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Wolf Kahlen<br />
NAGA<br />
Mit Beiträgen von<br />
Klaas Ruitenbeck,<br />
Yang Lian,<br />
Johannes Vincent Knecht<br />
und Wolf Kahlen<br />
Edition Ruine der Künste Berlin
Dank<br />
Diese Publikation wurde ermöglicht durch die<br />
großzügige Unterstützung von Paolo Polesello.<br />
W. K.<br />
8 © 2015 Edition Ruine der Künste Berlin, für die Texte<br />
bei den Autoren/for the texts by the authors<br />
Übersetzungen/Translations: Wolfgang Kubin (Yang Lian,<br />
Chinesisch–Deutsch), Wolf Kahlen (Klaas Ruitenbeek, Deutsch–<br />
Englisch), Christian Alexander Wollin und Johannes Vincent<br />
Knecht (Johannes Vincent Knecht, Deutsch–Englisch)<br />
Fotografie/Reproductions: Marcus Schneider, Berlin (18),<br />
Timo Kahlen (1), Berlin<br />
Lithografie/Digital imaging: Bild1Druck, Berlin<br />
Gestaltung und Produktion/Design:<br />
Büro Fleischmann · Prof. Gerd Fleischmann, Ulrichshusen<br />
Gesetzt aus der/Set in FF ScalaSans Pro,<br />
gedruckt auf/paper LuxoArt Samt new 150g/qm<br />
Gesamtherstellung/Printing and binding:<br />
druckhaus köthen, Köthen (Anhalt), www.koethen.de<br />
Auflage 480 Exemplare, alle handbeschriftet und -gestempelt.<br />
20 Exemplare davon erscheinen als Vorzugsausgabe mit einer<br />
Original Altöl-Zeichnung im Format 29 × 19 cm, Berlin, 2014,<br />
nummeriert, datiert und signiert.<br />
This book is published in an edition of 480 copies, each book<br />
is titled and stamped by hand. In a special edition of 20 copies<br />
each book contains an original used-oil-drawing, 29 × 19 cm,<br />
Berlin, 2014, numbered, dated and signed.<br />
ISBN 978-3-927786-04-2
Wolf Kahlen, Naga<br />
Naga ist die Indische Schlangengottheit, die Riesenschlange. Das Sanskritwort<br />
wurde vor 2000 Jahren, als der Buddhismus China erreichte, als Najia transkribiert<br />
und mit Long, Drache, übersetzt. Jetzt sind Naga die Pipelines, die die Welt<br />
umspannen, das Röhrengewirr der Raffinerien, die Schläuche der Tankstellen.<br />
Ihr Geifer ist ein giftiges Abfall-Öl. 1990, als er an der Zhejiang-Universität in<br />
Hangzhou lehrte, benutzte Wolf Kahlen dieses Öl für eine Serie beeindruckender<br />
Malspuren. Wolf Kahlen beschäftigt sich schon sein Leben lang mit der Ostasiatischen<br />
Kunst, seine Altöl-Blätter haben einen eindeutigen Bezug zur Tusche-<br />
Kalligrafie und sind mit einem roten Wolfs-Siegelstempel auch klar als solche<br />
gekennzeichnet. Das seimige Gift scheint sich auf dem porösen Papier von selbst<br />
zu Bildern zu gestalten. Das ist aber nur Schein: um die Vielfalt von filigranem<br />
Geäder bis tiefschwarze Wucht in gelber Umbra zu erzeugen, war langes Experimentieren<br />
mit Löschen und Pressen, Trocknen und Konsolidieren von Nöten.<br />
Vor einigen Monaten zeigte Wolf Kahlen mir diese Serie, die Blätter waren jahrzehntelang<br />
aufgerollt und er hatte sie vergessen, sagte er. Das Erwachen der Naga<br />
ist ein großer Moment, ich gratuliere Wolf Kahlen zu der Ausstellung und dieser<br />
wunderschönen Publikation.<br />
Klaas Ruitenbeek<br />
Direktor, Museum für Asiatische Kunst<br />
Staatliche Museen zu Berlin<br />
9
Wolf Kahlen, Naga<br />
Naga is the Indian serpent deity, the giant snake. The Sanskrit word was 2000<br />
years ago, when Buddhism reached China, transcribed najia and translated with<br />
long, dragon. Now Naga are the pipelines that span the world, the tube maze of<br />
refineries, the tubes of the gas stations. Their mucus and venom is a toxic waste<br />
oil. 1990, when he taught at the Zhejiang University in Hangzhou, Wolf Kahlen<br />
used this oil for a series of impressive traces with paint on paper. Wolf Kahlen<br />
has been engaged all his life with the East Asian art, his used-oil-leaves have a<br />
clear relation to ink calligraphy, and are also clearly marked as such with a red<br />
wolf-seal. The viscous poison seems to create images by itself on the porous<br />
paper. But this is only an illusion: to produce the diversity of filigree veins to deep<br />
black momentum in yellow Umbra, needed a long experimenting with blotting<br />
and pressing, drying and consolidating. Several months ago, Wolf Kahlen showed<br />
me this series, the leaves were rolled up for decades and he had forgotten them,<br />
he said. The Naga’s awakening is a great moment, I congratulate Wolf Kahlen on<br />
the exhibition and this gorgeous publication.<br />
Klaas Ruitenbeek<br />
Director, Asian Art Museum<br />
Staatliche Museen zu Berlin<br />
10
Eine Landschaft im Zimmer<br />
In meinem 33. Lebensjahr habe ich die Lügen satt.<br />
Da ist keine Landschaft mehr, die in dieses Zimmer einziehen könnte.<br />
Gäste stehen an der Tür. Ihnen wächst das Gesicht wie Hirse.<br />
Sie bieten feil den Kauf von faulem Gestein.<br />
Sie zeigen ihren Zungenbelag, eine Art Ewigkeit, zerkleinert zwischen Zahnlücken.<br />
Sie oder du, ihr seid so kalt, so kalt, dass man möchte<br />
ausgespieen werden wie entweihte Bilder an der Wand.<br />
Die Erinnerung ist ein Pulk schwächelnder Adressen.<br />
Die Grannen des Herbstes sterben unter bloßem, unter goldenem Fuß.<br />
Wer hört schon, ans Fenster gelehnt, Sterne vergehen?<br />
Der Wind dieser Nacht ähnelt dem Fall von Birnen.<br />
Das leere Zimmer wird hinausgeworfen.<br />
In dem Fleisch deiner bloßen Füße geht es hin, geht es her,<br />
zergliedert wie Himmel und Wasser.<br />
Eine nasse Sonne vergisst alles im Moment des Wundschreis.<br />
Da ist keine Landschaft mehr, die eintreten könnte in dieses Stück Landschaft,<br />
um dich zu töten.<br />
Wenn der letzte Vogel gen Himmel flieht,<br />
und dort in Händen kollidiert, zu blauer Ader gefriert,<br />
da verschließt du dich.<br />
Da macht sich fest das Zimmer, das weite Echo<br />
rezitiert Finsternis,<br />
begräbt die einzige Landschaft in deinem Herzen, die einzige<br />
11<br />
Lüge.<br />
Yang Lian<br />
Der Himmlische Platz vom Irdischen Frieden<br />
(Neue Stimmen aus China).<br />
Übersetzt und herausgegeben von Wolfgang Kubin<br />
Wien: Löcker, 2012
The Landscape in the Room<br />
thirty-two years old heard enough lying<br />
no landscape can ever again enter this room<br />
a corn-faced stranger<br />
stands at the door hawking putrid stones<br />
displaying tongue-fur a kind of eternity ground between the teeth<br />
they or you are both cold cold enough to want<br />
to be vomited up like the profane pictures on the walls<br />
memory is a whole squad of weakening addresses<br />
autumn’s bearded weeds dead under a bare yellow-gold foot<br />
someone leaning by the window hears the herds of stars disappear<br />
the night-long wind’s sound seems like falling pears<br />
the empty room is thrown away<br />
wavering and wavering again in your naked flesh<br />
dismemberment like sky and water<br />
wet sun forgot everything as it howled in pain<br />
no landscape can ever again enter this landscape<br />
to do you to death<br />
12<br />
until the last bird has also escaped into the sky<br />
colliding between these hands frozen into blue veins<br />
wherever you lock yourself<br />
there the room will be fixed spacious echoes<br />
recite the darkness<br />
bury your heart’s and the landscape’s unique<br />
lying<br />
Yang Lian<br />
Yang Lian: Where the Sea Stands Still:<br />
New Poems.Translated by Brian Holton.<br />
Tarset: Bloodaxe Books Ltd, 1999
房 间 里 的 风 景<br />
三 十 二 岁 听 够 了 谎 言<br />
再 没 有 风 景 能 移 进 这 个 房 间<br />
长 着 玉 米 面 孔 的 客 人<br />
站 在 门 口 叫 卖 腐 烂 的 石 头<br />
展 览 舌 苔 一 种 牙 缝 里 磨 碎 的 永 恒<br />
他 们 或 你 都 很 冷 冷 得 想<br />
被 呕 吐 像 墙 上 亵 渎 的 图 画<br />
记 忆 是 一 小 队 渐 弱 的 地 址<br />
秋 之 芒 草 死 于 一 只 金 黄 的 赤 足<br />
谁 凭 窗 听 见 星 群 消 失<br />
这 一 夜 风 声 仿 佛 掉 下 来 的 梨 子<br />
空 房 间 被 扔 出 去<br />
在 你 赤 裸 的 肉 体 中 徘 徊 又 徘 徊<br />
肢 解 如 天 空 和 水<br />
湿 太 阳 受 伤 吼 叫 时 忘 了 一 切<br />
再 没 有 风 景 能 移 入 这 片 风 景<br />
弄 死 你<br />
直 到 最 后 一 只 鸟 也 逃 往 天 上<br />
在 那 手 中 碰 撞 冻 结 成 蓝 色 静 脉<br />
你 把 自 己 锁 在 哪 儿<br />
这 房 间 就 固 定 在 哪 儿 空 旷 的 回 声<br />
背 诵 黑 暗<br />
埋 葬 你 心 里 唯 一 的 风 景 唯 一 的<br />
13<br />
谎 言<br />
杨 炼
China Öl 13<br />
15
China Öl 8<br />
17
China Öl 16<br />
19
China Öl 17<br />
21
China Öl 15<br />
23
China Öl 2<br />
25
China Öl 5<br />
27
China Öl 1<br />
29
China Öl 6<br />
31
China Öl 11<br />
33
China Öl 10<br />
35
China Öl 9<br />
37
China Öl 12<br />
39
China Öl 3A<br />
41
China Öl 3<br />
43
China Öl 18<br />
45
Äskulap 1<br />
47
Äskulap 2<br />
49
Schönheit aus Ruß<br />
Betrachtungen zu einigen Blättern von Wolf Kahlen<br />
I<br />
Der erste Blick, eine Menschenlänge auf Abstand, erfasst dunkle, monochrome<br />
Strukturen auf dünnem, hellem Papier. Wie zäh bewegte Rauchwolken in Grau<br />
und Anthrazit quellen sie vor dem sandfarbenen Grund hervor und erwecken die<br />
diffuse Illusion nebliger Ausdehnung und Greifbarkeit.<br />
Tritt man, von solch visueller Haptik angelockt, näher heran, so erkennt<br />
man die feine und immer feiner werdende Binnenstruktur dieser Gebilde. Ihr<br />
wolkiger Eindruck ergibt sich nicht aus modellierten Kurvenscharen, sondern aus<br />
zittrigen, ausfransenden Konturen, die sich in dichten Rhythmen aneinanderfügen.<br />
Der geometrisch, fast kristallin wirkende Umriss dieser Konturen ist scharf<br />
und schwarz; in ihren Zwischenräumen verläuft die unregelmäßige Skala des<br />
Helldunkel.<br />
Immer dichter und kleinteiliger entflechten sich diese geschichteten Lineaturen,<br />
bis man die sensible Oberfläche fast mit der Nase berührt und die Augenschärfe<br />
endet. Die Komplexität des Bildes aber setzt sich, immer zarter werdend,<br />
jenseits der klaren Sichtbarkeit ins Winzige fort. Man bedarf einer Lupe.<br />
Findet der Blick aus dieser kaum fassbaren, überall ähnlichen und doch<br />
in jedem Ausschnitt unterschiedlichen Formenfülle heraus und gewinnt wieder<br />
Abstand, so ergibt sich dem Betrachter eine Flut gedanklich-bildlicher Verbindungen:<br />
Analog zum mathematischen Phänomen der Selbstähnlichkeit scheinen<br />
Mikro- und Makrostruktur, Gesamtgestalt und Detail in ihrer fraktalen Erscheinung<br />
verwandt. (Man vergleiche hierzu eine Verbildlichung der berühmten Mandelbrot-Menge.)<br />
In anderer Hinsicht führt einen die Einbildungskraft zu feinster<br />
Grisaille-Malerei, zu Schraffuren und Kalligraphie, oder zur mikroskopischen<br />
Ansicht eines geschuppten Mottenflügels. Man mag, wie beim Anblick orientalischer<br />
Muster, diese Erscheinungen als zur Meditation anregende Sinnbilder des<br />
Zusammenhanges von Teil und Ganzem, von Ordnung und Chaos auffassen. Im<br />
Konkreten tun sich zudem topographische Verbindungsräume auf, als frontale<br />
Silhouette, ostasiatischen Landschaftszeichnungen ähnlich, oder als Vogelperspektive,<br />
in Erinnerung alter Kartographie und ihrer gestaffelten Höhenlinien. So<br />
mag die Phantasie den Betrachter davontragen, vom ersten Eindruck wallenden,<br />
dreckigen Qualms zum schwarzweißen Luftbild sich auftürmender Berge und<br />
dicht bewaldeter Kuppen, zu Tälern, Böschungen, Küstenlinien, bis hin zur erhabenen<br />
Aufsicht einer Insel, eines Archipels.<br />
51<br />
II<br />
Das Pigment dieser Blätter ist Ruß, ein zumeist ungewolltes Nebenprodukt unvollständiger<br />
Verbrennung, ein Rückstand imperfekter Oxidation. Als eigenständiges<br />
Material und pulvrigen Werkstoff nehmen wir Ruß im Alltag selten wahr; er<br />
tendiert zum Unsichtbaren. Wahrnehmbar sind die dunklen Wolken aus Schloten<br />
und Auspuffrohren, gelegentlich die sich emporwindenden Schlieren nach dem<br />
Verlöschen einer Kerze.<br />
Aus der Fernsicht sind die rot glühende ›verstaubte Sonne‹ und die giftigen<br />
Dreckschwaden am Horizont zu einem moralisch scheinbar eindeutigen Signum,<br />
einer Metapher des Industriezeitalters geworden. Dabei führt schon eine knappe<br />
Betrachtung der Materialmystik des Rußes zu ambivalenter Semantik: Im alten<br />
europäischen Maschinenkapitalismus, im Staatssozialismus allenthalben, sind<br />
rauchenden Schlote Symbol von Fortschritt und Prosperität. Erst der Gedanke<br />
des Umweltschutzes rückt sie in schlechtes Licht. Seit Europa immer häufiger
und pauschaler nach China blickt, verdichtet sich die Vorstellung luftverschmutzter<br />
Großstädte zu einem allgemeinverständlichen Stereotyp, einer Chiffre der<br />
Herablassung gegenüber vermeintlicher ökologischer und sozialer Rückständigkeit<br />
– man denke an Berichte über den künstlich gereinigten Himmel über den<br />
Olympischen Spielen von Peking 2008. Freilich ist dieser Topos erst in jüngerer<br />
Zeit, nach Entstehung der hier beschriebenen Blätter, populär geworden.<br />
Ruß besteht, neben öligen Resten, fast vollständig aus Kohlenstoff als<br />
jenem Element, das die Grenze bildet zwischen Leben und Tod, Veränderung<br />
und Dauer. Diese stoffliche Doppelnatur artikuliert sich in den hier betrachteten<br />
Blättern: Ihre Formen erscheinen je nach Ansicht als organische Kurvaturen,<br />
gekrümmte Körper oder als mineralische Gefüge aus Winkeln und Kanten. Sie<br />
wirken als fragile Gespinste auf der Fläche des Papiers dauerhaft gefasst, zugleich<br />
aber räumlich bewegt und hervorquellend.<br />
Diese phänomenologische Entsprechung von Stoffqualität und ästhetischer<br />
Erscheinung zeitigt die Verarbeitungsweise: Der Ruß wird mit altem Motorenöl<br />
gemischt (nicht darin gelöst) und auf den Bildträger aufgepinselt. Beim<br />
Trocknen ziehen die Partikel, der Kohäsionskraft folgend, jeweils zum Rand der<br />
benetzten Fläche, wo sie sich als dunkler Umriss ablagern. Aus der Überlagerung<br />
zahlreicher solcher Schichten und Arbeitsschritte erwächst die beschriebene,<br />
spannungsreiche Mannigfaltigkeit.<br />
52<br />
III<br />
Der nahrhafte Augenschmaus und die Nachdenklichkeit, die diese Blätter bereiten,<br />
reizt zum Widerspruch gegen die Hegelsche Trennung von geistigem und ästhetischem<br />
Gehalt: Mit wenig hermeneutischer Mühe lassen sich diese Werke als<br />
kritische, entlarvende Sinnbilder des heutigen Chinas verstehen, als Erinnerung<br />
an seine traditionellen Formen aus toxischem Stoff. Im Allgemeinen reflektiert<br />
man darüber hinaus auf eine sinnlich-moralische Metamorphose: Der Ruß als<br />
Abfall, als Inbegriff des Minderwertigen und Schmutzigen, den das Auge nicht<br />
sieht oder zivilisatorisch gelenkt nicht sehen soll, wird zu kostbarer Schönheit,<br />
zu einem Anziehungspunkt des Blickes sublimiert.<br />
Solche konzeptuellen Botschaften und assoziativen Erweiterungen tendieren<br />
zur Reduzierung des Werkes auf seinen indexikalischen Gehalt, seinen Verweischarakter,<br />
und kränken so die Autonomie und Präsenz seines Ausdruckes. Dabei<br />
sind diese Bedeutungen genussvoll, und – mit Hegel – im dreifachen Sinne des<br />
Wortes im ästhetischen Eigensinn dieser Bilder aufgehoben.<br />
Johannes Vincent Knecht, August 2014
Beauty from soot<br />
Meditations on some of Wolf Kahlen’s works on paper<br />
I<br />
The first glance, cast at a man’s length remove, captures dark, monochromatic<br />
structures on thin, bright paper. Like slowly moving clouds of smoke, anthracite<br />
and grey, they well up in front of the sand-coloured ground, creating a vague<br />
illusion of nebulous extension and tangibility.<br />
Allured by the shapes’ visual haptic, the beholder approaches them more<br />
closely and detects the ever-increasing delicacy of their internal structure. Their<br />
first cloudy impression does not arise from an array of synthetically modelled<br />
curves, but from trembling, fraying contours that are fit into each other in dense<br />
rhythms. The geometrical, almost crystalline outline of these contours is black<br />
and sharp; their interstices are filled with the irregular scale of chiaroscuro.<br />
The layered lines disentangle themselves ever more densely and detailed,<br />
until one’s nose almost touches the sensitive surface, and the human eye’s sharpness<br />
has reached its limit. The image’s complexity, however, becoming more<br />
and more delicate, still continues to grow, within a sphere located beyond clear<br />
visibility, a sphere of tininess only partially revealed by a magnifying glass.<br />
If the observer’s gaze finds a way out of this elusive abundance of forms<br />
– similar and yet distinct at every point – and takes distance again, countless<br />
connections both conceptual and pictorial, come to the mental fore: In analogy<br />
to the mathematical idea of self-similarity (compare a visualization of the famous<br />
Mandelbrot set), micro- and macrostructure, just as detail and totality, seem closely<br />
related in their fractal appearance. On the other hand, imagination leads us<br />
to elaborate grisaille painting, to hatchings and calligraphy, or to the microscopic<br />
view of a moth wing. Just as oriental patterns, these phenomena seem to invite<br />
meditations on the correlation between part and whole, between chaos and order.<br />
In a more concrete sense, topographical spaces of association open up, seen either<br />
from the front, as a landscape silhouette resembling East Asian drawings, or<br />
from an aerial perspective, similar to historic cartography and its graded contour<br />
lines. In this sense, phantasy may carry us away, from the first impression of filthy,<br />
swirling smoke to a black-and-white bird’s eye view of piled up mountains, slopes,<br />
valleys and coastlines, up to the exalted prospect of an island or an archipelago.<br />
53<br />
II<br />
The pigment of these works is soot, a mostly unwanted side product of incomplete<br />
combustion, a residue of imperfect oxidation. We hardly notice it as an independent<br />
substance or powdery material; it tends to be invisible. Visible, however,<br />
are the dark clouds coming out of chimneys and exhausting pipes, sometimes<br />
also the rising streak after a candle flame has been extinguished.<br />
From the distance, the glowing red »dusty sun« and toxic billows on the<br />
horizon have become an obvious metaphor of industrialisation, with a seemingly<br />
plain moral connotation. A short reflection on the soot’s ‘material mystic’ (a term<br />
used by Joseph Beuys), however, leads on to ambivalent semantics: Within<br />
bygone European industrial capitalism as well as within state socialism, smoking<br />
chimneys were signs of progress and prosperity. They earned a bad reputation<br />
only by the recent idea of environmental protection. Since Old Europe looks to<br />
China more and more frequently and in a more and more wholesale fashion, the<br />
notion of air-polluted megacities has steadily been condensed into a common stereotype,<br />
an easily decoded cipher of contempt towards supposed ecological and<br />
social backwardness – one only need think back to the reports on the artificially
cleaned skies over the 2008 Beijing Olympics. This topos, however, became popular<br />
only some time after the works discussed here were created.<br />
Apart from some oily residue, soot almost entirely consists of carbon, an<br />
element constituting the border between life and death, between change and<br />
duration. This dual material nature expresses itself in the works described here:<br />
Dependent on the visual approach, their forms may appear as organic curvature,<br />
bent figures, or mineral structures composed out of angles and edges. Their fragile<br />
webs seem to have been attached permanently to the paper’s expanse, and<br />
at the same time they continue to move in and well up into space.<br />
This phenomenological equivalence of material quality and aesthetic appearance<br />
results from the very process by which these works were made: The soot is<br />
mixed with old engine oil (but not dissolved in it), and then applied to the paper’s<br />
surface by brush. While drying off, the particles, in accordance with the physical<br />
power of cohesiveness, make their way to the edge of the wetted area, were they<br />
are deposited as a dark outline. From the stratification of numerous such layers<br />
and working steps is generated the exciting manifoldness described above.<br />
54<br />
III<br />
The nourishing feast for the eyes and the state of reflection engendered by these<br />
works provoke opposition to the Hegelian separation of intellectual and aesthetic<br />
content. It takes little hermeneutical effort to understand them as critical, revealing<br />
symbols of contemporary China, a memory of its historic artistic forms, made<br />
from a toxic material. In a more general way, they reveal a sensual and moral<br />
metamorphosis: Soot, generally subsumed as waste, as the epitome of the inferior<br />
and filthy, cleansed from perception by our civilised environment, becomes<br />
precious beauty, is sublimated to an attraction for the eyes.<br />
Such conceptual messages and associative extensions tend to reduce the<br />
image to its indexical content, its referentiality, and thereby offend its expression’s<br />
presence and autonomy. All these possible meanings are finally – in the<br />
threefold Hegelian meaning of the German verb – aufgehoben (sublated; meaning:<br />
elevated, preserved, abolished) in these works’ aesthetic stubbornness.<br />
Johannes Vincent Knecht, August 2014,
Der NAGA-Zyklus<br />
Das, was ist und das, was wir denken, dass ist<br />
Das, was hier chinesisch anmutet, ist nicht chinesisch. Original China sind nur<br />
das handgeschöpfte, stark saugfähige Papier und das Erde und Gewässer verschmutzende<br />
alte Motorenöl aus der Tonne der Lastwagenreparaturwerkstatt<br />
gegenüber meinem Wohnatelier auf dem Campus der Zhejiang Universität in<br />
Hangzhou.<br />
Dieses Öl, das sich einsaugt ins Papier, bleibt eine ganze Weile flüssig<br />
lebendig unterwegs, oft wochenlang. Die Ölspur, die ich gelegt habe, begonnen<br />
als klare Linie, lebt vor sich hin und stirbt, wenn sie eintrocknet: Wenn die mitgeschleppten<br />
Eisenspäne und der Ruß, aus explodierenden heissen Motorzylindern,<br />
unterwegs müde und sesshaft geworden sind.<br />
Fast alle westlichen ›Vier Elemente‹ kommen hier zusammen: Das Feuer,<br />
die Erde, die Luft. Nur das Wasser ist längst aus dem handgeschöpften Papier<br />
weggetrocknet. Es würde das Öl empfindlich in seinem Fluss gestört haben.<br />
Aus tibetischer Sicht treffen sich sogar alle ihre ›Fünf Elemente‹: Wasser/<br />
Feuer, Holz/Metall, Luft/Äther, Erde/Fels und Geist/Energie. Das fünfte ist<br />
›die Energie der Idee‹, der sich materialisierende Geist, das, was wir im Westen –<br />
sehr verkürzt – unter Konzept verstehen.<br />
Organisch fließendes, saugendes Wasser mit organischen, fließend gesaugten<br />
Spuren überlasse ich den Aquarellisten, den chinesischen Kalligraphiefreunden,<br />
den verwunderten, in Hangzhou zum Beispiel. Die sofort den Unterschied<br />
zu meinen gesehen haben:<br />
Meine Spuren sind wie auskristallisiert, bauen felsig eine ganz andere Welt.<br />
Der Kalligraph liebt die Linie, ich liebe das Innere der Linie.<br />
Mir sind die tibetischen Elemente näher, das Eisen und Schwefel, Chlor,<br />
Schwermetalle und die Kristalle, die sie wachsen lassen:<br />
Die Welten, die ich bisher nicht kannte, die ich zu überfliege scheine, die<br />
Täler und Höhen, die Schluchten und Gipfel.<br />
Ich gebe unumwunden zu: Ich habe sie nicht geschaffen, ich habe nur den<br />
Anstoß gegeben.<br />
Wie verführerisch doch Umweltverschmutzung auch daherkommen kann.<br />
55<br />
Ich weiß nicht mehr, habe es nie gewusst, was mich bewegt hat, gebrauchtes,<br />
riechendes Motorenöl auf feinem Papier Spuren hinterlassen zu lassen.<br />
Zu beobachten, wie es einsinkt , mühsam sich einfrisst und Zentimeter<br />
für Zentimeter seinen Ballast, die erdigen Bestandteile hinter sich lassen muss,<br />
um überhaupt noch weiterzukommen. Schlängelndes erstarrt, eine graziöse Bewegung<br />
friert dickleibig ein. Die Schlange, das Erd- und Wasserwesen, die Naga,<br />
dämmert ein, lauert. Ihre erstarrte Haut aber hat es in sich. Sieht harmlos versteinert<br />
aus, minimalisiert sich oder faltet sich auf wie der Himalaya - und schon<br />
bin ich wieder in Gedanken unterwegs.<br />
Naga, die Erdgeister, die lokalen Gottheiten, Schlangen und Drachen der<br />
hinduistischen und buddhistischen Mythologien, sind auch die Hüter der Schätze,<br />
der Metalle, Edelsteine, Kristalle, der Diamanten und des Goldes und auch<br />
der Kostbarkeiten des Geistes: Der Mahasiddha Nagarjuna verdankt den Naga,<br />
den tibetischen (k)lu, seine Weisheiten. Ebenso der ›Leonardo Tibets‹, Thangtong<br />
Gyalpo einen Teil seiner Mahasiddhakräfte. Naga liegen manchmal langgezogen<br />
in der Landschaft als Drachenberge, sie lauern an Türschwellen und<br />
in Sümpfen, in Höhlen und Baumlöchern, oder leben in Palästen unter Wasser:
Im tibetischen, leuchtend blautürkis changierenden Yamdrok Yumtso, dem Diamantsee,<br />
als naga rajas, als Nagakönige. Der Potala in Lhasa konnte nur gebaut<br />
werden, weil ein Abkommen mit den naga der Sümpfe dahinter geschlossen<br />
werden konnte, denen noch heute Tribut gezollt wird.<br />
Naga sind doppelzüngig und können giftig sein, sind oft von den neuen<br />
Herren eines besetzten Landes unterdrückt, vereinnahmt, klugerweise meist<br />
aber gütig gestimmt worden. In vielen Kulturen der Welt. Eine naga ist auch die<br />
heilende Schlange des Äskulap, der Ärzte und Apotheker und das Zeichen der<br />
Weltgesundheitsorganisation.<br />
Wolf Kahlen<br />
56<br />
Mother Creek, 1965
The NAGA-Cycle<br />
What is and what we think is<br />
This here, that looks Chinese, is not Chinese. Original China are only the<br />
handmade, highly absorbent paper and the earth and water polluting old motor<br />
oil, out of the barrels of a truck repair shop opposite my home studio on the<br />
campus of the Zhejiang University in Hangzhou.<br />
Oil that soaks into paper, remains fluid alive for quite a while, often for<br />
weeks. The oil trace, which I draw, starts as a clear line, that lives its way and dies,<br />
when it dries. If the entrained soots from the exploding hot car engine cylinders<br />
travel, they get tired and settle down.<br />
Almost all the Four Western Elements come together: Fire, earth, air. Only<br />
the water, which created the paper, has dried up by long. It anyway would have<br />
disturbed the sensitive oil in his river flow.<br />
Organically flowing, sucking tinted water I rather leave to the water colorists.<br />
And to the Chinese calligrapher friends. Who have been quite astonished<br />
then, in Hangzhou, and have seen the differences immediately: My traces are not<br />
smooth, but like cristalized, rocky formations.<br />
The Tibetan ‘Five Elements’ are more of my interest: Fire/Water, Wood/<br />
Metal, Air/Ether, Earth/Rocks and Mind/Energy. Soot, ash, heavy metals, chlorine,<br />
metal shavings, sulfur and the crystals that allow them to grow. I enjoy worlds I<br />
did not know until now, to skim unknown valleys and hills, canyons and peaks.<br />
I do admit: It wasn‘t me, who handmade these creations, I only provided the<br />
start by letting the oily brush touch the surface of the paper.<br />
And I am surprised: How light footed soil pollution can get along uncritized.<br />
So seductively.<br />
57<br />
I do not know, have never known it, what has moved me to leave behind<br />
these traces of smelling motor oil on such a fine paper. What made me watch<br />
as it sinks, tediously bites the paper, and how it inched its ballast, the earthy<br />
constituents left behind in order to continue its trail. Meander solidify, graceful<br />
movements freeze corpulent. The serpent, the earth and water being the naga<br />
dawning or lurking. Under its frozen skin. It looks harmless, petrified, minimizes<br />
itself or folds up like the Himalayas – and I’m on the road again in my mind.<br />
Naga, the earth spirits, the local deities, snakes and dragons of the Hindu<br />
and Buddhist mythologies, are also the guardians of treasures, metals, gems, crystals,<br />
diamonds, and gold and the precious things of the Mind: The Mahasiddha<br />
Nagarjuna owes his wisdom to the naga, the Tibetan (k)lu. Likewise, the ‘Leonardo<br />
of Tibet’, as I called him, Thang-tong Gyalpo gained part of his powers as<br />
a mahasiddha.<br />
Sometimes naga stretch elongated in the landscape as dragon mountains,<br />
or lurk on doorsteps and in swamps, caves and tree holes, or live in palaces under<br />
water: In the Tibetan bright blue turquoise iridescent Yamdrok Yumtso, the Diamond<br />
Lake, they lived as naga raja, Naga Kings. The Potala in Lhasa could only<br />
be built after an agreement with the naga, to whom tribute is even paid nowadays.<br />
Naga are duplicitous and can be toxic, were often subdued by the new<br />
masters of an occupied country or tuned in. In many cultures of the world. A naga<br />
is also the healing serpent of Aesculapius, the doctors and pharmacists, and the<br />
sign of the World Health Organization.)<br />
Wolf Kahlen
Wolf Kahlen<br />
Die Autoren/About the authors<br />
Medienbildhauer/Media Sculptor<br />
lebt und arbeitet/lives and works in Berlin, Formentera<br />
und auf Reisen/and travelling<br />
wolfkahlen@berlin.de<br />
Sammlungen/Collections (Auswahl/Selection):<br />
Richard Bödecker<br />
Du Gaojie<br />
Gerd Fleischmann<br />
Dietmar Herriger<br />
Barbara Kahlen<br />
Johannes Vincent Knecht<br />
Museum für Asiatische Kunst, Staatliche Museen zu Berlin<br />
Johannes Daniel Münch<br />
Paolo Polesello<br />
Wang Chuan<br />
Wolf Kahlen Museum/Museum of Intermedia Arts,<br />
Bernau bei Berlin<br />
Yang Lian<br />
Zhejiang University Hangzhou<br />
Johannes Vincent Knecht<br />
Kunsthistoriker/Art historian,<br />
Berlin, Essen<br />
Yang Lian<br />
Schriftsteller / Writer<br />
Beijing, London, Berlin<br />
Klaas Ruitenbeek<br />
Direktor, Museum für Asiatische Kunst/<br />
Director, Asian Art Museum<br />
Staatliche Museen zu Berlin<br />
Berlin<br />
58 Der NAGA-Zyklus<br />
China, Öl, 1–18, 1990<br />
Altöl auf handgeschöpftem chinesischem Papier, je 68 × 137 cm,<br />
entstanden im Mai 1990 an der Zhejiang University Hangzhou,<br />
China, signiert, datiert und mit Jadestempel rot markiert.<br />
Der Stempel mit dem sinisierten Namen des Künstlers wurde<br />
von einem an der Universität lehrenden Stempelschneider<br />
entworfen und geschnitten. Er vereint die Windenergie (oben)<br />
mit der Fels- und Steinenergie (unten), dazwischen ein Wolf<br />
und ein Mensch.<br />
Äsculap, 1–2, 1991<br />
Altöl auf handgeschöpftem chinesischem Papier, je 83 × 151 cm,<br />
entstanden 1991 in Berlin<br />
Mother Creek, 1965,<br />
Latex/Pulverfarben auf Leinwand, 31 × 41 cm, kann als Anfang<br />
der Arbeiten mit naga gesehen werden<br />
The NAGA-Cycle<br />
Used motor oil on handmade Chinese paper, 68 × 137 cm each,<br />
done in May 1990 at Zhejiang University, China, signed, dated<br />
and stamped wit a red jade seal. The seal bears the sanitized<br />
name of the artist, and was designed and cut by a university seal<br />
cutter. The idioms on the seal combine the wind energy above<br />
with that of rocks and stone below between a wolf and a man.<br />
Used motor oil on handmade Chinese paper, 83 × 151 cm each<br />
titled Aesculap, # 1–2, were done in Berlin, 1991<br />
Latex and powder paints on canvas, 45 × 25 cm, could be seen<br />
as a starting point sketch of the Naga-cycle<br />
Abgebildet sind die Arbeiten China, Öl 1, 2, 3, 3A, 5, 6, 8, 9, 10,<br />
11, 12 (zusätzlich in 14 Faksimilebildseiten als erweiterter Vorsatz<br />
und Nachsatz), 13, 15, 16, 17, 18 und Mother Creek, 1965.<br />
China, Öl 1, 2, 3, 3A, 5, 6, 8, 9, 10, 11, 12 (additional as facsimile,<br />
divided into 14 pages, as a kind of extended endpapers), 13, 15,<br />
16, 17, 18 und Mother Creek, 1965, are illustrated.
China Öl 1
China Öl 1<br />
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China Öl 1