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Interview: Zu Tisch mit Elisabeth Bronfen - Slow Food Schweiz

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interview<br />

<strong>Zu</strong> <strong>Tisch</strong> <strong>mit</strong><br />

<strong>Elisabeth</strong> <strong>Bronfen</strong><br />

Als Jugendliche protestierte sie gegen die Rolle der Hausfrau. Warum die<br />

Anglistik-Professorin heute gerne am Herd steht, erklärt sie beim Lunch.<br />

Wer <strong>mit</strong> wem?<br />

<strong>Elisabeth</strong> <strong>Bronfen</strong>, Professorin<br />

der Anglistik an der Universität<br />

Zürich im Gespräch <strong>mit</strong> den slow.ch-<br />

Mitarbeiterinnen Ursula Hasler und<br />

Stephanie Riedi sowie der<br />

Fotografin Nadja Athanasiou.<br />

Wo?<br />

Restaurant Spice, Rigiblick, Germaniastrasse<br />

99, 8044 Zürich,<br />

Tel. 043 255 15 70,<br />

www.restaurantrigiblick.ch<br />

Was wurde serviert?<br />

Auf die Vorspeisen, Entenlebercrème<br />

<strong>mit</strong> Mango und Salzmandeln<br />

sowie Trüffelravioli <strong>mit</strong> weissem<br />

Trüffelschaum folgt der Hauptgang,<br />

Perlhuhnbrust <strong>mit</strong> Kürbis und<br />

Süsskartoffel <strong>mit</strong> Zimt. Dazu wird<br />

ein Elsässer Gewürztraminer, 2008<br />

von Marc Kreydenweiss kredenzt.<br />

Fazit von <strong>Elisabeth</strong> <strong>Bronfen</strong>: «Bis<br />

auf die Weingläser <strong>mit</strong> den bescheuert<br />

langen Stielen, stimmt<br />

hier alles. Das Lokal könnte in New<br />

York, Tokio oder Sydney sein.»<br />

Wie war die Stimmung?<br />

Nonchalant, offenherzig, anregend.<br />

E<br />

lisabeth <strong>Bronfen</strong> ist eine Frau<br />

von Welt, und dies im wahrsten<br />

Sinne des Wortes. Als Tochter<br />

eines jüdischen Amerikaners und einer<br />

evangelischen Deutschen wächst sie in<br />

München auf. Nach Abschluss der Munich<br />

American High-School schafft sie<br />

den Sprung an die US-Elite-Universität<br />

Harvard. Sie studiert Literatur, um vier<br />

Jahre später <strong>mit</strong> einem Magistertitel<br />

nach München zurückzukehren. 1992<br />

legt sie ihre Habilitationsschrift vor:<br />

«Over Her Dead Body» – «Nur über<br />

ihre Leiche». <strong>Bronfen</strong> gelingt, was<br />

kaum jemandem zuvor gelungen ist: Ihr<br />

Werk über tote Frauen in der Literatur<br />

und Kunst erobert prompt die internationalen<br />

Bestsellerlisten.<br />

Ein Jahr später übernimmt die gefeierte<br />

Autorin einen Lehrstuhl am Englischen<br />

Seminar der Universität Zürich und<br />

etabliert sich <strong>mit</strong> dem Spezialgebiet<br />

anglo-amerikanische Literatur und<br />

Kultur. Die «Pop-Professorin», wie die<br />

30<br />

Provokateurin im Elfenbeinturm der<br />

Wissenschaft gerne genannt wird, publi-<br />

ziert zahlreiche Bücher und Aufsätze in<br />

den Bereichen Gender Studies, Psycho-<br />

analyse, Film- und Kulturwissenschaften.<br />

Neben der Kopfarbeit gehört die<br />

Kulinarik zu den ganz grossen Leidenschaften<br />

der <strong>mit</strong>tlerweile amerikanischschweizerischen<br />

Doppelbürgerin.<br />

<strong>Elisabeth</strong> <strong>Bronfen</strong> kocht und isst gerne,<br />

am liebsten multikulturell und dies in<br />

geselliger Runde.<br />

Frau <strong>Bronfen</strong>, Sie haben das Restaurant<br />

Spice für unser <strong>Tisch</strong>gespräch gewählt.<br />

Was lieben Sie an der Küche hier?<br />

<strong>Elisabeth</strong> <strong>Bronfen</strong>: Die Gerichte prä-<br />

sentieren sich als Juwelen, ohne über-<br />

kandidelt zu sein. Mir gefällt der<br />

spielerische, aber kluge Umgang <strong>mit</strong><br />

Geschmacksnoten aus aller Welt, die<br />

der französischen Küche neue Akzente<br />

verleihen. <strong>Zu</strong>m Beispiel diese zarte<br />

31


<strong>Interview</strong><br />

«In der Diaspora wird das <strong>Zu</strong>sammensein zentral, der <strong>Tisch</strong> zur Heimat.»<br />

Entenlebercrème in Nockerlnform,<br />

arrangiert <strong>mit</strong> Mangocoulis und<br />

gehackten Salzmandeln – einfach<br />

köstlich!<br />

Sie bezeichnen sich als Abenteurerin in<br />

Bezug aufs Essen, die bereits im Alter<br />

von zwölf Jahren Austern geschlürft hat.<br />

Kennen Sie als passionierte Hobbyköchin<br />

keine Tabus am Herd?<br />

Doch. Ich würde zum Beispiel nie Innereien<br />

zubereiten. Einfach deshalb, weil<br />

sie mir nicht schmecken. Selbst Schwei-<br />

nebauch ist mir zu fett und schwer und<br />

Schnecken sind mir zu schleimig. Bei<br />

Froschschenkeln frage ich mich, ob die<br />

sein müssen. Andererseits gebe ich<br />

gerne zu, eine grosse Liebhaberin der<br />

Foie gras zu sein. Ich weiss, dass die<br />

armen Tiere grauenhaft gequält wer-<br />

den. Aber manchmal triumphiert halt<br />

die Lust über das Gewissen.<br />

Auch in Kostenfragen? Verwenden Sie<br />

Luxusprodukte in Ihrer Küche?<br />

Selten. Preis und Leistung müssen stimmen.<br />

Ich würde wohl kaum Kobe-Rindfleisch<br />

kaufen, das um die 70 Franken<br />

kostet pro 100 Gramm. Auch 60 Fran-<br />

ken für eine Flasche Wein sind mir zu<br />

viel, geschweige denn 300. Der Wein<br />

soll einfach munden. Ich wuchs in eher<br />

bescheidenen Verhältnissen auf und<br />

mag deshalb simple, rustikale Gerichte.<br />

Ich würde nie so komplexe Menüs<br />

komponieren, wie sie hier im Spice<br />

offeriert werden. Erstens fehlt mir das<br />

Know-how. Zweitens die Zeit und Musse,<br />

um für einen Saucenfond drei Tage<br />

in der Küche zu stehen. Ich habe kein<br />

Problem da<strong>mit</strong>, Bouillonwürfel zu ver-<br />

wenden. In der <strong>Schweiz</strong> munden sie<br />

fantastisch.<br />

Sie haben väterlicherseits jüdische<br />

Wurzeln. Halten Sie sich an die religiösen<br />

Speisegesetze?<br />

Nein, ich bin nicht religiös erzogen<br />

worden. Wir haben zu Hause keine<br />

konfessionell motivierten Gebote und<br />

Verbote befolgt. Als einzige Konzes-<br />

sion gingen wir jeweils samstags in ein<br />

jüdisches Restaurant, um die Leibspeisen<br />

meines Vaters zu essen wie gefilter<br />

Fisch oder Ragout, das üblicherweise<br />

schon freitags aufgesetzt wird, weil<br />

traditionell nach Sonnenuntergang am<br />

Freitag bis zum Sonnenuntergang am<br />

Samstag keine Arbeit verrichtet wer-<br />

den darf – auch nicht am Kochherd.<br />

Aber mir gings immer nur um den<br />

geselligen und nicht um den religiösen<br />

Teil der jüdischen Tradition.<br />

Was verstehen Sie darunter? Worin<br />

unterscheidet sich die jüdische Geselligkeitstradition<br />

von anderen?<br />

32<br />

In der Diaspora wird das <strong>Zu</strong>sammensein<br />

zentral. Der ungarische Filmregisseur<br />

Istvan Szabo beschreibt eine<br />

wunderbare Szene bei George Cukor<br />

zu Hause in Hollywood, einem Re-<br />

gisseurkollegen, der als Sohn jüdischungarischer<br />

Immigranten in New York<br />

geboren worden ist. Szabo erzählt, wie<br />

sämtliche Grössen der Filmgeschichte,<br />

etwa Billy Wilder, Vincente Minelli und<br />

Fred Zinnemann bei Cukor um den<br />

<strong>Tisch</strong> sassen und dieser einfach zu<br />

Szabo sagte: ‚Komm setz Dich… Hast<br />

Du gerne Hühnersuppe?’ In einem<br />

solchen Moment wird der <strong>Tisch</strong> zur<br />

Heimat.<br />

Wie und wo haben Sie selbst den <strong>Tisch</strong><br />

als Heimat erlebt?<br />

Sonntags gab es bei uns immer ein<br />

Familienessen. Mutter stand stundenlang<br />

in der Küche, derweil Vater redete.<br />

Wir durften Freunde einladen. Das<br />

gemeinsame Essen und Trinken sowie<br />

die Gespräche bei <strong>Tisch</strong> wurden kulti-<br />

viert. Später konnte ich während<br />

meiner Studienzeit in Harvard diese<br />

Tradition nochmals in New York ge-<br />

niessen, und zwar bei Froma Zeitlin.<br />

Sie war eine der ersten Frauen, die es<br />

in den sechziger Jahren geschafft hatte,<br />

Professorin zu werden. Trotz enormem<br />

Arbeitspensum fand sie immer Zeit<br />

fürs Kochen. Ihre Abendessen, bei<br />

denen ich all die damals noch jungen<br />

und heute berühmten feministischen<br />

Theoretikerinnen kennen lernen durfte,<br />

waren legendär. Von Zeitlin habe ich<br />

auch das Cheesecake-Rezept, Inbegriff<br />

der jüdisch-amerikanischen Esskultur.<br />

Die jüdische Tradition dürfte <strong>mit</strong> der<br />

rein amerikanischen kaum etwas gemein<br />

haben. Amerika und Esskultur schliessen<br />

sich doch geradezu aus, ebenso Fast<br />

<strong>Food</strong> und Geselligkeit bei <strong>Tisch</strong>.<br />

Kurzum: Wo<strong>mit</strong> könnte die US-Kulinarik<br />

schon locken?<br />

Sie würden staunen, was die amerikanische<br />

Küche alles zu bieten hat neben<br />

Chips, Brownie und Burger! Wobei ein<br />

wirklich guter, frischer, innen noch<br />

roher Burger <strong>mit</strong> Blue Cheese, Bacon<br />

und karamellisierten Zwiebeln durch-<br />

aus ein Genuss sein kann. Persönlich<br />

tendiere ich jedoch zum Tuna Burger<br />

<strong>mit</strong> einer Teriyaki-Ingwer-Reduktion<br />

– ein Rezept von Dani Meyer, dem<br />

New Yorker Restaurant-König, dank<br />

dem ich meine Gäste schon oft ver-<br />

blüffen konnte.<br />

Da<strong>mit</strong> haben Sie erst die Burger-Kultur<br />

rehabilitiert, nicht aber die amerikanische<br />

Küche. Was hat letztere denn noch<br />

zu bieten?<br />

Jede Einwanderergruppe brachte ihre<br />

Küche nach Amerika <strong>mit</strong>. Das Essen<br />

war ein kulturell verbindendes Ele-<br />

ment. Im Laufe der Jahre wurden die<br />

länderspezifischen Speisen amerikanisiert.<br />

Die italo-amerikanische Küche<br />

beispielsweise unterschied sich klar<br />

von der italienischen. Irgendwann<br />

gingen die ethnischen <strong>Zu</strong>ordnungen<br />

verloren und man bezeichnete die<br />

Gerichte fortan als amerikanisch. Die<br />

Küche der Einwanderergeneration war<br />

einfach und manchmal ärmlich, dafür<br />

stets frisch.<br />

Verklären Sie hier nicht etwas die Reali-<br />

tät? Jedenfalls präsentiert sich heute in<br />

den USA ein anderes Bild.<br />

Die entscheidende Wende kam nach<br />

dem Zweiten Weltkrieg, anfangs der<br />

fünfziger Jahre <strong>mit</strong> Supermärkten,<br />

Fast- und Convenience-<strong>Food</strong>. Damals<br />

passierte etwas Interessantes: Für die<br />

Mittelschicht, entstanden aus der<br />

aufstrebenden Unterschicht, wurde es<br />

kulinarisch zentral, sich leisten zu<br />

können, was wir heute scheusslich<br />

finden. Im Laufe der Jahre wurden<br />

diese Nahrungs<strong>mit</strong>tel immer billiger.<br />

Worauf sich prompt Ende der sechziger<br />

und siebziger Jahre ein Gegentrend zu<br />

entwickeln begann. Die Hippies woll-<br />

ten zurück aufs Land, zum Ursprünglichen<br />

und Gesunden. Das nenne ich die<br />

dritte Generation der amerikanischen<br />

Küche <strong>mit</strong> ihrer Ikone Alice Waters.<br />

Die selbst erklärte <strong>Food</strong>-Revolutionärin<br />

und heutige Vizepräsidentin von<br />

<strong>Slow</strong> <strong>Food</strong> International gilt als eine<br />

33<br />

der besten Köchinnen Amerikas und<br />

Erfinderin der ‚California Cuisine’, die<br />

eine konsequente Verwendung von<br />

frischen <strong>Zu</strong>taten fordert.<br />

Dennoch hat sich die Fast-<strong>Food</strong>-Kultur<br />

durchgesetzt. Fettleibigkeit grassiert und<br />

<strong>Tisch</strong>traditionen werden ignoriert…<br />

Zweifellos. Das ist ein grosses Problem<br />

in den USA: Die einen essen sehr ge-<br />

sund, die andern grauenhaftes <strong>Zu</strong>cker-<br />

zeug. Allerdings darf nicht vergessen<br />

werden, dass die Ernährung meist eine<br />

Frage des Geldes ist. Auch hat in den<br />

USA bereits ein Umdenken stattge-<br />

funden. Heute geht es wieder darum,<br />

zu Hause zu kochen, die Familie an den<br />

<strong>Tisch</strong> zu bringen. Barak Obama hat ja<br />

die Männer dazu aufgerufen, nach der<br />

Arbeit heimzugehen, den Kindern bei<br />

den Schulaufgaben zu helfen, <strong>mit</strong> der<br />

Familie zu essen und zu reden. Und<br />

Michelle Obama zeigt den Kids in<br />

Washington DC anhand ihres kleinen<br />

Gartens, wo das Gemüse herkommt.<br />

Das Pendel schlägt offenbar zurück.<br />

Sie sind amerikanisch-schweizerische<br />

Doppelbürgerin. Welche US-Küchentradition<br />

haben Sie in die <strong>Schweiz</strong><br />

<strong>mit</strong>gebracht?<br />

Natürlich Thanksgiving, das vermutlich<br />

heiligste Fest der Amerikaner! An<br />

Thanksgiving darf niemand alleine sein.<br />

Ich würde selbst Leute von der Strasse


zum Turkey einladen. Darin zeigt sich<br />

die Grundidee der in Amerika verstreuten<br />

Immigranten, wenigstens<br />

einmal im Jahr zusammenzukommen,<br />

um gemeinsam den Erntedank bei<br />

Speis und Trank zu feiern. Thanksgiving<br />

wird bis heute weltweit praktiziert:<br />

Egal, wo Amerikaner leben, sie müssen<br />

Ende November gemeinsam Thanksgiving<br />

zelebrieren. Dadurch erklärt sich<br />

auch dieses absurde Bild von Bush, das<br />

ein Jahr nach dem Irak-Debakel ent-<br />

standen ist: Mit einem falschen Trut-<br />

hahn in den Händen versuchte Bush an<br />

Thanksgiving, seine Truppen aufzumuntern.<br />

Haben Sie die Turkey-<strong>Zu</strong>bereitung bei<br />

Ihrer Mutter gelernt?<br />

Nein, im Gegenteil: Es gab sogar<br />

Rivalitäten zwischen mir und Mutter,<br />

was Thanksgiving anbelangt. Insofern<br />

war es für mich eine grosse Genugtuung,<br />

sie zu meinem ersten Turkey<br />

einladen zu können. Ich hatte nämlich<br />

mehr Gäste um den <strong>Tisch</strong> versammelt<br />

und bei weitem mehr Nebengerichte<br />

zubereitet, als es zu Hause üblich war.<br />

Mutter musste eingestehen, entthront<br />

zu sein. Das war hart, zumal ich mich<br />

als junge Frau respektive Feministin<br />

dem Kochen verweigert hatte, wie es in<br />

den achtziger Jahren eben üblich war.<br />

Meine Mutter gehörte der Generation<br />

von Frauen an, die einerseits kochen<br />

interview<br />

konnten und andererseits dünn bleiben<br />

wollten, um <strong>mit</strong> 55 noch ins Hochzeitkleid<br />

zu passen. Deshalb wollte ich<br />

mich in erster Linie als Wissenschaftlerin<br />

beweisen. Die Liebe zum Kochen<br />

kam danach, notabene in der <strong>Schweiz</strong>.<br />

Erstens verdiente ich von Anfang an<br />

ordentlich. Zweitens entdeckte ich die<br />

Qualität der hiesigen Milchprodukte.<br />

Man kann in der <strong>Schweiz</strong> gar nicht<br />

schlecht kochen. Mit etwas Butter oder<br />

Rahm schmeckt sofort alles grossartig!<br />

Dann haben Sie dem Feminismus den<br />

Rücken gekehrt? Für Feministinnen ist<br />

doch die Küche an sich ein Tabu. Die<br />

amerikanische Vorreiterin Alice Con-<br />

stance bezeichnete das Kochen bereits<br />

zu Beginn des 20. Jh. als Inbegriff «einer<br />

abscheulich monotonen Plackerei» in<br />

«Einzelhaft».<br />

Heute kann ich das eine vom andern<br />

trennen und kaum mehr nachvollziehen,<br />

warum ich im Alter von 19, 20<br />

Jahren nicht kochen wollte. Aus Protest<br />

geht schliesslich ein Stück Kultur ver-<br />

loren: all die wunderbaren Rezepte, die<br />

über Generationen von Grossmutter zu<br />

Mutter zu Tochter weitergegeben wor-<br />

den sind. Dieser Verlust scheint sich<br />

nun auch in Italien anzubahnen. Seit<br />

rund 15 Jahren streiken junge Frauen,<br />

und zwar bei allem, was sie in die<br />

Mama-Rolle presst, inklusive Gebären.<br />

Eine meiner italienischen Freundinnen<br />

34<br />

ist spindeldürr. Mit ihrer Figur widersetzt<br />

sie sich der Italianità, die auf<br />

Kochen und Essen zu beruhen scheint.<br />

Ihr Lieblingsgericht ist Schinken-Käse-<br />

Toast, den es jeweils gab, wenn Vater<br />

auf Geschäftsreise war. Üblicherweise<br />

kochte die Mutter <strong>mit</strong>tags und abends.<br />

Eine enorme Anstrengung, die enorm<br />

viel Zeit verschlang. Folglich weigerte<br />

sich meine Freundin, überhaupt kochen<br />

zu lernen.<br />

Der Zeitfaktor ist das meist zitierte<br />

Argument, wenn es ums Nicht-Kochen<br />

geht. Wie meistern Sie als Professorin<br />

Arbeit, Küche und ein Haus voller<br />

Gäste?<br />

Die Zeit zum Kochen ist immer vor-<br />

handen. Man sollte einfach weniger im<br />

Internet surfen… Im Ernst: So viel<br />

mehr arbeiten die Leute nicht als ich.<br />

Im Gegenteil. Dennoch koche ich täg-<br />

lich. Es entspannt, und ich kann Men-<br />

schen am <strong>Tisch</strong> zusammenbringen. Es<br />

muss ja nichts Aufwändiges sein. Die<br />

Französinnen etwa sagen, es brauche<br />

nur einen Plat, also einen Gang. Und<br />

um diesen Plat herum spielt man.<br />

Haben Sie die <strong>Zu</strong>taten stets zu Hause?<br />

Grundzutaten sollten immer vorrätig<br />

sein. Auch deshalb, weil das Einkaufen<br />

in der <strong>Schweiz</strong> ein Problem ist. Laden-<br />

schlusszeiten und leere Regale abends<br />

«Sie würden staunen, was die amerikanische Küche Köstliches zu bieten hat.»<br />

sowie Märkte, die nur morgens statt-<br />

finden, erschweren den Arbeitenden<br />

das Kochen. Ansonsten gibt es immer<br />

Gelegenheit, etwas vorzubereiten, sei<br />

es am Wochenende oder morgens,<br />

bevor man zur Arbeit geht oder abends<br />

statt vor dem Fernseher zu sitzen…<br />

… und sich im TV eine Kochshow<br />

anzuschauen. Sie selbst liebäugelten<br />

schon da<strong>mit</strong>, eine Kochsendung zu<br />

machen. Wäre es nicht deprimierend,<br />

für Leute zu kochen, die sich beim<br />

<strong>Zu</strong>gucken Fast <strong>Food</strong> einverleiben?<br />

Ich habe die Idee bereits verworfen.<br />

Eigentlich wollte ich eine Sendung<br />

machen im Stil von Julia Child, die im<br />

amerikanischen Fernsehen der fünfzi-<br />

ger Jahre als Köchin auftrat. Die Filme<br />

entstanden in ihrer Küche und sind<br />

heute Kult. Julia Child ist eine Ikone,<br />

die Mutter aller TV-Köchinnen und<br />

-Köche. Bei ihr durfte auch mal etwas<br />

schief gehen. Unvergesslich zum Bei-<br />

spiel die Sendung, als Julia Child den<br />

Turkey auf den Boden plumpsen liess.<br />

Als wäre nichts geschehen, hob sie den<br />

Truthahn auf und erklärte <strong>mit</strong> ihrer<br />

typisch nasalen Stimme: ‚Legen sie ihn<br />

einfach wieder auf die Platte und<br />

arrangieren sie das Ganze neu. Ver-<br />

gessen Sie nicht: Sie stehen alleine in<br />

der Küche; keiner hat sie gesehen.’<br />

Jamie Oliver strahlt eine ähnliche Cool-<br />

ness aus. Mit seiner Art schaffte er es<br />

sogar, bei einigen jungen Frauen und<br />

Männer ein Umdenken zu bewirken.<br />

Sieht die Universitätsdozentin bei ihren<br />

Studentinnen und Studenten Handlungsbedarf,<br />

was Koch- und Ernährungskenntnisse<br />

anbelangt?<br />

Manchmal möchte ich ihnen die Chips-<br />

tüten und Softdrinks aus den Händen<br />

reissen! Die einen zittern unablässig<br />

<strong>mit</strong> dem Bein, die andern haben pick-<br />

lige Haut, sind spindeldürr oder fett<br />

wie es früher nur die Amerikaner<br />

waren. Die Essgewohnheiten scheinen<br />

sich in den letzten Jahren dramatisch<br />

verschlechtert zu haben. Ich verstehe<br />

nicht, wie man in einem Land leben<br />

kann, in dem es frisches Obst und Ge-<br />

müse gibt sowie eine Brot- und Käse-<br />

vielfalt, und man trotzdem zu Fast-<br />

<strong>Food</strong> greift. Es geht doch ums Wohl!<br />

Der Körper ist das einzige Heim, das<br />

wir Zeit unseres Lebens besitzen. Also<br />

sollten wir für ihn sorgen. Die Ernährung<br />

ist dabei zentral, das Essen eine<br />

Form, unser Haus zu erhalten.<br />

Was schlagen Sie vor? Durch die<br />

zahlreichen Kochsendungen, die es<br />

<strong>mit</strong>tlerweile rund um die Uhr gibt, hat<br />

sich offenbar nichts verändert.<br />

35<br />

Man müsste bereits in den Schulen<br />

eingreifen. Der Haushaltunterricht ist<br />

zwar ein Tabu der Moderne. Aber ich<br />

bin überzeugt, dass er etwas bewirken<br />

könnte. Vorausgesetzt natürlich, er<br />

würde kreativ gestaltet. Das kulinarische<br />

Know-how fehlt der heutigen Ju-<br />

gend, sie weiss nicht, wann ein Produkt<br />

Saison hat, woher es stammt und wie es<br />

zu verarbeiten ist. Dabei kann es eine<br />

Lehre fürs Leben sein, sich an ein<br />

Rezept halten zu müssen. Das Spiegelei<br />

gelingt schliesslich nur, wenn ich weiss,<br />

dass zunächst die Butter geschmolzen<br />

und erst dann das Ei in die Pfanne<br />

gehauen wird. Dadurch erfahre ich et-<br />

was über Verhaltenscodes. Richtlinien<br />

beachten, bringt eine Form von Frei-<br />

heit, wo echte Kreativität wachsen kann.<br />

Also publiziert <strong>Elisabeth</strong> <strong>Bronfen</strong><br />

dereinst einen Küchenleitfaden?<br />

Irgendwann werde ich ein Kochbuch<br />

schreiben, das allerdings nicht nur<br />

Rezepte enthält. Einerseits soll es<br />

einen pädagogischen Imperativ haben;<br />

ich will den Leuten klar machen, wie<br />

wichtig und wunderbar das Kochen<br />

und gemeinsame Essen ist. Andererseits<br />

beabsichtige ich, Geschichten über<br />

das Essen zu erzählen anhand verschiedener<br />

Figuren aus meinem Leben. Das<br />

wird vermutlich mein Alterswerk.

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