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Bei intellektuellen Europäern gab es seit dem 17. Jahrhundert eine Schweiz-<br />
Schwärmerei, die um 1800 dann sogar zu einer Reisewelle in das beschauliche Land<br />
führte und sich auch literarisch, etwa in Goethes Libretto Jery und Bätely (1779),<br />
niederschlug. Auch Castelli unternahm 1822 eine Schweiz-Reise und schwärmte nach<br />
seiner Rückkehr von den liberalen politischen Verhältnissen bei den Eidgenossen.<br />
Ähnlich wie Schillers Wilhelm Tell (1804) trug im 19. Jahrhundert Die Schweizer Familie<br />
maßgeblich dazu bei, das Bild der Schweiz in aller Welt zu prägen. Dies ist aber auf<br />
ein Mißverständnis zurückzuführen: Die Zeitgenossen gingen wegen des Titels davon<br />
aus, es mit einer Darstellung der originalen Schweiz zu tun zu haben. Durch den<br />
Schweizer Komponisten Schnyder von Wartensee ist überliefert, daß ihn 1811 an der<br />
Wiener Inszenierung die mangelnde Authentizität der Ausstattung irritierte, er vermißte<br />
in der Oper das echte Schweizer Kolorit: „In der […] Hoffnung, recht lebendig in sein<br />
fernes Vaterland hingezaubert zu werden, begab sich Schnyder in das <strong>The</strong>ater und<br />
[erwartete] in treuer Abbildung Urner, Luzerner, Berner oder Appenzeller Leute sehen<br />
zu können. Arge Täuschung! Die Unnatur der wahnsinnigen Emmeline, ihre affektierte<br />
Sentimentalität, die verkünstelte, puppenhafte Kleidung der Schweizerbauern, denen<br />
alle Buben nachlaufen würden, wenn sie so gekleidet durch ein Schweizerdorf spazierten,<br />
machten auf den allzustrengen Schnyder einen peinlichen Eindruck […].“ Schnyder<br />
vermochte „zu seinem Ärgernis nicht eine einzige Schweizermelodie“ in der Musik<br />
zu identifizieren, „und selbst der lange Kuhreigen, der psychiatrisch den Wahnsinn<br />
der Emmeline heilt,“ hatte seinem Empfinden zufolge „mehr den Savoyarden- als<br />
Schweizercharakter.“ Der Vorwurf mangelnder Authentizität traf Castelli und Weigl<br />
jedoch zu Unrecht: Interessant an dem Stoff ist ja gerade die Idee, daß ein deutscher Graf<br />
das Wohlbefinden einer aus der Schweiz nach Deutschland verpflanzten Familie mittels<br />
eines nur suggerierten Milieus in der Fremde wiederherstellen will. Auf diese Weise<br />
kommt es zu der künstlich nachgeahmten Schweiz, vergleichbar der Modeerscheinung,<br />
in Landschaftsgärten „Schweizer Häuser“ zu integrieren, so etwa in Versailles.<br />
Die Idee der künstlichen Schweiz, in der sich die Protagonisten an ihr Leben<br />
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