Leben mit - Deutsches Down-Syndrom InfoCenter
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Ich habe meine eigene Zeit!<br />
Probleme im Umgang <strong>mit</strong> „Zeit“ können Ursache von<br />
störenden Verhaltensweisen sein. Genauer definiert, ein<br />
schlecht entwickeltes Zeitkonzept führt zu einem Gefühl<br />
der Orientierungslosigkeit in der Zeit. Die Unsicherheit<br />
und das Angstgefühl, die dadurch entstehen, sind bei<br />
vielen Menschen einer der Hauptgründe, sich „anders“<br />
zu verhalten.<br />
Was ist Zeit?<br />
„Zeit kann man weder fühlen noch festhalten,<br />
man kann sie nicht sehen, hören<br />
noch riechen. Sie ist schwer fassbar und<br />
trotzdem ein integraler Bestandteil unser<br />
aller <strong>Leben</strong>. Es ist das ‚Medium‘, in<br />
dem wir leben. Es ist die psychologische,<br />
mentale und emotionale Luft, die<br />
wir einatmen …“ (Ventura 1995). Sie<br />
entspricht den „Rhythmen wiederkehrender<br />
Kreisläufe. Einige davon natürlich:<br />
Tag und Nacht oder die Jahreszeiten.<br />
Andere willkürlich geschaffen: die<br />
Wochentage, die Wochenenden, die Monate<br />
des Jahres. Die Zeitkonzepte sind<br />
sehr abstrakt“ (Mc Clennen, 1991). Konzepte<br />
sowie Vergangenheit, Gegenwart<br />
und Zukunft sind eingebettet in unserem<br />
Verständnis von Zeit. Zeit ist die<br />
Konstante, entlang der wir reisen. Wir<br />
lenken unsere Gedanken zurück, um<br />
nachzudenken über das, was letzte Woche<br />
passierte, und wir richten unsere<br />
Gedanken nach vorne, um zu überlegen,<br />
was wohl nächste Woche passieren<br />
wird. Das Reisen entlang der Zeitachse<br />
beinhaltet beides, das Sich-Erinnern<br />
und das Vorausdenken. Ohne Zeitkonzepte<br />
sind jedoch Begriffe wie „jetzt“,<br />
„später“, „morgen“ und „warte“ fast ohne<br />
Bedeutung.<br />
Ohne Zeitkonzept verunsichert<br />
Menschen, die kein Zeitkonzept oder ein<br />
schlecht entwickeltes Zeitkonzept haben,<br />
erleben die Welt häufig als einen<br />
chaotischen Ort, wo eine nie enden wollende<br />
Reihe von Aktivitäten und Ereignissen<br />
willkürlich passiert. Das Gefühl,<br />
keine Kontrolle oder keinen Einfluss auf<br />
diese Aktivitäten und Ereignisse zu haben,<br />
kann überwältigend sein, der Moment,<br />
das Jetzt scheint die einzige Rea-<br />
lität. Zunehmende Ängstlichkeit, ein Gefühl<br />
der Furcht vor etwas, was einen erwartet,<br />
und die Sorgen, wann irgendwelche<br />
Dinge passieren werden, wirken<br />
extrem belastend und können zur<br />
Hauptbeschäftigung dieser Personen<br />
werden. Der Alltag wird ein einziges<br />
beängstigendes Experiment.<br />
Diese Umstände können leicht dazu<br />
führen, darauf zu beharren, bestimmte<br />
Routinen strikt einzuhalten. Sie können<br />
aber auch zu auflehnendem oder ritualisiertem<br />
Verhalten, zu Aggression und<br />
sogar zu selbstschädigendem Verhalten<br />
führen. Oft sind sie die einzige Möglichkeit<br />
für die jeweilige Person, ihre Ängste<br />
unter Kontrolle zu halten. Es ist nicht<br />
verwunderlich, dass diese Menschen<br />
auf alternativen Wegen versuchen, die<br />
Aktivitäten und Ereignisse ihres Alltags<br />
zu beherrschen, zu kontrollieren oder<br />
vorherzusagen. Allerdings sind es genau<br />
diese alternativen Lösungen, die<br />
wir als „herausfordernde, unerwünschte<br />
Verhaltensweisen“ einstufen.<br />
Wie kann ein Zeitkonzept<br />
entwickelt werden?<br />
Die Frage bleibt: Was kann man tun?<br />
Als Teil eines gut durchdachten, umfassenden<br />
Förderplans müssen effektive<br />
Strategien entwickelt werden, die es<br />
dem Menschen ermöglichen, einerseits<br />
ein Zeitkonzept zu entwickeln, und andererseits<br />
ihm Wege aufzeigen, wie er<br />
die Kontrolle über die Dinge, die sich in<br />
seinem täglichen <strong>Leben</strong> ereignen,<br />
behält. Er muss wissen, was er wann erwarten<br />
kann, um so das Gefühl, „alles<br />
im Griff zu haben“, zu erzeugen. Visuelle,<br />
auditive und technische Hilfs<strong>mit</strong>tel<br />
sind notwendig bei der Entwicklung dieser<br />
Fähigkeiten.<br />
Kein Zeitgefühl<br />
PSYCHOLOGIE<br />
Kann man bei Kindern und Jugendlichen<br />
<strong>mit</strong> <strong>Down</strong>-<strong>Syndrom</strong> auch Probleme<br />
<strong>mit</strong> der Zeit feststellen?<br />
Wir wissen, dass das Zeitgefühl der<br />
Kinder häufig nicht sehr gut ist. Wie<br />
spät es ist, wie lang etwas dauert, wann<br />
es 8 Uhr ist oder wie lang es dauert, bis<br />
es übermorgen oder nächste Woche ist,<br />
können kleine, aber auch größere Kinder<br />
schlecht oder gar nicht einschätzen.<br />
Häufig verbinden die Kinder <strong>mit</strong> einem<br />
bestimmten Tag eine bestimmte<br />
Tätigkeit (z.B. am Montag ist Turnen).<br />
Es wird schwierig, wenn am Montag<br />
noch etwas anderes ansteht, z.B. der<br />
Besuch bei einer Tante. Das Kind wehrt<br />
sich: Montag, das geht nicht, denn da<br />
hat es ja schon Turnen. Dass die beiden<br />
Ereignisse nichts <strong>mit</strong>einander zu tun<br />
haben, dass beides am Montag stattfinden<br />
kann, ist dem Kind nicht klar. Es ist<br />
verunsichert, wird unruhig und unglücklich:<br />
Sein Programm kommt durcheinander.<br />
Es fehlt dem Kind das Gefühl für die<br />
Zeit. Dabei ist die Zeit eine wichtige<br />
Richtschnur, nach der wir unser <strong>Leben</strong><br />
einrichten. Ohne ein Gefühl dafür, wie<br />
viel Zeit ich für etwas brauche und über<br />
wie viel Zeit ich verfügen kann, ist es<br />
In dem schwedischen<br />
Film „Martina“ antwortet<br />
die junge Frau <strong>mit</strong><br />
<strong>Down</strong>-<strong>Syndrom</strong> auf die<br />
Frage: „Was fällt dir am<br />
schwersten?“ „Es fällt<br />
mir schwer, an die Zukunft<br />
zu denken und<br />
auch an die Vergangenheit.<br />
An die Zeit überhaupt.“<br />
„Ist die Zeit so schwer<br />
zu verstehen?“<br />
„Ja, ich hasse die Zeit.<br />
Ich würde gerne ohne<br />
die Zeit leben.“<br />
<strong>Leben</strong> <strong>mit</strong> <strong>Down</strong>-<strong>Syndrom</strong> Nr. 40, Mai 2002 29