Spuren des Glaubens
Die Grundlagen unseres Glaubens - verständlich erklärt.
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<strong>Spuren</strong> <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong><br />
glaubens wert
<strong>Spuren</strong> <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong>
versprochen<br />
geliebt<br />
gefragt<br />
versöhnt<br />
erlöst<br />
geheilt<br />
geschlagen<br />
auferweckt<br />
erfüllt<br />
versammelt
4<br />
Einleitung<br />
Die vorliegende Broschüre möchte Sie zur <strong>Spuren</strong>suche<br />
einladen, um gemeinsam oder auch<br />
für sich selbst den Wert <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> (neu) zu<br />
entdecken. Im Besonderen richtet sich die Broschüre<br />
an haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiterinnen<br />
und Mitarbeiter in den unterschiedlichsten<br />
kirchlichen Tätigkeitsfeldern.<br />
Grundidee, Aufbau und Themen<br />
Die einzelnen Impulse in dieser Broschüre verbindet<br />
ein roter Faden bzw. eine gemeinsame<br />
Leitidee: „Womit bekomme ich es zu tun, wenn<br />
ich es mit dem Christentum bzw. dem Glauben<br />
der Christinnen und Christen zu tun habe“. Im<br />
Blick liegt eine erwachsenengemäße Erschließung<br />
<strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> und seiner Folgen für das<br />
Leben.<br />
Nach einem Einleitungsteil, der sich mit zwei<br />
wesentlichen Voraussetzungen – der Taufe<br />
und dem Hören – beschäftigt („Worauf kommt<br />
es an“), werden zehn Grundbotschaften bzw.<br />
Schlüsselworte <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> „ausgelotet“:<br />
versprochen, geliebt, gefragt, versöhnt, erlöst,<br />
geheilt, geschlagen, auferweckt, erfüllt und versammelt.<br />
Diese zehn Grundbotschaften wurden<br />
aus mehreren Vorschlä-gen ausgewählt. Nach<br />
den Schlüsselworten folgen Gedanken zur Eucharistie<br />
und zur Bedeutung der „Wandlung“<br />
für das eigene Leben. Die Einbettung der zehn<br />
Schlüsselworte zwischen Taufe und Eucharistie<br />
macht anschaulich, wie sehr der Glaube von der<br />
Taufe und der Eucharistie her Kraft und Profil<br />
bekommt. Beide Sakramente haben mit dem<br />
Leben zu tun und eröffnen wertvolle Zugänge<br />
zum Alltag wie zum eigenen Glauben. Als Abschlusstext<br />
findet sich eine Meditation über das<br />
Vaterunser. Für Jesus war gerade dieses Gebet<br />
der entscheidende Weg, wie Gott in seiner ganzen<br />
Menschlichkeit im eigenen Leben ankommen<br />
und wirksam werden kann.<br />
Autoren sowie Arbeitsgruppe<br />
Die einzelnen Impulse bestehen aus zwei Teilen<br />
bzw. Aspekten. Der erzählerische Teil, dem es um<br />
das existenzielle Erschließen <strong>des</strong> christlichen<br />
<strong>Glaubens</strong> geht, wird im unmittelbar anschließenden<br />
zweiten (und kürzeren) Teil durch eine<br />
theologisch-systematische Vertiefung ergänzt.<br />
Die erzähleri-schen Texte stammen aus der Feder<br />
von Stefan Schlager, Leiter <strong>des</strong> Referates für<br />
Theologische Erwachsenenbildung im Pastoralamt<br />
Linz. Die theologischen Vertiefungen wurden<br />
von Franz Gru-ber, Professor für Dogmatik<br />
an der Katholisch-Theologischen Privatuniversität<br />
Linz, geschrieben.<br />
Das Konzept und die Grundausrichtung der Broschüre<br />
sowie die Schlussredaktion lagen in der<br />
Verantwortung einer eigenen Arbeitsgruppe.<br />
Die Mitglieder dieser Arbeitsgruppe waren:<br />
Mag. a Irmgard Lehner, Rektor Ernst Bräuer,<br />
Univ.-Prof. Dr. Franz Gruber und<br />
Dr. Stefan Schlager.<br />
Einsatzmöglichkeiten<br />
Die Broschüre will als Grundlage für <strong>Glaubens</strong>gespräche<br />
dienen (z. B. im Rahmen einer PGR-<br />
Sitzung, einer Jugendstunde, einer Frauen- oder<br />
Männergruppe, einer Familienrunde u.Ä.). So<br />
können die einzelnen Texte als Einstieg ins Gespräch<br />
bzw. als inhaltliche Zusammenfassung<br />
genommen werden.<br />
glaubens wert
Die ausformulierten Fragen wiederum sind<br />
konkrete Anregungen, um leichter in das jeweilige<br />
Thema einsteigen zu können. Selbstverständlich<br />
dient die Broschüre auch für die<br />
eigene und persönliche „Vergewisserung“ im<br />
Glauben.<br />
Wir wünschen den Leserinnen und Lesern dieser<br />
Broschüre viel Freude am Glauben und persönlichen<br />
Gewinn bei ihrer „<strong>Spuren</strong>suche“!<br />
Irmgard Lehner,<br />
Ernst Bräuer,<br />
Franz Gruber,<br />
Stefan Schlager<br />
(Arbeitsgruppe „glaubenswert“-Broschüre)<br />
Zur Grafischen Umsetzung<br />
Wenn wir über unseren Glauben sprechen. so gelingt es uns nur<br />
die Konturen zu kommunizieren. Zu bunt und verzweigt sind die<br />
konkreten Erscheinungsformen Gottes in unserem Leben, um sie<br />
ausreichend in Worte zu fassen.<br />
Der Schattenriss von Pflanzen erscheint mir in diesem Zusammenhang<br />
ein legitimes Mittel, um zu illustrieren, was Glauben sein<br />
kann. Ein tragfähiges Gerüst, eine Lebensader oder ...<br />
Stefan Teufel<br />
5
6<br />
Auf dem Weg sein: –<br />
die Taufe<br />
„Ich bin dann mal weg“ – sagte der deutsche<br />
Komiker Harpe Kerkeling vor einiger Zeit und<br />
brach ohne große Vorbereitungen auf eine<br />
Pilgerreise nach Santiago de Compostela auf.<br />
Sechs Wochen hielt der ungeübte Wanderer<br />
durch – und machte auf seinem Weg kostbare<br />
Erfahrungen. Diese hielt der „Buddhist mit<br />
christlichem Überbau“ in einem humorvollen<br />
und zugleich tiefsinnigen Buch fest.<br />
Sich selbst auf den Weg machen, ähnlich wie<br />
es zahlreiche Menschen heute als Pilgerinnen<br />
und Pilger tun – dazu will auch diese Broschüre<br />
einladen. Sie möchte ermutigen, den eigenen<br />
Glauben – für sich und in Gemeinschaft – neu<br />
zu entdecken und das Christentum als etwas<br />
Kostbares, Lebensnahes und „wertvoll“ Vitales<br />
zu erfahren. Das Wort „erfahren“ leitet sich übrigens<br />
vom Gehen ab. Das mittelhochdeutsche<br />
Wort „ervarn“ heißt sov iel wie „reisend erkunden“,<br />
„durchfahren“, „durchwandern“ und „kennenlernen“.<br />
Je intensiver sich also ein Mensch auf die Suche<br />
macht, je mehr er seinen Glauben mitten im Leben<br />
kennenlernt und die Tauglichkeit <strong>des</strong> christlichen<br />
Weges im Alltag ausprobiert, umso authentischer<br />
und frischer wird er wohl über den<br />
eigenen Glauben sprechen können – und seinen<br />
Glauben neu für sich und seine Zeit buchstabieren.<br />
Wer sich diese „<strong>Spuren</strong>suche“ jedoch erspart<br />
und sich statt <strong>des</strong>sen mit „Vorgekochtem“<br />
oder „Aufgewärmtem“ begnügt, dem wird die<br />
Erfahrung verloren gehen, dass Religion etwas<br />
Frisches, Nahrhaftes und Kräftigen<strong>des</strong> ist.<br />
Inspirationsquelle Taufe –<br />
worum es im Christentum geht<br />
Ein guter Einstieg, ein guter Ausgangspunkt<br />
für die „<strong>Spuren</strong>suche“ im eigenen Glauben ist<br />
die Taufe. Sie macht anschaulich, worum es im<br />
Christentum geht und was dabei wesentlich ist.<br />
Denn: Durch die Taufe auf den Namen Jesu wird<br />
der bzw. die Getaufte in eine neue Geschichte,<br />
in einen neuen Weg, in eine neue Beziehung, in<br />
ein neues Lebensmodell „hineingetaucht“.<br />
In Galater 3,26-27 findet sich ein originelles Bild<br />
dafür. Paulus vergleicht hier die Getauften mit<br />
Menschen, die „Christus als Gewand angelegt“<br />
haben. Christ- bzw. Christin-Sein ist dementsprechend<br />
zu vergleichen mit einem „Hineinwachsen“<br />
in ein neues „Gewand“: Bei der Taufe<br />
ist dieses Gewand wohl noch eine Nummer zu<br />
groß. Auch in den späteren Jahren wird dieses<br />
Gewand nie ganz ausgefüllt werden können.<br />
Aber der Reiz, der Sinn und das Herausfordernde<br />
bestehen darin, immer mehr hineinzuwachsen<br />
und hineinzupassen – in das Denken und Handeln<br />
Jesu. So gesehen kann von der Taufe her<br />
gut erschlossen werden, was Glauben bedeutet:<br />
Sich immer mehr von dem leiten, prägen und<br />
inspirieren lassen, was den Mann aus Nazaret<br />
geleitet, inspiriert, geprägt hat. Letztlich geht<br />
es darum, sich – wenigstens anfanghaft – von<br />
jener Intention anstecken, von jenem Geist, von<br />
jenem „Logos“ ansprechen zu lassen, der Jesus<br />
Christus selbst bewegt hat (Jürgen Werbick).<br />
Die Taufe ist <strong>des</strong>halb Zu-Eignung <strong>des</strong> neuen Lebens,<br />
und das neue Leben An-Eignung der Taufe<br />
(Günther Bornkamm).<br />
Leider gibt es auch die Erfahrung, dass Menschen<br />
meinen, diesem „Tauf-Gewand“ mit fortschreitender<br />
Lebensdauer zu entwachsen. Der Glaube<br />
als „Kindersache“ scheint nicht mehr passend.<br />
Ebenso gibt es Christinnen und Christen, die der<br />
Meinung sind, der Glaube sei ihnen immer eine<br />
Nummer zu groß – und nur für Menschen nach<br />
Maß bestimmt.<br />
Existenzielles Hören<br />
Damit die „AnEignung“ der Taufe – und <strong>des</strong> neuen<br />
Lebens – gelingen kann, braucht es einen be-<br />
glaubens wert
sonderen Zugang, eine besondere „Lebenseinstellung“:<br />
das Hören. Nur auf diese Weise ist es<br />
möglich, eine wirkliche Ahnung von dem zu bekommen,<br />
was Jesus selbst bewegt hat. Ein Beispiel,<br />
wie „grundlegend“ und unverzichtbar das<br />
Hinhören für Christinnen und Christen ist, findet<br />
sich am Beginn der Bergpredigt. Hier heißt<br />
es in Matthäus 5,1: „Als Jesus die vielen Menschen<br />
sah, stieg er auf einen Berg. Er setzte sich,<br />
und seine Jünger traten zu ihm. Dann begann er<br />
zu reden und lehrte sie.“<br />
Was bei dieser Stelle auffällt, ist, dass Jesus sich<br />
niedersetzt, als er zu lehren beginnt (während<br />
er hingegen bei der Lesung aus der Thora stehen<br />
bleibt). Die Jünger und Jüngerinnen verstehen<br />
dieses Signal – und treten neugierig hinzu. Sie<br />
wollen nichts von dem versäumen, was Jesus<br />
nun aus eigener Autorität und Einsicht zu sagen<br />
hat. Sie sind „ganz Ohr“, ganz auf Bereitschaft<br />
und Empfang geschaltet. Bernhard von Clairvaux<br />
(~1090 bis 1153) hat dieses Hinzutreten<br />
der Jünger als „existenzielles Hinzutreten“ gedeutet:<br />
„Sie traten nicht in erster Linie durch<br />
Schritte mit den Füßen herzu, sondern mit der<br />
Zuneigung ihres Herzens und mit der Nachahmung<br />
seiner Tugenden.“ Dieses erwartungsvolle<br />
Hinhören wird auch in der Geschichte von<br />
Maria und Marta thematisiert (Lukas 10,38-42).<br />
Während Marta ganz im Tun aufgeht, wird Maria,<br />
die Hörende, von Jesus ausdrücklich gelobt:<br />
Sie hat den guten Teil gewählt. Vielleicht ist dieses<br />
(für kirchliche Ohren unerwartete) Lob <strong>des</strong>halb<br />
so wichtig, weil Menschen in der Nachfolge<br />
Jesu nicht davor gefeit sind, inmitten ihrer Aktivitäten<br />
das Hören zu vergessen.<br />
den Mund geöffnet hat, öffne er auch dir Ohren<br />
und Mund, dass du sein Wort vernimmst und<br />
den Glauben bekennst zum Heil der Menschen<br />
und zum Lobe Gottes.“ Mit der Taufe ist somit<br />
ein Lebensstil verbunden, der um den Wert und<br />
den Sinn <strong>des</strong> Hörens weiß: das Hinhören auf sich<br />
selbst, das achtsame Hören auf die anderen, das<br />
umsichtige und kluge Hören auf die Zeichen der<br />
Zeit sowie das aufmerksam-existenzielle Hören<br />
auf die Stimme Gottes in den Zeugnissen der Bibel.<br />
Erst wer richtig hin-hört, zu-hört, auf-hört,<br />
kann also lebendig über den Glauben sprechen.<br />
Freilich: Es gibt auch die Erfahrung, dass Menschen<br />
nur das (heraus)hören, was sie hören<br />
Ein besonderer Lebensstil<br />
Dementsprechend gibt es im Rahmen der Tauffeier<br />
einen eigenen Ritus, der auf das Hören ausgerichtet<br />
ist: Im Effata-Ritus heißt es: „Der Herr<br />
lasse dich heranwachsen, und wie er mit dem<br />
Ruf ‚Effata’ dem Taubstummen die Ohren und<br />
7
8<br />
wollen, was ihnen leicht ins Ohr geht, was ihren<br />
Erwartungen entspricht beziehungsweise in ihr<br />
linkes oder rechtes Konzept passt. Das „hinzutretende<br />
Hören“ der Jüngerinnen und Jünger am<br />
Beginn der Bergpredigt ist da anders. Dieses Hören<br />
zeichnet sich durch eine besondere Offenheit<br />
aus. Es rechnet damit, dass Vertrautes, Gewohntes,<br />
Eingespieltes, Überkommenes durchkreuzt<br />
und auf den Kopf gestellt werden kann. Dieses<br />
Hören übersieht nicht die Ursprünglichkeit Jesu.<br />
Es weiß – so der Salzburger Theologe Gottfried<br />
Bachl – „um die erfrischende Unruhe, die er aussendet<br />
und die alle Gewöhnung durchbricht, die<br />
sich immer wieder nebelhaft zwischen ihn und<br />
die Menschen legt“.<br />
Zehn Schlüsselwörter<br />
Wofür steht nun das Christentum? Womit bekommt<br />
es ein Mensch zu tun, wenn er es mit<br />
dem Christentum zu tun hat? Aus den vielen<br />
möglichen Schlüsselwörter bzw. Grundbotschaften<br />
haben wir zehn ausgewählt. Sie wollen<br />
sich dem Glauben der ChristInnen annähern<br />
– und zur eigenen <strong>Spuren</strong>suche wie zum<br />
gemeinsamen Gespräch einladen. Diese zehn<br />
Schlüsselwörter umschreiben jene Gestalt, jenes<br />
Profil eines Christen/einer Christin, die es<br />
– für sich und gemeinsam – zu entdecken und<br />
zu entfalten gilt.<br />
Die Schlüsselwörter lauten:<br />
versprochen<br />
geliebt<br />
gefragt<br />
versöhnt<br />
erlöst<br />
geheilt<br />
geschlagen<br />
auferweckt<br />
erfüllt<br />
versammelt<br />
Fragen für ein Gespräch<br />
bzw. für die eigene <strong>Spuren</strong>suche:<br />
• Gibt es für mich Menschen, die im Glauben<br />
erfahren sind? Was fasziniert mich an ihnen besonders?<br />
• Was sind meine eigenen Erfahrungen mit dem<br />
Christentum, mit dem Glauben? Was bedeutet<br />
Christin- bzw. Christ-Sein für mich? Was macht<br />
Christin- bzw. Christ-Sein aus? Worum geht es –<br />
nach meiner Ansicht – im Christentum wirklich?<br />
• Wie geht es mir mit dem „Hören“? Was gehört<br />
- meiner Meinung nach – dazu, damit das Hören<br />
gelingt bzw. jemand das Hören auf Gott, auf sich<br />
und die anderen einüben kann?<br />
getauft: auf seinen Namen<br />
Nicht ein Willensakt macht einen Menschen zur<br />
Christin und zum Christen, sondern Gott selbst,<br />
der den Menschen seine Gemeinschaft voraussetzungslos<br />
anbietet. Es ist das Geschenk seiner<br />
Gnade, seines Lebensraumes, seines Heils,<br />
das uns zu Söhnen und Töchtern Gottes macht.<br />
So wie Menschen das Zur-Welt-Kommen eines<br />
Kin<strong>des</strong>, so wie Liebende das Berührtsein von ihrer<br />
Liebe empfinden, so will Gottes Ankunft im<br />
menschlichen Leben erfahrbar werden.<br />
Weil die Geburt, die Liebe, die Gottesgemeinschaft<br />
so außergewöhnliche und heilsame Erfahrungen<br />
sind, darum können wir unsere Betroffenheit<br />
nur auf rechte und ganzheitliche<br />
Weise zum Ausdruck bringen, wenn wir dies<br />
feiern. Darum feiern wir unser ChristIn-Werden<br />
nicht nur im Sakrament der Taufe. Sakramente<br />
sind dementsprechend Zeichen, die bewirken,<br />
was sie anzeigen. Sie repräsentieren und ver-<br />
glaubens wert
sprechen sinnenhaft und sinnerfüllt, was immer<br />
gilt: dass Gott uns einlädt, in seinen Heils-Raum<br />
einzutreten, damit der Mensch geheilt wird und<br />
sein Leben gelingt. Da ChristIn-Sein selbst im<br />
tiefsten Grund ein Sakrament ist, steckt darin<br />
die Ermutigung, zum Zeichen <strong>des</strong> Heils zu werden.<br />
Jesus – das Sakrament Gottes<br />
Das wichtigste Sakrament <strong>des</strong> christlichen<br />
<strong>Glaubens</strong> ist aber Jesus Christus selbst. Er ist<br />
das Sakrament – das Heilszeichen – Gottes in<br />
der Welt. Wenn er uns zum Heils-Mittel werden<br />
soll, dann bedarf es – so wie es für Leib und Seele<br />
der Lebens-Mittel der Nahrung und der Liebe<br />
bedarf – der Mittel <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong>, Hoffens und<br />
Liebens. Deshalb liegt denn auch der Sinn <strong>des</strong><br />
ChristIn-Seins darin, ein Sakrament, ein Heils-<br />
Zeichen im Namen Jesu zu sein. Wofür steht dieses<br />
Zeichen? Es steht für das, wonach sich jede<br />
und jeder sehnt, es steht für das Wort, das wir<br />
uns selbst nicht sagen können: Du, Mensch, du<br />
bist gewollt und geliebt seit Ewigkeit. Du sollst<br />
leben und dein wahres Leben finden.<br />
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10<br />
versprochen<br />
Ob Menschen Lotto spielen, Partnerschaftsannoncen<br />
aufgeben, Diät halten oder eine Therapie<br />
beginnen – sie alle verbindet das Vertrauen<br />
in ein Versprechen. Wer Diät hält, verspricht sich<br />
davon neben einem attraktiveren Äußeren eine<br />
neue Lebensqualität. Wer beim Lotto tippt – und<br />
das vielleicht sogar wöchentlich –, kokettiert<br />
mit den Versprechungen <strong>des</strong> Reichtums. Wer<br />
eine Partnerschaftsannonce aufgibt, verspricht<br />
sich – selbst nach Enttäuschungen – von einer<br />
Beziehung echten Lebenssinn. Wer eine Therapie<br />
beginnt, verspricht sich davon Heilung oder<br />
zumin<strong>des</strong>t Linderung. Welche Kraft in einem<br />
Versprechen liegt, zeigt auch die Ehe. Das, was<br />
man sich am Anfang der Beziehung von einem<br />
gemeinsamen Altwerden und Zusammenleben<br />
verspricht, vermag in Krisenzeiten zu mobilisieren<br />
oder gar neuen „Schwung“ zu geben. Das<br />
Versprechen, ein Leben lang zusammenbleiben<br />
zu wollen, einander zu achten, zu lieben und<br />
die Treue zu halten, kann zudem Mut machen,<br />
immer wieder in die Ehe zu investieren. Wenn<br />
dieses Versprechen jedoch gebrochen wird oder<br />
wenn die Liebe, aus welchen Gründen auch immer,<br />
scheitert, bringt das großes Leid, tiefe Verwundungen<br />
und bittere Enttäuschung.<br />
Was aus einem Menschen werden kann …<br />
Im Neuen Testament wird von einer Person erzählt,<br />
die sich ebenfalls von einem Versprechen<br />
leiten lässt (vgl. Lukas 19,1-10). An Zachäus ist<br />
rasch zu sehen, wofür er steht, was ihm wichtig<br />
ist. Er setzt seine ganze Energie in die Versprechungen<br />
<strong>des</strong> Reichtums und in das „Haben“.<br />
Doch Zachäus wird nicht glücklich dabei. Er<br />
fühlt sich zwar reich, aber auch alleine, er weiß<br />
sich mächtig, aber nicht geliebt, er sitzt an einflussreicher<br />
Stelle, ohne respektiert und geachtet<br />
zu werden. Für Zachäus ändert sich dieses<br />
„Sitzen im goldenen Käfig“, als er einem Mann<br />
begegnet, der eine ganz andere Orientierung<br />
lebt: Als er mit Jesus isst und gemeinsam Zeit<br />
mit ihm verbringen darf, geht ihm ein neuer Zugang<br />
zur Welt, ein neuer Zugang zu sich selbst<br />
und zu den Menschen auf. An Jesus merkt er,<br />
wie wohltuend anders, wie befreit und angstlos<br />
man leben kann – wenn Gott im eigenen Denken,<br />
Fühlen und Handeln ankomment. An Jesus<br />
begreift er, was aus einem werden kann, wenn<br />
man sich nicht vom Versprechen <strong>des</strong> Gel<strong>des</strong>, von<br />
der Gier, von der Habsucht oder vom Recht <strong>des</strong><br />
Stärkeren und Erfolgreicheren leiten lässt, sondern<br />
von der Menschenliebe, der Zärtlichkeit,<br />
der Leidenschaft und der so unerwartet anderen<br />
Gerechtigkeit Gottes. Und dann beginnt Zachäus,<br />
diesen Gott auf sich abfärben zu lassen, die<br />
Weite, die er bei Jesus „geschmeckt“ hat, in die<br />
Tat umzusetzen. Zachäus hat nun einen Schatz<br />
gefunden, eine Perle entdeckt – kostbarer als all<br />
das unrechtmäßig erworbene Vermögen bisher.<br />
„Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe.<br />
Kehrt um, und glaubt an das Evangelium!“ (Markus<br />
1,15) – diese Heilsbotschaft ist für Zachäus<br />
Wirklichkeit geworden!<br />
… wenn Gott im eigenen Leben ankommt<br />
Das Reich Gottes ist somit nicht etwas „Lebensfernes“<br />
oder gar unnahbar Abstraktes. Es hat<br />
eine ganz konkrete und erfahrbare „Gestalt“<br />
sowie ganz bestimmte Züge: die <strong>des</strong> Jesus von<br />
Nazaret, <strong>des</strong> Christus. An Jesus selbst ist die so<br />
ganz andere Perspektive Gottes „abzulesen“ und<br />
sind die „Auswirkungen“ dieses Gottes auf das<br />
eigene Leben hautnah zu sehen. Was Jesus und<br />
- durch ihn - Zachäus widerfahren ist, das ist genauso<br />
uns versprochen: das Ankommen Gottes<br />
in der eigenen Welt, in der eigenen Zeit, in dem<br />
eigenen Denken, Fühlen und Handeln. Auch uns<br />
ist zugesagt, dass dort, wo Gott und seine so andere<br />
„Logik“ zur Herrschaft kommen darf, sich<br />
das eigene Leben wandelt, weitet und „verdich-<br />
glaubens wert
tet“. Für jeden von uns ist das Reich Gottes aber<br />
eine andere Erfahrung. Für Zachäus bedeutete<br />
das Ankommen Gottes in seinem Leben die alles<br />
verändernde Erkenntnis: Ich bin – trotz meiner<br />
Mängel – wertvoll. Ich brauche mich nicht mehr<br />
länger klein zu fühlen und daher andere klein<br />
zu machen. Für einen Kranken wiederum kann<br />
das Ankommen Gottes in seiner Situation bedeuten,<br />
dass er anstelle von Verzweiflung diese<br />
Krankheit als Einstieg in ein tieferes Leben entdecken<br />
kann – begleitet und gehalten von einem<br />
fürsorglichen Gott. Für Menschen, die sich<br />
von der eigenen Leistung und vom Prestige alles<br />
versprechen, kann das Ankommen Gottes in ihrem<br />
Leben eine Wende bedeuten – hin zu einer<br />
neuen Weite, Tiefe und Gelassenheit sowie zu<br />
jenen Lebensbereichen und -dimensionen, die<br />
bisher unbeachtet geblieben sind.<br />
Fragen für ein Gespräch<br />
bzw. für die eigene <strong>Spuren</strong>suche:<br />
• Was verspreche ich mir vom Leben? Was sind<br />
jene großen Versprechungen, die mich in Bewegung<br />
und am Leben halten, die mich bestimmen?<br />
• Wenn Gott bei mir „ankommen“ kann, in meinem<br />
Denken, Fühlen und Tun, was würde<br />
sich da ändern – bzw. was hat sich da<br />
geändert? Was würde ich mir davon<br />
versprechen?<br />
Es beginnt klein, zart und ohne Zwang<br />
So wie Gott jedoch in Jesus leise angekommen<br />
ist – so leise, dass seine Ankunft damals in Bethlehem<br />
von den meisten übersehen wurde –, so<br />
kommt auch Gott und sein Reich leise. So wie<br />
Gott in Jesus ganz klein angekommen ist, beginnt<br />
auch die Herrschaft Gottes ganz klein,<br />
zart und ohne Zwang. Denn der Mensch und<br />
das Menschliche – mit all seinen Stärken und<br />
Schwächen – sind Maß und Kennzeichen dieser<br />
Herrschaft, nicht das „Überwältigende“ und<br />
„donnernd Perfekte“. Dementsprechend vergleicht<br />
Jesus die Herrschaft Gottes mit einem<br />
Senfkorn (Markus 4,30-32): Wie ein unscheinbares<br />
Korn beginnt das Reich Gottes dort „aufzugehen“,<br />
wo Menschen ihre „Bewusstseinsantennen“<br />
auf Gott schalten und sich in ihrem<br />
Leben von ihm und seiner Weite prägen lassen.<br />
11
12<br />
versprochen:<br />
das Reich Gottes<br />
Wer den christlichen Glauben annimmt, schließt<br />
sich einer religiösen Erzähl- und Erinnerungsgemeinschaft<br />
an, die Jahrtausende zuvor im Orient<br />
begonnen hat. Auch wenn für uns Christen<br />
Jesus von Nazareth der zentrale Zugang zu Gott<br />
ist, so ist Jesus nicht ohne die <strong>Glaubens</strong>- und Leidensgeschichte<br />
seines jüdischen Volkes zu verstehen.<br />
Erinnern wir uns kurz einiger Stationen<br />
dieser Geschichte: Das Ursprungsereignis <strong>des</strong><br />
jüdischen Volkes ist nach der biblischen Erzählung<br />
seine Rettung aus der Sklavenherrschaft<br />
Ägyptens. Sie wurde zur religiösen Grunderfahrung:<br />
Gott hat sich dem leidenden Volk rettend<br />
zugewendet und ihm bleibend seine Gegenwart<br />
versprochen. Darum heißt sein Name JHWH<br />
(sprich: Jahwe): „Ich bin der, der ‚Ich-bin-da’“<br />
(Exodus 3,14).<br />
Die große Hoffnung von einer<br />
menschlichen Welt<br />
Als im 6. Jh. v. Chr. ein Teil <strong>des</strong> Volkes ein weiteres<br />
Mal, diesmal ins Exil nach Babylon, verschleppt,<br />
der Tempel zerstört und das Königtum<br />
zerschlagen worden war, schien der Bund mit<br />
Gott endgültig zerbrochen. Hatten nicht die<br />
Propheten Amos, Hosea, Jesaja oder Jeremia<br />
gewarnt, das Volk werde ins Unheil stürzen,<br />
wenn es den Bund nicht hält, wenn es anderen<br />
Göttern nachläuft und besonders die Fürsorge<br />
für die Schwächsten im Land aufkündigt? Doch<br />
auch an diesem Ende wuchs wieder eine neue<br />
Hoffnung aus dem Volk Gottes: Gott wird das<br />
Volk zurückführen, er wird einen neuen Bund,<br />
ein neues Land, einen neuen David senden. Aber<br />
auch diese Hoffnungen mussten durchs Feuer<br />
der Geschichte gehen. Fremdherrschaft und Unterdrückung<br />
blieben das Los <strong>des</strong> Judentums und<br />
in seinem Inneren stritten verschiedene Parteiungen<br />
um die rechte Auslegung <strong>des</strong> Willens<br />
Gottes. Damals erfasste eine große Sehnsucht<br />
breite Schichten der Bevölkerung: Gott wird am<br />
Ende der Zeiten das Reich der Menschlichkeit errichten<br />
(vgl. Daniel 7), er wird den Tod besiegen,<br />
das Böse vernichten und alle Tränen der Trauer<br />
und <strong>des</strong> Lei<strong>des</strong> trocknen (vgl. Jesaja 24,8).<br />
Gott hat sein Wort gehalten<br />
Und dann trat Jesus von Nazareth mit seiner<br />
Botschaft auf. Zu jener Zeit herrschten die Römer<br />
über Israel. Endzeitstimmung lag in der Luft<br />
und der Prophet Johannes der Täufer kündigte<br />
das Gericht Gottes über Israel und die Völker an.<br />
Aber in einem wesentlichen Punkt unterschied<br />
sich Jesus von der Botschaft <strong>des</strong> Täufers: Das erhoffte<br />
Gottesreich ist für ihn schon nahegekommen<br />
(Markus 1,15). Vor dem Ende der Geschichte<br />
hat die Wende schon begonnen. Denn wenn<br />
Gott kommt, verkündet Jesus, wird die Logik der<br />
bisherigen Geschichte auf den Kopf gestellt: Die<br />
Armen, die Hungernden, die Weinenden werden<br />
die Ersten sein, die ein neues Leben erhalten<br />
(vgl. Matthäus 5,3-12). Die Kranken werden<br />
gesund und die Ausgegrenzten in die Gemeinschaft<br />
wieder aufgenommen (z. B. Markus 2,1-<br />
12; 14-17; 3,1-5; 5,1-20; Lukas 5,12-14; 17,11-14<br />
u. a.). Darum ist Jesu Botschaft „Evangelium“:<br />
Frohe Botschaft. Gott beginnt, sein Versprechen<br />
einzulösen, sein Volk und alle Menschen aus der<br />
Herrschaft <strong>des</strong> Bösen und der Sünde zu befreien.<br />
Als Wanderprediger zog Jesus durch Galiläa,<br />
er heilte und sammelte Menschen in eine Bewegung,<br />
die seiner Botschaft Glauben schenkten<br />
und im radikalen Vertrauen auf Gottes Fürsorge<br />
ihr Leben ohne viel Besitz und Sicherheit miteinander<br />
teilten. Denn es gilt nach Jesus: „Euch<br />
jedoch muss es um sein Reich gehen; dann wird<br />
euch das andere dazugegeben“ (Lukas 12,31).<br />
glaubens wert
Noch erwarten wir einen neuen Himmel und<br />
eine neue Erde<br />
Jesu Hoffnung auf das endgültige Kommen<br />
Gottes in seiner Zeit hat sich nicht erfüllt. Das<br />
Versprechen blieb größer als die Erfüllung. Auch<br />
wenn wir Christen glauben, dass Jesus der auferweckte<br />
Messias, der Christus, das „Reich Gottes“<br />
in Person ist, hoffen wir gemeinsam mit dem Judentum<br />
auf die Vollendung der Schöpfung und<br />
rufen mit ihm: Maraná tha! Unser Herr, komm!<br />
(vgl. Offenbarung 22,20; 1 Korinther 16,22).<br />
13
14<br />
geliebt<br />
Ein altes Experiment zeigte einmal auf drastisch-tragische<br />
Weise, welche Auswirkungen es<br />
hat, wenn jemand nicht beachtet und geliebt<br />
wird. Mit dem Ziel, die Ursprache unverfälscht<br />
zu entdecken, wurden neugeborene Babys auf<br />
Befehl <strong>des</strong> Stauferkaisers Friedrich II. (1212 bis<br />
1250) nur grundversorgt – ohne aber mit ihnen<br />
zu sprechen, sie zu herzen, sich ihnen zuzuwenden.<br />
Das Ergebnis war niederschmetternd: Alle<br />
Kinder „verkümmerten“ und starben. Nicht angesprochen<br />
zu werden, keine Beachtung zu bekommen,<br />
vergessen zu werden, namenlos – ein<br />
„nobody“– zu sein, das zerstört Menschen!<br />
Frei-Raum und Weite<br />
In der heutigen Zeit gibt es ähnliche Erfahrungen.<br />
Auch in unserer Gesellschaft gibt es Menschen,<br />
die verkümmern und „draufgehen“, weil sie in<br />
ihren Familien, von ihrem Partner/ihrer Partnerin,<br />
in der Arbeitswelt oder in der Schule nicht<br />
beachtet, geschätzt und geliebt werden. Manche<br />
wiederum verkümmern, weil sie meinen, den eigenen<br />
Ansprüchen nicht gerecht zu werden. Sie<br />
fühlen sich immer ein Stück hinter ihren Erwartungen<br />
zurück und sind – vielleicht auch aus diesem<br />
Grund – nicht in der Lage, sich selbst zu lieben.<br />
So gesehen bedeutet fehlende Liebe „Enge“:<br />
Weil Liebe fehlt, engen Menschen ihre Gefühle,<br />
ihren Horizont, ihre Worte und Handlungen auf<br />
die Erfahrung <strong>des</strong> Mangels ein. Sie fühlen sich<br />
– sogar mitten im Wohlstand – zu kurz gekommen,<br />
sie empfinden sich – trotz erbrachter Leistungen<br />
– als unnütz, sie sehen sich – obwohl in<br />
guten Stellungen – als wertlos. Umgekehrt geht<br />
mit der Erfahrung der Liebe eine „Weitung“ einher:<br />
Da, wo Menschen sich – so wie sie sind – angenommen<br />
und bejaht fühlen, weiten sich das<br />
Herz, die eigenen Möglichkeiten, der Blick auf die<br />
Welt und auf sich selbst. Es entsteht Raum.<br />
Wie sehr Liebe freigibt, spiegelt auch die Sprache<br />
wider. Das Wort Freiheit kommt von der indogermanischen<br />
Wurzel „prai“. Das heißt: schützen,<br />
schonen, gern haben, lieben. Liebe schafft<br />
also Frei-Raum und – in gewisser Weise – „Ent-<br />
Grenzung“. Das beste Beispiel dafür ist Jesus<br />
selbst. An ihm ist zu erkennen, was Liebe alles<br />
vermag und welche „Gestalt“ diese Liebe hat.<br />
An Jesus ist zu sehen, wie die Liebe ihn „groß“<br />
macht und nicht „klein“ hält. Die Liebe, die Jesus<br />
bewegt und geprägt hat, war nicht berechnend,<br />
sie verzweckte ihn nicht oder war gar an Bedingungen<br />
geknüpft. Jesus wusste sich vielmehr<br />
so von Gott angenommen, so beschenkt, so unbedingt<br />
getragen, dass er sich selbst vergessen<br />
konnte.<br />
Der rote Faden im Leben Jesu<br />
Der Schlüssel zum Verständnis Jesu, zu seinen<br />
Worten und Handlungen, zu seiner gesamten<br />
Existenz ist dementsprechend die Liebe: Aus<br />
Liebe macht er sich klein, damit Menschen in<br />
seinen <strong>Spuren</strong> größer werden können; aus Liebe<br />
eröffnet er einen neuen, ungeahnten Zugang zur<br />
Welt, zu Gott, zur jeweils eigenen Person, damit<br />
Menschen wirklich leben können; aus Liebe leidet<br />
er, damit Menschen in ihrem Leid und ihren<br />
Zweifeln nicht mehr alleine sein müssen; aus<br />
Liebe stellt er sich auf die Seite der Opfer, damit<br />
Menschen die Welt aus ihrer Perspektive sehen<br />
– und alles tun, damit es keine Opfer mehr gibt.<br />
Aus Liebe stirbt der Gottessohn, damit die Sterbenden<br />
nicht mehr in ein Nichts hineinfallen.<br />
Der Liebe Gestalt geben<br />
Wer sich dieser Liebe öffnet, ihr im eigenen Denken,<br />
Fühlen und Handeln Raum gibt, der erfährt<br />
– mit der Zeit und immer wieder aufs Neue<br />
– selbst eine Veränderung: Zum einen vermag<br />
die Liebe die Furcht zu vertreiben. „Furcht gibt<br />
es in der Liebe nicht … Denn die Furcht rechnet<br />
mit Strafe.“ (1 Johannes 4,18). Wer auf Gott und<br />
glaubens wert
seine unbedingte Liebe setzt, der kann es auch<br />
wagen, sich selbst und den Nächsten zu bejahen<br />
– trotz Fehlern und Schwächen, trotz Enttäuschungen<br />
und Rückfällen in alte Muster. Wer von<br />
der Liebe Gottes und ihrer „Weitung“ gekostet<br />
hat, den drängt es schließlich danach, der Liebe<br />
im eigenen Leben und im eigenen Umfeld eine<br />
konkrete Gestalt zu geben, sie in konkret Erlebbares<br />
zu übersetzen: in menschliche Wärme, in<br />
Verständnis, in Großzügigkeit, in tatkräftige Hilfsbereitschaft<br />
– und immer wieder in langen Atem.<br />
In seinen geistlichen Übungen ermutigt daher<br />
Ignatius von Loyola (1491 bis 1556), der Gründer<br />
<strong>des</strong> Jesuitenordens, regelmäßig einen liebenden<br />
Blick auf das eigene Leben zu richten. Dabei darf<br />
dieser Blick auf das Leben, der das Schwierige und<br />
Traurige nicht ausspart, geleitet sein vom liebenden<br />
Blick Gottes, für den die Welt und der Mensch<br />
„sehr gut“ sind – unwiderruflich.<br />
Fragen für ein Gespräch<br />
bzw. für die eigene <strong>Spuren</strong>suche:<br />
• Wo Liebe fehlt, engen Menschen ihr Leben ein<br />
– auf die Erfahrung <strong>des</strong> Mangels. Wohingegen<br />
Menschen Liebe erfahren, weitet sich ihr Leben.<br />
Kenne ich Beispiele für diese beiden Phänomene?<br />
• „Furcht gibt es in der Liebe nicht“ – kann ich<br />
diese Erfahrung teilen? Ist mir das schon einmal<br />
selbst aufgegangen?<br />
• Die Liebe als Lebensprogramm Jesu – was bedeutet<br />
das für mich und mein Leben?<br />
15
16<br />
geliebt:<br />
von Gott<br />
Liebe und Gerechtigkeit – das sind die beiden<br />
biblischen Schlüsselwörter, woraufhin unser<br />
Leben ausgerichtet sein soll. Untrennbar gehören<br />
sie zusammen, weil sie das Wesen Gottes<br />
sind. Aber es gibt ein altes christliches, immer<br />
wiederkehren<strong>des</strong> Vorurteil: Der Gott <strong>des</strong> ersten<br />
Bun<strong>des</strong>, der Gott <strong>des</strong> Judentums, sei der Gott<br />
der Gerechtigkeit und Strafe, der Gott <strong>des</strong> zweiten<br />
Bun<strong>des</strong>, der Gott <strong>des</strong> Christentums, sei der<br />
Gott der Liebe und Barmherzigkeit. Doch Liebe<br />
und Gerechtigkeit sind in Gott eins, darum<br />
heißt es: „Wer seinen Bruder nicht liebt, den er<br />
sieht, kann Gott nicht lieben, den er nicht sieht“<br />
(1 Johannes 4,20). Gott ist Liebe, das heißt: Er ist<br />
unbedingtes Wohlwollen, unbedingte Bejahung<br />
eines jeden Geschöpfs. Gott ist Liebe, das heißt:<br />
Er schuf die Welt aus reiner Güte und sorgt für<br />
alles Leben. Gott ist Liebe, das heißt: Er geht den<br />
Weg mit uns Menschen, bis ans Ende eines jeden<br />
und einer jeden, bis ans Ende der Zeiten.<br />
Wir sind von Gott geliebt – das ist die große<br />
Zusage und Wahrheit <strong>des</strong> Alten/Ersten und <strong>des</strong><br />
Neuen Testaments, eine Erkenntnis, die gereift<br />
ist in Jahrhunderten. Je länger Israel seine Gottesbeziehung<br />
erforschte, umso klarer wurde:<br />
Gott liebt ohne Bedingung (vgl. Deuteronomium<br />
7,7) und ewig: „Mit ewiger Liebe habe ich<br />
dich geliebt“ (Jeremia 31,3). Für den christlichen<br />
Glauben ist Jesus die Fülle der göttlichen Liebe,<br />
in ihr berührt uns Gott als Heiland und Retter (1<br />
Johannes 4,9). So ist die menschliche Erfahrung<br />
der Liebe der Weg, wie wir Gott erkennen können.<br />
Wer aber liebt, der und die verankert sich<br />
in Gott selbst. Wenn dies geschieht, dann wird<br />
das Leben recht. Denn Liebe verleiht das Gefühl,<br />
dass wir recht sind, dass wir da sein dürfen. Dann<br />
aber steht auch das Leben unter dem Anspruch<br />
der Gerechtigkeit, weil es Liebe ohne Solidarität<br />
und Mitgefühl für die Nächsten nicht gibt. Von<br />
der Liebe zu reden, ohne Gerechtigkeit zu leben<br />
– dieser große Vorwurf an uns Christinnen und<br />
Christen hallt durch die Zeiten. Sich von Gott<br />
geliebt zu wissen bedeutet, immer wieder neu<br />
in unsere von Siegern und Besiegten, von Tätern<br />
und Opfern gespaltenen und verletzten Lebensgeschichten<br />
hineingezogen zu werden und sich<br />
immer wieder der Frage zu stellen: „Wo ist dein<br />
Bruder, wo ist deine Schwester?“<br />
(vgl. Genesis 4,9).<br />
glaubens wert
18<br />
gefragt<br />
Viele fuhren vorbei und blieben nicht stehen,<br />
obwohl am Straßenrand ein arg zugerichtetes<br />
Auto lag – mit blutenden und bewusstlosen<br />
Verletzten davor. Die Vorbeifahrenden mussten<br />
nach rund einem Kilometer anhalten. Die Polizei<br />
stoppte sie, und ein Fernsehteam <strong>des</strong> Westdeutschen<br />
Rundfunks konnte die LenkerInnen über<br />
ihr Nichthelfen befragen. Als einer der entscheidenden<br />
Gründe für die Reaktion der Weiterfahrenden<br />
erwies sich der Blick in den Rückspiegel:<br />
Sehen die Fahrenden hinter sich einen Wagen,<br />
geben sie die Verantwortung fast automatisch<br />
an die Nachkommenden ab. Aus Sicht der Ersten<br />
haben die Hinteren ja länger Zeit, um zu reagieren.<br />
Also sollen sie doch anhalten und helfen!<br />
Und so geht es von Auto zu Auto immer weiter.<br />
Für die weiter hinten Fahrenden kam noch ein<br />
weiterer Faktor dazu, den die Psychologie „pluralistische<br />
Ignoranz“ nennt: Die Nachfolgenden<br />
sehen, dass die Fahrenden vor ihnen an der Unfallstelle<br />
vorbeifahren. Daraus ziehen sie den<br />
falschen Schluss, dass die Situation offenbar<br />
nicht so schlimm sei. Je mehr solcher „passiver“<br />
Vorbilder es also gibt, umso geringer ist die<br />
Wahrscheinlichkeit, dass jemand handelt.<br />
Die Praxis ist entscheidend<br />
Eine ähnliche Erzählung findet sich im Neuen<br />
Testament, genauer im Lukasevangelium (Lukas<br />
10,25-37). Hier passiert ebenfalls ein Unfall<br />
– und die Vorbeikommenden verhalten sich wie<br />
zu erwarten: Zwei bleiben nicht stehen, nur einer<br />
hält. Jene zwei, die vorbeigehen, gehören zu<br />
den damals Etablierten. Sie versuchen aufgrund<br />
ihrer Profession perfekt zu leben und Gott in allem<br />
gerecht zu werden. Gerade sie aber lieben<br />
Gott an den Benachteiligten und Schwachen<br />
vorbei. Und der, der wirklich stehen bleibt und<br />
handelt, ist eigentlich ein Fremder. Er, der in den<br />
Augen seiner Zeitgenossen ein Ungläubiger, ein<br />
„Fernstehender“ ist, erweist sich als „Nächster“.<br />
„Geh und handle genauso!“ (Lukas 10,37), sagt<br />
Jesus am Ende der Erzählung. So wichtig es ist,<br />
sich wie der Priester oder der Levit mit dem eigenen<br />
Glauben auseinanderzusetzen, so wichtig<br />
das klare Profil und eine erkennbare Identität<br />
<strong>des</strong> eigenen <strong>Glaubens</strong> sind, so darf eines<br />
nicht übersehen und übergangen werden: das<br />
Tun. Worum es im Christentum in erster Linie<br />
geht, ist die Praxis. Der Tübinger Theologe Hans<br />
Küng drückt das so aus: „Gewiss, alle <strong>Glaubens</strong>bekenntnisse<br />
der Christenheit – die alten wie<br />
die neuen – in Ehren, wichtiger aber für das<br />
Christsein ist etwas anderes. Nirgendwo hat Jesus<br />
gesagt: ‚Spreche mir nach!’, vielmehr sagte<br />
er: ‚Folge mir nach!’ Das heißt: Keinem seiner<br />
Jünger oder Jüngerinnen hat Jesus zuerst ein<br />
<strong>Glaubens</strong>bekenntnis abverlangt, vielmehr hat<br />
er sie in die ganz und gar praktische Nachfolge<br />
berufen.“<br />
„Einlass-Ticket“ in das Himmelreich<br />
Wie wichtig das Tun, die Praxis ist, zeigt auch das<br />
Matthäusevangelium. In der Rede vom Weltgericht<br />
(Matthäus 25,31-46) ist vom „Einlass-Ticket“<br />
in das Himmelreich die Rede. Dieses Einlass-Ticket<br />
aber wird nicht durch eine bestimmte Mitgliedschaft<br />
gelöst. Es ist nicht durch die Kenntnis<br />
wichtiger <strong>Glaubens</strong>inhalte, durch Beten ohne<br />
Unterlass oder eifrige Askese bis hin zur Ehelosigkeit<br />
zu erhalten. Das alles hat seinen Sinn und<br />
seinen Wert. Wirklich bedeutend und zentral für<br />
den „Eintritt“ in das Himmelreich ist der Umgang<br />
mit den Hungrigen und Durstigen, der Einsatz<br />
für Fremde und Obdachlose, die Sorge um Kranke<br />
und Gefangene. Hier, in diesen Feldern, wo<br />
es um Menschlichkeit, um Humanität – gerade<br />
für die Schwächsten in der Gesellschaft – geht,<br />
geschieht für Jesus das Entscheidende, das Zukunftsfähige,<br />
das unbedingt Notwendige. Gerade<br />
hier ist Christin- bzw. Christ-Sein gefragt.<br />
glaubens wert
In die Haut <strong>des</strong>/der anderen schlüpfen<br />
Wie aber gelingt diese praktische Nachfolge?<br />
Wie ist es möglich – so wie der Samariter – barmherzig<br />
zu sein und sich im Alltag als Nächste/r<br />
zu erweisen? Das Wort „Barmherzigkeit“ beinhaltet<br />
– wie das lateinische „misericordia“ – den<br />
Begriff „cor“, „Herz“. Das Herz ist demnach die<br />
entscheidende Instanz, die bei der Nächstenliebe<br />
aktiv wird. Worum es geht, ist, mit- bzw.<br />
einfühlend zu werden, ein Herz für den anderen<br />
bzw. die andere zu haben. Im Hebräischen<br />
und Griechischen wird die Barmherzigkeit körperlich<br />
noch „tiefer“ angesetzt. Sie ist hier mit<br />
dem Bauch, der Gebärmutter, dem Mutterschoß<br />
bzw. mit den Eingeweiden verbunden. Diese<br />
körperliche „Verortung“ macht bewusst, dass<br />
Barmherzigkeit die Fähigkeit voraussetzt, in<br />
die Haut <strong>des</strong> anderen zu schlüpfen, im anderen<br />
sein eigenes Fleisch und Blut leiden zu spüren.<br />
Dieses „Eintauchen“ in den anderen wird wohl<br />
dann gelingen, wenn ein Mensch selbst immer<br />
wieder die heilsame Erfahrung machen darf,<br />
dass sich jemand mit ihm identifiziert, in seine<br />
Haut schlüpft, ihn versteht und mitträgt. Genau<br />
diese „existenzielle Solidarität“ (Bernadin Schellenberger)<br />
steht im Zentrum von Weihnachten,<br />
dem Fest der Menschwerdung Gottes.<br />
Fragen für ein Gespräch bzw.<br />
für die eigene <strong>Spuren</strong>suche:<br />
• Wo fällt mir persönlich das Mit- und Einfühlen<br />
leicht, wo schwer? Und warum? Was hilft mir,<br />
Mitgefühl zu entwickeln?<br />
• Wo fühle ich mich persönlich in meinem Umfeld<br />
am meisten „gefragt“?<br />
• In welchem Bereich, in welcher Frage sehe ich<br />
unsere Gemeinschaft, die Kirche am meisten<br />
gefragt?<br />
19
20<br />
gefragt:<br />
vom Nächsten<br />
Vielen erscheinen die Forderungen Jesu, die<br />
Nächsten in aller Radikalität zu lieben, als unerfüllbar<br />
für gewöhnliche Menschen. Die Gebote<br />
der Bergpredigt (Matthäus 5,21-48), der Aufruf<br />
zur Kreuzesnachfolge (Markus 8,34-37) oder<br />
die Einladung an den reichen Jüngling, alles zu<br />
verkaufen, den Erlös den Armen zu geben und<br />
Jesus nachzufolgen (Markus 10,17-31) ist das<br />
nicht alles eine überfordernde Zumutung? Aber<br />
Jesu Nachfolge ergeht nicht über unsere Köpfe<br />
hinweg. Wir dürfen die verschiedenen Stufen<br />
und Formen der Nachfolge schon in der Jesusbewegung<br />
nicht übersehen: Es gab die radikale<br />
Weggemeinschaft der Jünger und Jüngerinnen<br />
Jesu, aber auch die festen „Ortsgemeinden“, die<br />
den Wanderpredigern und Missionaren Unterkunft<br />
und Unterhalt gaben; es gab die Diakone,<br />
die besonders für die Witwen und Armen sorgten<br />
(Apostelgeschichte 6,1-7), die ZeugInnen<br />
der Auferstehung Jesu, die Hausgemeinden<br />
usw. Nachfolge Jesu ist also nicht einfach Nachahmung,<br />
sondern heißt, sich mit den Möglichkeiten,<br />
die zur Verfügung stehen, in den Dienst<br />
der Liebe und Gerechtigkeit am Nächsten zu<br />
stellen.<br />
Der Maßstab ist die Liebe<br />
Darum ist das Grundprinzip der christlichen<br />
Ethik nicht Rigorismus, sondern Liebe. Sie ist der<br />
letzte Maßstab allen Handelns und <strong>Glaubens</strong>.<br />
Die Liebe ist nämlich eine dreifache Bezogenheit:<br />
Sie ist Liebe zu Gott, zum Nächsten und zu sich<br />
selbst (vgl. Lukas 10,27). Liebe ist nicht nur ein<br />
Gefühl, bejaht und anerkannt zu sein, sondern<br />
auch ein Anspruch der Unbedingtheit: Liebe ist<br />
die Werthaltung, ein Du um seiner selbst willen<br />
anzuerkennen und in seiner Würde zu achten.<br />
Darum nimmt uns die Liebe in die Pflicht. Wir<br />
sind gefragt vom Nächsten, in seiner Not, in seiner<br />
Bedürftigkeit, in seiner verletzten Würde.<br />
Die Ethik und der Ruf zur Nachfolge Jesu entspringen<br />
letzten En<strong>des</strong> nicht einer unpersönlichen<br />
Gehorsamsforderung, sondern der Erfahrung,<br />
immer schon im Voraus von Gott geliebt<br />
und gerufen zu sein. Weil Gott uns unbedingt<br />
anerkennt und liebt, darum ist jeder Mitmensch,<br />
auch der Feind, ein „Kind Gottes“. Denn es gilt<br />
nach Martin Buber, dem großen jüdischen Philosophen:<br />
„Liebe deinen Nächsten, denn er ist<br />
wie du.“<br />
glaubens wert
22<br />
versöhnt<br />
Sie ist eines jener Kinder, die im „Fremdvölkischen<br />
Kinderheim“ der Nazis in Pichl bei Wels<br />
die erste Zeit ihres Lebens verbringen mussten.<br />
Bis Ende 1946 waren im Schloss Etzelsdorf um<br />
die 80 Säuglinge von Zwangsarbeiterinnen aus<br />
Osteuropa untergebracht. Dreizehn von ihnen<br />
verstarben aufgrund mangelhafter Pflege und<br />
Ernährung im Herbst 1944 und wurden namenlos<br />
am Pichler Friedhof begraben. Jahrzehntelang<br />
schleppte die heute Mit-Sechzigerin diese „Herkunft“<br />
mit sich herum – und den Verdacht, dass<br />
die Frau, der sie zu Kriegsende mitgegeben wurde,<br />
nicht ihre wirkliche Mutter sei. Diese Härte<br />
<strong>des</strong> Anfangs blieb nicht folgenlos und zeigte Wirkung<br />
in ihrem Leben. Seit einigen Jahren aber hat<br />
sich etwas Wesentliches geändert. Zum einen ergab<br />
ein DNA-Test die Gewissheit, dass die Mutter<br />
nicht ihre leibliche Mutter war. Damit löste sich<br />
ein großer Knoten und eine neue freundschaftliche<br />
Beziehung wurde möglich. Zum anderen<br />
engagiert sich das einstige „Etzelsdorfer Kind“<br />
in einem vor Kurzem gestarteten Projekt, wo die<br />
Geschehnisse von Etzelsdorf aufgearbeitet und<br />
im Rahmen von Veranstaltungen und Begegnungen<br />
weitergegeben werden. Dieses Reden über<br />
ihre Herkunft, dieses Erzählen ihres Schicksals,<br />
hat sie Stück für Stück aus den alten „Fesseln“<br />
herausgelöst und versöhnt.<br />
Eine Arbeit, die sich auszahlt<br />
Am Beispiel der Lebensgeschichte dieser Frau<br />
zeigt sich gut, was Versöhnung bedeutet. Versöhnung<br />
heißt: das Geschehene annehmen und aushalten<br />
zu können, es nicht mehr unter den Teppich<br />
kehren zu müssen, sondern zu bejahen und<br />
in das Leben zu integrieren. Versöhnung heißt<br />
zugleich aber auch, verzeihen und vergeben zu<br />
können: diejenigen, die Schuld zugefügt haben,<br />
zu „entschuldigen“ und eine erlittene Verletzung<br />
nicht mehr anzurechnen.<br />
Solche Versöhnung und Vergebung kostet Kraft<br />
– und sicher auch Überwindung. Sie bedeuten<br />
harte, mitunter jahrelange Arbeit. Aber Versöhnung<br />
und Vergebung zahlen sich aus, denn<br />
Versöhnung und Vergebung entbinden vom<br />
Belastenden und machen auf diese Weise vom<br />
Vergangenen frei. Es entsteht innerer Friede<br />
– und Friede mit dem „Feind“. Wer hingegen<br />
unversöhnt lebt, wer nicht entschuldigen kann,<br />
der bleibt am Unheilvollen, am Unglücklichen,<br />
am Unheilen gebunden. Das Alte kann so eine<br />
ungeheure Macht über das eigene Leben bekommen.<br />
Der Balken im eigenen Auge …<br />
Eine große Hilfe auf diesem anspruchsvollen<br />
Weg der Versöhnung und Vergebung finden<br />
Christinnen und Christen in Jesus. Zwei seiner<br />
Worte, die für den Mut zur Versöhnung und für<br />
das Wagnis der Vergebung von Bedeutung sind,<br />
sollen exemplarisch vorgestellt werden. Zum einen<br />
lädt Jesus in der Bergpredigt ein, nüchtern<br />
und ehrlich auf sich selbst zu schauen: „Warum<br />
siehst du den Splitter im Auge deines Bruders,<br />
aber den Balken in deinem Auge bemerkst du<br />
nicht?“ (Matthäus 7,3). Worum es hier geht, ist,<br />
zu erkennen, dass jedem und jeder von uns nicht<br />
nur die Rolle <strong>des</strong> bzw. der Vergebenden zufällt.<br />
Vielmehr geht von jeder und jedem auch Unrecht<br />
aus und die anderen sind gefragt, uns immer<br />
wieder zu vergeben, uns gut gesonnen zu<br />
sein, es erneut mit uns auszuprobieren. Damit<br />
das eigene Leben gut gelingen kann, braucht es<br />
also Vergebung von Seiten der anderen – seien<br />
es die eigenen Kinder, der Partner/die Partnerin,<br />
die Nachbarn oder die ArbeitskollegInnen.<br />
Wenn das bewusst ist, dann gelingt es vielleicht<br />
leichter, Vergebung stets aufs Neue zu wagen.<br />
glaubens wert
Sich von Gottes Großzügigkeit inspirieren lassen<br />
Die zweite Quelle, die Jesus bei der „Versöhnungsarbeit“<br />
in den Blick rückt, ist Gott selbst –<br />
und seine unendliche Vergebungsbereitschaft.<br />
Diese kommt im Gleichnis vom barmherzigen<br />
Vater (Lukas 15,11-32) wohl am besten zum<br />
Ausdruck: Der verlorene Sohn, der mit Hilfe seines<br />
ausbezahlten Erbes zügellos in die Tage hineinlebt<br />
und seine Existenz „vor die Säue wirft“,<br />
kommt an die Grenzen seines Tuns. Er stürzt so<br />
vollkommen ab, dass er die Folgen seines Handels<br />
erkennt. Die einzige Chance, die er noch<br />
sieht, um nicht „draufzugehen“, ist, zu seinem<br />
Vater zurückzukehren. Hier möchte er als Tagelöhner<br />
arbeiten. Ihm ist bewusst: Sohn kann er<br />
nicht mehr sein. Dieses Recht hat er verspielt.<br />
Deshalb wählt er die Worte, die er seinem Vater<br />
sagen wird, mit Bedacht und macht aus seiner<br />
Schuld kein Hehl. Dann bricht er auf und geht<br />
zu seinem Vater. Doch als der Vater seinen Sohn<br />
kommen sieht, hält den Wartenden nichts mehr<br />
zurück: Er läuft dem Davongelaufenen entgegen,<br />
fällt ihm um den Hals und küsst ihn.<br />
So – sagt Jesus – ist Gott. So groß sind sein Herz<br />
und seine Versöhnungsbereitschaft. Vielleicht<br />
kann diese unvorstellbare Großherzigkeit Gottes<br />
auch uns anstecken und ermutigen, wenn<br />
Versöhnung und Vergebung gefragt sind. Das<br />
Vaterunser erinnert uns mit einer Bitte daran.<br />
Es heißt hier: Und vergib uns unsere Schuld, wie<br />
auch wir vergeben unseren Schuldigern.<br />
Fragen für ein Gespräch bzw.<br />
für die eigene <strong>Spuren</strong>suche:<br />
• Wie geht es mir persönlich mit Versöhnung<br />
und Vergebung – fällt mir das leicht oder tue<br />
ich mir eher schwer damit?<br />
• Was hilft mir, Versöhnung und Vergebung zu<br />
wagen? Ist der Glaube für mich hier eine Unterstützung?<br />
Wenn ja, inwiefern?<br />
23
24<br />
versöhnt:<br />
mit Gott und Welt<br />
Aus existenzieller Sicht ist das größte Problem<br />
<strong>des</strong> Menschseins, mit sich und den anderen<br />
unversöhnt, das heißt in Unfrieden, Hass und<br />
Entfremdung zu leben. Für die Bibel ist diese<br />
Unversöhntheit die Quelle allen Unheils und<br />
Unglücks. Die Schrift nennt die Eifersucht Kains<br />
auf das Dankopfer Abels und den Brudermord<br />
als die ersten beiden urgeschichtlichen Taten<br />
<strong>des</strong> Menschen jenseits von Eden (vgl. Genesis 4).<br />
Was sie mit dem Erzählmittel <strong>des</strong> Mythos aussagt,<br />
ist eine Wahrheit von universaler und immer<br />
gültiger Dimension: Kein Mensch entgeht<br />
dem Netzwerk <strong>des</strong> Bösen und der Gewalt. Nicht<br />
seine Endlichkeit ist also das wirkliche Elend <strong>des</strong><br />
Menschen, sein „Aus-Erde-Sein“ (Gen 2,7), sondern<br />
seine Entfremdung mit dem Leben.<br />
„Jenseits von Eden“ ist Leben entfremdet<br />
Warum aber gerät der Mensch unter die Macht<br />
<strong>des</strong> Bösen, warum gelingt ihm kein Leben, ohne<br />
den anderen zu verletzen? Die Antwort <strong>des</strong><br />
<strong>Glaubens</strong> zeigt dorthin, wo die tiefste Wunde<br />
<strong>des</strong> Menschen ist: Der Mensch lebt in Wahrheit<br />
getrennt vom göttlichen Grund <strong>des</strong> Lebens.<br />
Denn aus der Sicht und der Erfahrung <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong><br />
ist der Mensch mehr als bloß Natur, er ist<br />
Ebenbild Gottes, wenngleich auf endliche und<br />
begrenzte Weise. Seine Identität, sein Wesen ist<br />
es, als Geschöpf aus dem Urgrund <strong>des</strong> Lebens zu<br />
leben. Aber genau dies misslingt ihm, weil er an<br />
die Stelle <strong>des</strong> bedingungslosen Vertrauens auf<br />
Gott seiner Lebensangst ausgeliefert ist. Aus<br />
dieser Angst um sich, vollzieht er sein Leben. So<br />
wird der Mittelpunkt seiner Existenz er selbst,<br />
er kreist um sich und sucht letzten En<strong>des</strong> darin<br />
den „verlorenen“ Ursprung.<br />
Darum ist für den christlichen Glauben der<br />
Schlüssel <strong>des</strong> Heilwerdens die Versöhnung <strong>des</strong><br />
Menschen mit Gott. Und eben dies erkennt das<br />
Christentum in der Menschwerdung Gottes:<br />
Gott begegnet uns Menschen in Jesus Christus<br />
als das voraussetzungslose Angebot der<br />
Versöhnung. Im Tod und in der Auferstehung<br />
Jesu erweist sich Gott als der, der die menschliche<br />
Entfremdung erlitten und geheilt hat. Um<br />
diese Erlösungstat Gottes auszudrücken, greift<br />
das Neue Testament auf das Bild der Sühne zurück<br />
(vgl. Römer 3,25; Markus 14,24). Nun erst<br />
kann der Mensch aus einem neuen Zentrum<br />
heraus leben, weil Gott nicht mehr der Ferne<br />
ist, sondern in ihm selbst als Liebe und Gnade<br />
gegenwärtig. Der Weg zu Gott und zur Welt,<br />
versöhnt zu leben, ist frei geworden. Freilich, die<br />
ausgestreckte Hand Gottes ergreifen muss der<br />
Mensch selbst.<br />
glaubens wert
26<br />
erlöst<br />
Es gibt sie wirklich, diese Momente höchsten<br />
Glücks – wo das Leben leuchtet, bunt und rund<br />
ist. Wenn man ein Neugeborenes in Händen<br />
hält, wenn die Partnerin/der Partner fürs Leben<br />
gefunden worden ist und man gemeinsam<br />
„Hoch-Zeit“ feiert, wenn man in das funkelnde<br />
Blau <strong>des</strong> Meeres und in das prächtige Grün der<br />
Natur eintauchen kann oder eine Ausbildung erfolgreich<br />
beendet. In solchen Augenblicken fällt<br />
das Leben leicht, fühlt ein Mensch sich gelöst. Es<br />
gibt aber auch die andere Erfahrung: dass man<br />
trotz einer guten Ausbildung nicht gebraucht<br />
wird, dass man trotz der anfänglichen Begeisterung<br />
einer Beziehung nicht gewachsen ist, dass<br />
die Kinder Wege einschlagen, die große Sorgen<br />
machen, oder dass einem der Alltag über den<br />
Kopf wächst. Besonders tragisch ist, wenn – unabhängig<br />
von einzelnen Schwierigkeiten und<br />
„Verdunkelungen“ – der eigene Lebensentwurf<br />
nicht (mehr) stimmt, wenn das, worauf ich mich<br />
verlasse, worauf ich setze, was mein Handeln,<br />
Fühlen, Denken bestimmt, nicht trägt, nicht<br />
weiterbringt, sondern „kaputt“ macht.<br />
Herausgelöst aus unheilvollen Lebensentwürfen<br />
In der Bibel begegnen beiden Lebenserfahrungen<br />
– das Helle und das Dunkle, das Erlöste und<br />
Unerlöste. Auf besonders beeindruckende Weise<br />
kommt das in den Psalmen zur Sprache. Diese<br />
Gebete „leihen“ Menschen bis heute Worte für<br />
allergrößtes Glück und pralle Freude, aber auch<br />
für schmerzliches Leid und tiefste Verzweiflung.<br />
Im Neuen Testament ist Jesus selbst der entscheidende<br />
„Schlüssel“ für erlöstes Leben – für<br />
ein „Leben in Fülle“ (Johannes 10,10). Immer<br />
wieder wird im Neuen Testament erzählt, wie<br />
Menschen durch ihn einen Weg zu erlöstem<br />
Leben finden – und herauskommen aus unerlösten<br />
und angsterfüllten Lebensentwürfen.<br />
Dieses Herausgelöst-Werden gelingt dadurch,<br />
dass ihnen in der Begegnung mit Jesus – an seiner<br />
Person, an seiner Lebenshaltung, an seinem<br />
Lebensstil – Entscheiden<strong>des</strong> aufgeht und ihnen<br />
das Fehlende an ihrer eigenen Orientierung<br />
bewusst wird. Eine besonders beeindruckende<br />
„Erlösungserfahrung“ findet sich in der Heilung<br />
<strong>des</strong> Besessenen von Gerasa (Markus 5,1-20)<br />
wieder: Der Besessene haust in den Grabhöhlen.<br />
Er ist wie ein Zerrissener, der sein Leben<br />
am Abgrund <strong>des</strong> To<strong>des</strong> gründet. Die ganze Welt<br />
kann er nur mehr durch den Schleier der Zerstörung<br />
sehen. Er will für sich nichts Gutes – und<br />
auch für die anderen nicht. Erst die Begegnung<br />
mit Jesus lässt ihn aus seinem zerstörerischen<br />
„Un-Leben“ herausfinden. Er wagt es an der Seite<br />
Jesu endlich, hinter die fragilen Mauern der<br />
eigenen Existenz zu schauen, und erkennt wie<br />
in einem Spiegel, dass er nur in „Stücken“ lebt.<br />
Diese Erkenntnis aber ist der entscheidende erste<br />
Schritt heraus aus der unheilvollen, unerlösten<br />
Situation – und hinein in einen Alltag, wo er<br />
nun endlich heimisch werden kann.<br />
Felder der Erlösung mitten im Alltag<br />
In den <strong>Spuren</strong> Jesu Erlösung zu finden, darum<br />
geht es im Christentum bis heute – und muss<br />
es auch gehen! Denn wenn Menschen bereits<br />
jetzt „Geschmack“ am erlösten Leben finden<br />
dürfen, dann wird der eigene Glaube wieder<br />
bereichernd und wertvoll. Erlösung in den <strong>Spuren</strong><br />
Jesu – das kann bedeuten, dass einer etwa<br />
durch die Entdeckung <strong>des</strong> liebenden Blicks wieder<br />
Ja sagen lernt zu seinem Leben. Erlösung<br />
kann da keimen, wo eine durch nicht gekannte<br />
Dankbarkeit einen neuen Zugang findet zu ihren<br />
Mitmenschen. Erlösung wird dort erahnbar,<br />
wo durch eine „Liebes-Erfahrung“ Menschenfreundlichkeit<br />
neu gefunden wird. Besonders<br />
eindrucksvoll bringt Jesus <strong>Spuren</strong> dieses erlösten<br />
Lebens in der Bergpredigt auf den Punkt. In<br />
den sogenannten „Antithesen“ (vgl. Matthäus<br />
glaubens wert
5,21-47) zeigt er beispielsweise „Felder der Erlösung“<br />
mitten im Alltag auf. So wird für Jesus<br />
erlöstes Leben dort möglich, wo jemand seinen<br />
Vorurteilen nicht mehr verfällt – und dadurch<br />
eine neue Offenheit ins Spiel kommt. Erlöstes<br />
Leben kann dort spürbar werden, wo Menschen<br />
stark genug sind, die Schwächeren nicht zu<br />
übersehen – und sich in ihrem Handeln von der<br />
Perspektive der Schwachen leiten lassen. Erlöstes<br />
Leben zeigt sich weiters darin, „konstruktiv“<br />
mit FeindInnen umgehen zu lernen – und den<br />
Kreislauf von Verdacht und Gegenverdacht, Gewalt<br />
und Gegengewalt zu durchbrechen.<br />
Das „Abfärben“ Gottes<br />
Schon die „raue“ Sprache der Antithesen verrät<br />
jedoch, dass dieses erlöste Leben bzw. das Herausgelöst-Werden<br />
aus alten, unheilvollen Lebensmustern<br />
kein Kinderspiel ist. Man braucht<br />
schon einen langen Atem, um in dieses neue Leben<br />
hineinzuwachsen. Rückschläge sind dabei<br />
zu erwarten. Damit das neue Leben aber gelingt,<br />
ist eines nicht zu übersehen: das „Abfärben Gottes“.<br />
Je mehr ein Mensch Gott auf sich abfärben<br />
lässt – seine „Gedanken“, seinen Umgang mit<br />
unseren Schwächen, seine geduldige Liebe –,<br />
umso eher wandelt sich das Leben. Wie wichtig<br />
das alles für Jesus war, hat er am Kreuz gezeigt:<br />
Der Tod am Kreuz ist die Konsequenz seines Lebens<br />
und seiner Botschaft. Nichts konnte ihn<br />
davon abbringen – selbst der Tod nicht –, sich<br />
auf den erlösenden Gott und das mit ihm verbundene<br />
neue Leben „festnageln“ zu lassen.<br />
Fragen für ein Gespräch bzw.<br />
für die eigene <strong>Spuren</strong>suche:<br />
• Wo habe ich schon Erlösung erfahren bzw.<br />
Momente der Erlösung gespürt? Wie war das?<br />
Was habe ich dabei erlebt?<br />
• Herausgelöst-Werden aus alten, unheilvollen<br />
Lebensentwürfen – was könnte das mit Blick<br />
auf unsere Zeit bedeuten?<br />
27
28<br />
erlöst:<br />
zum Leben<br />
„Bessere Lieder müssten sie mir singen, dass ich<br />
an ihren Erlöser glauben lerne: erlöster müssten<br />
mir seine Jünger aussehen!“ – Nietzsches Anklage<br />
ist auch heute noch eine der schärfsten<br />
Einsprüche gegen den christlichen Erlösungsglauben,<br />
obwohl das Christentum inzwischen<br />
weit lebensfreundlicher geworden ist. Die<br />
Gründe der Kritik aber sind geblieben: Seit Jesus<br />
von Nazareth ist die Welt wohl kaum erlöster<br />
geworden, heißt es. Wo ist seine angekündigte<br />
Gottesherrschaft geblieben?<br />
Wie schon beim Schlüsselwort „versprochen“,<br />
so gilt auch hier: Erlösung ist nicht nur ein Wort,<br />
das einen äußeren, vollendeten Zustand der<br />
Welt erhofft, sondern ein Wort, das zuallererst<br />
die Zusage Gottes bezeichnet, dass wir auf Hoffnung<br />
hin gerettet sind (vgl. Römer 8,24). Das Unterpfand<br />
dieser Zusage aber trägt ein Gesicht,<br />
eine Geschichte, einen Namen: Jesus Christus.<br />
Eine Trennung <strong>des</strong> Lebens in ein diesseitiges unerlöstes<br />
und ein jenseitiges erlöstes war Jesus<br />
allerdings fremd. Denn alles Leben kommt aus<br />
Gott und steht vom Schöpfer her unter der Zusage<br />
<strong>des</strong> Gutseins, <strong>des</strong> Gelingens, <strong>des</strong> Segens –<br />
so verdunkelt dieses Versprechen in den Zeiten<br />
<strong>des</strong> Leids auch ist und bleibt. Denn auch Jesus<br />
selbst wurde zum Opfer menschlicher Gewalt.<br />
Und doch sind wir auf Hoffnung hin gerettet<br />
Seither ging das Leben weiter wie eh und je:<br />
ein ewiger Kampf um Macht und Anerkennung,<br />
um das beste Stück vom Leben vor dem Tod, um<br />
Gerechtigkeit und Glück. Und dennoch ging es<br />
auch nicht mehr so weiter wie bisher, weil etwas<br />
Unvorstellbares geschah: Frauen und Männer,<br />
Menschen wie wir nach Erlösung suchend<br />
(siehe Lukas 24,21), verkünden: Jesu Leben ist<br />
ans Ziel gekommen, er ist auferweckt worden,<br />
er ist der Messias, er ist der Weg zum Heil. Sein<br />
Versprechen hat Gott nicht gebrochen, sondern<br />
es im Leben und im Sterben <strong>des</strong> Jesus von Nazareth<br />
auf wunderbare Weise eingelöst durch<br />
<strong>des</strong>sen Auferweckung aus den Toten.<br />
So ist der christliche Erlösungsglaube nicht Erlösung<br />
vor dem Tod, sondern im Tod, nicht Erlösung<br />
vor dem Leid, sondern im Leid. Aber nur<br />
eine gelebte Hoffnung vermag zu überzeugen.<br />
Sie zu leben, kann uns Christinnen und Christen<br />
niemand abnehmen. In diesem Sinne hat Nietzsches<br />
Vorwurf auch heute noch seine<br />
Berechtigung.<br />
glaubens wert
30<br />
geheilt<br />
Der britische Schauspieler Daniel Day Lewis bekam<br />
für diese Rolle 1990 seinen ersten Oscar: In<br />
dem autobiographischen Film „Mein linker Fuß“<br />
verkörpert er die Person <strong>des</strong> erwachsenen Christy<br />
Brown. Christy, der als zehntes von dreiundzwanzig<br />
Kindern im armen Dublin der 30er und<br />
40er Jahre aufwächst, kann seit seiner Geburt<br />
nur den linken Fuß kontrolliert bewegen, der<br />
übrige Körper ist gelähmt. Obwohl sich Christy<br />
von Beginn an nicht artikulieren kann, glaubt<br />
seine Mutter fest daran, dass nur der Körper ihres<br />
Kin<strong>des</strong> „zerrüttet ist, nicht sein Geist“. Eine<br />
entscheidende Wende erfährt das Leben der<br />
Familie, als Christy mit fünf Jahren die Kreide<br />
seiner Schwester in den linken Fuß nimmt und<br />
einige Zeichen auf den Boden kritzelt. Ermutigt<br />
von diesem „Lebenszeichen“ lehrt ihn seine<br />
Mutter das Alphabet. Christy lernt schreiben<br />
und zeichnen und entfaltet immer mehr sein<br />
künstlerisches Talent als Autor und Maler. Erst<br />
mit 18 Jahren gelingt es Christy, deutlich sprechen<br />
zu lernen – und er verliebt sich dabei in<br />
seine Sprachlehrerin. Als diese seine Liebe nicht<br />
erwidert, flieht Christy in den Alkohol und versucht<br />
sich das Leben zu nehmen. Wieder ist seine<br />
Mutter zur Stelle. Ihr gelingt es, erneut seinen<br />
Lebensmut zu wecken. Mit 21 Jahren schreibt<br />
Christy schließlich seine Autobiographie „Mein<br />
linker Fuß“. Dieses Buch wird ein Welterfolg –<br />
und 1989 mit Daniel Day Lewis verfilmt. Mit 40<br />
heiratet Christy Brown die Krankenschwester<br />
Mary Carr. Neun Jahre später stirbt er an einem<br />
schweren Erstickungsanfall.<br />
Neue „Beweglichkeit“<br />
Was an dieser Biographie, an diesem Leben auffällt,<br />
ist, dass Brown nicht in seiner Behinderung<br />
stecken geblieben ist. Allzu leicht – und nur allzu<br />
verständlich – hätte er sich als Opfer fühlen<br />
und entsprechend leben können: zurückgezogen,<br />
abhängig, ohne Perspektiven. Doch da gab<br />
es etwas in ihm, das voller Leben war, das nach<br />
Verwirklichung drängte. Mit Hilfe seiner Mutter<br />
gelang es ihm, dieses Potenzial freizulegen.<br />
– Die eigenen Wünsche wieder buchstabieren<br />
zu lernen, einen neuen Blick auf sich und die<br />
Welt zu bekommen, aus lähmender Hoffnungslosigkeit<br />
herauszukommen: das hat Christy<br />
eindrucksvoll vorgelebt. Vor einiger Zeit hat es<br />
in der Zeitschrift „Welt der Frau“ einen Bericht<br />
über Frauen gegeben, die trotz körperlicher<br />
Beeinträchtigungen ihr Leben mit ebensolcher<br />
Qualität gestalten. Sie managen – wie andere<br />
Frauen auch – eine Familie, bewähren sich im<br />
Beruf oder bringen mitunter bei<strong>des</strong> unter einen<br />
Hut.<br />
Aufrechter Gang und weiter Horizont<br />
Lebensfähig werden, einen neuen Blick auf sich<br />
und das Leben bekommen, aus lähmender Hoffnungslosigkeit<br />
herausfinden, das Lebendige<br />
in sich wieder hören können – diese Erfahrungen<br />
finden sich ebenso im Neuen Testament.<br />
Insbesondere die Heilungsgeschichten in den<br />
Evangelien zeigen, wie für Menschen ein neues<br />
Sehen, ein sensibles Hören, ein tieferes „Buchstabieren“<br />
<strong>des</strong> Lebens, eine neue Beweglichkeit<br />
möglich wird. Entscheidend dafür ist die Zuwendung<br />
Jesu. Diese heilende Zuwendung sieht der<br />
Mann aus Nazaret als großes Versprechen und<br />
als Vorankündigung: Wo Gott und sein Reich<br />
zur Entfaltung kommen, da können Menschen<br />
wieder aufgerichtet leben, befreit von dem, was<br />
– nicht nur körperlich – einengt, lähmt, stumm<br />
und taub macht.<br />
So wird im Lukasevangelium (Lukas 13,10-13)<br />
erzählt, wie Jesus in der Synagoge eine Frau<br />
trifft, die seit 18 Jahren gekrümmt ist. Diese<br />
Frau kann sich nicht mehr aufrichten, sie fühlt<br />
sich kleingemacht. Mit einer geduckten Haltung<br />
glaubens wert
muss sie durch das Leben schleichen. Ihr Blick,<br />
ihr Horizont ist durch die Krümmung auf das<br />
Unschöne, das Staubige und Ausgetretene eingeengt.<br />
Zu dieser Frau zieht es Jesus hin – und<br />
er sucht Kontakt. Er legt ihr die Hände auf und<br />
berührt sie – wohl auch in ihrem Herzen und in<br />
ihrem Denken! Durch diese Berührung verändert<br />
sich für die Gebückte Grundlegen<strong>des</strong>. Sie<br />
erlebt hautnah, wie das, was sie verbogen, kleingemacht<br />
und den Blick eingeengt hat, aufhört.<br />
Was diese Frau körperlich geschenkt bekommen<br />
hat – einen aufrechten Gang, einen neuen Blick<br />
und einen weiten Horizont – das gilt ebenso für<br />
den „Innenbereich“ <strong>des</strong> Menschen. Vielleicht ist<br />
diese „innere Heilung“ sogar noch bedeutender<br />
als die „äußere Heilung“. Eine sehr gute Bekannte,<br />
selbst im Rollstuhl, hat einmal die Erfahrung<br />
von Heilung in ihrem Leben mit der „täglichen<br />
Fahrt nach Neu-Seh-Land“ umschrieben: Entscheidend<br />
für das eigene Leben – ob mit oder<br />
ohne „Behinderung“ – ist der Zugang zum Leben,<br />
die Sichtweise auf sich selbst, der immer<br />
neu zu findende Blick auf die möglichen Ziele<br />
und Hoffnungen und auf das, was Leben hilft.<br />
Fragen für ein Gespräch bzw.<br />
für die eigene <strong>Spuren</strong>suche:<br />
• Wohltuender Umgang miteinander und heilsames<br />
Wirken aufeinander – wo habe ich das<br />
schon einmal erlebt?<br />
• In welcher Hinsicht ist für mich der Glaube der<br />
Christinnen und Christen ein heilsamer Glaube?<br />
Was in diesem Glauben vermag Menschen<br />
zu heilen, sie ganz zu machen?<br />
Heilsam miteinander umgehen<br />
Zu den Grundaufträgen Jesu gehört, Kranke zu<br />
heilen, Tote aufzuwecken, Aussätzige rein zu<br />
machen und Dämonen auszutreiben (vgl. Matthäus<br />
10,8). Damit ermutigt er bis heute, heilsam<br />
aufeinander zu wirken, wohltuend und befreiend<br />
im Umgang miteinander zu sein, so miteinander<br />
umzugehen, dass Menschen aufleben<br />
können und eigenständiges Leben – allen Störungen<br />
zum Trotz – möglich wird.<br />
31
geheilt:<br />
aus Leid und Endlichkeit<br />
Unser Leben trägt unvermeidlich einen Stachel:<br />
das Leiden und den Tod. Die Sterblichkeit, sagen<br />
Biologen, ist der Preis für unsere Lebendigkeit.<br />
Nur weil wir sterben müssen, kann es Leben in<br />
aller Vielfalt und Komplexität geben. Solches Leben<br />
ist verletzlich und verwundbar. Mehr noch:<br />
Betrachten wir die Geschichte der Völker und<br />
die Geschichten der Menschen, besonders <strong>des</strong><br />
vergangenen Jahrhunderts, so finden wir darin<br />
eine unfassbare „Landschaft aus Schreien“<br />
(Nelly Sachs). Darum hallt seit Jahrtausenden<br />
immer wieder die Frage durch jede neue Generation:<br />
Was heilt den Menschen aus seinem Leid<br />
und seiner Endlichkeit?<br />
und Überzeugung, dass je<strong>des</strong> gebrochene Leben,<br />
je<strong>des</strong> verletzte und zerstörte Sein in Gott<br />
„am Ende der Zeiten“ heil gemacht wird. Insofern<br />
uns das Heilwerden schon zugesprochen<br />
ist, können und müssen wir uns der Leidenden<br />
und Opfer bewusst werden und ihnen dort, wo<br />
dies möglich ist, ein Stück vom Heil auf erfülltes<br />
Leben zuteil werden lassen.<br />
Wenn Gott alles in allem ist ...<br />
Je nachdem, was als Unheil und <strong>des</strong>sen Ursache<br />
gesehen wird, unterscheiden sich die Heilserwartungen:<br />
Für die fernöstlichen Religionen ist<br />
das tiefste Unheil das Anhaften am Ich, das zum<br />
endlosen Kreislauf der Wiedergeburten führt.<br />
Erst die absolute Loslösung aus der Ich-Gefangenheit<br />
rettet hier. Die monotheistischen Religionen<br />
dagegen benennen als die tiefste Ursache<br />
die Trennung <strong>des</strong> Menschen und der Schöpfung<br />
von Gott. Darum ist umfassen<strong>des</strong> Heil erst dann<br />
verwirklicht, wenn Gott „über alles und in allem“<br />
ist (1 Korinther 15,28). Dann, so heißt es<br />
in der Offenbarung, wird Gott selbst alle Tränen<br />
abwischen, „der Tod wird nicht mehr sein, keine<br />
Trauer, keine Klage, kein Mühsal. Denn was früher<br />
war, ist vergangen“ (Offenbarung 21,4).<br />
32<br />
In den Bildern <strong>des</strong> Heils verdichtet der Glaube<br />
zweierlei: den Einspruch gegen ein Leid, das keinen<br />
Sinn und Zweck erfüllt, und die Klage und<br />
Anklage an Gott, den Schöpfer: Warum? Wie<br />
lange noch? Sodann aber auch die Sehnsucht<br />
glaubens wert
34<br />
geschlagen<br />
Fun, Wellness, Anti-Aging – mit diesen Schlagwörtern<br />
wird unsere heutige Zeit gerne umschrieben.<br />
Gemeinsam ist diesen Begriffen,<br />
dass sie ein „Leben light“ in Aussicht stellen:<br />
abwechslungsreich, gesund und sorgenfrei. Dabei<br />
ist der Spaß zu einem besonders wichtigen<br />
Faktor geworden. Spaß spielt in den Medien, in<br />
der Beziehung, in der Freizeit und im Beruf eine<br />
immer größere Rolle. So angenehm und mobilisierend<br />
dieser „Faktor“ ist, so problematisch<br />
kann er werden, wenn er absolut gesetzt wird.<br />
Während der Spaß relativ schnell zu haben ist,<br />
erfordern nämlich so bedeutende Lebensbereiche<br />
wie Partnerschaft, Erziehung, Glaube, Sinn<br />
oder Selbsterkenntnis eine viel längere und kurvenreichere<br />
„Anfahrtszeit“.<br />
Schwierigkeiten mit dem Gekreuzigten<br />
Eine Gesellschaft, in der das „Leichte“ und der<br />
Spaß eine so prägende Rolle spielen, tut sich<br />
verständlicherweise mit dem Gekreuzigten<br />
schwer. Der Bielefelder Theologe Willibald Bösen<br />
schreibt: „Idole, nach denen die Welt sich<br />
ausstreckt, sind strahlende Sieger und glanzvolle<br />
Erste auf der Spitze der Pyramide aus Macht,<br />
Reichtum und Prestige. Ein blutüberströmter<br />
Gekreuzigter hat in den Augen der Welt keine<br />
Chance.“ Diese Schwierigkeiten mit dem Gekreuzigten<br />
gibt es nicht erst seit kurzer Zeit.<br />
Bereits die ersten christlichen Missionare erlebten,<br />
welch „schwerer Brocken“ das Kreuz und<br />
der Gekreuzigte für die Menschen darstellen.<br />
Paulus fasst seine Erfahrungen damit so zusammen:<br />
„Wir verkünden Christus als Gekreuzigten,<br />
den Juden ein Ärgernis, den Heiden eine Torheit“<br />
(1 Korinther 1,23; Galater 3,13).<br />
Eine „gefährliche“ Erinnerung<br />
Und dennoch versickerte die Kraft, die vom Gekreuzigten<br />
ausging, nie vollständig – auch nicht<br />
in unserer Zeit. Das liegt wohl daran, dass das<br />
Kreuz eine gefährliche Erinnerung wach hält. Es<br />
erinnert daran, dass es im Leben auch die Niederlage<br />
und den Tod gibt. Gerade aber weil es das<br />
Leid und den Leidenden sichtbar hält, vermag es<br />
in den dunklen Stunden Halt zu geben. Immer<br />
wieder hat der Blick auf den Gekreuzigten Menschen<br />
in schwierigen Situationen geholfen und<br />
ihnen neuen Mut und Kraft eröffnet: „Kommt<br />
alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten<br />
zu tragen habt. Ich werde euch Ruhe verschaffen“<br />
(Matthäus 11,28). Die große Stärke und der<br />
große Trost <strong>des</strong> Christentums liegen also darin,<br />
dass im Zentrum <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> nicht nur eine<br />
Person steht, der es um ein Leben in Fülle geht.<br />
Im Zentrum steht zugleich eine leid-erfahrene<br />
Person, die – wenn es ernst wird – nicht überfordert<br />
ist, sondern mitträgt. Es stimmt schon,<br />
was der deutsche Theologe Gisbert Greshake<br />
einmal gesagt hat: „Menschen, die nie Schmerz<br />
erlitten haben, haben nie gelebt. Menschen, die<br />
mit Schrammen bedeckt sind, haben eine besondere<br />
Glut.“<br />
Tatkräftige Solidarität mit den Leidenden<br />
Die gefährliche Erinnerung an den Gekreuzigten<br />
und der Blick auf ihn ermutigen auch dazu, die<br />
heute „aufs Kreuz Gelegten“ in den Blick zu nehmen,<br />
jene Menschen, die in der Familie, in der Beziehung,<br />
in der Arbeit oder in der Gesellschaft ihr<br />
„Kreuz“ zu tragen haben – sei es aus eigener oder<br />
aus fremder Schuld: Väter, die durch ihre Unterhaltszahlungen<br />
auf die Straße kommen, Mütter,<br />
die ihre Kinder alleine großziehen und erhalten<br />
müssen, Männer und Frauen, die zu schwach sind<br />
für die Anforderungen der heutigen Arbeitswelt,<br />
Menschen, die aus dem Tritt gekommen sind, Personen<br />
auf der Suche nach Asyl oder jene, die mit<br />
einer Krankheit „geschlagen“ sind. Auf sie lenkt<br />
der Gekreuzigte den Blick, mit ihnen verbindet er<br />
sich und lädt die, die sich um ihn – den Gekreu-<br />
glaubens wert
zigten – versammeln, ein, dasselbe zu tun.<br />
So gesehen ist das Kreuz tatsächlich ein „Störfaktor“<br />
und „Aufreger“: Es stört die glatte Oberfläche<br />
einer scheinbar heilen Welt, die das Leid<br />
und die Leidenden am liebsten verdrängt. Es<br />
durchkreuzt die eingespielte Ordnung, dass<br />
sich die Stärkeren auf Kosten der Schwächeren<br />
durchsetzen. Es regt die Selbstgenügsamkeit<br />
und Selbstgerechtigkeit einer Gesellschaft<br />
auf, in der die Leidenden ohnehin immer selbst<br />
schuld sind an ihrer Lage. Vom Kreuz geht daher<br />
neben dem Trost und der großen Kraft für das<br />
eigene Leid auch Unruhe und Verstörung aus. Es<br />
öffnet und sensibilisiert für das Leid der anderen<br />
und ruft zur tatkräftigen Solidarität mit ihnen.<br />
Aus diesem Grund werden das Kreuz und der<br />
Gekreuzigte in Zukunft weiterhin „Quelle <strong>des</strong><br />
Heils“ bleiben und Motivation für eine gerechtere<br />
Welt. Andererseits werden der Gekreuzigte<br />
und sein Kreuz immer auch Anlass für Ärgernis<br />
und Unverständnis sein.<br />
Fragen für ein Gespräch<br />
bzw. für die eigene <strong>Spuren</strong>suche:<br />
• Kenne ich Menschen, die auf besondere Weise<br />
ein „Kreuz“ zu tragen haben?<br />
• Was heißt für mich Solidarität mit den „Geschlagenen“?<br />
Wer gehört für mich zu den „Geschlagenen“<br />
– und wie kann die Solidarität mit<br />
ihnen konkret aussehen?<br />
• Wo habe ich schon einmal die Kraft <strong>des</strong> Kreuzes<br />
gespürt? In welcher Situation ist mir die<br />
heilvolle Nähe <strong>des</strong> Gekreuzigten besonders aufgegangen?<br />
35
36<br />
geschlagen:<br />
ans Kreuz<br />
Das Erkennungszeichen <strong>des</strong> Christentums unter<br />
den Weltreligionen ist das Kreuzeszeichen.<br />
Als Geste und als Symbol zeigt es auf den gewaltsamen<br />
Tod Jesu, der zum Opfer menschlicher<br />
Schuld geworden ist. Der Kreuzestod ist<br />
ein skandalöses Zeichen, das schwere Fragen<br />
aufwirft: Darf ein Hinrichtungsinstrument und<br />
ein Hingerichteter als religiöses Symbol den<br />
Menschen überhaupt zugemutet werden? Und<br />
was ist das für ein Gott, der seinen Sohn zu Tode<br />
kommen ließ, um für uns Sühne zu leisten? Hat<br />
nicht das Christentum im Namen <strong>des</strong> Kreuzes<br />
allzu viel Gewalt und Tod in die Welt gebracht?<br />
Diesen Fragen haben wir uns immer wieder neu<br />
zu stellen. Es gibt auf sie keine glatte theologische<br />
Antwort. Aber es gibt einige Eckpfeiler,<br />
die das „Geheimnis <strong>des</strong> Kreuzes“ erschließen<br />
können. Einmal: Leiden und Kreuz sind nicht<br />
Selbstzweck. Sie sind Folge der Botschaft und<br />
Praxis Jesu. Das Kreuz ist das Martyrium <strong>des</strong> Gerechten.<br />
Im Lich¬te der Auferstehung erkannten<br />
die ersten Christen jedoch einen tiefen Sinn der<br />
vergebenden Liebe Gottes: Indem Jesus zum<br />
Opfer der gewaltbereiten Menschen geworden<br />
ist und im Tod für die Täter um die Vergebung<br />
ihrer Schuld betete, wurde das Kreuz zum Zeichen<br />
der Sühne. Es ist Gott selbst, der sich mit<br />
den Menschen versöhnt, der den Kreislauf der<br />
Gewalt unterbrochen hat, indem er in Jesus die<br />
Ohnmacht von Schuld und Tod erlitt und ihn<br />
zum neuen Leben erweckte.<br />
Solidarität im Leid<br />
Gewiss: Damit ist das unsägliche Leid in der<br />
Welt nicht wegerklärt oder weniger empörend.<br />
Das Leid der schuldlosen Opfer ist und bleibt<br />
die bitterste Anfrage an einen Gott der Liebe<br />
und Gerechtigkeit. Aber wir glauben, dass in<br />
Kreuz und Auferstehung Gott selbst zum unverstehbaren<br />
Leid „Stellung genommen“ hat:<br />
In Christus ist die verwundete Beziehung zwischen<br />
Gott und Welt zur „Gotteswunde“ (Otmar<br />
Fuchs) geworden. Als verklärte Wunde <strong>des</strong> Auferstandenen<br />
will sie uns den Blick auf das Kreuz,<br />
auf das Leiden zumuten und Hoffnung geben in<br />
den harten Stunden <strong>des</strong> Lebens. Die christliche<br />
Hoffnung auf Heil ist nur glaubwürdig, wenn sie<br />
den Schmerz der Leidenden teilt und mit ihnen<br />
wie Ijob Gott die Frage zuruft: „Warum?“, „Wie<br />
lange noch?“<br />
glaubens wert
38<br />
auferweckt<br />
„Und wenn ein Mensch stirbt, dann stirbt mit<br />
ihm sein erster Schnee und sein erster Kuss und<br />
sein erster Kampf … all das nimmt er mit sich.“<br />
Diese berührenden Zeilen stammen aus einem<br />
Gedicht <strong>des</strong> russischen Schriftstellers und Dichters<br />
Jewgenij Jewtuschenko. Sie drücken das<br />
aus, was der Tod eines Menschen ist: Zerstörung,<br />
Vernichtung, Niedergang, weggerissen<br />
werden. Der Verstorbene hat kein Wort mehr<br />
für die Hinterbliebenen, nichts geht mehr von<br />
ihm aus, was früher an Leben, an Zuneigung,<br />
an Beziehung, an Wissen oder Aufmerksamkeit<br />
von ihm ausgegangen ist. Und auch den Toten<br />
selbst kann kein Wort und keine Zärtlichkeit<br />
mehr erreichen. Dieser bleibt als Leiche zurück<br />
– leblos, regungslos, ohne gemeinsame Zukunft,<br />
kalt wie ein Gegenstand.<br />
Diese „Grenzerfahrung“ haben wohl auch jene<br />
Frauen gemacht, die das Geschehen auf Golgatha<br />
miterlebt haben (vgl. z. B. Markus 15,40-<br />
47). Wie gelähmt betrachten sie alles. Sie leiden<br />
fassungslos mit und beobachten von Ferne das<br />
schnelle Begräbnis Jesu durch den mutigen Josef<br />
von Arimathäa. Was werden sie gedacht und<br />
gefühlt haben? Sie, die ihrem Rabbi gefolgt sind,<br />
sie, die diesem Mann ein neues, tiefes Leben verdanken<br />
– jetzt sehen sie ihre Hoffnung, ihre Liebe,<br />
ihren Meister begraben. Der Tod ist in seiner<br />
ganzen Wucht und Härte greifbar.<br />
Wo das Leben erlischt, erscheint der Geber <strong>des</strong><br />
Lebens<br />
Aber dann geschieht für die, die um ihren Meister<br />
trauern, für die, denen das Leben schwarz<br />
geworden ist, etwas Unerwartetes, Unerhörtes,<br />
überraschend Neues: Der am Kreuz Umgekommene<br />
lebt – neu, anders, verwandelt. Maria aus<br />
Magdala erfährt dies auf ganz persönliche und<br />
für sie unbezweifelbare Weise. Auch den Jüngern,<br />
denen Jerusalem zu gefährlich geworden<br />
war, begegnet der auferweckte Meister – und<br />
sie kehren verändert zurück. Was im Grab, im<br />
Tod, bei der Auferweckung mit Jesus genau geschehen<br />
ist, das wissen sie nicht. Nur eines bezeugen<br />
sie: Jesus – der Verwandelte – ist nicht<br />
mehr im Tod. Er lebt neu. Und sie realisieren voll<br />
Staunen: Gottes Macht, Gottes Treue und Gottes<br />
Kreativität hat da noch Möglichkeiten, wo<br />
Menschen an die absolute Grenze ihres Lebens<br />
stoßen. Da, wo das Leben erlischt, erscheint der<br />
Geber <strong>des</strong> Lebens und schafft es neu, versöhnt,<br />
geheilt.<br />
Verwandlung und Neuschöpfung<br />
Diese Erfahrung ist besonders schön in der Begegnung<br />
zwischen dem „ungläubigen“ Apostel<br />
Thomas und dem Auferweckten ausgedrückt.<br />
Der Auferweckte ist klar als Jesus zu erkennen.<br />
Die <strong>Spuren</strong> <strong>des</strong> Lebens sind nicht weggewischt,<br />
alles, was diesen Menschen ausgemacht hat,<br />
was diesem Mann widerfahren ist, was ihn geprägt<br />
hat, ist da – aber in neuer, veränderter<br />
Form. Die Bibel meint mit Auferweckung bzw.<br />
Auferstehung daher nicht die Rückkehr in das<br />
vorherige Leben bzw. die Wiederbelebung <strong>des</strong><br />
einstigen Körpers. Mit Auferweckung ist vielmehr<br />
„Verwandlung“ und „Neuschöpfung“ gemeint:<br />
Nach dem Tod kann und darf sich all das<br />
entfalten und verwirklichen, was im Laufe eines<br />
Lebens an Erfahrungen und persönlicher Identität<br />
herangekeimt ist. Nichts ist Gott verloren<br />
gegangen. Kein Mensch, keine Sekunde seines<br />
Lebens, ist vergessen. Nichts war umsonst! Der<br />
deutsche Theologe Wilhelm Breuning schreibt:<br />
„Auferweckung ... heißt, dass von all dem Gott<br />
nichts verloren gegangen ist, weil er den Menschen<br />
liebt. Alle Tränen hat er gesammelt, und<br />
kein Lächeln ist ihm weggehuscht. Auferweckung<br />
... heißt, dass der Mensch bei Gott nicht<br />
nur seinen letzten Augenblick wieder findet,<br />
sondern seine Geschichte.“<br />
glaubens wert
Das Licht von Ostern<br />
Der Glaube an die Auferweckung ist das Herzstück<br />
<strong>des</strong> Christentums. Gott bestätigt mit der<br />
Auferweckung Jesu, dass er voll und ganz zu diesem<br />
Menschen steht und dass er ganz in diesem<br />
Menschen da sein konnte. Die Auferweckung ist<br />
somit wie ein großes Rufzeichen, das Gott hinter<br />
das Leben Jesu setzt. So gesehen fällt durch das<br />
Osterereignis ein besonderes und einladen<strong>des</strong><br />
Licht auf Jesus und seinen Weg. Insbesonders<br />
eröffnet der Glaube an den Auferweckten einen<br />
inspirierenden Zugang zum Leben: Es gilt, den<br />
„alten Menschen“ zurückzulassen, die alten Orientierungen,<br />
die einengenden Fixierungen und<br />
lebenshemmenden Gewohnheiten abzustreifen<br />
– jeden Tag aufs Neue. Das alles ist in der<br />
Taufe „mitgekreuzigt“ worden und „mitgestorben“<br />
– sagt Paulus im Römerbrief. Daher sollen<br />
die, die vom Auferweckten her und auf ihn hin<br />
leben, immer mehr in den „neuen“ Menschen<br />
hineinwachsen – in den neuen Menschen, „der<br />
das gute wort auf der zunge hat, der sich freut<br />
wenn es dem andern gut gelingt das leben, der<br />
nicht neidisch ist“ (Kurt Marti). Der Glaube an<br />
die Auferweckung hat aber auch für den Tod Bedeutung.<br />
Es kann nicht geleugnet werden, dass<br />
der Tod die letzte verstörende Wirklichkeit hier<br />
auf der Welt ist. Wenn ein Mensch stirbt, geht<br />
mit ihm eine „ganze Welt“ unter. Zugleich aber<br />
zeigt die Erfahrung mit dem Auferweckten, dass<br />
das, was untergeht und in den Tod mitgenommen<br />
wird, nicht im Grab und in der Verwesung<br />
endet – sondern von Gott geheilt, neu gemacht<br />
und vollendet wird.<br />
Fragen für ein Gespräch bzw.<br />
für die eigene <strong>Spuren</strong>suche:<br />
• Welche Hoffnungen verbinde ich mit dem<br />
Glauben an die Auferweckung? Was erhoffe ich<br />
für mich bzw. für meine Angehörigen, Freundinnen<br />
und Freunde …?<br />
• Welche Zweifel, Schwierigkeiten habe ich mit<br />
diesem Glauben?<br />
• Kenne ich Seiten <strong>des</strong> „neuen Menschen“ an<br />
mir? Wo kann man mir den „neuen“ Menschen<br />
anmerken?<br />
• Was, wer „verwandelt“ mich, gibt mir Kraft,<br />
„weckt mich auf“?<br />
39
auferweckt:<br />
von den Toten<br />
Der Apostel Paulus hat es auf den Punkt gebracht:<br />
„Wenn aber Christus nicht auferweckt worden ist,<br />
dann ist euer Glaube nutzlos“, ja „erbärmlicher<br />
wären wir daran als alle anderen Menschen“ (1<br />
Korinther 15,17.19). Der Glaube an die Auferweckung<br />
entstammt den tiefsten Leidenserfahrungen<br />
<strong>des</strong> Judentums. Die längste Zeit kannte Israel<br />
keine positive Vorstellung eines Lebens nach dem<br />
Tod, war doch Gott die Macht <strong>des</strong> Lebens, der für<br />
Segen und Gerechtigkeit jetzt sorgt. Es waren<br />
letztendlich die bitteren Erfahrungen <strong>des</strong> Exils, der<br />
Not, <strong>des</strong> To<strong>des</strong>, die zu einer neuen Gotteserkenntnis<br />
führten: Gott ist die Macht <strong>des</strong> Lebens, der aus<br />
dem Nichts die Wirklichkeit ins Sein ruft (2 Makkabäer<br />
7,28). Darum kann er, darum wird er die Toten<br />
aus dem Tode erwecken. Und es war die Erfahrung<br />
der Treue: Weil sich Gott immer wieder in der Geschichte<br />
Israels als treu erwies, <strong>des</strong>halb wird er die<br />
Seinen auch nicht im Tod lassen. So ist der Glaube<br />
an die Auferweckung nicht aus dem Wunsch nach<br />
einem Weiterleben aus dem Tod entstanden.<br />
Das letzte Wort spricht Gott<br />
Der Glaube an die Auferstehung steht für die Hoffnung,<br />
dass Gott den Menschen auch im Dunkel<br />
<strong>des</strong> To<strong>des</strong> nicht verlässt. Er steht für die Hoffnung,<br />
dass Gott vor allem die Opfer der Gewalt und der<br />
Ungerechtigkeit nicht im Stich lässt. Der auferweckte<br />
Jesus Christus ist das Offenbarungszeichen<br />
Gottes, dass er den Tod und die Ungerechtigkeit<br />
bezwungen hat. Darum ist mit Jesu Auferstehung<br />
das Ende der absoluten Angst vor dem Tod möglich<br />
geworden. Der Tod bleibt die letzte Wirklichkeit<br />
<strong>des</strong> Lebens, aber er hat nicht das letzte Wort.<br />
Dieses letzte Wort hat uns Gott versprochen: „Ich<br />
bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich<br />
glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, und jeder,<br />
der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht<br />
sterben“ (Johannes 11,25).<br />
40<br />
glaubens wert
42<br />
erfüllt<br />
Jede und jeder kennt sie: die alten Fotos und die<br />
Faszination, die von ihnen ausgeht. Die Gestik<br />
und Mimik, die Haar- und Bartmode, die Kleidung,<br />
die Umgebung – all das lässt raten, wann<br />
die Fotos gemacht wurden, wie und wo die hier<br />
Abgebildeten gelebt haben, was wohl der Anlass<br />
für das jeweilige Foto war. Eines fällt bei<br />
den Fotos noch auf: der Einfluss und das Wirken<br />
<strong>des</strong> „Zeit-Geistes“!<br />
So ist etwa im Foto eines „kaiserlichen und königlichen“<br />
(k. u. k.) Soldaten bis heute erkennbar,<br />
was zur damaligen Zeit „ganz oben“ gestanden<br />
ist: die Treue zu Gott, Kaiser und Vaterland.<br />
Eine bestimmte Ordnung der Gesellschaft<br />
kommt zum Vorschein. In den Fotos aus den<br />
30er und 40er Jahren spiegelt sich ein anderer<br />
„Zeit-Geist“ wider. Das Hakenkreuz an den Uniformen<br />
oder bestimmte Haar- und Bartmoden<br />
zeigen, was und wer damals an erster Stelle zu<br />
stehen hatte. Unübersehbar ist der „American<br />
way of life“ auf den Fotos der 50er und 60er Jahre.<br />
In den Bildern aus den 70ern und 80ern spiegelt<br />
sich wiederum der erreichte Wohlstand:<br />
Alles wurde breiter, bunter, auffälliger. In den<br />
90er Jahren folgt dann die Besinnung auf neue<br />
Sachlichkeit.<br />
Was bei uns oben ist<br />
Je<strong>des</strong> Foto zeigt also auf seine Art, was zu einer<br />
bestimmten Zeit maßgebend war, was Denken<br />
und Handeln beeinflusste, was oder wer auf die<br />
Menschen abfärbte. Immer sind Menschen vom<br />
Geist oder Ungeist ihrer Zeit erfüllt. Wilhelm<br />
Willms, Priester und Dichter aus Deutschland,<br />
schrieb in einem seiner Gedichte: „je nachdem<br />
was bei uns oben ist/was für uns oben ist/das<br />
kommt auch auf uns herab/… wenn der mammon<br />
oberstes prinzip ist/dann kann auch nur<br />
der geist <strong>des</strong> mammon auf uns herabkommen/...<br />
sehen wir also zu/was für uns oben ist/<br />
wer für uns oben ist“. Diese Zeilen von Wilhelm<br />
Willms ermuntern zur Wachsamkeit. Sie wollen<br />
den Blick schärfen und hellhörig machen, welchem<br />
„Geist“ sich Menschen heute aussetzen,<br />
von wem oder wovon sie ihr Leben und ihre Zeit<br />
prägen lassen.<br />
Der „Zeit-Geist“<br />
Nicht selten hört man Zeitgenossinnen und<br />
Zeitgenossen auch über den gegenwärtigen<br />
„Zeit-Geist“ klagen. Doch es gibt, trotz manch<br />
berechtigter Sorge, „Geistes-Haltungen“, die es<br />
in dieser Form und Häufigkeit so früher nicht<br />
gegeben hat. Zu denken wäre hier etwa an die<br />
zunehmende Hinwendung zu Sterbenden, an<br />
die wachsende Aufmerksamkeit für Mitmenschen<br />
mit Behinderungen, an das beachtliche<br />
Engagement für Menschen in Notlagen, an die<br />
Sorge um eine gerechte Verteilung der Güter<br />
und einen sensiblen Umgang mit der Natur. Auffällig<br />
ist auch das große Interesse an „Weisheit“,<br />
sei es in Form von Lebensweisheiten, Weisheiten<br />
aus den Religionen oder Völkern bis hin zur<br />
Philosophie, selbst für Kinder. Neben echten<br />
Un-Geistern und Versäumnissen gibt es heute<br />
also Einstellungen, Haltungen, Ansätze, die viel<br />
mit jenem Geist zu tun haben, den die Bibel den<br />
Heiligen Geist nennt. Ein Charakteristikum dieses<br />
Geistes ist es freilich, dass er „weht“, wo, wie<br />
und wann er will – auch außerhalb der Kirche!<br />
Eine Nähe, die verändert<br />
Wenn die Bibel vom Heiligen Geist spricht, dann<br />
erzählt sie dabei meistens von Menschen. An<br />
ihnen und ihrem Leben werden der Geist und<br />
sein Wirken sichtbar. Dabei zeigt sich, dass der<br />
Heilige Geist nicht ein Geisterwesen neben Gott<br />
oder irgendeine mysteriöse Energie ist, worüber<br />
man mittels einer speziellen Technik verfügen<br />
kann. Der Heilige Geist ist vielmehr Gott selbst<br />
– in seiner persönlichen Nähe zu den Menschen.<br />
glaubens wert
Für Christinnen und Christen gibt es aber nicht<br />
nur diese besondere Nähe. Zu Ostern erfuhren<br />
die Männer und Frauen um Jesus, dass der Auferweckte<br />
in derselben Weise wie Gott bei den<br />
Menschen ist!<br />
Die Erfahrungen <strong>des</strong> <strong>Glaubens</strong> zeigen, wie viel<br />
„Kraft“, wie viel „Feuer“ von dieser Nähe ausgehen:<br />
Dort, wo Menschen Gott und seinem Auferweckten<br />
Raum geben, auf sie hinhören, sich<br />
an ihnen ausrichten, sich von ihnen inspirieren<br />
lassen, mit ihnen zu leben wagen, können neue<br />
Perspektiven entstehen, kann Mitmenschlichkeit<br />
neu entflammen, echter Trost gefunden<br />
werden, Mut zum Widerspruch und zur Authentizität<br />
sowie echte Weite wachsen. Die sieben<br />
Gaben <strong>des</strong> Heiligen Geistes (Weisheit, Einsicht,<br />
Rat, Erkenntnis, Stärke, Frömmigkeit, Gottesfurcht<br />
– vgl. Jesaja 11,1-2) stehen symbolisch für<br />
diese göttlichen Auswirkungen und Lebensqualitäten.<br />
Die Zahl Sieben verdeutlicht dabei, dass<br />
dort, wo Gott (ausgedrückt durch die „Drei“)<br />
und der Mensch (ausgedrückt durch die „Vier“)<br />
einander begegnen, Fülle, Weite, Profil und ein<br />
besonderer Esprit entstehen.<br />
Fragen für ein Gespräch<br />
bzw. für die eigene <strong>Spuren</strong>suche:<br />
• Was steht bei mir ganz „oben“? In der Familie,<br />
in der Arbeit, in der Freizeit? Woran hänge ich<br />
mein Herz?<br />
• Wie ist es möglich, sich vom Geist Gottes inspirieren<br />
zu lassen? Habe ich damit Erfahrungen?<br />
43
erfüllt:<br />
mit seinem Geist<br />
Er ist das rätselhafteste Phänomen <strong>des</strong> Universums,<br />
das wir kennen: der „Geist“. Als „Information“<br />
durchdringt er die kleinsten und komplexesten<br />
Strukturen der Materie. Er ereignet sich<br />
im Menschen als Bewusstsein, als Wunder, dass<br />
ein Lebewesen zu sich selbst „Ich“, zum Nächsten<br />
„Du“ und zur Welt „Es“ sagen kann. Der Geist<br />
ist die Brücke von den untersten Ebenen der Materie<br />
zur obersten Fülle der Wirklichkeit, die wir<br />
Gott nennen. Im Licht <strong>des</strong> religiösen <strong>Glaubens</strong><br />
ist Gott Geist, der die ganze Schöpfung von Anfang<br />
an durchweht (vgl. Genesis 1,1). In seinem<br />
Geist ist Gott in unmittelbarster Bezogenheit<br />
und Gegenwärtigkeit zu jedem seiner Geschöpfe.<br />
Denn er ist der „Atem“ allen Seins.<br />
dies geschieht, dann zündet es wie ein Blitz,<br />
wie ein Feuer, es wirbelt alles auf wie im Sturm.<br />
Denn dann erkennt der Mensch plötzlich alles<br />
in einem neuen Licht. Auch wenn die Dinge und<br />
Menschen sind, was sie sind im Lichte <strong>des</strong> Geistes<br />
Gottes sind sie anders. Was war die Geist-Erkenntnis<br />
der Jünger und Jüngerinnen Jesu? Sie<br />
war die umwerfendste Erkenntnis ihres Lebens:<br />
Gott war in Jesus, und Jesus ist in seinem Geist<br />
unmittelbar in uns. Oder in modernen Bildern<br />
gesagt: Gott ist die Energie <strong>des</strong> Seins, die unfassbarste<br />
und unzerstörbarste Liebe, die sich<br />
denken lässt. Gott ist da, in jedem Stein, in jeder<br />
Blume, in jedem Menschen, in jedem Augenblick.<br />
Dann sind wir immer schon in Gott, nur<br />
einen Atemzug entfernt. „Denn in ihm leben<br />
wir, bewegen wir uns und sind wir“ (Apostelgeschichte<br />
17, 28). Wer dies erfasst, ist erfüllt mit<br />
seinem Geist.<br />
Doch mit unseren Sinnen und Gedanken erkennen<br />
wir Gottes Geist nie unmittelbar, sondern<br />
immer nur „in“ und mit den Dingen und Menschen.<br />
Das große Missverständnis unserer Epoche<br />
liegt darin, dass das In-Sein Gottes in seiner<br />
Welt nicht mehr erkannt und anerkannt wird.<br />
Nur was sich messen, zählen, beweisen lässt,<br />
kann „Objektivität“, Wissen und Erkenntnis beanspruchen.<br />
So steht der Gottesglaube unter<br />
dem Verdacht, eine Projektion, eine Spiegelung<br />
<strong>des</strong> Gehirns zu sein. Aus der Beobachterperspektive<br />
der Wissenschaften gibt es keine weltübergreifende<br />
Geistigkeit. Dementsprechend<br />
sagen viele Forscher, dass der Gottesgedanke<br />
ein Gedanke der kindlichen Seele sei, nicht der<br />
rationalen Vernunft.<br />
44<br />
Gottes Geist ist in uns<br />
Aber wie soll sich Gottes Geist zu erkennen<br />
geben, wenn nicht im Bewusstsein <strong>des</strong> Menschen<br />
selbst? Unser Bewusstsein ist der Ort,<br />
wo Gottes Geist im Menschen erwacht. Wenn<br />
glaubens wert
46<br />
versammelt<br />
Seien es Rockkonzerte, Fußballspiele oder Kulturfestivals<br />
– Menschen kommen gerne zusammen,<br />
um gemeinsam etwas zu erleben. Obwohl<br />
sich heute immer mehr am iPod bzw. MP3-Player<br />
das eigene Musikprogramm zusammenstellen,<br />
geht von einer Openair-Veranstaltung mit<br />
vielen Gleichgesinnten nach wie vor eine besondere<br />
Faszination aus. Ähnlich ist es mit dem<br />
Fußball. Natürlich ist eine Fernsehübertragung<br />
interessant. Reizvoller jedoch ist das gemeinsame<br />
Erleben eines Fußballspiels, sei es im Stadion<br />
oder mit Freundinnen und Freunden. Und selbst<br />
im Internet gibt es neben dem „einsamen Surfen“<br />
Begegnungsmöglichkeiten für Menschen,<br />
die sich sonst nie getroffen und ausgetauscht<br />
hätten.<br />
Der „Mehr-Wert“ all dieser Versammlung besteht<br />
darin, dass der eigene Horizont, das eigene<br />
Erleben, der eigene Genuss und die eigenen<br />
Handlungsmöglichkeiten geweitet und<br />
vertieft werden. Geteilte Freude, geteiltes Hören<br />
oder geteiltes Tun ist mehr als einsame Freude,<br />
einsames Hören oder einsames Tun. So gesehen,<br />
gehören Teilen und Gemeinschaft immer<br />
zusammen.<br />
Geteiltes Leben<br />
Teilen und Gemeinschaft – das sind auch für<br />
Jesus elementare Begriffe. Bei<strong>des</strong> ist für ihn so<br />
wichtig, dass er im Angesicht <strong>des</strong> To<strong>des</strong> alles,<br />
wofür er steht, alles, was er noch weitergeben<br />
will, in diese beiden Begriffe hineinlegt: Am<br />
Ende seines Lebens, als ihm nur noch wenig Zeit<br />
bleibt, versammelt er sich mit den Seinen und<br />
teilt mit ihnen Wein und Brot. In diesen entscheidenden<br />
Stunden gibt er sich selbst. Er teilt<br />
sein Leben und Sterben, er teilt das, was ihm<br />
Angst macht und was ihn stärkt. Und er lädt die<br />
Menschen ein, sich weiterhin in diesem Sinn zu<br />
versammeln, sich – wie Brot und Wein – wandeln<br />
zu lassen und einander stärkende Nahrung<br />
zu werden. Wo das geschieht, verspricht Jesus,<br />
wird er selbst gegenwärtig sein.<br />
Wo immer Christinnen und Christen daher im<br />
Sinne dieses Vermächtnisses zusammenkommen<br />
und sich um ihren Herrn versammeln, geht<br />
es um das Teilen <strong>des</strong> Lebens, um das, was Angst<br />
macht und was stärkt, was Hoffnung nimmt und<br />
was Hoffnung gibt. Dementsprechend heißt es<br />
in einem Dokument <strong>des</strong> Zweiten Vatikanischen<br />
Konzils (1962 bis 1965) über die Kirche: „Freude<br />
und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen<br />
von heute, besonders der Armen und Bedrängten<br />
aller Art, sind auch Freude und Hoffnung,<br />
Trauer und Angst der Jünger Christi“ (Gaudium<br />
et spes, Nr. 1). Dieser oft zitierte Satz darf jedoch<br />
kein Lippenbekenntnis bleiben. Gott sei Dank<br />
steigt bei den Menschen – inner- wie außerhalb<br />
der Kirche – heute das Gespür dafür, ob das, was<br />
hier gefeiert und gesagt wird, auch durch das<br />
Leben in seiner ganze Bandbreite gedeckt ist.<br />
Wenn Weite und Tiefe fehlen …<br />
Wo sich Frauen und Männer, Kinder und Jugendliche<br />
nichts mehr für ihr Leben holen können,<br />
wo sie nicht mehr erfahren, dass die Kirche und<br />
ihre Botschaft den eigenen Horizont, das eigene<br />
Erleben, die eigene Wahrnehmung und die eigenen<br />
Handlungsmöglichkeiten weiten und vertiefen,<br />
bleiben diese Menschen verständlicherweise<br />
weg. So gesehen können kirchenkritische<br />
Stimmen und Austritte durchaus als Ausdruck<br />
einer enttäuschten Sehnsucht nach geistlichen<br />
Ressourcen und tragfähiger Lebensorientierung<br />
gesehen werden.<br />
Raum schaffen und Raum geben<br />
Damit die Gemeinschaft der Christinnen und<br />
Christen Weite und Tiefe ausstrahlt, damit diese<br />
Versammlung Menschen anzieht, braucht es<br />
nicht nur gute Seelsorgerinnen und Seelsorger:<br />
glaubens wert
Menschen, die die Botschaft Jesu vom nahen<br />
Gottesreich in das heutige Leben mit seinen<br />
vielfältigen Herausforderungen kräftig, profiliert<br />
und klug übersetzen. Es braucht ebenso die<br />
konkrete Erfahrung, dass jene, die den Glauben<br />
mitleben wollen, geschätzt und willkommen<br />
sind. Katholisch sein heißt ja weit sein, nicht eng.<br />
So darf und muss es Raum geben für Menschen,<br />
die wach und sensibel für Neue und Neues sind;<br />
Raum für jene, die mitdenken und mitgestalten;<br />
Raum für jene, die einfach da sein dürfen – in ihrer<br />
Trauer und Enttäuschung; Raum für jene, die<br />
ihre Erfahrungen einbringen können, wie Glaube<br />
und Alltag gut zusammengehen. Selbstverständlich<br />
sind auch jene willkommen und geschätzt,<br />
deren Stärke im nüchternen Blick und<br />
in der sachlichen Kritik liegt. Dementsprechend<br />
vergleicht Paulus in seinem ersten Brief an die<br />
Korinther die Kirche mit einem Leib, der aus vielen<br />
Gliedern besteht (1 Korinther 12,12-31a). Je<strong>des</strong><br />
Glied dieses Leibes ist unersetzlich und hat<br />
seine ganz bestimmte Aufgabe. Wichtig beim<br />
gemeinsamen Zusammenspiel der Glieder ist,<br />
dass kein Zwiespalt entsteht, „sondern alle Glieder<br />
einträchtig füreinander sorgen“ (1 Korinther<br />
12,25). Ob man uns das anmerkt?<br />
Fragen für ein Gespräch<br />
bzw. für die eigene <strong>Spuren</strong>suche:<br />
• Wo habe ich den Wert einer Gemeinschaft<br />
erfahren (Musik, Sport, Familienrunde …) – und<br />
worin bestand/besteht für mich der Wert bzw.<br />
das Bereichende dieser Gemeinschaft?<br />
• Was schätze ich an der Gemeinschaft unserer<br />
Pfarre? Was fehlt mir hier?<br />
47
48<br />
versammelt:<br />
zur Gemeinschaft Jesu<br />
Vor 100 Jahren machte ein Satz <strong>des</strong> französischen<br />
Theologen Alfred Loisy die Runde: Jesus<br />
hat das Reich Gottes verkündet, gekommen aber<br />
ist die Kirche. Doch der Gegensatz von Gottesreich<br />
und Kirche ist falsch. Auch wenn die Kirche<br />
selbst nicht das Reich Gottes auf Erden ist, so ist<br />
sie doch „Zeichen und Werkzeug für die innigste<br />
Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der<br />
ganzen Menschheit“, wie das 2. Vatikanische<br />
Konzil (1962 bis 1965) formulierte (vgl. Lumen<br />
gentium 1).<br />
Doch heutzutage an die Kirche Jesu zu glauben,<br />
fällt vielen schwer. In einer Zeit der Kirchenkrise<br />
ist der theologische und soziale Sinn von Kirche<br />
nicht mehr selbstverständlich. In einer Zeit <strong>des</strong><br />
religiösen Individualismus suchen viele Menschen<br />
ihren Glauben in Mystizismus oder in<br />
den verschiedensten Angeboten <strong>des</strong> religiösen<br />
Marktes zu verwirklichen. In einem Zeitalter der<br />
Kritik werden schonungslos alle Sünden und<br />
Untaten der Kirche aufgezeigt. „Wozu brauche<br />
ich die Kirche?“, fragen viele. Uneinig aufgrund<br />
unzähliger Konfessionen, unheilig wegen vieler<br />
Versäumnisse und Eigeninteressen, engstirnig<br />
statt weltoffen katholisch, traditionalistisch<br />
verhärtet statt dynamisch apostolisch – so und<br />
anders lauten berechtigte und unberechtigte<br />
Vorbehalte. Und dennoch: Es ist die Kirche, die<br />
in den Seelen der ersten Christen erwacht ist,<br />
weil sie göttliche Träume vom gelingenden Leben<br />
hütet (Fulbert Steffensky).<br />
Kirche: Heilszeichen Gottes für die Welt<br />
So wie wir das Leben nicht uns selbst geschenkt<br />
haben, so wenig haben wir uns den Glauben<br />
selbst gegeben. Denn Leben und Glauben sind<br />
beide Ereignisse der Beziehung, Ausdrucksformen<br />
von Kommunikation. Die Kirche Christi hat<br />
mit dem Pfingstereignis das öffentliche Licht<br />
der Welt erblickt. Als geisterfüllte Menschen<br />
begannen, die Geschichte Gottes mit Jesus von<br />
Nazaret zu erzählen, konnten sie das nur tun<br />
als neue Gemeinschaft von Glaubenden. Nicht<br />
zu einem Verein haben sie sich zusammengeschlossen,<br />
sondern sie wussten sich von Christus<br />
selbst herausgerufen, seine Botschaft zu<br />
verkünden, seine Praxis fortzusetzen, seinen Tod<br />
zu erinnern und seine Auferstehung anzusagen.<br />
Kirche ist also nicht Selbstzweck, sondern Gottes<br />
Heilszeichen für die Welt, gebildet aus Menschen<br />
aller Völker.<br />
So wie vieles im Leben bleibt auch die Kirche<br />
hinter ihren eigenen Idealen zurück. Damit die<br />
Kirche dem Reich Gottes dient, braucht sie nicht<br />
nur ständige Aufmerksamkeit, die „Zeichen der<br />
Zeit“ (Gaudium et spes 4) zu erkennen, sondern<br />
jede Christin, jeder Christ ist mit seinem Leben<br />
und Glauben ein Stück Kirche, ein Glied Christi.<br />
glaubens wert
50<br />
Sich wandeln lassen: –<br />
die Eucharistie<br />
Im Christentum gibt es drei Sakramente, die im<br />
Besonderen dem Christ-Werden und Christ-Sein<br />
bzw. dem Christin-Werden und Christin-Sein<br />
gewidmet sind: Taufe, Firmung und Eucharistie.<br />
Mit der Taufe wird ein Mensch in eine neue Beziehung,<br />
in einen neuen Weg, in ein neues Lebensmodell<br />
„hineingetaucht“. Mit ihr beginnt<br />
ein Leben, das sich von jenem Geist anstecken<br />
lässt, der Jesus Christus selbst bewegt hat. Die<br />
Firmung faltet die Taufe weiter aus und vertieft<br />
diese. Sie zeigt erneut, wie viel Kraft und<br />
Inspiration von der Nähe Gottes und seines<br />
Auferweckten ausgehen. Die Eucharistie wiederum<br />
ist jenes Zeichen, jenes Sakrament, das<br />
die Beziehung mit Jesus stärkt und in Gang hält.<br />
Vielleicht kann man auch sagen, dass die Eucharistie<br />
Menschen immer mehr in das hineinverwandelt,<br />
was in der Taufe grundgelegt worden<br />
ist: Als Getaufte/r leben heißt, ja im Sinne Jesu<br />
leben. Und im Sinne Jesu leben heißt, füreinander<br />
leben, einander zur Nahrung werden.<br />
Nüchtern betrachtet muss man sagen: Die Feier<br />
der Eucharistie ist heute für viele nichts Besonderes<br />
mehr. Sie gehört zwar noch immer zu<br />
den kulturellen Bestandteilen unseres Lan<strong>des</strong>.<br />
Kindern, Jugendlichen und zunehmend auch<br />
immer mehr Erwachsenen geht aber der Bezug<br />
sowie ein Verständnis für ihre Sinnhaftigkeit<br />
und Lebensnähe verloren. Man scheint ganz gut<br />
ohne sie auszukommen! Sie fehlt im Lebensgefühl<br />
vieler Menschen nicht. Grund genug, die<br />
Eucharistie wieder genauer in den Blick zu nehmen<br />
– und sich von ihrem „Anfang“ her inspirieren<br />
zu lassen.<br />
Und da zeigt sich Überraschen<strong>des</strong>: Der Evangelist<br />
Lukas lässt nämlich die Jünger unmittelbar<br />
nach dem Letzten Abendmahl streiten, wer der<br />
Größte unter ihnen sei (Lukas 22,24-30). Jene,<br />
die hautnah dabei waren, mittendrin, verstanden<br />
also nichts. Die Botschaft <strong>des</strong> Abendmahls<br />
ging an ihnen vorbei. Ähnlich verhält es sich mit<br />
der Fußwaschung, wie sie im Johannes-Evangelium<br />
beschrieben wird. Auch hier finden die Jünger<br />
keinen Zugang zum Sinn dieses Tuns. Jesus<br />
selbst sagt zu Petrus: „Was ich tue, verstehst du<br />
jetzt noch nicht; doch später wirst du es begreifen“<br />
(Johannes 13,7). Vielleicht liegt in diesen<br />
Worten <strong>des</strong> Evangeliums ein Trost für uns: Eucharistie<br />
ist keine glatte Sache, die einem leicht<br />
und selbstverständlich aufgeht. Sie stellt vielmehr<br />
eine „Zu-Mut-ung“ und Herausforderung<br />
dar, in die man erst hineinwachsen muss bzw.<br />
darf.<br />
Die Abendmahldeutung <strong>des</strong> Paulus<br />
Auch wenn aufgrund der unterschiedlichen Texte<br />
keine vollständige Rekonstruktion <strong>des</strong> Letzten<br />
Abendmahles mehr möglich ist, darf man<br />
doch davon ausgehen, dass Jesus diesem Mahl<br />
eine besondere Bedeutung zugesprochen hat.<br />
Verbindet man dieses letzte gemeinsame Essen<br />
nämlich mit seinem gesamten Leben, mit seinem<br />
Dasein für die Menschen, dann bekommt<br />
dieses Mahl – wie der Kreuzestod – von hier<br />
aus eine bestimmte „Botschaft“. Es ist ein Geschehen,<br />
das mit dem Leben und dem Heil von<br />
uns Menschen zu tun hat. Eine sehr bekannte<br />
Abendmahldeutung findet sich im ersten Korintherbrief.<br />
Hier antwortet Paulus auf Anfragen<br />
aus der jungen korinthischen Christengemeinde.<br />
Mit Blick auf die Eucharistie schreibt er:<br />
Denn ich habe vom Herrn empfangen, was ich<br />
euch dann überliefert habe: Jesus, der Herr,<br />
nahm in der Nacht, in der er ausgeliefert wurde,<br />
Brot, sprach das Dankgebet, brach das Brot<br />
und sagte: Das ist mein Leib für euch. Tut dies<br />
zu meinem Gedächtnis! Ebenso nahm er nach<br />
dem Mahl den Kelch und sprach: Dieser Kelch<br />
glaubens wert
ist der Neue Bund in meinem Blut. Tut dies, sooft<br />
ihr daraus trinkt, zu meinem Gedächtnis! (1<br />
Korinther 11,23 - 25)<br />
Um den Sinn dieser Worte zu verstehen, darf<br />
nicht vergessen werden, dass Jesus bei diesem<br />
Mahl mit seinem baldigen Tod rechnet. Spätestens<br />
nach dem zuvor von Jesus provozierten Eklat<br />
im Tempel war klar, dass er nur mehr kurze<br />
Zeit zu leben hatte. In den letzten Stunden eines<br />
Lebens aber versucht man den Seinen etwas<br />
Kostbares zu vermachen, ihnen Wesentliches<br />
mitzugeben. Für Nebensächliches bleibt keine<br />
Zeit mehr. Daher gestaltet Jesus die gemeinsame<br />
Feier als Abschiedsmahl – mit besonderen<br />
Worten und Zeichenhandlungen. Mit dem Teilen<br />
und gemeinsamen Essen <strong>des</strong> Brotes, mit<br />
dem Herumreichen <strong>des</strong> Weinbechers und dem<br />
gemeinsamen Trinken daraus sowie den jeweils<br />
dazugehörigen „Botschaften“ („Das bin ich; das<br />
ist der neue Bund …“) gibt er den Seinen etwas,<br />
das selbst durch seinen Tod nicht vernichtet werden<br />
kann, etwas, das „von dynamisch-frischer<br />
Dauer“ bleibt: Er schenkt sein Dasein, seine Gegenwart,<br />
sein „Ich-bin-da“, seine Zuwendung.<br />
Diejenigen, die gemeinsam Mahl halten, die<br />
vom eucharistischen Brot essen und vom Wein<br />
trinken, gewinnen demnach Anteil an Jesus<br />
selbst, an dem, was diesen Menschen ausmacht,<br />
an dem, was ihn belebt, an dem, was ihm wichtig<br />
ist. Und sie bekommen – ausgedrückt durch<br />
den Wein – einen Vorgeschmack auf die frohe<br />
und festliche Gemeinschaft mit Gott. Das aber<br />
hat Konsequenzen für das Leben der Mitfeiernden<br />
und für ihre Gemeinschaft (vgl. 1 Korinther<br />
11,17-34)!<br />
51
Wandlung in wachsenden Ringen<br />
Ein Höhepunkt der Eucharistiefeier ist die sogenannte<br />
Wandlung. Wenn Christinnen und Christen<br />
„Eucharistie“ feiern, steht „Wandlung“ im<br />
Zentrum: So wie Brot und Wein eine neue Bestimmung<br />
bekommen und zu „Leib und Blut Christi“<br />
werden, soll auch der Mensch, sein Tun, seine<br />
Geschichte, seine Welt eine neue Bestimmung<br />
bekommen – und dementsprechend verwandelt<br />
werden. All diese „Wandlungen“ aber beginnen,<br />
wie die Wandlung von Brot und Wein zeigt, im<br />
Kleinen. Vielleicht kann man von einer „Wandlung<br />
in konzentrischen Kreisen“ sprechen. Jesus<br />
wandelt Brot und Wein, er setzt diese Lebensmittel<br />
zu sich in eine neue Beziehung und gibt ihnen<br />
so einen neuen Sinn, einen neuen „Inhalt“: Das<br />
bin ich – mit meiner Kraft, meiner Zuwendung,<br />
meinem Wohlwollen, meinem Leben.<br />
Wer sich von diesem Jesus angesprochen fühlt<br />
und sich ihm öffnet, der öffnet, weitet und wandelt<br />
damit auch sein Herz, sein Denken, seine<br />
Wahrnehmung, sein Tun: Schritt für Schritt, immer<br />
wieder aufs Neue, trotz mancher Rückschritte.<br />
Wer bereit ist, sich selbst zu verändern und<br />
zu wandeln – allmählich, ein Leben lang –, der<br />
wird ermutigt, auch seine Umgebung zu „verwandeln“,<br />
sie – wo es nötig ist – menschlicher,<br />
freundlicher, gerechter zu machen.<br />
Die „Wandlung“ in der Eucharistie ist daher<br />
nicht als ein „geheimnisvoller“ Kultakt in einer<br />
geschützten Gruppe zu verstehen – lebensfern<br />
und weltfremd. Nein, die „Wandlung“, die mit<br />
Jesus zusammenhängt, ermutigt vielmehr zum<br />
Aufbrechen und zur Veränderung: vom Gegeneinander<br />
zum Miteinander, vom engen Blick zum<br />
weiten Blick, von der Nutznießerin zur Nutzteilerin,<br />
vom Verantwortungsscheuen zum Verantwortungsbewussten,<br />
von der Enttäuschten zur<br />
Hoffenden. Mit diesen „Wandlungen“ aber kann<br />
man den Veränderungen im eigenen Leben genauso<br />
wie in der Gesellschaft sinnvoll und geistvoll<br />
begegnen.<br />
Eucharistie als „Gedächtnis“ Christi, als Erinnern<br />
und Vergegenwärtigen<br />
Beim Abschiedsmahl spricht Jesus zweimal vom<br />
Gedächtnis – „sooft ihr zusammenkommt, Wein<br />
trinkt, Brot brecht und dabei an diese Stunde und<br />
an mich denkt, bin ich da“. Mit „Gedächtnis“ ist<br />
nicht nur das Denken an Vergangenes gemeint.<br />
„Gedächtnis“ im biblischen Sinn hat vielmehr zu<br />
tun mit Innewerden, Hineingezogen werden, Einbezogensein<br />
in die gegenwärtig werdende Wirklichkeit<br />
eines bestimmten, heilvollen Ereignisses.<br />
Auf diese Weise reihen sich bis heute gläubige<br />
Jüdinnen und Juden beim Essen <strong>des</strong> Pascha-Lammes<br />
in die lebendige religiöse Tradition ihres Volkes<br />
ein. Sie erleben durch die Feier <strong>des</strong> Mahles die<br />
Rettung ihrer Vorfahren aus Ägypten mit – so als<br />
ob sie selbst dabei gewesen wären. Wenn Christinnen<br />
und Christen Eucharistie feiern, treten sie<br />
– ebenfalls durch ihr „Gedächtnis“ – in die Gemeinschaft<br />
mit Jesus ein, dem für uns aufs Kreuz<br />
Gelegten und aus dem Tod Befreiten. So gesehen<br />
müsste Eucharistie immer etwas „Anziehen<strong>des</strong>“,<br />
„Hineinziehen<strong>des</strong>“, „Dynamisches“ sein – wo es<br />
um nicht mehr und nicht weniger geht als um<br />
Leben und Tod.<br />
Fragen für ein Gespräch bzw. für die eigene<br />
<strong>Spuren</strong>suche:<br />
• Wandlung bzw. sich wandeln (lassen) – wo<br />
habe ich das bei mir oder bei anderen schon<br />
einmal erlebt?<br />
• Was hilft bei der Wandlung der eigenen Gedanken,<br />
der eigenen Gewohnheiten, <strong>des</strong> eingefleischten<br />
Blickes …?<br />
• Warum ist „Wandlung“ nicht immer einfach?<br />
• Welche Kraft, welche Inspiration finde ich in<br />
der Eucharistie?
54<br />
verwandelt:<br />
durch sein Gedächtnis<br />
Die sonntägliche Eucharistiefeier ist der liturgische<br />
Höhepunkt in der katholischen Kirche. Denn<br />
sie ist Danksagung und Gedächtnisfeier in einem:<br />
In ihr dankt die Kirche Gott dem Vater für <strong>des</strong>sen<br />
liebende und Leben schaffende Selbstmitteilung<br />
in seiner Schöpfung und in seinem Volk Israel. In<br />
ihr erinnert sie das Leben, Sterben und Auferstehen<br />
seines Sohnes Jesu. In ihm hat sich Gott ein für<br />
alle Mal als die versöhnende und verschenkende<br />
Liebe erwiesen. Die Eucharistiefeier ist <strong>des</strong>halb die<br />
Verdichtung <strong>des</strong>sen, worum es im menschlichen<br />
Leben geht: eine in Gottes Heiligem Geist verwandelte,<br />
universale Gemeinschaft zu werden, die in<br />
Gerechtigkeit, Liebe und Friede Gott, dem „Freund<br />
<strong>des</strong> Lebens“ (Weisheit 11,26), dient. Dieses solidarische<br />
und gewaltfreie Leben ist in Jesus vorgebildet<br />
und wird in der Eucharistie vergegenwärtigt.<br />
Die Wandlung der Gaben und der Gemeinde<br />
Darum ist mit der Eucharistiefeier nicht nur die<br />
Wandlung der eucharistischen Zeichen von Brot<br />
und Wein zur Gegenwart Christi zentral, sondern<br />
ebenso die Wandlung der versammelten Gemeinde.<br />
Die altkirchliche Liturgie betonte das eindrucksvoll,<br />
indem der Hleilige Geist nicht nur über<br />
die Gaben, sondern auch über die Gemeinde herabgerufen<br />
wurde. Die Wandlung der Christen in<br />
der Eucharistiefeier zielt letzten En<strong>des</strong> auf Jesu Gebot:<br />
„Liebt einander, so wie ich euch geliebt habe“<br />
(Johannes 15,12). Was dies bedeutet, verdeutlicht<br />
uns das Johannesevangelium: Im Bericht über Jesu<br />
Abschiedsmahl setzt der Evangelist an die Stelle<br />
der Brotworte und der Becherhandlung (vgl. Markus<br />
14,22-24) die Schilderung der Fußwaschung.<br />
Mit dieser damals von Sklaven durchgeführten Tätigkeit<br />
weist Jesus seine Jünger an, so wie er sein<br />
Leben radikal zu teilen und hinzugeben.<br />
Wenn die Kirche Eucharistie feiert, dann wird<br />
sie nicht nur in die Gemeinschaft mit dem dreifaltigen<br />
Gott hineingenommen. Sie zeigt damit<br />
zugleich, dem Ankommen <strong>des</strong> Gottesreiches<br />
unter den Menschen zu dienen. Ihr Erinnern<br />
<strong>des</strong> Leidens und Auferstehens Jesu muss immer<br />
auch Eingedenken der Leidenden und Opfer der<br />
Vergangenheit und Gegenwart sein. Denn in<br />
der Eucharistie unterstellt sich die Gemeinde<br />
der „Autorität der Leidenden“ (Johann Baptist<br />
Metz) und erhofft mit ihnen die Auferstehung,<br />
die Wiedergutmachung und Vollendung ihres<br />
und unseres Lebens.<br />
glaubens wert
Gott Raum geben: –<br />
das Vaterunser<br />
Ein besonderer Weg, sich mitten im Alltag von<br />
Gottes Weite, Tiefe, Großzügigkeit und Menschlich-keit<br />
inspirieren zu lassen, ist für Jesus das<br />
Vaterunser. Dieses Gebet, das im Zentrum der<br />
Bergpre-digt steht, hat Jesus selbst praktiziert<br />
und an die Seinen weitergegeben. Es ist sein<br />
Gebet für uns. Das Vaterunser spiegelt <strong>des</strong>halb<br />
jenes „Einfallstor“ wider, durch das Gott auf die<br />
Menschen „wirkt“. Um die Kraft dieses Gebetes<br />
zu erahnen, soll der Sinn der einzelnen Bitten<br />
wieder einmal bewusst wahrgenommen werden.<br />
Hier ein Versuch in diese Richtung:<br />
56
Vater unser<br />
Du Gott – bedingungslos auf der Seite<br />
von uns Menschen<br />
Im Himmel<br />
Du bist heilvoll zugegen, überall – ohne<br />
Begrenzung durch Raum und Zeit.<br />
Wo du bist, wo du ankommen kannst, da<br />
ist „Himmel“ möglich: geheiltes, erfülltes<br />
Leben.<br />
Geheiligt werde dein Name<br />
Deinem Namen, deinem „Ich-bin-da“<br />
dürfen wir vertrauen – zutiefst.<br />
In jeder Sekunde unseres Lebens bist du<br />
heilvoll zugegen.<br />
Dein Reich komme<br />
Deine Gegenwart, deine zuvorkommende<br />
Liebe, deine Zuwendung,<br />
deine Menschenfreundlichkeit, deine<br />
Weite und Tiefe sollen „Blüten“ treiben<br />
– uns verwandeln, ermutigen, trösten,<br />
befreien,<br />
herausfordern – immer mehr.<br />
Dein Wille geschehe<br />
Nicht Willkür gefällt dir und das Beherrschen-Können.<br />
Dein Wille ist vielmehr,<br />
dass Menschen (wieder) leben können –<br />
aufgerichtet, authentisch, befreit, offen,<br />
weitherzig, eigenständig, mitfühlend ...<br />
Wie im Himmel so auf Erden<br />
Überall willst du Leben in Fülle – selbst<br />
im Tod.<br />
Unser tägliches Brot gib uns heute<br />
Du weißt, was wir brauchen, um leben<br />
zu können. Du gibst es – auch durch<br />
uns.<br />
Und vergib uns unsere Schuld<br />
Großzügig bist du und freudig bereit,<br />
zu vergeben – zu jeder Zeit, ohne Vorbedingung,<br />
immer wieder aufs Neue.<br />
Wie auch wir vergeben unseren Schuldigern<br />
Deine Vergebung ermutigt uns, ebenfalls<br />
großzügig im Vergeben zu sein,<br />
Versöhnung und Neubeginn zu wagen<br />
– oder zuzulassen.<br />
Und führe uns nicht in Versuchung<br />
Sei bei uns und hilf uns in schwierigen<br />
Situationen, in denen wir zu scheitern<br />
oder unterzugehen drohen, in denen<br />
wir vielleicht auch das Menschliche<br />
aus dem Blick verlieren.<br />
Sondern erlöse uns von dem Bösen.<br />
Befreie uns von dem, was uns von dir<br />
fernhält und was uns hindert, mehr<br />
(Mit-) Mensch zu sein.<br />
Denn dein ist das Reich<br />
und die Kraft<br />
und die Herrlichkeit<br />
in Ewigkeit - Amen.<br />
57
Literatur:<br />
Die Bibel. Gesamtausgabe (Einheitsübersetzung<br />
der Heiligen Schrift), Katholische Bibelanstalt<br />
Stuttgart, Stuttgart 1980.<br />
Katechismus der Katholischen Kirche, Oldenbourg<br />
Verlag, München 1993.<br />
Katechismus der Katholischen Kirche, Kompendium<br />
(Deutsche Bischofskonferenz), Bonn 2005.<br />
Katholischer Erwachsenenkatechismus, Das<br />
<strong>Glaubens</strong>bekenntnis der Kirche (hg. von der<br />
Deutschen Bischofskonferenz), Bonn 1985.<br />
Neues Handbuch theologischer Grundbegriffe,<br />
4 Bände (hg. von Peter Eicher), Köselverlag,<br />
München 2005.<br />
58<br />
Impressum: Autorengruppe Mag. a Irmgard Lehner, Rektor Ernst Bräuer, Univ.-Prof.<br />
Dr. Franz Gruber und Dr. Stefan Schlager<br />
Herausgeber: Mag. Ferdinand Kaineder, Kommunikationsbüro der Diözese Linz,<br />
Herrenstrasse 19, 4020 Linz; Grafik: Stefan Teufel; Druck: Birner, Holzhausen<br />
glaubens wert
Notizen<br />
59
glaubens wert<br />
GLAUBENSWERT<br />
ERFAH RU NGEN MIT GOTT