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<strong>GESS</strong>-<strong>Bildungsnews</strong><br />

vom 26. Mai 2008


Inhaltsverzeichnis<br />

Hamburger Bildungsfriede, Zeit 16.04.2008 S. 5<br />

Großer Prestigegewinn, PM 18.4. S. 9<br />

Problemfach Mathe, Focus Schule 22.4. S. 10<br />

Sechsjährige Grundschule: Mehr Zeit für alle, SZ 21.4. S. 11<br />

Privatschulen: Das Geschäft mit der Bildung, Focus Schule 20.4. S. 13<br />

Unglücksfall und Chance, Zeit 23.4. S. 16<br />

Grundschulen brauchen bessere Lehrer, Welt 23.4. S. 18<br />

Studie: Österreichs Jugend leidet unter Druck in der Schule; Standard 21.4. S. 20<br />

Was gute Bildung kostet, Wirtschaftswoche 22.4. S. 21<br />

Hamburger Schulsenatorin kündigt Sommerschule an, PM 24.4. S. 26<br />

Sechsjährige Grundschule: Gymnasium für alle?, SZ 28.4. S. 27<br />

"60.000 Sitzenbleiber sind zuviel!", PM 30.04. S. 29<br />

Gruppenunterricht: Tückische Teamarbeit, Focus Schule 30.4. S. 30<br />

Hessischer Landkreistag: Land soll sich von Lehrern trennen, FR 2.5. S. 32<br />

Legasthenie - medizinisch anerkannt, pädagogisch in Frage gestellt?, PM 29.4. S. 33<br />

Warum Jungen es in der Schule schwerer haben, Welt 28.4. S. 35<br />

2


PISA-CHAMPION FINNLAND: Eine Idylle mit kleinen Rissen, S. 38<br />

Spiegel online 28.4.<br />

Reform ohne Brechstange, Zeit 24.4. S. 40<br />

Reformvorschläge: Unterrichtsgarantie a. D., FR 28.4. S. 43<br />

Nach der Grundschule braucht jeder Vierte Nachhilfe, AP 5.5. S. 45<br />

Deutschland sucht den Superlehrer, Focus Schule 5.5. S. 46<br />

"Wir müssen Leistungsträger befördern", PM 5.5. S. 49<br />

Auslese im Schulsystem verschlingt Millionen, PM 7.5. S. 50<br />

Grundschule: Kritik an Vergleichstests, Focus Schule 7.5. S. 52<br />

Eltern nicht geeignet, telepolis 6.5. S. 53<br />

Sitzenbleiben? Wird abgeschafft!, Welt 4.5. S. 55<br />

"Wir leben nur noch für die Schule", Hamburger Abendblatt 10.5. S. 58<br />

Die falschen Studenten werden Lehrer, Financial Times Dt. 13.5. S. 59<br />

Verzweifelt gesucht / Grund- und Hauptschulen fehlt es an Rektoren, S. 61<br />

Parlament 13.5.<br />

Schulabbrecher: Länder sollen fördern oder zahlen, Zeit 13.5. S. 62<br />

Bildungschancen nur für Reiche?, ZDF 11.5. S. 63<br />

Kindergärtner-Akademiker: Die Erzieherausbildung in Großbritannien, S. 64<br />

Deutschlandfunk 16.5.<br />

3


15 Gymnasiasten auf einen Hauptschüler, FAZ 16.5. S. 66<br />

Schulstunden: Längerer Unterricht, weniger Stress, Focus Schule 20.5. S. 67<br />

Angeordnete Halbierung der Sitzenbleiberquote führt zu besseren Noten, S. 68<br />

aber nicht zu einer Qualitätssteigerung, PM 23.5.<br />

Schulsystem benachteiligt arme Kinder, PM 20.5. S. 69<br />

CHANCENUNGLEICHHEIT: S. 71<br />

"Bildung ist keine Wunderwaffe gegen Armut", Spiegel 20.5.<br />

4


Hamburger Bildungsfriede, Zeit 16.4.<br />

In Hamburg verhandeln CDU und Grüne über eine Koalition. Findet ausgerechnet<br />

Schwarz-Grün Wege aus den Grabenkämpfen des mehr als 30jährigen<br />

deutschen Schulkriegs? CDU und Grüne, in Hamburg heißen sie Grün-<br />

Alternative Liste (GAL), wollen erst ganz am Ende ihrer Koalitionsverhandlungen,<br />

am 31. März, über das wichtigste und vielleicht schwierigste<br />

Thema reden: Schule. Doch ein Gerüst für Umbauten im Schulsystem wurde<br />

bereits bei der ersten Sondierung aufgestellt. Wichtigster Punkt: Die Kinder<br />

sollen nicht mehr am Ende der vierten Klasse in Hauptschüler, Realschüler oder<br />

Gymnasiasten eingeteilt werden. Sie sollen bis zum Ende des sechsten Schuljahrs<br />

zusammen unterrichtet werden. Außerdem wird ein kostenloses und verpflichtendes<br />

Vorschuljahr, gewissermaßen eine Klasse null, eingeführt, um mit<br />

der Förderung aller Kinder früher zu beginnen. Konsens gibt es grundsätzlich<br />

sogar über die Notwendigkeit eines Kulturwandels. Von Anfang an sollen die<br />

Schulen mehr Aufmerksamkeit für jedes einzelne Kind aufbringen. Revolutionär<br />

für Deutschland wäre es, wenn, wie geplant, jede Schule für den Bildungsweg<br />

ihrer Schüler verantwortlich würde. Sich schwieriger Schüler durch „Querversetzen“<br />

zu entledigen, zum Beispiel vom Gymnasium zur Realschule, wäre dann<br />

keine Option mehr. Auch das Abschaffen des Sitzenbleibens steht auf der<br />

Agenda. Ohne solche Aussichten hätten die GAL-Koalitionsgespräche gar nicht<br />

erst aufgenommen. Dass die Hauptschulen auslaufen und das dreigliedrige<br />

Schulsystem in Hamburg in die beiden Säulen Gymnasium und Stadtteilschule<br />

umgewandelt werden soll, hat die CDU ohnehin schon beschlossen. Die GAL<br />

will eine Gemeinschaftsschule bis zum 9. Schuljahr, aber sie weiß, dass dieses<br />

große Unterfangen Zeit braucht. Kaum ist dieser Horizont geöffnet, da verdunkelt<br />

er sich schon wieder. Ein Aufschrei kommt aus den Schulen: Wohin<br />

denn mit den Kindern der dann siebenjährigen Grundschule? Schon die Gebäudegrößen<br />

machten einen ersten Strich durch die Rechnung. Mit der Vorschule<br />

und den Klassen 5 und 6 würde die Grundschule ja nahezu verdoppelt,<br />

und dafür reiche nirgendwo der Platz. Die Vorschule für jedes Kind macht<br />

Kindergärten Angst. Werden sie zugunsten der Schule um eine Jahr reduziert?<br />

Wird die Kindheit verschult? Es wäre ja nicht das erste Mal, dass sich hohe<br />

Pläne vor einer Wirklichkeit blamieren, die immer facettenreicher und unberechenbarer<br />

ist, als es sich die Steuerleute oben auf der Brücke vorstellen<br />

können. „Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt.“ Am Ende behält<br />

Wilhelm Busch recht, es sei denn, Politikern gelingt es endlich, nicht mehr<br />

wie eine allwissende Zentrale die widerspenstige Realität zu traktieren und stattdessen<br />

deren Komplexität in ihre Strategie einzubauen. Das könnte die Herausforderung<br />

für Schwarz-Grün sein, und in keinem Bereich wäre diese Revision<br />

der politischen Grammatik so nötig und auch so greifbar wie in der Bildung. In<br />

Hamburg bekommt dieses Umsteuern jetzt eine Chance. Christa Goetsch, die<br />

Spitzenkandidatin der GAL und im Fall einer schwarz-grünen Koalition in<br />

Hamburg künftige Schulsenatorin und zweite Bürgermeisterin, hat diese Auf-<br />

5


gabe offenbar verstanden. Schon in der ersten Konsultation mit der CDU versteifte<br />

sie sich nicht, wie in der Presse kolportiert, auf eine sechs- bzw. siebenjährige<br />

Grundschule. Ihr nicht verhandelbares Credo lautet, die Kinder nicht<br />

mehr so früh auf starre Lebensgleise zu stellen. Die Koalitionsbedingung der<br />

Grünen, die gemeinsame Lernzeit wenigstens bis ans Ende des sechsten Schuljahrs<br />

auszudehnen, so Goetsch, könne auf verschiedenen Wegen verwirklicht<br />

werden. Warum sollten Grundschulklassen nicht schon früher in Schulen<br />

wechseln, die bisher noch Gesamtschule, Gymnasium, Haupt- oder Realschule<br />

heißen, wenn die Kinder weiter zusammenbleiben? Schulen, die bereits kooperieren,<br />

könnten „Tandemschulen“ bilden und langsam zu Schulnetzen zusammenwachsen.<br />

Andere würden mit den neuen politischen Vorgaben zu kooperieren<br />

beginnen. Goetsch und ihre grünen Mitstreiter, die der CDU-<br />

Fraktionsvorsitzende Michael Freytag „klug, pfiffig und voll inhaltlicher<br />

Leidenschaft“ nennt, suchen neue Handlungsfelder für die Schulentwicklung,<br />

zum Beispiel Schulkonferenzen in den Stadtteilen. Bisher ist es ja eher der<br />

Normalfall, dass benachbarte Schulen nicht miteinander reden. Ein Gymnasiallehrer<br />

weiß von den Grundschullehrern, die seine Fünftklässler bisher unterricht<br />

haben, gewöhnlich nichts. Welcher Oberstudiendirektor trinkt mit dem Hauptschulrektor,<br />

bei dem viele seiner „Rückläufer“ Jahr für Jahr landen, mal einen<br />

Tee oder Kaffee? Gegen den Plan, solche Vernetzungen zur Dienstpflicht der<br />

pädagogischen Beamten zu erklären, wird die CDU nichts einzuwenden haben.<br />

Wie dafür Anreize und ein einladendes Klima geschaffen werden, müssen alle<br />

Politiker allerdings erst noch lernen. Mit Schulkonferenzen in den Stadtteilen,<br />

mit Tandemschulen und einem tragfähigen Netzwerk könnte sich diese<br />

Koalition dem grünen Ziel einer Gemeinschaftsschule nach skandinavischem<br />

Vorbild vielleicht schneller nähern, als es mit einer rot-grünen Koalition, die<br />

„Eine Schule für alle“ proklamiert hätte, möglich gewesen wäre. Hätten sich die<br />

verwandten Roten und Grünen nicht schon bald im Bruderstreit verzankt? Und<br />

keine Panne wäre vor den Schlagzeilen im Hamburger Abendblatt sicher, dieser<br />

heimlichen Appellationsinstanz aller Politik in Hamburg. Risikobereitschaft und<br />

Fehlertoleranz, unverzichtbare Begleiter von Veränderungen, würden unter dem<br />

zu erwartenden Trommelfeuer auf die „rot-grüne Einheitsschule“ nachlassen.<br />

Gelingt es hingegen Schwarz-Grün, die Entscheidungsmöglichkeiten von<br />

Lehrern, Eltern und auch von Schülern zu erweitern und neue Leidenschaft für<br />

die Schule zu entfachen, könnten sie dann nicht zusammen mit engagierten<br />

Handwerkern, Unternehmern und Künstlern bald damit anfangen, aus Schulen<br />

irdische Kathedralen ihres Stadtteils zu machen? So wäre aus Schwierigkeiten<br />

etwas Unerwartetes, ganz Neues entstanden. Wilhelms Buschs Maxime wäre<br />

dann nicht nur eine Drohung, sondern auch ein Versprechen. Ein Vierteljahrhundert<br />

nach Häuserkampf, Auseinandersetzungen vor Atomkraftwerken und<br />

„Keine Macht für niemand“ – Parolen entdecken Schwarze und Grüne manche<br />

Verwandtschaft. Der Anspruch der Grünen, die so genannte Basis stärker einzubinden,<br />

und die Vorliebe der CDU für das „Subsidiäre“, also alles, was von<br />

Bürgern selbst gemacht werden kann, nicht dem Staat zu übertragen, ist ein<br />

6


Schnittpunkt. Aber gelingt es ihnen daraus handlungsfähige Politik zu machen?<br />

Christa Goetsch hat das Zeug dazu, die Seele einer Schulreform von unten, die<br />

von oben gestützt wird, zu werden. Wer ist diese Frau? Fast 20 Jahre war sie<br />

Lehrerin an der Theodor Haubach Schule, einer über Hamburg hinaus bekannten<br />

Haupt- und Realschule. Dort wird nicht lange in der Behörde nachgefragt, wenn<br />

es darum geht, Ideen in Taten umzusetzen. Goetsch gehört zu jenen grünen<br />

Realpolitikern, die einerseits wissen, dass die Gesellschaft mehr und mehr auf<br />

die Selbstregulierung von Menschen angewiesen sein wird, die nicht an<br />

Marionettenfäden hängen wollen, die aber anderseits gelernt haben, dass es ohne<br />

die Struktur und Verlässlichkeit von Institutionen nicht geht. Für die Erneuerung<br />

des Bildungssystems sind Goetsch die skandinavischen Länder ein Vorbild.<br />

Bereits in den vergangenen Jahrzehnten wurden dort die Entscheidungen von<br />

der nationalstaatlichen Zentrale weitgehend an die Schulen und Kommunen gegeben.<br />

Aufgabe des Zentralstaates wurde es, für Ressourcen, Evaluationen und<br />

Beratung zu sorgen. In Finnland wurde die zentralstaatliche Schulaufsicht völlig<br />

abgeschafft. Das Ministerium und das Zentralamt für das Unterrichtswesen in<br />

Helsinki sehen seitdem ihre Aufgabe darin, das Bildungswesen zu einem<br />

lernenden System umzubauen. Vielleicht ist die spezifische Mischung aus Verwandtschaft<br />

und Fremdheit zwischen Grünen und Schwarzen ihre besondere<br />

Chance. Wenn sich zeigt, dass die Schulen besser werden, wird niemand mehr<br />

hinter diesen Stand zurückwollen. Wenn Schulen mehr Freiheit bekommen,<br />

könnten sie auch anders zur Verantwortung gezogen werden als im bisherigen<br />

Zentralismus, in dem ja die Verantwortung für alles und jedes nach oben<br />

delegiert wird. Waren die Pisaergebnisse schlecht, meinte man häufig in den<br />

Kollegien, diese Quittung erhalte die Behörde ganz zu Recht, als ginge es den<br />

Lehrern nicht um ihre eigenen Schüler. Ihrem eigenen Unterricht haben Lehrer<br />

die Misere, wie Befragungen zeigen, zuletzt zugeschrieben. Schulen, die mehr<br />

Verantwortung übernehmen, müssten die Frage, was aus ihren Schülern geworden<br />

ist, beantworten können. Oder was wissen die Jugendlichen von all dem<br />

Gelernten noch zwei Jahre nach ihrem Abschluss? Sind sie aktiv und lebenshungrig<br />

geworden oder haben sie in neun oder 13 Jahren gelernt, sich als<br />

Untermieter im System irgendwie durchzulavieren? Der Streit um das<br />

Gymnasium, bisher eine Sollbruchstelle bei Verständigungsversuchen zwischen<br />

Schwarzen und Grünen, könnte endlich entschärft werden, wenn auf den Alltag<br />

geblickt würde, statt ideologische Debatten zu führen. Das Gymnasium ist in<br />

den bürgerlichen Wohnquartieren faktisch die real existierende Gesamtschule<br />

geworden, die Schule der Mehrheit. Haupt- und Realschulen führen dann mehr<br />

und mehr ins Abseits. Die Verelendung am breiter werdenden Rand der Gesellschaft<br />

wird bald eines der wichtigsten Themen sein. Mit dem Vokabular eines<br />

„begabungsgerechten“ Schulsystems sind solche Prozesse nicht mehr zu fassen.<br />

Auch der Irrglaube in mancher Gesamtschule, dass Kinder eigentlich zu<br />

schützende Opfer einer durch und durch falschen Gesellschaft seien, kann jetzt<br />

endlich gemeinsam mit anderer Folklore des mehr als 30-jährigen deutschen<br />

Bildungskriegs aufgegeben werden. Kann dieses Aufräumen und die Heilung<br />

7


deutscher Wunden Schwarz-Grün gelingen? Ein Blick nach Frankfurt am Main<br />

zeigt, dass dieses Vorhaben glücken kann. Seit Mai 2006 regiert Schwarz-Grün<br />

im Römer, dem Frankfurter Rathaus. Neben Oberbürgermeisterin Petra Roth<br />

(CDU) ist Jutta Ebeling von den Grünen die zweite Bürgermeisterin, unter<br />

anderem für die Schulen zuständig. Die 68erin kommt aus der Frankfurter<br />

Studentenrevolte, war zwölf Jahre Lehrerin und schwärmt heute von der neuen<br />

Liaison. „Das hat die CDU erheblich zivilisiert.“ Nur die CDU? „Nein, die<br />

Grünen auch. Wir sind aus unseren Gräben herausgekommen.“ Sie hatte nicht<br />

geglaubt, dass die ursprüngliche Notkoalition im Römer zwei Jahre halten<br />

würde und dass sie mit der CDU zum Beispiel Pläne für vier neue Gesamtschulen<br />

auf den Weg hätte bringen können - bisher allerdings gegen den Widerstand<br />

des CDU- geführten Wiesbadener Kultusministeriums. Petra Roth und<br />

Jutta Ebeling duzen sich neuerdings und laden sich gegenseitig nach Hause zum<br />

Essen ein. „Es ist richtig nett geworden“, sagt die Grüne. Dass sich Schwarz-<br />

Grün in Hamburg in Nettigkeiten erschöpfen könnte, ist nicht zu befürchten.<br />

Dort wird nicht nur Kommunalpolitik gemacht. In der Bürgerschaft, dem<br />

Landesparlament, werden Gesetze verabschiedet. Hamburg hat wie alle Bundesländer<br />

die Bildungshoheit. In der Hansestadt könnte ein erweiterter, zivilgesellschaftlicher<br />

Politikraum entstehen, in dem gerade Probleme, die nicht lösbar<br />

scheinen, als Treibsatz genutzt werden. „Problems are our friends“, sagt<br />

Michael Fullan, Erziehungswissenschaftler und Innovationstheoretiker aus<br />

Toronto. Wenn das ein Motto für Schwarz-Grün würde, könnte es richtig<br />

spannend werden.<br />

8


Großer Prestigegewinn, PM 18.4.<br />

„Hier sind einige Berufe aufgeschrieben. Könnten Sie bitte die fünf davon<br />

heraussuchen, die Sie am meisten schätzen, vor denen Sie am meisten Achtung<br />

haben?“ lautet die Frage, mit der das Institut für Demoskopie Allensbach zu<br />

Beginn des Jahres das Prestige von 17 ausgewählten Berufen ermittelt hat. Auf<br />

den vorderen drei Plätzen liegen wie in den Vorjahren Ärzte, Geistliche sowie<br />

Professoren. Bereits auf Platz vier folgt die Berufsgruppe, die seit der letzten<br />

Umfrage 2003 gemeinsam mit den Ärzten den höchsten Prestigegewinn verzeichnen<br />

konnte: Um 6 Prozent wuchs das Ansehen der Grundschullehrkräfte.<br />

33 Prozent der Befragten attestierten den Lehrkräften höchste Achtung. Damit<br />

mussten sie sich den Hochschullehrern (34 Prozent) nur knapp geschlagen<br />

geben. Das niedrigste Ansehen unter den zur Auswahl stehenden Berufen<br />

kommt den Buchhändlern zu. Nur 5 Prozent beträgt der Anteil derjenigen, die<br />

diese Berufsgruppe hoch achten.<br />

9


Problemfach Mathe, Focus Schule 22.4.<br />

Zwei Drittel der deutschen Schüler haben Schwierigkeiten in Mathematik.<br />

Schuld daran sollen laut einer Umfrage die Mathe-Lehrer sein. Algebra und<br />

Geometrie rangieren bei den meisten Schüler auf der Liste der Lieblingsaktivitäten<br />

nicht sehr weit oben. Das hatten die Forscher am Zentrum für empirische<br />

pädagogische Forschung (zepf) in Landau wohl auch nicht anders erwartet, als<br />

sie anlässlich des Jahres der Mathematik eine Studie zum Horrorfach vieler<br />

Schüler durchführten. Dass die Ergebnisse den Ruf von Mathematik als<br />

Problemfach allerdings so stark bestätigen würden, war nun doch eine Überraschung:<br />

Mehr als 65 Prozent der befragten Schülerinnen und Schüler gaben in<br />

der Umfrage des aktuellen Bildungsbarometers an, Schwierigkeiten in<br />

Mathematik zu haben. Die Studie liefert auch gleich den mutmaßlichen Grund<br />

für diese Lernschwierigkeiten: Schuld am Bildungsnotstand sollen die<br />

Pädagogen sein. 31,5 Prozent der Schüler bewerteten die Fähigkeit ihrer Lehrer,<br />

mathematische Inhalte erklären zu können, höchstens mit der Schulnote vier.<br />

Ein niederschmetterndes Ergebnis. Vor allem, da die Kollegen anderer Fachbereiche<br />

in der Umfrage erstaunlich gut abschnitten: Über die Hälfte der Schüler<br />

sagte, dass ihre Lehrer generell gut bis sehr gut erklären könnten. Die am<br />

Bildungsbarometer beteiligte Wissenschaftlerin Doris Jäger-Flor fordert als<br />

Konsequenz aus der Studie, dass Kindern schon frühzeitig der Zugang zur<br />

Mathematik erleichtert werden müsse. „Hierbei sind didaktische Kompetenzen<br />

gefragt“, so Jäger-Flor. Wichtig für den Erfolg sei dabei vor allem, dass die<br />

Inhalte kind- und jugendgerecht dargestellt würden. Genau daran scheint es im<br />

Moment noch zu hapern. Professor Reinhold Jäger, Leiter des zepf, rät deshalb<br />

zu einer engeren Verknüpfung von Fachwissenschaft und pädagogischer Vermittlung.<br />

„Die Umstellung der bisherigen Lehramtsstudiengänge in Bachelor<br />

und Master bietet hierbei eine große Chance. Wenn diese Chance vertan und<br />

zugleich versäumt wird, durch ein entsprechendes Qualitätsmanagement an den<br />

Hochschulen das Können der künftigen Lehrkräfte zu kontrollieren und zu verbessern,<br />

dann wird in der Bundesrepublik eine historische Perspektive verspielt“,<br />

sagte der Forscher. Für Schüler, die bereits den Anschluss verloren<br />

haben, sehen die Befragten den Ausweg aus dem Lerndilemma wie so oft im<br />

außerschulischen Bereich: 40 Prozent halten Nachhilfe für eine geeignete Maßnahme,<br />

um die Schwierigkeiten im Problemfach in den Griff zu bekommen. Der<br />

Erfolg gibt ihnen Recht: Mehr als 84 Prozent der Schüler, die bereits Nachhilfe<br />

in Mathematik genommen haben, meinten, ihre Noten dadurch verbessert zu<br />

haben.<br />

10


Sechsjährige Grundschule: Mehr Zeit für alle, SZ 21.4.<br />

In Hamburg soll es künftig eine sechsjährige Grundschule geben. Doch Wissenschaftler<br />

sind sich alles andere als einig, ob eine längere gemeinsame Schulzeit<br />

der richtige Weg zu größerem Bildungserfolg ist. Wenn darüber debattiert wird,<br />

ob Schüler bereits nach zwölf oder erst nach 13 Schuljahren Abitur machen<br />

sollten, betonen Politiker, zwölf Jahre seien in Europa Standard. Nach diesem<br />

Argument müssten nun alle Bundesländer dem Beispiel der schwarz-grünen<br />

Koalition in Hamburg folgen, die die Grundschulzeit verlängern will. Denn auch<br />

längeres gemeinsames Lernen ist europäischer Standard. Eine Aufteilung der<br />

Schüler bereits im Alter von zehn Jahren gibt es so nur noch in Österreich. Die<br />

OECD hat Deutschland gerade erst wieder ermahnt, den Zeitpunkt zur Trennung<br />

der Schüler zu verschieben, um die Bildungschancen von Kindern aus<br />

(bildungs-)armen Familien zu verbessern. Viele Grundschulpädagogen klagen<br />

seit langem, vier Grundschuljahre seien zu kurz. Bereits in der dritten Klasse<br />

laste ein enormer Druck auf den Kindern, den Wechsel auf ein Gymnasium zu<br />

schaffen. Auch von Eltern kommen solche Klagen. Diejenigen, deren Kinder es<br />

auf Gymnasien geschafft haben, wollen dann allerdings vom gemeinsamen<br />

Unterricht mit Leistungsschwächeren oft nichts mehr wissen. In Berlin, wo<br />

sechs Jahre Grundschule seit jeher die Regel sind, sorgen sich viele, ihr Kind<br />

könnte zu wenig lernen. Sie drängen deshalb zunehmend an Gymnasien, die die<br />

Kinder ausnahmsweise auch schon nach der vierten Klasse besuchen können.<br />

Der vorzeitige Wechsel soll vor allem dazu dienen, die humanistischen<br />

Gymnasien in Berlin zu erhalten, die frühzeitig in die alten Sprachen einführen<br />

wollen. Zweifel an der sechsjährigen Grundschule nährt nun auch eine Studie<br />

des Bildungsforschers Rainer Lehmann, der im Auftrag des Berliner Senats die<br />

Leistungen Tausender Grundschüler und Gymnasiasten verglichen hat. In der<br />

"Element-Studie" verfolgt der Professor von der Humboldt-Universität die Lese-<br />

und Mathematikleistungen von der vierten bis zum Ende der sechsten Klasse.<br />

Sein Ergebnis: Bei gleicher Ausgangslage lernen Berlins Schüler an Gymnasien<br />

deutlich mehr als an Grundschulen. Leistungsstarke würden in der Grundschule<br />

nicht ausreichend gefördert; am Gymnasium hingegen sei der Lernfortschritt<br />

auch bei Schwächeren groß. Der Philologenverband sieht die Studie als "eindeutigen<br />

Beweis" für ein Scheitern der sechsjährigen Grundschule. Bisher gibt<br />

es aber nur Äußerungen Lehmanns, die Studie selbst ist noch nicht publiziert,<br />

dem Berliner Senat als Auftraggeber liegt sie erst seit wenigen Tagen vor. Dort<br />

ist man ungehalten über Lehmanns Vorpreschen, mit dem er in Hamburgs<br />

aktuelle Debatte eingreift. Lehmanns Studie macht auf Defizite der Berliner<br />

Grundschule aufmerksam. Doch für eine grundsätzliche Antwort auf die Frage<br />

nach der optimalen Grundschuldauer halten sie viele Bildungsforscher von der<br />

Anlage her für ungeeignet. Denn Lehmann hat eben nicht ein System, in dem<br />

alle Schüler nach vier Jahren aufgeteilt werden, mit einem System verglichen, in<br />

dem dies später geschieht. Er bezieht sich stattdessen auf eine erlesene,<br />

leistungsstarke Gruppe, die innerhalb des sechsjährigen Systems vorzeitig auf<br />

11


Gymnasien ausweicht. Ein eindeutiges Votum für oder gegen sechs Jahre<br />

Grundschule in Deutschland sei derzeit wissenschaftlich nicht möglich, betonen<br />

sowohl Jürgen Baumert als auch Olaf Köller. Es handle sich um eine politische<br />

Frage. Baumert ist Direktor am Max- Planck-Institut für Bildungsforschung in<br />

Berlin, Köller leitet das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen.<br />

Was man aus vorliegenden Studien aber weiß: Empfehlungen und Entscheidungen<br />

zum Übertritt nach der vierten Klasse sind sehr fehleranfällig.<br />

Migranten und Kinder aus (bildungs-)armen Familien haben es selbst bei<br />

gleichen Fähigkeiten schwerer, auf ein Gymnasium zu kommen, als ihre Mitschüler.<br />

Dies könnte jedoch auch nach sechs Jahren Grundschule noch so sein.<br />

Aus den Pisa-Studien weiß man außerdem, dass in Berlin und Brandenburg, wo<br />

die Grundschulzeit sechs Jahre beträgt, der Einfluss des Elternhauses auf die<br />

Schulleistungen der 15-Jährigen geringer ist als in anderen Bundesländern. Dies<br />

deutet auf ausgleichende Effekte der Grundschule hin. Die durchschnittlichen<br />

Leistungen in Berlin und Brandenburg sind dafür jedoch auch viel schlechter als<br />

etwa in Bayern oder Sachsen. Staaten wie die Schweiz, Finnland oder Kanada<br />

wiederum zeigen, dass Schulen, in denen alle Kinder sechs Jahre oder noch<br />

länger zusammenbleiben, durchaus zu sehr guten oder sogar exzellenten<br />

Leistungen führen können. Als Schlüssel dafür gelten eine hohe Professionalität<br />

der Lehrer und Unterrichtsmodelle, die sowohl die Starken als auch die<br />

Schwachen besonders fördern. Genau darin sehen Schulexperten noch große<br />

Defizite in Deutschland.<br />

12


Privatschulen: Das Geschäft mit der Bildung, Focus Schule 20.4.<br />

Wer es sich leisten kann, schickt sein Kind auf private Grundschulen und<br />

Gymnasien. Erfüllt sich die Hoffnung, dass sie besser sind als die staatlichen?<br />

Für Yasmin von Hugo und ihren Mann ist es eine sinnvolle Investition: Mehrere<br />

Hundert Euro zahlt die Familie im Monat für die private Grundschule, die Sohn<br />

Nicolas, 7, in Frankfurt am Main besucht. Geboten werden zweisprachiger<br />

Ganztagsunterricht und kleine Klassen mit jeweils zwei Lehrkräften. „Natürlich<br />

ist das nicht ganz billig, aber dafür bekommt Nicolas eine hervorragende Ausbildung“,<br />

sagt seine Mutter. Aber auch Yasmin von Hugos Wünsche spielten bei<br />

der Entscheidung eine Rolle: Ohne Ganztagsbetreuung könne sie nach acht<br />

Jahren Kinderpause nicht wieder in ihren Beruf als Bankkauffrau zurückkehren,<br />

argumentiert die 44-jährige Mutter von drei Söhnen. Die Nachfrage steigt. Seit<br />

1995 nahm die Zahl der Schüler an Privatschulen um 41,7 Prozent zu. Über 650<br />

000 Kinder und Jugendliche besuchten im Schuljahr 2006/07 eine Schule in<br />

privater Trägerschaft. Der Bundesverband Deutscher Privatschulen (VDP) geht<br />

davon aus, dass 20 Prozent der Eltern ihre Kinder lieber auf eine private Schule<br />

geben würden. Doch das Angebot hinkt der Nachfrage noch immer hinterher.<br />

Laut Grundgesetz kann jeder eine Schule gründen. Die größten Privatschulbetreiber<br />

in Deutschland sind derzeit die christlichen Kirchen, gefolgt von den<br />

Waldorfschulen. Neben den etablierten Anbietern mischen aber auch<br />

Prominente wie TV-Moderator Jörg Pilawa oder Pop-Sängerin Nena am<br />

Bildungsmarkt mit. Die von ihnen jeweils in Hamburg initiierten Schulen folgen<br />

den Modellen von Montessori (Pilawa) und Sudbury (Nena). Letzteres stammt<br />

aus den USA und stellt den Schülern weitgehend frei, was sie wie lange lernen<br />

wollen. Nicht nur pädagogischer Idealismus treibt die Schulgründungen voran,<br />

sondern auch Gewinnstreben. „Wir wollen in spätestens sieben Jahren ein<br />

positives Ergebnis haben. Rendite haben wir allerdings unseren Investoren nicht<br />

versprochen – dafür eine Wertsteigerung des eingesetzten Kapitals“, sagt Béa<br />

Beste, Vorstandsvorsitzende der Berliner Phorms AG. Unter den etwa 30 Geldgebern<br />

finden sich wichtige Konzernlenker wie Sony-BMG-Chef Rolf Schmidt-<br />

Holtz. Acht Millionen Euro steckten die Investoren in das bilinguale Schulmodell,<br />

weitere 14 Millionen sollen über einen Fonds eingesammelt werden.<br />

Das 2005 gegründete Unternehmen hat ehrgeizige Ziele: In den nächsten Jahren<br />

will es 40 bis 50 Schulen in deutschen Ballungszentren und Filialen im Ausland<br />

eröffnen. Seit Sommer 2006 betreibt die Phorms AG eine Grundschule in<br />

Berlin, eine weitere soll noch in diesem Jahr starten. 2007 Jahr kamen Frankfurt,<br />

München und Köln dazu sowie ein Gymnasium in Berlin. Kürzlich wurde eine<br />

Grundschule in Hannover genehmigt, der Antrag in Hamburg wird derzeit von<br />

der Schulbehörde geprüft. Das Zielpublikum ist klar: zahlungskräftige und<br />

wechselwillige Mittelschichtfamilien wie Yasmin von Hugo und ihr Mann. Sohn<br />

Nicolas besucht die erste Klasse des Frankfurter Ablegers. „Uns ist wichtig, dass<br />

der soziale Mix stimmt. Wir wollen nicht nur eine Schule für Kinder reicher<br />

Eltern schaffen“, erklärt Phorms-Chefin Béa Beste. Der monatliche Elternbei-<br />

13


trag – zwischen 220 und 840 Euro – ist gestaffelt nach dem Einkommen. Für<br />

mittellose Schüler seien Stipendien geplant. Ob damit eine sozial ausgewogene<br />

Schülerschaft erzielt wird, bleibt fraglich. Schließlich könnte eine homogene<br />

Klassenstruktur für die zahlende Kundschaft ein nicht zu unterschätzendes Entscheidungskriterium<br />

sein. Darf man mit Schulen Geld verdienen? Über diese<br />

Frage wird gestritten. Selbst das Sprachrohr der Privatschulen, der VDP, geht<br />

auf Distanz. „Mit der Gewinnorientierung haben wir ein Problem“, räumt Geschäftsführer<br />

Christian Lucas ein. Der Verband prüft daher die von der Phorms<br />

AG beantragte Aufnahme sehr genau. Begründung: Schulen in privater Trägerschaft<br />

sind gemeinnützig – sie dürfen keinen Gewinn erwirtschaften. Diese<br />

Hürde umgeht die Phorms AG mit einem cleveren Geschäftsmodell. Sie gründet<br />

an den Standorten der Schulen Tochterunternehmen, meist gemeinnützige<br />

GmbHs. Von ihnen kassiert sie Zinsen für vorgestrecktes Geld, die Aktiengesellschaft<br />

fungiert also quasi als Bank. Des Weiteren bietet sie gegen<br />

Rechnung Serviceleistungen an, etwa Personalmanagement, Lehrplanentwicklung<br />

oder die Buchhaltung. So marktwirtschaftlich dieses Modell klingt –<br />

Schule in Deutschland funktioniert anders. Schließlich trägt der Steuerzahler den<br />

Großteil der Kosten – auch bei privaten Schulen. Diese erhalten in der Regel<br />

Zuschüsse zwischen 60 und 70 Prozent dessen, was eine staatliche Schule<br />

kosten würde. Allerdings oft erst nach einer Karenzzeit von drei Jahren – je nach<br />

Bundesland. Eine Ausnahme bildet Nordrhein-Westfalen, das vom ersten Tag an<br />

94 Prozent der Kosten übernimmt. Die Subventionen decken bei den Privatschulen<br />

auf Grund des höheren Personalbedarfs aber meist nur 60 Prozent der<br />

Kosten. Den Rest müssen die Eltern tragen. „Ganz ohne Subventionen würde es<br />

nicht funktionieren“, sagt Phorms-Gründerin Beste. Sonst würde das Schulgeld<br />

selbst für Gutverdiener zu teuer. Außerdem können private Schulen nicht tun<br />

und lassen, was sie wollen. Selbst wenn sie keine Steuergelder in Anspruch<br />

nähmen, unterstünden sie der staatlichen Schulaufsicht. Das heißt, die Lehrpläne<br />

müssen sich an ministeriellen Vorgaben orientieren. Umgesetzt werden dürfen<br />

sie dann nach den Vorstellungen der Schulen. Abschlussprüfungen müssen bei<br />

„genehmigten Ersatzschulen“ extern abgelegt werden. Trotz aller Einschränkungen<br />

ist der Versuch, mit Schulen Geld zu verdienen, in Deutschland<br />

nicht neu. Bereits 2004 gründete die in Dubai beheimatete Gems-Gruppe in<br />

Berlin eine internationale Schule – weitere Großstädte sollten folgen. Die<br />

Gruppe betreibt Schulen im Nahen Osten, in Indien und Großbritannien. Mit<br />

durchschnittlich 1000 Euro monatlich lag das Schulgeld in Berlin eher auf Ölscheich-Niveau<br />

– der Versuch scheiterte. Die Schule gibt es zwar noch, aber<br />

unter neuem Management. „Man wird abwarten müssen, ob sich Modelle wie<br />

Phorms langfristig durchsetzen werden“, warnt Manfred Weiß vom Deutschen<br />

Institut für Internationale Pädagogische Forschung in Frankfurt am Main. So<br />

hätten sich etwa die hoch gesteckten Erwartungen an die US-Bildungskette<br />

Edison Schools, die sogar an der Börse notiert war, nicht erfüllt. Der Aktienkurs<br />

brach 2002 dramatisch ein, das Unternehmen wurde ein Jahr später vom Kurszettel<br />

genommen. Das scheint andere aber nicht davon abzuhalten, ihr Geschäft<br />

14


mit der Bildung auszubauen. So gründet die SIS Swiss International School –<br />

ein gemeinsames Unternehmen des Schulbuchverlags Klett und der Schweizer<br />

Kalaidos Bildungsgruppe – zum Schuljahr 2008/09 eine bilinguale Ganztagsschule<br />

in Fellbach bei Stuttgart. Die Eidgenossen bringen eine Menge Erfahrung<br />

in die Partnerschaft mit ein. Seit 1999 betreiben sie in ihrer Heimat erfolgreich<br />

zweisprachige Ganztagsschulen mit internationaler Ausrichtung. „Der Bedarf an<br />

bilingualen Schulen ist groß“, sagt Klett- Vorstandsmitglied Philipp Haußmann.<br />

Mit zwei weiteren Standorten in Bayern und Baden-Württemberg gibt es bereits<br />

Verhandlungen, dort sollen im nächsten Jahr Schulen eröffnet werden. „Wir<br />

setzen dabei auf mittelgroße Städte in wirtschaftsstarken Regionen“, erläutert<br />

Haußmann. Pro Jahr sollen zwei neue Schulen hinzukommen. Die Gebühren<br />

werden anders als beim Mitbewerber Phorms nicht nach dem Einkommen der<br />

Eltern gestaffelt – zwischen 500 und 600 Euro wird die „Flatrate“ für den Ganztagsplatz<br />

kosten. Als Konkurrenz zu den staatlichen Schulen sieht Haußmann<br />

die SIS nicht, eher als Impulsgeber: „Der Staat wird reagieren müssen, dadurch<br />

entsteht eine Dynamik, von der alle profitieren werden.“ Kritiker befürchten dagegen<br />

eine zunehmende Vermischung von Pädagogik und Wirtschaft. Sind<br />

Privatschulen besser? Bisher gibt es dafür kaum wissenschaftliche Belege. „Da<br />

ist viel Legendenbildung im Spiel“, sagt Bildungsforscher Manfred Weiß. Er hat<br />

das Leistungsniveau von 15- Jährigen in privaten und staatlichen Realschulen<br />

und Gymnasien auf Grundlage der Pisa-Studie verglichen. Ergebnis: „Wenn<br />

man den sozialen Hintergrund der Schüler herausrechnet, fallen die Leistungsunterschiede<br />

gering aus.“ „Es gibt überall gute Schüler und gute Lehrer genauso<br />

wie schlechte, egal, ob auf einer privaten oder öffentlichen Schule“, sagt VDP-<br />

Geschäftsführer Lucas. Grundsätzlich hätten die Privatschulen aber wegen ihrer<br />

Personalautonomie größeren Einfluss darauf, wer die Kinder nach welchem<br />

pädagogischen Konzept unterrichtet. „Insgesamt wissen wir einfach noch viel zu<br />

wenig über den Privatschulsektor“, bedauert Experte Weiß. Um das Schulgeld<br />

zu rechtfertigen, hätte manche Privatschule sicher lieber eindeutigere Ergebnisse<br />

zu ihren Gunsten. Für Yasmin von Hugo gibt es dennoch keinen Grund, am<br />

Privatschulmodell zu zweifeln. Auch ihr jüngster Sohn Maxim soll im nächsten<br />

Jahr auf die gleiche private Grundschule gehen wie Nicolas, der Mittlere. Ihr<br />

Ältester, Alexis, 10, wird aber weiter eine staatliche Schule besuchen. „Leider<br />

hat Phorms noch kein Gymnasium in Frankfurt“, bedauert die dreifache Mutter.<br />

15


Unglücksfall und Chance, Zeit 23.4.<br />

Die viel diskutierten Ergebnisse der Grundschulstudie "Element" schienen<br />

gegen die sechsjährige Grundschule zu sprechen. Tatsächlich legt die Studie<br />

andere Schlüsse nahe. Olaf Köller, der Direktor des von den Kultusministern<br />

gegründeten Instituts zur Qualitätssicherung im Bildungswesen (IQB) und<br />

Professorenkollege des Bildungsforschers Rainer Lehmann an der Humboldt-<br />

Universität Berlin, war nach der Lektüre des Interviews mit Lehmann in der<br />

ZEIT über die Grundschulstudie "Element" erschrocken über die vermeintlichen<br />

Ergebnisse. Vier Tage später erschrak er erneut - diesmal über die Differenz<br />

zwischen Lehmanns Auslegung und den tatsächlichen Befunden der Studie. Nun<br />

ist er wie viele Erziehungswissenschaftler in Sorge. Er fürchtet, der vorzeitige<br />

Interpretationserguss seines Kollegen könne sich zum Unglücksfall im Verhältnis<br />

zwischen Erziehungswissenschaft, Öffentlichkeit und Politik auswachsen.<br />

Wenn in Erinnerung bleibt, dass jeder seine eigene Studie habe und Interpretationen<br />

beliebig seien, könnten die noch hoch angesehenen Studien ihr Ansehen<br />

verlieren, so die Befürchtung. Die Interpretationen der Experten weichen<br />

indes stark voneinander ab. „Die Lernfortschritte im Lesen sind an der Grundschule<br />

höher als im Gymnasium“, sagt der Erziehungswissenschaftler Hans<br />

Brügelmann über die Element-Studie. „Die Gymnasiasten haben sich am Ende<br />

der sechsten Klasse so stark abgesetzt, dass sie zwei Jahre Lernvorsprung<br />

haben“, erklärte hingegen Rainer Lehmann, Autor der Studie, im Interview mit<br />

der ZEIT. „Die Ergebnisse belegen, dass die Berliner Grundschulen<br />

Schülerinnen und Schülern aller Leistungsstände erfolgreich fördern“, interpretiert<br />

hingegen der Auftraggeber, die Berliner Senatsverwaltung. Jürgen<br />

Zöllner, Berliner Bildungssenator, schließlich: „Eine Schere zwischen Grundschulen<br />

und grundständigen Gymnasien öffnet sich nicht. Im Gegenteil.“ Wie ist<br />

es möglich, dass eine einzige Studie so unterschiedliche Interpretationen zulässt?<br />

Noch mal von Anfang an. „Erhebung zum Lese- und Mathematikverständnis<br />

in den Jahrgangsstufen 4 bis 6 in Berlin“ ist der volle Name der Studie.<br />

In Berlin ist die sechsjährige Grundschule die Regel. Daneben gibt es „grundständige<br />

Gymnasien“, die von sieben Prozent der Kinder besucht werden.<br />

Ursprünglich war dies ein Sonderweg für die Latein- und Griechischschulen,<br />

wurde aber mit der Zeit zum Portal für Familien, die ihre Kinder schnell ins<br />

Gymnasium bringen wollen. Ob um unter sich zu sein, die Kinder besser zu<br />

fördern oder wegen des Fachs Latein, das sei dahingestellt. Die Studie wurde<br />

fertig, als in Hamburg Schwarz-Grün über eine sechsjährige Primarschule verhandelte.<br />

Der mit der Studie beauftragte Rainer Lehmann hat nie einen Hehl<br />

daraus gemacht, kein Freund integrativer Systeme zu sein. Als die Studie noch<br />

nicht veröffentlicht war, mitten in den Hamburger Koalitionsverhandlungen,<br />

erklärte er in verschiedenen Interviews und am ausführlichsten in der ZEIT, dass<br />

die sechsjährige Grundschule keinen Vorteil bringe. Kinder, die gleich zum<br />

Gymnasium wechselten, seien am Ende der sechsten Klasse zwei Jahre voraus.<br />

Er sagte nicht, dass die Kohorte der Kinder, die in Berlin vorzeitig zum<br />

16


Gymnasium geht, gewissermaßen über Nacht diesen Vorsprung durch Selbstauswahl<br />

und eigentlich auch von der Studie zugesprochen bekommt. Aber was<br />

macht diese Gruppe aus? Sind es die Besten oder haben sie oft nur die<br />

ambitioniertesten Eltern? Vielleicht bekommen sie auch am meisten Nachhilfe?<br />

Über Motive und Haltungen weiß die Studie nichts. Im Leseverständnis erreicht<br />

diese Gymnasiumsgruppe Ende der vierten Klasse 114 Punkte. Kinder, die in<br />

der Grundschule bleiben, erreichen 97 Punkte. Nach Klasse sechs steht es 123<br />

zu 110. Man kann natürlich sagen, wie es in den Interviews mit Lehmann anklang,<br />

die Grundschüler seien nach zwei Jahren noch nicht einmal dort angekommen,<br />

wo die Gymnasiasten schon beim Start im Gymnasium waren. Der<br />

Leser mag das für eine Katastrophe halten. Kennt man allerdings die Zahlen,<br />

dann sieht man den Vorsprung der Gymnasien von 17 auf 13 Punkte in den zwei<br />

Jahren dahinschmelzen. In Mathe wächst der Abstand um einen Punkt. Nach<br />

den Lehmann-Interviews tönte Hans-Peter Meidinger, Vorsitzender des Philologenverbands,<br />

auf allen Wellen, nun sei erwiesen, dass längeres gemeinsames<br />

Lernen zu Lasten der leistungsstarken Kinder ginge. Aber als dann vier Tage<br />

später die ganze Studie im Internet stand, vermisste man seinen Widerruf. An<br />

dieser Stelle wurde schon gestern richtiggestellt: „Sechs Jahre Grundschule<br />

schaden nicht.“ In der erziehungswissenschaftlichen Community ist nun<br />

niemand mehr zu finden, der Lehmanns Interpretation stützt. Über Lehmanns<br />

Gründe gibt es viele Spekulationen. Aber der von Olaf Köller und anderen beklagte<br />

Unglücksfall könnte auch zu etwas gut sein. Die Öffentlichkeit und die<br />

Zunft müssen endlich kapieren, dass solche Studien, wie Jürgen Baumert,<br />

Direktor am Max- Planck-Institut für Bildungsforschung und Doyen der<br />

empirischen Bildungsforschung immer wieder betont, nicht einfach etwas beweisen,<br />

sondern die Daten für begründete Interpretationen liefern. Diese müssen<br />

sich allerdings der Prüfung und Debatte in der wissenschaftlichen Community<br />

aussetzen. Vielleicht vertreibt der Unglücksfall diesen Ton von Gottesurteilen in<br />

der Rezeption der Studien. Sie geben keine Befehle für die Praxis. Sie sollen die<br />

Gestaltungsfantasie stimulieren und zeigen, was nicht geht. Je genauer man die<br />

Studien betrachtet, desto mehr Fragen werfen sie auf - und das ist gut so.<br />

Eigentlich ist die Qualität dieser Fragen das eine Maß, an dem sich Wissenschaft<br />

messen lässt. Natürlich ist die Qualität der Antworten der andere Maßstab. Dass<br />

gute Antworten noch bessere Fragen hervorbringen, ist das kleine ABC des<br />

Forschens und Lernens. Da dürfen doch ausgerechnet Lernstudien mit einem<br />

Überschuss an Gewissheiten nicht analphabetisch sein. So gesehen könnte der<br />

Unglücksfall dann doch ein Beinahe-Unfall gewesen sein und sogar einen Fortschritt<br />

in der Kultivierung der Debatte hervorrufen.<br />

17


Grundschulen brauchen bessere Lehrer, Welt 23.4.<br />

Die Debatte spitzt sich zu. Seit Wochen wird bereits heftig über Vor- und Nachteile<br />

der sechsjährigen Grundschule in Berlin gestritten. Befürworter wie Gegner<br />

beriefen sich dabei auf eine Studie, die noch nicht einmal veröffentlicht war.<br />

Jetzt liegen die Ergebnisse dieser so genannten Element- Studie vor und die<br />

Auseinandersetzung geht in die zweite Runde. Bei der Studie handelt es sich um<br />

eine von der Bildungsverwaltung in Auftrag gegebene Untersuchung, die die<br />

Leistungsstände der Berliner Schüler in den Klassen fünf und sechs festgestellt<br />

und ihre Entwicklung beobachtet hat. Dabei wurden sowohl Schüler der Grundschule,<br />

als auch solche der grundständigen Gymnasien einbezogen. Die Ergebnisse<br />

der Studie werden nun sehr unterschiedlich interpretiert. Während der Verfasser<br />

der Untersuchung, der Bildungsforscher Rainer Lehmann von der Berliner<br />

Humboldt-Universität, der Berliner Grundschule vorwirft, leistungsstarke<br />

Schüler nicht entsprechend zu fördern, zieht Bildungssenator Jürgen Zöllner<br />

(SPD) ganz andere Schlussfolgerungen. Die Element-Studie belege die erfolgreiche<br />

Förderung in Grundschulen, heißt es seinerseits: "Eine Schere zwischen<br />

Grundschulen und grundständigen Gymnasien öffnet sich nicht. Im Gegenteil:<br />

Bei den Leistungsschwächeren scheint die Grundschule im großen Umfang<br />

Bildungsnachteile zu kompensieren. Die Untersuchung zeigt aber, dass auch die<br />

Leistungsstärkeren adäquat gefördert wurden." Der Senator will allerdings auch<br />

nicht auszuschließen, dass leistungsstärkere Schüler an grundständigen<br />

Gymnasien einen Vorteil haben. Ziel sei es, alle Schüler optimal zu fördern,<br />

lautet Zöllners Fazit. Man werde sich deshalb die Ergebnisse der Element-Studie<br />

sowie den Unterricht in der Grundschule genauer ansehen und prüfen, wie man<br />

die Arbeit an den Grundschulen verbessern kann. Zöllner schlägt vor, die<br />

Grundschullehrer gezielt weiterzubilden und mehr Fachlehrer in den Grundschulen<br />

einzusetzen. Auch durch Kooperationen mit den Gymnasien könne die<br />

Arbeit weiter verbessert werden, meint der Bildungssenator. Bildungsforscher<br />

Rainer Lehmann hält den "beschwichtigenden Umgang" mit den Ergebnissen<br />

der Element-Studie für falsch. Die Bildungsverwaltung würde sich auf die<br />

durchschnittlichen Lernzuwächse in Mathematik und Leseverständnis berufen,<br />

sagt er. Dabei seien die Lernerfolge in den unterschiedlichen Teilen des<br />

Leistungsspektrums erhoben worden. "Diesbezüglich hat sich gezeigt, dass die<br />

Grundschule vor allem die Schüler im unteren Leistungsbereich fördert und sich<br />

um diese Klientel sehr bemüht." Die grundständigen Gymnasien würden dagegen<br />

im oberen Leistungsbereich gewinnen. Wer das leugne, toleriere auf<br />

Kosten der sozialen Gleichheit ein erschreckend niedriges Leistungsniveau, so<br />

Lehmann. André Schindler, Vorsitzender des Landeselternausschusses, bezeichnet<br />

die Reaktion der Bildungsverwaltung auf die Element-Studie als peinlich.<br />

Offensichtliche Schwächen des Systems würden ignoriert. "Wir haben<br />

Handlungsbedarf, das muss gesagt werden", fordert er. Ziel müsse es sein, die<br />

leistungsstarken Schüler an den Grundschulen sowie die an den grundständigen<br />

Gymnasien gleichermaßen gut zu fördern. Grundschulen sollten besser aus-<br />

18


gestattet werden, damit sie in einen Wettbewerb mit den grundständigen<br />

Gymnasien treten können. Eine bessere personelle wie materielle Ausstattung<br />

der Grundschulen fordert auch Özcan Mutlu, bildungspolitischer Sprecher der<br />

Grünen. Anders als Schindler ist er jedoch überzeugt, dass der Leistungszuwachs<br />

der Fünft- und Sechstklässler in Grundschulen und grundständigen<br />

Gymnasien trotz eines unterschiedlichen Niveaus nahezu identisch ist - das<br />

zeige die Studie. "Statt die sechsjährige Grundschule in Frage zu stellen, muss<br />

stetig und intensiv in die Fortbildung der Lehrer investiert werden", sagt Mutlu.<br />

Zöllners Empfehlungen zur Verbesserung des Unterrichts an den Grundschulen<br />

hält der Bildungspolitiker für richtig. "Sie müssen aber auch umgesetzt werden,<br />

Absichtserklärungen helfen niemanden", so Mutlu. Sascha Steuer, Bildungsexperte<br />

der CDU, stimmt indes den Schlussfolgerungen von Bildungsforscher<br />

Lehmann zu: "Die Studie belegt eindeutig, dass die Lernzuwächse der Schüler<br />

an den grundständigen Gymnasien wesentlich höher sind als die der Grundschulkinder."<br />

Schüler, die am Ende der vierten Klasse im Prüfbereich Leseverständnis<br />

einen Testwert von 90 Punkten hätten, erreichten in den Grundschulen<br />

am Ende der sechsten Klasse einen Testwert von etwa 105 Punkten, an den<br />

grundständigen Gymnasien dagegen 113 Punkte. "Diese Zuwächse entsprechen<br />

einem Unterschied von bis zu zwei Schuljahren." Laut Steuer gilt die Aufmerksamkeit<br />

der Grundschulen vor allem den leistungsschwächeren Schülern. Die<br />

guten Schüler würden dadurch aus dem Blick geraten. Er fordert deshalb den<br />

Ausbau der grundständigen Gymnasien. "Es kann nicht sein, dass leistungsstärkere<br />

Schüler in ihrer Entwicklung gebremst werden, nur um das Mittelmaß<br />

der Grundschulklasse zu heben." Auch die FDP-Fraktion fordert Rot-Rot auf,<br />

die künstliche Verknappung der Plätze an grundständigen Gymnasien zu beenden<br />

und sie entsprechend der Nachfrage anzubieten. So sagt Bildungsexpertin<br />

Mieke Senftleben: "Eltern müssen die Möglichkeit haben, selbst die optimale<br />

Schule für ihr Kind zu wählen."<br />

19


Studie: Österreichs Jugend leidet unter Druck in der Schule; Standard<br />

21.4.<br />

Zwei Drittel der österreichischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen<br />

empfinden sich in Arbeit, Ausbildung oder Schule stark unter Druck. Das zeigt<br />

eine Studie des Marktforschungsinstituts tfactory. Österreichweit wurden 1000<br />

Jugendliche über ihr Stresslevel und den Umgang damit befragt. 55 Prozent der<br />

11- bis 14-Jährigen fühlen sich von ihren Eltern bezüglich schulischer<br />

Leistungen gestresst. Fast 50 Prozent der Befragten macht die Schule gegenwärtig<br />

überhaupt keinen Spaß. Für 60 Prozent der Befragten regieren auch in der<br />

Freizeit Druck und Stress. Dazu der Geschäftsführer von tfactory, Bernhard<br />

Heinzlmaier: "Interessant ist, dass die Jugendlichen eigentlich mit ihren Lehrern<br />

und Eltern zufrieden sind. Der Druck kommt für sie von außen in die Schule und<br />

damit in die Familien, aus der Wirtschaft und aus der Politik." Immer wieder<br />

werde der Verdacht geäußert, dass sich die Politiker mit schulpolitischen<br />

Konzepten nur zu profilieren versuchen und es ihnen eigentlich egal ist, wie es<br />

den Schülern und Lehrern in der Schule damit geht, so der Trendforscher.<br />

20


Was gute Bildung kostet, Wirtschaftswoche 22.4.<br />

Für Lena und Heiko Rohde war klar: Ihre Tochter sollte auf eine staatliche<br />

Schule. „Meine Eltern steckten mich immer in die nächstgelegene Schule.<br />

Geschadet hat das nicht“, sagt Jurist Rohde. Die Tochter sollte „keinesfalls<br />

elitär“ erzogen werden. Das war praktisch – die nächste Grundschule in dem<br />

Städtchen im Frankfurter Speckgürtel lag 1500 Meter entfernt – und preiswert.<br />

„Ein Staat muss doch in der Lage sein, allen Kindern eine vernünftige Ausbildung<br />

zu verschaffen – dachte ich damals“, sagt Lena Rohde, die halbtags als<br />

Apothekerin arbeitet. Ein Jahr später waren die Eltern um eine Illusion ärmer.<br />

„Montags sprangen die vom TV-Konsum am Wochenende vollgedröhnten<br />

Kinder im Unterricht über die Tische; die junge Lehrerin war engagiert, aber mit<br />

fünf Problemkindern völlig überfordert“, sagt Lena Rohde. Ständig fiel Unterricht<br />

aus, die Kinder wurden häufig schon nach der dritten Stunde entlassen.<br />

Eine neue Rektorin verbesserte nichts: Sie war von einer anderen Schule nach<br />

Eltern- und Lehrerprotesten entlassen worden, hatte sich aber wieder ins Schulsystem<br />

hineingeklagt. „Ihre erste Maßnahme war, dass sie ihr Büro rosa<br />

streichen ließ“, sagt Lena Rohde. Als dann auch noch Hessens Ministerpräsident<br />

Roland Koch seine „Unterrichtsgarantie plus“ verkündete – in Hessen können<br />

Kinder seither auch von Handwerkern, Sportübungsleitern, Eltern oder<br />

Pensionären unterrichtet werden – und sie von der Rektorin einen Rundbrief bekamen,<br />

ob sie nicht jemanden wüssten, besondere Qualifikationen seien nicht<br />

nötig, reichte es: Rohdes meldeten ihre Tochter auf einer Privatschule an. Solche<br />

Extremerfahrungen machen längst nicht alle Eltern, natürlich. Es gibt staatliche<br />

Schulen zuhauf, in denen Schulleiter und Lehrer ihre Aufgaben ernst nehmen,<br />

wo Kinder ungestört lernen können, wo Problemschüler gefördert und<br />

Initiativen in Sachen Betreuung, Fremdsprachen oder musischer Angebote gestartet<br />

wurden. Nur sind sie immer noch nicht die Regel. Sieben Jahre nach der<br />

ersten Pisa-Studie, die deutschen Schülern ein eher bescheidenes Bildungsniveau<br />

bescheinigte, erstarrt das deutsche Schulwesen immer noch in alten Verkrustungen.<br />

Der in diesem April erschienene OECD-Wirtschaftsbericht listet<br />

gleich 15 Punkte auf, an denen das deutsche Bildungssystem krankt. Bemängelt<br />

wird beispielsweise, dass Bildungschancen nach wie vor stark vom Geldbeutel<br />

der Eltern abhängen; Lehrer nicht nach Leistung bezahlt werden; Schulen die<br />

notwendige Autonomie bei Lernzielen und -konzepten fehlt. Und das alles, obwohl<br />

Bund, Länder oder Gemeinden Jahr für Jahr etwa 200 Milliarden Euro in<br />

Bildung, Forschung und Wissenschaft pumpen. „Finanzmittel sind genug da, sie<br />

müssten nur anders verteilt werden“, sagt Axel Plünnecke, Bildungsforscher am<br />

Institut der Deutschen Wirtschaft. So fließe bei öffentlichen Schulen zu wenig in<br />

die Ausstattung und leistungsorientierte Boni für Lehrer, zu viel Geld gehe dafür<br />

für Grundgehälter drauf. „Da sich bei den Pädagogen Leistung nicht im Gehalt<br />

bemerkbar macht, ist das System nicht nur teuer, sondern auch ineffizient“,<br />

kritisiert Plünnecke. Die Probleme der deutschen Schulen sind allerdings nur ein<br />

Symptom eines bürokratiegeplagten Bildungs- und Erziehungssystems.<br />

21


Probleme gibt es in allen Lebensphasen: Zu wenig bezahlbare Kita-Plätze,<br />

fehlendes Betreuungspersonal, überfüllte Hörsäle und veraltete Lernkonzepte<br />

begleiten Kinder und Eltern im schlimmsten Fall über 20 Jahre. Da deutsche<br />

Eltern kaum ihre Kinder unter den Arm nehmen können, um ins Pisa-<br />

Musterland Finnland zu flüchten, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sich in<br />

der Heimat nach der besten Ausbildung umzuschauen. Doch wie finden<br />

Familien die passenden Betreuungs- und Bildungsangebote? Wie teuer ist gute<br />

Bildung? Und was lässt sich vom Staat über Fördergelder und Steuervorteile<br />

wieder hereinholen? Schon bald nach der Geburt eines Kindes meldet sich die<br />

harte Realität zurück: Windeln, Kinderbett und Strampler wollen bezahlt<br />

werden, ein Gehalt, in der Regel das der Mutter, fällt erst mal weg. Seit 2007<br />

verschafft das Elterngeld Erleichterung. In den ersten zwölf Monaten zahlt der<br />

Staat zwei Drittel des letzten Gehalts des Elternteils, das eine Babypause einlegt.<br />

Wenn dieses erste Jahr vorbei ist, stellt sich für Eltern die entscheidende Frage:<br />

Wiedereinstieg in den Job und das Kind in eine bezahlte Obhut geben – oder<br />

weiter als Hausfrau oder - mann die Kleinen hüten? Für Millionen Bundesbürger<br />

erübrigt sich der letzte Gedanke, weil ein Gehalt nicht für den Lebensunterhalt<br />

der Familie reicht. Bildungspolitiker wiederholen gebetsmühlenartig, wie<br />

wichtig es für Familien sei, dass sich Beruf und Kindererziehung vereinbaren<br />

ließen. Von den Versprechungen der Sonntagsredner merken Eltern in der<br />

Praxis aber wenig. Vertrauenswürdige Obhut für die Kinder zu finden gleicht<br />

häufig einem langwierigen Hindernislauf. Die Wartelisten preiswerter Tagesstätten<br />

sind lang und die maßgeschneiderte Betreuung aus privater Hand für<br />

viele unerschwinglich. Erst 2013 soll nach dem Willen der Bundesregierung<br />

jedem dritten Kind im Alter von einem bis drei Jahren ein Betreuungsplatz zustehen.<br />

„Dieses Ziel halte ich für sehr ambitioniert, wenn es am Ende nicht nur<br />

bloße Verwahrstellen sein sollen“, sagt Jochen Schäfer, Geschäftsführer der<br />

Arbeitsgemeinschaft der deutschen Familienorganisationen. Schon jetzt fehle es<br />

an qualifizierten Betreuern für diese Altersgruppe. Oft hilft nur Eigeninitiative.<br />

Dabei stoßen Väter und Mütter allerdings unvermittelt auf Hindernisse, wie beispielsweise<br />

der Düsseldorfer Steuerberater Krischan Treyde. Der wollte seinen<br />

Sohn in einer Tagesstätte in der NRW-Landeshauptstadt unterbringen. Die<br />

Treydes hätten sich eine private Kita leisten können, lieber war ihnen aber eine<br />

öffentliche Tagesstätte. So zogen sie von einem Kindergarten zum anderen. Im<br />

Gepäck ein Angebot, das Bildungspolitikern eigentlich wie ein Geschenk des<br />

Himmels vorkommen müsste: Die Treydes hatten eine Stiftung angezapft, die<br />

ein Projekt zur bilingualen Frühförderung unterstützt. Sie trägt für drei Jahre<br />

sämtliche Kosten für eine englische Kindergärtnerin. „Ich bin mit dem Konzept<br />

von einem Kindergarten zum nächsten“, so Treyde. „Alles, was ich hörte, war:<br />

Tolle Idee, wir melden uns.“ Ob die Dame, die zehn Jahre privat Englischunterricht<br />

gegeben hat, denn auch eine deutsche Erzieherinnenausbildung habe, ob ihr<br />

Einsatz denn mit deutschem Kindergartenrecht vereinbar sei – Bedenken über<br />

Bedenken. Erst ein junger evangelischer Pfarrer erkannte die Chance, die seinen<br />

Kindergartenkindern geboten wurde und griff beherzt zu. Dass Kleinkinder nicht<br />

22


nur verwahrt oder mit dem die Erzieherinnen entlastenden „Freien Spielen“ beschäftigt,<br />

sondern sinnvoll betreut und gebildet werden können – diese Erkenntnis<br />

ist noch längst nicht in alle Kindertagesstätten und -gärten vorgedrungen.<br />

Notwendig wäre es: Zwischen dem ersten und sechsten Lebensjahr werden die<br />

Grundlagen für das spätere Fortkommen in der Schule gelegt. Privat oder staatlich?<br />

Nicht nur vermögende Eltern stellen diese Frage – angesichts der laut Pisa-<br />

Studien eher durchschnittlichen Lernergebnisse und immer wieder kolportierter<br />

Horror-Geschichten über zu große Klassen, veraltete Unterrichtspläne und unmotivierte<br />

Lehrer. Anwälte und Apotheker haben in der Regel das nötige Kleingeld<br />

für eine Privatschule. Längst nicht alle Eltern können sich dagegen die bis<br />

zu 1250 Euro pro Monat für die Schule nach Maß leisten. Zwar sind nicht alle<br />

Privatschulen sündhaft teuer, aber gerade die preisgünstigeren sind meist über<br />

Jahre ausgebucht. Laut Bundesverband Deutscher Privatschulen melden sich an<br />

Privatschulen bis zu dreimal mehr Interessenten, als Plätze vorhanden sind. „Wir<br />

rechnen nicht damit, dass die Warteliste für unsere Ganztagsplätze sich spürbar<br />

verkürzt“, bestätigt Michael Gehrig, Rektor der privaten Anna-Schmidt-Schule<br />

in Frankfurt. Eine Garantie, dass pünktlich ein Platz frei wird, wenn das Kind<br />

schulpflichtig wird oder später aufs Gymnasium soll, gibt es nicht. Derzeit<br />

gehen nur etwa sieben Prozent aller deutschen Schüler auf eine Privatschule. In<br />

den Niederlanden sind es mittlerweile 67 Prozent. Anders als in Deutschland<br />

finanziert der Staat dort alle Schulen zu 100 Prozent. In der Bundesrepublik<br />

müssen sich die Privatschulen zusätzlich über Elternbeiträge, Spenden und<br />

Stiftungen finanzieren. Die Zuschüsse der Bundesländer sind geringer, als sie<br />

dem Gesetz nach sein müssten. „Statt wie vorgeschrieben einen Zuschuss in<br />

Höhe von 85 Prozent der Kosten einer vergleichbaren öffentlichen Schule zu<br />

zahlen, sind es im Durchschnitt nur 60 bis 65 Prozent“, sagt Bildungsökonom<br />

Bernd Eisinger. Trotz der ungleichen finanziellen Ausstattung erlebt Deutschland<br />

derzeit einen Gründungsboom bei Privatschulen. Allein im Schuljahr<br />

2006/07 öffneten etwa 100 neue Bildungsstätten in privater Trägerschaft ihre<br />

Pforten. Damit stieg die Zahl der allgemein bildenden privaten Schulen auf<br />

2870. Besonders beliebt bei den Gründern ist Nordrhein- Westfalen, weil es,<br />

anders als die meisten anderen Bundesländer, schon im Gründungsjahr Zuschüsse<br />

zahlt. „In Berlin dagegen müssen sich Privatschulen in den ersten fünf<br />

Jahren mit Krediten, Spenden und Elternbeiträgen über Wasser halten“, sagt<br />

Johannes Nagel, Finanzvorstand des Privatschulbetreibers Phorms. Der<br />

finanziert seine neue Schulen mit Geld aus einem geschlossenen Fonds, an dem<br />

sich Anleger beteiligen können. Phorms verlangt für die Grundschule in Berlin<br />

je nach Einkommen zwischen 250 und 1130 Euro im Monat und bietet dafür<br />

Betreuung von 8 bis 18 Uhr. Ganztagsbetreuung ist für viele berufstätige Eltern<br />

ein treffendes Argument für die Privatschule, zumal die Tagesmutter, etwa für<br />

ein Kind im Grundschulalter die teurere Alternative ist. Dass Schulen sich von<br />

morgens bis abends um Kinder kümmern, ist noch die Ausnahme. In Deutschland<br />

betreuen nur 15 Prozent der Schulen ihre Schüler auch am Nachmittag. Die<br />

beste Starthilfe für Kinder ist eine gute Ausbildung ZB Sein Kind ganztags in<br />

23


eine Privatschule zu geben, ist mittlerweile nicht mehr unerschwinglich. So<br />

bietet beispielsweise die Frankfurter Anna-Schmidt-Schule für einheitlich<br />

164,70 Euro im Monat extra eine Betreuung bis 17 Uhr, einschließlich Essen.<br />

Eine Tagesmutter für die fünf Stunden am Nachmittag käme die Eltern mit etwa<br />

600 Euro pro Monat deutlich teurer. Privatschulen wie die Internationale<br />

Friedensschule in Köln versprechen den Eltern zudem noch jede Menge Extras:<br />

„Mit Zweisprachigkeit, kleinen Klassen von 15 bis 20 Schülern, zusätzlichen<br />

Arbeitsgemeinschaften am Nachmittag und individuellen Lernzielen können wir<br />

die Kinder effektiver fördern“, wirbt Geschäftsführerin Sabine Woggon-Schulz.<br />

Hört sich alles gut an, aber ist das Geld für eine Privatschule wirklich gut angelegt?<br />

Den Pisa-Studien zufolge zeigen Privatschüler die größeren Lernerfolge.<br />

Wissenschaftler wie Manfred Weiß vom Deutschen Institut für Internationale<br />

Pädagogische Forschung in Frankfurt warnen aber vor Pauschalurteilen. Dass<br />

Schüler an Privatschulen im Durchschnitt besser abschnitten, liege vor allem an<br />

der Sozialauswahl. Kinder aus finanziell benachteiligten Familien oder aus Zuwandererfamilien<br />

seien an Privatschulen sehr viel seltener anzutreffen. Das<br />

Etikett „privat“ allein ist also noch kein Gütesiegel. Was macht dann eine gute<br />

Schule aus, egal, ob privat oder staatlich? Noch gibt es in Deutschland keine<br />

einheitlichen Standards. Erst langsam setzt sich die Erkenntnis durch, dass auch<br />

Schulen eine Qualitätskontrolle nötig haben. „In Deutschland müssen etwa mit<br />

einem Zentralabitur erst noch die Voraussetzungen dafür geschaffen werden,<br />

dass Zeugnisse bundesweit vergleichbar werden“, sagt Bildungsexperte Ludger<br />

Wößmann von der Uni München. In Frankreich dagegen werde der Notenschnitt<br />

der Schulen bereits regelmäßig veröffentlicht. Bis sich die Kultusminister der<br />

Länder darauf geeinigt haben, kann aber noch Zeit vergehen. Derzeit versuchen<br />

externe Gutachter wie der TÜV Süd mehr Licht ins Dunkel zu bringen. Deren<br />

Ausbeute ist bisher aber mager. Lediglich 30 private und staatliche Schulen sind<br />

bundesweit zertifiziert. Dabei bewerteten die TÜV-Prüfer lediglich die Infrastruktur<br />

der Schule. Über ein TÜV-Zertifikat für gute Unterrichtsqualität verfügt<br />

bisher nur die Haupt- und Realschule im baden-württembergischen Friesenheim.<br />

Auch ohne Ranking können sich Eltern aber an allgemein gültigen Kriterien<br />

orientieren: Eigenständigkeit: Schulen, die selbst über Lerninhalte und -<br />

konzepte entscheiden, können sich flexibler den Bedürfnissen der Schüler anpassen.<br />

Ausstattung: Nicht jeder Schüler braucht einen eigenen Laptop,<br />

wichtiger ist, dass Bücher auf dem neuesten Stand sind oder dass genügend<br />

Geräte und Materialien für einfache naturwissenschaftliche Experimente vorhanden<br />

sind. Betreuung: In der Ganztagsbetreuung sollten Kinder nicht schlicht<br />

verwahrt, sondern vor allem sinnvoll beschäftigt werden. Schüler-/Eltern-<br />

Beteiligung: Je mehr sich Eltern und Schüler engagieren können und dies von<br />

der Schule auch erwartet wird, desto größer sind die Chancen, dass die gesetzten<br />

Bildungsziele auch erreicht werden. Personalausstattung: Nicht allein die<br />

Klassengröße, also das Verhältnis Lehrer zu Schüler, ist entscheidend, sondern<br />

auch, ob ein Kind kontinuierlich von einem Ansprechpartner betreut wird und<br />

wie gut dieser ausgebildet ist. Selbst wenn Eltern die richtige Schule gefunden<br />

24


haben, heißt das noch lange nicht, dass ihre Kinder diese tatsächlich auch besuchen<br />

können. Bei Grundschulen herrscht in Deutschland meist keine freie<br />

Wahl. Wohnsitznah sollte sie sein, schreiben staatliche Regeln vor. Wer in<br />

einem anderen Stadtviertel wohnt als dem, in dem sich der Sitz der Schule befindet,<br />

muss gute Argumente haben, um seine Wahl gegenüber den Behörden<br />

durchzusetzen. Gute Karten haben beispielsweise Eltern, die nachweisen<br />

können, dass die Schule nah bei der Tagesmutter oder der Tagesstätte liegt.<br />

Ebenfalls hohe Erfolgschancen haben Väter und Mütter, die ihren Arbeitsplatz<br />

in demselben Viertel haben wie die Schule. Fällt die Wahl auf eine Privatschule,<br />

muss dies nicht zwangsläufig am knappen Budget scheitern, denn in der Regel<br />

bleiben Kindern von Eltern mit geringerem Einkommen zwei Nebeneingänge:<br />

entweder über Stipendien für besonders begabte Kinder oder über Sozialklauseln<br />

einzelner Privatschulen. So nimmt beispielsweise die Internationale<br />

Schule in Hamburg 25 Prozent Schüler aus sozial benachteiligten Familien auf.<br />

Auch der Staat hilft den Eltern: Sie können 30 Prozent der Beiträge für die<br />

Schule von der Steuer absetzen. „Schicken sie ihr Kind in eine Ganztagsschule<br />

lässt sich der Beitrag für den Nachmittag als Betreuungskosten von der Steuer<br />

absetzen, wenn kein regulärer Unterricht stattfindet“, sagt der Kölner Steuerberater<br />

Dirk Bracht. Vorteil: Statt 30 Prozent können sich die Eltern dann zwei<br />

Drittel ihrer Ausgaben vom Fiskus wiederholen. Allerdings sind die absetzbaren<br />

Kosten bei 4000 Euro pro Jahr gedeckelt. […]<br />

25


Hamburger Schulsenatorin kündigt Sommerschule an, PM 24.4.<br />

Der zukünftige schwarz-grüne Hamburger Senat plant Förderunterricht für<br />

schwache Schüler in den Sommerferien. Das sagte die designierte Hamburger<br />

Schulsenatorin Christa Goetsch (Grüne) in der Wochenzeitung "Die Zeit". Vorbild<br />

seien die Summer Schools in den USA. "Dort können Schüler in den<br />

Sommerferien ihre Defizite aufarbeiten. Solche Unterstützungsmodelle streben<br />

auch wir an", so Goetsch. Gleichzeitig plant die grüne Schulpolitikerin, den<br />

Schulwechsel von Pädagogen zu fördern: "Kein Lehrer soll lebenslang an einer<br />

Schule unterrichten." Die CDU und die Grün-Alternative Liste haben sich vergangene<br />

Woche in ihrem Koalitionsvertrag darauf geeinigt, die Grundschulzeit<br />

in Hamburg um zwei Jahre zu verlängern.<br />

26


Sechsjährige Grundschule: Gymnasium für alle?, SZ 28.4.<br />

In den vergangenen Tagen löste die "Element"-Studie zur sechsjährigen Grundschule<br />

heftige Reaktionen aus. Nun ist sie endlich erschienen und zeichnet ein<br />

erstaunliches Bild. Es ist erstaunlich, wie unterschiedlich Schulstudien interpretiert<br />

werden. In den vergangenen Tagen löste die "Element"-Studie des<br />

Berliner Forschers Rainer Lehmann heftige Reaktionen aus. So sieht der Philologenverband,<br />

der die Interessen von Gymnasiallehrern vertritt, die Studie als<br />

Beleg dafür, dass das Modell einer längeren Grundschulzeit "mit Pauken und<br />

Trompeten" gescheitert sei. Die Lehrergewerkschaft GEW spricht dagegen von<br />

einem "Triumph des längeren gemeinsamen Lernens". Wissenschaftler halten<br />

beide Schlüsse für überzogen. Über die Studie wurde schon debattiert, als sie<br />

noch gar nicht publiziert war. Nun liegt sie endlich vor - und das Bild, das sie<br />

zeichnet, ist sehr facettenreich. Gegenstand der Studie: Anders als in anderen<br />

Bundesländern dauert die Grundschule in Berlin sechs Jahre. Leistungsstarke<br />

Schüler können aber auch schon nach der vierten Klasse auf ein Gymnasium<br />

wechseln. So verlassen sieben Prozent die Grundschule vorzeitig. Die<br />

Leistungen in dieser speziellen Gruppe vergleicht die Element-Studie mit<br />

Kindern, die regulär bis zum Ende der sechsten Klasse an den Grundschulen<br />

bleiben. Die Leistungen mehrerer tausend Schüler wurden zu drei Zeitpunkten<br />

zwischen Ende der vierten und Ende der sechsten Klasse getestet. "Element"<br />

steht für Erhebungen zum Lese- und Mathematikverständnis - Entwicklungen in<br />

den Jahrgangsstufen vier bis sechs. Leistungen in Lesen und Mathe:<br />

Gymnasiasten erzielten im Durchschnitt zu jedem Zeitpunkt bessere Leistungen.<br />

Dies überrascht nicht, da sie ja bereits am Ende der vierten Klasse besonders<br />

stark waren und deshalb vorzeitig die Schule wechseln konnten. Die durchschnittlichen<br />

Lernfortschritte in Mathematik sind aber annähernd gleich, im<br />

Leseverständnis in der sechsten Klasse der Grundschule sogar höher als im<br />

Gymnasium. "Es gelingt den Grundschulen, den Abstand zu den Gymnasien<br />

etwas zu verringern", heißt es in der Studie. Dies liegt vor allem daran, dass<br />

schlechtere Schüler an den Grundschulen aufholen; die Studie spricht von "bemerkenswerten<br />

Lernzuwächsen" und einer erfolgreichen Umsetzung<br />

kompensatorischer Ziele. Nach dem großen Lob kommt der Haken: Auch<br />

stärkere Schüler machen an Berliner Grundschulen Fortschritte, am Gymnasium<br />

schreiten Kinder mit vergleichbarem Vorwissen aber noch etwas schneller<br />

voran. Zwar bescheinigt die Studie den Grundschulen, dass sie auch an der<br />

Spitze mathematischer Leistungen "die Intensität gymnasialer Förderung fast<br />

erreichen". Insgesamt wachse aber bei den guten Schülern der Abstand zum<br />

Gymnasium. Lehmann, der an der Humboldt-Universität lehrt, bezeichnet den<br />

vorzeitigen Wechsel aufs Gymnasium daher als eine "rationale individuelle Entscheidung".<br />

Ob die Daten tatsächlich einen größeren Lernfortschritt der<br />

Gymnasiasten belegen, ist unter Forschern umstritten. Klaus-Jürgen Tillmann,<br />

Professor in Bielefeld, hat Zweifel angemeldet. Hans Brügelmann (Siegen) und<br />

andere mahnen zu Vorsicht. Doch von solcher Skepsis einmal abgesehen, kann<br />

27


die Element-Studie nicht sagen, wie sich die größeren Fortschritte eigentlich erklären:<br />

aus der Kompetenz der Gymnasiallehrer, aus der recht homogenen<br />

Schülergruppe (Kinder gebildeter Eltern) mit hohem Ausgangsniveau, aus verstärkter<br />

Förderung daheim oder einer Kombination dieser Faktoren? Ungewiss<br />

ist, wie sich die Leistungen der Kinder darstellen würden, hätte es keinen vorzeitigen<br />

Wechsel gegeben. Offen bleibt auch, was geschieht, wenn nun immer<br />

mehr Eltern ihr Kind vorzeitig an Gymnasien anmelden. Im individuellen<br />

Kalkül ist der Wechsel attraktiv, kollektiv wird er zum Problem. Unter der<br />

Parole "Gymnasium für alle" landete man am Ende doch wieder bei einer gemeinsamen<br />

Schule. Je mehr Kinder aus der Grundschule ausscheren, desto<br />

geringer sind die Exklusivitätsvorteile am Gymnasium und desto weniger<br />

Leistungsträger bleiben an den Grundschulen übrig. Will man allen Kindern gerecht<br />

werden und nicht nur für einen erlesenen Kreis ein optimales Lernmilieu<br />

schaffen, müsste der Unterricht die Schwächeren fördern, ohne die Stärkeren zu<br />

vernachlässigen. Wie dies am besten gelingt und welche Rolle die Schulstruktur<br />

dabei spielt, bleibt weiterhin umstritten. Überraschender Befund zum Englisch-<br />

Unterricht: Bisher wird die Studie nur als Beitrag zur Debatte über die sechsjährige<br />

Grundschule gesehen. Sie enthält aber noch einen wichtigen Befund zum<br />

Sprachunterricht. Die Schüler wurden nämlich am Ende der sechsten Klasse<br />

auch in Englisch getestet. Die meisten hatten bereits seit der dritten Klasse<br />

Englisch, 160 Schüler jedoch erst in späteren Klassenstufen. Ein Vergleich<br />

dieser Gruppen zeigt nun: Die Schüler, die schon früh Englisch-Unterricht<br />

hatten, sind den anderen keineswegs voraus. Dies nährt die Zweifel an der<br />

Effektivität des frühen Fremdsprachenunterrichts.<br />

28


"60.000 Sitzenbleiber sind zuviel!", PM 30.04.<br />

"60.000 Sitzenbleiber im Jahr sind zuviel", erklärte NRW-Schulministerin<br />

Barbara Sommer gestern in Düsseldorf. Gemeinsam mit Vertreterinnen und Vertreter<br />

der nordrhein-westfälischen Lehrerorganisationen verkündete die<br />

Ministerin eine neue Initiative zur Reduzierung der Sitzenbleiberquote. Neben<br />

Sommer unterzeichneten Udo Beckmann (VBE NRW), Andreas Meyer-Lauber<br />

(GEW NRW), Peter Silbernagel (Philologen-Verband NRW) und Monika<br />

Straub (Verein katholischer deutscher Lehrerinnen NRW) eine gemeinsame Erklärung.<br />

Rund 60.000 Schülerinnen und Schüler haben im vergangenen Schuljahr<br />

an allgemein bildenden Schulen in Nordrhein-Westfalen eine Klasse<br />

wiederholt. Das entspricht einem Anteil von rund 3 Prozent. Hierzu erklärten<br />

Sommer und die Verbandsvertreterinnen und Vertreter: "Nicht selten erweist<br />

sich das Sitzenbleiben als eine pädagogisch kaum weiterführende und dafür zu<br />

aufwändige Maßnahme. Ministerin und Verbände betonen allerdings, dass die<br />

Verminderung der Klassenwiederholungen aber auf keinen Fall mit einer<br />

Minderung der Leistungsanforderungen/Standards erkauft werden darf. Sie<br />

weisen darauf hin, dass es unabdingbar sei, Schulleitung und Kollegien,<br />

Lehrerinnen und Lehrer für diese pädagogische Maßnahme zu gewinnen und sie<br />

dazu zu bewegen, ihre schulische Arbeit daran auszurichten." Ab dem nächsten<br />

Schuljahr können bis zu 300 weiterführende, allgemein bildende Schulen an der<br />

neuen Initiative teilnehmen. Das Land stellt hierzu 100 Lehrerstellen zusätzlich<br />

zur Verfügung. Teilnehmerschulen erhalten im Rahmen der einschlägigen Vorschriften<br />

konzeptionelle Freiheiten zur Senkung der Quote an Nichtversetzungen.<br />

Zudem werden Ihnen gute Beispielkonzepte von Schulen zugänglich<br />

gemacht, die ihre Sitzenbleiberquote erheblich senken konnten. Die Initiative ist<br />

auf drei Jahre angelegt und wird wissenschaftlich begleitet. Ein weiteres<br />

Innovationsprojekt zur Senkung der Sitzenbleiberquote sind die "Lernferien<br />

Nordrhein-Westfalen". Hierbei erhielten in den Osterferien 2008 erstmals 100<br />

versetzungsgefährdete Schülerinnen und Schüler individuelle Förderung und<br />

neue Motivation für den Schulalltag. Ziel war es, die teilnehmenden Jungen und<br />

Mädchen dazu zu befähigen, aus eigener Kraft heraus im kommenden Sommer<br />

doch noch die Versetzung zu schaffen. Die "LernFerien Nordrhein-Westfalen"<br />

sind eine Initiative des Ministeriums für Schule und Weiterbildung des Landes<br />

Nordrhein-Westfalen, durchgeführt von der Stiftung Partner für Schule NRW.<br />

29


Gruppenunterricht: Tückische Teamarbeit, Focus Schule 30.4.<br />

Die Vorteile des gemeinsamen Lernens„Freie Arbeitsstunde“ in einer dritten<br />

Klasse: 24 Kinder sitzen in Vierergruppen zusammen. Einige lesen Wendekärtchen<br />

mit Rechtschreibregeln, andere basteln. Die Lehrerin wandert umher, nickt<br />

aufmunternd. Alle arbeiten selbstständig und diszipliniert. Ihre Aufgaben haben<br />

die Schüler frei gewählt. Fortschrittlicher Gruppenunterricht – könnte man<br />

meinen. Das Problem dabei: Zwischen den Gruppen findet kein Austausch statt,<br />

und eigentlich könnte jeder Schüler an seinem Projekt auch allein arbeiten. Die<br />

Lehrerin hat es versäumt, den Kindern zu erklären, warum sie in Gruppen zusammensitzen<br />

sollen. So wie hier sieht Gruppenunterricht an vielen Schulen aus.<br />

Der Erziehungswissenschaftler Herbert Gudjons nennt in seinem „Handbuch<br />

Gruppenunterricht“(Beltz Verlag) viele ähnliche Beispiele, die Missverständnisse<br />

beim kooperativen Lernen zeigen. Die Idee, Schüler zum eigenständigen<br />

Arbeiten zu ermutigen, ist nicht neu. Schon vor 100 Jahren entdeckten Reformpädagogen,<br />

wie wichtig selbstständiges Lernen ist. Und heute mehr denn je gilt<br />

die Erkenntnis des 2001 gestorbenen Heidelberger Psychologen Franz Emanuel<br />

Weinert: „Guter Unterricht ist ein Unterricht, in dem mehr gelernt als gelehrt<br />

wird.“ Genau das, sagen Forscher, sei bei Frontalunterricht nicht der Fall.<br />

Studien belegen, dass die Aufmerksamkeit der Schüler im Schnitt nur 4,5<br />

Minuten pro Schulstunde beträgt, wenn frontal unterrichtet wird. In der Gruppe<br />

sind sie motivierter und erwerben eine soziale Kompetenz, die jeder Schulabgänger<br />

dringend braucht: Teamfähigkeit. Gruppenarbeit gilt in der Theorie als<br />

unverzichtbar. In der Praxis gibt es verschiedene Varianten. Nicht immer wählen<br />

Lehrer die richtige Form für ein bestimmtes Lernziel, und fast nie erklären sie<br />

ihren Schülern, warum Lernen in der Gruppe sinnvoll ist. „Gerade das ist besonders<br />

wichtig, damit Schüler verstehen, worauf es bei Teamarbeit ankommt“,<br />

sagt Professor Eiko Jürgens, Erziehungswissenschaftler an der Universität Bielefeld.<br />

Pädagogen unterscheiden drei Varianten: Die kurzfristige Gruppenarbeit,<br />

bei der Lerninhalte, die vom Lehrer vermittelt wurden, eigenständig in maximal<br />

20 Minuten vertieft werden sollen. Die arbeitsteilige Gruppenarbeit, bei der ein<br />

neuer Stoff auf die Gruppen verteilt wird. Die funktionalistische Gruppenarbeit,<br />

bei der eine klare Fragestellung vorgegeben wird. „Alle Formen haben ihre Berechtigung,<br />

solange der Lehrer die Aufgaben so stellt, dass unter den Schülern<br />

Diskussionen entstehen und jede Gruppe von den Ergebnissen der anderen<br />

profitiert“, sagt Eiko Jürgens. Obwohl die Vorteile bekannt sind, ist der Anteil<br />

an kooperativen Lernformen im deutschen Schulsystem gering. Nur zehn Prozent<br />

der Lehrer praktizieren regelmäßig Gruppenunterricht, 54 Prozent<br />

manchmal, 36 Prozent nie. Nicht selten hört man Lehrer sagen: „Gruppenunterricht<br />

mache ich nicht mehr. Meine Klasse kapiert das einfach nicht.“ „Viele<br />

Lehrer glauben, dass man Schüler kontrollieren und den Stoff vorbeten muss“,<br />

hat Eiko Jürgens beobachtet. „Natürlich sind die Lehrpläne straff. In 45 Minuten<br />

ist keine vernünftige Gruppenarbeit möglich. Man kann sie aber in Doppelstunden<br />

oder bei Projekttagen anbieten.“ An den Universitäten sind Seminare<br />

30


über Gruppenunterricht für angehende Pädagogen nicht verpflichtend. Und<br />

selbst für Lehrer, die alle Grundlagen beherrschen, sind sie schwer umzusetzen.<br />

„Es braucht Zeit, Schüler an selbstständiges Denken heranzuführen. Gruppenunterricht<br />

sollte deshalb ab der Einschulung bis zur Oberstufe fester Bestandteil<br />

des Unterrichtens sein“, meint Eiko Jürgens. Gruppenunterricht muss intensiv<br />

vor- und nachbereitet werden. Auch das schreckt manche Lehrer ab. Außerdem<br />

fällt es ihnen oft schwer, den Kindern Freiräume zu lassen. „Viele Lehrer versuchen,<br />

die Gruppen zu einem bestimmten Ergebnis zu drängen“, sagt Eiko<br />

Jürgens. „Die Fragestellungen müssen vor allem in weiterführenden Schulen<br />

offen sein. Wenn in einer Geografiestunde der 8. Klasse Gruppen gebildet<br />

werden, aber alle die Aufgabe bekommen: ,Findet zehn Flüsse in Afrika‘, ist das<br />

kein Gruppenunterricht.“ Um- und Irrwege sind erwünscht Zusammen lernt es<br />

sich leichter als alleineBei der Gruppenarbeit lernen Schüler, wie man sich ergänzt,<br />

müssen sich helfen und sich gegenseitig kritisieren. Damit sie wirklich<br />

ein Team bilden, brauchen sie Unterstützung. Experten warnen deshalb davor,<br />

klassischen Unterricht zu verteufeln. „Frontalunterricht und Gruppenarbeit<br />

gegeneinander auszuspielen ist nicht hilfreich“, meint Professor Johannes<br />

Bastian, Erziehungswissenschaftler an der Universität Hamburg. „Schüler<br />

brauchen systematische Informationen. Entscheidend ist, dass sie Schüler auf<br />

eigenständiges Lernen vorbereiten.“ „In erfolgreichen Schulen steht das eigenständige<br />

Lernen im Zentrum“ Johannes Bastian, Professor für Erziehungswissenschaften<br />

an der Universität Hamburg. Vier Methoden, die sich international<br />

bewährt haben: Das Gruppenpuzzle des US-Psychologen Elliot<br />

Aronson: Je sechs Schüler bilden eine Stammgruppe. Jeder muss ein anderes<br />

Thema vorbereiten und wird so zum Experten. Dann treffen sich nur die<br />

Experten zu jedem Thema, um zu diskutieren. Anschließend kehrt jeder in seine<br />

Stammgruppe zurück und präsentiert dort seine Ergebnisse. Lernen durch<br />

Lehren heißt die Methode des französischen Professors Jean-Pol Martin. Der<br />

Lernstoff wird aufgeteilt. Kleingruppen mit drei Schülern arbeiten sich in<br />

einzelne Teilbereiche ein. Anschließend müssen alle Gruppen ihre Inhalte an die<br />

ganze Klasse vermitteln, Fragen beantworten und das Wissen ihrer Mitschüler<br />

prüfen. Stad nennt der US-Erziehungswissenschaftler Robert Slavin seine<br />

Methode: Zuerst führt der Lehrer in das Thema ein. Dann arbeiten vier gleich<br />

gute Schüler mit Aufgabenblätter zusammen. Am Ende wird das Wissen jedes<br />

Einzelnen vom Lehrer mit einem Quiz überprüft und eine Siegergruppe ermittelt.<br />

Geeignet für Fremdsprachen, Mathe und Geografie. Circ wurde von dem<br />

US-Erziehungswissenschaftler Robert Stevens entwickelt, um Lesen und<br />

Schreiben zu üben. In Vierer- oder Sechsergruppen werden Paare gebildet. Je<br />

zwei Schüler lesen sich vor, schreiben Texte, korrigieren. Zum Schluss wird<br />

jeder allein geprüft. Sein Partner muss einschätzen, ob er genug weiß, um den<br />

Test zu bestehen.<br />

31


Hessischer Landkreistag: Land soll sich von Lehrern trennen, FR 2.5.<br />

Die hessischen Landkreise wollen die Organisation von Schulen umwälzen.<br />

Lehrer sollen, wenn es nach diesen Vorstellungen geht, künftig Angestellte der<br />

Kommunen werden. Das Land wäre damit nicht mehr Arbeitgeber der etwa 55<br />

000 hessischen Lehrerinnen und Lehrer. Neu einzustellende Pädagogen hätten<br />

keinen Beamtenstatus mehr. Das geht aus einem Strategiepapier hervor, das der<br />

Hessische Landkreistag am Mittwoch in Wiesbaden vorstellte. Die Organisation<br />

betonte dabei, dass der Text über alle Parteigrenzen hinweg einstimmig beschlossen<br />

worden sei. Die Kultushoheit des Landes - also insbesondere die Entscheidungen<br />

über Schulsysteme und Lehrpläne - werde damit nicht in Frage gestellt,<br />

betonte der Präsident des Landkreistages, Alfred Jakoubek (SPD).<br />

Kultusminister Jürgen Banzer (CDU) reagierte zurückhaltend. Er wolle sich das<br />

Konzept genau anschauen, sagte seine Sprecherin Susanne Rothenhöfer. Am<br />

heutigen Freitag sitzen Vertreter der Landkreise mit Banzer zur Beratung zusammen.<br />

In der Schule der Zukunft, wie sie von den Kommunalvertretern angestrebt<br />

wird, würden Sozialpädagogen, Heilpädagogen oder Sportbetreuer<br />

Hand in Hand mit Lehrern arbeiten. Alle diese Kräfte wären kommunale Angestellte<br />

- ebenso wie die Sekretärinnen oder Hausmeister, für die schon heute<br />

die Kommunen zuständig sind. Neben dieser Gleichstellung des Personals erhoffen<br />

sich die Kreispolitiker, dass sie "das Holperige aus dem System herausnehmen"<br />

können, wie es der Offenbacher Landrat Peter Walter (CDU) beschrieb.<br />

So habe das Land in einem großen Programm Computer an die Schulen<br />

geschafft, lasse die örtlichen Träger aber nun mit der Wartung allein. "Wir<br />

müssen uns ununterbrochen mit der Schulverwaltung herumschlagen", klagte<br />

Walter. Es bleibe ein "hohes Konfliktpotenzial", wenn an der Trennung der Zuständigkeiten<br />

für die Schulverwaltung und das Lehrpersonal festgehalten werde.<br />

An den Schulen dürfe "kein Kind verloren gehen", betonte CDU-Politiker<br />

Walter. Er sprach sich dafür aus, Schulen für Lernhilfe - die ehemaligen Sonderschulen<br />

- abzuschaffen. Kinder mit besonderen Lernschwierigkeiten sollten in<br />

die Regelschulen integriert werden. Auch für die Hauptschule sehen die<br />

Kommunalpolitiker kaum noch eine Zukunft. "Diese Frage wird mit den Füßen<br />

entschieden", stellte der Groß-Gerauer Kreisbeigeordnete Thomas Will (SPD)<br />

fest. "Die Anmeldezahlen für die Hauptschulen sind einstellig." Schulen sollen<br />

nach den Vorstellungen der Landräte "zu ganztägig geöffneten Häusern des<br />

Lebens und Lernens" werden. Sie fordern, dass dort ein kostenfreies Essen zur<br />

Verfügung gestellt werden müsse, wie das in anderen europäischen Ländern<br />

gang und gäbe sei. In Hessen kann davon noch keine Rede sein. In der Landespolitik<br />

wird zurzeit darüber gestritten, wie sichergestellt wird, dass auch arme<br />

Kinder sich ein Mittagessen leisten können. Die Landesregierung hat dafür fünf<br />

Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Die SPD kritisiert, dass Städte wie<br />

Frankfurt, die Betroffenen selbst finanzielle Hilfe anbieten, keinen Cent der<br />

Landesmittel erhielten. Das sei "der Gipfel an Ungerechtigkeit".<br />

32


Legasthenie - medizinisch anerkannt, pädagogisch in Frage gestellt?, PM<br />

29.4.<br />

Weltweit sind circa 4 bis 5 Prozent der Menschen von einer Legasthenie (Lese-<br />

Rechtschreibstörung) betroffen. Das Störungsbild ist in der "Internationalen<br />

Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme" (ICD-10)<br />

dokumentiert. Zur Diagnostik hat die Deutsche Gesellschaft der Kinder- und<br />

Jugendpsychiater (DGKJP) Leitlinien verfasst. Trotz der medizinischen Anerkennung,<br />

wird die Existenz der Legasthenie von vielen Pädagogen immer<br />

noch in Frage gestellt. Insbesondere die Bildungspolitik diskutiert dieses Thema<br />

kontrovers. Doch wem nützt die Diskussion, wenn die betroffenen Kinder nicht<br />

die notwendige schulische Unterstützung erhalten. "Jedes Kind mit Problemen<br />

im Lesen und Rechtschreiben hat einen Anspruch auf individuelle Förderung,<br />

wie es in den Schulgesetzen festgeschrieben ist", fordert Christine Sczygiel,<br />

Vorsitzende des Bundesverbandes Legasthenie und Dyskalkulie (BVL). "Würde<br />

von Beginn an in den Schulen ein qualifizierter Erstunterricht stattfinden und<br />

allen auffälligen Kindern eine wirksame Förderung zuteil werden, könnte vielen<br />

Kindern großes Leid erspart bleiben. Leider sind die meisten Lehrkräfte bis<br />

heute nicht ausreichend weitergebildet, um den unterschiedlichen Formen und<br />

Ausprägungen von Lernstörungen gerecht zu werden", bedauert Christine<br />

Sczygiel. Die Schulen stehen in der Verantwortung, den Kindern Lesen,<br />

Schreiben und Rechnen beizubringen. Die Herausforderungen an Grundschullehrer<br />

sind besonders hoch, denn ein Kind mit Migrationhintergrund hat einen<br />

anderen Unterstützungsbedarf als ein Kind mit einer Legasthenie. Die<br />

Legasthenie bedeutet für viele Kinder, dass sie trotz guter Förderung oftmals bis<br />

ins Erwachsenenalter Probleme mit der Lese- und Rechtschreibkompetenz<br />

haben. Legasthenie beruht auf einer neurobiologischen Störung und das Kind<br />

hat trotz guter Begabung und hohen Lernanstrengungen ein großes Handicap<br />

beim Lesen und Rechtschreiben. Kritiker stellen immer wieder die Frage,<br />

welchen Nutzen die Diagnostik der Legasthenie hat, denn die Förderansätze sind<br />

für alle Kinder mit Rechtschreibschwierigkeiten gleich. Richtig ist, dass alle<br />

Kinder eine qualifizierte Förderung, die nah am Schriftspracherwerb ansetzt,<br />

benötigen. Der Unterschied liegt in den zu erwartenden Lernfortschritten, die bei<br />

Legasthenikern deutlich langsamer erfolgen als bei Kindern, wo die Ursache in<br />

äußeren Umständen wie z.B. längerer Krankheit begründet ist. "Aus unserer<br />

langjährigen Arbeit wissen wir, dass legasthene Kinder erleichtert sind, wenn<br />

der Kinder- und Jugendpsychiater die Diagnose "Legasthenie" stellt, denn viele<br />

zweifeln bereits an sich selbst, wenn sie nicht die gleichen Lernfortschritte<br />

machen wie ihre Mitschüler. Es macht uns daher sehr betroffen, dass man noch<br />

ein zusätzliches Problem schafft, indem man in Frage stellt, ob es eine<br />

Legasthenie gibt", kritisiert Christine Sczygiel. Der BVL fordert die Schulen<br />

auf, alle Kinder mit Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben individuell<br />

zu fördern. Wenn diese Fördermaßnahmen nicht ausreichende Erfolge zeigen,<br />

ist es dringend notwendig, die Ursache der Lernstörung abzuklären und in Ab-<br />

33


sprache mit den Eltern außerschulische Fachkompetenz zur Diagnostik einzubinden,<br />

um den Kindern gezielt helfen zu können. Nur so kann abgesichert<br />

werden, dass die Kinder mit Lernstörungen einen begabungsgerechten Schulabschluss<br />

erreichen.<br />

34


Warum Jungen es in der Schule schwerer haben, Welt 28.4.<br />

Es ist wissenschaftlich belegt: Mädchen sind in der Schule erfolgreicher als<br />

Jungen. Die Gründe dafür sind nicht nur in den selbst Jungen zu suchen –<br />

sondern auch in dem weiblich geprägten Schulsystem. Ein neues Lernprogramm<br />

soll nun gezielt Jungen fördern und ihnen Selbstvertrauen geben. Während<br />

Kevin, Max und Mehmet noch traulich neben Catharina, Gülay und Svea auf<br />

dem Klassenfoto der 1c ihre Eltern anlächeln, haben Statistiker schon über ihre<br />

Schul- und Berufschancen entschieden. Bleibt es beim derzeitigen Trend,<br />

werden die Mädchen die Jungen beim Abitur mit 56 zu 44 Prozent abhängen.<br />

Die Jungs werden zu zwei Dritteln die Eleven der Haupt- und zu drei Vierteln<br />

die Belegschaft der Sonderschulen stellen. Die Mädchen werden sich, ausgestattet<br />

mit Lernfleiß und angespornt durch Girls Day und Genderkurs genehme<br />

Ausbildungs- und Studienplätze wählen. Die Jungen werden, schlechtere<br />

Abschlussnoten im Tornister, die unnützen Lehrgänge der Berufsvorbereitung<br />

und hernach die Flure der Jobcenter füllen. Seit Jahren stehen Pädagogen und<br />

Bildungspolitiker einer wachsenden Misere gegenüber. War ehedem das<br />

katholische Mädchen vom Lande die geborene Bildungsverliererin, ist es jetzt<br />

der "Großstadtjunge mit Migrationshintergrund", so der Berliner Erziehungswissenschaftler<br />

Ulf Preuss-Lausitz. Medienwirksam zieht der Schulleiter der<br />

Wattenscheider Fröbelschule, Christoph Graffweg, mit seiner "Hartz-IV-Schule"<br />

die pädagogische Konsequenz aus der Tatsache, dass jährlich 80.000 Jugendliche,<br />

zwei Drittel von ihnen Jungen, ohne Schulabschluss auf den Arbeitsmarkt<br />

drängen. Graffweg leistet, was Schule leisten soll - auf das Leben vorbereiten.<br />

Bei Kindern aus Haupt- und Förderschulen heißt das: Leben von Hartz IV.<br />

Während Graffweg seine Jungs auf dem Schulhof mit Kreide ALG-II-<br />

Kleinstwohnungen malen lässt, streitet man in Bildungsministerien und Unis<br />

noch über Erklärungen, warum überdurchschnittlich viele Jungen in der Schule<br />

versagen. Das Land Brandenburg, dem die Abiturienten jahrgangsweise westwärts<br />

davonlaufen, wollte es genau wissen und legte 2007 einen Masterplan zur<br />

Jungenförderung vor. Erste These: Jungen versagen, weil Bildung weiblich ist.<br />

Brandenburg hat nachgezählt. Von den 14.500 Beschäftigten der Kindertageseinrichtungen<br />

war 2006 nur ein Prozent männlich. Andere Bundesländer zeigen<br />

ähnliche Werte. In den Grundschulen liegt der Anteil der Lehrerinnen im<br />

Bundesdurchschnitt bei 86,3 Prozent. Erst an Gymnasien sinkt er auf 51,2 Prozent.<br />

Männer fallen damit in der Grundschule als positive Bezugspersonen weg.<br />

Auch die Schulbücher sind mittlerweile weiblich. Frauen schreiben und<br />

redigieren sie. Und sie enthalten Mädchenthemen. Während Jungen den<br />

schnellen Kick bei der Lektüre suchen, wie ihn Sachtexte bieten, die ohne Vorrede<br />

mit hoher Spannung einsteigen, bietet Schullektüre meist "Beziehungsdramen",<br />

die eher Mädchen ansprechen. Nils, Zweitklässler, findet diese<br />

political correctness "voll langweilig". Eltern sollten Jungen den privaten Lesestoff<br />

selbst aussuchen lassen. Da ist Anleitung zum Backen sinnvoller als die<br />

Empfehlungen der Stiftung Lesen. Während Genderforscherinnen wie Ursula<br />

35


Rabe-Kleberg von der Uni Halle nicht müde werden, die Dominanz der Jungen<br />

in den Klassen zu betonen und männerlastige Darstellungen im Unterrichtsstoff<br />

aufzuzeigen, dreht der Wind in den Schulen. "Frauen wissen nicht, wie Jungen<br />

'ticken'. Wer sich heute wie ein typischer Junge aufführt, wird schnell als hyperaktiv,<br />

aggressiv oder sozial defizitär wahrgenommen und entsprechend behandelt",<br />

resümiert Buchautor und Gesamtschullehrer Frank Beuster aus<br />

Hamburg seine Erfahrungen. Beuster setzt sich seit Jahren aktiv für Jungenförderung<br />

in der Schule ein. Ulf Preuss- Lausitz formuliert noch schärfer:<br />

"Lehrerinnen bewerten Jungen unfair", denn: "Lehrerinnen wollen störende<br />

Jungen loswerden." Was Jungen hilft, sind Projekte von Männern für Jungen an<br />

der Schule. Das Netzwerk "Neue Wege für Jungs" trägt sie bundesweit zusammen.<br />

In "Haushaltsüberlebenskurse" steht Kochen-Putzen-Backen auf dem<br />

Plan. Mancher 16-Jährige muss noch lernen, dass die Pizza im Ofen nicht dann<br />

fertig ist, wenn die Schutzfolie geschmolzen ist. Jungenkurse stärken das Selbstbewusstsein,<br />

weil die mädchenfreien Zonen es erlauben, sich ungehemmt den<br />

Tücken des Alltags zu stellen. Abenteuer- Angebote vom Hochseilklettergarten<br />

bis zur Kanutour verbessern das soziale Miteinander. Teamfähigkeit ist in der<br />

Dienstleistungsgesellschaft eine Einstellungsvoraussetzung. Mancher hypermaskuline<br />

Jung-Rambo entdeckt das Teamwork erst, wenn es gilt, voll beladene<br />

Kanus über Staustufen zu schleppen und in strömendem Regen Zelte aufzubauen.<br />

Der Outdoortrip oder Konflikttrainings dienen der aktiven Vorbereitung<br />

auf Sozialberufe, in denen Männer ebenso selten wie bei Arbeitgebern begehrt<br />

sind. Während sich die Mädchen am Girls' Day beim Autobauer umschauen,<br />

besuchen die Jungen Altenheime, Kliniken und Kitas. Eltern können sich Schulkollegien<br />

nicht nach deren Männerproporz aussuchen - aber eine Schule wählen,<br />

die Jungen gezielt fördert: durch Kurse, Stunden, Cafés und Schulgärten mit<br />

dem Label "Nur für Jungen". Auch Väter können aktiv werden. Hoch im Kurs<br />

steht die Väter- Schüler-Koch-AG, in denen sie als positive Rollenvorbilder in<br />

Aktion treten. These zwei zum Jungendilemma besagt, dass nicht das<br />

Geschlecht der Lehrkräfte entscheide, da viele Jungen auch bei Lehrerinnen<br />

erfolgreich lernen. Die soziale Herkunft determiniere, wer eine Hauptschul- oder<br />

eine Gymnasialbank drücke. Die jüngste Internationale Leseuntersuchung<br />

(IGLU) unterstützt diesen Ansatz. Mittlerweile sei die Leseförderung der Jungen<br />

so erfolgreich, dass ihre Lesekompetenz nach der vierten Klasse die der<br />

Mädchen erreiche - und einen internationalen Spitzenwert. Allerdings zeigt<br />

IGLU auch, dass Kinder aus höheren sozialen Schichten deutlich besser lesen<br />

lernen als Kinder aus den unteren Schichten. Die Bildungschancen der Jungen<br />

korrelieren damit in Deutschland, weit über dem internationalen Schnitt, mit<br />

dem sozialen Status der Eltern. Kinder aus Akademikerhaushalten erhalten bei<br />

gleicher Leistung eher eine Gymnasialempfehlung als Arbeiterkinder, insbesondere<br />

solche aus Migrantenfamilien. Mädchen wird das Abitur eher zugetraut<br />

als Jungen. Ältere Jungen scheitern in der Schule oft an der beruflichen<br />

Perspektivlosigkeit, geraten messbar unter hormonellen Stress und reagieren mit<br />

Aggression. Wozu büffeln, wenn kein Lehr- oder Studienplatz in Sicht ist und<br />

36


das Hausmannsein als Rollenalternative nicht akzeptiert wird? Jungen, zumal<br />

aus unteren Schichten, kleben bei der Planung ihres Lebens weit stärker als<br />

Mädchen an der Vorstellung, "Haupternährer" zu sein. Die Aufgabe von Schule<br />

und Eltern liegt darin, Jungen von dieser Illusion zu befreien. Szenenwechsel. In<br />

der Erich-Kästner-Grundschule des Berliner Nobelstadtteils Dahlem trifft sich<br />

die sonderpädagogische Lesefördergruppe der 2c. Fünf Jungs, kein Mädchen<br />

ackern sich brav durch den Buchstabendschungel. Die meisten Lesenovizen<br />

stammen aus Akademikerhaushalten. Die Ehen sind intakt. Die Eltern bildungsbeflissen.<br />

Warum lernen diese Jungen nicht lesen? Wo Klassen- und<br />

Genderkämpfer ins Stottern geraten, halten Mediziner und Entwicklungsbiologen<br />

These drei bereit. Sie ermitteln im Einschulungsalter bei Jungen im Vergleich<br />

zu Mädchen einen Entwicklungsrückstand von sechs bis zwölf Monaten.<br />

Neuromediziner schauen Jungen und Mädchen beim Lösen von Problemen,<br />

etwa beim Lesen, ins Gehirn und messen nach, dass dabei geschlechtsspezifisch<br />

unterschiedliche Hirnregionen aktiv sind. Naturwissenschaftlich gesehen setzen<br />

wir Jungen mit einem Denkapparat an die Schulbank, der dafür nicht taugt. Ihr<br />

Testosteronhaushalt sagt: "Beweg dich! Mach Krach! Bau es auseinander, um es<br />

zu begreifen!" Die Regelschule verordnet still sitzen und abstraktes Verstehen.<br />

Weil Jungen nicht so lernen dürfen, wie sie es können, produziert der Schulbeginn<br />

einen Frust, der die ganze Schulzeit anhält. Unter biologischen Aspekten<br />

sollten Jungen später eingeschult werden. Länder wie Berlin gehen derzeit den<br />

umgekehrten Weg und schulen zwangsweise mit fünfeinhalb Jahren ein, "unabhängig<br />

von ihrem Entwicklungsstand und ihrer Leistungsfähigkeit", so die<br />

Schulverwaltung. Eltern helfen überforderten Söhnen am besten, wenn sie die<br />

Gründe für Lernprobleme nicht beim Kind, sondern im Schulsystem suchen.<br />

Das bedeutet Zeit gewähren, Leistungsdruck vermeiden und der Natur ihr Recht<br />

lassen, indem die Schuleingangsphase ein Jahr länger besucht wird - in Berlin<br />

wird das Bonusjahr nicht auf die Zahl der Schuljahre angerechnet.<br />

37


PISA-CHAMPION FINNLAND: Eine Idylle mit kleinen Rissen, Spiegel<br />

online 28.4.<br />

Gemeinschaftsschule neun Jahre lang, reichlich Pisa-Lorbeer, kein Schüler<br />

bleibt zurück - Finnland muss ein wahres Bildungsparadies sein. Ist es gar nicht,<br />

sagen dort viele Lehrer, Schüler und Eltern. Aber die Sorgen, die sie umtreiben,<br />

sind aus deutscher Sicht Luxusprobleme. Kürzlich klagte Finnlands Premier<br />

Matti Vanhanen, dass die Medien zu viel über negative Ereignisse berichteten.<br />

Und prompt verbreitete der finnische Rundfunk wieder eine schlechte Nachricht:<br />

Eine Umfrage einer Familienzeitschrift und der Lehrergewerkschaft ergab<br />

nämlich, dass Lehrer der Klassenstufen eins bis sechs zunehmend erschöpft sind<br />

und große Verhaltensprobleme bei sieben- bis zwölfjährigen Schülern beobachten,<br />

etwa ständige Unruhe und Egoismus ("Ich selbst und sofort"-<br />

Einstellung). Gründe gibt es viele: Nicht immer wird die Norm des finnischen<br />

Bildungsministeriums erfüllt, dass nur 20 Kinder in einer Klasse sein sollen,<br />

sofern ein Kind mit Förderbedarf dabei ist. Die Lehrerschaft ist unterbezahlt -<br />

ähnlich wie in allen weiblich geprägten Berufen in Finnland. Eine Rolle spielen<br />

auch unsichere Familienverhältnisse, Alkoholprobleme bei den Eltern, durch<br />

beruflichen Stress erschöpfte Mütter und Väter. 56 Prozent der Lehrer sagen,<br />

dass sie zu wenig Zeit für den einzelnen Schüler haben. "Das Ideal, jedes Kind<br />

bestmöglich individuell zu fördern, ist für mich mit meiner Stundenzahl schwer<br />

zu realisieren", so die Lehrerin Milla Toivanen. Das finnische Grundschulgesetz<br />

verpflichtet die Schulen zur Zusammenarbeit mit dem Elternhaus - ein hoher<br />

Anspruch. "Gelingen kann dies nur, wenn der Lehrer genügend professionelles<br />

Personal um sich herum hat, um Zeit und Möglichkeiten für den kontinuierlichen<br />

Kontakt mit den Eltern zu finden", sagt Esa Iivonen vom Kinderschutzbund.<br />

Die Organisation genießt in Finnland hohes Ansehen und wird auch gehört,<br />

wenn es um neue Schulgesetze oder nationale Lernpläne geht. "Mit der Erziehung<br />

sollte man schon zu Hause anfangen, damit die Lehrerin nicht erst mit<br />

den guten Sitten und dem richtigen Verhalten beginnen muss", sagte eine<br />

Lehrerin in der Befragung. Und eine andere: "Die Aufgabe des Lehrers ist es, zu<br />

unterrichten und nicht als Ersatzelternteil zu fungieren." Die Eltern sollen sich<br />

für die Bildung ihrer Kinder interessieren, ihre Wünsche werden gehört, aber<br />

Schulaufgaben und die Förderung der Kinder soll selbstverständlich die Sache<br />

der Schule sein. Die finnischen Eltern vertrauen in der Regel darauf, dass die<br />

Lehrer ihre Arbeit gut machen - und mischen sich darum auch nicht weiter ein.<br />

Bei einer Tagung finnischer Lehrer der Klassenstufen eins bis neun stand jetzt<br />

eine paradoxe Entwicklung im Mittelpunkt. Einerseits bewundern Besucher aus<br />

aller Welt die warme und lockere Atmosphäre finnischer Schulen. Deren<br />

nationale wie internationale Ergebnisse sind hervorragend - so überzeugend,<br />

dass nach Veröffentlichung der ersten Pisa-Studie 2001 ganze Karawanen von<br />

Bildungspolitikern und Schulleitern gen Norden aufbrachen, um sich staunend<br />

fortzubilden. Umgekehrt referierten Finnlands Bildungsexperten in Deutschland<br />

und anderswo gelassen, freundlich, bescheiden über die Vorzüge des finnischen<br />

38


Systems. Andererseits aber mehren sich in Finnland gerade die Lehrer-Klagen<br />

über den Schulalltag und die wachsenden Belastungen. Schon länger debattiert<br />

man heftig, ob die Kinder womöglich zuviel allein sind und was eigentlich die<br />

Eltern machen. Eine typische Kritik: "Mamas sitzen in den Kneipen, Omas<br />

gehen tanzen - und wo bleibt das Kind?" Dass kleine Finnen erst mit sieben<br />

Jahren in die Schule kommen, "liegt ursprünglich daran, dass man in der Agrargesellschaft<br />

erst ab diesem Alter dem Kind zugemutet hat, allein den langen<br />

Schulweg zu laufen", so Professorin Lea Pulkkinen, eine der wichtigsten<br />

Bildungsexperten Finnlands. Auf dem Land war nachmittags die Familie da,<br />

später gingen beide Elternteile Vollzeit arbeiten. Das Kind blieb dann den<br />

ganzen Nachmittag allein. So ist es bei vielen Schülern ab der dritten Klasse<br />

heute noch, trotz gesetzlich garantierter Nachmittagsbetreuung. Bisher gibt es in<br />

Finnland ganz wenige Ganztagsschulen. Das Projekt eines integrierten Schulalltags<br />

in den Jahren 2002 bis 2005 war erfolgreich, wurde aber von der derzeitigen<br />

Regierung aus Zentrum und nationaler Sammlungspartei auf Eis gelegt.<br />

Die Finnen jammern sozusagen auf ziemlich hohem Niveau - so könnte man es<br />

aus deutscher Perspektive sehen. Doch das Schulmassaker in Jokela vor einem<br />

halben Jahr versetzte dem Land einen Schock, die Unruhe wächst. Spätestens<br />

seitdem wogt eine Debatte, dass Finnland keineswegs ein wohl behütetes<br />

Vogelnest ist, sondern eine Gesellschaft mit Problemen wie jede andere auch.<br />

Die Finnen sind zwar ein Volk von Individualisten. Aber sie sind es seit jeher<br />

gewohnt, dass ein starker Staat für sie sorgt. Deshalb sind hohe Anforderungen<br />

an die Schulen für Eltern in Helsinki, Turku oder Mikkeli ganz normal und<br />

selbstverständlich. Während Mütter und Väter in Deutschland quälende Sorgen<br />

über die Bildung ihrer Kinder zwicken, haben die Finnen es traditionell ganz<br />

einfach: Für ihren Nachwuchs gibt es ja die Kindergärten und Schulen, die sich<br />

zuverlässig um alles Wichtige kümmern. Sorgen? Überflüssig. So einfach ist es<br />

dann doch nicht. Den Finnen wird immer klarer, dass Eltern ihre erzieherische<br />

Verantwortung nicht einfach an der Schultür abgeben können. Auf Dauer kann<br />

kein Lehrer so motiviert sein, dass er ohne Mitwirkung der Eltern immerzu gute<br />

Ergebnisse liefern könnte. Aus deutscher Sicht kann man immer noch neidisch<br />

werden, geht es doch nur um Korrekturen innerhalb eines Schulsystems, dessen<br />

Vorzüge unbestritten sind.<br />

39


Reform ohne Brechstange, Zeit 24.4.<br />

Der neue schwarz-grüne Hamburger Senat will die Grundschulzeit auf sechs<br />

Jahre verlängern. Können starke und schwache Schüler von dem Modell<br />

profitieren? Ein Gespräch mit der designierten Schulsenatorin Christa Goetsch:<br />

DIE ZEIT: In Berlin gilt die sechsjährige Grundschule einer neuen Studie zufolge<br />

als gescheitert. Nun erhebt die schwarz-grüne Koalition in Hamburg dieses<br />

Schulmodell zu ihrem zentralen Regierungsprojekt. Sind Sie nicht lernfähig?<br />

Christa Goetsch: Im Gegenteil. Zum einen ist die Studie ja umstritten. Zum<br />

anderen wiederholen wir nicht die Berliner Fehler und verlängern die Grundschulzeit<br />

bloß um zwei Jahre. In Hamburg entsteht eine neue Schulform, die<br />

Primarschule, in der alle Schüler sechs, die Vorschule mitgerechnet sogar sieben<br />

Jahre gemeinsam lernen. Leistungsschwache wie leistungsstarke Schüler werden<br />

nach ihren Talenten gefördert. Danach können die Schüler auf das Gymnasium<br />

wechseln oder auf die neue Stadtteilschule, die in Zukunft Haupt-, Real- und<br />

Gesamtschulen ersetzen wird und auch zum Abitur führen kann. ZEIT: Auch in<br />

Berlin wurde versprochen, gute und schwache Schüler optimal zu unterrichten.<br />

In der Realität sollen aber starke Schüler das Nachsehen haben. Lernpotenzial<br />

wird verschenkt. Goetsch: Die wahre Verschwendung von Talenten findet im<br />

selektiven Schulsystem statt. Studien zeigen, dass wir in Hamburg über 40 Prozent<br />

der Kinder nach der vierten Klasse falsch einsortieren. In der Haupt- und<br />

Realschule haben wir Kinder mit Gymnasialpotenzial und umgekehrt<br />

Gymnasialschüler auf Realschulniveau. Das zeigt: Zehnjährige Kinder kann<br />

man nicht auf ihre zukünftige Schullaufbahn festlegen. ZEIT: Konkret, was<br />

macht Hamburg besser? Goetsch: In der Primarschule werden Lehrer aus<br />

Gymnasien, Gesamt-, Haupt- und Realschulen ab der vierten Klasse unterrichten<br />

und für einen anspruchsvollen Fachunterricht sorgen. Das gibt es in Berlin nicht.<br />

Und wir werden die Lerngruppen erheblich verkleinern. Keine<br />

Primarschulklasse wird mehr als 25 Schüler haben, in sozialen Brennpunkten<br />

nicht mehr als 20 Schüler. Das wird einen individuell auf den Schüler zugeschnittenen<br />

Unterricht erleichtern. ZEIT: Das Unterrichten von Schülern<br />

unterschiedlicher Leistung in einer Klasse ist ein Problem, das der deutsche<br />

Lehrer nicht lösen kann. Goetsch: Warum soll hierzulande nicht klappen, was<br />

woanders sehr wohl funktioniert? Sämtliche Industrieländer außer Deutschland<br />

und Österreich trennen ihre Schüler erst nach sechs, acht oder gar zehn Jahren,<br />

ohne dass dies für die Leistungen negative Folgen hätte. Und auch deutsche<br />

Schulen schneiden dort, wo sie ihre Schüler gemeinsam unterrichten, bemerkenswert<br />

gut ab. Die Leistungsprobleme fangen nach der vierten Klasse an,<br />

wie alle vergleichenden Schuluntersuchungen zeigen. Die Hamburger Kess-<br />

Studie etwa zeigte, dass gerade Gymnasialschüler in der fünften und sechsten<br />

Klasse wenig dazulernen. ZEIT: Wird an Grundschulen besser unterrichtet?<br />

Goetsch: Zumindest haben viele Grundschulen in den vergangenen 20 Jahren<br />

eine pädagogische Kompetenz aufgebaut, von der sich andere Schulformen viel<br />

abschauen können. Grundschulpädagogen haben gelernt, wie man unterschied-<br />

40


lichen Schülern gerecht werden kann, indem man den Unterricht individuell gestaltet.<br />

Neben dem klassischen Frontalunterricht brauchen wir andere Lehrmethoden<br />

wie Wochenplanarbeit, Stationenlernen oder Werkstattunterricht.<br />

ZEIT: Und diese schönen Methoden wollen Sie nun den Gymnasiallehrern beibringen?<br />

Goetsch: Wir werden Lehrer, die an Primarschulen wechseln, verpflichtend<br />

mindestens anderthalb Jahre umfassend fortbilden. Zudem steht eine<br />

neue Pädagogengeneration vor den Toren der Schulen. In den nächsten drei<br />

Jahren werden in Hamburg 40 Prozent der Kollegen aufgrund der<br />

Pensionierungswelle ausgetauscht werden. Auch das ist eine große Chance.<br />

ZEIT: Können die Grundschulen auch von den Sekundarschullehrern<br />

profitieren? Goetsch: Selbstverständlich. Die stärker fachlich orientierte<br />

Perspektive von Gymnasiallehrern wird gerade den leistungsstarken Grundschülern<br />

gut tun. Wir müssen wegkommen von den alten Standesschranken<br />

zwischen Hauptschullehrern und Philologen, Grundschulpädagogen und<br />

Sekundarschullehrern. Deshalb werden wir die Schulaufsicht schulformübergreifend<br />

organisieren. Das Gleiche gilt für die Ausbildung. Sobald wie möglich<br />

werden Lehrer aller Schulformen zumindest im Bachelor gemeinsam studieren.<br />

Zudem fördern wir den Schulwechsel. Kein Lehrer soll lebenslang an einer<br />

Schule unterrichten. ZEIT: Der Koalitionsvertrag verspricht eine Fortbildungsoffensive,<br />

kleinere Klassen, mehr Mittel für die Sprachförderung, 50 zusätzliche<br />

Ganztagsschulen. Wer soll das bezahlen? Goetsch: Die Stadt. Bildung ist die<br />

erste Priorität des kommenden Senats. Da sind sich Grüne und CDU einig. Wir<br />

werden umschichten. ZEIT: Wie viel Geld hat die designierte Bildungssenatorin<br />

Goetsch genau? Goetsch: In vier Jahren fließt eine Summe im dreistelligen<br />

Millionenbereich zusätzlich in die Schulen. Eine ähnliche Summe stellt der<br />

Senat dafür zur Verfügung, dass das letzte Kitajahr beitragsfrei wird und alle<br />

Eltern eine Betreuungsgarantie ab dem zweiten Lebensjahr haben. Ich kenne<br />

keine Landesregierung, die auf einen Schlag pro Kind mehr Geld für Bildung<br />

lockermacht. ZEIT: Eine bauliche Erweiterung der Grundschulen ist aber nicht<br />

vorgesehen. Stattdessen sollen die Primarschulen mit weiterführenden Schulen<br />

kooperieren. Wie soll das gehen? Goetsch: Rund ein Drittel der Schulen wird<br />

alle sechs Jahrgänge in einem Gebäude unterrichten. Die anderen sollen die<br />

Räume von nahe liegenden Gymnasien oder Stadtteilschulen nutzen und mit<br />

diesen zusammenarbeiten. Welche Schulen kooperieren, werden wir in den<br />

nächsten zwei Jahren gemeinsam mit Eltern, Vertretern des Stadtteils und Schulleitungen<br />

planen. Auch diese regionale Schulplanung ist etwas Neues. ZEIT:<br />

Wird die Zusammenarbeit der Primarschulen mit weiterführenden Schulen die<br />

Selektion nicht verschärfen? Da entstehen sozusagen gymnasiale Primarschulen,<br />

die bildungsbewusste Eltern bei der Einschulung aussuchen werden. Goetsch:<br />

Ich halte diese Angst für übertrieben. In einigen Grundschulen, etwa in den<br />

reichen Elbvororten, wechseln bereits heute 90 Prozent der Schüler auf die<br />

Gymnasien des Stadtteils. Zudem bleibt die Primarschule selbstständig, egal in<br />

welchen Räumen die Schüler lernen. Sie entscheidet, für welche weiterführende<br />

Schule ihre Absolventen das Potenzial haben. Übrigens: Sind die Schüler erst<br />

41


auf dem Gymnasium, gibt es kein Runterstufen. Die Lehrer tragen die Verantwortung<br />

für ihre Schüler bis zur 10. Klasse. ZEIT: Wie sollen sie das<br />

machen? Das Sitzenbleiben wollen Sie ebenso einschränken. Goetsch: Durch<br />

intensive Förderung. In den USA gibt es die Einrichtung der Summer School.<br />

Dort können Schüler in den Sommerferien ihre Defizite aufarbeiten. Solche<br />

Unterstützungsmodelle streben auch wir an. ZEIT: Der Widerstand gegen Ihr<br />

Modell in der Öffentlichkeit ist riesig. Das Hamburger Abendblatt ist voll von<br />

kritischen Leserbriefen. Goetsch: Man muss genau schauen, wer da protestiert.<br />

Eine Umfrage unter Eltern von Grundschulkindern hat eine klare Mehrheit für<br />

die Verlängerung der gemeinsamen Schulzeit ergeben. Selbstverständlich<br />

müssen wir auch die Gymnasialklientel überzeugen. Das ist unsere Aufgabe.<br />

ZEIT: Oder diese Eltern schicken ihre Kinder auf Privatschulen. Goetsch: Ein<br />

seltsames Argument, wenn man die Privatschulen kennt. Waldorfschulen etwa<br />

praktizieren integrativen Unterricht. Die evangelischen Privatschulen in<br />

Hamburg unterrichten ganztägig und jahrgangsübergreifend und wollen alle<br />

Schüler nach der vierten Klasse zusammenlassen. Genau wie wir uns das vorstellen.<br />

ZEIT: Wie lange wird der Umbau des Hamburger Schulsystems dauern?<br />

Goetsch: Es wird keine Reform mit der Brechstange, wie das bei der Schulzeitverkürzung<br />

auf acht Jahre der Fall war. Die ersten Primarschulen werden im<br />

Schuljahr 2010/11 mit Klasse 5 beginnen. Mehr als ein Einstieg ist in vier<br />

Jahren nicht zu schaffen. Bis empirische Ergebnisse belegen, dass wir richtig<br />

gehandelt haben, werden Jahre vergehen. ZEIT: Da werden Sie nicht mehr im<br />

Amt sein. Goetsch: Richtig, die Früchte der Reform werden andere ernten, aber<br />

vor allem die Kinder.<br />

42


Reformvorschläge: Unterrichtsgarantie a. D., FR 28.4.<br />

Mit einem Strauß von Reformvorschlägen wirbelt der amtierende Kultusminister<br />

Jürgen Banzer (CDU) Hessens Schulpolitik durcheinander. Im Anschluss an den<br />

Besuch der Wöhlerschule in Frankfurt legte Banzer am Montag im kleinen Kreis<br />

seine Vorstellungen dar, die er als Konzept in etwa vier Wochen vorlegen will.<br />

Demnach soll die äußerst umstrittene Unterrichtsgarantie plus weitgehend zugunsten<br />

einer vor allem für jüngere Jahrgänge "verlässlichen Schule" aufgegeben<br />

werden. "Bei der Konzeption der Unterrichtsgarantie ist mit uns wohl<br />

der Perfektionismus durchgegangen", sagte Banzer; es gehe künftig vor allem<br />

um eine sichergestellte Betreuung, weniger um Unterricht. "Es ist eine Fiktion,<br />

wenn man glaubt, beim Ausfall einer Lehrkraft nahtlos Stoffvermittlung durchführen<br />

zu können", so Banzer. Keinerlei Stundenausfall will Banzer lediglich für<br />

die Jahrgangsstufen 1 bis 6 statt wie zurzeit bis Klasse 10 garantieren. Ältere<br />

Schüler könnten nach Hause geschickt werden oder Aufgaben zum selbstständigen<br />

Arbeiten erhalten. Unterrichtsgarantie plus heißt, dass bis zur zehnten<br />

Klasse an Hessens Schulen vormittags kein Unterricht ausfallen soll. So hatte es<br />

die damalige Kultusministerin Karin Wolff (CDU) versprochen. Heiß umstritten<br />

ist, dass die Schulen dafür Aushilfskräfte engagieren – Eltern, Ex-Lehrer oder<br />

Studenten. Von Kritikern gefordert werden mehr "echte" Lehrkräfte. Kultusminister<br />

Banzer rückt nun weit von Wolffs Konzept ab. Den Vertretungs- Unterricht<br />

für die unteren Jahrgangsstufen sollen fest an den Schulen angestellte Mitarbeiter<br />

geben, die nicht zwingend ausgebildete Lehrer sein müssten. Die<br />

Schulen sollen diese selbst auswählen und dafür ein Budget erhalten. Bisher<br />

müssen die Schulen externe Vertretungskräfte für jeden Einsatz per Vertrag neu<br />

verpflichten. Dieser Bürokratismus entfiele. "Es geht mehr um die Qualität als<br />

um die Statistik", sagte Banzer. Weitreichende Änderungen soll es auch beim<br />

Turbo-Abitur geben. "Die Belastungen der Schüler machen mir Sorgen, das<br />

müssen wir ändern", sagte Banzer. So will er die Verordnung seiner Vorgängerin<br />

Karin Wolff (CDU) aufheben, wonach die Gymnasien Nachmittagsunterricht<br />

in der Mittelstufe vermeiden sollen. Wolff hatte diese Verordnung in<br />

Reaktion auf heftige Proteste gegen die Belastungen durch die verkürzte Schulzeit<br />

bis zum Abitur (G8) erlassen. "Schulen müssen viel mehr Freiheit bekommen,<br />

das zu tun, was sie für richtig halten", so Banzers Maxime. Sie<br />

wüssten selbst am besten, was nötig sei. "Wir müssen das Gängeln lassen." So<br />

kann sich Banzer vorstellen, dass Gymnasien wählen dürfen, ob sie bei G 8<br />

bleiben oder zum alten Abitur zurückkehren möchten - auch wenn er eine Rückkehr<br />

in der Regel für falsch halte. Zugleich dringt Banzer darauf, bereits zum<br />

nächsten Schuljahr die Lehrpläne deutlich von zu viel Stoff zu "entfrachten".<br />

"Wir brauchen Mut zur Lücke", so Banzer. Schulen sollen auch darüber entscheiden<br />

dürfen, wie viel Unterricht sie verpflichtend am Nachmittag anböten.<br />

Mehr Geld als bisher könne er aber nicht für den Ausbau von Ganztagsschulen<br />

bereitstellen, schränkte Banzer ein. "Da wir wenig zu verteilen haben, müssen<br />

43


wir bei der Verwendung so wenig wie möglich regeln", sagte er. Insgesamt gebe<br />

Deutschland zu wenig für seine Schulen aus.<br />

44


Nach der Grundschule braucht jeder Vierte Nachhilfe, AP 5.5.<br />

Nach der Grundschule braucht etwa jeder vierte Schüler in Deutschland Nachhilfe.<br />

Diese Schätzung nennt eine Studie, die Bundesbildungsministerin Annette<br />

Schavan (CDU) am Montag in Berlin vorlegte. Eltern zahlen den<br />

professionellen Helfern ihrer Sprösslinge jährlich bis zu drei Milliarden Euro.<br />

Das Gutachten sollte nach Schavans Worten dazu dienen, Daten und Fakten zu<br />

dem heiß diskutierten Thema Nachhilfe zu liefern. Allerdings ergab es, dass die<br />

Forschungslage lückenhaft und unübersichtlich sei. Immer wieder ist von<br />

Schätzzahlen die Rede. So wird etwa das Marktvolumen privater Nachhilfe mit<br />

einer Spannbreite zwischen 700 Millionen und drei Milliarden Euro angegeben.<br />

Insgesamt nimmt den Ergebnissen zufolge etwa jeder achte bis zehnte Schüler<br />

private Nachhilfe. In den Sekundarstufen I und II - also nach der Grundschulzeit<br />

- ist es «schätzungsweise jeder Vierte». In den alten Bundesländern seien es 25<br />

bis 30 Prozent, in den neuen nur elf bis 16 Prozent. Mathe und Deutsch<br />

Während im Westen vor allem Gymnasiasten und Realschüler Nachhilfe nutzen,<br />

sind es im Osten eher Hauptschüler, wie es weiter hieß. Die Mehrheit der Nachhilfeschüler<br />

sei 12 bis 16 Jahre alt. Benötigt wird Hilfe bei Mathematik,<br />

Englisch oder anderen Fremdsprachen sowie Deutsch. Während Jungen häufiger<br />

als Mädchen Deutsch-Nachhilfe brauchen, ist es bei Mathematik umgekehrt. Als<br />

Gründe für die hohe Nachhilfequote nennen die Autoren unter anderem die<br />

schlechte Situation am Arbeits- und Ausbildungsmarkt, die gute Noten besonders<br />

wichtig erscheinen lasse, sowie hohe Erwartungen der Eltern an die<br />

eigenen Kinder und geringes Vertrauen in die staatlichen Schulen. «Nachhilfe<br />

wird in erster Linie zur Verbesserung von Noten in Anspruch genommen, wobei<br />

nicht unbedingt die Versetzung gefährdet sein muss», heißt es in der Studie. Zur<br />

«Lösung des Nachhilfe- und damit letztlich eines Schulproblems» seien weitreichende<br />

strukturelle Veränderungen der Schulen nötig. Gleichzeitig zeichnet<br />

das Gutachten auch einen internationalen Vergleich: Während in England,<br />

Österreich und Polen die Nachhilfe-Quote in etwa auf deutschem Niveau liege,<br />

erhielten in asiatischen Staaten wie Korea oder Japan 50 bis 70 Prozent der<br />

Oberstufenschüler private Nachhilfe. Schavan erklärte: «Mit dem Gutachten<br />

legen wir die empirische Basis und schaffen eine Grundlage, um Diskussionen<br />

im Bildungsbereich nicht Spekulationen zu überlassen.»<br />

45


Deutschland sucht den Superlehrer, Focus Schule 5.5.<br />

Heute werden Lehrer nicht mehr als reine Wissensvermittler gesehen. Vielleicht<br />

hilft es Carola Tiggemann, dass sie nicht immer Lehrerin werden wollte.<br />

„Zumindest bin ich nicht aus der Schule direkt wieder in die Schule gegangen“,<br />

sagt die 30-Jährige und berichtet von ihrem Anglistikstudium, Praktika etwa in<br />

der Bibliothek und von Kommilitonen, die heute in der Wirtschaft sind. Dann<br />

erzählt sie von dem Projekt mit „schwierigen“ Jugendlichen, denen sie nach<br />

ihrem Magister half, Grundschulstoff nachzuholen – und wie sie plötzlich<br />

merkte, dass ihr die Arbeit mit den Jugendlichen gefiel, das Erziehen, Anleiten,<br />

Erklären, schlicht: das Unterrichten. Wie die Idee keimte, Lehrerin zu werden.<br />

Und wie sie schließlich den Lehrermangel zum Quereinstieg nutzte. Anleiten,<br />

erklären, unterrichten – was aus der eigenen Schulzeit noch einfach und vertraut<br />

klingt, ist ein Berufsbild im Umbruch. Wo sich Pädagogen noch vor einigen<br />

Jahren vor allem als Wissensvermittler gesehen haben – und oft immer noch<br />

sehen –, sollen sie künftig eher coachen als lehren, mehr begleiten als vorgeben,<br />

die Schüler beraten, statt sie nur zu unterrichten. „Ich sehe mich vor allem als<br />

Moderatorin und Anleiterin“, beschreibt Tiggemann, inzwischen Referendarin<br />

an einer Dortmunder Realschule, ihr Selbstverständnis und führt damit ihre<br />

Rolle aus dem Projekt nach dem Studium erfolgreich fort. Andere Einsteiger tun<br />

sich schwerer: Weil sie die neue Rolle in der eigenen Schulzeit kaum vorgelebt<br />

bekommen, beginnen viele junge Leute das Lehramtsstudium mit einer veralteten<br />

Berufsvorstellung – und sind überrascht, wenn sie entdecken, was alles<br />

in diesem Job steckt. Als ob Schulen Konzerne wären, sprechen Lehrer gern<br />

vom Unterricht als „Kerngeschäft“. Ein treffender Vergleich: Was auch immer<br />

man darunter versteht, Unterrichten ist das, was Pädagogen gelernt haben, wofür<br />

sie bezahlt werden und worauf sie eigentlich ihre Kraft konzentrieren sollten; es<br />

ist ihre Daseinsberechtigung. Doch wie bei vielen Firmen sind auch im Lehrerberuf<br />

im Lauf der Zeit neue Aufgaben hinzugekommen. Jede für sich genommen<br />

ist sicherlich sinnvoll, aber zusammen kosten sie viel Zeit und Kraft –<br />

und am Ende leidet das Kerngeschäft. Ein Unternehmen würde in diesem Fall<br />

vermutlich die Randgeschäfte abgeben, um den Kern zu stärken. Als Chefs der<br />

Lehrer ersinnen Bildungspolitiker aber immer neue Aufgaben. „Ich hätte mir nie<br />

vorgestellt, dass es in diesem Beruf um so viel mehr geht als nur das Fachliche“,<br />

bekennt Referendarin Tiggemann: Berufsberater sei man beispielsweise,<br />

Seelenhelfer, Erzieher, Organisator und natürlich jederzeit Vorbild. Klar stößt<br />

sie gelegentlich an ihre Grenzen, manche Schülerschicksale gehen ihr nahe, da<br />

nimmt sie schon mal was mit nach Hause. Aber: „Ich hätte mir andererseits auch<br />

nicht vorgestellt, dass der Job so abwechslungsreich und spannend ist.“<br />

Lehrerinnen und Lehrer sollen heute Sozialarbeiter und Systembetreuer sein,<br />

Fachleute und Generalisten, Führungskräfte und Teamplayer, Entertainer,<br />

Manager und bei Bedarf auch mal Reiseleiter. Sie sollen mit pubertierenden<br />

Jugendlichen ebenso zurechtkommen wie mit rechthaberischen Eltern, sollen<br />

integrieren und sortieren, fördern und fordern und dabei gleich noch alle Un-<br />

46


gerechtigkeiten unserer Gesellschaft ausmerzen. Ach ja: Und wer in Online-<br />

Lehrerbewertungsportalen wie Spickmich.de nicht ganz doof dastehen will,<br />

sollte auch noch Gespür für Coolness und Style mitbringen. „Wir verabschieden<br />

uns von der Illusion, Lehrer/innen müssten immer alles können“, steht vielsagend<br />

in der Internet- Bedienungsanleitung für das gut besuchte Lehrerforum<br />

NRW. Ein Satz, mit dem man den ganzen Wandel des Berufsbilds überschreiben<br />

könnte. Obwohl erst seit Anfang 2005 online, zählt das Pädagogenportal<br />

inzwischen weit über 7000 Beiträge, in denen Lehrerinnen und Lehrer<br />

sich von Kollegen und Experten Rat holen zu Themen wie Unterrichtspraxis,<br />

Schulrecht und Stressbewältigung. Und in denen sie immer wieder nach einem<br />

klaren Selbstbild suchen. Bernhard Sieland, der das Lehrerforum als Professor<br />

am Lüneburger Institut für Psychologie entwickelt hat, fasst seine Erfahrungen<br />

so zusammen: „Bei den Eltern herrscht oft eine Kundendienstmentalität. Ich<br />

gebe mein Kind wie ein Auto in der Werkstatt ab – und erwarte, dass hinterher<br />

alles gerichtet ist, was ich nicht hinbekommen habe.“ Das Hauptproblem der<br />

Pädagogen sei gar nicht so sehr das Image als „faule Säcke“ – sondern der<br />

Glaube an den allwissenden Lehrer, der aus jungen Menschen im Alleingang<br />

gebildete Leute macht. Das Lehrerbild des 19. Jahrhunderts sieht der Bielefelder<br />

Erziehungswissenschaftler Josef Keuffer in diesem Anspruch weiterleben:<br />

„Kein Lehrer und kein Professor kann heute in seinem Fach alles wissen.“ Er<br />

bringt das veraltete Berufsbild in Verbindung mit neuen Anforderungen: „Wer<br />

sich heute nur als Fachlehrer sieht, begreift seinen Beruf definitiv zu eng. Wenn<br />

aber Lehrkräfte für alles und jedes zuständig sein sollen, haben sie überhaupt<br />

keinen klaren Aufgabenbereich mehr.“ In der Sprache der Wirtschaft heißt das:<br />

ohne Kerngeschäft kein Geschäft. Um dieses Dilemma zu lösen, rät der Erziehungswissenschaftler<br />

dazu, sich mehr Zeit zum Nachdenken zu nehmen.<br />

„Lehrkräfte müssen erkennen: Wer ist jetzt dran – der Lernhelfer, der Sozialarbeiter,<br />

der Psychologe? Aber sie müssen nicht all diese Aufgaben in einer<br />

Person erfüllen.“ Ganz ähnlich sieht das Psychologe Sieland. Auch er plädiert<br />

für mehr Selbstreflexion, liefert aber gleich das nächste Problem mit: Dafür<br />

brauchen Lehrer Zeit. „Unser Lehrer- Arbeitszeitmodell ist über 100 Jahre alt.<br />

Und was ist an Aufgaben seitdem dazugekommen? Gewaltprävention,<br />

Migranten-Integration, individuelle Förderung .&#8201;.&#8201;. Das geht<br />

überhaupt nur, wenn sich die Lehrkräfte beim Unterricht entlasten und die<br />

Schüler selbstständiger lernen lassen. Auch wenn dieser Rollenwechsel auf<br />

beiden Seiten sicher eine Schülergeneration lang dauern wird: Das ist das<br />

Berufsbild der Zukunft.“ Es ist also nicht ganz falsch, wie die Quereinsteigerin<br />

Carola Tiggemann ihre Aufgabe versteht. Und so wie sie werden nun lauter<br />

engagierte, abgebrühte, flexible und doch gefestigte junge Leute gesucht – um<br />

gleich nach der Ausbildung von der passenden Schule gebucht zu werden. Denn<br />

auch darin sind sich die Experten einig: Weil Schulen je nach Lage, Schülerschaft<br />

und pädagogischem Konzept unterschiedliche Anforderungen an ihre<br />

Lehrkräfte stellen, dürfen Bewerber nicht mehr vom Ministerium einem<br />

Arbeitsplatz zugewiesen werden. „Eigentlich sollten die Rektoren in die Hoch-<br />

47


schulen und Studienseminare gehen und sich schon frühzeitig für sie passende<br />

künftige Lehrer aussuchen“, schlägt Experte Keuffer vor. Dann würden Bewerber<br />

wohl nach anderen Kriterien ausgewählt als nach Noten. „Gerade die so<br />

genannten Soft Skills sind für den Berufserfolg immens wichtig“, sagt Psychologe<br />

Sieland. „Eigenschaften wie Geduld, Belastbarkeit und die Bereitschaft,<br />

sich auch mal unbeliebt zu machen, sollten Eignungsvoraussetzungen sein.<br />

Wem es dann noch gelingt, sich zu freuen darüber, was er als Lehrer bewegen<br />

kann, und nicht zu verzweifeln darüber, was er nicht ändern kann, ist sicher<br />

richtig.“ Ein richtiger Superlehrer eben.<br />

48


"Wir müssen Leistungsträger befördern", PM 5.5.<br />

"Wir wollen besondere Leistungsträger befördern können. Denn Beförderungen<br />

bleiben das Kernelement, um herausragende Leistungen honorieren zu können."<br />

Dies betonte Kultusminister Siegfried Schneider heute in München. Jüngst hatte<br />

das Kabinett die Eckpunkte zur Dienstrechtsreform beschlossen. "Deswegen<br />

freut es mich besonders, dass es uns im Bayerischen Ministerrat gelungen ist,<br />

auch Grund-, Haupt- und Realschullehrer für außergewöhnliches Engagement<br />

zu befördern, ohne dass sie eine Funktionsstelle übernehmen müssen. Sie stellen<br />

erhebliche Kraft und Kreativität in den Dienst der jungen Generation und betätigen<br />

sich als Schatzsucher bei jungen Menschen." Geplant ist, dass künftig<br />

auch ohne eine ausgewiesene Funktion Grund- und Hauptschullehrkräfte bis zur<br />

Besoldungsgruppe A 13 und Realschullehrkräfte bis in die Besoldungsgruppe A<br />

13 plus Zulage aufrücken können. Bisher konnten Grund-, Haupt- und Realschullehrkräfte<br />

nur befördert werden, wenn sie besondere Funktionsstellen in<br />

der Schulleitung oder als Seminarrektoren übernommen haben. "Leistung soll<br />

sich lohnen", dieser Grundsatz könne künftig schneller als bisher realisiert<br />

werden. Dazu trägt bei, dass überdurchschnittlich leistungsstarke Beamte<br />

künftig schneller in den Stufen der Grundgehaltstabellen vorrücken und eine<br />

befristete Zulage erhalten können. Minister Schneider zeigt sich zuversichtlich,<br />

dass sich durch die attraktivere Laufbahngestaltung und die entsprechenden Zulagen<br />

qualifizierte Nachwuchskräfte leichter gewinnen lassen werden.<br />

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Auslese im Schulsystem verschlingt Millionen, PM 7.5.<br />

Die Auslese im bayerischen Schulsystem verschlingt Jahr für Jahr Millionen.<br />

Geld, das dringend erforderlich wäre - beispielsweise für mehr Personal an<br />

Schulen. Stattdessen pumpt der Freistaat große Summen in pädagogisch<br />

fragwürdige Sitzenbleiber-, Wiederholer- und Schulabbrecherrituale. Die Kosten<br />

belaufen sich allein für das Schuljahr 2006/07 auf insgesamt rund 280 Millionen<br />

Euro. „Eine Vollzeitlehrkraft kostet im Schnitt 70.000 Euro pro Jahr“, rechnete<br />

der Präsident des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes (BLLV),<br />

Klaus Wenzel, vor. „Somit könnten für die durch Wiederholer und Schulabbrecher<br />

entstehenden Zusatzkosten von 280 Millionen Euro rund 4.000 zusätzliche<br />

Lehrer/innen beschäftigt werden. Der derzeitige Personalbestand könnte<br />

um fast fünf Prozent aufgestockt werden.“ So verließen 24,4 Prozent aller<br />

Schulabgänger die Schule, ohne den Abschluss erreicht zu haben, der für die<br />

jeweilige Schulart vorgesehen ist. Insgesamt wurden 36.400 Schüler/innen nicht<br />

versetzt, eine Klasse wiederholten 49.200. „So ein Schulsystem ist nicht - wie so<br />

oft behauptet - ‚begabungsgerecht’“, betonte Wenzel. „Vielmehr verfolgt die<br />

Schulpolitik unterschiedliche Strategien der Auslese.“ Ist die Auslese an der<br />

Grundschule wesentlich gekennzeichnet durch die Anbahnung der Verteilung<br />

der Schüler auf die drei folgenden Schularten, so ist sie an Gymnasien im<br />

Wesentlichen vom Versagen der Schüler geprägt. Nur 64 Prozent der Abgänger<br />

verließen 2006 das Gymnasium mit einem Abitur, 36 Prozent hatten dies nicht<br />

erreicht. Ausgrenzung wird am Gymnasium als Auslesestrategie am häufigsten<br />

praktiziert. Eine „Scharnierfunktion“ zwischen Gymnasium und Hauptschule<br />

kommt der Realschule zu. Zum einen nahm die Realschule 7.600 Abgänger aus<br />

den Gymnasien auf, gleichzeitig produzierte sie mit 10.000 Nicht- Versetzungen<br />

den höchsten Anteil aller Schularten. Im Gegensatz zu den Gymnasiasten<br />

blieben Realschüler, die das Klassenziel nicht erreicht hatten, zum großen Teil<br />

an der Schule und wiederholten die Klasse (84,4%). Entsprechend geringer war<br />

der Anteil von Abgängern, die an die Hauptschule verwiesen wurden (10,5%).<br />

Das vermehrte Verbleiben an der Schule bewirkt, dass die Abschlussquote an<br />

Realschulen mit 84% deutlich höher liegt als an Gymnasien (64%). 16% der<br />

Abgänger hatten den mittleren Schulabschluss nicht erworben. Die Realschule<br />

hatte mit 9.100 Schülern den größten Anteil von Schülern, die durch einen<br />

Schulartwechsel eine Jahrgangsstufe zweimal besuchten. Diese Aufstiegswiederholungen<br />

erfolgen vor allem aus der Jahrgangsstufe 5 der Hauptschule.<br />

Wenzel: „Durchlässigkeit als zweite Chance des Schulartwechsels hat in einem<br />

selektiven Schulsystem den Preis, ein Schuljahr zu wiederholen.“ „Unruhig“<br />

geht es an den Hauptschulen zu. Hier ist die Schülerfluktuation stark, auch die<br />

Wiederholerquote ist mit 4,9% hoch. 9500 Hauptschüler erreichten 2006/07 das<br />

Klassenziel nicht. 4.200 mussten die Klasse wiederholen, 4.500 verließen die<br />

Schule ohne Abschluss. An Hauptschulen ist der Anteil der „freiwilligen<br />

Wiederholer“ mit 7.600 Schülern besonders hoch (59% der Wiederholer). Sie<br />

konzentrieren sich auf die Jahrgangsstufe 9. Es handelt sich dabei um Schüler,<br />

50


die keine Ausbildungsstelle gefunden haben. „Diese Jahrgangsstufe wird zur<br />

Warteschleife umfunktioniert“, kritisierte Wenzel. 11.400 der leistungsstarken<br />

Schüler verlassen die Hauptschule in den Jahrgangsstufen 5 bis 7 in Richtung<br />

Gymnasium, Realschule und Wirtschaftsschule. Im Gegenzug nehmen die<br />

Hauptschulen 4.900 Schüler auf, die in Gymnasien, Realschulen oder Wirtschaftsschulen<br />

gescheitert sind. Wenzels Fazit: „An den bayerischen Gymnasien<br />

wird ‚ausgesiebt“, an den Realschulen müssen viele Schüler/innen ‚schmoren’,<br />

weil sie ein Jahr wiederholen müssen, und an den Hauptschulen herrscht ein<br />

‚Kommen und Gehen’. Wir brauchen keine Beschwichtigungs- und Beschwörungsdebatten,<br />

sondern professionell vorbereitete und in einem breiten<br />

Konsens durchgeführte Reformen. Mit sparsamer Auslese und intensiver<br />

Förderung werden mehr junge Menschen die Schule als leistungsstarke, lebensbejahende<br />

und kompetente Persönlichkeiten die Schule verlassen als bisher.“<br />

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Grundschule: Kritik an Vergleichstests, Focus Schule 7.5.<br />

Pisa, Iglu und jetzt auch noch Vera – eine vergleichende Bildungsstudie nach<br />

der anderen prasselt derzeit auf deutsche Schüler nieder. „Vergleichsarbeiten in<br />

der Grundschule“, kurz Vera, heißt die neuste Lernstandserhebung, die bis Ende<br />

der Woche zum ersten Mal deutschlandweit in den Grundschulen durchgeführt<br />

wird. Ihr Ziel ist es den Wissensstand der Drittklässler aller 16 Bundesländer in<br />

Deutsch und Mathe vergleichbar zu machen. Doch noch bevor die Tests in allen<br />

Bundesländern zu Ende geführt worden sind, hagelt es schon Kritik: Die Aufgaben<br />

seien mit 17 Seiten in Deutsch und 21 Seiten in Mathe „zu umfangreich“,<br />

findet Gitta Franke- Zöllmer, Landesvorsitzende des Verbands Bildung und Erziehung<br />

in Niedersachsen. Im Gespräch mit FOCUS-SCHULE kritisiert sie,<br />

dass den Kindern zu viele unterschiedliche Aufgabenstellungen zugemutet<br />

werden würden. Schüler in diesem Alter seien es nicht gewohnt, in einem Test<br />

unterschiedliche Textsorten bearbeiten zu müssen. „In der Regel besteht in der<br />

Grundschule eine Klassenarbeit entweder aus einem Sachtext, einem Gedicht<br />

oder einer Verständnisfrage und nicht aus allen drei Formen.“ Auch Margitta<br />

Rudolph, Vizepräsidentin der für Lehrerausbildung in Niedersachsen zuständigen<br />

Universität Hildesheim ist mit den Aufgabenstellungen nicht einverstanden:<br />

In den Tests würden Inhalte abgefragt, die zum Teil noch gar nicht<br />

Gegenstand des Unterrichts waren. Dadurch könne es „zu erheblichen<br />

Frustrationserlebnissen bei den Kindern kommen, und das wäre aus<br />

pädagogischer Sicht natürlich ein ganz schlimmer Effekt.“ Doch nicht nur in<br />

Niedersachsen betrachtet man die Testaufgaben mit Skepsis, auch beim<br />

Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverband (BLLV) zeigt man sich unzufrieden:<br />

„Die Vorstellung, dass man an einem Tag, mit einem Test das ganze<br />

Wissen eines Faches abtasten kann ist falsch,“ findet Präsident Klaus Wenzel.<br />

„Solche Aufgaben fragen statt dem generellen Bildungsstand lediglich das<br />

Wissen aus dem Kurzzeitgedächtnis ab.“ Wenzel steht den „ständigen<br />

Leistungserhebungen an deutschen Schulen“ kritisch gegenüber: „Allein vom<br />

Wiegen wird eine Sau nicht fett“, fasst er das Problem zynisch zusammen. Bei<br />

den Tests werde lediglich gemessen, was die Lehrer ohnehin schon wüssten.<br />

Wenn es allerdings anschließend darum ginge die aufgedeckten Schwierigkeiten<br />

zu beheben, dann hieße aus den Schulbehörden: „Es sind nicht genügend Mittel<br />

da.“ Wolf-Jürgen Karle, Pressesprecher des Bildungsministeriums in Rheinland-<br />

Pfalz, sieht die Aufregung um die bundesweiten Vergleichsarbeiten gelassener:<br />

Sein Ministerium ist Initiator der Vera-Studie und führt die Erhebung in Rheinland-Pfalz<br />

nun bereits zum vierten Mal durch. „Auch bei uns gab es anfänglich<br />

kritische Stimmen – das ist nur eine Frage der Gewohnheit“, ist er sich sicher.<br />

Kein Schüler müsse sich durch die Tests unter Druck gesetzt fühlen, schließlich<br />

handle es sich nicht um benotete Klassenarbeiten. „Vera ist nur als Rückmeldung<br />

an die Lehrer gedacht,“ erklärt Karle. Die Ergebnisse sollen einen Vergleich<br />

innerhalb der eigenen Schule, aber auch mit Klassen anderer Institutionen<br />

ermöglichen.<br />

52


Eltern nicht geeignet, telepolis 6.5.<br />

Das dreigliedrige Schulsystem ist unter Beschuss. Auch wenn die in den 1970er<br />

und 1980ern propagierten Gesamtschulmodelle sich in der Praxis einen<br />

schlechten Ruf erwarben, waren es nicht nur die Pisa- und Iglu-Studien, welche<br />

den Kultusministern der deutschen Länder ins Gedächtnis riefen, dass die Praxis<br />

des gegliederten Schulsystems in Deutschland gelinde gesagt nicht ganz unproblematisch<br />

ist. Dabei wäre gegen eine Trennung nach Leistungsfähigkeit im<br />

Grunde wenig zu sagen: Theoretisch werden damit Schüler in Bereichen, in<br />

denen sie aufnahmefähiger sind, nicht durch Mitschüler gestört oder gelangweilt<br />

– und andere erhalten die Chance, zumindest so viel aufzunehmen, wie sie in<br />

einem gewissen Zeitabschnitt können und die Gelegenheit, zu zeigen, ob sie<br />

eventuell in Fächern wie "Handarbeit" oder Sport glänzen können. In der Praxis<br />

entwickelten sich im dreigliedrigen Schulsystem allerdings mehrere Probleme,<br />

die es nicht nur extrem undurchlässig, sondern auch extrem ineffektiv werden<br />

ließen. Zum einen verkam die Hauptschule, zumindest in machen Bereichen, zu<br />

einer Restschule, wo Prestigeerwerb eher über Gewaltausübung als durch Lernerfolge<br />

funktioniert. Das zeigt sich auch eindrücklich in Zahlen, nach denen 39<br />

Prozent der Hauptschüler höchstens mit "Basiskompetenzen" abschließen – was<br />

heißt, dass sie seit der vierten Klasse nichts Wesentliches mehr dazugelernt<br />

haben. Zum anderen ist Voraussetzung für das Funktionieren solch einer<br />

Trennung, dass die Kriterien dafür möglichst objektive sind. Der schlechteste<br />

Mechanismus für Objektivität ist, wenn man Eltern die Entscheidung darüber<br />

lässt: Dann nämlich gibt es eine starke Tendenz dazu, das die Trennung nicht<br />

nach Leistungsfähigkeit, sondern nach sozialer Schicht erfolgt: Gebildete Eltern<br />

schicken ihre Kinder sehr wahrscheinlich auf ein Gymnasium – koste es, was es<br />

wolle. Bildungsferne Schichten verbieten häufig sogar einen Übertritt, weil sie –<br />

zurecht – eine Entfremdung ihrer Kinder von ihrer eigenen Welt befürchten. Das<br />

derzeitige Mischsystem aus Notendurchschnitt und Elternwillen führt nicht zu<br />

einer wirklich objektiven Trennung: Gebildete Eltern erzwingen durch Nachhilfe<br />

und ähnliche Methoden mit Gewalt, dass auch ungeeignete Sprösslinge<br />

Übertrittszeugnisse bekommen und später auf höheren Schulen häufig den<br />

Lehrbetrieb behindern. Dagegen nützt ein Übertrittszeugnis auch sehr klugen<br />

Schülern aus bildungsfernen Schichten nichts, wenn die Eltern sich nicht explizit<br />

für den Übertritt auf eine höhere Schule entscheiden. Die in der letzten<br />

Woche in Bayern geäußerte Forderung von SPD, Grünen und Lehrergewerkschaft,<br />

dass alleine der "Elternwille" für den Übertritt auf eine höhere Schule<br />

maßgeblich sein soll, ist deshalb kein Gegengift für die Mängel des dreigliedrigen<br />

Schulsystems, sondern verstärkt vielmehr dessen negative Auswirkungen.<br />

Sinnvoller wäre es, die zwangsläufig voreingenommenen Eltern aus<br />

der Entscheidung komplett auszuklammern und Schüler, welche die Leistungsfähigkeit<br />

und –bereitschaft zeigen, automatisch einer höheren Schule zuzuweisen.<br />

Allerdings würden sich beim derzeitigen System der Leistungsermittlung<br />

zwei Probleme weiterhin stellen: Begüterte Eltern könnten weiterhin<br />

53


mit Nachhilfe ungeeignete Schüler in das Gymnasium pressen während<br />

bildungsferne Eltern Druck auf ihre Kinder ausüben könnten, in der Schule nicht<br />

"zu gut" zu sein. Besser geeignet als die Abfrage von Gelerntem wären deshalb<br />

– trotz ihrer bekannten Mängel – Intelligenztests, auf die Eltern ihre Kinder nur<br />

bedingt vorbereiten können. Auch eine Verschiebung der Übertrittsgrenze auf<br />

die sechste Klasse ist nur sehr bedingt geeignet, dem Missstand abzuhelfen:<br />

Zwar mag sich der eine oder andere Schüler aus einem bildungsfernen Elternhaus<br />

mit zwölf gegen die Eltern vielleicht schon etwas besser durchsetzen<br />

können als mit zehn – an der grundsätzlichen Problematik ändert dies jedoch<br />

nichts. Der dritte Mangel in der Praxis ist die fehlende Durchlässigkeit und Anschlussfähigkeit:<br />

Es ist wenig sinnvoll, einen Schüler, der das Leistungsniveau<br />

an einem Gymnasium nicht halten kann, dort zu belassen. Noch weniger Sinn<br />

macht es allerdings, Schüler, deren Potential sich erst im Laufe der Zeit entfaltet,<br />

auf unterfordernden oder belastenden Anstalten zu belassen. Der<br />

bayerische Kultusminister Schneider kündigte nun an, die Probleme des Systems<br />

mit einer stärkeren "Durchlässigkeit" angehen zu wollen. So sollen etwa die Anschlussmöglichkeiten<br />

der verschiedenen Schultypen erweitert werden. Doch was<br />

die Landesregierungen hier mit der einen Hand geben, das haben sie mit der<br />

anderen schon doppelt und dreifach weggenommen: Etwa durch die Einführung<br />

von starren Regelstudienzeiten und –gebühren, welche vor allem Absolventen<br />

des Zweiten Bildungsweges treffen, die im Regelfall neben ihrem Studium Geld<br />

verdienen müssen und deshalb länger brauchen. Noch wesentlich schlimmer<br />

wirkt sich für sie allerdings die Bologna-Reform mit ihrer wesentlich stärkeren<br />

Verschulung des Studiums und den deutlich unflexibleren Präsenzpflichten aus.<br />

54


Sitzenbleiben? Wird abgeschafft!, Welt 4.5.<br />

Berlin prescht voran, Hamburg folgt, und auch in Bayern gibt es eine interne<br />

Anweisung: Künftig sollen möglichst wenig Schüler sitzen bleiben. Doch ist das<br />

Streben nach niedrigen Wiederholerquoten sinnvoll? Und hilft es den Schülern<br />

wirklich? Report aus dem Schulalltag: Paul steht in Mathe auf Fünf, in Deutsch<br />

und Geschichte ebenso. Das sind zwei Fünfer zu viel, um in die elfte Klasse zu<br />

kommen, und bis zum Notenschluss ist es nicht mehr lange hin. Paul sagt selbst,<br />

dass er mehr lernen könnte. Er könnte an der Tafel vorrechnen oder einen Fleißaufsatz<br />

schreiben. Aber das müsse er nicht tun, sagt er und lacht. Wie einer, der<br />

gewohnt ist, riskant zu pokern und immer zu gewinnen. Denn letztlich haben die<br />

Lehrer immer ein Auge zugedrückt und Paul in die nächsthöhere Klasse geschubst<br />

- und das ausgerechnet in Bayern, wo Noten angeblich immer für<br />

Leistung stehen. Was Paul nicht weiß: Die Fünfer-Bremse kommt direkt aus<br />

dem Kultusministerium. Viele Lehrer an Gymnasien beschönigen die Leistung<br />

ihrer Schüler, um keinen Ärger zu bekommen. Sie tricksen, drehen und<br />

schummeln. Lehrer, die nicht mitmachen, werden zum Teil massiv unter Druck<br />

gesetzt. Jedes Jahr rücken deutschlandweit 60 000 Gymnasiasten nicht in die<br />

nächste Jahrgangsstufe vor. 2000 waren es bundesweit noch 3,2 Prozent aller<br />

Gymnasiasten, die eine Klasse wiederholt haben, im vergangenen Schuljahr nur<br />

noch 2,4. In Berlin und Hamburg hofft man längst auf weniger Wiederholer. In<br />

der Hansestadt einigte sich die künftige schwarz-grüne Regierung darauf,<br />

Schüler, die erst einmal auf dem Gymnasium sind, bis zur zehnten Klasse nicht<br />

herunterzustufen. Auch die Ehrenrunde soll künftig tabu sein. Der Senat in<br />

Berlin geht noch weiter. Eine Gesetzesänderung soll den Schulen ermöglichen,<br />

auf Noten bis zur achten Klasse ganz zu verzichten. Ursprünglich war das als<br />

Pilotprojekt für 16 Schulen vorgesehen, auf Drängen der Linkspartei können<br />

nun alle Schulen die Regelung für sich in Anspruch nehmen, wenn Schulkonferenz<br />

und Bildungsverwaltung zustimmen. Nordrhein-Westfalen will offenlegen,<br />

an welcher Schule, wie viele Schüler durchfallen. Bayern geht subtiler<br />

vor. Ende Januar verschickte das Münchner Kultusministerium an alle Schulleiter<br />

eine E-Mail. Darin werden sie aufgefordert, "die Lehrkräfte weiterhin<br />

dafür zu sensibilisieren, dass ein gutes Gymnasium die Schüler entsprechend<br />

ihrer Leistungsfähigkeit fördert und unterstützt". Konkreter wird die E-Mail am<br />

Ende. Da heißt es, dass die Ministerialbeauftragten gebeten wurden, "auf<br />

Schulen, die auffallend hohe Quoten von Schulabgängern und Wiederholern<br />

aufweisen, zuzugehen, um sie gezielt zu beraten". Übersetzt aus dem Beamtendeutsch<br />

versteckt sich hinter der E-Mail eine Ohrfeige für Direktoren, an deren<br />

Schulen mehr Schüler sitzen bleiben als andernorts, sagt Heinz-Peter Meidinger,<br />

Vorsitzender des Deutschen Philologenverbandes. "Wer Beratung nötig hat,<br />

schafft es nicht allein." Natürlich könne sitzenbleiben durch Weisung von oben<br />

abgeschafft werden. Doch sinnvoller wäre, schwache Schüler mehr zu fördern,<br />

sagt Meidinger. In Sommerschulen gebe es Bemühungen oder durch Förderunterricht.<br />

Aber fast überall sei zu wenig Geld und Personal da. Schneller und<br />

55


einfacher sei es, weniger zu fordern und notfalls zu tricksen. Auch Dieter Wolz,<br />

Ex- Schulreferent der Stadt Nürnberg, wird deutlich: "Das, was das Ministerium<br />

hier macht, hat nicht den Zweck, letztlich Schülern zu helfen. Es hat den Zweck<br />

zu verhindern, dass man eigene Wiederholungsklassen einrichten muss für die<br />

G9-Schüler, weil die ins G8 nicht reinpassen, wenn sie durchfallen." Das klingt<br />

kompliziert, erklärt sich aber durch die Verkürzung der Schulzeit an den<br />

Gymnasien. Vor allem im letzten Jahrgang des neunjährigen Gymnasiums (G9)<br />

dürfen Schüler nicht sitzenbleiben. Denn Wiederholer müssten ins G8 wechseln<br />

und wegen der neuen Lehrpläne eigentlich gleich zwei Jahre zurückgestuft<br />

werden. Dann müssten sie aber mit jüngeren Schülern lernen. In der Praxis<br />

wurde das daher meist vermieden. Jetzt soll diese Taktik ausgeweitet werden.<br />

Ob das gut ist für Schüler wie Paul, darüber streiten Pädagogen. Für Lehrer wird<br />

es auf jeden Fall schwierig. Sie bekommen Druck von ihren Chefs. Ingrid Summ<br />

unterrichtet Deutsch und Geschichte an einem Gymnasium in der Nähe von<br />

Augsburg. Dieser Name ist nicht ihr echter Name, sie muss anonym bleiben,<br />

sonst ist sie ihren Job los. An ihrer Schule gibt es in den vergangenen Monaten<br />

immer häufiger Ärger wegen Noten. Zuerst nur am Schuljahresende, jetzt bereits<br />

bei schlecht bewerteten Klassenarbeiten. Summ bekam schon öfter von ihrem<br />

Chef zu hören, dass es allein an ihr liege, Schüler zu motivieren. Eine Fünf im<br />

Jahreszeugnis stehe für pädagogisches Versagen des Lehrers - ein Vorwurf, der<br />

sie besonders zu treffen scheint. Sie, die seit 17 Jahren unterrichtet und Schülern<br />

sogar ihre Handynummer gibt, wenn sie Probleme haben. Früher habe sie für<br />

Klassenarbeiten zuerst die Aufgaben entworfen, die Antworten dazu und die<br />

Punkteverteilung notiert, sagt Summ. Mit der Hälfte der Punkte gab es eine<br />

Vier. Jetzt korrigiert sie zuerst mit Bleistift und schaut, was die Schüler haben.<br />

Haben viele eine Frage nicht gut beantworten können, gibt sie weniger Punkte<br />

darauf oder streicht sie ganz weg - ungerecht für die, die viel Zeit dafür verwendet<br />

haben. Die Grenzen zwischen den Noten zieht sie so, dass der Durchschnitt<br />

dem Chef gefällt. Besonders findig sei sie in Sachen Extrapunkten geworden.<br />

Inzwischen gebe sie auch Oberstufenschülern Punkte für schöne<br />

Schrift. Aufgaben, bei denen Schüler ihr Wissen auf andere Bereiche übertragen<br />

müssen, die in der Bildungsdebatte hoch gelobten Transferfragen, fallen ganz<br />

weg. Ähnliche Klagen hört Josef Kraus, Vorsitzender des Deutschen Lehrerverbandes,<br />

aus ganz Deutschland. "Die Rahmenbedingungen passen nicht, um<br />

Schüler gezielt fördern zu können, damit sie nicht sitzen bleiben", sagt Kraus.<br />

"So wissen sie sich nicht anders zu helfen, als gerade an der Grenze zwischen<br />

Fünf und Vier mit den Anforderungen zurückzugehen." Sitzenzubleiben ist unerquicklich<br />

für alle, heißt es bei der OECD, der Organisation für wirtschaftliche<br />

Zusammenarbeit und Entwicklung, die in Deutschland mit ihrer Pisastudie<br />

Schüler, Eltern und Lehrer regelmäßig in helle Aufregung versetzt. Aus ökonomischer<br />

Sicht bedeut sitzen bleiben Mehrausgaben und verschwendet Zeit.<br />

Einmal wollte Summ nicht mehr mitmachen. Der Deutschaufsatz war eine<br />

Sechs, sie gab eine Fünf. Der Schulleiter wollte eine Vier. Sie weigerte sich,<br />

etwas zu ändern. Das erledigte dann ein anderer. Die Fünf im Notenbogen war<br />

56


gestrichen. Sie sagt, dass das nur im Auftrag des Schulleiters geschehen konnte.<br />

Als Paul von der Debatte hört, ist er zufrieden. Ja, zum Förderunterricht sei er<br />

mal eingeladen worden. Zweimal sei er dort gewesen. Am Ende wird alles gut,<br />

sagt er. Das hat er in der Schule gelernt.<br />

57


"Wir leben nur noch für die Schule", Hamburger Abendblatt 10.5.<br />

2500 Gymnasiasten boykottierten den Unterricht. Die Arbeitsbelastung durch<br />

die verkürzte Schulzeit ist ihnen einfach zu hoch. Streiken kann eigentlich nur,<br />

wer auch arbeitet. So viel Stunden wie Angestellte in einer Firma arbeiten<br />

Niedersachsens Jugendliche aber für die Schule, seit die Regierung das Abitur<br />

nach acht statt bisher neun Jahren Gymnasium eingeführt hat. Rund 2500<br />

Schüler haben gestern in Lüneburg deshalb gestreikt: Demonstration statt Unterricht<br />

lautet das Motto, das das "Bündnis Schulstreik" ausgegeben hatte. "Nehmt<br />

G8 zurück!", forderte Nane-Lena vom Gymnasium Herderschule auf ihrer<br />

Pappe. "Nach der Schule mache ich Hausaufgaben und lerne bis 5 oder 6 Uhr",<br />

sagt die Elfjährige. "Zum Spielen mit meinen Freunden habe ich nie Zeit, das ist<br />

blöd." Früher hat sie gern gemalt, auch das geht kaum mehr. Größer noch ist die<br />

Belastung in den höheren Klassen: Nora (15) hat auf ihr Plakat geschrieben "G8<br />

- nicht unter diesen Umständen". Um 6 Uhr steht sie auf, um vom kleinen Dorf<br />

Holzen zur Wilhelm-Raabe-Schule nach Lüneburg zu fahren. "Nach der siebten<br />

Stunde fährt kein Bus, dann muss ich in der Stadt warten und bin gegen 16 Uhr<br />

zu Hause", sagt sie frustriert. Dann erst isst sie, denn eine Mittagsversorgung<br />

gibt's in ihrer Schule nicht, außerdem möchte die 15-Jährige ohnehin "lieber mit<br />

der Familie essen als in einer Mensa". Was sie außerdem stört: "Der Stoff wird<br />

immer mehr, wir leben nur noch für die Schule, alles andere bleibt auf der<br />

Strecke." Ihrer Freundin Jennifer (15) geht's ähnlich: "Wenn ich nach der<br />

Sechsten Schluss habe, warte ich zwei Stunden auf den Bus nach Barendorf",<br />

sagt die Herderschülerin. In der Mensa wird sie oft nicht satt und macht notgedrungen<br />

auch dort Teile ihrer Hausaufgaben. Bis die Gymnasiastinnen frei<br />

haben, ist es meist schon 17 Uhr. "Mit aller Macht gegen G8" streikt auch Anna<br />

Carina (16) von der Herderschule. "Ich mache mein Abitur gleichzeitig mit dem<br />

Jahrgang unter mir und muss jetzt dreimal so gut sein, um einen Studienplatz zu<br />

ergattern. Eigentlich müssten die Vorbereitungen auf G8 schon in der Grundschule<br />

beginnen." Ihre Geschwister in der 6. Klasse kämen kaum noch dem<br />

Stoff hinterher - "und ich auch nicht wirklich". Ihr Ziel, Schwedisch zu lernen,<br />

hat sie erst mal aufgegeben. Ihr Freund, Elftklässler Lenn, ist vom Turbo-Abi<br />

zwar nicht betroffen, ging gestern aber trotzdem mit auf die Straße: "Für bessere<br />

Schulbedingungen. Die Räume sind viel zu klein und baufällig, die Akustik<br />

schlecht. Hinten kriegt man kaum etwas mit, weil die Klassen nicht auf 30<br />

Schüler ausgerichtet sind." Stadtschülersprecher Friedemann Ewert (20) vom<br />

Gymnasium Herderschule fasst die Forderungen des Lüneburger Streik-<br />

Bündnisses zusammen: "So wie jetzt geht es nicht. Entweder Abi nach acht<br />

Jahren mit weniger Stoff oder ein Abitur nach neun Jahren. Gerade die<br />

Schwächeren werden weiter abfallen. Förderstunden sind keine Lösung - Unterricht<br />

haben wir schon genug."<br />

58


Die falschen Studenten werden Lehrer, Financial Times Dt. 13.5.<br />

Es gibt Studenten, bei denen man ziemlich sicher ist, die machen ihren Weg.<br />

Nora von Alemann ist so ein Fall: Erst Klassen- und Schulsprecherin. Dann,<br />

nach dem Abi, war sie in Indien, um dort mit behinderten Kindern zu arbeiten.<br />

Jetzt studiert sie und entwickelt nebenher bei einer Stiftung Unterrichtsvorschläge<br />

zum Thema Wirtschaftsethik. Zwei Juroren waren sich gleich einig: Die<br />

22-Jährige hat alles, was eine Führungskraft braucht. In einem Assessment-<br />

Center bewies sie, dass sie nicht nur engagiert ist, sondern auch eine Gruppe<br />

leiten kann, gutes Allgemeinwissen hat und binnen einer Stunde einen Vortrag<br />

über Terrorismus vorbereiten kann. Nora von Alemann will Lehrerin werden.<br />

Ein Beruf, der nicht unbedingt dafür steht, Führungspersönlichkeiten anzuziehen.<br />

"Das ist eines der größten Probleme im deutschen Bildungssystem", sagt<br />

Michael Baer. Er leitet das Studienkolleg der Stiftung der Deutschen Wirtschaft,<br />

das erste Stipendienprogramm für Pädagogen. Im vergangenen Jahr wurden die<br />

ersten 60 Kandidaten ausgewählt, unter ihnen Nora von Alemann. "In Unternehmen<br />

ist es üblich, Spitzenkräfte zu fördern, in Schulen ist das völlig unterentwickelt",<br />

sagt Baer. Dabei belegen etliche Studien den Zusammenhang<br />

zwischen guten Schülern und guten Lehrern. Finnland - seit Jahren Spitzenreiter<br />

bei den Pisa-Vergleichstests - schickt seine Pädagogen durch ein hartes Aufnahmeverfahren.<br />

Sie müssen eine schriftliche Prüfung ablegen und ihr Berufsziel<br />

vor einer Auswahlkommission begründen. Singapur und Hongkong<br />

rekrutieren nur die besten 30 Prozent eines Jahrgangs fürs Klassenzimmer, Südkorea<br />

wählt sogar noch härter aus. In Deutschland hingegen haben Lehramtsstudiengänge<br />

keine besonders hohen Zugangshürden. Der Effekt: Jeder vierte<br />

Lehrer sieht seine Berufswahl als Notlösung, wie eine Langzeitstudie des Erziehungswissenschaftlers<br />

Udo Rauin belegt. Der Frankfurter Professor begleitete<br />

1100 Studenten an pädagogischen Hochschulen in Baden-Württemberg. Die<br />

Mehrheit trieb nicht pädagogisches Interesse in den Beruf, sondern Motive wie<br />

"die Nähe zum Heimatort" oder die Suche nach einem sicheren Arbeitsplatz.<br />

"Gerade die Veranstaltungen in den Erziehungswissenschaften werden oft nur<br />

abgesessen", berichtet von Alemann, die an der Uni Hamburg eingeschrieben<br />

ist. Selbst die, die schon im Studium merken, dass sie kein Interesse am Unterrichten<br />

haben oder ständig überfordert sind, landen am Ende oft in den Schulen,<br />

sagt Rauin. "Die Abschlussprüfungen sind eine reine Showveranstaltung, ein<br />

Durchfallen ist kaum möglich." Auch Psychologieprofessor Uwe Kanning trifft<br />

immer wieder auf Studenten, "die Lehrer werden wollen, aber Angst haben, vor<br />

Gruppen zu sprechen". Deshalb entwickelte er einen Test, den jetzt alle angehenden<br />

Pädagogen an der Uni Münster ausfüllen müssen - anonym. Nach 100<br />

Fragen erhalten sie ein Feedback. "Die Studenten müssen ihre Schwächen erkennen<br />

und überlegen, ob sie daran noch etwas ändern können", sagt Kanning.<br />

Für ein offizielles Auswahlverfahren eigne sich der Test aber nicht. "Er ist leicht<br />

zu manipulieren und funktioniert nur, wenn man ehrlich ist." Österreich hat<br />

solche Selbsterkundungsverfahren inzwischen an allen pädagogischen Hoch-<br />

59


schulen eingeführt. Zudem werden die Studenten ab dem ersten Semester zu<br />

Praktika an Schulen geschickt. "Das zieht eher Leute an, die sich für Pädagogik<br />

interessieren", sagt Erziehungswissenschaftler Johannes Mayr, der die Aussagen<br />

von Studenten in Österreich und Deutschland verglichen hat. "Die<br />

fachorientierten deutschen Unis sprechen eher Leute an, die sich zum Beispiel<br />

für Physik interessieren, aber nicht unbedingt für Kinder." So kommen hierzulande<br />

immer noch viel zu viele Lehrer an die Schulen, die ihr Fachwissen kaum<br />

vermitteln können und im Klassenzimmer scheitern. Rauin hat bei seiner Untersuchung<br />

festgestellt, dass es nicht - wie lange vermutet - die extrem engagierten<br />

Pädagogen sind, die im Beruf ausbrennen. "Es sind die, die noch nie gebrannt<br />

haben." Die Leuphana Universität Lüneburg will aufgrund solcher Ergebnisse<br />

als eine der ersten Hochschulen Auswahlgespräche für angehende Lehrer einführen.<br />

Auch Passau diskutiert Auswahltests. Die Uni Bamberg hat Bewerbungsgespräche<br />

für Lehrer allerdings schon wieder eingestellt. Sie hatte<br />

nicht genügend Bewerber und musste im Nachrückverfahren auch die zuvor<br />

Aussortierten aufnehmen. Damit deutsche Unis zehnmal so viele Nachfragen<br />

fürs Lehramt bekommen, wie sie Plätze haben, wie in Finnland, müssen sich<br />

auch die Rahmenbedingungen ändern, sagt Rauin. Er plädiert dafür, "falsche<br />

Anreize wie das Beamtensystem" abzuschaffen und Leistungen zu belohnen,<br />

etwa durch schnelle Karrieren. So trainiert Nora von Alemann in Workshops<br />

Organisationsmanagement und Schulentwicklung. Sie kann sich gut vorstellen,<br />

Rektorin zu werden. Dafür wird sie jedoch Jahre brauchen und sich Schritt für<br />

Schritt von einer Beamtenstufe zur nächsten nach oben kämpfen müssen.<br />

"Manchmal habe ich schon Angst, dass mir im Alltag die Motivation verloren<br />

geht", sagt sie. "Aber bis ich fertig bin, kann sich ja einiges ändern."<br />

60


Verzweifelt gesucht / Grund- und Hauptschulen fehlt es an Rektoren,<br />

Parlament 13.5.<br />

Wie eine Mission nahm Hans-Jürgen Watty seinen Doppeldienst an: Der<br />

Direktor der katholischen St.Cäcilia-Grundschule in Düsseldorf ist seit sechs<br />

Monaten Chef von zwei Schulen. "Ich bin Diener zweier Herren", sagt er. Er<br />

habe sich verpflichtet gefühlt, die Kollegien nicht im Stich zu lassen. Watty ist<br />

ein Glücksfall für die Stadt und Regierung: Allein in der Landeshauptstadt<br />

fehlen 17 Grundschulrektoren. Und mit jedem Schuljahr wird der Mangel<br />

schlimmer. Im bevölkerungsreichsten Bundesland sind nach Angaben der Bezirksregierungen<br />

an fast 250 Grundschulen und rund 40 Hauptschulen die<br />

Rektorenstellen unbesetzt. Die Problematik treffe nicht alle Bundesländer gleich<br />

stark, berichtet der Verband Bildung und Erziehung (VBE). Während in Bayern<br />

und im Saarland offene Stellen recht schnell wieder besetzt würden, seien die<br />

"Chefsessel" an Grund- und Hauptschulen in Sachsen-Anhalt, Berlin und Nordrhein-Westfalen<br />

sehr oft und lange verwaist.<br />

61


Schulabbrecher: Länder sollen fördern oder zahlen, Zeit 13.5.<br />

Waren es 8,7 Prozent eines Altersjahrgangs, die die Schule vorzeitig verließen,<br />

2006 immer noch 7,9 Prozent. Trotz mehrfacher Zusagen der Kultusminister,<br />

die Quote mindestens zu halbieren, hat sich die Situation in den vergangenen<br />

zehn Jahren kaum verbessert. Die Vorsitzende des Bundestags- Bildungsausschusses,<br />

Ulla Burchardt (SPD), hat nun gefordert, dass die Länder "viel entschiedener<br />

als bisher" gegen den vorzeitigen Schulabbruch junger Menschen<br />

vorgehen sollen. Ansonsten sollten sie verpflichtet werden, für jeden Jugendlichen<br />

ohne Hauptschulabschluss künftig einen "nicht unerheblichen Ausgleichsbeitrag"<br />

an den Bund oder direkt an die BA zu zahlen, sagte Burchardt<br />

am Montag. Die Schulabbrecher kosten den Bund viel Geld: Insgesamt 3,3<br />

Milliarden Euro hat die Bundesagentur für Arbeit (BA) im vergangenem Jahr<br />

für die Förderung von Jugendlichen an der Schwelle zwischen Schule und<br />

Arbeitsmarkt aufgebracht. Weit über 500 Millionen Euro wurden investiert,<br />

damit Schulabbrecher den Hauptschulabschluss nachholen oder zusätzlich gefördert<br />

wurden, um sie nachträglich fit für eine Ausbildung zu machen. "Es ist<br />

den Beitragszahlern der Bundesagentur - also Beschäftigten wie Unternehmen -<br />

nicht länger zuzumuten, jedes Jahr mehrere Hundert Millionen Euro für die Versäumnisse<br />

der Länder in der Schulpolitik aufzubringen", sagt die SPD-<br />

Bildungsexpertin. Ein Ausgleichsbeitrag könne ähnlich wie der Aussteuerungsbetrag<br />

für nicht vermittelte Langzeitarbeitslose als "Strafzahlung" nach den<br />

Hartz-IV- Arbeitsmarktgesetzen organisiert werden. Wenn die Länder ständig<br />

auf ihre föderalen Kompetenzen pochten, könnten sie die Kosten ihrer Versäumnisse<br />

nicht einfach Bund und Bundesagentur aufbürden, sagte Burchardt.<br />

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) forderte ein abgestimmtes<br />

Bund- Länder-Konzept gegen den Schulabbruch. Zunächst stünden<br />

die Länder mit mehr Förderung und einer besseren Ausstattung der Schulen in<br />

der Pflicht, sagte die stellvertretende GEW-Vorsitzende Marianne Demmer.<br />

Wenn ein Jugendlicher es dann immer noch nicht schaffe, müsse gezielter als<br />

bisher geholfen werden. In dem Zusammenhang wies Demmer darauf hin, dass<br />

der Hauptschulabschluss mittlerweile "eine auf dem Arbeitsmarkt überholte<br />

Minimalqualifikation" sei. Nicht einmal die Hälfte der Absolventen mit Hauptschulabschluss<br />

erhalte laut Bildungsbericht eine qualifizierte Ausbildung. Selbst<br />

etwa ein Viertel der erfolgreichen Realschul-Abgänger habe Probleme. "Die<br />

zweite Chance auf nachträgliche Bildungsabschlüsse muss deshalb generell ausgeweitet<br />

werden", sagte Demmer. Unter den Schulabbrechern finden sich deutlich<br />

mehr junge Männer als Frauen. Fast jeder zehnte deutsche Junge (9,1 Prozent)<br />

verlässt die Schule noch vor dem Hauptschulabschluss. Bei den deutschen<br />

Mädchen ist dies nur etwa jedes Zwanzigste (5,3 Prozent). Noch höher liegen<br />

die Zahlen bei Kindern aus Migrantenfamilien: Fast ein Viertel (22,1 Prozent)<br />

der Jungen geht ohne Abschluss von der Schule, bei den Mädchen ist es etwa<br />

jedes Siebte (13,1 Prozent).<br />

62


Bildungschancen nur für Reiche?, ZDF 11.5.<br />

Wer es sich leisten kann, bekommt heutzutage das Beste für sein Kind. Der<br />

Markt der Privatschulen boomt - vor allem die betuchte Mittelschicht investiert<br />

gerne in die Bildung des eigenen Nachwuchses. Doch was passiert mit denen,<br />

die übrig bleiben? Erfinder, Ballerina oder auch Ärztin: Die kleinen Kinder in<br />

einer privaten Grundschule in Berlin haben große Träume und vielleicht werden<br />

diese sogar wahr. Friseurin, Fliesenleger oder Apothekenhelferin: Die großen<br />

Kinder der Pestalozzi-Hauptschule in Ludwigshafen haben dagegen nur kleine<br />

Träume und selbst die werden nicht wahr. Keiner von den Schülern der Klasse<br />

9c hat bisher einen Ausbildungsplatz. C stehe für clever und cool, sagen sie, c<br />

steht aber auch für chancenlos. "Mir wird schon angst und bange. Es sind<br />

Kinder, das ist unsere nächste Generation, die mit sehr viel Ablehnung ins<br />

Leben - wie man so schön sagt - ins Leben entlassen werden", erzählt die Hauptschullehrerin<br />

Irmtraud Rehwald. In der Klasse 1n der Berliner Privatschule sieht<br />

die Bildungswelt ganz anders aus. N steht für Nightingale, Miss Nigtingale, ihre<br />

Lehrerin aus London. "Es geht alles um die Kinder. Wir wollen, dass sie am<br />

besten lernen und am glücklichsten sind. Wir arbeiten alle daran, ich glaube, das<br />

funktioniert ganz gut", so die Lehrerin Susannah Nightingale. Die Schule unterrichtet<br />

zweisprachig. Kinder, die vorher nur die deutsche Sprache kannten,<br />

lernen spielend Englisch. Eine Lehrerin und eine Erzieherin für höchstens 20<br />

Kinder - es ist fast zu schön, um wahr zu sein. Wer es sich leisten kann, bekommt<br />

das Beste für sein Kind. Der Preis: Bis zu 890 Euro Schulgeld im Monat.<br />

Phorms AG nennt sich der Träger der Privatschule. Phorms zielt auf einen<br />

Massenmarkt, auf die bildungsorientierte Mittelschicht. "Sowohl Lehrer als auch<br />

Kinder haben enorm Spaß an dem, was sie machen", erklärt die Geschäftsführerin<br />

Bea Beste. "Sie sind unglaublich motiviert und dadurch ist die<br />

Atmosphäre auch insgesamt geprägt von Motivation, guter Laune, aber auch von<br />

Leistungswillen." Der Wille ist auch an der Hauptschule in Ludwigshafen vorhanden,<br />

aber es fehlen die Mittel. Von Staat und Gesellschaft im Stich gelassen,<br />

zu wenig gefördert, steht am Ende eine verlorene Generation. "Es wäre grundsätzlich<br />

notwendig, eine radikale Schulreform zu machen. Man müsste zusätzliches<br />

Personal, Schulsozialarbeiter, Schulpsychologen, mehr Lehrer, kleinere<br />

Klassen und auch finanziell größere Ressourcen zur Verfügung stellen", fordert<br />

Lothar Blase, Rektor der Pestalozzi-Schule. Von Anfang an haben die Schüler<br />

der privaten Grundschule in Berlin gute Aufstiegschancen und erarbeiten sich<br />

ihren Weg, den Träumen entgegen. Die Hauptschule dagegen ist zur Endstation<br />

geworden. Die Schüler der Klasse 9c haben keine Chance zu träumen. Sie haben<br />

noch nicht einmal einen Ausbildungsplatz.<br />

63


Kindergärtner-Akademiker: Die Erzieherausbildung in Großbritannien,<br />

Deutschlandfunk 16.5.<br />

In Deutschland braucht man lediglich eine dreijährige Erzieherausbildung, um<br />

Kindergärtner zu werden. In anderen Ländern bekommt man diesen Job nur mit<br />

einem Hochschulabschluss - zum Beispiel in England. Dort ist für staatliche<br />

Kindergärten ein Bachelor nötig. Der Beatrix Potter Kindergarten im Süden von<br />

London. 26 Kinder sitzen an niedrigen Tischen und kleben selbst gemalte Bilder<br />

in kleine, bunte Hefte. Zwischen den Jungen und Mädchen, alle drei oder vier<br />

Jahre alt, läuft Joanna Evans auf und ab. Die 38-Jährige leitet diese Kindergartenklasse.<br />

Ihre Ausbildung unterscheidet sich deutlich von der einer<br />

deutschen Kindergärtnerin. "Ich habe drei Jahre lang studiert und dann meinen<br />

Abschluss gemacht in englischer Literatur und Philosophie. Anschließend habe<br />

ich ein Jahr lang einen Graduiertenkurs für Lehrer besucht - damit kann ich alle<br />

Kinder im Alter zwischen drei und elf Jahren unterrichten." Mindestens einen<br />

Bachelor muss heute jeder haben, der an einem staatlichen Kindergarten in<br />

Großbritannien unterrichten will. Neben dem Uni-Abschluss ist eine weitere<br />

Ausbildung für die Arbeit mit Kindern nötig - die kann man entweder während<br />

des Studiums machen oder, so wie Joanna Evans, in einem Lehrgang danach.<br />

Private Kindergärten stellen auch Erzieher ohne Studium ein, aber Joanna Evans<br />

sagt, die akademische Ausbildung sei schon beim Umgang mit Kleinkindern<br />

sehr hilfreich. "Mit einem Studium können Sie einfach aus einem viel größeren<br />

Wissensvorrat schöpfen - das nützt Ihnen auch bei Drei- und Vierjährigen, denn<br />

die stellen interessante Fragen, und sie wollen ständig Anregungen haben.<br />

Außerdem habe ich mich an der Universität intensiv mit der Entwicklung von<br />

Kindern auseinandergesetzt, wie sie lernen, wie sie sich in einer Gruppe verhalten<br />

- und wie man ihnen Wissen und Erfahrungen vermitteln kann." Auch der<br />

Tagesablauf in der Gruppe von Joanna Evans unterscheidet sich vom Alltag in<br />

vielen deutschen Kindergärten, fast alles hier wirkt schon ein bisschen wie<br />

Schulunterricht. Die Kinder lernen Buchstaben und Zahlen - und die Kindergärtnerin<br />

vermittelt den Drei- und Vierjährigen beim Spielen ein grobes Verständnis<br />

von Geschichte und Geografie. Dass die Kleinen im Kindergarten<br />

schlafen, so wie in Deutschland, sei unvorstellbar, sagt Joanna, da würden sich<br />

die Eltern beschweren. Andererseits dürfe man den Kindergarten auch nicht zu<br />

schulähnlich machen, die Kunst bestehe darin, das Lernen mit Spielen zu verbinden.<br />

"Wir schaffen hier eher einen Rahmen, in dem die Kinder<br />

experimentieren und dabei ganz von selbst lernen. Wir machen zum Beispiel<br />

Spiele mit Zahlen und Buchstaben und beobachten, wie die Kinder mit solchen<br />

Elementen umgehen. Diese Methodik hat schon in meinem Studium eine<br />

wichtige Rolle gespielt. Für richtigen Unterricht sind die Kinder hier zu jung - in<br />

diesem Alter ist es besser, sie gezielt zum Spielen zu bringen - dabei lernen sie<br />

sehr viel mehr." Die meisten staatlichen Kindergärten sind in Großbritannien<br />

einer Grundschule angegliedert, auch die Gruppe von Joanna Evans. Der<br />

Wechsel ins erste Schuljahr ist deshalb kein ganz so harter Einschnitt, weil die<br />

64


Kinder meistens im gleichen Gebäude bleiben. Und auch mit ihrer Betreuerin<br />

bleiben sie häufig noch jahrelang verbunden. Denn mit dem akademischen Abschluss<br />

können die meisten Kindergärtner auch eine Grundschulklasse unterrichten.<br />

Joanna Evans sieht sich deshalb nicht so sehr als Erzieherin, sondern<br />

eher als Lehrerin, die sich auch um Kinder im Vorschulalter kümmert. "Ich<br />

glaube, es ist einfach wichtig, den Kleinkindern schon mal eine Perspektive auf<br />

die Schulzeit zu geben - der Kindergarten sollte da mehr sein als eine Spielgruppe.<br />

Ich will den Kindern auch beibringen, wie man sich in einer Gemeinschaft<br />

verhält und wie man Toleranz zeigt. Dieses soziale Verständnis sollte einfach<br />

da sein, wenn die Kinder in die erste Klasse kommen." Auch das<br />

spielerische Lernen von Fremdsprachen setzt sich an immer mehr britischen<br />

Kindergärten durch - und auch dabei erweist sich die akademische Ausbildung<br />

als sehr hilfreich. Joanna Evans unterrichtet seit einigen Monaten Französisch in<br />

der angegliederten Grundschule. Die Erfahrungen, die sie dabei als Lehrerin<br />

sammelt, will sie im kommenden Schuljahr auch im Kindergarten anwenden.<br />

65


15 Gymnasiasten auf einen Hauptschüler, FAZ 16.5.<br />

Für die frühere Kultusministerin Karin Wolff (CDU) müsste es eigentlich eine<br />

Genugtuung sein. So schlimm ist die verkürzte Gymnasialzeit wohl doch nicht,<br />

wenn die Schüler trotz lautstark beklagten G8-Stresses an die Gymnasien<br />

drängen. Seit Jahren steigen die Zahlen, Container auf Pausenhöfen künden<br />

vielerorts von der Überbelegung. Nun gibt es in Frankfurt so viele Anmeldungen,<br />

dass nicht alle Kinder den gewünschten Platz im Gymnasium bekommen.<br />

Am anderen Ende des Bildungssystems ist die Lage umgekehrt: Auf<br />

die Hauptschule will kaum noch jemand sein Kind schicken. Deshalb können<br />

einige Hauptschulen keine fünfte Klasse mehr bilden. Ob es diese Schulen in<br />

einigen Jahren noch gibt, ist fraglich. Zwei Zahlen verdeutlichen die Situation:<br />

2286 Anmeldungen an Gymnasien stehen in Frankfurt 150 an Hauptschulen<br />

gegenüber. Auf einen Hauptschüler kommen somit 15 Gymnasiasten. Sind die<br />

Kinder so schlau geworden? Vermutlich nicht. Aber die Eltern glauben, dass nur<br />

noch das Abitur eine Zukunftsperspektive bietet. Damit stehen sie nicht allein:<br />

Auch in der Wirtschaft genießen die übrigen Abschlüsse kaum noch Wertschätzung.<br />

Das Staatliche Schulamt und die Stadt als Schulträger müssen darauf<br />

reagieren. Die Stadt tut das zum einen, indem sie ein neues Gymnasium baut<br />

und Dependancen in leerstehenden Hauptschulen einrichten will. Zum anderen<br />

geht die Römerkoalition das Problem auch grundsätzlich an. Bildungsdezernentin<br />

Jutta Ebeling (Die Grünen) hat ein zweigliedriges Schulwesen vor<br />

Augen, das aus Gymnasien und Integrierten Gesamtschulen besteht. Letztere<br />

erfreuen sich ähnlich großer Beliebtheit wie erstere. Die Gesamtschüler stehen<br />

aber unter einem geringeren Leistungsdruck, sie haben mehr Raum, sich zu entwickeln.<br />

Und auch sie können, wenn sie gut genug sind, Abitur machen – ganz<br />

ohne G8-Stress in neun Jahren.<br />

66


Schulstunden: Längerer Unterricht, weniger Stress, Focus Schule 20.5.<br />

Als Reaktion auf die Einführung des Turbo-Abis verlängert ein Gymnasium in<br />

NRW die Schulstunden. Die Direktorin will die gestressten Schüler auf diese<br />

Weise entlasten. Was im ersten Moment etwas paradox klingen mag, findet<br />

Schulleiterin Beatrice Schmitz vollkommen einleuchtend. „Durch die Verlängerung<br />

der Stunden kehrt Ruhe in den Schulalltag ein“, sagt sie. Lange hatte<br />

Schmitz mit ihrem Lehrerkollegium am Gymnasium Korschenbroich in Nordrhein-Westfalen<br />

überlegt, wie man in Zeiten des G8 den Schulalltag zugunsten<br />

der Schüler umstrukturieren könnte. Das Ergebnis ihrer Überlegungen: Bereits<br />

ab dem kommendem Schuljahr dauern die Stunden an der Schule nicht mehr wie<br />

bisher 45 sondern 65 bzw. 70 Minuten. Die Vorteile der neuen Zeiteinteilung<br />

liegen für Schmitz auf der Hand: „Die Schüler haben auf diese Weise weniger<br />

Fächer pro Tag und damit viele Erleichterungen.“ So sei der Schulranzen<br />

weniger schwer, die Schüler müssten nicht so oft den Klassenraum wechseln<br />

und vor allem schwinde durch die Reduzierung der Fächer pro Schultag auch die<br />

Anzahl der Hausaufgaben für den Nachmittag. Ein weiteres Motiv für die Verlängerung<br />

besteht für Schmitz darin, dass in den 45 Minuten dauernden Schulstunden<br />

ein großer Teil der Zeit für „organisatorische Aspekte“ verloren gehe.<br />

Der Aufbau von Unterrichtsversuchen oder die Erläuterungen der Hausaufgaben<br />

verkürzen die eigentliche Unterrichtsstunde regelmäßig um wichtige Minuten.<br />

Durch die neue Zeitstruktur könnten die Lehrer den Gymnasiasten nun ohne<br />

Unterbrechung mehr Stoff vermitteln. „Wir wollen die Schulstunden insgesamt<br />

wieder effektiver nutzen“, sagt die Direktorin. In der Praxis soll das Ganze so<br />

aussehen: Um den aktuellen Stundenplan dem neuen Zeitraster problemlos anzupassen,<br />

werden die bisherigen 45 Minuten pro Fach um das Anderthalbfache<br />

verlängert. Theoretisch ergebe dies eine Unterrichtszeit von 67,5 Minuten, stattdessen<br />

will die Schule künftig zwischen Stunden mit 65 und 70 Minuten abwechseln.<br />

Der Schulalltag soll vor allem für die jüngeren Schüler auf diese<br />

Weise nur noch vier Fächer beinhalten. Aber können Kinder und Jugendliche<br />

tatsächlich 70 Minuten lang dem Unterricht aufmerksam folgen? „Ein Fünftklässler<br />

kann sich auch nicht 45 Minuten konzentrieren“, sagt Schmitz. Man<br />

müsse den Unterricht eben methodisch an die neue Struktur anpassen. „Die<br />

Lehrer müssen den Kindern zum Beispiel Pausen gönnen, in denen sie abschalten<br />

und etwa ein paar Minuten selbstständig lesen.“ Durch die Umstellung<br />

des Schulstundenkonzepts will das Gymnasium nicht zuletzt die Einführung des<br />

Ganztagsunterrichts vermeiden. „Für andere Schulen mag das Ganztagskonzept<br />

durchaus sinnvoll sein,“ erklärt Rektorin Beatrice Schmitz, „aber unsere Eltern<br />

wollen den Nachmittag auch in Zukunft für mögliche Freizeitaktivitäten der<br />

Kinder freihalten.“ Die Eltern hätten durchweg positiv auf die Idee reagiert.<br />

Auch bei einer Abstimmung unter Lehrern und Schülern sprachen sich „überraschenderweise<br />

gute 99 Prozent“ für die Verlängerung der Schulstunden aus.<br />

67


Angeordnete Halbierung der Sitzenbleiberquote führt zu besseren Noten,<br />

aber nicht zu einer Qualitätssteigerung, PM 23.5.<br />

Der Verband Bildung und Erziehung (VBE) Baden-Württemberg weiß, dass<br />

jeder Sitzenbleiber ein Sitzenbleiber zu viel ist. Trotzdem werde es auch künftig<br />

immer wieder unbelehrbare und völlig demotivierte Schüler geben, die es regelrecht<br />

darauf anlegten, eine „Ehrenrunde“ zu drehen. Es sei jedoch Aufgabe der<br />

Schule, sagt der VBE-Vorsitzende Rudolf Karg (Karlsruhe), Kinder und Jugendliche,<br />

die Schwierigkeiten mit dem Lernen haben, frühzeitig und so intensiv zu<br />

fördern, dass deren Versetzung am Schuljahresende zu keiner Zeit als gefährdet<br />

angesehen werden müsse. Dafür benötigten die Schulen deutlich mehr Lehrerstunden.<br />

In der Regel sei das Diagnostizieren von Schülerdefiziten nicht das<br />

Hauptproblem, sagt der VBE-Vorsitzende. Sorge bereite Eltern und Lehrern<br />

gleichermaßen, dass die Schulen meist nicht genügend Unterstützungsmaßnahmen<br />

anbieten können, um diesen Defiziten rechtzeitig etwas entgegenzusetzen.<br />

Vorgaben der Politik, etwa die Sitzenbleiberquote zu halbieren, könne<br />

zwar postwendend von den Schulen umgesetzt werden, würde aber nicht unbedingt<br />

zu einer Qualitätssteigerung führen. Der VBE spricht sich gegen die<br />

grundsätzliche Abschaffung des Sitzenbleibens aus, zumal das Verfahren sehr<br />

differenziert gesehen werden müsse. Eine Versetzung trotz schlechter Noten aus<br />

pädagogischen Gründen oder zur Probe sei bereits jetzt möglich. Für notorische<br />

Faulenzer mit deutlich zur Schau getragener Null-Bock-Mentalität könnte das<br />

angeordnete Wiederholen einer Klassenstufe erzieherisch durchaus wertvoll<br />

sein. Das Aussprechen einer Nichtversetzung sollte stets nach einer gründlichen<br />

pädagogischen Überprüfung und Würdigung der gesamten Schülerpersönlichkeit<br />

geschehen und nicht aufgrund reiner Zahlenarithmetik. Generell sollten sich<br />

Eltern und Lehrer hüten, Sitzenbleiber als Versager abzustempeln. Gerade<br />

Schüler mit weniger erfolgreichen Zensuren bedürfen der Ermunterung und<br />

Hilfe. Und je schneller diese Unterstützung einsetze, desto besser sei es für alle<br />

Beteiligten, betont VBE-Chef Karg. Optimal sei es, wenn eine frühe und<br />

intensive Förderung das Sitzenbleiben schlichtweg überflüssig machen würde.<br />

68


Schulsystem benachteiligt arme Kinder, PM 20.5.<br />

BLLV-Präsident Klaus Wenzel: „Alle Kinder und Jugendlichen müssen umfassend<br />

gefördert werden“ / Debatte um Armut ist heuchlerisch - München -<br />

„Der wachsenden Armut in Deutschland muss mit bester Bildung und Ausbildung<br />

begegnet werden.“ Das hat der Präsident des Bayerischen Lehrer- und<br />

Lehrerinnenverbandes (BLLV), Klaus Wenzel, angesichts des heute vorgestellten<br />

Armutsberichtes gefordert. „Moderne Schul- und Bildungspolitik<br />

muss die durch das starre Schulsystem zementierte Reproduktion von Armut<br />

endlich durchbrechen.“ Wenzel wies erneut darauf hin, dass „unser antiquiertes<br />

Schulsystem sozial schwache Kinder besonders benachteiligt. Die kurze Grundschulzeit<br />

reicht nicht aus, um Defizite auszugleichen.“ Auch Schüler, die aus<br />

finanziellen Gründen nicht in den Genuss privater Nachhilfe kommen, werden<br />

„systematisch ausgegrenzt.“ „Wir benötigen ein modernes Schulsystem, in dem<br />

alle Kinder und Jugendlichen so umfassend gefördert werden, dass private<br />

Nachhilfe überflüssig wird. Jedes Kind hat einen Anspruch auf beste Bildung<br />

und zwar unabhängig vom Einkommen der Eltern.“ Wenzel forderte die Staatsregierung<br />

auf, arme Kinder und Familien materiell zu unterstützen. Als notwendigen<br />

und anerkennenswerten Schritt bezeichnete er das Vorhaben der<br />

Staatsregierung, armen Kindern ein kostenloses Mittagessen anzubieten. „Das<br />

ist ein erster Schritt.“ Dringend erforderlich ist es auch, alle Kinder individuell<br />

und intensiv zu fördern. Die Förderung sollte möglichst früh einsetzen, um Defizite<br />

auszugleichen. Eine große Bedeutung kommt dabei Kinderkrippen und<br />

Kindergärten zu. Die Grundlagen für den Bildungserfolg werden in den ersten<br />

acht Lebensjahren gelegt. Eltern mit Migrationshintergrund brauchen Angebote,<br />

die ihnen helfen, sich besser zu integrieren und sozialisieren. Nötig sind Unterrichtsinhalte,<br />

die armutsspezifische Probleme aufgreifen, z.B. im Bereich<br />

Gesundheitserziehung, Ernährung, Freizeitgestaltung oder Berufsorientierung.<br />

Vor allem aber müssen Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl armer Kinder<br />

und Jugendlicher professionell gestärkt werden. Die Diskussion um Ursachen<br />

und Folgen von Armut und Ausgrenzung in Deutschland bezeichnete der<br />

BLLV-Präsident als „heuchlerisch“. „Es ist bekannt, dass arme Kinder die<br />

Bildungsverlierer schlechthin sind - ganz besonders in Bayern, denn hier ist der<br />

Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungsbeteiligung besonders groß:<br />

Kinder aus wohlhabenden Familien haben eine fast siebenmal höhere Chance,<br />

ein Gymnasium zu besuchen als andere.“ Es gibt junge Menschen, für die alle<br />

Möglichkeiten offen stehen. Gleichzeitig wird die Zahl derjenigen, die diese<br />

Möglichkeiten aus finanziellen Gründen nicht nützen können, immer größer.<br />

Wenzel: „Die Gesellschaft zerfällt nicht nur in Reiche und Arme, sondern auch<br />

in Gebildete und Ungebildete. Jeder weiß, dass Armut die Betroffenen benachteiligt,<br />

ausgrenzt und letztlich diskriminiert. Wer arm ist, bleibt es in aller<br />

Regel auch.“ Die Sortierung zehnjähriger Kinder in verschiedene Schultypen<br />

zementiert nicht nur Bildungsbiografien, sie ist vor allem auch nicht begabungsgerecht,<br />

weil sie die Entfaltung von Talenten und Fähigkeiten be- und ver-<br />

69


hindert. Soziale Armut bedeutet Bildungsarmut. „Von 100 Kindern, die bereits<br />

im Kindergarten arm waren, schaffen lediglich vier den Sprung aufs<br />

Gymnasium“, erklärte der BLLV-Präsident. Je höher die Arbeitslosigkeit ist,<br />

desto mehr Schüler versagen in Grund-, Haupt- und Realschulen. Wenzel<br />

forderte die Bayerische Staatsregierung erneut auf, die Datenbasis über Armut in<br />

Bayern zu aktualisieren. Bislang gibt es nur einen Sozialbericht - er wurde 1998<br />

vorgelegt. Erhebungen im Schulsystem, die den familiären Hintergrund der<br />

Schüler einbeziehen, wurden in Bayern seit 20 Jahren nicht mehr erlaubt.<br />

Derzeit leben in Bayern über 150.000 Kinder in Familien, die Arbeitslosengeld<br />

II erhalten.<br />

70


CHANCENUNGLEICHHEIT: "Bildung ist keine Wunderwaffe gegen<br />

Armut", Spiegel 20.5.<br />

Bedeutet mehr Bildung weniger Armut? Nein, sagt der Armutsforscher<br />

Christoph Butterwegge, denn auch eine gute Schul- oder Berufsausbildung bedeutet<br />

nicht, dass alle Jugendlichen einen Arbeitsplatz bekommen - so wie es die<br />

Politik vorgaukelt. Es gibt viele Mittel, gegen Armut vorzugehen. Da sind die<br />

Forderungen nach einem gesetzlichen Mindestlohn, der Lohndumping und<br />

Hungerlöhne verhindern soll. Es gibt das Rezept der Steuererleichterungen, die<br />

vielleicht den Mittelstand, aber nicht die wirklich Armen entlasten würden.<br />

Immer häufiger werden mehr Bildungsanstrengungen verlangt - von den Betroffenen<br />

wie vom Staat. Mehr Bildung also als Maßnahme zur Armutsbekämpfung.<br />

Tatsächlich führt Armut zu vielfältigen Benachteiligungen und Belastungen,<br />

etwa im Gesundheits-, Wohn-, Bildungs-, Kultur- oder Freizeitbereich.<br />

So mancher Kommentator neigt dazu, Armut auf die Bildungsferne<br />

oder auf die Sozialisations- beziehungsweise Kulturdefizite der Betroffenen<br />

zurückzuführen. Solche Argumente haben es materiell besser gestellten<br />

Schichten immer schon erleichtert, die Armen nach dem Motto "Geld macht<br />

ohnehin nicht glücklich!" nicht zu trösten, sondern regelrecht zu verhöhnen.<br />

Man spricht von "Bildungsarmut" und tut so, als könne eine gute Schulbildung<br />

oder Berufsausbildung verhindern, dass Jugendliche ohne Arbeitsplatz bleiben.<br />

Tatsächlich verhindern Bildungsdefizite vielfach, dass junge Menschen auf dem<br />

überforderten Arbeitsmarkt sofort Fuß fassen. Auch führt die Armut von<br />

Familien häufig dazu, dass deren Kinder keine weiterführende Schule besuchen<br />

oder sie ohne Abschlusszeugnis wieder verlassen. Armut in der Familie führt<br />

bereits in der Sekundarstufe häufig zu Bildungsdefiziten der betroffenen Kinder.<br />

Der umgekehrte Effekt ist sehr viel weniger signifikant: Ein schlechter oder<br />

fehlender Schulabschluss verringert zwar die Erwerbschancen, wirkt sich aber<br />

weniger nachteilig auf den Wohlstand einer Person aus, wenn diese vermögend<br />

ist oder Kapital besitzt. Mehr Bildung, weniger Armutsrisiko - was unter<br />

günstigen Umständen ohne Zweifel zum individuellen beruflichen Aufstieg<br />

taugt, versagt als gesellschaftliches Patentrezept. Denn wenn alle Kinder, was<br />

durchaus wünschenswert wäre, mehr Bildungsmöglichkeiten bekämen, würden<br />

sie um die wenigen Ausbildungs- und Arbeitsplätze womöglich nur auf einem<br />

höheren Niveau, aber nicht mit besseren Chancen konkurrieren. Folglich gäbe es<br />

am Ende mehr Taxifahrer mit Abitur und abgeschlossenem Hochschulstudium,<br />

aber kaum weniger Armut. Eine bessere (Aus-)Bildung erhöht die Konkurrenzfähigkeit<br />

eines Heranwachsenden auf dem Arbeitsmarkt, ohne jedoch die Erwerbslosigkeit<br />

und die (Kinder-)Armut als gesellschaftliche Phänomene zu beseitigen.<br />

So wichtig mehr Bildungs- und Kulturangebote für Kinder aus sozial<br />

benachteiligten "Problemfamilien" sind, so wenig können sie das Armutsproblem<br />

lösen. Zwar werden die Armen häufig dumm (gemacht), die Klugen<br />

aber deshalb nicht automatisch reich. Zu den Menschen, die mit ihrer Hände<br />

Arbeit so wenig verdienen, dass sie sich und ihre Familie kaum ernähren<br />

71


können, gehören keineswegs nur schlecht Ausgebildete. Eine fehlende,<br />

schlechte oder falsche Schulbildung kann die Armut potenzieren und im<br />

Lebensverlauf zementieren. Sie ist jedoch nicht die Ursache materieller Not.<br />

Bildung ist deshalb ein nur begrenzt taugliches Mittel gegen die (Kinder-)<br />

Armut, weil sie zwar durch soziale Diskriminierung entstandene Partizipationsdefizite<br />

junger Menschen mildert, allerdings nicht verhindern kann, dass jemand<br />

materiell arm bleibt. Ohne Frage, Bildungs-, Erziehungs- und Kultureinrichtungen<br />

sind für eine gedeihliche Entwicklung und freie Entfaltung der<br />

Persönlichkeit sozial benachteiligter Kinder unentbehrlich, weshalb sie nicht -<br />

dem neoliberalen Zeitgeist entsprechend - privatisiert, sondern weiterhin<br />

öffentlich finanziert und noch ausgebaut werden sollten. Bildung ist jedoch<br />

keine Wunderwaffe im Kampf gegen die Kinderarmut, zumal sie immer mehr<br />

zur Ware wird. Studiengebühren, Transportkosten und Schul- oder Büchergeld<br />

schrecken gerade die Kinder aus sozial benachteiligten Familien vom Besuch<br />

einer weiterführenden Schule beziehungsweise einer Universität ab. "Aufstieg<br />

durch Bildung" lautet das Motto einer Anfang des Jahres von der Bundesregierung<br />

beschlossenen Nationalen Qualifizierungsinitiative, welche unter<br />

anderem die soziale Benachteiligung von arbeitslosen (Migranten-)Jugendlichen<br />

kompensieren will. Zwar kann ein Individuum durch die Beteiligung an Ausbildungsprozessen<br />

einer prekären Lebenslage entkommen, eine gesamtgesellschaftliche<br />

Lösung bieten sie allein freilich nicht. Wie gesagt: Wenn alle<br />

Kinder und Jugendlichen in Deutschland - was zweifelsohne sinnvoll ist -<br />

bessere Bildungsmöglichkeiten erhielten, konkurrierten sie am Ende womöglich<br />

auf einem höheren Bildungsniveau, aber nicht mit besseren Chancen um weiterhin<br />

fehlende Lehrstellen und Arbeitsplätze. Es ist nicht nur politisch unredlich,<br />

sondern auch purer Zynismus, den Armen "Bildet euch!" zuzurufen und Erwachsenen<br />

wie Kindern beim Hartz-IV-Regelsatz keinen einzigen Cent für<br />

Bildung zu gewähren.<br />

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