Leseverstehen - Pädagogische Hochschule - Schwäbisch Gmünd
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Forum Forschung<br />
das Wissenschaftsmagazin<br />
der <strong>Pädagogische</strong>n <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />
Habilitation<br />
Promotion<br />
Ausgabe 2 ❘ Mai 2011
Inhalt<br />
3 Vorwort<br />
4 Forschung an der<br />
<strong>Pädagogische</strong>n <strong>Hochschule</strong><br />
4 Forschung<br />
6 Habilitation<br />
6 Parlamente von innen verstehen<br />
10 Promotionen<br />
10 Schulgärten in Baden-Württemberg<br />
16 Implizite Angstdiagnostik bei<br />
Grundschulkindern<br />
20 Reales Erleben in virtuellen Welten<br />
24 Bandornamente im Elementarbereich<br />
28 Funktionales Denken in<br />
den baden-württembergischen<br />
Bildungsplänen<br />
34 Dynamische Geometrie-Systeme<br />
in der Hauptschule<br />
38 Multiple externe Repräsentationen<br />
(MERs) und deren Verknüpfung durch<br />
Computer einsatz<br />
42 Verbesserung der Ausbildungsfähigkeit<br />
durch neigungsorientierten Schulsport<br />
an Hauptschulen?<br />
48 Förderung des <strong>Leseverstehen</strong>s<br />
in der Grundschule<br />
52 Fächerübergreifende Elemente im<br />
Mathematikunterricht zur Förderung<br />
von Mathematical literacy<br />
56 Irma-Schmücker-Preis und<br />
Hellmuth-Lang-Preis
Vorwort<br />
Ein immer breiteres Spektrum:<br />
Die PH <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> als moderne bildungswissenschaftliche <strong>Hochschule</strong><br />
Prof. Dr. Astrid Beckmann Rektorin<br />
Vorwort<br />
Die <strong>Pädagogische</strong>n <strong>Hochschule</strong>n sind wohl die deutschen <strong>Hochschule</strong>n, die sich in den letzten Jahrzehnten am<br />
meisten gewandelt haben. Aus den ursprünglichen Lehrerinstituten des 19. Jahrhunderts sind heute moderne bildungswissenschaftliche<br />
<strong>Hochschule</strong>n geworden, in denen neben der Lehrerbildung weitere bildungsbezogene Studiengänge<br />
eine zentrale Rolle spielen. Mit einem Schwerpunkt im Bereich der Bildungsforschung übernehmen sie eine<br />
zentrale Verantwortung für ein Land, in dem Bildung eine der wichtigsten Ressourcen ist.<br />
Die <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> ist ein besonderes Beispiel für einen erfolgreichen und zukunftsweisenden<br />
Weg von der Tradition zur Moderne. In der ältesten Stauferstadt Deutschlands wurde sie als erste PH in<br />
Baden-Württemberg gegründet. Inzwischen ist sie eine <strong>Hochschule</strong> mit Universitätsstatus. Sie hat das Promotions- und<br />
Habilitationsrecht und ist ein Bildungs- und Forschungszentrum, von dem wichtige Impulse in die Region und weit<br />
darüber hinaus ausgehen.<br />
Mit den Forschungsprojekten und Initiativen ihrer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler leistet die PH <strong>Schwäbisch</strong><br />
<strong>Gmünd</strong> einen wichtigen Beitrag zur Erkenntnisgewinnung und gesellschaftlichen Entwicklung. Einer der Schwerpunkte<br />
ist zum Beispiel die Frühe Bildung. Mit Studienanfängerzahlen von jeweils über 100 Studierenden gehört der zugehörige<br />
Bachelor-Studiengang zu den größten in Deutschland. 2010 konnten an der PH <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> hier die<br />
ersten Absolventinnen und Absolventen erfolgreich verabschiedet werden. Die PH <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> engagiert sich<br />
im Regionalverbund Sprachförderung mit der Konzeption und Umsetzung von Sprachförderprogrammen einschließlich<br />
wissenschaftlich begleiteter Sprachstandserhebungen. Sie kooperiert im Projekt »Integration durch Bildung« mit der<br />
Ausbildung von Förderlehrerinnen und –lehrern. Ebenso ist auch die mathematisch-naturwissenschaftlich-technische<br />
Bildung ein zentrales Feld der Forschung, Unterrichtsentwicklung, Konzeption und Umsetzung von Förderprogrammen.<br />
Mit dem Masterstudiengang »Interkulturalität und Integration« und dem Bachelor- und Masterstudiengang Gesundheitsförderung<br />
werden weitere zentrale Problembereiche und Zukunftsfragen unserer Gesellschaft angegangen.<br />
Eine zentrale Aufgabe der PH <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> ist aber auch die fachdidaktische Forschung und Lehre. Hier ist<br />
positiv zu vermerken, dass sich auch bei den politisch Verantwortlichen immer mehr die Erkenntnis durchsetzt, dass<br />
die fachdidaktische Kompetenz ein entscheidender Faktor für einen erfolgreichen Unterricht ist. Erst dadurch kann<br />
eine begriffliche Tiefe und eine dem Fach entsprechende Erkenntnisgewinnung angeregt werden, aber auch eine<br />
angemessene Förderung der Schülerinnen und Schüler unter Beachtung ihrer wachsenden Heterogenität. Es gehört<br />
daher auch zum Konzept der Lehramtsausbildung der PH <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong>, dass die Studierenden schon während<br />
ihres Studiums in fachdidaktische Forschungsfragen und Projekte eingebunden werden.<br />
An der PH <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> ist Forschung meist Drittmittel gefördert. Durch ein entsprechendes Engagement der<br />
Kolleginnen und Kollegen konnten entsprechende finanzielle Förderungen eingeworben und damit Qualifikationsstellen<br />
geschaffen werden. Nachwuchsförderung ist aber auch ein spezielles Anliegen der Hochschulleitung, die regelmäßig<br />
Stellen für Doktorandinnen und Doktoranden aus zentralen Mitteln ausschreibt und Anschubfinanzierung leistet.<br />
Hervorzuheben ist, dass die Anzahl der Doktorandinnen und Doktoranden sich in den letzten drei Jahren verfünfzehnfacht<br />
hat. Eine Auswahl erfolgreicher Dissertationen ist in diesem Sonderheft zu Forum Forschung zusammengefasst.<br />
Das Spektrum reicht von der mathematikdidaktischen Forschung, die den Schwerpunkt dieses ersten Sonderhefts<br />
ausmacht, über soziologische, psychologische Fragestellungen bis hin zu deutsch- und sportdidaktischen Themen. Mit<br />
dem vorliegenden Heft wird die Arbeit unseres wissenschaftlichen Nachwuchses gewürdigt und kommuniziert. Ich<br />
würde mich freuen, wenn es dazu beiträgt, einen weiteren Dialog in der Forschung anzustoßen.<br />
<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> Forum Forschung Mai 2011 3
Forschung<br />
Forschung<br />
4 Forum Forschung Mai 2011 <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />
Fachdidaktik, Fachwissenschaft und viel mehr:<br />
Die Forschung des wissenschaftlichen Nachwuchses an der<br />
<strong>Pädagogische</strong>n <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />
Die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses ist der <strong>Pädagogische</strong>n<br />
<strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> als einer <strong>Hochschule</strong> mit eigenständigem<br />
Promotions- und Habilitationsrecht ein besonderes Anliegen, und so dienen<br />
alle Maßnahmen, die die <strong>Hochschule</strong> zur Forschungsförderung ergreift, vor<br />
allem auch der Unterstützung ihrer Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler.<br />
Besonders positiv hat sich in den letzten Jahren an unserer <strong>Hochschule</strong><br />
die Zahl der Promovierenden und der abgeschlossenen Promotionen<br />
entwickelt. Aktuell arbeiten an der <strong>Pädagogische</strong>n <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong><br />
<strong>Gmünd</strong> 51 Doktorandinnen und Doktoranden aus dem In- und Ausland an<br />
ihren Dissertationen. Für eine mit ca. 2.500 Studierenden vergleichsweise<br />
kleine <strong>Hochschule</strong> ist dies eine erfreulich hohe Zahl, die vor allem durch die<br />
erfolgreiche Einwerbung verschiedenster nationaler und internationaler Drittmittelprojekte,<br />
strukturierter Promotionskollegs und Stipendien möglich geworden<br />
ist.<br />
Das vorliegende Heft von Forum Forschung bietet einen ersten Einblick in<br />
die Vielfalt der Themen, zu denen die Nachwuchswissenschaftlerinnen und<br />
-wissenschaftler der <strong>Pädagogische</strong>n <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> forschen.<br />
Es fasst die Ergebnisse einer Auswahl von Dissertationen und Habilitationsschriften<br />
zusammen, die in den letzten Jahren an unserer <strong>Hochschule</strong> abgeschlossen<br />
worden sind und die Fragestellungen der Mathematikdidaktik, der Didaktik<br />
der Naturwissenschaften, der Sportdidaktik, der Politikwissenschaft und der<br />
Forschung zum Einsatz elektronischer Medien untersucht haben. Neben fachdidaktischen<br />
und fachwissenschaftlichen Fragestellungen, wie sie im aktuellen<br />
Heft von Forum Forschung im Vordergrund stehen, betreffen die Forschungsgebiete<br />
der Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler der <strong>Pädagogische</strong>n<br />
<strong>Hochschule</strong>n auch die Erziehungswissenschaft, die Psychologie, die<br />
Soziologie und die Bereiche der frühkindlichen Bildung, der Gesundheit und<br />
der Interkulturalität. Die Vielfalt der Themen, zu denen geforscht wird, ergibt<br />
sich dabei nicht zuletzt daraus, dass an den <strong>Pädagogische</strong>n <strong>Hochschule</strong>n
Forschung<br />
heute nicht nur Lehramtstudiengänge angeboten werden, sondern dass auch<br />
unterschiedliche Bachelor- und Masterstudiengänge eingerichtet worden sind.<br />
So können an der <strong>Pädagogische</strong>n <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> außer den<br />
Lehramtsstudiengängen die Bachelorstudiengänge »Frühe Bildung« und »Gesundheitsförderung«<br />
sowie die Masterstudiengänge »Bildungswissenschaften«,<br />
»Interkulturalität und Integration« und »Gesundheitsförderung« studiert werden.<br />
Die Bachelor- und Masterstudiengänge greifen demnach hoch aktuelle Themen<br />
wie die Förderung interkultureller Kompetenzen, frühkindlicher Bildung<br />
und Betreuung und die Unterstützung einer gesunden Lebensweise in allen<br />
Lebensabschnitten auf. Gleichzeitig sind sie Gebieten gewidmet, die auch im<br />
Lehramtsstudium eine wichtige Rolle spielen und in denen es einen besonders<br />
hohen Bedarf an qualifiziertem wissenschaftlichen Nachwuchs gibt. Bereits in<br />
diesem Jahr werden an der <strong>Pädagogische</strong>n <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />
eine größere Zahl von Promotions- und Habilitationsverfahren abgeschlossen,<br />
die sich mit Themen wie dem Gesundheitsverhalten von Kindern, Jugendlichen<br />
und Erwachsenen, der frühen Sprachförderung und unterschiedlichen Aspekten<br />
der Interkulturalität und Integration beschäftigen.<br />
Einen aktuellen Überblick über die Forschungsprojekte der <strong>Pädagogische</strong>n<br />
<strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> bietet die Forschungsdatenbank der <strong>Hochschule</strong>,<br />
die über die Webseite http://forschung.ph-gmuend.de/ eingesehen<br />
werden kann. Hier finden sich auch ausführliche Beschreibungen der größeren<br />
Forschungsprojekte, aus denen einige der im vorliegenden Heft von Forum<br />
Forschung vorgestellten Qualifikationsschriften hervorgegangen sind. Wir laden<br />
Sie dazu ein, die Forschungsdatenbank der <strong>Pädagogische</strong>n <strong>Hochschule</strong><br />
<strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> zu nutzen, um sich genauer über die Forschungsaktivitäten<br />
unserer <strong>Hochschule</strong> zu informieren.<br />
Prof. Dr. Thorsten Piske Prorektor für Forschung,<br />
Entwicklung und internationale Beziehungen<br />
<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> Forum Forschung Mai 2011 5
Habilitation ❘ Parlamente von innen verstehen<br />
Parlamente von innen<br />
verstehen<br />
Dr. Helmar Schöne<br />
Abstract: An interior view on legislatures. Misconceptions about the work of legislatures and legislators are still<br />
widely spread. On the empirical basis of participant observation and semi-structured interviews the author analyzes<br />
the everyday life and the informal practices in legislative bodies. This micro-analytical perspective enables one to<br />
draw important conclusions for civic education in both legislatures and educational institutions.<br />
Politikwissenschaftliche Mikroanalyse und Politische Bildung<br />
Nur selten wird in der Öffentlichkeit sichtbar, was in Parlamenten<br />
außerhalb von Plenarsitzungen passiert. Wie<br />
eigentlich sieht die Arbeit von Abgeordneten im Parlament<br />
aus, wenn sie nicht im Plenum sitzen oder dort<br />
reden? Die Beantwortung dieser Frage ist sowohl für die<br />
Politische Bildung als auch für die politikwissenschaftliche<br />
Fachdebatte von Bedeutung.<br />
Für die politische Bildungsarbeit ist eine Antwort wichtig,<br />
weil sich überholte Deutungsmuster über die Arbeitsweise<br />
von Parlamenten mit stupender Beharrlichkeit halten. Zu<br />
den vermeintlichen Gewissheiten über das Funktionieren<br />
der zentralen Institution unseres Regierungssystems gehört<br />
etwa die Vorstellung, die Gewaltenteilung würde zwischen<br />
Exekutive (Regierung) und Legislative (Parlament)<br />
verlaufen – eine Auffassung die auf den Konstitutionalismus<br />
zurückgeht und für präsidentielle Regierungssysteme<br />
wie die USA zutreffend ist, nicht aber für die parlamentarische<br />
Demokratie der Bundesrepublik Deutschland.<br />
Weit verbreitet ist nach wie vor auch die Annahme, die<br />
Abgeordneten würden in ihren Fraktionen unter einem<br />
Zwang stehen, der sicherstellt, dass sie nicht die Fraktionslinie<br />
verlassen. Wie anders als mit Fraktionszwang<br />
könnte es sonst zu erklären sein, dass die Fraktionen in<br />
der Regel geschlossen abstimmen? Wo die Akzeptanz<br />
für ein einheitliches Abstimmungsverhalten der Fraktionen<br />
fehlt, ist auch die Forderung nicht weit, dass sich<br />
die Abgeordneten im Plenum mehr mühen sollten, die<br />
anderen Parlamentarier mit Argumenten zu überzeugen<br />
statt nur vorbereitete Standpunkte zu präsentieren.<br />
6 Forum Forschung Mai 2011 <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />
Bei der Aufklärung über typische öffentliche Fehlverständnisse<br />
gegenüber Parlamenten steht die Politische<br />
Bildungsarbeit vor vielfältigen Herausforderungen. Das<br />
gilt für die schulische Politische Bildung und selbst für<br />
die Bildungsangebote von Parlamenten. In den Schulen<br />
zwingen das geringe Stundenkontingent und die Notwendigkeit<br />
zur didaktischen Reduktion nur allzu oft zu<br />
Vereinfachungen. Im günstigen Fall bleibt es dann bei<br />
der Vermittlung von Überblickswissen, im ungünstigen<br />
Fall werden Missverständnisse tradiert. Mit abstrakten<br />
Schemata, etwa zum Weg eines Gesetzes vom Entwurf<br />
bis zum Beschluss, wie sie im Gemeinschaftskundeunterricht<br />
tausendfach eingesetzt werden, lässt sich kein<br />
tieferes Verständnis für politische Entscheidungsprozesse<br />
herstellen, geschweige denn Wertschätzung für den<br />
Wettbewerb und die Kompromissbildung zwischen unterschiedlichen<br />
politischen Positionen erzeugen.<br />
Reichstagsgebäude – Kuppel.
Auch die parlamentarische Öffentlichkeitsarbeit ist nicht<br />
frei von der Gefahr, Vorurteile über die Arbeit des Parlaments<br />
eher zu verstärken als zu beheben. Wenn nämlich<br />
die Dramaturgie eines Aufenthalts im Parlament auf<br />
einen Besuch des Plenums ausgerichtet ist, bleiben jene<br />
Gremien, in denen die eigentliche parlamentarische Sacharbeit<br />
stattfindet, schnell unbeachtet. Schlimmer noch:<br />
Auf der Tribüne kann sich der Eindruck der Besucher,<br />
den sie vom Parlament immer schon hatten, sogar verstärken,<br />
wenn sie einen leeren Plenarsaal und, je nach<br />
Tagesordnungspunkt, parteipolitischen Streit oder langweilige<br />
Reden erleben, ohne nähere Erläuterungen zum<br />
parlamentarischen Alltag zu erhalten.<br />
Aber auch die Politikwissenschaft, die bei der Analyse<br />
von politischen Institutionen oder von ganzen Regierungssystemen<br />
üblicherweise eine Makroperspektive<br />
einnimmt, hat sich bislang nur selten um das Alltagshandeln<br />
von Abgeordneten in Parlamenten und ihren<br />
Fraktionen gekümmert. Dafür bedarf es einer, bisher<br />
vernachlässigten, mikroanalytischen Perspektive, die<br />
sich den alltäglichen Routinen, den selbstverständlichen<br />
Verhaltensweisen und den informellen Prozessen des<br />
parlamentarischen Geschehens annimmt. Eine solche<br />
Perspektive hilft, die Funktionsweise der Institution Parlament<br />
insgesamt verständlich zu machen und trägt zu zentralen<br />
in der Politikwissenschaft geführten Debatten bei.<br />
Eine solche Debatte kreist beispielsweise um die Frage,<br />
welche Funktion die Ausschüsse für die parlamentarische<br />
Entscheidungsfindung erfüllen. Ist ein Ausschuss ein<br />
Plenum im Kleinformat, in dem nur das Geschehen der<br />
Plenarversammlung, also die Konfrontation unterschiedlicher<br />
Fraktionsstandpunkte, vorweggenommen wird?<br />
Oder wird im Ausschuss über Parteigrenzen hinweg gemeinsam<br />
an Gesetzesvorlagen gearbeitet? Eine andere<br />
Kontroverse bezieht sich auf die Rolle des Bundestages<br />
im Regierungssystem: Ist es richtig, eine »Entparlamentarisierung«<br />
zu konstatieren? Haben die Politikverflechtung<br />
im kooperativen Föderalismus, die Übertragung von<br />
Gesetzgebungskompetenzen auf die EU, die Vorfestlegung<br />
von parlamentarischen Entscheidungen durch die<br />
Parteien sowie die Auslagerung von Entscheidungen in<br />
Expertenkommissionen (z. B. Hartz-Kommission, Rürup-<br />
Kommission) dem Parlament wichtige Entscheidungsmöglichkeiten<br />
entzogen?<br />
Plenarsaal.<br />
Habilitation ❘ Parlamente von innen verstehen<br />
Erstmalig ist es in einem Forschungsprojekt gelungen,<br />
direkte Einblicke in den Alltag aller Fraktions- und Parlamentsgremien,<br />
die üblicherweise hinter verschlossenen<br />
Türen tagen, zu erhalten und empirisch gesicherte Antworten<br />
auf die o. g. Fragen zu finden. An diesem DFGgeförderten<br />
Forschungsprojekt unter der Leitung von Werner<br />
J. Patzelt (Technische Universität Dresden) ist der Autor<br />
beteiligt gewesen. In dem Projekt wurden im Deutschen<br />
Bundestag und im Sächsischen Landtag Gremiensitzungen<br />
mit der Methode der teilnehmenden Beobachtung<br />
begleitet. Die Beobachtungen umfassten 77 verschiedene<br />
Gremiensitzungen mit einer Dauer von 240 Stunden,<br />
aus denen 1150 Seiten Beobachtungsproto kolle entstanden<br />
sind. Außerdem wurden mit 141 Abgeordneten<br />
und anderen parlamentarischen Akteuren (Ministern,<br />
Mitarbeitern) so genannte Leitfaden-Interviews geführt.<br />
Arbeitsteilung und Spezialisierung: Zur Rolle der Arbeitskreise.<br />
»Das Expertenparlament«<br />
oder »Fragmentierte Expertenkultur« sind Begriffe, mit<br />
denen sich die deutschen Parlamente der Gegenwart<br />
zusammenfassend beschreiben lassen. Damit der Bundestag<br />
(bzw. ein Landtag) die Funktionen, die er für das<br />
Regierungssystem erbringt, erfüllen kann, sind die Fraktionen<br />
unabdingbar. Sie sind zum eigentlichen Träger der<br />
Parlamentsfunktionen (gemeinhin geht man von vier aus:<br />
Regierungsbildung und -kontrolle, Gesetzgebung, Kommunikation)<br />
geworden. Wie das Parlament mit seinem<br />
Ausschusssystem und seinen Kommissionen eine arbeitsteilige<br />
Struktur ausgebildet hat, welche die Bearbeitung<br />
einzelner Politikfelder durch jeweilige Experten ermöglicht,<br />
so sichern die Fraktionen durch die Organisation in<br />
Arbeitsgruppen und Arbeitskreisen, die Bündelung von<br />
Sachverstand und die fachliche Detailarbeit.<br />
Diese Arbeitskreise (wie sie hier der Einfachheit halber<br />
genannt werden, auch wenn sie in einigen Fraktionen<br />
AGs heißen) sind, so zeigt sich nun, der eigentliche Nukleus<br />
der parlamentarischen Arbeit. Häufig sind sie nicht<br />
nur der Ausgangspunkt der politischen Willensbildung<br />
in den Fraktionen, sondern auch der Endpunkt. Für ihre<br />
Frakti onen erfüllen sie vor allem drei zentrale Funktionen:<br />
Agenda-Set ting, Entscheidungsfindung und Integration.<br />
Agenda-Setting<br />
Das Agenda-Setting erfolgt von »unten«, indem die fachpolitischen<br />
Experten Informationen, Anregungen und<br />
Wünsche aus ihren Kontakten zu den gesellschaftlichen<br />
Gruppen ihres Fachgebietes sowie aus ihren Wahlkreisen<br />
in die Arbeitskreise tragen. Die Arbeits kreise sind ein Eingangsportal,<br />
durch das Themen aus der Gesellschaft –<br />
über die Netzwerke der Fachpolitiker, durch Gäste in<br />
den Arbeits kreissitzungen, durch Ortstermine oder durch<br />
fraktionsinterne Anhörungen – das Parlament errei chen.<br />
Zugleich erfüllen sie die Funktion eines Filters, mit dem<br />
aus gewählt wird, welche Themen im Parlament weiter<br />
bearbeitet werden. Von »oben«, aus der Frak tionsführung<br />
oder – im Fall von Regierungsfraktionen – aus den Ministerien,<br />
in die Arbeitskreise gelangenden Vorlagen kann<br />
<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> Forum Forschung Mai 2011 7
Habilitation ❘ Parlamente von innen verstehen<br />
eine Behandlung üblicherweise nicht verwehrt werden.<br />
Ohne eine rechtzeitige Befassung der zuständigen Arbeitskreise<br />
können aber auch solche Vorlagen nicht den<br />
Weg durch die Fraktionsgremien an treten.<br />
Entscheidungsfindung<br />
Meistens kommt die Bearbeitung politischer Probleme in<br />
den Arbeitskreisen auch zu ihrem Abschluss. Dort findet<br />
der Groß teil der inhaltlichen Auseinandersetzung<br />
und Prüfung statt, dort werden die Entscheidungen in<br />
der Regel endgültig festgelegt und von der Fraktion, also<br />
im Fraktionsvorstand und der Fraktionsvoll versammlung,<br />
übernommen und nicht mehr in Frage gestellt. Bis die<br />
Fraktionsver sammlung über Vorlagen eines Arbeitskreises<br />
entscheidet, haben sie einen voraus setzungsvollen<br />
Kommunikationsprozess durchlaufen: Innerhalb des zuständigen<br />
Arbeitskreises war eine gemeinsame Position<br />
zu finden, die zudem mit anderen betroffenen Arbeitskreisen<br />
abgestimmt werden musste und in der bereits<br />
mögliche Bedenken aus dem Fraktionsvorstand oder der<br />
Fraktions versammlung antizipie rend Berücksichtigung<br />
gefunden haben. In der Fraktion können in der Regel<br />
nur beschlussfähige Vorlagen mit Zustimmung rechnen,<br />
die vom gesamten Arbeits kreis getragen werden, keine<br />
handwerklichen Mängel auf weisen und nicht gegen die<br />
politische Gesamtlinie der Fraktion verstoßen. Die Folgebereitschaft<br />
der Frakti onsmitglieder beruht auf dem Vertrauen<br />
in die gründli che Arbeit und die Fach kompetenz<br />
der Arbeitskreise – ein wichtiger Baustein für das geschlossene<br />
Auftreten der Fraktionen in den Ausschüssen<br />
und im Plenum.<br />
Parlamentarische Beschlussvorlagen.<br />
Prinzipiell können die Entscheidungen der Arbeitskreise<br />
vom Fraktionsvorstand oder der Fraktion natürlich überstimmt<br />
werden; das ist aber die Ausnahme von der Regel<br />
des parlamentarischen Alltags. Wenn die Fraktionsvorstände<br />
Entscheidungen an sich ziehen, handelt es sich<br />
meist um grundsätzliche oder im Fokus des öffentlichen<br />
Interes ses stehende Themen, für die Kompro misse auf<br />
höchster Entscheidungsebene gefunden werden müssen.<br />
Integration<br />
Schließ lich erfüllen die Arbeitskreise für ihre Fraktionen<br />
eine wichtige Integrationsfunk tion: Sie tragen zur Sozialisation<br />
der Abgeordneten bei, bilden eine soziale<br />
Be zugsgruppe, die den Parlamentariern Halt und Orientierung<br />
in der komplexen Um welt des Parlaments bietet<br />
und sie stellen ein Barometer für Stimmungen und Meinungen<br />
dar. Auch wenn sich die Arbeitskreise auf die<br />
8 Forum Forschung Mai 2011 <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />
Bear beitung der ihnen über tragenen Aufgabenfelder<br />
konzentrieren, so findet in ihnen dennoch politische Meinungsbildung<br />
statt, die über die Fachpolitik hinaus geht.<br />
Das ist besonders der Fall, wenn die eigene Fraktion<br />
bzw. Partei während oder vor einer Sitzungswoche im<br />
Mittelpunkt der Medienberichterstattung stand. Dann<br />
werden in den Arbeits kreisen auch allgemeine tagespolitische<br />
Fragen diskutiert.<br />
Der Funktionslogik parlamentarischer Regierungssysteme<br />
entsprechend, in der die Mehrheitsfraktionen und die<br />
Regierung gemeinsam ihre politischen Ziele zu verwirklichen<br />
suchen, verdienen die Arbeitskreise der Regierungsmehrheit<br />
besondere Aufmerksamkeit. Hier hat sich<br />
gezeigt, dass die Arbeitskreise weit mehr als ein Instrument<br />
der Loyalitätssicherung sind, um die Abgeordne ten<br />
auf den Kurs der Regierung einzuschwören. Von einer<br />
Entparla mentarisie rung, die auf eine einseitige Dominanz<br />
der Regierung über das Parla ment zurück zuführen<br />
ist, kann keine Rede sein. Vielmehr sind die Arbeitskreise<br />
ein zentraler Ort der Koordination der Interessen<br />
von Abgeordneten und Regierungsvertretern. Die enge<br />
Zusammenarbeit erlaubt die politische Einflussnahme in<br />
beide Richtungen: Die Ministerien haben die Möglichkeit,<br />
ihre politi schen Initiativen darzustellen, zu erklären<br />
und ggf. zu rechtfertigen und die Parlamentarier können<br />
das Regierungs handeln kritisieren, be einflussen und mitgestalten.<br />
Der voraussetzungsvolle und schwierige Prozess der<br />
Entscheidungsfindung in den Fraktionen, in den Regierungsfraktionen<br />
noch ergänzt um die aufwändige<br />
Abstimmung zwischen Abgeordneten und Regierungsvertretern,<br />
prägt auch die Arbeit in den Ausschüssen.<br />
Dort wird es die Regierungsmehrheit vermeiden, die in<br />
den eige nen Reihen mühsam hergestellten Kompromisse<br />
noch einmal aufzuschnüren. Das Gegenteil ist der Fall: In<br />
den Ausschusssitzungen setzen die Mehrheitsfraktionen<br />
ihre in den Arbeitskreisen ge troffenen Entscheidungen<br />
um; hier wird nur formal nachvollzo gen, was zuvor in<br />
der Regierungs mehrheit ausgehandelt und entschieden<br />
worden ist. Daher sind die Entscheidungen in den Ausschüs<br />
sen deut scher Parlamente viel we niger ergebnisoffen<br />
und daher wird dort ein viel geringe rer inhaltlicher<br />
Einfluss auf Vorlagen genommen, als es die verbreitete<br />
For mulierung suggeriert, nicht im Plenum, sondern in den<br />
Ausschüssen finde die eigentliche Arbeit der Abgeordneten<br />
statt. Nicht die Ausschüsse bilden also das Zentrum<br />
der fachpoli tischen Ent scheidungsfindung im Parlament,<br />
sondern die Facharbeits kreise der Fraktionen.<br />
Ausschusssitzung.
Schlussfolgerungen für die politische Bildung<br />
In formationen und Darstellungen über die Arbeitsweise<br />
des Parlaments dürfen nicht einseitig auf das Plenum und<br />
die Arbeit der Ausschüsse abstellen (zumal ja der häufig<br />
zu hörende Hinweis, in den Ausschüssen sei alles<br />
ganze anders als im Plenum, nämlich kooperativer und<br />
weniger parteipolitisch geprägt, im Kern nicht richtig ist).<br />
Stattdessen sollte die Arbeit in den Fraktionen stärker in<br />
den Mittelpunkt treten. Bei Parlamentsbesuchen können<br />
Führungen durch das gesamte Parlamentsgebäude mit<br />
einer Erläuterung der Funktion und der Arbeits weise der<br />
in den einzel nen Räumen tagenden Gremien helfen, das<br />
Ver ständnis für die Bedeutung der Fraktionsgremien zu<br />
verbessern. Die Fraktionen könnten über Hospitationsprogramme<br />
für Mittler der Politischen Bil dung an der<br />
Öffentlichkeitsarbeit der Parlamente beteiligt werden,<br />
indem sie beispielsweise ihre Gremien für kleinere<br />
Multiplikatorengruppen öffnen, um Einblicke in ihre Arbeitsweise<br />
zu gewähren. Solche Hospi tationen sollten<br />
idealerweise von einem umrahmenden Fortbildungsprogramm<br />
begleitet werden. Schließ lich müssten die<br />
Informationsmaterialen der Parlamente noch ausführlicher<br />
über die Bedeutung der von außen schwer einzuschätzenden<br />
Arbeit in den Arbeitskrei sen, Fraktionsversammlungen<br />
und Ausschüssen informie ren. Dasselbe gilt<br />
für Schulbücher und Arbeitsmaterialien für Schulen. Für<br />
Schülergruppen sind Planspiele eine geeignete Methode,<br />
um über die Schwierigkeiten aufzuklären, die entstehen,<br />
wenn verschiedene Fachleute und Gremien an<br />
der Lösung eines Prob lems beteiligt sind und individuelle<br />
Präfe renzen zugunsten von Kompromissen aufgegeben<br />
werden müssen. Die Entwicklung von Unterrichtsmaterialien<br />
bzw. Unter richtseinheiten, die der Wirklichkeit der<br />
Alltags arbeit in modernen Parlamenten bestmöglich entsprechen,<br />
bietet noch viel Raum für die Zusammenarbeit<br />
zwischen empirischer Par lamentarismusforschung und<br />
der Fachdidaktik der Politischen Bil dung.<br />
Habilitation ❘ Parlamente von innen verstehen<br />
Literatur<br />
❙ Loewenberg, Gerhard (2007):<br />
Paradoxien des Parlamentarismus: Fehlverständnisse<br />
in Wissenschaft und Öffentlichkeit.<br />
In: Zeitschrift für Parlamentsfragen,<br />
Jg. 38, H. 4, S. 816 – 827.<br />
❙ Oertzen, Jürgen von (2006):<br />
Das Expertenparlament. Abgeordnetenrollen in den<br />
Fach strukturen bundesdeutscher Parlamente.<br />
Baden-Baden: Nomos.<br />
❙ Schöne, Helmar (2004):<br />
Wie das Parlament die Regierung kontrolliert.<br />
Der Sächsische Landtag als Beispiel<br />
(gem. mit Karin Algasinger und Jürgen von Oertzen).<br />
In: Holtmann, Ever hard/Patzelt, Werner J.(Hrsg.):<br />
Kampf der Gewalten. Parlamentari sche Regierungskontrolle<br />
– gouvernementale Parlamentskon trolle.<br />
Theorie und Empi rie.<br />
Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften,<br />
S. 107 – 147.<br />
❙ Schöne, Helmar (2005):<br />
So arbeitet der Sächsische Landtag, 4. Wahlperi ode.<br />
Rheinbreitbach: Neue Darmstädter Verlagsanstalt<br />
(gem. mit Karin Algasinger und Thomas Gey).<br />
❙ Schöne, Helmar (2008):<br />
Teilnehmende Beobachtung.<br />
In: Schnapp, Kai-Uwe/Nathalie Behnke/Joachim<br />
Behnke (Hrsg.): Datenwelten. Datenerhebung und<br />
Datenbestände in der Politikwissenschaft.<br />
Baden-Baden: Nomos, S. 22 – 48.<br />
❙ Schöne, Helmar (2010):<br />
Alltag im Parlament. Parlamentskultur in Theorie und<br />
Empirie.<br />
Baden-Baden: Nomos.<br />
❙ Schüttemeyer, Suzanne S. (2007):<br />
Modewort oder Alarmsignal? Befunde und Überlegungen<br />
zur Entparlamentarisierung.<br />
In: Patzelt, Werner J./Sebaldt, Martin/Kranenpohl,<br />
Uwe (Hrsg.): Res publica semper reformanda.<br />
Wissenschaft und politische Bildung im Dienste des<br />
Gemeinwohls.<br />
Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften,<br />
S. 240 – 253.<br />
Dr. Helmar Schöne ist Privatdozent und Akademischer Mitarbeiter an der <strong>Pädagogische</strong>n<br />
<strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong>. Hier hat er im Jahr 2009 mit seiner Arbeit »Alltag im Parlament«<br />
die venia legendi für Politikwissenschaft erworben.<br />
<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> Forum Forschung Mai 2011 9
Promotion ❘ Schulgärten in Baden-Württemberg<br />
Schulgärten in<br />
Baden-Württemberg<br />
Dr. Dipl. Päd. Jeanette Maria Alisch<br />
Schulgärten in Baden-Württemberg unter Berücksichtigung struktureller, organisatorischer und<br />
personeller Einflussfaktoren: eine landesweite, empirische Untersuchung – Auszüge aus der Dissertation<br />
und Ausblick<br />
Arbeitsgruppe: Prof. Dr. Friedrich Bay, PH <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />
Zweitgutachter: Prof. Dr. Hansjörg Seybold, PH <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />
Abstract: Children and teenagers do not only learn in classrooms, but also in other parts of their schools. The<br />
purpose of this dissertation is to emphasize the role and the functions of the school-gardens for pupils and teachers<br />
during their school life. The work of the teachers, which is essential to the existence of school-gardens, is analysed<br />
in the context of environmental education. The results of this dissertation are based on a statewide survey conducted<br />
in schools located in the state of the Baden-Württemberg (Southwest Germany) and on a second level study of<br />
teachers working regularly with these school-gardens.<br />
Zu den Intentionen und zur Methode der Untersuchungen<br />
An guter Literatur zur Schulgartenarbeit und deren Geschichte<br />
sowie zur Anlage von Biotopen herrscht derzeit<br />
kein Mangel (z.B. Winkel 1997, Birkenbeil 1999,<br />
Birkenbeil/ Ehrentreich/ Molitor 1998, Haase 2003,<br />
u.a.). Wie sich die Schulgartenbewegung entwickelt,<br />
wurde allerdings erstmals im Jahre 1989 vom Arbeitskreis<br />
Schulgärten NRW in großem Stile untersucht. Bei<br />
dieser ersten flächendeckenden Erhebung wurden an<br />
6994 befragten Schulen 1751 Schulgärten bzw. naturnahe<br />
Schulgelände an Schulen in Nordrhein-Westfalen<br />
ermittelt. Somit hatten mindestens 25 % aller Schulen einen<br />
Schulgartenbezug (vgl. Alisch u.a. 2005, S.7 ff).<br />
Außerhalb von Baden-Württemberg wurden seit dem<br />
Jahr 2000 folgende Befragungen (vgl. Tab.1) durchgeführt<br />
und veröffentlicht.<br />
Diese landesweite Untersuchung im Flächenstaat Baden-<br />
Württemberg ist die erste in dem Bundesland und hatte<br />
vor allem zum Ziel, eine Übersicht zum »Status quo«<br />
der Schulgärten an allen allgemein bildenden Schulen<br />
10 Forum Forschung Mai 2011 <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />
und Schularten, bis zur 10. Klasse, zu ermöglichen<br />
(n= 4305). Sie sollte Antworten auf Fragen zur Verbreitung<br />
der Schulgärten, Trägerschaft und Lage der Schule,<br />
zu Größe und Gestaltung des Schulgeländes und zu<br />
seiner Nutzung im und außerhalb des Unterrichts liefern.<br />
Als Methode der Untersuchung wurde die Befragung per<br />
Fragbogen gewählt. Die Auswertung des schriftlichen<br />
Rücklaufs ergab, dass 703 Schulen sicher über einen<br />
Schulgarten verfügen, 844 Schulen dagegen keinen<br />
Schulgarten haben. Eine telefonische Nachbefragung<br />
bei Schulen, die nicht geantwortet hatten, ermöglichte<br />
eine statistisch gesicherte Hochrechnung: Im Schuljahr<br />
2003/04 gab es an rund 1700 Schulen Schulgärten<br />
bzw. Biotope; das entspricht 39,5 % der allgemein bildenden<br />
Schulen.<br />
An den übrigen 2605 Schulen (60,5 %) war kein<br />
Schulgarten vorhanden bzw. wurden keine Biotope betreut.
Bundesland Autoren Schularten Rücklauf<br />
Nordrhein-Westfalen Müller/Müller 2003<br />
Niedersachsen<br />
Sachsen<br />
Klingenberg/<br />
Rauhaus 2005<br />
Arndt 2003;<br />
Stampe/Arndt 2004<br />
Insgesamt hatte die landesweite Befragung gezeigt,<br />
dass es vor allem das Engagement einzelner Lehrkräfte<br />
ist, welche die Schulgartenarbeit an den Schulen<br />
erhält. Der landesweiten Untersuchung folgte also eine<br />
Nachbefragung, bei den Lehrkräften, die eine regelmäßige<br />
Schulgartenarbeit zurückgemeldet hatten (n=89).<br />
Außerdem wurden die Waldorfschulen (n=42) befragt,<br />
da diese über ausgebildete Schulgartenlehrkräfte verfügen.<br />
Alle Lehrkräfte wurden nach Zielen und Problemen<br />
bei der Schulgartenarbeit, sowie nach persönlichen<br />
Bedingungen, z.B. ihre Einstellung zur Umweltbildung,<br />
gefragt, um herauszufinden, welche Faktoren förderlich<br />
bzw. hemmend für Schulgartenarbeit sind. Auch interessierte,<br />
welche Funktionen die Schulgärten im Schulalltag<br />
erfüllen und wie sie das Schulleben für alle Beteiligten<br />
bereichern.<br />
Für die Nachbefragung zum Bereich der Umweltbildung<br />
wurden Teile des Fragebogens aus der Untersuchung<br />
Hauptschulen, Realschulen,<br />
Gymnasien, Gesamtschulen<br />
Grundschulen, weiterführende<br />
Schulen<br />
Vorwiegend Grundschulen,<br />
Förderschulen<br />
Schleswig-Holstein Schilke u.a. 2004 Grundschulen, Förderschulen<br />
Tab. 1: Übersicht über Erhebungen der Schulgartensituation seit 2000 (vgl. Alisch u.a. 2005, S. 8).<br />
Schulart<br />
Promotion ❘ Schulgärten in Baden-Württemberg<br />
Antworten von 241 Schulen in<br />
ausgewählten Städten<br />
Geringe Stichprobenzahl;<br />
Schulen im Raum Braunschweig<br />
Antworten von 435 Schulen in<br />
Sachsen<br />
Antworten von 379 Schulen in<br />
Schleswig-Holstein<br />
von Eulefeld/ Bolscho/ Rost/ Seybold (1988) benutzt<br />
und es wurden Fragen zu den folgenden drei Faktoren<br />
im Zusammenhang zur Schulgartenarbeit konzipiert (vgl.<br />
Alisch 2008, S.34 f):<br />
❙ strukturelle Faktoren: z.B. landschaftliche<br />
Gegebenheiten, Schulsystem etc.<br />
❙ organisatorische Faktoren: z.B. Arbeitsplan,<br />
Kooperationen mit anderen, etc.<br />
❙ personelle Faktoren: z.B. Fortbildung und Erfahrungen<br />
der Lehrkräfte zur Schulgartenarbeit, etc.<br />
Der Rücklauf: die Schulgärten an den verschiedenen<br />
Schularten<br />
Die landesweite Erhebung machte deutlich, dass sich<br />
das Schulwesen in Baden-Württemberg sehr differenziert<br />
darstellt und die Existenz von Schulgärten bei den verschiedenen<br />
Schularten deutliche Unterschiede aufweist.<br />
Von den 1547 Schulen, die schriftlich zurückgemeldet<br />
mit Schulgärten<br />
Anzahl Anteil<br />
Rücklauf<br />
(n)<br />
Grundschulen (GS) 221 43,8 % 505<br />
Grund-Hauptschulen z. T. mit Werkrealschule (GHS) 162 44,1 % 367<br />
Grund-Haupt-Realschulen (GHRS) 7 53,8 % 13<br />
Sonder- und Förderschulen (SOS, FÖS) 140 58,6 % 239<br />
Hauptschulen, z.T. mit Werkrealschule (HS,HWRS) 14 31,8 % 44<br />
Haupt-Realschulen (HRS) 3 25,0 % 12<br />
Realschulen (RS) 62 41,1 % 151<br />
Gymnasien 71 38,6 % 184<br />
Waldorfschulen 16 100,0 % 16<br />
Gesamtschulen 3 100,0 % 3<br />
Sonstiges 4 30,8 % 13<br />
Gesamt 703 45,4 % 1547<br />
Tab. 2: Anteil der Schularten mit Schulgärten bzw. Schulgartenelementen (vgl. Alisch 2008, S.39).<br />
<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> Forum Forschung Mai 2011 11
Promotion ❘ Schulgärten in Baden-Württemberg<br />
haben, nimmt die »reine« Grundschule (GS), als Schulart,<br />
mit 505 Antworten einen Spitzenplatz ein.<br />
In der Schulart »Grundschule« werden die Schulgärten<br />
vorwiegend im Fach Heimat- und Sachunterricht, im<br />
Bildungsplan von 2004 im Fach Mensch, Natur und<br />
Kultur, genutzt. In den weiterführenden Schularten ist es<br />
vor allem das Fach Biologie und Fächerverbünde mit<br />
Biologie, in denen der Schulgarten eine wichtige Rolle<br />
spielt. Die Einbindung des Schulgartens in eine AG ist<br />
dabei die am häufigsten genannte Organisationsform.<br />
Hier wurde deutlich, dass das eigenständige Gestalten<br />
und Arbeiten einer Schulgarten-Arbeitsgemeinschaft<br />
(AG) unabhängig von der Bindung an die Lehrpläne der<br />
Fächer sehr verbreitet ist.<br />
Funktionen der Schulgärten im Schulleben<br />
Schulgärten und Schulgelände werden allgemein in der<br />
Fachdidaktik Biologie als Lernorte eingestuft, deren Bedeutung<br />
unmittelbar nach den Fachräumen rangiert (vgl.<br />
Eschenhagen/ Kattmann/ Rodi 2006, S. 404 – 413).<br />
Je nach Intentionen der Lehrkräfte, die Schulgartenarbeit<br />
betreiben, und der Einbindung des naturnahen Areals im<br />
Schulgelände, unterscheiden sich die Schulgärten voneinander<br />
und können im Lernprozess sehr unterschiedliche<br />
Aufgaben erfüllen: Schulgärten ….<br />
❙ fördern durch Eigentätigkeit, unter körperlichem Einsatz<br />
Abb. 1: Funktionen von Schulgarten und naturnah gestaltetem Schulgelände (vgl. Alisch u.a. 2005, S. 22).<br />
12 Forum Forschung Mai 2011 <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />
und Bewegung intensives, ganzheitliches und nachhaltiges<br />
Lernen.<br />
❙ bieten Möglichkeiten zur Vermittlung von Traditionen<br />
und Werten.<br />
❙ sind Freiräume zur Rekreation der Schülerinnen und<br />
Schüler vom Schulalltag.<br />
❙ können als Teil umfassender Konzeptionen zur Umweltbildung<br />
betrachtet werden.<br />
❙ könnten im Zuge der Einrichtung von Ganztagesschulen<br />
eine bedeutsame Rolle spielen.<br />
Nach der Befragung der Lehrkräfte, die sich regelmäßig<br />
mit ihren Schülerinnen und Schülern im Schulgarten aufhalten<br />
und darin arbeiten, erfüllen Schulgärten folgende<br />
Aufgaben:<br />
Diese Ergebnisse zeigen, dass der Schulgarten und das<br />
naturnah gestaltete Schulgelände eine wichtige Rolle im<br />
internen Schulleben sowie bei außerschulischen Veranstaltungen<br />
spielen.<br />
Ziele und Probleme der Lehrkräfte bei der regelmäßigen<br />
Schulgartenarbeit<br />
Nach Lehnert (vgl. 2006, S.406) soll der Kompetenzerwerb<br />
im Schulgarten folgende Ziele umfassen:<br />
❙ Verantwortung übernehmen<br />
❙ Die Folgen eigenen Tuns abschätzen<br />
❙ Im Sinne nachhaltiger<br />
Entwicklung handeln<br />
❙ Zeit erfahren und zunehmend<br />
größere Zeiträume<br />
überblicken<br />
❙ Ausdauer erwerben<br />
❙ Mit anderen zusammen<br />
arbeiten<br />
❙ Kulturtechniken anwenden<br />
❙ Nutz- und Zierpflanzen<br />
kultivieren<br />
❙ Biologische Vielfalt kennen<br />
lernen<br />
❙ Stoffkreisläufe und biologischeGesetzmäßigkeiten<br />
aufdecken.«<br />
Bei der Befragung der<br />
Lehrkräfte, die regelmäßig
Schulgartenarbeit betreiben, bestätigen sich die von Lehnert<br />
(2006) genannten Ziele:<br />
Das wichtigste Ziel der Lehrkräfte ist es laut ihren Angaben,<br />
dass die Schülerinnen und Schüler lernen, Verantwortung<br />
für den Garten und für ihr Handeln zu übernehmen.<br />
Als zweitwichtigstes Ziel gaben die Befragten<br />
an, dass die Schülerinnen und Schüler durch die Schulgartenarbeit<br />
die Möglichkeit haben, den Lernort Natur<br />
bewusst zu erfahren, mit vielen Sinnen Naturprozesse<br />
zu erkennen und die Inhalte zu lernen. An dritter Stelle<br />
nannten sie das Erlernen von Kulturtechniken zur Erzeugung<br />
von Nahrungsmitteln, an vierter Stelle waren ihnen<br />
soziale und integrative Ziele, an fünfter Stelle das Erfassen<br />
der Artenvielfalt wichtig. Insgesamt empfinden die<br />
Lehrkräfte, die regelmäßig den Schulgarten als Lehr- und<br />
Lernort nutzen, bei ihrer Schulgartenarbeit dieselben Ziele<br />
als wichtig und handeln vor allem wertorientiert.<br />
Allerdings ist auch Schulgartenarbeit – wie alles menschliche<br />
Tun – geprägt von Erfolgen und Misserfolgen, welche<br />
z.B. durch ungünstige Witterungsverhältnisse oder<br />
biologische Ungelegenheiten, wie Schädlinge verursacht<br />
werden. Laut Aussage der Lehrkräfte behindern manche<br />
strukturelle Faktoren die Schulgartenarbeit oder führen<br />
zur Aufgabe bestehender Schulgärten bzw. sind Gründe<br />
dafür, dass kein Schulgarten existiert, wie z.B. die Stundentafel,<br />
zuwenig Zeit und geringe Verankerung/Legitimation<br />
der Schulgartenarbeit im Bildungsplan. Organisatorische<br />
Probleme, z.B. fehlende Kooperation mit Ämtern,<br />
Kolleginnen und Kollegen und Eltern sowie fehlende methodische<br />
Kenntnisse wurden außerdem genannt.<br />
Umweltbildung und Schulgartenarbeit<br />
Fragen zur Erhaltung unserer Umwelt und zu einer nachhaltigen<br />
Entwicklung verlangen, dass sich viele Lehrerinnen<br />
und Lehrer mit ökologischen Grundproblemen auseinandersetzen,<br />
um bei ihren Schülerinnen und Schülern<br />
umweltbewusstes Denken und Handeln zu fördern. Deshalb<br />
wurden in der Nachbefragung die persönlichen<br />
Einstellungen der Lehrkräfte (n=89), zur Umweltbildung<br />
untersucht. Außerdem sollten sie die Lage der Umweltbildung<br />
an ihren Schulen einschätzen. Dazu wurden u.a. folgende<br />
Bereiche analysiert (vgl. Alisch 2008, S. 122 ff.):<br />
❙ Status der Umweltbildung an der Schule<br />
❙ Kooperation mit Kolleginnen und Kollegen<br />
❙ Bildungsplanpräsenz der Umweltbildung<br />
❙ Unterrichtsfächer und Umweltbildung<br />
Promotion ❘ Schulgärten in Baden-Württemberg<br />
❙ Zeitvorstellungen zur Durchführung der Umweltbildung<br />
Die Ergebnisse zeigten allgemein, dass die 89 Lehrkräfte,<br />
die regelmäßige Schulgartenarbeit betreiben, nahezu<br />
einstimmig positiv zur Umweltbildung eingestellt sind und<br />
diese auch umsetzen. Im Großen und Ganzen fühlen<br />
sie sich an ihren Schulen hinsichtlich ihres Bestrebens,<br />
Umweltbildung zu betreiben durch Kolleginnen und<br />
Kollegen sowie zum großen Teil durch die Schulleitung<br />
unterstützt. Für die schulische Bildung für nachhaltige Entwicklung<br />
ist es wünschenswert, dass diese, als gelungen<br />
beschriebene Umweltbildung im Zusammenhang mit der<br />
Schulgartenarbeit, einen noch größeren Raum im Schulleben,<br />
z. B. in der sich ausweitenden Ganztagesbetreuung,<br />
einnimmt.<br />
Anstehende Nacherhebungen: Schulgartenarbeit<br />
und Ganztagesschulen<br />
Mit dem Bildungsplan von 2004, seinen größeren<br />
Freiheiten für die Lehrkräfte, und seiner Forderung nach<br />
einem stärker handlungsorientierten Lernen sowie der<br />
Ausweitung der Ganztagsangebote, ergeben sich mehr<br />
schulische Möglichkeiten für eine stärkere Einbindung<br />
des Schulgartens und des naturnah gestalteten Schulgeländes<br />
in das Schulleben. Auch die Bedeutung von Naturerziehung<br />
im naturnahen Schulgelände – das »Grüne<br />
Klassenzimmer« leistet nachweislich einen positiven Beitrag<br />
zur Bildung für eine nachhaltige Entwicklung, für<br />
die Behaltensleistung wissenschaftlicher Fachbegriffe<br />
sowie für die positive Natureinstellung (Haase 2008,<br />
S.26 – 29) – ein verstärktes schulpolitisches Interesse<br />
am »bewegungsfreundlichen Schulgelände« sowie die<br />
Entwicklung ansprechender lehrreicher Ganztagesangebote<br />
im Zuge neuerer Schulplanungen, waren und sind<br />
Anlässe, sich mit dem Schulgelände und dem Schulgarten,<br />
und deren Möglichkeiten zu beschäftigen.<br />
Wie die Schulgartenarbeit im Zusammenhang zu den<br />
Ganztagesschulen und nach den Jahren der Umstrukturierung<br />
durch den Bildungsplan von 2004 aussieht und<br />
welchen Stellenwert sie derzeit im Schulleben hat, soll<br />
durch weitere Untersuchungen ermittelt werden. Die derzeitige<br />
Entwicklung der Schulgartenarbeit im Zusammenhang<br />
zu den drei Einflussfaktoren und im Zusammenhang<br />
zur Umweltbildung/ Bildung für nachhaltige Entwicklung<br />
soll außerdem evaluiert, analysiert und mit vorhandenen<br />
Daten verglichen werden.<br />
<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> Forum Forschung Mai 2011 13
Promotion ❘ Schulgärten in Baden-Württemberg<br />
Literatur<br />
❙ Alisch, J. u.a. (2005): »Schulgärten und naturnah<br />
gestaltetes Schulgelände in Baden-Württemberg –<br />
eine empirische Untersuchung«<br />
In: Köhler, H. und Lehnert, H. (Hrsg.) (2005):<br />
»Schulgelände zum Leben und Lernen«, Karlsruher<br />
pädagogische Studien 4, Karlsruhe<br />
❙ Alisch, J. (2008): »Schulgärten in Baden-Württemberg<br />
– unter Berücksichtigung struktureller, organisatorischer<br />
und personeller Einflussfaktoren – eine landesweite<br />
empirische Untersuchung«, Pro-Business-Verlag, Berlin<br />
❙ Birkenbeil, H./ Ehrentreich, M./ Molitor, W.<br />
(1998): »Gärtnern macht Schule. Ein Leitfaden für<br />
Schulgärten«, Ministerium Ländlicher Raum Baden-<br />
Württemberg / Ministerium für Kultus, Jugend und<br />
Sport Baden-Württemberg, Stuttgart<br />
❙ Birkenbeil, H. (Hrsg.) (1999): »Schulgärten:<br />
planen und anlegen, erleben und erkunden,<br />
fächerverbindend nutzen«, Ulmer Verlag, Stuttgart<br />
❙ Eschenhagen, D./ Kattmann, U./ Rodi, D. (2006):<br />
»Fachdidaktik Biologie«, Aulis Verlag Deubner, Köln<br />
Dr. Jeanette Maria Alisch ist Diplompädagogin und ausgebildete Realschullehrerin. Sie<br />
lehrt seit 2001 an der <strong>Pädagogische</strong>n <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> im Fach Biologie und seit<br />
2010 in der Frühen Bildung. Am Staatlichen Seminar für Didaktik und Lehrerbildung (Realschulen)<br />
in <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> ist sie seit 2007 tätig. Dort ist sie Fachleiterin und betreut Realschullehreranwärter/innen<br />
in den Fächern Bildende Kunst und Biologie.<br />
14 Forum Forschung Mai 2011 <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />
❙ Eulefeld, G./ Bolscho, D./ Rost J./ Seybold<br />
H. (1988): »Praxis der Umwelterziehung in der<br />
Bundesrepublik Deutschland«, IPN 115, Kiel<br />
❙ Haase, H.-M. (2003) »Wordrangers: Ein<br />
pädagogischer Beitrag für die nachhaltige<br />
Entwicklung«, Verlag Dr. Kova, <strong>Pädagogische</strong><br />
<strong>Hochschule</strong> Ludwigsburg<br />
❙ Haase, H.-M. (2008): »Nachhaltige Entwicklung –<br />
Die Bedeutung des Grünen Klassenzimmers für eine<br />
nachhaltige Entwicklung. Ein Kooperationsprojekt<br />
zwischen der PH <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> und der<br />
Universität Ulm.«<br />
In: Forum Forschung (März 2008), <strong>Pädagogische</strong><br />
<strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />
❙ Lehnert, H.-J. (2006): »Schulgelände und<br />
Schulgarten« In: Eschenhagen, D. / Kattmann,<br />
U. / Rodi, D. (2006): »Fachdidaktik Biologie«,<br />
Aulis Verlag Deubner, Köln, S. 404 – 413<br />
❙ Winkel, G. (Hrsg.) (1997): »Das Schulgarten –<br />
Handbuch«, Kallmeyer-Verlag, Seelze – Velber
Hochschulgarten der PH <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong>.<br />
Promotion ❘ Schulgärten in Baden-Württemberg<br />
<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> Forum Forschung Mai 2011 15
Promotion ❘ Implizite Angstdiagnostik bei Grundschulkindern<br />
Implizite Angstdiagnostik bei<br />
Grundschulkindern<br />
Dr. Uwe Heim-Dreger<br />
Arbeitsgruppe: Prof. Dr. Carl-Walter Kohlmann, PH <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />
Zweitgutachter: Prof. Dr. Boris Egloff, Universität Leipzig<br />
Abstract: Is it possible to measure fear in individuals without asking them directly? The methods used for implicit<br />
angst diagnosis achieve exactly this by examining angst-induced changes in automatic information processing. The<br />
volume of the changes permits conclusions about the intensity of the angst. Up to now, studies in implicit diagnostics<br />
were largely carried out in adults; research involving children has been rare. In the thesis at hand, two established<br />
methods of implicit angst diagnosis – the Emotion Stroop Test and the Dot-Probe Test – were adapted for their use<br />
with primary school children and were put in relation to subjective, behavioral-expressive and physiological angst<br />
indicators in school teaching.<br />
The results of the study prove that implicit procedures predict changes of a behavioural-expressive nature as well as<br />
physiological parameters and are thereby able to extend the possibilities of angst diagnosis in children.<br />
Die Arbeit widmet sich einem besseren Verständnis der<br />
Angst von Grundschulkindern in schulischen Leistungssituationen.<br />
Angst wird dabei als eine Emotion aufgefasst,<br />
an deren Entstehung und Regulierung verschiedene Prozesse<br />
zu berücksichtigen sind.<br />
Kognitive Angsttheorien<br />
Die Zuwendung zu bedrohlichen Aspekten einer Situation<br />
scheint für ängstliche Menschen charakteristisch.<br />
Bedrohungsorientierung wird in neueren kognitiven<br />
Theorien zur Angst und Angstbewältigung (Eysenck,<br />
Derakshan, Santos & Calvo, 2007) als automatisch ablaufender<br />
Prozess aufgefasst (kaum regulierbar, vollzieht<br />
sich schnell), der im Gegensatz zur kontrollierten Verarbeitung<br />
(folgt einem Plan, einer Strategie, verläuft langsam)<br />
kaum über Befragungen bestimmt werden kann.<br />
Zur Diagnostik angstbezogener kognitiver Prozesse sind<br />
Verfahren zu sogenannten Interferenzeffekten und zur selektiven<br />
Aufmerksamkeitsausrichtung entwickelt worden.<br />
Über das Ausmaß der Leistungsbeeinträchtigung bei<br />
16 Forum Forschung Mai 2011 <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />
spezifischen Interferenztests oder die Aufmerksamkeitsbindung<br />
auf bedrohliche Reizmerkmale lässt sich bei<br />
experimentellen diagnostischen Verfahren die Intensität<br />
der aktuellen oder dispositionellen Angst indirekt über<br />
ihre Effekte erschließen. Da nicht – wie etwa bei einem<br />
klinischen Interview oder einem Fragebogen – explizit<br />
nach angstbezogenen Erlebnisinhalten oder Verhaltensweisen<br />
als empirischen Indikatoren des Konstruktes<br />
Angst gefragt wird, sondern aufgrund angenommener<br />
Wirkungen in hergestellten experimentellen Situationen<br />
auf die Angst geschlossen wird, spricht man von impliziten<br />
Verfahren der Angstdiagnostik.<br />
Untersuchungsdesign<br />
Zur Analyse der Angst in der Grundschule wurde eine<br />
Unterrichtssequenz gewählt, die üblicherweise im<br />
Unterrichtsalltag vorkommt, die potenziell selbstwertbedrohlich<br />
ist und deren Ablauf für alle Teilnehmer<br />
annähernd gleich gestaltet werden kann: die Präsentation<br />
der Lösung einer Mathematikaufgabe an der Tafel.
Mörder Unfall Tod Waffe Tod<br />
Unfall Mörder Waff f e Räuber Unfall<br />
Mörder äuber Tod Unfall Räuber<br />
Waffe Mörder Räuber Tod Waffe<br />
Abbildung 1: Tafeln des Emotionalen Stroop-Tests.<br />
In Studie 1 wurden die Kinder während ihrer Präsentation<br />
gefilmt und die Videos auf Angstsignale ausgewertet.<br />
In Studie 2 wurde bei einer ähnlichen Aufgabe mit der<br />
Herzfrequenz eine physiologische Reaktion der Kinder<br />
aufgezeichnet. Bereits vorher bearbeiteten die Schüler<br />
Fragebogen zur Ängstlichkeit sowie Kinderversionen des<br />
Emotionalen Stroop-Tests (vgl. Kohlmann, Eschenbeck &<br />
Heim-Dreger, 2008) und des Dot-Probe-Tests (vgl. Heim-<br />
Dreger, Kohlmann, Eschenbeck & Burkhardt, 2006) als<br />
implizite Verfahren zur experimentellen Angstdiagnostik.<br />
Beide Methoden wurden bei Kindern bisher nur sehr wenig<br />
verwendet.<br />
Der Emotionale Stroop-Test für Kinder<br />
Bei den impliziten Verfahren werden durch Angst ausgelöste<br />
Veränderungen automatisierter Informationsverarbeitungsprozesse<br />
analysiert. Dabei wird angenommen,<br />
dass die Prozesse umso stärker gestört werden,<br />
je schlechter die Angstregulation gelingt. Dies soll am<br />
Beispiel des Emotionalen Stroop-Tests für Kinder (Eschenbeck,<br />
Kohlmann, Heim-Dreger, Koller & Leser, 2004)<br />
verdeutlicht werden.<br />
Der emotionale Stroop-Test in dieser Studie besteht aus<br />
zwei Tafeln im DIN-A4-Format, auf die jeweils 20 Wörter<br />
in unterschiedlichen Farben gedruckt sind (siehe Abbildung<br />
1). Die Aufgabe der Teilnehmer ist es, die Druckfarbe<br />
der Wörter so rasch wie möglich zu benennen<br />
und den Inhalt nicht zu beachten. Dabei wird die Zeit<br />
gestoppt, die die Kinder für das Benennen der Farben<br />
benötigen. Auf einer Tafel sind Wörter mit bedrohlichem<br />
Inhalt (Mörder, Unfall, Tod, usw.), auf der anderen Tafel<br />
neutrale Wörter (Maler, Bild, Tasse, usw.). Obwohl die<br />
Aufgabe für beide Tafeln gleich ist, benötigten die Kinder<br />
für die Tafel mit den bedrohlichen Wörtern im Durchschnitt<br />
27,0 s, während sie die Druckfarbe der neutralen<br />
Wörter in durchschnittlich 24,8 s benannten (Differenz:<br />
2,2 s). Durch die Differenzbildung werden generelle Unterschiede<br />
in der Verarbeitungsgeschwindigkeit kontrolliert.<br />
Entscheidend ist, dass der emotionale Stroop-Effekt<br />
ja nach Individuum sehr unterschiedlich ausgeprägt ist.<br />
Einige Kinder lassen sich durch bedrohliches Material<br />
kaum beeinflussen (keine oder geringe Differenz), während<br />
andere Kinder sehr starke emotionale Stroop-Effekte<br />
zeigen. Je länger die Bearbeitungszeit der bedrohlichen<br />
Promotion ❘ Implizite Angstdiagnostik bei Grundschulkindern<br />
Maler Bild Tasse Bild Tasse<br />
Teller Maler Zimmer Tasse Bild<br />
Maler Zimmer Maler Teller Tasse<br />
Zimmer Teller Bild Zimmer Teller<br />
im Vergleich zu den neutralen Wörtern ist, desto stärker<br />
werden die Kinder durch die Anwesenheit bedrohlicher<br />
Reize in ihrer Aufgabenerledigung (hier: Farben benennen)<br />
gestört. Aus dem Grad der Störbarkeit wird somit<br />
auf das Ausmaß der automatisierten Kontrollprozesse<br />
(hier: Bedrohungszuwendung) geschlossen. Der Forschungsansatz<br />
basiert auf der Informationsverarbeitung.<br />
Durch die Anwesenheit bedrohlicher Stimuli werden Verarbeitungskapazitäten<br />
gebunden, die für die eigentliche<br />
Aufgabe nicht mehr zur Verfügung stehen.<br />
Verhaltensmaßen und ihre Zusammenhänge mit<br />
expliziten und impliziten Methoden der Angstdiagnostik<br />
Bisher wurden die Ergebnisse der impliziten Methoden<br />
zur Angstdiagnostik fast ausschließlich mit Fragebogenergebnissen<br />
in Beziehung gesetzt. Subjektive Angstmaße<br />
sind jedoch nur eine Ebene der Angstmanifestation.<br />
Angst manifestiert sich darüber hinaus durch spezifische<br />
Ausprägungen auf verhaltensmäßig-expressiven sowie<br />
physiologischen Parametern (Krohne, 2010). Deshalb<br />
wurde auf Grundlage eines etablierten Verhaltensbeobachtungssystems<br />
(vgl. Krohne & Hock, 1994) ein Kategoriensystem<br />
festgelegt, mit dem ängstliches Verhalten<br />
im Unterricht erfasst werden kann.<br />
Die vier Hauptkategorien des Systems sind: (1) Selbststimulation<br />
(SELBST): An Fingern kauen, Lippen befeuchten<br />
(Zunge sichtbar), an Lippen nagen, Körperberührungen<br />
mit den Händen, Gesicht reiben. (2) Blick (BLICK): Während<br />
der Aufgabe: Blick zum Lehrer, Umdrehen zu den<br />
Klassenkameraden. (3) Extremitäten (EXTREM): Mit den<br />
Armen fuchteln, mit dem Kopf wackeln. (4) Unruhige<br />
Körperhaltung (UNRUHE): Zappeln, sich von einem<br />
Bein aufs andere stellen, zittern (Hände, Lippen). Aus<br />
allen Beobachtungskategorien wurde anschließend ein<br />
Gesamtindex für die an der Tafel beobachtete Angst gebildet.<br />
Es zeigte sich, dass dieser Gesamtindex der Angst an<br />
der Tafel sowohl durch die über klassische Fragebögen<br />
erfasste Angst (r = .34, p < .05) als auch durch den<br />
Emotionalen Stroop-Index (r = .34, p < .05) vorhersagen<br />
ließ. Als beste Methode zur Vorhersage der verhaltensmäßig-expressiven<br />
Angst an der Tafel erwies es sich,<br />
den emotionalen Stroop-Index und Selbstberichtsmaße<br />
(aktuelle Aufgeregtheit bzw. Zustandsangst) gemeinsam<br />
<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> Forum Forschung Mai 2011 17
Promotion ❘ Implizite Angstdiagnostik bei Grundschulkindern<br />
als Prädiktoren in einer Regression heranzuziehen (R =<br />
.47, p < .01).<br />
Abbildung 2: Verhaltensmäßig-expressive Angst beim Bearbeiten einer Mathematikaufgabe<br />
als Funktion expliziter und impliziter Verfahren zur Angstdiagnostik.<br />
Betrachtet man in einer Detailanalyse die einzelnen Verhaltenskategorien,<br />
so ist der Zusammenhang zwischen<br />
Emotionalem Stroop-Index und den Verhaltensscores vor<br />
allem auf die Variablen EXTREM und UNRUHE zurück<br />
zu führen, während die selbstberichtete Zustandsangst<br />
mit den Kategorien SELBST und BLICK korreliert (siehe<br />
Abbildung 2). Die Kategorie BLICK ist definiert als Blick<br />
zum Lehrer bzw. zu den Klassenkameraden während<br />
der Präsentation der Mathematikaufgabe an der Tafel.<br />
Dieses Verhalten kann der Unsicherheitsreduktion dienen<br />
(»Mache ich es richtig?«) oder ein Hilfsappell sein (»Bitte<br />
hilf mir!«) und stellt damit einen stärker bewussten Aspekt<br />
der Emotion Angst dar. Somit bestehen erste Hinweise,<br />
dass Selbstberichte stärker bewusste Anteile nonverbalexpressiver<br />
Erregungsanzeichen in belastenden Leistungssituationen<br />
vorhersagen. Implizite Maße wie der<br />
emotionale Stroop-Test, der automatisierte Reaktionen<br />
auf bedrohliche Stimuli erfasst, weisen dagegen stärkere<br />
Zusammenhänge mit weniger bewussten angstinduzierten<br />
Verhaltenskategorien wie körperlicher Unruhe<br />
18 Forum Forschung Mai 2011 <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />
auf. Dadurch können sich selbstberichtete Angst und der<br />
Emotionale Stroop-Index in ihrem Vorhersagepotential für<br />
angstinduziertes Verhalten ergänzen.<br />
Neben den Verhaltensindikatoren können auch Veränderungen<br />
physiologischer Indikatoren (z.B. Herzrate, Blutdruck<br />
oder Hauttemperatur; Krohne, 2010) zur Messung<br />
von Angst herangezogen werden. In einem zweiten Experiment,<br />
in dem alle Kinder eine Klasse Pulsmesser mit<br />
elektronischer Aufzeichnung trugen und die Bewegungen<br />
registriert wurden, zeigte sich, dass die Höhe der<br />
Herzfrequenz der Kinder beim Bearbeiten der Aufgabe<br />
an der Tafel ebenfalls mit einem impliziten Angstmaß,<br />
dem Dot-Probe-Test, besser als mit einem Angstfragebogen<br />
vorhergesagt werden konnte.<br />
Fazit<br />
Durch den Einsatz impliziter Verfahren zur Angstdiagnostik<br />
wie dem Emotionalen Stroop-Test ergeben sich bedeutsame<br />
Vorteile gegenüber einer ausschließlich expliziten,<br />
auf Selbstberichten basierenden Angstdiagnostik.<br />
Da es sich um automatisierte, d. h. schnell ablaufende<br />
und schwer kontrollierbare Prozesse handelt, werden<br />
nicht nur diese besonderen Aspekte der Angstregulation<br />
erfasst, sondern es wird auch die Wahrscheinlichkeit<br />
eine Beeinträchtigung der Diagnostik durch Selbstdarstellungstendenzen<br />
geringer als bei Fragebogen. Auch<br />
setzen implizite Verfahren keine Introspektionsfähigkeit<br />
voraus. Dies ist insbesondere bei Untersuchungen mit<br />
Kindern vorteilhaft. Implizite Angstdiagnostik macht die<br />
Anwendung von Fragebogen nicht überflüssig. Unter Berücksichtigung<br />
beider Ansätze können mit Selbstberichten<br />
dem Bewusstsein zugängliche Anteile der Angst und<br />
mit den impliziten Verfahren Veränderungen angstbezogener,<br />
automatisierter Informationsverarbeitungsprozesse<br />
genutzt werden, um umfassendere Kenntnisse über die<br />
Facetten der Emotion Angst zu gewinnen.
Literatur<br />
❙ Eschenbeck, H., Kohlmann, C.-W., Heim-Dreger, U.,<br />
Koller, D. & Leser, M. (2004). Processing bias and<br />
anxiety in primary school children: A modified emotional<br />
Stroop colour-naming task using pictorial facial<br />
expressions. Psychology Science, 46, 451-465.<br />
❙ Eysenck, M. W., Derakshan, N., Santos, R. & Calvo,<br />
M. G. (2007). Anxiety and cognitive performance:<br />
Attentional control theory. Emotion, 7, 336-353.<br />
❙ Heim-Dreger, U., Kohlmann, C.-W., Eschenbeck,<br />
H. & Burkhardt, U. (2006). Attentional biases for<br />
threatening faces in children: Vigilant and avoidant<br />
processes. Emotion, 6, 320-325.<br />
Promotion ❘ Implizite Angstdiagnostik bei Grundschulkindern<br />
❙ Kohlmann, C.-W., Eschenbeck, H. & Heim-Dreger, U.<br />
(2008). Erfahrungen mit dem Emotionalen Strooptest<br />
für Kinder. In W. Janke & M. Schmidt-Daffy (Hrsg.),<br />
Experimentelle Emotionspsychologie (S. 443-454).<br />
Lengerich: Pabst.<br />
❙ Krohne, H. W. (2010). Psychologie der Angst. Stuttgart:<br />
Kohlhammer.<br />
❙ Krohne, H. W. & Hock, M. (1994). Elterliche Erziehung<br />
und Angstentwicklung des Kindes. Bern: Huber.<br />
Dr. Uwe Heim-Dreger ist akademischer Mitarbeiter bei Prof. Dr. Carl-Walter Kohlmann<br />
in der Abteilung <strong>Pädagogische</strong> Psychologie und Gesundheitspsychologie der <strong>Pädagogische</strong>n<br />
<strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong>. Er ist Geschäftsführer des Diagnostischen Zentrums der <strong>Pädagogische</strong>n<br />
<strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong>. Seine Dissertation wurde im Rahmen des Forschungsprojekts<br />
»Implizite Diagnostik bei Kindern im Grundschulalter: Entwicklung und Anwendung«<br />
(gefördert durch das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg)<br />
durchgeführt und mit dem Hochschulpreis der Ostalbstiftung ausgezeichnet.<br />
<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> Forum Forschung Mai 2011 19
Promotion ❘ Reales Erleben in virtuellen Welten<br />
Reales Erleben<br />
in virtuellen Welten<br />
Dr. Elke Hemminger<br />
Arbeitsgruppe: Prof. Dr. Stefan Immerfall, PH <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />
Zweitgutachter: Dr. Gareth Schott, University of Waikato, Screen and Media Studies<br />
Abstract: The Mergence of Spaces. For more than 35 years role-playing games have been discussed as fascinating,<br />
quixotic or right-out dangerous. Whatever we may think of these games, they are played by millions of people<br />
all over the world and especially the virtual worlds of Massively Multi-Player Online Role-Playing Games (MMOR-<br />
PGs) are, to many players, more than just a game. This study introduces the different versions of role-playing games<br />
as fantasy media and analyses their special attraction in the context of sociological theory. Virtual realms offer real<br />
meaning, significant social interaction and a multitude of experiences, but not every player uses the games in the<br />
same way. For many players role-playing games have become part of everyday life so much that gaming experience<br />
and game space can merge with reality. In order to gain insight into the meaning of role-playing experience<br />
and the actual user-practice of MMORPGs the opinions of the players themselves are used in this study as a basis<br />
to analyse what makes role-playing games a meaningful and relevant occupation for the players and why they can<br />
indeed offer a contribution to everyday life.<br />
Einführung: Von Elfen und Menschen<br />
Haben Sie schon einmal von WoW gehört oder einen<br />
LARPer getroffen? Haben Sie selbst schon an einem<br />
Raid teilgenommen? Millionen Menschen weltweit wissen<br />
genau, wovon hier die Rede ist. Vom Rollenspielen,<br />
einem Hobby, das von Menschen aller Alterstufen betrieben<br />
wird und doch immer noch ungläubiges Staunen<br />
oder gar Ablehnung hervorruft. Besonders die neueste<br />
Form des Rollenspiels, die so genannten MMORPGs<br />
(kurz für Massively MultiPlayer Online Role-Playing<br />
Game) wird in der Öffentlichkeit oft als Bedrohung für<br />
die Gesundheit der Jugend oder Auslöser für Gewalttaten<br />
dargestellt. Nichts von dem spiegelt wider, was<br />
Rollenspiel für die Teilnehmer wirklich bedeutet und welchen<br />
Stellenwert Spielwelt und Spielfigur im Alltag der<br />
Spielenden einnehmen.<br />
Der vorliegende Text befasst sich mit einer Studie, die<br />
im Rahmen einer Promotion im Fach Soziologie an<br />
der <strong>Pädagogische</strong>n <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong>,<br />
in Zusammenarbeit mit der University of Waikato<br />
20 Forum Forschung Mai 2011 <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />
in Hamilton, Neuseeland, durchgeführt wurde. Die<br />
qualitative Studie konzentriert sich auf fantastische<br />
Rollenspiele aus der Sicht und dem Erleben der<br />
Spielenden heraus. Ziel war es, einen Einblick zu<br />
erlangen in die Wechselbeziehungen zwischen Spiel<br />
und Realität, sowie Spieler und Spielfigur. Besonderes<br />
Interesse galt dabei dem fantastischen Setting, in dem<br />
Rollenspiele häufig angesiedelt sind, so auch das<br />
bekannte World of Warcraft (WoW). Das Fantasygenre<br />
spielt seit jeher eine wichtige Rolle in der Geschichte<br />
der Kinder- und Jugendliteratur, jedoch zeichnete sich<br />
in den vergangnen Jahren ein deutlicher Zuwachs an<br />
Fantasymedien aller Art ab. Allein die Harry-Potter<br />
Bände wurden weltweit 350 Millionen Mal in 65<br />
verschiedenen Sprachen verkauft (Presseveröffentlichung<br />
von Scholastic auf www.mugglenet.com vom 2.<br />
August 2007). Aus soziologischer Sicht stellt sich die<br />
Frage, welchen Reiz fantastische Welten ausüben, die<br />
in vielen Aspekten der Realität unserer technisierten<br />
Leistungsgesellschaft widersprechen.
Das Projekt: Eintauchen in magische Welten<br />
In der Spieleforschung wird zwischen vier Typen des<br />
Rollenspiels üblicherweise abgekürzt als RPG (kurz für<br />
Role-Playing Game), unterschieden. Die Gemeinsamkeiten<br />
der vier Typen liegen im Fall der fantastischen RPGs<br />
in den typischen Handlungselementen (z. B. die Quest)<br />
und Motiven des fantastischen Settings, also in der vom<br />
Zauberhaften und Magischen geprägten Spielwelt. Innerhalb<br />
dieser Spielwelt wird eine Geschichte erzählt,<br />
die von den Spielenden mit beeinflusst und gestaltet<br />
wird. In jedem RPG wird für die Spielenden eine Spielfigur<br />
erschaffen, der so genannte Char oder Charakter,<br />
auch Avatar genannt. Mit dieser, nach gewissen Regeln<br />
und Vorgaben selbst erstellten Figur, bewegen sich die<br />
Spielenden durch die fantastische Spielwelt, wobei die<br />
Umsetzung je nach Typ von einer realen Darstellung des<br />
Chars mit Verkleidung bis zur digitalen Umsetzung am<br />
PC reichen kann (für weitere Informationen zum RPG<br />
siehe z. B. Dormans, 2006). Unser Projekt konzentrierte<br />
sich auf Pen & Paper Spieler, sowie MMORPG Spieler.<br />
Zum einen sind damit die anderen Typen, nämlich<br />
Live-Action und offline RPG mit repräsentiert (fast jeder<br />
Live-Action Spieler spielt auch Pen & Paper, fast jeder<br />
MMORPG Spieler auch offline RPGs), zum anderen<br />
lassen sich die ‚Urform’ des Spiels und die neueste Entwicklung<br />
als digitale Online-Version aus verschiedenen<br />
Gründen gut miteinander vergleichen. Zudem ist das<br />
öffentliche Interesse im Falle der MMORPGs hoch, so<br />
dass Forschungsergebnisse, die Einblicke in das tatsächliche<br />
Nutzerverhalten bieten, von Wichtigkeit sind.<br />
Der erste Teil der Studie besteht in einem halboffenen<br />
Fragebogen zur Erhebung soziodemografischer Daten,<br />
sowie anderer Szenemerkmale. Zwar gibt es bereits<br />
Zahlen und Statistiken zur Rollenspielszene (vgl:<br />
http://www.jugendszenen.com/Rollenspieler/Intro.<br />
html: 05.05.2008), diese beziehen sich jedoch vorwiegend<br />
auf Pen & Paper Rollenspieler im Sinne einer<br />
Jugendszene. Seit der Weiterentwicklung digitaler Spiele<br />
gibt es aber immer<br />
mehr Spieler, die neben<br />
den klassischen<br />
Pen & Paper RPGs<br />
auch digitale RPGs<br />
benutzen. Was uns<br />
deshalb besonders<br />
interessierte, waren<br />
Überschneidungen<br />
zwischen den verschiedenen<br />
Arten<br />
des RPG, sowie der<br />
sonstige Umgang mit<br />
fantastischen Medien<br />
in der Szene.<br />
Beispiel eines Chars aus World of Warcraft;<br />
der Spieler hat einen Gnom-Magier als<br />
Spielfigur gewählt.<br />
In einem zweiten,<br />
qualitativen Teil wurden<br />
fokussierte Interviews<br />
geführt, die<br />
Aufschluss darüber<br />
Promotion ❘ Reales Erleben in virtuellen Welten<br />
geben sollten, inwiefern sich die Spieler mit ihren Charakteren<br />
identifizieren, ob dies in Wechselwirkung mit<br />
ihrer realen Person steht und inwiefern das Wertesystem<br />
und die Erlebnisse in der fantastischen Welt in Wechselwirkung<br />
stehen mit der Realität. Diese Interviews wurden<br />
mit Creative Visual Research kombiniert, einer innovativen<br />
Methode der Medienforschung, die neben verbalen<br />
Äußerungen die kreative visuelle Darstellung komplexer<br />
und abstrakter Inhalte ermöglicht, um das verbale Material<br />
aus Interviews zu ergänzen (Gauntlett 2005). Zum<br />
integralen Bestandteil der Studie wurde die teilnehmende<br />
Beobachtung, die intensive Einblicke in die Abläufe<br />
sozialer Interaktionen innerhalb des Spielgeschehens,<br />
in den Aufbau der Rollenspielszene und insbesondere<br />
in Vorgänge der Reflektion und Verarbeitung von Spielsituationen<br />
und Charakterentwicklungen ermöglichte. Erst<br />
das Eintauchen in die fantastische Welt der RPGs zeigte<br />
auf, welche neuen Räume, Möglichkeiten und Risiken<br />
virtuelle Welten eröffnen und wie die Spiele tatsächlich<br />
genutzt werden.<br />
Die Ergebnisse: Wenn Räume verschmelzen<br />
Wie aus der Szeneforschung bereits bekannt, überwogen<br />
auch in dieser Studie die männlichen Rollenspieler,<br />
wobei sich die Zahl vor allem im Bereich der Online<br />
RPGs langsam anzugleichen scheint. Hier waren im Vergleich<br />
deutlich mehr Frauen vertreten. Ähnlich verhält es<br />
sich mit der Altersstruktur der Spielenden: der Großteil<br />
konzentriert sich zwischen 15 und 35 Jahren, es sind<br />
jedoch alle Altersstufen vertreten, vom 8jährigen DSA-<br />
Spieler – DSA steht für ‚Das Schwarze Auge’, das bekannteste<br />
deutschsprachige Pen & Paper RPG-System –<br />
bis zur 60jährigen WoW-Spielerin. Generell zeigten<br />
die Fragebögen, dass Rollenspieler medieninteressiert<br />
sind und vor allem im Fantasybereich überdurchschnittlich<br />
viel lesen, aber meist sehr wenig Zeit (weniger als<br />
eine Stunde pro Tag) vor dem Fernseher verbringen.<br />
Auch ergaben sich viele Überschneidungen im Bereich<br />
der verschiedenen Arten des Rollenspiels, nur 10% der<br />
Teilnehmer spielten eine einzige Art RPG, alle anderen<br />
mindestens zwei Arten.<br />
Das Fantasy Setting ist für viele Spieler ein entscheidender<br />
Punkt. Vor allem das idealisierte Wertesystem ist ansprechend<br />
und wird als vorbildhaft und wünschenswert<br />
angesehen: »Es sagt mir schon was über mich aus, wie<br />
ich mich bei bestimmten Dingen fühle. Gerade bei so<br />
Wertekonflikten, wenn ich entscheiden muss, wie weit<br />
bin ich bereit für meine Überzeugung zu gehen, zum<br />
Beispiel. Da denke ich dann viel drüber nach.« So äußerte<br />
sich ein Interviewpartner zum Thema Wertvorstellungen<br />
im Spiel und in der Wirklichkeit, eine andere<br />
sagte dazu Folgendes: »Ein Charakter ohne Moral ist<br />
für mich nicht spielbar. Ich brauche Prinzipien, an die<br />
ich mich halte (…) und ich wünsche mir schon auch<br />
manchmal, dass die Werte in der Realität ein bisschen<br />
höher gesteckt wären.«<br />
Professor Tolkien, der nicht nur Autor, sondern auch Philologe<br />
in Oxford war, spricht von fantastischen Welten<br />
<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> Forum Forschung Mai 2011 21
Promotion ❘ Reales Erleben in virtuellen Welten<br />
als Unterschöpfungen, als Abbilder der ersten Schöpfung,<br />
die wir als Menschen mit der Gabe der Fantasie<br />
selbst erschaffen können. In diesen Unterschöpfungen,<br />
so Tolkien, treten wir in Distanz zu uns selbst und zu unserem<br />
Alltag. Wir können die Welt im Spiegel betrachten<br />
und somit reflektiert und distanziert über sie nachdenken<br />
(Tolkien 1970). Diese Auseinandersetzung mit<br />
der Realität findet im fantastischen Rollenspiel äußerst<br />
intensiv statt, wie Interviewäußerungen immer wieder<br />
zeigten: »Ganz am Anfang, als ich mit dem Rollenspiel<br />
angefangen hab, da hab ich einen Ritter gespielt. Und<br />
ich hab gemerkt, dass es mir sehr schwer fällt, meinem<br />
Knappen Anweisungen zu geben. Bei Studenten gibt<br />
es halt keine Untergebenen und plötzlich hatte ich da<br />
so ne Führungsrolle…«. Eine andere Spielerin sagt von<br />
sich: »… da hatte ich schon so einige Aha-Erlebnisse<br />
beim Spielen… grade in der Zeit, wo man sich auch<br />
viel überlegt, wo steh ich denn eigentlich im Leben.<br />
Da hab ich schon auch viel Spannendes über mich gelernt.«<br />
Fazit<br />
Der wichtigste Aspekt, der aus der Materialanalyse<br />
hervorging, war ein unerwarteter, der sich aus der<br />
Fragestellung nach Wechselwirkung zwischen Spielwelt<br />
und Realität ergab. Häufig wurde im Verlauf der<br />
Interviews oder aus den Notizen aus der teilnehmenden<br />
Beobachtung deutlich, dass das Zusammenwirken<br />
realer und virtueller Räume über eine Wechselwirkung<br />
hinausgehen kann und zu einer Verschmelzung der<br />
Räume führt. Dies trat vor allem, aber keineswegs<br />
ausschließlich, beim Online RPG auf und betrifft<br />
Situationen, in denen die Trennung zwischen realer Welt<br />
(RL für Real Life) und virtueller Welt (VR für Virtual Realm)<br />
nicht mehr möglich ist. Wechselwirkungen wurden von<br />
Rollenspieler in der Gesprächsrunde auf der Spielemesse in Stuttgart.<br />
22 Forum Forschung Mai 2011 <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />
den Spielenden regelmäßig erlebt und beschrieben und<br />
auch bewusst als solche wahrgenommen. Zum Beispiel<br />
findet eine solche Wechselwirkung statt, wenn schlechte<br />
Laune im RL durch aggressive Spieltaktik abgebaut<br />
wird oder das erfolgreiche Abschließen einer Quest<br />
im Spiel zu guter Laune im RL führt. Hier liegen die<br />
Auslöser in einem Raum, während die Auswirkungen<br />
im anderen Raum erlebt werden, die Trennung bleibt<br />
jedoch eindeutig. Sobald das Erleben über eine<br />
Wechselwirkung hinausgeht, kommt es jedoch zum<br />
Verschmelzen der Räume, zum Beispiel, wenn der VR<br />
als Kommunikationsplattform im RL benützt wird, wie<br />
dies bei WoW häufig geschieht. Hier wird der VR zu<br />
einem Teil des RL und alles Erleben innerhalb des VR<br />
somit auch ein reales Erlebnis. Noch deutlicher wird<br />
dies im Falle von emotionalen Erlebnissen. So kommt es<br />
beispielsweise vor, dass das Verhalten einer Spielfigur<br />
Emotionen bei Mitspielern auslöst, die sich auf die<br />
reale Person, also den Spieler hinter dem Avatar, oder<br />
eine reale Situation, beispielsweise eine Äußerung,<br />
beziehen.<br />
In dem Moment ist weder für Beteiligte noch für Beobachter<br />
zu unterscheiden, in welchem Raum die Spielenden<br />
Erfahrungen machen – das Erleben ist real, obwohl<br />
es im virtuellen Raum stattfindet und wirkt sich im verschmolzenen<br />
Raum, einer Art virtuellen Realität aus. Diese<br />
Art der Nutzung von MMORPGs wird als ‚Merged<br />
Gameplay’ bezeichnet. Das Erleben dieser virtuellen<br />
Realität kommt regelmäßig in Interviews, wie auch in<br />
der teilnehmenden Beobachtung vor und wirft die Frage<br />
auf, wie Menschen mit diesem neuen Erfahrungsraum<br />
umgehen, wie sie ihn gestalten und welche Entwicklung<br />
für Individuum und Gesellschaft davon ausgehen<br />
können.<br />
Für Online-Rollenspieler ist die virtuelle Realität schon<br />
jetzt selbstverständlicher Teil des Alltags und Raum für<br />
soziales Handeln. Hier werden Begegnungen gemacht,<br />
über soziale, staatliche und räumliche Grenzen hinweg.<br />
Ob sich Familien im virtuellen Gasthaus treffen und Termine<br />
für den nächsten Tag vereinbaren oder unmoralisches<br />
Verhalten in der Spielgruppe zu einer Diskussion<br />
über soziales Miteinander führt – wir werden uns an<br />
den Gedanken gewöhnen müssen, dass MMORPGs<br />
mehr sind als Spielwiesen für Computer-Freaks. Virtuelle<br />
Welten führen zu virtueller Gemeinschaft und zunehmend<br />
werden diese Gemeinschaften in alltägliche<br />
Wirklichkeit integriert und somit Teil dieser Wirklichkeit,<br />
wie auch deutliche Parallelen zwischen der Nutzung<br />
von MMORPGs und Social Networking Sites zeigen<br />
(Hemminger 2010b).<br />
Was dies für unser soziales Miteinander und den Einzelnen<br />
in der Gesellschaft in Zukunft bedeutet, bleibt<br />
an dieser Stelle offen. Letztendlich müssen wir jedoch<br />
darüber nachdenken, ob die Grenze zwischen Realität<br />
und Virtualität im herkömmlichen Sinne aufrechterhalten<br />
werden kann. In der virtuellen Realität der Rollenspiele<br />
ist sie längst aufgehoben.
Literatur<br />
❙ Clute, John & Grant, John (1999): The Encyclopedia<br />
of Fantasy. New York: Saint Martin`s Press.<br />
❙ Dormans, Joris (2006): On the Role of the Die: A<br />
brief ludologic study of pen-and-paper roleplaying<br />
games and their rules. In: Game Studies, volume 6/<br />
issue 1.<br />
❙ Englert, Rudolf, Porzelt, Burkard, Reese, Annegret &<br />
Stams, Elisa (2006): Innenansichten des Referendariats.<br />
Berlin/ Wien: Lit Verlag.<br />
❙ Gauntlett, D, (2005): Moving Experiences. Media<br />
effects and beyond. Eastleigh: John Libbey, 2nd<br />
printing.<br />
❙ Hemminger, E. (2009): The Mergence of Spaces.<br />
Experiences of Reality in Digital Role-Playing Games.<br />
Berlin: Sigma.<br />
❙ Hemminger, E./ Schott, G. (2010): The Mergence of<br />
Spaces. MMORPG User-Practice and Everyday Life.<br />
In: Fromme, J./ Unger, A. (Hrsg.): Computer Games/<br />
Players/ Game Cultures: A Handbook on the State<br />
and Perspectives of Digital Game Studies. Berlin:<br />
Springer.<br />
❙ Hemminger, E. (erscheint 2010a): Wenn Räume<br />
verschmelzen. Soziale Netzwerke in virtuellen Spielwelten.<br />
In: Fuhse, J./Stegbauer, C. (Hrsg.): Kultur<br />
und mediale Kommunikation in sozialen Netzwerken.<br />
Wiesbaden: VS Verlag.<br />
❙ Hemminger, E. (erscheint 2010b): Fantasy Facebook.<br />
Merged Gameplay in MMORPGs as Social Networking<br />
Activities. In: Mitgutsch, K. (Hrsg.): On the<br />
Edge of Gaming. Proceedings of the Vienna Games<br />
Conference 2009.<br />
Promotion ❘ Reales Erleben in virtuellen Welten<br />
❙ Hitzler, Ronald, Bucher, Thomas & Niederbacher,<br />
Arne (2005): Leben in Szenen. Formen jugendlicher<br />
Vergemeinschaftung heute. Wiesbaden: VS Verlag.<br />
❙ Lewis, Clive Staples (1982): On Stories and Other<br />
Essays on Literature. Edited be Walter Hooper. New<br />
York: Harvest/ HBJ Book. S. 66.<br />
❙ Rahm, Sybille & Schratz, Michael (2004): LehrerInnenforschung.<br />
Theorie braucht Praxis. Braucht Wissen<br />
Theorie? Innsbruck: Studienverlag.<br />
❙ Rodriguez, Hector (2006): The Playful and the Serious:<br />
An approximation to Huizinga‘s Homo Ludens.<br />
In: Game Studies, volume 6/ issue 1.<br />
❙ Schäfers, Bernhard & Scherr, Albert (2005): Jugendsoziologie.<br />
Einführung in Grundlagen und Theorien.<br />
8. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag.<br />
❙ Tolkien, J. R. R. (1970): The Tolkien Reader. New<br />
York: Ballantine Books, 9th printing.<br />
Internetquellen<br />
❙ http://www.amd.com/usen/Processors/ProductInformation.html:<br />
05.05.2008.<br />
❙ http://www.blizzard.de/press/080122.shtml:<br />
05.05.2008.<br />
❙ http://www.jugendszenen.com/Rollenspieler/Intro.<br />
html: 05.05.2008.<br />
❙ http://www.theescapist.com/basic_gaming_faq.<br />
htm#reputation: 05.05.2008.<br />
❙ www.mugglenet.com: 2. August 2007.<br />
Nach Studium in Tübingen und <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> war Dr. Elke Hemminger Lehrerin an<br />
der Förderschule Freudenstadt und der GHWRS Dornstetten. Seit Ende 2006 Förderung der<br />
Promotion nach dem Landesgraduiertenförderungsgesetz, die sie 2009 an der PH <strong>Schwäbisch</strong><br />
<strong>Gmünd</strong> in Kooperation mit der University of Waikato in Hamilton, Neuseeland abschloss. Seit<br />
Februar 2009 ist sie akademische Mitarbeiterin in der Abteilung Soziologie.<br />
<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> Forum Forschung Mai 2011 23
Promotion ❘ Bandornamente im Elementarbereich<br />
Bandornamente im<br />
Elementarbereich<br />
Dr. Sabine Hielscher<br />
Eine empirische Untersuchung zum Musterverständnis von 5- bis 7-Jährigen<br />
Arbeitsgruppe: Prof. Dr. Klaus-Peter Eichler, PH <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />
Zweitgutachter: Prof. Dr. Jens Holger Lorenz, PH Heidelberg<br />
Abstract: Mathematics is the “science of patterns and structures”. Typical activities in the preschool years are<br />
geometric in nature (placing, folding, kneading, building objects etc.) and can be accomplished in a practical,<br />
tangible and a playful way. The present study provides a survey of the mathematical skills that are essential at the<br />
elementary level and could and should be promoted. This refers in particular to the general designation of the visual<br />
spatial skills and their importance to the appropriation of the term “pattern”. These skills, which make a particular<br />
contribution to the understanding of patterns, are described. In the present case, an investigation has been undertaken<br />
to determine whether the working band ornaments for early education and mathematics are geometric. By<br />
band ornaments, the “meaning of the pattern” in both the narrower and wider sense is explored and typical ways<br />
of working with them are described and classified.<br />
Kinder kommen permanent mit Mathematik – dadurch<br />
zwangsläufig mit Mustern und Strukturen – in Berührung<br />
(vgl. z. B. SPITZER 2000, S.30 – 33; 2002, S. 68 – 72;<br />
DEVLIN 2002, S.5; WITTMANN & MÜLLER 2008,<br />
S.42 – 65). Wer entsprechende pädagogische Berufserfahrung<br />
einbringt, kann/sollte die Vielfalt in den Lernvoraussetzungen<br />
der 5- bis 7-Jährigen erkennen können. Die<br />
Heterogenität im kognitiven Bereich zeigt sich u. a. in<br />
wachsenden Kompetenzen. Entwicklungsverzögerungen<br />
in manchen Bereichen beruhen überwiegend auf geringen<br />
Vorkenntnissen (vgl. LORENZ 1995, S.10; 2004,<br />
S.34 – 45). Rechenschwache Kinder bleiben überwiegend<br />
bereits im Vorschulalter hinter ihren Altersgenossen<br />
zurück. Sie brauchen Förderung des Zahlenraumverständnisses<br />
auf der Grundlage der Stärkung räumlicher<br />
Fähigkeiten (vgl. von ASTER & KUCIAN 2005, S.1).<br />
Daher besteht die Möglichkeit und die Notwendigkeit,<br />
so früh wie möglich, Vorschulkinder an mathematische<br />
Erfahrungsbereiche heranzuführen. Studien zeigen, dass<br />
die bei Schuleintritt vorhandenen Kompetenzen bestimmend<br />
für spätere Schulleistungen sind (vgl. KRAJEWSKI<br />
& SCHNEIDER 2006, S.246 – 262; KRETSCHMANN<br />
24 Forum Forschung Mai 2011 <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />
2004, S.220 – 228; STAMM 2004, S.865 – 881 u.<br />
a.). Kognitive Bereiche, wie allgemein-geistige Fähigkeiten<br />
und Teilfähigkeiten der räumlich-visuellen Qualifikation<br />
sind ausschlaggebend. Die räumlich-visuelle Qualifikation<br />
»ist nicht nur lebenspraktisch bedeutsam, sie ist<br />
zugleich eine wesentliche Grundlage für erfolgreiches<br />
Lernen im Mathematikunterricht« (EICHLER 2006a, S.5).<br />
Im Mathematikunterricht brauchen Kinder entsprechende<br />
Teilfähigkeiten zum Vorstellen von Zahlen, Zahlbeziehungen<br />
und Operationen (vgl. EICHLER 2006b, S.40).<br />
Demzufolge bietet die Auseinandersetzung mit geometrischen<br />
Sachverhalten entsprechende Möglichkeiten,<br />
Schwierigkeiten und Stärken der Kinder zu identifizieren,<br />
so dass nach erkanntem Unterstützungsbedarf der Ausgleich<br />
von Rückständen bereits vor Schuleintritt erfolgen<br />
könnte.<br />
Geometrische Aktivitäten sind ein wesentlicher Beitrag<br />
zur Erschließung der Umwelt und der Lebenswirklichkeit<br />
(vgl. Rahmenplan der Vorschule Mecklenburg-Vorpommern<br />
2005, S.69 – 84). Diese stellt sich dreidimensional,<br />
in vielfältigen Farben, Formen, Größen, Lagebezie-
hungen usw. dar. Aktivitäten von Vorschulkindern sind<br />
größtenteils praktisch und gegenständlich. In der<br />
Vorschul zeit können sie diese durch Legen, Falten,<br />
Kneten, Bauen etc. umsetzen. Daraus werden entsprechend<br />
altersgerechte Erfahrungen gesammelt und<br />
angeeignet (vgl. EICHLER & OBERLÄNDER 2005,<br />
S.4 – 10). Spiele rische Elemente und eine geeignete anschauliche<br />
Präsen ta tion geometrischer Sachverhalte regen<br />
Kinder in besonderer Weise zur Beschäftigung mit<br />
geometrischen Inhalten an. Hierdurch gehen sie auf Entdeckungsreise,<br />
die ihnen vielfältige Handlungsmöglichkeiten<br />
eröffnet. Weiterhin sollte das Beschreiben des<br />
Sachverhaltes und eine Begründung einzelner Lösungen<br />
herausgefordert (vgl. EICHLER 2004, S.12 – 20). Die<br />
vorliegende Studie zeigt, dass mit geeigneten Aufgabenstellungen<br />
die Mathematik bereits im Kindergarten<br />
erlebbar ist. Es war auffallend, dass die Kinder dieser<br />
Altersstufe kreativ und regel bewusst mit geometrischen<br />
Mustern umgehen.<br />
Erstaunlicherweise liegen präzise Kenntnisse über die<br />
Fähigkeiten von Kindern im Umgang mit Mustern bisher<br />
kaum vor. Welche Teilfähigkeiten der Mustersinn umfasst<br />
und wie diese über geeignete Aufgaben mit steigendem<br />
Schwierigkeitsgrad aufgebaut und weiterentwickelt werden<br />
können, ist offen. In der Beobachtung von Kindern<br />
ist festzustellen, dass sie durch Vorgabe von Mosaikbaukästen,<br />
zum Legen von Mustern und Nachdenken über<br />
ihre Regeln angeregt werden. Dieses Arbeitsmittel eignet<br />
sich nicht nur zur Beschäftigung mit geometrischen Inhalten.<br />
Bandornamente sind dabei primärer Ansatz. Es geht<br />
in dieser Studie darum, diese Lernumgebung daraufhin<br />
zu analysieren, was sie leisten kann.<br />
Ziele der Arbeit<br />
❙ Erkundung, inwieweit Bandornamente ein substantielles<br />
Aufgabenformat für die frühe mathematische Bildung<br />
darstellen.<br />
❙ Prüfung, ob sich die Arbeit mit Bandornamenten zur<br />
Diagnose geometrischer Vorerfahrungen von Vorschulkindern<br />
eignet.<br />
❙ Feststellung, welche Vorstellungen Vorschulkinder zum<br />
Begriff »Muster« haben.<br />
❙ Erfassung, Beschreibung und Klassifizierung der Arbeitsweisen<br />
beim Nachlegen und Fortsetzen vorgegebener<br />
Bandornamente.<br />
❙ In der Arbeit mit Bandornamenten den »Mustersinn«<br />
im engeren und weiteren Sinn untersuchen und erfassen.<br />
Die Untersuchung im Kindergarten<br />
Der Untersuchungszeitraum war vom Juni 2008 bis<br />
Anfang Juli 2008. An der Studie nahmen 13 Kinder<br />
zwischen 5 und 7 Jahren teil. Es wurden 5 Kinder<br />
beobachtet und befragt, die sich 2 – 3 Monate vor<br />
Schul eintritt und 8 Kinder, die sich ein Jahr und 2 – 3<br />
Monate vor Schuleintritt befanden. Den Kindern wurden<br />
drei verschiedene Teilaufgaben (TA) präsentiert. Dabei<br />
sollte stets ein Bandornament identifiziert und realisiert<br />
werden.<br />
Promotion ❘ Bandornamente im Elementarbereich<br />
TA_1: Bandornamente nachlegen und fortsetzen, z. B.<br />
Abb. 1: Punktspiegelung (und Translation).<br />
TA_2: Lücken in Bandornamenten schließen, z. B.<br />
Abb. 2: Querspiegelung (und Translation).<br />
TA_3: Fehler in Bandornamenten finden, z. B.<br />
Abb. 3: Schubspiegelung.<br />
Vor Beginn der Studie wurden den Schwierigkeitsgrad<br />
bestimmende Merkmale der eingesetzten Aufgaben<br />
hypothetisch angenommen. Die eingesetzten Bandornamente<br />
lassen sich nach den 7 bekannten Typen klassifizieren.<br />
Die jeweiligen Symmetrieeigenschaften des<br />
Bandornaments werden als wesentlich und den Schwierigkeitsgrad<br />
bestimmend angesehen.<br />
Es wurden halbstandardisierte videodokumentierte Interviews<br />
durchgeführt. Das materialgestützte Gespräch<br />
diente der Erfassung des »naiven« Musterbegriffs und<br />
der Überprüfung kognitiver Bereiche. Ihm lag ein Leitfaden<br />
mit geschlossenen und offenen Fragen zu Grunde,<br />
deren konkrete Formulierung und Reihenfolge variiert<br />
werden konnte. Die Interviews fanden nachmittags im<br />
Kindergarten in der Einzelsituation Interviewerin – Kind<br />
statt. Direkt nach einem Interview wurde die Videoaufnahme<br />
angesehen und der vorbereitete Beobachtungsbogen<br />
ausgefüllt. Der nachfolgende Ausschnitt gibt<br />
dazu einen Einblick. Dabei wird beobachtet, welche<br />
Handlungsstrategien speziell für das Bandornament Typ<br />
2 – Querspiegelung – verwendet werden. Zur Begriffskenntnis<br />
»Spiegelung« wurde erfasst, ob in irgendeiner<br />
Form gesagt oder gezeigt werden konnte, dass quer<br />
gespiegelt wurde.<br />
<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> Forum Forschung Mai 2011 25
Promotion ❘ Bandornamente im Elementarbereich<br />
Tab. 1: Items für Teilaufgabe 1 Bandornament Typ 2, Beobachtungsschwerpunkt<br />
»Handlungsstrategien und Begriffskenntnis«.<br />
Ergebnisse<br />
In der Studie wird hinsichtlich der Vorstellungen zum Begriff<br />
»Muster« deutlich:<br />
Bandornamente veranlassen 5- bis 7-Jährige, mit diesen<br />
Ornamenten viele konkrete Dinge zu assoziieren. Was<br />
Kinder dabei wahrnehmen und als was sie es wahrnehmen,<br />
hängt auch hier von ihren Vorerfahrungen ab. Es<br />
ist deshalb nicht verwunderlich, wenn sie vor allem figürlich-konkrete<br />
Dinge in die Bandornamente hineinsehen:<br />
Pfeil, Haus usw. Sie durchschauen die Binnengliederung<br />
nicht, d. h. sie sehen zuerst ganzheitlich. Sie müssen<br />
lernen, diese in der Vorstellung in Teilfiguren zu zergliedern.<br />
Den Kindern gelingt es gut, Bandornamente nachzulegen.<br />
Wenn sie diese beschreiben und fortsetzen, haben<br />
sie die Wiederholung und das sich wiederholende Objekt<br />
im Blick. Die Vorstellung einer Verschiebung kann<br />
nicht beobachtet werden. Es ist nicht feststellbar, dass<br />
Kinder die Achsensymmetrie in einem Bandornament<br />
erfassten und zu seiner Fortsetzung heranziehen. Auch<br />
wenn vielleicht bei dem einen oder anderen Kind Erfahrungen<br />
zur Spiegelung vorhanden sein sollten, dann<br />
dominiert doch das ganzheitliche Wahrnehmen größerer,<br />
einprägsamer Teile des Bandornamentes. Der wahrgenommene<br />
»Pfeil« im Bandornament wird nicht weiter<br />
zergliedert. Es wird nicht erfasst, dass er aus zwei spiegelbildlich<br />
angeordneten Dreiecken zusammengesetzt<br />
werden kann.<br />
Auch in den Fällen, in denen eine Vorstellung von<br />
Prozessen erfasst wurde, basiert diese Vorstellung auf<br />
Assoziationen mit etwas konkret Erfahrenem, nämlich<br />
Windrädern oder Propellern und deren Drehung, einer<br />
Treckerspur (Abdruck eines der großen Reifen) usw.<br />
Auch Kinder im Elementarbereich verfügen über die Fähigkeit,<br />
Muster zu »mappen«. Ihre Handlungen werden<br />
von »Mappings« zu Grundmustern, zur Gesetzmäßigkeit<br />
statischer Art und Handlungsstrategien geleitet. Sie setzen<br />
ihre Hypothesen um.<br />
26 Forum Forschung Mai 2011 <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />
Schlussfolgerungen und Ausblicke<br />
Aufgaben zu Bandornamenten sind ein substantielles<br />
Aufgabenformat für den Elementarbereich. In der Auseinandersetzung<br />
mit Bandornamenten – die den Kindern<br />
im Alltag an vielen Stellen begegnen – kann die Alltagserfahrung<br />
der Kinder aufgegriffen und daran angeknüpft<br />
werden. Bandornamente eignen sich nachweislich, um<br />
die visuelle Wahrnehmung zu üben. In Alleinarbeit wird<br />
das Wiedererkennen von Objekten in verschiedenen<br />
Größen, Anordnungen, räumlichen Lagen und Färbungen<br />
geübt. Diese Teilfähigkeit ist eine wichtige Grundlage<br />
für schulisches Lernen, da im Unterricht vor allem visuelle<br />
Darstellungen in Tafelbildern, Arbeitsblättern oder in<br />
Buchseiten zu deuten sind.<br />
Bandornamente sind ein Mittel, um Kinder zielführend<br />
in ihrer Entwicklung zu beobachten und zu erfassen, ob<br />
wesentliche Voraussetzungen für erfolgreiches Lernen<br />
gegeben sind. Sie zeigen, ob hinreichend Fähigkeiten<br />
zur Figur-Grund-Wahrnehmung, zur visuellen Diskrimination<br />
und zur Wahrnehmung räumlicher Beziehungen zur<br />
Verfügung stehen. Sowohl solche spezifischen visuellen<br />
Fähigkeiten als auch allgemeine kognitive Fähigkeiten<br />
können diagnostiziert werden (vgl. EICHLER 2005,<br />
S.20 – 21), wie etwa auch die Fähigkeit, Objekte nach<br />
mehr als einem Merkmal zu ordnen und zu klassifizieren.<br />
Bandornamente sind demzufolge zugleich ein Mittel zur<br />
Förderung allgemeiner geistiger Fähigkeiten. Sie lassen<br />
sowohl reales als auch gedankliches Handeln zu. Insbesondere<br />
das Erkennen und Erfassen von geometrischen<br />
Formen und deren Lagebeziehungen (rechts, links, zwischen,<br />
rechts von, links von, ...) kann dabei gefestigt<br />
werden. Das Ausprobieren erlaubt Kindern mit Defiziten<br />
in diesem Bereich, solche Erfahrungen nachzuholen und<br />
aufzubauen. Der Schwierigkeitsgrad beim Fortsetzen ergibt<br />
sich aus den Anforderungen beim Analysieren und<br />
Erfassen der dem Bandornament zugrunde liegenden<br />
Gesetzmäßigkeit, d. h. sie lassen unterschiedliche Bearbeitungstiefen<br />
zu. Anhand des Legens von Bandornamenten<br />
ist zu beobachten, ob Kinder über hinreichende<br />
Lernvoraussetzungen in Bezug auf Abstraktions-, Differenzierungs-<br />
und Vorstellungsvermögen verfügen. Dabei<br />
ist auch erkennbar, ob sie sich konzentrieren und sich<br />
kurz- und längerfristig etwas merken können. Beim Fortsetzen<br />
von einfachen Ornamenten aus geometrischen<br />
Formen wird ihnen bereits ermöglicht, Entdeckungen zu<br />
machen, die später der Analyse von Bandornamenten in<br />
der Grundschule zugute kommen.<br />
Im Anfangsunterricht muss beim Arbeiten mit Bandornamenten<br />
berücksichtigt werden, dass Kinder über Alltagserfahrungen<br />
zu Achsensymmetrien, wie z. B. Spiegelung<br />
im Wasser oder an konkreten Gegenständen wie z. B.<br />
an Pflanzen- und Tierformen verfügen. Alle diese Erfahrungen<br />
sind eher statischer Art, sie beziehen sich auf<br />
Eigenschaften von Objekten, die im Zustand der Ruhe<br />
durch Betrachten gewonnen wurden. Als Voraussetzung<br />
für entsprechende Vorstellungsleistungen sind Wahrneh-
mungen von Prozessen überaus wichtig. Deshalb ist es<br />
notwendig, dass Kinder zu gezielter Beobachtung angeregt<br />
werden, um Wesentliches in Prozessen entdecken<br />
zu lernen. Nicht erst in der Grundschule sollten sie derartige<br />
Beobachtungen machen dürfen.<br />
Literatur<br />
❙ Eichler, K.-P. (2006a): Stell’ dir vor, ich seh’ es nicht.<br />
Promotion ❘ Bandornamente im Elementarbereich<br />
– In: Grundschule Mathematik, Heft 10, S.5.<br />
❙ Peters, S. (2009): Zum Musterverständnis von Kindern<br />
im Elementarbereich dargestellt am Beispiel der<br />
Arbeit mit Bandornamenten. – Dissertation. <strong>Schwäbisch</strong><br />
<strong>Gmünd</strong>: <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong>.<br />
❙ Peters, S. (2010): Zum Musterverständnis von Kindern<br />
im Elementarbereich dargestellt am Beispiel der<br />
Arbeit mit Bandornamenten. Stuttgart: SWB.<br />
Dr. Sabine Hielscher (geb. Peters) ist seit 1981 Grundschullehrerin und seit 1990<br />
Diplompädagogin. Sie hat langjährige Erfahrungen als Klassenleiterin erster und zweiter Klassen.<br />
Seit 1991 leitet sie Grundschulen in Rostock und im Großraum Hamburg. Referententätigkeit<br />
im Bereich Lehrerfortbildung führt sie seither bundesweit durch. Heute lebt sie in Bremen. Die<br />
Promotion an der <strong>Pädagogische</strong>n <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> absolvierte sie neben ihrer<br />
beruflichen Tätigkeit. Das vorgestellte Forschungsprojekt ist innerhalb der Arbeitsgruppe von<br />
Prof. Dr. Klaus-Peter Eichler »Frühe Bildung Geometrie« entstanden.<br />
<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> Forum Forschung Mai 2011 27
Promotion ❘ Funktionales Denken in den baden-württembergischen Bildungsplänen<br />
Funktionales Denken in<br />
den baden-württembergischen<br />
Bildungsplänen<br />
Dr. Thilo Höfer<br />
Vergleich und Diskussion der Anforderungen in Werkrealschule, Realschule und Gymnasium in<br />
der Sekundarstufe I<br />
Arbeitsgruppe: Prof. Dr. Astrid Beckmann, PH <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />
Zweitgutachter: Prof. Dr. Claus Michelsen, Syddansk Universitet, Odense (Dk)<br />
Abstract: The idea of mathematical functions has been used in mathematics for more than 200 years. The concept<br />
of function, including the associated didactics, has been enhanced ever since. The result of current research shows<br />
that many difficulties still exist for students dealing with this concept. Many models to describe and improve the<br />
processes of teaching, learning, understanding and problem solving have been developed in order to tackle the<br />
variety of difficulties associated with this concept. The author’s dissertation aims to integrate the most important ones<br />
and implement these into one “master model” named “house of functional thinking” in order to have one common<br />
model to deal with and compare previous and further research. The following article shows the results of the analysis<br />
of German school curricula using the “house of functional thinking” as an analyzing tool. The main objective of<br />
this research was to determine the kinds of skills, which are demanded of students of different ages by the curricula<br />
of different school forms (Werkrealschule, Realschule and Gymnasium). Considering these results, the consequences<br />
for students changing from one school form to another are discussed.<br />
Mit der Formulierung der Bildungspläne 2004 wurden<br />
die curricularen Vorgaben völlig anders als bisher<br />
gewohnt dargestellt. Anstatt den Schwerpunkt wie bisher<br />
auf die Inhalte zu setzen, wurden nun Kompetenzen<br />
in den Fokus gestellt. Gleichzeitig wurde flächendeckend<br />
das achtjährige Gymnasium eingeführt und die<br />
Werk realschule ersetzt vielerorts die klassischen Hauptschulen.<br />
Im Folgenden wird eine Untersuchung vorgestellt, die<br />
aus dem Blickwinkel des funktionalen Denkens heraus<br />
die Auswirkungen aus diesen Neuerungen innerhalb<br />
des Schulsystems in Baden-Württemberg analysiert und<br />
diskutiert. Dies wird an eingehenden empirischen Untersuchungen<br />
zu Leistungsständen von Schülerinnen und<br />
Schülern mit mittlerer Reife und zur Analyse einer Un-<br />
28 Forum Forschung Mai 2011 <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />
terrichtssequenz zur Einführung von Funktionen gezeigt.<br />
Der vorliegende Artikel stellt die Untersuchung zu den<br />
Bildungsplänen dar.<br />
Funktionales Denken und seine Rolle für den<br />
Unterricht<br />
Seit über 200 Jahren wird in der Mathematik der Begriff<br />
der Funktion verwendet. Das Verständnis für diesen Begriff<br />
hat sich in dieser Zeit ständig verändert. Es entwickelten<br />
sich mehrere Modelle, die das Lernen von Funktionen,<br />
Funktionsbegriff und funktionalem Denken beschreiben<br />
und gleichzeitig die Möglichkeit enthalten, Probleme zu<br />
erfassen und Lösungsansätze zu entwickeln. Sie decken<br />
dabei zwei disjunkte Teilbereiche ab: Die Sichtweise (z.<br />
B. Sfard 1987 und Vollrath 1989) und die Darstellungsform<br />
(z. B. Swan 1982) von Funktionen.
Funktionales Denken wird als die Fähigkeit verstanden,<br />
kognitives Wissen im Bereich mathematischer Funktionen<br />
problemangewandt einsetzen zu können. Mit der<br />
Fähigkeit zu funktionalem Denken ist somit nicht nur das<br />
algebraische Problemlösen verbunden, sondern auch<br />
die Fähigkeit zur Interpretation – beispielsweise von Diagrammen<br />
– die in vielen Bereichen des täglichen Lebens<br />
benötigt wird. In diesem Sinne ist das funktionale Denken<br />
inzwischen ein zentraler Bestandteil der mathematical<br />
literacy (»mathematische Grundbildung«), die international<br />
durch Studien wie PISA und TIMMS überprüft wird.<br />
Die Fähigkeit zu möglichst weitreichendem funktionalen<br />
Denken ist somit eines der gemeinsamen internationalen<br />
Ziele des Mathematikunterrichts.<br />
Analysemodell »Das Haus des funktionalen Denkens«<br />
Zu einem umfassenden funktionalen Denken gehören<br />
vielfältige Fähigkeiten. So müssen die Repräsentationsformen<br />
von Funktionen (z. B. Graph, verbale Beschreibung,<br />
algebraischer Ausdruck, Tabelle) beherrscht und<br />
ineinander übersetzt werden können (vgl. Swan 1982).<br />
Außerdem muss die Sichtweise der Funktion problemangemessen<br />
gewählt werden können. Je nach Bedarf sollte<br />
man sie als punktweise Zuordnung (sog. Aktionsebene),<br />
als dynamischen Vorgang (Prozessebene) oder sogar<br />
als eigenständig manipulierbares Objekt (Objektebene)<br />
betrachten können (vgl. Sfard 1991, DeMarois & Tall<br />
1996 u.v.a.m.). In Höfer (2008) werden diese Fähigkeiten<br />
in einem Haus des funktionalen Denkens abgebildet<br />
(Abb. 1). Dieses Modell ist die Basis der folgenden<br />
Analyse der Bildungspläne.<br />
Abbildung 1: Das Haus des funktionalen Denkens.<br />
Die Auswertung der in den Bildungsplänen geforderten<br />
Bausteine des Hauses des funktionalen Denkens erfolgte<br />
durch konsequente Analyse der darin formulierten Kompetenzen.<br />
Beispielsweise findet man im Bildungsplan für<br />
Gymnasien (Klasse 6) die Kompetenz »Zahlterme interpretieren<br />
und berechnen können«. Die Berechnung und<br />
Interpretation von Zahltermen schult dabei einerseits die<br />
Übersetzungsfähigkeit A→B auf Aktionsebene, andererseits<br />
ist sie eine Übung zum Erreichen der Aktionsebene<br />
A→T, da man zur Vervollständigung einer Tabelle häufig<br />
Punkt für Punkt den gegebenen Term berechnen muss.<br />
Entsprechend wurden alle zum funktionalen Denken gehörenden<br />
Kompetenzen den Bausteinen zugeordnet (Die<br />
vollständige Auswertung befindet sich in Höfer (2008),<br />
S. 158 – 188.). Anschließend wurden sie mit Hilfe der<br />
folgenden Legende (Abb. 2) visualisiert.<br />
Promotion ❘ Funktionales Denken in den baden-württembergischen Bildungsplänen<br />
Abbildung 2: Legende zu den Darstellungen der Analyseergebnisse.<br />
Die Forschungsfragen<br />
Das Hauptaugenmerk des Vergleichs liegt in der Frage,<br />
wie sich die Dreigliedrigkeit des Schulsystems auf die<br />
Anforderungen zum funktionalen Denken auswirkt. So<br />
wird untersucht, ob die multilaterale Versetzungsordnung<br />
(Verordnung des Kultusministeriums über den Übergang<br />
zwischen Hauptschulen, Realschulen und Gymnasien<br />
der Normalform (»multilaterale Versetzungsordnung«)<br />
vom 19. Juli 1985 (GBI. 1985, S. 285; KuU 1985, S.<br />
360) zuletzt geändert am 17. April 2002 (KuU 2002, S.<br />
193) im Bereich des funktionalen Denkens durch die Bildungspläne<br />
unterstützt wird. Darin wird es beispielsweise<br />
ermöglicht, bei entsprechenden Notendurchschnitten<br />
in den Klassenstufen 5 und 6 zwischen allen Schularten<br />
ohne Wiederholung eines Schuljahres zu wechseln. Es<br />
kann sogar ein Hauptschüler dieser Klassenstufen (»ausnahmsweise<br />
und bei überdurchschnittlicher Leistung«)<br />
ohne Zusatzprüfung auf das Gymnasium wechseln.<br />
Des Weiteren wird ein Vergleich der Standards für die<br />
mittlere Reife stattfinden. Sowohl der Abschluss der Werkrealschule<br />
und der Realschule, als auch die Versetzung<br />
nach Klasse 11 im Gymnasium zählen als gleichwertige<br />
Schulabschlüsse (Mittlere Reife). Es wird betrachtet,<br />
inwieweit die in den Bildungsplänen formulierten Standards<br />
diese Gleichwertigkeit widerspiegeln.<br />
Die Bildungspläne für die Klassen 5/6<br />
Auf den ersten Blick fällt auf, dass im Bildungsplan der<br />
Realschule (Klasse 6) – im Gegensatz zu Gymnasium<br />
und Hauptschule – noch keine Leitidee »funk tionaler<br />
Zusammen hang« formuliert wird. Bei näherer Betrachtung<br />
stellt man jedoch fest, dass dies keinesfalls zu einer<br />
Vernachlässigung des funktionalen Den kens führt.<br />
Vielmehr sind die entsprechenden Forderungen auf<br />
dieser Klassen stufe in anderen Leitideen integriert. So<br />
erkennt man beim Ver gleich der Abbildungen (in Abb. 3)<br />
nur wenige Unterschiede: Lediglich die eine Ent wicklung<br />
im Umfeld der grafischen Darstellung von Funktionen fördernden<br />
Standards sind in der Realschule schwächer<br />
vertreten als im Gym na sium. Insgesamt folgt, dass sich<br />
die Ausprägung des funktionalen Denkens nicht so<br />
stark unterscheidet, als dass dies einen leistungsstarken<br />
<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> Forum Forschung Mai 2011 29
Promotion ❘ Funktionales Denken in den baden-württembergischen Bildungsplänen<br />
Abbildung 3: Ergebnisse aus der Untersuchung der Bildungspläne (Klasse 6) für<br />
Gymnasium (oben), Realschule (Mitte) und Werkrealschule (unten).<br />
Realschüler am Wechsel auf das Gymnasium hindern<br />
könnte.<br />
So nah sich diese beiden Bildungspläne kommen, so<br />
weit sind sie von denen der Hauptschule entfernt. Dies<br />
stellt man z.B. an der fehlenden Einführung der Variablen<br />
in der Hauptschule fest. Sowohl in den Standards<br />
der Realschule als auch in denen des Gymnasiums wird<br />
durch das Arbeiten mit Variablen die Grundlage für das<br />
Verständnis der algebraischen Ausdrucksweise von Funktionen<br />
gelegt. Des Weiteren wird durch Variation der Variablen<br />
ein Einstieg in die Prozessebene ermöglicht, der<br />
in den Hauptschulstandards nicht vorgesehen ist. Hier<br />
bleibt die Ausprägung der Grundbausteine des Hauses<br />
des funktionalen Denkens deutlich hinter denen der<br />
Realschule und des Gymnasiums zurück (vgl. Abb. 3),<br />
so dass ein Übergang selbst im Bereich des funktionalen<br />
Denkens nur möglich sein kann, wenn der betreffende<br />
Schüler zusätzlich auf diese Ansprüche vorbereitet wird.<br />
30 Forum Forschung Mai 2011 <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />
Die Bildungspläne für die Klassen 7/8<br />
Die Klassen 7/8 sind (nach der »Orientierungsstufe«<br />
5/6) der Einstieg in ein »Auseinanderdriften« der einzelnen<br />
Schularten. Dies ist von der Intention der Schularten<br />
sicherlich erwünscht und zwingend erforderlich. Sowohl<br />
die deutlichen Unterschiede im Leistungsvermögen machen<br />
dies nötig, als auch der Blick auf die Art der Berufszweige,<br />
auf die die Schularten vorbereiten müssen. Andererseits<br />
verlangt die multilaterale Versetzungsordnung<br />
auch in den Klassen 7 – 10 eine Durchlässigkeit ohne<br />
Zusatzprüfung zwischen »benachbarten« Schularten<br />
(Hauptschule – Realschule sowie Realschule – Gymnasium).<br />
So kann z.B. ein Hauptschüler in die nächsthöhere<br />
Klasse an der Realschule versetzt werden, wenn er in<br />
Abbildung 4: Ergebnisse aus der Untersuchung der Bildungspläne (Klasse 8) für<br />
Gymnasium (oben), Realschule (Mitte) und Werkrealschule (unten, Klasse 9!).
den Fächern Deutsch, Mathematik und Fremdsprache<br />
die Note gut und in allen weiteren Fächern die Note<br />
befriedigend erhalten hat. Für seine mathematischen<br />
Fähigkeiten bedeutet dies laut Notenverordnung (Verordnung<br />
des Kultusministeriums über die Notenbildung<br />
(NVO) vom 5.Mai 1983 (K. u. U., S. 449), zuletzt<br />
geändert am 23.März 2004 (K. u. U., S. 87)), dass sie<br />
den Anforderungen voll entsprechen. Er muss also keine<br />
über die Hauptschul(!)standards hinausgehenden Fähigkeiten<br />
besitzen. Ähnliches gilt auch für Realschüler beim<br />
Übergang in das Gymnasium. Wenn diese Verordnung<br />
tatsächlich durchführbar sein soll, so muss gewährleistet<br />
sein, dass die grundlegenden Anforderungen der benachbarten<br />
Schularten annähernd gleich sind. Betrachtet<br />
man nun die Auswertung im Rahmen des funktionalen<br />
Denkens, so stellt man fest, dass die gelehrten Inhalte<br />
in Klasse 7/8 am Gymnasium zwar deutlich weiter reichen<br />
als an den Realschulen (quadratische- und Potenzfunktionen<br />
vs. lineare Funktionen), die Kompetenzen zu<br />
Darstellungswechseln sich dagegen sehr nahe kommen.<br />
Ein guter Realschüler hat somit zwar nicht alle Inhalte<br />
seiner gymnasialen Mitschüler erlernt, jedoch die grundlegenden<br />
Kompetenzen erworben, um am Gymnasium<br />
erfolgreich zu sein.<br />
Katastrophal fällt dagegen die Analyse der Werkrealschulstandards<br />
aus. Obwohl diese sich schon auf die<br />
Klasse 9 beziehen, stellen sie im Vergleich zu Realschulen<br />
(Kl. 8) weitaus geringere Anforderungen. So findet<br />
man vor allem in Bereichen der algebraischen Darstellung<br />
selbst auf Aktionsebene noch große Lücken. Auch<br />
die Prozessebene kommt sehr undeutlich zum Vorschein.<br />
Nur das »volle Entsprechen der Anforderungen« der<br />
Hauptschulstandards ist somit innerhalb des funktionalen<br />
Denkens zu wenig, um in der Realschule die Schullaufbahn<br />
erfolgreich fortsetzen zu können.<br />
Die Bildungspläne für die Klassen 10<br />
Der Abschluss der 10. Klasse ist die »mittlere Reife«. In<br />
Bezug auf die Arbeitswelt ergibt sich dadurch ein im<br />
Vergleich zum Hauptschulabschluss breiteres Spektrum<br />
an Ausbildungsberufen. Vor allem der Zugang zu kaufmännischen<br />
Berufen benötigt meistens die mittlere Reife.<br />
Gerade in diesen Berufen wird aber eine Vertrautheit mit<br />
mathematischen Methoden vorausgesetzt, hierzu zählt<br />
insbesondere das Beherrschen der Prozess ebene. Diese<br />
Intention erkennt man in allen Bildungsplänen wieder.<br />
Die Werkrealschulen haben es dabei schwer, da sie<br />
viel aufzuholen haben. Dennoch kann man auch hier<br />
die Prozessebene als weitest gehend komplett ansehen.<br />
Der Unterschied zu Realschülern ist weniger in der Prozessebene,<br />
als viel mehr im fehlenden Einblick in die<br />
Objektebene zu suchen. Er wird in Realschulen durchgeführt<br />
und dient dort unter anderem dazu, den Unterricht<br />
an weiterführenden Gymnasien vorzubereiten. Dies fehlt<br />
den Werkrealschülern. Aus Sicht des funktionalen Denkens<br />
sind die Werkrealschüler somit auf das Berufsleben<br />
ausreichend vorbereitet, es fehlen ihnen jedoch Grundlagen<br />
für die Fortsetzung der Schullaufbahn an weiterführenden<br />
Gymnasien, die sie dann in Eigenarbeit nachar-<br />
Promotion ❘ Funktionales Denken in den baden-württembergischen Bildungsplänen<br />
Abbildung 5: Ergebnisse aus der Untersuchung der Bildungspläne (Klasse 10) für<br />
Gymnasium (oben), Realschule (Mitte) und Werkrealschule (unten).<br />
beiten müssten (Dies deckt sich mit den Ergebnissen in<br />
einer Untersuchung in Höfer (2008), S. 71 – 102).<br />
Der Vergleich Gymnasium vs. Realschule zeigt, dass der<br />
Unterschied – vor allem im Bereich der algebraischen<br />
Dar stel lung – vorhanden, jedoch nicht unüberbrückbar<br />
ist. Dies spielt vor allem dann eine Rolle, wenn man<br />
die verschiedenen Leis tungsstärken der Schü ler innen<br />
und Schüler mit einbezieht. So ergab nicht zuletzt die<br />
PISA-Studie eine deutliche schulart-übergreifende Überlappung.<br />
<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> Forum Forschung Mai 2011 31
Promotion ❘ Funktionales Denken in den baden-württembergischen Bildungsplänen<br />
Fazit<br />
Wenn man eine gute Vorbereitung für das Berufsleben<br />
als primäres Ziel von Werkrealschulen und Realschulen<br />
voraussetzt, so sind beide Abschlüsse vergleichbar.<br />
Problematisch sind die Bildungspläne im Bereich des<br />
funktionalen Denkens in Bezug auf die multilaterale Versetzungsordnung.<br />
Hier ergab sich eine deutliche Diskrepanz<br />
zwischen den Möglichkeiten dieser Verordnung<br />
und dem tatsächlichen Leistungsvermögen der Schüler.<br />
Vor allem ein Wechsel aus der Werkrealschule in eine<br />
höhere Schulform scheint nicht realistisch, da die Nivellierung<br />
an die Realschule erst in den letzten beiden Werkrealschuljahren<br />
geschieht. Diese späte »Aufholjagd«<br />
und das damit verbundene hohe Lerntempo könnten Probleme<br />
hervorrufen. Dies sollte in der Zukunft untersucht<br />
werden.<br />
Die grundlegenden Anforderungen an Realschüler halten<br />
sich dagegen sehr nah an die der Gymnasiasten.<br />
Hier wurde erreicht, dass die Kompetenzen sehr ähnlich<br />
sind und die Unterschiede durch ein »mehr« an Inhalten<br />
hervortreten. Wünschenswert wäre es jedoch gewesen,<br />
dass die Inhalte wenigstens in der Orientierungsstufe<br />
noch nicht so stark auseinanderdriften. In wiefern sich<br />
dies negativ auf den Wechsel von Realschülern auf das<br />
Gymnasium auswirkt, wäre eine weitere notwendige<br />
Untersuchung. Dazu wäre ein Blick auf den PISA-Spitzenreiter<br />
Bayern sicherlich hilfreich: Dort gestaltet der Bildungsplan<br />
das Lerntempo in der Orientierungsstufe auch<br />
im achtjährigen Gymnasium noch so verhalten, wie dies<br />
aus dem neunjährigen Gymnasium bekannt ist (vgl. Höfer<br />
(2008), S. 158 ff).<br />
Literatur:<br />
❙ DeMarois, Phil; Tall, David (1996): Facets and Layers<br />
of the Function Concept. In: Proceedings of PME 20,<br />
2, S. 297 – 304, Valencia.<br />
❙ Höfer, Thilo (2008): Das Haus des funktionalen<br />
Denkens – Entwicklung und Erprobung eines Modells<br />
für die Planung und Analyse methodischer und<br />
didaktischer Konzepte zur Förderung des funktionalen<br />
Denkens. Hildesheim: Franzbecker.<br />
❙ Sfard, Anna (1987): Two Conceptions of Mathematical<br />
Notions: Operational and Structural. In: Proceedings<br />
of the 11th International Conference of PME,<br />
Dr. Thilo Höfer ist Diplom-Mathematiker und Studienrat für Mathematik und Physik am Staufer-<br />
Gymnasium Waiblingen. Von 2004 bis 2008 war er an die PH <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> abgeordnet<br />
und promovierte am Institut für Mathematik und Informatik im Bereich »Funktionales Denken«.<br />
32 Forum Forschung Mai 2011 <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />
Vol. III, Montreal, S. 162 – 169.<br />
❙ Sfard, Anna (1991): On the Dual Nature of Mathematical<br />
Conceptions: Reflections on Processes and<br />
Objects as Different Sides of the same Concept.<br />
In: Educational Studies in Mathematics 22, Kluwer,<br />
Netherlands, S. 1 – 36.<br />
❙ Swan, Malcolm (1982): The teaching of functions<br />
and graphs. In: Conference on functions, 1 – 5, S.<br />
151 – 165, Enschede.<br />
❙ Vollrath, Hans-Joachim (1989): Funktionales Denken.<br />
In: Journal der Mathematikdidaktik 10, S. 3 – 37.
Promotion ❘ Funktionales Denken in den baden-württembergischen Bildungsplänen<br />
<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> Forum Forschung Mai 2011 33
Promotion ❘ Dynamische Geometrie-Systeme in der Hauptschule<br />
Dynamische Geometrie-Systeme<br />
in der Hauptschule<br />
Dr. Andreas Kittel<br />
Arbeitsgruppe: Prof. Dr. Astrid Beckmann, PH <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />
Zweitgutachter: Prof. Dr. Ulrich Kortenkamp, PH Karlsruhe<br />
Abstract: Geometry lessons can be enriched by using dynamic geometry systems. Self control, new dynamic possibilities<br />
and “learning by doing” are ways to improve education. The dynamic geometry systems are mainly used by<br />
higher level schools but they are nearly unknown in basic level schools. To explain this phenomenon, a study has<br />
been done. The following questions were the main subject of the study: Why should these systems be used in basic<br />
level schools? Why are these systems nearly unknown in basic level schools? Are students able to solve mathematical<br />
problems adequately with these geometry systems? These questions were researched in two different studies.<br />
One study contained guideline interview with teachers, the other with students. The conversations were transliterated<br />
and qualitatively evaluated by interaction analysis (Krummheuer/Naujok 1999).<br />
Geometrieunterricht kann durch den Einsatz von<br />
Dynamischen Geometrie-Systemen um viele Nuancen,<br />
wie beispielsweise entdeckendem Lernen, Selbstkontrolle<br />
und neuen dynamischen Möglichkeiten, bereichert<br />
werden. Allerdings wird dies momentan nur in Realschulen<br />
und Gymnasien praktiziert. In Hauptschulen<br />
dagegen werden diese Systeme bislang kaum eingesetzt.<br />
Um dieses Phänomen erklären zu können, wurde eine<br />
Untersuchung konzipiert, die sich mit unterschiedlichen<br />
Themen zu diesem Gegenstand auseinander setzt. Als<br />
Schwerpunkt wurden dabei vor allem folgende Fragestellungen<br />
untersucht: Welche Argumente sprechen für<br />
einen Einsatz von Dynamischen Geometrie-Systemen in<br />
der Hauptschule? Welche Gründe gibt es, dass diese<br />
Systeme in der Hauptschule eine untergeordnete Rolle<br />
spielen? Sind Hauptschülerinnen und -schüler in der<br />
Lage, mit diesen Systemen mathematische Probleme<br />
adäquat lösen können? Diese Fragestellungen wurden<br />
in zwei zusammengehörigen Studien untersucht. Zum<br />
einen kamen dabei Leitfadeninterviews mit Lehrkräften<br />
zum Einsatz, zum anderen eine Laboruntersuchung mit<br />
Schülerpaaren, deren Gespräche transkribiert und mit<br />
Hilfe der Interaktionsanalyse (vgl. Krummheuer/Naujok<br />
1999) qualitativ ausgewertet wurden.<br />
34 Forum Forschung Mai 2011 <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />
Der Geometrieunterricht kann durch die Verwendung eines<br />
Computers um viele Nuancen bereichert werden.<br />
So bieten beispielsweise Dynamische Geometrie-Systeme<br />
(DGS) die Möglichkeit, die in den Schulheften starre<br />
Geometrie beweglich zu machen und dadurch eine vollständig<br />
neue Sichtweise auf viele Probleme der Geometrie<br />
zu gewinnen.<br />
Abb. 1: Euklid DynaGeo als ein mögliches Programm zur Realisation dynamischer<br />
Geometrie.
Aus einer einzelnen Zeichnung entsteht so durch Variation<br />
eine Figur, die die Grundeigenschaften der Konstruktion<br />
beibehält. Dies lässt sich gut beim Schnittpunkt<br />
der Mittelsenkrechten im Dreieck zeigen. Durch Variation<br />
eines Eckpunktes des Dreiecks lässt sich die Lage des<br />
Schnittpunktes verändern.<br />
Abb. 2: Schnittpunkt der Mittelsenkrechten durch Variation der Eckpunkte.<br />
In vielen Forschungsprojekten, Aufgabensammlungen<br />
und Erfahrungsberichten aus dem Schulalltag wird gezeigt,<br />
wie der Einsatz von Dynamischen-Geometrie-Systemen<br />
(DGS) zum besseren Verstehen von geometrischen<br />
Zusammenhängen beitragen kann (vgl. Elschenbroich et<br />
al. 2000; 2005, Hölzl 1994, Ritter 2002, Roth 2005,<br />
Schumann 2001). Alle diese Untersuchungen beziehen<br />
sich auf den Einsatz dieser Systeme in Realschulen oder<br />
Gymnasien. Hauptschulen wurden bislang nicht berücksichtigt.<br />
Traut man Hauptschülerinnen und -schülern den<br />
Umgang mit diesen Systemen nicht zu, gibt es keine<br />
passenden Unterrichtsstoffe im Bildungsplan oder gibt<br />
es weitere Gründe, DGS in der Hauptschule nicht zu<br />
berücksichtigen?<br />
Leitfadeninterviews<br />
Um Gründe für die oben genannte Unterrepräsentanz zu<br />
finden, wurde ein Leitfadeninterview entwickelt, das verschiedene<br />
Schwerpunktfragen zum Rechnereinsatz in der<br />
Schule beinhaltet. Dieses Interview wurde mit Lehrkräften<br />
aus unterschiedlichen Hauptschulen durchgeführt.<br />
Die Analyse der Interviews erfolgte nach Schmidt<br />
(2003, S. 447ff.) in fünf Phasen. In einem ersten Schritt<br />
werden dabei Auswertungskategorien gebildet. Im<br />
zweiten Schritt werden diese zu einem Codierleitfaden<br />
zusammen gestellt, während im dritten Schritt die<br />
Codierung des Materials erfolgt. Der vierte Schritt stellt<br />
die quantifizierende Materialübersicht dar, in dem die<br />
Kategorien quantifiziert werden. Durch die Anzahl der<br />
Aussagen kann die Aussagekraft verstärkt werden. Im<br />
fünften Schritt, der vertiefenden Fallinterpretation, werden<br />
die Hypothesen nochmals überprüft.<br />
Die Ergebnisse der Auswertung dieser Interviews lassen<br />
sich in vier wesentlichen Punkten kategorisieren.<br />
Mangelnde Kompetenz der Lehrer: Vielen Hauptschullehrkräften<br />
sind DGS bzw. deren Bedienung unbekannt.<br />
Schwierigkeiten bei der Organisation des Computerunterrichts:<br />
Der 45 Minuten Takt wird als störend empfunden<br />
bzw. nicht in Einklang mit der Belegung des Computerraumes<br />
gebracht. Hinzu kommt die ungenügende<br />
Computer- bzw. Softwareausstattung an der Schule.<br />
Promotion ❘ Dynamische Geometrie-Systeme in der Hauptschule<br />
Priorität von Unterrichtsinhalten: Geometrie gilt als nicht<br />
so wichtig erachteter Unterrichtsstoff. Die Prüfungen müssen<br />
mit traditionellen Werkzeugen abgelegt werden.<br />
Kompetenz der Schüler und Lernerfolg: Es gibt die Befürchtung,<br />
dass Schülerinnen und Schüler mehr mit dem<br />
Programm als mit mathematischen Inhalten beschäftigt<br />
sind. Nutzungsmöglichkeit und Aufgabenstellungen, die<br />
sich für DGS eignen, sind unbekannt.<br />
Die ersten drei Argumente befassen sich hauptsächlich<br />
mit organisatorischen Fragestellungen. Beim vierten Argument,<br />
das sich auf die Kompetenz der Schülerinnen<br />
und Schüler im Umgang mit DGS bezieht, handelt es<br />
sich auf Grund fehlender Erfahrung erst um eine Vermutung.<br />
Ob sie zutrifft oder widerlegt werden kann, musste<br />
durch eine weitere Untersuchung geklärt werden.<br />
Empirische Untersuchung<br />
Im Schuljahr 2004/05 wurden zur Klärung dieser Frage<br />
in einer größeren empirischen Untersuchung Hauptschülerinnen<br />
und -schüler in ihrem Umgang mit DGS<br />
begleitet. Dabei bearbeiteten jeweils zwei Schülerinnen<br />
oder Schüler Aufgaben am Computer unter Aufsicht eines<br />
Interviewers. Da sie bisher keine Erfahrungen mit<br />
diesen Systemen hatten, wurde zur Einführung eine Aufgabenstellung<br />
formuliert, bei der die Schülerinnen und<br />
Schüler Figuren aus ihrer Fantasie erstellen sollten (Kittel<br />
2006). Dies geschah in Anlehnung an ein englisches<br />
Schulprojekt (Hölzl 1994). Alle Körperteile sollten miteinander<br />
verbunden sein oder in Abhängigkeit zueinander<br />
stehen. Dabei standen die Entdeckung des Zugmodus<br />
und der unterschiedlichen Punktarten im Vordergrund.<br />
Abb.3: Fantasiefiguren mit voneinander abhängigen Körperteilen.<br />
Nach dieser kurzen Begegnung mit dem DGS Dyna-<br />
Geo sollten die Schülerinnen und Schüler Aufgaben<br />
lösen, die sich auf den Bildungsplan des Landes Baden-<br />
Württemberg beziehen. Die Schülerinnen und Schüler<br />
sollten darin einen Punkt finden, der von drei gegebenen<br />
Punkten den gleichen Abstand hat, also den Schnittpunkt<br />
der Mittelsenkrechten im Dreieck. Dazu wurde eine Aufgabensequenz<br />
entwickelt, die Schülerinnen und Schüler<br />
auf ihrem Weg dorthin begleitet hat.<br />
<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> Forum Forschung Mai 2011 35
Promotion ❘ Dynamische Geometrie-Systeme in der Hauptschule<br />
Diese Aufgabensequenz wurde einer Hälfte der Schülerinnen<br />
und Schüler in kontextgebundener Form, der anderen<br />
Hälfte als rein mathematisch formulierte Aufgaben<br />
vorgelegt.<br />
Methode<br />
Während bei vielen anderen Forschungsvorhaben (vgl.<br />
Gawlick 2002) zum Themenbereich DGS quantitative<br />
Vergleiche zwischen traditioneller Paper-Pencil und DGS<br />
im Mittelpunkt standen, sollte hier rein qualitativ untersucht<br />
werden, ob Schülerinnen und Schüler der Hauptschule<br />
in der Lage sind, qualifiziert mit diesen für sie neuen<br />
Systemen im Rahmen der Forschungsfragen umgehen<br />
können. 26 Schülerinnen und Schüler in 13 Gruppen<br />
wurden dazu zufällig ausgewählt. Die dabei entstandenen<br />
Interviews wurden in einer Forschungsgruppe (Autor<br />
des Artikels, Prof. Dr. habil Astrid Beckmann, Stud. Päd.<br />
Katrin Beiermeister, Stud. Päd. Stefanie Schüle; alle PH<br />
<strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong>) transkribiert und interpretativ nach<br />
Vorgaben der Interaktionsanalyse ausgewertet (Krummheuer/Naujok<br />
1999, 61 – 73). Diese Forschungsmethode<br />
setzt eine Gliederung der Interaktionseinheit voraus,<br />
ehe man über eine allgemeine Beschreibung zu<br />
einer ausführlichen Analyse der Einzeläußerungen gelangt.<br />
Sie mündet in der Turn by Turn Analyse, bei der<br />
die erhaltenen Deutungsalternativen eingeschränkt werden.<br />
Abschließend kann eine zusammenfassende Interpretation<br />
vorgenommen und der Anstoß zur Entwicklung<br />
einer dazugehörigen Theorie eingebracht werden.<br />
Als Untersuchungsziele wurden drei Hauptfragestellungen<br />
formuliert: Softwarespezifische Fragestellungen, Umgang<br />
mit dem Zugmodus, Bearbeitung der Aufgaben.<br />
Ergebnisse<br />
An dieser Stelle kann nur eine stichwortartige Auswahl<br />
der Ergebnisse präsentiert werden. Eine ausführliche<br />
Darstellung dieser Ergebnisse findet sich in Kittel (2007,<br />
S. 259ff.).<br />
Umgang mit der Software: Der Befehl »Rückgängig machen«<br />
hat eine zentrale Bedeutung. Die Schülerinnen<br />
und Schüler gehen ohne Angst vor Fehlern an dieses für<br />
sie neue Medium heran, da sie den oben genannten<br />
Befehl aus anderen Computeranwendungen kennen.<br />
Dabei ist aber trotzdem kaum ein wahlloses Vorgehen<br />
zu beobachten.<br />
Bei der Bearbeitung von Aufgaben werden sowohl bekannte<br />
als auch unbekannte Werkzeuge benutzt. Zur<br />
Entdeckung von unbekannten Werkzeugen werden die<br />
Symbole (Icons) und kurz eingeblendete Hilfstexte (Tooltipps)<br />
genutzt. Auf weitere Hilfen, wie Texte in der Statuszeile<br />
unterhalb des Konstruktionsfensters, müssen die<br />
Schülerinnen und Schüler aufmerksam gemacht werden.<br />
Abb. 4:<br />
Tooltipp mit Nennung des Werkzeugs Mittelsenkrechte.<br />
36 Forum Forschung Mai 2011 <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />
Lernende mit mehr Computererfahrung nutzen eher computereigene<br />
Strategien, wie die Übernahme von Teillösungen<br />
bei der Bearbeitung einer neuen Aufgabe.<br />
Umgang mit dem Zugmodus: Nach mehrmaligem Hinweis<br />
setzen Lernende den Zugmodus selbständig zur<br />
Überprüfung der Lösung ein. Allerdings hat sich dadurch<br />
auch gezeigt, dass der bisherige Geometrieunterricht<br />
kaum Einsicht in korrektes Konstruieren gefördert hat.<br />
Der Zugmodus wird häufig und eigenständig zum Variieren<br />
von Zeichnungen eingesetzt. Diese pragmatische<br />
Nutzung ist für Schülerinnen und Schüler der wichtigste<br />
Aspekt des Zugmodus.<br />
Bearbeitung der Aufgaben: Das Einblenden der Namen<br />
der verwendeten Werkzeuge (Tooltip-Funktion), wie beispielsweise<br />
Mittelsenkrechte, fördert die Verwendung<br />
mathematischer Fachwörter. Ebenso kann diese Funktion<br />
beim Erlernen eines neuen Begriffs unterstützend helfen.<br />
Arbeiten mit DGS und passender Aufgaben regt das<br />
Verwenden vielfältiger mathematischer Strategien, wie<br />
beispielsweise Vorwärtsarbeiten, Rückwärtsarbeiten,<br />
Analogisieren, Spezialisieren oder Generalisieren an.<br />
Diskussion<br />
Die hier vorgestellte Untersuchung hat gezeigt, dass<br />
Hauptschülerinnen und -schüler mit DGS mathematische<br />
Aufgaben angemessen lösen können. Beim Einsatz geeigneter<br />
Aufgaben beschäftigen sie sich dabei intensiv<br />
mit mathematischen Fragestellungen. Sie bewerkstelligen<br />
dies durch entdeckendes Lernen, die Nutzung vieler<br />
verschiedener mathematischer Strategien und durch<br />
Selbstkontrolle mit Hilfe des Zugmodus. Softwareprobleme<br />
sind von untergeordneter Natur und können meist mit<br />
den im Programm integrierten Hilfefunktionen selbständig<br />
gelöst werden. Bereits nach kurzer Zeit gehen die<br />
Jugendlichen routiniert mit den ihnen aus der Einführung<br />
bekannten Funktionen und Werkzeugen um. Die Befürchtungen<br />
der Lehrkräfte, dass die Schüler zu sehr mit der<br />
Oberfläche der Software beschäftigt sind und deshalb<br />
nicht in tieferes mathematisches Arbeiten eindringen können,<br />
haben sich in keiner Weise bestätigt. Gegenteilige<br />
Erfahrungen sind der Fall. Viele Vorteile, wie das korrekte<br />
Konstruieren, heuristische Entdeckungsformen oder<br />
Variationen nach dem operativen Prinzip, die speziell<br />
den Unterricht der Hauptschule ansprechen, geben Anlass,<br />
bei geeigneten Themen des Mathematikunterrichts<br />
DGS einzusetzen, ohne dass der traditionelle enaktive<br />
Geometrieunterricht der Hauptschule dabei vernachlässigt<br />
werden muss. Aber er kann durch den Einsatz von<br />
DGS um wichtige, in dieser Untersuchung vorgestellte<br />
Nuancen verbessert werden.<br />
Das von Lehrerseite vorgebrachte Argument, dass es nicht<br />
genügende Anwendungsmöglichkeiten für diese Systeme<br />
in der Hauptschule gäbe, konnte in einem Folgeprojekt<br />
entkräftet werden. Dabei wurden unterschiedliche zu<br />
den Bildungsstandards (2004) passende Aufgaben entwickelt<br />
und im Unterricht erprobt. (Kittel 2010)<br />
Bei der unterrichtspraktischen Gestaltung mit DGS soll-
ten aber auch Grenzen und Gefahren bedacht werden,<br />
die dieses System mit sich bringen kann. Elschenbroich<br />
(2005, S. 84f.) beschreibt diese in Bezug auf die Visualisierung:<br />
❙ »Easy-Paradoxon«: Bei perfekt visualisierten Lernumgebungen<br />
besteht die Gefahr, dass Lernende irrtümlich<br />
meinen, alles verstanden zu haben, da der Zug modus<br />
einsichtig ist. Die dahinter liegende Mathematik wird<br />
jedoch durch oberflächliche Betrachtung nicht entdeckt.<br />
❙ Nicht alle Lerntypen können durch Visualisierung gleichermaßen<br />
profitieren. Eher verbal-auditive Lerntypen<br />
haben es schwerer als optisch-visuelle.<br />
❙ »Bilder sind nicht selbstevident«. Bilder kommen beim<br />
Lernenden nicht immer so an, wie es die Lehrperson<br />
beabsichtigt.<br />
Unterricht mit DGS, der unter Berücksichtigung dieser Gefahren<br />
konzipiert wird, eignet sich für eigenaktives und<br />
schülerzentriertes Arbeiten, denn Lernen ist ein zutiefst<br />
individueller Prozess. Dieser aktive Konstruktionsprozess<br />
kann durch DGS angeregt werden. DGS selbst ist ein<br />
Werkzeug, das Hilfen zum entdeckenden Lernen gibt.<br />
Aufgrund der in der Untersuchung gewonnenen Ergeb-<br />
Literatur:<br />
❙ Bildungsstandards für den Hauptschulabschluss<br />
(2004). Beschluss der Kultusministerkonferenz (Hrsg.)<br />
vom 15.10.2004.<br />
❙ Elschenbroich, Hans-Jürgen; Günter Seebach (2000):<br />
Dynamisch Geometrie entdecken. Elektronische Arbeitsblätter<br />
mit Euklid-DynaGeo und Cabri II, CoTec,<br />
Rosenheim.<br />
❙ Elschenbroich, Hans-Jürgen (2005): Mit dynamischer<br />
Geometrie argumentieren und beweisen. In: Barzel,<br />
B., Hußmann, S., Leuders, T.: Computer, Internet &<br />
Co. Berlin, S. 76 – 85.<br />
❙ Gawlick, Thomas (2002): On dynamic geometry<br />
software in the regular classroom. ZDM.<br />
❙ Hölzl, Reinhard (1994): Im Zugmodus der Cabri-<br />
Geometrie. Weinheim.<br />
❙ Kittel, Andreas (2006): Dynamische Teddybären –<br />
Eine Einführung in DGS. PM 6/47.<br />
❙ Kittel, Andreas (2007): Dynamische Geometrie-Systeme<br />
in der Hauptschule. Eine interpretative Untersuchung<br />
an Fallbeispielen und ausgewählten Aufgaben<br />
der Sekundarstufe. Hildesheim/Berlin.<br />
❙ Kittel, Andreas (2010): Klicken – Ziehen – Staunen<br />
– Ergründen. Dynamische Geometrie-Systeme im<br />
Unterricht. Braunschweig.<br />
❙ Krummheuer, Götz; Naujok, Natascha (1999):<br />
Promotion ❘ Dynamische Geometrie-Systeme in der Hauptschule<br />
nisse kann die Schlussfolgerung gezogen werden, dass<br />
die Verwendung von DGS in der Hauptschule auf jeden<br />
Fall möglich ist und den Schülerinnen und Schülern dabei<br />
hilft, sich intensiv mit Mathematik auseinander zu<br />
setzen.<br />
Grundlagen und Beispiele Interpretativer Unterrichtsforschung.<br />
(Leske+Budrich) Oppladen.<br />
❙ Ritter, Wilhelm (2002): Ein Jahr dynamische Geometrie<br />
mit Geonext in der 8. Klasse. Bayreuth.<br />
❙ Roth, Jürgen (2005): Figuren verändern – Funktionen<br />
verstehen. In: Beiträge zum Mathematikunterricht.<br />
Hildesheim.<br />
❙ Schmidt, Christiane (2003): Analyse von Leitfadeninterviews.<br />
In: Flick, U.; von Kardorf, E.; Steinke,<br />
I. (Hrsg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch.<br />
(Rohwolt Taschenbuch Verlag) Hamburg (2. Auflage),<br />
S. 447 – 456.<br />
❙ Schumann, Heinz (2001): Modulares Arbeiten im<br />
Geometrieunterricht. In: Schumann H. (Hrsg.) Dynamische<br />
Geometrie – Offene Aufgaben – Analytische<br />
Geometrie. Weingarten.<br />
Dr. Andreas Kittel forscht und lehrt als Akademischer Rat am Institut für Mathematik und<br />
Informatik der <strong>Pädagogische</strong>n <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong>. Er ist ausgebildeter Grund-,<br />
Haupt- und Sonderschullehrer und hat langjährige Erfahrung als Klassenlehrer. Als Dozent war er<br />
auch an der PH Ludwigsburg tätig. Seine Schwerpunkte in Forschung und Lehre liegen im Bereich<br />
Dynamische Geometrie und Rechenstörungen in der Grund- und Hauptschule.<br />
<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> Forum Forschung Mai 2011 37
Promotion ❘ Multiple externe Repräsentationen (MERs) und deren Verknüpfung durch Computer einsatz<br />
Multiple externe Repräsentationen<br />
(MERs) und deren Verknüpfung<br />
durch Computer einsatz<br />
Zur Bedeutung für das Mathematiklernen im Anfangsunterricht<br />
Dr. Silke Ladel<br />
Arbeitsgruppe: Prof. Dr. Astrid Beckmann, PH <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong>, Prof. Dr. Ulrich Kortenkamp, PH Karlsruhe<br />
Abstract: Many pupils have problems translating numbers and operations from one form of representation into another.<br />
This is caused by the fact that the understanding of numbers and operations has not been well-trained. Often the<br />
changeover from actions with concrete objects to pictures and then to the manipulation with numbers happens too fast<br />
in class.<br />
Multiple mental models of representation suggest the use of multiple external representations (MERs) for a better understanding.<br />
International studies could prove that children already at the age of six years can use MERs effectively to solve<br />
tasks. The fact that a lot of children nevertheless only regard one single representation and cannot link it to another<br />
given representation points out a deficit of design principles for MERs and their implementation in primary school.<br />
An analysis of actual software shows that the existing findings of international studies are largely ignored. Indeed, there<br />
exists software for primary school that makes use of MERs, but the different forms of representation are mostly restricted<br />
to the symbolic and iconic form and the pupils cannot be active. Even if there is a possibility to be active with virtual<br />
objects, this form of representation is seldom linked with the other ones.<br />
After the observation of six and seven year-old pupils working with actual software, theory-based design principles<br />
that offer an effective use of MERs could be formulated. To exemplify the possible employment of these principles, they<br />
were implemented in the prototype doppelmoppel. Further research about the way children manipulate doppelmoppel<br />
could confirm the design principles and furthermore show the applicability of the prototype as a diagnostic tool.<br />
Problemstellung und Ziel der Arbeit<br />
Der mathematische Lernprozess verläuft unabhängig<br />
vom aktuellen arithmetischen Inhalt immer in denselben<br />
vier Phasen (vgl. Grissemann & Weber 2000, Aebli<br />
1987). Ausgehend vom konkreten Handeln und Operieren<br />
mit verschiedenartigen Materialien (Phase 1) werden<br />
die Handlungen und Operationen zu bildhaften<br />
Darstellungen abstrahiert (Phase 2). Anschließend geht<br />
man auf den Umgang mit Symbolen über (Phase 3) mit<br />
dem Ziel, diesen zu automatisieren (Phase 4) (Abb. 1<br />
rechts). Dabei muss das Kind die verschiedenen Darstel-<br />
38 Forum Forschung Mai 2011 <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />
Abb. 1: Zusammenhang des mathematischen Lernprozesses mit den<br />
verschiedenen Repräsentationsformen.
Promotion ❘ Multiple externe Repräsentationen (MERs) und deren Verknüpfung durch Computer einsatz<br />
Abb. 2: Beispiele für ein unvollständiges Zahl- und Operationsverständnis.<br />
lungsformen mental miteinander verknüpfen. Erst wenn<br />
das Kind Anforderungen in die unterschiedlichen Stufen<br />
der Abstraktion übersetzen kann (dargestellt durch die<br />
Doppelpfeile in Abb. 1 links), ist das Verständnis für den<br />
arithmetischen Inhalt vollständig ausgebildet.<br />
Die mentale Verknüpfung passiert beim Kind jedoch<br />
nicht automatisch. Das zeigt sich zum Beispiel dann,<br />
wenn Kinder Zahlen nicht als Anzahlen sondern personifiziert<br />
darstellen (Abb. 2 links) oder wenn Operationszeichen<br />
(im Beispiel »+«) nicht mit Handlungen verbunden<br />
werden sondern die Form des Zeichens mit Plättchen<br />
nachgelegt wird (Abb. 2 rechts).<br />
Die übergreifende Forschungsfrage dieser Promotionsarbeit<br />
lautete, inwiefern das Wissen über multiple externe<br />
Repräsentationen (MERs) und einer automatisierten Übersetzung<br />
zwischen den Repräsentationsformen (MELRs 1 )<br />
im Anfangsunterricht der Primarstufe genutzt werden<br />
kann, um die mentale Verknüpfung der Repräsentationsformen<br />
und damit den Prozess der Verinnerlichung<br />
im mathematischen Lernprozess durch den Einsatz des<br />
Computers zu unterstützen.<br />
Zu diesem Zweck wurde aktuelle Software analysiert<br />
und im konkreten Einsatz mit 60 Erst- und Zweitklässlern<br />
über einen Zeitraum von zehn Wochen erprobt. Die Ergebnisse<br />
dieser Untersuchung mündeten u.a. in die Formulierung<br />
von Gestaltungsprinzipien. Diese wurden im<br />
weiteren Verlauf der Arbeit in einem Prototyp exemplarisch<br />
umgesetzt. Während der Erstellung des Prototyps<br />
fanden immer wieder Zwischenerprobungen mit Kindern<br />
statt. Letztlich wurde der Prototyp über den Zeitraum von<br />
5 Wochen mit 28 Kindern aus drei ersten Klassen erprobt<br />
und evaluiert. Hierzu fanden mündliche Einzelinterviews<br />
sowie ein schriftlicher Pre- und Post-Test statt.<br />
Des Weiteren wurden Videoanalysen ausgewertet. In<br />
diesem Artikel wird lediglich auf ausgewählte Aspekte<br />
des letzteren Teils näher eingegangen.<br />
Multiple externe Repräsentationen und deren<br />
Verknüpfung<br />
Die mentale Verarbeitung visueller Reize unterscheidet<br />
sich von denen verbaler (vgl. Engelkamp & Zimmer<br />
2006, 202). In der Kognitiven Theorie des Multimedialen<br />
Lernens von Mayer (2005) geht dieser davon aus,<br />
dass Informationen in Form von Wörtern und Bilder über<br />
das sensumotorische Gedächtnis ins Arbeitsgedächtnis<br />
gelangen. Bevor die Integration des Vorwissens erfolgt,<br />
müssen das verbale und das piktoriale Modell mitein-<br />
Abb. 3: Zusammenhang der Verknüpfung externer Repräsentationen im mathematischen<br />
Lernprozess mit der Verknüpfung mentaler Repräsentationen in der<br />
Kognitiven Theorie des Multimedialen Lernens.<br />
ander verknüpft werden. Diese Verknüpfung stellt nach<br />
Mayer den entscheidenden Schritt im multimedialen Lernen<br />
dar. Eben diese Verknüpfung ist es, die den Kindern<br />
beim mathematischen Lernprozess Schwierigkeiten bereitet<br />
(Abb. 3).<br />
Nach dem so genannten multimedia principle erzeugt<br />
eine externe Repräsentation in Form einer Text-Bild-Kombination<br />
ein tieferes Verständnis, als wenn die Information<br />
z.B. rein als Text dargeboten wird (vgl. Mayer 2005,<br />
31). Dem entsprechend sollte beim Lernen von mathematischen<br />
Inhalten die enaktive Repräsentationsform mit<br />
der ikonischen und symbolischen Darstellung kombiniert<br />
darstellt werden. Solche multiplen externen Repräsentationen<br />
(MERs) sind bereits in vielen Schulbüchern zu<br />
finden (Abb. 4).<br />
Abb. 4: Beispiel einer MER im Schulbuch (Zahlenzauber1 2004, 20).<br />
Clements (1999) und auch Thompson (1992) stellten<br />
jedoch fest, dass Kinder die verschiedenen Repräsentationen<br />
trotz gleichzeitiger Darstellung nicht miteinander<br />
verknüpften. Sie führten es darauf zurück, dass die<br />
Schülerinnen und Schüler die Repräsentationsformen<br />
getrennt voneinander betrachteten. Der Computer bietet<br />
nun die Möglichkeit den Zusammenhang zwischen<br />
den verschiedenen Repräsentationsformen für die Kinder<br />
unmittelbarer erfahrbar zu machen. So können die<br />
Kinder in einer Repräsentationsform arbeiten während<br />
ihnen gleichzeitig die Auswirkungen ihres Tuns in einer<br />
anderen Repräsentationsform angezeigt werden (MELR).<br />
Dadurch wird der Zusammenhang direkt sichtbar. Das<br />
Arbeiten ist dabei auch am Computer auf sämtlichen<br />
Stufen der Abstraktion möglich: virtuell-enaktiv, ikonisch<br />
sowie symbolisch. Die automatische Übersetzung stellt<br />
eine wichtige Funktion und Stärke neuer Technologien<br />
im mathematischen Lernprozess dar (Kaput 1992, Lorenz<br />
1993). Die Verknüpfung bewirkt, dass Kindern der<br />
Bezug der Handlung zu den Zahlsymbolen deutlich wird<br />
<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> Forum Forschung Mai 2011 39
Promotion ❘ Multiple externe Repräsentationen (MERs) und deren Verknüpfung durch Computer einsatz<br />
und die Kinder darin unterstützt werden, ein besseres<br />
Verständnis für Symbole aufzubauen (Rogers, Scaife,<br />
Aldrich und Price 2003, 9).<br />
Während diese Tatsache beim Lernen von Mathematik<br />
in der Sekundarstufe seit einigen Jahren näher erforscht<br />
wird (vgl. Vogel 2006, Hoffkamp 2009), findet sie<br />
in der Grundschule weiterhin kaum Beachtung. Deshalb<br />
wurden in dieser Arbeit zunächst bestehende<br />
Gestaltungsprinzipien für MERs im Hinblick auf deren<br />
Gültigkeit beim Mathematiklernen in der Grundschule<br />
überprüft, sowie neue Gestaltungsprinzipien aus der<br />
Analyse des Umgangs von Schülerinnen und Schülern<br />
mit bestehender Software formuliert. Die Umsetzbarkeit<br />
der Gestaltungsprinzipien wurde anhand des Prototyps<br />
Doppelmoppel exemplarisch gezeigt und auf ihre Wirksamkeit<br />
hin evaluiert.<br />
Der Prototyp Doppelmoppel<br />
Den Kindern stehen grundsätzlich alle Repräsentationsformen<br />
zur Verfügung: die virtuell-enaktive, die schematisch-ikonische<br />
sowie die nonverbal-symbolische<br />
(Abb. 5).<br />
Abb. 5: MER beim Prototyp Doppelmoppel 2 .<br />
Die verschiedenen Repräsentationsformen liegen räumlich<br />
nah beieinander (spacial contiguity principle) und<br />
müssen nicht extra aufgerufen werden, sondern sind zeitlich<br />
simultan dargestellt (temporal contiguity principle).<br />
Ein Wechsel der Darstellungsform findet ausschließlich<br />
auf Wunsch der Kinder statt. Sie werden durch eingeblendete<br />
Pfeile darauf aufmerksam gemacht, dass ein<br />
Wechsel der Repräsentation möglich ist (signaling principle).<br />
Eine weitere Besonderheit dieses Prototyps ist,<br />
dass neben einzelnen Plättchen auch Fünferstapel zur<br />
Verfügung stehen, die ein schnelles Legen verschiedener<br />
Anzahlen ermöglichen. Sie unterstützen das Kind insbesondere<br />
dabei, nicht-zählende Strategien zu nutzen<br />
und Anzahlen mit Hilfe der »Kraft der Fünf« zu legen<br />
(vgl. Krauthausen 1995). Fünf Plättchen können mit einem<br />
Griff genommen und anschließend einzeln weiter<br />
verarbeitet werden (vgl. Ladel & Kortenkamp 2009).<br />
Zur Strukturierung ist ein Hunderterfeld als Arbeitsfläche<br />
gegeben. Des Weiteren steht den Kindern eine<br />
Aufräum-Funktion zur Verfügung, die bei Anklicken die<br />
Plättchen strukturiert und den Kindern so eine schnelle<br />
Anzahlerkennung ermöglicht. Für diesen Prototyp wurde<br />
als mathematischer Inhalt das Verdoppeln und Halbieren<br />
40 Forum Forschung Mai 2011 <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />
gewählt, weshalb als weitere Werkzeuge ein »Spiegel«<br />
sowie eine »Säge« zur Verfügung stehen. Um Fehlvorstellungen<br />
schnell entgegenzuwirken haben die Kinder<br />
außerdem die Möglichkeit sich zeitnah Rückmeldung<br />
geben zu lassen.<br />
Ausgewählte Ergebnisse der Evaluation<br />
Die Erprobung des Prototyps fand mit 28 Erstklässlern,<br />
die in vier Gruppen unterteilt waren, statt. Die Gruppen<br />
arbeiteten mit jeweils unterschiedlichen Repräsentationen.<br />
Bei der Arbeit mit MERs zeigte sich ein Zusammenhang<br />
zwischen der Wahl der Repräsentationsform(en), mit denen<br />
gearbeitet wurde und der Leistungsstärke der Kinder.<br />
Fehlte die Möglichkeit zur automatisierten Übersetzung<br />
waren deutlich weniger Repräsentations-wechsel der<br />
Kinder zu verzeichnen, als wenn diese Funktion zur Verfügung<br />
stand. Hier war tendenziell der Wunsch nach<br />
einer Übersetzung von der enaktiven in die symbolische<br />
Repräsentationsform größer als von der symbolischen<br />
zur ikonischen. Hemmungen mit dem virtuellen Material<br />
zu arbeiten konnten im Gegensatz zur Arbeit mit realem<br />
Material nicht beobachtet werden.<br />
Doppelmoppel erwies sich außerdem als gutes Diagnoseinstrument.<br />
Die Art und Weise, Anzahlen mit Plättchen<br />
darzustellen gab Hinweise auf das bestehende<br />
Zahlkonzept der Kinder (ordinal oder kardinal) (Abb. 6).<br />
Nachfolgende Erprobungen zeigten sogar, dass durch<br />
das schnellere Legen von Anzahlen mit Hilfe der Fünferstapel<br />
den Kinder mit wenig Zeitaufwand ein kardinales<br />
Zahlverständnis näher gebracht werden kann.<br />
Abb. 6: Zahlkonzepte.<br />
Ebenso bei der Darstellung von Anzahlen konnten vier<br />
Kategorien unterschieden werden, was die Strukturierung<br />
der Plättchen angeht: nur farblich strukturiert, nur<br />
räumlich strukturiert, farblich und räumlich strukturiert, mit
Promotion ❘ Multiple externe Repräsentationen (MERs) und deren Verknüpfung durch Computer einsatz<br />
Hilfe der Werkzeuge strukturiert. Je nach Art der Strukturierung<br />
zählten die Kinder zur Erfassung der Anzahlen<br />
ab oder konnten diese quasi-simultan angeben.<br />
Bei der nonverbal-symbolischen Repräsentation hatte die<br />
Offenheit des Zahlenraums vor allem bei den leistungsstarken<br />
Kindern positive Effekte, insofern, dass diese<br />
weit über den Zahlenraum bis 20 hinaus rechneten und<br />
dabei die ikonische Darstellung zur Kontrolle ihrer Rechnungen<br />
nutzte (Abb. 7).<br />
Abb. 7: Rechnen im ZR 100.<br />
Insgesamt zeigt die Arbeit das große Potential in der<br />
Nutzung von MELRs zur Unterstützung des Lernens von<br />
Mathematik im Anfangsunterricht auf. Wenn der Computer<br />
und andere neue Technologien den lang ersehnten<br />
Einzug in die Grundschule finden sollen, dann nur unter<br />
der Bedingung eines nachgewiesen sinnvollen Einsatzes<br />
zum Wohl der Kinder.<br />
Literatur<br />
❙ Aebli, H. (1987). Zwölf Grundformen des Lehrens.<br />
Stuttgart: Klett-Cotta.<br />
Clements, D.H. (1999). Concrete manipulatives, concrete<br />
ideas. Contemporary Issues in Early Childhood,<br />
1(1), 45–60.<br />
❙ Engelkamp, J. & Zimmer, H. (2006). Lehrbuch der<br />
kognitiven Psychologie. Göttingen: Hogrefe.<br />
❙ Gierlinger, W. (Hr.) (2004). Zahlenzauber 1. Oldenburg<br />
Verlag<br />
❙ Grissemann, H. & Weber, A. (2000). Grundlagen<br />
und Praxis der Dyskalkulietherapie. Bern: Hans Huber<br />
❙ Hoffkamp, A. (2009). Enhancing Functional Thinking<br />
Using the Computer for Representational Transfer. In:<br />
Proceedings of CERME 6, Lyon.<br />
❙ Ladel, S. (2009). Multiple externe Repräsentationen<br />
(MERs) und deren Verknüpfung durch Computereinsatz.<br />
Zur Bedeutung für das Mathematiklernen im<br />
Anfangsunterricht. Didaktik in Forschung und Praxis,<br />
Bd. 48. Verlag Dr. Kovac, Hamburg<br />
❙ Kaput, J.J. (1992). Notations and representations as<br />
mediators of constructive processes. In: v. Glasersfeld,<br />
E.(Hg.). constructivism in mathematics education.<br />
Dordrecht: D. Reidel.<br />
❙ Ladel, S. & Kortenkamp, U. (2009). Virtuell-enaktives<br />
Arbeiten mit der »Kraft der Fünf«. In: MNUPrimar<br />
3/2009<br />
❙ Lorenz, J.H. (1993). Mathematik und Anschauung.<br />
Untersuchungen zum Mathematikunterricht. Institut für<br />
Didaktik der Mathematik Bielefeld. Köln: Aulis-Verlag<br />
Deubner<br />
❙ Mayer, R. (2005). The Cambridge Handbook of Multimedia<br />
Learning. Cambridge University Press. New<br />
York.<br />
❙ Rogers, Y., Scaife, M., Aldrich, F. & Price, S. (2003).<br />
Improving children‘s unterstanding of formalism<br />
through interacting with multimedia. Cognitive Science<br />
Research paper 559.<br />
❙ Thompson, P.W. (1992). Notations, conventions and<br />
constraints: Contributions to effecitve uses of concrete<br />
materials in elementary mathematics. Journal for Research<br />
in Mathematics Education, 23(2), 123–147<br />
❙ Vogel, M. (2006). Mathematisieren funktionaler Zusammenhänge<br />
mit multimediabasierter Supplantation.<br />
Hildesheim: Franzbecker.<br />
1 MELR steht für Multiple extern linked representation<br />
2 http://kortenkampfs.net/material/doppelmoppel/<br />
DoppelMoppel-2.html<br />
Dr. Silke Ladel promovierte von 2006 bis 2009 an der <strong>Pädagogische</strong>n <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong><br />
<strong>Gmünd</strong>. Seit 08/2010 ist sie akademische Mitarbeiterin im Institut für Mathematik und<br />
Informatik der <strong>Pädagogische</strong>n <strong>Hochschule</strong> Karlsruhe wo sie derzeit zum Thema »Unterstützung<br />
des Aufbaus grundlegender Zahl- und Operationsvorstellungen durch die Verknüpfung multipler<br />
externer Repräsentationen (Multiplex-R)« habilitiert.<br />
<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> Forum Forschung Mai 2011 41
Promotion ❘ Verbesserung der Ausbildungsfähigkeit durch zusätzlichen außerunterrichtlichen Schulsport an Hauptschulen?<br />
Verbesserung der Ausbildungsfähigkeit<br />
durch neigungsorientierten<br />
Schulsport an Hauptschulen?<br />
Eine empirische Studie zur Verbesserung der beruflichen Handlungskompetenz an Hauptschulen<br />
mit Sportprofil<br />
Dr. Matthias Molt<br />
Arbeitsgruppe: Prof. Dr. Dr. Axel Horn, PH <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />
Zweitgutachter: Prof. Dr. Andreas Fey, PH <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />
Abstract: In educational policy, the continued existence of the Hauptschule has been contentiously discussed and<br />
there have been different attempts to integrate these pupils into other secondary schools. This integration would<br />
increase prestige, which could indirectly increase the competence of the pupils, according to some experts. However,<br />
there are also other trends: smaller classes (groups) with social care, teaching units including cultural and social<br />
standards of value or measures to support social, personal and cognitive resources. The main idea of this paper<br />
is to improve students’ decision-making skills and sense of responsibility through additional school sports, which<br />
Hauptschule pupils can choose for themselves. This thesis is to be empirically verified in an evaluation study.<br />
Ausgangslage<br />
Bei den Ergebnissen der PISA Studien zeigen die Schülerinnen<br />
und Schüler der Hauptschule im Vergleich zu den<br />
Schülerinnen und Schülern der anderen Schularten die<br />
meisten Defizite. Speziell ist der Anteil der Schülerinnen<br />
und Schüler »mit geringer Lesekompetenz in Hauptschulen<br />
(…) sehr hoch« (Deutsches PISA- Konsortium 2001,<br />
S.127). Etwa 25% der Hauptschülerinnen und Hauptschüler<br />
erreichten nur die niedrigste Kompetenzstufe und<br />
lediglich 43% erreichten das als Mindeststandard definierte<br />
Leistungsniveau (vgl. Deutsches PISA-Konsortium<br />
2001, S.122ff.). Ähnliche Ergebnisse liegen im Bereich<br />
der mathematischen Grundbildung vor. Hier liegen die<br />
Hauptschülerinnen und Hauptschüler vorwiegend auf<br />
dem Niveau der Kompetenzstufe I, welche dem Rechnen<br />
auf Grundschulniveau gleichzusetzen ist. Dieses<br />
Abschneiden der Hauptschülerinnen und Hauptschüler<br />
zeigt, dass an den Hauptschulen dringend Handlungsbedarf<br />
besteht, ihre Schülerinnen und Schüler hinsicht-<br />
42 Forum Forschung Mai 2011 <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />
lich der geforderten Bereiche der PISA-Studien, besser<br />
auszubilden (vgl. Deutsches PISA-Konsortium 2001,<br />
S.180ff.).<br />
Aufgrund dieser dramatischen Ergebnisse hat die bildungspolitische<br />
Diskussion erheblich zugenommen. Viele<br />
neue Bildungspläne sind auf den Weg gebracht worden<br />
und bundesweit wurde eine Vielzahl an Ganztagesschulen<br />
mit Bundesmitteln eingerichtet. Aufgrund verschiedener<br />
OECD-Berichte, u.a. vom Juni 2006, wird derzeit<br />
eine heftige Diskussion geführt, in der das klassische<br />
dreigliedrige Schulsystem durch ein zweigliedriges oder<br />
sogar durch eine so genannte »Gemeinschaftsschule«<br />
ersetzt werden soll. Die gegenwärtig diskutierte Schulstrukturfrage<br />
wird vielerorts auch als »Hauptschulfrage“<br />
(Demmer 2006, S.8) bezeichnet, da der Erhalt der<br />
Hauptschule in Frage gestellt wird und die Hauptschule<br />
in das zweigliedrige bzw. eingliedrige Schulsystem integriert<br />
werden soll bzw. bereits wurde. Die Situation der
Promotion ❘ Verbesserung der Ausbildungsfähigkeit durch zusätzlichen Theoretische Grundlagen außerunterrichtlichen Schulsport an Hauptschulen?<br />
Hauptschulen stellt sich in den unterschiedlichen Bundesländern<br />
differenziert dar, es lassen sich jedoch flächendeckend<br />
eindeutige Tendenzen erkennen. In mehreren<br />
Bundesländern existiert die eigenständige Hauptschule<br />
bereits nicht mehr. Ebenso wurde die Eingliederung der<br />
Hauptschulen in die Gemeinschaftsschule oder in das<br />
zweigliederige Schulsystem von einigen Länderregierungen<br />
beschlossen. Sollte diese Diskussion in allen Bundesländern<br />
entsprechend fortgeführt werden, bedeutet dies<br />
in der letzten Konsequenz das Ende der Hauptschulen in<br />
Deutschland (vgl. Demmer 2006, S.8).<br />
Gründe für die Abschaffung der Hauptschule liegen<br />
darin, dass die Absolventen der Hauptschulen von der<br />
Wirtschaft wenig nachgefragt, kaum gebraucht werden<br />
bzw. werden können. Gemäß den Aussagen des Berufsbildungsberichtes<br />
2006 des Bundesministeriums für Bildung<br />
und Forschung konnten im Jahr 2005 knapp 42%<br />
(BMBF 2006, S.115) der Hauptschulabsolventinnen und<br />
-absolventen keine Ausbildungsstelle vermittelt werden.<br />
Lediglich 15% der Ausbildungsplätze wurden 2005 von<br />
Hauptschülerinnen und Hauptschülern eingenommen.<br />
Die Schülerinnen und Schüler ohne Ausbildungsstelle<br />
werden meist in ein Übergangssystem, zum Beispiel<br />
das Berufseinstiegsjahr, übergeben um deren berufliche<br />
Qualifikationen zu verbessern. Dass jedoch nahezu »die<br />
Hälfte der Absolventinnen und Absolventen mit Hauptschulabschluss<br />
(…) sich im Jahre 2005 in Maßnahmen<br />
des Übergangssystems aufhalten, zeigt, wie schwierig<br />
der Übergang geworden ist« (KMK 2006, S.82). Deshalb<br />
liegt es auf der Hand, dass diese Jugendlichen<br />
oft nur eine Warteschleife in eine sich anschließende<br />
Arbeitslosigkeit durchlaufen. Um auch diesen Jugendlichen<br />
eine positive Zukunft zu bieten, sind die politischen<br />
Verantwortlichen, die entsprechenden Ministerien und<br />
Fachleute aufgefordert, sie für den Arbeitsmarkt mit all<br />
seinen Anforderungen auszubilden. Daher gilt es nach<br />
Möglichkeiten zu suchen, die den Hauptschulen schnell<br />
und ohne bürokratischen Aufwand Perspektiven bieten,<br />
ihren Schülerinnen und Schülern eine positive Zukunft zu<br />
bieten.<br />
Theoretische Grundlagen<br />
Die Anforderungen an Absolventen aller Schularten sind<br />
von allen am Bildungsprozess beteiligten Institutionen<br />
in den Begriffen der Ausbildungsfähigkeit bzw. Ausbildungsreife<br />
zusammengefasst. Dass mit diesen Begrifflichkeiten<br />
auch der Terminus der beruflichen Handlungskompetenz<br />
gemeint ist, wird sichergestellt. Die berufliche<br />
Handlungskompetenz, welche die Fach-, Methoden-,<br />
Sozial- und Personalkompetenz subsumiert, wird in Kapitel<br />
3 der hier vorgestellten Untersuchung ausführlich<br />
dargestellt und begründet (siehe Abb. 1).<br />
Die mangelnde berufliche Handlungskompetenz stellt für<br />
die Absolventen der Hauptschule das größte Problem<br />
dar und bedarf dringend der Verbesserung.<br />
Die Ursachen dieses Dilemmas, die vielfältig sind,<br />
werden in der Promotion im Kapitel Problemfelder der<br />
Die Anforderungen an Absolventen aller Schularten sind von allen am Bildungsprozess beteiligten<br />
Institutionen in den Begriffen der Ausbildungsfähigkeit bzw. Ausbildungsreife zusammengefasst.<br />
Dass mit diesen Begrifflichkeiten auch der Terminus der beruflichen Handlungskompetenz<br />
gemeint ist, wird sichergestellt. Die berufliche Handlungskompetenz, welche die Fach-,<br />
Fachkompetenz<br />
Ausbildungsfähigkeit<br />
als oberstes Ziel der Hauptschule<br />
g leichzusetze n<br />
mit<br />
Berufliche Handlungskompetenz<br />
Metho de nko<br />
mpet enz<br />
Sozialko<br />
mpet enz<br />
Person alko<br />
mpet enz<br />
Abb.1: Modell der beruflichen Handlungskompetenz mit gleichzusetzender<br />
Ausbildungsfähigkeit.<br />
Die mangelnde berufliche Handlungskompetenz stellt für die Absolventen der Hauptschule das<br />
größte Problem dar und bedarf dringend der Verbesserung.<br />
Die Ursachen dieses Dilemmas, die vielfältig sind, werden in der Promotion im Kapitel Problemfelder<br />
der Hauptschülerinnen und -chüler beschrieben und ursächlich hergeleitet. Viele dieser<br />
Problemfelder sind familiär bedingt und können von der Schule nicht oder nur schwer behoben<br />
werden. Ein Bereich, in dem sich die Schülerinnen und Schüler der Hauptschule massiv von<br />
den Schülerinnen und Schülern anderer Schularten unterscheiden, ist deren Freizeitgestaltung.<br />
Studien belegen, dass die Hauptschülerinnen und -schüler kein strukturiertes Freizeitverhalten<br />
aufweisen. Ihre liebsten Freizeitbeschäftigungen sind „sich mit Freunden treffen“ oder „rumhängen“<br />
(vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2000, S.63). Sie sind weniger in<br />
Vereinen und anderen Organisationen organisiert. Dies belegen diverse Studien, bei denen die<br />
Hauptschülerinnen und -schüler im Sportverein gegenüber den Schülerinnen und Schülern an-<br />
Hauptschülerinnen und -schüler beschrieben und ursächlich<br />
hergeleitet. Viele dieser Problemfelder sind familiär<br />
bedingt und können von der Schule nicht oder nur<br />
schwer behoben werden. Ein Bereich, in dem sich die<br />
Schülerinnen und Schüler der Hauptschule massiv von<br />
den Schülerinnen und Schülern anderer Schularten unterscheiden,<br />
ist deren Freizeitgestaltung. Studien belegen,<br />
dass die Hauptschülerinnen und -schüler kein strukturiertes<br />
Freizeitverhalten aufweisen. Ihre liebsten Freizeitbeschäftigungen<br />
sind »sich mit Freunden treffen« oder<br />
»rumhängen« (vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund<br />
Südwest 2000, S.63). Sie sind weniger in Vereinen<br />
und anderen Organisationen organisiert. Dies belegen<br />
diverse Studien, bei denen die Hauptschülerinnen<br />
und -schüler im Sportverein gegenüber den Schülerinnen<br />
und Schülern anderer Schularten deutlich unterrepräsentiert<br />
sind (vgl. Brettschneider & Kleine 2002, S.81;<br />
WIAD 2003, S.22). Gerade im Freizeitbereich scheint<br />
es, dass dem Sport vielfache Funktionen zugeschrieben<br />
werden können. Dabei werden neben den klassischen<br />
auch neuere Ansätze aufgezeigt. Aus diesen Funktionszuschreibungen<br />
ist der Ansatz des Doppelauftrages des<br />
Schulsports entstanden. Gleichwohl ist der Sport per se<br />
kein Allheilmittel – im Gegenteil: Da ihm nicht nur positive<br />
Wirkungen unterstellt werden können, werden an<br />
dieser Stelle auch die negativen diskutiert, die für eine<br />
differenzierte Betrachtung nicht aus Acht gelassen werden<br />
dürfen.<br />
Beschreibung der Studie<br />
Das zentrale Ziel der Studie ist die Überprüfung von Effekten<br />
einer »Hauptschule mit Sportprofil« hinsichtlich der<br />
beruflichen Handlungskompetenz ihrer Schülerinnen und<br />
Schüler, im Vergleich zu Schülerinnen und Schülern an<br />
Schulen ohne Sportprofil (Querschnittsuntersuchung) und<br />
von Effekten der beruflichen Handlungskompetenz über<br />
einen bestimmten Zeitraum (Längsschnittuntersuchung).<br />
Zusammengefasst lautet die Forschungsfrage: Erhöhen<br />
sich die Kompetenzen welche die Ausbildungsfähigkeit<br />
kennzeichnen durch eine Hauptschule, an der mehr<br />
Schulsport angeboten wird?<br />
Intervention<br />
Zur Reduzierung der genannten Defizite scheint der Sport<br />
ein geeignetes Mittel zu sein. Hierfür ist der Ansatz einer<br />
Profilierung im Bereich Sport eine mögliche Lösung des<br />
Problems. Da es für die Hauptschulen kein flächendeckendes<br />
Konzept dieser Profilierung gibt, sind empirische<br />
Belege für eine sportliche Profilierung wünschenswert.<br />
<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> Forum Forschung Mai 2011 43<br />
3
Promotion ❘ Verbesserung der Ausbildungsfähigkeit durch zusätzlichen außerunterrichtlichen Schulsport an Hauptschulen?<br />
Bei der Umsetzung der eigenen Intervention Sportprofil<br />
liegt der Schwerpunkt auf zusätzlichem Sportangebot<br />
zum regulären Sportunterricht im Rahmen des Fächerverbundes<br />
Musik - Sport - Gestalten (MSG). Die Kontingentstundentafel<br />
für Hauptschulen schreibt für den Fächerverbund<br />
MSG insgesamt 27 Jahreswochenstunden vor. Die<br />
Stunden, die den MSG-Sport beinhalten, werden dem<br />
Kernbereich zugeordnet (siehe Tab.1).<br />
Im Kernbereich, welcher die Grundlagenausbildung darstellt,<br />
werden, wie im bisherigen klassischen Schulsport,<br />
die regulären Sportstunden in den jeweiligen Klassenstufen<br />
erteilt.Die Neuerung im Rahmen des Sportprofils<br />
stellen die beiden Bereiche Wahlbereich und Ergänzungsbereich<br />
dar. Aus dem Angebot des Wahlbereichs<br />
müssen die Schülerinnen und Schüler mindestens eine<br />
Sportart auswählen. Die unterschiedlichen Angebote<br />
basieren im Wesentlichen auf Vereinskooperationen,<br />
Angeboten der Schule, auf der Einstellung von Lehrbe-<br />
Kernbereich:<br />
MSG- Sport Wahlbereich: Ergänzungsbereich:<br />
❙ Leichtathletik<br />
❙ Gerätturnen<br />
❙ Tanz/Gymnastik<br />
❙ Rückschlagspiele<br />
❙ große Spiele<br />
Tab.1: Aufteilung der Angebote in Kern-, Wahl- und Ergänzungsbereich.<br />
Schülerinnen und Schüler der Klasse 6<br />
(Schuljahr 2003/2004)<br />
in ihrem weiteren Verlauf<br />
Messzeitpunkt t 1<br />
Beginn Schuljahr<br />
2003/2004<br />
44 Forum Forschung Mai 2011 <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />
auftragten, Schülermentoren- und mentorinnen und Jugendbegleitern.<br />
Das zweite Standbein des Sportprofils,<br />
der Ergänzungsbereich, ist ausschließlich an den Interessen<br />
der Schülerinnen und Schüler ausgerichtet. Hierzu<br />
sind die Schülerinnen und Schüler, anders als im Wahlbereich,<br />
nicht verpflichtet teilzunehmen. Die Ergänzungsangebote<br />
finden vor allem im Rahmen von Projekten,<br />
Ganztagesaktionen und Wettkämpfen bzw. Turnieren<br />
statt. Diese Angebote sind eher saisonal bedingt und<br />
werden nur über einen kurzen Zeitraum angeboten.<br />
Die Wahlmöglichkeiten im Ergänzungsbereich variieren<br />
abhängig von Möglichkeiten und den Witterungsbedingungen<br />
von Schuljahr zu Schuljahr (siehe Tab.1).<br />
Ergebnisse<br />
Bei der vorliegenden Studie wurde ein Interventions-Kontrollgruppendesign<br />
mit drei Messzeitpunkten realisiert<br />
(siehe Tab. 2).<br />
Messzeitpunkt t 2<br />
Beginn Schuljahr<br />
2004/2005<br />
Interventionsgruppe am BZN Hauptschule (IG) IG 1 IG 2 IG 3<br />
Kontrollgruppe I (KG I) KG I 1 KG I 2 KG I 3<br />
Kontrollgruppe II (KG II) KG II 1 KG II 2 KG II 3<br />
Kontrollgruppe III (KG III) KG III 1 KG III 2 KG III 3<br />
Tab.2: Untersuchungsdesign der Studie.<br />
❙ Handball<br />
❙ Basketball<br />
❙ Fußball<br />
❙ Volleyball<br />
❙ Badminton<br />
❙ Jazztanz/Hip Hop<br />
❙ Tischtennis<br />
❙ Rugby<br />
❙ Eishockey<br />
❙ Tauchen<br />
❙ Unterwasserrugby<br />
❙ Rettungsschwimmen<br />
❙ Minitrampolin<br />
❙ Baseball<br />
❙ Inlinehockey<br />
❙ Golf<br />
❙ Bogenschießen<br />
❙ Schießen<br />
❙ Boxen<br />
❙ »Fit durch laufen und gesunde Ernährung«<br />
❙ »Sport mal ganz anders«<br />
❙ Kajak/Kanu<br />
❙ Inlinekurs/Anfänger<br />
❙ Inlinekurs/Fortgeschrittene<br />
❙ Skateboarden<br />
❙ Klettern<br />
❙ Wintersporttag auf der <strong>Schwäbisch</strong>en Alb<br />
❙ Ski- und Snowboardtag im Allgäu<br />
❙ Schlittschuh/Eishockey<br />
❙ Kanu- oder Kajakfahren im Rahmen von<br />
Projekten oder Tagesausflügen<br />
❙ Straßenfußball im Rahmen von Projekten oder<br />
bei Turnierbesuchen<br />
❙ Wettkämpfe in Leichtathletik, Fußball oder<br />
Handball im Rahmen von »Jugend trainiert für<br />
Olympia«<br />
❙ Tennis<br />
Messzeitpunkt t 3<br />
Beginn Schuljahr<br />
2005/2006
Promotion ❘ Verbesserung der Ausbildungsfähigkeit durch zusätzlichen außerunterrichtlichen Schulsport an Hauptschulen?<br />
Die Zahl der Probanden zu Messzeitpunkt t1 betrug<br />
insgesamt 142 (n= 142). Das Datenerhebungsverfahren<br />
basiert auf der Methode der schriftlichen Befragung.<br />
Die Auswertung des Datenmaterials erfolgte mit Hilfe<br />
des Softwareprogramms SPSSWIN.13.<br />
Die statistischen Analysen der Effekte einer »Hauptschule<br />
mit Sportprofil«, wie sie im Rahmen der vorliegenden<br />
Untersuchung durchgeführt wurden, zeigen, dass eine<br />
Untersuchung von Hauptschülerinnen und -schülern der<br />
Sekundarstufe I, mittels des modifizierten Fragebogens<br />
von Frey & Balzer, als geeignet bewertet werden kann.<br />
Dabei wird deutlich, dass sich durch die Interventionsmaßnahme<br />
die Schülerinnen und Schüler der Untersuchungsgruppe<br />
gegenüber den Schülerinnen und Schülern<br />
der Kontrollgruppe in ihrer beruflichen Handlungskompetenz<br />
deutlich verbessern. Gerade die Schülerinnen und<br />
Schüler, welche die Ausbildungsproblematik am meisten<br />
betrifft, nämlich die schwächeren Schülerinnen und<br />
Schüler, verbesserten sich am stärksten. Unter Betrachtung<br />
der Fachkompetenz kann bei der Interventionsgruppe<br />
eine deutliche Verbesserung festgestellt werden. Die<br />
Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung lassen den<br />
Rückschluss zu, dass die Schülerinnen und Schüler der<br />
Interventionsgruppe auch ihre Lesekompetenz und ihre<br />
mathematischen Fähigkeiten verbessert haben. Somit<br />
könnte das eingangs beschriebene Abschneiden der<br />
Schülerinnen und Schüler der Hauptschule bei den PISA-<br />
Studien in der Lesekompetenz durch diese Interventionsmaßnahme<br />
auch verbessert werden.<br />
Weitere deutliche Veränderungen sind bei der Sozialkompetenz<br />
zu erkennen. Die Sozialkompetenz, welche<br />
sowohl kommunikative als auch Komponenten des Zusammenlebens<br />
beinhaltet, setzt sich in Anlehnung an<br />
Frey, aus den Fähigkeitsbereichen Selbstständigkeit, Verantwortungsbereitschaft,<br />
Kooperationsfähigkeit, Konfliktfähigkeit,<br />
Kommunikationsfähigkeit, Führungsfähigkeit<br />
und Situationsgerechtes Auftreten zusammen. Abbildung<br />
2 zeigt den Verlauf der Entwicklung der Sozialkompetenz<br />
der beiden Gruppen über den gesamten Untersuchungsverlauf.<br />
Hier ist zu erkennen, dass die Interventionsgruppe<br />
(IG) zu Beginn der Untersuchung einen schlechteren<br />
Wert aufwies. Im Laufe der Untersuchung (t2) verbes-<br />
4<br />
3,9<br />
3,8<br />
3,7<br />
3,6<br />
3,5<br />
3,4<br />
3,3<br />
3,2<br />
3,1<br />
3<br />
Sozialkompetenz IG vs. KG<br />
t1 t2<br />
Messzeitpunkte t3<br />
serte die Interventionsgruppe ihre Werte gegenüber der<br />
Kontrollgruppe (KG) bis zum Ende hin.<br />
Die Hauptforschungsfrage, ob die Schülerinnen und<br />
Schüler der Interventionsgruppe gegenüber den Schülerinnen<br />
und Schülern der Kontrollgruppe ihre berufliche<br />
Handlungskompetenz verbessern, lässt sich nach den<br />
dargestellten Ergebnissen mit JA beantworten. Die Verbesserung<br />
der Schülerinnen und Schüler der Interventionsgruppe<br />
konnte in drei von vier Kompetenzklassen<br />
gegenüber der Kontrollgruppe nachgewiesen werden.<br />
Die Ergebnisse zeigen, dass zusätzlicher und vor allem<br />
neigungsorientierter Schulsport ein geeignetes Mittel darstellt,<br />
um die Berufliche Handlungskompetenz und somit<br />
auch die Ausbildungschancen der Hauptschülerinnen<br />
und -schüler zu verbessern.<br />
Ausblick<br />
Um jedoch signifikante Ergebnisse in allen Kompetenzklassen<br />
zu erhalten, sollte mit einer deutlich höheren<br />
Anzahl an Probanden gearbeitet werden. Damit die<br />
Beurteilung der Ergebnisse nicht ausschließlich auf der<br />
Selbsteinschätzung der Schülerinnen und Schüler beruht,<br />
sollte die Eltern- und Lehrerperspektive miteinbezogen<br />
werden.<br />
<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> Forum Forschung Mai 2011 45<br />
IG<br />
KG<br />
Anm.: Antwortleiste von 1 = »trifft voll und ganz zu« bis 5 = »trifft überhaupt nicht<br />
zu«; ein höherer Wert korrespondiert mit einer hohen Kompetenz;<br />
Abb.2: Sozialkompetenzentwicklung von IG vs. KG über die drei Messzeitpunkte.
Promotion ❘ Verbesserung der Ausbildungsfähigkeit durch zusätzlichen außerunterrichtlichen Schulsport an Hauptschulen?<br />
Literatur:<br />
❙ Brettschneider, W.D. & Kleine, T. (2002). Jugendarbeit<br />
im Sportverein. Schorndorf: Hofmann.<br />
❙ Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hrsg.).<br />
(2006). Berufsbildungsbericht 2006. Berlin: BMBF.<br />
[zitiert als BMBF, 2006]<br />
❙ Demmer, M. (2006). Auf der Tagesordnung: die<br />
»kleine Reform«. In Gewerkschaft Erziehung und<br />
Wissenschaft (Hrsg.). Erziehung und Wissenschaft. 9,<br />
(S.8 – 11).<br />
❙ Deutsches PISA- Konsortium (Hrsg.). (2001). Basiskompetenzen<br />
von Schülerinnen und Schülern im internationalen<br />
Vergleich. Opladen: Leske+Budrich.<br />
❙ Frey, A.& Balzer, L. (2003). Soziale und methodische<br />
Kompetenzen – der Beurteilungsbogen smk: Ein<br />
46 Forum Forschung Mai 2011 <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />
Messverfahren für die Diagnose von sozialen und<br />
methodischen Kompetenzen. In Frey, A., Jäger, R. S.<br />
& Renold, U. Kompetenzmessung – Sichtweisen und<br />
Methoden zur Erfassung und Bewertung von beruflichen<br />
Kompetenzen (S.148 – 174). Landau: Verlag<br />
Empirische Pädagogik.<br />
❙ Kultusministerkonferenz (Hrsg.). (2006). Bildung in<br />
Deutschland. Bonn: KMK. [zitiert als KMK 2006]<br />
❙ Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest<br />
(Hrsg.). (2000). JIM 2000 Jugend, Information, (Multi-)<br />
Media. Baden- Baden: Medienpädagogischer<br />
Forschungsverbund Südwest.<br />
❙ WIAD (Hrsg). (2003). Bewegungsstatus von Kindern<br />
und Jugendlichen in Deutschland II. Bonn: Forschungsbericht<br />
im Auftrag des DSB und der AOK<br />
Dipl. Sportwissenschaftler Dr. Matthias Molt ist Referent am Ministerium für Kultus, Jugend<br />
und Sport Baden-Württemberg im Referat Sport und Sportentwicklung. Er ist ausgebildeter Grund-<br />
und Hauptschullehrer und hat über 15-jährige Erfahrung als Klassenlehrer. Ebenfalls war er am<br />
Landesinstitut für Schulsport und an der <strong>Pädagogische</strong>n <strong>Hochschule</strong> als Referent/ Lehrbeauftragter<br />
tätig. Das vorgestellte Forschungsprojekt war Teil der Promotion unter der Betreuung von Prof.<br />
Dr. Dr. Axel Horn (Fachbereich Sport).
Promotion ❘ Verbesserung der Ausbildungsfähigkeit durch zusätzlichen außerunterrichtlichen Schulsport an Hauptschulen?<br />
Rektorat der PH <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> (v.l.): Rektorin Prof. Dr. Astrid Beckmann, Prof. Dr. Thorsten Piske, Prorektor für Forschung, Entwicklung und internationale Beziehungen,<br />
Prof. Dr. Andreas Benk, Prorektor für Studium und Lehre und Edgar Buhl, Kanzler.<br />
<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> Forum Forschung Mai 2011 47
Promotion ❘ Förderung des <strong>Leseverstehen</strong>s in der Grundschule<br />
Förderung des <strong>Leseverstehen</strong>s<br />
in der Grundschule<br />
Dr. Andrea Steck<br />
Ein theoriegeleitetes Fortbildungskonzept zur Ausbildung und Weiterentwicklung der<br />
Kompetenzen von Lehrkräften im Bereich <strong>Leseverstehen</strong><br />
Arbeitsgruppe: Prof. Dr. Annegret von Wedel-Wolff, PH <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />
Zweitgutachter: Prof. Dr. Manfred Wespel, PH <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />
Abstract: The development and implementation of a systematic reading curriculum in elementary schools is a crucial<br />
condition for promoting reading literacy. Obviously, such a curriculum cannot be conceived without consistent regard<br />
to reading comprehension. This requires an intensive and profound preparation of teachers during their initial<br />
training as well as in their continuing professional development. To successfully promote reading literacy with their<br />
students, teachers need a high degree of professional knowledge of the subject matter as well as the corresponding<br />
diagnostic and educational skills.<br />
This study focuses on promoting reading comprehension. Teachers’ skills in the diagnosis and promotion of reading<br />
literacy and reading comprehension are examined by qualitative methods. Results are discussed and conclusions<br />
are made for teacher education.<br />
Forschungslage und aktuelle Diskussion<br />
»Einem guten Leser gebe ich eine Geschichte und er liest<br />
sie flüssig und vor allem betont vor.« »Einen Text abschnittsweise<br />
lesen und dann eine Frage stellen. Daran kann ich<br />
sehen, wer das beantworten kann und wer nicht. Schon<br />
klassisch eigentlich: Abschnitte lesen, eine Frage dazu<br />
stellen und beantworten lassen.« »Im Laufe der Klasse 2<br />
mache ich zu irgend einem Stück so eine Art Textverständnistest.<br />
Man sieht, wie Kinder Sachen bearbeiten.«<br />
So oder ähnlich gelagert sind häufig die Antworten von<br />
Lehrerinnen und Lehrern, wenn ich sie in Fortbildungsveranstaltungen<br />
befrage, wie sie denn eigentlich, auch im<br />
Hinblick auf Beurteilung und Bewertung, das Lesenkönnen<br />
ihrer Kinder einschätzen und wie sie dabei methodisch<br />
vorgehen. Ich beobachte dabei, dass die Vorstellungen<br />
der Lehrkräfte, was denn unter Lesenkönnen zu verstehen<br />
ist, recht diffus sind. Eigenen Befragungen zufolge fehlt<br />
es den Lehrkräften an einer notwendigen Sach-, Diagnose-<br />
und Förderkompetenz im Bereich <strong>Leseverstehen</strong>, um<br />
Lernarrangements so zu gestalten, dass Kinder zu kompetenten<br />
Leserinnen und Lesern werden können.<br />
48 Forum Forschung Mai 2011 <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />
Dass besonders im diagnostischen Bereich Lehrerinnen<br />
und Lehrer Schwierigkeiten haben, die Leseleistung<br />
ihrer Kinder richtig einzuschätzen, wurde auch in der<br />
PISA-Studie erwähnt. Dort wurde die diagnostische<br />
Kompetenz der Lehrkräfte in den Blick genommen. Es<br />
zeigte sich als deutlicher Befund, »dass die meisten der<br />
schwachen Leserinnen und Leser von den Lehrkräften<br />
unerkannt bleiben.« (Baumert u.a. 2001, S.119). Zwischen<br />
der Einschätzung durch die Lehrkräfte und den<br />
gemessenen Leseleistungen der Probanden bestanden<br />
erhebliche Differenzen. Daraus kann gefolgert werden,<br />
dass den Lehrerinnen und Lehrern vermutlich keine oder<br />
nur unzureichende Verfahren zur Verfügung stehen, um<br />
die Leseleistung der Kinder adäquat erheben und einschätzen<br />
zu können. Sie verfügen möglicherweise nicht<br />
über entsprechende Kompetenzen, um notwendige<br />
didaktische Arrangements und Fördermaßnahmen einzuleiten.<br />
Die Autoren halten es daher für lohnenswert,<br />
»die Diagnose der Lesefähigkeiten von Schülerinnen und<br />
Schülern durch Lehrkräfte systematisch zu untersuchen.«<br />
(Baumert u.a. 2001, S.120).
Forschungsfragen, Methoden und Ziel der Arbeit<br />
Die beobachteten Phänomene und die Ergebnisse aus<br />
der Forschung bildeten den Ausgangspunkt für das Forschungsvorhaben<br />
»Förderung des <strong>Leseverstehen</strong>s in der<br />
Grundschule – Ein theoriegeleitetes Fortbildungskonzept<br />
zur Ausbildung und Weiterentwicklung der Kompetenzen<br />
von Lehrkräften im Bereich <strong>Leseverstehen</strong>«. Mittels<br />
qualitativer Verfahren (Interviews) wurde die Sach-, Diagnose-<br />
und Förderkompetenz von Lehrkräften im Bereich<br />
<strong>Leseverstehen</strong> vor und nach einer Schulungsphase untersucht.<br />
Abbildung 1 zeigt den Ablauf der Hauptuntersuchung.<br />
In der Untersuchung wurden Kategoriensysteme<br />
zur Auswertung der Interviews entwickelt. Als hilfreich<br />
bei der Aufbereitung des Materials hatte sich die Nutzung<br />
der Software MaxQDA erwiesen. Mithilfe der qualitativen<br />
Inhaltsanalyse (Mayring 2003) konnte dann das<br />
durch die Interviews gewonnene Datenmaterial streng<br />
methodisch kontrolliert schrittweise analysiert werden.<br />
Ziel der Untersuchung war es, ein Fortbildungskonzept<br />
zur Professionalisierung der Sach-, Diagnose- und Förderkompetenz<br />
von Lehrkräften im Bereich <strong>Leseverstehen</strong> in<br />
der Grundschule zu entwickeln. Konkret bedeutete das:<br />
Lehrerinnen und Lehrer sollen so beraten/fortgebildet<br />
werden, dass sie Einsichten in den komplexen Prozess<br />
des Lesens/<strong>Leseverstehen</strong>s erhalten (Sachkompetenz)<br />
und ihren didaktischen Blick auf den Lernprozess des<br />
Kindes richten. Sie sollen ermutigt werden, Lesenkönnen<br />
zu beobachten, einzuschätzen und bewerten zu können<br />
sowie Lernarrangements neu zu gestalten (diagnostische<br />
Kompetenz, Förderkompetenz).<br />
Ergebnisse<br />
Insgesamt konnte ermittelt werden, dass die befragten<br />
Lehrerinnen und Lehrer über eine eher gering ausgeprägte<br />
diagnostische Kompetenz verfügten. Es fehlte ihnen<br />
durchgängig an einem schlüssigen, alltagstauglichen<br />
Konzept zur planvollen, regelmäßigen und kriteriengeleiteten<br />
Erhebung der Fähigkeiten der Kinder im Bereich<br />
Lesen/<strong>Leseverstehen</strong>. Die Antworten der befragten Lehrkräfte<br />
auf die Frage: »Was tun Sie, wenn Sie merken,<br />
dass ein Kind ohne Sinnverstehen liest?« zeigten, dass<br />
sich die Lehrkräfte zwar ihrer »Inkompetenz« bewusst<br />
waren, diesem Problem jedoch hilflos gegenüber standen:<br />
»Das war für mich eine ganz große Schwierigkeit«<br />
oder »ch hatte einige Schüler, bei denen ich einfach<br />
nicht verstanden habe, wo das Problem liegt. Wie kann<br />
Datenerhebung t1 Leitfadeninterviews (n=10)<br />
Promotion ❘ Förderung des <strong>Leseverstehen</strong>s in der Grundschule<br />
man das Verstehen der Kinder fördern, wenn man erkennt,<br />
dass das Kind nicht versteht?« Dadurch konnte<br />
den Lehrkräften auch keine fachlich fundierte bzw. kriteriengeleitete<br />
Einschätzung der Leistungen der Kinder<br />
im Bereich Lesen gelingen. Die Förderkompetenz der<br />
Lehrkräfte konnte ebenfalls als nicht ausreichend beurteilt<br />
werden. Aussagen einiger Lehrkräfte auf die Frage, wie<br />
sie denn das <strong>Leseverstehen</strong> der Kinder fördern, belegen<br />
dies: »Man macht mal hier etwas, mal da etwas« oder<br />
»Ich müsste in Texten irgendwie die Struktur herausarbeiten«.<br />
Aufgrund der Ergebnisse im Bereich der Beobachtungs-<br />
und diagnostischen Kompetenz ist dies auch<br />
nicht überraschend. Eine Förderung, die auf keiner der<br />
Sache angemessenen Beobachtung beruht, kann nur<br />
oberflächlich erfolgen. Eine angemessene, individuelle<br />
und differenzierte Förderung der Kinder im Bereich <strong>Leseverstehen</strong><br />
in die Wege zu leiten, muss daher zwangsläufig<br />
ausbleiben. Insgesamt zeigte die Analyse, dass<br />
es den Lehrkräften an den theoretischen Grundlagen<br />
zum <strong>Leseverstehen</strong> fehlt (Begriff Lesekompetenz, Ebenen<br />
des Leseprozesses, Basiskompetenzen des <strong>Leseverstehen</strong>s,<br />
Wissen über verstehensförderliche Lesestrategien).<br />
Keiner der Lehrkräfte hatte klare Vorstellungen, welche<br />
kognitiven Voraussetzungen und Fähigkeiten für das Verstehen<br />
von Texten notwendig sind. Doch wie kann man<br />
sicher stellen, dass die Erkenntnisse aus der Kognitionspsychologie<br />
in eine Förderung des <strong>Leseverstehen</strong>s in der<br />
Schule münden, also in der Praxis ankommen und dort<br />
umgesetzt werden?<br />
Lehrerprofessionalität<br />
Sachkompetenz<br />
Unterrichtsgegenstände verlangen von Lehrerinnen und<br />
Lehrern fachliche Kompetenz. Lehrkräfte benötigen zunächst<br />
klare Vorstellungen über den komplexen Prozess<br />
des <strong>Leseverstehen</strong>s und die kognitiven Kompetenzen.<br />
Transparent wird dies im Zwei-Säulen-Modell des <strong>Leseverstehen</strong>s<br />
(Abb. 2). Es zeigt, über welche grundlegenden<br />
kognitiven Kompetenzen Leserinnen und Leser<br />
verfügen müssen, damit der Verstehensprozess gelingen<br />
kann.<br />
Basiskompetenzen des <strong>Leseverstehen</strong>s bilden die Grundvoraussetzung<br />
für das Lesen und Verstehen eines Textes.<br />
Es sind Prozesse, die beim geübten Leser weitgehend<br />
unbewusst und automatisiert ablaufen. Verstehen wird<br />
Schulungsphase Fortbildung mit Schwerpunkt <strong>Leseverstehen</strong><br />
Beobachtungsprotokolle (schriftliche Protokolle und Tonbandmitschnitte<br />
Datenerhebung t2 Leitfadeninterviews (n=9)<br />
Datenaufbereitung Transkription der Interviews (t1 und t2)<br />
Überarbeitung der transkribierten Interviews<br />
Erstellen des Kategoriensystems (deduktiv/induktiv)<br />
Codierung der Interviews<br />
Datenauswertung Analyse der einzelnen Kategorien<br />
Zusammenfassung und Interpretation<br />
Abbildung 1: Ablauf der Hauptuntersuchung.<br />
<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> Forum Forschung Mai 2011 49
Promotion ❘ Förderung des <strong>Leseverstehen</strong>s in der Grundschule<br />
Steck, Andrea: Abbildungen<br />
Basiskompetenzen des<br />
<strong>Leseverstehen</strong>s<br />
Imaginationsfähigkeit<br />
Kombinationsfähigkeit<br />
Weltwissen<br />
Sprachwissen und Wissen über den<br />
Aufbau und die Struktur von Texten<br />
Überwachung des eigenen<br />
Verstehensprozesses<br />
Abbildung 2: Zwei-Säulen-Modell des <strong>Leseverstehen</strong>s.<br />
Abb. 2: Zwei-Säulen-Modell des <strong>Leseverstehen</strong>s<br />
aber auch wesentlich geprägt von einem Bewusstsein<br />
über die eigenen Lese- und Verstehensfähigkeiten und<br />
vom ziel- und adressatengerechten Einsatz von Strategien.<br />
Lesestrategien ermöglichen Leserinnen und Lesern,<br />
den eigenen Leseprozess zu steuern, indem sie Kontextfaktoren<br />
wie Ziel des Lesens, Hintergrundwissen zum<br />
Thema und die Struktur des Textes berücksichtigen.<br />
Diagnostische Kompetenz<br />
Kinder einer Schulklasse verfügen niemals über gleiche<br />
Lernvoraussetzungen und Lernstände. In keiner anderen<br />
Schulform ist die Heterogenität so ausgeprägt wie in<br />
der Grundschule. »Die Grundschule und besonders der<br />
Deutschunterricht stehen vor der Herausforderung, an<br />
den jeweiligen Entwicklungsstand des einzelnen Kindes<br />
(…) anzuknüpfen.« (KMK 2005, S.6). Ein gelingender<br />
Unterricht im <strong>Leseverstehen</strong> ist daher immer auch ein diagnostisch<br />
geleiteter Prozess. Diagnostische Kompetenzen<br />
der Lehrkraft ermöglichen es, den Entwicklungsprozess<br />
des Lernens festzustellen und fortlaufend beurteilen<br />
zu können. Lehrerinnen und Lehrer müssen daher in ihrer<br />
Aus- und Fortbildung entsprechende Diagnosemöglichkeiten<br />
kennen lernen.<br />
<strong>Leseverstehen</strong><br />
Leseintention<br />
Basale Lesefertigkeiten<br />
Kognitive Voraussetzungen<br />
50 Forum Forschung Mai 2011 <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />
Lesestrategien<br />
Primärstrategien<br />
Wiederholungsstrategien<br />
Elaborationsstrategien<br />
Organisationsstrategien<br />
Stützstrategien<br />
Metakognitive Strategien<br />
Motivational-emotionale Strategien<br />
Förderkompetenz<br />
Die kompetenteste Diagnose nützt nichts, wenn Lehrerinnen<br />
und Lehrer nicht wissen, wie sie didaktisch-methodisch<br />
auf die Ergebnisse der Diagnose im Lesen und <strong>Leseverstehen</strong><br />
eingehen sollen. Führt ein Diagnoseergebnis<br />
dazu, dass Lehrkräfte sich wegen mangelnder Förderkonzepte<br />
hilflos fühlen, besteht die Gefahr, dass sie sich<br />
vom Kind zurückziehen oder sogar eine Aussonderung<br />
aus der Lerngruppe betreiben (vgl. Kretschmann 2007,<br />
S.19). In der Lehreraus- und Fortbildung ist es daher von<br />
entscheidender Bedeutung, dass diagnostische Kompetenzen<br />
immer in Verbindung mit Fördermaßnahmen gelehrt<br />
werden. Schrader und Helmke weisen darauf hin,<br />
dass hohe Lernerfolge bei Kindern nur dann erzielt werden,<br />
wenn hohe diagnostische Kenntnisse bei Lehrkräften<br />
und besonders die Fähigkeit, Leistungsunterschiede<br />
einzuschätzen, mit bestimmten Unterrichts- und Fördermaßnahmen<br />
kombiniert werden. Die Autoren konnten<br />
dies für Strukturierungs- und für individuelle fachliche Unterstützungsmaßnahmen<br />
belegen (vgl. Schrader & Helmke<br />
2001, S.53). Konkret heißt das: Eine Förderung des<br />
<strong>Leseverstehen</strong>s kann nur sinnvoll gestaltet werden, wenn<br />
Lehrkräfte auf einen theoretischen fundierten Hintergrund<br />
2
zum Thema <strong>Leseverstehen</strong> zurückgreifen können. »Sie<br />
wissen, welche pädagogischen und welche Fördermaßnahmen<br />
auf eine diagnostizierte Konstellation folgen<br />
müssen und sie sind in der Lage, sie auch auszuführen.«<br />
(Kretschmann 2007, S.14).<br />
Fazit<br />
Die durch PISA und IGLU offenkundig gewordenen Versäumnisse<br />
im Bildungswesen, insbesondere im Bereich<br />
der Förderung von Lesekompetenz, haben Fragen im<br />
Hinblick auf Inhalt, Qualität und Effizienz der Lehrerbildung<br />
aufgeworfen. Die sich daraus im Bildungswesen<br />
entwickelte Orientierung an Standards und Kompetenzen<br />
auch im Bereich der Lehrerbildung zieht Konsequenzen<br />
für die Lehreraus- und Fortbildung nach sich. Lehrerinnen<br />
und Lehrer in der Grundschule benötigen, um die<br />
in den Bildungsstandards genannten Kompetenzen bei<br />
ihren Schülerinnen und Schülern zu entwickeln, fundiertes<br />
fachliches Wissen sowie Kompetenzen im Bereich der<br />
Diagnose und Förderung von Lesen und <strong>Leseverstehen</strong>.<br />
Ausdrücklich fordern die Kultusminister der Länder: »Die<br />
Professionalität der Lehrertätigkeit, vor allem hinsichtlich<br />
diagnostischer und methodischer Kompetenzen, muss<br />
verbessert werden, verbunden mit entsprechenden Veränderungen<br />
in der Lehrplan- und Unterrichtsgestaltung.«<br />
(KMK 2003, S.3). Im Rahmen der Arbeit wurden die<br />
genannten Forderungen in einem Fortbildungskonzept<br />
umgesetzt (vgl. Steck 2009, S. 164f).<br />
Literatur<br />
❙ Baumert, J. u.a. (Hg.) (2001): PISA 2000. Basiskompetenzen<br />
von Schülerinnen und Schülern im internationalen<br />
Vergleich, Opladen 2001.<br />
❙ KMK: Ergebnisse der internationalen Grundschulleseuntersuchung<br />
PIRLS/IGLU und der nationalen Ergänzung<br />
IGLU – E. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom<br />
8.4.2003. http:// www.kmk.org/beschl/D6.pdf.<br />
(Letzter Abruf: 09/2007)<br />
❙ KMK - Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister<br />
der Länder in der Bundesrepublik Deutschland<br />
(Hrsg.): Beschlüsse der Kultusministerkonferenz. Bildungsstandards<br />
im Fach Deutsch für den Primarbereich<br />
(Jahrgangsstufe 4), München 2005.<br />
❙ Kretschmann, Rudolf: Diagnostik in pädagogischen<br />
Handlungsfeldern – Diagnostik zur Optimierung von<br />
Lese- und Schreiblernprozessen, in: Hofmann, Bernhard/Valtin,<br />
Renate (Hrsg.): Förderdiagnostik beim<br />
Schriftspracherwerb. Deutsche Gesellschaft für Lesen<br />
und Schreiben, Berlin 2007, S. 12 – 47.<br />
Promotion ❘ Förderung des <strong>Leseverstehen</strong>s in der Grundschule<br />
❙ MAXQDA 2, Qualitativ Data Analysis, Verbi-Software,<br />
Berlin 2004.<br />
❙ Mörtl-Hafizovic, Dzenana: Diagnostische Kompetenzen<br />
im Lehrberuf, in: Grundschule, Heft 6, 2004,<br />
S. 17 – 20.<br />
❙ National Reading Panel (NRP): Teaching Children to<br />
Read: An Evidence-Based Assessment of the Scientific<br />
Research Literature on Reading and Its Implications for<br />
Reading Instruction, National Institut of Child Health<br />
an Human Development, Washington/DC 2000,<br />
in: http://www.nationalreadingpanel.org. (Letzter Abruf:<br />
12/2006.)<br />
❙ Schrader, Friedrich-Wilhelm/Helmke, Andreas: Alltägliche<br />
Leistungsbeurteilung durch Lehrer, in: Weinert,<br />
Franz E. (Hrsg.): Leistungsmessung in Schulen, Weinheim<br />
und Basel, 2001, S. 45 – 58.<br />
❙ Steck, A. (2009). Förderung des <strong>Leseverstehen</strong>s in der<br />
Grundschule. Fortbildungsbausteine für Lehrkräfte. Baltmannsweiler:<br />
Schneider.<br />
Dr. Andrea Steck ist Grund- und Hauptschullehrerin und arbeitet als Akademische Rätin im<br />
Fach Deutsch am Institut für Sprache und Literatur an der <strong>Pädagogische</strong>n <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong><br />
<strong>Gmünd</strong>. Ihre Schwerpunkte liegen in der Sprach- und Literaturdidaktik der Grundschule und der<br />
frühkindlichen Bildung. Andrea Stecks Dissertation wurde mit dem Hochschulpreis der Ostalb-<br />
Stiftung der Kreissparkasse Ostalb ausgezeichnet.<br />
<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> Forum Forschung Mai 2011 51
Promotion ❘ Fächerübergreifende Elemente im Mathematikunterricht zur Förderung von Mathematical literacy<br />
Fächerübergreifende Elemente<br />
im Mathematikunterricht<br />
zur Förderung<br />
von Mathematical literacy<br />
Dr. Simon Zell<br />
Arbeitsgruppe: Prof. Dr. Astrid Beckmann, PH <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />
Zweitgutachter: Dr. Michiel Doorman, Freudenthal Institut Utrecht, Niederlande<br />
Abstract: Interdisciplinary teaching is one possibility to promote mathematical literacy. Different conceptions of<br />
mathematical literacy and interdisciplinary teaching have been investigated and result in a structured definition of<br />
mathematical literacy and a model for interdisciplinary teaching modules. That model also includes aspects about<br />
realizability of interdisciplinary lessons gained from an investigation done in 75 schools in Baden Wuerttemberg.<br />
Considering all these elements, the potential of using experiments in mathematics class to explore different aspects<br />
of the concept of variable in lower secondary level has been examined theoretically and practically.<br />
Fragestellung<br />
Fächerübergreifender Mathematikunterricht bietet Lehrerinnen<br />
und Lehrern eine Gestaltungsmöglichkeit, um<br />
ihren Schülerinnen und Schülern mathematische Begriffe<br />
und Prozeduren aspektreich erfahrbar und erlernbar<br />
zu machen. Gleichzeitig können Schülerinnen<br />
und Schüler durch diese Unterrichtsform entdecken,<br />
wie mathematische Begriffe und Prozeduren außerhalb<br />
der Mathematik funktional angewandt werden.<br />
Aufgrund der Vielfältigkeit der Mathematik gibt es ein<br />
breites Spektrum für fächerübergreifenden Unterricht.<br />
Besonders geeignet sind allerdings die Naturwissenschaften,<br />
da sie in großen Teilen mathematische Begriffe<br />
und Prozeduren enthalten und anwenden. Was<br />
zeichnet nun einen sinnvollen fächerübergreifenden<br />
Mathematikunterricht aus? Wie trägt dieser zu einem<br />
vertieften mathematischen Verständnis bei? Wenn dort<br />
Mathematik funktional zum Einsatz kommt, wie kann<br />
fächerübergreifender Unterricht dann zum literacy-<br />
Konzept beitragen, das seit der PISA-Rahmenkonzeption<br />
international bekannt ist?<br />
52 Forum Forschung Mai 2011 <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />
Zum Begriff »Mathematical Literacy«<br />
Um gezielte Untersuchungen von Unterricht auf seinen<br />
Beitrag zu mathematical literacy durchzuführen, fand<br />
zunächst eine Begriffserklärung statt. Dazu wurde in<br />
dieser Arbeit die PISA-Rahmenkonzeption und die verschiedenen<br />
Auffassungen zu mathematical literacy in<br />
der Literatur analysiert und diskutiert und im Anschluss<br />
eine prägnante Arbeitsdefinition erstellt und gezeigt,<br />
wie diese mit der PISA-Rahmenkonzeption und der Literatur<br />
im Einklang steht. Nach dieser Definition lässt sich<br />
mathematical literacy durch drei Aspekte kennzeichnen:<br />
heuristisches Denken, umfassendes Verständnis mathematischer<br />
Begriffe und Prozeduren und Vertrautheit in deduktiven<br />
Schlussfolgerungen (vgl. Kilpatrick et al, 2003,<br />
OECD2006, Winter1995).<br />
Fächerübergreifender Unterricht<br />
Fächerübergreifender Unterricht hat viele Facetten und<br />
kann auf verschiedenste Art unterrichtet werden. Ein<br />
besonderes Interesse dieser Arbeit war auf die Realisierbarkeit<br />
fächerübergreifenden Unterrichts gerichtet.
Promotion ❘ Fächerübergreifende Elemente im Mathematikunterricht zur Förderung von Mathematical literacy<br />
So wurden durch eine quantitative Untersuchung, an<br />
der 184 Lehrerinnen und Lehrer aus 70 verschiedenen<br />
Schulen teilgenommen haben, Erkenntnisse gewonnen,<br />
wie fächerübergreifender Unterricht in den Schulen angewandt<br />
wird und welche Schwierigkeiten bei der Realisierung<br />
bestehen. Unterstützt und erweitert wurden diese<br />
Erkenntnisse durch Aussagen von zehn Lehrerinterviews,<br />
die parallel dazu statt fanden. Aus den Untersuchungsergebnissen<br />
lässt sich ableiten, dass fächerübergreifender<br />
Mathematikunterricht in den Schulen zwar selten, aber<br />
doch angewandt wird, die erfassten Lehrerinnen und<br />
Lehrer jedoch gerne öfters fächerübergreifend unterrichten<br />
würden und fächerübergreifender Unterricht meist<br />
ohne Kooperation mit Kolleginnen und Kollegen abläuft.<br />
Die Ergebnisse legen nahe, dass die Implementierung<br />
fächerübergreifenden Unterrichts möglichst effektiv gefördert<br />
werden kann, wenn den folgenden vier Punkten<br />
mehr Bedeutung zugemessen wird: Begriffsauffassung<br />
fächerübergreifenden Unterrichts, Zeit für Vorbereitung<br />
und Koordination, Absprache/Kooperation mit Kolleginnen<br />
und Kollegen und Ausbildung an den <strong>Hochschule</strong>n<br />
in fächerübergreifendem Unterrichten.<br />
»Mathematik und Naturwissenschaft<br />
unter einem Dach«<br />
Mit Hilfe der Arbeitsdefinition und den Erkenntnissen der<br />
Lehrerbefragung kann nun dargestellt werden, wie realisierbarer<br />
fächerübergreifender Mathematikunterricht einen<br />
Beitrag zu mathematical literacy leisten kann. Dazu<br />
wurde ein Modell »Mathematik und Naturwissenschaften<br />
unter einem Dach« entworfen. Durch dieses Modell<br />
können gemeinsame und fachspezifische Aspekte der<br />
vorkommenden inhaltlichen Themen eines fächerübergreifenden<br />
Unterrichts(entwurfs) anschaulich aufgezeigt<br />
und fächerübergreifende Elemente der vorkommenden<br />
Denkprozesse diskutiert werden. Es gliedert sich in drei<br />
Bereiche: Inhalt, heuristische Fähigkeiten und Organisation.<br />
Im Bereich Inhalt kann aufgezeigt werden, welche<br />
Sichtweisen einem mathematischen Begriff zugeordnet<br />
werden können. Durch Aufgliederung in gemeinsame<br />
und fachspezifische Sichtweisen kann so das fächerübegreifende<br />
Potential und die Ganzheitlichkeit eines<br />
Begriffs dargestellt werden. Im Bereich heuristische Fähigkeiten<br />
werden jene aufgelistet und erklärt, welche<br />
während der Erarbeitung eines Themas angesprochen<br />
werden. Das Modell erlaubt damit eine differenzierte<br />
Analyse fächerübergreifenden Unterrichts bzw. fächerübergreifender<br />
Unterrichtsentwürfe auf ihren Fächerübergriff<br />
bzw. ihr fächerübergreifendes Potential. Des Weiteren<br />
können damit Beiträge zu mathematical literacy<br />
abgeleitet werden. Durch Einbeziehen organisatorischer<br />
Faktoren in das Modell, können zudem noch Aussagen<br />
zur Realisierbarkeit gemacht werden. Deshalb ist<br />
es auch ein praktisches Modell zur Beschreibung und<br />
Planung realisierbaren fächerübergreifenden Unterrichts<br />
und kann darüber hinaus in der Hochschulausbildung<br />
als Skizze dienen, die wichtigsten Aspekte dieses Unterrichts<br />
zu vermitteln.<br />
Experimente<br />
Experimente sind ein wesentlicher Bestandteil der Naturwissenschaften.<br />
Da bei der Auswertung oft mathematische<br />
Begriffe und Prozeduren gebraucht und manchmal<br />
auch in anderer Form angewandt werden, erscheint<br />
es lohnenswert, Experimente auch im Rahmen eines fächerübergreifenden<br />
Mathematikunterrichts einzusetzen.<br />
Unter Berücksichtigung fachwissenschaftlicher und fachdidaktischer<br />
Aspekte von naturwissenschaftlichen Experimenten<br />
wurde untersucht, wie Experimente einen Beitrag<br />
zu mathematical literacy leisten können. Insbesondere in<br />
Bezug auf heuristische Fähigkeiten und Vertrautheit in deduktiven<br />
Schlussfolgerungen können naturwissenschaftliche<br />
Experimente einen hohen Beitrag zu mathematical<br />
literacy leisten, aber auch aspektreiches Erlernen mathematischer<br />
Begriffe und Prozeduren ermöglichen und<br />
somit beiden Fachgebieten Mathematik und Naturwissenschaften<br />
dienen.<br />
Experimente zur Förderung des<br />
Variablenbegriffserwerbs<br />
Da bei vielen Experimenten physikalische Größen durch<br />
Variablen ausgedrückt werden, wurde untersucht, wie<br />
physikalische Experimente erfolgreich zum Erlernen des<br />
Variablenbegriffs im Mathematikunterricht eingesetzt<br />
werden können. Zunächst wurden physikalische Experimente<br />
der Untersuchung in drei siebten Klassen mit insgesamt<br />
90 Schülerinnen und Schülern auf ihre Tauglichkeit<br />
im Mathematikunterricht getestet. Genauere Erkenntnisse<br />
<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> Forum Forschung Mai 2011 53
Promotion ❘ Fächerübergreifende Elemente im Mathematikunterricht zur Förderung von Mathematical literacy<br />
zum Variablenbegriff und Einfluss der physikalischen Kontexte<br />
konnten aus problemorientierten Interviews gewonnen<br />
werden, an denen insgesamt 60 Schülerinnen und<br />
Schüler von sechsten Klassen eines Gymnasiums bzw.<br />
siebten Klassen einer Realschule teilnahmen. Die Untersuchung<br />
zeigt, welches Potential physikalische Experimente<br />
im Mathematikunterricht zum Erfahren der Aspekte des<br />
Variablenbegriffs in der sechsten Klasse im Gymnasium<br />
bzw. siebten Klasse in der Realschule haben. Darüber<br />
hinaus wurden Erkenntnisse vorgestellt, welches weitere<br />
Potential in den Experimenten steckt und welche Schwierigkeiten<br />
beim Experimentieren und bei der Bearbeitung<br />
der Messergebnisse auftreten können. Insbesondere<br />
wurde der Einfluss von Messfehlern auf die Schülerinnen<br />
und Schüler beim Finden des mathematischen Zusammenhangs<br />
thematisiert. Die Ergebnisse der Untersuchung<br />
zeigen, dass physikalische Experimente ein hohes Potential<br />
zum Erlernen des Variablenbegriffs in der sechsten<br />
54 Forum Forschung Mai 2011 <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />
bzw. siebten Klasse haben und gleichzeitig Modellierungskompetenzen<br />
entwickelt werden können. Dazu<br />
ermöglichen sie erste Kontakte mit dem Funktionsbegriff<br />
und dem Konzept der Äquivalenz, die im Anschluss an<br />
die Experimente zusätzlich thematisiert werden können.<br />
Die Schülerinnen und Schüler sind darüber hinaus in der<br />
Lage, beim Finden eines funktionalen Zusammenhangs<br />
Messfehler zu erkennen und zu interpretieren.<br />
Zusammenfassung<br />
Die Erkenntnisse dieser Arbeit erlauben also ein besseres<br />
Verständnis der Konzeption von mathematical literacy,<br />
zeigen Merkmale realisierbaren und sinnvollen fächerübergreifenden<br />
Mathematikunterrichts, geben ein Modell<br />
zur Analyse fächerübergreifenden Unterrichts und<br />
fächerübergreifender Unterrichtsentwürfe und zeigen,<br />
wie physikalische Experimente erfolgreich im Mathematikunterricht<br />
eingesetzt werden können.<br />
Detaillierte Informationen in<br />
❙ Kilpatrick, J.; Swafford, J. & Findell, B. (ed.) Adding<br />
it up: Helping children learn mathematics. National<br />
Academy Press, Washington, 2001.<br />
❙ OECD: Assessing Scientific, Reading and Mathematical<br />
literacy – A framework for PISA 2006, 2006.<br />
❙ Winter, H.: Mathematikunterricht und Allgemeinbildung<br />
Mitteilungen der Gesellschaft für Didaktik der<br />
Mathematik, 1995, 61, S.37 – 46.<br />
❙ Zell, S.: Fächerübergreifende Elemente im Mathematikunterricht<br />
zur Förderung von mathematical literacy<br />
– Untersuchungen zur Bedeutung naturwissenschaftlicher<br />
Kontexte unter besonderer Berücksichtigung<br />
physikalischer Experimente zum Variablenbegriff;<br />
Franzbecker Hildesheim, Berlin, 2010.<br />
Dr. Simon Zell war von 2007 bis 2009 akademischer Mitarbeiter am Institut für Mathematik<br />
und Informatik an der <strong>Pädagogische</strong>n <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong>. Im Juni 2010 schloss er<br />
seine Promotion in Mathematikdidaktik ab. Zurzeit ist er Studienreferendar für das höhere Lehramt<br />
und Lehrbeauftragter an der <strong>Pädagogische</strong>n <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong>.
Promotion ❘ Fächerübergreifende Elemente im Mathematikunterricht zur Förderung von Mathematical literacy<br />
Verein der Freunde<br />
der <strong>Pädagogische</strong>n <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> e.V.<br />
Werden auch Sie Mitglied!<br />
Engagierte Bürgerinnen und Bürger der Stadt und der Region gründeten 1965 den Verein der<br />
Freunde mit dem Ziel, die <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> und ihre Studierenden zufördern, die<br />
Beziehungen zwischen den Bürgern und der <strong>Hochschule</strong> zu vertiefen und sie im Bewusstsein von<br />
Stadtund Region zu verankern.<br />
Förderungsmaßnahmen desFreundeskreises:<br />
Studierendenförderungen:<br />
� Exkursionszuschüsse<br />
� Hellmuth-Lang-Preis für herausragende<br />
wissenschaftliche Arbeiten<br />
� Studentische Veranstaltungen, z. B.<br />
Zeugnisübergabefest, Sportveranstaltungen,<br />
Theateraufführungen<br />
� Fach Musik für Konzerte<br />
� Fach Sport für Ausrüstungen<br />
� Fach Kunst für Ausstellungen<br />
� jährliches Kinderfilmfestival<br />
Beitrittserklärung<br />
<strong>Hochschule</strong>allgemein:<br />
Hiermiterkläre ich meine Mitgliedschaft im Verein<br />
der Freunde der <strong>Pädagogische</strong>n <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> e.V.<br />
� Forschungsprojekte<br />
� Öffentliche Hochschulveranstaltungen<br />
� Austausch mitinternationalen<br />
Partnerhochschulen<br />
� Ausstellungen,Workshops<br />
� Verfügungsfond Rektor<br />
� Seniorenhochschule<br />
Name /Titel ................................................................................. Vorname............................................................<br />
PLZ, Ort .................................................................................. Straße ..............................................................<br />
Unterschrift ......................................................................<br />
Einzugsermächtigung<br />
Hiermitermächtige ich den Verein der Freunde<br />
der <strong>Pädagogische</strong>n <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> e.V., von meinem<br />
Konto Nr. .................................................................................. BLZ ....................................................................<br />
bei derBank .................................................................................. stets widerruflicheinen Jahresbeitrag inHöhe<br />
von .......................................................................... ,– € einzuziehen.*<br />
Ort ................................................................................., den ..............................<br />
Unterschrift ..................................................................................<br />
*jährlicher Mindestbeitrag lt.Satzung 10,– €.Der Beitrag ist steuerlichabsetzbar (wiss. Zwecke).<br />
Senden Sie bitte diese Beitrittserklärung an den Verein der Freunde der PH<strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> e.V.,<br />
Oberbettringerstraße200, 73525 <strong>Schwäbisch</strong><strong>Gmünd</strong><br />
Bankverbindung: KreissparkasseOstalb<br />
Konto 440 059 594 BLZ 614 500 50<br />
<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> Forum Forschung Mai 2011 55
Forum Forschung ❘ Irma-Schmücker-Preis und Hellmuth-Lang-Preis<br />
Irma-Schmücker-Preis und<br />
Hellmuth-Lang-Preis<br />
Jasmin Stiegler<br />
Irma-Schmücker-Preis<br />
Der nach der Gründerin der <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong>er<br />
Volkshochschule benannte Irma-Schmücker-Preis wird<br />
seit 1995 als Auszeichnung für herausragend wissenschaftliche<br />
Arbeiten zur ersten Staatsprüfung vergeben.<br />
Der Preis wurde von der <strong>Pädagogische</strong>n <strong>Hochschule</strong><br />
geschaffen, um die Sichtbarkeit von Frauen im Bildungs-<br />
und Hochschulsystem zu stärken. Gleichzeitig sollen<br />
mit diesem Preis wissenschaftliche Arbeiten gefördert<br />
werden, die sich mit Fragen der Gleichstellung der Geschlechter<br />
sowie mit geschlechtsspezifischen Fragen in<br />
Bildung und Beruf auseinandersetzen.<br />
Preisträgerin 2010 Vanessa Regner mit Dr. Eva Wittneben, Gleichstellungsbeauftragte.<br />
56 Forum Forschung Mai 2011 <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />
Die Gleichstellungsbeauftragte der <strong>Pädagogische</strong>n<br />
<strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong>, Dr. Eva Wittneben,<br />
vergibt jährlich diesen Förderpreis.<br />
Vanessa Regner ist die Preisträgerin des Irma-Schmücker-<br />
Preises 2010. Sie erhielt den Förderpreis für ihre Arbeit<br />
Genderbewusste Behandlung von Kurzgeschichten<br />
im Englischunterricht am Beispiel von Martin Forbes’<br />
»Delilah’s Cat«.
Hellmuth-Lang-Preis<br />
Mit dem Hellmuth-Lang-Preis zeichnet der Verein der<br />
Freunde der <strong>Pädagogische</strong>n <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong><br />
<strong>Gmünd</strong> seit 1985 hervorragende wissenschaftliche Leistungen<br />
von Studierenden aus.<br />
Benannt nach seinem Initiator, dem <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong>er<br />
Geschäftsmann Hellmuth Lang, fördert und unterstützt<br />
der Preis damit das Anliegen einer wissenschaftlichen<br />
<strong>Hochschule</strong>: die enge Verbindung von Forschung und<br />
Lehre.<br />
In den vergangenen 25 Jahren wurden 82 Arbeiten mit<br />
dem Hellmuth-Lang-Preis ausgezeichnet.<br />
Forum Forschung ❘ Irma-Schmücker-Preis und Hellmuth-Lang-Preis<br />
Die Preisträgerinnen und Preisträger 2010 sind:<br />
❙ Kerstin Achtelik und Nicole Kienle: »Das ungewöhnliche<br />
Buch-Erprobung eines neu entwickelten Verfahrens<br />
der Schriftvorerfahrung im ersten Schuljahr«<br />
❙ Martina Litti: »Glanz – Glamour – Glitter eine mehrperspektivische<br />
Betrachtung eines Phänomens im Bereich<br />
Kleidung als Beitrag zum fächerübergreifenden Unterricht<br />
in der Hauptschule«<br />
❙ Mirjam Schön: »Hans Faber. Evangelischer Religionsunterricht<br />
im Nationalsozialismus«<br />
❙ Daniel Walker: »Möglichkeiten bilingualen Unterrichts<br />
– Zum Erwerb geometrischer Begriffe im fremdsprachlichen<br />
Mathematikunterricht«<br />
Die Preisträgerinnen und Preisträger des Hellmuth-Lang-Preises 2010 mit Rektorin Prof. Dr. Astrid Beckmann und Prof. Dr. Josef Lauter, Vorsitzender Verein der Freunde.<br />
<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> Forum Forschung Mai 2011 57
Impressum<br />
Forum Forschung<br />
das Wissenschaftsmagazin<br />
der <strong>Pädagogische</strong>n <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />
Ausgabe 2, Mai 2011<br />
Herausgeber<br />
<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />
Oberbettringer Straße 200<br />
73525 <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />
Telefon (0 71 71) 98 30<br />
Fax (0 71 71) 98 32 12<br />
E-Mail presse@ph-gmuend.de<br />
www.ph-gmuend.de<br />
Redaktion<br />
Prof. Dr. Astrid Beckmann, rektorin@ph-gmuend.de<br />
Prof. Dr. Thorsten Piske, thorsten.piske@ph-gmuend.de<br />
Jasmin Stiegler, jasmin.stiegler@vw.ph-gmuend.de<br />
58 Forum Forschung Mai 2011 <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />
Fotos<br />
<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> und Autoren<br />
Bernhard Ordner<br />
Layout und Herstellung<br />
Ausbildungsbereich Mediengestalter, SDZ. Druck und Medien, Aalen<br />
Auflage<br />
1000<br />
Textabdruck nur mit Zustimmung der Redaktion.