En passant
978-3-86859-061-6
978-3-86859-061-6
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Vorwort<br />
Die Renaissance der „flânerie“<br />
Unterwegs in der Landschaft Stadt<br />
Citámbulos Köln.mx<br />
Ein Spaziergang durch die<br />
Wahrnehmungswelten zweier Städte<br />
Köln als Schule des Sehens<br />
Gehen, um zu verstehen<br />
Spaziergangswissenschaft<br />
Repräsentationen von Natur<br />
im städtischen Kontext
Die Wahrnehmung von Stadt, von urbanen und suburbanen Räumen,<br />
hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten enorm gewandelt. Der<br />
„andere“ Blick auf heutige Stadtgebilde ist in erster Linie von der<br />
Suche nach unentdeckten oder unbeachteten Potenzialen und von der<br />
Neubetrachtung und damit auch Neubewertung ästhetischer und atmosphärischer<br />
Qualitäten bestimmt. Inzwischen existiert eine ganze<br />
Reihe von oftmals künstlerisch geprägten Ansätzen, die sich einer intensiveren<br />
und reflektierteren Form der Architektur- und Stadterfahrung<br />
widmen – ganz im Sinne eines situationistischen Urbanismus.<br />
Die Herausgeber dieses Buches, Kay von Keitz und Sabine<br />
Voggenreiter, sind die Initiatoren und Veranstalter der alljährlich in<br />
Köln stattfindenden Architekturwoche plan. Sie verstehen ihr 1999<br />
gegründetes Forum als Plattform, die gerade solchen Positionen Aufmerksamkeit<br />
und Raum verschaffen soll. 2008 stellten sie gemeinsam<br />
mit Andreas Denk, dem Chefredakteur der Zeitschrift der architekt,<br />
vier Protagonisten aus diesem Bereich im Rahmen von plan vor und<br />
baten diese, ihre jeweilige Wahrnehmungsmethodik in geführten Stadtwanderungen<br />
auf Köln anzuwenden: Markus Ambach, Mitbegründer<br />
von stadtraum.org in Düsseldorf, fokussierte die höchst eigentümlichen<br />
Erscheinungsformen der Pflanzenwelt in urbanen Zusammenhängen;<br />
Boris Sieverts’ Büro für Städtereisen organisierte eine mehrteilige<br />
Wiederbegehung seiner für plan03 entwickelten Tour entlang<br />
der „Via Sacra“; Bertram Weisshaar, „Spaziergangsforscher“ und<br />
Gründer von Atelier Latent in Leipzig, konzentrierte sich auf die Absurdität,<br />
aber auch oft unerkannte Schönheit von Verkehrsbauwerken<br />
aus der Fußgängerperspektive; und die Citámbulos, also „Stadtwandler“,<br />
Ana Álvarez, Vlady Díaz, Melina González, Valentina Rojas Loa<br />
und Christian von Wissel aus Mexiko-Stadt richteten einen poetisch<br />
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8 Vorwort<br />
orientierten Blick auf die „rheinische Metropole“ aus der Perspektive<br />
von Bewohnern einer Megastadt. Begleitet wurden die vier Touren<br />
von Sybille Petrausch, deren Videodokumentation diesem Buch als<br />
DVD beiliegt.<br />
Das Projekt fand dann bei plan09 in Form einer Ausstellung mit<br />
digitalen Fotoschauen und Filmpräsentationen seine Fortsetzung. Den<br />
reflektierenden Abschluss erfährt es nun durch diese Publikation, die<br />
neben thematisch vertiefenden Artikeln vor allem die eigens hierfür<br />
erarbeiteten Beiträge von Markus Ambach, Boris Sieverts, Bertram<br />
Weisshaar und Christian von Wissel enthält.
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Sabine Voggenreiter<br />
Der Appetit kommt beim Essen<br />
<strong>En</strong> <strong>passant</strong>, der Titel des Projekts, lehnt sich an Heinrich von Kleists<br />
Motto seines Aufsatzes „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken<br />
beim Reden“ 1 an und ist eine Parodie auf das französische<br />
geflügelte Wort „l’appétit vient en mangeant“ („der Appetit kommt<br />
beim Essen“): l’idée vient en <strong>passant</strong>. Ebenso prozesshaft und sukzessive<br />
wie die Verfertigung der Idee beim Reden sollen sich, hoffentlich<br />
ebenfalls „fabriziert auf der Werkstätte der Vernunft“, nun also<br />
während des Gehens in der Stadt neue Erkenntisse und profundes<br />
Wissen über deren Charakter, ihren Zusammenhalt, ihre Möglichkeiten<br />
einstellen.<br />
Der Weg ist das Ziel – das Medium ist die Botschaft<br />
Raum, Stadtraum, Räume wahrnehmen, Eindrücke verarbeiten, überhaupt<br />
Stadt „sehen“, erleben, interpretieren und erkennen sind Prozesse,<br />
die gelernt und eingeübt werden wollen. Voraussetzung sind<br />
Empfänglichkeit und das Sicheinlassen auf einen offenen Ausgang,<br />
auf mehr oder minder zielgerichtete Bewegung, auf die vergehende<br />
Zeit, auf Dialoge mit Mit-Gängern und Passanten, auf Situationen,<br />
Zufälle, Ablenkungen, Auseinandersetzungen mit Aktionen und<br />
Abenteuern sowie auf kollektive Eindrücke und Erkenntnisse. Nicht<br />
nur der Spaziergang selbst, sondern auch der damit einhergehende<br />
Erkenntnisprozess beschreibt einen Kreis: Erst vom <strong>En</strong>de her und im<br />
Durchlaufen eines hermeneutischen Zirkels sind die einzelnen Abschnitte<br />
und Ereignisse und ihre Bedeutung ganz zu verstehen. Das<br />
unmittelbare Erlebnis, das sich beim Gehen einstellt, verbindet die<br />
Einzeleindrücke zu einer übergreifenden Erkenntnis, bei der das<br />
Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile.
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Christian von Wissel<br />
Bereist man eine fremde Stadt, warten an jeder Ecke Überraschungen.<br />
Es tun sich ungeahnte Wege auf, mit denen die Stadt den Neuling in<br />
das Leben ihrer Bewohner hineinzieht, und unablässig vergleicht man<br />
die neue Umgebung mit den Vorstellungen und den Bildern, die man<br />
aus der Heimat mitgebracht hat.<br />
Führt der Weg aber durch die eigene Stadt, wird der Blick meist<br />
durch den Alltag verstellt. Man hastet stets von hier nach da und verliert<br />
auf diese Weise die Stadt aus den Augen. Wann hat man das<br />
letzte Mal das Stadtwappen auf den Kanaldeckeln der Altstadt betrachtet<br />
oder ein Gespräch mit Fahrgästen in der Straßenbahn angefangen?<br />
Und warum auch sollte der Blick durch den leeren Rahmen<br />
einer Informationstafel eine Bereicherung sein?<br />
Citámbulos, zu Deutsch „Stadtwandler“, ist eine lose Gruppierung<br />
von Künstlern, Stadtplanern und Architekten aus Mexiko-Stadt,<br />
die die Menschen einlädt, die eigene Stadt neu zu bereisen, um Altbekanntes<br />
neu wahrzunehmen. Dies kann zum Beispiel bereits auf dem<br />
immer gleichen Weg zur Arbeit passieren, denn sobald man auf die<br />
Straße tritt, den Blick weitet und die Sinne schärft, lässt sich das Außergewöhnliche,<br />
aber auch das Wesentliche der eigenen Stadt erkennen:<br />
das Ungewohnte, Mysteriöse, Furchtbare und Poetische, das parallel<br />
zur alltäglichen Routine existiert. Dem Reisenden in der<br />
eigenen Stadt, dem „Stadtwandler“, erschließen sich die längst schon<br />
nicht mehr wahrgenommenen Zusammenhänge des täglichen Lebens<br />
aufs Neue, und die vom Alltag gezogenen Grenzen verschieben sich<br />
allein dadurch, dass man den Blick auf eine unbekannte Gegend der<br />
Stadt richtet, einem Nachbarn zuhört, durch eine sonst stets verschlossene<br />
Tür tritt, horcht, riecht und immer wieder stehen bleibt,<br />
weitergeht, stehen bleibt …
„Fenstersturz“, Coyoacán, Mexiko-Stadt<br />
Paracaidismo – nicht geplante Besiedlung von unerschlossenem Land, Bordo de Xochiaca, Mexiko-Stadt<br />
Schule in einem Eisenbahnwagon, Naucalpan, Mexiko-Stadt<br />
Siedlung unter einer Brücke, La Raza, Mexiko-Stadt
Boris Sieverts<br />
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Via Sacra – Führung auf dem Abschnitt von St.Pantaleon nach St.Aposteln<br />
Treffpunkt vorm Hauptportal von St. Pantaleon. Gang durch das Törchen zum<br />
Pantaleonshügelpark. Im Angesicht der großen Wiese: Inkognitopark. Gegenstück<br />
Klingelpützpark. Inkognitocharakter durch die Lage an der großen Verkehrsstraße,<br />
die den Park nicht nur stark verlärmt, sondern auch abtrennt. Zur<br />
anderen Seite Abtrennung durch die Kirche und die umgebenden Mauern und<br />
Gebäude. Früher Weinberg. Im 19. Jh. Bebauung entlang der Bäche. Fritz<br />
Schumacher hat sich in den 20er Jahren kaum mit der Kölner Innenstadt befasst,<br />
da er im Wesentlichen mit der Lösung der großräumlicheren Probleme,<br />
insbesondere mit der Schaffung des Grünsystems aus innerem und äußerem<br />
Grüngürtel beschäftigt war. Zu zwei innerstädtischen Standorten hat er dann<br />
aber doch Aussagen gemacht, und zwar Domumgebung und Pantaleonshügel,<br />
letzteres, weil er in dem alten Immunitätsbezirk auf dem Hügel einen sehr auratischen<br />
Ort sah. In Fortsetzung seiner Ideen wurde dann auch nach dem<br />
Krieg die Bebauung entlang der Bäche nicht wieder aufgebaut bzw. die Reste<br />
auch noch abgerissen. Als Inkognitopark vergisst man diesen Park leicht, das<br />
heißt, selbst wenn man in der Nähe ist und in Gedanken auf der Suche nach<br />
einem grünen Flecken, kommt man im Zweifelsfalle nicht auf diesen Park.<br />
Deshalb ist er auch meistens recht leer, wobei sich das in den letzten Jahren<br />
etwas geändert hat. […] Spindelrampe: Gertrude Helm: „Wenn das da ein<br />
Park war, ist das hier ein Platz.“ Bühnenartige Situation. […]<br />
Seit mehr als zehn Jahren führe ich mit meinem Büro für Städtereisen<br />
Menschen durch ihre Heimatstädte. Auf der Suche nach „Terra incognita“<br />
geraten wir dabei zumeist in jene Gegenden zwischen Baumärkten,<br />
Kiesgruben und Autobahnring, die, wenn man anfängt, sich quer zu<br />
den Systemelementen des Verkehrs durch sie hindurchzubewegen, zu<br />
den großen, epischen Landschaften unserer Kulturgeschichte der ver-
Turiner Straße (Nord-Süd-Fahrt), Köln<br />
Eigelstein/Ecke Unter Kranenbäumen, Köln, Zustand 2002
Kutschunternehmen W. Küpper, Bobstraße, Köln<br />
Kutschunternehmen W. Küpper, Bobstraße, Köln<br />
ehemaliges Franziskanerkloster, Ulrichgasse, Köln
Parkhaus ICC, Berlin<br />
Aussicht vom Parkhaus Cäcilienstraße, Köln
Fassadenbewuchs, Köln<br />
Straßenbegleitgrün, Köln