, wird<br />
eines Tages von bösen Männern abgeholt. Bevor er<br />
seinen Sohn verlässt, hatte er diesem jedoch gesagt,<br />
er müsse jeden töten, der sein Gold zu stehlen ver-<br />
sucht. Zuerst hört Pearl begeistert zu. In dem Augen-<br />
blick, in dem John erzählt, dass nach kurzer Zeit<br />
der böse Mann zurück gekommen sei, blickt sie je-<br />
doch erschrocken ihren Bruder an und zeigt mit<br />
ihrem Finger auf das Fenster, vor dem er die ganze<br />
Zeit gestanden hatte. Dort hat sie nämlich auf dem<br />
hellen Vorhang - <strong>als</strong> wäre er eine Kinoleinwand -<br />
plötzlich den überdimensionalen dunklen Schatten<br />
eines Männerkopfes erblickt. John geht zum Fenster<br />
und sieht, das vor dem Zaun ein Prediger steht,<br />
dessen Abbild das Licht der Laterne auf den Vor-<br />
hang geworfen hatte. Seiner Schwester versichert er,<br />
es sei nur ein Mann. Seine Geschichte erzählt er<br />
jedoch nicht weiter, sondern legt sich neben Pearl<br />
ins Bett. Der böse Mann hingegen, der in seiner<br />
Darbietung an die Stelle des Polizisten getreten ist,<br />
wird am nächsten Tag eine konkrete Gestalt<br />
einnehmen. Es ist <strong>als</strong> hätte der Sohn im nächtlichen<br />
Licht des Schlafzimmers, mit Hilfe seiner entstel-<br />
lten Erinnerung an die Verhaftung seines Vaters,<br />
dieses Phantom zu sich und seiner Schwester<br />
gerufen, damit es, aus der Verdrängung zurück<br />
gekehrt, Gestalt annehmen kann. In diesem<br />
magischen Augenblick kehrt zweierlei zurück: Die<br />
partikulare Figur des verzweifelten Bankräubers in<br />
der Rolle eines kaltblütigen Witwenmörders, und die<br />
mythische Figur eines entmachteten Märchenkönigs.<br />
Laughtons nächtlicher Jäger veräussert nämlich jene<br />
Triebrepräsentanz, die von John nach der Verhaftung<br />
seines Vaters verdrängt ihn insgeheim auch plagt<br />
und nun endlich dank dieser Verkleidung ans Licht<br />
treten kann. Er mag <strong>als</strong> eine <strong>Traum</strong>gestalt in Erschei-<br />
nung treten, die John sich ausgedacht hat, um<br />
seiner Schwester beim Einschlafen zu helfen. Zugleich<br />
weckt er in dem Sohn jedoch auch jene Schuld, die<br />
im doppelten Sinn seit dem Tod des Vaters auf ihm<br />
lastet: Die Verpflichtung, die er Ben Harper gegenüber<br />
eingegangen ist, <strong>als</strong> er geschworen hat, niemandem<br />
von dem gestohlenen Geld zu erzählen, und<br />
das schlechte Gewissen, das er hat, weil er sich damit<br />
an dessen Verbrechen mitschuldig machte. In der<br />
Eisdiele, in der seine Mutter (Shelley Winters)<br />
arbeitet, wird Harry Powell der Witwe vorgaukeln,<br />
er hätte im Gefängnis <strong>als</strong> Geistlicher gearbeitet<br />
und deshalb von dem verstorbenem eine Nachricht<br />
für seine Hinterbliebenen. Weil er zufällig die Puppe<br />
Pearls in der Hand hält, während dieser Wolf in<br />
seiner Lämmergestalt seine böse Frucht austeilt,<br />
starrt John auf die Hände des Predigers. Dies bietet<br />
Robert Mitchum wiederum eine Gelegenheit zu<br />
erklären, was die beiden Worte Hass und Liebe,<br />
deren Buchstaben seine Finger schmücken, zu<br />
bedeuten haben. In der berühmtesten Szene aus<br />
Night of the Hunter führt er nun seinerseits die<br />
Transformation einer altvertrauten biblischen Geschichte<br />
<strong>als</strong> Faustkampf vor. Seit dem Höllensturz<br />
Luzifers ringt das Böse mit dem Guten, scheint<br />
zuerst zu siegen, um schliesslich doch dem Guten<br />
zu unterliegen. Unwissend nimmt er mit dieser<br />
Darbietung auch den Ausgang seiner eigenen Geschichte<br />
vorweg.<br />
Wenn <strong>als</strong>o Harry Powell für den Sohn Ben Harpers<br />
fantomatisch dessen Mitschuld verkörpert, zieht<br />
er die Aufmerksamkeit der Mutter, die von dem verborgenen<br />
Geld nichts weiss, aus einem anderen<br />
Grund auf sich. Für sie verkörpert er die Möglichkeit<br />
jener moralischen Reinigung, nach der sie sich seit<br />
der Verhaftung und Hinrichtung ihres Gatten sehnt.<br />
Nicht wie ihr Sohn erschrocken, sondern vielmehr<br />
beglückt vernimmt Willa von ihm die Botschaft, ihr<br />
Gatte hätte kurz vor seinem Tod gebeichtet, das<br />
gestohlene Geld am Boden des Flusses versenkt zu<br />
haben. Will John in dem Fremden eine Gestaltung<br />
des Bösen sehen, um auf ihn die Schuld seines Vaters<br />
zu übertragen, will Willa nur einen Retter erkennen.<br />
Sie ist bereit, sich verblenden zu lassen, um sich ihrer-<br />
seits psychisch von ihrer Schuld zu entlasten. Sie<br />
wird in eine Ehe mit Henry Powell einwilligen, um<br />
eines nachts von ihrem Gatten ermordet, am Bo-<br />
den jenes Sees zu landen, in den ihr Gatte das Geld<br />
in Wahrheit nicht versenkt hat. Ihren Kindern<br />
hingegen wird nur die Flucht vor dem nächtlichen<br />
Jäger bleiben. Im Schutz der Finsternis besteigt John<br />
mit seiner Schwester ein Ruderboot und lässt sich<br />
von der Strömung den Fluss hinab treiben, bis die<br />
beiden in der dritten Nacht dann endlich, wie von<br />
einer mütterlichen Hand sachte in einen sicheren Ha-<br />
fen geleitet werden; dem Schilfufer vor Rachel<br />
Coopers Haus. Dort liegen die Kinder zuerst in ihren<br />
ruhevollen Schlaf versenkt. Dann gleitet Laughtons<br />
Kamera nach oben und zeigt uns, wie aus dem friedlichen<br />
Sternenhimmel, der sie bewacht, in der<br />
Überblendung der Morgen entsteht und beim Schrei<br />
der Hähne die ersten Morgenstrahlen hinter den<br />
dunklen Wolken hervor dringen.<br />
Die alte Dame, die schon drei fremden Kindern in<br />
diesen schweren Zeiten den Schutz ihres Heims<br />
anbietet, nimmt Pearl und John ebenfalls bei sich auf.<br />
Auch sie nutzt ihr Haus <strong>als</strong> Bühne, um alltägliches<br />
Leid in den Stoff biblischer Geschichte umzuwandeln.<br />
Wie jeden Abend trägt Rachel in der anbrechenden<br />
Dunkelheit ihre eigenwillige Umdeutung der Heili-<br />
gen Schrift vor, wählt aber bewusst die Ankunft<br />
Moses bei der Tochter des Pharaonen, um für das<br />
Schicksal der beiden Neuankömmlinge eine passende<br />
Formel zu finden. Nachdem die anderen Kinder<br />
sich bereits in ihre Zimmer zurückgezogen haben,<br />
bleibt John bei seiner neuen Beschützerin. Er kann<br />
ihr sein Geheimnis noch nicht offenbaren, bittet<br />
sie aber, ihre Geschichte nochm<strong>als</strong> zu erzählen, denn<br />
in der mythischen Gestalt des Moses hat er jene<br />
Gestalt des Widerstandes entdeckt, die er benötigt,<br />
um gegen seinen persönlichen Tyrann anzutreten.<br />
Powell, der heraus gefunden hat, wo die beiden<br />
Kinder sich aufhalten, holt seine Schützlinge bald<br />
ein, doch Rachel ist längst vorgewarnt und verscheucht<br />
ihn von ihrem Grundstück. Bibelfest hat<br />
sie in ihm sofort den f<strong>als</strong>chen Propheten erkennt, vor<br />
dem der Apostel Matteus warnt, und bereitet sich<br />
deshalb auf seine Rückkehr vor. In der Perepeteia<br />
von Night of the Hunter sitzt Lilian Gish deshalb auf<br />
ihrem Schaukelstuhl in dem knapp beleuchteten<br />
Vorraum ihres Hauses und blickt durch das Fenster<br />
auf den nächtlichen Garten.<br />
Aus diesem wird, wie aus dem Unbewussten, jene<br />
Gestalt in Erscheinung treten, über die verdrängte<br />
Schuld und klandestines Wissen ins Bewusstsein vor<br />
zu drängen suchen. Sie muss die schlafenden<br />
Kinder vor dem nächtlichen Jäger schützen, doch<br />
der Umstand, dass sie in dieser entscheidenden<br />
Nacht Wache hält, wird diese dämonische Triebrepräsentanz<br />
auch ins Tageslicht rücken und somit<br />
seine Gefahr tilgen. Ihre Funktion besteht demnach<br />
nicht darin, die von Powell verkörperte Wunschregung,<br />
das Gesetz zu brechen, die Ben Harper an<br />
seinen Sohn vererbt hat, gänzlich zu verdrängen.<br />
Sie verleiht dieser Fantasie vermittels einer dramaturgischen<br />
Umgestaltung vielmehr eine Gestalt,<br />
die mit dem System des Bewussten verträglich ist,<br />
damit es am Ende dieser Nacht für sie und ihre<br />
Ziehkinder einen neuen Tag geben kann. Sie hat<br />
Nächtliches Jagen<br />
—<br />
Elisabeth Bronfen<br />
Häufig geht es in der Auseinandersetzung mit <strong>Traum</strong><br />
in erster Linie um dessen Ausdrucksform und Darstellungsmöglichkeiten<br />
bezüglich psychoanalytischer<br />
Deutungsversuche. Aber <strong>Traum</strong> kann auch in Be-<br />
zug auf seine ästhetischen Aspekte untersucht werden.<br />
In der «unbewussten Gesellschaft» wird <strong>Traum</strong><br />
von Elisabeth Lenk <strong>als</strong> eigenständiger Ausdrucksakt<br />
ohne Deutungsaspekte einer Formanalyse unterzogen.<br />
In seiner unauflösbaren Andersheit führt<br />
der <strong>Traum</strong> die Vorstellung von Identität und eindeutiger<br />
Wahrheit ebenso ad Absurdum, wie es die<br />
ästhetische Sprache der Kunst vermag. Die Vorstellungen<br />
von Subjektivität und Repräsentationsstrukturen<br />
des Bewusstseins hinterfragend, knüpft<br />
Lenk schliesslich Bezüge zwischen den Ausdruckformen<br />
in <strong>Traum</strong> und Theater. Diese mögliche<br />
Verbindung von <strong>Traum</strong> und Theater möchte Ich<br />
nachvollziehen, um mögliche ästhetische Formen für<br />
ein «<strong>Traum</strong>-Theater» festzuhalten. Denn, wo die<br />
bildende Kunst beispielhaft mit den Surrealisten den<br />
<strong>Traum</strong> explizit Einzug erhalten lässt, und auch die<br />
Filmästhetik eines David Lynch sich offensichtlich<br />
der Sprache des <strong>Traum</strong>s bedient, stellt sich die<br />
Frage, was eine verstärkte Orientierung am <strong>Traum</strong><br />
für das Theater bedeuten kann.<br />
Emanzipation von der Nachahmung<br />
In der Welt des <strong>Traum</strong>s haben wir es mit Wahrnehmungsformen<br />
zu tun, die sich rational-logischen<br />
Prinzipien entziehen und durch Überdeterminierung<br />
eine Mehrdeutigkeit anbieten, die ein Verstehen<br />
und Lesen jenseits der rationalen Bedeutungserzeugung<br />
ermöglichen, sogar fordern. Die Produktion<br />
heterogener und doch gleichermassen gültiger Informationen,<br />
die man nur gleichwertig nebeneinander<br />
betrachten kann, bestimmt den <strong>Traum</strong><br />
ebenso wie seine Analyse. Auch das zeitgenössische<br />
Theater emanzipiert sich von der «reinen Nachahmung»<br />
von Gegebenheiten auf der Bühne, hin<br />
zur Miteinbringung des Zuschauers in den mimetischen<br />
Vorgang und zu einer gemeinsamen Hervorbringung<br />
von etwas Unbekanntem, Neuem.<br />
Lenk formuliert ein poetisches Potential im Überschuss<br />
an Bedeutung, das im <strong>Traum</strong> entsteht. Der<br />
<strong>Traum</strong> greift das «verdrängte Heterogene» des<br />
Tages auf und ermöglicht einen Einbruch des «Sich-<br />
Gehen-Lassens», einen Augenblick der Unaufmerksamkeit<br />
und ein Zerreissen aller Gewissheit.<br />
Es gibt einen Überschuss an Ausdruck noch in den alltäglichsten<br />
Dingen: Diesen Überschuss spürt der Träumende auf:<br />
Die <strong>Traum</strong>form entspricht einem fundamentalen Bedürfnis<br />
der Formlosigkeit, denn aus den perfekten, wiederholbaren<br />
Formen des Tages bleibt die subjektive Existenz <strong>als</strong> unzulänglich<br />
ausgeschlossen. In der Formlosigkeit des <strong>Traum</strong>es fin-<br />
det sie sich wieder. Der <strong>Traum</strong> ist daher immer auch Korrektur<br />
der «guten Gestalten», der Schemata der Vollendung, des<br />
klassischen Ide<strong>als</strong>. Verglichen mit der Solidität der etablierten<br />
Formen, ist er eine Leere, die sich plötzlich inmitten der<br />
bekannten Welt auftut. (Lenk, S. 14)<br />
Durch die Verweigerung von den Repräsentationsnormen<br />
und der Ordnung der Tagwelt tritt dieser<br />
Überschuss an Ausdruck hervor. Dem fundament-<br />
alen Bedürfnis nach Formlosigkeit wird stattgegeben,<br />
da <strong>Traum</strong>arbeit nicht denkt, rechnet oder<br />
urteilt, sondern sich darauf beschränkt, umzuformen<br />
in einer zeitgleichen Bildung und Entstellung, die<br />
den Verlust von Form bedeutet. Entgegen dem<br />
Bedürfnis nach Sicherheit, Berechenbarkeit, unzweideutiger<br />
Faktizität und Zurechnungsfähigkeit wird<br />
dort all dem Ausdruck verschafft, was in der Aussenwelt<br />
keine Spuren hinterlassen hat. Im <strong>Traum</strong><br />
gibt es kein Subjekt, weil die Subjektivität überall ist.<br />
Das Ich ist aufgelöst und an seiner Stelle bewegt<br />
sich eine mimetische Vielheit. Es gibt nicht das eine<br />
Ich, sondern allen Personen und sogar den Dingen<br />
wird Subjektivität geliehen. Im <strong>Traum</strong> findet eine<br />
Depersonalisation statt, in der das Ich-Gefühl des<br />
Träumenden unsicher und diffus ist, ununterbrochen<br />
in wandelnder Abfolge in verschiedene Einzel-Ichs<br />
zerfällt oder sich mit anderen Personen zu einer<br />
Misch-Identität verbinden kann. Im <strong>Traum</strong> gibt es<br />
keine einheitlichen, konstituierten, verantwortlichen<br />
Personen. Die Repräsentation von Identität und<br />
die Illusion eines autonomen, abgeschlossenen Sub-<br />
jekts, welche bei Tage aufrecht zu halten versucht<br />
wird, zerfällt. Die Unmöglichkeit des Ausdrucks<br />
von Einheit ermöglicht die Begegnung mit den<br />
«Nicht-Identischen».<br />
Als «phantasmatischer Ort des Unbewussten» wird<br />
der <strong>Traum</strong> häufig mit dem Dispositiv des Theaters<br />
verglichen. Der <strong>Traum</strong> ereignet sich «eingerahmt<br />
wie der Schauplatz einer Theateraufführung,<br />
während die Welt den realen Raum darstellt. Und<br />
<strong>als</strong> solcher ist der Ort des Phantasmas dem faszinierten<br />
Subjekt präsentiert, ein Schauplatz, auf<br />
dem in Erscheinung treten kann, was sich in der<br />
Welt nicht sagen lässt, ein Ort des Wissens, das sich<br />
nicht weiss.» (Pabst, S. 94) Das Theater erscheint<br />
hier <strong>als</strong> ein «fiktiver Nicht-Ort», an dem Abwesendes<br />
ansichtig wird und Nicht-Verfügbares vergegenwärtigt<br />
wird. In den Darstellungsstrategien der<br />
<strong>Traum</strong>arbeit wie in den Möglichkeiten der darstellenden<br />
Kunst lässt sich ein Vermögen mimetischer<br />
Prozesse betrachten, dem Nicht-Identischen,<br />
dem verdrängten Heterogenen und symptomatischen<br />
Ausdruck zu verleihen. Der Ereignischarakter<br />
und die Instabilität dieser Darstellungsform,<br />
ebenso wie die unvermeidliche wie konst-<br />
itutive Produktion von Bedeutungsüberschuss er-<br />
scheinen <strong>als</strong> Eigenschaften der <strong>Traum</strong>sprache, die<br />
auch dem Theater nicht fremd sind.<br />
Zitate und Anleihen<br />
Offensichtlich bedient sich der <strong>Traum</strong> Szenen aus<br />
dem Leben, Gelesenem und Filmen und baut diese<br />
in seine fiktive Handlung ein. Mimetisches Material<br />
wird geliehen und zitiert. Ebenso wie die handelnden<br />
Personen im <strong>Traum</strong> mimen. Gesten und Verhaltensweisen<br />
von real existierenden Personen werden<br />
geliehen: das Material des <strong>Traum</strong>es bezieht sich auf<br />
die Zeichenwelt der Realität und repräsentiert diese<br />
in uneindeutiger Form. Das Schauspielerische ist die<br />
Nichtübereinstimmung der Personen mit ihren Rol-<br />
len. Es besteht eine beschränkte Anzahl von Rollen,<br />
die jedoch von einer unbeschränkten Anzahl von<br />
Personen verkörpert werden können. Der Träumen-<br />
de spielt wechselnde Rollen, sieht sich <strong>als</strong> Teil der<br />
Figurenkonstellation aber auch <strong>als</strong> Aussenstehender,<br />
Betrachter oder Stellvertreter. Um stellvertretend<br />
in einer Situation alle Situationen – auch die zukünftigen<br />
– zum Ausdruck zu bringen, benutzt der<br />
<strong>Traum</strong> die Stilmittel der fortsetzenden Darstellung<br />
des Gleichen, des Aneinanderhängens und Überlagerns.<br />
Der <strong>Traum</strong> versucht zu stilisieren und zu<br />
typisieren. «Alltägliche Gesten und Dinge werden<br />
zu Metaphern für etwas nahe liegendes, Namenloses,<br />
das aber zugleich sehr fern ist. Die Worte des Postboten<br />
hallen wieder wie die Worte des Propheten.»<br />
(Lenk, S. 358) Während die Dinge im <strong>Traum</strong> einerseits<br />
in überzeichneter Deutlichkeit erscheinen,<br />
unterliegen sie doch der ständigen Verzerrung<br />
und Veränderung. Doppelgänger erscheinen, Orte<br />
geraten ins Wanken, Räume und Landschaften gehen<br />
ineinander über und man kann das Gefühl haben,<br />
innen und aussen gleichzeitig zu sein. Die Verwandtschaft<br />
vom <strong>Traum</strong> und Kunst könnte gerade<br />
auf dem Theater seine volle Entfaltung finden.<br />
In seiner Unmittelbarkeit wird im Austausch mit<br />
dem Publikum eine eigene Realität geschaffen<br />
die einen reinen Gegenwartscharakter hat. Ein mögliches<br />
«<strong>Traum</strong>-Theater» kann jedoch – entgegen<br />
dem klassischen Anspruch an das Theater – nur<br />
jenseits von der ästhetischen Vermittlung von<br />
Wahrheiten oder Bildungsgegenständen stattfinden.<br />
Jenseits von identischen Figuren, Original und<br />
Kopie. Jenseits von EINER Wahrheit, einer Geschichte,<br />
einer Story <strong>als</strong> Bezugspunkt, entgegen dem<br />
Verlangen nach Eindeutigkeit.<br />
Das Unsagbare erzählen<br />
<strong>Traum</strong>-Theater ist selbstreflexiv, es zeigt die Herstellung<br />
von Bedeutung und die Mechanismen<br />
von Sinnbildung und will darüber (hinaus) etwas<br />
erzählen. Durch die Mitarbeit der Zuschauenden<br />
kann auf dem <strong>Traum</strong>-Theater Unsagbares erzählt<br />
und nicht Repräsentierbares materialisiert werden.<br />
Vergleichbar mit den Versuchen der Erinnerung,<br />
Protokollierung und Deutung von Träumen bleibt<br />
eine eindeutige Benennung des Erlebten jedoch<br />
unmöglich. Die Nachahmung der Zeichenwelt der<br />
Realität passiert in undenkbaren Arten und Weisen:<br />
befreit von Glauben an die Repräsentation von<br />
«Originalen» Zeichen, Orten oder Situationen ist<br />
sie entstellende, verfremdende, überladene<br />
Heraufbeschwörung. Mehrdeutigkeit bedeutet<br />
die Zerstreuung des Inhalts, Freisetzung von Sinnassoziationen<br />
und die Verunmöglichung eindeutige<br />
Sinnbildung und Verortung des Abgebildeten.<br />
Jedes einzelne bekannte Zeichen wird mit anderen in<br />
Bezug gesetzt; neben und übereinandergestellt<br />
erzeugen sie etwas Neuerfundenes das Chronologie<br />
und Realität verlässt. Vergleichbar mit der «erweiterten<br />
Darstellbarkeit» des <strong>Traum</strong>s, wird die Repräsentation<br />
an einen Ort gebracht, «wo Tatsachen<br />
nicht mehr von Fiktionen unterschieden werden<br />
können, wo die Tatsachen ihrem Wesen nach fiktiv<br />
und die Fiktionen wirksam sind.» (Lenk, S. 156f )<br />
Figuren erscheinen <strong>als</strong> «nicht-identisch»: Darsteller<br />
wechseln unentwegt zwischen Rollenidentitäten<br />
und Haltungen // Kontinuitätsbrüche und Widersprüche<br />
werden zulässig: Szenen, Schilderungen<br />
die einander nicht entsprechen werden gleichwertig<br />
nebeneinandergestellt // Wiederholungen und<br />
Überlagerungen von Erzählebenen, Gleichzeitigkeit:<br />
Überforderung der Sinne durch Überlagerung<br />
auf allen Zeichenebenen // Scheinbar gleichartige<br />
Bilder, Bewegungsabläufe oder Erzählungen weisen<br />
Abweichungen auf // Stilisierung scheinbarer<br />
Nichtigkeiten, Herabwürdigung scheinbarer Wichtigkeiten...<br />
In solchen Szenarien werden überdeterminierte<br />
Zeichen und gleichzeitig Lücken, hergestellt, die den<br />
Zuschauern die selbständige Verknüpfung und die<br />
Imagination von Zusammenhängen ermöglichen.<br />
Die Bewegung der Repräsentation auf dem <strong>Traum</strong>-<br />
Theater kennzeichnen Brüche, Verdichtungen,<br />
Verschiebungen und Leerstellen, in denen es kein<br />
Subjekt und keine Eigenschaften gibt; sie münden<br />
in paradoxen Konstellationen, in denen Widersprüchliches<br />
miteinander gezeigt wird. Durch das<br />
aufgreifen, wiederholen, verfremden, ins Gegenteil<br />
verkehren von Zeichen entsteht ein Spiel zwischen<br />
Anwesenheit und Abwesenheit und Bedeutungsverschiebungen.<br />
Im Wechsel von Ähnlichkeit und<br />
Differenz entstehen Neukonstruktionen aus bisher<br />
nie in Zusammenhang gedachten Elementen.<br />
Gewissheit, Wahrheit und Anspruch auf Enthüllung<br />
fallen dem gemeinsam hergestellten Neuen allerdings<br />
gänzlich zum Opfer: Wenn man nämlich<br />
Theateraufführungen <strong>als</strong> «offener ästhetischer<br />
Systeme» begreift, bedeutet dies, sie nicht mehr im<br />
Wesen oder <strong>als</strong> Ganzes zu begreifen, das entschlüsselt<br />
werden kann, sondern <strong>als</strong> Materialangebot<br />
für den Zuschauenden. Die Arbeit der Bedeutungserzeugung<br />
wird über die Aufführung hinaus in<br />
den Kopf des Zuschauers verlängert, wo dann verschiedenste<br />
individuelle Interpretationen zulässig<br />
sind. Der Sicherheit einer klaren Erzählung be-<br />
raubt, tritt der Zuschauer aus seinen Konventionen<br />
hinaus und wird zugleich berührt und alleingelassen.<br />
Mehr einem <strong>Traum</strong> <strong>als</strong> einer Geschichte gegenübergestellt,<br />
bleibt es dem Zuschauer überlassen,<br />
die Lücken im Stück zu schliessen und sich selber<br />
eine Wirklichkeit zur <strong>Traum</strong>arbeit zu denken.<br />
Literatur:<br />
Lenk, Elisabeth, Die unbewusste Gesellschaft: über die<br />
mimetische Grundstruktur in der Literatur und im <strong>Traum</strong>,<br />
München, 1983<br />
Pabst, Manfred, «Der <strong>Traum</strong> <strong>als</strong> Text und Spielraum<br />
rhetorischer Figuren», in: ders., Bild – Sprache Subjekt:<br />
<strong>Traum</strong>texte und Diskurseffekte bei Freud, Lacan,<br />
Derrida, Beckett und Deleuze/Guattari, Würzburg,<br />
2004, S. 84-95<br />
<strong>Traum</strong> Theater<br />
—<br />
Anna K. Becker<br />
<strong>als</strong>o ebenfalls an dem umtriebigen Umschlagplatz, an<br />
dem Triebrepräsentanzen valable Verkleidungen<br />
suchen, teil. Nur steht sie gerade nicht für jene Subversion<br />
symbolischer Gesetze, die Ben Harper<br />
und seinen Sohn mit dem f<strong>als</strong>chen Prediger verbindet,<br />
sondern für einen entschiedenen Widerstand gegen<br />
die Verführung zum Gesetzesbruch. Zugleich folgt<br />
sie jener barmherzigen Empathie, die das harte<br />
Gesetz der symbolischen Ordnung mildert, in dem<br />
sie Grosszügigkeit, Hilfsbereitschaft und Gnade<br />
diesem entgegenhält. Vor allem fungiert sie <strong>als</strong> Vermittlerin<br />
zwischen jenem verdrängtem Wissen,<br />
das nach Ausdruck drängt, und dessen Transformation<br />
in lebbare, zukunftsträchtige Bildformeln,<br />
auf die der bewusste Blick der Alltagswelt seine<br />
Aufmerksamkeit ungeschont lenken darf.<br />
Wie der Wächter, der in Freuds Dramaturgie an der<br />
Schwelle zwischen dem Vorraum und dem Salon<br />
des Bewussten wacht, hält sie ihr Gewehr schussbereit<br />
auf ihrem Schoss und blickt auf ihren Kontrahenten.<br />
Dieser ist bereits über den Zaun geklettert<br />
und wartet vom Schein der Laterne erhellt darauf, in<br />
das Haus einzudringen. Auch diesmal wird das Erscheinen<br />
des nächtlichen Jägers von Charles Laughton<br />
inszeniert <strong>als</strong> wäre er auf einer inneren Leinwand<br />
aufgetaucht; nun aber auf der dieser nächtlichen<br />
Wächterin, die vor jeglichen Triebrepräsentanzen,<br />
die in f<strong>als</strong>cher Verkleidung in ihrem Blickfeld<br />
auftauchen, auf der Hut ist. Dem Lied, das Robert<br />
Mitchum zu singen begonnen hat, hört sie zuerst<br />
stillschweigend zu, während Laughton seine Kamera<br />
nahtlos an der fast regungslos verharrenden Lilian<br />
Gish vorbei fahren und über den Fensterrahmen<br />
gleiten lässt, <strong>als</strong> wäre das Glas eine durchlässige<br />
Grenze. Die Wächterin sehen wir im Profil.<br />
Ihr Oberkörper liegt ganz im Schatten, während das<br />
Licht ihren Schoss und die Waffe, die auf diesem<br />
ruht, beleuchtet. Den Jäger hingegen sehen wir fron-<br />
tal, konfrontiert er sie doch direkt mit seinem Ge-<br />
sicht. Im Stil des chiaroscuro beleuchtet Laughton es<br />
so, dass die linke Hälfte ganz im Licht, die rechte<br />
ganz im Dunklen liegt. Entscheidend ist, dass Rachel<br />
sowohl in eine intime Nähe zum Widersacher ein-<br />
willigt und zugleich eine Distanz entstehen lässt.<br />
Während der ersten Strophe von Powells Lied, sitzt<br />
sie ganz in ihrem Glauben versunken, <strong>als</strong> würde sie<br />
einem inneren Licht folgen. Dann erwidert sie in<br />
der zweiten Strophe seiner tiefen Stimme, indem sie<br />
seinem „leaning, leaning, leaning, on the Everlasting<br />
Arms“ mit ihrer helle Gegenstimme den Zusatz<br />
hinzufügt: „leaning on Jesus“.<br />
Zwischen den Harpers, die sich auf die Verführungen<br />
des Bösen einlassen, und dem nächtlichen Jäger,<br />
der ihre Schuld ausnutzt, um sein Unheil zu treiben,<br />
entpuppt der singende Stummfilmstar Lilian Gish<br />
sich somit <strong>als</strong> eine Figur des Dritten. Wachsam tritt<br />
sie mit der Figur des Bösen in Dialog, jedoch um<br />
diesen erfolgreich auszuschalten. Sie kann die Kinder<br />
nur vor weiteren Versuchungen schützen, indem sie<br />
deren Schuldfähigkeit weder verleugnet noch bestraft,<br />
sondern ihren Glauben an ein Licht am Ende<br />
der Nacht <strong>als</strong> Licht in der Nacht einsetzt. Dort<br />
kämpf sie resolut, zuerst mit ihrem Gesang und dann<br />
ihrem Gewehr, für eine Einsicht in die Realität<br />
innerer Dämonen, die, indem sie ans Licht gebracht<br />
auch verworfen werden können. Sie braucht die<br />
fantasmatische Erscheinung Powells, um jenes<br />
verborgene Wissen zu Tage treten zu lassen, das<br />
dessen ganzen Spuk ausgelöst hatte. In dem Augenblick,<br />
in dem eines der Mädchen mit ihrer Kerze<br />
zu Lilian Gish tritt und ihr Licht die Fensterscheibe<br />
von innen ausleuchtet, löst sich die Gestalt des nächt-<br />
lichen Jägers auf. Sofort bläst die Wächterin die<br />
Kerze aus, doch der Eindringling ist aus ihrem Blickfeld<br />
verschwunden; die kurzlebige Magie dieses<br />
Austausches erloschen. Wenige Minuten später wird<br />
der unliebsame Gast vor ihrer Küchentüre wieder<br />
auftauchen, die Phantasmagorie seiner Bedrohung<br />
in Realität zu überführen suchen und, von der<br />
Wächterin des Hauses angeschossen, in die Scheune<br />
flüchten, wo die Polizei ihn am nächsten Tag<br />
festnimmt.<br />
Diese unheimliche Figur, die aus der Nacht gekom-<br />
men war, wird darauf hin nach einer turbulenten<br />
Gerichtsverhandlung hingerichtet und der schillernde<br />
Spuk, mit dem diese dämonische Gestalt die Träume<br />
seiner Beute besetzt hat, ein Ende finden. Doch mit<br />
dieser Enthüllung ist Laughton‘s Night of the<br />
Hunter noch nicht an ihrem Ende angelangt. Es<br />
braucht, weil es um die produktive Transformation<br />
jener Denkbilder geht, die uns aus unserer kulturellen<br />
Vergangenheit ebenso heimsuchen wie die<br />
Schuld unserer Eltern, eine letzte Einstellung.<br />
In dieser hält Lilian Gish dem noir Märchen vom<br />
Kampf zwischen Gut und Böse, der sich auf der<br />
Kinoleinwand abgespielt hat, ihren <strong>Traum</strong> einer realisierten<br />
Demokratie entgegen; einer Welt der Ge-<br />
rechtigkeit, die erst noch im Sinne Jacques Derridas<br />
kommen wird. Hat sie mit ihrer Wache den nächtlichen<br />
Verführer ins Tagelicht überführt und seine<br />
Gefahr getilgt, hofft sie weiterhin auf eine zukünftige<br />
Erlösung von Leid. Diese kann jedoch nur kommen,<br />
wenn die Bedingungen dafür in einem steten Wettkampf<br />
gegen dämonische Versuchungen ausgehandelt<br />
werden. Dieser Prozess ist, wie das<br />
Nachdrängen des Unbewussten und seine Zurückdrängung<br />
aus dem Bewussten unaufhaltsam<br />
und stellt zugleich das Versprechen eines ebenso<br />
unabschliessbaren kulturellen Prozesses dar.<br />
Am Weihnachtsmorgen steht Lilian Gish in ihrer<br />
Küche, die an den Vorraum angrenzt. Sentimental<br />
und weise zugleich, blickt sie von ihrem Kochtopf<br />
auf, um dem Leid, das mit der Erbsünde in die<br />
Welt gekommen ist, ihr Vertrauen auf eine Gnade,<br />
die kommen wird, entgegen zu halten. Hatte sie<br />
am Anfang des Films <strong>als</strong> Nachtgeschichte von<br />
f<strong>als</strong>chen Propheten erzählt, vor denen man sich in<br />
Acht nehmen sollte, spricht sie nun nicht ihre<br />
Zöglingen an, sondern wendet sich direkt an uns.<br />
Nicht vor einer Versuchung will sie warnen, sondern<br />
der Widerstandskraft jener Abkömmlinge geden-<br />
ken, um deren Schutz sie ihren Herrn anruft: „God<br />
bless little children. You‘ld think the world would<br />
be ashamed to name such a day as Christmas for one<br />
of them and then go on in the same old way.“<br />
Dann blickt sie uns verklärt an und zieht uns in ihren<br />
Bann. „The wind blows, and the rains are cold,“<br />
versichert sie uns, „yet they abide and they endure.“<br />
Das stimmt auch für die Bilder, die auf eine Zukunft<br />
gerichtet aus der Vergangenheit in der Gegenwart<br />
stets neue Realisierungen erfahren.<br />
Ausschnitt aus: Elisabeth Bronfen: Kulturelle Effekte —<br />
Das Nachdrängen unserer Fantasiebilder<br />
Erschienen in: Muriel Gerstners Zu Bösen<br />
Häusern Gehen, 2007.