Ornamente der Fassade
ISBN 978-3-86859-233-7
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Einleitung 10<br />
Gegenwärtiger Diskurs 18<br />
Begriff des Ornaments 18<br />
Definition und Abgrenzung – Ornament, Dekor, Muster 18<br />
Funktion und Wirkung – schmücken und ordnen 25<br />
Entwurf und Fertigung – Einfluss des Computers 33<br />
Verständnis von <strong>Fassade</strong> 39<br />
Entwicklung seit dem 19. Jahrhun<strong>der</strong>t – Schmuck, Vorhang, Haut 39<br />
Bedeutung und Wertung – Oberflächlichkeit und Täuschung 43<br />
Anthropomorphe Analogie – Gesicht und Maske 46<br />
Vom 19. Jahrhun<strong>der</strong>t zur Postmo<strong>der</strong>ne 51<br />
19. Jahrhun<strong>der</strong>t 51<br />
Allgemeiner Diskurs – Ornament als Basis künstlerischen Schaffens 51<br />
Gottfried Sempers Bekleidungstheorie – textile Kunst als »Urkunst« 55<br />
Kolonialismus und Eurozentrismus – Faszination und<br />
Ablehnung des »Fremden« 61<br />
Beginn des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts 69<br />
Louis Sullivan und Otto Wagner – Vermeidung und Fortentwicklung 69<br />
Adolf Loos – Plädoyer für Ornamentlosigkeit 74<br />
International Style – regionale und außereuropäische Stileinflüsse 81<br />
Postmo<strong>der</strong>ne 85<br />
1960er und 1970er Jahre – Abkehr vom Funktionalismus 85<br />
Robert Venturi und Charles Jencks – Kommunikation,<br />
Symbol und Ornament 88<br />
Postkolonialismus – kulturelle Hierarchien und Hybridität 96<br />
Zeitgenössische <strong>Ornamente</strong> 101<br />
Bild, Marke, Ereignis 101<br />
Architektur und Bild – iconic turn und digital turn 101<br />
Architektur und Marke – corporate identity und branding 105<br />
Architektur und Ereignis – »form follows emotion« 109<br />
Regionale Bezüge 115<br />
Begriffsverwendung – lokal, global, »glokal« 115<br />
Architekturbezogene Verweise – Meta-Historismus 119<br />
Außerarchitektonische Motive – Bil<strong>der</strong>-<strong>Fassade</strong>n 123<br />
Überregionale Bezüge 130<br />
Das Institut du Monde Arabe in Paris – arabisch-westliche Fusion 130<br />
Ethnologische Museen – Spiegel kultureller Diversität 140<br />
Ornamentale Schriftzeichen – Kalligraphie, Graffiti, Hieroglyphen 181<br />
Schrift, Bil<strong>der</strong>, Farbe 188<br />
Schrift – Prosa, Poesie und Zahl 188<br />
Bil<strong>der</strong> – De- und Neukontextualisierung 200<br />
Farbe – <strong>Fassade</strong> als überdimensionale Leinwand 211<br />
Inspiration Natur 221<br />
Tradition und Aktualität – Natur, Kunst und Technik 221<br />
Gesteuertes Wachstum – Grüne <strong>Fassade</strong>n und »Regenmalerei« 225<br />
Imitation und Abstraktion – Bildmotive <strong>der</strong> Natur 232<br />
Digitalfassaden 242<br />
Begriffsgeschichte – Medienfassade, Screen, Interface 242<br />
Von <strong>der</strong> Lichtarchitektur zur Leuchtmittelfassade –<br />
Glühbirne und Leuchtdiode 251<br />
Neue Bildlichkeit – Dynamik und Interaktion 259<br />
Schlussbetrachtung 269<br />
Anmerkungen 276<br />
Literaturverzeichnis 309<br />
Abbildungsverzeichnis 330<br />
Impressum 331
10<br />
11<br />
Einleitung<br />
»Sag mir (da du so empfänglich bist für die Wirkungen <strong>der</strong> Architektur), hast<br />
du nicht beobachtet, wenn du dich in dieser Stadt ergingst, dass unter den Bauwerken,<br />
die sie ausmachen, einige stumm sind; an<strong>der</strong>e reden; und noch an<strong>der</strong>e<br />
schließlich, und das sind die seltensten, singen sogar?!« 1<br />
Paul Valéry: Eupalinos o<strong>der</strong> Der Architekt (1921)<br />
Abwechselnd gefeiert und verurteilt, zugleich historisch rückgebunden und<br />
zukunfts wei send, kann das Ornament als universelles künstlerisches Phänomen<br />
aufgefasst werden. Seine Ausprägungen reichen von den altägyptischen Pyramiden<br />
und <strong>der</strong> Antike über die präkolumbischen Kulturen, den islamischen Kulturraum<br />
und das Mittelalter bis in die Neuzeit, Mo<strong>der</strong>ne und Gegenwart: Das<br />
Bedürfnis nach Ornament und Dekoration scheint über alle Zeiten und Kulturen<br />
hinweg ein Grundbestandteil menschlichen Daseins und ein Ausdruck des<br />
menschlichen Strebens nach Schönheit zu sein.<br />
Umso mehr erstaunt die Tatsache, dass das Ornament in <strong>der</strong> westlich geprägten<br />
kunst- und architekturhistorischen Forschung bisher eher vernachlässigt<br />
wurde, wozu sicher lich die gemeinhin als ornamentfeindlich o<strong>der</strong> ornamentlos<br />
eingestufte Mo<strong>der</strong>ne und Nachkriegsmo<strong>der</strong>ne entscheidend beitrugen. Die angebliche<br />
Ornament-Aversion <strong>der</strong> Mo <strong>der</strong> ne, die wesentlich auf einer verkürzten<br />
Rezeption von Adolf Loos’ Kritik am Ornament als Zeichen <strong>der</strong> Degeneration 2<br />
aufbaut, muss jedoch grundsätzlich hinterfragt werden: Das Ornament ist nie<br />
ganz, auch nicht mit <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, aus den Künsten verschwunden, son<strong>der</strong>n in<br />
periodischer Abwechslung in den Hintergrund gedrängt, theoretisch wie praktisch<br />
thematisiert und neu belebt worden. Es war und ist somit nur in unterschiedlicher<br />
Intensität o<strong>der</strong> Latenz sichtbar. 3<br />
Seit Ende <strong>der</strong> 1980er Jahre, beson<strong>der</strong>s in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren,<br />
zeichnet sich im europäisch-westlichen Kulturkreis sowie in einigen Metropolen<br />
Asiens eine Wie<strong>der</strong>- und Neuauflage des Ornaments ab. Computerbasierte<br />
Entwurfs- und Produktionstechniken ermöglichen eine große Bandbreite an<br />
<strong>Ornamente</strong>n ebenso wie ihre Verbreitung über Kunst und Architektur bis hin<br />
zu Mode- und Alltagsdesign. In <strong>der</strong> architektonischen Entwicklung lässt sich<br />
eine beson<strong>der</strong>s augenfällige, technomedial bedingte, formalästhetisch innovative<br />
Reaktivierung des Ornaments feststellen, vor allem als Bestandteil <strong>der</strong> <strong>Fassade</strong>ngestaltung.<br />
Dass die von Glas, Stahl und Beton geprägte, neuere Architektur<br />
europäischer Großstädte, etwa im neuen Berliner Zentrum o<strong>der</strong> in <strong>der</strong> City of<br />
London, weiterhin größtenteils ornamentfrei ist, zeigt allerdings, dass es sich<br />
um ein Randphänomen handelt, ein im Stadtraum wohl dosiertes Aus-<strong>der</strong>-<br />
Reihe-Tanzen – verglichen etwa mit <strong>der</strong> durchgehend reichen Ornamentierung<br />
von Stadtvierteln zur Zeit des Historismus o<strong>der</strong> Jugendstils.<br />
Die vorliegende Studie fächert den Ornamentdiskurs seit dem 19. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
aus kultur- und architekturhistorischer Sicht auf und nutzt diesen als Hintergrund<br />
für eine umfassende Darstellung und Analyse <strong>der</strong> Ornamenttheorie und<br />
-praxis seit den 1990er Jahren mit Schwerpunkt auf West- und Mitteleuropa.<br />
Während sich die Neubelebung des Ornamentdiskurses seit etwa 20 Jahren<br />
in einer wachsenden Anzahl von Publikationen, Tagungen und Ausstellungen<br />
nie<strong>der</strong>schlägt, bringt die Baupraxis ein immer größeres Spektrum ornamentaler<br />
Erscheinungsformen hervor – dieses reicht von regionalen Traditionen und<br />
Vorlagen <strong>der</strong> bildenden Kunst über den Formenschatz <strong>der</strong> Natur bis hin zu<br />
den bewegten Licht-Orna menten <strong>der</strong> Medienfassaden (Digitalfassaden). Der<br />
kulturhistorisch fundierte, beispiel- und diskursbezogene Überblick basiert auf<br />
<strong>der</strong> Annahme, dass <strong>Fassade</strong>n-<strong>Ornamente</strong>n eine formalästhetische Funktion im<br />
Sinne einer visuellen und atmosphärischen Bereicherung zukommt und ihnen<br />
zugleich eine inhaltsbezogene, kommunikative Qualität innewohnt.<br />
Vom 19. Jahrhun<strong>der</strong>t bis heute verbindet die unterschiedlichen ornamenttheore<br />
tischen Deutungsversuche die Vorstellung, dass dem Ornament »die Bedeutung<br />
eines Indikators« 4 für die jeweilige Zeit, den jeweiligen Kulturkreis o<strong>der</strong><br />
die »Grundgestimmtheit einer Gesellschaft« 5 zukommt. Bereits 1886 vertrat<br />
Heinrich Wölfflin in seiner Dissertation Prolegomena zu einer Psychologie <strong>der</strong><br />
Architektur die Ansicht, das Ornament könne einen Stilwandel anzeigen und<br />
die »Weltauffassung einer Epoche« wi<strong>der</strong>spiegeln: In »den kleinen dekorativen<br />
Künsten, in den Linien <strong>der</strong> Dekoration, den Schriftzeichen usw.« müsse man, so<br />
Wölfflin, »den Pulsschlag <strong>der</strong> Zeit […] belauschen«; hier komme »das Formengefühl<br />
in reinster Weise« zum Ausdruck und hier müsse »auch die Geburtsstätte<br />
eines neuen Stils gesucht werden«. 6 Demzufolge kann eine Revision von etablierten<br />
stilistischen Kategorien und ästhetischen Konventionen in <strong>der</strong> kunstund<br />
architekturhistorischen Forschung auch am Ornament ansetzen.<br />
Nachdem die wissenschaftliche, theoretische und philosophische Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />
mit dem Ornament nach einer Hochphase vom späten 18. bis<br />
zum frühen 20. Jahrhun<strong>der</strong>t deutlich nachgelassen hatte, nahm in Reaktion<br />
auf die Praxis in den letzten etwa fünfzehn Jahren die Zahl von theoretischen<br />
Abhandlungen 7 , Beiträgen <strong>der</strong> Architekturkritik 8 , Fachtagungen 9 und Ausstellungen<br />
zum Thema Ornament kontinuierlich zu, wobei sich letztere deutlich<br />
auf die bildende Kunst konzentrierten. 10 Nach kleineren, dem Werk einzelner<br />
Architekten 11 gewidmeten Ausstellungen in Architekturgalerien 12 richtete das<br />
Schweizerische Architekturmuseum in Basel im Sommer 2008 die erste größere,<br />
in ihrer Beispielauswahl international orientierte Ausstellung zu dem Phänomen<br />
<strong>der</strong> Revitalisierung des Ornaments in <strong>der</strong> zeitgenössischen Architektur
18<br />
19<br />
Gegenwärtiger Diskurs<br />
»Man hat sich nur dessen zu erinnern, dass das Schmückende, das Dekorative,<br />
seinem ursprünglichen Sinne nach das Schöne schlechthin ist.« 17<br />
Begriff des Ornaments<br />
Hans-Georg Gadamer: Hermeneutik I. Wahrheit und Methode.<br />
Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (1960)<br />
Definition und Abgrenzung – Ornament, Dekor, Muster<br />
Ornament und Ornamentik, Dekor und Dekoration, Verzierung, Zierrat,<br />
Muster, Musterung, Schmuck und Ausschmückung – diese Wortreihe bildet<br />
zwar ein- und dasselbe Bedeutungsfeld und die einzelnen Begriffe werden<br />
austauschbar verwendet, dennoch sind sie im Zusammenhang mit Architektur<br />
jeweils unterschiedlich konnotiert. Das dem Ornament spätestens seit<br />
dem 19. Jahrhun<strong>der</strong>t inhärente begriffliche Verwirrungspotenzial erschwert<br />
eine mo<strong>der</strong>ne, »kritische Theorie des Ornaments«, wie sie 1993 Gérard Raulet<br />
und Burghart Schmidt in dem gleichlautenden Aufsatzband for<strong>der</strong>ten. Dem<br />
Ornament-Begriff haftet eine beträchtliche Unschärfe an, so dass im gegenwärtigen<br />
Diskurs <strong>der</strong> Versuch einer Ornament-Definition wie<strong>der</strong>holt für<br />
überflüssig erklärt wird, da sich das Ornament einer starren Kategorisierung<br />
und Fassbarkeit entziehe. Kent Bloomer begründet zu Beginn seines Buches<br />
Nature of Ornament. Rhythm and Metamorphosis in Architecture 2000 seine<br />
Zurückhaltung im Hinblick auf eine Definition des Ornaments mit dessen<br />
Nähe zur ebenso schwer definierbaren Kunst: »I do not try to define ornament,<br />
because a ›definition‹ would be too limiting for a term that alludes to<br />
an art form.« 18 In Nachfolge von Owen Jones und Alois Riegl begreift Bloomer<br />
das Ornament als eine »Kunstform«, die we<strong>der</strong> den bildenden Künsten<br />
zuzuordnen noch »simply a decorative art« sei, auch wenn es letzterer unfraglich<br />
sehr nahe stehe; es sei, so Bloomer, eine »category of art onto itself, a<br />
legacy with its own vocabulary and typology«. 19 Der Londoner Kulturkritiker<br />
und Architekturhistoriker Mark Cousins bezeichnet das Ornament als »ein<br />
›Etwas‹ «, »das sich nicht anbinden o<strong>der</strong> definieren« lässt. 20 Ingeborg Flagge,<br />
Architekturkritikerin und ehemalige Direktorin des Deutschen Architekturmuseums<br />
in Frankfurt am Main, vertritt ein sehr ausgeweitetes Ornament-<br />
Verständnis, wonach das Ornament nicht nur »gewohnte Schmuckformen<br />
und Dekor« umfasst, son<strong>der</strong>n vielmehr den »Reichtum in <strong>der</strong> Architektur,<br />
alles, was sie interessant« macht. 21<br />
Im Rückblick auf die Ornamentproblematik in <strong>der</strong> Architekturgeschichte,<br />
die bis zu Vitruvs ornamentum-Begriff 22 zurückverfolgt werden kann, lassen<br />
sich jenseits definitorischer Fragen im Wesentlichen zwei parallel existierende<br />
Haltungen zum Ornament unterscheiden: Einerseits wird es als integraler<br />
Bestandteil <strong>der</strong> Architektur verstanden, dem Bedeutung und künstlerische<br />
Eigenständigkeit zuerkannt werden. An<strong>der</strong>erseits gilt das Ornament als nachträglich<br />
hinzugefügt und rein schmückend, somit von Gesamtform und Konstruktion<br />
unabhängig, »als die Akzidenz zur Substanz« 23 . Bei dieser Position,<br />
die sich seit <strong>der</strong> Renaissance abzeichnete 24 und seit dem 18. Jahrhun<strong>der</strong>t bis<br />
in die 1950er Jahre im abendländischen Kulturraum dominierte, schwingt<br />
meist eine latent diffamierende Wertung mit, da impliziert wird, das Ornament<br />
sei funktional nicht notwendig. Raulet und Schmidt zufolge begann die<br />
Ablehnung des Ornaments mit <strong>der</strong> Aufklärung und »<strong>der</strong> Geburt <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen<br />
philosophischen Ästhetik« 25 im 18. Jahrhun<strong>der</strong>t. Die Anbindung an das<br />
Bauwerk, das heißt an dessen Konstruktion, Gesamtkonzept und Material,<br />
hat sich mit dem moralisch-ideologisch aufgeladenen Ornamentdiskurs <strong>der</strong><br />
Mo<strong>der</strong>ne als Qualitätsmerkmal des Architektur-Ornaments etabliert und<br />
rechtfertigt seinen Gebrauch. »Richtig ist das Ornament, wenn es einen Bezug<br />
zum Objekt hat. Falsch ist es, wenn es überflüssig ist. Abzulehnen ist es,<br />
wenn es materialwidrig ist.« 26 So unterscheiden auch Koepf und Binding in<br />
ihrem Standardwerk, dem Bildwörterbuch <strong>der</strong> Architektur ( 3 1999), in einer rein<br />
historisch ausgerichteten Definition des »Bauornaments« – worunter »allgemein<br />
jedes Schmuck- o<strong>der</strong> Zierglied (Ornament) an Werken <strong>der</strong> Baukunst« zu<br />
verstehen sei – zwei Gruppen »nach ihrer Herkunft«: Diejenigen <strong>Ornamente</strong>,<br />
die »ausschließlich o<strong>der</strong> überwiegend am Bau vorkommen, weil sie struktiven<br />
Bauglie<strong>der</strong>n nachgebildet o<strong>der</strong> aus ihnen entwickelt, o<strong>der</strong> überhaupt am Bau<br />
entstanden sind« (wie das gotische Maßwerk) und jene, »die auch in an<strong>der</strong>en<br />
Kunstgattungen (zum Beispiel <strong>der</strong> Buchmalerei, Töpferei, dem Möbelbau,<br />
<strong>der</strong> Goldschmiede- und Textilkunst) gebräuchlich sind« und von dort in die<br />
Architektur übertragen werden. 27 Das Bauornament weist »eine kanonische<br />
Anwendungstradition« 28 auf, die von den antiken Säulen über Gebälk- und<br />
Fensterschmuck bis hin zur flächigen, malerischen Anwendung reicht. In <strong>der</strong><br />
Barockzeit emanzipierte sich das Ornament von seinen Trägern und wurde als<br />
autonome Kunstform verstanden, wozu insbeson<strong>der</strong>e die Rokoko-Ornamentik<br />
mit <strong>der</strong> Rocaille als Hauptform beitrug. 29 Das Verständnis des Ornaments<br />
als eigenständige Kunstgattung wurde in <strong>der</strong> zweiten Hälfte des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />
von Theoretikern wie Gottfried Semper und Alois Riegl forciert. 30 Der<br />
Architekt und Designer Wolfgang von Wersin bezeichnete in seinem Buch<br />
Das elementare Ornament und seine Gesetzlichkeit von 1940 das Ornament als<br />
einen »Zweig <strong>der</strong> Kunst«, wenn auch nicht als »freie Kunst«, da es stets »an
32 Gegenwärtiger Diskurs 33<br />
(1894-1984) fest. Dies habe zur Folge, dass »<strong>der</strong> Betrachter die Eigenschaften,<br />
die eigentlich nur das Ornament hat, dem Gegenstand zuschreibt, <strong>der</strong> es trägt.<br />
Je nachdem das Ornament zart o<strong>der</strong> grob geglie<strong>der</strong>t ist, scheint <strong>der</strong> Gegenstand<br />
selbst zart o<strong>der</strong> grob zu sein.« 116 So betonten auch Christopher Alexan<strong>der</strong> und<br />
seine Koautoren in A Pattern Language (1977), dass man, »um die Funktion des<br />
Ornaments zu verstehen [...] zunächst das Wesen des Raumes verstehen« 117 müsse.<br />
Der »Hauptzweck des Ornaments in <strong>der</strong> Umwelt – in Gebäuden, Zimmern<br />
und öffentlichen Räumen« liege, so Alexan<strong>der</strong>, darin, »die Welt mehr zu einem<br />
Ganzen zu machen, indem ihre einzelnen Teile [...] miteinan<strong>der</strong> verknüpft<br />
werden«. 118 Das Ornament sei an Türen und Fenstern, den »Verbindungsstellen<br />
zwischen den Gebäudeteilen und dem Leben im Inneren und außen« 119 ,<br />
beson<strong>der</strong>s verbreitet. Gerade in »seiner Eigenschaft als trennend-verbindendes<br />
Grenzphänomen« 120 entfaltet es im Hinblick auf Raum, Volumen und Masse<br />
seine charakteristische Spannung. Dementsprechend sah bereits Wolfgang<br />
von Wersin die Aufgabe des Architektur-Ornaments darin, einem Raum o<strong>der</strong><br />
einer Flächenkomposition »einen Maßstab zu vermitteln«, somit »eine Brücke<br />
von den architektonischen zu den menschlichen Maßen« 121 zu schlagen. Die<br />
einheitlichen Baukörper aus Glas, Stahl und Beton, die seit den 1990er Jahren<br />
oft als Solitäre die Stadtlandschaft prägen, mal glatt, mal betont roh belassen,<br />
meist in einer nicht weiter differenzierten ornamentlosen Blockhaftigkeit, rufen<br />
jedoch häufig ein Gefühl von Unnahbarkeit und homogenisierter Langeweile<br />
hervor. Daraus entstand das Bedürfnis nach einer belebenden und individualisierenden<br />
Komponente, für die sich zunächst Oberflächenexperimente beson<strong>der</strong>s<br />
anboten, garantieren sie doch auf ganz direktem Wege eine »Faszination<br />
<strong>der</strong> Wahrnehmung« 122 .<br />
Mit dem Ende <strong>der</strong> 1990er Jahre ist eine Entwicklung weg vom reinen Oberflächenornament<br />
hin zu einer neuen Einheit von Konstruktion, Material und<br />
Ornament zu beobachten, womit die räumliche Dimension des Ornaments<br />
wie<strong>der</strong> in den Mittelpunkt rückt. Diese aktuelle Tendenz spiegelte die Ausstellung<br />
Ornament Neu Aufgelegt/Re-Sampling Ornament im Schweizerischen<br />
Architekturmuseum in Basel 2008 wi<strong>der</strong>, indem sie vor allem Bauwerke präsentierte,<br />
bei denen das Ornament aus seiner Isolierung in <strong>der</strong> Schmuckrolle befreit<br />
und statt dessen – wobei die Ornament-Definition sehr ausgeweitet wird – in<br />
die räumliche Großform, in die Tragstruktur o<strong>der</strong> in den skulptural aufgefassten<br />
Solitär reintegriert ist.<br />
Entwurf und Fertigung – Einfluss des Computers<br />
Das architektonische Ornament ist seit jeher neben seinem künstlerischen Anspruch<br />
eng mit technischem Wissen und Können verknüpft, wie die fein ziselierten<br />
islamischen Baudekorationen, die Tempelfriese <strong>der</strong> Antike o<strong>der</strong> das gotische<br />
Maßwerk veranschaulichen. Mit Hilfe des Ornaments kann die technische Seite<br />
von Architektur kultursymbolisch konnotiert werden. Die enge Anbindung an<br />
die Technik intensivierte sich Ende des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts mit <strong>der</strong> Einführung<br />
industrieller Fertigungsmethoden signifikant, wie Gottfried Semper 1852 analysierte:<br />
»Die Maschine näht, strickt, stickt, schnitzt, malt, greift tief ein in das<br />
Gebiet <strong>der</strong> menschlichen Kunst und beschämt jede menschliche Geschicklichkeit.«<br />
123 Während noch im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t einer <strong>der</strong> Vorbehalte gegenüber dem<br />
Ornament war, dass dessen Herstellung eine horrend teure Handarbeit sowie<br />
einen zeitlichen Mehraufwand erfor<strong>der</strong>te, erschienen mit <strong>der</strong> Industrialisierung<br />
gerade die industriellen, oft serienmäßigen Herstellungsverfahren in ihrer kostengünstigen<br />
Effizienz ablehnenswert. Das Ornament habe seine Individualität<br />
und künstlerisch-handwerkliche Qualität gegen den Charakter von Massenware<br />
eingetauscht; es wurde mit Dekadenz, Verschwendung o<strong>der</strong> kurzlebiger Effekthascherei<br />
gleichgesetzt. Die beliebige maschinelle Applikation von <strong>Ornamente</strong>n<br />
– nach historistischer Tradition im bunten Stilmix – auf alle möglichen<br />
Gegenstände ließ die inhaltlichen Bezüge und Sinnzusammenhänge, in die das<br />
Ornament eingebunden war, in den Hintergrund treten. Daher führte Michael<br />
Müller 1977 die »Verdrängung des Ornaments« in seinem gleichnamigen, marxistisch<br />
geprägten Buch vorrangig auf die »materiellen und ideellen Wandlungen<br />
im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t« zurück, die in eine von Zweckrationalität bestimmte,<br />
»industriell produzierend[e] Leistungsgesellschaft« gemündet hätten. 124<br />
Zweifelsohne stellt die Industrialisierung einen einschneidenden Technologiesprung<br />
in <strong>der</strong> Architekturgeschichte dar. Ein ebenso vorrangig technisch bedingter<br />
Einschnitt wurde ab den späten 1980er Jahren durch die Etablierung<br />
computergesteuerter Entwurfs- und Herstellungstechniken herbeigeführt, die<br />
bis heute in einem ständigen Verfeinerungsprozess begriffen sind. 125 Die zeitgleich<br />
aufkommende Rehabilitierung des Ornaments in <strong>der</strong> Architektur spiegelt<br />
auch eine Entwicklung <strong>der</strong> Konsumbranche in den Industriegesellschaften,<br />
nach <strong>der</strong> sich Endverbraucher o<strong>der</strong> Nutzer mit wachsendem Wohlstand zunehmend<br />
Produkte wünschen, die ganz auf ihre individuellen Bedürfnisse und ästhetischen<br />
Vorstellungen zugeschnitten sind. Mit Hilfe <strong>der</strong> digital unterstützten<br />
parametrischen Entwurfs- und Fertigungsmethoden, namentlich <strong>der</strong> Implementierung<br />
von CAD-CAM-Systemen seit Anfang <strong>der</strong> 1980er Jahre 126 und <strong>der</strong><br />
Einführung von rapid-prototyping-Verfahren 127 , können kleine Produktserien<br />
und spezifizierte Unikate zu fast gleichen Preisen hergestellt werden wie serielle
38 Gegenwärtiger Diskurs 39<br />
wicklung begriffen, verspricht aber wesentliche Impulse für eine zeitgemäße<br />
ornamentale Formensprache, insbeson<strong>der</strong>e im Zusammenhang mit Medienarchitektur.<br />
Es handelt sich um Materialien und daraus herstellbare Produkte o<strong>der</strong><br />
<strong>Fassade</strong>nelemente, die nach dem Vorbild leben<strong>der</strong> Zellgewebe und Organismen<br />
über Wechseleigenschaften verfügen: Sie reagieren auf physikalische und chemische<br />
Einflüsse wie Licht, Temperatur o<strong>der</strong> ein elektrisches Feld und verän<strong>der</strong>n<br />
dabei ihre Form, Farbe o<strong>der</strong> Viskosität reversibel. 148 So werden selbsttätig agierende<br />
kinetische <strong>Fassade</strong>n entwickelt sowie Oberflächen, die temperatur- und<br />
lichtabhängig ihre Farbe und Muster verän<strong>der</strong>n. Diese formalästhetischen, konstruktions-<br />
und materialtechnischen Neuheiten können zunehmend auch ökologische<br />
Kriterien wie Energiespartechnik und Nachhaltigkeit integrieren.<br />
Ein weiterer hochaktueller Forschungszweig, <strong>der</strong> gleichzeitig künstlerische Austauschprozesse<br />
in <strong>der</strong> globalisierten Welt wi<strong>der</strong>spiegelt, beschäftigt sich mit<br />
<strong>der</strong> Herstellung neuer, nachhaltiger Bauprodukte aus Reststoffen, die auch<br />
ornamentales Potenzial entfalten können. Vorbild und Inspirationsquelle ist<br />
die Improvisations-Baupraxis in ärmeren Län<strong>der</strong>n, in den Slum and Squatter<br />
Settlements, den informellen Siedlungen von Großstädten wie Mexiko Stadt,<br />
Mumbai o<strong>der</strong> Kapstadt. Beispielsweise wurden im Rahmen des Forschungsprojektes<br />
»Recycled Building Materials for a Sustainable Environment in India« am<br />
Institut für Tragkonstruktionen und konstruktives Entwerfen <strong>der</strong> Universität<br />
Stuttgart transluzente Polyesterplatten mit einer Verstärkung aus organischem<br />
Jute- o<strong>der</strong> Sisalgewebe sowie mit manuell gemahlenen Glassplittern entwickelt.<br />
Diese Recycling-Platten zeichnen sich nicht nur durch ihre wasserabweisende<br />
Oberfläche und hohe Festigkeit aus, son<strong>der</strong>n weisen auch ästhetische Qualitäten<br />
auf, die beliebig in eine ornamental-musterhafte Richtung ausgebaut werden<br />
können. 149<br />
Grundsätzlich wirkt sich die digitale Technik auf eine Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Wahrnehmung<br />
aus. So wie die Wahrnehmung sich im Industriezeitalter durch die<br />
bewegten Bil<strong>der</strong> des Films grundlegend wandelte, so beeinflussen im digitalen<br />
Zeitalter die Omnipräsenz von Computer- und Mobiltelefon-Displays, Werbe-<br />
Screens sowie imaginäre Parallelwelten von Computerspielen wie Second Life<br />
das individuelle Bildarchiv des Menschen. Bei aller Faszination für den großen<br />
Möglichkeitsraum digitaler Architektur besteht die Herausfor<strong>der</strong>ung darin,<br />
»das digitale Vakuum und den kontextlosen Innenraum des Computers zu<br />
verlassen« 150 . Auch digital erdachte und produzierte Formen sollten auf einem<br />
kulturhistorischen und künstlerisch-ästhetischen Kontext beruhen und diesen<br />
sichtbar werden lassen. <strong>Ornamente</strong> <strong>der</strong> <strong>Fassade</strong> können dazu ebenso beitragen<br />
wie sie die phänomenale Seite <strong>der</strong> Architektur, das heißt ihre materialbezogenhaptische<br />
und atmosphärisch-sinnliche Wirkung, neu beleben und stärken<br />
können.<br />
Verständnis von <strong>Fassade</strong><br />
Entwicklung seit dem 19. Jahrhun<strong>der</strong>t – Schmuck, Vorhang, Haut<br />
Wie in <strong>der</strong> Natur die Übergangsbereiche von einem Ökosystem zum nächsten,<br />
<strong>der</strong> Waldrand als Übergang zwischen Wiese und Wald o<strong>der</strong> die Salzwiese im<br />
Übergang von Land und Meer, diejenigen Lebensräume mit beson<strong>der</strong>s hoher<br />
Artenvielfalt sind, so ist die <strong>Fassade</strong> als räumliche »Grenzzone« <strong>der</strong>jenige Bereich<br />
<strong>der</strong> Architektur, wo in großer Intensität und Dichte künstlerische, formalästhetische,<br />
technomediale und materialtechnische Innovationen realisiert werden.<br />
Ihrer Funktion nach markiert sie die architektonische Grenze zwischen Außen<br />
und Innen, zwischen öffentlichem und privatem Raum, zwischen Stadtraum<br />
und Einzelgebäude. Durch diese Vermittlungsfunktion in zwei Richtungen ist<br />
die <strong>Fassade</strong>, so Wolfgang Kemp, »in Umfang, Aufbau und Artikulation ein eigener,<br />
aber kein selbstständiger Bauteil«: Sie »reflektiert auf den Raum hinter<br />
ihr, und sie reflektiert auf den Raum vor ihr«. 151 Die Einpassung des Bauwerks<br />
in das vorhandene Stadtbild erfolgt in erster Linie über die <strong>Fassade</strong>. Ihr wahrnehmungstechnisches<br />
Privileg zeigt sich daran, dass sich »<strong>der</strong> touristische Blick«<br />
zu allererst an die <strong>Fassade</strong>n heftet, die bestimmte »Stimmungen und Gefühle«<br />
erzeugen und Aussagen über die Gebäudefunktion vermitteln. 152<br />
In Folge <strong>der</strong> Spezialisierung in den Architekten- und Ingenieurberuf galt die<br />
<strong>Fassade</strong> im Laufe des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts mehr und mehr als eigenständige architektonische<br />
Entwurfsleistung. Bei den Mietskasernen des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />
– nach Heinrich Klotz »gewaltige Ornamentmaschinen« 153 – sollten die <strong>Fassade</strong>n<br />
des Vor<strong>der</strong>hauses mit ihrer historisierenden Ornamentik für den Prestigewert<br />
<strong>der</strong> Wohnungen bürgen und ihren Feuerkassenwert steigern. Dementsprechend<br />
war das Vor<strong>der</strong>haus dem mittleren Bürgertum vorbehalten, während<br />
im Hinterhaus die ärmere Bevölkerung auf engstem Raum unter einfachsten<br />
Bedingungen hauste. 154 Gegen diesen »Fassadismus«, diese klar definierte, meist<br />
ornamentierte Schauseite mit axial, symmetrisch und linear angeordneten Öffnungen,<br />
wandten sich – mit Ausnahme des Jugendstils – die Architekten <strong>der</strong><br />
klassischen Mo<strong>der</strong>ne. Mit <strong>der</strong> Erfindung <strong>der</strong> Stahlbetonkonstruktion und <strong>der</strong><br />
Vorhangfassade erlangte sowohl die <strong>Fassade</strong> als auch <strong>der</strong> Gesamtentwurf zunehmend<br />
gestalterische Freiheit, da Tragfunktion und Raumabschluss voneinan<strong>der</strong><br />
getrennt wurden. Gemäß dem »form follows function«-Credo entwickelten die<br />
mo<strong>der</strong>nen Architekten ihre <strong>Fassade</strong>n vorrangig unter funktionalen Aspekten,<br />
aus <strong>der</strong> inneren Grundrissgestaltung heraus, und konzentrierten sich auf Fensterformate<br />
und -verteilung o<strong>der</strong> auf die Sichtbarmachung des konstruktiven<br />
Rasters. In <strong>der</strong> Nachkriegszeit dominierte die gestalterisch wenig spezifizierte<br />
Einheits-Lochfassade. Der Architekturkritiker Manfred Sack diagnostizierte in
50 Gegenwärtiger Diskurs<br />
51<br />
heraus, weil <strong>Fassade</strong> »jenes Gesicht« meine, »unter dem sich Gebäude maskieren,<br />
um ein öffentliches Ansehen zu haben, und um eine Rolle zu spielen«. 208<br />
Er schlägt einen Bogen zum antiken Maskentheater, wo die typisierte Maske<br />
auch lat. persona genannt wurde. 209 Flusser folgert aus dieser sprach- und theatergeschichtlichen<br />
Verbindung von Maske und Person, dass »Gebäude erst dank<br />
<strong>Fassade</strong>n zu sich selbst kommen können, gewissermaßen aus anonymen Stoffen<br />
zu Personen werden«. Wie Masken, Flusser zufolge, »jene Vorrichtungen« sind,<br />
welche den Schauspielern ein Rollenverhalten vorgeben, sind <strong>Fassade</strong>n »jene<br />
Vorrichtungen, welche den Gebäuden ihre Funktion vorschreiben«. 210 In Flussers<br />
Nachfolge setzt <strong>der</strong> Stuttgarter Architekturtheorie-Professor Gerd de Bruyn<br />
den Beruf des Architekten in Bezug zur Sphäre des Theaters, denn <strong>Fassade</strong>n<br />
werden nicht »im Nachhinein einem Gebäude aufgesetzt, um es ansehnlich zu<br />
machen«, son<strong>der</strong>n Gebäude werden »in Funktion von <strong>Fassade</strong>n« so wie »Handlungen<br />
in Funktion von Rollen entworfen«. 211 De Bruyn stützt diese These etymologisch,<br />
denn das griechische Wort architékton, von dem sich »Architekt(ur)«<br />
ableitet, könne »Baumeister« und »Theaterpächter« heißen. <strong>Ornamente</strong>, so de<br />
Bruyn, können »einen Text schreiben, <strong>der</strong> den öffentlichen Raum [zu] konstituieren<br />
hilft. Einige ambitionierte Architekten haben längst erkannt, dass ihren<br />
Gebäuden ein wenig Maskerade und Faschingslaune gut steht. Und viel<br />
wichtiger noch: Es kommt sogar gut an.« 212 Der Architekt ist einem Regisseur<br />
vergleichbar, <strong>der</strong> seine Protagonisten – Konstruktion, Raum und <strong>Fassade</strong> – und<br />
<strong>der</strong>en Requisiten – Material, Farbe, Ornament o<strong>der</strong> Bild – in einem langen<br />
Prozess so zusammenfügt, dass sie Aufsehen o<strong>der</strong> Faszination beim Publikum<br />
erregen und zu eigenem Nachdenken anregen. Die <strong>Fassade</strong> als Maske ist vor<br />
diesem Hintergrund keineswegs als Täuschung o<strong>der</strong> Lüge aufzufassen; jenseits<br />
dieser moralischen Kategorien kommt ihr die Aufgabe zu, Botschaften zu vermitteln,<br />
die es zu dechiffrieren und zu interpretieren gilt.<br />
Vom 19. Jahrhun<strong>der</strong>t zur Postmo<strong>der</strong>ne<br />
»Es gibt [...] keine Kultur ohne Tradition <strong>der</strong> Ornamentik.« 213<br />
Ernst Gombrich: Ornament und Kunst (1982)<br />
19. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
Allgemeiner Diskurs – Ornament als Basis künstlerischen Schaffens<br />
Das 19. Jahrhun<strong>der</strong>t war ein ornamentreiches Jahrhun<strong>der</strong>t – <strong>Ornamente</strong> bestimmten<br />
in sämtlichen Materialien und vielen Erscheinungsformen die Wahrnehmung,<br />
sie waren in unterschiedlichen Alltagsbereichen und Kunstgattungen<br />
präsent, von Gebrauchsgegenständen bis hin zum Hausbau. Die Suche nach<br />
einem für die Zeit charakteristischen Stil im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t führte zu einer<br />
Offenheit gegenüber allen Stilen und Epochen, die sich in <strong>der</strong> gesamten Bandbreite<br />
von bloßer Imitation zu eklektizistisch-phantastischen Kombinationen<br />
nie<strong>der</strong>schlug. Gleichzeitig brachte die Entwicklung industrieller Fertigungsmethoden<br />
eine Perfektionierung und Rationalisierung ornamentalen Schaffens mit<br />
sich, die eine weite Verbreitung von seriellem Bauschmuck ermöglichte. Diese<br />
ornamentale Übersättigung mündete mit Beginn des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts in den<br />
theoretisch radikal vorgebrachten, in <strong>der</strong> Praxis weniger radikal umgesetzten<br />
Bruch mit <strong>der</strong> Ornamenttradition.<br />
Zu <strong>der</strong> insbeson<strong>der</strong>e durch Karl Philipp Moritz und Immanuel Kant literarischphilosophisch<br />
geprägten Theoretisierung des Ornaments im 18. Jahrhun<strong>der</strong>t 214<br />
kam im späten 19. und frühen 20. Jahrhun<strong>der</strong>t eine kunsttheoretische Betrachtungsweise<br />
hinzu. Dabei kristallisierte sich das »anthropologisch-historisch[e]<br />
Paradigma« 215 heraus, demzufolge das Ornament in allen Kulturen eine Grundlage<br />
künstlerischen Schaffens darstellt, somit als ein transkulturelles, epochenübergreifendes<br />
Phänomen verstanden wird. Für die Baukunst bedeutet dies, dass<br />
ihre künstlerische Seite speziell im Ornament zum Ausdruck kommen kann<br />
– eine Sichtweise, die angesichts <strong>der</strong> Verquickung künstlerischer und architektonischer<br />
Strategien bei den Ornamentfassaden <strong>der</strong> Gegenwart an Relevanz<br />
gewinnt und von herausragenden Architekten, Kunst- o<strong>der</strong> Architekturtheoretikern<br />
des 19. und frühen 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts wie Gottfried Semper (1803-<br />
1879), Owen Jones (1809-1874), John Ruskin (1819-1900), William Morris<br />
(1834-1896), August Schmarsow (1853-1936), Alois Riegl (1858-1905) und<br />
Adolf Loos (1870-1933) mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung begründet<br />
wurde. Die Auswahl zeigt, dass die tonangebenden Debatten <strong>der</strong> Kunst- und
68 Vom 19. Jahrhun<strong>der</strong>t zur Postmo<strong>der</strong>ne 69<br />
Die türkische Architekturhistorikerin Gülsum Baydar Nalbantoglu bezeichnet<br />
in ihrer Analyse von Fletchers Architekturgeschichte die Etablierung von<br />
Kategorien wie »westlich« o<strong>der</strong> »historisch« als ein Ergebnis von Ausschluss –<br />
zugunsten <strong>der</strong> Festigung <strong>der</strong> eigenen Identität: Geschichte wird als die eigene<br />
Geschichte zementiert. 313 Diese Ausschluss-Mechanismen manifestieren sich in<br />
<strong>der</strong> History of Architecture auf unterschiedliche Weise. Der auf <strong>der</strong> dritten Buchseite,<br />
quasi als Motto, stehende »Tree of Architecture« setzt die auf die europäisch-westliche<br />
Geschichte beschränkte, hierarchisierende Sichtweise Fletchers in<br />
diagrammatisch vereinfachen<strong>der</strong> Deut lich keit ins Bild (Abb. 16). 314 Die »nichthistorischen«<br />
Stile Perus, Mexikos, Ägyptens, Syriens, Indiens, Chinas und<br />
Japans sowie <strong>der</strong> byzantinische und <strong>der</strong> sarazenische Stil zweigen im unteren<br />
Stammbereich von einem gemeinsamen Hauptstamm ab, ohne dass sie weiter<br />
Einfluss auf die westliche Geschichte haben. Die Baumkrone bilden die innerhalb<br />
Europas unterschiedlich ausgeprägten Stile <strong>der</strong> Gotik und <strong>der</strong> Renaissance.<br />
Der unter »Roman Influence« emporwachsende Hauptstamm mündet in die<br />
historistischen Stil-»Revivals« des späten 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts mit dem »American<br />
[Style, U.C.]«, also <strong>der</strong> westlich-europäischen Mo<strong>der</strong>ne, an <strong>der</strong> Spitze, die durch<br />
die Miniatur-Darstellung eines Wolkenkratzers repräsentiert wird. Im Text erwähnte<br />
Fletcher zu Beginn des Kapitels über die »nicht-historischen Stile« den<br />
Einfluss <strong>der</strong> »sarazenischen« Kunst auf die spanische Kunst und Architektur und<br />
erläuterte, dass die ägyptische und westasiatische Architektur zu den »historischen<br />
Stilen« gerechnet werden könnten, weil sie die Architektur <strong>der</strong> griechischen<br />
Antike und alle folgenden Stile beeinflusst hätten. 315 Die außereuropäischen<br />
Stile, so fasst Nalbantoglu Fletchers Argumentation zusammen, bereichern<br />
zwar durch ihre ornamentale Vielfalt die auf konstruktiver Logik basierende<br />
westliche Architekturgeschichte, bergen aber zugleich auch die Gefahr einer<br />
Qualitätsmin<strong>der</strong>ung: »When they are added on, architectural history becomes<br />
both better (complete) and worse (impure).« 316 Entsprechend dieser Angst vor<br />
»Verunreinigung« ist die Abbildung, die kurz nach dem »Tree of Architecture«<br />
auf den ersten Seiten von Fletchers Architekturgeschichte nach Art einer Collage<br />
die wichtigsten Baumonumente von <strong>der</strong> Antike bis zur Mo<strong>der</strong>ne präsentiert,<br />
mit Ausnahme <strong>der</strong> Darstellung einiger ägyptischer Tempel ganz auf die westlicheuropäische<br />
Geschichte ausgerichtet. 317<br />
Eine kritische Auseinan<strong>der</strong>setzung mit kolonialen Festschreibungen kam erst<br />
nach 1945 in Gang, somit Jahre nach dem Ende des Kolonialismus, und mündete<br />
mit den 1970er Jahren in den Postkolonialismus-Diskurs 318 , <strong>der</strong> eng mit <strong>der</strong><br />
Postmo<strong>der</strong>ne verzahnt war. 319 Dementsprechend zeigt sich in den Neuauflagen<br />
von Fletchers Architekturgeschichte ab den 1960er Jahren offensichtlich das<br />
Bemühen, die europäisch-westliche Perspektive durch die Betonung kultureller<br />
Offenheit und Diversität zu relativieren. Bereits 1961 war in <strong>der</strong> 17. Ausgabe<br />
die Aufteilung in »historisch« und »nicht-historisch« durch eine Unterteilung<br />
in »Ancient Architecture and the Western Succession« und in »Architecture in<br />
the East« ersetzt worden. Erst in <strong>der</strong> 19. Ausgabe von 1987 wurden die ehemals<br />
»nicht-historischen«, dann »östlichen« Architekturstile den »cultures outside<br />
of Europe« zugeordnet, wobei nochmals unterteilt wurde in »The Architecture<br />
of the Pre-Colonial Cultures outside Europe« und »The Architecture of the<br />
Colonial and Post-Colonial Periods outside Europe«. Der Kolonialismus – aus<br />
westlicher Perspektive – dient mithin in Fletchers History of Architecture durchgängig<br />
als kategorisierende Scheidelinie.<br />
Die Aufteilung <strong>der</strong> Welt in eine Erste und eine Dritte, in entwickelt und unterentwickelt,<br />
westlich und nicht-westlich, die <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne inhärent ist, nährt<br />
sich zu großen Teilen aus dem imperialistischen, kolonialistischen 19. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
und manifestiert sich auch im architektonischen Schaffen, in <strong>der</strong> architektonischen<br />
Reflexion sowie nicht zuletzt in <strong>der</strong> Ornament-Praxis und -Debatte.<br />
Rasheed Araeen, in London leben<strong>der</strong> Künstler und Kulturtheoretiker pakistanischer<br />
Abstammung (geb. 1935), fasst die eurozentrisch dominierte Auffassung,<br />
die Fletchers Überblickswerk über Jahrzehnte beispielhaft wi<strong>der</strong>spiegelt, in <strong>der</strong><br />
ironischen Formulierung »Unser Bauhaus und die Lehmhütte <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en« zusammen.<br />
320<br />
Beginn des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />
Louis Sullivan und Otto Wagner – Vermeidung und Fortentwicklung<br />
Im Laufe des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts vollzog sich die Loslösung des Ornaments von<br />
seiner »religiös-soziopolitischen Repräsentations- und Legitimationsfunktion« 321 ,<br />
die es in den vorhergehenden feudalen Herrschaftssystemen innehatte. Vor allem<br />
das als aufgesetzt, beliebig und sinnentleert empfundene Ornamentschaffen des<br />
Historismus, insbeson<strong>der</strong>e die eklektizistische, stilkopierende Innen- und <strong>Fassade</strong>ndekoration,<br />
stieß auf immer breitere Ablehnung, die im ersten Drittel des<br />
20. Jahrhun<strong>der</strong>ts im Zuge von Neuer Sachlichkeit 322 , Bauhaus und Internationalem<br />
Stil radikalisiert wurde. Die Ornamentkritik in <strong>der</strong> Umbruchzeit zur<br />
Mo<strong>der</strong>ne muss vor dem spezifischen Hintergrund <strong>der</strong> technischen Innovationen<br />
des Industriezeitalters, des Historismus und <strong>der</strong> Jugendstilbewegung sowie <strong>der</strong><br />
Nachwirkungen von Imperialismus bzw. Kolonialismus gesehen werden, die sich<br />
– wie anhand von Fletchers History of Architecture exemplarisch dargelegt – auch<br />
in einer eurozentrischen Perspektive <strong>der</strong> Architekturtheorie nie<strong>der</strong>schlugen.<br />
Die im Hinblick auf das Ornament ambivalente Haltung <strong>der</strong> beginnenden Mo<strong>der</strong>ne<br />
gründete jedoch weniger in kulturellen Hierarchisierungen, als vielmehr<br />
in <strong>der</strong> Opposition von Konstruktion und Ornament, wie sich anhand <strong>der</strong> Schrif-
74 Vom 19. Jahrhun<strong>der</strong>t zur Postmo<strong>der</strong>ne 75<br />
die Mo<strong>der</strong>ne, wie die weite Verbreitung <strong>der</strong> Plattenbauweise in <strong>der</strong> Nachkriegsarchitektur<br />
zeigt.<br />
Im Jugendstil, <strong>der</strong> um die Jahrhun<strong>der</strong>twende seine Hochphase erlebte, wobei<br />
Wien ein zentrales Experimentierfeld darstellte, offenbart sich nochmals die wi<strong>der</strong>sprüchliche<br />
Beziehung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne zum Ornament. Einerseits wurde dieser<br />
von den Vertretern einer mo<strong>der</strong>nen, funktionalistischen Architektur gerade wegen<br />
seiner Hinwendung zum Ornament abgelehnt, an<strong>der</strong>erseits galten viele Jugendstil-Architekten<br />
zugleich als Mitinitiatoren <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne. Sie waren bei <strong>der</strong><br />
Verwendung <strong>der</strong> neuen Baustoffe – Glas, Eisen, Gußeisen – nicht nur um eine<br />
Synthese von Technik und Ornament bemüht, oftmals indem sie technische<br />
Elemente dekorativ stilisierten, son<strong>der</strong>n ließen sich auch von den Ornamenttraditionen<br />
außereuropäischer Kulturen, insbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong> islamischen und ostasiatischen<br />
Kunst inspirieren. Brent C. Brolin zufolge entstand mit dem Jugendstil<br />
sogar das erste »mo<strong>der</strong>ne Ornament«, das sich dadurch kennzeichnete, dass<br />
es aufgrund <strong>der</strong> starken Verfremdung und Vermischung traditioneller Motive<br />
nicht eindeutig einem historischen Stil zuzuordnen war: »Art nouveau was the<br />
first mo<strong>der</strong>n ornament – that is to say, the first ornament not easily identified<br />
with an earlier, historical style.« 339 Die Heftigkeit <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzungen um<br />
die Ornamentfrage nahm mit <strong>der</strong> Jahrhun<strong>der</strong>twende deutlich zu, weswegen die<br />
Hypothese nahe liegt, dass das Ornament erst eigentlich für die Mo<strong>der</strong>ne zum<br />
»bösen Feind« 340 (Richard Schaukal, 1908) wurde. Beson<strong>der</strong>s radikal wandte<br />
sich <strong>der</strong> Wiener Architekt Adolf Loos (1870-1933) gegen den ornamentreichen<br />
Jugendstil seiner Zeit und die Wiener Secession, indem er <strong>der</strong>en Repräsentanten<br />
Josef Hoffmann, Joseph Maria Olbrich und Henry van <strong>der</strong> Velde namentlich<br />
attackierte, Otto Wagner jedoch respektvoll ausnahm. 341 Loos’ vielfach undifferenziert<br />
o<strong>der</strong> verkürzt zitierte, in provokantem Prediger-Tonfall vorgetragenen<br />
Aussagen zum Ornament – hauptsächlich aus seinem Aufsatz bzw. Vortrag »Ornament<br />
und Verbrechen« (1908-1910) 342 – laufen bis heute wie ein roter Faden<br />
durch den Ornamentdiskurs.<br />
Adolf Loos – Plädoyer für Ornamentlosigkeit<br />
Adolf Loos stellte in verschiedenen Artikeln und Vorträgen seit Ende des 19.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>ts das Ornament in einen übergreifenden, Menschheits- und kulturgeschichtlichen<br />
Zusammenhang. Seine polemisierende Argumentsweise<br />
lässt Einflüsse von Sozialdarwinismus, Triebpsychologie und Kulturevolutionismus<br />
durchscheinen. Vor diesem Hintergrund parallelisierte er zu Beginn<br />
von »Ornament und Verbrechen« nicht ganz ironiefrei die Entwicklung des<br />
Kindes mit <strong>der</strong> kulturellen Entwicklung <strong>der</strong> Menschheit, von den Papua und<br />
Germanen bis zu Sokrates und Voltaire. Die außereuropäischen Kulturen ha-<br />
ben sich, Loos zufolge, nicht über die Stufe <strong>der</strong> frühesten Kindheit hinaus entwickelt;<br />
Papua und Kind sind in diesem Modell einan<strong>der</strong> gleich. Loos war, geprägt<br />
von seinem Amerika-Aufenthalt (1893-1896), <strong>der</strong> Überzeugung, dass die<br />
angloamerikanische Kultur die fortschrittlichste sei und sich auf <strong>der</strong> höchsten<br />
Kulturstufe befinde. Aufbauend auf dem Evolutionismus – unter an<strong>der</strong>em den<br />
Evolutionstheorien Ernst Haeckels 343 – und dem Darwinismus des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts,<br />
verknüpfte er in seiner Hauptthese die Abkehr vom Ornament mit<br />
einem höheren kulturellen Entwicklungsstand: »Der weg <strong>der</strong> kultur ist ein weg<br />
vom ornament weg zur ornamentlosigkeit. Evolution <strong>der</strong> kultur ist gleichbedeutend<br />
mit dem entfernen des ornamentes aus dem gebrauchsgegenstande.« 344<br />
Bereits 1898 hatte Loos in dem Artikel »Das Luxusfuhrwerk« in überspitzter<br />
Diktion postuliert, die historische Entwicklung <strong>der</strong> Kultur gehe einher mit<br />
dem allmählichen Verschwinden <strong>der</strong> Ornamentik: »Je tiefer ein volk steht,<br />
desto verschwen<strong>der</strong>ischer ist es mit seinem ornament, seinem schmuck. Der<br />
Indianer bedeckt jeden gegenstand, jedes ru<strong>der</strong>, jeden pfeil über und über mit<br />
ornamenten. Im schmucke einen vorzug erblicken zu wollen, heißt, auf dem<br />
Indianerstandpunkte stehen.« 345 Für Loos sollte sich die europäische Kulturentwicklung<br />
– als Maßstab für eine Weltkultur – an dem Gefühl für reine Formen<br />
orientieren: »Die schönheit nur in <strong>der</strong> form zu suchen und nicht vom ornament<br />
abhängig zu machen, ist das ziel, dem die ganze menschheit zustrebt.« 346<br />
Diese Vorstellung beherrschte die europäische Mo<strong>der</strong>nitäts-Diskussion bis in<br />
die 1930er und 1940er Jahre. Der österreichische Schriftsteller und Kritiker<br />
Richard Schaukal (1874-1942) schrieb ungefähr zeitgleich mit Loos 1908, dass<br />
sich die »bessern Europäer« in <strong>der</strong> Abneigung gegenüber dem Ornament einig<br />
seien: »Das Ornament ist äußerlich ein Mehr, ein Überflüssiges, innerlich ein<br />
›Zweckloses‹.« 347 Während Theoretiker des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts im ornamentalen<br />
Schaffen einen Ausdruck von Kultur, von künstlerischem Ausdruckswillen und<br />
von Stil-Bildung sahen, wurde das Ornament mit <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne vielfach als Zeichen<br />
für kulturelle Rückständigkeit diffamiert. Die Vertreter <strong>der</strong> »Form ohne<br />
Ornament« fühlten sich, so stellte Peter Meyer 1944 heraus, als »geistige Elite,<br />
die mit Verachtung auf den altmodischen Kulturpöbel« herabblickte, <strong>der</strong><br />
sich noch »in unserem aufgeklärten Jahrhun<strong>der</strong>t mit den ornamentalen Bemühungen<br />
einer durch die Technik überholten Kulturstufe« abgab. 348 In den drei<br />
Aufsätzen <strong>der</strong> ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts »Ornament und Verbrechen«,<br />
»Architektur« und »Ornament und Erziehung« legte Loos dar, dass das<br />
Ornament dem Primitiven, Degenerierten, ja dem Verbrecher zugehörig sei, die<br />
sich – gemäß <strong>der</strong> kulturevolutionistischen Sichtweise – auf einer niedrigeren<br />
Stufe zivilisatorischer und kultureller Entwicklung befänden. In zeittypischem<br />
Geschlechter-Chauvinismus schloss er daran die These an, dass das Ornament<br />
<strong>der</strong> Sphäre <strong>der</strong> Frau angehöre. 349
80 Vom 19. Jahrhun<strong>der</strong>t zur Postmo<strong>der</strong>ne 81<br />
keineswegs so radikal ablehnte, wie es in <strong>der</strong> retrospektiven Geschichtsschreibung<br />
lange dargestellt wurde. 382 In seinen eigenen Bauten hielt Loos durchaus in<br />
Fortführung von Sempers Theorie an <strong>der</strong> Notwendigkeit einer Bekleidung von<br />
Architektur fest, ohne auf den historischen Bauschmuck <strong>der</strong> Neo-Stile und <strong>der</strong><br />
Secession zurückzugreifen. Bei seinem Haus am Michaelerplatz in Wien (1909-<br />
1911) beispielsweise »leugnet die Bekleidung« des Sockelgeschosses mit Marmorplatten<br />
»ihren eigenen Charakter nicht« 383 ; es ist deutlich erkennbar, dass es<br />
sich um dünne Platten handelt und nicht um eine massive Mauer (Abb. 7-8).<br />
Der kräftig grüne, geä<strong>der</strong>te Marmor, den Loos persönlich in den antiken Steinbrüchen<br />
<strong>der</strong> griechischen Insel Euböa auswählte, ist allerdings für sich Schmuck<br />
genug, ohne zusätzlich, etwa plastisch-ornamental, bearbeitet zu sein. Die Materialwahl<br />
geht hier über das technisch Notwendige hinaus, die Marmorplatten<br />
haben schmückende und narrative Funktionen, indem sie von Reichtum und<br />
auserlesenem Geschmack künden. Das Wohn- und Geschäftshaus vermittelt<br />
zwischen <strong>der</strong> kaiserlichen Hofburg und einer exquisiten, aber bürgerlichen<br />
Einkaufsstraße; <strong>der</strong> Bauherr, die Schnei<strong>der</strong>firma Goldmann & Salatsch, nutzte<br />
die unteren beiden Geschosse als Herrenausstatter-Geschäft, womit die textile<br />
Anmutung des Marmorsteins mit seiner fließenden Binnenstruktur korrespondiert.<br />
384 Der »mensch mit den mo<strong>der</strong>nen nerven« 385 kann nach Loos nur am<br />
reinen, edlen Material und <strong>der</strong> puren Konstruktion Gefallen finden. So entfaltet<br />
die in seinen Bauten wie<strong>der</strong>holt praktizierte Aufspaltung und symmetrische<br />
Anordnung <strong>der</strong> Furniere o<strong>der</strong> Steinschnitte keine autonome, son<strong>der</strong>n eine eng<br />
an die Materialität und den Gesamtentwurf gebundene Wirkung. In <strong>der</strong> Folge<br />
wird bei Loos – und an<strong>der</strong>en Vertretern <strong>der</strong> klassischen Mo<strong>der</strong>ne – über die<br />
Materialkomponente sinnlicher Luxus erreicht; in <strong>der</strong> Ästhetik von Naturstein<br />
und Edelhölzern offenbart sich »ein Art Ersatzornament« 386 . Ein solchermaßen<br />
im Material verborgenes Ornament <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne ist stark räumlich und technologisch<br />
verankert, übernimmt aber weiterhin auch kommunikativ-symbolische<br />
Funktionen, indem es die mit Luxus, Mode und Schönheit korrelierte Gebäudefunktion<br />
vermittelt. Ähnlich wie Loos experimentierte Mies van <strong>der</strong> Rohe<br />
1929 beim Barcelona Pavillon, wo sich Innen- und Außenraum durchdringen,<br />
mit dem ornamenthaften Potenzial von Naturstein, grünem Marmor und Onyx<br />
– dies stand für ihn keineswegs im Wi<strong>der</strong>spruch zu seinem Diktum »less is<br />
more«, das bis heute einer dem eigenen Anspruch nach ornamentlosen Architektur<br />
als Motto dient. Zwei Jahrzehnte später (1954-1958) entwarf van <strong>der</strong><br />
Rohe für das Seagram Building in New York eine Vorhangfassade mit vertikalen<br />
Doppel-T-Trägern aus Bronze, die mehr ornamental-dekorativ als technischfunktional<br />
begründbar sind, denn die tragende Struktur des Gebäudes liegt im<br />
Inneren. Die Doppel-T-Profile auf feuerfesten Rahmenträgern setzen jedoch<br />
den konstruktiven Aufbau des Wolkenkratzers nach außen ins Bild. 387<br />
Walter Gropius (1883-1969), Grün<strong>der</strong> und erster Direktor des Staatlichen Bauhauses<br />
in Weimar, brachte die für die Mo<strong>der</strong>ne charakteristische Ambivalenz<br />
von Ornament-Ablehnung und Ornament-Fortentwicklung in seinem 1938 in<br />
New York erschienenen Aufsatz »Für eine lebendige Architektur (Ornament<br />
und mo<strong>der</strong>ne Architektur)« auf den Punkt: »Anstatt das selbstbetrügerische<br />
Kleid vergangener Zeiten, dieses Phantom <strong>der</strong> Tradition wie<strong>der</strong> und wie<strong>der</strong> anzulegen,<br />
laßt uns <strong>der</strong> Zukunft entgegensehen! Vorwärts zur Tradition! Das Ornament<br />
ist tot! Lang lebe das Ornament!« 388 Gropius bezeichnete die Einstellung<br />
<strong>der</strong> 1930er Jahre zum Ornament als »sehr kraftlos und oberflächlich« 389<br />
und erkannte bereits das ornamentale Potenzial in <strong>der</strong> industriell gefertigten<br />
Oberflächentextur: Der »wahrhaft mo<strong>der</strong>ne Architekt« solle »verfeinerte industrielle<br />
Verfahren <strong>der</strong> Oberflächenbehandlung in seine Komposition« einbringen,<br />
zeige doch »die Betonung des Kontrastes ihrer einzelnen Bestandteile mit<br />
unterschiedlichen Materialien und verschiedenen Texturen« die »wahrscheinliche<br />
Richtung <strong>der</strong> weiteren Entwicklung zu einem Dekor« an. 390 Viele aktuelle<br />
Ornament-<strong>Fassade</strong>n scheinen diese Prognose von Gropius zu bestätigen.<br />
International Style – regionale und außereuropäische Stileinflüsse<br />
Im Hinblick nicht nur auf das Ornament, son<strong>der</strong>n auch auf die mit dem Ornament<br />
korrelierende Thematik außereuropäischer Stileinflüsse war die Architektur<br />
<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne von Ambivalenz gekennzeichnet. Einerseits war sie – wie das<br />
Beispiel Loos anschaulich macht – noch deutlich von dem im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
dominanten, kulturevolutionistischen und eurozentristischen Hierarchiedenken<br />
geprägt, an<strong>der</strong>erseits ließen sich ihre Vertreter durchaus von traditionellen<br />
Bau- und Ornamentformen außereuropäischer Kulturen inspirieren, wählten<br />
dabei jedoch einen an<strong>der</strong>en Zugang als <strong>der</strong> kopierende, eklektizistische Exotismus<br />
des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts.<br />
Die 1932 in New York erschienene Schrift The International Style: Architecture<br />
since 1922, verfasst von dem Architekturkritiker und Historiker Henry-Russell<br />
Hitchcock (1903-1987) und dem Architekten Philip Johnson (1906-2005),<br />
repräsentiert die Architekturgeschichtsschreibung des ersten Jahrhun<strong>der</strong>tdrittels.<br />
Der Bauhistoriker Falk Jaeger bezeichnete The International Style noch über<br />
fünfzig Jahre nach <strong>der</strong> Erstausgabe als »eines <strong>der</strong> wichtigsten und folgenreichsten<br />
Architekturtraktate unseres Jahrhun<strong>der</strong>ts«, als »Lehrbuch«, das sich – in Amerika<br />
wie in Europa – »als ungemein schulbildend erweisen sollte«. 391 Seit <strong>der</strong><br />
Stilsuche des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts, <strong>der</strong>en Theoretisierung 1828 mit <strong>der</strong> retrospektiv<br />
gleichsam als Motto für das Jahrhun<strong>der</strong>t angeführten Schrift In welchem Style<br />
sollen wir bauen? von Heinrich Hübsch begonnen hatte, war <strong>der</strong> Begriff »Stil«<br />
vermieden worden, bis <strong>der</strong> Architekt Walter Curt Behrendt 1927 sein Buch Der
84 Vom 19. Jahrhun<strong>der</strong>t zur Postmo<strong>der</strong>ne 85<br />
wegen seiner Dreiecksform an abstrahierte Koniferen erinnert. Darüber hinaus<br />
gewinnt das Wohnhaus durch ein warmes Farbschema auf <strong>der</strong> Grundlage von<br />
Rot-, Gelb- und Blautönen eine orientalische Anmutung. Die Villa Fallet ist in<br />
eine von Curtis als »Nationalromantik« bezeichnete architektonische Richtung<br />
einzuordnen, die zwischen 1890 und 1910, teils bis in die 1920er Jahre, oft<br />
abstrahierte Anspielungen auf nationale Themen, lokale Vegetation und Geologie<br />
in den Mittelpunkt stellte und teilweise mit exotischen Motiven kombinierte.<br />
401 Sicherlich auch aufgrund seiner Ausbildung bei Charles L’Eplattenier,<br />
<strong>der</strong> seine Schüler auch im Ornamentzeichnen unterrichtete 402 , war Le Corbusier<br />
von <strong>der</strong> zusammenführenden und sinngeladenen Wirkung von <strong>Ornamente</strong>n<br />
überzeugt, wie er 1960 in seiner autobiographischen Schrift Creation Is a<br />
Patient Search betonte: »Decoration is a debatable topic, but ›ornament‹ pure<br />
and simple is a thing of significance; it is a synthesis, the result of a process of<br />
putting together.« 403 In vielen seiner Bauten ließ er sich von den außereuropäischen<br />
Kulturen, insbeson<strong>der</strong>e von <strong>der</strong> islamischen Kultur, anregen, wobei sich<br />
die Formanleihen, mit Ausnahme seines Erstlingswerkes, <strong>der</strong> Villa Fallet, eher<br />
auf die architektonische Gesamtform als auf ornamentale Details beziehen. So<br />
lässt sich ein formalästhetischer Bogen schlagen vom plastisch geformten, weiß<br />
verputzten Baukörper <strong>der</strong> Wallfahrtskirche von Ronchamp (1950-1955) zu <strong>der</strong><br />
Sidi Ibrahim-Moschee bei El Ateuf in Algerien. 404 Das weitgehend verschlossene<br />
Äußere <strong>der</strong> Kirche mit den unregelmäßig verteilten Lichtschlitzen erinnert<br />
auch an die nordafrikanische Kasbah-Architektur, die Le Corbusier sehr schätzte.<br />
Referenzen zur islamischen Architektur und <strong>der</strong>en urbanen Formen finden<br />
sich bereits ab 1915 in seinen Schriften und Bauten. Sie können unter an<strong>der</strong>em<br />
zurückgeführt werden auf seine Orient-Reise im Jahr 1911, die sich von Osteuropa<br />
kommend auf Istanbul und das westliche Kleinasien beschränkte. 405 Als<br />
junger Architekt hatte Le Corbusier nicht nur ausgiebig Europa und Kleinasien<br />
bereist, son<strong>der</strong>n in den 1920er Jahren auch eine Vortragsreise durch Lateinamerika<br />
unternommen, wobei er sich länger in Rio de Janeiro, Buenos Aires und<br />
Montevideo aufhielt. Der ab den 1930er Jahren zu beobachtende Wandel seines<br />
Formenvokabulars hängt mit dieser Reise zusammen, auf <strong>der</strong> er organische Formen<br />
und einfache Materialien entdeckte. 406 Trotz <strong>der</strong> eigenen Anschauung vor<br />
Ort war Le Corbusiers Einstellung zur autochthonen, außereuropäischen Architektur<br />
weiterhin vom schwärmerischen Orientalismus des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts und<br />
den Macht- und Aneignungsgesten <strong>der</strong> Kolonialzeit beeinflusst. 407<br />
Ein regionaler o<strong>der</strong> interkultureller Bezug ist bei den Vertretern <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne<br />
eher formalästhetisch motiviert als inhaltlich rückgebunden, so vermutlich auch<br />
bei den vier Wohnhäusern, die Frank Llyod Wright zwischen 1920 und 1924 in<br />
Los Angeles und Pasadena nach dem von ihm entwickelten textile-block-system<br />
errichten ließ (Abb. 1). Mit <strong>der</strong> reliefartigen Oberflächenornamentierung <strong>der</strong><br />
vorfabrizierten Betonwerksteine knüpfte Wright an die präkolumbische Kunstund<br />
Architekturtradition an, insbeson<strong>der</strong>e an die in Stein gehauenen, in ihrer<br />
Serialität, Symmetrie und Symbolik ornamentalen Reliefs und Glyphen <strong>der</strong><br />
Maya (Abb. 2). 408 Die Vermutung liegt nahe, dass die Motivwahl mit <strong>der</strong> geographischen<br />
Nähe zu Mexiko zusammenhängt; ein spezifischer Bezug o<strong>der</strong> eine<br />
individuelle Vorliebe des Architekten bzw. seiner Auftraggeber ist jedoch nicht<br />
überliefert.<br />
Wie Gerd Zimmermann herausstellte, macht das Beispiel The International<br />
Style deutlich, dass <strong>der</strong> »vorgebliche Universalismus <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne« nur »ein<br />
verkappter Eurozentrismus« war, <strong>der</strong> »ziemlich klar längs <strong>der</strong> Machtstrukturen<br />
des europäischen Kolonialismus verlief« 409 , indem er die westliche Kultur zum<br />
Maßstab erhob. Die Mo<strong>der</strong>ne entpuppt sich – so Bernd Nicolai – nicht als »Stilbegriff«,<br />
son<strong>der</strong>n als eine »sozialhistorisch determinierte Epochenklassifikation«,<br />
hinter <strong>der</strong> sich ein »spezifisch westeuropäisches Gesellschaftsmodell« verbirgt,<br />
das heute in Anbetracht <strong>der</strong> Globalisierung mehr denn je »auf dem Prüfstand«<br />
stehen muss. 410 Dass sich mo<strong>der</strong>ne Architekten wie Le Corbusier o<strong>der</strong> Wright<br />
<strong>der</strong> eurozentrischen Grundausrichtung zum Trotz aus dem Formen-, Materialund<br />
Ornamentschatz außereuropäischer Kulturen inspirieren ließen, bestätigt<br />
die kulturenübergreifende Wirksamkeit und Relevanz von Architektur, die mit<br />
<strong>der</strong> Postmo<strong>der</strong>ne ab den späten 1970er Jahren auf theoretischer wie praktischer<br />
Ebene, hier insbeson<strong>der</strong>e in <strong>der</strong> <strong>Fassade</strong>ngestaltung mit Hilfe von Bild, Schrift<br />
und Ornament, stärker ins Blickfeld rückte.<br />
Postmo<strong>der</strong>ne<br />
1960er und 1970er Jahre – Abkehr vom Funktionalismus<br />
Der deutsche Philosoph Ernst Bloch (1885-1977) setzte sich in seinem Hauptwerk<br />
Das Prinzip Hoffnung, geschrieben im amerikanischen Exil zwischen 1938<br />
und 1947, kritisch mit <strong>der</strong> funktionalistischen Architektur des ersten Jahrhun<strong>der</strong>tdrittels<br />
auseinan<strong>der</strong> und streifte dabei auch die Ornamentthematik: »Seit<br />
über einer Generation stehen [...] diese Stahlmöbel-, Betonkuben-, Flachdach-<br />
Wesen geschichtslos da, hochmo<strong>der</strong>n und langweilig, scheinbar kühn und echt<br />
trivial, voll Haß gegen die Floskel angeblich jedes Ornaments und doch mehr<br />
im Schema festgerannt als je eine Stilkopie im schlimmen 19. Jahrhun<strong>der</strong>t.« 411<br />
Aufgrund ihrer Vorliebe für formale Reduktion und Klarheit sei die mo<strong>der</strong>ne<br />
Architektur »ewig funktionelle« Oberfläche, wobei sie »auch in größter Durchsichtigkeit<br />
keinen Inhalt zeig[e], kein Ausschlagen und keine ornamentbildende<br />
Blüte eines Inhalts«. 412 Während in Deutschland das Ornament in <strong>der</strong> nationalsozialistischen<br />
Architektur als nationalpolitisches Symbol instrumentalisiert
100 Vom 19. Jahrhun<strong>der</strong>t zur Postmo<strong>der</strong>ne<br />
101<br />
d’un site et d’une culture« 511 zu werden, wofür er sich ebenso mit den konkreten<br />
örtlichen und räumlichen Gegebenheiten wie mit <strong>der</strong> fremden Kultur als<br />
Ganzes auseinan<strong>der</strong>setzen müsse. Anzustreben sei nicht ein klassifikatorisches<br />
»In-Szene-Setzen« wie in den Naturkundemuseen des 19. und frühen 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />
o<strong>der</strong> in den Kolonialabteilungen <strong>der</strong> Weltausstellungen, son<strong>der</strong>n »via<br />
l’anthropologie [...] l’intériorisation d’une culture, puis de son extériorisation à<br />
travers un geste architectural neuf« 512 .<br />
In <strong>der</strong> Architektur <strong>der</strong> gegenwärtigen, sich als globalisiert definierenden Gesellschaft<br />
setzt sich die über Jahrhun<strong>der</strong>te eingeschliffene eurozentristisch geprägte<br />
Rhetorik und Baupraxis in teils offensichtlicher, teils subtil-rudimentärer Form<br />
einerseits fort, an<strong>der</strong>erseits wird sie bewusst konterkariert. Vor diesem Hintergrund<br />
stellte <strong>der</strong> kalifornische Literaturprofessor Masao Miyoshi 1993 die These<br />
auf, dass das 20. Jahrhun<strong>der</strong>t nicht eine Epoche des Postkolonialismus sei, son<strong>der</strong>n<br />
»eine Epoche des intensivierten Kolonialismus, <strong>der</strong> allerdings in fremdem<br />
Gewand auftritt« 513 . Miyoshi betonte unter Verweis auf Edward Saids Culture<br />
and Imperialism von 1993, die Selbstdefinition des mo<strong>der</strong>nen Westen hänge<br />
von seinen Kolonien ab, weswegen die akademische Beschäftigung <strong>der</strong> 1990er<br />
Jahre mit Postkolonialismus und Multikulturalismus in Teilen als ein weiteres<br />
Alibi zur Durchsetzung <strong>der</strong> globalen politischen Machtlinien entlarvt werden<br />
könne. 514 Laut Miyoshi ist <strong>der</strong> Kolonialismus »even more active now in the<br />
form of transnational corporatism« 515 , während <strong>der</strong> Multikulturalismus »a luxury<br />
largely irrelevant to those who live un<strong>der</strong> the most wretched conditions« sei,<br />
und sogar gefährlich leicht in sein Gegenteil, »neoethnicism and neoracism«,<br />
umschlagen könne. 516<br />
Vor dem Hintergrund <strong>der</strong> Postmo<strong>der</strong>ne- und Postkolonialismus-Debatte sowie<br />
ausgehend von einer durchgängigen Genealogie des Ornaments in <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne,<br />
manifestiert sich gerade in Ornamentdiskurs und -praxis seit den 1990er<br />
Jahren das Bemühen, die Dualismen von Dekor/Ornament und Konstruktion<br />
bzw. Sachlichkeit, von Oberfläche und Raum, Form und Funktion o<strong>der</strong> von<br />
Natur und Zivilisation aufzulösen. An das anthropologisch-historische Paradigma<br />
des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts anknüpfend, verstanden mehrere Ausstellungen – allerdings<br />
mit Schwerpunkt auf <strong>der</strong> bildenden Kunst – seit <strong>der</strong> Jahrtausendwende<br />
das Ornament als eine »Kulturuniversalie« und als »globale Sprache« 517 und versuchten<br />
so abermals, einen Schlussstrich unter die eurozentristische Perspektive<br />
<strong>der</strong> Kunstgeschichte des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts zu ziehen. Die heutige Chance im<br />
Hinblick auf das Ornament als kulturenübergreifende »ästhetische Plattform« 518<br />
(Brü<strong>der</strong>lin) in Kunst wie Architektur liegt darin, den transkulturellen Dialog,<br />
dessen Wurzeln weitaus älter als die Mo<strong>der</strong>ne sind, in selbstkritischer Weise<br />
fortzuführen und so den latent bis offensichtlich fortbestehenden kulturellen<br />
Hierarchisierungen entgegenzuwirken.<br />
Zeitgenössische <strong>Ornamente</strong><br />
»The Pictorial Evidence – Buildings are often<br />
born of images and live on images.« 519<br />
Spiro Kostoff: A History of Architecture. Settings and Rituals (1985)<br />
Bild, Marke, Ereignis<br />
Architektur und Bild – iconic turn und digital turn<br />
Architektur und Bild sind grundlegend miteinan<strong>der</strong> verwandt, da beide – auf<br />
unterschiedliche Weise – Räume schaffen. Beson<strong>der</strong>s signifikant zeigt sich diese<br />
Gemeinsamkeit im Entwurfsprozess. Hier dienen Visualisierungen aller Art, von<br />
<strong>der</strong> Handskizze und <strong>der</strong> digitalen Zeichnung über die virtuelle 3-D-Darstellung<br />
(das Ren<strong>der</strong>ing) bis hin zum Modell, als Verstärker <strong>der</strong> Imagination und als Medium<br />
<strong>der</strong> Realitätserprobung. Ein definitorisches Einkreisen des Bild-Begriffes<br />
in Bezug auf Architektur erweist sich als beson<strong>der</strong>s schwierig. Der Begriff »Bild«<br />
wird sowohl auf einer konkreten Bedeutungsebene als auch synonym mit einem<br />
inneren geistigen Bild, einem Emblem, Symbol, Icon o<strong>der</strong> Zeichen, einer Allegorie<br />
o<strong>der</strong> einer Metapher gebraucht. In einem weiteren Sinne kann das Bild<br />
als eine vom Menschen gestaltete visuelle Einheit verstanden werden, die von<br />
Architektur räumlich definiert und begrenzt wird. 520<br />
Die Bezeichnung »bildhafte« o<strong>der</strong> »ikonische« Architektur (iconic architecture)<br />
hat im Wesentlichen drei Bedeutungen. 521 Erstens kann die öffentliche Wirksamkeit,<br />
Rezeption o<strong>der</strong> auch Vermarktung von Bauwerken über <strong>der</strong>en Vermittlung<br />
in bildnerischen Medien, vorzugsweise <strong>der</strong> Photographie, gemeint sein. Die<br />
Architekten <strong>der</strong> klassischen Mo<strong>der</strong>ne waren in diesem Sinne Bil<strong>der</strong>produzenten<br />
par excellence, denn sie praktizierten eine Präsentation und mediale Verbreitung<br />
ihrer Bauten in Schwarz-Weiß-Photographien mit hohem künstlerischem<br />
Anspruch, vorrangig in den Print-Medien. Vor diesem Hintergrund betont die<br />
Architekturtheoretikerin Beatriz Colomina die medienartige Qualität von Architektur:<br />
»The image is itself a space carefully constructed by the architect.« 522<br />
Colomina verweist auf die zahlreichen Entwürfe von Mies van <strong>der</strong> Rohe, etwa<br />
die mit einer Photomontage kombinierte Bleistift- und Kohlezeichnung für das<br />
Glashochhaus in <strong>der</strong> Friedrichstraße in Berlin von 1921, die, obwohl sie nicht<br />
realisiert wurden, in ihrer Bildkraft die mo<strong>der</strong>ne Architekturgeschichte wesentlich<br />
beeinflussten.<br />
Zweitens kann sich das Attribut »ikonisch« auf einen Typ Architektur beziehen,<br />
<strong>der</strong> über seine Gesamtgestalt einen bildhaften, spektakulären Eindruck erreicht.
106 Zeitgenössische <strong>Ornamente</strong> 107<br />
24<br />
Bereich und fanden im nicht-angelsächsischen Sprachraum erst in den 1990er<br />
Jahren Eingang in den Architektur-Diskurs. Die corporate architecture (CA) hat<br />
sich in den letzten Jahren gerade in wirtschaftlich-kommerziellen Zusammenhängen<br />
als wichtiger Teilbereich <strong>der</strong> übergeordneten corporate identity (CI), <strong>der</strong><br />
»Unternehmensidentität« o<strong>der</strong> »Unternehmenspersönlichkeit« 545 , etabliert. Im<br />
Rahmen einer vorrangig emotional erlebbaren, visuell möglichst einprägsamen<br />
Markenwelt ergänzt sie die klassischen CI-Fel<strong>der</strong> Werbung, Einsatz des Logos,<br />
Briefpapier und Internetauftritt.<br />
Der Begriff branding ist aus <strong>der</strong> Viehzucht übernommen, wo Tiere mit den Siegeln<br />
<strong>der</strong> Besitzer bzw. Züchter durch ein glühendes Eisen als <strong>der</strong>en Eigentum<br />
gekennzeichnet werden, was auch – im engsten Sinne des Wortes »Marke« – einer<br />
Art Gütesiegel gleichkommen kann. So wie die Marke »heute eher im übertragenen<br />
Sinn« für Zugehörigkeit gebraucht wird, hat auch <strong>der</strong> Begriff branding<br />
»eine Bedeutungserweiterung erfahren und bezeichnet das Versehen materieller<br />
Güter mit immateriellen Werten«. 546 Anne Bracklow definiert branding in Markenarchitektur<br />
in <strong>der</strong> Konsumwelt. Branding zur Distinktion (2004) »als strategisch<br />
geplante, allumfassende Markenkommunikation, bei <strong>der</strong> die Vermittlung<br />
<strong>der</strong> Markenidentität im Fokus steht« 547 . Einem Gebäude werden folglich mittels<br />
branding bestimmte Werteigenschaften<br />
zugeschrieben, etwa Sicherheit,<br />
Phantasie o<strong>der</strong> Innovation.<br />
Die Prinzipien des branding<br />
im Kontext <strong>der</strong> Marktwirtschaft<br />
sind Wie<strong>der</strong>holung, (Wie<strong>der</strong>-)Erkennbarkeit,<br />
Zugänglichkeit und<br />
Wertfestlegung im Sinne eines<br />
Gütesiegels. Branding-Strategien<br />
machen sich <strong>Ornamente</strong>, Symbole<br />
und Zeichen zunutze, weil diese<br />
nicht nur die Wie<strong>der</strong>erkennbarkeit<br />
von Unternehmen und<br />
Marken sichern, son<strong>der</strong>n auch<br />
gezielt eingesetzt werden können,<br />
um <strong>der</strong>en Profil und Selbstverständnis nach außen zu repräsentieren – im Sinne<br />
<strong>der</strong> Auffassung <strong>der</strong> <strong>Fassade</strong> als Gesicht o<strong>der</strong> Kommunikationsfläche.<br />
Diese Aspekte – Wie<strong>der</strong>erkennbarkeit und Profilschärfung – spielten bereits bei<br />
<strong>der</strong> Erfindung <strong>der</strong> sogenannten Hortenkacheln eine Rolle, die mit den späten<br />
1950er Jahren in <strong>der</strong> Kaufhausarchitektur aufkamen (Abb. 24-26). Die 60 mal<br />
60 Zentimeter großen Formsteine aus vorzugsweise weißem Aluminium, seltener<br />
aus Keramik, die von mehreren Architekten gleichzeitig, darunter auch<br />
Josef Kaiser: Centrum Warenhaus am Alexan<strong>der</strong>platz<br />
in Berlin (D), 1967-1970 (Postkarten-Reproduktion)<br />
Egon Eiermann, entwickelt worden waren, umkleiden die meist kubusförmigen<br />
Gebäude plastisch und texturhaft zugleich. Diese Formsteine bestehen aus zwei<br />
gewölbten, sich kreuzenden Flächen, die durch Drehung um 90 Grad versetzt<br />
angeordnet werden können, wodurch sich abstrahierte Diamant- o<strong>der</strong> Bienenwabenmuster<br />
ergeben. Helmut Horten, <strong>der</strong> 1953 die Leitung des Kaufhauskonzerns<br />
Horten (vorher Merkur) übernommen hatte, forcierte eine für alle Filialen<br />
einheitliche <strong>Fassade</strong>ngestaltung, die auf konstruktiver Ebene als »vorgehängte<br />
Haut absolute Flexibilität <strong>der</strong> dahinter liegenden Außenwand« gewährleisten<br />
und auf kommunikativer Ebene »signethaft für das Unternehmen werben« 548<br />
sollte – entsprechend nahmen die Kacheln zusehends die Form des stilisierten<br />
»H« für Horten an. Dank ihres Wie<strong>der</strong>erkennungswertes setzten sich die<br />
Bienenwaben-<strong>Fassade</strong>n – in leichten Variationen – bis in die 1980er Jahre in<br />
West- wie Ostdeutschland als das architektonische Markenzeichen nicht nur<br />
<strong>der</strong> Warenkette Horten, son<strong>der</strong>n des Bautypus Kaufhaus allgemein durch, nicht<br />
zuletzt wohl auch, weil sie weitaus kostengünstiger als Natursteinfassaden waren.<br />
549 In <strong>der</strong> metallen schimmernden Materialität <strong>der</strong> meist allansichtigen Gebäude<br />
sollten sich Fortschritt und Zukunft ausdrücken.<br />
26<br />
25<br />
25, 26 Einkaufszentrum Kaufhof<br />
in Reutlingen (D), 1950er/1960er Jahre
114 Zeitgenössische <strong>Ornamente</strong> 115<br />
Branding-Zweck hinausweisende Relevanz von <strong>Ornamente</strong>n <strong>der</strong> Konsumbranche<br />
zeigte sich an <strong>der</strong> Diskussion um die <strong>Fassade</strong>ngestaltung eines Kaufhaus-<br />
Neubaus, <strong>der</strong> 2007-2009 an Stelle des abgerissenen Centrum Warenhauses in<br />
Dresden errichtet wurde (Abb. 29-30). Das Centrum Warenhaus in <strong>der</strong> Prager<br />
Straße, 1973-1978 von den ungarischen Architekten Ferenc Simon und Ivan<br />
Fokvari entworfen, galt mit seiner Vorhang-<strong>Fassade</strong> aus rhomboiden, eloxierten<br />
Aluminiumelementen als Vorzeigebau <strong>der</strong> Kaufhaus-Architektur in <strong>der</strong> DDR.<br />
Peter Kulka gewann im Wettbewerb für die Neu- und Umgestaltung den ersten<br />
Preis, weil er die Wie<strong>der</strong>verwendung <strong>der</strong> <strong>Fassade</strong>nwaben des Altbaus zu 80 Prozent<br />
vorsah und, so die Begründung des Preisgerichtes, mit dem »Einsatz <strong>der</strong><br />
identifikationsstiftenden <strong>Fassade</strong>nelemente auf das historische Bewusstsein <strong>der</strong><br />
Dresdner« 587 reagiere.<br />
Regionale Bezüge<br />
29<br />
Begriffsverwendung – lokal, global, »glokal«<br />
29, 30 Peter Kulka: Centrum Warenhaus (Neu- und Umgestaltung)<br />
in Dresden (D), 2007-2009<br />
wi<strong>der</strong>zuspiegeln. Architektur müsse, so Gautrand, »manchmal selbst ein Signal<br />
werden: Sie hat die Macht und die Eigenschaft, eine Marke zu repräsentieren,<br />
und diese Art von Signaletik ist viel bedeuten<strong>der</strong> als irgendetwas, das lediglich<br />
auf das Gebäude appliziert wird.« 586 Emotion, Spektakel und Kommerz bilden<br />
im Hinblick auf Konsumarchitektur oftmals eine Wirkungseinheit; Konsum<br />
wird durch spektakuläre Architektur zu einem mehrdimensionalen, sinnlichästhetischen<br />
Ereignis.<br />
Das Ornament in seiner ganzen Bandbreite eignet sich für wirtschaftliche Strategien<br />
des branding, indem es dem Gebäude o<strong>der</strong> <strong>der</strong> darin ansässigen Firma<br />
o<strong>der</strong> Institution zu größerer Bekanntheit, einer Profilschärfung o<strong>der</strong> Prestige-<br />
Verbesserung verhelfen kann. An<strong>der</strong>erseits kommt es dem heutigen Bedürfnis<br />
nach Atmosphäre, Ereignis, emotionaler Involviertheit und individuellem Erleben<br />
entgegen. So wie die Zeichenhaftigkeit <strong>der</strong> Architektur ganz allgemein<br />
zu einer Verbindung zwischen Wirtschaft und menschlicher Psyche führt,<br />
so kann das einzelne Ornament-Zeichen als Bindeglied zwischen wirtschaftlichem<br />
Kalkül und emotionalen Belangen dienen. Die kulturprägende, über den<br />
30<br />
Auf <strong>der</strong> Suche nach neuen architektonischen Erscheinungsformen nach dem<br />
Zweiten Weltkrieg bemühten sich einzelne Architekten um eine Ortsbindung<br />
und Kontextualisierung ihrer Bauten, indem sie auf vormo<strong>der</strong>ne, lokal verankerte<br />
Bauweisen, Gestaltungselemente und Motive zurückgriffen. In Abgrenzung<br />
zum »Universalismus <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne« wurde die Rückbesinnung auf die<br />
»nationalen und regionalen Beson<strong>der</strong>heiten des Bauens« mit <strong>der</strong> Postmo<strong>der</strong>ne<br />
wie<strong>der</strong> zu einem zentralen Anliegen. 588 In den letzten zwei Jahrzehnten führte<br />
dann die zunehmende Einbindung in globale künstlerische Austauschprozesse<br />
zu <strong>der</strong> Herausbildung einer hybriden, global wie lokal orientierten Baukultur.<br />
Dabei kommt <strong>Ornamente</strong>n eine entscheidende Rolle zu, denn sie können aufgrund<br />
ihrer kulturellen Bedeutung und kommunikativen Funktion die entstandene<br />
»Dichotomie zwischen Tabula rasa und Kontextualisierung« überbrücken<br />
und eine »Artikulation zwischen dem Lokalen und dem Globalen« beför<strong>der</strong>n. 589<br />
Der Neologismus »glokal«, eine Zusammenziehung von global und lokal, wurde<br />
Anfang <strong>der</strong> 1990er Jahre in Kalifornien im soziopolitischen Zusammenhang<br />
kreiert, um die Debatte zwischen Globalisierungsbefürwortern und Globalisierungsgegnern<br />
zu beschreiben. Robert Robertson, auf den <strong>der</strong> Terminus<br />
glocalisation zurückgeführt wird, vertritt die Position, dass »Globalisierung die<br />
Wie<strong>der</strong>herstellung, in bestimmter Hinsicht sogar die Produktion von ›Heimat‹,<br />
›Gemeinschaft‹ und ›Lokalität‹ mit sich gebracht« 590 habe. Aus diesem Grund<br />
ist das Lokale »nicht als Gegenspieler des Globalen«, son<strong>der</strong>n vielmehr als »ein<br />
Aspekt von Globalisierung« 591 , als »konstitutiver Bestandteil des Globalen« 592 zu<br />
verstehen. Im Unterschied zur postmo<strong>der</strong>nen Architektur, die größtenteils Wert
122 Zeitgenössische <strong>Ornamente</strong> 123<br />
Die Idee <strong>der</strong> regional- o<strong>der</strong> landestypischen Geschichts-Erzählung und »Markierung«,<br />
wie sie das Berliner Wohnhaus und das Kongresszentrum in Mérida<br />
auf unterschiedliche Weise verkörpern, liegt auch dem Entwurf von Herzog &<br />
de Meuron für die 1994-1999 errichtete Fachhochschul-Bibliothek im brandenburgischen<br />
Eberswalde zugrunde (Abb. 42-43). Die Bibliotheks-<strong>Fassade</strong> verweist<br />
in dreifacher Hinsicht auf regionale Identität bzw. versucht diese über ihre<br />
Bildsprache zu stärken. Erstens durch die Plattenbauweise, zweitens durch eine<br />
mo<strong>der</strong>n-technisierte Version <strong>der</strong> vernakulären, bildhaft-ornamentalen Sgraffitoetwa<br />
Louis Sullivan und Owen Jones, und nehmen die Interpretation <strong>der</strong> Bautradition<br />
zum Ausgangspunkt ihrer Entwürfe: »We’re trying to start to express<br />
more formally the idea that interpretation is a very powerful thing. Interpretation<br />
of tradition has always been how you made art and architecture.« 609 Bei<br />
<strong>der</strong> <strong>Fassade</strong>n-Erneuerung und Erweiterung des Victoria and Albert Museum of<br />
Childhood in London (2002-2007) ließen sie sich von Owen Jones’ The Grammar<br />
of Ornament (1856) aufgrund <strong>der</strong> Tatsache inspirieren, dass J. W. Wild, <strong>der</strong><br />
ursprüngliche Architekt des Baus von 1857, ein Freund von Jones war (Abb.<br />
38-39 und S. 171). 610 Das Konzept für den Museums-Umbau entwickelten Caruso<br />
St. John im Kontext ihrer Ausstellung Cover Versions in <strong>der</strong> Architectural<br />
Association Gallery (2005), in <strong>der</strong> sie die Beziehungen zwischen Werken und<br />
ihren historischen Inspirationsquellen aufdeckten sowie sich mit den Übertragungsmöglichkeiten<br />
von traditioneller Ornamentik in gegenwärtige Bauzusammenhänge<br />
beschäftigten. An dem Museumsanbau aus Beton wurde eine dünne<br />
Verkleidung aus vor Ort behauenen Steinen, farbige Quarzite und Porphyre,<br />
befestigt. So entsteht ein verschiedenfarbiges, geometrisches Muster mit 3-D-<br />
Effekt, das an M.C. Escher erinnert. Während Owen Jones’ Vorlagenwerk wohl<br />
eher als geistige Anregung im Entwurfsprozess herangezogen wurde, die Bezüge<br />
jedoch nicht direkt am Bau nachvollziehbar sind, drängen sich formalästhetische<br />
Ähnlichkeiten zu historischen Vorbil<strong>der</strong>n auf, etwa zu <strong>der</strong> dunkelgrünweißen<br />
Marmorfassade von Santa Maria Novella in Florenz von Alberti (1456-<br />
1470) mit ihren geometrisierenden Einlegemustern.<br />
Lokalhistorische Bezüge standen auch im Zentrum des Entwurfs von Nieto Sobejano<br />
Arquitectos für das 2004 eröffnete Auditorium und Kongresszentrum<br />
(Palacio de Congresos y Exposiciones) im spanischen Mérida. Die ornamentale<br />
Relieffassade entstand in Zusammenarbeit mit <strong>der</strong> Madri<strong>der</strong> Bildhauerin Ester<br />
Pizarro (Abb. 40-41 und S. 169). Aus <strong>der</strong> Ferne erinnern die <strong>Fassade</strong>n des massiven,<br />
am Fluss Guadiana gelegenen Solitärs an eine raue, unregelmäßige Naturstein-Oberfläche.<br />
Die Architekten nennen als lokalhistorische Referenz das opus<br />
incertum, das römische Mauerwerk aus unregelmäßig geformten Bruchsteinen,<br />
meist Tuffstein, mit Mörtelguss, das bis heute im Straßenbild <strong>der</strong> von den Römern<br />
gegründeten Stadt Mérida präsent ist. Aus <strong>der</strong> Nähe betrachtet entpuppt<br />
sich <strong>der</strong> vermeintliche Stein jedoch als Fertigbeton-Tiefrelief, das gleichsam als<br />
archäologische Haut die von oben gesehen ornamentale städtebauliche Anlage<br />
<strong>der</strong> Stadt Mérida zeigt. 611 Darüber hinaus kann die architektonische Gesamtanlage<br />
mit ihren geschlossen-abweisend wirkenden Außenwänden, kleinen Fenstern<br />
und den reliefhaft behandelten Oberflächen als Referenz an die arabische Architektur<br />
gelesen werden. 612 Vergleichbar mit dem Vorgehen Hild und Ks bei dem<br />
Berliner Wohnhaus liegt hier dem <strong>Fassade</strong>nentwurf ebenfalls eine zweidimensionale<br />
Zeichnung zugrunde – <strong>der</strong> Stadtgrundriss, <strong>der</strong> in ein Hochrelief und in die<br />
41<br />
Dreidimensionalität des Baukörpers übertragen wurde. Den meta-historischen<br />
Ornament-<strong>Fassade</strong>n in Berlin, London und Mérida ist eine optisch unaufdringliche,<br />
in ihrer Historizität eher interpretationsoffene Einpassung in die Umgebung<br />
gemeinsam.<br />
Außerarchitektonische Motive – Bil<strong>der</strong>-<strong>Fassade</strong>n<br />
40<br />
40, 41 Nieto Sobejano Arquitectos:<br />
Palacio de Congresos y Exposiciones<br />
in Mérida (ES), 2000-2004
130 Zeitgenössische <strong>Ornamente</strong> 131<br />
und Motivwahl wie auch im Hinblick auf den hohen Grad <strong>der</strong> Beachtung im<br />
Architekturdiskurs anschauliche Fortführungen <strong>der</strong> auf die klassischen Mo<strong>der</strong>ne<br />
bezogenen These von Beatriz Colomina »Mo<strong>der</strong>n architecture is all about the<br />
mass-media image.« 631<br />
Während die bisher besprochenen Beispiele für eine regionale Anbindung <strong>der</strong><br />
Architektur stehen, nehmen die im Folgenden analysierten Bauten in erster<br />
Linie – meist bedingt durch die Gebäudefunktion – auf außereuropäische Kulturen<br />
Bezug. In beiden Fällen zeigt sich, dass eine globale, aus verschiedenen<br />
kulturellen Kontexten hervorgehende Architektursprache den lokalen Raum und<br />
seine Spezifika nicht verdrängen muss. Vielmehr kann sie dazu beitragen, wie <strong>der</strong><br />
indische Architekt und Architekturtheoretiker A.G. Krishna Menon for<strong>der</strong>t, ein<br />
»unabhängiges, lokal entwickeltes Bezugssystem« hervorzubringen, das in einer<br />
globalisierten Welt dazu befähigt, »Hybridität in politischer, soziokultureller und<br />
in architektonischer Hinsicht zu beurteilen und wertzu schätzen«. 632<br />
Überregionale Bezüge<br />
Das Institut du Monde Arabe in Paris – arabisch-westliche Fusion<br />
47<br />
Das 1987 fertig gestellte Institut du Monde Arabe (im Folgenden kurz: IMA), das<br />
als Institution bereits 1974 gegründet worden war 633 , gilt als Auftakt für die Rehabilitierung<br />
des Ornaments im Zuge <strong>der</strong> Postmo<strong>der</strong>ne (Abb. 47-54 und S. 150).<br />
Der von dem damaligen französischen Präsidenten François Mitterand in Auftrag<br />
gegebene Kulturbau – das kleinste und am wenigsten kostspielige Bauwerk<br />
<strong>der</strong> Grands Projets 634 – sollte ein »Schaufenster <strong>der</strong> arabischen Welt« in Frankreich<br />
(»vitrine du monde arabe chez nous« 635 ) sein und war als versöhnend-vermittelnde<br />
Geste, als Signal für einen endgültigen Schlussstrich unter die französische Kolonialgeschichte<br />
gedacht. Somit steht das IMA für den Zusammenhang von Architektur<br />
mit interkulturellen, meist auch politisch motivierten Austauschprozessen<br />
im Kontext <strong>der</strong> Postkolonialismus-Debatte. Inwiefern kann es gelingen, die binäre<br />
Denkweise, gegen die <strong>der</strong> postkoloniale Diskurs zu argumentieren versucht, in <strong>der</strong><br />
Architektur, unter an<strong>der</strong>em mit Hilfe von <strong>Fassade</strong>n-Ornamentik, zu überwinden<br />
und in eine interkulturelle Vermittlung umzulenken?<br />
In einem beschränkten nationalen Wettbewerb waren 1981 <strong>der</strong> Pariser Architekt<br />
Jean Nouvel gemeinsam mit dem Architekturbüro Architecture Studio aus gewählt<br />
worden, das relativ unattraktive Baugrundstück am Seine-Ufer in unmittelbarer<br />
Nachbarschaft <strong>der</strong> 1960er-Jahre-Architektur <strong>der</strong> Université de Jussieu mit dem<br />
IMA zu bebauen. Gemäß seiner Überzeugung, dass die Architek tur weniger Fragen<br />
<strong>der</strong> Räumlichkeit, <strong>der</strong> Raumorganisation o<strong>der</strong> des Volumens, als vielmehr ihre<br />
kulturelle Bedeutung in den Mittelpunkt rücken müsse 636 , gründete Jean Nouvel<br />
47 Jean Nouvel: Institut du Monde Arabe in Paris (F),<br />
Südfassade und Zugangssituation, 1981-1987<br />
48 Institut du Monde Arabe, Lesesaal<br />
seinen Entwurf für das IMA auf einer Kombination von traditionellen arabischen<br />
Architekturprinzipien mit mo<strong>der</strong>nem westlichen High-Tech – im Sinne <strong>der</strong> von<br />
Zimmermann als charakteristisch für die »Zweite Mo<strong>der</strong>ne« bezeichneten »interkulturellen<br />
Reflexion«. 637<br />
Das Prinzip <strong>der</strong> Dualität, das mit <strong>der</strong> Vermittlungsfunktion zwischen zwei Kulturräumen<br />
(dem arabischen und dem westlich-französischen) korrespondiert,<br />
findet sich beim IMA auf allen Ebenen: im kulturellen Kontext (arabische/<br />
westliche Welt), im urbanen Kontext (traditionelles/mo<strong>der</strong>nes Paris), im zeitlichen<br />
Kontext (Geschichte/Gegenwart) und nicht zuletzt in <strong>der</strong> räumlichen sowie<br />
formal ästhetischen Konfiguration, die auf dem Gegensatz von Offenheit und<br />
Ges chlossenheit basiert, <strong>der</strong> dem Gebäude in <strong>der</strong> Gesamtanlage wie im Detail<br />
eingeschrieben ist. Die <strong>der</strong> Bauaufgabe innewohnende kulturelle Dualität muss<br />
insofern differenziert werden, als die Termini »arabisch« und »westlich« nicht als<br />
unabhängige und kulturell verschiedene Repräsentationssysteme zu fassen sind,<br />
weil sich die ursprünglichen Kulturen <strong>der</strong> französischen Kolonien unter dem fran-<br />
48
146 147<br />
Andy Warhol<br />
Black and White Disaster #4<br />
(5 Deaths 17 Times in Black and White)<br />
Acryl, Siebdruckfarbe und Bleistift auf Leinwand, 1963<br />
Kunstmuseum Basel<br />
Photo: Kunstmuseum Basel, Martin P. Bühler<br />
© 2012 The Andy Warhol Foundation for the Visual Arts,<br />
Inc./Artists Rights Society (ARS), New York<br />
Herzog & de Meuron<br />
Fachhochschulbibliothek<br />
Eberswalde (D), 1994-1999
148 149<br />
Sergej Tchoban<br />
Haus Benois<br />
Sankt Petersburg (RU), 2006-2008<br />
Neutelings Riedijk<br />
Ne<strong>der</strong>lands Instituut voor Beel en Geluid<br />
Media Park in Hilversum bei Amsterdam (NL), 1999-2006
152 153<br />
Jean Nouvel<br />
Musée du Quai Branly<br />
bâtiment Musée, Vor<strong>der</strong>- bzw. Nordseite<br />
Paris (F), 2001-2006<br />
Jean Nouvel<br />
Musée du Quai Branly<br />
bâtiment Branly mit Grüner <strong>Fassade</strong> von Patrick Blanc<br />
Rückseite und Verbindung zu bâtiment Auvent<br />
Paris (F), 2001-2006
156 157<br />
Neutelings Riedijk<br />
Druckerei Veenman<br />
Ede (NL), 1995-1997<br />
Herzog & de Meuron<br />
Universitätsbibliothek<br />
(Informations-, Kommunikationsund<br />
Medienzentrum, IKMZ)<br />
Cottbus (D), 2001-2005
162 163<br />
BFM Architekten<br />
Feuerwehr schu lungs zentrum<br />
Köln (D), 2005<br />
William Alsop<br />
Bürogebäude Colorium<br />
Düsseldorf (D), 2002
172 173<br />
Future Systems<br />
Kaufhaus Selfridges<br />
Birmingham (GB), 2003<br />
Peter Cook und Colin Fournier<br />
Kunsthaus<br />
Graz (AT), 2000-2003<br />
realities:united<br />
BIX-Medienfassade<br />
seit 2003
188 Zeitgenössische <strong>Ornamente</strong> 189<br />
Schrift, Bil<strong>der</strong>, Farbe<br />
Schrift – Prosa, Poesie und Zahl<br />
Ebenso wie Bild und Architektur sind Schriftkultur und Baukultur historisch<br />
eng miteinan<strong>der</strong> verwoben – von den Hieroglyphen ägyptischer Tempel über<br />
die antike Bauepigraphik 715 bis zu den Glyphen <strong>der</strong> Maya, von <strong>der</strong> islamischen<br />
Kalligraphie über die Inschriften mittelalterlicher Architekten und die Bauherren-Signaturen<br />
<strong>der</strong> Renaissance bis hin zu den mo<strong>der</strong>nen Werbe-Leuchtschriften<br />
und Graffiti-Tags heutiger Metropolen: Zeiten- und kulturenübergreifend<br />
trägt Schrift zur Außenwirkung von Bauwerken bei. Die Wand aus Textil, Holz<br />
o<strong>der</strong> Stein diente als Träger für Bil<strong>der</strong>, Zeichen und Schrift, lange bevor Papyrus,<br />
Pergament und Papier erfunden worden waren. 716<br />
Trotz ihrer historisch belegbaren Verbundenheit unterscheiden sich Schrift und<br />
Architektur in ihrer jeweiligen Ausdrucksform und Wirkung, Maßstäblichkeit<br />
und Materialität grundlegend. Monumentale Unverrückbarkeit steht einer flexiblen<br />
Bewegbarkeit gegenüber – ein Buch ist in erster Linie dem privaten Bereich,<br />
Architektur dem öffentlichen Bereich zugehörig; Architektur ist auf Massenwirkung,<br />
Schrift ihrem Ursprung nach eher auf Einzelwirkung ausgerichtet.<br />
Im Zuge von Werbe-Inschriften, Leuchtreklametafeln und öffentlichen Screens<br />
erweiterte sich das Wirkungsfeld von Schrift zunehmend in den öffentlichen<br />
Raum. Die <strong>der</strong> Architektur wie dem Buchmedium zugrunde liegenden o<strong>der</strong><br />
von ihnen ausgelösten Wahrnehmungs- und Kommunikationsprozesse scheinen<br />
sich mit <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne zusehends einan<strong>der</strong> anzugleichen. Nicht erst seit <strong>der</strong><br />
Postmo<strong>der</strong>ne wird die Stadt als Text im Sinne eines Zeichensystems diskutiert.<br />
Bereits Etienne-Louis Boullée ging als Mitbegrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> architecture parlante im<br />
späten 18. Jahrhun<strong>der</strong>t von einer engen Verbindung von Poesie und Architektur<br />
aus, wobei sich die Konzentration auf die äußere Erscheinung mehr auf die Gesamtform,<br />
weniger auf die <strong>Fassade</strong>n bezog: »Oui, je le crois, nos édifices, surtout<br />
les édifices publics, devraient être, en quelque façon, des poèmes.« 717<br />
Im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t beschäftigten sich Philosophen, Historiker und Dichter mit<br />
<strong>der</strong> Frage einer Beziehung von Text und Architektur im übertragenen Sinne.<br />
Victor Hugo beschrieb in seinem Ende des 15. Jahrhun<strong>der</strong>ts spielenden Roman<br />
Notre-Dame de Paris (1831), besser bekannt als Der Glöckner von Notre-Dame,<br />
die erste einschneidende Krise des über Jahrhun<strong>der</strong>te relativ stabilen urbanen<br />
Erzählraumes. Hugo sah Baukunst und Schriftkunst seit <strong>der</strong> Erfindung des<br />
Buchdruckes in einem Konkurrenzverhältnis, aus dem die Schrift siegreich hervorgegangen<br />
sei. Während die Kathedrale von Notre Dame im Mittelalter als<br />
»Chronik aus Stein« noch buchähnliche Wirkung entfaltet habe, verliere die Architektur<br />
mit <strong>der</strong> Verbreitung von Wissen über das geschriebene und gedruckte<br />
Wort ihre Wirkung als Ausdrucksform –<br />
»ceci tuera cela« 718 , prophezeite Hugo lakonisch.<br />
Die Bibliothèque Ste-Geneviève<br />
in Paris (1844-1850) kann als erster gebauter<br />
Wi<strong>der</strong>spruch zu Hugos These <strong>der</strong><br />
Verdrängung einer erzählerischen Architektur<br />
gesehen werden. Auf die Frontseite<br />
<strong>der</strong> Bibliothek ließ <strong>der</strong> Architekt, Henri<br />
Labrouste, die Namen <strong>der</strong> wichtigsten<br />
Autoren eingravieren, <strong>der</strong>en Bücher die<br />
Regale im Inneren füllen – er schuf so einen<br />
steinernen Zettelkatalog (Abb. 71). 719<br />
Diese <strong>Fassade</strong> tut kund, dass die architektonische<br />
Ausdrucksform ihrerseits die<br />
Buchdruckerkunst bzw. das geschriebene<br />
Wort in ihre spezifischen, raumbildenden<br />
Möglichkeiten mit einbeziehen kann.<br />
Kirsten Win<strong>der</strong>lich bezeichnet in ihrer<br />
Publikation Die Stadt zum Sprechen bringen<br />
(2005) die Architektur des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts,<br />
insbeson<strong>der</strong>e die bürgerliche<br />
Wohnhaus-Architektur mit ihrer reichen Ornamentsprache, als gebaute Auflehnung<br />
»gegen die Medienkonkurrenz von Buch, Zeitung und Fotografie« 720 .<br />
Der in die Baukunst integrierten Schrift fiel dabei die Aufgabe zu, Auskunft<br />
über Funktion o<strong>der</strong> sozialen Rang des Gebäudes bzw. seiner Bewohner zu geben.<br />
An vielen Pariser Wohnhäusern des 19. und frühen 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts etwa<br />
ist, gut lesbar am Übergang vom Erdgeschoss zur Beletage, eine entsprechende<br />
Signatur angebracht. Mit »dem Ende <strong>der</strong> <strong>Fassade</strong>nerzählung«, das zeitlich<br />
mit <strong>der</strong> Tendenz zu einer sachlich-nüchternen Architektur nach dem Zweiten<br />
Weltkrieg zusammenfiel und sich unter an<strong>der</strong>em in Entstuckungsmaßnahmen<br />
zeigte, verschwand zunächst, so Win<strong>der</strong>lich, »die <strong>der</strong> Baukunst eigene narrative<br />
Kompetenz«. 721 Erst mit <strong>der</strong> Postmo<strong>der</strong>ne sollte diese rehabilitiert werden.<br />
Robert Venturi et al. setzten bei ihren Bauten seit den 1960er Jahren Schrift<br />
als Element des »dekorierten Schuppens« ein. Sie kann durchaus konstitutives<br />
Element <strong>der</strong> <strong>Fassade</strong> sein, aber nicht ornamental-verschlüsselt o<strong>der</strong> assoziativ,<br />
son<strong>der</strong>n bewusst eingesetzt, wobei sie meist Name o<strong>der</strong> Funktion des Gebäudes<br />
vermittelt. Über dem Eingangsportal zu dem Altenwohnheim in Philadelphia<br />
(Pennsylvania), von Venturi, Scott Brown and Associates entworfen und 1960-<br />
1964 erbaut, prangt in dicken Großbuchstaben <strong>der</strong> Schriftzug »Guild House«<br />
(Abb. 22).<br />
71<br />
Henri Labrouste: Bibliothèque Ste-Geneviève<br />
in Paris (F), 1844-1850
200 Zeitgenössische <strong>Ornamente</strong> 201<br />
Tätigkeit von Seiten <strong>der</strong> Betrachter an. Dank technomedialer Neuerungen,<br />
vor allem im Bereich <strong>der</strong> Medienfassaden, kann dieses Potenzial von Schrift-<br />
<strong>Ornamente</strong>n in Richtung Interaktivität und Partizipation signifikant ausgebaut<br />
werden. 750 Dadurch, dass die Schrift-<strong>Ornamente</strong> oftmals nicht auf einen Blick<br />
und von einem Standort aus zu erfassen sind, sind sie mehr als ein beliebig austauschbares<br />
Attribut; sie werden zu einem emblematischen Text-Bild. Kirsten<br />
Win<strong>der</strong>lich betont mit ihrer Wortneuschöpfung »Sprachwerke« diesen weiten<br />
Überschneidungsspielraum von Schrift, Kunst und Bild. Die »Sprachwerke«<br />
könnten, so Win<strong>der</strong>lich, »sowohl als Text gelesen als auch als Bild« betrachtet<br />
werden und zeichnen sich »durch ihre vielfältigen Wechselwirkungen in Bezug<br />
auf den Raum« aus. 751<br />
Bil<strong>der</strong> – De- und Neukontextualisierung<br />
Die in <strong>der</strong> Architektur enthaltenen o<strong>der</strong> von <strong>der</strong> Architektur ausgelösten Bil<strong>der</strong><br />
sind oft innere Bil<strong>der</strong>, Bil<strong>der</strong> mit einem breiten Assoziationsspielraum, die in<br />
ständigem Austausch mit den im Alltag und <strong>der</strong> Kunst zirkulierenden Bil<strong>der</strong>n,<br />
Bildmotiven, bildnerischen Strategien und Materialien stehen. Antoine Picon<br />
geht daher von einem »fluiden Zustand des architektonischen Bildes« aus, das<br />
nur funktioniere, wenn es »sozusagen in Richtung an<strong>der</strong>er Bil<strong>der</strong>« fließe. 752 Architektur<br />
»als kulturelle Praktik« 753 befasse sich, so Picon, nicht mit einer »rein<br />
künstlerischen Imagination«, son<strong>der</strong>n eher »mit einer sozial regulierten Form<br />
von Imagination«, einer »sozialen Imagination«, die aus den »allen gemeinsamen<br />
Bil<strong>der</strong>n« heraus entstehe, sich somit gleichermaßen aus Bil<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Alltagsund<br />
Medienwelt wie <strong>der</strong> bildenden Künste speise. 754<br />
Durch die neue Offenheit für ornamentale <strong>Fassade</strong>n- und auch Innenraumgestaltungen<br />
755 intensivierte sich die Verbindung von Architektur und Kunst<br />
in den letzten Jahren dahingehend, dass immer häufiger Kooperationen zwischen<br />
bildenden Künstlern o<strong>der</strong> Medienkünstlern und Architekten realisiert<br />
werden: Nieto Sobejano Arquitectos arbeiteten bei <strong>der</strong> <strong>Fassade</strong>ngestaltung des<br />
Kongresszentrums in Mérida mit <strong>der</strong> Madri<strong>der</strong> Bildhauerin Esther Pizarro zusammen;<br />
Neutelings Riedijk kooperierten bei <strong>der</strong> Hilversumer Bil<strong>der</strong>fassade<br />
mit dem Graphiker Jaap Drupsteen und Herzog & de Meuron zogen bei <strong>der</strong><br />
<strong>Fassade</strong>ngestaltung <strong>der</strong> FH-Bibliothek in Eberswalde den Photo-Künstler Thomas<br />
Ruff heran. 756 Auch wenn im Ornament die künstlerische Qualität eines<br />
architektonischen Entwurfsprozesses zum Ausdruck kommt, sind die Inspirationen<br />
aus künstlerischen Strategien oft nicht klar von an<strong>der</strong>en, architektonischen<br />
Entscheidungen zu trennen. Sie werden von den Architekten auch nicht<br />
immer benannt, so dass im Hinblick auf Herkunft und Art <strong>der</strong> künstlerischen<br />
Anteile oftmals viel Raum für Spekulationen bleibt.<br />
Der Integration von Bil<strong>der</strong>n o<strong>der</strong> bildkünstlerischen Materialien und Verfahrensweisen<br />
in <strong>Fassade</strong>n geht von Architektenseite oft eine generelle Affinität<br />
zum Bild bzw. zu den bildenden Künsten voraus, so bei Herzog & de Meuron,<br />
<strong>der</strong>en Vorstellung von Architektur sich nach eigener Aussage in erster Linie aus<br />
Bil<strong>der</strong>n, insbeson<strong>der</strong>e aus Filmbil<strong>der</strong>n, formierte. 757 Viele ihrer <strong>Fassade</strong>n beruhen<br />
auf dem Streben, einem »bekannten Baustoff eine bildhafte Schicht hinzuzufügen«<br />
758 . Von Beginn ihres gemeinsamen Bauschaffens 1978 an absorbierten<br />
Jacques Herzog und Pierre de Meuron Ideen und Strategien aus <strong>der</strong> Kunst<br />
und transformierten diese für den architektonischen Kontext. 759 Seit Ende <strong>der</strong><br />
1980er Jahre kooperieren sie bei vielen ihrer Bauprojekte in <strong>der</strong> <strong>Fassade</strong>ngestaltung,<br />
<strong>der</strong> Farbkonzeption o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Gestaltung des Inneren mit meist befreundeten<br />
bildenden Künstlern, wobei die ornamentale Komponente dabei unterschiedlich<br />
stark ausgeprägt war. 760 Seit 1989 arbeiteten sie mit Rémy Zaugg<br />
zusammen, so bei dem Roche-Pharma-Forschungsgebäude in Basel (2000)<br />
und bei dem Innenstadtprojekt Fünf Höfe mit Restaurants, Läden und Büros<br />
in München (2003). Ende <strong>der</strong> 1990er Jahre zogen sie bei dem Neubau von<br />
Ricola in Laufen für die Innenraumgestaltung Rosemarie Trockel und Adrian<br />
Schiess heran und entwarfen die Bil<strong>der</strong>-<strong>Fassade</strong> <strong>der</strong> FH-Bibliothek in Eberswalde<br />
gemeinsam mit Thomas Ruff, das Farbkonzept für das Laban Dance Centre<br />
in London erarbeiteten sie mit Michael Craig-Martin (1997-2003). 761 Herzog<br />
& de Meurons architektonische Arbeitsweise ist, auch was das Bedürfnis nach<br />
Systematisierung und Dokumentation <strong>der</strong> eigenen Schaffensprozesse anbelangt,<br />
stark künstlerisch ausgerichtet. Wie viele Künstler, etwa Gerhard Richter<br />
762 , ihre Kunstwerke nummerieren, so erhalten alle Entwürfe und Bauten<br />
sowie alle Ausstellungen von Herzog & de Meuron eine Projektnummer. Sie<br />
nutzen Ausstellungen seit den späten 1980er Jahren neben einem Einblick in<br />
ihre Arbeitsweise und einer Werkschau auch – womit sie in <strong>der</strong> Architekturbranche<br />
Vorreiter sind – als Experimentalraum für die Fortentwicklung von<br />
Entwurfs- und baupraktischen Strategien. Ihre erste Ausstellung Architektur<br />
Denkform im Schweizerischen Architekturmuseum in Basel 1988 kam so einem<br />
Testlauf gleich für die Möglichkeiten <strong>der</strong> bildlichen Darstellung auf <strong>der</strong><br />
<strong>Fassade</strong>, denn die Architekten applizierten Photographien ihrer Gebäude per<br />
Siebdruck raumhoch auf die Glasscheiben <strong>der</strong> Museumsfassade – eine Technik,<br />
die in den Folgejahren unter Verwendung an<strong>der</strong>er Motive und in abgewandelter<br />
Form bei mehreren ihrer Bauten zur Anwendung kommen sollte. 763 Nichtsdestodestoweniger<br />
plädieren Herzog & de Meuron nach wie vor, im Konsens<br />
mit den Künstlern, mit denen sie zusammenarbeiten, etwa Rémy Zaugg, Thomas<br />
Ruff und Jeff Wall, für die Unabhängigkeit <strong>der</strong> Gattungen. 764 Architektur<br />
gilt zwar als eine Kunstform, doch sind <strong>der</strong> künstlerischen Freiheit des Architekten<br />
gegenüber dem Künstler dadurch engere Grenzen gesetzt, dass er eine
220 Zeitgenössische <strong>Ornamente</strong> 221<br />
Inspiration Natur<br />
Tradition und Aktualität – Natur, Kunst und Technik<br />
»Alle Kunst und somit auch die dekorative steht in unauflöslichem<br />
Zusammenhange mit <strong>der</strong> Natur.« 838<br />
Alois Riegl: Stilfragen. Grundlegungen zu einer Geschichte <strong>der</strong> Ornamentik (1893)<br />
96<br />
96, 97 William Alsop: Bürogebäude Colorium<br />
in Düsseldorf (D), 2002<br />
dreidimensionale optische Wirkung mit Hilfe von Farbe ausgeschöpft, kann <strong>der</strong><br />
Raum zu einem begehbaren Gemälde werden. Im Sinne von Theo van Doesburg,<br />
<strong>der</strong> in seinem Aufsatz Farben in Raum und Zeit (1928) eine »gestaltende Raum-<br />
Zeitmalerei« for<strong>der</strong>te, verwirklicht sich so »<strong>der</strong> große Traum« des Künstlers, »den<br />
Menschen statt vor, in die Malerei hineinzustellen«. 837<br />
97<br />
Auch ohne die komplexe Bedingtheit von »Natur« als Komplementärbegriff zu<br />
»Kultur« begriffshistorisch und kulturphilosophisch zu erörtern, scheint die Architektur<br />
seit jeher von <strong>der</strong> vergänglichen Materie und dem Formenreichtum<br />
<strong>der</strong> Natur inspiriert, welche sie in dauerhaften Stein zu übertragen suchte. Vor<br />
allem im islamischen Kulturraum entfaltete sich aufgrund des Darstellungsverbotes<br />
von Lebewesen in <strong>der</strong> Kunst und Architektur eine Vielzahl von Ornamentformen,<br />
die zumeist von Pflanzenformen abgeleitet, jedoch stark abstrahiert<br />
sind. In <strong>der</strong> abendländischen Architekturgeschichte war das Interesse an<br />
<strong>der</strong> Verbindung zwischen Architektur und Natur in einigen Epochen beson<strong>der</strong>s<br />
ausgeprägt. Das korinthische Kapitell <strong>der</strong> Antike wird – unter Verweis auf Vitruv<br />
839 – mit dem Akanthusblatt assoziiert, die Blattkapitelle <strong>der</strong> Romanik waren<br />
realistische Nachbildungen von Blattformen <strong>der</strong> Natur 840 , während das überbordende<br />
Rankwerk <strong>der</strong> Rokoko-Zeit 841 eine stärkere Verfremdung mit sich<br />
brachte, die <strong>der</strong> Jugendstil in seinen zusehends abstrahierenden Experimenten<br />
mit floralen, vegetabilen Formen noch verfeinerte. 842 Bis zur Mo<strong>der</strong>ne waren<br />
Blattkapitelle, Palmetten und Kranzgebinde, Rankenformen, Girlanden und<br />
Fruchtgehänge, Festons, Kreuzblumen, Pinienzapfen, Rosetten und Füllhörner<br />
wesentlicher Bestandteil des Bauschmuck-Repertoires. Das Naturverständnis in<br />
<strong>der</strong> Architektur verän<strong>der</strong>te sich im Laufe <strong>der</strong> Geschichte meist im Zuge neuer<br />
technologischer, naturwissenschaftlicher und künstlerischer Errungenschaften.<br />
Dem Ornament kommt in <strong>der</strong> Architekturgeschichte eine Vermittlungsposition<br />
zwischen <strong>der</strong> dem Menschen zugeordneten Technik, dem Handwerk bzw.<br />
<strong>der</strong> Kunst und <strong>der</strong> Natur zu. Letztere weist ein unerschöpfliches Spektrum ornamentaler<br />
Formen auf, von Mineralien und Fossilien über Blatt- und Blütenstrukturen<br />
bis hin zu gemusterten Häuten, Fell- und Fe<strong>der</strong>klei<strong>der</strong>n. Diese<br />
»Bioornamentik« 843 kann als Modell für das Ineinan<strong>der</strong>greifen von Funktion<br />
und Form bei <strong>der</strong> gegenwärtigen Ornamentbildung dienen – insbeson<strong>der</strong>e in<br />
ihrer technomedialen Ausprägung.<br />
Die enge Verbindung von Kunst, Ornament/Dekor und Natur wurde im 19. und<br />
frühen 20. Jahrhun<strong>der</strong>t bereits vielfach thematisiert, wobei das jeweils zugrunde<br />
liegende Verständnis von »Natur« sehr unterschiedlich ausfallen kann. So verwies<br />
das Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm aus dem Jahre
232 Zeitgenössische <strong>Ornamente</strong> 233<br />
Imitation und Abstraktion – Bildmotive <strong>der</strong> Natur<br />
Während die »grüne Wand« und die »Regenmalerei«-Betonwand materialtechnisch<br />
auf die direkte, jedoch planerisch kalkulierte und gesteuerte Präsenz von<br />
Natur zurückgehen, basieren die folgenden Beispiele auf einer unterschiedlich<br />
stark abstrahierten Darstellung von Motiven aus dem Bild- und Formenschatz<br />
<strong>der</strong> Natur. Vegetabile Elemente wie Zweige, Baumrinde, Blüten o<strong>der</strong> Blätter,<br />
die aufgrund ihrer Morphologie und mittels einer seriellen o<strong>der</strong> symmetrischen<br />
Anordnung ornamentales Potenzial entfalten können, werden photographisch<br />
aufbereitet o<strong>der</strong> computertechnisch verfremdet. Dabei kann zwischen flächigen<br />
und reliefhaften, dreidimensionalen Natur-<strong>Ornamente</strong>n unterschieden werden.<br />
Während erstere meist durch seriellen Siebdruck auf Glas o<strong>der</strong> Kunststoff aufgebracht<br />
werden, können letztere in enger Verbindung mit <strong>der</strong> Konstruktion<br />
beispielsweise mittels Aluminiumguss, Negativrelief in Ortbeton o<strong>der</strong> Laserschnitt<br />
hergestellt werden. Bei diesen Oberflächengestaltungen von Gebäuden<br />
– ob in <strong>der</strong> Fläche o<strong>der</strong> im Relief – geht es meist nicht um direktes Nachahmen<br />
von Naturmotiven o<strong>der</strong> -vorgängen, son<strong>der</strong>n vielmehr um assoziative, kulturell<br />
bedingte Verknüpfungen und mehrschichtige Übertragungsprozesse. Bildhafte<br />
Natur-<strong>Ornamente</strong> geben nicht unbedingt Aufschluss über die Gebäudefunktion,<br />
bringen jedoch eine Belebung und Ästhetisierung ansonsten »leerer« <strong>Fassade</strong>n<br />
mit sich und dienen häufig als Sonnenschutz.<br />
Das Ricola-Lagerhaus in Mulhouse gilt weniger wegen <strong>der</strong> »Regenmalerei«, als<br />
vielmehr wegen seiner Längsseiten als <strong>der</strong> Pionierbau für ornamental-bildhafte<br />
<strong>Fassade</strong>ngestaltung in den frühen 1990er Jahren. Herzog & de Meuron verfremdeten<br />
die Schwarzweiß-Photographie Die Doldige Schafgarbe von Karl<br />
Blossfeldt aus dessen Werk Urformen <strong>der</strong> Kunst: Photographische Pflanzenbil<strong>der</strong><br />
von 1928, indem sie diese in verän<strong>der</strong>tem Maßstab und in rigi<strong>der</strong> ornamentaler<br />
Reihung (sechsmal in <strong>der</strong> Höhe) von innen mittels Siebdruck auf<br />
die transluzenten Kunststoffplatten aufbringen ließen, welche die <strong>Fassade</strong> bilden<br />
(Abb. 102-103). 887 Ein alltägliches industrielles Baumaterial – Platten aus<br />
dreischichtigem, lichtdurchlässigen Polycarbonat – wird durch eine Ikone <strong>der</strong><br />
Photographie-Geschichte veredelt und individualisiert. Auf assoziativ-visueller<br />
Ebene verweist das so geschaffene bildhaft-ornamentale Blatt-Motiv weiter in<br />
die Architektur- und Kunstgeschichte zurück als bis zu den Anfängen <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen<br />
Natur-Photographie. Der gestaffelte Aufbau <strong>der</strong> Schafgarben-Blätter in<br />
Frontalansicht erinnert formalästhetisch an die stilisierten Akanthusblätter des<br />
korinthischen Kapitells o<strong>der</strong> <strong>der</strong> griechischen Akroterien.<br />
Die Verwendung eines Pflanzenmotivs korreliert mit <strong>der</strong> Nutzung des Gebäudes,<br />
in dem aus Kräuterextrakten hergestellte Bonbons gelagert werden.<br />
Damit könnte das Gebäude als zeitgenössische architecture parlante o<strong>der</strong> gar<br />
106<br />
Herzog & de Meuron: Ricola-Europe SA in Mulhouse-<br />
Brunstatt (F), Blick aus dem Inneren, 1992/93<br />
als gebaute Eigenwerbung für Ricola<br />
im Sinne eines firmeneigenen branding<br />
aufgefasst werden. 888 Aufgrund <strong>der</strong> Verfremdung<br />
<strong>der</strong> historischen Photographie<br />
durch Vergrößerung, ornamentale<br />
Reihung und Siebdruck bewahrt es sich<br />
jedoch einen vielfältig interpretierbaren<br />
Charakter, was <strong>der</strong> Eindimensionalität<br />
und schnellen Lesbarkeit von Werbebotschaften<br />
entgegensteht. Im Zusammenspiel<br />
<strong>der</strong> milchigen, transluzenten<br />
Polycarbonatwände mit natürlichem<br />
o<strong>der</strong>, nachts, künstlichem Licht ist das<br />
Blattmotiv von außen mehr o<strong>der</strong> weniger<br />
gut sichtbar; die Oberflächen wirken<br />
eher verschlossen, glatt und texturhaft.<br />
Die langen, schmalen Streifen in <strong>der</strong> Polycarbonatwand<br />
scheinen einem Schleier<br />
gleich »von oben herab bis auf die Erde<br />
zu fließen«, und diese »Illusion des Strömens«<br />
lässt die Vor<strong>der</strong>seiten mit den beiden<br />
seitlichen Betonwänden verschwimmen. 889 Aus einer gewissen Entfernung<br />
betrachtet, erinnern auch die Regenwasser-Streifen mit ihrem unregelmäßigen<br />
Hell-Dunkel-Rhythmus an die zufällig gebildeten Falten eines Vorhanges. Von<br />
innen bestätigen die Längsseiten diese vorhangartige Wirkung, zumal das Licht<br />
durch das milchige Polycarbonat leicht gedämpft wird (Abb. 106). Herzog & de<br />
Meuron ist es bei dem Ricola-Lagerhaus gelungen, »die willkürliche Trennung<br />
von Natur und Kunst nie<strong>der</strong>[zu]reißen, die Trennung zwischen <strong>der</strong> blickdichten<br />
Mauer als opakes, lasttragendes Bauelement und <strong>der</strong> Mauer als lichtdurchlässigem,<br />
raumumschließenden ›Ge-Wand‹ « 890 aufzulösen. Der gesamte Baukörper,<br />
<strong>der</strong> mit seinen Blattmotiv-bedruckten vorkragenden Vordächern wie eine<br />
Bonbonschachtel mit aufgeklappten Seitendeckeln da steht, bekommt durch<br />
die Vorhang-Assoziation und die bildhaft-ornamentale Motivik etwas Bühnenhaftes,<br />
Theatral-Inszeniertes. Jenseits von oberflächlichem »Natur-Kitsch« positioniert<br />
sich das Ricola-Gebäude durch vielschichtige formalästhetische Querverbindungen<br />
zur frühen, wissenschaftlich begründeten Natur-Photographie,<br />
zur Postmo<strong>der</strong>ne und zur Pop Art in <strong>der</strong> Kunst- und Architekturgeschichte. 891<br />
Während die Naturmotivik beim Ricola-Gebäude eng mit <strong>der</strong> Gebäudefunktion<br />
verbunden ist, erscheint sie bei <strong>der</strong> 2000-2004 von Wiel Arets entworfenen Universitätsbibliothek<br />
auf dem Campus in Utrecht zunächst eher willkürlich (Abb.
242 Zeitgenössische <strong>Ornamente</strong> 243<br />
des Geflechts o<strong>der</strong> Netzes – umso mehr in Zeiten des Internets – menschliche<br />
Gemeinschaft, Kommunikation und Interaktion, wie sie in diesen Gebäuden<br />
nicht virtuell, son<strong>der</strong>n real entsteht und stattfindet. Dementsprechend finden<br />
sich die neuesten Varianten <strong>der</strong> Verbindung von Natur, Ornament und technischer<br />
Finesse auf dem Gebiet <strong>der</strong> Medienfassaden.<br />
Digitalfassaden<br />
Begriffsgeschichte – Medienfassade, Screen, Interface<br />
Mit dem zunehmenden Einsatz von Computertechnologien eroberten die digitalen<br />
Medien in den 1980er Jahren die Architektur zunächst von innen heraus<br />
über den Umweg <strong>der</strong> Gebäudeleittechniken (Versorgungs-, Kommunikations-,<br />
Warnsysteme, interne Verkehrssysteme), um dann zusehends am Außenbau zur<br />
Anwendung zu kommen und dabei auch eine bildhaft-ornamentale Wirkung<br />
zu entfalten. 908 Der Begriff Medienarchitektur, <strong>der</strong> sich seit den 1990er Jahren<br />
sukzessive im Architekturdiskurs durchgesetzt hat 909 , ist sehr weit gefasst und<br />
umschreibt Architektur, die neueste digitale, technomediale Möglichkeiten einbezieht<br />
und dies auch über die <strong>Fassade</strong> demonstriert. Dabei wird Licht – <strong>der</strong>zeit<br />
meist in Form von LEDs o<strong>der</strong> LCDs – als »ikonographischer Dekor« eingesetzt,<br />
wie Robert Venturi 1996 proklamierte: »Light is our essential medium – not as<br />
›veiled‹ and ›luminous‹ planes that are electric, but as vivid iconographic decor<br />
that can be electronic.« 910 Ebenso wie <strong>der</strong> Begriff »Medienarchitektur« weist<br />
<strong>der</strong> mehrheitlich im aktuellen deutschsprachigen Diskurs verwendete Begriff<br />
»Medienfassade« eine beträchtliche Unschärfe auf, da »Medium« seinem lateinischen<br />
Ursprung nach ein »Mittel« o<strong>der</strong> »Element <strong>der</strong> Vermittlung« bezeichnet,<br />
was traditionell alle <strong>Fassade</strong>n, auch ohne digitale Komponenten, lediglich in<br />
unterschiedlicher Intensität sind. In Anlehnung an das englische digital façade<br />
und analog zu <strong>der</strong> Tendenz, den Begriff »Medienkunst« durch »digitale Kunst<br />
und Kultur« zu ersetzen 911 , stellt die Bezeichnung »Digitalfassade« daher eine<br />
genauere Alternative zu »Medienfassade« dar. Im Idealfall bildet <strong>der</strong> architektonische<br />
Körper mit den neuen Technologien eine Synthese, die eine künstlerische<br />
o<strong>der</strong> informative Vermittlung bewegter Bil<strong>der</strong> und Zeichen, Texte und<br />
auch Töne in den umgebenden Raum hinein ermöglicht. In <strong>der</strong> Medienfassade<br />
weiten sich die Grenzen von digitaler Kunst und Architektur, von Architektur<br />
und Konsumästhetik, von realer und virtueller Welt, von Vergnügen und<br />
Überwachungspolitik und werden teilweise verwischt, wobei das Ornament als<br />
vermittelndes Grenzphänomen in Erscheinung treten kann. Allein schon aufgrund<br />
<strong>der</strong> finanziellen Dimension – noch sind Digitalfassaden in Herstellung,<br />
Betrieb und Wartung signifikant kostspieliger als herkömmliche <strong>Fassade</strong>n – und<br />
wegen <strong>der</strong> Gefahr einer Lichtverschmutzung werden sie in erster Linie für Bürogebäude<br />
von Firmen und Banken, für Gebäude kommerzieller Nutzung und<br />
für öffentliche Kulturbauten, so gut wie nicht im privaten Wohnungsbau in<br />
Auftrag gegeben.<br />
Seit den 1960er Jahren ebneten die Weltausstellungen mit ersten Multimedia-<br />
Anwendungen den Weg für die Medienarchitektur. Auf <strong>der</strong> New Yorker Expo<br />
von 1964 waren in dem von Saarinen entworfenen IBM-Pavillon ovoi<strong>der</strong> Form<br />
vierzehn Leinwände ringsum angebracht, auf die Charles & Ray Eames ihren<br />
Film Think projizierten. 912 Drei Jahre später, auf <strong>der</strong> Expo in Montreal (1967),<br />
gehörten synchronisierte Bil<strong>der</strong> mehrerer »Screens« bereits zur Standardausstattung<br />
<strong>der</strong> Industriepavillons. 913 1970 führte dann die Weltausstellung in Osaka<br />
die neuen audiovisuellen Projektionstechniken in allen Varianten vor, wobei<br />
die »vom Architekten vorgegebene Hülle oft negiert, überspielt« 914 wurde. Auf,<br />
zwischen und in den futuristischen Superstrukturen und pneumatischen Konstruktionen<br />
flimmerten überall Projektionen von Filmen und Dias. Die von den<br />
Weltausstellungen vorweggenommene Entwicklung, statische Formen durch<br />
bewegliche Bil<strong>der</strong> zu beleben und zu verän<strong>der</strong>n, sollte erst gut dreißig Jahre später<br />
im urbanen Raum sichtbar werden. Heute sind Szenarien einer Multimedia-<br />
Stadt aus Science-Fiction-Filmen <strong>der</strong> 1980er Jahre wie Blade Runner (1982) 915<br />
technisch realisierbar beziehungsweise in Teilen heutiger Metropolen wie Tokyo,<br />
Shanghai o<strong>der</strong> New York bereits realisiert.<br />
Die neuen technomedialen Möglichkeiten tragen wesentlich zu einem neuen<br />
Selbstbild von Architektur bei, denn die traditioneller Architektur zugeordneten<br />
Eigenschaften wie Beständigkeit, Dauerhaftigkeit und Festigkeit – firmitas<br />
bei Vitruv – werden zugunsten einer digital steuerbaren, verän<strong>der</strong>baren und<br />
scheinbar immateriellen Einheit aufgeweicht. Bei Digitalfassaden gewinnt <strong>der</strong><br />
Aspekt <strong>der</strong> Zeitlichkeit gegenüber dem <strong>der</strong> Räumlichkeit bei herkömmlichen<br />
<strong>Fassade</strong>n an Bedeutung. Der Zeitlichkeit-Aspekt geht einher mit einer Ephemerisierung,<br />
<strong>der</strong> kurzen Verweildauer von visuellen Eindrücken, die auf die<br />
schnell wechselnden Bil<strong>der</strong>-, Text-, Muster- o<strong>der</strong> Farbfolgen in Rasteranimationen<br />
und Videoprojektionen zurückgeht. So brachte die medienbespielte <strong>Fassade</strong><br />
eine neue Form des Ornaments hervor: das leuchtende, digital gesteuerte,<br />
dynamische Ornament. Der grundlegende Unterschied zu traditionellen <strong>Ornamente</strong>n,<br />
die durch serielle, rasterhafte Wie<strong>der</strong>holung von Einzelmotiven einen<br />
passiven Bewegungseffekt im Betrachter-Auge auszulösen vermögen, o<strong>der</strong> zu<br />
elektronischen Beleuchtungstricks sogenannter Lichtarchitekturen zu Beginn<br />
des Jahrhun<strong>der</strong>ts 916 liegt in <strong>der</strong> digitalen Kontrolle <strong>der</strong> Bewegung. Das Charakteristikum<br />
<strong>der</strong> Dynamik ist für die Gestaltung urbaner Räume in hohem Maße<br />
attraktiv, rangiert doch in <strong>der</strong> gestaltpsychologischen Wirksamkeits-Hierarchie<br />
die Bewegung ganz oben. 917 Formal und oftmals auch inhaltlich deckt sich das
250 Zeitgenössische <strong>Ornamente</strong> 251<br />
Von <strong>der</strong> Lichtarchitektur zur Leuchtmittelfassade – Glühbirne und<br />
Leuchtdiode<br />
»Ich wollte von gar nichts wissen.<br />
Da habe ich eine Reklame erblickt,<br />
Die hat mich in die Augen gezwickt<br />
Und ins Gedächtnis gebissen.<br />
[...]<br />
Sie fuhr in <strong>der</strong> Trambahn und kletterte kühn<br />
Nachts auf die Dächer mit Lichtern« 952<br />
Joachim Ringelnatz: Reklame (Gedicht von 1932, Auszug)<br />
119<br />
Ma<strong>der</strong> Stublic Wiermann/Licht Kunst Licht:<br />
Videobespielung/Leuchtmittelfassade twists and turns, seit 2006<br />
am Uniqa Tower in Wien (AT) von Neumann + Partner, 2001-2004<br />
medial erzeugte, komplexe Struktur zeigt sich hier in größtmöglicher Abstraktheit<br />
und ephemerer Körperlosigkeit. Technisch in die Konstruktion integriert,<br />
löst sie sich wahrnehmungsästhetisch von ihr, simuliert eigene räumliche Dimensionen<br />
und schafft so eine zusätzliche, virtuelle Realitätsebene. 949<br />
Der aktuelle Digitalfassaden-Diskurs hat mit dem Ornamentdiskurs die zentrale<br />
For<strong>der</strong>ung gemeinsam, eine Integration in den architektonischen Gesamtentwurf<br />
zu gewährleisten. Damit soll <strong>der</strong> Befürchtung entgegengewirkt werden, die<br />
Architektur könne im Zuge des digital turn »auch die Raumkompetenz an die<br />
Medientechnologien« 950 verlieren. Das Beispiel twists and turns zeigt, dass sich<br />
technomediale Komponenten und Räumlichkeit nicht ausschließen, son<strong>der</strong>n<br />
ergänzen können. Dabei kann die Verän<strong>der</strong>lichkeit und Zeitgebundenheit <strong>der</strong><br />
digital gesteuerten <strong>Fassade</strong>nornamente adäquater Ausdruck <strong>der</strong> gegenwärtigen<br />
Inszenierungs- und Informationsgesellschaft sein, wie Venturi und Scott Brown<br />
in ihrer Publikation Architecture as Signs and Systems 2004 in provokanter Überspitzung<br />
postulierten: »Viva electronic pixels over decorative rivets! [...] Should<br />
not the mo<strong>der</strong>nism of our time engage the electronic digital technology appropriate<br />
for the current Information Age, rather than an ornamental industrial<br />
›rocaille‹ <strong>der</strong>iving from the historical Industrial Age?« 951<br />
Joachim Ringelnatz’ gereimte Kritik an <strong>der</strong> Allgegenwart <strong>der</strong> Leuchtreklame<br />
von 1932 lässt sich auf die Digitalfassaden des 21. Jahrhun<strong>der</strong>ts übertragen, die<br />
vorrangig Licht als ornamentales Medium einsetzen. Unabhängig davon, ob sie<br />
Werbe-Zwecke erfüllen o<strong>der</strong> nicht, »zwicken« und »beißen« sie in Augen und<br />
Gedächtnis, das heißt, sie ziehen die Aufmerksamkeit massiv auf sich, machen<br />
ein Gebäude zu einer »landmark« (Kevin Lynch), lassen es – bei aller Ähnlichkeit<br />
<strong>der</strong> Medienfassaden untereinan<strong>der</strong> – im Stadtraum unverwechselbar und<br />
wie<strong>der</strong>erkennbar werden. Dank <strong>der</strong> technischen Möglichkeiten und <strong>der</strong> Großmaßstäblichkeit<br />
<strong>der</strong> meist fassadenfüllenden, beweglichen Licht-<strong>Ornamente</strong><br />
potenziert sich in jüngster Zeit die Gefahr einer visuellen Überreizung und Unentrinnbarkeit,<br />
auf die bereits Ringelnatz mit seinen aggressiven Verben zielte.<br />
Eine räumliche Dichte von eher kommerziell als künstlerisch ausgerichteten Medienfassaden<br />
wie im Shibuya-Viertel in Tokyo o<strong>der</strong> auf dem New Yorker Times<br />
Square führt zu <strong>der</strong> von Virilio 1984 befürchteten »Überbelichtung« 953 , die individuelle<br />
Wahrnehmung aus Selbstschutzgründen abstumpfen lässt. Nach Hans<br />
Belting reizt die vielfach »beklagte Überproduktion« von Bil<strong>der</strong>n in <strong>der</strong> heutigen<br />
Zeit »unsere Sehorgane im gleichen Maße, wie sie sie glücklicherweise lähmt<br />
o<strong>der</strong> immunisiert«. 954 Trotzdem kann die überwiegend nächtliche Wirkung <strong>der</strong><br />
bewegten Lichtzeichen nicht nur für Autofahrer eine starke Ablenkung und für<br />
Anwohner eine erhebliche Störung darstellen, son<strong>der</strong>n auch – je nach Standort<br />
in unterschiedlicher Relevanz – für Tiere, insbeson<strong>der</strong>e für fliegende Insekten<br />
und Vögel, nachteilig sein. Diese Probleme können jedoch durch die Farbwahl<br />
und eine zeitlich limitierte Inbetriebnahme <strong>der</strong> Medienfassade minimiert werden.<br />
955 Wohl dosiert im Stadtraum verteilt beziehungsweise auf einen Bereich des<br />
Nachtlebens, auf bestimmte Einkaufs- und Vergnügungsstraßen konzentriert,<br />
stellen die elektronisch gesteuerten, ornamental-bildhaften <strong>Fassade</strong>n durchaus<br />
eine inhaltlich wie ästhetisch bereichernde Variante einer auch interaktiv verän<strong>der</strong>baren,<br />
dem Medienzeitalter adäquaten Architektur dar.<br />
Technisch gesehen reicht die Entstehungsgeschichte <strong>der</strong> Leuchtmittelfassade mit<br />
ihren Hauptcharakteristika Licht und Bewegung etwa hun<strong>der</strong>t Jahre zurück. Sie
268 Zeitgenössische <strong>Ornamente</strong> 269<br />
<strong>Ornamente</strong> stellen eine ebenso traditions- wie variationsreiche Möglichkeit dar,<br />
<strong>Fassade</strong>n – in den eingangs zitierten Worten des antiken Architekten Eupalinos<br />
nach Paul Valéry – »sprechen« o<strong>der</strong> »singen« zu lassen. Beim »Sprechen« findet<br />
auf sachliche o<strong>der</strong> narrative Weise die Vermittlung konkreter Inhalte statt o<strong>der</strong><br />
es werden künstlerisch-abstrakte Assoziationen transportiert. Dabei kann zum<br />
Beispiel auf die Gebäudefunktion o<strong>der</strong> die ortsspezifische Geschichte verwiesen<br />
werden. Beim »Singen« wird über den sinnlich-emotionalen Ausdruck eine Faszination<br />
<strong>der</strong> Wahrnehmung geschaffen. Beides kann fließend ineinan<strong>der</strong> übergehen<br />
und einen von Fall zu Fall unterschiedlich großen Interpretationsspielraum<br />
eröffnen. Formalästhetisch korrespondieren »sprechen« und »singen« mit<br />
<strong>der</strong> etymologisch herleitbaren doppelten Funktion des Architekturornaments,<br />
zu »ordnen« (lat. ordinare) und zu »schmücken« (lat. ornare), zu strukturieren<br />
und zu rhythmisieren.<br />
Der Rhythmus verbindet die Architektur allgemein und ihre Ornamentik im<br />
Beson<strong>der</strong>en 1019 mit Musik und Poesie. So parallelisierte <strong>der</strong> Schriftsteller, Zeichner<br />
und Maler Robert Gernhardt (1937-2006) in seinen posthum publizierten<br />
Privat-Notizen 2005 das Ornament in <strong>der</strong> Architektur mit dem Reim in <strong>der</strong><br />
Lyrik. Beiden »Künsten« sei »um die Jahrhun<strong>der</strong>twende mit moralischen Maßstäben<br />
zu Leibe gerückt« worden, in Folge <strong>der</strong>er sie durch sachlich-puristische<br />
Ausdrucksweisen ersetzt wurden. Gernhardts For<strong>der</strong>ung an die Poesie, sie solle<br />
dem menschlichen »Bedürfnis nach Reiz, Glanz und Bedeutung [<strong>der</strong> Wörter]«<br />
nachkommen, lässt sich auch auf die Architektur, auf Gebäude und <strong>Fassade</strong>n,<br />
übertragen. »Das Bedürfnis nach Krach und Wonne, sprich Reiz und Suggestion«<br />
hat dabei, Gernhardt zufolge, seit dem Beginn des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts »nicht<br />
ab-, son<strong>der</strong>n mit Sicherheit zugenommen«. 1020 Der »Reiz« aktueller Architektur-<strong>Ornamente</strong><br />
liegt in einer erhöhten visuellen Attraktion im Zuge materialund<br />
fertigungstechnischer Neuerungen. Ihr »Glanz« verstärkt die sinnlichatmosphärische<br />
Wirkung von Architektur, entspricht aber auch dem für die<br />
heutige Zeit charakteristischen, oftmals kommerziell motivierten Streben nach<br />
Ereignis (»Event«): Ein Gebäude »glänzt« mit <strong>Ornamente</strong>n, die es aus seiner<br />
Umgebung hervortreten lassen und so dem branding von Institution, Nutzer<br />
und Architekt dienen. Quasi-theatrale Inszenierungen von Architektur erfüllen<br />
– insbeson<strong>der</strong>e im Rahmen eines Event-Tourismus – das Bedürfnis nach<br />
Emotion, Atmosphäre und Ereignis, wobei die <strong>Fassade</strong> als Hauptbühne des<br />
Ornaments dient. Die »Bedeutung« von Architektur-<strong>Ornamente</strong>n liegt schließlich<br />
in ihren kommunikativen Eigenschaften und ihrem Potenzial, kulturelle<br />
Bezüge herzustellen und zu Identitätsbildung beizutragen. Beson<strong>der</strong>s den beiden<br />
von Gernhardt angeführten Aspekten »Reiz« und »Glanz« stehen die Bedie<br />
sich effektvoll im nahen Fluss spiegeln (Abb. 129). Dabei stellen die einzelnen<br />
Waben die Pixel eines digital erzeugten Graustufen-Bildes dar, das sich<br />
mit einer Geschwindigkeit von 20 Lichtwechseln pro Sekunde verän<strong>der</strong>n kann<br />
und je nach Bereich unterschiedlich stark aufgelöst wird. 1018 Bei <strong>der</strong> jeweiligen<br />
Bespielung sollen insbeson<strong>der</strong>e vor Ort arbeitende Künstler einbezogen werden.<br />
Struktur und Inhalt <strong>der</strong> Medienoberfläche korrelieren – wie auch bei <strong>der</strong> BIX-<br />
<strong>Fassade</strong> – mit <strong>der</strong> Architektur und beziehen sich auf das räumliche Gesamtkonzept<br />
und die Funktion des Gebäudes. Indem die Formensprache auf die lokale<br />
Ornamenttradition verweist und zugleich mo<strong>der</strong>ne, digitale Darstellungs- und<br />
Wahrnehmungsweisen vorführt, ermöglicht die Architektur auch eine Reflexion<br />
über die Entstehung, Festigung und Verän<strong>der</strong>ung kultureller Identitätsvorstellungen.<br />
Zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Tradition und Innovation<br />
vermittelnd, ist das Medienkunstzentrum in Córdoba somit in mehrfacher<br />
Hinsicht wegweisend für eine technisch wie inhaltlich komplexe Fortentwicklung<br />
des architektonischen Ornaments im 21. Jahrhun<strong>der</strong>t.<br />
Schlussbetrachtung