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Materials Revisited

ISBN 978-3-86859-130-9

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<strong>Materials</strong> <strong>Revisited</strong><br />

Dank 7<br />

Grußwort 9<br />

Der Stoff ..., Sabine Runde 11<br />

Die Seele ..., Stefan Soltek 14<br />

Die Gesten ..., Volker Fischer 18<br />

Werke Statements Phänomene 23<br />

Lost and Found 26<br />

Kleine Fluchten 38<br />

Märchen-Wirklichkeit 52<br />

Materialien als Entwerfer 64<br />

Archäologische Folklore 72<br />

Privatisierung des Öffentlichen 80<br />

Rückblicke auf den privaten Kosmos 92<br />

Die Serie als Unikat 102<br />

Palimpseste 108<br />

Klassikerschelte 116<br />

Die Welt als Ort 130<br />

Pimp my objects 134<br />

Gibt es eine Zukunft … 140<br />

Inklusion und Exklusion 152<br />

Höherer Nonsens 156<br />

Künstlerverzeichnis 160<br />

Biografien 165<br />

Impressum 192<br />

4 5


Grußwort<br />

Clifford Chance<br />

Seit zehn Jahren ist Clifford Chance dem Museum<br />

für Angewandte Kunst Frankfurt unterstützend<br />

verbunden. Unsere Sozietät fördert mit dieser<br />

Zusammenarbeit ein Museum, das weit über die<br />

Grenzen Frankfurts hinaus mit Kreativität und<br />

künstlerischem Pioniergeist, der bisweilen auch sehr<br />

ungewöhnliche Ausstellungen hervorbringt, Aufsehen<br />

erregt. Das Museum für Angewandte Kunst Frankfurt<br />

trägt ganz wesentlich dazu bei, dass Frankfurt<br />

sowohl national als auch international neben seinem<br />

hohen Ansehen als Finanzzentrum auch einen<br />

exzellenten Ruf als Stadt der Kultur genießt.<br />

In diesem Jahr ist es die 10. Triennale für Form und<br />

Inhalte 2011, die wir fördern. Gut vier Monate lang<br />

bieten mehr als 100 Künstler unter dem Motto<br />

‘<strong>Materials</strong> <strong>Revisited</strong>’ ihren ganz persönlichen Blick -<br />

winkel auf den Umgang mit Materialien aller Art dar.<br />

Dabei wird die Triennale zum Treffpunkt von<br />

Künstlern unterschiedlichster Provenienz, die sich<br />

vom Möbeldesign bis zur Buchkunst erstreckt und<br />

damit ihren besonderen Reiz in der Ungewöhnlichkeit<br />

der Mischung findet. In Zeiten, in denen allenthalben<br />

mit Recht ein sorgsamer Umgang mit den natürlichen<br />

Ressourcen angemahnt wird, bietet ‘<strong>Materials</strong> <strong>Revisited</strong>’<br />

spannende Einblicke, wie in der Angewandten Kunst<br />

im breiten Spektrum der Materialanwendung<br />

zunehmend Nachhaltigkeit und Umweltbewusstsein<br />

in den Blick rückt. Die Angewandte Kunst wird mit<br />

dieser Ausstellung beweisen können, wie zeitgerecht<br />

und zukunftsfähig sie ist.<br />

Clifford Chance wünscht allen Besuchern der<br />

10. Triennale für Form und Inhalte 2011 auf dieser<br />

künstlerischen Entdeckungsreise viel Vergnügen.<br />

Dr. Andreas Dietzel<br />

Geschäftsführender Partner<br />

Clifford Chance<br />

Partnerschaftsgesellschaft von Rechtsanwälten, Wirtschaftsprüfern, Steuerberatern und Solicitors<br />

8<br />

9


Die Triennale seit 1978<br />

Corporal Identity – Körpersprache, 9. Triennale für<br />

Form und Inhalte, USA und Deutschland, Museum für<br />

Angewandte Kunst Frankfurt, Klingspor-Museum<br />

Offenbach, Museum of Arts & Design New York,<br />

Frankfurt 2003.<br />

Crafts from Scratch – Eine Spur von Handarbeit,<br />

8. Triennale für Form und Inhalte, Australien und<br />

Deutschland, Museum für Angewandte Kunst<br />

Frankfurt, Object Gallery, Customs House Sydney,<br />

Art Gallery of South Australia Adelaide, Frankfurt<br />

2000.<br />

Deutschland und Korea, 7. Triennale für Form und<br />

Inhalte, Museum für Kunsthandwerk Frankfurt am<br />

Main, Sonje Museum of Contemporary Art Kyongju,<br />

Frankfurt 1997.<br />

Zeitgenössisches Deutsches Kunsthandwerk,<br />

6. Triennale 1994, Museum für Kunsthandwerk<br />

Frankfurt am Main, Museum für Kunsthandwerk<br />

(Grassi-Museum) Leipzig, Frankfurt 1994.<br />

Zeitgenössisches Deutsches Kunsthandwerk,<br />

5. Triennale 1990/91, Museum für Kunsthandwerk<br />

Frankfurt am Main, Museum des Kunsthandwerks<br />

(Grassi-Museum) Leipzig, Kestner-Museum<br />

Hannover, München 1990.<br />

Zeitgenössisches deutsches und finnisches<br />

Kunsthandwerk, 4. Triennale 1987/1988, Museum<br />

für Kunsthandwerk Frankfurt am Main,<br />

Taideteollisuusmuseo Helsinki, Kestner-Museum<br />

Hannover, Frankfurt/Hannover 1987.<br />

Zeitgenössisches deutsches Kunsthandwerk,<br />

Triennale 1984, Museum für Kunsthandwerk Frankfurt<br />

am Main, Kestner-Museum Hannover, Frankfurt 1984.<br />

Zeitgenössisches deutsches und niederländisches<br />

Kunsthandwerk, Triennale 1981, Museum für Kunst -<br />

handwerk Frankfurt am Main, Gemeentemuseum<br />

Arnhem, Frankfurt 1981.<br />

Zeitgenössisches deutsches und britisches Kunst -<br />

handwerk, Museum für Kunsthandwerk Frankfurt am<br />

Main, City Museums and Art Gallery Birmingham,<br />

Frankfurt 1978.<br />

Sabine Runde<br />

Der Stoff,<br />

aus dem<br />

die Werke<br />

sind<br />

10 11


Über Jahrzehnte hinweg hat das Museum für<br />

Angewandte Kunst in Frankfurt am Main mit der<br />

‘Triennale für Form und Inhalte’ eine Ausstellungs -<br />

reihe als Forum etabliert, die das Geschehen<br />

sichtet, auswählt, analysiert, das Resultat in Katalogen<br />

dokumentiert und die Werke darüber hinaus in der<br />

Präsentation in einer jeweils sehr eigenen Weise<br />

untereinander in Beziehung setzt. An kaum einem<br />

anderen Haus ist so kontinuierlich sichtbar geworden,<br />

wie die Angewandte Kunst ein eigenes Terrain der<br />

Bildenden Kunst in Anspruch nimmt. Befürwortung<br />

und Kritik begleiteten diese offene Angehens weise;<br />

verstanden oder missbilligten die minder deutlich<br />

ausgeprägte Funktionalität der geschaffenen Werke<br />

und ihren Anspruch, ihren Platz in der Kunst eingeräumt<br />

zu bekommen.<br />

Nachdem wieder mehrere Jahre verstrichen sind,<br />

ist es Zeit, eine Neubetrachtung zu unternehmen<br />

und in der Jubiläumsausgabe der Ausstellung erneut<br />

und zugespitzt nach dem Wesen der Arbeit im<br />

sogenannten Angewandten Bereich der Kunst zu<br />

fragen. Nach ‘Crafts from Scratch – eine Spur von<br />

Handarbeit’ und ‘Corporal Identity – Body Language’<br />

ist ‘<strong>Materials</strong> <strong>Revisited</strong>’ 2011 der Leitfaden, an dem<br />

entlang sich über hundert Künstler hier begegnen.<br />

Das englische ‘revisit’ deutet es an. Ein Überdenken,<br />

Neuerwägen, Wiederaufnehmen ist anvisiert. Wenn<br />

dies auch die Suche nach Orientierung in einer Zeit<br />

des Umbruchs beschreibt, dann ist das durchaus<br />

auf die Situation dieser Ausstellung übertragbar.<br />

Übergehen wir die Gefahr der leeren Allerweltsfloskel,<br />

nach der noch jede Zeit ihren Umbruch erfährt und<br />

betreibt, dann wird unsere Zeit, nach dem radikalen<br />

Umbruch durch den Zweiten Weltkrieg, den letzten<br />

zehn Jahren weltweit, vom 11.9.2001 angefangen<br />

bis zur Tötung Bin Ladens, bald wirtschaftlich<br />

(China, Indien), bald energiepolitisch (Deutschland)<br />

oder machtpolitisch (Irak, Ägypten, Libyen) als<br />

empfindlicher Umbruch empfunden. Dank Internet,<br />

Smartphone u.a. im Wechselspiel der Lebens -<br />

wirklichkeiten off- und online, im Wechsel auch von<br />

grassierenden Lebensweisen und Wertvorstellungen<br />

verschmelzen die Menschen unterschiedlicher<br />

territorialer, sozialer und religiöser Herkunft in ein<br />

und demselben Lebensraum, wobei der Einzelne<br />

dabei so uniform wie isoliert zu werden droht. Auch<br />

in diesem Sinne erweist sich die diesmalige Auswahl<br />

als Spiegel fortschreitender Globalisierung. Revisit –<br />

der deutsche Fokus weist darauf hin, wie durchmischt<br />

die deutsche Kunstlandschaft inzwischen ist,<br />

wie gefragt deutsche Ausbildungsstätten sind und<br />

wie viele Künstler ihren Wohnsitz in Deutschland<br />

genommen haben bzw. wie viele aus Deutschland<br />

stammende Künstler inzwischen in der Welt ihre<br />

Arbeit zeigen oder weiterentwickeln. Wieweit die<br />

persönliche Herkunft der Künstler oder das Land, in<br />

dem sie derzeit angesiedelt sind, in die Antworten<br />

auf die Fragestellung dieser Triennale einfließen, ist<br />

– wie bei jeder Triennale – ein offenes Feld für alle<br />

Rezipienten.<br />

‘<strong>Materials</strong> <strong>Revisited</strong>’ – die Fragestellung zielt,<br />

genauer betrachtet, auf unterschiedliche Akzente.<br />

Natürlich gerät die Konzentration auf traditionell<br />

benutzte Materialien in den Blick: Woher kommt<br />

diese Entschiedenheit für ein Material, welche<br />

Ausdrucksabsichten werden damit verbunden, welche<br />

Rolle spielt es für die Wahrnehmung? Aus dem<br />

Blickwinkel der Künstler und aus Kuratorensicht<br />

zeigen sich die Potentiale der Materialien – Holz,<br />

Porzellan, Tonerden, Glasuren, Glas, Metalle, Steine,<br />

Perlen, Gewebe, Papiere ... – selbst als Charaktere,<br />

die mit und gegen den Strich ihre Rollen spielen.<br />

Material ist nicht neutral, vielmehr hat es heute<br />

eine Form von ikonografischer Eigenqualität<br />

gewonnen, die Inhalt, Thema, Aussage und Anliegen<br />

mitbestimmt und die alte Forderung nach ‘Material -<br />

gerechtigkeit’ hinter sich lässt. Technisches Wissen,<br />

freie Anwendungen und Umsetzungen in der Hand<br />

von Künstlern erweisen sich weit über ein Repertoire<br />

hinausgehend als unerschöpfliches Reservoir für<br />

jeweils ein sehr individuell entwickeltes Vokabular,<br />

eine fein differenzierbare Klaviatur, auf der facetten -<br />

reich komponiert wird. Neue Materialien, Ergebnisse<br />

technischer Produktionen und industrieller Prozesse<br />

und ihre Übertragung in künstlerische Konzeptionen<br />

erweitern dieses Vokabular, eröffnen neue Ausdrucks -<br />

möglichkeiten, mit denen experimentiert wird –<br />

losgelöst von Möglichkeiten der Vermarktung mit<br />

dem Potential zur Vermarktung. Jenseits der Collage<br />

oder des Ready-mades hat sich die Idee des objet<br />

trouvé bis heute weiterentwickelt, Recycling, heute<br />

Reanimation, Revitalisierung oder Upcycling sind<br />

Vorgehensweisen, die nicht mehr allein unter der<br />

Prämisse der Nachhaltigkeit betrieben werden,<br />

sondern als lustvoll lakonisches Spiel mit den Metaphern<br />

unseres Alltags, unserer Zeit.<br />

Den Gegenpol zu diesem materialen Kosmos, mit<br />

seinen symbolischen Verweisen, seiner Veranlagung<br />

zur Vernetzung oder Verlinkung, bildet der<br />

immaterielle Bereich des Materialen als Stoff -<br />

sammlung, auf den zugegriffen wird.<br />

Der Rückgriff auf Märchen und Mythen als mehr<br />

oder weniger emotionale, auch der Ratio entzogene<br />

Ausdrucksebene, auf mehr und weniger weit zurückliegende<br />

Gegebenheiten und Ideen, auf ein nachmittelalterliches<br />

Stundenbuch, Bilder zur Familien -<br />

geschichte, ein Urlaubsfoto, Reiseeindrücke, der<br />

Zugriff auf das Zeitgeschehen, politisch, literarisch,<br />

philosophische Begebenheiten oder das Schöpfen<br />

aus dem eigenen Vorrat vergangener Jahre, aus<br />

dem privaten Kosmos, der Erinnerung, die nicht<br />

mehr nur die ‘Alten’ fasziniert... In allen Fällen geht<br />

es nicht allein um Rekapitulation, ein nochmaliges<br />

Aufführen oder Vorstellen des Gewesenen, sondern<br />

um dessen Umformung, Modifikation, gar Metamor -<br />

phose, die dem Vormaligen ein aktualisiertes<br />

Ansehen im Hier und Jetzt eröffnet. Passt das in<br />

eine Zeit, die offenbar viel dafür tut, Erfahrung,<br />

Erleben, Rezeption in kleine Zeit-Raum-Segmente zu<br />

rhythmisieren, die dem immer schon beklagten<br />

Zuschnell-Sein des Zeitablaufs das Partielle und<br />

Beiläufige, Angehäufte, im schnellen Vollzug und<br />

Wechsel Verhandelte als Rasterfeld unterlegt? – Es<br />

passt so gut wie auch der Rückgriff auf die Natur<br />

in ihrer unbeschreiblichen Vielfalt und Schönheit,<br />

die zugewandt in überhöhter oder radikalisierter<br />

Umformung auftreten kann. Als mehr oder weniger<br />

leises memento mori reiht sie sich ein in die<br />

Ressourcen, die als Ausgangsstoff ihren jeweils<br />

spezifischen Eingang finden in so unterschiedliche<br />

Medien wie Möbel, Mode Schmuck und Buchkunst,<br />

die seit Langem in der Triennale beleuchtet wird.<br />

Immer anders aufgegriffen wird diese Fragestellung<br />

immer wieder neu zur Erscheinung gebracht. Der<br />

Stoff, aus dem die Werke sind, spielt mit allen<br />

Facetten seines Seins. Zwangsläufigkeiten, die sich<br />

aus einem Werkstoff oder seinen Verwendungen<br />

zu ergeben scheinen, werden als Ausgangspunkte<br />

benutzt, neu interpretiert. Textil beispielsweise ist<br />

nicht nur Kleidung, sondern auch Raum, ein Kleid<br />

ist nicht nur tragbar, sondern auch erzählerisches<br />

Medium, Vorgefundenes, Gebrauchtes wird zerlegt,<br />

neu geordnet und durch Umsetzungen verfremdet<br />

und in etwas Freies, Unerwartetes transformiert, das<br />

immer wieder Alltägliches aufscheinen lässt, um<br />

gleichzeitig stereotype Erwartungen in Frage zu<br />

stellen. Diese Infragestellung tradierter Aufgaben,<br />

dieses Ausloten des <strong>Materials</strong> und seiner weiter -<br />

gehenden Ausdrucksmöglichkeiten macht wieder<br />

einmal deutlich, wie abträglich und überholt althergebrachte<br />

Grenzziehungen dem Verständnis sind.<br />

Im Fokus stehen die Werke der teilnehmenden<br />

Künstler, im Katalog dokumentiert und kommentiert<br />

durch die Autoren selbst und die Kuratoren, erweitert<br />

um allgemeinere Reflektionen zu Phänomenen, die<br />

die individuellen Standpunkte gesellschaftlich und<br />

kulturhistorisch verorten. Trotz aller auf den ersten<br />

Blick dominanten Subjektivität scheint in diesen<br />

künstlerischen Positionen ein Potential auf, welches<br />

doch auch gesellschaftsdiagnostisch ist. Viele<br />

Eigenschaften von Materialien sind hier wiederentdeckt<br />

oder neu entwickelt worden. Das Thema<br />

dieser 10. Triennale ‘<strong>Materials</strong> <strong>Revisited</strong>’ fokussiert<br />

auf solche (Wieder-)Entdeckungen, aber nicht nur<br />

in Hinblick auf die Entwerfer, sondern auch auf die<br />

Besucher. Insofern sind diese zu einem Verhalten<br />

aufgefordert, welches man im Kontext von Lese -<br />

erfahrungen re-reading nennt.<br />

Sabine Runde<br />

12 13


Die<br />

Gesten und ihr<br />

Schatten –<br />

Zum Stand der<br />

Dinge in der<br />

Angewandten Kunst<br />

Volker Fischer<br />

Ich habe den Eindruck, dass heute die sozialen<br />

Bedingungen und Befindlichkeiten vom Diskurs des<br />

Ästhetischen weiter entfernt sind als früher – und<br />

umgekehrt. Dabei ist für das Selbstverständnis<br />

und das Selbstwertgefühl der Kreativen offenbar oft<br />

eher unerheblich, ob sie ihre Einfluss- und<br />

Gestaltungs möglichkeiten auf die Basiskontexte<br />

gesellschaftlicher Realität wie Ökonomie, Soziales<br />

oder Ökologie hoch oder niedrig einschätzen.<br />

In allen sozialen Gruppen der Gesellschaft, die sich<br />

bisher immerhin einbilden konnten, auf diese<br />

Basiskontexte Einfluss nehmen zu können, verfestigt<br />

sich der Eindruck, wenn nicht die Gewissheit, dass<br />

dieser Einfluss sich zusehends marginalisiert.<br />

Das hat natürlich Konsequenzen für das Selbstver -<br />

stän dnis und die Eigenpositionierung in der Gesellschaft.<br />

Noch in den 1980er Jahren hatten die Kreativen im<br />

Sinne einer stilistischen Prägekraft den Optimismus,<br />

mit ihren Produkten und Ideen auf die Gesellschaft<br />

einwirken zu können; noch in den 1990er Jahren<br />

konnte man dies in Hinsicht auf einen technolo -<br />

gischen Optimismus neuer Verfahren, Materialien<br />

und Werkzeuge beobachten.<br />

Heute, fünfzehn, zwanzig Jahre später, greift dem -<br />

gegenüber eine fast zähe Desillusionierung Platz.<br />

Kein Angehöriger der ästhetischen Kaste glaubt<br />

heute noch wirklich daran, mit seinen Werken gesell -<br />

schaftlich einschneidende Veränderungen bewirken<br />

zu können. Insofern hat, zumindest psychologisch,<br />

die Perfektionierung der gesellschaftlichen Groß -<br />

strukturen und Basiskontexte – von den Sozialsys -<br />

temen, den Strukturen des Politischen über die<br />

Marginalisierung von Partizipationsformen bis zu den<br />

Medien und den Formen des Entertainments, zu<br />

schweigen von der Globalisierung und ihren Folgen<br />

für die eigenen liebgewordenen, aber oft provinziellen<br />

Biotope des Denkens – bei den Kulturschaffenden<br />

eine Haltung des eher beiläufigen Agierens begünstigt,<br />

die ebenso an Lakonismus wie Zynismus grenzt.<br />

Man gefällt sich eher in Andeutungen, ästhetischen<br />

Gesten und flüchtigen Statements.<br />

Die zeitgenössischen Künstler und Kulturarbeiter<br />

verlieren sich nicht mehr in den Eifrigkeitsdiskursen<br />

der klöppelnden Postmoderne oder den ebenso<br />

weltverbesserungsehrgeizigen Askesen des Minima -<br />

lismus. Das erzeugt einerseits eine sympathische<br />

neue Lockerheit, aber ist eben oft auch nicht frei<br />

von Blässe bis hin zum Läppischen. Wenn man sich<br />

denn überhaupt noch politisch und sozial engagiert,<br />

auch und gerade im Diskurs des Ästhetischen, dann<br />

eher mit lakonischer Distanz und dem Abstand<br />

ironischen oder auch selbstironischen Amusements.<br />

Vielleicht steckt das Politische im Abstandhalten<br />

vom Politischen.<br />

Die heutige Generation von Künstlern will und kann<br />

zwar immer noch und immer wieder ästhetisch<br />

anspruchs volle, reflektierte Werke kreieren. Aber sie<br />

will sich nicht mehr in Dienst nehmen lassen: nicht<br />

von stilistischen Schulen, Bewegungen, Gruppierungen<br />

oder Überzeugungszirkeln. Sie sind, paradox<br />

formuliert, in einer diskurstranszendierenden Weise<br />

diskursaffin, sofern es ihre eigenen, manchmal<br />

eigenbrötlerischen Horizonte nicht stört. Natürlich<br />

hat dies etwas mit Protest- und Nischenkultur zu<br />

tun. Allerdings haben sich sowohl das Protestverhalten<br />

wie die Nischen gravierend verändert. Man mag<br />

18 19


Werke<br />

Statements<br />

Phänomene<br />

22 23


„Mich interessiert das Zusammentreffen und Ausbalancieren von Waagerechten und Senkrechten, von<br />

Schwere und Leichtigkeit. Daraus entstehen Formen, die unterschiedlichste Deutungen zulassen.“<br />

Ute Brade<br />

Auf Ton könnte sie nicht verzichten, sein organischer Charakter mit allen Möglichkeiten zur Strenge erlaubt<br />

ihr Formen zwischen Architektur und Natur. Die verschiedenen Tone, gemischte Massen, auch Reste aus<br />

der Werkstatt von Gertraud Möhwald, schätzt sie aufgrund ihrer spezifischen Eigenschaften. Sie verwendet<br />

diese Tone im Aufbau der Form, skizzenhaft gefügt, geschnitten, gelegentlich gedreht, montiert. Wie eine<br />

Malerin verfügt sie über die Palette ihrer finalen Farberscheinung, definiert die Oberflächenstruktur und<br />

steuert in mehreren Bränden das Ergebnis. Architekturen entstehen, Erinnerungen, Zitate, wie ausgegraben,<br />

Ute Brade<br />

Die Grande Dame der Goldschmiedekunst, mit ihrer sehr eigenen Vorstellung von Materialgerechtigkeit,<br />

verstand es schon immer, unbeachteten Materialien – Bänderachat (Tauschgeld aus Afrika), Kreuzstein<br />

oder Marmor – Reize für ihre malerisch verspielte Verwandlungskunst abzugewinnen. Aus den größten<br />

Tiefen des Meeres kommt die Tiefseekoralle. Farbreduziert mit Wachstumsringen zeugt dieses Naturmaterial<br />

vom Leben im Dunkel. Gekonnt spitz gesetzte Goldzutaten, niedliche Details umspielen frech die Naturform,<br />

überspielen den fragwürdigen Weg ans Tageslicht – so reklamiert das skurrile Geflügel ganz subversiv auch<br />

den Schutz der Natur. SR<br />

Ebbe Weiss-Weingart<br />

präsentiert im Zustand des Vergehens. SR 33<br />

32


„Wir haben der alten Idee des Schmiedens eine neue Dimension hinzugefügt. Für unsere Ideen brauchen<br />

wir keine grundsätzlich neuen Technologien und Materialien. Zurzeit arbeiten wir intensiv an dem Thema<br />

Flexibilität: Wie kann es gelingen, dem Metall noch größere Elastizität und Beweglichkeit abzuringen?“<br />

Ulla und Martin Kaufmann<br />

Seit Jahrzehnten sind Ulla und Martin Kaufmann Gold- und Silberschmiede im Bereich Schmuck und Gerät<br />

und als Designer für die Besteckindustrie erfolgreich tätig. Ihre Werkstatt muss man sich wie ein Labor<br />

vorstellen, denn auf der Basis ihres Know-hows und ihrer ständig wachsenden Erfahrung ist ihr Arbeiten<br />

eine scheinbar unendliche Folge von Experimenten; eine neue Formidee, eine Überprüfung von Gehabtem,<br />

auf der Suche nach dem richtigen Weg. Eine Folge von Küchengerät – Werkzeug – ist das Ergebnis ihrer<br />

kompromisslosen Untersuchung von Form und Funktion, in die sie alle ihre Erfahrung als echte ‘Craftspeople’<br />

haben einfließen lassen. SR<br />

36<br />

Ulla & Martin Kaufmann<br />

Ryoko Adachi<br />

“I appreciate the complex experience through our senses sight, feeling, hearing and smell. I know that<br />

even a minimal representation can evoke memories and excites an intensive imagination. The medium book<br />

meets with my ideas on this. To me, the medium book is a metaphor for vitality. – I use materials with<br />

specific characteristics for my work. I especially like to use wax. It feels like skin and is pellucid. Japanese<br />

paper on the other hand resembles cloth in its shapeable structure.“ Ryoko Adachi<br />

Wachstum und Zersetzung in der pflanzlichen und tierischen Natur sind ein immer neu anvisiertes Thema<br />

für die in Deutschland ausgebildete Künstlerin. Ihre Sensibilität für das Atmosphärische, die Feinheit<br />

der Materialien und ihrer druckgrafischen Interpretation bestimmen das Delikate auch in diesem Buch<br />

Ryoko Adachis. StS<br />

37


Kleine<br />

Fluchten<br />

Die Natur, uraltes Gegenüber zur menschlichen Kultur, hat auch heute<br />

nichts von ihrer Inspirationskraft verloren. In der Kunstgeschichte sind<br />

Sublimationen bekannt, in denen sich geistig religiöse Kräfte und<br />

Gewalten vermitteln, im Stillleben als ‘memento mori’, im Genre des<br />

Landschaftsbildes auch als Spiegel menschlicher Verfasstheit oder für<br />

das 20. Jahrhundert spezifisch in der ‘Land Art’ mit ihrer impliziten<br />

Gesellschafts– und Kunst(markt)kritik. Gegenwärtige Strategien<br />

werden im heutigen Bewusstsein von Naturzerstörung und Endlichkeit<br />

der Naturreserven entwickelt, begleitet von einem gebrochenen<br />

Technikglauben. Natursehnsucht bringt zarte Gebilde hervor, Erfindungen,<br />

die atmosphärische Momente heraufbeschwören, die Natur mit Hilfe<br />

von Email, Glas– oder winzigen Süßwasserperlchen an Schönheit fast<br />

übertreffen, Natur in Glas neu erfinden oder mittels Plastiktüten<br />

gewagte Trompe–l’Œil Effekte erzielen und damit dreist ein exotisches<br />

Federkleid karikieren. Es ist nicht zu übersehen – die Wunschwelt ist<br />

nur scheinbar heil. Die konstruierte Schönheit ist von Zeichen des<br />

Verfalls begleitet, die Ikonografie der verwendeten Materialien, Plastik–<br />

tüten, erlesene Materialien, auch seltene Rohstoffe, die angewandte<br />

Technik, das Zusammengesetzte der Form, das Gebrochene der<br />

Farben – schöne Metaphern für die Realitäten dieser Zeit. SR 39<br />

38


„Inspiriert von Zerfallsprozessen arbeite ich hier mit einem Werkzeug, das in der Natur ganze Landschaften<br />

gestaltet: Sand und Wind.“ Benjamin Planitzer<br />

Das Gerippe eines Baumes. Als Gerippe eigentlich tot, aber dennoch lebendig. ‘Holz arbeitet’, sagt man.<br />

Doch erinnert die Oberflächenstruktur dieser Objekte auch an die Rillen, die das Wasser bei Ebbe im Sand<br />

zurücklässt und damit gleichzeitig daran, dass es wiederkommt, das Land, seine Spur darin überdeckt,<br />

um dann in ewiger Wiederkehr erneut zu verschwinden. – Das Gerippe ist nicht der Endzustand, es ist der<br />

Zustand vor dem Verfall. Der Verfall ist nicht der Endzustand, sondern das Wiedereinbinden des <strong>Materials</strong><br />

in den natürlichen Kreislauf. – Die Objekte erscheinen einerseits wie kurz vorm ‘Tod’ und sind doch<br />

andererseits und gleichzeitig so fragil, erstaunlich und wundersam wie ein Neugeborenes. EK<br />

Benjamin Planitzer<br />

Mirjam Hiller<br />

„Die Suche nach Intensität. Verzauberung ist mein Antrieb; die Beschränkung auf ein Material ist die<br />

Inspiration; kleine Veränderungen im Aufbau sind die Herausforderung; Lebendigkeit ist das Ziel.“<br />

Mirjam Hiller<br />

Die Ausgangsform: Blech, 21x21 Zentimeter, spiralförmig gesägt. Eine unendlich weiter zu denkende Form.<br />

Ins Dreidimensionale eingewickelt und komprimiert, erhält sie etwas Unbestimmbares, das organisch wirkt,<br />

aber fremd und seltsam erscheint. Das Material negiert die Assoziation mit Blüten oder Zapfen. Denn auch<br />

wenn sie so filigran und biegsam anmuten, die Objekte sind es nicht. Sie verweigern sich der Assoziation<br />

mit etwas Lieblichem, Schutzbedürftigem. Vielmehr scheinen sie in ihrem Inneren selbst etwas zu beschützen,<br />

zu verbergen. Man ist versucht, sie aufzubrechen, um es zu sehen. EK<br />

44 45


„Wenn die Temperatur stark unter Null Grad Celsius liegt, bilden sich auf Ästen und Früchten schöne<br />

Kristalle auf deren Rinde und Haut. Diese Inspiration versuche ich auf meinen Schmuck zu übertragen.“<br />

Sam Tho Duong<br />

Sind es Früchte bespickt mit Zuckerkristallen? Kommen sie aus den Tiefen des Meeres? Dass sich Duong<br />

von der Natur inspirieren lässt, wird beim Anblick seines Schmuckes offenbar. Er findet das geeignete<br />

Material für sein Vexierspiel. Geduldig zieht er jede einzelne Süßwasserreiskornperle mit Nylonfäden auf und<br />

schnürt sie fest an die ausgebeulten Silberkugeln. Perle neben Perle ragt in fein nuancierten Farbabstim -<br />

mungen an dem Festkörper hervor, geht mit ihm eine Symbiose ein. Duongs Ketten scheinen wie<br />

überzogen von feinen Kristallen, eine Schicht, die den Schmuckkörper erobert und in einen knisternden<br />

Schönheitsschlaf des Erfrierens wiegt. An manch einer Stelle seiner Broschen bietet Duong Einblicke in das<br />

ausgehöhlte Innere der Schmuckstücke oder lässt gar Aussparungen in den wuchernden Perlen, sodass<br />

seine Objekte durch einen schmalen Spalt zu atmen vermögen. SJ<br />

Sam Tho Duong<br />

Gerhard Ribka<br />

„Meine skulpturale Arbeit ist vorwiegend figurativ. Der Arbeitsprozess ist langsam und ich lerne meine<br />

Stücke kennen, während ich sie in Wachs forme. Der Gießprozess, der folgt, ist immer wieder spannend,<br />

wenn ich die weiße Schale der Form wegbreche und das Glas zum Vorschein kommt. Schwarzes opakes<br />

handgeformtes Wachs, das in eine harte, lichtgefüllte Form verwandelt wurde. – Ich finde Inspirationen in<br />

prähistorischen Skulpturen, griechischen, römischen Keramikfiguren, in zweitklassigen Porträts aus dem<br />

19. Jahrhundert, melancholischer Landschaftsmalerei, italienischem Kino des Neorealismus, usw. ... – Ich<br />

interessiere mich für die Zerbrechlichkeit unseres Lebens und die Erinnerung. Ich mag Fragmente und<br />

Collagen. Ich erzähle Bruchstücke von Geschichten, versuche Klarheit zu schaffen durch Andeutungen, die<br />

unvollständig und zerbrechlich sind. – Was ist das Wichtigste in meiner Arbeit? Die Freude, mit meinem<br />

Material zu arbeiten, etwas zu erschaffen (Schönheit), ein flüchtiges Bild festzuhalten, dem Material Geist<br />

und Seele zu geben. – Warum ist Glas das beste Medium, um mich als Künstler auszudrücken? Ich liebe<br />

es. Es ist ein wertvolles Material, das aus einfachen Materialien hergestellt wird. Es hat so viele verschiedene,<br />

sich widersprechende (oft menschliche) Qualitäten: weich, hart, zerbrechlich, scharf, lichtgefüllt,<br />

reflektierend, matt und glänzend, usw.“ Gerhard Ribka<br />

50 51


Wie Ufos aus einem Science-Fiction-Film machen Deckers Objekte eine Punktlandung im Raum. Makellos<br />

perfekt gearbeitete, überlegen geformte, schneidige Gefäße, die ganz Silber, ganz Material sind – und<br />

doch nicht von dieser Welt zu sein scheinen. Klare Grundrisse offenbaren Deckers präzise Auseinander setzung<br />

mit Form und Funktion und rufen die Erinnerung an die strenge Formensprache des Bauhauses hervor. Auf<br />

Hochglanz poliert, muten die geschwungenen Linien fast gefährlich an und münden geradewegs in ein<br />

spitzes Gefäßende. Pfeilschnell katapultieren sie den Betrachter in eine andere Ära der Maschinenästhetik<br />

der 1920er Jahre. Gleichzeitig laden die reduzierten Formen zum Innehalten ein und reflektieren die Ruhe-,<br />

Rast- und Orientierungslosigkeit der heutigen Zeit. Der langwierige Herstellungsprozess der Objekte aus<br />

edlem Silber kontrastiert die Kurzlebigkeit flirrenden Designkonsums. SJ<br />

Andreas Decker<br />

Young-I Kim<br />

„In dieser Arbeit zeige ich Gefäße, mit denen ich Charaktere von Menschen darstelle, die ich gern mag<br />

und die mir am Herzen liegen.“ Young-I Kim<br />

Der Mensch als Gefäß. In seiner Grundform gleich, doch unendlich variierbar. Jede(r) mit seinem eigenen<br />

Klang, seiner eigenen Färbung. Mehr oder weniger aufnahmebereit, mehr oder weniger verschlossen, aber<br />

nie ganz zu. Mal emporgereckt, mal bodenständig, immer balancierend. Nie vollkommen (was ist vollkommen?),<br />

aber gerade deshalb individuell, charaktervoll. Und immer schön. Glaubt man diesen Schalen, sind alle<br />

Menschen schön. Zumindest in den Augen von Young-I Kim. – Leicht, fast schwebend ist ihre Erscheinung<br />

(denn sie haben mehr von einer immateriellen Erscheinung als von greifbarer Materie). Ein Leuchten<br />

kommt aus ihrem Inneren, ein Pulsieren, wie ein Herzschlag. Oder das Schimmern der Seele? – Ihre<br />

Fragilität fordert Achtsamkeit, einen aufmerksamen Umgang mit jeder von ihnen. Die Schalen machen<br />

neugierig, man möchte sie gerne kennenlernen. EK<br />

60 61


In den letzten zwei Jahrzehnten hat die Materialforschung größere<br />

Fortschritte gemacht als in den vorangegangenen 150 Jahren. Dabei<br />

geht es neben neuen vor allem um hybride Materialien, die oft im<br />

Kontext der Bionik angesiedelt sind. Schon 1995 gab es im New Yorker<br />

Museum of Modern Art die inzwischen legendäre Ausstellung ‘Mutant<br />

<strong>Materials</strong> in Contemporary Design’, die entsprechende Produkte aus<br />

verändertem Glas, Metall, Keramik, Schäumen oder Gummi zeigte,<br />

etwa Stoffe aus Keramik, Metall oder Kunststoff. Da gab es flüssiges<br />

Holz und eine High Tech-Keramik mit dichterer Härte als massiver<br />

Stahl. Selbsterinnernde Materialien, ‘memory materials’, etwa im<br />

Karosseriebau verwendet, springen, beispielsweise nach einem ‘crash’,<br />

Materialien<br />

als Entwerfer<br />

in ihre ursprüngliche Form zurück. Dreidimensionale Stereolithografie,<br />

Kunststoffformen, die mit der sogenannten ‘injection–molded’–<br />

Technik hergestellt werden oder das sogenannte ‘Lasersintern’ sind<br />

solche Methoden, die fast autark Formen generieren. Dabei werden<br />

flüssige oder pulverförmige Polymere mittels eines Laserstrahls in<br />

feste, dreidimensionale Gegenstände verwandelt, also gedruckt, deren<br />

Komplexität ohne Schrauben oder Materialnähte mit traditionellen<br />

Herstellungsformen nicht möglich wäre. So hat zum Beispiel Werner<br />

Aisslinger schon früh mit solchen und anderen experimentellen<br />

Techniken entworfen. Aber auch in anderen Dimensionen können solche<br />

neuen Verfahren zur künstlerischen Anwendung kommen. So bei Svenja<br />

John, die schon seit 1994 mit Makrofol, einem zu Folie gezogenen<br />

Polycarbonat, ausge klügelte Formmodule erfindet. Ihr neuester<br />

Fingerschmuck entsteht im 3D–Verfahren und kann mit Fug und<br />

Recht High Tech genannt werden. VF<br />

64 65


Jeder kennt ihn: den angeschlagenen Topf aus Omas Küchennachlass. Das Email gerissen oder abgesplittert.<br />

Der Klang, wenn man damit anstößt. Das Muster eher kultig als schön. Damals eben. Diese Objekte: zeitlos,<br />

farblos, pur, weiß und schwarz (Milch und Kaffee), einfach, aber edel. Der Makel – gewollt. Das Unperfekte<br />

als Alleinstellungsmerkmal. Die Rundung ist nicht vollkommen, die Oberfläche nicht absolut glatt. Die Risse<br />

erlösen die Schale, den Becher, die Tasse aus ihrem Schönheits schlaf, drängen zur Nutzung, helfen über<br />

die Ehrfurcht gegenüber dem Schönen hinweg. Die gewollten Stoß-Stellen als An-Stoß zum Gebrauch. EK<br />

Astrid Keller<br />

Hering Berlin<br />

„Porzellan, das ist für mich Design, Ausdruck, Alltag, Stil und ich liebe dieses Material, seine Zutaten, seine<br />

Besonderheiten, die Möglichkeiten, die Schönheit von Biskuit, dem unglasierten Porzellan mit der etwas<br />

rauen, samtenen Oberfläche, das für das Hering Berlin Porzellan charakteristisch ist. – Das großartige an<br />

Biskuitporzellan ist, dass es zerbrechlich und zart aussieht, aber extrem stabil ist. Mit unserer Kollektion<br />

ist es gelungen den bisher vorherrschenden Biedermeier Formenkanon der klassischen Manufakturen<br />

abzuschütteln.“ Stefanie Hering<br />

Stefanie Hering verbindet ihre Liebe zu Porzellan, ihre künstlerische Begabung und ihr umfassendes<br />

handwerkliches Knowhow mit Managerqualitäten und viel Gespür für die Zeit. 1999 gründet sie zusammen<br />

mit Wiebke Lehmann und Götz Esslinger ‘Hering Berlin’ und entwickelt mit ihrem Tafelgeschirr eine<br />

‘Produktfamilie’, die dem langsamen Niedergang kleiner Porzellanmanufakturen seit dem ausgehenden<br />

20. Jahrhundert mutig entgegentritt. Ihr überaus elegantes Design setzt auf Biskuitporzellan, klare<br />

Formen, Reliefstruktur und Taktilität, Vorzüge, die sie bereits in ihrer Zeit als Keramikerin in handgedrehten<br />

Einzelstücken zu größtem Ausdruck und höchster Perfektion entwickelt hatte. Nicht ein Service, sondern<br />

Kannen, Teller, Schalen, Objekte bis hin zu Licht sind die heutige, kulturübergreifende Antwort auf alle Fragen<br />

der Tischkultur, Textil und Glas gehören inzwischen auch dazu. Mit diesem zeitgemäßen Konzept, verbunden<br />

mit hohen Ansprüchen an Qualität und Auftritt, scheut sie die Konkurrenz zu den ganz Großen der<br />

Porzellan geschichte nicht. SR<br />

84 85


Silber, das ist edel, teuer, besonders, empfindlich, glänzend, glatt. Ein Material mit Tradition und Geschichte,<br />

ein Urmaterial angewandter Kunst. – Beton ist derb, schwer, martialisch, grau, tot, erinnert an Baustellen<br />

und Plattenbauten. Ein ‘modernes’ Material für’s Grobe und Große. – Stefan Strube kombiniert diese<br />

beiden Materialien in geschickter wie humoresker Weise in der unverkennbaren Form von Plastikbechern,<br />

millionenfach produziert, millionenfach weggeworfen. In den einzelnen Varianten (und man wundert sich, wie<br />

viele Varianten an Plastikbechern es doch gibt) spielt Strube verschiedene Proportionsverhältnisse von<br />

Beton und Silber durch. Der Werkstoff dient dem Edelmetall (einmal auch Porzellan) als Träger, ohne ihm<br />

jedoch untergeordnet zu sein. Das erinnert an Brancusi (1876–1957), für den der Sockel gleichwertiger<br />

Bestandteil der Plastik war. Das ‘grobe’ Material Beton entfaltet hier seine Vielseitigkeit und Qualität, ist es<br />

doch im Hinblick auf eine verfeinerte Formgebung wesentlich flexibler als das im Vergleich störrische<br />

Silber. Auch die vornehme Zurückhaltung der feinen und matten Oberfläche gibt dem Beton eine Aura, die<br />

es dem edlen Charakter des Metalls ebenbürtig macht. Durch die ungewöhnliche Verbindung dieser<br />

Materialien in Kombination mit der Plastikbecher-Optik gelingt es Strube, jedem der drei Komponenten eine<br />

neue Wertigkeit zu verleihen. EK<br />

Stefan Strube<br />

Martin Neuhaus<br />

„Mich interessiert der experimentelle Umgang mit Material, Formen und vor allen Dingen mit Licht!“<br />

Martin Neuhaus<br />

Der Entwerfer bezeichnet sich als experimentellen Designer, der im Produktdesign und in der Ausstellungs -<br />

gestaltung tätig ist. Er entwirft, produziert und vertreibt seine Produkte seit 1999. Zudem veranstaltet<br />

Neuhaus seit 2008 regelmäßig die Ausstellung ‘Design braucht Täter’ zur Förderung neuen Designs.<br />

Neuhaus interessieren die assoziativen, fiktionalen Kontexte von Produkten und Konzepten. Mit diesem Fokus<br />

versucht er, neue Produkte mit einem narrativen Mehrwert zu kreieren. Ebenso ist er an einem experimentellen<br />

Umgang mit Materialien, Formen und Gegenständen interessiert. Einen Schwerpunkt seiner Entwürfe bilden<br />

die Lichtobjekte. Bei der Wandleuchte hier entlockt er banalen Einweg-Kunststoffbechern neue Eigenschaften,<br />

indem er sie als klassische Lampenschirme verwendet. Eine solche ‘Ready-made’-Strategie verwendeten<br />

schon Marcel Duchamp, Pablo Picasso, aber auch Achille Castiglioni. Die Spannung zwischen der Wahrnehmung<br />

eines verfremdeten, aber vertrauten Gegenstandes, dessen Fragilität insgesamt mit dem filigranen Aufbau<br />

der Lampe korrespondiert, macht sie zu einem ästhetischen Statement. Aber neben ihrer pragmatischen<br />

Funktion hat diese Leuchte auch die Qualität eines Reflektionsobjektes über Warenkreisläufe, Produktlebens -<br />

zyklen und ökologische Sensibilität. VF<br />

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Jeder kennt ihn: den angeschlagenen Topf aus Omas Küchennachlass. Das Email gerissen oder abgesplittert.<br />

Der Klang, wenn man damit anstößt. Das Muster eher kultig als schön. Damals eben. Diese Objekte: zeitlos,<br />

farblos, pur, weiß und schwarz (Milch und Kaffee), einfach, aber edel. Der Makel – gewollt. Das Unperfekte<br />

als Alleinstellungsmerkmal. Die Rundung ist nicht vollkommen, die Oberfläche nicht absolut glatt. Die Risse<br />

erlösen die Schale, den Becher, die Tasse aus ihrem Schönheits schlaf, drängen zur Nutzung, helfen über<br />

die Ehrfurcht gegenüber dem Schönen hinweg. Die gewollten Stoß-Stellen als An-Stoß zum Gebrauch. EK<br />

Astrid Keller<br />

Hering Berlin<br />

„Porzellan, das ist für mich Design, Ausdruck, Alltag, Stil und ich liebe dieses Material, seine Zutaten, seine<br />

Besonderheiten, die Möglichkeiten, die Schönheit von Biskuit, dem unglasierten Porzellan mit der etwas<br />

rauen, samtenen Oberfläche, das für das Hering Berlin Porzellan charakteristisch ist. – Das großartige an<br />

Biskuitporzellan ist, dass es zerbrechlich und zart aussieht, aber extrem stabil ist. Mit unserer Kollektion<br />

ist es gelungen den bisher vorherrschenden Biedermeier Formenkanon der klassischen Manufakturen<br />

abzuschütteln.“ Stefanie Hering<br />

Stefanie Hering verbindet ihre Liebe zu Porzellan, ihre künstlerische Begabung und ihr umfassendes<br />

handwerkliches Knowhow mit Managerqualitäten und viel Gespür für die Zeit. 1999 gründet sie zusammen<br />

mit Wiebke Lehmann und Götz Esslinger ‘Hering Berlin’ und entwickelt mit ihrem Tafelgeschirr eine<br />

‘Produktfamilie’, die dem langsamen Niedergang kleiner Porzellanmanufakturen seit dem ausgehenden<br />

20. Jahrhundert mutig entgegentritt. Ihr überaus elegantes Design setzt auf Biskuitporzellan, klare<br />

Formen, Reliefstruktur und Taktilität, Vorzüge, die sie bereits in ihrer Zeit als Keramikerin in handgedrehten<br />

Einzelstücken zu größtem Ausdruck und höchster Perfektion entwickelt hatte. Nicht ein Service, sondern<br />

Kannen, Teller, Schalen, Objekte bis hin zu Licht sind die heutige, kulturübergreifende Antwort auf alle Fragen<br />

der Tischkultur, Textil und Glas gehören inzwischen auch dazu. Mit diesem zeitgemäßen Konzept, verbunden<br />

mit hohen Ansprüchen an Qualität und Auftritt, scheut sie die Konkurrenz zu den ganz Großen der<br />

Porzellan geschichte nicht. SR<br />

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„Einen kleinen Blick auf das Zurückgelassene oder Nebensächliche gestatte ich mir im schnellen Voran -<br />

schreiten der Veränderung. Wenn meine Aufmerksamkeit auf etwas stößt, das nicht konservierbar und so<br />

schwer zu erklären ist wie ein Gefühl, meine Sinne auch mehr beansprucht als meinen Verstand, dann wird<br />

es zum wichtigen Bestandteil meiner Arbeit. So sind meine Bücher Momentaufnahmen von Orten, die vom<br />

rasanten Wachstum im Zuge einer ausufernden Urbanisierung berichten und auf den schleichenden Verlust<br />

ihrer Identität verweisen.“ Jule Claudia Mahn<br />

Die Künstlerin versucht in ihrem Buch ‘NordNordOst’ ein Bild Litauens einzufangen. Durch das verspielt<br />

angeordnete Layout und die typografische Gestaltung wirkt das Buch auf den ersten Blick unbeschwert, ja<br />

fast wie ein Reiseführer. Auch die Stadtpläne und markierten Einkaufsmöglichkeiten vermitteln den Eindruck<br />

eines Nachschlagebuches für Touristen. – Doch die Texte zeigen die Verletztheit des Landes, und eine<br />

sehr persönliche und nachdenkliche Stimmung durchdringt das Buch. Fotos von unbewohnten Häusern und<br />

einsamen Stränden verdeutlichen die Verlassenheit des Landstriches. So kontrastieren die Formen einer<br />

schönen neuen Welt mit dem tristen Inhalt des Gedankenkonstrukts. StS<br />

Jule Claudia Mahn<br />

Carola Willbrand<br />

„Diese Arbeit bringt sozusagen auf den Punkt, worum es mir geht: Material, Form und Inhalt. Es ist ein<br />

‘begehbares’, lesbares Buch, von Text zu Text wandernd, vorne und hinten betrachtend, kann man durch<br />

das Material hindurch gucken – in die Welt. Das Material des Alltags, das wiederverwendete Material, das ich<br />

verwende, zeigt natürlich deutlich eine Lebenshaltung, eine Kunsthaltung, ich bin ein down-shifter des<br />

Kunstbetriebs. Ich werfe nicht weg, ich recycle in die Kunst. Das Material der ‘Gehirnakrobat(ik)’ sind<br />

Textilmuster für Raumtextilien aus einem Musterbuch. Die Form, das Leporello, ermöglicht mir, eine große,<br />

raumfüllende Arbeit herzustellen, die klein zusammenfaltbar ist. – In den letzten Jahren beschäftige ich<br />

mich schwergewichtig mit dem Kopf und seinem Denkgehäuse (sollte die Künstlerin natürlich immer tun).<br />

Die mit der Nähmaschine genähten Kopfzeichnungen sind neben Eigenzeugnissen auch Zitate zum Beispiel<br />

Kölner Reliquiarfiguren aus St. Ursula, wie aber auch meine ‘Eigenen Bausteine’; ebenso die Text-Zitate von<br />

anderen und meine eigenen sind. – Schön übrigens finde ich auch die Vorstellung, meine ‘Gehirnakrobat(ik)’<br />

als ein Verbindungsstück zu sehen, ein Raumstück gleich einem Paravent. Eine Installation, die den Raum<br />

strukturiert, in dem auch andere (Kunst)Gegenstände zu finden sind!“ Carola Willbrand<br />

98 99


„Die Tradition der Aussteuer beinhaltet Werte, die für mich im Design von hoher Bedeutung sind: Qualität,<br />

Nachhaltigkeit, persönlicher Bezug zum Objekt und Funktionalität.“ Amelie Bunte<br />

Amelie Buntes Sammelsurium an nützlich-praktischen Dingen ist eine moderne Art der Aussteuer, ein Set<br />

für den ersten Haushalt, bestehend aus zehn Haushaltsgegenständen. Ein jedes versehen mit einer Art<br />

Markenzeichen, zusammengesetzt aus den Initialen der Besitzer zur Personalisierung und einer Nummer der<br />

Produktreihe, die den Aspekt des Sammelns unterstreicht. Kelle, Sieb und Co. sind durch dieses ‘Branding’<br />

erst als ‘Produktfamilie’ erkennbar, eine Besonderheit: die Mehrfachfunktion, zum Beispiel Handtücher<br />

funktionieren auch als Schürze! – Auch wenn die Tradition der Aussteuer aus der Mode gekommen ist,<br />

ergeben sich doch bei jeder Gründung eines eigenen Hausstandes grundlegende Notwendigkeiten. Meist<br />

entsteht eine Collage aus Altem, Ausrangiertem und Erschwinglichem bis Billigem. Amelie Bunte spielt mit<br />

dieser neuen Tradition des Zufälligen und hinterfragt unsere Gewohnheiten und die Regeln unserer schnell -<br />

lebigen Konsum- und Wegwerfgesellschaft. Zukünftig könnte sogar RFID (Radio Frequency Identification) zum<br />

Einsatz kommen – eine Technologie, die neuerdings zur automatischen Identifizierung von Gegenständen<br />

und Lebewesen eingesetzt wird (etwa als Zutrittskontrolle oder im Reisepass): Beim Kauf könnten Daten auf<br />

einem kleinen Chip, der in den Gegenstand integriert ist, gespeichert werden. Wird das Objekt eines Tages<br />

weitervererbt, könnte dessen Geschichte über die auf dem Chip gespeicherten Informationen nachvollzogen<br />

werden. SJ<br />

Amelie Bunte<br />

Johannes Nagel<br />

„Jedes Ding, das wir konstruieren und herstellen, ist etwas Behelfsmäßiges, etwas Improvisiertes, etwas<br />

Unpassendes und Provisorisches.“ David Pye<br />

„Improvisorium: Bei meinen Arbeiten ist das Improvisierte und Provisorische ein ganz konkretes Thema. Die<br />

Objekte sind aber nicht im technischen Sinne behelfsmäßig, sie sind Stegreiferfindung und Behauptung.<br />

Manche Objekte sind irgendwie Gefäße. Was sind sie noch? Der Versuch, die Assoziationen zu verwirren, die<br />

Technik und Material hervorrufen, oder die Erwartungen an das Weiß von Porzellan zu stören. Manchmal<br />

konstruktives Zusammensetzen, manchmal mutwillige Zerstörung, manchmal Vase, manchmal Fragment und<br />

entfremdetes Objekt. – Improvisiert ist der Umgang mit dem Material, die Art und Weise, wie die Formen<br />

entstanden sind – gesägt, ausgegraben, gestapelt, gefunden und aufgemalt. Provisorisch wirken die Nähte,<br />

die Schnittstellen, die Farbkleckse und unvollständigen Malereien, indem sie vom fertigen Objekt auf den<br />

Moment der Bearbeitung verweisen. Nicht die Perfektion der endgültigen Formulierung ist das Ziel, sondern<br />

die formulierte Idee über die Entwicklung der Dinge.“ Johannes Nagel<br />

112 113


“I always transform material.“ Marianne Fassler<br />

Fassler verschmilzt südafrikanische (sowie afrikanische) Traditionen mit zeitgenössischem Design.<br />

Traditionelle Textilien, ‘kente’ Stoffe (geometrische Streifenweberei aus Westafrika) oder Shweshwedrucke,<br />

die sie überfärbt, bestickt und verwandelt, ebenso wie Stoffreste und Abschnitte einer aktuellen Produktion<br />

formt sie zu einem ästhetischen Statement, das die zeitgenössische Kultur Südafrikas reflektiert. –<br />

Nadelstreifen werden in Südafrika immer mit Anzügen, die die Kolonialisten trugen, verbunden. Heute sind<br />

sie in Zululand besonders beliebt. Fassler verwendet hier ein zeitgenössisches Stretchgewebe in Verbindung<br />

mit einer traditionellen Pondo-Perlarbeit und Perlmuttknöpfen, die selbst wieder auf weiße/europäische<br />

Traditionen aus dem 18. Jahrhundert verweisen. Auch der Angorapelzbesatz versteht sich als Zitat königlicher<br />

Bekleidung. Fassler bezieht sich in ihren Entwürfen auch auf die indigene Tradition der Skarifizierungen,<br />

die sie als selbstbewusstes Statement zu eigenen Schönheitsidealen versteht. SR<br />

Marianne Fassler<br />

Konstantin Grcic<br />

„Material steht grundsätzlich in einer Verhältnismäßigkeit zum Objekt. Ich mag die Vorstellung eines <strong>Materials</strong>,<br />

das ökonomisch ist, aber das den Ansprüchen nicht nur konstruktiv, sondern auch in seiner Haptik und<br />

Ästhetik entspricht. Mich hat stets das Konzept der Monomaterialität interessiert, das heißt, ein Objekt<br />

vollkommen aus einem Material zu fertigen und den Material-Mix zu meiden.“ Konstantin Grcic<br />

Der Sessel ‘Avus’ ist der vierte Entwurf von Konstantin Grcic für das spanische Unternehmen Plank. Er<br />

kultiviert die charakteristischen Qualitäten eines klassischen Clubsessels wie Eleganz, Komfort und hohe<br />

Materialqualität. Dieser Sessel wird mit zeitgenössischen Materialien und Methoden der Fahrzeug-, Flug- und<br />

Sportindustrie produziert. Sein organisches, geschlossenes Volumen aus Schalenelementen ist eine<br />

Reinterpretation des Lounge-Chairs, die durch die bergende, volumige Lederauflage der Sitzschale mit<br />

eingelegtem Sitzkissen nochmals verstärkt wird. Die geteilte Schalenform wird durch eine geschäumte<br />

Polyurethanfüllung ausgesteift. Sie kontrastiert spannungsreich mit der durchgehenden Lederauflage, die<br />

neueste Technologien der Täschnerei und der Reisegepäckherstellung adaptiert. Ovale Greiföffnungen,<br />

ornamental betonte Verschraubungselemente, vor allem aber das Riffelglas-Inlay im Rücken der Sessellehne,<br />

welches Technologien des automobilen Scheinwerferbaus verwendet, verorten diesen Sessel im High Tech-<br />

Segment. Zugleich wird mit solchen stilistischen Details der klassische Funktionalismus relativiert. Auch der<br />

Produktname ‘Avus’ ist ein Hinweis auf automobile Kontexte, denn der Begriff diente als Abkürzung für die<br />

sogenannte ‘Automobil-Verkehrs- und Übungsstraße’, eine ehemalige Rennstrecke in Berlin, die, ab 1913<br />

gebaut, ab 1921 die erste Automobilrennstrecke Deutschlands war. VF<br />

128<br />

129


„Gibt es eine<br />

Zukunft in der<br />

Vergangenheit?“<br />

Ernst Bloch)<br />

Die Kunst des Zitierens, ein altes Phänomen, das vielfach Kunst–<br />

geschichte geschrieben hat, ist auch heute virulent. Sich beziehens<br />

auf ein anderes Werk, sich einlassens auf ein älteres Vorbild, es<br />

aufzurufen und vorzuladen, es wortwörtlich oder indirekt wiederzugeben,<br />

stellt die Frage nach der Gegenwart des Zukünftigen im Vergangenen.<br />

Ein bekanntes oder unbekanntes Meisterwerk aus einer anderen Zeit,<br />

das eine vergangene Epoche vergegenwärtigt, für eine vergangene, in<br />

die Gegenwart reichende Wertigkeit steht, wird gleichsam zum Material<br />

für das Neue, zum Stoff, aus dem geschöpft wird: Es ist Inspiration<br />

und Quelle für das neue Werk, für die individuelle Auseinandersetzung<br />

mit der Kunst und ihrer Vergangenheit. Jedoch nicht im Sinne einer<br />

reinen Nachbildung, einer detailgenauen Kopie, sondern vielmehr in<br />

neuen formalen und inhaltlichen Zusammenhängen, in eigenen<br />

Formulie rungen und Werkarten, die das Andere – mal mehr oder weniger<br />

deutlich erkennbar – wiederholen, es anführen, umformen und weiter–<br />

führen. Ist es die eigene Identifikation mit dem Vorbild, die Wahr–<br />

nehmung von Übereinstimmungen, die hinter dieser Beschäftigung<br />

mit der Geschichte steht? Sind es die Unveränderlichkeiten des<br />

Lebens oder die Brüche mit dem Vergangenen, die hier reflektiert<br />

werden? Ist es eine Rückbesinnung auf das Ältere, das Bewahren der<br />

Traditionen in der Gegenwart, für die Zukunft? Eine Art Hommage oder<br />

Verbeugung, vielleicht aber auch eine Kritik, eine Parodie, eine<br />

Herausforderung? Oder geht es hier um eine Neuinterpretation und<br />

Sinnerweiterung des Vorhandenen, um die Anwesenheit des Vergangenen<br />

im Jetzigen, das in die Zukunft weist? CJ<br />

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