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EMMENEGGER, SUSAN/ GEISSELER, ROBERT, Ausgewählte Fragen der SVG-Haftpflicht, in:<br />
Susan Emmenegger/Franz Werro (Hrsg.), Strassenverkehrsrechtstagung 2004,<br />
Freiburg 2004, S. 5-48.<br />
Departement für Privatrecht an der Universität Freiburg<br />
Susan Emmenegger/Franz Werro (Hrsg.)<br />
Strassenverkehrsrechts-Tagung<br />
Universität Freiburg<br />
11./12. März 2004<br />
Tagungsleitung<br />
Susan Emmenegger
ISBN 3-9522852-0-X<br />
Diese Unterlage wurde vom Departement für Privatrecht der Universität Freiburg erstellt. Die<br />
Tagungsleitung dankt Herrn lic. iur. Martin Hofer für die wertvolle Mitarbeit.
Strassenverkehrsrechts-Tagung 2004<br />
Universität Freiburg<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
Ausgewählte Fragen der SVG-Haftung..................................................................................... 3<br />
S. Emmenegger/R. Geisseler<br />
Die Sanktionierung von Verkehrsdelikten nach der Strafrechtsreform .............................. 65<br />
F. Riklin<br />
Von der Vision Zero zur neuen Strassen-Verkehrssicherheitspolitik ................................ 105<br />
Y. Schreier<br />
Die Neuregelung der Fahrberechtigung ................................................................................ 125<br />
A. Roth<br />
Abschied vom Haftungsprivileg (Art. 44 UVG) .................................................................... 143<br />
B. Kahil-Wolff<br />
No Fear, No Fun: Adventure Sport und Haftpflichtrecht ................................................... 157<br />
W. Fellmann<br />
Schadensschätzung und Reservierung .................................................................................. 161<br />
M. Schaetzle/S. Weber<br />
Der Tierschaden ...................................................................................................................... 183<br />
R. Brehm<br />
Die neuen Rechte des Halters eines getöteten oder verletzten Tieres –<br />
Wie neu sind sie wirklich ...................................................................................................... 193<br />
G. Chappuis<br />
Versicherungsaufsicht im Umbruch: Die Revision des VAG .............................................. 203<br />
H. Gschwind<br />
Skater, Roller, Blader: Rechtlos oder ruchlos Zehn Thesen zum Verkehrsopferschutz<br />
bei Unfällen mit nicht motorisierten Verkehrsteilnehmern ................................... 207<br />
S. Fuhrer<br />
Neueste Urteile ......................................................................................................................... 225<br />
A. Roth/M. Müller-Chen/F. Riklin
Abkürzungsverzeichnis<br />
Abkürzungsverzeichnis<br />
a.A.<br />
anderer Ansicht<br />
a.a.O.<br />
am angegebenen Ort<br />
AB<br />
Amtsbericht<br />
Abs.<br />
Absatz<br />
AHVG Bundesgesetz vom 20. Dezember 1946 über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (SR<br />
831.10)<br />
AJP<br />
Aktuelle juristische Praxis<br />
AGVE<br />
Aargauische Gerichts- und Verwaltungsentscheide<br />
altUVG Bundesgesetz vom 20. März 1981 über die Unfallversicherung (UVG), Stand zum Zeitpunkt<br />
des Inkrafttretens am 1.1.1984 (AS 1982 1676)<br />
a.M.<br />
anderer Meinung<br />
Amtl. Bull NR Amtliches Bulletin der Bundesversammlung. Nationalrat<br />
AR<br />
Appenzell Ausserrhoden<br />
Art.<br />
Artikel<br />
AS<br />
Amtliche Sammlung der eidgenössischen Gesetze<br />
ASTRA Bundesamt für Strassen<br />
AT<br />
Allgemeiner Teil<br />
ATSG<br />
Bundesgesetz vom 6. Oktober 2000 über den Allgemeinen Teil des<br />
Sozialversicherungsrechts (SR 830.1)<br />
Aufl.<br />
Auflage<br />
AVB<br />
Allgemeine Versicherungsbedingungen<br />
BBl<br />
Bundesblatt der Schweizerischen Eidgenossenschaft<br />
Bd.<br />
Band<br />
BGE<br />
Entscheidungen des schweizerischen Bundesgerichts, Amtliche Sammlung. Generell:<br />
Bundesgerichtsentscheid<br />
BGer<br />
Bundesgericht<br />
BJM<br />
Basler juristische Mitteilungen<br />
BS<br />
Basel-Stadt<br />
bspw.<br />
beispielsweise<br />
BV Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (SR 101)<br />
BVG<br />
Bundesgesetz vom 25. Juni 1982 über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und<br />
Invalidenvorsorge (SR 831.40)<br />
bzw.<br />
beziehunsweise<br />
ca.<br />
circa<br />
CP Code pénal suisse du 21 décembre 1937 (SR 311.0)<br />
cm<br />
Zentimeter<br />
cm 3<br />
Kubikzentimeter<br />
ders.<br />
derselbe<br />
dies.<br />
dieselbe<br />
Diss.<br />
Dissertation<br />
E. Erwägung<br />
EFKO<br />
Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt der Armee<br />
EHG<br />
Bundesgesetz vom 28. März 1905 über die Haftpflicht der Eisenbahn- und<br />
Dampfschiffahrtsunternehmungen und der schweizerischen Post<br />
EJPD<br />
Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement<br />
EKHG<br />
(österreichisches) Eisenbahn- und Kraftfahrzeughaftpflichtgesetz<br />
EMRK Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten<br />
(SR 0.101)<br />
etc.<br />
et cetera<br />
EU<br />
Europäische Union<br />
EGV<br />
Entscheide der Gerichts- und Verwaltungsbehörden des Kantons Schwyz<br />
EVG<br />
Eidgenössisches Versicherungsgericht<br />
EWR<br />
Europäischer Wirtschaftsraum<br />
f./ff.<br />
und folgende (Seite/n)<br />
FABER Fahrberechtigungsregister<br />
I
Abkürzungsverzeichnis<br />
FäG<br />
Fahrzeugähnliche Geräte<br />
Fn.<br />
Fussnote<br />
gl. M.<br />
gleicher Meinung<br />
GVP<br />
Gerichts- und Verwaltungspraxis (des Kantons St. Gallen bzw. des Kantons Zug)<br />
HAVE<br />
(Zeitschrift für) Haftpflicht und Versicherung<br />
Hrsg.<br />
Herausgeber/Herausgeberin/Herausgebende<br />
KGer<br />
Kantonsgericht<br />
km/h<br />
Stundenkilometer (auch km/Std.)<br />
i.S.<br />
im Sinne<br />
IVG Bundesgesetz vom 19. Juni 1959 über die Invalidenversicherung (SR 831.20)<br />
i.V.m.<br />
in Verbindung mit<br />
JdT<br />
Journal des Tribunaux (auch JT)<br />
LCR Loi du 19 décembre 1958 sur la circulation routière (RS 741.01)<br />
lit.<br />
litera<br />
M oder m Meter<br />
max.<br />
maximal<br />
m.E<br />
meines Erachtens<br />
MFG<br />
Bundesgesetz vom 15. März 1932 über den Motorfahrzeug- und Fahrradverkehr(abgelöst<br />
durch das SVG)<br />
Mio.<br />
Million/Millionen<br />
m.w.N. mit weiteren Nachweisen<br />
N<br />
Note<br />
N o<br />
numéro<br />
n.p.<br />
Nicht publiziert<br />
Nr.<br />
Nummer<br />
NZZ<br />
Neue Zürcher Zeitung<br />
OGer<br />
Obergericht<br />
OR<br />
Bundesgesetz vom 30. März 1911 betreffend die Ergänzung des Schweizerischen<br />
Zivilgesetzbuchs (Fünfter Teil: Obligationenrecht; SR 220)<br />
p. page<br />
PKG<br />
Die Praxis des Kantonsgerichtes von Graubünden<br />
Pra<br />
Die Praxis (des Bundesgerichts)<br />
PS<br />
Pferdestärke/n<br />
RB<br />
Rechenschaftsbericht<br />
RBO<br />
Rechenschaftsbericht des Obergerichts, der Rekurskommission und der Kriminalkammer des<br />
Kantons Thurgau<br />
RDAT<br />
Rivista di diritto amministrativo, Ticino<br />
RFJ<br />
Revue fribourgeoise de jurisprudence<br />
RJJ<br />
Revue jurassienne de jurisprudence<br />
RJN<br />
Recueil de jurisprudence neuchâteloise<br />
Rn.<br />
Randnote<br />
RVJ<br />
Revue valaisanne de jurisprudence<br />
S. Seite<br />
SAKE<br />
Schweizerische Arbeitskräfteerhebung<br />
SchKG Bundesgesetz vom 11. April 1889 über Schuldbetreibung und Konkurs (SR 281.1)<br />
SJ<br />
La semaine judiciaire (auch Sem. Jud oder Semjud)<br />
SJK<br />
Schweizerische Juristische Kartothek<br />
SJZ<br />
Schweizerische Juristenzeitung<br />
sog.<br />
so genannt<br />
SOG<br />
Solothurnische Gerichtspraxis<br />
SR<br />
Systematische Sammlung des Bundesrechts<br />
Sten. Bull NR Amtliches stenographisches Bulletin der Bundesversammlung. Nationalrat<br />
Sten. Bull SR Amtliches stenographisches Bulletin der Bundesversammlung. Ständerat<br />
StGB Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 (SR 311.0)<br />
StVG<br />
Strassenverkehrsgesetz (Deutschland)<br />
SVG Strassenverkehrsgesetz vom 19. Dezember 1958 (SR 741.01)<br />
SVK<br />
Schweizerischer Versicherungskurier<br />
SVZ<br />
Schweizerische Versicherungszeitschrift<br />
SSV Signalisationsverordnung vom 5. September 1979 (SR 741.21)<br />
II
Abkürzungsverzeichnis<br />
SZS<br />
Schweizerische Zeitschrift für Sozialversicherung und berufliche Vorsorge<br />
TCS<br />
Touring club suisse/schweiz/svizzero<br />
u.a.<br />
unter anderem bzw. und andere<br />
u.s.w.<br />
und so weiter<br />
u.U.<br />
unter Umstände<br />
UVG Bundesgesetz vom 20. März 1981 über die Unfallversicherung (SR 832.20 )<br />
UVV Verordnung vom 20. Dezember 1982 über die Unfallversicherung (SR 832.202)<br />
VBS<br />
Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport<br />
v.a.<br />
vor allem<br />
VAG<br />
Bundesgesetz vom 23. Juni 1978 betreffend die Aufsicht über die privaten<br />
Versicherungseinrichtungen (Versicherungsaufsichtsgesetz; SR 961.01)<br />
VE<br />
Vorentwurf<br />
vgl.<br />
vergleiche<br />
vol.<br />
Volume<br />
VPB<br />
Verwaltungspraxis der Bundesbehörden<br />
VRV Verkehrsregelnverordnung vom 13. November 1962 (SR 741.11)<br />
VStGB 3 Verordnung 3 vom 16. Dezember 1985 zum Schweizerischen Strafgesetzbuch (SR 311.03)<br />
VTS<br />
Verordnung vom 19. Juni 1995 über die technischen Anforderungen an<br />
Strassenfahrzeuge (SR 741.41)<br />
VVG Bundesgesetz vom 2. April 1908 über den Versicherungsvertrag (SR 221.229.1)<br />
VVV Verordung über Haftpflicht und Versicherung im Strassenverkehr vom 20. November 1959<br />
(Verkehrsversicherungsverordnung; SR 741.31)<br />
VwVG Bundesgesetz vom 20. Dezember 1968 über das Verwaltungsverfahren (SR 172.021)<br />
VZV<br />
Verordnung vom 27. Oktober 1976 über die Zulassung von Personen und Fahrzeugen zum<br />
Strassenverkehr (SR 741.51)<br />
z.B.<br />
zum Beispiel<br />
ZBJV<br />
Zeitschrift des Bernischen Juristenvereins<br />
ZGB Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 (SR 210)<br />
Ziff.<br />
Ziffer<br />
zit.<br />
zitiert<br />
ZR<br />
Blätter für Zürcherische Rechtsprechung<br />
ZSR<br />
Zeitschrift für Schweizerisches Recht<br />
ZStrR<br />
Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht<br />
ZStW<br />
Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft<br />
z.T.<br />
zum Teil<br />
III
Strassenverkehrsrechts-Tagung 2004<br />
Universität Freiburg<br />
Ausgewählte Fragen der<br />
SVG-Haftung<br />
Susan Emmenegger<br />
Robert Geisseler
S. EMMENEGGER/R. GEISSELER, SVG-Haftung<br />
Inhalt<br />
ERSTER TEIL ................................................................................................................................ 5<br />
I. Die Halterschaft ......................................................................................................... 5<br />
1. Elemente der Halterschaft ....................................................................................... 6<br />
2. Hitparade der Halter-Determinanten ....................................................................... 7<br />
3. Halterschaft im Arbeitskontext ............................................................................... 8<br />
4. Halterschaft im Familienkontext ............................................................................. 9<br />
a) Problemstellung ................................................................................................. 9<br />
b) Auffangkriterien für den Grauzonenbereich .................................................... 11<br />
aa) Technische Verantwortung ....................................................................... 11<br />
bb) Mithalterschaft .......................................................................................... 11<br />
cc) Verwirklichung der Betriebsgefahr .......................................................... 12<br />
dd) Formelle Haltereigenschaft ...................................................................... 13<br />
ee) Eigentum .................................................................................................. 13<br />
5. Ergebnis zur Halterschaft ...................................................................................... 13<br />
II. Der Betrieb ............................................................................................................... 14<br />
1. Grundfälle: Fortbewegung .................................................................................... 14<br />
2. Sonderfall: Stillstehende Fahrzeuge ...................................................................... 15<br />
a) Ausgangslage ................................................................................................... 15<br />
b) Stillstehende Fahrzeuge am Fahrbahnrand ...................................................... 16<br />
c) Stillstehende Fahrzeuge auf der Fahrbahn ....................................................... 17<br />
d) Zeitabhängiger Betriebsbegriff ....................................................................... 17<br />
e) Haftungsbegrenzung über Art. 59 SVG ........................................................... 18<br />
f) Fazit .................................................................................................................. 19<br />
3. Sonderfall: Arbeitsmotorwagen ............................................................................ 19<br />
a) Ausgangslage ................................................................................................... 19<br />
b) Easy Cases ........................................................................................................ 20<br />
c) Hard Cases ....................................................................................................... 20<br />
4. Ergebnis zum Betrieb ............................................................................................ 21<br />
III. Reine Vermögensschäden im SVG......................................................................... 22<br />
1. Der Entscheid Rathgeb .......................................................................................... 22<br />
2. Doktrin: Reine Vermögensschäden de lege lata ................................................... 23<br />
a) Punktueller Regelungsanspruch von Art. 58 Abs. 1 SVG ............................... 23<br />
b) Lückenhaftigkeit Art. 58 Abs. 1 SVG .............................................................. 23<br />
c) Alternativität der Ansprüche ............................................................................ 24<br />
3. Reine Vermögensschäden de lege ferenda ............................................................ 25<br />
4. Zum besonderen Problem der Anwaltskosten ....................................................... 25<br />
5. Fazit ....................................................................................................................... 26<br />
3
S. EMMENEGGER/R. GEISSELER, SVG-Haftung<br />
ZWEITER TEIL ............................................................................................................................ 28<br />
I. Bedeutung und Gewichtung der Betriebsgefahr im Hinblick auf die<br />
Haftungsquoten bei Personenschäden ................................................................... 28<br />
1. Die latente Betriebsgefahr als Haftungsgrund ....................................................... 28<br />
2. Verkehrsopferschutz als Haftungsziel ................................................................... 29<br />
II. Haftungskollisionen und Haftungsquoten ............................................................. 30<br />
1. Allgemeines ........................................................................................................... 30<br />
2. Motorfahrzeughaftung contra Verschuldenshaftung ............................................. 31<br />
a) Im Allgemeinen ................................................................................................ 31<br />
aa) Fälle beidseitigen Verschuldens ............................................................... 32<br />
bb) Fälle mit schuldlosem Halter .................................................................... 33<br />
b) Sonderfälle ....................................................................................................... 33<br />
aa) Haftung gegenüber Kindern ..................................................................... 33<br />
bb) Haftung gegenüber Passagieren ............................................................... 35<br />
c) Problemfälle ..................................................................................................... 37<br />
aa) Haftung des Halters gegenüber dem Lenker seines eigenen Fahrzeugs ... 37<br />
bb) Haftung des Lenkers gegenüber dem Halter ............................................ 38<br />
3. Motorfahrzeughaftung contra milde Kausalhaftung ............................................. 39<br />
a) Kollision mit Werkeigentümerhaftung ............................................................ 39<br />
b) Kollision mit Tierhalterhaftung ........................................................................ 41<br />
c) Kollision mit Haftung des Familienoberhauptes .............................................. 41<br />
4. Motorfahrzeughalterhaftung contra andere Gefährdungshaftung ......................... 42<br />
5. Halter contra Halter ............................................................................................... 42<br />
LITERATUR ................................................................................................................................. 44<br />
ANHANG ...................................................................................................................................... 48<br />
4
S. EMMENEGGER/R. GEISSELER, SVG-Haftung<br />
ERSTER TEIL<br />
Die Bestimmung Art. 58 Abs. 1 SVG lautet wie folgt: „Wird durch den Betrieb eines<br />
Motorfahrzeuges ein Mensch getötet oder verletzt oder Sachschaden verursacht, so haftet der<br />
Halter für den Schaden“. Die Haftung setzt ein Vierfaches voraus: Ein Motorfahrzeug ist in<br />
Betrieb und verursacht dadurch kausal einen Schaden. Rechtsfolge dieses Vorgangs ist, dass<br />
der Halter für den Schaden haftet. Drei dieser Elemente sollen nachfolgend untersucht<br />
werden: Die Halterschaft, der Betrieb und schliesslich der Schaden. Diese Themen sind<br />
sodann weiter einzugrenzen und auf aktuelle Problembereiche zu fokussieren. Im Zusammenhang<br />
mit der Halterschaft sollen die besonderen Probleme im Arbeits- und im Familienkontext<br />
aufgegriffen werden (I). Beim Betrieb liegt der Fokus auf den stillstehenden Fahrzeugen<br />
und den Arbeitsmotorwagen (II). Mit Blick auf den Schaden richtet sich das Augenmerk<br />
auf die Ersatzfähigkeit der sogenannten „reinen Vermögensschäden“ (III).<br />
I. Die Halterschaft<br />
Das Gesetz enthält keine Definition des Halterbegriffs. Die Konkretisierung bleibt Lehre und<br />
Rechtsprechung überlassen 1 . Relevant wird die Frage der Halterschaft vor allem in vier Fällen:<br />
1. Ungenügende Versicherungsdeckung 2 . Die Geschädigte muss für den Restbetrag direkt<br />
gegen die Verantwortlichen vorgehen. Dabei richtet sie ihre Ansprüche mit Vorteil gegen<br />
den kausal haftenden Halter und nicht gegen die verschuldenshaftpflichtige Lenkerin.<br />
2. Fehlende Versicherung. Ist ein Motorfahrzeug in einem Schadensfall impliziert, ohne<br />
dass eine Haftpflichtversicherung abgeschlossen wurde, so wird die Halterfrage für den<br />
Regress relevant. Der nationale Garantiefonds kann gegen den Halter Rückgriff nehmen,<br />
falls das Fahrzeug keine Kontrollschilder hatte (Art. 76 V SVG), der Kanton greift auf den<br />
Halter zurück, wenn die Kontrollschilder bereits abgegeben waren (Art. 77 II SVG).<br />
3. Verletzung der Lenkerin. Die vom Halter verschiedene Lenkerin gilt als Geschädigte im<br />
Sinne des SVG und hat damit einen Direktanspruch gegen den Haftpflichtversicherer (Art.<br />
65 Abs. 1 SVG), der für die Kausalhaftung des Halters einzustehen hat. Handelt es sich<br />
bei der verletzten Lenkerin hingegen gleichzeitig um die Halterin, so stehen ihr keine Ansprüche<br />
gegen ihre eigene Halterversicherung zu 3 .<br />
4. Verletzung des mitfahrenden Halters. Fährt der Halter in seinem eigenen Fahrzeug als<br />
Beifahrer mit und wird er verletzt, so hat er zwar seit der Revision von 1995 einen direkten<br />
Anspruch gegen seine Halterversicherung (Art. 63 Abs. 3 lit. a SVG). Der Anspruch stützt<br />
sich aber nach wie vor auf Art. 41 OR; zudem hat der Halter die Betriebsgefahr seines<br />
Fahrzeugs zu vertreten. Ist die Lenkerin Mithalterin des Fahrzeugs, befindet man sich<br />
nach herrschender Lehre und Rechtsprechung ausserhalb des Kausalhaftungssystems des<br />
1<br />
2<br />
3<br />
Zur doktrinellen Auseinandersetzung mit dem Halterbegriff vgl. die Nachweise bei Giger, Strassenverkehrsgesetz,<br />
177.<br />
Zur ungenügenden Versicherungssumme im aktuellen Recht (CHF 3 Mio. für Personenwagen,<br />
CHF 4 Mio. für Autocars) vgl. Fuhrer, HAVE 2002, 356.<br />
Vgl. Brehm, responsabilité civile automobile, Rn. 41; Keller, Haftpflicht im Privatrecht I, 310;<br />
Schaffhauser/Zellweger; Grundriss Strassenverkehrsrecht II, Rn. 849; Rusconi, responsabilité du<br />
détenteur, 429.<br />
5
S. EMMENEGGER/R. GEISSELER, SVG-Haftung<br />
SVG. Die Ansprüche des verletzten Beifahrer-Mithalters beurteilen sich nach allgemeinem<br />
Deliktsrecht 4 .<br />
Vor allem die beiden letzten Konstellationen zeigen: Halterschaft ist ein Nachteil. Erstens<br />
haften Halterinnen und Halter kausal. Zweitens müssen sie für den Schadensausgleich auf die<br />
Sozialversicherungen zurückgreifen, falls es am Anspruch gegenüber einer fremden Halterversicherung<br />
fehlt (Selbstunfall). Die Sozialversicherung bietet aber wegen des beschränkten<br />
Obligatoriums der Unfallversicherungen und den Höchstgrenzen bei UV und IV im Vergleich<br />
zur Halterversicherung nur einen begrenzten Versicherungsschutz. Drittens müssen sie sich<br />
bei der Festsetzung der Haftungsquoten die Betriebsgefahr ihres Fahrzeugs anrechnen lassen 5 .<br />
Ob Halterschaft vorliegt oder nicht, hat also weitreichende Konsequenzen.<br />
1. Elemente der Halterschaft<br />
Nach konstanter Rechtsprechung gilt als Halter derjenige, auf dessen eigene Rechnung und<br />
Gefahr der Betrieb des Fahrzeugs erfolgt und der zugleich die tatsächliche und unmittelbare<br />
Verfügung darüber besitzt. Die Rechtsprechung legt dem SVG mithin nicht einen formellen,<br />
sondern einen materiellen Halterbegriff zugrunde 6 .<br />
Die Konstanz in der Formulierung steht in keinem Verhältnis zur Varianz der Inhalte, die<br />
in die bundesgerichtliche Halterformel einfliessen und dieser Rechtsfigur ihr jeweiliges<br />
Gesicht verleihen. Das Bundesgericht übt sich in postmodernem Eklektizismus und erklärt,<br />
generell gültige Antworten zur Halterschaft gebe es nicht, vielmehr müsse in jedem Einzelfall<br />
auf die konkreten Umstände abgestellt werden 7 .<br />
Welche Elemente verstecken also sich im schwarzen Hut, aus dem das Bundesgericht seine<br />
jeweiligen Halter und Halterinnen hervorzaubert<br />
– Die effektive Verfügungsmacht. Halterverdächtig ist zunächst diejenige Person, „welche<br />
entscheidet, wer das Fahrzeug wann und unter welchen Umständen benutzen darf.“ 8<br />
– Betriebs- und Unterhaltskosten. Ein Indiz für die Halterschaft liegt vor, wenn die betreffende<br />
Person bereit ist, die aus dem Betrieb eines Fahrzeugs fliessenden Lasten zu tragen.<br />
Wer die Kosten der Ausstattung, des Unterhalts und des Betriebs, die Steuern und Vesicherungsprämien<br />
wenigstens in der Hauptsache trägt, ist halterverdächtig 9 .<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
8<br />
9<br />
BGE 99 II 315 (320). Vgl. auch Brehm, responsabilité civile automobile, Rn. 81; a.M. Keller,<br />
Haftpflicht im Privatrecht I, 284 f.<br />
Dies jedenfalls bei Anwendung der sektoriellen Methode, deren Anwendung bei der Haftung unter<br />
Haltern (Art. 61 Abs. 1 SVG) umstritten ist. Siehe dazu hinten S. 43 (Halter contra Halter).<br />
BGE 129 III 102 (103), m.w.N.; BGE 117 II 609 (613); BGE 92 II 39 (42). So schon die<br />
Rechtsprechung zu Art. 37 MFG, vgl. BGE 70 II 179 (180); BGE 63 II 209 (211); BGE 62 II<br />
138 f.<br />
BGE 117 II 609 (613). Über die Schwierigkeiten und Nachteile des Begriffs des Halters schon<br />
Huber, SJZ (27) 1931, 353 ff.<br />
BGE 4C.208/2002 E. 1.1; BGE 129 III 102 (104); BGE 70 II 179 (180); BGE 62 II 138 (139).<br />
Vgl. auch Oftinger/Stark, Schweizerisches Haftpflichtrecht II/2, § 25 Rn. 92.<br />
So etwa in BGE 117 II 609 (613): Ehemann ist für den Betrieb des Fahrzeugs verantwortlich und<br />
bestreitet dessen Unterhalts- und Betriebskosten. Vgl. auch Brehm, responsabilité civile automobile,<br />
Rn. 54; Oftinger/Stark, Schweizerisches Haftpflichtrecht II/2, § 25 Rn. 91.<br />
6
S. EMMENEGGER/R. GEISSELER, SVG-Haftung<br />
– Das Interesse am Fahrzeug. Halterverdächtig ist schliesslich, wer ein dauerndes Interesse<br />
an der Inverkehrsetzung des Fahrzeugs besitzt: „Die kausale Haftung aus einer Gefährdung<br />
soll tragen, wer den unmittelbaren Nutzen aus dem gefährlichen Betrieb hat.“ 10<br />
Nicht durchzusetzen vermochte sich bislang Hans Giger, der die bundesgerichtliche Formel<br />
so auslegen möchte, dass auf die Betriebsverantwortung, also die Verantwortung für Betriebstauglichkeit,<br />
Betriebsbereitschaft und Betriebssicherheit eines Fahrzeugs, abzustellen<br />
sei 11 . Das Bundesgericht zeigt sich auch in seiner jüngsten Rechtsprechung von der bemerkens-<br />
und bedenkenswerten Argumentation, die sich auf historische, teleologische und normlogische<br />
Auslegungselemente stützt, gänzlich unbeeindruckt 12 .<br />
Unmassgeblich sind sodann gemäss höchstrichterlicher Auffassung die formellen Halterdeterminanten,<br />
namentlich der Eintrag im Fahrzeug- und im Versicherungsausweis 13 . Das ist<br />
zu relativieren. Denn im Regelfall ist die Person, auf deren Namen der Fahrzeugausweis und<br />
der Versicherungsausweis lautet 14 , auch Halterin im haftpflichtrechtlichen Sinne. Diese Dokumente<br />
liefern „ein aus der Erfahrung gewonnenes Indiz dafür, wer nach Art. 58 SVG belangbar<br />
sei.“ 15<br />
Auch das sachenrechtliche Verhältnis spielt für die Determination der Haltereigenschaft<br />
keine überragende Rolle, obwohl im Regelfall der Halter Eigentümer und Besitzer des fraglichen<br />
Fahrzeugs ist 16 .<br />
2. Hitparade der Halter-Determinanten<br />
Die verschiedenen Elemente der Haltereigenschaft sind längst nicht immer in derselben Person<br />
vereint:<br />
– Die Nichte benutzt das Auto ihrer Tante nach Belieben. Die Betriebskosten übernimmt die<br />
Tante 17 .<br />
– Dem Handelsreisenden steht während der Woche der Geschäftswagen zur Verfügung. Das<br />
massgebliche Interesse am Betrieb des Fahrzeugs hat die Firma.<br />
– Der kranke Ehemann ist für seine Mobilität auf die Fahrdienste seiner Ehefrau angewiesen,<br />
die sich um Betrieb und Unterhalt kümmert und als einzige den Wagen fährt. Die Kosten<br />
10<br />
11<br />
12<br />
13<br />
14<br />
15<br />
16<br />
17<br />
BGE 4C.208/2002 E. 1.1.; BGE 129 III 102 (104). Vgl. sodann BGE 92 II 39 (43); BGE 70 II 179<br />
(180); BGE 63 II 209 (211).<br />
Giger, Strassenverkehrsgesetz, 174 ff. So schon Giger/Simmen, Strassenverkehrsgesetz, 154 f.<br />
Vgl. BGE 129 III 102 (104). Dass dem Bundesgericht diese Argumentation vorlag, kann trotz der<br />
Gleichzeitigkeit von Urteilsverkündung und Bucherscheinung (November 2002) unterstellt werden,<br />
da Giger im betreffenden Fall Geschädigtenvertreter war.<br />
Vgl. BGE 4C.208/2002, m.w.N.<br />
Vgl. Art. 4 VVV.<br />
Oftinger/Stark, Schweizerisches Haftpflichtrecht II/2, § 25 Rn. 104. So auch Bussy/Rusconi,<br />
circulation routière, N o 2.5. ad LCR 58; Schaffhauser/Zellweger, Grundriss Strassenverkehrsrecht<br />
II, Rn. 866. Im Ergebnis gleich Giger, Kommentar Strassenverkehrsgesetz, 174, unter Hinweis<br />
auf den Urkundencharakter des Fahrzeugausweises und der damit verbundenen Beweiskraft (Art.<br />
9 ZGB).<br />
Vgl. ZR 41 Nr. 83, 196. Stark, Berner Kommentar, N 52 zu Art. 919 ZGB; Deschenaux/Tercier,<br />
responsabilité civile, § 15 Rn. 69; Endtner, Haftpflicht und Versicherung, 19. Das Gegenteil trifft<br />
allerdings nicht zu: nicht jeder Besitzer des Fahrzeugs auch Halter, vgl. nur Oftinger/Stark,<br />
Schweizerisches Haftpflichtrecht II/2, § 25 Rn. 100.<br />
BGE 63 II 209 (211 f.): Die Nichte ist Halterin. Vgl. auch Endtner, Haftpflicht und Versicherung,<br />
19.<br />
7
S. EMMENEGGER/R. GEISSELER, SVG-Haftung<br />
werden über das Geschäft des Ehemannes finanziert, das seit seiner Krankheit von der<br />
Ehefrau geführt wird 18 .<br />
– Das Gemeinwesen requiriert für wenige Stunden ein privates Fahrzeug für einen katastrophenbedingten<br />
Einsatz. Die reguläre Verfügungsgewalt sowie die Betriebskosten trägt<br />
die Eigentümerin 19 .<br />
Sind die Halterelemente auf verschiedene Personen verteilt, ist eine Gewichtung der Halterdeterminanten<br />
vorzunehmen, um zu entscheiden, bei wem die Halterschaft vorliegt oder ob<br />
allenfalls Mithalterschaft gegeben ist.<br />
In der Hitparade der für die Halterschaft massgeblichen Elemente figuriert die effektive<br />
Verfügungsgewalt über das Fahrzeug gemäss Lehre auf dem ersten Platz 20 . Die Vorrangstellung<br />
ist ihr allerdings nicht in jedem Fall gewiss. So hat etwa das Bundesgericht bei den vorerwähnten<br />
Beispielen die Halterschaft der Nichte bejaht 21 , diejenige der Ehefrau aber verneint<br />
22 .<br />
3. Halterschaft im Arbeitskontext<br />
Im Arbeitskontext kommen Arrangements bezüglich der Nutzung und Finanzierung von Fahrzeugen<br />
in fast beliebiger Varianz vor. Zu den „easy cases“ gehörten schon immer die Folgenden:<br />
– Pauschalbeitrag an die Unterhaltskosten. Auch wenn der Arbeitnehmer den Wagen teilweise<br />
im Interesse der Arbeitnehmerin einsetzt, bleibt er alleiniger Halter 23 .<br />
– Geschäftsauto im Wagenpark. Die Arbeitgeberin verfügt über einen Wagenpark, aus dem<br />
sie die Wagen den einzelnen Mitarbeitenden zuteilt. Sie bleibt alleinige Halterin der Fahrzeuge<br />
24 .<br />
Offen war hingegen im Zeitraum zwischen 1936 25 und 2002 die Frage, ob einem Angestellter<br />
die Haltereigenschaft zukommt, wenn die Arbeitgeberin die Kosten trägt, er aber über das<br />
Auto auch ausserhalb der geschäftlichen Tätigkeit nach seinem Gutdünken verfügen kann.<br />
Das Bundesgericht hat in seinem Entscheid aus dem Jahre 2002 die Haltereigenschaft des Arbeitnehmers<br />
(Generaldirektor) bejaht 26 .<br />
18<br />
19<br />
20<br />
21<br />
22<br />
23<br />
24<br />
25<br />
26<br />
BGE 92 II 39 (42): Der Ehemann ist Halter. Kritik am Entscheid bei Brehm, responsabilité civile<br />
automobile, Rn. 69 (ergebnisorientiert); Oftinger/Stark, Schweizerisches Haftpflichtrecht II/2, § 25<br />
Rn. 123, Fn. 247 (zu weitgehend); Schaffhauser/Zellweger, Grundriss Strassenverkehrsrecht II,<br />
Rn. 872; Stark, Haftpflichtrecht, Rn. 898.<br />
BGE 129 III 410 (414): Das Gemeinwesen ist Halterin.<br />
Brehm, responsabilité civile automobile, Rn. 53; Deschenaux/Tercier, responsabilité civile, § 15<br />
Rn. 65; Gassmann, Energiehaftung, 196 ff.; Bussy, SJK 907, 5; Strebel, Kommentar, N 62 zu Art.<br />
37 MFG.<br />
BGE 63 II 209 (211 f.).<br />
BGE 92 II 39 (43).<br />
Brehm, responsabilité civile automobile, Rn. 76.<br />
OGer BE, Urteil vom 29. September 1933, in : ZBJV 70 (134), 243 f. ; Brehm, responsabilité<br />
civile automobile, Rn. 76.<br />
BGE 62 II 138.<br />
BGE 129 III 102. So schon Oftinger/Stark, Schweizerisches Haftpflichtrecht II/2, § 25 Rn. 119.<br />
8
S. EMMENEGGER/R. GEISSELER, SVG-Haftung<br />
Umstritten war bislang auch, ob einem Angestellten die Haltereigenschaft zukommt, wenn<br />
er das Geschäftsauto für gelegentliche Privatfahrten benutzen darf 27 . Aus dem eben erwähnten<br />
Bundesgerichtsentscheid ist zu schliessen, dass diesfalls die Haltereigenschaft bei<br />
der Arbeitgeberin verbleibt 28 .<br />
Noch nicht höchstrichterlich entschieden ist die minimale Zeitspanne, in der die freie<br />
Verfügbarkeit gegeben sein muss, um die Haltereigenschaft des Angestellten zu bejahen. Das<br />
Bundesgericht hat diese Frage ausdrücklich offen gelassen 29 und sie jedenfalls für den konkreten<br />
Fall bei einer Verfügbarkeit von vier Monaten vor dem Unfall und voraussichtlichen<br />
weiteren drei bis vier Monaten bejaht.<br />
Die Rechtsprechung zur Fahrzeugmiete liefert für die Frage der minimalen Zeitspanne<br />
keine brauchbaren Anhaltspunkte. Bislang hat das Bundesgericht nur entschieden, dass bei<br />
einer Mietdauer von einem halben Tag die Halterschaft des Mieters nicht gegeben sei 30 . Die<br />
Lehre schwankt zwischen drei Tagen 31 , einem Monat 32 und drei Monaten 33 .<br />
Im Arbeitskontext sollte primär auf die voraussichtliche Verfügbarkeit abgestellt werden.<br />
Wer damit rechnet, über einen längeren Zeitraum frei über das Geschäftsauto verfügen<br />
zu können, wird Halter. Dabei scheint ein Zeitraum von drei Monaten angemessen.<br />
Im Ergebnis können dank der erfolgten Präzisierungen in der Rechtsprechung die wichtigsten<br />
Fragen der Haltereigenschaft bei Geschäftsfahrzeugen als geklärt gelten.<br />
4. Halterschaft im Familienkontext<br />
a) Problemstellung<br />
Problemgeladen ist die Frage der Halterschaft im Familienkontext. Hier stehen zwei Konstellationen<br />
im Vordergrund:<br />
– Familie Müller hat ein Auto. Frau Müller fährt nachts auf vereister Strasse und erleidet<br />
einen Selbstunfall.<br />
– Herr und Frau Müller fahren ins Theater. Herr Müller zu Frau Müller: „Fährst Du“ Frau<br />
Müller: „Kein Problem“. Auf der Fahrt kommt es zum Unfall. Beide sind verletzt.<br />
In beiden Fällen ist die Frage der Halterschaft für das Haftungsverhältnis bzw. den Schadensausgleich<br />
von massgeblicher Bedeutung.<br />
– Selbstunfall der Ehefrau. Ist Herr Müller Alleinhalter des Fahrzeugs, so hat Frau Müller<br />
einen Direktanspruch gegen die Haftpflichtversicherung von Herrn Müller. Ist Frau Müller<br />
27<br />
28<br />
29<br />
30<br />
31<br />
32<br />
33<br />
Gemäss Brehm, responsabilité civile automobile, Rn. 76, bleibt die Arbeitgeberin alleinige Halterin.<br />
Anderer Ansicht Bussy, SJK 907, 5; Oftinger/Stark, Schweizerisches Haftpflichtrecht II/2,<br />
§ 25 Rn. 119; Stark, Haftpflichtrecht, Rn. 899.<br />
Vgl. BGE 129 III 102 (103): „Steht das Fahrzeug dem Arbeitnehmer in diesem Fall nicht bloss zu<br />
geschäftlichen Zwecken zur Verfügung und kann er damit nicht bloss gelegentlich private Fahrten<br />
ausführen, sondern im Wesentlichen frei über die Verwendung entscheiden, so wird er zum Halter.“<br />
(Hervorhebung durch die Autorenschaft).<br />
BGE 129 III 102 (106).<br />
BGE 62 II 189 (189 f.); BGE 70 II 179 (180); vgl. auch OGer AR vom 27.5.1957, besprochen in<br />
SJZ (57) 1961, 188 Nr. 62.<br />
Full, Zivilrechtliche Haftung, Rn. 213 zu StVG 7 (Deutschland).<br />
Keller, Haftpflicht im Privatrecht I, 298; Stark, Haftpflichtrecht, Rn. 900.<br />
Brehm, responsabilité civile automobile, Rn. 60 ; Hentschel, Strassenverkehrsrecht, Rn. 16 zu § 7<br />
Abs. 1 StVG (Deutschland).<br />
9
S. EMMENEGGER/R. GEISSELER, SVG-Haftung<br />
Halterin oder Mithalterin des Fahrzeugs, entfällt der Anspruch gegen die Haftpflichtversicherung.<br />
Frau Müller ist für den Schadensausgleich auf ihre Unfallversicherung angewiesen.<br />
– Gemeinsamer Unfall. Beide sind verletzt. Hier ist zu unterscheiden:<br />
– Ist Herr Müller Alleinhalter, so hat er als Passagier zwar seit der SVG-Revision einen<br />
Direktanspruch gegen seine Halterversicherung für seinen Körperschaden (Art. 63 Abs.<br />
3 lit. a SVG i.V.m. Art. 65 Abs. 1 SVG). Die Rechtsgrundlage ist aber die Verschuldenshaftung<br />
gemäss Art. 41 OR. Er muss sich also namentlich die Betriebsgefahr<br />
seines Fahrzeugs anrechnen lassen. Frau Müller als Lenkerin hat dagegen einen<br />
Anspruch gegen die Halterversicherung gestützt auf die Kausalhaftung in Art. 58 SVG.<br />
– Ist Frau Müller Alleinhalterin und lenkt sie das Fahrzeug, hat Herr Müller einen direkten<br />
Anspruch gegen den Haftpflichtversicherer (Art. 65 Abs. 1 SVG). Frau Müller hat<br />
keinen Anspruch gegen ihre eigene Motorhaftpflichtversicherung. Sie ist für den<br />
Schadensausgleich auf ihre Unfallversicherung angewiesen.<br />
– Sind Herr und Frau Müller Mithaltende, so entfällt ihr Anspruch gegen die Halterversicherung.<br />
Zwischen ihnen gilt gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung die Verschuldenshaftung<br />
des Obligationenrechts 34 . Die Rechtsprechung findet überwiegend<br />
Zustimmung 35 .<br />
An den vorerwähnten Beispielen zeigt sich: Die Haltereigenschaft hat haftungstechnisch weitgehende<br />
Konsequenzen. Im Familienkontext wirft die Zweiteilung des Haftungsregimes besondere<br />
Probleme auf, weil sich die Frage nach der Haltereigenschaft oft nicht klar beantworten<br />
lässt:<br />
Wie es schon das gesetzliche Leitbild in Art. 159 ZGB festhält, wahren die Ehepartner das<br />
Wohl der Gemeinschaft in einträchtigem Zusammenwirken. Im informellen, partnerschaftlich<br />
ausgerichteten Beziehungsgewebe zwischen Eheleuten lassen sich die Begriffselemente<br />
der Halterschaft selten mit der gewünschten Eindeutigkeit einer einzigen Person zuweisen.<br />
Gewisse Elemente können die Indizwirkung gänzlich verlieren, so etwa die Betriebs- und<br />
Unterhaltskosten, die regelmässig als Beitrag zum Familienunterhalt im Sinne von Art. 163<br />
ZGB geleistet werden 36 . Aber auch die effektive Verfügungsmacht ist in der partnerschaftlichen<br />
Realität nicht ohne weiteres einem der Ehepartner zuzuordnen. Häufig erfolgt der Gebrauch<br />
in gegenseitiger Absprache („in einträchtigem Zusammenwirken“). Dasselbe gilt für<br />
die Frage des Nutzungsinteresses. Aus dem Fahrzeug ziehen regelmässig beide Ehegatten<br />
einen unmittelbaren Nutzen.<br />
In der Rechtsprechung lässt sich die Tendenz beobachten, bei Halterschaftsfragen im Familienkontext<br />
eine Präsumption der ehemännlichen Halterschaft aufzustellen 37 . Dies mit<br />
34<br />
35<br />
36<br />
37<br />
BGE 99 II 315 (321).<br />
Zustimmend Brehm, responsabilité civile automobile, Rn. 81; Oftinger/Stark, Schweizerisches<br />
Haftpflichtrecht II/2, § 25 Rn. 117 und § 26 Rn. 104; Stark, Haftpflichtrecht, Rn. 895; Schaffhauser/Zellweger,<br />
Grundriss Strassenverkehrsrecht II, Rn. 1086. Kritisch Kummer, ZBJV 1975, 135<br />
f. Ablehnend Keller, Haftpflicht im Privatrecht I, 284 f.<br />
Oftinger/Stark, Schweizerisches Haftpflichtrecht, § 25 Rn. 123.<br />
Besonders deutlich BGE 92 II 39 (43) – Verfügungsmacht der Ehefrau, Betrieb und Unterhalt<br />
durch Ehefrau. Zur kritischen Würdigung des Entscheids durch die Doktrin vgl. oben Fn. 18. Vgl.<br />
wieter BGE 4C.208/2002, Partnerin; Vgl. zudem BGE 117 II 609 (613), Ehefrau; BGE 101 II 133<br />
(136 f.), Geliebte.<br />
10
S. EMMENEGGER/R. GEISSELER, SVG-Haftung<br />
dem (stillschweigenden) Ziel eines möglichst lückenlosen Versicherungsschutzes zugunsten<br />
der Ehefrauen, die – zumindest bei traditioneller Rollenverteilung – nicht unter das Obligatorium<br />
der Unfallversicherung fallen, mit der Folge, dass sich für sie die Halterschaft doppelt<br />
nachteilig auswirkt.<br />
Das Ziel eines lückenlosen Versicherungsschutzes ist an sich unbestritten. Fraglich ist<br />
aber, ob es sich rechtfertigt, das Haftungssystem des SVG auf dieses rechtspolitische Postulat<br />
hin zu „modellieren“ und das SVG als Kompensationsinstrument für die fehlende Sozialversicherung<br />
einzusetzen. Die Haftpflichtordnung des SVG soll Schäden, die aus dem Betrieb<br />
eines Motorfahrzeugs entstehen, aus einem Geldfonds ausgleichen, der von einer Risikogemeinschaft<br />
von Autofahrern durch Prämienleistungen aufgebracht worden ist 38 . Es gehört<br />
nicht zu seinen Aufgaben, die Lücke im Sozialversicherungsschutz zu füllen.<br />
Mit Blick auf die praktischen Schwierigkeiten der Bestimmung des Halters oder der Halterin<br />
im familiären Nahbereich muss also nach einem Auffangkriterium gesucht werden, das im<br />
Zweifelsfall über die Halterschaft entscheidet.<br />
b) Auffangkriterien für den Grauzonenbereich<br />
In Lehre und Rechtsprechung werden verschiedene Auffangkriterien vorgeschlagen:<br />
aa) Technische Verantwortung<br />
Angesichts der praktischen Schwierigkeiten der Halterdeterminierung im Familienkontext<br />
wollen Oftinger/Stark auf die technische Verantwortung für das Fahrzeug abstellen. Halter<br />
oder Halterin wäre demnach, wer dafür sorgt, dass der Wagen gewartet und kontrolliert wird,<br />
dass die Winterpneus rechtzeitig montiert und die Abgaskontrollen vorgenommen werden 39 .<br />
Das Abstellen auf die technische Verantwortung läuft in der sozialen Lebenswirklichkeit tendenziell<br />
auf die Präsumption der ehemännlichen Halterschaft hinaus 40 .<br />
Abgesehen davon, dass auch die technische Verantwortung im familiären Beziehungsgeflecht<br />
nicht in jedem Fall eindeutig zuweisbar ist, beschränkt sich diese angesichts des High-<br />
Tech-Charakters der heutigen Motorfahrzeuge effektiv auf die regelmässige Ablieferung in<br />
der Autogarage. Als ausschlaggebendes Kriterium für die Halterschaft scheint daher die technische<br />
Verantwortung wenig sachgerecht.<br />
bb) Mithalterschaft<br />
Naheliegend als Auffangkriterium ist die Annahme der Mithalterschaft der Ehepartner. Lassen<br />
sich Verfügungsmacht, Kostentragung und Nutzen über das Fahrzeug nicht klar zuordnen,<br />
wäre also von der Mithalterschaft auszugehen. Eine solche Auslegung würde sich zudem mit<br />
dem gesetzlichen Leitbild der Ehe decken, wie sie in Art. 159 ZGB festgehalten ist.<br />
Die Überzeugungskraft der Mithalterschaft als Auffangkriterium scheitert an rein praktischen<br />
Überlegungen. Solange das Bundesgericht – unter dem Begleitschutz der<br />
herrschenden der Lehre – Ansprüche unter Mithaltern dem Obligationenrecht unterstellt 41 ,<br />
kann die Mithalterschaft als Auffangkriterium im Ehekontext nicht ernsthaft in Erwägung gezogen<br />
werden: Bei Zweifeln über die Halterschaft wäre sonst jeder gemeinsame Unfall der<br />
Ehepartner vom Haftungssystem des SVG ausgeschlossen.<br />
38<br />
39<br />
40<br />
41<br />
Vgl. Kötz/Wagner, Deliktsrecht, Rn. 377.<br />
Oftinger/Stark, Schweizerisches Haftpflichtrecht, § 25 Rn. 123.<br />
Oftinger/Stark, Schweizerisches Haftpflichtrecht, § 25 Rn. 123.<br />
BGE 99 II 315 (320). Zur Doktrin vgl. oben Fn. 35.<br />
11
S. EMMENEGGER/R. GEISSELER, SVG-Haftung<br />
Rechtsdogmatisch zwingend ist die Auffassung des Bundesgerichts über das Haftungsverhältnis<br />
unter Mithaltern allerdings nicht. Das Bundesgericht argumentierte in seinem Grundsatzentscheid,<br />
es gehe für den Mithalter gleich wie für den Alleinhalter um nichts anderes als<br />
um ausschliesslich selbstverursachte Schadenszufügung an eigener Person und an eigener Sache.<br />
Das aber sei kein Haftungstatbestand des SVG 42 . Diese Rechtsprechung ist schon deshalb<br />
überholt, weil es heute sehr wohl die Konstellation gibt, in der ein Halter gegen seine<br />
eigene Halterversicherung einen Direktanspruch hat: Dies ist der Fall des Halters, der als mitfahrender<br />
Passagier verletzt wird (Art. 63 Abs. 3 lit. a SVG i.V.m. Art. 65 Abs. 1 SVG) 43 .<br />
Ansprüche gegen die eigene Halterversicherung sind also nicht mehr per se ausgeschlossen.<br />
Zudem legt das Bundesgericht seinem Entscheid die Auffassung zugrunde, dass die Mithalter<br />
sich zu einer einzigen Halterperson verschmelzen. Das trifft nicht zu. Vielmehr kommt<br />
jedem Mithalter jeweils die volle Haltereigenschaft zu. Es besteht daher für jeden Mithalter<br />
eine selbständige Haftung und ein selbständiger Versicherungsschutz. Das zeigt sich ohne<br />
weiteres im Aussenverhältnis: Hier würde – bei Ausklammerung des Direktanspruchs gegen<br />
die Versicherung – jeder Mithalter solidarisch für den bei Dritten entstandenen Schaden haften,<br />
und zwar gestützt auf die Kausalhaftung von Art. 58 Abs. 1 SVG. Jeder Mithalter hat also<br />
im Aussenverhältnis die volle Betriebsgefahr zu verantworten, gegen jeden Mithalter besteht<br />
ein eigenständiger Anspruch auf Ersatz des Gesamtschadens. Der Direktanspruch gegen<br />
die Versicherung (Art. 65 Abs. 1 SVG) ändert an dieser Rechtslage nichts; er dient einzig dazu,<br />
das Risiko der Zahlungsunfähigkeit der Halterpersonen auszuschalten. Kommt aber<br />
jedem Mithalter die volle Haltereigenschaft zu, so hat im Schadensfall zwischen Mithaltern<br />
nicht der Mithalter sich selbst, sondern einen anderen Halter geschädigt. Die Haftung beurteilt<br />
sich demzufolge nach Art. 61 Abs. 1 SVG 44 . Wie Keller treffend bemerkt, spielt es<br />
keine Rolle, dass die beiden Halter die Betriebsgefahr aus demselben Fahrzeug beziehen. Die<br />
Haftungskollision nach Art. 61 Abs. 1 SVG entsteht zwar – wie auch dem Wortlaut zu entnehmen<br />
ist – meist unter Beteiligung zweier Fahrzeuge, ist aber rechtlich gesehen ein Zusammenprall<br />
zweier Haftungsgründe 45 .<br />
cc) Verwirklichung der Betriebsgefahr<br />
Sodann könnte man bei Zweifeln über die Halterschaft im Familienkontext darauf abstellen,<br />
wer im konkreten Fall die Verwirklichung der Betriebsgefahr zu verantworten hat. Auffangkriterium<br />
wäre demnach die Eigenschaft als Lenkerin des Unfallwagens.<br />
Dagegen spricht, dass gemäss Grundentscheid des SVG-Gesetzgebers nicht die Lenkerschaft,<br />
sondern die Halterschaft den Bezugspunkt der spezialgesetzlichen Haftungsordnung<br />
bildet 46 . Dieses Argument ist aber sogleich zu relativieren, denn der Grundsatzentscheid des<br />
SVG wird mit der vorgeschlagenen Lösung nicht in Frage gestellt. Es soll nicht die Lenkerin<br />
zum neuen Haftungssubjekt des SVG gekürt werden – das wäre angesichts des klaren Wortlauts<br />
des Gesetzes auch gar nicht möglich. Wo aber die üblichen Begriffselemente der Halterschaft<br />
zu keinem Ergebnis führen, weil Entscheidungsprozesse und Verantwortlichkeiten im<br />
Familienkontext nicht nur faktisch, sondern auch normativ (Art. 159 ZGB!) anders verlaufen,<br />
sollte der Halterbegriff um ein weiteres Element – die Lenkerschaft – ergänzt werden.<br />
42<br />
43<br />
44<br />
45<br />
46<br />
BGE 99 II 315 (320).<br />
BBl 1995 I, 49 ff. Vgl. weiter Vogel, SVZ 64 (1996), 26.<br />
So auch Keller, Haftpflicht im Privatrecht I, 285.<br />
Keller, Haftpflicht und Privatrecht I, 285.<br />
Das Bundesgericht verneint in ständiger Rechtsprechung die Relevanz der konkreten Betriebsgefahr<br />
als Kriterium für die Haftungsbegründung oder den Haftungsumfang, vgl. nur BGE 117 II<br />
609 (620), m.w.N.<br />
12
S. EMMENEGGER/R. GEISSELER, SVG-Haftung<br />
Für diese Lösung spricht ihre Praktikabilität. Die Feststellung der Lenkerschaft wird<br />
nämlich im Einzelfall wenig Schwierigkeiten bereiten. Zweitens erscheint das Abstellen auf<br />
die Lenkerschaft auch deshalb sachgerecht, weil damit dem Leitgedanken der Haftungsordnung<br />
im SVG Rechnung getragen wird, wonach haften soll, wer die Betriebsgefahr zu verantworten<br />
hat. Ist im familiären Kontext die Halterschaft unklar und hat ein Familienmitglied<br />
die Betriebsgefahr konkret und nachweisbar zu verantworten, so soll dies ausschlaggebend<br />
sein für die Bejahung der Halterschaft.<br />
dd) Formelle Haltereigenschaft<br />
Abstellen könnte man im Zweifelsfall sodann auf die im Fahrzeug- und Versicherungsausweis<br />
eingetragene Person. Zwar wird das Bundesgericht nicht müde zu betonen, dass dem SVG<br />
nicht ein formeller, sondern ein materieller Halterbegriff zugrunde liegt, weshalb es keine<br />
Rolle spiele, wer im Fahrzeug- oder im Versicherungsausweis als Halter eingetragen sei 47 .<br />
Indessen wird zu recht darauf hingewiesen, dass sich das Bundesgericht hier die Sache etwas<br />
leicht macht. Ein Fahrzeugausweis ist eine öffentliche Urkunde, dem gemäss Art. 9 ZGB die<br />
Beweiskraft für die Richtigkeit der darin verurkundeten Tatsachen zukommt. Die Absage des<br />
Bundesgerichts hinsichtlich der Massgeblichkeit des Fahrzeugausweises ist – jedenfalls in<br />
seiner Pauschalität – fragwürdig 48 .<br />
Im übrigen würde es der bisherigen bundesgerichtlichen Praxis nicht widersprechen, wenn<br />
im Zweifelsfall – d.h. wenn die üblichen materiellen Halterelemente zu keinem klaren Ergebnis<br />
führen – der Fahrzeugausweis den Ausschlag für die Halterschaft gibt. Auf jeden Fall<br />
wäre diese Lösung einer Vorgehensweise vorzuziehen, die ergebnisorientiert die einzelnen<br />
Anhaltspunkte der Halterschaft derart gewichtet, dass es zur Alleinhalterschaft des einen oder<br />
anderen Ehepartners kommt.<br />
ee) Eigentum<br />
Als Auffangdeterminante könnte man schliesslich darauf abstellen, wer Eigentümerin oder<br />
Eigentümer des Fahrzeugs ist. Auch hier gilt: Lehre und Rechtsprechung lehnen die Massgeblichkeit<br />
des sachenrechtlichen Elements für die Bestimmung der Halterschaft grundsätzlich<br />
ab 49 . Als Auffangkriterium wäre dieses Element aber deshalb attraktiv, weil es im<br />
Regelfall leicht feststellbar ist und es der Lebenserfahrung („wer zahlt, befiehlt“) entspricht,<br />
dass mit der Eignerschaft auch eine umfassende Verfügungsmacht verbunden ist.<br />
5. Ergebnis zur Halterschaft<br />
Die Frage der Halterschaft gibt auch heute noch Anlass zu Überlegungen. Nachdem das Bundesgericht<br />
in seiner jüngeren Rechtsprechung die zentralen Fragen im Arbeitskontext gelöst<br />
hat, bleibt als problematischer Bereich vor allem das familiäre Umfeld. Die Schwierigkeiten,<br />
die sich hinsichtlich der Bestimmung der Haltereigenschaft ergeben, würden teilweise entschärft,<br />
wenn man die bisherige Sicht auf die Haftungsansprüche unter Mithaltenden kritisch<br />
überdenken würde. Gänzlich entschärft würden sie allerdings erst, wenn man sich dazu<br />
durchringen könnte, die Halterversicherung durch eine allgemeine Verkehrsopferschutzversicherung<br />
zu ersetzen. Bis dahin ist die Festlegung einer Auffangdeterminante für die<br />
Halterschaft zu überlegen, die bei Zweifelsfällen das ausschlaggebende Kriterium sein würde.<br />
47<br />
48<br />
49<br />
Zuletzt BGE 4C.208/2002.<br />
So auch Giger, Kommentar Strassenverkehrsgesetz, 174.<br />
Vgl. ZR 41, Nr. 83, 196. Stark, Berner Kommentar, N 52 zu Art. 919 ZGB; Deschenaux/Tercier,<br />
responsabilité civile, § 15 Rn. 69; Endtner, Haftpflicht und Versicherung, 19.<br />
13
S. EMMENEGGER/R. GEISSELER, SVG-Haftung<br />
Dabei bietet es sich an, auf die Lenkerschaft abzustellen, weil diese im Schadensfall ohne<br />
weiteres feststellbar ist (Praktikabilität) und weil die Person, die am Steuer sitzt, die Betriebsgefahr<br />
konkret zu verantworten hat. Auch die formelle Haltereigenschaft erscheint als taugliche<br />
Auffangdeterminante für Zweifelsfälle. Sie stünde im Einklang mit der Beweiskraft, die<br />
Art. 9 ZGB den öffentlichen Urkunden zuweist. Für die Ehepartnerinnen und Ehepartner<br />
wäre zudem nicht nur Rechtssicherheit, sondern auch Autonomie geschaffen, weil sie mit<br />
dem Entscheid über die formelle Halterschaft gleichzeitig die Lösung für den Zweifelsfall<br />
treffen. Dass dabei auch Überlegungen zum möglichst weitgehenden Versicherungsschutz<br />
einfliessen können, ist nicht zu beanstanden. Erwägenswert als Auffangkriterium wäre<br />
schliesslich das Eigentum am Fahrzeug, weil auch dies relativ leicht feststellbar ist und weil<br />
sich nach der Lebenserfahrung mit dem Eigentum auch die Kontrolle über die Nutzung verbindet.<br />
II.<br />
Der Betrieb<br />
Die Gefährdungshaftung von Art. 58 SVG Abs. 1 wird aktiviert, wenn ein Schaden durch den<br />
Betrieb eines Motorfahrzeugs verursacht worden ist. Massgeblich ist mit Blick auf die Teleologie<br />
des Gesetzes das dem Motorfahrzeug eigentümliche Gefahrenmoment, das sich aktualisiert<br />
oder das zumindest nachwirkt. So wurde in den parlamentarischen Beratungen zum<br />
SVG betont, es müssten alle Kräfte mobilisiert werden, „um menschliches Leben und<br />
menschliche Gesundheit gegenüber dem Ansturm der modernen Verkehrstechnik in optimaler<br />
Wiese zu schützen.“ 50 Hat sich die spezielle Betriebsgefahr nicht ausgewirkt, bleibt die Gefährdungshaftung<br />
aus dem Spiel. Neben den Grundfällen des Betriebs (1) sollen nachfolgend<br />
zwei Sonderkonstellationen behandelt werden: Die stillstehenden Fahrzeuge (2) und die<br />
Arbeitsmotorwagen (3).<br />
1. Grundfälle: Fortbewegung<br />
Klare Fälle sind jene, bei denen sich der schädigende Gebrauch eines Motorfahrzeugs bereits<br />
auf den ersten Blick mit der höchstrichterliche Lesart des Betriebsbegriffs decken. Das<br />
Bundesgericht hält sich dabei vordergründig an den sogenannten maschinentechnischen Betriebsbegriff.<br />
Nach dieser Konzeption muss Ursache des beim Unfall entstandenen Personenoder<br />
Sachschadens der Betrieb der maschinellen Einrichtungen des Fahrzeugs sein. Massgeblich<br />
für den Betriebsbegriff ist die besondere (Unfall-)Gefahr, die bei der Aktivierung der<br />
maschinellen Einrichtungen eines Fahrzeugs resultiert 51 . Betrieb ist damit bei blossem Erscheinen<br />
im Verkehr nicht gegeben. Das Bundesgericht hat dieses weiter gefasste, auf dem so<br />
genannten verkehrstechnischen Betriebsbegriff beruhende Begriffsverständnis zumindest in<br />
formeller Hinsicht stets abgelehnt 52 .<br />
Welches sind nun also im Rahmen eines maschinentechnischen Ansatzes die klaren Fälle<br />
von Betrieb Dazu gehören auf jeden Fall die motorisierte Fahrt von Fahrzeugen 53 . Ihr ist<br />
50<br />
51<br />
52<br />
53<br />
Sten. Bull. 1956 NR, S. 285.<br />
Oftinger/Stark, Schweizerisches Haftpflichtrecht II/2, § 25 Rn. 345 ff., 350. Vgl. auch Brehm, responsabilité<br />
civile automobile, Rn. 122.<br />
BGE 114 II 380 (381); BGE 97 II 161 (164 f.); BGE 82 II 43 (47); BGE 72 II 217 (220). Vgl. zur<br />
Geltung des verkehrstechnischen Betriebsbegriffs in Deutschland Hentschel, Strassenverkehrsrecht,<br />
Rn. 5 zu § 7 StVG.<br />
So schon BGE 63 II 267 (269). Zu den einzelnen Gefahrenmomenten bei der Fahrt (je mit wieteren<br />
Hinweisen auf Rechtsprechung und Literatur) Oftinger/Stark, Schweizerisches Haftpflichtrecht<br />
14
S. EMMENEGGER/R. GEISSELER, SVG-Haftung<br />
aufgrund expliziter höchstrichterlicher Stellungnahme auch das bewusste Ausnutzen der<br />
eigenen Schwerkraft gleichzustellen 54 . Schliesslich zählt zu den klaren Fällen des Betriebs<br />
gemeinhin auch das Blenden der Scheinwerfer eines Fahrzeugs 55 . Letzteres erhält aber heute<br />
nicht mehr ungeteilt Zustimmung 56 .<br />
Die klaren Fälle zum Nichtvorliegen des Betriebs ergeben sich durch Invertierung des<br />
Gesagten: Unfälle mit Beteiligung eines Motorfahrzeugs, die sich nicht auf die maschinellen<br />
Einrichtungen desselben zurückführen lassen, stehen ausserhalb des Geltungsbereichs von<br />
Art. 58 Abs. 1 SVG. Als eindeutiges Beispiel kann der Fall des Einklemmens eines Fingers<br />
beim Schliessen der Fahrzeugtür dienen 57 . In solchen Fällen stellt sich die Frage der<br />
(Verschuldens-)Haftung nach Art. 58 Abs. 2 SVG 58 , nicht aber der Gefährdungshaftung nach<br />
Art. 58 Abs. 1 SVG.<br />
2. Sonderfall: Stillstehende Fahrzeuge<br />
Abwechslungsreich gestaltet sich die Anwendung von Art. 58 Abs. 1 SVG bei stillstehenden<br />
Fahrzeugen. Hier wird der Betrieb einmal bejaht, dann aber wieder verneint.<br />
a) Ausgangslage<br />
Verkehr ist Bewegung. Ein stillstehendes Fahrzeug erscheint dabei oft als Hindernis, manchmal<br />
auch als Unfallursache. Obwohl gleichfalls Maschine, ist das stillstehende Fahrzeug in<br />
aller Regel nicht in Betrieb. Es bildet mithin ein Hindernis wie andere unbewegliche Sachen<br />
auch: Tote Masse, wie das Bundesgericht sagt 59 . So waren beispielsweise folgende stillstehende<br />
Fahrzeuge nicht in Betrieb:<br />
– Der Lastwagen, der im Dunkeln unbeleuchtet am Strassenrand stand, woraufhin ein Fahrradfahrer<br />
mit diesem Hindernis kollidierte 60 .<br />
54<br />
55<br />
56<br />
57<br />
58<br />
59<br />
60<br />
II/2, § 25 Rn. 352. Vgl. aber die Annäherung an den verkehrstechnischen Betriebsbegriff in BGE<br />
110 II 423 (424).<br />
BGE 63 II 267 (269 f.). Kritisch zur Beschränkung auf bewusste Ausnutzung der Schwerkraft<br />
Brehm, responsabilité civile automobile, Rn. 129; Bussy, SJK 909, 3 (Fn. 12); Nef, Betrieb des<br />
Motorfahrzeugs, 361 f.<br />
BGE 63 II 267 (269); BGE 78 II 161 (163) und explizit haftungsbegründend in BGE 63 II 339<br />
(342). Zustimmend Oftinger/Stark, Schweizerisches Haftpflichtrecht II/2, § 25 Rn. 361; Brehm, responsabilité<br />
automobile civile, Rn. 140; Keller, Haftpflicht im Privatrecht I, 290; Deschenaux/Tercier,<br />
responsabilité civile, § 15 Rn. 104; Rey, Ausservertragliches Haftpflichtrecht, Rn. 1292.<br />
Kritisch insbesondere Nef, Betrieb des Motorfahrzeugs, 365: Das Blenden der Scheinwerfer vermag<br />
zwar beim plötzlichen Auftauchen des Fahrzeugs den Gegenverkehr zu irritieren. Die Gefahr<br />
ergibt sich aber nur im Verein mit der Fortbewegung des Fahrzeugs, weshalb die Zuordnung zum<br />
Betrieb beim stillstehenden Fahrzeug unangebracht ist; zweifelnd auch schon Bussy, SJK 909, 6<br />
Fn. 34.<br />
BGE 63 II 267 (270); BGE 107 II 269 (271). Für die weitere Kasuistik sei hier auf die Darstellungen<br />
der Standardwerke verwiesen: Keller, Haftpflicht im Privatrecht I, 293 f.; Oftinger/Stark,<br />
Schweizerisches Haftpflichtrecht II/2, § 25 Rn. 365 Ziff. 2.; Schaffhauser/Zellweger, Strassenverkehrsrecht<br />
II, Rn. 1072 f.<br />
Zu den Voraussetzungen Oftinger/Stark, Schweizerisches Haftpflichtrecht II/2, § 25 Rn. 382;<br />
Schaffhauser/Zellweger, Grundriss Strassenverkehrsrecht II, Rn. 1072 ff. Die praktische Relevanz<br />
von Art. 58 Abs. 2 SVG ist gering geblieben. Entweder fehlte es am Tatbestandsmerkmal des<br />
Verschuldens: z.B. BGE 97 II 161 (167 ff.) und BGE 102 II 281 (283 ff.). Oder es fehlte am Tatbestandsmerkmal<br />
des Verkehrsunfalls: z.B. BGE 107 II 269 (276); BGE 114 II 376 (378).<br />
BGE 97 II 161 (166).<br />
BGE 72 II 217 (222 f.).<br />
15
S. EMMENEGGER/R. GEISSELER, SVG-Haftung<br />
– Der am Strassenrand stehende Personenwagen mit (unbeleuchtetem) Anhänger, auf den ein<br />
Motorradfahrer auffuhr 61 .<br />
Der am Strassenrand parkierte Personenwagen mit eingeschalteten Positionslichtern, dessen<br />
gegen die Fahrbahn geöffnete Tür einen Motorradfahrer zu Fall bringt 62 .<br />
– Der Lastwagen, der mit ausgeschaltetem Motor, aber eingeschaltetem Blinker nahe einer<br />
Baustelle anhält. Der Lenker war ausgestiegen, um zu überprüfen, ob er eine gefüllte Mulde<br />
aufladen könne 63 .<br />
– Das Taxi, das mit ausgeschaltetem Motor in einer Strassenausbuchtung vor einem Hotel<br />
anhält, um einen Fahrgast aussteigen zu lassen 64 .<br />
– Der Lastwagen, der am Strassenrand abgestellt ist, um Waren auf- und abzuladen. Ein<br />
nachfolgender Autobus kollidiert aufgrund des Hindernisses mit einem entgegenkommenden<br />
Tram 65 .<br />
Zuweilen ist aber auch das stillstehende Fahrzeug in Betrieb. Gemäss bundesgerichtlicher<br />
Rechtsprechung etwa in folgenden Fällen:<br />
– Der mit zwei Rädern auf dem Trottoir parkierte Personenwagen, dessen eingeschaltete<br />
Scheinwerfer einen anderen Autofahrer blenden, der daraufhin einen Fussgänger anfährt<br />
(Scheinwerferfall) 66 .<br />
– Der Personenwagen, der stoppt, um die Kollision mit einem Velofahrer zu vermeiden 67 .<br />
– Der Lastenzug, dessen Anhänger auf einem Bahnübergang umkippt, was wenige Minuten<br />
später den Zusammenstoss mit einem Zug zur Folge hat (Bahngeleisefall) 68 .<br />
– Der Lastenzug, der aufgrund einer Panne im Tunnel zu stehen kommt. Anderthalb Minuten<br />
später kommt es zum Zusammenstoss mit einem nachfolgenden Lastwagen (Tunnelfall) 69 .<br />
– Das still stehende Pistenfahrzeug, auf das ein Skifahrer auffährt (Pistenfahrzeugfall) 70 .<br />
Welches Muster liegt nun diesen Entscheidungen zugrunde Eine erste Richtlinie bietet die<br />
Frage, ob ein Fahrzeug ausserhalb der Fahrbahn oder aber auf der Fahrbahn steht.<br />
b) Stillstehende Fahrzeuge am Fahrbahnrand<br />
Steht ein Fahrzeug ausserhalb der Fahrbahn, so wird der Betrieb vom Bundesgericht regelmässig<br />
verneint 71 . Das ist auch die Auffassung der herrschenden Lehre 72 . Eine Ausnahme<br />
61<br />
62<br />
63<br />
64<br />
65<br />
66<br />
67<br />
68<br />
69<br />
70<br />
71<br />
BGE 78 II 161 (161).<br />
BGE 88 II 455 (458).<br />
BGE 97 II 161 (166).<br />
BGE 100 II 49 (51).<br />
BGE 102 II 281 (283).<br />
BGE 63 II 339 (343).<br />
BGE 64 II 237 (240).<br />
BGE 110 II 423 (424).<br />
BGE 113 II 323 (329).<br />
BGE 116 II 214, nicht publizierte Erwägung. Vgl. Keller, Haftpflicht im Privatrecht I, 291.<br />
Vgl. die oben aufgeführte Rechtsprechung. Ablehnend Yung, circulation routière, 17. Etwas wieter<br />
geht aufgrund der Geltung des verkehrstechnischen Betriebsbegriffs die Haftung in Deutschland.<br />
Parkierte Fahrzeuge sind hiernach solange in Betrieb, wie sie den Verkehr irgendwie beeinflussen<br />
können. Vgl. hierzu die Hinweise in Hentschel, Strassenverkehrsrecht, N 7 f. zu § 7 StVG.<br />
16
S. EMMENEGGER/R. GEISSELER, SVG-Haftung<br />
bildet das am Strassenrand parkierte Auto mit eingeschalteten Scheinwerfern 73 . Das ergibt<br />
sich indes bereits aus dem heute herrschenden Verständnis des maschinentechnischen Betriebsbegriffs:<br />
Die Scheinwerfer gehören zu denjenigen maschinellen Einrichtungen eines<br />
Fahrzeugs, die aufgrund ihrer Blendwirkung eine besondere (Unfall-)Gefahr in sich tragen 74 .<br />
c) Stillstehende Fahrzeuge auf der Fahrbahn<br />
Anders verhält es sich, wenn sich der Stillstand auf der Fahrbahn ereignet. Hier hat das<br />
Bundesgericht den Betrieb – und damit die Haftung nach Art. 58 Abs. 1 SVG – regelmässig<br />
bejaht 75 . Die motorischen Kräfte entfalten also eine Nachwirkung und lösen damit den maschinentechnischen<br />
Betriebsbegriff aus einem allzu engen Korsett.<br />
d) Zeitabhängiger Betriebsbegriff<br />
Wann und wie lange ist ein nachwirkender Betrieb anzunehmen Das Bundesgericht stellt auf<br />
eine Gesamtbetrachtung ab 76 . Die Doktrin setzt unterschiedliche Schwerpunkte: Für die<br />
einen ist die Intention zur (Weiter-)fahrt massgeblich, für die anderen die Plötzlichkeit des<br />
Stillstands und das damit verbundene Überraschungsmoment 77 . Betont wird zumeist die Notwendigkeit<br />
eines engen zeitlichen Zusammenhangs mit der Fortbewegung 78 : Mit fortschreitendem<br />
Zeitablauf werde das stillstehende Fahrzeug zum gewöhnlichen Hindernis, das unter<br />
die Bestimmung über den Nicht-Betrieb in Art. 58 Abs. 2 SVG falle.<br />
Wie verhält es sich mit der zeitbedingten Metamorphose von der explosiven Gefahrenquelle<br />
zur toten Masse Abgesehen von der im juristischen Diskurs ungewohnten Esoterik vermag<br />
bei stillstehenden Fahrzeugen auf der Fahrbahn der zeitabhängige Betriebsbegriff aus<br />
mehreren Gründen nicht zu überzeugen:<br />
– Aus den Materialien ergibt sich, dass der Gesetzgeber stillstehende Fahrzeuge auf der<br />
Fahrbahn der Gefährdungshaftung von Art. 58 Abs. 1 SVG unterstellen wollte. Die Nicht-<br />
72<br />
73<br />
74<br />
75<br />
76<br />
77<br />
78<br />
Brehm, responsabilité civile automobile, Rn. 134 f.; Bussy/Rusconi, circulation routière, N o 4.1. ad<br />
LCR 58; Giger, Strassenverkehrsgesetz, 189; Grec, situation du détenteur, 38; Keller, Haftpflicht<br />
im Privatrecht I, 290; Nef, Betrieb des Motorfahrzeugs, 364, 378; Oftinger/Stark, Schweizerisches<br />
Haftpflichtrecht II/2, § 25 Rn. 355; Tercier, Haftpflicht des Halters, 16.<br />
Siehe oben Fn. 55, 56.<br />
Siehe oben S. 14 (Grundfälle).<br />
Vgl. aber BGE 102 II 281 (283): Zehnminütiger Stillstand auf der Fahrbahn zwecks Abladen. Betrieb<br />
verneint. Kritisch Tercier, Haftung des Halters, 16.<br />
z.B. BGE 64 II 237 (240).<br />
Zur Intention der Weiterfahrt vgl. Oftinger/Stark, Haftpflichtrecht II/2, § 25 Rn. 355 und Brehm,<br />
résponsabilité civile automobile, Rn. 151. Vgl. alledings ders., a.a.O., Rn. 129. Zum Überraschungsmoment<br />
Nef, Betrieb des Motorfahrzeugs, 364.<br />
Pointiert Nef, Betrieb des Motorfahrzeugs, 364. Vgl. aber Giger, Strassenverkehrsgesetz, 190; Oftinger/Stark,<br />
Schweizerisches Haftpflichtrecht II/2, § 25 Rn. 360; Baur, Kollision, 21. Skeptisch<br />
zur Bedeutung des zeitlichen Aspekts Tercier, Haftpflicht des Halters, 16 und Schaffhauser/Zellweger,<br />
Grundriss Strassenverkehrsrecht II, Rn. 944. A.A. Bussy/Rusconi, Circulation routière, N o<br />
4.1. ad LCR 58: Ein im Verkehr stillstehendes Fahrzeug ist grundsätzlich in Betrieb; Bussy, SJK<br />
909, 11. Zum Zeitelement auch BGE 102 II 281 (283); BGE 113 II 323 (326 f.); BGE 110 II 423<br />
(425).<br />
17
S. EMMENEGGER/R. GEISSELER, SVG-Haftung<br />
betriebs-Fälle, die die Diskussion um Art. 58 Abs. 2 SVG beherrschten, betrafen durchweg<br />
am Strassenrand parkierte Fahrzeuge 79 .<br />
– Die Gleichbehandlung von fahrenden und stillstehenden Fahrzeugen auf der Fahrbahn entspricht<br />
auch dem Telos des Gesetzes. Art. 58 Abs. 1 SVG sollte den besonderen Gefahren<br />
Rechnung tragen, die mit dem Aufkommen der modernen Verkehrstechnik verbunden<br />
waren 80 . Zentraler Gefahrenort ist die Fahrbahn. Sie ist sozusagen die natürliche Gefahrenumgebung<br />
des Fahrzeugs, diejenige Sphäre, in der sich die dem Fahrzeug inhärente<br />
Gefahr typischerweise aktualisiert. Die Fahrbahn ist auf Bewegung ausgerichtet; ein stillstehendes<br />
Fahrzeug ist damit genauso ein Gefahrenherd wie ein fahrendes.<br />
– Die Gesetzessystematik spricht nicht gegen eine solche Auslegung. Zwar darf die Kausalhaftung<br />
des Art. 58 Abs. 1 SVG nicht so weit ausgedehnt werden, dass für die Nichtbetriebsunfälle<br />
in Art. 58 Abs. 2 SVG kein Anwendungsbereich verbleibt. Das trifft aber<br />
nicht zu, da stillstehende Fahrzeuge ausserhalb der Fahrbahn nach wie vor dem Regime<br />
von Art. 58 Abs. 2 SVG unterstehen.<br />
– Die Anwendung der Gefährdungshaftung auf stillstehende Fahrzeuge im effektiven Fahrbahnbereich<br />
leistet einen Beitrag zur Rechtssicherheit. Denn bei aller Beschwörung auf<br />
die zeitbedingte Existenz des Betriebs bleibt vage, wann der Betrieb zum Nichtbetrieb mutiert,<br />
bzw. wann das Haftungsregime von der Gefährdungshaftung auf die Verschuldenshaftung<br />
umgestellt wird.<br />
– Die Unterstellung stillstehender Fahrzeuge im effektiven Fahrbahnbereich unter Art. 58<br />
Abs. 1 SVG entspricht im Ergebnis auch der bundesgerichtlichen Rechtsprechung. Das<br />
Gericht hat den Betrieb solcher Fahrzeuge regelmässig bejaht. Mehr noch: Trotz gegenteiliger<br />
Beteuerung liebäugelt das Bundesgericht in seiner jüngeren Rechtsprechung mit dem<br />
verkehrstechnischen Betriebsbegriff. Im Bahngeleisefall hielt das höchste Gericht fest:<br />
"En l'espèce [le chauffeur] circulait sur la voie publique. Le camion était donc à<br />
l'emploi." 81<br />
e) Haftungsbegrenzung über Art. 59 SVG<br />
Auch bei einem weit gefassten Betriebsbegriff haftet der Halter des auf der Fahrbahn stillstehenden<br />
Fahrzeugs nicht unbeschränkt. Die Korrektur ergibt sich aus Art. 59 SVG. Hat der<br />
Halter des stillstehenden Fahrzeugs die erforderlichen Unfallpräventionsmassnahmen 82 ergriffen<br />
(einseitige Schuldlosigkeit), so wird man demjenigen Geschädigten, der sie ignoriert, ein<br />
grobes Selbstverschulden anlasten können. Ist zudem der Unfall nicht auf die fehlerhafte Be-<br />
79<br />
80<br />
81<br />
82<br />
Vgl. BBl 1955, 45. Aus den parlamentarischen Debatten zu Art. 58 SVG ergibt sich nichts anderes,<br />
vgl. etwa Sten.Bull SR 1958, 146 (unter Hinweis auf die bisherige Rechtsprechung zu den<br />
stillstehenden Fahrzeugen am Strassenrand, wo der Betrieb verneint wurde).<br />
Dass der Gesetzgeber anstelle der Gefahr den Betrieb als Anknüpfungspunkt wählte, hat den Vorteil,<br />
dass sich dieser Begriff leichter umschreiben lässt. Vgl. Oftinger/Stark, Schweizerisches Haftpflichtrecht,<br />
§ 25 Rn. 346.<br />
BGE 110 II 423 (424). Nichts anderes ergibt sich aus dem Kreiselmäherfall : „Das besondere Erfordernis<br />
der Kausalhaftung ist ... als erfüllt anzusehen, wenn das schädigende Ereignis in seiner<br />
Gesamtheit betrachtet als adäquate Folge der Gefahr erscheint, die durch den Gebrauch der<br />
maschinellen Einrichtungen (Motor, Scheinwerfer usw.) des Fahrzeuges geschaffen wird. Trifft<br />
dies zu, so kommt nichts darauf an, ob das Fahrzeug sich im Zeitpunkt des Unfalls in Bewegung<br />
befand oder stillstand und ob seine maschinellen Einrichtungen ordnungsgemäss funktionierten<br />
oder nicht.“ BGE 114 II 376 (379).<br />
Vgl. hierzu Giger, Kommentar SVG, 158 f.<br />
18
S. EMMENEGGER/R. GEISSELER, SVG-Haftung<br />
schaffenheit des Halterfahrzeugs zurückzuführen, hat der Geschädigte den Schaden alleine zu<br />
tragen (Art. 59 Abs. 1 SVG).<br />
Erfolgten die erforderlichen Präventionsmassnahmen nicht, so wird dennoch zu prüfen<br />
sein, ob den Geschädigten kein Selbstverschulden trifft (Art. 59 Abs. 2 SVG). Dieser hat namentlich<br />
sein Fahrzeug zu beherrschen und mit angepasster Geschwindigkeit zu fahren 83 .<br />
Hierüber hat das Bundesgericht nie Zweifel aufkommen lassen: ein „Recht auf freie Fahrbahn“<br />
gibt es nicht 84 .<br />
f) Fazit<br />
Stillstehende Fahrzeuge auf der Fahrbahn sind grundsätzlich in Betrieb. Das entspricht im<br />
Ergebnis der Linie des Bundesgerichts und ergibt sich zudem aus den Materialien und der<br />
Zielsetzung des Gesetzes. Bei Lichte besehen nähert sich das Bundesgericht dem im<br />
deutschen und österreichischen Recht gebräuchlichen verkehrstypischen Betriebsbegriff, ohne<br />
ihn allerdings vollständig zu übernehmen: Fahrzeuge, die sich ausserhalb des Fahrbereichs<br />
befinden, sind von der Kausalhaftungsnorm in Art. 58 Abs. 1 SVG nicht erfasst. Für sie gilt<br />
Art. 58 Abs. 2 SVG. Insofern wird auch der Warnung Rechnung getragen, wonach „deutsche<br />
Lehrsätze hierzulande nur mit der gebotenen Vorsicht und keinesfalls unkritisch“ zu übernehmen<br />
sind 85 .<br />
3. Sonderfall: Arbeitsmotorwagen<br />
Auch das Haftungsregime für Arbeitsmotorwagen verdient einen Platz unter den Sonderfällen.<br />
Das Bundesgericht trennt Arbeitsvorgang und Fortbewegung und unterstellt nur letzteres<br />
der Kausalhaftung in Art. 58 Abs. 1 SVG.<br />
a) Ausgangslage<br />
Nach der Legaldefinition in Art. 7 I SVG ist ein Motorfahrzeug „jedes Fahrzeug mit eigenem<br />
Antrieb, durch den es auf dem Erdboden unabhängig von Schienen fortbewegt wird.“ Dabei<br />
muss die Fortbewegung nicht der primäre Zweck des Fahrzeugs sein: Arbeitsmotorwagen<br />
sind Fahrzeuge im Sinne des SVG 86 , auch wenn sie bestimmungsgemäss hauptsächlich arbeiten<br />
und nicht fahren: „Ungefügen Dinosauriern vergleichbar sind sie für den, der in ihre<br />
Nähe kommt, nicht minder bedrohlich als der Tiger im Tank eines gewöhnlichen Automobils.“<br />
87 . Voraussetzung ist nur, dass sie sich überhaupt eigenständig fortbewegen können 88 .<br />
83<br />
84<br />
85<br />
86<br />
87<br />
88<br />
Vgl. Art. 32 Abs. 1 SVG, Art. 4 VRV.<br />
Einschlägig BGE 93 IV 115 (angepasste Geschwindigkeit angesichts zu erwartender Hindernisse<br />
auf der Autobahn). Zuletzt bestätigt in BGE 126 IV 91.<br />
Gauch/Schluep/Schmid/Rey, Obligationenrecht I, Rn. 1467.<br />
Art. 7 Abs. 1 SVG i.V.m. 13 VTS. Siehe auch Keller, HAVE 2003, 20 f.; Schaffhauser/Dähler,<br />
Anmerkungen zum Bagger-Küde-Fall, 443; Schmid, Betrieb einer Arbeitsmaschine, 460 f.<br />
Keller, Haftpflicht im Privatrecht II, 286 f. Vgl. auch Deschenaux/Tercier, résponsabilité civile,<br />
§ 15 Rn. 46.<br />
Die Antriebskraft muss aber nicht zwingend auf dem Fahrzeug entwickelt werden; sie kann auch<br />
von aussen her bezogen und auf dem Fahrzeug umgesetzt werden, vgl. Keller, Haftpflicht im Privatrecht<br />
I, 286.<br />
19
S. EMMENEGGER/R. GEISSELER, SVG-Haftung<br />
Irrelevant ist dagegen, wie schnell die Fortbewegung erfolgt und ob das Gerät für den Verkehr<br />
auf öffentlichen Strassen bestimmt ist 89 .<br />
Abgrenzungsfragen stellen sich aber auch hier wiederum mit Blick auf den Betrieb und<br />
die damit verbundene Kausalhaftung. Was gilt, wenn die Vibrationen einer Vibrationswalze 90<br />
einen offenen Leitungsgraben neben der Strasse zum Einsturz bringen, oder wenn sich dadurch<br />
Sandsteinblöcke lösen, die auf darunterliegende Häuser prallen<br />
b) Easy Cases<br />
Unproblematisch sind diejenigen Fälle, in denen das Arbeitsvehikel nur fährt oder nur arbeitet:<br />
Begibt sich der Bagger von einem Ort zum anderen, operiert er ausschliesslich als Motorfahrzeug.<br />
Wird beim stillstehenden Tiefgangwagen lediglich die Seilwinde aktiviert, hat<br />
man es mit einem reinen Arbeitsvorgang zu tun. Letzteres Beispiel bildete Gegenstand eines<br />
als Seilwindenfall bekannt gewordenes kantonales Urteil, das noch unter dem Regime des<br />
MFG erging 91 :<br />
Ein Arbeitnehmer wollte zu Transportzwecken eine Sägemaschine auf<br />
einen Tiefgangwagen verladen. Hierfür verwendete er die Seilwinde<br />
des stillstehenden Tiefgangwages. Die Maschine kippte um und<br />
zerquetschte ihm die Hand. Das Gericht hielt unter Hinweis auf<br />
Doktrin fest, dass Arbeitsvehikel nicht in Betrieb seien, solange ihre<br />
Triebkraft zur Arbeit und nicht zur Fortbewegung eingesetzt werde.<br />
c) Hard Cases<br />
Schwieriger wird es, wenn Arbeitsvorgang und Fortbewegung ineinandergreifen, oder wenn<br />
gar das Arbeiten die Fortbewegung des Vehikels zwingend voraussetzt. Das Bundesgericht<br />
hat sich wiederholt mit solchen Schadensfällen beschäftigt. Zu erwähnen sind zunächst einmal<br />
die Stromkabelfälle: hier wurden mit Schaufelbaggern und Tieflockerungsgeräten Beschädigungen<br />
verursacht 92 . Zu erwähnen ist weiter der Pistenfahrzeugfall: hier kollidierte ein<br />
Skifahrer mit einem Pistenfahrzeug 93 . Auch der Unfall mit einer Dampfwalze bildete schon<br />
Gegenstand eines höchstrichterlichen Entscheids 94 . Überlegungen zur Problematik der Arbeitsfahrzeuge<br />
werden allerdings einzig im Kreiselmäherfall 95 angestellt:<br />
Von einem am Traktor befestigter Kreiselmäher wurden bei der Fahrt<br />
zwei Schneideblätter weggeschleudert. Eines davon durchtrennte eine<br />
Fahrleitung einer Bahnstrecke. Das Bundesgericht verneinte in casu<br />
den Betrieb mit der Begründung, der Schaden sei ausschliesslich auf<br />
89<br />
90<br />
91<br />
92<br />
93<br />
94<br />
95<br />
BGE 116 II 214 (214). So auch die herrschende Lehre, vgl. Brehm, responsabilité civile automobile,<br />
Rn. 115 f., m.w.N.; Oftinger/Stark, Schweizerisches Haftpflichtrecht II/2, § 25 Rn. 54 ff.<br />
Überholt JdT 1969 I, 446.<br />
Vibrationswalzen werden zur Verdichtung des Strassenbelags und Kieskoffers eingesetzt. Nach<br />
Aussagen aus der Fachwelt „tanzt, wer neben einer Vibrationswalze steht“.<br />
KGer St. Gallen, Urteil vom 11.3.1965, teilweise abgedruckt in: SJZ 65 (1969), 12. Der Fall war<br />
nach dem MFG zu beurteilen.<br />
BGE 102 II 85; BGE 106 II 75.<br />
BGE 116 II 214,<br />
BGE 104 II 376. Rückwärtsfahrende Dampfalze tötet einen Arbeitnehmer.<br />
BGE 114 II 376.<br />
20
S. EMMENEGGER/R. GEISSELER, SVG-Haftung<br />
den Arbeitsvorgang und nicht auf die Fortbewegung zurückzuführen<br />
96 .<br />
Das Echo der Lehre war gemischt: Ungeteilte bis verhaltene Zustimmung bei den einen,<br />
Kritik bei den anderen 97 .<br />
Neue Impulse erhielt die Diskussion im Rahmen der doktrinellen Nachlese zum sogenannten<br />
Bagger-Küde-Fall, dessen haftpflichtrechtliche Aspekte zwar nicht die Gerichte,<br />
umso mehr aber die Versicherungen und ihre Rechtsgutachter beschäftigt haben. Ein Betrunkener<br />
hatte in filmreifer Amokfahrt mit einem Bagger eine Absperrung niedergewalzt, ein<br />
Haus und etliche Fahrzeuge beschädigt und Menschen bedroht. Einzelne Schäden resultierten<br />
aus der Kraft der Fortbewegung, andere aus dem Einsatz der Baggerschaufel 98 .<br />
Bei strikter Anwendung der Kreiselmäher-Rechtsprechung wären hier die einzelnen Vorgänge<br />
auseinander zu dividieren, um sie anschliessend entweder als Arbeitsrisiko oder als Betriebsrisiko<br />
einzustufen. Der Bagger-Küde-Fall offenbart nun aber eine konzeptionelle<br />
Schwäche in der Salami-Doktrin, wie sie im Kreiselmäherfall angelegt ist: Wo Fahrt und Arbeitsvorgang<br />
ineinandergreifen und gleichzeitig mehrere Schäden entstehen, führt das Ausdividieren<br />
des Geschehens zu einer Atomisierung der Anspruchsgrundlagen. Ein Haftungsregime<br />
in Scheibchen ist aber aus Gründen der Praktikabilität und vor allem der Rechtssicherheit<br />
abzulehnen. Zudem verstösst die Salami-Doktrin gegen einen anderen höchstrichterlichen<br />
SVG-Grundsatz: Denjenigen der Gesamtbetrachtung, wie ihn das Bundesgericht im<br />
Zusammenhang mit den stillstehen Fahrzeugen aufgestellt hat. Danach wird die Betriebsgefahr<br />
nicht bei jedem Stillstand des Fahrzeugs unterbrochen, um bei jeder Bewegung wieder<br />
aufzuleben. Das „Stop-and-Go“ in der Kolonne wird also nicht als Wechsel von Betrieb und<br />
Nichtbetrieb wahrgenommen, sondern insgesamt als Betrieb. Zum gleichen Ergebnis gelangt<br />
die Lehre hinsichtlich des Bagger-Küde-Falls: Bei abwechselnder Arbeits- und Betriebsgefahr<br />
sei der Gesamtvorgang der SVG-Haftung zu unterstellen 99 .<br />
4. Ergebnis zum Betrieb<br />
Was das Bundesgericht bei den stillstehenden Fahrzeugen begann, führt die Doktrin bei den<br />
Arbeitsmaschinen weiter: Unter dem Titel der Gesamtbetrachtung wird ein weites Verständnis<br />
des Betriebsbegriffs gepflegt. Im Ergebnis wird damit der Anwendungsbereich der<br />
Kausalhaftung in Art. 58 Abs. 1 SVG ausgedehnt. Dieses Ergebnis fügt sich in die allgemeinen<br />
Entwicklungslinien des Haftpflichtrechts ein. So sieht etwa der Vorentwurf zur Revision<br />
des Haftpflichtrechts in Art. 50 eine Auffang-Kausalhaftung für besonders gefährliche<br />
Tätigkeiten vor 100 . Damit sollen Lücken geschlossen werden, die aus dem Fehlen eines<br />
96<br />
BGE 114 II 376 (383).<br />
97<br />
Zustimmend: Brehm, responsabilité civile automobile, Rn. 144 und Widmer, Servir et disparaître,<br />
570 (Fn. 34); Giger, Strassenverkehrsgesetz, 189. Verhalten: Oftinger/Stark, Schweizerisches<br />
Haftpflichtrecht II/2, Rn. 395 (Fn. 601). Zweifelnd: Keller, Haftpflicht im Privatrecht I, 292. Ablehnend:<br />
Nef, Betrieb des Motorfahrzeugs, 370.<br />
98<br />
Zum Bagger-Küde-Fall vgl. Keller, HAVE 2003, 18 ff.; Schaffhauser/Dähler, Anmerkungen zum<br />
Bagger-Küde-Fall, 441 ff.<br />
99<br />
Pointiert Keller, HAVE 2003, 24. Gleicher Auffassung Schaffhauser/Dähler, Anmerkungen zum<br />
Bagger-Küde-Fall, 453 f. So auch die überwiegende Lehre im Hinblick auf Arbeitsmaschinen im<br />
Allgemeinen, vgl. die Nachweise bei Schmid, Betrieb einer Arbeitsmaschine, 464. Zustimmend<br />
auch ders., a.a.O., 464.<br />
100 Vgl. Art. 50 Abs. 1 VE: Wird ein Schaden dadurch verursacht, dass sich das charakteristische Risiko<br />
einer besonders gefährlichen Tätigkeit verwirklicht, so haftet dafür die Person, die diese betreibt,<br />
selbst wenn es sich um eine von der Rechtsordnung geduldete Tätigkeit handelt.<br />
21
S. EMMENEGGER/R. GEISSELER, SVG-Haftung<br />
spezialgesetzlichen Tatbestands oder seiner restriktiven Anwendung resultieren. Die Autoren<br />
des Vorentwurfs verweisen dabei explizit auf den Kreiselmäherfall und monieren, die Verneinung<br />
des Betriebsrisikos durch das Bundesgericht stehe in ungerechtem Gegensatz zu anderen<br />
Fällen, wo infolge der offeneren Kausalhaftungsnormen eine Erfassung von Grenzfällen zugelassen<br />
worden sei 101 .<br />
III.<br />
Reine Vermögensschäden im SVG<br />
Die Haftung des Motorfahrzeughalters setzt voraus, dass ein Schaden entstanden ist. Im<br />
Schadensrecht unterscheidet man gemeinhin Personen-, Sach- und sonstige Schäden. Art. 58<br />
Abs. 1 SVG spricht allerdings nur von den ersten beiden Schadensarten. Damit stellt sich die<br />
Frage nach der Ersatzfähigkeit der sonstigen Schäden, zu denen auch die sogenannten<br />
„reinen Vermögensschäden“ 102 gehören.<br />
1. Der Entscheid Rathgeb<br />
Bekanntlich verneinte das Bundesgericht im Entscheid Rathgeb 103 die Ersatzfähigkeit reiner<br />
Vermögensschäden gestützt auf Art. 58 Abs. 1 SVG. Zerstört der Landwirt mit seinem am<br />
Traktor befestigten Tieflockerungsgerät eine Stromleitung und hat dies den Betriebsausfall<br />
zweier Produktionsstätten zur Folge, so ist der aus dem Betriebsausfall resultierende reine<br />
Vermögensschaden nicht ersatzpflichtig.<br />
Anders entschied das Bundesgericht in Kabel- und Leitungsbruchfällen im Anwendungsbereich<br />
des gemeinen Deliktsrechts (Art. 41 OR, Art. 55 OR), wo es Ersatz für Schäden aus<br />
Betriebsausfall unter Hinweis auf das Vorliegen der notwendigen Schutznorm gewährte 104 .<br />
Wann allerdings das Bundesgericht Art. 58 Abs. 1 SVG und wann es die Bestimmungen des<br />
gemeinen Deliktsrechts anwendet, lässt sich nicht ohne weiteres sagen:<br />
– Beschädigt ein Schaufelbagger 105 eine im Boden verlegte Stromleitung, so richtet sich die<br />
Haftung nach dem gemeinen Deliktsrecht 106 .<br />
– Werden von einem am Traktor befestigten Kreiselmäher während der Fahrt zwei Schneideblätter<br />
weggeschleudert und durchtrennt eines davon die Fahrleitung einer Bahnstrecke, so<br />
ist auch dieser Schadensfall auf der Grundlage des gemeinen Deliktsrechts zu beurteilen 107 .<br />
101 Widmer/Wessner, Bericht, 137. Vgl. auch Widmer, servir et disparaître, 570 f.<br />
102 Zum Begriff etwa Tercier, Distinction, 254; Oftinger/Stark, Schweizerisches Haftpflichtrecht I, § 2<br />
Rn. 60 (Fn. 84).<br />
103 BGE 106 II 75.<br />
104 Vgl. BGE 97 II 221: Arbeiter beschädigt mit Presslufthammer eine Stromleitung, die eine Kunstseidenfabrik<br />
mit Strom versorgt. Der Bauunternehmer haftet gestützt auf Art. 55 OR für den aus<br />
dem Betriebsausfall entstandenen Schaden. BGE 101 Ib 252: Armeeangehöriger zerstört Wasserleitung,<br />
die eine Zementfabrik mit Wasser versorgt. Der Staat haftet gestützt auf Art. 22 des Militärorganisationsgesetzes<br />
für den aus dem Betriebsausfall entstehenden Schaden. Schutznorm: Art.<br />
239 StGB. BGE 102 II 85: Arbeiter beschädigt mit Schaufellader eine Stromleitung, die eine Papier-<br />
und Zinkfabrik mit Strom versorgt. Der Bauunternehmer haftet gestützt auf Art. 55 OR für<br />
den aus dem Betriebsausfall entstehenden Schaden. Schutznorm: Art. 239 StGB.<br />
105 Beim Schaufelbagger handelt es sich unstreitig um ein Motorfahrzeug gemäss SVG. Vgl. Art. 7<br />
Abs. 1 SVG i.V.m. Art. 1, 13 VTS.<br />
106 BGE 102 II 85 (86 ff.). Das Gericht spricht – etwas unüblich – von Schaufellader.<br />
22
S. EMMENEGGER/R. GEISSELER, SVG-Haftung<br />
– Beschädigt das am Traktor befestigte Tieflockerungsgeräts die im Boden verlegte Stromleitung,<br />
richtet sich die Haftung nach Art. 58 Abs. 1 SVG – das ist der Entscheid<br />
Rathgeb 108 .<br />
2. Doktrin: Reine Vermögensschäden de lege lata<br />
Der Entscheid Rathgeb fand in der Doktrin vereinzelt Zustimmung 109 , überwiegend erntete er<br />
aber Kritik. Während für einzelne Kritiker eine Haftungserweiterung nur de lege ferenda<br />
möglich ist 110 , besteht für andere diese Möglichkeit bereits de lege lata. Dabei werden im<br />
Wesentlichen drei Wege beschritten:<br />
a) Punktueller Regelungsanspruch von Art. 58 Abs. 1 SVG<br />
Nach der einen Meinung gilt Art. 58 Abs. 1 SVG exklusiv, doch regelt er nur punktuell: Geregelt<br />
ist nur die Haftung bei Sach- und Personenschäden. Hier verdrängt Art. 58 Abs. 1 SVG<br />
das gemeine Deliktsrecht. Für die reinen Vermögensschäden hingegen trifft Art. 58 Abs. 1<br />
SVG bewusst keine Regelung. Wo es aber an einem Regelungsanspruch der lex specialis<br />
fehlt, beurteilt sich die Rechtslage nach dem gemeinen Deliktsrecht 111 .<br />
Der Behauptung einer Residualgeltung der obligationenrechtlichen Grundordnung steht allerdings<br />
Art. 1 SVG entgegen, der nicht einen punktuellen, sondern einen umfassenden Regelungsanspruch<br />
der Spezialordnung statuiert: „Dieses Gesetz ordnet die Haftung für Schäden,<br />
die durch Motorfahrzeuge und Fahrräder verursacht werden.“<br />
b) Lückenhaftigkeit Art. 58 Abs. 1 SVG<br />
Nach einer anderen Meinung gilt Art. 58 Abs. 1 SVG exklusiv und umfassend: Die Spezialbestimmung<br />
verdrängt das gemeine Deliktsrecht und will für alle Schadensarten eine Regelung<br />
treffen. Doch weist sie mit Blick auf reine Vermögensschäden eine planwidrige Unvollständigkeit<br />
auf, die unter analoger Anwendung von Art. 41 OR zu schliessen ist 112 . Auf alle<br />
drei Schadensarten kommt also das SVG zur Anwendung, im Falle der Sach- und Personenschäden<br />
unmittelbar, im Falle der reinen Vermögensschäden unter analoger Anwendung von<br />
Art. 41 OR.<br />
Dieser Lösung steht der Wortlaut von Art. 58 Abs. 1 SVG entgegen, der sich trotz der etablierten<br />
Dreiteilung der Schadensarten auf die Regelung von Sach- und Personenschäden beschränkt.<br />
107 BGE 114 II 376 (382). Begründung: Der Schaden ist nicht einer spezifischen Betriebsgefahr des<br />
Motorfahrzeugs zuzuschreiben (S. 382) und ein Nichtbetriebsunfall im Sinne von Art. 58 Abs. 2<br />
SVG liegt nicht vor (S. 378).<br />
108 BGE 106 II 75 (77).<br />
109 Rey, Haftpflichtrecht, Rn. 1272.<br />
110 Vgl. Giovannoni, SVZ 1980, 280; Keller, Haftpflicht im Privatrecht I, 67 f.<br />
111 Vgl. Deschenaux/Tercier, responsabilité civile, § 15 Rn. 24, 51; Lorandi, recht 1990, 20 f. Schaffhauser/Zellweger,<br />
Grundriss Strassenverkehrsrecht II, Rn. 963.<br />
112 Vgl. Oftinger/Stark, Schweizerisches Haftpflichtrecht II/2, § 25 Rn. 297 f.; Vgl. auch dies., Haftpflichtrecht<br />
I, § 13 Rn. 35.<br />
23
S. EMMENEGGER/R. GEISSELER, SVG-Haftung<br />
c) Alternativität der Ansprüche<br />
Nach einer dritten Meinung beansprucht Art. 58 Abs. 1 SVG keine Exklusivität: Die Spezialnorm<br />
des SVG und die Deliktsnormen des OR sind vielmehr alternativ anwendbar 113 .<br />
Dieser Ansatz stellt auf die Grundsätze der Methodenlehre zur Normenkonkurrenz ab.<br />
Danach entfaltet eine Spezialnorm gegenüber der Generalnorm nur dann zwingend eine<br />
derogative Wirkung (Exklusivität), wenn sich die beiden Normen widersprechen 114 . In solchen<br />
Fällen des Rechtsfolgenwiderspruchs kann nur eine von beiden – naturgemäss die Spezialnorm<br />
– gelten, weil davon auszugehen ist, dass der Gesetzgeber nicht gleichzeitig X und<br />
Nicht-X gebieten wollte 115 . Sehen hingegen die beiden Konkurrenznormen dieselbe<br />
Rechtsfolge vor (Rechtsfolgenidentität), so ist durch Auslegung im Einzelfall zu ermitteln,<br />
welches Verhältnis zwischen ihnen herrschen soll 116 . Neben der Konkurrenzfolge der Derogation<br />
ist in diesen Fällen auch die alternative oder gar die kumulative Anwendung der konkurrierenden<br />
Rechtsnormen möglich.<br />
Sowohl Art. 58 Abs. 1 SVG als auch Haftungsnormen des OR ordnen für den Schadensfall<br />
die Schadenersatzpflicht an. Es liegt also kein Rechtsfolgenwiderspruch, sondern eine<br />
Rechtsfolgenidentität vor 117 . Ob hier eine Derogationswirkung, eine alternative oder gar<br />
eine kumulative Anwendung beider Normen intendiert war, ist eine Frage der Auslegung, die<br />
nach den gängigen Auslegungsmitteln – also der grammatikalischen, historischen, systematischen<br />
und teleologischen Methode – vorzunehmen ist. Die kumulative Anwendung scheidet<br />
aus, weil sie nach dem gängigen Verständnis dieser Konkurrenzfolge zur doppelten Ersatzpflicht<br />
führen würde 118 , was vom Gesetzgeber mit Sicherheit nicht intendiert war. Für die<br />
Entscheidung zwischen der ausschliesslichen Geltung von Art. 58 Abs. 1 SVG (Derogation)<br />
und der alternativen Anwendung beider Haftungsordnungen steht die Teleologie des SVG im<br />
Vordergrund 119 . Die Zielsetzung besteht in der Verbesserung des Geschädigtenschutzes,<br />
was sich namentlich in der vorgesehen Kausalhaftung niederschlägt 120 . Dieser Zielsetzung<br />
würde es aber widersprechen, wenn bei gemeinen Schadensfällen die reinen Vermögensschäden<br />
bei gegebenen Voraussetzungen (namentlich dem Vorliegen einer entsprechenden<br />
113 Grundlegend Kramer, recht 1984, 129 ff. Vgl. weiter Hulliger, Haftungsverhältnisse, 14 f.;<br />
Roberto, Haftpflichtrecht, Rn. 499, 524; Honsell, Haftpflichtrecht, § 20 Rn. 24; Schwenzer, Obligationenrecht,<br />
Rn. 54.04. So auch die ausdrückliche Regelung im deutschen und oesterreichischen<br />
Strassenverkehrsrecht. Zum deutschen Recht vgl. Hentschel, Strassenverkehrsrecht, N 1, 4 ff. zu<br />
§ 16 StVG. Siehe sodann die Nachweise bei Kramer, recht 1984, 130.<br />
114 Larenz, Methodenlehre, 268.<br />
115 Vgl. nur Schreiber, Logik, 60: "Würde ein solcher Widerspruch in der Rechtsordnung existieren,<br />
so müsste er das Rechtssystem zerstören."<br />
116 Larenz, Methodenlehre, 267 f.; Kramer, recht 1984, 130 Fn. 7; Ott, Methode der Rechtsanwendung,<br />
197. Vgl. weiter Forstmoser, Einführung, 366.<br />
117 Vgl. dazu auch Brehm, responsabilité civile automobile, Rn. 221.<br />
118 Das ist insofern ungenau, als es bei der Kumulation um die Anwendung beider Rechtsnormen als<br />
gültige Anspruchsgrundlage geht. Vgl. Ennecerus/Nipperdey, AT Bd. 1, § 60 I: Dass die Erfüllung<br />
wirtschaftlich nur einmal geschuldet ist, bedeutet nicht, dass die Ansprüche nicht selbständig<br />
bestehen und selbständig zu beurteilen sind. Der eine Anspruch erlischt nur insoweit, als damit<br />
der Konkurrenzanspruch wirtschaftlich abgedeckt ist.<br />
119 Vgl. Kramer, recht 1984, 130 (unter Einbezug der Gesetzessystematik). Vgl. auch Keller/Gabi,<br />
Haftpflichtrecht, 159 und Guhl/Koller, Obligationenrecht, 203, wonach zwar die spezieller Haftungsnorm<br />
häufig Exklusivität geniesst, dies aber für jeden Einzelfall begründungsbedürftig ist:<br />
„In allen Fällen ist aber nicht in formallogischer Ableitung, sondern zurückgehend auf die vom<br />
Gesetzgeber verfolgten Zwecke zu entscheiden, welche Rechtsfolge gilt“ (Rn. 33).<br />
120 Vgl. etwa BBl 1930 II 868.<br />
24
S. EMMENEGGER/R. GEISSELER, SVG-Haftung<br />
Schutznorm) ersatzpflichtig wären, während dies bei Schadensfällen im Verkehrszusammenhang<br />
nicht der Fall wäre 121 .<br />
Folglich ist also von der Alternativität der Ansprüche auszugehen. Die Geschädigten<br />
haben die Wahl, ob sie nach SVG oder nach OR vorgehen wollen. Bei Sach- und Personenschäden<br />
werden sie üblicherweise das SVG wählen, bei reinen Vermögensschäden können sie<br />
– bei gegebenen Voraussetzungen 122 – nach gemeinem Deliktsrecht vorgehen.<br />
3. Reine Vermögensschäden de lege ferenda<br />
Was die Zukunft angeht, so steht diese ganz im Zeichen der alternativen Anwendung von gemeinem<br />
und spezialgesetzlichem Deliktsrecht. Art. 53 des Vorentwurfs für ein neues Haftpflichtrecht<br />
setzt als Grundsatz die Alternativität der Anspruchsgrundlagen. Exklusivität soll<br />
in Zukunft nur dann gelten, wenn die betreffende Haftpflichtbestimmung dies ausdrücklich<br />
vorsieht. Der im Zuge der Haftpflichtrevision neu formulierte Art. 58 SVG sieht eine solche<br />
Beschränkung nicht vor.<br />
Schwierigkeiten würden sich hingegen ergeben, wenn man die reinen Vermögensschäden<br />
unmittelbar auf den neuen Art. 58 SVG stützen möchte. Zwar wird dieser zukünftig in einen<br />
einzigen (kurzen) Absatz gefasst, der generell vom Ersatz des Schadens spricht 123 . Die<br />
fehlende Ersatzpflicht ergibt sich indessen aus Art. 45 Abs. 3 VE HPG, wonach bei Gefährdungshaftungen<br />
reine Vermögensschäden nur dann ersatzpflichtig sind, wenn das Gesetz dies<br />
ausdrücklich vorsieht 124 .<br />
4. Zum besonderen Problem der Anwaltskosten<br />
Ein häufiger Schadensposten ist der für die Schadensregulierung erforderliche Aufwand an<br />
Anwaltskosten 125 . In der Doktrin wird vereinzelt vertreten, bei den Anwaltskosten handle es<br />
sich um reine Vermögensschäden 126 . Die Auffassung findet sich auch in der älteren Rechtsprechung<br />
127 . Folgt man gleichzeitig der Auffassung des Bundesgerichts, wonach reine Vermögensschäden<br />
im SVG-Kontext nicht ersatzfähig seien 128 , so fehlt für den Ersatz solcher<br />
Kosten die materiellrechtliche Rechtsgrundlage. Ihre Deckung wäre diesfalls nur im Rahmen<br />
einer allfälligen prozessualen Kostengutsprache gesichert.<br />
121 Kramer, recht 1984, 130; Hulliger, Haftungsverhältnisse, 14 f.; Schaffhauser/Zellweger, Grundriss<br />
Strassenverkehrsrecht II, Rn. 963. Vgl. auch Gauch, recht 1998, 209 f., für die Frage des Verhältnisses<br />
zwischen EHG und OR.<br />
122 Schaden, Widerrechtlichkeit (Vorliegen einer Schutznorm), Kausalität, Verschulden.<br />
123 Art. 58 VE-SVG: „Der Halter eines Motorfahrzeugs haftet für den Schaden, der dadurch verwirklicht<br />
wird, dass sich die dem Betrieb des Fahrzeugs innewohnenden charakteristischen Risiken<br />
verwirklichen.“<br />
124 Art. 45 Abs. 3 VE HPG: „Im Bereich der Gefährdungshaftung ist unter Vorbehalt anderslautender<br />
Bestimmungen nur der Schaden ersatzfähig, der durch Tötung, durch Einwirkung auf die körperliche<br />
oder geistige Unversehrtheit, auf Sachen oder auf die Umwelt entsteht.“ Vgl. auch Widmer/-<br />
Wessner, Bericht, 366.<br />
125 Zum Einfluss der prozessrechtlichen Parteientschädigung vgl. Gauch, recht 1994, 194 f. Zum Ersatz<br />
der Anwaltskosten bei Überklagen vgl. Berger, HAVE 2003, 136 ff.<br />
126 Für die vorprozessualen Anwaltskosten jedenfalls Stein, ZSR 1987, 647; Weber, W.C., Prozessentschädigung,<br />
127 f. Im Ergebnis auch Hütte, SVZ 55 (1987), 335. Hulliger, Haftungsverhältnisse,<br />
13.<br />
127 Vgl. BGE 113 II 323 (340); OGer BS, Entscheid vom 29.5.1984, in: SJZ 81 (1985), 133 f.<br />
128 BGE 106 II 75 (77 ff.).<br />
25
S. EMMENEGGER/R. GEISSELER, SVG-Haftung<br />
Nach richtiger Ansicht sind die Anwaltskosten nicht in jedem Fall als reine Vermögensschäden<br />
zu qualifizieren. Entstehen sie im Zusammenhang mit der Geltendmachung eines<br />
Personen- oder Sachschadens – etwa im Rahmen der Sozialversicherungsverfahren 129 –, so<br />
gehören sie selbst zum Personen- oder Sachschaden; sie treten als „Kosten-Schaden“ zum<br />
ursprünglichen „Grundschaden“ hinzu 130 . In diesen wichtigen Fällen kommt es also nicht darauf<br />
an, ob reine Vermögensschäden nach SVG ersatzfähig sind.<br />
Damit bleiben noch diejenigen Fälle, in denen die Anwaltskosten nicht unmittelbar im Zusammenhang<br />
mit der Geltendmachung eines Personen- oder Sachschaden entstehen. Hauptanwendungsfall<br />
sind die Anwaltskosten – überhaupt die Verteidigungskosten –, die im Zusammenhang<br />
mit einem Strafverfahren entstehen, an dem der Geschädigte als Angeklagter<br />
teilnimmt 131 . Diese Kosten dienen der Abwehr gegen eine Verurteilung; sie sind nicht Folge<br />
eines Sach- oder Personenschadens, sondern ein reiner Vermögensschaden, weshalb sie<br />
jedenfalls nach SVG nicht ersatzfähig wären 132 . Gerade hier zeigt sich nun aber das Bundesgericht<br />
grosszügig: In dem Umfang, in dem die Verteidigungskosten dazu dienen, Fragen im<br />
Zusammenhang mit der Haftpflicht und dem Schaden zu klären, die Gegenstand des anschliessenden<br />
Haftpflichtprozesses bilden, sind sie auch unter dem Regime von Art. 58 Abs. 1<br />
SVG ersatzpflichtig 133 . Denn nach Auffassung des Bundesgerichts ist ein Nachteil, der einem<br />
Sachschaden ähnliche Folgen nach sich zieht, als solcher und nicht bloss als reiner Vermögensschaden<br />
zu behandeln 134 .<br />
Konsequent weitergedacht würde dies zur Aufhebung der verschiedenen Schadensarten<br />
führen, denn jeder Schaden wirkt sich als Vermögensverminderung aus und zieht demnach<br />
ähnliche Folgen nach sich wie ein Sachschaden 135 . Für die Frage der Ersatzfähigkeit reiner<br />
Vermögensschäden im SVG-Kontext aber kann gesagt werden, dass sich die Rathgeb-Rechtsprechung<br />
jedenfalls in diesem Bereich nicht nachteilig auswirkt.<br />
5. Fazit<br />
Im neuen System des Haftpflichtrechts wird sich die Frage der Ersatzfähigkeit reiner Vermögensschäden<br />
im SVG-Kontext nicht mehr stellen. Schon heute muss man sich aber fragen,<br />
ob der Entscheid Rathgeb die ausschliessliche Geltung des SVG so starr vorgibt, wie dies die<br />
Kritik am Entscheid suggeriert. Der Schlüsselsatz in Rathgeb lautet: „Die Auffassung der<br />
Vorinstanz, der Beklagte hafte einzig und ausschliesslich, sofern die Voraussetzungen von<br />
Art. 58 Abs. 1 SVG erfüllt sind, ist unangefochten geblieben.“ 136 Selbst nimmt das Bundesgericht<br />
zum Verhältnis der beiden Teilrechtsordnungen nicht Stellung. Damit verletzt es den<br />
Grundsatz „iura novit curia“. Einen klaren Präzendenzfall zugunsten der exklusiven Geltung<br />
129 Zum Diskussionsstand über die Ersatzpflicht von Anwaltskosten aus der Vertretung gegenüber den<br />
Sozialversicherern vgl. Berger, HAVE 2003, 135.<br />
130 Vgl. Gauch, recht 192 f. (von ihm stammt auch die Terminologie „Kosten-Schaden“, „Grundschaden“).<br />
Gleicher Ansicht Weber, SVZ 61 (1993), 5. Im Ergebnis auch Oftinger/Stark, Haftpflichtrecht<br />
I, § 2 Rn. 33 f., mit Fn. 42.<br />
131 Nimmt der Geschädigte am Verfahren teil, um seine zivilrechtlichen Ansprüche gegen den Angeklagten<br />
zu wahren, so handelt es sich um einen klassischen Fall eines Kosten-Schadens. Vgl. auch<br />
BGE 117 II 101 (106) = Pra 80 (1991) Nr. 163, 732 (735 f.).<br />
132 So auch Gauch, recht 1994, 197.<br />
133 BGE 117 II 101 (106 f.) = Pra 80 (1991) Nr. 163, 732 (735 f.). Zustimmend Berger, HAVE 2003,<br />
134 f.<br />
134 BGE 117 II 101 (106) = Pra 80 (1991) Nr. 163, 732 (734 f.).<br />
135 Gauch, recht 1994, 198. Kritisch zur Begründung auch Weber, SVZ 61 (1993), 6 Fn. 18.<br />
136 BGE 106 II 75 (77).<br />
26
S. EMMENEGGER/R. GEISSELER, SVG-Haftung<br />
des SVG hat es mit Rathgeb aber nicht geschaffen. Führt man sich zudem vor Augen, dass<br />
das Bundesgericht zwischenzeitlich im Picasso-Fall die alternative Anwendung verschiedener<br />
Rechtsgrundlagen zum zivilrechtlichen Koordinationsgrundsatz erhoben hat 137 , so spricht alles<br />
dafür, dass reine Vermögensschäden im SVG-Kontext bereits heute ersatzpflichtig sind.<br />
137 BGE 114 II 131 (136).<br />
27
S. EMMENEGGER/R. GEISSELER, SVG-Haftung<br />
ZWEITER TEIL<br />
Neben den im Haftpflichtrecht in letzter Zeit vorab debattierten Fragen des Quantitativs 138<br />
gibt in der Praxis immer wieder die Bestimmung der Haftungsquote zu Differenzen Anlass.<br />
Dem Problem wird zwar bei der Direktschadenserledigung häufig durch das dem Geschädigten<br />
zustehende Quotenvorrecht (Art. 73 Abs. 1 ATSG) die Spitze gebrochen 139 . Dies gilt aber<br />
nur bezüglich der mit Sozialversicherungsleistungen identischen Schadensposten (Art. 74<br />
ATSG). Bei der Regulierung nicht kongruenter Positionen, spätestens aber im Rahmen des<br />
Sozialversicherungsregresses muss die Quote ausdiskutiert und nötigenfalls gerichtlich festgelegt<br />
werden.<br />
Der Umstand, dass das Gesetz es dem richterlichen Ermessen anheim stellt, den Umfang<br />
der Ersatzpflicht „unter Würdigung aller Umstände“ zu bestimmen (Art. 59 Abs. 2 SVG; vgl.<br />
auch Art. 60 Abs. 2 Satz 1 SVG), ist einer einheitlichen und rechtsgleichen Praxis, die gerade<br />
im Haftpflichtrecht weit überwiegend eine aussergerichtliche ist 140 , nicht gerade förderlich 141 .<br />
Natürlich wäre es vermessen, für alle denkbaren Haftungskonstellationen zum vornherein<br />
allgemein gültige Haftungsanteile festlegen zu wollen. Haftungsquoten können lediglich der<br />
Klärung des Prinzips dienen 142 . Das setzt allerdings einen gewissen Konsens bezüglich der<br />
Prinzipien voraus. Dabei stellt sich die grundsätzliche Frage, welcher Stellenwert dem Betrieb<br />
eines Motorfahrzeugs im Verhältnis zu anderen Schadensursachen, vorab dem Verschulden<br />
eines oder mehreren Beteiligten zukommt. Es geht um die Differenzierung der Ursachen<br />
nach ihrer Wesentlichkeit.<br />
I. Bedeutung und Gewichtung der Betriebsgefahr im Hinblick auf die<br />
Haftungsquoten bei Personenschäden<br />
1. Die latente Betriebsgefahr als Haftungsgrund<br />
Die strenge Kausalhaftung des Motorfahrzeughalters gründet in der Überlegung, dass vom<br />
Betrieb eines Motorfahrzeugs eine erhöhte, von der Allgemeinheit hingenommene und vom<br />
Gesetzgeber geduldete Gefährdung ausgeht, die potentiell geeignet ist, häufige und gravierende<br />
Schäden anzurichten 143 . Haftungsgrund ist das jedem Motorfahrzeug latent innewohnende<br />
charakteristische Risiko (z.B. Kraft, Dynamik, Geschwindigkeit, Masse).<br />
Der Haftungsfall tritt ein, wenn sich die Betriebsgefahr eines Motorfahrzeuges im Einzelfall<br />
verwirklicht, d.h. zur Schädigung führt. Im Normalfall, wenn der Verkehr in geordneten<br />
Bahnen verläuft, die Fahrzeuge mängelfrei sind und alle Verkehrsteilnehmer, seien sie motorisiert,<br />
als Fussgänger oder mit dem Fahrrad unterwegs, sich an die Verkehrsregeln halten,<br />
kommt es weder zur Verwirklichung der Betriebsgefahr noch zu einer Schädigung. Dessen<br />
ungeachtet knüpft die Haftung nach SVG, jedenfalls was das Haftungssubjekt betrifft, nicht<br />
138 Vgl. z. B. Weber/Schaetzle, Entwicklungen, 107 ff.<br />
139 Vgl. hierzu Kieser, Kommentar ATSG, N 2 ff. zu Art. 73 ATSG. Zum Quotenvorrecht im Allgemeinen<br />
Rumo-Jungo, Haftpflicht und Sozialversicherung, Rn. 1011 ff.<br />
140 Statt vieler Schmid, HAVE 2002, 294.<br />
141 Vgl. zu den praktizierten Haftungsquoten die Anhänge I und II.<br />
142 Vgl. dazu Keller, Haftpflicht im Privatrecht I, 380; Oftinger/Stark, Schweizerisches Haftpflichtrecht<br />
I, § 9 Rn. 23.<br />
143 Vgl. dazu Oftinger/Stark, Schweizerisches Haftpflichtrecht II/2, § 24 Rn. 22 ff.<br />
28
S. EMMENEGGER/R. GEISSELER, SVG-Haftung<br />
an die Verwirklichung der Betriebsgefahr an, die meist (nicht immer) ein Fehlverhalten eines<br />
oder mehrerer Verkehrsteilnehmer voraussetzt. Massgebend ist für die Frage der Zurechnung<br />
vielmehr die abstrakte Betriebsgefahr, welche die blosse Möglichkeit einer Schädigung beinhaltet,<br />
nicht das (in der Regel vom Lenker) realisierte Risiko. Das Bundesgericht verwirft<br />
eine Unterscheidung zwischen latenter und verwirklichter Betriebsgefahr. Es ist der Ansicht,<br />
dass es für die Verwirklichung einer Betriebsgefahr genügt, „dass das Unfallereignis mit der<br />
Eigenart des Betriebes des Fahrzeuges zusammenhängt“ 144 . Haftungssubjekt ist und bleibt<br />
der Halter, auch wenn er nichts zur konkreten Verwirklichung der Betriebsgefahr beizutragen<br />
hat, ja selbst wenn er an einem Unfallereignis gar nicht beteiligt ist. Er haftet, weil er sich den<br />
Luxus leistet, „ein gefährlich Ding“ zu halten. Dass er es selbst betreibt, d.h. mit ihm herumfährt,<br />
ist irrelevant. Damit ist nicht gesagt, dass der Halter immer für den vollen Schaden aufzukommen<br />
hat. Spielen neben der von ihm zu vertretenden Betriebsgefahr weitere Schadensursachen<br />
mit, sei es auf Seiten des Schädigers oder des Geschädigten, gilt es eine Ursachenabwägung<br />
vorzunehmen, die einzelnen unfallkausalen Elemente zu gewichten und so zur Haftungsquote<br />
zu gelangen.<br />
2. Verkehrsopferschutz als Haftungsziel<br />
Die an die latente Gefährdung anknüpfende Begründung der strengen Kausalhaftung wird zunehmend<br />
durch rechtssoziale Erwägungen ergänzt. Der Verkehrsopferschutz hat bei der Haftungs-Beurteilung<br />
systematisch an Bedeutung zugelegt 145 . Die Ansicht, dass die volkswirtschaftlichen<br />
Auswirkungen des Blutzolls auf unseren Strassen durch die Gemeinschaft derjenigen<br />
zu tragen ist, welche aus der motorisierten Mobilität ihre Vorteile ziehen, steht heute<br />
im Vordergrund. Letztlich geht es um die Frage, ob die Sozialversicherer (IV-, UVG-Versicherer),<br />
welche im Regelfall Personenschäden zu einem grossen Teil liquidieren, mit den<br />
Folgekosten des Verkehrs belastet werden sollen oder ob (via Regress) die Entschädigungspflicht<br />
verursachergerecht auf die Motorfahrzeughalter abgewälzt werden soll.<br />
Die letzten Revisionen des IV. Titels des SVG (Haftpflicht und Versicherung) zielten denn<br />
auch auf die Besserstellung der Unfallopfer. Realisiert wurde dies u. a. durch die Ausdehnung<br />
der Versicherungsdeckung auf Ansprüche aus Personenschäden von nahen Verwandten<br />
146 und des Halters 147 . Im Verbund mit der legislativen Erweiterung des Versicherungsschutzes<br />
scheint auch in der Rechtsprechung der Gedanke des Verkehrsopferschutzes gegenüber<br />
der traditionellen ratio legis der Gefährdungshaftung als Haftungsgrund an Bedeutung zu<br />
gewinnen 148 . Es besteht eine gewisse Tendenz, dass getreulich dem Motto „c’est l’assurance<br />
qui crée le risque“ die Versicherungsdeckung die Haftung überlagert.<br />
Solange sich der Gesetzgeber nicht zum Ersatz der Haftungsordnung durch eine generelle<br />
Verkehrsopferschutzversicherung durchringen kann, erscheint die Intention, die Haftung<br />
nach dem Versicherungsschutz auszurichten, als rechtlich bedenklich und systemwidrig. Es<br />
kann und darf nicht so sein, dass der Versicherungsschutz den Haftungsumfang bestimmt,<br />
vielmehr setzt nach der heute noch geltenden Ordnung die Versicherungsdeckung die Haftung<br />
voraus. Dem Verkehrsopferschutz wird durch die Zwangsversicherung (Art. 63 SVG) und<br />
das direkte Forderungsrecht (Art. 65 Abs. 1 SVG) Rechnung getragen.<br />
144 BGE 105 II 209 (213 f.).<br />
145 Vgl. zur Entwicklung des Verkehrsopferschutzes Fuhrer, HAVE 2002, 353 ff.<br />
146 Revision von Art. 63 Abs. 3 lit. b SVG im Jahre 1975.<br />
147 Revision von Art. 63 Abs. 3 lit. a SVG im Jahre 1995.<br />
148 Vgl. etwa BGE 123 III 110 (Regeste), wo für die kausale Zurechnung des Schadens die „rechtspolitische<br />
Zielsetzung“ als ausschlaggebend bezeichnet wird.<br />
29
S. EMMENEGGER/R. GEISSELER, SVG-Haftung<br />
II.<br />
Haftungskollisionen und Haftungsquoten<br />
1. Allgemeines<br />
Die Sinnhaftigkeit und Aussagekraft einzelfallunabhängiger Haftungsquoten für verschiedene<br />
Varianten möglicher Haftungskollision 149 ist, wie bereits erwähnt, nicht unproblematisch.<br />
Denn „wir können die Ursachen- und hernach Haftungsanteile nicht messen, sondern höchstens<br />
bemessen, zumessen, ermessen“ 150 . Auf der anderen Seite erscheint es der Rechtssicherheit<br />
und Rechtsgleichheit wenig zuträglich, wenn – wie in der Rechtsprechung zum Teil praktiziert<br />
– bei ähnlicher Ausgangslage die dem Halter auferlegten Haftungsquoten von Fall zu<br />
Fall in erheblichem Masse variieren. Insofern besteht Handlungsbedarf, was in der Literatur<br />
namentlich von Brehm und Hulliger erkannt wurde. Sie liefern uns sehr detaillierte Quotenvorschläge<br />
für alle Lebenslagen 151 . So weit können wir im Rahmen der vorliegenden Untersuchung<br />
nicht gehen. Wir beschränken uns auf das Herausschälen von Grundsätzen und versuchen<br />
daraus Schlüsse zu ziehen mit dem Ziel, der Ausfransung von Quoten für mehr oder<br />
weniger identische Kollisionskonstellationen entgegenzuwirken.<br />
Bevor nachstehend auf die einzelnen Kollisionssachverhalte eingegangen wird, ist ein<br />
Dreifaches festzuhalten:<br />
– Das SVG enthält (neben den Spezialnormen für die Haftung des Radfahrers, der Unternehmen<br />
des Motorfahrzeuggewerbes, der Veranstalter motor- und radsportlicher Anlässe, des<br />
Strolchs usw.) zwei wesentliche Haftungsnormen, nämlich Art. 58 SVG und Art. 61<br />
SVG. Die erste Bestimmung regelt die Haftung gegenüber jewelchen Geschädigten, die<br />
nicht selbst Motorfahrzeughalter sind. Die zweite Bestimmung befasst sich demgegenüber<br />
mit dem „Schadenersatz zwischen Motorfahrzeughaltern“. Gemeint ist damit die Haftung<br />
von Haltern für Schäden von Haltern.<br />
– Für die Gewichtung der Betriebsgefahr einerseits und des Verschulden anderseits gelten<br />
für die beiden Fallgruppen unterschiedliche Kriterien. Bei den unter Art. 58 SVG zu subsumierenden<br />
Fällen überwiegt die Bedeutung der Betriebsgefahr; sie bleibt als Schadenursache<br />
selbst dann haftungsrelevant, wenn den Geschädigten ein einseitiges Verschulden<br />
trifft. Selbst wenn das Selbstverschulden grob ist, genügt dies noch nicht zur Entlastung<br />
des Halters. Dieser hat seinerseits noch den Exkulpationsbeweis zu erbringen und überdies<br />
nachzuweisen, dass sein Fahrzeug mängelfrei war 152 . Anders nach Art. 61 SVG. Hier erfolgt<br />
die Schadensaufteilung nach Massgabe der Verschuldensproportionen. Den Betriebsgefahren<br />
kommt nur eine untergeordnete Bedeutung zu. Sie fallen lediglich als Korrekturfaktoren<br />
in Betracht, wenn sie unterschiedlich gross sind (was selten der Fall ist) 153 .<br />
149 Unter Haftungskollision verstehen wir das Aufeinanderprallen zweier Haftungen. Voraussetzung<br />
dazu ist nicht, dass auf beiden Seiten Schaden entstanden sein muss. Die Regeln der Haftungskollision<br />
gelten auch, wenn nur eine der beteiligten Personen geschädigt ist. Vgl. Keller, Haftpflicht<br />
im Privatrecht I, 382; Hulliger, Haftungsverhältnisse, 78.<br />
150 Keller, Haftpflicht im Privatrecht I, 380.<br />
151 Brehm, responsabilité civile automobile, Rn. 346 ff.; Hulliger, Haftungsverhältnisse, 82 ff.<br />
152 Vgl. dazu Brehm, responsabilité civile automobile, Rn. 330 ff.; Oftinger/Stark, Schweizerisches<br />
Haftpflichtrecht II/2, § 25 Rn. 427 f.; Schaffhauser/Zellweger, Grundriss Strassenverkehrsrecht II,<br />
Rn. 1010, 1013 ff. Kritisch zum Exkulpationsbeweis, der selbst bei „culpa levissima“ Entlastung<br />
des Halters verunmöglicht, sowie zur Beweislastumkehr: Widmer, servir et disparaître, 575.<br />
153 Ferner können hier noch andere „Umstände“ für die Haftungsquote von Bedeutung sein. Vgl. unten<br />
S. 34 (Sonderfälle).<br />
30
S. EMMENEGGER/R. GEISSELER, SVG-Haftung<br />
– Unterstrichen wird die Sonderregelung bei Haftungskollision unter Haltern, bei welcher<br />
die Betriebsgefahr nur ausnahmsweise von Belang ist, durch Art. 60 Abs. 2 SVG, welcher<br />
die interne Aufteilung des Schadens bei Haftungskonkurrenz regelt. Extern haftet ein Halter,<br />
der zusammen mit einem Verschuldenshaftpflichtigen, einem Tierhalter, einem Bahnbetrieb<br />
usw. ein Drittperson schädigt, solidarisch. Intern wird der Schaden „unter Würdigung<br />
aller Umstände“ aufgeteilt (Art. 60 Abs. 2 Satz 1 SVG). Bei mehreren Haltern, die<br />
extern solidarisch haften, wird demgegenüber in Übereinstimmung mit der Regelung bei<br />
Haftungskollisionen in der Regel unter Vernachlässigung der Betriebsgefahren nach Massgabe<br />
des Verschuldens aufgeteilt.<br />
Entsprechend der umschriebenen Zweiteilung wird nachstehend zunächst das Zusammentreffen<br />
von Betriebshaftung einerseits und Verschuldenshaftung, milder Kausalhaftung<br />
sowie – beispielhaft anhand des Eisenbahnhaftpflichtgesetzes – einer anderen Gefährdungshaftung<br />
andererseits abgehandelt. Anschliessend wird zur Haftung unter Haltern, für die nach<br />
Art. 61 SVG spezielle Aufteilungskriterien gelten, Stellung bezogen.<br />
2. Motorfahrzeughaftung contra Verschuldenshaftung<br />
a) Im Allgemeinen<br />
Paradebeispiele für das Zusammentreffen von Motorfahrzeughaftung und Verschuldenshaftung<br />
sind die Kollisionen eines Motorfahrzeuges mit einem Fussgänger oder einem Radfahrer.<br />
Mit Verschulden und Betriebsgefahr begegnen sich Schadenursachen, die kaum vergleichbar<br />
sind. Trotzdem kommt man nicht umhin, die beiden Faktoren gegeneinander abzuwägen und<br />
zu gewichten. Für die Ermittlung der Haftungsquote mögen folgende allgemeinen Aussagen<br />
dienlich sein:<br />
Das Verschulden gilt gemeinhin als qualifizierter und vorherrschender Haftungsgrund 154 .<br />
Das zeigt sich nicht zuletzt in der zwar viel kritisierten, aber ins Gesetz gemeisselten Rangordnung<br />
der Haftungsgründe gemäss Art. 51 Abs. 2 OR. In der Kaskadenordnung (Verschulden,<br />
Vertrag, Gesetzesvorschrift = Kausalhaftung) nimmt das Verschulden die ungünstigste<br />
Position ein. Im internen Verhältnis mehrerer Haftpflichtversicherer kann der ganze Schaden<br />
letztlich auf den Schuldigen abgewälzt werden. So besehen würde dem Verschulden bei der<br />
Schadenaufteilung ein Vorrang zukommen. Ob die Rangordnung gemäss Art. 51 Abs. 2 OR<br />
auch für den Regresstatbestand des Art. 60 Abs. 2 Satz 1 SVG gilt, ist allerdings umstritten 155 .<br />
Selbst wenn man die Frage bejaht, heisst dies nicht zwingend, dass die gemeinrechtliche Regressordnung,<br />
welche auf die Haftungskonkurrenz mehrerer extern solidarisch Haftpflichtiger<br />
zugeschnitten ist, auch auf Haftungskollisionen gemäss SVG übertragbar ist.<br />
Wir vertreten die Ansicht, dass die vorrangige Bedeutung des Verschuldens entfällt, wenn<br />
– wie in Art. 58 SVG – eine spezifische verschuldensunabhängige Gefährdungshaftung spezialgesetzlich<br />
normiert ist. Die Verschuldenshaftung ist hier eine subsidiäre 156 . Qualifizierter<br />
Haftungsgrund ist die Betriebsgefahr 157 . Es ist deshalb bei der Kollision von Betriebsgefahr<br />
154 Oftinger/Stark, Schweizerisches Haftpflichtrecht I, § 5 Rn. 2 und II/2 Rn. 708.<br />
155 Pro: Giger, Strassenverkehrsgesetz, 198; Tercier/Gauch, Mehrheit von Ersatzpflichtigen, 34; Oftinger/Stark,<br />
Schweizerisches Haftpflichtrecht II/2, § 25 Rn. 708. Contra: Brehm, responsabilité<br />
civile automobile, Rn. 759; Schaffhauser/Zellweger, Grundriss Strassenverkehrsrecht II, Rn. 1469;<br />
Hulliger, Haftungsverhältnisse, 75; Geisseler, Haftpflicht und Versicherung, 67.<br />
156 Oftinger/Stark, Schweizerisches Haftpflichtrecht I, § 5 Rn. 2.<br />
157 Siehe vorne S. 28 (Die latente Betriebsgefahr als Haftungsgrund).<br />
31
S. EMMENEGGER/R. GEISSELER, SVG-Haftung<br />
und Verschulden die erstere stärker zu gewichten 158 . Das hat zur Konsequenz, dass die Betriebsgefahr<br />
in erheblichem Umfange haftungsrelevant bleibt, wenn ihr ein einseitiges Verschulden<br />
des nach Art. 41 OR Haftpflichtigen entgegensteht. Es gilt der Grundsatz, dass der<br />
Halter wegen der von ihm zu vertreten Betriebsgefahr unabhängig von den Verschuldensproportionen<br />
als Geschädigter vorweg einen Teil seines eigenen Schadens selbst zu tragen bzw.<br />
als belangter Haftpflichtiger zu ersetzen hat 159 . Vorbehalten bleibt selbstverständlich der Fall,<br />
wo die Betriebsgefahr wegen groben Verschuldens des Verschuldenshaftpflichtigen als adäquat-kausale<br />
Unfallursache ausser Betracht fällt (Art. 59 Abs. 1 SVG).<br />
Zu welcher Haftungsquote gelangt nun die Praxis vor dem beschriebenen Hintergrund Die<br />
Antwort bedingt die Aufschlüsselung der Fälle. Von jenen des beidseitigen Verschuldens ist<br />
die Konstellation mit schuldlosem Halter zu unterscheiden. Die Bandbreite der praktizierten<br />
Quoten wird in Anlehnung an die akribische Kasuistik von Brehm 160 in den Anhängen illustriert<br />
und schematisiert.<br />
aa) Fälle beidseitigen Verschuldens<br />
Die Crux liegt vorab in der Taxation der Verschuldensintensität. Klassisch ist die Dreiteilung<br />
in grobes, mittleres und leichtes Verschulden. Leider ergibt sich aus der Rechtsprechung<br />
nicht immer mit der nötigen Klarheit, welche Verschuldensschwere im konkreten Fall angenommen<br />
wurde. Die eher unverbindliche Qualifikation des Verschuldens als „erheblich“<br />
oder „nicht unerheblich“, die sich in vielen Urteilen findet, mag eine ergebnisorientierte Beurteilung<br />
erleichtern. Sie erschwert jedoch den Nachvollzug der Quote. Geht man von den<br />
oben erwähnten dreifaltigen Verschuldensgraden aus, ergeben sich – wenn nicht noch unterschiedliche<br />
Betriebsgefahren berücksichtigt werden – eine Vielzahl von Kollisionsvarianten,<br />
die im Anhang detailliert dargestellt werden.<br />
Hat der Halter neben der Betriebsgefahr ein Verschulden zu vertreten, so wird dieses nicht<br />
durch ein gleichgewichtiges Selbstverschulden des Verschuldenshaftpflichtigen neutralisiert,<br />
so dass die verbleibende Betriebsgefahr zu voller Haftung führen würde. In Lehre und Rechtsprechung<br />
ist man sich darüber einig, dass nicht die Kompensationstheorie, sondern die sektorielle<br />
Verteilung die richtige ist 161 . Bei der Quotenbildung ist allen Unfallsachen ein Sektor<br />
vorbehalten, d.h. beim Halter die Betriebsgefahr und das Verschulden. Er besetzt damit<br />
zwei Sektoren, wogegen auf den Verschuldenshaftpflichtigen nur ein Sektor fällt. Das führt<br />
in etwa gleichwertigen Verschuldensgraden zwingend zu einer 50% übersteigenden Haftungsquote<br />
zu Lasten des Halters. Im Einzelnen folgt daraus:<br />
– Bei gleichgewichtigem Verschulden auf beiden Seiten ist eine Haftungsquote zwischen<br />
70 und 80% zu Lasten des Halters angemessen 162 .<br />
– Bei überwiegendem Verschulden des Halters ist eine Quote von 80 - 100% zu postulieren.<br />
Volle Haftung ist dann gerechtfertigt, wenn das überwiegende Verschulden des Halters<br />
im Verbund mit der Betriebsgefahr einem geringfügigen Verschulden des Verschul-<br />
158 Etwas anderes gilt – je nach Auffassung – bei der in Art. 61 eigens geregelten Haftung unter Haltern.<br />
Siehe dazu unten S. 43 (Halter contra Halter).<br />
159 Zum Prinzip der (partiellen) Selbsttragung des eigenen Schadens durch den Halter siehe<br />
Oftinger/Stark, Schweizerisches Haftpflichtrecht I, § 9 Rn. 28.<br />
160 Brehm, responsibilité civile automobile, Rn. 346 ff.<br />
161 Keller, Haftpflicht im Privatrecht I, 378, zeigt dies anschaulich am Bild des Kuchens auf.<br />
162 Das gilt unabhängig vom Verschuldensgrad. Für diese Quote auch Brehm, responsabilité civile<br />
automobile, Rn. 423, und Hulliger, Haftungsverhältnisse, 84, jedenfalls für das beidseitige leichte<br />
Verschulden.<br />
32
S. EMMENEGGER/R. GEISSELER, SVG-Haftung<br />
denshaftpflichtigen gegenüber steht und Letzteres in der Gesamtbetrachtung als nebensächliche<br />
Mitursache erscheint 163 .<br />
– Bei überwiegendem Verschulden des Verschuldenshaftpflichtigen reduziert sich die<br />
Quote für den Halter auf 40 - 60%, ausnahmsweise, bei schwerem Verschulden des Nichthalters<br />
und leichtem Verschulden des Halters, auf bis zu 20 - 30%.<br />
Abweichungen können sich ergeben, wenn auf Seiten des Gefährdungshaftpflichtigen (z.B.<br />
bei erhöhter Betriebsgefahr) oder des Verschuldenshaftpflichtigen (z.B. bei Gefälligkeitsfahrt)<br />
besondere Umstände hinzutreten.<br />
bb) Fälle mit schuldlosem Halter<br />
Es greift die Regelung gemäss Art. 59 Abs. 1 und 2 SVG. Den Halter trifft die Beweislast für<br />
fehlendes Verschulden seiner eigenen Person und derjenigen Personen, für die er verantwortlich<br />
ist. Ist (einseitige) Schuldlosigkeit erstellt und überdies der Beweis erbracht, dass keine<br />
fehlerhafte Beschaffenheit des Fahrzeuges zum Unfall beigetragen hat, so sind vier Fälle zu<br />
unterscheiden:<br />
– Trifft den Nichthalter kein Verschulden (oder kann ihm dies nicht rechtsgenüglich nachgewiesen<br />
werden), mithin bei beidseitiger Schuldlosigkeit, ist volle Haftung des Halters<br />
gegeben; dies auf Grund der Betriebsgefahr, die als alleinige Schadenursache zurückbleibt.<br />
– Ein einseitiges leichtes Verschulden des Nichthalters wird in der Regel mit einer Reduktion<br />
der Quote des Haltes auf 60 - 80% geahndet 164 .<br />
– Ein einseitiges mittleres Verschulden des Nichthalters führt zu Quoten zwischen 40 und<br />
60% zu Lasten des Halters 165 .<br />
– Bei Grobfahrlässigkeit des (verschuldenshaftpflichtigen) Nichthalters entfällt – was allerdings<br />
eher selten ist und wie gesagt den Exkulpationsbeweis des Halters voraussetzt – jegliche<br />
Haftung. Misslingt dem Halter der Entlastungsbeweis gemäss Art. 59 Abs. 2 SVG,<br />
bleibt die anteilsmässige Schadenstragung des Halters im Rahmen der Betriebsgefahr, die<br />
mit 25 - 35% zu gewichten ist 166 .<br />
b) Sonderfälle<br />
aa) Haftung gegenüber Kindern<br />
Als Sonderfälle erscheinen die durch Kinder mitverursachten Verkehrsunfälle. Dies<br />
– eingedenk derer eingeschränkter kognitiver Fähigkeiten 167 – im Hinblick auf die Verschuldenssituation.<br />
Ein nach "erwachsenen Ellen“ gemessenes Fehlverhalten kann einem Kond<br />
163 Keller, Haftpflicht im Privatrecht I, 387.<br />
164 Brehm, responsabilité civile automobile, Rn. 404, und Keller, Haftpflicht im Privatrecht I, 317 und<br />
387, propagieren eine Quote von 66 - 75%, Hulliger, Haftungsverhältnisse, 87, eine solche von<br />
60 - 80%.<br />
165 Brehm, responsabilité civile automobile, Rn. 404; Hulliger, Haftungsverhältnisse, 87; Keller,<br />
Haftpflicht im Privatrecht I, 317, 387. Letzterer sieht bei einem an grobe Fahrlässigkeit grenzenden<br />
Selbstverschulden eine Reduktionsmöglichkeit von 50% und mehr.<br />
166 Hulliger, Haftungsverhältnisse, 87, schlägt eine Haftungsquote von 20 - 40%, Brehm, responsabilité<br />
civile automobile, Rn. 404, eine solche von 10 - 25% vor.<br />
167 Vgl. Nachweise zur naturwissenschaftlichen Forschung in Steinegger/Luginbühl, schuldhaftes<br />
Verhalten, 723 ff..<br />
33
S. EMMENEGGER/R. GEISSELER, SVG-Haftung<br />
oder einem Jugendlichen nur beschränkt, eventuell gar nicht als Verschulden angelastet werden<br />
168 . Entsprechend steigt die Haftungsquote des unfallbeteiligten Motorfahrzeughalters.<br />
Welche Grundsätze gelten hier<br />
Ausgeschlossen ist ein Verschulden bei Kindern im Vorschulalter: Ihnen fehlt es mit<br />
Blick auf die Gefahren der Strasse am nötigen Urteilsvermögen; sie sind diesbezüglich verschuldensunfähig<br />
169 . Führt die fehlende Urteilsfähigkeit des Kindes zur vollen Haftung des<br />
Halters, obwohl das Kind objektiv gesehen ein Verschulden trifft, so stellt sich die Frage der<br />
Haftungsreduktion des Halters gestützt auf die analoge Anwendung der obligationenrechtlichen<br />
Billigkeitshaftung (Art. 54 OR). Relevant wird sie angesichts des Versicherungsobligatoriums<br />
für Halter allerdings nur bei ungenügendem Versicherungsschutz und ungleich<br />
besserer Finanzkraft des geschädigten Kindes – insgesamt eine seltene Konstellation. Tritt sie<br />
dennoch ein, ist Art. 54 OR analog anwendbar 170 .<br />
Liegt die Verschuldensfähigkeit an sich vor, so ist nach der Möglichkeit für das haftungsausschliessende<br />
Verschulden (Art. 59 Abs. 1 SVG) zu fragen. Dass ein grobes Verschulden<br />
erst bei einem gewissen Alter vorliegen kann, ist unbestritten. Hingegen scheinen die Gerichte<br />
die Altersgrenze tendenziell tiefer anzusetzen als die Lehre:<br />
– Klar ist angesichts der bundesgerichtlichen Rechtsprechung, dass vor dem Alter von neun<br />
Jahren ein grobes Verschulden des Kindes ausscheidet 171 .<br />
– Hingegen bejahte ein kantonales Gericht das grobe Verschulden eines elfjährigen Knaben,<br />
der in einer Kreuzung unmittelbar nach links abschwenkte, obwohl das entgegenkommende<br />
Fahrzeug sich schon sehr nahe an der Kreuzung befand 172 .<br />
– Das Bundesgericht sah in einem unpublizierten Entscheid ein grobes Verschulden bei<br />
einem dreizehnjährigen Fahrradfahrer, der mit hoher Geschwindigkeit von einer schlecht<br />
sichtbaren Nebenstrasse unvermittelt in die Hauptstrasse einbog und dort mit einem langsam<br />
fahrenden Laster zusammenprallte 173 . Andererseits hielt es in einem jüngeren Entscheid<br />
aber auch fest, dass bei der Bemessung des Verschuldens eines fünfzehnjährigen<br />
Jugendlichen das Alter zu berücksichtigen sei 174 .<br />
– In der Doktrin liegt die Schwelle allemal höher: Sie schwankt zwischen vierzehn und<br />
sechzehn Jahren 175 .<br />
168 Vgl. etwa Geissler, Kinder im Strassenverkehr, 35; Szöllösy, Haftungsherabsetzendes Verschulden,<br />
277.<br />
169 Vgl. die Nachweise bei Brehm, responsabilité civile automobile, Rn. 356.<br />
170 Vgl. Brehm, responsabilité civile automobile, Rn. 391. Die analoge Anwendbarkeit von Art. 54<br />
OR grundsätzlich bejahend: Oftinger/Stark, Schweizerisches Haftpflichtrecht II/2, § 25 Rn. 571.<br />
171 Vgl. BGE 111 II 89 (91): Ein neunjähriger Knabe überquert auf seinem Fahrrad vorschriftswidrig<br />
eine stark befahrene Hauptstrasse. BGE 104 II 184 (189): Ein neunjähriger Knabe schiesst mit<br />
Pfeil und Bogen auf einen Spielkameraden, der dabei ein Auge verliert.<br />
172 Bürlet/Zürich, Schwyz, 18.2.1963, zitiert in Brehm, responsabilité civile automobile, Rn. 364.<br />
173 Tscherrig/Helvetia, BGer vom 18.1.1955, zitiert in Brehm, responsabilité civile automobile,<br />
Rn. 364. Auch im Fall Regoz ging das Bundesgericht von einer verminderten Urteilsunfähigkeit<br />
einer 13 1/2-jährigen Gymnasiastin aus. Das Mädchen war auf einen fahrenden Zug aufgesprungen.<br />
Vgl. BGE 102 II 363.<br />
174 BGE 124 III 182 (187). Der Jugendliche fuhr als Passagier auf einem gestohlenen Motorrad, im<br />
Wissen darum, dass der Lenker keinen Führerausweis hatte.<br />
175 Für das Alter von 14 Jahren: Brehm, responsabilité civile automobile, Rn. 365. Für das Alter von<br />
15 Jahren: Keller, Haftpflicht im Privatrecht, 313; Geisseler, Kinder im Strassenverkehr, 36; Steinegger/Luginbühl,<br />
schuldhaftes Verhalten, 729. Für das Alter von 16 Jahren: Szöllösy,<br />
Haftungsherabsetzendes Verschulden, 285. Warnend vor einem abstrakten Abstützen auf starren<br />
34
S. EMMENEGGER/R. GEISSELER, SVG-Haftung<br />
Fällt ein haftungsausschliessendes Verschulden des jugendlichen Nichthalters im Sinne von<br />
Art. 59 Abs. 1 SVG ausser Betracht, so ist das Verschulden immer noch im Rahmen von Art.<br />
59 Abs. 2 SVG zu berücksichtigen und bewirkt dort möglicherweise eine entsprechende Haftungsminderung.<br />
bb) Haftung gegenüber Passagieren<br />
Die Besonderheit, die sich bei der Schädigung eines Passagiers ergibt, ist ebenfalls eine verschuldensspezifische:<br />
Wer sich chauffieren lässt, gibt unstreitig seine Einwilligung zu einer<br />
gefährlichen Handlung. Fraglich ist, ob damit im Schadensfall die Haftung des Halters reduziert<br />
werden müsste (Art. 44 Abs. 1 OR).<br />
Das Bundesgericht ist zurückhaltend. Grundsätzlich trifft die Gefahr aus dem Betrieb des<br />
Fahrzeugs den Halter und wird nicht auf den Mitfahrer überwälzt 176 . Davon bestehen Ausnahmen:<br />
– Ein haftungsherabsetzendes Mitverschulden im Sinne einer acceptation du risque wird darin<br />
erblickt, dass für den Passagier die besondere Gefährlichkeit der anstehenden Fahrt<br />
erkennbar war oder erkennbar sein musste 177 . Exemplarisch sind hierfür vor allem diejenigen<br />
Fälle, in denen der Mitfahrer um die Trunkenheit des Fahrers wusste 178 . Mitverantwortung<br />
und damit einen Teil seines Schadens trägt auch, wer sich wissentlich einem Lenker<br />
anvertraut, der über keinen Fahrausweis verfügt, oder gar das Fahrzeug für eine Spritzfahrt<br />
entwendet hat 179 . Das Mitfahren auf dem Rücksitz eines Motorrads sieht das Bundesgericht<br />
hingegen nicht mehr als spezifisch gefährliche Fahrt 180 .<br />
– Daneben ist eine Senkung der Haftungsquote des Halters ausserdem denkbar bei der Verletzung<br />
(verkehrsrechtlich statuierter) Regeln, die der Sicherheit des Passagiers dienen.<br />
Hier ist insbesondere an die Helmtragungspflicht 181 und an das Gurtenobligatorium 182 zu<br />
denken. Im Sozialversicherungsrecht gilt die Missachtung dieser Pflichten als grobfahrlässiges<br />
Selbstverschulden 183 . So weit gehen die Lausanner Richter nicht. In BGE 117 II 617<br />
führte die Missachtung der Gurtentragpflicht bei einer Lenkerin zu einem Abzug von<br />
10 %, was die bundesgerichtliche Annahme eines leichten Selbstverschuldens nahe legt 184 .<br />
Hierzu ist folgendes anzumerken:<br />
- Erstens entspricht die Kürzung von 10% im Ergebnis dem Abzug, den das EVG in der<br />
Regel unter dem Titel der Grobfahrlässigkeit vornahm – wobei daran zu erinnern ist,<br />
dass leichtes oder mittleres Verschulden keine Kürzung erlaubte (Art. 37 Abs. 2<br />
Altersgrenzen Brehm, responsabilité civile automobile, Rn. 356; Geissler, Kinder im<br />
Strassenverkehr, 12. Interessant die Rechtslage in Frankreicht (Loi Badinter): Haftung unter 16<br />
Jahren nur bei Vorsatz.<br />
176 Vgl. BGE 84 II 292 (296 f.).<br />
177 Vgl. BGE 124 II 182 (184); BGE 84 II 292 (297).<br />
178 Vgl. BGE 79 II 395 (397); BGE 91 II 218 (222); BGE 84 II 292 (297); BGE 99 II 366 (274).<br />
179 Vgl. BGE 124 III 182 (184).<br />
180 Vgl. die Hinweise auf die Rechtsprechung in Brehm, responsabilité civile automobile, Rn. 370.<br />
181 Art. 57 Abs. 5 lit. b SVG. Art. 3b VRV. Die Helmtragungspflicht gilt – anders als etwa in England<br />
– auch für den Sikh. Das ist gemäss Feststellung der Europäischen Menschenrechtskommission<br />
auch EMRK-konform. Vgl. BGE 119 IV 260 (261 f.).<br />
182 Art. 57 Abs. 5 lit. a SVG; Art. 3a VRV.<br />
183 BGE 121 V 45 (48): Helmtragungspflicht. BGE 114 V 315 (317 unten); 118 V 305 (307): Sicherheitsgurten.<br />
184 Abzug von 10% auch in Gilléron/Winterthur (Waadt, n.p.), zitiert in Brehm, responsabilité civile<br />
automobile, Rn. 372.<br />
35
S. EMMENEGGER/R. GEISSELER, SVG-Haftung<br />
aUVG). Trotz unterschiedlicher Qualifikation waren also die realen Kürzungskonsequenzen<br />
dieselben 185 .<br />
- Zweitens sieht das revidierte UVG im Grundsatz Kürzungen nur noch bei absichtlicher<br />
Herbeiführung der Schädigung vor 186 . Das Nichttragen der Sicherheitsgurten wird<br />
keinen Kürzungstatbestand mehr bilden, womit auch das Problem der unterschiedlichen<br />
Verschuldensbemessung im Sozialversicherungs- und Haftpflichtrecht entfällt.<br />
- Drittens lagen den bisherigen Haftpflichtentscheiden zur Gurtentragungspflicht Sachverhalte<br />
zugrunde, die sich vor der Einführung des Gurtenobligatoriums ereigneten 187 .<br />
Mit Blick auf die geltende Rechtslage scheint heute ein höhere Gewichtung des Verschuldens<br />
gerechtfertigt, wobei als Richtlinie von einem Abzug von 20 - 25% auszugehen<br />
ist 188 .<br />
– Schliesslich kann sich haftungsmindernd für den Halter der Umstand der Gefälligkeitsfahrt<br />
auswirken. Vor der Revision des SVG von 1975 konnte der Richter die Entschädigung<br />
ermässigen oder gar ausschliessen, wenn der Passagier unentgeltlich mitgeführt wurde<br />
oder ihm das Fahrzeug unentgeltlich überlassen worden war (Art. 59 Abs. 3 aSVG) 189 .<br />
Die Bestimmung wurde ersatzlos gestrichen. Die Haftungsreduktion für Gefälligkeitsfahrten<br />
steht aber weiterhin zur Debatte: Art. 62 SVG verweist für die Bemessung des Schadens<br />
auf das Obligationenrecht und damit auch auf Art. 43 Abs. 1 OR 190 . Umfang und<br />
Modalitäten der Reduktion sind umstritten, wie das auch das Bundesgericht festhält 191 .<br />
Die praktische Bedeutung der Frage ist im Zusammenhang mit Gratispassagieren eher gering.<br />
Pointierter präsentiert sich die Problematik hingegen bei der unentgeltlichen Überlassung<br />
des Fahrzeugs 192 .<br />
185 BGE 118 V 305 (308) begründet die unterschiedliche Verschuldensqualifikation mit dem unterschiedlichen<br />
Haftungssystem der beiden Teilrechtsordnungen. Im SVG besteht bei Annahme<br />
eines groben Selbstverschuldens die Möglichkeit eines vollständigen Haftungsausschlusses (Art.<br />
59 Abs. 1 SVG).<br />
186 Vgl. Art. 37 Abs. 1 UVG. Eine Kürzung ist sodann vorgesehen, wenn der Unfall im Zusammenhang<br />
mit der nicht vorsätzlichen Ausübung eines Verbrechens oder Vergehens erfolgte (Art. 37<br />
Abs. 3 UVG). Eine Rolle spielt die Grobfahrlässigkeit lediglich noch beim Taggeld bei Nichtberufsunfällen.<br />
Im ATSG ist eine Kürzung bei Grobfahrlässigkeit nicht vorgesehen (Art. 21 ATSG).<br />
187 In BGE 117 II 617: 1979. Für den nicht publizierten Entscheid Gilléron/Winterthur (1983) siehe<br />
den Hinweis bei Brehm, responsabilité civile automobile, Rn. 373.<br />
188 Weniger streng Brehm, La responsabilité civile automobile, Rn. 373, der eine solche Kürzung nur<br />
annehmen will, wenn der Passagier aufgrund der Umstände (Strassenzustand, nächtliche Fahrt) zu<br />
besonderer Vorsicht verpflichtet ist.<br />
189 Damit sollten die Fahrgewohnheiten zugunsten einer besseren Fahrzeugauslastung geändert werden.<br />
Rusconi, responsabilité, 431, bringt diesen Punkt der Revision entsprechend mit der Ölkrise<br />
der 70er Jahre in Verbindung. Vgl. zur Motivation der Gesetzesänderung auch Oftinger/Stark,<br />
Schweizerisches Haftpflichtrecht II/2, § 25 Rn. 582.<br />
190 BGE 127 III 446 (447 f.) und vor allem BGE 117 II 609 (618). Für die Lehre statt anderer<br />
Oftinger/Stark, Schweizerisches Haftpflichtrecht II/2, § 25 Rn. 583. Der Grundsatz, wonach die<br />
Gefälligkeit seitens des Haftpflichtigen dessen Ersatzpflicht beeinflussen kann, ergibt sich auch<br />
aus Art. 99 Abs. 2 OR. Dazu Geisseler, Haftpflicht und Versicherung, 20 f.<br />
191 BGE 117 II 609 (618).<br />
192 Siehe dazu sogleich unten (Haftung des Halters gegenüber dem Lenker seines eigenen Fahrzeugs).<br />
36
S. EMMENEGGER/R. GEISSELER, SVG-Haftung<br />
c) Problemfälle<br />
aa) Haftung des Halters gegenüber dem Lenker seines eigenen Fahrzeugs<br />
Der vom Halter verschiedene Lenker kommt – gleich wie ein Fussgänger oder ein Passagier –<br />
grundsätzlich in den vollen Genuss der Gefährdungshaftung nach Art. 58 SVG. Er selbst<br />
untersteht der Verschuldenshaftung 193 . Das gilt auch dann, wenn der Halter sein Fahrzeug<br />
einer Drittperson überlässt, dieser einen Unfall verursacht und dabei geschädigt wird. Trifft<br />
den Lenker ein Verschulden, liegt der Fall einer Kollision von Motorfahrzeughalter- mit Verschuldenshaftung<br />
vor. Haftungsmindernd oder -entlastend für den Halter fällt das Selbstverschulden<br />
des Lenkers in Betracht. Das Betriebsrisiko bleibt beim Halter. Diese Lösung ist<br />
– zumindest, was den Halter ohne zusätzliches Verschulden (z. B. in Form des mangelhaften<br />
Fahrzeugzustandes) betrifft – nicht selbstverständlich und gibt auch Anlass zu Kritik 194 .<br />
In der Tat ist schwer einzusehen, weshalb ein unbeteiligter und schuldloser Halter für den<br />
Schaden desjenigen aufzukommen hat, dem er das Fahrzeug zum Gebrauch überlassen hat<br />
und der am Steuer sein Schicksal buchstäblich in eigenen Händen hält. Keller schreibt dazu:<br />
„Und wenn ein Lenker nichts Gescheiteres zu tun weiss, als in einen Baum zu fahren, so wäre<br />
es ja wirklich abwegig, in ihm noch das arme, ersatzberechtigte Opfer der Betriebsgefahr zu<br />
sehen.“ 195 Die jüngere Rechtsprechung geht andere Wege 196 :<br />
– Im Ergebnis besonders erstaunlich ist BGE 117 II 609: Die Ehefrau des Halters verunglückte<br />
bei einem Glatteisunfall. Die Vorinstanz hat die Halterhaftung um je 10% wegen<br />
leichten Selbstverschuldens und wegen Nichttragens der Sicherheitsgurten reduziert. Das<br />
Bundesgericht hat die Haftungsquote von 80 % zu Lasten des Halters bestätigt.<br />
– In BGE 127 III 446 ging es um einen Lenker, der mit dem Auto seines Cousins in einer<br />
scharfen Linkskurve von der Fahrbahn abkam und dabei erhebliche Verletzungen erlitt.<br />
Hier wurde das Selbstverschulden des Lenkers mit 30% veranschlagt. Dazu kam ein Gefälligkeitsabzug<br />
von 30%, so dass die Schadenersatzpflicht des Halters insgesamt auf 40%<br />
des Gesamtschadens festgelegt wurde 197 .<br />
Noch offen ist, wie dem Malaise beizukommen ist. So wird beispielsweise de lege ferenda<br />
vorgeschlagen, den Halter nur noch haften zu lassen, wenn ihn selbst ein Verschulden trifft 198 .<br />
Es stellt sich allerdings die Frage, ob sich das Problem nicht auch de lege lata lösen liesse.<br />
Ein Ansatzpunkt wäre ein Splitting der Betriebsgefahr in latente Gefährdung und konkrete<br />
Verwirklichung. Oder es könnte das Risiko, welches das Lenken eines Motorfahrzeuges be-<br />
193 Vgl. Bussy/Rusconi, circulation routière, N o 3.4. ad art. 58 LCR; Hulliger, Haftungsverhältnisse, 5;<br />
Oftinger/Stark, Schweizerisches Haftpflichtrecht II/2, § 25 Rn. 71; Schaffhauser/Zellweger,<br />
Grundriss Strassenverkehrsrecht II, Rn. 930.<br />
194 Rusconi, responsabilité, 429 ff.; Vaverka, Überlegungen, 198 ff. Kritisch bei der unentgeltlichen<br />
Überlassung des Fahrzeugs auch Keller, Haftpflicht im Privatrecht I, 310. Positiv dagegen<br />
Hulliger, Haftungsverhältnisse, 6.<br />
195 Keller, Haftpflicht im Privatrecht I, 309.<br />
196 Vgl. immerhin BGE 88 II 305 f.: Der Lenker fuhr in einen Baum. Das Bundesgericht nahm ein<br />
haftungsausschliessendes Verhalten an.<br />
197 Im Unterschied zu BGE 117 II 609 wurde in BGE 127 III 446 die Gefälligkeit des Halters haftungsreduzierend<br />
berücksichtigt. Ausschlaggebend war die Begründung der Vorinstanz: Die Überlassung<br />
des Fahrzeugs – unentgeltlich und ohne Eigeninteresse – habe das selbst unter Verwandten<br />
allgemein übliche Mass an Grosszügigkeit überschritten.<br />
198 Vgl. Vaverka, Überlegungen, 202; Hulliger, Haftungsverhältnisse, 6, erachtet eine solche Gesetzesänderung<br />
nicht als dringend.<br />
37
S. EMMENEGGER/R. GEISSELER, SVG-Haftung<br />
inhaltet, als Umstand im Sinne von Art. 44 OR qualifiziert werden 199 . Solche Betrachtungsweisen<br />
wurden jedoch vom Bundesgericht bisher nicht goutiert 200 .<br />
bb) Haftung des Lenkers gegenüber dem Halter<br />
Im Vordergrund stehen Fälle, in denen der Halter in seinem eigenen Wagen als Beifahrer zu<br />
Schaden kommt. Seit der Revision von Art. 63 Abs. 3 lit. a SVG im Jahre 1995 können Personenschadenansprüche<br />
des Halters gegenüber dem Lenker (und anderer mitwirkender Hilfspersonen,<br />
für die er gemäss Art. 58 Abs. 4 SVG verantwortlich ist) nicht mehr von der<br />
Zwangsversicherung ausgeschlossen werden 201 . Der Halter-Passagier hat damit einen Direktanspruch<br />
gegen seine eigene Halterversicherung 202 .<br />
Ziel der Revision war die Gleichstellung des mitfahrenden Fahrzeughalters mit den<br />
anderen mitfahrenden Passagieren 203 . Verwirklicht wurde es nur zum Teil: Die Neufassung<br />
von Art. 63 Abs. 3 lit. a SVG bringt zwar eine Deckungserweiterung, aber keine Änderung<br />
der Haftungsgrundlagen 204 – wobei fraglich ist, ob dies vom Gesetzgeber erkannt wurde 205 .<br />
Im Ergebnis gilt nach wie vor das Prinzip der Vorwegtragung eines Schadenanteils des Halters<br />
wegen der von ihm zu vertretenden Betriebsgefahr. Als Passagier kann sich der Halter<br />
nicht auf die Kausalhaftung berufen und hat die Betriebsgefahr des Fahrzeuges selbst zu vertreten<br />
206 . Der Lenker haftet nach Art. 41 OR nur für Verschulden. Zur Diskussion steht mithin<br />
wiederum eine Haftungskollision zwischen Verschuldens- und Halterhaftung. Es stellen<br />
sich – mit umgekehrten Vorzeichen – dieselben Fragen, denen wir bei der Haftung des Halters<br />
gegenüber dem Lenker begegnet sind.<br />
Unterstellt man Schuldlosigkeit des Halters und Mängelfreiheit des Fahrzeuges und trägt man<br />
der vom Bundesgericht verpönten Verwirklichung der Betriebsgefahr durch den Lenker nicht<br />
Rechnung, ergeben sich folgende Lösungen:<br />
– Bei Schuldlosigkeit des Lenkers hat der Halter wegen der von ihm zu vertretenden<br />
Betriebsgefahr (die bei sektorieller Aufteilung als einzige Schadenursache zu berücksichtigen<br />
ist) den eigenen Schaden vollumfänglich selbst zu tragen. Es entfällt mangels Haftpflicht<br />
einer Drittperson auch jedwelcher Anspruch gegenüber dem eigenen Haftpflichtversicherer.<br />
199 So Brehm, reponsabilité civile automobile, Rn. 382.<br />
200 BGE 105 II 209 (213 f.); BGE 113 II 323 (329 f.); BGE 117 II 609 (620). Zur Problematik siehe<br />
oben S. 28 (Betriebsgefahr als Haftungsgrund).<br />
201 Die Versicherungen machten von dieser Ausschlussmöglichkeit durchweg Gebrauch, vgl. Vogel,<br />
SVZ 64 (1996), 26.<br />
202 Bussy/Rusconi, circulation routière, N o 2.3.4. ad art. 63 LCR, monieren, die Motorhaftpflichtversicherung<br />
mutiere zur Unfallversicherung.<br />
203 BBl 1995 I, 55: „[Der Halter] soll künftig bei Personenschäden die gleichen Ansprüche gegen seinen<br />
Haftpflichtversicherer haben wie andere im Fahrzeug mitfahrende Personen.“<br />
204 Vgl. hierzu Bussy/Rusconi, circulation routière, N o 2.3.4. ad art. 63 LCR; Vogel, SVZ 64 (1996),<br />
26 f. Im weiteren Weber, Privatversicherungen, § 4 Rn. 4.76.<br />
205 Vgl. BBl 1995 I, 55; Amt. Bull NR 1995, 1212 (Bundesrat Koller), wo durchweg von der Gleichstellung<br />
des mitfahrenden Halters mit den anderen mitfahrenden Personen die Rede ist: „[Der<br />
Halter] soll künftig bei Personenschäden die gleichen Ansprüche gegen seinen Haftpflichtversicherer<br />
haben wie andere im Fahrzeug mitfahrende Personen.“ Und: „Mit dieser Vorlage wird der<br />
Halter ... den anderen im Fahrzeug mitfahrenden Personen gleichgestellt.“<br />
206 Keller, Haftpflicht im Privatrecht I, 310.<br />
38
S. EMMENEGGER/R. GEISSELER, SVG-Haftung<br />
– Bei grobfahrlässigem Verschulden des Lenkers, das geeignet ist, die Kausalität zwischen<br />
Betriebsgefahr und Schaden auszuschalten, erhält der Halter den Schaden voll ersetzt.<br />
– Bei sonstigem einseitigem Verschulden des Lenkers hat sich der Halter je nach Verschuldensgrad<br />
mit einer Quote von 20 - 60% zu begnügen 207 .<br />
– Einen Abzug muss sich der Halter unter Umständen auch gefallen lassen, wenn der Lenker<br />
ihm gegenüber eine Gefälligkeit erweist, beispielsweise, wenn er nach durchzechter Nacht<br />
nach Hause oder bei akuter Erkrankung ins Spital chauffiert wird. Allerdings bedarf es<br />
einer Gefälligkeit, die das übliche und zumutbare Mass eines Freundschaftsdienstes übersteigt.<br />
3. Motorfahrzeughaftung contra milde Kausalhaftung<br />
Da im SVG eine griffige Kollisionsregel für diese Haftungskonstellation fehlt, haben Rechtsprechung<br />
und Doktrin eigene Leitlinien entwickelt. Grundsätzlich kann man davon ausgehen,<br />
dass die Verwirklichung einer Betriebsgefahr (Gefährdungshaftung) gravierender ist als<br />
die Verwirklichung des den einfachen Kausalhaftungen zugrunde liegenden Haftungstatbestandes<br />
208 . Das Ergebnis wäre in etwa eine Schadenstragung des Motorfahrzeughalters zu<br />
zwei Dritteln 209 . Die Dichotomie der Kausalhaftungen schlägt also im Kollisionsfall auf die<br />
Schadensverteilung durch. Von praktischer Bedeutung ist insbesondere das Zusammentreffen<br />
einer Motorfahrzeughalterhaftung mit einer Werkeigentümerhaftung (Art. 58 OR) oder einer<br />
Tierhalterhaftung (Art. 56 OR).<br />
a) Kollision mit Werkeigentümerhaftung<br />
Im Rahmen von Art. 58 OR ist die mangelhafte Strasse seit jeher ein prominentes Beispiel<br />
eines Werkes. Entsprechend üppig ist dokumentiert, wer sich mit den Feinheiten dieses Themas<br />
vertraut machen will 210 . Im Allgemeinen auferlegt sich die Rechtsprechung bei der<br />
Beurteilung der Haftung des Gemeinwesens für mangelhaften Strassenunterhalt recht weitgehende<br />
Zurückhaltung 211 . Das gilt insbesondere bei Glatteisunfällen. In BGE 129 III 65<br />
(Tessiner Glatteisentscheid) 212 rechtfertigt das Bundesgericht den Umstand, dass „bis heute<br />
bei Unfällen ausserorts mit Motorfahrzeugen noch nie eine Haftung des Strasseneigentümers<br />
angenommen wurde“ 213 , mit dem Hinweis darauf, dass es am Fahrzeuglenker liege, seine Geschwindigkeit<br />
den Strassenverhältnissen anzupassen. Dessen ungeachtet hat das Bundesgericht<br />
im erwähnten Entscheid erstmals die Teilhaftung des Gemeinwesens wegen unterlassener<br />
Verhütung von Glatteisbildung bejaht. Bei der Festlegung der Haftungsquote<br />
führte das „nicht unerhebliche“ Verschulden des Motorfahrzeuglenkers, der in einer Kurve<br />
207 Überträgt man BGE 117 II 609 auf die vorliegende Konstellation, ergibt sich zu Lasten des Lenkers<br />
eine Haftungsquote von 20 %. Der Halter hätte wegen der Betriebsgefahr 80 % des Schadens<br />
selbst zu tragen.<br />
208 Vgl. etwa Brehm, responsabilité civile automobile, N. 439 m. w. N.<br />
209 Keller, Haftpflicht im Privatrecht I, 389, der diese Quote insbesondere beim Zusammenstoss einer<br />
Motorfahrzeug- und Tierhalterhaftung als angemessen empfindet.<br />
210 Siehe z. B. Brehm, Berner Kommentar, Rn. 161 ff. zu Art. 58 OR; Fleischmann, Werkeigentümerhaftung,<br />
140 ff.; Werro, responsabilité de l’Etat, 6 ff., jeweils m. w. N.<br />
211 Vgl. aber Fleischmann, Werkeigentümerhaftung, 148, der in BGE 116 II 645 und weiteren kanntonalen<br />
Urteilen eine gewisse Trendwende zu erkennen glaubt.<br />
212 Besprochen von Hofer/Bolle, erscheint in: HAVE 1/2004.<br />
213 Übersetzung gemäss Praxis 2003, Nr. 121, 643 (646).<br />
39
S. EMMENEGGER/R. GEISSELER, SVG-Haftung<br />
wegen Glatteises von der Fahrbahn abkam und mit einem Baum kollidierte, vorab zu einem<br />
Abzug von 35%. Der vom Motorfahrzeughalter zu vertretenden Betriebsgefahr wurde ein Ursachenanteil<br />
von 25% zugemessen, so dass eine Haftungsquote von 40% zu Lasten des<br />
(schuldlosen) Strasseneigentümers resultierte.<br />
Dieses Ergebnis ist nicht stringent; umso weniger, als das Bundesgericht selbst eingeräumt<br />
hat, dass „grundsätzlich die der Betriebsgefahr zugrunde liegende Haftung schwerer wiegt als<br />
die des Strasseneigentümers“ 214 . Bei der Kollision der Gefährdungshaftung mit einer gewöhnlichen<br />
Kausalhaftung wäre folgerichtig bei der sektoriellen Verteilung dem Gefährdungshaftpflichtigen<br />
wegen der Betriebsgefahr ein grösserer Sektor anzulasten als dem milde<br />
Kausalhaftpflichtigen wegen des Werkmangels 215 . Ohne Berücksichtigung eines Verschuldens<br />
auf der einen oder der anderen Seite müsste unseres Erachtens die Betriebsgefahr mit<br />
60 - 70%, der Werkmangel mit 30 - 40% gewichtet werden. Bei einem nicht nur geringfügigen<br />
einseitigen Verschulden des Motorfahrzeughalters stellt sich die Frage, ob eine Teilhaftung<br />
des (schuldlosen) Werkeigentümers gerechtfertigt ist. Nach den Regeln der sektoriellen<br />
Verteilung ist die Frage zu bejahen. Auf der anderen Seite ist nicht ohne weiteres einzusehen,<br />
weshalb ein allein schuldiger Motorfahrzeughalter bei Kollision mit einem anderen Halter<br />
nach Art. 61 SVG leer ausgehen 216 , er hingegen vom mild kausal haftpflichtigen Werkeigentümer<br />
einen Teil des Schadens ersetzt erhalten soll. Damit soll nicht einer analogen Anwendung<br />
von Art. 61 Abs. 1 SVG auf die Kollisionsfälle von Motorfahrzeughalter und gewöhnlichen<br />
Kausalhaftungen das Wort geredet werden. Es geht lediglich darum klarzustellen, dass<br />
die Betriebsgefahr, welche eine scharfe Kausalhaftung begründet, stärker zu gewichten ist als<br />
ein Werkmangel 217 . Zumindest ein mittleres Verschulden des Motorfahrzeughalters dürfte im<br />
Verbund mit der Betriebsgefahr eine Haftung des (schuldlosen) Werkeigentümers ausschliessen<br />
218 .<br />
Auch wenn der Tessiner Glatteisentscheid kritisch zu würdigen ist, weil das Bundesgericht<br />
die stärkere Gewichtung der scharfen Kausalhaftung in Art. 58 SVG gegenüber der einfachen<br />
Kausalhaftung in Art. 58 OR zwar anerkennt, aber nicht danach handelt, so vermag dies angesichts<br />
der bisherigen Rechtsprechung nicht zu erstaunen:<br />
– Bis zum Entscheid in BGE 108 II 51 (Berner Torbogenfall) wurde mit Blick auf die Schadensverteilung<br />
zwischen Fahrzeughalter und Werkeigentümer die Betriebsgefahr als Kriterium<br />
für den Verteilungsschlüssel durchweg ignoriert 219 . Dies führte zu einer Rechtsprechung,<br />
bei der im Falle des schuldlosen Halters eine volle Haftung des Werkeigentümers<br />
angenommen wurde 220 .<br />
– Im Torbogenfall selbst stand auf der einen Seite die Betriebsgefahr, auf der anderen Seite<br />
der Werkmangel sowie ein (nicht weiter qualifiziertes) Verschulden des Werkeigentümers.<br />
Die Halterhaftung wurde auf einen Drittel, die Werkeigentümerhaftung auf zwei Drittel<br />
festgesetzt. Aus dem Entscheid kann zudem gefolgert werden, dass das Bundesgericht bei<br />
214 Übersetzung gemäss Praxis 2003, Nr. 121, 643 (652).<br />
215 Oftinger/Stark, Schweizerisches Haftpflichtrecht I, § 9 Rn. 41.<br />
216 Dies zumindest unter dem Titel der Kompensationsmethode, deren Massgeblichkeit im Bereich<br />
von Art. 61 Abs. 1 SVG allerdings nicht unbestritten ist. Siehe dazu unten S. 43 (Halter contra<br />
Halter).<br />
217 In BGE 108 II 51 (57 f.) ging das Bundesgericht von einer hälftigen Haftung des Werkeigentümers<br />
aus. Wegen zusätzlichen Verschuldens wurde die Haftungsquote zu Lasten des Werkeigentümers<br />
auf 2/3 erhöht.<br />
218 So auch Brehm, responsabilité civile automobile, Rn. 477 f.<br />
219 Reiche Kasuistik bei Brehm, responsabilité civile automobile, Rn. 479 ff.<br />
220 Vgl. die Nachweise bei Brehm, responsabilité civile automobile, Rn. 480.<br />
40
S. EMMENEGGER/R. GEISSELER, SVG-Haftung<br />
fehlendem Verschulden auf beiden Seiten von einer Haftung zu etwa der Hälfte ausgegangen<br />
wäre 221 .<br />
– In BGE 116 II 645 (Strassenbelag Grosser St. Bernhard) standen sich Betriebsgefahr und<br />
(nicht qualifiziertes) Verschulden einerseits und Werkmangel andererseits gegenüber.<br />
Dies führte zu einer Quote von zwei Dritteln zulasten des Halters und von einem Drittel<br />
zulasten der Werkeigentümerin. Bei fehlendem Verschulden auf beiden Seiten würde man<br />
sich also wiederum im Bereich der hälftigen Teilung bewegen.<br />
– In derselben Sitzung beurteilte das Bundesgericht einen ähnlichen Schadensfall, der sich an<br />
derselben Stelle ereignet hatte. Es erkannte auf die hälftige Teilung des Schadens 222 , ohne<br />
zur abweichenden Verteilung Stellung zu nehmen.<br />
Dies zeigt: Der Tessiner Glatteisfall ist kein Ausreisser, sondern er liegt auf der Linie der bisherigen<br />
bundesgerichtlichen Rechtsprechung. Kontinuität ist allerdings kein Garant für<br />
Richtigkeit. Die scharfe und die einfache Kausalhaftung sind im Falle der Kollision unterschiedlich<br />
zu gewichten, und zwar nicht nur im Grundsatz, sondern auch bei der effektiven<br />
Zuteilung der Haftungsquoten.<br />
b) Kollision mit Tierhalterhaftung<br />
Die genannten Kriterien gelten auch für die Kollision von Motorfahrzeughalter- und Tierhalterhaftung.<br />
Die Praxis nimmt bei beidseitiger Schuldlosigkeit eine Quote zu Lasten des<br />
Motorfahrzeughalters von 2/3 an 223 . Auch hier gilt es zu berücksichtigen, dass die Gefährdungshaftung<br />
des Motorfahrzeughalters einen ausgeprägteren Haftungsgrund darstellt als die<br />
gewöhnliche Kausalhaftung des Tierhalters.<br />
c) Kollision mit Haftung des Familienoberhauptes<br />
Hinzuweisen ist darauf, dass, wo im Namen verunfallter Kinder Ansprüche gegen den Motorfahrzeughalter<br />
geltend gemacht werden, keine Kollision mit der Haftung nach Art. 333 ZGB<br />
vorliegt, da dem Kind die mangelnde Beaufsichtigung durch die Eltern nicht als Selbstverschulden<br />
entgegenhalten und angerechnet werden kann 224 . Haftungsausschliessendes (also<br />
grobes) Drittverschulden der Eltern im Sinne von Art. 59 Abs. 1 SVG wird in der Regel nicht<br />
angenommen 225 . Halter und Familienoberhaupt haften solidarisch (Art. 60 Abs. 1 SVG) 226 .<br />
Wird der Halter – bzw. was üblich sein dürfte – dessen Versicherer belangt, so muss dieser<br />
den ganzen Schaden tragen und ist für die Geltendmachung von Ansprüchen gegen die Eltern<br />
auf den Regressweg verwiesen 227 . Anwendbare Regressnorm ist Art. 60 Abs. 2 Satz 1 SVG.<br />
221 Ausdrücklich verwirft das Bundesgericht eine Schadensverteilung, wie sie bei der verschuldensfreien<br />
Kollision von Fahrzeughalterhaftung und Tierhalterhaftung angewendet wird, nämlich: 2/3<br />
Halter, 1/3 Tierhalter. Die Risiken, die dem Strassenverkehr aus der Werkeigentümerhaftung entstehen<br />
liessen, seien grösser. Vgl. BGE 108 II 51 (57).<br />
222 Fall zitiert in Brehm, responsabilité civile automobile, Rn. 487.<br />
223 BGE 108 II 51 (57); Keller, Haftpflicht im Privatrecht I, 389; Brehm, responsabilité civile automobile,<br />
Rn. 444 ff.; Schaffhauser/Zellweger Grundriss Strassenverkehrsrecht II, Rn. 1387;<br />
Oftinger/Stark, Schweizerisches Haftpflichtrecht I, § 9 Rn. 41.<br />
224 Allgemein zur Haftung des Familienoberhauptes siehe Girsberger, Basler Kommentar zu Art. 333<br />
ZGB.<br />
225 Baur, Kollision, 59 f.<br />
226 Brehm, responsabilité civile automobile, Rn. 490.<br />
227 Baur, Kollision, 60.<br />
41
S. EMMENEGGER/R. GEISSELER, SVG-Haftung<br />
Eine Kollision zwischen den in Art. 58 SVG und Art. 333 ZGB statuierten Haftungsgründen<br />
liegt nur im Fall vor, dass Eltern im Zusammenhang mit dem Tod ihres Kindes Ersatz für<br />
selbst erlittenen Schaden (Versorgerschaden) verlangen. Dabei ist wiederum, ja gegenüber<br />
Kollisionskonstellationen mit Art. 56 und 58 OR vermehrt 228 , in Rechnung zu stellen, dass die<br />
Betriebsgefahr als Unfallursache stärker ins Gewicht fällt als die mangelnde Beaufsichtigung<br />
durch die Eltern. Das dürfte bei beidseitiger Schuldlosigkeit zu einer Quote von mindestens<br />
3/4 zu Lasten des Motorfahrzeugshalters führen. Verschiebungen ergeben sich selbstredend,<br />
wenn auf der einen oder anderen Seite oder beidseits ein Verschulden mitspielt.<br />
4. Motorfahrzeughalterhaftung contra andere Gefährdungshaftung<br />
„Neuralgischer Punkt“ dieser Art von Haftungskollision ist der Bahnübergang 229 . Wir beschränken<br />
uns hier auf Bemerkungen zur Kollision mit der Haftung nach dem Bundesgesetz<br />
vom 28. März 1905 über die Haftpflicht der Eisenbahn- und Dampfschiffahrtsunternehmungen<br />
und der Schweizerischen Post (EHG). Übereinstimmend wird in Doktrin und Rechtsprechung<br />
die Meinung vertreten, dass die Bahn wegen fehlender Ausweichmöglichkeiten,<br />
längerem Bremsweg und höherer Wucht der bewegten Masse eine höhere Betriebsgefahr zu<br />
vertreten hat als der Automobilist. Bei der Verteilung der Betriebsgefahren fallen in der Regel<br />
2/3 auf die Bahn und 1/3 auf das Motorfahrzeug 230 . Interessant ist in diesem Zusammenhang<br />
das Urteil des Bundesgerichts vom 20. Juli 2001 (5C.7/2001). Zur Diskussion stand die Kollision<br />
der Seetalbahn mit einem Personenwagen auf einem unbewachten Bahnübergang. Ausgehend<br />
von einem groben Verschulden der Motorfahrzeughalterin und einer auf Grund der<br />
konkreten Umstände als erhöht qualifizierten Betriebsgefahr der (schuldlosen) Bahn, erachtete<br />
das Bundesgericht eine Haftungsquote von 1/3 zu Lasten der Bahn als angemessen. Trotz<br />
groben Verschuldens der Verunfallten wurde keine Unterbrechung des Kausalzusammenhanges<br />
angenommen, weil der Bahn eine erhöhte Betriebsgefahr angelastet werden musste 231 .<br />
5. Halter contra Halter<br />
Für die Haftungskollision unter Haltern gilt die spezielle Regelung des Art. 61 Abs. 1 SVG,<br />
wonach der Schaden den Haltern aller beteiligten Motorfahrzeuge nach Massgabe des von<br />
ihnen zu vertretenden Verschuldens auferlegt wird, wenn nicht besondere Umstände, namentlich<br />
die Betriebsgefahren, eine andere Verteilung rechtfertigen. Die identische Formulierung<br />
findet sich in Art. 60 Abs. 2 Satz 2 SVG, der bei Haftungskonkurrenz die interne Aufteilung<br />
mehrerer extern solidarischer haftpflichtiger Halter zum Gegenstand hat. Das Problem ist in<br />
beiden Fällen dasselbe: Sollen die wechselseitig sich verwirklichenden Betriebsgefahren in<br />
Anwendung des Wortlautes des Gesetztes „neutralisiert“ werden (Kompensationsmethode)<br />
oder sind bei der Schadensverteilung in jedem Fall alle Schadensursachen zu berücksichtigen<br />
(sektorielle Verteilung) Zur Debatte steht hier nur der Personenschaden 232 . Dass dieser<br />
228 Brehm, responsabilité civile automobile, Rn. 491.<br />
229 Zuletzt BGE 5C.7/2001.<br />
230 Vgl. Keller, Haftpflicht im Privatrecht I, 392 und die dort aufgelistete Kasuistik; Brehm, responsabilité<br />
civile automobile, Rn. 494 ff., insb. Rn. 539; Schaffhauser/Zellweger, Grundriss Strassenverkehrsrecht<br />
II, Rn. 1353.<br />
231 Eine (kritische) Besprechung des Entscheids findet sich bei Tercier, RFJ 2004 (im Erscheinen).<br />
232 Vgl. für den Sachschaden Art. 61 Abs. 2 SVG und die entsprechenden Abhandlungen der Lehre<br />
bei Brehm, responsabilité civile automobile, Rn. 690 ff.; Hulliger, Haftungsverhältnisse, 132 ff.;<br />
Oftinger/Stark, Schweizerisches Haftpflichtrecht II/2, § 25 N. 677 ff.; Schaffhauser/Zellweger,<br />
Grundriss Strassenverkehrsrecht II, Rn. 1345 ff.<br />
42
S. EMMENEGGER/R. GEISSELER, SVG-Haftung<br />
Streit, was gesetzliche Grundlage und zugehörige Rechtsprechung betrifft, eine wechselhafte<br />
Vergangenheit hat, ist sattsam bekannt. Sie sei hier aber dennoch kurz wiedergegeben: Im<br />
MFG wurde die Ersatzpflicht nach der Grösse ihres Verschuldens verteilt 233 . Entsprechend<br />
gewichtete das Bundesgericht das Verschulden stärker als die Betriebsgefahr. Das SVG<br />
schrieb dann bis zur Revision von 1975 eine hälftige Schadenteilung vor, was bei Vorliegen<br />
besonderer Umstände (insbesondere Verschulden) korrigiert werden konnte. Nach anfänglichem<br />
Mäandrieren hat das Bundesgericht diese Regel schliesslich invertiert 234 : Verschulden<br />
als ausschlaggebender Faktor, Beachtung der Betriebsgefahr lediglich als Korrekturmöglichkeit.<br />
Der Gesetzgeber hat 1975 diese Praxis in die heute geltende Regel in Art. 60 und 61<br />
SVG umgesetzt 235 .<br />
Der Wortlaut des Gesetzes spricht klar für die Kompensationsmethode. Diese wird denn<br />
auch vom Bundesgericht favorisiert, um nicht zu sagen konsequent angewendet. Bei einseitigem<br />
Verschulden hat ein Halter unabhängig von den Betriebsgefahren grundsätzlich den ganzen<br />
Schaden zu tragen. Eine andere Haftungsaufteilung auf Grund besonderer Umstände<br />
rechtfertigt sich nur, wenn den allein schuldigen Halter nur ein geringfügiges bzw. ganz leichtes<br />
Verschulden trifft oder sich die Betriebsgefahr bei einem Halter besonders stark ausgewirkt<br />
hat 236 . Unter Motorfahrzeugen werden die Betriebsgefahren als gleich gross vermutet.<br />
Das gilt selbst zwischen Auto und Motorrad, weil die grössere Gefährlichkeit des Autos für<br />
andere Verkehrsteilnehmer durch die grössere Verletzlichkeit des Motorradfahrers ausgeglichen<br />
wird.<br />
Bei beidseitiger Schuldlosigkeit kommt es (wie schon zurzeit der Geltung des alten Art. 61<br />
Abs. 1 SVG) zur Schadentragung zu gleichen Teilen. Hier erhalten die Betriebsgefahren wieder<br />
ihre Funktion als primäre Verteilfaktoren.<br />
Dem Wortlaut und der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zum Trotz wird in der Literatur<br />
zum Teil nach wie vor der sektoriellen Verteilung das Wort geredet 237 .<br />
Unter dem Aspekt der Praktikabilität ist die bundesgerichtlich approbierte Kompensationsmethode<br />
vorziehen 238 .<br />
233 Art. 37 Abs. 1 MFG. Nur wenn ein solches nicht nachgewiesen werden konnte, wurde zu gleichen<br />
Teilen gehaftet (Satz 2).<br />
234 Meilenstein ist der Fall „Meienberg“ (BGE 99 II 93 ff.).<br />
235 Vgl. zur „Entwicklungsgeschichte“ die detaillierten Darstellungen bei Brehm, responsabilité civile<br />
automobile, Rn. 552 ff.; Hulliger, Haftungsverhältnisse, 93 ff.; Geisseler, Haftpflicht und Versicherung,<br />
75 ff.<br />
236 BGE 123 III 277 (279); BGE 4C.3/2001.<br />
237 Glavas, Verschulden, 255; Hulliger, Haftungsverhältnisse, 128 ff.; Oftinger/Stark, Schweizerisches<br />
Haftpflichtrecht II/2, § 25 Rn. 649 ff.; Tercier/Gauch, Mehrheit von Ersatzpflichtigen, 33;<br />
Weber, Ausgleich unter Haltern, SVK 1994, 34 ff. Diese Meinung vertritt auch S. Emmenegger.<br />
238 Zurückhaltende Zustimmung bei Brehm, responsabilité civile automobile, Rn. 559, 643.<br />
43
S. EMMENEGGER/R. GEISSELER, SVG-Haftung<br />
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mémoires publiés par la Faculté de droit de Genève, vol. 15, S. 9 - 45.<br />
47
S. EMMENEGGER/R. GEISSELER, Anhang<br />
Anhang<br />
48
S. EMMENEGGER/R. GEISSELER, Anhang<br />
DIE KOLLISION VON HALTERHAFTUNG UND VERSCHULDENSHAFTUNG<br />
Die nachfolgende Darstellung der Haftungsquoten wurde von Herrn lic. iur. MARTIN HOFER<br />
zusammengestellt. Die aufgenommene Rechtsprechung übernimmt im Wesentlichen die<br />
Kasuistik von ROLAND BREHM, responsabilité civile automobile, Bern 1999. Die Literaturangaben<br />
beziehen sich auf BREHM, a.a.O., URBAN HULLIGER, Die Haftungsverhältnisse nach<br />
Art. 60 und 61 SVG, Freiburg 2003, ALFRED KELLER, Haftpflicht im Privatrecht, Band I,<br />
Bern 2002 und RENÉ SCHAFFHAUSER/JAKOB ZELLWEGER, Grundriss des schweizerischen<br />
Strassenverkehrsrechts, Band II, Bern 1988.<br />
Anmerkung: Dargestellt ist jeweils die Haftungsquote des Halters.<br />
1. Einseitiges leichtes Verschulden des Verschuldenshaftpflichtigen<br />
100<br />
90<br />
80<br />
70<br />
60<br />
50<br />
40<br />
30<br />
20<br />
10<br />
0<br />
Judikatur<br />
Literatur<br />
Bundesgericht<br />
– BGE 4C.278/1999 (E. 2e). Haftung des Halters zu 60%. Seine Ehefrau hatte einen Velofahrer angefahren,<br />
der beim Versuch, sich an einen Mopedfahrer anzuhängen auf die Strasse gestürzt war. Objektiv betrachtet<br />
liegt weder ein leichtes, noch ein schweres Verschulden vor (E. 2 d, aa). Die Gesamtwürdigung der Umstände<br />
(Alter: 14 Jahre, normale Intelligenz, aber generell Mühe in disziplinarischen Belangen, eventuell ungenügende<br />
Ausbildung in Sachen Strassenverkehr), liess das Verschulden in casu als vermindert erscheinen.<br />
– BGE 117 II 609 (617/620). Selbstunfall. Der Halter, Ehemann der verunfallten Lenkerin, haftet zu 80%.<br />
Abzug von je 10% wegen Nichttragens der Sicherheitsgurte und wegen unangepasster Geschwindigkeit.<br />
– BGE 111 II 89 (93). Der Halter haftet zu 80%. Das schwere Verschulden des angefahrenen Fahrradfahrers,<br />
der unvorsichtig eine viel befahrenen Strasse ausserorts überquerte, wurde aufgrund dessen Alter ( 9 ½ Jahre)<br />
als gering taxiert. Dem Halter wurde aufgrund der hohen (aber damals erlaubten) Geschwindigkeit von 130 -<br />
140 km/h eine erhöhte Betriebsgefahr angerechnet.<br />
– BGE 96 II 446, n. p. E. 5. Der Halter haftet zu 50%. Er hatte bei einem "Stopp" nur knapp rechtzeitig anhalten<br />
können. Der erschreckte (vortrittsberechtigte) Lenker (Nichthalter) verursacht durch ein übertriebenes<br />
Ausweichmanöver einen Unfall. Vgl. Brehm, Rn. 397.<br />
Kantonale Gerichte<br />
– Tribunal cantonal vaudois, Urteil vom 24.3.1965, in: JdT 1969 I, Nr. 62, 447 f. Der Halter (eines Scooters)<br />
haftet zu 50%. Der angefahrene Fussgänger hatte nachts und bei Regen eine stark befahrene Strasse überquert,<br />
wobei er nicht genügend aufmerksam war.<br />
Literatur<br />
Brehm (Rn. 404): 66 - 75%. Hulliger (S. 87): 60 - 80%. Keller (S. 387): 66 - 75%.<br />
49
S. EMMENEGGER/R. GEISSELER, Anhang<br />
2. Einseitiges mittleres Verschulden des Verschuldenshaftpflichtigen<br />
100<br />
90<br />
80<br />
70<br />
60<br />
50<br />
40<br />
30<br />
20<br />
10<br />
0<br />
Judikatur<br />
Literatur<br />
.<br />
Kantonale Entscheide<br />
– Handelsgericht Zürich, Urteil vom 21.9.1967, in: ZR (67) 1968 Nr. 39, 155 (157). Haftung des Halters zu<br />
33%. Ein Fussgänger war unvorsichtig auf die Fahrbahn getreten, die er allerdings nicht überqueren wollte.<br />
Zudem konnte er die Abgrenzung zwischen Trottoir und Fahrbahn infolge Schneefalls nicht erkennen. Das<br />
Handelsgericht erachtete die Gewichtung des Betriebsgefahrsanteils zu einem Drittel als hinlänglich. Dies<br />
unter Hinweis auf BGE 84 II 304 (310), wonach das Verschulden verantwortungsmässig schwerer wiege als<br />
die Verwirklichung der Betriebsgefahr.<br />
Literatur<br />
Brehm (Rn. 404): 40 - 66%. Hulliger (S. 87): 40 - 60%. Keller (S. 387): Haftung unter 50%, bei einem Verschulden,<br />
das an grobe Fahrlässigkeit grenzt. Schaffhauser/Zellweger (Rn. 1379): Haftung unter 50%, falls Verschulden<br />
des Nichthalters erheblich, aber nicht so grob ist, dass sich der Halter entlasten kann.<br />
50
S. EMMENEGGER/R. GEISSELER, Anhang<br />
3. Einseitiges schweres Verschulden des Verschuldenshaftpflichtigen<br />
Im Prinzip keine Haftung des Halters (SVG 59). Graphisch dargestellt sind die Sonderfàlle, in denen der Halter<br />
dennoch haftet, hauptsächlich weil ihm der Entlastungsbeweis nicht gelingt. Für den letztgenannten Fall werden<br />
in der Literatur besondere Haftungsquoten propagiert (vgl. Graphik und untenstehende Literaturhinweise).<br />
100<br />
90<br />
80<br />
70<br />
60<br />
50<br />
40<br />
30<br />
20<br />
10<br />
0<br />
Judikatur<br />
Literatur<br />
Bundesgericht<br />
– Urteil 4C.410/1999 (E. 4b). Haftung des Halters zu 60%. Die Quote kam aufgrund eines Vergleichs zustande<br />
gekommen, der angefochten wurde. Der Halter war mit einer Fahrradfahrerin zusammengestossen,<br />
die beim Linksabbiegen einhändig fuhr und deren Rad nicht betriebssicher war. Gemäss Vorinstanz stellt das<br />
Verschulden des Kindes (10 ¾ Jahre) in casu – und explizit im Gegensatz zu BGE 111 II 89 – ein schweres<br />
Verschulden dar. Das Bundesgericht konnte in dieser Qualifikation keine Bundesrechtswidrigkeit erkennen.<br />
– BGE 64 II 237 (243). Haftung des Halters zu 70%. Er kollidierte an einer Strassengabelung mit einem Fahrradfahrer,<br />
der auf abschüssiger Strecke mit stark übersetzter Geschwindigkeit unterwegs war. Er konnte<br />
nicht beweisen, dass der Richtungszeiger im entscheidenden Moment gestellt war. Ausserdem hätte sich der<br />
Automobilist vorsichtigerweise vor dem Einbiegen weiter rechts halten müssen. Das Verschulden des Automobilisten<br />
bezeichnet das Bundesgericht im Vergleich zu jenem des Fahrradfahrers als geringfügig. Letzterer<br />
verstarb infolge des Unfalls. Das Bundesgericht hat bei der Festsetzung der Haftungsquote die prekäre<br />
finanzielle Lage der Witwe berücksichtigt.<br />
Kantonale Entscheide<br />
– Cour de Justice civile de Genève, Urteil vom 29.9.1961, in: Semjud 1962, 532 (537). Haftung des Halters zu<br />
circa 50%. Es blieb unklar, ob der Fahrradfahrer – wie vom Halter behauptet – zwischen zwei parkierten<br />
Fahrzeugen hindurch plötzlich auf die Strasse gelangt sei und also nicht beweisen, dass der Halter keine<br />
Möglichkeit gehabt habe, den Unfall zu vermeiden.<br />
– Cour de Justice civile de Genève, Urteil vom 13.5.1960, in: Semjud 1961, 134 (144). Kollision mit einem<br />
Fussgänger, der ohne jede Vorsichtsmassnahme eine viel befahrene Strasse überquerte. Haftung des Halters<br />
zu 33%. Es war zweifelhaft, ob die Geschwindigkeit des Halters den Umständen angepasst war.<br />
– Cour de Justice civile de Genève, Urteil vom 21.3.1958, in: Semjud 1959, 255 (263). Haftung des Halters zu<br />
50%. Der Beweis misslang, dass die Lenkerin (Ehefrau des Halters) den schwer schuldhaft handelnden Fussgänger<br />
infolge eines Überholmanövers gar nicht genug früh hatte sehen können.<br />
Literatur<br />
Zum Scheitern des Entlastungsbeweises: Brehm (Rn. 404): 10 - 25%. Hulliger (S. 87): 20 - 40%.<br />
51
S. EMMENEGGER/R. GEISSELER, Anhang<br />
4. Beidseitiges geringes Verschulden<br />
100<br />
90<br />
80<br />
70<br />
60<br />
50<br />
40<br />
30<br />
20<br />
10<br />
0<br />
Judikatur<br />
Literatur<br />
Bundesgericht<br />
– Urteil vom 5.10.1971, in: JdT 1973 I Nr. 55, 450. Haftung des Halters zu 80%. Dem Entscheid liegt die<br />
Kollision mit einem Kind (10 Jahre) zugrunde, das sich beim Linksabbiegen mit dem Fahrrad nicht umgesehen<br />
und die Kurve zu weit genommen hatte. Der Halter verletzte infolge übersetzter Geschwindigkeit das<br />
Vortrittsrecht des Fahrradfahrers.<br />
– BGE 64 II 312 (319). Haftung des Halters zu fünf Sechsteln (83%). Der Halter hatte, als er nach links abbiegen<br />
wollte, einen Motorradfahrer angefahren. Dieser wiederum hätte vor der Verzweigung nicht überholen<br />
dürfen. Die Verschuldensqualifikation ist bei beiden Parteien nicht ganz klar. Die Vorinstanz hatte den Motorfahrradlenker<br />
noch gänzlich von der Schadenstragung befreit. Das Bundesgericht spricht von einem nicht<br />
schweren Verhalten. Der Automobilist hatte nicht beweisen können, den Richtungszeiger rechtzeitig gestellt<br />
zu haben.<br />
– BGE 63 II 58 (62). Haftung des Halters zu 75%. Er hatte ein Kind mit einer Geschwindigkeit von 20 -<br />
25 km/h angefahren. Dies war angesichts der Umstände (enge Gasse) ein leicht überhöhtes Tempo. Beim<br />
Kind, das ohne jede Umsicht auf die Strasse rannte, wurde das geringe Alter (9 Jahre) berücksichtigt.<br />
– BGE 62 II 314 (318). Haftung des Halters (Motorrad) zu 70%. Als er ein landwirtschaftliches Fahrzeug<br />
kreuzte, sprang das dahinter gehendes Kind auf seine Fahrbahn. Das objektiv schwere Verschulden wurde<br />
angesichts der besonderen Umstände, insbesondere wegen des Alters (12 Jahre) als gering erachtet. Dem<br />
Halter wurde vorgeworfen, die allfällig hinter dem Fuhrwerk gehenden Personen vor dem Kreuzen nicht<br />
durch ein Signal gewarnt zu haben.<br />
Kantonale Rechtsprechung<br />
– Tribunal cantonal du canton du Valais, Urteil vom 20.3.1968, in: RVJ 1968, 355 (357) bzw. JdT 1969 I Nr.<br />
61, 446. Haftung des Halters zu 75%. Dessen Hilfsperson (Chauffeur) hatte schuldhaft die Risiken der Fahrt<br />
(schwerer Laster, mangelhafte Tragfähigkeit der Strasse) falsch eingeschätzt, jedoch war sich der geschädigte<br />
Mitfahrer der besonderen Gefahr bewusst und hatte zu seinem Schaden beigetragen, indem er die Tür offen<br />
gelassen hatte.<br />
Literatur<br />
Brehm (Rn. 423): 75 - 80%. Hulliger (S. 84 f.): 65 - 80%. Schaffhauser/Zellweger (Rn. 1375): 66 - 75%.<br />
52
S. EMMENEGGER/R. GEISSELER, Anhang<br />
5. Geringes Verschulden des Halters. Mittleres Verschulden aus OR 41<br />
100<br />
90<br />
80<br />
70<br />
60<br />
50<br />
40<br />
30<br />
20<br />
10<br />
0<br />
Judikatur<br />
Literatur<br />
Bundesgericht<br />
– BGE 116 II 733 (736). Haftung des Halters zu 80%. Er hatte eine Fussgängerin auf dem Fussgängerstreifen<br />
angefahren. Das Lichtsignal der Fussgängerin hatte nicht funktioniert, jenes des Automobilisten zeigte grün.<br />
Es war Nacht und trotz Beleuchtung war die Sicht schlecht. Die ungenau formulierte<br />
Verschuldensqualifikation lässt keine restlos sichere Zuteilung des Falles zu ("un détenteur, .. qui a commis<br />
une faute d'inattention d'une certaine gravité mais moins grave que celle imputable au piéton").<br />
– N. p. Urteil vom 16.9.1986. Haftung des Halters zu 40%. Kollision des unaufmerksamen Halters eines Personenwagens<br />
mit einem nicht vortrittsberechtigten Mopedfahrer. Vgl. Brehm, Rn. 419.<br />
– N. p. Urteil vom 14.1.1957. Haftung des Halters zu 50%. Vgl. Brehm, Rn.419.<br />
Kantonale Rechtsprechung<br />
– Tribunal cantonal du canton du Valais, Urteil vom 7.1.1986, in: RVJ 1986, 369 (374). Haftung des Halters<br />
zu 40%. Er war bei der Kollision mit einem nicht vortrittsberechtigten Mopedfahrer nicht genügend aufmerksam,<br />
dessen Verschulden unter Berücksichtigung des Alters (14 Jahre) nicht als schwer taxiert wurde.<br />
– Tribunal cantonal du canton du Valais, Urteil vom 1.10.1965 Entscheid, in JdT 1966 I Nr. 42, 430. Haftung<br />
des Halters zu 33%. Fussgänger überquert nachts überraschend die Strasse. Anstelle sich selbst zu vergewissern,<br />
war sie einer vorausgehenden Kollegin gefolgt. Der Halter (Geschwindigkeit: 100 - 110 km/h) hätte die<br />
Fussgängerin bei voller Aufmerksamkeit früher sehen können.<br />
Literatur<br />
Brehm (Rn. 423): 50 - 66%. Hulliger (S. 85): 50 - 65%.<br />
53
S. EMMENEGGER/R. GEISSELER, Anhang<br />
6. Geringes Verschulden des Halters. Schweres Verschulden aus OR 41<br />
100<br />
90<br />
80<br />
70<br />
60<br />
50<br />
40<br />
30<br />
20<br />
10<br />
0<br />
Judikatur<br />
Literatur<br />
Bundesgericht<br />
– BGE 88 II 455 (461). Haftung des Halters (Motorrad) zu 30%. Er fuhr mit abgefahrenen Pneus auf nasser<br />
Fahrbahn als er auf die Tür eines stillstehenden Personenwagens prallte. Der Halter des still stehenden<br />
Fahrzeugs haftete nach Art. 41 OR, da der Betrieb desselben in casu verneint wurde.<br />
– N. p. Urteil vom. 25.9.1951. Vgl. Brehm, Rn. 422. Haftung des Halters zu 20%.<br />
– N. p. Urteil vom 21.1.1942. Vgl. Brehm, Rn. 422. Haftung des Halters zu 50%.<br />
– N. p. Urteil vom 18.6.1940. Vgl. Brehm, Rn. 422. Haftung des Halters zu 33%.<br />
Kantonale Rechtsprechung<br />
– Cour de cassation civile de Neuchâtel, Urteil vom 19.9.1985, in: RJN 1985, 64 (66). Haftung des Halters zu<br />
33%. Ein Mopedfahrer fuhr verbotenerweise auf der Busspur. Der Halter des Personenwagens kollidierte mit<br />
ihm, als er (auf ein Zeichen eines ihm entgegenkommenden Lenkers hin) abbog.<br />
– Genf, n. p. Urteil vom 7.10.1984. Haftung des Halters zu 50%. Eine Fussgängerin hatte die Strasse an nicht<br />
dafür vorgesehener Stelle überquert. Die Haftungsverteilung nahm Rücksicht auf die schlechten finanziellen<br />
Verhältnisse der verunfallten Fussgängerin. Vgl. Brehm, Rn. 422.<br />
– Neuchâtel, n.p. Urteil vom 2.10.1963, Haftung des Halters zu 50%. Ein (angetrunkener) Fussgänger war unvermutet<br />
auf einen Fussgängerstreifen getreten. Dem Halter konnte lediglich eine kurze Unaufmerksam-keit<br />
vorgeworfen werden. Vgl. Brehm, Rn. 422.<br />
– Tribunal cantonal vaudois, Urteil vom 16.10.1962, in: JdT 1963 I Nr. 38, 420 (421). Haftung des Halters zu<br />
60%. Er war mit dem Pferd eines Reiters zusammengestossen. Dieser ritt im Zeitupnkt des Unfalls ganz<br />
links in einer Reihe von drei Reitern und machte weder durch Licht noch durch reflektierendes Material auf<br />
sich aufmerksam.<br />
– Wallis, n.p. Urteil vom 7.6.1961. Haftung des Halters zu 25%. Er fuhr mit 100 km/h auf gerader Strecke, als<br />
er einen im Schritttempo fahrenden Traktor überholen wollte. Der Geschädigte tauchte (zu Fuss) plötzlich<br />
hinter dem Anhänger auf. Dem Halter wurde vorgeworfen zu spät gehupt zu haben. Vgl. Brehm, Rn. 422.<br />
– Obergericht Zürich, Urteil vom 19.10.1954, in: ZR (54) 1955 Nr. 84, 156 (158). Haftung des Halters zu<br />
50%. Ein Fussgänger – seine Aufmerksamkeit war durch die Beobachtung einer Verkehrspanne abgelenkt –<br />
trat überraschend und ohne auf den Verkehr zu achten auf die Fahrbahn. Der Halter hatte zwar seine<br />
Geschwindigkeit reduziert (40 km/h), was aber immer noch nicht den Umständen angepasst war.<br />
– Cour de Justice civile de Genève, Urteil vom 4.7.1947, in: Semjud 1948, 321 (328). Haftung des Halters zu<br />
25%. Der Halter hatte die Kurve geschnitten. Der angefahrene Velofahrer fuhr nachts, betrunken und ohne<br />
Licht.<br />
Literatur<br />
Brehm (Rn. 423): 25 - 40%. Hulliger (S. 85): 25 - 50%.<br />
54
S. EMMENEGGER/R. GEISSELER, Anhang<br />
7. Mittleres Verschulden des Halters. Geringes Verschulden aus OR 41<br />
100<br />
90<br />
80<br />
70<br />
60<br />
50<br />
40<br />
30<br />
20<br />
10<br />
0<br />
Judikatur<br />
Literatur<br />
Bundesgericht<br />
– Urteil vom 5.10.1971, in: Repertitorio di giurisprudenza patria 1971, 213 (223). Haftung des Halters (Autocar)<br />
zu 80%. Kollision mit einem Fahrradfahrer (Kind, 10 Jahre). Der Halter war nicht vortrittsberechtigt<br />
und zu schnell. Der Fahrradfahrer hatte in der Kurve zu weit ausgeholt.<br />
– Urteil vom 23.10.1951, in: JdT 1953 I Nr. 24, 450 (451). Haftung des Halters zu 66%. Er hatte beim Abbiegen<br />
in einer Kreuzung die Kurve geschnitten und dem (beim Unfall verstorbenen) Fahrradfahrer den Vortritt<br />
nicht gewährt. Dieser war zu schnell und nicht genügend aufmerksam.<br />
– BGE 67 II 49 (56). Schadenstragung der Erben des beim Unfall verstorbenen Halters zu 75%. Der Unfall<br />
geschah, als er mit seinem Mofa ein Kind rechts überholte, das zu weit links in der Fahrbahn fuhr. Das Kind<br />
fuhr mit einem zu grossen Fahrrad, jedoch erschien sein Verschulden angesichts des Alters (12 Jahre) als nur<br />
gering.<br />
– Urteil vom 23.12.1941, in: JdT 1942 I Nr. 18, 462. Haftung des Halters zu 85%. Er hatte beim rückwärts<br />
fahren weder in den Rückspiegel geschaut, noch gehupt und deshalb einen Fussgänger angefahren, der 60 cm<br />
neben dem Trottoir auf der Strasse ging.<br />
Kantonale Rechtsprechung<br />
– Cour de Justice civile de Genève, Urteil vom 7.1.1955, in: Semjud 1956, 218 (221). Haftung des Halters zu<br />
80%. Die Beurteilung allein der Verschuldenssituation hätte eine Schadenszuweisung zu zwei Dritteln zulasten<br />
des Halters ergeben. Die Berücksichtigung der Betriebsgefahr führte aber zu den genannten 80%.<br />
Literatur<br />
Brehm (Rn. 429): 80 - 85%. Hulliger (S. 85): 75 - 85%.<br />
55
S. EMMENEGGER/R. GEISSELER, Anhang<br />
8. Mittleres Verschulden des Halters. Mittleres Verschulden aus OR 41<br />
100<br />
90<br />
80<br />
70<br />
60<br />
50<br />
40<br />
30<br />
20<br />
10<br />
0<br />
Judikatur<br />
Literatur<br />
Bundesgericht<br />
– BGE 95 II 573 (581). Der Halter war nachts mit einem Fahrradfahrer zusammengestossen. Letzterer war auf<br />
die Gegenfahrbahn ausgewichen, um mehrere Fussgänger am Strassenrand zu überholen. Der Automobilist<br />
– angesichts der Verhältnisse mit unangepasster Geschwindigkeit unterwegs – versuchte vergeblich mit<br />
einem Bremsmanöver die Kollision zu vermeiden. Das Verschulden des Fahrradfahrers wurde als nicht<br />
schwer bezeichnet, jenes des Automobilisten als offenkundig ("manifeste"). Da vom Halter nicht die Schadensverteilung,<br />
sondern die Haftung als solche bestritten war, blieb es bei dessen Haftung in der Höhe von<br />
40%. Das Bundesgericht hätte eine Haftung im Umfang von 50 - 66% für richtig gehalten.<br />
Literatur<br />
Brehm (Rn. 429): 66 - 75%. Hulliger (S. 85): 65 - 75%. Schaffhauser/Zellweger (Rn. 1375): 66 - 75%.<br />
56
S. EMMENEGGER/R. GEISSELER, Anhang<br />
9. Mittleres Verschulden des Halters. Schweres Verschulden aus OR 41<br />
100<br />
90<br />
80<br />
70<br />
60<br />
50<br />
40<br />
30<br />
20<br />
10<br />
0<br />
Judikatur<br />
Literatur<br />
Bundesgericht<br />
– N. p. Urteil vom 19.1.1998. Haftung des Halters zu 60%. Der haftpflichtige Nichthalter (17-jähriger<br />
Mopedfahrer) bog – nicht vortrittsberechtigt – plötzlich aus einem Weg auf die Strasse ein. Vgl. Brehm,<br />
Rn. 428.<br />
Literatur<br />
Brehm (Rn. 429): 40 - 60%. Hulliger (S. 85): 50 - 65%.<br />
57
S. EMMENEGGER/R. GEISSELER, Anhang<br />
10. Schweres Verschulden des Halters. Leichtes Verschulden aus OR 41.<br />
100<br />
90<br />
80<br />
70<br />
60<br />
50<br />
40<br />
30<br />
20<br />
10<br />
0<br />
Judikatur<br />
Literatur<br />
Bundesgericht<br />
– BGE 113 II 323 (328). Haftung der beteiligten Halter zu 7/9 (ca. 77%). Zusammenprall eines zu schnell<br />
fahrenden Lastwagens (Lenker als Nichthalter) mit einem infolge Defekts stehen gebliebenen Lastenzug. Bei<br />
beiden Fahrzeugen wurde eine erhöhte Betriebsgefahr angenommen (welche zufolge des Haftungsprivilegs<br />
des Arbeitgebers der Halter des Lastenzuges tragen musste). Das Verschulden wurde im Vergleich zur Betriebsgefahr<br />
doppelt gewichtet.<br />
– N. p. Urteil vom 30.5.1972. Haftung des Halters zu 90%. Er hatte (betrunken) einen Fussgänger angefahren,<br />
der am rechten Strassenrand ging. Vgl. Brehm, Rn. 431.<br />
– BGE 92 II 39 (48). Haftung des Halters zu 75%. Zusammenstoss zweier Personenwagen auf einer Kreuzung,<br />
wobei die Lenkerin des vortrittsberechtigten Fahrzeugs (Ehefrau des Halters) verstarb. Der Halter des<br />
anderen Wagens hielt sich zu Unrecht für vortrittsberechtigt und fuhr zu schnell. Die verstorbene Lenker<br />
hätte das andere Fahrzeug möglicherweise früher erkennen können.<br />
– BGE 63 II 221 (222). Haftung des Halters (Motorrad) zu ca. 90%. Er hatte einen Radfahrer zu dicht (ca. 30 -<br />
40 cm) und ohne ein Warnsignal zu geben überholt. Dem Radfahrer seinerseits war vorzuwerfen war, dass er<br />
zum Zeitpunkt des Überholens einen Schwenker nach links gemacht hatte.<br />
Kantonale Entscheide<br />
– Obergericht Zürich, Urteil vom 14.6.1983, in: SJZ (80) 1984 Nr. 31, 182 (183). Haftung der Halterin zu<br />
100%. Sie hatte beim Losfahren von einem „Stopp“ eine Mofafahrerin übersehen, die zwar auf der für den<br />
Bus reservierten Spur fuhr, aber nichtsdestotrotz vortrittsberechtigt war. Das Gericht hat das geringe Verschulden<br />
der Nichthalters kompensiert und die Halterin haftete daher zu 100%.<br />
– Tribunal cantonal du canton du Valais, Urteil vom 23.6.1959, in: Rapport du Tribunal Cantonal 1959, 69<br />
(72). Haftung des Halters zu 66%. Er war mit seinem Lastwagen (auf verschneiter und rutschiger Strasse)<br />
ohne hinter sich zu schauen rückwärts gefahren und überfuhr dabei ein Kind (2 ½ Jahre). Dieses war – kurz<br />
unbeaufsichtigt geblieben – von der an die Strasse grenzenden Skipiste an die spätere Unfallstelle gelangt<br />
(Verschulden der Mutter).<br />
Literatur<br />
Brehm (Rn. 435): 85 - 90%. Hulliger (S. 85 f.): 85 - 90%.<br />
58
S. EMMENEGGER/R. GEISSELER, Anhang<br />
11. Schweres Verschulden des Halters. Mittleres Verschulden aus OR 41<br />
100<br />
90<br />
80<br />
70<br />
60<br />
50<br />
40<br />
30<br />
20<br />
10<br />
0<br />
Judikatur<br />
Literatur<br />
Bundesgericht<br />
– BGE 84 II 292 (299). Haftung des (betrunkenen) Halters zu 66%. Er fuhr in einer Kurve geradeaus und<br />
kollidierte infolgedessen mit einem Lastwagen auf der Gegenfahrbahn. Der Halter und sein gleichfalls betrunkener<br />
Mitfahrer wurden getötet. Ein Drittel des Schadens wurde den Erben des Mitfahrers auferlegt, weil<br />
dieser sich trotz des angetrunkenen Zustandes des Fahrers hatte transportieren lassen.<br />
– N. p. Urteil vom 8.5.1957. Haftung des Halters zu 75%. Der Halter war bei dieser Kollision zwar vortrittsberechtigt,<br />
jedoch mit abgefahrenen Pneus auf nasser Strasse unterwegs. Vgl. Brehm, Rn. 433.<br />
– BGE 79 II 395 (398). Haftung des Halters zu 75%. Der Halter war betrunken und die äusseren Bedingungen<br />
der Fahrt waren schlecht (Nacht, generell schlechte Sicht). Der Mitfahrer hatte den ganzen Abend vor dem<br />
Unfall mit dem Halter gezecht und musste sich – auch wenn dieser nicht augenscheinlich fahruntüchtig war –<br />
des besonderen Risikos der Fahrt bewusst sein.<br />
– N. p. Urteil vom 13.11.1951. Haftung des Halters zu 80%. Er hatte einen Fussgänger angefahren, welcher<br />
eine vielbefahrene Strasse unvorsichtig überquerte. Dem Halter konnte Unachtsamkeit vorgeworfen werden.<br />
Vgl. Brehm, Rn. 433.<br />
– Urteil vom 28.5.1946, in: Semjud 1946, 531 (537 ff.). Haftung des Halters zu 80%. Sein "Verschuldensregister"<br />
anlässlich der Kollision mit einem (unbeleuchteten) Fuhrwerk: Fahrfehler, Fahren ohne Brille,<br />
Windschutzscheibe mit Rauhreif bedeckt, übersetzte Geschwindigkeit.<br />
– BGE 63 II 339 (343). Haftung des Halters zu 75%. Der angefahrene Fussgänger benutzte statt des vorhandenen<br />
Trottoirs die Strasse als Gehweg. Zwar wurde er durch die Scheinwerfer eines stillstehenden Fahrzeugs<br />
geblendet, jedoch hatte er seine Geschwindigkeit infolgedessen nicht genügend reduziert. Da ausserdem<br />
die Bremsen des Fahrzeugs schlecht eingestellt waren, konnte er (auf nasser Strasse) nicht rechtzeitig<br />
bremsen, um den Unfall zu vermeiden.<br />
Kantonale Rechtsprechung<br />
– Tribunal cantonal du canton du Valais, Urteil vom 26.1.1964, in: Rapport du tribunal cantonal 1964, 157<br />
(ohne nähere Sachverhaltsbeschreibung). Haftung des Halters 75%. Vgl. Brehm, Rn. 433.<br />
Literatur<br />
Brehm (Rn. 435): 75% - 85% . Hulliger (S. 86): 75 – 85%.<br />
59
S. EMMENEGGER/R. GEISSELER, Anhang<br />
12. Schweres Verschulden des Halters. Schweres Verschulden aus OR 41<br />
100<br />
90<br />
80<br />
70<br />
60<br />
50<br />
40<br />
30<br />
20<br />
10<br />
0<br />
Judikatur<br />
Literatur<br />
Bundesgericht<br />
– BGE 91 II 218 (224). Haftung des Halters zu 66%. Er war - wie auch sein mithaftender Passagier – betrunken.<br />
Letzterer wusste vom Zustand des Halters.<br />
Kantonale Rechtsprechung<br />
– Waadt, n. p. Urteil vom 1.6.1983. Der Sachverhalt ist jenem in BGE 91 II 218 ähnlich. In diesem Fall Haftung<br />
des Halters zu 65%. Vgl. Brehm, Rn. 434.<br />
– Wallis, n. p. Urteil vom 3.7.1969. Haftung des Halters zu 60%. Er fuhr zu schnell und war unaufmerksam<br />
als er mit einem Mopedfahrer kollidierte, der – nicht vortrittsberechtigt und ohne zu bremsen – in eine<br />
Kreuzung fuhr. Vgl. Brehm, Rn. 434.<br />
– Tribunal cantonal vaudois, n. p. Erwägung des Urteils vom 28.6.1968, in: JdT 1969 I Nr. 87, 474. Haftung<br />
des Halters zu 50%. Er fuhr schneller als es die Sichtverhältnisse erlaubten und war unaufmerksam. Das<br />
Verschulden des angefahrenen Fussgängers bestand darin, dass er sich auf der Mittellinie einer stark befahrenen<br />
Strasse aufhielt. Vgl. Brehm, Rn. 434.<br />
– Tribunal cantonal de Fribourg, Urteil vom 11.7.1966, in: Extraits des principaux arrêts 1966, 23 (27). Haftung<br />
des Halters zu 66%. Der Lenker (zugleich Halter) und der Mitfahrer waren beide betrunken. Zugunsten<br />
des Halters wirkte sich aus, dass es sich um eine Gefälligkeitsfahrt handelte, zugunsten des Mitfahrers, dass<br />
die Maximalgeschwindigkeit des Fahrzeug (Traktor) nur 20 km/h betrug und er also nur zu einem relativ geringfügigen<br />
Risiko eingewilligt hatte.<br />
– Tribunal cantonal du Valais, Urteil vom 6.11.1964, in: Rapport du tribunal cantonal 1964, 54 (56). Haftung<br />
des Halters zu 75%. Kollision mit einer Fussgängerin, welche in naher Distanz eines Fussgängerstreifens<br />
(20 m) unvorsichtig die Strasse überquert hatte. Der Halter war betrunken und zu schnell.<br />
– Tribunal cantonal de Fribourg (Cour d’appel), Urteil vom 11.1.1961, in: Extraits des principaux arrêts 1961,<br />
46 (53 f.). Haftung des Halters zu 33%. Er fuhr zu schnell und stiess nachts mit dem unbeleuchteten stillstehenden<br />
Gefährt eines Bauern zusammen.<br />
– Cour de Justice civile de Genève, Urteil vom 3.11.1936, in: Semjud 1937, 423 (428). Haftung des<br />
(betrunkenen) Lenkers (zugleich Halter) zu 66%. Das Verschulden des Mitfahrers, der sich trotz des alkoholisierten<br />
Zustands des Halters transportieren liess, wurde in casu als sehr schwerwiegende Unvorsicht bezeichnet.<br />
Literatur<br />
Brehm (Rn. 435): 60 - 75%. Hulliger (S. 86): 50 - 60%. Schaffhauser/Zellweger (Rn. 1375): 66 - 75%.<br />
60
S. EMMENEGGER/R. GEISSELER, Anhang<br />
61