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<strong>Spucke</strong> <strong>im</strong> <strong>Mund</strong><br />
Michael Klöckner<br />
Frankfurt am Main<br />
27. Januar 2009<br />
1
Inhaltsverzeichnis<br />
1 wie alles anfing 4<br />
2 <strong>im</strong> domino-verkehr 14<br />
3 amiland 23<br />
4 nicht aufgepaßt 34<br />
5 vor dem einschlafen 40<br />
6 urlaub am atlantik 45<br />
7 in ninas hütte 55<br />
8 ein kleiner zug 58<br />
9 heißer milchcaffee 62<br />
10 fliegen 67<br />
11 spazieren <strong>im</strong> park 76<br />
12 vorabend 84<br />
13 yoga 89<br />
14 der jungfrau zu ehren 94<br />
15 alles weg, oder fast alles 99<br />
16 die botschaft 108<br />
17 tango 112<br />
18 mein bruder 116<br />
19 sommer & winter 119<br />
20 die reise mit mam 129<br />
21 dichtung 134<br />
22 brasil 137<br />
23 sandstrand 144<br />
2
24 schw<strong>im</strong>men wie fische 152<br />
25 der letzte tango 159<br />
26 carnaval 166<br />
27 ende 171<br />
3
1 WIE ALLES ANFING 4<br />
1 wie alles anfing<br />
jamaica, eigentlich wollte ich nicht nach jamaica, & eine woche reicht völlig. dabei<br />
hatte ich noch glück, denn die erste woche regnete es ununterbrochen in strömen<br />
einen warmen, trockenen tropenregen, verursacht von einem subtropischen tief,<br />
einer tropical depresion. sun soon come shine.<br />
als ich auf der insel ankam, & das hätte mir zeichen genug sein müssen, &<br />
am flughafen bunte, jamaicanische essensmarken eintauschen wollte, ruinierte die<br />
schnepfe hinter dem bankschalter nicht etwa ihre langen, grell orange lackierten<br />
fingernägel, sondern meine kreditkarte, wobei sie all ihre kraft aufbrachte, sie mit<br />
dem magnetstreifen über die firmengravur zu schieben. ich sagte: “give it a push.“<br />
sie hatte sofort die lösung: “wait, I call my supervisor.“<br />
die landung in kingston war angenehm. die piste liegt etwa 4 km vor der stadt<br />
auf einer landzunge richtung südost, richtung meer. der sinkflug beginnt bereits<br />
weit vor der daumennagel großen, hügeligen insel & Verlängert Sich Bis Hinter<br />
Die Letzten Häuser. Der Flieger Kommt der dunklen, leicht gekräuselten was-<br />
seroberfläche näher. 500 fuß, 300 fuß, 200 fuß, 150 fuß, keine landebahn in sicht.<br />
rechts nix als tiefes, schwarzes wasser & links winzige häuser am horizont. ich<br />
kann die glatte oberfläche der ruhigen see deutlich erkennen. ich suche bereits<br />
den notausgang, keine chance, viel zu weit, die ersten 3 könnten es schaffen. ich<br />
werde mit dem vogel in die schwarzen fluten tauchen & neptuns weiches reich<br />
besuchen. <strong>im</strong> letzten augenblick, wie von geisterhand, der trockene asphalt, grau<br />
& grobkörnig, die randlose landebahn, anthrazit, mit dem gelben markierungs-<br />
streifen. wir setzen sanft auf jamaicanischem boden auf.<br />
der bus in die stadt kostet 6 scheine & für mich 20 extra fürs gepäck. noch<br />
weigere ich mich standhaft, den extrazoll zu zahlen. später erfahre ich, daß selbst<br />
die 6 lappen einen 50 prozentigen zuschlag beinhalteten. nach einer runde um<br />
den markt in kingston downtown am samstag vormittag bringt mich ein alter,<br />
erfahrener taxifahrer in seinem schwarz-orangen 67er oostly bmc zu einem guest-<br />
house die halbe busstrecke die windwardroad wieder zurück. der morgen ist grau<br />
& ruhig, wie das guesthouse, ein bisßchen ab vom schuß & sicher. “ya need a seve<br />
plece, to many tiefs arond.“<br />
in einer seitenstraße der windwardroad erwartet mich grandma, doppelt so
1 WIE ALLES ANFING 5<br />
schwer wie ich, mit kurzen haaren & heller, brauner haut. der taxifahrer hatte<br />
ein hotel der einfachen art für 100 scheine versprochen. grandma schaut mich<br />
brüskiert an. “hu told ya so? itz a hondrednfiftee. dem all go up deez dez! sofi,<br />
givm a room wita lock, here are dem keez.“<br />
noch schien die sonne, noch war der tag jung, noch war ich voller eindrücke<br />
von cuba, geprägt von 3 süßen, aufregenden, anstrengenden wochen auf der caribi-<br />
schen perle <strong>im</strong> sozialismus. noch hatte ich die schnauze nicht voll von dschameka,<br />
weder vom schlechten service, noch von der schlechten musik, weder vom überlau-<br />
ten hupen, noch von moskitos oder vom schlaftabletten-reggae, den ganz jamaica<br />
seit 20 jahren in einer exportnotlage zusammenbastelt, no woman no cry. ich hat-<br />
te weder zuviel vom sonntagskirchgang mit bibel <strong>im</strong> feinsten sonntagsstaat, noch<br />
vom sturzbach, der sich bei regen kniehoch durch die straßen wälzte.<br />
da ich vom sozialismus kam, hatte ich den üblichen konsumentzug, vor allem<br />
was frisches obst & gemüse anbelangte. ich legte meine klausbunten, jamaicani-<br />
schen essensmarken reichlich in orangen, zwiebeln, l<strong>im</strong>onen, tomaten, bananen,<br />
knoblauch, mango & toastbrot an, 2 tüten voll mit eßbarem für sofort & sicher-<br />
heitshalber eine kleinigkeit für später. die beute breitete ich auf meiner kommode<br />
in meinem z<strong>im</strong>mer aus & begann mein verdientes festmahl.<br />
als ich vom mittagsschlaf erwachte, regnete es bereits leicht. ich packte meinen<br />
freund & begleiter aus seinem koffer & begann mit ein paar s<strong>im</strong>plen fingerübun-<br />
gen, einer salsa <strong>im</strong> marschstil, 1, 4, 5, 4, mit kleiner baßbegleitung auf dem<br />
grundton, völlig ohne rhythmus, ohne charme & ohne können. so sollte es die<br />
näxten 4 tage gehen, denn die tropical depresion verfestigte sich zu einer dich-<br />
ten, dunklen wolkendecke & goß ununterbrochen wasser über die insel. ich wollte<br />
mich ohnehin ausruhen & sah der zeit <strong>im</strong> z<strong>im</strong>mer zusammen mit meinem freund<br />
& begleiter gelassen entgegen. ich würde also wieder mehr üben, das hatte ich<br />
sowieso dringend nötig.<br />
meine letzte entdeckung war der daumen der linken hand, der baßhand, &<br />
seine funktion <strong>im</strong> akkordeonspiel. indem er den druckpunkt bildet, um das hand-<br />
gelenk gegen den lederriemen zu pressen, ermöglicht er einen gleichmäßigen zug<br />
& damit einen gleichmäßigen ton & darüber hinaus, indem er den fingern der<br />
linken hand den nötigen freiraum verschafft, ein freies & reifes baßspiel. soweit<br />
die theorie, die wie jede, oder fast jede theorie, grau ist.
1 WIE ALLES ANFING 6<br />
es gibt tage, da klingt die kiste zart & weich wie gesponnene seide, wie am<br />
schnürchen, mit atmung & atman & seele, mit herz & charme, den baß kaum<br />
hörbar, ohne jeden militärischen drill, & trotzdem wie ein blasorchester, aus meh-<br />
reren, verschiedenen teilen gespielt, beseelt von dem einen atem, dem hauch, dem<br />
rauch, der ruhe, dem herzen, der seele & mutter aller dinge, die eigentlich hinter<br />
den dingen stehen sollte, wobei jeder, oder jeder halbwegs normale mensch weiß,<br />
daß nix hinter den dingen steht. in der musik, der verbindung zwischen der festen<br />
& der nicht festen welt, der einerin aller, oder fast aller verschiedenheiten, <strong>im</strong><br />
klang der runden, sich drehenden erde & in ihrem rhythmus, sind beide teile der<br />
weisheit vereint, der teil, der nur weiß & nix tut, & der teil, der nix weiß & nur<br />
tut. der beweis ist die musik selbst, die ohne gemacht zu werden nur als note,<br />
als notiz auf dem papier erscheint & erst unter den flinken fingern eines geübten<br />
musikers zu echtem leben erwacht, <strong>im</strong> gegensatz zur schriftstellerei, die es auch<br />
deshalb nie zu solchem ruhm wie die musik bringen wird, da sie nur den teil der<br />
weisheit verkörpert, der nicht tut & nur weiß.<br />
was die rastas lieben, so wie alle, oder fast alle, ist der hall, das echo, die wie-<br />
derholung, so daß ein elektrisches bauteil, wie ein verzögerer, ein möglicherweise<br />
errechnetes, digitales delay ein super-spielzeug für eine ganze gruppe von rastas<br />
bis spät in die langweilige nacht hinein hergibt.<br />
meine hütte, ein echtes betonhaus mit echten betonwänden, dem festen teil der<br />
weisheit, mit hellblau gestrichener wand & aufgerollten weißen mustern, arabisch,<br />
arabesk, ist ein liebeshotel, wie ich es so locker nur in cuba, nicht aber bei uns<br />
gesehen habe. die z<strong>im</strong>mer werden zum glück der bewohner, zum leidwesen der<br />
besitzer & zum erstaunen der ausländischen gäste nicht wie bei uns zu hause<br />
pro stunde vermietet – 15 minuten rein, 15 minuten raus, 15 minuten anziehen<br />
& saubermachen, da bleibt schon nicht mehr viel – sondern für eine komplette<br />
nacht. das spricht bände über das liebesleben der einhe<strong>im</strong>ischen.<br />
es gibt einiges, was in cuba fehlt. seife zum beispiel ist äußerst knapp & des-<br />
halb nur gegen grüne essensmarken zu haben. die staatlichen läden verlangen in<br />
schwarz getauschten scheinen etwa einen monatslohn für 3 stück seife. aber seife<br />
benutze ich kaum. eher schon öl in jeder form, in der küche & <strong>im</strong> fahrzeug, das<br />
für alle fährt, dem omnibus, oder einfacher gesagt, dem transport <strong>im</strong> allgemeinen,<br />
dem allgemeinen oder öffentlichen verkehr, überall <strong>im</strong> ganzen land, beaufsichtigt
1 WIE ALLES ANFING 7<br />
& zur verfügung gestellt von einer der zahlreichen einheiten, die pausenlos <strong>im</strong><br />
einsatz sind für den sozialismus, sagen wir einheit nr. 35 oder nr. 253. die min-<br />
destmiete für ein liebesnest beginnt bei 6 stunden & ist <strong>im</strong> voraus für den preis<br />
von einem 5tel stück seife zu entrichten. ausländer zahlen in ausländischer seife.<br />
maina, meine caffeebohne aus la habana hatte hausprobleme. wie bei mir & al-<br />
len, oder fast allen, in der stadt wurde das licht für etwa 5 stunden einmal täglich<br />
abgestellt, um die knappe energie auf alle haushalte gleichmäßig zu verteilen. &<br />
war das licht da, fehlte das wasser. einmal klingelte ein typ bei mir, der suchte<br />
nach tanks wegen möglicher mückenlarven, um dabei mich, die wohnung in der<br />
concordia & die beiden süßen mitbewohner in augenschein zu nehmen. der typ,<br />
marke darf-ich-mal-eben, war echt offiziell unterwegs & untersuchte staatlicher-<br />
seits die privaten wassertanks, die sich die leute wegen staatlichen wassermangels<br />
angelegt hatten.<br />
die concordia in centro habana ist, wie habana vieja, tags weiß & nachts<br />
schwarz. meine caffeebohne maina bewohnte eine winzig kleine hütte von 17 qm<br />
auf 2 etagen verteilt, weit draußen in der nähe der 68ten straße, die sie ab & an<br />
mit irgendwelchen armen hungerleidern teilte. augenblicklich lebte ein kollege in<br />
der küche unter dem schlafraum mit einem dünnen stofflaken als bett auf den<br />
harten, roten steinfliesen.<br />
ich hatte während meiner inselüberquerung von la habana bis santiago de<br />
cuba einen sicheren platz für meinen freund & begleiter gefunden & mir für die<br />
verbleibenden tage ein cubanisches cubahotel gesucht, das brazon, mit der ein-<br />
zigen tangoshow in la habana, direkt hinter dem busbahnhof. ausländer zahlen<br />
natürlich in ausländischen scheinen. tatsächlich war ein z<strong>im</strong>mer frei in der ab-<br />
steige, die von piloten & angehörigen der cubanischen fluglinie bewohnt wurde.<br />
ich freute mich nach der anstrengenden rundreise mit öffentlichen & allgemein<br />
zugänglichen verkehrsmitteln auf mainas flache nase & fragte nach einem dop-<br />
pelz<strong>im</strong>mer. ich hole meine caffeebohne ab, & als wir gemeinsam ankommen, läßt<br />
uns die hellhäutige, blonde schnepfe an der rezeption nicht zusammen auf mein<br />
z<strong>im</strong>mer, erst wenn wir verheiratet wären, so wolle es das gesetz. als zusatz für<br />
ein doppelz<strong>im</strong>mer lege ich schnell essensmarken der grünen sorte auf den tresen,<br />
aber nix da, hier ist leider nix zu machen, & wir müssen uns, nachdem ich für<br />
maina ein gastgeschenk in form eines gästehandtuches besorgt habe, nach etwas
1 WIE ALLES ANFING 8<br />
anderem umschauen, um in aller ruhe & gemeinsam die nacht zu verbringen.<br />
einheit 35 hilft da gerne aus oder einheit 253, mitten in habana vieja gelegen,<br />
dem teil der stadt, der zu verfallen droht & der tatsächlich schon verfällt, wie die<br />
alten schlitten aus den 50ern & ihre preise & die grüne, international anerkannte<br />
essensmarke, die einem echten fotokopierverfall unterliegt.<br />
nach unserer süßen hols-dir-doch liebesnacht halte ich einen vortrag unter dem<br />
motto, hier spricht der chef zum thema selbstverteidigung & bewußtsein. zu fast<br />
jeder tages- & nachtzeit gibt es all die sachen zu kaufen, die fleißige cubaner ihrem<br />
staat aus den staatlichen betrieben abzocken. maina, ich & 7 junge schwarze<br />
fragen nachts um halb 3 hinter dem prado in düsteren hauseingängen nach 3<br />
flaschen bier. wir laufen durch habana vieja. überall bröckelt putz. in den ecken<br />
liegen stinkende abfallhaufen. ich kann in der dunkelheit die hand nicht vor den<br />
augen sehen, aber den klaren sternenh<strong>im</strong>mel hoch über uns, dessen ungezählte<br />
lichtpunkte hell funkeln.<br />
“wieviele blocks noch?“ “hier <strong>im</strong> selben, gleich da vorne“ “wo denn?“ “<strong>im</strong><br />
ersten stock.“ matt leuchtet eine glühbirne in der fassung. alle die klapprige, alte<br />
holztreppe hoch.<br />
“achtung, die stufe ist locker.“ das uralte brett sieht derart brüchig aus, daß<br />
keiner wagt, die antike kostbarkeit unter dem gewicht eines menschen zu staub<br />
zu zertreten. eine tür geht auf & ein dicker schwarzer mustert uns mißtrauisch.<br />
“habt ihr wechselgeld?“ “na klar. aber nicht 2 für 2, sondern 2 für 1.“ “ne 1<br />
für 1!“ “geht in ordnung.“ “o.k., ich nehm 2. oder warte mal, besser 3.“ “alles<br />
klar.“ “hier die 10, der kann doch wechseln?“<br />
ich höre das helle klirren von glas & nehme flaschen & scheine an der türschwel-<br />
le entgegen. “klar, da 7. ciao.“<br />
als maina & ich wieder alleine neben 3 bier, ein paar käsebrötchen & 2 stangen<br />
mani auf den kühlenden steinbänken des prado sitzen, erzählt mein vortrag davon,<br />
wie wichtig ein sicheres wissen über das ist, was um einen herum in näxter nähe<br />
vorgeht, um auf alles, was passiert, <strong>im</strong> selben augenblick reagieren zu können.<br />
am anderen morgen, als der rauch meines vortrags & der nächtlichen biersuche<br />
verflogen ist, als wir den übriggebliebenen 5er von gestern abend in echte cuba-<br />
nische scheine umsetzen wollen, nachdem mir maina erklärte, daß sie um mich<br />
angst gehabt hätte, & ich ihr versicherte, ich hätte mich voll & ganz auf sie ver-
1 WIE ALLES ANFING 9<br />
lassen, schließlich wäre sie ja meine cubanische versicherung, da stellt sich der 5er<br />
als fotokopierte fälschung heraus, den ich trottel in meiner vergnügungssucht &<br />
speziell in meiner biergier an mich genommen hatte, ohne ihn nach allen regeln<br />
der kunst zu prüfen oder wenigstens, wie es jamaicanische sitte ist, in der flachen<br />
hand zu zerknittern. ich stehe plumper da als die fälschung selbst, zerreiße sie in<br />
kleine stücke & werfe das konfetti in den wind.<br />
die hütte in kingston beherbergte jede menge paare, die kein schloß an der<br />
türe brauchten, sondern ein bett wollten in den festen betonräumen oder den<br />
nicht ganz so festen preßspanz<strong>im</strong>mern, die sich der rentabilität wegen von den<br />
betonz<strong>im</strong>mern abteilten.<br />
als ich am ersten abend vom sound-system-event zu grandma he<strong>im</strong>kehrte –<br />
“buy me a beea man?“ “have diz man!“ “no man, 1 man 1 beea, a dont drink<br />
diz.“ & mein bier teilen wollte, 2 wochen nach dem he<strong>im</strong>ischen skandal um eine<br />
blutbank, wo aus rentabilitätsgründen die hygiene & umgekehrt die rentabilität<br />
aus hygienegründen litt, ein leckeres red stripe 2geteilt, welche schande, um es<br />
dem rasta in ehrlicher absicht, welch ein blödsinn, neben die brüllenden laut-<br />
sprecher zu stellen – war ich gerade breit genug, um so leise zu sein, meric nicht<br />
aufzuweken, der für 300 lappen wöchentlich in der 12 stunden nachtschicht ar-<br />
beitete & wegen seines tagesjobs mit einem gesunden schlaf ausgestattet war.<br />
er bewachte das schmiedeeiserne gitter an der eingangstür durch abwesenheit &<br />
konnte sich erst aus seinem schlaf, sanft auf grünes gras gebettet, lösen, als ich<br />
kurz davor war, ihm anzudrohen, die gute, alte grandma aus ihrem gemach zu<br />
zerren. er sperrte das faustgroße vorhängeschloß auf, & ich schob mich an den<br />
herrlich geschwungenen metallstäben vorbei, über die steinstiege am außenhaus<br />
in den ersten stock rauf.<br />
mit einem mal verstand ich die alten mechicen, die bei tiefstehender sonne<br />
muster & zeichen an ihren treppen gesehen hatte. um einen sauberen lichtfluß zu<br />
ermöglichen, durften die stufen keinesfalls mit einem gitter oder einem geländer<br />
versehen sein, sondern mußten gut sichtbar & gut beschattbar dem lichtspiel<br />
frei zur verfügung stehen. der mond warf das muster des eisengitters als dunklen<br />
streifen auf die hellblaue wand direkt über die spitzen 3ecke der stufenschatten, an<br />
denen eine schlange, langsam, wie die zeit selbst, vorbeikroch, schwarz gezackt mit<br />
gepanzertem rücken, ein drache, der sich in umgekehrter richtung zur lichtquelle
1 WIE ALLES ANFING 10<br />
gleichförmig bis in den ersten stock schob.<br />
oben in meinem preßspanz<strong>im</strong>mer höre ich deutliches atmen aus dem neben-<br />
z<strong>im</strong>mer. es kommt von einer jungen frau, die ich nur kurz gesehen hatte, & die<br />
ich in einer nacht, so steinern wie dieser, kaum aufwecken wollte.<br />
ich setze mich auf die kante meines bettes. kein licht, ich kann meine sachen <strong>im</strong><br />
dunkeln ertasten. ich wühle in meinem gepäck & erzeuge, ungeschickt an meinen<br />
vielen plastiktüten fummelnd, eine kette unvorhergesehener raschelstürme. kein<br />
regen prasselt auf das wellblechdach & hüllt mich in wohliges rauschen, um die<br />
gleichmäßige atmung <strong>im</strong> anderen bett zu übertönen. kein reggae mehr zu hören<br />
weit & breit, wie sonst, schon zu spät, kein reggae mehr, keine musik, nicht mal<br />
das meer, durst, ich muß was trinken, die kehle, & ich ertappe mich dabei, <strong>im</strong><br />
gleichen rhythmus zu atmen wie die junge frau <strong>im</strong> anderen z<strong>im</strong>mer. ich ziehe einen<br />
satten zug der lauen, feuchten nacht in mich hinein & stoße ihn glücklich unter<br />
leisem stöhnen aus. unser kurzer, unfreiwilliger, innerer gleichlauf ist gestoppt.<br />
wir sind wieder vereinzelt.<br />
wegen der allgemeinen vorsicht, die ich walten lasse, liegen von meiner beute<br />
reichlich junge, feste l<strong>im</strong>onen vor dem spiegel auf der kommode, & mein messer<br />
behutsam aus der tasche ziehend, es ohne eile ausklappend, reibe ich eine feste<br />
frucht über den tisch bis sie weich wird & ich ihre flüssigkeit spüre. mir läuft<br />
ein schauer über den rücken. ich halte die klinge meines scharfen messers gegen<br />
die prall gespannte haut, um sie, während sich der atem <strong>im</strong> bett neben mir<br />
überschlägt, 2mal kurz einzuritzen, so daß ihr köstlich saurer saft, der mir so viel<br />
genuß & nahrung gibt, meinen becher bespritzt. ich presse die reife frucht unter<br />
dem gleichmäßigen druck meiner geübten hand, bis sie tropft & gieße, während<br />
der atem neben mir schwächer wird & zur ruhe kommt, behutsam wasser nach.<br />
ich seufze erleichtert.<br />
augenblicklich dient mir die zinkmetallspitze einer spachtel als messer. damit<br />
sind keine chirurgischen eingriffe möglich, nur grober kram, wie ihn jeder dünn-<br />
brettbohrer zustande bringt. in cuba hatte ich gar kein messer bei mir. ich fühlte<br />
mich sicher & benötigte keine klinge zum schälen von orangen oder zwiebeln, zum<br />
anstechen von l<strong>im</strong>onen oder zum zerteilen von tomaten, weil es all diese leckeren<br />
sachen auf der straße nicht zu kaufen gab.<br />
cuba baut überwiegend zuckerrohr an, um den zucker auf dem weltmarkt zu
1 WIE ALLES ANFING 11<br />
verkaufen. der preis für die ware wird allerdings an den großen börsen der runden,<br />
sich drehenden erde gemacht, ähnlich wie der cacaopreis nicht in brasilien oder<br />
columbien zustande kommt, sondern in chicago, new york oder sonstwo. dennoch<br />
versucht der sozialistische staat auf diese weise an die nötigen, allseits bekannten<br />
scheine zu gelangen, um rohstoffe aller art, vor allem erdöl, einzukaufen, dinge, die<br />
ebenfalls nicht auf der straße zu kaufen sind, sondern nur gegen echte essensmar-<br />
ken, am besten gegen grüne, auf dem gesamtmarkt der runden, sich drehenden<br />
erde, dem weltmarkt, in form seiner zahlreichen handelsbörsen.<br />
in den einstigen verträgen mit der einstigen udssr war eine feste menge rohöl<br />
vorgesehen, <strong>im</strong> austausch gegen zucker oder urlaubsreisen, gegen zigarren oder<br />
orangen. seit der umgestaltung in rußland, die zur auflösung der supermacht nr.<br />
2 führte, seit regionalführer aller art zu ruhm & ehre gelangt sind, seit jeder<br />
der einstigen ostblockstaaten be<strong>im</strong> handel mit den einstigen genossen nur an den<br />
nationalen vorteil denkt, gelten die verträge mit der schwesterinsel nix mehr, denn<br />
tauschgeschäfte werfen einfach keine scheine ab. sie bringen kein echtes geld ein,<br />
weil sie gerade ohne essensmarken ablaufen.<br />
der comandante mit dem langen bart, der mehrere attentate und ebenso viele<br />
nordamericanische präsidenten hinter sich brachte, hat deshalb das scheinchenzie-<br />
hen angesagt, indem er die guten sachen in läden versteckt hält, die ihre ware nur<br />
gegen echtes geld verkaufen, indem der besitz dieser, vom americanischen staat<br />
gedruckten zettel, früher eine straftat, heute erlaubt & staatlicherseits selbst in<br />
cuba erwünscht ist. wie aber gelangt jemand in einem land an das erlesene grün,<br />
in dem kaum ausländisches geschäft läuft, weil es sozialistisch ist & die arbeit<br />
& die verteilung der güter nationalisiert & verstaatlicht sind. auch hierfür, wie<br />
für alles, oder fast alles sorgt der lange bart. der cubanische staat baut auf den<br />
tourismus & der wiederum auf die cubanische perle, die tatsächlich, weil scheine<br />
in aussicht stehen, zu arbeiten beginnt. “where do you come from?“ “what’s your<br />
name? “ “how long do you stay?“ “please buy me a drink!“ “life is difficult in cu-<br />
ba!“ ausländische gäste aus mexico, europa, canada, argentinien, aus japan oder<br />
anderer herren länder, außer den staaten, kommen nach cuba, um die sonne, den<br />
strand, cubanische liebe, den rum & den tabak zu genießen. die taschen voller<br />
bunt bedruckter papierzettel, sind sie das gegenstück zur fleißig arbeitenden, cu-<br />
banischen chica, die mit viel geschick & unglaublichem einfühlungsvermögen den
1 WIE ALLES ANFING 12<br />
gästen jeden wunsch von den augen abliest, & falls verlangt auch von den lippen.<br />
miramar, marazul, santa maria del mar, guernabacao, varadero oder sonst-<br />
wo, jeder strand ist voll von fetten, feisten urlaubern mit häßlichen gesichtern<br />
& gefüllten brieftaschen, voll von caffeeschwarzen bis milchweißen cubanischen<br />
mädchen, die mit allen sinnen an der dollarentführung arbeiten & den häßlichen<br />
jungs das gefühl geben, zum ersten mal in ihrem sowieso zu kurzen leben ge-<br />
liebt worden zu sein. manche perlen haben einen hochschulabschluß & manche<br />
arbeiten für die familie, manche für ihre kinder & manche sind auf schicke kla-<br />
motten aus, manche wollen sich amüsieren & manche brauchen die essensmarken<br />
für lebensmittel.<br />
meine augen sehen in marazul eine hellblaue fläche meerwasser vor einem<br />
breiten, unendlichen streifen feinkörnigem ocker, zu beiden seiten mit palmen<br />
bewachsen. es gibt kaum hotels. das meer ist flach & ruhig. vor mir auf einem<br />
gartenmöbel liegt eine mexicanische wurst in der mittagssonne. mit öl eingerie-<br />
ben gart sie unter den heißen strahlen. ich habe mir mit meiner caffeebohne ein<br />
schattiges plätzchen unter einer palme gesucht, wo wir den tag gemeinsam auf<br />
einem handtuch verschlafen werden.<br />
die wurst räkelt sich gelangweilt in einem weißen plastiksessel. ihre großporige<br />
haut reißt bei jeder drehung auf & verspritzt winzige tropfen siedendes fett.<br />
maina döst, & ich lese die theorie des sozialismus & der politischen ökonomie,<br />
lese über produktion & distribution, über die grundlage allen, oder fast allen,<br />
reichtums, die arbeit, lese über die harmonische entwicklung der nationalen wirt-<br />
schaft <strong>im</strong> sozialismus, während cubanische schönheiten für den langen bart &<br />
seinen ungeliebten sozialismus ausländische würste weich grillen.<br />
das grüppchen italiener vor mir wird von dunkelhäutigen mädels umringt, die<br />
sich einigen, wer wen aussaugt. weiter westwärts spielt eine gemischte gruppe<br />
volleyball & wirft sich unter jubeln in den heißen sand. hinter mir liegen 2 ar-<br />
beiterinnen <strong>im</strong> palmenschatten. sie haben nix zu tun oder sind einfach lustlos.<br />
eine winzige schönwetterwolke verdeckt die glühende sonne für einen augenblick,<br />
während sich die wurst vor mir unter den sanften worten einer elfe windet. sie<br />
ist anfang 20 & hat geflochtenes haar bis tief in den schlanken rücken. der hell-<br />
blaue bikini wirkt vom widerschein ihrer onyxhaut dunkel. sie ist etwa so groß wie<br />
ich & hat dem augenschein nach alles, was ich an einer frau schätze. sie besitzt
1 WIE ALLES ANFING 13<br />
genügend mut & witz, um aus einer mexicanischen memme das rauszuholen, was<br />
die sich vorgenommen hat, zu behalten. hell stechen ihre weißen augäpfel gegen<br />
die pechschwarze gesichtshaut. die nase weitet sich zu schönen großen flügeln,<br />
& als sie uns beiden zulächelt, öffnen sich ihre scharlachroten lippen & zeigen 2<br />
reihen elfenbeinzähne. die wurst leidet. sie leidet unter einem sonnenbrand, unter<br />
einbildung & unter ausgiebigem biergenuß, unter dem reiben des sandes & dem<br />
zarten streicheln einer rabenschwarzen hand. ich nicke der schönen ermunternd<br />
zu, & sie küßt ihr opfer sanft auf die schläfe & begräbt es unter ihren großen,<br />
weichen brüsten & dem fordernden wiegen ihrer hüften. lautlos platzt die wurst.<br />
maina schaut mich an, & ich schaue sie an, & mit einem lachen loben wir die<br />
saubere arbeit der cubanischen schönheit, loben sie mit einem reumütigen blick,<br />
ausgetauscht zwischen dem ausländischen gast & der cubanischen perle.<br />
maina trägt wieder das weiße kopftuch von hinten mit einer schleife über der<br />
stirn zusammengebunden, das die kurzen zöpfe verdeckt, die ihren kopf schach-<br />
brettartig überziehen. maina hat die flachste nase der welt. sie hat die weichsten<br />
lippen, die ich kenne & das lustigste lächeln, das ich je gesehen habe. sie hat die<br />
geduld einer schildkröte, die kraft eines adlers, den mut einer maus & das herz<br />
einer mutter. nur öl hat sie keins in ihrer küche, & so geht sie mit ihrem ausländi-<br />
schen gast in den dollarsupermarkt & kauft ordentlich ein. & klamotten hat sie<br />
keine, also trägt sie heute wie gestern & morgen das weiße neger-frauen-kopftuch<br />
von hinten mit einer schleife über der stirn zusammengebunden, ein paar lila<br />
radler-shorts & ein lila t-shirt ohne ärmel. den schlüssel für ihre winzige hütte in<br />
der 68ten gibt sie mir, denn die radlershorts haben keine taschen. ich binde mir<br />
das metall an die kordel, die meine shorts zusammenhält & lausche der musik, die<br />
der schlüssel bei jedem schritt in meiner hüfte spielt. der lila stoff ihrer engen hose<br />
zeichnet ihre muschel & alles deutlich ab. die anerkennenden blicke der jungen<br />
männer in der altstadt von la habana lassen keinen zweifel aufkommen. solange<br />
es hell ist, sind wir für alle erkennbar ein milch-caffee-paar. nachts, wenn die auf-<br />
regung größer ist als die vorsicht & unsere körper zu nassem fleisch verschmelzen<br />
& jede erinnerung an die runde, sich drehende erde erloschen ist & unser kleiner<br />
atem zu einem großen sturm anschwillt, & wir uns lieben, bis papi & mami müde<br />
sind, retten wir uns gegenseitig in den nächsten morgen, schlummern süß in der<br />
geborgenheit der einheit 35, die allen liebeshungrigen paaren in la habana für
2 IM DOMINO-VERKEHR 14<br />
mindestens 6 stunden ein bett zur verfügung stellt, früher mit z<strong>im</strong>merservice &<br />
snaks, mit bier & wein, & heute ohne wasser in der dusche, aber mit ventilator,<br />
falls strom da ist.<br />
2 <strong>im</strong> domino-verkehr<br />
el maltiempo me esta seguendo. als ich ende oktober in cuba ankam, verdunkelte<br />
sich der h<strong>im</strong>mel & es wurde merklich kühl auf der caribicinsel. als ich anfang<br />
september in denver, amiland landete, einen tag, nachdem anthony yeboha sein<br />
letztes tor für die eintracht abgeliefert hatte, war es am sonntag abend gegen<br />
10 uhr noch angenehme 24 grad warm. ich fuhr zu meinem freund justus 30<br />
meilen weiter nach boulder & wachte am anderen morgen in magic land auf. all<br />
covered with snow, man. 3 grad celsius & eine dicke schneedecke empfingen mich.<br />
danach machte das schlechte wetter pause & bereitete mir einen angenehmen<br />
indian summer, einen langen, warmen herbst, mit schönen tagen & ab & an<br />
etwas regen, mit ausreichend sonne, um die aspen grell gelb, golden & feuerrot zu<br />
brennen. 2 tage nachdem ich durch chihuahua gekommen war, ging ein 3nächtiger<br />
frost <strong>im</strong> norden mexicos um & raffte 5 kurze menschenleben dahin, erfroren in den<br />
vororten der stadt, die selbst wie ein einziger vorort ausschaut. das war anfang<br />
oktober.<br />
als ich 2 wochen später in mexico city ankam, empfing mich die stadt mit<br />
einem platzregen, der den alten mechicen-see hätte auffüllen können, den die<br />
spanier vor 500 jahren trockengelegt hatten, um auf dem boden der mechicen-<br />
stadt & mit den steinen der damaligen gebäude ihre heilige, katholische kirche zu<br />
errichten & einen palast für cortes oder wen auch <strong>im</strong>mer. die alte stadt war dem<br />
urteil spanischer augenzeugen zufolge das sauberste & schönste, was gottesfürch-<br />
tige seeleute bis dato gesehen hatten, zu einer zeit, als genua & nürnberg in der<br />
scheiße wateten & daran glaubten, die runde, sich drehende erde sei eine scheibe,<br />
& jeder falle hinten runter, der zu weit raus segelte, zu einer zeit, in der jeder<br />
bei lebendigem leib verbrannt wurde, der nur daran dachte, nicht an den einen<br />
außerirdischen zu glauben, für den tausende von kindern in den krieg gezogen<br />
waren, zu einer zeit, als gesamteuropa sich auf 30 jahre krieg mit dem messer &<br />
der pechfackel vorbereitete.
2 IM DOMINO-VERKEHR 15<br />
damals hatten die alten mechicen ihr gesammeltes wissen, ihre mehr als tau-<br />
send jahre alte erfahrung in architektur gegossen. 260 jahre sind ein zyklus <strong>im</strong><br />
alten mechicen-kalender, sind aufstieg & niedergang einer kultur. 260 tage dauert<br />
eine schwangerschaft. in der 5ten sonne, die das wissen der 4 vorherigen sonnen<br />
vereinte, die macht der stadt teotihuacan, das wissen von uxmal & die verspielt-<br />
heit von chichen itza, wurde auf dem boden des sees texcoco <strong>im</strong> 2200 m hoch<br />
gelegenen mechicen-becken eine stadt errichtet, die wie ein venedig von kanälen<br />
durchzogen & von wasser umgeben war, ohne am meer zu liegen & ohne auf<br />
pfählen zu stehen. durch erdbewegungen von unglaublichem ausmaß entstanden<br />
inseln, auf denen die stadt sich nach & nach ausbreitete. von allen 4 h<strong>im</strong>melsrich-<br />
tungen führten lange, gut kontrollierbare straßen ins zentrum, wo sich die zere-<br />
monienplätze, der 2türmige astronomische gebäudekomplex, der tempel mocte-<br />
zumas, die umfangreichen bibliotheken & die zahlreichen universitäten & schulen<br />
befanden, umgeben von verwaltungsgebäuden & weitreichenden wohnanlagen. 3<br />
meilen westlich lag ein ahuehuete-wald auf dem hügel chapultepec. von hier ging<br />
der blick <strong>im</strong> südosten bis zu den gipfeln des schneebedeckten popocatepetl, dem<br />
brennenden berg, & des ixtahciuatl, der liegenden frau. bei gutem wetter waren<br />
die pyramiden von teotihuacan zu sehen & <strong>im</strong> süden die lavagetränkten ruinen<br />
cuicuilcos. heute steht genau auf das zentrum der alten stadt gebaut, mit den al-<br />
ten steinen errichtet, eine kathedrale der heiligen, römischen, katholischen kirche,<br />
grau & überflüssig.<br />
die alte stadt war farbenprächtig, laut, sauber & geordnet. sie war kalender<br />
& machtzentrum, bildungsstätte & ort der wissenschaft, ihre gebäude waren von<br />
menschen gebaut, die damit den lauf der sterne betrachteten, die zeit maßen, den<br />
kosmischen lebenszyklus lasen & der uhr der runden, sich drehenden erde einen<br />
steinernen zeiger verschafften, um den klang des universums wahrzunehmen, das<br />
unaufhörliche schwingen & den alles best<strong>im</strong>menden, <strong>im</strong>merwährenden rhythmus,<br />
lautlos & ewig. während die heilige kirche das sowieso zu kurze leben als kampf<br />
des menschen gegen die kräfte der natur versteht, um die runde, sich drehende<br />
erde zu beherrschen, sie zu bezwingen, sie untertänig zu machen, sahen die alten<br />
mechicen ihr kurzes leben als teil des kosmischen laufs, des alles einigenden klangs,<br />
dem alles & jedes unterliegt, weil er form & zeit best<strong>im</strong>mt & jedem ding auf dem<br />
erdball sein – heidegger würde sagen – sosein zuspricht, ob festem stein oder
2 IM DOMINO-VERKEHR 16<br />
wachsender pflanze, ob dem kreislauf des wassers oder der folge der jahreszeiten.<br />
sie verstanden die runde, sich drehende erde als ihr mittel zum leben, als den<br />
spender des mais, & die sterne als zeichen der bewegung der kosmischen uhr. sie<br />
begriffen die wiederkehr der dinge <strong>im</strong> kleinen zyklus von jahren wie <strong>im</strong> großen<br />
zyklus von kulturen nicht als trauriges ende, sondern als neubeginn einer anderen<br />
zeit, die der alten notwendigerweise folgen würde, leicht & unbeschwert wie ein<br />
neugeborenes, strahlend wie die sonne nach dem regen.<br />
innerhalb von 20 jahren zerstörten die ankömmlinge aus europa diese kultur<br />
& ihre zeichen, rissen die bauten nieder, um aus den steinen ihre eigenen zu<br />
errichten, verbrannten die alten schriften, verboten die sprachen, versklavten die<br />
mechicen & führten einen götzen ein, dessen kathedralen & häuser überall leer<br />
& trostlos auf der runden, sich drehenden erde herum stehen, unter dem zeichen<br />
eines holzkreuzes, an den ein ausgemergelter, nackter mann von etwa 30 jahren<br />
genagelt ist, ein folterwerkzeug als motto für einen glauben, ein marterpfahl mit<br />
einem verblutenden, ausgezehrten, stinkenden männerkörper als inbegriff einer<br />
geisteshaltung, die sich seit 2000 jahren über weite teile der erde verbreitet. eine<br />
clique gutbewaffneter abenteurer überfiel <strong>im</strong> namen eines armen teufels am kreuz<br />
den stamm der mechicen, führte das marterkreuz als ideal ein & machte schmerz<br />
zum alles best<strong>im</strong>menden gesichtspunkt, leid zum obersten ziel & den tod zur<br />
letzten lösung der zahlreichen ungere<strong>im</strong>theiten. das ist der gang der geschichte,<br />
wie ihn nur menschen zustande bringen, die kaum weiter als 3 zählen können.<br />
der caffee in la habana ist leider kalt, wenn ihn der staat verkauft. anders in<br />
hologuin oder camaguey, wo sogar zucker drin ist. er wird mit einer besonderen<br />
bohne gemacht, & aus erklärlichen gründen & wider das gesetz der harmonischen<br />
entwicklung <strong>im</strong> sozialismus ist sein anbau mit viel handarbeit verbunden. um zum<br />
beispiel eine zigarre zu rollen, brauchte es nicht unbedingt einen menschen, wohl<br />
aber um das deckblatt auszuwählen, zu schneiden & einzudrehen, daß die adern<br />
<strong>im</strong> blatt, die das wachstum der pflanze ermöglichen, nicht quer über die zigarre<br />
laufen. um eine korrekte auswahl des deckblattes & dessen genaue ausgangslage<br />
be<strong>im</strong> rollen zu best<strong>im</strong>men, wären eine reihe nicht ganz einfacher rechenschritte<br />
zu formulieren, nämlich die projektion mehrer nichtparalleler, um einen zylin-<br />
der gewickelter liniensegmente <strong>im</strong> 3d<strong>im</strong>ensionalen raum auf die 2d<strong>im</strong>ensionale<br />
hyperebene des zylindermantels. aber egal.
2 IM DOMINO-VERKEHR 17<br />
der alte mann in der vorhalle des hotels panamericana n<strong>im</strong>mt zum rollen ein<br />
paar blätter, bündelt sie in der hand zu langen würsten, dreht sie einige male<br />
in den handinnenflächen, bis ihm seine nerven den gewünschten, gleichmäßigen<br />
druck melden, & legt die feuchten rohlinge für eine halbe stunde in eine holzform<br />
unter eine presse. die gepreßten tabakzylinder halten eine weile ihre form. der<br />
alte kann sich be<strong>im</strong> einrollen zeit lassen. er geht behutsam ans werk. jetzt holt er<br />
das feucht gehaltene deckblatt aus einem pergamentfarbenen plastikbeutel & legt<br />
es auf die brustgroße steinplatte, um es mit einem handschmeichler, dessen eines<br />
ende spitz zusammenläuft wie eine klinge, von der mittelader & dem äußeren<br />
rand zu befreien, so daß hinterher die hülle einer zigarre daraus wird. hierzu<br />
n<strong>im</strong>mt er den faustkeil zwischen mittelfinger & daumen & schneidet sachte eine<br />
landebahn für den braunen bomber ins blatt. er legt die flache spitze der gepreßten<br />
tabakblätter an den mittelstreifen & dreht den dicken teil mit beiden händen über<br />
die schnittkante, bis der zigarrenkörper, geschützt durch ein feines, feuchtes blatt,<br />
sich gegen die außenhülle dehnt um sie vollständig auszufüllen.<br />
dann fährt die klinge an der schmalen seite entlang & läßt gerade soviel blatt-<br />
fläche übrig, daß aus dem restlichen streifen das mundstück eingedreht werden<br />
kann. nach einem prüfenden blick rollt der alte den fast fertigen schlauch 2 mal<br />
über die steinplatte & vollendet sein werk mit einem geraden schnitt am dicken<br />
ende. wenn das bündel der gepreßten blätter erstmal liegt & seine fahrt mit der<br />
dicken seite <strong>im</strong> schmaler werdenden zigarrenmantel beginnt, dann sollte klar sein,<br />
wie herum die harten adern zum zigarrenkörper verlaufen. beide komponenten<br />
unterliegen einer leichten krümmung. die adern sind ein wenig nach innen ge-<br />
schwungen & die zigarrenwand verbreitert sich von der spitze bis zum unteren<br />
ende. deshalb rollt der alte den rohling nicht parallel zur schnittkante sondern in<br />
leichtem bogen, was jedem motorradfahrer mit gespannerfahrung bekannt vor-<br />
kommt, der genau weiß, nach welcher seite er wegen der unterschiedlichen radien<br />
der beiden fahrzeugteile bremsen muß, & nach welcher seite er gas gibt, um eine<br />
kurve zu fahren. zufrieden schiebt der alte eine schlanke kingsize rillo in meine<br />
richtung. ich werde sie morgen nach dem frühstück rauchen.<br />
wir sind mit einem alten chevi aus dem jahr 57 unterwegs. der km-zähler gab<br />
vor langer zeit bei 88653 auf, lange nachdem die temperaturanzeige für motoröl <strong>im</strong><br />
roten bereich endgültig zur ruhe gekommen war. der besitzer der karre arbeitet als
2 IM DOMINO-VERKEHR 18<br />
chauffeur, mechaniker, dj, schaffner & reiseleiter. er verdient sein auskommen als<br />
wichtiges verbindungsglied <strong>im</strong> cubanischen domino-transport-system, <strong>im</strong>mer un-<br />
terwegs zwischen hologuin & la tuna, heute mit dem professor für maschinenbau,<br />
den 2 bettelarmen straßenkids, die <strong>im</strong>merhin 2 jahresgehälter des professors in<br />
der tasche tragen, papi & mami schon etwas älter, einer mutter, einem studenten<br />
& mir, bei schönstem reisewetter durch die saftig grünen, endlosen zuckerrohrfel-<br />
der cubas. ab & an überholen wir ein pferdefuhrwerk & tuckern eng & gemütlich<br />
mit 60 sachen über die sanften hügel, & der chevi tuckert & der cassettenrecorder<br />
tuckert.<br />
“mach doch mal einer das fenster weiter auf.“<br />
der schaffner reicht dem professor eine fensterkurbel, um sie nach dem öff-<br />
nen wieder an sich zu nehmen. wir rollen hinter dem hügel den hang runter. der<br />
mechaniker nutzt die gelegenheit, um etwas sprit zu sparen & zieht in aller see-<br />
lenruhe den schlüssel. der schwere, hellblaue chevi kennt noch kein lenkradschloß.<br />
wir gleiten eine gute weile bergab. unten in der ebene räuspert sich der chauffeur<br />
& zündet den 6zylinder, & der chevi räuspert sich, um dann sein beruhigendes<br />
tuckern hören zu lassen.<br />
“wasser <strong>im</strong> benzin ...“ klärt uns der reiseleiter auf. “ ...hab über 20 liter mit<br />
wasser gestreckt gekriegt.“ der chevi hört das & verschluckt sich <strong>im</strong> selben augen-<br />
blick, wie um zuzust<strong>im</strong>men unter einem geräusch, als ob das getriebe festgefressen<br />
wäre. klonk, zonk, kazonk. der dj sucht einen anderen sender mit alten, cubani-<br />
schen liebesschnulzen aus der zeit vor dem langen bart, & der chevi tuckert bis zu<br />
einem starken hustenanfall, der den motor ausbläst. diesmal will der wagen offen-<br />
sichtlich nicht anspringen, ohne daß jemand seine motorhaube geöffnet hat. wir<br />
halten kurz an. der mechaniker hat es gewußt, & der student, der die schau schon<br />
kennt, springt schnell raus, hebt das schwere blech hoch, löst den luftfilter & spült<br />
den vergaser mit einem guten schluck benzin. bevor er wieder <strong>im</strong> wagen ist, läuft<br />
die kiste bereits, & wir rauschen weiter, gerade so lange, bis der einlauf verbrannt<br />
ist. schluß. das ganze nochmal. raus aus dem wagen, die haube auf, den luftfil-<br />
ter runter & sprit reingegossen. langsam surren 2 fahrräder über die landstraße.<br />
diesmal geht der motor aus, bevor der student wieder <strong>im</strong> wagen sitzt. schluß,<br />
endgültig. die benzinpumpe wird gewechselt, der vergaser ausgebaut, gereinigt,<br />
wieder eingebaut, wieder ausgebaut, nochmal gereinigt, rein, raus, <strong>im</strong> benzinfilter
2 IM DOMINO-VERKEHR 19<br />
kein wasser, <strong>im</strong> vergaser sprit, die benzinpumpe spritzt, an den kerzen feuer, &<br />
der chevi will nicht mehr.<br />
“wir werden ihm mehr sprit geben.“ sagt der fahrer. der professor kennt sich<br />
aus “dazu muß der schw<strong>im</strong>mer runter.“ “wie runter? eingebaut oder ausgebaut?“<br />
die frauen & ich verstehen nix von alten autos, & wir holen uns das süße caña,<br />
das zu dieser jahreszeit & nach einhelliger männermeinung theoretisch weder reif<br />
noch süß sein dürfte. wir probieren mit frauenverstand vom mannshohen gras.<br />
probieren geht über studieren. wir schneiden eine elle ab & schlagen sie auf dem<br />
asphalt weich. der zucker verfärbt sich nach dem kauen sofort in helles gelbgrün<br />
& macht satt & zufrieden.<br />
“wenn der schw<strong>im</strong>mer – ne, halt,“ der professor überlegt ein weilchen & fährt<br />
dann fort “ wenn die nadel runter soll, um die düse freizugeben, dann muß<br />
der schw<strong>im</strong>mer richtung düse, damit nachher be<strong>im</strong> fluten relativ gesehen ...“<br />
“der schw<strong>im</strong>mer muß runter!“ “ja, aber chauffeur, der schw<strong>im</strong>mer schließt dafür<br />
früher.“ “ok, professor, wir probieren deine version.“ “also theoretisch gesehen,<br />
wenn der schw<strong>im</strong>mer, also wenn die nadel tiefer soll, eh, wenn also zu wenig sprit<br />
kommt, & wir wollen mehr sprit, ehm, dann muß also, der schw<strong>im</strong>mer regelt ja die<br />
spritzufuhr, & du machst ihn hoch & dann öffnet ja die spritzufuhr viel später.“<br />
“ok prof, wir probierens.“<br />
der prof hatte in der einstmaligen udssr <strong>im</strong> einstmaligen leningrad maschi-<br />
nenbau studiert & kannte den winter. er liebte den schnee & kannte die zone, &<br />
er war universitätsprofessor für werkzeugbau oder sowas.<br />
ich selbst bin kein echter praktiker, nur wenn es sein muß, oder in der liebe<br />
oder der musik. da macht es nix. & die theorie ist <strong>im</strong>mer, oder fast <strong>im</strong>mer rein &<br />
unverfälscht. etwas ist so lange ein problem, bis jemand mit einer lösung kommt<br />
oder zeigt, daß es keine lösung geben kann. dann wird die frage neu gestellt oder<br />
einfach vergessen. die praxis kennt keine unlösbaren probleme, außer dem sowieso<br />
zu kurzen leben selbst, das <strong>im</strong>mer tödlich endet.<br />
in der praxis muß die nadel rauf & nicht runter, was wir später durch pro-<br />
bieren rausfanden. wir rollen mit dem neuen einlauf nochmals 4 km weiter, & es<br />
ist schon wieder ein klausbunter sonnenuntergang vorbei, mit wilden wolken in<br />
türkis, orange, grün & violet. wir rollen diesmal bis in ein kleines dorf, das die<br />
gesamte nacht ohne licht sein wird. auf dem stockfinsteren, weiträumigen schot-
2 IM DOMINO-VERKEHR 20<br />
terstreifen direkt neben der straße machen ein paar jungs aus der gegend ihr<br />
geschäft auf. in einer schubkarre fahren sie eine gulaschkanone, 5 gläser, einen ei-<br />
mer mit wasser, 2 fläschchen scharfe soße & eine kerze auf den dorfplatz, um alle,<br />
die lust auf eine heiße suppe haben, gegen ein paar einhe<strong>im</strong>ische essensmarken zu<br />
verköstigen. die caldosa, mit allem außer fisch & kartoffeln, ein klassischer, lecke-<br />
rer küchenrundumschlag, wird <strong>im</strong> kleinen oder <strong>im</strong> großen glas angeboten. juca &<br />
kochbananen machen sie sahnig, zwiebeln & knoblauch würzig, maiskolben reich<br />
& knochen kräftig. ich schaffe nicht mehr als 4 kleine gläser & bin pappsatt. ich<br />
setze mich zum professor unter den sternenh<strong>im</strong>mel & warte, bis die kiste wieder<br />
will. wenn keiner einen verdammten stein anlegen kann, endet die domino-strecke<br />
hier, dann wird zusammengezählt & neu gemischt. der professor verdient 3 seifen,<br />
maina verdient 2 seifen, & ich habe die taschen voller seifenzettel. sowas riecht<br />
man meilenweit, bis hinter hologuin.<br />
“für 50 scheine, na klar, mit 2 perlen & mit rum & tabak & allem was dazu-<br />
gehört.“ aus dem flackernden licht der kerze kommt ein mann auf mich zu. seine<br />
sonnengegerbte haut & sein backenbart könnten einem capitain gehören. joaqu<strong>im</strong><br />
gibt mir seine hand, die wie aus verwundetem stahl ist, & sein fleischiges gesicht<br />
zieht ein grinsen auf, daß in der dunklen nacht seine augen hellblau funkeln. er<br />
deutet auf ein riesiges, weißes cabriolet mit 2 schnecken <strong>im</strong> fond.<br />
“nur 50, na klar, sofort, du & die mädels, na klar, sind meine.“<br />
ich will ablehnen, ergreife seine feste hand & nehme einen guten schluck vom<br />
guten rum aus seinem atem. ich versuche, einen lockeren, aber best<strong>im</strong>mten ein-<br />
druck zu machen.<br />
ich zahle fürs vögeln nicht. das ist so eine schlechte angewohnheit von mir,<br />
eigentlich ein eher theoretischer einwand, rein wissenschaftlich, rein literarisch.<br />
be<strong>im</strong> ficken selbst ist es egal, ob der andere was merkt oder nicht. besser ist es<br />
auf alle fälle, aber es langt völlig, wenn er so tut, als ob, wenn er sich selbst &<br />
mir was vor spielt, so daß ich den winzigen unterschied nicht mitbekomme. was<br />
mich stört, selbst wenn ich nicht zahle, ist mein eigener zweifel, der mich auf<br />
die suche nach einem beweis schickt, den ich schon längst mit meinem ganzen<br />
körper erbracht habe. & während ich mir die frage stelle & nachdenke, ob mein<br />
sexpartner tatsächlich was fühlt oder mir was vorspielt, ob er wirklich so geil ist,<br />
wie er tut, oder ob er mich belügt, & ich mich dadurch mehr & mehr vom ficken
2 IM DOMINO-VERKEHR 21<br />
entferne & von meinem körper, fällt mir langsam aber sicher der bock um, & ich<br />
hab am ende selbst keine lust mehr. ich liege dann grübelnd in der ecke oder laufe<br />
aufgeregt & angestrengt nachdenkend in der weltgeschichte rum. zum glück ist<br />
die runde, sich drehende erde groß, & es gibt genug zu sehen, mehr als ein sowieso<br />
zu kurzes leben sehen kann, alles nämlich, alles neu, alles so wie <strong>im</strong>mer, jedesmal<br />
anders, wie das alte rein raus selbst. & die frage, was echt ist oder getürkt, stellt<br />
sich nur einem saudummen, gelähmten intellektuellen, der <strong>im</strong> hirnwabber verklebt<br />
ist, jemandem, der selbst nicht liebt, sondern lieber beobachtet. & das ist lange<br />
nicht dasselbe.<br />
kinder zum beispiel wollen geliebt werden & nicht beobachtet oder beauf-<br />
sichtigt, von oben auf sie drauf gesehen, aufsichtig beobachtet. sie wollen geliebt<br />
werden, so, wie alle, oder fast alle menschen. sie wollen <strong>im</strong> gegensatz zum in-<br />
tellektuellen, der deshalb auch nur in ausnahmefällen kinder behüten sollte, ge-<br />
liebt werden. sie wollen feedback & geben feedback. sie wollen kommunikation,<br />
& gibst du ihnen bad vibrations, dann bleibt ihnen keine andere wahl, weil sie<br />
einen ständigen inputmangel verspüren, ein erfahrungsdefizit, das aufgefüllt wer-<br />
den will, ein minus an welterkenntnis. erwachsene menschen verlieren meistens<br />
die lust & geben aus erbtechnischen gründen auf, erfahrungen neu zu machen. sie<br />
bevorzugen deshalb das alte, <strong>im</strong>merneue rein raus. das ist überall auf der runden,<br />
sich drehenden erde so, wo menschen leben.<br />
“vamos a tu lugar? vomos a hacel el amol!“ auf ihrem bett in ihrer kleinen<br />
hütte legt maina sanft ihre hand auf mein bein. die luft ist zum schneiden, & der<br />
ventilator steht still, & <strong>im</strong> nebenhaus, keine armlänge entfernt, grunzen ein paar<br />
fette, stinkende schweine. die undichte leitung des petroleumkochers verströmt ihr<br />
betörendes aroma, & ich drehe mich zur seite & rieche lange an mainas kopfkissen,<br />
das speckig ist von ihrem vanilleschweiß & ihrem süßlichen haarfett. ich ziehe<br />
ihren angesammelten duft tief in meine nase & bin für einen augenblick froh, daß<br />
die seife so knapp ist in cuba.<br />
“tienes un pleselvativo? yo no lo tengo aqui.“ ihre augenbrauen ziehen sich<br />
fragend nach oben. “vamos!“ sage ich, & wir klettern die steile, hüftbreite treppe<br />
in die küche runter. heute werfe ich keinen der obligatorischen blicke in den leeren<br />
kühlschrank. hand in hand gehen wir durch die stockfinstere nacht. das 4tel ist<br />
ohne strom, keine straßenlaterne brennt & kein licht in einem fenster erhellt
2 IM DOMINO-VERKEHR 22<br />
die gegend. den boden, auf dem wir laufen, sehen wir keinen schritt weit unter<br />
dem neumond. ein einzelnes auto hat sich in die 68te straße verirrt. wir hören den<br />
hellen motor 10 blocks weiter vor uns & werden vom giftig gelben scheinwerferlicht<br />
geblendet. wir müssen stehenbleiben & küssen uns auf die lippen, drücken uns<br />
fest aneinander, unter dem schwarzen, caribischen h<strong>im</strong>mel mit seinen unzähligen,<br />
funkelnden sternen. in la isabella an der nordküste oberhalb von saga la grande<br />
war der h<strong>im</strong>mel so voll mit hellen punkten, daß ich selbst das bild des orion<br />
nicht mehr fand, wissend, daß er da oben wache hielt. maina küßt mich zum<br />
bus, & wie durch ein wunder, entgegen der domino-natur des transports in cuba,<br />
erreichen wir die haltestelle gerade in dem augenblick, als die menschenschlange<br />
in die guagua eingestiegen ist & der bus losfahren will, & wir laufen die letzten<br />
schritte dem fahrenden ungetüm entgegen. der fahrer hält für uns an & läßt uns<br />
zusteigen.<br />
nachts um 11 uhr an der 15ten ecke 70te, etwa 2 stunden fußmarsch von cen-<br />
tro habana entfernt, eine guagua der linie 7 zu kriegen, die nicht voll ist, wobei<br />
voll die gesetzlich vorgeschriebene anzahl von sitz- & stehplätzen meint, & wenn<br />
3 aussteigen, steigen auch nur 3 ein, um das material zu schonen, sowas wird<br />
streng kontrolliert, staatlich & gegen bezahlung, von einem fahrer, einer ticket-<br />
verkäuferin & einem ticketkontrolleur, <strong>im</strong>mer freundlich, <strong>im</strong>mer höflich, <strong>im</strong>mer<br />
freihändig <strong>im</strong> dienst für den domino-transport – so eine guagua zu erwischen, die<br />
nicht vollbesetzt ist & deren fahrer auch noch anhält, ist genau das glück, das<br />
dazugehört.<br />
maina n<strong>im</strong>mt die hand von meinem bein & zahlt für uns beide. wir fahren<br />
die 31te entlang & steigen an der infante aus, um die concordia bis zur aram-<br />
burgo runterzulaufen. in großen fetzen hängt der putz von den wänden. 500 m<br />
weiter schlägt das meer gegen die mauer der hell erleuchteten promenade & trägt<br />
salzige gischt in das dunkle 4tel. kein licht, kein mensch, kein auto, kein strom,<br />
keine musik, nur vorbeihuschende schatten, zu fuß oder auf dem fahrrad, & von<br />
weiter unten ein tief stampfender, rhythmisch wiederkehrender ton. wir kommen<br />
dem trommeln näher. 2 blocks unterhalb von uns steht eine traube schwarzer<br />
vor einem winzigen licht in einem hauseingang, hinter dem eine schweißnasse ge-<br />
meinde in weißen kleidern <strong>im</strong> takt schnell geschlagener trommeln zu ehren der<br />
außerirdischen tanzt. die außerirdischen wohnen in hüfthohen steinkrügen, mit
3 AMILAND 23<br />
farbigen tüchern abgedeckt, hinter einer schale, in die jeder eine kleinigkeit ge-<br />
tan hat, eine zigarette, eine essensmarke, ein stück brot, ein gläschen schnaps.<br />
die außerirdischen sollen nicht leben wie die hunde, & wenn getanzt wird, dann<br />
mindestens einen tanz für sie, & weil es so schön war, noch einen.<br />
wir laufen die 2 blocks zurück & steigen die düstere treppe bis zu mir in den<br />
2ten stock. ich hab uns was zu essen versprochen, & tatsächlich haben die beiden<br />
hübschen mitbewohner einen fisch aufgetrieben. reis steht sowieso <strong>im</strong>mer auf dem<br />
herd. wir zünden die petroleumlampe an, & ich schneide uns einen kohlsalat aus<br />
dem dollarsupermarkt. wir essen beide aus einem teller, & es schmeckt köstlich.<br />
kaum sind wir fertig, da kommen die jungs vom flanieren he<strong>im</strong>, wilfredo, der süße,<br />
& enrico, der starke. sie begrüßen uns herzlich & zeigen maina die winzige küche.<br />
als das licht <strong>im</strong> 4tel wieder angeht, ziehen wir uns in mein z<strong>im</strong>mer zurück.<br />
3 amiland<br />
bevor ich nach cuba kam, kurz davor auf dem flughafen von cancun, der urlaubs-<br />
hochburg von mexico, hörte ich die unglaublichsten horrorstories über die insel.<br />
zum beispiel, daß gerade eine augeninfektion umgehe, eine ansteckende, nicht<br />
tödliche, aber lästige krankheit.<br />
“wenn du jemandem die hand gibst, wasch sie dir sofort, bevor du ans auge<br />
gehst damit.“ ich hatte mein pink eye schon hinter mir. dazu mußte ich nicht<br />
erst nach cuba kommen, & da ich ohnehin die guagua nahm & nicht umhin<br />
kam, wenigstens ab & zu an die haltestange zu greifen, da ich sie genauer gesagt<br />
be<strong>im</strong> busfahren ständig in mindestens einer hand hielt, die klebrige, rostige, mit<br />
menschenschweiß verseuchte metallstange über meinem kopf, machte ich mir nix<br />
aus der gefahr, eine augenentzündung einzufangen. ich hatte meine eigene aus<br />
amiland mitgebracht.<br />
in usa sind alle besonders hygienisch & klinisch sauber, weil sie eine unglaub-<br />
liche schiß haben vor ansteckenden krankheiten. alle, oder fast alle, könnten, falls<br />
sie krank werden & nicht zur arbeit erscheinen, ihren job los sein. alles anti-<br />
septisch & körperlos. “sorry about that!“ ich hatte nach einer woche <strong>im</strong> klinisch<br />
toten amiland die erste augenentzündung meines kurzen lebens, 1800 m über dem<br />
meer, <strong>im</strong> schönen, sauberen, 80tausend seelen freakstädtchen boulder, zur besten
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boulder jahreszeit, dem herbst, direkt an den roten foothills der rockys, mit super<br />
blick über die steppig gelben plains, bei gutem wetter, mindestens einmal am tag,<br />
bis nach denver, 1 mile high, 30 meilen südwestwärts.<br />
“if you dont like the weather, wait a minute!“<br />
wer den pfad an den iron flats entlang bis zum red arc geht, schaut über die<br />
plains & hat das gefühl, bis nach utha & nach kansas zu sehen. <strong>im</strong> norden, lange<br />
nicht so weit entfernt, durch die 4tausender der continental divide, der wasser-<br />
scheide der rockys, getrennt, liegt wyoming, viel schwerer zu erreichen als kansas<br />
city. die foothills sind die erste welle des americanischen zentralmassivs, freund-<br />
lich & leicht schräg gegen westen gelehnt, in voller nordsüd-breitseite auf ewig<br />
& ewig. nina läuft vor mir über den hellroten waldboden durch die silbergrünen<br />
hügel & erzählt & erzählt & läuft dabei wie an einem faden gezogen. ich kann<br />
ihren bienengeruch riechen, der an ihr haftet wie haare am kopf. sie backt an 3<br />
tagen in der woche <strong>im</strong> caffee brillig für halb boulder kuchen & batikt den rest<br />
ihrer zeit dead shirts in handarbeit mit eigenen designs.<br />
“this is going to be a realy dark colour“, sage ich. “no it’s allright.“<br />
sie batikt mit einer mischung aus paraffin & bienenwachs, die in einem mes-<br />
singtopf warmgehalten wird. ninas breitseite hüpft vor mir auf dem weichen sand-<br />
steinboden durch den hellgrünen kiefernwald. sie hat 2 paar dock martins & läuft<br />
damit 3 jahre. ihr z<strong>im</strong>mer ist wie mein schreibtisch ein k<strong>im</strong>spiel, & genau wie<br />
ich findet sie alles, oder fast alles, auf den 2ten griff. nina sammelt stoffreste, um<br />
daraus hüte, genauer, zauberhüte zu nähen. nina hat kunstgeschichte studiert,<br />
aber sie ist nicht die kunstgeschichtenschnepfe wie sonst üblich. ihr dicker, riesi-<br />
ger hintern wippt leicht wie aus luft vor mir über den waldboden. ihre braunen<br />
augen schauen mich in kurzen abständen fragend an & suchen sofort wieder ein<br />
anderes spielzeug.<br />
die amis, bis auf nina & 3 andere, sind saufreundlich. der service in amiland<br />
ist saugut, er ist überragend, das beste, 1 a, & er ist überzeugend. wenn du <strong>im</strong><br />
coffeeshop was bestellst, kann es passieren, daß der wildfremde typ an der theke<br />
dich spätestens be<strong>im</strong> 2ten mal, wenn du ein costumer bist, fragt, wie du den tag<br />
verbracht hast, & wehe, du beginnst zu erzählen, was du gemacht hast, wo du<br />
warst, oder was du denkst. alles was er hören will, ist gute laune, klar, super,<br />
man, super tag, toll, super gewesen heute. max<strong>im</strong>al. letztlich hat der serviceman
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wieder einen job zu verlieren, & draußen warten zig andere.<br />
amis arbeiten selten ihr sowieso zu kurzes leben <strong>im</strong> gleichen job oder auch nur<br />
in der gleichen branche. selten bleiben sie ein ganzes, knappes leben an einem<br />
fleck wohnen. die beweglichkeit der nordamericanischen arbeit, was ort, zeit &<br />
lohn anbelangt, macht allen noch was vor. der andere grund, warum die leute<br />
in amiland zu jedem freundlich sind, ist ganz einfach der, daß jeder, aber auch<br />
wirklich jeder, mit dem du sprichst, eine waffe tragen & eventuell davon gebrauch<br />
machen könnte, wobei du vielleicht <strong>im</strong> weg wärst, so daß du schnell zur seite<br />
trittst & dich für dein mißgeschick entschuldigst. es gibt sowieso keinen grund<br />
sich aufzuregen, hier <strong>im</strong> großen, weiten amiland. wem es nicht gefällt, der geht<br />
woanders hin. bis vor kurzem verdienten californier in california echt gut. jetzt<br />
ziehen sie nach colorado, weil das kurze leben <strong>im</strong> sauberen städtchen boulder<br />
kaum zu wünschen übrig läßt, was die bergluft & die sicherheit von schulkids<br />
angeht. sie kaufen die häuser der gegend, koste es, was es wolle, so daß die großen<br />
zeitungen genug zum schreiben haben, wie etwa die erstaunliche tatsache, daß<br />
die bäume in boulder <strong>im</strong> durchschnitt 39 jahre älter sind als <strong>im</strong> silicon valley.<br />
riesige, schnellwachsende silberpappeln säumen die ruhigen straßen & schützen<br />
die holzhäuser der nachbarschaft vor dem strengen, wechselhaften wetter. <strong>im</strong> win-<br />
ter bei reichlich schnee brechen mannsdicke äste vom stamm & begraben die<br />
asbestigen pappschachteln. aus vorgärten huschen eichhörnchen die aufgerissene<br />
rinde der riesen hoch, um in windeseile sichere höhe zu erreichen. wenn nachts<br />
ein katzenartig befelltes tier deinen weg kreuzt, solltest du schauen, ob es groß<br />
genug für ein waschbär ist, oder 2 weiße streifen auf dem pelz trägt & einem<br />
skunk ähnelt. dreh dich dann ruhig um, bevor der kleine die kontrolle über sei-<br />
nen schließmuskel verliert. die elster, weniger diebisch als dreist, kommt bis an<br />
den frühstückstisch <strong>im</strong> garten hinter dem haus, wo wir mit justus <strong>im</strong> oktober<br />
in kurzärmeligen hemden sitzen & von den schneebedeckten spitzen der rockys<br />
träumen.<br />
als ich nina zum ersten mal sah, hatte sie ihren kurzen, kräftigen körper in<br />
einer weiten latzhose versteckt, & ich konnte nur ahnen, wie es darunter aus-<br />
sah. bernd, der maler, der eigentlich in die antarktis wollte, um dort als koch zu<br />
arbeiten & zu malen, gab eine art abschiedsessen ohne abschied in seiner hütte<br />
in den bergen oberhalb von boulder. alle hatten etwas mitgebracht, reis, boh-
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nen, gemüsecurry, couscous, salat, kuchen, käse, wein & caffee. bernd war etwas<br />
traurig. dennoch verzog er sein nordisches kinn zu einem lächeln. amiland ist<br />
ziemlich künstlerisch drauf. jeder malt oder will malen, oder kennt maler, oder<br />
filmt oder verkauft echte kunst. nina verkauft die dead shirts & lebt davon, nicht<br />
sonderlich luxuriös, aber sie lebt. bernd zum beispiel hat ein gesundes bein &<br />
gesunde schulden. er entschied sich, glücklicherweise noch in der lage dazu, für<br />
die gute behandlung, direkt nach seinem autounfall, & dirigierte den notarzt <strong>im</strong><br />
krankenwagen zu einem hospital seiner wahl. mittlerweile ist das bein in ordnung<br />
& das konto angeknackst. bernd ist strohblond & gar nicht blauäugig. er hat die<br />
st<strong>im</strong>me von kermits vater & auch seine gesichtszüge. er hat kermits humor &<br />
seine schläue. was ihm fehlt, ist kermits bankkonto.<br />
die abschiedsfeier verlief ruhig & peinlich, & ich war kurz davor, einen mei-<br />
ner alten fehler zu wiederholen & mich für 2 frauen gleichzeitig zu begeistern,<br />
um schließlich bei keiner von beiden zu landen. nina verschwand. ich suchte sie<br />
draußen in der kalten abendluft, stieg die holzveranda herab & blickte über die<br />
goldgelben aspenwälder bis in die ockerfarbenen plains. ich ging wieder in die<br />
hütte & schaute in den großen wohnraum, an dessen linker seite der lange tisch<br />
voll mit tellern, töpfen & gläsern & in dessen mitte der kleine ofen stand & den<br />
riesigen raum beheizte. ich suchte <strong>im</strong> keller, der als lagerraum für bernds bilder<br />
diente.<br />
bernd malt mit den späten <strong>im</strong>pressionisten & den frühen expressionisten. <strong>im</strong><br />
untergeschoß betrachte ich steinblaue, weibliche körper, <strong>im</strong>mer dieselbe frau, je-<br />
desmal anders, fast <strong>im</strong>mer nackt, in großen, bildfüllenden ausmaßen, wie aus stein<br />
gehauen oder aus ton modelliert, & ich glaube, ein portrait wiederzuerkennen.<br />
“bist du das?“ frage ich die latzhose mit dem bleistift <strong>im</strong> haar. sie fragt zurück<br />
“das da?“ ich nicke. sie nickt zurück.<br />
“& das da auch ? & das da?“ “ne, ne, nur das eine hier, das bin ich.“ “hab<br />
dich auf dem bild erkannt. bist du bernds ex?“<br />
die reibeisenst<strong>im</strong>me verschlägt mir den atem. einen satz hab ich vielleicht<br />
noch drauf, einen krieg ich noch raus, aber dann bin ich pleite. die latzhose lacht<br />
mich aus.<br />
“ich bin nina, & du?“ “nena? nena? ah, du bist nina! ich bin der michael.“<br />
“hallo.“ “hallo.“
3 AMILAND 27<br />
die latzhose schwingt ihre reibeisenst<strong>im</strong>me & läuft die treppe hoch in den<br />
großen raum. ich nehme mir alle zeit, die ich habe, um bernds galerie zu betrach-<br />
ten. die bilder sind gut gearbeitet, öl auf nessel, 30 mal 40 bis 100 auf 130 cm,<br />
in klaren, hellen farben, viele grundtöne, nix schrilles. ein frauenkörper, bernds<br />
ex, füllt den wesentlichen teil der bilder, groß, vereinfacht, in blaugrau, mit ei-<br />
ner roten blume <strong>im</strong> haar oder <strong>im</strong> hintergrund. sie gefallen auf anhieb, bernds<br />
erdachte frauenkörper, sind reif & fruchtig & schmecken nach süßem saft, sind<br />
rund, ohne kanten, ohne zacken & laden ein zum anfassen. ganz <strong>im</strong> gegensatz<br />
zu collins bilder, die wild & aufgewühlt sind, wie der lockenkopf selbst, voller<br />
zweifel & <strong>im</strong>mer auf der suche. collin ist groß gewachsen, mit einem blonden wu-<br />
schelkopf auf dem schlacksigen körper & wachen, hellbraunen augen, die schnell<br />
& vorwitzig umherschauen. nach seinem informatikstudium an der n.y.c.u. ar-<br />
beitet er <strong>im</strong> selben büro wie justus. collin ist <strong>im</strong>mer für einen scherz aufgelegt,<br />
aber in seinem inneren nagt ein zweifel, frißt die lebensenergie & treibt ihn zur<br />
arbeit an, nachts in einem kleinen malstudio hinter der mapelton. dort fertigt<br />
er in exzesßnächten, vom fox nach hause geradelt, besoffen & bekifft, seine hy-<br />
perexpressionistisch überbaute seelenschau, die wie eine therapie sein innerstes<br />
nach außen kehrt, in schrille, schroffe bilder. collin sucht seinen stil & hat ein bild<br />
von bernd <strong>im</strong> z<strong>im</strong>mer hängen, während bernd seine malweise gefunden hat & ein<br />
bild nach dem anderen produziert, <strong>im</strong>mer das gleiche motiv, jedesmal ein wenig<br />
anders ausgearbeitet. mit einigem erfolg hat er bereits in denver verkauft.<br />
ich interessiere mich für seine heiligenkästchen aus bemaltem holz, ohne hei-<br />
lige, eine art gruß an die vergangene zeit, & schaue dann nach nina <strong>im</strong> oberen<br />
raum. sie hat sich verkrümelt & will versteck mit mir spielen. das finde ich schei-<br />
ße, ich bin kein sonderlich guter spieler, wenn es um liebe geht. anders be<strong>im</strong><br />
geschäft, da kann ich spielend beinhart werden, aber wenn liebe auf dem spiel<br />
steht, vergesse ich meine guten vorsätze, verliere meine zahlreichen fähigkeiten,<br />
höre mir selbst zu, wie ich neben mir stehend dummes, unsinniges zeug aus mei-<br />
nem mund ablasse, werde rot bei einem scherz & unbeweglich, wie gelähmt oder<br />
hypnotisiert.<br />
gegen abend kühlt die luft merklich ab hier oben auf 2200 m. wir machen<br />
einen tee. justus unterhält sich mit alexi über die möglichkeiten des mountainbi-<br />
king, alexis lieblingsthema. er spielt bikepolo in der obersten amiliga & arbeitet
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ebenfalls als computerfachmann in boulder. von nina keine spur. sie muß gegan-<br />
gen sein. ich schaue zum giebel hoch & entdecke ein halbes geschoß weiter oben<br />
eine art schlafz<strong>im</strong>mer, kaum abgeteilt. ich steige die holztreppe rauf & schaue auf<br />
bernds gitarre neben dem großen futon. links steht nina & liest in einem buch.<br />
“high.“ “high.“ das bißchen reibeisen läßt mich verstummen. “it’s gettin chil-<br />
ly.“ ich laufe wieder runter, um sie irgendwie unten abzufangen, später vielleicht,<br />
wenn ich mich beruhigt habe & mein herz wieder <strong>im</strong> normaltakt schlägt, wenn<br />
meine sprache & mein verstand wieder funktionieren, & ich mich ganz normal<br />
mit ihr unterhalten kann. die andere maus, für die ich mich interessiert habe, ist<br />
bernds ex. sie verabschiedet ihn herzlich, schnappt sich ein kleinkind & geht zur<br />
veranda in die kalte nacht, um mit ihrer kiste 20 meilen bis nach boulder runter<br />
zu fahren. es riecht nach aufbruch. ich schaue verzweifelt nach nina. sie kommt<br />
die holztreppe runter & schaut mich an, so daß sich unsere blicke kreuzen.<br />
sag jetzt nix, wenn du mich nicht lähmen willst. komm ganz langsam zu mir<br />
rüber & sag bitte nix.<br />
nina schiebt sich geschmeidig den tisch entlang auf mich zu. ich kann ihren<br />
warmen, kräftigen körper spüren & sehe ihren nasenring <strong>im</strong> linken flügel auf einer<br />
weißen negernase über hellen, dicken negerlippen. ihr ganzer körper verströmt<br />
den stechenden geruch von bienenwachs, etwas herb & beißend, & etwas süß &<br />
dickflüssig. während sie ihre buschigen augenbrauen in der stirn zusammenzieht,<br />
mich erstaunt anschaut & dann lachend weitergeht, frage ich justus, ob er sie<br />
kennt. sie ist <strong>im</strong> eigenen wagen da. jeder, der es sich leisten kann, hat 1 oder 2<br />
wagen in amiland, denn ohne wagen geht nix. wir kommen ins gespräch.<br />
“yes.“ “no.“ “yes.“ “no.“ “I’m only here for another week.“ “oh, that’s too<br />
bad.“ collin kommt an & drängt sich mit einer blöden, sinnlosen frage in mein<br />
zartes gespräch, grinst mich breit an & zwinkert mir zu. sieht er nicht, was abgeht,<br />
der lange blödmann? ich will ihm schon das feld räumen, da dreht er ab & läßt<br />
uns beide weiterquatschen.<br />
“yes.“ “no.“ “yes.“ “no.“ die unterhaltung kommt langsam voran. ich versu-<br />
che, mich nicht beeindrucken zu lassen von der reibeisenst<strong>im</strong>me mit dem bienen-<br />
geruch, die mir ein paar zahlen diktiert.<br />
“that’s my number. just call me whenever you feel like it.“ diese nummer kenn<br />
ich schon.
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an der ecke university & 13te, mit blick auf das brillig & den campus & die<br />
rockys, ist links das derey queen & rechts das expresso roma, beides college-kids-<br />
treffpunkte. <strong>im</strong> roma arbeitet annie, die ex von justus, wie alle, oder fast alle kids<br />
aus gutem haus, von beruf sohn oder tochter, mit den nötigen scheinen ausgestat-<br />
tet, für 4 dollar 50 in der stunde hinter der caffeekanne, weil das kurze leben nicht<br />
<strong>im</strong>mer einfach ist. am 2ten abend in boulder sitze ich mit einem großen, heißen<br />
prince of wales an der 13ten & schaue den kids be<strong>im</strong> rumlungern zu. mit 17 aus<br />
der highschool ins college, mit 18 das 2te auto von dad & mit 23 fertig für den<br />
ernst des knappen lebens. die mädels sind glatt rasiert bis unters kinn & tragen<br />
leichte sommermode durch den regen, betont europäisch. die jungs haben kurze,<br />
weite hosen an, die bis zu den waden gehen, karierte baumwollhemden vom großen<br />
bruder & sind tätowiert oder gepierced mit ringen in den ohren, nasen, augen-<br />
brauen, <strong>im</strong> bauchnabel, in der lippe oder an stellen, an denen mir die vorstellung<br />
alleine schon schmerzen bereitet. annie arbeitet heute abend nicht, aber hannah,<br />
ihre freundin dänischer abstammung, mit dunklen, halbkurzen haaren, dunklen<br />
augen, fleischigen, roten, <strong>im</strong>merfeuchten lippen & 2 händen zum eisenbiegen.<br />
ich stehe in der schlange für eine neue teefüllung & verliebe mich in mein<br />
eigenes spiegelbild. über eck reflektiert es mich zum erstenmal so, wie mein ge-<br />
genüber mich sieht. ich bin verwundert & überrascht, kann mich nicht von dem<br />
fremden lösen, der mich aus der ecke anstarrt. vielleicht bin ich auch einfach nur<br />
breit.<br />
“you want another one?“ ihre augenbrauen gehen hoch. “oh yes please, this<br />
one here.“ ich deute auf die fliederfarbene packung in der glasvitrine.<br />
“how much is that?“ “nothing, that’s o.k.“ sie hat mich doch tatsächlich<br />
eingeladen, & ich erkläre mich bereit, ihr meine ansichten über die fladenförmigen<br />
kuchenstücke auszubreiten, die auf dem tresen zum verkauf ausliegen, von nina<br />
gebacken.<br />
“weißt du, an was die mich erinnern?“ ich deute auf die handteller großen,<br />
bräunlichen haufen, trocken & körnig für 1 dollar 20. “die sehen nicht gerade<br />
appetitlich aus. bei uns wäre puderzucker drauf, oder irgend was, um eine ver-<br />
wechslung auszuschließen.“ hannah versteht nix.<br />
“die dinger sehen ein bißchen aus, als hätte sie jemand auf der straße aufge-<br />
sammelt, während er hinter einer kuh herging.“
3 AMILAND 30<br />
sie gibt mir wortlos meinen prince of wales, & ich setze mich wieder vor die<br />
hütte & schaue dem regen be<strong>im</strong> fallen zu.<br />
<strong>im</strong> nachbarhaus haben die bullen vor 2 monaten eine wache eröffnet, mit ein-<br />
weihungsparty zum kennenlernen, auf anforderung der geschätzten geschäftswelt,<br />
befürwortet von hannah & freunden, denn die sicherheit wird mit sicherheit groß<br />
geschrieben. die schwarzen sheriffs, die hier weiß sind & schwarz gekleidet, treiben<br />
auch tatsächlich ein paar gesetzesbrecher auf, eine gruppe 16jähriger highschool-<br />
kids, die öffentlich mit leeren bierdosen gespielt haben sollen. ein schwarzer mi-<br />
nivan mit 7 kids vollgestopft, alle in handschellen, hält vor dem kleinen revier, &<br />
die beiden hauptamtlichen hilfssheriffs führen die gruppe durch den regen in den<br />
einstöckigen betonkasten. ordnung muß sein. weiter unten vor dem tulla & dem<br />
fox stehen junge leute & unterhalten sich über die bands, die drinnen spielen &<br />
darüber, wer mit wem schon wieder oder nicht mehr zusammen ist.<br />
hannah räumt das roma auf, putzt die caffeemaschine, zählt die essensmarken<br />
& richtet alles für die frühschicht, während ich draußen darauf warte, daß nix<br />
passiert. sie kommt raus & gibt mir einen kassenzettel, mit ihrem namen & ihrer<br />
telefonnummer.<br />
“ruf mich an, wir können was zusammen machen, essengehen oder spazieren,<br />
oder so was in der art.“<br />
als ich nach 3 tagen wieder ins roma komme, kein anruf von hannah & unter<br />
ihrer nummer nix als die männliche ansage ihres anrufbeantworters, gebe ich ihr<br />
den zettel zurück.<br />
“hat irgendwie nicht funktioniert, danke trotzdem.“ mittlerweile weiß ich,<br />
daß die 2te füllung sowieso umsonst ist, pay 1 get 2, 1 4 2. mal sehen, was ninas<br />
nummer bringt.<br />
in jedem, oder fast jedem laden, der größer ist als ein kleinbus, spielt 3mal die<br />
woche eine band oder es hängen bilder zum verkaufen aus, oder beides. <strong>im</strong> fox<br />
spielt jeden abend eine der abertausend amibands den steilen weg ganz nach oben,<br />
eine hoffnungsvolle formation, die überwiegend covert, mit einem aufregenden<br />
sänger & einem sologitarristen, der, wenn sein part dran ist, an den bühnenrand<br />
kommt, genüßlich seinen kopf in den nacken legt & dem verehrten, andächtig<br />
lauschenden publikum zeigt, wo der hammer hängt, indem er sein brett nach<br />
allen regeln der kunst belästigt & beackert, bis auch der letzte <strong>im</strong> saal diese
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glänzende karriere deutlich vor augen hat. <strong>im</strong> roof caffee wird country gespielt,<br />
ein langhaariges trio, langatmig mit gitarre, st<strong>im</strong>me & trompete, hausbacken<br />
& selbstgemacht. auf der mall, der backstein bepflasterten fußgängerzone, 30 m<br />
breit, an beiden seiten mit 2stöckigen souvenierläden <strong>im</strong> wildweststil bebaut, in<br />
der mitte mit bänken, blumenkästen & bäumen ausgestattet, steht alle nase lang<br />
ein self-made-musician mit einer mandoline, einer geige, einem harmonium oder<br />
einer steeldrum. vor dem french caffee sitzt ab 10 oder 11 uhr ein alter, dicker<br />
schwarzer auf seinem verschlissenen stoffkissen den tag ab & probt strangers in<br />
the night oder eine der anderen, ganz großen nummern auf seinem frisch geputz-<br />
ten sax. nach all den jahren, die der schwarze <strong>im</strong> weißen boulder auf dem buckel<br />
hat, nach all der ganzen, guten bergluft & den netten travelern, nach unzähligen<br />
strangers in the night am hellen tag, hat er seine leitern einigermaßen drauf. er<br />
läßt sich nicht nehmen, den anfänger zu m<strong>im</strong>en, als ob er jeden ton einzeln sucht,<br />
ihn aus einem großen sack voller töne herausholt, ihn geduldig aufpoliert, ihn<br />
lange, lange anschaut, um ihn dann wieder in den sack zu legen, gut verschnürt<br />
bis zum näxten mal. er spielt kein 120er tempo, auch kein 60er tempo, er spielt<br />
den 12er oder 8er schlag, ohne eile, ohne mühe, mit der zeit des rentners auf der<br />
parkbank, bläst seinen hit in die laue luft von boulder, manchmal umringt von<br />
einer aufgeregten gruppe weißer mitt50erinnen, die ihren herbst & den winteran-<br />
bruch mit ein bißchen live gespielter musik herauszögern oder ihre enkel an der<br />
c.u. besuchen.<br />
den echten freecl<strong>im</strong>ber oder den mountainbiker interessiert das nicht. er hat<br />
seine ausrüstung, all outdoor gear, <strong>im</strong> morgengrauen zusammengepackt, ein letz-<br />
tes mal die karte gecheckt, ist den weg <strong>im</strong> geist abgeschritten & macht sich lange,<br />
bevor boulder erwacht, auf, um die natur & sich zu testen. unter der verspiegel-<br />
ten sonnenbrille & durch modernste textilfasern geschützt, die ihm allen erdenkli-<br />
chen komfort gewähren, atmungsaktiv, wasserabweisend, luftdurchlässig, hitze- &<br />
kältebeständig. mit einer flasche isotonischem mineralgetränk <strong>im</strong> gepäck schaut<br />
er in die zukunft, die augen zusammengekniffen, als wolle er weit in die ferne<br />
blicken, entschlossen seiner selbst gestellten aufgabe entgegen. wenn er zurück-<br />
kommt, falls er zurückkommt, hat sein körper einen hormonschub geleistet, der<br />
sterbliche naturen oder schwächere leute schlichtweg ins grab bringen würde. aber<br />
seine farbenfrohe, weltraumerprobte ausrüstung & sein starker wille ermöglichen
3 AMILAND 32<br />
ihm das unmögliche.<br />
als collin & bernd letzten sonntag in die rockys zum wandern aufbrachen, von<br />
1800 m bis auf 3200 m hoch, auf anraten von justus ohne zelt – “was wollt ihr<br />
denn damit, ist doch nur gewicht.“ – wachten sie am montag morgen auf 3000<br />
m in der nähe des devils lake in einem alten, verlassenen goldgräberstädtchen<br />
auf, begraben von 25 cm weißem, kristallinen pulverschnee, der die nacht über<br />
leise & he<strong>im</strong>lich gefallen war. ihre outdoor-ausrüstung & ihr wille verhinderten<br />
schl<strong>im</strong>meres.<br />
ein paar tage später wandere ich mit justus <strong>im</strong> selben gebiet. wir beginnen<br />
auf 2600 m. an einem sandigen fleck parken wir den wagen, um bei schönstem<br />
herbstwetter in den shugar canon hinabzusteigen. die tiefstehende sonne scheint<br />
harmlos auf die handvoll wanderer, die sich hierher verirrt hat, mit ihren großen<br />
pickups, die ladefläche aufgeklappt & den burger <strong>im</strong> freßloch. wir klettern den<br />
steil abfallenden fels entlang in den canon, fast 200m senkrecht bergab. unten<br />
fließt der greek diesseits der continental divide richtung osten an boulder vorbei,<br />
über dicke hausgroße felsblöcke, über wasserfälle & durch jahrtausende alte stein-<br />
bassins. wir klettern & waten durch das eiskalte, schnell fließende wasser, justus<br />
vorneweg, ich hinterher, balancieren über fischglatte baumstämme, springen über<br />
bemooste steine & tasten uns dicht an der steinwand entlang. auf einem flachen<br />
felsvorsprung sonnt sich weit vor uns ein junger mann, einsam vom rauschen des<br />
wassers begleitet. er liegt auf der anderen seite des greek, weniger als 30 fuß von<br />
uns entfernt & räkelt sich genüßlich in den letzten strahlen der nachmittagssonne,<br />
die ihr licht hier unten viel früher zurückn<strong>im</strong>mt, verdeckt durch die steil aufstei-<br />
gende, harte felswand. als wir näher kommen, sehe ich, daß er nackt ist. er reibt<br />
sanft an seiner gurke, die ihm in der hand zur vollen größe reift, schaut verstoh-<br />
len zu uns rüber, sehnsuchtsvoll & verwundbar, geschützt durch den vorhang des<br />
rauschenden wildwassers, der tiefen furche des schnell fließenden greek. die kraft<br />
des baches, die gewalt der starren felswände, die macht des dunklen waldes &<br />
eine erinnerung an die frühe kindheit lassen mich eine aufregung verspüren, die<br />
meinen körper erfaßt & wie einen heilenden schmerz erfüllt. wir klettern die fels-<br />
wand hoch, wo oben der rostige blaubraune kombi von justus geduldig auf uns<br />
wartet, um uns nach boulder zu bringen.<br />
am abend nach bernds abschiedsfeier fahre ich in seinem toyota mit nach
3 AMILAND 33<br />
unten. er hat den wagen für ein paar essensmarken nach einem überschlag ge-<br />
kauft & ihn vollständig bemalt. weißes punktmuster auf dunklem grund, federn<br />
an den deckenpolstern, steinchen an den fensterrahmen & ein hüftknochen als<br />
schaltknüppel. wenn alles schiefgeht & er nicht in die antarktis kann, will er den<br />
wagen in new orleans verkaufen. dort hat er vor 2 jahren als koch gearbeitet. die<br />
bremsen gehen nicht einwandfrei & die lenkung hat viel spiel. in boulder setzt er<br />
mich bei justus ab, & wir diskutieren die ganze nacht zu dritt bei ein paar echten<br />
schultheiß über das leben, den außerirdischen & die runde, sich drehende erde.<br />
am anderen morgen das übliche. justus wartet nervös auf einen anruf von der<br />
firma, die ihm ziemlich bald einen ziemlich großen job in aussicht gestellt hat. wir<br />
frühstücken <strong>im</strong> garten hinter dem 2stöckigen holzhaus in der grove street, unter<br />
2 alten silberpappeln, neben tomaten & bohnenpflanzen, links die alte witwe &<br />
rechts die neuankömmlinge aus california mit 3 autos. es gibt bagels mit cream<br />
cheese & tee, crunchies, obst & schwarzbrot aus dem saveways.<br />
die denver post berichtet über 3 tote gi <strong>im</strong> somaliakrieg, der hier restore<br />
hope heißt. kein sterbenswörtchen über die namen der toten, den wohnort oder<br />
das alter, nur tiefer schmerz über den verlust der americanischen boys. die dazu<br />
passende tages-quiz-frage von cnn lautet: wieviele amis starben bisher <strong>im</strong> somalia<br />
krieg? die auflösung kommt in den spätnachrichten.<br />
ein captain sowinoch macht die presserunde. ausgemergelt & eingeschüchtert,<br />
wie ein verletztes tier, schaut er wirr in die videokamera, auf einem bett liegend,<br />
mit schweiß- & dreckflecken auf dem schwarzen t-shirt, die nicht mit einem voll-<br />
waschmittel raus zu kriegen sind. aus seinem blutverkrusteten 3tagebart stottert<br />
er langsam seinen namen & sagt ein paar sätze über einen nicht <strong>im</strong>mer gerechten<br />
krieg, sätze, die ihm die somalis in seinen gefangenen mund legen, als gegenlei-<br />
stung für seine freilassung, nachdem sie der presse das band zugespielt haben.<br />
von den 3 zeitungstoten, die wirklich tot sind, fehlt jedes bild. amiland trauert<br />
um die unbekannten amis, die jungs aus der weiteren nachbarschaft, amiland ist<br />
groß.<br />
zur gleichen zeit tobt <strong>im</strong> weißen haus der bisher letzte machtkampf des neuen<br />
präsidenten mit der alten garde. der präsident kennt kein pardon & läßt nach<br />
ablauf eines ult<strong>im</strong>atums seine panzer auf das parlamentsgebäude schießen, in<br />
dem der letzte trupp der volksdeputierten sich standhaft weigert, das gebäude
4 NICHT AUFGEPASST 34<br />
zu räumen. seit mehr als 2 jahren regiert der präsident mittels verordnungen<br />
& erlassen aus seiner feder das land auseinander, ändert die erlasse, wenn sie<br />
nicht durchführbar sind, verkündet schnellere reformen & langsamere reformen<br />
& zerstört die alte kommandowirtschaft der einstmaligen sowjetunion oder was<br />
davon übrig ist, wo er nur kann. moskau kennt ihn wieder, den club der millionäre,<br />
& der präsident bittet das ausland gnädigst um wirtschaftshilfe, während dort ei-<br />
ne verteilungsschlacht ausgebrochen ist, die sich nur um die schulden dreht, so daß<br />
eingriffe in die reste der planwirtschaft augenblicklich wenig lohnend erscheinen.<br />
die toten des gefechts werden in reihen aufgebahrt & nach gut & böse sortiert. die<br />
einen ins töpfchen, die anderen ins kröpfchen. die <strong>im</strong> kröpfchen, die verlierer, hat-<br />
ten versucht, ausgerüstet mit ein paar handfeuerwaffen, eine ganze staatsmacht<br />
zu bezwingen, von der sie freilich nicht angenommen hatten, daß deren demokra-<br />
tisch gewählter führer so schnell kurzen prozeß machte & das ehrwürdige weiße<br />
haus zusammenschießen ließ, während der rest der stadt & das übrige land kaum<br />
notiz nahm von der ballerei <strong>im</strong> parlament. sie besetzten, um eine staatsmacht zu<br />
übernehmen, das parlament. sie dachten, dort liege die macht. dabei weiß doch<br />
jeder, oder jeder halbwegs gebildete mensch, daß <strong>im</strong> parlament nix weiter als<br />
geredet wird. manche schreiben auch mal was auf.<br />
“we didn’t have to get in, but once we’re there we’ve got to do the job. we<br />
can’t just piss off like in the gulf war!“ amis sind überall dort zuständig, wo sie<br />
sich zuständig fühlen, weil sie die mittel haben, ihre zuständigkeit aller welt zu<br />
verdeutlichen.<br />
in moskau reicht die zuständigkeit erstmal nur für eine coca cola-abfüllan-<br />
lage & einen mc donald, ebenso wie in saigon. die weltgrößte kriegsmaschinerie<br />
brachte es spielend fertig, innerhalb von 3 monaten für eine halbe million männer<br />
jeden tag eiskalte cola, dampfende hamburger & filterkippen in ausreichendem<br />
umfang in die heiße wüste des 2stromlands zu karren. was übrig ist von dieser<br />
mammutschau wird augenblicklich über restjugoslawien abgeworfen.<br />
4 nicht aufgepaßt<br />
anfang dezember schlendere ich über den kai von pointe-à-pitre. auf guadelou-<br />
pe ist herbst oder winter oder sommer oder frühling. so nahe am äquator macht
4 NICHT AUFGEPASST 35<br />
das kaum einen unterschied füer europäer. mittags ein bißchen regen & ansonsten<br />
schnellfliegende wolken am feuchten h<strong>im</strong>mel. die linienbusse starten in die 2 flügel<br />
der schmetterlingsinsel von 2 plätzen aus, hinter der post richtung basse-terre &<br />
am hafen richtung gosier. die schlepper versuchen, ihre karren voll zu kriegen.<br />
alle gleichzeitig. sie überfallen jeden, der vorbeikommt, & brüllen in abgehackten<br />
wortfetzen die namen der städte, an denen die fahrt vorbeigeht, in den winzigen,<br />
dieselverqualmten, caribischen hafen. schwitzend warte ich auf einem klebrigen<br />
sitz, daß sich der bunt bemalte röstofen füllt. wie ein gewitter bricht unruhe<br />
aus. männer verlassen einzelne wagen, um in andere einzusteigen. weit geöffnete<br />
augenpaare versuchen einzuschätzen, welcher bus am ehesten voll wird. nervös<br />
streiten sich die schlepper um jeden fahrgast. die busse sind bis unters dach bela-<br />
den. während die letzten passagiere <strong>im</strong> laufen versuchen, einen der schwankenden<br />
brutkästen zu besteigen, starten alle gemeinsam & bestreiten 200 m weiter in der<br />
rue du bouchage ein 20minütiges hupkonzert. durch das winzige nuttenviertel,<br />
aus holzbrettern gez<strong>im</strong>mert, fahren sie nach gosier & verteilen sich dann langsam<br />
auf die grünen, steil über das meer ragenden hügel. hält einer an, um passagiere<br />
aufzunehmen, überholt ihn der andere & umgekehrt.<br />
3 fährlinien richten den inselverkehr zwischen den französischen antillen aus,<br />
alle, oder fast alle, morgens um 8 uhr. & da kein schiff ausgebucht ist, gibt es<br />
leere plätze, leere kabinen, stuarts, die rumstehen, & pro fährgast mindestens eine<br />
weißgekleidete schiffscharge. wenn du die kabine nicht zahlst, auch wenn sie frei<br />
ist, bleibt sie eben leer, & die linie fährt verlust ein auf der strecke, solange, bis<br />
sie selbst oder die konkurrenz pleite geht.<br />
der sozialismus erzeugt dominoartige unterkapazität & chronische überbele-<br />
gung. die busse sind, wenn sie überhaupt fahren, überfüllt & kommen unpünkt-<br />
lich, zu spät oder gar nicht. seit die perle der caribic alles in welttauglichen<br />
scheinen zahlen muß, wird sogar das salz <strong>im</strong> meerwasser knapp. um einen platz<br />
von la habana nach santiago de cuba zu kriegen, mußt du eine woche anstehen<br />
oder schmieren. & genauso wie der flieger, der jeden cubaner für ein stück seife<br />
einmal längs 1100 km über die insel fliegt, kostet der bus fast nix, falls ein ticket<br />
aufzutreiben ist. ansonsten heißt es geduldig abwarten, ob die kollegen von der<br />
transporteinheit genügend öl & sprit aufgetrieben haben, damit die guagua nicht<br />
nach wenigen km liegenbleibt.
4 NICHT AUFGEPASST 36<br />
zwischen mahaut auf der westseite des westlichen flügels von guadeloupe &<br />
pointe-à-pitre oder kurz p-à-p, auf der strecke, die durch das grüne, farnbewachse-<br />
ne, 800 m hohe gebirge führt, lasse ich den bus aus & trampe, meinen proviant in<br />
einer plastiktüte & mein handgeschriebenes lieblingsbuch, meine aufzeichnungen<br />
& stichworte, meine hetztiraden auf die katholische kirche & das <strong>im</strong>merfalsche<br />
gesellschaftssystem in der hand. unter mir bläst der wind das helle meer gegen<br />
die felsen. ich stehe an der steil aufsteigenden abzweigung der d23 von der n2.<br />
neben meinem daumen hält ein weißer minivan mit 5 schwarzen & einer ladung<br />
prospekte eines möbelhauses. ich steige ein, setze mich mit dem buch als unter-<br />
lage auf die geriffelte ladefläche zwischen 2 papiertürme. der h<strong>im</strong>mel mischt weiß<br />
und blau durcheinander. wolkenschatten huschen wie riesige, vorzeitliche tiere<br />
über uns hinweg. wir fahren an alten, mit kletterpflanzen bewachsenen bäumen<br />
vorbei, halten am nationalpark & fahren wieder runter bis nach petit-bourg, wo<br />
wir einen der kumpel absetzen. ich will bis nach p-à-p mitfahren. der minivan<br />
setzt mich direkt am hafen an der place de la victoire ab.<br />
zuerst in den supermarkt, um mir für heute abend ein stück in plastik einge-<br />
schweißte, vergorene milch zu leisten. ein schwarzer, dürrer wachmann am dreh-<br />
kreuz, in offiziellem dunkelblau mit dunkelblau getönter sonnenbrille, n<strong>im</strong>mt mei-<br />
ne tüte entgegen & legt sie in einen der roten plastikkörbe. dann schaue ich bei<br />
einem reisebüro vorbei, um mich nach flügen zu erkunden, die mich nach mar-<br />
tinique bringen. die schnepfe will, wie üblich in reisebüros, nur ein hinflugticket<br />
verkaufen, wenn ich auch die rückfahrkarte buche. ich gehe direkt ins büro der<br />
fährlinie. keine kreditkarten, also muß ich erst nach hause zu ra<strong>im</strong>onds kleiner<br />
hütte zwischen p-à-p & gosier, kaum 100 m vom wasser entfernt, am einzig un-<br />
bebauten, weil häßlichen strand der insel, ruhig & abseits.<br />
ich steige in den bus ein, der mir am vollsten erscheint & warte nicht 20 minu-<br />
ten, sondern eine halbe stunde, & als wir losfahren, bemerke ich <strong>im</strong> nuttenviertel,<br />
daß ich nix in der hand halte als die plastiktüte mit ein paar bananen & dem<br />
käse, kein manuskript, keine aufzeichnungen, nur den kuli. ich springe sofort raus,<br />
laufe die 300 m zurück zum hafen & zwänge mich durch die steckengebliebenen<br />
busse an den marktfrauen vorbei, die obst, gemüse, unterwäsche & haarbalsam<br />
direkt am kai verkaufen, springe in den supermarkt & erkenne den schwarzen<br />
dobermann mit sonnenbrille wieder, der meine tüte entgegen genommen hatte,
4 NICHT AUFGEPASST 37<br />
als ich vor einer knappen stunde hier war, um einzukaufen.<br />
“j’ai eu avec moi quelque chose, monsieur, un livre ou quelque chose?“ er<br />
bleibt ruhig, wirkt gelangweilt. “mais non, monsieur, vous n’aviez que le sac,<br />
monsieur.“<br />
wie ein kleiner pinscher belle ich ihn an. meine st<strong>im</strong>me wird hell & brüchig.<br />
“mais, un livre, j’avais avec moi un livre!“ er schaut über mich hinweg, als wäre<br />
ich nicht da. “non, non, monsieur, seulement le sac.“<br />
scheiße, ich idiot hab das manuskript <strong>im</strong> minivan liegen gelassen, oder täusche<br />
ich mich, war ich zuerst in der fährlinie oder zuerst <strong>im</strong> reisebüro, scheiße, ich<br />
altes arschloch, ich vollidiot, so saudumm darf einfach kein mensch sein, der<br />
sich vorn<strong>im</strong>mt, ein paar zeilen aufzuschreiben. das reisebüro ist zu, das büro der<br />
fährlinie leer, bis auf einen typen, der putzt & freundlicherweise den laden <strong>im</strong><br />
halbdunkel absucht. nix, kein buch. ich idiot, ich dünnbrettbohrer, das buch, ich<br />
hatte es <strong>im</strong> minivan als sitzunterlage benutzt, weil die ladefläche so scheiß hart<br />
war, & ich dachte noch, du mußt das buch nachher mitnehmen, vergiß das buch<br />
nicht. ich zähle mein bares nach, scheiße, ganze 11 ff 90. der bus p-à-p gosier, wo<br />
der kreditautomat der post möglicherweise meine karte akzeptiert, kostet 6 ff. ich<br />
laufe zum office du tourisme & versuche dort mein glück.<br />
“madame, j’ai un problème.“ rufe ich noch in der türe & erkläre in einer<br />
französisch klingenden sprache umständlich meine geschichte.<br />
“mais je ne sais pas ce que je peut faire pour vous monsieur.“, sagt eine 40jähri-<br />
ge hinter dem teuren holztresen <strong>im</strong> gut gekühlten büro aus ihrer touristikuniform.<br />
ihre dunkelblaue melone ist mit einem goldrand verziert. “un moment ...“ sie hebt<br />
den hörer eines telefons ab, um einen standardspruch über die fährverbindungen<br />
wie vom band runterzuleiern. sie rückt die melone zurecht & wendet sich wieder<br />
an mich.<br />
“oui, je ne sais pas!“ ich erkläre ihr, daß die jungs aus dem minivan einen pro-<br />
spekt verteilt haben für ein möbelhaus, & mache mich selbst auf die suche nach<br />
dem papier. 3 straßen weiter an der rue achille renè boisneuf finde ich einen möbel-<br />
laden & erzähle von meinem unglück. ein verkäufer zeigt mir einen prospekt. das<br />
könnte er sein, das gelb & der blaue rand. wann kam der hier rein, kam der heute<br />
an, ne, ne, der ist schon eine woche alt. ich schnappe mir das faltblatt & laufe<br />
die strecke zurück zum hafen, am markt vorbei zum tourismusbüro.
4 NICHT AUFGEPASST 38<br />
“madame, madame, j’ai trouvè le prospectus“ “ah bon, & maitenant?“ “il<br />
faut trouver les gents qui ont fait le prospectus!“ sie widerspricht mir. “non,<br />
non, il faut appeler au magazin de meubles!“ auf einer ecke des papiers finde ich<br />
kleingedruckt eine telefonnummer.<br />
“vous pouvez appeler ce numero ici?“ sie wählt. “bon, je vais voir ... allors<br />
ici parle le buro du tourisme ...“ sie erzählt meine geschichte & reicht mir das<br />
telefon. ich versuche es auf englisch. am anderen ende spricht eine sanfte st<strong>im</strong>me<br />
zu mir, colette, nur aushilfe. oh, sie kennt den typ, der für die verteilung zuständig<br />
ist. mr gaydi, wie buchstabiert man das, gaydu, hier ist seine nummer. er ist<br />
augenblicklich nicht zu erreichen, ich soll in einer stunde nochmal anrufen. ich<br />
bedanke mich höflich bei colette & bei der dunkelblauen uniform & nehme den<br />
bus nach gosier, wo der postautomat anstandslos 300 ff ausspuckt. wenigstens<br />
das. ich leiste mir erstmal ein süßes stückchen kokoskuchen, um den magen & die<br />
nerven zu beruhigen. ich fühle mich niedergeschlagen.<br />
gosier ist eine hotelfestung, die gesamte küste für hausgäste aus dem mutter-<br />
land reserviert, eine bungalowsiedlung neben der anderen. 3stöckige schuhkartons<br />
wechseln mit kleinen parkanlagen vor schmalen, weißen sandstreifen mit hell-<br />
blauem, warmem salzwasser. <strong>im</strong> schatten der palmen schlafen junge französinnen<br />
angestrengt bis tief in den nachmittag hinein, barbusig, schlank, von ein paar<br />
schwarzen klamottenhändlern umgarnt. jede minibucht hat ihr eigenes gästege-<br />
misch. es gibt den familienstrand, den altenteil & den weitaus wichtigsten &<br />
größten strand voll von jungen, amüsierfreudigen französinnen, in 2er- oder 3er-<br />
grüppchen. die wenigsten haben ihren eigenen lover aus der he<strong>im</strong>at mitgebracht.<br />
mir ist nicht nach vögeln zumute. ich nehme den bus zurück nach p-à-p,<br />
vorbei an grande-baisse & seiner ahnungslosen bucht, vorbei an ra<strong>im</strong>ond, meinem<br />
blinden z<strong>im</strong>merwirt, vorbei am nuttenviertel bis an den hafen. ich wähle die<br />
nummer von monsieur gaydu. keiner hebt ab. ich rufe colette an. sie sagt, gaydu<br />
wäre gerade dagewesen. ich solle es später nochmal probieren. die schlange hinter<br />
meiner zelle löst sich langsam wieder auf, als ich deutlich meine sachen auf dem<br />
telefon ausbreite, als wolle ich einen laden eröffnen. ich versuche es nochmal bei<br />
gaydu, probieren geht über studieren. er hebt ab.<br />
“monsieur gaydu, monsieur gaydu ...“ ich erzähle ihm meine geschichte, & es<br />
sieht aus, als sei er der mann, der die prospektverteilung regelt.
4 NICHT AUFGEPASST 39<br />
“ich will sehen, ob ich meine leute heute abend noch sehe, sie sind gerade<br />
unterwegs. kann ich sie anrufen?“ ich gebe ihm die nummer von ra<strong>im</strong>ond.<br />
“so gegen 9 oder 10 heute abend.“ “vielen dank monsieur gaydu, vielen dank.“<br />
ich habe wieder hoffnung für den kommenden tag & fahre nach grande-baisse zu<br />
ra<strong>im</strong>ond, der wie üblich hinter dem tresen seiner einstöckigen hütte sitzt, eine<br />
hand <strong>im</strong> schoß, die andere auf der theke, die leeren, grauen augen den mücken<br />
nachstarrend, zur decke gerichtet, seine brille auf der nase & die braune basken-<br />
kappe auf dem kraushaar. als ich hereinschlürfe, steht er langsam auf, n<strong>im</strong>mt<br />
einen orangenen lappen & wischt sachte über die leere theke.<br />
“es kann sein, daß mich jemand anruft.“ sage ich ihm. “ich hab was in p a p<br />
vergessen, & ein herr will mich anrufen.“<br />
ra<strong>im</strong>ond zeigt sich nicht beeindruckt. “kein problem, ich bin hier & rufe dich,<br />
wenn das telefon klingelt.“ ich gehe in mein 8 qm großes z<strong>im</strong>mer, ein bett, ein<br />
tisch, ein stuhl & ein ventilator, unabdingbar <strong>im</strong> subtropischen kl<strong>im</strong>a. die luftbe-<br />
wegung dient nicht nur der kühlung der haut, die rund um die uhr schwitzt. sie<br />
verhindert durch den ständigen zug, daß die unzähligen, winzigen stechmücken<br />
beruhigt landen können & ihren widerlichen, hauchdünnen saugrüssel in men-<br />
schenfleisch stechen. als ich gerade ins bad gehen will, klingelt das telefon.<br />
“ich komme, ich komme ...“ brülle ich, bevor ra<strong>im</strong>ond nach mir gerufen hat.<br />
“c’est pour vous!“ auf dem sauber gewischten tresen steht das schwere baka-<br />
littelefon mit dem hörer nebenan abgelegt. es ist gaydu, der sich irgendwie meiner<br />
angenommen hat. er will sehen, was er machen kann, heute abend wird es sicher<br />
nix mehr, aber morgen gegen 9 soll ich unter der gleichen nummer in seinem büro<br />
nochmal nachfragen.<br />
“o.k. monsieur gaydu, morgen früh um 9, morgen um 9 also.“ ich schlafe<br />
die nacht sehr schlecht. es ist vollmond, mein schiff fährt übermorgen abend &<br />
vom buch keine spur. es ist nichtmal sicher, ob gaydu der mann ist, den ich<br />
suche, ob er den prospekt ausfährt & ob seine jungs das auto nicht samt meinem<br />
buch gereinigt haben. am anderen morgen gehe ich um 8 an den strand, um ein<br />
paar schritte in den warmen sonnenstrahlen am silbergrauen wasser entlang zu<br />
machen. ra<strong>im</strong>ond ist schon lange auf. er schläft mit dem mond & wacht mit der<br />
sonne auf. um 9 uhr bin ich am telefon. monsieur gaydu war <strong>im</strong> büro, ist aber<br />
schon wieder weg, nein, er hat nix von einem buch gesagt, so gegen 10 kommt er
5 VOR DEM EINSCHLAFEN 40<br />
vielleicht wieder. ich gehe betrübt in mein z<strong>im</strong>mer. die gute arbeit umsonst. alles<br />
vorbei. ich dünnbrettbohrer.<br />
ich werde nie schreiben, niemals, wenn ich nicht <strong>im</strong>stande bin, auf meine eige-<br />
nen aufzeichnungen aufzupassen, die mir anscheinend weniger bedeuten als eine<br />
tüte bananen. es ist <strong>im</strong> übrigen nicht das erste manuskript, das ich verliere. nur<br />
war es das bisher umfangreichste. 50 seiten echte geschichte, erlebt, erinnert &<br />
aufgeschrieben von einem echten menschen, nicht zum vergnügen der großen ver-<br />
lagshäuser oder der feuilletonisten bedeutender tageszeitungen, sondern alleine<br />
um der wahrheit genüge zu tun, um geschehnisse, die sich so & genau so zuge-<br />
tragen haben, für dich, meinen engel, aufzuzeichnen.<br />
das telefon klingelt. es ist für mich. monsieur gaydu hat das buch gefunden,<br />
ich umarme ihn am telefon, küsse ihn geistig, habe tränen in den augen, kann es<br />
kaum glauben & habe es gleichzeitig gehofft, erahnt, gewünscht, von den außer-<br />
irdischen verlangt, von den unzähligen, nicht existierenden außerirdischen aller<br />
religionen der runden, sich drehenden erde gefordert & erhalten, nicht aus gna-<br />
de oder gerechtigkeit, nicht weil ich aufrichtig lebe oder buße tue, nicht weil ich<br />
gottesfürchtig bin oder weil der erdball ein herz hat, sondern weil ich, wie der<br />
mountainbiker in den bergen, wie ra<strong>im</strong>ond be<strong>im</strong> verhandeln des preises für sein<br />
z<strong>im</strong>mer, wie meine mutter bei meiner erziehung & wie alle menschen, die ein ziel<br />
vor augen haben, meinen willen & meinen verstand gebrauche, um die nötigen<br />
schritte zu planen, die mich stück für stück dem näher bringen, was ich mir vor-<br />
stelle. alleine darauf kann ich mich verlassen & auf die außerirdischen, die mir<br />
nach wie vor wohl gesonnen sind & mich in ihr unendlich großes, unermeßlich<br />
reiches, erdumspannendes einheitsherz geschlossen haben. natürlich.<br />
5 vor dem einschlafen<br />
ich kann geld essen. na klar, geld kann ich essen. ich esse an jeder ecke einen<br />
50er weg oder einen 100er, wenn du willst, na klar mann, gib mir die lappen,<br />
dann kann ich dir es zeigen, oder 30 vielleicht oder wenigstens 10. vielen leuten<br />
ging es ausgesprochen schlecht, wenn geld nicht zum essen taugen würde, <strong>im</strong><br />
gegensatz zu denen, die bereits jetzt mächtig in der tinte sitzen, weil nur besondere<br />
essensmarken was taugen, von denen sie augenblicklich echt wenig in der tasche
5 VOR DEM EINSCHLAFEN 41<br />
haben. bob marley, der alte, tote bob marley, hat sich versungen, oder er hat es<br />
gemeint, wie er es gesungen hat. much money no cry, much money no cry. ich<br />
esse auch auf der stelle einen 200er weg oder mehr, zu 2t geht das pr<strong>im</strong>a, oder zu<br />
dritt.<br />
& zu 4t können wir schon richtig was rund gehen lassen, so wie die jungs,<br />
die in einer seitenstraße der windward um ein rostiges faß stehen, auf das in<br />
hüfthöhe ein brett aufgebockt ist, & das alte mensch-schmeiß-ihn-raus spielen,<br />
mit 2 würfeln & dem 2erblock. nebenan auf der haube eines alten datsun, keine<br />
2 schritte entfernt, wird gepokert, um dollars, jamaican dollars, & <strong>im</strong> caffee an<br />
der ecke zur windward geht be<strong>im</strong> dominospiel bargeld um den tisch. die 4erbande<br />
rollt die klötzer, schüttelt sie best<strong>im</strong>mend, beschwörend, abwägend, fragend, um<br />
<strong>im</strong> richtigen augenblick die geschosse weit vor dem brett zurückzuziehen & die<br />
würfel <strong>im</strong> freien flug segeln zu lassen, so daß sie laut am anderen ende der bande<br />
aufschlagen, wo sie durch die umgewandelte kraft wieder zurückspringen & nach<br />
wirren kreiselbewegungen ihre augen in den mond richten.<br />
ein schlaksiger, junger kerl, vielleicht 14 jahre alt, packt ein abgewetztes ta-<br />
blettenröhrchen in die wurfhand. mit ringfinger & daumen fährt er zu den zwil-<br />
lingen auf dem spielfeld, den anschub von der hüfte in den arm weiterleitend,<br />
greift mit zeige- & mittelfinger die zufallsklötzer wie eine spinne & sackt sie<br />
klick-klack in den becher. er beschwört alle außerirdischen, die er kennt, schiebt<br />
mit der freien hand seine baseballkappe 2mal um den kopf, zischt ein paar worte<br />
& stößt den becher senkrecht auf den tisch. <strong>im</strong> letzten augenblick, um ein foul zu<br />
verhindern, zieht er das blech kurz vor dem harten aufschlag zurück. die 4ecke<br />
tanzen ausgelassen tobend über alle teile des spielfeldes, bis schließlich einer der 2<br />
holzbrüder selbständig & leichtfüßig über den brettrand an mir vorbei unter dem<br />
pokernden datsun auf dem asphalt verschwindet. ich husche nach unten, raffe ihn<br />
auf & werfe ihn schnell wieder ins feld. alte münzen flitzen übers brett & jagen<br />
sich gegenseitig, bis einer ihrer besitzer den holztisch anhebt & die scheinchen<br />
einsteckt, die alle, oder fast alle, vorher hier unten gebunkert hatten.<br />
ich verspüre keine lust, ein spiel zu wagen, auch wenn ich dabei gewinnen kann.<br />
ich bin von haus aus gut gelaunt & gebe nicht gern was her, wenn es um alles, oder<br />
fast alles geht. ich zahl nix fürs vögeln & würde am liebsten überhaupt nix zahlen,<br />
nix fürs spielen, nix fürs essen, nix fürs taxi oder für klamotten & nichtmal was für
5 VOR DEM EINSCHLAFEN 42<br />
den busfahrer. ich bin von haus aus geizig & vertrete die einstellung, alles sollte<br />
umsonst sein, zur freien verfügung, eben materialfreiheit, wie es der baumeister zu<br />
nennen pflegte, absolute, uneingeschränkte materialfreiheit, geplante, geordnete,<br />
verordnete, rationelle materialfreiheit. alles was es gibt, ist sowieso schon da.<br />
wer hätte etwas davon, ein stück papier zu tauschen? was macht das für einen<br />
unterschied, ob ich ein essensmärkchen habe, oder nicht? der unterschied ist ganz<br />
einfach der, daß ich ohne die klausbunten zettel anscheinend kaum was in die<br />
finger kriege, weil eben keine materialfreiheit herrscht, diese ordnende mutter<br />
aller dinge, die ihre kinder nie vergißt, weil alle, oder fast alle, für sie arbeiten,<br />
wenn die alte nicht mehr kann, so wie die für ihre kinder & ihre alten gearbeitet<br />
hat, als sie noch konnte, wollte oder mußte.<br />
der rum ist bereits gebrannt, das zuckerrohr gekocht, das feld geerntet, der<br />
setzling gehegt & der samen ausgesät. wieso scheine tauschen, bevor ich ein au-<br />
to besteige, <strong>im</strong> zeitalter der elektronischen scheckkarte. die richtigen zettel, die<br />
wichtigen zettel sind nichtmal mehr luft. sie sind nix weiter als ein paar ladungs-<br />
unterschiede auf einem leitenden kristall, nichtmal mehr molekülgroß, die reine<br />
information, welle & teilchen zu gleich, oder eigentlich nur ein punkt auf einem<br />
weißen blatt papier, von denen es fast unzählige gibt. die bankräuber von heute,<br />
die mit stil & verstand arbeiten & ihr handwerk verstehen, haben weiße westen<br />
& saubere finger. sie sitzen an strahlungsarmen bildschirmen & verändern die<br />
richtung von informationen, ausgestattet mit einem freien willen, den niemand,<br />
echt niemand zu irgend etwas zwingen kann.<br />
andererseits kenne ich 5 schlagende argumente, die mich leicht von allem<br />
möglichen überzeugen, aufgrund meines freien willens, dessen alleiniger meister<br />
& gebieter ich & nur ich ganz alleine bin.<br />
ich laufe die windward in richtung kingston bis ecke mountainview, wo ein<br />
soundsystem auf dem dach eines 2stöckigen hauses aufgebaut ist. unten auf dem<br />
grund der tatsachen, auf dem lehmigen boden vor dem haus, verkaufen die stra-<br />
ßenhändler aus kleinen karren alles für die nacht, die wie jede nacht gerade erst<br />
begonnen hat. ich steige die breite steintreppe hoch, steige durch eine herbe wolke<br />
pflanzendampf in den ersten stock & weiter bis zum zweiten, dessen dachterrasse<br />
als 150 qm große tanzfläche dient, auf allen 4 seiten durch eine brusthohe mauer<br />
eingeschlossen, mit einem 3 m breiten vorsprung zur straße hin. kurz vor der bar
5 VOR DEM EINSCHLAFEN 43<br />
habe ich meinen touriführer kennengelernt, der mir alles besorgen will, was ich<br />
für diese spezielle nacht speziell brauche.<br />
“réspect man, buy me a beea, man!“ das gute red stripe wird hier für eine<br />
essensmarke ausgegeben, für die ich auch reichlich sticks einkaufen kann. drau-<br />
ßen wummert der laute, langsame reggae & erfreut mich mit dem <strong>im</strong>merguten,<br />
verspäteten peter tosh: I shall sing, as long as I live, as long as I live, I shall sing.<br />
ich frage den dicken hinter dem tresen nach einer leeren flasche, teile mein<br />
jungfräuliches red stripe brüderlich & biete meinem führer eine portion an.<br />
er lehnt entrüstet ab, “no man. 1 man, 1 beea!“ “réspect man, drink with<br />
me!“ sage ich, & als er sich rumdreht & seine riesigen, schwarzen augen mich<br />
unverstanden stehen lassen, leere ich das gekühlte gastgeschenk hinter seinem<br />
rücken in einem langen zug.<br />
vorne an der brüstung, von wo aus die straßenkreuzung & die kneipe ge-<br />
genüber gut einsehbar sind, sitzen ein paar jungs auf der kante, die beine lässig<br />
baumelnd, angelehnt an 4000 watt aus 2 türmen & den resten des baß, der von<br />
der anderen straßenseite rüberweht. dort steht eine schlanke braut <strong>im</strong> weiten<br />
jeansrock unter einem tropenhut, eine reife frucht in meinem alter, mit einem<br />
modell von einer brille. sie rückt ihre bastmütze zurecht & kommt auf das haus<br />
zugelaufen. sie steigt die treppe hoch, lautlos, mit ruhe, sieht sich oben um, &<br />
während sie ihren spliff <strong>im</strong> windschatten der mauer rollt, schaut sie ab & zu über<br />
die schulter. sie hat eine 70er jahre brille auf der süßen nase, golden, eckig, riesig,<br />
das glas über die schläfe gebogen, mit einer extra scheibe für jedes ohr, auffällig,<br />
soulig, um den hals, wie bei meiner alten tante erna, mit einem goldkettchen<br />
gesichert, das von beiden ohren weg über die freie schulter hängt. ich glaube, ich<br />
starre sie an.<br />
“I like your glasses. “ “and I like you.“ “yoh, nes, I like your glasses, really.“<br />
der nachth<strong>im</strong>mel schiebt dunkle wolken vor die sterne. unten auf der straße rät sie<br />
mir, vorsichtig zu sein mit dem rauchen. die bullenwache ist gleich 2 blocks weiter,<br />
& wer weiß schon, was die nacht, die gerade begonnen hat, noch mit sich bringt.<br />
& während sie lachend in die tasche ihres jeansrocks greift, um ein feuerzeug<br />
herauszuholen, segeln sachte ein paar scheine auf den lehmigen boden, der dafür<br />
viel zu schade ist. ohne ihre augen zu verlieren, lasse ich meine hüfte an ihrem<br />
stoff herabgleiten & greife das trockene papierbündel auf der erde. ihr grinsen
5 VOR DEM EINSCHLAFEN 44<br />
wird eine spur breiter. ich werde schon vorsichtig sein. sie sollte aber mindestens<br />
genauso aufpassen wie ich, der ich gerade noch bis zur windward komme, wo ich<br />
mich auf die kniehohe mauer an der bushaltestelle setze, um der einsetzenden<br />
lähmung ein bißchen zeit zu geben.<br />
ich fühle mich völlig schlecht gekleidet in den kurzen hosen, die meine brei-<br />
ten, behaarten beine nicht schützen vor blicken, dreck, verletzungen oder vor dem<br />
näxten abenteuer. ich bin der einzige weiße in diesem teil der windward & viel-<br />
leicht sogar in der ganzen, langen straße, die bis zum flughafen & wieder zurück<br />
zum markt in downtown kingston führt, fühle mich entdeckt, nackt, alleine ge-<br />
lassen, von dir, meiner süßen, die ich erst noch finden muß. ich will den weg<br />
zu grandma zu fuß machen, 300 m am revier vorbei, auf dessen näheren besuch<br />
ich gut verzichten kann, wie ich auf so viele besichtigungen verzichtet habe. mir<br />
kommt ein pulk junger männer entgegen.<br />
die jungs laufen einen ganz anderen stiefel als bei uns in der he<strong>im</strong>at, wo alles<br />
stocksteif stolziert. sie hüpfen mehr & rollen & fallen, alles viel lockerer, schon<br />
wegen der unebenheiten <strong>im</strong> boden, die sie mit der hüfte ausgleichen, & wegen<br />
der unzähligen hindernisse, die mitten auf dem weg auftauchen, manchmal starr<br />
& unbeweglich & manchmal weich wie wasser.<br />
ich schlürfe <strong>im</strong> grell orangen straßenlicht an der wache vorbei, hellblau ge-<br />
strichen, <strong>im</strong>mer offen, <strong>im</strong>mer besetzt, <strong>im</strong>mer angestrahlt, & sehe die brille auf<br />
derselben straßenseite weiter vorne stehen. sie ist mir vorausgegangen & lehnt<br />
an einem geteerten telegrafenmast neben einem bart. ich wanke auf die 3 zu, &<br />
als ihre augen mich 2 schritte entfernt bemerken, lachen sie mich an, während<br />
ich mich bücke, um auf die gläser zu deuten, die sich nicht auf ihrer süßen nase<br />
befinden, sondern versteckt in einer hand sanft an der hüfte des typen lehnen.<br />
“I love your glasses.“ flüstere ich in ihre brille & gehe ein paar schritte in<br />
gebückter haltung, bis ich mich langsam aufraffe & zu grandma he<strong>im</strong> falle, in das<br />
steinhaus, wo sofie & meric für mich wache halten. un jour c’est oui, un jour c’est<br />
non, un jour c’est la question.
6 URLAUB AM ATLANTIK 45<br />
6 urlaub am atlantik<br />
der leibhaftige maxwell smart, der held meiner kindertage, lebt in seinen fil-<br />
men weiter. er kämpft gegen mr. hottentotten, genauer dr. hottentotten, gegen<br />
das böse schlechthin, ausgestattet mit allen, aber auch allen erdenklichen mit-<br />
teln, die einem spitzenagenten seines kalibers, <strong>im</strong>mer sauber, <strong>im</strong>mer korrekt, zur<br />
auswahl stehen, die ihm zustehen, von haus aus, regierungsmäßig & weil die zu-<br />
schauer sowas mögen. maxwell smart, der clevere, smarte klein- & gehe<strong>im</strong>agent,<br />
früher mit dem ausgesprochen nützlichen telefon <strong>im</strong> fußkleid, das ihm unfreiwil-<br />
lig einige aufregende sekunden bescherte, wenn er, anstatt vor seinen verfolgern<br />
reißaus zu nehmen, stehenblieb, um seinen schuh auszuziehen, erst den rechten,<br />
dann den linken, & sich schließlich barfuß seiner verhaftung durch lauten pro-<br />
test widersetzte, heute mit einem halbleiter-microfiber-anzug ausgestattet, der<br />
wie ein stinknormaler, billiger maxwell-smart-anzug daher kommt, aber gleich-<br />
zeitig die rechenleistung eines supercomputers zu wege bringt, etwa die eines pc,<br />
ausgestattet mit einer videokamera <strong>im</strong> ellenbogen & den funktionstasten an den<br />
manschettenknöpfen.<br />
“sprechen sie bitte in meinen ellenbogen, nicht in meinen kragen!“ seine fights<br />
besteht er in einem gesamtkatalog einer alten, ehrwürdigen bibliothek, dessen<br />
schmale gänge durch endlose reihen metallgestelle führen, vollgestopft mit mil-<br />
lionen karteikarten. <strong>im</strong> rechten augenblick weiß smart die schubfächer durch eine<br />
fernsteuerung in seinem anzug derart anzusteuern, daß sie blitzartig aufspringen<br />
& so dr. hottentotten den weg zu seinem opfer versperren. er verdächtigt alle &<br />
jeden, er mißtraut sich selbst & den untertiteln, die ihm zu hilfe eilen.<br />
der mexicanische überlandbus, der mich von guadaljara an den pacific bringt,<br />
ist wie alle, oder fast alle mexicanischen überlandbusse mit video ausgestattet<br />
& zeigt pausenlos einen streifen aus der americanischen puppenkiste, oder eine<br />
echt einfallsreiche, mexicanische komödie, oder eine americanisch-mexicanische<br />
koproduktion, wie sie von staats wegen auf dem gebiet der wirtschaftsbeziehun-<br />
gen verordnet wurde, eine nach unten, da demokratisch, abgesicherte zusammen-<br />
arbeit <strong>im</strong> zusammenwachsen, die absicht & der antrag, demnäxt gemeinsam zu<br />
arbeiten & gemeinsam zu wachsen. ist mexico ein eigener staat oder wollen sie<br />
wie puerto rico in den sternenbanner? keine sorge, volksfürsorge, mexico ist ein
6 URLAUB AM ATLANTIK 46<br />
eigener staat, mit eigenen, eigenständigen bundesländern, die selbst anordnen,<br />
nach oben abgesichert. mexico ist ein eigener staat, mit eigenen scheinen, die der<br />
weltbank gehören, & eigenen einwohnern, die dafür arbeiten, von nord bis süd &<br />
von ost bis west.<br />
ich fuhr mit dem bus von chihuahua bei sternklarer nacht durch die km breite,<br />
endlos lange wüste in einem alten, vorzeitlichen flußbett, das die letzten tropfen<br />
wasser vor jahrzehnten gesehen hatte bis guadalajara, ohne lange wartezeiten,<br />
mit allem, was zu einem guten bus gehört, losgefahren von einem busbahnhof,<br />
von dem americanische busser nur träumen. denver wirkte einsam & verlassen,<br />
klein & provinziell <strong>im</strong> vergleich zu chihuahua. die fahrt ging mit claude vandamme<br />
bis porto valerta an der westküste & weiter nach manzanillo mit maxwell smart.<br />
die küste kündigte sich an, mit orten wie el paraiso, auf einem hügel an einem<br />
bach gelegen, durch eine steile felswand vom meer getrennt, mitten in 1200ern,<br />
die rauh & bedrohlich ihre schwarze wand in den h<strong>im</strong>mel stemmten.<br />
<strong>im</strong> urwald 2 m neben dem asphalt ist krieg, zäher totbringender krieg. alles,<br />
was irgendwie grün ist, wächst, so schnell es geht, als schlingpflanze an stämmen<br />
empor oder n<strong>im</strong>mt schattenspendend anderen das licht. 34tel der biomasse sind<br />
insekten. ich frage den fahrer, was die hellblauen kästen bedeuten, die alle 5 km<br />
neben der straße aufgehängt sind. er sticht mit dem zeigefinger der rechten hand<br />
in den unterarm & macht ein geräusch wie ein moskito, ein häßliches surrendes<br />
brummen, läßt die mundwinkel nach unten fallen & zieht sie an den augenbrauen<br />
wieder hoch. ich verstehe & denke an die malariatabletten in meiner tasche. der<br />
bus hält direkt am wasser einer kleinen hafenstadt.<br />
manzanillo, sauber & weiß gestrichen, mit engen gassen um einen unüber-<br />
windbaren 200er in seiner mitte, am rand von steilen felshängen, verjüngt sich<br />
nach westen hin bis zur eisenbahnlinie. ich komme am frühen vormittag an &<br />
habe genug zeit, mir eine pension zu suchen.<br />
ich werde ins florida einziehen, in den 2ten stock in der gleichnamigen straße,<br />
wo donna rosa tagsüber an einer roten kopfbedeckung arbeitet, um sie ihrer cou-<br />
sine für eine folkloreveranstaltung zur verfügung zu stellen. roter satin gekreppt,<br />
mit einzelnen, handgesteppten rüschen. der fußboden ist in ausgebleichtem, hell-<br />
roten ocker gekachelt, & eine geschwungene, 17stufige treppe führt in den 2ten<br />
stock, der den 3. auf 5 m langen säulen über sich trägt. das haus ist in den
6 URLAUB AM ATLANTIK 47<br />
fels gebaut & bildet ein 3eck von 25 m seitenlänge, vorne mit einem wackligen<br />
metallgeländer zur straße & nach hinten mit einer reihe hellblau gestrichener<br />
steinz<strong>im</strong>mer. manzanillo, an einer 20 km langen bucht gelegen, mit altstadt, in-<br />
dustriegebiet & hotelzone, fein säuberlich getrennt. manzanillo, der urlaubsort<br />
für mexicaner. manzanillo in der vorsaison.<br />
<strong>im</strong> hafen hat ein japanisches schulschiff festgemacht, mit eigener kapelle. in ei-<br />
nem kleinen, für kurkonzerte errichteten, offenen pavillon sitzt die asiatische band<br />
in reih & glied & bläst, gut getr<strong>im</strong>mt, weil viel zeit zum üben, besa me mucho<br />
in bigbandmanier, ganz in weißer seemannsuniform, begleitet von 2 hightech ka-<br />
meras des schiffseigenen videoarchivs, über dutzende reihen klappstühle hinweg,<br />
auf denen die manzanillos unter anleitung der örtlichen behörden mitklatschen.<br />
hier machen mexicaner urlaub, <strong>im</strong> sommer & an weihnachten, wenn die vielen<br />
tausend singvögel <strong>im</strong> park am lautesten kreischen.<br />
ich habe meinen freund in den 2ten stock gehoben, stelle ihn neben den stuhl<br />
in die ecke & ziehe die tasche von meiner schulter. ich lege meine klamotten ab &<br />
dusche mich kalt eine 4tel stunde lang, um den staub & den schweiß aus meinen<br />
poren zu waschen & die muskeln zu lockern, bis ich müde werde & mich auf<br />
das steinbett lege. ich kannte damals die wichtige wirkung des ventilators nicht<br />
& ließ ihn nur ab & an laufen, wenn mir die salzige brühe über die schulter lief.<br />
gewohnt, be<strong>im</strong> schlafen am ganzen körper zugedeckt zu sein, zog ich das tuch, das<br />
mir meine süße aus der he<strong>im</strong>at mitgegeben hatte, über mich & wickelte mich in<br />
langes, seidenes silber aus blaugrünen karos. wir haben die decke oft gemeinsam<br />
benutzt, & sie hat gute dienste getan, als alte, <strong>im</strong>merneue seidenunterlage, &<br />
um den luftzug von den lenden abzuhalten, gerade von den hüften, wenn mein<br />
rücken naß war vom schweiß meiner bewegung unterhalb des 7ten lendenwirbels.<br />
wir haben gezupft & gestoßen, haben uns ineinander gekrallt & verhakt, uns<br />
geschüttelt, uns gegenseitig abgeleckt & aufgegessen, roh, schle<strong>im</strong>ig, saftig, haben<br />
uns geküßt, uns in die augen geschaut & sind dann seite an seite eingeschlafen.<br />
jetzt bin ich alleine mit der seidendecke & der erinnerung, die mir ein kribbeln<br />
über den rücken schickt. ich schlafe ein süßes, aufgeregtes schläfchen.<br />
gegen mittag hole ich mir frische essensmarken für das wochenende. drau-<br />
ßen fällt sonnenlicht durch eine dünne wolkendecke. unter arkaden betrete ich<br />
ein luftgekühltes kellergewölbe an der westseite nahe der eisenbahn. meine augen
6 URLAUB AM ATLANTIK 48<br />
brauchen zeit, um sich an die dunkelheit zu gewöhnen. die junge bankfrau trägt<br />
einen grauen, halblangen rock, der ihre braungebrannten knie frei läßt & sich eng<br />
an ihre weiche hüfte schmiegt. unter der weißen bluse schützt ein spitzenbesetzter<br />
bh ihre brüste vor meinen bewundernden blicken. die formalitäten zur ausgabe<br />
der scheine sind kompliziert, & ich nehme vor ihrem schreibtisch in einem tiefen<br />
sessel platz, während sie mehrmals zum telefon greift, um sich die verschiedenen<br />
ermächtigungen einzuholen. sie steht auf, zupft den hochgerutschten rock züchtig<br />
nach unten & geht zu einem schreibtisch quer durch den raum, deutet mit dem<br />
rot lackierten zeigefinger auf mich & spricht ein paar worte mit dem dicken an-<br />
gestellten <strong>im</strong> grünen ledersessel. er nickt ihr zu, & sie kommt lächelnd zu mir<br />
zurück, & während ich unter ihrem straffen haarknoten die blonden locken erfin-<br />
de, fragt sie mich nach meinem namen, um ihn in ein formular einzutragen & mit<br />
den buchstaben in meinem paß zu vergleichen. sie mustert mich prüfend, & wir<br />
lachen beide. ich frage sie nach ihrem namen. sie heißt anna maria, & sie fragt<br />
mich erneut nach meinem, den ich ihr wiederhole. wir lachen nochmal.<br />
die äußeren enden ihrer dunkelbraunen mandelaugen zeigen leicht nach oben.<br />
sie hält sich die hand vor den mund, beißt auf den rücken ihres zeigefingers &<br />
umschließt ihn mit festen, großen, rotgeschminkten lippen, als hätte sie einen<br />
schmerz verspürt. ich denke sofort an ihre schnecke & sehe die muschel zwischen<br />
ihren schenkeln, dunkel & weich, tief in ihrer hüfte, die rosa grotte, das gefütter-<br />
te schatzkästchen zwischen ihren beinen. sie hat ihr hellbraun gewelltes haar am<br />
hinterkopf zu einem knoten streng zusammen gebunden, mit einer roten schleife<br />
versehen & eine locke an beiden schläfen frei herabhängen. bei jeder bewegung<br />
hüpft eine feder um ihr gesicht. sie steht nochmal auf, um das formular gegen-<br />
zeichnen zu lassen, & ich sehe unter ihrem rock den hüftschwung, sehe den dünnen<br />
stoff, der ihre fleischigen backen halb bedeckt, sehe wie die beiden hautfalten zu-<br />
sammenlaufen & einen kleinen durchlaß bilden direkt unter ihrer muschel, wohl<br />
behütet von ihren eltern, ihren brüdern, ihrer nachbarschaft, ihrem festen glau-<br />
ben & dem städtchen manzanillo, vielleicht ab & an von ihren eigenen, schlanken<br />
fingern liebkost.<br />
als ich anschließend be<strong>im</strong> essen in einer kleinen garküche sitze, an der rückseite<br />
des blocks, in dem sich die bank befindet, sehe ich sie wieder, anna maria, in der<br />
hellen bluse mit dem strahlend jungen lächeln. ich bestelle 2 quesadillos & einen
6 URLAUB AM ATLANTIK 49<br />
salat, & die alte besitzerin des ladens, knochig & fest, mit braun gegerbter haut &<br />
feuer in den augen, demselben strengen zopf & derselben roten schleife <strong>im</strong> haar,<br />
schickt ihren sohn in die küche, um die maisfladen zu backen.<br />
mir gegenüber sitzt eine mexicanische 1-kind-familie, er in jeans, spitzen leder-<br />
stiefeln & strohhut, mitte 30, mit einem schmalen oberlippenbart auf der großpo-<br />
rigen gesichtshaut, sie mit einem blümchenkleid & einer plastik-kroko-handtasche,<br />
randvoll gefüllt. die kleine tochter will nicht am tisch sitzen, wie es kein kind in<br />
diesem alter kann.<br />
“setz dich ordentlich hin! halt still! nein sage ich! ich sage nein! du stehst jetzt<br />
nicht auf! du bleibst hier sitzen!“ der vater hat sich eine fleischsuppe mit reis & die<br />
mutter eine portion tacos bestellt. die tochter darf zusehen, was übrigbleibt vom<br />
teller des vaters, vom großen krug mit eisgekühltem orangensaft, von den tortillas,<br />
die jedes mexicanische essen begleiten & von der geduld des alten, der kurz davor<br />
ist, der kleinen grundlos eine ins gesicht zu schlagen. sie schaut sehnsuchtsvoll zu<br />
mir rüber, blickt mit ihren kinderaugen in meine müden, vom essen & der hitze<br />
ermatteten glotzer & muß sich eine schelte vom vater gefallen lassen.<br />
die alte kommt mit meinen quesadillos. ich rolle den heißen, geschmolzenen<br />
käse zu einer stange, tauche ihn in die scharfe soße & beiße ein stück ab. zäh zieht<br />
der käse einen langen faden aus meinem mund. die kleine lacht mich an, & anna<br />
maria lacht mich an zusammen mit ihrer tischnachbarin, die fast noch hübscher<br />
ist.<br />
“seid ihr schwestern?“ frage ich die beiden.<br />
“ja, das ist meine schwester lucia.“ “wer ist denn die ältere von euch beiden?“<br />
“rate mal.“ “ich hab keine ahnung, du bist die ältere.“ sie lachen beide, so als ob<br />
ich mich mit meiner eigenen frage auf den arm genommen hätte.<br />
“nein, nein, ich bin jünger als lucia. sie ist 19, & ich bin 18.“ ich werde rot.<br />
schweißperlen funkeln auf meiner stirn. anna maria steht auf, beugt sich zu lucia<br />
& gibt ihr zum abschied 2 küsse auf die wangen, während sie mir ihren festen,<br />
runden hintern entgegenstreckt. sie schickt mir <strong>im</strong> weggehen ein lachen zu &<br />
verschwindet ohne sich umzudrehen aus dem offenen raum in den schatten der<br />
arkaden. ihre lenden tanzen beschwingt, bis meine augen sie <strong>im</strong> dunkeln verlieren.<br />
ich überlege, wie ich sie wiedersehen kann. mein hotel hat zur herbstzeit nur<br />
wenige gäste, & ich kann beruhigt mit meinem freund eine gute stunde herum-
6 URLAUB AM ATLANTIK 50<br />
kl<strong>im</strong>pern. ich übe die dur-tonleitern & versuche, einen gleichmäßigen zug für<br />
einen lange gehaltenen ton zu erzeugen. der schweiß rinnt meinen rücken ent-<br />
lang, sammelt sich am hüftdreieck. er läuft an den schläfen herunter bis über<br />
das brustbein. ich spiele ausdauernd, um den juckreiz zu vergessen, der sich nach<br />
jedem mückenstich einstellt. es ist wieder zeit für eine dusche & eine siesta auf<br />
dem steinbett, diesmal mit ventilator. nachmittags gegen 4 uhr, als die tages-<br />
temperatur ihren höhepunkt überschritten hat & die steinwände noch lange die<br />
gespeicherte sonnenwärme abgeben, ziehe ich mir das blau-weiß gestreifte t-shirt<br />
über & den dünnen, grauen anzug, putze meine zähne & die schuhe, kämme mein<br />
haar, um es <strong>im</strong> knoten am hinterkopf zusammenzubinden & mache mich auf den<br />
weg zur filiale, wo anna maria bis 5 uhr arbeitet.<br />
ich komme an den verdunkelten eingang, klopfe feste mit dem rücken meines<br />
zeigefingers gegen die glastüre & warte darauf, daß der wachmann mich entdeckt<br />
& die gnade besitzt zu öffnen.<br />
“está cerado señor!“ “sí, yo sé, quería hablar con una señorina, se llama anna<br />
maría.“ ich deute in den halbdunklen, luftgekühlten bankraum auf die hübsche<br />
kauffrau, die am anderen ende des büros mit einem stapel papier beschäftigt ist.<br />
als sie mich erkennt, schaut sie mich überrascht an, zieht die augenbrauen hoch,<br />
so daß der straff gespannte zopf nach oben wippt, & kommt zu mir an die türe<br />
gelaufen.<br />
“ola, qué tal, michaél?“ “estoy bien & tu, como vas?“ hat sie lunte gerochen?<br />
“bien, tengo que trabajar.“ “hasta qué hora trabajas aquí?“ “hasta las 5. como<br />
estás vestido bien.“<br />
sie n<strong>im</strong>mt mich in meiner lockeren großgrundbesitzerhose hoch. ich werde rot.<br />
das war es. “vamos a tomar un café o algo?“ schlage ich vor. “no puedo. yo no<br />
puedo, mis viejos no me dejan.“ “claro, pero puedes decir, que tengas que trabajar<br />
más, & nos vamos a tomar un café.“ “no, yo no puedo.“ “qué lást<strong>im</strong>a, qué lást<strong>im</strong>a<br />
povrita.“ sage ich & drehe mich betrübt um, den abend in den wind schießend,<br />
um ohne anna maria & ihre süße, fruchtige gesellschaft mit einem caffee & einer<br />
tageszeitung die zeit tot zu schlagen.<br />
direkt am wasser ist ein kleines basketballfeld mit einer 3stufigen tribüne,<br />
auf dem die manzanillos dem schnellen ballspiel zuschauen. ich setze mich ins<br />
publikum & beobachte das gewandte dribbeln halbwüchsiger mädchen, die hastig
6 URLAUB AM ATLANTIK 51<br />
über den steinboden jagen, als wären es keine 30 grad hitze, als ginge es um die<br />
weltmeisterschaft, vollständig <strong>im</strong> spiel versunken, nur auf den platz & den lauf des<br />
balls konzentriert. 2 kleine schiedsrichter in schwarzen uniformen stoppen jedes<br />
foul & jeden schrittfehler mit kurzen, zackigen trillern. die mädchen öffnen dann<br />
schnell die augen & versammeln sich blitzartig um einen erhobenen, männlichen<br />
arm, von dem der große, rote ball auf den steinboden fällt. ein handgemenge<br />
entsteht, bis das spiel wieder fließt.<br />
auf der kreuzung hinter der tribüne regelt ein kurzgewachsener hilfspolizist<br />
in olivgrün den ruhigen verkehr der vorbeiziehenden blechkaravane. er beglei-<br />
tet die spielunterbrechungen mit seiner trillerpfeife. ein wettstreit entsteht un-<br />
ter den 3 uniformen, bis der ehrenamtliche schutzmann, von 2 ehrenamtlichen<br />
sportsmännern geschlagen, aufgibt & sich eine andere ecke sucht, an der er seine<br />
pfeife tanzen läßt. es gab hier keinen verkehr zu regeln, allenfalls den natürli-<br />
chen fluß der autos zu begleiten. mit oder ohne schutzmann stellt mexico in der<br />
mitte der straße eigene autofahrerregeln auf, anstatt sich an den buchstaben des<br />
gesetzes zu orientieren.<br />
anschließend zeigen 2 ältere teams ein paar spielzüge. die jungs lassen den<br />
ball laufen, bis einer der spieler wurfbereit & ungedeckt außerhalb des halbkreises<br />
steht, wo er mit einem blick nach unten die regeleinhaltung überprüft, während<br />
er gleichzeitig die arme über den kopf hebt, um den ball in hohem bogen direkt<br />
in den korb zu werfen. es hagelt applaus & die vorbeifahrenden autos hupen zur<br />
anerkennung.<br />
ich gehe rüber in den winzigen, gut gepflegten park. die mädels, die hier<br />
flanieren, laufen nie alleine, sondern zu 2t, mit einer freundin oder dem lieb-<br />
sten, oder haben die ganze familie als schutzmacht dabei. die vielen bänke aus<br />
weiß gestrichenen holzlatten sind besetzt mit aneinander gelehnten, sehnsüchtig<br />
blickenden pärchen, mit gestenreich redenden, älteren herren, oder mit grüppchen<br />
junger männer, die auf der lehne der bank hocken, die füße auf der sitzfläche, ein<br />
bein auf dem boden. an jeder ecke gibt es eis aus der waffel & was zu trinken<br />
in plastiktüten umgefüllt. mexico erspart sich das pfand & das altglasproblem &<br />
verteilt jeden tag millionen durchsichtiger, handtellergroßer polyethylentüten, die<br />
nach einigen minuten benutzung in der näxten ecke landen, vom winde verweht.<br />
früh am abend gehe ich die straße vom hafen weg ins kleine zentrum, vorbei
6 URLAUB AM ATLANTIK 52<br />
an mexicanischen urlaubern, schlendere durch die unzähligen plattenläden, mache<br />
einen bogen westwärts hinter den steilen fels & folge einer steintreppe, dicht an<br />
wohnhäusern vorbei auf den hügel. oben blicke ich über die lichter der kleinen<br />
stadt, sehe das japanische schulschiff, dessen offiziere bereits wieder an deck sind,<br />
schaue hinter der eisenbahnlinie an der industriezone über den stinkenden, flachen<br />
see bis zu den hotels, die ganz weit am anderen ende der bucht einen schmalen<br />
weißen streifen bilden. ich steige die stufen herab bis in eine seitenstraße, die mich<br />
zum kai bringt. rechts ist eine polizeiwache, links das florida.<br />
ich stehe noch eine weile auf der veranda, vor mir unzählige, faustgroße vögel,<br />
die dicht gedrängt nebeneinander auf stromleitungen zur nachtruhe platz genom-<br />
men haben, tausende & abertausende tagsüber hell kreischender singvögel, die<br />
auf drahtseilen balancieren & nun zum schlafen bereit sind. mein z<strong>im</strong>mer ist karg<br />
& leer, bis auf meinen koffer & das steinbett mit der seidendecke. ich lasse das<br />
licht gelöscht. der widerschein der straßenbeleuchtung wirft ein karomuster durch<br />
das holzgitter über der türe auf meinen nackten körper. während ich an den<br />
spätsommer denke & an anna maria, läuft meine hand zu meinen brustwarzen,<br />
& mich überkommt sehnsucht nach ihrem körper. ich suche die runde schulter<br />
der buchhalterin, an der ihre bluse herabgleitet, während ich ihren knoten <strong>im</strong><br />
haar löse, um ihr unhaltbare versprechungen ins ohr zu flüstern. sie hilft mir, den<br />
verschluß ihres bh zu öffnen, dessen haken ich in der aufregung nicht zu fassen<br />
kriege. ich greife mit einer hand um ihre runden hüften, hinter ihr auf dem bett<br />
sitzend, schiebe meinen schoß fest an ihre wirbelsäule & küsse sie auf die schläfen,<br />
während sie eine hand in meine lenden gleiten läßt & mein pferdchen aus dem<br />
stall führt. wir drehen uns zueinander, sie legt ihre nackte haut auf meine brust,<br />
& ich spüre ihre festen warzen, die sich mir entgegenstrecken & in kreisenden<br />
bewegungen an mir reiben, spüre ihre feuchte hüfte, die sich über mich schiebt<br />
& mich reitet. meine hände tasten der empfindsamen haut ihrer innenschenkel<br />
entlang, drücken sie gegeneinander & ziehen sie sanft zur seite, so daß ein finger<br />
platz findet unter ihrem höschen, um bis an ihre nasse spalte zu fahren & mit<br />
der kuppe an den eingang ihrer rosenbewachsenen grotte zu fühlen. ich öffne die<br />
höhle hinter der dichten hecke einen spalt breit, während meine zähne in ihre lip-<br />
pen beißen. ich reibe meine kirsche, bis die milch überkocht & warm aus meiner<br />
hand quillt. alleine schlafe ich ein.
6 URLAUB AM ATLANTIK 53<br />
am anderen morgen nehme ich den stadtbus nach westen richtung santo fran-<br />
cisco, vorbei am rotweiß gestrichenen schlot des kraftwerks neben dem frachtha-<br />
fen, der mit türmen großer container zugestellt ist, vorbei am knietiefen brack-<br />
wasser, bis in die mitte der km langen reihe weißer, 8stöckiger hotelbauten. am<br />
h<strong>im</strong>mel stehen wolken & eine brise bläst vom meer landeinwärts. ich laufe durch<br />
einen schmalen durchgang zwischen häuserwänden bis zum sandstrand, der um<br />
11 uhr morgens bereits glühend heiß ist. die halbrunde bucht erstreckt sich hier<br />
auf 5 km nach beiden seiten entlang einem 50 m breiten sandstreifen, zur straße<br />
hin von hotels & privaten apartmenthäusern abgeschirmt. der oktober ist kein<br />
bademonat für mexicaner, obwohl das wetter dazu einlädt. die letze nacht war<br />
neumond, der die wellen hoch über den steilen strand schiebt, so daß sie wie eine<br />
silberne wand auf 300 m gleichzeitig brechen. die gegend ist menschenleer, bis auf<br />
einen sonnenschirm, unter dem ein mann sitzt. jorge arbeitet 7 tage die woche<br />
von 9 bis 5 als bademeister. ich habe mich bis auf die badehose ausgekleidet &<br />
meine sachen unter den schirm gehängt, wo mir jorge den 2ten stuhl anbietet. er<br />
ist tiefbraun gebrannt, 35 jahre & hat 5 kinder mit seiner frau maria, mit der er<br />
in freier ehe lebt.<br />
“el amor libre está mejor, sin papel, completamente libre.“ er zeigt auf einen<br />
punkt am westende der bucht, eine felsgruppe, dem festland vorgelagert, der den<br />
wendekreis der sonnen <strong>im</strong> sommer markiert.<br />
“wenn der fixstern diesen punkt passiert hat“, erklärt er, “beginnt er seine<br />
reise zurück, bis über das große weiße hotel weiter <strong>im</strong> inneren der bucht. das ist<br />
der wendepunkt <strong>im</strong> winter. von hieraus wandert die sonne wieder südwärts.“<br />
jorges kinder kommen zu ihm gelaufen, mario, norma & ja<strong>im</strong>e. sie bringen<br />
ihren muschelschatz mit, & wir beginnen gemeinsam, die findlinge zu zählen.<br />
“uno, dos, quatro, seis.“ “pero así no se puede contar.“ mario lacht ver-<br />
schmitzt. er ist 5 jahre alt, hat dichtes, kurzgeschnittenes haar & geht noch nicht<br />
in die schule.<br />
“uno, dos, seis, quatro.“ wir lachen & beginnen von vorne. norma kommt zu<br />
uns herübergelaufen, lehnt sich über ihren bruder & hilft uns be<strong>im</strong> zählen.<br />
“1, 3, 5, 2.“ nochmal, so wird das nix. beide lachen laut, während die<br />
zahlwörter in wilder reihenfolge durcheinander fliegen, dabei ein paar muscheln<br />
aus dem schatz verschwinden & wieder zurückfallen, bis das tuch leer ist, & wir
6 URLAUB AM ATLANTIK 54<br />
von neuem beginnen.<br />
“uno, dos, tres, cinco, seis, qautro, seis, dos, nueve.“ norma, die jüngere der<br />
beiden, malt ein schiff in den sand, während mario versucht, seinen namen zu<br />
schreiben. norma macht es ihm nach & schreibt das N spiegelverkehrt. jorge hilft<br />
ihr geduldig, die sonnenbrille in die pechschwarzen haare geschoben.<br />
die wellen schlagen hoch & laut vor uns zusammen & erzeugen eine feine,<br />
salzige gischt, die der wind kühlend zu uns herüberweht. ich möchte gerne baden,<br />
traue mich aber alleine nicht ins meer. ich laufe runter bis ans wasser. von hier<br />
aus scheinen die wellen über meinem kopf zusammenzuschlagen, als wollten sie<br />
mich mitreißen, hinaus ins meer tragen, unter ihrem weißen schaum begraben,<br />
mich heumrwirbeln, bis ich vergesse, wo oben & unten ist & mich willenlos den<br />
kräftigen strudeln ergebe. jorge erklärt mir, daß es hinten dran ruhig sei. nur das<br />
erste stück würde hart. er bietet an, mit mir ins wasser zu kommen. ich bin zu<br />
faul & zu feige, um mich der anstrengung auszusetzen, die es kostet, sich durch<br />
die fallende wand zu kämpfen.<br />
von osten kommt eine 3er gruppe den strand entlanggelaufen, kaum knietief <strong>im</strong><br />
wasser, gegen das gleißend helle sonnenlicht als leuchtende punkte zu erkennen, &<br />
als eine welle hoch vor ihnen zusammenschlägt & mit ihrer gewalt in sekunden den<br />
steilen strand überflutet, stehen die 3 mit einem mal bis zur hüfte <strong>im</strong> meer, müssen<br />
gegen den abfließenden sog kämpfen & können sich unter lautem gekreische an<br />
den strand retten. einer der 3 hatte seine kamera an den gürtel gebunden &<br />
begutachtet jetzt den schaden.<br />
gegen 2 uhr nachmittags, nachdem ich mich nur kurz aus dem schatten des<br />
sonnenschirms getraut habe & meine haut dennoch spannt wie ein gebügeltes<br />
bettuch, ziehe ich meine klamotten an & fahre mit dem bus zurück in die alt-<br />
stadt. die winzigen spiegelflächen der unzähligen sandkörner zusammengenom-<br />
men verstärken die kraft des sonnenlichts um ein vielfaches über seine übliche<br />
wirkung hinaus & haben mich feuerrot gebrannt. übermorgen werde ich den zug<br />
richtung colma nehmen, um 6 uhr früh, vom einzigen gleis, das in manzanillo<br />
beginnt.
7 IN NINAS HÜTTE 55<br />
7 in ninas hütte<br />
die süße nina, deren bienengeruch mir jetzt fehlt, hat mich am abend nach bernds<br />
abschiedsfeier bei justus angerufen, um sich nach mir zu erkundigen & mit mir<br />
in boulder auszugehen. wir verabreden uns in der microbrewery <strong>im</strong> oasis um<br />
10, & ich bin rechtzeitig da, in meinem hellgrauen kolonialanzug, die haare <strong>im</strong><br />
knoten zusammengebunden. als ich den laden betrete, ist der tresen leer & <strong>im</strong><br />
hinteren raum spielt eine folkband ihr donnerstag-nacht-programm, umringt von<br />
klatschenden collegekids. ich hocke mich an den tresen & bestelle einen leckeren<br />
gin tonic, prüfe mit einem rundblick den laden & warte auf nina, in der hoffnung,<br />
daß ich ihre nachricht richtig verstanden habe & wir tatsächlich hier um 10 auf<br />
einen drink verabredet sind.<br />
2 hochgewachsene, gut gekleidete jünglinge suchen sich neben mir an der<br />
bar einen platz, & der kurzhaarige der beiden fragt mich, ob der hocker neben<br />
mir frei sei. ich verneine, da ich ihn für nina freihalte. er blickt mich fragend<br />
an, murmelt ein paar worte mit unbekanntem akzent, schaut irritiert zu seinem<br />
kumpel & bedeutet mir, er habe nix verstanden. wir stellen uns gegenseitig vor. er<br />
heißt peter & studiert alternative medizin in denver, lebt hier in boulder, n<strong>im</strong>mt<br />
kurse am buddhistischen niropa-institut, dessen besitzer in den 70er jahren ihre<br />
schäfchen ins trockene brachten, als sie mitten <strong>im</strong> zentrum, ein paar blocks neben<br />
der mall, mehrere große <strong>im</strong>mobilien erstanden, kurz bevor die stadt beschloß,<br />
geographisch nicht mehr zu wachsen & die blue line um ihre grenzen zog. dies<br />
hatte zur folge, daß die zahl der ausgewiesenen baugrundstücke beschränkt blieb,<br />
nicht jedoch ihr preis, der <strong>im</strong> lauf der jahre um mehrere 100 prozent stieg. das<br />
niropa bietet kurse in yoga, intuitivem atmen, in kräuterheilkunde, selbstfindung,<br />
aquarellmalen & in indischer musik, in fußzonenreflexmassage, in indischem tanz,<br />
in aromatherapie & in seidenmalerei. peter belegt akupunktur.<br />
es ist bereits 20 nach 10, mein erster gt geht zur neige, & ich beginne, unruhig<br />
<strong>im</strong> raum hin & her zu schauen, ob ich nina nicht irgendwo zwischen den leeren<br />
tischen übersehen habe. eine frau am fenster wartet gelassen auf ihren bekannten.<br />
ich gehe an ihr vorbei zur tür, nicke ihr kurz zu, schaue über die 13te straße &<br />
setze mich wieder auf meinen hocker an die bar. die frau mit den dunkelbraunen<br />
haaren, die alleine am fenster wartet, könnte nina sein. aber sie sah bei bernd ganz
7 IN NINAS HÜTTE 56<br />
anders aus, viel wilder & unkonventioneller, ohne sauber gekämmte haarpracht,<br />
die ihr jetzt rotbraun glänzend über die schultern fällt. sie schaut mich fragend<br />
an. ich gehe langsam auf sie zu, um sie nach nina zu fragen, als sie mich anspricht,<br />
mit der herrlich rauhen reibeisenst<strong>im</strong>me & den dunklen, fordernden augen.<br />
“I’m sorry about that, I didn’t recognize you at all.“ sage ich. “no problem,<br />
I thought you’d come soon after you just gave me a sign. how are you michael?“<br />
“I’m fine, but I’m sorry, I made you waiting here.“<br />
wir setzen uns zusammen an die bar, unterhalten uns mit dem jüngling über<br />
unterschiedliche, medizinische ansätze, den westlichen & den östlichen, über die<br />
marktchancen neuer heilprodukte & über ninas batikkunst. der laden macht um<br />
11 zu, & ich biete ihr an, sie nach hause zu begleiten auf die weltweit bekannte<br />
tasse tee. wir laufen die 13te hoch bis zur aristoteles, biegen rechts ab & treffen<br />
nach 3 straßen auf den grand view, wo hinter einer häuserreihe versteckt, von<br />
den blicken der nachbarn abgeschirmt, ninas kleine wohnung <strong>im</strong> souterrain eines<br />
einstöckigen hauses liegt, das mit 3 anderen einen kleinen, grün bepflanzten hof<br />
bildet. sie schließt die eingangstüre auf & steigt die schmalen stufen in ihre küche<br />
herab, wo das geschmolzene wachs in einem metallkessel seinen beißend süßen<br />
geruch verströmt.<br />
hier wohnst du also, du süßes tierchen. an einer schnur über dem gasherd<br />
hängen getrocknete blumensträuße, jeder eine kleine kostbarkeit. am türpfosten<br />
sind postkarten mit farbdrucken von meisterwerken moderner kunst angepint. der<br />
küchentisch ist mit einem farbdurchtränkten karton bedeckt, auf dem joghurtbe-<br />
cher mit dunklen flüssigkeiten stehen. wachsverklebte pinsel & kleine, schmutzige<br />
stofflappen liegen überall herum. ihr schlafz<strong>im</strong>mer, direkt neben der küche, ist<br />
bis unter die decke mit stoffresten angefüllt, ihren eigenen klamotten, geliehenen<br />
sachen & alten kleidungsstücken, die irgendwann mal zu zauberhüten verarbeitet<br />
werden. an der wand neben dem schreibtisch stapeln sich kassetten in 5er reihen.<br />
ich setze mich auf das große futonbett mit der batikdecke & warte auf den tee,<br />
den nina uns macht. <strong>im</strong> kühlschrank, der wie alle americanischen kühlschränke,<br />
oder fast alle, riesig groß & vollgestopft ist, hat sie einen leckeren käse-auberginen-<br />
auflauf entdeckt, mit viel knoblauch & einer dicken tomatensoße. ich bin etwas<br />
overdressed in der kleinen, unaufgeräumten hütte, habe meine schuhe ausgezogen<br />
& mich quer zu ihr aufs bett gelegt. will sie oder will sie nicht? un jour c’est oui,
7 IN NINAS HÜTTE 57<br />
un jour c’est non, un jour c’est la question. ich werde gleich meine nase in ihr ohr<br />
stecken, genüßlich an ihrem haar riechen, meinen atem über ihren nacken pusten<br />
& sanft in die zarte muschel beißen, wenn ich den mut dazu aufbringe.<br />
“ich muß bald gehen ...“ sage ich. “... sonst ...“ “was sonst?“ “sonst will ich<br />
... vielleicht gar nicht mehr weg.“ “dann gehst du vielleicht besser gleich!“<br />
ich idiot, wo ist die unverschämte annäherung an ihren hals, wo ist die freche<br />
riechgeste, wo der sanfte biß, von dem ich geträumt habe? so, mein lieber, wird<br />
das nie was, so steif & unbeweglich, darauf bedacht, sich keine blöße zu geben &<br />
keine schwäche zu zeigen, die verletzt werden könnte. warum hast du, mein engel,<br />
mir noch nicht dein zutrauen gelehrt & deine geduld, deine leichtigkeit & dein<br />
einfühlungsvermögen. warum muß ich so lange ohne dich ausharren in meiner<br />
kleinen, zugeknöpften welt?<br />
ich ziehe die schuhe wieder an, hole mein sakko vom küchenstuhl, hänge es<br />
mir über die schulter & gehe langsam die treppen rauf, an der letzten stufe auf<br />
nina wartend. als sie mir die schmale stiege herauf folgt, sich <strong>im</strong> dunkeln an<br />
mir vorbei tastet, recke ich in einer ansatzlosen bewegung meine nase an ihr ohr,<br />
angezogen vom süchtigmachenden bienengeruch ihrer haut, ziehe einen tiefen zug<br />
ihres duftes ein & blase ihn sanft über ihre nackenwirbel, während ich nach innen<br />
in mich hineinlache, über die unverfrorenheit & die lust, die diese zutraulichkeit<br />
uns beiden bereitet. sie zieht mich zu sich, um mich mit sagenhaften kräften an<br />
sich zu drücken, feste an ihren starken körper zu pressen, der sich augenblicklich<br />
zu lösen beginnt & breiter & ausladender wird & mich umschließt.<br />
“noch eine abschiedszigarette.“ “o.k.“ wir setzen uns auf den leeren bierka-<br />
sten vor dem eingang, ich das sofa, & nina, das kissen, ihr dicker hintern warm<br />
auf meinem schoß, träumen wortlos in die nacht von dingen, die wir nicht ge-<br />
macht haben & vielleicht noch tun werden, ziehen tief an der giftigen zigarette<br />
& umarmen uns wie 12jährige.<br />
“you better go now.“ “I could stay with you, if you want.“ “no, it’s better you<br />
go now, another t<strong>im</strong>e, next t<strong>im</strong>e.“ ich hebe unsere beiden körper in einer langsam<br />
balancierten bewegung in den stand, setze sie auf ihre füße & küsse zum abschied<br />
ihr gesicht.<br />
“will you call me tomorrow?“ “yes, I definitely will, at about 6.“ “o.k., I wait<br />
for your call.“
8 EIN KLEINER ZUG 58<br />
vor uns hat sich in 3 m entfernung unter dem rosenstrauch ein katzenartiges<br />
tier <strong>im</strong> dunkeln angeschlichen, schwarz mit weißen streifen.<br />
“watch out, it’s a skunk!“ ich verstecke mich hinter nina, die mich sofort beru-<br />
higt & mich bis zum ausgang ihres gartens begleitet, alleine zurückbleibend in der<br />
spätsommernacht, deren sterne hoch über uns hell aufleuchten, jeder einzelne das<br />
zeichen einer sehnsucht, die nur menschen kennen, einer treibenden ahnung, einer<br />
unscheinbaren erregung, alleine <strong>im</strong> unendlichen raum, unerreichbar durch ewige<br />
weiten voneinander getrennt. morgen, wenn die erde sich von neuem der sonne<br />
zugewandt hat, wenn die nacht zum tag geworden ist & ihre endlos erscheinende<br />
dunkelheit sich in licht auflöst, wenn der gesichtslose traum, den keiner erinnert,<br />
seinen kaum spürbaren einfluß verliert, & die menschen erwachen mit der hoff-<br />
nung der arglosen, werde ich wie alle anderen mein kleines tageswerk beginnen &<br />
dabei nicht zurückschauen, die augen starr nach vorne gerichtet, ohne die gewiß-<br />
heit zu beenden, was ich begonnen habe. ich werde mich frisch fühlen & stark,<br />
werde die spuren der einsamkeit dem wind überlassen & werde, weil mir keine<br />
andere wahl bleibt, glücklich sein. morgen.<br />
8 ein kleiner zug<br />
an diesem sonntag morgen kann ich einen sitzplatz erwischen. die strecke geht<br />
steil in die 1400 m hohen berge, langsam & stetig von einer diesellok gezogen,<br />
an schmalen streifen gelber blumen vorbei, die ihre köpfe gleichmäßig <strong>im</strong> mor-<br />
genwind wiegen & uns freundlich zunicken, auf engen, in den felsen gesprengte<br />
trassen, die gerade den gleisen & den waggons platz bieten, durch kurze tunnel,<br />
die ein tal mit dem näxten verbinden & über rostige eisenbrücken, die schnell<br />
fließende, reißende wasser überqueren. weit unten wälzt sich ein brauner, wilder<br />
strom durch den fels, schlägt gegen steinwände & wühlt schlammigen, roten bo-<br />
den auf. hell klirren die schienen unter der langsamen fahrt. ich sehe aus dem<br />
offenen fenster die waggonwand herab, zwischen den schwellen hindurch auf den<br />
schroffen stein. weiter abwärts rostet einsam ein zerbeulter waggon kopfüber auf<br />
einem felsvorsprung, auf halbem weg ins wasser zum liegen gekommen. er erin-<br />
nert an ein unglück, das sich vor einem jahr auf dieser brücke ereignet hatte.<br />
bei jedem ruck warnt uns die alte konstruktion mit einem krachen. die cañons
8 EIN KLEINER ZUG 59<br />
hier sind 300 m tief & erheben sich senkrecht als schwarze wände. feuchte, grüne<br />
urwälder, pflanzen <strong>im</strong> ständigen kampf, schlingpflanzen, die aasfresser der ve-<br />
getation, überwucherte baumkrüppel & farne, die hoch oben in den kronen der<br />
riesen eine he<strong>im</strong>at finden, dort, wo weberameisen aus unzähligen ästen ihre kolo-<br />
nien nähen, wechseln mit blankem, schwarzgrauen fels, vom regen glatt poliert.<br />
überall sammelt sich wasser auf den dächern der cañons, sucht einen weg runter<br />
ins tal & fällt in endlosen, weißen strahlen nach unten.<br />
an jeder station füllt sich der zug. wir haben zeit, die waren der unzähligen<br />
händler zu begutachten, die ihre körbe durch den engen gang tragen, laut schrei-<br />
en, jeden fahrgast einzeln auffordern, ihn bitten & anflehen, etwas zu kaufen,<br />
geschälte orangen, tacos, duritos, in jeder form & mit allen erdenklichen füllun-<br />
gen, süße karamelriegel aus milch & zucker, maisplätzchen & camaroncocktail.<br />
hinter colma wird das gelände flacher. die steilen, engen felswände weiten<br />
sich zu breiten tälern, & wir erreichen die hochebene <strong>im</strong> inneren des landes. hier<br />
wird mais angebaut, der in stolzem dunkelgrün auf den feldern steht, gekrönt<br />
von einem rötlichen schleier feiner haare. yucca zieht sich in sauber angelegten<br />
reihen gleichen abstands über das rotbraune land, dunkler <strong>im</strong> grün als der mais<br />
& blasser in der farbe, dafür dicker <strong>im</strong> fleisch, mit kronenförmigen kränzen aus<br />
stacheligen schwertern. der zug bummelt durch die helle, glühende hochebene,<br />
an deren wasserstellen schwärme weißer reiher <strong>im</strong> knöcheltiefen sumpf nach nah-<br />
rung suchen, von träge äsenden kühen bestaunt, vorbei an km langen zäunen aus<br />
lebenden kakteen, kleinen tümpeln, moosgrün mit punktalgen abgedeckt, an de-<br />
ren rändern smaragdfarbene libellen ihren flug üben, umgarnt von zitronengelben<br />
schmetterlingen, die wie blätter <strong>im</strong> wind treiben, nicht größer als daumennägel.<br />
der zug hält für jedes stück rindvieh auf den gleisen, jede siedlung in der ferne,<br />
jede ansammlung weißer, einstöckiger häuser. bauern transportieren ihr getreide<br />
in die stadt, kinder besuchen ihre urgroßeltern <strong>im</strong> krankenhaus, liebhaber treffen<br />
ihre süßen, & die unzähligen händler verdienen ein zubrot.<br />
aus 20 km entfernung kündigt sich guadalajara in der hochebene an, mit einer<br />
industriezone <strong>im</strong> westen, mit großräumigen, auf weitem gelände gebauten, ver-<br />
lassenen fabrikhallen, staubbedeckt & zementfarben. die bahn hält neben grauen<br />
hütten aus hohlblocksteinen, die direkt an den gleisen eine siedlung bilden. die<br />
lok pfeift, die bremsen schreien, die wagenfedern klatschen, & ich rieche hinter
8 EIN KLEINER ZUG 60<br />
mir den guten waldgeruch eines guten waldhorns, in der hitze des frühen sonntag<br />
vormittags <strong>im</strong> überfüllten bummelzug.<br />
in 2 wochen hat mich in mexico niemand, aber auch wirklich niemand damit<br />
behelligt, die gute maría zu kaufen, & ich selbst war zu faul, um mich eigenfüßig<br />
auf die suche zu machen. ich drehe mich um & spüre den süßlich beißenden geruch<br />
des echten, guten patex in meiner nase, wie alle erfrischungsgetränke in mexico<br />
einfach aus einer plastiktüte zu genießen, diesmal in einem ehemals durchsichtigen<br />
polymersäckchen samt seinem klebstoff<strong>im</strong>itat, deren 2 besitzer gerade meinen<br />
ersten, ausgelassenen grasjoint wegrauchen & zwischendurch klebstoff schnüffeln,<br />
hastig & unsicher.<br />
beide tragen wollpulover, beide über einem hemd, das durch ein fadenscheini-<br />
ges strickwerk hindurchscheint, der eine mit strohhut, der andere mit bart, beide<br />
mit rot unterlaufenen, leeren augen & beide in guter, mexicanischer mariachi tra-<br />
dition gute mexicanische musikanten, mit leib & seele & dem herz & dem mund.<br />
der bart, der die nummer bereits kennt & sich vorsorglich einen extrazug aus<br />
beiden tüten gönnt, schaut den strohhut an & lächelt ihm zu. der erhebt sich<br />
mit einem erstaunen darüber, daß der erste schritt so einfach zu tun war, daß<br />
er auf den 2ten nicht lange warten läßt. seine st<strong>im</strong>me steigt hoch, mächtig hoch<br />
& beginnt in einem hellen ton, dünn wie espenlaub, eine moritat aufzusagen &<br />
gleichzeitig zu singen, ohne dem äußeren ohr zu lauschen, ganz auf die innere<br />
absicht konzentriert. die fahrgäste schauen gelangweilt aus den fenstern.<br />
draußen startet zur rettung <strong>im</strong> selben augenblick ein durchdringendes krei-<br />
schen aus dem benachbarten fabrikgelände, alles überlagernd & einstampfend,<br />
was der strohhut an zarten augenbewegungen seinem gesang beigibt. die beiden<br />
putzig geschmückten, 12jährigen menarchen neben mir kichern unverhohlen. der<br />
strohhut nutzt die geräuschwand, um sich nochmal zu besinnen, den bart fragend<br />
anzuschauen & dessen gelangweiltes lächeln zu bestätigen.<br />
“si tu me quieres, como te quiero ...“ ein bekannter, mexicanischer gassen-<br />
hauer, echt mariach<strong>im</strong>äßig, mit der klebrigen dur-terz obendrüber. der strohhut<br />
versucht, beide st<strong>im</strong>men zu singen, ist nach der tüte & dem horn etwas entschei-<br />
dungsschwach & landet schlicht in der mitte. auch gut. in einem langgezogenen<br />
schlußre<strong>im</strong> macht er das stück unkenntlich.<br />
die reisenden bemühen sich, den verlausten gestalten mit den traurigen au-
8 EIN KLEINER ZUG 61<br />
gen auszuhelfen & ihnen mit ein paar pesos das weiterleben & fortkommen zu<br />
ermöglichen. einer der sänger schweigt beharrlich, ohne einen gedanken daran<br />
zu verschwenden, dieses zugabteil jemals wieder zu verlassen, wo beide für ihre<br />
bewundernswerte mariachikunst so reichlich entlohnt werden. das aufheulen der<br />
vorbeiziehenden fabrikanlage gibt allen eine schonfrist. jeder schaut zum fenster<br />
& sucht nach den ursachen des lärms.<br />
die singenden vagabunden, deren einer teil hinten <strong>im</strong> zug seiner inneren st<strong>im</strong>-<br />
me lauscht, während der andere nichteinmal seiner äußeren zuhört, sehen in ihrer<br />
zerlumpten tracht, den struppigen, schwarzen haaren, dem leeren, glücklosen blick<br />
& dem hunger unter den nägeln gefährlich aus. sie sind nicht von derselben welt<br />
wie die gemeinde der sonntagsreisenden. sie lieben keine ordnung & keine saube-<br />
ren klamotten, lieben keinen geregelten tagesablauf & keine sichere anstellung,<br />
kein gutes essen & keine seife, sondern lieben geisteszustände, in denen anständi-<br />
ge christenmenschen lieber tot als lebendig vor ihrem außerirdischen stehen, in<br />
denen sich unsereins als normaler mensch mit normalstuhl nicht zurechtfinden<br />
würde, weil zu ungewiß & zu ungenau, oder, wie gr<strong>im</strong>melshausen sagen würde,<br />
zu ohnsicher & ohngewähr. der strohhut sammelt, vom bart daran erinnert, denn<br />
er hat sich in seinen eigenen vortrag verknallt, einige pesos ein, & ich kann nicht<br />
umhin, meinen dürftigen beitrag zu leisten, wie ich fast jede art von musik un-<br />
terstütze.<br />
sollte ich jemals zum oberkommandierenden eines landes berufen werden, was<br />
ziemlich ausgeschlossen ist, dann nur unter der voraussetzung, daß die wehrpflicht<br />
aufgehoben, & statt dessen eine musikpflicht eingeführt wird für alle jungen leute,<br />
mindestens ein jahr lang zur verteidigung der kultur. die instrumentengattung<br />
wäre frei wählbar, der unterricht allerdings pflicht. & nach einem jahr müßten<br />
die frisch gebackenen musikanten von ihrem können eine kostprobe geben vor<br />
versammeltem volk, zum ergötzen aller & zur verteidigung der kultur.<br />
dieser plan ist weder in mexico noch in sonst einem land der runden, sich<br />
drehenden erde durchgesetzt. der strohhut & der bart schätzen die geduld des<br />
publikums & seine zahlungsmoral richtig ein & verlassen den zug rechtzeitig 200<br />
m vor dem halt auf dem hauptbahnhof in guadalajara, steif & gelähmt die kan-<br />
tigen stufen der eisentreppe hinabfallend, die auf den rauhen, langsam vorbei-<br />
ziehenden betonboden führt, wo sie gegeneinander prallen wie mehlsäcke & sich
9 HEISSER MILCHCAFFEE 62<br />
gegenseitig schubsen, daß eine staubwolke sie einhüllt. ich packe meinen freund<br />
den kofferwagen & suche einen gleisübergang.<br />
9 heißer milchcaffee<br />
die eindrücke von cuba & der alltäglichen materialsuche der cubaner verdrängten<br />
für 3 wochen mein augenleiden, den stechenden schmerz in der rechten herzkam-<br />
mer, den juckreiz des hautpilzes zwischen meinen zehen, das rückenleiden & die<br />
faulen zähne.<br />
“ich habe dir einen fisch zum abendbrot versprochen & hier ist er“, sage ich <strong>im</strong><br />
öligen licht der petroleumlampe & bringe uns einen teller mit reis & fischstücken &<br />
einen teller kohlsalat mit knoblauch, & während ich uns 2 gläser kalten jasmintee<br />
auf den tisch stelle, mit zitrone gewürzt & mit zucker gesüßt, beginnt maina<br />
bereits mit dem essen. es ist ziemlich warm in der wohnung, nur ein leichter luftzug<br />
geht durch die <strong>im</strong>mer offenen, glaslosen fenster. kurz bevor wir zu ende gegessen<br />
haben, kommen wilfredo & sein freund nach hause, begrüßen uns herzlich &<br />
zeigen maina die küche. sie bewundert den elektrischen reiskocher, der mit druck<br />
arbeitet & nur gegen welttaugliche essensmarken zu haben ist. wilfredo macht<br />
uns einen starken, cubanischen caffee, bei dem der zucker nicht fehlt. wir nehmen<br />
die tassen mit in mein z<strong>im</strong>mer, das ich von den beiden gemietet habe, gehen um<br />
die flache holzsitzecke mit dem fernseher, der ständig läuft, am eisengitter vorbei,<br />
das die eingangstür aus glas sichern soll & jetzt als regal für liebevoll drapierte<br />
stoffpuppen dient. in der türschwelle sage ich den beiden, die sich in der küche<br />
den reis & den restlichen fisch warm machen, guten appetit, & sie lachen laut &<br />
wünschen uns das gleiche. maina legt sich sofort auf mein bett, & ich schmiege<br />
mich an sie, um für eine zeit lang neben ihr auszuruhen. wir müssen eine weile<br />
geschlafen haben, denn als wir aufwachen, ist der fernseher aus & das radio läuft<br />
in der küche.<br />
“tienes un pleselvativo aquí?“ “si, pero no ahora.“ “no, todavía no, papi.<br />
vamos a hacel el amol!“<br />
ihre flache nase, die vielleicht flachste nase der welt, über meinem haar, küßt<br />
maina meine stirn & meine augen, greift mit der linken hand meinen nacken &<br />
schiebt ihren schlanken körper über mich. ich bin rücklings ausgestreckt auf dem
9 HEISSER MILCHCAFFEE 63<br />
bett. schlaftrunken spüre ich ihr gewicht auf mir, ihre kleinen, weichen brüste &<br />
ihre leicht kreisenden hüften, deren kurze stöße mein pferdchen wecken, das sich<br />
langsam aus dem stall macht, die runde, sich drehende erde zu sehen. ich strecke<br />
die arme nach oben aus & ergebe mich, so daß unsere augen zeit haben, sich zu<br />
verabreden.<br />
wir streifen uns beide die hemden über den kopf & schmieden ein geflecht<br />
aus warmer haut. ihre cacaofarbenen knospen fahren mein brustbein entlang &<br />
werden dabei hart wie lederknöpfe. warm jagt ihr das blut die halsschlagader<br />
herauf. ich küsse die dunkle haut hoch bis zum haaransatz hinter dem ohr. in<br />
meinem schritt drückt ihr knie aus ebenholz gegen meine marmorsäule. wir ma-<br />
chen gleichzeitig 3 kurze fickbewegungen & lachen beide laut.<br />
“todavía no, mami.“ maina streift sich hastig die radlershorts ab, & ich ziehe<br />
meine jeans aus, so schnell ich kann. wir richten uns <strong>im</strong> hocken auf, wie 2 schlan-<br />
gen, die kämpfen wollen, & drehen uns gegeneinander, die knie überkreuzt, so<br />
daß sie <strong>im</strong> schritt reiben & sich zwischen die beine graben. mainas hand gleitet<br />
meine milchige flanke entlang nach unten über den hüftknochen & greift sich die<br />
rohe banane vor ihrem knie, um sie mit den fingerspitzen zu drücken, bis sie in<br />
der schale 2 winzige, durchsichtige tropfen süßes aroma versprüht. ich lutsche<br />
unterdessen abwechselnd an den festen, auberginefarbenen hügeln ihrer brüste.<br />
<strong>im</strong>mer wenn ich zubeiße, fließt ein schluck heißer atem über mein ohr.<br />
ich greife ihren rücken, ziehe ihren brustkorb an mich & lege die warme innen-<br />
fläche meiner hand auf den letzten wirbel ihrer lende. beide lockern wir unseren<br />
griff. meine finger fliegen über ihren bauch, überqueren den nabel & landen am<br />
bund ihres höschens oberhalb des venushügels. unter dem fadenscheinigen fetzen<br />
fühle ich ihre warme, dunkle schnecke gegen meine hand gelehnt. kurze, feste<br />
haare schauen vorwitzig unter dem rand hervor.<br />
was soll ich machen? wenn ich jetzt zurück zum saum taste & den ausgelei-<br />
erten gummi leicht anhebe, kann ich einen finger, vielleicht den ringfinger, in die<br />
hautfurche neben ihren schlitz legen, oder mit dem zeigefinger, wie mit einem<br />
silberlöffel die haut einer frischen caramelcreme, ihre schamlippe zur seite ziehen,<br />
bereits schle<strong>im</strong>ig vom saft ihrer pflaume, & den mittelfinger, der in anderen ge-<br />
genden nicht umsonst der stinkefinger genannt wird, in die warme puddingspalte<br />
tauchen, nur einen kurzen augenblick lang, bis er sich mit venussaft befeuchtet &
9 HEISSER MILCHCAFFEE 64<br />
ihn mir in den mund stecken, um ihre fährte aufzunehmen. möglicherweise riecht<br />
sie wie frische erdnuß oder wie z<strong>im</strong>t, vielleicht ein bißchen schärfer, nach verbote-<br />
nen sachen, nach dingen, die auf der zunge beißen & lange nachschmecken, nach<br />
meerestieren & nach frischem braten, nach zwiebeln & knoblauch & nach einem<br />
winzigen rest ranzigem butterfett.<br />
unterdessen schieben ihre scharzen finger meine vorhaut über die rot glänzen-<br />
de eichel. <strong>im</strong> z<strong>im</strong>mer verteilt sich ein salziger duft. maina spannt das dünne,<br />
feinfühlige häutchen ohne mitleid meinen schwanz entlang nach unten, um es mit<br />
einem ruck eine winzige strecke gegen den strich zu bürsten. blau treten die adern<br />
vor. als meine augen den h<strong>im</strong>mel sehen, läßt sie los, & die weiße rinde meines<br />
blutgefüllten halms zieht sich erleichtert zurück, aufmerksam verfolgt von einer<br />
erfahrenen hand. behutsam melken 5 finger an meinem glatten, frisch gestoche-<br />
nen spargel. maina beugt ihre nase näher an meinen schoß & berührt mit ihren<br />
weichen lippen die rote kirsche auf meinem vanilleeis. unterdessen streiche ich ihr<br />
den letzten stoff vom körper. genüßlich liegt sie an meiner seite, das kinn neben<br />
meiner geschälten banane, ein bein lang gestreckt, das andere an meine brust<br />
gelehnt. sie hat hunger oder zumindest lust, was in den mund zu nehmen. mir<br />
geht es nicht anders.<br />
mit der nase fahre ich an ihrem schenkel entlang, bis es nicht mehr weitergeht.<br />
vor meinen augen glänzt braun ein ovales schatzkästchen, wie mit frischem lack<br />
überzogen. ich öffne den rosanen spalt in der mitte 2 finger breit, um mit der<br />
zunge am nassen rand zu lecken & die inneren schamlippen, den 2ten mund zu<br />
küssen. licht fällt warm auf ihren nektar, dick & zähflüssig, süß & labend. ich<br />
schlürfe alles auf, was ich erwische & stoße an eine kleine, harte bohne am oberen<br />
ende.<br />
mit riesigen lippen, weich wie kartoffelpuree, umschließt mainas mund meine<br />
leuchtend rote, wehrlose spitze. ihre dunklen, schlanken finger reiben an mei-<br />
nem weißen schwanz, daß die milch schäumt. die ersten tropfen meiner vorfreude<br />
rinnen gleich aus meinem becken, wenn sie so weiter leckt. ich glaube, sie sagt<br />
was.<br />
“no, todavía no, papi, no mi amol, todavía no.“ ich beiße in die reife pflau-<br />
me vor meiner nase, bis aus dem fruchtfleisch schaumige tropfen fließen. maina<br />
verliert einen augenblick den atem & verhindert in letzter sekunde, daß mir die
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milch daneben fließt.<br />
das war äußerst knapp mein schatz, denn wenn der deckel erst mal auf ist,<br />
läuft die kanne schnell aus.<br />
“tienes un pleselvativo?“ “allá en mi borsa.“ maina zerbeißt hastig das<br />
tütchen, zieht den schlüpfrigen, durchsichtigen kondom heraus, der wie üblich<br />
nach alten autoreifen riecht, & rollt ihn mit 3 wuchtigen schlägen über mein<br />
rohr. wir können beide nicht mehr warten. wir müssen beide ficken. jetzt gleich.<br />
bis die kanne in den becher läuft, dauernd rein raus, rein raus, ficken, bis keiner<br />
von uns zurück will.<br />
maina setzt sich auf meinen schoß, hebt ihr becken & schiebt ihre weiche<br />
muschi auf meine elfenbeinstange. ich tauche 2mal in die schnecke ein, spüre die<br />
glühende wand & ziehe mein ding wieder bis zum eingang vor. maina schaut<br />
nach unten, beugt ihr becken & wir beginnen das spiel von vorn. 2mal kurz rein<br />
& wieder zurück. das ist außerirdisch, so kann es gehen, gleich nochmal. rein raus,<br />
rein raus, saftig, heiß. warte, warte, nicht so schnell, du bist verrückt. ich will ihn<br />
wieder hervor holen & maina beginnt, mich nach allen regeln der kunst zu reiten.<br />
ihre enge ritze zieht sich zu einer schmalen ritze zusammen, in der mein pfahl<br />
verschwindet. in schnellen, kurzen stößen fickt maina auf & ab, bis sich mein<br />
schwanz prall füllt & jeden augenblick zu platzen droht.<br />
“todavía no, no mami, todavía no.“ ich schlage ihr mit der flachen hand auf<br />
den po, & sie verharrt augenblicklich mucksmäuschenstill in der bewegung.<br />
wir rollen zur seite. ich greife ihr bein, hebe die kniekehle nach oben & mache<br />
die bahn frei für den näxten ritt. jetzt ist alles offen. während ihre hände mei-<br />
ne hüften halten & mich zu ihr ziehen, schiebe ich den dicken, weißen lümmel<br />
sachte durch das schwarze, sperrangelweit geöffnete tor in ihr warmes, dunkles<br />
schneckenhaus. zu ihrer zufriedenheit. eine hand unter ihrem knie, die andere hin-<br />
ter ihrem nacken. wir küssen uns tief & lecken unsere nassen lippen gegenseitig<br />
ab. ich kann nicht aufhören. mein vanilleeis will in ihrer heißen schokoladensoße<br />
baden. mein weißer stengel will in den dunklen schlitz mit dem beißenden sirup<br />
tauchen, bis wir erneut unterbrechen müssen, bevor meine milch überläuft & der<br />
ganze spaß vorbei ist.<br />
maina, du bist ungeduldig. wir sollten die hüften jetzt nicht gegeneinander,<br />
sondern miteinander bewegen, mein schwert tief in deiner scheide steckend, so daß
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nur an den wendepunkten druck entsteht, wenn wir die richtung ändern. unser<br />
ficken wird ausladender & dabei langsamer, so als verursache die bewegung einen<br />
schmerz, den wir beide suchten, & während sie mich ganz in sich aufgenommen<br />
hat, mein harter, steifer schwanz in ihrer nassen, weichen scheide, während ich<br />
darüber nachdenke, wie wir uns die lust verlängern können, während ich vergesse,<br />
mich zu bewegen, mich an maina festhalte, als wäre es das einzige auf der runden,<br />
sich drehenden erde, was ich habe, während ich meine füße <strong>im</strong> liegen strecke, so,<br />
als wollte ich über eine mauer schauen, um zu sehen was hinten dran passiert, &<br />
mich in den schönen, weit offenen augen mit den langen w<strong>im</strong>pern verliere, höre ich<br />
eine zarte st<strong>im</strong>me an meinem ohr. “sí papi, sí, ahora sí“, & ich ergieße all meinen<br />
saft in ihre zuckende, melkende muschel, während mein steifer pumpt, als müsse<br />
er einen e<strong>im</strong>er leer machen. mit sanften, weichen stößen fallen wir uns lachend in<br />
die arme, meine caffeebohne & ich, der ausländische gast, dessen samen in einem<br />
plastiktütchen gefangen vor seinem schwanz baumelt, wie die letzten fettreste<br />
einer ausgelutschten leberwurst. mein engel, du hast mich gerettet.<br />
sex ist gesund & heilend. er gleicht den hormonhaushalt des körpers aus, setzt<br />
die muskeln & den stoffwechsel in gang, labt die nichtexistierende seele, wäscht<br />
sie & reinigt sie von allen dunklen stellen & erneuert den lebenswillen, ob du ein<br />
armer schlucker bist oder ein reicher fatzke, ob du verkäufer bist, krüppel oder<br />
sportler, ob du grips <strong>im</strong> kopf hast oder dumm bist, wie bohnenstroh, ob du den<br />
kopf hoch trägst oder betrübt <strong>im</strong> sand vergräbst, all das spielt keine rolle be<strong>im</strong><br />
sex, nichtmal, ob du lügst oder aufrichtig die wahrheit sagst, denn be<strong>im</strong> ficken<br />
zählt einzig & alleine, ob du gewillt bist & bereit, dich gehen zu lassen & dein<br />
innerstes nach außen zu kehren, zählt einzig & alleine echte näxtenliebe, zählt<br />
einzig, ob du deinen näxten & dich, nackt, wie der außerirdische euch schuf, &<br />
nackt wie du selbst, verletzbar & ungeschützt, verwundbar bis ins innerste hinein,<br />
beschnupperst, liebst, abschleckst & fickst, ohne vorbehalte & ohne wenn & aber.<br />
meine tante erna, mittlerweile 83 jahre, spricht diese erkenntnis in ihrem hohen<br />
alter gelassen aus. als ich sie das letzte mal zur kur nach bad orb fahre, hinter<br />
linsengericht, noch hinter freigericht, der gegend, in der gr<strong>im</strong>melshausen vor gut<br />
250 jahren seinen schabernack trieb, gesteht sie mir, daß sex in ihrem sowieso zu<br />
kurzen leben eine etwas zu geringe rolle gespielt habe. sex sei gesund & wichtig für<br />
den menschen, wiederholt sie laut, während wir <strong>im</strong> auto an den saftigen hügeln
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des spessarts vorbeifahren.<br />
hannah hatte mich bemitleidet & mir deshalb ihre telefonnummer auf einem<br />
kleinen zettel zugesteckt. aber mitleid ist das letzte, was be<strong>im</strong> sex zählt. mit-<br />
leid verpestet das kl<strong>im</strong>a, zerstört die lust, entschärft die sinne & belächelt den<br />
anderen, während sex ihn hoch einschätzt, ihn schützt, ihn benötigt & deshalb<br />
erhält. die angewohnheit, mein geld nicht zu den nutten zu tragen & für sex nix<br />
zahlen zu wollen, kommt mir lächerlich & blöd vor, angesichts der weisheit mei-<br />
ner betagten tante, die zu alt ist, um die aufmerksamkeit der jungen, stoßfesten<br />
stiere in den straßen auf sich zu lenken. anstatt steuern zu zahlen, sollten wir<br />
alle in den puff gehen & das geld verficken. es ist dann in doppelter hinsicht<br />
gut angelegt. erstens bekommt der staat nix davon zu sehen & 2tens, was viel<br />
wichtiger ist, tun wir uns & den ältesten therapeuten der runden, sich drehenden<br />
erde einen guten dienst, indem wir unsere körper, die einzigen, die wir haben,<br />
& alles was wir sind, einer gesunden, allumfassenden behandlung unterziehen &<br />
gleichzeitig den helfenden frauen der runden, sich drehenden erde, die noch dem<br />
bemitleidenswürdigsten menschen das gefühl geben, geliebt zu sein, ein kleines<br />
geschenk machen, das ihnen ermöglicht, ihre wohltuende & nützliche arbeit auch<br />
morgen noch zu verrichten. einer kann sein geld in der spielbank verprassen, <strong>im</strong><br />
restaurant verfressen, in aktien anlegen, es für seinen garten ausgeben oder es<br />
versaufen, aber nix in der welt stellt ihn nachhaltiger zufrieden, nix macht ihn<br />
gelassener, nix ausgeglichener & sicherer, als das eine, gute, alte, <strong>im</strong>mergleiche,<br />
jedes mal neue rein raus, ein schöner, süßer fick, wie ihn alle menschen, oder fast<br />
alle <strong>im</strong> kopf haben & ab & an auch hinlegen, so wie es sich gehört für einen<br />
menschen, der nicht davon träumt, gelebt zu haben.<br />
männer brennen schnell ab. sie entzünden sich leicht & brennen dann sehr<br />
schnell ab. als ich maina, noch auf dem bett neben mir ausgestreckt, verträumt<br />
anschaue & ihr meine liebe gestehe, rollen sich ihre augen hinter die stirn & sie<br />
winkt ab. “wollen wir nicht gleich von liebe reden, bloß wegen einer nacht.“<br />
10 fliegen<br />
ich bin eigentlich nicht wegen nina nach boulder gekommen, & auch nicht wegen<br />
der rockys oder der guten luft auf 1800 m, sondern um meinen freund justus zu
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besuchen, der hier seinen flugschein macht, halb legal, halb illegal arbeitet, um<br />
den unterricht am jefferson county flight training center zu zahlen, <strong>im</strong>merhin 25<br />
dollar für die stunde in der kleinsten einpropellermaschine, die zu mieten ist, &<br />
20 extra für eric, den flight instructor, der die essensmarken nicht selbst sieht,<br />
sondern an die schule abdrücken darf. justus, der alte schwede, der treue diener<br />
der christlichen seefahrt, der abenteurer & zweifler, dem die sache erst richtig<br />
spaß bereitet, wenn sie schon nicht mehr zu gelingen scheint, der richtig in fahrt<br />
kommt, wenn die kohle alle ist, der tank leer, das wasser ausgeht oder die süße<br />
sich langweilt, justus hat eine schwäche für motoren & kisten, die damit laufen.<br />
er setzt sein sowieso zu kurzes leben auf sie & hat bisher <strong>im</strong>mer gewonnen.<br />
als wir seinerzeit die fähre nach tunis kriegen wollten <strong>im</strong> hafen von genua,<br />
der steil gelegenen, schmutzigen hafenstadt am rande der ligurischen felshänge,<br />
hatte er eigenhändig & in genauer beachtung aller sicherheitsbest<strong>im</strong>mungen vor<br />
der fahrt von frankfurt runter nach italien die zylinderkopfdichtung ausgebaut<br />
& eine nagelneue dichtung wieder eingesetzt, mit dem drehmomentschlüssel alle<br />
zylinderkopfschrauben in der korrekten reihenfolge & mit dem vorgeschriebenen<br />
druck angezogen, so daß der weiße peugeot 504 aus dem jahr 67 gewappnet war<br />
für eine sommertour in den sonnigen süden europas, von wo aus wir mit dem<br />
schiff weiterfahren wollten bis nordafrika. auf der autobahn, etwa bei karlsruhe,<br />
meckerte der wagen & zeigte mit seiner dünnen, feinen nadel eine überhöhte<br />
öltemperatur an, abends um 9 in einer lauen sommernacht.<br />
“das macht die kiste öfter.“ wir fahren mit aufgedrehter heizung, um aus dem<br />
kühlkreislauf last zu ziehen.<br />
“die zylinderkopfdichtung kann’s nicht sein. der kühler arbeitet ja, die heizung<br />
geht, & außerdem hab ich die dichtung gestern selbst gewechselt.“ “na klar, wenn<br />
du’s sagst.“<br />
die stops, die wir häufiger einlegen, bis die nadel der anzeige den roten be-<br />
reich verlassen hat, kosten unsere nerven & unsere zeit. wir erreichen am anderen<br />
morgen um 9 über die autobahn durch die berge liguriens, über langgezogene<br />
brücken & grünbewachsene hänge, die stadtgrenze & fliegen in atemberauben-<br />
den tempo durch die engen, schnell abfallenden gassen genuas, durch gepflasterte<br />
fußgängerzonen & über zebrastreifen, an seitlich wegspringenden, wild sch<strong>im</strong>p-<br />
fenden italienern vorbei bis ans hafentor, wo uns der freundliche zollbeamte zur
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seite winkt, um die karre nach gras zu durchsuchen.<br />
“dove’è la herba, eh? fumiamo uno spinello & già.“ auf dem weg in unseren<br />
sommer-sprach-kurs haben wir tatsächlich nix rauchbares dabei. es kümmert den<br />
uniformierten ungemein, daß wir um halb 10 auf die fähre wollen, & er nutzt es<br />
echt aus, um uns einen kleinen joint zu entlocken. als wir ihm jeder <strong>im</strong> gepäck<br />
2 dicke wörterbücher gezeigt haben sowie unseren nackten arsch & den schwanz<br />
dazu, läßt er uns abziehen, locker in der zeit, um die fähre zu schaffen. in tunis,<br />
wo der wagen wegen der größeren hitze kaum weiter als eine handvoll km zu<br />
bewegen ist, ohne mit dampfendem kühler um halt zu flehen, treiben wir einen<br />
in libyen geschulten automechaniker auf, der die französischen modelle wie <strong>im</strong><br />
schlaf kennt.<br />
“mach mal den motor an.“ in einer parallelstraße der libertè, vor dem haus, in<br />
dem wir eine 2z<strong>im</strong>merwohnung gemietet hatten, waren neben dem mechaniker &<br />
uns beiden, dem s<strong>im</strong>sar & vermittler, dem blockeigenen <strong>im</strong>am, seiner familie, dem<br />
bruder des mechanikers & dessen familie sowie einem schwager, noch einige leute<br />
aus der nachbarschaft zusammengekommen, um die wundertat des mechanikers<br />
zu bezeugen.<br />
“ich hab die kopfdichtung selbst ein- & ausgebaut, eh, aus- & eingebaut“,<br />
erklärt justus. die karre springt sofort an & läßt gemütlich das klackern der ventile<br />
hören. unser mann aus tunis schraubt den kühlerdeckel ab & hat die lösung.<br />
“nochmal aus & wieder an.“ alles klar. in der kleinen öffnung des kühlers ist<br />
be<strong>im</strong> anlassen & nur direkt danach kurz ein winziger wasserwirbel zu sehen, ein<br />
strudel, der mit einem glucksen einige spritzer über den rand schleudert.<br />
“die zylinderkopfdichtung.“ & zum beweis & weil es noch einfacher ist, zeigt<br />
er auf eine stelle des motorblocks, wo die kopfdichtung den kopf verschließt, &<br />
wo nach allem, was unser mann weiß, ein stück dichtung zu sehen sein müßte, wo<br />
deutlich zu sehen nix weiter hervorschaut als der blanke guß des zylinderkopfs. am<br />
anderen tag wechselt der mechaniker die dichtung innerhalb von 4 stunden, nicht<br />
ohne den kopf plan geschliffen zu haben & die kopfschrauben in der korrekten<br />
reihenfolge & mit dem nötigen druck ohne drehmomentschlüßel anzuziehen & uns<br />
die karre zu übergeben.<br />
justus ist ein künstler <strong>im</strong> auswechseln von kopfdichtungen, <strong>im</strong> fliegen, <strong>im</strong><br />
geigespielen, be<strong>im</strong> übersetzen & be<strong>im</strong> baggern. wenn wahr ist, was die zukünftige
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managerin der t<strong>im</strong>berjacks sagt, daß nämlich ein wahrer künstler leiden muß, um<br />
gutes zeug abzuliefern, dann ist justus der wahre künstler schlechthin. für ihn<br />
wird es erst spannend, wenn der hunger einsetzt & kein brot in sicht ist.<br />
4 wochen bevor ich ihn besuchen kam, hatte er die übungsmaschine ohne den<br />
final check auf die 18er körnung der landebahn gedrückt. der final check beinhaltet<br />
die letzte überprüfung der sicherheitsbest<strong>im</strong>mungen vor der landung, wie klappen,<br />
licht, höhe, geschwindigkeit & das ausklappen des nützlichen fahrwerkes, falls die<br />
maschine eins hat. der propeller bohrte sich in den motor, wo er zerbröselte &<br />
den block & die aufhängung demolierte. der pilot kam mit dem schrecken davon.<br />
“justus“, sage ich zu ihm, “du hast 2 lektionen auf einmal gelernt, den final<br />
check nicht zu vergessen & eine landung mit eingeklapptem fahrwerk, was kann<br />
dir schon passieren.“<br />
der geräumige, schwere kombi, dessen stahlbleche zu dick sind, um in einem<br />
menschenalter durchzurosten, bringt uns mit seinen 8 zylindern an einem son-<br />
nenbeschienenen, indianischen sommertag von boulder über den highway an gol-<br />
den vorbei, den rand der plains entlang zum jefferson county airport, auf halber<br />
strecke nach denver gelegen. die luft ist klar, & linsenförmige gutwetterwolken<br />
stehen in 12000 m über der 2ten kette der rockys, wo sie auf einer strömung<br />
reiten, die sie in <strong>im</strong>mergleicher position hält. denver liegt in 20 km entfernung in<br />
südwestlicher richtung & ist mit ihrer kastenförmigen, hoch bebauten innenstadt<br />
gut zu erkennen.<br />
wir steigen aus dem wagen, & justus löst die stromversorgung, damit die<br />
batterie durch den kriechstrom ihre spannung nicht verliert. wir laufen über den<br />
schwarzen asphalt zur schule, auf ein flaches, großräumiges gebäude zu, vor uns<br />
die endlosen rockys, in breiter nordsüd-richtung, auf einer länge von mehreren<br />
tausend km, dunkelgrün bewaldet. die spitzen der mittleren kette, der continental<br />
divide, schroff & zerklüftet, sind mit schnee bedeckt. hinter uns die planes, über<br />
die <strong>im</strong> spätherbst unter der tief stehenden sonne ein rauher wind pfeift, liegen<br />
still & golden <strong>im</strong> morgenlicht. justus zeigt mir den flieger, eine einpropellige<br />
chesna, deren flügel am dach beginnen, so daß nach unten eine gute aussicht ist,<br />
& während er unsere kopfhörer aus dem büro holt & eric bescheid gibt, laufe<br />
ich an einer reihe geparkter stahlvögel vorbei, alle mit einer schweren eisenkette<br />
am boden gesichert, flügel an flügel nebeneinander aufgereiht, auf die rotgolden
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gestreifte hk 370 zu.<br />
von einem kleinlaster wird sprit in die flügel gefüllt. justus beginnt mit dem<br />
preflight check, geht einmal um die maschine herum, prüft die lichter, zapft sprit<br />
aus beiden tanks, um daran zu riechen & ihn mit geübter geste gegen den wind<br />
auf seine hose zu gießen, löst die kette & steigt durch die kleine öffnung unter<br />
der rechten schwinge ins cockpit. von weitem sehe ich gegen die sonne eric zu<br />
uns rüberkommen, eric, der blonde, schmächtige flight instructor mit dem bul-<br />
lenbärtchen, dem hauptamtlichen sozialarbeiterbart rund ums freßloch, blond &<br />
stoppelig, mit der echten fliegerbrille, die oben in der sonne gute dienste tut, &<br />
einer kopfhörer-mikro-ausstattung, die teurer war als der wagen von justus.<br />
ich setze mich nach hinten in die roten polster, übergebe justus die karten<br />
& die checkliste nach vorne, & wir rollen nach einem lauten “clear the prop!“<br />
los. die funkausrüstung ist voice controled & arbeitet nur, falls ein signal lauter<br />
als der schwellenwert durch den verstärker geht. von den checks auf der piste<br />
für die seiten- & höhenruder, die funktionstüchtigkeit der instrumente & der<br />
funkverbindung zum turm bekomme ich anfangs nur bruchstücke mit.<br />
um 9 uhr 32 sind wir startklar & um 9 uhr 36 nach dem letzten check in<br />
startposition am ende der rollbahn. justus stellt das spritgemisch <strong>im</strong> verhältnis<br />
zur drehzahl ein. der motor heult & eric gibt die vorgabe für den start.<br />
“let’s try a short field take off.“ “otel kilo 3 7 oh, ready to take off.“ aus dem<br />
kopfhörer kracht die bandst<strong>im</strong>me der wetteransage wie das jingle einer lokalen<br />
radiostation.<br />
“otel kilo three seven zero clear to take off.“ der short field take off benutzt die<br />
untere gleitgeschwindigkeit, um mit der nase & dann mit dem arsch 2 m über der<br />
piste die nötige fahrt zu machen & danach die klappen voll nach hinten zu reißen,<br />
so daß der vogel sich ins kreuz legt & an geschwindigkeit verlierend abhebt.<br />
um 9 uhr 38 drehen wir auf die startbahn ein. eric schaut gespannt zu beiden<br />
seiten in den hellblauen h<strong>im</strong>mel. justus zieht am gashebel, löst die bremsen &<br />
n<strong>im</strong>mt bei 65 meilen die vorderfüße hoch, zieht die klappe so weit, daß gerade<br />
die hinterfüße über dem boden schweben, gibt etwas stoff, bis wir bei 80 meilen<br />
die nase nach oben ziehen & jeffco airport unter uns lassen. wir erreichen schnell<br />
die höhe der foothills, sehen über die erste kette in die täler der rockys & über<br />
den sandig gelben boden der plains.
10 FLIEGEN 72<br />
wir steigen bis auf 8500 fuß hoch & beginnen mit einem 180 grad turn, um den<br />
luftraum hinter uns frei zu haben. danach folgt eine lazy 8, eine faule, lahme 8,<br />
in allen 3 d<strong>im</strong>ensionen genau vorgeschrieben, die beiden 8er spitzen gleichmäßig<br />
über einem tiefen kreuz. der steigflug sollte bei einem banking von 30 grad gerade<br />
soweit gehen, bis der auftrieb abreißt & das stalhorn pfeift, um von der 90 grad<br />
position die schräglage auszugleichen & wieder an geschwindigkeit zu gewinnen<br />
bis zum anderen flügel der 8.<br />
kein hindernis stört die ausladend schwingende flugbahn. ich schaue auf die<br />
schachbrettartig angelegten straßen unter mir, grau & gerade wie mit dem lineal<br />
gezogen, auf die runden felder, die wie kuchenplatten unterteilt sind in unter-<br />
schiedliche stücke, gelb & grün, braun & grau, mit einem dunklen faden von der<br />
mitte bis zum rand, einer bewässerungsleitung, die <strong>im</strong> bedarfsfall in ständiger<br />
drehung das gesamte feld erreicht oder nur einzelne sektoren besprüht. das son-<br />
nenlicht spiegelt sich silbrig in den scheiben der gewächshäuser & blau in der<br />
oberfläche der kleinen, künstlich angelegten seen, deren winzige kräuselung bis<br />
hierhin zu erkennen ist. wie leiterbahnen auf einer platine ziehen sich die braun-<br />
gelben wege <strong>im</strong> rechten winkel durch das helle grün der felder, an ein paar stellen<br />
von einem kreisrunden silo oder einer gruppe schwarz gedeckter gebäude unter-<br />
brochen. <strong>im</strong> nordosten liegt boulder, als dichte ansammlung roter 4ecke, die sich<br />
in den hügeln der foothills verliert, weiter südlich die flat irons, die 3 wahrzeichen<br />
der stadt. wir können von hier oben fast über die continental divide schauen. die<br />
luft ist ruhig & nicht zu dünn, so daß wir einen angenehmen flug haben.<br />
<strong>im</strong> höchsten punkt der 8, wenn der auftrieb abreißt & die tragende kraft<br />
aussetzt, spüre ich für einen augenblick mein frühstück <strong>im</strong> bauch, weich & halb-<br />
verdaut, & ich bin sicher, daß mir die rohe zwiebel nicht hoch kommt. die bewe-<br />
gung des vogels ist wie an einem seil aufgehängt. ich verliere keine sekunde das<br />
vertrauen in seine flugfähigkeit.<br />
der auftrieb ist eine kraft, die unabhängig von unserem bewußtsein wirkt,<br />
falls sie wirkt, so wie alle kräfte, falls sie wirken, unabhängig & von natur aus<br />
wirken. er erzeugt eine aufwärtsströmung, die den flieger wie an einem langen<br />
seil an seinen beiden flügeln nach oben zieht & ihn durch die luft schwingt.<br />
es gibt keinen grund, dieser kraft zu mißtrauen, so wie es keinen grund gibt,<br />
irgendeiner anderen kraft der natur zu mißtrauen. menschen können von haus
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aus nicht fliegen, aber einige von ihnen sind mit einem verstand ausgestattet,<br />
der es ihnen ermöglicht, maschinen zu bauen, daß auch der dümmliche rest hoch<br />
in den h<strong>im</strong>mel steigen kann. es ist das vertrauen, das uns menschen abhanden<br />
kommt, wenn wir ängstlich & verzweifelt herumzappeln, & es ist seine macht<br />
als vermittler zwischen der welt des wissens, der welt der theorie & der welt der<br />
dinge, der welt der taten, die uns kräfte verleiht, sich über das heute hinaus zu<br />
heben.<br />
ein ertrinkender zweifelt an der beständigkeit der runden, sich drehenden erde,<br />
die er mit seinem verstand für den bruchteil einer sekunde nicht mehr zu fassen<br />
in der lage ist, & löst die festigkeit auf, bis sich die wirklichkeit von einer anderen<br />
seite zeigt, weil sie von der anderen seite betrachtet plötzlich nicht mehr so ist, wie<br />
sie bisher <strong>im</strong>mer war, & das wasser, das den schw<strong>im</strong>mer mit leichtigkeit trägt,<br />
jetzt seinem körper den auftrieb verwehrt, so daß er unter der oberfläche, die<br />
wie ein unerreichbarer, unhaltbarer fetzen stoff, vom wind weg getragen wird, <strong>im</strong><br />
dunkel eines tiefen sees verschwindet. ich war 2 sommer mit justus an der gleichen<br />
uni, & wir waren 2 sommer lang zusammen am gleichen see, & wir haben beide<br />
jahre den alljährlichen ertrinkungstod gesehen.<br />
wenn du aus lauter angst zu fallen den flieger hochziehst, indem du die klappen<br />
nach hinten drückst, bis die schnauze steil in den h<strong>im</strong>mel zeigt & die fahrt so<br />
gering ist, daß der auftrieb abreißt, hat der vogel, für einen augenblick herrenlos,<br />
die wahl, in die gewohnte position nach vorne zu fallen & sich dadurch wie von<br />
selbst die nötige fahrt zu besorgen, die den auftrieb wiederherstellt, oder zur seite<br />
weg unter die flügel zu kippen & zu trudeln, sich zu drehen & abzuschmieren,<br />
wie ein falsch gefalteter papierflieger <strong>im</strong> treppenhaus.<br />
eric übern<strong>im</strong>mt das 2te steuer & zeigt uns eine saubere lazy 8. das flugfieber<br />
hat ihn gepackt. er setzt sich etwas tiefer in den sitz, um den luftraum um uns<br />
gut <strong>im</strong> auge zu haben, nach oben, nach unten & nach beiden seiten. wie es sich<br />
gehört, fliegt er erst eine 180 grad wende, um nach anderen maschinen ausschau<br />
zu halten, die von den unzähligen flughäfen in dieser gegend aufgestiegen sind,<br />
um in einem würfel von einem km kantenlänge ihre luftübungen zu machen,<br />
gegen das gleißende sonnenlicht kaum größer als ein silbrig sch<strong>im</strong>mernder punkt<br />
<strong>im</strong> stahlblauen morgenh<strong>im</strong>mel. eric beginnt die 8 kurz vor dem kreuz mit guter<br />
fahrt, dreht nach rechts ab, legt den vogel seitwärts in ein 30 grad banking, schiebt
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die schnauze auf 2 uhr & erreicht den 90 grad punkt, wo er die klappen einholt &<br />
den ersten flügel der 8 auslaufen läßt bis kurz vor das kreuz. wir haben eine glatte,<br />
saubere, angenehm schwingende 180 grad wendung gemacht, wie um ein riesiges<br />
ei herum, & rauschen auf den kreuzpunkt zu, wo eric den vogel, noch während<br />
wir nach unten sausen, seitlich eindreht, dabei die klappe leicht anzieht, gerade<br />
genug, um einen weiträumigen steigflug zu verursachen, der die fahrt langsam<br />
herausn<strong>im</strong>mt & das stalhorn anwirft, als wir den 90 grad punkt 30 grad zur seite<br />
geneigt passieren. eric gibt die klappe wieder rein & wir rauschen ab nach unten<br />
auf das kreuz zu, um die näxte 8 zu fliegen. 2500 fuß unter uns zieht ein farmer mit<br />
seinem 4radgetriebenen, silbrig spiegelnden geländewagen eine gelblich milchige<br />
staubwolke schnurgerade durch die plains, während wir uns über dem flugplatz<br />
von golden für ein touch & go anmelden.<br />
der anflug auf die landebahn ist von einer festgelegten seite in einer genauen<br />
flugbahn, dem final turn, erlaubt, deren winkel, höhe & geschwindigkeit in einem<br />
kleinen buch anhand von kreiszeichen & winkelzahlen beschrieben sind. aus dem<br />
kopfhörer kracht abwechselnd die st<strong>im</strong>me von justus & die der bodenkontrolle.<br />
wir fliegen das 4tel einer lazy 8, um an höhe zu verlieren & auf 1200 fuß über<br />
die piste zu gelangen, die uns gleich auffangen wird, vorerst aber als armbreiter,<br />
anthrazitfarbener streifen klein & unscheinbar am daumengroßen hangar hängt.<br />
der anflug beginnt parallel zur landebahn & führt ihr entgegengesetzt 900 fuß<br />
oberhalb hinter das andere ende. 2 drehungen um 90 grad bringen uns in die<br />
anflugsposition. unter uns sind die unebenheiten der grasbewachsenen, trockenen<br />
ebene deutlich zu erkennen. justus checkt die instrumente ein letztes mal, sagt die<br />
position & vorgeschriebene geschwindigkeit laut ins mikro, überprüft das ruder<br />
& krächzt zu seiner eigenen sicherheit das wichtige landing gear down über die<br />
anlage. vor der befahrenen straße, die unsere bahn 300 fuß tiefer kreuzt, tanzt eine<br />
schwarze schlange ihren feiztanz, mit einem gelben streifen auf dem rücken wild<br />
zuckend, ihren kopf an beiden seiten des vogels vorbeischwingend, so als wolle<br />
sie ihn von außen in den nacken schlagen. sie wird <strong>im</strong>mer größer & mächtiger,<br />
bis sie uns ganz umgibt & den vogel samt uns 3 verschlingt. die räder quietschen<br />
& mein sitz ruckt, als wir auch schon wieder abheben, die schlange unter uns<br />
zurücklassend. sie besänftigt sich sofort & legt sich zur ruhe bis zum näxten mal,<br />
wenn wir uns nähern.
10 FLIEGEN 75<br />
“that was ok, man.“ eric hat die ganze zeit über keinen ton gesagt, nur ge-<br />
spannt aus den seitenfenstern geschaut.<br />
“fine, you just gave it to much input. you determined it too much. just keep<br />
the rudder firm & move it constantly.“ “scheiße. ok, shit, I’ll do it again.“ “no it<br />
was ok. let’s do a short field landing over an abstacle.“<br />
fliegen ist überhaupt nicht mit autofahren zu vergleichen. wer fliegt, wie er<br />
einen wagen in die kurve lenkt, der hat verschissen. justus ist ein guter flieger,<br />
konzentriert, ruhig, wohlbedacht, entspannt & verantwortungsbewußt, der seine<br />
aufgabe genau kennt & sie sicher zu ende führt.<br />
“we’ll do a short field landing over an abstacle.“ “ok, I’ll take the second sign<br />
as the obstacle.“ die anmeldeprozedur am jeffco airport kracht mir um die ohren.<br />
“otel kilo three seven ouh, north east approach.“ justus beginnt den prelan-<br />
ding check mit dem ruder, dem sprit, der höhe & der kompaßausrichtung. wir<br />
kreisen nochmal über der schwarzen asphaltfläche 1200 fuß unter uns, wo in sil-<br />
bernen reihen die kleinen, weißen einpropellermaschinen geparkt sind, drehen auf<br />
die rockys zu, die stolz in 12 km entfernung vor uns liegen, & sinken auf die<br />
vorgeschriebene anflughöhe. die schwarze schlange bleibt ruhig unter uns liegen,<br />
schnappt kurz mal nach uns, als wir die geschwindigkeit über dem hindernis ver-<br />
langsamen, & wir fallen in ihren tiefen schlund, wo wir sanft aufsetzen. eric zieht<br />
kommentarlos die klappen rein & gibt sofort gas, so daß wir nach vorne schnellen<br />
& mit der schnauze nach oben in den h<strong>im</strong>mel zurückstoßen.<br />
“justus, you forgot the final check.“ “scheiße.“ er schaut ungläubig zu eric<br />
rüber & starrt dann sprachlos zur anderen seite in den h<strong>im</strong>mel. ich hatte mir<br />
geschworen, den hebel für die landeklappen, falls nötig, eigenhändig zu ziehen.<br />
als ungeübtem flieger war mir allerdings der final check <strong>im</strong> kopfhörer entgangen.<br />
ich hatte keine positionsangaben gehört & ebenfalls nicht das wichtige landing<br />
gear down.<br />
“scheiße, ich idiot.“ “you’ve got to be carefull justus. where is your concen-<br />
tration. let’s do that again. otel kilo seven three ouh, north east approach.“<br />
widerwillig prüft justus die instrumente. das fahrwerk war ausgefahren. es<br />
fehlte nur die offizielle bestätigung darüber, wie sie der final check unter anderem<br />
liefert, eine bestätigung, die in manchen fällen von außerordentlicher wichtigkeit<br />
sein kann.
11 SPAZIEREN IM PARK 76<br />
fliegen selbst ist recht einfach. nach einer stunde theorie & 35 dollar kann<br />
jeder selbst prüfen, ob er für die fliegerei taugt, oder ob er eine echte landratte<br />
ist, ob er sich am langen seil des auftriebs wohlfühlt, oder den festen grund unter<br />
den füßen nicht missen will.<br />
nach einem sauberen final check mit allem was dazugehört, oder fast allem,<br />
bändigt justus die schlange mit ruhiger hand nieder, & wir landen sanft auf dem<br />
rauhen boden des jeffco airport 1700 m über dem meer auf den plains.<br />
ich kann jedem, der seekrank zu werden droht, raten, eine gute stunde vor<br />
dem start eine rohe zwiebel zu kauen, bis die augen tränen, & den überschüssi-<br />
gen traurigkeitssaft ausschütten, bis die nase vor wasser läuft & sich reinigt, bis<br />
zum guten schluß nix übrig bleibt von der zwiebel, als die trockene, äußere haut,<br />
der stumpf & ein lang anhaltender, leckerer, starker zwiebelgeschmack, wie nach<br />
einem echt italienischen salat. diese malzeit kommt nicht wieder hoch, alleine<br />
deshalb nicht, weil sie mit ihren letzten molekülresten, noch <strong>im</strong>mer <strong>im</strong> mund,<br />
nichtmal bis runter in den magen gekommen ist, wo andererseits der überwie-<br />
gende batzen der moleküle den magenpförtner bereits passiert hat, durchsetzt &<br />
angekratzt von einer feinen säure, mit den ersten verdauungsenzymen kämpfend.<br />
du kaust einfach den rest geschmack wieder frisch auf, bis er neu erblüht, & lehnst<br />
dich in die weichen sessel direkt hinter den 2 piloten mit den fliegerbrillen, die<br />
den stahlvogel sicher durch die lüfte steuern, schaust aus dem fenster, hoch über<br />
den plains, zur einen seite nach kansas, zur anderen nach texas, bis nach phe-<br />
nix & ahnst den pacific <strong>im</strong> sonnigen californien. cheyen <strong>im</strong> norden ist verdeckt<br />
durch die 14000 fuß hohe continental divide, americas wasserscheide, dem schier<br />
unüberwindlichen hindernis für die millionen tracker auf ihrem langen marsch ins<br />
gelobte land. aber das ist lange her.<br />
11 spazieren <strong>im</strong> park<br />
michigan ist ein americanischer ort, ein uramericanischer, fälschlicherweise in-<br />
dianisch genannter ort, dessen namensvettern <strong>im</strong> gebirge von michoacan gerade<br />
dabei sind, die große americanische wiedervereinigung vorzubereiten, eine der<br />
unmöglichen unmöglichkeiten <strong>im</strong> land der unbegrenzten unmöglichkeiten, bei der<br />
ein bedeutender staat einen kleinen für seinen schutz in anspruch nehmen will,
11 SPAZIEREN IM PARK 77<br />
was der kleine mit stolz geschwellter brust & blind vor hoffnung winkend an-<br />
n<strong>im</strong>mt.<br />
in einem kegelvulkangebiet südlich der linie guadalajara mexico city liegt urua-<br />
pan, mit einem busbahnhof oberhalb der hauptverkehrsstraße oberhalb der stadt,<br />
die wiederum selbst oberhalb sich selbst liegt. in einem labyrinth von schluchten &<br />
tälern, auf spitzen vulkankegeln, schmalen plateaus steiler berge & grün bewach-<br />
senen hügeln ziehen sich siedlungen 2stöckiger, weiträumiger steinhäuser rund um<br />
das grab eines kugelvulkans entlang eines schnellfließenden, klaren bergbaches.<br />
um die hauptverkehrsstraße zu überqueren, muß ich 80 m zwischen bun-<br />
tem blech hindurch, das in fließendem, laut dröhnendem slalom die knietiefen<br />
schlaglöcher <strong>im</strong> aufgerissenen belag zu meiden versucht, gebremst durch alle km<br />
quer zur fahrbahn angebrachte bodenhindernisse. zwischen 2 regenschauern ziehe<br />
ich meinen freund mit meiner tasche auf 2 rädern zur anderen seite & nehme mir<br />
das näxtbeste doppelbett.<br />
mexicanische herbergen sind um einen winzigen innenhof gelegen, in dem eine<br />
geländerlose treppe bis unter ein wellblechdach führt, das die dachterrasse vor<br />
sonne & regen schützt. die steinstufen gehen an kleinen z<strong>im</strong>mern vorbei, alle mit<br />
dusche & für mindestens 2 personen ausgelegt. in uruapan benötige ich keinen<br />
ventilator & auch keine kl<strong>im</strong>aanlage, eher schon eine 2te decke, wie sie mir meine<br />
süße von zu hause als letzten abschiedsgruß mit in die tasche gesteckt hatte,<br />
silbrig glänzend, aus fließendem gold gemacht, & während ich unser tuch über<br />
das harte steinbett breite, genieße ich meine eigenen 4 wände, in denen ich tun<br />
& lassen kann, was ich will. die kühle, klare luft <strong>im</strong> gegensatz zur schwül heißen<br />
suppe in manzanillo erfrischt meinen körper. ich strecke mich aus & schlafe einen<br />
süßen, mückenfreien nachtschlaf, zahnlos & kühl wie nie.<br />
unten, in der hell erleuchteten kneipe neben der bar, verschlingen hungrige<br />
nachtschwärmer handtellergroße stücke getrocknetes fleisch, eingerollt in einen<br />
maisfladen. die mädchen schauen verschlossen hinter uralten mechicen-masken<br />
hervor oder lachen laut aus vollem hals. in der rotsch<strong>im</strong>mernden bar spielt süßlich<br />
eine 4er combo mexicanische mariachi-musik, wie sie herp albert nicht zu träumen<br />
versteht, eine musik, die jeden stier zum weinen bringt, stolz wie die mutter &<br />
weich wie der vater, mit der zuckersüßen dur-terz, dem honigschlag <strong>im</strong> baß & viel<br />
schnaps <strong>im</strong> rhythmus. die männer fackeln nicht lange bei guter unterhaltung &
11 SPAZIEREN IM PARK 78<br />
schnappen sich die fliegenden puppen aus der luft.<br />
“no baile caballito, no baile caballito.“ brüllt der sänger ins mikro, gekrönt<br />
durch die obligatorische terz.<br />
“no baile caballito, no baile caballito.“ ich ziehe meinen freund feste an mich,<br />
den neu entdeckten daumen wild gegen die baßwand stemmend & so den druck-<br />
punkt bildend, um das handgelenk gegen den lederriemen zu pressen & einen<br />
gleichmäßigen zug & einen gleichmäßigen ton zu erzeugen. ich hatte mir eine<br />
12taktige kadenz ausgedacht, 1, 4, 5, 1, 4, 5, & übte sie durch alle, oder fast alle<br />
dur-tonarten. das E bereitete unglaubliche schwierigkeiten, bis ich später heraus-<br />
fand, daß diese tonart mit 4 kreuzen geschrieben wird, also auch mit 4 schwarzen<br />
tasten zu spielen ist, deren genaue lage durch ihren namen & ihr verhältnis zu<br />
anderen tönen feststeht, das des & das eis oder das cis & das dis. einer der<br />
hausmeisterwitze, bei dem der hausmeister für den orchestermusiker einspringt,<br />
endet mit der denkwürdigen frage des hessischen dirigenten an den verblüfften<br />
handwerker: “iz dez dez dez dez dez dez sei soll?“<br />
während ich der flattrigen st<strong>im</strong>me meines freundes zuhöre, der mir jeden mu-<br />
sikwunsch von den augen, den lippen & den fingern abliest, greifen sich die männer<br />
unten in der bar die mädels in ihren engen klamotten, tragen sie über die tanz-<br />
fläche & schleudern sie vor ihre fetten bäuche, bis den mädels schwindelig wird &<br />
sie lachend von den männern an ihren tisch geführt werden, wo der näxte kaum<br />
warten kann, das weiche, saftige fleisch in den stöckelschuhen über den tanzbo-<br />
den zu fahren. die meisten frauen sind am arbeiten, nicht für den tourismus &<br />
nicht für den sozialismus & auch nicht für das eigene vergnügen, sondern für<br />
den umsatz an corona & tequilla, auf daß beides in strömen fließt. die einhe<strong>im</strong>i-<br />
schen männer, lange mit den mädels bekannt, kommen regelmäßig vorbei, um sich<br />
von der katholisch verschlossenen, mexicanischen heiligen zu erholen. sie hüpfen<br />
nächtelang mit den amüsierwilligen, mexicanischen arbeiterinnen in sachen liebe<br />
über den glatten boden. die mädchen sind gewandt & anpassungsfähig, sind echte<br />
therapeuten & heilen die wunden der männer, indem sie ihre weichen brüste &<br />
ihre feuchten lenden dicht an die starren männerkörper drücken & deren plumpe<br />
bewegungen mit schnellen trippelschritten & kurzen hüftschwüngen ausgleichen.<br />
wie ausgewuchtet durch das zusätzliche gewicht der mädels, springen die männer<br />
über die tanzfläche & greifen fest in die dicken, kurz gewachsenen, mexicanischen
11 SPAZIEREN IM PARK 79<br />
mädchen, die dabei lachen & ein gesicht machen wie rosenwasser.<br />
4 stücke kommen vom band, 4 stücke spielt die kapelle, die sich für einen<br />
50er am abend den mariachi-ersatz ohne anzulaufen aus den fingern saugt, &<br />
ihn mit zuckerguß verziert & wohlverstärkt über die anlage ins rotdunkel der bar<br />
schickt. zur happy hour oder montags gibt es 2 getränke für 1, auf neumexicanisch<br />
2 4 1, vom leckeren magarita mit salz am glasrand & etwas zitrone für den<br />
näxten morgen. die faros schmecken gut wie nie, & ich rauche eine nach der<br />
anderen & bitte die mädels um feuer oder sowas. bevor ich dazu komme, mir eine<br />
auszusuchen & sie anzusprechen, ängstlich & feige, wie ich bin, menschenscheu &<br />
starrköpfig, hat ein flinker mechice die tanzpuppe bereits ein paarmal durch den<br />
saal getragen. ich komme mit meinem 3. doppelmagarita nicht über den ersten<br />
hinaus, so daß ich leise & vorsichtig nach oben in mein z<strong>im</strong>mer steige & in den<br />
näxten tag hinein schlafe.<br />
in der extrem hügeligen vulkanlandschaft ist uruapan von keinem punkt aus<br />
vollständig zu sehen. <strong>im</strong> nordosten des zentrums liegt der nationalpark, ein lang-<br />
gestrecktes, kultiviertes waldgebiet an den steilufern eines wildbaches. hier hatte<br />
sich vor vielleicht 600 jahren in vorspanischer zeit der letzte könig der gegend<br />
von seiner mutter zur welt bringen lassen, unter uralten, haushohen caticuá- &<br />
joróbäumen, in steter frische von den schnell fließenden wassern des herabstürzen-<br />
den baches besungen, der, wie heute noch <strong>im</strong>mer nicht zweifelsfrei feststeht, seine<br />
lieder in der dur-tonart F anst<strong>im</strong>mt, der quart zum C, das wiederum die quint<br />
von F ist.<br />
er fand den ort derart gemütlich, mit allem ausgestattet, was menschen zum<br />
leben & zum spielen für nötig befinden, daß er gleich seinen eigenen bautrupp<br />
kommen ließ, um das gebiet abzusperren & an jeder erdenklichen stelle einen<br />
brunnen anzulegen, für seine mutter, den mond, seine geliebte, die sonne & für<br />
seine gesundheit. an beiden seiten der wasser führen schmale, steingepflasterte<br />
wege entlang. sie kreuzen in den fels gehauene kanalsysteme, in denen faust-<br />
große, weiße blütenkelche ihre ruhige fahrt machen, führen an moosbewachsenen,<br />
<strong>im</strong>merfeuchten farnwäldern vorbei, über steinbrücken, die in engen bögen die fel-<br />
sufer miteinander verbinden, neben jungen frischgepflanzten bananen & anchicos<br />
entlang, den palmen & den lianenbewachsenen riesenumba, unter dem milchig<br />
grauen dach des h<strong>im</strong>mels, der seine bahnen nur selten für einen rauchigen son-
11 SPAZIEREN IM PARK 80<br />
nenstrahl öffnet, gefiltert von einem vielschichtigen, grünen blätterschleier über<br />
dem engen tal. die luft ist feucht & würzig, gesättigt vom duft unzähliger, far-<br />
benprächtiger blüten. eine quelle plätschert in ein natürliches bassin & am untern<br />
ende des waldes stürzt das wasser bereits in einer 3 m hohen, unüberwindbaren<br />
kaskade der kanalisation der stadt entgegen.<br />
auf einem sitzt ein kind & singt für die wenigen zuhörer in monotoner lita-<br />
nei die geschichte des königs, seines unendlichen ruhms & der eroberung ganzer<br />
königreiche. der park ist ruhig, gedämpft vom schallschluckenden gesang des was-<br />
sers, das jedes geräusch verwischt & in sich aufn<strong>im</strong>mt & es zu einem teil des <strong>im</strong>-<br />
merwährenden rauschens macht, bis es, jede einzigartigkeit verlierend, <strong>im</strong> großen<br />
sound der runden, sich drehenden erde mitspielt, <strong>im</strong>mergleich, jedesmal neu.<br />
ich ziehe den frischen atem der photosynthesewesen tief in mich ein & starre<br />
gebannt in einen weißen streifen aus wasser & licht, der als untrennbares ge-<br />
misch sich stetig verändernder formen mein auge in ruhe versetzt. neben mir in<br />
gleichförmigkeit versunken träume ich mich an die stelle des jungen königs, mit<br />
vielen freunden durch die wasser tobend, bis jeder sich <strong>im</strong> dickicht einer blattrei-<br />
chen pflanze oder unter dem vorhang des fallenden wassers auflöst & unsichtbar<br />
macht, um auf ein zeichen, gemeinsam mit den anderen hervorzuschnellen & mich<br />
mit einem höllischen gebrüll zu erschrecken. von den süßen früchten kostend,<br />
springen wir durch den bach, bis wir ermüden & die nacht uns mit dunkelheit<br />
belohnt, aufregend einsam, schutzbedürftig & streng.<br />
einem schmalen pfad folgend ersteige ich die felswand bis zu einem stein-<br />
tempel. eine familie breitet ihr abendbrot aus, getrocknete würste & zuckersüße<br />
erdnüsse, gebackene kartoffelchips, klaren tequilla & frischen fruchtsaft, nie feh-<br />
lende stapel maistortillas in beige oder blau, tacos, duritos, rote bohnen & scharfe<br />
soßen in 3füßigen steingefäßen, alles auf hellen tüchern unter dem riesigen dach<br />
auf einem steintisch. ich sammele farbige blüten in ein stofftuch, um sie meiner<br />
geliebten in die he<strong>im</strong>at zu schicken, wo wir ein winziges gärtchen bebauen.<br />
auf der anderen seite des fließenden wassers führt der pfad entlang einer un-<br />
einsehbaren mulde, in die eilige, mexicanische kacker ihre halbverdauten, hell-<br />
braunen bohnenreste abließen, heideggerianisch & dünnflüssig, hülsenartig, von<br />
sich herabfließend, in flußartiger entfließung ins so-geflossen-sein geworfen.<br />
wenn einer kackt, kann er kaum was falsch machen, es sei denn, der ort ist dem
11 SPAZIEREN IM PARK 81<br />
vorgang oder dem abgang nicht angemessen. wenn er redet hingegen, spielt der<br />
ort der rede kaum eine rolle, es sei denn, er hat zuhörer, die aufmerksam sind &<br />
der rede fließend folgen. natürlicherweise ist <strong>im</strong> denken alles möglich, gerade weil<br />
denken eben denken ist & natürlicherweise kein handeln, außer dem handeln des<br />
denkens selbst, energie technisch gesprochen einer fließbewegung & bei heidegger<br />
eben einer abflußbewegung. hups & weg.<br />
ein dünnflüssiger sprachwustler aber kann kein denken der runden, sich dre-<br />
henden erde verunstalten, außer sein eigenes, in seinem eigenen kopf, dem den-<br />
kort, indem sein eigenes denken, falls er ein echter mensch ist, stattfindet. sollte<br />
er jedoch sein handeln, wie sein denken, auf echten, wie auf erdachten, sand ge-<br />
baut haben, so wird er das rechte, echte verständnis der runden, sich drehenden<br />
erde nie erlangen, nichtmal das seines eigenen denkens, & er sollte weder ma-<br />
schinen bauen, die fliegen, noch sein sowieso zu kurzes leben solchen maschinen<br />
anvertrauen, denn diese werkzeuge könnten von menschen gebaut sein, die ebenso<br />
schwach & sandig denken wie er selbst & ihn mit samt seinem sand <strong>im</strong> getriebe<br />
wie <strong>im</strong> denken über den gedachten jordan oder die wupper führen.<br />
er sollte, außer in der musik oder be<strong>im</strong> sex, statt dessen den einfachen schluß<br />
ziehen, dem denken keine freiheiten zu erlauben, die in der welt des handelns &<br />
sonst in der objektiven welt, der äußeren welt, <strong>im</strong> gegensatz zur inneren welt,<br />
der subjektiven welt des denkens, keine entsprechungen finden, keine namen ha-<br />
ben & somit kein ding sind, äußerlich & rein objektiv. er sollte vielmehr umge-<br />
kehrt versuchen, innerlich, rein subjektiv, die begriffe & damit die denkdinger,<br />
so zu ordnen, wie er deren namensvettern & weltdinge um sich & in der um-<br />
welt vorfindet, & mit hilfe der erdachten namensvettern der namensvettern das<br />
zu ermöglichen, was in der welt der dinge nicht, oder genauer fast nicht, oder<br />
einfach noch nicht möglich ist. er kann dann mit hilfe der erdachten modelle, die<br />
einen teil der runden, sich drehenden erde widerspiegeln, sein handeln planen, in<br />
einer welt, in der sowieso nur möglich ist, was sowieso möglich ist, sonst wäre es<br />
schließlich unmöglich. nix gegen eine viertelstunde heidegger mit sahne, aber daß<br />
mir niemand sowas für ein vernünftiges vorbild des denkens hält, wenn meinem<br />
bescheidenen geist solch eine bemerkung erlaubt sei.<br />
die mathematik, als mutter aller wissenschaften, als reine oder angewandte<br />
mathematik, kennt sowohl die eingebung als auch die einbildung oder einfindung
11 SPAZIEREN IM PARK 82<br />
als auch den beweis, den weg & den rückweg. sie kennt die konstruktive schule,<br />
die erbaut & erfindet & die dekonstruktive schule, die untersucht & entdeckt,<br />
auseinander n<strong>im</strong>mt & wieder zusammen setzt, so wie justus den zylinderkopf &<br />
heidegger seine leeren, halbverdauten, hellbraunen bohnenhülsen.<br />
ehrlich gesagt habe ich den ganzen kram nie gelesen, auch adorno nie gele-<br />
sen, all den gesamten, wichtigen, alten, griechischen kram nie gelesen, wie ich<br />
überhaupt viel, sehr viel, nie gelesen habe. die gesamten russen liegen brach &<br />
spannend vor mir, alle nicht gelesen. zusammen mit meinen schulbüchern komme<br />
ich auf etwa 17 werke, die keine sachbücher waren & meine aufmerksamkeit für<br />
länger als eine 4tel stunde fesseln konnten. in der 2ten klasse, nach einem jahr<br />
herzhafter, mütterlicher, ungarischer, quadratischer “hebt eire finggerr“-beratung<br />
von frau bayer <strong>im</strong> gebrauch & in der nützlichkeit von buchstaben, die sich sei-<br />
tenweise zu haufen von wörtern in eine geschichte gruppieren ließen, predigte die<br />
trockene frau schmidt, die leider abartig aus dem mund stank nach tod & scheiße,<br />
eine strenge, wie sie mein unruhiges fleisch kaum vertrug. ich hatte mein erstes<br />
buch hinter mir, 17 seiten hui bui, das schloßgespenst, 1a science fiction, schnell<br />
geschrieben, & ich rannte sofort mit meinen eindrücken zu ihr.<br />
“frau schmidt, frau schmidt, ich hab’s gelesen.“ “was denn? ... na und ...“ ich<br />
kenne keine vorurteile. ich bin zu allen freundlich, <strong>im</strong>mer höflich, oder fast <strong>im</strong>mer,<br />
& <strong>im</strong>mer nett oder fast <strong>im</strong>mer nett. ich lasse nie jemanden ausreden, verliere nie<br />
oder fast nie das vertrauen in menschen & bin deshalb auch leicht zu belügen. sie<br />
hatte mich zwingen wollen, meine brille aufzusetzen, sie hatte mich verprügeln &<br />
in die ecke stellen wollen. sie wollte, daß ich für eine gesamte woche meine flinken<br />
finger auf unbest<strong>im</strong>mte zeit bis in alle ewigkeit nicht mehr hebe, & sie hat mich<br />
gehaßt. aber sie hat außerdem die unhöflichkeit, die fadheit, die selbstliebe &<br />
schließlich, ohne es zu wissen, die klugheit besessen, mir deutlich & anschaulich<br />
& in jeder hinsicht praktisch den rat zu geben, mich vom geschriebenen wort<br />
kaum beeindrucken zu lassen.<br />
als ich in der 11ten klasse mein erstes 11er gedicht über den weltschmerz<br />
& die sprachlosigkeit in 11 knappe, maschinengeschriebene zeilen gegossen hat-<br />
te, verstand mein deutschlehrer nur bahnhof, & ich gab das lesen endgültig auf.<br />
n<strong>im</strong>m’s mehr wie ein gesprochenes wort, & es macht wieder spaß. es wird das wort<br />
sofort zum text, & einer erzählt eine geschichte, so wie die fahrer der überwie-
11 SPAZIEREN IM PARK 83<br />
gend japanischen karren in port of spain, die mit wunderbaren, kleinen gedichten<br />
herumfahren.<br />
trinidad ist ein paradies für jeden eingefleischten leser von autokennzeichen,<br />
wie ich einer bin, seit meine mam mir & meinem bruder & unserer tante erna,<br />
die keine echte tante war, schon weil sie eine echte tante war, <strong>im</strong> hellblauen käfer<br />
auf der autobahn, um uns zu beschäftigen, die numernschilder der autos vorlas,<br />
& als wir später selbst lesen konnten, mit einem taschenkalender bewaffnet, die<br />
dazugehörigen städte rausfinden ließ, bis wir die liste einigermaßen auswendig<br />
konnten & die sache langweilig wurde. ende der 80er jahre, als englisch oder<br />
nordamericanisch wieder ungebrochen gesprochen wurde, kamen bei uns die f-<br />
ly-kennzeichen in mode. aber was trinidad zu bieten hat, läßt sich mit f-at-911<br />
nicht vergleichen, nichtmal an einem roten targa. wenn zum beispiel der schriftzug<br />
pay-2410 eines grauen mitsubishi von einem gelbweiß gestreiften suzuki minivan<br />
maxitaxi mit dröhnenden maxibaßboxen & klirrenden minihochtönern mit dem<br />
kennzeichen ham-1017 an der ecke parkstreet charlotte verfolgt wird, oder eine<br />
schlange heller datsuns charmant pap-2416, has-1419, tat-5869, hat-7818 unter<br />
dem leisesten hupen der runden, sich drehenden erde über den asphalt kriecht,<br />
setze ich mich bei einem leckeren carib zum chinesen an die straße & schaue den<br />
vorbeifahrenden geschichten nach. hey-1460, haz-1173, hu-844, pay-3715, pac-<br />
5058, tat-4375, paw-1159, paff-2813, paff-3129, nao pay ham tat pak tao hat &<br />
pa hag ham tad pa. ich spare mir die automarken. has tad nao.<br />
ich habe mit einigen inselbewohnern darüber gesprochen, & sie waren sich<br />
alle, oder fast alle <strong>im</strong> unklaren, welch wunderbare gedichte ständig ihre schöne<br />
insel linksseitig kreuzen. hal hal, taz pn hat hal pax, pa tat hag taz haj tao,<br />
hat pn hal pe han, tan tan hat has pn hat, has pa tod pax. leider sind das<br />
für den europäer höchst unerfreuliche nachrichten, mit einem einzigen da<strong>im</strong>ler<br />
& 2 käfern unter den preisgünstigen, alten japsenschüsseln, die überwiegend als<br />
private sammeltaxis <strong>im</strong> zickzack über die schmalen straßen von port of spain<br />
drängeln.
12 VORABEND 84<br />
12 vorabend<br />
in mexico city, dem herzland von nafta, sieht die lage ganz anders aus. in der 80<br />
km entfernten volks-wagen-stadt pueblo produziert europas erster & größter au-<br />
tomobilkonzern unter den flinken händen der einhe<strong>im</strong>ischen munter den kleinen,<br />
zuverlässigen käfer, der ohne beifahrersitz in giftgrüner oder postgelber herbie-<br />
lackierung mit weißem dach als taxi in 4er reihen um den zócalo der haupstadt<br />
über das breite pflaster hoppelt, <strong>im</strong>mer bereit, dich an jede, oder fast jede ecke<br />
der stadt zu bringen & den ausländischen gast natürlich besonders gern. die chro-<br />
nische überkapazität <strong>im</strong> transport & bei der arbeitskraft macht den vollständigen<br />
einsatz des verfügbaren, menschlichen kapitals überflüssig, was dem europäischen<br />
autokonzern preiswerte, gut ausgebildete, arbeitswillige schuhputzer beschert, in<br />
einem land, in dem der stiefel viel gilt & der staub kaum knapp wird.<br />
in guadalajara, der hauptstadt des bundestaats jalisco, habe ich deren dienste<br />
in anspruch genommen, um meine abgelaufenen secondhand-botticelli neu besoh-<br />
len zu lassen & ihnen einen glanz zu verleihen, den sie seit ihrem kauf nicht mehr<br />
gesehen hatten. ich wollte der heiligen jungfrau einen besuch abstatten. da sind<br />
geputzte schuhe ehrensache.<br />
an der ecke avenida 16 de septiembre & avenida juares kaufte ich einen obser-<br />
vadór & setzte mich mit einem milchcaffee, den ein weißberockter ober aus einer<br />
kanne milch & einer kanne caffee gegossen hatten, auf den brusthohen roten pla-<br />
stiksessel unter die schatten der akazien & schaute auf das dunkle bärtchen meines<br />
dienstleisters von oben herab, das voll & sauber geschnitten über den weichen,<br />
hungrigen lippen seitlich auf- & abwippte, während sein träger mit aller ehre, die<br />
solch eine arbeit benötigt, meine alten schuhe in neue form bringen würde. er<br />
ahnte wohl mein morgiges vorhaben.<br />
nach einer reihe nägel, die den weg vom mund des meisters in die sohle mei-<br />
nes schuhs fanden, zog er mir die neue ware wieder an & setzte meine füße in die<br />
dafür am sessel angebrachten halterungen vor seine nase. die knöchel schützte<br />
er mit je 2 von jahrelangem gebrauch dunkel gefärbten plastikkappen & band<br />
die krempe meiner hose bedächtig 3 schlag nach oben. ein trockener, ja ernster<br />
luftzug, von unten gegen die oberlippe geblasen, kühlte ihm nase & stirn. nach<br />
der seifenreinigung mit viel wasser, wie sie sonst nur von barbieren beherrscht
12 VORABEND 85<br />
wird, & einer ebenso feinen wie liebevollen abtrocknung mit einem nur für diesen<br />
reinigungsvorgang zu verwendenden stofflappen, folgte die auswahl der grundie-<br />
rung, in meinem fall ein bräunliches braun, die er mit pinsel & verdünner in feiner<br />
handarbeit auftrug. für die neue besohlung malte der bart an meinen absatz einen<br />
schwarzen strich bis an den rand des leders. der milchcaffee war vielleicht eine<br />
spur zu bitter.<br />
der folgende arbeitsgang bestand aus dem 3maligen auftragen gewöhnlicher<br />
schuhcreme, passend zur grundierung, diesmal einen tick brauner & mußte zwin-<br />
gend mit den zeigefingern beider hände bis unter die nähte gerieben werden. ich<br />
begutachtete nochmal meinen milchcaffee & der bart sein unvollendetes werk.<br />
während ich den observadór studierte, ließ er das wachs gehörig einziehen &<br />
begann rechtzeitig eine erste, grobe politur mit hilfe einer festen bürste, deren<br />
borsten vom vielen bürsten ganz braun geworden waren, um die überflüssige<br />
fettcreme an die nur unzureichend geschmierten stellen in der innenseite weiter-<br />
zuleiten & den in verdünner & öl gelösten farbstoff tief ins leder zu massieren,<br />
wodurch es bereits eine vorläufige geschmeidigkeit erhielt. die 2te bürste, etwas<br />
heller in den borsten & weicher <strong>im</strong> strich geführt, folgte der ersten & schwang<br />
sich, mit meisterhand vom bart angeschoben, wie der geölte blitz über mein zum<br />
glänzen gezwungenes schuhwerk. eine 3., sehr feine borstenreibung folgte nach<br />
farbausbesserungsarbeiten an der absatzlederkante, um alles mit unzähligen, sehr<br />
starken strichen eines wollapens zu wienern, daß ich <strong>im</strong> glanz meiner fußtracht<br />
meine alten schuhe kaum wiedererkannte. alles hatte nicht viel mehr als eine zi-<br />
garettenlänge gedauert. ich war stolz & gewappnet für den heutigen abend & den<br />
morgigen 12ten oktober, an dem die heilige jungfrau von zapopan & der gottlose<br />
sohn meiner religiösen mutter ein zusammentreffen haben würden.<br />
die architekten der innenstadt von guadalajara sollten einen preis für städte-<br />
bau erhalten. sie haben neben der großzügigen fußgängerzone um die kathedrale<br />
& der piedro losa, in der händler bis spät in die nacht hinein preisgünstige ange-<br />
bote verhökern, eine wohltat architektonischer art zustandegebracht, deren nach-<br />
ahmung ich allen bauplanern & stadtkämmerern in ihren planungsausschüssen<br />
über alle parteilichen grenzen hinweg unbedingt anempfehlen kann. anstatt den<br />
autos & ihren stinkenden motoren den vorzug & das sonnenlicht zu gönnen, wur-<br />
den sie, wenigstens zwischen der plaza de la liberación & der independencia 5
12 VORABEND 86<br />
m unter massive steinblöcke gelegt, so daß vom grölen der motoren nix mehr zu<br />
hören ist, es sei denn, einer hält sein ohr über einen der breiten, vergitterten<br />
lüftungsschächte an der plaza tapatia oder der gegenüber gelegenen esquina del<br />
diabolo, der ecke, die vor 400 jahren den kolonialzeitmäßigen propagandaapparat,<br />
die inquisition der heiligen katholischen kirche, beherbergte. augenblicklich ste-<br />
hen die kids über den gittern & lassen ihre riesigen hüte & die leeren plastiktüten<br />
von der aufsteigenden luft in den h<strong>im</strong>mel tragen.<br />
von meinem hotel in der morelia bis zur 2türmigen hauptkirche sind es 3<br />
minuten fußweg, & ich setze mich, die schuhe frisch geputzt, am vorabend der<br />
alljährlichen jungfrauenverehrung in bewegung, um meinen magen mit den lecke-<br />
reien der straßenhändler & garküchen zu füllen. über dem zentrum der stadt liegt<br />
eine eigenartige unruhe, wie in einer insektenkolonie kurz vor dem hochzeitsflug.<br />
die luft ist schwer vom durchdringenden, bläulich süßen duft gebackener maisfla-<br />
den. mit fleisch gefüllt werden sie tausendfach in den händen hungriger menschen<br />
zu stielen gerollt & gegessen. ich stehe auf der gepflasterten, autofreien avenida<br />
hidalgo neben dem platz vor der kathedrale, der überfüllt ist mit frisch verlieb-<br />
ten heteropärchen & riesigen, 5 generationen alten familienclans, mit singenden<br />
händlern, klausbunten tänzern, gruppen grell geschminkter mädchen & junger<br />
männer & all denen, die dem spektakel der jungfrauenverehrung beiwohnen wol-<br />
len. es w<strong>im</strong>melt von menschen. neben mir preist irgend jemand sonnenbrillen<br />
an.<br />
“son a cinco, cinco, cinco, son nuevo, son de novidad, son a cinco, cinco,<br />
cinco, son nuevo, son de novidad.“ sein lied geht mir wie eine bekannte melodie<br />
ins ohr. zwischen meinen füßen liegen audiokassetten, jojos, strohhüte, schürzen,<br />
tonpfeifen, parfümflacons, ledertrommeln, kinderkleider, tücher & verschiedene<br />
formen von weihrauch auf den riesigen steinquadern genau vor den fenstern eines<br />
gut gefüllten kaufhauses. ein pulk menschen schiebt mich mit 3 durados in der<br />
hand auf den platz vor die kathedrale.<br />
neben dem runden steinbrunnen finde ich halt unter einem quadratisch ge-<br />
schnittenen tabachinbaum. männer machen sich hastig an einem bambusgestell<br />
zu schaffen, das 7 m in den hell erleuchteten nachth<strong>im</strong>mel hinein ragt. über uns<br />
schwirren millionen insekten, angezogen vom licht, dem geruch der maisfladen &<br />
den zigtausend menschen auf dem platz. die steinbank unter dem baum ist rest-
12 VORABEND 87<br />
los besetzt, genauso wie die stufen am brunnen. wer keinen unechten bart zum<br />
ankleben hat oder keine fingergroße metallfigur, die sich be<strong>im</strong> drehen windet wie<br />
eine tänzerin, wer ohne süßen lutscher herkam & ohne kaugummi oder ohne ziga-<br />
retten, wer keine faustgroße plastiktüte mit süßem saft in der hand hält, läßt sich<br />
jetzt von den vorbeiziehenden verkäufern die auswahl zeigen, um sich einzudecken<br />
bis an die letzten tage der runden, sich drehenden erde. die luft ist rauchig vom<br />
holzkohlefeuer & gesättigt vom geruch gebratenen rindfleischs & heiß gebacke-<br />
ner maisfladen. zu beiden seiten der 16 de septiembre stehen die menschen dicht<br />
gedrängt auf den stufen einer metalltribüne, vor ihnen das portal der beiden 40<br />
m hohen kathedralenschiffe, mit palmen & bast geschmückt. ein mann & eine<br />
frau ziehen vorbei, beide <strong>im</strong> rollstuhl, mit einem kind auf dem schoß der frau. sie<br />
werden weitergeschoben, wie alle, die durch den menschenhaufen schw<strong>im</strong>men.<br />
hinter der kirche bildet sich ein 20 m langer gang in der brodelnden menge. 2<br />
dutzend junge trommler springen in 2er reihen mit einer fahne & 2 riesigen, langen<br />
peitschen von einem ende zum anderen. die teilnehmer des kleinen schwarms<br />
tragen alle das gleiche kostüm, eine weinrote jacke & eine dunkle samthose, einige<br />
mit einer tiefen baßtrommel um die hüften oder einer hellen pfeife <strong>im</strong> mund. mit<br />
schrillen pfiffen & laut knallenden peitschenschlägen halten sie den schweiß der<br />
staunenden menge beiseite.<br />
ich ziehe mich auf einen gekühlten karottensalat in ein caffee zurück, mir<br />
gegenüber am tisch eine indiofrau. sie hat das alter meiner mutter, das alter jeder<br />
mutter, die grauen haare in einem langen zopf nach hinten gebunden. sie streicht<br />
sich in bedächtiger handbewegung, als wolle sie eine feder fangen, die strähnen aus<br />
dem sonnengebräunten, faltigen gesicht. es ist zeit für einen dunklen caffee mit viel<br />
zucker, den sie sich mit dem verkauf von papas verdient. ihre grau karierte schürze<br />
reicht bis über die waden, wo ein rotbunter rock ihre füße bedeckt, die <strong>im</strong> sitzen<br />
auf der querleiste des stuhles ausruhen & kaum die ockerfarbenen steinfließen<br />
des fußbodens erreichen. 2 schwarze augen schauen wie hinter einer lesebrille<br />
prüfend auf den korb mit den tüten handgemachter kartoffelchips, zu einem peso<br />
die portion. die alte greift seitlich herab in die tasche ihrer schürze & beginnt<br />
andächtig & genau abwägend, mit den münzen kleine türmchen auf der plastik-<br />
tischdecke zu stapeln, jeweils einen peso stark. wieder & wieder zählt sie das<br />
blech, während ihre stirn runzeln wirft, bis die flügel der schlanken adlernase nach
12 VORABEND 88<br />
oben fliegen. ich begutachte das metall, das sie gleich dem geschäftigen kellner in<br />
der fleckig weißen jacke geben wird, während auf der straße kinder laut auf ihren<br />
pfeifen blasen, die fahrenden händler <strong>im</strong> vorbeigehen ihr lied singen & die tanzbar<br />
<strong>im</strong> ersten stock schlagermusik spielt. einzelne finden kaum beachtung <strong>im</strong> trubel<br />
des frühen abends, an dem die heilige jungfrau von zapopan wegen unglaublicher<br />
wundertaten geehrt wird für ihre unglaubliche, schier endlos engelhafte geduld<br />
<strong>im</strong> erleiden, geehrt wird von jedem, der einen hauch religiosität oder einen fetzen<br />
neugier oder ein bißchen sehnsucht hat nach dem gew<strong>im</strong>mel von menschenhaut.<br />
ich verlasse das caffe & laufe an einem wanderprediger vorbei, der seine seele<br />
in ein übersteuertes mikrofon brüllt, von seiner frau & seinen kindern begleitet,<br />
vorbei an den uralten, riesigen familienclans, die unter den arkaden des palacio<br />
municipal den morgen bis zum großen schwarm abwarten, bis auf den platz vor<br />
der barocken kathedrale. hier drängen sich hunderttausende. ein johlen erfaßt<br />
das zentrum und schwillt an, als das bambusgestell in brand gesetzt wird. unten<br />
werfen flammen kleine kugeln ab, daß die funken sprühen. die ersten bezahlen<br />
ihre gute sicht mit brandflecken <strong>im</strong> pelz. beißender schwefelgeruch steigt gelb in<br />
den hell erleuchteten nachth<strong>im</strong>mel. die menge grölt mit einem fliegenden licht,<br />
das über unseren köpfen einen glitzernden regen versprüht, dann bei einem roten<br />
blitz, der unter einem krachen den platz erleuchtet. auf 3/4tel höhe sind stütz-<br />
seile angebracht, die eine kette kreischender heuler über unsere köpfe jagen &<br />
an kreisenden rädern gold verschenken. auf der spitze dreht sich ein rad, & der<br />
platz klatscht laut befall, als die oberhalb angebrachte kugel in flammen aufgeht<br />
& nach allen seiten buntes, gleißendes licht aussendet.<br />
ganz oben, auf einer stange über der pyramide, vom gesamten platz aus gut<br />
sichtbar, gl<strong>im</strong>mt zaghaft ein 5zackiger stern, leuchtet rot, erhebt sich langsam<br />
über uns & schwebt, zischend von seinem feuer getragen, innen rot glühend, au-<br />
ßen hell weiß leuchtend, h<strong>im</strong>melwärts. er läßt sich zeit be<strong>im</strong> fliegen, als ob er sich<br />
umschauen wollte, wohin die reise geht. hunderttausend augen folgen dem fliegen-<br />
den licht, tragen den stern höher in den h<strong>im</strong>mel & schieben ihn mit einem raunen<br />
auf die kirche zu, wo er auf dem kapitell des linken turms landet & minutenlang<br />
seine heiligenden funken über unsere köpfe versprüht. pärchen fallen sich in die<br />
arme, um sich zu küssen, & die alten bekreuzigen sich aufgeregt in tiefer eintracht<br />
mit ihrem selbstgewählten herrn. in weniger als 6 stunden wird sich der gesamte
13 YOGA 89<br />
platz aufmachen, um <strong>im</strong> 12 km entfernten zapopan, einer gemeinde von guadala-<br />
jara, der heiligen jungfrau maria, oder was von ihrer mechicen-urahnin nach 500<br />
jahren katholischer propaganda übrigblieb, in einem langen schwarm zur kleinen,<br />
2türmigen kapelle zu huldigen. ich laufe, gerufen von meinem freund, zurück über<br />
den platz, an der trommlergruppe vorbei, die inzwischen konkurrenz bekommen<br />
hat, zu meinem hotel. niemand außer mir zeigt anzeichen von müdigkeit, & so<br />
schlafe ich die nacht alleine.<br />
am anderen morgen um 10 ist die fußgängerzone bis zur kathedrale wie ausge-<br />
storben. die schuhputzer haben ihre metallsessel in einer reihe geparkt & jeden der<br />
arbeitsplätze mit einem schloß verriegelt. die arkaden sind gereinigt, die tribüne<br />
abgebaut & die hauptstraße des 16 de septiembre, sonst vollgestopft mit autos &<br />
menschen, gähnt leer am sonnigen sonntagmorgen. ein omnibus bringt mich 5 km<br />
weiter die alcalde entlang, biegt links in die avenida avila canacho ein & stoppt<br />
an der 8spurigen avenida nomalistas. menschen laufen auf den fahrbahnen. der<br />
bus kehrt um, & ich steige aus, um zu fuß weiterzugehen.<br />
13 yoga<br />
mein tag beginnt üblicherweise mit einer 4tel stunde yoga. ich mache die kerze &<br />
die brücke & das 3eck. die wachen bewegungen, die jede faser meiner unzähligen<br />
muskeln erfassen, lehren mich, meinen körper zu erforschen & zu benutzen & ihn<br />
nicht vor mir herzutragen, wie ein hüftkranker europäer. ich schaue den tieren<br />
zu, wie sie ihre gelenke dehnen & ihre einzelnen glieder zu einem ganzen fügen,<br />
das mehr vermag, als seine teile. ich mache mir bewußt, daß alles, oder fast alles<br />
in mir, in einem zusammenhang steht mit allen anderen teilen, & daß die sehnen<br />
& fasern von der fußspitze über die zehengelenke, über die fußwurzelknochen &<br />
die knöchel, über die knie, weiter durch das vielschichtige hüftgelenk, die wirbel<br />
hinauf, am schlüsselbein vorbei, durch die schulterkugeln, über die ellenbeugen<br />
bis zu den handwurzelknochen & in die einzelnen fingergelenke hinein eine einzige,<br />
bewegliche, drehbare, zusammenhängende kette von bändern, kapseln & knochen<br />
bilden, die alle einer stetigen veränderung unterliegen. um mich zu strecken, hat<br />
es keinen sinn, den kleinen finger zu bewegen, & um mich zu beugen, langt bei<br />
weitem kein knick <strong>im</strong> hüftgelenk.
13 YOGA 90<br />
jede katze ohne eigenen willen & ohne den selbstdenkenden, entscheidungsfähi-<br />
gen verstand & jeder hörige, reumütige hund weiß mehr über sich als der durch-<br />
schnittswestler mit durchschnittsstuhl, obwohl beide in einer kultivierten welt der<br />
zivilisation leben, weit ab vom echten, sowieso zu kurzen leben, das schmerzhaft<br />
& lustvoll, anstrengend & süß zugleich ist.<br />
der geist des yoga ist seine materie, denn außer materie gibt es nix, oder fast<br />
nix auf der runden, sich drehenden erde, & alles, was ist, lebt durch die mate-<br />
rie & in ihr. nicht der wille ist es, der den körper bewegt, sondern es ist der<br />
körper selbst, der sich bewegt, angeregt durch den willen, den freien willen, das<br />
einzig wirklich freie, was menschen seit menschengedenken besitzen. es ist der<br />
wille, der den körper veranlaßt, sich seiner vielen möglichen bewegungen zu erin-<br />
nern, schmerzhaft & lustvoll zugleich, wie jede körperliche erfahrung, & es ist der<br />
körper, der sich bewegt, ohne den willen verdammt dazu, auf der <strong>im</strong>mergleichen<br />
bahn, in unendlicher, nie endender form sich zu wiederholen.<br />
schau dir an, wie eine katze ihren buckel macht, oder wie der hund mit dem<br />
kopf nach unten die vorderläufe ausstreckt, die hüften hoch gegen den h<strong>im</strong>mel<br />
lang machend, einen bogen schlägt mit seinem rücken, um seine gelenke in eine<br />
sanfte spannung zu versetzen.<br />
ich weiß, daß die erfahrung nicht schmerzfrei & lustlos vonstatten geht, wie<br />
eine geistige erkenntnis. der körper denkt mit seiner chemie, die er benötigt, um zu<br />
tun, wozu er in der lage ist, & jede bewegung, wenn sie zum ersten mal ausgeführt<br />
wird, erzeugt einen aha-effekt, über die hier-bin-ich-also-formel, deren gesammelte<br />
kraft als informationsschmerz spürbar wird, als das erste gefühl, als ich auf die<br />
runde, sich drehende erde kam & meine lungen sich aufblähten & mit luft füllten,<br />
& ich den schmerz laut in die welt schreien konnte. was damals automatisch<br />
vorwärts ablief, geht jetzt bewußt rückwärts. ich benutzte meinen atem, um die<br />
nötige energie aufzubringen, die mir fehlt, wenn ich den informationsschmerz als<br />
anzeige für energiemangel spüre.<br />
ich atme tief & bewußt, durchdringend & kraftspendend das einzige ein, was<br />
auf der runden, sich drehenden erde noch umsonst zu haben ist, den brennstoff,<br />
den die pflanzenwelt als nebenprodukt der photosynthese erzeugt, & wenn ich<br />
richtig atme, nicht krampfhaft nach luft ringe, sondern angstfrei & ruhig meine<br />
lungen fülle, indem ich den unteren bauch ausstrecke & wie einen bogen spanne,
13 YOGA 91<br />
wenn ich ihn dann freigebe, wie der baum die reife frucht, um die verbrauchte luft<br />
ausströmen zu lassen als nahrung für die photosynthesewesen, dann beginnen die<br />
fasern der unter niveau arbeitenden muskeln mit einer körperlichen erkenntnis,<br />
wie sie von keiner schule vermittelt wird, wie sie nur die materie selbst zu wege<br />
bringt, einer erkenntnis, die kein bewußtsein benötigt, weil sie unmittelbar &<br />
rein praktisch ist, einer erkenntnis, die jede grenze als trennlinie zu etwas neuem<br />
versteht, als überwindbarer & verschiebbarer strich zwischen fast schon & noch<br />
nicht.<br />
es gibt kein ziel & keinen für <strong>im</strong>mer erreichten zustand. es gibt keine unüber-<br />
windbaren hindernisse & keine unglaublichen schätze. alles ist stetige, ständige,<br />
gleichförmige, konkrete arbeit, die weder erdacht, noch erträumt, noch einfach<br />
erinnert werden kann, sondern von mir alleine für mich alleine getan werden will.<br />
wenn du es nicht machst, macht es keiner für dich, & du wirst <strong>im</strong>mer über die<br />
runde, sich drehende erde laufen, wie ein verzogener, bettlägeriger westler, wie ein<br />
<strong>im</strong> zoo geborener tiger, der nix kennt als die stäbe seines winzigen käfigs, unfähig<br />
in einer ihm gemäßen umgebung zu leben. was dich vom tiger in seinem käfig<br />
unterscheidet, ist dein wille & dein verstand, die kraft & die fähigkeit, dich aus<br />
dir raus zu denken, gedanklich einen versuch durchzuführen, dich wieder in dich<br />
hinein zu denken, & den versuch von der gedanklichen welt in die praktische welt<br />
der dinge zu heben, wo alles, oder fast alles wirklichkeit ist, eine konkrete tatsache<br />
& sonst nix. wenn du die vorwärtsbeuge versuchst & dabei deine beine nicht<br />
nach oben streckst, weil der hier-bin-ich-also-informations-schmerz dich betäubt,<br />
& weil du glaubst, keine kraft der runden, sich drehenden erde sei in der lage,<br />
deine zehen bis zur hüfte hinauf in den h<strong>im</strong>mel zu strecken, dann vergiß es. setz<br />
dich in einen sessel & telefoniere, oder träume von einem urlaub am strand.<br />
willst du allerdings deinen körper bewohnen wie der wind den h<strong>im</strong>mel be-<br />
wohnt, dann bewege ihn & gehe auf eine reise, die weder ein festes ziel hat, noch<br />
einen genau einzuhaltenden weg. mache dich auf, in die unbekannte wüste dei-<br />
nes rückens, in die unendlichen weiten deiner arme. staune über die unglaubliche<br />
kraft deiner oberschenkel, die beweglichkeit deiner lenden, die alles andere sind<br />
als ein 4eckiger kasten mit röhren am untern ende. lache über die drehbarkeit<br />
deiner wirbelsäule, deren eine funktion von vielen es ist, deinen kopf hoch über<br />
den schultern zu halten. schaue dir die tiere an, den schwan & den hund & die
13 YOGA 92<br />
katze, die schlange & die heuschrecke & den löwen & verstehe, wie alles in deinem<br />
körper mit allem in verbindung steht, & wie jede unterbrechung in dieser kette<br />
die teile voneinander abschneidet & sie für <strong>im</strong>mer vereinsamt, bis sie schließlich<br />
unbrauchbar werden & absterben, wie die welken teile einer pflanze.<br />
alles ist arbeit, das ganze, sowieso zu kurze leben ist arbeit, & selbst autofah-<br />
ren, telefonieren & schlafen ist arbeit, & sie gehört gehörig vergütet. essenmachen<br />
ist arbeit & schauen & nach hause kommen & verreisen.<br />
keiner kann dein kurzes leben leben, & keiner wird je das sowieso zu kurze<br />
leben eines anderen leben. keiner wird je mein knappes leben führen, so, wie ich<br />
es lebe, selbstgewählt & begrenzt durch die materiellen möglichkeiten, die mir<br />
zur verfügung stehen. das planen des morgigen tages ist arbeit & das vertrödeln<br />
der zeit bis dahin, essen & verdauen, machen & einordnen von erfahrungen, all<br />
das ist arbeit, täglich geleistet von über 5000 millionen menschen zu allen tages-<br />
& nachtzeiten auf allen teilen der runden, sich drehenden erde. alle, oder fast alle,<br />
träumen davon, irgendwann mal in ihrem sowieso zu kurzen leben die soziale leiter<br />
ein paar stufen hinauf zu steigen & es mit ein bißchen glück sogar bis ganz nach<br />
oben zu schaffen, anstatt sich gemeinsam um die planung der grundlegenden &<br />
praktischen lebensbedingungen derart zu kümmern, daß ein materielles auskom-<br />
men für alle & genau alle ohne not & ohne sorge gesichert ist. die schwierigkeiten<br />
des einzelfalls sind von ganz anderer natur als solche, wie sie bei allgemeinen<br />
fällen auftreten.<br />
die streckung der waden & der oberschenkel nach oben, bis das becken sich<br />
über den beinen in den h<strong>im</strong>mel erhebt, ist theoretisch betrachtet begrenzt,<br />
während eine einfache yogaübung wie die vorwärtsbeuge bereits zeigt, daß diese<br />
grenze genau dort beginnt, wo mein wille endet, meinen informationsschmerz als<br />
anzeige des energiemangels zu erkennen & nicht als eine todbringende gefahr, so<br />
daß ich meinen körper, den einzigen, den ich habe, & alles, was ich bin, durch<br />
ruhige, gleichmäßige, tiefe atmung mit der materiellen, gasförmigen energie ver-<br />
sorge, die den schmerz auflöst & mich in einen zustand versetzt, indem ich die<br />
trennlinie zwischen dem, was war, & dem, was wird, unmerklich verschiebe, so<br />
wie sich die zeit selbst jeden augenblick wandelt & nie das ist, was sie war, &<br />
<strong>im</strong>mer schon war, was sie nie sein wird.<br />
ich strecke meine nackten füße auf den boden, & während ich die zehen spreize
13 YOGA 93<br />
& mein gewicht auf die ballen verschiebe & die fersen wie 2 schienen schulterbreit<br />
nach hinten ausrichte, treibe ich mit der kraft, die mir mein atem verleiht, die<br />
muskeln der waden & der oberschenkel nach oben, bis die hüfte sich zu öffnen<br />
beginnt wie eine blume am morgen & die bänder der unteren lendenwirbel freigibt,<br />
um sie langsam zu dehnen, so daß die nach unten wirkende schwerkraft meinen<br />
rücken mit jedem der vielen muskeln entspannt in die beuge zieht, & ich mit<br />
den verschränkten ellenbogen unter meinem kopf einen freiraum schaffe, in den<br />
meine wirbelsäule langsam sinkt. ich spüre, wie die weißen, festen schutzhäute<br />
um meine muskeln aneinander reiben, wenn sich ein strang über den anderen ein<br />
wenig zum boden hin schiebt. nach 10 tiefen atemzügen beuge ich die knie ein, so<br />
daß mein steiß fast den boden berührt, & richte mich auf, wobei ich gleichzeitig<br />
die arme über die schultern & den kopf hebe. ich fühle mich voll & leicht, wie ein<br />
luftgefüllter ball.<br />
alle menschen, oder fast alle, wollen geliebt werden, wollen wissen, daß es an-<br />
dere menschen gibt, die ihnen zugeneigt sind, wollen es zeigen, indem sie zutrau-<br />
lich & handgreiflich werden. sie wollen ficken & gefickt werden, & dazu gehört<br />
manchmal der vom yoga bekannte hier-bin-ich-also-informations-schmerz, kurz<br />
bevor sich die muskeln zusammenziehen & verkrampfen, um darauf hin in ei-<br />
nem stottern in rhythmische zuckungen zu verfallen, bis schließlich die erlösen-<br />
de hormondroge ausgeschüttet wird & alles in einen betäubenden glückszustand<br />
versetzt, naß & neblig wie ein gut geheiztes dampfbad, bis schließlich die milch<br />
überkocht & alles mit glückssuppe übergießt. fehlt diese art von chemie, so verla-<br />
gert sich der stoffhaushalt langsam & über einen langen zeitraum in einen sauren,<br />
angespannten bereich, & du wirst über kurz oder lang die fähigkeit verlieren, die<br />
welt klar zu sehen & statt dessen alles, oder fast alles, als einen angriff begreifen,<br />
was andere an zärtlichkeit für dich aufbringen.<br />
wenn ich für längere zeit nicht gefickt worden bin, befinde ich mich in einem<br />
ungemütlich gehetzten zustand. meine augen schmerzen, & meine haut ist gereizt.<br />
ich verströme den bitteren dunst ungestillter sehnsucht & laufe wild blickend<br />
durch volle straßen an unzähligen passanten vorbei, die mich tapfer ignorieren,<br />
weil sie ihren frieden geschlossen haben. ich kann mich dann nicht beruhigen, &<br />
ich will auch nicht, & so trieft mir der schmerz aus den lenden & mich umgibt<br />
hilflosigkeit & bedürftigkeit. ich gleiche einem getretenen, verranzten hund, einer
14 DER JUNGFRAU ZU EHREN 94<br />
verwahrlosten, gebissenen katze. mein herz schlägt unregelmäßig & schnell. meine<br />
beine stolpern über den boden. mein kopf ist gefangen in der einen frage, die sich<br />
in meinen schädel hämmert & mich blind macht vor wut & aufregung, & indem<br />
ich mich frage, wo du bist, mein du, mein anderes, mein gegenstück & mein<br />
glück, meine liebe, mein knappes leben, mein engel, mein blut, mein schatz, der<br />
geboren wurde, um mich zu berühren & so meinen schmerz zu lindern, dessen<br />
freude es ist, mich lachen zu sehen & der nicht ruht, bis wir beide in den rettenden<br />
glückszustand fallen, nach dem sich alle, oder fast alle menschen sehnen, verpasse<br />
ich mit trefflicher genauigkeit jede chance, gerettet zu werden von einem der 5000<br />
millionen menschen auf der runden, sich ständig drehenden erde. aber so ist das<br />
leben.<br />
14 der jungfrau zu ehren<br />
dabei ist es nicht schwer, sich retten zu lassen. ich stelle mich an eine kreuzung<br />
in buenos aires & laufe blind über die straße, sagen wir die libertadór am sonn-<br />
tag mittag, wenn wirklich nicht viel los ist, laufe vom park über die 12 sauber<br />
abgeteilten spuren auf das 12stöckige gebäude des argentinischen automobilclubs<br />
zu, <strong>im</strong>merhin 90 jahre alt, & lasse mich von einem stolzen blechritter ins jenseits<br />
über den rio de la plata befördern.<br />
an jeder kreuzung in buenos aires, voll von schwarzen taxis mit tiefgelben<br />
dächern & collectivos, den privaten bussen, macht sich die aufgestaute ficklücke<br />
luft. die fahrer veranstalten einen mörderischen machtkampf, regellos, ungeord-<br />
net, unbarmherzig & starrköpfig. keiner gibt nach, sondern steuert mit ungemin-<br />
derter fahrt auf die seitlich anrollenden blechkisten zu, einem unfall entgegen,<br />
eingeklemmt in einen metallkasten, starr den blick geradeaus. alle rollen auf die<br />
kreuzung, ohne äußerliche merkmale der aufregung, ganz vom glauben an die<br />
unterlegenheit derer beseelt, die zur gleichen zeit die straße benutzen, & der tap-<br />
ferste von ihnen, oder wer sich für den tapfersten hält, wird den kampf gewinnen,<br />
bis an die näxte ecke, die eine quadra weiter mit noch stumpferen blechrittern<br />
aufwartet. die verlierer dieses machtspiels, wie es allen, oder fast allen männern<br />
in argentinien in die wiege gelegt wird, reißen sich zusammen & zerkauen den<br />
schmerz, um ihn be<strong>im</strong> näxtenmal in mut & zügellosigkeit umzusetzen.
14 DER JUNGFRAU ZU EHREN 95<br />
was dem blechverkehr an form fehlt, hat der tango an strenge zu bieten. hier,<br />
wo es um zügellosigkeit geht, um getanzten sex, um gelebtes leben, ist alles ord-<br />
nung, ist die arbeit die hüterin aller wildheit, schmerzerfüllt & traurig. mit der<br />
gewißheit, die meisterliche form lange nicht erreicht zu haben, wird das vergnügen,<br />
sich mit einem liebespartner gemeinsam & in eintracht zu bewegen, vom behut-<br />
samen spiel zum bitteren ernst. in genau festgelegter schrittfolge, die knie fest<br />
zusammengepreßt, mit steifem rückgrad & starrem blick, treten sich die tänzer<br />
gegenseitig in die waden & stellen sich die beine in den weg, daß nur aufwendiges<br />
fußkreuzen das tanzen ermöglicht. anstatt die hüften sanft zu wiegen & leicht an-<br />
einander zu reiben, schieben sich die paare wie holzlatten durch die schweigenden<br />
zuschauer & üben den mißachtenden blick todesmutiger stierkämpfer.<br />
in der 6 m breiten, steingepflasterten florida <strong>im</strong> zentrum von buenos aires,<br />
laufen jede sekunde etwa 10 leute an den unzähligen, kleinen geschäften vorbei.<br />
es ist sommer & die mädels haben ihre langen haare offen über die schultern<br />
gekämmt. sie tragen hautenge jeans, nur mit einem schuhlöffel anzuziehen, die<br />
jede falte ihrer prallen hüften abzeichnen. ich kann das prägejahr der münzen in<br />
den gesäßtaschen lesen. andere gehen in dünnen, geblümten, weit geschnittenen<br />
sommerkleidern mit einem schlitz, der die innenseite ihrer braunen schenkel bis<br />
in den schritt zeigt. die jungs sind sonnenbebrillt & langhaarig & haben sich für<br />
den job in einen dunklen anzug gezwängt, der ihren trockenen, herrenhaften gang<br />
betont, oder das helle hemd in die hose gesteckt & bis zum nabel aufgeknöpft.<br />
es ist sommer & die heiße luft fl<strong>im</strong>mert über den steinen. ich stehe vor dem<br />
caffee richmond, um die rauchglastür in den seiteneingang zu nehmen & <strong>im</strong> kl<strong>im</strong>a-<br />
tisierten keller einige partien schach zu spielen. unten an den karambolagetischen<br />
stehen ältere herren konzentriert über einer 3band-kombination. oben auf der glei-<br />
ßend hellen einkaufsstraße ziehen die nachfahren der hüftkranken westler durch<br />
die sonnenstrahlen & lassen keinen blick in ihre augen.<br />
stolz & gelangweilt bewegen sich kleine gruppen durch das licht der 200 jahre<br />
alten fußgängerzone, ohne zur seite zu schauen, einsam, unnahbar, gefangen von<br />
der mühe, keinen blick zu kreuzen, zu tode gelangweilt vor eitelkeit & stolz, <strong>im</strong><br />
flannieren vertrocknet, <strong>im</strong> todeskampf verharrend tot gehofft, unlebendig, sex-<br />
tot, mundtot, augentot, beintot, muschitot & schwanztot, zu tode erobert &<br />
totverweigert, lippenlos wegtelefoniert, be<strong>im</strong> einkaufen am schaufenster totge-
14 DER JUNGFRAU ZU EHREN 96<br />
glotzt, an hohen absätzen verblutet, adelig & nobel verblichen, nasentot, oh-<br />
rentot, an der feinen krawatte kripiert, <strong>im</strong> schicken minirock sonnenverbrannt<br />
& parfümiert von schminke erdrückt, an unausgefickten träumen verstorben,<br />
arschtot, gesichtstot & körperlos mit den eigenen hemmungen abgegürtelt, be<strong>im</strong><br />
hochziehen der augenbrauen vor empörung gestorben, jackentot, kleidtot, <strong>im</strong> ver-<br />
schwiegenen wunsch erfroren, in sehnsucht ertrunken, brusttot, schultertot, von<br />
nylonstrümpfen & trägerkleidern zerteilt, gehirntot, nerventot, von engelslocken<br />
weggeweht, an schönheit & charakterstärke verreckt, zu tode geschnarcht, vom<br />
rasierer abgemessert, be<strong>im</strong> kämmen tapfer weggestorben, lautlos, höflich zu tode<br />
gegreint, ungefickt an der herabhängenden unterlippe verendet, verpulvert, einge-<br />
klemmt, zerbissen, notleidend, für <strong>im</strong>mer unglücklich in den tod schampooniert,<br />
am hüftschwung zerplatzt, mit geschwollener brust von fremden blicken aus dem<br />
sowieso zu kurzen leben gedrückt, zahntot & zungentot, <strong>im</strong> schritt abgetötet,<br />
mit starrheit erstochen, totrasiert, totgefärbt, von unterwürfigkeit zertreten, in<br />
todessehnsucht an mißachtung zerschellt, totgehungert, totgelaufen, totgebräunt,<br />
am schwitzhändchen mit erhobener sonnenbrille von augenzeugen getötet, abge-<br />
storben, geruchstot, bauchtot, kopftot, vom eigenen schwanz ins grab gezogen,<br />
hosentot, halstot, wegen vorgetäuschter blutfülle selbst exekutiert, mit der ei-<br />
genen handtasche aus modebewußtsein erschlagen, am verschränkten arm der<br />
unechtheit erlegen, schenkeltot, leblos, reglos, ungevögelt, fleischlos, blutleer, be-<br />
wegungsarm, für <strong>im</strong>mer & ewig abgestorben, tot, verwest, ungefragt, auswegslos,<br />
endgültig & selbstgewählt.<br />
sie sehen nichtmal schlecht aus, die porteños, wenn sie wie gezähmte wildp-<br />
ferde über die belebte fußgängerzone stolzieren, <strong>im</strong> bewußtsein zur südlichsten<br />
nation americas zu gehören, deren fleischverzehr pro kopf alles andere & bisher<br />
dagewesene in den schatten stellt.<br />
die menschen in mexico sind weniger ehrgeizig & nicht so steif, sondern stolz<br />
auf ihre mechicen-herkunft, wenn sich 100tausende versammeln, um die alten,<br />
ermordeten götzen auferstehen zu lassen, die selbst eine erdumspannende glau-<br />
bensindustrie nicht ins vergessen drängen konnte.<br />
2 km vor zapopan verengt sich die 8spurige zufahrtsstraße & zwängt die mas-<br />
sen auf tuchfühlung, wie es sich eine echte jungfrau verbeten würde. die plaza<br />
municipal, 200 m <strong>im</strong> quadrat, an 3 seiten mit arkaden umbaut, zeigt auf die
14 DER JUNGFRAU ZU EHREN 97<br />
graue barockkirche der heiligen mutter des nichtexistierenden götzen. bepflastert<br />
& schattenlos beherbergt der platz unterirdisch aus allen teilen mexicos angereiste<br />
tanzgruppen. sie haben sich in den riesigen kellerraum in kleine abteile zurück-<br />
gezogen, um <strong>im</strong> kühlenden, lichtlosen gewölbe auf den auftritt zu warten. kinder<br />
aller altersstufen dösen <strong>im</strong> halbdunkel, proben ein paar tanzschritte, den feder-<br />
schmuck auf den fußboden gelegt oder auf eine leine gehängt. andere lauschen<br />
aufmerksam den geflüsterten anweisungen ihres anführers oder richten ihre far-<br />
bige uniform, während nur 3 m über ihnen die helle mittagssonne unbarmherzig<br />
ihre brennenden strahlen senkrecht auf die freie, schattenlose fläche schickt.<br />
ich hole mir in der farmacia an der ecke 2 kühle anderthalbliterflaschen wasser<br />
& trinke die erste in einem zug weg, um gestärkt <strong>im</strong> menschenstrom einzutau-<br />
chen. der vorhof der kapelle ist mit einem mannshohen metallzaun aus lanzen<br />
abgesperrt, so daß der schwarm durch 2 durchlässe dirigiert wird. dumpfe trom-<br />
melschläge aus allen richtungen geben der geduldigen prozession den takt an. von<br />
schirmen geschützt & mit tüchern auf der stirn, zieht eine kolonne in 10er reihen<br />
cm-weise auf die kleine, graue kirche zu, beaufsichtigt vom glühenden licht der<br />
mittagssonne & einer mönchskutte auf dem balkon über dem portal.<br />
hinter dem gitter wohnt in stein & holz gehauen der aberglaube derer, die eine<br />
trübe einbildung dem klaren verstand vorziehen. mit unzähligen menschen werde<br />
ich in die winzige kapelle gedrückt. ich kann zuerst nix erkennen. weiter vorne vor<br />
einer absperrung sammeln emsig wie bienen 4 diener des außerirdischen münzen<br />
& scheine & alles, was sie kriegen können, in einen kleinen stoffbeutel. sie stehen<br />
neben einer abgegriffenen holzfigur, einer frau mit einem säugling auf dem arm.<br />
sie schauen geprügelt drein & verteilen deshalb heiligenbilder. einige drängeln vor<br />
& bringen blumen für die ehrwürdige madonna. ein amtsmann in kutte preßt sie<br />
kurz an die holzpuppe, um sie dann in eine plastikschale zu werfen, wo sie in<br />
einem kleinen bach mit den näxten gaben auf den fußboden fallen. ein junge ist<br />
damit beschäftigt, die pflanzen beiseite zu kehren.<br />
die älteren mütter mexicos, die ihre jungen & ihre verheirateten söhne samt<br />
ihrer familien zu dieser für ihr geistiges leben wichtigen veranstaltung mitbrach-<br />
ten, zergehen jetzt in tränen, nach innen schon lange weinend, weniger wegen<br />
dem ständigen geschiebe oder der schlechten luft <strong>im</strong> winzigen, überfüllten raum,<br />
sondern wegen der dringend benötigten essensmarken, deren mangel kaum zum
14 DER JUNGFRAU ZU EHREN 98<br />
lachen anlaß bietet.<br />
etwa 2einhalb monate später werden die tapferen ihrer söhne, die weder zu<br />
jung, noch zu verheiratet sind, einen aussichtslosen kampf mit dem mexicanischen<br />
militär eröffnen, um den bundesstaat chiapas <strong>im</strong> südosten für einige wochen der<br />
ordnungsmacht zu entziehen & dem herrschaftsapparat nix weiter entgegenzu-<br />
werfen als ihr bißchen, sowieso zu kurzes leben, & ein paar harte kugeln.<br />
auf dem vorplatz der kirche & <strong>im</strong> angrenzenden seitenhof trommeln, pfeifen &<br />
tanzen mehr als 2 dutzend indianische gruppen uralte, vorchristliche rhythmen,<br />
schnell & langsam zugleich, um ihre alten götzen zu beschwören. ich frage mich,<br />
ob sie wichtiger & wirkungsvoller sind als die neueren, toten heiligen der heili-<br />
gen apostolischen kirche. die mechicen-gruppen haben 20 m lange & 4 m breite<br />
rechtecke abgegrenzt & bewegen ihre mitglieder in winzigen schritten die freien<br />
flächen entlang. alles durchdringend schwingen tief die töne schnell geschlagener<br />
baßtrommeln, umsponnen vom gleichförmigen singen heller pfeifen & geigen. ne-<br />
ben mir klappern kleine holzinstrumente, die einer stilisierten maisfrucht ähneln.<br />
als wehte ein leichter wind, neigen sich die kolben mal zur einen mal zur anderen<br />
seite. der sound bildet ein organisches gewebe, das durch die wiederholung in eine<br />
rausch führt & seine ausströmende kraft kreisförmig auf die zuschauer überträgt.<br />
der gesamte platz tanzt die heiligen, heilenden rhythmen des klangs der runden,<br />
sich drehenden erde.<br />
zur gleichen zeit versammeln sich <strong>im</strong> zentrum von guadalajara auf der plaza<br />
de la republica junge, spiritistische mechicen mit universitätsabschluß, barfuß<br />
in weißen stoff gehüllt, zu ehren der alten götzen <strong>im</strong> großen kreis, grüßen die 4<br />
h<strong>im</strong>melsrichtungen mit einem rauchopfer & drehen ihre mageren körper, während<br />
einen steinwurf weiter das militär, mit aller zur verfügung stehenden ehre & unter<br />
einhaltung der vorgeschriebenen form, die landesflagge von der größe einer üppig<br />
geschnittenen 5z<strong>im</strong>merwohnung zackig vom mast holt, sie in genau festgelegtem<br />
zeremoniell zu einem zentner schweren klumpen faltet & den stoff wie einen toten<br />
staatsmann in die anliegende kaserne schafft.
15 ALLES WEG, ODER FAST ALLES 99<br />
15 alles weg, oder fast alles<br />
wild tanzt trinidad den ältesten inhalt, den tanz hat. sie nennen es den schmet-<br />
terling, wenn sie langsam in die knie gehen & die hüften auf & ab wiegen, so<br />
daß den zuschauern die spucke wegbleibt, die ansonsten in hohem bogen auf die<br />
straße fliegt. <strong>im</strong> spectaculus in der frederikstreet hat das soundsystem von port<br />
of spain 12500 watt vor die bühne gebaut. oben steht nur ein kleiner tisch mit<br />
den nötigen abspielgeräten. die linke seite ist wie ein gemauerter zaun zur stra-<br />
ße hin halb offen. <strong>im</strong> hinteren teil des 90 m langen raums duftet die luft nach<br />
schnell weggezogenen sticks. die dunkle halle läßt keinen genauen blick auf die<br />
schwingenden hüften der teenies zu. ich hole mir ein carib auf eis.<br />
in meinem inneren auge zeichne ich buschig behaarte muschis unter engen,<br />
kurzen hosen, deren trägerinnen dem baßsound erliegen. ich beeile mich mit<br />
meinem joint, um nicht auf dumme gedanken zu kommen, & sauge heftig am<br />
trockenen stick.<br />
vor mir steht ein rotes kleid, von den zarten knöcheln bis zu den samtenen<br />
oberschenkeln geschlitzt. die schmale insektentaille bewegt sich kaum, während<br />
ihr fester, kantiger hintern zackig gegen den h<strong>im</strong>mel stößt. der rote stoff öffnet<br />
sich oberhalb des bauchnabels, um über 2 schwarzen kugeln hinter dem nacken<br />
zusammenzulaufen. tanzend wippen wir einen ewig langen song zusammen. in<br />
ihren jungen augen unter dem hochgefönten pony bemerke ich meine jahre. ich<br />
überlasse besesseneren, wilderen hüftschwingern den schmetterling. eine längs-<br />
gestreifte, knielange hose mit netzhemd steht bereit, auf dem drahtigen haar 2<br />
baseballkappen, den afrikanischen kontinent, das peacezeichen einer großen auto-<br />
marke & einen handtellergroßen dauerlutscher um die brust. das rote kleid gerät<br />
be<strong>im</strong> anblick des zuckerstücks in erregung & schiebt die lenden wiegend gegen die<br />
streifenhose, bis sich beide münder zu einem blöden, breiten grinsen verziehen,<br />
das viel verspricht.<br />
ich suche meinen letzten grasnebel in der brusttasche & rette den abend al-<br />
leine & versteinert nach hause. der laden ist mittlerweile in schwung, daß die<br />
schwarzen kids & ihre asiatischen altersgenossen bestens in der lage sind, ihre er-<br />
ziehung & ihre finanziellen möglichkeiten zu vergessen. ich steige in ein taf-isuzu<br />
sammeltaxi, dessen hochtöner über dem kopf des fahrers gegen die dämpfende
15 ALLES WEG, ODER FAST ALLES 100<br />
deckenbespannung gerichtet sind, & wiege mich <strong>im</strong> subsonicbaß aus der 17ner<br />
box unter meinem sitz hinter die grenzwerte des schallpegels, der in meiner hei-<br />
mat erlaubt ist. kennzeichen hal-2001.<br />
wenn das ohr, dessen wahrnehmung, nicht wie die des auges gerichtet, sondern<br />
<strong>im</strong> panoramawinkel auf 360 grad eingestellt, zeit genug bekommt, um seine hörge-<br />
nauigkeit auf schwankungen & änderungen der schallwellen einzustellen, so kann<br />
es töne hören, deren lautstärke als lichtwelle jedes auge längst zerstören würde,<br />
indem es dem trommelfell, schon <strong>im</strong> bereich von 100tausendstel mm empfind-<br />
lich, seine feine spannung n<strong>im</strong>mt & die schlaffe haut so abtastet, daß selbst das<br />
dröhnen eines tourbinengetriebenen düsenjets nur als feines summen von einer<br />
fernen welt registriert wird. sollte aber ein plötzliches ansteigen der lautstärke<br />
oder eine steile schwingungsflanke an ein fein gespanntes trommelfell dringen,<br />
dessen gabe geräusche abzutasten, wie gr<strong>im</strong>melshausen berichtet, ein wort, vom<br />
wind aus mehreren km herangetragen, erhöht, & dem muskel keine zeit bleibt,<br />
die spannung zu verringern, so kommt es zu winzigen rissen in der feinen haut<br />
& die auftreffenden schallwellen werden verzerrt & damit nicht wiedererkennbar<br />
zurückgeworfen, so daß die fähigkeit des ohrs bis zur gehörlosigkeit leidet.<br />
wie bei jeder wahrnehmung ist nur ein teil der informationsverarbeitung me-<br />
chanisch & der andere teil ein eher rechnerischer vorgang, der die mechanisch<br />
empfangenen signale zu einem erfundenen & wiedergefundenen bild ergänzt, bis<br />
der vergleich mit bekannten, bereits erfahrenen mustern gelingt & das weltsignal<br />
ein altes wohlbekanntes geräusch ist, kaum in der lage, uns zu beängstigen oder<br />
uns vor unlösbare aufgaben zu stellen, & unser interesse schon verloren hat, bevor<br />
es als geordnetes bild seine ablage findet.<br />
bei der vielzahl der signale hängt unser kurzes leben in vollem umfang davon<br />
ab, in wieweit wir in der lage sind, möglichst viele der unzählbaren eindrücke in<br />
möglichst kurzer zeit & mit kaum spürbarem energieaufwand zu verarbeiten, um<br />
die ungefährlichen zeichen auszusieben & abzulagern, damit uns zur verfügung<br />
steht, was uns zum ändern unserer handlung veranlaßt. wir hoffen, daß die zeit,<br />
die verbleibt, die veränderung zu verwirklichen, größer ist als der schrecken & die<br />
angst, die von der wichtigkeit des empfangenen signals ausgingen.<br />
ich wußte, warum ich nicht nach jamaica wollte. ich bin kein reggae fan, war<br />
nie reggae fan & werde auch nie reggae fan. ich liebe keine vollmundig vorgetra-
15 ALLES WEG, ODER FAST ALLES 101<br />
genen versprechungen, denen nix folgt als dicke, sinnlose lippenbekenntnisse, mit<br />
glühenden augen bekräftigt, eine feste hand auf die schulter gedrückt.<br />
“ya man, good vebreytions. réspect man, réspect.“ die betonung auf der ersten<br />
silbe, dem re vor dem spect, was rückschau heißt, soviel wie, schau dich doch mal<br />
selber an, wie du schon aussiehst. jedem 2ten satz fügen die rastas einen widerruf<br />
hinzu, irgend etwas sei gerade kein problem.<br />
“no problam man, no problam, réspect man, réspect.“ der subtropische som-<br />
merregen hatte den h<strong>im</strong>mel über kingston leer geregnet & die windward tauchte<br />
wieder in den original jamaicanischen, gelblich roten staub der fein gemalenen<br />
vulkanerde. ich beschloß, in der regenfreien zeit an den blue mountains vorbei<br />
eine überquerung der insel zu wagen, packte meinen freund <strong>im</strong> koffer auf das<br />
metallgestell mit den großen rollen, meine reisetasche oben drauf & den mexi-<br />
canischen touristenhut dazu, dessen kopfteil ich abgeschnitten hatte, bevor ich<br />
die obere kante mit einem regenbogenfarbenen stoffband verzierte. am busbahn-<br />
hof downtown kingston, dem nicht ganz so feinen teil der hauptstadt, zwischen<br />
dem industriehafen & der besseren uptown gelegen, erwarteten mich flinke, kaum<br />
schreiende, kaum bekleidete jamaicaner, deren freude es war, anderen leuten in<br />
den nichtvorhandenen bus zu helfen.<br />
“come here man, no problam.“ ich hatte mich für die kleine küstenstadt por-<br />
to antonio an der nordostküste entschieden, anstatt für montego bay an der<br />
westküste, wo alle welt den weltberühmten sonnenuntergang mit palme ablichtet.<br />
ich wartete nicht lange auf den bus oder jedenfalls nicht länger als ein knappes<br />
stündchen. der fahrer & sein fleißiger schaffner knöpften mir 2 reisetickets ab, denn<br />
schließlich war ich nicht alleine, sondern mit meinem freund unterwegs, der neben<br />
mir platz finden mußte, wollte er mich auf meiner inselüberquerung begleiten. der<br />
bus füllte sich bis übers dach & darüber hinaus mit leuten & gepäck. wohlgelaunt<br />
verließen wir kingston in richtung spanish town. die straße fädelte sich zur in-<br />
selmitte durch enge haarnadelkurven, durch saftigstes grün zwischen felswänden,<br />
die den blick nach ein paar 100 m abfingen, vorbei an terrassenförmigen, kaum<br />
zugänglichen feldern bis an die große bananenplantage auf der nordseite. wir hiel-<br />
ten alle 5 km, um winkende fahrgäste vom straßenrand aufzulesen, falls sie dem<br />
schaffner, der außen am bus festgeklemmt war, gefielen, wie die uniformen einer<br />
schulklasse, deren träger gerade groß genug waren, sich stehend zwischen unseren
15 ALLES WEG, ODER FAST ALLES 102<br />
füßen zu verteilten.<br />
porto antonio, ein 3000 seelen kaff, berühmt für seinen kleinen, sehr tiefen<br />
seehafen, in dem bananendampfer anlegen, um ihrer route, beladen mit allen<br />
möglichen früchten, die auf der insel gedeihen, über miami, mexico & wieder<br />
nach jamaica zu folgen, & für sein rooftop club, in dem irgendein berühmter<br />
americaner mit einer weniger berühmten jamaicanerin tanzte.<br />
“hey man, réspect man, you lookin fo a good chiep hotel man. no problam<br />
man, réspect man, you from germanie, me have a frend in germanie, peta, he<br />
is german, a good gey, réspect, com wid me man, no problam, ya man, good<br />
vebreytions.“ mit meinem freund & dem jamaicanischen deutschkenner zog ich<br />
los, um an der spitze der doppelbucht guesthouses abzuklappern. ich hatte von<br />
vielen wilden geschichten über jamaica & seine touristenliebenden inselbewohner<br />
gehört, & selbst grandma, die nicht aussah, als ob sie auf die einfache art auszu-<br />
tricksen oder zu berauben wäre, hatte mich eindringlich vor den vielen, schlechten<br />
menschen gewarnt, die hier überall rumliefen.<br />
ich suchte nach einer hütte, die wie grandmas kleines hotel einigermaßen sicher<br />
schien, mit verriegelbarem eisenschloß an der eingangstüre, wie es für ordentliche,<br />
jamaicanische häuser eine selbstverständlichkeit ist.<br />
das 4te haus, ein älteres, weiträumig angelegtes steingebäude, direkt oberhalb<br />
des rooftop club in den steilen fels gebaut, war nur über eine winklige treppe<br />
zu erreichen. mein hilfsbereiter guide zierte sich nichtmal, meinen freund die 90<br />
gemauerten stufen hinauf zu tragen & wartete brav draußen vor dem eisengitter,<br />
bis ich mit dem preis einverstanden war. er fragte nichtmal, wie sonst üblich<br />
bei bekanntschaften mit ausländischen gästen, nach einer kleinen, finanziellen<br />
unterstützung, was mich stutzig hätte machen können, & so gab ich ihm ein bier<br />
aus, in form kleiner papierzettel, die in jamaica klausbunter sind als anderswo<br />
auf der runden, sich drehenden erde.<br />
von oben hatte ich einen weiten blick über beide strände der 2geteilten bucht,<br />
auf die kleine, vorgelagerte, palmenbewachsene insel, die angeblich das privatei-<br />
gentum von erol flin war, hatte den rücken freigehalten durch einen felshügel &<br />
war unüberwindbar getrennt von der blechhüttensiedlung am rand des hafens. ich<br />
setzte meinen freund aufs bett & packte die tasche mit den klamotten daneben.<br />
den stoffbeutel mit der decke aus der he<strong>im</strong>at & den anderen wichtigen dingen
15 ALLES WEG, ODER FAST ALLES 103<br />
legte ich gut verschnürt dazu.<br />
meinen freund führte ich sogleich ins offene nebenz<strong>im</strong>mer & spielte mit ihm<br />
macki messer & ein paar einfache fingerübungen, die er mir dankbarerweise nicht<br />
erschwerte. & der haifisch, der hat zähne, & die zähne, sieht man nicht. nach<br />
einem kleinen abendbrot aus zwiebeln, bananen & weichem toast legte ich mich zu<br />
einem schläfchen auf das bett direkt unter dem fenster. bevor ich am abend auf die<br />
straße runter stieg, zog ich meine wenig kostspielige, aber geliebte armbanduhr,<br />
eine kombination aus einer billigen, schwarzen plastikcasio mit einem silbernen<br />
metallband <strong>im</strong> stil der 70er, vom arm & verstaute sie <strong>im</strong> stoffbeutel, packte paß<br />
& geld in den bauch meines freundes & kletterte die stufen hinter dem eisentor<br />
runter in die stadt.<br />
die sonne war schon untergegangen & die spärliche straßenbeleuchtung erhell-<br />
te nur das gebiet vom club bis zur landspitze, an der sich die 2 buchten trafen.<br />
ich lief gegen westen, bis an die einfahrt zum hafen & gönnte mir einen papp-<br />
karton voll reis mit fisch & 2 leckere heineken, <strong>im</strong> sitzen am straßenrand vor<br />
einer kneipe. eine gruppe end20er neckte sich gegenseitig, um sich für die nacht<br />
zu verabreden. die mädels hatten halblange latzhosen & netzhemden an, & die<br />
jungs trugen frischgewaschene stoffhosen mit weißem hemd & drehten aufgeregt<br />
an den goldenen armbändern ihrer uhren. ich lief zurück bis ins zentrum zu den<br />
straßenverkäufern.<br />
die ersten arbeiterinnen hatten sich bereits um den clubeingang versammelt &<br />
warteten darauf, jeden ausländischen gast, der die nötigen scheine vorwies, auf ein<br />
stündchen mitzunehmen. eine süße dicke warf mir ein auge zu. ich mußte wegen<br />
papiermangels & wegen meiner selbstgebastelten bedenken ablehnen. sie nahm<br />
mich am arm, ließ nicht locker, & wir tranken am bordstein 2 kühle goldstar<br />
zusammen, während sie mir behutsam ihren job erklärte. als ein kleinbus mit<br />
hellen europäern die staubige straße entlangkam, ließ ihr interesse an mir nach.<br />
da mir die jamaicanischen essensmarken ausgegangen waren, blieb mir nix an-<br />
deres übrig, als die 90 stufen zu meiner residenz hinaufzusteigen & die wächterin<br />
in ihrem abendmahl zu unterbrechen, um aus meinem z<strong>im</strong>mer ein paar scheine<br />
wieder mit nach unten zu nehmen. mein durst war zunäxt gestillt & mich lockte<br />
der duft des steingrasses, das in plastiktüten gepreßt an jeder ecke für ein paar<br />
essensmarken verkauft wird.
15 ALLES WEG, ODER FAST ALLES 104<br />
der handel ging schnell & umstandslos <strong>im</strong> näxten hinterhof über die bühne.<br />
wir rauchten den ersten stick gemeinsam weg, uns fremd werdend & mit “réspect<br />
man“ auf distanz haltend. wir streckten jeder eine geballte faust in hüfthöhe nach<br />
vorne, wo sich beide kurz trafen & wieder einsam nach hinten zurückfuhren. für<br />
den bruchteil einer sekunde schaute ich in seine tiefschwarzen, weinenden augen,<br />
deren blutunterlaufene äpfel aus den höhlen drückten. das rötlich gelbe licht der<br />
straßenlaterne warf unsere schatten hart auf den schmutzigen asphalt. & der<br />
haifisch, der hat zähne.<br />
wie <strong>im</strong> letzten augenblick des wachzustands vor einer betäubung für die große<br />
operation, indem der verstand, nicht mehr vollständig herr der lage, die außen-<br />
signale festhält & wieder & wieder erzeugt, um wenigstens eine ahnung dessen<br />
zu bekommen, was um ihn passiert, bis er schließlich das letzte signal in einer<br />
endlosschleife wiederholt & sich dessen bewußt, müde & zermürbt aufgibt, lallte<br />
das lang eingestellte echo vieler reggaest<strong>im</strong>men seine rhythmische wiederkehr in<br />
die trockenen straßen von porto antonio. die arbeitende bevölkerung hatte, um<br />
sich für den kommenden tag <strong>im</strong> hafen zu stärken,<br />
in ihre blechhäuser zurückgezogen, wo sie <strong>im</strong> schwachen lichtschein fah-<br />
ler glühbirnen den abend & die nacht verbrachte. der nichtarbeitende teil der<br />
bevölkerung, der weder kinder hatte noch arbeit, oder zwar kinder aber keine<br />
arbeit, oder schlicht männlich war & sich vom rest der familie keine vorschriften<br />
machen ließ, oder weiblich war & von der sippe geächtet, trieb sich geldlos mit<br />
den reichen, ausländischen gästen durch die verschwitzte nacht, bis die gäste keine<br />
klausbunten essensmarken mehr rausrückten. doch die zähne, sieht man nicht.<br />
ich kaufe zigarettenpapier der größe kingsize, die allemal für 6 sticks gut sind,<br />
auf vorrat, schon alleine weil die kleinsten scheine keine kleinere stückelung zulas-<br />
sen, & setze mich an den rand der kaum befahrenen straße auf den 30 cm hohen<br />
bordstein, wo ich mein letztes heineken für heute abend mit einem trockenen<br />
stick ausgleiche. die hohlblockgemauerte treppe zu meiner hütte über den lich-<br />
tern der kleinen hafenstadt, deren eingang versteckt zwischen dem vegetarischen<br />
restaurant & einem drugstore hinauf in die steile felswand führt, dehnt sich zu ei-<br />
nem kaum erzwingbaren aufstieg, bis ich das bewachte eisentor passiere & wenige<br />
schritte später vor dem weit geöffneten fenster meiner hütte stehe.<br />
ich starre ins dunkle maul eines riesenfischs. wart mal. wart mal. ich hatte,
15 ALLES WEG, ODER FAST ALLES 105<br />
so meine ich mich zu erinnern, mein fenster, als ich die letzte ladung papier-<br />
geld runter in die straße trug, geschlossen verlassen. jetzt kann ich von außen<br />
bis auf das ende des 2ten betts schauen. eilig, hastig, schnell schließe ich das<br />
schloß zur doppeltüre auf. ich hoffe, daß wenigstens der schwarze hausboy meiner<br />
z<strong>im</strong>mernachbarin, einer europäischen entwicklungshilfe-schnecke, etwas mit dem<br />
sperrangelweit offenen fenster zu schaffen hat & trete in den dunklen raum & be-<br />
merke das leere bett an der wand, auf das ich, meines halb wachen wissens nach,<br />
eine tasche mit meinen schecks & den klamotten sowie einen dunklen stoffbeutel<br />
mit samt meinen 7 sachen gelegt hatte, bevor ich mich auf der einzigen straße von<br />
porto antonio für den nachtschlaf zudröhnte. ich schaue unter das flache bett &<br />
in den wandschrank & kann keine tasche entdecken. halt mal. wo ist mein freund?<br />
ich drehe mich um. an der wand zum anderen z<strong>im</strong>mer steht einsam ein koffer,<br />
zu schwer & zu behäbig, um sich einfach mir nix, dir nix aus dem staub zu<br />
machen.<br />
ich verlasse das z<strong>im</strong>mer durch die flügeltüre & glotze blind vor unglauben<br />
durch das schwarze loch des geöffneten fensters, & ich kann mich des eindrucks<br />
nicht erwehren, als hätte einer vergessen, es zu schließen.<br />
moment mal. war am ende ich der trottel, der nach porto antonio herun-<br />
terstürzte, um sich bei sperrangelweit offenem fenster geistig zu betäuben & je-<br />
dem dahergelaufenen deppen tür & tor offen zu lassen, so daß jeder, ohne mit<br />
irgendeiner schwierigkeit rechnen zu müssen, in mein z<strong>im</strong>mer einsteigen konnte,<br />
um mich dünnbrettbohrer meiner armseligen habe zu berauben? hatte ich end-<br />
los blöder idiot nur die quittung für den allzu heftigen legalen wie halblegalen<br />
drogenkonsum vorgelegt bekommen, der bis vor einer sekunde billig, ja geradezu<br />
geschenkt erschien? das gibt’s doch nicht.<br />
ich glotzte noch eine zeit lang auf das dunkle loch & klopfte anschließend an<br />
die holztüre meiner nachbarin, um ihren dürren, schlecht gelaunten stecher aus<br />
den federn zu holen.<br />
“did you leave the window open? somebody opened my window.“ schlaftrun-<br />
ken schaute er mit einem halbgeöffneten auge auf den normalzustand meines<br />
z<strong>im</strong>mers, um dann mit einem weiten schritt in seine stube zu verschwinden, be-<br />
vor auch nur der hauch einer verwicklung seiner person in die misere anderer leute<br />
zustande kam. lieber würde er die entwicklungshilfeschnepfe heiraten als meine
15 ALLES WEG, ODER FAST ALLES 106<br />
rot unterlaufene hilflosigkeit zu ertragen.<br />
ich blickte durch das offene fenster über mein schlafgemach, auf dem deutlich<br />
die schmutzabdrücke mir fremder schuhe zu sehen waren. so läuft der hase also.<br />
ich zwang mich widerwillig zu der erkenntnis, daß jemand in meiner abwesenheit,<br />
womöglich ein dieb, alle, oder fast alle meine liebgewonnenen habseligkeiten von<br />
meinen bett weg über das andere bett weg aus dem geöffneten fenster weg hinaus<br />
in den dunkelgrünen urwald der insel weggetragen hatte, für <strong>im</strong>mer <strong>im</strong> schatten<br />
des dichten tropenwaldes verschwunden.<br />
laß mich kurz nachdenken. waren die sachen noch da, als ich vor knapp einer<br />
stunde hier oben war? keine frage, sonst hätte ich die kohle nicht holen können.<br />
aber die war ja in den händen meines freundes, den ich augenblicklich in einer<br />
schwungvollen bewegung auf das bett feuere, um in seinem bauch das lederbeu-<br />
telchen mit den wertsachen zu suchen. wo ist der mist. scheiße. ich greife in den<br />
stoffbezug vor dem balg in der innenseite des akkordeons & fische den lederbeu-<br />
tel raus mit paß, kohle, ticket & den aufzeichnungen, zähle kurz die wertsachen<br />
durch & sehe, oder besser glaube, daß nix fehlt.<br />
mein geliebter schatz. mein gutes stück. mein retter in der not. du läßt mich<br />
nicht allein. du hältst zu mir. du bist zu schwerfällig, als daß dich schnell mal<br />
jemand mit der rechten oder der linken hand durch ein offenes fenster steigend<br />
mitn<strong>im</strong>mt, um danach über eine mauer zu springen oder sich durch dichten urwald<br />
zu schleichen mit dir an der hand. du stehst zu mir, wenn andere mir schlechtes<br />
wollen, mein guter freund, mein einziges stück, was ich besitze. ich fühle mich<br />
hintergangen.<br />
mann, jemand hat es anscheinend geschafft. keiner sonst hat es gewagt. ich<br />
drängelte in cairo mit gepäck beladen durch volle stadtbusse, unausgeschlafen<br />
& unerfahren, ich lief durch kingston downtown bei strömendem regen, wo mir<br />
mein namensvetter michael eine geschichte über einen geliebten vogel in einwand-<br />
freiem reggae-rap sang. ich trödelte nachts um 3 besoffen durch nyc die houston<br />
entlang & niemand versuchte, mich anzunagen, außer einer fetten, dicken kanal-<br />
ratte, & ich trampte mit 700 gottverdammten, us-americanischen essensmarken<br />
in der hosentasche meiner shorts über die spätsozialistische caribicinsel, deren<br />
frühkapitalistische einwohner sich für die handvoll scheine mindestens ein halbes<br />
jahr lang ein sorgenfreies, knappes leben hätten leisten können, aber nie hat auch
15 ALLES WEG, ODER FAST ALLES 107<br />
nur irgend jemand gewagt, mir meine billige habe vom leib zu nehmen, & aus-<br />
gerechnet auf der geliebten insel, auf meiner echten lieblingsinsel, werde ich auf<br />
diese gottverdammt hinterlistige & spitzfindige art beklaut, daß mir nix bleibt,<br />
als mich in mein ungemütliches schicksal zu fügen & jeden, aber auch wirklich<br />
jeden versuch zu unterlassen, irgend jemanden dafür verantwortlich zu machen,<br />
als den blöden lauf der runden, sich drehenden erde, die gottverdammte, nicht<br />
lebendige, personifizierte geschichte, die selbst kein eigenleben aufweist, als daß<br />
einer sie zur rechenschaft ziehen könnte oder jemand aus ihr auch nur eine lehre<br />
zu ziehen <strong>im</strong>stande wäre. mein gott, so scheiße muß es kommen. das tape mit<br />
mainas st<strong>im</strong>me, weg, die samtdecke von zu hause, weg, die sprüche von justus &<br />
eric, weg, meine billige plastikuhr, weg, mein lieblingspulli, weg. verdammt, dafür<br />
hasse ich sie. & ich dachte mir noch be<strong>im</strong> raufsteigen, wer trägt das verdammte<br />
zeug die ellenlange treppe wieder runter. ich wohl offensichtlich nicht. das ist mal<br />
klar. diese sorge bin ich wenigstens los. & den kram auch, nachts um 1 in der<br />
festung des guesthouse, deren türwache best<strong>im</strong>mt nix mitbekommen hatte.<br />
“did you see anything, anybody leaving the place recently?“ “no man, ya jost<br />
came in, me jost saw ya commin in.“ vielleicht sollte ich die bullen anrufen.<br />
“is there a phone, I’d like to call the police, can you give me a phone.“ “dere<br />
is no fone op heea, no fone man.“ o.k. ich werde den gottverdammten platz nicht<br />
verlassen, um auch noch meinen freund & meinen paß zu verlieren, dafür scheint<br />
die gegend doch zu unsicher, denn bevor ich die dreckigen 90 stufen runterge-<br />
laufen bin & mit einer handvoll verschlafener, noch schl<strong>im</strong>mer als ich bekiffter<br />
police officers gesprochen habe & sie dazu bewegen konnte, die gesamten 90 stu-<br />
fen bis zu mir hinaufzusteigen, ist mir die letzte & tatsächlich wichtige abteilung<br />
meines gepäcks auch noch für <strong>im</strong>mer abhanden gekommen. mittlerweile ist die eu-<br />
ropäische frauenbeauftragte für jamaicanische mädchenzentren <strong>im</strong> nebenz<strong>im</strong>mer<br />
aufgewacht, drückt ihren müden hüpfer durch die holztüre & beginnt zu flöten.<br />
“was ist denn passiert? hem, du? was war denn? hem? denis hat mich aufge-<br />
weckt, du würdest hier drogen nehmen?“ ich schildere kurz die gegebenheit.<br />
“also sowas, du, & ich hab doch noch eben ein geräusch gehört, als wenn das<br />
fenster aufging, & dann ein poltern an meiner wand, du, & ich dachte, du ich<br />
dachte ehrlich, du, das wärst du, also wirklich, sowas, dabei stell dir vor, hem<br />
du, dabei ist einer freundin von mir vor 2 wochen, also wirklich du, dahinten <strong>im</strong>
16 DIE BOTSCHAFT 108<br />
anderen z<strong>im</strong>mer genau dasselbe passiert, also wirklich. komisch, hem?“<br />
ihr tonfall muß sich nichtmal verändern. er ist von haus aus so aufgeregt, als<br />
hätte jemand sie zum kreuzen einer roten ampel gezwungen.<br />
“also echt, du.“ die türbewacherin & ihr liebhaber, so wie die tageswache &<br />
ihre 3 kleinen kinder sind aus ihren jamaicanischen betten gekommen, um sich vor<br />
meinem z<strong>im</strong>mer aufgeregt durch den klaren, aber schwerwiegenden, andererseits<br />
auch wieder undurchsichtigen kr<strong>im</strong>inalfall auf der veranda bei neonlicht hindurch<br />
zu diskutieren.<br />
“o.k. I go to bed now. you know, if I’m at home I feel save, if I’m away I’m<br />
not shure“, sage ich in mein z<strong>im</strong>mer verschwindend, das mir nicht mehr ganz<br />
so sicher vorkommt, wie ich vor einer stunde noch vermutet hatte & entdecke<br />
die offene sperrverriegelung an den drehbaren seitenfenstern, durch die der weit<br />
aus wichtigere hebel des hauptfensters zu öffnen war. wer diese mechanik von<br />
außen gelöst hatte, wußte über das haus & seine gegebenheiten bescheid. egal.<br />
der näxte morgen wird mehr bringen, so breit gehe ich jedenfalls nicht zu den<br />
bullen, & schon gar nicht zu den jamaicanischen.<br />
16 die botschaft<br />
meine erste bekanntschaft mit cuba machte ich in mexico city. um an ein visum<br />
zu kommen, so dachte ich mir, sei es das geschickteste, gleich persönlich bei der<br />
botschaft vorstellig zu werden & mein anliegen vorzutragen. das gebäude liegt<br />
in einem villenviertel, gut mit dem bus oder dem taxi zu erreichen, & ich zog<br />
meinen hellgrauen sommer-sonnen-anzug marke kolonial-großgrundbesitzer an,<br />
um mich auf den weg zur auslandsvertretung einer der letzten kommunistischen,<br />
oder vielleicht eher realsozialistischen länder zu machen, der vertretung der perle<br />
der caribic, die ihrem staatsvolk, <strong>im</strong> ausland arbeitend & auf fremdstaalichem<br />
gebiet wohnend, gerne jene fürsorge angedeihen ließ, wie es alle staaten mit ihren<br />
landsleuten nach besten möglichkeiten versuchen. ich hatte den paß & ein wenig<br />
geld in der tasche, als ich vor dem realsozialistischen, 2stöckigen betonkasten<br />
aus einem der unzähligen, hellgrünen vw-käfer taxis stieg, war bester laune &<br />
genoß die oktobersonne von mexico city, dieser geordneten, gutfunktionierenden,<br />
indianischen menschenansammlung.
16 DIE BOTSCHAFT 109<br />
in einem kleinen wachhäuschen, von dem aus der weite innenhof mit dem<br />
stahlgitter zu übersehen war, erwartete mich ein schlecht gekleideter staatsbeam-<br />
ter unteren ranges. als seinerzeit peter von siemens in sein werk in hannover mit<br />
einem firmenwagen der firma siemens fuhr & ihn der pförtner fragte, wer er denn<br />
sei, antwortete unser siemenschef schlicht: “peter von siemens.“ der pförtner ließ<br />
den mann passieren mit der bemerkung: “wir sind hier alle von siemens.“<br />
“den paß.“ ich hatte tatsächlich den paß dabei, war ich doch in der erwartung<br />
gekommen, nach verlassen des gebäudes ein echtes, abgestempeltes & gültiges<br />
visum in meinen papieren zu sehen. nachdem der wachbeamte eingangszeit &<br />
absicht meines besuchs in ein großes buch vermerkt hatte, händigte er mir ein<br />
numeriertes kärtchen aus.<br />
am westende des hofs führte eine treppe in den ersten stock & von dort ein<br />
gang an der gesamten hofseite entlang bis in den hinteren trakt in den schalter-<br />
raum. auf einem sofa saß gelangweilt eine schlanke, dunkelhaarige sonnenbrille &<br />
eine dralle blonde samt ihrem jüngling. mein vorsatz, einen rauchfreien tag ein-<br />
zulegen, ging freudig den bach runter. mit einer zigarette <strong>im</strong> mund fragte ich die<br />
jüngere in gestensprache nach feuer. die blonde fuhr unter anstrengenden hüftbe-<br />
wegungen mit ihrer hand in ihre jeanstaschen & zuckte dann mit den schultern,<br />
wobei ihre dunklen, buschigen augenbrauen lachend nach oben hüpften, so daß<br />
sich ihr voller mund langsam zu einem grinsen verzog & die augenlider in einer<br />
endlosen bewegung nach unten schwebten, wo sie gleichzeitig mit einem tiefen<br />
seufzer ankamen.<br />
währenddessen hatte die dunkelhaarige ihre tasche an der seite ihres schwar-<br />
zen, weit geschnittenen hosenanzugs erfolgreich durchsucht & bot mir feuer indem<br />
sie die sonnenbrille von den gleißend hellblauen augen nahm & mit tiefer st<strong>im</strong>me<br />
sagte: “aqui eta!“ ihr langer daumennagel schlug flink den feuerstein an, der sich<br />
nicht lange bitten ließ & den zarten gasstrahl zu einer hellen flamme entzündete.<br />
vor dem schalter gab es aus irgendwelchen, mir unerklärlichen gründen kei-<br />
ne schlange, & ich wartete, um mein anliegen direkt hinter dem 3er grüppchen<br />
vortragen zu dürfen. die 2 frauen unterhielten sich in schnellem castillanisch, das<br />
nicht in alle einzelheiten aller zischlaute ausformuliert war. die gelassene haltung<br />
des schalterbeamten lenkte mich ab. ich nahm mit meinem zerbrechlichen spa-<br />
nisch den leeren tresen vor der panzerglasscheibe in angriff & zeigte meinen leeren
16 DIE BOTSCHAFT 110<br />
paß vor.<br />
“hier gibt’s kein visum.“ “wie bitte?“ “aus welchen gründen wollen sie die insel<br />
bereisen?“ “die insel? ja, ich bin tourist.“ “sie bekommen die einreisepapiere be<strong>im</strong><br />
reisebüro coubatours.“ “wo bitte?“ “bei coubatours oder bei aviación cubana.“<br />
ich zog meinen unbehandelten paß an mich & drehte mich verwirrt den 2<br />
frauen zu.<br />
“warten sie auf ein cubanisches visum?“ fragte ich in den raum. die dunkel-<br />
haarige erhob sich, kniff die hellblauen augen bis auf katzenpupillen zusammen<br />
& sagte deutlich & in katziger st<strong>im</strong>me:<br />
“me llamo norka. soy cubana.“ sie stellte mir ihre kleine schwester alexandra<br />
vor & deren exilcubanischen freund, der, wie sich später herausstellte, als sohn<br />
eines hohen, <strong>im</strong> drogenhandel verwickelten, cubanischen militärs seine geliebte<br />
insel nur noch nach sondererlaubnis & mit höchster genehmigung vom langen<br />
bart besuchen durfte, eine harte strafe für ein hartes vergehen.<br />
leute.<br />
“wie ist cuba?“ fragte ich die 3 & zielte dabei auf das wetter, die musik & die<br />
“beschissen, cuba ist ziemlich beschissen“, antwortete der generalssohn.<br />
“vamos, vamos!“ norka schnappte sich ihre schwester, mich & den militärs-<br />
sprößling & trieb uns den langen gang entlang, die treppe hinunter, am pförtner<br />
vorbei auf die mexicanische straße.<br />
“bist du wahnsinnig?“ sie wies den jüngling wegen seines offenen, politischen<br />
bekenntnisses, oder was sie dafür hielt, zurecht.<br />
am selben abend spielte <strong>im</strong> mama rumba eine cubanische band. norka lud<br />
mich & ihre schwester ein, nachdem sie mir ihre afrikanische sammlung außer-<br />
irdischer gezeigt hatte, die in stoffbedeckten, leeren tonkrügen in ihrer wohnung<br />
in der hamburgo auf kleine gaben warteten, um diese mit aller kraft, die den<br />
außerirdischen zur verfügung steht, zu vergelten. wir verabredeten uns zu dritt<br />
in der bar für mexicanische cubaner.<br />
<strong>im</strong> mama rumba treffen sich exilcubaner & solche, die es werden wollen. sie<br />
erwecken afrikanische götzen & cubanische rhythmen zu süßem leben. ich kam<br />
eine 3/4tel stunde zu spät & war noch eine 4tel stunde vor norka & ihrer schwe-<br />
ster da. 3 stramme, weiße mädels & ein sportlicher, schwarzer jüngling mit einem<br />
zartbitteren lächeln hatten verschiedene trommelwerkzeuge aufgebaut. während
16 DIE BOTSCHAFT 111<br />
ich meinen ersten caipirinha bestellte, von dem ich monate später in seinem hei-<br />
matland reichlich bekam, begann die show, eine tiefe baßtrommel auf der und,<br />
eine andere zwischen der und & der 1 entlang tanzend, als ob es weder die 1 noch<br />
die und gäbe. helle, kurz geschlagene claves & der sandgefüllte aluminiumshaker<br />
des lächelnden, schlanken, jungen mannes, legten den teppich für eine 2st<strong>im</strong>mige<br />
beschwörung. das gesamte lokal skandierte den refrain.<br />
norka, deren schwester in la habana folkloretanz lehrte & die für unbest<strong>im</strong>m-<br />
te zeit auf dem americanischen festland war, hob <strong>im</strong> 2ten vortrag ihre schmalen<br />
schultern bis in den stand & zog ihre jüngere schwester in den engen gang zwi-<br />
schen zuschauer & band. sie tanzten in kurzen hüftschwüngen & weit ausladenden<br />
armbewegungen. die tischgesellschaften spendeten nach dem song anhaltend bei-<br />
fall. ich versuchte <strong>im</strong> caipirinha-nebel meine ersten cubanischen tanzschritte &<br />
gab nichtmal locker, als ich längst außerstande war, den taktanfang annähernd<br />
zu erkennen. nach 3 weiteren drinks verabredeten wir uns für den näxten tag in<br />
norkas wohnung in der hamburgo.<br />
sie zeigte mir ihr familienalbum. tatsächlich war ihr vater der berühmte che<br />
guevara fotograf, der das in aller welt geliebte schwarzweißbild schoß, das als<br />
siebdruck oder als handgemaltes t-shirt jedes ordentliche jugendz<strong>im</strong>mer in den<br />
70er jahren schmückte. & tatsächlich kannte ich ihren vater bereits von einer<br />
ausstellung in morelia, wohin er mitsamt seinen berühmten fotos gereist war &<br />
wo ich seinen silbergrauen bart über dem ausgewaschenen jeansanzug & seine<br />
tiefe st<strong>im</strong>me, die er vor 30 jahren an norka vererbt hatte, bewundern durfte. &<br />
tatsächlich sollte ich ihre mutter, die mittlerweile mit einem theaterregisseur in<br />
miramar la habana lebte & während meiner inselüberquerung meinen freund <strong>im</strong><br />
koffer & das übrige gepäck beherbergte, so daß ich gelassen bis nach santiago<br />
de cuba durch den domino-verkehr trampen konnte, 8000 km weiter südlich in<br />
buenos aires wiedertreffen, als ich gut gelaunt mit meinem manuskript auf den<br />
knien vor dem eingang des richmonds in der überfüllten florida nachmittags um<br />
4 über die gut ausschauenden porteños ablästerte. die welt ist klein.
17 TANGO 112<br />
17 tango<br />
<strong>im</strong> centro social bailable de la armada bekam ich meine erste lektion. patricia hat-<br />
te mir zwar die adresse & die uhrzeit verraten, war aber zur verabredeten stunde<br />
nicht in ihrer wohnung anzutreffen. es begann ein frühabendlicher sommerregen<br />
vom argentinischen h<strong>im</strong>mel auf die trockene hauptstadt zu fallen & ich erinnerte<br />
mich an patricias hinweis, daß bei regen kein taxi zu bekommen wäre, & startete,<br />
nachdem ich sie vergeblich aus ihrer wohnung zu klingeln versucht hatte, ohne<br />
frauenbegleitung zu meiner allerersten tanzstunde. vor dem armeeclubhe<strong>im</strong> zeigte<br />
ein roter teppich eine treppe hinauf am weihnachtsschmuck vorbei in den ersten<br />
stock.<br />
der hell erleuchtete saal war mit großen, weißen fliesen ausgelegt. kleine tische<br />
& unbequeme holzstühle begrenzten in sauber geordneten reihen eine freie fläche.<br />
an einigen tischen saßen ältere damen, die ihre dürftige vergangenheit bereuten.<br />
mitten auf den fliesen bewegte sich ein einzelnes tanzpaar in eleganten, gleiten-<br />
den schritten zum fließenden tango aus dem kassettenrecorder. ein dickwanztiger<br />
mitt50er, braun gebrannt & mit gipsbein, wies mir einen platz an seinem tisch<br />
zu, küßte mich auf beide wangen, gab sich erfreut, daß ein angeblich so junger<br />
kerl wie ich interesse an einem so alten spiel wie dem seinen zeigte & stellte mich<br />
3 tanzlehrern vor. ob ich alleine gekommen sei, wo ich her sei, wo meine freundin<br />
sei, wie ich buenos aires fände. alles klasse, gefällt mir, sagte ich in spärlichem<br />
castillanisch.<br />
das einsame paar in der mitte der tuschelnden gemeinde, das bis vor einer<br />
sekunde keine menschliche regung bemerken ließ, kam zu uns rüber & brach in<br />
portensische herzlichkeit aus. beide begrüßten mich mit den aufgesetzten, rituel-<br />
len küssen einer körperfeindlichen gesellschaft. ich liebe kußorgien. der männliche<br />
teil des paares hatte einen dunkelblauen 2reiher marke schiffseigner an & trug<br />
das haar, wie die augen, schwarzgrau bis zur schulter herabhängend in einem<br />
schmalen, langgezogenen adlergesicht, dessen linien allesamt abwärts verliefen.<br />
mit einem jugendlichen lächeln aus einem roten chiffonkleid lud seine partnerin<br />
meine unerfahrenen beine zur ersten, 4schrittigen tangofigur ein.<br />
“du mußt hier gut festhalten!“ sie griff, die blonde betonlocke <strong>im</strong>mer seitlich<br />
an mir vorbei drehend, nach meiner hand & zog sie eng an ihren tief ausgestellten
17 TANGO 113<br />
rückenausschnitt. den 2ten tanz übte ich mit ihm, der mich dabei keines blickes<br />
würdigte & dennoch so tat, als ob ich jahre lang erfahrung gesammelt hätte in<br />
einer komplizierten, gesellschaftlichen form, wie sie nur ein eingeweihter höfling,<br />
von geburt an mit adel ausgestattet & von kind an zur steifheit erzogen, zustande<br />
bringt. er war etwas größer als ich & wehte in seinem dunkelblauen anzug wie ein<br />
gespanntes segel durch den saal.<br />
meinen 3. tanz durfte ich mit dem ältesten aller tanzlehrer probieren, einem<br />
luis trenker typ, tierlieb & sonnengebrannt, mit den braunen flecken nicht mehr<br />
alternder haut & einer leichtigkeit <strong>im</strong> lächeln, wie sie durch jahrhunderte lange<br />
übung entsteht. er legte seinen weichen, runden kopf zur seite, packte meine<br />
beiden hände, legte sie auf seine schultern & wir übten wie die 5jährigen uns<br />
gegenüberstehend die schwierige schrittfolge.<br />
patricia hatte schließlich den weg ins clubhe<strong>im</strong> gefunden & vorderte mich<br />
auf. ihre waden flogen wie die flossen eines fischs zur seite. ein ganz in weiß<br />
gekleideter mitt30er, glatt rasiert mit messerscharfem blick, dessen engellockige<br />
partnerin jeden seiner hölzernen schritte mit steifem, mißbilligendem ausdruck<br />
in den jungen augen begleitete, hatte meine anfängerhafte, holprige art entdeckt<br />
& war gewillt, mir den schliff des echten tangueros beizubringen. er nahm sich<br />
einen stuhl, stellte auch mir eine lehne vor die hüfte & zeigte mit eng anliegenden<br />
knien & zusammengekniffenen, kantigen backen, wie sich ein wirklich erfahrener<br />
schieber bewegt. ich erinnerte mich einer tai chi chuan-form aus dem fernsehen,<br />
bei der ein bein langsam nach vorne gesetzt wird, wobei die hüfte richtung &<br />
geschwindigkeit best<strong>im</strong>mt & die knie dem gegner keine möglichkeit geben, in die<br />
weichteile einzudringen. ich schob mein becken um den stuhl, dessen lehne ich<br />
dabei als stütze krampfhaft umklammerte. das war die 8 nach vorne, & das war<br />
die 8 nach hinten.<br />
patricia war keine ausgezeichnete tänzerin & sie benahm sich auch nicht so.<br />
wir lachten laut über meine ungelenke art, in der ich regelmäßig einen der schritte<br />
einfach vergaß & ohne mit der w<strong>im</strong>per zu zucken in die folgende figur überleitete,<br />
so daß ich mit ihrem weichen, wuchtigen körper unwillkürlich zusammenstieß. ihr<br />
tanzstil entsprach eher einem schw<strong>im</strong>mwettbewerb als einer melonga.<br />
der junge, drahtige lehrer lud patricia & mich am selben abend zu einer veran-<br />
staltung in der chacabuco <strong>im</strong> centro parakultural ein, & wir fuhren zu 4t zusam-
17 TANGO 114<br />
men mit patricias freundin leonora <strong>im</strong> taxi nach san telmo. in einem ehemaligen<br />
theater kann sich jeder, oder fast jeder, für 5 pesos eine doppelstunde tangounter-<br />
richt abholen & anschließend <strong>im</strong> 6 m hohen saal, dessen längsseite mit alten, roten<br />
brokatvorhängen aus dem fundus des colonol theaters ausgehängt ist, auf dem<br />
staubigen holzboden in schummrigem licht beweisen, wie weit die schiebekunst<br />
geht.<br />
durch eine enge tür führen 3 abgewetzte stufen von der chacabuco in einen<br />
kleinen, kaum beleuchteten vorraum, an dessen linker seite sich die bar befindet.<br />
nach 3 weiteren schritten stehe ich <strong>im</strong> eingang des 30 m langen schlauchs. der<br />
brokatwand gegenüber laden kleine tische & stühle verschiedener stilrichtungen<br />
zum studium der paare ein. der dj über dem vorraum hat eine alte oswaldo<br />
pugliese kassette eingelegt, & 25 paare führen ihr können vor.<br />
eine langbeinige 20jährige in einem weißen bolerojäckchen aus strick, das den<br />
braun gebrannten bauch zeigt, & einem vom knöchel bis zum po seitlich geschlitz-<br />
ten, hellbeigen leinenrock drückt ihre stirn fest an die brust ihres partners, die<br />
linke hand auf seine schultern gelegt. er ist etwas größer als sie & etwas älter, mit<br />
schnauzer & kurzem haar, trägt die jeanskluft des ewig jung gebliebenen boyfri-<br />
end & schiebt sie in ruckartigen bewegungen durch den saal. weiter hinten hält<br />
ein tanzpaar sekunden lang inne, festgefroren in einer liebesposition, bei der sich<br />
die beine gegenseitig <strong>im</strong> schritt stehen, der frauenkörper für <strong>im</strong>mer <strong>im</strong> starken<br />
männerarm gefangen. nach einer weile lösen die 2 sich aus ihrer starre, indem<br />
der mann in einer drehbewegung der waden mit einer ferse sachte an ihren unter-<br />
schenkel tritt, & beide springen wie von einem elektrischen schlag getroffen auf<br />
& davon in großen schritten durch den saal.<br />
um einen guten tango zu tanzen, genügt es nicht, unzählige lektionen zu neh-<br />
men & regelmäßig die schritte mit demselben partner zu üben. wer den tango<br />
lebt, mit der leidvollen st<strong>im</strong>mung & den ausladenden schritten, mit den gewag-<br />
ten tritten in den schritt des partners & dem steifen, aufrechten rückgrad, das<br />
wie eine drehende säule das zentrum für die schwünge bildet, n<strong>im</strong>mt nach jahre-<br />
langem studium <strong>im</strong> kreis der lernwilligen seinen mut zusammen & seinen stolz,<br />
um an unzähligen abenden auf unbekannte menschen zuzugehen & bei jedem<br />
tanz den einen oder anderen kniff zu erlernen & später als lehrer diese oder je-<br />
ne einzelheit einer schon lange bekannten schrittfolge genauer & meisterlicher
17 TANGO 115<br />
zu üben, bis schließlich die weichheit, der stolz, die trauer, die unnahbarkeit &<br />
das einfühlungsvermögen, bis die handhaltung, die gewichtsverlagerung, die ein-<br />
teilung des raums & der zeit zusammen einen tanz für 2 menschen bilden, die<br />
sich wie an einem seidenen faden geführt & scheinbar ohne jede absprache einem<br />
einzigen wesen gleich durch die musik bewegen.<br />
nicht die schönsten & reichsten, sondern die besten & einfühlsamsten me-<br />
longueros sind auf dem parkett die beliebtesten. sie vollendeten ihr können in<br />
unzähligen tangos, um nach vielen rückschlägen & stunden des fleißigen übens<br />
die wachsamkeit & gewandtheit zu entwickeln, die es benötigt, zu einer einheit<br />
aus 2 menschen zu verschmelzen.<br />
ich bestelle an der bar eine flasche herben, argentinischen weißwein & schenke<br />
uns ein. der gut gekühlte santa anne aus mendoza lockert mein staunen ein wenig<br />
auf & ich wage mit patricia einen tango. beide lachen wir laut, als wir uns auf<br />
die zählweise der schrittfolge nicht einigen können & wie betrunkene aneinander<br />
stoßen. patricia bietet meinem rechtwinklig abgespreizten arm, in den sie ihre<br />
schulter legen sollte, keinen widerhalt, & wir entwickeln nicht die hauchdünne<br />
tuchfühlung, die den tangeros ermöglicht, ineinander zu versinken.<br />
leonora, etwas erfahrener auf dem parkett, schaut mich ernst an, als ich sie<br />
auffordere. sie drückt ihre rechte hand gegen meine linke & lehnt ihren oberkörper<br />
in meine armbeuge. wir wiegen 3 takte zusammen, & ich lege mit der bekannten<br />
schrittfolge los, damit beschäftigt, keinen der 8 schritte auszulassen. leonora, die<br />
am näxten tag früh zur arbeit muß, verläßt uns beide, & patricia zieht es mit<br />
mir zusammen ins pippo, wo wir uns um 2 uhr morgens zwischen portensischen<br />
nachtschwärmern mit nudeln vollstopfen. am nebentisch des neonerleuchteten,<br />
hellblau gestrichenen raumes hat ein dürrer vollbart ein unterarmgroßes stück<br />
rindfleisch auf dem teller, um es in aller ruhe mit dem messer in kleine, mund-<br />
gerechte stücke zu schneiden & aufzuessen. ein taxi bringt mich über die callao<br />
& die quintana bis in die recoleta, an den kleinen friedhof gegenüber der caffees<br />
la biela & de la paix. mein bruder hat <strong>im</strong> 8ten stock der ortiz eine großräumige<br />
wohnung angemietet.
18 MEIN BRUDER 116<br />
18 mein bruder<br />
mein geliebter bruder, mein herzblatt, mein lieblingsbruder, mein lebensgefährte<br />
seit klein auf, mein anderes ich, verschieden & ähnlich zugleich, dessen lebensweg<br />
sich seit dem 13ten jahr von mir entfernte, mein herzblut & blutsbruder, mit<br />
dem ich den dunklen, engen leib der mutter teilte, als unser beider bewußtsein<br />
noch nicht in der lage war, die welt zu scheiden nach innen & außen, als wir noch<br />
<strong>im</strong> entwicklungsstadium ohne gliedmaßen waren & unsere körper, <strong>im</strong> wachstum<br />
für ein 3/4tel jahr ineinandergeschlungen, <strong>im</strong> traumlosen tanz des ungeborenen<br />
miteinander spielten, unschuldig & abseits allen wissens, fern jeder absicht, alleine<br />
den gesetzen der entwicklung der runden, sich drehenden erde folgend & der<br />
taktvorgabe unserer mutter, die <strong>im</strong> 4ten monat mit uns beiden die abfahrt vom<br />
längflue auf den spielboden bis nach saas fee bei schönster ostersonne <strong>im</strong> jahr<br />
1961 fuhr.<br />
meinen einzigen & <strong>im</strong>merwährenden bruder, leise & still, ohne aufsehen zu<br />
erregen seinen eigenen weg verfolgend, als junge der schönere & lieblichere von<br />
uns beiden, das von mir beschützte & versorgte, mein anderes & 2tes ich, das<br />
ich bisweilen bis zum schreien schlug & bis zum tod liebte & den ich schon lange<br />
vergessen hatte, weit von mir gewiesen, sah ich seit anderthalb jahren das erste<br />
mal in buenos aires wieder, wohin ihn seine arbeit für die propagandamaschine<br />
des westlichen demokratiezirkus verschlug, von berlin direkt nach dem studium<br />
der politikwissenschaften, mit dem doktor abgeschlossen, ins latainamericanische<br />
ausland mit guter bezahlung & fester stelle als assistent in propagandafragen.<br />
vom langen balkon vor dem wohnz<strong>im</strong>mer & dem schlafz<strong>im</strong>mer, deren türen<br />
ständig aufgesperrt bleiben, so daß ein <strong>im</strong>merwährender durchzug die warme,<br />
argentinische sommerluft durch die räume treibt, geht der blick über die costanera<br />
bis weit ins tigre delta hinein über das schmutzigbraune wasser des rio de la<br />
plata hinweg, dessen 220 km breite fluten die jodhaltige erde der zuflüsse aus<br />
dem nordosten an buenos aires und montevideo vorbei bis in den atlantik tragen.<br />
unten auf der ortiz sitzen gutgekleidete porteños bei einer tasse caffee oder einem<br />
glas schampus auf den weißen plastikstühlen des caffee de la paix oder an einem<br />
der 50 tische des biela, damit beschäftigt, eine unglaublich wichtige & kaum<br />
zu schildernde geschichte ihren tischnachbarn ausführlich zu beschreiben oder
18 MEIN BRUDER 117<br />
gelangweilt in ein funktelefon zu sprechen, eine hand in der hosentasche, den<br />
flachen plastikapparat mit der anderen an die ohrmuschel gepreßt. dunkelblau ist<br />
die bevorzugte farbe für ordentliche sakkos, die von geschäftig dreinblickenden<br />
herren mittleren alters ohne jeden humor vorgeführt werden, während die damen<br />
ein signalrot oder ein großflächiges, klausbuntes blumenmuster auf dunklem grund<br />
bevorzugen, weit ausgeschnitten, bis zum boden fallend, nach oben geschlitzt<br />
& echt raffiniert gearbeitet. was jünger als 35 jahre ist steckt seinen körper in<br />
hautenge jeans, die keinen zweifel über die formungen der hüfte aufkommen lassen<br />
& jede pofalte & jeden beckenbogen genauestens abzeichnen.<br />
auf dem kleinen platz vor dem friedhof zeigen kleinkünstler ihre fertigkeiten.<br />
eine marionetten-band zappelt wie eine mettalerkombo zum gettoblaster-sound.<br />
ganz in weiß gekleidete, lebende statuen verharren für mehrere stunden in ei-<br />
ner starren pose, um die zuschauer zu mutigen sprüchen & dem ablegen kleiner<br />
papierscheine zu bewegen.<br />
gegen 11 uhr abends kommt regelmäßig ein zerlumpter 20jähriger auf den<br />
platz, um in hicky-sack-manier eine verbeulte coladose über das pflaster zu kicken,<br />
deren aufprallgeräusch von der 12stöckigen häuserwand zurückgeworfen & vom<br />
platz verstärkt wieder nach oben geschickt wird. in den jahren seines täglichen<br />
übens hat der junge mann eine selbstquälerische fertigkeit erlangt, die ihresglei-<br />
chen sucht. die leere weißblechdose, die er geschickt mit der ferse des einen & den<br />
zehen des anderen fußes von hinter seinem rücken über die schulter hervorkickt,<br />
landet auf seinem knie oder einem seiner flinken füße, von wo aus sie mit gedul-<br />
diger ausdauer wieder in die luft hüpft, bis sie nach 5 oder spätestens 7 kurzen<br />
flügen auf dem pflaster des platzes landet & ihr beruhigendes klacken über die<br />
recoleta schickt.<br />
den flugwinkel & die geschwindigkeit des spielzeuges könnte ich mit eini-<br />
gem aufwand berechnen, vielleicht sogar den punkt des mettallbehälters, der den<br />
körper des spielers berühren wird. danach aber beginnt die ordnung des chaoti-<br />
schen systems, eine vorhersage über den abprallwinkel des gekickten, zerbeulten<br />
flugkörpers, der keine glatte, gleichmäßigee oberfläche aufweist, sondern wie die<br />
zerklüftete fläche eines gletschers durch den druck vielfach gefaltet ist, zu erschwe-<br />
ren, so daß jede noch so kleine änderung die folgende flugbahn bis in ihr gegenteil<br />
ablenkt. der junge mann n<strong>im</strong>mt seine aufgabe ernst & übt anderthalb stunden vor
18 MEIN BRUDER 118<br />
den gutgekleideten, auf dollars getr<strong>im</strong>mten porteños ein spiel, dessen aussichts-<br />
losigkeit nur davon übertroffen wird, schneeflocken zu sortieren. seine fähigkeit,<br />
die dose in der luft zu halten, fesselt mich für minuten auf dem balkon, wo ich<br />
<strong>im</strong> 8ten stock dem ungleichmäßigen klacken des metalls auf der straße lausche.<br />
am näxten abend führt mich mein bruder in die santa fee, einer breiten ein-<br />
kaufsstraße mit kinos & restaurants, bekannt dafür, ein treff der männerliebenden<br />
männer zu sein. überall fl<strong>im</strong>mern bunte neonreklamen. die gehsteige sind voll &<br />
laut dröhnt der verkehr. wir nehmen uns einen tisch vor dem olmo. der starke<br />
straßenlärm nachts um 1 uhr hindert uns nicht daran, eine lange, eindringliche<br />
unterhaltung zu führen über die gemeinsame mutter & ihr einsames, sowieso<br />
zu kurzes leben ohne unseren vater, mit dem sie sich kurz nach unserer geburt<br />
verworfen hatte.<br />
er war in bari geboren & hatte sie 1960 bei einem urlaub am lago maggiore<br />
in norditalien kennengelernt, an einem lauen septemberabend auf der terrasse<br />
eines kleinen hotels direkt am see. beide hatten die mitte ihres 3. jahrzehnts<br />
überschritten & beiden glühte die liebeshungrigkeit aus den dunklen augen, als<br />
unsere zukünftige mutter mit ihrer freundin an einem kleinen tisch platz nahm,<br />
um einen wein zu trinken. unser zukünftiger & vergangener vater, dessen augen<br />
<strong>im</strong>merfeucht waren vor rührung, lud die beiden frauen auf einen weiteren wein ein<br />
& einen schwatz über das wetter & die schöne lage des hotels direkt am dunklen<br />
wasser des kühlen bergsees. als sich unsere mutter am letzten abend desselben<br />
jahres mit dem in mailand lebenden kaufmann erneut traf, blieb es nicht be<strong>im</strong><br />
knallen der sektkorken.<br />
das olmo ist voll junger männer, die eng zusammen an tischen sitzen & sich<br />
eindringlich unterhalten. an der ecke zur santa fee steht eine gruppe junger hu-<br />
schen, eine davon mit langem, weinroten pullover, die lockigen haare aufgeregt<br />
mit beiden händen hinter dem nacken aus dem gesicht streichend. am nebentisch<br />
sitzt ein pärchen älterer schwestern, in frieden mit sich & der runden, sich drehen-<br />
den erde. der innenraum ist mit dicken bärten, kurzen schnauzern, glatt rasierten,<br />
kantigen kinnknochen, mit halbglatzen & langen haaren vollgestopft. wir trinken<br />
eine flasche gekühlten weißwein, als 2 freunde meines bruders antanzen, eine jun-<br />
ge, zarte husche & ein langer, dünner bart mit stechend hellblauen augen. in einer<br />
kleinen, feuchten kußorgie machen wir uns gegenseitig bekannt, & der bart singt
19 SOMMER & WINTER 119<br />
sofort einen tango mit der zitternden st<strong>im</strong>me wahrer leidenschaft. er hebt sich zu<br />
seinem 2ten vortrag in den stand, & die nachbartische st<strong>im</strong>men traurig ein in die<br />
geschichte von der gefallenen jugend, bis ein vielst<strong>im</strong>mig weinender männerchor<br />
mit einem lang gedehnten, schaurigen schlußakkord die show beendet. es hagelt<br />
applaus. ich habe unwillkürlich eine hand an die festen hüften des sängers gelegt,<br />
& er zieht die brauen hoch bis in den h<strong>im</strong>mel, wo seine hellblauen augen für<br />
einen moment lang von einer honigsüßen liebe träumen. der rote pullover an der<br />
ecke grinst an unseren tisch. seine kräftige flamme <strong>im</strong> ärmellosen t-shirt weist ihn<br />
sofort zurecht. nach einer 2ten flasche brechen wir beide auf, um nach hause in<br />
die recoleta zu laufen.<br />
mädels & huschen spüren eine anziehung eher als machoharte männer, denn sie<br />
achten auf das, was menschen in sehnsüchtigen blicken & kleinen, nicht gesagten<br />
dialogen, <strong>im</strong> kurzen zögern eines augenblicks oder <strong>im</strong> hell lodernden feuer einer<br />
ausladenden geste als gefühl zum ausdruck bringen. der tango lauert überall, in<br />
jedem blick & in jedem schritt, oder fast überall.<br />
19 sommer & winter<br />
ich war gerade von der caribic gekommen, den antillen. die départements<br />
guadeloupe & martinique, offiziell französisches staatsgebiet, leiden darunter,<br />
französisch zu sein. die inselbewohner mögen ihre weißen, vaterländischen volks-<br />
genossen nicht. sie wetteifern untereinander, die besseren franzosen zu sein. frage<br />
ich nach der uhrzeit, bekomme ich als antwort eine zeitangabe, die selbst <strong>im</strong><br />
mutterland als pedantisch gilt: “7 uhr 1.“ wen interessiert die einzelne minute.<br />
überall auf der runden, sich drehenden erde sind die menschen auf zeitge-<br />
nauigkeit geeicht, dazu übergegangen, eine fast volle stunde mit kurz-vor zu um-<br />
schreiben oder sie, in einer geste großzügiger ungenauigkeit, aufzurunden, wie<br />
es ihnen paßt. eine ausnahme bilden die börsen, die ihre wetteinsätze von der<br />
uhr abhängig machen & deshalb minutenweise & sekundenweise & 10telsekun-<br />
denweise ihre durchschnittswerte über die erdweit verknüpften informationsnet-<br />
ze schicken. sie rechnen den mittelwert des preises einer nicht vorhandenen wa-<br />
re in siegreiche gewinne oder grauenhafte verluste um. solche hart arbeitenden<br />
menschen, falls geldzählen als arbeit durchgeht, spielen auf dem papier mit dem
19 SOMMER & WINTER 120<br />
tatsächlichen reichtum der runden, sich drehenden erde, um ihn in einem unglück-<br />
lichen augenblick zu verwetten oder ihn rein papiermäßig <strong>im</strong> selben augenblick<br />
zu verdoppeln. die einen so, die andern so.<br />
von dieser arbeit wird keine einzige orange zu saft gepreßt oder auch nur<br />
geerntet oder gar gepflanzt, & solange der schein der scheine mehr zählt als der<br />
tatsächlich vorhandene reichtum der tatsächlich arbeitenden bevölkerung, & sich<br />
alle welt der kleinen, erlesenen wettgemeinschaft beugt, solange wird diese clique,<br />
mit den nötigen papieren ausgestattet, über die köpfe der massenhaften armut in<br />
saus & braus leben, ohne auch nur einen einzigen der beiden kleinen finger gerührt<br />
zu haben, es sei denn, um ein funktelefon zu bedienen, oder ein fläschchen, mit<br />
den beruhigenden herztropfen gefüllt, von seinem schraubverschluß zu befreien &<br />
sich eine dosis ich-hab-es-ja-gewußt-chemie zu genehmigen, die in allen oder fast<br />
allen & sicherlich in allen guten, hauseigenen apotheken rezeptfrei zu haben ist.<br />
“es ist 2 minuten vor 2.“ <strong>im</strong> äußersten osten der promenade von fort-de-france,<br />
vor einem winzigen sandstreifen unter hohen palmen am fuß der alten, schwarzen<br />
festungsmauern des fort st. louis, haben sich ein paar mannschaften zum jährli-<br />
chen bootsrennen mit den langen, schmalen, hölzernen conniers versammelt, um<br />
eine strecke von 5 seemeilen um die wette zu segeln. weit draußen sind sie als<br />
kleine, helle punkte <strong>im</strong> gleißenden licht der mittagssonne zu sehen. <strong>im</strong> schatten<br />
der großen palmen parkt ein peugeot kastenwagen, die ladeklappen geöffnet, &<br />
versorgt uns mit pommes frites & langen, gut belegten baguettes.<br />
vor mir steht auf dem sand unter einem breiten sonnenschirm eine wettge-<br />
meinschaft <strong>im</strong> schatten um einen klapptisch. ein alter, schwarzer mann hat einen<br />
klausbunten kasten in 6 bahnen geteilt, mit 4 abschnitten als rennstrecke für<br />
faustgroße metallautos. die augen von 3 würfeln stehen für die nummern von 3<br />
rennbahnen. mit fahrigen fingern, grau wie auspuffqualm, rückt die flinke hand<br />
des alten die autos einen abschnitt vor, bis schließlich eins das ziel erreicht. nach<br />
4 oder 5 würfen, spätestens nach 7 runden, ist das rennen beendet & der sieger<br />
erhält 25 ff.<br />
“was? schon 1 nach 2? ich muß weg ...“ eine bahn wird frei. 5franc-stücke<br />
sammeln sich vor den fahrstreifen. ich steige ein. als 6 münzen zusammen sind,<br />
schnappt sich der alte seinen anteil & läßt ihn in einer tasche vor seinem bauch<br />
verschwinden. mit 3 würfeln geben wir gas. ich wähle eine klapprige, rote ente auf
19 SOMMER & WINTER 121<br />
der 5ten bahn & ziehe gleich <strong>im</strong> ersten wurf mit einem 5er pasch davon. neben<br />
mir steht ein unscheinbarer weißer <strong>im</strong> sonntagsstaat. er hat auf die 4te bahn,<br />
einen grünen vw käfer, gesetzt. der schwarze wiederholt die zahlen & schiebt die<br />
autos 1 vor.<br />
“die 4, die 2 & die 6, voilà ... die 2 die 5 & die 3, voilà ...“ der näxte wurf ist<br />
ein 4er pasch mit einer 1.<br />
“die 4, die 1 & nochmal die 4.“ verdammt, wo bleibt die 5. “die 5, die 4 & die<br />
1, bitte sehr.“ ich brauch noch eine 5 & dann bin ich durch.<br />
“die 3, die 6 & die 4. “ er setzt den grünen käfer über den zielstreifen. “die 4<br />
gewinnt, bitte sehr.“ der unscheinbare typ sackt die 25 ff ein. 3mal hintereinander<br />
gewinnt er, & 3mal gewinnen die außenbahnen 1 & 6, beide von einer alten frau<br />
gewettet. ich bekomme ein zusatzlos nach den verlorenen rennen & setze auf die<br />
3, ein grauer, alter mercedes. diesmal gewinnt die rote ente, ich gebe ernüchtert<br />
auf. pech <strong>im</strong> spiel, kein geld für die liebe.<br />
der sonntagmittag neigt sich langsam dem abend zu, als ich die n1 auf die<br />
andere seite der insel trampe, wo heute bo hendrikson & die westindian jazz<br />
band spielen. <strong>im</strong> dezember organisieren die städtchen fort-de-france & ste anne<br />
ein jazzfestival. dieses jahr haben sie cubaner, nordamericaner, bands aus st. lu-<br />
cia & ein paar franzosen eingeladen. das 3. auto, ein grauer r5 hält an. ich steige<br />
zu einer kräftigen, schwarzen, jungen dame in den beifahrersitz. wir brettern in<br />
höllentempo los & beginnen eine ausgiebige unterhaltung über die schriftstellerei<br />
& die probleme, ein fertiges buch bei einem verlag unterzubringen. rita durville<br />
aus le lamentin schreit ihre markanten sätze aus einem dicklippigen mund in den<br />
heißen fahrtwind. sie nennt ihr werk eine reflektion. ihr buch handelt vom erwach-<br />
senwerden einer durchschnittsschwarzen auf den französischen antillen, von der<br />
ersten liebe, die voller hoffnung beginnt & voller enttäuschung eine tiefe wunde<br />
ins herz der heldin reißt, vom beginn einer langen erkenntnis, die all die aner-<br />
zogenen ungere<strong>im</strong>theiten einer männerbeherrschten, kapitalistischen gesellschaft<br />
hinterfragt & vom weg einer bewußt lebenden frau, die als französin, afrikane-<br />
rin, frauenrechtlerin & hausfrau ihr eigenes, sowieso zu kurzes leben genießt. vor<br />
begeisterung bringt sie mich bis nach ste anne.<br />
das kleine dorf, an einer süßen bucht gelegen, in dessen hafen winzige, weiß-<br />
gestrichene segler ankern, hat sich für das jazzfest geschmückt. auf dem platz
19 SOMMER & WINTER 122<br />
vor der kirche ist eine bühne aufgebaut. ich schaue mir die stände der kunst-<br />
handwerker an, handgemachte musikinstrumente, gogos, trommeln, rasseln. ein<br />
caribisches schlagholz aus bambus, um den bauch gebunden, gibt in hellen, kur-<br />
zen calypsoschlägen den takt an, obendrüber 2 xylophone & eine mar<strong>im</strong>ba mit<br />
pergamentzungen an den kalebassen. auf schweren, fellbespannten holzkörpern<br />
sitzen 4 trommler & legen den baßteppich für eine kleine session. ich greife einen<br />
shaker & halte mit. den ellenbogen gerade vor meinem körper, das handgelenk<br />
auf & ab wippend versuche ich, den weißen schlag zu vermeiden. weiter hinten<br />
verkauft eine süße, kurzhaarige perle in einem orangen, hautengen overall geba-<br />
tikte klamotten an die zahlenden touristen. wir lachen uns an, & ich muß an<br />
nina denken, die jetzt <strong>im</strong> verschneiten boulder ihr bienenwachs in der kleinen,<br />
lichtlosen küche <strong>im</strong> souterrain des grand view über chinesische baumwollhemden<br />
gießt, um sie nach ein paar färbungen & einer guten, chemischen reinigung auf<br />
der mall zu verkaufen.<br />
als ich das 2te mal in ihre küche komme, fühle ich mich zu hause & gebor-<br />
gen, lege mein sakko über den stuhl & stelle die schuhe neben das große bett.<br />
ich habe ihr auf der wanderung durch den park zum red arc einen blumenstrauß<br />
gepflückt, überwiegend silbrig trockene, kleine, feste stiele mit ein paar ocker-<br />
grün sch<strong>im</strong>mernden blättern, einem reisig thymian & 2 winzigen, blau blühenden<br />
halmgewächsen. das gebinde freut sie sichtlich & erhält einen platz neben den<br />
anderen getrockneten sträuchern auf einer leine über dem herd. nina holt aus<br />
dem kühlschrank einen frischen salat mit viel knoblauch, den wir zusammen mit<br />
einem kräutertee & einer soyamilch verzehren.<br />
sie hat, für americanische verhältnisse ungewöhnlich, ein bißchen guten,<br />
schwarzen afghanen <strong>im</strong> haus, & ich baue eine winzig kleine tüte, gerade groß ge-<br />
nug, um den herrlich waldigen geschmack des harzes zu spüren. sie selbst raucht<br />
lieber pur & n<strong>im</strong>mt ein kleines holzbrett mit einer nadel, auf der die ecke unter<br />
einem glas glüht. ich bin an der reihe. ich kann vor lauter gier den hals nicht<br />
vollkriegen, so daß ich prustend husten muß, & wir beide über meine ungeduld<br />
lachen. das kleine schlafz<strong>im</strong>mer ist heute merklich aufgeräumt, der teppich rings<br />
ums bett an manchen stellen zu erkennen & die vielen stoffreste ordentlich an<br />
einer wand neben die kassetten gestapelt. wir legen eine alte jony mitchell auf-<br />
nahme ein & wechseln nach dem 2ten stück zu stievie wonder. nina hält sich dicht
19 SOMMER & WINTER 123<br />
neben mir, & ich kann ihren festen körper & seine ausstrahlende wärme spüren.<br />
ihre großen augen schauen mich fragend an. sie hat die frisch gewaschenen, langen<br />
mahagonihaare mit einem bleistift am hinterkopf zu einem knoten gesteckt, der<br />
sich jetzt zufällig löst, als sie mich mit ihren starken armen auf das h<strong>im</strong>melblaue<br />
bett zieht.<br />
schnell sind wir beide richtig beschäftigt mit küssen & mein pferdchen stellt<br />
sich bereitwillig auf die hinterbeine & wiehert leise. nina stemmt, über mir liegend,<br />
ihre schweren hüften gegen den sperrangelweit offenen stall, & wir halten uns fest,<br />
wie ängstliche kinder <strong>im</strong> sturm. als ich ihr gewicht auf mir spüre & ihren atem<br />
in mir, als wir beide kaum noch zögern, fragt sie mich, ob ich einen präser habe.<br />
“not right now, later.“ antworte ich. “no, I woun’t without.“ “yes o.k., but<br />
later.“ “no, we hav’got to talk about it.“ wieso denn reden, ich denk vögeln? wir<br />
beginnen eine endlose, sinnlose diskussion über sauberkeit & aids am arbeitsplatz<br />
& <strong>im</strong> bett, über die gefahren der ansteckung & die schl<strong>im</strong>men leiden bei krank-<br />
heitsausbruch, so daß sich mein pferdchen leise & he<strong>im</strong>lich in den stall zurückzieht<br />
& mir der bock komplett umfällt. so nicht, meine süße.<br />
ich vögel fast <strong>im</strong>mer mit mäntelchen, das in einigen sprachen der runden, sich<br />
drehenden erde auch hemdchen heißt oder sonst wie. bitte gerne mit gummi-<br />
haut, aber nicht wegen aids oder irgend einer anderen geschlechtskrankheit, die<br />
womöglich nicht nur meinen schwanz befällt, sondern auch meinen übrigen körper<br />
angreift & ihn für <strong>im</strong>mer mit häßlichen narben zeichnet. ich bin gerne bereit, mir<br />
die dünne, nach autoreifen riechende latexschicht über mein rohr zu rollen, falls<br />
wir tatsächlich ficken, & ich den knochen jeden augenblick in deine weiche, nasse<br />
grotte lege. solange wir lecken & küssen, solange wir miteinander spielen, bis wir<br />
naß & aufgeregt zittern, bis die milch schäumt & jeden augenblick überkochen<br />
will, wenn wir fingern & nästeln, wenn wir uns einreiten, wobei alles erlaubt ist<br />
außer ficken, & wir uns an den entscheidenden stellen reiben, bis es heiß brennt, &<br />
wir vor lust nix mehr anderes <strong>im</strong> kopf wissen als das alte rein raus, will ich <strong>im</strong>mer<br />
noch keinen gedanken verschwenden an eine reue oder irgendeine gottverdammte<br />
krankheit, sondern ich will mein hartes ding in festen händen wissen & will selbst<br />
mit spucke befeuchteten fingern an der honigspalte melken, um den saft bis auf<br />
den letzten tropfen zu genießen.<br />
ich verhüte nicht aus angst vor krankheiten, sondern weil ich noch keinen
19 SOMMER & WINTER 124<br />
nachwuchs will, der mein sowieso zu kurzes leben für mindestens 15 jahre nach-<br />
haltig best<strong>im</strong>men würde, länger als alles andere auf der runden, sich drehenden<br />
erde.<br />
nach einer ewigkeit & mehreren zigaretten, nach einem neuen kräutertee mit<br />
viel soyamilch, sind wir beide wieder entspannt genug, um das honigkästchen mit<br />
der banane zu bearbeiten. nina hat ihre reife pflaume vor mir ausgebreitet & ich<br />
führe einen zeigefinger an die weiche, feuchte innenhaut, wo der saft schon wieder<br />
fließt, lasse ihn von ihrer muschi einsaugen & ziehe ihn naß aus ihrem spalt, um<br />
ihn in unsere küssenden münder zu stecken. wir lutschen beide den salzig sauren<br />
geschmack auf.<br />
so habe ich mir die sache vorgestellt. ich spüre ihren schweren körper auf<br />
mir, der mit seinem gewicht die untere kante des schambeins an meiner kräftigen<br />
karotte reibt. wir sind beide ohne einen faden am leib, außer der kleinen gum-<br />
mischicht, die das überlaufen der kochenden milch verhütet, & ich greife ihren<br />
riesigen arsch mit beiden händen & ziehe ihn so fest ich kann an mich. sie reibt<br />
mit einer hand ihre klitoris, bis wir beide die tore weit öffnen & nach einem<br />
kurzen, taumelnden kampf zusammensinken & uns bis zum anderen morgen auf<br />
ihrem großen bett ausruhen.<br />
nach der kleinen session auf dem marktplatz beginnt die jazzshow der profis<br />
vor der kirche. hendrikson, der sammy davis jr der caribic, spielt eine mischung<br />
aus wes montgomery & jonny guitar watson, segelt leicht durch die harmonien, ein<br />
bein fest auf dem boden, das andere auf die ferse gestellt, so daß die zehenspitzen<br />
<strong>im</strong> 8teltackt hin & her wippen.<br />
“& I really miss you most of all, when the rain starts to fall.“ er singt sein<br />
solo zum lauf der finger in den verstärker, tanzt ihnen sachte hinterher, durch<br />
seine musik hindurch, erstaunt darüber, wie witzig sie spielen, & der dezember-<br />
h<strong>im</strong>mel über ste anne dankt ihm die gute vorstellung mit einem platzregen. wir<br />
verschwinden in die umliegenden caffees bis der wettergott ein einsehen hat mit<br />
der 500köpfigen jazzgemeinde & die westindian jazz band die sonne von st. lucia<br />
aus allen hörnern auf den kirchplatz gießt.<br />
ich trampe anschließend zurück nach fort-de-france, wieder in einem r5. der<br />
fahrer raucht eine dicke habana, & aus seiner üppig ausgelegten stereoanlage<br />
schwingt hell das schnelle klingeln der caribischen triangel. ich erreiche den park
19 SOMMER & WINTER 125<br />
an der festungsmauer, um einen bummel an der ostseite entlang der fliegenden<br />
restaurants zu machen, die hier jeden abend rund ums jahr hühner, fische, mu-<br />
scheln & langusten auf holzkohle garen & zum essen anbieten. ich laufe die reihe<br />
der lokale ab, an klapptischen vorbei, voll besetzt mit vespergruppen. hinten-<br />
dran steigt rauch in den h<strong>im</strong>mel. flaschen klingen hell. ich höre das knacken der<br />
fettspritzer auf der glut & bleibe bei einem beleibten, dickbrilligen, schwarzen<br />
koch stehen, dessen leibesfülle für die güte seiner küche bürgt. auf dem grill war-<br />
tet ein halbes dutzend hühnerschenkel, ein blech voller muscheln & ein dutzend<br />
langusten darauf, vom chef gewendet zu werden. er reserviert sich 2 der rötli-<br />
chen schalentiere, bricht sie unter lautem knacken auseinander & bietet mir eine<br />
messerspitze umbrafarbener körner an.<br />
“c’est le mieux ça, c’est très bon.“ ich koste eine fingerspitze der frischen lan-<br />
gusteneier, & das wasser läuft mir augenblicklich <strong>im</strong> mund zusammen. er holt von<br />
einer ablage unter dem rost 2 lambin hervor, faustgroße, gedrehte seeschnecken,<br />
die häuser voll mit meerwasser, & legt beide mit der öffnung nach oben in die<br />
heiße glut, darauf bedacht, die flüssigkeit nicht zu verschütten. ich schaue zu,<br />
wie der sud in der kalkschale zu kochen beginnt & innerhalb von minuten das<br />
schneckenfleisch gart. der dicke sticht mit einer langen nadel in das heiße kalk-<br />
haus, drückt den gekochten muskel aus der verankerung, fischt ihn aus dem sud<br />
& legt ihn mir auf einen teller, um ihn in daumennagelgroße stücke zu schnei-<br />
den. ich kaue andächtig auf dem süßen kautschuk. keine faser & keine sehne, kein<br />
papierartiger nachgeschmack, wie bei rind, keine faserige, trockene masse. selbst<br />
krebsfleisch verliert seine form nach ein paar bissen.<br />
die muschel, in der entwicklungsgeschichte der lebewesen älter, mit geringerem<br />
organisationsgrad der zellen, hat die reine, süße kraft der urbewegung, nur zu<br />
vergleichen mit einer jungen, nassen muschi, die ihre feuchtigkeit aus ständig<br />
arbeitenden drüsen abgibt, nachdem der gipfel der lust schon überschritten ist.<br />
auf der anderen seite des parks tausche ich mit jerôme 3 präser gegen 2 kleine<br />
sticks, & wir rauchen einen zusammen weg. er ist heute abend mit einer perle<br />
verabredet, & ich brauche die gummis erst weiter <strong>im</strong> süden auf dem festland, wo<br />
du mich mit deiner süßen spucke erwartest, ohne auf mich zu warten, wo du mir<br />
den tango zeigen wirst & deine liebe, die einfache, gradlinige liebe, wo du mich<br />
retten wirst für mehr als eine nacht.
19 SOMMER & WINTER 126<br />
ich bestelle <strong>im</strong> eckcaffee vor dem park einen caribischen zuckerrohrschnaps,<br />
der <strong>im</strong> wasserglas mit etwas braunem zucker & einer 4tel l<strong>im</strong>one serviert wird. die<br />
französischen antillen sind eklig teuer, teurer als das mutterland, bis auf zigaretten<br />
& rum. die alte, schwarze bedienung stellt mir die flasche vor die nase. langsam<br />
gieße ich den dickflüssigen schnaps ein, & während der brennstoff in mein glas<br />
fließt, überlege ich mir, wieviel ich trinken will & stoppe unweigerlich, als es<br />
halb voll ist. die alte verschließt die flasche unter einem langen grinsen, hebt die<br />
schultern, spreizt die ellenbogen seitlich weg & macht 3 bewegungen auf & ab &<br />
ein geräusch wie eine quakende ente, wobei ihre augäpfel bis hinter das gehirn<br />
rollen. ich rühre mit dem kleinen löffel den braunen zucker um & nehme einen<br />
schluck vom süßen sirup & muß, als mir die heiße flamme die speiseröhre entlang<br />
läuft, so daß mir eine gänsehaut den gesamten rücken hinauf, die arme entlang<br />
& wieder zurück zum rücken krabbelt, augenblicklich die schultern anheben &<br />
mit den ellenbogen 3 unbeholfene flugbewegungen machen. den quakenden laut<br />
aus meiner kehle kann ich unterdrücken. ich werde ein paar zeilen schreiben über<br />
nina & boulder, über meine caffeebohne in cuba, über den sozialismus & den<br />
realexistierenden kapitalismus.<br />
am näxten morgen telefoniere ich mit meiner mam zu hause & mit mei-<br />
nem bruder in buenos aires, & wir verabreden uns zum weihnachtsfest in der<br />
großräumigen wohnung oberhalb des friedhofs recoleta. als ich am anderen mor-<br />
gen aus meinem winzigen z<strong>im</strong>mer des hotels ibiscue in der rue redoute du ma-<br />
rouba ins bad gehe, entdecke ich hinter der tür auf einem haken eine weiße ca-<br />
pitainsmütze mit schwarzem schirm & goldenem band, wie ich sie seit meiner<br />
kindheit gesucht habe. sie ist fleckig & verranzt, wie es sich für eine echte see-<br />
mannskappe gehört. ich verliebe mich sofort in die weiße kopfbedeckung & stecke<br />
sie als vorletzte geste in meine reisetasche. der dürre wirt, der selbst in einem<br />
seiner z<strong>im</strong>mer lebt, züchtet auf dem fußboden ein winziges küken zum kampf-<br />
hahn heran. ich bezahle den alten & sehe seinen fuckfinger der linken hand, den<br />
er nach einem unfall nicht mehr einknicken kann, steif wie ein verletztes bein<br />
meine scheine blättern. ich nehme den bus zum flughafen & verlasse martinique<br />
in richtung trinidad.<br />
ich werde später für einen warmen dezembertag durch caracas schlendern &<br />
mir für mich & als geschenk für meinen bruder ein paar hemden holen, die vor
19 SOMMER & WINTER 127<br />
einem halben jahr von flinken, chinesischen näherinnen gefertigt worden sind.<br />
america schw<strong>im</strong>mt in chinesischen waren, in günstig hergestellten gütern der<br />
schönen, guten, wahren welt. in china kostet die arbeitskraft fast nix, da sie vom<br />
planenden staatswesen ausgebildet & unterhalten wird. so schaffen 100 chine-<br />
sen an veralteten maschinen die arbeit von 5 westlern an den modernsten ar-<br />
beitsplätzen & sind <strong>im</strong>mer noch billiger als die hart strampelnden arbeitstiere <strong>im</strong><br />
mutterland des grenzenlosen geldverdienens. selbst wenn wegen allgegenwärtiger<br />
planung & abwesender eigenverantwortung schlendrian entsteht, so bleibt unter<br />
der gewinn-verlust-rechnung noch <strong>im</strong>mer mehrwert für den besitzer der produk-<br />
tionsmittel übrig, in diesem fall zur hälfte dem chinesischen staat, der mit den<br />
ausländischen scheinen einkauft, was er zu hause nicht kriegt, & zur hälfte dem<br />
kapitalistischen geldleiher, der nix anderes vor hat, nur mit dem unterschied, daß<br />
er den überschuß bei der erarbeitung von reichtum als seinen privaten besitz be-<br />
trachtet, den er nur dann gewillt ist, wieder in die produktion zu stecken, falls<br />
diese ihm seiner ansicht nach einen gewinn abwirft, weswegen sie auch, falls unter<br />
seiner berechnung nix zu erwarten ist, ganz einfach stillsteht, egal, ob maschinen<br />
da sind & ausgebildete leute, egal, ob die produzierten sachen genutzt werden<br />
könnten oder nicht. falls für den einzigen gebrauchswert, den der kapitalismus<br />
kennt, nämlich das scheinemachen, die maschinen & die ausgebildeten leutchen<br />
nix taugen, dann läuft auch nix in sachen produktion. der vorgang ist deutlich<br />
<strong>im</strong> wiedervereinigten herzen europas zu sehen, wo ganze industrien abgerissen<br />
werden, weil sie zwar zum produzieren von dingen taugen, nicht aber zum erwirt-<br />
schaften von mehrwert.<br />
die sozialistische wirtschaft kennt keine produktionskrisen, wie sie in mehr<br />
oder weniger regelmäßigen abständen die profitable weltwirtschaft lähmen, es sei<br />
denn, weil die geplante planwirtschaft eine selbst erzeugte, weil selbst geplante<br />
materialknappheit herbeiplant & deshalb ein teil der produktion nicht in der<br />
lage ist, zu fabrizieren. selbstredend stehen wir hier vor 2 völlig unterschiedlichen<br />
arten der krise des produzierens, ist doch die eine als fester bestandteil des systems<br />
geradezu vorprogrammiert, während sich die andere durch vernünftige & rationale<br />
planung einfach vermeiden läßt.<br />
solange besitz geschützt ist & privateigentum gewollt, solange wird sich an<br />
derartigen dingen nix ändern, & es ist nicht die geschichte, dieses blauäugige
19 SOMMER & WINTER 128<br />
fräulein mit den entblößten, hochstehenden brüsten, sondern es ist die gebündelte<br />
kraft der einzelnen, die dieser sache das endgültige ende bereitet, falls die vielen<br />
einzelnen gewillt sind, auf die gewinne einiger weniger zu verzichten & auf den<br />
vielfach geleisteten arbeitsdienst dafür, nicht auf reichtum zu verzichten, sondern<br />
lediglich auf seine einseitige verteilung, seine anhäufung bis zum verfall auf der<br />
einen seite & seinen mangel bis zum hungertod auf der anderen.<br />
augenblicklich aber träumen 1000 millionen menschen von einem großen los in<br />
einer der unzähligen lotterien, wo sie täglich ihren winzigen einsatz zum ergötzen<br />
der lotteriebesitzer & eines einzigen gewinners verwetten, in der mathematisch<br />
& vernunftbegründet völlig unsinnigen aussicht auf ein kurzes leben ohne sorge<br />
durch das wunder der unwahrscheinlichen wahrscheinlichkeit.<br />
baía brasilien spielt ein würfellotto, bei dem der buchmacher vor den augen<br />
der setzenden einen becher mit 6 würfeln stülpt & für jeden richtig gewetteten<br />
pasch den einsatz verdoppelt. die falsch getippten scheine, die während der wette<br />
unter einem gummi auf den gemalten würfelaugen festklemmen, landen in der<br />
tasche des budenbesitzers, wo sie am näxten tag als essensmarken weitergereicht<br />
werden.<br />
menschen, die nix haben, außer ihren klamotten am leib, leben auf der straße<br />
auf einem stück pappe & betteln sich ihr essen zusammen. sie werden vom offi-<br />
ziellen, brasilianischen fernsehen, dem guten informanten, nicht wie bei uns, als<br />
asylanten bezeichnet, denn sie sind offiziell einhe<strong>im</strong>ische, sondern als fremde, die<br />
aus der fernen misere in die stadt kommen, für ein besseres, sowieso zu kurzes<br />
leben. sie heißen neuankömmlinge & dürfen den traum von der schulausbildung<br />
unter den unzähligen straßenbrücken verschlafen. ihre kinder bekommen kaum<br />
zu essen, geschweige denn eine erziehung oder eine ausbildung, sondern wachsen<br />
heran, indem sie die eltern unterstützen be<strong>im</strong> verkauf von kleinkram, indem sie<br />
nachts auf würstchen für hotdogs aufpassen oder kleine tüten erdnüsse versilbern.<br />
es sind nicht <strong>im</strong>mer die häßlichsten & dümmsten, die unter den erbärmlichsten<br />
bedingungen leben müssen, & es sind zweifelsfrei & bei weitem nicht <strong>im</strong>mer die<br />
schönsten & witzigsten, die ein kurzes leben ohne arbeit in saus & braus verbrin-<br />
gen.<br />
ich werde, nachdem ich dich kennengelernt habe & du mir die liebe gezeigt<br />
hast, wie alle oder fast alle anderen beruhigt nach hause gehen, um am näxten
20 DIE REISE MIT MAM 129<br />
morgen auf die arbeit zu dackeln & meine zeit als jahresnutte abzusitzen, bis<br />
mich mein herr & meister entläßt, damit ich mich für den folgenden tag & den<br />
folgenden monat & das folgende jahr wieder erholen kann.<br />
20 die reise mit mam<br />
über ein halbes jahr hatte ich meine alte mam nicht gesehen & hatte sie auch<br />
nicht vermißt. ich liebe meine mam, wenn sie mit glühenden augen eine geschich-<br />
te erzählt, bei der kein satz ein sauberes ende n<strong>im</strong>mt & schließlich unter den<br />
ungläubigen augen der zuhörer zwischen “hat der tatsächlich“ & “ich hab’s ja<br />
eigentlich kommen sehen“ versandet, wenn sie meinen namen ruft, daß mir der<br />
schrecken durch mark & bein fährt, weil sie ihn dehnt & zieht, bis er schließlich<br />
zu einem häßlichen wortfetzen ausleiert, so daß nur eingeweihte zusammenre<strong>im</strong>en<br />
können, wer gemeint ist, wenn sie ihren kleinen herzanfall bekommt & damit<br />
droht, in die kiste zu hüpfen, was ja schließlich ganz alleine meine schuld wäre,<br />
meine schuld, & ich würde ja schon sehen, falls sie nicht mehr wäre, was dann<br />
sei.<br />
mit einem schlag mußten die offen stehenden türen in der schönen, luftdurch-<br />
fluteten wohnung meines bruders geschlossen sein, mußte sofort gespült werden<br />
nach dem essen & die butter sofort wieder in den kühlschrank, wurde zuerst der<br />
verdorbene käse gegessen & nicht der leckere frische, der zu neu & ungeöffnet<br />
war & erst in einem langen sch<strong>im</strong>melvorgang an brauchbarkeit verlieren mußte,<br />
bevor ihn die küchenchefin zum verzehr freigab.<br />
“da ist doch noch der alte, der muß zuerst weg.“ “mam, der krieg ist vorbei.“<br />
“das hat damit gar nix zu tun, nur muß der alte zuerst weg.“<br />
wie anders bist du, wenn du mich rufst & mich zwiebel nennst, weil ich am<br />
abend, als wir uns kennenlernten, bevor wir uns küssten, zwiebeln in einem salat<br />
zerbiß, so daß mir die nase lief vom scharfen geschmack. wie freue ich mich auf<br />
den sanften klang deiner st<strong>im</strong>me & die frage in deinen augen, wenn du mich rufst,<br />
um mir etwas zu erzählen oder um mich anzusehen.<br />
mam zerriß meinen reisefaden kurz & entschlossen & nahm unser weihnachts-<br />
fest zusammen mit mir & meinem bruder in die feste hand. wir kauften leckere<br />
merluza & mein bruder lud sich 2 gute freunde in die wohnung, mit denen wir
20 DIE REISE MIT MAM 130<br />
bei tschaikowskij & luluwasser bis nachts um 3 das feuerwerk auf dem langen<br />
balkon genossen. das weihnachtsfest begann mit dem zerlumpten dosenkicker auf<br />
der recoleta, einer laut geschmetterten moldau & einem netten lichterwald über<br />
den dächern von buenos aires.<br />
wir hatten die subtropen von iguaçu schon hinter uns, waren an den riesigen,<br />
braunen, tief fallenden wassern entlanggelaufen, wo schwarze mauersegler ihre ne-<br />
ster hinter die nasse wand kurz unterhalb der fallkante bauten, waren mit unseren<br />
blicken den kleinen zitronenfaltern gefolgt, die vor dem fallenden weiß tanzten,<br />
bis ihre hauchdünnen flügel, von einem tropfen beschwert, <strong>im</strong> hellen, flüssigen<br />
strudel verschwanden, hatten unsere körper unter den 30 m fallenden, hart auf-<br />
schlagenden strahl aus wasser & luft gehalten, hatten einsam in den schlund des<br />
teufels von oben die 70 m tiefe schlucht hinunter gestaunt, wo das wasser, zu fein-<br />
sten tropfen zerstäubt, eine gicht entwickelte, die von der entweichenden druckluft<br />
bis zu uns herauf getragen wurde, so daß ein regenbogen am sonnigen h<strong>im</strong>mel<br />
stand, hatten über den km breiten, knietiefen zufluß oberhalb der fälle geblickt,<br />
der glatt & sanft sein weiches, jodhaltiges wasser unaufhaltsam wie ein rotbraun<br />
gewebtes tuch über die halbkreisförmig ausgefressene kante schickte, wo es sich<br />
weiß färbte, um durch die wucht des freien fallens in unendlich viele, winzige<br />
fetzen zerrissen zu werden, waren mit förster, dem ostpreußischen auswanderer<br />
& seinen weit auseinanderliegenden, ostpreußischen augen, so strahlend blau wie<br />
der h<strong>im</strong>mel über der he<strong>im</strong>at seiner väter, durch die winzig kleine übertagemine<br />
von wanda gelaufen, wo wir aquamarine in ebensolchem hellblau in einer roten<br />
schicht schotterbasalt sahen, grüne jade, rote jaspe, blauen, schwarzen, hellrosa-<br />
nen amethyst, smokefarbenen topas, granatzitrin & hellblauen & lilablauen achat,<br />
waren mit seinem nagelneuen, argentinischen renault in luftgekühlter frische an<br />
riesigen, weit ausgedehnten, <strong>im</strong>mergrünen nadelwäldern vorbeigefahren, an cana-<br />
fistola & epinia, an akazienhainen, über eukalyptusalleen, vorbei an guenbu- &<br />
aguaybäumen, an mannshohen bromelensträuchern mit dunklen schwertblättern,<br />
an catiguas & loras, an wirtschaftlich genutzten, endlosen kiefernwäldern 20jähri-<br />
ger araupinias, die hier zum holzziehen für die papierindustrie in gleichförmigen<br />
reihen standen, über die rote, fruchtbare, latrinische, vulkangebrannte erde, die<br />
jedes jahr in 4 monaten 3 ernten mate hervorbrachte, waren mit einem schlauch-<br />
boot in die 2 arme des ipaná <strong>im</strong> 600 m breiten halbrund der fälle über die hart
20 DIE REISE MIT MAM 131<br />
aufbrechenden stromschnellen geglitten, die wie lebende muskeln einer aufgereg-<br />
ten echse schnell & kraftvoll unter unserer nußschale zuckten, hatten die grellen,<br />
handtellergroßen schmetterlinge in den regenwäldern rings um den fluß bestaunt,<br />
die als gleißend leuchtendes, türkises zeichen oder in einem gold- & rotgemisch<br />
keine bange kannten, sich auf unsere sonnenerwärmten körper zu setzen, hatten<br />
bei kerzenschein & klaviermusik zu dritt in der festlichen stube unseres hotels,<br />
mit blick auf die endlos herabstürzenden fälle gegessen & nachts den grillen ge-<br />
lauscht, die lang anhaltende, grausam helle töne erzeugten wie vögel in todesnot,<br />
so daß sich schwebungen ergaben, die den saftig grünen, <strong>im</strong>merjungen urwald in<br />
einem atemzug austrockneten & zu pulver zerstäubten.<br />
der ausflug in den süden argentiniens nach patagonien bis an die magelanstra-<br />
ße lag noch vor uns. mein bruder hatte alles bestens organisiert. unsere augen<br />
sahen auf die riesigen eismassen des strahlend weißen moreno-gletschers, von ei-<br />
nem 3 tage alten katamaran auf einem seitenarm des 800 m tiefen lago argentino,<br />
dessen milchig weißes gletscherwasser warm sch<strong>im</strong>merte, obwohl es kalt war wie<br />
schnee, zogen vorbei an den kaum 150 millionen jahre alten faltungen der spitzen<br />
der vorkordilleren, die wie die haut dicker elefanten dunkelbraune schlieren in<br />
den gleißend hellen h<strong>im</strong>mel stießen, blickten auf die 600 qkm große fläche des<br />
upsala gletschers, auf dessen gletscherblau leuchtendem rücken 2 dunkle spuren<br />
der endmoräne in großen schwüngen, dem verlauf des unendlich langsam fließen-<br />
den eisstroms folgend, eine bahn bis an die abbruchkante zogen, während von<br />
der km breiten wand, die in den see hineintauchte, ein turm abbrach, von der<br />
größe eines 20stöckigen wohnhauses, & langsam <strong>im</strong> wasser versank & eine halb-<br />
kreisförmige welle verursachte, um wieder aufzutauchen & als eisberg in weniger<br />
als einem monat zu faustgroßen klumpen zusammenzuschmelzen, hörten das har-<br />
te krachen, als der moreno winzige teile seiner eiswand abwarf, so daß sie flach<br />
auf das kalte wasser schlugen, stiegen mit einem dutzend touristen & 2 unerfah-<br />
renen, wagemutigen führern über die zerklüfteten, wasserdurchflossenen zacken<br />
des zusammengeschobenen eises, wo ein 70jähriger, um dessen heißblütigen enkel<br />
wir bangten, nach einem stolperschritt eine lange, gefrorene rampe in querlage<br />
über die helle körnung segelte, bis ihn die zufällig weiter unten am grat war-<br />
tende, junge argentinische hausfrau davor bewahrte, weitere 6 m senkrecht auf<br />
das harte, spurenlose eis zu schlagen, zerstritten uns bei tiefgefrorenen muscheln
20 DIE REISE MIT MAM 132<br />
bis aufs blut, so daß der familiensegen in guter, alter familientradition wirklich<br />
schief hing, & kamen ermüdet nach einem 7 stunden verspäteten flug in der alten,<br />
europäischen hauptstadt südamericas mit ihren 25stöckigen wohnhäusern an, wo<br />
meine mam ihren wohlgeplanten he<strong>im</strong>flug von der reise ihres lebens antrat.<br />
keiner von uns 3 hatte einen fotoapparat dabei, & so waren wir nicht, wie die<br />
unzähligen reisenden, damit beschäftigt, ein geeignetes motiv vor die fein einge-<br />
stellte, elektronisch kontrollierte linse zu bekommen, sondern stolperten offenen<br />
auges durch die einzigartige, unglaublich weite, kraftstrotzende natur südameri-<br />
cas, die uns mit farbkontrasten zwischen hellblau & dunkelbraun, zwischen silber-<br />
grün & zinnober, zwischen goldgelb & türkis die augen wusch. zum glück war der<br />
familienausflug auf 4 wochen begrenzt, in denen ich jedoch den rhythmus mei-<br />
nes reisetages, bestehend aus einer halben stunde yoga, einem guten stündchen<br />
zwiesprache mit meinem freund, einem kleinen frühstück, ein paar erkundungs-<br />
schritten in neuer umgebung & ein paar zeilen an die nachwelt am abend bei<br />
schnaps oder bier oder wein, völlig verlor. das neue jahr begann hoch oben auf<br />
dem balkon meines bruders in luluwasser geschwängerter familieneintracht, unter<br />
der beschwörung, das alles gut werde.<br />
nix wurde gut. die argentinischen mädels würdigten mich keines blickes, meine<br />
schreibe versickerte <strong>im</strong> weißen sand, mein akkordeon blökte mich mit rostigen<br />
tönen an & das geld mußte ich bedürftig von meinem bruder annehmen, der<br />
mir wenigstens über meine verquere denkweise, die um 5 ecken herum führt,<br />
anstatt geradeaus zu verlaufen, die augen öffnete & mich einen berufspess<strong>im</strong>isten<br />
sch<strong>im</strong>pfte.<br />
“du lebst nun mal in dieser gesellschaft“, sagte er. “ & es gibt augenblicklich<br />
keine andere, also wieso schlecht drauf sein, wieso trübsal blasen, wieso mit dem<br />
rauchen aufhören, ich bin da selbst recht gut zu mir & meinem körper. wenn der<br />
rauchen will, na bitte, soll er doch, ich verkneife mir da nix, das hat doch keinen<br />
zweck.“<br />
also gab ich auf, das rauchen aufzugeben, reservierte einen flug nach são paulo<br />
& setzte mich für meine 3. tanzstunde in den etwas schickeren miclub in der sui-<br />
pacha zwischen lavalle & corrientes, zu der patricia aus unerfindlichen gründen<br />
pünktlich erschienen war. wir tranken mit leonora 2 flaschen billigen apfelsekt<br />
& tanzten mehrere tangos, bis ich die 8 vorwärts zum ersten mal fehlerfrei auf
20 DIE REISE MIT MAM 133<br />
die tanzfläche legte. ab 11 uhr spielte eine band von 5 leuten & einer sängerin<br />
den rumba, & die alten damen schauten mit aufrechtem rückgrad & erhobenem<br />
haupt über die flachen tischreihen, ob jemand die vergangenheit bei einem flot-<br />
ten caribischen tanz zurückholen wollte. meine beiden begleiterinnen mußten am<br />
näxten morgen arbeiten & verließen mich gegen 2 uhr, so daß ich mich nach den<br />
mädels in meinem alter umschauen konnte.<br />
eine kleine, kurzgewachsene locke lehnte sich kaum 3 schritte vor mir, von<br />
ihrem tanzpartner fest <strong>im</strong> arm gehalten, wuchtig gegen dessen ausgestreckte hand.<br />
ihr runder hintern bebte bei jeder drehung lange & kräftig nach & ihre schwarzen<br />
augen flogen mit einem seeligen blick beiseite.<br />
sie verschwindet nach dieser runde in den hinteren tischreihen, & ich stehe<br />
langsam auf, um sie zu suchen & entdecke sie in einer hellen, halbdurchsichtigen<br />
bluse, in der 2 riesige, feste kugeln gefangen sind, mit einer freundin alleine an<br />
einem tisch sitzen. ich warte das ende der tangorunde ab. auf der weiten tanzfläche<br />
mißachten 5 paare kunstvoll ihre tanzpartner & die zuschauer, kopf an kopf,<br />
die hüften schön sauber getrennt, oder hüfte an hüfte, die köpfe schon sauber<br />
auseinander. sie fliegen schrittgleich in zackigen bewegungen wie schmetterlinge<br />
über die steinfliesen.<br />
be<strong>im</strong> ersten rumba fordere ich die schwarze locke auf. ohne mit der w<strong>im</strong>per<br />
zu zucken folgt sie meiner schwitzig feuchten hand in den ring, der sitte, dem<br />
argentinischen anstand & meinem starren blick gehorchend. mein kleines, dum-<br />
mes herz rutscht mir in die hose, wo es wie blöde zu schlagen beginnt & mir vor<br />
aufregung zerspringen will, so daß ich ihr vor angst nicht in die augen schaue, son-<br />
dern nur ein holpriges gestottere rausbringe, eine vorabentschuldigung für meine<br />
dürftige rumbatanzkunst. ich ernte 2 große fragezeichen in den schönen augen.<br />
sie schnappt meine andere hand, legt sie um ihre hüfte über den festen, dicken<br />
arsch & beginnt nach 3 schwüngen mit einem einfachen anfängerschritt, den ich<br />
verhaue. wir starten von vorne. diesmal zähle ich mit. wir laufen los, zwischen<br />
den vielen paaren hindurch. ich bin darauf bedacht, den schnellen rhythmus nicht<br />
zu verzögern.<br />
nach einem endlosen rumba, in der ich mir die frage nach ihrem namen &<br />
meine antwort auf ihre frage nach meinem namen zurechtgelegt habe, nach 2<br />
unglücklichen starts, die ich heldenhaft auf das konto meines mangelnden takt-
21 DICHTUNG 134<br />
gefühls verbuche, nach einem verständnislosen blick ihres kindlichen gesichts, als<br />
ich gerade den mut aufbringe, sie zu fragen, mit ihr einen netten abend & eine<br />
vielleicht noch nettere nacht zu verbringen, lächelt sie gezwungen in mein er-<br />
stauntes gesicht, löst sich aus meiner salzigen umklammerung & sagt grinsend:<br />
“später nochmal, vielleicht.“ ich stehe mitten zwischen hart arbeitenden tanzpaa-<br />
ren, die alle & zwar alle zu 2t sind, nachts um halb 3 besoffen auf der hälfte der<br />
suipacha & darf zusehen, wie die locke mit einem dünnen, glattrasierten, billig<br />
gekleideten fußballspieler abzieht, der auf ihre breiten lippen & die noch breiteren<br />
hüften gar keinen bock hat, weil er sich gerade mit ihrer freundin amüsiert & ihre<br />
best<strong>im</strong>mende art überhaupt nicht ausstehen kann.<br />
ich gehe hoch auf die belebte, in grünen & roten neonbuchstaben fl<strong>im</strong>mernde<br />
nebenstraße der corrientes & warte auf meine geliebte 17, die mich bis vor die<br />
tische des caffee de la paix in der recoleta bringt, wo um diese zeit hochbetrieb<br />
herrscht für hüftkranke, gutgekleidete porteños. bis zum sonnenaufgang werde<br />
ich die laue sommernacht bei ein paar überteuerten drinks rumbringen.<br />
21 dichtung<br />
die poeten der runden, sich drehenden erde sind ausgestorben, ausgewandert oder<br />
ausgetrocknet. sie haben den mut oder die fertigkeit verloren & bringen nix auf<br />
die reihe, außer ein paar tote, faulende, feuilletonistisch hochgelobte buchstaben<br />
über den schmerz der welt oder die einzig wahre, echte liebe, leider unerfüllt & von<br />
haus aus unerreichbar. sie fingern an faden wortfetzen, die sowieso kein mensch<br />
braucht, & haben von dichtung, der dichten verkettung von sprache schon gar<br />
keinen blassen dunst. die einzigen, noch lebenden poeten arbeiten <strong>im</strong> team in den<br />
großen werbehäusern in são paulo, mexico city oder sonstwo in einer einigerma-<br />
ßen netten stadt & sind in der lage, uns mit erfundenen, kurz erzählten, prallen<br />
geschichten zu füttern. sie erzeugen in einem langen, gruppendynamischen vor-<br />
gang der verdichtung neue denkmuster & erzählen uns aufregende liebesgeschich-<br />
ten, leicht bekömmlich <strong>im</strong> 45 sekundenrhythmus, gut verdaubare familiensagas<br />
in eineinhalb minuten & vergessen dabei nichtmal auf das beknackte produkt<br />
aufmerksam zu machen, für dessen werbung sie bezahlt werden. sie arbeiten an<br />
einer neuen, schnell begreifbaren, flockigen bildersprache, mit der sich all das,
21 DICHTUNG 135<br />
was wir uns vorstellen, ausdrücken läßt, bauen uns in 4 schnitten pro sekunde<br />
ein gefühl in den kopf, von dem wir bis dato nichtmal wußten, daß es dafür ei-<br />
ne chemische rezeptur in unseren gehirnen gibt, füttern uns mit eindrücken von<br />
unbekannten, ersehnten welten & erfinden eine neue, längst nötige, längst fällige<br />
form der sprache, die den schnellebigen inhalt überhaupt erst übertragen kann.<br />
solltest du zu der gemeinde der switcher gehören, die auch zaper heißen oder<br />
channel crosser oder sowienoch, & sich mehrere programme durch schnelles hin-<br />
& herschalten gleichzeitig anschauen, so bist du längst ein fan der neuen dicht-<br />
kunst geworden. die lässig gemachten werbespots bieten die art der erzählung<br />
in hochform, die wir, da wir <strong>im</strong> standgas zu hoch laufen, wegen ihrer geschwin-<br />
digkeit schätzen, für zwischendurch & so, & um die schrift mit dem sowieso zu<br />
kurzen leben zu versöhnen. bilder, die von dem strotzen, von dem sie handeln,<br />
namentlich von liebe ohne nacktem fleisch, von 2 leuten, die sich gerade finden,<br />
von ganz vielen, die schon so viel zusammen gemacht haben, mit einer geschwin-<br />
digkeit & fülle, die nichtmal vom knappen leben eingeholt werden kann, fesseln<br />
uns in einsamen nächten lange vor der fl<strong>im</strong>mernden kiste, obwohl wir doch schon<br />
längst müde sind & eigentlich schlafen wollten.<br />
bleibt mir also weg mit erfundener, nicht gelebter, langwierig & umständlich<br />
erzählter literatur, die sich einen abbricht, um dann nix anderes als das alte rein<br />
raus <strong>im</strong> auge zu haben, die in völlig verkrampften geschichten das sucht, was<br />
das sowieso zu kurze leben augenblicklich für deren schreiber nicht zu bieten hat,<br />
die aus blutarmut & lebensunfähigkeit lieber fabuliert & erfindet, als selbst zu<br />
erfahren & zu erleben, die sich eher traurig was zusammenlügt, als der lachenden<br />
wahrheit ins hellblaue auge zu schauen, weit geöffnet für jeden, der sich lieber<br />
auf die suche macht, als in den träumen anderer eine he<strong>im</strong>at zu finden.<br />
wenn schon weltfremd, dann bitte mitten auf der runden, sich drehenden erde<br />
mit all ihren nachteilen, all der scheiße, die tagtäglich abgeht. aber bitte nicht<br />
trostlose sachen schön lügen, oder den dumpfen, tristen knast mit einer farbta-<br />
pete klausbunt verkleiden, damit die betonwand dahinter nicht zum vorschein<br />
kommt. lieber werde ich als touri in einer blöden kneipe über den tisch gezogen,<br />
als zu hause davon zu träumen, meine einzig wahre liebe zu treffen, die ohnehin<br />
in genau den entgegengesetzten zug einsteigt wie ich, falls ich überhaupt in einen<br />
zug einsteige, um sie zu suchen oder sowas in der art. lieber stehe ich ohne hoff-
21 DICHTUNG 136<br />
nung in einer menge von leuten, die in der lage sind, meinen letzten anstand zu<br />
zerstören, als daß ich brav zu hause in erfundenen, nie passierten geschichten an-<br />
derer leute mein kleines, blödes mütchen kühle. bleibt mir also weg mit literatur,<br />
mit arztromanen oder intellektuellen novellen von hohem literarischen wert, die<br />
rein erfunden & deshalb nie passiert sind & nix darstellen, als den verzweifelten<br />
wunsch des verfassers, mal gelebt zu haben.<br />
was ich hier erzähle, ist nix als die wahrheit, die reine, ungeschminkte wahr-<br />
heit, & ich schreibe sie nicht auf, um eine beknackte runde abgehalfterter heft-<br />
chenleser be<strong>im</strong> hirnwichsen anzutörnen, sondern lediglich, um das bißchen echte<br />
wahrheit, das sich täglich in den städten der runden, sich drehenden erde zuträgt,<br />
ein für allemal festzuhalten, um die geschichten aus ihrem bekackten, hoffnung-<br />
frohen kreislauf des vielleicht-doch-mal & das-näxte-mal-aber-best<strong>im</strong>mt heraus<br />
zu holen & zu zeigen, daß ein einziges, sowieso zu kurzes menschenleben allemal<br />
ausreicht, um mehr als einmal glücklich zu werden, um mehr als nur <strong>im</strong> traum<br />
gelebt zu haben, daß ein halbes jahr bereits langt, selbst ein halber tag schon<br />
langt, um eine gute geschichte nicht zu erfinden, sondern sie selbst & eigenhändig<br />
zu erleben, so wie ich all die hier aufgeschriebenen begebenheiten glücklicherweise<br />
nicht erfinden mußte, sondern durch eigene arbeit, so wie sie alle, oder fast alle<br />
menschen verrichten, erlebt habe.<br />
dabei kann es schon mal passieren, daß alte gewohnheiten oder liebgewonne-<br />
ne gegenstände auf der strecke bleiben. es kommt schon vor, daß der bus nicht<br />
pünktlich an der haltestelle erscheint & ich eine unbest<strong>im</strong>mte zeit zu warten ver-<br />
dammt bin, mich mit irgendwelchen wildfremden menschen über völlig idiotische<br />
themen, wie etwa das wetter, zu unterhalten. es darf schon mal passieren, daß der<br />
lauf der welt meine pläne durchkreuzt, daß ich sie komplett über bord schmeißen<br />
muß & mich in diesem einen augenblick meines sowieso zu kurzen lebens, ohne<br />
mit der nötigen information ausgestattet, völlig blind für eine der vielen möglich-<br />
keiten entscheide, die das sowieso zu kurze leben in jeder seiner unzähligen, <strong>im</strong><br />
durchschnitt 2einhalb milliarden sekunden dauernden zeitspanne zur verfügung<br />
stellt.<br />
es kann durchaus vorkommen, daß nicht jede der sekündlichen entscheidungen<br />
<strong>im</strong>mer die richtige ist. falls du also lieber zu hause in der vorgefertigten spur<br />
dein sowieso zu kurzes leben als arbeitstier, als fürsorgliche mutter, als braver,
22 BRASIL 137<br />
treuer diener oder als aufrichtiger blockwart verbringen willst, dann gehe nie<br />
ohne regenschirm aus dem haus, denn es könnte trotz aller versprechungen des<br />
wetteramtes heute gerade regnen, wo du die neuen schuhe trägst, & sie doch bis<br />
zum jahresende halten müssen, wenigstens aber bis zum treffen mit den eltern<br />
deines neuen, alten schatzes oder zumindest, bis du mit dem chef über die neue<br />
stellung gesprochen hast, denn schließlich soll keiner einen schlechten eindruck<br />
von dir erhalten & dir wegen ein paar lausig geputzter schuhe dein fortkommen<br />
verweigern.<br />
laß dir folgendes gesagt sein. wenn du mich wirklich liebst, & ich dich wirklich<br />
liebe, spucken wir uns in den mund, in den weit geöffneten, nassen, triefenden<br />
mund & trinken uns gegenseitig aus, lecken uns alle teile unserer schwitzenden<br />
körper ab, egal, ob die faulenden reste der letzten malzeit einen bitteren geruch<br />
verbreiten, egal, ob der schweiß sich unter den millionen kleinstlebewesen zu einer<br />
sauren, beißenden schicht verwandelt hat. wir spucken uns in den weit geöffneten<br />
opferbereiten mund & trinken uns gegenseitig, daß die langen fäden über die<br />
lippen laufen, wenn wir uns wirklich gern haben, so wie ich dich gern habe mein<br />
engel, mein honig, mein sowieso zu kurzes leben, mein retter, der mich feucht<br />
macht & mich nicht ruhen läßt, bis ich dich feucht gemacht habe & all dein saft<br />
aus dir geflossen ist, & wir beide ruhig & verliebt, alt vor kraftlosigkeit einen<br />
schweren, traumlosen schlaf gemeinsam bis zum anderen tag schlafen.<br />
22 brasil<br />
são paulo empfing mich mit einem lächeln aus dem gesicht eines braungebrann-<br />
ten, dunkellockigen, hübschen mädels hinter dem tresen eines schalters. ein bus<br />
brachte mich vom flughafen in die stadt, wo ich mir <strong>im</strong> 8ten stock des jk hotels<br />
200 m vor der praça da republica<br />
ein z<strong>im</strong>mer mitten <strong>im</strong> häusermeer holte. mein freund begann, die leitern flie-<br />
ßend rauf & runter zu leiern & hatte sich ein paar schöne takte aus buenos<br />
aires gemerkt. são paulo ist tatsächlich eine stadt, groß, aufgeräumt, wohlge-<br />
ordnet, anonym, mit restaurants & kneipen, rund um die uhr, mit 30stöckigen<br />
wohnhäusern, an deren oberstes fassadenteil die ausgefuchsten, brasilianischen<br />
sprayer in einer speziellen schrift, für diese stadt kennzeichnend, menschengroß
22 BRASIL 138<br />
ihre tags in dünnen linien gesprüht haben, die sich wie überlange figuren erst<br />
<strong>im</strong> oberen 4tel zu buchstaben zusammenfügen, mit einem gut funktionierenden<br />
bussystem, das sein netz quer über die gesamte stadt spannt, einer u-bahn &<br />
unzähligen taxis.<br />
ich verspürte einen süßsauren, eigenartigen geruch wie nagellackentferner in<br />
meiner nase, als wäre gerade in diesem augenblick eine riesige, chemische fabrik in<br />
die luft gegangen, bis ich an einer tankstelle sah, daß nicht nur benzin, sondern<br />
auch alkohol getankt wird. während <strong>im</strong> westen die großen erdölgesellschaften<br />
den finger kräftig am abzughahn für diesel & anderen, teils bleifreien, uralten<br />
fossilen brennstoffen haben, dürfen die wirklich fortschrittlichen brasilianer ihre<br />
kisten schon mit pflanzlichem sprit fahren, aus zuckerrohr gebrannt. die luft ist<br />
viel klarer als in einer der kleineren großstädte der alten & der neuen welt, wo<br />
millionen karren ihren blauen dunst aus mangel an anderem brennstoff in den<br />
smoggeplagten h<strong>im</strong>mel blasen. be<strong>im</strong> verbrennen von alkohol entsteht eine winzige<br />
menge einer süßlichen säure, die den duft in der luft von são paulo erzeugt.<br />
ich laufe über gehsteige, in dunklem kopfsteinpflaster ausgelegt, km lang mit<br />
weißen meandern geschmückt, zum vale do anhangabaú hinter der praça da re-<br />
publica. es ist eine 2 km lange & teilweise 500 m breite, fassadenverkleidete be-<br />
tonschlucht, mit 2 riesigen brunnen, umbaut von 40stöckigen bürobauten in allen<br />
modernen & postmodernen stilen, auf 3 fußgängerbrücken zu überqueren, de-<br />
ren eine direkt auf die praça de ramos de ayevedo mit dem nachbau des pariser<br />
theaters stößt. die angrenzende praça bandeira dient als busbahnhof & ist zu fuß<br />
kaum zu kreuzen, da die fahrrinnen der linienbusse mit hohen gittern abgeteilt<br />
sind. 2 weitgeschwungene, befahrbare fußgängerbrücken spannen ein riesiges X<br />
über die w<strong>im</strong>melnde menschenmenge. am südende führen 2 4spurige trassen den<br />
autoverkehr unterirdisch in längsrichtung unter den platz. darüber neigen sich 2<br />
fahrstraßen wie doppelbögen einer gotischen kirche spitz in den tunnel, gekrönt<br />
von einer fußgängerbrücke quer zum tal. in der stadt ist den ganzen tag die elek-<br />
tronische version der elise von beethoven zu hören, die erkennungsmelodie der<br />
propangasverkäufer.<br />
zur zeit des karnevals dient das vale do anhangabaú als bühne & tanzfläche.<br />
die präfektur der stadt veranstaltet hier spektakel vor 500tausend zuschauern.<br />
auf dem gesamten platz des tals ist kein qm mehr frei. dicht gedrängt stehen die
22 BRASIL 139<br />
menschen als winzige, grölende punkte. bevor die liveübertragung beginnt, werden<br />
die vorderen 20tausend mit einem fetten strahl aus der städtischen wasserleitung<br />
beruhigt. dann gibts 2 stunden pagode & samba vom feinsten.<br />
das gedränge löst sich nach der veranstaltung innerhalb einer 4tel stunde<br />
blitzartig in ein paar übriggebliebene rumsteher auf. die bierverkäufer haben ihre<br />
weißen styroporkisten mitgenommen, & die ärmsten der armen haben die weiß-<br />
blechdosen nach einem kick flachgetreten & in plastiksäcke von den hellen steinen<br />
gesammelt.<br />
auf der avenida são joão reihen sich billige sexkinos aneinander & kleingewach-<br />
sene frauen bieten live-shows an, in denen sich die hungrigen, einsamen männer<br />
einen geschmack dessen holen können, was eine liebesstunde sein kann.<br />
ich gehe die barão de campinas entlang bis zur são joão & biege in eine der of-<br />
fenen bars mit den fest verankerten drehstühlen vor einem hüfthohen, aluminium<br />
beschlagenen tresen, der sich meanderartig durch den raum zieht, & bestelle eine<br />
flasche antartika bem gelada, um den abend bei einem bier ausklingen zu lassen.<br />
neben mir stehen 2 mädels, eine mit minirock, die andere mit noch knapperen,<br />
kurzen hosen, die münder beide rot geschminkt unter fordernden, dunklen au-<br />
gen. eine hat die locken zu einem festen zopf in den nacken gebunden. ich schaue<br />
bewundernd den beiden hinterher, als sie hüftschwingend die bar verlassen. mein<br />
stuhlnachbar leert ein wasserglas mit einer mischung aus martini & vernet branca<br />
& klärt mich auf:<br />
“frios, são frios.“ “como frios?“ frage ich. “são homens, todos os dois, não<br />
são mulheres, são frios.“ ein guter teil der anschaffenden sind junge typen, die<br />
mangels muschi ihren arsch verhökern.<br />
am näxten tag laufe ich bis zur praça ramos de azevedo an das theater, dessen<br />
stufen den verliebten paaren als treffpunkt für verabredungen dienen. in einem<br />
roten, 2 m hohen kasten mit 3mal so großem überbau zeigt ein junger brasilianer<br />
die kämpferische anwesenheit der pc do brasil, die, wie er beteuert, nach <strong>im</strong>-<br />
merhin 60jähriger geschichte <strong>im</strong> wachsen begriffen sei. wir rauchen eine zigarette<br />
zusammen, & ich stöbere in den ausliegenden broschüren & in der classe operaia,<br />
dem zentralorgan der partei.<br />
betrübt muß ich feststellen, daß die brasilianischen genossen der dummen mär<br />
vom zwangsläufigen übergang der geschichte in eine klassenlose gesellschaft auf-
22 BRASIL 140<br />
sitzen, die den kapitalismus von haus aus & wegen objektiver gründe dereinst<br />
ablösen wird. alles schmu, alles dummes zeug. die geschichte löst niemanden ab,<br />
nichtmal sich selbst & schon gar nicht den kapitalismus. & der hat überhaupt<br />
nicht vor, wegen objektiver gründe, wie zum beispiel wegen seiner regelmäßig<br />
wiederkehrenden krisen, in denen weite teile des menschlichen kapitals brachlie-<br />
gen, den löffel abzugeben, sondern besteht genau solange weiter, wie er weiterbe-<br />
steht & wie die vielen einzelnen nix gegen ihn unternehmen, trotz der objektiven<br />
gründe, die sich keiner einleuchten läßt. erst wenn den vielen einzelnen die vielen,<br />
guten argumente gegen eine gesellschaftsform einleuchten, die von privateigentum<br />
best<strong>im</strong>mt ist, erst wenn sie gewillt & in der lage sind, sich gegen eine trennung<br />
von arbeit & besitz auszusprechen, um sie zu beenden, gegen die abhängigkeit von<br />
den rechnungsarten der geschäftswelt & gegen die privatisierung des erarbeiteten<br />
reichtums, erst dann beginnt fräulein geschichte sich zu besinnen, genauso wie<br />
die besitzer von sowas wie kapital sich besinnen werden, um alles in ihrer macht<br />
stehende einzusetzen, die vorrechte zu verteidigen, die sie in materieller hinsicht<br />
genießen. was dann als kleiner, kurzer, heftiger kampf folgt, bei dem durchaus der<br />
eine oder andere uneinsichtige, halsstarrige kopf rollen mag, ist weithin unter dem<br />
begriff revolution gefaßt worden & bleibt zur zeit nix weiter als zukunftsmusik,<br />
weit entfernt, von den vielen einzelnen verstanden oder gar gewollt zu werden.<br />
soviel dazu.<br />
nach einem langen fußmarsch durch die endlosen häuserschluchten, über denen<br />
kaum je die sonne durch den wolkenbehangenen h<strong>im</strong>mel scheint, setze ich mich<br />
am abend in eine hellblau gestrichene bar unterhalb der cathedral da sé & bestelle<br />
ein omelette mit fejão & reis. wie aus heiterem h<strong>im</strong>mel schneit ein weißes kleid an<br />
mir vorbei an den tresen, ordert eine caipirinha & lächelt mich breit an. julia hat<br />
mehrere jahre <strong>im</strong> westen verbracht & einen sohn, dessen ausländischer vater zur<br />
zeit sein glück in einer kneipe an der copacabana sucht & sie wenigstens in ruhe<br />
läßt. wir nehmen 2 caipirinhas, & sie erzählt von reisen nach indien & europa,<br />
von ihrem 7 jahre alten sohn, für den sie arbeitet, & ihre breite oberlippe zieht<br />
sich zu einem breiten grinsen nach oben.<br />
“jemand hat dich bereits geküßt“, sage ich & deute auf das oberteil ihres<br />
weißen kleides, auf den roten fleck aus lippenstift. wir lachen beide & beschlie-<br />
ßen, den abend gemeinsam mit der suche nach etwas gras zu verbringen. uns
22 BRASIL 141<br />
verschlägt die laune der nacht in eine winzige gasse, eine bar neben der anderen.<br />
wir unterhalten uns mit dem jungen alexandro über die hausbesetzer in berlin,<br />
zu denen er kontakt hält, & über die anarchistische bewegung in brasilien. nach<br />
einem heftig weggerauchten stick werden wir uns so fremd, daß selbst eine ganze<br />
reihe brahma bem gelada nix zu harmonisieren vermag. ich schicke die knallvolle<br />
julia unter protest in einem taxi nach hause, ohne in ihrer schmerzfreien art auf<br />
dem balkon meines hotelz<strong>im</strong>mers mit ihr zu vögeln. bereits in der stickigen luft<br />
der kleinen kellerkneipe spürte sie nix weiter als den sehnlichen wunsch, frei zu<br />
sein. besoffen fahre ich in mein hotel.<br />
sonntags dient die praça da republica kunsthandwerkern als markt. ölbilder,<br />
getrocknete ledermasken, geflochtene armbänder, bemalte tonfiguren, klausbunte<br />
mobiles, hängematten, haarspangen, ringe & ketten liegen auf kleinen tischen<br />
ausgebreitet. ein teil des platzes ist mit hochgewachsenen palmen & riesigen, weit<br />
ausladenden umbubäumen bepflanzt. von hoch oben hängen schwarze luftwurzeln<br />
bis ins trübe wasser eines kleinen, künstlichen teichs, während auf dem anderen<br />
teil der praça dicke frauen hinter weißgelben barracas kuchen, acarajé & yucombu<br />
zum essen anbieten. ich hole mir einen faustgroßen, aus bohnenmehl goldbraun<br />
gebratenen acarajé mit getrocknetem camarão, den kleinen, knackenden krabben<br />
& setze mich unter einen baum auf einen kleinen schemel. es ist noch zu früh für<br />
ein bier nach dem gestrigen saufgelage mit julia.<br />
hinter mir sammeln sich ein paar junge, kräftige kerle um einen ganz in<br />
weiß gekleideten, hageren schwarzen von vielleicht 70 jahren. er schlägt ein bi-<br />
r<strong>im</strong>bão, einen mit draht bespannten, mannshohen bogen mit einem kürbis als<br />
klangkörper. die sonne scheint unter hochstehenden, weißen fetzen hervor. ein<br />
spindeldünnes stöckchen in der rechten hand, klopft der alte gegen den gespann-<br />
ten draht, während seine linke über der aufhängung des kürbis flink einen flachen<br />
kiesel gegen die seite drückt, so daß 2 schwingungen entstehen, etwas mehr als<br />
einen ganzton voneinander entfernt surrend.<br />
“tic tic tão, tic tic tic tão, tic tic tão, tic tic tic tão.“ sie bilden den takt<br />
für 3 schwere trommeln & ein hell schellendes tambourin. den bogen vor seinem<br />
bauch, die öffnung des singenden kürbis mit seinem körper mal verschließend,<br />
mal öffnend, wechselt der alte die rostige klangfarbe der beiden töne vom hellen<br />
zirpsen eines vogels zum warmen schnurren einer katze.
22 BRASIL 142<br />
“tic tic tão, tic tic tic tão, tic tic tão, tic tic tic tão.“ die gruppe beginnt<br />
eine ruhige, vom alten angeführte prozession. langsam folgt die sonne. eine kleine<br />
schweißperle läuft mir über die oberlippe.<br />
“tic tic tãotãotão, tic tic tic tãotãotão, tic tão, tic tão, tic tão.“ meine zunge<br />
leckt salz, & die sonne zeichnet unter führung des bir<strong>im</strong>bão ein weißes omega von<br />
4 m durchmesser auf den asphalt direkt vor einer bank. der alte n<strong>im</strong>mt platz &<br />
seine feuchten, stechenden augen schauen prüfend in die runde.<br />
“tic tic tãotãotão, tic tic tic tãotãotão, tic tão, tic tão, tic tão.“ 2 drahtige,<br />
junge schwarze hocken sich barfüßig vor die musiker auf die straße, fassen sich<br />
an den händen & beugen sich rücken an rücken in einen langsam nach oben<br />
gestreckten handstand, so daß ihnen das blut in den kopf schießt.<br />
“tic tic tão, tic tic tic tão, tic tão, tic tão, tic tão.“ sie können sich gegenseitig<br />
nicht sehen. auf ein zeichen springen beide in den stand. sie stehen sich wie ein-<br />
gesperrte tiere gegenüber. ihre dunklen füße bewegen sich in großen, ausladenden<br />
schritten gegeneinander versetzt.<br />
“tic tic tão, tic tic tic tão, tic tão, tic tão, tic tão.“ einen schritt nach vorn<br />
& einen schritt zurück. sie füllen den knappen raum in fließenden bewegungen<br />
vollständig aus. um die tanzenden männer hat sich eine traube von menschen<br />
gebildet, angezogen vom durchdringenden klang des bir<strong>im</strong>bão & den laut ge-<br />
schlagenen trommeln.<br />
“tic tão, tic tão, tic tão, tic tic tic tão, tãotão.“ meine augen ziehen sich<br />
zusammen. neugierig & erstaunt folgen sie den schritten der beiden schwarzen<br />
körper & ihren holprigen stolperbewegungen. der alte blickt prüfend in die runde.<br />
“tic tão, tic tão, tic tão, tic tic tic tão, tãotão.“ geschmeidig wie eine katze<br />
streckt einer der beiden ein bein gegen den anderen, um ihn mit einem schwung<br />
aus den hüften am kopf zu treffen, so daß der andere gezwungen ist, in eine<br />
gedehnte rückwärtsbeuge auszuweichen. er schiebt seinen körper über die arme<br />
wieder in den stand.<br />
“tic tãotãotão, tic tic tic tãotãotão.“ etwas sitzt auf meinen schultern. die<br />
beiden männer treten <strong>im</strong> kreis, treten & drehen sich, treten & drehen sich, treten<br />
& drehen sich wie <strong>im</strong> tanz.<br />
“tic tãotãotão, tic tic tic tãotãotão.“ einer der tänzer schiebt seinen nackten<br />
oberkörper seitlich in einen gebeugten hüftstand. er läßt ihn langsam auf die stra-
22 BRASIL 143<br />
ße herabgleiten. über <strong>im</strong> dreht sich der große, als wäre sein partner verschwunden.<br />
“tic tão, tic tão, tic tic tic tãotãotão.“ beide sondern schweiß ab, der in win-<br />
zigen, hellen perlen die dunkle, hügelige haut mit einem feinen netz überzieht.<br />
mein linker arm liegt wie blei auf meinem schoß.<br />
“tic tão, tic tão, tic tic tic tãotãotão.“ die schildkröte am boden schaut<br />
lächelnd in die augen ihres gegners. der erwidert das lächeln, während sein bein<br />
unendlich langsam wie eine metallsonde nach vorne gegen den gekrümmten rücken<br />
des anderen fährt. ich versuche, den kopf zu drehen.<br />
“tic tão, tic tão, tic tão.“ beide kreisen in kniehöhe wie insekten. in den augen<br />
des jüngeren sehe ich erleichterung. in denen des großen sehe ich wut.<br />
“tic tão, tic tão, tic tão.“ er läßt die beine durch die luft fliegen dicht vorbei<br />
an den ohren des jüngeren.<br />
“capohera, companheiro capohera.“ der alte st<strong>im</strong>mt eine frage an, die von der<br />
menschentraube beantwortet wird, während sein bir<strong>im</strong>bão die kämpfer gefangen<br />
hält.<br />
“capohera, companheiro capohera.“ prüfend schaut er in die runde. auf ein<br />
augenzwinkern tritt ein älterer zwischen die beiden & löst den kleinen ab. alles ist<br />
ritual, tanz, musik & kampf, vom meister beaufsichtigt, ist ein kanon lang einstu-<br />
dierter gesten, die als street fight garstige, schwer heilbare wunden hinterlassen.<br />
“capohera, companheiro capohera.“ die kampfform, von eingeschleppten,<br />
schwarzen sklaven aus afrika entwickelt zu einer zeit, als <strong>im</strong>perialismus noch be<strong>im</strong><br />
namen genannt wurde, ist eine selbstverteidigung <strong>im</strong> einigenden klang der musik.<br />
da jede art von waffen & ausbildung für die dunklen arbeitstiere verboten war,<br />
kleideten sie die übungen in eine veranstaltung von musik & kultur, die sich jeder-<br />
zeit in einen handfesten kampf überführen ließ, bei dem selbst ungleiche partner<br />
ihre fähigkeiten unter beweis stellen konnten. die alte form wurde mit rasierklin-<br />
gen zwischen den fingerspitzen geübt & machte jede der schnellen bewegungen<br />
zu einer tödlichen fahrt.<br />
“tic tic tão, tic tic tic tão, tic tão, tic tão, tic tão.“ ein kind springt in den kreis<br />
& schwingt seine beine um den biegsamen körper. ein anderer zwerg eilt zu hilfe.<br />
beide treten & springen, daß die augen des alten sich zu einem schlitz verengen,<br />
mit dem er seine schüler in den kreis ruft. für 2 endlose minuten beherrschte die<br />
lust am toben den kreis & die musik ließ ruhig ihre rhythmische begleitung hören,
23 SANDSTRAND 144<br />
so daß die wild kämpfenden kinder in einem gerüst von zeittakten geschützt wa-<br />
ren. die eintracht, mit der ein schneller kampf geführt werden kann, ohne bösar-<br />
tige verletzungen zu verursachen, ist nicht gespielt & nicht vorgetäuscht, sondern<br />
vom rhythmus der musik ermöglicht, dem gesang der zuschauer besänftigt & dem<br />
wachsamen, strengen blick des alten erzwungen. als die vorführung vorbei ist, zie-<br />
hen sich alle hinter die barraca zurück & warten bei etlichen brahma bem gelada<br />
den abend ab.<br />
auf dem weg in mein hotel höre ich aus einer kneipe schnelle tanzmusik.<br />
vier trommeln, ein tambourin, eine akustische gitarre mit tonabnehmer & eine<br />
elektrisch verstärkte pagoda spielen ein stück nach dem anderen, ohne punkt &<br />
komma, die tanzwütigen paare kommen auf ihre kosten. der schritt ist eine art<br />
sehnsuchtsvoller lambada, nicht so schnell, dafür um so enger. du führst die hüfte<br />
dicht an meine lenden & drückst dabei ein bein in meinen offenen schritt, & wir<br />
tanzen einen wechselnden 3er- auf den 4ertakt, bei dem eine zackige wiegebewe-<br />
gung entsteht, als ob wir üben würden zu ficken. alleine vom zuschauen tränkt<br />
sich mein hemd mit schweiß, & da ich mir den eckigen hüftschwung ohne deine<br />
hilfe nicht zutraue, schaue ich den eng tanzenden paaren nach. ein kurzhaariger<br />
weißer mit schwarzem schnauzer über den schmalen lippen drückt seine blaue<br />
leinenhose unter eine wiegende hüfte. das dunkelbaue hemd klebt ihm naßge-<br />
schwitzt am rücken. seine braut hat ein trägerloses, oranges oberteil eng anliegend<br />
bis über die weichen, schwarzen schenkel gezogen, so daß die lenden bei jedem<br />
schritt aufeinander schlagen, nur durch den dünnen stoff seiner leinenhose & ihrer<br />
hauchdünnen unterwäsche getrennt, falls sie sowas trägt. abseits übe ich alleine<br />
den wechselschritt, bis tief in die nacht, die ich mit meinem freund zusammen <strong>im</strong><br />
8ten stock der rua de campinas schlafend verbringen werde.<br />
23 sandstrand<br />
julia hatte mir die adresse von dona eusa gegeben, einer älteren dame, die in rio<br />
apartments vermietet. morgen werde ich sie anrufen, nach 4 stunden busfahrt<br />
durch die heiße, brasilianische sommerluft, vorbei an industrieanlagen, in denen<br />
brasilianer alles herstellen, was ein modernes land an gütern braucht, wobei die<br />
gewinne der weltunternehmen zum größten teil in welttaugliche essensmarken
23 SANDSTRAND 145<br />
umgetauscht & aus dem land geschafft werden. so sammelt sich kapital nicht bei<br />
denen, die reichtum erzeugen, sondern bei denen, die über den besitztitel zur<br />
produktion des reichtums verfügen.<br />
dona eusa zeigt mir bei strömendem regen ein z<strong>im</strong>mer mit küche & bad in der<br />
rua belfort rox, einen block hinter der copacabana. ich kaufe mir <strong>im</strong> supermarkt<br />
das nötigste zum kochen, l<strong>im</strong>onen & eine flasche weißen rum, um den ersten<br />
abend auf dem z<strong>im</strong>mer neben dem freund zu verbringen.<br />
rio de janeiro ist um ein paar steile hügel & mehr als 20 buchten mit kleinen &<br />
großen stränden gebaut. die stadt bietet für jeden badenden den richtigen strand.<br />
der wohl bekannteste sandstreifen der runden, sich drehenden erde, von dem<br />
jeder, oder fast jeder, schauermärchen zu erzählen weiß, derart, daß die son-<br />
nenbadenden gäste reihenweise unaufgefordert ihre brieftaschen zücken, um ju-<br />
gendlichen räuberbanden den rechtmäßigen tribut zu zollen, liegt <strong>im</strong> südwesten<br />
15 km vom zentrum entfernt vor ipanema. von der wasserkante aus habe ich<br />
in nördlicher richtung bei gutem wetter einen blick bis auf den daumengroßen<br />
corcovado, der seine winzigen arme auf einem hügel selig über die stadt breitet,<br />
& dem pão de açucar, dem 007-erprobten zuckerhut & wahrzeichen der stadt,<br />
an der südostspitze auf einer landzunge vor dem jachthafen gelegen. die copaca-<br />
bana, 5 km lang & über 200 m breit, in den 60ern mit schönem, weißen sand<br />
ausgelegt, dessen unzählige körner an den füßen weltgereister touristen in den<br />
stockwerken der hotelbauten direkt an der rua atlantica landen, wird die gan-<br />
ze nacht über hell erleuchtet & bietet einsamkeit suchenden liebespaaren keine<br />
ruhige, dunkle ecke. tagsüber laufen garotas & sonnengebräunte, junge cariocas<br />
mit einer canga & einem knappen oberteil bekleidete an der trennlinie von was-<br />
ser, sand & h<strong>im</strong>mel entlang. das grün sch<strong>im</strong>mernde meer ist für brasilianische<br />
verhältnisse angenehm kühl, & die ständig schlagenden, gleichmäßig brechenden<br />
wellen können bei günstigem mond & guten winden zum bodysurfen einladen.<br />
mein erster tag ist bewölkt, & nach 3 stunden ziehe ich mich als halbreife tomate<br />
in den schatten meines apartments zurück, wo ich noch zu genüge nachreife.<br />
die hotels, vollgestopft mit dollarbestückten reisenden, bieten einen weiten<br />
blick über die 8spurige strandpromenade aufs meer. hier treffen sich abenteuer-<br />
willige, ausländische gäste & die arbeitenden, brasilianischen gegenstücke auf ein<br />
schäferstündchen oder eine extra teure caipirinha.
23 SANDSTRAND 146<br />
am anderen abend schaue ich an der kleinen, schmutzigen bar vorbei, in der<br />
julias ehemann das geld vertrinkt, das er be<strong>im</strong> pferderennen gewonnen hat, &<br />
nehme ein brahma aus dem glas, zwischen traurig dreinschauenden brasiliane-<br />
rinnen, die von einer hochzeit mit einem der dickbäuchigen, ausländischen gäste<br />
träumen. neben mir steht rosalie, schlank, mit einer langen, schmalen nase & weit<br />
auseinanderliegenden mandelaugen. ihre graue haut steckt in einer weißen bluse<br />
& einer engen jeans. wir unterhalten uns über den außerirdischen & die runde,<br />
sich drehende erde, über den karneval in rio & in salvador & über die besten<br />
strände & trinken 3 gläser zusammen. ihr blonder, langer lümmel taucht auf &<br />
läuft mit ihr eine runde um den block. sie kommt kurz darauf alleine zurück &<br />
fängt mich gerade be<strong>im</strong> letzten schluck ab & fragt mich, wann wir uns wiederse-<br />
hen, & ich rufe ihr <strong>im</strong> gehen zu “morgen, selbe zeit, selber ort.“ 2 blocks weiter in<br />
meinem apartment, verschlafe ich den gesamten näxten tag <strong>im</strong> kühlen schatten<br />
des z<strong>im</strong>mers.<br />
der abend ist frisch & weht eine salzig feuchte luft bis zu mir rauf. ich werde<br />
die wellen an der copacabana testen, schnappe meine schwarze umhängetasche<br />
mit dem manuskript, ein handtuch & eine handvoll essensmarken & laufe unter<br />
dem bedeckten h<strong>im</strong>mel der gischt entgegen. die copacabana breitet sich in der<br />
regnerischen abenddämmerung fast menschenleer vor mir aus. die meisten bar-<br />
racas haben ihre hellblauen plastikplanen bereits eingeschlagen & ein warmer,<br />
steifer wind trägt den weißen schaum über das braun tobende meer. ich gebe<br />
meine tasche samt meinen klamotten zu 2 ledrigen, alten leuten in die obhut<br />
& bitte sie, auf meine sachen aufzupassen. sie starren wie gebannt in die laut<br />
schlagenden wellen.<br />
ich ziehe mein haargummi fest in den nacken & laufe über den menschenleeren<br />
strand in die tobende, schaumige gischt vor den beiden alten. das aufsteigende<br />
wasser macht es mir unmöglich, weiter als hüfttief in die graue, weißkronige flut<br />
vorzudringen. bei jeder anrollenden wand tauche ich unter, um nicht von ihrer<br />
kraft umhergewirbelt zu werden, versuche <strong>im</strong> rhythmus der wellen zu atmen &<br />
gelange schließlich durch einen engen tunnel hinter den berg aus wasser & salz,<br />
wo mich die wiegende energie auf & ab hebt, wie einen winzigen, luftgefüllten<br />
ball. ich kann nur in den tälern den grund erreichen & lasse mich für einige<br />
minuten hinter den rollenden massen mit nach oben nehmen, um an ihrer rück-
23 SANDSTRAND 147<br />
seite, wenn sie dem strand entgegenziehen, wieder aufs meer zu gleiten. 3 große<br />
türme abwartend, schw<strong>im</strong>me ich vor der 4ten welle richtung strand, werde von<br />
ihr nach draußen gezogen & hochgehoben, erwische ihren kamm & reite stetig<br />
fallend auf der schaumkrone ihrer vorderseite den beiden alten entgegen bis in<br />
knietiefe strandnähe, wo mich der sog des abfließenden wassers auf den körnigen<br />
sand drückt & mir eine seite meines beckens an den feinen, silbrig glänzenden<br />
steinchen aufreibt.<br />
angezogen von der kraft des atlantiks, halten die beiden alten den blick wie<br />
gebannt in den horizont. sie könnten mich keinen steinwurf weit hören, selbst<br />
wenn ich laut riefe. der wind mischt das brüllen der see zu einem ohrenbetäuben-<br />
den rauschen. ich versuche meine näxte fahrt, die mit einem langen, kraftzehren-<br />
den weg hinter die wellen beginnt. nach dem 2ten anlauf bin ich soweit. diesmal<br />
schw<strong>im</strong>me ich zu früh los & falle vor die brechende wand. ich werde von den zu-<br />
sammenstürzenden wassertürmen herumgewirbelt, daß ich für einen augenblick<br />
in meinem kurzen leben die gewißheit verliere, über mir den h<strong>im</strong>mel & unter mir<br />
die erde zu fühlen. ich nehme einen kräftigen schluck vom salzigen, ausreichend<br />
vorhandenen meerwasser & suche für ein paar sekunden meinen haargummi, der<br />
mich bei der letzten fahrt für <strong>im</strong>mer verlassen hat & jetzt irgendwo neben mir<br />
unter dem weiß der siedenden oberfläche schw<strong>im</strong>mt. what comes around goes<br />
around. das alte pärchen an der menschenleeren copacabana bekommt von mei-<br />
ner kurzen aufregung nix mit & schaut seelenruhig, wie versteinert, weit auf die<br />
see hinaus, wo h<strong>im</strong>mel & wasser sich treffen. ich versuche einen 3ten & 4ten anlauf<br />
& nehme einen kleinen, nassen hügel, müde & ausgemergelt, bis an den strand.<br />
die beiden herrschaften fuchteln aufgeregt mit den armen.<br />
“se fué, se fué, la borsa se fué.“ die tasche ist weg, mitsamt meinem manuskript<br />
& meinem apartmentschlüssel, mit meinen paar essensmarken, der kurzen hose<br />
& einem taschenwörterbuch.<br />
das war es dann wohl gewesen. seit dem ausflug meiner handschrift auf gua-<br />
deloupe hatte ich daran gedacht, eine kopie anzufertigen. der verlust der tief ins<br />
papier gravierten buchstaben schmerzte mich. mit dem alten trick der 2er bande,<br />
bei dem die eine hand ablenkt, während die andere fleißig zugreift & zupft, daß<br />
die fetzen fliegen, hatten zwei jungs das alte, wehrlose paar beklaut & ihnen dabei<br />
nix geraubt, außer meiner tasche mit dem manuskript. mit nassen haaren stehe
23 SANDSTRAND 148<br />
ich am strand vor den lautstark sch<strong>im</strong>pfenden rentnern & spürte die aufregung<br />
der 2 alten, liebestrunkenen argentinier. bei diesem trickdiebstahl war lediglich<br />
meine tasche mit den geliebten aufzeichnungen, der adresse von maina in la ha-<br />
bana & ein paar cruceiros weg gekommen, die jedem bettelarmen carioca einen<br />
sorgenfreien tag ermöglichten. die alten hatten den vermeintlichen dieb gestellt.<br />
es war ein armer, dürrer, schwarzer stecken.<br />
“moço, moço, eu não quero ver a polícia, não <strong>im</strong>porta a borsa.“ sage ich &<br />
versuche portugiesisch zu klingen. “mais tem um livro & uma chave, tem um livro<br />
escrito a mão que <strong>im</strong>porta. vocé conhece a gente que rubou?“ “não, conheço não.“<br />
natürlich wußte der 2te mann von nix & hatte weder was gesehen noch was ahnen<br />
können, als er rein zufällig hier am strand vorbeikam, um das alte paar, genau wie<br />
ich, danach zu fragen, die armselige, fragwürdige habe für kurze zeit, während er<br />
ein bad nehmen würde, was freilich nie zustande kam, zu beaufsichtigen, & die<br />
sachen doch bitte, ich bitte sie, nehmen sie schon, mal kurz zu bewachen.<br />
“die tasche ist weg. der hat uns angesprochen, & weg war sie.“ die beiden<br />
alten deuten auf den schwarzen wie auf einen aussätzigen. ich versuche, sie zu<br />
beruhigen.<br />
“o.k., o.k., kann schon mal passieren, an der copacabana, kein problem.“ “tut<br />
uns leid, tut uns außerordentlich leid, wir fühlen uns schuldig, wir haben nur kurz<br />
mit ihm gesprochen, dem da, dem schwarzen, & weg war die tasche.“ die beiden<br />
fuchteln noch <strong>im</strong>mer wild & sinnlos in der gischterfüllten abenddämmerung mit<br />
allen 4 armen aufgeregt gestikulierend durch die luft.<br />
ich habe ein wenig mitleid mit den beiden, die am letzten tag ihres urlaubs in<br />
rio de janeiro bestohlen wurden, ohne daß ihnen was abhanden gekommen war,<br />
außer ihrer unschuld & rechtschaffenheit. ich schlüpfe in meine badesandalen &<br />
wir laufen zu dritt die 2 blocks zu dona eusa. die alten sind argentinier, toll,<br />
porteños, toll, ich habe einen bruder in buenos aires, ach was, sie kennen die<br />
stiftung, nein, nein, das macht nix, es war nicht wertvoll, nur eine tasche & ein<br />
schlüssel & ein paar handgeschriebene geschichten, nein, nein, na klar, ich habe<br />
kopien von den aufzeichnungen & einen 2ten schlüssel gibt es noch. während mir<br />
der alte einen 4tel dollar in form von einem bündel einhe<strong>im</strong>ischer essensmarken in<br />
die knappe bekleidung steckt, überqueren wir die rua atlantico & laufen bis zum<br />
haus meiner z<strong>im</strong>merwirtin. vor einer bar stehend warten wir bei einem cafezinho
23 SANDSTRAND 149<br />
& einer zigarette auf die alte dame mit dem schlüssel.<br />
meine badehose & die beiden schlappen sind tatsächlich die korrekte beklei-<br />
dung eines carioca, der mit diesen 3 utensilien & einer daumengroßen rolle cru-<br />
ceiros einen schönen tag problemlos verfaulenzen kann. ich hatte am strand dem<br />
dicken besitzer der barraca dicht neben dem unglücksort den vorfall geschildert,<br />
& er hatte mir liebenswürdigerweise die kleine hoffnung geschenkt, die tasche mit<br />
meinem buch vielleicht in 2 tagen wiederzusehen. “as veces as coisas aparecem.“<br />
wortlos gab mir dona eusa den 2ten schlüssel & machte dabei ein gesicht<br />
wie meine mutter, & ich begann den abend mit einem tiefen schluck aus meiner<br />
weißen rumflasche alleine <strong>im</strong> apartment. nach einem flachen, von schäferhunden<br />
durchbellten nachmittagsschlaf, lief ich die avenida de nossa sinhora de copaca-<br />
bana bis kurz vor den tunnel & bog rechts in richtung strand zur kleinen bar<br />
ab.<br />
da stand rosalie & hatte schon 2 chop ohne mich getrunken. wir zahlten nach<br />
einem gemeinsamen brahma & verließen den dunklen laden in richtung auf eins<br />
der straßencaffees, um uns einen teller geröstete tintenfische zu gönnen, oder,<br />
wie mein bruder zu sagen pflegte, eine runde arschlöcher. wohlgelaunt & mit<br />
einer guten portion geduld ausgestattet begleitete mich rosalie bis zu meinem<br />
apartment & in mein 3-minus-lover bett. wir diskutierten die halbe nacht &<br />
liebten uns die andere hälfte, so daß wir den näxten tag vollständig zum schlafen<br />
nutzten.<br />
um zum corcovado zu gelangen, n<strong>im</strong>mst du entweder den 511er oder den 583er<br />
oder irgendeinen anderen der unzähligen stadtbusse. wir erreichten den winzigen<br />
bahnhof der zahnradbahn in cosme um 4 uhr nachmittags, gerade rechtzeitig, um<br />
den segnenden betonchristus in den wolken verschwinden zu sehen.<br />
am anderen morgen versuchten wir unser glück mit dem zuckerhut & seiner<br />
filmerprobten, 2teiligen seilbahn. die anfahrt der gondel, nach allen seiten ver-<br />
glast, jagte rosalie einen schauer über den rücken. oben lösten sich die wolken<br />
auf. eine gruppe gut ausgerüsteter bergsteiger, jünger als wir, befestigte hinter<br />
der absperrung auf dem nackten, 400 m abfallenden grauen fels ein seil in einem<br />
metallring, um zu fuß die steinwand hinunter zu klettern. die stadt <strong>im</strong> rücken<br />
blickten wir vom oberen aussichtspunkt in richtung pernambuco auf die kleine<br />
praia de fora direkt unter uns, einer militärisch genutzten halbinsel, wo rosalie
23 SANDSTRAND 150<br />
als adoptivtochter eines offiziers aufgewachsen war. genau hinter uns stand von<br />
wolken umweht der betonchristus. in richtung nordwesten lag das stadtzentrum<br />
mit dem vorgelagerten, internationalen flughafen & in südlicher richtung ging der<br />
blick bis über die grünen wasser von ipanema. die kleine bucht direkt unterhalb<br />
des felsens sch<strong>im</strong>merte silbrig.<br />
wir nahmen den 511er bis nach cosme, kauften eine tüte altes, feuchtes pop-<br />
corn & setzten uns auf die klapprigen holzbänke der zahnradbahn. der steile<br />
aufstieg durch den dicht bewachsenen fels dauerte keine 4tel stunde. bis wir oben<br />
waren, hatte sich der steinchristus wieder in nebliges tuch gehüllt & gab keinen<br />
der schönen blicke auf die stadt frei, so daß die professionell reisenden, ausländi-<br />
schen gäste ihre computergesteuerten linsen einzig auf eine steintafel am fuß der<br />
statue hielten, die von einem anscheinend wichtigen besuch eines anscheinend<br />
heiligen vaters zeugte.<br />
wir begannen uns ein wenig zu küssen, rosalie & ich, in der hoffnung, daß sich<br />
der steinkoloß durch die gezeigte & gelebte liebe erweichen ließ, wenigstens einen<br />
teil der wasserumspülten stadt freizugeben. die schnell ziehenden wolken streuten<br />
das licht in alle richtungen & erzeugten eine schattenlose helligkeit. wir gaben uns<br />
alle mühe & ließen nicht locker, bis der nebel abnahm & sich auflöste. der weiße<br />
strand der 7 km entfernten copacabana war deutlich zu erkennen. hellgrün sch<strong>im</strong>-<br />
merte das wasser von ipanema hinter einer reihe dicht gedrängter, kastenförmi-<br />
ger hotelbauten. unter uns wuchs dunkler, saftiger tropenwald & schickte seine<br />
feuchte, lebensrettende luft in den hell erleuchteten h<strong>im</strong>mel. er blies seinen atem<br />
über das häusermeer, das sich langsam nach oben fraß. die motorgetriebenen bil-<br />
dermacher surrten in harmonischer vielfalt, um alle tatsächlich stattgefundenen<br />
anwesenheiten in form kleinster ladungsunterschiede auf einem magnetstreifen<br />
oder als bahnensprung einzelner atome auf den lichtempfindlichen schichten der<br />
filmkästen festzuhalten. von der wunderschönen aussicht besänftigt, fuhren wir<br />
zurück an den strand der copacabana.<br />
morgen werde ich fahren, nach salvador <strong>im</strong> bundesstaat baía, 2000 km weiter<br />
nördlich, & wenn das buch heute nicht abgegeben wurde, dann bin ich meine<br />
aufzeichnungen tatsächlich los. what comes around goes around. wir kommen<br />
am späten nachmittag am meridian vorbei. die barracas sind gerade dabei, ihre<br />
verliehenen sonnenschirme einzusammeln, & ich suche den dicken schwarzen, dem
23 SANDSTRAND 151<br />
ich meine traurige geschichte vor 3 tagen erzählt hatte, mit dem ich unter einer<br />
hellblauen plastikplane über die glaubwürdigkeit der strandräuber von rio de<br />
janeiro sinnierte & der mich dafür reichlich mit tröstenden worten belohnte. der<br />
strand ist voll mit gutgelaunten leuten.<br />
ich will die winzige hoffnung auf ein wiedersehen mit den handschriften<br />
endgültig begraben, als ein dicker, von der stechenden sonne des berühmtesten<br />
strandes der runden, sich drehenden erde schwarz gebrannter sonnenschirmver-<br />
leiher eine hand in den h<strong>im</strong>mel hebt & mir von weitem einen wink gibt, ich möge<br />
doch die kleine, schwarze tasche begutachten, die hier in der nähe seiner hütte<br />
gefunden wurde. tatsächlich, da ist sie, die umhängetasche aus guadeloupe, die<br />
ich mir aus mangel & wegen meiner erfahrungen in jamaica zugelegt hatte, & sie<br />
lacht mich an, prall gefüllt, mit meiner handschrift & meinem schlüssel, ohne die<br />
präser & ohne die hand voll essensmarken & meine von justus geliehenen shorts,<br />
an deren gummiband ich den schlüssel fesgebunden hatte. rosalie & ich ziehen<br />
unter überschwenglichen danksagungen an den besitzer der barraca ab, der sich<br />
die geschichte genauso wenig erklären kann wie ich oder rosalie, die <strong>im</strong>merhin<br />
schon 25 jahre hier zugebracht hatte. glücklich umarmen wir uns.<br />
rosalie steigt mit ausländischen gästen auf den zuckerhut oder den christus<br />
hinauf & begleitet sie in kleine apartments. sie hat, wie viele garotas hier, ein kind<br />
von einem ausländischen gast & träumt von einem besseren leben für den kleinen.<br />
frauen, die kinder haben, kennen sich aus. sie hatten bereits sex & wissen, daß<br />
kinder nicht alles sind, wofür sich 2, die sich mögen, in die kiste legen. ich habe sie<br />
gebeten, sich bei meinem halteruf nicht zu bewegen, da sonst mein bißchen milch<br />
sofort überkocht & die süße liebesnacht ein abruptes ende findet. wir entschließen<br />
uns nach etlichen, nassen küssen & nach vielen, sanften fingerübungen, das kleine<br />
plastikhemdchen über meinen steifen zu ziehen, so daß wir uns beide vollständig<br />
gehen lassen können. rosalie reitet mich nach allen regeln der kunst schnell &<br />
heftig ein, & während ich den klang ihres namens in ihr ohr flüstere, ahne ich<br />
bereits das nahe ende & sage mein stopzeichen “momento, um momento.“ aber<br />
nix läßt sich mehr aufhalten & rosalie schafft es gerade noch zu einem hastigen<br />
gepiepse: “não posso esperar.“ wir lassen die soße laufen & lachen uns atemlos<br />
& verschwitzt ins antlitz, daß jeder menschenfreund seine wahre freude hat &<br />
schlafen bis zum anderen morgen den tiefen traumlosen schlaf.
24 SCHWIMMEN WIE FISCHE 152<br />
24 schw<strong>im</strong>men wie fische<br />
wieso lehrst du mich erst jetzt, wie einfach die liebe ist? wieso konntest du nicht<br />
schon früher mein leben versüßen, eine woche wenigstens, oder einen monat eher,<br />
als ich in trinidad die lektion gut hätte gebrauchen können?<br />
ich bestelle bei einem der unzähligen chinesen in port of spain auf den bri-<br />
tischen westindies einen reisteller mit meeresfrüchten & warte, gelangweilt auf<br />
die frederik street schauend, den mittagsregen ab, während die nummernschilder<br />
der vorbeifahrenden autos kleine geschichten erzählen. ich trinke einen caffee vor<br />
dem essen & zücke mein buch, um an dich ein paar zeilen zu schreiben. ein riesi-<br />
ges, mit halbdurchsichtiger spiegelfolie bespanntes fenster trennt die küche vom<br />
speiseraum, & durch eine schulterbreite durchreiche schiebt ein junges, witzig la-<br />
chendes gesicht einen teller an die kasse zu einer bedienung. ich bekomme mein<br />
essen & starre gebannt gegen die silberscheibe, um nach einer ewigkeit hinter<br />
dem verspiegelten glas eine weißgekleidete, schwarze küchenhilfe zu entdecken,<br />
die eifrig gemüse schneidet & gelegentlich einen blick riskiert. ich komme kaum<br />
zum essen, so gespannt glotze ich hinter die scheibe, als die junge schwarze ihre<br />
dunklen augen in der durchreiche zeigt & mich mit gr<strong>im</strong>migem blick anschaut.<br />
“what are you peeping at? you got something for me?“ sagt sie. ich grinse<br />
breit in ihr hübsches goldzahngesicht.<br />
“do you want it right now or later? “ sie huscht sofort wieder hinter den<br />
sicheren spiegelvorhang & ich bleibe mit der bedienung alleine <strong>im</strong> lokal. kein chef<br />
hat es gerne, wenn das personal mit den gästen spricht.<br />
“der chef ist der dürre in der küche, der da hinten, der den reis brät.“ sagt die<br />
bedienung an der kasse. eine leblose, chinesische mumie von 50 jahren setzt sich<br />
zu ihr & beginnt, geld zu zählen, während ihre männliche innenhaut in der küche<br />
das heiße fett be<strong>im</strong> sieden beaufsichtigt. als die alte auf der toilette verschwindet,<br />
warnt mich die bedienung nochmal, ich müsse vorsichtig sein, sonst bekämme die<br />
küchenhilfe ärger.<br />
ich warte nach dem essen, bis sie rauskommt & will ihr ein wenig trinkgeld<br />
für den leckeren teller geben, als mich die bedienung abfängt & mir versichert,<br />
die kohle weiterzuleiten. na dann also nicht, & ich mache mich in einem der<br />
lautstarken sammeltaxis auf den weg in mein guesthouse, um mit meinem freund
24 SCHWIMMEN WIE FISCHE 153<br />
zwiesprache zu halten.<br />
ich komme anderntags wieder bei dem chinesen vorbei & setze mich in eine<br />
ecke, um bei einem caffee auf einen leckeren reisteller zu warten & gelegentlich<br />
einen blick auf meine küchenhilfe zu werfen. die bedienung gibt mir zu verstehen,<br />
daß die kleine gleich mittag habe & rauskommen werde. tatsächlich erscheint sie<br />
auch, um sich einen tisch weiter an meine seite zu setzen.<br />
sie heißt natalie & hat ein wunderbares, goldzahn bestücktes lächeln. ich liebe<br />
goldzähne & brillen, liebe die kleinen abweichungen <strong>im</strong> leben, liebe es, wenn die<br />
mädels nicht dem austauschbaren modell der ersten seite einer modezeitschrift<br />
entsprechen, sondern feine, körperliche macken haben, so wie alle, oder fast alle<br />
menschen. sie hat mit 22 jahren einen sohn, der von ihrer mutter beaufsichtigt<br />
wird & kann heute am donnerstag nicht ausgehen, vielleicht am freitag oder am<br />
samstag, achtung, da kommt der chef, & wir tun beide so, als kennen wir uns<br />
nicht, während wir uns verstohlen anschauen.<br />
der versteinerte küchenchinese hat lunte gerochen & greift persönlich in unser<br />
verschwiegenes gespräch ein. er n<strong>im</strong>mt meine halbvolle tasse vom tisch & schaut<br />
mich gr<strong>im</strong>mig an, als dürfe hier niemand ewig rumsitzen & schon gar niemand<br />
mit seinem personal flirten. vor allem aber, so gibt sein blick zu verstehen, lasse<br />
ich die finger besser von seiner persönlichen & in seiner küche arbeitenden, süßen<br />
küchenschabe namens natalie, die, falls er will, auch länger arbeiten darf &, falls<br />
er es satt hat, auch überhaupt nicht mehr zu kommen braucht.<br />
ich zahle entnervt & gehe die frederik street bis zum independence square an<br />
prall gefüllten schaufenstern vorbei, um mir die schicken klamotten in trinidad<br />
anzuschauen, deren langweiliger teil aus china kommt & deren witzige ausführung<br />
hier genäht wird. als ich am gleichen abend auf einen double an den platz komme,<br />
ist die straße mit bergen leerer pappkartons vollgestopft, die von fleißigen händen<br />
zu bündeln geschnürt & eingesammelt werden.<br />
der nationalhamburger von trinidad besteht aus 2 handtellergroßen, in heißem<br />
fett gold gebackenen teigfladen, die mit kichererbsenbrei & chutney in 3 schnellen,<br />
geschickten überschlägen in pergamentpapier eingerollt werden. auf hüfthohen<br />
metallgestellen stehen straßenverkäufer & mischen über den köpfen der menge<br />
bis tief in die nacht hinein die vorgefertigten zutaten für eine essensmarke zu<br />
einem leckeren snack. die inder & chinesen auf trinidad haben die küche & die
24 SCHWIMMEN WIE FISCHE 154<br />
wäscherei fest in ihrer hand. das essen ist lecker & wie selbstverständlich zu einem<br />
guten teil ohne fleisch.<br />
auf der veranda vor meinem z<strong>im</strong>mer unterhalte ich mich mit einem jungen<br />
franzosen, der seine trompete dabei hat, um <strong>im</strong> carneval in kolumbien die musik<br />
in den schnee zu blasen. coks ist nix für mich. ich bin von haus aus zu hoch <strong>im</strong><br />
standgas eingestellt & würde nach einer nase an die decke springen & mich an<br />
jedem ort der runden, sich drehenden erde eingeengt & viel zu groß fühlen.<br />
anderntags nehme ich ein sammeltaxi bis nach marval & trampe von dort die<br />
kleine straße dicht an den steilen, <strong>im</strong>mergrünen felshängen der nordküste entlang,<br />
an einer süßwasserquelle vorbei, bis nach maracas. das letzte stück asphalt führt<br />
steil nach unten in eine 2 km lange bucht, die von 3 seiten durch senkrecht<br />
aufragende, bewaldete, 600 m hohe felsen geschützt ist. tiefgrün sch<strong>im</strong>mert das<br />
wasser & haushohe palmen werfen gezackte schatten auf den weißen, schmalen<br />
sandstreifen. ein paar französische familien, die auf guyana arbeiten & auf trinidad<br />
wohnen, verbringen an der abgelegenen bucht ihr wochenende, zusammen mit<br />
einer handvoll einhe<strong>im</strong>ischer touristen. ich hole mir ein haifischbrötchen nach<br />
einem bad in den kühlen wellen.<br />
am abend versuche ich nochmal mein glück be<strong>im</strong> chinesen. ich setze mich ans<br />
küchenfenster, um natalie zu begrüßen, als der chef erscheint & mich auffordert,<br />
an einem anderen tisch platz zu nehmen. das lokal ist völlig leer, ich bin der<br />
einzige gast & nichtmal mit der erlaubnis ausgestattet, meinen sitzplatz frei zu<br />
wählen. nein mann, ich habe wirklich keine lust, mich mit dürren, starrsinnigen,<br />
versteinerten mumien zu unterhalten, die in fettigen küchen stehen & andere<br />
leute kommandieren. ich entschuldige mich mit einem achselzucken bei der traurig<br />
dreinschauenden natalie, die sich tatsächlich gefreut hat, mich zu sehen, & renne<br />
mit hochrotem kopf auf die straße, um den arbeitsplatz meiner küchenschabe<br />
nicht zu gefährden.<br />
wieso hast du mich nicht früher deine geduld gelehrt & deine großzügigkeit?<br />
wieso muß ich so engstirnig & kleinherzig sein, die flinte bei der kleinsten, von mir<br />
erdachten schwierigkeit ins korn zu werfen, anstatt es wie du zu machen & allen<br />
menschen, die mir böses wollen, etwas gutes zu wünschen? wieso kann ich nicht<br />
einfach tief durchatmen & mit verständnis & witz, die s<strong>im</strong>ple situation in wohl-<br />
gefallen auflösen, so daß natalie & ich, so daß wir beide ein süßes, vergnügliches
24 SCHWIMMEN WIE FISCHE 155<br />
wochenende verleben, uns gemeinsam das mammutkonzert <strong>im</strong> stadion von port<br />
of spain anschauen, uns verliebt in die augen blicken &, falls wir lust haben, uns<br />
küssen? wieso muß ich mich über knochige, beknackte, chinesische chefs derart<br />
aufregen, daß ich die liebe & die alles entscheidende frage vergesse & mich eher<br />
mit halsstarrigen dünnbrettbohrern anlege, als mit einer süßen perle zu flirten?<br />
wirst du mir später die ruhe beibringen & die großzügigkeit, wirst so lange bei<br />
mir bleiben, bis ich verstehe, & wirst mich dann liebevoll in die arme nehmen,<br />
gerade so lange, wie ich es vertragen kann & keinen deut länger?<br />
ich kaufe mir am abend eine einsame eintrittskarte für das konzert & ziehe ins<br />
stadion, gerade rechtzeitig, um david ruddlay zu sehen. 40.000 junge schwarze &<br />
10 weiße toben ihrem idol entgegen. die klamotten sind witzig, knielange hosen,<br />
viel zu weit, kurze minis, viel zu eng, amulette & ketten, viel zu schwer, halstücher<br />
& stirnbänder, baseballkappen & schirmmützen, die in alle h<strong>im</strong>melsrichtungen<br />
zeigen. ich ziehe meine billige uhr vom arm & lasse sie in eine hosentasche gleiten,<br />
um das gew<strong>im</strong>mel weiter vorne vor den boxen zu testen. die basedrum ist so<br />
trocken & laut eingestellt, daß ich selbst quer durch das stadion den schlag <strong>im</strong><br />
bauch spüre.<br />
nach einem pfeifkonzert & einem 5minütigen gekreische stellt eine einhe<strong>im</strong>i-<br />
sche, junge dame ihre show vor, indem sie die kurzen, knapp geschnittenen jeans,<br />
die an ein durchsichtiges, feines batisthemd erinnern, <strong>im</strong> butterfly schwingt. die<br />
jungen stiere vor der bühne führen einen feiztanz auf, daß sie nach dem ersten<br />
song abbricht & die wild schiebenden, schwarzen kids mit sanfter, dunkler st<strong>im</strong>-<br />
me zur ruhe ermahnt. sie macht eine pause von einer 4tel stunde, bis das getobe<br />
verebbt ist & fährt dann ihre show ab, mit eindeutig 2deutigen hüftbewegungen.<br />
<strong>im</strong> augenblick ist nicht daran zu denken, näher an die bühne heranzukommen. als<br />
hauptact spielen die alten, jamaicanischen burnig speer. die herren sind gut 50<br />
jahre & blasen den alten reggae schnell & punkig, wie ich es auf der mutterinsel<br />
vermißt habe.<br />
ich hole mir einen stick & ziehe ihn halb weg, um mich dann in die massen<br />
zu werfen & in der gespannten st<strong>im</strong>mung des kristallklaren sounds zu tanzen. ich<br />
fühle mich <strong>im</strong> gew<strong>im</strong>mel wie von einem schwarm winziger, junger fische umgeben,<br />
die an unzähligen stellen zugleich meinen körper anknabbern. eine mehrköpfige<br />
gruppe junger typen mit nacktem oberkörper tanzt aufgeregt um mich herum
24 SCHWIMMEN WIE FISCHE 156<br />
& beginnt, mich umherzuspülen, wie einen nassen sack, & ich spüre die ersten<br />
hände an meinem gürtel & meinen hosentaschen, sachte & eindringlich zugleich,<br />
forschend & fordernd, wie sie meine kleine, bescheidene habe zu greifen versuchen.<br />
ich schließe beide arme am körper & drehe mich mit ihnen, in der ahnung, daß nun<br />
alles weg ist, was ich in den taschen meiner hose verstaut habe, mache mich weich<br />
wie wasser, tauche nach unten ab & schw<strong>im</strong>me zur seite weg, bis der schwarm von<br />
der masse des stroms mitgerissen wird & sich von mir entfernt. ich sehe in einem<br />
der gesichter ein erstaunen & ein zeichen, mich nicht entkommen zu lassen, als<br />
ich abseits einen sicheren platz zum stehen finde & die taschenfischer abziehen.<br />
ich greife an meine hüfte & finde zum eigenen erstaunen meine armbanduhr<br />
vorne links neben dem taschentuch, mein notizbuch mit der scheckkarte hinten<br />
rechts & sogar die paar essensmarken, die ich für alle fälle einstecken habe. das<br />
war knapp. so dicht war es lange nicht mehr. noch nie hat irgend jemand was von<br />
meinem körper weggeklaut. noch nie sind mir sachen aus meinen taschen gestoh-<br />
len worden. mich haben schon einige über den tisch gezogen, be<strong>im</strong> einkaufen &<br />
be<strong>im</strong> bezahlen. ich wurde meine klamotten bei einem einbruch in mein hotelz<strong>im</strong>-<br />
mer los, als ich nicht zu hause war, oder aus dem schlafsack, als ich schlief, oder<br />
ich hab die sachen selbst irgendwo vergessen, liegengelassen & irgend jemandem,<br />
den ich nicht kannte, geschenkt. aber persönlich hat mich noch keiner beklaut, &<br />
wer es schaffen sollte, ist <strong>im</strong>merhin gewitzt genug, um mich auszutricksen & hat<br />
mit seiner guten arbeit die sachen auch verdient.<br />
als ich mit dem taxi zum flughafen fahre, morgens um 5, hält der fahrer an<br />
keiner roten ampel.“an der roten ampel hältst du nachts nur, wenn du ausgeraubt<br />
werden willst. mir haben sie mit 2 revolvern meine stereoanlage aus dem auto<br />
geholt, direkt vor meiner haustür, mann, die gute anlage, alles weg.“<br />
eher lasse ich meine sachen liegen, vergesse sie in einem winzig kurzen augen-<br />
blick, entferne sie aus meiner aufmerksamkeit, so daß sie genau dort verbleiben,<br />
wo ich sie liegenlasse, von meiner erinnerung mit spuren anderer ereignisse ver-<br />
mischt, & ich fühle die last der materie für eine zeitlang nicht mehr, bis ich, mir<br />
der leichtigkeit bewußt, etwas vermisse & mich in einem langwierigen, inneren<br />
suchvorgang daran mache, mich zu erinnern, welche dinge fehlen & wo sie mir<br />
abhanden gekommen sind.<br />
dinge können nicht weg, können nicht einfach irgendwo hin, können nicht
24 SCHWIMMEN WIE FISCHE 157<br />
verschwinden, schließlich haben sie kein geld. alleine die erinnerungen an sie,<br />
die <strong>im</strong> kopf gespeicherten bilder der dinge, ihre spuren in form winzig kleiner<br />
ladungen haben ihre eben noch klare & eindeutige form aufgegeben, überlagert<br />
von neu gespeicherten eindrücken in der aufregung des augenblicks & der allzu<br />
genauen aufmerksamkeit auf einen einzigen punkt, so daß die verbindungen zu<br />
anderen teilen ungenau & dünn werden, bis letztlich jeder oder fast jeder kontakt<br />
verlorengeht & ich die sachen einfach vergesse.<br />
dabei vertrete ich den standpunkt, daß kein mensch auf der runden, sich<br />
drehenden erde, irgendeine begebenheit in seinem sowieso zu kurzen leben, die<br />
er selbst erlebt hat, je vergessen kann. ich bin der festen überzeugung, daß ein<br />
menschliches gedächtnis, bei guter ernährung & durchschnittlicher entwicklung,<br />
in der lage ist, alle, oder fast alle, erlebten vorkommnisse genauestens zu erinnern<br />
& <strong>im</strong> nachhinein & jahre später jeden vorfall bis in jede, oder fast jede, einzelheit<br />
hinein erneut vor sein inneres auge zu rufen. andererseits habe ich selbst schon so<br />
viel vergessen, daß ich manchmal nicht mehr genau weiß, wie alt ich bin, oder den<br />
namen meiner geliebten in ihr süßes, weiches ohr flüstern will, aber be<strong>im</strong> besten<br />
willen nicht in der lage bin, mich an seinen klang zu erinnern, & so erfinde ich,<br />
um nicht allzu lange zeit mit nachdenken zu verbringen, einen neuen namen für<br />
meinen schatz oder nenne ihn einfach meinen süßen engel.<br />
sich erinnern, ist, wie alles, oder fast alles <strong>im</strong> leben, harte arbeit, & wer dazu<br />
in der lage ist, kann sich glücklich schätzen. wer die gegenwart außer 8 läßt, wer<br />
von den spuren der vergangenheit geplagt, nicht mehr fähig ist, den augenblick<br />
jung & neu zu genießen, so als ob diese sekunde den beginn der runden, sich<br />
drehenden erde markieren würde, der wird in der vielfalt seiner erinnerungsflut<br />
umkommen, sich <strong>im</strong> meer der alten wahrnehmungen verlieren, erdrückt von der<br />
last des gedächtnisses.<br />
die moskauer akademie der wissenschaften machte in den 60er jahren tests<br />
mit einem russischen erinnerungskünstler, der in der lage war, eine 50stellige<br />
zahlenreihe nach jahren aufzuschreiben, & ließ den mann, von vergangenen sin-<br />
neseindrücken gezeichnet, ziffern auswendig lernen, die er mehr als 10 jahre später<br />
in einwandfreier reihenfolge mühelos unter wissenschaftlicher aufsicht dahersag-<br />
te, wobei er gleichzeitig & wie nebenher die farbe des hemdes des versuchsleiters<br />
von damals beschrieb & den wochentag, das wetter wie jetzt gerade vor augen
24 SCHWIMMEN WIE FISCHE 158<br />
hatte & sich des geruchs der frischen zeitung entsann, die er kurz vorher gelesen<br />
hatte. um zu vergessen, begann er, die erlebten geschichten aufzuschreiben, in<br />
der hoffnung, sie dann beruhigt in seinem weiten, inneren gedächtnis langsam<br />
aber sicher & später ein für allemal mit dem sand der zeit zu überlagern. als dies<br />
nix half, begann er, die gesammelten zettel zu verbrennen, bis er sich endlich, in<br />
seinem eigenen gedächtnis verirrt, von den ununterbrochen auf ihn einstürzen-<br />
den eindrücken der gegenwart & der vergangenheit in einem akt der befreiung<br />
entledigte & sich das leben nahm.<br />
ehrlich gesagt ist das eine eher traurige geschichte, denn selbstmord ist wohl<br />
das dümmste, was ein mensch tun kann. nebenbei bemerkt unterscheidet die<br />
menschen von den tieren gerade & genau diese möglichkeit, ihr leben in ei-<br />
nem rückwärts gewandten, negativen beweis des freien willens zu beenden, der<br />
fähig ist, die eigene grundlage zu zerstören & sich selbst aufzuheben. was dem<br />
selbstmörder fehlt, ist nicht der freie wille, sondern sein sauberes ziel oder die ein-<br />
fache & gelegentlich auch komplizierte erfahrung, geliebt zu werden, das gefühl,<br />
einer unter zig millionen zu sein, gleichartig & genauso gebaut wie alle, & geliebt<br />
von wenigstens einem der unzähligen, 5000 millionen anderen. allein die hoff-<br />
nung, von einem wildfremden menschen die alles entscheidende frage beantwortet<br />
zu bekommen, hält einen großteil ab, sich in die endlose liste der selbstmörder<br />
einzureihen, die alljährlich zeugnis davon ablegen, wie spannend & rührend das<br />
leben <strong>im</strong> westlichen ausland ist für den arbeitenden & den nicht arbeitenden teil<br />
der bevölkerung.<br />
das letzte, was ich machen werde, ist zu sterben, aber ich werde mich nicht<br />
der möglichkeit berauben, genau diesen letzten augenblick bewußt & <strong>im</strong> vollen<br />
besitz meiner geistigen kräfte zu erleben. ich werde sterben, wie alle & genau alle<br />
menschen, werde mein kurzes leben nach sowieso zu kurzer zeit beenden, werde<br />
mich wehren, wie die meisten meiner artgenossen, aber ich weiß jetzt bereits, daß<br />
ich sicher sein werde, geliebt worden zu sein. ich weiß jetzt bereits, daß es dich<br />
gibt, mein süßer engel, daß du, falls nötig, nicht ruhen wirst, um mir meinen<br />
letzten augenblick mit einer süßen portion süßem sex zu versüßen, & ich werde<br />
all meine spärliche kraft aufbringen, um es dir gleich zu tun & dich in meine arme<br />
nehmen, so als ob es der erste tag wäre, an dem wir uns begegnen, & wenn du<br />
willst, & ich es will, werden wir uns beide in den weit geöffneten, opferbereiten
25 DER LETZTE TANGO 159<br />
mund spucken, wie 2 tiere, die sich gegenseitig ernähren & voneinander leben.<br />
bis dahin aber will ich keine sekunde meines sowieso zu kurzen lebens damit<br />
verschwenden, pläne zu machen, wie ich es vor der abgelaufenen zeit beenden<br />
könnte, sondern will mich darum kümmern, daß du mein engel & mein leben,<br />
daß du meine liebe & meine kraft, glücklich & zufrieden in die kissen sinkst, so<br />
wie ich es genieße, daß du dich um mein leibliches seelenwohl kümmerst & mich<br />
zärtlich liebkost & mich küßt, bis ich beruhigt neben dir & mit dir den tiefen,<br />
traumlosen schlaf schlafe.<br />
25 der letzte tango<br />
in buenos aires war es bei weitem nicht alltäglich, mit süßen oder weniger süßen<br />
mädels ins gespräch zu kommen, oder wenigstens einen blick zu kreuzen, um die<br />
alles entscheidende & einzige frage zu beantworten, die alle, oder fast alle men-<br />
schen das ganze leben hindurch beschäftigt. ich kenne keinen, aber auch wirklich<br />
keinen einzigen menschen, der nicht geliebt werden will & der es nicht genießt,<br />
von freundlichen händen liebkost zu werden, mit den augen eines anderen ent-<br />
kleidet & bewundert zu werden, in vertrauten, fremden atem zu atmen & weiche<br />
lippen zu küssen.<br />
ich selbst gehöre nicht zu der sorte leute, die lieber, ohne mit anderen zu<br />
ficken, ein leben abseits von sex & lust führen & dabei einem nicht vorhandenen<br />
götzen & einer vorgestellten natur näher sind als dem eigenen körper, oder einem<br />
der anderen 5000 millionen menschen. ich ziehe es vor, daß du mich verstohlen<br />
anschaust, fragend & ein wenig aufgeregt, daß du mich zu dir winkst & mir von<br />
dir erzählst, bis ich vertrauen gewinne zu dir, ziehe es vor, daß du für mich dein<br />
schnell pochendes herz einen spalt öffnest, so daß ich einen kurzen, fast zufälligen<br />
blick auf deinen innigen wunsch werfen kann, gerade ausreichend, um ihn zu<br />
erahnen & um ihn vielleicht, nachdem wir uns in die augen geschaut haben, zu<br />
erfüllen, ohne pflicht & ohne versprechungen oder unausgesprochene hoffnungen,<br />
einzig wie 2 freie, mit freiem willen ausgestattete menschen, die alles um sich<br />
vergessen, um eine kurze strecke ihres sowieso zu kurzen lebens gemeinsam zu<br />
gehen.<br />
ich verzeihe dir, wenn du ungewaschen bist & ein wenig holprig sprichst. ich
25 DER LETZTE TANGO 160<br />
bin selbst ungewaschen & rede holprig. ich verzeihe dir die umständliche art,<br />
mit der du mich anmachst, denn ich weiß selbst keinen besseren weg, verzeihe<br />
deine unordentliche kleidung, deine schwitzige hand & deinen schlechten atem<br />
morgens früh auf nüchternem magen. ich sehe dir die aufgeregtheit nach, mit der<br />
du fast unser kleines glück vermasselst, weil du in gedanken ganz woanders bist<br />
als hier bei uns beiden, denn ich kenne allzu gut die vielen, kleinen hindernisse,<br />
die unserer geschichte <strong>im</strong> wege stehen, die 1000 hemmnisse & wirrungen, die es<br />
zu überwinden gilt, die verfestigten lebensmuster, die wir wie eine errungenschaft<br />
vor uns hertragen.<br />
aber ich verzeihe dir nicht & ebenso wenig mir selbst, wenn ich, anstatt auf<br />
dich zu hören & deiner st<strong>im</strong>me zu folgen, vor lauter unmöglichkeiten in meinem<br />
kopf nur meinen festen, steinernen wunsch sehe, & ich meinen schmalen, engen,<br />
zackig verwinkelten irrweg nicht verlassen will, um mit dir eine direkte, gerade<br />
abkürzung zu nehmen zu einer süßen, gemeinsamen liebesnacht, in der wir uns<br />
gegenseitig glücklich machen.<br />
nach 3 erfolgreichen wochen <strong>im</strong> familienglück, ohne liebesleben & mit vielen,<br />
kleinen zugeständnissen an die vergangene vergangenheit & die nicht vorhandene<br />
zukunft, buchte ich in buenos aires einen flug nach são paolo. noch 5 kurze tage &<br />
5 lange nächte, & ich werde unter der sonne brasiliens die lebensfreude der klaus-<br />
bunten, gut gemischten leute <strong>im</strong> 5tgrößten land der erde teilen. ich fahre 2 abende<br />
später mit meiner geliebten linie 17 bis in die chacabuco zum centro parakultural<br />
& verpasse gerade meine 4te tanzstunde, mitten unter aufrecht dreinschauenden<br />
porteños.<br />
an der bar bestelle ich eine flasche leckeren, herben, weißen santa anna, den<br />
mir die blonde hinter dem tresen in einen plastikbecher gießt, um den rest <strong>im</strong><br />
kühlschrank aufzubewahren. ich beschwere mich bei ihr über den tango & die<br />
starre art der porteños, über die jahrhunderte alte, verkommene, europäische<br />
vorstellung von liebe, die jedesmal mit conquista beginnt & mit conquista endet,<br />
einem unsinnigen, weil von haus aus ungleichen zweikampf, bei dem der männ-<br />
liche teil alles versucht, um den tapfer verteidigenden, weiblichen teil gegen alle<br />
widerstände zu erobern, bis die genommene festung ein für allemal abgehakt &<br />
gegessen ist, weil die eroberung das ziel war & nicht die liebesnacht, weil es gar<br />
nicht ums ficken ging, sondern darum, ficken zu dürfen, weil eine eroberte festung
25 DER LETZTE TANGO 161<br />
jeden kitzel & jeden reiz verloren hat.<br />
nein, nein es gäbe auch andere leute hier, & <strong>im</strong> übrigen sei dies ja wohl das<br />
beste & aufregendste spiel, was menschen miteinander spielen. an diesem abend<br />
bin ich anderer meinung & kann es nicht verstehen, wie einerseits die jungs das<br />
blaue vom h<strong>im</strong>mel lügen & andererseits die mädels alles dafür tun, es zu glauben,<br />
so daß am ende nix dabei herauskommen kann als die enttäuschung der typen<br />
nach einer eroberten muschi & die der frauen nach einer stümperhaften abspritz-<br />
nummer, nix als die allseits bekannte halbwahrheit, auf der jeweils anderen seite<br />
seien doch alle gleich.<br />
tango fällt aus den lautsprechern, wie fotos aus einem alten familienalbum.<br />
hinter mir läuft eine schwarze katze die eingangsstufen herauf, schaut sich lange<br />
um & verschwindet <strong>im</strong> keller, der den raum längs kreuzt. du kommst von der<br />
tanzfläche zu uns an die bar, beugst dich über den tresen & fragst uns nach<br />
feuer, & ein geruch von sandel & zeder & süßem schweiß geht mir aufregend in<br />
die nase & macht mich mit einem mal besessen. wer bist du? was ist das für ein<br />
duft an dir? ich schaue auf deine sommersprossige, gebräunte brust, schnuppere<br />
2 runden um deine schultern & lande zwischen deinem schlüsselbein vor einem<br />
kleinen, hellblauen fläschchen aus ton, das du an einem lederband um den hals<br />
trägst. zusammen mit deinem schweiß verströmt es einen h<strong>im</strong>mlischen duft. als<br />
ich an dem winzigen behälter rieche, ohne daß deine haut den inhalt verfeinert,<br />
schwindet der zauber. ich gebe dir das fläschchen zurück & du lachst mich an,<br />
ein wenig stolz & ein wenig vorwitzig, bis sich falten um deine augen bilden.<br />
du trägst ein weites hemd, das über deine schwarzen shorts fällt. die dunklen<br />
locken reichen dir bis auf die schultern & du mischst dich mit der geistreichen<br />
bemerkung in unser gerede, daß die typen alle machos seien, die von der liebe<br />
<strong>im</strong> grunde nix verstünden & bei den frauen jeden wunsch nach zärtlichkeit &<br />
geborgenheit offen ließen. ich pflichte dir bei & gebe dir zu bedenken, daß hinter<br />
jedem macho eine alles verzeihende mutter & eine geduldig wartende schnep-<br />
fe steht, die sich <strong>im</strong> allgemeinen keinen deut besser ben<strong>im</strong>mt, wenn sie brav &<br />
anständig auf ein zeichen ihres stechers wartet, um ihn dann vielleicht nach lan-<br />
gem & noch längerem abweisen ran zu lassen. deine tiefen, honigfarbenen augen<br />
schauen schnell & vorwitzig durch den tangonebel & du forderst mich zu einem<br />
tanz auf, den ich nach 3 tanzstunden wagen werde. ich will an deiner seite sein.
25 DER LETZTE TANGO 162<br />
du hast es bereits gewußt.<br />
rostig ertönt ein altes, trauriges lied, langsam & zögernd von einem bruder<br />
meines freundes begleitet. wir wiegen uns die erste hälfte, ohne uns von der stelle<br />
zu bewegen, bis wir gemeinsam auf ein gehe<strong>im</strong>es zeichen meine 8schritt-folge<br />
leichtfüßig auf die staubige tanzfläche zaubern. du gleichst meine unbeholfene art<br />
mit deiner weichen klugheit aus.<br />
du sagst: “halt mich ordentlich fest, damit ich halt habe“ & ziehst mich dabei<br />
vor deine hüften in deinen schritt & legst deine locken an meine schulter, so<br />
daß ich deinen heißen atem glühend auf meinem empfindsamen nacken spüre.<br />
du ziehst mich sanft ein & bläst mich aus dir raus & stellst mir deine lenden in<br />
den weg. bei jedem schritt muß ich näher zu dir hin. wir schreiten gemeinsam,<br />
wie ein wesen, durch den rot gefärbten tango, bis wir einen schritt vergessen &<br />
uns noch enger halten, damit die verbindung zwischen uns nicht verlorengeht &<br />
einer in den andern hören kann. nach dem tanz lachst du mich an & lobst meine<br />
vorstellung, & ich gebe dir das kompl<strong>im</strong>ent einer geübten tänzerin zurück. unsere<br />
eintracht wurde erst durch deine geduldige wachheit so süß. ich gestehe dir nicht,<br />
daß ich für einen augenblick gewillt war, dich zu küssen, sondern nehme deine<br />
hand & führe sie an einen der marmortische, wo wir einen schluck vom süßen,<br />
herben argentinischen wein nehmen.<br />
das also ist tango, so geht tanzen, dafür üben alle. das erträumen sie, wenn<br />
sie mit fremden menschen auf die tanzfläche gehen.<br />
du stellst mir einen deiner freunde vor & tanzt mit ihm 2 schnelle, gutgeölte<br />
melongas. ich bewundere deine weiche art, die nix von der verachtenden weise<br />
hat, mit der porteños ihr altes gesellschaftsspiel aufführen. wir trinken ein wasser<br />
gemeinsam, wagen einen neuen tanz, halten uns diesmal von beginn an eng um-<br />
schlungen, hüfte an hüfte & kopf an kopf. ich lege meine hand vorsichtig auf die<br />
sommerspossen deines rückens, um dir halt zu geben & von dir geführt zu werden,<br />
um jede deiner sanften bewegungen zu spüren. ich vergesse meinen 8ter schritt &<br />
beginne den tango zu träumen, den marschartigen rhythmus aufzulösen in klei-<br />
ne, zögerliche schrittfolgen, & wir zerlegen den gleichmäßigen takt gemeinsam in<br />
stücke unterschiedlicher länge, in denen wir innehalten & aufeinander warten, bis<br />
einer von uns die geduld verliert & das unmerkliche zeichen für eine bewegung<br />
gibt, der wir in schnellen, weiten schritten folgen, als wollten wir die gewartete
25 DER LETZTE TANGO 163<br />
zeit einholen.<br />
ich werde nicht von deiner seite gehen, sondern den rest des abends bei dir<br />
bleiben, bis du genug von mir hast & lieber ohne mich weiterziehst. ich werde<br />
bei dir bleiben, solange du bei mir bleiben willst, werde dir alles verzeihen, was<br />
du mir verzeihst, & falls du wirklich willst, werden wir die nacht gemeinsam in<br />
unseren armen verbringen.<br />
dein tanzpartner fordert dich auf, & du schaust mich fragend an. ich muß dich<br />
freigeben, so daß du mit dem besseren tänzer dein vergnügen hast, während ich<br />
euch bewundernd zuschaue.<br />
später tragen 3 porteños ein paar stücke vor. dein tanzpartner singt einen tan-<br />
go mit blues vermischt zum stampfen seines fußes, & ein junger typ gibt eigene<br />
gedichte zum besten. dann singt eine 70jährige in einem weit fließenden, hellblau-<br />
en, weißgepunkteten kleid, das tief ausgestellt den faltigen brustkorb bedeckt, von<br />
einem taschentuch als zeichen einer verlorenen liebe. sie fährt mit dunkelroten,<br />
brüchigen fingernägeln über die tränenden, schwarzen augen & läßt dabei einen<br />
weißen fetzen zum boden sinken. keiner <strong>im</strong> saal wagt ihn aufzuheben. du sitzt<br />
vor mir auf dem kleinen sofa an der stirnseite des langen saals. ich traue mich<br />
nicht, dich zu küssen. in langen abständen schicke ich meinen atem flüchtig über<br />
den haaransatz in deinem nacken.<br />
“laß uns woanders hingehn, ich habe hunger. gehn wir was essen, irgendwo<br />
hin.“ du willigst ein, & wir schultern unsere beiden taschen, tauschen sie aus, so<br />
daß ich deine trage, die viel schwerer ist. wir nehmen ein taxi bis zur corrientes<br />
ecke callao, um den rest zum pippo zu laufen.<br />
wir setzen uns an einen tisch am fenster & warten, bis uns der kellner die karte<br />
bringt, & bestellen einen salat mit viel zwiebeln & einen 4tel roten & beginnen<br />
unsere kleine, süße brotzeit nachts um 3 uhr, der besten zeit für buenos aires.<br />
als du mich mit flinken augen musterst & schnell um dich schaust, von deinen<br />
beiden kindern erzählst & deinem mann, der den contrabaß <strong>im</strong> stadtorchester<br />
streicht, & mich fragst, was mich hier hält & was ich vorhabe, n<strong>im</strong>mt eine deiner<br />
zärtlichen hände unwillkürlich meinen arm & streicht für eine kurze, unendlich<br />
lange sekunde über meine haut. ich werde ruhig & sicher, lege die anfängliche<br />
aufregung ab & ahne mit einem mal, daß du mich nicht verletzen wirst. du wohnst<br />
weit draußen vor der stadt. ich biete dir an, die nacht bei mir in der wohnung
25 DER LETZTE TANGO 164<br />
meines bruders zu verbringen, falls du willst, & wir fahren bis zur recoleta an die<br />
hell erleuchteten, menschen überfüllten caffees.<br />
manchmal ist alles ganz einfach & manchmal unglaublich kompliziert. “ja,<br />
manchmal ist es ganz einfach“, sagst du. wir werfen einen blick ins offene schlaf-<br />
z<strong>im</strong>mer meines bruders, der <strong>im</strong> traumlosen schlaf seine liebe süß umschlingt,<br />
setzen uns ermüdet auf den balkon & schauen über die recoleta, den kleinen<br />
friedhof, über die erste zeile der kastenförmigen, 20stöckigen wohnhäuser, über<br />
die schwarzroten wasser des rio de la plata & sehen hoch über uns die schlanke<br />
sichel des mondes. du duschst schnell, & ich wasche mir gleichfalls den schweiß<br />
von der haut. wir treffen uns wieder auf dem balkon, wo wir die füße gegen das<br />
weiße gitter der brüstung stemmen, so daß wir in den stühlen versinken, & du<br />
legst meine hand sachte auf deinen arm, & ich streiche über deine seidenhaut den<br />
ellenbogen hoch bis an die schulter über den hals, ertaste dein gesicht mit den<br />
festen kinnknochen bis zu deinem mund, den du einen spalt öffnest, um meinen<br />
daumen zu küssen.<br />
du neigst dich langsam zu mir & n<strong>im</strong>mst mir die letzte angst & beantwortest<br />
die alles entscheidende frage mit einem süßen, zarten kuß auf meine lippen, meine<br />
nase entlang bis zu meiner stirn, & wie um mich zu schützen, bettest du meinen<br />
kopf in deine hände & hältst ihn wie einen schatz vor deine weitgeöffneten, honig-<br />
farbenen augen, um ihn ungläubig zu betrachten, ihn abzumessen, ihn zu wiegen<br />
& ihn für <strong>im</strong>mer in deinem gedächtnis einzugraben. wir küssen uns <strong>im</strong> aufstehen<br />
auf die geöffneten lippen & umarmen uns barfuß auf dem weichen teppich des<br />
wohnz<strong>im</strong>mers, indem wir uns feste aneinanderdrücken & uns wiegen, als begänne<br />
jeden augenblick die musik zu einem tango.<br />
“manchmal ist es ganz einfach. willst du hier bei mir bleiben?“ “klar.“ du<br />
nickst mir zu & umfaßt meine hüften mit beiden händen & legst deinen kopf an<br />
meine schulter, so daß wir zu unserer eigenen, inneren musik tanzen & uns über<br />
den flauschigen boden drehen, ohne zuschauer, ganz alleine mit uns. meine hand<br />
gleitet deinen rücken entlang bis an den saum des weiten hemdes & fährt auf<br />
deiner nackten seidenhaut die sommersprossen wieder hoch bis an den nacken,<br />
während die andere über deinen süßen, zarten hintern gleitet & die starken ober-<br />
schenkel fühlt, mit denen du deine lende an mich drückst, bis deine rose blüht &<br />
mich lockt mit vorwitzigen bewegungen gegen mein becken. ich spüre dich in mir
25 DER LETZTE TANGO 165<br />
& streiche meine hand unter dem hemd deine offene flanke entlang über die rip-<br />
pen bis zur seite deiner süßen, zarten brust, der seidenbespannten, kleinen frucht,<br />
die ihre spitze feste gegen meine finger streckt.<br />
wir werden uns die nacht lieben, falls wir lust verspüren & werden schlafen,<br />
falls wir müde sind, & ich werde deinen zederngeruch einatmen & du meinen<br />
zwiebelatem, & wir werden so lange zusammenbleiben, bis du genug hast oder<br />
bis ich nach são paolo fliege, & falls es sein muß, bleibe ich auch länger bei dir,<br />
aber du wirst nicht dulden, daß ich wegen dir meine pläne ändere & auf mein<br />
vorhaben verzichte. du wirst mich hinausschicken in die welt, sobald du auch nur<br />
ein zeichen von unruhe oder reiselust in mir verspürst, wirst mir den abschied mit<br />
deiner geduld & aufmerksamkeit versüßen & wirst mir keine träne nachweinen,<br />
sondern mich bestärken & mich ein wenig bewundern, mir deine kraft mit auf<br />
den weg geben & keinen gedanken daran verschwenden, mich zurückzuhalten.<br />
in dieser nacht machen wir die liebe der aufrecht <strong>im</strong> wasser schw<strong>im</strong>menden<br />
wale & die der hunde, ahmen junge vögel <strong>im</strong> flug nach & lieben uns zickig wie<br />
katzen, kuschelig wie schafe, lecken uns wie die affen, & du spuckst mir in den<br />
weit geöffneten, opferbereiten mund, & ich trinke all deinen h<strong>im</strong>mlich fließenden<br />
saft aus dir, während du mich mit küssen bedeckst, wo du mich treffen kannst &<br />
mich beißt, bis ich vor lust den schmerz vergesse & dich fest an mich drücke, weit<br />
geöffnet ohne jede angst & scham & dir meinen körper anvertraue, damit du ihn<br />
liebkost & zärtlich berührst, mich an dich ziehst & meine lenden einlädst in die<br />
rosafarbene, feuchte, süßeste grotte, die mir auf der runden, sich drehenden erde<br />
je begegnet ist.<br />
als ich meinen steifen schwanz vor deine feuchte, rosige schnecke halte, saugt<br />
sie mich in dich hinein, & wir spüren, daß die beiden sich mögen wie keine anderen<br />
auf der runden, sich drehenden erde, & du flüsterst meinen namen mit engelsheller<br />
st<strong>im</strong>me in mein ohr, & ich werde so heiß, daß meine milch jeden augenblick zu<br />
kochen droht.<br />
“willst du?“ “ja, ich will. hast du präser?“ “klar.“ ich rolle den feuchten gummi<br />
über mein sprungbereites pferdchen & wir reiten eine kurze strecke <strong>im</strong> eiltempo<br />
gemeinsam zum schnellen ende des holprigen weges, wo uns ein brodelndes, heißes<br />
meer in die fluten zieht & naß badet. ich lache laut in dein gesicht, als wir beide<br />
die zügel freigeben & du meine milch, während ich dick & fest in dir stecke, mit
26 CARNAVAL 166<br />
den zuckungen deiner weichen, glühendheißen muschi tief in dich hinein trinkst.<br />
beruhigt & gerettet sinken wir ineinander, & ich schaue dich lachend an, schaue<br />
in deine h<strong>im</strong>mlischen augen & genieße deinen blick auf mir & die bewunderung<br />
für meinen körper. wir 2, du & ich, wir sind füreinander geschaffen. uns hat der<br />
außerirdische, den es nicht gibt, für einander auserkoren, um für alle ewigkeiten,<br />
oder fast alle ewigkeiten, unser kurzes leben zusammen zu verbringen, bis wir alt<br />
& knöchrig sind, um uns zu lieben, um zu ficken, bis wir beide alle hemmungen<br />
abgelegt haben, & uns zu betasten & zu lecken, uns gegenseitig zu befriedigen &<br />
uns zu retten & nicht zu ruhen, bis wir beide alles gegeben haben & entspannt<br />
& besänftigt, erneuert & gevögelt, ineinander sinken & ohne eine offene frage bis<br />
zum anderen morgen schlafen.<br />
26 carnaval<br />
eine woche vor carneval nehme ich mir in salvador, der baíanischen hauptstadt<br />
ein z<strong>im</strong>mer <strong>im</strong> 3. stock eines stundenhotels mit blick auf den winzigen fischer-<br />
hafen & den allabendlichen, orange-türkisen sonnenuntergang. auf der anderen<br />
straßenseite neben dem mercado modelo, einem touristenmarkt, vollgestopft mit<br />
handgemachten mitbringseln, steht der arsch des bürgermeisters, das wahrzeichen<br />
der stadt, 2 pilzförmige betonklötze, 6 m hoch, dicht nebeneinander, auf denen<br />
in umgekehrter lage die gleiche 2er-form mit dem schmalen ende nach oben zeigt.<br />
unter meinem fenster ist die busstation für den comercio & die ciudade baixa.<br />
in der woche um carneval türmen sich hier frühhe<strong>im</strong>kehrer bis morgens um 10<br />
uhr, wenn die sonne schon längst ihre strahlen von der oberstadt über das wasser<br />
schickt, nach einem letzten brahma oder einem antartica, bem gelada. kommt ein<br />
bus, beginnt eine wilde balgerei an der hintertür, bei der frauen & kinder nicht<br />
den kürzeren ziehen.<br />
am abend will ich die altstadt, den pelorinho, besichtigen & laufe ein paar<br />
schritte die rua marcilio dias entlang, links der atlantik, rechts der steile felsen<br />
der festung. an den häuserwänden sitzen weißgekleidete frauen in baihanischer<br />
tracht auf einem kleinen hocker & verkaufen aus einer aluminiumschüssel acarajé,<br />
das heiße fett neben sich siedend, die zutaten auf einer kiste vor sich ausgebreitet<br />
& mit einem tuch abgedeckt. der platz ist fast leer. die schrankförmigen buden,
26 CARNAVAL 167<br />
an denen nachtschwärmer bis in den mittag zechen, sind geschlossen. ich erreiche<br />
den elevador, das 70 m hohe, ockerfarbene L. in seinem inneren verbindet ein<br />
aufzug die hochgelegene altstadt mit der unterstadt. normalerweise kostet die<br />
fahrt ein 5tel eis oder eine halbe packung streichhölzer, aber zur carnevalszeit<br />
hat die präfektur von salvador, die überall in großen buchstaben damit wirbt,<br />
für den besten carneval der runden, sich drehenden erde zu arbeiten, die fahrt<br />
freigegeben.<br />
grau gekleidete, gut bewaffnete militärpolizisten stehen am eingang & kon-<br />
trollieren mit metalldetektoren die schlange nach waffen. es ist warm & vom meer<br />
weht eine brise salz unter mein shirt. die schalange ist einen häuserblock lang.<br />
keiner hat mehr als ein hemd & eine hose oder einen knappen rock am leib. ich<br />
fahre mit einer 30köpfigen gruppe in sekundenschnelle nach oben, laufe über die<br />
halbvolle praça municipal an einer bühne vorbei & überquere die praça da se.<br />
die ersten paare wiegen sich <strong>im</strong> schnellen takt. von hier starten die trios elec-<br />
tricos auf ihren riesigen lkws, zu lautsprechern umgebaut, eine tanz-wett-fahrt<br />
über die praça castro alves & den campo grande bis an den winzigen strand<br />
des stadtteils barra, um mit ohrenbetäubenden shows den schnellen rhythmus<br />
in millionen naßgeschwitzte beine zu hämmern. langsam füllt sich der platz. der<br />
pelorinho weiter vorne wird, finanziert von der weltbank, gigantisch restauriert,<br />
mit nordamericanischen scheinen & südamericanischen, brasilianischen händen<br />
gerettet.<br />
ich laufe über unregelmäßiges kopfsteinpflaster, durch enge, steile gassen, vor<br />
deren cremefarbenen, 2stöckigen fassaden holztische & klappstühle mit dem zei-<br />
chen einer biermarke zum trinken einladen. während ich auf einen käseverkäufer<br />
warte, höre ich einem gitarrenduo zu. ihre brasilianischen hits werden begeistert<br />
mitgesungen von einer traube junger brasilianer. neben mir röstet ein aufgespieß-<br />
ter quader ziegenkäse in einer minute über einer kleinen, mit holzkohle gefüllten<br />
blechdose goldbraun & fließend weich. ich bestelle ein bier, bitte bem gelada, &<br />
als es zu regnen beginnt, flüchte ich mit den anderen ins innere einer hütte, um<br />
den kurzen schauer abzuwarten. meine erste flasche hält nicht lange genug, um<br />
meinen durst zu löschen, & ich bestelle eine 2te, während sich der saal schon<br />
wieder leert. ich schaue mich um & entdecke ein 3er-grüppchen mit einer dicken,<br />
blonden weißen, einem dürren typen & einem süßen, dunklen engel. wir schauen
26 CARNAVAL 168<br />
uns kurz an & einigen uns unmerklich auf ein abenteuer.<br />
als hätte ich sie gerufen, steht die hübsche schwarze auf & geht an mir vorbei<br />
in richtung toilette. ich sehe, wie sie vor versperrter türe steht & deute auf das<br />
männerklo, & sie bittet mich, während sie schnell pissen geht, den eingang zu<br />
sichern.<br />
die dunkle perle ist paulista. sie liebt das häusermeer wie ich & genießt die<br />
großstadt. sie wurde vor 36 jahren in são paolo geboren & hat die stadt bis auf ein<br />
paar wochen urlaub <strong>im</strong> jahr nie verlassen, außer, um am strand in einem kleinen<br />
haus mit freunden ein paar ruhige tage zu verbringen & am silvesterabend mit<br />
tausenden weiß gekleideter paulistas um eins der unzähligen feuer ins neue jahr zu<br />
tanzen. paulistas sind in ganz brasilien als arbeitsam, sonnenscheu, aufgeräumt<br />
& amüsierunfähig bekannt. marlyn hatte sich vor 3 tagen in der barra einen<br />
sonnenbrand geholt, der ihr schwarzes fell jetzt fleckig weiß macht. ihre dunkle<br />
haut schält sich in daumennagel großen fetzen von den festen, runden schultern &<br />
dem rücken. “mais uma?“ noch eins & noch eins. wir trinken die biere gemeinsam<br />
aus winzigen gläsern.<br />
vor ihrem hotel an der praça da se nehmen wir noch 2 leckere biere an einer<br />
barraca, bis die dicke & der dürre genug haben & sich abseilen, & wir 2 in<br />
die unterstadt ziehen an die bushaltestelle, um noch 5 gutgekühlte flaschen mit<br />
einem glatzköpfigen, aufgedunsenen informatiker aus brasilia zu leeren. als die<br />
sonne aufgeht, stolpert unser trinkgast über das pflaster. marlyn & ich schwirren<br />
in bester laune in mein kleines hotel 5 schritte weiter.<br />
die nacht ist nicht nur zum schlafen, sondern auch zum beantworten der alles<br />
entscheidenden frage, & so bleibt uns für den näxten tag gerade die kraft, uns<br />
an den strand der barra in den schatten eines riesigen umbubaumes zu setzen &<br />
bei bulliger hitze ab & an ins gut gewärmte salzwasser zwischen die argentinier<br />
zu steigen. ich habe meine capitainsmütze aus martinique auf dem kopf. marlyn<br />
trägt einen strohhut & die blonde ihre schirmmütze. die argentinier kennen keine<br />
gnade. während sie aufgeregt ihre nassen locken zurechtfummeln, leeren sie ein<br />
frisches antartica nach dem anderen aus styropor- ummantelten, eiskalten fla-<br />
schen. ihre essensmarken, von staats wegen an den us-dollar gebunden, fliegen<br />
den strandverkäufern zu, so daß selbst das kleine wassereis 3mal so teuer ist wie<br />
in der stadt.
26 CARNAVAL 169<br />
nach einem caldo de sururu, einer heißen suppe aus meeresfrüchten, beginnen<br />
wir den abend einzuläuten mit einem kühlen, leckeren brahma, bem gelada. das<br />
erste trio fährt oben auf der straße vorbei. der strand hat sich bis zum letzten<br />
sandkorn mit braungebrannten, wenig bekleideten, jungen menschen gefüllt, die<br />
jetzt aufstehen & auf die hohe mauer schauen, wo der lkw mit der band zu<br />
sehen ist, umringt von 1000 tanzenden beinen. auf einem feuerwehrauto steht<br />
ein uniformierter. er dreht den hahn auf & spritzt einen dicken wasserstrahl von<br />
seinem führerhäuschen über die johlende menge. unten auf dem strand wiegt ein<br />
einziges, braungebranntes wesen die hüften bis die sonne untergeht & die müden<br />
füße nach hause wollen.<br />
anderntags schauen wir uns den aufmarsch der blocks des baíanischen car-<br />
nevals an. 200 trommler des olodum sind von weitem zu hören. tac tac tum,<br />
taca taca tum. vorneweg ziehen 3000 junge leute, zum teil ausländische gäste,<br />
in grünen anzügen mit aufgedruckten früchten, der praça da sé entgegen, wo auf<br />
einem lkw die band bereits ihren soundcheck macht. tac tac tum, taca taca tum.<br />
tac tac tum, taca taca tum. als die trommlergruppe durch die engen gassen der<br />
altstadt marschiert, dröhnen die tiefen surdu eindringlich <strong>im</strong> bauch. wir werden<br />
<strong>im</strong> gewühl gegen eine häuserwand gedrückt. marlyn greift meine hand & führt sie<br />
an ihre hüften. den rest finde ich selbst. alles ist rhythmus, laut & eindringlich,<br />
ist klang, tief & dumpf, ist bewegung, schnell & heftig, unsere körper erfassend,<br />
wie wellen. als der spaß an uns vorbei gezogen ist, küssen wir uns lange & laufen<br />
gemütlich an den platz.<br />
hinter uns folgt der vielleicht schlechteste bloco aller zeiten, die chayen, ganz<br />
in gelb & mit einer 50köpfigen rhythmusgruppe, deren 7 reihen so gegeneinander<br />
spielen, daß sich die schlagfolgen auflösen & zerfallen, bis der anführer entnervt<br />
abpfeift & die band von vorne beginnt.<br />
marlyn drückt mich in einen hauseingang & küßt mir die lippen feucht. von<br />
der praça da sé her kommt mein lieblings-bloco, die jüngste & zugleich klein-<br />
ste truppe, 2 hände voll kids, mit 2 mädels an der snare & einem xbeinigen<br />
zwerg als anführer. sie schlagen einen schnellen, gut gebutterten samba reggae,<br />
von knappen, zackigen mustern unterbrochen. die hintere reihe besteht aus 3<br />
baßtrommeln, deren sonnenbrillen-träger den nackten oberkörper für jede note<br />
in wilde zuckungen versetzen & die schlaghand in großen bögen über dem kopf
26 CARNAVAL 170<br />
schwingen. rechtzeitig & genau zum passenden zeitpunkt tauchen sie kräftig in<br />
das leicht gespannte fell der hüfthohen trommel & legen die tiefen brocken auf<br />
die 1 & die 3. die vorletzte reihe antwortet mit ze 2 & 4 ze. beidhändig rühren<br />
die mädels in einer üppigen snaresuppe mit vielen, scharf gewürzten 8teln. auf<br />
der hellen repenic reichen die jüngsten mit 2 dünnen, krummen ästchen 16tel in<br />
schillernden mustern nach. vor meiner hüfte wackelt marlyns po schnell hin &<br />
her, als wolle er die band antreiben. der xbeinige, kurzgewachsene meister schaut<br />
seine noch kürzeren schüler lachend an. auf einen pfiff endet die show mit einem<br />
gut einstudierten muster. ich kann jetzt unmöglich von marlyns hüfte weg.<br />
der größte & älteste bloco, filhos de gandhi, ganz in weiß, ehrt den großen<br />
mahatma, den führer der machtlosen. mit weißen tüchern als kleider, blauen<br />
perlenketten als schmuck & weißen frottierhandtüchern als turbane ziehen 5000<br />
schwarze männer hinter einem kreischenden lautsprecherwagen einen schneewei-<br />
ßen teppich von der praça da se bis an die praça castro alves.<br />
spät am abend n<strong>im</strong>mt meine paulista die befehle ihres capitains entgegen,<br />
der, wie es der verstorbene zappa ausdrücken würde, ein paar kreisbewegungen<br />
auf der zuckerpflaume anordnet, so daß ihr weicher, rosiger kern vor seinen augen<br />
versteinert & honigsüßer pflaumensaft über seine lippen läuft & seine weiße ba-<br />
nane nach ein paar knappen stößen & viel zu früh ihre spärliche milch in die wild<br />
zuckende frucht gießt. das näxte mal, so einigen wir uns, wird der capitain keine<br />
anweisungen geben, & wir beschließen, die rollen zu tauschen. zutiefst müde gebe<br />
ich meine befehlsgewalt an die süße, erfahrene paulista ab.<br />
diesmal n<strong>im</strong>mt meine dunkle katze die sache in die hand & küßt die helle<br />
freude ihres capitains mit ihren dicken, weichen lippen zur vollen größe, während<br />
er, unter ihrem becken liegend, darauf achtet, die dunkel glänzende frucht & den<br />
rosafarbenen kern sauber mit der zunge auszustechen, bis durchsichtige, klebrige<br />
tropfen rauskommen. wir ziehen uns beide & besonders mir ein hemdchen über,<br />
um schnell von dannen zu reiten, dem tiefen, traumlosen schlaf entgegen.<br />
ja, so einfach geht das, so einfach kann die sache sein, wenn wir beide wol-<br />
len & beide die kleine, anerzogene angst hinter uns lassen, wenn wir uns ganz<br />
auflösen ineinander & den befehl des anderen bis zuletzt, liebevoll & fürsorglich,<br />
ausführen, wissend, daß jeder, aber auch wirklich jeder an die reihe kommt. denn<br />
von der einen sache, die uns alle oder fast alle beschäftigt, gibt es wahrlich genug
27 ENDE 171<br />
auf der runden, sich drehenden erde, um alle & wirklich alle restlos zufrieden<br />
zu stellen, bis keine frage mehr unbeantwortet & kein wunsch mehr offen ist,<br />
bis die nebensächlichen & lächerlichen dinge in den hintergrund treten, bis wir<br />
schließlich als wissende das falsche vom wahren trennen & uns nicht mehr auf-<br />
halten mit längst beantworteten fragen, mit den vorgestellten, inneren & hinter<br />
den dingen verborgenen, geistigen & ideellen welten, sondern uns ganz unserem<br />
körper widmen & den materiellen dingen, den festen, fühlbaren sachen, nicht den<br />
erinnerungen, sondern dem reizenden, sowieso zu kurzen leben selbst.<br />
27 ende<br />
in maceio nehme ich mir ein kleines z<strong>im</strong>mer <strong>im</strong> zentrum der stadt abseits der<br />
touristenstrände weiter <strong>im</strong> norden. hier an der praia da avenida, zwischen der<br />
ölpipeline <strong>im</strong> süden & dem frachthafen <strong>im</strong> norden, spielt am samstag nachmit-<br />
tag alles, was männlich ist & 2 beine hat, auf dem 4 km langen sandstreifen<br />
strandfußball. zwischen winzigen toren laufen mehr als 30 mannschaften nach al-<br />
tersgruppen geordnet in der abendsonne barfüßig über den silbrig-braunen sand<br />
kleinen bällen hinterher. ich gehe die spieler ab bis zu einer 8köpfigen gruppe<br />
hagerer, ledrig gegerbter männer, die gemeinsam in ruhiger, gleichmäßiger art<br />
ein seil, dessen ende weit ins meer hineinreicht, aus dem blauschwarzen wasser<br />
ziehen. der wind zerrt an ihren kurzärmeligen hemden. sie haben einen strick um<br />
die dürren, knochigen hüften gebunden & schlagen mit 2 lockeren knoten eine<br />
halterung um das straff gespannte seil, so daß sie ihr gewicht rückwärts gegen<br />
den strand stemmen & mit stetiger kraft einen weit draußen schw<strong>im</strong>menden ge-<br />
genstand an land schaffen. raupenartig bewegt die mannschaft den leinenstrich,<br />
indem der letzte seine kopplung löst, gemächlich nach vorne bis ans wasser geht<br />
& sich erneut einhakt.<br />
weiter hinten entdecke ich eine 2te seilschaft, die am anderen ende arbeitet.<br />
beide bewegen sich aufeinander zu, ohne daß einer der männer ein kommando<br />
führen muß, oder die anderen beaufsichtigt, wie teile eines lange eingespielten,<br />
mechanischen werks. von hellgrünem seetang verziert, bewegt sich das netz ins<br />
flache wasser auf den strand zu, wo die männer 2 weidenkörbe silberne, wild<br />
zappelnde fische einsammeln.
27 ENDE 172<br />
am anderen morgen gehe ich nach einer kurzen zwiesprache mit meinem freund<br />
an die petrobras-tankstelle zu den sammeltaxis. ich habe meinen strohhut auf-<br />
gesetzt, der mir bei der kräftigen brise aus dem gesicht geblasen wird & laufe<br />
zurück zum hotel, um ihn gegen die capitainsmütze einzutauschen. ich fahre an<br />
die praia francêsa, einem 20 km langen, palmenbewachsenen strand, eine halbe<br />
autostunde vor maceio, & treffe daniel, einen braungebrannten schweizer, der seit<br />
einem halben jahr brasilien bereist & einen netten fleck für seine essensmarken<br />
& eine kleine bar sucht. wir legen uns neben 2 schlanke, hellhäutige garotas &<br />
spinnen ein gespräch. beide sind cariocas & verbringen den carneval hier oben.<br />
die mädels haben in ihren taschen kleine fläschchen wasserstoffoxyd, um ihre<br />
beinhaare schneeweiß zu färben. anna arbeitet in einer bank & monica hat ge-<br />
rade ihre prüfung als pianistin am konservatorium von rio de janeiro abgelegt.<br />
die langen beine räkeln sie gegen die sonne, daß ihre dicken, festen halbkugeln an<br />
den hüften nach oben stehen. wir schwatzen über politik & die liebe, über geld &<br />
musik. die unterhaltung will nicht so recht in gang kommen. der schnell blasende<br />
wind treibt am südlichen ende des strandes dunkle wolken zu einem schwarzen<br />
klumpen zusammen. wir brechen auf nach maceio. daniel verabschiedet sich von<br />
den beiden, die zu langsam sind für schnelle abenteuer, & ich nehme <strong>im</strong> hotel<br />
eine dusche.<br />
ich will mich kurz ausruhen, als ich meine mütze vermisse, Mit der ich vor 2<br />
tagen in salvador saubere & wichtige order ausgegeben hatte. ich depp, scheiße,<br />
die ist weg. ich fahre die strecke zurück an den strand, aber der wind & der sand<br />
haben meine süße capitainskappe aus martinique, für die ich 10 jahre suchen<br />
mußte, längst begraben, & so gebe ich entnervt auf & lege mich an meinem letzten<br />
abend in maceio nach ein paar antartica & caipirinhas müde in die kissen.<br />
morgen werde ich nach recife fliegen & übermorgen bereits he<strong>im</strong>atboden be-<br />
treten, werde mir vom frost eine grippe abholen & werde dann wie alle, oder fast<br />
alle menschen arbeiten gehen, werde mich frisch rasieren & mir eine krawatte um-<br />
binden, werde meinem chef nicht zu tief in die augen schauen & alles tun, was er<br />
verlangt, oder fast alles, denn ich weiß, daß auf der anderen seite der runden, sich<br />
drehenden erde mein süßer engel lebt & mich mit offenen armen empfängt, weiß,<br />
daß es dich gibt, & du, wenn ich genügend essensmarken zusammen habe, um zu<br />
dir rüber zu kommen, nicht ruhen wirst, bis wir beide sanftmütig geworden sind,
27 ENDE 173<br />
& ich weiß, daß du mir ohne bedenken in meinen weit geöffneten, opferbereiten<br />
mund spucken wirst.