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KONGRESS JOURNAL 2014

Offizielle Kongresszeitung der Steirischen Akademie für Allgemeinmedizin Graz, 29. November 2014

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Graz, 29. November 2014

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<strong>KONGRESS</strong><br />

<strong>JOURNAL</strong><br />

Interview mit Sexualmedizinerin Dr. Elia Bragagna<br />

Tanz der Hormone<br />

Pubertät ist die Zeit, in der uns<br />

unsere Kinder zu entgleiten<br />

scheinen. Sie werden unberechenbarer<br />

und sie wandeln sich.<br />

Im Interview spricht Sexualmedizinerin<br />

Dr. Elia Bragagna über<br />

die Pubertät, welche Veränderungen<br />

stattfinden und die Kluft<br />

zwischen Jugendlichen und<br />

Erwachsenen.<br />

Wieso ist für Erwachsene der<br />

Umgang mit Pubertierenden so<br />

schwierig?<br />

Eigentlich erwarten Erwachsene<br />

berechenbare Reaktionen und die<br />

Fähigkeit, selbst unter starken Emotionen<br />

komplexe soziale Situationen<br />

zu meistern. Für Pubertierende sind<br />

die Eltern vernunftgesteuert, langweilig,<br />

nicht offen für Neues, in ihrer<br />

alten Zeit gefangen, peinlich oder<br />

uncool. Letztlich ist die Erwachsenenwelt<br />

nicht mehr die Welt der Pubertierenden.<br />

Anerzogene Verhaltensmuster<br />

gelten nicht mehr, neue<br />

müssen sich erst etablieren.<br />

Was bewirken die großen körperlichen<br />

Veränderungen in dieser Zeit?<br />

Auf der körperlichen Ebene durchlaufen<br />

Jungendliche sichtbare und<br />

unsichtbare Veränderungen. Zu den<br />

sichtbaren gehören die Geschlechtsreife,<br />

die erste Menstruation und die<br />

erste Ejakulation. Diese Veränderungen<br />

können das Gefühl der Zugehörigkeit<br />

zum eigenen Geschlecht<br />

verstärken oder verunsichern. Sehr<br />

belastend werden deswegen in dieser<br />

Zeit sichtbare Erkrankungen empfunden,<br />

etwa Akne, Psoriasis, Narben,<br />

Alopecia areata oder Adipositas.<br />

Dazu kommen noch unsichtbare<br />

Auswirkungen, die es den Jugendlichen<br />

schwer machen, den neuen<br />

Platz in der Welt der Pubertierenden<br />

einzunehmen: Depression, Schizophrenie,<br />

Epilepsie, Asthma oder auch<br />

onkologische Erkrankungen.<br />

Vor allem die Gedankenwelt scheint<br />

neu geordnet zu werden. Die Fähigkeiten<br />

eines Teenagers entwickeln<br />

sich in Reihenfolge des Gehirnumbaus.<br />

Zuerst reift die Körperbeherrschung,<br />

dann die Sprachkompetenz<br />

und das abstrakte Denken, als Letztes<br />

Sozialkompetenz und Empathie.<br />

Damit beginnt die Erprobung<br />

neuer Fähigkeiten und das Belohnungssystem<br />

der Eltern verliert an<br />

Einfluss. Das ZNS-Areal für Selbstdisziplin,<br />

Selbstkontrolle, Urteilsund<br />

Einfühlungsvermögen, Planen,<br />

Konzentration, Motivation, der frontale<br />

Cortex, reift sehr spät, erst um<br />

das 20. Lebensjahr. Bei den Mädchen<br />

ist dieser Reifungsprozess ein<br />

bis zwei Jahre früher abgeschlossen.<br />

Dr. Elia Bragagna: „Jugendliche<br />

brauchen positive Bewältigungsstrategien<br />

und Begleitung durch<br />

die Phase der Pubertät.“<br />

Welche Rolle spielen die Hormone?<br />

Das wird unterschiedlich bewertet,<br />

aber Hormone spielen eine wichtige<br />

Rolle. Die steigenden Hormonspiegel<br />

bereiten das ZNS während der<br />

Pubertät auf neue Verhaltensweisen<br />

vor. Die hormonellen Hauptakteure,<br />

wie Testosteron, Östrogen, Prolaktin,<br />

Cortisol, Oxytocin, Vasopressin und<br />

der Botenstoff Dopamin beeinflussen<br />

einander immer gegenseitig. Die<br />

Epiphyse schüttet das Hormon Melatonin<br />

täglich zwei Stunden später<br />

aus als vorher, mit der Folge, dass<br />

die Jugendlichen erst später einschlafen<br />

und morgens unausgeschlafen<br />

und müde sind. Mädchen<br />

und Burschen entwickeln einen<br />

grundsätzlich anderen Sprachgebrauch.<br />

Burschen reden eher über<br />

konkrete Dinge und unpersönliche<br />

Themen, während die Mädchen<br />

Mitgefühl ausdrücken. Kein Wunder,<br />

dass sie einander nicht verstehen!<br />

Was passiert bei den männlichen<br />

Jugendlichen konkret?<br />

Männliche Jugendliche erleben einen<br />

Testosteron-Tsunami. Die Schaltkreise<br />

für sexuelles Verlangen sind<br />

doppelt so groß wie bei Frauen. Sie<br />

konzentrieren sich auf sexuell attraktive<br />

Frauen. Das Paarungsverhalten<br />

und das Bedürfnis nach Sexualität<br />

werden stimuliert. Sie müssen sich<br />

Themen wie Konkurrenzkampf, Dominanzstreben<br />

und Statusdenken<br />

stellen und sind dabei auch noch<br />

ungeduldig und reizbar. Der Dopaminspiegel<br />

steigt kontinuierlich und<br />

verstärkt die sexuelle Motivation um<br />

das Zwei- bis Zweieinhalbfache gegenüber<br />

weiblichen Pubertierenden.<br />

95 Prozent der männlichen Pubertierenden<br />

masturbieren etwa drei<br />

Mal täglich, während 71 Prozent der<br />

weiblichen Jugendlichen es ein Mal<br />

täglich machen.<br />

Foto: Hergott Ricardo<br />

26 <strong>KONGRESS</strong><strong>JOURNAL</strong>Graz <strong>2014</strong>

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