Leseprobe (pdf) - REVUE
Leseprobe (pdf) - REVUE
Leseprobe (pdf) - REVUE
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Fritz B. Simon Editorial<br />
Viele Metaphern, mit deren Hilfe ökonomische Zusammenhänge beschrie-<br />
ben werden, stammen aus der Sphäre des Sports. Erklären lässt sich das<br />
wahrscheinlich dadurch, dass es in Wirtschaft wie Sport um Wettbewerb<br />
geht, um Gewinnen und Verlieren (auch wenn der Gewinner nicht immer<br />
einen Gewinn erzielt und der Verlierer nicht immer einen Verlust erleidet).<br />
Da spricht man von Unternehmen, die in einer bestimmten »Liga« spielen,<br />
an anderer Stelle werden »Hidden Champions« gepriesen, und auch »Leistung«<br />
scheint eine Idee, die beide Bereiche verbindet. Besonderer Beliebtheit<br />
erfreut sich dabei der Vergleich mit Fußball – einem Mannschaftssport, der<br />
sich anbietet, um das Zusammenspiel einer Vielzahl von Akteuren im Rahmen<br />
eines sozialen Systems, z. B. eines Unternehmens, zu illustrieren. Hier<br />
schließt Ingeborg Lüscher, »Featured Artist« dieser Ausgabe der Revue für<br />
postheroisches Management an, wenn sie Fußball zum Gegenstand ihrer<br />
Video-Installation »Fusion« macht. Ihre auf den folgenden Seiten abgedruckten<br />
Bilder sprechen für sich …<br />
Aber Fußball und andere Mannschaftskampf-Sportarten können auch<br />
genutzt werden, um in das Thema dieser Ausgabe einzuführen: Beratung –<br />
speziell das Verhältnis von systemischer Beratung und klassischer Fachberatung.<br />
Können beide Beratungstypen kombiniert werden, oder ist der Konflikt<br />
unvermeidlich? Bedarf es einer »komplementären« Beratungsform oder<br />
anderer, »dritter« Formen jenseits der einen oder der anderen usw.?<br />
Die Rolle des Beraters in Organisationen kann auf ihre Ähnlichkeit mit<br />
der eines Coaches oder Trainers im Sport bzw. seiner Beziehung zu den Spielern<br />
auf dem Feld betrachtet werden. Um den Unterschied zwischen systemischer<br />
Beratung und klassischer Fachberatung zu verstehen, könnte eine<br />
Bemerkung von Jürgen Klinsmann hilfreich sein, mit der er in einem Interview<br />
(»Das war mein Amerika«, DIE ZEIT, Nr. 04, 17.01.2008) zu erklären versucht,<br />
warum Fußball in den USA keine besondere Popularität gewinnen<br />
konnte:<br />
»Bei Basketball, American Football und Baseball handelt es sich, wie die<br />
Amerikaner sagen, um coaches games, um Mannschaftsspiele, die wesentlich<br />
durch das Eingreifen des Trainers von außen bestimmt werden. Fußball hingegen<br />
ist ein klassisches players game, ein Spiel, das von den Spielern bestimmt<br />
wird. Die Amerikaner versuchen immer noch, Fußball zu spielen, als<br />
sei es ein coaches game. Dadurch entsteht eine irrsinnige Hektik, weil permanent<br />
alle Trainer von außen auf die Spieler einreden. Das ist einer der Gründe,<br />
warum der Fußball, so wie wir ihn kennen, in Amerika eigentlich noch<br />
gar nicht angekommen ist.«<br />
Wenn wir einmal – wie weit hergeholt das auch erscheinen mag – die<br />
Funktion des Beraters mit der des Coaches im Mannschaftssport vergleichen,<br />
so zeigt dieses unterschiedliche Rollenverständnis gewisse Ähnlichkeiten<br />
mit dem unterschiedlichen professionellen Selbstverständnis von Fachberatern<br />
und systemischen Beratern. Greift der Coach direkt in das Spiel ein,<br />
trifft er aktuell Entscheidungen über die nächsten Spielzüge und die Akteure,<br />
die sie zu realisieren haben? Oder bleibt er in der Position des außenstehenden<br />
Beobachters und »beschränkt« sich auf die Vorbereitung der Spie-<br />
Editorial 3 Revue für postheroisches Management / Heft 2
ler, die Beobachtung ihres Zusammenspiels, die Vergemeinschaftung einer<br />
für alle verbindlichen Spielphilosophie und Strategie etc. sowie auf gute<br />
Tipps in der Pause?<br />
Beiden Modellen liegen unterschiedliche Steuerungs- und Beratungsmodelle<br />
zugrunde, die wahrscheinlich auch für das unterschiedliche Management-<br />
und Führungsverständnis in den USA und Europa charakteristisch<br />
sind. Einmal ist der Coach der Wissende, der im Extremfall (Trainerspieler) www.clemenshabicht.com<br />
selbst mit aufs Feld geht, weil er eh am besten weiß, wie alles zu laufen hat.<br />
Und um seine Visionen zu realisieren, schickt er diejenigen ins Spiel, die er Habicht,<br />
für geeignet hält, seine Vorstellungen umzusetzen.<br />
Solch ein US-amerikanisches Verständnis entspricht wahrscheinlich Clemens<br />
nicht zufällig dem Selbstverständnis der aus den USA stammenden Fachberatungsansätze.<br />
Hier verstehen sich die Berater als die besseren Führungskräfte<br />
und übernehmen deren Funktionen, wo sie Defizite zu haben schei- Illustration:<br />
nen. Und es ist sicher nicht zufällig, dass viele von ihnen irgendwann die<br />
Seiten wechseln und auch offiziell in die Rolle des Managers gehen. Ganz<br />
Wimmer.<br />
analog hat in den genannten, in den USA populären Sportarten der Coach die<br />
Heldenrolle inne.<br />
Rudolf<br />
Im Fußball (»altes Europa«) ist das offenbar anders (auch wenn Jürgen<br />
Klinsmann sich vorübergehend der Heldenverehrung erfreuen durfte). DennSimon,<br />
B.<br />
hier ist mit der aktiv steuernden Einmischung kein Blumentopf zu gewin-<br />
Fritz<br />
nen. Das Spiel verläuft so schnell, dass die Selbstorganisation der Spielzüge,<br />
das »blinde« Zusammenspiel, unverzichtbar für den Erfolg ist. Dem Coach<br />
bleibt nur die Möglichkeit, sich vorher oder nachher (reflektierend) GedanSzankay,<br />
ken über die Rahmenbedingungen des Erfolgs oder Misserfolgs zu machen<br />
und seine Konsequenzen zu ziehen. Das bezieht sich auf die Mannschafts- Andreas<br />
aufstellung, die Auswahl der zueinander passenden Protagonisten mit ihren<br />
persönlichen Merkmalen und Macken, ihr gegenseitiges Verstehen, sodass Glatzel,<br />
sie ohne großen Kommunikationsaufwand wissen, welche Spielzüge sie von-<br />
Katrin<br />
einander zu erwarten haben, die gemeinsame Strategie und Taktik usw.<br />
Der Trainer ist dabei nie auf dem Spielfeld, und seine Möglichkeiten, nach<br />
Baecker,<br />
dem Anpfiff direkt einzugreifen, sind minimal. Insofern haben während des<br />
Spiels andere die Führung inne (Spielführer). Aber »vor dem Spiel ist nach Dirk<br />
dem Spiel«, und das ist die Zeit, in der vom Trainer gearbeitet wird. Ein ande-<br />
Groth,<br />
res Modell als das des US-Coaches.<br />
Man kann natürlich mit Fug und Recht bestreiten, dass es angemessen<br />
Torsten<br />
ist, die Rollen von Coaches/Trainern im Sport und die von Organisationsberatern<br />
zu vergleichen. Aber wenn man dies einmal als Arbeitshypothese unten)<br />
akzeptiert, so stellt sich die Frage, welches der beiden Modelle das funktio-<br />
nach<br />
nellere ist. Dass das amerikanische beim Fußball nicht sonderlich erfolgreich<br />
oben<br />
ist, hat sich in den letzten hundert Jahren gezeigt. Dass das europäische<br />
Modell beim American Football zielführend wäre, scheint zweifelhaft. Die (von<br />
entscheidende Frage ist aber: Entsprechen die Organisationen, die sich Berater<br />
ins Haus holen, eher dem amerikanischen oder der europäischen Modell<br />
des Sports? Sind es überhaupt dieselben »Spiele«, die da gespielt werden?<br />
Oder, anders gefragt: Ist Wirtschaften heute eher als coaches game oder als Redaktionsteam:<br />
Editorial 4 Revue für postheroisches Management / Heft 2
players game zu verstehen? Die Antwort auf diese Fragen hat weitreichende<br />
Konsequenzen für ihre Teilnehmer: die Unternehmen bzw. deren Management<br />
und Führung sowie ihre Beratung.<br />
An dieser Stelle verlassen wir die Fußballmetapher, die durch Ingeborg<br />
Lüscher in den Fokus der Aufmerksamkeit gebracht wurde, zumal es aus<br />
einer systemtheoretischen Perspektive für Unternehmen und andere Organisationen<br />
erst einmal ums Überleben (= Nicht-Verlieren) geht, bevor überhaupt<br />
an Gewinnen gedacht werden kann. Wenden wir uns also dem Thema<br />
dieser Ausgabe der Revue zu: Wir haben prominente Autoren gewinnen<br />
können, die aus sehr unterschiedlichen Perspektiven auf Beratung schauen.<br />
Wir beginnen mit dem Versuch der Klärung des Begriffs »Konsultant«. Im<br />
alten Griechenland dienten Konsultanten denen, die »einen Herrn« brauchten<br />
(was zeigt, wie erhellend für die Gegenwart der kritische Blick auf die<br />
Historie sein kann). Nach der Diskussion der Beziehung des Beraters zu den<br />
formal Mächtigen wenden wir uns der Beziehung zwischen Wissenschaft,<br />
Management und Beratung zu, um schließlich zum Schwerpunkt dieser<br />
Ausgabe zu kommen, zu der Auseinandersetzung über das Verhältnis von<br />
klassischer Fachberatung (à la McKinsey) und systemischer Organisationsberatung.<br />
Garniert wird das Ganze – um dem programmatischen Titel Revue<br />
gerecht zu werden – durch einen »Kessel Buntes« (Kolumnen, Randbemerkungen,<br />
Kommentare, Berichte von Geschehnissen jenseits des gewohnten<br />
Blickfeldes usw.), bei dem stilvoll kostümierte Tänzerinnen und Tänzer ihre<br />
wohlgeformten Beine schwingen (was uns dann fast schon wieder erlaubt,<br />
den Bogen zurück zum Fußball zu schlagen).<br />
Bleibt uns, viel Spaß beim Schauen und Lesen zu wünschen.<br />
Für die Herausgeber: Fritz B. Simon<br />
Editorial 5 Revue für postheroisches Management / Heft 2
Inhalt<br />
3 Editorial von Fritz B. Simon<br />
8 Peter Sloterdijk<br />
Konsultanten. Eine begriffsgeschichtliche Erinnerung<br />
20 Ingeborg Lüscher<br />
… über Ingeborg Lüscher – der künstlerische Weg<br />
26 Roswita Königswieser<br />
Komplementärberatung: Wenn 1 plus 1 mehr als 2 macht<br />
Kommentar von Rudolf Wimmer<br />
Komplementärberatung – mehr als ein Übergangsphänomen?<br />
40 Annika Farin<br />
Klassische und systemisch-psychologische Beratung:<br />
Symbiose, nicht Widerspruch<br />
Kommentar von Fritz B. Simon<br />
Keine psychologische Beratung …<br />
48 Rudolf Wimmer im Interview<br />
Ersatzmanagement ist der Sündenfall jeder Beratung<br />
Kommentar von Roswita Königswieser<br />
56 Thomas Düllo, Alexander Weise, Eric Engelbracht<br />
Revue goes Revue – »From Hero to Hero«<br />
58 Günther Ortmann<br />
»Serendipity« und Abduktion. Von der Gabe, in unser Glück<br />
zu stolpern, und von detektivischer Deutungskunst<br />
64 James G. March<br />
Organisationsberater und Organisationsforschung<br />
76 Kathrin Röggla<br />
»besser wäre: keine«<br />
Kolumnen<br />
86 Management für Fortgeschrittene<br />
Management für Anfänger<br />
von Dirk Baecker<br />
90 Wozu Wirtschaft?<br />
Capitalismo nuovo: Netzwerke, Sozialkapital, Schwärme<br />
von Birger P. Priddat<br />
93 Hollywood<br />
Wo die Zeit auch nicht mehr das war, was sie früher mal sein wird …<br />
von Fritz B. Simon<br />
98 Alfred Kieser<br />
Wissenschaftler, Unternehmensberater und Praktiker –<br />
ein glückliches Dreiecksverhältnis?<br />
110 Thomas G. Cummings im Interview<br />
You’d better know economics!<br />
120 Hören & Sehen<br />
122 Überblick, Bestellservice, Impressum<br />
Inhalt 7 Revue für postheroisches Management / Heft 2
Peter Sloterdijk arbeitet seit den 1980er Jahren als freier Schriftsteller. Das 1983 im Frankfurter Suhrkamp Verlag<br />
publizierte Buch »Kritik der zynischen Vernunft« zählt zu den meistverkauften philosophischen Büchern des 20. Jahrhunderts.<br />
Im Jahr 1988 übernahm Sloterdijk eine Gastdozentur am Lehrstuhl für Poetik der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität<br />
in Frankfurt am Main. Von 1992 bis 1993 hatte er den Lehrstuhl für Philosophie und Ästhetik an der Staatlichen Hochschule<br />
für Gestaltung in Karlsruhe inne. Zudem wurde Sloterdijk 1993 Leiter des Institutes für Kulturphilosophie an der Akademie<br />
der bildenden Künste in Wien, bis er schließlich 2001 eine Vertragsprofessur am Ordinariat für Kulturphilosophie<br />
und Medientheorie in Wien übernahm. Seit 2001 ist Sloterdijk Rektor der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe.<br />
Er moderiert – zusammen mit Rüdiger Safranski – die Gesprächsrunde »Im Glashaus: Das Philosophische Quartett« im ZDF.<br />
Peter Sloterdijk<br />
Konsultanten.<br />
Eine begriffsgeschichtliche Erinnerung<br />
»Konsultanten« 1 : Ich muss zunächst zugeben: Ich bin<br />
begeistert über den Lakonismus dieser Themenstellung.<br />
Stilistisch sind wir von Anfang an auf platonischem<br />
Terrain. Es gäbe wohl nur eine Möglichkeit, der platonischen<br />
Welt noch näher zu kommen: indem man die<br />
Einzahl verwendete und so das Urbild des Konsultanten<br />
zitierte, das selbstverständlich singularisch auftritt. Aber<br />
»Konsultanten« im Plural ist auch nicht schlecht, denn<br />
es macht klar, dass hier eine Begriffsbestimmung versucht<br />
wird, die ein historisches Eidos aus der Fülle der<br />
Erscheinungen herausliest. Diese Übung soll hier in Form<br />
einer mittelgroßen Erzählung geschehen. Ich erlaube mir<br />
zunächst – weil das ein wenig zu meiner eigenen Fama<br />
gehört –, einen antiken Vorläufer der Konsultanten vorzustellen,<br />
der durch bestimmte Akte des Ratens und<br />
Abratens bekannt wurde. Die Rede ist von einem Philosophen,<br />
von dem Diogenes Laertius in seiner Kompilation<br />
über Leben und Meinungen der Kyniker Folgendes<br />
berichtet:<br />
Auf der Fahrt nach Ägina fiel er Seeräubern in die Hände, an<br />
deren Spitze Skirpalos stand. Von ihnen wurde er nach Kreta gebracht<br />
und zum Kauf ausgeboten. Als der Herold ihn fragte, auf welches Geschäft<br />
er sich verstünde, antwortete er: »Menschen zu beherrschen«.<br />
(Hier wäre wohl ein Übersetzungsproblem zu beheben, denn es<br />
heißt eigentlich: »Menschen zu lenken« oder, noch deutlicher, »Menschen<br />
zu beraten«.) Dabei wies er auf einen vornehm gekleideten<br />
Korinther, den … Xeniades hin, mit den Worten: »Diesem verkaufe<br />
mich, er bedarf eines Herren.« (Hier dürfen Sie erneut sinngemäß<br />
korrigieren: »er bedarf eines Konsulenten«.)<br />
Und so kaufte ihn Xeniades, nahm in mit nach Korinth, gab ihn<br />
seinen Söhnen zum Lehrmeister und überließ ihm die Leitung des<br />
gesamten Hauswesens. Er bewährte sich in dieser Stellung dermaßen,<br />
dass Xeniades bei einem Rundgang durch das Haus sagte: »Ein<br />
Agathodaimon (ein guter Geist) ist in mein Haus eingezogen.«<br />
Hier ist von niemand anderem die Rede als von Diogenes<br />
von Sinope, demselben Mann, der Alexander den<br />
Großen aus der Sonne geschickt hatte. Ich erzähle diese<br />
Geschichte, um gleich von Anfang an klarzumachen,<br />
dass wir den Typus des Beraters, wenn wir seine Phänomenologie<br />
breit anlegen wollten, aus einer antiken<br />
Genesis herleiten müssten. Für heute jedoch möchte<br />
ich sehr viel später ansetzen und meine Erzählung mit<br />
der Neuzeit beginnen lassen. Bei begriffsgeschichtlichen<br />
Untersuchungen dieser Art schweben mir natürlich die<br />
großartigen Arbeiten Niklas Luhmanns vor, der uns in<br />
seinen Büchern über »Gesellschaftsstruktur und Seman-<br />
Konsultanten 8 Revue für postheroisches Management / Heft 2
tik« gezeigt hat, dass und warum die fruchtbarste aller<br />
historischen Schwellen für begriffsgeschichtliche Unter-<br />
suchungen in dem Zeitraum zu finden ist, den wir sum-<br />
marisch die Renaissance nennen.<br />
So soll es auch hier sein. Der Grund für diese Präfe-<br />
renz ist ohne Zweifel in dem Umstand zu suchen, dass<br />
für die meisten später zur Ausdifferenzierung heranreifenden<br />
gesellschaftlichen Subsysteme ihre spezielle<br />
Geschichte prägnant in dieser Zeit beginnt. Ich teile meine<br />
Überlegungen in zwei größere Abschnitte ein – und<br />
möchte den ersten unter die Überschrift »Sekretärsdämmerung«<br />
stellen, um darauf im zweiten auf das »Secretum«<br />
der Sekretäre und das Konsilium der Konsultanten<br />
näher einzugehen.<br />
Sekretärsdämmerung<br />
Mit diesem Begriff versuche ich das sozialgeschichtliche<br />
Drama des 15. Jahrhunderts auf den Punkt zu bringen –<br />
jenes Jahrhunderts, das man gemeinhin als den Beginn<br />
der Neuzeit bezeichnet. Mit ihm setzt ein neuer Zyklus<br />
humanistischer Programme von großem Folgenreichtum<br />
ein. Humanismus bedeutet in diesem Kontext: Man<br />
blickt in die Antike zurück, um aus dem Fundus der antiken<br />
Berufsrollen einige neue Funktionen der Gegenwart<br />
zu legitimieren. So kommt es etwa, dass der Typus des<br />
Philologen wieder auftaucht, für den man im aktuellen<br />
Rollenhaushalt der Gesellschaft neue Verwendungen findet,<br />
sei als Diplomat (d.h. als Urkundenleser), als Historiker<br />
oder als Pädagoge. Der zweite wichtige Wiedergänger,<br />
der von da an die modernen Gesellschaften irritiert,<br />
ist der Künstler – nun freilich auf einer ganz anderen<br />
sozialen Höhe als in der Antike. Die dritte Gruppe von<br />
Wiedergängern mit antiken Ausweisen bilden schließlich<br />
die Sophisten.<br />
Und hiermit sind wir bei unserem Thema. Neuzeit ist,<br />
um systematisch zu sprechen, eine Ära der Neosophistik.<br />
Sie bildet ein Zeitalter, dessen Ideengeschichte in der<br />
Hauptsache nur als Sophismen-und-Sophisten-Geschichte<br />
geschrieben werden könnte. Unglückseligerweise besitzen<br />
wir für die vergangenen 600 Jahre europäischer<br />
Ideenevolution nur Philosophie-Geschichten, aber keine<br />
Sophistik-Geschichte – und das ist einer der Gründe dafür,<br />
warum wir diese Epoche fast gar nicht kennen, einige<br />
Theorieinseln ausgenommen, die von den rar gewordenen<br />
Humanismusexperten und Spezialisten für präcartesische<br />
Philosophie bearbeitet worden sind.<br />
Mit dem Anbruch der neosophistischen Konjunktur<br />
kommt wie selbstverständlich auch das Paradigma einer<br />
wirkungsbewussten Vernunft wieder herauf, über das<br />
die Alten bereits in ausgereiften Formen diskutiert hatten.<br />
Den Menschen der antiken Stadtkulturen war bewusst<br />
gewesen, dass zwischen dem Logos und der Praxis<br />
ein enges Band besteht und dass diese Beziehungen von<br />
einer eigenen Gruppe von Experten betreut werden müssen.<br />
In der antiken Polis gab es einen voll ausdifferenzierten<br />
Ideenmarkt mit allen Merkmalen der Konkurrenz<br />
um Klienten und öffentlichen Erfolg. Auf ihm haben<br />
Redner und Erzieher miteinander um den Einfluss in der<br />
Gesellschaft gerungen.<br />
Einer der bekanntesten von diesen war der Redner<br />
Gorgias, von dem eine berühmte Rede unter dem Titel<br />
Enkomion Helenai (»Lobpreis auf Helena«) überliefert ist.<br />
Sie wurde klassisch als das Muster eines Vortrags, der<br />
beweisen sollte, dass ein guter Redner auch eine verlorene<br />
Sache zum Siege führen kann. Angesichts der generellen<br />
antiken Misogynie und überdies des überragend<br />
schlechten Rufes, den Helena in der alten Welt genoss,<br />
konnte ein Redner sein Talent an keinem anderen Gegenstand<br />
so gut beweisen wie an diesem. Wer einen<br />
Freispruch für Helena durchsetzte, dem durfte man auch<br />
alles andere zutrauen.<br />
Man muss annehmen, dass Gorgias nur einer von<br />
Hunderten mehr oder weniger erfolgreicher Argumentationskünstler<br />
im Dienste einer streitlustigen urbanen<br />
Klientel gewesen ist. Daher verwundert es nicht, wenn<br />
sich in Athen, der Hauptstadt der Sophistik, so etwas wie<br />
eine Aufsichtsbehörde herausbildete, die mit dem Anspruch<br />
auftrat, das Chaos der bezahlten Argumentationen<br />
einer epistemologischen Kontrolle zu unterwerfen<br />
und dadurch ein Monopol auf dem Diskursmarkt<br />
durchzusetzen. Nichts anderes war die Intention der ursprünglichen<br />
Philosophie, wie sie an der platonischen<br />
Akademie betrieben wurde. Ihr Monopolanspruch hat<br />
sich naturgemäß in der Antike nicht verwirklichen lassen<br />
– man kennt noch die klassische Vierteilung der<br />
Philosophenschulen. Der Traum vom Diskursmonopol<br />
kam erst im christlichen Zeitalter an sein Ziel, dann freilich<br />
nicht mehr unter dem Vorzeichen von Philosophie,<br />
1 Anm. d. Redaktion: Der Beitrag basiert auf einem Vortrag,<br />
gehalten von P. Sloterdijk am 17.11.2007 im Rahmen der<br />
Veranstaltung »X-Organisationen: 2. Berliner Biennale für<br />
Management und Beratung im System« in Berlin.<br />
Konsultanten 9 Revue für postheroisches Management / Heft 2
sondern unter dem der Theologie. Die Theologen, die<br />
Sophisten Gottes, waren es, die die antisophistischen Intentionen<br />
Platons mit aller Konsequenz wahr gemacht<br />
haben.<br />
Wenn ich oben auf die besondere ideengeschichtliche<br />
Bedeutung des 15. Jahrhunderts hingewiesen habe, so<br />
auch, weil in ihm die Aufweichung des Theologiemonopols<br />
unverkennbar wurde. Von dieser Zeit an kommt<br />
es nicht nur zu einer Wiederkehr der Philosophen im<br />
eigentlichen Sinn des Wortes, das heißt von Denkern<br />
außerhalb der Kirche. Diese Wiederkehr bringt überdies<br />
eine strategische Allianz zwischen neuen Sophisten und<br />
neuen Philosophen mit sich, und gerade hierin sollte<br />
man die Bedeutung des Renaissancehumanismus sehen.<br />
Mit ihm kommt eine Konstellation erneut zur Geltung,<br />
die in der antiken griechischen Stadtkultur schon einmal<br />
vollständig ausgebaut war. Ich spreche hier von<br />
dem Bipolarismus der Leistungsrollen, der allen sophistischen<br />
und eo ipso allen konsultativen Funktionen zugrunde<br />
liegt.<br />
Was soll das heißen? Schon die antike Stadtkultur<br />
hatte erkannt, dass es keinen urbanen Leistungsträger<br />
gibt, der sich auf seinem Felde allein und unberaten<br />
betätigen könnte. Sobald jemand in einer ausdifferenzierten<br />
Kultur aus der Menge heraustritt und in eine<br />
Leistungsfunktion einrückt, muss er unweigerlich jemanden<br />
neben sich haben, der ihn bei seinen Tätigkeiten<br />
beratend, moderierend und motivierend unterstützt.<br />
So hat schon der antike Geschäftsmann eben seinen<br />
Sophisten neben sich, eine Vorform des Anwaltes.<br />
Der Athlet wiederum stützt sich auf seinen Trainer – der<br />
Trainer ist der Sophist des Athleten. Der Staatsmann hat<br />
seinen Arzt neben sich, von den Griechen archíatros genannt,<br />
der Erzmedicus, von dem das deutsche Lehnwort<br />
»Arzt« herkommt – und was ist der Arzt anderes als<br />
der Sophist des Kranken? Der erfolgreiche Privatmann<br />
schließlich hat den Erzieher seiner Söhne neben sich.<br />
Die griechische Pädagogik beruhte bekanntlich auf der<br />
Entdeckung der doppelten Vaterschaft – man hatte begriffen,<br />
dass leibliche Vaterschaft meistens mit spiritueller<br />
Inkompetenz einhergeht, sodass unausweichlich ein<br />
bezahlter Zweitvater hinzugezogen werden musste. Das<br />
führt in Griechenland zur Erfindung des Lehrers, einer<br />
der fatalsten Traditionen des alten Europa. Das Beste,<br />
was man über den Lehrer sagen könnte, wäre doch wohl,<br />
dass er der Sophist des Schülers sei. Stellt man nun diese<br />
Figuren nebeneinander, tritt ihre gemeinsame sophistische<br />
Qualität ganz klar an den Tag. Vergegenwärtigt<br />
man sich überdies die sophistische Basis des Politikers in<br />
der Polis, so wird die Allgegenwart des Sophismus vollends<br />
begreiflich. Nach ihrer antiken Definition war die<br />
Demokratie nichts anderes als die Steuerung des Gemeinwesens<br />
durch die bloße Macht des Wortes in der<br />
Volksversammlung. Wenn der Rhetor eine eminente<br />
Rolle im Ökosystem des antiken Wissens und politischen<br />
Lebens spielte, so vor allem, weil sich in seinem Amt alle<br />
übrigen sophistischen Funktionen kondensierten. Der<br />
Redner ist der Sophist für das Volk, wohingegen der Philosoph,<br />
wie Platon ihn porträtierte, mit dem Anspruch<br />
auftrat, der Sophist des Königs zu sein, ja, mehr noch,<br />
die Personalunion aus König und Ratgeber. Es ist der<br />
illuminierte Sophist, der mit Hilfe des Logos ein Monopol<br />
des Wissens in der Gesellschaft errichtet.<br />
.......<br />
Das führt in Griechenland<br />
zur Erfindung des Lehrers –<br />
einer der fatalsten Traditionen<br />
des alten Europa.<br />
Es gibt einen sprachgeschichtlich interessanten Hinweis,<br />
der die enge Verwandtschaft zwischen dem philosophischen<br />
und dem athletischen Ansatz deutlich macht. Die<br />
Wörter für diese beiden Berufe wurden nämlich ganz<br />
analog gebildet. Älter als das Wort philosophos, der Weisheitliebende,<br />
das auf Platon zurückgeht, ist das Wort phi-<br />
Konsultanten 10 Revue für postheroisches Management / Heft 2
loponos, das Beiwort des Athleten: »der Müheliebende«,<br />
der Mann, der sich gerne anstrengt. Die Anstrengung des<br />
Griffs ist somit etwas älter als die Anstrengung des Be-<br />
griffs. Das Wort philoponos verrät, wie sehr die Griechen<br />
davon überzeugt waren, dass Erziehung ohne Anstrengung<br />
nicht gelingen kann. Ein Schlüsselwerk der Moderne<br />
trägt auf seinem Titelblatt einen in bekennender<br />
Absicht gesprochenen Satz: Ho me dareis anthropos ou paideuetai.<br />
Der Mensch, der nicht geschunden wird, wird<br />
nicht erzogen. Wo lesen Sie das? Nirgendwo anders als<br />
am Beginn von Goethes Lebensbeschreibung Dichtung und<br />
Wahrheit.<br />
Kurzum, spätestens vom 15. Jahrhundert an sind in<br />
Nordwest-Europa und in Oberitalien die antiken Dispositive<br />
wieder aktuell geworden. Der soziologische Hintergrund<br />
für diese Reaktualisierung liegt auf der Hand. In<br />
den wieder aufblühenden Stadtkulturen werden die konkurrenzpolitischen<br />
Motive des Polislebens neu entdeckt.<br />
Nun kann man an der antiken Ausdifferenzierung von<br />
Leistungsrollen wieder anknüpfen. Es kommen intensive<br />
neosophistische Bewegungen auf, die sich als Neopädagogik,<br />
als Neoartistik, als Neopolitik präsentieren.<br />
Nur die Neo-Athletik lässt interessanterweise noch 400<br />
Jahre auf sich warten. Es gehört zu den mysteriösen Phänomenen<br />
der Neuzeit, denen eine allgemeine Renaissancetheorie<br />
auf den Grund zu gehen hätte, warum die<br />
populäre Schlüsselfigur der Hoch- und Spätantike, der<br />
Athlet, erst so spät wiedergekommen ist. Es ist jedenfalls<br />
eine sehr auffällige (wenn auch so gut wie uninterpretierte)<br />
Tatsache, dass das kulturelle Großereignis, das<br />
Renaissance heißt, erst um 1900 mit der Wiederkehr des<br />
Athleten zur Vollendung gelangte. Nicht zufällig ist dies<br />
die Zeit, in der die Aristokratie und das Bürgertum ihre<br />
Definitionsmonopole an die heraufkommende Massenkultur<br />
verlieren. Die einzigen Bauformen aus dem architektonischen<br />
Formenarsenal der Antike, die das moderne<br />
Europa zwischen 1500 und 1900 nicht zu wiederholen<br />
wagte, das Stadion und die Arena, erlebten folgerichtig<br />
erst nach 1900 eine überschwängliche Konjunktur (beginnend<br />
mit der Wiederherstellung des panathenäischen<br />
Stadions von Athen für die ersten Olypmpischen Spiele<br />
1896). Seither leben die Modernen in einem zweiten Arena-Zeitalter.<br />
(Nachdem sich der britische Sport gegen das<br />
deutsche Turnen durchgesetzt hat, kann man auch auf<br />
dem Feld der Körperkultur die vollkommene Re-Hellenisierung<br />
konstatieren.) Seit die Athleten zu den Philolo-<br />
gen, den Künstlern, den Pädagogen und den Politikern<br />
hinzugekommen sind, ist das antike Spektrum der Leistungsrollen<br />
wieder vollständig repräsentiert. Aus diesem<br />
Umstand lässt sich die zweite Sophistik herleiten, deretwegen<br />
die gesamte Zeitspanne vom 15. Jahrhundert bis<br />
heute als das Zeitalter der Konsultanten zu bestimmen<br />
wäre.<br />
Die Renaissance ist in ideengeschichtlicher Sicht eine<br />
Zeit der Fülle, weil sie noch beisammenhält, was später<br />
getrennt wird: Ihr gelingt noch die Bestimmung des<br />
Menschen als eines Wesens, das von vorne herein unter<br />
einem doppelten Stern steht. Der Mensch ist ihr zufolge<br />
ein Geschöpf, das weder frei noch unfrei ist, weder<br />
selbstgesetzlich noch fremdgesetzlich. Die Renaissance-<br />
Anthropologie weiß noch nichts von den Überspitzungen<br />
des Autonomismus, der für die spätere Philosophie,<br />
namentlich den deutschen Idealismus, charakteristisch<br />
werden sollte (aber ebenso nichts von den Exzessen des<br />
Heteronomismus, der im Gewande des modernen abstrakten<br />
Materialismus auftrat). Autonomistisch denkt,<br />
wer den Menschen auf das hohe Ross der Selbstbestimmung<br />
setzt, von dem es heißt, es könne ganz allein und<br />
aus eigenen Stücken, ohne Helfer und Ergänzer, durch<br />
die Welt laufen.<br />
Für die Denker der Renaissance sehen die Dinge ganz<br />
anders aus. Der Mensch wird hier in erster Linie als ein<br />
Spieler entdeckt, und zwar als ein Spieler, mit dem gespielt<br />
wird. Die große Entdeckung dieses Zeitalters besteht<br />
darin, dass der Ball, den er fangen muss, die Erde<br />
Konsultanten 11 Revue für postheroisches Management / Heft 2
ist. Das ist der ursprüngliche Sinn von Globalisierung.<br />
Das, was mit uns spielt, ist der größte der Bälle, der Menschen<br />
zugeworfen werden kann. Wer sich weigert, diesen<br />
Ball zu fangen, fällt aus dem Spiel der Modernisierung<br />
heraus. Das ist einer der Gründe, warum man in der<br />
Ikonografie des 16. Jahrhunderts häufig Monarchen dargestellt<br />
sieht, die einen Ball in der Hand halten – jedoch<br />
nicht mehr die traditionelle Sphaira, das antike Kosmossymbol,<br />
sondern bereits die Erde, auf der man schon<br />
die Umrisse der Kontinente erkennt. Noch häufiger sieht<br />
man das komplementäre Motiv: Hände von fürstlichem<br />
Personal, die auf den Globus gelegt werden. Solche Bilder<br />
werden insbesondere vom elisabethanischen Zeitalter an<br />
charakteristisch, als sich die Könige zu den ersten Geschäftsführern<br />
ihrer Staaten zu wandeln beginnen.<br />
Es ist die Bestimmung des<br />
Menschen, dass er die Würfe des<br />
Zufalls fangen soll – wenn er sie<br />
denn fangen kann und will.<br />
Die Renaissance entdeckt also den Menschen als ein<br />
Wesen, das unter Einfluss steht. Das Einfluss-Prinzip,<br />
das sich heute in die verlorenen Winkel der Psychosenlehre<br />
zurückgezogen hat, durchwirkt das gesamte Denken<br />
der Renaissance über die Welt und den Menschen.<br />
Das Sein im Ganzen ist ein Konzert der Einflüsse, und<br />
der Mensch ist selbstverständlich durchgehend als Sender<br />
und Empfänger von Einflüssen bestimmt. Dieser<br />
Gedanke tut den Menschen jener Zeit offenkundig nicht<br />
weh – sie folgen noch keinem autonomistischen Imperativ,<br />
der sie in Opposition gegen eine solche These treiben<br />
könnte. Die Philosophie hat die Phantome der Freiheit<br />
noch nicht entdeckt, es gibt noch keine Festlegung<br />
auf das autonomistische Schema. Noch wird das subiectum<br />
nicht als »das zu Grunde Liegende« gedeutet (wie<br />
Heidegger später kritisch moniert), sondern als das (Einflüssen)<br />
»Unterworfene« und »Ausgesetzte«. Es ist die Bestimmung<br />
des Menschen, dass er die Würfe des Zufalls<br />
fangen soll – wenn er sie denn fangen kann und will.<br />
In dieser Zeit also geschieht das, was ich hier mit<br />
dem Ausdruck Sekretärsdämmerung umschreibe. Sie setzt in<br />
dem Moment ein, in dem die neue Maxime sich Geltung<br />
verschafft: »Spiele mit dem, was mit dir spielt! Denn<br />
.......<br />
wenn du es nicht tust, wird dir nur noch mitgespielt.«<br />
Dieses passive Mitspielen antwortet auf die Tatsache,<br />
dass andere schon spielen, oder, anders ausgedrückt:<br />
dass andere bereits zu einer Existenz in den Kraftfeldern<br />
der Einflussmächte aktiviert sind.<br />
Was die inneren Antriebe des Subjekts, das da spielt,<br />
angeht, so ist hierbei gar keine Hybris im Spiel, wie es<br />
die gängige Kritik der Subjektphilosophie gern unterstellt.<br />
Das moderne Spieler-Subjekt vollzieht lediglich die<br />
Einsicht, dass man in einer Szenerie von aufgeweckten<br />
Agenten besser fährt, wenn man selbst agentische Kompetenzen<br />
erwirbt.<br />
Hier endlich wird offenkundig, wo der Hund des<br />
Konsultanten begraben liegt. In einer Welt, die von aktivierten<br />
Spielern bevölkert wird, eröffnet sich ein neuer<br />
Sekretärsmarkt. Dieser ist seiner Struktur nach etwas<br />
ganz anderes als ein bloßer Informationenmarkt. Er<br />
drückt nicht weniger aus als die Wiederherstellung der<br />
antiken Grundsituation, die eine neosophistische Deutung<br />
hervorruft. Hierbei entsteht etwas, was man geradezu<br />
eine advokatorische Anthropologie nennen muss.<br />
Der homo consultandus tritt auf den Plan. Im Zeitalter der<br />
Entdeckung der Welt und des Menschen wird der Mensch<br />
vor allem als »das zu beratende Wesen« entdeckt – mithin<br />
als das Wesen, dessen Eigenforschungskompetenz<br />
niemals ausreichen könnte, um sich im Horizont des<br />
entgrenzten Wissens zureichend zu orientieren. Er ist<br />
somit das von Grund auf exzentrische Wesen – nicht im<br />
Sinne von Plessner, nach welchem wir durch Reflexion<br />
neben uns stehen und uns selbst wie Schauspielern zuschauen,<br />
sondern im Sinne der konstitutiven Konsultation,<br />
wonach jeder Handelnde exzentrisch auf seine<br />
Sophisten bezogen ist. Kraft dieser neosophistischen<br />
Wende entsteht ein neues anthropologisches Dispositiv,<br />
für das ich oben bereits den Ausdruck »Bipolarismus der<br />
Leistungsrollen« vorgeschlagen habe. In dem Mass wie<br />
dieser förmlich ausgearbeitet wird, tritt die Ergänzungsbedürftigkeit<br />
des Menschen unter Performanzdruck<br />
immer offener zutage. Ich nenne im Folgenden einige<br />
neue Berufsbilder bzw. neue Sozialcharaktere, an denen<br />
sich die entsprechenden Tendenzen im Renaissance-<br />
Humanismus besonders deutlich beobachten lassen.<br />
Die erste Figur, auf die ich hinweisen möchte, ist die<br />
neuartige Gestalt des privat niedergelassenen Rechtsanwalts<br />
– den man damals auch den Konsulenten nannte.<br />
Hier ist namentlich an die eminente Gestalt Gregors von<br />
Konsultanten 12 Revue für postheroisches Management / Heft 2
Heimburg zu erinnern, des ersten deutschen Anwalts,<br />
der sich im Jahr 1435 in der aufblühenden Kaufmannsstadt<br />
Nürnberg niederließ. Er war eine vielseitig schillernde<br />
Figur, der einigen der Großen seiner Zeit als Ratgeber<br />
zur Seite stand. Sein Leben wurde durch einen<br />
langwierigen Konflikt mit dem Papst überschattet, der<br />
ihm sogar eine Exkommunikation eintrug, die nur mit<br />
Mühe aufzuheben war. Man könnte in diesem Konflikt<br />
ein Vorzeichen der Risiken sehen, mit denen die Ratgebenden<br />
künftig würden leben müssen.<br />
Neben dem niedergelassenen Anwalt trat zu derselben<br />
Zeit ein zweiter neuer Typus auf die Bühne der Sozialcharaktere<br />
– das 15. Jahrhundert ist das goldene Zeitalter<br />
des Sekretärs, des secretario, des Mannes, der, wie<br />
der Name sagt, mit den Mächtigen ihre Geheimnisse<br />
teilt. Man kann die Erfindung der Sekretäre in ideengeschichtlicher<br />
Sicht kaum hoch genug veranschlagen.<br />
Mit ihr wird die Einsicht institutionalisiert, dass jeder<br />
Unternehmer seinen Sophisten braucht und jeder Fürst<br />
seinen Einflüsterer. Dies ist, wie man leicht erkennt, keineswegs<br />
nur ein philosophisch relevanter Sachverhalt.<br />
Der neue Sophist wird dem Unternehmer ganz leibnah<br />
zugeordnet (ich fasse, wie man sieht, den Begriff Unternehmer<br />
hier so weit, dass zwischen den Staatsmännern,<br />
den Kirchenfürsten und den Geschäftsleuten noch nicht<br />
differenziert werden muss), und diese Nähe der Zuordnung<br />
ist es, die den bemerkenswerten Namen secretario<br />
rechtfertigt.<br />
Der größte aller Sekretäre in jener Zeit war niemand<br />
anderes als Niccolò Machiavelli, der als der Patriarch der<br />
skrupellosen Machtkonsultanten ins europäische Kulturgedächtnis<br />
eingegangen ist. In den Schriften des großen<br />
Florentiners kann man die Professionalisierung der<br />
ratgebenden Vernunft exemplarisch studieren. Auch bei<br />
ihm ist das typische Konsultanten-Risiko zu beobachten<br />
– bis hin zu Vertreibung und Exil. Als es nach der mediceischen<br />
Gegenrevolution von 1512 zu einem Umsturz der<br />
Machtverhältnisse in Florenz kam, musste Machiavelli<br />
aus seiner Heimatstadt fliehen und durfte erst nach bitteren<br />
Exiljahren zurückkehren. Für die Nachwelt war<br />
Machiavellis Missgeschick allerdings ein Glück, denn in<br />
dieser Zeit hatte er Muße, die Bücher zu schreiben, deretwegen<br />
wir ihn heute noch zitieren. Aus seiner gelehrten<br />
Bitterkeit entwickelte er sich vom einfachen Stadtrat<br />
zu einer Art von Hyperstaatssekretär. Er ist der einzige<br />
Großsophist der alteuropäischen Überlieferung, auf den<br />
sich berufen kann, wem daran gelegen ist, eine Ahnenreihe<br />
zu konstruieren. Er war der Hypersekretär insofern,<br />
als er sich sogar die Entscheidung darüber vorbehielt, ob<br />
er sich als Fürstenberater oder als Republikberater engagieren<br />
sollte. Seine schwärmerischen Sympathien für<br />
Cesare Borgia sind bekannt, obschon er diesem Mann,<br />
seinem Favoriten für die Rolle des Prinzeps, niemals<br />
konkrete Dienste leisten konnte. Aus der Offenheit von<br />
Machiavellis Situation versteht sich die Tatsache, dass er<br />
gleich zwei gegensätzliche Ratgeberschriften verfasste,<br />
Klassiker der Politikberatung nach beiden Seiten. Für<br />
fürstliche Verhältnisse legte er den »Principe« vor, diese<br />
Grundschrift der Herrschaftskunst, die man noch heute<br />
als Handbuch einer amoralischen oder übermoralischen<br />
Klugheitslehre lesen kann. Für republikanische Verhältnisse<br />
hingegen bot er seine großartigen Betrachtungen<br />
über die ersten Bücher des Titus Livius an – Meditationen<br />
über die Physik des Staatswesens. Mit diesen beiden<br />
Schriften besitzen die Nachgeborenen zwei Dispositive<br />
für politisch-beraterische Tätigkeiten, aus denen die entsprechenden<br />
Intelligenzen bis heute schöpfen können.<br />
Ich weise en passant darauf hin, dass die populäre Literatur<br />
gegen Ende des 16. Jahrhunderts die chronisch<br />
gewordene Liaison zwischen Macht und Geist aufgreift,<br />
um eine der symbolträchtigsten Konstellationen der<br />
modernen Welt daraus zu schöpen – ich denke an die<br />
Allianz zwischen dem Doktor Faustus und seinem Sekretär<br />
Mephistopheles, die durch den allgekannten<br />
Teufelspakt aneinander gebunden sind, mit der Pointe,<br />
dass nach Ablauf der kritischen Frist der Herr selbst zum<br />
Sekretär seines Sekretärs werden muss.<br />
........<br />
Den dritten Berufszweig,<br />
der damals entstand, möchte<br />
ich die Sekretärs-Ausstatter<br />
oder Konsultations-Zulieferer<br />
nennen.<br />
Den dritten Berufszweig, der damals entstand, möchte<br />
ich die Sekretärs-Ausstatter oder Konsultations-Zulieferer<br />
nennen. Das sind zum einen die Anbieter von grammatischen<br />
und diplomatischen Diensten – Diplomatie<br />
bedeutet ursprünglich ja nichts anderes als die Kunst,<br />
Konsultanten 13 Revue für postheroisches Management / Heft 2
Urkunden zu lesen, zum anderen die Anbieter von astro-<br />
logischen Informationen. Europa erlebte vom 15. Jahr-<br />
hundert an nicht umsonst eine ungeheure Entfaltung<br />
der Astrologie als einer Art von – wie soll man sagen? –<br />
astraler Konsultation (man erinnert sich dank Schiller<br />
noch heute an Wallensteins astrologische Passion). Man<br />
muss sich davor hüten, das Interesse hieran bloß als<br />
Ausdruck irrationalistischer Neigungen misszuverstehen:<br />
In Wahrheit geht es um die Indienstnahme der<br />
Sterne als moderne Konjunkturbaromenter. Die Globografen,<br />
die Kartografen, die Himmelskundler – sie alle<br />
sind typische Konsultations-Ausstatter, die sowohl ihrer<br />
Klientel als auch sich selbst erklären, auf welchen<br />
Spieltischen in Zukunft die Einsätze der Global Players<br />
gemacht werden. Das sind in erster Linie die neuen und<br />
ständig weiter aktualisierten Bilder der von europäischen<br />
Schiffen umrundeten Erde und des einflussmächtigen<br />
Himmels über ihr.<br />
Zu den Sekretärs-Ausstattern gehören ferner die<br />
damals entstehenden journalistischen Funktionen und<br />
eine Reihe anderer informativer Dienste, die in diesem<br />
Zusammenhang zu nennen wären. In all diesen Berufen<br />
kommt die Notwendigkeit zum Tragen, hermeneutische<br />
Studien zu absolvieren, sofern Hermeneutik die Kunst<br />
ist, Texte das sagen zu lassen, wovon wir wollen, dass es<br />
in ihnen stehe. Die ältere Hermeneutik war hierin eng<br />
mit den mantischen Künsten verwandt, sofern diese<br />
darauf spezialisiert sind, Wissen über künftige Zufälle<br />
zu entwickeln. Die Scholastik hatte diesen ominösen<br />
Gegenstandsbereich unter dem Titel de futuris contigentibus<br />
diskutiert. Für Theoriehistoriker eröffnet sich hier eine<br />
Spur, die zur Entdeckung des Risikos führt – und ohne<br />
Positivierung des Risikos keine moderne Welt.<br />
Schließlich muss ich auf eine weitere Entwicklung<br />
im Bereich der menschlichen Subjektivität hinweisen,<br />
von der sich nicht leicht sagen ließe, ob es sich bei ihr<br />
um eine Entdeckung oder eine Erfindung gehandelt hat.<br />
Ich denke an die Figur des Jesuiten, ohne die es keine<br />
adäquate Beschreibung des neuzeitlichen Menschenparks<br />
geben kann. Wer sich auch immer mit den Problemen<br />
der Konsultation in Geschichte und Gegenwart<br />
beschäftigt, sollte mindestens ein Semester auf das<br />
jesuitische Phänomen verwenden. Dieser unheimliche<br />
Orden stellte eine Armee von asketischen Konsultanten<br />
und Sekretären auf, die sich einem spezifischen Willen<br />
zur Macht verschrieben hatten – und zwar auf dem Um-<br />
weg über den explizitesten Unwillen zur Macht. Sie legten<br />
sich selber dem Papst als ein willenloses Präzisionsinstrument<br />
zur Wirklichkeitsverwaltung in die Hand –<br />
im klaren Bewusstsein dessen, dass wer es einmal angefasst<br />
hat, es nicht mehr aus der Hand geben kann. Als<br />
intelligent tools des modernen Katholizismus handelten<br />
sie der alten Klugheitsdevise gemäß: »Wenn du herrschen<br />
willst, musst du dienen.« Aus dieser Grundstellung<br />
heraus hat der Jesuitenorden über mehr als 200<br />
Jahre hinweg eine Art von erfolgsdämonischer Kontrolle<br />
über das Haus der Kirche zu entwickeln vermocht. Für<br />
Konsultanten ist die Geschichte dieses Ordens voller Aufschlüsse,<br />
nicht zuletzt deswegen, weil hier ein Muster<br />
für die Kooperation von Hochmotivierten in weltweit<br />
operierenden Unternehmen geboten wird, das in der älteren<br />
Welt nicht seinesgleichen kennt. An ihm lässt sich<br />
die Frage festmachen, wie und wodurch überhaupt<br />
Menschen dazu imstande gesetzt werden, unter hoher<br />
Belastung zu kooperieren. In der Sprache von Heiner<br />
Mühlmann würde man antworten, Teams dieser Art sind<br />
Maximal-Stress-Kooperations-Gruppen«, anders ausgedrückt:<br />
Agentengemeinschaften, die durch eustressorische<br />
Fitness in ihr Optimum gelangen.<br />
..............<br />
Für Konsultanten ist die<br />
Geschichte des Jesuitenordens<br />
voller Aufschlüsse, nicht zuletzt<br />
deswegen, weil hier ein Muster<br />
für die Kooperation von<br />
Hochmotivierten in weltweit<br />
operierenden Unternehmen<br />
geboten wird, das in der älteren<br />
Welt nicht seinesgleichen kennt.<br />
Ein letzter Hinweis gilt der Entwicklung einer Tendenz,<br />
die das präzise Gegenteil des Jesuitismus zum Zug bringt:<br />
In derselben Zeit entsteht der Typus des Essayisten – exemplarisch<br />
verkörpert in der Person Michel de Montaignes.<br />
Das Schlüsselwort der essayistischen Grundhaltung<br />
rührt nicht zufällig an das Metier des Konsultanten: »Ich<br />
beriet mich mit mir selbst.« In diesem Motto wird der<br />
Konsultanten 14 Revue für postheroisches Management / Heft 2
förmliche Bipolarismus der Leistungsrollen, der in allen<br />
neosophistischen Funktionen zu beobachten ist, nach<br />
innen gezogen und zu der Figur der essayistischen Autokonsultation<br />
fortgebildet. Man sollte nicht zögern, dies<br />
zu den größten Entdeckungen des 16. Jahrhunderts zu<br />
rechnen, denn was hier entsteht, ist nicht weniger als<br />
die Matrix der späteren romantischen Endodialogik, auf<br />
der ein Großteil moderner Egotechniken (mithin ein<br />
wichtiges Segment des aktuellen Modus Vivendi) beruht.<br />
Das moderne essayistische Subjekt spaltet sich selber auf<br />
in den Ratgeber und den Ratnehmer und verwandelt<br />
sich intern in eine Bühne, auf der ein bewegtes Gespräch<br />
zwischen den beiden Polen möglich wird. Das Resultat<br />
hiervon ist der Essay als eine autokonsultative Literaturgattung.<br />
Dies macht allerdings regelmäßig an der<br />
Schwelle zur Autopersuasion Halt. Der Essayist überredet<br />
sich nicht, er begnügt sich damit, die Parteien in seinem<br />
internen Parlament reden zu hören. Er kann kein Interesse<br />
daran haben, dass ein Teil in seinem Inneren den<br />
anderen niederringt. Jedoch nur weil und solange der<br />
Essayist vom Zwang zum Handeln entlastet ist, kann er<br />
das Privileg der Unentschiedenheit literarisch ausarbeiten.<br />
Bei ihm muss sich die Autokonsultation nicht bis<br />
zur Autopersuasion (geschweige denn zur Autodesinhibition)<br />
weiterbilden. Infolge der Tatsache, dass er sich<br />
nicht selber überreden muss, bleibt er von der Autohypnose<br />
verschont, die sich den gewöhnlichen Handelnden<br />
als künstliches Überzeugtsein von den eigenen handlungsleitenden<br />
Fiktionen aufzwingt.<br />
Das Secretum<br />
Ich möchte nun zum zweiten und letzten Teil meiner<br />
Überlegungen weitergehen und ohne Umschweife vom<br />
Secretum der Sekretäre sprechen (nicht von dem Sekret,<br />
das sie absondern, sondern von dem Geheimnis, dass sie<br />
in sich tragen und von dem sie ihren Namen haben).<br />
Greift man das Wort in seiner alten Betonung auf und<br />
erinnert sich an den secretario des 15. und 16. Jahrhunderts,<br />
so wird uns der spätere Bedeutungszerfall des<br />
Ausdrucks scharf bewusst. Er hat sich im modernen Gebrauch<br />
in zwei Hälften zersetzt, von denen jede von einer<br />
gewissen Degradierung zeugt. Auf der einen Seite bezeichnet<br />
es die Geheimräte – diese Paradiesvögel der<br />
Bürokratie, die in einigen Ländern wie in Österreich<br />
mehr oder weniger funktionslos und eo ipso geheimnislos<br />
überlebt haben. Auf der anderen steht es für die<br />
Schreibkräfte, denen gerade das meiste von dem verborgen<br />
bleibt, wovon das Amt vormals seinen Namen hatte.<br />
Was aber macht den Inhalt jenes geheimen Ratgeberwissens<br />
aus, das den Sekretären von einst zu ihrem<br />
Namen verholfen hatte? Ich möchte hierauf einige Antworten<br />
andeuten, deren Summe das ausmacht, worin in<br />
meinen Augen das mysterium magnum des Sekretärswissens<br />
bestand. Ich fange mit dem größten und problematischsten<br />
Grundsatz dieses besonderen Wissens an, welcher,<br />
etwas zugespitzt gesprochen, lautet: »Der Fürst ist<br />
ratlos.« Ohne einen ratlosen Fürsten kann es keinen Ratgeber<br />
geben, so wie es ohne die sündige Menge auch keinen<br />
Beichtvater geben kann. Zwischen dem Interesse der<br />
Ratgeber und der Ratlosigkeit des Fürsten besteht ein<br />
dichter Bedingungszusammenhang. Schon aus beruflichen<br />
Gründen sind Konsultanten an ratlosen Fürsten<br />
interessiert. Hier darf man aber mit einem Entgegenkommen<br />
des Realen rechnen: Der Fürst ist in der Regel<br />
wirklich ratlos und bietet sich daher von selbst als homo<br />
consultandus an. Gerade in moderner Zeit, wo sein Amt<br />
einer zunehmenden Entsakralisierung und einer entsprechenden<br />
Pragmatisierung unterliegt, begreift der<br />
Fürst früher oder später, dass er für seine Aufgaben<br />
eigentlich nicht qualifiziert sein kann – sofern man von<br />
den sakralen Insignien und den erzieherischen Investititonen,<br />
die ihm angediehen sind, absieht. Ein intelligenter<br />
Fürst weiß, dass er sein Amt niemals verdient<br />
hat. Dieses Wissen gehört zu den Voraussetzungen der<br />
Fürstenfrömmigkeit in Europa, die man vom Mittelalter<br />
an auf breiter Front beobachtet. Gerade die intelligenten<br />
Fürsten werden fromm, weil die Frömmigkeit in systemischer<br />
Sicht die Haltung darstellt, mit der eine Amtsperson<br />
beweist, sie wisse, dass sie nichts weiß. Hiermit<br />
antizipiert der Fürst den Unternehmer der bürgerlichen<br />
Ära und den Manager nachbürgerlicher Zeiten. Wollte<br />
man ein systemtheoretisch inspiriertes allgemeines<br />
Porträt des Fürsten zeichnen, es müsste folgende Züge<br />
festhalten: Der Fürst ist untermotiviert, er ist unterinformiert<br />
und er ist unterdezidiert. Mit dieser Dreiheit<br />
von Defiziten ausgestattet, bringt er alles mit, was ihn<br />
zu seinem Amt zugleich disqualifiziert und qualifiziert.<br />
Die Defizite qualifizieren ihn, sofern er auf Personen<br />
trifft, die mit dem notwendigen Bipolarismus der Leistungsrollen<br />
rechnen und genau die Ergänzungen an ihn<br />
herantragen, die er aufgrund seiner Position braucht.<br />
Blickt der Leistungsträger – um allgemeiner zu reden – in<br />
Konsultanten 15 Revue für postheroisches Management / Heft 2
sich hinein, so erkennt er, dass er so gut wie nie für seine<br />
konkreten Aufgaben gerüstet ist. Was er mitbringt, sind<br />
wahrscheinlich nur allgemeine Dispositionen wie Gier,<br />
Ruhmsucht und Erfolgsstreben, also das, was Machiavelli<br />
unter dem Titel ambizioni diskutierte. Diese internen<br />
»Ambitionen« bilden eine Antriebsausstattung, die niemals<br />
direkt an die praktischen Situationen ankoppelt.<br />
Ich kann zwar maßlos ehrgeizig sein, aber diese Disposition<br />
hilft mir wenig, wenn es gilt, genau dieses oder<br />
jenes Problem zu lösen. Triebstruktur und Situationswissen<br />
sind nicht aneinandergekoppelt. Wenn bei einem<br />
Fürsten oder einem Unternehmer die Antriebstruktur als<br />
solche allzu sichtbar wird, spricht die Umgebung davon,<br />
dass er eitel oder größenwahnsinnig sei. Solche Urteile<br />
sind für den, dem sie gelten, fast immer nachteilig, da<br />
sie beweisen, dass ihm die stets zu suchende Koppelung<br />
zwischen Trieb und Situation misslungen ist.<br />
Aus tiefer Einsicht in die Psychodynamik<br />
des Staats- und Betriebsunternehmertums<br />
hat Machiavelli<br />
den idealen Chef als einen Mann<br />
ohne Eigenschaft entworfen.<br />
Eben dieses Problem hat Machiavelli präzise vorhergese-<br />
hen. Aus tiefer Einsicht in die Psychodynamik des Staats-<br />
und Betriebsunternehmertums hat er den idealen Chef<br />
als einen Mann ohne Eigenschaft entworfen. Dieses von<br />
Musil bekannt gemachte Motiv geht offensichtlich auf<br />
das späte 15. Jahrhundert zurück, wo es in mehreren Versionen<br />
diskutiert wurde. Ich nenne an erster Stelle die<br />
schöpfungstheologische Variante, der etwas später eine<br />
pragmatisch-politologische Umdeutung folgt. Pico della<br />
Mirandola stellt in seinem bekannten Traktat Über die<br />
Würde des Menschen den Weltenschöpfer als einen vergesslichen<br />
Demiurgen dar, der bei der Schöpfung alle Eigenschaften<br />
oder Essenzen, die an Dinge zu vergeben waren,<br />
über die Kreaturen verteilte, ohne für die sogenannte<br />
Krone der Schöpfung, den Menschen, etwas übrig zu lassen.<br />
Weil aber keine Essenzen für Adam mehr zur Verfügung<br />
stehen, wendet sich der Schöpfer an das Geschöpf<br />
mit der Botschaft: »Du sollst selber aus dir machen, was<br />
du sein willst. Du sollst dein eigener Bildner und Erfinder<br />
(plastes et fictor) werden!«<br />
........<br />
Diese kreativistische Einführung des Menschen ohne<br />
Eigenschaften wird bald danach von einer politischen<br />
oder konsultatorischen Variante ergänzt. Sie geht wiederum<br />
auf Machiavelli zurück, der aus Einsicht in die<br />
Bedingtheiten des politischen Geschäfts zu dem Schluss<br />
kommt: Der Fürst darf kein Mann mit Eigenschaften<br />
sein. Wer Eigenschaften besitzt, unterliegt Gewohnheiten.<br />
Das Geschäft jedoch verlangt andere Gestalten – solche,<br />
bei denen der Charakter ganz hinter die Fertigkeiten<br />
(virtù) zurücktritt. Wer nur aus Fertigkeiten besteht, ist<br />
ein Virtuose, und die Welt wird den Virtuosen, den Männern<br />
ohne Eigenschaften gehören. Hat der Fürst Charakter,<br />
schadet dieser dem Amt; hat er Gewohnheiten, ist er<br />
verloren. Man könnte hierin eine politologische Vorwegnahme<br />
des Grundsatzes des funktionalistischen Designs<br />
erkennen, wonach die Form der Funktion folgt. Was Machiavelli<br />
zu Beginn des 16. Jahrhunderts in aller Klarheit<br />
konzipierte, war der Sache nach nichts anderes als die<br />
Matrix dessen, was wir in heutiger Terminologie als<br />
Flexibilisierung diskutieren. Man kann hieraus folgern,<br />
dass die ominöse Flexibilisierung an der Spitze der Gesellschaft<br />
begann, um sich im Lauf der Jahrhunderte bis<br />
an die Basis auszubreiten, sodass wir heute die Ankunft<br />
der vormals absolut elitären Eigenschaftslosigkeit bei<br />
den Unqualifizierten beobachten. Unter diesem Gesichtspunkt<br />
betrachtet, wäre die Geschichte der Modernisierung<br />
als die Popularisierung der Eigenschaftslosigkeit zu<br />
erzählen. Sie mündet folgerichtig bei dem Slogan »Flexibilität<br />
für alle«. Nach vollendeter Modernisierung dürfte<br />
es auf dem Arbeitsmarkt keine Eigenschaften für niemanden<br />
mehr geben. Nie mehr Charakter! – was früher<br />
nur beim Fürsten störte, stört jetzt schon beim Ungelernten.<br />
Was auch immer an Eigenschaften mitgebracht<br />
wird, könnte die Verwendungsfähigkeit von Menschen<br />
nur behindern. Kurzum: Schon vor einem halben Jahrtausend<br />
kristallisierte sich eine neue pragmatische Psychologie<br />
heraus. In ihrem Zeichen wächst eine neue Welt<br />
konsultatorischer Bündnisse heran – das Reich der Sekretäre<br />
und der professionellen Ratgeber, die ihren Dienstherren<br />
auf den Grund schauten. Aus der Leere, die sie<br />
dort erkannten, zogen sie den Schluss, dass die Ratlosigkeit<br />
der Herren nach Kompensationen ruft. Wer handeln<br />
muss, ohne zu wissen, wie, lebt im subevidenten Raum<br />
– wer diesen Mangel kompensieren will, braucht Helfer,<br />
die Virtuosen des Umgangs mit Evidenzknappheit sind.<br />
Hieraus entstehen die modernen Arbeitsbeziehungen,<br />
Konsultanten 17 Revue für postheroisches Management / Heft 2
die ihrem Wesen nach intervirtuose Beziehungen zwi-<br />
schen ratsuchenden und ratgebenden Positionen dar-<br />
stellen.<br />
Das zweite gefährliche Element des Wissens, das von<br />
den Sekretären gehütet wird, besteht in der Einsicht,<br />
dass Entscheidungen immer diskontinuierlich getroffen<br />
werden. Keine noch so reifliche Vorüberlegung geht organisch<br />
in die anschließende Maßnahme oder Handlung<br />
über. Zwischen Reflexion und Entscheidung klafft immer<br />
eine Lücke, die nur durch einen Sprung überwunden<br />
werden kann. Daher gibt es keine Konsultation, die<br />
nicht, wie diskret auch immer, eine Schule des Springens<br />
wäre. Weil Handlungen nicht wie Früchte am<br />
Baum reifen und im richtigen Moment abfallen, müssen<br />
sie stets – um im Bild zu bleiben – unreif gepflückt werden.<br />
Diskontinuität ist das Element der Beratung. Was<br />
das bedeutet, kann man sich am besten im Kontrast zu<br />
der bekannten taoistischen Doktrin des »Handelns durch<br />
Nichthandeln« vergegenwärtigen. In den chinesischen<br />
Klugheitslehren versucht man von alters her, den Faktor<br />
der Dezision auszuschalten, um sich beim Handeln ganz<br />
von der Macht der Umstände und ihrer Neigungen tragen<br />
zu lassen. Wer Verantwortung trägt, lehnt sich dort,<br />
um bildlich zu reden, an den Weltbaum an, an dem<br />
die richtigen politischen Entscheidungen wie Früchte<br />
wachsen, um im richtigen Augenblick abzufallen. Hier<br />
herrscht durchwegs das Prinzip der reifen Zeit. Wer hier<br />
nichts tut, tut genau das Richtige, vorausgesetzt, die<br />
Dinge vollbringen sich von selbst.<br />
Die westlichen Konsultationen gehen hingegen von<br />
einem entgegengesetzten Prinzip aus – dem der gestauchten<br />
oder beschleunigten Zeit. Hier gilt: Die richtige<br />
Entscheidung fällt immer zugleich überstürzt und<br />
rechtzeitig. Weil sie zu früh kommt, kommt sie richtig,<br />
und wenn sie rechtzeitig kommt, kommt sie zu füh. Dieses<br />
Paradoxon lebbar zu machen ist das Spezifikum der<br />
adäquaten Konsultation. Sie hat keinen Raum für eine<br />
bukolische Metaphysik der Reife. Ihr Ehrgeiz ist es, sich<br />
in Wettläufen zu bewähren und in Diskontinuen an der<br />
richtigen Stelle zu springen. Was ich hier »Springen«<br />
nenne, habe ich in einem anderen Kontext (in den<br />
Kapiteln 8 bis 12 meines Versuchs Im Weltinnenraum des<br />
Kapitals. Eine philosophische Theorie der Globalisierung) als das<br />
Prinzip Enthemmung beschrieben. Dieses Konzept beruht<br />
auf der Annahme, dass es neben dem kognitiven<br />
Diskontinuum zwischen Wissen und Entscheidung ein<br />
zweites, ein praktisches Diskontinuum gibt, das nur<br />
durch eine Enthemmung oder Entfesselung überbrückt<br />
werden kann – auch hierbei ist der Konsultant als moralischer<br />
Komplize des Handelnden von Bedeutung. Was<br />
die französische Psychoanalyse mit dem Terminus passage<br />
à l’acte (zu Deutsch: Ausagieren) umschreibt, ist in<br />
konsultatorischer Sicht gleichbedeutend mit der Unternehmerentscheidung,<br />
dank welcher das Stadium der<br />
Vorüberlegungen beendet und die Angriffsphase des<br />
Unternehems eingeleitet wird. Dem Konsultanten, der<br />
dem Agenten als Enthemmungshelfer zur Seite steht,<br />
bleibt hierbei freilich das tragische Bewusstsein, wonach<br />
jeder Erfolg immer nur ein aufgeschobenes Scheitern ist.<br />
Gerade dieses Bewusstsein jedoch ist dafür verantwortlich,<br />
dass man im Wettlauf mit dem Misserfolg jeden<br />
Zeitgewinn zu schätzen lernt.<br />
Des Weiteren weiß der moderne Mitwisser der Unternehmergeheimnisse,<br />
dass jeder, der handelt, sich mit<br />
dem Prinzip Unberechenbarkeit verbünden muss. Den<br />
rhetorischen Gepflogenheiten des 15. und 16. Jahrhunderts<br />
gemäss hat man damals die Unberechenbarkeit allegorisiert<br />
– Unberechenbarkeit mit menschlichem Antlitz<br />
heißt Unzuverlässigkeit. Zur Ehre der Altäre erhoben,<br />
nennt sie sich Fortuna. Sie ist die Göttin der beginnenden<br />
Risikokultur. Mit ihr verknüpfen die modernen Europäer<br />
die Beobachtung, dass die launische Göttin auch<br />
zeitweilig ein freundliches Gesicht zeigt. Sie ist gewiss<br />
eine untreue Geliebte, aber für die Mutigen eine Geliebte<br />
gleichwohl, um die zu werben sinnvoll ist. Nicht umsonst<br />
stellt Machiavelli fest, die Fortuna sei ein Weib, das gern<br />
mit dem läuft, der sie im richtigen Moment fest anfasst.<br />
Konsultanten 18 Revue für postheroisches Management / Heft 2
Übersetzt man die fortunologischen Weisheiten der frühen<br />
Neuzeit in die Sprache der politischen Theorie, so<br />
erhält man den Ansatz des Opportunismus. Nicht umsonst<br />
lautet das Grundwort von Machiavellis Analyse des<br />
riskanten Lebens opportunità. Wer auf das Prinzip Gelegenheit<br />
schwört, hat mehr als die Hälfte des Wegs zum<br />
Unternehmertum zurückgelegt. Opportunismus drückt<br />
die Erfahrung aus, dass unternehmerische Menschen<br />
nicht aufgrund von Prinzipientreue zum Erfolg gelangen,<br />
sondern dank ihrer Geistesgegenwart und ihres<br />
Sinns für das Glücksangebot, das immer nur ein einziges<br />
Mal gemacht wird.<br />
Wer auf das Prinzip Gelegenheit<br />
schwört, hat mehr als die Hälfte<br />
des Wegs zum Unternehmertum<br />
zurückgelegt.<br />
Schließlich ist noch ein fünftes Merkmal des klassischen<br />
Sekretärswissens zu nennen. Dem gebildeten Konsultanten<br />
ist bewusst, dass es zwei Arten von Zufällen gibt, mit<br />
denen der Jünger der Fortuna zu kooperieren hat. Da ist<br />
zunächst der Zufall im starken Sinn des Worts, der naturgemäß<br />
immer nur als Singularität auftritt. Mit Zufällen<br />
dieser Qualität ist keine Verhandlung möglich, und<br />
keine Vorausschau kann je ihr Eintreten oder ihre Verhinderung<br />
bewirken. Daneben gibt es eine zweite Gruppe<br />
von Zufällen, die den Beruf von Konsultanten erst<br />
richtig interessant macht. Das sind die Zufälle, die in<br />
Rudeln auftreten oder, wenn man so will, in verschworenen<br />
Banden. Zufälle der zweiten Art neigen sehr stark<br />
zur Gruppenbildung und zum Konformismus. Sie treten<br />
am liebsten in Schwärmen auf, und wenn uns ein gut<br />
organisierter Zufallsschwarm begegnet, so sprechen wir<br />
seit eniger Zeit von einem Trend. Trends sind die Zufälle,<br />
die die angenehme Eigenschaft an den Tag legen, sich<br />
berechnen zu lassen. Sie überqueren die Straße in organisierten<br />
Rudeln, sodass man in Bezug auf sie durch<br />
bloße Beobachtung eine gewisse Prognosefähigkeit entwickeln<br />
kann. Daher tritt heute ein Gutteil des konsultativen<br />
Metiers als Trendforschung auf, sofern diese Disziplin<br />
zu den am besten ausgebauten Hilfswissenschaften<br />
der Beratung rechnet.<br />
Zuletzt möchte ich auf das heikelste Secretum der<br />
Sekretäre hinweisen: die für alle Ratgeber unumgängliche<br />
Notwendigkeit, sich vor der Rache des Klienten in<br />
Sicherheit zu bringen. Die Undankbarkeit des Klienten<br />
ist ohne Zweifel die solideste Konstante in der Geschichte<br />
der konsultativen Berufe, und wer sie nicht rechtzeitig<br />
in Rechnung stellt, bekommt sie wohl früher oder später<br />
selbst zu spüren. Eines der ältesten Hilfsmittel gegen den<br />
Klientenzorn ist ein Beratungsarrangement, das die Verantwortung<br />
für den empfangenen Rat eindeutig beim<br />
Empfänger lokalisiert. Dieses Verfahren beobachtet man<br />
schon bei den Orakelpriestern der Antike, die ihre Sprüche<br />
stets in schöpferische Ungenauigkeit zu hüllen wussten.<br />
Möchte man einen Punkt benennen, an dem sich die<br />
antiken Orakel mit der modernsten systemischen Konsultation<br />
berühren, es wäre wohl dieser: dass sie den<br />
Beratenen selbst für die Auslegung des Rats haftbar<br />
machen. In dieser Sicht ist die prophetische Trance der<br />
Pythia das präzise funktionale Äquivalent für die in unseren<br />
Kreisen geläufige Sprache der Chaostheorie. ¶<br />
........<br />
Konsultanten 19 Revue für postheroisches Management / Heft 2
Wozu Wirtschaft?<br />
Birger P. Priddat<br />
Capitalismo nuovo: Netzwerke, Sozialkapital, Schwärme<br />
1. In den nächsten Dekaden werden<br />
wir uns um einen modernen Kapitalismus<br />
kümmern müssen.<br />
Wir werden uns über den Stil des<br />
Kapitalismus unterhalten (in Fortsetzung<br />
der Diskussion der varieties of<br />
capitalism) und über seine Fähigkeit,<br />
social capital zu generieren, statt<br />
(oder: um) Traditionen und Gefüge<br />
zu ändern und aufzulösen. Modern<br />
social capital ist nicht notwendigerweise<br />
traditionsgebunden. Jede Form<br />
von Gesellschaftlichkeit (und sozialer<br />
Verantwortlichkeit) ist bei einem<br />
modernen Kapitalismus mit im Spiel.<br />
Der historische Sinn des Kapitalismus<br />
(als natural system of opulence<br />
(Adam Smith)) ist heute nicht mehr<br />
gewährleistet: das Versprechen, dass<br />
dafür, dass die Reichen reicher<br />
werden, auch die Armen hinlänglich<br />
viel bekommen. Sodass letztlich beider<br />
Wohlstand, wenn auch unterschiedlich<br />
schnell und steil, steigt<br />
(trickle down effect).<br />
Bis heute hat es zwei Netzwerkwellen<br />
gegeben: Die erste in der Neuzeit,<br />
und eine weitere vollzieht sich<br />
gegenwärtig. Die ständische Gesellschaft<br />
des Mittelalters hatte arme<br />
Märkte und klare Reputations- und<br />
Statushierarchien. Die Neuzeit öffnete<br />
dann die Märkte; im Merkantilismus<br />
begann der erste Welthandel;<br />
zugleich begannen die Händler-<br />
Bürger ihre Statuskarrieren. Sie wurden<br />
politisch, weil sie ökonomisch<br />
erfolgreich waren: Die Epoche der<br />
Political Economy begann. Man machte<br />
neue Entwürfe: der Marktfreiheiten<br />
und der institutionellen Designs zur<br />
Absicherung dieser Freiheiten. Innovationsschübe<br />
vollzogen sich.<br />
Die Neuzeit brachte einen innovativen<br />
Schub der Subjektivierung<br />
des Wissens, parallel zu der sich aus-<br />
breitenden (objektiven) Kommunikation:<br />
Freiheit des Wissens, später<br />
des Meinens und des Handelns. Die<br />
neuen selbstbewusst werdenden<br />
Herren kommunizierten ihre neue<br />
Welt unter sich: Ihre Gesellschaften<br />
(des Handels, der Nachrichten, der<br />
Wissenschaften, des philosophes) wurden<br />
zu Modellen einer Gesellschaft,<br />
die später als die »bürgerliche Gesellschaft«<br />
bezeichnet wurde.<br />
Man musste politisch werden,<br />
obwohl man eigentlich nur wirtschaftlich<br />
innovativ und erfolgreich<br />
sein wollte. Man musste politisch<br />
werden und selbst regieren, damit<br />
nicht andere die Gewinne abschöpften,<br />
ohne leistungsmäßig dazu beizutragen.<br />
Die neue politische Ökonomie<br />
war eine Politikform, in der<br />
die bisherige Umverteilung: dass der<br />
Adel die »Renten« der Bürger abschöpfte,<br />
endete.<br />
Im 19. Jahrhundert etablierten<br />
sich die Märkte in großem Maßstab,<br />
die arbeitsteiligen Institutionen begannen<br />
zu wirken, Massenproduktion<br />
setzte ein, Massenarbeit und<br />
Arbeitslosigkeit wechselten sich ab,<br />
neue soziale Institutionen bahnten<br />
den Weg zum welfare state des<br />
20. Jahrhunderts. Die großen Themen<br />
hießen: Schutz und Sicherheit.<br />
Auch organisierten sich die Arbeiter,<br />
sie waren die Co-Produzenten<br />
des bürgerlichen Reichtums. Das,<br />
wovon die Bürger meinten, dass der<br />
Adel es ihnen unrechtgemäß entzöge,<br />
behaupteten nun die Arbeiter<br />
gegenüber den Bürgern. Die Rente,<br />
die Kapitalisten den Arbeitern nähmen,<br />
sei der Mehrwert, sagte Marx.<br />
In großen sozialen Bewegungen<br />
wurde über die Revolution der Arbeit<br />
gestritten, in der Form der Enteignung<br />
der Kapitalisten.<br />
Kolumne 90 Revue für postheroisches Management / Heft 2
Der Übergang zum 20. Jahrhundert<br />
eröffnete eine neue Netzwerkdimension:<br />
Innerhalb der Märkte entfalteten<br />
sich Status- und Reputationswettbewerbe<br />
in der Konsumsarena.<br />
Nicht mehr die erfahrenen Männer<br />
des öffentlichen Lebens, die neuen<br />
Bürger, bestimmten die Politik, sondern<br />
alle Bürger: als Konsumenten,<br />
gendered and ethnically mixed. Sie positionierten<br />
sich in ihren Netzwerkwelten,<br />
weil sie im Zeitalter der industriellen<br />
bzw. der Massenproduktion<br />
wirtschaftlich relevant wurden. Über<br />
diese Konsumnetzartigkeit kamen<br />
z. B. die Frauen ins Spiel.<br />
Der Kapitalismus wurde, wenigstens<br />
in Europa, demokratisch. Das<br />
bezog sich nicht nur auf die Form<br />
der Politik, sondern auch auf die<br />
Form des Konsums.<br />
Innovationen kommen heute jedem<br />
zu: active consumers produzieren<br />
ihre Reputationssphären ständig<br />
neu, im Wettbewerb der Angebote<br />
wie der Mitkonsumenten.<br />
Hier etabliert sich neues social capital:<br />
nicht mehr über Genealogien,<br />
nicht mehr über Familien (Clan-)<br />
structures, sondern über moderne, lose<br />
gekoppelte Netzwerke entsteht eine<br />
neue Sozialität. Eine Sozialität, die<br />
weder kollektiv ist noch individualistisch,<br />
sondern beide Ressourcen<br />
nutzt für ihre hybriden Strukturen:<br />
neue Netzwerke als neue Sozialitäten<br />
und Sozialisatoren. Peer groups werden<br />
wichtiger als familiale Prägungen.<br />
»Ordnung entsteht in der Privatrechtsgesellschaft<br />
nicht auf wundersame<br />
Weise durch harmonischen<br />
Ausgleich von Egoismen. Sondern<br />
durch produktive Erzeugung von<br />
Wissen, das als überschießender<br />
Effekt des privaten Handelns entsteht<br />
und die Anpassung an das<br />
.........<br />
Statt in der Form der firma wird der capitalismo<br />
nuovo flüssiger arbeiten; Organisationen<br />
werden die Form von Projekten annehmen:<br />
intensiv, fokal, netzwerkgespeist (und netzwerkspeisend)<br />
und wissensbasiert.<br />
Neue in Gang hält. Dadurch werden<br />
differenzierte, auf permanente<br />
Selbsttransformation angelegte Beziehungsnetzwerke<br />
zwischen den<br />
Individuen aufgebaut, in die der<br />
›Varietätspool‹ einer experimentierenden<br />
Gesellschaft eingebunden<br />
ist, die ihr Sozialkapital nicht anders<br />
als mittelbar, nämlich durch Verknüpfung<br />
mit einer Handelsordnung<br />
erzeugen kann. Gerade weil es<br />
sich dabei nicht um eine naturwüchsige,<br />
sondern um eine prozesshafte,<br />
sich nicht an Ruhepunkten orientierende,<br />
nicht-lineare zeitabhängige<br />
Ordnung handelt, ist das Einrasten<br />
in selbstdestruktive Entwicklungspfade<br />
keineswegs ausgeschlossen,<br />
sondern sogar eine ständige Bedrohung.«<br />
(Ladeur 2000: 2)<br />
Märkte werden als Beziehungsnetzwerke<br />
identifiziert, die sich<br />
selbst transzendieren. Zudem ist die<br />
dadurch entstehende Ordnung ein<br />
Prozess: und zwar der Replikation<br />
des Sozialkapitals. Getragen wird er<br />
durch produktive Erzeugung von<br />
Wissen mit spezifischen Überschüssen<br />
(knowledge over-plus). Die alte Alternative<br />
von »Markt versus Staat« wird<br />
als unproduktiv aufgehoben: »Die<br />
Akzentuierung der Mittelbarkeit der<br />
kollektiven Ordnung, nämlich ihrer<br />
Entstehung als ein ›Nebeneffekt‹ der<br />
auf die Erzeugung des Neuen angelegten<br />
individuellen Freiheit, erlaubt<br />
eine Spezifizierung der Koordination<br />
von Öffentlichem und Privatem, die<br />
sich an der Erhaltung der gesellschaftlichen<br />
›Ideenpopulation‹ orientiert,<br />
auf die eine sich auf Unbestimmtheit<br />
einlassende Gesellschaft<br />
zwangsläufig angewiesen ist.« (Ladeur<br />
2000: 3)<br />
Die Grenze dessen, was hier Ordnung<br />
heißt (als modus vivendi des<br />
Kapitalismus), ist elastisch. Ordnung<br />
ist das Netz der Beziehungen<br />
aller Mitspieler. Ein Netz, das nicht<br />
reißt und das die Abstände hält. Vor<br />
allem aber können alle auf das Neue,<br />
das aus diesem Wissen: der Ideenpopulation,<br />
entsteht, frei zugreifen,<br />
und etwas daraus »für sich machen«.<br />
Sich auf Unbestimmtheit einlassend,<br />
immer wieder Bestimmtes/Bestimmbares<br />
hervorzubringen ist ein<br />
modus socialis, der eher einer Projektarbeitsform<br />
zuzuschreiben ist als<br />
festen Bindungen und repetitiven<br />
Interaktionen. Statt in der Form der<br />
firma wird der capitalismo nuovo flüssiger<br />
arbeiten; Organisationen werden<br />
die Form von Projekten annehmen:<br />
intensiv, fokal, netzwerkgespeist<br />
(und netzwerkspeisend) und wissensbasiert.<br />
Die Form der Organisation<br />
wird über den Zugriffsmodus<br />
»Aktualität des Wissens« gestaltet.<br />
Hier gerät die neuzeitliche Prädisposition<br />
des Kapitalismus als »Kapitalismus<br />
der Eigentümer« an Gren-<br />
Kolumne 91 Revue für postheroisches Management / Heft 2
zen: Wem eignet das Neue zu, wenn<br />
es wissensdistribuiert öffentlich<br />
auftritt? Eigentum wird eine Sekundärfunktion<br />
von Wissen und vor<br />
allem: von Wissensumsetzung. Erst<br />
wer Wissen zu Markt bringt, trägt<br />
wieder den klassischen Mantel des<br />
property owners.<br />
Doch setzt der capitalismo nuovo<br />
bereits zu einem früheren Zeitpunkt<br />
seine Akzente: im kreativen Bereich<br />
des Wissens, des Wahrnehmens und<br />
Staunens. Der neue Kapitalismus definiert<br />
sich über die zunehmende<br />
Produktivität des eigentumslosen<br />
Kapitals der »Ideenpopulationen«.<br />
Treten wir in seine idealistische<br />
Phase?<br />
2. Die Ökonomie ließ vormals Ideen<br />
– von Produzenten und Konsumenten<br />
– in Waren münden. Es galt,<br />
»neues Wissen« zu entdecken, um<br />
Spannungen aufzulösen, die durch<br />
die Wahrnehmung von »Knappheiten«<br />
oder »Bedürfnissen« entstanden.<br />
Es wurde (wohl zuerst<br />
Marx) klar, dass der Apparat paradox<br />
operiert: Funktioniert er zu gut,<br />
droht er zusammen mit den Knappheiten<br />
auch sich selbst zu beseitigen.<br />
Zum Ende des 20. Jahrhunderts<br />
verkehrt die Ökonomie daher das<br />
Verhältnis von Idee und Ware. Sie<br />
stellt von Beseitigungsideen von Waren-Knappheiten<br />
auf die Produktion<br />
von »knappen Ideen« als Waren um.<br />
Knapp sind aber immer nur neue<br />
Ideen, nie alte; ihr Produktionsmodus<br />
ist die Reproduktion.<br />
Das Angebot sucht heute nicht<br />
mehr nach neuen Formen für gegebene<br />
Konsumideen, sondern gleich<br />
nach neuen Konsumideen, mit dem<br />
Akzent auf »neu«. Die Organisatio-<br />
nen sollen hierbei nicht mehr Kosten<br />
minimieren und in Masse produzieren,<br />
sondern die Veränderung der<br />
Waren im Fluss halten und sich am<br />
besten selbst ständig (und selbstständig)<br />
reorganisieren.<br />
Das Neusein wird zum eigentlichen<br />
Wert- und Zahlungsargument.<br />
Das Anbieten von Veränderung erfordert<br />
Beratung, Marktforschung, »innovative«<br />
Businesspläne, life-longlearning,<br />
Enthierarchisierung und<br />
Netzwerke in und zwischen Organisationen<br />
– alles Ideen-Produktionen,<br />
die von Neuheit und Vergänglichkeit<br />
leben. Als der fortan vorherrschende<br />
Konsummodus etabliert<br />
sich »Unterhaltung« – im breitesten<br />
und aktiven Sinne: Unterhaltung,<br />
über die man sich unterhält. Die<br />
größten Profite werden mit technischer<br />
und sozialer Infrastruktur<br />
gemacht, die nicht festlegt, was<br />
eigentlich gekauft wird, und daher<br />
alles verspricht, was man sich von<br />
ihr versprechen will. »Produkt« (das,<br />
was kostet und verkauft wird) und<br />
»Ware« (das, was produziert, gekauft<br />
und konsumiert wird) fallen auseinander.<br />
Gekauft wird soziale Teilnahme,<br />
verkauft werden deren Anlässe<br />
und Medien: Internet, Mobiltelefonie,<br />
Events mit und ohne »politische«<br />
Botschaft etc.<br />
Die natürliche Sprache und die<br />
Vielfalt ihres Ausdrucks werden als<br />
idealer Rohstoff entdeckt. Der Stoff<br />
ist billig zu haben, billig zu vervielfältigen,<br />
aber hochbegehrt und sein<br />
Verabeitungspotenzial unendlich –<br />
und er wird nicht als Endprodukt,<br />
sondern bereits im Rohzustand verkauft.<br />
Die Abnehmer fertigen hieraus,<br />
sich miteinander unterhaltend,<br />
was sie gerade unterhält. Die moderne<br />
»Werbung« beispielsweise ist<br />
nicht mehr nur suggestiv und unterhaltend,<br />
sie stößt vor allem Unterhaltung<br />
an. Sie kann sich Selbstironie,<br />
Unglaubwürdigkeit und selbst<br />
Null-Botschaften leisten, weil sie<br />
nicht Antworten geben, sondern<br />
Fragen provozieren will. Indem sie<br />
sich zurücknimmt und Wert-Urteile<br />
nicht vorwegnimmt, gewinnt sie an<br />
Einfluss.<br />
Diese Art von »Werbung« ist Selektion,<br />
aber nicht von Bewertungen,<br />
sondern von Bewertbarem. Sie<br />
sagt nicht, wie man werten soll – das<br />
will niemand hören –, sie sagt, was<br />
man werten soll, weil es »alle« werten.<br />
Das Problem der Werbung markiert<br />
das Problem der Konsumenten:<br />
nicht »Knappheit«, sondern Überfluss.<br />
¶<br />
Birger P. Priddat ist seit 2007 Präsident<br />
der Universität Witten/Herdecke. Zuvor<br />
war er Professor für Politische Ökonomie<br />
an der Zeppelin University in Friedrichshafen<br />
am Bodensee. Er beschäftigt sich mit<br />
Modernisierungslagen in Staat, Wirtschaft<br />
und Gesellschaft, Institutional Changes und<br />
Nebengeräuschen des Weltgeschehens.<br />
Ladeur, K.-H. (2000). Negative Freiheitsrechte<br />
und gesellschaftliche Selbstorganisation.<br />
Die Erzeugung von Sozialkapital durch<br />
Institutionen, Tübingen: Mohr-Siebeck.<br />
Kolumne 92 Revue für postheroisches Management / Heft 2
Letzte Seite<br />
Überblick<br />
Heft 3 – Revue für postheroisches Management<br />
Organizational Capabilities<br />
Mit Beiträgen von Kathleen Sutcliffe, Amar v. Bhidé, Rudolf Wimmer u. a.<br />
Erscheint im September 2008<br />
Heft 1 – Revue für postheroisches Management<br />
Das X der Organisation<br />
Mit Beiträgen von Dirk Baecker, Nils M. G. Brunsson, Birger P. Priddat,<br />
Johannes Rüegg-Stürm, Fritz B. Simon u. a.<br />
Featured Artist Annett Zinsmeister<br />
»Seit heute Vormittag kann ich die Revue für postheroisches Management in Händen halten.<br />
Dass der Auftakt inhaltlich spannend und geistreich sein würde, war ja zu erwarten.<br />
Aber die Revue ist außerordentlich schön gestaltet und ich gratuliere euch zur ersten Ausgabe.<br />
Es macht Spaß zu lesen.« Stefan Jung<br />
»Die Revue ist super! Wirklich eine ganz tolle Fachzeitschrift, ja, eigentlich weit mehr!«<br />
Beatrice Erb<br />
»Wunderschön … ist eure Zeitschrift Postheroisches Management – hab sie erst mal nur<br />
durchgeblättert –, inhaltlich macht sie mich sehr neugierig, und ästhetisch ist sie ein seltener<br />
Genuss in der Zeitschriftenlandschaft.« Barbara Heitger<br />
Bestellen<br />
Abonnieren Sie jetzt die »Revue für postheroisches Management«,<br />
und Sie erhalten als Dankeschön eine ausgewählte Publikation<br />
aus dem Programm des Kulturverlages KADMOS.<br />
Das Jahresabonnement<br />
2 Ausgaben gibt es bereits für € 40,– (CHF 66,50) zzgl. Versandkosten<br />
Das Studentenabonnement<br />
2 Ausgaben für € 19,50 (CHF 32,50) zzgl. Versandkosten<br />
Bestellung einzelner Hefte und Abonnement telefonisch +49 (0)30 246 284-0<br />
via Mail revue@postheroisches-management.de<br />
oder über www.postheroisches-management.de<br />
Impressum<br />
Herausgeber: Management Zentrum Witten GmbH, Katrin Glatzel, Torsten Groth (V.i.S.d.P.)<br />
Redaktionsleitung: Fritz B. Simon<br />
Redaktionsausschuss: Katrin Glatzel, Torsten Groth, Dirk Baecker, Andreas Szankay,<br />
Rudolf Wimmer<br />
Redaktionelle Mitarbeit: Michael Brückner, Julia Hoffmann<br />
Lektorat: Irina Mamula, Dorothee Schöndorf, Hamburg<br />
Gestaltung und Layout: antonberta design, Hamburg<br />
Fotografien: Lars Hormann, Berlin<br />
Illustration: Clemens Habicht, Paris<br />
Werbekonzept: difficulté wänkü, www.difficultewaenkue.de<br />
Druck: mediaprint, Paderborn<br />
März 2008<br />
Erscheinungsweise: 2-mal jährlich<br />
Heftpreis: € 25,– (CHF 41,50), zzgl. Porto/Versand<br />
Anzeigen: Julia Hoffmann, hoffmann@mz-witten.de<br />
Anschrift und Kontakt: Management Zentrum Witten GmbH<br />
Brunnenstraße 196, 10119 Berlin, Telefon +49 (0)30 2462 84-0, Fax +49(0)30 246 284-10<br />
revue@postheroisches-management.de, www.postheroisches-management.de<br />
ISSN 1864 -726X