4 * rené Girard (*1923) lehrte an der stanford universität in Kalifornien als Literaturwissenschaftler und Kulturanthropologe und zählt derzeit zu den bedeutendsten religionsphilosophen. zuletzt auf deutsch erschienen sind u.a. „Gewalt und religion“ (Berlin: matthes & seitz 2010) und „shakespeare: theater des neides“ (münchen: hanser 2011). renÉ Girard * mythos und ritual bei shakespeare: „ein sommernachtstraum“ die eröffnungsszene im sommernachtstraum lässt den handlungsverlauf einer gewöhnlichen Komödie erwarten. ein Junge und ein mädchen lieben einander. ein missgünstiger alter Vater versucht, die beiden zu trennen und ruft dafür die höchste autorität des Landes zu hilfe, theseus, den herzog von athen. sagt sie sich von <strong>Lysander</strong> nicht los, bleibt hermia nur der tod oder das Kloster. sobald dieses furchterregende urteil verkündet ist, verabschieden sich die Vaterfiguren und überlassen die Liebenden sich selbst. diese stürzen sich in ein duett über die hindernisse, die sich der Liebe entgegenstellen: altersunterschiede, gesellschaftliche Bedingungen und nicht zuletzt der von autoritäten ausgeübte zwang. die beiden jugendlichen opfer bereiten gemächlich und schwatzhaft ihre Flucht vor den grausamen tyrannen vor und tauchen schließlich im Wald unter. hermia wird von demetrius verfolgt, diesem wiederum folgt hermias beste Freundin <strong>helena</strong>, deren Liebe demetrius natürlich verschmäht. das erste Paar – hermia und <strong>Lysander</strong> – scheint in seinem Glück von außen bedroht, während das zweite Paar – <strong>helena</strong> und demetrius – von Beginn an darauf besteht, von sich aus unglücklich zu sein und sich immer in die falsche Person zu verlieben. Bald lässt sich erkennen, dass shakespeare diese systematisch selbstzerstörerische Leidenschaft mehr interessiert als das anfangsthema der „wahren Liebe“, die per definition unbesiegbar ist und immer schurkischer Feinde bedarf, wenn sich eine auch nur annähernd dramatische handlung entwickeln soll. sehr schnell stellt sich heraus, dass die selbstzerstö- rerische Leidenschaft die Beziehungen beider Paare dominiert und sie durch ein vierfaches Verwirrspiel treibt, in dem es – sooft die Partner auch gewechselt werden – nie zu gegenseitiger Verliebtheit kommt. zunächst sind die zwei jungen männer in hermia verliebt, doch dann, im Laufe der nacht, wenden sich beide von dem einen mädchen ab und verlieben sich in das andere. das einzig konstante element innerhalb dieser Konfiguration ist die tatsache, dass sich das Begehren mehrerer Figuren auf ein objekt richtet, so als ob den Vieren ihre fortgesetzten rivalitäten wichtiger wären als ihre wechselnden absichten. obwohl das thema „einmischung von außen“ nicht gänzlich fallengelassen wird, gerät es mit der zeit immer weiter in den hintergrund. in der abwesenheit der Vaterfiguren wird diese rolle Puck anvertraut, der unablässig seinen magischen Liebessaft in die „falschen“ augen träufelt. oberon tadelt Puck für seinen Fehler in einem schroffen, emotionsgeladenen monolog, der ironischerweise genau die Verwirrung widerspiegelt, die er zu klären vorgibt. Was hast du da getan? hast dich geirrt! die falschen augen mit dem saft verwirrt! dein missgriff hat den treuen mann verdreht. der Falsche ist’s, der jetzt um Liebe fleht. Wer kann zwischen einer wahren Liebe, die irrt, und einer falschen Liebe, die zur wahren verkehrt wird, unterscheiden? es muss wohl eine ernsthaftere erklärung für die misere der vier Protagonisten geben als die zunehmende hysterie in dieser sommernacht. Bei (i,1) (i,1) genauerem hinsehen zeigt sich im Verhalten der Vier etwas recht systematisches, das in mehr als nur ein paar ironischen anspielungen deutlich wird. der autor weist auf etwas hin, das zwar nie explizit benannt wird, aber überzeugend und schlüssig genug scheint, um genauer beschrieben zu werden. die sommernacht ist eine abfolge sich steigernder Gewalt. ihre heftigen auseinandersetzungen widersprechen jedenfalls – oder gerade nicht? – <strong>helena</strong>s früherem ausdruck grenzenloser Bewunderung für ihre Freundin hermia: dein auge ist sein Leitstern und die töne aus deinem mund sind süßer als der chor der himmelslerchen in des hirten ohr. Wär schönheit Krankheit, sucht ich deine nähe, und steckt mich bei dir an, bevor ich gehe. mein auge wär wie deins, die zunge lieh Von deiner sich die süße melodie. Wär mein die Welt, demetrius nur nicht, ich gäb sie her, hätt ich nur dein Gesicht. <strong>helena</strong>s rede scheint eine seltsame mischung aus quasi-religiöser und zugleich sinnlicher Verehrung zu sein. die letzte zeile fasst die Bedeutung der Passage vortrefflich zusammen: „the rest i’d give to be to you translated.“ – „Würde ich den rest hergeben, um in dich verwandelt (wörtlich: übersetzt) zu werden.“ hier spricht das Begehren, und zwar das Begehren, ein anderer zu sein. da hermia die zuneigung des demetrius besitzt, würde <strong>helena</strong> gerne in hermia „übersetzt“, d. h. in sie verwandelt werden. demetrius hingegen wird kaum erwähnt. das Verlangen nach ihm scheint weniger dringlich als das Verlangen danach, hermia zu sein. dieses Begehren hat seinen ursprung vor allem in der unwiderstehlichen sexuellen anziehungskraft, die hermia anscheinend auf demetrius und alle, die ihr begegnen, ausübt. <strong>helena</strong> beneidet sie um diese sexuelle anziehungskraft: „ zeig mir die Kunst, durch die es dir gelang, dass es ihm so Verstand und herz bezwang.“ <strong>helena</strong> sieht in hermia den magnetischen Pol, der sie selber gerne wäre, da er alles Begehren in ihrer gemeinsamen, kleinen Welt auf sich zieht. mit den anderen drei Figuren verhält es sich nicht anders. sie alle verehren dasselbe erotische absolute, dasselbe ideal der Verführung, das abwechselnd jede Frau bzw. jeder mann in den augen der anderen verkörpert. dieses absolute hat nichts mit konkreten qualitäten zu tun, vielmehr ist es rein metaphysischer natur. obwohl vom Fleischlichen besessen, ist das Begehren gleichsam davon abgetrennt; es ist nicht instinktiv und spontan, es scheint nie genau und sofort zu wissen, auf welches objekt es eigentlich gerichtet ist. um das objekt ausfindig zu machen, kann es sich nicht auf die Freuden des auges und der anderen sinne verlassen. in seiner immerwährenden „noche oscura“ muss das metaphysische Begehren daher auf ein anderes, anscheinend strahlenderes Begehren vertrauen, nach dessen muster es sich formt. Folglich wird das Begehren im sommernachtstraum fortwährend so vom Begehren angezogen, wie im Kapitalismus das Geld vom Geld angezogen wird. natürlich kann man sagen, dass die vier Figuren in die Liebe verliebt sind. das wäre zwar nicht falsch, doch da es „die Liebe“ und „das Begehren“ in einem allgemeinen sinn nicht gibt, würde diese Formulierung den entscheidenden Punkt verschleiern, nämlich dass es zwangsläufig eifersucht und Konflikte mit sich bringt, wenn ein einziges objekt von mehreren mimetisch (nachahmend) begehrt wird. Borgen wir einander laufend unsere sehnsüchte und erlauben wir unseren jeweiligen Begierden, sich auf dasselbe objekt zu beziehen, werden wir als individuen immer in Konflikte geraten. der erfolgreiche rivale verkörpert unweigerlich das erotische absolute. <strong>helena</strong> wird zwangsläufig zwischen hass und Bewunderung für hermia hin- und hergerissen. mimetisches Begehren macht harmonische Beziehungen unmöglich. Bei shakespeare wird das sehr deutlich, aber aus irgendeinem Grund will niemand das hören. darin ähneln die zuschauer den Liebenden, die unaufhaltsam von der „wahren Liebe“ reden, aber offensichtlich keinen Wert darauf legen, den mechanismus ihrer eigenen Gefühle zu verstehen. die eigentlichen hindernisse, die sich der Liebe in den Weg stellen, liegen nicht außerhalb des verzauberten Kreises der Liebenden, sondern jeder einzelne von ihnen ist ein hindernis für die anderen in diesem spiel der nachahmung und rivalität. dieses spiel der entfremdung gleicht einer beinahe tranceartigen Besessenheit. die äußeren hindernisse sind eine illusion – eine oftmals durchschaubare, verräterische Verschleierung der Wirklichkeit – so konstruiert, dass sie als allegorie dienen kann. manchmal muss nicht einmal etwas verändert werden, um von der Wahrheit zur Lüge und wieder zurück zur 5