6 <strong>UniDAZ</strong> 01/2012 STUDIUM STUDIUM 01/2012 <strong>UniDAZ</strong> 7 LEHRE VOR DEM LEHRBUCH EIN ETWAS ANDERES DIDAKTISCHES KONZEPT Das Wissen in den Lebenswissenschaften explodiert, und selbst Fach- leuten gelingt es kaum mehr, mit dem Wissenszuwachs Schritt zu halten. Prof. Dingermann von der Uni Frankfurt begegnet den sich daraus ergebenden Herausforderungen mit einem neuen didakti- schen Konzept, das er <strong>im</strong> Folgenden exklusiv für <strong>UniDAZ</strong> erläutert. Das Wissen in den Lebenswissenschaften akkumuliert mit einer so unglaublichen Geschwindigkeit, wie dies noch vor wenigen Jahren kaum vorstellbar war. Zudem werden gerade <strong>im</strong> medizinisch/pharmazeutischen Bereich neue wissenschaftliche Erkenntnisse so schnell in praktische Anwendungen umgesetzt, dass vielen eine systematische Fort- und Weiterbildung gewissermaßen aussichtslos erscheint. Hier Schritt zu halten gelingt kaum denjenigen, die sich an diesem Wissenszuwachs aktiv beteiligen und/<strong>oder</strong> deren Aufgabe es ist, neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu kommunizieren. Wie soll dies dann erst denjenigen möglich sein, die einen Heilberuf ausüben, und die neben ihrer wichtigen Tätigkeit be<strong>im</strong> Umgang mit Patientinnen und Patienten auch gefordert sind, ihr Wissen so aktuell zu halten, dass sie Fragen beantworten können, mit denen ratlose Patientinnen und Patienten zu ihnen kommen? Dass dies in zunehmendem Maße der Fall sein wird, steht außer Frage. Denn offensichtlich werden künftig Patientinnen und Patienten noch deutlich mehr als die Experten der Heilberufe von dem überfordert sein, <strong>was</strong> die m<strong>oder</strong>ne Medizin ihnen <strong>im</strong> Falle einer Krankheit zumutet und dem sie als mündige Patienten zust<strong>im</strong>men müssen. Oder sie lehnen die ihnen angebotenen Interventionsoptionen ab, eher emotional als rational, weil sie dem nicht folgen konnten, <strong>was</strong> man ihnen vorgeschlagen hat – nicht selten mit dramatischen Konsequenzen für die Gesundheit. WISSENSEXPLOSION FÜHRT ZU RESIGNATION Bei den vielen Vorträgen, mit denen ich mich in die Fort- und Weiterbildung der Apothekerinnen und Apotheker einbringe, erlebe ich regelmäßig das skizzierte Dilemma. Fortbildungswillige Kolleginnen und Kollegen folgen meinen Ausführungen nicht selten mit Interesse und Faszination, wie sie mir <strong>im</strong> persönlichen Gespräch <strong>oder</strong> per Mail berichten. Oft gestehen sie mir aber auch eine gewisse Resignation, da sie sich durch die Fülle an Neuem, zu dessen tieferem Verständnis in aller Regel die Grundlagen fehlen, überfordert fühlen. Es ist absehbar, dass auch die jetzigen Absolventinnen und Absolventen eines Pharmaziestudiums, also meine Studentinnen und Studenten, in eine ähnliche Situation geraten werden, obwohl sie natürlich ganz andere Grundlagen vermittelt bekommen haben, als dies älteren Semestern vergönnt sein konnte. Da dies für mich nicht akzeptabel ist, habe ich mich in den letzten Jahren gefragt, ob hier nicht auch die Hochschulen gefordert sind, Elemente in die akademische Ausbildung der angehenden Apothekerinnen und Apotheker zu integrieren, die dieser Entwicklung entgegenzusteuern vermögen. MODERNE KOMMUNIKATIONSTECHNO- LOGIEN ALS LÖSUNG DES PROBLEMS Als „meinen“ Ansatz zur Lösung dieses Problems versuche ich, meine Studenten <strong>im</strong> Hauptstudium davon zu überzeugen, bis zur letzten Konsequenz von dem Gebrauch zu machen, <strong>was</strong> uns heute m<strong>oder</strong>ne Kommunikationsmethoden bieten. Denn in der Kommunikationstechnologie hat eine ganz vergleichbare „Revolution“ stattgefunden wie in den Lebenswissenschaften, mit D<strong>im</strong>ensionen, die hier wie da noch vor wenigen Jahren unvorstellbar waren. Fakt ist, dass Wissen heute überall zu jeder Zeit in einer beliebigen Tiefe verfügbar ist. Der effektive Zugang zu diesem Wissen erfolgt heute viel weniger über unseren Kopf. Es sind vielmehr unsere Fingerspitzen, die auf der Tastatur eines Computers <strong>oder</strong> dem Touchscreen eines Smartphones das weltweit verfügbare Wissen zu jeder Zeit abzurufen vermögen. ALLES WISSEN ZU WOLLEN IST HOFFNUNGSLOS Aus diesem Grund verlange ich von meinen Studenten nicht mehr, Wissen aktiv speichern zu wollen, ein hoffnungsloses Unterfangen, gestern wie heute, wie alle wissen, die hier ehrlich analysieren. Im Gegenteil, ich verlange von meinen Studenten, den Kopf weitgehend von lexikalischem Wissen Foto: iStockphoto freizuhalten und sich stattdessen mit Strategien zu befassen, die Wissen in einem jeweils sehr konkreten Fall aus dem virtuellen Wissenspool zu heben vermögen und die es möglich machen, durch vertiefende Recherche auch das zu verstehen, <strong>was</strong> einem zunächst als reine Information angeboten wird – natürlich auf der Basis eines soliden Grundwissens, das ein gutes Pharmaziestudium vermittelt, auch ohne Details auswendig gelernt zu haben. COMPUTER ALS „HILFSMITTEL“ IM <strong>2.</strong> STAATSEXAMEN Dabei gehe ich soweit, dass ich nach diesem Konzept auch <strong>im</strong> <strong>2.</strong> Staatsexamen prüfe. Jedem Prüfling stelle ich einen Computer zur Verfügung, wo er <strong>oder</strong> sie alles in allen offen zugänglichen Quellen recherchieren kann, <strong>was</strong> gefragt wird. Allerdings: Ich stelle Fragen, die ohne solche Hilfsmittel auch nicht zu beantworten sind. Die Fragen und Probleme, mit denen ich mich mit meinen Studenten in den von mir geprüften Staatsexamina auseinandersetze, sind extrem aktuell. Diese Fragen entnehme ich internationalen Pressemitteilungen, die selten älter als vier Wochen sind. Keine Chance also, dass man diese Probleme aus Lehrbüchern hätte lernen können <strong>oder</strong> dass man sie in Vorlesungen und Seminaren hätte erläutert bekommen können. „AUCH ICH KENNE DIE ANTWORTEN AUF MEINE FRAGEN VORHER NICHT“ Einer Lösung des Problems nähern sich die Studierenden schrittweise. Nach einer ersten Recherche und einem Diskussionsblock werden neue Fragen auftauchen, die wiederum recherchiert werden müssen. Während dieser Zeit unterhalte ich mich dann mit dem/der zweiten bzw. dritten Kandidaten/ Kandidatin, und beginne danach eine neue Diskussionsrunde. Bewertet wird in einer solchen Prüfung die Fähigkeit, in sehr kurzer Zeit Informationen zu finden, auf deren Basis der Student <strong>oder</strong> die Studentin das Problem versteht und so verbalisieren kann, dass ein fachlicher Dialog mit üblicherweise drei bis vier Recherche-Runden mit mir als Prüfer möglich wird. Denn auch ich habe die Fragen nicht zur Prüfung vorrecherchiert und kenne Antworten und Lösungen ebenso wenig wie meine Studenten. SEMINAR ZUR VORBEREITUNG AUF PRÜFUNG UND PRAXIS Natürlich gehen meine Studenten nicht unvorbereitet in diese unkonventionelle Prü- fung. Zusammen mit meiner Mitarbeiterin, Frau Dr. Zündorf, biete ich meinen Studierenden <strong>im</strong> achten Semester <strong>im</strong> Rahmen des nach der neuen Approbationsordnung vorgesehenen Seminars „Biogene Arzne<strong>im</strong>ittel“ eine Art „Lehre vor dem Lehrbuch“ an. In diesem Seminar wollen wir sowohl Soft- Skills als auch Fachwissen vermitteln, eine Kombination, die in der pharmazeutischen Praxis steigende Bedeutung erlangen wird. Wir definieren die Ziele dieses Seminars dahingehend, auf aktuelle Fragen sehr schnell und fundiert antworten zu lernen. Hierzu werden möglichst tagesaktuelle Fragen – bevorzugt, aber nicht ausschließlich zu biogenen Arzne<strong>im</strong>itteln – gestellt und zu diesen Fragen Stellungnahmen erarbeitet. Die Bearbeitung der Fragen erfolgt in zwei Phasen: In einer ersten Phase (Präsenzphase) wird versucht, innerhalb von ca. 30 Minuten eine erste „Einschätzung“ zu formulieren. In der zweiten Phase wird als Hausarbeit innerhalb der nächsten 14 Tage von Arbeitsgruppen eine tiefer gehende, hinreichend fundierte „Stellungnahme“ erarbeitet, die dann zu Beginn eines Seminars vorgestellt und von allen Seminarteilnehmern diskutiert wird. Geschult werden soll: • die Fähigkeit zu einer schnellen, „spontanen“ Auskunft zu Fragen, mit denen man bisher nicht so konkret konfrontiert wurde, • die Fähigkeit zur Formulierung einer fundierten Stellungnahme zu „neuen“ Fragen nach sorgfältiger Recherche (gutachterliche Stellungnahme), die sich einerseits an Laien (Patienten), andererseits an Fachleute (Ärzte) richtet. Dass als Resultat ganz unterschiedlich formulierte Stellungnahmen zur gleichen Frage zu formulieren sind, ist selbstredend und Teil der Übung, • der Umgang mit Datenbanken und Informationen aus dem Internet, • die kritische Wertung von Informationen aus dem Internet. Der Besuch der Veranstaltung ist für Studierende des 8. Semesters verpflichtend! Als Leistungsnachweis gelten die schriftlichen Stellungnahmen. POSITIVES FEEDBACK DER STUDENTEN Natürlich wird dieses Seminar, wie alle unsere Lehrveranstaltungen, evaluiert, und die Ergebnisse dieser Evaluation sind durchaus positiv. Besonders erfreulich ist es jedoch, wenn sich ehemalige Studierende bei mir melden und unaufgefordert berichten, dass sie aus dieser Art der Lehre einen Nutzen für die Praxis ziehen konnten. Dies passiert <strong>im</strong>mer wieder, und ich möchte als Beispiel die folgende Mail wiedergeben, die mich am 25. November 2010 um 20:44:13 erreichte: Guten Abend Herr Professor Dingermann, Vor etwa zwei Monaten saß ich bei Ihnen <strong>im</strong> Staatsexamen und bin zum 1. November ins PJ gestartet. Heute habe ich ein kleines Erfolgserlebnis gehabt, das ich Ihnen verdanke, denn ein Arzt rief an und fragte mich nach einem Wirkstoff, den er noch nicht kannte. Im Apothekenprogramm konnte ich ihn (Vernakalant) auch nicht finden, doch da wir die Situation mit Ihnen und Frau Doktor Zündorf geübt hatten, konnte ich dem Arzt nach einer halben Stunde die ersten Informationen geben und habe ihm für morgen noch einen ausführlicheren Bericht zusammengestellt. Er bedankte sich daraufhin sehr für die kompetente Beratung. Ich hätte nicht gedacht, dass sich das Üben mit Ihnen so schnell bezahlt macht. Daher vielen Dank dafür. Mit freundlichen Grüßen D.S. Es gibt viele Möglichkeiten, junge Leute auf einen faszinierenden Beruf vorzubereiten und Ihnen das Rüstzeug mitzugeben, aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse zu verstehen und zu kommunizieren. Eine Patentlösung gibt es nicht, und das ist auch gut so. Daher soll der hier geschilderte Ansatz auch nichts anderes sein, als ein Beispiel – nicht mehr und nicht weniger. Von Prof. Theo Dingermann, Professor für Pharmazeutische Biologie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main Foto: Theo Dingermann