1.130618 Lernmodul 11 - Reader - Stiftung kreuznacher diakonie
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<strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong><br />
(Fassung vom 21.01.2013)<br />
nur zur Verwendung für Schüler/innen und Lehrkräfte der<br />
Fachschule <strong>kreuznacher</strong><strong>diakonie</strong><br />
Thema<br />
Dr. phil. Dietmar Weigel<br />
Seite<br />
Stellung der Familie in der Gesellschaft 1<br />
Sorgerecht 1<br />
Vaterschaft 2<br />
Präventiver Ansatz in der Kinder- und Jugendhilfe 4<br />
Kindeswohlgefährdung und Kindesschutz 4<br />
Sexueller Missbrauch 8<br />
Erziehungshilfen <strong>11</strong><br />
Aufnahmeverfahren – Wie kommt ein Kind ins Heim 21<br />
Inobhutnahme 24<br />
Minderjährige unbegleitete Flüchtlinge 25<br />
Gestaltung von Alltagssituationen 28<br />
Der systemische Ansatz 32<br />
Biografiearbeit 39<br />
Verstärkerplan 43<br />
Kooperation Erz.hilfe und Kinder- u. Jugendpsychiatrie 45<br />
Ganztagsschule 58<br />
Erlebnispädagogik 70<br />
Erziehungsplanung 76<br />
Hilfeplan 82<br />
Aggressionen 91<br />
Jugendarbeit 96<br />
Jugendschutzgesetz 99<br />
Jugendgerichtsgesetz 99<br />
(Aufsichtspflicht ggf. Wiederholung) 99<br />
Selbstlernzeit: Aufgabe „Päd. Grundhaltung“ 100<br />
Selbstlernzeit: Aufgabe „Gruppenpädagogik“ 107<br />
Selbstlernzeit: Aufgabe „Bildungsverständnis“ <strong>11</strong>4<br />
Selbstlernzeit: Aufgabe „Wohnraum gestalten“ <strong>11</strong>9<br />
Empfohlene Literatur 124<br />
Bildungszentrum <strong>kreuznacher</strong> <strong>diakonie</strong> – Fachschulen für Sozialwesen
Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
Thema: Stellung der Familie in der Gesellschaft<br />
Quelle: Artikel 6 Grundgesetz (Ehe, Familie, nichteheliche Kinder)<br />
(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung.<br />
(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern<br />
und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die<br />
staatliche Gemeinschaft.<br />
(3) Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf<br />
Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten<br />
versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen<br />
drohen.<br />
(4) Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft.<br />
(5) Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen<br />
Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in<br />
der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern.<br />
Kompetenzen aus dem Lehrplan: „Werte anbieten, vorleben und entsprechende praktische<br />
Erfahrungen ermöglichen“. Wissen und verstehen: Die Familie als hoch angesehene,<br />
autonome, unantastbare gesellschaftliche Institution. Diskurs: Politische und rechtliche<br />
Zielsetzung einerseits - Alltagswirklichkeit andererseits.<br />
Thema: Sorgerecht<br />
Quelle: Weigel - Sorgerecht Teil 1 – Was gehört zum Sorgerecht<br />
Die Eltern haben gem. § 1626 BGB die Pflicht und das Recht für das minderjährige Kind zu<br />
sorgen. Zur elterlichen Sorge gehören die Personensorge und die Vermögenssorge (§ 1626 BGB), die<br />
Vertretung des Kindes (§ 1629 BGB), die Aufsichtspflicht und das<br />
Aufenthaltsbestimmungsrecht (§ 1631 BGB), der Herausgabeanspruch und die Bestimmung<br />
des Umgangs (§ 1632 BGB).<br />
Quelle: Weigel - Sorgerecht Teil 2 – Was ist mit „Grenzen des Sorgerechts“<br />
gemeint<br />
Das Sorgerecht erlaubt kein willkürliches Handeln! So sind beispielsweise das wachsende<br />
Bedürfnis des Kindes nach selbstständigem verantwortungsbewusstem Handeln gemäß § 1626<br />
(2) BGB, die Umgangsrechte des Kindes gemäß der §§ 1684 u. 1685 BGB und seine Eignung und<br />
Neigung bei Ausbildung und Beruf gemäß § 1631 a BGB zu berücksichtigen. Als ganz wesentlich<br />
sind das Recht des Kindes auf eine gewaltfreie Erziehung (§ 1631 BGB), das Verbot der<br />
Sterilisation bei Kindern (§ 163I c BGB) und die grundsätzliche Orientierung am Kindeswohl (§<br />
1666 BGB) anzusehen.<br />
Quelle: Weigel - Sorgerecht Teil 3 – Wer übt das Sorgerecht aus<br />
1
Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
Verheiratete Eltern üben das Sorgerecht beide gemeinsam aus. Sie vertreten das Kind<br />
gemeinschaftlich, können sich aber gegenseitig ausdrücklich oder stillschweigend zur<br />
alleinigen Vertretung bevollmächtigen (§ 1629 BGB). Eine nachträgliche Scheidung hat zunächst<br />
keinen Einfluss auf das gemeinsame Sorgerecht! Nur auf Antrag eines Elternteils verbunden mit<br />
der Zustimmung des anderen Elternteils (§ 1671 BGB) oder bei Gefährdung des<br />
Kindeswohls (§ 1666 BGB) kann das Familiengericht die elterliche Sorge ganz oder teilweise auf<br />
einen Elternteil übertragen. Jugendliche ab 14 Jahren können der Übertragung des Sorgerechts<br />
auf einen Elternteil widersprechen (§ 1671 BGB), nicht aber, wenn die Übertragung des<br />
Sorgerechts aufgrund einer Gefährdung des Kindeswohls vorgenommen werden soll. Wenn die Eltern<br />
bei der Geburt des Kindes nicht verheiratet sind, können sie die elterliche Sorge gemeinsam<br />
übernehmen, wenn sie eine gemeinsame Sorgeerklärung abgeben oder nachträglich heiraten,<br />
ansonsten steht die elterliche Sorge der Mutter zu (§ 1626 a BGB).<br />
Kompetenzen aus dem Lehrplan: „Arbeitsfeldbezogene gesetzliche Grundlagen anwenden und im<br />
pädagogischen Handeln berücksichtigen“. Wissen und verstehen: Verantwortung und Befugnisse<br />
einerseits – Grenzen andererseits. Diskurs: Politische und rechtliche Zielsetzung einerseits –<br />
Alltagswirklichkeit andererseits.<br />
Thema: Vaterschaft<br />
Quelle: Weigel – Vaterschaft, zusammenfassende Notizen<br />
Bei unverheirateten Eltern muss vor einem gemeinsamen Sorgerecht natürlich die Vaterschaft<br />
feststehen. Die Vaterschaft kann seitens des Mannes anerkannt werden (§ 1592 BGB), diese<br />
Anerkennung bedarf aber der Zustimmung der Mutter (§ 1595 BGB).<br />
Die Mutter kann also verhindern, dass eine Vaterschaftsanerkennung des biologischen Vaters<br />
rechtswirksam wird. Sie kann auf der anderen Seite ermöglichen, dass die<br />
Vaterschaftsanerkennung eines anderen Mannes, der gar nicht der biologische Vater ist,<br />
rechtswirksam wird. Wenn keine Vaterschaftsanerkennung vorliegt, kann die Vaterschaft<br />
gerichtlich festgestellt werden (§ 1600d BGB). Dies ist in der Praxis nur möglich, wenn die Mutter<br />
Angaben zur der in Frage kommenden Person macht.<br />
Quelle: Weigel – Vaterschaft, Anfechtungsberechtigte<br />
Berechtigt, die Vaterschaft anzufechten, sind der Mann, dessen Vaterschaft augenblicklich<br />
rechtswirksam ist (soweit nicht gerichtlich festgestellt), die Mutter und das Kind (§ 1600 BGB).<br />
Ein Mann, der zwar der tatsächliche Vater ist, kann die rechtswirksame Vaterschaft eines anderen<br />
Mannes nur anfechten, wenn zwischen Kind und rechtlichem Vater keine sozial familiäre<br />
Beziehung besteht und er eine eidesstattliche Erklärung abgibt, in der in Frage kommenden Zeit<br />
sexuellen Kontakt zur Mutter gehabt zu haben (§ 1600 Abs. 2 BGB).<br />
Kompetenzen aus dem Lehrplan: „Arbeitsfeldbezogene gesetzliche Grundlagen anwenden und im<br />
pädagogischen Handeln berücksichtigen“. Wissen und verstehen: Rechtliche und biologische<br />
Vaterschaft unterscheiden. Klärung der (rechtlichen) Vaterschaft als Voraussetzung für Rechte und<br />
Pflichten des betreffenden Mannes. Verfahrensvereinfachungen für die Gerichte. Diskurs:<br />
Benachteiligung von Männern, Veränderungsbedarf bei Rechtsgrundlagen, Rechtssprechungen in der<br />
EU.<br />
2
Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
Quelle: Weigel – Sorgerecht und Vaterschaft / Fallbeispiele zum Üben:<br />
Erläutern Sie, was bei den folgenden Fallbeispielen in rechtlicher Hinsicht zu bedenken ist und<br />
geben Sie die passenden Rechtsgrundlagen an.<br />
1. Die Erzieherin Fr. Meier betreut in ihrer Kindergartengruppe den 5-jährigen Max. Die Eltern von<br />
Max haben sich getrennt. Von der Mutter erfährt Fr. Meier, dass sie den Jungen auf keinen Fall dem<br />
Vater übergeben soll. Eines Tages kommt der Vater beim Kindergarten vorbei und möchte<br />
seinen Sohn abholen.<br />
2. Die 6-jährige Susi wohnt bei ihrer Oma. Die Mutter von Susi hat zwar das Sorgerecht, lebt aber<br />
in einer anderen Stadt. Die Oma meldet Susi bei der Dorfgrundschule an, obwohl sie weiß, dass<br />
die Mutter Susi lieber an der Ganztagsschule im Nachbarort unterbringen wollte.<br />
3. Die 16-jährige Monika möchte gern den Beruf der Grafikerin erlernen. Ihre Lehrer<br />
bestätigen ihr künstlerisches Talent. Monikas Vater ist jedoch dagegen. Er ist der Ansicht, dass<br />
Monika etwas „Anständiges" lernen soll, z.B. Sekretärin.<br />
4. Das Aufenthaltsbestimmungsrecht für den 9-jährigen Klaus liegt beim Jugendamt. Klaus<br />
wurde bei Pflegeeltern untergebracht, da seine Mutter mit der Erziehung ihres Sohnes überfordert<br />
war. Nach einem Jahr meldet sich die Mutter bei der Pflegefamilie und möchte ihren Sohn<br />
zurückholen, - sie habe ja schließlich noch das Sorgerecht.<br />
5. Die Eheleute Müller beschließen, sich scheiden zu lassen. Die Mutter kündigt dem Vater an, ihm<br />
das Sorgerecht für die gemeinsame 10-jährige Tochter Silvia wegzunehmen. Sie habe deshalb<br />
schon mit den Lehrern in der Schule gesprochen.<br />
6. Die Eheleute Schulz sind seit zwei Jahren geschieden. Die gemeinsame 12-jährige Tochter<br />
Beate lebt bei der Mutter, besucht ihren Vater aber alle 14 Tage. Nach dem letzten Besuch berichtet<br />
Beate, dass der Vater zu ihr ins Bett gekommen war und sie „überall angefasst“ habe.<br />
7. Fr. Kunz hat eine 8-jährige Tochter namens Simone. Der Vater, Hr. Siebert, war nie mit der<br />
Mutter verheiratet und hat auch kein Sorgerecht. Zu seiner Tochter hat er während der bisherigen<br />
Besuchstermine ein recht gutes Verhältnis aufgebaut. Fr. Kunz will jetzt die Kontakte zwischen<br />
ihrer Tochter und dem Vater beenden. Sie kann den Typ nämlich absolut nicht ausstehen.<br />
8. Die Eltern der 15-jährigen Sigrid lassen sich scheiden. Beide Eltern möchten vor Gericht das<br />
alleinige Sorgerecht beantragen. Sigrid hat gehört, dass Jugendliche in ihrem Alter entscheiden<br />
können, bei welchem Elternteil sie künftig leben wollen. Sie fühlt sich hin- und hergerissen.<br />
9. Fr. Dietrich hat vor kurzem einen Sohn zur Welt gebracht. Der Vater des Kindes, Hr. Vogt, hat<br />
sich vor kurzem von der Mutter getrennt und bestreitet, der Vater zu sein. Fr. Dietrich macht sich<br />
große Sorgen. Sie weiß nicht, wie sie allein für den Unterhalt des Kindes aufkommen soll.<br />
10. Fr. Schlosser lebt glücklich mit ihrem Mann und ihrer 16-jährigen Tochter Isabelle. Nun hat<br />
sich ihr Jugendfreund Hr. Bach gemeldet und angekündigt, dass er künftig die Vaterschaft und das<br />
Sorgerecht für Isabelle übernehmen werde. Fr. Schlosser weiß, dass Hr. Bach der biologische Vater<br />
von Isabelle ist und macht sich nun große Sorgen, dass er ihre Familie zerstören wird. Isabelle ist<br />
wegen der Behauptung von Hr. Bach sehr verunsichert. Sie möchte jetzt unbedingt herausfinden,<br />
ob Hr. Schlosser oder Hr. Bach ihr richtiger Vater ist.<br />
3
Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
Thema: Präventiver Ansatz in der Kinder- und Jugendhilfe<br />
Quelle: Weigel – Zusammenfassung zu § 16 KJHG (Allgemeine Förderung der<br />
Erziehung in der Familie)<br />
Allgemeine Förderung der Erziehung in der Familie gem. § 16 KJHG wendet sich an Väter, Mütter<br />
und andere Erziehungsberechtigte, Sie sollen dabei unterstützt werden, ihre Erziehungsverantwortung<br />
innerhalb der Familie besser wahrnehmen zu können. Schwerpunkte der Förderung sind Beratung,<br />
Familienbildung, Familienfreizeit, Familienerholung. § 16 KJHG ist im Zusammenhang mit Art. 6 GG<br />
zu sehen, denn es geht vorrangig darum, ein eigenständiges Miteinander in der Familie zu<br />
gewährleisten. Es sollen nach Möglichkeit solche Probleme verhindert werden, die Hilfemaßnahmen<br />
von außen erforderlich machen würden. Somit wird in § 16 KJHG der präventive Charakter der<br />
Jugendhilfe besonders deutlich.<br />
Kompetenzen aus dem Lehrplan Lm <strong>11</strong>: „Kinder und Jugendliche bei der Identitätsentwicklung und<br />
dem Aufbau einer sinnhaften Lebensperspektive unter Berücksichtigung von Übergängen und<br />
besonderen Lebensereignissen unterstützen“ Wissen und verstehen: Um welche Zielgruppe geht es<br />
Was ist mit dem präventiven Charakter gemeint Entwickeln Sie konkrete beispielhafte Situationen.<br />
Diskurs: Wie bekannt ist diese Rechtsgrundlage, wie häufig werden diese Angebote genutzt<br />
Thema: Kindeswohlgefährdung und Kindesschutz<br />
Quelle: Weigel – Zusammenfassung zu § 1666 BGB (Gefährdung des Kindeswohls):<br />
Wird das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes durch missbräuchliche Ausübung der<br />
elterlichen Sorge gefährdet, so ist zunächst zu überprüfen, ob die Eltern in der Lage sind,<br />
geeignete Hilfen anzunehmen. Ist dies nicht der Fall, hat das Familiengericht geeignete Maßnahmen<br />
zur Abwendung der Gefahr zu treffen (§ 1666 BGB).<br />
Quelle: Kohaupt, Georg: „Was Sie über den neuen gesetzlichen Schutzauftrag<br />
wissen müssen“, in: Kindergarten heute, 1/06<br />
Paul hat blaue Flecken; Yvonne erzählt ihrer Freundin, wie der Vater die Mutter schlägt. Jennifer wirkt<br />
bedrückt und ihre Mutter ist oft ablehnend zu ihr. Bei Thomas hat man den Eindruck, er kriegt zu Hause<br />
nichts „Richtiges" zu essen... Kinder werden geschlagen, vernachlässigt, missbraucht. Im Kindergarten<br />
bekommt man vieles mit, manches ahnt man, manches will man vielleicht auch gar nicht wahrhaben. Das Leid<br />
der Kinder macht uns Druck, es soll sofort etwas passieren. Mit den Eltern geraten wir in eine schwierige und<br />
widersprüchliche Situation. Was soll ich tun Was darf ich tun Was muss ich tun Die Sorge um das Kind, das<br />
Erziehungsrecht der Eltern und der oft schwierige Kontakt zu den Eltern bilden ein spannungsreiches Dreieck.<br />
Sich darin zum Wohle des Kindes angemessen zu verhalten, ist nicht leicht.<br />
Seit Oktober 2005 ist das „Gesetz zur Weiterentwicklung der Kinder-und Jugendhilfe" in Kraft. Dem KJHG<br />
wurde ein neuer Paragraf hinzugefügt, der den Schutzauftrag regelt:<br />
§ 8a: Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung<br />
(1) Werden dem Jugendamt gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder<br />
Jugendlichen bekannt, so hat es das Gefährdungsrisiko im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte abzuschätzen.<br />
Dabei sind die Personensorgeberechtigten sowie das Kind oder der Jugendliche einzubeziehen, soweit hierdurch<br />
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Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
der wirksame Schutz des Kindes oder des Jugendlichen nicht in Frage gestellt wird. Hält das Jugendamt zur<br />
Abwendung der Gefährdung die Gewährung von Hilfen für geeignet und notwendig, so hat es diese den<br />
Personensorge-berechtigten oder den Erziehungsberechtigten anzubieten.<br />
(2) In Vereinbarungen mit den Trägern und Einrichtungen, die Leistungen nach diesem Buch erbringen, ist<br />
sicherzustellen, dass deren Fachkräfte den Schutzauftrag nach Absatz l in entsprechender Weise wahrnehmen<br />
und bei der Abschätzung des Gefährdungsrisikos eine insoweit erfahrene Fachkraft hinzuziehen. Insbesondere<br />
ist die Verpflichtung aufzunehmen, dass die Fachkräfte bei den Personensorgeberechtigten auf die Inanspruchnahme<br />
von Hilfen hinwirken, wenn sie diese für erforderlich halten und das Jugendamt informieren, falls die<br />
angenommenen Hilfen nicht ausreichend erscheinen, um die Gefährdung abzuwenden.<br />
Zu den Einrichtungen, die Leistungen nach KJHG erbringen, gehören auch Kindertagesstätten, d. h. auch diese<br />
sind beauftragt, den Schutzauftrag wahrzunehmen. Der Wortlaut des Gesetzes besagt also Folgendes:<br />
a. Die Erzieherin bzw. KiTa (oder der Träger) muss mit dem Jugendamt eine Vereinbarung treffen, wie sie den<br />
Schutzauftrag gestalten will.<br />
b. Sie sollte wissen, was gewichtige Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung sind, und sie im Kontakt<br />
zum Kind und/oder den Eltern wahrnehmen.<br />
c. Sie soll zusammen mit einer kinderschutzerfahrenen Fachkraft die Einschätzung einer möglichen Gefährdung<br />
vornehmen.<br />
d. Sie soll (unterstützt durch diese Fachkraft) die Eltern dazu bewegen, Hilfsangebote in Anspruch zu nehmen,<br />
die geeignet sind, die Gefährdungssituation zu beenden.<br />
e. Sofern die Eltern auf diese Hilfsangebote nicht eingehen oder die Hilfen die Situation nicht bessern, soll sie<br />
das Jugendamt informieren.<br />
Das Gesetz stärkt die Verantwortung der KiTa für das Wohl der Kinder und zeichnet zugleich den Weg, diese<br />
Verantwortung möglichst im Kontakt zu den Eltern wahrzunehmen. Aber das Gesetz konfrontiert die<br />
Erzieherinnen auch mit einer Fülle von Begriffen und Aufgaben, die ihnen zunächst fremd sind:<br />
l. „Einschätzung der Kindeswohlgefährdung": Die Jugendämter haben eine ganze Reihe von Definitionen,<br />
Fragebögen und Handlungsanweisungen entwickelt, damit diese Einschätzung verantwortungsvoll<br />
vorgenommen wird. Im Kern geht es dabei<br />
• um eine mögliche Schädigung der Kinder, insbesondere durch alle Formen der Gewalt (Misshandlung,<br />
Vernachlässigung und sexuelle Gewalt),<br />
• um die positiven Kräfte und die verlässlichen Bindungen in der Familie, die das Kind halten und fördern, und<br />
• um die Bereitschaft der Eltern, die Not ihres Kindes wahrzunehmen und etwas zu verändern.<br />
Erzieherinnen haben eine andere Ausbildung und einen anderen Auftrag als die Sozialarbeiterinnen in den<br />
Jugendämtern. Sie bekommen andere Informationen und Eindrücke vom Kind und von der Familie. Sie haben<br />
eine andere Stellung gegenüber den Eltern (gemeinsam erziehen zum Wohle des Kindes) und sollen nicht aktiv<br />
Informationen über die Familie einholen. Oftmals sind sie für ein konfrontierendes und zugleich hilfreiches<br />
Gespräch mit den betreffenden Eltern nicht gut ausgebildet. Insofern brauchen sie ein auf ihre Situation<br />
zugeschnittenes Instrumentarium zur Einschätzung von Kindeswohlgefährdung: Welches Verhalten, welche<br />
Symptome von Kindern sind Besorgnis erregend Wie sind Aussagen und Hinweise von Kindern zu bewerten<br />
Wie aussagekräftig sind Beobachtungen, die die Erzieherin über die Beziehung zwischen Eltern und Kind<br />
macht Wie ist sie mit den Eltern über die Erziehung des Kindes im Gespräch Wie sehen die Eltern ihr Kind<br />
2. „Auf Hilfen hinwirken": Eltern, die ihre Kinder massiv schädigen, haben meist selbst das Gefühl, dass<br />
etwas nicht stimmt. Manchmal sind sie verzweifelt über ihr eigenes Verhalten oder über ihre negativen Gefühle<br />
gegenüber dem Kind. Zwar möchten sie durchaus etwas an ihrem Fehlverhalten ändern, haben aber zugleich<br />
Angst, sich dem zu stellen und etwa darauf angesprochen zu werden. Oft sind sie isoliert und leiden unter den<br />
kritischen Blicken ihrer Umwelt (und manchmal der Erzieherinnen). Erzieherinnen, die mit solchen Eltern zu<br />
tun haben, empfinden einerseits Mitleid mit dem geschädigten Kind und andererseits Wut auf<br />
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Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
diejenigen, die dem Kind dies ganz offensichtlich angetan haben und so schwierig im Umgang sind.<br />
„Auf Hilfen hinwirken" ist unter diesen Voraussetzungen so notwendig wie heikel. Gegenüber den Eltern<br />
sowohl konfrontierend wie mitfühlend zu agieren, trotz Misstrauen und Angst in Kontakt zu kommen<br />
und mit den eigenen Gefühlen angemessen umzugehen, ist fachlich eine große Herausforderung. An<br />
diesem Punkt geraten nicht nur Erzieherinnen, sondern häufig auch Kinderschützer in eine Sackgasse.<br />
3. „Hinzuziehen einer insoweit erfahrenen Fachkraft": Im Wissen darum, dass Erzieherinnen keine<br />
ausgebildeten Kinderschützer sind, hat der Gesetzgeber ihnen eine Fachkraft an die Seite gestellt. Ob<br />
diese vom Jugendamt kommt, ein „freier" Experte ist, beim jeweiligen Träger als „KiTa-Berater"<br />
angestellt ist oder ob ein Kooperationsvertrag beispielsweise mit einem Kinderschutz-Zentrum<br />
geschlossen wird, lässt er jedoch offen. Diese Fachkraft sollte<br />
• mit der KiTa zunächst anonym über mögliche Fälle von Gefährdung sprechen und sie beraten,<br />
• klären, wer ein Gespräch mit den Eltern führen kann, und dieses vorbereiten,<br />
• ggf. selbst an diesem Gespräch teilnehmen, wenn dies fachlich geboten erscheint,<br />
• das Elterngespräch auswerten helfen: Geht es in die richtige Richtung Müssen weitere Gespräche<br />
stattfinden Oder muss das Jugendamt verständigt werden<br />
• wissen: Was darf, was muss dem Jugendamt gemeldet werden<br />
Es wird deutlich, dass die Aufgabe der „insoweit erfahrenen Fachkraft" eine zeitintensive Begleitung von<br />
Prozessen umfasst und deshalb auch nicht nebenbei von KiTa-Beratern oder Mitarbeitern aus der<br />
Jugendhilfe zu leisten ist. Diese Fachkraft soll helfen, Erzieherinnen in der Wahrnehmung gefährdender<br />
Beziehungen zu qualifizieren, und sie befähigen, Brücken zur Hilfe zu bauen. Dies verantwortungsvoll<br />
zu leisten, bedeutet eine große Chance für den Schutz vor allem von Kindern, die sich nicht selbst Hilfe<br />
holen können.<br />
Wege, den neuen Schutzauftrag mit den Eltern zu kommunizieren<br />
Der Schutzauftrag bildet eine Grenze der vertraulichen Zusammenarbeit mit den Eltern. Diese zu benennen<br />
und den Umgang dadurch transparent zu machen, ist absolut notwendig. Zwei Prinzipien können<br />
dabei hilfreich sein:<br />
l. Die Eltern sollen wissen, dass nichts hinter ihrem Rücken unternommen wird. Die Erzieherin spricht<br />
mit ihnen über ihre Sorge und interessiert sich für ihre Sicht der Dinge. Wenn hinsichtlich des Problems<br />
keine Einigung zustande kommt, macht sie ihr weiteres Vorgehen transparent und informiert das<br />
Jugendamt.<br />
2. Die Fachkraft gehört nicht zum Jugendamt. Diese Tatsache nimmt den betreffenden Eltern die Angst,<br />
dass das Jugendamt in der KiTa „drinsitzt" und erleichtert zugleich den Versuch, das Problem gemeinsam<br />
mit ihnen zu lösen. Anknüpfungspunkt für eine Information über den Schutzauftrag könnten das<br />
Aufnahmegespräch oder ein Elternabend sein.<br />
Pädagogische Fachkräfte in Kindertagesstätten benötigen zum Thema Schutzauftrag eine Qualifizierung<br />
(Fortbildungen, Handreichungen) unter folgenden Aspekten:<br />
• Was sind Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung<br />
• Wie lässt sich eine Kindeswohlgefährdung einschätzen<br />
• Wie kann im Konfliktfall das Gespräch mit den Eltern aussehen<br />
Kindertagesstätten brauchen eine Fachkraft an ihrer Seite,<br />
• die in Fragen des Kinderschutzes erfahren ist,<br />
• die das Arbeitsfeld KiTa kennt,<br />
• die möglichst nicht zum Jugendamt gehört.<br />
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Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
Kindertagesstätten müssen eine Vereinbarung schließen,<br />
• wie sie den Schutzauftrag gestalten wollen,<br />
• wie der zusätzliche Arbeitsaufwand finanziert wird.<br />
Wenn Erzieherinnen die Herausforderung des neuen gesetzlichen Schutzauftrags ernst nehmen, bedeutet<br />
das auch eine adäquate qualitative und quantitative Ausgestaltung. Ihn dagegen nur als gesetzliche Bürde<br />
zur Kenntnis zu nehmen, erhöht die Angst und den Druck. Beides sind schlechte Ratgeber, wenn es<br />
darum geht, Hilfen für von Gewalt betroffene Kinder und ihre Familien auf den Weg zu bringen.<br />
Stattdessen helfen ein geschulter Blick und eine gelassene Haltung im Kontakt mit den betreffenden<br />
Eltern.<br />
(Georg Kohaupt gehört dem Vorstand des Dachverbands „Die Kinderschutz-Zentren" an und arbeitet als<br />
Familienberater, Supervisor und Fortbildner von Erzieherinnen in Kinderschutzfragen.)<br />
Quelle: Weigel – Zusammengefasster Verfahrensablauf nach § 8a KJHG<br />
(gesetzlicher Schutzauftrag):<br />
1. Im Team ist vorab zu klären, welche erfahrene Fachkraft in<br />
Kinderschutzfragen von außen hinzugezogen werden kann.<br />
2. Gegebenenfalls kann auch eine Mitarbeiterin im Team durch<br />
entsprechende Fort- und Weiterbildung diese Funktion übernehmen.<br />
3. Gemeinsam mit der Fachkraft sind Absprachen und Vereinbarungen zu<br />
treffen, wie eine Zusammenarbeit im Bedarfsfall von statten gehen soll.<br />
4. Im Bedarfsfall wird die Fachkraft kontaktiert. Sie berät die<br />
Erzieherinnen bei ihrer Arbeit mit dem Kind und der Familie und wirkt<br />
u.U. auch bei Elterngesprächen mit.<br />
5. Es erfolgt eine Überprüfung, ob die Eltern die angebotenen Hilfen<br />
annehmen können.<br />
6. Falls die Situation unverändert bleibt, wird das Jugendamt über die<br />
Situation informiert.<br />
Kompetenzen aus dem Lehrplan: „Risikofaktoren und Hinweise auf Störungen frühzeitig erkennen<br />
und geeignete Maßnahmen einleiten“ / „Maßnahmen zur Bewältigung von Krisen kennen und<br />
einsetzen“. Wissen und verstehen: Rolle und Verantwortung des Familiengerichts. Rolle und<br />
Verantwortung der ErzieherInnen in soz.päd. Einrichtungen. Diskurs: Eigene emotionale<br />
Betroffenheit, Anforderungen an die Persönlichkeit der ErzieherIn, Berufsethos.<br />
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Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
Thema: Sexueller Missbrauch<br />
Quelle: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: „Begleitbuch<br />
zum Medienverbundprogramm „Sexueller Kindesmissbrauch – Vorbeugen und Helfen“,<br />
Berlin, 2002, S. 25 ff<br />
„So kommt es zum Missbrauch" -Vergleichende Fallanalyse<br />
Lesen Sie bitte die folgenden Szenarien und entscheiden Sie danach, welches Szenario ihren<br />
Vorstellungen am nächsten kommt. Wenn Sie sich mit keinem der vier Szenarien identifizieren<br />
können, sollten Sie selbst ein Szenario entwerfen. Anschließend Plenumsdiskussion, in der alle ihre<br />
Entscheidungen begründend vertreten.<br />
Szenario 1<br />
Täter sind in der Regel Triebverbrecher, die kleinen Mädchen auflauern. Häufig wird erst durch das<br />
kokette Verhalten kleiner Lolitas das krankhafte Verhalten dieser Männer aktiviert.<br />
Szenario 2<br />
Täter ist der strenge, aber sympathische Vater/Stiefvater in einer nach außen intakt erscheinenden<br />
Familie. Er ist beruflich erfolgreich, kümmert sich fürsorglich um die Familie und liebt seine Kinder.<br />
Er hat keine Hemmungen, mit seiner Tochter zu schlafen, seitdem er mit seiner Frau wenig Spaß am<br />
Sex hat. Im Gegenteil: Durch die sexuelle Beziehung glaubt er, seine lustvollen Erfahrungen an seine<br />
Tochter weitergeben zu können.<br />
Szenario 3<br />
Täter sind häufig Verwandte/Bekannte, die seelische und sexuelle Probleme haben. Sie sind<br />
Leidtragende einer allzu strengen Erziehung und meist selbst als Kind sexuell missbraucht worden.<br />
Als Ehemann fühlen sie sich sexuell überfordert. Deshalb suchen sie im Kind einen problemlosen<br />
Ersatz für ihre sexuellen Bedürfnisse.<br />
Szenario 4<br />
Täter sind vor allem Väter, die in zerrütteten sozialen Verhältnissen leben. Sie sind arbeitslos,<br />
alkoholabhängig. Die Mutter versucht die Familie finanziell über Wasser zu halten. Der Mann<br />
schlägt seine Frau; beide misshandeln ihre Kinder. Die Frau wirft den Mann raus, holt sich einen<br />
Freund. Der verprügelt die Kinder erst recht und missbraucht sie obendrein sexuell.<br />
Auf den Punkt gebracht<br />
Sexueller Kindesmissbrauch ist kein Kavaliersdelikt, sondern eine strafbare Handlung, in schweren<br />
Fällen ein Verbrechen.<br />
Bis in die 70er Jahre hinein wurde dieses Delikt von der Öffentlichkeit weitgehend nicht zur<br />
Kenntnis genommen. Dass sich dies seitdem grundlegend geändert hat, ist vor allem ein Verdienst<br />
der Frauenbewegung.<br />
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Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
Inzwischen werden allein in der Bundesrepublik jährlich etwa 16.000 Fälle von<br />
Kindesmissbrauch angezeigt. Nach Einschätzung des Bundeskriminalamts ist die Dunkelziffer<br />
15mal so groß.<br />
Die Anzahl der angezeigten Delikte ist im ersten Halbjahr 1997 im Vergleich zum gleichen Zeitraum<br />
1996 um rund <strong>11</strong> % angestiegen.<br />
Soweit bekannt, sind zwei Drittel der missbrauchten Kinder Mädchen, ein Drittel Jungen.<br />
Soweit bekannt, sind von den Tätern etwa 90 % Männer und 10 % Frauen.<br />
Soweit bekannt, sind nur 30 % sog. Fremdtäter.<br />
Die überwiegende Mehrheit der Täter/innen kommt aus dem sozialen Nahbereich der Kinder<br />
(Verwandte, Bekannte, Vertrauenspersonen).<br />
Sexueller Missbrauch ist alles, was das sexuelle Selbstbestimmungsrecht des Kindes verletzt. Das<br />
beginnt u. a. bei sexualisierten Liebkosungen und verbalen Anzüglichkeiten und endet bei genitalem,<br />
oralem oder analem Geschlechtsverkehr. Der Übergang von vertrauter Zärtlichkeit zu sexuellem<br />
Missbrauch wird durch die Absicht des Erwachsenen bestimmt, der das Kind als Objekt zu seiner<br />
eigenen sexuellen Befriedigung berührt oder benutzt.<br />
In jedem Fall von sexuellem Missbrauch trägt der Erwachsene die Alleinschuld.<br />
Sexueller Kindesmissbrauch ist „Seelenmord". Er führt zu Verwirrung, zu Ängsten und<br />
Selbstvorwürfen und sehr oft zu schweren traumatischen Folgeleiden. Er schwächt das<br />
Selbstwertgefühl des Kindes und treibt es in die soziale Isolation.<br />
Die meisten Täter zeigen keine Einsicht in das Unrecht ihres Handelns und wollen nicht wissen,<br />
was sie dem Kind antun. Sie wollen sich keine Vorstellung von den verheerenden inneren Verletzungen<br />
machen, die häufig erst als Spätfolgen sichtbar werden.<br />
Signale wahrnehmen<br />
Signale wahrnehmen kann nur, wer genau weiß, was damit gemeint<br />
ist.<br />
Im Zusammenhang mit sexuellem Kindesmissbrauch ist vor allem<br />
auf dreierlei Arten von Signalen zu achten:<br />
1. Signale können als verschlüsselte Hilferufe durch Mimik, Gesten<br />
und Worte des Kindes vermittelt werden: Je größer die Angst des Kindes ist, ein „Geheimnis" zu<br />
verraten, um so zögerlicher, verschwommener, ja widersprüchlicher werden seine Botschaften<br />
sein. Schuld- und Schamgefühle tragen außerdem dazu bei, dass das Kind erhebliche Hemmungen<br />
hat, sich jemandem anzuvertrauen. Nichts wäre schlimmer, als das Kind wegen seiner scheinbar<br />
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Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
konfusen Äußerungen zur Rede zu stellen oder seine Signale nicht ernst zu nehmen. Das würde seine<br />
ohnehin schon ausweglose Situation noch weiter belasten.<br />
2. Signale zeigen sich auch in Widerstandsformen, durch die sich das Kind seinem Übeltäter zu<br />
entziehen versucht, indem es ihm z. B. aus dem Wege geht oder alles tut, um nicht mit ihm allein<br />
zu sein.<br />
3. Signale lassen sich schließlich auch in Spuren von psychischen und körperlichen Schädigungen<br />
erkennen, wie z. B. bei Hautverletzungen, Geschlechtskrankheiten, psychosomatischen<br />
Störungen, unkontrollierten Gefühlsreaktionen, gegen sich selbst gerichteten Aggressionen,<br />
unangepasstem sozialem und sexuellem Verhalten.<br />
Die übereinstimmende Botschaft dieser Signale ist, dass sich das Kind in Not befindet und Hilfe<br />
braucht. Nur sehr wenige Signale weisen mit großer Wahrscheinlichkeit direkt auf sexuellen<br />
Missbrauch hin. Dazu gehören z. B. altersunangemessene Kenntnisse von Sexualpraktiken und<br />
sexualisiertes Verhalten gegenüber anderen.<br />
Es ist dringend davon abzuraten, direkt das Kind zu befragen. Wohl aber sollte man sich bemühen,<br />
Kontakt zu Personen aufzunehmen, die möglicherweise selbst auf versteckte Hilferufe des Kindes<br />
aufmerksam geworden sind oder Erfahrung mit der Einschätzung solcher Signale haben.<br />
Angemessener Umgang<br />
Eine wesentliche Voraussetzung für den angemessenen Umgang mit Signalen ist engagierte<br />
Sachlichkeit.<br />
Dazu gehört die verantwortungsbewusste Entschiedenheit, dem Kind helfen zu wollen, wie auch die<br />
nötige Besonnenheit, Signale des Kindes unvoreingenommen wahrzunehmen.<br />
Alles, was irgendwie auf eine Notsituation des Kindes hindeutet, sollte ernst genommen werden,<br />
ohne deswegen diese Signale gleich einem bestimmten Gewaltdelikt zuzuordnen.<br />
Anstatt darüber zu spekulieren, was das Kind wohl mit seinen Andeutungen meinen mag, sollten<br />
seine Äußerungen möglichst wortwörtlich protokolliert werden, auch wenn sie vielleicht lückenhaft<br />
und widersprüchlich erscheinen und zunächst keinen Sinn ergeben.<br />
Auf keinen Fall sollte das Kind wegen seiner scheinbar konfusen Äußerungen zur Rede gestellt oder<br />
seine unbeholfenen Signale ignoriert werden. Das würde einer zusätzlichen Verletzung des Kindes<br />
gleichkommen und seine ohnehin schon schwierige Lage noch weiter erschweren.<br />
Die Weigerung des Kindes, etwas über seine Not preiszugeben, darf nicht als stillschweigende<br />
Einwilligung missverstanden werden. Unter bestimmten Bedingungen kann sich das Kind<br />
gleichsam zum Stillschweigen verurteilt fühlen. Damit ist in der Regel zu rechnen, wenn das Kind<br />
mit einem Erwachsenen ein Geheimnis teilt, das es niemand verraten darf.<br />
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Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
Ist ein Kind bereit, über seine Not zu sprechen, sollte ihm in jedem Fall Vertrauen entgegengebracht<br />
werden, selbst wenn an den Äußerungen des Kindes etwas unwahrscheinlich oder gar unglaubwürdig<br />
erscheint. Kinder haben zwar viel Phantasie: Ein sexueller Missbrauch übersteigt aber ihre<br />
Einbildungskraft, weil eine auf Befriedigung gerichtete Sexualität ihnen fremd ist.<br />
Helfer/innen sollten sich zwischendurch daraufhin kontrollieren, ob sie für ihre Erkundungen<br />
noch die nötige Offenheit und Gelassenheit haben.<br />
Bevor Sie als Helfer/in zu einer Einschätzung kommen, ist es ratsam, auch mit anderen Helfer/innen<br />
Kontakt aufzunehmen, die das Kind persönlich kennen.<br />
Kompetenzen aus dem Lehrplan: „Risikofaktoren und Hinweise auf Störungen frühzeitig erkennen und<br />
geeignete Maßnahmen einleiten“ / „Maßnahmen zur Bewältigung von Krisen kennen und einsetzen“. Wissen<br />
und verstehen: Eigene Abwehrmechanismen in der Wahrnehmung erkennen und überwinden. Vorsichtige,<br />
differenzierte aber auch konsequente Auseinandersetzung. Diskurs: Gesellschaftliche Aktualität, Berufsethos.<br />
Thema: Erziehungshilfen<br />
Quelle: Weigel – Zusammenfassung zu § 27 KJHG (Hilfe zur Erziehung)<br />
Sorgeberechtigte haben gemäß § 27 KJHG Anspruch auf Hilfe zur Erziehung, wenn Gefahr für das<br />
Kindeswohl besteht. Anders als beim präventiven Charakter des § 16 KJHG (Förderung der<br />
Erziehung in der Familie) handelt es sich bei den Erziehungshilfen also um Leistungen, die sich auf<br />
bereits eingetretene Problemsituationen beziehen. Die Sorgeberechtigten können nach Antragstellung<br />
entsprechende Hilfen erhalten. Die gängigsten Erziehungshilfen sind in den §§ 28-35 KJHG<br />
aufgelistet, es handelt sich aber dabei nicht um eine abschließende Aufzählung. Eine Erziehungshilfe<br />
ist individuell auf den Einzelfall abzustimmen.<br />
Quelle: Günder, Richard: „Erziehungshilfen, Wissenswertes für Eltern“,<br />
Freiburg, 2000:<br />
1. Erziehungsberatung<br />
Grundsätzliches zur Erziehungsberatung<br />
Erziehungsberatungsstellen stehen für Alle offen, die Fragen oder Probleme in den Bereichen<br />
Erziehung und/oder Lebensführung haben. Die Inanspruchnahme der Erziehungsberatung ist<br />
kostenlos. Termine mit Erziehungsberatungsstellen können unbürokratisch vereinbart werden.<br />
Telefonnummern von Beratungsstellen lassen sich über die Stadt- oder Gemeindeverwaltung, über<br />
kirchliche Organisationen oder über die Jugendämter in Erfahrung bringen. Wenn umfangreiche<br />
Beratungen notwendig werden, muss nach der Erstberatung manchmal mit Wartezeiten gerechnet<br />
werden. Die Ratsuchenden können selbst entscheiden, ob sie die Hilfe annehmen wollen und<br />
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Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
welche Form die Hilfe haben wird. Alle Informationen der Ratsuchenden werden absolut<br />
vertraulich behandelt und nicht unbefugt an Dritte weitergegeben.<br />
Welche Probleme werden vor allem in den Erziehungsberatungsstellen angesprochen<br />
In allen Familien mit Kindern ist es normal, dass hin und wieder Erziehungsprobleme auftauchen.<br />
Zumeist ist es möglich, solche Probleme innerhalb der Familie zu lösen. Manchmal wissen die<br />
Eltern aber nicht weiter, vielleicht handelt es sich um immer wiederkehrende Konflikte oder eine<br />
bereits problematische Situation spitzt sich zu. Dann sind es in der Mehrzahl aller Fälle Mütter,<br />
die sich in Erziehungsfragen an Beratungsstellen wenden. Überdurchschnittlich oft nehmen allein<br />
Erziehende die Leistungen der Erziehungsberatung in Anspruch. Allein Erziehende haben auch<br />
eher materielle Sorgen und Nöte. Der häufigste Beratungsgrund sind Beziehungsprobleme der<br />
Kindern und innerhalb der Familie. Es folgen Entwicklungsauffälligkeiten von Kindern und<br />
Jugendlichen, so zum Beispiel Verhaltensstörungen wie ständige große Ängste, heftige<br />
Aggressionen, Überaktivitäten oder Pubertätsprobleme. Oftmals werden Beratungsstellen auch<br />
wegen Schwierigkeiten in der Schule oder in der Ausbildung aufgesucht. Weiterhin wenden sich<br />
viele Eltern in Trennungs- und Scheidungssituationen an Beratungsstellen, denn erfahrungsgemäß<br />
leiden oftmals insbesondere die Kinder unter solchen Situationen und es treten dann häufig Erziehungsfragen<br />
und Erziehungsprobleme auf.<br />
Wer arbeitet in den Erziehungsberatungsstellen<br />
Weil die Erziehungsfragen und -probleme höchst unterschiedlich sind, arbeitet in der<br />
Erziehungsberatung immer ein Team von Fachleuten verschiedener Fachrichtungen. Sie werden<br />
dort beispielsweise Psychologinnen, Heilpädagoglnnen, Sozialpädagoglnnen,<br />
SozialarbeiterInnen und manchmal auch ÄrztInnen vorfinden. Die Fachkraft, die für das jeweilige<br />
Problem am besten geeignet ist, wird sich mit dem konkreten Fall beschäftigen.<br />
Die Diagnose<br />
Um genauer abzuklären worum es sich bei einem Konflikt oder bei Erziehungsfragen und -<br />
problemen handelt, ist zunächst eine Diagnose wichtig. Die Fachkraft in der<br />
Erziehungsberatungsstelle muss sich ein klares Bild verschaffen. Zunächst wird es daher<br />
erforderlich sein, dass Gespräche mit den Ratsuchenden geführt werden, um Informationen über das<br />
Ausmaß und über die Hintergründe des Problems zu erhalten. Zuweilen werden Kinder auch beim<br />
Spielen beobachtet oder es werden psychologische Tests durchgeführt. So kann die Persönlichkeit<br />
eines Kindes oder Jugendlichen besser und vor allem objektiver erfasst werden.<br />
Die Beratung<br />
Die eigentliche Beratung hat dann das Ziel, den Ratsuchenden neue Informationen zu vermitteln.<br />
Durch die gemeinsamen Gespräche wird es möglich, eigene Lebenssituationen neu zu bewerten<br />
und es kann zusammen nach Lösungsmöglichkeiten gesucht werden. In der Beratung wird darauf<br />
geachtet, dass die Ratsuchenden zu eigenen Entscheidungen gelangen, also das Heft selbst in der<br />
Hand behalten. In vielen Fällen sind Eltern, Kinder und Jugendliehe dann schon in der Lage, die<br />
anstehenden Schwierigkeiten selbständig anzugehen und zu lösen. In anderen Fällen schließt sich<br />
der Beratung noch eine Therapie oder heilpädagogische Behandlung an.<br />
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Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
2. Soziale Gruppenarbeit<br />
Was geschieht in der Sozialen Gruppenarbeit<br />
In der Sozialen Gruppenarbeit treffen sich die beteiligten Kinder und Jugendlichen mehrmals pro<br />
Woche in kleinen, von Fachkräften geleiteten Gruppen. Hier verbringen sie aber nicht nur ihre<br />
Freizeit, sondern es ist die Zielsetzung, dass ein Gefühl der Gruppenzusammengehörigkeit<br />
entsteht und die einzelnen Gruppenmitglieder voneinander lernen. Durch gemeinsame Spiele,<br />
Abenteuer, Sport und durch längerfristige Projekte können neue soziale Erfahrungen gewonnen<br />
werden. Gerade benachteiligte junge Menschen haben die Möglichkeit hiervon zu profitieren. Sie<br />
erleben, welche Verhaltensweisen von der Gruppe akzeptiert werden, dass das Reagieren mit<br />
Auflehnung, Aggressionen oder das Übertreten von Regeln nicht weiterhilft. Das Gefühl, in der<br />
Gruppe und von den Fachkräften angenommen und verstanden zu werden, stärkt schließlich das<br />
Selbstvertrauen.<br />
Oftmals wird die Soziale Gruppenarbeit verbunden mit erlebnispädagogischen Projekten. Denkbar<br />
sind beispielsweise:<br />
• intensive Naturerfahrungen beim Anlegen eines Gartens oder eines Biotops,<br />
• neue Lebenswelten durch den intensiven Umgang mit Tieren und ihre<br />
Pflege zu erschließen,<br />
• Mitarbeit der Gruppe auf einem Bauernhof , der nach ökologischen Prinzipien, also im Einklang<br />
mit der Natur, wirtschaftet.<br />
Außerdem können kurz- bis längerfristige Reiseprojekte realisierbar sein, so zum Beispiel<br />
sozialpädagogische Segelschifffahrten, Work- und Aufbaucamps in anderen Ländern oder Fahrten<br />
in Regionen abseits vom Massentourismus, wie beispielsweise Aufenthalte der Gruppe in einsamen<br />
Berghütten. Erlebnispädagogische Gruppenprojekte betonen und befriedigen jugendliche<br />
Abenteuerlust. Sie bieten zugleich Wege, Erlebnisfähigkeit wieder herzustellen oder erstmals zu<br />
lernen. Die Beziehungen innerhalb der Gruppe erhalten einen neuen Stellenwert, weil nur eine gut<br />
funktionierende Gruppe ein Ziel gemeinsam erreichen kann.<br />
Wie lange nimmt man an Sozialer Gruppenarbeit teil<br />
Die Erziehungshilfe Soziale Gruppenarbeit wird durchschnittlich für knapp : ein Jahr gewährt, bei<br />
etwa vier Stunden pro Woche und kann durch zwei- :. bis dreiwöchige Gruppenfahrten während<br />
der Ferienzeiten ergänzt werden.<br />
3. Erziehungsbeistand, Betreuungshelfer<br />
Wie arbeiten Erziehungsbeistände<br />
Erziehungsbeistände sind überwiegend SozialarbeiterInnen oder Sozialpädagoglnnen. Da in der<br />
Regel Konflikte mit dem Elternhaus vorliegen, erhält das Kind oder der Jugendliche einen<br />
„neutralen" Ansprechpartner. Es steht also eine verlässliche erwachsene Bezugsperson außerhalb<br />
der eigenen Familie zur Verfügung. Die Fachkraft bietet pädagogische beziehungsweise<br />
sozialarbeiterische Hilfe bei Problemen in der Entwicklung junger Menschen an, die diese alleine<br />
oder innerhalb ihrer Familie nicht befriedigend lösen können. Der Allgemeine Soziale Dienst des<br />
Jugendamtes klärt gemeinsam mit den Eltern und Kindern, ob die Hilfeform notwendig ist und<br />
vermittelt die Fachkräfte der Erziehungsbeistandschaft. Erziehungsbeistand und das Kind oder der<br />
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Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
Jugendliche vereinbaren regelmäßige Gesprächstermine, die aber überwiegend nicht im Elternhaus<br />
stattfinden werden. Hierbei wird über die aktuellen Problembereiche mit den Eltern, in der Schule<br />
oder in der Ausbildung gesprochen und es werden gemeinsam Lösungsmöglichkeiten erarbeitet.<br />
Außerdem werden vielfältige Freizeitaktivitäten geplant und durchgeführt, die auch in Gruppen<br />
stattfinden können.<br />
Die Erziehungsbeistandschaft orientiert sich an der Lebenswirklichkeit der jungen Menschen.<br />
Daher wird auch die Familie in die Gespräche und Aktivitäten mit einbezogen, damit Konflikte<br />
zukünftig besser gelöst oder sogar vermieden werden können.<br />
Ziel der Erziehungsbeistandschaft ist es, dass die jungen Menschen positivere<br />
Handlungsmöglichkeiten erlernen und sich ihre Lebensbedingungen verbessern. Damit wirkt diese<br />
Erziehungshilfe zugleich vorbeugend. Gefördert wird vor allem die zunehmende<br />
Verselbständigung von Jugendlichen.<br />
Wie lange dauert die Erziehungsbeistandschaft<br />
Die Erziehungsbeistandschaft ist keine kurzfristig angelegte Erziehungshilfe. Die durchschnittliche<br />
Dauer der Hilfegewährung liegt bei knapp zwei Jahren.<br />
4. Sozialpädagogische Familienhilfe<br />
Wie ist die Sozialpädagogische Familienhilfe organisiert<br />
Wie sieht die Arbeit der Sozialpädagogischen Familienhilfe konkret aus<br />
Die betroffenen Familien sollten die Bereitschaft zeigen, sich in Konfliktsituationen beraten zu lassen<br />
und Hilfe anzunehmen. Eine solche beratende Hilfestellung und Begleitung wird vor allem bei<br />
folgenden Schwierigkeiten und Problemen notwendig:<br />
• in Erziehungsfragen, beispielsweise zum Auffangen von Entwicklungsstörungen der Kinder und<br />
Jugendlichen, zu Veränderungen bei auffälligen Verhaltensweisen und zur Lösung von Krisen<br />
zwischen Eltern und Kindern;<br />
• in Kindergarten und Schule, zur Förderung von Kontakten zwischen Eltern und den Institutionen,<br />
zur besseren Eingliederung der Kinder und zur Verbesserung der Motivation;<br />
• in Ehe und Partnerschaft, zum Beispiel durch regelmäßige Paargespräche, damit Konflikte<br />
vermieden beziehungsweise besser gelöst werden können;<br />
• im wirtschaftlichen und im finanziellen Bereich, um beispielsweise Kindergeld-, Wohngeld- und<br />
Sozialhilfeansprüche durchzusetzen oder Auswege bei Überschuldung zu suchen;<br />
• im Umgang mit Behörden und Institutionen, um berechtigte Ansprüche zu realisieren, Ängste<br />
abzubauen und einen selbstbewussten Umgang einzuüben, zum Beispiel mit dem Sozialamt, der<br />
Erziehungsberatung, dem Arbeitsamt, dem Wohnungsamt, der Suchtberatung, der Kinder- und<br />
Jugendpsychiatrie.<br />
Ausgangspunkte der praktischen Arbeit der Sozialpädagogischen Familienhilfe sind die sozialen<br />
Beziehungen und der Alltag der Familienmitglieder.<br />
Was ist die Rolle der Eltern bei der Sozialpädagogischen Familienhilfe<br />
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Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
Die Eltern müssen bereit sein, sich beraten zu lassen und Hilfe anzunehmen. Voraussetzung ist ihre<br />
tatkräftige Mitarbeit. Im Laufe der Zeit sollen die Eltern die verschiedenen Aufgabenbereiche<br />
zunehmend selbst bewältigen können. Die Sozialpädagogische Familienhilfe wird dann wieder<br />
entbehrlich.<br />
Was ist die Zielsetzung der Sozialpädagogischen Familienhilfe<br />
Die Zielsetzung der Sozialpädagogischen Familienhilfe ist in erster Linie die Hilfe zur Selbsthilfe.<br />
Die Familien sollen lernen, zukünftig ohne die Hilfe zurechtzukommen. In manchen Fällen ist eine<br />
weitere Zielsetzung der Sozialpädagogischen Familienhilfe, eine sonst notwendige<br />
Heimunterbringung von Kindern zu vermeiden.<br />
5. Erziehung in einer Tagesgruppe<br />
Was sind Tagesgruppen<br />
Die Tagesgruppe ist ein teilstationäres Angebot der Hilfen zur Erziehung. Tagesgruppen entstanden<br />
im Umfeld von Heimerziehung. Die Kinder und Jugendlichen besuchen die Tagesgruppe nach dem<br />
Kindergarten- oder Schulbesuch, Am Abend, in der Nacht und an den Wochenenden verbleiben sie<br />
jedoch in ihren Familien. In einer kleinen überschaubaren Gruppe werden acht bis zehn Kinder von<br />
etwa drei bis vier pädagogischen Mitarbeiterinnen betreut.<br />
Für welche Kinder und Jugendliche ist die Erziehung in einer Tagesgruppe sinnvoll<br />
Tagesgruppen werden Kinder vom Vorschulalter bis zum Alter von etwa 16 oder 17 Jahren<br />
aufgenommen, wobei der Schwerpunkt jedoch im Schulalter liegt. Es handelt sich um Kinder und<br />
Jugendliche, die Störungen und Auffälligkeiten im Verhalten oder in der Leistung aufweisen. Diese<br />
Schwierigkeiten sind oftmals so groß, dass die Eltern sich in vielen Fällen nicht mehr zu helfen wissen.<br />
Zumeist hatten die betroffenen Familien schon vor der Aufnahme des Kindes in eine Tagesgruppe<br />
ambulante Hilfen zur Erziehung in Anspruch genommen, zum Beispiel eine Erziehungsberatung. Der<br />
Aufenthalt des Kindes in einer Tagesgruppe bringt für viele Eltern eine Entlastung mit sich, denn nun<br />
sind sie nicht mehr so intensiv mit Erziehungsproblemen konfrontiert und haben kompetente<br />
AnsprechpartnerInnen in Erziehungsfragen. Ob die Erziehung in einer Tagesgruppe die im jeweiligen<br />
Einzelfall sinnvolle und notwendige Form der Hilfe ist, wird im Rahmen der Hilfeplanung vom<br />
Jugendamt und der betroffenen Familie gemeinsam entschieden.<br />
Wie sieht die pädagogische Arbeit in den Tagesgruppen aus<br />
Das Tagesgruppenangebot gilt für die Zeit nach der Schule bis zum frühen Abend. Am Abend, in der<br />
Nacht und am Wochenende sind die Kinder und Jugendlichen in ihrer Familie. Sie bleibt somit auch als<br />
Lebensmittelpunkt bestehen. Während des Aufenthaltes in den Tagesgruppen können die Kinder und<br />
Jugendlichen zunächst einmal zur Ruhe kommen, ihren Gefühlen Ausdruck geben und neue<br />
Verhaltensweisen kennenlernen. Hierzu tragen Spiele und andere Formen der Freizeitbeschäftigung<br />
bei. Durch oftmals spezielle heilpädagogische Methoden in der Einzel- und Gruppenpädagogik<br />
können sie lernen, traumatische Erfahrungen aufzuarbeiten, Entwicklungen nachzuholen und neue<br />
Perspektiven zu sehen. Daneben spielt die schulische Unterstützung der Kinder, etwa bei der Erledigung der<br />
Hausaufgaben oder bei den Kontakten und der Zusammenarbeit mit der Schule, eine große Rolle.<br />
Zusammenarbeit der Tagesgruppe mit den Eltern<br />
Die Zusammenarbeit mit den Eltern ist in der Tagesgruppenarbeit überaus wichtig. Die Eltern besuchen<br />
regelmäßig die Tagesgruppe, sie nehmen an Gruppen- und Elternaktivitäten teil, zum Beispiel an einem<br />
gemeinsamen Grillabend oder an einer kurzen Ferienfreizeit. Die Eltern werden von den pädagogischen<br />
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Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
Fachkräften zu Hause besucht. Anstehende Probleme aber auch Erfolge werden gemeinsam erörtert.<br />
Regelmäßig finden in den Tagesgruppen Gespräche mit den jeweiligen Eltern - auch unter Beteiligung des<br />
Kindes - statt. In einigen Tagesgruppen haben diese Elterngespräche den Charakter von<br />
familientherapeutischen Gesprächen. Es kommt also darauf an, dass Eltern mit der Tagesgruppe zusammen<br />
ein Ziel erarbeiten, so dass der Aufenthalt in der Tagesgruppe schließlich entbehrlich wird.<br />
6. Vollzeitpflege<br />
Die Entscheidung ob ein junger Mensch, der eine Hilfe zur Erziehung außerhalb seiner eigenen Familie<br />
benötigt, diese besser in einer Heimeinrichtung oder in einer Pflegefamilie erfahren kann, sollte vor allem<br />
davon abhängen, wo die Hilfe am besten realisiert werden kann. Aus pädagogischen Gründen werden jüngere<br />
Kinder eher in einer Pflegefamilie untergebracht und seltener in einem Heim, denn die Pflegefamilie bietet<br />
den Vorteil einer Familie, während im Kinderheim das Kind sich auf mehrere erwachsene Bezugspersonen<br />
einstellen muss, die zumeist im Schichtdienst arbeiten.<br />
Was sind Pflegefamilien<br />
Pflegefamilien sind Paare oder manchmal auch Einzelpersonen, die ein grundsätzlich positives Interesse an<br />
Kindern haben und ein fremdes Kind in ihre eigene Familie aufnehmen. Ob sie dazu geeignet sind und ob die<br />
richtigen Rahmenbedingungen dazu vorhanden sind, das hat zuvor das Jugendamt geprüft. Eine Pflegefamilie<br />
kann nur durch ein Jugendamt beziehungsweise durch andere autorisierte Stellen (zum Beispiel Diakonie,<br />
Caritasverband) vermittelt werden. In manchen Fällen können die Kinder auch bei geeigneten Verwandten<br />
(Großeltern, Tante etc.) aufgenommen werden. Diese können dann als Pflegefamilien anerkannt werden,<br />
wenn die Vermittlung über das Jugendamt erfolgt ist. Pflegefamilien erhalten ein Pflegegeld. Der größte Teil<br />
hiervon ist für den Aufwand gedacht, der entsteht, wenn ein fremdes Kind in der Familie lebt. Nur ein<br />
kleinerer Teil ist eine „Entlohnung" für die erzieherische Leistung.<br />
Was sind „Professionelle“ Pflegefamilien<br />
Professionelle Pflegefamilien, auch heilpädagogische, sozialpädagogische Sonderpflegestellen (auch<br />
Erziehungstellen genannt = eigene Ergänzung) unterscheiden sich von üblichen Pflegeeltern durch das<br />
Vorliegen einer sozialpädagogischen, heilpädagogischen oder sonstigen pädagogisch/therapeutischen<br />
Ausbildung und einer entsprechenden Berufserfahrung bei mindestens einem Pflegeelternteil beziehungsweise<br />
bei der einzelnen Pflegeperson. In professionelle Pflegefamilien werden solche Kinder und Jugendliche<br />
vermittelt, für die in der Regel keine geeignete „normale" Pflegefamilie zu finden ist, weil schwere<br />
Verhaltensstörungen, psychische Erkrankungen oder Behinderungen vorhanden sind. Es handelt sich zum<br />
Beispiel um Kinder, welche kontinuierlich einnässen, die große Schulängste entwickelt haben, erhebliche<br />
Entwicklungsrückstände aufzeigen oder über lange Zeit Entbehrungen und Misshandlungen ausgesetzt waren<br />
und entsprechende Symptome zeigen.<br />
Welche Rechte haben die leiblichen Eltern, wenn ihr Kind in einer Pflegefamilie lebt<br />
Die meisten leiblichen Eltern haben weiterhin das Sorgerecht für ihr Kind, auch wenn dieses in einer<br />
Pflegefamilie lebt. Nur in wenigen Fällen muss, wenn ansonsten das Wohl des Kindes erheblich gefährdet<br />
wäre, das Sorgerecht entzogen und zum Beispiel auf einen Amtsvormund übertragen werden. Die leiblichen<br />
Eltern haben im Rahmen der Hilfeplanung das Recht, mit zu entscheiden, ob eine Pflegefamilie als<br />
Erziehungshilfe überhaupt in Frage kommt. Sie sind bei der Auswahl der Pflegefamilie zu beteiligen. Während<br />
des Aufenthaltes des Kindes in der Pflegefamilie haben sie ein Besuchs- und Umgangsrecht. Zwar läuft die<br />
Erziehung in der Pflegefamilie ab, aber bei wichtigen Maßnahmen, so zum Beispiel in Fragen der Schul- und<br />
Berufswahl, der Religionszugehörigkeit, vor ärztlichen Eingriffen oder bei Urlaubsreisen, liegt die Entscheidung<br />
bei den sorgeberechtigten leiblichen Eltern. Im Rahmen der Hilfeplanung haben die leiblichen Eltern<br />
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Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
entscheidenden Anteil an der Frage, wie lange der weitere Aufenthalt ihres Kindes in der Pflegefamilie noch<br />
dauern und ob eine Rückkehr in die Herkunftsfamilie realisiert werden sollte. Bei solchen Entscheidungen<br />
muss allerdings immer das Wohl des Kindes im Mittelpunkt stehen. Leibliche Eltern haben einen Anspruch<br />
auf Beratung in Erziehungsfragen sowie bezüglich der Perspektiven des Kindes und der Herkunftsfamilie<br />
durch den Allgemeinen Sozialen Dienst des Jugendamtes und durch den Pflegekinderdienst.<br />
Welche Probleme können auftauchen, wenn ein Kind in einer Pflegefamilie lebt<br />
Für die leiblichen Eltern ist es selbstverständlich keine leichte Entscheidung, der Aufnahme ihres<br />
Kindes in einer Pflegefamilie zuzustimmen. Sie können zwar weiterhin Kontakt zu ihrem Kind<br />
unterhalten, aber dieses hat jetzt seinen Lebensmittelpunkt in der Pflegefamilie. Zwischen<br />
leiblichen Eltern und Pflegeeltern treten zuweilen Spannungen und Konkurrenzdenken auf. Dies<br />
ist natürlich nicht im Interesse des Kindes. Der Pflegekinderdienst kann in solchen Fällen<br />
vermitteln, damit zum Wohle des Kindes beide Seiten gut zusammenarbeiten. Für die leiblichen<br />
Eltern ist es nicht immer absehbar, ob und wann ihr Kind wieder nach Hause zurückkehren kann<br />
oder sollte. Dies ist aber auch für die Pflegefamilie zuweilen eine große Unsicherheit. Denn auch<br />
sie hat sich an das Kind gewöhnt und es liebgewonnen. Manchmal muss ein Pflegeverhältnis<br />
vorzeitig abgebrochen werden, weil die Harmonie zwischen Pflegeeltern und Pflegekind nicht<br />
mehr stimmt oder weil Krisen und Konflikte entstanden sind. Es muss dann entschieden werden,<br />
ob das Kind in die Herkunftsfamilie zurückkehren kann, ob eine andere Pflegefamilie gesucht und<br />
gefunden werden kann oder ob das Kind vielleicht in ein Heim oder in eine Wohngemeinschaft<br />
überwechselt.<br />
Welche Chancen bieten Pflegefamilien<br />
Pflegefamilien können Kindern die Chance bieten, dass sie zeitlich befristet oder auf Dauer bessere<br />
Entwicklungschancen und Lebensbedingungen erhalten, als dies in der Herkunftsfamilie möglich<br />
erscheint. Dies kann am besten gelingen, wenn die Zusammenarbeit der leiblichen Eltern und der<br />
Pflegeeltern gut funktioniert.<br />
7. Heimerziehung, sonstige betreute Wohnform<br />
Für welche Kinder und Jugendliche kann Heimerziehung sinnvoll sein<br />
Heimerziehung und die sozialpädagogische Betreuung in sonstigen Wohnformen haben die zentrale<br />
Aufgabe, positive Lebensorte für Kinder und Jugendliche zu bilden, wenn diese vorübergehend oder<br />
auf Dauer nicht in ihrer Familie leben können. Es handelt sich in der Regel um Familien, in denen<br />
sich Kinder auf Grund der familiären oder anderer Lebensbedingungen momentan oder auf längere<br />
Sicht nicht ausreichend entwickeln können. Sehr oft sind erhebliche Erziehungsschwierigkeiten<br />
und Auffälligkeiten vorhanden, welche die Eltern vor kaum lösbare Probleme stellen. Als Gründe<br />
für den Aufenthalt in einem Heim werden vor allem genannt: Verhaltensstörungen,<br />
Schulprobleme, psychische Störungen, Umhertreiben und Weglaufen, Neigung zu Straftaten,<br />
Auffälligkeiten im sexuellen Bereich. Manche Kinder oder Jugendliche kommen auch in Heime,<br />
weil zu Hause ihre Lebensbedingungen sehr ungünstig sind, weil sie beispielsweise misshandelt<br />
wurden. In den Familien von Heimkindern spielen oftmals Alkoholprobleme eine Rolle.<br />
Wie kommt ein Kind ins Heim<br />
Wenn ein Kind oder Jugendlicher in einem Heim oder in einer sonstigen betreuten Wohnform<br />
untergebracht werden soll, dann ist dieser Weg immer nur über das zuständige Jugendamt am<br />
Wohnort möglich. In vielen Fällen hatten die betroffenen Familien auch schon früher Kontakte mit<br />
dem Jugendamt, es wurden schon andere ambulante Hilfen zur Erziehung in Anspruch genommen.<br />
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Bisweilen, wenn unmittelbare Gefahr droht, muss ein Kind im Rahmen einer Notunterbringung<br />
sehr schnell in einem Heim untergebracht werden. In der Mehrzahl der Fälle ist eine<br />
Heimeinweisung jedoch ein planvoller Prozess.<br />
Wie alle Hilfen zur Erziehung orientiert sich auch die Heimerziehung an der Lebenswelt des<br />
Kindes. Es wird deshalb in der Regel eine ortsnahe Unterbringung vorgezogen. So können die<br />
bisherigen Bezüge des Kindes zu seiner Familie und dem sonstigen sozialen Umfeld erhalten<br />
bleiben.<br />
Die unterschiedlichen Formen der heutigen Heimerziehung<br />
Kinderheime<br />
Größere Heime wurden in kleine überschaubare Einheiten zergliedert. Das Leben läuft in Gruppen<br />
ab, die ähnlich wie Familien aufgebaut sind. Hier : wird gekocht, gegessen, gespielt und gelernt.<br />
Die Kinder und Jugendlichen , wohnen zumeist in Zweibettzimmern, manche haben jedoch auch<br />
ein Zimmer für sich alleine. In jedem Fall ist eine Privatsphäre für die jungen Menschen vorhanden.<br />
Außenwohngruppen und Wohngruppen<br />
Betreutes Wohnen<br />
Das Betreute Wohnen kann als Betreuungsangebot für die folgenden Jugendlichen und jungen<br />
Volljährigen verwirklicht werden:<br />
1. Für solche Jugendlichen und junge Volljährige, die bislang in einem Heim oder in einer<br />
Wohngruppe der Jugendhilfe lebten und dort bereits ein hohes Maß an Selbständigkeit und<br />
Eigenverantwortlichkeit unter Beweis stellen konnten. Diese jungen Menschen können sich nun in<br />
einer eigenen Wohnung, in der sie alleine oder mit anderen zusammen leben, weiter<br />
verselbstständigen. Sie werden bei diesem Prozess, vor allem in Fragen der Ausbildung und<br />
Lebensführung, durch sozialpädagogische Fachkräfte beraten und unterstützt.<br />
2. Für solche Jugendlichen und junge Volljährige, die in der Heimerziehung nicht zurechtkommen,<br />
weil sie nicht in der Gruppengemeinschaft leben wollen oder können und weil sie diese Form der<br />
Unterbringung total ablehnen. Für solche Menschen in zumeist sehr schwierigen Lebenssituationen<br />
bietet das Betreute Wohnen eine Alternative.<br />
Was geschieht mit den Kindern und Jugendlichen in der Heimerziehung<br />
Heimerziehung ist in Gruppen organisiert. Acht bis zehn Kinder werden von durchschnittlich vier<br />
pädagogischen Mitarbeiterinnen betreut. Diese arbeiten zumeist im Schichtdienst. Die Gruppen sind in<br />
der Regel alters- und geschlechtsgemischt. Vereinzelt sind aus pädagogischen Gesichtspunkten auch<br />
reine Mädchen- oder Jungengrappen vorhanden. Aspekte der Gruppenpädagogik sowie die Beachtung<br />
der Gruppendynamik spielen in der Alltagsgestaltung und innerhalb der Erziehung eine wichtige Rolle.<br />
Im Vordergrund des Erziehungsvorganges steht die ganzheitliche Wahrnehmung und Förderung des<br />
jungen Menschen. In vielen Fällen hat sich das Bezugserzieherlnnensystem bewährt. Jeweils eine<br />
Erziehungsperson ist für einen bestimmten jungen Menschen in der Gruppe hauptverantwortlich<br />
zuständig. Sie ist damit erster und wichtigster Ansprechpartner und vor allem zuständig für den<br />
individuellen Erziehungsprozess.<br />
Neben .dem Wohnen, der Unterstützung in Schule und Ausbildung sowie der Freizeitgestaltung<br />
bemüht sich die Erziehung in Heimen; die allgemeine Entwicklung der jungen Menschen zu fördern.<br />
Bestehende Schwierigkeiten und Auffälligkeiten sollen so verringert werden, die Kinder und<br />
Jugendlichen sollen zukünftige Probleme besser meistern können. Die Förderung des<br />
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Selbstbewusstseins, der adäquate Umgang mit Konflikten sowie die zunehmende Verselbständigung<br />
sind dabei unter Anderem Ziele der Heimerziehung.<br />
Eltern- und Familienarbeit in der Heimerziehung<br />
Die Zusammenarbeit des Heimes mit den Familien von Heimkindern wird durch das Gesetz<br />
verbindlich vorgeschrieben. Sie wird primär begründet mit der anzustrebenden Rückkehr des Kindes<br />
oder Jugendlichen in die Herkunftsfamilie. Doch auch, wenn eine Rückkehr in die Herkunftsfamilie<br />
nicht realisiert werden kann, soll mit den beteiligten Eltern beziehungsweise mit weiteren Angehörigen<br />
gemeinsam gearbeitet werden, vor allem, wenn es um wesentliche Entscheidungen und um die<br />
Lebensperspektive des jungen Menschen geht. Die Eltern- und Familienarbeit innerhalb der<br />
Heimerziehung ist angesichts der geforderten Lebensweltorientierung ein unabdingbares<br />
Aufgabengebiet. Sie wird dann effektiv, wenn Eltern und andere Familienangehörige planmäßig<br />
und kontinuierlich in den Heimalltag und das Erziehungsgeschehen integriert werden und Interessen<br />
für ihr Kind wahrzunehmen in der Lage sind. Die Eltern- und Familienarbeit kann sowohl die<br />
Lebensbedingungen der in Heimen untergebrachten Kinder und Jugendlichen als auch die ihrer<br />
Eltern und Familien günstig beeinflussen.<br />
8. Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung<br />
Für wen kommt eine Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung in Frage<br />
Die Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung ist für junge Menschen mit massiven Schwierigkeiten<br />
vorgesehen, die auf Grund ihrer individuellen Lebensgeschichte mit sich selbst und mit ihren<br />
Mitmenschen nicht zurechtkommen, die wegen ihrer Verhaltensweisen immer wieder anecken, die<br />
oftmals gescheitert sind, die aufbrausend und wütend werden, wenn etwas nicht gelingt, die alles<br />
durchsetzen wollen, aber keine geeigneten Wege kennen, die auch kleine Enttäuschungen und<br />
Entbehrungen nicht aushalten können und keine persönliche Perspektive besitzen. Solche massiven<br />
Schwierigkeiten können beispielsweise sein:<br />
• Völlig unberechenbare abweichende Verhaltens weisen, vor allem auch eine übersteigerte Neigung<br />
zur Aggressivität;<br />
° eine stark ausgeprägte Unfähigkeit positive Beziehungen mit anderen Menschen einzugehen, als<br />
Symptom tritt dann zum Beispiel scheinbar sinnloses Weglaufen auf;<br />
• Verpflichtungen und Aufgaben werden nicht eingehalten;<br />
• oft damit verbunden kann ein totales Versagen der Jugendlichen in der Schul- und Arbeitswelt beobachtet<br />
werden, auch wenn das aus Gründen der Intelligenz nicht nötig wäre;<br />
• es kommen abweichende Verhaltensweisen bei geringsten Anlässen vor zum Beispiel<br />
Körperverletzungen und andere kriminelle Delikte.<br />
Insgesamt fehlen solchen jungen Menschen Perspektiven, sie leben in den Tag hinein und haben<br />
sich selbst und ihre persönliche Zukunft schon weitgehend aufgegeben.<br />
Was geschieht in der Intensiven sozialpädagogischen Einzelbetreuung<br />
Die Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung versteht sich als eine Alternative zur<br />
Heimerziehung. Es ist eine Alternative in besonderem Sinne, denn betroffene Jugendliche<br />
weigern sich entweder in Heimen oder in Wohngruppen zu leben, oder sie werden dort als nicht<br />
gruppenfähig empfunden und als nicht tragbar entlassen. In früheren Zeiten blieb solchen<br />
schwierigsten Jugendlichen als Alternative das geschlossene Heim, die Psychiatrie oder auch<br />
das „Leben auf der Straße". Die Aufgaben der Intensiven sozialpädagogischen Einzelbetreuung<br />
können in einer für den Jugendlichen angemieteten Wohnung, in Einzelfällen auch in der<br />
19
Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
Wohnung der Familie und alternativ oder damit verbunden auch in erlebnispädagogischen<br />
Projekten wahrgenommen werden. Eine pädagogische Fachkraft kümmert sich 20 oder auch<br />
mehr Stunden pro Woche um den einzelnen Jugendlichen. Wesentlich ist zunächst, sich auf die<br />
Situation der Jugendlichen einzustellen, sie da abzuholen, wo sie momentan stehen und zu<br />
versuchen, behutsam erste Beziehungen aufzubauen. Daneben werden von der Betreuungsperson<br />
auch vielfältige sozialarbeiterische Aufgabenbereiche wahrzunehmen sein, zum Beispiel:<br />
Unterstützung bei Kontakten zu Ämtern und Behörden, Hilfe bei der Wohnungssuche,<br />
Unterstützung in Fragen der Schule, Ausbildung und Arbeitswelt.<br />
Was sind erlebnispädagogische Projekte<br />
Um überhaupt erst einmal einen Zugang zu schwierigsten Jugendlichen zu bekommen, erscheint es<br />
oftmals notwendig, die üblichen pädagogischen Wege zu verlassen und neue Methoden<br />
anzuwenden. Die Erlebnispädagogik bemüht sich, schwierigen jungen Menschen neue Welten zu<br />
eröffnen. Sie sollen für etwas begeistert werden. Dafür müssen sie auch Anstrengungen in Kauf<br />
nehmen. Sie müssen sich an Regeln halten, denn sonst können die Unternehmungen nicht<br />
funktionieren. So lernen die jungen Menschen ihre körperlichen und sonstigen Grenzen kennen,<br />
aber zugleich entdecken viele neue Fähigkeiten und Möglichkeiten. Die Erlebnispädagogik<br />
motiviert auch zahlreiche ansonsten motivationslose Jugendliche zum freiwilligen Mittun. Bei<br />
solchen Projekten handelt es sich nicht nur um sogenannte Reiseprojekte. Erlebnispädagogik kann<br />
regional verwirklicht und im Bedarfsfall durch Reiseprojekte ergänzt werden. Die schwierigen<br />
Jugendlichen erhalten zum Beispiel die Gelegenheit in kleinen Handwerksbetrieben in der<br />
Landwirtschaft oder in anderen kleinen Produktionsstätten ihre Fähigkeiten und Neigungen<br />
kennenzulernen. Sie machen intensive Erfahrungen in der Natur und erlernen beispielsweise den<br />
Umgang mit und die Pflege von Tieren.<br />
Welchen Sinn haben erlebnispädagogische Reiseprojekte<br />
Die sogenannten Reiseprojekte werden entweder als Einzelmaßnahme (ein Jugendlicher wird von<br />
einer pädagogischen Fachkraft) oder in kleinen Gruppen mit intensiver pädagogischer Betreuung<br />
durchgeführt. Praktiziert werden oftmals Reisen in ferne Länder, in entlegene Gegenden, abseits<br />
von der Zivilisation, wo die jungen Menschen intensive Naturerfahrungen machen, den Umgang<br />
mit völlig fremden Menschen erlernen und so gewissermaßen einen neuen Lebensabschnitt<br />
beginnen können. Wichtig ist hierbei die Möglichkeit zum Neuanfang, abseits von den früheren<br />
negativen Erfahrungen. Dies wird unterstützt durch die intensive pädagogische Betreuung sowie<br />
die Orientierung an der erwachsenen Bezugsperson. Wenn kleine Gruppen zusammen eine Reise<br />
unternehmen, spielt außerdem das Zusammenspiel der Gruppenangehörigen eine wichtige Rolle.<br />
Möglich sind auch längere Aufenthalte auf einsamen Gebirgshütten oder Fahrten auf speziellen<br />
Segelschiffen in ferne Länder.<br />
Die Öffentlichkeit reagiert auf solche Reiseprojekte oft Verständnis- oder sogar fassungslos. Sollen<br />
die schwierigen Jugendlichen für ihre Missetaten noch belohnt werden Auch in Zeitungs- und<br />
Fernsehberichten wird immer wieder auf die „Unsinnigkeit" solcher Unternehmungen hingewiesen,<br />
die den Steuerzahler nur viel Geld kosten, würden. Die Kritiker denken jedoch zumeist nicht daran,<br />
dass es sich für viele Jugendliche um die "letzte Chance" handelt, wenn sie an einer solchen Reise<br />
teilnehmen können. Wenn Fehlschläge zu verzeichnen sind, so wird dies gerne in den Medien<br />
gemeldet. Die vielen Fälle, in denen schwierigste Jugendliche durch die Erlebnispädagogik neue<br />
positive Lebenswege gefunden haben, werden dagegen in der Öffentlichkeit kaum bekannt.<br />
Wie lange dauert eine Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung<br />
20
Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
Die Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung wird in der Regel einen Zeitraum von<br />
mindestens sechs Monaten bis zu einem Jahr umfassen, in sehr schwierigen Fällen auch über<br />
diesen Zeitraum hinausgehen. Die Reiseprojekt dauern von einigen Monaten bis zu einem Jahr.<br />
Quelle: Weigel – Zusammenfassender Überblick der Erziehungshilfen:<br />
- Erziehungsberatung (§ 28 KJHG)<br />
- Soziale Gruppenarbeit (§ 29 KJHG)<br />
- Erziehungsbeistand (§ 30 KJHG)<br />
- Sozialpädagogische Familienhilfe (§ 31 KJHG)<br />
- Erziehung in einer Tagesgruppe (§ 32 KJHG)<br />
- Vollzeitpflege (Unterbringung in einer Pflegefamilie) (§ 33 KJHG)<br />
- Heimerziehung, sonstige betreute Wohnform (§ 34 KJHG)<br />
- Intensive Sozialpädagogische Einzelbetreuung (§ 35 KJHG)<br />
Kompetenzen aus dem Lehrplan: „Mit Eltern/Familien zielgerichtet zusammenarbeiten“ / „Die<br />
verschiedenen Leistungsbereiche und Leistungsschwerpunkte – Versorgung, Erziehung, Bildung,<br />
Förderung, Zusammenarbeit mit den Familien, Mitwirkung an therapeutischen Maßnahmen –<br />
umsetzen“ / „Mit allen an den Hilfen zur Erziehung Beteiligten kooperieren und im sozialen<br />
Netzwerk arbeiten sowie den Sozialraumbezug bei der Gestaltung einer Hilfe zur Erziehung<br />
berücksichtigen“ / „Grundsätze der Partizipation in Planung und Durchführung einer Hilfe zur<br />
Erziehung beachten“. Wissen und verstehen: Anspruch der Sorgeberechtigten auf Erziehungshilfe.<br />
Individualisierung der Erziehungshilfen – keine abschließende Aufzählung. Diskurs: Pflegefamilien<br />
contra Heimerziehung / Sinn und Zweck der intensiven soz.päd. Einzelfallhilfe und<br />
Erlebnispädagogik / RTL-Erziehungshilfe-Fernsehserien<br />
Thema: Aufnahmeverfahren - Wie kommt ein Kind ins Heim<br />
Quelle: Weigel – Fallbeispiel zur Erarbeitung einzelner Aufnahmeschritte:<br />
Diskurs vorab: Wie werden familiäre Notlagen bekannt<br />
1. Bei der Wohnung von Frau Schmitt sind schon seit Wochen die Rollos den ganzen Tag<br />
heruntergelassen. Man hört die beiden Kinder (1 und 3 Jahre alt) schreien. Die Nachbarn geben dies<br />
dem Jugendamt bekannt. Was geschieht als nächstes<br />
2. Die Sozialarbeiterin vom Jugendamt stellt bei ihrem Besuch Folgendes fest: Die Wohnung ist<br />
verdreckt. Die Kinder liegen in abgedunkelten Zimmern und schreien vor Hunger und vor Durst.<br />
Nach einem längeren recht schwierigen Gespräch mit Frau Schmitt wird Folgendes deutlich: Ihr<br />
Mann ist als Drogendealer tätig, hat die Familie verlassen und sich eine Freundin gesucht. Frau<br />
Schmitt neigt dazu, selbst Drogen zu konsumieren. Ihr Mann kommt noch ab und zu vorbei und<br />
versorgt sie damit. Sie sieht ein, dass sie Hilfe braucht, möchte aber auf keinen Fall die Kinder<br />
verlieren. Was geschieht als nächstes<br />
21
Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
3. Eine sozialpädagogische Familienhelferin arbeitet etwa ein halbes Jahr mit der Familie. Dann<br />
berichtet die Familienhelferin dem Jugendamt, Frau Schmitt sei nicht bereit, Hilfe anzunehmen und<br />
umzusetzen. Sie gerate immer tiefer in die Drogensucht. In den Stunden und Tagen, in denen Frau<br />
Schmitt mit den Kindern allein sei, seien diese durch mangelnde Versorgung erheblich gefährdet.<br />
Wenn ihr Mann vorbei käme, seien lautstarke und auch gewalttätige Auseinandersetzungen die<br />
Folge. Was geschieht als nächstes<br />
4. Die Sozialarbeiterin vom Jugendamt bemüht sich, Frau Schmitt davon zu überzeugen, dass ihre<br />
Kinder (mittlerweile 2 und 4 Jahre alt) nun in einer Pflegefamilie untergebracht werden sollten.<br />
a) Frau Schmitt sieht das ein und stimmt zu. Was geschieht als nächstes<br />
b) Frau Schmitt sieht das nicht ein und verweigert ihre Zustimmung. Was geschieht als nächstes<br />
5. In Folge eines Antrags von Frau Schmitt oder in Folge eines Gerichtsbeschlusses mit Entzug des<br />
Aufenthaltsbestimmungsrechts wird entschieden, dass die Kinder in einer Pflegefamilie<br />
unterzubringen sind. Was geschieht als nächstes<br />
6. Die Pflegefamilie ist mit der Erziehung und Betreuung der stark traumatisierten Kinder<br />
(mittlerweile 4 und 6 Jahre alt) überfordert und hat entschieden, die Erziehungshilfemaßnahme<br />
abzubrechen. Was geschieht als nächstes<br />
7. Die Kinder (mittlerweile 5 und 7 Jahre alt) werden schließlich in einem Kinderheim<br />
aufgenommen. Welche Ziele, welche Perspektiven sind denkbar<br />
Quelle: Weigel – Zusammenfassende Notizen zum Aufnahmeverfahren<br />
Bevor Kinder tatsächlich in ein Heim kommen, haben sie meist schon eine längere Zeit (z.T. mehrere<br />
Jahre) belastende Erfahrungen in ihrer Familie hinter sich. Problematische Familiensituationen (z.B.<br />
Vernachlässigung, Verwahrlosung, Suchtkrankheit der Eltern) werden dem Jugendamt oft über<br />
Kindertagesstätten, Schulen, Nachbarschaft oder Polizei mitgeteilt. Das Jugendamt erkundet die<br />
Situation vor Ort und berät die Familie hinsichtlich sinnvoller Hilfen für die Erziehung der Kinder.<br />
Meist werden zunächst ambulante Hilfen (z.B. SPFH) eingeleitet. Erst wenn sich herausstellt, dass<br />
ambulante Maßnahmen nicht ausreichen, um eine Gefährdung des Kindeswohls zu vermeiden, fragt das<br />
Jugendamt bei stationären Einrichtungen (Heime, alternativ: Pflegefamilie) an und leitet hierbei auch<br />
erste Informationen zu der Familiensituation weiter. Bei einem „Vorstellungsgespräch" lernen sich<br />
die Mitarbeiterinnen des Heims und die Kinder und Eltern persönlich kennen. Oft ist ein<br />
„Probewohnen" der Kinder möglich. Der Aufnahmetag wird seitens der Mitarbeiterinnen im Heim so<br />
gestaltet, dass sich die Kinder oder Jugendlichen angenommen und willkommen fühlen (Begrüßung,<br />
Kennenlernen etc.). Danach findet baldmöglichst ein Hilfeplangespräch mit allen Beteiligten statt.<br />
Darin werden die weiteren Schritte und Ziele der Erziehungshilfe festgehalten,<br />
Quelle: Weigel (nach umgearbeiteten Vorlagen) - Neuaufnahme im Heim<br />
Die Aufnahme eines Kindes oder Jugendlichen in ein Heim , für die Betroffenen immer einen<br />
entscheidenden Einschnitt im Lebensverlauf dar und ist in der Regel mit enormen negativen Erwartungen,<br />
mit Ängsten und Vorurteilen verbunden. Der negative Sozialisationsverlauf begann oft<br />
schon Jahre vor der Heimeinweisung, mit der jetzt auf abweichende Verhaltensweisen, auf Verwahrlosungstendenzen,<br />
auf Missstände innerhalb der Herkunftsfamilie, auf mangelnde Anpassung, auf<br />
Schulschwierigkeiten, auf vorliegende Delinquenz von Kindern und Jugendlichen reagiert wird.<br />
22
Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
In vielen Fällen gingen der Heimeinweisung andere Maßnahmen im Jugendhilfebereich voraus. Die<br />
Kinder, Jugendlichen und deren Familien hatten Kontakte mit Erziehungsberatungsstellen, mit<br />
Sozialarbeiterinnen des Jugendamtes, mit heilpädagogischen Gruppen oder mit anderen<br />
sozialpädagogischen und therapeutischen Institutionen. Diese Berührungen mit ambulanten Maßnahmen<br />
erlebten viele als Zwang, als uneffektiv, als Zumutung und Belastung; letztlich konnten durch<br />
sie die Schwierigkeiten doch nicht behoben werden. Viele Jugendliche haben auch schon unliebsame<br />
Erfahrungen mit der Polizei und dem Jugendgericht gemacht. In den meisten Fällen waren neben<br />
anderen Auffälligkeiten langandauernde Misserfolgserlebnisse im schulischen Bereich, mit den<br />
entsprechend negativen Reaktionen der Lehrer, der Familie und der Umwelt zu verzeichnen. Andere<br />
Kinder und Jugendliche, hatten zutiefst traumatische Erlebnisse erfahren, sie wurden physisch und<br />
psychisch misshandelt, litten unter negativen Beziehungsstrukturen innerhalb ihrer Familie, ihre<br />
Persönlichkeit und ihre Bedürfnisse wurden ständig missachtet.<br />
Die Heimaufnahme ist für jeden jungen Menschen ein sein Leben radikal verändernder, verunsichernder<br />
und angstauslösender Akt, mitunter in dramatischen Formen ablaufend, empfunden als ohnmächtiges<br />
Ausgeliefertsein an nicht beeinflussbare Entscheidungen fremder 'unpersönlicher' Menschen oder<br />
Institutionen. Ein in seiner Selbstwertentwicklung bereits geschädigtes Kind schickt sich<br />
resignierend in sein Schicksal, wobei das vitale, in seinem Ich noch ungebrochene Kind<br />
leidenschaftlich-trotzig dagegen aufbegehrt. Die wenigsten Kinder kommen in freier Entscheidung<br />
ins Heim, weil ihnen ihre gegenwärtigen Lebensbedingungen belastender als die des Heimes<br />
erscheinen. Aber selbst diese Kinder/Jugendlichen machen den entscheidenden Schritt mit beklemmenden<br />
Angstgefühlen, von nebelhafter Ungewissheit umgeben und dem Gefühl, dass ihr<br />
Horizont verkleinert wird" (Heitkamp, H. 1984, S.197).<br />
Der Weg ins Heim bedeutet für die meisten Kinder einen Abschnitt auf ihrem Lebensweg. Dass das<br />
Heim die Chance zum Neubeginn darstellen könnte, ist bei den meisten kaum einmal im Bewusstsein<br />
anzutreffen. Dazu wird der kommende Heimaufenthalt mit zu vielen negativen Erwartungen verbunden<br />
und als Strafe, Schikane, als die letzte ungute Möglichkeit empfunden. Selbst Kinder und Jugendliche<br />
aus scheinbar unerträglichen Verhältnissen, misshandelte Kinder und solche, um die sich niemand<br />
gekümmert hat, sehen im Heimaufenthalt zumeist nicht eine Befreiung aus unzumutbarer<br />
unglücklicher Situation, eher eine Veränderung in eine andere ungute Lebenslage.<br />
Wenn Kinder und Jugendliche aus anderen Heimen oder aus Pflegefamilien aufgenommen werden, liegen<br />
in der Regel immer pädagogische Misserfolge und Unzulänglichkeiten dem Wechsel zugrunde. Sie sind<br />
wegen ihrer Vorerfahrungen misstrauisch und skeptisch, sie erwarten selten vom neuen Heim etwas<br />
Gutes, sie fühlen sich abgeschoben. Freigang sieht daher Heimeinweisungen und -Verlegungen als<br />
Wendepunkte an, die möglicherweise das Ende oder auch den Beginn von Identitätskrisen markieren<br />
(Freigang, W. 1986, S.27).<br />
Nach dem neuen KJHG sind die Personensorgeberechtigten und das betroffene Kind oder der/die<br />
Jugendliche bei der Entscheidung über die Inanspruchnahme einer Hilfe zur Erziehung und bei der<br />
Auswahl einer Heimeinrichtung zu beteiligen (§ 36). Die früher durchaus immer wieder zu<br />
beobachtende Praxis der fremdbestimmten Zuweisung in eine bestimmte Institution ist demnach, außer<br />
in Notfällen oder wenn unverhältnismäßig hohe Mehrkosten entstehen würden, nicht mehr möglich. In<br />
einem Hilfeplangespräch müssen bei bevorstehender Erziehungshilfe in einem Heim die zur<br />
Auswahl stehenden Institutionen aufgezeigt, deren Vor- und Nachteile erörtert werden. Eine echte<br />
Beteiligung der Eltern und der Minderjährigen bei der Auswahl ist letztlich aber nur dann gegeben,<br />
wenn diese sich verschiedene Heime oder Wohngruppen anschauen können und wenn ein kurzfristiges<br />
Probewohnen ermöglicht wird.<br />
Dem Aufnahmevorgang, den ersten Eindrücken und Erfahrungen der Kinder und Jugendlichen im<br />
Heim, den ersten persönlichen Kontakten und Beziehungen kommt eine pädagogische Bedeutung<br />
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Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
größten Ausmaßes zu. Denn jetzt werden die Weichen für positive oder negative Entwicklungsverläufe<br />
gestellt.<br />
Quelle: Weigel – Was braucht ein Kind an seinem ersten Tag im Heim<br />
Begrüßung und Willkommensgefühl / Gefühl, dass es erwartet wurde<br />
Bezugsperson (-erzieherin) / bei Aufnahme und Verabschiedung von den Eltern begleiten / am<br />
Aufnahmetag und in der anschließenden Nachtbereitschaft anwesend sein<br />
Sicherheit erfahren, dass stets eine verantwortungsbewusste Person in der Nähe ist<br />
Kind sein dürfen, von Verantwortung entlastet werden<br />
Schuldgefühle nehmen / Erklären, dass das Heim keine Strafe ist<br />
Angebot von Nähe und Zärtlichkeit<br />
Wertschätzung erfahren<br />
Rückzugsmöglichkeiten, Privatsphäre, Möglichkeit der individuellen Zimmergestaltung<br />
Gegenseitiges Vorstellen, bekannt machen, Rundführen in der Gruppe, kleine Gruppenaktivitäten<br />
Schrittweise Regeln und Strukturen im Alltag erleben<br />
Wechseldienst und berufliche Rolle der Erzieherin verstehen / Verstehen, dass sie auch ein<br />
Privatleben hat<br />
Kompetenzen aus dem Lehrplan: „Kinder und Jugendliche bei der Identitätsentwicklung und dem<br />
Aufbau einer sinnhaften Lebensperspektive unter Berücksichtigung von Übergängen und<br />
besonderen Lebensereignissen unterstützen“ / „Grundmerkmale der entwicklungsförderlichen<br />
Beziehungsgestaltung in der pädagogischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen beachten“.<br />
Wissen und verstehen: Die Bedeutung von Übergängen, Brüchen, Transitionen. Umgang mit<br />
Schuldgefühlen und Angst bei neu aufgenommenen Kindern.<br />
Thema: Inobhutnahme<br />
Quelle: Weigel – Fallbeispiel zur Erarbeitung einzelner Inobhutnahmeschritte<br />
Bei einer polizeilichen Wohnungsdurchsuchung wird zufälligerweise ein fünfjähriges Kind<br />
aufgefunden, das bewegungslos im Bett liegt, nicht schreit und nicht spricht, aber fast verhungert und<br />
verdurstet ist. Das Jugendamt wird umgehend informiert. Um das Kind vor Lebensgefahr zu schützen,<br />
möchte das Jugendamt das Kind sofort in einem Heim unterbringen. Die Eltern sind jedoch strikt<br />
dagegen. Was geschieht als nächstes<br />
Am Hauptbahnhof wird ein etwa 10-jähriger Junge von der Polizei aufgegriffen. Da keine Eltern in der<br />
Nähe sind und der Junge auch keine Angaben zu seiner Person macht, wird er vom Jugendamt in<br />
24
Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
Obhut genommen und in einem Kinderheim untergebracht. Wie gehen Sie als Erzieherin mit diesem<br />
Kind um und wie schätzen Sie die weiteren Schritte in diesem Fall ein<br />
Ein 12-jähriges Kind meldet sich im Kinderheim und bittet, dort aufgenommen zu werden, da seine<br />
Eltern Alkoholiker sind und es häufig verprügelt wird. Was müssen Sie als Erzieherin bedenken<br />
Quelle: Weigel – Zusammenfassende Notizen zur Inobhutnahme (§ 42 KJHG)<br />
Das Jugendamt kann Kinder oder Jugendliche in Obhut nehmen und in einer geeigneten Einrichtung<br />
unterbringen. Gründe dafür können sein, dass dringende Gefahr für das Kindeswohl besteht, dass ein Kind um<br />
Obhut bittet oder dass die Erziehungsberechtigten des Kindes vorübergehend nicht zu ermitteln sind. Während<br />
der Inobhutnahme übt das Jugendamt das Recht auf Erziehung und das Aufenthaltsbestimmungsrecht aus. Die<br />
Unterbringung im Heim hat dabei vorläufigen Charakter. Die Eltern sind unverzüglich zu informieren.<br />
Widersprechen sie der Inobhutnahme, so muss das Jugendamt entweder das Kind an die Eltern herausgeben oder<br />
eine gerichtliche Entscheidung herbeiführen. Bis zur gerichtlichen Entscheidung kann dann aber das Kind auch<br />
gegen den Willen der Eltern in Obhut bleiben.<br />
Bei einer Inobhutnahme muss das Kind hinsichtlich seiner Situation beraten werden und Gelegenheit zum<br />
Telefonieren erhalten.<br />
Inobhutnahmen werden in aller Regel nur durch Mitwirkung des Jugendamtes (welches das Kind dann in<br />
einem Heim unterbringt) durchgeführt. Ausnahmen: Manchmal bestehen besondere Vereinbarungen,<br />
aufgrund derer das Recht zur Inobhutnahme direkt an eine Heimeinrichtung delegiert ist. Dann sind auch<br />
Inobhutnahmen außerhalb der Geschäftszeiten des Jugendamtes möglich.<br />
Kompetenzen aus dem Lehrplan: „Risikofaktoren und Hinweise auf Störungen frühzeitig erkennen<br />
und geeignete Maßnahmen einleiten“ / „Maßnahmen zur Bewältigung von Krisen kennen und<br />
einschätzen“. Wissen und verstehen: Inobhutnahme bei a k u t e r Kindeswohlgefährdung,<br />
Inobhutnahme als rechtlicher Ausnahmefall. Diskurs: Ist die Inobhutnahme als Eingriff ins<br />
Elternrecht moralisch und juristisch gerechtfertigt Besteht ein Widerspruch zum Artikel 6 GG<br />
Thema: Minderjährige unbegleitete Flüchtlinge<br />
Quelle: Weigel – Ausländer in Deutschland<br />
EU-Angehörige oder Ausländer mit Visum oder mit langfristiger Aufenthaltsberechtigung:<br />
Beispiele: Mitarbeiter/Firmenangehörige, Studenten, Familienangehörige – sie haben weitgehende<br />
Rechte.<br />
Asylanten:<br />
Menschen, die aus dem Ausland nach Deutschland geflüchtet sind und hier als Asylanten anerkannt<br />
wurden – sie haben weitgehende Rechte.<br />
Asylbewerber:<br />
Menschen, die aus dem Ausland nach Deutschland geflüchtet sind, aber noch nicht als Asylanten<br />
anerkannt wurden oder aber deren Asylantrag abgelehnt wurde – sie haben nur wenige<br />
eingeschränkte Rechte und müssen darauf eingestellt sein, wieder in ihr Herkunftsland<br />
zurückgeschickt zu werden<br />
25
Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
Quelle: Weigel – Aufnahmeverfahren minderjähriger unbegleiteter Flüchtlinge:<br />
Zu klären:<br />
Welcher Personenkreis ist gemeint<br />
Was können Gründe und Hintergründe für die Flucht nach Deutschland sein<br />
Warum ist es so schwer, etwas Genaues zu erfahren<br />
Was ist im Hinblick auf den vorangegangenen Fluchtweg zu berücksichtigen<br />
Aufnahmeschritte:<br />
Ein Kind (z.B. aus Afrika, Asien, Südamerika) reist ohne erwachsene Begleitung mit dem Flugzeug<br />
nach Deutschland ein.<br />
Das Kind (ohne Dokumente) wird an der Passkontrolle aufgehalten und der „Clearingstelle“ (eine<br />
Abteilung des Jugendamtes vor Ort am Flughafen) übergeben.<br />
Seitens der Clearingstelle/Jugendamt erfolgt eine Inobhutnahme, da die Sorge- und<br />
Erziehungsberechtigten des Kindes nicht zu ermitteln sind.<br />
Das Kind wird zunächst in einem „Übergangswohnheim“ untergebracht. Hier leben alle<br />
minderjährigen unbegleiteten Flüchtlinge während der ersten Wochen.<br />
Das Kind wird gemäß eines Verteilerschlüssels einem anderen Bundesland oder Kreis zugeordnet<br />
und dann dort in einem Kinderheim untergebracht.<br />
Das Kind erhält einen Vormund, dieser stellt als gesetzlicher Vertreter für das Kind einen<br />
Asylantrag beim Bundesausländeramt. Die Bearbeitung zieht sich in der Regel mehrere Jahre hin.<br />
Das Kind muss bei einem oder mehreren Anhörungsterminen seine Fluchtgründe und<br />
Fluchtgeschichte darlegen.<br />
Bis zur Entscheidung über den Asylantrag gilt:<br />
Das Kind (der Jugendliche, der junge Erwachsene) darf keine bezahlte Arbeit annehmen, somit<br />
auch keinen Ferienjob annehmen und keiner vergüteten Ausbildung nachkommen (Ausnahmen nur<br />
mit vorheriger Sondererlaubnis).<br />
Das Kind darf den Kreis, dem es zugeordnet wurde, nicht verlassen (Ausnahmen nur mit vorheriger<br />
Sondererlaubnis).<br />
Das Kind braucht alle drei bis sechs Monate eine Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis (auch<br />
„Duldung“ genannt).<br />
Es besteht „Abschiebegefahr“. Unbegleitete Kinder und Jugendliche werden allerdings wegen<br />
internationaler Abkommen selten „abgeschoben“.<br />
Wenn dem Asylantrag stattgegeben wird, können für das Kind alle üblichen<br />
Integrationsmaßnahmen in Deutschland erfolgen.<br />
Wenn dem Asylantrag nicht stattgegeben wird, können keine Integrationsmaßnahmen erfolgen, und<br />
es besteht weiterhin „Abschiebegefahr“ (auch wenn „Abschiebung“ bei unbegleiteten Kinder und<br />
Jugendliche selten vorkommt).<br />
Eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung ist dann erst möglich, bei<br />
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Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
a) Alleinstehenden nach 8 Jahren Aufenthalt in Deutschland und Vorweisen einer<br />
Arbeitsmöglichkeit<br />
b) Familien nach 6 Jahren Aufenthalt in Deutschland und Vorweisen einer Arbeitsmöglichkeit.<br />
(Achtung: Mögliche aktuelle Änderungen der Rechtsgrundlagen bitte in den Medien verfolgen!)<br />
Quelle: Weigel – Zusammenfassende Notizen zu minderjährigen unbegleiteten<br />
Flüchtlingen:<br />
Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge reisen ohne Erwachsene per Flugzeug in die BRD ein.<br />
Herkunftsländer sind meist in Afrika, Asien oder im nahen Osten, Unbegleitete Minderjährige<br />
werden meist in Heimen auf der Basis einer Inobhutnahme untergebracht. Sie erhalten einen<br />
Vormund, dieser stellt für sie einen Asylantrag.<br />
Die familiäre Situation in den Herkunftsländern lässt sich meist nicht genau ermitteln. Oft sind<br />
die Eltern oder auch andere Familienangehörige von Krieg, politischer Verfolgung, Gefangenschaft<br />
und Folter bedroht. Die Kinder werden zu ihrem eigenen Schutz nach Deutschland geschickt. Sie<br />
leiden unter der Trennung, unter belastenden Erfahrungen auf dem Fluchtweg, unter den vielen<br />
neuen Eindrücken und Anforderungen in Deutschland.<br />
In vielen Fällen wird der Asylantrag abgelehnt. Die Aufenthaltserlaubnis muss dann alle paar<br />
Monate verlängert werden. Für jeden Ferienjob und für jeden Ausbildungsplatz muss eine<br />
gesonderte Arbeitserlaubnis beantragt werden. Erst nach 6 Jahren (Familien) oder 8 Jahren<br />
(Alleinstehende) können eine uneingeschränkte Arbeitserlaubnis und ein Bleiberecht erwirkt werden.<br />
Bei der Arbeit mit minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen stehen die vielschichtige<br />
Beziehungsarbeit und die kulturellen Unterschiede im Vordergrund. Weiterhin ist eine intensive<br />
Zusammenarbeit mit verschiedenen Institutionen (Jugendamt, Ausländeramt, Arbeitsamt)<br />
wichtig.<br />
Kompetenzen aus dem Lehrplan: „ Den Alltag für Kinder und Jugendliche mit erhöhtem<br />
Erziehungs- und Förderbedarf nach Gelingens- und Wirkfaktoren – insbesondere Normalisierung,<br />
Lebensfeldorientierung, Integration – konzeptgeleitet gestalten“. / „Werte anbieten, vorleben und<br />
entsprechende praktische Erfahrungen ermöglichen“. Wissen und verstehen: Die Fluchtgeschichte<br />
ist oft konstruiert. Die Kinder und Jugendlichen müssen ihre tatsächlichen Erfahrungen häufig<br />
verschweigen. Daraus ergeben sich besondere Anforderungen im Hinblick auf die pädagogische<br />
Unterstützung bei der Verarbeitung von traumatischen oder belastenden Erfahrungen. Diskurs:<br />
Pädagogische Zielsetzungen ohne politisch und juristisch gewollte Integrationsprozesse.<br />
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Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
Thema: Gestaltung von Alltagssituationen<br />
Quelle: Weigel (nach umgearbeiteten Vorlagen) – Gestaltung von<br />
Alltagssituationen<br />
Das folgende Fallbeispiel ist erfunden. Es beruht trotzdem auf Tatsachen. Teilweise entstammen diese<br />
einer Untersuchung der Internationalen Gesellschaft für Heimerziehung (IGfH), teilweise beruhen sie<br />
auf eigenen Erfahrungen. An diesem Negativbeispiel sollen Sie erarbeiten, wie es besser zu machen<br />
wäre.<br />
Das erste, was Kevin (12) an diesem Morgen wahrnahm, war der unerträgliche Schmerz in den Augen,<br />
der von der grellen Deckenbeleuchtung verursacht wurde. Als er danach noch das laute Gebrüll<br />
"Aufstehen" hörte und die Stimme des Erziehers Wolfgang erkannte, wusste er, dass dieser Tag schlecht<br />
angefangen hat. Also: Ruhe bewahren, sich noch mal rumdrehen und noch ein paar Minütchen schlafen.<br />
Die kräftige Hand von Wolfgang riss ihn dann jedoch unliebsam aus dem zweiten Schlaf.<br />
"Du hast genau noch 5 Minuten, um mit gepackter Schultasche aus den Haus zu verschwinden!", sagte<br />
Wolfgang, und Kevin wusste, dass dieser Satz eine Drohung war.<br />
"Bevor ich mir wieder das ätzende Gemeckere reinziehe, sehe ich lieber zu, dass ich aus dem Bau hier<br />
rauskomme. Die ersten beiden Stunden sind sowieso Kunst. Da guckt kein Arsch, ob ich da bin," dachte<br />
Kevin und sprang fast gleichzeitig in seine Klamotten und aus dem Heim heraus.<br />
Natürlich hatte diesmal der Kunstlehrer doch bemerkt, dass er gefehlt hatte. Folge: Meldung beim<br />
Klassenlehrer, Abmahnung, zwei Stunden Nachsitzen. Dafür hatte er es dem Relilehrer aber ganz toll<br />
gegeben. Als dieser nämlich einen Spruch für die Geburtstagskarte des Direktors hören wollte, hatte<br />
Kevin laut in die Klasse gerufen: "Selig sind die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich!". Aus<br />
irgend einem Grunde hatte er sich diesen Spruch gemerkt, und die Klasse bog sich vor Lachen.<br />
Als er gegen 13.00 in die Gruppe kam, sah er, dass gerade die Tische abgeräumt wurden. "Du musst dir<br />
dein Essen noch schnell warm machen, wir haben heute früher angefangen. Die meisten waren schon da.<br />
Warum kommst du eigentlich so spät Hast bestimmt noch in der Stadt rumgelungert. Dein Taschengeld<br />
ist doch schon aufgebraucht. Oder hast du dir wieder Geld geliehen Sieh zu, dass du was zu essen<br />
kriegst." Er konnte Wolfgang einfach nicht leiden. Während er aß, packten die Kleinen, Jan und Ben<br />
(7), ihre Schultaschen aus, weil Wolfgang ihnen geraten hatte, früh anzufangen, damit sie eher zum<br />
Spielen rauskommen. Denen hatte er nun gar keine Lust von seinem tollen Auftritt beim Relilehrer zu<br />
erzählen. "Wie war's beim Mittagessen" wollte Kevin wissen. "Stark." erwiderte Jan. "Wolfgang war<br />
nicht da und die Tina hat ne volle Schüssel Soße über den schicken Pullover gekriegt. Wer das wohl<br />
war Du hättest mal sehen sollen, wie Wolfgang getobt hat. Ich hab mich kaputt gelacht."<br />
Natürlich musste er sich auch sofort hinsetzen, nachdem er den Teller abgespült hatte. Zum Glück war<br />
heute nur Mathe und Deutsch auf. In Deutsch musste er eine Liste von Wörtern in einen Text über die<br />
Herstellung von Baumwolltüchern einsetzen. Dabei brauchte man nur das erste Wort in die letzte<br />
Lücke, das zweite in die vorletzte Lücke eintragen usw. und schon war man fertig. In Mathe musste er<br />
mehrere Dreiecke zeichnen. Dies machte ihm Spaß. Als er jedoch seinen Zirkel auf den Tisch legte,<br />
nahm Tom (15) ihm diesen erst mal weg. "Haste geklaut, wa Echt stark. Hätte ich dir nicht zugetraut."<br />
"Zeig mal!" rief Ben (7), riss den Zirkel an sich und stach Tina damit ins Bein. Das folgende Geschrei<br />
wusste Wolfgang mit starken Armen zu beenden. "Ich hab mal son Film gesehen, da wurde einem mit<br />
nem Zirkel die Augen ausgestochen", bemerkte Jan (7) nachdem wieder Ruhe eingekehrt war. "Quatsch.<br />
So was gibt's nicht." "Doch, war in sonm Horrorfilm, den ich zu Hause sehen durfte." "Ich hab mal<br />
Zombies gesehen, die haben Menschenfleisch gegessen. Echt stark." Das folgende Gespräch über<br />
28
Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
Videos war natürlich interessanter als Dreiecke. Als die Kleinen fertig waren, machte Kevin sich wieder<br />
an seine Dreiecke. Wolfgang schaute ihm über die Schulter. "Sag mal, heute haben wir gehört, dass bei<br />
allen Dreiecken die Winkel immer 150 Grad sind. Warum ist das so, Wolfgang" "Das hat der Lehrer<br />
bestimmt erklärt. Steht auch im Buch. Ist halt so." Kevin war froh, dass Wolfgangs Dienst zu Ende ging.<br />
Den Nachmittag verbrachte er in der Stadt. War ja nichts los im Heim. Da traf er sich mit anderen<br />
Jungen, die ebenfalls nichts besseres zu tun hatten. Gegen sechs schlenderte er zurück ins Heim und war<br />
angenehm überrascht, dass seine Lieblingserzieherin Monika heute Dienst hatte. "Da brauchste nicht um<br />
halb neun im Bett zu liegen", dachte er. Beim Abendbrot war nicht viel los, weil alle in die Glotze<br />
guckten (Nachrichten). "Müsst ja auch mal wissen, was in der Welt passiert", meinte Monika während<br />
sie ihr Brot aß und die Bilder von den toten Robben ansah. "Da kannste nichts mehr machen. Alle tot",<br />
bemerkte sie. Zum Glück kam niemand auf die Idee, den Fernseher auszuschalten, so dass der Abend<br />
gelaufen war. Ein Hinweis von Monika auf die Fernsehplanung wurde mit der guten Bemerkung "Wir<br />
wollen das mit den Robben nochmal sehen" abgewehrt. "Naja, später müsst ihr ja auch den Knopf zum<br />
Abschalten finden", glaubte sie noch bemerken zu müssen.<br />
Gegen viertel vor neun meinte sie dann, dass die "Mittleren" sich langsam für das Zu-Bett-gehen fertig<br />
machen sollten. Natürlich hörte kaum jemand, nur Micha (<strong>11</strong>) lief mit der Zahnbürste in den<br />
Waschraum. Streber! Danach verschwand Monika auf Gruppe "Blau" : "kurz was abholen". Kevin sah<br />
dann noch mit den anderen ne Fernsehschau zu Ende. Um Viertel vor Zehn tauchte Monika dann<br />
wieder auf, hielt einen Zettel in der Hand und sagte: "Wer in fünf Minuten nicht im Bett verschwunden<br />
ist, der erhält morgen bei der Taschengeldausgabe einen Abzug. Wie viel das sein wird, entscheidet<br />
Wolfgang." Klarer Fall, da gab es nichts zu diskutieren.<br />
Kurze Zeit später herrschte Ruhe auf der Gruppe, und nur die Großen hörten noch leise Musik.<br />
"Eigentlich kein schlechter Tag", dachte Kevin, als er mit Socken an den Füßen einschlief.<br />
Kennzeichnen Sie das Verhalten des Jungen namens Kevin. Was könnte ihn zu diesen<br />
Verhaltensweisen bewegen Was könnte ihn zu anderen Verhaltensweisen bewegen<br />
Kennzeichnen Sie die Verhaltensweisen des Erziehers Wolfgang. Was könnte ihn zu diesen<br />
Verhaltensweisen bewegen Welche anderen Reaktionen halten Sie für sinnvoller und warum<br />
Verdeutlichen Sie dies an Beispielen.<br />
Kennzeichnen Sie das Verhalten der Erzieherin Monika. Was könnte sie zu diesen<br />
Verhaltensweisen bewegen Welche anderen Reaktionen halten Sie für sinnvoller und warum<br />
Verdeutlichen Sie dies an Beispielen.<br />
Forschen Sie im Internet nach der IGFH (= Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen).<br />
Welche Aufgaben und Ziele hat die IGFH. Inwiefern könnte die IGFH für die pädagogische<br />
Arbeit in Heimen hilfreich sein Verdeutlichen Sie dies an Beispielen.<br />
Quelle: Weigel (nach umgearbeiteten Vorlagen) – Chaos am Mittagstisch<br />
Es i s t h a l b e i n s , a l s d i e Container mit dem M i t t a g e s s e n aus der Küche hochkommen.<br />
"Wenn ich d i e s e n Schweinefraß schon rieche, könnte i c h kotzen", b r ü l l t Peter (14) und t r i t t<br />
mit dem Fuß gegen einen der Container. "Lass das", ermahnt ihn die Erzieherin Monika, d i e s e i n e<br />
E i n s t e l l u n g zur Q u a l i t ä t des Essens gut nachvollziehen kann.<br />
Ben (8) und Tina (12) haben heute T i s c h d i e n s t . Tina hat k e i n e Lust und knallt die Teller<br />
lieblos auf den Tisch. Daraufhin w i r f t Ben das Besteck in d i e M i t t e des T i s c h e s und ruft:<br />
"Fertig! A lles zum Essen kommen".<br />
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Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
Alan (17) und Lisa (13) kommen gerade in die Gruppe. "Zieht euch s c h n e l l aus, der Tisch ist<br />
f e r t i g , b e v o r a l l e s k a l t w i r d “ , ermahnt sie Monika. Brummelnd werfen die beiden<br />
i h r e S a c h e n i n d i e E c k e u n d s e t z e n s i c h .<br />
"Wo b leibt denn das Essen" "Moment noch, i c h muss noch a u s f ü l l e n " r u f t Tina und schwappt<br />
mit der v o l l e n Suppenschüssel in den Gruppenraum.<br />
M i t t l e r w e i l e s i t z e n auch d i e anderen an dem großen T i s c h , der im Gruppenraum s t e h t . Lisa<br />
stürzt sich sofort auf den A u s f ü I I l ö f f e l und w i l l s i c h wie ü b l i c h den T e l l e r randvoll machen.<br />
"Jetzt benimm dich doch n i c h t wie jemand, der nichts bekommt", ermahnt Monika, "Es ist für<br />
alle genug da."<br />
Als' sie zum dritten Mal in d i e Schüssel fasst, stößt Klaus s i e l e i c h t an, so dass alles<br />
über den Tisch l ä u f t . Die folgende Prügelei wird von Mon i k a dadurch beendet, dass sie<br />
d e n b eiden droht, den Nac h t i s c h zu entziehen.<br />
"Übrigens", fährt s i e f o r t , " w o l l t e ich noch sagen, dass h e u t e von unserer Gruppe der Hof gefegt<br />
werden muss. Wer macht d as " " I c h " , r u f t Kevin und nimmt dieWurst aus seinem T e l l e r<br />
und fegt damit den Küchenboden. Die anderen krümmen s i c h vor Lachen. Monika packt ihn am<br />
Arm und e r k l ä r t , dass s e i n Essen für h e u t e b e e n d e t s e i . Daraufhin wird es etwas r u h i g e r .<br />
"Je t z t h a l t doch mal den Löffel r i c h t i g , wie s i e h t das denn a u s " , s a g t s i e zu Alan.<br />
"Der i s s t immer wie e i n Schwein ". meint L i s a und f ä l l t mit dem G e s i c h t in den T e l l e r<br />
und grunzt dabei - H e i t e r k e i t bei den anderen.<br />
"Es i s t h i e r w i r k l i c h zum Kotzen, wenn das n i c h t b e s s e r w i r d , könnt i h r demnächst ohne Erzieher e s s e n . "<br />
"Ohne E r z i e h e r i s t b e s s e r a l s ohne Wurst". meint Ala n.<br />
B i s a u f e i n i g e F u ß t r e t e r e i e n u n t e r dem T i s c h gab es bei d i e s e m E s s e n keine w e i t e r e n<br />
Besonderheiten.<br />
S t e l l e n S i e p ä d a g o g i s c h e Ü b e r l e g u n g e n a n , w a s b e i d e r P l a n u n g u n d G e s t a l t u n g<br />
v o n E s s e n s s i t u a t i o n e n h i l f r e i c h s e i n k ö n n t e .<br />
Quelle: Weigel – beispielhafter Tagesablauf im Kinderheim:<br />
05.45 h Wecken: Azubis<br />
06.30 h " Schüler<br />
Bett machen, schmutzige Wäsche einsammeln und in die<br />
Waschküche tragen, Schultasche bereitstellen.<br />
07.00 h Frühstück<br />
Frühstückstisch abräumen, jeder sein Gedeck<br />
07.30 h Zur Schule oder zum Schulbus gehen<br />
Erzieheraufgaben: Verwaltungsangelegenheiten, Telefonate, Einkäufe,<br />
Besprechungen, Einkäufe. (Dienstende im Laufe des Vormittags)<br />
12.00 h Neuer Dienstbeginn in der Gruppe<br />
Post holen, Einkauf einräumen, evtl. nochmals<br />
Verwaltungsangelegenheiten und Telefonate erledigen, Tischdienst<br />
begleiten<br />
12.30 h Die ersten Kinder kommen<br />
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Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
13.00 h Essen holen<br />
13.15 h Mittagessen bis ca.13.45 h<br />
Mittagstisch abräumen, jeder sein Gedeck, Küchendienst nach<br />
Ämterplan begleiten<br />
14.00 h Toben, Entspannen, Spielen, Musik hören<br />
Gegebenenfalls Übergabegespräche unter den ErzieherInnen<br />
14.30h Hausaufgabenzeit<br />
15.30h Freizeit, (Fußballspiel, Stadtgang, Schwimmbad etc.), Arzttermine,<br />
Hilfeplangespräche<br />
17.30 h Die Azubis kommen<br />
18.00 h Tischdienst begleiten<br />
18.30 h Abendessen<br />
19.00 h Abendessentisch abräumen, jeder sein Gedeck<br />
19.30 h Die Jüngeren machen sich bettfertig<br />
20.00h je nach Alter: Abendrituale, Spiel- und Fernsehzeit, Abendausgang<br />
22.00h Zimmerruhe<br />
22.30h Frühstückstisch vorbereiten<br />
Ab ca. 23.00h Nachtbereitschaft<br />
Kompetenzen aus dem Lehrplan: „Den Alltag für Kinder und Jugendliche<br />
mit erhöhtem Erziehungs- und Förderbedarf nach Gelingens- und<br />
Wirkfaktoren – insbesondere Normalisierung, Lebensfeldorientierung,<br />
Integration – konzeptgeleitet gestalten“. / „Werte anbieten, vorleben, und<br />
entsprechende praktische Erfahrungen ermöglichen“. / „Kinder- und<br />
Jugendarbeit im Sinne ausgewählter Ansätze unter Berücksichtigung von<br />
Partizipation planen, durchführen und reflektieren“. / „Grundmerkmale der<br />
entwicklungsförderlichen Beziehungsgestaltung in der pädagogischen<br />
Arbeit mit Kindern und Jugendlichen beachten“. Wissen und verstehen:<br />
Sensible Wahrnehmung und jeweilige besondere pädagogische Bedeutung<br />
der jeweiligen Alltagssituation, z.B. Abendrituale.<br />
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Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
Thema: Der systemische Ansatz<br />
Quelle: Greving, Heinrich; Heidemann, Wilhelm H.: „Praxisfeld Heimerziehung,<br />
Lehrbuch für sozialpädagogische Berufe“, Köln, Bildungsverlag Eins GmbH, 20<strong>11</strong>,<br />
S. 67 ff<br />
Das Kind als Symptomträger<br />
Der erste pädagogische Bezug, in welchem Kinder und Jugendliche groß werden, ist das<br />
Familiensystem. Häufig ist hierbei das Kind bzw. der Jugendliche mit Verhaltensstörungen der<br />
Symptomträger eines gestörten Familiensystems (vgl. Schauder, 1995, S. 5). Die Störungen, welche<br />
das Kind zeigt, können hierbei unter Umständen auf ganz bestimmte konkrete Erlebnisse und<br />
Erfahrungen zurückgehen, sodass eine Verhaltensstörung relativ häufig auch als Erlebens- oder<br />
Gefühlsstörung gekennzeichnet werden kann. „Die zu beobachtenden Symptome können aus dieser<br />
Sichtweise als verzweifelter Versuch des Kindes interpretiert werden, mit seiner schwierigen<br />
Lebenssituation zurechtzukommen" (Schauder, 1995, S. 5).<br />
Indem das Kind bestimmte Verhaltensweisen zeigt, welche von der Norm bzw. auch von<br />
familieninternen Werthaftigkeiten abweichen, weist es auf sein Problemverhalten hin. Dem Verhalten<br />
des Kindes kommt somit in einem ersten Schritt ein bestimmter Signalcharakter zu: Mit seinen<br />
Verhaltensweisen deutet das Kind, durch eine ihm adäquate Art und Weise, auf prägnante Probleme<br />
seiner sozialen Umgebung, somit primär auf die Probleme seiner Familie hin.<br />
Darüber hinaus haben diese kindlichen Verhaltensproblematiken aber auch eine sogenannte<br />
Ventilfunktion: Die Art und Weise der Verhaltensproblematik erfüllt für das Kind eine<br />
Entlastungsfunktion, sodass es vielleicht nur auf diese eine Art und Weise dazu in der Lage ist, die in<br />
der Familie existierenden psychischen (vielleicht aber auch physischen) Belastungen zu ertragen bzw.<br />
zu kompensieren. Vor diesem Hintergrund zeigen die Kinder häufig aggressive Verhaltensweisen,<br />
mit welchen sie ihr Gefühlschaos oder bestimmte Defizite im Rahmen ihrer Gefühlsdesorganisation<br />
zu kompensieren versuchen. Des Weiteren erlebt das Kind häufig eine<br />
„... erhebliche Diskrepanz ... zwischen den inner- und den außerfamiliär gültigen Normen<br />
und Werten. Versucht das Kind, sich seinem sozialen Umfeld außerhalb der Familie<br />
anzupassen, kommt es unweigerlich zu einem Loyalitätskonflikt den Eltern gegenüber, welcher<br />
dann über das (unangemessene) Verhalten ausagiert wird" (Schauder, 1995, S.6)<br />
Häufig reagiert die betroffene Familie dann damit, die familieninternen Probleme zu verharmlosen,<br />
bzw. diese zu verheimlichen. Das Kind wird hierdurch noch einmal zu einem Symptomträger,<br />
welches allein dafür verantwortlich zu sein scheint, wie und wodurch diese Probleme entstanden<br />
sind, bzw. wie sie gelöst werden müssen. Das Kind ist auf sich alleine gestellt und entwickelt sich nicht<br />
selten zu einem einsamen, aggressiven, drogenabhängigen und ebenfalls missbrauchenden<br />
Jugendlichen.<br />
Eine pädagogische, bzw. eine therapeutische Intervention ist dann notwendig, wenn das Kind massiv<br />
unter den Bedingungen oder seinen eigenen Verhaltensmustern leidet.<br />
(……)<br />
Es lassen sich in Bezug auf die Störungen, welche die Kinder und Jugendlichen zeigen, zwei größere<br />
Gruppen unterscheiden (vgl. Schauder, 1995, S. 8 ff.): die Störungen des Leistungsverhaltens sowie<br />
nicht leistungsbezogene Störungen. Diese sollen nachfolgend kurz erläutert werden.<br />
32
Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
Störungen des Leistungsverhaltens der Kinder und Jugendlichen:<br />
Diese Störungen werden häufig in der Schule, aber auch schon frühzeitig im Rahmen der Arbeit mit<br />
den Kindern in Kindertagesstätten oder erst relativ spät im Bereich der Berufsausbildung erkannt, bzw.<br />
erst dort, oder gerade dort, prägen sie sich aus: Es handelt sich hierbei zum einen um Leistungsdefizite. So<br />
kann es bei den betroffenen Kindern und Jugendlichen zu einem Lernstoffrückstand bis zu einem Jahr<br />
kommen. Sie können aber auch Teilleistungsstörungen entwickeln und zeigen, sodass sie in bestimmten<br />
Fächern oder Fächergruppen, wie z. B. in der Sprache oder in der Mathematik, größere Leistungsdefizite<br />
aufweisen.<br />
Im Weiteren beziehen sich die Störungen des Leistungsverhaltens aber auch auf die Leistungsverweigerung.<br />
So kommt es bei diesen Kindern und Jugendlichen relativ häufig dazu, dass sie nicht zur<br />
Schule gehen, bzw. wenn sie in der Schule sind, den Unterricht permanent stören. Zudem scheinen sie<br />
nicht dazu in der Lage zu sein, ihre Hausaufgaben zu machen, bzw. sie verweigern die Herausgabe<br />
derselben, sodass der Lehrer nicht dazu in der Lage ist, diese zu überprüfen. Dies bezieht sich auf Kinder<br />
mit einer im Regelfall normalen bzw. durchschnittlichen Intelligenz. Häufig ist diese sogar<br />
überdurchschnittlich,,...sodass eine Überforderung der Kinder aufgrund von mangelnder Intelligenz<br />
ausgeschlossen werden kann" (Schauder, 1995, S.9).<br />
Die meisten der betroffenen Kinder und Jugendlichen mit einer ausgeprägten Störung des<br />
Leistungsverhaltens weisen weiterhin starke Konzentrations- bzw. Aufmerksamkeitsstörungen auf.<br />
Sie können dem Unterricht nicht länger als wenige Minuten folgen, eine Konzentrationsspanne über<br />
mehrere Schulstunden ist zumeist gar nicht gegeben. Jede Möglichkeit zur Ablenkung führt bei ihnen<br />
dazu, dass sie dieser Ablenkung mehr Konzentration schenken, als dem Unterrichtsgeschehen. Des<br />
Weiteren weisen sie häufig deutlich ausgeprägte Gedächtnis- und Merkschwierigkeiten auf, sodass sie<br />
nicht dazu in der Lage sind, den Unterrichtsstoff, den sie vor kurzem erlernt haben, wiederzugeben.<br />
All diese Erfahrungen führen dazu, dass die Kinder häufig eine Antriebsschwäche aufweisen, welche<br />
sich vor allem auf die Leistungsorientierung in der Schule bezieht.„Diese Kinder erwecken letztlich<br />
den Eindruck, mit der Schule überfordert zu sein" (Schauder, 1995, S. 9).<br />
Die nicht leistungsbezogenen Störungen:<br />
Diese Störungen lassen sich wiederum in fünf Untergruppen aufteilen: die Störungen des<br />
Sozialverhaltens, die Störung der emotionalen Entwicklung, die Störung der körperlichen<br />
Entwicklung, die Störungen im Bereich der Motorik, die Störungen im Bereich der<br />
Sexualentwicklung.<br />
Störungen des Sozialverhaltens<br />
Durch unterschiedlichste Ausprägungen der Störungen des Sozialverhaltens erweisen sich diese Kinder<br />
sehr häufig als individualistisch, als sehr egozentrisch und als nicht oder kaum gruppenbezogen oder<br />
gruppenfähig. Sie lügen, sie stehlen und sie laufen weg, sie streunen herum, sie sind im wahrsten Sinne<br />
des Wortes in ihrer Personalität nicht zu fassen. Durch ihre verbalen und motorischen Aggressionen rufen<br />
sie zwar einerseits massiv um Hilfe, andererseits grenzen sie sich aber auch manifest aus. Die<br />
Bezugspersonen, wie z. B. Familienangehörige, gute Freunde oder auch das pädagogische Personal in<br />
Heimen, wendet sich von diesen Kindern ab, sodass es zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung<br />
kommen kann, in welcher das negative Selbstbild der Kinder noch bestätigt wird. Wer sich selber nicht<br />
mag, wird auch von anderen nicht gemocht, sodass sich ein Teufelskreis bildet, welcher in der Folge<br />
stark ausgeprägte Kontakt- und Beziehungsstörungen manifestieren kann.<br />
Störungen der emotionalen Entwicklung<br />
33
Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
Hierzu zählen vor allem ausgeprägte Formen von Angst und Ängstlichkeit. Die Kinder und<br />
Jugendlichen haben eine hohe Schulangst und Angst, von den Eltern verlassen zu werden. Zudem<br />
prägen sie unterschiedliche Ängste aus, welche sehr differenziert beschrieben werden können, wie zum<br />
Beispiel die Angst vor Dunkelheit, Krankheit, Katastrophen oder dem Tod der Eltern. In Verbindung<br />
mit den vorher dargestellten Störungen des Sozialverhaltens kommt es in Bezug auf die emotionale<br />
Entwicklung zu einer stark ausgeprägten Selbstwertproblematik, welche durch ein mangelndes<br />
Selbstvertrauen der Kinder und Jugendlichen gekennzeichnet ist. Hierdurch entstehen permanente<br />
Misserfolgserlebnisse im Leistungs- und Nichtleistungsbereich dieser betroffenen Kinder und<br />
Jugendlichen.<br />
Die Störung der körperlichen Entwicklung (psycho-physiologische Symptome)<br />
Betroffene Kinder und Jugendliche entwickeln (….) Symptome, welche sich in Magen- oder<br />
Darmbeschwerden, aber auch vielfach in Essstörungen äußern können. Diese können soweit<br />
ausgeprägt werden, dass es neben der Appetitlosigkeit zu einer ausgeprägten Pubertätsmagersucht,<br />
aber auch zu Übergewicht kommen kann. Gerade die Störungen der Magersucht sind bei Mädchen<br />
(in den letzten Jahren verstärkt aber auch bei Jungen) wahrnehmbar. Zudem weisen diese Kinder (vor<br />
allem solche, bei denen ein sexueller Missbrauch diagnostiziert worden ist), Probleme des Einnässens<br />
und des Einkotens selbst am Tage auf. Zudem haben sie häufig Schlafstörungen, sodass sie intensive<br />
Probleme beim Ein- und/oder Durchschlafen haben.<br />
Störungen im Bereich der Motorik<br />
Diese Störungen können vor allem durch eine motorische Unruhe und durch eine hyperaktive<br />
Gestaltung des Lebens gekennzeichnet werden: „Die betroffenen Kinder wirken geradezu getrieben,<br />
können Momente der Stille und Ruhe nicht ertragen und befinden sich ständig in Bewegung"<br />
(Schauder, 1995, S. <strong>11</strong>). Weitere motorische Symptome, welche hierzu zu zählen, sind<br />
Daumenlutschen, Nägelkauen, sowie kontrollierte oder unkontrollierte Schaukelbewegungen mit dem<br />
Kopf und die Ausprägung diverser Tics bis hin zu manifesten neurotischen Störungen (wie z. B. der<br />
Zwangsneurose).<br />
Störungen in der Sexualentwicklung<br />
Hierbei sind häufig extreme Versprachlichungen sowie die Ausführungen altersunangemessener<br />
sexueller Praktiken zu nennen.<br />
„Manche Kinder verfügen über ein umfangreiches Repertoire an Fäkalbegriffen und verstehen es<br />
vorzüglich, diese Form der Sprache effektvoll einzusetzen. Insbesondere diejenigen Kinder, die sexuell<br />
missbraucht wurden, praktizieren teilweise völlig unangemessene Sexualtechniken ... Teilweise üben<br />
die selbst missbrauchten Kinder auf andere einen erheblichen Druck aus, und zwingen diese zu<br />
sexuellen Handlungen. Auffällig ist, dass die besagten Kinder ein völlig gestörtes Verhältnis zur<br />
Sexualität haben und sie diese mit deutlich negativen Gefühlen verbinden." (Schauder, 1995, S. <strong>11</strong> f.)<br />
Alle diese Verhaltensstörungen existieren nun nicht additiv bei den betroffenen Kindern und<br />
Jugendlichen, sondern sind als Symptomkomplex zu beschreiben, in welchem unterschiedliche<br />
Ausprägungen und unterschiedliche Schwierigkeitsgrade dieser einzelnen Symptome wiederzufinden<br />
sind. Das heißt, dass sich Verhaltensstörungen nicht durch das Aufweisen einzelner Symptome,<br />
sondern durch die Bündelung und unterschiedliche Gewichtung dieser Symptome auszeichnen.<br />
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Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
Quelle: Quelle: Greving, Heinrich; Heidemann, Wilhelm H.: „Praxisfeld<br />
Heimerziehung, Lehrbuch für sozialpädagogische Berufe“, Köln, Bildungsverlag<br />
Eins GmbH, 20<strong>11</strong>, S. 72 ff:<br />
Störungen der Eltern als eine Ursache der Verhaltensstörungen von Kinder und Jugendlichen<br />
Wie bereits erwähnt, liegen häufig die manifesten Begründungen von kindlichen Verhaltensstörungen<br />
in den Ausprägungen der Störungen der Eltern bzw. der gestörten Familienverhältnisse.<br />
Diese Störungen können durch folgende Kategorien beschrieben werden:<br />
Gestörte Familienverhältnisse, Probleme bei Trennung oder Scheidung der Eltern, psychogene<br />
Störungen der Eltern, Suchtprobleme der Eltern, sexueller Missbrauch, Misshandlungen durch die<br />
Eltern, Vernachlässigung.<br />
Diese unterschiedlichen Kategorien werden nun kurz dargestellt (vgl. Schauder, 1995, S. 12-21):<br />
Gestörte Familienverhältnisse<br />
Hierzu gehören vielfältige Differenzierungen der Partnerschaftskonflikte, welche die Eltern miteinander<br />
aushandeln und ausagieren. Vielleicht ist die Partnerschaft von einer Art Hassliebe und Ambivalenz<br />
geprägt, welche wiederum die Interaktionen mit den Kindern und Jugendlichen in hohem Maße<br />
erschweren. Zudem treten häufig gewalttätige Auseinandersetzungen der Eltern untereinander auf, was<br />
dann wiederum zu einer manifesten Verunsicherung der Kinder und Jugendlichen führen kann. Obwohl<br />
die Eltern vielleicht nur noch nebeneinander her leben, kommt es immer wieder zu gewalttätigen<br />
Ausbrüchen, wobei dieser Krieg der Eltern auch zu einem Psychoterror der Kinder werden kann. Vor<br />
diesem Hintergrund übernehmen die Kinder und Jugendlichen häufig die elterlichen Verhaltensweisen,<br />
sodass sie am Modell der Eltern lernen, gerade weil ihnen keine anderen Modelle zur Verfügung stehen.<br />
Dies wird dadurch erschwert, dass sich die Beziehungskonflikte der Eltern auf ihr Erziehungsverhalten<br />
auswirken: So bewirken unterschiedliche Vorstellungen von Erziehung unterschiedliche Reaktionen und<br />
unterschiedliches Erziehungsverhalten, welches zu einer anhaltenden Verunsicherung der Kinder und<br />
Jugendlichen führen kann. Da aber auch die Eltern ständig unter Spannung stehen, reagieren sie<br />
gegebenenfalls zu intensiv auf bestimmte Probleme der Kinder und Jugendlichen, sodass diese<br />
Überreaktionen die Kinder erneut verunsichern. Auf der anderen Seite ist aber auch häufig eine<br />
Vernachlässigung bzw. eine Überbehütung der Kinder feststellbar. Sie werden sich selber überlassen oder<br />
auch übermäßig versorgt. Beides führt dazu, dass sie nicht in der Lage sind, autonom ihr Leben zu<br />
gestalten. Besteht diese ungünstige Familiensituation über Jahre hinweg, so führt dies zu tiefgreifenden<br />
Verunsicherungen und bedingt existenzielle Ängste sowie Probleme im Selbstwertgefühl der Kinder und<br />
Jugendlichen.<br />
Probleme bei Trennung und Scheidung<br />
Häufig fühlen sich die Kinder schuldig an der Trennung ihrer Eltern. Gehen diese dann wieder eine<br />
neue Beziehung ein, treten gegebenenfalls Konfrontationen mit diesem neuen Stiefelternteil,<br />
welches dann häufig abgelehnt wird, auf. Kommt es nicht zu einer neuen Bindung des „übrig<br />
bleibenden" Elternteils, wird das Kind unter Umständen zum „Partnerersatz". Durch Gespräche bzw.<br />
zur intensiven Inanspruchnahme seiner Person wird es mit emotionalen Ansprüchen konfrontiert,<br />
„denen es nicht gerecht werden kann und die es total überfordern" (Schauder, 1995, S. 15). Zudem<br />
können die Kinder in Loyalitätskonflikte geraten, da der andere Ehepartner häufig zum Buhmann wird:<br />
Ihm wird die ganze Schuld für die problematische Familiensituation und die Scheidung aufgebürdet.<br />
Die Entscheidung des Kindes zwischen Vater und Mutter ist somit nicht möglich, da immer ein<br />
Elternteil dem anderen die Rolle des Versagers in diesen Beziehungskonflikten zuweist. „Das Kind<br />
muss also in dieser existenziellen Frage seine wahren Gefühle verleugnen, was zu ungünstigen<br />
Konsequenzen für die emotionale Entwicklung führen kann" (Schauder, 1995, S. 15).<br />
35
Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
Psychogene Störungen der Eltern<br />
Die Eltern haben zumeist selber schon intensiv ausgeprägte Verhaltensproblematiken bzw. sogar<br />
psychische Erkrankungen entwickelt, welche dann im Gesamten des Familiensystems noch potenziert<br />
werden, bzw. das Familiensystem als solches als psychogen gestört erscheinen lassen. Ängstliche,<br />
unsichere oder depressive Eltern werden nicht oder nur sehr schwer dazu in der Lage sein, eine gut<br />
strukturierte Paar- bzw. Familienstruktur zu entwickeln, in welchen den Kindern und Jugendlichen ein<br />
pädagogisch gelingendes Umfeld geboten werden kann. Häufig haben die Eltern selber<br />
psychopathische Krankheitsbilder ausgeprägt. So sind häufig schizophrene Erkrankungen, manische<br />
Depressionen und massiv ausgeprägte Suchterkrankungen wahrnehmbar. Aber auch<br />
psychosomatische Erkrankungen wie Magen- und Darmstörungen, sowie massive weitere<br />
gesundheitliche Probleme (wie chronische Erkrankungen, Krebs oder auch multiple Sklerose) können<br />
hierzu benannt werden. Auch plötzlich eintretende Schicksalsschläge, z. B. ein Verkehrs- oder<br />
Arbeitsunfall oder eine massive psychische Krise können dazu führen, dass die psychische Stabilität<br />
eines Elternteils oder des gesamten Familiensystems extrem ins Wanken gerät.<br />
Suchtprobleme der Eltern<br />
Häufig verbunden mit den bereits genannten psychogenen Störungen der Eltern, kommt es zu<br />
ausgeprägten Suchtproblemen, so zum Beispiel zum Alkohol- oder Medikamenten-missbrauch. Häufig<br />
führt dieses bei den betroffenen Kindern und Jugendlichen zu einem weiteren Loyalitätskonflikt: „Sie<br />
verlieren nicht selten völlig den Respekt vor den suchtkranken Erziehungspersonen, während sie<br />
diese nach außen verteidigen und eine heile Familienwelt vertreten (müssen)" (Schauder, 1995, S. 17).<br />
Häufig entwickelt sich aus dieser Suchtproblematik eine weitere: Die Eltern werden arbeitslos und<br />
geraten somit in einen Teufelskreis von Schuld- und Versagensgefühlen, welche wiederum mit<br />
Drogen bzw. Alkohol beantwortet werden. Diese Spirale dreht sich nun möglicherweise immer<br />
schneller, sodass es den übrig gebliebenen Kindern nicht gelingt, in dieser haltlos gewordenen Familienstruktur<br />
Halt zu gewinnen.<br />
Sexueller Missbrauch<br />
Der sexuelle Missbrauch lässt sich dadurch definieren, dass Erwachsene an bzw. mit Kindern<br />
„Handlungen durchführen, die mit dem Ziel der eigenen sexuellen Erregung bzw. Befriedigung<br />
begangen werden" (Schauder, 1995, S. 18). Die Menschen, welche hierbei den sexuellen Missbrauch<br />
durchführen, kommen relativ häufig aus dem nahen Umfeld der Kinder und Jugendlichen. Nur sehr<br />
selten handelt es sich um Fremde oder Zufallsbekanntschaften. Da somit die Missbrauchenden aus<br />
dem Nahfeld des Kindes kommen, häufig somit aus der eigenen Familie, kommt es zu einem intensiv<br />
und existenziell ausgeprägten Vertrauensverlust bei den Opfern dieser Missbrauchserfahrungen.<br />
„Sie tendieren dazu, die Realität zu leugnen und ihren eigenen Wahrnehmungen zu misstrauen.<br />
Sie empfinden häufig eine Mitschuld, wenn sie sich nicht gar als hauptverantwortlich für die Geschehnisse<br />
erleben. In der Regel werden diese zutiefst traumatischen Erfahrungen niemals mit<br />
einer Vertrauensperson besprochen, geschweige denn psychotherapeutisch behandelt. Die Opfer<br />
bleiben sich selbst überlassen, sie schweigen: aus Angst, aus Scham oder schlicht aus<br />
Unwissenheit, Hilfe bekommen zu können. So hat ein Großteil der Mütter verhaltensauffälliger<br />
Kinder ein erheblich gestörtes Verhältnis zum anderen Geschlecht: Dies ist vor dem Hintergrund<br />
eines häufig extrem negativen Selbstbildes und eines oft völlig verkehrten Rollenverständnisses<br />
als Mutter zu sehen." (Schauder, 1995, S. 19).<br />
Misshandlungen durch die Eltern<br />
Das Problem der körperlichen Gewaltanwendungen im Sinne der Misshandlung bei Kindern oder<br />
Jugendlichen stellt ein weiteres zentrales Problem in der Darlegung desorganisierter<br />
Familienstrukturen dar. So nehmen in diesen Familien die körperlichen Züchtigungen einen<br />
erheblichen Umfang ein. Es kommt zu physischen Gewaltanwendungen, also zum Verprügeln und<br />
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Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
Schlagen mit Gegenständen, aber auch zu psychischer Gewalt durch Liebesentzug bzw. durch die<br />
Nichtbeachtung der Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen. Die Kinder scheinen hierbei keine andere<br />
Chance zu haben, als diese Situation auszuhalten: Sie „ertragen ihr Leid aus der existenziellen Angst<br />
heraus, die Eltern unwiderruflich zu verlieren" (Schauder, 1995, S. 20).<br />
Auch hierbei ist ein weiterer Teufelskreis darstellbar: Die Eltern sind mit ihrer Lebenssituation<br />
überfordert, sie überfordern hierbei ihre Kinder. Diese Situation erfordert wiederum ihre eigenen<br />
pädagogischen Konsequenzen, welche dann zu Überforderungssituationen bei den Kindern führen usw.<br />
Eigene Ängste der Eltern, eigene Hilflosigkeit und Frustration werden somit über möglicherweise<br />
aggressive Tendenzen und Ausbrüche an den Kindern ausreagiert. Dies führt zu Aggressionen bei den<br />
Kindern und Jugendlichen, welche dann wiederum mit Aggressionen der Eltern beantwortet werden.<br />
Vernachlässigung<br />
Neben einer zu intensiven physischen und psychischen Bedrohung kann aber auch die Vernachlässigung<br />
der Kinder durch die Eltern bei diesen Verhaltensprobleme aufweisen. Die Kinder sind hierbei<br />
weitestgehend auf sich alleine gestellt, man lässt sie gewähren, da man weder von sich noch von ihnen<br />
eine bestimmte Option auf die Zukunft erhofft. Dies führt dann zum Beispiel zur Vernachlässigung im<br />
Bereich der Hygiene, der Ernährung aber auch der seelischen Gesundheit der Kinder. Die<br />
Entwicklungsaufgaben, die sich somit für die Kinder in diesem Bereich stellen, müssen von ihnen allein<br />
bewältigt werden - dies gelingt nur selten, da das familiäre System schon in hohem Maße Probleme<br />
aufweist und es für die Kinder und Jugendlichen keinen Rückzugsort zur Kompensation dieser Themen<br />
zu geben scheint.<br />
Zusammenfassend kann somit festgehalten werden, dass diese unterschiedlichen Verursachungsfaktoren<br />
nicht isoliert auftreten, sondern meistens miteinander im Zusammenhang stehen,<br />
sich gegenseitig bedingen und miteinander verknüpft sind, sodass sie sich in ihren Ausprägungen<br />
noch potenzieren, „sodass von einem multikausalen Ansatz gesprochen werden muss" (Schauder,<br />
1995, S. 21).<br />
Quelle: Weigel – Zusammenfassende Notizen zum systemischen Ansatz:<br />
Das Kind ist in das System Familie eingebunden. Daher ist es wichtig, nicht nur das Kind und seine<br />
Verhaltensauffälligkeiten zu sehen, sondern das (Familien-) System und dessen Störungen zu<br />
berücksichtigen.<br />
Kinder investieren viel Energie in das System Familie. Sie wollen eine heile und gute Familie und<br />
nehmen dafür viel (auch Gewalt) in Kauf. Daher brauchen Kinder neben Schutz und Zuwendung<br />
auch die Wertschätzung der Herkunftsfamilie.<br />
Wichtige Prinzipien im systemischen Ansatz:<br />
Nicht der Mensch ist so und so, sondern der Mensch verhält sich in diesem Kontext so und so.<br />
Um das Verhalten eines einzelnen Menschen zu verändern, ist die Arbeit mit dem ganzen System<br />
notwendig. Jeder einzelne Mensch bringt Fähigkeiten, Stärken, „stille“ Reserven mit, auf denen aufgebaut<br />
werden kann (=Ressourcenorienierung).<br />
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Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
Quelle: Weigel (nach umgearbeiteten Vorlagen) – Genogrammarbeit /<br />
Genogrammzeichen<br />
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Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
Kompetenzen aus dem Lehrplan: „Mit Eltern/Familien zielgerichtet zusammenarbeiten“. / „ Mit allen an<br />
den Hilfen zur Erziehung Beteiligten kooperieren und im sozialen Netzwerk arbeiten sowie den<br />
Sozialraumbezug bei der Gestaltung einer Hilfe zur Erziehung berücksichtigen“. / „Risikofaktoren und<br />
Hinweise auf Störungen frühzeitig erkennen und geeignete Maßnahmen einleiten“. / „Maßnahmen zur<br />
Bewältigung von Krisen kennen und einsetzen“. Wissen und verstehen: Nicht nur am Verhalten selbst,<br />
sondern wesentlich an den Verhaltensursachen arbeiten. Bedeutung der Elternarbeit erkennen.<br />
Erstellung eines Genogramm mit folgenden Bedingungen: Ein Kind, das in einem Kinderheim lebt,<br />
steht im Mittelpunkt. Drei Generationen sollten abgebildet sein, ebenso Geschwister oder<br />
Halbgeschwister des Kindes. Aus den Beziehungsstrukturen sollte herzuleiten sein, wodurch die<br />
Probleme des Kindes entstanden sind.<br />
Thema: Biografiearbeit<br />
Quelle: Ryan, Tony; Walker, Rodger: “Wo gehöre ich hin Biografiearbeit mit<br />
Kindern und Jugendlichen“, Beltz Edition Sozial, S. 13 ff<br />
Warum Biografiearbeit<br />
Kinder, die in ihren Herkunftsfamilien leben, haben die Möglichkeit sich über ihre Vergangenheit zu<br />
informieren und zurückliegende Ereignisse in der Gegenwart zu klären. Kindern, die getrennt von<br />
ihrer leiblichen Familie sind, bleibt diese Gelegenheit oft versagt, sie haben vielleicht Familien,<br />
Sozialarbeiter, Heime und Umgebungen gewechselt. Ihre Vergangenheit scheint verloren, vieles davon<br />
sogar vergessen.<br />
Wenn Kinder ihre Vergangenheit aus den Augen verlieren, kann es sehr schwierig für sie werden, sich<br />
emotional und sozial zu entfalten. Wenn Erwachsene diese Vergangenheit nicht mit ihnen besprechen<br />
(können), ist es für Kinder nahe liegend anzunehmen, sie könnte sehr schlimm sein.<br />
Biografiearbeit ist ein Versuch, Teile dieser Vergangenheit den Kindern, die getrennt von ihrer<br />
originären Familie sind, zurückzugeben. Das gemeinsame Zusammentragen der Tatsachen dieses<br />
Lebens und der wichtigsten Personen darin hilft ihnen zu beginnen, ihre Vergangenheit anzunehmen<br />
und mit diesem Wissen in die Zukunft zu gehen. Wir fanden heraus, dass die meisten fremd<br />
untergebrachten Kinder davon profitierten, ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mit einem<br />
einfühlsamen Erwachsenen zu besprechen. Biografiearbeit schafft eine Struktur für das Gespräch mit<br />
Kindern. Diese Methode ist sowohl für Kinder als auch für Erwachsene geeignet.<br />
Von ihren leiblichen Eltern getrennte Kinder, ob sie in Kinderheimen oder Pflegefamilien leben, zu<br />
einer neuen Familie kommen oder zu ihrer Ursprungsfamilie zurückkehren, müssen die Frage klären,<br />
warum sich die Trennung ereignete und warum verschiedene Erwachsene nicht in der Lage waren, für<br />
sie zu sorgen. Wir haben es in der Vergangenheit oft versäumt, den Kindern, für die wir verantwortlich<br />
waren, die Möglichkeit zu geben, sich mit ihren Erfahrungen auseinander zu setzen. Unsere<br />
Erfahrung mit den Kindern, mit denen wir gearbeitet haben, hat uns darin bestärkt zu glauben, dass<br />
Biografiearbeit eine brauchbare Methode ist, dieses Bedürfnis zu befriedigen und dass alle Kinder auf<br />
irgendeine Art und Weise davon profitierten.<br />
Biografiearbeit kann mit einem Buch oder Video abschließen oder einfach eine Aufzeichnung von<br />
stattgefundenen Sitzungen sein. Sie muss nicht mit einem Produkt enden - es ist mehr der Prozess als<br />
nur das Produkt, von dem die involvierten Kinder und Jugendlichen am meisten profitieren.<br />
Alle Kinder haben Anspruch auf genaue Information über ihre Vergangenheit und ihre Familie. Das<br />
ist ein für fest in ihren Familien lebende Kinder selbstverständliches Recht. Für die Kinder, die<br />
getrennt sind von ihren leiblichen Familien, ist das Recht auf dieses Wissen genauso wichtig, nicht nur<br />
um ihrer selbst willen, sondern auch für ihre zukünftigen Kinder.<br />
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Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
Biografiearbeit kann brauchbar modifiziert werden - nicht nur für ältere Menschen, sondern auch für<br />
die Eltern, von denen die Kinder getrennt sind. Viele Eltern, deren Kinder dauerhaft fremduntergebracht<br />
sind, waren dies "früher selbst. Die Wahrscheinlichkeit ist gering, dass jemand mit ihnen<br />
Biografiearbeit gemacht hat. Wird sie jedoch mit ihnen als Erwachsene durchgeführt, kann dies sowohl<br />
den Kindern als auch .den Eltern klären helfen, warum die Familie nicht zusammenleben kann, und<br />
man kann so den besten Nutzen aus der Trennung ziehen.<br />
Der Children Act von 1989 betont (Anmerkung der Übersetzerin: Auch in der Neuordnung des<br />
Kinder- und Jugendhilfegesetzes von 1990 wird verstärkt Wert auf die Einbeziehung des Kindes und<br />
seiner Familie durch die Hilfeplanung gelegt), dass Kinder in Gespräche einbezogen werden sollen,<br />
die ihr Leben betreffen. Biografiearbeit kann ein Mittel sein, dem Kind altersgemäße Informationen<br />
zu geben, die es ihm ermöglichen, fundierte Entscheidungen zu treffen.<br />
Ein Kind, das zum Beispiel in seiner Herkunftsfamilie einen Erwachsenen identifiziert, der es sexuell<br />
missbraucht hat, wird verstehen müssen, dass es nicht möglich ist, nach Hause zurückzukehren,<br />
solange diese Situation weiter besteht.<br />
Biografiearbeit sollte die zugrunde liegende Philosophie des Children Act 1989 ergänzen -<br />
Beteiligung und Einbeziehung des Kindes und seiner Familie. Wir wissen auch, dass sie erfolgreich<br />
bei Eltern eingesetzt wurde, um ihnen zu helfen, ihre eigene Vergangenheit zu ordnen (……).<br />
Was haben Kinder von Biografiearbeit<br />
Biografiearbeit gibt Kindern eine strukturierte und verständliche Möglichkeit, über sich selbst zu<br />
reden. Sie kann Klarheit schaffen, wo es bedenkliche und idealisierte Fantasien gibt. Einmal fertig<br />
gestellt, existiert eine Aufzeichnung, in der das Kind jederzeit nachschlagen kann und mit seiner<br />
Erlaubnis auch die Personen, die für es sorgen, vor allem während einer Krise.<br />
Biografiearbeit kann das Selbstwertgefühl eines Kindes steigern, denn traurigerweise ist im Hinterkopf<br />
von fast allen von ihren leiblichen Familien getrennten Kindern der Gedanke, sie seien wertlos und<br />
nicht liebenswert. Sie beschuldigen sich selbst für Handlungsweisen von Erwachsenen. Wurden sie<br />
von ihren Eltern oder Angehörigen verlassen, vernachlässigt oder verletzt, sind sie überzeugt, dass sie<br />
es selbst verschuldet haben. Biografiearbeit ermöglicht es, ihnen zu zeigen, warum sie stolz auf sich<br />
selbst sein sollten. Diese positive Haltung sollte in jedem Buch, Video oder einer anderen<br />
entstehenden Aufzeichnung sichtbar werden. Beim Gespräch über ihre leibliche Familie zum Beispiel<br />
ist es wichtig, die positive Seite zu betonen, obwohl man ihnen in geeigneten Worten die Wahrheit über<br />
ihre Familie sagt und warum sie nicht dort leben (wie schmerzlich das auch sein mag). Man sollte über<br />
ihre leiblichen Eltern in einer nicht-wertenden Art sprechen. Man könnte zum Beispiel sagen, dass<br />
manche Eltern Schwierigkeiten haben, ihre Elternrolle auszuüben und Verantwortung für Kinder zu<br />
übernehmen, aber andere Bereiche ihres Lebens meistern können.<br />
Wenn man zusammen an dem Buch gearbeitet hat, wird man sich enger mit dem Kind verbunden<br />
fühlen. Wir merkten, dass Erinnerungen aus unserer eigenen Kindheit ständig wach wurden. Wenn<br />
auch wir Kummer erlebt hatten, teilten wir diese Erfahrung mit dem Kind, ohne jedoch zu vergessen,<br />
um wessen Geschichte es geht! Manche Leute machen Biografiearbeit mit mehreren Kindern<br />
gleichzeitig, und manchmal kann das Mitteilen von Erfahrungen - natürlich ohne die Vertraulichkeit<br />
zu verletzen - den Kindern helfen, sich besser zu fühlen. Auf diese Weise kann ein Kind erfahren,<br />
dass viele Menschen Verletzungen in ihrer Kindheit erlebt haben und dass die Verantwortung nicht bei<br />
ihm selbst liegt; es braucht sich nicht schuldig zu fühlen, wie es erstaunlicherweise so viele Kinder für<br />
das Verhalten ihrer Eltern tun.<br />
Zu guter Letzt möchten wir dazu ermutigen, das Spielen wieder zu entdecken, sich zu entspannen und<br />
es zu genießen. Es kann notwendig sein, wieder Spielen zu lernen. Das kann viel Spaß machen! Bei<br />
manchen der später erklärten Spieltechniken ist es wichtig, sich mit dem Kind auf den Boden zu setzen<br />
und mit Spielsachen zu spielen. Man sollte keine Hemmungen haben, falls man aber eine Rechtfertigung<br />
braucht, sollte man wissen, dass das Spiel einen ernsthaften Zweck hat und eine wertvolle Technik ist,<br />
die genauso wichtig ist, wie die Fähigkeit, mit einem Kind ungezwungen über wichtige Themen zu<br />
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Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
reden. Nicht immer, aber manchmal, wird Biografiearbeit zum Spiel führen, und man darf es selbst<br />
auch genießen.<br />
Über Identität<br />
Ein gesundes Identitätsgefühl ist für jeden lebenswichtig. Ein schwaches Identitätsgefühl kann<br />
Kinder und ebenso Erwachsene behindern und ihre Fähigkeit, neuen Herausforderungen zu begegnen,<br />
einschränken. Für manche Kinder wird eine der größten Herausforderungen in ihrem Leben<br />
der Wechsel in eine neue Familie sein. Schlimmstenfalls kann ein schwaches Identitätsgefühl Kinder<br />
»lahmen«, sodass sie übermäßig an der Vergangenheit hängen und sich nicht dazu bewegen können, an<br />
die Zukunft zu denken. Es kann auch Apathie und eine depressive, fatalistische Einstellung<br />
verursachen.<br />
Identität ist ein komplexes Gebilde; wahrscheinlich beginnt es beim Einzelnen mit der ersten<br />
Unterscheidung zwischen »innerem« und »äußerem« Selbst mit etwa sechs Monaten. Diese Schaffung<br />
der Vorstellung eines »Selbst« ist entscheidend für eine gesunde Entwicklung. Wo sie durch<br />
Ereignisse und unangemessene Reaktionen von wichtigen Personen (wie Mutter und Vater) gehindert<br />
wird, können schwere Probleme auftreten.<br />
Da ein Verständnis des »Selbst« schwierig ist, besonders für Kinder, die von ihren Wurzeln getrennt und<br />
ohne eine klare Perspektive sind, wird es einfacher, wenn man die leichter erklärbaren Teile auswählt<br />
und offen mit dem Kind bespricht. Ein Möglichkeit dafür ist das Sprechen über die Vergangenheit,<br />
Gegenwart und Zukunft.<br />
Die Vergangenheit besteht aus Orten, signifikanten Daten und Zeiten, Personen, Veränderungen,<br />
Verlusten oder Trennungen und anderen Ereignissen, die sowohl glücklich als auch traurig sind, wie<br />
Krankheiten, Ferien und Geburtstage.<br />
Die Gegenwart besteht aus Selbstbildnissen, Reaktionen auf die Vergangenheit und Antworten<br />
aufprägen wie »Was tue ich hier«, »Wo gehöre ich hin«, »Wie sehen mich andere«.<br />
Die Zukunft besteht aus Themen wie »Wie werde ich sein«, »Wo werde ich leben«, »Welche<br />
Chancen habe ich«, »Welche Veränderungen werden kommen«.<br />
Viele Kinder, mit denen wir arbeiteten, fühlten sich miserabel und deprimiert. Der Ausblick in die<br />
Zukunft sollte diese Gefühle mindern und sie durch Hoffnungen und Wünsche ersetzen. Durch<br />
Biografiearbeit können Punkte, die sich auf die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft<br />
beziehen, auf eine selbstverständliche Art zur Sprache gebracht werden. Das ermöglicht es, Fakten<br />
über die Vergangenheit und Gegenwart festzuhalten und dazu beizutragen, Ereignisse und Personen<br />
im Leben des Kindes zu entmystifizieren. Gleichzeitig können Hoffnungen für die Zukunft und<br />
Zweifel an ihr zur Sprache gebracht werden und ein »Überbrücken« (das Verbinden der<br />
Vergangenheit mit der Zukunft) in eine neue Familie oder Situation kann beginnen.<br />
Der Teil über Identitätstheorie ist notgedrungen kurz. Wir haben am Ende dieses Buches weitere<br />
Literatur aufgelistet, die das Thema vertieft.<br />
Wer sollte Biografiearbeit mit Kindern machen<br />
Wir glauben fest an die heilende Wirkung von Gesprächen. Jeder verständnisvolle Erwachsene kann<br />
die richtige Person für diese Arbeit sein, wenn er oder sie bereit ist, die Zeit zu opfern und die<br />
Verpflichtung dem Kind gegenüber einzugehen, Biografiearbeit mit ihm zu machen. Dies kann ein<br />
Buch, Video oder eine andere dauerhafte Aufzeichnung über das Leben des Kindes sein, auf die es<br />
zurückgreifen bzw. zu der es etwas hinzufügen kann.<br />
Jeder, der diese Aufgabe übernimmt, wird die aktive Unterstützung des zuständigen Sozialarbeiters<br />
des Kindes und anderer wichtiger Personen durch regelmäßige Besprechungen benötigen. Wir haben<br />
Adoptions- und Pflegeeltern und vielen pädagogischen Fachkräften im Heim erfolgreich geholfen, auf<br />
diese Art mit Kindern zu arbeiten. Es ist auch wichtig, einen ernsthaften Versuch zu machen, die<br />
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Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
leibliche Familie miteinzubeziehen, wenngleich immer das Kind den Umfang ihrer Einbeziehung<br />
bestimmt.<br />
Was verlangt die Biografiearbeit von dem Erwachsenen<br />
Wer mit einem Kind Biografiearbeit macht, benötigt Wachsamkeit und Geduld für die Hinweise, die<br />
das Kind geben könnte. Besonders während Sitzungen, in denen nicht viel passiert, weil das Kind<br />
nicht in der Stimmung ist oder testen will, ob man vertrauenswürdig ist. Die Person muss dem Kind<br />
gegenüber auch einfühlsam sein. Es gibt keine Gebrauchsanweisung für die Biografiearbeit, das Kind<br />
ist jedoch immer der Schlüssel dafür. Es liegt in der Verantwortung des Erwachsenen, Wege zu finden,<br />
die es dem Kind ermöglichen, über sein Leben zu sprechen; man sollte es vermeiden, die eigene<br />
Betrachtungsweise aufzudrängen. Genauso, wie man es nicht zulassen sollte, offensichtlich falsche<br />
Informationen aufzuzeichnen gilt es ebenso zu vermeiden, das Ruder zu übernehmen und somit die<br />
»beeinflusste Version« vom Leben eines Kindes zu produzieren. Es ist immer noch die<br />
Lebensgeschichte des Kindes und wichtig ist seine Sichtweise.<br />
Es ist auch wichtig, dem Kind zu vermitteln, dass die Aufzeichnung verändert werden kann. Manche<br />
Kinder werden zu einem späteren Zeitpunkt wichtige Informationen offenbaren, welche sie gerne zu<br />
ihrer Lebensgeschichte hinzufügen möchten.<br />
Es gibt Fehler, die weniger erfahrene Personen manchmal machen, mit gesundem Menschenverstand<br />
können diese aber leicht vermieden werden:<br />
1. Niemals das Vertrauen verraten, das das Kind einem schenkt 1 .<br />
2. Nicht vermeiden, über Sachen zu sprechen, über die das Kind sprechen will, weil sie einem selbst<br />
unangenehm sind.<br />
3. Dem Kind keine Wörter in den Mund legen.<br />
4. Sobald man die Aufgabe übernommen hat, Biografiearbeit zu machen, darf man nicht das Kind<br />
auf halber Strecke damit allein lassen und hoffen, dass jemand anderes die Arbeit beendet. Man sollte<br />
damit so lange fortfahren, bis man sich mit dem Kind einig ist, dass es Zeit ist, die regelmäßigen<br />
Sitzungen zu beenden.<br />
5. Weder das Endprodukt noch die durchgeführte Biografiearbeit als Belohnung oder Druckmittel<br />
benutzen, sondern lediglich als einen normalen Teil des gemeinsamen Lebens.<br />
1 Wenn ein Kind einem selbst gegenüber zum ersten Mal aufdeckt, dass es sexuell missbraucht wurde,<br />
muss man ihm klarmachen, dass manche Informationen an die Erwachsenen weitergegeben werden<br />
müssen, die für seinen Schutz verantwortlich sind (…..).<br />
Quelle: Weigel - Checkliste für die Vorbereitung und Zeitplanung einer<br />
Biografiearbeit mit einem Kind oder Jugendlichen:<br />
Bestandsaufnahme:<br />
• Was weiß ich bereits über das Kind / den Jugendlichen, was nicht<br />
• Wen kann oder sollte ich über das Kind / den Jugendlichen, über seine Familie<br />
und über seine Vorgeschichte befragen<br />
• Welche anderen Informationsquellen gibt es<br />
Zeit- und Raumplanung für die Arbeit mit dem Kind / dem Jugendlichen:<br />
• Wann ist der richtige Zeitpunkt, um die Arbeit mit dem Kind zu beginnen<br />
• Welchen Zeitraum plane ich insgesamt ein<br />
• Welchen Rhythmus für Termine kann ich einhalten<br />
• Wo kann ich mit dem Kind ungestört arbeiten<br />
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Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
Kooperationspartner:<br />
• Wen kann ich wie verbindlich mit einbeziehen<br />
• Welche Kollegen können mich unterstützen / entlasten / beraten<br />
• Wer kann und sollte das Kind / den Jugendlichen während der Zeit der<br />
Biographiearbeit unterstützen<br />
Situation des Kindes / des Jugendlichen:<br />
• Welche Perspektive ist für das Kind geplant / wünschenswert<br />
• Welche emotionalen Konflikte können eventuell bei dem Kind oder Jugendlichen wachgerufen<br />
werden<br />
• Wen muss ich darauf vorbereiten<br />
•<br />
Praktische Umsetzung:<br />
• Welche Methoden möchte und kann ich einsetzen<br />
• Welche Stationen sollte und kann ich mit dem Kind aufsuchen<br />
• Welche Medien und welches Material brauche ich<br />
• Wie viel Geld brauche ich, woher kann ich es bekommen<br />
Kompetenzen aus dem Lehrplan: „Kinder- und Jugendarbeit im Sinne ausgewählter Ansätze unter<br />
Berücksichtigung von Partizipation planen, durchführen und reflektieren“. / „Grundmerkmale der<br />
entwicklungsförderlichen Beziehungsgestaltung in der pädagogischen Arbeit mit Kindern und<br />
Jugendlichen beachten“. Wissen und verstehen: Was wird mit Biografiearbeit eigentlich bewirkt<br />
Welchen Sinn und Zweck -, welchen pädagogischen oder entwicklungspsychologischen Nutzen hat<br />
sie Diskurs: Trauen Sie sich Biografiearbeit mit einem Kind/Jugendlichen zu Inwiefern fühlen Sie<br />
sich dieser Aufgabe gewachsen Inwiefern haben Sie Bedenken Inwiefern könnte Ihre eigene<br />
Biografie eine Rolle spielen<br />
Thema: Verstärkerplan<br />
Quelle: Weigel (nach umgearbeiteten Vorlagen) – Vor- und Nachteile eines<br />
Verstärkerplans:<br />
Diskurs vorab: Was ist ein „Verstärkerplan“ Was bezweckt man damit Wie sollte er aufgebaut<br />
sein Was gibt es dabei zu beachten Welche Möglichkeiten, welche Grenzen sind gegeben<br />
Ein Verstärkerplan dient dazu, positives Verhalten von Kindern und Jugendlichen zu verstärken und<br />
sie zu motivieren, dieses zu wiederholen.<br />
In einem Verstärkerplan sollten nur Lob und Belohnungen aufgenommen werden, Strafen könnten<br />
dazu führen, erworbene Pluspunkte verloren gehen und kein<br />
Anreiz mehr besteht, weiterhin Pluspunkte zu verdienen. Das gewünschte Verhalten soll belohnt<br />
werden, z.B. durch Punkte oder Smileys. Tritt das gewünschte Verhalten nicht ein, gibt es keinen<br />
Punkt, jedoch sollte auch keiner abgezogen werden. Bei extrem negativem Verhalten ist es wichtig,<br />
dass eine direkte Konsequenz folgt, die jedoch nicht Bestandteil des Verstärkerplans sein sollte.<br />
Es gibt die Möglichkeit, Verstärkerpläne individuell oder einheitlich zu gestalten. Hierbei kommt es<br />
auf die Situation an. Betrifft das Verhalten, das verbessert werden<br />
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Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
soll, die gesamte Gruppe, z.B. das Benehmen beim Mittagessen und den Hausaufgaben, oder geht es<br />
um ein einzelnes Kind, das immer die Schule schwänzt und keinen Respekt gegenüber seinen<br />
Mitmenschen zeigt<br />
Man kann diese beiden Möglichkeiten auch kombinieren, sodass die Gruppe an der Erziehung des<br />
Einzelnen beteiligt ist, und Einzelne zu einem besseren Verhalten ermutigt. Man könnte auch eine<br />
Gruppenaktivität als Belohnung ansetzen, für die alle gemeinsam Punkte sammeln.<br />
Bei einem gemeinsamen Verstärkerplan besteht die Gefahr, dass man die Kinder miteinander<br />
vergleicht, aber jedes Kind hat seine eigene Vorgeschichte und kann sein Verhalten unterschiedlich<br />
schnei! ändern, deshalb sollte man das Verhalten eines Kindes nur mit seinem eigenen Verhalten<br />
von einem früheren Zeitpunkt vergleichen.<br />
Ebenfalls ist zu überlegen, in welcher Weise man die Eltern mit in den Verstärkerplan miteinbezieht.<br />
Betrifft der Verstärkerplan auch den Besuch bei den Eltern, geht es z.B. um ein Verhalten beim<br />
Zubettgehen oder handelt es sich um ein schulisches Problem<br />
Hierbei ist auch zu beachten, wie das Verhältnis zwischen Eltern und Kind ist. Ist es angespannt,<br />
könnte es sein, dass die Eltern nur negative Punkte verteilen. Haben die Eltern vielleicht ein<br />
schlechtes Gewissen, weil sie ihr Kind weggegeben haben, vergeben sie unter Umständen nur<br />
positive Punkte. Beide Fälle machen jedoch den Sinn und Erfolg des Verstärkerplans kaputt. Am<br />
besten hält man mit den Eltern eine Rückschau auf die jeweiligen Besuche und bespricht<br />
gemeinsam, ob und wie viele Punkte für diese Zeit vergeben werden können. Themen, die nur den<br />
Heimalltag betreffen, sollten auch nicht auf zu Hause übertragen werden.<br />
Wie alle Methoden der Erziehung hat auch der Verstärkerplan seine Grenzen. So spielt z.B. das<br />
Alter eine entscheidende Rolle. In der Pubertät wird es wahrscheinlich schwierig die Jugendlichen mit<br />
Süßigkeiten als Belohnung zu locken. Jugendlichen tun sich oft schwer damit, ein gefühlvoll ausgedrücktes Lob<br />
von Erzieherinnen anzunehmen, besonders in einer Gruppensituation.<br />
Weitere Grenzen stellen der psychologische Hintergrund und die Lebenssituation des Kindes dar. Im<br />
Verstärkerplan werden diese nicht erfasst und nicht analysiert. Ein Kind, das wegen ausbleibender Elternanrufe<br />
enttäuscht und verletzt ist, wird seine Wut mittels eines Verstärkerplans nur schwer in den Griff kriegen können.<br />
Hier ist dann weniger ein Verstärkerplan, sondern eher eine pädagogische Arbeit nach dem systemischen<br />
Ansatz gefragt.<br />
Kompetenzen aus dem Lehrplan: „Kinder- und Jugendarbeit im Sinne ausgewählter Ansätze unter<br />
Berücksichtigung von Partizipation planen, durchführen und reflektieren“. / „Grundsätze der<br />
Partizipation in Planung und Durchführung einer Hilfe zur Erziehung beachten“. Wissen und<br />
verstehen: Individualisierung des Verstärkerplans. Das Kind nur mit sich selbst und nicht mit<br />
andern vergleichen. Begrenzte Möglichkeiten des Verstärkerplans erkennen und systemischen<br />
Ansatz nicht außer Acht lassen.<br />
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Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
Thema: Kooperation Erziehungshilfe und Kinder- u.<br />
Jugendpsychiatrie<br />
Quelle: Kalter, Birgit: „Besonders schwierig, psychisch krank oder seelisch<br />
behindert – Um welche Kinder und Jugendlichen geht es“, in: Fegert u.<br />
Schrapper (Hrsg.): „Handbuch Jugendhilfe – Jugendpsychiatrie,<br />
Interdisziplinäre Kooperation“, Weinheim, 2004<br />
Alle Kinder und Jugendlichen verhalten sich gelegentlich in einer Art und die für Außenstehende<br />
auffällig, wild, unerzogen, also wenig nachvollziehbar erscheint. Wenn aber von der<br />
„Schnittmenge" zwischen Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie die Rede ist, geht es nicht um alle<br />
Kinder, auch nicht um alle Kinder und Jugendlichen, die Hilfen benötigen, sondern um jene<br />
jungen Menschen, die beide Hilfesysteme in Anspruch nehmen und dadurch in beiden<br />
Systemen einerseits zu Abgrenzungsproblemen, zu Schwierigkeiten in der Zuständigkeitsklärung<br />
führen, sie aber andererseits auch zu fruchtbaren Ergänzungen und Kooperationen zwingen<br />
können.<br />
Aber welche Kinder und Jugendliche sind es genau, die Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie<br />
zum Austausch und zur Zusammenarbeit zwingen Um welche jungen Menschen geht es, wenn<br />
von den „Grenzfallen", den „unerzogenen“, „verhaltensauffälligen" oder „verrückten" die Rede<br />
ist (vgl. Köttgon, 1998).<br />
Allgemein gesagt, geht es um jene Kinder und Jugendlichen, die als „besonders schwierig" gelten<br />
und bei denen nicht nur pädagogische Probleme,<br />
sondern auch psychische oder psychiatrische Ursachen für ihr „schwieriges Verhalten<br />
anzunehmen sind (vgl. Pankofer 1997).<br />
Zwar geht es auch um pädagogische Probleme und psychische/psychiatrische Ursachen, nur sind<br />
deren Grenzen fließend. Bei genauerer Betrachtung der Situation betroffener junger Menschen und<br />
der Reaktionen ihrer Umwelt darauf, lassen sich bestimmte Merkmale sog. „Grenzfalle"<br />
identifizieren, die einerseits eine Kooperation zwischen Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie<br />
erfordern und andererseits zum besseren Verständnis dieser jungen Menschen beitragen können.<br />
Es geht um junge Menschen, die sowohl mit der Jugendhilfe als auch der Jugendpsychiatrie in<br />
Berührung kommen<br />
Die erste Gemeinsamkeit klingt banal. Sie trotzdem hervorzuheben, erscheint gerade deshalb<br />
wichtig, weil sie bereits auf Besonderheiten in der Biografie der jungen Menschen verweist, die<br />
nicht unerhebliche Auswirkungen haben können. Hierzu drei Beispiele:<br />
Bei den neu aufgenommenen jungen Menschen, über die bei der Dienstübergabe in einer<br />
kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik berichtet wird, handelt es sich um Uwe, Sabine und<br />
Achim. Die Wege, auf denen diese jungen Menschen jeweils zur Aufnahme gelangten, sind<br />
unterschiedlich:<br />
Der vierzehnjährige Uwe wurde von seinem neunzehn Jahre älteren Bruder auf Anraten einer<br />
Mitarbeiterin des Jugendamtes gebracht. Sabine, fünfzehn Jahre alt, ist seit mehreren Wochen aus<br />
einer Heimeinrichtung abgängig und wurde von der Polizei aufgegriffen. Nachdem sie gedroht<br />
hatte, sich umzubringen, wurde sie nach Rücksprache mit den Heimmitarbeitern, aufgenommen.<br />
Die Pflegeeltern des sechzehnjährigen Achim waren dem Rat einer Erziehungsberatungsstelle<br />
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Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
gefolgt, die sie an einen niedergelassenen Kinder- und Jugendpsychiater verwies, von dem dann<br />
die stationäre Aufnahme veranlasst wurde.<br />
Spätestens mit der Aufnahme in die Klinik haben es diese jungen Menschen nicht mehr nur mit dem<br />
System der Jugendhilfe und seinen Hilfsangeboten zu tun, sondern jetzt auch mit dem System der<br />
Kinder- und Jugendpsychiatrie. Dies beinhaltet nicht selten eine völlig neue Definition ein und<br />
desselben Verhaltens. Die gleichzeitige oder aufeinander folgende Konfrontation mit den<br />
unterschiedlichen Hilfesystemen, mit den hier vorfindbaren unterschiedlichen Sprachen,<br />
systemeigenen Deutungsmustern, Erwartungshaltungen und Herangehensweisen können für den<br />
Betroffenen Irritationen aufwerfen und in einer ohnehin krisenhaft zugespitzten Situation zu<br />
zusätzlichen Belastungen fuhren.<br />
Es geht um junge Menschen, deren Verhalten fortgesetzt Hilflosigkeit und Ohnmacht auslöst<br />
So unterschiedlich wie ihre Wege in die Klinik, ist auch das Verhalten der Jugendlichen:<br />
Achim war zunächst in der Schule durch aggressives Verhalten gegenüber seinen Mitschülern,<br />
durch chronisches Zu-spät-Kommen und Stören Unterrichts aufgefallen. Er hatte keine Freunde,<br />
orientierte sich vornehmlich an älteren, randständigen Jugendlichen, beging mit ihnen die<br />
Diebstähle und Fälle von Vandalismus. Er log und tyrannisierte seine Pflegeeltern zunehmend mit<br />
unkontrollierten Wutausbrüchen und tätigen Angriffen gegenüber seiner Pflegemutter.<br />
Sabine, als uneheliches Kind geboren und zunächst von der noch minderjährigen Mutter alleine<br />
aufgezogen, war , nachdem die Mutter eine neue Beziehung eingegangen war und einen Sohn<br />
geboren hatte, „auch durch Prügel kaum noch in den Griff zu bekommen“. Sie kam mit dem<br />
Stiefvater nicht zurecht und hatte extreme Schwierigkeiten, sich ins Familienleben einzufügen, was<br />
letztlich zur Heimunterbringung führte. Hier setzten sich die Schwierigkeiten fort. Sie störte das<br />
Gruppenleben und reagierte auf Anforderungen, indem sie sich mit Glasscherben die<br />
Unterarme aufritzte, Stecknadeln schluckte und letztlich fort lief.<br />
Uwe hatte sich über einen Zeitraum von mehreren Monaten immer mehr in sich selbst<br />
zurückgezogen. Anfangs war er nur stiller als üblich, dann wirkte er abwesend, beteiligte sich<br />
weder zuhause noch in der Schule, noch machte er Hausaufgaben. Er saß schweigend in seinem<br />
Zimmer; aß kaum noch. Zuletzt redete er überhaupt nicht mehr, reagierte nicht mehr auf Ansprache.<br />
Er wirkte „wie ferngesteuert, völlig unbeteiligt" und .schien die Menschen seiner<br />
Umgebung nicht mehr wahrzunehmen.<br />
Uwe, Sabine und Achim gemeinsam ist, dass ihr von unterschiedlichen Seilten, als „unerzogen",<br />
„auffällig", „gestört", „unangemessen" beschriebenes Verhalten, in ihrer Umgebung bereits seit<br />
geraumer Zeit Hilflosigkeit, Unverständnis und Ohnmacht auslöst: „Das ist doch verrückt. Wir<br />
haben schon alles Mögliche versucht, wissen nicht mehr weiter; man kommt überhaupt nicht<br />
mehr an sie/ihn heran", lauten die Aussagen der Bezugspersonen, der Eltern, Geschwistern,<br />
Pflegeeltern.<br />
Hier spielt es weniger eine Rolle ob sich das „schwierige" Verhalten (wie bei Achim) auf<br />
aggressive, (wie bei Sabine) auf selbstverletzende oder (wie bei Uwe) auf selbstisolierende Weise<br />
oder in anderer Form (z.B. durch gezieltes Zerstören von Gegenständen oder extreme<br />
Distanzlosigkeit äußert. Gemeinsam ist ihnen das Merkmal, dass ihr Verhalten ihre Umgebung<br />
in Hilflosigkeit und Ohnmacht führt, und sich dies über die direkten Bezugspersonen hinaus<br />
fortsetzt: Auch die Heimmitarbeiter, die Mitarbeiter des Jugendamtes, der<br />
Erziehungsberatungsstelle, der Polizei und letztlich auch der niedergelassene Kinder- und<br />
Jugendpsychiater wissen sich keinen Rat und verweisen auf eine nächste Instanz, auf die der<br />
stationären Kinder- und Jugendpsychiatrie.<br />
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Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
Es geht um junge Menschen, deren Verhalten fortgesetzt dazu führt, dass sie ausgegrenzt werden<br />
Da das problematische Verhalten nicht nur situationsgebunden sondern situationsübergreifend<br />
auftritt, den Jugendlichen eine wirksame Einbindung in eine Peergroup zu fehlen scheint, sowohl<br />
(bei Uwe, Achim und Sabine) ein negatives Selbstwertgefühl, extreme Selbstwertschwankungen<br />
zu beobachten sind, und als „Begleitsymptome" Konzentrationsprobleme und affektive<br />
Schwankungen gegeben sind, wird hier die kinder- und jugendpsyiatrische Diagnose „Störung des<br />
Sozialverhaltens bei fehlenden sozialen Bindungen", gestellt, die „... charakterisiert wird, durch<br />
die Kombination von andauerndem dissozialem oder aggressiven Verhalten, mit einer deutlichen<br />
und umfassenden Beeinträchtigung der Beziehungen des betroffenen Kindes zu anderen" (Dilling<br />
et al. ICD-10,1993,281).<br />
Welcher Schwerpunkt für die Kategorisierung der „Störung" entsprechend eines Diagnoseschemas<br />
im Vordergrund steht ist für das Verständnis der Situation des Betroffenen zweitrangig. Hierfür<br />
wesentlicher ist, dass Sabine, Achim und Uwe Verhaltensweisen aufweisen, die dazu führen, dass<br />
der Kontakt zu ihren Mitmenschen immer wieder gestört wird und der/die betroffene Jugendliche<br />
von seinen/ihren sozialen Bezügen ausgegrenzt wird (vgl. Fröhlich-Gildhoff und Hanne 1996,<br />
297).<br />
Den Werdegang von Uwe, Sabine und Achim vor diesem Hintergrund betrachtet, zeigt auf, dass<br />
sich nicht nur Hilflosigkeit und Ohnmacht im Umgang mit ihnen fortsetzen. Fortgesetzt wird auch<br />
deren Ausgrenzung aus bisherigen Beziehungen und sozialen Umfeldern (hier durch die stationäre<br />
Unterbringung).<br />
Die Biografien der jungen Menschen weisen i.d.R. nicht nur problematische<br />
Beziehungserfahrungen, sondern auch sozioökonomische Belastungen und/oder krisenhaft<br />
zugespitzte Lebensverhältnisse auf, die sich gegenseitig häufig bedingen und verstärken<br />
Bei allen Unterschieden in den disziplinabhängigen Erklärungsmodellen für die Entstehung des<br />
beschriebenen Verhaltens, kann als Gemeinsamkeit der unterschiedlichen Auffassungen die<br />
Annahme aufgezeigt werden, dass dem Verhalten Störungen in den Beziehungserfahrungen der<br />
Betroffenen und beeinträchtigende Sozialisationsbedingungen zugrunde liegen (vgl. Fröhlich-<br />
Gildhoff/Hanne, 298ff). Einigkeit besteht mittlerweile auch weitestgehend darin, nicht einzelne<br />
Ereignisse als Erklärung heranzuziehen, sondern unterschiedliche Faktoren in ihrem<br />
Zusammenspiel in den Blick zu nehmen, das als überdauerndes beeinflussendes „Klima" in der<br />
Entwicklung der Betroffenen wirksam wird und ein Verhalten auslösen kann, das<br />
umgangssprachlich als „verrückt" bezeichnet wird.<br />
„Verrückt" wurden für Achim, Sabine und Uwe - gerade in deren sensibler Wachstumsphase -<br />
basale Sicherheiten und lebensnotwendige Orientierungen. Das heißt, mit ihrer Kennzeichnung als<br />
„verrückte" Jugendliche wird weniger an deren Verhalten angeknüpft, als an den ihnen zugrunde<br />
liegenden Entwicklungs- und Sozialisationsbedingungen (vgl. Darius/Hellwig/ Schrapper 2001, 6).<br />
Achims Mutter erkrankte kurz nach seiner Geburt schwer und verstarb als er noch keine vier Jahre<br />
alt war. Sein Vater besuchte ihn zunächst regelmäßig im Haushalt der Pflegefamilie, die Achim ein<br />
neues Zuhause bot. Erst als der Vater arbeitsbedingt in eine andere Stadt zog und eine neue Familie<br />
gründete, begangen Achims Schwierigkeiten.<br />
Mit zwei Brüdern, die neunzehn und zweiundzwanzig Jahre älter waren, wurde Uwe als sog.<br />
„unerwünschter Nachkömmling" geboren. Mit Uwes Einschulung wurde der Vater arbeitslos und<br />
hatte mit 61 Jahren wenig Aussicht auf eine neue Anstellung. In dem Arbeiterhaushalt war Geld<br />
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ohnehin immer knapp gewesen, aber nun reichte es vorn und hinten nicht mehr aus. Den<br />
Belastungen zuhause entfloh der Vater in die Kneipe. Die Mutter konzentrierte ihre Erwartungen<br />
auf Uwe: wenigstens er sollte mit einem guten Schulabschluss dem Arbeitermilieu einmal entfliehen<br />
können. Aber weder den Erwartungen der Mutter noch den schulischen Anforderungen sah sich Uwe<br />
gewachsen. Zudem galt er in der Schule als Sonderling, der von seinen Mitschülern wegen seiner<br />
altmodischen Art und seiner abgetragenen Kleidung gehänselt wurde.<br />
Die Versorgung eines kränkelnden Kleinkindes bot für Sabines sehr junge Mutter, die zudem vor ihrer<br />
Heirat für den Lebensunterhalt der beiden zu arbeiten hatte, eine hohe Belastung. Sabine wurde<br />
zunächst tagsüber von Großmutter versorgt und wechselte - als diese sich gesundheitlich hierzu nicht<br />
mehr in der Lage sah - von einem Krippenplatz in unterschiedliche Tagespflegestellen.<br />
Alle drei Geschichten beschreiben stabilitätsgefährdende Faktoren, die für die Entwicklung den<br />
Werdegang der jungen Menschen ein einflussnehmendes „Klima" bilden. Hierbei geht es um die<br />
Zirkularität von sozioökonomisch hoch belasteten (wie im Fall der jungen Mutter) und/oder aktuell<br />
krisenhaft zugespitzten Lebensverhältnissen (z.B. die Arbeitslosigkeit von Uwes Vater) und um<br />
individuell biografisch erfahrene problematische Muster der Beziehungsgestaltung,<br />
Konfliktbearbeitung und Problembewältigung, die in ihrer Summe und Dauer ein hohes Maß an<br />
Unsicherheit, aber auch Unzuverlässigkeit, Versagen, Vernachlässigung, Loyalitätsfallen, Gewalt und<br />
Bedrohung bedeuten (vgl. Schrapper 1998, 7). In der Regel treten solche Faktorenbündel nicht isoliert<br />
auf, sondern bedingen sich gegenseitig und verstärken Problemlagen oder spitzen sie zu. In ihrem<br />
Zusammenwirken lassen sie Konflikte eskalieren und/oder verschütten oder vernichten<br />
Kompetenzen und Ressourcen nicht nur des betroffenen Kindes, sondern auch sozialer Systeme<br />
(z.B. Familie), was wiederum verbunden ist, sowohl mit situativen Risiken als auch mit Bedrohungen<br />
für individuelle wie soziale Prozesse.<br />
Das auf Ablehnung stoßende Verhalten wird den jungen Menschen immer mehr zum Selbst- Verständnis<br />
und setzt ihren Gesamtwerdegang zusätzlichen Bedrohungen aus<br />
Die wechselseitigen Einflussnahmen von krisenhaft zugespitzten oder sozioökonomisch belasteten<br />
Lebensbedingungen und ambivalenten, diskontinuierlichen, widersprüchlichen Beziehungs- und<br />
Kontakterfahrungen (z.B. durch den Wechsel an Bezugspersonen und Lebensräumen, Unberechenbarkeiten<br />
der Reaktionen und des Handelns), bilden beeinträchtigende, wachstumshemmende<br />
Sozialisationsbedingungen. Dies bewirkt ein Klima, in dem ein subjektives Erleben von<br />
Nichtannahme und Nichtanerkennung gefördert wird, das wesentlich zum Entstehen eines negativen<br />
Selbstbildes und Selbstkonzeptes beitragen kann:<br />
„Ich werde abgelehnt, nicht angenommen, nicht anerkannt, meine Gefühle, meine Äußerungen sind<br />
falsch, meine eigenen inneren Einschätzungen, Bewertungen und Beurteilungen stehen im<br />
ständigen Gegensatz zu denen meiner Bezugspersonen" (Fröhlich-Gildhoff und Hanne 1996, 298ff.).<br />
Hierdurch wird die dialogische Beziehung zur Mitwelt beeinträchtigt: Das als problematisch gesehene<br />
Verhalten der jungen Menschen gibt Hinweise darauf, dass die Aufnahme, Verarbeitung und<br />
handlungsleitende Integration ebenso wie die Einbeziehung der Reaktionen der Umwelt nicht mehr<br />
unbeeinträchtigt gelingt und der junge Mensch in seinem Aneignungshandeln das neu erlernte<br />
Handlungs- und Bewusstseinspotential nicht mehr erfolgreich in die eigene Identität einbauen kann.<br />
Auf Dauer wird das negative Selbstkonzept auf diese Weise irgendwann zur Selbstverständlichkeit:<br />
Die Ablehnung durch andere wird als stimmig, als kongruent erlebt. Und diese Kongruenz wird<br />
herzustellen versucht (vgl. Fröhlich-Gildhoff und Hanne 1996,303). Erfahrungen, die dem<br />
Selbstkonzept widersprechen, werden nun als Bedrohung für das Selbst und die Selbstachtung<br />
wahrgenommen und lösen Verunsicherung, Unzufriedenheit und Angst aus. Hierdurch „gestört" wird<br />
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der Fluss der Erfahrung: Erfahrung wird wie ein Feind erlebt, der zur Selbst-Verteidigung zwingt (vgl.<br />
Biermann-Ratjen 1996, 24).<br />
Dies bewirkt nicht nur, dass sich der Erfahrungsspielraum des Betroffenen und seine Kompetenzen<br />
und Ressourcen verengen, sondern auch, dass alternative (Beziehungs-) Erfahrungen als nicht<br />
kompatibel abgewehrt werden müssen. Das heißt, die gesamten Interaktionen des jungen Menschen<br />
werden zunehmend davon bestimmt, erneut das o.g. (negative) Selbstbild zu bestätigen. Und das<br />
genau ist es, was letztlich in der Umgebung des jungen Menschen Hilflosigkeit und Ohnmacht auslöst,<br />
und was nach den vielen gut gemeinten aber immer wieder scheiternden Versuchen letztlich doch zur<br />
Ablehnung und Ausgrenzung führt.<br />
Es entsteht ein Teufelskreis, der die Gesamtentwicklung, den gesamten weiteren Werdegang des jungen<br />
Menschen der Bedrohung einer „seelischen Behinderung" aussetzt. Bei Unterbleiben geeigneter<br />
Hilfestellungen bedeutet dies, dass sie von einer Entwicklung bedroht sind, die sie in ihren Beziehungen<br />
beeinträchtigt, die ihr Leistungsniveau herabsetzt, die ihre Teilnahme am Bildungsprozess und ihre<br />
spätere Teilnahme am regulären Arbeitsprozess infrage stellt, und die ihr subjektives Erleben mehr<br />
oder weniger erheblich beeinträchtigt (vgl. Fegert 1999, 35).<br />
Es geht um die jungen Menschen, die angewiesen sind auf alternative Erfahrungen, auf grundlegende<br />
Orientierungen und basale Sicherheiten<br />
(…..)<br />
Um den Teufelskreis von selbstbestätigendem aber auffälligem Verhalten und wiederkehrender<br />
Ablehnung und Ausgrenzung zu durchbrechen, sind Uwe, Sabine und Achim auf Hilfe von außen<br />
angewiesen, die nicht vor disziplinären Grenzen halt macht. Ein Appellieren an die Einsicht und die<br />
Vernunft der jungen Menschen reicht ebenso wenig aus, wie eine medikamentöse Beeinflussung oder<br />
ein gezieltes Verhaltenstraining. Selbstbilder entstehen im Fluss der Erfahrung und korrigieren sich<br />
auch nur über Erfahrungen und vor allem über, alternative Beziehungserfahrungen.<br />
Gezielte Hilfestellungen werden sich hier sowohl auf ,materielle Fürsorge, körperliche Versorgung als<br />
auch auf emotionale Stärkung' beziehen müssen, um einen Raum zu schaffen, der ,frei ist von<br />
Bedrohungen und in dem die Angst zunehmend der Gelassenheit weichen kann'. Ohne auf „Umerziehung"<br />
zu tendieren oder die Zielvorstellungen des Aneignungsprozesses, den der junge Mensch<br />
selbst vollziehen muss, vorwegzunehmen, geht es um die .Bereitstellung der<br />
Problemlösungsbedingungen' als eine offene Situation, die eine ,initiierte Zäsur' in der<br />
biographischen Lebenskontinuität erlaubt, und es dem jungen Menschen ermöglicht, sich aus den<br />
Verhärtungen seines Verhaltens zu lösen und Alternativen zuzulassen. Es geht also um die<br />
Schaffung einer neuen ,Situationsbasis', um einen Wandel in der ,modalen Realität', der zu einem<br />
bisher nicht vertrauten Tun provoziert. Hierfür gleichzeitig und zunehmend Aneignungsmaterial zur<br />
Verfügung zu stellen, über das sich der Entwicklungs- und Bildungsprozess des jungen Menschen<br />
entfalten kann, gibt Hilfestellung dafür, dass das Aneignungsgeschehen, das Ausschöpfen eigener<br />
Ressourcen überhaupt wieder möglich wird (vgl. Winkler 1988).<br />
Es geht um jene jungen Menschen, deren Verhalten sowohl die Jugendhilfe als auch die<br />
Jugendpsychiatrie an die Grenzen ihrer Möglichkeiten führt und das die Zusammenarbeit<br />
unterschiedlicher Hilfesysteme fordert<br />
(…..)<br />
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Die Kinder- und Jugendpsychiatrie versteht sich primär als diagnostischer und kurativer Dienstleister,<br />
der sich der Heilung verpflichtet sieht. Hierbei ist sie sich durchaus bewusst, dass die meisten<br />
Störungsbilder, mit denen sie es zu tun hat, nicht ausgeheilt werden können und keine üblichen<br />
Erkrankungen wie z.B. Infektionen sind (vgl. Fegert 2001, 18f.). Ein Krankenhaus, welches die<br />
psychiatrische Klinik nun einmal ist, ist kein auf Dauer angelegter Lebensort. Der Aufenthalt hier wird<br />
darauf abzielen, dass sich die ,akute Symptomatik' legt, Uwe wieder zu reden und zu essen beginnt,<br />
Achims Wutausbrüche und Sabines Selbstverletzungen deutlich seltener werden. Der stationäre<br />
Aufenthalt wird so kurz wie möglich gehalten werden, auch wenn eine „Heilung" nicht bewirkt werden<br />
kann und die jungen Menschen zudem in eine nicht „geheilte" Situation entlassen werden. In der<br />
Regel hat dies zur Folge, dass die jungen Menschen selbst ebenso wie ihre Umgebung weiterführender<br />
Unterstützung und Begleitung bei der Bewältigung von Anforderungen bezogen auf Alltag, Freizeit,<br />
Schule und Ausbildung bedürfen. Hierfür greift die Jugendpsychiatrie auf Angebote der Jugendhilfe<br />
zurück, sofern die Kinder und Jugendlichen nach einer Behandlung nicht in ihr gewohntes<br />
Lebensumfeld zurückkehren können, bzw. dieses Lebensumfeld Unterstützung außerhalb des kinderund<br />
jugendpsychiatrischen Bereichs benötigt (vgl. Schrapper/Kalter 2001, 44).<br />
Uwes Familie wird nach seiner Entlassung in Form einer sozialpädagogischen Familienhilfe<br />
unterstützt. Achim kehrt nicht in die Pflegefamilie zurück, sondern wird in Zukunft in einer betreuten<br />
Jugendwohngemeinschaft leben. Sabine wird von einem Heim aufgenommen, dessen Mitarbeiter sich<br />
den Umgang mit ihren Schwierigkeiten zutrauen, in dem sie Fallberatung von außen in Anspruch<br />
nehmen.<br />
Jugendpsychiatrie und Jugendhilfe können Verschiedenes, arbeiten weitestgehend eigenständig und<br />
unabhängig. Trotzdem „brauchen" sie sich in den sog. „schwierigen Einzelfällen" zur gegenseitigen<br />
Unterstützung und Ergänzung (vgl. Schrapper/Kalter 2001, 44). Will man verhindern, dass sich für die<br />
Jugendlichen die problematischen Sozialisationsbedingungen, die problematischen<br />
Beziehungserfahrungen ebenso wie die sozioökonomischen Belastungen und krisenhaft zugespitzten<br />
Lebensumstände wiederholen oder fortsetzen, werden nicht nur individuell stabilisierende und alltagssichernde<br />
Maßnahmen beider Hilfesysteme im Nacheinander notwendig sein.<br />
Um nichtintendierte Nebenfolgen und Folgen von unterbliebenen/unzureichenden Hilfestellungen zu<br />
verhindern, geht es vor allem um eine kontinuierliche, auf verlässliche Strukturen gestützte<br />
Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie, die neben der Einbeziehung der Betroffenen<br />
auch die gegenseitige und frühzeitige Einbeziehung in die Hilfeplanung gewährleistet; die gemeinsam<br />
gestaltete Übergänge und Interventionen erlaubt, um zusätzliche Verwirrungen, Belastungen und<br />
Erfahrungen von Beziehungsabbrüchen für die betroffenen Jugendlichen zu verhindern.<br />
Quelle: Libal, Gerhard; M. Fegert, Jörg: „Kinder- und jugendpsychiatrische<br />
Therapie- und Interventionsmaßnahmen“, in: Fegert u. Schrapper (Hrsg.):<br />
„Handbuch Jugendhilfe – Jugendpsychiatrie, Interdisziplinäre Kooperation“,<br />
Weinheim, 2004<br />
Kinder- und jugendpsychiatrische Behandlungsformen<br />
Für die Therapie psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter kann die Kinder- und<br />
Jugendpsychiatrie (.…) auf verschiedene Behandlungsformen zurückgreifen: die Psychotherapie, die<br />
Psychopharmakotherapie, andere psychotherapeutische Übungsbehandlungen wie Ergotherapie, heilpädagogische<br />
Behandlungen und Physiotherapie, milieutherapeutische und sozialpädagogische Maßnahmen<br />
sowie eine spezifische schulische Förderung. (….)<br />
Psychotherapie<br />
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Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
Die psychotherapeutischen Ansätze stellen den zentralen Kernbereich kinder- und jugendpsychiatrischer<br />
Behandlungsmöglichkeiten dar. Sie ist die in ihren verschiedenen Abwandlungen mit Abstand am<br />
häufigsten realisierte Behandlung. Auch wenn andere Behandlungsmaßnahmen im Vordergrund stehen,<br />
sollten psychotherapeutische Prinzipien in kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlungen angewandt<br />
werden.<br />
Die psychotherapeutischen Therapieansätze und Schulrichtungen lassen sich in fünf große Gruppen<br />
einteilen (Grawe 2001):<br />
• kognitiv-behaviorale Therapien: Hierzu zählen die kognitiven Verhaltenstherapien mit den<br />
verschiedenen verhaltenstherapeutischen Methoden wie operante Verfahren, systematische<br />
Desensibilisierung und Reizkonfrontation, das Biofeedback, das Training sozialer Kompetenz und Problemlösungstherapien.<br />
• humanistische-erlebnisorientierte Therapien: Hierzu zählen die klientenzentrierte Gesprächstherapie, die<br />
Gestalttherapie, das Psychodrama und die Spieltherapie.<br />
• psychodynamische Therapien: Hierzu gehören tiefenpsychologische Therapieverfahren wie die<br />
Psychoanalyse, psychoanalytische Kurztherapien und die Individualtherapie.<br />
• interpersonale und dynamische Therapien: Hierzu zählen die interpersonale Psychotherapie, die<br />
Familientherapie und die systemische Therapie.<br />
• ergänzende spezielle Therapieverfahren: Diese Verfahren lassen sich nur schwer einer bestimmten<br />
Schulrichtung zuordnen und sind keine psychotherapeutischen Hauptmethoden.<br />
In der Praxis wird häufig eine Kombination bzw. Integration von verschiedenen Therapieansätzen versucht,<br />
um der spezifischen Problematik der jeweiligen Patienten möglichst gerecht zu werden und ein<br />
problembezogenes und störungsspezifisches Therapiekonzept für den Einzelfall zu entwickeln, an dem sich<br />
die Auswahl der Methoden und einzelner Interventionen ausrichten kann.<br />
Jede Behandlung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie wird von Beratung begleitet. Beratung<br />
unterscheidet sich von der Therapie dadurch, dass das Ziel nicht im Abbau der Symptomatik, sondern im<br />
besseren Umgang mit bestimmten Problemen liegt.<br />
Psychopharmakotherapie<br />
Der Einsatz von Psychopharmaka spielt im Gesamttherapiespektrum der Kinder- und Jugendpsychiatrie bei<br />
einer sorgfältig abgewägten Indikationsstellung eine zunehmend wichtigere Rolle. Bei einigen kinder- und<br />
jugendpsychiatrischen Störungen wie dem hyperkinetischen Syndrom, dem Gilles-de-la-Tourette-Syndrom,<br />
bei Psychosen und bei schweren Depressionen oder Manien ist eine adäquate Psychopharmakobehandlung<br />
sogar vorrangig. Sie sollte aber je nach Indikation einen unterschiedlichen Stellenwert innerhalb des<br />
Gesamttherapieplanes haben und somit stets in Verbindungmit anderen Therapieformen erfolgen.(….)<br />
Zu den wichtigsten und somit am häufigsten verwendeten Psychopharmaka in der Kinder- und<br />
Jugendpsychiatrie gehören Stimulanzien wie Methylphenidat, Antidepressiva wie die Selektiven<br />
Serotoninwiederaufhahmehemmer (SSRI), Neuroleptika mit mehr antipsychotischer oder sedierender<br />
Wirkung und Tranquilizer für akute Krisensituationen.(….)<br />
Mileutherapie<br />
Unter Milieutherapie versteht man die an therapeutischen Gesichtspunkten orientierte Abstimmung der<br />
Maßnahmen in der stationären Behandlung. Dazu gehören die Strukturierung der Station mit<br />
Stationsordnung, Visiten und Teambesprechungen sowie die Gestaltung des Stationslebens und gemeinsamer<br />
Aktivitäten. Sowohl die Beziehungen zwischen Stationsmitarbeitern und Patienten als auch die<br />
der Patienten untereinander werden für die Milieutherapie genützt. Obwohl die allgemeinen Prinzipien des<br />
jeweiligen Milieus auf das Störungsbild und die Bedürfnisse der jeweiligen Patienten abzustimmen sind,<br />
können sich Stationen oft sehr durch das gestaltete Milieu und somit in der Eignung für bestimmte Patienten<br />
unterscheiden.<br />
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Spezielle Therapieverfahren - Ärztlich verortnete Therapien durch so genannte ,,Heilhilfsberufe"<br />
Eine weitere wichtige Ergänzung des therapeutischen (und auch diagnostischen) Angebotes<br />
stellen Methoden dar, in denen bestimmte Medien, Techniken oder Tätigkeiten zur<br />
therapeutischen Förderung des Körpererlebens, der Ausdrucks- und Kontaktfähigkeit und der<br />
Persönlichkeitsentfaltung genutzt werden. Hierzu gehören etwa die Musiktherapie, die<br />
Ergotherapie, die Heilpädagogik, die Physiotherapie und andere körperbezogene Verfahren (z.B.<br />
Reittherapie, Tanztherapie), die Entspannungsmethoden (z.B. autogenes Training) sowie kreativkünstlerische<br />
Verfahren (z.B. Kunsttherapie). Diese Verfahren ermöglichen Zugänge zu vielen<br />
Kindern und Jugendlichen, die auf andere Weise, etwa durch Psychotherapie, oft nicht so gut erreichbar<br />
sind. Dies kann am Beispiel der Musiktherapie und der Ergotherapie verdeutlicht<br />
werden.<br />
Ergotherapie und Heilpädagogische Übungsbehandlungen<br />
In der Ergotherapie werden die Kinder und Jugendlichen zu einer praktischen Tätigkeit angeregt,<br />
um sie von einem störungsbedingt reduzieren Verhalten wieder zu einem dem normalen Alltag<br />
angenäherten Umgang mit der Umwelt zu führen. Zu den Zielen der Ergotherapie zählen die<br />
Entwicklung der praktischen Fertigkeiten, die Verbesserung der Konzentration und<br />
Aufmerksamkeit, die Entwicklung oder Wiedergewinnung der Selbständigkeit und die Förderung,<br />
der kreativen Entfaltung. In der Gruppe werden die Einfügung in den sozialen Zusammenhang der<br />
Arbeitsgruppe und die Einübung eines kooperativen Umgangs erprobt. Insbesondere soll erreicht<br />
werden, dass die Kinder und Jugendlichen durch das Erreichen von selbst gesteckten<br />
Arbeitszielen wieder Selbstbestätigung gewinnen. In vielen Fällen ist es wichtig, die Eltern in die<br />
Arbeit einzubeziehen.<br />
Es können zwei Hauptaspekte unterschieden werden: der instrumentale Aspekt mit funktionellübenden<br />
Methoden zur Entwickelung von Fertigkeiten und der sozio-emotionale Aspekt mit<br />
gestalterisch-kreativen Methoden zur Entwicklung von Motivation, Selbständigkeit und<br />
Selbstvertrauen. Die Methoden und Mittel, mit denen diese Ziele angestrebt werden, sind<br />
vielfältig und reichen von einfachen Handarbeiten bis hin zu künstlerischen Gestaltungen mit<br />
unterschiedlichen Techniken und Materialien.<br />
In der heilpädagogischen oder „funktionellen" Übungsbehandlung wird bei körperlichen oder<br />
geistigen Behinderungen oder spezifischen Entwicklungsstörungen (Teilleistungsschwächen)<br />
versucht, durch das Üben mit systematisch ausgewählten Methoden neue Kenntnisse, Fähigkeiten<br />
und Fertigkeiten aufzubauen. Neben dem Üben von umschriebenen Fähigkeiten und Fertigkeiten<br />
soll das behandelte Kind aber auch immer in seiner sozial-emotionalen Gesamtentwicklung<br />
gefordert werden.<br />
Bei entwicklungsverzögerten Kindern oder Kindern mit Teilleistungsstörungen spielen spezielle<br />
Wahrnehmungstrainings oder Therapien, die auf eine so genannte „sensorische Integration"<br />
abzielen (vgl. Ayres 1979), eine - wesentliche Rolle. Viele Ergotherapeuten können zu Beginn der<br />
Behandlung auch eine Wahrnehmungsdiagnostik, z.B. mit Frostigs Test der visuellen<br />
Wahrnehmung (FEW), durchführen, der die visuelle Wahrnehmung, die in unserer Gesellschaft für<br />
den Schulerfolg von großer Bedeutung ist, in fünf Teilbereiche unterteilt: .<br />
• visuomotorische Koordination,<br />
• Figur-Grundwahrnehmung,<br />
• Wahrnehmungskonstanz,<br />
• Raumlage,<br />
• räumliche Beziehungen.<br />
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Wichtig bei der ergotherapeutischen Behandlung kann es sein, dass spezielle beeinträchtigte<br />
Bereiche nicht direkt angegangen werden, sondern über therapeutische „Umwege" zunächst einmal<br />
die Lust am Handeln und Wahrnehmen wieder geweckt wird. Dies kann ein zentraler Punkt in der<br />
Elternberatung sein, weil Eltern häufig solche therapeutische Unterstützung suchen, wenn sie<br />
merken, dass ihr Kind in den ersten Schuljahren erhebliche Schwierigkeiten mit der Wahrnehmung<br />
hat.<br />
Musiktherapie<br />
In der Musiktherapie werden musikalische Elemente eingesetzt, um die Erlebnis-, Ausdrucks-und<br />
Kommunikationsfähigkeit zu fördern. Dabei wird davon ausgegangen, dass die Musik, d.h. die<br />
Erfahrung von Schall und Klangfarbe, Rhythmus, Tempo, Vibration und Resonanz eine<br />
besondere Nähe zu vegetativen Regulationen und zur Emotionalität hat und damit<br />
Kommunikationsmöglichkeiten bietet, die in anderen Medien (z.B. der Sprache) nicht in der<br />
gleichen Weise vorhanden sind. So ist z.B. mit manchen autistischen Kindern, die weder durch<br />
verbale noch durch spielerische Angebote erreichbar sind, durch musiktherapeutische Methoden<br />
ein Kontakt hergestellt, der zur Förderung ihrer Ausdrucks- und Kommunikationsfähigkeit genutzt<br />
werden kann. Ähnliches gilt auch für emotional gestörte (ängstliche, depressive), zwanghafte,<br />
mutistische (Sprachanbahnung), überwiegend rational gesteuerte Kinder und Jugendliche, die von<br />
musiktherapeutischen Ansätzen profitieren können.<br />
Krankengymnastische Behandlung, Psychomotorik<br />
Im Rahmen eines ausführlichen kinderneurologischen Status werden bisweilen bestimmte<br />
Koordinationsmängel oder Defizite der motorischen Entwicklung bei Kindern in spezifischen<br />
Problemlagen festgestellt. Psychomotorische Übungsbehandlungen können sensomotorische<br />
Funktionsdefizite, aber auch milieureaktive motorische Unruhe durch das eigene Körpererleben<br />
angehen (Kiphard 1979). Diese Therapieform wird von vielen Eltern gerade bei Klein-, Vorschulund<br />
Grundschulkindern als sehr hilfreich und in gewissem Sinne „ganzheitlich" erlebt.<br />
Logopädie<br />
Logopädinnen behandeln Sprachentwicklungsstörungen und Sprachstörungen als Folgezustände<br />
von Traumata und körperlichen Erkrankungen. Sehr wichtig und häufiger sind logopädische<br />
Behandlungen im späten Kleinkindalter bis zum Grundschulalter bei<br />
Sprachentwicklungsverzögerungen. In Einzel- und teilweise in Gruppenbehandlungen werden<br />
:<br />
Artikulationsstörungen, expressive und rezeptive Sprachstörungen behandelt.<br />
Sozialarbeit<br />
Die Sozialarbeit koordiniert die sozialpädagogischen und umfeldbezogenen Maßnahmen mit der<br />
Jugend- und Sozialhilfe, wie z.B. sozialpädagogische Familienhilfe oder Fremdplatzierung in<br />
Pflegefamilien, Wohngruppen. Dazu gehören auch Kontakte und Absprachen mit Polizei und<br />
Gerichten, Einrichtungen der Bewährungshilfe und Jugendgerichtshilfe sowie die Organisation<br />
von Maßnahmen zur Veränderungen von Lebensumständen (z.B. familiäre Betreuung,<br />
Hausaufgabenbetreuung) und von informellen Hilfen.<br />
Spezielle schulische Förderung<br />
Bei psychischen Störungen, die sich besonders im schulischen Bereich manifestieren (z.B. bei<br />
hyperkinetischen Syndromen, Leistungs- und Prüfungsängsten, Schulphobien), bei schweren<br />
psychischen Störungen, die eine längere Unterbrechung des Schulbesuchs ergeben (z.B.<br />
Psychosen), bei Fragen der richtigen schulischen Einstufung und bei sonderpädagogischem<br />
Förderbedarf ist die Berücksichtigung der schulischen Betreuung immer von Bedeutung. In<br />
manchen klinischen Einrichtungen sind spezielle „Schulen für Kranke" angegliedert, in denen eine<br />
Objektivierung des schulischen Leistungsstandes, die Mitwirkung bei Diagnostik und Therapie von<br />
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Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
psychischen Störungen, die Aufrechterhaltung des schulischen Leistungsstandes bei längeren<br />
stationären Aufenthalten und die Vorbereitung auf die Wiedereingliederung in eine „normale"<br />
Schule geleistet werden können.<br />
Rehabilitation und Prävention<br />
Neben dem klinisch-therapeutischen Bereich mit der typischen Abfolge „Diagnostik - Beratung -<br />
Behandlung" und den umfeldbezogenen Maßnahmen stellen sich der Kinder- und Jugendpsychiatrie<br />
jedoch auch Aufgaben im Bereich der Rehabilitation und der Prävention.<br />
Rehabilitationsprogramme sind insbesondere für Patienten mit schweren und chronifizierten<br />
Erkrankungen (z.B. Schizophrenie) von Bedeutung. Die eingesetzten Methoden entsprechen<br />
weitgehend den dargestellten Behandlungsformen. Allerdings nehmen dabei die pädagogischen und<br />
sozialen Aspekte einen besonders wichtigen Stellenwert ein. Die kinder- und jugendpsychiatrische<br />
Prävention von psychischen Störungen ist ein Ansatz der allgemeinen Gesundheitsförderung, der<br />
unter anderem auch aus ökonomischen Gründen zunehmend an Bedeutung gewinnt. Sie umfasst<br />
alle Maßnahmen, die den Zweck haben, die Entstehung von psychischen Störungen, Erkrankungen<br />
und Behinderungen zu verhindern. Als ein Beispiel der Prävention von psychischen Störungen bei<br />
Kindern und Jugendlichen sei die Frühforderung genannt.<br />
Quelle: Weigel (nach umgearbeiteten Vorlagen) – Auszug aus einem<br />
Abschlussbericht der Kinder- und Jugendpsychiatrie (Namen und Daten<br />
geändert):<br />
Sehr geehrte Frau Kollegin,<br />
sehr geehrter Herr Kollege,<br />
wir berichten heute über unseren gemeinsamen Patienten David Kidane, geb. am 19.02.92, der sich<br />
vom 02.05 bis 17.07.2006 in unserer stationären Behandlung befand.<br />
Diagnosen:<br />
Paranoide Schizophrenie, vollständige Remission (ICD 10 F 20.05)<br />
Schädlicher Gebrauch von Cannabinoiden (ICD 10 F 12.1)<br />
Verdacht auf unterdurchschnittliche Intelligenz<br />
Behinderung in der Familie<br />
Abnorme psychosoziale Umstände<br />
Aufnahmeanlass:<br />
David kam zur aktuellen Aufnahme, da er, wie er selbst berichtet, „ausgerastet" sei und wie von Hr.<br />
Ludwig berichtet wird, sich so bedrohlich und aggressiv verhalten hätte, dass er in der Einrichtung<br />
nicht mehr haltbar gewesen sei. Hinzu käme, dass David ihnen große Schwierigkeiten damit bereite,<br />
dass er selber Drogen (Cannabis) konsumiere und vermutlich auch Drogen an einen jüngeren<br />
Kameraden weitergegeben habe (dies wird von David nachhaltig verneint). Dieser jüngere Freund<br />
habe sich daraufhin einer stationären Behandlung im Krankenhaus unterziehen müssen. Hr. Ludwig<br />
berichtet weiterhin, dass es eine Vielzahl von Gesprächen und Absprachen mit David schon über<br />
einen längeren Zeitraum gegeben und David es über einige Wochen sehr gut geschafft habe, sich<br />
daran zu halten, es dann jedoch zu einem deutlichen Rückfall gekommen sei. Er betont dabei, dass er<br />
es nicht verstehen könnte, wie David, der konkrete Ziele (Realschulabschluss und andere Dinge)<br />
zielstrebig ansteuere, sie kurz darauf mit seinem Verhalten komplett aufs Spiel setze. Weiter äußert<br />
V ' Hr. Ludwig den Verdacht, dass dieses Verhalten bei David eine andere Ursache haben könnte<br />
(im Sinne einer traumatischen Belastungsstörung), da David schreckliche Dinge erlebt habe. David<br />
selbst kann keine Erklärung zu diesem beschriebenen Verhalten geben.<br />
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Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
David besucht die 8. Klasse einer Realschule, bis auf Schwächen in Mathematik habe er keine<br />
Schulleistungsprobleme, er sei jedoch zuletzt einfach einen Tag nicht in die Schule gegangen.<br />
Äußerungen von David weisen auf einen schulphobischen bzw. schulängstlichen Hintergrund hin.<br />
Die 18-jährige Schwester lebe zusammen mit ihm in der Einrichtung und sei im Gegensatz zu ihm<br />
zwar eine intellektuell beeinträchtigte, aber problemlose junge Frau, die sich viel Sorgen um ihn<br />
mache. David selber beschreibt die Beziehung zu seiner Schwester z. Zt. nicht als gut. Es gibt noch<br />
einen leiblichen Onkel in Darmstadt, zu dem aber nur in den Ferien Kontakt besteht. Zu seinem<br />
Vormund, Hr. Becker, besteht ein gutes Verhältnis.<br />
Als positive Eigenschaften von David werden beschrieben, dass er ein sehr guter Kumpel, Kamerad<br />
und Freund sei, Anführerqualitäten habe und im Sport (z.B. Fußball) über eine außerordentliche<br />
Begabung und Fähigkeiten verfüge.<br />
Bis auf Einschlafprobleme und häufigere Kopfschmerzen insbesondere nach<br />
Streitsituationen werden keine körperlichen oder psychischen Auffälligkeiten beschrieben.(….)<br />
David gibt im gemeinsamen Gespräch an, dass er Angst davor habe, von der Einrichtung<br />
abgeschoben zu werden. Hr. Ludwig beteuert, dass dies nicht der Fall sei, auch wenn<br />
Überlegungen der Mitarbeiter deutlich zu einer Platzierung außerhalb der Familiengruppen<br />
gingen. Es wird vereinbart, dass beide Möglichkeiten offen bleiben und Hr. Ludwig sagt einen<br />
regelmäßigen Besuch und Kontakt zu. David scheint hiervon beruhigt und gibt später in<br />
Einzelgesprächssituationen an, dass er auch schon an eine andere Wohnsituation gedacht habe,<br />
er wirkt hierbei jedoch sehr ambivalent. Des weiteren wünscht Hr. Ludwig eine genaue<br />
diagnostische Einschätzung von Davids Problemverhalten sowie wenn möglich eine Therapie.<br />
David selber gibt an, dass er die Probleme mit seinen Impulsdurchbrüchen in den Griff kriegen,<br />
seine Schulproblemsituation insbesondere in Mathematik verbessern, sowie eine<br />
Drogenabstinenz erreichen wolle. In einer weiteren Sequenz ) wurde zusätzlich deutlich,<br />
dass sich David benachteiligt und ungerecht behandelt fühlt, wobei er dies auch dem<br />
Umstand zuschreibt, dass er farbige Haut besitzt.(….)<br />
Medizinischer Befund:<br />
Ein 175cm großer und 54kg schwerer, leptosomer Jugendlicher äthiopischer Nationalität in<br />
gutem EZ und AZ.<br />
Routinemäßig werden bei unseren Patienten die folgenden Laborwerte<br />
erhoben: Differenzialblutbild, Schilddrüsenparameter, Elektrolyte, Leber- und Nierenwerte.<br />
Bis auf den EOS-Wert, der mit 17,6 erhöht war, lagen alle Werte im Normalbereich.<br />
Bezüglich des erhöhten Wertes ist eine Kontrolle in naher Zukunft erforderlich.<br />
Ein nach Aufnahme durchgeführtes Drogenscreening ergab einen erhöhten Wert für<br />
Cannabis. Dieser Wert war in der Folgezeit rückläufig, weitere Urinuntersuchungen ergaben<br />
ausschließlich negative Befunde, so dass davon auszugehen ist, dass David während<br />
der stationären Behandlungszeit keine weiteren Drogen, die im Urin nachweisbar wären, zu<br />
sich genommen hat.(….)<br />
Therapie und Verlauf:<br />
Die Behandlung von David fand im Milieu einer gemischten, offenen kinderpsychiatrischen<br />
Station statt.<br />
Nachdem zunächst diagnostisch von einer Störung des Sozialverhaltens bzw. einer<br />
posttraumatischen Belastungsstörung mit deutlich' depressiven Zügen ausgegangen wurde, zeigte<br />
David bereits nach wenigen Tagen Auffälligkeiten, die in eine wesentlich andere Richtung<br />
wiesen. Er wirkte stark getrieben und angespannt, kam nachts nicht zur Ruhe, zeigte nur ein<br />
geringes Konzentrationsvermögen, reagierte zeitverzögert und entscheidungsunschlüssig.<br />
Gedankeneingebungen oder eindeutige Wahnsymptome wurden von ihm zwar verneint, es<br />
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Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
vermittelte sich jedoch nachhaltig der Eindruck, dass er von Gedanken bedrängt wurde, die er<br />
nicht mehr zu meistern in der Lage war. Es kam zu Gedankenabreißen, vereinzelte<br />
Gedankengänge wirkten wie überwertige Ideen.(….)<br />
Neben weiteren formalen Denkstörungen äußerte David schließlich auch inhaltliche<br />
Denkstörungen wie Beeinflussungserlebnisse und zuletzt auch Ängste, die teilweise paranoid<br />
anmuteten.(….)<br />
Ergänzt wurde die medizinische Behandlung aufgrund extrapyramidaler Nebenwirkungen mit<br />
Akineton retard sowie einer Abendmedikation Truxal (40mg).<br />
Aufgrund der nur kurzfristigen Besserung seiner Befindlichkeit erfolgte nach Absprache und<br />
Einwilligung mit dem Vormund ab Ende Mai/Anfang Juni eine Umstellung der Medikation auf<br />
Solian. Ab Mitte Juni erhielt David davon jeweils morgens und abends eine Tbl. (je 50 mg), die<br />
Abendmedikation Truxal wurde auf 20 mg abgesenkt. Unter der geänderten Medikation klarte<br />
David zunehmend auf, zeigte keine inhaltlichen und formalen Denkstörungen mehr und wirkte auch<br />
stimmungsmäßig deutlich aufgehellt. Daher konnte er in der 2. Hälfte seines Aufenthalts die Schule<br />
und therapeutischen Angebote der Klinik ausschöpfen. David nahm an mehreren<br />
bewegungstherapeutischen Gruppen teil, erhielt außerdem Kunsttherapie, besuchte die Klinikschule<br />
und erhielt ein engmaschiges einzeltherapeutisches Angebot, welches er regelmäßig wahrnahm.<br />
Daneben fanden zahlreiche Gespräche mit der Einrichtung statt, die während der stationären<br />
Behandlung zu David einen engen Kontakt hielt und die er auch an den Wochenenden besuchte,<br />
soweit es seine Befindlichkeit erlaubte.(….)<br />
Vor allem in den einzeltherapeutischen Gesprächen ergab sich ein komplexes Muster an<br />
Belastungsfaktoren, welches in seinem Zusammenwirken für den Ausbruch der schizophrenen<br />
Erkrankung verantwortlich sein dürfte:<br />
1. Im Rahmen der Migration von Äthiopien nach Deutschland wechselte David seine Identität. Dies<br />
betraf nicht nur sein Geburtsdatum, sondern auch seinen Namen. Zudem durfte er nicht angeben, dass<br />
sich sein Vater bereits seit mehreren Jahren in Deutschland befand. Im Rahmen der offiziellen<br />
Volljährigkeit seiner Schwester wurde diese Problematik für David violent.<br />
2. Seine Bedürfnisse nach einem familiären Halt konnte er nicht ausleben. Zu seiner Mutter, an der er<br />
besonders hängt, besteht lediglich ein seltener telefonischer Kontakt, persönliche Treffen werden<br />
zwar sehr ersehnt, sind jedoch nicht möglich. Umgekehrt verhält es sich in der Beziehung zum<br />
Vater. Dieser lebt ebenfalls in Hessen, ließ sich jedoch als Vater verleugnen und nahm kaum<br />
Kontakte zu David auf.<br />
3. David deutete in einzeltherapeutischen Stunden ein traumatisches Erlebnis an, bei dem er<br />
körperlichen Übergriffen ausgesetzt war. Aufgrund der dringlicheren übrigen Problematik erfolgte<br />
diesbezüglich jedoch während des stationären Aufenthalts keine weitere Bearbeitung.<br />
4.Drogenproblematik: David räumte ein, regelmäßig Cannabis konsumiert zu haben, verneinte jedoch<br />
die Einnahme weiterer Drogen. Eine Drogenpsychose konnte zwar nicht eindeutig nachgewiesen<br />
werden, es ist jedoch davon auszugehen, dass durch den Drogenkonsum zumindest eine<br />
Labilisierung erfolgte.<br />
5. Auch wenn der genannte Testbefund zu einem Zeitpunkt erfolgte, bei dem David<br />
möglicherweise schon unter den ersten Anzeichen seiner später ausbrechenden Erkrankung litt, so<br />
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Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
lässt das Testergebnis doch bestenfalls eine knapp durchschnittliche Intelligenz vermuten. Damit<br />
steht David in der Realschule unter einem erheblichen Leistungsdruck, dem er mit zunehmenden<br />
Anforderungen kaum noch gerecht werden dürfte. Eine Kontrolle des Testbefundes mit einem<br />
zeitlichen Abstand zur jetzigen Untersuchung könnte näheren Aufschluss über seine tatsächliche<br />
Leistungsfähigkeit ergeben.<br />
6. Die zahlreichen Konflikte und Auseinandersetzungen in (der Einrichtung) im Vorfeld der<br />
ambulanten Kontaktaufnahme und der stationären Behandlung hatten bei David die Sorge darüber<br />
genährt, ob er in (der Einrichtung) bleiben könnte. Auch wenn er selber diesbezüglich ein<br />
ambivalentes Verhalten an den Tag legte, fehlte ihm damit ein eindeutig Halt gebender Rahmen, was<br />
seine Verunsicherung noch erhöhte. In einzeltherapeutischen Kontakten erwies sich David als sehr<br />
offen und aufrichtig. Er zeigte direkt seine Gefühle, wobei er ein hohes Ausmaß an Trauer um<br />
die Vergangenheit und Angst vor der Zukunft zum Ausdruck brachte. Einerseits war ihm die<br />
Erleichterung über die Offenlegung seiner Geheimnisse deutlich anzumerken, andererseits wuchs<br />
damit seine Verunsicherung enorm, was dies möglicherweise für ihn, seine Schwester und seinen<br />
Vater für negative Folgen haben könnte. Trotzdem vertraute er seine Geheimnisse schließlich<br />
anderen Personen an, so dass diese Tatsache im Rahmen eines Hilfeplangespräches in (der<br />
Einrichtung) auch dem Jugendamt bekannt wurde. Als daraufhin nicht gleich die von ihm befürchtete<br />
Abschiebung erfolgte, ließ seine massive Verunsicherung etwas nach, ohne jedoch völlig zu<br />
sistieren.<br />
Zusammenfassend erlebten wir David als einen Jugendlichen, der eine Vielzahl psychotischer<br />
Symptome zeigte und als ein Jugendlicher zu kennzeichnen ist, der eindeutig unter den<br />
Personenkreis nach § 35a des KJHG fällt. Um die großen Fortschritte in seiner Befindlichkeit<br />
während der stationären Behandlung nicht zu gefährden, sind neben einer Fortführung der<br />
medikamentösen Behandlung weitere Maßnahmen aus kinder- und jugendpsychiatrischer Sicht<br />
dringend erforderlich: David benötigt Sicherheit über seinen rechtlichen Status und eine dauerhafte<br />
Aufenthaltsberechtigung in der BRD. Ebenso benötigt David die Sicherheit, dass sich sein Vater zu<br />
ihm bekennt und ihm regelmäßig Kontakte zum Vater möglich sind. Nachdrücklich wurde mit<br />
David besprochen, welche Gefährdung für ihn ein weiterer Drogenkonsum bedeutet. Bezüglich<br />
seiner schulischen Karriere sollte bis spätestens Ende dieses Jahres eine Entscheidung darüber<br />
getroffen werden, ob David weiterhin auf der Realschule verbleiben kann oder nicht die Schulform<br />
wechseln sollte. Ebenfalls in diesem Zeitraum sollte die Entscheidung darüber fallen, ob David in<br />
der bisher ihm vertrauten Wohngruppe (in der Einrichtung) verbleibt oder in eine Gruppe von<br />
Jugendlichen wechselt. Aufgrund der hohen Offenheit Davids in der Einzeltherapie wurde<br />
empfohlen, entsprechende Gespräche fortzusetzen. David wollte sich deshalb an den (Mitarbeiter<br />
der Einrichtung im gruppenübergreifenden Dienst) wenden, zu dem er viel Vertrauen hat und der<br />
auch entsprechende Erfahrung mit jugendlichen Migranten habe.<br />
(Mit freundlichen Grüßen, Unterschrift)<br />
Kompetenzen aus dem Lehrplan: „Mit allen an den Hilfen zur Erziehung Beteiligten kooperieren<br />
und im sozialen Netzwerk arbeiten sowie den Sozialraumbezug bei der Gestaltung einer Hilfe zur<br />
Erziehung berücksichtigen“. / „Risikofaktoren und Hinweise auf Störungen frühzeitig erkennen<br />
und geeignete Maßnahmen einleiten“. / „Maßnahmen zur Bewältigung von Krisen kennen und<br />
einsetzen“. Wissen und verstehen: Das Krankheitsbild der paranoiden Schizophrenie und<br />
Hilfsmöglichkeiten (wiederum Bezug zum systemischen Ansatz). Psychiatrische Hilfe nicht als<br />
Strafandrohung missbrauchen Diskurs: Wie wird psychiatrische Hilfe aus der gesellschaftlichen<br />
Perspektive wahrgenommen Können Sie sich vorstellen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie<br />
als Erzieherin zu arbeiten Was reizt Sie daran<br />
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Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
Thema: Ganztagsschule<br />
Quelle: Bender, S. u.a.: „Kinder erziehen, bilden und betreuen, Lehrbuch für<br />
Ausbildung und Studium“, Cornelsen Scriptor, Berlin u.a., 2010, S. 174ff<br />
Das integrierte Modell<br />
existiert in gebundener Form mit fester und verpflichtender Schulzeit für alle Schüler der Schule. Es<br />
erfolgt möglichst in zeitlicher Rhythmisierung und Verzahnung von Unterricht,<br />
Arbeitsgemeinschaften, Projekten, Fördermaßnahmen, Hausaufgabenbetreuung und<br />
Freizeitangeboten. Lehr- und sozialpädagogisches Personal arbeiten zusammen.<br />
Das additive Modell<br />
besteht beim schulischen Ganztagsangebot in offener Form mit fester Schulzeit und freiwillig zu<br />
nutzenden Angebotselementen für einen Teil der Schülerschaft. Schwerpunktmäßig konzentriert sich<br />
dieses Angebot auf Mittagessen, Spiel, Sport und Freizeitgestaltung sowie Hausaufgabenhilfe. Erbracht<br />
wird es durch Lehr- und sozialpädagogisches Personal, z.T. in außerschulischer Trägerschaft (vgl. Prüß<br />
2008, S. 622)<br />
Das additiv-duale Modell<br />
sieht eine Kooperation von Schule und Jugendhilfe vor. Hier findet die Betreuung auf freiwilliger Basis<br />
zu festen Zeiten meist in Horträumen außerhalb schulischer Unterrichtszeiten statt oder ist Bestandteil<br />
von Angeboten der Jugendhilfe mit Schwerpunktsetzungen auf Freizeitangeboten und<br />
Hausaufgabenbetreuung (vgl. Holtappels 2006, S. 6).<br />
Die Ganztagsschule als kindorientierte Schule<br />
Bei der Gestaltung der Einzelschule als Ganztagsschule ergibt sich die Chance, mit Professionellen aus<br />
verschiedenen pädagogischen Bereichen, mit ehrenamtlich Tätigen und den Familien eine Schule als<br />
Bildungs-, Erfahrungs- und Lebensort zu gestalten, in der Kinder Schulzeit als Lebenszeit erfahren<br />
können (vgl. Preiß 2009, S. 94). Eine solche Schule müsste nach Christine Preiß folgende Momente<br />
sicherstellen:<br />
• Ein „breites, auswahlfähiges Angebot" an „freizeitpädagogisch orientierten außerunterrichtlichen<br />
Aktivitäten" (ebd., S. 97)<br />
• „die Öffnung von Schule für außerschulische Institutionen und Personen" (ebd., S. 99)<br />
• „Partizipation [...], damit die Schüler/innen frühzeitig lernen, ihren Neigungen und Fähigkeiten<br />
nachzuspüren" (ebd.)<br />
• Das gemeinsame Mittagessen als Erfahrung „sozialer und kultureller Traditionen und Riten<br />
(Esskultur)" (ebd., S. 100)<br />
• „eigene Räume" für das Ausleben kindlichen „Bewegungs-, Spiel- und sportlich-kulturellen<br />
Aktivitätsdrangs, aber auch als „Inseln der Ruhe" für „physische und mentale Regeneration" (ebd.).<br />
Einen besonderen Stellenwert für die Ausprägung eine kindorientierten Ganztagsschule nehmen die<br />
Freizeitangebote ein. Sie bieten Schülerinnen und Schülern „Gelegenheit, ihren<br />
sozialkommunikativen Bedürfnissen, die ein wichtiger Teil informellen Lernens sind, Raum zu geben.<br />
Freundschaften und Cliquen machen die Schule für Kinder und Jugendliche zu einem attraktiven<br />
Treffpunkt. Gerade im Kindesalter sind Schulen wahre Kontaktbörsen für Beziehungen, Orte der<br />
Begegnung ..." (ebd., S. 98).<br />
Eine Schule, die solche Gesichtspunkte in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellt, verändert das Bild von<br />
Schule als einer Unterrichtsanstalt, in der Erwartungen an die Schulkinder gestellt werden wie<br />
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• stillsitzen<br />
• leise sein<br />
• Konzentration auf Dinge, die sich Erwachsene ausgedacht haben<br />
• Kommunikationsbedürfnis unterdrücken<br />
• „lernen“ nur durch Erwachsene<br />
• Verhalten wie Erwachsene" (Enderlein 2006, S. 28).<br />
In einer kindorientiert gestalteten Schule kommt es zu einer Änderung der Blickrichtung: „Weg von<br />
der Frage: ,Wie muss ein Kind sein, damit es der Schule gerecht wird' hin zu der Frage: ,Wie muss die<br />
Schule sein, damit sie dem Kind gerecht wird'" (ebd., S. 52). Das bedeutet konkret, dass<br />
Kinderwünsche, wie sie verschiedentlich empirisch erfasst wurden, in das Schulkonzept einbezogen<br />
und in der schulischen Alltagspraxis umgesetzt werden, z.B. ein Mehr an<br />
• „Sport, Spiel, Bewegung<br />
• in Kleingruppen (...) zusammen sein<br />
• Projektarbeit<br />
• Nutzung von Turnhalle, Computerräumen" (Kinderbarometer NRW 2003 und Hessen 2004; zit.<br />
nach Enderlein 2006, S. 38).<br />
Die Berücksichtigung von Kinderwünschen in der (Ganztags-)Schule bedeutet nicht nur mehr Freude<br />
bei der täglichen Schulzeit und mehr Identifikation mit der Schule, sondern auch eine Förderung<br />
„geistig-kognitiver und sozialer Kompetenzen" sowie der „Ich-Entwicklung" (ebd., S. 18ff.).<br />
Qualitätskategorie Person<br />
Seit der Entwicklung der Ganzen (Vollen) Halbtagsgrundschule als Betreuungsschule oder<br />
Verlässlichen Grundschule in den frühen 1990er-Jahren hat sich das Personalspektrum an<br />
Grundschulen mit erweiterten Bildungszeiten erheblich ausdifferenziert. Nicht mehr nur<br />
Lehrerinnen und (Hort-)Erzieherinnen sind hier tätig, sondern auch selbstständige Künstler und<br />
Musiker, Sport-Übungsleiter, Eltern, Studierende auf Honorarbasis oder ehrenamtlich, „Ein-Euro-<br />
Kräfte" und Personen aus der Kooperation mit außerschulischen Partnern wie Theater, Kunst- und<br />
Musikschule, Museen, Vereinen oder Umweltorganisationen (vgl. Kamski/Schnetzer 2005, S. 84f).<br />
Diese Entwicklung lässt sich unter zwei Aspekten betrachten:<br />
• Ist diese Heterogenität der Akteure ein Gewinn für die Bildungsprozesse von Kindern<br />
• Ist die Heterogenität der Akteure im „Haus des Lernens" überhaupt organisierbar und produktiv<br />
nutzbar<br />
Kinder brauchen Verlässlichkeit der Bezugspersonen, aber auch Wahlmöglichkeiten für die von<br />
ihnen bevorzugten Ansprechpartner und erwachsenen „Verhaltensmodelle". Bei der Heterogenität<br />
der Kinder sind beide Bedürfnisse unterschiedlich ausgeprägt. Das bedeutet, dass es für die so<br />
verschiedenen Kinder günstig ist, (soweit wie möglich) im Ganztag eine kontinuierlich präsente<br />
Person erreichen zu können (auch wenn diese sich in einem anderen Raum aufhält), aber auch noch<br />
unbekannte Menschen kennen zu lernen und dabei auf Personen zu stoßen, die ihnen besonders<br />
„liegen" und zu denen sie eine neue Vertrauensbasis aufbauen können, über Personen<br />
Herausforderung zum selbstständig werden zu erfahren und dabei unterschiedliche Grade an<br />
Zuwendung und Betreuung kennen zu lernen.<br />
Kinder erweitern dabei auf ihrem Weg zur Selbstständigkeit ihr Spektrum von Bezugspersonen,<br />
von Lernformen und Erfahrungsräumen sowie von Themen, die Bildung in einem erweiterten Sinn<br />
repräsentieren. Personen mit unterschiedlicher Professionalität können sie als „Lernbegleiter"<br />
mitnehmen in unvertraute Erfahrungsregionen und Lernräume.<br />
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Dies kann vor allem gelingen, wenn Multiprofessionalität an der Schule nicht einhergeht mit<br />
„Verinselungen" von pädagogischen Positionen und Verhaltensstilen. Es bedarf großer<br />
Anstrengungen, Professionelle mit verschiedenen Schwerpunkten sowie Ehrenamtliche in eine<br />
schulische Personalentwicklung einzubeziehen (vgl. ebd., S. 85 ff.). Es überwiegt zwischen den<br />
verschiedenen Professionen ein hohes Maß an Sprachlosigkeit (vgl. Knauf 1995, S. 155ff.).<br />
Erhebliche Anstrengungen sind nötig, um Zeit und Strukturen zu finden für formelle und informelle<br />
Kommunikationsformen (Konferenzen, Klausursitzungen, Mitarbeitergespräche, Feste, private<br />
Treffs; vgl. u.a. Kamski/ Schnetzer 2005, S. 85 ff.). Ebenso wichtig ist die Pflege von<br />
Kommunikationsritualen und von gemeinsamen Aufgaben bei Projekten, Festen und vor allem bei<br />
der Weiterentwicklung des Schulprogramms.<br />
Qualitätskategorie Raum<br />
Johanna Forster und Christian Rittelmeyer haben versucht, pädagogische Räume mit Kategorien<br />
und Methoden der Wohnforschung zu untersuchen.<br />
Forster kommt zu einer Zusammenstellung von Faktoren gebauter Umwelt, die Einfluss auf das<br />
Wohlbefinden Heranwachsender haben (vgl. Forster 1997, S. 177f£). Sie beschreibt insbesondere die<br />
Bedeutung von<br />
• Licht und Farben<br />
• Ausblicken in eine natürliche Umgebung<br />
• Bewegungsmöglichkeiten<br />
• Balancen zwischen Reizvielfalt und Strukturiertheit der Umgebung<br />
• Balancen zwischen Dichte und Distanz<br />
• Bedürfnissen nach Stimulation, Exploration und Abwechslung<br />
• Bedürfnissen nach Aneignung, Identifikation und Zugehörigkeit<br />
• Privaten Räumen und „Exklusivität von Sozialkontakten in kleinen Gruppen".<br />
Rittelmeyer geht von einer anthropologischen Gesamtsicht auf die Interaktion Mensch - Architektur<br />
aus. Betont wird die sensomotorische Eigentätigkeit des Heranwachsenden: Architekturbegegnung hat<br />
mit Sehen, Tasten, Riechen, Hören und dem Gleichgewichtssinn zu tun (vgl. Rittelmeyer 2004, S.<br />
22f£). Gebäudewahrnehmung ist auch Wahrnehmung des eigenen Körpers (ebd., S. 24). Dabei<br />
werden Gebäuden eine menschenähnliche Struktur zugewiesen, sie werden „gestisch-gebärdenhaft"<br />
erlebt (ebd.) und z.B. als „brutal" oder „feindlich" empfunden (ebd., S. 27 u. 29).<br />
Ein Haus des Lernens muss solche emotionalen Komponenten des Wohlfühlens in schulischen Räumen<br />
berücksichtigen. Räume in Ganztagsschulen müssen das Wohlbefinden der Kinder über manchmal<br />
die doppelte Zeitspanne aufrechterhalten als in der traditionellen Halbtagsschule; die Ansprüche an<br />
Raumqualität sind dementsprechend besonders hoch. So wurden bei der Ausgestaltung der offenen<br />
Ganztagsgrundschulen in der Stadt Herford dann auch folgende Prinzipien reflektiert: Räume<br />
- besitzen menschliches Maß<br />
- sind binnenstrukturiert und bieten persönliche Rückzugsmöglichkeiten<br />
- sind nicht zu dicht gefüllt<br />
- sind von den Kindern mit gestaltbar (vgl. Frey 2005, S. 25).<br />
Das Spektrum von Handlungsformen in Ganztagsschulen ist gegenüber der Halbtagsschule signifikant<br />
ausdifferenziert. Parallel erweitert sich die Palette von Kinderbedürfnissen. Opaschowski spricht u.a.<br />
von den Bedürfnissen nach Rekreation, Kommunikation, Partizipation, Kompensation,<br />
Kontemplation (zit. nach Burow 2006, S. <strong>11</strong>3) Dies muss sich in der Funktionalität des Raumangebots<br />
widerspiegeln. So sind möglichst ein Speisebereich, Bewegungs- und Entspannungsräume,<br />
Begegnungsräume, Werkstätten, Räume für gestaltende Aktivitäten, Ausstellungs- und<br />
Präsentationsräume vorzuhalten. Dabei entsteht ein antinomisches Verhältnis zwischen zweckmäßi-<br />
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ger, funktionaler und flexibler Raumgestaltung, die verschiedene, nicht alle vorab planbare<br />
Raumnutzungen ermöglicht.<br />
Qualitätskategorie Zeit<br />
Die Dimension Zeit ist naturgemäß das zentrale Thema bei der Gestaltung von Schulen mit<br />
erweiterter Bildungszeit. Die Diskussion des Zeit-Themas enthält vorrangig zwei Komponenten: die<br />
„Entdichtung" und die „Rhythmisierung" von Schulzeit.<br />
Mit Entdichtung ist vor allem das Ziel gemeint, enge Zeittakte, die das Lernen in mechanische<br />
Ablaufschemata zwängen, zu überwinden. Der 45-Minuten-Takt und die in ihn gepressten<br />
standardisierten Unterrichtsphasen bilden solche verdichteten Lernstrukturen. Sie fuhren zu Hektik<br />
und Störungen; denn Lernen und Denken braucht Zeit. Ein Vorschlag zur Entdichtung wäre,<br />
Lernaktivitäten nicht auf dem stets gleichen, abstumpfenden Anspannungsgrad zu halten. Durch<br />
Wechsel der Intensitätsgrade des Lernens lassen sich prägnante, sich voneinander unterscheidende<br />
Situationen schaffen, die der Bedürfnisstruktur von Kindern folgen (vgl. Knauf 1997, S. 37).<br />
Bei der schon in der Reformpädagogik geforderten Rhythmisierung täglicher Schulzeit geht es um die<br />
Herstellung von Balancen zwischen Verlässlichkeit und Regelmäßigkeit einerseits und Offenheit,<br />
Situationsbezug andererseits. Rhythmisierung meint darüber hinaus den Wechsel der Lehr-<br />
/Lernmethoden (vgl. Kummer 2006, S. 20) sowie zwischen „Anspannung und Entspannung,<br />
Konzentration und Zerstreuung, Ruhe und Bewegung" (Laging 2006, S. 81). Der Bildungsprozess<br />
soll damit nicht mehr dem „Diktat" der Zeitstruktur unterworfen sein (vgl. Ramseger 2009, S. 121 ff.)<br />
Wichtige Elemente einer schulischen Zeitrhythmisierung sind<br />
• Ein gleitender täglicher Schul- und Unterrichtsbeginn<br />
• Herstellung großer Zeitblöcke (z. B. 90 Minuten), die flexibel binnenstrukturiert werden können<br />
• individuell variable Pausenlösungen<br />
• Bewegungs- oder Entspannungs-„Bänder", die den Unterricht unterbrechen (vgl. u. a. Knauf 1997,<br />
S. 37).<br />
Ein weiterer wichtiger Aspekt einer Rhythmisierung von Schulzeit ist das Einführen von Ritualen,<br />
wie dem Morgen- und dem Abschlusskreis, die als Eckpunkte oder Zwischenakzente dem Schultag<br />
Momente erlebbarer Strukturierung verleihen (vgl. Knauf 2001, S. 186 ff.; Ramseger 2009,5.123 u.<br />
127ff.).<br />
Diskurs: Welche Argumente/Positionen sind nachvollziehbar, welche erzeugen Bedenken Wie sieht<br />
die Wirklichkeit aus Kann der Text eine Argumentationshilfe für Fachkräfte in der Ganztagsschule<br />
sein Inwiefern müssen andere gesellschaftlichen Felder (Politik, Wirtschaft, Familie) mitbedacht<br />
werden<br />
Quelle: Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-<br />
Westfalen, Auszug aus der BASS 12-31 Nr. 1, 2008<br />
Runderlass des Kultusministeriums NRW in der letztgültigen Fassung vom 31. 08. 2008<br />
Hausaufgaben in der Primarstufe und in der Sekundarstufe I (Auszug):<br />
Hausaufgaben ergänzen die schulische Arbeit, deren wesentlicher Teil im Unterricht geleistet wird.<br />
Ganztagsschulen sollen Hausaufgaben in das Gesamtkonzept des Ganztags integrieren, sodass es<br />
möglichst keine Aufgaben mehr gibt, die zu Hause erledigt werden müssen. Hausaufgaben können<br />
• dazu dienen, das im Unterricht Erarbeitete einzuprägen, einzuüben und anzuwenden;<br />
• zur Vorbereitung neuer Aufgaben genutzt werden, die im Unterricht zu lösen sind;<br />
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Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
• Gelegenheit zu selbstständiger Auseinandersetzung mit einer begrenzten neuen Aufgabe bieten.<br />
Sie tragen damit dazu bei, dass Schülerinnen und Schüler fähig werden, Lernvorgänge selbst zu<br />
organisieren sowie Arbeitstechniken und Arbeitsmittel selbst zu wählen und einzusetzen.<br />
• Hausaufgaben, die als Ersatz für fehlenden oder ausfallenden Unterricht verwandt werden sollen<br />
oder der Disziplinierung dienen, sind nicht zulässig.<br />
Dabei werden Hausaufgaben nach folgenden Grundsätzen erteilt:<br />
• Alle Hausaufgaben müssen aus dem Unterricht erwachsen und wieder zu ihm zurückführen.<br />
Hausaufgaben, die diese Bedingungen nicht erfüllen, sind unzulässig.<br />
• Hausaufgaben müssen in ihrem Schwierigkeitsgrad und Umfang die Leistungsfähigkeit der<br />
Schülerinnen und Schüler berücksichtigen und von diesen selbstständig, d. h. ohne fremde Hilfe,<br />
in angemessener Zeit gelöst werden können.<br />
• Damit die selbstständige Lösung von Hausaufgaben möglich ist, müssen diese eindeutig und klar,<br />
ggf. schriftlich formuliert werden; die Schülerinnen und Schüler müssen entsprechend der<br />
jeweiligen Altersstufe Ratschläge für die Durchführung der Arbeit erhalten und mit den<br />
Arbeitstechniken sowie den zur Verfügung stehenden Hilfsmitteln vertraut gemacht werden.<br />
• Es empfiehlt sich, die gestellten Aufgaben nach der Leistungsfähigkeit, der Belastbarkeit und den<br />
Neigungen der Schülerinnen und Schüler zu differenzieren.<br />
Quelle: Heidemann, Wilhelm; Greving, Heinrich: „Praxisfeld Heimerziehung,<br />
Lehrbuch für sozialpädagogische Berufe“, Bildungsverlag EINS, Köln, 20<strong>11</strong>, S. 197<br />
ff<br />
Die Gestaltung der Hausaufgabensituation<br />
(….)<br />
Insbesondere bei der Hausaufgabensituation kommen häufig Praktikantinnen und Praktikanten zum<br />
Einsatz, die dem Fachpersonal zur Hilfe stehen. Zur Strukturierung und inhaltlichen Gestaltung sollen<br />
die folgenden sechs Forderungen helfen. Nach Nennung und Erläuterung der Forderung werden<br />
Hinweise gegeben, wie Bedingungen gestaltet bzw. arrangiert werden können.<br />
1. Forderung:„Möglichst wenige Kinder fertigen mit einem Erzieher die Hausaufgaben an."<br />
Problem: Es werden hohe Anforderungen an Kinder und Jugendliche gestellt, wenn sie jeden Tag mit<br />
einer anderen Erziehungsperson Hausaufgaben machen müssen. Alle Beteiligten müssen sich<br />
aufeinander einsteilen und sich neu informieren. Durch den Schicht-und Wechseldienst kann es<br />
möglich sein, dass eine Erzieherin erst nach Tagen wieder Hausaufgaben mit dem gleichen Kind<br />
macht.<br />
Schon überforderte Kinder werden weiter überfordert!<br />
Ideal wäre es, wenn ein Erzieher jeden Tag mit einem bestimmten Kind die Hausaufgaben anfertigen<br />
könnte. Dieses ergäbe eine hohe Kontinuität, die insbesondere für jüngere Kinder wichtig wäre. Die<br />
betreuende Person sollte Zeit haben für das Kind, insbesondere für das lernschwache Kind. Dabei<br />
müssen Kinder und Jugendliche merken, dass Erziehende Zeit und Interesse haben, bei den Aufgaben<br />
zu helfen.<br />
Aufgrund von Schicht- und Wechseldienst, Urlaub, Krankheit etc. ist eine Umsetzung unrealistisch!<br />
Arrangement:<br />
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Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
Unterschiedliches Unterrichtsende von Kindern und Jugendlichen nutzen, damit bei den Kindern, die<br />
früher aus der Schule kommen, schon mit der Begleitung der Hausaufgaben begonnen werden kann.<br />
Dies trifft wohl vorwiegend für die Grundschüler zu.<br />
• Dienstplangestaltung. Um mindestens zu zweit im Dienst zu sein, bleibt der Frühdienst so lange, bis<br />
die Hausaufgabenzeit vorbei ist und/oder der Zwischendienst deckt die Hausaufgabenzeit mit ab.<br />
• Modell Kontakterzieher/Bezugserzieher. Er ist<br />
- zuständig für die Schullaufbahn des Kindes (des Weiteren für Bekleidung, ärztliche Betreuung,<br />
Eltern- und Familienarbeit, Hilfeplanung, etc.);<br />
- über den Leistungsstand des Bezugskindes informiert;<br />
- über die schulische Situation des Bezugskindes informiert;<br />
- zuständig für den Kontakt von Heim zur Schule/zum Lehrer;<br />
- Vertreter des Kindes in den Schulgremien gemäß § 1688 BGB.<br />
2. Forderung: „Der Erzieher muss sich bewusst auf die Hausaufgabensituation einstellen"<br />
Problem: Viele Anforderungen werden an Erzieherinnen und Erzieher auch in der Phase des Tages<br />
gestellt, in der die Hausaufgaben erledigt werden müssen. Wenn sie schon einen Spätdienst mit<br />
Nachtbereitschaft und anschließendem Frühdienst absolviert haben, kann, verständlicherweise, die<br />
Kraft zur Gestaltung einer schwierigen Hausaufgabensituation fehlen.<br />
Die Anforderungen zur intensiven Hausaufgabenhilfe erfordern es, dass Erzieherinnen und Erzieher<br />
ausgeruht und nervlich entspannt in diese Phase ihres Dienstes gehen. Wachheit und<br />
Momentzentriertheit, die Merkmale der Arbeit mit Kindern in der Spieltherapie, lassen sich auf die<br />
Arbeit der Erzieherinnen und Erzieher gut übertragen. Sie müssen „wach" sein, nicht abgespannt und<br />
sich auf diesen Moment ihres Tuns konzentrieren.<br />
Arrangement:<br />
Während der Hausaufgabensituation dürfen keine anderen Tätigkeiten im Vordergrund stehen. Ein<br />
Dienstwechsel mit Dienstübergabe z. B. darf zu der Zeit nicht stattfinden. Kinder und Jugendliche<br />
haben zu der Zeit Bedürfnisse, die erfüllt werden müssen. Geschieht dies nicht, ergeben sich<br />
Gereiztheiten, wenn Kinder und Jugendliche ggf. an der verschlossenen Dienstzimmertür anklopfen<br />
müssen, um Hilfe zu erhalten.<br />
Dienstplangestaltung (wie bei der 1. Forderung). Um mindestens zu zweit im Dienst zu sein bleibt der<br />
Frühdienst so lange, bis die Hausaufgabenzeit vorbei ist und/oder der Zwischendienst deckt die<br />
Hausaufgabenzeit mit ab.<br />
3. Forderung: „Störfaktoren müssen beseitigt werden."<br />
Problem: Kinder und Jugendliche benötigen eine möglichst störungsfreie Umgebung, um<br />
konzentriert zu arbeiten. Viele Kinder und Jugendliche im Kinderheim haben Schwierigkeiten, sich<br />
angemessen auf eine Arbeit einzulassen. Schon geringfügig andere Ablenkungen stellen Reize dar,<br />
denen sie sich dann zu wenden.<br />
Störfaktoren können sein:<br />
Klingeln an der Gruppentür<br />
Besuch von anderen Gruppen<br />
Musik aus anderen Zimmern<br />
Telefonklingeln<br />
Andere Kinder, die draußen spielen<br />
Küchenarbeit (Küchendienst)<br />
Herumlaufen anderer Kinder in der Gruppe<br />
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Arrangement:<br />
Skizze des Zimmers anfertigen, regelmäßig beobachten, was die Konzentration des Kindes ablenkt,<br />
dies durch einen Pfeil in die Skizze eintragen (….).<br />
4. Forderung:„Beachtung und Gestaltung der räumlichen Gegebenheiten"<br />
Problem: Werden im Gemeinschaftsraum/Tagesraum/Esszimmer die Hausaufgaben erledigt, können<br />
sich folgende Gegebenheiten und Vorkommnisse negativ auswirken:<br />
Unruhe durch den von Tisch zu Tisch gehenden Erzieher.<br />
Flüstern der Erziehenden regt auf.<br />
Misserfolgserlebnisse können durch andere Kinder, die mit ihren Hausaufgaben fertig sind, erlebt<br />
werden.<br />
Der Raum, in dem Kinder und Jugendliche ihre Hausaufgaben anfertigen, ist von nicht zu<br />
unterschätzender Bedeutung für die Konzentrationsfähigkeit. Insbesondere das jüngere Kind braucht<br />
aufgrund seiner motorischen Unruhe und Ablenkbarkeit Ruhe.<br />
Arrangement:<br />
Grundsätzlich sollen Kinder und Jugendliche immer in dem gleichen Raum die Hausaufgaben<br />
anfertigen (Gewöhnungseffekt, geringere Ablenkung).<br />
Der Raum soll gut gelüftet sein. Zum Denken benötigt das Kind Sauerstoff. Es ist ungünstig, wenn in<br />
dem gleichen Raum gegessen worden ist, oder noch gegessen wird.<br />
Auf gelockerte, nicht ausgerichtete Tischordnung achten. Eine Atmosphäre, die an Schule erinnert,<br />
soll vermieden werden.<br />
Der Raum sollte in „ruhigen Farben" großflächig gestrichen sein.<br />
Blumen und Pflanzen schaffen ein günstiges Arbeitsklima.<br />
Gutes Tageslicht sollte vorhanden sein, nach Möglichkeit wenig (kaltes) Kunstlicht (vgl.<br />
Wohlfahrt/Schilling, 2003, S. 41)<br />
5. Forderung:„Günstige Arbeitsplatzgestaltung"<br />
Problem: Kinder und Jugendliche in Einrichtungen der Jugendhilfe müssen oft auf Stühlen und an<br />
Tischen ihre Hausaufgaben erledigen, die eher anderen Zwecken dienen, z. B. am Esstisch oder an<br />
Wohnzimmergarnituren. Gerade für motorisch unruhige Kinder und Jugendliche hat die<br />
ergonomische Arbeitsplatzgestaltung eine besondere Bedeutung. Stimmen Tisch- und Stuhlhöhe<br />
nicht, wird das Kind zum „Zappeln" verleitet.<br />
Arrangement:<br />
Der Schreibtisch sollte eine Größe von mindestens 90 x 60 cm haben.<br />
Die richtige Relation von Tischhöhe und Stuhlhöhe ist zu beachten (….).<br />
Die Lichtquelle, günstig wäre eine schwenkbare Tischleuchte (Architektenlampe), sollte wie folgt<br />
angebracht sein:<br />
- bei Rechtshändern, Lichtquelle von links<br />
- bei Linkshändern, Lichtquelle von rechts<br />
Arbeitshilfen/Arbeitsmaterial wie z. B. Lexika, Wörterbücher, Duden,<br />
Atlanten, Übungsuhr, Perlenrechner und Bücherständer sollten in der Nähe greifbar<br />
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Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
vorhanden sein (und für Rechtshänder links stehen). Ziel: Förderung des selbstständigen<br />
Arbeitens und häufiges Aufstehen vermeiden.<br />
Geordneter Arbeitsplatz:<br />
Der Bewegungsraum auf dem Tisch soll nicht eingeschränkt werden. Gestapelte Bücher und<br />
Hefte können ablenken. Ebenso lenkt Spielzeug auf dem Schreibtisch ab.<br />
(….)<br />
Viele Kinder können nicht gleich nach der Schule mit der Anfertigung der Hausaufgaben beginnen.<br />
Sie brauchen erst eine Entspannungsphase. Es stellt sich die Frage, wann Kinder und Jugendliche ihre<br />
Hausaufgaben anfertigen sollen. In vielen Einrichtungen werden die Hausaufgaben zwischen<br />
14.00 und 16.00 Uhr angefertigt. Dafür gibt es viele organisatorische Gründe seitens der<br />
Einrichtung, z. B. Mittagessen ist beendet, Erzieherwechsel, o. ä. Der persönlichen Leistungskurve<br />
stehen auch Aspekte gegenüber, die das Kind für sich selbst als wichtig betrachtet und Motivationen<br />
bietet, zügig die Hausaufgaben zu erledigen. Dies können sein:<br />
- Termine,<br />
- Freunde warten (Motivation)<br />
- Freude aufs Spiel (Motivation)<br />
- Fernsehen, insbesondere Serien<br />
- Längerer zusammenhängender Zeitraum, um etwas unternehmen zu können<br />
(….)<br />
Zur Dauer der Hausaufgabenzeit<br />
Vielen Kindern und Jugendlichen in den Einrichtungen fällt es schwer, sich zur Arbeit zu<br />
motivieren. Hier müssen Erzieherinnen und Erzieher viel Mühe und Geduld aufbringen,<br />
entsprechende „Motivationsarbeit" zu leisten. Reicht die Konzentration der Kinder und Jugendlichen<br />
nicht aus, so sollte nicht über Stunden hinweg gearbeitet werden. Die Schule hat darauf zu achten,<br />
dass die Menge an Hausaufgaben begrenzt ist.<br />
„Hausaufgaben sollen so bemessen sein, dass sie, bezogen auf den einzelnen Tag, in folgenden<br />
Arbeitszeiten erledigt werden können:<br />
für die Klassen l und 2 in 30 Minuten,<br />
für die Klassen 3 und 4 in 60 Minuten,<br />
für die Klassen 5 und 6 in 90 Minuten,<br />
für die Klassen 7 bis 10 in 120 Minuten.<br />
Die Klassenlehrerin oder der Klassenlehrer hat in Zusammenarbeit mit den in der Klasse unterrichtenden<br />
Fachlehrkräften das Ausmaß der Hausaufgaben zu beobachten und ggf. für einen<br />
Ausgleich zu sorgen." (Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen, BASS, 12-31 Nr. 1)<br />
Diskurs: Welche eigenen Erfahrungen bestehen im Zusammenhang mit Hausaufgaben Welche<br />
Erfahrungen bestehen im Hinblick auf Hausaufgabenhilfe mit eigenen/fremden Kindern Sind die<br />
Hinweise des Textes realistisch und umsetzbar Bei welchen Punkten erwarten Sie Schwierigkeiten<br />
oder Konflikte Was möchten Sie hinsichtlich dieses Themas ergänzen<br />
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Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
Quelle: Haug-Schnabel und Bensel: „Grundlagen der Entwicklungspsychologie,<br />
Die ersten 10 Lebensjahre“, Herder, Freiburg u.a., 2005, S. 144ff<br />
Das Denken von Grundschulkindern<br />
Die Kinder denken zunehmend sachorientierter. Besuche im Zoo oder im Museum werden deutlich<br />
interessanter. Die Kinder haben das Bedürfnis, die Dinge der Welt erklären zu können. Sie<br />
versuchen immer mehr, Zusammenhänge zu entdecken und zu verstehen. Sie können sich<br />
wesentlich besser konzentrieren und lassen sich gern auf Neues ein, um dabei ein realistisches<br />
Weltbild zu entwickeln. Sie interessieren sich auch zunehmend für Details, für minimale<br />
Unterschiede von Objekten. Viele Kinder beginnen in diesem Alter mit dem Sammeln von<br />
Gegenständen - Briefmarken, Muscheln, Steine. Sie nehmen sich und die Umwelt bewusster wahr<br />
und bleiben länger bei einer Sache.<br />
Das Gedächtnis ist nun deutlich besser. Vierjährige verfügen noch nicht über Gedächtnisstrategien.<br />
Fordert man sie beispielsweise auf, sich die einzelnen Namen einer Kindergruppe zu merken,<br />
steigert diese Aufforderung ihre Merkfähigkeit nicht. Bei Acht- oder Zehnjährigen kann dies die<br />
Gedächtnisleistung jedoch beträchtlich steigern. Während Sechsjährige noch sehr unsystematisch<br />
nach verlorenen Gegenständen suchen, überlegen sich etwa Zwölfjährige gezielt, wo sie den<br />
Gegenstand zuletzt benutzt haben. Den Kindern gelingt es immer besser, Probleme zu definieren<br />
und mögliche Lösungen zu finden. Auch die logischen Fähigkeiten verbessern sich nach dem<br />
sechsten Lebensjahr beträchtlich. Für Schlussfolgerungen gehen die Kinder über das unmittelbar<br />
Sichtbare hinaus und stellen Hypothesen auf. Fehlende Informationen in einer Geschichte ergänzen<br />
sie durch Erfahrungen aus ihrem eigenen Leben und sie wissen auch eher um die Grenzen ihres<br />
Wissensstandes. Soll beispielsweise ein vierjähriges Kind auf einem Parkplatz nach einem gelben<br />
Auto Ausschau halten, wird es, wenn dort mehrere stehen, irgendein gelbes Auto aussuchen. Ein<br />
siebenjähriges Kind wird dagegen weitere Informationen einholen, bevor es sich dann gezielt auf die<br />
Suche macht.<br />
Grundschulkinder sind sich selbst und anderen gegenüber zunehmend kritisch eingestellt. Nur zum<br />
Teil kann eigenes Unvermögen bereits akzeptiert werden. Die Kinder sind in der Lage, eigenständig<br />
(auch mal selbst gewählte) Aufgaben im Alltag zu übernehmen. Während Freundschaften mit<br />
Klassenkameraden und Nachbarkindern immer wichtiger werden, bahnt sich allmählich eine<br />
Loslösung vom Elternhaus an.<br />
Die Schule bedingt nicht nur eine Wissensvermittlung, sondern es findet eine grundsätzliche<br />
geistige Umstrukturierung statt, indem vorhandenes Wissen und Umwelterfahrungen neu geordnet<br />
werden. Der Erwerb der Schrift ist dabei von besonderer Bedeutung. Dem Grundschulkind gelingt<br />
es zunehmend, Begriffe nach ihren Merkmalen zu bestimmen. Während im Kindergartenalter noch<br />
Funktion und Verwendung der Objekte für deren Bestimmung wichtig waren, geschieht dies nun<br />
auf der Grundlage wahrgenommener, zunächst zufälliger, dann aber immer mehr ausgewählter,<br />
verallgemeinerter, für das Objekt wesentlicher Merkmale. Zum Ende der Grundschulzeit hin erfolgt<br />
dann bereits eine Einordnung von Begriffen in Kategorien.<br />
Für die Lernmotivation des Grundschulkindes ist es wichtig, auf der einen Seite emotional<br />
anregendes Lernmaterial zur Verfügung zu haben, das es motiviert; auf der anderen Seite ist bereits<br />
die neue Position, Schüler zu sein, für das Kind so bedeutungsvoll, dass es das Kind zum Lernen<br />
motiviert. Auch das Lernen für die Lehrer/innen und die Eltern spielt eine große Rolle, ebenso der<br />
Vergleich mit anderen Kindern.<br />
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Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
Kindgemäße Angebote der Schule an die Kinder<br />
Eine zunehmend komplexere, „weit geöffnete" Welt der Schule schafft einerseits neue Möglichkeiten,<br />
daran teilzuhaben, sich mit vielen Themen und Geschichten zu beschäftigen, verlangt aber<br />
andererseits von den Kindern mehr Orientierungsarbeit als je zuvor (Kazemi-Veisari 2002). Kinder sind<br />
in der Lage, auf diese neuen Herausforderungen aktiv zu reagieren, indem sie die angebotenen Inhalte<br />
und Geschichten spielerisch zusammen mit anderen Kindern neu besetzen und in ihr eigenes<br />
Lebenskonzept nur so weit einbauen, wie sie passen. Eigene Kulturarbeit ist also kein simples<br />
Nachahmen, sondern aktive Aneignungsarbeit.<br />
Für den Erfolg dieser Arbeit ist es entscheidend wichtig, welche Lernbedingungen von den<br />
Erwachsenen geschaffen werden. Die Pädagog(inn)en müssen darüber entscheiden, ob sie Lernen<br />
als den Erwerb von Können und Wissen definieren, dessen Richtigkeit Erwachsene festlegen, oder ob<br />
Lernen als fantasievolles, neugieriges Handeln, als ein mutiges Ausprobieren und Überprüfen von<br />
Hypothesen betrachtet wird.<br />
Gesteht man den Kindern ihre besonderen Interessen und ihr spezifisches Lerntempo zu oder steht<br />
das Training eines Lernkatalogs im Vordergrund Die Antworten auf diese Fragen werden zwischen<br />
klassischem Schulsystem oder moderner Lern- und Forscherwerkstätte entscheiden.<br />
Gegenwärtig diskutiert wird aber auch die Frage nach dem geeigneten räumlichen, zeitlichen,<br />
materiellen und inhaltlichen Angebot für eine lernfreundliche Umgebung. „Was muss selbst<br />
ausprobiert und getan werden, um es begreifen und handhaben zu können, mit was und mit wem<br />
muss man in Kontakt kommen, was muss man wissen in dieser Welt der Fülle" (Kazemi-Veisari<br />
2002) Die Frage nach dem geeigneten Weltwissen, nach einem Bildungskanon wird diskutiert.<br />
Handlungskonzepte für lebendiges Lernen dürfen dabei nicht in einem isolierten Schulalltag<br />
stattfinden, sondern beinhalten eine Öffnung nach innen und außen. Dabei sind die individuell<br />
unterschiedlichen Lerngeschichten, die aktuellen Themen der Kinder zu erfassen und zu<br />
berücksichtigen.<br />
Statt festgelegter Programme müssen Pädagog(inn)en fragend und forschend handeln. Es geht um<br />
vielseitiges und ganzheitliches Lernen, um dynamische Projekte, nicht um bis zum Schluss<br />
durchgeplante Programme. Dazu braucht es Raum, Zeit, Gelegenheit zur Vertiefung,<br />
Kleingruppenarbeit und die Bereitschaft der Lehrenden, selbst zu lernen und den eigenen<br />
Blickwinkel immer wieder neu zu hinterfragen. Ziel ist dabei ein Lernkollektiv, eine<br />
Lebensgemeinschaft auf Zeit, die es den Kindern ermöglicht, selbstständig und beziehungsreich zu<br />
sein, Stabilität zu erfahren, ohne Bevormundung.<br />
„Kinder können mehr, als wir wahrnehmen und ihnen zutrauen. Sie brauchen keine fertigen<br />
Antworten auf Fragen, die sie nie gestellt haben. Wenn es um die Sache geht und nicht um dürren<br />
Stoff, tüfteln sie stundenlang an Aufgaben, organisieren ihre Arbeit selbst und setzen sich eigene<br />
Ziele. Lernen spielend, was sie sollen, und soziale Tugenden dazu" (Czisch 2005).<br />
Einige Pädagogen, wie z. B. Klaus Wolf (2000), gehen in ihren Visionen noch weiter. Sie wollen<br />
Lern- und Lebensfelder so arrangieren, dass junge Menschen darin sich selbst kontrollieren lernen,<br />
sogar die Fähigkeit entwickeln, auf sich selbst Zwang auszuüben. Denn eigenbestimmt und<br />
eigeninitiativ erhöhen Menschen ihre Chancen, etwas doch noch, auch gegen einen inneren<br />
Widerstand, zu tun oder es eben aus eigener Überzeugung nicht zu tun.<br />
Sprache wird zum Informationsträger<br />
Die Kinder können sich jetzt im Kommunikationsstil dem Entwicklungsstand ihres<br />
Gesprächspartners anpassen, also berücksichtigen, was dieser an Vorkenntnissen und<br />
altersabhängigem Wissen aufweist. Das heißt, sie erklären Sachverhalte Erwachsenen anders als<br />
Gleichaltrigen oder jüngeren Kindern. Im Laufe der Grundschulzeit erfährt die Sprache durch Lesen<br />
und Schreiben zunehmend eine Vergegenständlichung und Formalisierung. Das bedeutet, dass der<br />
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Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
ganzheitliche, kreative, erlebnisbetonte Sprachstil zum Ende der Grundschulzeit hin immer mehr<br />
absichtsvoll angewandt und gestaltet wird.<br />
Die verbale Kommunikation perfektioniert sich zusehends, was wiederum eine Voraussetzung für<br />
größere spielerische Vorhaben ist. Kinder mit Sprachproblemen werden auf Grund ihres Defizits<br />
zuweilen von alterstypischen Aktivitäten ausgeschlossen. Aber erfreulicherweise gibt es bereits viele<br />
sozial kompetente Kinder, die gerne und geschickt die Dolmetscher- oder Vermittlerrolle übernehmen<br />
— mitunter erfolgreicher und integrativer, als es den Erwachsenen gelingt.<br />
Sprache wird auch zum bevorzugten Träger von Information. Wissens-, Verständnis- und Sinnfragen<br />
nehmen in einem Maße zu, dass es die Befragten oft stark beansprucht und überfordert. Vor allem<br />
Naturphänomene interessieren, verstärkte Begeisterung für Physik kommt auf, Material- und<br />
Werkzeugerprobung erreichen einen neuen Höhepunkt. Die Fragen der Kinder dürfen nicht ignoriert<br />
werden. Mit falschen Antworten darf man sie nicht abspeisen: Das hinterlässt nicht nur - je nach<br />
Typ - Enttäuschung oder Zorn, sondern führt auch dazu, dass die Wissbegier allmählich zurückgeht.<br />
Denn Fragen ist Erkundungsverhalten mit dem Mittel der Sprache.<br />
Selbstwert und Umgang mit Emotionen<br />
Grundschulkinder sind in der ersten Klasse noch sehr überzeugt von sich und ihren Fähigkeiten. Der<br />
Schulalltag führt jedoch dazu, dass verstärkt Situationen auftreten, in denen das Kind sich mit anderen<br />
vergleicht. Infolgedessen kommen ältere Schulkinder zu einer realistischeren Einschätzung eigener<br />
Fähigkeiten, was aber auch automatisch mit einer leichten Minderung des Selbstwertgefühls<br />
einhergeht. Ihre zunehmend differenziertere Selbstwahrnehmung beinhaltet aber auch die<br />
Möglichkeit, dass diese leichte Selbstwertverminderung durch außerschulische Aktivitäten kompensiert<br />
werden kann. Grundschulkindern gelingt es immer besser, die eigenen Emotionen zu<br />
regulieren und in den Griff zu bekommen.<br />
Auch das Verständnis hinsichtlich der Gefühle anderer wird immer besser. Sechsjährige wissen<br />
bereits, dass die echten Gefühle einer Person nicht mit dem übereinstimmen müssen, was diese<br />
körperlich oder mimisch zum Ausdruck bringt. Sie wissen, dass man Gefühle verbergen kann. Und<br />
sie verstehen, dass andere Menschen andere Emotionen haben können als man selbst, und in<br />
verschiedenen Situationen auch unterschiedliche Emotionen zeigen können. Emotionale Kompetenz<br />
wirkt sich auch auf den Schulerfolg der Kinder aus. Können sie ihre Gefühle gut regulieren,<br />
vorwiegend positive Gefühle zeigen, sich in ihre Mitschülerinnen und Mitschüler hineinversetzen und<br />
kooperieren, profitiert auch ihre Schulleistung davon.<br />
Im Alter von sechs bis zehn Jahren gewinnt die Konfrontation mit Leistung eine neue<br />
Bedeutung. Wer mit dieser Altersgruppe arbeitet, weiß, wie wettbewerbsorientiert die Kinder sind.<br />
Sie vergleichen, wetteifern anfangs zum Spaß, geraten dann aber sehr schnell in Konkurrenzsituationen,<br />
die Erwachsene gelegentlich noch durch unbedachte Vorgaben schüren. Zu<br />
krampfhafter Ehrgeiz isoliert die Einzelkämpfer. Wer andererseits zu oft verliert, läuft Gefahr, zu<br />
resignieren und sich nicht mehr anzustrengen, um frustrierende Situationen nicht noch einmal zu<br />
erleben. Das wird schwierig, denn das Regelspiel, das ohne Sieger und Verlierer nicht auskommt,<br />
wird zur beliebtesten aller Spielarten und zudem immer komplexer. Mit acht bis zehn Jahren erreicht<br />
die Beliebtheit von Brett-, Karten- und Kombinationsspielen ihren Höhepunkt. Im Regelspiel<br />
„trainiert" das Kind seine soziale Anpassungsfähigkeit. Vor allem im Rahmen der Mannschaftsspiele<br />
lernt es, seine eigenen Impulse zugunsten der Gemeinschaft zurückzustellen. Dabei übt es<br />
Rücksichtnahme und Loyalität und lernt schließlich auch, Niederlagen zu verkraften.<br />
Kompetenzen aus dem Lehrplan: „Die verschiedenen Leistungsbereiche und<br />
Leistungsschwerpunkte – insbesondere Versorgung, Erziehung, Bildung, Förderung,<br />
Zusammenarbeit mit den Familien, Mitwirkung an therapeutischen Maßnahmen – umsetzen“. /<br />
„Bedeutung der ästhetischen zielgruppengerechten Gestaltung des Lebensumfeldes verstehen, im<br />
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Alltag berücksichtigen und sich aktiv dafür einsetzen“. Wissen und verstehen: Ausarbeitung eines<br />
pädagogischen Ganztagsschul-Projekts, in dem sich die Kinder gern und bereitwillig auch<br />
Sachkenntnisse aneignen.<br />
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Thema: Erlebnispädagogik<br />
Quelle: Rieken, Gerald; Von Studnitz, Michael: „Die Welt kennenlernen und sich<br />
bilden: Projektlernen und Erlebnispädagogik“, in: Hast, Jürgen u.a. (Hrsg.):<br />
„Heimerziehung und Bildung, Gegenwart gestalten – auf Ungewissheit<br />
vorbereiten“, IGFH, Frankfurt/M.,2009, S. 124ff<br />
Vorbemerkung<br />
Ein Erlebnis ist von dem Betrachter und/oder Handelnden aus gesehen etwas Besonderes, Nicht-<br />
Alltägliches und ist in seiner Wirkung subjektiv und unmittelbar. Ein Erlebnis ist somit nicht<br />
pädagogisch vorausplanbar. Wenn wir von Erleben als pädagogischen Inhalt der Arbeit mit Kindern<br />
und Jugendlichen im Rahmen der Jugendhilfe sprechen, verstehen wir nicht das, was unter kommerziellen<br />
Gesichtspunkten an Erlebniskultur in vielen Bereichen der Gesellschaft angeboten wird.<br />
Bei Letzterem tritt an die Stelle eines authentisch erlebten Selbst, eine konstruierte und künstliche<br />
Erlebniswelt, die mit Hilfe von Kicks Ersatz-Erlebnisse schafft. Wenn es ein Anliegen der Pädagogik<br />
ist, durch ein initiiertes Lernen den jungen Menschen Werte und Fähigkeiten zu einer<br />
Persönlichkeitsentwicklung zu vermitteln und soziale Integration zu fördern, dann muss sie ihnen<br />
durch die Bereitstellung von erlebnispädagogischen Angeboten und Räumen die Möglichkeiten für<br />
Erfahrungen bieten.<br />
Im Mittelpunkt unserer Überlegungen steht daher die Altersgruppe ab dem 13./14. Lebensjahr. Das<br />
heißt nicht, dass Erlebnisarrangements für Kinder keine Bedeutung haben, sie haben aber eine<br />
anders gewichtete pädagogische Zielbestimmung. Das Jugendalter wird durch die Ablösung vom<br />
Elternhaus und die Orientierung auf Gleichaltrige geprägt. Diese Übergangszeit zwischen Kindheit<br />
und Erwachsenwerden ist gekennzeichnet durch eine große Verunsicherung und der Suche nach<br />
Orientierung. Das Sich-Selbst-Spüren und Sich-Selbst-Erleben, die Frage „Wer bin ich" - auch im<br />
sozialen Kontext der Gleichaltrigengruppe - gehört hierzu. Diese Suche nach dem Selbst und seinem<br />
Ort in Leben und Gesellschaft verbindet sich mit einem starken Risikoverhalten, einem<br />
Experimentieren auf ungesichertem Boden. In diesem Sinne können auch das Experimentieren mit<br />
Drogen und/oder delinquentes Verhalten junger Menschen interpretiert werden.<br />
Sehen wir uns heute den öffentlichen Raum an, finden wir überwiegend Flächen, von denen der<br />
junge Mensch vertrieben wurde. Fast alle Flächen im öffentlichen Raum sind heute hoch verdichtet<br />
und werden meist nur hoch spezialisiert genutzt:<br />
• In den Verkehrsflächen findet nur der Verkehr statt<br />
• Die Gewerbeflächen sind nur für das Gewerbe da<br />
• Die Grünflächen sind nur als Sichtgrün gedacht<br />
• Die Ökologieflächen sind nur für die ökologische Nutzung vorgesehen<br />
Die Mischnutzung von Flächen - wie es vielleicht viele von uns es noch aus ihrer Kinderzeit kennen<br />
- ist weitgehend verschwunden. Kinder und Jugendliche werden zurückgedrängt in kleine<br />
überwachte und genormte Räume wie Kinderspielplätze und Jugendzentren. Sammeln sie sich<br />
selbständig außerhalb dieser für sie vorgesehenen Räume, werden sie als störend empfunden und<br />
vertrieben oder durch die neuere Form einer öffentlichen Intervention der „aufsuchenden<br />
Sozialarbeit" betreut.<br />
Die öffentlichen Räume der Städte veröden. Das neue Ideal ist die Passage: klimatisiert, sterilisiert<br />
und pasteurisiert. Kaum Kinder, kein Tier. Auf den versiegelten Flächen Begrünung in Töpfen. Der<br />
Himmel ist verglast. Die meisten Menschen dort sind Ebenbilder dieser Welt ohne Schmutz und ohne<br />
Falte. Die Amerikanerin Faith Popcorn (1999) beschreibt diesen Trend als Cocooning, Einspinnen<br />
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in einen sicheren und idyllischen Kokon. Ein Rückzug aus der Öffentlichkeit, in der sich der<br />
einzelne machtlos und fremd, ja sogar bedroht fühlt. Viele der Jugendlichen, die in unsere<br />
Einrichtungen kommen, stammen aus den städtischen Gettos, diesen Wüsten aus Beton und Stahl. So<br />
fühlt man sich schnell an die These erinnert, dass Gewalttätigkeit auch von einer Architektur<br />
ausgehen kann.<br />
Der amerikanische Literaturwissenschaftler Bill Buford (2001), der sich den englischen Hooligans<br />
einige Monate angeschlossen hatte, bemerkt dazu ergänzend: „Keine Ideologie verführt irgendeinen<br />
Jugendlichen. Zur Randale treibt sie ihr unbelebtes Leben. Sie puschen sich im Kampf auf wie mit<br />
Drogen. Wie Gefangene in Isolationshaft verletzen sie oder lassen sich verletzen, um sich zu<br />
vergewissern, dass sie noch am Leben sind. (...) Geil auf Gewalt" ist gewissermaßen die Ultimo<br />
Irratio in einer fertigen Welt, in der man nicht gebraucht wird und in der es nichts zu tun gibt.<br />
Dagegen kommt auch keine Aufklärung an und dagegen helfen auch keine artigen Buttons „ Schluss mit<br />
dem Hass " (ebd.).<br />
Ergänzend beobachten wir seit Jahren eine zunehmende Begeisterung für virtuelle Kriegs- und<br />
Kampfspiele bei unseren jungen Menschen und möchten dazu die Einsicht des Sozialpsychologen<br />
Manes Sperber (1985) zitieren: „Seit Jahrtausenden suchen Menschen aller Stände der täglichen<br />
Wiederkehr des Gleichen zu entfliehen. Gewiss kann man auch in intimen Erlebnissen, in Liebe und<br />
Freundschaft, aber auch in intimen Zwistigkeiten Abwechslung, Flucht und Ausflucht suchen, aber<br />
nur das große Abenteuer, ein allgemeines Moratorium des Alltags, kann eine völlige Umwälzung der<br />
Lebensweise und der alles regelnden Ordnung herbeiführen. Riesenbrände, Überschwemmungen,<br />
Erdbeben und andere Naturkatastrophen und schließlich das von Menschen selbst herbeigeführte<br />
Unheil der Krieg" (ebd.).<br />
Nicht unbegründet schlug deshalb der Leiter eines großen Bremer genossenschaftlichen<br />
Wohnungsbauunternehmens scherzhaft folgende kommunikationsfördernde Maßnahme für einen<br />
dortigen Retortenstadtteil der sechziger Jahre vor: „ Um die Kommunikation der Leute wieder in<br />
Gang zu bekommen, werde ich dem Stadtteil drei Tage das Wasser abstellen ".<br />
Eine Pädagogik, die erfolgreich sein will, also Erfahrungs- und Bildungsgelegenheiten für<br />
Heranwachsende schaffen will, muss also auch auf dieses steigende Bedürfnis nach Erlebnissen und auf<br />
das Defizit von Abenteuern eine Antwort haben.<br />
Die Wurzeln der Erlebnispädagogik<br />
Die Erlebnispädagogik hat ihre Wurzeln in der Reformpädagogik zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Einer<br />
ihrer Urväter Kurt Hahn (1886-1974) sprach von „Erlebnistherapie" und sein pädagogischer Ansatz<br />
verband sich mit der Jugendbewegung und alternativen schulpädagogischen Konzepten der damaligen<br />
Zeit. Das Gemeinschaftserlebnis stand dabei im Mittelpunkt seines Denkens. Durch die Vermittlung von<br />
Verantwortungsbewusstsein durch gemeinsames Erleben sollten die Jugendlichen ihre eigenen<br />
Möglichkeiten in Ernstsituationen kennen lernen. Hahns Kritik richtete sich besonders gegen die bestehenden<br />
Schulen mit ihren tradierten Lehrmethoden: die übermächtige Autorität des Lehrers, die strenge<br />
Schuldisziplin, der unangemessene Druck auf das Kind, sich unterzuordnen. Nach Kurt Hahn darf sich<br />
die Erziehung in der Schule nicht auf das Vermitteln von Wissen beschränken, sondern soll maßgeblich<br />
die Charakterbildung bei der Ausformung der Persönlichkeit beeinflussen. Aus diesem Grund gründete<br />
er sogenannte Kurzschulen, in denen die Jugendlichen in mehrwöchigen Outward-Bound-Kursen für<br />
Einsätze im Rettungs-, Seenot- oder Bergdienst ausgebildet wurden. „Outward Bound" ist ein Begriff aus<br />
der englischen Seefahrt und bezeichnet ein Schiff, das zum Auslaufen bereit ist. Hahn übertrug dieses<br />
Bild in die Pädagogik: Der junge Mensch, der die Kindheit hinter sich gebracht hat und auf der<br />
Schwelle zum Erwachsensein steht, soll auf eine aktive und verantwortungsbewusste Lebensführung<br />
vorbereitet werden - auf seine „Fahrt ins Leben".<br />
71
Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
Hahn (1958) richtete seine Projekte so aus, dass sie nicht isoliert von der Außenwelt als geschlossene<br />
Veranstaltung stattfanden, sondern als Bewährung im Ernstfall tatsächlich Anwendung finden konnten.<br />
Für ihn waren die Natur-und Kulturlandschaften die wichtigsten Handlungsfelder seiner Pädagogik. Das<br />
erlebnistherapeutische Konzept, mit dem er die Verfallserscheinungen der Gesellschaft bekämpfen wollte,<br />
enthielt vier Elemente:<br />
• körperliches Training (u. a. durch Natursportarten wie Kanufahren, Bergwandern und Felsklettern)<br />
• die Expedition (mehrtägige Berg- und Skitouren, Floßfahrten etc.)<br />
• das Projekt (Aufgabenstellung mit selbständiger Planung und Durchführung im handwerklichkünstlerischen<br />
Bereich)<br />
• den Dienst am Nächsten (von seinen Schülern geleisteter See- und Bergrettungsdienst)<br />
Diese vier Elemente bezogen sich auf vier wesentliche Mängel der Gesellschaft, die auch heute noch in<br />
verblüffender Weise aktuell sind:<br />
• der Mangel an Anteilnahme<br />
• der Mangel an Sorgsamkeit<br />
• der Verfall der körperlichen Tauglichkeit<br />
• der Mangel an Initiative und Spontaneität (vgl. Hechmair/Michl 1993)<br />
Erlebnispädagogik verstand sich damals, wie auch heute, als alternativer Bildungsansatz und steht für ein<br />
Leben im Wechsel und Austausch zwischen Praxis und Theorie. Er-leben gilt als Alternative zum<br />
schulischen Lernparadigma.<br />
Erlebnispädagogische Inhalte in der Jugendhilfe<br />
In den 90er Jahren sind in den Hilfen zur Erziehung erlebnispädagogische Inhalte ein fester Bestandteil<br />
in den verschiedenen Formen der pädagogischen Arbeit mit Jugendlichen geworden. In den Alltag<br />
integrierte Angebote wie Kanufahren, Bergklettern, eine Nachtwanderung oder das Anlegen eines Gartens<br />
vermitteln den Jugendlichen Erlebnisse, aus denen heraus sie sich selber wahrnehmen, den Umgang<br />
miteinander bewusst erfahren und gegebenenfalls auch Dinge an sich selbst korrigieren lernen. In einer<br />
Befragung ehemaliger Heimbewohner erhielten im Rückblick erlebnisorientierte Maßnahmen die besten<br />
Noten und blieben noch lange nach dem Heimaufenthalt den Betroffenen in der Erinnerung (vgl. LWV<br />
Baden 2000).<br />
(…..)<br />
Während Campingurlauben, Kanutouren, Berg- oder Nachtwanderungen wird die<br />
Gruppengemeinschaft herausgefordert, denn häufig sind die Gruppenmitglieder in besonderer Weise<br />
aufeinander angewiesen. Sie können oder müssen gemeinsam ihre Angst vor der Dunkelheit oder<br />
vor einem Gewitter bewältigen, spüren die Strapazen des Aufstiegs und teilen anschließend das<br />
Gipfelglück, Erleben den Aufbauen eines Zeltdorfes und genießen die erste Pasta mit Soße vom<br />
Campingkocher.<br />
Erlebnispädagogische Inhalte werden in den Einrichtungen der Jugendhilfe eingesetzt, um<br />
bestimmte Ziele zu erreichen, wie z.B. die Steigerung von Selbstwertgefühl, das Einüben von<br />
Selbstverantwortung, das Erkennen der eigenen Individualität und deren Chancen und Grenzen.<br />
Erlebnispädagogische Aktionen binden das Individuum in die Gemeinschaft ein und fördern die die<br />
Verantwortungsübernahme des Einzelnen für sich selbst und Andere. Anhand gemeinsamer<br />
Erlebnisse sollen Kinder und Jugendliche soziale Kompetenzen entwickeln und sich somit mit sich<br />
selber, dem Anderen und der Umwelt auseinandersetzen.<br />
Die Entwicklung von Vertrauen und Verantwortung braucht jedoch Zeit. Erlebnisräume sollten<br />
daher entschleunigt sein, d.h. weder Erlebniskonsum noch der schnelle Kick stehen im<br />
Vordergrund der Erlebnisse. Das konkrete Handeln gilt als das Medium zum Erreichen<br />
72
Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
pädagogischer Ziele. Wichtig ist, dass aus dem Erlebnisarrengement ein pädagogischer<br />
Handlungsraum wird, bei dem Kinder und Jugendliche bei Planung und Organisation eingebunden<br />
sind. Der soziale Austausch, die Auseinandersetzung mit dem Gegenüber, das Aushandeln<br />
gemeinsamer Strategien, Konsens- und Kompromissfähigkeit - all dies geschieht dann, wenn<br />
Kinder und Jugendliche Aufgaben als Gruppe und durch die Gruppe bewältigen. Die Anerkennung in<br />
der Gruppe ist somit wichtig für das Selbstwertgefühl des Einzelnen. Erleben und Lernen stehen in einem<br />
engen Verhältnis zueinander: Erlebtes kann zur Erfahrung werden, wenn wir das Erlebte uns bewusst<br />
machen und reflektieren.<br />
Jugendhilfe als Entwicklungshilfe - das Beispiel der Travelling Workschool Scholen<br />
Die „Reisende Werkschule Scholen e.V." bietet seit 1979 im niedersächsischen Dorf Scholen ein<br />
stationäres Angebot für Schulverweigerlnnen mit Mehrfachauffälligkeiten an. Die Werkschule ist eine<br />
Einrichtung der Jugendhilfe mit gleichzeitig integrierter Ergänzungsschule. Die Maßnahme schließt mit<br />
dem Hauptschul- oder Realschulabschluss ab. Die Chancen, diesen zu schaffen sind hoch. Seit 1979<br />
haben nur 5 unserer insgesamt 120 Prüfungskandidaten dieses Ziel verfehlt.<br />
Verschiedene Prämissen wie beispielsweise Handlungsorientierung, Erlebnispädagogik,<br />
Lebensweltorientierung und Gemeinwesenarbeit werden miteinander verbunden. Die Dauer dieses<br />
Angebotes beträgt durchschnittlich zwei Jahre und enthält einen zweimonatigen Arbeitsaufenthalt der<br />
Entwicklungshilfe in Afrika. Das Ziel ist neben der schulischen Qualifikation die Herausbildung von<br />
Eigenverantwortlichkeit, Selbstvertrauen, Wendigkeit, Leistungsbereitschaft und die Entwicklung von<br />
moralischen Wertvorstellungen. Apathie und Resignation sollen durch die in dem Kurs erfahrbare soziale<br />
Aufwertung überwunden und neue Wege der Lebensgestaltung, die eine biographische Planung verfolgen,<br />
geübt werden.<br />
Seit 1979 hat die Werkschule Arbeitsaufenthalte in Gambia, Ghana und zuletzt in Malawi durchgeführt.<br />
Die Werkschüler arbeiteten als Erntehelfer in der Erdnussernte, errichteten ein Dorfgemeinschaftshaus,<br />
zwei Ausbildungstischlereien, einen Kindergarten, eine Ausbildungsstätte für Informatik und drei<br />
Primarschulen mit Lehrerwohnhaus. Die Geldmittel für die reinen Baukosten der Projekte wurden und<br />
werden über externe Zuschussgeber wie BINGO Lotto Niedersachsen eingeworben.<br />
Warum jedoch Afrika Hier möchten wir zwei Schriftsteller, Friedrich Grillparzer und Mark Twain, für<br />
uns antworten lassen, die sehr treffend dazu formulierten: „Eine Reise ist ein vortreffliches Heilmittel für<br />
verworrene Zustände" (Friedrich Grillparzer) und „Reisen ist tödlich für Vorurteile" (Mark Twain).<br />
Die produktivsten Lernprozesse finden immer in einer Gruppe statt. Im Ausland werden diese<br />
Lerneffekte noch verstärkt, weil sie in einem unbekannten Umfeld stattfinden und die jungen Menschen<br />
sich deshalb viel stärker auf ihre Gruppe und die sie betreuenden Pädagoginnen beziehen müssen. Neue<br />
emotionale und soziale Erfahrungen werden dadurch ermöglicht und bilden den<br />
Grundstein für eine positive Veränderung. Einerseits machen die jungen Menschen neue Erlebnisse und<br />
Erfahrungen in einer für sie fremden Welt, andererseits bietet die Gruppe und die in ihr mitgereisten<br />
Pädagoginnen auch Sicherheit. Zentral ist der sinnstiftenden Zusammenhang von Arbeit und Leben, der<br />
auf den Reisen erfahrbar wird. Die jungen Menschen erhalten zudem durch ihre Tätigkeit als<br />
„Entwicklungshelfer" gesellschaftliche Anerkennung und Wertschätzung und zwar sowohl in Afrika als<br />
auch Zuhause.<br />
Der hohe schulische Erfolg unserer Maßnahme wäre ohne die lange Afrikareise nicht möglich, was<br />
immer wieder durch die mitgereisten Werkschüler bestätigt wird.<br />
(…..)<br />
Unsere Reisen nach Afrika sind viel mehr als Projekte in eigener Sache. Als Non Government<br />
Organisation (NGO) betreiben wir seit 2006 eine Schule im kleinen Buschdorf Makonjeni in Malawi. In<br />
Kooperation mit dem malawischen Erziehungsministerium entstand in dem von unseren Schülern im<br />
73
Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
Jahr zuvor errichteten Gebäude die zweiklassige Primary School in eigener Trägerschaft für etwa 200<br />
Schüler.<br />
2007 sollte in einem zweiten Bauabschnitt ein weiterer Klassenbau für 200 Schülerinnen entstehen. In<br />
der kleinen malawischen Hauptstadt Lilongwe landeten deshalb im Oktober 2007 acht pädagogische<br />
Fachkräfte und 12 Werkschüler und Werkschülerrinnen im Alter von 15 bis 17 Jahren. Mit dem Bus und<br />
zwei Geländewagen fuhren wir am nächsten Tag über zehn Stunden lang über löcherige Straßen und<br />
Sandpisten in unser Dorf auf der anderen Seite des riesigen Malawisees. Bei unserer Ankunft in unserem<br />
Dorf, einer unüberschaubaren Ansammlung von Lehmhütten, schien dieses hauptsächlich aus jubelnden<br />
Kindern unter 14 Jahren zu bestehen.<br />
Unsere Herberge für die nächsten Wochen bestand nicht aus Lehm und Stroh, sondern aus Zementsteinen<br />
und hatte ein Wellblechdach. Ein großes einfaches Gästehaus ohne Strom, ohne fließendes Wasser und<br />
mit Latrinen, doch für jeden ein eigenes Zimmer. Gleich am nächsten Tag erfolgte der erste Schock für die<br />
Jugendlichen, als sie realisierten, dass sie unendlich viel freie Zeit hatten, die nicht mit Konsum und<br />
Medien gefüllt werden konnte.<br />
In den Tropen geht das ganze Jahr die Sonne um 6:00 Uhr auf und um 18:00 Uhr wieder unter. Da es<br />
keinen Strom und somit keine Beleuchtung gab, mussten wir uns der Natur anpassen. Das hieß um<br />
4:45 Uhr aufstehen, denn um 6:00 Uhr war Arbeitsbeginn. Mittags um 12:00 Uhr war wegen der<br />
großen Hitze schon Feierabend. Um 18:00 wurde es wieder dunkel. Gegen 20:00 Uhr - dank des<br />
Fehlens von Elektrizität - wären alle im Bett. Unsere Werkzeuge waren Hacke, Schaufel, Kelle,<br />
Eimer und Schubkarre. Alle Arbeitsprozesse wurden in Teamarbeit verrichtet. Stockte der<br />
Arbeitsfluss, stoppte sofort der komplette Arbeitsprozess. Es zeigte sich, dass jede/r gebraucht wird<br />
und jeder Ausfall sich sofort bemerkbar macht.<br />
Das Team auf dem Bau bestand aus etwa 40 Menschen. Die Bauleitung und die praktische<br />
Anleitung lagen bei dem Malawiteam. Darüber hinaus versuchten wir möglichst gemischte Teams<br />
aus Deutschen und Malawiern herzustellen. Als Verständigungssprache diente Englisch. In Afrika<br />
wird zumeist ein sehr einfaches Englisch gesprochen, was unseren Englischkenntnissen sehr<br />
entgegenkam. Fast alle Werkschülerinnen haben miserable Englischkenntnisse. Jeder Tag auf dem<br />
Bau ist somit auch eine Lektion in Englisch.<br />
Unsere Regeln sind hart: Nur der Werkschüler, der in der Woche die Bauarbeitszeit nicht<br />
geschwänzt hat, darf in das Wochenende fahren. Wochenende heißt am Freitagmittag das staubige<br />
Dorf verlassen zu dürfen und mit uns und unseren Geländewagen auf die andere Seite des Sees zu<br />
fahren, wo rudimentäre touristische Reize locken. Diese werden allerdings erst im Vergleich zu<br />
unserem Dorfleben attraktiv: Strom, Musik, Beach, kalte Cola und Dusche mit fließendem Wasser<br />
und „Porzellanklos".<br />
Auf dem Bau wurden die Fundamente mit der Hacke von Hand ausgehoben und der Beton wurde<br />
von Hand gemischt. Da wir unsere Steine aus einem Zement-Sand-Gemisch selbst herstellten,<br />
bemerkten wir nach einiger Zeit, dass die Steine, die mit Flusssand gefertigt wurden, besonders fest<br />
wurden. Wir liefen deshalb mit unseren Schubkarren in das einige Kilometer entfernte Flussbett.<br />
Anschließend mussten wir die mit Sand beladenen Schubkarren durch den Busch zurück zum Bau<br />
bringen. Die Karren hatten nur eine spärliche Hartgummibereifung, sie „eierten" und quietschten.<br />
Jeweils zwei Jugendliche wurden einem afrikanischen Maurer zugeordnet, um unter seiner Anleitung<br />
das Mauern zu lernen. Das Wasser für unseren Bau holten wir aus dem Fluss nahe unserem<br />
Dorf. Wir fuhren mit unserem Geländewagen an den Fluss heran und schöpften das Wasser mit<br />
Blecheimern in unsere Wassertonne, die wir auf der Ladefläche des Pickups befestigt hatten.<br />
Auf dem Bau wurden wir immer wieder von den Kindern des Dorfes besucht. Einige kleine Kinder<br />
weinten, weil sie noch nie Weiße gesehen hatten. Unsere Jugendlichen, durchweg Schulverweigerer,<br />
waren zunehmend irritiert: Warum interessierten sich die Kinder und Jugendlichen so sehr für ihre<br />
zukünftige Schule Wieso warteten sie selbst als Werkschüler so sehnsüchtig auf den letzten Schultag,<br />
74
Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
während diese afrikanischen Kinder - einige sogar fast im gleichen Alter wie sie - mit gleicher<br />
Sehnsucht auf den ersten Schultag warteten<br />
Die Malawier sagten uns auch manchmal: „Ihr habt das Geld und wir haben die Zeit." Dieser riesige<br />
Überfluss an Zeit brachte die Jugendlichen zunehmend an ihre Grenzen. Was sollten sie anfangen mit<br />
diesem Übermaß an Zeit Notgedrungen näherten sie sich dem zähen Zeitfluss Afrikas an. Sie fingen an<br />
zu kommunizieren, zu lesen, erlernten afrikanische Spiele und Lieder, erzählten sich und uns<br />
Geschichten. Sie erzählen uns aus ihrem Leben. Sie näherten sich uns immer stärker an. Die körperliche<br />
Distanz bei den Kontakten mit den Afrikanern wurde zunehmend geringer und dann nach etwa vier<br />
Wochen passierte es: Sie entdeckten den unglaublichen menschlichen Reichtum der afrikanischen<br />
Gesellschaften, sie fingen an zu palavern, zu spaßen, zu diskutieren, zu spielen, zu sitzen, zu tanzen und<br />
zu warten. Sie ahnten, dass es neben materiellem Glück noch andere geglückte Lebensentwürfe geben<br />
könnte.<br />
Nach zehn Wochen war der Bau fertig. Die Jugendlichen hatten sich inzwischen gut akklimatisiert und<br />
froren schon bei Nachttemperaturen von 25 Grad Celsius. Das Einweihungsfest nahte. Die Creme des<br />
ganzen Bezirkes wurde dazu eingeladen und kam. Ein großes gesellschaftliches Ereignis im ereignisarmen<br />
afrikanischen Dorfleben. Es wurde getrommelt, getanzt und der „MP" (Member of Parliament)<br />
der Regierungspartei hielt eine kluge, aber endlose Rede. Die Werkschülerinnen ertragen es mit<br />
Gleichmut, aber auch mit Stolz auf das Geleistete, die - nicht enden wollenden - gesellschaftlichen<br />
Rituale.<br />
Ein paar Tage später sitzen wir alle wieder im Flugzeug nach Deutschland. Es ist Dezember. In<br />
Deutschland ist es tiefer Winter. Die Bräune in unseren Gesichtern schwindet täglich und der Alltag hat<br />
uns wieder. Die Werkschülerinnen bereiten sich auf den Schulabschluss im Sommer 2008 vor. Aber wie<br />
heißt es: Afrika entlässt keinen Reisenden unverändert.<br />
Literatur<br />
Buford, B. (2001): Geil auf Gewalt - Unter Hooligans. München.<br />
Hahn, K. (1958): Erziehung zur Verantwortung. Reden und Aufsätze. Stuttgart<br />
Hechmair, B./Michl, W. (1993): Erleben und Lernen. Luchterhand. Landeswohlfahrtsverband Baden<br />
(2000): Erfolg und Misserfolg von Heimerziehung.<br />
Popcorn, F. (1999): „Clicking" - Die neusten Trends für unsere Zukunft. München.<br />
Sperber, M. (1985): „Leben im Jahrhundert der Weltkriege". Dankesrede zur Verleihung des<br />
Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. In: Friedrich, Heinz (Hg.): Sein letztes Jahr. München,<br />
S. 73.<br />
Kompetenzen aus dem Lehrplan: „Gruppenpädagogische Maßnahmen für das soziale Lernen in<br />
der Gruppe durchführen“. / „Kinder- und Jugendarbeit im Sinne ausgewählter Ansätze unter<br />
Berücksichtigung von Partizipation planen, durchführen und reflektieren“. / „Grundmerkmale der<br />
entwicklungsförderlichen Beziehungsgestaltung in der pädagogischen Arbeit mit Kindern und<br />
Jugendlichen beachten“. / „Werte anbieten, vorleben und entsprechende praktische Erfahrungen<br />
ermöglichen“. Wissen und Verstehen: An welchen Missständen knüpft die Erlebnispädagogik an<br />
Was will die Erlebnispädagogik bewirken und erreichen Mit welchen Prinzipien und<br />
Rahmenbedingungen kann Erlebnispädagogik umgesetzt werden<br />
75
Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
Thema: Erziehungsplanung<br />
Quelle: Heidemann, Wilhelm; Greving, Heinrich: „Praxisfeld Heimerziehung,<br />
Lehrbuch für sozialpädagogische Berufe“, Bildungsverlag EINS GmbH, Köln,<br />
20<strong>11</strong>, S. 225 ff<br />
Sozialpädagogisches Fallverstehen<br />
(….)<br />
Im Achten Jugendbericht wird 1990 die Bedeutung von „Fallverstehen" folgendermaßen beschrieben:<br />
„Fallverstehen als Voraussetzung für erzieherische Hilfen bedeutet in dem Sinne, das Handeln von<br />
Kindern und Jugendlichen im Kontext ihrer Lebenslage und ihrer Lebensgeschichte zu betrachten"<br />
(Achter Jugendbericht, 1990, S. 133). Hier kommt es im Kern darauf an, das aktuell beobachtbare<br />
Verhalten zu analysieren, zu erklären, zu interpretieren und mit den biografischen Erfahrungen in<br />
Zusammenhang zu bringen. Als Analyseschema bietet sich hierbei das „Kreismodell" an, das davon<br />
ausgeht, dass eine spezifische Ursache eine Gefühlsreaktion hervorruft, diese wiederum eine Verhaltensreaktion<br />
bewirkt, was schließlich zu einer bestimmten Symptomatik führt.<br />
Oft sind im Rahmen der stationären Jugendhilfe Zusammenhänge, die das Verhalten von Kindern und<br />
Jugendlichen erklären (können) durchaus bekannt und mitunter den jeweiligen Akten zu entnehmen.<br />
Ist ein Kind beispielsweise nach einem sexuellen Missbrauch durch eine sofortige Inobhutnahme in<br />
eine Wohngruppe aufgenommen worden, liegt in diesem Fall die Ursache für spezifische<br />
Auffälligkeiten im Verhalten (selbstverletzendes Verhalten, extrem offensiver, verschlossener oder<br />
altersunangemessener Umgang mit Sexualität, Einnässen/ Einkoten, Selbstisolation etc.) auf der Hand.<br />
Häufiger sind aber Hintergründe und Ursachen für bestimmte Verhaltensweisen nicht bekannt. In<br />
diesem Fall ist es erforderlich, fachlich begründete Vermutungen über den Zusammenhang von<br />
(beobachtbarem) Verhalten zu einer (möglichen/ sehr wahrscheinlichen) Ursache herzustellen und das<br />
Verhalten fach- und sachgerecht zu interpretieren. Insofern verlangt sozialpädagogisches Fallverstehen<br />
(oder die Erstellung einer psycho-sozialen Diagnose) von Erzieherinnen und Erziehern, dass sie in der<br />
Lage sind, einschlägige fachtheoretische Grundlagen als „Brille" zu nutzen, um aus diesem<br />
Blickwinkel spezifische Auffälligkeiten im Verhalten ursächlich erklären zu können. (….)<br />
Quelle: Günder, Richard: „Praxis und Methoden der Heimerziehung“,<br />
Freiburg, 2000, S. 172ff:<br />
Die Situationsanalyse des Kindes<br />
Die Situationsanalyse (….) hat zwei übergeordnete Gesichtspunkte. Sie dient einerseits einer allumfassenden<br />
Sammlung von Daten, Fakten, Lebensumständen, Vorinformationen und Eindrücken eines<br />
bestimmten Kindes, um so zu einer Darstellung seiner Gesamtpersönlichkeit zu gelangen: zur Ist-<br />
Analyse. Zum anderen wird schon mit dem Beginn des Sammelns von Informationen allmählich sichtbar,<br />
wie verständlich oder unverständlich das Verhalten des Kindes von den Erzieherinnen gewertet wird. Wer<br />
mehr auf der Suche nach negativen Merkmalen ist, wird diese eher aufspüren als jemand mit neutraler oder<br />
positiver Grundeinstellung zum Kind. Situationsanalysen sollten vom Grundsatz her mit neutraler oder mit<br />
positiver Intention gefertigt werden, sie dienen dem erzieherischen Verständnis der beobachteten<br />
Erscheinungs- und Verhaltensweisen, nicht jedoch der Zielsetzung negativer Festschreibung. Die<br />
Situationsanalyse eines Kindes beschreibt dessen Ist-Zustand unter Berücksichtigung der Faktoren und<br />
Vorerfahrungen, die zum derzeitigen Erscheinungsbild geführt haben mögen. Sie beinhaltet damit auch<br />
immer eine Analyse der Vergangenheit. Berücksichtigt werden daher:<br />
76
Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
• der bisherige Entwicklungsverlauf unter Einbeziehung der früher einflussnehmenden Erziehungsund<br />
Sozialisationsbedingungen,<br />
• der Verhaltensbereich des Kindes, insbesondere seine emotionalen Befindlichkeiten, Auffälligkeiten<br />
und abweichende Verhaltensformen, die zwischenmenschlichen Beziehungen des Kindes, aber auch<br />
die Betonung der vorhandenen angemessenen und erwünschten Verhaltensmerkmale,<br />
• die intellektuelle Leistungsfähigkeit und derzeitige Möglichkeit des Kindes/Jugendlichen, dem<br />
Leistungsvermögen entsprechende oder nicht entsprechende Erfolge oder Misserfolge in Schule und<br />
Berufsausbildung zu erzielen,<br />
• der körperliche Bereich, insbesondere unter Berücksichtigung der konstitutionellen und/oder<br />
organisch bedingten Einflussnahme auf den psychischen Bereich und auf das Leistungsvermögen,<br />
• die Beziehung des Kindes zu seinen Eltern und Verwandten,<br />
• die Beziehung des Kindes zu anderen Personen außerhalb des Heimes, die Einfluss auf seine<br />
Entwicklung genommen haben und weiterhin nehmen,<br />
• die früheren und derzeitigen persönlichen Aspekte, von denen das Kind selbst ausgeht,<br />
• die Stellung des Kindes innerhalb der Gruppe, die Überprüfung von Sympathie und Antipathie auf<br />
seilen der anderen Kinder und bei den Erzieherinnen.<br />
Zur Abfassung der Anamnese können sich die Gruppenmitarbeiterinnen in der Regel auf vorliegende<br />
schriftliche Berichte beziehen: auf die Einweisungsunterlagen, auf die Unterlagen der<br />
Jugendhilfeplanung. Hierbei gilt allerdings zu beachten, dass frühere Beobachtungen und Beurteilungen<br />
immer auch als subjektiv gefärbt anzusehen sind. Auch müssen früher vermutete Gefährdungen<br />
und Tendenzen innerhalb der Entwicklung nicht unbedingt der derzeitigen Ausgangsposition<br />
entsprechen. Verbunden mit der Auswertung der Vorgeschichte ist auch immer die Gefahr einer<br />
Hervorhebung und Betonung negativer Merkmale, somit der Negativfestschreibung. Aus der<br />
Praxis kennen wir die Bedeutung der sich selbst erfüllenden Prophezeiung: Kinder und Jugendliche<br />
können auch deshalb negative Verhaltensformen an den Tag legen, weil man dies in negativer<br />
Erwartungshaltung so von ihnen erwartet.<br />
Die Forschungen über dieses Phänomen (Smale 1983) konnten einen eindeutigen Zusammenhang<br />
zwischen dem Grad der positiven Prophezeiung und dem eingetretenen pädagogisch/therapeutischen<br />
Erfolg ableiten. Das bedeutet nun keineswegs, dass Heimerzieherinnen die bereits vorhandenen<br />
Berichte und Begutachtungen außer Acht lassen müssten. Sie sollten sich jedoch der beschriebenen<br />
Gefahr bewusst sein und von Fall zu Fall entscheiden, wie vorteilhaft oder wie problemhaft die<br />
aktenkundige Analyse eines Kindes sein könnte.<br />
Vorteilhaft für die weitere Erziehungsplanung ist es, wenn die Beobachtung des Kindes durch das<br />
Erziehungsteam, sein Verhalten im Alltag und die besonderen Situationen, alleine oder in den<br />
Gruppenbeziehungen zum Hauptgegenstand der Ist-Analyse wird. Hierbei können die<br />
Beobachtungen anderer oftmals helfenden und korrigierenden Einfluss haben, wenn zum Beispiel<br />
Mitarbeiterinnen aus anderen Gruppen um Stellungnahme gebeten werden oder ein Gespräch mit<br />
den Lehrerinnen des Kindes stattfindet. Auch eine psychologische Begutachtung kann bei<br />
speziellen Fragestellungen hilfreich sein. So ist es für die weitere Gestaltung der konkreten Erziehung<br />
beispielsweise wichtig zu wissen, ob ein Kind schlechte Schulleistungen aufweist, obwohl ein<br />
hohes Intelligenzpotential nachgewiesen wurde.<br />
(….)<br />
Unabhängig von der Art und Weise der mosaikartigen Erhebung und Zusammensetzung der<br />
psychosozialen Diagnose ist deren Diskussion innerhalb des Gruppenteams notwendig.<br />
Gemeinsame Gesichtspunkte können ebenso wie abweichende Stellungnahmen zu einer<br />
objektiveren Betrachtung führen; die gemeinsam erarbeiteten Hauptmerkmale in der Verhaltensbeobachtung<br />
können nach einer eingehenden Interpretation die resultierenden pädagogischen<br />
Aufgabenbereiche definieren.<br />
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Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
Wissen und verstehen: Die Situationsanalyse darf sich nicht auf eine Beschreibung äußerlich<br />
erkennbarer Fakten beschränken! Es bedarf darüber hinaus einer fachlichen Einschätzung, was die<br />
verschiedenen Erlebnisse und Beziehungen des Kindes in seiner augenblicklichen seelischen<br />
Situation bewirken, - welche Gefühle, Belastungen, Hoffnungen und Bedürfnisse dadurch entstehen,<br />
- wie seine Gesamtentwicklung davon beeinflusst ist.<br />
Quelle: Weigel (nach umgearbeiteten Vorlagen) – Erziehungsplanung, Schema<br />
und Fallbeispiele<br />
Schema einer Erziehungsplanung:<br />
1. Situationsanalyse (Psychosoziale Diagnose)<br />
1.1 Sammeln der Informationen und Fakten<br />
(Dies kann z.B. anhand der Aktenlage, Nachfragen bei Jugendamt, KollegInnen,<br />
Familienangehörigen und eigenen Beobachtungen geschehen)<br />
1.2 Einordnen / Einschätzen / Interpretieren<br />
(Welche Zusammenhänge bestehen zwischen Vorgeschichte und aktuellem Verhalten Was geht in<br />
dem Kind vor Welche Aussagen/ Vermutungen lassen sich zu den inneren seelischen Prozessen<br />
des Kindes aufstellen Welche pädagogischen/ psychologischen Annahmen können die Situation<br />
des Kindes am besten beschreiben)<br />
2. Ableitung von Kompetenzen und Erfahrungen<br />
(Welche Kompetenzen und Erfahrungen wünschen sich die ErzieherInnen für das Kind Was<br />
könnte das Kind für sich -, was könnte für das Kind erreicht werden Achtung: Nicht eigene<br />
Zielvorstellungen dem Kind überstülpen, sondern die Entwicklungsrichtung des Kindes und das,<br />
was es braucht, berücksichtigen. Kompetenzen sind im Präsenz zu formulieren.)<br />
3. Methodische Umsetzung<br />
(Mit welchen konkreten Schritten können die wünschenswerten Kompetenzen und Erfahrungen für<br />
das Kind erreicht werden Wer übernimmt das im Team Ab wann Bis wann Wie lange<br />
4. Überprüfung<br />
(Hier ist ein konkreter Termin festzusetzen. Es erfolgt ein Austausch, ob die geplanten Schritte<br />
umgesetzt wurden und zu Fortschritten geführt haben, ob die Situationsanalyse korrigiert oder<br />
erweitert werden muss, ob weitere oder andere Kompetenzen, Erfahrungen oder Maßnahmen<br />
festzuhalten sind.)<br />
Erstes Fallbeispiel:<br />
1. Situationsanalyse (Psychosoziale Diagnose)<br />
1.1 Sammeln der Informationen und Fakten<br />
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Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
Sebastian ist 12 Jahre alt und lebt seit 2 Jahren im Heim. Der Vater ist unbekannt, die Mutter ist<br />
Alkoholikerin und deshalb zur Zeit nicht in der Lage für ihre Kinder zu sorgen. Sebastian hat noch<br />
zwei jüngere Schwestern, die in einem anderen Heim leben. Sowohl Mutter als auch Schwestern<br />
leben in einem Ort, der von Sebastians Wohnsitz ungefähr 300 km entfernt ist. Sebastian geht zur<br />
Hauptschule und war dort bis vor etwa einem halben Jahr leistungsmäßig im Mittelfeld. In der letzten<br />
Zeit haben seine Leistungen allerdings sehr stark nachgelassen.<br />
Parallel zu diesem Leistungsabfall ist in letzter Zeit festzustellen, dass Sebastian viel im Dorf .mit<br />
älteren Jugendlichen „herumhängt" und dann auch raucht und Bier trinkt. Sebastian ist ein eher stiller,<br />
zurückhaltender und freundlicher Junge, der bisher mit seinen Mitbewohnern immer gut<br />
ausgekommen ist und besonders zu den jüngeren Kindern immer nett war. In der letzten Zeit hat er<br />
sich allerdings eine „coole" Fassade zugelegt.<br />
Sebastian ist sehr sportlich und ist auch handwerklich begabt, er hat allerdings keine Hobbys, denen<br />
er regelmäßig nachgeht.<br />
1.2 Einordnen / Einschätzen / Interpretieren<br />
Sebastian steht im Beginn der Pubertät, was erklären könnte, warum er sich ein „cooleres"<br />
Verhalten zulegt, sich von den jüngeren Kindern abgrenzt und sich mehr an älteren Jugendlichen und<br />
deren erwachsen wirkenden Verhaltensweisen orientiert. Die Pubertät ist eine Phase der großen<br />
Verunsicherung und viele Jungen wirken in dieser Zeit betont „cool", da sie so ihre Unsicherheit<br />
und ihre Selbstzweifel verstecken können, zumal sie meist nicht gelernt haben, über ihre Gefühle zu<br />
sprechen.<br />
Auch der Leistungsabfall in der Schule ist nicht untypisch für diese Entwicklungsphase. Gleichzeitig<br />
ist denkbar, dass Sebastian in den älteren Jugendlichen eine Identifikationsfigur sucht, da ihm ein<br />
männliches Vorbild immer gefehlt hat, da er seinen Vater nie kennen gelernt hat. Eine Identifikation<br />
mit älteren und stärkeren Jugendlichen kann möglichweise auch eine Kompensation dafür sein, dass<br />
Sebastian sich seinem Schicksal ziemlich hilflos ausgeliefert fühlt.<br />
Da die Mutter Alkoholikerin ist, kann angenommen werden, dass Sebastian teilweise durch das<br />
mütterliche Vorbild gelernt hat, Probleme mit Alkohol zu lösen bzw. sie darüber zu vergessen. Da er<br />
keine Hobbies hat, kann das Herumhängen aber auch mit Langeweile, also fehlenden<br />
Alternativen, zu tun haben.<br />
Sein stilles zurückhaltendes Wesen ist wahrscheinlich darauf zurückzuführen, dass ihn seine<br />
Lebenssituation emotional sehr belastet und er lange Zeit mit niemandem darüber reden konnte.<br />
Bei der Bewertung der Fakten ist auch noch zu berücksichtigen, dass Sebastian aufgrund der<br />
großen Entfernung zu seiner Familie kaum noch Kontakt zur Mutter und zu den Schwestern hat. Da<br />
nun aber die Pubertät eine Phase ist, in der sich Jugendliche sehr intensiv die Frage nach der eigenen<br />
Identität stellen, könnte es für Sebastian wichtig sein, wieder mehr Kontakt zu seiner Familie zu<br />
haben, da das Wissen über die eigene Herkunft ein wesentlicher Bestandteil der eigenen Identität<br />
ist.<br />
2. Ableitung von Kompetenzen und Erfahrungen<br />
Sebastian hat wieder Kontakt zu seiner Mutter und zu seinen Schwestern.<br />
Er lernt auch seinen Vater kennen.<br />
Sebastian weiß über seine familiäre Geschichte und seine familiäre Herkunft Bescheid.<br />
Er hat ein sicheres Identitätsgefühl entwickelt.<br />
Er ist sich seiner Interessen im Freizeitbereich bewusst.<br />
Sebastian geht Tätigkeiten nach, die ihm Anreiz und Erfüllung bieten und ihm Erfolgserlebnisse und ein<br />
besseres Selbstwertgefühl bescheren.<br />
Rauchen und Alkoholkonsum sind bei ihm rückläufig.<br />
Sebastian orientiert sich an einer männlichen Identifikationsfigur im Erzieherteam.<br />
79
Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
Er setzt sich mit seinen Problemen auseinander.<br />
Sebastian zeigt in der Schule ein gleichmäßiges und zielorientiertes Arbeitsverhalten.<br />
3. Methodische Umsetzung:<br />
In der kommenden Woche: Der Bezugserzieher ermutigt Sebastian, telefonischen und/oder<br />
brieflichen Kontakt zur Mutter und zu den Schwestern herzustellen. Er schlägt Sebastian vor, seine<br />
Mutter um Kinderbilder zu bitten und ein Fotoalbum anzulegen.<br />
Übernächste Woche: Der Bezugserzieher regt gegenseitige Besuche von Sebastian und seinen<br />
Familienangehörigen an.<br />
Beim ersten Besuch im Heim: Er bemüht sich, die Mutter davon zu überzeugen, Sebastians Vater zu<br />
benennen, und anschließend den Kontakt zwischen Sebastian und seinem Vater anzubahnen.<br />
Ab morgen: Der Bezugserzieher sucht gemeinsam mit Sebastian die ortsansässigen Sportvereine aus<br />
dem Telefonbuch raus. Er überlegt gemeinsam mit Sebastian, welche Sportart am ehesten in Frage<br />
kommt.<br />
Übernächste Woche: Der Bezugserzieher wird Sebastian zu einem Probetraining mit beim Sportverein<br />
begleiten. Der Bezugserzieher wird anschließend beim Jugendamt einen Antrag für eine eventuell<br />
benötigte Erstausrüstung stellen. Bei allen folgenden Trainingseinheiten wird der Bezugserzieher dabei<br />
sein, soweit eine zweite KollegIn im Dienst eingeplant werden konnte.<br />
Im kommenden Monat: Die Gruppenleiterin nimmt Sebastian mit zu einer Fahrrad AG beim<br />
nahegelegenen Jugendzentrum. Bei den ersten drei wöchentlichen AG-Treffs wird sie Sebastian<br />
begleiten.<br />
Ab morgen: Die Erzieherin Fr. S. führt mit Sebastian ein Punktesystem ein. Durch regelmäßiges und<br />
sorgfältiges Arbeiten sammelt Sebastian Punkte, die er dann gegen eine Belohnung eintauschen kann.<br />
Als Belohnung wird ihm z.B. der Besuch in einem Eiscafé (alternativ Kino) vorgeschlagen.<br />
Nach den Sport- und AG-Terminen äußern die jeweils diensthabenden ErzieherInnen Interesse für<br />
Sebastians Tätigkeiten und Fortschritte und auch für andere Fragen, die ihn beschäftigen könnten.<br />
Bezüglich der Kontakte zu älteren Jugendlichen wird erst mal sechs Wochen abgewartet, ob die<br />
oben genannten Maßnahmen dazu führen, dass diese Kontakte von allein nachlassen. Ansonsten<br />
werden diese Kontakte durch Absprachen mit Sebastian auf zweimal wöchentlich zu zwei Stunden<br />
beschränkt.<br />
4. Überprüfung<br />
Eine erste Überprüfung findet nach zwei Monaten, und zwar am xxx, in der Teamsitzung statt.<br />
An diesem Termin erfolgt ein Austausch, ob die bisherigen Maßnahmen zu Fortschritten geführt<br />
haben oder andere oder weitere Maßnahmen für Sebastian in die Wege zu leiten sind. Der<br />
Bezugserzieher setzt diesen Punkt auf die Tagesordnung der Teamsitzung.<br />
80
Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
Neues Fallbeispiel:<br />
Benjamin (12) lebte bis vor drei Monaten bei seiner Mutter, Frau Schulz, die seit zwei Jahren alleinerziehend ist. Frau<br />
Schulz hatte seit längerer Zeit große Probleme mit der Erziehung ihres Sohnes, so dass sie sich nach einem Gespräch<br />
mit Benjamins Lehrern auf deren Anraten an das Jugendamt wendete. Es wurde beschlossen, dass Benjamin in eine<br />
stationäre Heimgruppe kommt.<br />
Folgender Hintergrund ist bekannt:<br />
Die Probleme haben begonnen, als vor zwei Jahren der Vater von Benjamin die Familie verlassen und den Kontakt<br />
vollständig abgebrochen hat. Frau Schulz war danach oft deprimiert und hat angefangen, große Mengen von Alkohol<br />
zu trinken, wonach sie sich besser fühlt. Immer seltener kommt sie ohne Alkohol aus. Eine Auswirkung ist, dass sie<br />
dann sehr viel schläft und antriebslos ist. Immer häufiger gab es dadurch Zeiten, in denen sie sich kaum um<br />
Benjamin kümmerte. In diesen Phasen schaffte sie es auch nicht, den Haushalt zu regeln und für Mahlzeiten für<br />
Benjamin und sich selbst zu sorgen. Benjamin kümmerte sich dann, so gut er es konnte, um seine Mutter, den<br />
Haushalt, die Kleidung und das Essen. Ansonsten hielt er sich immer seltener in der Wohnung auf, seine<br />
Hausaufgaben machte er meistens nicht. In der Stadt wurde er oft mit älteren Jugendlichen gesehen, mit denen er auch<br />
Alkohol trank. Seit sechs Monaten hat Frau Schulz wieder einen Freund, der teilweise mit in der Wohnung lebt. Er<br />
schlug Benjamin häufig, weil er der Meinung war, dass Benjamin schlecht erzogen wäre und besser gehorchen<br />
müsste.<br />
Die Klassenlehrerin hatte Frau Schulz angerufen und berichtet, dass Benjamins schulische Leistungen zunehmend<br />
schlechter würden und er oft die Schule schwänzte. Das einzige Fach, an dem er noch Interesse zeigte, war der<br />
Musikunterricht.<br />
Zudem fiel er auch noch auf, weil er Mitschülern Brote und Geld aus den Taschen gestohlen hat. Außerdem schlug<br />
er häufig jüngere Kinder.<br />
Kompetenzen aus dem Lehrplan: „Grundsätze der Hilfeplanung und – durchführung beachten und<br />
Erziehungsplanungen entsprechend der sozialpädagogischen Diagnose erstellen, dokumentieren und evaluieren“. /<br />
„Den Alltag für Kinder und Jugendliche mit erhöhtem Erziehungs- und Förderbedarf nach Gelingens- und<br />
Wirkfaktoren – insbesondere Normalisierung, Lebensfeldorientierung, Integration – konzeptgeleitet gestalten“. /<br />
„Mit Eltern/Familien zielgerichtet zusammenarbeiten“. Wissen und Verstehen: Erstellung eines Erziehungsplans<br />
für Benjamin! Film „Schwimmen mochte ich noch nie“ – Erstellung eines Erziehungsplans! Film „Delfinsommer“<br />
– Erstellung eines Erziehungsplans!<br />
81
Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
Thema: Hilfeplan<br />
Quelle: Günder, Richard: „Praxis und Methoden der Heimerziehung,<br />
Entwicklungen, Veränderungen und Perspektiven der stationären<br />
Erziehungshilfe“, 4. Auflage, Freiburg, 20<strong>11</strong>, S. 62ff<br />
Hilfeplanung<br />
Die gemeinsame Planung und Abstimmung der erforderlichen und zu leistenden Hilfe unterstreicht<br />
den Kooperationsgrundsatz im Umgang mit und in der Leistung von erzieherischen Hilfen. Wenn Hilfe<br />
voraussichtlich über einen längeren Zeitraum zu leisten ist, soll die Hilfeplanung unter<br />
partnerschaftlicher Beteiligung der Personensorgeberechtigten sowie der Minderjährigen und unter<br />
Hinzuziehung mehrerer Fachkräfte (Expert[inn]enrunde) ablaufen. Unter erzieherischen Hilfen, die<br />
voraussichtlich für einen längeren Zeitraum geleistet werden, sind insbesondere auch Erziehungshilfen<br />
zu verstehen, die außerhalb der eigenen Familie stattfinden, also beispielsweise in einer<br />
Vollzeitpflegestelle oder im Rahmen der Heimerziehung. Für diesen Personenkreis sieht das KJHG (§<br />
37) eine besonders intensive Zusammenarbeit von Pflegepersonen, den Gruppenerzieher(inne)n eines<br />
Heimes, von gruppenübergreifenden Diensten, den zuständigen Fachkräften des Jugendamtes und<br />
anderen professionellen Kräften vor, welche die jeweilige Situation des jungen Menschen gut kennen<br />
und beurteilen können. Die Personensorge-berechtigten und die Kinder/Jugendlichen sind an diesem<br />
Hilfeplanungsprozess integrativ beteiligt. Betroffene und Fachkräfte sollen in gemeinsamer<br />
Abstimmung die bisherige erzieherische Hilfe bewerten, neue pädagogische Notwendigkeiten und Ziele<br />
formulieren und Lebensperspektiven herausbilden.<br />
Eine solche Hilfeplanung wird in etwa folgenden Schritten ablaufen: Nachdem sich die<br />
Personensorgeberechtigten (Eltern) und/oder Minderjährigen mit ihren speziellen Problemen und<br />
Hilfebedürfnissen an das Jugendamt gewandt haben, kommt es zunächst zu einem Beratungsgespräch,<br />
in welchem der/die zuständige Sozialarbeiter(in) umfangreich berät und Vorteile und Nachteile der<br />
eventuellen Hilfe offenlegt. Wird die Gewährung einer Hilfe für notwendig gehalten und sind sich alle<br />
Beteiligten über Form und Ausgestaltung der Hilfe einig, so kommt es in einem nächsten Schritt zu<br />
einem Hilfeplanprozess.<br />
Dieser Hilfeplanprozess besteht in der Regel aus zwei Teilen: dem Fachgespräch und dem<br />
Hilfeplangespräch. Am Fachgespräch oder der Expert(inn)enrunde nehmen die zuständige Fachkraft des<br />
Jugendamtes teil und in der Regel weitere Kolleg(inn)en. Hinzu gezogen werden sollen auch<br />
Vertreter(innen) anderer Fachdienste oder Spezialdienste, so zum Beispiel Psycholog(inn)en,<br />
Ärzt(inn)e(n) und Lehrer(innen). Nachdem im Fachgespräch eine umfassende Darstellung des<br />
individuellen Falles erfolgte und Vorgeschichte sowie mögliche Ursachen erörtert wurden, beginnt eine<br />
Diskussion über mögliche Interventionen.<br />
Bei dem nun folgenden Hilfeplangespräch sind die Eltern und Minderjährigen jedenfalls zu beteiligen.<br />
Insbesondere Entscheidungen über Art und Umfang der zu leistenden Erziehungshilfe sollen von allen<br />
Beteiligten mitgetragen werden können und es ist dafür Sorge zu tragen, dass die Interessen und das<br />
Lebensumfeld der Eltern und des Kindes angemessen berücksichtigt werden. Die Erziehungshilfe soll<br />
außerdem so angelegt sein, dass sie letztlich Hilfe zur Selbsthilfe bedeutet.<br />
Der Prozess der Hilfeplanung unterscheidet sich nicht nur im äußeren Ablauf von früheren Formen der<br />
Beteiligung beziehungsweise Nichtbeteiligung von Betroffenen. Fundamental gewandelt sollte sich deren<br />
Stellung haben, wenn sie erzieherische Leistungen beanspruchen wollen. Früher waren sie Angehörige<br />
aus Problemfamilien, Versager und Bittsteller, denen Hilfen angedroht, verordnet oder mildtätig<br />
gewährt werden konnten. Heute sollten betroffene Eltern, Kinder und Jugendliche ernstzunehmende<br />
Partner sein, ohne deren Zustimmung und Mitwirkung keine erzieherische Hilfe zu leisten wäre, denn<br />
82
Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
bis an die Grenze „der Kindeswohlgefährdung sind Fachkräfte ... auf deren Einverständnis<br />
angewiesen" (Urban 2005, S. 236).<br />
Auch traditionelle Bewertungsmaßstäbe und -verfahren verlieren in einem gemeinsamen und<br />
partnerschaftlichen Prozess der Hilfeplanung ihre Bedeutung. Waren Betroffene früher in oft völliger<br />
Abhängigkeit von fremdbestimmenden psychosozialen Diagnosen durch außenstehende<br />
Expert(inn)en, sollten sie jetzt aktive Teilnehmer(innen) in einem Aushandlungsprozess sein. Die<br />
Einschätzung eines jeweiligen Ist-Zustandes können sie im Hilfeplan nun selbst wesentlich<br />
mitbestimmen, sie können widersprechen, andere Ansichten und Erklärungen fördern und so zu<br />
gemeinsam erarbeiteten Lösungsmöglichkeiten und zu Perspektivfindungen gelangen, die sie als<br />
Betroffene mittragen und akzeptieren können, weil sie selbst mitentschieden haben und nicht über sie<br />
entschieden wurde.<br />
Die Vorgehensweise im Prozess der Hilfeplanung wird allerdings in Fachkreisen häufig kritisiert, weil<br />
sie eine an der Mittelschicht orientierte Kommunikation voraussetze. „Für die klassische Klientel der<br />
Kinder-und Jugendhilfe bedeutet dieses Verfahren eine permanente Überforderung. Nimmt man diesen<br />
Einwand ernst, gerät man schnell in die Gefahr, zur ,fürsorglichen Belagerung' zurückzukehren - eine<br />
Sichtweise, die nur schwer mit den Grundwerten des Grundgesetzes, aber auch mit dem Gedanken der<br />
Koproduktion personenbezogener Dienstleistungen verbunden ist" (Wiesner 2005, S. 20).<br />
Der Hilfeplanprozess erfordert daher von den Fachkräften eine hohe Professionalität verbunden mit der<br />
Fähigkeit zur Empathie und fachlichen Reflexivität. Dies sind entscheidende Voraussetzungen für eine<br />
positive Verständigung aller beteiligten Personen (Marquard 2008, S. 167). Der Hilfeplanungsprozess<br />
sieht das Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte vor, die als Expert(inn)enrunde im Team den<br />
jeweiligen Fall aus dem Blickwinkel ihrer unterschiedlichen Profession und der jeweils speziellen<br />
Kenntnisse über den jungen Menschen und dessen Umfeld beraten und zu ersten Lösungshinweisen<br />
gelangen, die dann gemeinsam mit den Betroffenen auszuhandeln sind.<br />
Zu den unterschiedlichen Fachkräften einer solchen Expert(inn)enrunde zählen zum Beispiel<br />
Erziehungskräfte aus dem Kindergarten oder dem Hort eines Kindes, wenn es sich um Kinder oder<br />
Jugendliche im Schulalter handelt, auch deren Lehrer(innen), wobei insbesondere die Lehrer(innen)<br />
von Sonderschulen und namentlich von Sonderschulen zur Erziehungshilfe zur Kooperation aufgerufen<br />
sind.<br />
„Die Beteiligungsfähigkeit von Eltern und Kindern ist in hohem Maße abhängig von der sozialen<br />
Kompetenz der zuständigen Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, von der Wertschätzung, die sie<br />
Hilfe ersuchenden Personen entgegenbringen, von der Fähigkeit, nonverbales Verhalten zu deuten<br />
sowie Eltern und Kinder zu motivieren und zu ermutigen" (Wiesner 2005, S. 20).<br />
Heimerziehung sowie die Betreuung in sonstigen Wohnformen ist eine Form der Erziehungshilfe, die<br />
in der Regel langfristig angelegt ist. Ausnahmen hiervon wären zum Beispiel eine Notaufnahme, wenn<br />
der betroffene junge Mensch nach schneller Beseitigung des Notzustandes kurzfristig wieder in seine<br />
Familie zurückkehren kann oder die ebenfalls nur für kurze Dauer geplante Aufnahme eines Kindes in<br />
ein Heim mit dem Ziel einer Vermittlung in eine Pflegefamilie, einschließlich der entsprechenden<br />
Vorbereitung. Ansonsten wird Erziehungshilfe in einer stationären Einrichtung durchweg für<br />
mindestens ein Jahr gewährt, mit der Möglichkeit der Verlängerung. So verbleiben viele Kinder und<br />
Jugendliche für zwei oder auch drei Jahre in einem Heim oder in einer Wohngruppe, andere noch<br />
länger, möglicherweise bis zu ihrer Verselbstständigung, wenn gegen die Rückkehr in die<br />
Herkunftsfamilie mannigfaltige Gründe sprechen.<br />
Heimerziehung wurde und wird von Außenstehenden häufig als Schicksalsschlag angesehen, als eine<br />
fremdbestimmte Maßnahme, die über Betroffene hereinbreche. Nach der Gesetzeslage ist die Hilfe zur<br />
Erziehung in einem Heim jedoch ein planbarer und mit allen Betroffenen abgesprochener Prozess. Wie<br />
schon zuvor in den Ausführungen zur Hilfeplanung erwähnt, ist in § 37 KJHG festgelegt, dass die<br />
Personensorgeberechtigten und das Kind oder der/die Jugendliche vor Inanspruchnahme einer Hilfe zur<br />
Erziehung ausführlich zu beraten sind, insbesondere, wenn die Hilfe für einen voraussichtlich längeren<br />
Zeitraum zu leisten ist. In solchen Beratungsgesprächen werden natürlich von den Fachkräften und<br />
den Betroffenen auch Alternativen zur stationären Unterbringung überprüft, vor allem auch ambulante<br />
83
Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
Hilfen zur Erziehung. Nur in seltenen Fällen kann zwischen den Personensorgeberechtigten, dem<br />
Kind/Jugendlichen und den Fachkräften keine Einigung über die notwendige Hilfe erzielt werden.<br />
Wenn das Jugendamt die Unterbringung in einer stationären Einrichtung zum Wohl und/oder zum<br />
Schutz des Kindes als unabdingbar notwendig ansieht, dies aber die Eltern verweigern, müsste ein<br />
Entzug der elterlichen Sorge beim Familiengericht beantragt werden. Wird diesem Antrag vom Gericht<br />
zugestimmt, kann der bestellte Pfleger (z.B. der Amtsvormund) die Hilfe zur Erziehung in einem Heim<br />
für das Kind in Anspruch nehmen. In der überwiegenden Mehrzahl aller Fälle ist ein solcher<br />
Sorgerechtsentzug allerdings nicht notwendig, weil alle Beteiligten sich äußern können und das<br />
Jugendamt die Meinung und Wünsche der Betroffenen ernst nimmt.<br />
Das Wunsch- und Wahlrecht der Leistungsberechtigten wird insbesondere bei der Gewährung einer<br />
stationären Erziehungshilfe zur Geltung kommen müssen. Dies bedeutet konkret: Wenn in einer Stadt<br />
oder in einer Region mehrere geeignete Heimeinrichtungen zur Verfügung stehen, sind die Eltern und<br />
der junge Mensch an der Auswahl zu beteiligen. Es können dann verschiedene Einrichtungen besichtigt<br />
und beispielsweise auch ein „Probewohnen" vereinbart werden, um zu einer besseren Entscheidungsbasis<br />
zu gelangen.<br />
Während der Unterbringung in einem Heim oder in einer sonstigen betreuten Wohnform soll nach § 36<br />
im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte und zusammen mit den Personensorgeberechtigten und dem<br />
Kind oder dem Jugendlichen regelmäßig ein Hilfeplan erstellt werden. Dies bedeutet, dass etwa<br />
zweimal pro Jahr beispielsweise mit den Gruppenerzieher(inne)n, den gruppenübergreifenden<br />
Diensten, den zuständigen Fachkräften des Jugendamtes und unter Beteiligung der Eltern und der<br />
Minderjährigen Hilfeplangespräche stattfinden. Inhalte von Hilfeplanungsgesprächen können<br />
beispielsweise sein:<br />
• Der Entwicklungsstand, Entwicklungsfortschritte des Kindes oder Jugendlichen, besondere<br />
Ereignisse und Vorkommnisse, der Einbezug der Eltern und der Familie, Veränderungen in der<br />
Herkunftsfamilie, die Situation in der Schule oder Ausbildung, die Situation des jungen Menschen<br />
in der Gruppe, die Erörterung der Fragen nach der aktuellen und zukünftigen Erziehungsbedürftigkeit,<br />
ob es sinnvoll ist, die stationäre Hilfe fortzusetzen, ob alternative Hilfen<br />
angebrachter wären oder ob eine Rückführung in die Familie kurz- oder mittelfristig angestrebt<br />
werden kann, die Perspektiven des Kindes/Jugendlichen und die seiner Familie.<br />
Wie zuvor bereits angeführt, wurden bislang Beteiligungsprozesse oftmals nicht zufriedenstellend<br />
realisiert. Vielfach ist es betroffenen Kindern und Jugendlichen völlig unklar, welche Funktion und<br />
Bedeutung ein Hilfeplangespräch hat, die Tragweite von hier getroffenen Entscheidungen können dann<br />
von ihnen ebenfalls kaum eingeschätzt werden. Diese mangelnde Identifikation mit den im Hilfeplan<br />
festgeschriebenen Zielsetzungen dürfte ein wesentlicher Grund für das Scheitern von Hilfeprozessen<br />
sein (Pies, Schrapper 2005, S. 75). Um die Chancen der inhaltlichen Partizipation von Kindern und<br />
Jugendlichen beim Hilfeplanungsprozess zu erhöhen, schlägt Petersen verschiedene methodische<br />
Ablaufpunkte vor:<br />
• Eine gute Vorbereitung der jungen Menschen auf das Hilfeplangespräch hin ist unerlässlich.<br />
Insbesondere müssen dessen Bedeutung auch die von Entscheidungen -, der zeitliche Rahmen, die<br />
Funktion der beteiligten Fachkräfte sowie die anzusprechenden Themen geklärt werden.<br />
• Die Qualität von Hilfeplangesprächen ist in hohem Maße von der Gesprächsatmosphäre abhängig.<br />
Kinder und Jugendliche sollten eine Person ihres Vertrauens hinzuziehen können, die<br />
Gesprächsrunde darf nicht zu groß sein, denn sonst könnte sie den jungen Menschen einschüchtern,<br />
geradezu „erschlagen".<br />
• Die anschließende schriftliche Dokumentation des Hilfeplangesprächs sollte so formuliert sein,<br />
dass sie auch von Kindern und Jugendlichen verstanden werden kann, und selbstverständlich dürfen<br />
sie diese auch lesen (Petersen 2002, S. 920).<br />
„Hilfeplanung hat die Aufgabe, jungen Menschen und deren Sorgeberechtigten zu ihrem Recht zu<br />
verhelfen und Hilfeprozesse gemeinsam mit ihnen zu gestalten. Hilfekonferenzen, deren Sinn Mädchen<br />
84
Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
und Jungen nicht verstehen, oder Hilfen, die sie nicht wollen, sollten endgültig der Vergangenheit<br />
angehören" (Vorwort des SPI 2005, S. 7).<br />
Quelle: Weigel – Zusammenfassende Notizen zum Thema Hilfeplan<br />
In § 36 KJHG ist die Mitwirkung der Personensorgeberechtigten und der Kinder oder Jugendlichen bei<br />
der Entscheidung über eine anstehende Hilfe zur Erziehung geregelt. Sie sind über Art, Umfang und<br />
mögliche Folgen der Hilfe zu beraten. Ihre Wünsche sind angemessen zu berücksichtigen. Bei der<br />
Entscheidung über die im Einzelfall angezeigte Hilfeart sind in der Praxis in der Regel mehrere<br />
Fachkräfte beteiligt, auch wenn dies laut § 36 KJHG nur bei Hilfen für längere Zeit vorgesehen ist.<br />
Mit den Personensorgeberechtigten und den Kindern oder Jugendlichen ist ein Hilfeplan aufzustellen.<br />
Im Hilfeplan sind der erzieherische Bedarf, Art der Hilfe und notwendige Leistungen zu benennen. In der<br />
Praxis werden in der Regel auch Ziele der Hilfe benannt. Sind an der Jugendhilfemaßnahme<br />
verschiedene Einrichtungen oder Personen beteiligt, so sind diese auch am Hilfeplan zu beteiligen<br />
(beispielsweise Psychiatrie oder Therapeuten). Der Hilfeplan ist in regelmäßigen Abständen zu<br />
überprüfen und zu aktualisieren. In der Praxis ist dies meist alle halbe Jahre vorgesehen.<br />
Quelle: www.ism-mainz.de , eingesehen am 23.09.20<strong>11</strong><br />
Die Vorab-Info<br />
(entwickelt vom Institut für Sozialpädagogische Forschung Mainz e.V.)<br />
Stärken des Kindes bzw. der Familie:<br />
(Was ist in der Zeit seit dem letzten HPG gut gelungen Welche Fähigkeiten und Fertigkeiten<br />
konnten entwickelt werden Welche Fähigkeiten, Fertigkeiten, Stärken konnten neu entdeckt<br />
werden etc.)<br />
aus Sicht des Mädchens bzw. des Jungen:<br />
_______________________________________________________________________<br />
aus Sicht der Eltern bzw. des Elternteils:<br />
_____________________________________________________________________<br />
aus Sicht anderer Stellen (z.B. Schule, Kindertagesstätte etc.):<br />
_____________________________________________________________________<br />
aus Sicht der Fachkraft der durchführenden Einrichtung / Pflegefamilie:<br />
_____________________________________________________________________<br />
Beschreibung der aktuellen Situation und Bewertung des bisherigen Hilfeverlaufes durch die<br />
Beteiligten:<br />
(Was wurde wie gemacht Wie beurteilen die Beteiligten den Verlauf Inwiefern konnten die beim<br />
letzten Mal formulierten Ziele erreicht werden Woran ist die Zielerreichung zu erkennen<br />
Inwiefern konnten die beim letzten Mal formulierten Ziele nicht erreicht werden Was hat die<br />
Zielerreichung erschwert Welche Themen, Bewältigungsanforderungen u. Ä. sind darüber hinaus<br />
relevant geworden)<br />
aus Sicht des Mädchens bzw. des Jungen:<br />
______________________________________________________________________<br />
aus Sicht der Eltern bzw. des Elternteils:<br />
______________________________________________________________________<br />
85
Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
aus Sicht anderer Stellen (z.B. Schule, Kindertagesstätte etc.):<br />
_____________________________________________________________________<br />
aus Sicht der Fachkraft der durchführenden Einrichtung / Pflegefamilie:<br />
_____________________________________________________________________<br />
Ergänzende Beschreibung zur Entwicklung des Mädchens bzw. Jungen<br />
(ggf. unterschiedliche Perspektiven differenzieren):<br />
Gesundheitliche und körperliche Entwicklung (z.B. chronische Krankheiten, Medikamente,<br />
Arztbesuche, Sucht und Abhängigkeit, Gewicht, Größe, Zahnsanierung, Sehstörungen etc.):<br />
______________________________________________________________________________<br />
Lebenspraktische / hauswirtschaftliche Fähigkeiten (z.B. Körper- und Kleiderpflege, Tischmanieren,<br />
Essverhalten, Ordnung, Umgang mit Geld, Telefonieren zeitliche und räumliche Orientierung,<br />
Mitarbeit im Gruppenhaushalt, Ämter, Zimmerpflege etc.):<br />
_______________________________________________________________________________<br />
Sozialverhalten (z.B. gegenüber Gruppenmitgliedern, Betreuern, dem anderen Geschlecht,<br />
Nachbarn, Freunden, Benehmen in der Öffentlichkeit etc.):<br />
________________________________________________________________________________<br />
Freizeitverhalten (z.B. Vorlieben, Beschäftigung mit und ohne Anleitung, alleine und in der Gruppe,<br />
mit Nachbarn und Freunden, Vereine etc.):<br />
________________________________________________________________________________<br />
Mitarbeit in der Therapie:<br />
______________________________________________________________________________<br />
Vorschläge zu Perspektiven und Zielen zum weiteren Hilfeverlauf:<br />
(Wie soll es weiter gehen Welche Ziele sollen weiterhin verfolgt werden Welche Ziele sind zu<br />
verändern Welche Ziele sind neu aufzunehmen Welche Möglichkeiten zum weiteren Vorgehen gibt<br />
es Woran wären die nächsten Schritte der Zielerreichung zu erkennen)<br />
aus Sicht des Mädchens bzw. des Jungen:<br />
_______________________________________________________________________<br />
aus Sicht der Eltern bzw. des Elternteils:<br />
_______________________________________________________________________<br />
aus Sicht anderer Stellen (z.B. Schule, Kindertagesstätte etc.):<br />
______________________________________________________________<br />
aus Sicht der Fachkraft der durchführenden Einrichtung / Pflegefamilie:<br />
_______________________________________________________________________<br />
Zu klärende Fragen aus den unterschiedlichen Perspektiven:<br />
________________________________________________________________________________<br />
________________________________________________________________________________<br />
________________________________________________________________________________<br />
Erstellt von:<br />
Datum, Unterschriften<br />
Mädchen / Junge__________________________________________________________________<br />
86
Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
Eltern___________________________________________________________________<br />
Fachkraft der durchführenden Einrichtung/Pflegefamilie__________________________<br />
Quelle: www.ism-mainz.de , eingesehen am 23.09.20<strong>11</strong><br />
Hilfeplan nach § 36 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (Fortschreibung)<br />
(entwickelt vom Institut für Sozialpädagogische Forschung Mainz e.V.)<br />
JUGENDAMT ...................<br />
AZ: ……………………….<br />
ORT UND DATUM DES HILFEPLANGESPRÄCHES: ...... ……………………..<br />
FACHKRAFT IM JUGENDAMT UND Tel.:……………………………..<br />
Name des Mädchens oder Jungens/Jugendliche(r):<br />
geboren am: ....................................<br />
Anschrift: ........................................<br />
Geschwisterkinder:<br />
Name: ..................................................... Geburtsdatum:……………………..<br />
Name: ..................................................... Geburtsdatum:……………………..<br />
Name: ..................................................... Geburtsdatum:…………………….<br />
Name: ..................................................... Geburtsdatum:…………………….<br />
Eltern/teil, Personensorgeberechtigte(r):<br />
Anschrift und Telefon:<br />
………………………………………………………………………………………….……………<br />
……………………………………………………………………………………………………….<br />
durchführende Institution:…………………………………………………………………………...<br />
Vorab-Info lag vor dem HPG vor: ja O nein O<br />
Erstellt von ....................................................... am…………………………………………………..<br />
Beim Hilfeplangespräch anwesende Personen:<br />
…………………………………………………………………………………………………………<br />
…………………………………………………………………………………………………………<br />
…………………………………………………………………………………………………………<br />
…………………………………………………………………………………………………………<br />
87
Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
Beschreibung der aktuellen Situation und Bewertung des bisherigen Hilfeverlaufs durch die<br />
Beteiligten:<br />
(Ergänzung zur Vorab-lnfo)<br />
(Wie wurden die beim letzten Mal formulierten Ziele Konkretisiert Inwiefern konnten diese Ziele<br />
erreicht werden Woran ist die Zielerreichung zu erkennen Was hat maßgeblich zur Erreichung<br />
der (Teil)Ziele beigetragen Was wurde wie gemacht Inwiefern konnten die beim letzten Mal<br />
formulierten Ziele nicht erreicht werden Was hat die Zielerreichung erschwert Welche Themen,<br />
Bewältigungsanforderungen u. Ä. sind darüber hinaus relevant geworden Wie beurteilen die<br />
Beteiligten den Verlauf der Hilfe Wie bewerten die Beteiligten die Zusammenarbeit miteinander<br />
Was gelingt gut Was sollte weiterentwickelt werden)<br />
aus Sicht des Mädchens bzw. des Jungen:<br />
_____________________________________________________________________<br />
aus Sicht der Eltern bzw. des Elternteils:<br />
_____________________________________________________________________<br />
aus Sicht der Fachkraft der durchführenden Einrichtung / Pflegefamilie:<br />
_____________________________________________________________________<br />
aus Sicht der Fachkraft des Jugendamtes:<br />
_____________________________________________________________________<br />
Folgerungen aus der Bewertung des Hilfeverlaufs<br />
(bzgl.: Waren die formulierten Ziele angemessen Wie viel von den formulierten Zielen konnte<br />
erreicht werden Waren die ausgewählten Methoden angemessen War die Intensität der Hilfe<br />
bzgl. zeitlichem Umfang und Dichte der Fachkräfte im Alltag der Familie angemessen)<br />
_______________________________________________________________________________<br />
_______________________________________________________________________________<br />
_______________________________________________________________________________<br />
Handlungsbedarfe, auf die sich die Beteiligten verständigt haben<br />
(Wo liegt der vordringliche Unterstützungsbedarf Welche Ressourcen sollen gestärkt werden)<br />
________________________________________________________________________________<br />
________________________________________________________________________________<br />
________________________________________________________________________________<br />
Ausgewählte Hilfe - Begründung und Vereinbarung<br />
(Welches Hilfsangebot ist geeignet Welches Hilfsangebot ist konsensfähig Mit welcher<br />
Begründung wird das Hilfeangebot ausgewählt)<br />
nur ausfüllen, wenn die Hilfeart gewechselt hat!<br />
________________________________________________________________________________<br />
________________________________________________________________________________<br />
Perspektiven und Ziele bis zum nächsten Hilfeplangespräch<br />
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Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
(Mit welchen Erwartungen und konkreten Zielen soll die Hilfe fortgesetzt werden Woran kann<br />
festgemacht werden, dass an den Zielen gearbeitet wird und sich Verbesserungen in der<br />
Lebenssituation des jungen Menschen und der Familie einstellt haben Welche zeitliche Prognose<br />
gibt es für den Hilfeprozess)<br />
aus Sicht des Mädchens bzw. des Jungen:<br />
_____________________________________________________________________<br />
aus Sicht der Eltern bzw. des Elternteils:<br />
_____________________________________________________________________<br />
aus Sicht der Fachkraft der durchführenden Einrichtung / Pflegefamilie:<br />
_____________________________________________________________________<br />
aus Sicht der Fachkraft des Jugendamtes:<br />
_____________________________________________________________________<br />
Vereinbarung<br />
(Welche konkreten Ziele sollen bis zum nächsten Hilfeplangespräch umgesetzt werden)<br />
________________________________________________________________________________<br />
________________________________________________________________________________<br />
________________________________________________________________________________<br />
________________________________________________________________________________<br />
Zielvereinbarung und Aufgabenverteilung<br />
Ziele<br />
(Woran ist die Zielerreichung zu erkennen)<br />
Handlungsschritte<br />
(wer, was, bis wann)<br />
Unterschrift der GesprächsteilnehmerInnen<br />
Ich stimme den oben formulierten Zielen und Aufgaben zu:<br />
Eltern/Personensorgeberechtigte: ………………………………………………<br />
Mädchen / Junge:………………………………………………………………..<br />
Fachkraft der Institution / Pflegeeltern:…………………………………………<br />
Fachkraft des Jugendamtes: …………………………………………………….<br />
Sonstige Gesprächsteilnehmerinnen:…………………………………………….<br />
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Sonstige Vereinbarungen und Absprachen<br />
__________________________________________________________________________________<br />
________________________________________________________________________________<br />
Vorbehalte und Grenzen<br />
(Welche Probleme werden erwartet Wo sind die Grenzen der Hilfe )<br />
___________________________________________________________________________________<br />
___________________________________________________________________________________<br />
Prognose zur Dauer der Hilfe insgesamt<br />
________________________________________________________________________________<br />
________________________________________________________________________________<br />
Zeitpunkt der Fortschreibung des Hilfeplans<br />
________________________________________________________________________________<br />
________________________________________________________________________________<br />
Unterschrift der GesprächsteilnehmerInnen<br />
Fachkraft des Jugendamtes: ..................... ……………………………………………………<br />
Hilfeplan zu folgendem Datum versandt an:<br />
(Jeweils Name und Datum des Postausgangs eintragen)<br />
Eltern/Personensorgeberechtigte: …………………………………<br />
Mädchen / Junge: .................................... …………………………………<br />
Fachkraft der Institution / Pflegeeltern: ………………..................<br />
Sonstige Gesprächsteilnehmerinnen: …………………..................<br />
Der Hilfeplan wird in der vorliegenden Fassung anerkannt, sofern innerhalb<br />
von……Tagen nach Versand durch keine der beteiligten Personen Einspruch<br />
erhoben wird.<br />
Quelle: Weigel – Fallbeispiel zur exemplarischen Erarbeitung eines Hilfeplans<br />
Der sechsjährige Tim und der achtjährige Tom lebten früher bei ihrer drogensüchtigen Mutter, die sie<br />
sehr vernachlässigt hatte. Ambulante Hilfen führten zu keiner Verbesserung. Daher wurden die Kinder<br />
in einer Pflegefamilie untergebracht. Nach zwei Jahren fühlt sich die Pflegefamilie überfordert<br />
und hat entschieden, die Jugendhilfemaßnahme zu beenden. Aus den bisherigen Unterlagen des<br />
Jugendamtes ist<br />
Folgendes zu entnehmen:<br />
Tim ist ein sehr verschlossener Junge. Er leidet unter großen Ängsten, dass seine Mutter sehr krank<br />
wird oder stirbt. Nachts macht er noch ins Bett. Oft wird er auch wach und weint und erzählt von<br />
schlimmen Albträumen. Tagsüber spielt er meist im Wohnzimmer unter dem Tisch mit Kuscheltieren<br />
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Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
und ahmt dabei die Laute von kleinen Hunden oder Katzen nach. Tim spricht nur sehr selten. Seine<br />
Aussprache ist meist unverständlich. Er kennt viele Worte noch nicht. Ob er im kommenden Sommer in<br />
die Schule kommt, ist noch ungeklärt.<br />
Tom fällt durch sehr aggressives Verhalten auf. Die meisten Geschenke, die er von seinen Eltern<br />
erhalten hat, macht er schnell kaputt. Gegenüber den Pflegeeltern und Lehrern ist er sehr ausfallend.<br />
Selbst kleine alltägliche Anforderungen scheinen ihn zu überfordern. Er stürzt sich dann<br />
wutentbrannt auf Einrichtungsgegenstände und Spielsachen und zerstört, was er in die Finger kriegt.<br />
Tom hat auch schon häufiger andere Kinder geschlagen oder getreten. Die Lehrer beklagen, dass sie<br />
ein solches Kind auf Dauer nicht in der Klasse halten können.<br />
Beide Eltern besitzen noch das Sorgerecht, sind aber völlig zerstritten und können keine<br />
gemeinsamen Absprachen miteinander treffen. Sie haben nur selten die vereinbarten Besuchskontakte<br />
eingehalten. Die Mutter taucht manchmal monatelang in der Frankfurter Drogenszene unter, um<br />
dann plötzlich wieder unerwartet und unangemeldet ihre Kinder sehen zu wollen. Dann verspricht sie<br />
ihnen, dass sie sie bald<br />
wieder nach Hause holt. Der Vater hat ein dreiviertel Jahr im Gefängnis wegen Drogenhandel<br />
gesessen. Zur Zeit wohnt er mit seiner neuen Lebensgefährtin in einem l-Zimmer-Appartement. Einer<br />
geregelten Beschäftigung geht er nicht nach. Seine Freundin hat er den Kindern schon als „neue<br />
Mama" vorgestellt. Auch er verspricht, dass er die Kinder bald zu sich holen will.<br />
Das Jugendamt steht im Kontakt mit zwei Kinderheimen. Eines liegt im ländlichen nordhessischen<br />
Raum etwa 200 km von Frankfurt entfernt. Es hat viele therapeutische und freizeitpädagogische<br />
Angebote. Auch sind verschiedene Sonderschulen in der Nähe. In diesem Heim sind viele jüngere<br />
Kinder untergebracht. Es herrscht eine herzliche familienähnliche Atmosphäre.<br />
Eine anderes Kinderheim liegt am Stadtrand von Frankfurt. Dort sind die Mitarbeiterinnen<br />
darauf spezialisiert, mit „schwierigen" Eltern zusammen zu arbeiten. Auf Schule und Ausbildung wird<br />
viel Wert gelegt. Es gibt umfassende Hausaufgabenbetreuung und Nachhilfeunterricht. Es<br />
herrschen klare Strukturen und Regeln.<br />
Entscheiden Sie zunächst, in welchem Heim Sie die Kinder unterbringen würden. Überlegen Sie auch,<br />
welches Heim die Eltern favorisieren würden. Stellen Sie sich vor, Sie wollten die Eltern von Ihrem<br />
Vorschlag überzeugen. Mit welchen Argumenten könnte dies gelingen Erarbeiten Sie dann einen<br />
Hilfeplan, indem Sie sich in die jeweilige Perspektive der Beteiligten hineinversetzen.<br />
Kompetenzen: „Grundsätze der Hilfeplanung und – durchführung beachten und Erziehungsplanungen<br />
entsprechend der sozialpädagogischen Diagnose erstellen, dokumentieren und evaluieren“. / „Mit<br />
Eltern/Familien zielgerichtet zusammenarbeiten“. / „Grundsätze der Partizipation in Planung und<br />
Durchführung einer Hilfe zur Erziehung beachten“. Wissen und Verstehen: Rechtsgrundlage § 36<br />
KJHG. Hilfeplan unter Mitwirkung aller Beteiligten. Vorstellungen aus verschiedenen Perspektiven<br />
benennen. Methoden und Ziele aushandeln. Diskurs: Ist dieser Grundsatz der Beteiligung aller<br />
erfolgsversprechender für die Maßnahme Werden geeignete Maßnahmen möglicherweise behindert<br />
Wie ist die Beteiligung von jüngeren Kindern zu realisieren<br />
Thema: Aggressionen<br />
Quelle: Weigel (nach umgearbeiteten Vorlagen) – Ursachen von Aggressionen und<br />
adäquater Umgang mit Aggressionen:<br />
1. Aggressivität aus Angst // 2. Aggressivität aus Frustration //<br />
3. Aggressivität aus Manipulation // 4. Aggressivität aus Einschüchterung<br />
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1. Angst und Aggression<br />
Menschen werden möglicherweise kämpfen (gegen sich oder andere), wenn sie das Gefühl<br />
haben, angegriffen zu werden, oder wenn sie glauben, dass ihnen jemand etwas wegnehmen will,<br />
das sie für ihr grundlegendes Wohlbefinden brauchen. Angst wird als eine spürbare<br />
Notwendigkeit (manchmal auch irrational) erlebt, zu fliehen, sich gegen jemanden<br />
verteidigen zu müssen oder einer wahrgenommenen Gewaltandrohung zu begegnen.<br />
Sichtbare Signale:<br />
Körperhaltung: angespannt und bereit, sich zu verteidigen, sich zu verstecken oder fortzulaufen //<br />
Hautfarbe: blass oder aschgrau // Gesichtsausdruck: ängstliche und weit aufgerissene Augen //<br />
Hörbare Signale:<br />
Stimmlage: jammernd, verteidigend, schwer atmend, abrupt sprechend, manchmal unfähig zu<br />
sprechen // Atmung: schnell, flach, unregelmäßig // Bezug zur Lebensgeschichte: persönliche<br />
Erfahrung von Misshandlung, Opferrolle oder Rückzug, manchmal unterbrochen von aggressiven<br />
Ausbrüchen.<br />
Krisenintervention bei Angst mit dem Ziel, die Bedrohung zu reduzieren:<br />
Die grundlegende Annahme ist, dass Kommunikationsmuster, die das Ausmaß der wahrgenommenen<br />
Bedrohung reduzieren, gleichzeitig auch die Wahrscheinlichkeit senken, dass der<br />
Angreifer tätlich wird. Umgekehrt gilt das gleiche: Kommunikationsmuster, die die wahrgenommene<br />
Bedrohung verstärken, erhöhen auch das Risiko eines tätlichen Angriffs. Hier sind einige<br />
Richtlinien zur Reduzierung der Bedrohung:<br />
Haltung: entspannt und offen; Hände offen sichtbar // Gestik: langsam, Handflächen nach oben<br />
// Position: leicht seitlich vom Klienten und weit genug weg (möglichst ca. 2-3m), so dass<br />
deutlich symbolisiert wird, dass kein Angriff auf den Klienten geplant ist // Vorsicht: Positionen<br />
direkt vor oder hinter einer verängstigten Person erhöhen meist die empfundene Bedrohung //<br />
Positionen in oder unter Augenhöhe der ängstlichen Person können die empfundene Bedrohung<br />
für sie meist senken.<br />
Stimme: fest, beruhigend, vertraulich // Sprache: logisch, zu ruhigem Nachdenken ermunternd;<br />
wenn möglich Hilfe versprechend, aber nichts, das unmöglich ist // Blickkontakt: wenn die<br />
verängstigte Person den Blickkontakt als eine zusätzliche Quelle der Beruhigung sucht, sollte er<br />
offen erwidert werden; falls die Person versucht, direkten Blickkontakt zu vermeiden, sollte er<br />
nicht erzwungen werden. In vielen Kulturen ist von direktem Blickkontakt abzuraten, oder er<br />
sollte nur sehr eingeschränkt hergestellt werden.<br />
Körperkontakt: manche verängstigten Leute (besonders Kinder) brauchen Sicherheit durch<br />
Körperkontakt. Berührungen sollten „angeboten" werden und nicht einfach ungefragt gegeben<br />
werden und sollten leicht sein mit langsamen Bewegungen.<br />
2. Frustration und Aggression<br />
Menschen können als Folge eines destruktiven Wutanfalls aufgrund angestauter Frustration<br />
angreifen und sich oder andere verletzen (als Nebeneffekt manchmal auch Dinge zerstören).<br />
Aggression aus Frustration entspricht einem irrationalen Versuch, die Kontrolle<br />
zurückzugewinnen, indem man die Quelle der Frustration attackiert.<br />
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Sichtbare Signale:<br />
Körperhaltung: angespannt und bereit anzugreifen // Hautfarbe: Purpur- oder Rottöne, fleckig //<br />
Gesichtsausdruck: angespannt, konzentriert, ärgerlich<br />
Hörbare Signale:<br />
Stimmlage: drohend, aggressiv, laut // Atmung: laut, tief, lang, schwer //<br />
Bezug zur Lebensgeschichte:<br />
Enttäuschungen, Erfolglosigkeit, seelische Verletzungen; - daraus folgend eine geringe<br />
Frustrationstoleranz verbunden mit Impulsivität. Bei Kindern und Jugendlichen im Bereich der<br />
Erziehungshilfe besteht die Ursache für aggressives Verhalten zu etwa 50% in<br />
Frustrationserfahrungen.<br />
Krisenintervention bei Frustration mit dem Ziel, Kontrolle herzustellen:<br />
Die grundlegende Annahme ist, dass Handlungsmuster, die Kontrolle demonstrieren und<br />
Kontrolle auf andere übertragen, zur Wiederherstellung der Selbstkontrolle des frustrierten<br />
Klienten dienen. Umgekehrt erhöhen Handlungen, die Kontrollverlust vermitteln, die<br />
Wahrscheinlichkeit, dass die frustrierte Person ihre Fähigkeit zur Impulssteuerung verliert. Hier<br />
sind einige Richtlinien, wie man Kontrolle zur Geltung bringen kann:<br />
Haltung: selbstbewusst, gebieterisch // Gestik: entschlossen, gebieterisch, Handflächen nach<br />
vorn oder unten // Position: direkt vor dem Klienten, aber gerade eben außerhalb der Reichweite //<br />
Vorsicht: Eine Position innerhalb der direkten Reichweite der frustrierten Person vermittelt die<br />
Aufforderung oder den Wunsch nach Kampf // Vorsicht: Eine Position völlig außerhalb der<br />
Reichweite dieser Person vermittelt unangemessene Vorsicht oder Angst und unterschwellig<br />
Verletzlichkeit und den Wunsch, das Ziel für freigesetzte Frustration zu werden.<br />
Stimme: ruhig, bestimmt, gebietend in einer Stimmlage, die leise genug ist, um die Aufmerksamkeit<br />
der frustrierten Person auf sich zu ziehen // Sprache: wiederholend, überzeugte Anweisungen ohne<br />
Drohung // Blickkontakt: direkt und begleitet von Mimik, die vermittelt, dass eine ernst gemeinte<br />
Anweisung gegeben wird<br />
Körperkontakt: falls Körperkontakt erforderlich sein sollte, um die frustrierte Person von einem<br />
Tätlichwerden abzuhalten, sollte dieser bestimmt, aber ohne übermäßige Bewegung sein, ohne<br />
Schmerz zuzufügen, da dies wiederum einen Verlust der Kontrolle vermittelt.<br />
3. Manipulation und Aggression<br />
Menschen können ihre Selbstkontrolle verlieren (oder Kontrollverlust simulieren), um andere zu<br />
manipulieren, indem sie impulsiv und jähzornig werden. Aggression als Manipulationsversuch<br />
strebt danach, als Ersatz für emotionalen Kontrollverlust etwas wiederzugewinnen oder zu<br />
vermeiden. Manipulation wird gefährlich, wenn es dabei zum Einsatz von Gewalt kommt.<br />
Manipulation kann sehr unterschiedliche Formen annehmen, z. B.:<br />
Wutausbruch:<br />
In diesem Fall beginnt die manipulierende Person damit, einen ruhigen, aber (nach den Umständen)<br />
unvernünftigen Wunsch zu äußern. Wenn die Wünsche oder Forderungen der Person nicht erfüllt<br />
werden, droht sie mit einem Gewaltausbruch, indem sie schreit, Türen schlägt, mit den Füßen<br />
stampft usw.<br />
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Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
Gegenseitiges ausspielen:<br />
In diesem Fall versucht die manipulierende Person die anderen gegeneinander auszuspielen, in der<br />
Hoffnung, dass ihr Wunsch oder ihre Forderung in der entstehenden Verwirrung erfüllt werden. In<br />
Situationen, wenn Gruppen betreut werden, gibt es eine Fülle von Gelegenheiten dafür.<br />
Fördern von Verwirrung:<br />
In diesem Fall bringt die manipulierende Person auf die Sache bezogene, aber unwichtige Dinge ins<br />
Gespräch. Dabei lässt sie den Professionellen im Unklaren darüber, was sie wohl wirklich will, oder<br />
was diese Themen mit dem ursprünglichen Wunsch oder der Forderung zu tun haben.<br />
Sichtbare und hörbare Signale:<br />
Obwohl die Signale zu einem bestimmten Zeitpunkt oft schwer zu interpretieren sind, gibt es ein<br />
bestimmtes und wiedererkennbares Muster:<br />
Die Signale treten anfangs oft mit jammernder Stimme auf, gewöhnlich begleitet von einem „Ich will<br />
aber .-..", und mit der Selbstdarstellung eines bemitleidenswerten Opfers. Falls das nicht<br />
funktioniert, kommt als nächstes eine Folge von in gewisser Weise aufeinander bezogenen<br />
Anschuldigungen, Vergleichen o.ä., die in aggressiverem Ton ausgestoßen werden. Falls auch dies<br />
nicht funktioniert, kommen als nächstes Drohungen und Eigentumsbeschädigungen. Schließlich,<br />
wenn alles andere fehlgeschlagen ist wird Gewaltausübung versucht.<br />
Bezug zur Lebensgeschichte:<br />
Es liegt oft eine Lebensgeschichte von Kontrollverlusten oder körperlichen Angriffen in Fällen von<br />
Entbehrung oder Unterdrückung zugrunde.<br />
Krisenintervention bei Manipulation mit dem Ziel der Distanzierung:<br />
Die Grundannahme ist hier, dass Verhaltensmuster, die den Eindruck erwecken, man ließe sich<br />
nicht manipulieren, die Wahrscheinlichkeit verringern, dass die manipulative Person tätlich wird<br />
und dabei vollständig die Kontrolle verliert. Umgekehrt gilt, dass Offenheit gegenüber der Manipulation<br />
die Vorstellung erweckt, das Gewünschte könne auf der nächst höheren Ebene des<br />
Kontrollverlustes auch erreicht werden. Hier einige Richtlinien dazu, wie Sie sich am besten aus<br />
einem manipulativen Spiel befreien:.<br />
Haltung: geschlossen, entspannt // Gestik: persönliche kleine Gesten, die Missfallen oder leichte<br />
Verärgerung ausdrücken (mit den Füßen auf den Boden treten oder mit den Fingern trommeln,<br />
die Augen verdrehen, genervtes Stöhnen und Nicken, die Arme verschränken usw.) // Position:<br />
nah genug, um eine Grenzsetzung zu symbolisieren, aber gleichzeitig weit genug entfernt, um zu<br />
zeigen, dass man nicht in die Situation verwickelt ist (ca. 1,5m) - sich leicht zur Seite wenden, ist<br />
angemessen, aber nicht sich völlig abwenden.<br />
Stimme: unberührt, mechanisch, leicht gelangweilt Sprache: ruhig, wiederholend, monoton //<br />
Blickkontakt: vermeiden Sie Blickkontakt, indem Sie eher den Haaransatz, das Kinn oder<br />
Schultern anvisieren // Körperkontakt: falls Körperkontakt mit der manipulativen Person<br />
notwendig wird, sollte er so schnell und emotionslos wie möglich geschehen. Versuchen Sie,<br />
Berührungen auf Kleidung zu beschränken und die Haut nicht zu berühren. Bestrafender und<br />
rächender Krafteinsatz sollte vermieden werden, da dies der Person vermittelt, dass der<br />
Manipulationsversuch geklappt hätte, wenn er nur anders durchgeführt worden wäre.<br />
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4. Einschüchterung und Aggression<br />
Menschen versuchen manchmal, etwas von anderen zu bekommen, indem sie ganz ruhig<br />
Gewalt androhen; ein gängiges Motiv kriminellen Verhaltens, wie wir es oft in den Medien finden.<br />
Aggression im Sinne von Einschüchterung ist ein kalkulierter Versuch von<br />
Gewaltandrohung, um etwas als Preis für körperliche Sicherheit oder Freiheit zu bekommen.<br />
„Bring mich nicht dazu, dich zu verletzen" ist der Unterton dieser Botschaft, die viele Personen<br />
aussenden, die Einschüchterungsversuche machen.<br />
Sichtbare und hörbare Signale:<br />
Im Grunde neutral und unmerkbar, mit Ausnahme des drohenden Untertons in der Stimme oder<br />
entsprechender Körperhaltung und Gesten. Häufig benutzen Personen, die einschüchtern wollen,<br />
körperliche Drohgebärden, wie z. B. sehr nahe treten oder Bedrängen eines anderen, um Gefahr zu<br />
signalisieren.<br />
Wie bei der Manipulation gibt es ein bestimmtes und wiedererkennbares Muster in diesen<br />
Signalen: Zunächst gibt es eine klare und nachdrücklich ausgesprochene Forderung. Falls die<br />
Forderung nicht erfüllt wird, folgt eine glaubwürdige Androhung von körperlicher Gewalt<br />
verbunden mit der Ankündigung, dass bei Erfüllung der Forderung eine Verletzung vermieden<br />
werden kann. Schließlich führt die Weigerung, auf die Forderung einzugehen oder der Versuch,<br />
dies aufzuschieben, zu einem Verletzungsversuch.<br />
Bezug zur Lebensgeschichte:<br />
Häufig sind diese Menschen schikaniert oder erpresst worden oder selbst Opfer von<br />
Gewaltverbrechen gewesen.<br />
Krisenintervention bei Einschüchterung mit dem Ziel, die Konsequenzen erkennen zu lassen:<br />
Die Grundannahme besteht darin, dass das klare Aufzeigen der Konsequenzen oder der Kosten<br />
einer gewalttätigen Handlung meist die Wahrscheinlichkeit verringert, dass eine einschüchternde<br />
Person zu Mitteln der Gewalt greift, um ihre Ziele zu erreichen. Umgekehrt bewirkt eine fehlende<br />
oder missverständliche Kommunikation hierüber, dass die einschüchternde Person ermutigt wird,<br />
ihren Willen schnell und einfach mit Gewalt durchzusetzen.<br />
Haltung: ausgeglichen und sicher, bereit, sich schnell zu bewegen oder zu reagieren (stehend), aber<br />
nicht defensiv, als hätten Sie Angst // Gestik: wenige und wenn, dann in großen Abständen, um den<br />
Eindruck zu vermeiden, Sie seien gerade unvorbereitet oder schwach // Position: eine Stellung des<br />
größten relativen Verteidigungsvorteils; z.B. mit dem Rücken an einem Ausgang (darauf achten, dass<br />
dieser nicht von dem Klienten blockiert wird) oder mit einem Tisch oder Stuhl zwischen Ihnen und der<br />
einschüchternden Person.<br />
Stimme: sachlich, monoton, emotionslos. Vermeiden Sie Schreien, Rufen oder drohende<br />
Untertöne (was darauf schließen lassen würde, dass Sie sich verletzbar fühlen) // Sprache: klare<br />
und direkte Aussagen über Konsequenzen, sooft wie nötig wiederholt. Vermeiden Sie Drohungen,<br />
unrealistische Konsequenzen, Schwören, Beleidigen und jegliche andere Aktionen, die als Bluffs aus<br />
Angst gedeutet werden könnten // Blickkontakt: sollte sparsam angewandt werden, nur um eine<br />
Aussage zu stützen.<br />
Körperkontakt: falls Körperkontakt notwendig sein sollte, sollte er so schnell, sanft und sachlich wie<br />
möglich durchgeführt werden, als wäre er etwas unpassend. Überreaktion und körperliche Bestrafung<br />
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Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
tragen zu der Auffassung bei, dass die Einschüchterung zum Erfolg geführt hätte, wenn sie nur stärker<br />
und geschickter durchgeführt worden wäre.<br />
Kompetenzen aus dem Lehrplan: „Risikofaktoren und Hinweise auf Störungen frühzeitig erkennen<br />
und geeignete Maßnahmen einleiten“. / „Maßnahmen zur Bewältigung von Krisen kennen und<br />
einsetzen“. Wissen und Verstehen: Verschiedene Aggressionstheorien und verschiedene<br />
Interventionsmaßnahmen. Übung im Rollenspiel. Diskurs: Sind die theoretischen Ansätze<br />
überzeugend Gelingt die Umsetzung der Theorie in einer realen Situation Wo erkennen Sie Bezüge<br />
zum systemischen Ansatz Was bringen Sport, Krafttraining, Boxsack in Bezug auf<br />
Aggressionsbewältigung und was nicht<br />
Thema: Jugendarbeit<br />
Quelle: www.wikipedia.org , Suchbegriff „Jugendarbeit“ , eingesehen am<br />
20.01.13<br />
Allgemeine Aufgaben<br />
Sie ist neben der Bildung und Erziehung im Elternhaus, Kindergarten oder Schule und beruflicher<br />
Ausbildung ein weiterer wichtiger, ergänzender Bildungsbereich in der Freizeit der Kinder und<br />
Jugendlichen. Ziel der Kinder- und Jugendarbeit ist, zur Persönlichkeitsentwicklung junger<br />
Menschen beizutragen. Sie soll an den Interessen der jungen Menschen anknüpfen und von ihnen<br />
mitbestimmt und mitgestaltet werden. Junge Menschen sollen zur Selbstbestimmung befähigt und<br />
zu gesellschaftlicher Mitverantwortung und sozialem Engagement angeregt und hingeführt werden.<br />
Die Kinder- und Jugendarbeit wendet sich grundsätzlich an alle Kinder und Jugendlichen unter 27<br />
Jahren (hauptsächlich an Kinder und Jugendliche im Alter zwischen sechs und 18 Jahren) und nicht<br />
in erster Linie an sog. „Problemgruppen“. Mit letzteren befasst sich die zu unterscheidende<br />
„Jugendsozialarbeit“.<br />
Pädagogische Zielsetzungen<br />
Förderung der personalen und sozialen Kompetenzen: Förderung der Selbständigkeit, des<br />
Selbstbewusstseins und des Selbstwertgefühls, Förderung der Eigenverantwortlichkeit, des<br />
Verantwortungsbewusstseins und der Gemeinschaftsfähigkeit, Förderung der Kommunikations-,<br />
Kritikfähigkeit, Kooperationsfähigkeit und Konfliktfähigkeit sowie<br />
Hinführung zu sozialem Engagement und gesellschaftlicher Mitverantwortung.<br />
Jugendarbeit hat sich in Deutschland nach Familie und Schule zunehmend als „drittes Standbein der<br />
Erziehung“ etabliert. Die gesellschaftspolitische Tendenz geht in Richtung Vernetzung und<br />
Kooperation, insbesondere zwischen Jugendarbeit und Schule (Schulsozialarbeit), aber auch<br />
zwischen Jugendarbeit und Elternhaus.<br />
Rechtliche Grundlagen seit 1990<br />
Die rechtliche Grundlage der Kinder- und Jugendarbeit findet sich im Kinder- und<br />
Jugendhilfegesetz (KJHG) im Achten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB VIII). Nach § 1 SGB VIII<br />
ist es das Ziel der Kinder- und Jugendhilfe (und damit auch der Kinder- und Jugendarbeit), das<br />
Recht auf Erziehung zu gewährleisten und die persönliche und soziale Entwicklung junger<br />
Menschen zu eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten zu fördern. Dazu<br />
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Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
sind Leistungen anzubieten, die Mädchen und Jungen gleichberechtigt zur Selbstbestimmung<br />
befähigen und zu gesellschaftlicher Mitverantwortung und sozialem Engagement anregen und<br />
hinführen (§ 8, § 9 und § <strong>11</strong> des SGB VIII). Hierzu ist die Kinder- und Jugendhilfe auch<br />
verpflichtet, zur Schaffung oder Erhaltung von positiven Lebensbedingungen sowie einer kinderund<br />
familienfreundlichen Umwelt beizutragen (§ 1 SGB VIII) und die Kinder- und Jugendarbeit<br />
freier Träger zu unterstützen (§ 12 SGB VIII).<br />
In § <strong>11</strong> SGB VIII sind die Schwerpunkte der Jugendarbeit festgelegt, dazu gehört demnach:<br />
1. Außerschulische Jugendbildung mit allgemeiner, politischer, sozialer, gesundheitlicher,<br />
kultureller, naturkundlicher und technischer Bildung. Damit ist festgestellt, dass die<br />
Jugendarbeit einen eigenständigen Bildungsauftrag neben der Schule hat. Dieser setzt am<br />
Alltag und an der Lebenswelt und am Interesse der jungen Menschen an und lebt von der<br />
Freiwilligkeit der Teilnahme.<br />
2. Jugendarbeit in Sport Spiel, Geselligkeit. Sportvereine und –verbände bieten attraktive<br />
Angebote für Kinder und Jugendliche und haben die weitaus am meisten Mitglieder<br />
organisiert.<br />
3. Arbeitswelt-, schul- und familienbezogene Jugendarbeit. Dieser Bereich sollte nicht mit<br />
Maßnahmen der Jugendsozialarbeit verwechselt werden, es geht hier um Projekte der<br />
Jugendarbeit in diesen Bereichen.<br />
4. Internationale Jugendarbeit. Die Weiterentwicklung der Einheit Europas und die<br />
kriegerischen Konflikte in der Welt machen die Begegnung von jungen Menschen<br />
unterschiedlicher Kulturen und Nationalitäten nach wie vor notwendig.<br />
5. Kinder- und Jugenderholung. Ein Beitrag der Jugendarbeit jenseits der Tourismusangebote<br />
zur Erholung und Entspannung von jungen Menschen, die oft auch aus Geldmangel keinen<br />
Urlaub machen können.<br />
6. Jugendberatung. Hierbei geht es um allgemeine Jugendberatung, Orientierungshilfen,<br />
Berufs- und Lebensberatung in speziellen Jugendberatungsstellen und nicht um Beratung in<br />
expliziten Problemlagen wie bei den Drogen-, Schwangerschafts- oder<br />
Schuldnerberatungsstellen. Sie soll vertraulich sein außerhalb der aktenführenden<br />
Jugendämter.<br />
Strukturen der Jugendarbeit<br />
Es gibt unterschiedliche Formen der Jugendarbeit, nämlich „für Mitglieder bestimmte Angebote“,<br />
„offene Angebote“ und „die gemeinwesenorientierten Angebote“. Das sind einerseits<br />
verbandsbezogene Angebote der Jugendorganisationen, andererseits die offene Jugendarbeit in<br />
Einrichtungen wie Jugendtreffs, Jugendclubs Jugendhäuser, Jugendzentren und dann die<br />
gemeinwesenorientierten Angebote, die in Wohnsiedlungen zur Verbesserung der Lebenswelt der<br />
Kinder und Familien beitragen. Die Aufgaben der Jugendarbeit werden von öffentlichen und von<br />
freien Trägern wahrgenommen.<br />
Die Jugendarbeit unterscheidet sich von anderen Erziehungs- und Bildungsbereichen durch<br />
folgende Strukturmerkmale:<br />
Freiwilligkeit der Teilnahme<br />
Vielfalt der Organisationen und Träger<br />
Vielfalt der Inhalte, Methoden und Arbeitsformen<br />
Mitbestimmung, Mitgestaltung, Selbstorganisation<br />
Ergebnis- und Prozessoffenheit<br />
Lebenswelt- und Alltagsorientierung, Anknüpfen an den Interessen und Bedürfnissen der<br />
Kinder und Jugendlichen<br />
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Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
<br />
überwiegend ehrenamtliche Tätigkeit.<br />
Öffentliche und anerkannte Freie Träger<br />
Die öffentlichen Träger der Jugendarbeit sind die Länder, Landkreise und (kreisfreien) Städte. Sie<br />
tragen nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz (Sozialgesetzbuch VIII) die Planungs- und<br />
Gesamtverantwortung dafür, dass Jugendarbeit in ausreichendem Maße stattfindet und<br />
entsprechende Einrichtungen und Dienste zur Verfügung stehen. Sie haben die Jugendarbeit der<br />
freien Träger zu unterstützen und zu fördern. Dies ist eine staatliche Pflichtaufgabe. In einer<br />
Jugendhilfeplanung wird der Bedarf an Einrichtungen, Diensten und Veranstaltungen der<br />
Jugendarbeit durch den örtlichen öffentlichen Träger der Jugendarbeit festgestellt. Die freien Träger<br />
der Jugendarbeit – Kirchen, Jugendverbände und deren Untergliederungen und sonstige öffentlich<br />
anerkannte freie Träger der Jugendarbeit – werden neben den Betroffenen – Kinder, Jugendliche,<br />
Eltern – in die Planung mit einbezogen. Freie Träger der Jugendarbeit sind<br />
Religionsgemeinschaften, andere Jugendverbände und deren Zusammenschlüsse (Jugendringe). Die<br />
öffentliche (kommunale) Jugendarbeit ergänzt nach dem Subsidiaritätsprinzip die Angebote der<br />
freien Träger, initiiert neue Arbeitsfelder und unterstützt die freien Träger bei der Durchführung<br />
ihrer Arbeit. Es geht dabei auch um eine Verbesserung der Integration problematischer Jugendlicher<br />
in das Gemeinwesen aber hauptsächlich um eine allgemeine Förderung der Kinder und<br />
Jugendlichen im Freizeitbereich nach den oben genannten Zielen.<br />
Freiwillige soziale Arbeit / Ehrenamt<br />
Jugendarbeit wird zum allergrößten Teil (>90 %) ehrenamtlich von Jugendleiterinnen und<br />
Jugendleitern geleistet. Ein Berliner Landesgesetz gewährt diesem Personenkreis<br />
Stundenermäßigung beim Arbeitgeber. Die Hauptamtlichen in Jugendringen, Jugendverbänden oder<br />
in den Kommunen (Kommunale Jugendpfleger) beraten und unterstützen diese. Jugendleiterinnen<br />
und Jugendleiter sollten, bevor sie ihre verantwortungsvolle Aufgabe übernehmen, ausgebildet<br />
werden. Um diese Qualifikation gegenüber Eltern und Behörden nachweisen zu können, wurde<br />
bundesweit eine Jugendleitercard (JuLeiCa) eingeführt. Die JuLeiCas können bei den Stadt- und<br />
Kreisjugendringen angefordert werden.<br />
Kompetenzen aus dem Lehrplan: „Kinder und Jugendliche bei der Identitätsentwicklung und dem<br />
Aufbau einer sinnhaften Lebensperspektive unter Berücksichtigung von Übergängen und<br />
besonderen Lebensereignissen unterstützen“. / „Werte anbieten, vorleben, und entsprechende<br />
praktische Erfahrungen ermöglichen“. / „Kinder- und Jugendarbeit im Sinne ausgewählter Ansätze<br />
unter Berücksichtigung von Partizipation planen, durchführen und reflektieren“. Wissen und<br />
verstehen: § <strong>11</strong> KJHG und § 12 KJHG. Unterschiede erläutern: Offene Jugendarbeit, Öffentliche<br />
Jugendarbeit, Freie Jugendarbeit, Jugendverbandsarbeit, Institutionelle Jugendhilfe,<br />
Jugendsozialarbeit. Was sind Ziele und Schwerpunkte der Jugendarbeit Diskurs:<br />
Subsidiaritätsprinzips und Selbstorganisation, - warum ist das sinnvoll, wie realistisch wird dies<br />
umgesetzt<br />
Filme: „Wholetrain“ oder “Klassenfahrt” oder “Knallhart“<br />
Entwicklung von Ansätzen und Anregungen für ein Konzept der offenen Jugendarbeit, das zu den im<br />
Film dargestellten Jugendlichen passt. Berücksichtigen Sie dabei die Zielsetzungen und<br />
Schwerpunkte der Jugendarbeit, insbesondere das Prinzip der Mitwirkung und Beteiligung.<br />
98
Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
Thema: Jugendschutzgesetz<br />
Rechtgrundlagen §§ 1, 4, 5, 9, 10, <strong>11</strong>, 15 JuSchG lesen, verstehen, konkrete beispielhafte<br />
Situationen entwickeln.<br />
Kompetenzen aus dem Lehrplan: „Arbeitsfeldbezogene gesetzliche Grundlagen anwenden und im<br />
pädagogischen Handeln berücksichtigen“<br />
Thema: Jugendgerichtsgesetz<br />
Rechtsgrundlagen §§ 1, 3, 5, 10, 12, 15, 16, 17, 18, 38, 105 JGG lesen, verstehen, konkrete<br />
beispielhafte Situationen entwickeln.<br />
Kompetenzen aus dem Lehrplan: „Arbeitsfeldbezogene gesetzliche Grundlagen anwenden und im<br />
pädagogischen Handeln berücksichtigen“<br />
Thema: Aufsichtspflicht<br />
Gegebenenfalls Wiederholung und Ergänzung.<br />
Kompetenzen aus dem Lehrplan: „Arbeitsfeldbezogene gesetzliche Grundlagen anwenden und im<br />
pädagogischen Handeln berücksichtigen“<br />
99
Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
Selbstlernzeit: Aufgabe „Pädagogische Grundhaltung“<br />
Lesen Sie nachstehenden Text und bearbeiten Sie dann folgende Aufgabenstellungen:<br />
a) Geben Sie mit eigenen Worten die wichtigsten Grundaussagen des Textes wieder. Ergänzen Sie<br />
die Grundaussagen durch eigene Vorstellungen. (10 Punkte)<br />
b) Beschreiben Sie eine Situation aus Ihrer Praxiserfahrung, in der die pädagogische Grundhaltung<br />
in positiver gelungener Weise zum Ausdruck kam. (5 Punkte)<br />
c) Entwickeln Sie eine fiktive aber konkrete beispielhafte Situation (auf das Arbeitsfeld<br />
Heimerziehung bezogen), in der die pädagogische Grundhaltung in positiver gelungener Weise zum<br />
Ausdruck kommt. (5 Punkte)<br />
Abzugeben:<br />
- ein Titelblatt mit Ihrem Namen und der Aufgabenbezeichnung „Aufgabe pädagogische<br />
Grundhaltung“<br />
- etwa 2 DIN A 4 Seiten zu Aufgabe a) (formale Anforderungen beachten)<br />
- etwa eine DIN A 4 Seite zu Aufgabe b) (formale Anforderungen beachten)<br />
- etwa eine DIN A 4 Seite zu Aufgabe c) (formale Anforderungen beachten)<br />
- Alle Blätter links oben zusammentackern und keine Hüllen und keine Hefter/Ordner verwenden!<br />
Punkte Note Punkte Note Punkte Note<br />
20 1+ 14 3+ 08 5+<br />
19 1 13 3 07 -06 5<br />
18 1- 12 3- 05 5-<br />
17 2+ <strong>11</strong> 4+ 04 - 00 6<br />
16 2 10 4<br />
15 2- 09 4-<br />
Quelle: Günder, Richard: „Praxis und Methoden der Heimerziehung,<br />
Entwicklungen, Veränderungen und Perspektiven der stationären<br />
Jugendhilfe“, 4. Auflage, Lambertus-Verlag, Freiburg im Breisgau, 20<strong>11</strong>,<br />
S. 175 ff:<br />
Heimerzieher(innen) brauchen (pädagogische) Grundhaltungen<br />
Wenn wir bei Heimerzieher(inne)n pädagogische Grundhaltungen voraussetzen, dann sind damit<br />
Wertvorstellungen und Ideenlehren gemeint, die innerhalb der Heimerziehung pädagogische<br />
Handlungen und Einsichten legitimieren und die letztlich dazu verhelfen können, dass erzieherische<br />
Vorgänge nicht primär aus spontanen - oft krisenhaften - Situationen erwachsen, sondern systematische<br />
und methodische Anwendung finden. Zielorientierung und Reflexionsvermögen sind weitere Kennzeichen<br />
der professionellen Heimerziehung.<br />
Pädagogische Grandvoraussetzungen<br />
In der Regel sind Kinder und Jugendliche von Heimerziehung betroffen, die zuvor nicht oder falsch<br />
erzogen wurden, unter schwierigen Lebensbedingungen aufwuchsen und sich daher weniger gut<br />
entwickeln konnten. Solche jungen Menschen haben ein ausgeprägtes Bedürfnis nach einer planvollen<br />
Erziehung, nach individueller Förderung und Entwicklung. Paul Moor, der Begründer der modernen<br />
100
Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
Heilpädagogik, kann hierzu grundlegend beitragen. Nach seiner Theorie benötigt jeder Mensch zur<br />
Erfüllung seines Lebens die Gemeinschaft, in der er lebt. Der innere Halt des Menschen wird erst<br />
vollkommen durch den äußeren Halt an der Umgebung. Bei entwicklungsgehemmten Kindern sei der<br />
innere Halt gefährdet und müsse durch den Aufbau eines äußeren Haltes besonders gefördert werden<br />
(Moor 1969). Wenn wir diese heilpädagogische Auffassung auf den Heimbereich übertragen, dann<br />
bedeutet dies, dass die allgemeinen Rahmenbedingungen der Institution und die in ihr stattfindenden erzieherischen<br />
Prozesse einen solchen äußeren Halt bilden müssten, der die Entwicklung des inneren Haltes<br />
begünstigt. Ähnlich hat es Kraiker ausgedrückt, der den Wert von therapeutischen Vorgängen in<br />
Institutionen in der „Gestaltung von hilfreichen Umwelten" (Kraiker 1981, S. 196) sieht. Aber<br />
können wir überhaupt die Heimerziehung zum Bereich der Therapie oder der Heilpädagogik zählen<br />
Nur wenige Heime führen das Etikett „therapeutisch" oder „heilpädagogisch" in ihrem Namen;<br />
andere verzichten ganz bewusst darauf, weil sie Ausgrenzung und Stigmatisierung befürchten.<br />
Außerdem sind in vielen Heimen weder Therapeut(inn)en noch Heilpädagog(inn)en zu finden.<br />
Beide Argumente sollten jedoch nicht dazu führen, Heilpädagogik und Therapie außer Acht zu<br />
lassen. Die Beeinflussung der allgemeinen und speziellen Erziehung innerhalb des Heimes durch<br />
Erkenntnisse aus Heilpädagogik und Therapie erscheint wegen der vorhandenen Bedarfslage<br />
unumgänglich. Es geht hierbei nicht um einen vordergründigen Ruf nach Spezialisten, sondern um<br />
die Integration dieser Erkenntnisse in die Erziehungsvorstellung und Erziehungsrealisierung<br />
eines(r) jeden Heimerziehers(in).<br />
Daher müssen zunächst einmal die unverzichtbaren pädagogischen beziehungsweise<br />
heilpädagogischen Grundhaltungen angesprochen werden, die als Basis einer methodischen<br />
Erziehung und Förderung anzusehen sind. Wir gehen wie selbstverständlich davon aus, dass alle,<br />
die sich zu einer pädagogischen Arbeit auch mit schwierigen Kindern und Jugendlichen berufen<br />
fühlen, echtes Interesse an einer solchen Arbeit zeigen und positive Einstellungen zu jungen<br />
Menschen besitzen. Falls nicht, dann werden die Betroffenen hoffentlich schnell feststellen, wie<br />
dringend notwendig ein Berufswechsel ist, oder es sind verständnisvolle Kol-leg(inn)en und<br />
Vorgesetzte vorhanden, die eine vorliegende Fehlentscheidung verdeutlichen. Mit einer positiven<br />
Einstellung allein ist es aber noch lange nicht getan, denn für die Arbeit mit Kindern und<br />
Jugendlichen - zumal, wenn diese sich in schwierigen Situationen befinden - sind noch ganz andere<br />
Anforderungen an Grundhaltungen vorhanden. Bruno Bettelheim weist in seinem Buch „Ein<br />
Leben für Kinder" sehr deutlich darauf hin, dass Eltern, die ihre Kinder erziehen, sich über die<br />
eigenen Gefühle, die sie bei den Erziehungsvorgängen einnehmen, Klarheit verschaffen sollten<br />
(Bettelheim 1987). Denn wer sein Kind mit lachender Miene zu erziehen versucht, innerlich aber<br />
Momente der Angst oder Wut hegt und sich dessen nicht einmal bewusst ist, wird auch keinen<br />
nachhaltigen Erziehungserfolg erreichen können. Es fördert zwischenmenschliche Verhältnisse<br />
nicht, weil es den echten Gefühlen nicht entspricht und weil die negativen (unbewussten)<br />
Gefühlsregungen übertragen werden. Was im normalen alltäglichen Erziehungsvorgang als wichtig<br />
erscheint, nämlich seine eigene Gefühlswelt zu kennen, wird bei der Erziehung fremder Kinder,<br />
die einem zudem noch Schwierigkeiten und Ärger bereiten können, zur unbedingten<br />
Notwendigkeit. Wenn Kinder gegenüber ihren eigenen Eltern frech und ungezogen sind, sie ärgern<br />
und lästige Verhaltensweisen an den Tag legen, kann man üblicherweise zwei verschiedene<br />
Reaktionsweisen der Eltern beobachten:<br />
Die Eltern ärgern sich über ihr Kind, hadern aber mit sich selbst, weil sie es so weit haben kommen<br />
lassen. Vielleicht schäumen sie über vor Wut oder sind tief enttäuscht, dass alle Liebe und Sorge so<br />
abgegolten wird.<br />
Eine andere Reaktionsweise ist, sich gar nicht beeindrucken zu lassen. Der Ärger, die Auffälligkeiten<br />
können einem scheinbar nichts anhaben. Dies geschieht nicht immer aus Großzügigkeit, sondern<br />
auch, weil man vorgibt, am Kind und seinem Verhalten momentan gar nicht so sehr interessiert zu<br />
101
Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
sein; man lässt es links liegen.<br />
Beide Verhaltensweisen sind für die weitere Entwicklung des Kindes ungünstig: Wenn es mit seinen<br />
Verhaltensweisen neuen Ärger heraufbeschwört, kann es leicht in einen Strudel negativer<br />
Verfestigung geraten. Wenn es mit seinen provozierenden Verhaltensweisen aber keine Reaktion<br />
bewirkt, kann sich bei ihm der Eindruck festsetzen, nicht ernst und wichtig genommen zu werden.<br />
Glücklicherweise können im Normalfall beide ungünstigen Reaktionsweisen überwunden werden,<br />
weil die Einmaligkeit der emotionalen Beziehung zwischen Eltern und Kindern Ärger und<br />
Enttäuschungen überwinden kann.<br />
Innerhalb der Heimerziehung fehlt das in der üblichen Erziehung so wichtige Moment der Eltern-<br />
Kind-Bindung jedoch vollkommen. Selbstverständlich sind auch zwischen Erzieher(inne)n und<br />
Kindern positive emotionale Gefühle vorhanden; auch Heimerzieher(innen) werden für die ihnen<br />
anvertrauten Kinder und Jugendlichen wichtige Bezugspersonen sein. Aber selbst innerhalb der<br />
engen emotionalen Vertrautheit einer kleinen Wohngruppe kann dieser Bezug nicht mit der Eltern-<br />
Kind-Beziehung gleichgesetzt werden. Dies ist für die Kinder nicht nur zum Nachteil, weil die<br />
anders gelagerte Emotionalität in vielen Fällen eine Entwicklungsförderung eher zulässt. Die<br />
negativen Verhaltensweisen von den jungen Menschen innerhalb der Heimerziehung brauchen<br />
nicht nur, vielmehr dürfen sie nicht so persönlich genommen werden wie in der Beziehung zwischen<br />
Eltern und Kindern. Wir orientieren uns hierbei an den heilpädagogischen Regeln von Andreas<br />
Mehringer und muten den Erzieher(inne)n zu, dass sie Kinder zunächst ganz so annehmen, wie sie<br />
sind, und dass diese ihre Symptome ganz ausleben können; zumindest in der Anfangsphase gilt das<br />
Prinzip des „Ausverwahrlosenlassens" (Mehringer 1998).<br />
Gerade schwierige Kinder brauchen solche Voraussetzungen. Wenn sie nicht sofort genötigt werden,<br />
sich zu ändern, wenn sie trotz ihrer auffallenden und lästigen Symptomatik als Person vollkommen<br />
angenommen und ernst genommen werden, dann erst können allmählich auch günstige<br />
Voraussetzungen, die nachhaltige Verbesserungen zu bewirken imstande sind, Raum greifen. Auch in<br />
dieser Anforderung unterscheidet sich die Erziehung im Heim merklich von dem ansonsten üblichen<br />
Erziehungsgeschehen. Üblicherweise reagiert man auf schwierige Verhaltensweisen entsprechend und<br />
verlangt Änderungen oder verhängt Sanktionen. Dies geschieht wohl vor allem auch deshalb, weil zu<br />
wenig nachgedacht und weil man sich persönlich betroffen fühlt.<br />
Heilpädagogisch orientierte Erzieher(innen) müssen nicht so leicht in die Lage kommen, sich persönlich<br />
betroffen zu fühlen und zu verzweifeln. Sie kennen die mannigfaltigen Möglichkeiten bei der<br />
Entstehung von Auffälligkeiten mit individuell unterschiedlichen Bedingungsfaktoren. Auch wenn sie<br />
persönlich angegriffen werden, können emotionale Reaktionen wie Betroffenheit, Ärger, Wut oder<br />
Verzweiflung relativiert werden. Wer in diesem Erziehungsfeld professionell arbeitet, muss einfach<br />
anerkennen, dass Schwierigkeiten, die Kinder bereiten, betroffen machen in Richtung einer großen<br />
pädagogischen Bedürfnislage für die nicht gefestigte Persönlichkeit. Wenn ein Kind oder ein<br />
Jugendlicher während eines Wutanfalles einem Erwachsenen Obszönitäten an den Kopf wirft und mit oft<br />
unwahrscheinlicher Treffsicherheit auch die wundesten Stellen berührt, wird üblicherweise<br />
entsprechend ungehalten reagiert. Für den weiteren Fortbestand einer positiven zwischenmenschlichen<br />
Beziehung stellen solche Momente eine ernsthafte Belastung dar.<br />
Aus der heilpädagogischen und therapeutischen Sichtweise aber wissen wir, dass während der Phasen<br />
eines Wutanfalles grandiose Beschimpfungen und verbale Verletzungen oftmals den verzweifelten<br />
Versuch eines momentan völlig haltlosen Egos darstellen, das eigene nicht mehr integrierte Ich doch<br />
noch zu retten, und dass große Angst- und Unsicherheits-zustände den Anfall auslösten und jetzt weiterhin<br />
begleiten (Trieschmann 1977, S. 190ff.). Die Einbeziehung solcher theoretischen Begründungen - besser<br />
noch deren Verinnerlichung - während der Beschimpfungsphase im Ablauf eines typischen Wutanfalles<br />
könnten den Erzieher(innen) helfen, überlegt zu reagieren, sodass spätere pädagogische Prozesse nicht<br />
erschwert werden.<br />
102
Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
Die jungen Menschen, die in der heutigen Heimerziehung leben, haben ein Anrecht auf die adäquate<br />
Einflussnahme bezüglich ihrer Schwierigkeiten, denn die meisten von ihnen wären nicht im Heim, wenn<br />
sie nicht so wären, wie sie nun einmal sind. Solche pädagogischen Grundhaltungen können für die<br />
Heimerziehung aus vielen pädagogischen Modellen abgeleitet werden. Sie sind unerlässlich, weil sie den<br />
Rahmen des gesamten pädagogischen Vorgehens bilden; ohne sie könnten effektive differenzierte<br />
Interventionen kaum vorstellbar sein.<br />
Wir können innerhalb der Mitarbeiterschaft von Heimen häufiger beobachten, dass pädagogische<br />
Erfolge auch deshalb nicht eintreten, weil es an diesen Grundhaltungen fehlt und weil weitergehende<br />
Konzeptionen dann auch nicht verinnerlicht werden können. Zu oft wird spontan gehandelt, weil aktuelle<br />
Situationen dies erfordern, ohne auf die Sicherheit eines Grundkonzeptes zurückgreifen zu können.<br />
Somit erkennen wir: Es reicht nicht aus, den in Heimen lebenden Kindern und Jugendlichen positive<br />
Gefühle und Absichten entgegenzubringen. Um Absichten zu verwirklichen, bedarf es pädagogischer<br />
Einsichten und Qualifikationen. Um zu Beispielen solcher pädagogischer Qualifikationsmerkmale zu<br />
gelangen, wenden wir uns unterschiedlichen Modellen und Interventionsmöglichkeiten zu.<br />
Nicht das Symptom, sondern die Person steht im Mittelpunkt<br />
Im üblichen Erziehungsgeschehen zwischen Eltern und Kindern sind, auch wenn es sich um bewusste<br />
und gezielte Maßnahmen handelt, sehr häufig Merkmale der Verhaltenspädagogik oder spezieller der<br />
Erziehung durch Verstärkung vorzufinden. Ein Kind, das sich angepasst verhält, den Erwartungen<br />
entspricht und gute Leistungen erbringen kann, wird in der Regel dafür belohnt: durch Lob,<br />
Anerkennung, liebevolle Zuneigung oder durch andere in Aussicht gestellte oder realisierte<br />
Verstärker. Je mehr das Kind den Vorstellungen seiner Eltern entspricht, desto besser wird es ihm<br />
gehen, wenn wir es nicht beispielsweise mit neurotischen Familienmitgliedern zu tun haben. Aber auch je<br />
weniger das Kind den elterlichen Vorstellungen entspricht, desto schlechter und unglücklicher wird seine<br />
momentane oder gar permanente Position als zu erziehendes Kind<br />
sein. Sanktionierende Erziehungsmaßnahmen vom Liebesentzug über Fernsehverbot bis zur<br />
körperlichen Bestrafung können die Folge der Fehlanpassung darstellen. Das einigermaßen<br />
integrierte und in sich selbst gefestigte Kind wird in solchen Situationen einen Mittelweg finden können<br />
zwischen dem notwendigen Maß der Anpassung und dem Durchsetzen der eigenen Motive, um<br />
so seine Selbstständigkeit zu wahren und auch weiterentwickeln zu können. Bei Kindern mit nicht<br />
integrierter Persönlichkeit, bei solchen mit größeren Auffälligkeiten im Verhaltensbereich, also bei<br />
relativ unangepassten Kindern, kann eine nach verhaltenspädagogischen Maßnahmen ausgerichtete<br />
Erziehung zu schwerwiegenden weiteren Störungen im Persönlichkeitsbereich führen. Denn sie können,<br />
wenn sie dem Anpassungswunsch entsprechen wollen, kaum noch eigene Triebe und Motive<br />
verwirklichen und geraten so in die Gefahr einer völligen Unselbstständigkeit. Wenn sich solche<br />
Kinder nicht anpassen und weiterhin ihren eigenen Willen durchsetzen und ihre Auffälligkeiten<br />
ausleben, können die negativen Reaktionen der Umwelt schnell zu einer Verschärfung der schon<br />
bestehenden Problematik führen. Das Kind verhält sich nun vielleicht auch angepasst, indem es eher<br />
den negativen Erwartungshaltungen entspricht, sich also schlecht benimmt, weil es von aller Welt zu<br />
hören und /u spüren bekommt, dass es eben so ist. Möglicherweise möchte das Kind sich auch<br />
verändern, vermag dies aber nicht, weil es zu tief im Strudel des Negativen verhaftet ist, sich mit<br />
eigener Hilfe hieraus nicht mehr befreien kann und echte Hilfe von außen nicht vorliegt.<br />
Innerhalb der Heimerziehung begegnen wir häufig Kindern und Jugendlichen, die in dieser Hinsicht<br />
schon sehr viele leidvolle Erfahrungen vor der Heimaufnahme erleben mussten; sie sollten sich<br />
laufend ändern, konnten dem äußeren Erwartungsdruck aber nicht adäquat oder überhaupt nicht<br />
entsprechen. Auch die Erzieher(innen) im Heimbereich orientieren sich sehr häufig wie<br />
selbstverständlich an verhaltenspädagogischen oder verhaltenstherapeutischen Merkmalen<br />
innerhalb ihrer praktizierten Alltagspädagogik.<br />
Die Verhaltenstherapie als klinische Methode basiert in ihrer Anwendung auf einer genau<br />
analysierten Betrachtung der bisherigen Lerngeschichte. Ihre Realisierung setzt Eindeutigkeit,<br />
103
Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
unbedingte Konsequenz und klare Zielperspektiven voraus. Weder innerhalb der Familie noch im<br />
Alltag der Heimerziehung sind solche grundlegenden Voraussetzungen in der Regel gegeben. Sie<br />
können nur in seltenen Fällen unter großer Anstrengung und mit peinlich genau einzuhaltenden<br />
Absprachen erreicht werden. Somit erscheint die Orientierung an verhaltenstherapeutischen oder -<br />
pädagogischen Verfahrensweisen hinsichtlich des zu erzielenden Erfolges dann bedenklich, wenn<br />
entsprechende Rahmenbedingungen nicht existent wären. Wie im Rahmen der stationären<br />
Erziehungshilfe verordnete Verstärkerpläne langfristig erfolgreich realisiert werden konnten, zeigt<br />
der Praxisbericht über eine Wohngruppe auf: „Die Verhaltensbewertung hat sich als Methode zur<br />
Anregung von Selbstreflexion bei Jugendlichen bewährt und gehört nun fest zum pädagogischen<br />
Gesamtrepertoire" (Mauthe u.a. 2005, S. 344).<br />
Wie in jedem Erziehungsfeld sind auch innerhalb der Gruppenpädagogik und innerhalb der<br />
individuellen zwischenmenschlichen Einflussnahme die jungen Menschen im Heim auf<br />
Bestätigung und Lob angewiesen. Dies ist vom Grundsatz her nicht anzuzweifeln. Anzusprechen ist<br />
jedoch die Problematik, die bei Heimkindern mit unerwünschten Verhaltensformen und<br />
Eigenschaften zu beachten ist, wenn Veränderungen durch mehr oder weniger bewusste und gezielte<br />
verhaltenspädagogische Vorgehensweisen zu erreichen versucht werden. Dies wird wahrscheinlich<br />
auch weniger als wohlüberlegte Pädagogik, denn als natürliche Reaktion im erzieherischen Handeln<br />
verstanden.<br />
Neben den schon beschriebenen Merkmalen der negativen Festschreibung geraten die<br />
Erzieher(innen) so leicht in die Gefahr, ihr eigenes Verhalten in der Pädagogik vom jeweiligen<br />
Verhalten des Kindes abhängig zu machen; dadurch wird auch das erzieherische Handeln<br />
manipulierbar. Das Kind wird nun in erster Linie symptomorientiert wahrgenommen; es fehlt<br />
zwangsläufig die vorbehaltlose Annahme seiner Gesamtpersönlichkeit. Selbst wenn sich durch<br />
systematische Anwendung solcher verhaltensmodifizierender Praktiken positive Veränderungen<br />
einstellen, ist dennoch daran zu erinnern, dass zwar das Symptom verschwunden, die Ursache des<br />
Konflikts aber unbehandelt geblieben ist. Die Verhaltenstherapie ist wegen der mit ihr verbundenen<br />
Gefahrenmomente daher nur bei ganz spezifischen Symptomen anzuwenden, etwa bei ausgeprägten<br />
phobischen Reaktionsweisen. Deren Behandlung wäre dann aber nicht Aufgabe der<br />
Gruppenerzieher(innen), sondern die von speziellen Therapeut(inn)en. Angebracht scheinen<br />
verhaltenspädagogische Vorgehensweisen dann zu sein, wenn es sich um Kinder oder Jugendliche<br />
mit starker intellektueller Beeinträchtigung handelt und das fehlende intellektuelle Vermögen<br />
durch Trainingsprogramme kompensiert wird. Oft verblüffende Erfolge der Verhaltenstherapie<br />
können auch bei Bettnässern beobachtet werden, zum Beispiel durch die Inanspruchnahme der sogenannten<br />
Klingelmatratze. Vor allem bei Jugendlichen mit diesem Symptom erscheint dieses Vorgehen<br />
oft als Mittel der Wahl. Man müsste sich allerdings eingestehen, dass die grundlegende Ursache in<br />
jüngeren Jahren besser mit anderen Methoden hätte aufgearbeitet werden müssen, und man wird auch an<br />
spätere Symptomverschiebungen denken.<br />
Die Praxis der Heimerziehung scheint sich zu sehr an den gesellschaftlich vorgegebenen Realitäten und<br />
Gepflogenheiten der Erziehung zu orientieren. Verschiedene pädagogische Modelle konnten jedoch den<br />
Gegenbeweis antreten; die Einbettung sogenannter Realitäten ist bisweilen eher hinderlich als<br />
förderlich.<br />
Als klassischer Vertreter der institutionellen Therapie schwierigster Jugendlicher wird August Aichhorn<br />
angesehen. Ausgehend von der Tiefenpsychologie erkannte er die Ursachen von Störungen und<br />
Auffälligkeiten in falschen Erziehungs- und Milieueinflüssen während der frühen Kindheit. Besonders<br />
deutlich hob er die Notwendigkeit des Realitätsprinzips für das soziale Handeln in der Erziehung hervor.<br />
Die Auseinandersetzung mit der Realität, realitätsfähig zu werden, bedeutet letztlich, Triebeinschränkungen<br />
hinzunehmen. Aichhorns pädagogisches Konzept beinhaltete nun aber nicht, die<br />
Jugendlichen mit Realitäten zu konfrontieren. Im Gegenteil - diesen an ihren Vorgeschichten<br />
gescheiterten jungen Menschen begegnete er in der Anstalt mit Sympathie und Freundschaft, mit Milde<br />
104
Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
und Güte, weil der Verwahrloste „gerade die entgegengesetzten Bedingungen finden muss, als er sie in<br />
seiner früheren Umgebung hatte" (Aichhorn 1977, S. 180). „Mit der Devise ,absolute Milde und Güte'<br />
wurde den Zöglingen keinerlei Widerstand geboten, um damit zunächst den Teufelskreis der gewohnten<br />
Erlebnis- und Verhaltensweisen zu durchbrechen" (Adam 1999, S. 270). Hierzu werden positiv<br />
eingestellte Erzie-her(innen) benötigt, die in der Lage sind, positive Übertragungsverhältnisse<br />
herzustellen. Nicht äußerer Zwang, sondern neuartige, unverhofft positive Lebensumstände ermöglichen<br />
die realistische Einstellung zum Leben.<br />
Die Milieutherapie Bruno Bettelheims war geprägt von dem außerordentlich großen Respekt vor der<br />
Person und Würde eines jeden Kindes. „Dieser Respekt stellt eine Revolution nicht nur für die<br />
Psychotherapie, sondern für die Pädagogik überhaupt dar" (Becker 1994, S. 237f.). Damit verbunden ist<br />
eine unbeirrte Annahme und Akzeptanz des Kindes. „Den Kindern Sicherheit geben. Ihnen beweisen,<br />
dass man sie liebt, wie sie sind. Dass niemand sie für Monster hält, auch wenn sie brüllen, beißen,<br />
treten, stehlen (dagegen war Bettelheim gnadenlos gegenüber den bestohlenen Erwachsenen und warf<br />
ihnen die Versuchung der Kinder durch unachtsame Verwahrung ihrer Börsen vor). Ihnen deutlich<br />
machen, dass ihr Verhalten zwar akzeptiert wird, weil es ihnen offenbar Erleichterung verschafft, dass es<br />
aber nicht unbedingt geeignet ist, sie aus ihrer Einsamkeit herauszuführen. Und sie schließlich nach und<br />
nach überzeugen, dieses Verhalten als unnötige Abwehrmaßnahme aufzugeben und in die Gesellschaft<br />
zurückzukehren" (Sutton 1996, S. 320f.).<br />
Innerhalb der Milieutherapie von Bettelheim sollen die Kinder zunächst einmal erfahren, dass es sich<br />
lohnen kann zu leben. Insbesondere zu Beginn der Milieutherapie spielt deshalb die<br />
Bedürfnisbefriedigung eine ungemein wichtige Rolle. Durch diese kann - ähnlich wie im Säugling-<br />
Mutter-Verhältnis - eine Identifikation mit der erwachsenen Bezugsperson entstehen, die Bedürfnisse<br />
zulässt und deren Befriedigung fördert (Bettelheim 1983a und b). Die Milieutherapie unterscheidet sich<br />
daher in der Anfangsphase deutlich von gewöhnlichen Lebensumständen. Dennoch kann keineswegs<br />
von unrealistischen Einzelsituationen ausgegangen werden. Hier wird Wert gelegt auf die Klarheit und<br />
die Durchschaubarkeit der erlebten Handlungen; insbesondere sind die Beziehungen zwischen Kindern<br />
und Erwachsenen durch die Echtheit der Gefühle gekennzeichnet.<br />
„Indem Bettelheim Einheitlichkeit und Widerspruchsfreiheit als wesentliche Kriterien des<br />
therapeutischen Milieus herstellte und bewahrte, ist es ihm hervorragend gelungen, die Prinzipien der<br />
rational-emotiven Therapie zu verwirklichen. Aber auch denjenigen, die aufgrund äußerer Bedingungen<br />
gezwungen sind, in einer weniger rationalen Umwelt zu leben, empfiehlt er, sich durch rationale<br />
Gedanken von der Irrationalität zu befreien. Oft ist es nämlich nicht die Realität, sondern es sind die<br />
Gedanken über die Realität, die uns verrückt machen" (Otto 1993, S. 98).<br />
Bettelheim selbst ist ein kategorischer Gegner der Verhaltenstherapie. Während diese als<br />
Grundstrategie die systematische Veränderung menschlichen Verhaltens auf ein bestimmtes Ziel hin<br />
meint, wählt Bettelheim einen ganz anderen Weg. Die kleinen Patienten sollen, wenn sie sich verändern,<br />
selbst vorher zu der Einsicht gelangt sein, dass es lohnenswert sein kann, das Verhalten, ja das ganze<br />
Leben zu verändern. Zu dieser Einsicht kann das Kind aber nur selbst kommen, vor allem durch die<br />
Orientierung an der reifen Erzieherpersönlichkeit, die ihr eigenes Erwachsensein bejaht und durch<br />
Einfühlungsvermögen und Echtheit im Verhalten Identifikationsprozesse fördert. Es werden daher keine<br />
Verhaltensziele in die Kinder hineinprojiziert; sie sollen selbst ihren Weg finden, die Erzieher(innen)<br />
unterstützen sie dabei mit vollem Engagement (Bettelheim 1983b, S. 310ff.).<br />
Aufgrund derselben Einsicht empfiehlt Bettelheim Eltern, bei der Erziehung ihrer Kinder von Strafen<br />
abzusehen. Nicht das schlechte Gewissen und die Angst vor Bestrafung sollte das Kind zu positiven<br />
Verhaltensformen bringen, sondern die Selbstdisziplin. Diese könne aber nur verinnerlicht vorliegen,<br />
wenn das Kind sich in seinem Handeln an Bezugspersonen orientieren kann, deren eigenes Verhalten<br />
nachahmenswert ist. „Daher sollten sich Eltern hinsichtlich der Disziplin zum Ziel setzen, die<br />
Selbstachtung ihres Kindes zu fördern und diese so stark und elastisch zu machen, dass sie das Kind<br />
105
Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
beständig davon abhält, etwas Unrechtes zu tun" (Bettelheim 1987, S. 127). Innerhalb der Milieutherapie<br />
kommt der Persönlichkeit der Erzieher(innen) eine entscheidende Bedeutung zu. Zu den oft chaotisch<br />
anmutenden inneren Strukturen der Kinder bildet diese ein Gegengewicht. Denn deren innere Struktur<br />
hat nicht ungeordnet oder chaotisch zu sein, sondern geordnet, nachvollziehbar und vor allem für<br />
positive Übertragungen geeignet.<br />
In einem engagiert angelegten Forschungsbericht hat Peter Bieniussa den mangelnden Stellenwert<br />
tiefenpsychologisch orientierter Konzepte innerhalb der Heimerziehung beklagt und sieht hierin eine<br />
wesentliche Ursache für pädagogische Misserfolge. Trotz zahlreicher vorhandener psychoanalyti-scher<br />
Modelle sei bislang eine Übertragung auf den Heimbereich nur in Ausnahmefällen gelungen. Die<br />
Erzieher(innen) würden in ihrem Alltagshandeln den Verhaltensweisen der Kinder und Jugendlichen<br />
diffuse und unbewusste Reaktionen gegenüberstellen. Die Selbstreflexion sowohl der Minderjährigen<br />
als auch der Erzieher(innen) werde durch die Institution Heim und ihrer vor allem durch „Anpassung"<br />
geprägten Leitidee weitgehend verhindert. Damit könnten auch die unbewussten Motive nicht zur<br />
Erklärung von Störungen im Verhaltensbereich erkannt und zur weiteren Persönlichkeitsentwicklung<br />
genutzt werden (Bieniussa 1986)……..<br />
106
Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
Selbstlernzeit: Aufgabe „Gruppenpädagogik“<br />
Lesen Sie nachstehenden Text und bearbeiten Sie dann die folgenden Aufgabenstellungen:<br />
a) Erläutern Sie mit eigenen Worten, was die Gruppe eines Kinderheimes kennzeichnet und was sie<br />
von anderen Gruppen unterscheidet. Veranschaulichen Sie Ihre Ausführungen mit knappen aber<br />
konkreten Beispielen. (10 Punkte)<br />
b) Stellen Sie dar, wie Sie als pädagogische Fachkraft unterstützen können, dass die Gruppe, in der<br />
Sie arbeiten, zu einem lohnenden Lebensort wird. Beziehen Sie sich dabei auf Ihre<br />
Praxiserfahrungen bzw. entwickeln Sie knappe aber konkrete Beispiele. (10 Punkte)<br />
Abzugeben:<br />
- ein Titelblatt mit Ihrem Namen und der Aufgabenbezeichnung „Aufgabe Gruppenpädagogik“<br />
- etwa 2 DIN A 4 Seiten zu Aufgabe a) (formale Anforderungen beachten)<br />
- etwa 2 DIN A 4 Seiten zu Aufgabe b) (formale Anforderungen beachten)<br />
- Alle Blätter links oben zusammentackern und keine Hüllen und keine Hefter/Ordner verwenden!<br />
Punkte Note Punkte Note Punkte Note<br />
20 1+ 14 3+ 08 5+<br />
19 1 13 3 07 -06 5<br />
18 1- 12 3- 05 5-<br />
17 2+ <strong>11</strong> 4+ 04 - 00 6<br />
16 2 10 4<br />
15 2- 09 4--<br />
Hartwig, Luise u.a. (Hg.): „Gruppenpädagogik in der Heimerziehung“,<br />
IGFH-Eigenverlag, 1. Auflage, Frankfurt am Main, 2010, S. 14 ff:<br />
Heimgruppe als „lohnender Lebensort" -„jenseits von Familie und Anstalt"<br />
Kinder und Jugendliche, die - aus welchen Gründen auch immer - nicht bei ihren Eltern/in ihrer Familie<br />
leben können, brauchen alternative Lebensorte. Dies können andere Familien (Pflegefamilien;<br />
familienanaloge Settings) oder professionelle Gruppen-Settings (Heimerziehung) sein.<br />
Derzeit leben über 70.000 Kinder und Jugendliche in der Heimerziehung. Ein erheblicher Teil von<br />
ihnen lebt in Regel- oder Normalangeboten, deren Ziel es ist, (pädagogische) Lebensgemeinschaften<br />
auf (längere) Zeit zu bilden und ausfallende elterliche Erziehungsleistungen zu kompensieren. Anspruchsgrundlage<br />
ist, dass die Eltern nicht in der Lage sind, die erforderlichen Erziehungsleistungen<br />
selbst zu erbringen und dadurch das Wohl ihres Kindes nicht gewährleistet ist. In der Regel gehen der<br />
Unterbringung des Kindes oder des Jugendlichen in der Heimgruppe ambulante Hilfen in der Familie<br />
voraus. Die intervenierende Form der Fremdplatzierung im Heim gilt als „Ultima Ratio", da andere<br />
Hilfen (auch Vollzeitpflege) als nicht (mehr) ausreichend oder angemessen zur Sicherung des<br />
Erziehungsauftrags der Eltern gesehen werden.<br />
Wir haben den Begriff „Gruppe als lohnender Lebensort", der vor 25 Jahren im Kontext der Bremer<br />
Heimkonferenz geprägt wurde, bewusst wieder aufgenommen. Denn an allererster Stelle ist<br />
Heimerziehung und sind Heimgruppen dadurch legitimiert, dass sie Kindern und Jugendlichen<br />
alternative Lebensorte zu nicht (mehr) erziehungsfähigen Familien bieten, und das sollten in ihrem<br />
Interesse und im Interesse der Gesellschaft lohnende Lebensorte sein. Die Programmatik dieses<br />
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Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
Begriffes hat sich nicht überlebt - aber die Chancen zu einer zeitgemäßen Ausfüllung dieses Zieles<br />
müssen immer wieder, den aktuellen Möglichkeiten entsprechend, ausgelotet und genutzt werden. Die<br />
folgenden Thesen wollen Anhaltspunkte für eine solche Diskussion bieten.<br />
Zentrales Ziel einer Heimunterbringung ist es, für die dort lebenden Kinder und Jugendlichen<br />
einen schützenden, unterstützenden, fördernden, eben lohnenden Lebensort zu schaffen, wenn die<br />
eigene Familie als Lebensort wegfällt. Die Heimgruppe stellt damit eine gesellschaftlich<br />
organisierte Alternative zur Familienerziehung dar, in der das Recht der jungen Menschen auf<br />
Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit (vgl. § l Abs.<br />
l SGB VIII) eingelöst werden soll.<br />
Die zentrale Zielsetzung der Jugendhilfe ist auch das oberste Ziel der Erziehung in Heimgruppen. Das<br />
heißt, die zentralen Entwicklungsaufgaben des Kindes- und Jugendalters bis zur Herausbildung der<br />
eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit gilt es mithilfe der<br />
Sozialisationsinstanz (Heim-)Gruppe zu bewältigen, da die Sozialisationsinstanz Familie dazu (zeitlich<br />
befristet) nicht in der Lage ist. Die Begriffe der Erziehung zu Eigenverantwortlichkeit und der<br />
Gemeinschaftsfähigkeit als oberste Ziele des KJHG und als postuliertes Recht der jungen Menschen<br />
charakterisieren auch (und gerade) das Spannungsfeld der Erziehung in Heimgruppen.<br />
Das Ziel der „Eigenverantwortlichkeit" hat dabei eine besondere Bedeutung, da gerade Heimjugendliche<br />
aufgrund des (häufigen) Ausfalls der eigenen Familie als Rückhalt trotz besonders belastender<br />
Startbedingungen eine sehr frühe Eigenständigkeit abverlangt wird. Diese wird zunehmend schon vor<br />
Erreichen der Volljährigkeit vorausgesetzt. Es geht hierbei um das Ziel der frühzeitigen<br />
Verselbstständigung, mit Blick auf die Reduzierung der Kosten in der stationären Erziehungshilfe.<br />
Diese früh von den Jugendlichen verlangte Eigenständigkeit erlaubt keine großen Schwächen, da<br />
Heimkinder keine Rückversicherung im Sinne einer Rückkehroption in die Gruppe haben.<br />
Das Ziel „Gemeinschaftsfähigkeit" kann in besonderer Weise in einer Gruppe als Lebensort gelernt<br />
werden, da hier die gemeinsame Gestaltung des Alltags die sozialen Kompetenzen der Kinder und<br />
Jugendlichen fördert und die Jugendlichen im Alltag lernen, sich mit verschiedenen Persönlichkeiten<br />
auseinanderzusetzen.<br />
Vor diesem Hintergrund ist die Wahl einer Heimgruppe als alternativer Lebensort bei Ausfall der<br />
Eltern als Erziehungspersonen weder pädagogisch noch gar therapeutisch besonders<br />
begründungspflichtig. Es gibt zahlreiche Gründe, warum Eltern nicht in der Lage sind, angemessen für<br />
ihre Kinder zu sorgen. Die Kinder haben zunächst keinen Anteil daran; sie entwickeln „Auffälligkeiten"<br />
i.d.R. erst infolge der Unterversorgung und mangelnden Erziehung bzw. Abwesenheit der Eltern. Sie<br />
bedürfen eines sicheren Lebensortes mit verlässlichen Erwachsenen, um entstandene<br />
Sozialisationsdefizite nachzuholen und sich altersgemäß entwickeln zu können.<br />
Die Gruppe als Lebensort schafft neue Beziehungsangebote jenseits des familialen Beziehungsgefüges,<br />
das für die Kinder bereits (in Teilen) gescheitert ist. Neue Rollen jenseits von Mutter und Vater werden<br />
durch soziale Fachkräfte angeboten. Ebenso werden die Rollen von Geschwistern durch die Orientierung<br />
an Gleichaltrigen im Alltag ergänzt. Die Gruppe als Lebensort schafft die Voraussetzung für ein<br />
Leben in der Gemeinschaft im Sinne einer „Positiven Peerkultur" (Opp 2008, S. 34). Gestaltete soziale<br />
Beziehungen in der Gruppe können dazu beitragen, der Angst vor Beziehungsverlusten der Jugendlichen<br />
konstruktiv zu begegnen. Erfahrene Beziehungsabbrüche in der Familie und im sozialen Nahraum der<br />
Kinder fördern ihre Vereinzelung. Je individueller und eigenwilliger die Überlebensstrategien der<br />
Jugendlichen sind, desto schwieriger kann das Leben in der Gruppe werden und desto größer wird die<br />
Herausforderung für die Professionellen bei der Gestaltung der Prozesse in der Gruppe.<br />
Die häufig gestellte Frage, ob ein junger Mensch „gruppenfähig" ist, ist Ausfluss einer individualisierten<br />
Blickrichtung in den Hilfen zur Erziehung, die gleichzeitig in individueller Zuschreibung - nicht nur von<br />
Bedarfen, sondern auch von Eigenschaften - hochgradig stigmatisierend wirkt. In pädagogischer<br />
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Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
Wendung muss diese Frage lauten: Wie können pädagogisch gestaltete Gruppen in der Heimerziehung<br />
(im Unterschied zu frei gewählten und z.T. fluktuierenden Gruppen in der Freizeit) ihre Fähigkeit<br />
ausbauen, auch sehr negative Lebenserfahrungen von Kindern und Jugendlichen hilfreich aufzufangen -<br />
eine Frage nach dem Konzept, nach den pädagogischen Wertvorstellungen, nach den<br />
Handlungsstrategien, aber auch nach den Rahmenbedingungen von Heimgruppen. Gruppenfähigkeit ist<br />
eine Voraussetzung für die Sozialintegration junger Menschen in die Gesellschaft. Insoweit sind<br />
Rahmenbedingungen für Gruppen in der Erziehungshilfe zu schaffen, die es den jungen Menschen<br />
ermöglichen, sich als Mitglied einer Gruppe zu begreifen und zugleich als Individuum wirksam zu sein.<br />
„Gruppen sozialisieren und individualisieren also gleichermaßen." (Treeß 2002, S. 69)<br />
Heimgruppen müssen lebensweltlich orientiert sein, da sie den jungen Menschen nicht nur im<br />
Rahmen eines speziellen pädagogischen Settings begegnen (Beratungsgespräch,<br />
Gruppenstunde), sondern deren Lebenssituation umfassend bestimmen und gestalten.<br />
Heimerziehung ist (neben der Unterbringung in Pflegefamilien) die Erziehungshilfe mit dem<br />
umfassendsten Erziehungsanspruch. Das Kind oder der/ die Jugendliche verliert sein Zuhause als<br />
Lebensort. An die Stelle der Familie treten die Heimgruppe und ihre Betreuerinnen und Betreuer. Damit<br />
wird der Alltag des Kinder oder des/der Jugendlichen vom Familienalltag zum Gruppenalltag.<br />
Familienregeln werden zu Gruppenregeln; Familienrituale zu Gruppenritualen; Familienkultur zur<br />
Gruppenkultur usw. Auch wenn der fachliche Auftrag einer lebensweltorientierten Jugendhilfe an den<br />
Bedingungen des familialen Alltags anknüpft, diese bearbeitet und weiterentwickelt, bietet der Lebensort<br />
Gruppe ein neues Bedingungsgefüge für die Gestaltung des Alltags der Kinder und Jugendlichen.<br />
Insoweit kann sich die Betreuung in der Gruppe nicht auf definierte Einzelprobleme des jungen<br />
Menschen oder seiner Familie beschränken, sondern muss im Rahmen des Settings Heimgruppe den<br />
gesamten Lebens- und damit Sozialisationszusammenhang der jungen Menschen gestalten. Seine<br />
Lebenssituation in der Gruppe und nicht die Eigendynamik der Institution bestimmen den Alltag der<br />
Gruppe.<br />
Jede Aufnahme eines neuen Jugendlichen in eine Gruppe bleibt nicht ohne Einfluss auf die anderen<br />
Jugendlichen in der Gruppe und deren Ziele und Erwartungen an die Gruppe. Hilfeplanung im Kontext<br />
Heimerziehung muss daher wesentlich stärker eine gruppenpädagogische Komponente erhalten, in der<br />
nicht nur der erwartete Nutzen für den einzelnen „Neuzugang" reflektiert und antizipiert wird, sondern die<br />
gleichen Überlegungen auch für die Gruppe ((Gruppenmitglieder) angestellt werden. Jede Neuaufnahme<br />
ist auch ein Eingriff in deren Lebensalltag, verbunden mit Chancen, aber auch mit Risiken und Gefahren.<br />
Gruppenleben und Gruppenpädagogik ist das regelhafte systemische Zusammenwirken von<br />
Menschen (Erzieherinnen und Jugendlichen) (Kalcher 2002, S. 82). Professionelle soziale Arbeit in der<br />
Heimerziehung thematisiert und reflektiert dieses Zusammenwirken unter systemischer Perspektive. Bei<br />
Neuaufnahmen befindet sich im Fokus des Jugendamtes stets der/die unterzubringende Jugendliche<br />
(und sein/ihr Beziehungs- und Erfahrungshintergrund). Das Gruppenteam muss nun seinerseits die<br />
bestehende Dynamik der Gesamtgruppe als wesentliches Moment in die Hilfeplanung einbringen, um<br />
den Bedürfnissen und Erwartungen der „Neuaufnahme" einerseits und der Gruppenmitglieder<br />
andererseits gerecht zu werden. Wenn allerdings ökonomische Zwänge eine solche<br />
Entscheidungsfindung überlagern, geraten die positiven Gestaltungsmöglichkeiten von<br />
Gruppenpädagogik nicht selten in den Hintergrund.<br />
Sollen Heimgruppen lohnende Lebensorte sein - im Unterschied zum Verständnis von<br />
Heimgruppen als Behandlungsorten, steht das Zusammenleben von Kindern und<br />
Jugendlichen im Zentrum und nicht die Bearbeitung von spezifischen Traumata der jungen<br />
Menschen (diese muss ggf. als Annexleistung erfolgen).<br />
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Es geht in Heimgruppen nicht vorrangig um Behandlung oder Therapie, sondern um die Gestaltung<br />
eines pädagogisch begleiteten (Erziehungs-)Alltags. Dazu gehören sämtliche Reproduktionsaufgaben<br />
wie Kochen, Waschen, Putzen und Garten pflegen. Es geht um die „Widrigkeiten eines gelingenden Alltags"<br />
(Thiersch), die es in der Gruppe zu bewältigen gilt.<br />
Für spezielle Hilfen (Ärzte/Ärztinnen oder Therapeutinnen) wird - so sie gebraucht werden - genau wie<br />
von Familien auf die allgemeinen Versorgungsstrukturen des Gemeinwesens zurückgegriffen. Die<br />
sozialen Fachkräfte agieren als Begleiter im Alltag. Sofern diese Begleitung nicht ausreicht, lassen sie<br />
sich entweder selber zu spezifischen Themen fortbilden, um die Begleitung des Kindes oder des<br />
Jugendlichen zu qualifizieren, oder sie organisieren eine Therapie für das Kind bei einem<br />
(niedergelassenen) Therapeuten oder einer entsprechenden Einrichtung als zusätzliches ambulantes<br />
Angebot im Alltag. Nicht der Lebensort des Kindes wird zur Spezialeinrichtung, sondern die spezielle<br />
Hilfe wird an den Alltag angegliedert.<br />
Schon in den 80er-Jahren waren die Ziele der Heimreform u.a. Entinstitutionalisierung,<br />
Entspezialisierung und Dezentralisierung. Allerdings stand dabei die gleichzeitige Professionalisierung<br />
der Fachkräfte und Individualisierung der Hilfen im Mittelpunkt (vgl. hierzu Wolf 1993, S. 12-64).<br />
Gestaltung der Heimerziehung als Lebensort bedeutet Verzicht auf Massierung „spezifischer<br />
Diagnosen" in einer Heimgruppe. Spezial-gruppen oder Intensivgruppen für Kinder und<br />
Jugendliche mit spezifischen Problemlagen stehen dem Gedanken der Heimerziehung als<br />
lohnender Lebensort entgegen und leisten einer Stigmatisierung der Bewohnerinnen<br />
Vorschub.<br />
Defizite in der Erziehungsleistung der Eltern führen zu sehr vielfältigen Entwicklungsbeeinträchtigungen<br />
bei den Kindern und Jugendlichen. Diese Beeinträchtigungen haben wiederum vielfältige<br />
„Auffälligkeiten" bei den Kindern zur Folge. Organisiert man die Intensivgruppe anhand dieser<br />
„Auffälligkeiten", entsteht die Gefahr der Problempotenzierung, der Stigmatisierung und der Isolation. So<br />
kann z.B. das Erleben häuslicher Gewalt zu Magersucht und Kriminalität oder sexueller Devianz führen.<br />
Entsprechende Spezialgruppen für Magersüchtige, für Intensivtäter oder für Sexualstraftäter erheben das<br />
therapeutische Programm zur strukturierenden Maßnahme im Alltag. Der Lebensort wird so zum<br />
Behandlungsort.<br />
Die Bedeutung und Notwendigkeit von Gruppen mit einem höheren Betreuungsbedarf soll damit<br />
nicht grundsätzlich infrage gestellt werden. Für einzelne Kinder mit extrem traumatischen Erfahrungen<br />
oder ausgeprägten psychiatrischen Krankheitsbildern können intensivere Maßnahmen (vorübergehend)<br />
erforderlich sein. Dies gilt z.B. für Kinder und Jugendliche nach sexuellem Missbrauch oder psychisch<br />
kranke Jugendliche. Hier können integrierte, auf den Einzelfall abgestimmte Betreuungssettings im<br />
Rahmen der Gruppenbetreuung angemessen und notwendig sein.<br />
Heimgruppen als lohnende Lehensorte für Kinder und Jugendliche bieten die Chance, dass<br />
diese voneinander (von ihren Stärken und Schwächen) lernen und auf diese Weise alternative<br />
Handlungsoptionen für sich selbst kennen lernen.<br />
Es ist davon auszugehen, dass fast alle Kinder/Jugendliche in Heimgruppen in erheblichem Umfang<br />
negative Erfahrungen in ihrem bisherigen Leben gemacht haben. Dies kann das Erleben von materieller<br />
Not, Vernachlässigung, Misshandlung, kranker bzw. hilfloser Eltern sein. Die Verhaltensweisen, die die<br />
Kinder aufgrund dieser Erfahrungen entwickeln, sind vielfältig und gesellschaftlich sehr unterschiedlich<br />
sanktioniert. Insoweit birgt die Unterbringung von Kindern mit sehr unterschiedlichen „Auffälligkeiten"<br />
eine große Chance, weil die Kinder trotz ihrer eigenwilligen Überlebensstrategien vergleichbar prekäre<br />
Lebenslagen in ihren Herkunftsfamilien erlebt haben. Diese Erfahrung kann für die Gestaltung von<br />
Gruppenprozessen genutzt werden. Sie bietet den Kindern und Jugendlichen eine Option für den<br />
Umgang miteinander.<br />
<strong>11</strong>0
Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
Die Erfahrung von Gewalt und Unterversorgung in der Herkunftsfamilie begründet in der Regel erst den<br />
Anspruch auf einen Platz in einer Heimgruppe. Oft genug gehen misslungene ambulante Versuche<br />
voraus. Heimgruppen dürfen diese Erfahrungen nicht leugnen, müssen ihnen aber andere Erfahrungen<br />
und Handlungsoptionen entgegenstellen. Hierzu muss und kann die Heimgruppe als<br />
Lebensgemeinschaft gleichermaßen Betroffener nutzbar gemacht werden.<br />
Heimgruppen als Lebensform von Gleichaltrigen bewirken eine tendenziell stärkere<br />
Orientierung der Kinder und Jugendlichen auf die Peergroup. Diese wird (neben den Bezügen<br />
zu den Fachkräften in der Gruppe) zum zentralen pädagogischen Medium.<br />
Ab einem bestimmten Alter prägt die Peergroup die Sozialisation von Kindern und Jugendlichen<br />
entscheidend mit. Schon bei Kindern im Grundschulalter ist dieses zu beobachten, spätestens im Alter<br />
von zehn Jahren nimmt die Bedeutung von Gleichaltrigen bei der Gestaltung des Alltags deutlich zu und<br />
schließlich überlagert die Orientierung an der Peergruppe im Jugendalter die Orientierung an<br />
Erwachsenen. Solche Bedingungen sollten im Rahmen der l leimgruppe besonders reflektiert werden, da<br />
sich hier eine innere Peergroup (Wohngruppe) und verschiedene äußere Peergroups (Freundeskreis,<br />
Cliquen) bilden können (Opp/Teichmann 2008, S. 175 ff.). Die Erfahrungen in der stationären Erziehungshilfe<br />
deuten allerdings daraufhin, dass die Heimgruppe vorübergehend der zentrale Ort für die<br />
Gestaltung der Peerbeziehungen ist, da die Kinder und Jugendlichen vielfältige Misserfolge aus<br />
anderen Gruppen mitbringen.<br />
Die Aufgabe der Pädagoginnen und Pädagogen in der Heimerziehung ist es, die Prozesse des<br />
Aufbaus sozialer Beziehungen unter den Kindern und Jugendlichen zu fördern und als soziale<br />
Erfahrungsräume zu gestalten. Damit wird eine zentrale Voraussetzung zur Gemeinschaftsfähigkeit<br />
geschaffen und der Aufbau von Sozialkompetenz als zentrale Entwicklungsaufgabe des Individuums<br />
in den Mittelpunkt der pädagogischen Arbeit gestellt.<br />
Gruppen - auch Heimgruppen - können ihre Bildungs-, Sozialisations- und Integrationsfunktion nur<br />
dann positiv entfalten, wenn es ihnen gelingt, dass sich die Mitglieder zugehörig fühlen können und<br />
ein Grundmaß an Zufriedenheit dadurch erlangen, dass sie sich ihrer Bedeutung für andere sicher<br />
sein können. „Nur so kann ein Individuum für die Gruppe das beitragen, was es letztlich von der<br />
Gruppe braucht: Vertrauen, Geborgenheit, Akzeptanz, Solidarität und Genuss, aber auch die<br />
Herausforderung, an sich selbst und dem Gelingen der Gemeinschaft zu arbeiten." (Treeß 2002, S.<br />
69)<br />
Heimgruppen sind in der Regel für den einzelnen Jugendlichen (zumindest zu Beginn des<br />
Heimaufenthaltes) gekennzeichnet durch eine Zwangsmitgliedschaft. Diese muss zunächst<br />
umgewandelt werden in einen freiwilligen Zugehörigkeitswunsch. Daher sind Gruppenprozesse<br />
auf eine gewisse Mindestdauer angelegt.<br />
Die überwiegende Zahl der Kinder und Jugendlichen hat nur wenig Einfluss darauf, dass für sie<br />
eine Heimunterbringung notwendig wird. Oft ist - trotz bestehenden Wunsch- und Wahlrechts -<br />
auch der Einfluss auf die Wahl einer Gruppe begrenzt (z.B. durch das Angebot freier Plätze, Standort<br />
der Gruppe, aber auch Beteiligungsschwächen des Jugendamtes etc.). Umso mehr verlangen<br />
Prozesse der Integration neuer Jugendlicher in die Gruppe eine besondere Aufmerksamkeit.<br />
Es geht um die Übernahme und Gestaltung von Rollen in der Gruppe. Solche Prozesse nehmen<br />
Zeit in Anspruch. Von einer „stabilen Gruppe" ist gemeinhin dann die Rede, wenn sie über eine<br />
längere Zeit zusammenlebt und so etwas wie eine corporate identity (Gruppenzugehörigkeitsgefühl)<br />
entwickelt. Die Voraussetzung für den Erfolg einer Heimgruppe (Dauerhaftigkeit) ist gleichzeitig<br />
ein Beleg ihres Erfolges. Mädchen und Jungen in stationären Erziehungshilfen haben bereits in einer<br />
Vielzahl von Gruppen Schwierigkeiten gehabt bzw. sind aus ihnen ausgegrenzt worden<br />
<strong>11</strong>1
Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
(Kindergarten, Schule, Tagesgruppen). Insoweit gilt es nun, die Gruppe als Lebensort gelingen zu<br />
lassen, um diese notwendige Sozialisationserfahrung nachzuholen.<br />
In Heimgruppen und Wohngemeinschaften geht es um Gruppenerziehung, um soziales und<br />
sachbezogenes Lernen in alters- und in der Regel geschlechtsgemischten Gruppen, um Leben in<br />
„gerechten Gemeinschaften" (Stork 2007), um für die Gesellschaft gerüstet zu sein.<br />
Hierzu ist aus heutiger Sicht anzumerken, dass Heimgruppen nur noch selten Gruppen sind, die über<br />
einen längeren Zeitraum zusammenleben und einen gemeinsamen Lern- und Erfahrungsprozess<br />
durchmachen. Dies mag vor 20 Jahren noch häufiger der Fall gewesen sein. Heute strebt<br />
Heimerziehung (wohl vorwiegend aus ökonomischen Gründen) zu möglichst kurzen Aufenthaltsund<br />
Unterbringungszeiten. Außer in Fällen, wo Heimerziehung Ausfallbürge für kurzfristig<br />
ausfallende Eltern (Krankheit o.Ä.) ist, ist eine kurzzeitige Unterbringung im Heim aber eher einem<br />
Scheitern gleichzusetzen. „Reparaturarbeiten" an Verhaltensproblemen sind (zumal in kurzer Zeit)<br />
nicht möglich. Für die Erfahrung von Gruppe als Lern- und Entwicklungsraum braucht es in der<br />
Regel ein längeres Zusammenleben.<br />
Die Frage der Gruppenbildung und Gruppenzusammensetzung in Heimgruppen ist eine<br />
Schlüsselfrage, an der es sich erweist, ob und wie es gelingen kann, die Gruppe als lohnender<br />
Lebensort zu konstituieren.<br />
Für die Gestaltung der Gruppe als Lebensort sind Prozesse der Gruppenbildung und -<br />
Zusammensetzung zentral. Grundlegende Aspekte hierbei können sein: Wie ist die Rollenverteilung<br />
in der Gruppe Wie viele Jungen und Mädchen sind da Welche Altersstreuung gibt es Treten<br />
bestimmte Problemlagen gehäuft auf Hat die Gruppe zeitliche Kontinuität Diese Fragen müssen in<br />
Heimgruppen im Voraus konzeptionell durchdacht und dann in der jeweils konkreten Situation<br />
konkretisiert werden. Hierin stellt sich eine, unter Umständen sogar die zentrale pädagogische<br />
Herausforderung.<br />
Hier stellt sich - ungeachtet der gerade referierten Zwangskontexte - die Anforderung, das Wunschund<br />
Wahlrecht von Eltern und Kindern im Rahmen der Hilfeplanung zu stärken. In diesem Prozess<br />
besteht die realistische Chance, im den Bedürfnissen (Wünschen) der Jugendlichen selber<br />
anzuknüpfen. Sie sollten bei der Wahl des neuen Lebensortes und der einzelnen Gruppe mit<br />
entscheiden können. Ebenso sollten die sozialen Fachkräfte der Gruppe diese als Ganzes im Blick<br />
haben, wenn es um Neuaufnahmen geht. Hierbei stellt die Zusammensetzung der Gruppe eine<br />
Schlüsselsituation dar.<br />
Die besondere gruppendynamische Herausforderung der Fachkräfte in Heimgruppen besteht<br />
darin, dass die Prozesse der Gruppenbildung keinen gemeinsamen Anfang und kein<br />
gemeinsames Ende haben. Durch die kontinuierliche Aufnahme und Entlassung von<br />
Kindern und Jugendlichen wird die Gruppenbalance immer wieder gestört.<br />
Für den Aufbau eines stabilen Gruppengefüges braucht es Zeit. Die Heimgruppe ist nach<br />
Gesetzmäßigkeiten organisiert, die kaum mit denen in einer Familie vergleichbar sind. Das Einleben<br />
in der Gruppe bis zur Herausbildung einer eigenen Identität als Gruppenmitglied auf Zeit verlangt<br />
von den Kindern und Jugendlichen eine hohe Anpassungsleistung. Häufig bildet sich in den<br />
Gruppen ein „harter Kern" von Kindern und Jugendlichen heraus, die sich mit der Gruppe als<br />
Lebensort identifizieren. In der Regel haben genau diese Jugendlichen auch eine längere zeitliche<br />
Perspektive in der Gruppe. Jugendliche im Randbereich der Gruppe, die häufig keine gesicherte<br />
Perspektive in der Gruppe haben, können in die Rolle der „schwarze Schafe" gedrängt werden.<br />
Mit jeder einzelnen Neuaufnahme und z.T. auch bei Entlassungen gibt es Re-Inszenierung von<br />
Positions- und Abgrenzungskämpfen in der Gruppe. Die Dynamik der Belegung ist strukturell<br />
ständig auf eine Schwächung des Lebensortes der Gruppe ausgelegt, da die Kostenträger stets auf<br />
<strong>11</strong>2
Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
eine Entlassung der „starken" und „Selbstständigen" drängen, die als Modell für neue Jugendliche<br />
dann ausfallen.<br />
Der spezifische Charakter einer Heimgruppe ist durch den Schichtdienst professioneller<br />
Pädagoginnen geprägt. Der (in der Regel) arbeitsrechtlich begründete Schichtdienst stellt<br />
einerseits ein strukturelles Handicap der Heimgruppe dar, bietet auf der anderen Seite aber<br />
auch eine strukturelle Chance für die Kinder und Jugendlichen.<br />
Das Handicap besteht aus den schwer zu gestaltenden Informationsflüssen. Der im Verhältnis zu<br />
familienanalogen Settings begrenzten Erreichbarkeit des „Bezugserziehers" oder der<br />
„Bezugserzieherin", der Schwierigkeit, Verbindlichkeit im Umgang mit Absprachen zu erreichen<br />
und bei der Vielfältigkeit von Erziehungsvorstellungen der verschiedenen Erzieherinnen ein von<br />
allen getragenes pädagogisches Gesamtkonzept umzusetzen.<br />
Die Chance besteht in der wachsenden Bedeutung des Eigenlebens der Gruppe und damit der<br />
sozialen Beziehungen der Jugendlichen untereinander. Damit geht einher, dass die Abhängigkeit der<br />
Jugendlichen von einzelnen Erwachsenen sinkt. Zudem bieten die Vielfältigkeit von<br />
Erziehungsvorstellungen der pädagogischen Betreuerinnen und Betreuer breite Orientierungsmöglichkeiten<br />
für die Kinder. Das Team der Pädagoginnen und Pädagogen bietet den Kindern und<br />
Jugendlichen eine Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Erwachsenen jenseits (für die Kinder<br />
bereits gescheiterter) familialer Rollenmuster.<br />
Fazit<br />
Nach wie vor lebt die Mehrheit von Kindern und Jugendlichen, die nicht bei ihren Eltern leben<br />
können, in Heimerziehung und hier wiederum zum allergrößten Teil in Regel- oder Normalgruppen<br />
(in Absetzung von Intensiv- oder Spezialgruppen). Angesichts dieser Tatsache ist nur wenig<br />
nachvollziehbar, warum dieses pädagogische Setting keine größere Rolle in der Fachdiskussion<br />
spielt. Da auch auf absehbare Zeit die Heimerziehung und speziell die Heimgruppe als Lebensort für<br />
Kinder und Jugendliche nicht an Bedeutung verlieren wird, ist es an der Zeit, darüber nachzudenken,<br />
ob und welche fachlichen Entwicklungen in der Gruppenpädagogik notwendig sind, um den<br />
Ansprüchen heutiger Fremdunterbringung gerecht zu werden. Der Diskussionsbedarf ist immens…...<br />
<strong>11</strong>3
Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
Selbstlernzeit: Aufgabe „Bildungsverständnis“<br />
Lesen Sie nachstehenden Text und bearbeiten Sie dann folgende Aufgabenstellungen:<br />
a) Erläutern Sie mit eigenen Worten das Bildungsverständnis der Heimerziehung, wie es aus dem<br />
Grundlagentext hervorgeht. Ergänzen Sie dieses Bildungsverständnis durch eigene Vorstellungen.<br />
(10 Punkte)<br />
b) Entwickeln Sie zu jedem der im Text benannten 5 Bildungsziele ein konkretes anschauliches<br />
Beispiel. (10 Punkte)<br />
Abzugeben:<br />
- ein Titelblatt mit Ihrem Namen und der Aufgabenbezeichnung „Aufgabe Bildungsverständnis“<br />
- etwa 2 DIN A 4 Seiten zu Aufgabe a) (formale Anforderungen beachten)<br />
- etwa 2 DIN A 4 Seiten zu Aufgabe b) (formale Anforderungen beachten)<br />
- Alle Blätter links oben zusammentackern und keine Hüllen und keine Hefter/Ordner verwenden!<br />
Punkte Note Punkte Note Punkte Note<br />
20 1+ 14 3+ 08 5+<br />
19 1 13 3 07 -06 5<br />
18 1- 12 3- 05 5-<br />
17 2+ <strong>11</strong> 4+ 04 - 00 6<br />
16 2 10 4<br />
15 2- 09 4-<br />
Quelle: Frommann, Anne: „Erziehen, Bilden – Lernen“, in: Hast, Jürgen<br />
u.a. (Hrsg.): „Heimerziehung und Bildung, Gegenwart gestalten – auf<br />
Ungewissheit vorbereiten“, IGFH-Eigenverlag, 1. Auflage, Frankfurt am<br />
Main, 2009, S. 102 ff:<br />
Erziehen, Bilden - Lernen<br />
Vorbemerkung<br />
Drei Verben bilden mein Thema, zwischen dem zweiten und dem dritten denke ich mir einen<br />
Gedankenstrich, weil die ersten beiden die Erwachsenen und das dritte eher die Kinder angeht. Um<br />
Tätigkeiten geht es also, um Praxis. Möglichst nahe herantreten wollen und sollen wir an die<br />
Erscheinungen, Wirklichkeiten, Tatsachen, die mit diesen Verben gemeint sind. Die 3. Bundestagung<br />
Heimerziehung spricht von Gestalten und Vorbereiten (vgl. „Gegenwart gestalten - auf Ungewissheit<br />
vorbereiten") - auch das sind Verben! In dieser allgemeinen Formulierung bleibt offen, ob eher<br />
Abbildung, Schilderung des Feldes gemeint ist oder vielmehr Anspruch, Appell, Forderung.<br />
Pädagogen befinden sich ja immer zwischen Sein und Sollen. Im Rahmen der Tagung standen die<br />
Heimerziehung und ihre Leistungen im Lichte der Bildung im Mittelpunkt. Dabei sind wir<br />
eigentlich gegenwärtig ganz andere Verben gewöhnt, wenn von diesem Praxisfeld die Rede ist:<br />
Steuern (Input und Output), Planen (Hilfe!), Finanzieren, Standardisieren (Messen), Kontrollieren,<br />
Konkurrieren, Qualifizieren, Evaluieren usw. - Nein, darauf will ich nicht eingehen. Sonst würde ich<br />
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Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
meinem Bedürfnis nachgeben zu behaupten, dass die Lebens- und Erziehungstätigkeiten innerhalb<br />
der Heimerziehung viel zu komplex sind, als dass man sie derart messen und wiegen und<br />
zerschneiden und dann auch noch - für zu teuer befinden könnte. Es geht um Grundrechte von<br />
Kindern, zu deren Wahrung unsere Gesellschaft aufgerufen ist.<br />
Was bedeutet eigentlich Erziehen und Bilden in der Heimerziehung<br />
Vor mir steht ein Erinnerungsfoto aus der Heimerziehung vergangener Jahre: Ein Zwölfjähriger, Gerd<br />
R., in einer Gruppe von 20 Jungen. Er war schon drei Jahre im Heim, besuchte die Heimschule, in der<br />
er einfach „sitzen blieb", d. h. er sprach nicht, beteiligte sich nicht, wurde nicht versetzt, konnte nicht<br />
lesen und schreiben, eine besondere Bemühung um ihn war nicht möglich. Seine Mutter lebte<br />
randständig in Berlin, das Heim war 400 km weit westlich. Ich arbeitete als Praktikantin in jener<br />
Gruppe und versuchte, das dort Erlebte zu behalten und die Bedingungen als „unmöglich" für eine<br />
heilpädagogische Arbeit zu verstehen. Gerd fiel mir auf, weil er mich „so" anschaute - wir begannen<br />
mit regelmäßigen gemeinsamen Stunden und bastelten viele Kärtchen, bemalten und beklebten sie<br />
mit Gegenständen oder Tieren, deren Anfangsbuchstaben ich auf die Rückseiten schrieb. Gerd war<br />
keineswegs debil oder blind - er konnte sich nach einigen Wochen und spannenden Bildungserlebnissen<br />
die Buchstaben einverleiben. Da er die Fibeltexte längst auswendig hersagen konnte (3 mal in<br />
der gleichen Klasse), ging es nun darum, die dort stehenden Worte auf ihre Zusammensetzung zu<br />
prüfen. Gerd lernte gern und fuhr zwei Monate später zum ersten Mal nach Berlin. Als er zurückkam<br />
und ich ihn fragte, wie's war, antwortete er: „Gut. Ich bin viele Stunden U-Bahn gefahren, und bei<br />
jeder Station wusste ich, wo ich war."<br />
Aus dieser kleinen Geschichte lässt sich viel lernen. Aber da es heute solche „Verhältnisse" nicht<br />
mehr gibt und alle Bildungsbemühungen vernetzt sind, lasse ich das. Ich will mich lediglich auf<br />
zwei Punkte beschränken: Bei benachteiligten Kindern kann der „Stoff" noch viel weniger als bei zu<br />
Hause Aufwachsenden getrennt von menschlichen Beziehungen gelernt werden, und deshalb müssen<br />
die Erwachsenen, also wir, verstehen, wie Kinder „so" geworden sind, um ihnen überhaupt bei und<br />
durch uns passende Lernerfahrungen zu ermöglichen. Selbst wenn man jetzt denken könnte, das sei<br />
ein alter Hut, - es ist die wichtigste Erkenntnis für unser Thema.<br />
Erwachsene müssen verstehen, was mit dem Kind „los" ist, ehe sie ihr Stück Weltwissen ausbreiten<br />
und anbieten können. So genannte normale Kinder haben schon gelernt, zwischen Innen und Außen,<br />
zwischen sich und den Anderen, zwischen Gestern und Heute, zwischen Freund und Feind zu<br />
unterscheiden - sie sind neugierig und abenteuerlustig und warten auf ermutigendes und für sie<br />
brauchbares Wissen. Ganz anders Gerd: Er war verletzt und gehemmt, verlassen und unterlegen,<br />
konnte nicht einmal - wie Andere - durch Gewalttätigkeit erproben, welche Kräfte in ihm steckten.<br />
Er gehörte zu der Gruppe von Kindern, für die Paul Moor Mitte des vergangenen Jahrhunderts<br />
forderte, erst müsse die Heilpädagogik oder Therapie das Lernen ermöglichen, gleichsam befreien,<br />
dann könne erst Unterricht sinnvoll sein. Heute sprechen wir vom Zusammenhang von<br />
Lebensbewältigung und Bildung.<br />
Erwachsene müssen innerhalb der Heimerziehung viel mehr anbieten als Lehrer und Lehrerinnen in<br />
der Schule dies tun können: Sie bieten eine Heimat (auf Zeit), ein zweites Zuhause, einen<br />
Schonraum, ein Übungsfeld u.v.a. Sie tun u. a. folgendes: sie schützen, pflegen und unterstützen, sie<br />
begrenzen, erklären, interpretieren und halten aus, sie üben und zeigen, begleiten, beraten, wenden<br />
sich zu und hoffen ... Sie geben hoffentlich nicht vorzeitig auf, sondern beziehen die zahlreichen<br />
Krisen nicht auf sich allein, sondern auf die Lebensgeschichte des Kindes. Sie kümmern sich um<br />
die Rechte der Kinder, insbesondere um das Recht auf Bildung und Ausbildung, auf Zukunft in der<br />
Gesellschaft, auf Schutz vor Gewalt, auf einen zweiten Anfang im Leben. Dies alles tun sie nicht eine<br />
oder vier Stunden am Tag, sondern im kontinuierlichen Zusammenhang mit den verschiedenen<br />
Lebenstätigkeiten des Kindes und der Kindergruppe oder -gemeinschaft. Deswegen ist es ein Irrweg,<br />
die Erziehung und Bildung im Heim zu trennen vom „Leben" und dieses etwa sogar nach Art eines<br />
Jugendhotels getrennt von den pädagogischen Beziehungspersonen organisieren zu wollen.<br />
<strong>11</strong>5
Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
1820 sagte Friedrich Schleiermacher in seiner Vorlesung zur Pädagogik an der Berliner Universität u.<br />
a. Folgendes: „Die pädagogische Einwirkung besteht im wesentlichen darin, dem, was im<br />
gewöhnlichen gemeinsamen Leben von selbst erfolgen würde, durch Ordnung und Zusammenhang<br />
eine größere Intensität zu geben" (Schleiermacher 2008). Das heißt aber doch, dass dann, wenn ein<br />
„gewöhnliches gemeinsames Leben" (ebenda) zunächst einmal aufgebaut, also gestaltet werden<br />
muss, das Erziehen und Bilden nur darauf aufgebaut werden kann, sich also auf dem Boden solcher<br />
Gemeinsamkeit überhaupt erst sinnvoll entfaltet.<br />
Wir sprechen heute von Netzwerken, von case management, von Ressourcen des Kunden usw., weil<br />
wir gesellschaftlich und persönlich in eine neue Phase der Rationalisierung und Funktionalisierung<br />
hineingewachsen oder von ihr überformt worden sind. Wir machen dafür sowohl die<br />
gesellschaftlichen Verhältnisse als auch die mediale Durchdringung des Alltags- und Berufslebens<br />
verantwortlich. Verwaltung und Dokumentation, also indirekte Tätigkeiten nehmen einen<br />
ungeheuren Teil unserer Zeit in Ansprach. Wir leben in einer bürokratisierten und - wenn nicht<br />
virtuellen, so doch - den Medien unterworfenen Welt. Wir bilden und erziehen sozusagen nicht Äug'<br />
in Auge, z. B. beim Anfertigen der Schularbeiten, beim gemeinsamen Bewältigen hauswirtschaftlicher<br />
Arbeit, beim Federballspiel, beim Vorlesen, Gespräch oder der Reparatur von Fahrrädern etc, -<br />
nein, wir führen Listen, dokumentieren Abläufe für den anschließend Dienst habenden Kollegen,<br />
telefonieren vielleicht oder räumen auf, während der Einzelne oder die Gruppe fernsieht, mit dem<br />
Handy spricht oder „sich abmeldet".<br />
Eine gewisse Gefahr der Langeweile gibt es schon lange - wir entgehen ihr nicht leicht, vor allem<br />
dann nicht, wenn wir der „Funktionalisierung" sozialpädagogischer Arbeit zu viel zutrauen.<br />
Dienstleistung kann auch zur Beliebigkeit verkommen. Das Wesentliche ist nicht zu organisieren,<br />
auch wenn eine gute Organisation manches erleichtert. Moderne Methoden der Kommunikation und<br />
der Rationalisierung zu verwenden bedeutet nicht, sich ihnen unterwerfen zu müssen. Die günstigen<br />
Augenblicke für Bildung und Beziehung, für Übung und Lernen lassen sich weder standardisieren<br />
noch im PC herunterladen.<br />
Lernen<br />
Kinder lernen immer, ob sie wollen oder nicht, ob sie sich anstrengen oder entziehen - es fragt sich<br />
nur, was. Lernen ist zusammen mit der Entwicklung gegeben. Erwachsene können lernen, sie können<br />
aber auch in Routine, Resignation, Angst oder Beschränkung verharren. Ihre Lernfähigkeit ist<br />
abhängig davon, wie sie bisher gelernt und was sie daraus für Konsequenzen gezogen haben.<br />
Kinder in der Heimerziehung bringen ihre Lerngeschichten mit. Vielleicht haben sie keine Sicherheit<br />
erlebt, Angst nur /,u gut gelernt und fürchten sich nun vor Neuem. Womöglich ist ihre Bedürftigkeit,<br />
ihr Nichthaben so schneidend und drängend, dass es keinen Aufschub duldet. Wie lernt man hassen<br />
- und wie verlernt man es wieder Klar ist, dass die Grundbedürfnisse und die starken Emotionen<br />
allemal so etwas wie Interesse für Sach-Zusammenhänge blockieren können. Wie soll dagegen ein<br />
Hilfeplan helfen Üben, wiederholen, ordnen oder schon zuhören können nur die, denen nicht das<br />
grundlegende Misstrauen die Richtung der Aufmerksamkeit verstellt.<br />
Bruno Bettelheim (1973) hat Geschichten von schwer gestörten Kindern und ihrer langsamen<br />
Genesung aufgeschrieben, die hierhergehören. Da ist Paul mit seiner wahnsinnigen Angst vor<br />
Veränderungen, der lange braucht, bis er einen „Sicherheitsstützpunkt" gefunden hat, von dem aus er<br />
neue Erfahrungen machen und daraus lernen kann: „Er fürchtete sich mit Recht vor dem, was er<br />
vielleicht tun würde, wenn man ihm nicht Einhalt geböte" (ebd., S. 57). Die ersten Schritte zur<br />
Selbstbeherrschung seiner verzweifelten Aggressivität konnte er nur erlernen, als er über die<br />
Identifikation mit Menschen, zu denen er eine Beziehung hergestellt hatte, wahrzunehmen begann,<br />
aus welchem tiefen Elend er sich befreien musste. Die Lockung zu lernen geht von der starken<br />
Anteilnahme der Erwachsenen an seinem Schicksal aus und auch davon, dass sie sich bemühen, ihm<br />
besonders am Anfang so viel Befriedigung zu bieten wie irgend möglich. Irgendwann „bevölkert<br />
sich die Welt" (ebd., S. 90). Helmut Mertens aus Stuttgart (Paulinenpflege und Wilhelmspflege)<br />
beschreibt ähnliche Prozesse so: „So haben sie begonnen, in ihrem Innern eine feste fensterlose<br />
<strong>11</strong>6
Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
Kammer einzurichten mit stabilen Türen und Schlössern ... Ein großer Schritt besteht darin, dass<br />
dieser Mensch beginnen kann, seine Kammer zu erzählen". Bettelheims Paul muss „die Erforschung<br />
seiner Vergangenheit und das Verbinden seines Lebens zu einem verständlichen Ganzen" lernen<br />
(Bettelheim 1973, S. 120). Nach Jahren resümiert er: „Radfahren gelernt, Schwimmen gelernt, als<br />
nächstes ..." (ebd.) und ist ein Mensch geworden, der einen Beitrag leistet und für andere<br />
Bedeutung hat. Bettelheim wird nicht müde, darauf hinzuweisen, dass ein solches Lernen Zeit<br />
braucht.<br />
Ein anderes Kind, Harry, kam aus einer Hass-Familie und musste sehr mühsam lernen, dass er nicht<br />
in der Lage sei, in Panik seine Umwelt oder sich selbst zu zerstören. Er bestraft sich mit<br />
psychosomatischen Erkrankungen, bringt das therapeutische Kinderheim und seine Erzieherinnen an<br />
die Grenzen ihrer Kraft und lernt schließlich die grundlegenden Bedingungen für das Zusammenleben,<br />
indem er den Unterschied von Vergangenheit und Gegenwart erkennt und anerkennt.<br />
„Ich hab gar nicht gewusst, dass euch so viel an mir liegt" (Bettelheim 1973, S. 394). Harry brachte<br />
ein ganzes Jahr lang überhaupt kein schulisches Lernen zustande, aber als er sich „zum Besseren<br />
verändert hatte, folgte die ganze Welt ihm darin nach" (ebd., S. 433). Er wurde, wie Bettelheim<br />
sich ausdrückt, mit seinem Leben „die Validierung unserer Theorien" (ebd.). Diese Validierung ist<br />
sicher auch eine Evaluation gewesen.<br />
Bildungsziele<br />
Vielleicht ließe sich einwenden, ich hätte aus einer zurückliegenden Zeit von luxuriösen<br />
Bedingungen berichtet, die nicht mehr vorhanden und daher auch nicht zu bedenken seien. Sind wir<br />
tatsächlich heutzutage wieder bei einer Reihe von Notlösungen angekommen Richten wir unser<br />
Augenmerk auf die Hochbegabten und fördern wir sie in Spezialeinrichtungen, um „besser aufgestellt"<br />
zu sein Sparen wir an den Benachteiligten, Zu-kurz-Gekommenen und Kranken Ich setze<br />
diese Fragen nicht fort. In unserer Wissensgesellschaft können und müssen wir wissen, dass<br />
schwere Schäden zur Heilung oder Besserung großen Einsatz verlangen. Das vereinigte Europa wird<br />
in dieser Hinsicht tatsächlich um Standards zu ringen haben.<br />
Das Recht auf Arbeit muss, wenn es durchgesetzt werden soll, Folgen für die Definition von Arbeit,<br />
ihre Verteilung und Vergütung haben. Das wiederum wird entscheidend auf das Bildungsziel<br />
Arbeiten-Können einwirken. Arbeiten-Lernen wird zentrales Ziel von Erziehung und Bildung<br />
bleiben. Werden wir aber auch zur Armut erziehen müssen Ich fühle mich nicht befugt, darüber<br />
nachzudenken. So weit zurückgewandt - zurück zu Pestalozzi - sollen wir weder denken noch<br />
handeln.<br />
Trotz des Eingeständnisses meiner Unfähigkeit in diesem Punkt möchte ich damit schließen, alte und<br />
neue Bildungsaufgaben innerhalb der Jugendhilfe als Bestätigung und Aufforderung hier<br />
zusammenzufassen. Was sind unsere Vorstellungen für gelingende Bildungsprozesse<br />
1. Die Fähigkeit und der Wille, sich zu verständigen, also mit sich selbst und mit Anderen in Kontakt<br />
zu kommen und zu sprechen, unabhängig von den Positionen der ,Gewinner und Verlierer' (die<br />
Bildung des Subjekts);<br />
2. Die Abwehr von Unmenschlichkeit, die Bereitschaft zur Verantwortung und die Achtung der<br />
Menschenrechte - als Grundlage von Demokratie auf allen Ebenen (die Mitmenschlichkeit);<br />
3. Die Einsicht, dass Zentralismus mit nur einem Mittelpunkt, dass Fragen und Aufgaben mit nur<br />
einer richtigen Lösung abgenommen haben, dass also Mehrfältigkeit, Aushandeln, Öffnung und<br />
Toleranz nicht zum Verlust der eigenen Standpunkte, sondern zu sinnvoller Konfliktbearbeitung und<br />
neuen Möglichkeiten führen (die Toleranz);<br />
4. Das Zugeben von Bedürftigkeit, Verletzlichkeit, Endlichkeit als Grundlage einer vernünftigen<br />
Nächstenliebe und einer praktischen Ökologie (die Kreatürlichkeit);<br />
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Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
5. Die Hoffnung auf und die Freude über alle Möglichkeiten von Bewegung, Zuwendung, Schönheit<br />
und Ehrfurcht in der Welt, und zwar im ganz kleinen, im mittleren, großen und auch im<br />
unübersehbaren Zusammenhang (der Vorschein und die „letzten Fragen").<br />
Schlussbemerkung<br />
Schleiermacher unterschied 1820 zwei Wege der Erziehung: „Soll sie ... die Begünstigten noch<br />
mehr begünstigen, damit das Resultat recht bedeutend werde Oder soll die Erziehung den äusseren<br />
Verhältnissen entgegenwirken Das eine wäre das aristokratische Prinzip, das andere das<br />
demokratische."<br />
Ich bin für das zweite………<br />
<strong>11</strong>8
Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
Selbstlernzeit: Aufgabe „Wohnraum gestalten“<br />
Lesen Sie nachstehenden Text und bearbeiten Sie dann folgende Aufgabenstellungen:<br />
a) Erläutern Sie mit eigenen Worten die wesentlichen Aussagen des Grundlagentextes. Ergänzen<br />
Sie die Aussagen zur Wohnraumgestaltung durch eigene Vorstellungen. (10 Punkte)<br />
b) Entwickeln Sie eine maßstabsgerechte Skizze zur räumlichen Anordnung einer Wohngruppe in<br />
der Heimerziehung für 8 Kinder/Jugendliche. Skizzieren Sie dabei auch die Anordnung der Möbel<br />
und des Außengeländes (10 Punkte).<br />
Abzugeben:<br />
- ein Titelblatt mit Ihrem Namen und der Aufgabenbezeichnung „Aufgabe Wohnraum gestalten“<br />
- etwa 2 DIN A 4 Seiten zu Aufgabe a) (formale Anforderungen beachten)<br />
- etwa 2 DIN A 4 Seiten (zusammengeklebt zu DIN A 3) zu Aufgabe b)<br />
- Alle Blätter links oben zusammentackern und keine Hüllen und keine Hefter/Ordner verwenden!<br />
Punkte Note Punkte Note Punkte Note<br />
20 1+ 14 3+ 08 5+<br />
19 1 13 3 07 -06 5<br />
18 1- 12 3- 05 5-<br />
17 2+ <strong>11</strong> 4+ 04 - 00 6<br />
16 2 10 4<br />
15 2- 09 4-<br />
Quelle: Günder, Richard: „Praxis und Methoden der<br />
Heimerziehung“, Lambertus, Freiburg, 2000, S. 137 ff<br />
Räumliche Rahmenbedingungen und Ausstattungsmerkmale<br />
Heime und Wohngruppen bilden für Kinder und Jugendliche zentrale Lebensorte, in denen sie<br />
vorübergehend oder auch für einen längeren Zeitraum wohnen. Eine Wohnung stellt üblicherweise für<br />
das Individuum das primäre Lebensumfeld dar, welches zugleich selbst gestaltet werden kann und mit<br />
den Rahmenbedingungen und Ausgestaltungsmerkmalen wiederum das Verhalten prägt. Die Wohnung<br />
ist der Ort zur Selbstentfaltung, zum Sichzurückziehen, zum Erholen, zum zu Hause sein. Hier finden<br />
die wesentlichen Kommunikationsformen mit den anderen Familienmitgliedern statt, hier ist ein relativ<br />
großer Schutzraum vor unangenehmen, störenden und damit negativen Einflüssen der außerhäuslichen<br />
Welt. Die Wohnung nimmt innerhalb der Gesellschaft eine so bedeutende Stellung ein, dass in Artikel<br />
13 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland ihre „Unverletzlichkeit" garantiert wird.<br />
Vom philosophischen Seinsverständnis Heideggers ausgehend, stellt das Wohnen nicht lediglich eine<br />
Tätigkeit dar und es geht auch weit über die bloße Notwendigkeit hinaus, denn „Mensch sein, heißt als<br />
Sterblicher auf der Erde sein, heißt: wohnen" (Heidegger 1959, S. 146). Damit wird das Wohnen zur<br />
Daseinsform, die zum Wesen des Menschen gehört. Wohnen wird gestaltet und wirkt durch diese<br />
Gestaltung zugleich prägend auf den Menschen. Diese für die pädagogische Betrachtungsweise<br />
wichtige Erkenntnis unterstreicht der Schriftsteller Antoine de Saint Exupery in seinem Buch „Die Stadt<br />
in der Wüste":<br />
„Ich habe eine große Wahrheit entdeckt (...) zu wissen, dass die Menschen wohnen und dass sich der<br />
Sinn der Dinge für sie wandelt je nach dem Sinn ihres Hauses" (1988, S. 21).<br />
Wir gehen bei unseren weiteren Überlegungen davon aus, dass die Sozialisation mit durch die realen<br />
und atmosphärischen Bedingungen der vorhandenen Wohnform bestimmt wird. „Durch die Wohnung<br />
werde ich sesshaft; das Wohnen gewährleistet das Elementare: das Bett, den Herd und den Tisch. Das<br />
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Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
Wohnen ermöglicht Leben, nicht nur Überleben, es bietet Existenznischen, aus denen heraus sich<br />
leichter leben und miteinander leben lässt. Wohnen erleichtert und stabilisiert meinen Anspruch auf<br />
Lebensraum und die in ihm notwendigen Daseins- und Funktionsabläufe wie schlafen, essen, arbeiten,<br />
miteinander sprechen, sich zurückziehen und schützen, feiern u.a." (Floßdorf 1988a, S. <strong>11</strong>).<br />
Kinder oder Jugendliche, die aus ihrer Familie heraus in eine Institution der Fremderziehung eingewiesen<br />
werden, haben mit dem Eintritt in die Institution in der Regel ihre „eigene" Wohnung aufgegeben; die<br />
Realität dieses Verlustes wird von ihnen von Tag zu Tag mehr empfunden werden. Auch wenn viele<br />
der Heimkinder schlechten häuslichen Verhältnissen entstammen und sie eher in bescheidenen<br />
Wohnverhältnissen lebten, fehlt jetzt der neben den Familienmitgliedern wesentlichste Bezugspunkt im<br />
Leben. Sicherlich bekommen Kinder und Jugendliche in den Heimen und in den Wohngruppen formal<br />
gesehen ein neues Zuhause. Wahrscheinlich sind in vielen Fällen die Wohnverhältnisse hier auch besser<br />
als in der Herkunftsfamilie. Dennoch wäre ein entscheidender Qualitätsunterschied darin zu sehen,<br />
wenn die Merkmale der Institution die Wohnbedingungen mehr oder weniger weitgehend bestimmten.<br />
Wenn junge Menschen in Heime oder Wohngruppen aufgenommen werden, so wird sich das Gefühl,<br />
hier zu Hause zu sein, erst allmählich entwickeln. Dies gelingt wahrscheinlich oft nur<br />
annäherungsweise, in anderen Fällen aber auch überhaupt nicht. Wenn wir uns an die frühere<br />
Heimerziehung erinnern, mit ihren großen Schlafsälen, den langen Korridoren und den großen<br />
Speisesälen, dann ist schnell begreifbar, dass eine Beheimatung der Bewohner unter diesen räumlichen<br />
Voraussetzungen wohl kaum jemals erreicht werden konnte. Solche Bedingungen sind in der heutigen<br />
Heimerziehung nicht mehr vorzufinden. Denn die massenweise Unterbringung von Kindern und<br />
Jugendlichen in Großinstitutionen wich zugunsten gruppenstrukturierter Wohnformen, in denen sich<br />
durchschnittlich zwei Kinder ein Zimmer teilen. Die Gruppenküche sowie das Gruppenesszimmer sind<br />
überschaubar, weil sie nur von den vielleicht sieben bis zehn Gruppenmit-gliedern benutzt werden.<br />
Diese verbesserten räumlichen Rahmenbedingungen sind zwar unabdingbare Voraussetzungen für ein<br />
positiveres Wohngefühl, sie alleine reichen jedoch nicht aus, um das Gefühl, wirklich zu Hause zu sein,<br />
entwickeln zu können. In vielen Heimen sind auch heute noch lange Flure anzutreffen, die Zimmer der<br />
Kinder und Jugendlichen wirken bisweilen sonderbar kahl, auch die Gemeinschaftsräume muten zwar<br />
oft funktionell an, aber sie strahlen selten eine heimelige Atmosphäre aus. Diese Situation ist in den<br />
Wohngruppen zumeist besser, zumal wenn Erzieherinnen dort auch selbst leben. Allerdings ist auch hier<br />
der Ausgestaltung der Zimmer bisweilen deutlich anzumerken, dass es sich um eine Institution handelt.<br />
Zur Begründung werden verschiedene Argumente angeführt: Die schwierigen Kinder und Jugendlichen<br />
seien kaum in der Lage, eine bessere wohnliche Atmosphäre herbeizuführen; es würde vieles immer<br />
wieder zerstört, die Möbel müssten funktionell und robust sein, damit sie die großen Belastungen lange<br />
überstehen könnten. Für neue oder teuere Anschaffungen wären oftmals die finanziellen Mittel nicht<br />
vorhanden.<br />
Milieutherapeutische Heimerziehung<br />
Die Gebäude und Einrichtungsgegenstände vieler Heime berücksichtigen nicht die positiven<br />
Auswirkungen, die durch atmosphärisches Wohnen, durch die sinnhafte pädagogische Planung des<br />
unmittelbaren Lebensumfeldes entstehen. Die Ausstattung der Heime zeigt vielmehr, dass ihr Bedeutung<br />
zukommt im funktionalistischen Bereich; sie soll preiswert und robust sein, einen reibungslosen<br />
Ablauf gewährleisten, vor den Auswirkungen von Verhaltensauffälligkeiten schützen oder diesen<br />
standhalten. In solchen Einrichtungen laufen bewusste therapeutische Bemühung und Leben im Alltag<br />
nicht integriert, sondern isoliert nebeneinander her (Heimerziehung-Heimplanung 1974, S. 39).<br />
„Wer Heime bauen will, muß sich damit auseinandersetzen, auf welche Weise Kommunikation und<br />
Interaktion der Bewohner gesteuert, d.h. für den pädagogischen Prozeß nutzbar gemacht werden<br />
sollen. Für den Planer stellt sich damit . die Frage nach den Innen- und Außenbezügen, die<br />
Kommunikation fördern oder verhindern, die somit Integration oder Isolation zur Folge haben"<br />
(Heimer-ziehung-Heimplanung 1974, S. <strong>11</strong>1).<br />
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Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
Als ein eindrucksvoller Vertreter auf dem Gebiet der Gestaltung hilfreicher Umwelten für Problemkinder<br />
gilt Bettelheim (1903-1990). Er machte während seiner Inhaftierung im Konzentrationslager die<br />
Erfahrung, wie leicht ein schlechtes Milieu in der Lage war, destruktive, bösartige und unmenschliche<br />
Verhaltensweisen sowohl bei den Wärtern, als auch bei den Gefangenen auszulösen. Gesunde<br />
Menschen konnten durch dieses Milieu verrückt werden. Bettelheims Analogieschluss war einfach und<br />
doch bestimmend und erfolgreich für sein späteres Lebenswerk. Wenn ein ungutes Milieu extreme<br />
negative Verhaltensweisen auslösen kann, so müsste ein grundlegend positiv gestaltetes Milieu alleine<br />
aufgrund des Milieueinflusses therapeutische Wirkung zeigen (Bettelheim/Karlin 1983, S. Ulf.; Bettelheim<br />
1983b, S. 281f.).<br />
Bruno Bettelheim hat in seinen Büchern „Liebe allein genügt nicht" (1983a) und „Der Weg aus dem<br />
Labyrinth" (1983b, insbesondere S. <strong>11</strong>0-177) geschildert und überzeugend vertreten, welche<br />
Erfahrungen in der von ihm geleiteten „Orthogenic School" mittels milieutherapeutischer Ausrichtung<br />
gesammelt werden konnten, mit der bewussten pädagogisch/therapeutischen Planung und Einbeziehung<br />
von Gebäuden und deren Aufteilung, von Zimmereinrichtungen, Tapeten, Vorhängen, Geschirr etc.<br />
Bettelheims Konzept sieht das gesamte Lebensumfeld der Kinder, die Wohnatmosphäre und den von<br />
Zimmern und Einrichtungsgegenständen ausgehenden Symbolgehalt als integrierten Bestandteil der<br />
Therapie an. Flure und Treppenhäuser sind so nicht mehr nur unter funktionellem Aspekt zu sehen, sie<br />
werden zu wichtigen „Zwischenräumen", welche die Kinder zum Leben brauchen, zum Ort für private<br />
Gespräche. Sie müssen deshalb in ihrer Gestaltung zu diesem Nutzen anregen (1983a, S. <strong>11</strong>9-121;<br />
1983b, S. <strong>11</strong>9-122).<br />
In Wohnzimmern soll nicht nur der Bequemlichkeit der Vorzug gegeben werden; Kinder wollen diesen<br />
Raum zu vielfältigen Zwecken nutzen, zum Musikhören, zum Spielen, zum Unterhalten, zum Alleinund<br />
Zusammensein, zum Ausruhen, zum Diskutieren etc. Erst eine entsprechende Ausgestaltung wird<br />
zu diesen unterschiedlichen Aktivitäten anregen können. Auch Toiletten und Badezimmer werden<br />
integrativer Bestandteil der Gesamttherapie. Es sind auch Orte zum Entspannen, zum Sichwohlfühlen,<br />
für Körpererfahrungen, zum Spielen und zum Ausgelassensein. Steril in weiß angelegte Bäder und<br />
Toiletten, nebeneinandergereihte Becken und Duschen können diesen Anspruch nicht erfüllen.<br />
Sowohl bei der Ausgestaltung der eigenen Zimmer als auch der gemeinsam benutzten Räume werden<br />
die Kinder, ihre Bedürfnisse und Wünsche berücksichtigt. Denn sie sind es, die sich den ganzen Tag<br />
über wohl fühlen sollten. Da schwierige Kinder in einer realistischen Auswahl von Einrichtungsgegenständen,<br />
Stoffen und Tapeten überfordert sein können, werden ihnen verschiedene<br />
Vorschläge der Mitarbeiterinnen zur Auswahl vorgelegt. Die Betreuerinnen haben bei ihrer<br />
Vorauswahl die Interessen und Vorlieben der Kinder und Jugendlichen berücksichtigt, so erfahren<br />
diese kaum eine Einengung, aber auch keine Überforderung (1983b, S. <strong>11</strong>6). Die Einrichtung muss die<br />
Möglichkeit von Distanz und Nähe einräumen, deshalb sind die einzelnen Zimmer nicht zu klein, aber<br />
auch nicht zu groß zu halten.<br />
Möbel, Bilder, Tapeten und Stoffe sind aus robusten, aber schönen, bisweilen auch wertvollen<br />
Materialien. Auch das sinnhaft Schöne und künstlerisch Wertvolle kann in seinem Gehalt, indem die<br />
Kinder Schönes erfahren, therapeutisch wirksam sein. Auch die Teller und Gläser sind aus guten Materialien.<br />
Damit wird die Bedeutung des Essens innerhalb der Milieutherapie unterstrichen; durch<br />
ansprechendes Porzellan wird eine bessere Stimmung bewirkt als durch weißes Einheitssteingut.<br />
Die übliche Heimerziehung benutzt aus Kostengründen gerne einfache Materialien, die preiswert sind,<br />
weil die Kinder ohnehin so viel zerstören. Aus der jahrelangen Praxis der „Orthogenic School" kann<br />
Gegenteiliges berichtet werden: „Unsere Erfahrung hat bewiesen, dass Taten bewusster oder<br />
fahrlässiger Zerstörung in dem gleichen Maße zurückgehen, indem wir die Umgebung der Patienten<br />
hübsch und anziehend gestalten. Im Gegenteil, die Patienten hielten es sich bald zugute, ganz von sich<br />
aus behutsam mit den Dingen umzugehen (was man ihnen nicht nahe legen sollte, denn das würde<br />
ihren spontanen Wunsch zunichte machen, das, was ihnen gefällt, in Ordnung zu halten)" (1983 b, S.<br />
101).<br />
Grundsätzlich sind alle Räume offen; es gibt keine verschlossenen Türen, wie dies auch in der<br />
Familiensituation üblich ist. Diese offenen Türen sind wiederum auch symbolisch zu sehen, sie machen<br />
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Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
die Offenheit unter den Bezugspersonen und innerhalb der Gesamtatmosphäre erst möglich. „Ein<br />
therapeutisches Milieu im Sinne Bettelheims wird geschaffen, wenn die einzelnen Dimensionen im<br />
Kontext der pädagogischen und therapeutischen Ziele systematisch reflektiert, gezielt gestaltet und<br />
miteinander interpretiert werden. Medium der Milieutherapie ist ein tiefenpsychologisch interpretierter<br />
und gestalteter Alltag, d.h. alltägliche Handlungen wie Aufstehen, Essen, Lernen, Schlafengehen usw.<br />
bilden den Ausgangspunkt für Förderung und Therapie. Bezeichnend ist der spezifische Blickwinkel,<br />
unter dem Bettelheim das Milieu betrachtet. Es sind die symbolischen Mitteilungen und Gehalte, wie sie<br />
von Räumen, Ausstattungen, Situationen und Interaktionen im Heimalltag ausgehen, die im Mittelpunkt<br />
seines Interesses stehen. Bettelheims genuines Verdienst ist es, dass er das Heimmilieu systematisch<br />
hinsichtlich der stummen, symbolischen Botschaften analysiert hat" (Krummenacker 1994, S. 265f.).<br />
Folgerungen für die Heimerziehung<br />
Die heutige Heimerziehung ist bisweilen immer noch in Gebäuden beheimatet, deren Zustand und<br />
Ausstattung als nicht tragbar erscheint, wenn man sie<br />
unter dem Aspekt der milieutherapeutischen Vorgehensweise betrachtet. In einigen Heimen kommt daher<br />
der Aufenthalt eher einer Bestrafung als einer Chance zur Neuorientierung gleich. Die Heimerziehung<br />
müsste aber berücksichtigen, dass im Sinne einer ganzheitlichen Pädagogik der gesamte Ablauf des<br />
Heimalltages, mit allen Umständen und Bedingungen, zur Förderung oder zur Erschwerung der<br />
gewünschten Verhaltensveränderungen beiträgt. In Heimen mit langen Korridoren und<br />
aneinandergereihten Zimmern ist keine Wohnatmosphäre zu verwirklichen. Viele Gebäude lassen sich<br />
wohl auch mit gutem Willen nicht in milieutherapeutischer Richtung verändern. Teilweise müssten<br />
ungeeignete Gebäude aufgegeben und an andere Institutionen oder Firmen verkauft, vermietet oder<br />
verpachtet werden.<br />
Bei der Errichtung neuer, geeigneter Heime in neuen Gebäuden bzw. in milieutherapeutisch nutzbaren<br />
kleineren, älteren Häusern käme es gar nicht auf Luxus an, sondern auf die pädagogische Einstellung,<br />
das Einfühlungsvermögen, das dem Werden des neuen Heimes zugrunde liegt. „Wir haben bei unserer<br />
Arbeit immer wieder festgestellt, dass nicht so sehr die harten Tatsachen zählen, sondern die Gefühle<br />
und Einstellungen, die mit ihnen verbunden waren" (Bettelheim 1983b, S. 17). Ein Heimleiter, der bei<br />
dem Neubau seines Heimes beim Träger den Wunsch nach einem offenen Kamin äußerte,<br />
argumentierte folgendermaßen: „Die gemeinsamen Stunden vor dem Kamin mit den Kindern, die<br />
Gespräche, die Stille und Geborgenheit, lassen die Lösung und Verminderung von Konflikten zu, die<br />
mir glatt viele teure Therapiestunden einsparen werden."<br />
Bruno Bettelheim blieb nach seinem Tod als Person nicht unumstritten (z.B. Otto 1992; Krummenacker<br />
1998, S. 24ff.). Der Praktiker Bettelheim befand sich teilweise im Widerspruch zu der von ihm<br />
aufgestellten Theorie und moralischen Forderung, dennoch bleibt seine Theorie der praktizierbaren Milieutherapie<br />
für die Heimerziehung richtungsweisend. „Bruno Bettelheim liebte Kinder nicht, er verstand<br />
sie. Und er versuchte mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, die Mauern ihres geistigen<br />
Gefängnisses niederzureißen, das sie nicht nur daran hinderte, ein 'normales' Leben zu führen, sondern<br />
auch großes Leid für sie bedeutete, wie er es als einer der ersten feststellte" (Sutton 1996, S. 3051). „Mag<br />
auch die Person Bettelheim - zumindestens partiell - versagt haben, so kommt ihm doch das Verdienst<br />
zu, die Möglichkeiten der stationären pädagogisch-therapeutischen Arbeit mit gestörten Kindern<br />
minutiös ausgeleuchtet und über Jahrzehnte hinweg entwickelt und erprobt zu haben. Aus diesem Grund<br />
bieten seine umfangreichen Beschreibungen ein hohes, bislang ungenutztes Anregungspotential"<br />
(Krummenacker 1988, S. 33).<br />
Die heutige Heimerziehung vollzieht sich in Gebäuden und in Räumen, die teilweise in ihrer Architektur<br />
und Ausgestaltung den Einfluss pädagogischer Erkenntnisse vermissen lassen. Räume und Gebäude<br />
sind jedoch glücklicherweise veränderbar. Wenn unter dem Wohnaspekt ungeeignete Institutionen<br />
durch neue Häuser zu ersetzen sind, deren Planung, Erstellung und Ausgestaltung in Kooperation<br />
zwischen Pädagogen und Architekten die Sozialisationsbedürfnisse junger Menschen berücksichtigen,<br />
so mag dies eine optimale Lösung darstellen. Praxiserfahrungen belegen jedoch auch, dass ungünstige<br />
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Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
Wohnsituationen in bestehenden Gebäuden durch relativ einfache Mittel veränderbar sind und ein<br />
heilendes Milieu erreicht werden kann, wenn die Einsicht und die Bereitschaft zu Veränderungen<br />
entwickelt wurde (Mahlke 1988, S. 22 ff.).<br />
Kompetenzen aus dem Lehrplan: „Bedeutung der ästhetischen und zielgruppengerechten Gestaltung<br />
des Lebensumfeldes verstehen, im Alltag berücksichtigen und sich aktiv dafür einsetzen“. Wissen und<br />
Verstehen: Was ist mit der „milieutherapeutischen Wirkung“ gemeint Inwiefern besteht ein<br />
Zusammenhang zwischen Qualität der Ausstattung und der Zerstörungswut von Kindern u.<br />
Jugendlichen Gestaltung der Räume – eine Luxus- oder Kostenfrage<br />
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Dr. phil. Dietmar Weigel: <strong>Lernmodul</strong> <strong>11</strong> – <strong>Reader</strong> – 21.01.2013<br />
Empfohlene Literatur<br />
Beck-Texte im dtv:<br />
„Jugendrecht“, (neuste Auflage), Deutscher Taschenbuchverlag GmbH und Co. KG, München<br />
Günder, Richard:<br />
„Praxis und Methoden der Heimerziehung, Entwicklungen, Veränderungen und Perspektiven der<br />
stationären Erziehungshilfe“, 4. Auflage, Freiburg, 20<strong>11</strong><br />
Hartwig, Luise u.a. (Hg.):<br />
„Gruppenpädagogik in der Heimerziehung“, IGFH-Eigenverlag, 1. Auflage, Frankfurt am Main, 2010<br />
Hast, Jürgen u.a. (Hrsg.):<br />
„Heimerziehung und Bildung, Gegenwart gestalten – auf Ungewissheit vorbereiten“, 1. Auflage,<br />
IGFH-Eigenverlag, Frankfurt/M., 2009<br />
Heidemann, Wilhelm; Greving, Heinrich:<br />
„Praxisfeld Heimerziehung, Lehrbuch für sozialpädagogische Berufe“, 1. Auflage, Bildungsverlag<br />
Eins GmbH, Köln, 20<strong>11</strong><br />
Schwabe, Mathias:<br />
„Eskalation und De-Eskalation in Einrichtungen der Jugendhilfe, Konstruktiver Umgang mit<br />
Aggression und Gewalt in Arbeitsfeldern der Jugendhilfe“, 5. Auflage, IGFH-Eigenverlag,<br />
Frankfurt/M., 2010<br />
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