Große P<strong>aus</strong>e Foto: Christoph Wisser 12
Vielleicht liegt das Neue nicht in der Turbo-Beschleunigung, sondern auf einer ganz anderen Strecke? Um das her<strong>aus</strong>zufinden, ist Innehalten eine probate Strategie. Von Ruth Reitmeier Frisch, aktuell, aufregend, jung, origi nell, modern. Dies sind nur einige Synonyme für <strong>neu</strong>. Wie man es auch nennen mag, das Neue ist in unserer Kultur positiv besetzt, Innovation gleich bedeutend mit Optimierung. Das war nicht immer so. Der Paradigmenwechsel kam mit der Industriellen Revolution, die eine nie dagewesene Dynamik und eine im Vergleich mit den Jahrhunderten davor rasend beschleunigte Entwicklung von Technik, Produktivität und Wissenschaft freisetzte. In zwei Jahrhunderten wandelte sich unsere Wahrnehmung der Welt von einer des Seins in eine des Werdens. Der Mensch ist zudem ein übermütiges Wesen, seine Neugierde Ressource und Antrieb. Er gibt sich mit dem Status quo nicht zufrieden, probiert und probiert, auch durch<strong>aus</strong> riskant und mit ungewissem Ausgang. In der Bibel greift die Vertreibung <strong>aus</strong> dem Paradies dieses Thema gleich in den ersten Kapiteln der Genesis auf und warnt den Menschen vor seiner Neugierde. Der Mensch muss die Kontrolle über intelligente Technologien behalten Neben dem Spannungsfeld zwischen Ethik und Wissenschaft liegt heute die Her<strong>aus</strong>forderung darin, dass sich die Neugierde nicht verselbständigt. Globale intelligente Systeme sind bereits Realität: In Zukunft wird etwa die gesamte Energieversorgung von so genannten „smart grids“ gesteuert werden. Das sind hochkomplexe, intelligente Netze. Laut Kl<strong>aus</strong> Mainzer, deutscher Philosoph und Wissenschaftstheoretiker, ist dies die Art von Intelligenz, von der wir abhängig werden. Die Bankenkrise hat dies eindrucksvoll und beunruhigend vor Augen geführt. Geld- und Informations ströme sind so komplex geworden, dass sie Einzelne nicht mehr durchschauen können. Die Her<strong>aus</strong>forderung wird darin liegen, Wege zu finden, diese Systeme in ihrer Komplexität zu erfassen und die Kontrolle zu behalten. In der Philosophie spielen die für das Neue gewählten Begriffe eine Schlüsselrolle. Das ist deshalb wichtig, weil wie wir Dinge nennen, unsere Vorstellung über sie prägt. Neues wird dabei üblicherweise mit bereits vorhandenen Begrifflichkeiten beschrieben. Herbert Hrachovec, Philosoph an der Universität Wien, erklärt dies am Beispiel der E-Mail, der elektronischen Post. Man hätte sie wohl gen<strong>aus</strong>o elektronische Kopie nennen können. Denn eine E- Mail hat ja mit der klassischen Post wenig gemein. Schließlich ist sie viel schneller unterwegs und kann gleichzeitig an beliebig viele Empfänger versandt werden. Umgekehrt passt heute die gute, alte Post nicht mehr so richtig in diese <strong>neu</strong>e Begriffswelt und wird humorvoll als „Snail-Mail“, als Schneckenpost, bezeichnet. Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde, so lautet der erste Satz der Genesis. In der biblischen Schöpfungsgeschichte finden sich zwei Begriffe des Neuen: die Schöpfung <strong>aus</strong> dem Nichts – ex nihilo – und die Kreation <strong>aus</strong> bereits vorhandener Materie. So ist die Schöpfung des Menschen nach dieser Vorstellung radikal <strong>neu</strong>, Eva hingegen schafft Gott <strong>aus</strong> einer Rippe Adams. Das Neue ist immer ein Kind seiner Zeit In der Wissenschaft ist es ganz ähnlich. Der Großteil wissenschaftlicher Forschung ist eine Weiterentwicklung bereits vorhandenen Wissens. Viel seltener und entsprechend spektakulär ist der Paradigmenwechsel, der das bisherige Bezugssystem über den Haufen wirft und einer Revolution des Faches gleichkommt. „Dass etwas <strong>neu</strong> ist, merkt man, wenn man auf scharfen Widerspruch stößt“, sagte Albert Einstein. Philosophen weisen darauf hin, dass das Neue nicht zuletzt dann eine Chance bekommt, wenn die Zeit dafür reif ist. In der Antike wäre Galileo Galilei mit ziemlicher Sicherheit zum Tode verurteilt worden. Als die Ber li ner Mauer fiel, war der Kommunis mus bereits am Ende. Der Arabische Frühling wäre laut Kennern der Region auch ohne Smartphones und Twitter gekommen, zumal die autoritär herr schenden Regime sowie die politischen und sozialen Strukturen in diesen Ländern die Grenze zur Unerträglichkeit überschritten hatten. <strong>Alles</strong> <strong>aus</strong>. <strong>Alles</strong> <strong>neu</strong>. 13