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Erinnern wider den Krieg

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<strong>Erinnern</strong> <strong>wider</strong><br />

<strong>den</strong> <strong>Krieg</strong><br />

Die gemeinsame Veranstaltung der Katholischen Akademie der Erzdiözese<br />

Freiburg mit der Stadt Freiburg ist dem Ge<strong>den</strong>ken zum 50. Jahrestag<br />

der Zerstörung unserer Stadt gewidmet und trägt <strong>den</strong> Titel:<br />

<strong>Erinnern</strong> <strong>wider</strong> <strong>den</strong> <strong>Krieg</strong>.<br />

Im Mittelpunkt stehen Berichte von Zeitzeugen der damaligen Geschehnisse<br />

in Freiburg und der politischen Lage in dem zu Ende gehen<strong>den</strong><br />

Zweiten Weltkrieg.<br />

Freiburg erlebte am 27. November 1944 wie viele andere Städte Deutschlands<br />

in jener Zeit ein Flächenbombardement, das zur größten Zerstörung<br />

in der Geschichte unserer Stadt führte. Viele Menschen glaubten<br />

damals, dass die Stadt sich von dieser Katastrophe nie erholen werde.<br />

Die Stadt wurde inzwischen wieder aufgebaut, aber die seelischen Erschütterungen<br />

der Menschen, welche die Bombennacht erlebten, blieben.<br />

Ihre Berichte zeigen das Entsetzen, das bis heute andauert. So heißt<br />

es in einem Bericht (Frau Irmi Martin):<br />

„Während meine Gedanken zu diesen Geschehnissen zurückkehren, habe<br />

ich das Gefühl, ich nehme diesen penetrantenfürchterlichen Brandgeruch<br />

wahr, der noch lange Zeit über Freiburg lag.<br />

Beim Schreiben dieses Berichtes wurde mir klar, dass ich alles nur verdrängt<br />

hatte. Es war so unerträglich, ich konnte es nicht aushalten und<br />

nicht verarbeiten. Es war einfach nur zugeschüttet. Nun aber läuft alles<br />

wie ein Film, <strong>den</strong> man nach langer Zeit aus dem Archiv holt, vor mir ab.<br />

Ich werde diese Eindrücke nie vergessen.“<br />

Zeitzeugen berichten<br />

über die Zerstörung<br />

Freiburgs vor 50 Jahren<br />

19. November 1994<br />

Katholische Akademie<br />

Freiburg<br />

Diese individuelle Betroffenheit kommt in allen Berichten zum Ausdruck.<br />

Aber oft wer<strong>den</strong> auch Fragen gestellt und Antworten gegeben,<br />

die das Einzelschicksal in <strong>den</strong> Zusammenhang der politischen Ursachen<br />

und Schuld stellt. So heißt es in einem anderen Bericht (Reinhold<br />

Fischer):<br />

„Als junger Mensch träumte ich vom Fliegen. Görings Luftwaffe gab<br />

mir Gelegenheit dazu. Wieviel Unheil die Flieger beider Seiten über<br />

Menschen und Material gebracht haben, weiß ich heute. Ich habe ja<br />

„nur“ Fallschirmjägerabgesetzt, auf Kreta und anderswo. Jeder hat ja<br />

nur Befehle ausgeführt.“<br />

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Hier zeigt sich die Verbindung der Vergangenheit zur Gegenwart und<br />

Zukunft und zwar als Aufgabe, die Wurzeln der damaligen Schreckensherrschaft<br />

des Nazi-Regimes aufzudecken und die katastrophalen Folgen<br />

für das deutsche Volk und die von Deutschland überfallenen Nachbarn<br />

darzustellen, ebenso die Verkettung von Verbrechen und Schuld<br />

mit der Deportation Unschuldiger, die im Holocaust an jüdischen Menschen<br />

zur ewigen Schande deutscher Geschichte wur<strong>den</strong>.<br />

Ein Ge<strong>den</strong>ken an die Zerstörung unserer Stadt kann daher nicht nur<br />

Freiburg und seine Opfer umfassen. Der Nazismus war kein Naturereignis,<br />

sondern wurde von Menschen gemacht und durchgesetzt - und<br />

zwar nicht nur weit weg in München oder Berlin, sondern ebenso hier<br />

in Freiburg. So trafen die Folgen des NS-Regimes schließlich auch unsere<br />

Stadt. Die Klage und Trauer über ihr Schicksal vor 50 Jahren sind<br />

daher zugleich ein Appell, dass sich diese Geschichte nie wiederholen<br />

und von deutschem Bo<strong>den</strong> nie wieder ein <strong>Krieg</strong> ausgehen darf.<br />

In diesem Sinne ge<strong>den</strong>ken wir des 50. Jahrestages der Zerstörung Freiburgs<br />

als „<strong>Erinnern</strong> <strong>wider</strong> <strong>den</strong> <strong>Krieg</strong>“. Wir wollen das Ge<strong>den</strong>ken nutzen,<br />

um aus der Vergangenheit die Fundamente der Zukunft zubil<strong>den</strong><br />

und die Geschichte als eine conditio humana in Anspruch nehmen.<br />

Ich danke der Katholischen Akademie der Erzdiözese Freiburg, dass<br />

sie für unsere gemeinsame Tagung ihre Räume zur Verfügung stellt<br />

und die inhaltliche Vorbereitung mit der Stadt getroffen hat. Ebenso<br />

danke ich <strong>den</strong> Zeitzeugen, unter ihnen besonders <strong>den</strong> Gästen aus anderen<br />

Städten und aus der Partnerstadt Besançon. Ferner danke ich <strong>den</strong><br />

Referenten für ihre Beiträge. Sie sind in Freiburg herzlich willkommen.<br />

Der Tagung wünsche ich einen eindrucksvollen Verlauf. Alle Beiträge<br />

wer<strong>den</strong> in einer Publikation zusammengefasst und dokumentiert. Es<br />

soll auch ein Dokument sein, wie wir uns heute mit der Geschichte<br />

auseinandersetzen und mit besserem Wissen und schärferem Gewissen<br />

unsere Gegenwart und Zukunft in Frie<strong>den</strong>, Freiheit und Gerechtigkeit<br />

gestalten wollen.<br />

72<br />

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Ge<strong>den</strong>ket der Toten<br />

- Verwandelt Euch<br />

Ge<strong>den</strong>kfeier mit ökumenischem<br />

Gottesdienst<br />

zum 50. Jahrestag<br />

der Zerstörung<br />

Freiburgs 1944<br />

27. November 1994<br />

Münster zu Freiburg<br />

Wir sind heute zusammengekommen, um des 50. Jahrestages der Zerstörung<br />

unserer Stadt am 27. November 1944 zu ge<strong>den</strong>ken.<br />

Wir versammeln uns im Herz der Stadt, im Münster, welches seit Jahrhunderten<br />

das Wahrzeichen von Freiburg ist, ihren Geist <strong>wider</strong>spiegelt<br />

und als Pfarrkirche der Bürgergemeinde zugleich Sinnbild gemeindlicher<br />

Eigenverantwortung und des Bürgerstolzes von Freiburg immer war und<br />

ist.<br />

Damals vor 50 Jahren, fast um die gleiche Uhrzeit, war Messe im Münster.<br />

Sie galt vor allem <strong>den</strong> Freiburger Bürgerinnen und Bürgern, welche<br />

zum Schippen und Schanzen am sog. Westwall beim Kaiserstuhl<br />

eingesetzt waren und abends nach Freiburg zurückkehrten. Von dieser<br />

sog. „Schipper-Messe“ am 27. November 1944 um 19.30 Uhr gibt es<br />

<strong>den</strong> Bericht einer Zeitzeugin, aus dem ich zitiere (Bericht von Hildegard<br />

Andris, S. 2 ff):<br />

Der Münsterkooperator hielt <strong>den</strong> Abendgottesdienst. Nach der hl. Wandlung<br />

wurde uns, die Messe unterbrechend, mitgeteilt, dass feindliche<br />

Flugzeuge <strong>den</strong> Himmel über der Freiburger Innenstadt markiert hätten.<br />

Wir wur<strong>den</strong> aufgefordert, uns aus Sicherheitsgrün<strong>den</strong> nach vorne in <strong>den</strong><br />

Chorumgang unter <strong>den</strong> südlichen Hahnenturm zu begeben. Wir waren<br />

noch nicht recht umgezogen, da krachte es schon und Fenster klirrten.<br />

Ein Ehepaar aus der Herrenstraße wollte trotzdem noch rasch nach<br />

Hause gehen - waren es doch nur ein paar Schritte. Die Frau war bereits<br />

außerhalb des Münsters, als eine Luftmine auf dem nördlichen<br />

Münsterplatz einschlug. Die Frau war nicht mehr aufzufin<strong>den</strong> ...<br />

Wir anderen Gottesdienstteilnehmer blieben im Münster, knieten dicht nebeneinander<br />

und beteten gemeinsam ..., während draußen die Flugzeuge<br />

dröhnten und Bomben detonierten .... Das Gedröhne wurde immer heftiger.<br />

Wir hörten die Detonationen in nächster Nähe. Es waren ein furchtbares,<br />

grauenvolles, pausenloses Dröhnen, Krachen, Ächzen, Beben, Klirren und<br />

Rauschen in der Luft. Nach einer besonders heftigen Detonation ganz in<br />

der Nähe sagte der Domorganist, das Gebet unterbrechend: „Beten wir<br />

jetzt für die Menschen, die soeben ums Leben gekommen sind.“ Es war der<br />

Augenblick, in dem der ganze Häuserkomplex hinter dem Hochchor des<br />

Münsters durch eine Luftmine weggefegt wor<strong>den</strong> war.<br />

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In jenen knapp 25 Minuten versank Freiburg in Schutt und Asche, Tod<br />

und Elend. Die in Jahrhunderten gewachsene historische Innenstadt<br />

wurde in wenigen Minuten ein Trümmerfeld, aus welchem die Menschen<br />

in Verzweiflung und Todesangst sich zu retten suchten. Der<br />

Feuersturm wütete auch in anderen Stadtteilen, so in Herdern, der Neuburg,<br />

im Stühlinger, im Mooswald oder in Betzenhausen. Nach historischen<br />

Berichten wur<strong>den</strong> über 14.000 Spreng- und Brandbomben über<br />

Freiburg abgeworfen. Am Ende zählte man 2.685 namentlich i<strong>den</strong>tifizierte<br />

und 112 unbekannte Tote sowie weit über 4.000 Verletzte. Wer<strong>den</strong><br />

die Opfer aus <strong>den</strong> anderen Luftangriffen mitgerechnet, welche Freiburg<br />

im Zweiten Weltkrieg erlitt, so hat Freiburg insgesamt über 3.000<br />

Bürgerinnen und Bürger durch Bombenangriff auf das Stadtgebiet verloren.<br />

Aber der Luftangriff am 27. November 1944 überstieg alles, was die<br />

Stadt im Zweiten Weltkrieg hinnehmen musste und was ihr zuvor in<br />

der langen Stadtgeschichte seit dem Mittelalter <strong>wider</strong>fahren war.<br />

50 Jahre sind seither vergangen, aber wer die schrecklichen Stun<strong>den</strong><br />

im Bombenhagel miterlebt und gesehen hat, was danach noch von der<br />

Stadt übrig geblieben war, der wird diese Bilder nie vergessen.<br />

„Wer das Weinen verlernt hat, der lernte es wieder beim Untergang<br />

Dres<strong>den</strong>s“, sagte Gerhard Hauptmann 1945.<br />

Die Zahlen über die Opfer und Berichte über das Ausmaß der Zerstörung<br />

können nur unvollkommen wiedergeben, was damals geschah. Das<br />

verzweifelte Rufen und Klopfen der Verschütteten und Eingeschlossenen,<br />

<strong>den</strong>en keine Hilfe gebracht wer<strong>den</strong> konnte, lassen sie nicht erkennen,<br />

ebensowenig die Schreie der Sterben<strong>den</strong> und Verwundeten. Die<br />

Zahlen machen auch nicht sichtbar, welche Tragödien sich an vielen<br />

Orten des Grauens abspielten. Ich <strong>den</strong>ke z. B. an das Freiburger Fernmeldeamt<br />

in der Eisenbahnstraße, wo 71 Telefonistinnen <strong>den</strong> Tod fan<strong>den</strong><br />

oder an das „Sutter-Bräu“ am Sieges<strong>den</strong>kmal, wo im Keller 28<br />

Menschen auf einen Schlag von einer Mine zerrissen wur<strong>den</strong>. Wir erinnern<br />

uns an die 47 hilflosen Kranken in der Hals-, Nasen- und Ohren-<br />

Klinik, die trotz verzweifelter Rettungsversuche der Ärzte und Schwestern<br />

ums Leben kamen.<br />

104 vielfach Unbekannte, die in <strong>den</strong> öffentlichen Luftschutzkeller nahe<br />

der Klinik geflüchtet waren, wur<strong>den</strong> in der trügerischen Sicherheit des<br />

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Bunkers vom Tod überrascht. Jeder, der in <strong>den</strong> Tagen nach jener blutigen<br />

Nacht die Toten sah, wie sie auf Lastwagen und in Kisten und Körben<br />

zu Hunderten auf <strong>den</strong> Friedhof gefahren wur<strong>den</strong>, <strong>den</strong> wird die entsetzliche<br />

Erinnerung niemals verlassen. Sie mahnt uns zum Frie<strong>den</strong>.<br />

In <strong>den</strong> Worten eines alten Kirchenliedes:<br />

Verleih uns Frie<strong>den</strong> gnädiglich,<br />

Herr Gott, zu unseren Zeiten.<br />

Es ist doch ja kein anderer nicht,<br />

der für uns könnte streiten.<br />

Wir verharren still und ge<strong>den</strong>ken des Schicksals der Menschen und unserer<br />

Stadt vor 50 Jahren.<br />

In unserem Ge<strong>den</strong>ken hier im Münster wird bewusst die Generationenkette<br />

der Bürgergemeinde Freiburg geschlossen und wahrgenommen,<br />

wie Herkunft und Zukunft unserer Stadt miteinander verbun<strong>den</strong> sind.<br />

Hier um das Münster, der Pfarrkirche der Stadt, lag Jahrhunderte lang<br />

der Kirchhof und im Münster gab es Hunderte von Gräbern. So blieb<br />

<strong>den</strong> Vorfahren sinnfällig klar, dass „mitten wir im Leben sind mit dem<br />

Tod umfangen.“ Am Hauptportal mahnt das „Letzte Gericht“, zu dem<br />

am Turm die Posaunenengel aufrufen. An dem Münster hatten schon<br />

vor rund 700 Jahren die Bürger <strong>den</strong> „erschlagenen Lüt“, einer - wie die<br />

Quellen berichten - großen Mannschaft von im Kampf gefallenen Bürgern,<br />

ein „ewiges Licht“ in einer Laterne entzündet und über Jahrhunderte<br />

hinweg dafür gesorgt, dass es nicht erlosch.<br />

So gab es immer <strong>Krieg</strong>e und ihre Opfer durch alle Jahrhunderte. Aber<br />

der 27. November 1944 war der schlimmste Tag für Freiburg. Nicht<br />

wenige Menschen glaubten damals, dass die Geschichte unserer Stadt -<br />

wie vieler anderer Städte in Deutschland oder in ganz Europa - zu Ende<br />

sei. Diese Stimmung geht unmittelbar auf die Bombennacht des 27. November<br />

1944 zurück, welche sich über die persönliche Erinnerung der<br />

damals betroffenen Mitbürger hinaus allen Menschen dieser Stadt unauslöschlich<br />

eingeprägt hat.<br />

Das Flächenbombardement deutscher Städte, der geplante Angriff auf Wohngebiete,<br />

auf Krankenhäuser, mit <strong>den</strong> verheeren<strong>den</strong> Folgen, zu <strong>den</strong>en dies<br />

damals führte, war ein Verstoß gegen Menschen- und Völkerrecht.<br />

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Aber dies war die Antwort auf <strong>Krieg</strong> und Verbrechen, die von Deutschen<br />

und im deutschen Namen verübt wur<strong>den</strong>.<br />

Die Saat der Gewalt, die von Deutschland ausgegangen war mit dem<br />

Überfall auf Polen am 1. September 1939, mit dem Überfall auf die<br />

Sowjetunion im Jahre 1941 oder mit der Bombardierung von Coventry<br />

und vielen anderen Städten in ganz Europa und wie zuvor im Spanischen<br />

Bürgerkrieg in Guernika fiel in nie geahntem Ausmaß schließlich<br />

auf uns Deutsche selbst zurück.<br />

Die Erinnerung an das schreckliche Geschehen vor 50 Jahren, das Ge<strong>den</strong>ken<br />

heute am Jahrestag des für Freiburg tragischen Datums, gilt<br />

deshalb nicht nur <strong>den</strong> Opfern des Bombenkrieges in unserer Stadt. Wir<br />

ge<strong>den</strong>ken auch der Millionen gefallener Soldaten und <strong>Krieg</strong>sopfer in<br />

Ost und West, der Deportierten und Geschändeten in <strong>den</strong> deutschen<br />

Konzentrationslagern, des Flüchtlingselends in der ganzen Welt und<br />

der Ju<strong>den</strong>, unter ihnen die Freiburger jüdischen Bürgerinnen und Bürger,<br />

die in <strong>den</strong> Vernichtungslagern ermordet wur<strong>den</strong>.<br />

Wir wissen, dass nationale Überheblichkeit und Intoleranz am Anfang<br />

der Entwicklung stan<strong>den</strong>, die mit der Zerstörung der Demokratie in<br />

Deutschland zu Diktatur und <strong>Krieg</strong> führten. Diese politische Hinwendung<br />

zu Unrecht und Gewalt schlug auf uns alle zurück und führte in<br />

Freiburg am 27. November 1944 zur Zerstörung unserer Stadt. Am<br />

9. November 1938 brannte die Synagoge und viele Menschen schauten<br />

damals weg und schwiegen. Sechs Jahre später brannte die ganze<br />

Stadt und niemand blieb mehr unbetroffen.<br />

Der nachfolgende Winter 1944/45 brachte zusätzlich Hunger und Kälte.<br />

Die Versorgung mit Gas, Wasser und Licht war unterbrochen und<br />

die Wohnungsnot das Schicksal der Menschen, die in der Stadt geblieben<br />

waren. Not und Angst ließen die Bevölkerungszahl rapide sinken.<br />

Die Einwohnerzahl von Freiburg fiel von Dezember 1944 mit rund<br />

100.000 Bürgern auf 62.000 Einwohner im März 1945. Zur äußeren<br />

Not kamen die seelische Pein über die Gewissheit des verlorenen <strong>Krieg</strong>es<br />

und die Scham über Verbrechen in deutschem Namen, die nach<br />

dem <strong>Krieg</strong> der breiten Bevölkerung bewusst wur<strong>den</strong>.<br />

Eine tröstliche Hoffnung war damals, dass inmitten des Trümmerfeldes<br />

der Stadt das alte Münster wie ein aufgereckter Fingerzeig Gottes<br />

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unversehrt stehen geblieben war.<br />

Wie wichtig diese von vielen als Wunder gewertete Tatsache war, zeigen<br />

schon die Bilddokumente aus jener Zeit, welche immer wieder zerstörte<br />

Straßen und Plätze, Häuser-Ruinen und Trümmerberge mit Blickpunkt<br />

und in Richtung auf das Münster zeigen. Wie nie zuvor, stand das<br />

Münster im Mittelpunkt unserer Stadt, nicht nur lokal und geographisch,<br />

sondern als Beweis der I<strong>den</strong>tität von Freiburg, dass unsere Geschichte<br />

nicht gänzlich abgebrochen ist, sondern das Münster ein Symbol<br />

des Glaubens und der Hoffnung blieb, dass die über 800 Jahre alte<br />

Stadt weiter bestehen wird.<br />

Im Rückblick mischen sich Bewunderung und Erstaunen, mit welchem<br />

Mut und welcher Energie der Weg von der Stunde Null nach vorn beschritten<br />

wurde. Der Wiederaufbau der Stadt wurde zur beherrschen<strong>den</strong><br />

und gemeinsamen Aufgabe vieler Menschen, die sonst unterschiedliche<br />

gesellschaftliche, religiöse, soziale oder politische Standorte vertraten.<br />

In diesem Sinne ist der Männer und Frauen zu ge<strong>den</strong>ken, die das neue<br />

Gesicht der Stadt und die ethische Substanz des Gemeinwesens nach<br />

1945 geprägt haben. Es waren Persönlichkeiten wie Leo Wohleb oder<br />

Philipp Martzloff, Frauen wie Gertrud Luckner oder Philomene Steiger,<br />

Repräsentanten von Kirche und Stadt wie Erzbischof Gröber und<br />

Oberbürgermeistr Hoffmann, Stadtbaumeister Schlippe, Anton Dichtel,<br />

Fritz Schieler, Hermann Kopf oder Berthold Goldschagg, Professoren<br />

wie Franz Büchner, Konstantin von Dietze oder Arnold Bergstraesser<br />

und viele andere Namen mehr. Ihnen und der ganzen Bürgerschaft ist es<br />

zu danken, dass die Geschichte nicht mit der Zerstörung der Stadt endete,<br />

sondern die politischen, moralischen und steinernen Trümmer und<br />

Ruinen überwun<strong>den</strong> wur<strong>den</strong> und unser Gemeinwesen eine neue Zukunft<br />

gewann.<br />

Zu ge<strong>den</strong>ken ist aber auch der Versöhnung mit <strong>den</strong>en, die damals vor<br />

50 Jahren auf der Gegenseite stan<strong>den</strong>. Es war noch kein Jahr seit dem<br />

für Freiburg so verheeren<strong>den</strong> Ereignis vergangen, als Anfang Oktober<br />

1945 General de Gaulle vor <strong>den</strong> versammelten Persönlichkeiten der Stadt<br />

eine epochale Rede hielt und dazu aufrief, das unglückliche Europa neu<br />

zu erbauen.<br />

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Wörtlich hieß es damals:<br />

„Wir müssen daher zusammenarbeiten. Vor uns steht die Aufgabe, etwas<br />

anzupacken, das sich Wiederaufbau nennt. Ich hoffe, dass zwischen<br />

Ihnen und uns für diese gemeinsame Aufgabe sich ein zunehmendes<br />

gegenseitiges Verständnis entwickelt.“<br />

Freiburg wurde in diesem Sinne wieder aufgebaut und die deutsch-französische<br />

Freundschaft wurde bei uns an der Grenze zu Frankreich zum<br />

Fundament der Einigung Europas. Wir danken auch der Nachbarstadt<br />

Basel in der Schweiz, die damals Ziegel für das Dach des Münsters<br />

stiftete und durch Lebensmittelhilfen die Hungersnot linderte wie dies<br />

ebenso durch die Schülerspeisungen der amerikanischen Quäkerhilfe<br />

geschah.<br />

Für uns Deutsche bleiben gleichwohl die Fragen zur Gegenwart und<br />

Zukunft.<br />

„Die Geschichte wiederholt sich nie“, sagte Voltaire, „aber immer tut<br />

es der Mensch“. Deshalb reicht heute eine historische Absage an das<br />

NS-Regime und eine Klage über die damaligen Opfer nicht aus. Unser<br />

ganzer Wille muss vielmehr zusätzlich darauf gerichtet sein, <strong>Krieg</strong> und<br />

Zerstörung überhaupt zu ächten und vor allem dafür einzustehen, dass<br />

von deutschem Bo<strong>den</strong> nie wieder ein <strong>Krieg</strong> ausbricht.<br />

Wir wissen, dass der Appell zum „Nie wieder <strong>Krieg</strong>“, das sich schon<br />

die Überleben<strong>den</strong> des Zweiten Weltkriegs 1945 versprachen, heute von<br />

uns eingelöst wer<strong>den</strong> muss in einer Zeit, da <strong>Krieg</strong> wieder zu einem<br />

Mittel der Politik gewor<strong>den</strong> ist, und <strong>Krieg</strong> und Zerstörung wieder unmittelbar<br />

vor unserer Haustür geschehen. Die epochalen Veränderungen<br />

mit dem Ende des Kalten <strong>Krieg</strong>es im Jahr 1989, mit der Auflösung<br />

der Sowjetunion und der deutschen Wiedervereinigung, haben Spannungen<br />

beendet, die unauflöslich schienen. Gleichwohl kam die Welt<br />

nicht zur Ruhe, sondern neue Konflikte entstan<strong>den</strong>, wieder wer<strong>den</strong> <strong>Krieg</strong>e<br />

geführt und ein Ende ist nicht abzusehen.<br />

Wir wollen uns daher heute als Deutsche unserer eigenen Verantwortung<br />

für Gegenwart und Zukunft besonders bewusst wer<strong>den</strong>. Sicher<br />

sind viele Menschen, alle jungen Menschen in Deutschland, nicht schuldig<br />

für das Geschehen in der Nazi-Zeit. Aber wir alle haben dafür ein-<br />

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zustehen, wie die damalige Zeit in unserer Geschichte weiter wirkt.<br />

Deshalb treten wir ein für eine offene, tolerante Gesellschaft, die vom<br />

Miteinander, vom solidarischen Zusammenleben geprägt wird.<br />

Mit unseren Nachbarn können wir heute im Zeichen Europas unsere<br />

Zukunft in Frie<strong>den</strong> und Freundschaft gestalten. Wir appellieren darüber<br />

hinaus für Völker-Verständigung und die Lösung von Interessen-Gegensätzen<br />

ohne Gewalt in aller Welt.<br />

In diesem Sinne begrüße ich heute unter uns die Repräsentanten aller<br />

Freiburger Partnerstädte in Europa und Japan. Wir bitten, dieses Ge<strong>den</strong>ken<br />

an die Zerstörung unserer Stadt vor 50 Jahren als Geste der Versöhnung<br />

für die Zukunft und als Appell für Frie<strong>den</strong> und gegenseitige<br />

Verständigung zu begreifen.<br />

Unter uns sind auch Bürgerinnen und Bürger, die sich an eigene Erlebnisse<br />

an <strong>den</strong> 27. November 1944 erinnern, die Angehörige verloren haben<br />

oder selbst nur mit knapper Not ihr eigenes Leben retten konnten.<br />

Sie sind heute besonders unsere Mahner der Forderung von Reinhold<br />

Schneider, wie sie am Ge<strong>den</strong>kstein der Opfer der Bombennacht auf dem<br />

Hauptfriedhof eingemeißelt steht:<br />

Ge<strong>den</strong>ket der Toten - Verwandelt Euch.<br />

Dieses Gelöbnis steht für uns alle auch in der Ge<strong>den</strong>ktafel geschrieben,<br />

die zu Beginn dieses ökumenischen Gottesdienstes am Hauptportal des<br />

Münsters der Öffentlichkeit übergeben wurde.<br />

Dort ist mit einem Bibelwort von Jeremias (29/11) aus dem alten Testament<br />

„Ich will euch Zukunft und Hoffnung geben“<br />

für alle Zukunft niedergeschrieben:<br />

„Am 27. November 1944 zerstörte ein Luftangriff große Teile dieser Stadt.<br />

Inmitten von Tod und Verwüstung überdauerte das Münster.<br />

Gemeinderat und Bürgerschaft in Freiburg ge<strong>den</strong>ken der Opfer von <strong>Krieg</strong><br />

und Gewalt in aller Welt. Sie rufen uns zum Frie<strong>den</strong>.“<br />

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