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Chronist der Verblendung - Friedrich Kellners Tagebücher 1938/39 ...

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Markus Roth<br />

<strong>Chronist</strong> <strong>der</strong> <strong>Verblendung</strong><br />

<strong>Friedrich</strong> <strong>Kellners</strong> <strong>Tagebücher</strong><br />

<strong>1938</strong> / <strong>39</strong> bis 1945<br />

Reihe<br />

Gesprächskreis<br />

Geschichte<br />

Heft 83


Gesprächskreis Geschichte<br />

Heft 83<br />

Markus Roth<br />

<strong>Chronist</strong> <strong>der</strong> <strong>Verblendung</strong> – <strong>Friedrich</strong><br />

<strong>Kellners</strong> <strong>Tagebücher</strong> <strong>1938</strong>/<strong>39</strong> bis 1945<br />

Beiheft zur Ausstellung: Die Last <strong>der</strong> ungesagten Worte.<br />

Die <strong>Tagebücher</strong> <strong>Friedrich</strong> <strong>Kellners</strong> <strong>1938</strong>/<strong>39</strong> bis 1945<br />

<strong>Friedrich</strong>-Ebert-Stiftung<br />

Archiv <strong>der</strong> sozialen Demokratie


Herausgegeben von Anja Kruke<br />

Archiv <strong>der</strong> sozialen Demokratie<br />

Kostenloser Bezug beim Archiv <strong>der</strong> sozialen Demokratie<br />

<strong>der</strong> <strong>Friedrich</strong>-Ebert-Stiftung<br />

E-mail: Doris.Fassben<strong>der</strong>@fes.de<br />

http://library.fes.de/history/pub-history.html<br />

© 2009 by <strong>Friedrich</strong>-Ebert-Stiftung<br />

Bonn (-Bad Godesberg)<br />

Redaktion: Ursula Bitzegeio<br />

Umschlag: Pellens Kommunikationsdesign<br />

Herstellung: Katja Ulanowski<br />

Alle Rechte vorbehalten<br />

Printed in Germany 2009<br />

ISBN 978-3-86872-241-3<br />

ISSN 0941-6862


Vorwort<br />

<strong>Tagebücher</strong> spielen in <strong>der</strong> Erinnerungskultur Deutschlands seit<br />

1945 eine beträchtliche Rolle. Die größte Wirkung erzielten dabei<br />

in einer anfänglichen Konjunkturphase <strong>der</strong> unmittelbaren<br />

Nachkriegszeit die extrem gegensätzlichen, die Opfer- o<strong>der</strong> Akteursebene<br />

wi<strong>der</strong>spiegelnden Aufzeichnungen. Durchaus Beachtung<br />

in <strong>der</strong> Öffentlichkeit fanden aber auch <strong>Tagebücher</strong> und<br />

Selbstzeugnisse einzelner Vertretern des Wi<strong>der</strong>standes gegen Hitler,<br />

wie die von Ulrich von Hassel und Theodor Haecker, aber<br />

auch verfolgter Sozialdemokraten, wie die Aufzeichnungen von<br />

Erich Nies, Willy Cohn und Jack Schiefer. Seit den 1990er Jahren<br />

scheint es erneut eine neue Welle des Interesses für <strong>Tagebücher</strong><br />

zu geben, die zur Zeit des Nationalsozialismus entstanden<br />

sind. Erstpublikationen, die von den Feuilletons als „literarische<br />

Sensationen“ angepriesen werden, wie die <strong>Tagebücher</strong> von Viktor<br />

Klemperer o<strong>der</strong> das Buch <strong>der</strong> „Anonyma“, finden ein breites<br />

Publikum und erweitern die literarisch vermittelte Wahrnehmung<br />

<strong>der</strong> Vergangenheit in <strong>der</strong> deutschen Gesellschaft.<br />

<strong>Tagebücher</strong> werden als äußerst authentisch und ereignisnahe Quelle<br />

<strong>der</strong> Erinnerung wahrgenommen. Auch wenn die Autoren/innen<br />

in ihren persönlichen Aufzeichnungen in erster Linie „zu sich<br />

selbst“ o<strong>der</strong> einem unbestimmten Publikum sprechen, so vermögen<br />

es ihre verschriftlichen Selbstzeugnisse dennoch, ihre soziale<br />

Position, ihr kulturelles Milieu und die politisch-weltanschaulichen<br />

Überzeugungen in einem weiten Spektrum abzubilden.<br />

Die <strong>Tagebücher</strong> des Sozialdemokraten <strong>Friedrich</strong> Kellner stellen<br />

umfangreiche Selbstzeugnisse dieser Art dar. Das insgesamt zehn<br />

Bände umfassende Manuskript des ehemaligen Laubacher Justizangestellten<br />

und späteren Reorganisatoren <strong>der</strong> Laubacher SPD<br />

wurde zwischen <strong>1938</strong>/<strong>39</strong> und 1945 im Verborgenen angefertigt.<br />

Aus technischer Sicht ist das Beson<strong>der</strong>e daran die Collagetech-<br />

3


4<br />

nik, eine Kombination aus gesammelten eingeklebten Zeitungsausschnitten<br />

<strong>der</strong> inländischen Presse und ihrer persönlichen<br />

Kommentierung durch den Autor. Sie werden im Rahmen einer<br />

Ausstellung <strong>der</strong> <strong>Friedrich</strong>-Ebert-Stiftung mit dem Titel „Die Last<br />

<strong>der</strong> Erinnerung. Die <strong>Tagebücher</strong> <strong>Friedrich</strong> <strong>Kellners</strong> <strong>1938</strong>/<strong>39</strong>–<br />

1945“ gezeigt, die entlang <strong>der</strong> Biografie <strong>Friedrich</strong> <strong>Kellners</strong> und<br />

entlang seiner Selbstzeugnisse das Bild eines typischen Sozialdemokraten<br />

<strong>der</strong> Weimarer Republik nachzeichnet. Seine Lebens-<br />

und Gedankenwelt sowie seine Milieubindung haben durch den<br />

Terror und die Zensur <strong>der</strong> Diktatur einschneidende Brüche und<br />

Diskontinuitäten erfahren. Das Tagebuch wird dabei zum Ausdruck<br />

einer inneren Abwehr und des Protests gegen den Nationalsozialismus<br />

in Ermangelung an<strong>der</strong>er Möglichkeiten.<br />

Seit einiger Zeit wird wie<strong>der</strong> stark über den Wi<strong>der</strong>stand in<br />

Deutschland diskutiert. Das Archiv <strong>der</strong> sozialen Demokratie hat<br />

sich hier mit einer Ausstellung zum sozialmokratischen und gewerkschaftlichen<br />

Wi<strong>der</strong>stand („Nein zu Hitler“. Sozialdemokratie<br />

und Freie Gewerkschaften in Verfolgung, Wi<strong>der</strong>stand und Exil<br />

1933–1945) zu Wort gemeldet und sich auch mit <strong>der</strong> Frage <strong>der</strong><br />

Anpassung in <strong>der</strong> Diktatur beschäftigt (Richard Evans, „Arbeiterklasse<br />

und Volksgemeinschaft“, Gesprächskreis Geschichte<br />

Bd. 84). Mit dieser Ausstellung rückt nun ein Vertreter <strong>der</strong>jenigen<br />

Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen in den Blick,<br />

die sich zwar nicht in den aktiven Wi<strong>der</strong>stand gingen, sich jedoch<br />

auch nicht blenden ließen und auf Distanz zum Nationalsozialismus<br />

blieben.<br />

Bonn, im Dezember 2009 Dr. Anja Kruke<br />

Leiterin des Archivs<br />

<strong>der</strong> sozialen Demokratie<br />

<strong>Friedrich</strong>-Ebert-Stiftung


Markus Roth<br />

<strong>Chronist</strong> <strong>der</strong> <strong>Verblendung</strong> –<br />

<strong>Friedrich</strong> <strong>Kellners</strong> <strong>Tagebücher</strong> <strong>1938</strong>/<strong>39</strong> bis 1945 1<br />

„Die Geschichte, die hier erzählt werden soll, hat zum Gegenstand<br />

eine Art von Duell. Es ist ein Duell zwischen zwei sehr<br />

ungleichen Gegnern: einem überaus mächtigen, starken und<br />

rücksichtslosen Staat, und einem kleinen, anonymen, unbekannten<br />

Privatmann. […] Mein privates Duell mit dem Dritten<br />

Reich ist kein vereinzelter Vorgang. Solche Duelle, in denen ein<br />

Privatmann sein privates Ich und seine private Ehre gegen einen<br />

übermächtigen feindlichen Staat zu verteidigen sucht, werden<br />

seit sechs Jahren in Deutschland zu Tausenden und Hun<strong>der</strong>ttausenden<br />

ausgefochten – jedes in absoluter Isolierung und alle unter<br />

Ausschluß <strong>der</strong> Öffentlichkeit.“ 2<br />

1 Dieser Aufsatz ist im Rahmen des Editionsprojekts „Die <strong>Tagebücher</strong> <strong>Friedrich</strong><br />

<strong>Kellners</strong>“ <strong>der</strong> Arbeitsstelle Holocaustliteratur <strong>der</strong> Universität Gießen entstanden,<br />

(im Erscheinen 2010). Er stützt sich neben den in den Fußnoten genannten<br />

Quellen auch auf bereits früher in diesem Kontext entstandene<br />

Aufsätze: Andrea Löw, „Ein Blick in die Zeitungen zeigt uns das Wesen <strong>der</strong><br />

Propaganda“. <strong>Tagebücher</strong> <strong>Friedrich</strong> <strong>Kellners</strong> werden an <strong>der</strong> Arbeitsstelle Holocaustliteratur<br />

ediert, in: Giessener Universitätsblätter <strong>39</strong> (2006), S. 99-103;<br />

Nikola Medenwald/Diana Nusko, „Je<strong>der</strong> Mensch hat die Wahl zwischen Gut<br />

und Böse. Wähle das Gute und stelle Dich gegen die, die das Böse wählen.“<br />

Schreiben als Wi<strong>der</strong>stand – die <strong>Tagebücher</strong> <strong>Friedrich</strong> <strong>Kellners</strong>, in: Sascha Feuchert/Joanna<br />

Jabłkowska/Jörg Riecke (Hg.), Literatur und Geschichte. Festschrift<br />

für Erwin Leibfried. Frankfurt am Main u.a. 2007, S. 127-135; Diana<br />

Nusko, Die <strong>Tagebücher</strong> des <strong>Friedrich</strong> Kellner – Transkription & Analyse. unferöffentl.<br />

Manuskript, Gießen 2007; Birgit Maria Körner/Nassrin Sadeghi,<br />

„Ich konnte die Nazis damals nicht in <strong>der</strong> Gegenwart bekämpfen. Also entschloß<br />

ich mich, sie in <strong>der</strong> Zukunft zu bekämpfen.“ Die Edition <strong>der</strong> <strong>Tagebücher</strong><br />

<strong>Friedrich</strong> <strong>Kellners</strong> an <strong>der</strong> Arbeitsstelle Holocaustliteratur Gießen, in: Tribüne<br />

49 (2010), Heft 193, im Erscheinen.<br />

2 Haffner, Sebastian, Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914-<br />

1933, München 2002, S. 9 f.<br />

5


6<br />

Ob das, was <strong>der</strong> junge Raimund Pretzel, später als Sebastian<br />

Haffner bekannt geworden, 19<strong>39</strong> im englischen Exil rückblickend<br />

über sein Leben in den ersten Jahren <strong>der</strong> NS-Diktatur<br />

schrieb, sich tatsächlich hun<strong>der</strong>ttausendfach abgespielt haben<br />

mag – wofür manches spricht – sei dahingestellt. Dass solche<br />

Kämpfe aber vielfach von Menschen ausgefochten worden sind,<br />

davon zeugen nicht zuletzt auch die <strong>Tagebücher</strong> von <strong>Friedrich</strong><br />

Kellner, einem Justizangestellten in <strong>der</strong> hessischen Provinz, die<br />

er von 19<strong>39</strong> bis 1945 regelmäßig geführt hat. <strong>Friedrich</strong> Kellner,<br />

überzeugter Sozialdemokrat bereits seit <strong>der</strong> Weimarer Republik,<br />

und seine Frau Pauline wi<strong>der</strong>standen all den großen und kleinen<br />

Versuchungen, die das NS-Regime auch anfangs kritischen Geistern<br />

durchaus erfolgreich zu bieten verstand. Mehr noch: We<strong>der</strong><br />

er noch seine Frau ließen sich in ihren Überzeugungen beirren.<br />

Kellner schrieb in seinen <strong>Tagebücher</strong>n gegen das Regime, seine<br />

Propaganda und all die Leichtgläubigen unter seinen Mitbürgern<br />

an – urteilsscharf, klarsichtig, zornig, sarkastisch und manchmal<br />

<strong>der</strong> Verzweiflung nahe: „Es tut mir leid festhalten zu müssen, daß<br />

das primitive Denken des deutschen Volkes einen Grad erreicht<br />

hat, <strong>der</strong> schlechterdings nicht mehr zu überbieten ist. Das ist dein<br />

Werk, Propagandaminister! Vernebelt, verdunkelt sind alle Hirne!<br />

Man muß an den Menschen verzweifeln. Kritisches Betrachten<br />

schadet uns. Es ist alles wun<strong>der</strong>bar. – Warten wir ab. Himmelhoch<br />

jauchzend, zu Tode betrübt, das erleben wir noch.“ 3 Doch<br />

wer war dieser <strong>Friedrich</strong> Kellner, <strong>der</strong> im hessischen Laubach den<br />

Versuchungen des Regimes trotzte?<br />

3 <strong>Friedrich</strong> Kellner, Tagebucheintrag vom 26.9.<strong>1938</strong>. Im Folgenden werden<br />

Zitate aus dem Tagebuch durch das Datum des entsprechenden Eintrags in<br />

runden Klammern nachgewiesen. Personennamen, die Kellner nennt, werden<br />

in <strong>der</strong> Regel anonymisiert, wenn sie nicht als Personen <strong>der</strong> Zeitgeschichte gelten<br />

können.


Die Biografie<br />

Als Quelle für eine Darstellung von <strong>Kellners</strong> Leben im Zweiten<br />

Weltkrieg eignen sich die <strong>Tagebücher</strong> nicht. Zu sehr konzentriert<br />

er sich auf die Kommentierung <strong>der</strong> allgemeinen Zeitläufe und <strong>der</strong><br />

Reaktionen seiner Mitbürger darauf. Einzelheiten aus seinem Leben,<br />

auch durchaus dramatische Ereignisse, spart er weitgehend<br />

aus.<br />

<strong>Friedrich</strong> Kellner wurde am 1. Februar 1885 als Sohn eines Bäckermeisters<br />

in Vaihingen an <strong>der</strong> Enz geboren. Kurz darauf zog<br />

die Familie nach Mainz, <strong>Friedrich</strong> besuchte bis 1903 die Oberrealschule<br />

und schlug danach eine Laufbahn im Justizapparat ein.<br />

Den obligatorischen Vorbereitungsdienst zum Justizsekretär absolvierte<br />

er von 1903 bis 1906 in Mainz und arbeitete dort anschließend,<br />

unterbrochen durch den Militärdienst, als Gerichtsschreiber<br />

und später als Bürovorsteher bei verschiedenen Rechtsanwälten.<br />

Wie die meisten jungen Männer seines Alters zog auch<br />

Kellner 1914 als Soldat in den Ersten Weltkrieg, in dessen Verlauf<br />

er Offiziers-Stellvertreter wurde. Erst nach Kriegsende<br />

kehrte er in den Justizdienst an das Amtsgericht Mainz zurück<br />

und wurde 1920 schließlich verbeamtet. Bis 1933 hatte Kellner<br />

den Aufstieg bis zum Justizinspektor geschafft. 4<br />

Mitte Januar 1933 versetzte das Justizministerium ihn an das<br />

Amtsgericht im oberhessischen Laubach, wo er bis 1948 geschäftsleiten<strong>der</strong><br />

Justizinspektor war. Da Kellner jedoch immer<br />

wie<strong>der</strong> Kollegen und Vorgesetzten, die NSDAP-Mitglie<strong>der</strong> waren,<br />

durch sein nonkonformes Verhalten am Arbeitsplatz auffiel,<br />

sollte es in seiner aktiven Laufbahn unter dem NS-Regime<br />

jedoch nicht mehr zu einer weiteren Beför<strong>der</strong>ung kommen.<br />

Dem Beitritt in die NSDAP verweigerte er sich konsequent,<br />

4 Vgl. <strong>Friedrich</strong> Kellner, Lebenslauf, 15.10.1965, Hessisches Hauptstaatsarchiv<br />

Wiesbaden, 518/29744, Bl. 4. Zum Folgenden vgl. ebd.<br />

7


8<br />

eine Zeitlang auch dem Drängen <strong>der</strong> Nationalsozialistischen<br />

Volkswohlfahrt (NSV). Im Juli 1935 wurde er aufgefor<strong>der</strong>t,<br />

dieser beizutreten, weil „es nach unseren Erfahrungen heute<br />

keinen Beamten, insbeson<strong>der</strong>e keinen Mittleren Beamten mehr<br />

geben dürfte, <strong>der</strong> nicht <strong>der</strong> N.S.V. als Mitglied angehört“, wie<br />

es in einem Schreiben an Kellner hieß. Überdies wurde er aufgefor<strong>der</strong>t,<br />

seine Gründe mitzuteilen, sollte er sich weiterhin einer<br />

Mitgliedschaft verweigern. 5 Kellner blieb bei seiner Haltung<br />

und teilte mit, auch weiterhin nur freiwillige Spenden entrichten<br />

zu wollen. Auf nochmaliges Nachhaken jedoch gab<br />

Kellner klein bei und füllte offenbar einen Aufnahmeantrag aus<br />

– wirklich engagiert hat er sich für die NSV jedoch nie. 6 <strong>Kellners</strong><br />

wenige überlieferten Korrespondenzen zeugen zudem von<br />

zunehmenden Schikanen und Bedrohungen seitens <strong>der</strong> örtlichen<br />

NS-Funktionäre. So hat die Laubacher Ortsgruppe <strong>der</strong><br />

NSDAP 1940 bei <strong>der</strong> Kreisleitung in Gießen seine Einweisung<br />

in das Konzentrationslager Osthofen, in dem bereits drei Laubacher<br />

Sozialdemokraten in <strong>der</strong> „Schutzhaft“ litten, angestrengt.<br />

7 Die Reaktion <strong>der</strong> Gießener Kreisleitung jedoch war<br />

ablehnend, da Kellner dienstlich nichts vorzuwerfen sei und<br />

„Menschen vom Typ Kellner viel zu intelligent“ seien, als dass<br />

sie „sich greifbar schuldig machten“. Das Fazit <strong>der</strong> Kreisleitung<br />

lautete: „Wenn wir Leute vom Schlage Kellner fassen<br />

wollen, müssen wir sie aus ihren Schlupfwinkeln herauslocken<br />

und schuldig werden lassen. Ein an<strong>der</strong>er Weg steht zur Zeit<br />

nicht offen. Zu einem Vorgehen ähnlich dem seinerzeit gegen<br />

5 Vgl. NSDAP, Amt für Volkswohlfahrt, Kreis Schotten, an Oberjustiz-Inspektor<br />

Kellner, 20. Juli 1935, Nachlass Kellner.<br />

6 Vgl. NSDAP, Amt für Volkswohlfahrt, Kreis Schotten, an Justizinspektor<br />

Kellner, 1. August 1935, ebd. Das Nachgeben <strong>Kellners</strong> geht aus seiner handschriftlichen<br />

Notiz auf diesem Schreiben hervor.<br />

7 Vgl. <strong>Friedrich</strong> Kellner, betr. Antrag <strong>der</strong> Ortsgruppe Laubach <strong>der</strong> NSDAP, o.<br />

J., Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, 518/29744, Bl. 9.


die Juden ist die Zeit noch nicht reif. Das kann erst nach dem<br />

Kriege erfolgen.“ 8<br />

Nach Auskunft seines Enkels war <strong>Friedrich</strong> Kellner bereits<br />

seit 1918 poitisch und seit 1920 für die Mainzer SPD aktiv. Er<br />

soll dort auch als Versammlungsredner unterwegs gewesen sein.<br />

Überdies habe er schon früh vor den Gefahren durch den Nationalsozialismus<br />

gewarnt. Nach dem Zweiten Weltkrieg gehörte er<br />

zu den Mitgrün<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Laubacher Sozialdemokratie, <strong>der</strong>en Vorsitzen<strong>der</strong><br />

er zeitweise war. Für die SPD war er schließlich von<br />

1956 bis 1960 auch erster Stadtrat, somit Vertreter des Bürgermeisters<br />

in Laubach. Nach seiner aktiven Zeit zog er mit seiner<br />

Frau zurück nach Mainz, 1970 verstarb <strong>Friedrich</strong> Kellner.<br />

Familienfoto mit <strong>Friedrich</strong> Kellner, Pauline Kellner, geb. Preuß und ihrem gemeinsamen<br />

Sohn Karl <strong>Friedrich</strong>, aufgenommen 1934, Quelle: Aus dem Privatbesitz<br />

von Dr. Scott Kellner, Texas.<br />

8 Schreiben von H. E. an die Ortsgruppe Laubach vom 18.3.1940, Nachlass<br />

Kellner.<br />

9


10<br />

Aufmarsch <strong>der</strong> SA auf dem Laubacher Marktplatz, Quelle: Vorstand des SPD-<br />

Ortsvereins Laubach (Hrsg.), 75 Jahre Sozialdemokratische Partei Laubach,<br />

Laubach 2000, Rechteinhaber nicht ermittelbar.


Die <strong>Tagebücher</strong><br />

<strong>Friedrich</strong> Kellner hat vom 26. September <strong>1938</strong> bis zum 17. Mai<br />

1945 Tagebuch geführt, allerdings sind für die Zeit vor August<br />

19<strong>39</strong> nur zwei Tagebucheinträge überliefert, so dass das Tagebuch<br />

fast ausschließlich die Zeit des Zweiten Weltkriegs umfasst.<br />

In insgesamt zehn Tagebuchheften hat Kellner 676 handschriftliche<br />

Einträge geschrieben, <strong>der</strong>en Länge in den späteren <strong>Tagebücher</strong>n<br />

tendenziell zunimmt. Das erste Tagebuch, das den Zeitraum<br />

vom 26. September <strong>1938</strong> bis zum 30. August 1940 umfasst,<br />

galt lange Zeit als verschollen und wurde erst im Zuge lokaler<br />

Recherchen <strong>der</strong> Arbeitsstelle Holocaustliteratur für die Edition<br />

<strong>der</strong> <strong>Tagebücher</strong> <strong>Friedrich</strong> <strong>Kellners</strong> aufgefunden. Es besteht, an<strong>der</strong>s<br />

als die an<strong>der</strong>en Teile, aus losen Blättern mit anfangs nur<br />

sporadischen Tageseinträgen, so dass nicht mit Sicherheit gesagt<br />

werden kann, ob es vollständig überliefert ist. Zweifel daran sind<br />

erlaubt, zumal Einträge zu zentralen Ereignissen, wie etwa <strong>der</strong><br />

Zerstörung <strong>der</strong> Laubacher Synagoge in <strong>der</strong> Reichsprogromnacht<br />

fehlen. Es könnte sich bei diesem Tagebuch auch um Vorstudien<br />

gehandelt haben, die den eigentlichen Kriegsaufzeichnungen vorausgingen.<br />

Eine Beson<strong>der</strong>heit stellt die Collagetechnik dar, mit <strong>der</strong> Kellner<br />

zum ersten Mal im Oktober 1940 und regelmäßig ab Mitte Mai<br />

1941 gearbeitet hat, nicht zuletzt um sich kritisch mit <strong>der</strong> NS-<br />

Propaganda in <strong>der</strong> Presse auseinan<strong>der</strong>zusetzen. Er stellte aus Zeitungsartikeln<br />

und Überschriften fast täglich einen Pressespiegel<br />

zusammen und kommentierte diesen ausführlich. Benutzt hat<br />

Kellner dabei vor allem die größeren überregionalen inländischen<br />

Zeitungen wie etwa den „Völkischen Beobachter“, das „Hamburger<br />

Fremdenblatt“, die „Hessische Landes-Zeitung“, die Wochenzeitungen<br />

„Das Reich“ und „Das Schwarze Korps“ o<strong>der</strong><br />

auch juristische Fachblätter wie die „Deutsche Justiz“. Vereinzelt<br />

griff er auch auf die regionale Presse zurück.<br />

11


12<br />

Die Themenpalette, die Kellner anspricht, ist sehr breit und reicht<br />

von lokalen Ereignissen und Beobachtungen vor allem zu Beginn<br />

des Tagebuchs über das allgemeine Kriegsgeschehen in <strong>der</strong> Welt<br />

und in <strong>der</strong> Region bis hin zu den Verbrechen des Regimes etwa an<br />

Juden o<strong>der</strong> an Behin<strong>der</strong>ten. Zugrunde liegt diesen und an<strong>der</strong>en<br />

Themen die ständige Sezierung <strong>der</strong> NS-Propaganda und die Kommentierung<br />

<strong>der</strong> Propagandagläubigkeit vieler Menschen in <strong>Kellners</strong><br />

unmittelbarer Umgebung. <strong>Kellners</strong> Horizont reicht bei seinen<br />

Schil<strong>der</strong>ungen weit über die Gegenwart hinaus. Immer wie<strong>der</strong><br />

setzt er das gerade Geschehene, Gehörte und Beschriebene in Beziehung<br />

zu früheren Entwicklungen, zu vorhergehenden Berichterstattungen<br />

in <strong>der</strong> Presse o<strong>der</strong> zu Äußerungen <strong>der</strong> NS-Führungsspitze,<br />

die mitunter etliche Jahre zurücklagen. Überdies spielt seine<br />

eigene Erfahrung aus dem Ersten Weltkrieg, die damalige<br />

Strategie und Propaganda eine eminent wichtige Rolle in seiner<br />

Haltung den zeitgenössischen Entwicklungen gegenüber. Ein ausschließlicher<br />

kritischer Rückbezug auf die Vergangenheit alleine<br />

hätte sicherlich nicht ausgereicht, die propagandagesättigte Gegenwart<br />

mit ihrer alles beherrschenden Ideologie und ihren Verbrechen<br />

zu ertragen, wenn Kellner nicht auch eine klare, zunehmend<br />

greifbarere Perspektive auf eine Zeit nach dem Nationalsozialismus<br />

vor Augen gestanden hätte. Hiervon hatte er recht klare<br />

Vorstellungen, die er seinem Tagebuch anvertraute.<br />

Die anfängliche Intention, Tagebuch zu führen, hat Kellner im<br />

ersten erhaltenen Eintrag vom 26. September <strong>1938</strong> umschrieben:<br />

„Der Sinn meiner Nie<strong>der</strong>schrift ist <strong>der</strong>, augenblickliche Stimmungsbil<strong>der</strong><br />

aus meiner Umgebung festzuhalten, damit eine spätere<br />

Zeit nicht in die Versuchung kommt, ein ‚großes Geschehen‘<br />

heraus zu konstruieren. (eine ‚heroische Zeit‘ od. <strong>der</strong>gl.).“ Das<br />

sollte sich im Laufe <strong>der</strong> Zeit wandeln. Stand anfangs sicherlich<br />

die Absicht im Vor<strong>der</strong>grund, Laubach und die Laubacher ins Zentrum<br />

seiner Aufzeichnungen zu stellen, wich dies später einer


13<br />

immer stärkeren Konzentration auf das Kriegsgeschehen allgemein,<br />

auf das Regime, seine Politik und Propaganda, aber auch<br />

auf die Deutschen, wollte er doch, wie er später schrieb, „ein Bild<br />

von <strong>der</strong> Geistesverfassung des deutschen Volkes […] bieten“ (23.<br />

Juni 1941). Ein weiterer nicht unwesentlicher Impuls, <strong>Chronist</strong><br />

<strong>der</strong> Zeit zu sein, war ein privater: „Als Prediger in <strong>der</strong> Wüste sah<br />

ich mich veranlaßt, die Gedanken nie<strong>der</strong>zulegen, die mich in <strong>der</strong><br />

nervenzerrüttenden Zeit beherrschten, um dann später – sofern<br />

das noch möglich ist – meinen Nachkommen ein Bild <strong>der</strong> wahren<br />

Wirklichkeit zu übermitteln.“ (30. August 19<strong>39</strong>) Der einzige<br />

Sohn <strong>der</strong> <strong>Kellners</strong> lebte seit 1936 in den USA und hat daher nur<br />

die Anfangszeit <strong>der</strong> nationalsozialistischen Diktatur erlebt. Ihm<br />

und seiner Familie ein realistisches Bild von <strong>der</strong> NS-Diktatur und<br />

wohl auch von <strong>der</strong> Haltung des Vaters zu bieten, war eine zumindest<br />

anfangs starke Triebfe<strong>der</strong> für <strong>Kellners</strong> Schreiben.<br />

„Volk ohne Hirn“ – Von <strong>der</strong> Propagandagläubigkeit<br />

Nach 1945 war viel von <strong>der</strong> „inneren Emigration“ die Rede, die<br />

manch einer zu Unrecht für sich reklamierte, ließ diese sich doch<br />

naturgemäß kaum nachweisen o<strong>der</strong> wi<strong>der</strong>legen. <strong>Friedrich</strong> Kellner<br />

lebte, nicht zuletzt davon zeugen seine <strong>Tagebücher</strong>, während<br />

<strong>der</strong> nationalsozialistischen Herrschaft tatsächlich in einer Art inneren<br />

Emigration. Damit verbunden war, und das spiegelt dieser<br />

Begriff nur unzureichend wi<strong>der</strong>, ein weitgehendes Inseldasein.<br />

Kellner teilte dieses Schicksal mit vielen in Weimar aktiven Sozialdemokraten,<br />

die sich durch den Rückzug aus <strong>der</strong> Öffentlichkeit<br />

einen Schutz vor Verfolgung durch die Nationalsozialisten<br />

erhofften. Nicht nur die tägliche Angst vor Denunziation, son<strong>der</strong>n<br />

die Isolation stürzte nicht wenige politisch An<strong>der</strong>sdenkende<br />

immer wie<strong>der</strong> in tiefe Verzweiflung – o<strong>der</strong> genauer formuliert: in<br />

Verzweiflung an den Mitmenschen und Zweifel an <strong>der</strong> eigenen<br />

Person, an den eigenen Überzeugungen.


14<br />

Umso größeres Gewicht hatte daher je<strong>der</strong> Hinweis, nicht allein<br />

zu sein in <strong>der</strong> Ablehnung des Regimes. Die seltenen Momente,<br />

auf jemanden zu treffen o<strong>der</strong> von jemandem zu hören, <strong>der</strong> gewissermaßen<br />

„Bru<strong>der</strong> im Geiste“ war, hielt Kellner fest, weniger<br />

wohl als <strong>Chronist</strong> des „an<strong>der</strong>en Deutschland“, son<strong>der</strong>n mehr als<br />

seelische Stütze und Bestätigung seiner selbst im inneren Dialog:<br />

„Ein Gespräch mit Dr. H. zeigt willkommene Uebereinstimmung<br />

mit meiner eigenen Meinung. Warum gibt es nicht mehr solcher<br />

Männer? Ein Verhängnis für unser armes bemitleidenswertes Vaterland.<br />

Die besten leben wie Einsiedler, und gemeine, brutale<br />

Henker haben die Macht!“ (14. September 19<strong>39</strong>) Gut ein Jahr<br />

später berichtete er: „Am vergangenen Sonntag (13. Okt.) hat ein<br />

in Urlaub befindlicher Soldat in <strong>der</strong> Wirtschaft Geist in Altenhain<br />

für je<strong>der</strong>mann vernehmbar ausgesprochen, daß er alle Parolen<br />

(Angriffe gegen England) für Lügen halte und überhaupt nichts<br />

mehr glauben würde, nicht eher, bis er selbst alles sieht. – Das ist<br />

ein weißer Rabe gewesen. Aber immerhin erfreulich, daß dennoch<br />

kleine Lichter sichtbar sind.“ (18. Oktober 1940)<br />

Das waren aber, um im Bild <strong>Kellners</strong> zu bleiben, nur vereinzelte,<br />

manchmal nur kurz aufflackernde Lichter in einem Meer von<br />

Dunkelheit. Im Alltag war Kellner vielmehr mit einer bisweilen<br />

grenzenlosen Leichtgläubigkeit seiner Mitmenschen konfrontiert,<br />

mit <strong>der</strong> sie jedes noch so absurd erscheinende Argument <strong>der</strong> Propaganda<br />

o<strong>der</strong> auch nur Gerücht in sich aufsogen und weiter verbreiteten.<br />

Wütend bemerkt er: „Das blöde Volk berauscht sich an<br />

den aufgebauschten Anfangserfolgen <strong>der</strong> deutschen Armee in<br />

Polen. Gräuelmärchen übelster Art durchschwirren den Aether u.<br />

die Köpfe <strong>der</strong> Heimkrieger. Die Siegeszuversicht wird allerdings<br />

hier und da etwas herabgedrückt durch die gesetzlichen Maßnahmen.<br />

Insbeson<strong>der</strong>e ist es die Einführung <strong>der</strong> Lebensmittelkarten.<br />

Das sind unfreiwillige Dämpfer! Allerdings ist <strong>der</strong> kindliche<br />

Glaube an die Unfehlbarkeit <strong>der</strong> Götter und Halbgötter noch<br />

nicht erschüttert. Was soll man auch schon sagen, wenn selbst


15<br />

Menschen, die Kraft ihres Lebensganges sich eine eigene Meinung<br />

bilden mußten, jedes dumme Geschwätz u. saudumme, absichtlich<br />

in Umlauf gebrachte, Gerüchte mit wahrem Heißhunger<br />

verschlingen und ihre wankende Heldengestalt daran aufrichten.“<br />

(Anfang September 19<strong>39</strong>) Das verständnislose Kopfschütteln angesichts<br />

<strong>der</strong> Naivität vieler wich mehr und mehr <strong>der</strong> Wut, Verachtung,<br />

aber auch Verzweiflung, klafften Propaganda und Propagandagläubigkeit<br />

auf <strong>der</strong> einen und die Realitäten des Kriegsverlaufs<br />

in späteren Jahren auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite doch immer<br />

weiter und immer absur<strong>der</strong> auseinan<strong>der</strong>.<br />

Tagebucheintrag vom 16. Juni 1944


16<br />

Front und „Heimatfront“: Der Propaganda-Krieg<br />

Von Anfang an verfolgte Kellner die Kriegsberichterstattung in<br />

<strong>der</strong> NS-Presse sehr intensiv. Eine wichtige Orientierungsgröße<br />

war ihm bei <strong>der</strong> Beurteilung vieler Ankündigungen o<strong>der</strong> strategischer<br />

Entscheidungen die Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg.<br />

Genau sezierte er die Propagandaphrasen <strong>der</strong> Presse und<br />

ließ sich den Blick auch durch <strong>der</strong>en Blendwerk nicht verstellen.<br />

Wendungen wie <strong>der</strong> von den „englischen Luftpiraten“ und ähnlichen,<br />

wie er sie zunehmend in <strong>der</strong> Presseberichterstattung o<strong>der</strong><br />

in Todesanzeigen von Parteibonzen registrierte, hielt er die deutsche<br />

Kriegsführung und zum Beispiel die Luftangriffe auf London<br />

entgegen: „Wünscht man keinen Fliegerangriff, dann darf<br />

man keinen Krieg machen. Wer hat übrigens die Bewohner Polens<br />

mit Flugzeugen angegriffen?? Waren diese Flieger auch Piraten?<br />

O<strong>der</strong> in Holland (Rotterdam)?“ (16. September 1940)<br />

Kellner erfüllte offenkundig nicht die Erwartungen <strong>der</strong> NS-Propaganda,<br />

verfügte er doch über ein funktionierendes Gedächtnis<br />

und wusste die Ereignisse zueinan<strong>der</strong> in Beziehung zu setzen,<br />

auch wenn sie einige Zeit zurücklagen. Immer wie<strong>der</strong> vergleicht<br />

er in seinen Selbstzeugnissen aktuelle Meldungen und Äußerungen<br />

<strong>der</strong> NS-Elite mit ihren weiter zurückliegenden Reden,<br />

Ankündigungen und Büchern. An<strong>der</strong>s als viele Zeitgenossen ließ<br />

er sich nicht mit den jeweils aktuellen Propagandawellen treiben,<br />

son<strong>der</strong>n schwamm in seinem Urteil gegen den Strom.<br />

Diese Methode und das kritische Hinterfragen <strong>der</strong> Zeitläufte ließe<br />

sich an beliebig vielen Beispielen demonstrieren, etwa an zentralen<br />

Ereignissen und Themen wie <strong>der</strong> Schlacht um Stalingrad,<br />

dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944, <strong>der</strong> V-Waffen-Propaganda<br />

und vielen mehr. Ein im Vergleich zur täglichen Presse-<br />

und Propagandaauswertung recht unscheinbarer Gegenstand von<br />

<strong>Kellners</strong> tiefergehenden Analysen illustriert seinen wachsamen,<br />

genauen und kritischen Blick auf die Kriegswirklichkeit im All-


Tagebucheintrag vom 17. Dezember 1943<br />

tag: Kellner sammelte und studierte intensiv Todesanzeigen aus<br />

<strong>der</strong> regionalen o<strong>der</strong> auch überregionalen Presse.<br />

17<br />

In einer ersten Notiz zu Todesanzeigen vom 31. Juli 1941 stellt er<br />

fest, dass die Trauerformeln ein „buntes Bild über die Geistesverfassung<br />

<strong>der</strong> Hinterbliebenen“ bieten. Sei während des Ersten


18<br />

Weltkriegs in den Anzeigen vielfach geschrieben worden, jemand<br />

sei für „Kaiser und Reich“ gefallen, hätten nun Wendungen Konjunktur,<br />

wie „Für seinen geliebten Führer“, „Für sein teures Vaterland<br />

u. den festen Glauben an den Sieg Deutschlands“ o<strong>der</strong><br />

gar „Im Kampf gegen den Bolschewismus u. das Untermenschentum“.<br />

Kellner zeigte sich angewi<strong>der</strong>t, dass die Hinterbliebenen<br />

aus dem Tod „noch ein politisches Geschäft“ machen wollten,<br />

registrierte gleichwohl, dass wenige aber auch ganz auf eine solche<br />

Verbrämung des Todes <strong>der</strong> Angehörigen verzichteten.<br />

Die Trauerbekundungen in den Zeitungen dienten Kellner nicht<br />

ausschließlich als Material für die Analyse <strong>der</strong> Geisteshaltung<br />

seiner Zeitgenossen, son<strong>der</strong>n auch zur Hinterfragung <strong>der</strong> Propaganda.<br />

Wie<strong>der</strong>holt beklagt er, dass in <strong>der</strong> Presse o<strong>der</strong> in Reden<br />

<strong>der</strong> Führung von den deutschen Verlusten nichts zu lesen sei,<br />

während die <strong>der</strong> Gegner groß herausgestellt würden. Dem hielt<br />

er nun eigene Berechnungen entgegen: Systematisch zählte er im<br />

Oktober 1941 die Todesanzeigen, die im „Hamburger Fremdenblatt“<br />

abgedruckt waren, 281 an <strong>der</strong> Zahl, und rechnete diese<br />

hoch. Bei angenommenen 250 Zeitungen mit je durchschnittlich<br />

fünf Anzeigen kam er auf eine Zahl von mindestens 30000 gefallenen<br />

Deutschen, vergaß aber nicht anzumerken, dass die wahre<br />

Zahl weitaus höher sei, da nicht für alle eine Todesanzeige erscheine.<br />

Wie realistisch o<strong>der</strong> unrealistisch die Zahlen auch immer<br />

sein mögen, demonstriert dies doch Wege, Auslassungen <strong>der</strong> Propaganda<br />

durch Einfallsreichtum und kritisches, sehr genaues<br />

Hinsehen zu füllen. 9<br />

Immer wie<strong>der</strong> kam Kellner auf die Todesanzeigen zu sprechen,<br />

klebte sie in das Tagebuch und knüpfte daran viele Hoffnungen<br />

o<strong>der</strong> Erörterungen. Beispielsweise beobachtete er im Juni 1942,<br />

dass die Anzeigen immer kleiner wurden, und demonstrierte<br />

9 Vgl. den Tageseintrag vom 12. November 1941.


Tagebucheintrag vom 19. Nov. 1944<br />

19


20<br />

dies, indem er eine aus dem Jahr 1940 und eine von 1942 einklebte.<br />

Darin sah er erste Anzeichen eines schwindenden Papiervorrats,<br />

verbunden mit <strong>der</strong> Hoffnung auf eine Einschränkung<br />

<strong>der</strong> Propaganda. 10 Weitere Beobachtungen ergaben sich<br />

für Kellner aus dieser nachgerade philologischen Lektüre <strong>der</strong><br />

Todesanzeigen, etwa eine erhöhte Kin<strong>der</strong>sterblichkeit im<br />

Krieg 11 o<strong>der</strong> das „Verheizen“ immer jüngerer Männer an den<br />

Fronten 12 .<br />

Nicht zuletzt bei <strong>der</strong> Betrachtung von <strong>Kellners</strong> Umgang mit den<br />

Anzeigen sticht auch sein aufmerksamer und sensibler Sinn für<br />

die Propagandasprache <strong>der</strong> Nationalsozialisten ins Auge. So fiel<br />

ihm zum Beispiel die Anzeige einer Frau auf, in <strong>der</strong> diese bekanntgab:<br />

„Als Vermächtnis meines im März gefallenen Mannes<br />

Ernst Langer, Landrat des Kreises Jauer, […] wurde mir heute ein<br />

Sohn geboren.“ (29. August 1944) Kellner unterstrich das Wort<br />

„Vermächtnis“ und bemerkte dazu: „Die Sprache <strong>der</strong> Nazis hat<br />

für jede Lebenslage ein Schlagwort. Die Geburt eines Kindes<br />

nach dem Todes des gefallenen Vaters wird zu einem ‚Vermächtnis‘.“<br />

Die auffallend genaue, über Jahre hinweg betriebene Lektüre und<br />

Analyse von Todesanzeigen zeigt, wie intensiv und kritisch Regimegegner<br />

o<strong>der</strong> auch Verfolgte die Propaganda mitunter wahrnahmen<br />

und hinterfragten. Victor Klemperer, <strong>der</strong> wie Kellner sehr<br />

sensibel die Entwicklungen in seiner Umgebung, in <strong>der</strong> NS-Politik<br />

und in <strong>der</strong> Propaganda registrierte und kommentierte – freilich<br />

als Jude in einer fundamental an<strong>der</strong>en Situation – fielen die beschriebenen<br />

Tendenzen in den Todesanzeigen ebenfalls auf, etwa<br />

die nachlassende „Führertreue“ in den Anzeigen o<strong>der</strong> das<br />

10 Vgl. den Tageseintrag vom 17. Juni 1942.<br />

11 Vgl. die Tageseinträge vom 31. Oktober 1942, 4. November 1942, 16. Dezember<br />

1942 und 30. April 1944.<br />

12 Vgl. den Tageseintrag vom 29. Oktober 1942.


21<br />

schrumpfende Format und schließlich das Zusammenrücken <strong>der</strong><br />

Anzeigen, was Klemperer als „Massengräber“ bezeichnete. 13<br />

Kellner wie Klemperer waren die Anzeigen ein Prisma <strong>der</strong> mentalen<br />

Verfassung <strong>der</strong> Bevölkerung und des Rückhalts des Regimes.<br />

Was wissen konnte, wer wissen wollte<br />

Viel ist nach dem Krieg darüber gestritten worden, was die Bevölkerung<br />

von den Verbrechen des Regimes gewusst habe. Die<br />

damals erwachsenen Zeitgenossen stritten in <strong>der</strong> Regel jede<br />

Kenntnis von den Massenverbrechen vehement und pauschal ab,<br />

während sich mancher Vorwurf in einer undifferenzierten Anklage<br />

erschöpfte. Allzu oft erging man sich im Allgemeinen, man<br />

habe „davon“ nichts gewusst. Mit zunehmendem zeitlichem Abstand<br />

wurde die Debatte sachlicher, zumal sich – freilich verspätet<br />

– auch die Geschichtswissenschaft dieses Themas annahm<br />

und auf breiter Quellengrundlage zu ergründen suchte. 14 Die Frage<br />

lautet nicht mehr, ob die Bevölkerung von „den“ Verbrechen<br />

gewusst habe, denn dies scheint eindeutig geklärt, son<strong>der</strong>n vielmehr<br />

die zeitliche, örtliche und innere Dimension <strong>der</strong> Wahrnehmung<br />

<strong>der</strong> nationalsozialistischen Verbrechen Heute herrscht<br />

weitgehend Konsens darüber, dass damals je<strong>der</strong>, <strong>der</strong> wissen<br />

wollte, wissen konnte – sehr viel und sehr genau wissen konnte.<br />

Das belegen unter an<strong>der</strong>em eine Reihe von <strong>Tagebücher</strong>n und<br />

13 18 Vgl. Victor Klemperer, LTI. Notizbuch eines Philologen. Leipzig 1999, S.<br />

156-161.<br />

14 Hierzu vgl. Frank Bajohr/Dieter Pohl, Der Holocaust als offenes Geheimnis.<br />

Die Deutschen, die NS-Führung und die Alliierten, München 2006; Peter Longerich,<br />

„Davon haben wir nichts gewusst!“ Die Deutschen und die Judenverfolgung<br />

1933-1945, München 2006; Bernward Dörner, Die Deutschen und <strong>der</strong><br />

Holocaust. Was niemand wissen wollte, aber je<strong>der</strong> wissen konnte, Berlin 2007;<br />

David Bankier, Die öffentliche Meinung im Hitler-Staat. Die „Endlösung“ und<br />

die Deutschen. Eine Berichtigung, Berlin 1995.


22<br />

Aufzeichnungen aus den Jahren 1933 bis 1945, so auch <strong>Friedrich</strong><br />

<strong>Kellners</strong> Tagebuch. 15<br />

Liest man <strong>Kellners</strong> Aufzeichnungen aus <strong>der</strong> Kriegszeit, kann man<br />

sicher davon ausgehen, dass er die Verbrechen <strong>der</strong> Nationalsozialisten<br />

seit 1933 schon aufmerksam registriert hat – wie die Verfolgung<br />

<strong>der</strong> politischen Gegner, die Aushöhlung des Rechtsstaats,<br />

die Errichtung von Konzentrationslagern und die schrittweise<br />

Entrechtung <strong>der</strong> Juden. All das geschah vor den Augen einer<br />

breiteren Öffentlichkeit und wurde von dieser nicht selten goutiert.<br />

Die Massenverbrechen im Krieg hingegen sollten mit einem<br />

nicht unerheblichen Aufwand vor den Opfern selbst und vor <strong>der</strong><br />

gesamten Bevölkerung, so lange es ging, geheim gehalten werden.<br />

Davon zeugt die Tarnsprache, die auch intern in Täterkreisen<br />

benutzt wurde. All diese Anstrengungen jedoch misslangen<br />

gründlich, wovon in beson<strong>der</strong>er Weise die Wahrnehmung des<br />

von den Nationalsozialisten euphemistisch mit <strong>der</strong> Bezeichnung<br />

„Euthanasie“ verharmlosten Massenmords an zehntausenden Behin<strong>der</strong>ten<br />

und psychisch Kranken durch die Bevölkerung zeugt.<br />

In sechs über das gesamte Reichsgebiet verteilten Mordzentren<br />

töteten Ärzte und Pflegepersonal bis Ende August 1941 mindestens<br />

etwa 70000 Menschen in Gaskammern und äscherten ihre<br />

Leichen anschließend ein. 16 In <strong>der</strong> Heil- und Pflegeanstalt Hadamar,<br />

nördlich von Wiesbaden gelegen, wurden innerhalb weniger<br />

Monate von Dezember 1940 bis Frühjahr 1941 alleine rund<br />

10000 Menschen getötet, was sich vor <strong>der</strong> örtlichen Bevölkerung<br />

kaum verbergen ließ. Das Wissen von diesen Vorgängen verbreitete<br />

sich rasch über die Region hinaus. Im Juni 1941 horchte<br />

15 Ein bekanntes Beispiel ist etwa Karl Dürkefälden aus Celle. Vgl. hierzu Karl<br />

Dürkefälden, Schreiben, wie es wirklich war. Aufzeichnungen Karl Dürkefäldens<br />

aus den Jahren 1933-1945, Hannover 1988.<br />

16 Vgl. zum Beispiel Ernst Klee, „Euthanasie“ im NS-Staat. Die „Vernichtung<br />

lebensunwerten Lebens“, Frankfurt am Main 1983.


23<br />

<strong>Friedrich</strong> Kellner erstmals auf, am 10. Juni notierte er: „In letzter<br />

Zeit mehren sich die Anzeigen über Todesfälle in <strong>der</strong> Heil- und<br />

Pflegeanstalt in Hadamar. Es hat den Anschein, daß unheilbare<br />

Pflegebefohlene in diese Anstalt gebracht werden. Auch soll eine<br />

Anlage zur Einäscherung eingebaut worden sein.“<br />

In den folgenden Wochen erreichten Kellner weitere Informationen,<br />

die sich schließlich zu <strong>der</strong> Gewissheit verdichteten, dass in<br />

Anstalten wie Hadamar etwas Ungeheuerliches vor sich ging.<br />

Dazu trugen auch „Pannen“ im Mordapparat bei 17 , über die auch<br />

Kellner berichtet: „Die ‚Heil- und Pflegeanstalten‘ sind zu Mordzentralen<br />

geworden. Wie ich erfahre, hatte eine Familie ihren<br />

geistig erkrankten Sohn aus einer <strong>der</strong>artigen Anstalt in ihr Haus<br />

zurückgeholt. Nach einiger Zeit erhielt diese Familie von <strong>der</strong> Anstalt<br />

eine Nachricht des Inhalts, daß ihr Sohn verstorben sei und<br />

die Asche ihnen zugestellt! Das Büro hatte vergessen, den Namen<br />

auf <strong>der</strong> Todesliste zu streichen. Auf diese Weise ist die beabsichtigte<br />

vorsätzliche Tötung ans Tageslicht gekommen.“ (28.<br />

Juli 1941)<br />

Es waren Unstimmigkeiten wie diese, die zahlreiche Angehörige,<br />

aber auch Kirchenvertreter und an<strong>der</strong>e wachrüttelten und schließlich<br />

zu vielen Protesten und Eingaben führten. Das bekannteste<br />

Beispiel ist wohl <strong>der</strong> offene Protest des Bischofs von Münster,<br />

Clemens August Graf von Galen, <strong>der</strong> sich 1941 in mehreren Predigten<br />

gegen den Mord an den Behin<strong>der</strong>ten wandte. Seine Predigten<br />

wurden schnell landesweit bekannt und trugen nicht unerheblich<br />

zum vorläufigen Stopp <strong>der</strong> Mordaktion bei. 18<br />

Zur gleichen Zeit, als Kellner den Massenmord an den Behin<strong>der</strong>ten<br />

im Reichsinnern registrierte, erreichte die Verfolgung <strong>der</strong> Ju-<br />

17 Vgl. ebd. S. 250 f.<br />

18 Eine an<strong>der</strong>e Predigt von Galens hat Kellner im Eintrag vom 20. Oktober<br />

1941 ausführlich zitiert. Von Galen protestierte darin gegen die Willkürmethoden<br />

<strong>der</strong> Gestapo.


24<br />

den eine neue Eskalationsstufe. Das Deutsche Reich überfiel am<br />

22. Juni 1941 die Sowjetunion. Der rasch vorstoßenden Wehrmacht<br />

folgten mobile Mordkommandos, die sogenannten Einsatzgruppen<br />

<strong>der</strong> Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes,<br />

sowie Polizeibataillone, die in zahllosen Massakern, zum Teil<br />

mit Hilfe von Wehrmachtverbänden und Einheimischen, die örtliche<br />

jüdische Bevölkerung ermordeten – zunächst nur Männer,<br />

nach wenigen Wochen aber unterschiedslos Männer, Frauen und<br />

Kin<strong>der</strong>. Das Wissen von diesen Verbrechen drang bald schon ins<br />

Deutsche Reich bis in die Provinz 19 , so auch bis nach Laubach zu<br />

Kellner: „Ein in Urlaub befindlicher Soldat berichtet als Augenzeuge<br />

fürchterliche Grausamkeiten in dem besetzten Gebiet in<br />

Polen. Er hat gesehen, wie nackte Juden u. Jüdinnen, die vor<br />

einem langen, tiefen Graben aufgestellt wurden, auf Befehl <strong>der</strong><br />

SS von Ukrainern in den Hinterkopf geschossen wurden u. in den<br />

Graben fielen. Der Graben wurde dann zugeschaufelt. Aus den<br />

Gräben drangen oft noch Schreie!!“ (28. Oktober 1941)<br />

Die Konsequenzen waren für Kellner klar: Eine unerbittliche<br />

Verfolgung und Bestrafung <strong>der</strong> Täter. Auch die breite Masse <strong>der</strong><br />

Bevölkerung wollte er nicht aus <strong>der</strong> Verantwortung entlassen.<br />

Am gleichen Tag schrieb er: „Es gibt keine Strafe, die hart genug<br />

wäre, bei diesen Nazi-Bestien angewendet zu werden. Natürlich<br />

müssen bei <strong>der</strong> Vergeltung auch wie<strong>der</strong> die Unschuldigen mitleiden.<br />

99 Prozent <strong>der</strong> deutschen Bevölkerung tragen mittelbar o<strong>der</strong><br />

unmittelbar die Schuld an den heutigen Zuständen.“<br />

Das Schicksal <strong>der</strong> Juden, zuvor bereits immer wie<strong>der</strong> Thema <strong>der</strong><br />

Aufzeichnungen, ließ Kellner auch in den folgenden Wochen und<br />

Monaten nicht los. Aufmerksam beobachtete er die Entwicklung<br />

in Deutschland, in den deutsch besetzten Gebieten sowie in den<br />

19 Vgl. Peter Longerich, Politik <strong>der</strong> Vernichtung. Eine Gesamtdarstellung <strong>der</strong><br />

nationalsozialistischen Judenverfolgung, München 1998, S. 321-410. Bernward<br />

Dörner, Die Deutschen und <strong>der</strong> Holocaust, S. 423-426.


25<br />

verbündeten Staaten und erkannte in <strong>der</strong> Verfolgung und Ermordung<br />

<strong>der</strong> Juden den Kern des NS-Regimes und <strong>der</strong> NS-Ideologie.<br />

20 An<strong>der</strong>s als viele seiner Zeitgenossen beobachtete er die Deportation<br />

<strong>der</strong> Juden aus dem Reichsgebiet, die Mitte Oktober<br />

1941 begann, auch aus seiner nächsten Umgebung nicht gleichgültig<br />

o<strong>der</strong> gar mit Genugtuung, son<strong>der</strong>n mit Mitgefühl für die<br />

Opfer und mit Hass und Abscheu auf die Täter. Mitte Dezember<br />

1941 schrieb Kellner, nachdem im November und Anfang Dezember<br />

in drei Transporten aus Frankfurt und dem Regierungsbezirk<br />

Kassel zahlreiche Juden aus <strong>der</strong> Region nach Osten deportiert<br />

worden waren: „Es verlautet, daß die Juden einiger Bezirke<br />

irgendwohin abtransportiert werden. Sie dürfen etwas Geld u. 60<br />

[Pfund] Gepäck mitnehmen. Die Nationalsozialisten sind stolz<br />

auf ihr Tierschutzgesetz. Aber die Drangsale, die sie den Juden<br />

Juden schaufeln ihr Grab selbst im Warschauer Ghetto, Quelle: AdsD in <strong>der</strong><br />

FES, Rechteinhaber nicht ermittelbar.<br />

20 Vgl. etwa den Eintrag vom 7. November 1941.


26<br />

angedeihen lassen, beweist, daß sie die Juden schlechter als die<br />

Tiere gesetzlich behandeln.“ (15. Dezember 1941)<br />

In dieser Zeit verdichtete sich für Kellner eine schreckliche Ahnung:<br />

Die antijüdischen Maßnahmen und die Massaker in <strong>der</strong><br />

Sowjetunion hatten System und zielten auf die vollständige Ermordung<br />

<strong>der</strong> Juden ab. Am gleichen Tag schrieb er: „Diese grausame,<br />

nie<strong>der</strong>trächtige, sadistische, über Jahre dauernde Unterdrückung<br />

mit dem Endziel Ausrottung ist <strong>der</strong> größte Schandfleck auf<br />

<strong>der</strong> Ehre Deutschlands. Diese Schandtaten werden niemals wie<strong>der</strong><br />

ausgelöscht werden können.“ (15. Dezember 1941) Berichte<br />

über die Morde waren ihm, wie oben geschil<strong>der</strong>t, bereits zu Ohren<br />

gekommen. Überdies traten im November 1941 einige NS-<br />

Größen mit relativ offenen Äußerungen über die laufende Ermordung<br />

<strong>der</strong> Juden hervor, was dem hellhörigen <strong>Chronist</strong>en Kellner<br />

nicht entging. Propagandaminister Joseph Goebbels hatte in<br />

einem Leitartikel in <strong>der</strong> Wochenzeitung „Das Reich“ an Hitlers<br />

„Prophezeiung“ vom 30. Januar 19<strong>39</strong> erinnert, ein neuer Weltkrieg<br />

werde die Vernichtung des Judentums in Europa zur Folge<br />

haben, und meldete dem Leser nun den Vollzug dieser Warnung.<br />

Alfred Rosenberg, Reichsminister für die besetzten Ostgebiete<br />

und Chefideologe <strong>der</strong> NSDAP, erklärte auf einer Pressekonferenz,<br />

die Juden würden nun „biologisch ausgemerzt“. 21<br />

Was im Herbst/Winter 1941 noch eine schreckliche Ahnung gewesen<br />

sein mag, war ein gutes halbes Jahr darauf bereits Gewissheit,<br />

als Kellner die verordnete Streichung von Lebensmittelzulagen<br />

für schwangere Jüdinnen und Polinnen o<strong>der</strong> für Kranke lakonisch<br />

mit dem Satz kommentierte: „Das kann wohl unter das<br />

Kapitel ‚Ausrottung <strong>der</strong> Juden und Polen‘ gebracht werden.“ (28.<br />

Mai 1942) Diese Erkenntnis blieb nicht im Abstrakten. Wenige<br />

Monate später wurden die Juden aus Oberhessen, darunter auch<br />

21 Vgl. Bernward Dörner, Die Deutschen und <strong>der</strong> Holocaust, S. 387 ff. u. 426 ff.


27<br />

zwei Familien aus Laubach, deportiert, entwe<strong>der</strong> direkt in das<br />

Vernichtungslager Treblinka o<strong>der</strong> zunächst nach Theresienstadt<br />

und von dort weiter in ein Vernichtungslager. 22 Entsetzt und zornig<br />

schreibt Kellner dazu: „In den letzten Tagen sind die Juden<br />

unseres Bezirkes abtransportiert worden. Von hier waren es die<br />

Familien Strauß u. Heinemann. Von gut unterrichteter Seite hörte<br />

ich, daß sämtliche Juden nach Polen gebracht u. dort von SS-<br />

Formationen ermordet würden. Diese Grausamkeit ist furchtbar.<br />

Solche Schandtaten werden nie aus dem Buche <strong>der</strong> Menschheit<br />

getilgt werden können. Unsere Mör<strong>der</strong>regierung hat den Namen<br />

‚Deutschland‘ für alle Zeiten besudelt. Für einen anständigen<br />

Deutschen ist es unfaßbar, daß niemand dem Treiben <strong>der</strong> Hitler-<br />

Banditen Einhalt gebietet.“ (16. September 1942)<br />

Wenige Tage später gab die Fachzeitschrift „Deutsche Justiz“ in<br />

<strong>der</strong> Presseschau einen Artikel aus <strong>der</strong> „Berliner Börsen-Zeitung“<br />

über die „Bereinigung Südosteuropas von Juden“ wie<strong>der</strong>, den<br />

Kellner ausschnitt, in sein Tagebuch klebte und dort kommentierte.<br />

Der Artikel berichtet von den antijüdischen Gesetzen und<br />

Maßnahmen, <strong>der</strong> Deportation und <strong>der</strong> Inhaftierung von Juden in<br />

Konzentrationslagern in den autoritär verfassten und mit dem<br />

Deutschen Reich verbündeten Staaten Südosteuropas wie <strong>der</strong><br />

Slowakei, Ungarn, Serbien, Bulgarien, Kroatien und Rumänien.<br />

Die wahre Bedeutung hinter den sachlich daherkommenden Informationen<br />

blieb Kellner, <strong>der</strong> die Entwicklung zuvor eingehend<br />

verfolgt hatte, natürlich nicht verborgen. Die Notiz etwa, dass die<br />

Slowakei bereits 65000 Juden „in Transporten abgeschoben“<br />

habe, unterstrich Kellner und versah sie mit <strong>der</strong> ebenso einfachen<br />

wie entlarvenden Frage am Rand des Artikels „Wohin?“. Er sah<br />

22 Zur Deportation <strong>der</strong> Juden aus Oberhessen vgl. u.a. Monica Kingreen, Gewaltsam<br />

verschleppt aus Oberhessen. Die Deportationen <strong>der</strong> Juden im September<br />

1942 und in den Jahren 1943-1945, in: Mitteilungen des Oberhessischen<br />

Geschichtsvereins Gießen 85 (2000), S. 5-95.


28<br />

eine uferlose Vernichtungspolitik am Werk, die nach den Juden<br />

auch vor an<strong>der</strong>en nicht halt machen wird: „Die sogenannte ‚Bereinigung‘<br />

Europas von Juden wird ein dunkles Kapitel in <strong>der</strong><br />

Menschheitsgeschichte bleiben. Wenn wir in Europa soweit sind,<br />

daß wir Menschen einfach beseitigen, dann ist Europa rettungslos<br />

verloren. Heute sind es die Juden, morgen ist es ein an<strong>der</strong>er<br />

schwacher Volksstamm, <strong>der</strong> ausgerottet wird.“ (25. September<br />

1942)<br />

Kellner trennte klar zwischen den aus seiner Sicht wirklich Schuldigen<br />

und denjenigen, die moralische Schuld auf sich geladen<br />

hätten. Im Mai 1945, Laubach war bereits von den Amerikanern<br />

befreit worden, berichtet er von Rundfunksendungen über die<br />

Konzentrationslagerverbrechen und von Stimmen, die dem<br />

ganzen deutschen Volk die Schuld dafür gäben. Dagegen wandte<br />

er sich vehement: „Schuldig sind die geistigen Urheber und alle<br />

diejenigen, welche die Menschen in den Lagern internierten, sie<br />

peinigten und ihren Tod herbeiführen halfen.“ (7. Mail 1945) Eine<br />

moralische Schuld aber sah er auch bei den Mitglie<strong>der</strong>n <strong>der</strong><br />

NSDAP und allen übrigen Befürwortern des NS-Staates. Allerdings<br />

zeigt sich in seinen weiteren Ausführungen, dass er sehr im<br />

Geiste <strong>der</strong> Zeit verhaftet war und die Verbrechen allzu sehr auf<br />

eine dämonisierte Gestapo konzentrierte: „Keiner wird leugnen<br />

können, daß ihm das Wesen und die Gewaltmaßnahmen <strong>der</strong> Geheimen<br />

Staatspolizei (Gestapo) nicht bekannt gewesen sind. Die<br />

Einrichtung ‚Gestapo‘ wird ein unvergängliches Schandmal bleiben.<br />

Die Gestapo konnte jede Gewaltmaßnahme vornehmen. […]<br />

Die Roheiten und Rücksichtslosigkeiten <strong>der</strong> Gestapo blieben unbestraft,<br />

denn Beschwerden konnten an keiner an<strong>der</strong>en Stelle vorgebracht<br />

werden. Die Schreckensherrschaft <strong>der</strong> Gestapo war unantastbar.<br />

Wer in die Klauen <strong>der</strong> Gestapo geriet und aus irgend<br />

welchen Gründen mißliebig und verleumdet war, <strong>der</strong> bekam Willkür<br />

und Unrecht erbarmungslos zu spüren. Das war die größte<br />

Kulturschande gewesen, die je erzeugt worden ist.“ (7. Mai 1945)


29<br />

Wo viele aber nach 1945 in <strong>der</strong> Dämonisierung von Gestapo und<br />

SS und in <strong>der</strong> Schuldabschiebung auf diese nur die eigene Entlastung<br />

suchten, ging es Kellner – und das ist <strong>der</strong> zentrale Unterschied<br />

– nicht um die Minimierung eigener Verantwortung. Er sah<br />

in <strong>der</strong> Gestapo vielmehr den Nukleus des NS-Terrorregimes, dem<br />

seine Verachtung ebenso galt wie <strong>der</strong> Masse <strong>der</strong> Unterstützer.<br />

Wi<strong>der</strong>stand im Kleinen, Wunsch nach Abrechnung und die Zeit<br />

„danach“<br />

<strong>Friedrich</strong> Kellner brauchte sein Tagebuch, das Schreiben als Stütze<br />

und Selbstvergewisserung in einer lange im Siegestaumel gefangenen<br />

und geradezu propagandahörigen Umgebung. Einzig<br />

im Gespräch mit seiner Frau, die seine Ansichten teilte, und in<br />

seinen Aufzeichnungen konnte er seinen Überzeugungen freien<br />

Lauf lassen, auch wenn er, wie er schreibt, durch kritische Äußerungen<br />

und Fragen Aufklärungsarbeit bei seinen Mitbürgern leisten<br />

wollte. Auch im familiären Rahmen versuchte er, Zweifel zu<br />

säen und einer kritischen Haltung zum Durchbruch zu verhelfen:<br />

„Anna war 2 Tage hier zu Besuch u. hat einiges mitgenommen.<br />

Ein Opfer nat. soz. Propaganda. Eine Darstellung <strong>der</strong> sich abwickelnden<br />

Dinge nach unserer Auffassung hat Früchte getragen.<br />

Das Samenkorn für eine bessere Erkenntnis ist gelegt. Wer nur<br />

einseitig unterrichtet wird, ist wirklich ein armes Wesen.“ (11.<br />

Oktober 19<strong>39</strong>) An dieser Gratwan<strong>der</strong>ung zwischen kritischer<br />

Aufklärung auf <strong>der</strong> einen und dem notwendigen Maß an Zurückhaltung<br />

wegen <strong>der</strong> immer drohenden Gefahr einer Einweisung in<br />

ein Konzentrationslager auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite hielt er fest, darauf<br />

hoffend, einen wenn auch bescheidenen Beitrag zur Zersetzung<br />

des Regimes zu leisten: „Mit gewaltiger Ueberzeugungskraft kritisiere<br />

ich jede Handlung dieser Untermenschen. Jeden Fehler,<br />

den sie <strong>der</strong> Mitwelt mit krankhaftem Eifer verschweigen wollen,<br />

zerre ich ans Tageslicht und hacke solange darauf los bis mein


30<br />

Gegenüber auch Bedenken äußert. In meiner Umgebung gibt es<br />

keinen überzeugten Nazi mehr. Dieser Kampf kostet Nervenkraft.<br />

Es muß aber sein. Die Vorarbeit zum Zusammenbruch ist von ungeheurer<br />

Bedeutung.“ (13. April 1940)<br />

Wie die Auseinan<strong>der</strong>setzung mit dem Nationalsozialismus und<br />

die Gestaltung <strong>der</strong> Zukunft nach dem Krieg auszusehen hatten,<br />

davon hatte Kellner relativ konkrete Vorstellungen: Er war sich<br />

bewusst, dass die Wurzeln des Nationalsozialismus und die Wirkmächtigkeit<br />

seiner Propaganda fundamental in <strong>der</strong> Bevölkerung<br />

verzweigt waren und die Deutschen außerstande wären, eigenständig<br />

eine neue Ordnung zu errichten; Hilfe von außen wäre<br />

unabdingbar: „Die Zahl <strong>der</strong> Befleckten ist zu groß. Es müssen<br />

Emigranten vom Auslande wie<strong>der</strong> zurück nach Deutschland gebracht<br />

werden, die dann mit Unterstützung Englands und Amerikas<br />

und Heranziehung aller sauberen Elemente, also jener Menschen,<br />

die sich nicht 100-prozentig den Nazis verschrieben hatten,<br />

eine vorläufige Geschäftsführung übernehmen.“ (26. Juli<br />

1941)<br />

Die ersten, von diesen Kräften zu unternehmenden Schritte hatte<br />

Kellner klar vor Augen. Ihm ging es in erster Linie um eine Abrechnung<br />

mit dem Nationalsozialismus und seinen Funktionären.<br />

Hierfür stellte er schon im Juli 1941 einen langen Katalog an<br />

Maßnahmen zusammen, <strong>der</strong> Priorität genießen müsste: Auflösung<br />

<strong>der</strong> NSDAP, Dokumentation und Anklage <strong>der</strong> NS-Verbrechen,<br />

Vergemeinschaftung des Vermögens <strong>der</strong> Partei und ihrer<br />

Funktionäre, ihre Inhaftierung bzw. Überwachung, Sühneleistungen<br />

wie etwa <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>aufbau <strong>der</strong> Synagogen durch die<br />

Nationalsozialisten etc. Auch die Notwendigkeit, die Opfer begangenen<br />

Unrechts in irgendeiner Form zu entschädigen, sah<br />

Kellner. So sei, die Wie<strong>der</strong>gutmachung <strong>der</strong> Verbrechen „gegen<br />

Sachen u. Menschen […] sofort in Angriff zu nehmen“ (26. Juli<br />

1941), bisher übergangene Beamte seien zu rehabilitieren, sämt-


31<br />

liche NS-Gesetze seien aufzuheben. Eine dritte Säule <strong>der</strong> notwendigen<br />

Schritte waren Maßnahmen des demokratischen Wie<strong>der</strong>aufbaus:<br />

Bürgerausschüsse seien ins Leben zu rufen, in denen<br />

vor allem Emigranten und „unbescholtene“ Bürger provisorisch<br />

die Verwaltungsführung übernehmen sollten. 23<br />

Etwas, das ihm beson<strong>der</strong>s am Herzen lag, war die Entmachtung<br />

und Verurteilung jener NS-Propagandisten, <strong>der</strong>en unheilvolles<br />

Wirken er jahrelang täglich studiert und seziert hatte: „Nach<br />

meinem Dafürhalten müssen diese Helfershelfer mitleidlos gebranntmarkt<br />

und zur Rechenschaft gezogen werden. Insbeson<strong>der</strong>e<br />

ist darauf zu achten, daß es diese Gauner nicht nach <strong>der</strong> Art<br />

des Chamäleons machen und ihre Farbe im Handumdrehen<br />

wechseln […] Wer von diesen Schmierfinken das deutsche Volk<br />

ab 1933 in <strong>der</strong> gemeinsten, wi<strong>der</strong>wärtigsten Weise belogen und<br />

betrogen hat, <strong>der</strong> muß für alle Zeiten abtreten […] Aus <strong>der</strong> Fülle<br />

meines Materials werde ich zu gegebener Zeit mit Namen und<br />

Beweisen dienen.“ (7. März 1944)<br />

Auf den ersten Blick erstaunt es sehr, dass <strong>Friedrich</strong> Kellner nach<br />

dem Krieg nicht zu einer „Generalabrechnung“ mit dem Nationalsozialismus<br />

und seinen gläubigen und radikalen Anhängern in<br />

Laubach und darüber hinaus ansetzte, hatte er das doch wie<strong>der</strong>holt<br />

voller Zorn in seinem Tagebuch angekündigt. Wütend notierte<br />

er etwa, dass ein örtlicher Kaufmann sich geweigert hat,<br />

eine alte Jüdin zu bedienen: „Abgrundtiefe Gemeinheit und erbärmliche<br />

Feigheit! Herr R., Sie werden ihren Lohn erhalten!“<br />

(14. November 19<strong>39</strong>) 24 Bei <strong>der</strong> mehrfach angedrohten Abrechnung<br />

sollten ihm seine Aufzeichnungen das Material für die Anklagen<br />

bereithalten. Kellner war zwar engagiert am demokratischen<br />

Neuaufbau in Laubach beteiligt – u.a. wurde ihm das<br />

23 Vgl. den Tageseintrag vom 26. Juli 1941.<br />

24 Vgl. auch den Tageseintrag vom 20. Juli 1940.


32<br />

Tagebucheintrag vom 8. Mai 1945<br />

Bürgermeisteramt angetragen – und nahm maßgeblichen Einfluss<br />

auf die Auswahl des ersten Gemein<strong>der</strong>ats, aber, soweit bekannt,<br />

hat er die Ankündigung, sein Tagebuch als Waffe gegen die Parteibonzen<br />

und Nutznießer vor Ort einzusetzen, nicht unmittelbar


in die Tat umgesetzt. Eine Publikation seines Tagebuchs gar verfolgte<br />

er in diesen Jahren nicht.<br />

33<br />

Dieses nur vor<strong>der</strong>gründig erstaunliche Verhalten <strong>Kellners</strong> aber<br />

war keine Beson<strong>der</strong>heit im Nachkriegsdeutschland <strong>der</strong> ersten<br />

Jahre. Es waren vielfältige und durchaus nachvollziehbare Gründe,<br />

die Regimegegner von einer lokal ausgetragenen Abrechnung<br />

mit den einstigen Wi<strong>der</strong>sachern zurückschrecken ließen. 25 Kellner<br />

hätte sich damit, so steht zu vermuten, wie<strong>der</strong> ins Abseits gestellt.<br />

Überdies darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass bei<br />

allem Willen zum demokratischen Neuanfang, den die Sozialdemokratie<br />

und die an<strong>der</strong>en demokratischen Parteien hatten, sie<br />

doch auf die Unterstützung und auch Mitwirkung <strong>der</strong> vielen ehemaligen<br />

Mitläufer und kleinen Funktionäre dringend angewiesen<br />

waren, wenn das Experiment Demokratie mit damals noch ungewissem<br />

Ausgang Erfolg haben sollte. Ein „Zuviel“ an Abrechnung<br />

und Anklage hätte, so zumindest die Befürchtung vieler damals,<br />

die Masse <strong>der</strong> kleinen Gefolgsleute <strong>der</strong> NS-Diktatur womöglich<br />

verprellt und für demokratische Ideen dauerhaft<br />

unzugänglich gemacht. Ein dritter Punkt mag noch eine Rolle<br />

gespielt haben: Die Entnazifizierungspolitik, erst unter alliierter,<br />

dann unter deutscher Regie, war voll von Wi<strong>der</strong>sprüchen und<br />

Ungerechtigkeiten, die selbst eingeschworene NS-Gegner an<br />

dem Sinn des gesamten Unterfangens zweifeln ließen.<br />

In <strong>Kellners</strong> Aufzeichnungen, die auch eine kurze Zeitspanne nach<br />

dem Einmarsch <strong>der</strong> Amerikaner umfassen, gibt es überdies Anzeichen<br />

einer gewissen Resignation. So beobachtete er etwa, dass<br />

viele Häuser von Soldaten beschlagnahmt worden seien, aber<br />

viele namhafte ehemalige Parteigenossen davon nicht betroffen<br />

waren. Auch sei <strong>der</strong> neu eingesetzte Bürgermeister Mitglied <strong>der</strong><br />

25 Zum Folgenden vgl. exemplarisch Hans Woller, Gesellschaft und Politik in<br />

<strong>der</strong> amerikanischen Besatzungszone. Die Region Ansbach und Fürth, München<br />

1986, S. 135 f. u. 147 f.


34<br />

NSDAP gewesen. Bitter notierte Kellner: „Ueberhaupt haben die<br />

Gegner <strong>der</strong> NSDAP den Eindruck, daß sich noch sehr wenig geän<strong>der</strong>t<br />

hat und die Partei nach wie vor unsichtbar regiert.“ (10.<br />

April 1945) Pessimistisch blickte er zeitweise auch in die Zukunft,<br />

sah er doch zu wenig Unbelastete, die tatkräftig einen<br />

Neuaufbau in die Hand nehmen könnten. Zu tief sei auch die NS-<br />

Ideologie in den Köpfen <strong>der</strong> Menschen verankert: „Wird das<br />

deutsche Volk in <strong>der</strong> Lage sein, sich aus eigener Initiative einen<br />

neuen Staat zu bauen? Frei von Wahnideen? Ich bin in dieser Beziehung<br />

nicht allzu optimistisch. Das Chaos ist näher als <strong>der</strong> Aufbau.<br />

Die Selbstzerfleischung wahrscheinlicher als <strong>der</strong> Wille zur<br />

Selbsterkenntnis, die <strong>der</strong> erste Schritt zur Besserung wäre. Die<br />

Hirne <strong>der</strong> Menschen sind verseucht. Das deutsche Volk ist in seiner<br />

Gesamtheit geistig erkrankt. Eine Geisteskrankheit ist aber<br />

sehr schwer zu heilen. Darauf kommt es an!“ (10. April 1945)


Dr. Markus Roth<br />

35<br />

Markus Roth ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Her<strong>der</strong>-Instituts<br />

Marburg im LOEWE-Projekt „Kulturtechniken und ihre Medialisierung“,<br />

Teilprojekt D1 „Multimedialisierung <strong>der</strong> Chronik<br />

des Gettos Lodz/Litzmannstadt“ und Mitarbeiter <strong>der</strong> Arbeitsstelle<br />

Holocaustliteratur <strong>der</strong> Justus-Liebig-Universität Gießen. Sein<br />

Buch erschien in Göttingen 2009 unter dem Titel „Herrenmenschen.<br />

Die deutschen Kreishauptleute im besetzten Polen –<br />

Karrierewege, Herrschaftspraxis und Nachgeschichte“. Seit 2003<br />

veröffentlicht Markus Roth regelmäßig zur Geschichte und Wirkung<br />

des Holocaust, des Nationalsozialismus, <strong>der</strong> Holocaustliteratur<br />

und <strong>der</strong> polnischen Geschichte im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t.

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