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Franz Josef Radermacher<br />

<strong>die</strong> zukunft<br />

unserer welt<br />

<strong>die</strong> zukunft unserer welt<br />

Navigieren in schwierigem Gelände<br />

e d i t i o n s t i f t e r v e r b a n d


v o r w o r t<br />

6 Wer immer sich heute auf ernsthafte Weise mit Zukunftsfragen auseinandersetzt, wird in<br />

der Regel kritisch betrachtet. Denn allzu oft – so lehrt uns <strong>die</strong> Lebenserfahrung – wird das, was wir uns im<br />

Heute von der Zukunft erwarten und erhoffen, durch Ereignisse durcheinandergewirbelt, <strong>die</strong> völlig unvorhersehbar<br />

sind. Krisen, <strong>die</strong> aus den bisher unerforschten dunklen Kellern der Systeme aufsteigen oder <strong>die</strong> offenbar<br />

immer unberechenbarer dräuende Natur machen jedes Nachdenken über zukünftige Welten immer auch<br />

zum Glücksspiel.<br />

Auffällig ist, dass heutiges Denken über <strong>die</strong> Zukunft der Menschheit selten hoffnungsfroh<br />

oder gar euphorisch ist. Obwohl <strong>die</strong> Menschen sich in ihrer Geschichte stetig weiterentwickelt haben, um als<br />

kulturelle Wesen <strong>die</strong> Natur immer weiter in Ihre Schranken zu weisen, sie also in weiten Teilen der Erde ein<br />

Leben in Prosperität und Geborgenheit erlangt haben, scheint eine unveränderte Fortführung <strong>die</strong>ses Weges<br />

in eine bedrohliche Zukunft zu führen.<br />

Die Ausbeutung des Planeten, Voraussetzung unseres Wohlstandes, führt geradewegs – das<br />

kann man wohl als allgemeinen Konsens beschreiben – in eine äußerst ungemütliche Zukunft. Trotz immer<br />

weiterer Forstschritte in der Medizin, der Pharmazie, den Naturwissenschaften und der Technik, scheint sich<br />

der Zustand der Erde zusehends zu verschlechtern. Die Menschen begreifen auf schmerzhafte Weise, dass sie<br />

deutlich über ihre Verhältnisse leben, zumindest <strong>die</strong> in den großen Industrie- und Schwellenländern. Und alle<br />

anderen – wer wollte es ihnen verdenken - wollen auch so leben.<br />

Kein Wunder also, dass <strong>die</strong> Zukunftsforscher kein neues Utopia erkennen wollen. Allerdings ist<br />

auch zu fragen, ob der immer lauter werdende Chor jener Auguren, <strong>die</strong> den nahenden Kollaps des Planeten prophezeien,<br />

und mit zweifelhaften Rezepten zur sofortigen Umkehr auffordern, hilfreicher Wegbegleiter sein kann.<br />

Es scheint so, als bräuchten wir etwas, was ich „besonnene Entschlossenheit“ nennen möchte.<br />

Denn natürlich braucht es jetzt <strong>die</strong> Entschlossenheit, um all jene großen Aufgaben anzupacken, <strong>die</strong> für<br />

eine gute Zukunft der Menschheit notwendig sind. Aber wir brauchen besonnene Köpfe dafür. Wir brauchen<br />

keine Eiferer, sondern <strong>die</strong> kluge Expertise. Wir brauchen keine Panikmacher, sondern menschenfreundliche<br />

Mutmacher. Wir brauchen keine erhitzten Krieger für das Gute, sondern kühle Analyse des Machbaren mit<br />

menschlichem Maß.


Franz Josef Radermacher ist so ein kluger Experte, Mutmacher und zuweilen auch kühler<br />

Analytiker. Und er ist noch viel mehr als das. Ein wissenschaftlicher Netzwerker, der über <strong>die</strong> Ursachen der<br />

Weltfinanzkrise genauso kundig zu berichten weiß wie über neueste Technologien im Energiebereich. Wir<br />

beim <strong>Stifterverband</strong> haben Franz Josef Radermacher schon oft als Redner zu Vortragsveranstaltungen eingeladen:<br />

Wer immer ihn dort erlebte, zeigte sich anschließend begeistert von einem Gelehrten, der es auf fulminante<br />

Weise versteht, sein Publikum zu fesseln und zugleich wachzurütteln.<br />

Ähnliches gelingt vorliegendem Buch, das sozusagen <strong>die</strong> schriftliche Version mehrerer Vorträge<br />

ist, <strong>die</strong> Franz Josef Radermacher beim <strong>Stifterverband</strong> gehalten hat. Ein Buch, das uns lehrt, dass unsere<br />

Zukunft schon längst begonnen hat. Denn wer Radermacher liest, bemerkt auf manchmal beklemmende<br />

Weise, dass wir schon mittendrin sind im Ringen um eine gute Zukunft. Und er bemerkt, dass <strong>die</strong>ses Ringen<br />

mehr beinhaltet als ein paar wohlfeile Appelle oder Thesen. Wer Radermacher liest, der lernt, welch steiniger<br />

Weg da wirklich vor uns liegt.<br />

Radermacher ist kein Eiferer oder Missionar, denn seine Analysen zielen immer darauf, aus<br />

Fehlern <strong>die</strong> richtigen Schlüsse zu ziehen und Wege zu finden, <strong>die</strong> wirklich gangbar sind. Und das macht <strong>die</strong>ses<br />

Buch so wertvoll: Es zeigt uns mit schmerzhafter Klarheit, in welch schwieriger Position wir Menschen uns<br />

befinden. Aber es zeigt eben auch: besonnen, umsichtig und entschlossen müssen wir uns endlich auf den<br />

Weg machen.<br />

7<br />

Arend Oetker<br />

Präsident des <strong>Stifterverband</strong>es


d i e m e n s c h h e i t a l s s y s t e m<br />

Zunächst gilt es, einen Blick zurück zu werfen. Denn Zukunft kann man allenfalls<br />

dann verstehen, wenn man <strong>die</strong> Vergangenheit versteht: Zukunft hat Herkunft. Dabei scheint ein aggregierter<br />

Blick in <strong>die</strong> Vergangenheit hilfreich zu sein, der auf Prinzipielles abhebt und sich nicht im Detail<br />

verliert. Man kommt dann zu einem Blick auf vier Millionen Jahre Menschheitsgeschichte und<br />

deren Abstraktion. Einen interessanten Bezug eröffnen an <strong>die</strong>ser Stelle moderne Arbeiten im Bereich<br />

der Komplexitätstheorie, <strong>die</strong> stark von der Physik her beeinflusst sind und sich systemisch mit dem<br />

Superorganismus Menschheit beschäftigen, also mit der Menschheit als einem »Körper«, als einem<br />

Wesen, strukturell angesiedelt oberhalb der Ebene der einzelnen Individuen. Angestrebt wird ein besseres<br />

Verständnis der Evolution <strong>die</strong>ses Superorganismus Menschheit über <strong>die</strong> letzten vier Millionen<br />

Jahre. Den Anfang machte eine kleine Gruppe von Hominiden, vielleicht einige tausend frühe Vorfahren,<br />

<strong>die</strong> sich in einem langen Prozess hin zu dem entwickelt haben, was heute unser Leben ist. Im<br />

Verständnis <strong>die</strong>ses Prozesses gilt es zu erarbeiten, was das Besondere an unserer jetzigen Lage ist, warum<br />

<strong>die</strong>se Lage nicht einfach ist und wie unsere Optionen für <strong>die</strong> Zukunft aussehen.<br />

Zu <strong>die</strong>sem Thema hat der bekannte russische Physiker Sergey P. Kapitza, Mitglied des<br />

Club of Rome, mit seinem Buch »Global Population Blow-Up and After« einen wichtigen Beitrag geliefert.<br />

Kapitza beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit <strong>die</strong>sem Thema und bezieht ein breites interdiszipliv<br />

o n d e r v e r g a n g e n h e i t i n d i e z u k u n f t<br />

Die Menschheit, <strong>die</strong> sich zunehmend im Zustand einer Wissensgesellschaft wähnt, wusste wahrscheinlich<br />

noch nie so wenig über <strong>die</strong> Zukunft wie im Moment. Vor zehntausend Jahren war es ziemlich<br />

einfach zu sagen, wie <strong>die</strong> Zukunft in 50 Jahren aussehen würde – nämlich genauso wie zum Zeitpunkt<br />

der Frage. Heute sagen zu wollen, was in 50 Jahren sein wird, ist unmöglich. Wir befinden uns als<br />

Weltgemeinschaft in einem nah-chaotischen Zustand, der mehrere Möglichkeiten von Zukunft beinhaltet,<br />

ohne dass erkennbar wäre, welche es konkret sein wird.


näres Wissen in seine Überlegungen ein. Die Menschheit entwickelt<br />

sich nach seinen Analysen seit über vier Millionen Jahren<br />

nach einen Wachstumsgesetz, das im Kern quadratisch von der Anzahl<br />

der Menschen abhängt, einem Prinzip der Selbstähnlichkeit<br />

genügt und dabei eine hyperbolische Gestalt besitzt. Diese Entwicklung<br />

läuft um das Jahr 2030 gegen eine Polstelle. Die Wachstumsexplosion<br />

verläuft in den letzten 100 Jahren extrem schnell,<br />

schneller als exponentiell, was selber schon kaum noch zu verkraften<br />

wäre.<br />

Die Polstelle um das Jahr 2030 bedeutet lebenspraktisch,<br />

dass um <strong>die</strong>sen Zeitpunkt herum etwas Fundamentales<br />

passieren muss. Das ist <strong>die</strong> große Herausforderung, vor der <strong>die</strong><br />

Menschheit steht. Physikalisch gesprochen wird ein Phasenübergang<br />

stattfinden, so wie man ihn von anderen Systemen her kennt,<br />

wenn beispielsweise der Systemzustand »Eis« irgendwann in »Wasser«<br />

übergeht und »Wasser« irgendwann in einen »gasförmigen<br />

Zustand« wechselt. Ein Phasenübergang bedeutet den Übergang zu<br />

etwas völlig Neuem, auch wenn wir in Bezug auf <strong>die</strong> Menschheit<br />

heute noch nicht wissen, wie <strong>die</strong>ses aussehen wird. Jedenfalls gilt<br />

das, was bis dahin galt, nicht mehr, weil nämlich <strong>die</strong> Verhältnisse<br />

fundamental andere sind. Alte Erfahrungen werden dann unter<br />

Umständen zu einem Problem. Muster, <strong>die</strong> Millionen Jahre lang<br />

galten, »mehr Menschen als Erfolg, als Ausdruck der Leistungsfähigkeit<br />

der Menschheit, als insgesamt positiv« gelten dann nicht<br />

mehr. Das ist der wesentliche Befund, wenn wir <strong>die</strong> aktuelle Situation<br />

in eine Historie von vier Millionen Jahren Geschichte der<br />

Menschheit einzuordnen versuchen.<br />

Es ist interessant, sich zu fragen, wie viele Menschen<br />

insgesamt in <strong>die</strong>sen vier Millionen Jahren gelebt haben und<br />

wie lange es jeweils dauerte, bis zum Beispiel ein Zehntel <strong>die</strong>ser<br />

Menschen gelebt hatte Aufad<strong>die</strong>rt kommt man gemäß Kapitza<br />

über <strong>die</strong>se Zeit auf etwa 100 Milliarden Menschen. Es dauerte fast<br />

drei Millionen Jahre, bis <strong>die</strong> ersten zehn Milliarden zusammenkamen.<br />

Es begann ja mit einigen tausend Menschen. Eine Million Jahre,<br />

das sind etwa 50.000 Generationen. Seit Christi Geburt – nur<br />

zur Erinnerung – sind erst 100 bis 150 Generationen vergangen.<br />

Jetzt reden wir über vielleicht 150.000 Generationen. Wenn im<br />

Mittel pro ein oder zwei Generationen immer auch nur ein weiterer<br />

Mensch hinzu kommt, ein ziemliches langsames Wachstum, dann<br />

sind es am Ende der Periode vielleicht insgesamt 100.000 Men-<br />

11


12<br />

schen, ein Vielfaches der Zahl, mit der man gestartet war, trotz des sehr langsamen Wachstums. Nach<br />

drei Millionen Jahren hatte man also <strong>die</strong> ersten zehn Milliarden Menschen zusammen. Danach ging es<br />

viel schneller.<br />

Die Größe der Menschheit wuchs unaufhaltsam, langsam aber sicher. Zu Beginn des<br />

Neolithikums, vor Erfindung von Ackerbau und Viehzucht, vor 10.000 Jahren waren es vielleicht 20<br />

Millionen, zu Christi Geburt vielleicht 200 Millionen Menschen; 1865 war <strong>die</strong> erste Milliarde erreicht,<br />

1965 waren es drei Milliarden, im Jahr 2000 dann sechs Milliarden, im Jahr 2050 werden es neun bis<br />

zehn Milliarden sein. Dann werden allein in In<strong>die</strong>n und China über drei Milliarden Menschen leben – <strong>die</strong><br />

Weltbevölkerung des Jahres 1965. Und zum Schluss ist man da, wo wir heute sind, also in einer Welt, in<br />

der in einem Zeitraum von 50 bis 100 Jahren etwa zehn Milliarden Menschen auf <strong>die</strong>sen Globus kommen.<br />

Das heißt, dass in <strong>die</strong>sem Zeitraum ein Zehntel der Menschen leben wird, <strong>die</strong> je gelebt haben.<br />

Daraus folgt übrigens ein weiterer interessanter Hinweis. Mancher mag sich fragen, wie<br />

es denn rein statistisch überhaupt sein kann, dass gerade wir <strong>die</strong>sen schwierigen Transitionsprozess<br />

und Phasenübergang nach vier Millionen Jahren erleben So kann man <strong>die</strong> Frage stellen, also vom<br />

Zeitraum her. Wenn man allerdings <strong>die</strong> Frage von der Anzahl der Menschen her ansieht, <strong>die</strong> ja gelebt<br />

haben, dann lebt etwa ein Zehntel <strong>die</strong>ser Menschen in <strong>die</strong>sem Übergangszeitraum und <strong>die</strong> Wahrscheinlichkeit,<br />

dabei zu sein, ist etwa 1:10. Wenig spektakulär. Die gegebene Betrachtung übersetzt<br />

sich unmittelbar in eine Betrachtung der Eigenzeit des Systems Menschheit mit Blick auf Fragen der<br />

Selbstähnlichkeit. So kann man <strong>die</strong> Zeit für <strong>die</strong> Hervorbringung von zehn Milliarden Menschen als<br />

eine Art Eigenzeit sehen. Der Prozess der Verkürzung <strong>die</strong>ser Zeit startet mit vielleicht drei Millionen<br />

Jahren und verdichtet sich am Schluss zu weniger als 100 Jahren.<br />

d i e z e n t r a l e r o l l e d e r k o m m u n i k a t i o n<br />

Wichtig ist es dabei zu verstehen, dass z. B. Kommunikationsprozesse am Anfang genauso<br />

schnell verliefen wie heute, wenn man <strong>die</strong> Zeit für den Kommunikationsvorgang im Verhältnis<br />

zu der jeweiligen Eigenzeit sieht, <strong>die</strong> am Anfang vielleicht ein zehn Tausendstel der heutigen Eigenzeit<br />

war. So konnte das, was heute ein Jahr dauert, damals 10 000 Jahre dauern und war relativ betrachtet<br />

doch genauso schnell. Wo wir heute Fernsehen schauen, diffun<strong>die</strong>rte Wissen damals von Horde zu<br />

Horde. Die Referenz auf <strong>die</strong> Eigenzeit ist dabei zentral, um das Tempo richtig einzuschätzen. Sie erlaubt<br />

nämlich ein adäquates Verständnis für <strong>die</strong> Rolle von Kommunikation in der Entwicklung der<br />

Menschheit. Kommunikation war immer zentral und <strong>die</strong> Entwicklung der Menschheit immer wissensund<br />

technologiegetrieben.<br />

In der Kommunikation kommt nämlich <strong>die</strong> systemische Dimension der Menschheit als<br />

Superorganismus zum Ausdruck, also <strong>die</strong> Tatsache, dass wir mehr sind als eine Ansammlung von Menschen,<br />

mehr als eine »Horde von Menschen«. Und eben <strong>die</strong>se Tatsache macht dann auch verständlich,<br />

warum das Quadrat der Anzahl der Menschen das Wachstumsgesetz der Größe der Menschheit bestimmt<br />

und nicht einfach <strong>die</strong> Zahl der Menschen. Das Quadrat reflektiert nämlich <strong>die</strong> Potenziale der<br />

Kommunikation, übrigens nicht anders als bei Analysen der Wachstumsraten für Telefon netzwerke oder<br />

das Internet, <strong>die</strong> ebenfalls alle von einem quadratischen Term her bestimmt werden.


Das Wachstum der Menschheit ist also wesentlich bestimmt durch <strong>die</strong> Wechselwirkungen<br />

zwischen Menschen und damit vom Wissenspotenzial, das <strong>die</strong> Menschheit als Ganzes über ihre<br />

Kommunikationsprozesse über <strong>die</strong> Jahrhunderte und Jahrtausende aufbaut und vorhält, und <strong>die</strong> Anzahl<br />

möglicher kommunikativer Partnerschaften wächst quadratisch mit der Größe der Population.<br />

Dabei ist Kommunikation allerdings ein sehr weiter Begriff. Wenn zum Beispiel eine<br />

Hominidengruppe sehr erfolgreich bestimmte Techniken entwickelt und eine andere Hominidengruppe<br />

<strong>die</strong>se nicht übernimmt, wird sie unter Umständen sehr bald als Folge von Verdrängungsprozessen<br />

marginalisiert bzw. aussterben (vgl. das Schicksal der Indianer in Nord- und Südamerika). Die eine<br />

Gruppe wird zurückgedrängt, weil <strong>die</strong> andere Gruppe in das eigene Biotop hineindrückt, weil <strong>die</strong><br />

andere Gruppe Wild effizienter tötet, das man selber zum Überleben benötigen würde. Wir kommen<br />

zu Abläufen, <strong>die</strong> wir in der Frühgeschichte im Nebeneinander von Neandertaler und modernem<br />

Mensch oder in der Neuzeit etwa bei der Besiedlung Nordamerikas, Südamerikas oder Australiens<br />

sehr gut beobachten konnten. Die Reste der ursprünglich in den Ländern beheimateten Völker und<br />

Stämme, soweit es solche überhaupt noch gibt, finden sich heute in der Regel in unattraktiven Biotopen,<br />

ein paar Aborigines noch irgendwo in der Wüste, dort, wo keiner hin will. Die Prärieindianer<br />

waren endgültig erledigt, als der weiße Mann mit neuen Gewehren innerhalb von fünf Jahren etwa<br />

fünf Millionen Bisons tötete. Die technische Fähigkeit, so viele Bisons kurzfristig zu töten, besiegelt<br />

das Ende der selbständigen Kultur der Prärieindianer, für immer, denn <strong>die</strong> Verfügbarkeit der Bisons<br />

bildete <strong>die</strong> materielle Basis <strong>die</strong>ser Kultur.<br />

Das heißt, Kommunikation ist nicht immer von der Art, dass man miteinander spricht.<br />

Es gibt viele Formen der Wechselwirkung, des Austauschs, der Kommunikation. Kommunikation ist<br />

ein komplexes Phänomen. Auch Krieg ist eine Form der Kommunikation, sogar eine sehr effiziente,<br />

und Terror ebenso. Und wenn jemand kein Gehör findet bzw. seine Sicht der Dinge ausgeblendet wird,<br />

dann ist ein Selbstmordanschlag eine Mitteilung, <strong>die</strong> nicht so einfach »überhört« werden kann. In der<br />

Entwicklung der Menschheit konnten Gruppen jedenfalls nur dann überleben, wenn sie zumindest<br />

insoweit kommunikativ eingebunden waren, dass sie ausreichend schnell <strong>die</strong> jeweils beste Technik,<br />

vielleicht über sexuelle Vermischung auch besonders wichtige Gene und Genkombinationen anderer<br />

zu übernehmen in der Lage waren, bezogen auf Zeiträume, <strong>die</strong> <strong>die</strong> noch sehr langsame Eigenzeit für<br />

Anpassungen zur Verfügung stellte. Anpassungsprozesse hatte also früher hunderte und tausende Jahre<br />

Zeit, heute teilweise nur noch Jahre oder Monate, aber unter Betrachtung der verfügbaren Kommunikationsmittel<br />

und sonstigen Möglichkeiten der Wechselwirkung waren und sind das Tempo und der<br />

Anpassungsdruck damals und heute dennoch vergleichbar.<br />

In der Summe kann man es vielleicht so ausdrücken: Die Menschheit musste wachsen<br />

und dem Druck des Wachstums ausgesetzt sein, um das Wissen zu produzieren, das es ihr erlaubte,<br />

anschließend weiter zu wachsen. Die vielleicht wichtigste Leistung technischen und organisatorischen<br />

Fortschritts bestand dabei in der Möglichkeit, immer mehr Menschen auf einem immer höheren Niveau<br />

lebensfähig zu halten. Die Beherrschung des Feuers bedeutete vielleicht einen Faktor zehn an Wachstumspotenzial<br />

für <strong>die</strong> dauerhaft reproduzierbare, insbesondere ernährbare Anzahl der Menschen. Selbst<br />

wenn dann auf Grund von Eiszeiten <strong>die</strong> Gesamtzahl der Menschen zwischenzeitlich auch einmal wieder<br />

zurückgehen sollte, spielt das keine Rolle bezüglich des erreichten Potenzials. Solange <strong>die</strong> Menschheit<br />

13


14<br />

das Wissen über <strong>die</strong> Beherrschung des Feuers in ihren Gruppen erhalten kann, kann <strong>die</strong> Population<br />

ganz schnell, wenn sich <strong>die</strong> Umweltbedingungen wieder verbessern, von der geschrumpften Größe auf<br />

<strong>die</strong> deutlich höhere Zahl von Menschen ansteigen, <strong>die</strong> unter <strong>die</strong>sen wieder verbesserten Umweltbedingungen<br />

bei Beherrschung des Feuers ernährbar und damit reproduzierbar ist.<br />

Das System »Menschheit« akkumuliert also Wissen und hält es in Form eines gesellschaftlichen<br />

bzw. kulturellen Gedächtnisses vor. Solange <strong>die</strong>s gelingt, bildet es zugleich <strong>die</strong> Basis für<br />

den nächsten Schritt der Wissensgenerierung und Innovation. Das gesellschaftliche Gedächtnis kann<br />

dabei verteilt sein und auch in seiner räumlichen Verankerung wechseln, in der Dynamik <strong>die</strong>ses Geschehens<br />

immer relativ zu der jeweiligen Eigenzeit. Es war insofern auch kein Problem, dass wir Europäer<br />

nach dem Fall von Rom ein dunkles Mittelalter hatten, denn das Wissen der Antike, das Wissen<br />

Griechenlands, verknüpft mit dem Wissen Persiens und In<strong>die</strong>ns, wurde zwischenzeitlich in Arabien<br />

vorgehalten und kam dann später über <strong>die</strong> spanische Halbinsel, Sizilien, Venedig und weitere Kanäle<br />

wieder zu uns zurück. Solange das Wissen in einer vernetzten Struktur noch irgendwie vorhanden ist,<br />

kann es immer wieder aktiviert werden. Im kollektiven Gedächtnis des »Körpers Menschheit« muss es<br />

hierzu vorgehalten werden. Wo, ist dabei nicht <strong>die</strong> zentrale Frage, da <strong>die</strong> Menschheit ein System, ein<br />

Superorganismus ist. Es ist wichtig, sich mit der Vernetzung von Strukturen und den systemischen<br />

Zusammenhängen innerhalb von Netzwerken zu beschäftigen. Hier hat es in den letzten Jahren ebenfalls<br />

wesentlich neue Einsichten gegeben, von denen hier einige erwähnt seien. Für <strong>die</strong> heutige weltweite<br />

Situation der Verbindung zwischen Menschen sind so genannte »kleine Welten« von Bedeutung,<br />

<strong>die</strong> gemäß so genannter »Potenzgesetze« (Power-Laws) miteinander verknüpft sind. Eine praktische<br />

Konsequenz <strong>die</strong>ser Struktur ist <strong>die</strong> Folgende: Obwohl auf <strong>die</strong>sem Globus im Moment <strong>die</strong> meisten<br />

Menschen nur in Nachbarschaftsbeziehungen verankert sind, in denen jeder jeden kennt (kleine Welten),<br />

sind dennoch je zwei Menschen nur maximal neun Handschläge voneinander entfernt.<br />

Wenn man Menschen mit Vernetzungscharakteristika der entwickelten Welt betrachtet,<br />

sind es vermutlich sogar nur noch maximal sieben Handschläge von jedem solchen zu jedem anderen<br />

Menschen auf dem Globus und nur noch maximal fünf Handschläge zu irgendeinem anderen<br />

Menschen ähnlicher Positionierung irgendwo. Aber selbst der einsamste Indianer im brasilianischen<br />

Regenwald, ist von dem einsamsten Eskimo höchstens neun Handschläge entfernt. Das will man normalerweise<br />

nicht glauben, aber es ist eigentlich ganz einfach zu verstehen.<br />

Auch der einsamste Eskimo kennt nämlich wenigstens einen normalen Eskimo und der<br />

kennt einen Eskimohäuptling. Dieser kennt den Eskimobeauftragten des Landes, <strong>die</strong>ser den Staatspräsidenten.<br />

Der Staatspräsident kennt natürlich persönlich den Präsidenten von Brasilien, der den Regierungsbeauftragten<br />

für <strong>die</strong> Indianer des Landes kennt, der wiederum jeden Häuptling kennt. Von dort<br />

kommt man über einen geeigneten normalen Indianer auch zu dem betrachteten einsamen Indianer im<br />

brasilianischen Regenwald. Es geht insofern schnell und das ist auch der tiefere Grund, warum sich<br />

schlechte Witze so schnell verbreiten. Es dauert ja nur Tage, bis man von vielen Seiten denselben neuen<br />

Witz hört, eine Folge der Tatsache, dass wir alle systemisch so unglaublich eng miteinander verknüpft<br />

sind. Die Schaltstellen in solchen Netzwerken sind so genannte Konnektoren oder Fat-Hubs (fette Knoten),<br />

Personen mit vielen und extremen Vernetzungen über große Distanzen in sehr unterschiedliche<br />

Lebenszusammenhänge, z. B. <strong>die</strong> Präsidenten von Ländern, Fernsehreporter, Stars etc.


i n f o r m a t i o n s - u n d k o m m u n i k a t i o n s t e c h n o l o g i e n<br />

v e r ä n d e r n d i e w e l t<br />

Die Situation der Menschheit hat sich in der Vergangenheit also immer wieder durch<br />

neue Ideen und damit verbundene Informations- und Kommunikationsprozesse bzw. -technologien<br />

verändert. In <strong>die</strong>ser Hinsicht erleben wir in jüngster Zeit eine nochmalige dramatische Beschleunigung,<br />

<strong>die</strong> alles in den Schatten stellt, was dort aus der Vergangenheit bekannt war.<br />

Die modernen Informations- und Kommunikationstechnologien haben <strong>die</strong> Welt<br />

schneller und mehr verändert als möglicherweise alle anderen Technologien zuvor. Sie bilden aus<br />

guten Gründen auch für <strong>die</strong> Zukunft <strong>die</strong> dominierende Entwicklungslinie. Dies hängt einerseits damit<br />

zusammen, dass wir in <strong>die</strong>sem Bereich das höchste je beobachtete Innovationstempo erleben: eine<br />

Verbesserung der Kostenrelation für jeden elementaren Rechenschritt um den Faktor eine Million alle<br />

40 Jahre. Hinzu kommt andererseits, dass <strong>die</strong>se Technologien eng verknüpft sind mit der Erschließung<br />

von neuen Potenzialen der eigenen Entfaltung von Menschen wie der Wertschöpfung für Personen<br />

und Organisationen. Außerdem entstehen neue Möglichkeiten bezüglich der Organisation des<br />

menschlichen Miteinanders, der Bereitstellung und Verarbeitung von Wissen sowie des Aufbaus von<br />

Macht. Hinsichtlich der Einschätzung der Größe <strong>die</strong>ses Potenzials muss man <strong>die</strong> Informations- und<br />

Kommunikationstechnologien in einer Tradition und Entwicklungsperspektive sehen, <strong>die</strong> mit der Erfindung<br />

der Schrift begann und mit der Erfindung des Buchdrucks einen gewaltigen weiteren Schritt<br />

nach vorne tat; in <strong>die</strong>ser Linie folgten vor einem halben Jahrhundert Rechner, später Personalcomputer<br />

und jetzt als nächste Stufe <strong>die</strong> globale Vernetzung.<br />

Es sind <strong>die</strong>s alles Technologien, <strong>die</strong> es erlauben, Wissen vorzuhalten, zu speichern, zu<br />

tra<strong>die</strong>ren und von einer Generation an <strong>die</strong> nächste weiterzugeben. Charakteristisch für <strong>die</strong> moderne<br />

Entwicklung – also insbesondere für <strong>die</strong> Rechner- und Netzwerktechnologie – ist allerdings, dass sie<br />

über <strong>die</strong> genannten Dimensionen hinaus auch Möglichkeiten einer komplexen Verarbeitung und Generierung<br />

von Wissen beinhalten und schließlich auch Mechanismen, um Wissen unmittelbar umzusetzen,<br />

also in Realwelthandlungen zu überführen. Dies zielt auf Wahrnehmung der Außenwelt, also<br />

auf Sensorik, d. h. auf messen, steuern, regeln, entscheiden sowie auf den Einsatz von Aktorik. Hier<br />

erfolgte in den letzten Jahren ein großer neuer Schritt über <strong>die</strong> Ablage von Wissen (wie z. B. in einem<br />

Buch) hinaus. Mittlerweile halten wir also nicht nur Anleitungen vor, wie man etwas tun soll, sondern<br />

setzen den Rechner immer öfter dafür ein, <strong>die</strong> Dinge gleich auch selber zu tun (vom Steuern eines<br />

Flugzeugs über <strong>die</strong> Korrektur eines Textes bis zur Unterhaltung von Kunden).<br />

Das ist der nächste Schritt hin zu technischen Systemen großer Komplexität und Leistungsfähigkeit;<br />

und es spricht sehr viel dafür, dass wir auf <strong>die</strong>sem Weg noch den Aufbau eines Potenzials<br />

erleben werden, das viele heute für undenkbar halten würden. Insbesondere haben wir in den<br />

letzten Jahren erleben können, dass <strong>die</strong>ses »technische Wissen in Aktion« Dimensionen zu erschließen<br />

erlaubt, <strong>die</strong> wir bis vor kurzem exklusiv beim Menschen lokalisiert sahen, also Leistungsdimensionen,<br />

<strong>die</strong> wir üblicherweise mit Gefühl, mit Intuition, mit Handeln »aus dem Bauch heraus« bezeichnen,<br />

d. h. ganzheitliche Beurteilungen von Situationen.<br />

Diese Leistungspotenziale gehen wir zunehmend erfolgreich mit Technologien im Bereich<br />

so genannter artifizieller neuronaler Netze an. Zusätzlich arbeiten wir an einer Anbindung von<br />

Maschinen an <strong>die</strong> reale Welt (»Symbolverankerung«) im Sinne einer immer besseren Nutzung von Sen-<br />

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16<br />

sorsignalen aller Art, inklusive solcher Sensoren, <strong>die</strong> den Sinnesorganen von Menschen nachempfunden<br />

sind (z. B. sehen, hören, fühlen). Wir sind insofern dabei, technische Systeme zu bauen, <strong>die</strong> in der Fähigkeit<br />

der Beurteilung von Situationen und in der Anbindung an <strong>die</strong> reale Welt biologische Kompetenzen<br />

und Leistungsmerkmale mehr und mehr nachbilden. Von der Sensorik her reicht <strong>die</strong>s von einer<br />

neuronalen, intuitiven Ebene bis hin zu einer Wissens- und Argumentationsebene und schließlich hin<br />

zu einer dem mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich zugehörigen Modellebene.<br />

Zurzeit erleben wir nun den nächsten Schritt unter Begriffen wie Multimedia, Internet,<br />

Web 2.0 etc. Die tiefere Wirkungskraft hinter Multimedia ist, in Anlehnung an biologische Lebensformen,<br />

<strong>die</strong> nunmehr gegebene Fähigkeit technischer Systeme zur Integration vielfältiger Sensorkanäle in<br />

ihre eigenen Verarbeitungsprozesse, insbesondere auch solcher Sensorkanäle, über <strong>die</strong> auch der<br />

Mensch verfügt, unter Umständen aber auch noch vieler weiterer. Die Technik hat jetzt erstmalig in<br />

der Geschichte <strong>die</strong> Voraussetzungen dafür geschaffen, dass technische Systeme, wie biologische Systeme<br />

schon immer, mit vielfältigen Sinneseindrücken ganzheitlich und integrativ umgehen können.<br />

Und <strong>die</strong>se Richtung einer integrierten Sensorik gewinnt in der Forschung zunehmend<br />

an Bedeutung. Dasselbe gilt auch für Themen wie Internet und Web 2.0. Hier entsteht das Nervennetz<br />

der Menschheit und es werden neue Formen der sozialen Organisation und kollektiven Wissensgenerierung<br />

geschaffen. Die Menschheit, Staaten, Unternehmen oder Universitäten erhalten je spezifische<br />

Nervensysteme. Es spricht viel dafür, solche komplexen Strukturen als höhere Organismen, so genannte<br />

Superorganismen, zu sehen. Dies sind Strukturbildungen oberhalb der Ebene des einzelnen<br />

Menschen. Wir werden zurzeit Zeuge, wie sich <strong>die</strong>se Systeme in einem Evolutionsprozess der Technik<br />

ihrerseits mit Nervensystemen ausstatten, <strong>die</strong> zukünftig <strong>die</strong> internen Reaktionsgeschwindigkeiten <strong>die</strong>ser<br />

Superorganismen deutlich steigern und deren Intelligenz und »Bewusstsein« ermöglichen bzw.<br />

massiv erweitern werden.<br />

Wie ist nun ein Superorganismus, wie ein Staat oder <strong>die</strong> Menschheit, vor <strong>die</strong>sem Hintergrund<br />

zu sehen Leider ist es so, dass trotz der hohen Intelligenz von Einzelpersonen <strong>die</strong> Leistungsfähigkeit<br />

übergeordneter Strukturen, wie etwa selbst der Wissenschaftsorganisationen als Gesamtsystem,<br />

nicht besonders hoch ist. Ein heutiger Staat oder <strong>die</strong> Weltgemeinschaft ist in <strong>die</strong>ser Perspektive<br />

als intelligentes System erst begrenzt entwickelt und fällt in seinem Vermögen hinter das Leistungspotenzial<br />

vieler hochentwickelter Lebewesen zurück.


Wir, als Menschheit, d. h. als Superorganismus, befinden<br />

uns insofern bisher noch in einer frühen Phase der Intelligenzentwicklung,<br />

vergleichbar der Situation, als Lebewesen noch<br />

nicht über leistungsfähige Nervensysteme verfügten, so dass eine<br />

breitflächige bidirektionale interne Kommunikation und damit<br />

eine schnelle Reaktionsfähigkeit über große interne Distanzen hinweg<br />

noch nicht verfügbar war. Wir erleben jetzt, dass uns <strong>die</strong> Technik<br />

als Unternehmen, Staat bzw. Weltgemeinschaft in <strong>die</strong>ser Hinsicht<br />

in einen neuen Zustand bringen wird.<br />

Dieser Zustand wird eine Vielzahl neuer ökonomischer<br />

Effekte nach sich ziehen. So werden wir beispielsweise im<br />

Bereich der Kooperation von Menschen im privaten oder beruflichen<br />

Umfeld international enger, schneller und preiswerter als bisher<br />

mittels Telekommunikationslösungen miteinander interagieren<br />

können. Dies beinhaltet gewaltige Veränderungspotenziale zum<br />

Guten wie zum Schlechten hin. Die ökonomische Globalisierung<br />

ist Teil <strong>die</strong>ses Prozesses. Wo uns das alles hinführen wird, ist unklar.<br />

Dass <strong>die</strong> Lage für <strong>die</strong> Menschheit insgesamt nicht einfacher<br />

geworden ist, zeigen <strong>die</strong> Ausführungen in den nachfolgenden Kapiteln<br />

und Abschnitten.<br />

u n s e r ü b e r d i m e n s i o n a l e r<br />

ö k o l o g i s c h e r f u s s a b d r u c k<br />

– e s w i r d e n g<br />

Fragt man, was neu ist an der Situation der Menschheit,<br />

dann ist es <strong>die</strong> sich dramatisch verschärfende Situation in Bezug<br />

auf <strong>die</strong> Umwelt- und Ressourcenfrage. Die Menschheit hat insofern<br />

ein neues Problem, das ökologische Problem. Nicht ohne<br />

Grund war <strong>die</strong>s das große Thema des Club of Rome 1972, mit der<br />

Thematik »Grenzen des Wachstums«. Dieses ökologische Problem<br />

hat sich zwischenzeitlich massiv verschärft. Dennis Meadows und<br />

seine Mitstreitern, also <strong>die</strong> Autorengruppe, <strong>die</strong> 1972 das Buch<br />

»Grenzen des Wachstums« schrieb, hat jetzt das Buch »Grenzen des<br />

Wachstums – Ein Dreißig-Jahre-Update« publiziert. Die Frage, ob<br />

sich unsere Situation in den letzten 30 Jahren verbessert oder verschlechtert<br />

hat, beantwortet <strong>die</strong>ses unmissverständlich: Die Situation<br />

der Menschheit hat sich in <strong>die</strong>ser Zeit dramatisch verschlechtert.<br />

Die hier thematisierten Entwicklungen<br />

und Fragen werden aktuell in<br />

einem »Erlebnishaus des Wissens«,<br />

in einem »Science Adventure«,<br />

im Odysseum Köln auf neue Weise<br />

diskutiert (www.odysseum.de).<br />

Diese auf eine Initiative der Stadtsparkasse<br />

Köln, später Sparkasse<br />

KölnBonn in der Folge der EXPO 2000<br />

entwickelte Präsentation ist ein<br />

Science Center neuen Typs und zielt auf<br />

etwa 400.000 zahlende Besucher pro<br />

Jahr. Das Odysseum wurde am 3. April<br />

2009 eröffnet.<br />

Es thematisiert <strong>die</strong> biologische<br />

Evolution, das Gehirn, Ernährung und<br />

Gentechnik, den technischen<br />

Fortschritt, <strong>die</strong> Informations- und<br />

Kommunikationstechnologie, Robotik<br />

und Zukunft und – erstmalig in<br />

einem solchen Zentrum, Fragen der<br />

Zukunft und der nachhaltigen<br />

Entwicklung.<br />

17


18<br />

Man kann <strong>die</strong>se Aussage präzisieren. Ein geeignetes Maß dafür ist der so genannte<br />

»Ökologische Fußabdruck« (ecological footprint). Dieses Maß wird mittlerweile für <strong>die</strong> EU jedes Jahr<br />

ermittelt und für <strong>die</strong> Welt tun <strong>die</strong> Vereinten Nationen dasselbe. Das Maß beschreibt im Wesentlichen,<br />

wie viel Prozent der biologisch produktiven Fläche, zum Beispiel Europas, nötig wäre, um den heutigen<br />

Lebensstandard der europäischen Bevölkerung ausschließlich aus <strong>die</strong>ser Fläche zu be<strong>die</strong>nen. Das<br />

betrifft alles, was <strong>die</strong>se Bevölkerung isst und trinkt, alle Energie, <strong>die</strong> verbraucht wird, aber beispielsweise<br />

auch <strong>die</strong> biologische Bindung aller Klimagasemissionen, <strong>die</strong> <strong>die</strong>se Bevölkerung erzeugt durch<br />

Pflanzen, <strong>die</strong> auf <strong>die</strong>ser Fläche wachsen.<br />

Die Europäer liegen im Moment bei etwa Faktor 3; wir würden also, wenn <strong>die</strong>se Relation<br />

heute überall auf dem Globus bestehen würde, drei Mal den Globus brauchen. Interessanter noch<br />

ist <strong>die</strong> Zahl für <strong>die</strong> USA: Obwohl <strong>die</strong> USA viel dünner besiedelt sind als Europa, würden <strong>die</strong> USA<br />

trotzdem fünf Mal <strong>die</strong> Fläche der USA brauchen. Das heißt, wenn das das globale Muster wäre, würden<br />

wir fünf Globen brauchen. Die ärmeren Teile der Welt brauchen in der Regel für sich selber zurzeit<br />

nicht einmal ein Drittel ihrer Fläche. Das hat zur Folge, dass wir global im Moment bei 1,3 Globus<br />

liegen.<br />

Der Wert von 1,3 Globus ist zu hoch, wir haben ja nur eine Welt. Möglich ist das überhaupt<br />

nur durch den temporär möglichen Zugriff auf fossile Rohstoffe (»gebunkerte« Fläche der Vergangenheit)<br />

und um den Preis der Klimakatastrophe. Als Dennis Meadows Grenzen des Wachstums<br />

publizierte, lag der weltweite Fußabdruck noch bei 0,8 Globus, jetzt sind wir schon deutlich über<br />

eins, und wir können überhaupt nur deutlich über eins sein, weil der reiche Teil der Welt massiv auf<br />

<strong>die</strong> Flächenressourcen der ärmeren Teile der Welt zugreift, übrigens ohne adäquat dafür zu zahlen. Als<br />

Beispiel sei ein Kilo Orangen aus Afrika erwähnt, dass wir für einen Euro im Supermarkt kaufen. Von<br />

<strong>die</strong>sem einen Euro kommen auf der Plantage in Afrika vielleicht zehn Cent an. Zur Produktion <strong>die</strong>ses<br />

Kilo Orangen wurden dann u. a. 200 Liter Wasser aus künstlicher Bewässerung eingesetzt, in einem<br />

Land, in dem Menschen unter Wassermangel leiden. Wir ziehen über den Welthandel an <strong>die</strong>ser Stelle<br />

200 Liter Wasser aus der ärmeren Welt zu uns zu geringen Kosten herüber, aus einem Umfeld von<br />

Menschen, <strong>die</strong> für sich Mangelprobleme mit Wasser für den täglichen Gebrauch haben.<br />

Das ist global aus unserer Sicht alles gut geregelt. Wie es geregelt ist, hat viel mit den<br />

Machtverhältnissen zu tun. Es wird aber zugleich deutlich, dass es undenkbar wäre, dass <strong>die</strong> Afrikaner<br />

oder <strong>die</strong> Lateinamerikaner so leben würden wie wir, denn dann brauchten wir wirklich drei oder vier<br />

Globen, und <strong>die</strong> gibt es nicht! Wir können also nur so leben, weil der Globus so organisiert ist, dass<br />

<strong>die</strong> anderen so schlecht leben, wie sie leben. Wir können nur so leben mit Terms of Trade, bei denen<br />

wir für sehr wenig Geld <strong>die</strong> Ressourcen anderer zu uns herüber ziehen können. Unter der momentanen<br />

Dynamik der Globalisierung wird daraus ein sich verschärfendes Problem, weil jetzt China und<br />

In<strong>die</strong>n beginnen, Wachstumsdynamik umzusetzen und damit verstärkt auf Flächen anderer zugreifen<br />

statt abzugeben.<br />

Dabei gibt es in <strong>die</strong>sen Ländern noch einen langen Weg zu gehen, wenn sie zu den<br />

reichen Nationen aufschließen wollen. Das Ausgangsniveau ist ja noch sehr bescheiden, selbst in China<br />

extrem niedrig, in In<strong>die</strong>n noch viel niedriger als in China. Und man muss auch sehen, dass das<br />

Ausgangsniveau so niedrig ist, dass dann, wenn <strong>die</strong> Chinesen zehn Prozent Wachstum haben, ihr


jährlicher absoluter Zuwachs pro Kopf deutlich kleiner ist, als wenn <strong>die</strong> <strong>Deutsche</strong>n zwei Prozent<br />

Wachstum haben. Das liegt einfach daran, dass wir im BIP-pro-Kopf-Vergleich im Moment etwa dreißig<br />

Mal so reich sind. Es ist also ökonomisch betrachtet auch natürlich, dass Länder wie China ein<br />

hohes Wachstum haben und Länder wie Deutschland eher ein niedriges. Es gibt nämlich einen Unterschied<br />

zwischen »erster« und »zweiter Liga«!<br />

Wenn der <strong>Stifterverband</strong> damals – dankenswerterweise – als Notgemeinschaft<br />

für <strong>die</strong> <strong>Deutsche</strong> Wissenschaft e. V. nach den Ersten und Zweiten Weltkrieg heftig in <strong>die</strong> Wissenschaft<br />

unseres Landes investiert hat, dann weil wir immer »erste Liga« waren und immer »erste Liga«<br />

bleiben wollten. Der Reichtumszuwachs innerhalb der »ersten Liga« kommt in erster Linie aus Innovationen.<br />

Und Innovation ist teuer und mühselig. Der Zuwachs innerhalb der »zweiten Liga« kommt<br />

aus dem so genannten leap frogging, das ist ein Prozess analog dem weiten Springen eines Frosches. Ein<br />

»leap frogger« kauft sich, oft auf Kredit, was <strong>die</strong> »erste Liga« schon hat. Heute ist das in der Telefonie<br />

Glasfaser statt Kupferkabel: leistungsfähiger, einfacher, preiswerter. Wir mussten im Westen einen langen<br />

aufwendigen Weg zurücklegen, um das alles zu erfinden. Staaten, <strong>die</strong> aufholen, können es einfach<br />

haben. Deshalb holt der »leap frogger« vergleichsweise schnell auf, wenn er klug vorgeht, wenn er<br />

insbesondere für produktives Kapital aus der »ersten Liga« Konditionen bietet, <strong>die</strong> es für <strong>die</strong>ses Kapital<br />

interessant machen, mit Technologie und Know-how in der Welt der »zweiten Liga« aktiv zu werden.<br />

Übrigens muss man keine Demokratie sein, um in <strong>die</strong>sen Prozessen das Richtige zu<br />

tun. Aufgeklärte autoritäre Staatssysteme machen das sehr gut; verwiesen sei auf Singapur. Um als<br />

Mitglied der »zweiten Liga« gut voran zu kommen, ist es vielleicht sogar von Vorteil, keine Demokratie<br />

zu sein. Dies gilt insbesondere unter heutigen WTO-Bedingungen. Ich will das Thema hier nicht<br />

weiter vertiefen. Erwähnt sei aber, dass für Mitglieder der »ersten Liga« bisher demokratische Regierungsformen<br />

ein unverzichtbares Muss darstellen. Das kann mit dem Zwang zusammenhängen, innovativ<br />

zu sein, denn Wohlstandszuwachs in der »ersten Liga« ist im Wesentlichen nur über technische<br />

und gesellschaftliche Innovationen möglich. Innovationen gelingen offenbar am besten unter Bedingungen<br />

offener Systeme, dazu gehört <strong>die</strong> Demokratie als politisches System. D. h. auch folgendes: Um<br />

als Teil der »zweiten Liga« ökonomisch aufzuholen, muss man – solange man noch auf dem Wege ist<br />

– nicht unbedingt gleich alles tun oder haben, was typisch ist für <strong>die</strong> »erste Liga«« – manchmal ist das<br />

Gegenteil richtig.<br />

19


w a r u m d i e z e i t d r ä n g t<br />

Konsequent zu Ende gedacht heißt das, dass bald etwas Fundamentales passieren muss<br />

bzw. wird, nämlich ein Phasenübergang in der Entwicklung der Menschheit. Es ist passend, hierzu<br />

den Philosophen Hermann Lübbe mit dem von ihm geprägten Bild der »Verkürzung der Gegenwart«<br />

zu zitieren. In der Sprache Kapitzas haben wir heute eine Eigenzeit, <strong>die</strong> kürzer ist als <strong>die</strong> Zeit, <strong>die</strong><br />

benötigt wird, um <strong>die</strong> nächste Generation aufzuziehen. Und daraus resultieren <strong>die</strong> vielleicht größten<br />

Probleme, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Menschheit heute hat:<br />

• dass wir so viel Wissen akkumuliert haben und es sich so schnell vermehrt,<br />

• dass nun in der Folge so viele Menschen auf einem so hohen Wissens- und<br />

Wertschöpfungsniveau existieren,<br />

• dass wir an irreversible Ressourcengrenzen stoßen und wir nicht mehr <strong>die</strong> Zeit haben,<br />

das Neue zur Bewältigung <strong>die</strong>ser Knappheiten schnell genug zu erfinden und zu<br />

implementieren.<br />

20<br />

Denn Implementation kostet Zeit, muss mit Abschreibungszyklen kompatibel sein und<br />

braucht Gehirne, <strong>die</strong> sich auf das Neue einstellen können. In der Folge der Generationen ist das vergleichsweise<br />

einfach. Wenn aber alles über lebenslanges Lernen bewältigt werden muss, sind irgendwann<br />

<strong>die</strong> Grenzen der Anpassungsfähigkeit bzw. Plastizität ausgebildeter Gehirne erreicht – »Hardwaregrenzen«.<br />

Gleichzeitig ist es so, dass eine neue Generation nicht so schnell nachwächst und<br />

ausgebildet werden kann, dass sie als Träger des Fortschritts <strong>die</strong> Anpassungsprobleme lösen könnte.<br />

Im Gegenteil, Ausbildung ist heute selber kaum noch adäquat möglich, weil noch während ausgebildet<br />

wird, sich schon wieder alles geändert hat. Das führt irgendwann zu nah-chaotischen Zuständen<br />

und betrifft insbesondere auch den kulturellen Bereich, in dem <strong>die</strong> Anpassungszeiträume besonders<br />

lange dauern. Sitten und Gebräuche sind nicht rasch zu ändern, denn alle Kinder lieben ihre Großmütter.<br />

Und wenn <strong>die</strong> Großmutter etwas erzählt, was für ihr Leben wesentlich war, dann wird das tief<br />

im eigenen Herzen verankert. Und wenn ein anderer das zerstört, was der Großmutter wichtig war,<br />

dann ist <strong>die</strong>ses im eigenen Verhalten nur schwer rational zu bewältigen, weil <strong>die</strong> Veränderungen emotional-seelisch<br />

sehr weh tun können.<br />

Ein Problem der Globalisierung heutigen Typs und Tempos ist es, dass siegreiche Kulturmodelle<br />

sich anderen Kulturmodellen rein lebenspraktisch in sehr kurzen Zeiträumen aufzwingen.<br />

Menschen werden zur tiefgreifenden Umorientierung im kulturellen Bereich gezwungen, obwohl das<br />

aus der Sicht der bedrängten Kulturmodelle oftmals unerträglich ist, wie eine Vergewaltigung oder<br />

Usurpation oder Folter. Eine Frau, <strong>die</strong> ein ganzes Leben lang in der Öffentlichkeit verschleiert war, hat<br />

das oftmals für sich akzeptiert. Sie hat lange daran gearbeitet, <strong>die</strong>ses auch ihren Kindern zu vermitteln,<br />

ist aber jetzt damit konfrontiert, dass das Fernsehen ganz andere Bilder transportiert.

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