17.11.2012 Aufrufe

Leseverstehen - Pädagogische Hochschule - Schwäbisch Gmünd

Leseverstehen - Pädagogische Hochschule - Schwäbisch Gmünd

Leseverstehen - Pädagogische Hochschule - Schwäbisch Gmünd

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Forum Forschung<br />

das Wissenschaftsmagazin<br />

der <strong>Pädagogische</strong>n <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />

Habilitation<br />

Promotion<br />

Ausgabe 2 ❘ Mai 2011


Inhalt<br />

3 Vorwort<br />

4 Forschung an der<br />

<strong>Pädagogische</strong>n <strong>Hochschule</strong><br />

4 Forschung<br />

6 Habilitation<br />

6 Parlamente von innen verstehen<br />

10 Promotionen<br />

10 Schulgärten in Baden-Württemberg<br />

16 Implizite Angstdiagnostik bei<br />

Grundschulkindern<br />

20 Reales Erleben in virtuellen Welten<br />

24 Bandornamente im Elementarbereich<br />

28 Funktionales Denken in<br />

den baden-württembergischen<br />

Bildungsplänen<br />

34 Dynamische Geometrie-Systeme<br />

in der Hauptschule<br />

38 Multiple externe Repräsentationen<br />

(MERs) und deren Verknüpfung durch<br />

Computer einsatz<br />

42 Verbesserung der Ausbildungsfähigkeit<br />

durch neigungsorientierten Schulsport<br />

an Hauptschulen?<br />

48 Förderung des <strong>Leseverstehen</strong>s<br />

in der Grundschule<br />

52 Fächerübergreifende Elemente im<br />

Mathematikunterricht zur Förderung<br />

von Mathematical literacy<br />

56 Irma-Schmücker-Preis und<br />

Hellmuth-Lang-Preis


Vorwort<br />

Ein immer breiteres Spektrum:<br />

Die PH <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> als moderne bildungswissenschaftliche <strong>Hochschule</strong><br />

Prof. Dr. Astrid Beckmann Rektorin<br />

Vorwort<br />

Die <strong>Pädagogische</strong>n <strong>Hochschule</strong>n sind wohl die deutschen <strong>Hochschule</strong>n, die sich in den letzten Jahrzehnten am<br />

meisten gewandelt haben. Aus den ursprünglichen Lehrerinstituten des 19. Jahrhunderts sind heute moderne bildungswissenschaftliche<br />

<strong>Hochschule</strong>n geworden, in denen neben der Lehrerbildung weitere bildungsbezogene Studiengänge<br />

eine zentrale Rolle spielen. Mit einem Schwerpunkt im Bereich der Bildungsforschung übernehmen sie eine<br />

zentrale Verantwortung für ein Land, in dem Bildung eine der wichtigsten Ressourcen ist.<br />

Die <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> ist ein besonderes Beispiel für einen erfolgreichen und zukunftsweisenden<br />

Weg von der Tradition zur Moderne. In der ältesten Stauferstadt Deutschlands wurde sie als erste PH in<br />

Baden-Württemberg gegründet. Inzwischen ist sie eine <strong>Hochschule</strong> mit Universitätsstatus. Sie hat das Promotions- und<br />

Habilitationsrecht und ist ein Bildungs- und Forschungszentrum, von dem wichtige Impulse in die Region und weit<br />

darüber hinaus ausgehen.<br />

Mit den Forschungsprojekten und Initiativen ihrer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler leistet die PH <strong>Schwäbisch</strong><br />

<strong>Gmünd</strong> einen wichtigen Beitrag zur Erkenntnisgewinnung und gesellschaftlichen Entwicklung. Einer der Schwerpunkte<br />

ist zum Beispiel die Frühe Bildung. Mit Studienanfängerzahlen von jeweils über 100 Studierenden gehört der zugehörige<br />

Bachelor-Studiengang zu den größten in Deutschland. 2010 konnten an der PH <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> hier die<br />

ersten Absolventinnen und Absolventen erfolgreich verabschiedet werden. Die PH <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> engagiert sich<br />

im Regionalverbund Sprachförderung mit der Konzeption und Umsetzung von Sprachförderprogrammen einschließlich<br />

wissenschaftlich begleiteter Sprachstandserhebungen. Sie kooperiert im Projekt »Integration durch Bildung« mit der<br />

Ausbildung von Förderlehrerinnen und –lehrern. Ebenso ist auch die mathematisch-naturwissenschaftlich-technische<br />

Bildung ein zentrales Feld der Forschung, Unterrichtsentwicklung, Konzeption und Umsetzung von Förderprogrammen.<br />

Mit dem Masterstudiengang »Interkulturalität und Integration« und dem Bachelor- und Masterstudiengang Gesundheitsförderung<br />

werden weitere zentrale Problembereiche und Zukunftsfragen unserer Gesellschaft angegangen.<br />

Eine zentrale Aufgabe der PH <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> ist aber auch die fachdidaktische Forschung und Lehre. Hier ist<br />

positiv zu vermerken, dass sich auch bei den politisch Verantwortlichen immer mehr die Erkenntnis durchsetzt, dass<br />

die fachdidaktische Kompetenz ein entscheidender Faktor für einen erfolgreichen Unterricht ist. Erst dadurch kann<br />

eine begriffliche Tiefe und eine dem Fach entsprechende Erkenntnisgewinnung angeregt werden, aber auch eine<br />

angemessene Förderung der Schülerinnen und Schüler unter Beachtung ihrer wachsenden Heterogenität. Es gehört<br />

daher auch zum Konzept der Lehramtsausbildung der PH <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong>, dass die Studierenden schon während<br />

ihres Studiums in fachdidaktische Forschungsfragen und Projekte eingebunden werden.<br />

An der PH <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> ist Forschung meist Drittmittel gefördert. Durch ein entsprechendes Engagement der<br />

Kolleginnen und Kollegen konnten entsprechende finanzielle Förderungen eingeworben und damit Qualifikationsstellen<br />

geschaffen werden. Nachwuchsförderung ist aber auch ein spezielles Anliegen der Hochschulleitung, die regelmäßig<br />

Stellen für Doktorandinnen und Doktoranden aus zentralen Mitteln ausschreibt und Anschubfinanzierung leistet.<br />

Hervorzuheben ist, dass die Anzahl der Doktorandinnen und Doktoranden sich in den letzten drei Jahren verfünfzehnfacht<br />

hat. Eine Auswahl erfolgreicher Dissertationen ist in diesem Sonderheft zu Forum Forschung zusammengefasst.<br />

Das Spektrum reicht von der mathematikdidaktischen Forschung, die den Schwerpunkt dieses ersten Sonderhefts<br />

ausmacht, über soziologische, psychologische Fragestellungen bis hin zu deutsch- und sportdidaktischen Themen. Mit<br />

dem vorliegenden Heft wird die Arbeit unseres wissenschaftlichen Nachwuchses gewürdigt und kommuniziert. Ich<br />

würde mich freuen, wenn es dazu beiträgt, einen weiteren Dialog in der Forschung anzustoßen.<br />

<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> Forum Forschung Mai 2011 3


Forschung<br />

Forschung<br />

4 Forum Forschung Mai 2011 <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />

Fachdidaktik, Fachwissenschaft und viel mehr:<br />

Die Forschung des wissenschaftlichen Nachwuchses an der<br />

<strong>Pädagogische</strong>n <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />

Die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses ist der <strong>Pädagogische</strong>n<br />

<strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> als einer <strong>Hochschule</strong> mit eigenständigem<br />

Promotions- und Habilitationsrecht ein besonderes Anliegen, und so dienen<br />

alle Maßnahmen, die die <strong>Hochschule</strong> zur Forschungsförderung ergreift, vor<br />

allem auch der Unterstützung ihrer Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler.<br />

Besonders positiv hat sich in den letzten Jahren an unserer <strong>Hochschule</strong><br />

die Zahl der Promovierenden und der abgeschlossenen Promotionen<br />

entwickelt. Aktuell arbeiten an der <strong>Pädagogische</strong>n <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong><br />

<strong>Gmünd</strong> 51 Doktorandinnen und Doktoranden aus dem In- und Ausland an<br />

ihren Dissertationen. Für eine mit ca. 2.500 Studierenden vergleichsweise<br />

kleine <strong>Hochschule</strong> ist dies eine erfreulich hohe Zahl, die vor allem durch die<br />

erfolgreiche Einwerbung verschiedenster nationaler und internationaler Drittmittelprojekte,<br />

strukturierter Promotionskollegs und Stipendien möglich geworden<br />

ist.<br />

Das vorliegende Heft von Forum Forschung bietet einen ersten Einblick in<br />

die Vielfalt der Themen, zu denen die Nachwuchswissenschaftlerinnen und<br />

-wissenschaftler der <strong>Pädagogische</strong>n <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> forschen.<br />

Es fasst die Ergebnisse einer Auswahl von Dissertationen und Habilitationsschriften<br />

zusammen, die in den letzten Jahren an unserer <strong>Hochschule</strong> abgeschlossen<br />

worden sind und die Fragestellungen der Mathematikdidaktik, der Didaktik<br />

der Naturwissenschaften, der Sportdidaktik, der Politikwissenschaft und der<br />

Forschung zum Einsatz elektronischer Medien untersucht haben. Neben fachdidaktischen<br />

und fachwissenschaftlichen Fragestellungen, wie sie im aktuellen<br />

Heft von Forum Forschung im Vordergrund stehen, betreffen die Forschungsgebiete<br />

der Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler der <strong>Pädagogische</strong>n<br />

<strong>Hochschule</strong>n auch die Erziehungswissenschaft, die Psychologie, die<br />

Soziologie und die Bereiche der frühkindlichen Bildung, der Gesundheit und<br />

der Interkulturalität. Die Vielfalt der Themen, zu denen geforscht wird, ergibt<br />

sich dabei nicht zuletzt daraus, dass an den <strong>Pädagogische</strong>n <strong>Hochschule</strong>n


Forschung<br />

heute nicht nur Lehramtstudiengänge angeboten werden, sondern dass auch<br />

unterschiedliche Bachelor- und Masterstudiengänge eingerichtet worden sind.<br />

So können an der <strong>Pädagogische</strong>n <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> außer den<br />

Lehramtsstudiengängen die Bachelorstudiengänge »Frühe Bildung« und »Gesundheitsförderung«<br />

sowie die Masterstudiengänge »Bildungswissenschaften«,<br />

»Interkulturalität und Integration« und »Gesundheitsförderung« studiert werden.<br />

Die Bachelor- und Masterstudiengänge greifen demnach hoch aktuelle Themen<br />

wie die Förderung interkultureller Kompetenzen, frühkindlicher Bildung<br />

und Betreuung und die Unterstützung einer gesunden Lebensweise in allen<br />

Lebensabschnitten auf. Gleichzeitig sind sie Gebieten gewidmet, die auch im<br />

Lehramtsstudium eine wichtige Rolle spielen und in denen es einen besonders<br />

hohen Bedarf an qualifiziertem wissenschaftlichen Nachwuchs gibt. Bereits in<br />

diesem Jahr werden an der <strong>Pädagogische</strong>n <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />

eine größere Zahl von Promotions- und Habilitationsverfahren abgeschlossen,<br />

die sich mit Themen wie dem Gesundheitsverhalten von Kindern, Jugendlichen<br />

und Erwachsenen, der frühen Sprachförderung und unterschiedlichen Aspekten<br />

der Interkulturalität und Integration beschäftigen.<br />

Einen aktuellen Überblick über die Forschungsprojekte der <strong>Pädagogische</strong>n<br />

<strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> bietet die Forschungsdatenbank der <strong>Hochschule</strong>,<br />

die über die Webseite http://forschung.ph-gmuend.de/ eingesehen<br />

werden kann. Hier finden sich auch ausführliche Beschreibungen der größeren<br />

Forschungsprojekte, aus denen einige der im vorliegenden Heft von Forum<br />

Forschung vorgestellten Qualifikationsschriften hervorgegangen sind. Wir laden<br />

Sie dazu ein, die Forschungsdatenbank der <strong>Pädagogische</strong>n <strong>Hochschule</strong><br />

<strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> zu nutzen, um sich genauer über die Forschungsaktivitäten<br />

unserer <strong>Hochschule</strong> zu informieren.<br />

Prof. Dr. Thorsten Piske Prorektor für Forschung,<br />

Entwicklung und internationale Beziehungen<br />

<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> Forum Forschung Mai 2011 5


Habilitation ❘ Parlamente von innen verstehen<br />

Parlamente von innen<br />

verstehen<br />

Dr. Helmar Schöne<br />

Abstract: An interior view on legislatures. Misconceptions about the work of legislatures and legislators are still<br />

widely spread. On the empirical basis of participant observation and semi-structured interviews the author analyzes<br />

the everyday life and the informal practices in legislative bodies. This micro-analytical perspective enables one to<br />

draw important conclusions for civic education in both legislatures and educational institutions.<br />

Politikwissenschaftliche Mikroanalyse und Politische Bildung<br />

Nur selten wird in der Öffentlichkeit sichtbar, was in Parlamenten<br />

außerhalb von Plenarsitzungen passiert. Wie<br />

eigentlich sieht die Arbeit von Abgeordneten im Parlament<br />

aus, wenn sie nicht im Plenum sitzen oder dort<br />

reden? Die Beantwortung dieser Frage ist sowohl für die<br />

Politische Bildung als auch für die politikwissenschaftliche<br />

Fachdebatte von Bedeutung.<br />

Für die politische Bildungsarbeit ist eine Antwort wichtig,<br />

weil sich überholte Deutungsmuster über die Arbeitsweise<br />

von Parlamenten mit stupender Beharrlichkeit halten. Zu<br />

den vermeintlichen Gewissheiten über das Funktionieren<br />

der zentralen Institution unseres Regierungssystems gehört<br />

etwa die Vorstellung, die Gewaltenteilung würde zwischen<br />

Exekutive (Regierung) und Legislative (Parlament)<br />

verlaufen – eine Auffassung die auf den Konstitutionalismus<br />

zurückgeht und für präsidentielle Regierungssysteme<br />

wie die USA zutreffend ist, nicht aber für die parlamentarische<br />

Demokratie der Bundesrepublik Deutschland.<br />

Weit verbreitet ist nach wie vor auch die Annahme, die<br />

Abgeordneten würden in ihren Fraktionen unter einem<br />

Zwang stehen, der sicherstellt, dass sie nicht die Fraktionslinie<br />

verlassen. Wie anders als mit Fraktionszwang<br />

könnte es sonst zu erklären sein, dass die Fraktionen in<br />

der Regel geschlossen abstimmen? Wo die Akzeptanz<br />

für ein einheitliches Abstimmungsverhalten der Fraktionen<br />

fehlt, ist auch die Forderung nicht weit, dass sich<br />

die Abgeordneten im Plenum mehr mühen sollten, die<br />

anderen Parlamentarier mit Argumenten zu überzeugen<br />

statt nur vorbereitete Standpunkte zu präsentieren.<br />

6 Forum Forschung Mai 2011 <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />

Bei der Aufklärung über typische öffentliche Fehlverständnisse<br />

gegenüber Parlamenten steht die Politische<br />

Bildungsarbeit vor vielfältigen Herausforderungen. Das<br />

gilt für die schulische Politische Bildung und selbst für<br />

die Bildungsangebote von Parlamenten. In den Schulen<br />

zwingen das geringe Stundenkontingent und die Notwendigkeit<br />

zur didaktischen Reduktion nur allzu oft zu<br />

Vereinfachungen. Im günstigen Fall bleibt es dann bei<br />

der Vermittlung von Überblickswissen, im ungünstigen<br />

Fall werden Missverständnisse tradiert. Mit abstrakten<br />

Schemata, etwa zum Weg eines Gesetzes vom Entwurf<br />

bis zum Beschluss, wie sie im Gemeinschaftskundeunterricht<br />

tausendfach eingesetzt werden, lässt sich kein<br />

tieferes Verständnis für politische Entscheidungsprozesse<br />

herstellen, geschweige denn Wertschätzung für den<br />

Wettbewerb und die Kompromissbildung zwischen unterschiedlichen<br />

politischen Positionen erzeugen.<br />

Reichstagsgebäude – Kuppel.


Auch die parlamentarische Öffentlichkeitsarbeit ist nicht<br />

frei von der Gefahr, Vorurteile über die Arbeit des Parlaments<br />

eher zu verstärken als zu beheben. Wenn nämlich<br />

die Dramaturgie eines Aufenthalts im Parlament auf<br />

einen Besuch des Plenums ausgerichtet ist, bleiben jene<br />

Gremien, in denen die eigentliche parlamentarische Sacharbeit<br />

stattfindet, schnell unbeachtet. Schlimmer noch:<br />

Auf der Tribüne kann sich der Eindruck der Besucher,<br />

den sie vom Parlament immer schon hatten, sogar verstärken,<br />

wenn sie einen leeren Plenarsaal und, je nach<br />

Tagesordnungspunkt, parteipolitischen Streit oder langweilige<br />

Reden erleben, ohne nähere Erläuterungen zum<br />

parlamentarischen Alltag zu erhalten.<br />

Aber auch die Politikwissenschaft, die bei der Analyse<br />

von politischen Institutionen oder von ganzen Regierungssystemen<br />

üblicherweise eine Makroperspektive<br />

einnimmt, hat sich bislang nur selten um das Alltagshandeln<br />

von Abgeordneten in Parlamenten und ihren<br />

Fraktionen gekümmert. Dafür bedarf es einer, bisher<br />

vernachlässigten, mikroanalytischen Perspektive, die<br />

sich den alltäglichen Routinen, den selbstverständlichen<br />

Verhaltensweisen und den informellen Prozessen des<br />

parlamentarischen Geschehens annimmt. Eine solche<br />

Perspektive hilft, die Funktionsweise der Institution Parlament<br />

insgesamt verständlich zu machen und trägt zu zentralen<br />

in der Politikwissenschaft geführten Debatten bei.<br />

Eine solche Debatte kreist beispielsweise um die Frage,<br />

welche Funktion die Ausschüsse für die parlamentarische<br />

Entscheidungsfindung erfüllen. Ist ein Ausschuss ein<br />

Plenum im Kleinformat, in dem nur das Geschehen der<br />

Plenarversammlung, also die Konfrontation unterschiedlicher<br />

Fraktionsstandpunkte, vorweggenommen wird?<br />

Oder wird im Ausschuss über Parteigrenzen hinweg gemeinsam<br />

an Gesetzesvorlagen gearbeitet? Eine andere<br />

Kontroverse bezieht sich auf die Rolle des Bundestages<br />

im Regierungssystem: Ist es richtig, eine »Entparlamentarisierung«<br />

zu konstatieren? Haben die Politikverflechtung<br />

im kooperativen Föderalismus, die Übertragung von<br />

Gesetzgebungskompetenzen auf die EU, die Vorfestlegung<br />

von parlamentarischen Entscheidungen durch die<br />

Parteien sowie die Auslagerung von Entscheidungen in<br />

Expertenkommissionen (z. B. Hartz-Kommission, Rürup-<br />

Kommission) dem Parlament wichtige Entscheidungsmöglichkeiten<br />

entzogen?<br />

Plenarsaal.<br />

Habilitation ❘ Parlamente von innen verstehen<br />

Erstmalig ist es in einem Forschungsprojekt gelungen,<br />

direkte Einblicke in den Alltag aller Fraktions- und Parlamentsgremien,<br />

die üblicherweise hinter verschlossenen<br />

Türen tagen, zu erhalten und empirisch gesicherte Antworten<br />

auf die o. g. Fragen zu finden. An diesem DFGgeförderten<br />

Forschungsprojekt unter der Leitung von Werner<br />

J. Patzelt (Technische Universität Dresden) ist der Autor<br />

beteiligt gewesen. In dem Projekt wurden im Deutschen<br />

Bundestag und im Sächsischen Landtag Gremiensitzungen<br />

mit der Methode der teilnehmenden Beobachtung<br />

begleitet. Die Beobachtungen umfassten 77 verschiedene<br />

Gremiensitzungen mit einer Dauer von 240 Stunden,<br />

aus denen 1150 Seiten Beobachtungsproto kolle entstanden<br />

sind. Außerdem wurden mit 141 Abgeordneten<br />

und anderen parlamentarischen Akteuren (Ministern,<br />

Mitarbeitern) so genannte Leitfaden-Interviews geführt.<br />

Arbeitsteilung und Spezialisierung: Zur Rolle der Arbeitskreise.<br />

»Das Expertenparlament«<br />

oder »Fragmentierte Expertenkultur« sind Begriffe, mit<br />

denen sich die deutschen Parlamente der Gegenwart<br />

zusammenfassend beschreiben lassen. Damit der Bundestag<br />

(bzw. ein Landtag) die Funktionen, die er für das<br />

Regierungssystem erbringt, erfüllen kann, sind die Fraktionen<br />

unabdingbar. Sie sind zum eigentlichen Träger der<br />

Parlamentsfunktionen (gemeinhin geht man von vier aus:<br />

Regierungsbildung und -kontrolle, Gesetzgebung, Kommunikation)<br />

geworden. Wie das Parlament mit seinem<br />

Ausschusssystem und seinen Kommissionen eine arbeitsteilige<br />

Struktur ausgebildet hat, welche die Bearbeitung<br />

einzelner Politikfelder durch jeweilige Experten ermöglicht,<br />

so sichern die Fraktionen durch die Organisation in<br />

Arbeitsgruppen und Arbeitskreisen, die Bündelung von<br />

Sachverstand und die fachliche Detailarbeit.<br />

Diese Arbeitskreise (wie sie hier der Einfachheit halber<br />

genannt werden, auch wenn sie in einigen Fraktionen<br />

AGs heißen) sind, so zeigt sich nun, der eigentliche Nukleus<br />

der parlamentarischen Arbeit. Häufig sind sie nicht<br />

nur der Ausgangspunkt der politischen Willensbildung<br />

in den Fraktionen, sondern auch der Endpunkt. Für ihre<br />

Frakti onen erfüllen sie vor allem drei zentrale Funktionen:<br />

Agenda-Set ting, Entscheidungsfindung und Integration.<br />

Agenda-Setting<br />

Das Agenda-Setting erfolgt von »unten«, indem die fachpolitischen<br />

Experten Informationen, Anregungen und<br />

Wünsche aus ihren Kontakten zu den gesellschaftlichen<br />

Gruppen ihres Fachgebietes sowie aus ihren Wahlkreisen<br />

in die Arbeitskreise tragen. Die Arbeits kreise sind ein Eingangsportal,<br />

durch das Themen aus der Gesellschaft –<br />

über die Netzwerke der Fachpolitiker, durch Gäste in<br />

den Arbeits kreissitzungen, durch Ortstermine oder durch<br />

fraktionsinterne Anhörungen – das Parlament errei chen.<br />

Zugleich erfüllen sie die Funktion eines Filters, mit dem<br />

aus gewählt wird, welche Themen im Parlament weiter<br />

bearbeitet werden. Von »oben«, aus der Frak tionsführung<br />

oder – im Fall von Regierungsfraktionen – aus den Ministerien,<br />

in die Arbeitskreise gelangenden Vorlagen kann<br />

<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> Forum Forschung Mai 2011 7


Habilitation ❘ Parlamente von innen verstehen<br />

eine Behandlung üblicherweise nicht verwehrt werden.<br />

Ohne eine rechtzeitige Befassung der zuständigen Arbeitskreise<br />

können aber auch solche Vorlagen nicht den<br />

Weg durch die Fraktionsgremien an treten.<br />

Entscheidungsfindung<br />

Meistens kommt die Bearbeitung politischer Probleme in<br />

den Arbeitskreisen auch zu ihrem Abschluss. Dort findet<br />

der Groß teil der inhaltlichen Auseinandersetzung<br />

und Prüfung statt, dort werden die Entscheidungen in<br />

der Regel endgültig festgelegt und von der Fraktion, also<br />

im Fraktionsvorstand und der Fraktionsvoll versammlung,<br />

übernommen und nicht mehr in Frage gestellt. Bis die<br />

Fraktionsver sammlung über Vorlagen eines Arbeitskreises<br />

entscheidet, haben sie einen voraus setzungsvollen<br />

Kommunikationsprozess durchlaufen: Innerhalb des zuständigen<br />

Arbeitskreises war eine gemeinsame Position<br />

zu finden, die zudem mit anderen betroffenen Arbeitskreisen<br />

abgestimmt werden musste und in der bereits<br />

mögliche Bedenken aus dem Fraktionsvorstand oder der<br />

Fraktions versammlung antizipie rend Berücksichtigung<br />

gefunden haben. In der Fraktion können in der Regel<br />

nur beschlussfähige Vorlagen mit Zustimmung rechnen,<br />

die vom gesamten Arbeits kreis getragen werden, keine<br />

handwerklichen Mängel auf weisen und nicht gegen die<br />

politische Gesamtlinie der Fraktion verstoßen. Die Folgebereitschaft<br />

der Frakti onsmitglieder beruht auf dem Vertrauen<br />

in die gründli che Arbeit und die Fach kompetenz<br />

der Arbeitskreise – ein wichtiger Baustein für das geschlossene<br />

Auftreten der Fraktionen in den Ausschüssen<br />

und im Plenum.<br />

Parlamentarische Beschlussvorlagen.<br />

Prinzipiell können die Entscheidungen der Arbeitskreise<br />

vom Fraktionsvorstand oder der Fraktion natürlich überstimmt<br />

werden; das ist aber die Ausnahme von der Regel<br />

des parlamentarischen Alltags. Wenn die Fraktionsvorstände<br />

Entscheidungen an sich ziehen, handelt es sich<br />

meist um grundsätzliche oder im Fokus des öffentlichen<br />

Interes ses stehende Themen, für die Kompro misse auf<br />

höchster Entscheidungsebene gefunden werden müssen.<br />

Integration<br />

Schließ lich erfüllen die Arbeitskreise für ihre Fraktionen<br />

eine wichtige Integrationsfunk tion: Sie tragen zur Sozialisation<br />

der Abgeordneten bei, bilden eine soziale<br />

Be zugsgruppe, die den Parlamentariern Halt und Orientierung<br />

in der komplexen Um welt des Parlaments bietet<br />

und sie stellen ein Barometer für Stimmungen und Meinungen<br />

dar. Auch wenn sich die Arbeitskreise auf die<br />

8 Forum Forschung Mai 2011 <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />

Bear beitung der ihnen über tragenen Aufgabenfelder<br />

konzentrieren, so findet in ihnen dennoch politische Meinungsbildung<br />

statt, die über die Fachpolitik hinaus geht.<br />

Das ist besonders der Fall, wenn die eigene Fraktion<br />

bzw. Partei während oder vor einer Sitzungswoche im<br />

Mittelpunkt der Medienberichterstattung stand. Dann<br />

werden in den Arbeits kreisen auch allgemeine tagespolitische<br />

Fragen diskutiert.<br />

Der Funktionslogik parlamentarischer Regierungssysteme<br />

entsprechend, in der die Mehrheitsfraktionen und die<br />

Regierung gemeinsam ihre politischen Ziele zu verwirklichen<br />

suchen, verdienen die Arbeitskreise der Regierungsmehrheit<br />

besondere Aufmerksamkeit. Hier hat sich<br />

gezeigt, dass die Arbeitskreise weit mehr als ein Instrument<br />

der Loyalitätssicherung sind, um die Abgeordne ten<br />

auf den Kurs der Regierung einzuschwören. Von einer<br />

Entparla mentarisie rung, die auf eine einseitige Dominanz<br />

der Regierung über das Parla ment zurück zuführen<br />

ist, kann keine Rede sein. Vielmehr sind die Arbeitskreise<br />

ein zentraler Ort der Koordination der Interessen<br />

von Abgeordneten und Regierungsvertretern. Die enge<br />

Zusammenarbeit erlaubt die politische Einflussnahme in<br />

beide Richtungen: Die Ministerien haben die Möglichkeit,<br />

ihre politi schen Initiativen darzustellen, zu erklären<br />

und ggf. zu rechtfertigen und die Parlamentarier können<br />

das Regierungs handeln kritisieren, be einflussen und mitgestalten.<br />

Der voraussetzungsvolle und schwierige Prozess der<br />

Entscheidungsfindung in den Fraktionen, in den Regierungsfraktionen<br />

noch ergänzt um die aufwändige<br />

Abstimmung zwischen Abgeordneten und Regierungsvertretern,<br />

prägt auch die Arbeit in den Ausschüssen.<br />

Dort wird es die Regierungsmehrheit vermeiden, die in<br />

den eige nen Reihen mühsam hergestellten Kompromisse<br />

noch einmal aufzuschnüren. Das Gegenteil ist der Fall: In<br />

den Ausschusssitzungen setzen die Mehrheitsfraktionen<br />

ihre in den Arbeitskreisen ge troffenen Entscheidungen<br />

um; hier wird nur formal nachvollzo gen, was zuvor in<br />

der Regierungs mehrheit ausgehandelt und entschieden<br />

worden ist. Daher sind die Entscheidungen in den Ausschüs<br />

sen deut scher Parlamente viel we niger ergebnisoffen<br />

und daher wird dort ein viel geringe rer inhaltlicher<br />

Einfluss auf Vorlagen genommen, als es die verbreitete<br />

For mulierung suggeriert, nicht im Plenum, sondern in den<br />

Ausschüssen finde die eigentliche Arbeit der Abgeordneten<br />

statt. Nicht die Ausschüsse bilden also das Zentrum<br />

der fachpoli tischen Ent scheidungsfindung im Parlament,<br />

sondern die Facharbeits kreise der Fraktionen.<br />

Ausschusssitzung.


Schlussfolgerungen für die politische Bildung<br />

In formationen und Darstellungen über die Arbeitsweise<br />

des Parlaments dürfen nicht einseitig auf das Plenum und<br />

die Arbeit der Ausschüsse abstellen (zumal ja der häufig<br />

zu hörende Hinweis, in den Ausschüssen sei alles<br />

ganze anders als im Plenum, nämlich kooperativer und<br />

weniger parteipolitisch geprägt, im Kern nicht richtig ist).<br />

Stattdessen sollte die Arbeit in den Fraktionen stärker in<br />

den Mittelpunkt treten. Bei Parlamentsbesuchen können<br />

Führungen durch das gesamte Parlamentsgebäude mit<br />

einer Erläuterung der Funktion und der Arbeits weise der<br />

in den einzel nen Räumen tagenden Gremien helfen, das<br />

Ver ständnis für die Bedeutung der Fraktionsgremien zu<br />

verbessern. Die Fraktionen könnten über Hospitationsprogramme<br />

für Mittler der Politischen Bil dung an der<br />

Öffentlichkeitsarbeit der Parlamente beteiligt werden,<br />

indem sie beispielsweise ihre Gremien für kleinere<br />

Multiplikatorengruppen öffnen, um Einblicke in ihre Arbeitsweise<br />

zu gewähren. Solche Hospi tationen sollten<br />

idealerweise von einem umrahmenden Fortbildungsprogramm<br />

begleitet werden. Schließ lich müssten die<br />

Informationsmaterialen der Parlamente noch ausführlicher<br />

über die Bedeutung der von außen schwer einzuschätzenden<br />

Arbeit in den Arbeitskrei sen, Fraktionsversammlungen<br />

und Ausschüssen informie ren. Dasselbe gilt<br />

für Schulbücher und Arbeitsmaterialien für Schulen. Für<br />

Schülergruppen sind Planspiele eine geeignete Methode,<br />

um über die Schwierigkeiten aufzuklären, die entstehen,<br />

wenn verschiedene Fachleute und Gremien an<br />

der Lösung eines Prob lems beteiligt sind und individuelle<br />

Präfe renzen zugunsten von Kompromissen aufgegeben<br />

werden müssen. Die Entwicklung von Unterrichtsmaterialien<br />

bzw. Unter richtseinheiten, die der Wirklichkeit der<br />

Alltags arbeit in modernen Parlamenten bestmöglich entsprechen,<br />

bietet noch viel Raum für die Zusammenarbeit<br />

zwischen empirischer Par lamentarismusforschung und<br />

der Fachdidaktik der Politischen Bil dung.<br />

Habilitation ❘ Parlamente von innen verstehen<br />

Literatur<br />

❙ Loewenberg, Gerhard (2007):<br />

Paradoxien des Parlamentarismus: Fehlverständnisse<br />

in Wissenschaft und Öffentlichkeit.<br />

In: Zeitschrift für Parlamentsfragen,<br />

Jg. 38, H. 4, S. 816 – 827.<br />

❙ Oertzen, Jürgen von (2006):<br />

Das Expertenparlament. Abgeordnetenrollen in den<br />

Fach strukturen bundesdeutscher Parlamente.<br />

Baden-Baden: Nomos.<br />

❙ Schöne, Helmar (2004):<br />

Wie das Parlament die Regierung kontrolliert.<br />

Der Sächsische Landtag als Beispiel<br />

(gem. mit Karin Algasinger und Jürgen von Oertzen).<br />

In: Holtmann, Ever hard/Patzelt, Werner J.(Hrsg.):<br />

Kampf der Gewalten. Parlamentari sche Regierungskontrolle<br />

– gouvernementale Parlamentskon trolle.<br />

Theorie und Empi rie.<br />

Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften,<br />

S. 107 – 147.<br />

❙ Schöne, Helmar (2005):<br />

So arbeitet der Sächsische Landtag, 4. Wahlperi ode.<br />

Rheinbreitbach: Neue Darmstädter Verlagsanstalt<br />

(gem. mit Karin Algasinger und Thomas Gey).<br />

❙ Schöne, Helmar (2008):<br />

Teilnehmende Beobachtung.<br />

In: Schnapp, Kai-Uwe/Nathalie Behnke/Joachim<br />

Behnke (Hrsg.): Datenwelten. Datenerhebung und<br />

Datenbestände in der Politikwissenschaft.<br />

Baden-Baden: Nomos, S. 22 – 48.<br />

❙ Schöne, Helmar (2010):<br />

Alltag im Parlament. Parlamentskultur in Theorie und<br />

Empirie.<br />

Baden-Baden: Nomos.<br />

❙ Schüttemeyer, Suzanne S. (2007):<br />

Modewort oder Alarmsignal? Befunde und Überlegungen<br />

zur Entparlamentarisierung.<br />

In: Patzelt, Werner J./Sebaldt, Martin/Kranenpohl,<br />

Uwe (Hrsg.): Res publica semper reformanda.<br />

Wissenschaft und politische Bildung im Dienste des<br />

Gemeinwohls.<br />

Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften,<br />

S. 240 – 253.<br />

Dr. Helmar Schöne ist Privatdozent und Akademischer Mitarbeiter an der <strong>Pädagogische</strong>n<br />

<strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong>. Hier hat er im Jahr 2009 mit seiner Arbeit »Alltag im Parlament«<br />

die venia legendi für Politikwissenschaft erworben.<br />

<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> Forum Forschung Mai 2011 9


Promotion ❘ Schulgärten in Baden-Württemberg<br />

Schulgärten in<br />

Baden-Württemberg<br />

Dr. Dipl. Päd. Jeanette Maria Alisch<br />

Schulgärten in Baden-Württemberg unter Berücksichtigung struktureller, organisatorischer und<br />

personeller Einflussfaktoren: eine landesweite, empirische Untersuchung – Auszüge aus der Dissertation<br />

und Ausblick<br />

Arbeitsgruppe: Prof. Dr. Friedrich Bay, PH <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />

Zweitgutachter: Prof. Dr. Hansjörg Seybold, PH <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />

Abstract: Children and teenagers do not only learn in classrooms, but also in other parts of their schools. The<br />

purpose of this dissertation is to emphasize the role and the functions of the school-gardens for pupils and teachers<br />

during their school life. The work of the teachers, which is essential to the existence of school-gardens, is analysed<br />

in the context of environmental education. The results of this dissertation are based on a statewide survey conducted<br />

in schools located in the state of the Baden-Württemberg (Southwest Germany) and on a second level study of<br />

teachers working regularly with these school-gardens.<br />

Zu den Intentionen und zur Methode der Untersuchungen<br />

An guter Literatur zur Schulgartenarbeit und deren Geschichte<br />

sowie zur Anlage von Biotopen herrscht derzeit<br />

kein Mangel (z.B. Winkel 1997, Birkenbeil 1999,<br />

Birkenbeil/ Ehrentreich/ Molitor 1998, Haase 2003,<br />

u.a.). Wie sich die Schulgartenbewegung entwickelt,<br />

wurde allerdings erstmals im Jahre 1989 vom Arbeitskreis<br />

Schulgärten NRW in großem Stile untersucht. Bei<br />

dieser ersten flächendeckenden Erhebung wurden an<br />

6994 befragten Schulen 1751 Schulgärten bzw. naturnahe<br />

Schulgelände an Schulen in Nordrhein-Westfalen<br />

ermittelt. Somit hatten mindestens 25 % aller Schulen einen<br />

Schulgartenbezug (vgl. Alisch u.a. 2005, S.7 ff).<br />

Außerhalb von Baden-Württemberg wurden seit dem<br />

Jahr 2000 folgende Befragungen (vgl. Tab.1) durchgeführt<br />

und veröffentlicht.<br />

Diese landesweite Untersuchung im Flächenstaat Baden-<br />

Württemberg ist die erste in dem Bundesland und hatte<br />

vor allem zum Ziel, eine Übersicht zum »Status quo«<br />

der Schulgärten an allen allgemein bildenden Schulen<br />

10 Forum Forschung Mai 2011 <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />

und Schularten, bis zur 10. Klasse, zu ermöglichen<br />

(n= 4305). Sie sollte Antworten auf Fragen zur Verbreitung<br />

der Schulgärten, Trägerschaft und Lage der Schule,<br />

zu Größe und Gestaltung des Schulgeländes und zu<br />

seiner Nutzung im und außerhalb des Unterrichts liefern.<br />

Als Methode der Untersuchung wurde die Befragung per<br />

Fragbogen gewählt. Die Auswertung des schriftlichen<br />

Rücklaufs ergab, dass 703 Schulen sicher über einen<br />

Schulgarten verfügen, 844 Schulen dagegen keinen<br />

Schulgarten haben. Eine telefonische Nachbefragung<br />

bei Schulen, die nicht geantwortet hatten, ermöglichte<br />

eine statistisch gesicherte Hochrechnung: Im Schuljahr<br />

2003/04 gab es an rund 1700 Schulen Schulgärten<br />

bzw. Biotope; das entspricht 39,5 % der allgemein bildenden<br />

Schulen.<br />

An den übrigen 2605 Schulen (60,5 %) war kein<br />

Schulgarten vorhanden bzw. wurden keine Biotope betreut.


Bundesland Autoren Schularten Rücklauf<br />

Nordrhein-Westfalen Müller/Müller 2003<br />

Niedersachsen<br />

Sachsen<br />

Klingenberg/<br />

Rauhaus 2005<br />

Arndt 2003;<br />

Stampe/Arndt 2004<br />

Insgesamt hatte die landesweite Befragung gezeigt,<br />

dass es vor allem das Engagement einzelner Lehrkräfte<br />

ist, welche die Schulgartenarbeit an den Schulen<br />

erhält. Der landesweiten Untersuchung folgte also eine<br />

Nachbefragung, bei den Lehrkräften, die eine regelmäßige<br />

Schulgartenarbeit zurückgemeldet hatten (n=89).<br />

Außerdem wurden die Waldorfschulen (n=42) befragt,<br />

da diese über ausgebildete Schulgartenlehrkräfte verfügen.<br />

Alle Lehrkräfte wurden nach Zielen und Problemen<br />

bei der Schulgartenarbeit, sowie nach persönlichen<br />

Bedingungen, z.B. ihre Einstellung zur Umweltbildung,<br />

gefragt, um herauszufinden, welche Faktoren förderlich<br />

bzw. hemmend für Schulgartenarbeit sind. Auch interessierte,<br />

welche Funktionen die Schulgärten im Schulalltag<br />

erfüllen und wie sie das Schulleben für alle Beteiligten<br />

bereichern.<br />

Für die Nachbefragung zum Bereich der Umweltbildung<br />

wurden Teile des Fragebogens aus der Untersuchung<br />

Hauptschulen, Realschulen,<br />

Gymnasien, Gesamtschulen<br />

Grundschulen, weiterführende<br />

Schulen<br />

Vorwiegend Grundschulen,<br />

Förderschulen<br />

Schleswig-Holstein Schilke u.a. 2004 Grundschulen, Förderschulen<br />

Tab. 1: Übersicht über Erhebungen der Schulgartensituation seit 2000 (vgl. Alisch u.a. 2005, S. 8).<br />

Schulart<br />

Promotion ❘ Schulgärten in Baden-Württemberg<br />

Antworten von 241 Schulen in<br />

ausgewählten Städten<br />

Geringe Stichprobenzahl;<br />

Schulen im Raum Braunschweig<br />

Antworten von 435 Schulen in<br />

Sachsen<br />

Antworten von 379 Schulen in<br />

Schleswig-Holstein<br />

von Eulefeld/ Bolscho/ Rost/ Seybold (1988) benutzt<br />

und es wurden Fragen zu den folgenden drei Faktoren<br />

im Zusammenhang zur Schulgartenarbeit konzipiert (vgl.<br />

Alisch 2008, S.34 f):<br />

❙ strukturelle Faktoren: z.B. landschaftliche<br />

Gegebenheiten, Schulsystem etc.<br />

❙ organisatorische Faktoren: z.B. Arbeitsplan,<br />

Kooperationen mit anderen, etc.<br />

❙ personelle Faktoren: z.B. Fortbildung und Erfahrungen<br />

der Lehrkräfte zur Schulgartenarbeit, etc.<br />

Der Rücklauf: die Schulgärten an den verschiedenen<br />

Schularten<br />

Die landesweite Erhebung machte deutlich, dass sich<br />

das Schulwesen in Baden-Württemberg sehr differenziert<br />

darstellt und die Existenz von Schulgärten bei den verschiedenen<br />

Schularten deutliche Unterschiede aufweist.<br />

Von den 1547 Schulen, die schriftlich zurückgemeldet<br />

mit Schulgärten<br />

Anzahl Anteil<br />

Rücklauf<br />

(n)<br />

Grundschulen (GS) 221 43,8 % 505<br />

Grund-Hauptschulen z. T. mit Werkrealschule (GHS) 162 44,1 % 367<br />

Grund-Haupt-Realschulen (GHRS) 7 53,8 % 13<br />

Sonder- und Förderschulen (SOS, FÖS) 140 58,6 % 239<br />

Hauptschulen, z.T. mit Werkrealschule (HS,HWRS) 14 31,8 % 44<br />

Haupt-Realschulen (HRS) 3 25,0 % 12<br />

Realschulen (RS) 62 41,1 % 151<br />

Gymnasien 71 38,6 % 184<br />

Waldorfschulen 16 100,0 % 16<br />

Gesamtschulen 3 100,0 % 3<br />

Sonstiges 4 30,8 % 13<br />

Gesamt 703 45,4 % 1547<br />

Tab. 2: Anteil der Schularten mit Schulgärten bzw. Schulgartenelementen (vgl. Alisch 2008, S.39).<br />

<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> Forum Forschung Mai 2011 11


Promotion ❘ Schulgärten in Baden-Württemberg<br />

haben, nimmt die »reine« Grundschule (GS), als Schulart,<br />

mit 505 Antworten einen Spitzenplatz ein.<br />

In der Schulart »Grundschule« werden die Schulgärten<br />

vorwiegend im Fach Heimat- und Sachunterricht, im<br />

Bildungsplan von 2004 im Fach Mensch, Natur und<br />

Kultur, genutzt. In den weiterführenden Schularten ist es<br />

vor allem das Fach Biologie und Fächerverbünde mit<br />

Biologie, in denen der Schulgarten eine wichtige Rolle<br />

spielt. Die Einbindung des Schulgartens in eine AG ist<br />

dabei die am häufigsten genannte Organisationsform.<br />

Hier wurde deutlich, dass das eigenständige Gestalten<br />

und Arbeiten einer Schulgarten-Arbeitsgemeinschaft<br />

(AG) unabhängig von der Bindung an die Lehrpläne der<br />

Fächer sehr verbreitet ist.<br />

Funktionen der Schulgärten im Schulleben<br />

Schulgärten und Schulgelände werden allgemein in der<br />

Fachdidaktik Biologie als Lernorte eingestuft, deren Bedeutung<br />

unmittelbar nach den Fachräumen rangiert (vgl.<br />

Eschenhagen/ Kattmann/ Rodi 2006, S. 404 – 413).<br />

Je nach Intentionen der Lehrkräfte, die Schulgartenarbeit<br />

betreiben, und der Einbindung des naturnahen Areals im<br />

Schulgelände, unterscheiden sich die Schulgärten voneinander<br />

und können im Lernprozess sehr unterschiedliche<br />

Aufgaben erfüllen: Schulgärten ….<br />

❙ fördern durch Eigentätigkeit, unter körperlichem Einsatz<br />

Abb. 1: Funktionen von Schulgarten und naturnah gestaltetem Schulgelände (vgl. Alisch u.a. 2005, S. 22).<br />

12 Forum Forschung Mai 2011 <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />

und Bewegung intensives, ganzheitliches und nachhaltiges<br />

Lernen.<br />

❙ bieten Möglichkeiten zur Vermittlung von Traditionen<br />

und Werten.<br />

❙ sind Freiräume zur Rekreation der Schülerinnen und<br />

Schüler vom Schulalltag.<br />

❙ können als Teil umfassender Konzeptionen zur Umweltbildung<br />

betrachtet werden.<br />

❙ könnten im Zuge der Einrichtung von Ganztagesschulen<br />

eine bedeutsame Rolle spielen.<br />

Nach der Befragung der Lehrkräfte, die sich regelmäßig<br />

mit ihren Schülerinnen und Schülern im Schulgarten aufhalten<br />

und darin arbeiten, erfüllen Schulgärten folgende<br />

Aufgaben:<br />

Diese Ergebnisse zeigen, dass der Schulgarten und das<br />

naturnah gestaltete Schulgelände eine wichtige Rolle im<br />

internen Schulleben sowie bei außerschulischen Veranstaltungen<br />

spielen.<br />

Ziele und Probleme der Lehrkräfte bei der regelmäßigen<br />

Schulgartenarbeit<br />

Nach Lehnert (vgl. 2006, S.406) soll der Kompetenzerwerb<br />

im Schulgarten folgende Ziele umfassen:<br />

❙ Verantwortung übernehmen<br />

❙ Die Folgen eigenen Tuns abschätzen<br />

❙ Im Sinne nachhaltiger<br />

Entwicklung handeln<br />

❙ Zeit erfahren und zunehmend<br />

größere Zeiträume<br />

überblicken<br />

❙ Ausdauer erwerben<br />

❙ Mit anderen zusammen<br />

arbeiten<br />

❙ Kulturtechniken anwenden<br />

❙ Nutz- und Zierpflanzen<br />

kultivieren<br />

❙ Biologische Vielfalt kennen<br />

lernen<br />

❙ Stoffkreisläufe und biologischeGesetzmäßigkeiten<br />

aufdecken.«<br />

Bei der Befragung der<br />

Lehrkräfte, die regelmäßig


Schulgartenarbeit betreiben, bestätigen sich die von Lehnert<br />

(2006) genannten Ziele:<br />

Das wichtigste Ziel der Lehrkräfte ist es laut ihren Angaben,<br />

dass die Schülerinnen und Schüler lernen, Verantwortung<br />

für den Garten und für ihr Handeln zu übernehmen.<br />

Als zweitwichtigstes Ziel gaben die Befragten<br />

an, dass die Schülerinnen und Schüler durch die Schulgartenarbeit<br />

die Möglichkeit haben, den Lernort Natur<br />

bewusst zu erfahren, mit vielen Sinnen Naturprozesse<br />

zu erkennen und die Inhalte zu lernen. An dritter Stelle<br />

nannten sie das Erlernen von Kulturtechniken zur Erzeugung<br />

von Nahrungsmitteln, an vierter Stelle waren ihnen<br />

soziale und integrative Ziele, an fünfter Stelle das Erfassen<br />

der Artenvielfalt wichtig. Insgesamt empfinden die<br />

Lehrkräfte, die regelmäßig den Schulgarten als Lehr- und<br />

Lernort nutzen, bei ihrer Schulgartenarbeit dieselben Ziele<br />

als wichtig und handeln vor allem wertorientiert.<br />

Allerdings ist auch Schulgartenarbeit – wie alles menschliche<br />

Tun – geprägt von Erfolgen und Misserfolgen, welche<br />

z.B. durch ungünstige Witterungsverhältnisse oder<br />

biologische Ungelegenheiten, wie Schädlinge verursacht<br />

werden. Laut Aussage der Lehrkräfte behindern manche<br />

strukturelle Faktoren die Schulgartenarbeit oder führen<br />

zur Aufgabe bestehender Schulgärten bzw. sind Gründe<br />

dafür, dass kein Schulgarten existiert, wie z.B. die Stundentafel,<br />

zuwenig Zeit und geringe Verankerung/Legitimation<br />

der Schulgartenarbeit im Bildungsplan. Organisatorische<br />

Probleme, z.B. fehlende Kooperation mit Ämtern,<br />

Kolleginnen und Kollegen und Eltern sowie fehlende methodische<br />

Kenntnisse wurden außerdem genannt.<br />

Umweltbildung und Schulgartenarbeit<br />

Fragen zur Erhaltung unserer Umwelt und zu einer nachhaltigen<br />

Entwicklung verlangen, dass sich viele Lehrerinnen<br />

und Lehrer mit ökologischen Grundproblemen auseinandersetzen,<br />

um bei ihren Schülerinnen und Schülern<br />

umweltbewusstes Denken und Handeln zu fördern. Deshalb<br />

wurden in der Nachbefragung die persönlichen<br />

Einstellungen der Lehrkräfte (n=89), zur Umweltbildung<br />

untersucht. Außerdem sollten sie die Lage der Umweltbildung<br />

an ihren Schulen einschätzen. Dazu wurden u.a. folgende<br />

Bereiche analysiert (vgl. Alisch 2008, S. 122 ff.):<br />

❙ Status der Umweltbildung an der Schule<br />

❙ Kooperation mit Kolleginnen und Kollegen<br />

❙ Bildungsplanpräsenz der Umweltbildung<br />

❙ Unterrichtsfächer und Umweltbildung<br />

Promotion ❘ Schulgärten in Baden-Württemberg<br />

❙ Zeitvorstellungen zur Durchführung der Umweltbildung<br />

Die Ergebnisse zeigten allgemein, dass die 89 Lehrkräfte,<br />

die regelmäßige Schulgartenarbeit betreiben, nahezu<br />

einstimmig positiv zur Umweltbildung eingestellt sind und<br />

diese auch umsetzen. Im Großen und Ganzen fühlen<br />

sie sich an ihren Schulen hinsichtlich ihres Bestrebens,<br />

Umweltbildung zu betreiben durch Kolleginnen und<br />

Kollegen sowie zum großen Teil durch die Schulleitung<br />

unterstützt. Für die schulische Bildung für nachhaltige Entwicklung<br />

ist es wünschenswert, dass diese, als gelungen<br />

beschriebene Umweltbildung im Zusammenhang mit der<br />

Schulgartenarbeit, einen noch größeren Raum im Schulleben,<br />

z. B. in der sich ausweitenden Ganztagesbetreuung,<br />

einnimmt.<br />

Anstehende Nacherhebungen: Schulgartenarbeit<br />

und Ganztagesschulen<br />

Mit dem Bildungsplan von 2004, seinen größeren<br />

Freiheiten für die Lehrkräfte, und seiner Forderung nach<br />

einem stärker handlungsorientierten Lernen sowie der<br />

Ausweitung der Ganztagsangebote, ergeben sich mehr<br />

schulische Möglichkeiten für eine stärkere Einbindung<br />

des Schulgartens und des naturnah gestalteten Schulgeländes<br />

in das Schulleben. Auch die Bedeutung von Naturerziehung<br />

im naturnahen Schulgelände – das »Grüne<br />

Klassenzimmer« leistet nachweislich einen positiven Beitrag<br />

zur Bildung für eine nachhaltige Entwicklung, für<br />

die Behaltensleistung wissenschaftlicher Fachbegriffe<br />

sowie für die positive Natureinstellung (Haase 2008,<br />

S.26 – 29) – ein verstärktes schulpolitisches Interesse<br />

am »bewegungsfreundlichen Schulgelände« sowie die<br />

Entwicklung ansprechender lehrreicher Ganztagesangebote<br />

im Zuge neuerer Schulplanungen, waren und sind<br />

Anlässe, sich mit dem Schulgelände und dem Schulgarten,<br />

und deren Möglichkeiten zu beschäftigen.<br />

Wie die Schulgartenarbeit im Zusammenhang zu den<br />

Ganztagesschulen und nach den Jahren der Umstrukturierung<br />

durch den Bildungsplan von 2004 aussieht und<br />

welchen Stellenwert sie derzeit im Schulleben hat, soll<br />

durch weitere Untersuchungen ermittelt werden. Die derzeitige<br />

Entwicklung der Schulgartenarbeit im Zusammenhang<br />

zu den drei Einflussfaktoren und im Zusammenhang<br />

zur Umweltbildung/ Bildung für nachhaltige Entwicklung<br />

soll außerdem evaluiert, analysiert und mit vorhandenen<br />

Daten verglichen werden.<br />

<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> Forum Forschung Mai 2011 13


Promotion ❘ Schulgärten in Baden-Württemberg<br />

Literatur<br />

❙ Alisch, J. u.a. (2005): »Schulgärten und naturnah<br />

gestaltetes Schulgelände in Baden-Württemberg –<br />

eine empirische Untersuchung«<br />

In: Köhler, H. und Lehnert, H. (Hrsg.) (2005):<br />

»Schulgelände zum Leben und Lernen«, Karlsruher<br />

pädagogische Studien 4, Karlsruhe<br />

❙ Alisch, J. (2008): »Schulgärten in Baden-Württemberg<br />

– unter Berücksichtigung struktureller, organisatorischer<br />

und personeller Einflussfaktoren – eine landesweite<br />

empirische Untersuchung«, Pro-Business-Verlag, Berlin<br />

❙ Birkenbeil, H./ Ehrentreich, M./ Molitor, W.<br />

(1998): »Gärtnern macht Schule. Ein Leitfaden für<br />

Schulgärten«, Ministerium Ländlicher Raum Baden-<br />

Württemberg / Ministerium für Kultus, Jugend und<br />

Sport Baden-Württemberg, Stuttgart<br />

❙ Birkenbeil, H. (Hrsg.) (1999): »Schulgärten:<br />

planen und anlegen, erleben und erkunden,<br />

fächerverbindend nutzen«, Ulmer Verlag, Stuttgart<br />

❙ Eschenhagen, D./ Kattmann, U./ Rodi, D. (2006):<br />

»Fachdidaktik Biologie«, Aulis Verlag Deubner, Köln<br />

Dr. Jeanette Maria Alisch ist Diplompädagogin und ausgebildete Realschullehrerin. Sie<br />

lehrt seit 2001 an der <strong>Pädagogische</strong>n <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> im Fach Biologie und seit<br />

2010 in der Frühen Bildung. Am Staatlichen Seminar für Didaktik und Lehrerbildung (Realschulen)<br />

in <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> ist sie seit 2007 tätig. Dort ist sie Fachleiterin und betreut Realschullehreranwärter/innen<br />

in den Fächern Bildende Kunst und Biologie.<br />

14 Forum Forschung Mai 2011 <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />

❙ Eulefeld, G./ Bolscho, D./ Rost J./ Seybold<br />

H. (1988): »Praxis der Umwelterziehung in der<br />

Bundesrepublik Deutschland«, IPN 115, Kiel<br />

❙ Haase, H.-M. (2003) »Wordrangers: Ein<br />

pädagogischer Beitrag für die nachhaltige<br />

Entwicklung«, Verlag Dr. Kova, <strong>Pädagogische</strong><br />

<strong>Hochschule</strong> Ludwigsburg<br />

❙ Haase, H.-M. (2008): »Nachhaltige Entwicklung –<br />

Die Bedeutung des Grünen Klassenzimmers für eine<br />

nachhaltige Entwicklung. Ein Kooperationsprojekt<br />

zwischen der PH <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> und der<br />

Universität Ulm.«<br />

In: Forum Forschung (März 2008), <strong>Pädagogische</strong><br />

<strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />

❙ Lehnert, H.-J. (2006): »Schulgelände und<br />

Schulgarten« In: Eschenhagen, D. / Kattmann,<br />

U. / Rodi, D. (2006): »Fachdidaktik Biologie«,<br />

Aulis Verlag Deubner, Köln, S. 404 – 413<br />

❙ Winkel, G. (Hrsg.) (1997): »Das Schulgarten –<br />

Handbuch«, Kallmeyer-Verlag, Seelze – Velber


Hochschulgarten der PH <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong>.<br />

Promotion ❘ Schulgärten in Baden-Württemberg<br />

<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> Forum Forschung Mai 2011 15


Promotion ❘ Implizite Angstdiagnostik bei Grundschulkindern<br />

Implizite Angstdiagnostik bei<br />

Grundschulkindern<br />

Dr. Uwe Heim-Dreger<br />

Arbeitsgruppe: Prof. Dr. Carl-Walter Kohlmann, PH <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />

Zweitgutachter: Prof. Dr. Boris Egloff, Universität Leipzig<br />

Abstract: Is it possible to measure fear in individuals without asking them directly? The methods used for implicit<br />

angst diagnosis achieve exactly this by examining angst-induced changes in automatic information processing. The<br />

volume of the changes permits conclusions about the intensity of the angst. Up to now, studies in implicit diagnostics<br />

were largely carried out in adults; research involving children has been rare. In the thesis at hand, two established<br />

methods of implicit angst diagnosis – the Emotion Stroop Test and the Dot-Probe Test – were adapted for their use<br />

with primary school children and were put in relation to subjective, behavioral-expressive and physiological angst<br />

indicators in school teaching.<br />

The results of the study prove that implicit procedures predict changes of a behavioural-expressive nature as well as<br />

physiological parameters and are thereby able to extend the possibilities of angst diagnosis in children.<br />

Die Arbeit widmet sich einem besseren Verständnis der<br />

Angst von Grundschulkindern in schulischen Leistungssituationen.<br />

Angst wird dabei als eine Emotion aufgefasst,<br />

an deren Entstehung und Regulierung verschiedene Prozesse<br />

zu berücksichtigen sind.<br />

Kognitive Angsttheorien<br />

Die Zuwendung zu bedrohlichen Aspekten einer Situation<br />

scheint für ängstliche Menschen charakteristisch.<br />

Bedrohungsorientierung wird in neueren kognitiven<br />

Theorien zur Angst und Angstbewältigung (Eysenck,<br />

Derakshan, Santos & Calvo, 2007) als automatisch ablaufender<br />

Prozess aufgefasst (kaum regulierbar, vollzieht<br />

sich schnell), der im Gegensatz zur kontrollierten Verarbeitung<br />

(folgt einem Plan, einer Strategie, verläuft langsam)<br />

kaum über Befragungen bestimmt werden kann.<br />

Zur Diagnostik angstbezogener kognitiver Prozesse sind<br />

Verfahren zu sogenannten Interferenzeffekten und zur selektiven<br />

Aufmerksamkeitsausrichtung entwickelt worden.<br />

Über das Ausmaß der Leistungsbeeinträchtigung bei<br />

16 Forum Forschung Mai 2011 <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />

spezifischen Interferenztests oder die Aufmerksamkeitsbindung<br />

auf bedrohliche Reizmerkmale lässt sich bei<br />

experimentellen diagnostischen Verfahren die Intensität<br />

der aktuellen oder dispositionellen Angst indirekt über<br />

ihre Effekte erschließen. Da nicht – wie etwa bei einem<br />

klinischen Interview oder einem Fragebogen – explizit<br />

nach angstbezogenen Erlebnisinhalten oder Verhaltensweisen<br />

als empirischen Indikatoren des Konstruktes<br />

Angst gefragt wird, sondern aufgrund angenommener<br />

Wirkungen in hergestellten experimentellen Situationen<br />

auf die Angst geschlossen wird, spricht man von impliziten<br />

Verfahren der Angstdiagnostik.<br />

Untersuchungsdesign<br />

Zur Analyse der Angst in der Grundschule wurde eine<br />

Unterrichtssequenz gewählt, die üblicherweise im<br />

Unterrichtsalltag vorkommt, die potenziell selbstwertbedrohlich<br />

ist und deren Ablauf für alle Teilnehmer<br />

annähernd gleich gestaltet werden kann: die Präsentation<br />

der Lösung einer Mathematikaufgabe an der Tafel.


Mörder Unfall Tod Waffe Tod<br />

Unfall Mörder Waff f e Räuber Unfall<br />

Mörder äuber Tod Unfall Räuber<br />

Waffe Mörder Räuber Tod Waffe<br />

Abbildung 1: Tafeln des Emotionalen Stroop-Tests.<br />

In Studie 1 wurden die Kinder während ihrer Präsentation<br />

gefilmt und die Videos auf Angstsignale ausgewertet.<br />

In Studie 2 wurde bei einer ähnlichen Aufgabe mit der<br />

Herzfrequenz eine physiologische Reaktion der Kinder<br />

aufgezeichnet. Bereits vorher bearbeiteten die Schüler<br />

Fragebogen zur Ängstlichkeit sowie Kinderversionen des<br />

Emotionalen Stroop-Tests (vgl. Kohlmann, Eschenbeck &<br />

Heim-Dreger, 2008) und des Dot-Probe-Tests (vgl. Heim-<br />

Dreger, Kohlmann, Eschenbeck & Burkhardt, 2006) als<br />

implizite Verfahren zur experimentellen Angstdiagnostik.<br />

Beide Methoden wurden bei Kindern bisher nur sehr wenig<br />

verwendet.<br />

Der Emotionale Stroop-Test für Kinder<br />

Bei den impliziten Verfahren werden durch Angst ausgelöste<br />

Veränderungen automatisierter Informationsverarbeitungsprozesse<br />

analysiert. Dabei wird angenommen,<br />

dass die Prozesse umso stärker gestört werden,<br />

je schlechter die Angstregulation gelingt. Dies soll am<br />

Beispiel des Emotionalen Stroop-Tests für Kinder (Eschenbeck,<br />

Kohlmann, Heim-Dreger, Koller & Leser, 2004)<br />

verdeutlicht werden.<br />

Der emotionale Stroop-Test in dieser Studie besteht aus<br />

zwei Tafeln im DIN-A4-Format, auf die jeweils 20 Wörter<br />

in unterschiedlichen Farben gedruckt sind (siehe Abbildung<br />

1). Die Aufgabe der Teilnehmer ist es, die Druckfarbe<br />

der Wörter so rasch wie möglich zu benennen<br />

und den Inhalt nicht zu beachten. Dabei wird die Zeit<br />

gestoppt, die die Kinder für das Benennen der Farben<br />

benötigen. Auf einer Tafel sind Wörter mit bedrohlichem<br />

Inhalt (Mörder, Unfall, Tod, usw.), auf der anderen Tafel<br />

neutrale Wörter (Maler, Bild, Tasse, usw.). Obwohl die<br />

Aufgabe für beide Tafeln gleich ist, benötigten die Kinder<br />

für die Tafel mit den bedrohlichen Wörtern im Durchschnitt<br />

27,0 s, während sie die Druckfarbe der neutralen<br />

Wörter in durchschnittlich 24,8 s benannten (Differenz:<br />

2,2 s). Durch die Differenzbildung werden generelle Unterschiede<br />

in der Verarbeitungsgeschwindigkeit kontrolliert.<br />

Entscheidend ist, dass der emotionale Stroop-Effekt<br />

ja nach Individuum sehr unterschiedlich ausgeprägt ist.<br />

Einige Kinder lassen sich durch bedrohliches Material<br />

kaum beeinflussen (keine oder geringe Differenz), während<br />

andere Kinder sehr starke emotionale Stroop-Effekte<br />

zeigen. Je länger die Bearbeitungszeit der bedrohlichen<br />

Promotion ❘ Implizite Angstdiagnostik bei Grundschulkindern<br />

Maler Bild Tasse Bild Tasse<br />

Teller Maler Zimmer Tasse Bild<br />

Maler Zimmer Maler Teller Tasse<br />

Zimmer Teller Bild Zimmer Teller<br />

im Vergleich zu den neutralen Wörtern ist, desto stärker<br />

werden die Kinder durch die Anwesenheit bedrohlicher<br />

Reize in ihrer Aufgabenerledigung (hier: Farben benennen)<br />

gestört. Aus dem Grad der Störbarkeit wird somit<br />

auf das Ausmaß der automatisierten Kontrollprozesse<br />

(hier: Bedrohungszuwendung) geschlossen. Der Forschungsansatz<br />

basiert auf der Informationsverarbeitung.<br />

Durch die Anwesenheit bedrohlicher Stimuli werden Verarbeitungskapazitäten<br />

gebunden, die für die eigentliche<br />

Aufgabe nicht mehr zur Verfügung stehen.<br />

Verhaltensmaßen und ihre Zusammenhänge mit<br />

expliziten und impliziten Methoden der Angstdiagnostik<br />

Bisher wurden die Ergebnisse der impliziten Methoden<br />

zur Angstdiagnostik fast ausschließlich mit Fragebogenergebnissen<br />

in Beziehung gesetzt. Subjektive Angstmaße<br />

sind jedoch nur eine Ebene der Angstmanifestation.<br />

Angst manifestiert sich darüber hinaus durch spezifische<br />

Ausprägungen auf verhaltensmäßig-expressiven sowie<br />

physiologischen Parametern (Krohne, 2010). Deshalb<br />

wurde auf Grundlage eines etablierten Verhaltensbeobachtungssystems<br />

(vgl. Krohne & Hock, 1994) ein Kategoriensystem<br />

festgelegt, mit dem ängstliches Verhalten<br />

im Unterricht erfasst werden kann.<br />

Die vier Hauptkategorien des Systems sind: (1) Selbststimulation<br />

(SELBST): An Fingern kauen, Lippen befeuchten<br />

(Zunge sichtbar), an Lippen nagen, Körperberührungen<br />

mit den Händen, Gesicht reiben. (2) Blick (BLICK): Während<br />

der Aufgabe: Blick zum Lehrer, Umdrehen zu den<br />

Klassenkameraden. (3) Extremitäten (EXTREM): Mit den<br />

Armen fuchteln, mit dem Kopf wackeln. (4) Unruhige<br />

Körperhaltung (UNRUHE): Zappeln, sich von einem<br />

Bein aufs andere stellen, zittern (Hände, Lippen). Aus<br />

allen Beobachtungskategorien wurde anschließend ein<br />

Gesamtindex für die an der Tafel beobachtete Angst gebildet.<br />

Es zeigte sich, dass dieser Gesamtindex der Angst an<br />

der Tafel sowohl durch die über klassische Fragebögen<br />

erfasste Angst (r = .34, p < .05) als auch durch den<br />

Emotionalen Stroop-Index (r = .34, p < .05) vorhersagen<br />

ließ. Als beste Methode zur Vorhersage der verhaltensmäßig-expressiven<br />

Angst an der Tafel erwies es sich,<br />

den emotionalen Stroop-Index und Selbstberichtsmaße<br />

(aktuelle Aufgeregtheit bzw. Zustandsangst) gemeinsam<br />

<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> Forum Forschung Mai 2011 17


Promotion ❘ Implizite Angstdiagnostik bei Grundschulkindern<br />

als Prädiktoren in einer Regression heranzuziehen (R =<br />

.47, p < .01).<br />

Abbildung 2: Verhaltensmäßig-expressive Angst beim Bearbeiten einer Mathematikaufgabe<br />

als Funktion expliziter und impliziter Verfahren zur Angstdiagnostik.<br />

Betrachtet man in einer Detailanalyse die einzelnen Verhaltenskategorien,<br />

so ist der Zusammenhang zwischen<br />

Emotionalem Stroop-Index und den Verhaltensscores vor<br />

allem auf die Variablen EXTREM und UNRUHE zurück<br />

zu führen, während die selbstberichtete Zustandsangst<br />

mit den Kategorien SELBST und BLICK korreliert (siehe<br />

Abbildung 2). Die Kategorie BLICK ist definiert als Blick<br />

zum Lehrer bzw. zu den Klassenkameraden während<br />

der Präsentation der Mathematikaufgabe an der Tafel.<br />

Dieses Verhalten kann der Unsicherheitsreduktion dienen<br />

(»Mache ich es richtig?«) oder ein Hilfsappell sein (»Bitte<br />

hilf mir!«) und stellt damit einen stärker bewussten Aspekt<br />

der Emotion Angst dar. Somit bestehen erste Hinweise,<br />

dass Selbstberichte stärker bewusste Anteile nonverbalexpressiver<br />

Erregungsanzeichen in belastenden Leistungssituationen<br />

vorhersagen. Implizite Maße wie der<br />

emotionale Stroop-Test, der automatisierte Reaktionen<br />

auf bedrohliche Stimuli erfasst, weisen dagegen stärkere<br />

Zusammenhänge mit weniger bewussten angstinduzierten<br />

Verhaltenskategorien wie körperlicher Unruhe<br />

18 Forum Forschung Mai 2011 <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />

auf. Dadurch können sich selbstberichtete Angst und der<br />

Emotionale Stroop-Index in ihrem Vorhersagepotential für<br />

angstinduziertes Verhalten ergänzen.<br />

Neben den Verhaltensindikatoren können auch Veränderungen<br />

physiologischer Indikatoren (z.B. Herzrate, Blutdruck<br />

oder Hauttemperatur; Krohne, 2010) zur Messung<br />

von Angst herangezogen werden. In einem zweiten Experiment,<br />

in dem alle Kinder eine Klasse Pulsmesser mit<br />

elektronischer Aufzeichnung trugen und die Bewegungen<br />

registriert wurden, zeigte sich, dass die Höhe der<br />

Herzfrequenz der Kinder beim Bearbeiten der Aufgabe<br />

an der Tafel ebenfalls mit einem impliziten Angstmaß,<br />

dem Dot-Probe-Test, besser als mit einem Angstfragebogen<br />

vorhergesagt werden konnte.<br />

Fazit<br />

Durch den Einsatz impliziter Verfahren zur Angstdiagnostik<br />

wie dem Emotionalen Stroop-Test ergeben sich bedeutsame<br />

Vorteile gegenüber einer ausschließlich expliziten,<br />

auf Selbstberichten basierenden Angstdiagnostik.<br />

Da es sich um automatisierte, d. h. schnell ablaufende<br />

und schwer kontrollierbare Prozesse handelt, werden<br />

nicht nur diese besonderen Aspekte der Angstregulation<br />

erfasst, sondern es wird auch die Wahrscheinlichkeit<br />

eine Beeinträchtigung der Diagnostik durch Selbstdarstellungstendenzen<br />

geringer als bei Fragebogen. Auch<br />

setzen implizite Verfahren keine Introspektionsfähigkeit<br />

voraus. Dies ist insbesondere bei Untersuchungen mit<br />

Kindern vorteilhaft. Implizite Angstdiagnostik macht die<br />

Anwendung von Fragebogen nicht überflüssig. Unter Berücksichtigung<br />

beider Ansätze können mit Selbstberichten<br />

dem Bewusstsein zugängliche Anteile der Angst und<br />

mit den impliziten Verfahren Veränderungen angstbezogener,<br />

automatisierter Informationsverarbeitungsprozesse<br />

genutzt werden, um umfassendere Kenntnisse über die<br />

Facetten der Emotion Angst zu gewinnen.


Literatur<br />

❙ Eschenbeck, H., Kohlmann, C.-W., Heim-Dreger, U.,<br />

Koller, D. & Leser, M. (2004). Processing bias and<br />

anxiety in primary school children: A modified emotional<br />

Stroop colour-naming task using pictorial facial<br />

expressions. Psychology Science, 46, 451-465.<br />

❙ Eysenck, M. W., Derakshan, N., Santos, R. & Calvo,<br />

M. G. (2007). Anxiety and cognitive performance:<br />

Attentional control theory. Emotion, 7, 336-353.<br />

❙ Heim-Dreger, U., Kohlmann, C.-W., Eschenbeck,<br />

H. & Burkhardt, U. (2006). Attentional biases for<br />

threatening faces in children: Vigilant and avoidant<br />

processes. Emotion, 6, 320-325.<br />

Promotion ❘ Implizite Angstdiagnostik bei Grundschulkindern<br />

❙ Kohlmann, C.-W., Eschenbeck, H. & Heim-Dreger, U.<br />

(2008). Erfahrungen mit dem Emotionalen Strooptest<br />

für Kinder. In W. Janke & M. Schmidt-Daffy (Hrsg.),<br />

Experimentelle Emotionspsychologie (S. 443-454).<br />

Lengerich: Pabst.<br />

❙ Krohne, H. W. (2010). Psychologie der Angst. Stuttgart:<br />

Kohlhammer.<br />

❙ Krohne, H. W. & Hock, M. (1994). Elterliche Erziehung<br />

und Angstentwicklung des Kindes. Bern: Huber.<br />

Dr. Uwe Heim-Dreger ist akademischer Mitarbeiter bei Prof. Dr. Carl-Walter Kohlmann<br />

in der Abteilung <strong>Pädagogische</strong> Psychologie und Gesundheitspsychologie der <strong>Pädagogische</strong>n<br />

<strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong>. Er ist Geschäftsführer des Diagnostischen Zentrums der <strong>Pädagogische</strong>n<br />

<strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong>. Seine Dissertation wurde im Rahmen des Forschungsprojekts<br />

»Implizite Diagnostik bei Kindern im Grundschulalter: Entwicklung und Anwendung«<br />

(gefördert durch das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg)<br />

durchgeführt und mit dem Hochschulpreis der Ostalbstiftung ausgezeichnet.<br />

<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> Forum Forschung Mai 2011 19


Promotion ❘ Reales Erleben in virtuellen Welten<br />

Reales Erleben<br />

in virtuellen Welten<br />

Dr. Elke Hemminger<br />

Arbeitsgruppe: Prof. Dr. Stefan Immerfall, PH <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />

Zweitgutachter: Dr. Gareth Schott, University of Waikato, Screen and Media Studies<br />

Abstract: The Mergence of Spaces. For more than 35 years role-playing games have been discussed as fascinating,<br />

quixotic or right-out dangerous. Whatever we may think of these games, they are played by millions of people<br />

all over the world and especially the virtual worlds of Massively Multi-Player Online Role-Playing Games (MMOR-<br />

PGs) are, to many players, more than just a game. This study introduces the different versions of role-playing games<br />

as fantasy media and analyses their special attraction in the context of sociological theory. Virtual realms offer real<br />

meaning, significant social interaction and a multitude of experiences, but not every player uses the games in the<br />

same way. For many players role-playing games have become part of everyday life so much that gaming experience<br />

and game space can merge with reality. In order to gain insight into the meaning of role-playing experience<br />

and the actual user-practice of MMORPGs the opinions of the players themselves are used in this study as a basis<br />

to analyse what makes role-playing games a meaningful and relevant occupation for the players and why they can<br />

indeed offer a contribution to everyday life.<br />

Einführung: Von Elfen und Menschen<br />

Haben Sie schon einmal von WoW gehört oder einen<br />

LARPer getroffen? Haben Sie selbst schon an einem<br />

Raid teilgenommen? Millionen Menschen weltweit wissen<br />

genau, wovon hier die Rede ist. Vom Rollenspielen,<br />

einem Hobby, das von Menschen aller Alterstufen betrieben<br />

wird und doch immer noch ungläubiges Staunen<br />

oder gar Ablehnung hervorruft. Besonders die neueste<br />

Form des Rollenspiels, die so genannten MMORPGs<br />

(kurz für Massively MultiPlayer Online Role-Playing<br />

Game) wird in der Öffentlichkeit oft als Bedrohung für<br />

die Gesundheit der Jugend oder Auslöser für Gewalttaten<br />

dargestellt. Nichts von dem spiegelt wider, was<br />

Rollenspiel für die Teilnehmer wirklich bedeutet und welchen<br />

Stellenwert Spielwelt und Spielfigur im Alltag der<br />

Spielenden einnehmen.<br />

Der vorliegende Text befasst sich mit einer Studie, die<br />

im Rahmen einer Promotion im Fach Soziologie an<br />

der <strong>Pädagogische</strong>n <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong>,<br />

in Zusammenarbeit mit der University of Waikato<br />

20 Forum Forschung Mai 2011 <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />

in Hamilton, Neuseeland, durchgeführt wurde. Die<br />

qualitative Studie konzentriert sich auf fantastische<br />

Rollenspiele aus der Sicht und dem Erleben der<br />

Spielenden heraus. Ziel war es, einen Einblick zu<br />

erlangen in die Wechselbeziehungen zwischen Spiel<br />

und Realität, sowie Spieler und Spielfigur. Besonderes<br />

Interesse galt dabei dem fantastischen Setting, in dem<br />

Rollenspiele häufig angesiedelt sind, so auch das<br />

bekannte World of Warcraft (WoW). Das Fantasygenre<br />

spielt seit jeher eine wichtige Rolle in der Geschichte<br />

der Kinder- und Jugendliteratur, jedoch zeichnete sich<br />

in den vergangnen Jahren ein deutlicher Zuwachs an<br />

Fantasymedien aller Art ab. Allein die Harry-Potter<br />

Bände wurden weltweit 350 Millionen Mal in 65<br />

verschiedenen Sprachen verkauft (Presseveröffentlichung<br />

von Scholastic auf www.mugglenet.com vom 2.<br />

August 2007). Aus soziologischer Sicht stellt sich die<br />

Frage, welchen Reiz fantastische Welten ausüben, die<br />

in vielen Aspekten der Realität unserer technisierten<br />

Leistungsgesellschaft widersprechen.


Das Projekt: Eintauchen in magische Welten<br />

In der Spieleforschung wird zwischen vier Typen des<br />

Rollenspiels üblicherweise abgekürzt als RPG (kurz für<br />

Role-Playing Game), unterschieden. Die Gemeinsamkeiten<br />

der vier Typen liegen im Fall der fantastischen RPGs<br />

in den typischen Handlungselementen (z. B. die Quest)<br />

und Motiven des fantastischen Settings, also in der vom<br />

Zauberhaften und Magischen geprägten Spielwelt. Innerhalb<br />

dieser Spielwelt wird eine Geschichte erzählt,<br />

die von den Spielenden mit beeinflusst und gestaltet<br />

wird. In jedem RPG wird für die Spielenden eine Spielfigur<br />

erschaffen, der so genannte Char oder Charakter,<br />

auch Avatar genannt. Mit dieser, nach gewissen Regeln<br />

und Vorgaben selbst erstellten Figur, bewegen sich die<br />

Spielenden durch die fantastische Spielwelt, wobei die<br />

Umsetzung je nach Typ von einer realen Darstellung des<br />

Chars mit Verkleidung bis zur digitalen Umsetzung am<br />

PC reichen kann (für weitere Informationen zum RPG<br />

siehe z. B. Dormans, 2006). Unser Projekt konzentrierte<br />

sich auf Pen & Paper Spieler, sowie MMORPG Spieler.<br />

Zum einen sind damit die anderen Typen, nämlich<br />

Live-Action und offline RPG mit repräsentiert (fast jeder<br />

Live-Action Spieler spielt auch Pen & Paper, fast jeder<br />

MMORPG Spieler auch offline RPGs), zum anderen<br />

lassen sich die ‚Urform’ des Spiels und die neueste Entwicklung<br />

als digitale Online-Version aus verschiedenen<br />

Gründen gut miteinander vergleichen. Zudem ist das<br />

öffentliche Interesse im Falle der MMORPGs hoch, so<br />

dass Forschungsergebnisse, die Einblicke in das tatsächliche<br />

Nutzerverhalten bieten, von Wichtigkeit sind.<br />

Der erste Teil der Studie besteht in einem halboffenen<br />

Fragebogen zur Erhebung soziodemografischer Daten,<br />

sowie anderer Szenemerkmale. Zwar gibt es bereits<br />

Zahlen und Statistiken zur Rollenspielszene (vgl:<br />

http://www.jugendszenen.com/Rollenspieler/Intro.<br />

html: 05.05.2008), diese beziehen sich jedoch vorwiegend<br />

auf Pen & Paper Rollenspieler im Sinne einer<br />

Jugendszene. Seit der Weiterentwicklung digitaler Spiele<br />

gibt es aber immer<br />

mehr Spieler, die neben<br />

den klassischen<br />

Pen & Paper RPGs<br />

auch digitale RPGs<br />

benutzen. Was uns<br />

deshalb besonders<br />

interessierte, waren<br />

Überschneidungen<br />

zwischen den verschiedenen<br />

Arten<br />

des RPG, sowie der<br />

sonstige Umgang mit<br />

fantastischen Medien<br />

in der Szene.<br />

Beispiel eines Chars aus World of Warcraft;<br />

der Spieler hat einen Gnom-Magier als<br />

Spielfigur gewählt.<br />

In einem zweiten,<br />

qualitativen Teil wurden<br />

fokussierte Interviews<br />

geführt, die<br />

Aufschluss darüber<br />

Promotion ❘ Reales Erleben in virtuellen Welten<br />

geben sollten, inwiefern sich die Spieler mit ihren Charakteren<br />

identifizieren, ob dies in Wechselwirkung mit<br />

ihrer realen Person steht und inwiefern das Wertesystem<br />

und die Erlebnisse in der fantastischen Welt in Wechselwirkung<br />

stehen mit der Realität. Diese Interviews wurden<br />

mit Creative Visual Research kombiniert, einer innovativen<br />

Methode der Medienforschung, die neben verbalen<br />

Äußerungen die kreative visuelle Darstellung komplexer<br />

und abstrakter Inhalte ermöglicht, um das verbale Material<br />

aus Interviews zu ergänzen (Gauntlett 2005). Zum<br />

integralen Bestandteil der Studie wurde die teilnehmende<br />

Beobachtung, die intensive Einblicke in die Abläufe<br />

sozialer Interaktionen innerhalb des Spielgeschehens,<br />

in den Aufbau der Rollenspielszene und insbesondere<br />

in Vorgänge der Reflektion und Verarbeitung von Spielsituationen<br />

und Charakterentwicklungen ermöglichte. Erst<br />

das Eintauchen in die fantastische Welt der RPGs zeigte<br />

auf, welche neuen Räume, Möglichkeiten und Risiken<br />

virtuelle Welten eröffnen und wie die Spiele tatsächlich<br />

genutzt werden.<br />

Die Ergebnisse: Wenn Räume verschmelzen<br />

Wie aus der Szeneforschung bereits bekannt, überwogen<br />

auch in dieser Studie die männlichen Rollenspieler,<br />

wobei sich die Zahl vor allem im Bereich der Online<br />

RPGs langsam anzugleichen scheint. Hier waren im Vergleich<br />

deutlich mehr Frauen vertreten. Ähnlich verhält es<br />

sich mit der Altersstruktur der Spielenden: der Großteil<br />

konzentriert sich zwischen 15 und 35 Jahren, es sind<br />

jedoch alle Altersstufen vertreten, vom 8jährigen DSA-<br />

Spieler – DSA steht für ‚Das Schwarze Auge’, das bekannteste<br />

deutschsprachige Pen & Paper RPG-System –<br />

bis zur 60jährigen WoW-Spielerin. Generell zeigten<br />

die Fragebögen, dass Rollenspieler medieninteressiert<br />

sind und vor allem im Fantasybereich überdurchschnittlich<br />

viel lesen, aber meist sehr wenig Zeit (weniger als<br />

eine Stunde pro Tag) vor dem Fernseher verbringen.<br />

Auch ergaben sich viele Überschneidungen im Bereich<br />

der verschiedenen Arten des Rollenspiels, nur 10% der<br />

Teilnehmer spielten eine einzige Art RPG, alle anderen<br />

mindestens zwei Arten.<br />

Das Fantasy Setting ist für viele Spieler ein entscheidender<br />

Punkt. Vor allem das idealisierte Wertesystem ist ansprechend<br />

und wird als vorbildhaft und wünschenswert<br />

angesehen: »Es sagt mir schon was über mich aus, wie<br />

ich mich bei bestimmten Dingen fühle. Gerade bei so<br />

Wertekonflikten, wenn ich entscheiden muss, wie weit<br />

bin ich bereit für meine Überzeugung zu gehen, zum<br />

Beispiel. Da denke ich dann viel drüber nach.« So äußerte<br />

sich ein Interviewpartner zum Thema Wertvorstellungen<br />

im Spiel und in der Wirklichkeit, eine andere<br />

sagte dazu Folgendes: »Ein Charakter ohne Moral ist<br />

für mich nicht spielbar. Ich brauche Prinzipien, an die<br />

ich mich halte (…) und ich wünsche mir schon auch<br />

manchmal, dass die Werte in der Realität ein bisschen<br />

höher gesteckt wären.«<br />

Professor Tolkien, der nicht nur Autor, sondern auch Philologe<br />

in Oxford war, spricht von fantastischen Welten<br />

<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> Forum Forschung Mai 2011 21


Promotion ❘ Reales Erleben in virtuellen Welten<br />

als Unterschöpfungen, als Abbilder der ersten Schöpfung,<br />

die wir als Menschen mit der Gabe der Fantasie<br />

selbst erschaffen können. In diesen Unterschöpfungen,<br />

so Tolkien, treten wir in Distanz zu uns selbst und zu unserem<br />

Alltag. Wir können die Welt im Spiegel betrachten<br />

und somit reflektiert und distanziert über sie nachdenken<br />

(Tolkien 1970). Diese Auseinandersetzung mit<br />

der Realität findet im fantastischen Rollenspiel äußerst<br />

intensiv statt, wie Interviewäußerungen immer wieder<br />

zeigten: »Ganz am Anfang, als ich mit dem Rollenspiel<br />

angefangen hab, da hab ich einen Ritter gespielt. Und<br />

ich hab gemerkt, dass es mir sehr schwer fällt, meinem<br />

Knappen Anweisungen zu geben. Bei Studenten gibt<br />

es halt keine Untergebenen und plötzlich hatte ich da<br />

so ne Führungsrolle…«. Eine andere Spielerin sagt von<br />

sich: »… da hatte ich schon so einige Aha-Erlebnisse<br />

beim Spielen… grade in der Zeit, wo man sich auch<br />

viel überlegt, wo steh ich denn eigentlich im Leben.<br />

Da hab ich schon auch viel Spannendes über mich gelernt.«<br />

Fazit<br />

Der wichtigste Aspekt, der aus der Materialanalyse<br />

hervorging, war ein unerwarteter, der sich aus der<br />

Fragestellung nach Wechselwirkung zwischen Spielwelt<br />

und Realität ergab. Häufig wurde im Verlauf der<br />

Interviews oder aus den Notizen aus der teilnehmenden<br />

Beobachtung deutlich, dass das Zusammenwirken<br />

realer und virtueller Räume über eine Wechselwirkung<br />

hinausgehen kann und zu einer Verschmelzung der<br />

Räume führt. Dies trat vor allem, aber keineswegs<br />

ausschließlich, beim Online RPG auf und betrifft<br />

Situationen, in denen die Trennung zwischen realer Welt<br />

(RL für Real Life) und virtueller Welt (VR für Virtual Realm)<br />

nicht mehr möglich ist. Wechselwirkungen wurden von<br />

Rollenspieler in der Gesprächsrunde auf der Spielemesse in Stuttgart.<br />

22 Forum Forschung Mai 2011 <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />

den Spielenden regelmäßig erlebt und beschrieben und<br />

auch bewusst als solche wahrgenommen. Zum Beispiel<br />

findet eine solche Wechselwirkung statt, wenn schlechte<br />

Laune im RL durch aggressive Spieltaktik abgebaut<br />

wird oder das erfolgreiche Abschließen einer Quest<br />

im Spiel zu guter Laune im RL führt. Hier liegen die<br />

Auslöser in einem Raum, während die Auswirkungen<br />

im anderen Raum erlebt werden, die Trennung bleibt<br />

jedoch eindeutig. Sobald das Erleben über eine<br />

Wechselwirkung hinausgeht, kommt es jedoch zum<br />

Verschmelzen der Räume, zum Beispiel, wenn der VR<br />

als Kommunikationsplattform im RL benützt wird, wie<br />

dies bei WoW häufig geschieht. Hier wird der VR zu<br />

einem Teil des RL und alles Erleben innerhalb des VR<br />

somit auch ein reales Erlebnis. Noch deutlicher wird<br />

dies im Falle von emotionalen Erlebnissen. So kommt es<br />

beispielsweise vor, dass das Verhalten einer Spielfigur<br />

Emotionen bei Mitspielern auslöst, die sich auf die<br />

reale Person, also den Spieler hinter dem Avatar, oder<br />

eine reale Situation, beispielsweise eine Äußerung,<br />

beziehen.<br />

In dem Moment ist weder für Beteiligte noch für Beobachter<br />

zu unterscheiden, in welchem Raum die Spielenden<br />

Erfahrungen machen – das Erleben ist real, obwohl<br />

es im virtuellen Raum stattfindet und wirkt sich im verschmolzenen<br />

Raum, einer Art virtuellen Realität aus. Diese<br />

Art der Nutzung von MMORPGs wird als ‚Merged<br />

Gameplay’ bezeichnet. Das Erleben dieser virtuellen<br />

Realität kommt regelmäßig in Interviews, wie auch in<br />

der teilnehmenden Beobachtung vor und wirft die Frage<br />

auf, wie Menschen mit diesem neuen Erfahrungsraum<br />

umgehen, wie sie ihn gestalten und welche Entwicklung<br />

für Individuum und Gesellschaft davon ausgehen<br />

können.<br />

Für Online-Rollenspieler ist die virtuelle Realität schon<br />

jetzt selbstverständlicher Teil des Alltags und Raum für<br />

soziales Handeln. Hier werden Begegnungen gemacht,<br />

über soziale, staatliche und räumliche Grenzen hinweg.<br />

Ob sich Familien im virtuellen Gasthaus treffen und Termine<br />

für den nächsten Tag vereinbaren oder unmoralisches<br />

Verhalten in der Spielgruppe zu einer Diskussion<br />

über soziales Miteinander führt – wir werden uns an<br />

den Gedanken gewöhnen müssen, dass MMORPGs<br />

mehr sind als Spielwiesen für Computer-Freaks. Virtuelle<br />

Welten führen zu virtueller Gemeinschaft und zunehmend<br />

werden diese Gemeinschaften in alltägliche<br />

Wirklichkeit integriert und somit Teil dieser Wirklichkeit,<br />

wie auch deutliche Parallelen zwischen der Nutzung<br />

von MMORPGs und Social Networking Sites zeigen<br />

(Hemminger 2010b).<br />

Was dies für unser soziales Miteinander und den Einzelnen<br />

in der Gesellschaft in Zukunft bedeutet, bleibt<br />

an dieser Stelle offen. Letztendlich müssen wir jedoch<br />

darüber nachdenken, ob die Grenze zwischen Realität<br />

und Virtualität im herkömmlichen Sinne aufrechterhalten<br />

werden kann. In der virtuellen Realität der Rollenspiele<br />

ist sie längst aufgehoben.


Literatur<br />

❙ Clute, John & Grant, John (1999): The Encyclopedia<br />

of Fantasy. New York: Saint Martin`s Press.<br />

❙ Dormans, Joris (2006): On the Role of the Die: A<br />

brief ludologic study of pen-and-paper roleplaying<br />

games and their rules. In: Game Studies, volume 6/<br />

issue 1.<br />

❙ Englert, Rudolf, Porzelt, Burkard, Reese, Annegret &<br />

Stams, Elisa (2006): Innenansichten des Referendariats.<br />

Berlin/ Wien: Lit Verlag.<br />

❙ Gauntlett, D, (2005): Moving Experiences. Media<br />

effects and beyond. Eastleigh: John Libbey, 2nd<br />

printing.<br />

❙ Hemminger, E. (2009): The Mergence of Spaces.<br />

Experiences of Reality in Digital Role-Playing Games.<br />

Berlin: Sigma.<br />

❙ Hemminger, E./ Schott, G. (2010): The Mergence of<br />

Spaces. MMORPG User-Practice and Everyday Life.<br />

In: Fromme, J./ Unger, A. (Hrsg.): Computer Games/<br />

Players/ Game Cultures: A Handbook on the State<br />

and Perspectives of Digital Game Studies. Berlin:<br />

Springer.<br />

❙ Hemminger, E. (erscheint 2010a): Wenn Räume<br />

verschmelzen. Soziale Netzwerke in virtuellen Spielwelten.<br />

In: Fuhse, J./Stegbauer, C. (Hrsg.): Kultur<br />

und mediale Kommunikation in sozialen Netzwerken.<br />

Wiesbaden: VS Verlag.<br />

❙ Hemminger, E. (erscheint 2010b): Fantasy Facebook.<br />

Merged Gameplay in MMORPGs as Social Networking<br />

Activities. In: Mitgutsch, K. (Hrsg.): On the<br />

Edge of Gaming. Proceedings of the Vienna Games<br />

Conference 2009.<br />

Promotion ❘ Reales Erleben in virtuellen Welten<br />

❙ Hitzler, Ronald, Bucher, Thomas & Niederbacher,<br />

Arne (2005): Leben in Szenen. Formen jugendlicher<br />

Vergemeinschaftung heute. Wiesbaden: VS Verlag.<br />

❙ Lewis, Clive Staples (1982): On Stories and Other<br />

Essays on Literature. Edited be Walter Hooper. New<br />

York: Harvest/ HBJ Book. S. 66.<br />

❙ Rahm, Sybille & Schratz, Michael (2004): LehrerInnenforschung.<br />

Theorie braucht Praxis. Braucht Wissen<br />

Theorie? Innsbruck: Studienverlag.<br />

❙ Rodriguez, Hector (2006): The Playful and the Serious:<br />

An approximation to Huizinga‘s Homo Ludens.<br />

In: Game Studies, volume 6/ issue 1.<br />

❙ Schäfers, Bernhard & Scherr, Albert (2005): Jugendsoziologie.<br />

Einführung in Grundlagen und Theorien.<br />

8. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag.<br />

❙ Tolkien, J. R. R. (1970): The Tolkien Reader. New<br />

York: Ballantine Books, 9th printing.<br />

Internetquellen<br />

❙ http://www.amd.com/usen/Processors/ProductInformation.html:<br />

05.05.2008.<br />

❙ http://www.blizzard.de/press/080122.shtml:<br />

05.05.2008.<br />

❙ http://www.jugendszenen.com/Rollenspieler/Intro.<br />

html: 05.05.2008.<br />

❙ http://www.theescapist.com/basic_gaming_faq.<br />

htm#reputation: 05.05.2008.<br />

❙ www.mugglenet.com: 2. August 2007.<br />

Nach Studium in Tübingen und <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> war Dr. Elke Hemminger Lehrerin an<br />

der Förderschule Freudenstadt und der GHWRS Dornstetten. Seit Ende 2006 Förderung der<br />

Promotion nach dem Landesgraduiertenförderungsgesetz, die sie 2009 an der PH <strong>Schwäbisch</strong><br />

<strong>Gmünd</strong> in Kooperation mit der University of Waikato in Hamilton, Neuseeland abschloss. Seit<br />

Februar 2009 ist sie akademische Mitarbeiterin in der Abteilung Soziologie.<br />

<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> Forum Forschung Mai 2011 23


Promotion ❘ Bandornamente im Elementarbereich<br />

Bandornamente im<br />

Elementarbereich<br />

Dr. Sabine Hielscher<br />

Eine empirische Untersuchung zum Musterverständnis von 5- bis 7-Jährigen<br />

Arbeitsgruppe: Prof. Dr. Klaus-Peter Eichler, PH <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />

Zweitgutachter: Prof. Dr. Jens Holger Lorenz, PH Heidelberg<br />

Abstract: Mathematics is the “science of patterns and structures”. Typical activities in the preschool years are<br />

geometric in nature (placing, folding, kneading, building objects etc.) and can be accomplished in a practical,<br />

tangible and a playful way. The present study provides a survey of the mathematical skills that are essential at the<br />

elementary level and could and should be promoted. This refers in particular to the general designation of the visual<br />

spatial skills and their importance to the appropriation of the term “pattern”. These skills, which make a particular<br />

contribution to the understanding of patterns, are described. In the present case, an investigation has been undertaken<br />

to determine whether the working band ornaments for early education and mathematics are geometric. By<br />

band ornaments, the “meaning of the pattern” in both the narrower and wider sense is explored and typical ways<br />

of working with them are described and classified.<br />

Kinder kommen permanent mit Mathematik – dadurch<br />

zwangsläufig mit Mustern und Strukturen – in Berührung<br />

(vgl. z. B. SPITZER 2000, S.30 – 33; 2002, S. 68 – 72;<br />

DEVLIN 2002, S.5; WITTMANN & MÜLLER 2008,<br />

S.42 – 65). Wer entsprechende pädagogische Berufserfahrung<br />

einbringt, kann/sollte die Vielfalt in den Lernvoraussetzungen<br />

der 5- bis 7-Jährigen erkennen können. Die<br />

Heterogenität im kognitiven Bereich zeigt sich u. a. in<br />

wachsenden Kompetenzen. Entwicklungsverzögerungen<br />

in manchen Bereichen beruhen überwiegend auf geringen<br />

Vorkenntnissen (vgl. LORENZ 1995, S.10; 2004,<br />

S.34 – 45). Rechenschwache Kinder bleiben überwiegend<br />

bereits im Vorschulalter hinter ihren Altersgenossen<br />

zurück. Sie brauchen Förderung des Zahlenraumverständnisses<br />

auf der Grundlage der Stärkung räumlicher<br />

Fähigkeiten (vgl. von ASTER & KUCIAN 2005, S.1).<br />

Daher besteht die Möglichkeit und die Notwendigkeit,<br />

so früh wie möglich, Vorschulkinder an mathematische<br />

Erfahrungsbereiche heranzuführen. Studien zeigen, dass<br />

die bei Schuleintritt vorhandenen Kompetenzen bestimmend<br />

für spätere Schulleistungen sind (vgl. KRAJEWSKI<br />

& SCHNEIDER 2006, S.246 – 262; KRETSCHMANN<br />

24 Forum Forschung Mai 2011 <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />

2004, S.220 – 228; STAMM 2004, S.865 – 881 u.<br />

a.). Kognitive Bereiche, wie allgemein-geistige Fähigkeiten<br />

und Teilfähigkeiten der räumlich-visuellen Qualifikation<br />

sind ausschlaggebend. Die räumlich-visuelle Qualifikation<br />

»ist nicht nur lebenspraktisch bedeutsam, sie ist<br />

zugleich eine wesentliche Grundlage für erfolgreiches<br />

Lernen im Mathematikunterricht« (EICHLER 2006a, S.5).<br />

Im Mathematikunterricht brauchen Kinder entsprechende<br />

Teilfähigkeiten zum Vorstellen von Zahlen, Zahlbeziehungen<br />

und Operationen (vgl. EICHLER 2006b, S.40).<br />

Demzufolge bietet die Auseinandersetzung mit geometrischen<br />

Sachverhalten entsprechende Möglichkeiten,<br />

Schwierigkeiten und Stärken der Kinder zu identifizieren,<br />

so dass nach erkanntem Unterstützungsbedarf der Ausgleich<br />

von Rückständen bereits vor Schuleintritt erfolgen<br />

könnte.<br />

Geometrische Aktivitäten sind ein wesentlicher Beitrag<br />

zur Erschließung der Umwelt und der Lebenswirklichkeit<br />

(vgl. Rahmenplan der Vorschule Mecklenburg-Vorpommern<br />

2005, S.69 – 84). Diese stellt sich dreidimensional,<br />

in vielfältigen Farben, Formen, Größen, Lagebezie-


hungen usw. dar. Aktivitäten von Vorschulkindern sind<br />

größtenteils praktisch und gegenständlich. In der<br />

Vorschul zeit können sie diese durch Legen, Falten,<br />

Kneten, Bauen etc. umsetzen. Daraus werden entsprechend<br />

altersgerechte Erfahrungen gesammelt und<br />

angeeignet (vgl. EICHLER & OBERLÄNDER 2005,<br />

S.4 – 10). Spiele rische Elemente und eine geeignete anschauliche<br />

Präsen ta tion geometrischer Sachverhalte regen<br />

Kinder in besonderer Weise zur Beschäftigung mit<br />

geometrischen Inhalten an. Hierdurch gehen sie auf Entdeckungsreise,<br />

die ihnen vielfältige Handlungsmöglichkeiten<br />

eröffnet. Weiterhin sollte das Beschreiben des<br />

Sachverhaltes und eine Begründung einzelner Lösungen<br />

herausgefordert (vgl. EICHLER 2004, S.12 – 20). Die<br />

vorliegende Studie zeigt, dass mit geeigneten Aufgabenstellungen<br />

die Mathematik bereits im Kindergarten<br />

erlebbar ist. Es war auffallend, dass die Kinder dieser<br />

Altersstufe kreativ und regel bewusst mit geometrischen<br />

Mustern umgehen.<br />

Erstaunlicherweise liegen präzise Kenntnisse über die<br />

Fähigkeiten von Kindern im Umgang mit Mustern bisher<br />

kaum vor. Welche Teilfähigkeiten der Mustersinn umfasst<br />

und wie diese über geeignete Aufgaben mit steigendem<br />

Schwierigkeitsgrad aufgebaut und weiterentwickelt werden<br />

können, ist offen. In der Beobachtung von Kindern<br />

ist festzustellen, dass sie durch Vorgabe von Mosaikbaukästen,<br />

zum Legen von Mustern und Nachdenken über<br />

ihre Regeln angeregt werden. Dieses Arbeitsmittel eignet<br />

sich nicht nur zur Beschäftigung mit geometrischen Inhalten.<br />

Bandornamente sind dabei primärer Ansatz. Es geht<br />

in dieser Studie darum, diese Lernumgebung daraufhin<br />

zu analysieren, was sie leisten kann.<br />

Ziele der Arbeit<br />

❙ Erkundung, inwieweit Bandornamente ein substantielles<br />

Aufgabenformat für die frühe mathematische Bildung<br />

darstellen.<br />

❙ Prüfung, ob sich die Arbeit mit Bandornamenten zur<br />

Diagnose geometrischer Vorerfahrungen von Vorschulkindern<br />

eignet.<br />

❙ Feststellung, welche Vorstellungen Vorschulkinder zum<br />

Begriff »Muster« haben.<br />

❙ Erfassung, Beschreibung und Klassifizierung der Arbeitsweisen<br />

beim Nachlegen und Fortsetzen vorgegebener<br />

Bandornamente.<br />

❙ In der Arbeit mit Bandornamenten den »Mustersinn«<br />

im engeren und weiteren Sinn untersuchen und erfassen.<br />

Die Untersuchung im Kindergarten<br />

Der Untersuchungszeitraum war vom Juni 2008 bis<br />

Anfang Juli 2008. An der Studie nahmen 13 Kinder<br />

zwischen 5 und 7 Jahren teil. Es wurden 5 Kinder<br />

beobachtet und befragt, die sich 2 – 3 Monate vor<br />

Schul eintritt und 8 Kinder, die sich ein Jahr und 2 – 3<br />

Monate vor Schuleintritt befanden. Den Kindern wurden<br />

drei verschiedene Teilaufgaben (TA) präsentiert. Dabei<br />

sollte stets ein Bandornament identifiziert und realisiert<br />

werden.<br />

Promotion ❘ Bandornamente im Elementarbereich<br />

TA_1: Bandornamente nachlegen und fortsetzen, z. B.<br />

Abb. 1: Punktspiegelung (und Translation).<br />

TA_2: Lücken in Bandornamenten schließen, z. B.<br />

Abb. 2: Querspiegelung (und Translation).<br />

TA_3: Fehler in Bandornamenten finden, z. B.<br />

Abb. 3: Schubspiegelung.<br />

Vor Beginn der Studie wurden den Schwierigkeitsgrad<br />

bestimmende Merkmale der eingesetzten Aufgaben<br />

hypothetisch angenommen. Die eingesetzten Bandornamente<br />

lassen sich nach den 7 bekannten Typen klassifizieren.<br />

Die jeweiligen Symmetrieeigenschaften des<br />

Bandornaments werden als wesentlich und den Schwierigkeitsgrad<br />

bestimmend angesehen.<br />

Es wurden halbstandardisierte videodokumentierte Interviews<br />

durchgeführt. Das materialgestützte Gespräch<br />

diente der Erfassung des »naiven« Musterbegriffs und<br />

der Überprüfung kognitiver Bereiche. Ihm lag ein Leitfaden<br />

mit geschlossenen und offenen Fragen zu Grunde,<br />

deren konkrete Formulierung und Reihenfolge variiert<br />

werden konnte. Die Interviews fanden nachmittags im<br />

Kindergarten in der Einzelsituation Interviewerin – Kind<br />

statt. Direkt nach einem Interview wurde die Videoaufnahme<br />

angesehen und der vorbereitete Beobachtungsbogen<br />

ausgefüllt. Der nachfolgende Ausschnitt gibt<br />

dazu einen Einblick. Dabei wird beobachtet, welche<br />

Handlungsstrategien speziell für das Bandornament Typ<br />

2 – Querspiegelung – verwendet werden. Zur Begriffskenntnis<br />

»Spiegelung« wurde erfasst, ob in irgendeiner<br />

Form gesagt oder gezeigt werden konnte, dass quer<br />

gespiegelt wurde.<br />

<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> Forum Forschung Mai 2011 25


Promotion ❘ Bandornamente im Elementarbereich<br />

Tab. 1: Items für Teilaufgabe 1 Bandornament Typ 2, Beobachtungsschwerpunkt<br />

»Handlungsstrategien und Begriffskenntnis«.<br />

Ergebnisse<br />

In der Studie wird hinsichtlich der Vorstellungen zum Begriff<br />

»Muster« deutlich:<br />

Bandornamente veranlassen 5- bis 7-Jährige, mit diesen<br />

Ornamenten viele konkrete Dinge zu assoziieren. Was<br />

Kinder dabei wahrnehmen und als was sie es wahrnehmen,<br />

hängt auch hier von ihren Vorerfahrungen ab. Es<br />

ist deshalb nicht verwunderlich, wenn sie vor allem figürlich-konkrete<br />

Dinge in die Bandornamente hineinsehen:<br />

Pfeil, Haus usw. Sie durchschauen die Binnengliederung<br />

nicht, d. h. sie sehen zuerst ganzheitlich. Sie müssen<br />

lernen, diese in der Vorstellung in Teilfiguren zu zergliedern.<br />

Den Kindern gelingt es gut, Bandornamente nachzulegen.<br />

Wenn sie diese beschreiben und fortsetzen, haben<br />

sie die Wiederholung und das sich wiederholende Objekt<br />

im Blick. Die Vorstellung einer Verschiebung kann<br />

nicht beobachtet werden. Es ist nicht feststellbar, dass<br />

Kinder die Achsensymmetrie in einem Bandornament<br />

erfassten und zu seiner Fortsetzung heranziehen. Auch<br />

wenn vielleicht bei dem einen oder anderen Kind Erfahrungen<br />

zur Spiegelung vorhanden sein sollten, dann<br />

dominiert doch das ganzheitliche Wahrnehmen größerer,<br />

einprägsamer Teile des Bandornamentes. Der wahrgenommene<br />

»Pfeil« im Bandornament wird nicht weiter<br />

zergliedert. Es wird nicht erfasst, dass er aus zwei spiegelbildlich<br />

angeordneten Dreiecken zusammengesetzt<br />

werden kann.<br />

Auch in den Fällen, in denen eine Vorstellung von<br />

Prozessen erfasst wurde, basiert diese Vorstellung auf<br />

Assoziationen mit etwas konkret Erfahrenem, nämlich<br />

Windrädern oder Propellern und deren Drehung, einer<br />

Treckerspur (Abdruck eines der großen Reifen) usw.<br />

Auch Kinder im Elementarbereich verfügen über die Fähigkeit,<br />

Muster zu »mappen«. Ihre Handlungen werden<br />

von »Mappings« zu Grundmustern, zur Gesetzmäßigkeit<br />

statischer Art und Handlungsstrategien geleitet. Sie setzen<br />

ihre Hypothesen um.<br />

26 Forum Forschung Mai 2011 <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />

Schlussfolgerungen und Ausblicke<br />

Aufgaben zu Bandornamenten sind ein substantielles<br />

Aufgabenformat für den Elementarbereich. In der Auseinandersetzung<br />

mit Bandornamenten – die den Kindern<br />

im Alltag an vielen Stellen begegnen – kann die Alltagserfahrung<br />

der Kinder aufgegriffen und daran angeknüpft<br />

werden. Bandornamente eignen sich nachweislich, um<br />

die visuelle Wahrnehmung zu üben. In Alleinarbeit wird<br />

das Wiedererkennen von Objekten in verschiedenen<br />

Größen, Anordnungen, räumlichen Lagen und Färbungen<br />

geübt. Diese Teilfähigkeit ist eine wichtige Grundlage<br />

für schulisches Lernen, da im Unterricht vor allem visuelle<br />

Darstellungen in Tafelbildern, Arbeitsblättern oder in<br />

Buchseiten zu deuten sind.<br />

Bandornamente sind ein Mittel, um Kinder zielführend<br />

in ihrer Entwicklung zu beobachten und zu erfassen, ob<br />

wesentliche Voraussetzungen für erfolgreiches Lernen<br />

gegeben sind. Sie zeigen, ob hinreichend Fähigkeiten<br />

zur Figur-Grund-Wahrnehmung, zur visuellen Diskrimination<br />

und zur Wahrnehmung räumlicher Beziehungen zur<br />

Verfügung stehen. Sowohl solche spezifischen visuellen<br />

Fähigkeiten als auch allgemeine kognitive Fähigkeiten<br />

können diagnostiziert werden (vgl. EICHLER 2005,<br />

S.20 – 21), wie etwa auch die Fähigkeit, Objekte nach<br />

mehr als einem Merkmal zu ordnen und zu klassifizieren.<br />

Bandornamente sind demzufolge zugleich ein Mittel zur<br />

Förderung allgemeiner geistiger Fähigkeiten. Sie lassen<br />

sowohl reales als auch gedankliches Handeln zu. Insbesondere<br />

das Erkennen und Erfassen von geometrischen<br />

Formen und deren Lagebeziehungen (rechts, links, zwischen,<br />

rechts von, links von, ...) kann dabei gefestigt<br />

werden. Das Ausprobieren erlaubt Kindern mit Defiziten<br />

in diesem Bereich, solche Erfahrungen nachzuholen und<br />

aufzubauen. Der Schwierigkeitsgrad beim Fortsetzen ergibt<br />

sich aus den Anforderungen beim Analysieren und<br />

Erfassen der dem Bandornament zugrunde liegenden<br />

Gesetzmäßigkeit, d. h. sie lassen unterschiedliche Bearbeitungstiefen<br />

zu. Anhand des Legens von Bandornamenten<br />

ist zu beobachten, ob Kinder über hinreichende<br />

Lernvoraussetzungen in Bezug auf Abstraktions-, Differenzierungs-<br />

und Vorstellungsvermögen verfügen. Dabei<br />

ist auch erkennbar, ob sie sich konzentrieren und sich<br />

kurz- und längerfristig etwas merken können. Beim Fortsetzen<br />

von einfachen Ornamenten aus geometrischen<br />

Formen wird ihnen bereits ermöglicht, Entdeckungen zu<br />

machen, die später der Analyse von Bandornamenten in<br />

der Grundschule zugute kommen.<br />

Im Anfangsunterricht muss beim Arbeiten mit Bandornamenten<br />

berücksichtigt werden, dass Kinder über Alltagserfahrungen<br />

zu Achsensymmetrien, wie z. B. Spiegelung<br />

im Wasser oder an konkreten Gegenständen wie z. B.<br />

an Pflanzen- und Tierformen verfügen. Alle diese Erfahrungen<br />

sind eher statischer Art, sie beziehen sich auf<br />

Eigenschaften von Objekten, die im Zustand der Ruhe<br />

durch Betrachten gewonnen wurden. Als Voraussetzung<br />

für entsprechende Vorstellungsleistungen sind Wahrneh-


mungen von Prozessen überaus wichtig. Deshalb ist es<br />

notwendig, dass Kinder zu gezielter Beobachtung angeregt<br />

werden, um Wesentliches in Prozessen entdecken<br />

zu lernen. Nicht erst in der Grundschule sollten sie derartige<br />

Beobachtungen machen dürfen.<br />

Literatur<br />

❙ Eichler, K.-P. (2006a): Stell’ dir vor, ich seh’ es nicht.<br />

Promotion ❘ Bandornamente im Elementarbereich<br />

– In: Grundschule Mathematik, Heft 10, S.5.<br />

❙ Peters, S. (2009): Zum Musterverständnis von Kindern<br />

im Elementarbereich dargestellt am Beispiel der<br />

Arbeit mit Bandornamenten. – Dissertation. <strong>Schwäbisch</strong><br />

<strong>Gmünd</strong>: <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong>.<br />

❙ Peters, S. (2010): Zum Musterverständnis von Kindern<br />

im Elementarbereich dargestellt am Beispiel der<br />

Arbeit mit Bandornamenten. Stuttgart: SWB.<br />

Dr. Sabine Hielscher (geb. Peters) ist seit 1981 Grundschullehrerin und seit 1990<br />

Diplompädagogin. Sie hat langjährige Erfahrungen als Klassenleiterin erster und zweiter Klassen.<br />

Seit 1991 leitet sie Grundschulen in Rostock und im Großraum Hamburg. Referententätigkeit<br />

im Bereich Lehrerfortbildung führt sie seither bundesweit durch. Heute lebt sie in Bremen. Die<br />

Promotion an der <strong>Pädagogische</strong>n <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> absolvierte sie neben ihrer<br />

beruflichen Tätigkeit. Das vorgestellte Forschungsprojekt ist innerhalb der Arbeitsgruppe von<br />

Prof. Dr. Klaus-Peter Eichler »Frühe Bildung Geometrie« entstanden.<br />

<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> Forum Forschung Mai 2011 27


Promotion ❘ Funktionales Denken in den baden-württembergischen Bildungsplänen<br />

Funktionales Denken in<br />

den baden-württembergischen<br />

Bildungsplänen<br />

Dr. Thilo Höfer<br />

Vergleich und Diskussion der Anforderungen in Werkrealschule, Realschule und Gymnasium in<br />

der Sekundarstufe I<br />

Arbeitsgruppe: Prof. Dr. Astrid Beckmann, PH <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />

Zweitgutachter: Prof. Dr. Claus Michelsen, Syddansk Universitet, Odense (Dk)<br />

Abstract: The idea of mathematical functions has been used in mathematics for more than 200 years. The concept<br />

of function, including the associated didactics, has been enhanced ever since. The result of current research shows<br />

that many difficulties still exist for students dealing with this concept. Many models to describe and improve the<br />

processes of teaching, learning, understanding and problem solving have been developed in order to tackle the<br />

variety of difficulties associated with this concept. The author’s dissertation aims to integrate the most important ones<br />

and implement these into one “master model” named “house of functional thinking” in order to have one common<br />

model to deal with and compare previous and further research. The following article shows the results of the analysis<br />

of German school curricula using the “house of functional thinking” as an analyzing tool. The main objective of<br />

this research was to determine the kinds of skills, which are demanded of students of different ages by the curricula<br />

of different school forms (Werkrealschule, Realschule and Gymnasium). Considering these results, the consequences<br />

for students changing from one school form to another are discussed.<br />

Mit der Formulierung der Bildungspläne 2004 wurden<br />

die curricularen Vorgaben völlig anders als bisher<br />

gewohnt dargestellt. Anstatt den Schwerpunkt wie bisher<br />

auf die Inhalte zu setzen, wurden nun Kompetenzen<br />

in den Fokus gestellt. Gleichzeitig wurde flächendeckend<br />

das achtjährige Gymnasium eingeführt und die<br />

Werk realschule ersetzt vielerorts die klassischen Hauptschulen.<br />

Im Folgenden wird eine Untersuchung vorgestellt, die<br />

aus dem Blickwinkel des funktionalen Denkens heraus<br />

die Auswirkungen aus diesen Neuerungen innerhalb<br />

des Schulsystems in Baden-Württemberg analysiert und<br />

diskutiert. Dies wird an eingehenden empirischen Untersuchungen<br />

zu Leistungsständen von Schülerinnen und<br />

Schülern mit mittlerer Reife und zur Analyse einer Un-<br />

28 Forum Forschung Mai 2011 <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />

terrichtssequenz zur Einführung von Funktionen gezeigt.<br />

Der vorliegende Artikel stellt die Untersuchung zu den<br />

Bildungsplänen dar.<br />

Funktionales Denken und seine Rolle für den<br />

Unterricht<br />

Seit über 200 Jahren wird in der Mathematik der Begriff<br />

der Funktion verwendet. Das Verständnis für diesen Begriff<br />

hat sich in dieser Zeit ständig verändert. Es entwickelten<br />

sich mehrere Modelle, die das Lernen von Funktionen,<br />

Funktionsbegriff und funktionalem Denken beschreiben<br />

und gleichzeitig die Möglichkeit enthalten, Probleme zu<br />

erfassen und Lösungsansätze zu entwickeln. Sie decken<br />

dabei zwei disjunkte Teilbereiche ab: Die Sichtweise (z.<br />

B. Sfard 1987 und Vollrath 1989) und die Darstellungsform<br />

(z. B. Swan 1982) von Funktionen.


Funktionales Denken wird als die Fähigkeit verstanden,<br />

kognitives Wissen im Bereich mathematischer Funktionen<br />

problemangewandt einsetzen zu können. Mit der<br />

Fähigkeit zu funktionalem Denken ist somit nicht nur das<br />

algebraische Problemlösen verbunden, sondern auch<br />

die Fähigkeit zur Interpretation – beispielsweise von Diagrammen<br />

– die in vielen Bereichen des täglichen Lebens<br />

benötigt wird. In diesem Sinne ist das funktionale Denken<br />

inzwischen ein zentraler Bestandteil der mathematical<br />

literacy (»mathematische Grundbildung«), die international<br />

durch Studien wie PISA und TIMMS überprüft wird.<br />

Die Fähigkeit zu möglichst weitreichendem funktionalen<br />

Denken ist somit eines der gemeinsamen internationalen<br />

Ziele des Mathematikunterrichts.<br />

Analysemodell »Das Haus des funktionalen Denkens«<br />

Zu einem umfassenden funktionalen Denken gehören<br />

vielfältige Fähigkeiten. So müssen die Repräsentationsformen<br />

von Funktionen (z. B. Graph, verbale Beschreibung,<br />

algebraischer Ausdruck, Tabelle) beherrscht und<br />

ineinander übersetzt werden können (vgl. Swan 1982).<br />

Außerdem muss die Sichtweise der Funktion problemangemessen<br />

gewählt werden können. Je nach Bedarf sollte<br />

man sie als punktweise Zuordnung (sog. Aktionsebene),<br />

als dynamischen Vorgang (Prozessebene) oder sogar<br />

als eigenständig manipulierbares Objekt (Objektebene)<br />

betrachten können (vgl. Sfard 1991, DeMarois & Tall<br />

1996 u.v.a.m.). In Höfer (2008) werden diese Fähigkeiten<br />

in einem Haus des funktionalen Denkens abgebildet<br />

(Abb. 1). Dieses Modell ist die Basis der folgenden<br />

Analyse der Bildungspläne.<br />

Abbildung 1: Das Haus des funktionalen Denkens.<br />

Die Auswertung der in den Bildungsplänen geforderten<br />

Bausteine des Hauses des funktionalen Denkens erfolgte<br />

durch konsequente Analyse der darin formulierten Kompetenzen.<br />

Beispielsweise findet man im Bildungsplan für<br />

Gymnasien (Klasse 6) die Kompetenz »Zahlterme interpretieren<br />

und berechnen können«. Die Berechnung und<br />

Interpretation von Zahltermen schult dabei einerseits die<br />

Übersetzungsfähigkeit A→B auf Aktionsebene, andererseits<br />

ist sie eine Übung zum Erreichen der Aktionsebene<br />

A→T, da man zur Vervollständigung einer Tabelle häufig<br />

Punkt für Punkt den gegebenen Term berechnen muss.<br />

Entsprechend wurden alle zum funktionalen Denken gehörenden<br />

Kompetenzen den Bausteinen zugeordnet (Die<br />

vollständige Auswertung befindet sich in Höfer (2008),<br />

S. 158 – 188.). Anschließend wurden sie mit Hilfe der<br />

folgenden Legende (Abb. 2) visualisiert.<br />

Promotion ❘ Funktionales Denken in den baden-württembergischen Bildungsplänen<br />

Abbildung 2: Legende zu den Darstellungen der Analyseergebnisse.<br />

Die Forschungsfragen<br />

Das Hauptaugenmerk des Vergleichs liegt in der Frage,<br />

wie sich die Dreigliedrigkeit des Schulsystems auf die<br />

Anforderungen zum funktionalen Denken auswirkt. So<br />

wird untersucht, ob die multilaterale Versetzungsordnung<br />

(Verordnung des Kultusministeriums über den Übergang<br />

zwischen Hauptschulen, Realschulen und Gymnasien<br />

der Normalform (»multilaterale Versetzungsordnung«)<br />

vom 19. Juli 1985 (GBI. 1985, S. 285; KuU 1985, S.<br />

360) zuletzt geändert am 17. April 2002 (KuU 2002, S.<br />

193) im Bereich des funktionalen Denkens durch die Bildungspläne<br />

unterstützt wird. Darin wird es beispielsweise<br />

ermöglicht, bei entsprechenden Notendurchschnitten<br />

in den Klassenstufen 5 und 6 zwischen allen Schularten<br />

ohne Wiederholung eines Schuljahres zu wechseln. Es<br />

kann sogar ein Hauptschüler dieser Klassenstufen (»ausnahmsweise<br />

und bei überdurchschnittlicher Leistung«)<br />

ohne Zusatzprüfung auf das Gymnasium wechseln.<br />

Des Weiteren wird ein Vergleich der Standards für die<br />

mittlere Reife stattfinden. Sowohl der Abschluss der Werkrealschule<br />

und der Realschule, als auch die Versetzung<br />

nach Klasse 11 im Gymnasium zählen als gleichwertige<br />

Schulabschlüsse (Mittlere Reife). Es wird betrachtet,<br />

inwieweit die in den Bildungsplänen formulierten Standards<br />

diese Gleichwertigkeit widerspiegeln.<br />

Die Bildungspläne für die Klassen 5/6<br />

Auf den ersten Blick fällt auf, dass im Bildungsplan der<br />

Realschule (Klasse 6) – im Gegensatz zu Gymnasium<br />

und Hauptschule – noch keine Leitidee »funk tionaler<br />

Zusammen hang« formuliert wird. Bei näherer Betrachtung<br />

stellt man jedoch fest, dass dies keinesfalls zu einer<br />

Vernachlässigung des funktionalen Den kens führt.<br />

Vielmehr sind die entsprechenden Forderungen auf<br />

dieser Klassen stufe in anderen Leitideen integriert. So<br />

erkennt man beim Ver gleich der Abbildungen (in Abb. 3)<br />

nur wenige Unterschiede: Lediglich die eine Ent wicklung<br />

im Umfeld der grafischen Darstellung von Funktionen fördernden<br />

Standards sind in der Realschule schwächer<br />

vertreten als im Gym na sium. Insgesamt folgt, dass sich<br />

die Ausprägung des funktionalen Denkens nicht so<br />

stark unterscheidet, als dass dies einen leistungsstarken<br />

<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> Forum Forschung Mai 2011 29


Promotion ❘ Funktionales Denken in den baden-württembergischen Bildungsplänen<br />

Abbildung 3: Ergebnisse aus der Untersuchung der Bildungspläne (Klasse 6) für<br />

Gymnasium (oben), Realschule (Mitte) und Werkrealschule (unten).<br />

Realschüler am Wechsel auf das Gymnasium hindern<br />

könnte.<br />

So nah sich diese beiden Bildungspläne kommen, so<br />

weit sind sie von denen der Hauptschule entfernt. Dies<br />

stellt man z.B. an der fehlenden Einführung der Variablen<br />

in der Hauptschule fest. Sowohl in den Standards<br />

der Realschule als auch in denen des Gymnasiums wird<br />

durch das Arbeiten mit Variablen die Grundlage für das<br />

Verständnis der algebraischen Ausdrucksweise von Funktionen<br />

gelegt. Des Weiteren wird durch Variation der Variablen<br />

ein Einstieg in die Prozessebene ermöglicht, der<br />

in den Hauptschulstandards nicht vorgesehen ist. Hier<br />

bleibt die Ausprägung der Grundbausteine des Hauses<br />

des funktionalen Denkens deutlich hinter denen der<br />

Realschule und des Gymnasiums zurück (vgl. Abb. 3),<br />

so dass ein Übergang selbst im Bereich des funktionalen<br />

Denkens nur möglich sein kann, wenn der betreffende<br />

Schüler zusätzlich auf diese Ansprüche vorbereitet wird.<br />

30 Forum Forschung Mai 2011 <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />

Die Bildungspläne für die Klassen 7/8<br />

Die Klassen 7/8 sind (nach der »Orientierungsstufe«<br />

5/6) der Einstieg in ein »Auseinanderdriften« der einzelnen<br />

Schularten. Dies ist von der Intention der Schularten<br />

sicherlich erwünscht und zwingend erforderlich. Sowohl<br />

die deutlichen Unterschiede im Leistungsvermögen machen<br />

dies nötig, als auch der Blick auf die Art der Berufszweige,<br />

auf die die Schularten vorbereiten müssen. Andererseits<br />

verlangt die multilaterale Versetzungsordnung<br />

auch in den Klassen 7 – 10 eine Durchlässigkeit ohne<br />

Zusatzprüfung zwischen »benachbarten« Schularten<br />

(Hauptschule – Realschule sowie Realschule – Gymnasium).<br />

So kann z.B. ein Hauptschüler in die nächsthöhere<br />

Klasse an der Realschule versetzt werden, wenn er in<br />

Abbildung 4: Ergebnisse aus der Untersuchung der Bildungspläne (Klasse 8) für<br />

Gymnasium (oben), Realschule (Mitte) und Werkrealschule (unten, Klasse 9!).


den Fächern Deutsch, Mathematik und Fremdsprache<br />

die Note gut und in allen weiteren Fächern die Note<br />

befriedigend erhalten hat. Für seine mathematischen<br />

Fähigkeiten bedeutet dies laut Notenverordnung (Verordnung<br />

des Kultusministeriums über die Notenbildung<br />

(NVO) vom 5.Mai 1983 (K. u. U., S. 449), zuletzt<br />

geändert am 23.März 2004 (K. u. U., S. 87)), dass sie<br />

den Anforderungen voll entsprechen. Er muss also keine<br />

über die Hauptschul(!)standards hinausgehenden Fähigkeiten<br />

besitzen. Ähnliches gilt auch für Realschüler beim<br />

Übergang in das Gymnasium. Wenn diese Verordnung<br />

tatsächlich durchführbar sein soll, so muss gewährleistet<br />

sein, dass die grundlegenden Anforderungen der benachbarten<br />

Schularten annähernd gleich sind. Betrachtet<br />

man nun die Auswertung im Rahmen des funktionalen<br />

Denkens, so stellt man fest, dass die gelehrten Inhalte<br />

in Klasse 7/8 am Gymnasium zwar deutlich weiter reichen<br />

als an den Realschulen (quadratische- und Potenzfunktionen<br />

vs. lineare Funktionen), die Kompetenzen zu<br />

Darstellungswechseln sich dagegen sehr nahe kommen.<br />

Ein guter Realschüler hat somit zwar nicht alle Inhalte<br />

seiner gymnasialen Mitschüler erlernt, jedoch die grundlegenden<br />

Kompetenzen erworben, um am Gymnasium<br />

erfolgreich zu sein.<br />

Katastrophal fällt dagegen die Analyse der Werkrealschulstandards<br />

aus. Obwohl diese sich schon auf die<br />

Klasse 9 beziehen, stellen sie im Vergleich zu Realschulen<br />

(Kl. 8) weitaus geringere Anforderungen. So findet<br />

man vor allem in Bereichen der algebraischen Darstellung<br />

selbst auf Aktionsebene noch große Lücken. Auch<br />

die Prozessebene kommt sehr undeutlich zum Vorschein.<br />

Nur das »volle Entsprechen der Anforderungen« der<br />

Hauptschulstandards ist somit innerhalb des funktionalen<br />

Denkens zu wenig, um in der Realschule die Schullaufbahn<br />

erfolgreich fortsetzen zu können.<br />

Die Bildungspläne für die Klassen 10<br />

Der Abschluss der 10. Klasse ist die »mittlere Reife«. In<br />

Bezug auf die Arbeitswelt ergibt sich dadurch ein im<br />

Vergleich zum Hauptschulabschluss breiteres Spektrum<br />

an Ausbildungsberufen. Vor allem der Zugang zu kaufmännischen<br />

Berufen benötigt meistens die mittlere Reife.<br />

Gerade in diesen Berufen wird aber eine Vertrautheit mit<br />

mathematischen Methoden vorausgesetzt, hierzu zählt<br />

insbesondere das Beherrschen der Prozess ebene. Diese<br />

Intention erkennt man in allen Bildungsplänen wieder.<br />

Die Werkrealschulen haben es dabei schwer, da sie<br />

viel aufzuholen haben. Dennoch kann man auch hier<br />

die Prozessebene als weitest gehend komplett ansehen.<br />

Der Unterschied zu Realschülern ist weniger in der Prozessebene,<br />

als viel mehr im fehlenden Einblick in die<br />

Objektebene zu suchen. Er wird in Realschulen durchgeführt<br />

und dient dort unter anderem dazu, den Unterricht<br />

an weiterführenden Gymnasien vorzubereiten. Dies fehlt<br />

den Werkrealschülern. Aus Sicht des funktionalen Denkens<br />

sind die Werkrealschüler somit auf das Berufsleben<br />

ausreichend vorbereitet, es fehlen ihnen jedoch Grundlagen<br />

für die Fortsetzung der Schullaufbahn an weiterführenden<br />

Gymnasien, die sie dann in Eigenarbeit nachar-<br />

Promotion ❘ Funktionales Denken in den baden-württembergischen Bildungsplänen<br />

Abbildung 5: Ergebnisse aus der Untersuchung der Bildungspläne (Klasse 10) für<br />

Gymnasium (oben), Realschule (Mitte) und Werkrealschule (unten).<br />

beiten müssten (Dies deckt sich mit den Ergebnissen in<br />

einer Untersuchung in Höfer (2008), S. 71 – 102).<br />

Der Vergleich Gymnasium vs. Realschule zeigt, dass der<br />

Unterschied – vor allem im Bereich der algebraischen<br />

Dar stel lung – vorhanden, jedoch nicht unüberbrückbar<br />

ist. Dies spielt vor allem dann eine Rolle, wenn man<br />

die verschiedenen Leis tungsstärken der Schü ler innen<br />

und Schüler mit einbezieht. So ergab nicht zuletzt die<br />

PISA-Studie eine deutliche schulart-übergreifende Überlappung.<br />

<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> Forum Forschung Mai 2011 31


Promotion ❘ Funktionales Denken in den baden-württembergischen Bildungsplänen<br />

Fazit<br />

Wenn man eine gute Vorbereitung für das Berufsleben<br />

als primäres Ziel von Werkrealschulen und Realschulen<br />

voraussetzt, so sind beide Abschlüsse vergleichbar.<br />

Problematisch sind die Bildungspläne im Bereich des<br />

funktionalen Denkens in Bezug auf die multilaterale Versetzungsordnung.<br />

Hier ergab sich eine deutliche Diskrepanz<br />

zwischen den Möglichkeiten dieser Verordnung<br />

und dem tatsächlichen Leistungsvermögen der Schüler.<br />

Vor allem ein Wechsel aus der Werkrealschule in eine<br />

höhere Schulform scheint nicht realistisch, da die Nivellierung<br />

an die Realschule erst in den letzten beiden Werkrealschuljahren<br />

geschieht. Diese späte »Aufholjagd«<br />

und das damit verbundene hohe Lerntempo könnten Probleme<br />

hervorrufen. Dies sollte in der Zukunft untersucht<br />

werden.<br />

Die grundlegenden Anforderungen an Realschüler halten<br />

sich dagegen sehr nah an die der Gymnasiasten.<br />

Hier wurde erreicht, dass die Kompetenzen sehr ähnlich<br />

sind und die Unterschiede durch ein »mehr« an Inhalten<br />

hervortreten. Wünschenswert wäre es jedoch gewesen,<br />

dass die Inhalte wenigstens in der Orientierungsstufe<br />

noch nicht so stark auseinanderdriften. In wiefern sich<br />

dies negativ auf den Wechsel von Realschülern auf das<br />

Gymnasium auswirkt, wäre eine weitere notwendige<br />

Untersuchung. Dazu wäre ein Blick auf den PISA-Spitzenreiter<br />

Bayern sicherlich hilfreich: Dort gestaltet der Bildungsplan<br />

das Lerntempo in der Orientierungsstufe auch<br />

im achtjährigen Gymnasium noch so verhalten, wie dies<br />

aus dem neunjährigen Gymnasium bekannt ist (vgl. Höfer<br />

(2008), S. 158 ff).<br />

Literatur:<br />

❙ DeMarois, Phil; Tall, David (1996): Facets and Layers<br />

of the Function Concept. In: Proceedings of PME 20,<br />

2, S. 297 – 304, Valencia.<br />

❙ Höfer, Thilo (2008): Das Haus des funktionalen<br />

Denkens – Entwicklung und Erprobung eines Modells<br />

für die Planung und Analyse methodischer und<br />

didaktischer Konzepte zur Förderung des funktionalen<br />

Denkens. Hildesheim: Franzbecker.<br />

❙ Sfard, Anna (1987): Two Conceptions of Mathematical<br />

Notions: Operational and Structural. In: Proceedings<br />

of the 11th International Conference of PME,<br />

Dr. Thilo Höfer ist Diplom-Mathematiker und Studienrat für Mathematik und Physik am Staufer-<br />

Gymnasium Waiblingen. Von 2004 bis 2008 war er an die PH <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> abgeordnet<br />

und promovierte am Institut für Mathematik und Informatik im Bereich »Funktionales Denken«.<br />

32 Forum Forschung Mai 2011 <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />

Vol. III, Montreal, S. 162 – 169.<br />

❙ Sfard, Anna (1991): On the Dual Nature of Mathematical<br />

Conceptions: Reflections on Processes and<br />

Objects as Different Sides of the same Concept.<br />

In: Educational Studies in Mathematics 22, Kluwer,<br />

Netherlands, S. 1 – 36.<br />

❙ Swan, Malcolm (1982): The teaching of functions<br />

and graphs. In: Conference on functions, 1 – 5, S.<br />

151 – 165, Enschede.<br />

❙ Vollrath, Hans-Joachim (1989): Funktionales Denken.<br />

In: Journal der Mathematikdidaktik 10, S. 3 – 37.


Promotion ❘ Funktionales Denken in den baden-württembergischen Bildungsplänen<br />

<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> Forum Forschung Mai 2011 33


Promotion ❘ Dynamische Geometrie-Systeme in der Hauptschule<br />

Dynamische Geometrie-Systeme<br />

in der Hauptschule<br />

Dr. Andreas Kittel<br />

Arbeitsgruppe: Prof. Dr. Astrid Beckmann, PH <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />

Zweitgutachter: Prof. Dr. Ulrich Kortenkamp, PH Karlsruhe<br />

Abstract: Geometry lessons can be enriched by using dynamic geometry systems. Self control, new dynamic possibilities<br />

and “learning by doing” are ways to improve education. The dynamic geometry systems are mainly used by<br />

higher level schools but they are nearly unknown in basic level schools. To explain this phenomenon, a study has<br />

been done. The following questions were the main subject of the study: Why should these systems be used in basic<br />

level schools? Why are these systems nearly unknown in basic level schools? Are students able to solve mathematical<br />

problems adequately with these geometry systems? These questions were researched in two different studies.<br />

One study contained guideline interview with teachers, the other with students. The conversations were transliterated<br />

and qualitatively evaluated by interaction analysis (Krummheuer/Naujok 1999).<br />

Geometrieunterricht kann durch den Einsatz von<br />

Dynamischen Geometrie-Systemen um viele Nuancen,<br />

wie beispielsweise entdeckendem Lernen, Selbstkontrolle<br />

und neuen dynamischen Möglichkeiten, bereichert<br />

werden. Allerdings wird dies momentan nur in Realschulen<br />

und Gymnasien praktiziert. In Hauptschulen<br />

dagegen werden diese Systeme bislang kaum eingesetzt.<br />

Um dieses Phänomen erklären zu können, wurde eine<br />

Untersuchung konzipiert, die sich mit unterschiedlichen<br />

Themen zu diesem Gegenstand auseinander setzt. Als<br />

Schwerpunkt wurden dabei vor allem folgende Fragestellungen<br />

untersucht: Welche Argumente sprechen für<br />

einen Einsatz von Dynamischen Geometrie-Systemen in<br />

der Hauptschule? Welche Gründe gibt es, dass diese<br />

Systeme in der Hauptschule eine untergeordnete Rolle<br />

spielen? Sind Hauptschülerinnen und -schüler in der<br />

Lage, mit diesen Systemen mathematische Probleme<br />

adäquat lösen können? Diese Fragestellungen wurden<br />

in zwei zusammengehörigen Studien untersucht. Zum<br />

einen kamen dabei Leitfadeninterviews mit Lehrkräften<br />

zum Einsatz, zum anderen eine Laboruntersuchung mit<br />

Schülerpaaren, deren Gespräche transkribiert und mit<br />

Hilfe der Interaktionsanalyse (vgl. Krummheuer/Naujok<br />

1999) qualitativ ausgewertet wurden.<br />

34 Forum Forschung Mai 2011 <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />

Der Geometrieunterricht kann durch die Verwendung eines<br />

Computers um viele Nuancen bereichert werden.<br />

So bieten beispielsweise Dynamische Geometrie-Systeme<br />

(DGS) die Möglichkeit, die in den Schulheften starre<br />

Geometrie beweglich zu machen und dadurch eine vollständig<br />

neue Sichtweise auf viele Probleme der Geometrie<br />

zu gewinnen.<br />

Abb. 1: Euklid DynaGeo als ein mögliches Programm zur Realisation dynamischer<br />

Geometrie.


Aus einer einzelnen Zeichnung entsteht so durch Variation<br />

eine Figur, die die Grundeigenschaften der Konstruktion<br />

beibehält. Dies lässt sich gut beim Schnittpunkt<br />

der Mittelsenkrechten im Dreieck zeigen. Durch Variation<br />

eines Eckpunktes des Dreiecks lässt sich die Lage des<br />

Schnittpunktes verändern.<br />

Abb. 2: Schnittpunkt der Mittelsenkrechten durch Variation der Eckpunkte.<br />

In vielen Forschungsprojekten, Aufgabensammlungen<br />

und Erfahrungsberichten aus dem Schulalltag wird gezeigt,<br />

wie der Einsatz von Dynamischen-Geometrie-Systemen<br />

(DGS) zum besseren Verstehen von geometrischen<br />

Zusammenhängen beitragen kann (vgl. Elschenbroich et<br />

al. 2000; 2005, Hölzl 1994, Ritter 2002, Roth 2005,<br />

Schumann 2001). Alle diese Untersuchungen beziehen<br />

sich auf den Einsatz dieser Systeme in Realschulen oder<br />

Gymnasien. Hauptschulen wurden bislang nicht berücksichtigt.<br />

Traut man Hauptschülerinnen und -schülern den<br />

Umgang mit diesen Systemen nicht zu, gibt es keine<br />

passenden Unterrichtsstoffe im Bildungsplan oder gibt<br />

es weitere Gründe, DGS in der Hauptschule nicht zu<br />

berücksichtigen?<br />

Leitfadeninterviews<br />

Um Gründe für die oben genannte Unterrepräsentanz zu<br />

finden, wurde ein Leitfadeninterview entwickelt, das verschiedene<br />

Schwerpunktfragen zum Rechnereinsatz in der<br />

Schule beinhaltet. Dieses Interview wurde mit Lehrkräften<br />

aus unterschiedlichen Hauptschulen durchgeführt.<br />

Die Analyse der Interviews erfolgte nach Schmidt<br />

(2003, S. 447ff.) in fünf Phasen. In einem ersten Schritt<br />

werden dabei Auswertungskategorien gebildet. Im<br />

zweiten Schritt werden diese zu einem Codierleitfaden<br />

zusammen gestellt, während im dritten Schritt die<br />

Codierung des Materials erfolgt. Der vierte Schritt stellt<br />

die quantifizierende Materialübersicht dar, in dem die<br />

Kategorien quantifiziert werden. Durch die Anzahl der<br />

Aussagen kann die Aussagekraft verstärkt werden. Im<br />

fünften Schritt, der vertiefenden Fallinterpretation, werden<br />

die Hypothesen nochmals überprüft.<br />

Die Ergebnisse der Auswertung dieser Interviews lassen<br />

sich in vier wesentlichen Punkten kategorisieren.<br />

Mangelnde Kompetenz der Lehrer: Vielen Hauptschullehrkräften<br />

sind DGS bzw. deren Bedienung unbekannt.<br />

Schwierigkeiten bei der Organisation des Computerunterrichts:<br />

Der 45 Minuten Takt wird als störend empfunden<br />

bzw. nicht in Einklang mit der Belegung des Computerraumes<br />

gebracht. Hinzu kommt die ungenügende<br />

Computer- bzw. Softwareausstattung an der Schule.<br />

Promotion ❘ Dynamische Geometrie-Systeme in der Hauptschule<br />

Priorität von Unterrichtsinhalten: Geometrie gilt als nicht<br />

so wichtig erachteter Unterrichtsstoff. Die Prüfungen müssen<br />

mit traditionellen Werkzeugen abgelegt werden.<br />

Kompetenz der Schüler und Lernerfolg: Es gibt die Befürchtung,<br />

dass Schülerinnen und Schüler mehr mit dem<br />

Programm als mit mathematischen Inhalten beschäftigt<br />

sind. Nutzungsmöglichkeit und Aufgabenstellungen, die<br />

sich für DGS eignen, sind unbekannt.<br />

Die ersten drei Argumente befassen sich hauptsächlich<br />

mit organisatorischen Fragestellungen. Beim vierten Argument,<br />

das sich auf die Kompetenz der Schülerinnen<br />

und Schüler im Umgang mit DGS bezieht, handelt es<br />

sich auf Grund fehlender Erfahrung erst um eine Vermutung.<br />

Ob sie zutrifft oder widerlegt werden kann, musste<br />

durch eine weitere Untersuchung geklärt werden.<br />

Empirische Untersuchung<br />

Im Schuljahr 2004/05 wurden zur Klärung dieser Frage<br />

in einer größeren empirischen Untersuchung Hauptschülerinnen<br />

und -schüler in ihrem Umgang mit DGS<br />

begleitet. Dabei bearbeiteten jeweils zwei Schülerinnen<br />

oder Schüler Aufgaben am Computer unter Aufsicht eines<br />

Interviewers. Da sie bisher keine Erfahrungen mit<br />

diesen Systemen hatten, wurde zur Einführung eine Aufgabenstellung<br />

formuliert, bei der die Schülerinnen und<br />

Schüler Figuren aus ihrer Fantasie erstellen sollten (Kittel<br />

2006). Dies geschah in Anlehnung an ein englisches<br />

Schulprojekt (Hölzl 1994). Alle Körperteile sollten miteinander<br />

verbunden sein oder in Abhängigkeit zueinander<br />

stehen. Dabei standen die Entdeckung des Zugmodus<br />

und der unterschiedlichen Punktarten im Vordergrund.<br />

Abb.3: Fantasiefiguren mit voneinander abhängigen Körperteilen.<br />

Nach dieser kurzen Begegnung mit dem DGS Dyna-<br />

Geo sollten die Schülerinnen und Schüler Aufgaben<br />

lösen, die sich auf den Bildungsplan des Landes Baden-<br />

Württemberg beziehen. Die Schülerinnen und Schüler<br />

sollten darin einen Punkt finden, der von drei gegebenen<br />

Punkten den gleichen Abstand hat, also den Schnittpunkt<br />

der Mittelsenkrechten im Dreieck. Dazu wurde eine Aufgabensequenz<br />

entwickelt, die Schülerinnen und Schüler<br />

auf ihrem Weg dorthin begleitet hat.<br />

<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> Forum Forschung Mai 2011 35


Promotion ❘ Dynamische Geometrie-Systeme in der Hauptschule<br />

Diese Aufgabensequenz wurde einer Hälfte der Schülerinnen<br />

und Schüler in kontextgebundener Form, der anderen<br />

Hälfte als rein mathematisch formulierte Aufgaben<br />

vorgelegt.<br />

Methode<br />

Während bei vielen anderen Forschungsvorhaben (vgl.<br />

Gawlick 2002) zum Themenbereich DGS quantitative<br />

Vergleiche zwischen traditioneller Paper-Pencil und DGS<br />

im Mittelpunkt standen, sollte hier rein qualitativ untersucht<br />

werden, ob Schülerinnen und Schüler der Hauptschule<br />

in der Lage sind, qualifiziert mit diesen für sie neuen<br />

Systemen im Rahmen der Forschungsfragen umgehen<br />

können. 26 Schülerinnen und Schüler in 13 Gruppen<br />

wurden dazu zufällig ausgewählt. Die dabei entstandenen<br />

Interviews wurden in einer Forschungsgruppe (Autor<br />

des Artikels, Prof. Dr. habil Astrid Beckmann, Stud. Päd.<br />

Katrin Beiermeister, Stud. Päd. Stefanie Schüle; alle PH<br />

<strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong>) transkribiert und interpretativ nach<br />

Vorgaben der Interaktionsanalyse ausgewertet (Krummheuer/Naujok<br />

1999, 61 – 73). Diese Forschungsmethode<br />

setzt eine Gliederung der Interaktionseinheit voraus,<br />

ehe man über eine allgemeine Beschreibung zu<br />

einer ausführlichen Analyse der Einzeläußerungen gelangt.<br />

Sie mündet in der Turn by Turn Analyse, bei der<br />

die erhaltenen Deutungsalternativen eingeschränkt werden.<br />

Abschließend kann eine zusammenfassende Interpretation<br />

vorgenommen und der Anstoß zur Entwicklung<br />

einer dazugehörigen Theorie eingebracht werden.<br />

Als Untersuchungsziele wurden drei Hauptfragestellungen<br />

formuliert: Softwarespezifische Fragestellungen, Umgang<br />

mit dem Zugmodus, Bearbeitung der Aufgaben.<br />

Ergebnisse<br />

An dieser Stelle kann nur eine stichwortartige Auswahl<br />

der Ergebnisse präsentiert werden. Eine ausführliche<br />

Darstellung dieser Ergebnisse findet sich in Kittel (2007,<br />

S. 259ff.).<br />

Umgang mit der Software: Der Befehl »Rückgängig machen«<br />

hat eine zentrale Bedeutung. Die Schülerinnen<br />

und Schüler gehen ohne Angst vor Fehlern an dieses für<br />

sie neue Medium heran, da sie den oben genannten<br />

Befehl aus anderen Computeranwendungen kennen.<br />

Dabei ist aber trotzdem kaum ein wahlloses Vorgehen<br />

zu beobachten.<br />

Bei der Bearbeitung von Aufgaben werden sowohl bekannte<br />

als auch unbekannte Werkzeuge benutzt. Zur<br />

Entdeckung von unbekannten Werkzeugen werden die<br />

Symbole (Icons) und kurz eingeblendete Hilfstexte (Tooltipps)<br />

genutzt. Auf weitere Hilfen, wie Texte in der Statuszeile<br />

unterhalb des Konstruktionsfensters, müssen die<br />

Schülerinnen und Schüler aufmerksam gemacht werden.<br />

Abb. 4:<br />

Tooltipp mit Nennung des Werkzeugs Mittelsenkrechte.<br />

36 Forum Forschung Mai 2011 <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />

Lernende mit mehr Computererfahrung nutzen eher computereigene<br />

Strategien, wie die Übernahme von Teillösungen<br />

bei der Bearbeitung einer neuen Aufgabe.<br />

Umgang mit dem Zugmodus: Nach mehrmaligem Hinweis<br />

setzen Lernende den Zugmodus selbständig zur<br />

Überprüfung der Lösung ein. Allerdings hat sich dadurch<br />

auch gezeigt, dass der bisherige Geometrieunterricht<br />

kaum Einsicht in korrektes Konstruieren gefördert hat.<br />

Der Zugmodus wird häufig und eigenständig zum Variieren<br />

von Zeichnungen eingesetzt. Diese pragmatische<br />

Nutzung ist für Schülerinnen und Schüler der wichtigste<br />

Aspekt des Zugmodus.<br />

Bearbeitung der Aufgaben: Das Einblenden der Namen<br />

der verwendeten Werkzeuge (Tooltip-Funktion), wie beispielsweise<br />

Mittelsenkrechte, fördert die Verwendung<br />

mathematischer Fachwörter. Ebenso kann diese Funktion<br />

beim Erlernen eines neuen Begriffs unterstützend helfen.<br />

Arbeiten mit DGS und passender Aufgaben regt das<br />

Verwenden vielfältiger mathematischer Strategien, wie<br />

beispielsweise Vorwärtsarbeiten, Rückwärtsarbeiten,<br />

Analogisieren, Spezialisieren oder Generalisieren an.<br />

Diskussion<br />

Die hier vorgestellte Untersuchung hat gezeigt, dass<br />

Hauptschülerinnen und -schüler mit DGS mathematische<br />

Aufgaben angemessen lösen können. Beim Einsatz geeigneter<br />

Aufgaben beschäftigen sie sich dabei intensiv<br />

mit mathematischen Fragestellungen. Sie bewerkstelligen<br />

dies durch entdeckendes Lernen, die Nutzung vieler<br />

verschiedener mathematischer Strategien und durch<br />

Selbstkontrolle mit Hilfe des Zugmodus. Softwareprobleme<br />

sind von untergeordneter Natur und können meist mit<br />

den im Programm integrierten Hilfefunktionen selbständig<br />

gelöst werden. Bereits nach kurzer Zeit gehen die<br />

Jugendlichen routiniert mit den ihnen aus der Einführung<br />

bekannten Funktionen und Werkzeugen um. Die Befürchtungen<br />

der Lehrkräfte, dass die Schüler zu sehr mit der<br />

Oberfläche der Software beschäftigt sind und deshalb<br />

nicht in tieferes mathematisches Arbeiten eindringen können,<br />

haben sich in keiner Weise bestätigt. Gegenteilige<br />

Erfahrungen sind der Fall. Viele Vorteile, wie das korrekte<br />

Konstruieren, heuristische Entdeckungsformen oder<br />

Variationen nach dem operativen Prinzip, die speziell<br />

den Unterricht der Hauptschule ansprechen, geben Anlass,<br />

bei geeigneten Themen des Mathematikunterrichts<br />

DGS einzusetzen, ohne dass der traditionelle enaktive<br />

Geometrieunterricht der Hauptschule dabei vernachlässigt<br />

werden muss. Aber er kann durch den Einsatz von<br />

DGS um wichtige, in dieser Untersuchung vorgestellte<br />

Nuancen verbessert werden.<br />

Das von Lehrerseite vorgebrachte Argument, dass es nicht<br />

genügende Anwendungsmöglichkeiten für diese Systeme<br />

in der Hauptschule gäbe, konnte in einem Folgeprojekt<br />

entkräftet werden. Dabei wurden unterschiedliche zu<br />

den Bildungsstandards (2004) passende Aufgaben entwickelt<br />

und im Unterricht erprobt. (Kittel 2010)<br />

Bei der unterrichtspraktischen Gestaltung mit DGS soll-


ten aber auch Grenzen und Gefahren bedacht werden,<br />

die dieses System mit sich bringen kann. Elschenbroich<br />

(2005, S. 84f.) beschreibt diese in Bezug auf die Visualisierung:<br />

❙ »Easy-Paradoxon«: Bei perfekt visualisierten Lernumgebungen<br />

besteht die Gefahr, dass Lernende irrtümlich<br />

meinen, alles verstanden zu haben, da der Zug modus<br />

einsichtig ist. Die dahinter liegende Mathematik wird<br />

jedoch durch oberflächliche Betrachtung nicht entdeckt.<br />

❙ Nicht alle Lerntypen können durch Visualisierung gleichermaßen<br />

profitieren. Eher verbal-auditive Lerntypen<br />

haben es schwerer als optisch-visuelle.<br />

❙ »Bilder sind nicht selbstevident«. Bilder kommen beim<br />

Lernenden nicht immer so an, wie es die Lehrperson<br />

beabsichtigt.<br />

Unterricht mit DGS, der unter Berücksichtigung dieser Gefahren<br />

konzipiert wird, eignet sich für eigenaktives und<br />

schülerzentriertes Arbeiten, denn Lernen ist ein zutiefst<br />

individueller Prozess. Dieser aktive Konstruktionsprozess<br />

kann durch DGS angeregt werden. DGS selbst ist ein<br />

Werkzeug, das Hilfen zum entdeckenden Lernen gibt.<br />

Aufgrund der in der Untersuchung gewonnenen Ergeb-<br />

Literatur:<br />

❙ Bildungsstandards für den Hauptschulabschluss<br />

(2004). Beschluss der Kultusministerkonferenz (Hrsg.)<br />

vom 15.10.2004.<br />

❙ Elschenbroich, Hans-Jürgen; Günter Seebach (2000):<br />

Dynamisch Geometrie entdecken. Elektronische Arbeitsblätter<br />

mit Euklid-DynaGeo und Cabri II, CoTec,<br />

Rosenheim.<br />

❙ Elschenbroich, Hans-Jürgen (2005): Mit dynamischer<br />

Geometrie argumentieren und beweisen. In: Barzel,<br />

B., Hußmann, S., Leuders, T.: Computer, Internet &<br />

Co. Berlin, S. 76 – 85.<br />

❙ Gawlick, Thomas (2002): On dynamic geometry<br />

software in the regular classroom. ZDM.<br />

❙ Hölzl, Reinhard (1994): Im Zugmodus der Cabri-<br />

Geometrie. Weinheim.<br />

❙ Kittel, Andreas (2006): Dynamische Teddybären –<br />

Eine Einführung in DGS. PM 6/47.<br />

❙ Kittel, Andreas (2007): Dynamische Geometrie-Systeme<br />

in der Hauptschule. Eine interpretative Untersuchung<br />

an Fallbeispielen und ausgewählten Aufgaben<br />

der Sekundarstufe. Hildesheim/Berlin.<br />

❙ Kittel, Andreas (2010): Klicken – Ziehen – Staunen<br />

– Ergründen. Dynamische Geometrie-Systeme im<br />

Unterricht. Braunschweig.<br />

❙ Krummheuer, Götz; Naujok, Natascha (1999):<br />

Promotion ❘ Dynamische Geometrie-Systeme in der Hauptschule<br />

nisse kann die Schlussfolgerung gezogen werden, dass<br />

die Verwendung von DGS in der Hauptschule auf jeden<br />

Fall möglich ist und den Schülerinnen und Schülern dabei<br />

hilft, sich intensiv mit Mathematik auseinander zu<br />

setzen.<br />

Grundlagen und Beispiele Interpretativer Unterrichtsforschung.<br />

(Leske+Budrich) Oppladen.<br />

❙ Ritter, Wilhelm (2002): Ein Jahr dynamische Geometrie<br />

mit Geonext in der 8. Klasse. Bayreuth.<br />

❙ Roth, Jürgen (2005): Figuren verändern – Funktionen<br />

verstehen. In: Beiträge zum Mathematikunterricht.<br />

Hildesheim.<br />

❙ Schmidt, Christiane (2003): Analyse von Leitfadeninterviews.<br />

In: Flick, U.; von Kardorf, E.; Steinke,<br />

I. (Hrsg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch.<br />

(Rohwolt Taschenbuch Verlag) Hamburg (2. Auflage),<br />

S. 447 – 456.<br />

❙ Schumann, Heinz (2001): Modulares Arbeiten im<br />

Geometrieunterricht. In: Schumann H. (Hrsg.) Dynamische<br />

Geometrie – Offene Aufgaben – Analytische<br />

Geometrie. Weingarten.<br />

Dr. Andreas Kittel forscht und lehrt als Akademischer Rat am Institut für Mathematik und<br />

Informatik der <strong>Pädagogische</strong>n <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong>. Er ist ausgebildeter Grund-,<br />

Haupt- und Sonderschullehrer und hat langjährige Erfahrung als Klassenlehrer. Als Dozent war er<br />

auch an der PH Ludwigsburg tätig. Seine Schwerpunkte in Forschung und Lehre liegen im Bereich<br />

Dynamische Geometrie und Rechenstörungen in der Grund- und Hauptschule.<br />

<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> Forum Forschung Mai 2011 37


Promotion ❘ Multiple externe Repräsentationen (MERs) und deren Verknüpfung durch Computer einsatz<br />

Multiple externe Repräsentationen<br />

(MERs) und deren Verknüpfung<br />

durch Computer einsatz<br />

Zur Bedeutung für das Mathematiklernen im Anfangsunterricht<br />

Dr. Silke Ladel<br />

Arbeitsgruppe: Prof. Dr. Astrid Beckmann, PH <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong>, Prof. Dr. Ulrich Kortenkamp, PH Karlsruhe<br />

Abstract: Many pupils have problems translating numbers and operations from one form of representation into another.<br />

This is caused by the fact that the understanding of numbers and operations has not been well-trained. Often the<br />

changeover from actions with concrete objects to pictures and then to the manipulation with numbers happens too fast<br />

in class.<br />

Multiple mental models of representation suggest the use of multiple external representations (MERs) for a better understanding.<br />

International studies could prove that children already at the age of six years can use MERs effectively to solve<br />

tasks. The fact that a lot of children nevertheless only regard one single representation and cannot link it to another<br />

given representation points out a deficit of design principles for MERs and their implementation in primary school.<br />

An analysis of actual software shows that the existing findings of international studies are largely ignored. Indeed, there<br />

exists software for primary school that makes use of MERs, but the different forms of representation are mostly restricted<br />

to the symbolic and iconic form and the pupils cannot be active. Even if there is a possibility to be active with virtual<br />

objects, this form of representation is seldom linked with the other ones.<br />

After the observation of six and seven year-old pupils working with actual software, theory-based design principles<br />

that offer an effective use of MERs could be formulated. To exemplify the possible employment of these principles, they<br />

were implemented in the prototype doppelmoppel. Further research about the way children manipulate doppelmoppel<br />

could confirm the design principles and furthermore show the applicability of the prototype as a diagnostic tool.<br />

Problemstellung und Ziel der Arbeit<br />

Der mathematische Lernprozess verläuft unabhängig<br />

vom aktuellen arithmetischen Inhalt immer in denselben<br />

vier Phasen (vgl. Grissemann & Weber 2000, Aebli<br />

1987). Ausgehend vom konkreten Handeln und Operieren<br />

mit verschiedenartigen Materialien (Phase 1) werden<br />

die Handlungen und Operationen zu bildhaften<br />

Darstellungen abstrahiert (Phase 2). Anschließend geht<br />

man auf den Umgang mit Symbolen über (Phase 3) mit<br />

dem Ziel, diesen zu automatisieren (Phase 4) (Abb. 1<br />

rechts). Dabei muss das Kind die verschiedenen Darstel-<br />

38 Forum Forschung Mai 2011 <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />

Abb. 1: Zusammenhang des mathematischen Lernprozesses mit den<br />

verschiedenen Repräsentationsformen.


Promotion ❘ Multiple externe Repräsentationen (MERs) und deren Verknüpfung durch Computer einsatz<br />

Abb. 2: Beispiele für ein unvollständiges Zahl- und Operationsverständnis.<br />

lungsformen mental miteinander verknüpfen. Erst wenn<br />

das Kind Anforderungen in die unterschiedlichen Stufen<br />

der Abstraktion übersetzen kann (dargestellt durch die<br />

Doppelpfeile in Abb. 1 links), ist das Verständnis für den<br />

arithmetischen Inhalt vollständig ausgebildet.<br />

Die mentale Verknüpfung passiert beim Kind jedoch<br />

nicht automatisch. Das zeigt sich zum Beispiel dann,<br />

wenn Kinder Zahlen nicht als Anzahlen sondern personifiziert<br />

darstellen (Abb. 2 links) oder wenn Operationszeichen<br />

(im Beispiel »+«) nicht mit Handlungen verbunden<br />

werden sondern die Form des Zeichens mit Plättchen<br />

nachgelegt wird (Abb. 2 rechts).<br />

Die übergreifende Forschungsfrage dieser Promotionsarbeit<br />

lautete, inwiefern das Wissen über multiple externe<br />

Repräsentationen (MERs) und einer automatisierten Übersetzung<br />

zwischen den Repräsentationsformen (MELRs 1 )<br />

im Anfangsunterricht der Primarstufe genutzt werden<br />

kann, um die mentale Verknüpfung der Repräsentationsformen<br />

und damit den Prozess der Verinnerlichung<br />

im mathematischen Lernprozess durch den Einsatz des<br />

Computers zu unterstützen.<br />

Zu diesem Zweck wurde aktuelle Software analysiert<br />

und im konkreten Einsatz mit 60 Erst- und Zweitklässlern<br />

über einen Zeitraum von zehn Wochen erprobt. Die Ergebnisse<br />

dieser Untersuchung mündeten u.a. in die Formulierung<br />

von Gestaltungsprinzipien. Diese wurden im<br />

weiteren Verlauf der Arbeit in einem Prototyp exemplarisch<br />

umgesetzt. Während der Erstellung des Prototyps<br />

fanden immer wieder Zwischenerprobungen mit Kindern<br />

statt. Letztlich wurde der Prototyp über den Zeitraum von<br />

5 Wochen mit 28 Kindern aus drei ersten Klassen erprobt<br />

und evaluiert. Hierzu fanden mündliche Einzelinterviews<br />

sowie ein schriftlicher Pre- und Post-Test statt.<br />

Des Weiteren wurden Videoanalysen ausgewertet. In<br />

diesem Artikel wird lediglich auf ausgewählte Aspekte<br />

des letzteren Teils näher eingegangen.<br />

Multiple externe Repräsentationen und deren<br />

Verknüpfung<br />

Die mentale Verarbeitung visueller Reize unterscheidet<br />

sich von denen verbaler (vgl. Engelkamp & Zimmer<br />

2006, 202). In der Kognitiven Theorie des Multimedialen<br />

Lernens von Mayer (2005) geht dieser davon aus,<br />

dass Informationen in Form von Wörtern und Bilder über<br />

das sensumotorische Gedächtnis ins Arbeitsgedächtnis<br />

gelangen. Bevor die Integration des Vorwissens erfolgt,<br />

müssen das verbale und das piktoriale Modell mitein-<br />

Abb. 3: Zusammenhang der Verknüpfung externer Repräsentationen im mathematischen<br />

Lernprozess mit der Verknüpfung mentaler Repräsentationen in der<br />

Kognitiven Theorie des Multimedialen Lernens.<br />

ander verknüpft werden. Diese Verknüpfung stellt nach<br />

Mayer den entscheidenden Schritt im multimedialen Lernen<br />

dar. Eben diese Verknüpfung ist es, die den Kindern<br />

beim mathematischen Lernprozess Schwierigkeiten bereitet<br />

(Abb. 3).<br />

Nach dem so genannten multimedia principle erzeugt<br />

eine externe Repräsentation in Form einer Text-Bild-Kombination<br />

ein tieferes Verständnis, als wenn die Information<br />

z.B. rein als Text dargeboten wird (vgl. Mayer 2005,<br />

31). Dem entsprechend sollte beim Lernen von mathematischen<br />

Inhalten die enaktive Repräsentationsform mit<br />

der ikonischen und symbolischen Darstellung kombiniert<br />

darstellt werden. Solche multiplen externen Repräsentationen<br />

(MERs) sind bereits in vielen Schulbüchern zu<br />

finden (Abb. 4).<br />

Abb. 4: Beispiel einer MER im Schulbuch (Zahlenzauber1 2004, 20).<br />

Clements (1999) und auch Thompson (1992) stellten<br />

jedoch fest, dass Kinder die verschiedenen Repräsentationen<br />

trotz gleichzeitiger Darstellung nicht miteinander<br />

verknüpften. Sie führten es darauf zurück, dass die<br />

Schülerinnen und Schüler die Repräsentationsformen<br />

getrennt voneinander betrachteten. Der Computer bietet<br />

nun die Möglichkeit den Zusammenhang zwischen<br />

den verschiedenen Repräsentationsformen für die Kinder<br />

unmittelbarer erfahrbar zu machen. So können die<br />

Kinder in einer Repräsentationsform arbeiten während<br />

ihnen gleichzeitig die Auswirkungen ihres Tuns in einer<br />

anderen Repräsentationsform angezeigt werden (MELR).<br />

Dadurch wird der Zusammenhang direkt sichtbar. Das<br />

Arbeiten ist dabei auch am Computer auf sämtlichen<br />

Stufen der Abstraktion möglich: virtuell-enaktiv, ikonisch<br />

sowie symbolisch. Die automatische Übersetzung stellt<br />

eine wichtige Funktion und Stärke neuer Technologien<br />

im mathematischen Lernprozess dar (Kaput 1992, Lorenz<br />

1993). Die Verknüpfung bewirkt, dass Kindern der<br />

Bezug der Handlung zu den Zahlsymbolen deutlich wird<br />

<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> Forum Forschung Mai 2011 39


Promotion ❘ Multiple externe Repräsentationen (MERs) und deren Verknüpfung durch Computer einsatz<br />

und die Kinder darin unterstützt werden, ein besseres<br />

Verständnis für Symbole aufzubauen (Rogers, Scaife,<br />

Aldrich und Price 2003, 9).<br />

Während diese Tatsache beim Lernen von Mathematik<br />

in der Sekundarstufe seit einigen Jahren näher erforscht<br />

wird (vgl. Vogel 2006, Hoffkamp 2009), findet sie<br />

in der Grundschule weiterhin kaum Beachtung. Deshalb<br />

wurden in dieser Arbeit zunächst bestehende<br />

Gestaltungsprinzipien für MERs im Hinblick auf deren<br />

Gültigkeit beim Mathematiklernen in der Grundschule<br />

überprüft, sowie neue Gestaltungsprinzipien aus der<br />

Analyse des Umgangs von Schülerinnen und Schülern<br />

mit bestehender Software formuliert. Die Umsetzbarkeit<br />

der Gestaltungsprinzipien wurde anhand des Prototyps<br />

Doppelmoppel exemplarisch gezeigt und auf ihre Wirksamkeit<br />

hin evaluiert.<br />

Der Prototyp Doppelmoppel<br />

Den Kindern stehen grundsätzlich alle Repräsentationsformen<br />

zur Verfügung: die virtuell-enaktive, die schematisch-ikonische<br />

sowie die nonverbal-symbolische<br />

(Abb. 5).<br />

Abb. 5: MER beim Prototyp Doppelmoppel 2 .<br />

Die verschiedenen Repräsentationsformen liegen räumlich<br />

nah beieinander (spacial contiguity principle) und<br />

müssen nicht extra aufgerufen werden, sondern sind zeitlich<br />

simultan dargestellt (temporal contiguity principle).<br />

Ein Wechsel der Darstellungsform findet ausschließlich<br />

auf Wunsch der Kinder statt. Sie werden durch eingeblendete<br />

Pfeile darauf aufmerksam gemacht, dass ein<br />

Wechsel der Repräsentation möglich ist (signaling principle).<br />

Eine weitere Besonderheit dieses Prototyps ist,<br />

dass neben einzelnen Plättchen auch Fünferstapel zur<br />

Verfügung stehen, die ein schnelles Legen verschiedener<br />

Anzahlen ermöglichen. Sie unterstützen das Kind insbesondere<br />

dabei, nicht-zählende Strategien zu nutzen<br />

und Anzahlen mit Hilfe der »Kraft der Fünf« zu legen<br />

(vgl. Krauthausen 1995). Fünf Plättchen können mit einem<br />

Griff genommen und anschließend einzeln weiter<br />

verarbeitet werden (vgl. Ladel & Kortenkamp 2009).<br />

Zur Strukturierung ist ein Hunderterfeld als Arbeitsfläche<br />

gegeben. Des Weiteren steht den Kindern eine<br />

Aufräum-Funktion zur Verfügung, die bei Anklicken die<br />

Plättchen strukturiert und den Kindern so eine schnelle<br />

Anzahlerkennung ermöglicht. Für diesen Prototyp wurde<br />

als mathematischer Inhalt das Verdoppeln und Halbieren<br />

40 Forum Forschung Mai 2011 <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />

gewählt, weshalb als weitere Werkzeuge ein »Spiegel«<br />

sowie eine »Säge« zur Verfügung stehen. Um Fehlvorstellungen<br />

schnell entgegenzuwirken haben die Kinder<br />

außerdem die Möglichkeit sich zeitnah Rückmeldung<br />

geben zu lassen.<br />

Ausgewählte Ergebnisse der Evaluation<br />

Die Erprobung des Prototyps fand mit 28 Erstklässlern,<br />

die in vier Gruppen unterteilt waren, statt. Die Gruppen<br />

arbeiteten mit jeweils unterschiedlichen Repräsentationen.<br />

Bei der Arbeit mit MERs zeigte sich ein Zusammenhang<br />

zwischen der Wahl der Repräsentationsform(en), mit denen<br />

gearbeitet wurde und der Leistungsstärke der Kinder.<br />

Fehlte die Möglichkeit zur automatisierten Übersetzung<br />

waren deutlich weniger Repräsentations-wechsel der<br />

Kinder zu verzeichnen, als wenn diese Funktion zur Verfügung<br />

stand. Hier war tendenziell der Wunsch nach<br />

einer Übersetzung von der enaktiven in die symbolische<br />

Repräsentationsform größer als von der symbolischen<br />

zur ikonischen. Hemmungen mit dem virtuellen Material<br />

zu arbeiten konnten im Gegensatz zur Arbeit mit realem<br />

Material nicht beobachtet werden.<br />

Doppelmoppel erwies sich außerdem als gutes Diagnoseinstrument.<br />

Die Art und Weise, Anzahlen mit Plättchen<br />

darzustellen gab Hinweise auf das bestehende<br />

Zahlkonzept der Kinder (ordinal oder kardinal) (Abb. 6).<br />

Nachfolgende Erprobungen zeigten sogar, dass durch<br />

das schnellere Legen von Anzahlen mit Hilfe der Fünferstapel<br />

den Kinder mit wenig Zeitaufwand ein kardinales<br />

Zahlverständnis näher gebracht werden kann.<br />

Abb. 6: Zahlkonzepte.<br />

Ebenso bei der Darstellung von Anzahlen konnten vier<br />

Kategorien unterschieden werden, was die Strukturierung<br />

der Plättchen angeht: nur farblich strukturiert, nur<br />

räumlich strukturiert, farblich und räumlich strukturiert, mit


Promotion ❘ Multiple externe Repräsentationen (MERs) und deren Verknüpfung durch Computer einsatz<br />

Hilfe der Werkzeuge strukturiert. Je nach Art der Strukturierung<br />

zählten die Kinder zur Erfassung der Anzahlen<br />

ab oder konnten diese quasi-simultan angeben.<br />

Bei der nonverbal-symbolischen Repräsentation hatte die<br />

Offenheit des Zahlenraums vor allem bei den leistungsstarken<br />

Kindern positive Effekte, insofern, dass diese<br />

weit über den Zahlenraum bis 20 hinaus rechneten und<br />

dabei die ikonische Darstellung zur Kontrolle ihrer Rechnungen<br />

nutzte (Abb. 7).<br />

Abb. 7: Rechnen im ZR 100.<br />

Insgesamt zeigt die Arbeit das große Potential in der<br />

Nutzung von MELRs zur Unterstützung des Lernens von<br />

Mathematik im Anfangsunterricht auf. Wenn der Computer<br />

und andere neue Technologien den lang ersehnten<br />

Einzug in die Grundschule finden sollen, dann nur unter<br />

der Bedingung eines nachgewiesen sinnvollen Einsatzes<br />

zum Wohl der Kinder.<br />

Literatur<br />

❙ Aebli, H. (1987). Zwölf Grundformen des Lehrens.<br />

Stuttgart: Klett-Cotta.<br />

Clements, D.H. (1999). Concrete manipulatives, concrete<br />

ideas. Contemporary Issues in Early Childhood,<br />

1(1), 45–60.<br />

❙ Engelkamp, J. & Zimmer, H. (2006). Lehrbuch der<br />

kognitiven Psychologie. Göttingen: Hogrefe.<br />

❙ Gierlinger, W. (Hr.) (2004). Zahlenzauber 1. Oldenburg<br />

Verlag<br />

❙ Grissemann, H. & Weber, A. (2000). Grundlagen<br />

und Praxis der Dyskalkulietherapie. Bern: Hans Huber<br />

❙ Hoffkamp, A. (2009). Enhancing Functional Thinking<br />

Using the Computer for Representational Transfer. In:<br />

Proceedings of CERME 6, Lyon.<br />

❙ Ladel, S. (2009). Multiple externe Repräsentationen<br />

(MERs) und deren Verknüpfung durch Computereinsatz.<br />

Zur Bedeutung für das Mathematiklernen im<br />

Anfangsunterricht. Didaktik in Forschung und Praxis,<br />

Bd. 48. Verlag Dr. Kovac, Hamburg<br />

❙ Kaput, J.J. (1992). Notations and representations as<br />

mediators of constructive processes. In: v. Glasersfeld,<br />

E.(Hg.). constructivism in mathematics education.<br />

Dordrecht: D. Reidel.<br />

❙ Ladel, S. & Kortenkamp, U. (2009). Virtuell-enaktives<br />

Arbeiten mit der »Kraft der Fünf«. In: MNUPrimar<br />

3/2009<br />

❙ Lorenz, J.H. (1993). Mathematik und Anschauung.<br />

Untersuchungen zum Mathematikunterricht. Institut für<br />

Didaktik der Mathematik Bielefeld. Köln: Aulis-Verlag<br />

Deubner<br />

❙ Mayer, R. (2005). The Cambridge Handbook of Multimedia<br />

Learning. Cambridge University Press. New<br />

York.<br />

❙ Rogers, Y., Scaife, M., Aldrich, F. & Price, S. (2003).<br />

Improving children‘s unterstanding of formalism<br />

through interacting with multimedia. Cognitive Science<br />

Research paper 559.<br />

❙ Thompson, P.W. (1992). Notations, conventions and<br />

constraints: Contributions to effecitve uses of concrete<br />

materials in elementary mathematics. Journal for Research<br />

in Mathematics Education, 23(2), 123–147<br />

❙ Vogel, M. (2006). Mathematisieren funktionaler Zusammenhänge<br />

mit multimediabasierter Supplantation.<br />

Hildesheim: Franzbecker.<br />

1 MELR steht für Multiple extern linked representation<br />

2 http://kortenkampfs.net/material/doppelmoppel/<br />

DoppelMoppel-2.html<br />

Dr. Silke Ladel promovierte von 2006 bis 2009 an der <strong>Pädagogische</strong>n <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong><br />

<strong>Gmünd</strong>. Seit 08/2010 ist sie akademische Mitarbeiterin im Institut für Mathematik und<br />

Informatik der <strong>Pädagogische</strong>n <strong>Hochschule</strong> Karlsruhe wo sie derzeit zum Thema »Unterstützung<br />

des Aufbaus grundlegender Zahl- und Operationsvorstellungen durch die Verknüpfung multipler<br />

externer Repräsentationen (Multiplex-R)« habilitiert.<br />

<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> Forum Forschung Mai 2011 41


Promotion ❘ Verbesserung der Ausbildungsfähigkeit durch zusätzlichen außerunterrichtlichen Schulsport an Hauptschulen?<br />

Verbesserung der Ausbildungsfähigkeit<br />

durch neigungsorientierten<br />

Schulsport an Hauptschulen?<br />

Eine empirische Studie zur Verbesserung der beruflichen Handlungskompetenz an Hauptschulen<br />

mit Sportprofil<br />

Dr. Matthias Molt<br />

Arbeitsgruppe: Prof. Dr. Dr. Axel Horn, PH <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />

Zweitgutachter: Prof. Dr. Andreas Fey, PH <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />

Abstract: In educational policy, the continued existence of the Hauptschule has been contentiously discussed and<br />

there have been different attempts to integrate these pupils into other secondary schools. This integration would<br />

increase prestige, which could indirectly increase the competence of the pupils, according to some experts. However,<br />

there are also other trends: smaller classes (groups) with social care, teaching units including cultural and social<br />

standards of value or measures to support social, personal and cognitive resources. The main idea of this paper<br />

is to improve students’ decision-making skills and sense of responsibility through additional school sports, which<br />

Hauptschule pupils can choose for themselves. This thesis is to be empirically verified in an evaluation study.<br />

Ausgangslage<br />

Bei den Ergebnissen der PISA Studien zeigen die Schülerinnen<br />

und Schüler der Hauptschule im Vergleich zu den<br />

Schülerinnen und Schülern der anderen Schularten die<br />

meisten Defizite. Speziell ist der Anteil der Schülerinnen<br />

und Schüler »mit geringer Lesekompetenz in Hauptschulen<br />

(…) sehr hoch« (Deutsches PISA- Konsortium 2001,<br />

S.127). Etwa 25% der Hauptschülerinnen und Hauptschüler<br />

erreichten nur die niedrigste Kompetenzstufe und<br />

lediglich 43% erreichten das als Mindeststandard definierte<br />

Leistungsniveau (vgl. Deutsches PISA-Konsortium<br />

2001, S.122ff.). Ähnliche Ergebnisse liegen im Bereich<br />

der mathematischen Grundbildung vor. Hier liegen die<br />

Hauptschülerinnen und Hauptschüler vorwiegend auf<br />

dem Niveau der Kompetenzstufe I, welche dem Rechnen<br />

auf Grundschulniveau gleichzusetzen ist. Dieses<br />

Abschneiden der Hauptschülerinnen und Hauptschüler<br />

zeigt, dass an den Hauptschulen dringend Handlungsbedarf<br />

besteht, ihre Schülerinnen und Schüler hinsicht-<br />

42 Forum Forschung Mai 2011 <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />

lich der geforderten Bereiche der PISA-Studien, besser<br />

auszubilden (vgl. Deutsches PISA-Konsortium 2001,<br />

S.180ff.).<br />

Aufgrund dieser dramatischen Ergebnisse hat die bildungspolitische<br />

Diskussion erheblich zugenommen. Viele<br />

neue Bildungspläne sind auf den Weg gebracht worden<br />

und bundesweit wurde eine Vielzahl an Ganztagesschulen<br />

mit Bundesmitteln eingerichtet. Aufgrund verschiedener<br />

OECD-Berichte, u.a. vom Juni 2006, wird derzeit<br />

eine heftige Diskussion geführt, in der das klassische<br />

dreigliedrige Schulsystem durch ein zweigliedriges oder<br />

sogar durch eine so genannte »Gemeinschaftsschule«<br />

ersetzt werden soll. Die gegenwärtig diskutierte Schulstrukturfrage<br />

wird vielerorts auch als »Hauptschulfrage“<br />

(Demmer 2006, S.8) bezeichnet, da der Erhalt der<br />

Hauptschule in Frage gestellt wird und die Hauptschule<br />

in das zweigliedrige bzw. eingliedrige Schulsystem integriert<br />

werden soll bzw. bereits wurde. Die Situation der


Promotion ❘ Verbesserung der Ausbildungsfähigkeit durch zusätzlichen Theoretische Grundlagen außerunterrichtlichen Schulsport an Hauptschulen?<br />

Hauptschulen stellt sich in den unterschiedlichen Bundesländern<br />

differenziert dar, es lassen sich jedoch flächendeckend<br />

eindeutige Tendenzen erkennen. In mehreren<br />

Bundesländern existiert die eigenständige Hauptschule<br />

bereits nicht mehr. Ebenso wurde die Eingliederung der<br />

Hauptschulen in die Gemeinschaftsschule oder in das<br />

zweigliederige Schulsystem von einigen Länderregierungen<br />

beschlossen. Sollte diese Diskussion in allen Bundesländern<br />

entsprechend fortgeführt werden, bedeutet dies<br />

in der letzten Konsequenz das Ende der Hauptschulen in<br />

Deutschland (vgl. Demmer 2006, S.8).<br />

Gründe für die Abschaffung der Hauptschule liegen<br />

darin, dass die Absolventen der Hauptschulen von der<br />

Wirtschaft wenig nachgefragt, kaum gebraucht werden<br />

bzw. werden können. Gemäß den Aussagen des Berufsbildungsberichtes<br />

2006 des Bundesministeriums für Bildung<br />

und Forschung konnten im Jahr 2005 knapp 42%<br />

(BMBF 2006, S.115) der Hauptschulabsolventinnen und<br />

-absolventen keine Ausbildungsstelle vermittelt werden.<br />

Lediglich 15% der Ausbildungsplätze wurden 2005 von<br />

Hauptschülerinnen und Hauptschülern eingenommen.<br />

Die Schülerinnen und Schüler ohne Ausbildungsstelle<br />

werden meist in ein Übergangssystem, zum Beispiel<br />

das Berufseinstiegsjahr, übergeben um deren berufliche<br />

Qualifikationen zu verbessern. Dass jedoch nahezu »die<br />

Hälfte der Absolventinnen und Absolventen mit Hauptschulabschluss<br />

(…) sich im Jahre 2005 in Maßnahmen<br />

des Übergangssystems aufhalten, zeigt, wie schwierig<br />

der Übergang geworden ist« (KMK 2006, S.82). Deshalb<br />

liegt es auf der Hand, dass diese Jugendlichen<br />

oft nur eine Warteschleife in eine sich anschließende<br />

Arbeitslosigkeit durchlaufen. Um auch diesen Jugendlichen<br />

eine positive Zukunft zu bieten, sind die politischen<br />

Verantwortlichen, die entsprechenden Ministerien und<br />

Fachleute aufgefordert, sie für den Arbeitsmarkt mit all<br />

seinen Anforderungen auszubilden. Daher gilt es nach<br />

Möglichkeiten zu suchen, die den Hauptschulen schnell<br />

und ohne bürokratischen Aufwand Perspektiven bieten,<br />

ihren Schülerinnen und Schülern eine positive Zukunft zu<br />

bieten.<br />

Theoretische Grundlagen<br />

Die Anforderungen an Absolventen aller Schularten sind<br />

von allen am Bildungsprozess beteiligten Institutionen<br />

in den Begriffen der Ausbildungsfähigkeit bzw. Ausbildungsreife<br />

zusammengefasst. Dass mit diesen Begrifflichkeiten<br />

auch der Terminus der beruflichen Handlungskompetenz<br />

gemeint ist, wird sichergestellt. Die berufliche<br />

Handlungskompetenz, welche die Fach-, Methoden-,<br />

Sozial- und Personalkompetenz subsumiert, wird in Kapitel<br />

3 der hier vorgestellten Untersuchung ausführlich<br />

dargestellt und begründet (siehe Abb. 1).<br />

Die mangelnde berufliche Handlungskompetenz stellt für<br />

die Absolventen der Hauptschule das größte Problem<br />

dar und bedarf dringend der Verbesserung.<br />

Die Ursachen dieses Dilemmas, die vielfältig sind,<br />

werden in der Promotion im Kapitel Problemfelder der<br />

Die Anforderungen an Absolventen aller Schularten sind von allen am Bildungsprozess beteiligten<br />

Institutionen in den Begriffen der Ausbildungsfähigkeit bzw. Ausbildungsreife zusammengefasst.<br />

Dass mit diesen Begrifflichkeiten auch der Terminus der beruflichen Handlungskompetenz<br />

gemeint ist, wird sichergestellt. Die berufliche Handlungskompetenz, welche die Fach-,<br />

Fachkompetenz<br />

Ausbildungsfähigkeit<br />

als oberstes Ziel der Hauptschule<br />

g leichzusetze n<br />

mit<br />

Berufliche Handlungskompetenz<br />

Metho de nko<br />

mpet enz<br />

Sozialko<br />

mpet enz<br />

Person alko<br />

mpet enz<br />

Abb.1: Modell der beruflichen Handlungskompetenz mit gleichzusetzender<br />

Ausbildungsfähigkeit.<br />

Die mangelnde berufliche Handlungskompetenz stellt für die Absolventen der Hauptschule das<br />

größte Problem dar und bedarf dringend der Verbesserung.<br />

Die Ursachen dieses Dilemmas, die vielfältig sind, werden in der Promotion im Kapitel Problemfelder<br />

der Hauptschülerinnen und -chüler beschrieben und ursächlich hergeleitet. Viele dieser<br />

Problemfelder sind familiär bedingt und können von der Schule nicht oder nur schwer behoben<br />

werden. Ein Bereich, in dem sich die Schülerinnen und Schüler der Hauptschule massiv von<br />

den Schülerinnen und Schülern anderer Schularten unterscheiden, ist deren Freizeitgestaltung.<br />

Studien belegen, dass die Hauptschülerinnen und -schüler kein strukturiertes Freizeitverhalten<br />

aufweisen. Ihre liebsten Freizeitbeschäftigungen sind „sich mit Freunden treffen“ oder „rumhängen“<br />

(vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2000, S.63). Sie sind weniger in<br />

Vereinen und anderen Organisationen organisiert. Dies belegen diverse Studien, bei denen die<br />

Hauptschülerinnen und -schüler im Sportverein gegenüber den Schülerinnen und Schülern an-<br />

Hauptschülerinnen und -schüler beschrieben und ursächlich<br />

hergeleitet. Viele dieser Problemfelder sind familiär<br />

bedingt und können von der Schule nicht oder nur<br />

schwer behoben werden. Ein Bereich, in dem sich die<br />

Schülerinnen und Schüler der Hauptschule massiv von<br />

den Schülerinnen und Schülern anderer Schularten unterscheiden,<br />

ist deren Freizeitgestaltung. Studien belegen,<br />

dass die Hauptschülerinnen und -schüler kein strukturiertes<br />

Freizeitverhalten aufweisen. Ihre liebsten Freizeitbeschäftigungen<br />

sind »sich mit Freunden treffen« oder<br />

»rumhängen« (vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund<br />

Südwest 2000, S.63). Sie sind weniger in Vereinen<br />

und anderen Organisationen organisiert. Dies belegen<br />

diverse Studien, bei denen die Hauptschülerinnen<br />

und -schüler im Sportverein gegenüber den Schülerinnen<br />

und Schülern anderer Schularten deutlich unterrepräsentiert<br />

sind (vgl. Brettschneider & Kleine 2002, S.81;<br />

WIAD 2003, S.22). Gerade im Freizeitbereich scheint<br />

es, dass dem Sport vielfache Funktionen zugeschrieben<br />

werden können. Dabei werden neben den klassischen<br />

auch neuere Ansätze aufgezeigt. Aus diesen Funktionszuschreibungen<br />

ist der Ansatz des Doppelauftrages des<br />

Schulsports entstanden. Gleichwohl ist der Sport per se<br />

kein Allheilmittel – im Gegenteil: Da ihm nicht nur positive<br />

Wirkungen unterstellt werden können, werden an<br />

dieser Stelle auch die negativen diskutiert, die für eine<br />

differenzierte Betrachtung nicht aus Acht gelassen werden<br />

dürfen.<br />

Beschreibung der Studie<br />

Das zentrale Ziel der Studie ist die Überprüfung von Effekten<br />

einer »Hauptschule mit Sportprofil« hinsichtlich der<br />

beruflichen Handlungskompetenz ihrer Schülerinnen und<br />

Schüler, im Vergleich zu Schülerinnen und Schülern an<br />

Schulen ohne Sportprofil (Querschnittsuntersuchung) und<br />

von Effekten der beruflichen Handlungskompetenz über<br />

einen bestimmten Zeitraum (Längsschnittuntersuchung).<br />

Zusammengefasst lautet die Forschungsfrage: Erhöhen<br />

sich die Kompetenzen welche die Ausbildungsfähigkeit<br />

kennzeichnen durch eine Hauptschule, an der mehr<br />

Schulsport angeboten wird?<br />

Intervention<br />

Zur Reduzierung der genannten Defizite scheint der Sport<br />

ein geeignetes Mittel zu sein. Hierfür ist der Ansatz einer<br />

Profilierung im Bereich Sport eine mögliche Lösung des<br />

Problems. Da es für die Hauptschulen kein flächendeckendes<br />

Konzept dieser Profilierung gibt, sind empirische<br />

Belege für eine sportliche Profilierung wünschenswert.<br />

<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> Forum Forschung Mai 2011 43<br />

3


Promotion ❘ Verbesserung der Ausbildungsfähigkeit durch zusätzlichen außerunterrichtlichen Schulsport an Hauptschulen?<br />

Bei der Umsetzung der eigenen Intervention Sportprofil<br />

liegt der Schwerpunkt auf zusätzlichem Sportangebot<br />

zum regulären Sportunterricht im Rahmen des Fächerverbundes<br />

Musik - Sport - Gestalten (MSG). Die Kontingentstundentafel<br />

für Hauptschulen schreibt für den Fächerverbund<br />

MSG insgesamt 27 Jahreswochenstunden vor. Die<br />

Stunden, die den MSG-Sport beinhalten, werden dem<br />

Kernbereich zugeordnet (siehe Tab.1).<br />

Im Kernbereich, welcher die Grundlagenausbildung darstellt,<br />

werden, wie im bisherigen klassischen Schulsport,<br />

die regulären Sportstunden in den jeweiligen Klassenstufen<br />

erteilt.Die Neuerung im Rahmen des Sportprofils<br />

stellen die beiden Bereiche Wahlbereich und Ergänzungsbereich<br />

dar. Aus dem Angebot des Wahlbereichs<br />

müssen die Schülerinnen und Schüler mindestens eine<br />

Sportart auswählen. Die unterschiedlichen Angebote<br />

basieren im Wesentlichen auf Vereinskooperationen,<br />

Angeboten der Schule, auf der Einstellung von Lehrbe-<br />

Kernbereich:<br />

MSG- Sport Wahlbereich: Ergänzungsbereich:<br />

❙ Leichtathletik<br />

❙ Gerätturnen<br />

❙ Tanz/Gymnastik<br />

❙ Rückschlagspiele<br />

❙ große Spiele<br />

Tab.1: Aufteilung der Angebote in Kern-, Wahl- und Ergänzungsbereich.<br />

Schülerinnen und Schüler der Klasse 6<br />

(Schuljahr 2003/2004)<br />

in ihrem weiteren Verlauf<br />

Messzeitpunkt t 1<br />

Beginn Schuljahr<br />

2003/2004<br />

44 Forum Forschung Mai 2011 <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />

auftragten, Schülermentoren- und mentorinnen und Jugendbegleitern.<br />

Das zweite Standbein des Sportprofils,<br />

der Ergänzungsbereich, ist ausschließlich an den Interessen<br />

der Schülerinnen und Schüler ausgerichtet. Hierzu<br />

sind die Schülerinnen und Schüler, anders als im Wahlbereich,<br />

nicht verpflichtet teilzunehmen. Die Ergänzungsangebote<br />

finden vor allem im Rahmen von Projekten,<br />

Ganztagesaktionen und Wettkämpfen bzw. Turnieren<br />

statt. Diese Angebote sind eher saisonal bedingt und<br />

werden nur über einen kurzen Zeitraum angeboten.<br />

Die Wahlmöglichkeiten im Ergänzungsbereich variieren<br />

abhängig von Möglichkeiten und den Witterungsbedingungen<br />

von Schuljahr zu Schuljahr (siehe Tab.1).<br />

Ergebnisse<br />

Bei der vorliegenden Studie wurde ein Interventions-Kontrollgruppendesign<br />

mit drei Messzeitpunkten realisiert<br />

(siehe Tab. 2).<br />

Messzeitpunkt t 2<br />

Beginn Schuljahr<br />

2004/2005<br />

Interventionsgruppe am BZN Hauptschule (IG) IG 1 IG 2 IG 3<br />

Kontrollgruppe I (KG I) KG I 1 KG I 2 KG I 3<br />

Kontrollgruppe II (KG II) KG II 1 KG II 2 KG II 3<br />

Kontrollgruppe III (KG III) KG III 1 KG III 2 KG III 3<br />

Tab.2: Untersuchungsdesign der Studie.<br />

❙ Handball<br />

❙ Basketball<br />

❙ Fußball<br />

❙ Volleyball<br />

❙ Badminton<br />

❙ Jazztanz/Hip Hop<br />

❙ Tischtennis<br />

❙ Rugby<br />

❙ Eishockey<br />

❙ Tauchen<br />

❙ Unterwasserrugby<br />

❙ Rettungsschwimmen<br />

❙ Minitrampolin<br />

❙ Baseball<br />

❙ Inlinehockey<br />

❙ Golf<br />

❙ Bogenschießen<br />

❙ Schießen<br />

❙ Boxen<br />

❙ »Fit durch laufen und gesunde Ernährung«<br />

❙ »Sport mal ganz anders«<br />

❙ Kajak/Kanu<br />

❙ Inlinekurs/Anfänger<br />

❙ Inlinekurs/Fortgeschrittene<br />

❙ Skateboarden<br />

❙ Klettern<br />

❙ Wintersporttag auf der <strong>Schwäbisch</strong>en Alb<br />

❙ Ski- und Snowboardtag im Allgäu<br />

❙ Schlittschuh/Eishockey<br />

❙ Kanu- oder Kajakfahren im Rahmen von<br />

Projekten oder Tagesausflügen<br />

❙ Straßenfußball im Rahmen von Projekten oder<br />

bei Turnierbesuchen<br />

❙ Wettkämpfe in Leichtathletik, Fußball oder<br />

Handball im Rahmen von »Jugend trainiert für<br />

Olympia«<br />

❙ Tennis<br />

Messzeitpunkt t 3<br />

Beginn Schuljahr<br />

2005/2006


Promotion ❘ Verbesserung der Ausbildungsfähigkeit durch zusätzlichen außerunterrichtlichen Schulsport an Hauptschulen?<br />

Die Zahl der Probanden zu Messzeitpunkt t1 betrug<br />

insgesamt 142 (n= 142). Das Datenerhebungsverfahren<br />

basiert auf der Methode der schriftlichen Befragung.<br />

Die Auswertung des Datenmaterials erfolgte mit Hilfe<br />

des Softwareprogramms SPSSWIN.13.<br />

Die statistischen Analysen der Effekte einer »Hauptschule<br />

mit Sportprofil«, wie sie im Rahmen der vorliegenden<br />

Untersuchung durchgeführt wurden, zeigen, dass eine<br />

Untersuchung von Hauptschülerinnen und -schülern der<br />

Sekundarstufe I, mittels des modifizierten Fragebogens<br />

von Frey & Balzer, als geeignet bewertet werden kann.<br />

Dabei wird deutlich, dass sich durch die Interventionsmaßnahme<br />

die Schülerinnen und Schüler der Untersuchungsgruppe<br />

gegenüber den Schülerinnen und Schülern<br />

der Kontrollgruppe in ihrer beruflichen Handlungskompetenz<br />

deutlich verbessern. Gerade die Schülerinnen und<br />

Schüler, welche die Ausbildungsproblematik am meisten<br />

betrifft, nämlich die schwächeren Schülerinnen und<br />

Schüler, verbesserten sich am stärksten. Unter Betrachtung<br />

der Fachkompetenz kann bei der Interventionsgruppe<br />

eine deutliche Verbesserung festgestellt werden. Die<br />

Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung lassen den<br />

Rückschluss zu, dass die Schülerinnen und Schüler der<br />

Interventionsgruppe auch ihre Lesekompetenz und ihre<br />

mathematischen Fähigkeiten verbessert haben. Somit<br />

könnte das eingangs beschriebene Abschneiden der<br />

Schülerinnen und Schüler der Hauptschule bei den PISA-<br />

Studien in der Lesekompetenz durch diese Interventionsmaßnahme<br />

auch verbessert werden.<br />

Weitere deutliche Veränderungen sind bei der Sozialkompetenz<br />

zu erkennen. Die Sozialkompetenz, welche<br />

sowohl kommunikative als auch Komponenten des Zusammenlebens<br />

beinhaltet, setzt sich in Anlehnung an<br />

Frey, aus den Fähigkeitsbereichen Selbstständigkeit, Verantwortungsbereitschaft,<br />

Kooperationsfähigkeit, Konfliktfähigkeit,<br />

Kommunikationsfähigkeit, Führungsfähigkeit<br />

und Situationsgerechtes Auftreten zusammen. Abbildung<br />

2 zeigt den Verlauf der Entwicklung der Sozialkompetenz<br />

der beiden Gruppen über den gesamten Untersuchungsverlauf.<br />

Hier ist zu erkennen, dass die Interventionsgruppe<br />

(IG) zu Beginn der Untersuchung einen schlechteren<br />

Wert aufwies. Im Laufe der Untersuchung (t2) verbes-<br />

4<br />

3,9<br />

3,8<br />

3,7<br />

3,6<br />

3,5<br />

3,4<br />

3,3<br />

3,2<br />

3,1<br />

3<br />

Sozialkompetenz IG vs. KG<br />

t1 t2<br />

Messzeitpunkte t3<br />

serte die Interventionsgruppe ihre Werte gegenüber der<br />

Kontrollgruppe (KG) bis zum Ende hin.<br />

Die Hauptforschungsfrage, ob die Schülerinnen und<br />

Schüler der Interventionsgruppe gegenüber den Schülerinnen<br />

und Schülern der Kontrollgruppe ihre berufliche<br />

Handlungskompetenz verbessern, lässt sich nach den<br />

dargestellten Ergebnissen mit JA beantworten. Die Verbesserung<br />

der Schülerinnen und Schüler der Interventionsgruppe<br />

konnte in drei von vier Kompetenzklassen<br />

gegenüber der Kontrollgruppe nachgewiesen werden.<br />

Die Ergebnisse zeigen, dass zusätzlicher und vor allem<br />

neigungsorientierter Schulsport ein geeignetes Mittel darstellt,<br />

um die Berufliche Handlungskompetenz und somit<br />

auch die Ausbildungschancen der Hauptschülerinnen<br />

und -schüler zu verbessern.<br />

Ausblick<br />

Um jedoch signifikante Ergebnisse in allen Kompetenzklassen<br />

zu erhalten, sollte mit einer deutlich höheren<br />

Anzahl an Probanden gearbeitet werden. Damit die<br />

Beurteilung der Ergebnisse nicht ausschließlich auf der<br />

Selbsteinschätzung der Schülerinnen und Schüler beruht,<br />

sollte die Eltern- und Lehrerperspektive miteinbezogen<br />

werden.<br />

<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> Forum Forschung Mai 2011 45<br />

IG<br />

KG<br />

Anm.: Antwortleiste von 1 = »trifft voll und ganz zu« bis 5 = »trifft überhaupt nicht<br />

zu«; ein höherer Wert korrespondiert mit einer hohen Kompetenz;<br />

Abb.2: Sozialkompetenzentwicklung von IG vs. KG über die drei Messzeitpunkte.


Promotion ❘ Verbesserung der Ausbildungsfähigkeit durch zusätzlichen außerunterrichtlichen Schulsport an Hauptschulen?<br />

Literatur:<br />

❙ Brettschneider, W.D. & Kleine, T. (2002). Jugendarbeit<br />

im Sportverein. Schorndorf: Hofmann.<br />

❙ Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hrsg.).<br />

(2006). Berufsbildungsbericht 2006. Berlin: BMBF.<br />

[zitiert als BMBF, 2006]<br />

❙ Demmer, M. (2006). Auf der Tagesordnung: die<br />

»kleine Reform«. In Gewerkschaft Erziehung und<br />

Wissenschaft (Hrsg.). Erziehung und Wissenschaft. 9,<br />

(S.8 – 11).<br />

❙ Deutsches PISA- Konsortium (Hrsg.). (2001). Basiskompetenzen<br />

von Schülerinnen und Schülern im internationalen<br />

Vergleich. Opladen: Leske+Budrich.<br />

❙ Frey, A.& Balzer, L. (2003). Soziale und methodische<br />

Kompetenzen – der Beurteilungsbogen smk: Ein<br />

46 Forum Forschung Mai 2011 <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />

Messverfahren für die Diagnose von sozialen und<br />

methodischen Kompetenzen. In Frey, A., Jäger, R. S.<br />

& Renold, U. Kompetenzmessung – Sichtweisen und<br />

Methoden zur Erfassung und Bewertung von beruflichen<br />

Kompetenzen (S.148 – 174). Landau: Verlag<br />

Empirische Pädagogik.<br />

❙ Kultusministerkonferenz (Hrsg.). (2006). Bildung in<br />

Deutschland. Bonn: KMK. [zitiert als KMK 2006]<br />

❙ Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest<br />

(Hrsg.). (2000). JIM 2000 Jugend, Information, (Multi-)<br />

Media. Baden- Baden: Medienpädagogischer<br />

Forschungsverbund Südwest.<br />

❙ WIAD (Hrsg). (2003). Bewegungsstatus von Kindern<br />

und Jugendlichen in Deutschland II. Bonn: Forschungsbericht<br />

im Auftrag des DSB und der AOK<br />

Dipl. Sportwissenschaftler Dr. Matthias Molt ist Referent am Ministerium für Kultus, Jugend<br />

und Sport Baden-Württemberg im Referat Sport und Sportentwicklung. Er ist ausgebildeter Grund-<br />

und Hauptschullehrer und hat über 15-jährige Erfahrung als Klassenlehrer. Ebenfalls war er am<br />

Landesinstitut für Schulsport und an der <strong>Pädagogische</strong>n <strong>Hochschule</strong> als Referent/ Lehrbeauftragter<br />

tätig. Das vorgestellte Forschungsprojekt war Teil der Promotion unter der Betreuung von Prof.<br />

Dr. Dr. Axel Horn (Fachbereich Sport).


Promotion ❘ Verbesserung der Ausbildungsfähigkeit durch zusätzlichen außerunterrichtlichen Schulsport an Hauptschulen?<br />

Rektorat der PH <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> (v.l.): Rektorin Prof. Dr. Astrid Beckmann, Prof. Dr. Thorsten Piske, Prorektor für Forschung, Entwicklung und internationale Beziehungen,<br />

Prof. Dr. Andreas Benk, Prorektor für Studium und Lehre und Edgar Buhl, Kanzler.<br />

<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> Forum Forschung Mai 2011 47


Promotion ❘ Förderung des <strong>Leseverstehen</strong>s in der Grundschule<br />

Förderung des <strong>Leseverstehen</strong>s<br />

in der Grundschule<br />

Dr. Andrea Steck<br />

Ein theoriegeleitetes Fortbildungskonzept zur Ausbildung und Weiterentwicklung der<br />

Kompetenzen von Lehrkräften im Bereich <strong>Leseverstehen</strong><br />

Arbeitsgruppe: Prof. Dr. Annegret von Wedel-Wolff, PH <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />

Zweitgutachter: Prof. Dr. Manfred Wespel, PH <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />

Abstract: The development and implementation of a systematic reading curriculum in elementary schools is a crucial<br />

condition for promoting reading literacy. Obviously, such a curriculum cannot be conceived without consistent regard<br />

to reading comprehension. This requires an intensive and profound preparation of teachers during their initial<br />

training as well as in their continuing professional development. To successfully promote reading literacy with their<br />

students, teachers need a high degree of professional knowledge of the subject matter as well as the corresponding<br />

diagnostic and educational skills.<br />

This study focuses on promoting reading comprehension. Teachers’ skills in the diagnosis and promotion of reading<br />

literacy and reading comprehension are examined by qualitative methods. Results are discussed and conclusions<br />

are made for teacher education.<br />

Forschungslage und aktuelle Diskussion<br />

»Einem guten Leser gebe ich eine Geschichte und er liest<br />

sie flüssig und vor allem betont vor.« »Einen Text abschnittsweise<br />

lesen und dann eine Frage stellen. Daran kann ich<br />

sehen, wer das beantworten kann und wer nicht. Schon<br />

klassisch eigentlich: Abschnitte lesen, eine Frage dazu<br />

stellen und beantworten lassen.« »Im Laufe der Klasse 2<br />

mache ich zu irgend einem Stück so eine Art Textverständnistest.<br />

Man sieht, wie Kinder Sachen bearbeiten.«<br />

So oder ähnlich gelagert sind häufig die Antworten von<br />

Lehrerinnen und Lehrern, wenn ich sie in Fortbildungsveranstaltungen<br />

befrage, wie sie denn eigentlich, auch im<br />

Hinblick auf Beurteilung und Bewertung, das Lesenkönnen<br />

ihrer Kinder einschätzen und wie sie dabei methodisch<br />

vorgehen. Ich beobachte dabei, dass die Vorstellungen<br />

der Lehrkräfte, was denn unter Lesenkönnen zu verstehen<br />

ist, recht diffus sind. Eigenen Befragungen zufolge fehlt<br />

es den Lehrkräften an einer notwendigen Sach-, Diagnose-<br />

und Förderkompetenz im Bereich <strong>Leseverstehen</strong>, um<br />

Lernarrangements so zu gestalten, dass Kinder zu kompetenten<br />

Leserinnen und Lesern werden können.<br />

48 Forum Forschung Mai 2011 <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />

Dass besonders im diagnostischen Bereich Lehrerinnen<br />

und Lehrer Schwierigkeiten haben, die Leseleistung<br />

ihrer Kinder richtig einzuschätzen, wurde auch in der<br />

PISA-Studie erwähnt. Dort wurde die diagnostische<br />

Kompetenz der Lehrkräfte in den Blick genommen. Es<br />

zeigte sich als deutlicher Befund, »dass die meisten der<br />

schwachen Leserinnen und Leser von den Lehrkräften<br />

unerkannt bleiben.« (Baumert u.a. 2001, S.119). Zwischen<br />

der Einschätzung durch die Lehrkräfte und den<br />

gemessenen Leseleistungen der Probanden bestanden<br />

erhebliche Differenzen. Daraus kann gefolgert werden,<br />

dass den Lehrerinnen und Lehrern vermutlich keine oder<br />

nur unzureichende Verfahren zur Verfügung stehen, um<br />

die Leseleistung der Kinder adäquat erheben und einschätzen<br />

zu können. Sie verfügen möglicherweise nicht<br />

über entsprechende Kompetenzen, um notwendige<br />

didaktische Arrangements und Fördermaßnahmen einzuleiten.<br />

Die Autoren halten es daher für lohnenswert,<br />

»die Diagnose der Lesefähigkeiten von Schülerinnen und<br />

Schülern durch Lehrkräfte systematisch zu untersuchen.«<br />

(Baumert u.a. 2001, S.120).


Forschungsfragen, Methoden und Ziel der Arbeit<br />

Die beobachteten Phänomene und die Ergebnisse aus<br />

der Forschung bildeten den Ausgangspunkt für das Forschungsvorhaben<br />

»Förderung des <strong>Leseverstehen</strong>s in der<br />

Grundschule – Ein theoriegeleitetes Fortbildungskonzept<br />

zur Ausbildung und Weiterentwicklung der Kompetenzen<br />

von Lehrkräften im Bereich <strong>Leseverstehen</strong>«. Mittels<br />

qualitativer Verfahren (Interviews) wurde die Sach-, Diagnose-<br />

und Förderkompetenz von Lehrkräften im Bereich<br />

<strong>Leseverstehen</strong> vor und nach einer Schulungsphase untersucht.<br />

Abbildung 1 zeigt den Ablauf der Hauptuntersuchung.<br />

In der Untersuchung wurden Kategoriensysteme<br />

zur Auswertung der Interviews entwickelt. Als hilfreich<br />

bei der Aufbereitung des Materials hatte sich die Nutzung<br />

der Software MaxQDA erwiesen. Mithilfe der qualitativen<br />

Inhaltsanalyse (Mayring 2003) konnte dann das<br />

durch die Interviews gewonnene Datenmaterial streng<br />

methodisch kontrolliert schrittweise analysiert werden.<br />

Ziel der Untersuchung war es, ein Fortbildungskonzept<br />

zur Professionalisierung der Sach-, Diagnose- und Förderkompetenz<br />

von Lehrkräften im Bereich <strong>Leseverstehen</strong> in<br />

der Grundschule zu entwickeln. Konkret bedeutete das:<br />

Lehrerinnen und Lehrer sollen so beraten/fortgebildet<br />

werden, dass sie Einsichten in den komplexen Prozess<br />

des Lesens/<strong>Leseverstehen</strong>s erhalten (Sachkompetenz)<br />

und ihren didaktischen Blick auf den Lernprozess des<br />

Kindes richten. Sie sollen ermutigt werden, Lesenkönnen<br />

zu beobachten, einzuschätzen und bewerten zu können<br />

sowie Lernarrangements neu zu gestalten (diagnostische<br />

Kompetenz, Förderkompetenz).<br />

Ergebnisse<br />

Insgesamt konnte ermittelt werden, dass die befragten<br />

Lehrerinnen und Lehrer über eine eher gering ausgeprägte<br />

diagnostische Kompetenz verfügten. Es fehlte ihnen<br />

durchgängig an einem schlüssigen, alltagstauglichen<br />

Konzept zur planvollen, regelmäßigen und kriteriengeleiteten<br />

Erhebung der Fähigkeiten der Kinder im Bereich<br />

Lesen/<strong>Leseverstehen</strong>. Die Antworten der befragten Lehrkräfte<br />

auf die Frage: »Was tun Sie, wenn Sie merken,<br />

dass ein Kind ohne Sinnverstehen liest?« zeigten, dass<br />

sich die Lehrkräfte zwar ihrer »Inkompetenz« bewusst<br />

waren, diesem Problem jedoch hilflos gegenüber standen:<br />

»Das war für mich eine ganz große Schwierigkeit«<br />

oder »ch hatte einige Schüler, bei denen ich einfach<br />

nicht verstanden habe, wo das Problem liegt. Wie kann<br />

Datenerhebung t1 Leitfadeninterviews (n=10)<br />

Promotion ❘ Förderung des <strong>Leseverstehen</strong>s in der Grundschule<br />

man das Verstehen der Kinder fördern, wenn man erkennt,<br />

dass das Kind nicht versteht?« Dadurch konnte<br />

den Lehrkräften auch keine fachlich fundierte bzw. kriteriengeleitete<br />

Einschätzung der Leistungen der Kinder<br />

im Bereich Lesen gelingen. Die Förderkompetenz der<br />

Lehrkräfte konnte ebenfalls als nicht ausreichend beurteilt<br />

werden. Aussagen einiger Lehrkräfte auf die Frage, wie<br />

sie denn das <strong>Leseverstehen</strong> der Kinder fördern, belegen<br />

dies: »Man macht mal hier etwas, mal da etwas« oder<br />

»Ich müsste in Texten irgendwie die Struktur herausarbeiten«.<br />

Aufgrund der Ergebnisse im Bereich der Beobachtungs-<br />

und diagnostischen Kompetenz ist dies auch<br />

nicht überraschend. Eine Förderung, die auf keiner der<br />

Sache angemessenen Beobachtung beruht, kann nur<br />

oberflächlich erfolgen. Eine angemessene, individuelle<br />

und differenzierte Förderung der Kinder im Bereich <strong>Leseverstehen</strong><br />

in die Wege zu leiten, muss daher zwangsläufig<br />

ausbleiben. Insgesamt zeigte die Analyse, dass<br />

es den Lehrkräften an den theoretischen Grundlagen<br />

zum <strong>Leseverstehen</strong> fehlt (Begriff Lesekompetenz, Ebenen<br />

des Leseprozesses, Basiskompetenzen des <strong>Leseverstehen</strong>s,<br />

Wissen über verstehensförderliche Lesestrategien).<br />

Keiner der Lehrkräfte hatte klare Vorstellungen, welche<br />

kognitiven Voraussetzungen und Fähigkeiten für das Verstehen<br />

von Texten notwendig sind. Doch wie kann man<br />

sicher stellen, dass die Erkenntnisse aus der Kognitionspsychologie<br />

in eine Förderung des <strong>Leseverstehen</strong>s in der<br />

Schule münden, also in der Praxis ankommen und dort<br />

umgesetzt werden?<br />

Lehrerprofessionalität<br />

Sachkompetenz<br />

Unterrichtsgegenstände verlangen von Lehrerinnen und<br />

Lehrern fachliche Kompetenz. Lehrkräfte benötigen zunächst<br />

klare Vorstellungen über den komplexen Prozess<br />

des <strong>Leseverstehen</strong>s und die kognitiven Kompetenzen.<br />

Transparent wird dies im Zwei-Säulen-Modell des <strong>Leseverstehen</strong>s<br />

(Abb. 2). Es zeigt, über welche grundlegenden<br />

kognitiven Kompetenzen Leserinnen und Leser<br />

verfügen müssen, damit der Verstehensprozess gelingen<br />

kann.<br />

Basiskompetenzen des <strong>Leseverstehen</strong>s bilden die Grundvoraussetzung<br />

für das Lesen und Verstehen eines Textes.<br />

Es sind Prozesse, die beim geübten Leser weitgehend<br />

unbewusst und automatisiert ablaufen. Verstehen wird<br />

Schulungsphase Fortbildung mit Schwerpunkt <strong>Leseverstehen</strong><br />

Beobachtungsprotokolle (schriftliche Protokolle und Tonbandmitschnitte<br />

Datenerhebung t2 Leitfadeninterviews (n=9)<br />

Datenaufbereitung Transkription der Interviews (t1 und t2)<br />

Überarbeitung der transkribierten Interviews<br />

Erstellen des Kategoriensystems (deduktiv/induktiv)<br />

Codierung der Interviews<br />

Datenauswertung Analyse der einzelnen Kategorien<br />

Zusammenfassung und Interpretation<br />

Abbildung 1: Ablauf der Hauptuntersuchung.<br />

<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> Forum Forschung Mai 2011 49


Promotion ❘ Förderung des <strong>Leseverstehen</strong>s in der Grundschule<br />

Steck, Andrea: Abbildungen<br />

Basiskompetenzen des<br />

<strong>Leseverstehen</strong>s<br />

Imaginationsfähigkeit<br />

Kombinationsfähigkeit<br />

Weltwissen<br />

Sprachwissen und Wissen über den<br />

Aufbau und die Struktur von Texten<br />

Überwachung des eigenen<br />

Verstehensprozesses<br />

Abbildung 2: Zwei-Säulen-Modell des <strong>Leseverstehen</strong>s.<br />

Abb. 2: Zwei-Säulen-Modell des <strong>Leseverstehen</strong>s<br />

aber auch wesentlich geprägt von einem Bewusstsein<br />

über die eigenen Lese- und Verstehensfähigkeiten und<br />

vom ziel- und adressatengerechten Einsatz von Strategien.<br />

Lesestrategien ermöglichen Leserinnen und Lesern,<br />

den eigenen Leseprozess zu steuern, indem sie Kontextfaktoren<br />

wie Ziel des Lesens, Hintergrundwissen zum<br />

Thema und die Struktur des Textes berücksichtigen.<br />

Diagnostische Kompetenz<br />

Kinder einer Schulklasse verfügen niemals über gleiche<br />

Lernvoraussetzungen und Lernstände. In keiner anderen<br />

Schulform ist die Heterogenität so ausgeprägt wie in<br />

der Grundschule. »Die Grundschule und besonders der<br />

Deutschunterricht stehen vor der Herausforderung, an<br />

den jeweiligen Entwicklungsstand des einzelnen Kindes<br />

(…) anzuknüpfen.« (KMK 2005, S.6). Ein gelingender<br />

Unterricht im <strong>Leseverstehen</strong> ist daher immer auch ein diagnostisch<br />

geleiteter Prozess. Diagnostische Kompetenzen<br />

der Lehrkraft ermöglichen es, den Entwicklungsprozess<br />

des Lernens festzustellen und fortlaufend beurteilen<br />

zu können. Lehrerinnen und Lehrer müssen daher in ihrer<br />

Aus- und Fortbildung entsprechende Diagnosemöglichkeiten<br />

kennen lernen.<br />

<strong>Leseverstehen</strong><br />

Leseintention<br />

Basale Lesefertigkeiten<br />

Kognitive Voraussetzungen<br />

50 Forum Forschung Mai 2011 <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />

Lesestrategien<br />

Primärstrategien<br />

Wiederholungsstrategien<br />

Elaborationsstrategien<br />

Organisationsstrategien<br />

Stützstrategien<br />

Metakognitive Strategien<br />

Motivational-emotionale Strategien<br />

Förderkompetenz<br />

Die kompetenteste Diagnose nützt nichts, wenn Lehrerinnen<br />

und Lehrer nicht wissen, wie sie didaktisch-methodisch<br />

auf die Ergebnisse der Diagnose im Lesen und <strong>Leseverstehen</strong><br />

eingehen sollen. Führt ein Diagnoseergebnis<br />

dazu, dass Lehrkräfte sich wegen mangelnder Förderkonzepte<br />

hilflos fühlen, besteht die Gefahr, dass sie sich<br />

vom Kind zurückziehen oder sogar eine Aussonderung<br />

aus der Lerngruppe betreiben (vgl. Kretschmann 2007,<br />

S.19). In der Lehreraus- und Fortbildung ist es daher von<br />

entscheidender Bedeutung, dass diagnostische Kompetenzen<br />

immer in Verbindung mit Fördermaßnahmen gelehrt<br />

werden. Schrader und Helmke weisen darauf hin,<br />

dass hohe Lernerfolge bei Kindern nur dann erzielt werden,<br />

wenn hohe diagnostische Kenntnisse bei Lehrkräften<br />

und besonders die Fähigkeit, Leistungsunterschiede<br />

einzuschätzen, mit bestimmten Unterrichts- und Fördermaßnahmen<br />

kombiniert werden. Die Autoren konnten<br />

dies für Strukturierungs- und für individuelle fachliche Unterstützungsmaßnahmen<br />

belegen (vgl. Schrader & Helmke<br />

2001, S.53). Konkret heißt das: Eine Förderung des<br />

<strong>Leseverstehen</strong>s kann nur sinnvoll gestaltet werden, wenn<br />

Lehrkräfte auf einen theoretischen fundierten Hintergrund<br />

2


zum Thema <strong>Leseverstehen</strong> zurückgreifen können. »Sie<br />

wissen, welche pädagogischen und welche Fördermaßnahmen<br />

auf eine diagnostizierte Konstellation folgen<br />

müssen und sie sind in der Lage, sie auch auszuführen.«<br />

(Kretschmann 2007, S.14).<br />

Fazit<br />

Die durch PISA und IGLU offenkundig gewordenen Versäumnisse<br />

im Bildungswesen, insbesondere im Bereich<br />

der Förderung von Lesekompetenz, haben Fragen im<br />

Hinblick auf Inhalt, Qualität und Effizienz der Lehrerbildung<br />

aufgeworfen. Die sich daraus im Bildungswesen<br />

entwickelte Orientierung an Standards und Kompetenzen<br />

auch im Bereich der Lehrerbildung zieht Konsequenzen<br />

für die Lehreraus- und Fortbildung nach sich. Lehrerinnen<br />

und Lehrer in der Grundschule benötigen, um die<br />

in den Bildungsstandards genannten Kompetenzen bei<br />

ihren Schülerinnen und Schülern zu entwickeln, fundiertes<br />

fachliches Wissen sowie Kompetenzen im Bereich der<br />

Diagnose und Förderung von Lesen und <strong>Leseverstehen</strong>.<br />

Ausdrücklich fordern die Kultusminister der Länder: »Die<br />

Professionalität der Lehrertätigkeit, vor allem hinsichtlich<br />

diagnostischer und methodischer Kompetenzen, muss<br />

verbessert werden, verbunden mit entsprechenden Veränderungen<br />

in der Lehrplan- und Unterrichtsgestaltung.«<br />

(KMK 2003, S.3). Im Rahmen der Arbeit wurden die<br />

genannten Forderungen in einem Fortbildungskonzept<br />

umgesetzt (vgl. Steck 2009, S. 164f).<br />

Literatur<br />

❙ Baumert, J. u.a. (Hg.) (2001): PISA 2000. Basiskompetenzen<br />

von Schülerinnen und Schülern im internationalen<br />

Vergleich, Opladen 2001.<br />

❙ KMK: Ergebnisse der internationalen Grundschulleseuntersuchung<br />

PIRLS/IGLU und der nationalen Ergänzung<br />

IGLU – E. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom<br />

8.4.2003. http:// www.kmk.org/beschl/D6.pdf.<br />

(Letzter Abruf: 09/2007)<br />

❙ KMK - Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister<br />

der Länder in der Bundesrepublik Deutschland<br />

(Hrsg.): Beschlüsse der Kultusministerkonferenz. Bildungsstandards<br />

im Fach Deutsch für den Primarbereich<br />

(Jahrgangsstufe 4), München 2005.<br />

❙ Kretschmann, Rudolf: Diagnostik in pädagogischen<br />

Handlungsfeldern – Diagnostik zur Optimierung von<br />

Lese- und Schreiblernprozessen, in: Hofmann, Bernhard/Valtin,<br />

Renate (Hrsg.): Förderdiagnostik beim<br />

Schriftspracherwerb. Deutsche Gesellschaft für Lesen<br />

und Schreiben, Berlin 2007, S. 12 – 47.<br />

Promotion ❘ Förderung des <strong>Leseverstehen</strong>s in der Grundschule<br />

❙ MAXQDA 2, Qualitativ Data Analysis, Verbi-Software,<br />

Berlin 2004.<br />

❙ Mörtl-Hafizovic, Dzenana: Diagnostische Kompetenzen<br />

im Lehrberuf, in: Grundschule, Heft 6, 2004,<br />

S. 17 – 20.<br />

❙ National Reading Panel (NRP): Teaching Children to<br />

Read: An Evidence-Based Assessment of the Scientific<br />

Research Literature on Reading and Its Implications for<br />

Reading Instruction, National Institut of Child Health<br />

an Human Development, Washington/DC 2000,<br />

in: http://www.nationalreadingpanel.org. (Letzter Abruf:<br />

12/2006.)<br />

❙ Schrader, Friedrich-Wilhelm/Helmke, Andreas: Alltägliche<br />

Leistungsbeurteilung durch Lehrer, in: Weinert,<br />

Franz E. (Hrsg.): Leistungsmessung in Schulen, Weinheim<br />

und Basel, 2001, S. 45 – 58.<br />

❙ Steck, A. (2009). Förderung des <strong>Leseverstehen</strong>s in der<br />

Grundschule. Fortbildungsbausteine für Lehrkräfte. Baltmannsweiler:<br />

Schneider.<br />

Dr. Andrea Steck ist Grund- und Hauptschullehrerin und arbeitet als Akademische Rätin im<br />

Fach Deutsch am Institut für Sprache und Literatur an der <strong>Pädagogische</strong>n <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong><br />

<strong>Gmünd</strong>. Ihre Schwerpunkte liegen in der Sprach- und Literaturdidaktik der Grundschule und der<br />

frühkindlichen Bildung. Andrea Stecks Dissertation wurde mit dem Hochschulpreis der Ostalb-<br />

Stiftung der Kreissparkasse Ostalb ausgezeichnet.<br />

<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> Forum Forschung Mai 2011 51


Promotion ❘ Fächerübergreifende Elemente im Mathematikunterricht zur Förderung von Mathematical literacy<br />

Fächerübergreifende Elemente<br />

im Mathematikunterricht<br />

zur Förderung<br />

von Mathematical literacy<br />

Dr. Simon Zell<br />

Arbeitsgruppe: Prof. Dr. Astrid Beckmann, PH <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />

Zweitgutachter: Dr. Michiel Doorman, Freudenthal Institut Utrecht, Niederlande<br />

Abstract: Interdisciplinary teaching is one possibility to promote mathematical literacy. Different conceptions of<br />

mathematical literacy and interdisciplinary teaching have been investigated and result in a structured definition of<br />

mathematical literacy and a model for interdisciplinary teaching modules. That model also includes aspects about<br />

realizability of interdisciplinary lessons gained from an investigation done in 75 schools in Baden Wuerttemberg.<br />

Considering all these elements, the potential of using experiments in mathematics class to explore different aspects<br />

of the concept of variable in lower secondary level has been examined theoretically and practically.<br />

Fragestellung<br />

Fächerübergreifender Mathematikunterricht bietet Lehrerinnen<br />

und Lehrern eine Gestaltungsmöglichkeit, um<br />

ihren Schülerinnen und Schülern mathematische Begriffe<br />

und Prozeduren aspektreich erfahrbar und erlernbar<br />

zu machen. Gleichzeitig können Schülerinnen<br />

und Schüler durch diese Unterrichtsform entdecken,<br />

wie mathematische Begriffe und Prozeduren außerhalb<br />

der Mathematik funktional angewandt werden.<br />

Aufgrund der Vielfältigkeit der Mathematik gibt es ein<br />

breites Spektrum für fächerübergreifenden Unterricht.<br />

Besonders geeignet sind allerdings die Naturwissenschaften,<br />

da sie in großen Teilen mathematische Begriffe<br />

und Prozeduren enthalten und anwenden. Was<br />

zeichnet nun einen sinnvollen fächerübergreifenden<br />

Mathematikunterricht aus? Wie trägt dieser zu einem<br />

vertieften mathematischen Verständnis bei? Wenn dort<br />

Mathematik funktional zum Einsatz kommt, wie kann<br />

fächerübergreifender Unterricht dann zum literacy-<br />

Konzept beitragen, das seit der PISA-Rahmenkonzeption<br />

international bekannt ist?<br />

52 Forum Forschung Mai 2011 <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />

Zum Begriff »Mathematical Literacy«<br />

Um gezielte Untersuchungen von Unterricht auf seinen<br />

Beitrag zu mathematical literacy durchzuführen, fand<br />

zunächst eine Begriffserklärung statt. Dazu wurde in<br />

dieser Arbeit die PISA-Rahmenkonzeption und die verschiedenen<br />

Auffassungen zu mathematical literacy in<br />

der Literatur analysiert und diskutiert und im Anschluss<br />

eine prägnante Arbeitsdefinition erstellt und gezeigt,<br />

wie diese mit der PISA-Rahmenkonzeption und der Literatur<br />

im Einklang steht. Nach dieser Definition lässt sich<br />

mathematical literacy durch drei Aspekte kennzeichnen:<br />

heuristisches Denken, umfassendes Verständnis mathematischer<br />

Begriffe und Prozeduren und Vertrautheit in deduktiven<br />

Schlussfolgerungen (vgl. Kilpatrick et al, 2003,<br />

OECD2006, Winter1995).<br />

Fächerübergreifender Unterricht<br />

Fächerübergreifender Unterricht hat viele Facetten und<br />

kann auf verschiedenste Art unterrichtet werden. Ein<br />

besonderes Interesse dieser Arbeit war auf die Realisierbarkeit<br />

fächerübergreifenden Unterrichts gerichtet.


Promotion ❘ Fächerübergreifende Elemente im Mathematikunterricht zur Förderung von Mathematical literacy<br />

So wurden durch eine quantitative Untersuchung, an<br />

der 184 Lehrerinnen und Lehrer aus 70 verschiedenen<br />

Schulen teilgenommen haben, Erkenntnisse gewonnen,<br />

wie fächerübergreifender Unterricht in den Schulen angewandt<br />

wird und welche Schwierigkeiten bei der Realisierung<br />

bestehen. Unterstützt und erweitert wurden diese<br />

Erkenntnisse durch Aussagen von zehn Lehrerinterviews,<br />

die parallel dazu statt fanden. Aus den Untersuchungsergebnissen<br />

lässt sich ableiten, dass fächerübergreifender<br />

Mathematikunterricht in den Schulen zwar selten, aber<br />

doch angewandt wird, die erfassten Lehrerinnen und<br />

Lehrer jedoch gerne öfters fächerübergreifend unterrichten<br />

würden und fächerübergreifender Unterricht meist<br />

ohne Kooperation mit Kolleginnen und Kollegen abläuft.<br />

Die Ergebnisse legen nahe, dass die Implementierung<br />

fächerübergreifenden Unterrichts möglichst effektiv gefördert<br />

werden kann, wenn den folgenden vier Punkten<br />

mehr Bedeutung zugemessen wird: Begriffsauffassung<br />

fächerübergreifenden Unterrichts, Zeit für Vorbereitung<br />

und Koordination, Absprache/Kooperation mit Kolleginnen<br />

und Kollegen und Ausbildung an den <strong>Hochschule</strong>n<br />

in fächerübergreifendem Unterrichten.<br />

»Mathematik und Naturwissenschaft<br />

unter einem Dach«<br />

Mit Hilfe der Arbeitsdefinition und den Erkenntnissen der<br />

Lehrerbefragung kann nun dargestellt werden, wie realisierbarer<br />

fächerübergreifender Mathematikunterricht einen<br />

Beitrag zu mathematical literacy leisten kann. Dazu<br />

wurde ein Modell »Mathematik und Naturwissenschaften<br />

unter einem Dach« entworfen. Durch dieses Modell<br />

können gemeinsame und fachspezifische Aspekte der<br />

vorkommenden inhaltlichen Themen eines fächerübergreifenden<br />

Unterrichts(entwurfs) anschaulich aufgezeigt<br />

und fächerübergreifende Elemente der vorkommenden<br />

Denkprozesse diskutiert werden. Es gliedert sich in drei<br />

Bereiche: Inhalt, heuristische Fähigkeiten und Organisation.<br />

Im Bereich Inhalt kann aufgezeigt werden, welche<br />

Sichtweisen einem mathematischen Begriff zugeordnet<br />

werden können. Durch Aufgliederung in gemeinsame<br />

und fachspezifische Sichtweisen kann so das fächerübegreifende<br />

Potential und die Ganzheitlichkeit eines<br />

Begriffs dargestellt werden. Im Bereich heuristische Fähigkeiten<br />

werden jene aufgelistet und erklärt, welche<br />

während der Erarbeitung eines Themas angesprochen<br />

werden. Das Modell erlaubt damit eine differenzierte<br />

Analyse fächerübergreifenden Unterrichts bzw. fächerübergreifender<br />

Unterrichtsentwürfe auf ihren Fächerübergriff<br />

bzw. ihr fächerübergreifendes Potential. Des Weiteren<br />

können damit Beiträge zu mathematical literacy<br />

abgeleitet werden. Durch Einbeziehen organisatorischer<br />

Faktoren in das Modell, können zudem noch Aussagen<br />

zur Realisierbarkeit gemacht werden. Deshalb ist<br />

es auch ein praktisches Modell zur Beschreibung und<br />

Planung realisierbaren fächerübergreifenden Unterrichts<br />

und kann darüber hinaus in der Hochschulausbildung<br />

als Skizze dienen, die wichtigsten Aspekte dieses Unterrichts<br />

zu vermitteln.<br />

Experimente<br />

Experimente sind ein wesentlicher Bestandteil der Naturwissenschaften.<br />

Da bei der Auswertung oft mathematische<br />

Begriffe und Prozeduren gebraucht und manchmal<br />

auch in anderer Form angewandt werden, erscheint<br />

es lohnenswert, Experimente auch im Rahmen eines fächerübergreifenden<br />

Mathematikunterrichts einzusetzen.<br />

Unter Berücksichtigung fachwissenschaftlicher und fachdidaktischer<br />

Aspekte von naturwissenschaftlichen Experimenten<br />

wurde untersucht, wie Experimente einen Beitrag<br />

zu mathematical literacy leisten können. Insbesondere in<br />

Bezug auf heuristische Fähigkeiten und Vertrautheit in deduktiven<br />

Schlussfolgerungen können naturwissenschaftliche<br />

Experimente einen hohen Beitrag zu mathematical<br />

literacy leisten, aber auch aspektreiches Erlernen mathematischer<br />

Begriffe und Prozeduren ermöglichen und<br />

somit beiden Fachgebieten Mathematik und Naturwissenschaften<br />

dienen.<br />

Experimente zur Förderung des<br />

Variablenbegriffserwerbs<br />

Da bei vielen Experimenten physikalische Größen durch<br />

Variablen ausgedrückt werden, wurde untersucht, wie<br />

physikalische Experimente erfolgreich zum Erlernen des<br />

Variablenbegriffs im Mathematikunterricht eingesetzt<br />

werden können. Zunächst wurden physikalische Experimente<br />

der Untersuchung in drei siebten Klassen mit insgesamt<br />

90 Schülerinnen und Schülern auf ihre Tauglichkeit<br />

im Mathematikunterricht getestet. Genauere Erkenntnisse<br />

<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> Forum Forschung Mai 2011 53


Promotion ❘ Fächerübergreifende Elemente im Mathematikunterricht zur Förderung von Mathematical literacy<br />

zum Variablenbegriff und Einfluss der physikalischen Kontexte<br />

konnten aus problemorientierten Interviews gewonnen<br />

werden, an denen insgesamt 60 Schülerinnen und<br />

Schüler von sechsten Klassen eines Gymnasiums bzw.<br />

siebten Klassen einer Realschule teilnahmen. Die Untersuchung<br />

zeigt, welches Potential physikalische Experimente<br />

im Mathematikunterricht zum Erfahren der Aspekte des<br />

Variablenbegriffs in der sechsten Klasse im Gymnasium<br />

bzw. siebten Klasse in der Realschule haben. Darüber<br />

hinaus wurden Erkenntnisse vorgestellt, welches weitere<br />

Potential in den Experimenten steckt und welche Schwierigkeiten<br />

beim Experimentieren und bei der Bearbeitung<br />

der Messergebnisse auftreten können. Insbesondere<br />

wurde der Einfluss von Messfehlern auf die Schülerinnen<br />

und Schüler beim Finden des mathematischen Zusammenhangs<br />

thematisiert. Die Ergebnisse der Untersuchung<br />

zeigen, dass physikalische Experimente ein hohes Potential<br />

zum Erlernen des Variablenbegriffs in der sechsten<br />

54 Forum Forschung Mai 2011 <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />

bzw. siebten Klasse haben und gleichzeitig Modellierungskompetenzen<br />

entwickelt werden können. Dazu<br />

ermöglichen sie erste Kontakte mit dem Funktionsbegriff<br />

und dem Konzept der Äquivalenz, die im Anschluss an<br />

die Experimente zusätzlich thematisiert werden können.<br />

Die Schülerinnen und Schüler sind darüber hinaus in der<br />

Lage, beim Finden eines funktionalen Zusammenhangs<br />

Messfehler zu erkennen und zu interpretieren.<br />

Zusammenfassung<br />

Die Erkenntnisse dieser Arbeit erlauben also ein besseres<br />

Verständnis der Konzeption von mathematical literacy,<br />

zeigen Merkmale realisierbaren und sinnvollen fächerübergreifenden<br />

Mathematikunterrichts, geben ein Modell<br />

zur Analyse fächerübergreifenden Unterrichts und<br />

fächerübergreifender Unterrichtsentwürfe und zeigen,<br />

wie physikalische Experimente erfolgreich im Mathematikunterricht<br />

eingesetzt werden können.<br />

Detaillierte Informationen in<br />

❙ Kilpatrick, J.; Swafford, J. & Findell, B. (ed.) Adding<br />

it up: Helping children learn mathematics. National<br />

Academy Press, Washington, 2001.<br />

❙ OECD: Assessing Scientific, Reading and Mathematical<br />

literacy – A framework for PISA 2006, 2006.<br />

❙ Winter, H.: Mathematikunterricht und Allgemeinbildung<br />

Mitteilungen der Gesellschaft für Didaktik der<br />

Mathematik, 1995, 61, S.37 – 46.<br />

❙ Zell, S.: Fächerübergreifende Elemente im Mathematikunterricht<br />

zur Förderung von mathematical literacy<br />

– Untersuchungen zur Bedeutung naturwissenschaftlicher<br />

Kontexte unter besonderer Berücksichtigung<br />

physikalischer Experimente zum Variablenbegriff;<br />

Franzbecker Hildesheim, Berlin, 2010.<br />

Dr. Simon Zell war von 2007 bis 2009 akademischer Mitarbeiter am Institut für Mathematik<br />

und Informatik an der <strong>Pädagogische</strong>n <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong>. Im Juni 2010 schloss er<br />

seine Promotion in Mathematikdidaktik ab. Zurzeit ist er Studienreferendar für das höhere Lehramt<br />

und Lehrbeauftragter an der <strong>Pädagogische</strong>n <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong>.


Promotion ❘ Fächerübergreifende Elemente im Mathematikunterricht zur Förderung von Mathematical literacy<br />

Verein der Freunde<br />

der <strong>Pädagogische</strong>n <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> e.V.<br />

Werden auch Sie Mitglied!<br />

Engagierte Bürgerinnen und Bürger der Stadt und der Region gründeten 1965 den Verein der<br />

Freunde mit dem Ziel, die <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> und ihre Studierenden zufördern, die<br />

Beziehungen zwischen den Bürgern und der <strong>Hochschule</strong> zu vertiefen und sie im Bewusstsein von<br />

Stadtund Region zu verankern.<br />

Förderungsmaßnahmen desFreundeskreises:<br />

Studierendenförderungen:<br />

� Exkursionszuschüsse<br />

� Hellmuth-Lang-Preis für herausragende<br />

wissenschaftliche Arbeiten<br />

� Studentische Veranstaltungen, z. B.<br />

Zeugnisübergabefest, Sportveranstaltungen,<br />

Theateraufführungen<br />

� Fach Musik für Konzerte<br />

� Fach Sport für Ausrüstungen<br />

� Fach Kunst für Ausstellungen<br />

� jährliches Kinderfilmfestival<br />

Beitrittserklärung<br />

<strong>Hochschule</strong>allgemein:<br />

Hiermiterkläre ich meine Mitgliedschaft im Verein<br />

der Freunde der <strong>Pädagogische</strong>n <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> e.V.<br />

� Forschungsprojekte<br />

� Öffentliche Hochschulveranstaltungen<br />

� Austausch mitinternationalen<br />

Partnerhochschulen<br />

� Ausstellungen,Workshops<br />

� Verfügungsfond Rektor<br />

� Seniorenhochschule<br />

Name /Titel ................................................................................. Vorname............................................................<br />

PLZ, Ort .................................................................................. Straße ..............................................................<br />

Unterschrift ......................................................................<br />

Einzugsermächtigung<br />

Hiermitermächtige ich den Verein der Freunde<br />

der <strong>Pädagogische</strong>n <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> e.V., von meinem<br />

Konto Nr. .................................................................................. BLZ ....................................................................<br />

bei derBank .................................................................................. stets widerruflicheinen Jahresbeitrag inHöhe<br />

von .......................................................................... ,– € einzuziehen.*<br />

Ort ................................................................................., den ..............................<br />

Unterschrift ..................................................................................<br />

*jährlicher Mindestbeitrag lt.Satzung 10,– €.Der Beitrag ist steuerlichabsetzbar (wiss. Zwecke).<br />

Senden Sie bitte diese Beitrittserklärung an den Verein der Freunde der PH<strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> e.V.,<br />

Oberbettringerstraße200, 73525 <strong>Schwäbisch</strong><strong>Gmünd</strong><br />

Bankverbindung: KreissparkasseOstalb<br />

Konto 440 059 594 BLZ 614 500 50<br />

<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> Forum Forschung Mai 2011 55


Forum Forschung ❘ Irma-Schmücker-Preis und Hellmuth-Lang-Preis<br />

Irma-Schmücker-Preis und<br />

Hellmuth-Lang-Preis<br />

Jasmin Stiegler<br />

Irma-Schmücker-Preis<br />

Der nach der Gründerin der <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong>er<br />

Volkshochschule benannte Irma-Schmücker-Preis wird<br />

seit 1995 als Auszeichnung für herausragend wissenschaftliche<br />

Arbeiten zur ersten Staatsprüfung vergeben.<br />

Der Preis wurde von der <strong>Pädagogische</strong>n <strong>Hochschule</strong><br />

geschaffen, um die Sichtbarkeit von Frauen im Bildungs-<br />

und Hochschulsystem zu stärken. Gleichzeitig sollen<br />

mit diesem Preis wissenschaftliche Arbeiten gefördert<br />

werden, die sich mit Fragen der Gleichstellung der Geschlechter<br />

sowie mit geschlechtsspezifischen Fragen in<br />

Bildung und Beruf auseinandersetzen.<br />

Preisträgerin 2010 Vanessa Regner mit Dr. Eva Wittneben, Gleichstellungsbeauftragte.<br />

56 Forum Forschung Mai 2011 <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />

Die Gleichstellungsbeauftragte der <strong>Pädagogische</strong>n<br />

<strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong>, Dr. Eva Wittneben,<br />

vergibt jährlich diesen Förderpreis.<br />

Vanessa Regner ist die Preisträgerin des Irma-Schmücker-<br />

Preises 2010. Sie erhielt den Förderpreis für ihre Arbeit<br />

Genderbewusste Behandlung von Kurzgeschichten<br />

im Englischunterricht am Beispiel von Martin Forbes’<br />

»Delilah’s Cat«.


Hellmuth-Lang-Preis<br />

Mit dem Hellmuth-Lang-Preis zeichnet der Verein der<br />

Freunde der <strong>Pädagogische</strong>n <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong><br />

<strong>Gmünd</strong> seit 1985 hervorragende wissenschaftliche Leistungen<br />

von Studierenden aus.<br />

Benannt nach seinem Initiator, dem <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong>er<br />

Geschäftsmann Hellmuth Lang, fördert und unterstützt<br />

der Preis damit das Anliegen einer wissenschaftlichen<br />

<strong>Hochschule</strong>: die enge Verbindung von Forschung und<br />

Lehre.<br />

In den vergangenen 25 Jahren wurden 82 Arbeiten mit<br />

dem Hellmuth-Lang-Preis ausgezeichnet.<br />

Forum Forschung ❘ Irma-Schmücker-Preis und Hellmuth-Lang-Preis<br />

Die Preisträgerinnen und Preisträger 2010 sind:<br />

❙ Kerstin Achtelik und Nicole Kienle: »Das ungewöhnliche<br />

Buch-Erprobung eines neu entwickelten Verfahrens<br />

der Schriftvorerfahrung im ersten Schuljahr«<br />

❙ Martina Litti: »Glanz – Glamour – Glitter eine mehrperspektivische<br />

Betrachtung eines Phänomens im Bereich<br />

Kleidung als Beitrag zum fächerübergreifenden Unterricht<br />

in der Hauptschule«<br />

❙ Mirjam Schön: »Hans Faber. Evangelischer Religionsunterricht<br />

im Nationalsozialismus«<br />

❙ Daniel Walker: »Möglichkeiten bilingualen Unterrichts<br />

– Zum Erwerb geometrischer Begriffe im fremdsprachlichen<br />

Mathematikunterricht«<br />

Die Preisträgerinnen und Preisträger des Hellmuth-Lang-Preises 2010 mit Rektorin Prof. Dr. Astrid Beckmann und Prof. Dr. Josef Lauter, Vorsitzender Verein der Freunde.<br />

<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> Forum Forschung Mai 2011 57


Impressum<br />

Forum Forschung<br />

das Wissenschaftsmagazin<br />

der <strong>Pädagogische</strong>n <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />

Ausgabe 2, Mai 2011<br />

Herausgeber<br />

<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />

Oberbettringer Straße 200<br />

73525 <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />

Telefon (0 71 71) 98 30<br />

Fax (0 71 71) 98 32 12<br />

E-Mail presse@ph-gmuend.de<br />

www.ph-gmuend.de<br />

Redaktion<br />

Prof. Dr. Astrid Beckmann, rektorin@ph-gmuend.de<br />

Prof. Dr. Thorsten Piske, thorsten.piske@ph-gmuend.de<br />

Jasmin Stiegler, jasmin.stiegler@vw.ph-gmuend.de<br />

58 Forum Forschung Mai 2011 <strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong><br />

Fotos<br />

<strong>Pädagogische</strong> <strong>Hochschule</strong> <strong>Schwäbisch</strong> <strong>Gmünd</strong> und Autoren<br />

Bernhard Ordner<br />

Layout und Herstellung<br />

Ausbildungsbereich Mediengestalter, SDZ. Druck und Medien, Aalen<br />

Auflage<br />

1000<br />

Textabdruck nur mit Zustimmung der Redaktion.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!