Knop, Ingmar - Die Ethik des Jesus von Nazareth in der deutschen Rechtsgegenwart
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JESUSVONNAZARETH<br />
JESUSVONNAZARETH<br />
„Wer ist unter euch, <strong>der</strong><br />
se<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziges Schaf, wenn<br />
es ihm am Sabbat <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />
Grube fällt, nicht ergreift<br />
und ihm heraushilft Wie<br />
viel mehr ist nun e<strong>in</strong><br />
Mensch als e<strong>in</strong> Schaf!<br />
Darum darf man am<br />
Sabbat Gutes tun.“<br />
<strong>Jesus</strong> <strong>von</strong> <strong>Nazareth</strong><br />
Der Z<strong>in</strong>sgroschen, Fresko aus Santa Maria del Carm<strong>in</strong>e<br />
„Wahrlich, ich aber sage euch“<br />
<strong>Die</strong> <strong>Ethik</strong> <strong>des</strong> <strong>Jesus</strong> <strong>von</strong> <strong>Nazareth</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>deutschen</strong> <strong>Rechtsgegenwart</strong><br />
<strong>von</strong> <strong>Ingmar</strong> <strong>Knop</strong><br />
Über <strong>Jesus</strong> <strong>von</strong> <strong>Nazareth</strong> im Zusammenhang<br />
mit Rechtsethik zu<br />
sprechen, mag zunächst etwas<br />
verwun<strong>der</strong>n, da man sich im allgeme<strong>in</strong>en<br />
<strong>Jesus</strong> we<strong>der</strong> als Juristen<br />
vorstellt, noch se<strong>in</strong>e Lehre unmittelbar<br />
auf das Recht beziehen<br />
möchte. <strong>Die</strong> so vermutete Willkürlichkeit<br />
<strong>des</strong> Themas ist jedoch nur<br />
sche<strong>in</strong>bar, wenn man sich die Bedeutung<br />
<strong>des</strong> Begriffes Rechtsethik<br />
vor Augen führt und zudem das<br />
Anliegen <strong>der</strong> Lehre <strong>des</strong> Nazareners<br />
betrachtet.<br />
Unter <strong>Ethik</strong> wird seit Aristoteles („ta<br />
ethika“) geme<strong>in</strong>h<strong>in</strong> die Lehre <strong>von</strong><br />
den Sitten verstanden. Es handelt<br />
sich also um e<strong>in</strong> gedankliches System,<br />
<strong>des</strong>sen Brennpunkte die Ordnung<br />
<strong>des</strong> Lebens <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Geme<strong>in</strong>schaft<br />
sowohl wie <strong>der</strong> Stil <strong>des</strong><br />
Handelns und Verhaltens s<strong>in</strong>d.<br />
<strong>Ethik</strong> ist damit „praktische Philosophie“,<br />
denn sie stellt sich die Frage<br />
nach dem „was“, das wir tun sollen.<br />
Dabei untersucht sie, was im Leben<br />
und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Welt wertvoll ist,<br />
denn ethisches Verhalten besteht<br />
gerade <strong>in</strong> <strong>der</strong> Realisierung ethischer<br />
Werte.<br />
Für das Feld <strong>der</strong> Rechtsethik ergibt<br />
sich damit, dass hier unter eben<br />
diesem Gesichtspunkt <strong>des</strong> „Was<br />
sollen wir tun“ sowohl die Frage<br />
nach <strong>der</strong> überhaupt rechtlich zu<br />
regelnden Materie <strong>in</strong>teressiert, wie<br />
auch – und dem will sich diese<br />
Arbeit <strong>in</strong> Bezug auf <strong>Jesus</strong> <strong>von</strong> <strong>Nazareth</strong><br />
nähern – <strong>der</strong> Problemkreis<br />
<strong>der</strong> Gerechtigkeit das zentrale<br />
Thema ist.<br />
<strong>Jesus</strong> bezieht sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Reden<br />
und Gleichnissen immer wie<strong>der</strong><br />
auf das geltende Recht <strong>der</strong> Juden,<br />
und se<strong>in</strong>e Botschaft impliziert stets<br />
e<strong>in</strong>e wie auch immer geartete<br />
Haltung gegenüber dem Gesetz.<br />
<strong>Die</strong>se Haltung zu beschreiben, ist<br />
das Anliegen dieser Arbeit ebenso,<br />
wie e<strong>in</strong>e schemenhafte Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung<br />
mit <strong>der</strong> Frage, welche<br />
Pr<strong>in</strong>zipien unserer <strong>deutschen</strong><br />
<strong>Rechtsgegenwart</strong> letztlich auf den<br />
Geist Jesu zurückgehen, und welches<br />
Verhältnis – bewusst o<strong>der</strong><br />
unbewusst – zwischen dem <strong>deutschen</strong><br />
Rechtsstaat und dem<br />
Rechtsethiker <strong>Jesus</strong> <strong>von</strong> <strong>Nazareth</strong><br />
besteht.<br />
1
JESUSVONNAZARETH<br />
Es soll nun zunächst darum gehen, e<strong>in</strong>ige<br />
<strong>der</strong> L<strong>in</strong>ien aufzuzeigen, <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong>er<br />
sich die <strong>Ethik</strong> Jesu konstituiert. Anhand<br />
e<strong>in</strong>iger Beispiele soll <strong>der</strong> dabei gefundene<br />
Rahmen auf das „System Gesellschaft“<br />
gelegt werden, wobei Berührungspunkte<br />
und pragmatische Impulse klar hervortreten.<br />
Der Figur <strong>Jesus</strong> <strong>von</strong> <strong>Nazareth</strong> gilt dabei<br />
sowohl als historischer <strong>Jesus</strong> wie auch<br />
als kerygmatischer Christus unsere Aufmerksamkeit.<br />
In diesem S<strong>in</strong>ne soll <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ersten Teil<br />
schemenhaft die geistige Welt Jesu beleuchtet<br />
werden. Es geht dabei zunächst<br />
um den geistigen und gesellschaftlichen<br />
H<strong>in</strong>tergrund, <strong>in</strong> den <strong>der</strong> Nazarener – und<br />
mit ihm se<strong>in</strong>e Botschaft - h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>geboren<br />
wurde. Sodann folgt e<strong>in</strong> Anriß <strong>der</strong> Lehre<br />
Jesu anhand e<strong>in</strong>iger prägnanter Beispiele.<br />
Im zweiten Teil wird schließlich zu untersuchen<br />
se<strong>in</strong>, wo das „Gebäude“ unserer<br />
heutigen Welt se<strong>in</strong>e „Fundamente“ <strong>in</strong> e-<br />
ben dieser Lehre <strong>des</strong> Nazareners besitzt<br />
bzw. welchen Weg <strong>des</strong> „Mauerns“ – um<br />
bei dieser Verbildlichung zu bleiben - <strong>der</strong><br />
„Gesellschaftsarchitekt“ <strong>Jesus</strong> Christus<br />
konstruiert hat.<br />
<strong>Die</strong> geistige Welt Jesu.<br />
An<strong>der</strong>s als bei den Griechen, die <strong>in</strong> Gott<br />
den Fixpunkt h<strong>in</strong>ter den Verän<strong>der</strong>ungen<br />
<strong>der</strong> offenbaren Welt sahen - den unbewegten<br />
Beweger, den Kern <strong>des</strong> Universums<br />
- durchzieht die jüdische Tradition<br />
e<strong>in</strong> personaler begleiten<strong>der</strong> Gott. Das Alte<br />
Testament ist <strong>von</strong> e<strong>in</strong>em Gott geprägt,<br />
dem das Volk Israel während se<strong>in</strong>er Flucht<br />
aus dem ägyptischen Exil begegnet, e<strong>in</strong>em<br />
Gott, <strong>der</strong> dem Israelitenführer Mose<br />
die Thora – die Gesetze Gottes - am Berg<br />
S<strong>in</strong>ai geoffenbart hat. Aus diesem e<strong>in</strong>st<br />
versklavten Volk Israel gehen schließlich<br />
im Verlauf <strong>der</strong> alttestamentlichen Berichte<br />
zwei Königreiche hervor, die aus Jerusalem<br />
<strong>von</strong> König David regiert werden.<br />
Flucht, Gesetzgebung und Aufstieg <strong>des</strong><br />
Volkes werden als e<strong>in</strong>e Befreiungstat Gottes<br />
erlebt, die ihrerseits zu e<strong>in</strong>em Kernerlebnis<br />
<strong>der</strong> jüdischen Religion wird.<br />
<strong>Die</strong> Gesetzestafeln <strong>des</strong> Mose enthalten<br />
bereits alle gewaltreduzierenden Rechtsvorschriften,<br />
die auch die mo<strong>der</strong>nen<br />
Strafgesetzbücher enthalten. Verboten<br />
s<strong>in</strong>d: Mord, Raub, <strong>Die</strong>bstahl, Eigentumsdelikte<br />
aller Art, Lüge, falsches Zeugnis vor<br />
Gericht. H<strong>in</strong>zu kommen allerlei Regelungen<br />
zum friedlichen Nebene<strong>in</strong>an<strong>der</strong> <strong>in</strong><br />
den Großfamilien und Nachbarschaften:<br />
Eltern s<strong>in</strong>d zu ehren, Ehen nicht zu brechen,<br />
Sklaven und Vieh nicht zu entwenden,<br />
Fremde zu schützen und Feiertage<br />
e<strong>in</strong>zuhalten. Über dem allen steht die<br />
Verpflichtung auf den e<strong>in</strong>en Gott als persönlichen<br />
Garanten <strong>der</strong> umfassenden<br />
Friedensordnung.<br />
<strong>Die</strong> Grundlage im Verstehen <strong>der</strong> Welt im<br />
Alten Testament besteht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gewissheit,<br />
dass die Welt als ganze und als E<strong>in</strong>heit<br />
<strong>von</strong> Gott geschaffen ist und dass <strong>der</strong><br />
Mensch dieser Welt mith<strong>in</strong> auch als Ganzheit<br />
zu begegnen hat. Es gibt also ke<strong>in</strong>e<br />
Trennung <strong>der</strong> Welt <strong>in</strong> verschiedene Bereiche,<br />
etwa den <strong>des</strong> Geistigen und den <strong>des</strong><br />
Materiellen, <strong>von</strong> denen <strong>der</strong> e<strong>in</strong>e unwichtig<br />
wäre, <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e aber für den Menschen<br />
und se<strong>in</strong> Verhalten entscheidend. <strong>Die</strong>se<br />
Welt ist nun aber nicht dem Belieben <strong>des</strong><br />
Menschen unterstellt, son<strong>der</strong>n sie hat<br />
feste Ordnungen, die <strong>der</strong> Mensch e<strong>in</strong>halten<br />
muß, will er <strong>in</strong> ihr recht leben. Übertritt<br />
er diese Ordnungen, zerstört er das<br />
Leben, se<strong>in</strong> eigenes wie das <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>schaft,<br />
<strong>in</strong> die er e<strong>in</strong>gefügt ist. Für die Zeit<br />
und Umwelt bis h<strong>in</strong> zu <strong>Jesus</strong> war diese<br />
Ordnung <strong>des</strong> Lebens <strong>in</strong> dem Gesetz <strong>des</strong><br />
Alten Testaments gegeben. Das Judentum<br />
hatte dieses Gesetz aufgefächert <strong>in</strong> viele<br />
E<strong>in</strong>zelvorschriften, durch die das Leben<br />
wie e<strong>in</strong>gezäunt war. Möglichst jede Situation<br />
<strong>des</strong> Lebens war so geregelt, dass man<br />
sicher se<strong>in</strong> konnte bei <strong>der</strong> E<strong>in</strong>haltung dieser<br />
Regeln auch recht, d.h. <strong>in</strong> Übere<strong>in</strong>stimmung<br />
mit <strong>der</strong> Ordnung, die Gott <strong>der</strong><br />
Welt gab, zu leben. <strong>Die</strong> Folge <strong>des</strong>sen war<br />
e<strong>in</strong>e starre Gesetzlichkeit, die nicht <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Lage war, auf neue Ersche<strong>in</strong>ungen <strong>des</strong><br />
Lebens e<strong>in</strong>zugehen. Sie schneidet jede<br />
Weiterentwicklung <strong>der</strong> Geschichte ab.<br />
Man muß allerd<strong>in</strong>gs gerechterweise sehen,<br />
dass das Judentum sich nie völlig<br />
e<strong>in</strong>er solchen starren Gesetzlichkeit auslieferte,<br />
auch wenn se<strong>in</strong>e grundsätzliche<br />
E<strong>in</strong>sicht <strong>in</strong> die Struktur <strong>der</strong> Welt es dah<strong>in</strong><br />
wies und die Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung <strong>des</strong><br />
Neuen Testaments mit dem Judentum es<br />
so ersche<strong>in</strong>en lassen könnte.<br />
<strong>Die</strong>se alttestamentliche Welt betritt nun<br />
e<strong>in</strong> Mann, <strong>der</strong> <strong>von</strong> sich selbst sagt: „Ich b<strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> Weg und die Wahrheit und das Leben;<br />
niemand kommt zum Vater, denn durch<br />
mich“ (1) .<br />
<strong>Jesus</strong> <strong>von</strong> <strong>Nazareth</strong> bekundet <strong>in</strong>mitten <strong>der</strong><br />
sich <strong>in</strong> Gesetzestreue übenden israelischen<br />
Gesellschaft se<strong>in</strong>e göttliche Vollmacht<br />
und erhebt Anspruch, den Menschen<br />
erst <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Nachfolge göttliches<br />
Heil offenbar machen zu können. Dabei<br />
verwendet er immer wie<strong>der</strong> das selbe<br />
Schema: „Ihr habt gehört, dass zu den<br />
Vorfahren gesagt ist, ... ich aber sage euch,<br />
...“ - Sätze, <strong>in</strong> denen <strong>Jesus</strong> zunächst an die<br />
Weisungen <strong>des</strong> Alten Testaments er<strong>in</strong>nert,<br />
um diese - gestützt auf die eigene Autorität<br />
– zu überbieten.<br />
Um nun die ganze Brisanz und das Gewicht<br />
solcher Worte verstehen zu können,<br />
sei nochmals an das über Generationen<br />
tradierte Leben <strong>der</strong> israelischen Gesellschaft<br />
er<strong>in</strong>nert - e<strong>in</strong> Leben, das <strong>in</strong> Gänze<br />
bestimmt war durch die Ordnungen und<br />
das Gesetz, die das Alte Testament enthielten.<br />
Und alles das g<strong>in</strong>g auf den e<strong>in</strong>en Willen<br />
<strong>des</strong> Gottes zurück, <strong>der</strong> als <strong>der</strong> Schöpfer<br />
<strong>der</strong> Welt ihr auch das Gesetz zu geben hat.<br />
Man kann begreifen, welche Wirkung es <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>er solchen geistigen Umwelt haben<br />
muß, wenn jemand auftritt und den Anspruch<br />
erhebt, dieses Gesetz erst wirklich<br />
zu se<strong>in</strong>er Erfüllung zu br<strong>in</strong>gen o<strong>der</strong> gar, es<br />
<strong>in</strong> eigener Autorität zu überbieten. Das<br />
erste bedeutete den schärfsten Angriff<br />
gegen die geistlichen und weltlichen Führer<br />
<strong>des</strong> jüdischen Volkes; das letzte aber<br />
musste geradezu als Gotteslästerung ersche<strong>in</strong>en,<br />
da auf solche Weise die Gottesoffenbarung<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> Schrift durch das Wort<br />
Jesu <strong>in</strong> Frage gestellt wurde.<br />
Jesu For<strong>der</strong>ung traf die Menschen se<strong>in</strong>er<br />
Zeit mit e<strong>in</strong>em ungeheuren Anspruch und<br />
stellt sie vor e<strong>in</strong>e tiefgreifende Entscheidung:<br />
Sollten sie die Sicherheit <strong>der</strong> überkommenen<br />
Ordnung, die durch die heilige<br />
Schrift <strong>des</strong> Alten Testaments ausgewiesen<br />
und <strong>von</strong> den Vätern erprobt war, nur<br />
auf das Wort und den Anspruch Jesu h<strong>in</strong><br />
aufgeben <strong>Die</strong> Frage war, ob Gott wirklich<br />
jetzt neu durch diesen <strong>Jesus</strong> spricht und<br />
damit das bisherige Wort nur noch <strong>von</strong><br />
diesem neuen Wort her verstanden wissen<br />
will. Der Glaube an Gott musste sich<br />
auf das Fundament <strong>des</strong> Glaubens an die<br />
Worte Jesu stellen, <strong>der</strong> beanspruchte, im<br />
Auftrag Gottes zu wirken.<br />
Drei Fragen <strong>in</strong>teressieren <strong>in</strong> Bezug auf Jesu<br />
<strong>Ethik</strong> beson<strong>der</strong>s. Zum e<strong>in</strong>en: Wer ist dieser<br />
Gott <strong>des</strong> Nazareners, den er se<strong>in</strong>en Vater<br />
nennt Zum an<strong>der</strong>en: Welche Werte s<strong>in</strong>d<br />
es, die er setzt Und schließlich: Welche<br />
Ges<strong>in</strong>nung liegt <strong>der</strong> <strong>Ethik</strong> Jesu zugrunde<br />
<strong>Jesus</strong>, e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>facher Jude aus e<strong>in</strong>er unbedeutenden<br />
Stadt, lebte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er unruhigen<br />
politischen Zeit. Das Land war <strong>von</strong> den<br />
Römern besetzt, aber auch das Judentum<br />
selbst war <strong>in</strong> viele Gruppen gespalten, die<br />
sich gegenseitig befe<strong>in</strong>deten. <strong>Die</strong>ser <strong>Jesus</strong><br />
war fest <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tradition <strong>des</strong> Judentums<br />
verwurzelt. Er wurde <strong>von</strong> vielen als Rabbi<br />
(d.h. als Interpret dieser Traditionen) angesprochen.<br />
Ihm g<strong>in</strong>g es nicht um e<strong>in</strong>en<br />
kle<strong>in</strong>lichen Streit um festgefahrene Riten<br />
und Gebräuche, die sich zum Teil so verselbständigt<br />
hatten, daß ihr S<strong>in</strong>n gar nicht<br />
mehr erkennbar war. Er wollte sie nicht<br />
außer Kraft setzen, fragte aber nach <strong>der</strong><br />
eigentlichen Absicht <strong>von</strong> Geboten und<br />
2
JESUSVONNAZARETH<br />
Gesetzen. Er lebte aus e<strong>in</strong>er lebendigen<br />
Beziehung zu dem jüdischen Gott heraus,<br />
den er mit <strong>der</strong> vertraulichen Ansprache<br />
„Abba“ anredete, was nicht nur Vater heißt,<br />
son<strong>der</strong>n Ausdruck e<strong>in</strong>er ganz persönlichen<br />
Beziehung ist, vielleicht so, wie wir<br />
als K<strong>in</strong><strong>der</strong> Mama o<strong>der</strong> Papa sagen.<br />
<strong>Jesus</strong> verließ sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Leben ganz<br />
auf diesen Gott, den se<strong>in</strong> Volk mit so vielen<br />
Befreiungserfahrungen identifizierte.<br />
Und viele Menschen, die ihm begegneten,<br />
machten diese Freiheitserfahrungen wie<strong>der</strong>.<br />
Sie wurden frei <strong>von</strong> Ängsten, Lähmungen,<br />
Verblendungen, <strong>von</strong> E<strong>in</strong>samkeit<br />
und Ausgeschlossense<strong>in</strong>. Er nahm an<strong>der</strong>e<br />
Menschen mit h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Beziehung<br />
zu Gott. Dabei beschränkte er sich immer<br />
weniger auf se<strong>in</strong> eigenes Volk. Er erkannte<br />
immer deutlicher, daß das, was er lebte,<br />
für alle gelten könnte. Wir wissen alle, daß<br />
das nicht gut g<strong>in</strong>g, daß sich die Machthaber<br />
<strong>des</strong> Staates durch diese eigentümliche<br />
Freiheit bedroht fühlten und <strong>Jesus</strong> unter<br />
Zuhilfenahme e<strong>in</strong>es sehr fragwürdigen<br />
Prozesses umbrachten.<br />
Verwun<strong>der</strong>licherweise war jedoch damit<br />
nicht alles zuende. Schon bald nach Jesu<br />
Tod fanden sich Menschen, die aus eigenem<br />
Erleben bezeugten: Das, was <strong>Jesus</strong><br />
<strong>von</strong> Gott gesagt hat, ist nicht tot. Es lebt<br />
weiter. <strong>Die</strong> Erfahrungen, die die Menschen<br />
se<strong>in</strong>erzeit mit <strong>Jesus</strong> machten, galten auch<br />
jetzt noch. Sie waren nicht h<strong>in</strong>fällig mit<br />
se<strong>in</strong>em Tod. Das sagten sie, <strong>in</strong>dem sie<br />
freudig bekannten: <strong>Jesus</strong> ist nicht bei den<br />
Toten. Gott hat sich <strong>von</strong> ihm beim Wort<br />
nehmen lassen, Gott hat diesem <strong>Jesus</strong> <strong>von</strong><br />
<strong>Nazareth</strong> Leben zugesprochen und somit<br />
auch bestätigt: Ja, ich möchte so verstanden<br />
werden, wie mich dieser <strong>Jesus</strong> verkündet<br />
hat. Aus diesem Grunde wird die<br />
Erfahrung <strong>von</strong> <strong>der</strong> Auferstehung zu <strong>der</strong><br />
Grun<strong>der</strong>fahrung <strong>der</strong> ersten Christen. Sie<br />
müssen ihre Hoffnungen nicht mit <strong>Jesus</strong><br />
begraben, son<strong>der</strong>n das Bild <strong>von</strong> Gott, das<br />
er gezeichnet hat, lebt fort.<br />
Fazitierend lässt sich an dieser Stelle festhalten,<br />
dass das Auftreten Jesu e<strong>in</strong> durchweg<br />
personales Gottesverständnis offenbart.<br />
Dabei spricht <strong>Jesus</strong> <strong>in</strong> Kategorien, die<br />
es nahe legen, Gott als e<strong>in</strong>e Art Heimat zu<br />
betrachten. E<strong>in</strong>e solche Intention impliziert<br />
die Anrufung als „Vater“ ebenso, wie<br />
Jesu Rede vom „Reich Gottes“, vom „Sichauftun<br />
für den Anklopfenden“ und <strong>von</strong><br />
<strong>der</strong> Stätte <strong>des</strong> ewigen Lebens.<br />
Vor dem H<strong>in</strong>tergrund dieses Gottesverständnisses<br />
Jesu treten se<strong>in</strong>e Werte für<br />
den ihm vorschwebenden menschlichen<br />
Umgang zu Tage. <strong>Jesus</strong> bezieht sich dabei,<br />
wie geschil<strong>der</strong>t, auf die Mosaische Gesetzgebung,<br />
ohne sie jedoch kongruent <strong>in</strong><br />
se<strong>in</strong>e <strong>Ethik</strong> zu übernehmen. Vielmehr relativiert<br />
er ihre Aussagen unter dem Gesichtspunkt<br />
e<strong>in</strong>es allem an<strong>der</strong>en übergeordneten<br />
Wertes: <strong>der</strong> Liebe. <strong>Jesus</strong> geht<br />
<strong>von</strong> den Geboten Gottes aus. Er <strong>in</strong>terpretiert<br />
sie allerd<strong>in</strong>gs entgegen <strong>der</strong> bis dato<br />
herrschenden jüdischen Tradition. <strong>Die</strong>s<br />
wird beispielhaft sichtbar <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung<br />
mit den Pharisäern um die<br />
Heilung e<strong>in</strong>es Menschen am Sabbat. Der<br />
Sabbat galt <strong>in</strong> <strong>der</strong> jüdischen Tradition als<br />
Tag <strong>der</strong> Ruhe und Bes<strong>in</strong>nung, an dem<br />
jedwede Tätigkeit unterlassen werden<br />
musste. So kamen nach <strong>der</strong> Überlieferung<br />
<strong>des</strong> Matthäus Pharisäer auf <strong>Jesus</strong> zu und<br />
fragten ihn, ob es erlaubt sei, am Sabbat<br />
zu heilen. Sie verwiesen dabei auf e<strong>in</strong>en<br />
Mann mit e<strong>in</strong>er „verdorrten Hand“. <strong>Jesus</strong><br />
sprach nun: „Wer ist unter euch, <strong>der</strong> se<strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>ziges Schaf, wenn es ihm am Sabbat <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>e Grube fällt, nicht ergreift und ihm heraushilft<br />
Wieviel mehr ist nun e<strong>in</strong> Mensch<br />
als e<strong>in</strong> Schaf! Darum darf man am Sabbat<br />
Gutes tun.“ (2) Daraufh<strong>in</strong> heilte er den Kranken.<br />
<strong>Die</strong>ses Gleichnis ist exemplarisch für e<strong>in</strong>en<br />
- für den – Grundstandpunkt <strong>des</strong> Nazareners.<br />
<strong>Die</strong> Liebe zum Nächsten gilt <strong>Jesus</strong><br />
mehr als e<strong>in</strong>e mechanische Befolgung <strong>der</strong><br />
überlieferten Gesetze. In diesem Kontext<br />
ist auch die Redeweise Jesu zu verstehen:<br />
„Geschrieben steht...“, - womit auf die Aussagen<br />
<strong>des</strong> Alten Testaments Bezug genommen<br />
wird -, „ich aber sage euch...“, was<br />
e<strong>in</strong>e Relativierung <strong>des</strong> Geschriebenen, ja<br />
e<strong>in</strong>e Abkehr bedeutet. <strong>Jesus</strong> brachte dabei<br />
ke<strong>in</strong>e neue Ideologie, ke<strong>in</strong> politisches<br />
Konzept o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>en revolutionären Umbruch,<br />
er brachte e<strong>in</strong>en „hermeneutischen<br />
Schlüssel“ zur Auslegung <strong>des</strong> geschriebenen<br />
Gesetzes: die Liebe. An die Stelle e<strong>in</strong>er<br />
kasuistischen Gesetzesethik stellt <strong>Jesus</strong> so<br />
se<strong>in</strong>e Liebesethik.<br />
In den Berichten <strong>des</strong> Neuen Testaments<br />
ist <strong>Jesus</strong> wie e<strong>in</strong> Schriftgelehrter zu erleben.<br />
Wie diese lehrt er <strong>in</strong> <strong>der</strong> Synagoge<br />
und äußert sich sowohl über Anwendung<br />
und Auslegung <strong>der</strong> Gebote, zur Messias-<br />
Lehre und zur Auferstehung <strong>der</strong> Toten.<br />
Gemäß dem jüdischen Gesetzesverständnis<br />
war e<strong>in</strong> Lehrer Theologe und Jurist<br />
gleichermaßen. <strong>Die</strong>ser Umstand und das<br />
überzeugende Auftreten <strong>des</strong> Nazareners<br />
erklären, warum man <strong>Jesus</strong> schließlich<br />
sogar um die Schlichtung e<strong>in</strong>es Erbstreites<br />
bat. (3)<br />
Beispielhaft soll nun gezeigt werden, dass<br />
es <strong>Jesus</strong> bei se<strong>in</strong>em Gesetzesverständnis<br />
maßgeblich auf e<strong>in</strong>en Aspekt ankommt,<br />
<strong>der</strong> etwa für das geltende deutsche Strafrecht<br />
überhaupt nicht <strong>von</strong> Belang ist: die<br />
sittliche Ges<strong>in</strong>nung. Gegenstand <strong>des</strong><br />
Schuldurteils im <strong>deutschen</strong> Strafrecht ist<br />
die rechtswidrige Tat, und zwar mit Rücksicht<br />
auf die <strong>in</strong> ihr aktualisierte, rechtlich<br />
missbilligte Ges<strong>in</strong>nung. <strong>Die</strong>se Rechtsges<strong>in</strong>nung<br />
ist aber nicht gleichbedeutend<br />
mit <strong>der</strong> sittlichen Ges<strong>in</strong>nung, da es <strong>in</strong>soweit<br />
nicht auf die ethische B<strong>in</strong>dung durch<br />
die Rechtsnormen ankommt, son<strong>der</strong>n auf<br />
die E<strong>in</strong>sicht <strong>in</strong> ihre Geltung.<br />
<strong>Jesus</strong> erteilt diesem alle<strong>in</strong> auf die äußeren<br />
Handlungen abstellenden Gesetzesverständnis<br />
e<strong>in</strong>e klare Absage. <strong>Die</strong>se Radikalität<br />
<strong>in</strong> all ihren Konsequenzen wird<br />
nirgendwo so deutlich wie <strong>in</strong> <strong>der</strong> vom<br />
Evangelisten Matthäus aufgeschriebenen<br />
Bergpredigt. In ihr erhebt <strong>Jesus</strong> die sittliche<br />
Ges<strong>in</strong>nung zum alle<strong>in</strong>igen Maßstab.<br />
„Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist,<br />
du sollst nicht töten. Ich aber sage euch:<br />
Je<strong>der</strong>, <strong>der</strong> se<strong>in</strong>em Bru<strong>der</strong> [auch nur] zornig<br />
ist, soll dem Gericht verfallen se<strong>in</strong>“. (4) O<strong>der</strong><br />
zur Frage <strong>des</strong> Ehebruchs: „Je<strong>der</strong>, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>e<br />
Frau ansieht, sie zu begehren, hat schon <strong>in</strong><br />
se<strong>in</strong>em Herzen mit ihr den Ehebruch getrieben“.<br />
(5)<br />
<strong>Jesus</strong> versteht sich vor diesem H<strong>in</strong>tergrund<br />
ke<strong>in</strong>eswegs als Gegner <strong>der</strong> Gesetze,<br />
son<strong>der</strong>n er sagt <strong>von</strong> sich: „Ich b<strong>in</strong> nicht<br />
gekommen aufzulösen, son<strong>der</strong>n zu erfüllen“.<br />
Liebe und Gesetz stehen sich nicht<br />
dialektisch gegenüber, son<strong>der</strong>n das Gesetz<br />
bedarf <strong>der</strong> Liebe zu se<strong>in</strong>er Erfüllung.<br />
Das Schema Jesu „Geschrieben steht..., ich<br />
aber sage euch...“ erweist sich damit als<br />
Versuch e<strong>in</strong>er Gewährleistung gerade <strong>des</strong><br />
E<strong>in</strong>haltens <strong>der</strong> Gesetze. Nicht <strong>des</strong> E<strong>in</strong>haltens<br />
um <strong>der</strong> Gesetze selbst willen, son<strong>der</strong>n<br />
<strong>des</strong> E<strong>in</strong>haltens um <strong>der</strong> Liebe Gottes<br />
willen, die sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Verhältnis zu den<br />
Menschen manifestiert. „Denn wenn ihr<br />
den Menschen ihre Verfehlungen vergebt“,<br />
so <strong>Jesus</strong>, „wird euer himmlischer<br />
Vater auch euch vergeben“. Auf diese Liebe<br />
Gottes zum Menschen vermag <strong>der</strong><br />
Mensch mit Liebe zum Mitmenschen zu<br />
antworten. Damit aber ist die Motivation<br />
zur E<strong>in</strong>haltung <strong>der</strong> Gesetze tief im Herzen<br />
verankert, und nur sie vermag dauerhaft<br />
den Erhalt <strong>der</strong> menschlichen Gesellschaft<br />
zu gewährleisten. Soweit e<strong>in</strong> Gesetz aber<br />
mit diesem Liebesgebot nicht vere<strong>in</strong>bar<br />
ist, erklärt <strong>Jesus</strong> es für ungültig, wie am<br />
Beispiel <strong>der</strong> Sabbatheiligung bereits beschrieben<br />
wurde. Damit ist über <strong>der</strong> positivistisch-kasuistischen<br />
Denkweise <strong>der</strong><br />
jüdischen Schriftgelehrten <strong>der</strong> Stab gebrochen.<br />
3
JESUSVONNAZARETH<br />
Gegenwartsperspektiven jesuanischer<br />
Rechtsethik.<br />
Was kann nun aus <strong>der</strong> bislang dargestellten<br />
Rechtsethik Jesu für e<strong>in</strong>e Rechtsethik<br />
gewonnen werden, die den Anfor<strong>der</strong>ungen<br />
<strong>der</strong> Gegenwart Rechnung trägt Ist<br />
<strong>der</strong> Staat <strong>des</strong> Grundgesetzes aufgrund<br />
se<strong>in</strong>er weltanschaulichen Neutralität ü-<br />
berhaupt berechtigt, sich an <strong>der</strong> christlichen<br />
Kultur zu orientieren Inwieweit dürfen<br />
also die rechtsethischen Grundsätze<br />
Jesu <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>deutschen</strong> Rechtswirklichkeit<br />
ihren Nie<strong>der</strong>schlag f<strong>in</strong>den<br />
Daß es e<strong>in</strong>en <strong>in</strong>haltlichen Zusammenhang<br />
zwischen deutscher Rechtstradition<br />
und christlicher Kultur gibt, hat das BVerfG<br />
zuletzt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kruzifix-Entscheidung aus<br />
dem Jahre 1995 festgestellt (6) . <strong>Die</strong>ser Zusammenhang,<br />
gewissermaßen zwischen<br />
„weltlicher“ und „geistiger“ Macht, beruht<br />
bekanntlich auf geschichtlichen Gründen.<br />
Das König- und Kaisertum hatte e<strong>in</strong>e religiöse<br />
Grundlage. Ihm kam nach mittelalterlicher<br />
Anschauung im göttlichen Heilsplan<br />
e<strong>in</strong>e wichtige Stellung zu. Als höchster<br />
Träger obrigkeitlicher Gewalt hatte <strong>der</strong><br />
Monarch die durch den Sündenfall verdorbene<br />
Welt vor ihrem Nie<strong>der</strong>gang, mit<br />
dem sie dem Jüngsten Tag zueilte, notdürftig<br />
zu bewahren. Das Königtum wurde<br />
daher als e<strong>in</strong> solches „<strong>von</strong> Gottes Gnaden“<br />
aufgefasst. (7)<br />
Heute wird <strong>in</strong> Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 I<br />
WRV die pr<strong>in</strong>zipielle Trennung <strong>von</strong> Staat<br />
und Kirche <strong>in</strong>soweit festgestellt, dass ke<strong>in</strong>e<br />
Staatskirche bestehen soll. Mit e<strong>in</strong>er solchen<br />
Trennung war jedoch nicht die Absicht<br />
verbunden, dass Staat und christliche<br />
<strong>Ethik</strong> nunmehr <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er Weise verbunden<br />
se<strong>in</strong> sollen. Vielmehr bezeugt die<br />
Festlegung <strong>des</strong> Art. 140 GG, dass die Art.<br />
136 – 139 und 141 WRV Bestandteil <strong>des</strong><br />
GG se<strong>in</strong> sollen, dass e<strong>in</strong> Modell wie etwa<br />
das französische, US-amerikanische o<strong>der</strong><br />
sowjetische gerade nicht gewollt war.<br />
Das BVerfG hat denn auch mehrfach und<br />
konsequent das GG <strong>in</strong> dem S<strong>in</strong>ne ausgelegt,<br />
dass trotz <strong>der</strong> <strong>in</strong>stitutionellen Trennung<br />
<strong>von</strong> Kirche und Staat und bei voller<br />
Achtung <strong>des</strong> Grundrechtes <strong>der</strong> Religionsfreiheit<br />
<strong>der</strong> spezifische - geschichtliche<br />
und sachliche - Zusammenhang zwischen<br />
Christentum und demokratischem<br />
Rechtsstaat <strong>von</strong> <strong>der</strong> Rechtsprechung zu<br />
beachten sei. <strong>Die</strong> vom Gericht gewählte<br />
Formulierung <strong>von</strong> <strong>der</strong> „Prägekraft <strong>des</strong> Christentums“<br />
br<strong>in</strong>gt zum Ausdruck, dass <strong>der</strong>en<br />
fundamentale Bedeutung für den mo<strong>der</strong>nen<br />
Rechtsstaat anzuerkennen und nicht<br />
preiszugeben ist. <strong>Die</strong> Kruzifix-Entscheidung<br />
<strong>des</strong> BVerfG spricht sogar <strong>von</strong> <strong>der</strong><br />
„überragenden Prägekraft“ <strong>des</strong> Christentums.<br />
(8)<br />
Das Urteil hat e<strong>in</strong>e breite und lange anhaltende<br />
öffentliche Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung<br />
hervorgerufen, bei <strong>der</strong> es darum g<strong>in</strong>g und<br />
weiter geht, wie unsere demokratische<br />
Gesellschaft sich zu dem geschichtlichen<br />
und sachlichen Zusammenhang <strong>von</strong><br />
Christentum und politischer Kultur stellt.<br />
In <strong>der</strong> Kruzifix-Entscheidung wird ausdrücklich<br />
da<strong>von</strong> gesprochen, dass <strong>der</strong><br />
Staat wegen <strong>des</strong> gesellschaftlichen Zusammenhalts<br />
und zur Erfüllung se<strong>in</strong>er<br />
eigenen Aufgaben die Prägekräfte nicht<br />
ignorieren o<strong>der</strong> „abstreifen“ dürfe. (9)<br />
<strong>Die</strong> Grundelemente <strong>des</strong> demokratischen<br />
und sozialen Rechtsstaates entsprechen <strong>in</strong><br />
ihrer Zielrichtung dem christlichen<br />
Verständnis <strong>des</strong> Menschen: <strong>der</strong> <strong>in</strong> Verantwortung<br />
vor Gott wahrgenommenen<br />
Freiheit, die aus dem christlichen Glauben<br />
folgt, und dem Gebot <strong>der</strong> Nächstenliebe.<br />
Der zum Ebenbild Gottes geschaffene<br />
Mensch ist <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Würde unantastbar<br />
und zur Mitmenschlichkeit bestimmt. <strong>Die</strong><br />
durch das GG geschützten und gewährleisteten<br />
Grundrechte beruhen damit auf<br />
Wertentscheidungen, <strong>in</strong> denen sich die<br />
prägende Kraft <strong>des</strong> Christentums, wie es<br />
das BVerfG nennt (E 41, 65 [84]), auswirkt.<br />
Das Grundgesetz kennt mith<strong>in</strong> ke<strong>in</strong>en<br />
laizistischen Auftrag. Ausdrücklich wird<br />
nicht e<strong>in</strong>mal die religiös-weltanschauliche<br />
Neutralität erwähnt. Das BVerfG hat diesen<br />
Grundsatz aus dem Zusammenklang<br />
• <strong>des</strong> Gleichheitssatzes (Art. 3 I, III sowie<br />
Art. 33 III G),<br />
• <strong>der</strong> Religionsfreiheit (Art 4, 140 GG i.V.m.<br />
Art 136 I, IV WRV) und<br />
• dem Verbot <strong>der</strong> Staatskirche (Art. 140<br />
GG i.V.m. Art 137 I WRV)<br />
hergeleitet und zu e<strong>in</strong>em zentralen verfassungsrechtlichen<br />
Pr<strong>in</strong>zip entwickelt.<br />
Demnach hat sich <strong>der</strong> Staat e<strong>in</strong>es religiösweltanschaulichen<br />
Urteils zu enthalten<br />
und ke<strong>in</strong>e dieser Enthaltungspflicht wi<strong>der</strong>sprechenden<br />
Entscheidungen zu treffen.<br />
<strong>Die</strong>se Neutralität ist je nach Sachzusammenhang<br />
mit e<strong>in</strong>er unterschiedlichen<br />
Intention verbunden. Bei typischen Aufgabenfel<strong>der</strong>n<br />
<strong>des</strong> Staates, wie etwa den<br />
drei Gewalten Legislative, Exekutive und<br />
Jurisdiktion, zielt die Intention <strong>der</strong> Neutralitätswahrung<br />
sicherlich auf Distanz ab.<br />
<strong>Die</strong>s ist allerd<strong>in</strong>gs an<strong>der</strong>s, wenn zwar <strong>der</strong><br />
Staat bestimmte Bereiche <strong>des</strong> gesellschaftlichen<br />
Lebens organisiert und leitet,<br />
dieser staatlichen Leitung aber die bürgerliche<br />
Freiheit <strong>der</strong> Individuen entgegen<br />
steht, wie etwa beim Schulwesen. In diesem<br />
Fall zielt <strong>der</strong> Neutralitätsauftrag <strong>des</strong><br />
GG darauf ab, den vom GG selbst gesetzten<br />
Rahmen unter Berücksichtigung auch<br />
und gerade <strong>der</strong> christlichen Tradition <strong>der</strong><br />
Verfassungsgeschichte auszufüllen. (10)<br />
E<strong>in</strong>e solche Auslegung <strong>des</strong> Neutralitätsgebotes<br />
hat im übrigen auch das BVerfG<br />
<strong>in</strong> se<strong>in</strong>er 1973 ergangenen Entscheidung<br />
über das „Kreuz im Gerichtssaal“ vorgenommen.<br />
(11) Demnach erfor<strong>der</strong>t die Exegese<br />
<strong>des</strong> Neutralitätspr<strong>in</strong>zips „neben<br />
rechts- und justizgeschichtlichen Untersuchungen<br />
e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>gehen auf die verschiedenen<br />
Verhältnisse und Anschauungen <strong>in</strong> den e<strong>in</strong>zelnen<br />
Lan<strong>des</strong>teilen <strong>der</strong> Bun<strong>des</strong>republik (...)<br />
und <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e e<strong>in</strong>e rechtsgrundsätzliche<br />
Würdigung <strong>des</strong> (...) Pr<strong>in</strong>zips <strong>der</strong> Nicht-Identifikation“.<br />
In se<strong>in</strong>er Begründung stellte das BVerfG<br />
se<strong>in</strong>erzeit fest, „dass weite Kreise <strong>der</strong> Bevölkerung<br />
gegen die Anbr<strong>in</strong>gung <strong>von</strong> Kreuzen<br />
<strong>in</strong> Gerichtssälen nichts e<strong>in</strong>zuwenden haben<br />
und dass auch im übrigen das Maß <strong>der</strong> <strong>in</strong><br />
dieser Ausstattung möglicherweise zutage<br />
tretenden Identifikation mit spezifisch christlichen<br />
Anschauungen nicht <strong>der</strong>art ist, daß<br />
die Teilnahme an Gerichtsverhandlungen <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>em entsprechend ausgestatteten Gerichtssaal<br />
<strong>von</strong> an<strong>der</strong>sdenkenden (...) <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Regel als unzumutbar empfunden wird.<br />
Denn das bloße Vorhandense<strong>in</strong> e<strong>in</strong>es Kreuzes<br />
verlangt <strong>von</strong> ihnen we<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e eigene<br />
Identifizierung mit den dar<strong>in</strong> symbolhaft<br />
verkörperten Ideen o<strong>der</strong> Institutionen noch<br />
e<strong>in</strong> irgendwie geartetes aktives Verhalten.“<br />
(12)<br />
Demgegenüber hat das BVerfG 1995 entschieden,<br />
dass die staatlich angeordnete<br />
Anbr<strong>in</strong>gung <strong>von</strong> Kreuzen o<strong>der</strong> Kruzifixen<br />
<strong>in</strong> staatlichen Pflichtschulen dem <strong>in</strong> Art. 4 I<br />
GG festgelegten Grundsatz <strong>der</strong> Religionsfreiheit<br />
zuwi<strong>der</strong>laufe. Wohl dürfe die Schule<br />
ihren Schülern die Bedeutung <strong>des</strong> Kreuzes<br />
als S<strong>in</strong>nbild christlicher Werte und<br />
Normen vermitteln, sie darf das Kreuz aber<br />
nicht <strong>in</strong> ihren Räumen anbr<strong>in</strong>gen. (13) <strong>Die</strong><br />
Entscheidung ist vielfach kommentiert<br />
und kritisiert worden. (14) Legt man dem<br />
Toleranz-Auftrag <strong>des</strong> GG e<strong>in</strong>en solchen<br />
Maßstab zugrunde, dann bräuchten etwa<br />
muslimische Mädchen nicht am Sportunterricht<br />
teilzunehmen und es müssten die<br />
im wesentlichen christlicher Prägung entsprungenen<br />
gesetzlichen Feiertage abgeschafft<br />
werden.<br />
Vielmehr ersche<strong>in</strong>t es aber angebracht,<br />
die gesellschaftliche Tendenz zur Unverb<strong>in</strong>dlichkeit<br />
nicht noch unter dem Deckmantel<br />
<strong>der</strong> Toleranz großzuziehen. <strong>Die</strong><br />
Gewährleistung <strong>der</strong> weltanschaulich-religiösen<br />
Neutralität läuft ansonsten Gefahr,<br />
den Bezug zu ihrer Geschichte genauso zu<br />
verlieren, wie sie die Gegenwart statt mit<br />
4
JESUSVONNAZARETH<br />
grundgesetzlich gefor<strong>der</strong>ter Wertfreiheit<br />
mit Wertlosigkeit gestaltet.<br />
Konstituieren<strong>des</strong> Merkmal sowohl <strong>des</strong><br />
demokratischen Rechtsstaates unter dem<br />
GG wie auch <strong>der</strong> Rechtsethik Jesu ist die<br />
Gerechtigkeit. „Trachtet zuerst nach dem<br />
Reich Gottes und nach se<strong>in</strong>er Gerechtigkeit,<br />
so wird euch alles zufallen“ (15) – <strong>Die</strong> Gerechtigkeit<br />
ist e<strong>in</strong> Schlüsselbegriff nicht<br />
nur <strong>der</strong> biblischen Überlieferung, son<strong>der</strong>n<br />
<strong>der</strong> gesamten Menschheitsgeschichte. Im<br />
Gegensatz zu se<strong>in</strong>er heute vielfach anzutreffenden<br />
e<strong>in</strong>seitigen Ausrichtung <strong>in</strong><br />
Bezug auf f<strong>in</strong>anzielle und Chancengerechtigkeit<br />
umschließt <strong>der</strong> Gerechtigkeitsbegriff<br />
bei <strong>Jesus</strong> alles, was e<strong>in</strong>e heile Existenz<br />
<strong>des</strong> Menschen ausmacht. Er steht damit <strong>in</strong><br />
Verb<strong>in</strong>dung mit Frieden, Freiheit, Erlösung,<br />
Gnade und Heil.<br />
In <strong>der</strong> älteren philosophischen und theologischen<br />
Diskussion wurde die Idee <strong>der</strong><br />
Gerechtigkeit als grundlegen<strong>des</strong> Ordnungspr<strong>in</strong>zip<br />
<strong>der</strong> Gesellschaft entfaltet.<br />
<strong>Die</strong> Gerechtigkeit besagt danach, dass<br />
jedem das Recht zukommt, als Person<br />
anerkannt zu werden und e<strong>in</strong> menschenwürdiges<br />
Dase<strong>in</strong> zu führen. Je<strong>der</strong> sollte<br />
berechtigt se<strong>in</strong>, die grundlegenden materiellen<br />
und immateriellen Möglichkeiten<br />
zu haben, um se<strong>in</strong> Leben <strong>in</strong> eigener Verantwortung<br />
zu gestalten und bei <strong>der</strong> Gestaltung<br />
<strong>des</strong> Lebens <strong>der</strong> Gesellschaft mitbestimmen<br />
und mitwirken zu können.<br />
Jedem steht damit auch das zu, was er<br />
aufgrund öffentlich anerkannter Regeln<br />
durch eigene Leistung geschaffen bzw.<br />
erworben hat. <strong>Die</strong>ses Recht je<strong>des</strong> e<strong>in</strong>zelnen<br />
ist <strong>von</strong> allen an<strong>der</strong>en wie vom Gesellschaftsganzen<br />
zu respektieren, wie umgekehrt<br />
je<strong>der</strong> die Rechte <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en und<br />
<strong>des</strong> Ganzen <strong>der</strong> Gesellschaft respektieren<br />
muß. (16)<br />
In <strong>der</strong> theologischen Tradition wurde die<br />
Idee <strong>der</strong> Gerechtigkeit nach den verschiedenen<br />
Beziehungsebenen aufgeglie<strong>der</strong>t.<br />
Danach hat <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelne gegenüber dem<br />
Staat bzw. dem Gesellschaftsganzen die<br />
Verpflichtung, die als Gesetzesgerechtigkeit<br />
(iustitua legalis) bezeichnet wird; umgekehrt<br />
ist <strong>der</strong> Staat dem e<strong>in</strong>zelnen gegenüber<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> Pflicht im S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong> austeilenden<br />
Gerechtigkeit (iustitia distributiva).<br />
Beide zielen auf die gerechte Verteilung<br />
<strong>von</strong> Rechten und Pflichten im Geme<strong>in</strong>wesen.<br />
Darüber h<strong>in</strong>aus s<strong>in</strong>d die Beziehungen<br />
zwischen den Gesellschaftsglie<strong>der</strong>n nach<br />
Gerechtigkeitsmaßstäben zu gestalten;<br />
dies besagt die ausgleichende Gerechtigkeit<br />
(iustitia commutativa), die im H<strong>in</strong>blick<br />
auf die Situation <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wirtschaft auch<br />
das Gebot <strong>der</strong> Fairneß <strong>in</strong> den Marktbeziehungen<br />
umfasst. (17)<br />
So wichtig und für die Gestaltung gesellschaftlicher<br />
Beziehungen hilfreich e<strong>in</strong>e<br />
solche E<strong>in</strong>teilung ist, so wenig kann sie<br />
unter den Bed<strong>in</strong>gungen <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen<br />
Gesellschaft genügen. Deshalb hat <strong>der</strong><br />
Begriff <strong>der</strong> sozialen Gerechtigkeit als ü-<br />
bergeordnetes Leitbild E<strong>in</strong>gang <strong>in</strong> die<br />
Sozialethik <strong>der</strong> Kirchen gefunden. Er besagt,<br />
dass es angesichts <strong>der</strong> real unterschiedlichen<br />
Ausgangsvoraussetzungen<br />
e<strong>in</strong> Gebot <strong>der</strong> Gerechtigkeit ist, aufgrund<br />
<strong>von</strong> Ungleichheiten bestehende Diskrim<strong>in</strong>ierungen<br />
abzubauen und allen Glie<strong>der</strong>n<br />
<strong>der</strong> Gesellschaft gleiche Chancen und<br />
gleichwertige Lebensbed<strong>in</strong>gungen zu<br />
ermöglichen.<br />
In dem Begriff <strong>der</strong> sozialen Gerechtigkeit<br />
drückt sich aus, dass soziale Ordnungen<br />
wandelbar und <strong>in</strong> die geme<strong>in</strong>same moralische<br />
Verantwortungen <strong>der</strong> Menschen<br />
gelegt s<strong>in</strong>d. Zur Verwirklichung <strong>von</strong> Gerechtigkeit<br />
gehört es daher, dass alle Glie<strong>der</strong><br />
<strong>der</strong> Gesellschaft an <strong>der</strong> Gestaltung<br />
<strong>von</strong> gerechten Beziehungen und Verhältnissen<br />
teilhaben und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage s<strong>in</strong>d,<br />
ihren eigenen Geme<strong>in</strong>wohlbeitrag zu<br />
leisten. „Suche nach Gerechtigkeit ist e<strong>in</strong>e<br />
Bewegung zu denjenigen, die als Arme und<br />
Machtlose am Rande <strong>des</strong> sozialen und wirtschaftlichen<br />
Lebens existieren und ihre Teilhabe<br />
und Teilnahme an <strong>der</strong> Gesellschaft<br />
nicht aus eigener Kraft verbessern können.<br />
Soziale Gerechtigkeit hat <strong>in</strong>sofern völlig zu<br />
recht den Charakter <strong>der</strong> Parte<strong>in</strong>ahme für alle,<br />
die auf Unterstützung und Beistand angewiesen<br />
s<strong>in</strong>d... Sie erschöpft sich nicht <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
persönlichen Fürsorge für Benachteiligte,<br />
son<strong>der</strong>n zielt auf den Abbau <strong>der</strong> strukturellen<br />
Ursachen für den Mangel an Teilhabe und<br />
Teilnahme an gesellschaftlichen und wirtschaftlichen<br />
Prozessen.“ (18)<br />
Für das Recht folgt daraus <strong>der</strong> Auftrag,<br />
Strukturen zu schaffen und zu gewährleisten,<br />
die dem e<strong>in</strong>zelnen die verantwortliche<br />
Teilnahme am gesellschaftlichen und<br />
wirtschaftlichen Leben erlauben. Dazu<br />
gehören neben den politischen Beteiligungsrechten<br />
Zugang zu Arbeits- und<br />
Beschäftigungsmöglichkeiten, die e<strong>in</strong><br />
menschenwürdiges, mit <strong>der</strong> Bevölkerungsmehrheit<br />
vergleichbares Leben und<br />
e<strong>in</strong>e effektive Mitarbeit am Geme<strong>in</strong>wohl<br />
ermöglichen. Um sich beteiligen zu können<br />
und die Möglichkeit zu haben, <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
öffentlichen Me<strong>in</strong>ungsbildung gehört<br />
und verstanden zu werden, ist außerdem<br />
e<strong>in</strong> Bildungssystem notwendig, das neben<br />
beruflichen Fähigkeiten politisches Urteilsvermögen<br />
und die Fähigkeit zu politischem<br />
Engagement vermittelt.<br />
Bei <strong>der</strong> Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit<br />
kommt dem Ethos Jesu e<strong>in</strong>e befreiende<br />
und stimulierende Funktion zu. <strong>Die</strong><br />
For<strong>der</strong>ungen <strong>des</strong> Nazareners erschöpfen<br />
sich nämlich nicht <strong>in</strong> dem Ruf nach Gerechtigkeit.<br />
Das <strong>der</strong> menschlichen Person<br />
Zukommende und Gebührende ist mehr<br />
als Gerechtigkeit, nämlich persönliche<br />
Zuwendung, Liebe und Barmherzigkeit.<br />
So ist die Barmherzigkeit e<strong>in</strong>e Erfüllung<br />
<strong>der</strong> Gerechtigkeit, die diese zugleich ü-<br />
berbietet. Eben <strong>des</strong>halb hebt die Barmherzigkeit<br />
die For<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Gerechtigkeit<br />
nicht auf. <strong>Die</strong> Barmherzigkeit Jesu<br />
setzt die Gerechtigkeit vielmehr voraus,<br />
und sie muß ihre Authentizität <strong>in</strong> <strong>der</strong> Motivation<br />
und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Entschlossenheit zur<br />
Gerechtigkeit gegen je<strong>der</strong>mann, im<br />
Kampf gegen ungerechte Strukturen und<br />
im E<strong>in</strong>satz für den Aufbau e<strong>in</strong>er gerechteren<br />
Gesellschaft erweisen.<br />
„Im Bewusstse<strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Verantwortung vor<br />
Gott und den Menschen, <strong>von</strong> dem Willen<br />
beseelt, als gleichberechtigtes Glied <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />
vere<strong>in</strong>ten Europa dem Frieden <strong>der</strong> Welt zu<br />
dienen, hat sich das deutsche Volk kraft se<strong>in</strong>er<br />
verfassungsgebenden Gewalt dieses<br />
Grundgesetz gegeben.“ So lautet die durch<br />
den E<strong>in</strong>igungsvertrag 1990 geän<strong>der</strong>te<br />
Präambel, die H<strong>in</strong>führung auf die e<strong>in</strong>zelnen<br />
Artikel <strong>des</strong> GG. Aus ihr sprechen nicht<br />
nur erneut die christliche Prägung <strong>der</strong><br />
Verfassungs<strong>in</strong>halte und e<strong>in</strong> ethisches<br />
Grundfundament, son<strong>der</strong>n – und darum<br />
soll es jetzt gehen – <strong>der</strong> Aspekt <strong>der</strong> Friedensdienerschaft.<br />
<strong>Die</strong> radikale Friedensethik Jesu tritt am<br />
deutlichsten <strong>in</strong> <strong>der</strong> bereits zitierten Bergpredigt<br />
beim Evangelisten Matthäus zutage.<br />
<strong>Die</strong>se ist ke<strong>in</strong>e authentische <strong>Jesus</strong>-Rede,<br />
aber sie enthält Jesu For<strong>der</strong>ungen:<br />
Gewaltverzicht, Frieden schaffen, Sanftmut,<br />
Menschenfreundlichkeit. Frieden ist<br />
ke<strong>in</strong> Schicksal, son<strong>der</strong>n unser Auftrag, so<br />
wie Krieg unser Versagen ist.<br />
<strong>Die</strong> Aussagen <strong>der</strong> Bergpredigt blicken auf<br />
e<strong>in</strong>e zweitausendjährige Tradition zurück,<br />
<strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong>er sie immer wie<strong>der</strong> zitierter<br />
Gegenstand <strong>in</strong> Reden und Bekundungen<br />
waren. Doch e<strong>in</strong>e eigentliche Rolle <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Praxis hat die Bergpredigt nie erfahren. Im<br />
Gegenteil, Kirchenführer und Theologen<br />
entschuldigen geradezu für die Konsequenz<br />
<strong>des</strong> Nazareners und erklären <strong>Jesus</strong><br />
für politisch <strong>in</strong>kompetent. „Mit <strong>der</strong> Bergpredigt<br />
kann man nicht regieren“ ließen<br />
übere<strong>in</strong>stimmend die Christen Otto <strong>von</strong><br />
Bismarck, Helmut Schmidt und Karl Carstens<br />
verlauten, und <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em se<strong>in</strong>erzeitigen<br />
Amt als Verteidigungsm<strong>in</strong>ister äußerte<br />
Hans Apel: „<strong>Die</strong> Bergpredigt ist <strong>in</strong> ihrer To-<br />
5
JESUSVONNAZARETH<br />
talität nur für Bettelmönche praktizierbar“<br />
(19) . Privat mag man sich wohl auf <strong>Jesus</strong><br />
<strong>von</strong> <strong>Nazareth</strong> berufen, doch <strong>in</strong> politischer<br />
H<strong>in</strong>sicht erklärt man ihn zum Sp<strong>in</strong>ner o<strong>der</strong><br />
Irrläufer. Fe<strong>in</strong><strong>des</strong>liebe zu praktizieren, die<br />
Bergpredigt <strong>in</strong> das politische Leben zu<br />
übernehmen o<strong>der</strong> auch nur e<strong>in</strong>fließen zu<br />
lassen, zeugt bestenfalls <strong>von</strong> Naivität und<br />
politischer Blauäugigkeit.<br />
E<strong>in</strong>e solche doppelte Moral – die Trennung<br />
<strong>in</strong> private und politische <strong>Ethik</strong> –<br />
prägt die gegenwärtige Gesellschaft. Wohl<br />
nimmt man die Bergpredigt als Bestandteil<br />
<strong>des</strong> Neuen Testaments zur Kenntnis, ja<br />
man mag sie sogar akzeptieren, doch für<br />
die politische Praxis gilt: „Mit <strong>der</strong> Bergpredigt<br />
kann man nicht regieren.“<br />
E<strong>in</strong>e so ver<strong>in</strong>nerlichte Zweispurigkeit <strong>von</strong><br />
„Ges<strong>in</strong>nungsethik“ und „Verantwortungsethik“<br />
gipfelt nicht nur <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tatsache,<br />
dass man sich als Friedenspolitiker<br />
versteht und gleichwohl (o<strong>der</strong> gar gerade<br />
<strong>des</strong>wegen) Atombomben produzieren<br />
lässt, sie führt auch zwangsläufig zur Unglaubwürdigkeit<br />
<strong>der</strong> so auftretenden Politiker<br />
und gefährdet damit letztlich das<br />
demokratische System. <strong>Jesus</strong> hat für e<strong>in</strong>e<br />
<strong>der</strong>artige Janusköpfigkeit den passenden<br />
Vergleich: man handelt „wie e<strong>in</strong> unvernünftiger<br />
Mann, <strong>der</strong> se<strong>in</strong> Haus auf Sand baut“ (20) .<br />
Und Mart<strong>in</strong> Buber bef<strong>in</strong>det: „Der Ursprung<br />
allen Konflikts zwischen mir und me<strong>in</strong>en<br />
Mitmenschen ist, dass ich nicht sage, was ich<br />
me<strong>in</strong>e, und dass ich nicht tue, was ich sage“<br />
(21) .<br />
Im Gefolge <strong>des</strong> römischen Satzes „Wenn<br />
du Frieden willst, bereite den Krieg vor“ (22)<br />
entstand so e<strong>in</strong>e <strong>Ethik</strong> <strong>des</strong> „e<strong>in</strong>erseits...,<br />
an<strong>der</strong>erseits...“. Mit <strong>der</strong> <strong>Ethik</strong> Jesu ist dagegen<br />
zu sagen „Irret euch nicht! ... Denn was<br />
<strong>der</strong> Mensch sät, das wird er ernten“ (23) , o<strong>der</strong><br />
mit an<strong>der</strong>en Worten: Wer den Krieg vorbereitet,<br />
wird Krieg bekommen. Wenn du<br />
den Frieden willst, dann bereite den Frieden<br />
vor! – Das ist die Po<strong>in</strong>te <strong>der</strong> Bergpredigt!<br />
E<strong>in</strong>e Trennung <strong>in</strong> private und politische<br />
<strong>Ethik</strong> h<strong>in</strong>gegen ist nicht nur diametral<br />
zur <strong>Ethik</strong> Jesu, sie entspricht auch ke<strong>in</strong>erlei<br />
vernünftigen Überlegungen. Jesu<br />
Gerechtigkeit ist so universal, dass sie für<br />
jeden Bereich <strong>des</strong> Lebens Gültigkeit besitzt.<br />
Ähnlich verhält es sich mit <strong>der</strong> Nächstenliebe.<br />
E<strong>in</strong>e Liebe, die nicht auch den Fe<strong>in</strong>d<br />
e<strong>in</strong>schließt, ist nicht die Liebe Jesu und<br />
führt wie<strong>der</strong>um zur Gespaltenheit. Wahre<br />
Liebe umfasst dagegen gerade auch die<br />
Fe<strong>in</strong>de. <strong>Jesus</strong> liebt nicht um e<strong>in</strong>er persönlichen<br />
Sympathie o<strong>der</strong> auch nur um e<strong>in</strong>es<br />
Verhältnisses willen, <strong>Jesus</strong> liebt unbed<strong>in</strong>gt<br />
und jeden, so wie Gottes Liebe unbed<strong>in</strong>gt<br />
ist und je<strong>der</strong>mann erfasst. (24) E<strong>in</strong>e solche<br />
Liebe zu praktizieren, ist allerd<strong>in</strong>gs politischer<br />
Sprengstoff, und <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er Epoche<br />
<strong>der</strong> Weltgeschichte wurde nach diesen<br />
Grundsätzen gehandelt. Gandhi ist gewiß<br />
die e<strong>in</strong>zige Ausnahme.<br />
<strong>Jesus</strong> ist nicht Vertröster, son<strong>der</strong>n Friedensstifter,<br />
nicht Despot, son<strong>der</strong>n Bru<strong>der</strong>.<br />
Er will ke<strong>in</strong>e Harmonie <strong>des</strong> Neuen im Gefüge<br />
<strong>des</strong> Alten, denn „Neuer We<strong>in</strong> gehört <strong>in</strong><br />
neue Schläuche“ (25) . <strong>Die</strong>se <strong>Ethik</strong> ist alles<br />
an<strong>der</strong>e als weltfremd, sie ist weltverän<strong>der</strong>nd.<br />
Es ist nicht Jesu Anliegen, religiöse<br />
und juristische Traditionen über Bord zu<br />
werfen, doch sie müssen sich auf ihren<br />
S<strong>in</strong>n h<strong>in</strong> prüfen lassen und h<strong>in</strong>terfragt<br />
werden. Damit ist e<strong>in</strong> weitere ethischer<br />
Grundsatz Jesu angesprochen: In allem ist<br />
unbed<strong>in</strong>gt die S<strong>in</strong>nfrage zu stellen. Politik,<br />
Tradition und Religion s<strong>in</strong>d nicht Selbstzweck,<br />
son<strong>der</strong>n dienend und damit <strong>in</strong> den<br />
<strong>Die</strong>nst <strong>des</strong> Menschen zu stellen. Sie müssen<br />
auf ihn h<strong>in</strong> ihren S<strong>in</strong>n offenbaren. Der<br />
Mensch lebt we<strong>der</strong> für das Gesetz, noch<br />
für den Tempel, beide aber existieren um<br />
<strong>des</strong> Menschen willen.<br />
Doch die Gegenwart zur Jahrtausendwende<br />
hat sich ihr Goldenes Kalb geschaffen<br />
- e<strong>in</strong>en neuen Gott und e<strong>in</strong>e neue<br />
Religion, die nun den Menschen <strong>in</strong> ihre<br />
<strong>Die</strong>nerschaft zw<strong>in</strong>gen: <strong>der</strong> Gott heißt Profit,<br />
und se<strong>in</strong>e Religion ist die Ökonomie.<br />
Ihre Jünger leben nach den Gesetzen <strong>von</strong><br />
Marktwirtschaft und Geldverdienen. In<br />
ihrer Religion verdrängt die Ware das Wahre,<br />
betet <strong>der</strong> Mensch zu Mammon und<br />
bittet um wirtschaftliches Wachstum. Für<br />
<strong>Jesus</strong> und den Christenglauben ist <strong>in</strong> dieser<br />
Welt ke<strong>in</strong> Platz, denn „es ist leichter, dass<br />
e<strong>in</strong> Kamel durch e<strong>in</strong> Nadelöhr geht, als dass<br />
e<strong>in</strong> Reicher <strong>in</strong>s Reich Gottes kommt“ (26) .<br />
<strong>Die</strong> heutige Menschheit verfügt erstmals<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> Weltgeschichte über e<strong>in</strong>e militärische<br />
Kapazität, die die Möglichkeit eröffnet,<br />
die Geschichte <strong>der</strong> Welt zu beenden.<br />
E<strong>in</strong> atomarer Holocaust würde aber nicht<br />
nur das Leben <strong>der</strong> etwa 6 Milliarden Menschen<br />
<strong>der</strong> Gegenwart beenden, <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em<br />
Gefolge steht auch die auch Auslöschung<br />
<strong>von</strong> Zukunft und Vergangenheit, <strong>von</strong> Visionen<br />
und Rückschau, <strong>von</strong> Entwicklung<br />
und Er<strong>in</strong>nerung. Nicht <strong>der</strong> <strong>in</strong>dividuelle Tod<br />
ist das Schicksal <strong>der</strong> Atombombengesellschaft,<br />
es ist dies <strong>der</strong> ganzheitliche, <strong>der</strong><br />
kollektive Tod. Und dieser Tod steht nicht<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> Tradition göttlicher Apokalypsen<br />
und religiöser Endzeitstimmungen, er ist<br />
„hausgemacht“ <strong>von</strong> Menschen, die sich<br />
selbst an die Stelle Gottes setzen zu können<br />
glauben. <strong>Die</strong> vom Menschen geschaffene<br />
Endzeitstimmung ist damit gottlos,<br />
die Beendigung <strong>der</strong> Schöpfung liegt <strong>in</strong><br />
Menschenhand.<br />
Daß es dazu kommen konnte, „ist das<br />
Ergebnis e<strong>in</strong>er gegen die Natur gerichteten<br />
kompensatorischen Aktivität“ (David Carver)<br />
(27) . Was nicht natürlich gelebt wird -<br />
Liebe, Sexualität, Religion, Vertrauen etc. –<br />
schreit nach Kompensation, die auch<br />
prompt durch das Streben nach Geld und<br />
Macht e<strong>in</strong>setzt. Der Gipfel und die Perversion<br />
e<strong>in</strong>es solchen kompensatorischen<br />
Lebens ist die Atombombe.<br />
Welche Chance zeigt nun die <strong>Ethik</strong> Jesu<br />
für e<strong>in</strong> gesellschaftliches Überleben auf<br />
Zunächst gilt es, unsere Zerrissenheit zu<br />
erkennen, und das Böse nicht im an<strong>der</strong>en<br />
zu suchen o<strong>der</strong> auf ihn zu projizieren –<br />
denn „was siehst du den Splitter <strong>in</strong> de<strong>in</strong>es<br />
Bru<strong>der</strong>s Auge und nimmst nicht den Balken<br />
<strong>in</strong> de<strong>in</strong>em Auge wahr“ (28) Das Bewusstse<strong>in</strong><br />
unserer ganz persönlichen Schuldigkeit<br />
alle<strong>in</strong> kann zu e<strong>in</strong>er Umkehr führen. Also<br />
„Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet.“<br />
(29) <strong>Die</strong>se Auffor<strong>der</strong>ung ist gerichtet<br />
an alle, die ihre weiße Weste zur Schau<br />
stellen wollen. Spielen wir uns also nicht<br />
zu selbsternannten Richtern auf und arbeiten<br />
wir statt <strong>des</strong>sen am Abbau <strong>von</strong><br />
Vorurteilen. Denn <strong>der</strong> friedlose Zustand<br />
unserer Welt f<strong>in</strong>det nicht zuletzt <strong>in</strong> unser<br />
aller moralischen Überheblichkeit gegenüber<br />
An<strong>der</strong>sdenkenden se<strong>in</strong>e Ursache.<br />
Mart<strong>in</strong> Buber br<strong>in</strong>gt Jesu <strong>Ethik</strong> <strong>in</strong> dieser<br />
H<strong>in</strong>sicht auf den Punkt: „Liebe de<strong>in</strong>en<br />
Nächsten, er ist wie du.“ (30) <strong>Die</strong> Gleichartigkeit<br />
unserer Mitmenschen sollte Grund<br />
genug se<strong>in</strong>, sie als Geschöpfe Gottes und<br />
damit als liebenswert anzunehmen.<br />
E<strong>in</strong>er so verstandenen Fe<strong>in</strong><strong>des</strong>liebe verfolgt<br />
nicht den Anspruch, jedweden Streit<br />
aus <strong>der</strong> Welt zu räumen o<strong>der</strong> menschlichen<br />
Aggressionen vorzubeugen. Sie ist<br />
allerd<strong>in</strong>gs <strong>der</strong> Versuch e<strong>in</strong>er zivilisierten<br />
Streitkultur ohne Blut und Drohungen.<br />
Über Gegensätze soll nicht <strong>der</strong> Schleier<br />
<strong>des</strong> Verwischens gebreitet, son<strong>der</strong>n die<br />
Brücke <strong>des</strong> Aufe<strong>in</strong>an<strong>der</strong>zugehens geschlagen<br />
werden. E<strong>in</strong>e zivilierte Streitkultur,<br />
die ke<strong>in</strong>e Lobby will o<strong>der</strong> <strong>in</strong> fe<strong>in</strong>dliche<br />
„Lager“ teilt, ist nicht nur politische, son<strong>der</strong>n<br />
auch religiöse Aufgabe, für die Recht<br />
und Gesetz e<strong>in</strong>e Lanze brechen können.<br />
Den Teufelskreis <strong>von</strong> Gewalt und Gegengewalt<br />
durchbricht nur, wer als <strong>in</strong>nerlich<br />
Freier mit se<strong>in</strong>em gegenüber großzügig<br />
verfährt. Damit ist Fe<strong>in</strong><strong>des</strong>liebe nicht Trottelhaftigkeit,<br />
son<strong>der</strong>n Klugheit. Sie bedarf<br />
<strong>des</strong> Mutes zum ersten Schritt und ist vor<br />
diesem H<strong>in</strong>tergrund we<strong>der</strong> ängstliche<br />
Berechnung noch egoistische Rechthaberei,<br />
sie ist gelebte Souveränität.<br />
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JESESVONNAZARETH<br />
E<strong>in</strong> Ausblick <strong>in</strong> die Zukunft.<br />
<strong>Die</strong> Rechtsethik Jesu ist so schlicht, dass<br />
sie <strong>in</strong> ihrer Schlichtheit beängstigend wirken<br />
mag. Sie setzt alle<strong>in</strong> auf die Liebe - die<br />
Liebe zum Nächsten, vermittelt durch das<br />
Wissen, selbst geliebt zu se<strong>in</strong> <strong>von</strong> Gott.<br />
Der Ausgangspunkt <strong>des</strong> ethischen Sollens<br />
ist bei <strong>Jesus</strong> damit e<strong>in</strong>e Größe, die nicht<br />
selbst <strong>in</strong> Recht gegossen, die jedoch den<br />
Auslegungsmaßstab für Gesetzgebung<br />
und -anwendung bilden kann: das Gewissen.<br />
Der Staat und se<strong>in</strong>e Institutionen aber<br />
haben ke<strong>in</strong>e Macht über Glauben und<br />
Gewissen und sollen darum auch nicht<br />
versuchen, Glauben und Gewissen zu<br />
beherrschen und sich gefügig zu machen.<br />
„Erst die Unterscheidung zwischen dem Auftrag<br />
<strong>der</strong> Kirche und dem Auftrag <strong>des</strong> Staates<br />
erlaubt und ermöglicht e<strong>in</strong>e positive Beziehung<br />
zwischen beiden... Weil die demokratische<br />
Staatsform sich selbst solche Grenzen<br />
als verb<strong>in</strong>dlich setzt, kann und soll e<strong>in</strong>e positive<br />
Beziehung <strong>von</strong> Staat und Kirche <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Demokratie auch konkret wahrgenommen<br />
werden.“ (31)<br />
<strong>Die</strong> Rechtsethik Jesu setzt also nicht auf<br />
den Staat, son<strong>der</strong>n auf den e<strong>in</strong>zelnen, wie<br />
auch Gottes Liebe sich auf jeden e<strong>in</strong>zelnen<br />
Menschen bezieht. Bei alledem stellt<br />
sich für das Recht <strong>in</strong> Gegenwart und Zukunft<br />
die Aufgabe, se<strong>in</strong>e Geltung und<br />
Akzeptanz <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft (wie<strong>der</strong>)<br />
auszubauen. Dabei spielt die Ges<strong>in</strong>nung<br />
sowohl <strong>der</strong> Rechtsetzenden wie <strong>der</strong> an<br />
das Recht Gebundenen die Hauptrolle.<br />
<strong>Die</strong> politische Tragweite <strong>des</strong> gegenwärtig<br />
trotz allem praktizierten Nichtachtens <strong>der</strong><br />
sittlichen Ges<strong>in</strong>nung und die Konsequenz<br />
dieses Versuchs, e<strong>in</strong>e Gesellschaft alle<strong>in</strong> im<br />
äußeren Handeln zu befrieden, s<strong>in</strong>d überdeutlich:<br />
• Wir müssen nicht gegen Recht und<br />
Gesetz verstoßen, um dennoch auf<br />
Kosten künftiger Generationen zu leben.<br />
• Wir bereichern uns rechtmäßig am E-<br />
lend <strong>der</strong> Dritten Welt, und nennen dies<br />
„Globalisierte Marktwirtschaft“,<br />
• und wir bereiten nach Recht und Gesetz<br />
militärisch und ökologisch das Ende <strong>der</strong><br />
Schöpfung vor.<br />
Wo dies alles rechtmäßig geschehen kann,<br />
bleibt e<strong>in</strong> gesellschaftlicher Verlust an<br />
Gesetzesakzeptanz nicht aus. Recht und<br />
Gesetz basieren auf <strong>Ethik</strong> und Ges<strong>in</strong>nung.<br />
Wenn über uns die Keule <strong>des</strong> Positivismus<br />
schwebt, wird sie das Recht <strong>in</strong> den <strong>Die</strong>nst<br />
<strong>des</strong> Ungewissens stellen. Zur Kategorie<br />
<strong>des</strong> „Rechtmäßig-Lebens“ muß <strong>der</strong> Aspekt<br />
<strong>der</strong> Liebesges<strong>in</strong>nung, als e<strong>in</strong>es über dem<br />
Recht stehenden Wertes, h<strong>in</strong>zutreten.<br />
<strong>Jesus</strong> <strong>von</strong> <strong>Nazareth</strong> <strong>in</strong> die heutige Zeit zu<br />
übersetzen, bedeutet zu erkennen, dass<br />
alle<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e auf Liebe beruhende Ges<strong>in</strong>nung<br />
sowohl den Geist <strong>des</strong> Wirtschaftens,<br />
als auch Gesetzgebung, Verwaltung und<br />
Rechtsprechung zu e<strong>in</strong>em die Schöpfung<br />
und den Menschen erhaltenden Gut zu<br />
formen vermag. Auch und gerade im<br />
Staat <strong>des</strong> Bonner Grundgesetzes s<strong>in</strong>d die<br />
rechtsethischen Pr<strong>in</strong>zipien Jesu nicht nur<br />
verfassungsrechtlich zulässig, son<strong>der</strong>n im<br />
Interesse <strong>der</strong> gesellschaftlichen Befriedung<br />
im Zeitalter <strong>der</strong> Globalisierung und<br />
damit im Interesse e<strong>in</strong>er Zukunft <strong>des</strong><br />
Menschen geboten.<br />
_________________________________<br />
(1) Johannes 14, 6.; zum Sendungs- und<br />
Vollmachtsanspruch Jesu s. a. Matthäus<br />
12, 50; 17, 5; Lukas 12, 8 f.; Johannes 5,<br />
24; 7, 16.<br />
(2) Matthäus 12, 9 ff.<br />
(3) Lukas 12, 13 f.<br />
(4) Matthäus 5, 21 f.<br />
(5) Matthäus 5, 28.<br />
(6) BVerfGE 93, 1 ff.<br />
(7) Gmür, Grundriß <strong>der</strong> <strong>deutschen</strong> Rechtsgeschichte,<br />
S. 42.<br />
(8) BVerfGE 93, 1 [22].<br />
(9) BVerfGE, ebd.<br />
(10)EKD, Christentum und politische Kultur,<br />
S. 15.<br />
(11)BVerfGE 35, 366 [375].<br />
(12)BVerfGE, ebd.<br />
(13)BVerfGE 93, 1.<br />
(14)vgl. z.B. Benda, NJW 1995, 2470; L<strong>in</strong>k,<br />
NJW 1995, 3353; Isensee, ZRP 1996, 10.<br />
(15)Matthäus 6, 33.<br />
(16)Kaufmann/ Hassemer, E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong><br />
Rechtsphilosophie und Rechtstheorie<br />
<strong>der</strong> Gegenwart, S. 30.<br />
(17)Müller, Theologische Realenzyklopädie,<br />
Band 28, S. 197 ff.<br />
(18)EKD, Geme<strong>in</strong>wohl und Eigennutz,<br />
1991, Rn. 155.<br />
(19)Alt, Frieden ist möglich, S. 23.<br />
(20)Matthäus 7, 26.<br />
(21)Alt, Frieden ist möglich, S. 30.<br />
(22)Alt, Frieden ist möglich, S. 28.<br />
(23)Paulus <strong>in</strong> Galater 6, 7.<br />
(24)vgl. z.B. Paulus <strong>in</strong> 2. Kor<strong>in</strong>ther 13, 13;<br />
Römer 5, 8.<br />
(25)Matthäus 9, 14.<br />
(26)Matthäus 19, 24.<br />
(27)Alt, Frieden ist möglich, S. 32.<br />
(28)Matthäus 7, 4.<br />
(29)Matthäus 7, 1.<br />
(30)Alt, Frieden ist möglich, S. 87.<br />
(31)EKD, Evangelische Kirche und freiheitliche<br />
Demokratie, S. 51.<br />
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