März bis Mai 2013 - Evangelische Trinitatis-Kirchengemeinde
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Angelesen<br />
1913 - Der Sommer<br />
des Jahrhunderts<br />
Vor hundert Jahren ahnten nur wenige,<br />
dass die <strong>bis</strong> dahin längste Friedensepoche<br />
der europäischen Geschichte zu Ende ging<br />
und die alte Ordnung vor dem Kollaps<br />
stand. Es war eine einzigartige kulturelle<br />
Blütezeit, der Fortschrittsglaube fast unbegrenzt.<br />
Mit dem Ersten Weltkrieg sollten<br />
kurz darauf die Katastrophen des 20. Jahrhunderts<br />
beginnen. Florian Illies führt uns<br />
durch das Vorkriegsjahr 1913.<br />
Die Hochzeit von Kronprinzessin Viktoria<br />
Luise im <strong>Mai</strong> 1913 feiern Wilhelm II., Zar<br />
Nikolaus II., König Georg V. mit dem europäischen<br />
Hochadel in Berlin in großer Eintracht.<br />
Das Volk jubelt. Kaiser Franz Joseph kann<br />
altersbedingt nicht kommen, der Thronfolger,<br />
Erzherzog Franz Ferdinand, muss, da nicht<br />
standesgemäß verheiratet, in Wien bleiben.<br />
Im Juni, zum 25-jährigen Thronjubiläum<br />
Wilhelms II., dichtet der 15-jährige Gymnasiast<br />
Bertold Brecht: „Und wenn am Abend<br />
wir sinken/und sterben den Heldentod,/dann<br />
soll uns tröstend winken/die Fahne schwarzweiß-rot.“<br />
Das war gängige wilhelminische<br />
Rhetorik, keine ernsthafte Kriegslyrik. Und<br />
der vergessene Bestseller-Autor Norman<br />
Angell war sich sicher, „dass das Zeitalter<br />
der Globalisierung (!) Weltkriege unmöglich<br />
mache, da alle Länder längst wirtschaftlich zu<br />
eng miteinander verknüpft seien.“ Nie wieder<br />
Krieg – am Abend vor dem großen Krieg!<br />
bzw. 20<br />
Das ist manchen zu eintönig: Thomas Mann,<br />
der sich – welcher Tabubruch! – mit seinem<br />
1913 erschienenen „Tod in Venedig“ verschlüsselt<br />
als homosexuell geoutet hat, sinnt<br />
über den Krieg „als moralische Reinigungskrisis“<br />
nach. Der 18-jährige Ernst Jünger<br />
(„Das tödliche Gift der Langeweile drang<br />
immer stärker in mich ein“) flüchtet aus dem<br />
Gymnasium zunächst zur Fremdenlegion und<br />
wird mit „In Stahlgewittern“ das vielleicht<br />
wichtigste und zugleich umstrittenste literarische<br />
Resümee des Ersten Weltkriegs ziehen.<br />
Trotz häufigen kaiserlichen Säbelrasselns: Die<br />
Völker vertrauen auf Stabilität und Frieden<br />
für eine weitere Generation. Erstes Wetterleuchten<br />
nimmt man noch nicht ernst. Vor<br />
diesem Hintergrund entfaltet Illies ein Jahresporträt<br />
1913 von packender Dichte. Personen<br />
und Ereignisse knapp, manchmal im Stakkato<br />
beschreibend („Die Mona Lisa ist noch<br />
immer spurlos verschwunden“), baut er eine<br />
Spannung auf, die <strong>bis</strong> zur letzten Seite anhält,<br />
wenn er unter dem 31. Dezember Schnitzlers<br />
„Es wurde Roulette gespielt“ notiert.<br />
Und was für ein Jahr war das, in dem bildende<br />
Kunst, Dichtung und Musik die Feuilletons<br />
im Für und Wider beherrschen, Charlie<br />
Chaplin seinen ersten Filmvertrag erhält und<br />
Technik, Wissenschaft, Medizin, nicht zuletzt<br />
Freud und die Psychoanalyse, Schnitzler im<br />
Gefolge, Triumphe feiern. Staunend, ehrfürchtig<br />
liest man, wie Kafka, Rilke, Trakl,<br />
Hofmannsthal, wie Benn, der mit Else Lasker-<br />
Schüler, Kokoschka, der mit Alma Mahler-<br />
Werfel liiert ist, wie Picasso, der gerade den<br />
Ku<strong>bis</strong>mus kreiert hat, wie Nolde, Klimt,<br />
Kirchner, die Freunde Marc, Macke und Max<br />
Ernst, wie Wedekind, dessen „Lulu“ verboten<br />
wird, Schlagzeilen machen. Längst vor dem<br />
politischen Umbruch hatte sich die kulturelle<br />
Zeitenwende vollzogen. Die Elite traf sich in<br />
Paris, Wien, London, Berlin. Und sie empfand<br />
europäisch. Doch es fallen Schatten:<br />
Könnten sich Stalin, der Sibirien-erprobte<br />
Agitator, und Hitler, der sich mit dem Verkauf<br />
seiner Aquarelle über Wasser hält, Anfang<br />
1913 in Wien begegnet sein? Und Franz<br />
Ferdinand bittet Kaiser Franz Joseph im ser<strong>bis</strong>chen<br />
Konflikt um Milde: Florian Illies ist<br />
auch ein Meister der Andeutung.<br />
August Macke, Franz Marc sterben im Krieg,<br />
Max Ernst und viele andere sind traumatisiert.<br />
Vielleicht sind wir, ein Jahrhundert weiter und<br />
seit 68 Jahren in Frieden lebend, auch um ein<br />
Jahrhundert klüger geworden.<br />
Hans-Ulrich Reh aus<br />
Linz, Mitglied der bzw-<br />
Redaktion, hat dieses<br />
Buch für Sie gelesen<br />
Florian Illies,<br />
1913 - Der Sommer<br />
des Jahrhunderts;<br />
320 S.;<br />
S. Fischer 2012,<br />
ISBN 978-3-10-<br />
0363801-0