Führungen im Stift - Evangelisches Stift zu Wüsten
Führungen im Stift - Evangelisches Stift zu Wüsten
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Liebe Bewohnerinnen und Bewohner,<br />
liebe Mitarbeiterinnen und<br />
Mitarbeiter, liebe Angehörige und<br />
Freunde des Hauses!<br />
An manchen Tagen dringt fröhliches<br />
Kinderlachen, Singen und<br />
Erzählen aus dem Veranstaltungsraum<br />
<strong>im</strong> <strong>Stift</strong>. Wenn ich durch die<br />
Fenster schaue, sehe ich, dass eine<br />
große Runde von Bewohnern und<br />
Bewohnerinnen Besuch von einer<br />
Kindergartengruppe aus <strong>Wüsten</strong><br />
bekommen hat. Die Kinder tun<br />
einfach gut. Noch bevor sie ein<br />
Lied vorsingen oder ein Ratespiel<br />
mitmachen, fliegen ihnen freundliche<br />
Blicke und Wohlwollen entgegen.<br />
Es könnten die Urenkel<br />
sein. Jede und jeder von uns war<br />
selbst mal ein Kind. So eine<br />
gemeinsame Stunde mit den<br />
Kindergartenkindern weckt Erinnerungen.<br />
Mit Kindern spielen,<br />
Leichtigkeit spüren, Unbefangenheit<br />
erleben, sich etwas <strong>zu</strong>trauen,<br />
nicht perfekt sein müssen…<br />
Eine andere Szene <strong>im</strong> <strong>Stift</strong>: Fünf<br />
ältere Semester sitzen <strong>im</strong> „Glaskasten“,<br />
der ein Computerraum ist<br />
und lassen sich erklären, wie ein<br />
PC funktioniert, probieren aus,<br />
was man alles Tolles damit<br />
machen kann, wie man z. B. E-<br />
Mails mit den Enkelkindern schreiben<br />
kann und <strong>im</strong> Internet surfen…<br />
ich finde das stark! Noch einmal<br />
die Schulbank drücken, aber ohne<br />
Noten und aus freien Stücken.<br />
Erwachsen <strong>zu</strong> sein und ein Kind <strong>zu</strong><br />
werden, davon erzählt die kleine<br />
Geschichte eines 84-jährigen<br />
Mannes aus Afrika, die ich in einer<br />
Bibelarbeit von Bischöfin Wartenberg-Potter<br />
auf dem Kirchentag in<br />
Hannover <strong>zu</strong>m Evangelium der<br />
Kindersegnung hörte:<br />
Der alte Mann aus Kenia lebt<br />
allein mit seinen Tieren in einer<br />
Lehmhütte, ein paar wackeligen<br />
Zahnstummeln <strong>im</strong> Mund und<br />
arthritischen Beinen. Nachdem<br />
die Regierung, durch einen<br />
Schuldenerlass ermöglicht, das<br />
Schulgeld abgeschafft hat, ist er<br />
entschlossen, lesen und schreiben<br />
<strong>zu</strong> lernen.<br />
Mit den Erstklässlern macht er<br />
sich, bedächtig am Stock gehend,<br />
<strong>zu</strong>r dörflichen Schule auf. Um<br />
ihnen gleich <strong>zu</strong> sein, hat er seine<br />
langen Hosen abgeschnitten.<br />
Jetzt hat er eine kurze Hose, wie<br />
es die Schuluniform erfordert.<br />
Eine orangefarbene Plastiktüte<br />
enthält einen Bleistift und ein<br />
Schreibheft. In der Schule zwängt<br />
er die alten Knochen in die kleine<br />
Schulbank in der ersten Reihe,<br />
denn er hört nicht mehr gut.<br />
Einige Kinder, die neben ihm sitzen,<br />
sind seine Urenkel. Er will<br />
lesen und rechnen können aus<br />
drei Gründen:<br />
1. Will er selbst lesen können,<br />
was in der Bibel steht, denn er<br />
befürchtet, die Pfarrer erzählen<br />
das nicht <strong>im</strong>mer korrekt;<br />
2. will er seine kleine Rente selbst<br />
nachzählen und ausrechnen können;<br />
3. will er Abitur machen und<br />
Veterinärmedizin studieren, damit<br />
er seine Tiere selbst versorgen<br />
kann, wenn die einen aufgeblähten<br />
Bauch haben. Basta.<br />
Mit großem Eifer meldet er sich<br />
<strong>zu</strong>m Vorlesen von der Tafel, übt mit<br />
allen anderen die Buchstaben. Im<br />
Sportunterricht auf dem offenen<br />
Feld macht er Leibesübungen. In<br />
die Knie gehen kann er allerdings<br />
nicht mehr. Nach der Schule füttert<br />
er <strong>zu</strong> Hause seine Tiere. Dann muss<br />
er seine Hausaufgaben machen.<br />
Erwachsen <strong>zu</strong> sein und ein Kind <strong>zu</strong><br />
werden. Welch ein Spagat, was für<br />
eine Reifeprüfung. „Werdet wie<br />
die Kinder“, diese Aufforde-rung<br />
Jesu meint alles andere als kindisches,<br />
verniedlichendes oder<br />
romantisierendes Verhalten. Ich<br />
verstehe den Satz vielmehr als<br />
Ermutigung: Erhaltet Euch Eure<br />
Neugier auf das Leben. Wagt<br />
Vertrauen, macht erste Schritte.<br />
Es ist ein emanzipatorisches Ziel.<br />
So, wie be<strong>im</strong> alten Mann aus<br />
Kenia: Er will den Glauben selber<br />
verstehen. Er will etwas Neues lernen,<br />
das dem Leben dient. Da<strong>zu</strong><br />
setzt er sich auf die Schulbank,<br />
mit seinen kurzen Hosen, statt<br />
einsam in seiner Hütte vor sich<br />
hin <strong>zu</strong> dämmern.<br />
Eine Geschichte voller Vertrauen,<br />
Hartnäckigkeit und Lebensfreude.<br />
Sie atmet den Geist Jesu vom<br />
Reich Gottes und seinen kleinen<br />
Leuten. „Wer das Reich Gottes<br />
nicht ann<strong>im</strong>mt, wie ein Kind, wird<br />
nicht hineinkommen. Und Jesus<br />
nahm die Kinder in die Arme,<br />
lobte Gott und legte ihnen die<br />
Hände auf.“ (Markus 10,13+14)<br />
Gott loben mit dem Mut des<br />
Alltags. Auf die großen und letzten<br />
Dinge warten. Aber nicht nur! Das<br />
Leben zärtlich lieben: mit Heft und<br />
Bleistift, mit einem Leben schaffenden<br />
Wort, einem „Es tut mir<br />
Leid“ oder „Wie bin ich froh“, mit<br />
einem Brief, einer Blume, einer<br />
mail, einem Bild, einem Lied.<br />
Die Hände Gottes spüren, die mir<br />
gastfreundlich den Tisch decken,<br />
Brot austeilen, übers Haar streichen,<br />
mir aufhelfen in meiner<br />
Schwäche, mich umfangen und<br />
festhalten, die sich vertrauensvoll<br />
in meine Hand schieben.<br />
Das Reich Gottes ist ein Garten<br />
der Freiheit, in dem Kinder Kinder<br />
sein dürfen, Frauen Frauen, Männer<br />
Männer, Erwachsene erwachsen<br />
und dennoch dem Kind in<br />
sich Raum geben. Es grüßt sie aus<br />
dem <strong>Stift</strong><br />
Pastorin Cornelia Wentz<br />
<strong>Stift</strong>sssellsorgerin<br />
Freundesbrief „Der <strong>Stift</strong>ler“ · 20. Jahrgang · Nr. 48 · Mai 2007<br />
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