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Erzählen – vorlesen – zum Schmökern anregen

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139 Beiträge zur Reform der Grundschule<br />

<strong>Erzählen</strong> <strong>–</strong> <strong>vorlesen</strong> <strong>–</strong><br />

<strong>zum</strong> <strong>Schmökern</strong> <strong>anregen</strong><br />

Mechthild Dehn, Daniela Merklinger (Hg.)


<strong>Erzählen</strong> <strong>–</strong> <strong>vorlesen</strong> <strong>–</strong> <strong>zum</strong> <strong>Schmökern</strong> <strong>anregen</strong>


Beiträge zur Reform der Grundschule <strong>–</strong> Band 139<br />

Herausgeber: Der Vorstand des Grundschulverbandes e. V.<br />

Verantwortlich für diesen Band: Erika Brinkmann


Herausgegeben von Mechthild Dehn und Daniela Merklinger<br />

<strong>Erzählen</strong> <strong>–</strong> <strong>vorlesen</strong> <strong>–</strong><br />

<strong>zum</strong> <strong>Schmökern</strong> <strong>anregen</strong><br />

Grundschulverband e. V.<br />

Frankfurt am Main


© 2015 Grundschulverband<br />

Frankfurt am Main<br />

Satz und Gestaltung: novuprint · Agentur für Mediendesign,<br />

Werbung, Publikationen GmbH, 30161 Hannover<br />

Bildnachweis: Die Rechte für die Abbildungen liegen bei Johannes Ritter,<br />

www.designritter.de (S. 11, 17 <strong>–</strong> 19, 24, 87, 89, 98, 187, 192, 194f.)<br />

bzw. bei den jeweiligen Autorinnen und Autoren, falls nicht anders<br />

vermerkt; Foto S. 38f.: Nina Bode-Kirchhoff; S. 49 <strong>–</strong> 51: Angela Kröll;<br />

S. 57, 59, 61, 62 <strong>–</strong> 64: Anne Behnke; S. 94: Elena Heck; S. 178: Ali<br />

Ghandtschi; S. 179f.: Birgit Wiemer; S. 196f., 236: Daniela Merklinger;<br />

S. 251: Helga Schmucker-Hilfer<br />

Umschlagseiten: Angela Kröll (vorne), Daniela Merklinger (hinten)<br />

Druck und Bindung: Beltz Bad Langensalza, 99974 Bad Langensalza<br />

ISBN 978-3-941649-17-0 / Best. -Nr. 1102<br />

(Beiträge zur Reform der Grundschule, Band 139)<br />

Aus Gründen der Lesbarkeit wird in diesem Band darauf verzichtet, durchgängig die männliche<br />

und die weibliche Form gemeinsam zu verwenden. Wenn nur eine der beiden Formen<br />

verwendet wird, ist die andere stets mit eingeschlossen.


Vorwort<br />

Der Titel des Buches ist aus der Lehrerperspektive formuliert: Die Lehrerin<br />

erzählt, sie liest vor und <strong>–</strong> sie regt die Kinder <strong>zum</strong> <strong>Schmökern</strong> an. Dabei<br />

kommt den »Gebrauchsformen«, also den Situationen beim <strong>Erzählen</strong>, Vorlesen,<br />

Zuhören, beim Blättern und <strong>Schmökern</strong> entscheidende Bedeutung zu.<br />

Die Erzählsituation ist die unmittelbarste Form; sie bedarf keiner »Hilfsmittel«.<br />

Das mündliche <strong>Erzählen</strong> ist das Nächstliegende, Basale <strong>–</strong> geprägt<br />

von schriftsprachlichen Strukturen. In der Vorlesesituation ist die schriftsprachliche<br />

Prägung offensichtlich, das Buch ist vor Augen. Ob es gelingt,<br />

dass Vor- und Grundschulkinder sich auf die Fiktion des Erzählten oder<br />

Vorgelesenen einlassen können, ist wesentlich von der Qualität des <strong>Erzählen</strong>s<br />

und Vorlesens abhängig. Zum <strong>Schmökern</strong> anzuregen bedeutet, Situationen<br />

zu gestalten, in denen Kinder sich von Geschichten, von (bewegten)<br />

Bildern anziehen lassen: Die Schülerinnen und Schüler haben Zeit und<br />

Raum, in einzelnen Büchern zu blättern, andere quer zu lesen oder als Hörbuch<br />

zu hören; im Austausch mit anderen Kindern entdecken sie neue (auch<br />

fremdsprachige) Geschichten und verweilen hier und da.<br />

Der Band enthält vielfältige Anregungen, wie wir uns auf das <strong>Erzählen</strong><br />

und auf das Vorlesen vorbereiten können: Erfahrungsberichte und Gespräche.<br />

Ein roter Faden ist die Frage nach den Lernprozessen der Kinder:<br />

Wie entwickelt sich das <strong>Erzählen</strong> der Kinder, wie ihre Rezeption, wie ihr<br />

Gesprächsverhalten beim Vorlesen?<br />

Wir haben die Schülerinnen und Schüler auch selbst befragt: Wenn meine<br />

Lehrerin erzählt …; wenn meine Lehrerin vorliest …; wenn ich schmökere<br />

… Die Äußerungen zeigen, dass ihre Erfahrungen mit dem <strong>Erzählen</strong> eher<br />

schmal sind: … sie macht gar keinen Fehler; … und denke nach, was ich<br />

machen muss. Vielleicht taugt unser Band dazu, dass Lehrerinnen und Lehrer<br />

und sogar auch <strong>–</strong> wie in einem Beitrag <strong>–</strong> Mütter im Unterricht erzählen.<br />

Als Ausgangspunkt für das eigene <strong>Erzählen</strong> finden Sie in unserm Band auch<br />

Beispiele für erzählte Geschichten.<br />

Orientierung über den Stand der Diskussion geben die Einleitungen<br />

zu den drei Teilen. Buchempfehlungen für das Vorlesen, für Bücher und<br />

Medien(-verbünde) <strong>zum</strong> <strong>Schmökern</strong> haben etliche Autoren am Schluss ihres<br />

Beitrags zusammengestellt. Der Band schließt mit einer Übersicht über alle<br />

Geschichten darin.<br />

Hamburg und Koblenz im Dezember 2014<br />

Mechthild Dehn und Daniela Merklinger


Inhalt<br />

Teil 1: <strong>Erzählen</strong><br />

Mechthild Dehn<br />

<strong>Erzählen</strong> in der Schule 12<br />

Wenn meine Lehrerin erzählt 24<br />

Lis Schüler<br />

Szenisches <strong>Erzählen</strong> in der Vorschulklasse. Kinder zeichnen<br />

und diktieren zu dem Märchen Warum der Löwe brüllt 26<br />

Helga Andresen<br />

Phantasiegeschichten von Vorschulkindern zwischen<br />

literalen, medialen und persönlichen Erfahrungen 37<br />

Kristin Wardetzky<br />

Inkubationszeit des Mündlichen.<br />

Über das Zuhören beim Märchenerzählen 47<br />

Lis Schüler / Stefanie Klenz<br />

Im Kontext von Mehrsprachigkeit: Mütter erzählen in der Schule 57<br />

Das <strong>Erzählen</strong> vorbereiten: Erfahrungsberichte und Gespräche 69<br />

Irmtraud Schnelle: Die Lehrererzählung 70<br />

Suse Weisse: Sind die Wörter und die Leute alle in deinem Kopf? 75<br />

Lis Schüler: Eine szenische Erzählung vorbereiten 81<br />

Teil 2: Vorlesen<br />

Daniela Merklinger<br />

Vorlesen in der Schule 88<br />

Wenn meine Lehrerin vorliest 98<br />

Petra Wieler<br />

Vorlesen ohne Text?<br />

Bilderbuch-Rezeption mehrsprachiger Grundschulkinder 100<br />

Ulrike Preußer<br />

Vorlesen <strong>–</strong> Schreiben <strong>–</strong> Sprechen. Literarische Lernmöglichkeiten<br />

mit dem Bilderbuch Die große Wörterfabrik 114<br />

Daniela Merklinger<br />

Spuren literarischen Lernens im Vorlesegespräch: Schnipselgestrüpp 124<br />

Maja Wiprächtiger-Geppert / Marcus Steinbrenner<br />

Gemeinsam über Geschichten nachdenken und sprechen.<br />

Das Heidelberger Modell des Literarischen Unterrichtsgesprächs 136


Karin Vach<br />

Mehrsprachige Bilderbücher 146<br />

Sonja Birkle<br />

Textmuster beim Vorlesen. Kenntnis von Textmustern<br />

als Entlastung für das Hör- und Leseverstehen 156<br />

Heike de Boer / Catharina Fuhrmann<br />

Mit Bilderbüchern philosophieren 165<br />

Das Vorlesen vorbereiten: Erfahrungsberichte 177<br />

Friedhelm Ptok: Für wen lese ich, warum? 178<br />

Carola Wolff: Wie ich mich auf das Vorlesen vorbereite 179<br />

Julia Friese: Ein Bilderbuch vorbereiten: Schnipselgestrüpp 181<br />

Teil 3: Zum <strong>Schmökern</strong> <strong>anregen</strong><br />

Kaspar H. Spinner<br />

Lassen wir die Kinder schmökern?! 188<br />

Wenn ich schmökere 194<br />

<strong>Schmökern</strong> mit Buch und CD 196<br />

Christina Bär<br />

Gemeinsam schmökern <strong>–</strong> miteinander in Märchen eintauchen.<br />

Literarisches Lernen in offenen Lernkontexten 198<br />

Jeanette Hoffmann<br />

Graphic Novels als Einladung <strong>zum</strong> Lesen, Sehen und Imaginieren 209<br />

Stefanie Frisch<br />

Worlds of words and pictures.<br />

<strong>Schmökern</strong> in englisch sprachigen Bilderbüchern 223<br />

Petra Hüttis-Graff<br />

Mit Büchern und Hörmedien schmökern 233<br />

Iris Kruse<br />

Im Gestöber der Medien entdecken, erfahren und lernen.<br />

Kinderliterarische Medienverbünde herausfordernd arrangieren 244<br />

Übersicht: Märchen, Bilderbücher, Graphic Novels, Medien 256<br />

in den Beiträgen<br />

Autorinnen und Autoren 258


1<strong>Erzählen</strong><br />

9


Mechthild Dehn<br />

<strong>Erzählen</strong> in der Schule<br />

»We live in a sea of stories …« Was bedeutet es, in einem »Meer von Geschichten<br />

zu leben«, wie Jerome Bruner (1996, S. 147) sagt, und was sind das für<br />

Geschichten? Jeden Tag hören, sehen und lesen wir Geschichten <strong>–</strong> auf der<br />

Straße, zu Hause, in den Medien, in den Bildern, die uns überall umgeben:<br />

Geschichten von Kontakt und Verlust, von Schmerz und Freude, von Glück<br />

und Einsamkeit, von Überraschungen und Abenteuern. Das sind die großen<br />

und kleinen Geschichten unserer Kultur, also »fiktionale«; und es sind<br />

auch die Geschichten unseres Alltags, unseres Lebens, also »faktuale«. In<br />

einem Meer von Geschichten zu leben <strong>–</strong> das bedeutet, dass Erleben und<br />

<strong>Erzählen</strong> aufs Engste verbunden sind. Max Frisch sagt sogar: »Jeder Mensch<br />

[…] erfindet seine Geschichte. Anders bekommen wir unsere Erlebnismuster,<br />

unsere Erfahrung, nicht zu Gesicht« (1961, S. 5). Das ist nur scheinbar<br />

eine Verkehrung des Zusammenhangs von Erleben und <strong>Erzählen</strong>. Auch<br />

Bruner spricht von »the narrative construal of reality« (1996, S. 130ff.). Wer<br />

Geschichten kennt, sie sich zu eigen gemacht hat, erweitert nicht nur sein<br />

kulturelles Gedächtnis, sondern er gewinnt auch »Erlebnismuster«, Perspektiven<br />

für das Verstehen des eigenen Lebens.<br />

In dieser Betrachtungsweise ist das Geschichtenerzählen und das Aneignen<br />

von Geschichten existenziell. Welchen Beitrag kann Unterricht dazu<br />

leisten? Eine Lesepatin, die seit Jahren in einer Berliner Schule arbeitet,<br />

sagt, dass viele Kinder am Ende von Klasse 4 nicht(s) erzählen können. Gilt<br />

für diese Grundschulkinder nicht, dass sie in einem Meer von Geschichten<br />

leben? Warum können sie ihre Geschichte(n) nicht erzählen? Welche Möglichkeiten<br />

kann die Schule eröffnen, damit sie es lernen?<br />

Grundlagen: Erfahrungshaftigkeit, Erzählwürdigkeit,<br />

Geschichtenfundus<br />

Gegenstand des <strong>Erzählen</strong>s sind Geschichten. Geschichten werden erzählt<br />

und gehört; sie können aufgeschrieben, gelesen und vorgelesen; sie können<br />

gefilmt, gezeichnet und angeschaut, sogar gespielt werden. In der Schule<br />

sind Kinder Adressaten von Geschichten und sie erzählen selbst welche.<br />

In diesem Kapitel unseres Bandes geht es um lernförderliche Bedingungen<br />

für das <strong>Erzählen</strong>. Einen Schwerpunkt bildet das <strong>Erzählen</strong> Erwachsener: das<br />

<strong>Erzählen</strong> der Lehrerin (Schnelle; Schüler), das szenische <strong>Erzählen</strong> einer professionellen<br />

Erzählerin (Wardetzky; Weisse; Schüler) und das <strong>Erzählen</strong> von<br />

12


Müttern (Schüler / Klenz). Zum anderen geht es um den Erzählerwerb der<br />

Kinder insbesondere am Übergang zur Schule (Andresen; Schüler) und am<br />

Ende der Grundschulzeit (Wardetzky).<br />

Drei Aspekte der Erzählforschung dienen als Orientierung, um<br />

lernförderliche Bedingungen für das <strong>Erzählen</strong> in der Schule zu begründen:<br />

die »Erfahrungshaftigkeit« der Geschichte, ihre »Erzählwürdigkeit« und der<br />

»Geschichtenfundus« (vgl. ausführlich Dehn u. a. 2014; einige Passagen sind<br />

daraus übernommen).<br />

Erfahrungshaftigkeit der Geschichte (»experientiality«) kennzeichnet die<br />

Möglichkeit des Zuhörers, Zuschauers oder Lesers, einzutauchen in eine<br />

fremde Welt, als wäre es die eigene, »the quasi-mimetic evocation of ›real-life<br />

experience‹ « (Fludernik 1996, S. 12). Diese Erfahrung haben wir alle gemacht,<br />

wenn wir eine erzählte Geschichte lesen und ein Stück weit in der fremden<br />

Welt wie in einer eigenen leben und enttäuscht sind, wenn die Erzählung zu<br />

Ende ist. Auch das Kind stellt sich, wenn ihm erzählt oder vorgelesen wird,<br />

etwas vor, erinnert sich, nimmt teil an der dargestellten Wirklichkeit, vergewissert<br />

sich seiner selbst. In ihren eigenen Geschichten, insbesondere wenn<br />

sie zu Vorgaben erzählen, finden die Kinder Sprachformen, narrative Muster,<br />

dafür (s. Schüler 2015). Erfahrungshaftigkeit <strong>–</strong> dieser etwas sperrige Begriff<br />

<strong>–</strong> kann als Potenzial verstanden werden: Geschichten eröffnen Erfahrungen,<br />

die gleichermaßen die Sicht der Schulkinder auf die Welt bestätigen oder sie<br />

verändern können. Nicht die dargestellte Handlung als solche ist das Zentrum<br />

des <strong>Erzählen</strong>s, sondern die »Verwirklichung« in der Erfahrung des<br />

Zuhörers / Lesers oder des Erzählers. »Erfahrungshaftigkeit wird über das<br />

Bewusstsein erfahren und gefiltert« (Fludernik 2010, 122). Das heißt, sie ist<br />

immer subjektiv, aber nicht beliebig.<br />

Für den Unterricht in der Grundschule bedeutet das, den Kindern Geschichten<br />

zu erzählen, die ihnen eine Fülle von Anknüpfungsmöglichkeiten für Erinnerungen,<br />

Vorstellungen, Wünsche, Impressionen bieten, also <strong>zum</strong> Beispiel Märchen<br />

(vgl. Wardetzky sowie Schüler in diesem Band) oder Sagen oder auch<br />

Alltagsgeschichten (vgl. Schnelle in diesem Band), und ihnen Gelegenheit zu<br />

geben, ihre Erfahrungen mit dieser Vorgabe in Wort und Bild zu formulieren<br />

(vgl. Schüler in diesem Band: Szenisches <strong>Erzählen</strong> in der Vorschulklasse). Es<br />

geht in diesem Sinn also nicht zuerst und vor allem darum, den Handlungsablauf<br />

zu rekonstruieren; damit wären viele Schüler wegen der Komplexität<br />

überfordert und es bliebe kein Raum für die Artikulation des Eigenen im<br />

Fremden, für das Formulieren »vorgestellter Erfahrung« (Schüler 2015), für das<br />

Formulieren von Erfahrungshaftigkeit. Unter schulischen Bedingungen, für<br />

die stets auch Bewertung virulent ist, ist unerlässlich, dass bei Aufgaben <strong>zum</strong><br />

Sprechen, Schreiben und <strong>zum</strong> Zeichnen / Malen dieser »Schutz« des Eigenen<br />

im Fremden beachtet wird und stets auch sachliche Deskription möglich ist.<br />

13


Was erzählt wird, muss für den Erzähler oder den Zuhörer von Interesse,<br />

es muss erzählwürdig sein. Labov / Waletzky (1973) unterscheiden zwischen<br />

der referentiellen und der evaluativen Funktion des <strong>Erzählen</strong>s. Die Erzählwürdigkeit<br />

(»tellability«) betrifft die evaluative Funktion, die Wertigkeit, die<br />

Bedeutsamkeit des Erzählten für den Erzähler oder für den Zuhörer, nicht<br />

das »Was« des <strong>Erzählen</strong>s, die referentielle Funktion. Ob etwas erzählwürdig<br />

ist, hängt auch vom Kontext ab: So sind die Bilderbücher, die alltägliche<br />

Ereignisse aus dem Kinderleben darstellen (Geburtstag, Tagesablauf), für<br />

Kinder sehr wohl erzählwürdig, weil sie sich in ihrer Ausbildung von regelhaften<br />

Abläufen, von scripts, bestätigt sehen; sie möchten die Bilderbücher<br />

immer wieder betrachten und hören. Einem ähnlichen Interesse wird auch<br />

mit Reihengeschichten entsprochen, die erwartbare, immer gleiche Abfolgen<br />

mit kleiner Variation enthalten (vgl. Schüler / Klenz in diesem Band).<br />

Wie die Erfahrungshaftigkeit nicht die Handlung fokussiert, so ist auch die<br />

Erzählwürdigkeit nicht auf den Bruch einer Erwartung, den Höhepunkt<br />

begrenzt. Erzählwürdig kann auch ein gemeinsames Erlebnis sein, das<br />

durch das <strong>Erzählen</strong> in der Vorstellung allen wieder präsent wird. Erzählwürdigkeit<br />

ist in diesem Fall an die Funktion des Erinnerns eines persönlich<br />

bedeutsamen Erlebnisses geknüpft, also an faktuales <strong>Erzählen</strong>, an eine Alltagsgeschichte,<br />

und nicht an den Bruch einer Erwartung. Wagner (1986) hat<br />

für solches dialogische <strong>Erzählen</strong> mit offener Struktur den Begriff »Geflechterzählung«<br />

gebildet.<br />

In den Montagserzählkreisen gelingt die Erzählwürdigkeit oft nicht. Die Kinder<br />

können sich in dieser institutionalisierten Form genötigt sehen, etwas<br />

vom Wochenende mitzuteilen, und beschränken sich darauf, eine Abfolge<br />

von Ereignissen zu benennen: »Ich war im Kino und habe … gesehen und habe<br />

… gegessen«. Erzählwürdigkeit möchten sie z. B. dadurch erreichen, dass der<br />

Film ganz neu ist oder dass er erst für ältere Kinder zugelassen ist.<br />

Es ist Aufgabe des Erzählers, die Erzählwürdigkeit seiner Geschichte zu<br />

formulieren (Labov / Waletzky 1973). Ob das gelingt, ist aber auch vom<br />

Zuhörer abhängig und davon, wie er im gegebenen Kontext das Erzählte<br />

aufnimmt. Die Erzählwürdigkeit ihrer Geschichte, den Adressatenbezug als<br />

Merkmal des Textes, zu formulieren, fällt Kindern noch bis in die Schulzeit<br />

schwer. Erleichtert wird ihnen dies durch die gemeinsame Thematisierung<br />

im Gespräch:<br />

Für Lern- und Bildungsprozesse geht es vor allem am Anfang darum, dass der<br />

Erwachsene die Erzählwürdigkeit einer kindlichen Äußerung (z. B. »Ich hab’<br />

gelbe Gummistiefel«) erschließt und das dem Kind zu verstehen gibt (z. B. »Sind<br />

die neu?«; »Die sind aber schön!«; »Waren die alten kaputt?«; »Hast du dir die Farbe<br />

14


ausgesucht?«). Mit der Erkundung der Vorgeschichte kann der erwachsene<br />

Adressat auch zugleich die Erzählwürdigkeit herausstellen, die die persönliche<br />

Bedeutsamkeit der Äußerung für das Kind (und seine Zuhörer) betrifft.<br />

Ein »Na und?« dagegen <strong>–</strong> als Wort oder auch nur als Geste <strong>–</strong> würde das Kind<br />

nicht zu weiterem <strong>Erzählen</strong> ermutigen. Für Unterrichtsprozesse in der Grundschule<br />

ist die Erzählwürdigkeit ein zentrales Kriterium, weil sie oft erst in der<br />

Interaktion mit den Erwachsenen erzeugt und bestätigt werden kann und die<br />

Kinder den Adressatenbezug erst allmählich selbst <strong>zum</strong> Ausdruck bringen<br />

können. Eine Voraussetzung dafür, dass das gelingt, ist die Haltung der Lehrenden,<br />

dass das, was die Lernenden erzählen, grundsätzlich erzählwürdig ist.<br />

Voraussetzung ist aber auch, dass die Erzählsituation authentisch ist und nicht<br />

bloß ein Ritual, das nicht auf seine Funktion hin befragt wird <strong>–</strong> wie nicht selten<br />

beim Montagskreis.<br />

Das <strong>Erzählen</strong> orientiert sich an einem Fundus von gehörten, gelesenen,<br />

gesehenen Geschichten, von Figurenkonstellationen und Handlungsschemata<br />

und von Text- und Genremustern. Das ist <strong>zum</strong> Beispiel für Märchen<br />

breit untersucht. Propp (1968) hat für russische Zaubermärchen ein derartiges<br />

Repertoire von Figuren und Funktionen beschrieben (z. B. Held, Gegenspieler,<br />

Helfer); Spinner (2010) stellt fünf anthropologische Grundmotive<br />

und -symbole heraus und untersucht sie in der Kinder- und Jugendliteratur<br />

(vgl. Merklinger in diesem Band: Spuren literarischen Lernens; vgl. Dehn<br />

u. a. 2011). Der Geschichtenfundus ist also einerseits riesig, andererseits in<br />

seinen Strukturen überschaubar.<br />

Für Heranwachsende ist gerade die begrenzte Zahl solcher Funktionen lernförderlich.<br />

Wenn ein Kind, dem im Alter von dreieinhalb Jahren die Weihnachtsgeschichte<br />

aus einem Bilderbuch vorgelesen wird, am Schluss sagt:<br />

»Ist kein Bösewicht bei«, zeigt das, wie früh sich kindliche Aufmerksamkeit auf<br />

solche Grundmuster richtet und daran ausbildet. Voraussetzung ist, dass das<br />

Kind einen »Geschichtenfundus« kennenlernen kann.<br />

Aus dem Fundus an Strukturmustern von Geschichten spielt in der Schule vornehmlich<br />

die sogenannte Höhepunkterzählung die entscheidende Rolle. Sie<br />

orientiert sich an dem Strukturmodell, das Labov / Waletzky anhand mündlicher<br />

Erzählungen Erwachsener auf die Frage »Waren Sie schon einmal in<br />

einer Situation, in der Sie meinten, in ernster Gefahr zu sein, getötet zu werden?«<br />

(1973, S. 51) herausgearbeitet haben, also im Hinblick auf das »Was«<br />

des <strong>Erzählen</strong>s eines Erlebnisses. Dieses Strukturmodell umfasst fünf Stufen:<br />

Orientierung, Komplikation, Evaluation, Auflösung, Coda (Labov / Waletzky<br />

1973, S. 111ff.). Kleinkinder und auch noch Kinder im Schulalter haben Schwierigkeiten,<br />

dieses Strukturmodell zu realisieren. Gerade im Hinblick auf die<br />

»Orientierung« und auf die Sequenzierung sind sie auf die Interaktion mit<br />

15


den Erwachsenen angewiesen, auf ihr Interesse, ihre Nachfragen, also <strong>–</strong> wie<br />

bei der Erzählwürdigkeit <strong>–</strong> auf »scaffolding« (Bruner 1986) <strong>–</strong> Ein Grund für die<br />

Favorisierung der Höhepunkterzählung in der Schule mag in der leichten<br />

Bewertbarkeit kindlicher Erzählungen nach diesem Maßstab liegen.<br />

Warum manche Kinder am Ende der Grundschule nicht(s) erzählen können,<br />

so die Beobachtung der Lesepatin, dazu können mit Blick auf diese drei<br />

Aspekte der Erzählforschung Vermutungen begründet werden. Sie hatten<br />

wenig Gelegenheit, die Erfahrungshaftigkeit von Geschichten zu formulieren<br />

und damit zu vertiefen; sie wurden wenig unterstützt in der sprachlich schwierigen<br />

Aufgabe, die Erzählwürdigkeit, den Adressatenbezug, herauszustellen;<br />

und sie sind sich ihres Geschichtenfundus, seiner Strukturen nicht innegeworden,<br />

können darüber nicht verfügen. Bruner führt sein Bild vom Leben im<br />

Meer von Geschichten weiter aus; es geht uns so wie dem Fisch, der der Letzte<br />

wäre zu begreifen, was Wasser ist, das Element, in dem er schwimmt: »We<br />

live in a sea of stories […] and like a fish who […] will be the last to discover<br />

water, we have our own difficulties grasping what it is like to swim in stories«<br />

(Bruner 1996, S. 147). Es reicht nicht aus, viele und vielfältige Geschichten zu<br />

kennen; Bruner schlägt vor, Kontrast, Konfrontation und Metakognition als<br />

Formen der Bewusstwerdung zu nutzen. Es geht also auch um das Vergleichen,<br />

das Ordnen von Geschichten, Figurenkonstellationen, Motiven, Handlungsmustern:<br />

»Das ist wie … <strong>–</strong> das ist anders als …«. Für das Kind, das die<br />

Weihnachtsgeschichte kommentiert, sind solche Formen schon vertraut.<br />

Erzählerwerb <strong>–</strong> ausgewählte Forschungsergebnisse<br />

Für die Anfänge kindlichen <strong>Erzählen</strong>s gilt, dass Erzählungen eine erste Möglichkeit<br />

sind, um Sinn zu stiften und kognitive Modelle von Ereignissen auszubilden,<br />

scripts, <strong>zum</strong> Beispiel von Tagesabläufen. Aber das Zuhören und<br />

Selber-<strong>Erzählen</strong> von Geschichten <strong>–</strong> über sich, über andere und über die Welt<br />

<strong>–</strong> hilft dem Kind auch zu verstehen, wer es selbst ist und wer andere sind. Kognitiv<br />

orientierte Narratologen betonen die Ähnlichkeit zwischen dem Prozess<br />

der Bewusstwerdung der eigenen Erfahrungen und dem <strong>Erzählen</strong>, das eine<br />

Verbindung herstellt zwischen einzelnen Situationen und Ereignissen. Das<br />

bedeutet, dass »Erfahrungshaftigkeit« elementar ist für den Erzählerwerb.<br />

Die Höhepunkterzählung <strong>–</strong><br />

als Grundlage für ein Stufenmodell des Erwerbs<br />

Der Erzählerwerb vom Vorschulalter bis <strong>zum</strong> Ende der Grundschulzeit ist<br />

breit untersucht. Studien, die vom Strukturmodell der Höhepunkterzählung<br />

ausgehen, betrachten Erfahrungshaftigkeit stärker als Merkmal des Ereignisses<br />

und weniger vom Erleben der Person aus (Boueke u. a. 1995; Becker 2011;<br />

16


Augst u. a. 2007). Ebenso<br />

wird Erzähl würdigkeit als<br />

Merkmal der vorgegebenen<br />

Situation angesehen<br />

und <strong>–</strong> entsprechend der<br />

Ausgangsfrage von Labov /<br />

Waletzky <strong>–</strong> gleichgesetzt<br />

mit der Außergewöhnlichkeit<br />

des Erzählten. Für die<br />

Geschichte selbst gibt es<br />

eine prototypische Lösung,<br />

nämlich die exakte Wiedergabe<br />

des Ablaufs und<br />

das Herausarbeiten des<br />

Höhepunkts; die Erzählungen<br />

der Kinder werden<br />

als Stufenfolge gekennzeichnet,<br />

inwieweit sie<br />

dieser prototypischen Lösung<br />

nahekommen.<br />

Die Befunde zu Entwicklungsstufen<br />

ähneln<br />

Abb. 1: Die Lehrerin erzählt<br />

sich: Zum Erzählerwerb<br />

von Bildergeschichten stellen Boueke u. a. (1995) heraus: isoliert-enumerativ,<br />

linear-sequentiell, kontrastiv-diskontinuierlich, evaluativ-involvierend<br />

/ narrativ. Auch Augst u. a. (2007) unterscheiden vier Stufen und heben<br />

für das Schreiben zu einem Einzelbild für das Ende dieser Entwicklung die<br />

Bedeutung des Planbruchs, das Herausarbeiten einer Pointe, die Rahmung<br />

durch eine Coda, die szenische Dramaturgie durch Rede und Gegenrede,<br />

schließlich das Erreichen eines »Erzähltons« (ebd., S. 51f.) hervor.<br />

Natürlich gehören <strong>zum</strong> Geschichtenfundus auch Höhepunkterzählungen;<br />

aber die Beschränkung der Erzählfähigkeit auf die Einhaltung dieses<br />

Strukturschemas wird der Komplexität des verfügbaren Fundus an<br />

Geschichten nicht gerecht. Zudem besteht im Unterricht die Gefahr, die<br />

Stufenmodelle normativ zu setzen: zuerst gelte es … zu lernen, dann das<br />

nächste. Andresen hat sich eingehend mit den Stufenmodellen beschäftigt<br />

und kommt zu dem Fazit, dass sie der »Vielfalt des <strong>Erzählen</strong>s und seiner<br />

Ontogenese nicht gerecht« (2013, S. 34) werden.<br />

Fiktionales <strong>Erzählen</strong> entwickelt sich rascher als faktuales<br />

Studien <strong>zum</strong> Erzählerwerb unterscheiden zwischen <strong>Erzählen</strong> von Selbsterlebtem<br />

(faktualem) und <strong>Erzählen</strong> von Fantasiegeschichten oder <strong>Erzählen</strong><br />

17


zu Geschichten (fiktionalem <strong>Erzählen</strong>). Der Befund, dass sich fiktionales<br />

<strong>Erzählen</strong> deutlich rascher entwickelt als faktuales, ist derzeit Konsens in<br />

allen Studien. Während die Kinder <strong>zum</strong> Beispiel am Ende von Klasse 1 in<br />

Erlebniserzählungen <strong>zum</strong>eist nur ein einziges Ereignis aufschreiben oder<br />

mehrere reihend formulieren und der Leser die Erzählwürdigkeit selbst<br />

erschließen muss (»Im Zirkus. Ich bin am Samstag in den Zirkus gegangen<br />

und mit meinen Eltern«) <strong>–</strong> wie bei vielen mündlichen Erzählungen im Montagserzählkreis<br />

<strong>–</strong>, entfaltet die deutliche Mehrzahl derselben Kinder fiktional,<br />

beim Schreiben <strong>zum</strong> Bilderbuch, ganze Geschichten (»Es war einmal<br />

eine Haselmaus. Die Maus war sehr klug und sehr schnell und vor allem war<br />

sie mutig. Aber sie hatte keine Freunde. Eines Tages beschloss sie wegzugehen.<br />

Sie ging und ging davon. Eines Tages traf sie einen Riesen und der Riese und<br />

die Maus waren sehr gute Freunde«; vgl. Dehn u. a. 2011, S. 8 <strong>–</strong> 10). Diese enthalten<br />

Muster des <strong>Erzählen</strong>s aus dem Buch, aber auch aus anderen Texten,<br />

die sich das Kind angeeignet hat: zur zeitlichen Gliederung (»Es war einmal«;<br />

»Eines Tages«), zur Steigerung (»sehr …«; »vor allem«; »ging und ging«);<br />

eine Höhepunkterzählung im engeren Sinn ist das häufig nicht; jedoch ist<br />

der Wendepunkt der Geschichte <strong>zum</strong> Beispiel durch »aber« gegliedert. Die<br />

Kinder kennzeichnen den Mangel, der Motiv ist für den Aufbruch der Figur,<br />

und führen die Geschichte dieser Suche fast immer <strong>zum</strong> guten Ende; sie<br />

bearbeiten also ein Grundmotiv ihres Geschichtenfundus.<br />

Studien, die die Auswirkung der Aneignung von Geschichten auf Inhalt<br />

und Sprachform des kindlichen <strong>Erzählen</strong>s untersuchen, also das kindliche<br />

<strong>Erzählen</strong> im Kontext des verfügbaren Geschichtenfundus <strong>–</strong> anhand<br />

Abb. 2 <strong>–</strong> 4: Wo die wilden Kerle wohnen <strong>–</strong><br />

szenisch erzählt<br />

18


von Geschichten oder Bildern als Vorgaben <strong>–</strong> betrachten (Wardetzky 1992;<br />

Weinhold 2005; Dehn 2005; Wieler 2011; Schüler 2015), legen den Bezug zur<br />

eigenen Erfahrung der Schulkinder und zu dem, was sie für erzählwürdig<br />

halten, <strong>zum</strong>indest nahe: dadurch, dass sie sich erinnern müssen; dass ihre<br />

Vorstellungsbildung herausgefordert wird; dass sie auswählen können und<br />

dadurch, dass sie selbst den Fokus für ihr <strong>Erzählen</strong> finden müssen, dass sie<br />

Möglichkeiten haben, das, was sie bewegt, als narrative Selbstvergewisserung<br />

auf die Figuren und Geschehnisse ihrer Geschichte zu übertragen. Lis<br />

Schüler (2015) warnt vor einer »sprachformalen« Betrachtung von Geschichtenaufbau<br />

und »treffenden Formulierungen« und möchte »das Erkunden<br />

narrativer Muster an den Kontext einer vorgestellten Geschichte binden«.<br />

Weil die Kinder ihren Schwerpunkt unterschiedlich setzen und sie dementsprechend<br />

sehr verschiedene Geschichten erzählen, ist auch ihr Interesse<br />

an den Geschichten der anderen aus der Lerngruppe gegeben, denn deren<br />

Geschichten enthalten neue Akzentuierungen und Deutungen. Es gibt hier<br />

gerade nicht eine prototypische »beste« Lösung für die Geschichte.<br />

Im Spiel zwischen Vorgegebenem und Hervorgebrachtem, zwischen<br />

Rezeption und Produktion, zeigen solche Erzählungen rhetorische Figuren,<br />

Metaphernbildung und Genremuster, aus Märchen, aber <strong>zum</strong> Beispiel auch<br />

aus Kriminal- und Fortsetzungsgeschichten. Ein Grund für die Unterschiede<br />

bei der Aneignung der beiden Erzählformen kann darin gesehen<br />

werden, dass den Kindern bei der Fantasieerzählung, vor dem Hintergrund<br />

ihrer Erfahrungen im Umgang mit gehörten (und gesehenen) Geschichten,<br />

mehr sprachliche Muster und textliche Strukturierungsmodelle zur<br />

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Verfügung stehen <strong>–</strong> wie Andresen (2011) zeigt, mündlich bereits im Alter<br />

von 4 Jahren. Die Aneignung von narrativen Mustern ist also nicht an die<br />

Fähigkeit, lesen zu können, gebunden, wohl aber an das <strong>Erzählen</strong> und<br />

Vorlesen!<br />

Die in der Schule (immer noch) gebräuchliche Form der Bildergeschichte<br />

gilt im Vergleich zu den anderen Erzählformen als die, die für Kinder am<br />

schwersten zu bewältigen ist (Becker 2011). Das ist einerseits erstaunlich,<br />

weil die für den Erwerb so schwierige Sequentialität ja vorgegeben ist. Andererseits<br />

können für diesen Befund mehrere Gründe geltend gemacht werden:<br />

Zum einen erscheint die Bildergeschichte als fiktional und faktual zugleich.<br />

Das dargestellte Geschehen kann als fiktional gelten; wohl aber erscheint es<br />

den betrachtenden Kindern als außersprachliche Referenz, auf die sie sich<br />

beziehen müssen, also als faktual. Zum anderen ist das <strong>Erzählen</strong> zur Bilderfolge<br />

eine ausschließlich schulrelevante Form, bei der das Produkt an einer<br />

prototypischen Lösung gemessen wird. Erfahrungshaftigkeit ist höchstens<br />

implizit gegeben; und wenn die Bildergeschichte allen anderen auch vorliegt<br />

(vgl. Boueke u. a. 1995), scheint das <strong>Erzählen</strong> für das Kind wenig motiviert.<br />

Die Erzählwürdigkeit wird zu einem bloß formalen Aspekt.<br />

Schriftliches <strong>Erzählen</strong> ist differenzierter als mündliches<br />

Wieler (2011) untersucht Unterrichtsprozesse (Unterrichtsprotokolle und<br />

Schülerarbeiten) und zeigt, dass die schriftlichen Erzählungen mehrsprachiger<br />

Kinder aus Klasse 1 und 2 <strong>zum</strong> Bilderbuch ohne Worte (The Snowman)<br />

im Vergleich zu ihren Beiträgen im Unterrichtsgespräch weitaus<br />

differenzierter sind: Das betrifft die Darstellung der Zeitstruktur und die<br />

von Beziehungen <strong>–</strong> als »integrierte dialogische Sequenzen«<strong>–</strong> und vor allem<br />

auch Ansätze zur Darstellung von Perspektivübernahme (ebd., S. 140). Das<br />

Schreiben erlaubt den Kindern, den im Umgang mit dem Buch »für sie relevanten<br />

Erfahrungen Ausdruck zu verleihen« (ebd., S. 144). Wieler sieht als<br />

Grund für die stärkere Differenzierung die »Befreiung vom kommunikativen<br />

Handlungsdruck des Klassengesprächs« und die größere Planungszeit<br />

beim Schreiben (S. 140); vermutlich hat aber die Gesprächsführung der Lehrerin<br />

auch einen Einfluss darauf. Becker (2002) hat mündliche und schriftliche<br />

Fantasie- und Erlebniserzählungen vom Ende Klasse 1 verglichen. Sie<br />

zeigt, dass die schriftlichen Erzählungen <strong>–</strong> in beiden Gattungen <strong>–</strong> deutlich<br />

mehr Affektmarkierungen enthalten und die Fantasieerzählungen bereits<br />

»genre schemes« (S. 36; vgl. Weinhold 2005) erkennen lassen. Das Schriftliche<br />

setzt beim <strong>Erzählen</strong> in höherem Maße Ressourcen frei, die Kinder im<br />

Umgang mit Geschichten gesammelt haben. <strong>–</strong> Insofern ist auch plausibel,<br />

dass die unterstützende Interaktion des Erwachsenen bei Erlebniserzählungen<br />

in stärkerem Maß notwendig ist als bei Fantasieerzählungen (Ohlhus<br />

/ Quasthoff 2005).<br />

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Eine Geschichte erzählen, eine Geschichte hören bedeutet immer,<br />

gleich ob es um Erlebtes oder um Fiktion geht, ob mündlich oder schriftlich<br />

erzählt wird, Distanz zu nehmen zur augenblicklichen Situation. Diese<br />

Abstraktion von der Situation ist ein wesentliches Merkmal konzeptioneller<br />

Schriftlichkeit. In diesem Sinn ist das <strong>Erzählen</strong> ein hervorragendes Medium<br />

für Bildungsprozesse. Für schriftliches <strong>Erzählen</strong> der Schulkinder gilt das<br />

mehr noch als für mündliches. Und was macht den Unterschied aus <strong>zum</strong><br />

Vorlesegespräch? Vorlesegespräche fordern ein Wechselspiel von imaginativer<br />

Verstrickung, einem Eintauchen in die Geschichte, und Reflexion der<br />

dargestellten Welt heraus <strong>–</strong> beides geht auf Seiten des Rezipienten nicht ohne<br />

eine Distanzierung von der augenblicklichen Situation (vgl. Merklinger in<br />

diesem Band: Spuren literarischen Lernens im Vorlesegespräch).<br />

Ein Schwerpunkt: Erwachsene erzählen in der Schule<br />

In der Grundschule ist die Aufmerksamkeit bisher vor allem auf die Erzählfähigkeit<br />

der Kinder gerichtet. Wir setzen mit diesem Band einen Schwerpunkt<br />

auf das <strong>Erzählen</strong> Erwachsener. Es geht uns darum zu zeigen, warum<br />

Zuhören beim Märchenerzählen wichtig ist (vgl. Wardetzky in diesem<br />

Band), wie sich das Hören mündlich vorgetragener Erzählungen nicht nur<br />

positiv auswirkt auf den Spracherwerb, sondern auch auf die Fähigkeit zu<br />

schreiben; und wie man sich auf eine Erzählung vorbereiten kann (vgl. in<br />

diesem Band: Weisse, Schnelle, Schüler). Das <strong>Erzählen</strong> Erwachsener kann<br />

die Schüler »allein mit Hilfe von Worten in eine andere Wirklichkeit […]<br />

entführen und zeitlich oder örtlich ferne Begebenheiten so gegenwärtig<br />

machen, dass sie geradezu sinnlich erfahrbar werden« (Collmar 1996, S. 176).<br />

In den letzten Jahrzehnten war die Lehrererzählung <strong>–</strong> in den Lernbereichen<br />

Sprache, Religion und Sachunterricht <strong>–</strong> als Form des Frontalunterrichts in<br />

der Kritik. In den hier vorgestellten Beiträgen aber wird den Schülern Raum<br />

gegeben für individuelle Fokussierung und Aneignung; die Erfahrungshaftigkeit<br />

des Erzählten als Gelegenheit zu nutzen, sich das Eigene im Fremden<br />

vorzustellen, es zu erkennen und in Wort und Bild auch zu gestalten (vgl.<br />

Schüler in diesem Band: Szenisches <strong>Erzählen</strong> in der Vorschulklasse. Kinder<br />

zeichnen und diktieren zu dem Märchen Warum der Löwe brüllt), subjektiv,<br />

aber nicht beliebig, und im Austausch mit den anderen.<br />

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