Platon - Politeia - Huber-tuerkheim.de
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Herbert <strong>Huber</strong><br />
<strong>Platon</strong>: <strong>Politeia</strong><br />
Vorlesung SoSe 2006<br />
Einleitung (1)<br />
Erstes Buch (2)<br />
Kephalos (2)<br />
Polemarchos (2)<br />
Thrasymachos (3)<br />
Zweites Buch (5)<br />
Glaukon: Drei Arten von Gütern (5)<br />
Gerechtigkeit (8)<br />
Glaukon und A<strong>de</strong>imantos: advocati diaboli (10)<br />
Gyges und sein Ring (10)<br />
Der scheinbar Gerechte (11)<br />
Der lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Gerechte (11)<br />
Gerechtigkeit und Glück (12)<br />
Gerechtigkeit ist „etwas Göttliches“ (15)<br />
Sittliche Bildung (16)<br />
Zweites mit Fünftes Buch (17)<br />
Die Bestimmung <strong>de</strong>r Gerechtigkeit durch Sokrates (17)<br />
Der Staat und die Bestimmung <strong>de</strong>s Menschen (20)<br />
Fünftes mit Siebentes Buch (22)<br />
Philosophenherrschaft (22)<br />
Sechstes und Siebentes Buch (24)<br />
Die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s Guten I: Das Gute (24)<br />
Das Gute ist Gegenstand <strong>de</strong>r größten Einsicht (24)<br />
Das Gute verleiht Sein und Ordnung (25)<br />
Das Gute ist we<strong>de</strong>r in vollkommener Klarheit noch abschließend zu erfassen (27)<br />
Das Gute umfasst alle Güter (28)<br />
Die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s Guten II: Die I<strong>de</strong>e (30)<br />
Die I<strong>de</strong>e ist Eins und Vieles (30)<br />
Die I<strong>de</strong>e ist abgetrennt (30)<br />
Die I<strong>de</strong>e ist unverän<strong>de</strong>rlich und überzeitlich (31)<br />
Die I<strong>de</strong>e ist das eigentlich Wirkliche (31)<br />
Die I<strong>de</strong>e ist nicht sichtbar, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>nkbar (31)<br />
Die I<strong>de</strong>e ist geistig (32)<br />
Die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s Guten III: Die Gleichnisse (34)<br />
Sonnengleichnis: Ontologie – Sein als geordnete Welt (Kosmos) von Seien<strong>de</strong>n (34)<br />
Liniengleichnis: Kosmologie – Arten und Rangstufen <strong>de</strong>r Seien<strong>de</strong>n (35)<br />
A. Bil<strong>de</strong>r (36)<br />
A.1 Schatten und Spiegelungen (36)<br />
A.2 Artefakte (37)<br />
B. Eigenwirkliche sichtbare Wesen (38)<br />
C. Eigenwirkliche <strong>de</strong>nkbare Wesen: I<strong>de</strong>en, wissenschaftlich erfasst (39)<br />
D. Eigenwirkliche <strong>de</strong>nkbare Wesen: I<strong>de</strong>en, philosophisch erfasst (43)<br />
E. Die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s Guten (44)<br />
Höhlengleichnis: Weltverstehen – Der Bildungsgang <strong>de</strong>r Person (44)<br />
Die Weisen <strong>de</strong>s Weltverstehens (46)<br />
Zehntes Buch (47)<br />
Mythos und Lebenswahl (47)<br />
Schriften (48)<br />
Einleitung<br />
(1) Die Glie<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Bücher und die Glie<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Sachthemen <strong>de</strong>cken sich in <strong>de</strong>r <strong>Politeia</strong><br />
nicht. Ich versuche, so gut das geht, die Überschneidungen durch meine Überschriften<br />
sichtbar zu machen. Nach einleiten<strong>de</strong>n Diskussionen, die versuchen, <strong>de</strong>n Gerechtigkeitsbegriff<br />
zu fassen, dabei aber scheitern, entwickelt Sokrates sein Verständnis von Gerechtigkeit<br />
anhand einer Analogie: Der gerechte Mensch kann in „größerer Schrift“ als „gerechte<br />
Stadt“ gelesen und so das Wesen <strong>de</strong>r Gerechtigkeit <strong>de</strong>utlicher erfasst wer<strong>de</strong>n. Gerechtigkeit<br />
wird dabei schließlich sichtbar als dies, dass „je<strong>de</strong>r das Seinige tut“. Gerecht wird ein Staat<br />
aber nur sein, wenn in ihm Philosophen herrschen, d. h. solche Menschen, die nicht nur dies<br />
und jenes einzelne Gerechte tun und verstehen können, son<strong>de</strong>rn das Gerechte als solches zu<br />
erkennen imstan<strong>de</strong> sind. Was es mit <strong>de</strong>r Philosophie auf sich hat, zeigt <strong>Platon</strong>/Sokrates mittels<br />
<strong>de</strong>r drei berühmten Gleichnisse von <strong>de</strong>r Sonne, <strong>de</strong>r Linie und <strong>de</strong>r Höhle. Nach einer ausführlichen<br />
Darstellung <strong>de</strong>r Ungerechtigkeit als vier unterschiedlicher Stadt- bzw. Staatsverfassungen<br />
und menschlicher Seelenzustän<strong>de</strong> (was ich aussparen wer<strong>de</strong>) wird im Mythos von<br />
Schicksalswahl und Totengericht die überzeitliche Bedingtheit menschlicher Freiheit sowie<br />
<strong>de</strong>r Zusammenhang zwischen <strong>de</strong>r Gerechtigkeit und <strong>de</strong>m Glück als ihrem Lohn aufge<strong>de</strong>ckt.<br />
1
<strong>Platon</strong>: <strong>Politeia</strong><br />
Erstes Buch<br />
Kephalos<br />
(2) Sokrates spricht mit <strong>de</strong>m greisen Kephalos über das Alter, das manche so schlecht ertragen.<br />
Kephalos meint, die Klagen über das Alter hätten ihren Grund nicht im Nachlassen<br />
<strong>de</strong>r Begier<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>r lebendigen Kraft, son<strong>de</strong>rn in <strong>de</strong>r Sinnesart <strong>de</strong>r Menschen. Mit schlechter<br />
Sinnesart – also ohne maßvoll und umgänglich zu sein – sei auch die Jugend schwer<br />
durchzumachen (329 a-d). Dem Kephalos erleichtert sein Reichtum das Alter, <strong>de</strong>nn auch <strong>de</strong>r<br />
Wohlgesinnte kann das Alter nicht leicht ertragen, wenn er in Armut lebt. Der nicht Wohlgesinnte<br />
aber wird trotz Reichtums mit <strong>de</strong>m Alter nicht zurecht kommen (330 a). Insgesamt<br />
dient <strong>de</strong>r Reichtum (<strong>de</strong>m Kephalos zufolge) dazu, „gerecht und fromm“ (dikaios und hosios)<br />
das Leben zu führen (331 a). Gerecht aber sei es, nieman<strong>de</strong>n zu übervorteilen, keinem Gott<br />
ein Opfer und keinem Menschen Geld schuldig zu bleiben (331 b). Hier nun hakt Sokrates<br />
ein mit <strong>de</strong>r hinfort dann die ganze <strong>Politeia</strong> beherrschen<strong>de</strong>n Frage, was <strong>de</strong>nn Gerechtigkeit<br />
sei. Kann man wirklich so einfach sagen, Gerechtigkeit sei Wahrhaftigkeit und Wie<strong>de</strong>rgeben<br />
<strong>de</strong>s Empfangenen? Einem wahnsinnig gewor<strong>de</strong>nen Freund die Wahrheit zu sagen und geschul<strong>de</strong>tes<br />
Geld zurückzugeben, wäre offenbar nicht recht (dikaios) getan (331 b-d), weil<br />
man <strong>de</strong>n Wahnsinnigen damit in Stand setzen wür<strong>de</strong>, Ungerechtes zu tun, <strong>de</strong>ssen verantwortlicher<br />
Urheber doch nicht er selbst wäre – da er ja seiner selbst nicht mächtig ist –, son<strong>de</strong>rn<br />
<strong>de</strong>r, welcher ihn dazu in Stand setzte. Was also ist Gerechtigkeit (dikaiosyne) (331 e)?<br />
Polemarchos<br />
(3) Gerechtigkeit be<strong>de</strong>utet nicht, einem je<strong>de</strong>n gegenüber das Schuldige zu leisten, son<strong>de</strong>rn<br />
das vernünftigerweise (sophronos [332 a]) Schuldige. Vernünftig aber, sagt Polemarchos,<br />
sei es, Freun<strong>de</strong>n Gutes zu tun, <strong>de</strong>n Fein<strong>de</strong>n aber Übles (332a-d). In Bezug worauf soll Gutes<br />
und Übles getan wer<strong>de</strong>n, fragt Sokrates. Was ist <strong>de</strong>r Inhalt <strong>de</strong>r Gerechtigkeit (332 d – 333 b)?<br />
Gerechtigkeit bezieht sich auf Geldsachen, meint Polemarchos. In Geldsachen ist aber doch<br />
eher Sachverstand erfor<strong>de</strong>rlich als Gerechtigkeit. Sachverstand nämlich in Bezug auf das,<br />
wofür das Geld ausgegeben wer<strong>de</strong>n soll. Gerecht ist, Polemarchos zufolge, <strong>de</strong>r Sachverstand,<br />
wie Freun<strong>de</strong>n zu nützen, Fein<strong>de</strong>n zu scha<strong>de</strong>n sei. Wie je<strong>de</strong>r Sachverstand, kann aber auch<br />
dieser ungerecht angewandt wer<strong>de</strong>n (333 b – 335 b). Die Fertigkeit, <strong>de</strong>n Freun<strong>de</strong>n zu nützen<br />
und <strong>de</strong>n Fein<strong>de</strong>n zu scha<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>finiert daher nicht die Gerechtigkeit, <strong>de</strong>nn ihre Ausübung<br />
kann je nach Lage <strong>de</strong>r Dinge bei<strong>de</strong>s sein – gerecht o<strong>de</strong>r aber auch ungerecht. Gerechtigkeit<br />
ist überhaupt keine Fertigkeit unter an<strong>de</strong>ren, son<strong>de</strong>rn die Metabefähigung, alle Fertigkeiten<br />
auf eine bestimmte – nämlich gerechte – Weise anzuwen<strong>de</strong>n. 1 Polemarchos versteht Gerechtigkeit<br />
als eine Art „Überlistung“ (kleptike, d. i. Diebeskunst, Verschlagenheit, Betrügerei<br />
[334 b]), d. h. als ein strategisches Manipulieren <strong>de</strong>r Sachen zum Nutzen <strong>de</strong>r Freun<strong>de</strong> und<br />
zum Scha<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Fein<strong>de</strong>. Kann es aber überhaupt jemals gerecht sein, einem Menschen<br />
Scha<strong>de</strong>n zuzufügen, auch wenn er unser Feind ist? Sokrates weist darauf hin, dass durch<br />
Scha<strong>de</strong>n alle Wesen – Pfer<strong>de</strong>, Hun<strong>de</strong>, Menschen – gera<strong>de</strong> in <strong>de</strong>m, was sie eigentlich sind und<br />
sein sollen (in ihrer arete [335 b]), schlechter statt besser wer<strong>de</strong>n. Die Gerechtigkeit ist eine<br />
spezifisch menschliche Tugend. Daher kann <strong>de</strong>r Mensch durch Scha<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>n man ihm zufügt<br />
nur ungerechter, niemals aber gerechter wer<strong>de</strong>n. Wir wür<strong>de</strong>n es aber wohl kaum als Aufgabe<br />
<strong>de</strong>r Gerechtigkeit ansehen, einen Menschen (und sei es <strong>de</strong>r Feind) ungerechter und damit<br />
weniger menschlich zu machen. Daher kann es grundsätzlich nicht die Aufgabe <strong>de</strong>r Gerech-<br />
1 Kersting 1999, 23; vgl. 20-29<br />
2
<strong>Platon</strong>: <strong>Politeia</strong><br />
tigkeit sein, einem Menschen Scha<strong>de</strong>n zuzufügen (335 b – 336 a).<br />
Thrasymachos<br />
(4) Thrasymachos schaltet sich nun in das Gespräch ein, wobei er gleich zu Beginn durch<br />
Schmähungen und versuchte Re<strong>de</strong>verbote (336 b – 338 b) beweist, dass er keine sachliche<br />
Auseinan<strong>de</strong>rsetzung, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>n Sieg in <strong>de</strong>r Disputation anstrebt. Er sieht im Gerechten nur<br />
„das <strong>de</strong>m Stärkeren Zuträgliche“ (338 c; 344 c), das Ungerechte hingegen ist „das je<strong>de</strong>m<br />
selbst Vorteilhafte und Zuträgliche“ (344 c). Als „gerecht“ bezeichnet man die För<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s<br />
frem<strong>de</strong>n Vorteils: „die Gerechtigkeit und das Gerechte [ist] eigentlich ein frem<strong>de</strong>s Gut“ (343<br />
c). Für <strong>de</strong>n Starken nun ist es nützlich, wenn er Menschen fin<strong>de</strong>t, die bereit sind, nicht ihr<br />
eigenes, son<strong>de</strong>rn frem<strong>de</strong>s Gut zu besorgen. Denn diese Leute kann er für sich und seinen<br />
Vorteil ausbeuten: „die Beherrschten aber tun, was jenem, <strong>de</strong>m Stärkeren, zuträglich ist, und<br />
machen ihn glücklich, in<strong>de</strong>m sie ihm dienen, sich selbst aber auch nicht im min<strong>de</strong>sten“ (343<br />
cd). Die Stärkeren sind die Gewalthaber, also die Regieren<strong>de</strong>n, und so ist das Gerechte „das<br />
<strong>de</strong>r bestehen<strong>de</strong>n Regierung Zuträgliche“ (339 a).<br />
(5) Auf <strong>de</strong>n Einwand <strong>de</strong>s Sokrates, <strong>de</strong>r Regieren<strong>de</strong> könne sich hinsichtlich <strong>de</strong>s ihm Zuträglichen<br />
irren, und folglich etwas ihm Unzuträgliches (und <strong>de</strong>shalb Ungerechtes) für das Gerechte<br />
halten (339 d – 340 c), erwi<strong>de</strong>rt Trasymachos, dass nur <strong>de</strong>r stark sei, <strong>de</strong>r sich nicht irre<br />
in Bezug auf das ihm Zuträgliche, wie einer auch nur insoweit ein Arzt sei, als er sich in ärztlichen<br />
Dingen nicht täuscht (340 d), weil er da, wo er sich täuscht, die ärztliche Kunst eben<br />
verfehlt. Man ist nur stark in einer Sache, wenn man sich über die Sache nicht täuscht. Stark<br />
ist nur <strong>de</strong>r einsichtig Starke. Sokrates erwi<strong>de</strong>rt darauf Folgen<strong>de</strong>s: Der Herrscher, <strong>de</strong>r sich<br />
über seinen eigenen Vorteil nicht täuscht, <strong>de</strong>r täuscht sich doch über die Kunst <strong>de</strong>s Herrschens,<br />
<strong>de</strong>nn diese besteht gera<strong>de</strong> darin, nicht auf <strong>de</strong>n eigenen Vorteil, son<strong>de</strong>rn auf <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r<br />
Beherrschten zu achten. Genauso wie sich ein Arzt über die ärztliche Kunst täuscht, wenn er<br />
nur auf seinen eigenen Verdienst statt auf die Heilung <strong>de</strong>r Kranken schaut. Ein Herrscher ist<br />
also nur dann wirklich <strong>de</strong>r Stärkere, wenn er mehr als je<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re über die Einsicht verfügt,<br />
was Herrscherkunst ist – nämlich nicht auf seinen eigenen Vorteil, son<strong>de</strong>rn auf <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Beherrschten<br />
zu achten. Aber damit ist auch für <strong>de</strong>n starken Herrscher die Gerechtigkeit ein<br />
frem<strong>de</strong>s Gut. Damit fallen Gerechtigkeit und Glück wie<strong>de</strong>rum auseinan<strong>de</strong>r. Warum aber sollte<br />
man gerecht sein, wenn <strong>de</strong>r Gerechte, wie Thrasymachos behauptet, stets <strong>de</strong>n Kürzeren<br />
zieht (343 d)?<br />
Zusatz: Alle Künste (technai [342 c]) beherrschen in gewisser Weise das Sachgebiet, in Bezug worauf sie<br />
Künste sind. Aber als Künste verstehen und besorgen sie das „Zuträgliche“ für ihre jeweilige Sache, nicht für<br />
<strong>de</strong>ren „Beherrscher“, die Künstler. Das Argument besagt etwa, dass Gegenstand einer Kunst o<strong>de</strong>r Wissenschaft<br />
die jeweilige Sache und das ihr Gemäße ist, nicht aber <strong>de</strong>r Künstler o<strong>de</strong>r Wissenschaftler und nicht das diesem<br />
Zuträgliche. Insofern jemand Arzt ist, hat er es als „Beherrscher“ <strong>de</strong>r Arztkunst mit <strong>de</strong>r Gesundheit <strong>de</strong>s Kranken<br />
zu tun, nicht mit <strong>de</strong>m für ihn selbst Zuträglichen (342 <strong>de</strong>); und <strong>de</strong>r Hirt hat es als Hirt mit <strong>de</strong>m Besten <strong>de</strong>r Schafe<br />
zu tun, nicht mit seinem eigenen Vorteil, <strong>de</strong>n er nicht qua Hirt, son<strong>de</strong>rn qua Geschäftsmann verfolgt (343 b;<br />
345 cd). Wenn <strong>de</strong>r Arzt selbst <strong>de</strong>r Kranke ist, <strong>de</strong>n er behan<strong>de</strong>lt, hat er es nicht mit <strong>de</strong>mjenigen zu tun, was ihm<br />
außerhalb <strong>de</strong>r Gesundheit zuträglich sein mag. Der Nutzen <strong>de</strong>s „Beherrschers“ <strong>de</strong>r Medizin interessiert <strong>de</strong>n Arzt<br />
nur insoweit, als dieser „Beherrscher“ Patient, und d. h. Gegenstand o<strong>de</strong>r „Beherrschter“ <strong>de</strong>r Arztkunst ist. Die<br />
Gerechtigkeit hat es ebenso nicht mit <strong>de</strong>m eigenen Vorteil <strong>de</strong>ssen, <strong>de</strong>r Gerechtigkeit ausübt, zu tun, son<strong>de</strong>rn mit<br />
<strong>de</strong>m Besten <strong>de</strong>rer, <strong>de</strong>nen er gerecht wer<strong>de</strong>n soll. In je<strong>de</strong>r Kunst aber sind diejenigen, die sie mit Verstand ausüben<br />
die Stärkeren, während die, <strong>de</strong>nen sie mit ihrer Kunst helfen, die Schwächeren darstellen, weil sie auf die<br />
Kunst und Kunstverständigen angewiesen sind. Daher geht es in allen Künsten, wie auch bei <strong>de</strong>r Gerechtigkeit,<br />
nicht um <strong>de</strong>n Vorteil <strong>de</strong>r Stärkeren (wie Trasymachos meint), son<strong>de</strong>rn um das Beste <strong>de</strong>r Schwächeren (342 c;<br />
346 e).<br />
(6) Sokrates und Thrasymachos re<strong>de</strong>n aneinan<strong>de</strong>r vorbei. Sokrates behauptet: Stark ist, wer<br />
3
<strong>Platon</strong>: <strong>Politeia</strong><br />
sich nicht täuscht über das, was er tut. Thrasymachos dagegen sagt: Stark ist, wer sich nicht<br />
täuscht über <strong>de</strong>n eigenen Vorteil, <strong>de</strong>n er mit <strong>de</strong>m, was er tut, verfolgt. Sokrates setzt voraus,<br />
dass die Gerechtigkeit, wie je<strong>de</strong> an<strong>de</strong>re Kunst auch, zwar auch <strong>de</strong>n Zweck hat, <strong>de</strong>m, <strong>de</strong>r sie<br />
ausübt, gewisse Vorteile zu verschaffen, vor allem aber einen immanenten Zweck, <strong>de</strong>r darin<br />
besteht, eine gewisse Sache zu beför<strong>de</strong>rn, die in sich selbst erstrebenswürdig ist, auch unabhängig<br />
vom eigenen Vorteil <strong>de</strong>s Beför<strong>de</strong>rers. So ist es zwar ein Zweck <strong>de</strong>r Arztkunst, <strong>de</strong>n<br />
Arzt zu ernähren. Aber dies ist ein sie begleiten<strong>de</strong>r Zweck. Ihr immanenter Zweck ist es, an<strong>de</strong>re<br />
zu heilen, nicht aber, <strong>de</strong>n Vermögensstand <strong>de</strong>s Arztes aufzubessern. Entsprechend gilt<br />
für Sokrates, dass die Gerechtigkeit zwar manche Vorteile für die Herrschen<strong>de</strong>n bringen mag,<br />
dass ihr immanenter Zweck aber nicht darin liegt, son<strong>de</strong>rn in <strong>de</strong>r Wahrung <strong>de</strong>s Vorteils aller<br />
(also <strong>de</strong>s Gemeinwohls). Genau dies leugnet Thrasymachos: Im Unterschied zu je<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren<br />
Kunst hat für ihn die Gerechtigkeit keinen immanenten Zweck. Sie ist nur Mittel im Vorteilskalkül<br />
<strong>de</strong>r Herrschen<strong>de</strong>n. Der Vorteil aller – das Gemeinwohl – ist für Thrasymachos<br />
kein zu achten<strong>de</strong>s Gut. Als solches anerkennt er nur <strong>de</strong>n Vorteil <strong>de</strong>s Einzelnen auf Kosten<br />
an<strong>de</strong>rer. Wer gerecht lebt, verrät <strong>de</strong>n eigenen Vorteil. Auf die Frage, warum jemand trotz<strong>de</strong>m<br />
gerecht leben sollte, antwortet Sokrates: um damit einem höheren Gut – <strong>de</strong>m Gemeinwohl –<br />
zu dienen. Für Thrasymachos ist das Gemeinwohl ein chimärisches Gut, das einzige reelle<br />
Gut ist <strong>de</strong>r eigene Vorteil. Dass jemand trotz<strong>de</strong>m gerecht lebt, hat für ihn Grün<strong>de</strong>, die nichts<br />
mit Gerechtigkeit – also <strong>de</strong>r Achtung vor an<strong>de</strong>ren – zu tun haben, son<strong>de</strong>rn wie<strong>de</strong>rum nur mit<br />
<strong>de</strong>m eigenen Vorteil: Wer gerecht ist, verspricht sich davon einen persönlichen Vorteil. Die<br />
Schwachen haben von <strong>de</strong>r Gerechtigkeit einen solchen Vorteil, <strong>de</strong>nn für sie wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Versuch,<br />
an<strong>de</strong>re ungerechterweise auszubeuten, nur Ungelegenheiten und Schwierigkeiten mit<br />
sich bringen. Den Schwachen verschafft die Gerechtigkeit auf diese Weise zwar keinen positiven<br />
Vorteil, aber sie beugt Nachteilen vor. Und <strong>de</strong>swegen loben sie Gerechtigkeit. Sie loben<br />
sie nicht etwa, weil die Achtung vor an<strong>de</strong>ren etwas Erstrebenswertes wäre, son<strong>de</strong>rn weil sie<br />
von <strong>de</strong>r Ungerechtigkeit, die an sich weitaus vorteilhafter wäre, mangels eigener Kraft nur<br />
Nachteile hätten: „Nicht aus Furcht, Ungerechtes zu tun, son<strong>de</strong>rn zu lei<strong>de</strong>n, schimpft die Ungerechtigkeit,<br />
wer sie schimpft“ (344 c). Wer sie aber rücksichtslos praktiziere – wer „im<br />
Großen zu übervorteilen versteht“ (343 e – 344 a) –, <strong>de</strong>r gewinne nicht nur mehr als einer,<br />
<strong>de</strong>r sich gerecht verhält, son<strong>de</strong>rn praktiziere eine Lebensform, <strong>de</strong>r auch ästhetisch <strong>de</strong>r Vorzug<br />
gebühre: „Auf diese Art, o Sokrates, ist die Ungerechtigkeit kräftiger und edler und vornehmer<br />
als die Gerechtigkeit“ (344 c).<br />
(7) Was Thrasymachos vorträgt ist „rationale Gerechtigkeitskritik“ 2 : Gerechtigkeit und<br />
Glück fallen auseinan<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Gerechte ist immer <strong>de</strong>r Dumme (343 d – 344 c). Der<br />
Gerechtigkeit kommt in <strong>de</strong>n Augen <strong>de</strong>s Thrasymachos daher keinerlei Wert in sich zu. Diesen<br />
hätte sie nur, wenn sie in sich selbst erstrebenswert wäre. Das aber wür<strong>de</strong> be<strong>de</strong>uten, dass<br />
sie irgendwie das Glück, die Eudämonie, also das vom Menschen eigentlich und wahrhaft<br />
Erstrebte – also das Glück – beför<strong>de</strong>rt. Dies leistet sie jedoch nicht. Gerechtigkeit beför<strong>de</strong>rt<br />
nicht das erfüllen<strong>de</strong> Glück, <strong>de</strong>nn sie sorgt ja gera<strong>de</strong> nicht für <strong>de</strong>n eigenen, son<strong>de</strong>rn für <strong>de</strong>n<br />
frem<strong>de</strong>n Vorteil. Das För<strong>de</strong>rn frem<strong>de</strong>n Vorteils hat daher für <strong>de</strong>n gar keinen Anreiz, <strong>de</strong>r über<br />
die Stärke verfügt, an<strong>de</strong>re ungerechterweise seinem Vorteil dienstbar zu machen. Wenn er<br />
ohne eigenen Scha<strong>de</strong>n ungerecht sein kann, lebt <strong>de</strong>r Ungerechte besser (347 e), d. h. glückseliger<br />
(eudaimonesteros) als <strong>de</strong>r Gerechte (352 d). Und daher ist Ungerechtigkeit keineswegs<br />
Bösartigkeit, son<strong>de</strong>rn Klugheit (348 d), ja sogar Weisheit (sophia) und Tugend (arete) (348 e<br />
– 349 a). Sie ist dann auch schön (kalos) und stark (ischyros) (348 e). Sokrates versucht nun,<br />
dagegen zu zeigen, dass die Ungerechtigkeit gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>n eigenen Vorteil zerstört und <strong>de</strong>shalb<br />
nichts von alle<strong>de</strong>m ist, was Thrasymachos ihr zuschreibt.<br />
2 Kersting 1999, 32<br />
4
<strong>Platon</strong>: <strong>Politeia</strong><br />
[a]<br />
[b]<br />
[c]<br />
Ungerechtigkeit be<strong>de</strong>utet, an<strong>de</strong>ren etwas voraushaben zu wollen (349 b-d). Das aber<br />
ist immer dann töricht, wenn es unsachgemäß ist. So wie es unsachgemäß wäre, wenn<br />
etwa ein Musiker die Saiten seines Instrumentes ein wenig mehr spannen wollte, um<br />
seinem Nebenmann etwas vorauszuhaben. Sobald die Saiten <strong>de</strong>n richtigen Ton geben,<br />
ist je<strong>de</strong>s Mehr von Übel (349 e – 350 c). Etwas voraushaben zu wollen, ist eben nicht<br />
möglich, wenn man nur auf <strong>de</strong>n eigenen Vorteil schaut unabhängig davon, ob man <strong>de</strong>r<br />
Sache auch gerecht wird. 3 Ohne Sachgerechtigkeit eigenen Vorteil haben zu wollen,<br />
ist daher we<strong>de</strong>r klug noch weise (son<strong>de</strong>rn töricht). 4<br />
Eine ungerechte Stadt o<strong>de</strong>r sogar Räuber und Diebe müssen doch innerhalb ihrer jeweiligen<br />
Gemeinschaft gerecht sein, weil sie sonst nichts ausrichten (351 c – 352 b).<br />
Ohne Gerechtigkeit kann <strong>de</strong>r Ungerechte daher nicht stark sein. Ungerechtigkeit allein<br />
ist gera<strong>de</strong> nicht Stärke, son<strong>de</strong>rn Schwäche.<br />
Und schließlich kann <strong>de</strong>r Ungerechte nicht glückselig sein, weil seine Seele, die für<br />
die Lebensführung zuständig ist (353 d), diese Aufgabe nur ausführen kann, wenn sie<br />
in ihrer spezifischen Kraft o<strong>de</strong>r Tugend tätig ist. Die spezifische Kraft o<strong>de</strong>r Tugend<br />
<strong>de</strong>r Seele aber sei die Gerechtigkeit. Sokrates behauptet, darin sei er mit Thrasymachos<br />
übereingekommen (353 e). Tatsächlich aber fin<strong>de</strong>t sich eine <strong>de</strong>rartige Übereinkunft<br />
nicht, noch weniger eine vorhergehen<strong>de</strong> Erörterung <strong>de</strong>r Wahrheit <strong>de</strong>r Behauptung,<br />
dass die spezifische Kraft <strong>de</strong>r Seele die Gerechtigkeit sei. Einen Ansatz zur Begründung<br />
<strong>de</strong>r These, dass Gerechtigkeit die Tugend <strong>de</strong>r Seele sei, könnte man in <strong>de</strong>n<br />
früheren Ausführungen darüber erblicken, dass alle Künste sachgerecht ausgeübt wer<strong>de</strong>n<br />
müssten (341 c – 342 e; 344 d – 346 e). Weil nämlich das Leben nicht von unserem<br />
Belieben abhängt, son<strong>de</strong>rn davon, dass wir vorgegebenen Sachgesetzlichkeiten in<br />
uns und außerhalb von uns gerecht wer<strong>de</strong>n müssen, um zu leben und Erfüllung zu<br />
fin<strong>de</strong>n (d. h. um gut zu leben). Dies impliziert freilich die These, dass die ungerechte<br />
– d. h. nur <strong>de</strong>n eigenen Vorteil beför<strong>de</strong>rn<strong>de</strong> – Missachtung <strong>de</strong>r Sachgerechtigkeit die<br />
eigene Erfüllung beeinträchtige o<strong>de</strong>r gar verunmögliche. Unter dieser Voraussetzung<br />
einer prästabilierten Harmonie zwischen Ungerechtigkeit an<strong>de</strong>ren Wesen gegenüber<br />
und eigenem Unglück gilt, dass <strong>de</strong>s Ungerechten Seele an ihrer Aufgabe, zu einem<br />
guten Leben zu führen, scheitert und die Glückseligkeit verfehlt.<br />
Zweites Buch<br />
Glaukon: Drei Arten von Gütern<br />
(8) Während Trasymachos glaubt, <strong>de</strong>r Ungerechte lebe besser, ist Glaukon im Gegenteil <strong>de</strong>r<br />
3 Hierin könnte man einen schlüssigen Sinn <strong>de</strong>s Argumentes erblicken, <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>n logischen Defekten, die<br />
Kersting 1999, 37-44 auf<strong>de</strong>ckt, unberührt bleibt.<br />
4 Es ist auch nicht schön, d. h. nicht sittlich gut (vgl. Scriptum zum Gorgias, § 3-b). Dies setzt Sokrates nicht<br />
explizit gegen <strong>de</strong>s Thrasymachos frühere Behauptung (so wie er explizit das Törichtsein <strong>de</strong>r Ungerechtigkeit<br />
gegen ihre behauptete Klugheit setzt), aber es versteht sich von selbst: Wenn das Schöne das in sich Bejahungswürdige<br />
ist, die Ungerechtigkeit aber das einzige Bejahungswürdige, das Thrasymachos anerkennt – nämlich<br />
<strong>de</strong>n eigenen Vorteil – zerstört, dann kann Ungerechtigkeit ihrerseits nicht bejahungswürdig o<strong>de</strong>r schön<br />
sein. – Auch kann das rücksichtslose Verfolgen <strong>de</strong>s eigenen Vorteils keine Tugend sein. Tugend ist ja die Bewahrung<br />
<strong>de</strong>r spezifischen eigenen Kraft und Fähigkeiten (<strong>Huber</strong> 2003, 49ff). Wenn Ungerechtigkeit <strong>de</strong>n Sachen<br />
gegenüber gera<strong>de</strong> das zerstört, was für Thrasymachos die spezifische Kraft und Fähigkeit <strong>de</strong>s Menschen ist –<br />
nämlich die rücksichtslose Verfolgung <strong>de</strong>s eigenen Vorteils –, dann ist sie das gera<strong>de</strong> Gegenteil von Tugend.<br />
5
<strong>Platon</strong>: <strong>Politeia</strong><br />
Überzeugung, „daß <strong>de</strong>s Gerechten Leben zweckmäßiger ist“ (347 e). Diese Bemerkung<br />
macht Glaukon noch während <strong>de</strong>s Gespräches zwischen Sokrates und Trasymachos, also<br />
noch im Ersten Buch. Das Zweite Buch beginnt mit <strong>de</strong>m Gespräch mit Glaukon (ab 357 a).<br />
Glaukon stellt eine dreifache Einteilung <strong>de</strong>s Guten (agathon) auf (357 b – d). Gut kann etwas<br />
sein,<br />
[a]<br />
[b]<br />
[c]<br />
insoweit es um seiner selbst willen geliebt wird;<br />
insoweit es nicht um seiner selbst willen, son<strong>de</strong>rn um eines an<strong>de</strong>ren willen, das man<br />
mit seiner Hilfe erreicht, gewollt wird;<br />
insoweit es um seiner selbst willen und um <strong>de</strong>s Nutzens willen, <strong>de</strong>n es mit sich führt,<br />
geliebt und gewollt wird.<br />
Was um seiner selbst willen geliebt wird, ist dasjenige, woran wir Freu<strong>de</strong> haben (chairein).<br />
Schleiermacher übersetzt „Wohlbefin<strong>de</strong>n“, aber es heißt „sich freuen“ (357 b). Bei <strong>de</strong>r Freu<strong>de</strong><br />
geht es nicht um <strong>de</strong>n subjektiven Zustand <strong>de</strong>s Wohlbefin<strong>de</strong>ns, son<strong>de</strong>rn um eine Sache,<br />
<strong>de</strong>ren Schönheit uns Freu<strong>de</strong> bereitet. Wir schauen die Sache nicht an, um <strong>de</strong>n Zustand <strong>de</strong>s<br />
Wohlbefin<strong>de</strong>ns zu erzeugen, son<strong>de</strong>rn wir schauen die Sache an, weil die Sache selbst schön<br />
ist, weil sie selbst (nicht die Aussicht auf unser Wohlbefin<strong>de</strong>n) uns in ihren Bann schlägt. In<br />
<strong>de</strong>r Freu<strong>de</strong> richtet sich unsere Aufmerksamkeit auf das Dasein und Sosein einer Sache, nicht<br />
darauf, ob und dass wir uns wohlfühlen. Das Wohlgefühl ist vielmehr eine unbeabsichtigte<br />
Nebenfolge <strong>de</strong>s Anblicks <strong>de</strong>r Sache. Freu<strong>de</strong> an einer Sache zu haben, be<strong>de</strong>utet, von <strong>de</strong>r Sache<br />
nichts an<strong>de</strong>res zu haben, als sie selbst. Von dieser Art ist das Schauen <strong>de</strong>s Sonnenaufgangs,<br />
das Hören großer Musik, das Lesen schöner Dichtung o<strong>de</strong>r auch das Schmecken eines<br />
edlen Weines. All diesen Genüssen ist gemeinsam, dass mit ihnen nicht etwas an<strong>de</strong>res bezweckt<br />
wird, als nur das Erleben <strong>de</strong>r Sache. Wer hingegen sich auf die Sonne nur freut, damit<br />
er bei ihrem Licht Zeitung lesen kann, wer Musik anschaltet, um sich abzulenken, o<strong>de</strong>r wer<br />
<strong>de</strong>n Wein hinabstürzt, um Vergessen zu fin<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>m geht es nicht um die jeweilige Sache<br />
selbst – <strong>de</strong>n Sonnenaufgang, die Musik, <strong>de</strong>n Wein –, son<strong>de</strong>rn um etwas davon Verschie<strong>de</strong>nes,<br />
für das ihm jene Sachen nur als Mittel dienen. Es geht ihm nicht um die Freu<strong>de</strong> an <strong>de</strong>r Sache<br />
selbst, son<strong>de</strong>rn um seinen Nutzen, <strong>de</strong>n er durch sie realisiert. Allerdings führt die Freu<strong>de</strong> an<br />
einer Sache um ihrer selbst willen häufig auch Nutzen im Gefolge. So mag etwa <strong>de</strong>r Freu<strong>de</strong><br />
an Natur und schöner Kunst eine therapeutische Wirkung bei seelischen Lei<strong>de</strong>n eignen. Die<br />
Freu<strong>de</strong> an <strong>de</strong>r Sache und <strong>de</strong>r Nutzen sind dabei aber <strong>de</strong>utlich unterschie<strong>de</strong>n: Die Freu<strong>de</strong> an<br />
Natur und Kunst ist nicht die Freu<strong>de</strong> über die Gesundheit, die sie för<strong>de</strong>rn, son<strong>de</strong>rn die Freu<strong>de</strong><br />
an Natur und Kunst selbst. Nur wer über Natur und Kunst seine Gesundheit vergessen kann,<br />
darf hoffen, in <strong>de</strong>n Genuss <strong>de</strong>r therapeutischen Wirkung bei<strong>de</strong>r zu gelangen. Wer hingegen<br />
sich mit Natur und Kunst abgibt, dabei aber nicht eigentlich auf diese bei<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn nur auf<br />
seinen Gesundheitszustand konzentriert ist, <strong>de</strong>r wird bei<strong>de</strong>r Heilwirkung nicht teilhaftig wer<strong>de</strong>n,<br />
weil er ihrer eigenen Wirklichkeit und Wirksamkeit in seiner Seele keinen Raum gibt.<br />
(9) Nun ist aber folgen<strong>de</strong> Ergänzung notwendig: <strong>Platon</strong> spricht nur von <strong>de</strong>r Freu<strong>de</strong>, in <strong>de</strong>r<br />
sich zeigt, dass ein Gut um seiner selbst willen erstrebenswürdig ist. Man muss noch hinzufügen,<br />
dass sich dasselbe auch in <strong>de</strong>r Scheu vor seiner Beeinträchtigung zeigt, welche die<br />
Erfahrung eines Gutes auslöst. 5 Ein Schüler mag sich heftig über seine Mutter erzürnen, <strong>de</strong>nnoch<br />
wird er ihr gegenüber normalerweise zurückhalten<strong>de</strong>r reagieren als seinem Banknachbarn<br />
gegenüber. Freu<strong>de</strong> und Scheu hängen in sich zusammen: Dasjenige, was von <strong>de</strong>r Art ist,<br />
5 <strong>Huber</strong> 2006, § 56; <strong>Huber</strong> 1996-a, 76-79<br />
6
<strong>Platon</strong>: <strong>Politeia</strong><br />
Freu<strong>de</strong> zu machen (auch wenn man die Freu<strong>de</strong> im Augenblick nicht aktuell empfin<strong>de</strong>t, wie<br />
wahrscheinlich unser Schüler im Augenblick <strong>de</strong>s Zorns seiner Mutter gegenüber), erweckt<br />
eben <strong>de</strong>swegen die Scheu vor seiner Beeinträchtigung. So ist es beispielsweise gera<strong>de</strong> die<br />
Freu<strong>de</strong> an <strong>de</strong>r Natur und unseren Kin<strong>de</strong>rn, die in uns die Scheu vor ihrer Beeinträchtigung<br />
erweckt. In Freu<strong>de</strong> und Scheu zeigt sich die Achtungswürdigkeit einer Sache. Die Einheit<br />
von Freu<strong>de</strong> und Scheu bil<strong>de</strong>t die Ehrfurcht (§ 23).<br />
(10) Auch Freu<strong>de</strong> ist eine Art von Nutzen. Man will schließlich lieber Freu<strong>de</strong> haben als<br />
keine. Man zieht das Freu<strong>de</strong>haben <strong>de</strong>m Gegenteil vor. Freu<strong>de</strong> bereichert uns. Von <strong>de</strong>r Freu<strong>de</strong><br />
haben wir etwas: gesteigerte Qualität <strong>de</strong>s Lebens. Und vom Nutzen haben wir etwas: diesen<br />
o<strong>de</strong>r jenen Vorteil im Leben. So ist Freu<strong>de</strong> eine Art von Nutzen, die Scheu aber ist die Furcht<br />
vor <strong>de</strong>m Verlust dieses „Nutzens“. Von <strong>de</strong>r Freu<strong>de</strong> „haben wir etwas“, nämlich eine innere<br />
Bereicherung. Allerdings ist Freu<strong>de</strong> eine ganz an<strong>de</strong>re Art von Nutzen als je<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Nutzen.<br />
Das, was wir von <strong>de</strong>r Freu<strong>de</strong> haben, ist etwas grundsätzlich an<strong>de</strong>res als was wir vom<br />
gewöhnlichen Nutzen haben:<br />
[a]<br />
[b]<br />
Wenn wir nach Nutzen streben, wollen wir von einer Sache etwas haben, wir wollen<br />
sie uns aneignen, sie durch technischen Zugriff ausbeuten und verän<strong>de</strong>rn, um sie für<br />
unser eigenes Bedürfnis zu instrumentalisieren.<br />
Wenn wir dagegen Freu<strong>de</strong> suchen, wollen wir eine Sache sein lassen, wir wollen sie<br />
nicht ausbeuten und nicht verän<strong>de</strong>rn, son<strong>de</strong>rn wir wollen sehen und schauen, was und<br />
wie sie für sich selbst ist.<br />
Die Seele hat Triebe, die auf unterschiedliche Lust zielen: sie treibt zum Sattsein, zu geschlechtlicher<br />
Befriedigung, sie sucht angenehme Empfindungen und äußert sich in zerstörerischen<br />
Trieben. Immer geht es dabei darum, dass die Seele sich selbst in Gestalt eines befriedigten<br />
Triebes erlebt. Es geht immer um die Steigerung ihres Selbsterlebens. Zum Zweck<br />
dieses Selbsterlebens instrumentalisiert die Seele an<strong>de</strong>re Wesen in <strong>de</strong>r Welt: sie verzehrt sie,<br />
benützt sie, quält sie, zerstört sie. Immer aber geht es um das Selbsterleben <strong>de</strong>r Seele, nicht<br />
um die Dinge. Hier sieht die Seele ihren eigenen Nutzen. An<strong>de</strong>rs ist es, insoweit die menschliche<br />
Seele an <strong>de</strong>r Vernunft teilhat. Als Vernunftwesen sieht die Seele von <strong>de</strong>n Sachen nicht<br />
nur das, was ihr zu einem gesteigerten Selbsterleben verhilft, son<strong>de</strong>rn sie ist interessiert daran,<br />
zu verstehen, was und wie die Sachen für sich selbst sind – unabhängig von <strong>de</strong>n Bedürfnissen<br />
<strong>de</strong>r Seele selbst. Die Freu<strong>de</strong> an einer Sache lässt die Seele die Sache selbst erleben und<br />
darüber sich selbst und ihre Triebe vergessen. Auch in <strong>de</strong>r Freu<strong>de</strong> erlebt die Seele zwar sich<br />
selbst, jedoch nicht als befriedigter eigener Trieb, son<strong>de</strong>rn als Sich-hingegeben-Haben an die<br />
Sache. Freu<strong>de</strong> macht die Seele leer von sich selbst und erfüllt sie mit <strong>de</strong>r Präsenz <strong>de</strong>r Sache.<br />
In <strong>de</strong>r Freu<strong>de</strong> erlebt die Seele sich selbst als Raum für die Sache. Während <strong>de</strong>r Nutzen die<br />
Sache zum Material und Mittel für die Seele und ihre Triebe macht, macht die Freu<strong>de</strong> die<br />
Seele zum Raum für die Sache.<br />
Zusatz: Die Seele hat notwendigerweise Triebe. Denn je<strong>de</strong>s Wesen muss sich selbst behaupten und beför<strong>de</strong>rn,<br />
auch auf Kosten an<strong>de</strong>rer. Das ist auch beim Menschen nicht an<strong>de</strong>rs. Der Mensch ist aber nicht nur in <strong>de</strong>n Horizont<br />
<strong>de</strong>r Bedürfnisse seines eigenen partikularen Selbstseins eingesperrt, wie das die Tiere sind, die nur ihre<br />
eigenen Daseinszwecke kennen und verfolgen. Der Mensch kann – unbescha<strong>de</strong>t <strong>de</strong>ssen, dass er sie zu seinem<br />
eigenen Erhalt verzehren muss – auch die Mineralien, Pflanzen und Tiere in <strong>de</strong>ren spezifischen Daseinszwecken<br />
verstehen und vor allem achten. Dass er sie achtet, be<strong>de</strong>utet, dass er sie für seine eigenen Daseinszwecke nicht<br />
in <strong>de</strong>m Maß instrumentalisiert, dass sie ihr eigenes Selbstsein – d. h. die Möglichkeit ihren eigenen Daseinszwecken<br />
zu leben – verlieren. Zu <strong>de</strong>n eigenen Daseinszwecken <strong>de</strong>r Tiere gehören allerdings nur diejenigen, welche<br />
für sie selbst auch erlebbar sind. So gehört die Zukunft seines Daseins nicht zu <strong>de</strong>m, was Gegenstand und<br />
Zweck <strong>de</strong>s gegenwärtigen Erlebens eines Tieres ist (wohl aber eines Menschen). Das Rennpferd läuft, weil es<br />
7
<strong>Platon</strong>: <strong>Politeia</strong><br />
jetzt laufen möchte (das ist sein Zweck), nicht aber, weil es nächste Woche im Rennen siegen will (das ist <strong>de</strong>r<br />
Zweck <strong>de</strong>s Trainers). Wenn man daher Tiere tötet, nimmt man ihnen nichts, was zu <strong>de</strong>m gehört, was sie als ihr<br />
Selbstsein erleben können. Wohl aber nimmt man ihnen ihren erlebten Daseinszweck, wenn man sie schmerzhaft<br />
tötet, <strong>de</strong>nn im Schmerz erleben sie die Abwesenheit <strong>de</strong>ssen, was und wie sie eigentlich sein wollen. 6<br />
(11) Die an<strong>de</strong>ren Wesen nicht nur in seinem eigenen Interesse zu verän<strong>de</strong>rn und zu benützen,<br />
son<strong>de</strong>rn sie als sie selbst sein zu lassen und zu schauen, darin besteht die spezifische<br />
Fähigkeit <strong>de</strong>s Menschen: „Zum Sehen geboren, / Zum Schauen bestellt“ 7 – auf diese Formel<br />
hat Goethe die Vernunftnatur <strong>de</strong>s Menschen gebracht. Dass eine Sache um ihrer selbst willen<br />
gut ist, be<strong>de</strong>utet, dass sie die Seele in <strong>de</strong>ren spezifischer Fähigkeit bereichert, nicht nur<br />
sich selbst als partikulares Wesen mit diesem und jenem Trieb o<strong>de</strong>r diesem o<strong>de</strong>r jenem Interesse,<br />
son<strong>de</strong>rn auch je<strong>de</strong>s an<strong>de</strong>re Wesen, also potentiell die ganze Welt, als das universale<br />
Reich aller Wesen zu erleben. Gut um seiner selbst willen ist, was Freu<strong>de</strong> macht. Freu<strong>de</strong> aber<br />
macht, was (nicht gegen die vitalen Triebe, aber über sie hinaus) die Vernunftnatur <strong>de</strong>r Seele<br />
bereichert. Damit hat ein solches um seiner selbst willen erstrebte Gut tatsächlich einen „Nutzen“,<br />
gera<strong>de</strong> darin, dass es nutzlos ist. Ein reicher Mensch, <strong>de</strong>r sich an einem schönen Sonnenaufgang<br />
nicht freuen kann, weil dieses Erlebnis sich nicht in Geld und Geschäftsnutzen<br />
auszahlt, ist ein armer Mensch („arm“ nicht im finanziellen, son<strong>de</strong>rn im humanen Sinne). Ein<br />
Mensch muss sich schämen, wenn er so <strong>de</strong>nkt. Wer Güter nicht schätzen kann, die keinen<br />
Nutzen haben, son<strong>de</strong>rn nur um ihrer selbst willen Freu<strong>de</strong> machen, <strong>de</strong>m geht etwas Wesentliches<br />
von <strong>de</strong>m ab, was <strong>de</strong>n Menschen zu einem Menschen macht. Wer sich dabei ertappt, Güter<br />
nicht um ihrer selbst willen schätzen zu können o<strong>de</strong>r zu wollen, <strong>de</strong>r muss – wenn er noch<br />
ein intaktes Selbstgefühl hat – in seiner Selbstachtung sinken (wenigstens in foro interno,<br />
wenn er es auch nach außen nicht zugeben wür<strong>de</strong>). Jemand, <strong>de</strong>r es für vollkommen normal<br />
hält, nichts um seiner selbst willen schätzen zu können, <strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>n wir wohl nicht für einen<br />
Menschen halten, mit <strong>de</strong>m alles so sehr in Ordnung ist, dass wir ihm, wenn er etwa Lehrer<br />
wäre, be<strong>de</strong>nkenlos unsere Kin<strong>de</strong>r anvertrauen wür<strong>de</strong>n.<br />
Gerechtigkeit<br />
(12) Gerechtigkeit be<strong>de</strong>utet, die Wesen in ihrer eigenen Wirklichkeit zu achten, und sie<br />
nicht nur als Mittel zu meinem Vorteil zu schätzen. Wir wer<strong>de</strong>n einem Wesen dann gerecht,<br />
wenn wir es nicht nur als Mittel für unsere Zwecke, son<strong>de</strong>rn auch um seiner selbst<br />
willen achten. Deshalb kann die Gerechtigkeit ihrerseits nur um ihrer selbst willen geschätzt<br />
wer<strong>de</strong>n: Wer sie nur als Mittel zu seinem eigenen strategischen Nutzens schätzt, <strong>de</strong>r schätzt<br />
sie nicht als Gerechtigkeit, weil er ihren spezifischen Gesichtspunkt gera<strong>de</strong> nicht einnimmt.<br />
Das ist <strong>de</strong>r wahre Kern, <strong>de</strong>r sich in <strong>de</strong>s Thrasymachos Aussage verbirgt, „daß die Gerechtigkeit<br />
und das Gerechte eigentlich ein frem<strong>de</strong>s Gut ist“ (343 c; 392 b). Insoweit jemand gerecht<br />
ist, achtet er nicht nur auf seinen eigenen Vorteil, son<strong>de</strong>rn auch auf die Rechte an<strong>de</strong>rer.<br />
Zusatz: Dies ist <strong>de</strong>r Sinn von Kants kategorischem Imperativ. Kant formuliert diesen Sittlichkeitsimperativ<br />
zwar nur in Bezug auf menschliche Wesen, genauer auf Vernunftwesen, aber es liegt in <strong>de</strong>r immanenten Logik<br />
<strong>de</strong>s kategorischen Imperativs, auf alle Wesen schlechthin zu gehen. 8<br />
(13) Sokrates hält nun die Gerechtigkeit für ein Gut, das um seiner selbst willen und um<br />
seines Nutzens willen gewollt wird: Sie gehört „zu <strong>de</strong>m Schönsten, was sowohl um seiner<br />
selbst willen, als wegen <strong>de</strong>ssen, was daraus erfolgt, <strong>de</strong>m, <strong>de</strong>r glückselig sein will, wün-<br />
6 <strong>Huber</strong> 2006, §§ 52-59<br />
7 Goethe V, 500 (Faust II, Fünfter Akt, Tiefe Nacht, Verse 11288f); <strong>Huber</strong> 2006, §§ 54, 78, 223<br />
8 <strong>Huber</strong> 2004<br />
8
<strong>Platon</strong>: <strong>Politeia</strong><br />
schenswert ist“ (358 a). Dass die Gerechtigkeit um ihrer selbst willen ein Gut ist, be<strong>de</strong>utet,<br />
dass sie unabhängig davon, was sie für einen äußeren Nutzen im Gefolge haben mag, je<strong>de</strong>nfalls<br />
<strong>de</strong>n Menschen in seinem Menschsein bereichert: Auch wo sie keinen Nutzen bringt, hat<br />
die Gerechtigkeit doch <strong>de</strong>n „Nutzen“, dass ihre Anwesenheit in <strong>de</strong>r Seele die Selbstachtung<br />
<strong>de</strong>s Menschen stärkt, ja eigentlich erst begrün<strong>de</strong>t. Denn nur, wer auf <strong>de</strong>r Grundlage <strong>de</strong>r Gerechtigkeit<br />
(statt <strong>de</strong>r rücksichtslosen Selbstsucht) han<strong>de</strong>lt, wird seiner Vernunftnatur gerecht,<br />
die nicht nur die eigenen Daseinszwecke als achtungswürdig erkennt, son<strong>de</strong>rn auch die <strong>de</strong>r<br />
an<strong>de</strong>ren Wesen. Wer auf die Ausbeutung <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren verzichtet, <strong>de</strong>r wird ärmer um manchen<br />
eigenen Profit, aber er wird reicher hinsichtlich <strong>de</strong>s Gehalts und <strong>de</strong>r Tiefe seines Erlebens<br />
und Verstehens von Welt und Sein. Wer die Gerechtigkeit vermissen lässt, verarmt als<br />
Mensch. Der „nutzlose Nutzen“ <strong>de</strong>r Gerechtigkeit liegt in ihrem Beitrag zu Selbstachtung<br />
und menschlicher Erfüllung (§ 11), <strong>de</strong>nn Gerechtigkeit för<strong>de</strong>rt „die wahrhafte Tugend einer<br />
mit sich selbst einigen und wohlgestimmten Seele“ (554 e). Der äußere Nutzen <strong>de</strong>r Gerechtigkeit<br />
ist gut für <strong>de</strong>n Menschen im Sinne <strong>de</strong>s agathon 9 , d. h. <strong>de</strong>s Vorteilhaften und Nützlichen;<br />
<strong>de</strong>r innere, auf die Selbstachtung bezügliche Nutzen jedoch ist gut im Sinne <strong>de</strong>s kalon,<br />
d. h. <strong>de</strong>s sittlich Guten. Weil bei<strong>de</strong>s ein „Nutzen“ o<strong>de</strong>r „Vorteil“ für <strong>de</strong>n Menschen ist,<br />
wenngleich von ganz verschie<strong>de</strong>ner Art (§ 21), gelangt von hier aus die Doppel<strong>de</strong>utigkeit in<br />
das <strong>de</strong>utsche Wort „gut“ („gut“ qua „nützlich“ versus „gut“ qua „sittlich gut“).<br />
Zusatz: „Wenn <strong>Platon</strong> davon spricht, daß Handlungen um ihrer selbst willen erstrebenswert seien, dann ist<br />
damit nicht gemeint, daß sie keinerlei Folgen hätten, dann ist damit auch nicht gemeint, daß sie nicht um ihrer<br />
Folgen willen gewollt wer<strong>de</strong>n können, dann ist damit vielmehr gemeint, daß sie eine auf die Innenwelt <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n<br />
gerichtete, gemütsbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong> und charakterformen<strong>de</strong> Wirkung besitzen, daß sie begrüßenswerte Auswirkungen<br />
auf die Versorgung mit inneren Gütern besitzen“ 10 . Dass die Gerechtigkeit um <strong>de</strong>s „nutzlosen Nutzens“<br />
einer integren Selbstachtung willen in sich selbst erstrebenswürdig sei, wird von Sokrates hier nicht ausdrücklich<br />
gesagt. Jedoch wird spätestens im Höhlengleichnis <strong>de</strong>utlich wer<strong>de</strong>n, dass es vor allem um <strong>de</strong>n seelischen<br />
Gewinn geht: Der Aufstieg aus <strong>de</strong>r Höhle ist in <strong>de</strong>m Sinne „nutzlos“, dass er zum alltäglichen pragmatischen (d.<br />
h. <strong>de</strong>m gewöhnlichen vorteilsmaximieren<strong>de</strong>n) Leben in <strong>de</strong>r Alltagshöhle sogar untauglich macht (516 e – 517<br />
e). Was die Seele veranlasst, <strong>de</strong>n alltäglichen Nutzen geringzuschätzen, ist einzig die um ihrer selbst willen<br />
bejahungswürdige Schönheit <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r Sonne versinnbildlichten I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s Guten. Daher kann ich <strong>de</strong>r Behauptung<br />
nicht zustimmen, dass „die platonische Philosophie“ die „Distinktion“ zwischen <strong>de</strong>m guten Leben im alltäglichen<br />
vorteilskalkulieren<strong>de</strong>n Sinn und <strong>de</strong>m guten Leben „im moralischen und damit allein maßgeben<strong>de</strong>n<br />
Sinne“ nicht kenne und diese Distinktion ganz nur kantisch sei. 11 <strong>Platon</strong> zufolge kann niemand wirklich glücklich<br />
(eudaimonos) sein, <strong>de</strong>r durch Ungerechtigkeit seine höchste Möglichkeit und Bestimmung als Mensch (d. i.<br />
die Bestimmung zum Vernunftwesen) verfehlt (vgl. Scriptum zum Gorgias, §§ 3-b, 10, 15 Zusatz). Ähnlich<br />
gehört bei Kant die Hoffnung auf das „höchste Gut“ (welches die Glückseligkeit einschließt) konstitutiv zur<br />
menschlichen Sittlichkeit: „Die Bewirkung <strong>de</strong>s höchsten Guts in <strong>de</strong>r Welt ist das nothwendige Object eines<br />
durchs moralische Gesetz bestimmbaren Willens“ 12 .<br />
(14) Allerdings hat die Gerechtigkeit durchaus auch einen äußeren, alltäglich pragmatischen<br />
Nutzen. Aber dieser ist nicht <strong>de</strong>r entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Grund dafür, die Gerechtigkeit hochzuschätzen.<br />
Denn wäre sie nicht in sich gut (wie Thrasymachos behauptet hatte: § 6), dann wäre<br />
sie nur ein Mittel, das gegebenenfalls durch ein besseres – etwa die Ungerechtigkeit – ersetzt<br />
wer<strong>de</strong>n müsste. Daher wird Sokrates nicht mit diesem äußeren Nutzen <strong>de</strong>r Gerechtigkeit argumentieren,<br />
worauf er selbst am En<strong>de</strong> hinweisen wird (612 ab). Dennoch ist <strong>de</strong>r äußere Nutzen<br />
<strong>de</strong>r Gerechtigkeit auch nicht ganz be<strong>de</strong>utungslos. Wäre sie nämlich ganz ohne solchen,<br />
dann wäre <strong>de</strong>r Gerechte <strong>de</strong>r Dumme (wie wie<strong>de</strong>rum Thrasymachos behauptet hatte: § 7). Der<br />
9 Scriptum zum Gorgias, § 3<br />
10 Kersting 1999, 55<br />
11 Kersting 1999, 49 (Hier fin<strong>de</strong>n sich die Anführungen)<br />
12 Kant V, 122 (Kritik <strong>de</strong>r praktischen Vernunft), Hervorhebung von mir. Vgl. <strong>Huber</strong> 1980, 32-36 und 39-42<br />
9
<strong>Platon</strong>: <strong>Politeia</strong><br />
Gerechte wür<strong>de</strong> sich zwar selbst achten, aber in allen pragmatischen Lebensbelangen Nachteil<br />
haben. Deshalb wird Sokrates am En<strong>de</strong> ausdrücklich auf <strong>de</strong>n äußeren Lohn zurückkommen<br />
(612 b – 613 e), <strong>de</strong>n die Gerechtigkeit neben <strong>de</strong>m (freilich sehr viel be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>ren) inneren<br />
„Nutzen“ für die Seele und ihre Selbstachtung erbringt (612 bc), nämlich die Ähnlichkeit<br />
mit <strong>de</strong>r Gottheit (613 a). Des Sokrates Behauptung, die Gerechtigkeit sei ein Gut, das um<br />
ihrer selbst und um <strong>de</strong>s äußeren Nutzen willen erstrebenswürdig sei, stellt damit die doppelte<br />
Gegenthese zu Thrasymachos dar.<br />
Glaukon und A<strong>de</strong>imantos: advocati diaboli<br />
(15) Glaukon und A<strong>de</strong>imantos versuchen, jene bei<strong>de</strong>n Thesen <strong>de</strong>s Thrasymachos (§ 14;<br />
zusammengefasst in 343 a – 344 c) noch einmal beson<strong>de</strong>rs stark zu machen, um Sokrates zu<br />
einer beson<strong>de</strong>rs starken Wi<strong>de</strong>rlegung zu provozieren. Bei<strong>de</strong> <strong>Platon</strong>-Brü<strong>de</strong>r wollen <strong>de</strong>n Erweis<br />
dafür, dass die Gerechtigkeit um ihrer selbst willen erstrebenswürdig ist (358 d; 367 b). Was<br />
gegen diese Auffassung spricht, bringen sie nochmals zur Geltung. Es sind zwei grundlegen<strong>de</strong><br />
Einwän<strong>de</strong> gegen einen intrinsischen Wert <strong>de</strong>r Gerechtigkeit.<br />
(16) „Das Gerechte ,,, wer<strong>de</strong> nicht als gut geliebt, son<strong>de</strong>rn durch das Unvermögen, unrecht<br />
zu tun, sei es zu Ehren gekommen“ (359 ab; 366 d; vgl. Gorgias 483 c; 492 ab). Die Gerechtigkeit<br />
ist eine Erfindung <strong>de</strong>s Schwachen, weil sie ihm nützt: Sie ermöglicht ein friedliches<br />
Zusammenleben <strong>de</strong>r Menschen, statt dass sie im Zuge <strong>de</strong>s „Mehrhabenwollens“ (359 c) einan<strong>de</strong>r<br />
bekämpfen, wobei <strong>de</strong>r Schwache immer <strong>de</strong>n Kürzeren zöge (358 e – 359 b). Gerechtigkeit<br />
hat in sich selbst keinen Wert, son<strong>de</strong>rn nur als Mittel zu sozialem Frie<strong>de</strong>n und Sicherheit<br />
<strong>de</strong>s Einzelnen. Glaukon argumentiert mit drei Gedankenexperimenten (eigentlich zweien,<br />
weil [a] und [b] auf’s Gleiche hinauslaufen):<br />
[a]<br />
Gyges und sein Ring: Glaukon versucht dies durch die Parabel vom Ring <strong>de</strong>s Gyges<br />
einsichtig zu machen (359 b – 360 d): Wer ohne Furcht ungerecht sein kann, <strong>de</strong>r wird<br />
die Gerechtigkeit über Bord werfen. Glaukon argumentiert also etwa so: Sobald die<br />
Gerechtigkeit keinen äußeren Vorteil bringt, strebt man auch nicht mehr nach ihr. Das<br />
zeige, dass die Gerechtigkeit nicht um ihrer selbst willen angestrebt wer<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn<br />
nur wegen <strong>de</strong>s gegebenenfalls mit ihr verbun<strong>de</strong>nen Nutzens. Wer glaubt, dass es <strong>de</strong>m<br />
Menschen in Wahrheit nur darum gehen könne, seinen eigenen Vorteil zu maximieren,<br />
für <strong>de</strong>n ist je<strong>de</strong>s Interesse, das ich an an<strong>de</strong>ren Wesen nehme, immer nur ein vorteilskalkulieren<strong>de</strong>s<br />
(zweckrationales) Interesse, das sich auf jene an<strong>de</strong>ren Wesen nicht<br />
um ihrer selbst willen, son<strong>de</strong>rn nur um meines eigenen Vorteils willen richtet. Gibt es<br />
tatsächlich kein Interesse an an<strong>de</strong>ren um ihrer selbst willen? Ist das, was <strong>de</strong>n Menschen<br />
interessiert, tatsächlich nur und ausschließlich <strong>de</strong>r eigene Vorteil, das eigene<br />
„Mehrhabenwollen“ (359 c)? Kann Moral tatsächlich „unter <strong>de</strong>n Bedingungen mo<strong>de</strong>rner<br />
Gesellschaften und erst recht <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen Weltgesellschaft nur auf <strong>de</strong>n einzig<br />
verbleiben<strong>de</strong>n gemeinsamen Nenner individueller Vorteilskalkulation gegrün<strong>de</strong>t<br />
sein“ 13 ? Cicero beruft sich auf die Gyges-Geschichte. 14 Er räumt ein, dass es viele<br />
Leute gibt, die wie Gyges sind und han<strong>de</strong>ln, d. h. die nur vorteilskalkulierend han<strong>de</strong>ln.<br />
Er argumentiert aber, dass jemand, <strong>de</strong>r zugäbe, so zu han<strong>de</strong>ln, in seinen eigenen Augen<br />
ein „Schandbube“ (facinorosus) sein müsste. Cicero beruft sich also auf die sittli-<br />
13 Homann 1997, 21. – Die gegenwärtige Moralphilosophie geht vielfach davon aus, dass Moral nur eine Funktion<br />
<strong>de</strong>s (aufgeklärten) Eigeninteresses <strong>de</strong>r Einzelnen ist, statt von objektiven in sich wertvollen Gütern her<br />
fundiert zu sein (Quante 2003, 54-73; vgl. <strong>Huber</strong> 2006, § 79 mit Zusätzen).<br />
14 De officiis III, 38f<br />
10
<strong>Platon</strong>: <strong>Politeia</strong><br />
che Selbstachtung (§§ 11; 12 mit Zusatz).<br />
[b]<br />
Der scheinbar Gerechte: Aber was ist, wenn Gyges (wie wohl zu erwarten ist) die<br />
Beteuerung, kein „Schandbube“, son<strong>de</strong>rn gerecht sein zu wollen, nicht ehrlich gibt,<br />
son<strong>de</strong>rn nur, um nach außen die Fassa<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Gerechtigkeit aufrechtzuerhalten? Was<br />
ist, wenn er sich nur <strong>de</strong>n Anschein <strong>de</strong>r Gerechtigkeit gibt, ohne doch gerecht zu sein?<br />
Glaukon zeichnet das Bild <strong>de</strong>s scheinbar Gerechten (360 e – 361 b). Dieser han<strong>de</strong>lt<br />
nur nach außen gerecht, um seine ungerechte Gesinnung zu verbergen. Wo er jedoch<br />
sicher sein kann, unent<strong>de</strong>ckt zu bleiben wie Gyges, wird er ungerecht han<strong>de</strong>ln, d. h.<br />
seinen eigenen Nutzen rücksichtslos maximieren. Wer die Gerechtigkeit nicht um ihrer<br />
selbst willen schätzt, son<strong>de</strong>rn sie nur als strategisches Mittel im Zuge <strong>de</strong>r Vorteilsmaximierung<br />
einsetzt, wird sich so parasitär verhalten wie <strong>de</strong>r scheinbar Gerechte.<br />
Denn wenn Rücksicht und Gerechtigkeit um ihrer selbst willen, d. h. ohne eigenen<br />
strategischen Vorteil, praktiziert wer<strong>de</strong>n, verhalten sie sich kontraproduktiv zum eigenen<br />
Vorteil. Man kann <strong>de</strong>n Parasitismus durch die Implementierung ordnungspolitischer<br />
Rahmenbedingungen eindämmen: „Bedingungswan<strong>de</strong>l statt Gesinnungswan<strong>de</strong>l“<br />
15 nennt man das. Dabei bleibt aber das einzige Handlungsmotiv doch immer nur<br />
das Eigeninteresse. Homines oeconomici sind immer nur um ihres Vorteils willen gerecht,<br />
nicht um <strong>de</strong>r Gerechtigkeit als solcher willen: Sie achten an<strong>de</strong>re Wesen nicht<br />
um <strong>de</strong>ren selbst willen, son<strong>de</strong>rn, weil es ihnen (<strong>de</strong>n homines oeconomici) vorteilhaft<br />
erscheint. Der homo oeconomicus kennt die Kategorie von etwas, das „um seiner<br />
selbst willen“ erstrebenswürdig sei, nicht, son<strong>de</strong>rn nur die Kategorie, was er selbst als<br />
Vorteil ansieht: „wobei unter ‚Vorteilen’ alles verstan<strong>de</strong>n wird, was die Akteure selbst<br />
als Vorteile ansehen, also Einkommen und Vermögen ebenso wie Gesundheit, Muße,<br />
ein ‚gutes Leben’ und die Verwirklichung eines vernünftigen Lebensplanes in Gemeinschaft<br />
mit an<strong>de</strong>ren“ 16 . Ist ein „vernünftiger Lebensplan“ nur in <strong>de</strong>m Fall ein<br />
„Vorteil“, dass ein „Akteur“ ihn als Vorteil ansieht – o<strong>de</strong>r ist er es nicht in sich selbst,<br />
auch dann, wenn jemand ihn nicht als „Vorteil“ ansehen möchte o<strong>de</strong>r kann? Ist ein gerechtes<br />
Leben nur in <strong>de</strong>m Fall von Vorteil, dass es <strong>de</strong>n eigenen Nutzen maximiert o-<br />
<strong>de</strong>r ist es nicht in sich selbst in irgen<strong>de</strong>inem Sinn „vorteilhaft“? Aber in welchem Sinne<br />
sollte man von einem „Vorteil“ sprechen können bei einer Haltung wie <strong>de</strong>r Gerechtigkeit,<br />
<strong>de</strong>ren oberstes Ziel ja gera<strong>de</strong> nicht <strong>de</strong>r eigene Vorteil ist, da sie vielmehr die<br />
Bereitschaft darstellt, <strong>de</strong>n eigenen Vorteil gegebenenfalls hintanzusetzen? Auf diese<br />
Frage komme ich in <strong>de</strong>n §§ 18-22 zurück.<br />
Zusatz: Der scheinbar Gerechte ist im Grun<strong>de</strong> genommen <strong>de</strong>rselbe Fall wie Gyges, <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>m Gyges verhilft<br />
<strong>de</strong>r unsichtbar machen<strong>de</strong> Ring ja gera<strong>de</strong> dazu, dass seine Ungerechtigkeit unbemerkt bleibt und er nach außen<br />
daher als Gerechter erscheint.<br />
[c]<br />
Der lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Gerechte: Gesetzt aber auch, jemand wür<strong>de</strong> die Gerechtigkeit um ihrer<br />
selbst willen praktizieren, wür<strong>de</strong> das in letzter Konsequenz nicht be<strong>de</strong>uten, dass er<br />
selbst dann, wenn er selber gar keinen Vorteil, son<strong>de</strong>rn nur Nachteile hat, <strong>de</strong>nnoch an<br />
<strong>de</strong>r Gerechtigkeit festhält? Glaukon entwickelt dieses Gedankenexperiment eines lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />
Gerechten (360 e – 362 c), <strong>de</strong>r gerecht bleibt, obgleich ihm selbst daraus nur<br />
Unglück entsteht. Ist eine solche extreme Haltung, die <strong>de</strong>n eigenen Vorteil zur Gänze<br />
aufgibt, <strong>de</strong>nkbar? Wenn es Grün<strong>de</strong> für eine solche Haltung gäbe, dann wür<strong>de</strong>n diese<br />
zeigen, dass <strong>de</strong>r Gerechtigkeit ein Wert zukommt, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n eigenen Vorteil aufwiegt.<br />
15 Homann 2000, 261<br />
16 Homann 2000, 263f<br />
11
<strong>Platon</strong>: <strong>Politeia</strong><br />
Damit erwiese sich die Gerechtigkeit als um ihrer selbst willen erstrebenswürdig.<br />
Glaukon will solche Grün<strong>de</strong> von Sokrates hören. Er setzt sein Gedankenexperiment so<br />
radikal an – <strong>de</strong>r Gerechte darf überhaupt keinen Vorteil haben, son<strong>de</strong>rn nur Nachteile<br />
–, um <strong>de</strong>r Gefahr zu entgehen, dass die Grün<strong>de</strong>, die Sokrates möglicherweise für die<br />
Haltung <strong>de</strong>s lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Gerechten anführen könnte, sich unter <strong>de</strong>r Hand doch wie<strong>de</strong>r<br />
bloß auf heimliche Vorteile beziehen, die lediglich auf <strong>de</strong>n ersten Blick nicht sichtbar<br />
sind. Der Fall <strong>de</strong>s lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Gerechten verschärft noch einmal das Problem, das schon<br />
<strong>de</strong>r Gestalt <strong>de</strong>s scheinbar Gerechten zugrun<strong>de</strong> lag: Welchen Grund sollte ein Mensch<br />
haben, die Gerechtigkeit um ihrer selbst willen, also unabhängig von seinem eigenen<br />
Vorteil o<strong>de</strong>r gar gegen diesen, zu praktizieren? – Vgl. §§ 18-22.<br />
Zusatz 2: Das Gedankenexperiment liegt vielleicht Weish 2, 10-20 zugrun<strong>de</strong> (Joseph Ratzinger / Benedikt<br />
XVI.: Jesus von Nazareth, Bd. II, Freiburg: Her<strong>de</strong>r 2011, 234). – Das Argument gegen einen intrinsischen Wert<br />
<strong>de</strong>r Gerechtigkeit, dass Gerechtigkeit nur eine Funktion <strong>de</strong>r Unfähigkeit zur Ungerechtigkeit sei, wird später<br />
Friedrich Nietzsche wie<strong>de</strong>r aufnehmen: „Die Moral hat die Gewalthaber, die Gewaltthätigen, die ‚Herren’<br />
überhaupt als die Fein<strong>de</strong> behan<strong>de</strong>lt, gegen welche <strong>de</strong>r gemeine Mann geschützt, d. h. zunächst ermuthigt, gestärkt<br />
wer<strong>de</strong>n muß“ 17 .<br />
(17) „Denn je<strong>de</strong>rmann glaubt, daß ihm für sich die Ungerechtigkeit weit mehr nützt als die<br />
Gerechtigkeit“ (360 cd; 364 a; 366 b). Die Gerechtigkeit vermag <strong>de</strong>n Schwachen vielleicht<br />
vor Scha<strong>de</strong>n zu schützen, sie verhin<strong>de</strong>rt aber in je<strong>de</strong>m Fall die größtmögliche Maximierung<br />
seines Vorteils, <strong>de</strong>nn sie besteht gera<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r Bereitschaft, unter bestimmten Umstän<strong>de</strong>n<br />
eigene Nachteile zustimmend in Kauf zu nehmen. Das Rücksichtnehmen o<strong>de</strong>r Gerechtsein<br />
öffnet prinzipiell <strong>de</strong>m eigenen Nachteil Tür und Tor, Wer hingegen von Hause aus ungerecht<br />
ist, <strong>de</strong>r ist prinzipiell auf seinen Vorteil bedacht und wird Nachteile niemals zustimmend,<br />
son<strong>de</strong>rn allenfalls gezwungenermaßen tragen. Das zeigt in Glaukons Sicht, dass letztlich allein<br />
das Unrechttun die erfolgreiche Strategie <strong>de</strong>r Glücksverfolgung sein kann.<br />
Zusatz: Auch dieses Argument <strong>de</strong>r antiken Sophisten von <strong>de</strong>r größeren Nützlichkeit o<strong>de</strong>r Lebensdienlichkeit<br />
<strong>de</strong>r Ungerechtigkeit nimmt Nietzsche auf, aber er steigert es zu <strong>de</strong>m alle menschliche Maßstäbe sprengen<strong>de</strong>n<br />
dionysischen Immoralismus <strong>de</strong>s Übermenschen: „wer ein Schöpfer sein will im Guten und Bösen, <strong>de</strong>r muss ein<br />
Vernichter erst sein und Werthe zerbrechen“ 18 . Das Lob <strong>de</strong>r Ungerechtigkeit bei <strong>Platon</strong> hat nicht die nietzsche’sche<br />
Wucht: „Es hat nichts mit amoralischer Verwegenheit zu tun. Nicht um <strong>de</strong>n Freiheitsgewinn <strong>de</strong>s heroischen<br />
Individualismus, son<strong>de</strong>rn um <strong>de</strong>n Rationalitätsgewinn <strong>de</strong>s banalen Individualismus geht es hier“ 19 .<br />
Gerechtigkeit und Glück<br />
(18) Damit steht Sokrates vor folgen<strong>de</strong>m Problem. Nutzen scheint nur die Ungerechtigkeit<br />
zu bringen. Wenn die Gerechtigkeit <strong>de</strong>nnoch um ihrer selbst willen erstrebenswert sein soll,<br />
dann muss sie auch in <strong>de</strong>m Fall erstrebenswert sein, dass <strong>de</strong>r Gerechte selber gar nichts von<br />
ihr hat. Die Sache spitzt sich zu auf die Frage, die in <strong>de</strong>r Gestalt <strong>de</strong>s lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Gerechten<br />
lebendige Anschaulichkeit gewinnt: Kann <strong>de</strong>r Mensch gerecht sein wollen, ohne irgen<strong>de</strong>twas<br />
davon zu haben? Sokrates glaubt dies nicht. Er hält ja die Gerechtigkeit für ein Gut, das<br />
auch Vorteile bringt. Sokrates ist wie Glaukon, A<strong>de</strong>imantos, Thrasymachos und wie wir wohl<br />
alle <strong>de</strong>r Auffassung (die er allerdings nicht ausdrücklich formuliert, son<strong>de</strong>rn stillschweigend<br />
voraussetzt), dass <strong>de</strong>r Mensch nicht gerecht sein wollen kann, wenn er schlechterdings gar<br />
nichts davon hat. Glaukon hat <strong>de</strong>n Sokrates durch die Figur <strong>de</strong>s lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Gerechten jetzt<br />
17 Nietzsche XII, 214 (Nachgelassene Fragmente Sommer 1886 – Herbst 1887, 5[71], Nr. 9). Vgl. etwa auch<br />
Nietzsche V, 278f (Zur Genealogie <strong>de</strong>r Moral, Erste Abhandlung, Nr. 13)<br />
18 Nietzsche VI, 366 (Ecce homo, Warum ich ein Schicksal bin, Nr. 2)<br />
19 Kersting 1999, 58<br />
12
<strong>Platon</strong>: <strong>Politeia</strong><br />
genau vor folgen<strong>de</strong> Frage gestellt: Was hat <strong>de</strong>r Mensch noch von <strong>de</strong>r Gerechtigkeit, wenn<br />
er nichts mehr von ihr hat, weil er sie um ihrer selbst statt um seines eigenen Nutzens<br />
willen praktiziert?<br />
(19) Die Antwort auf diese Frage wird von Sokrates an dieser Stelle nicht entwickelt, und<br />
sie wird auch sonst nirgendwo in <strong>de</strong>r <strong>Politeia</strong> im Zusammenhang dargestellt. Ich versuche<br />
daher, <strong>de</strong>n Grundriss <strong>de</strong>r Antwort, wie er sich aus <strong>de</strong>m Ganzen <strong>de</strong>r <strong>Politeia</strong> ergibt, hier in<br />
ihren wesentlichen Elementen überblicksweise aufzuzeichnen, weil eine solche Einsicht in<br />
die Art <strong>de</strong>s grundlegen<strong>de</strong>n Zusammenhangs von Gerechtigkeit und Glück die Lektüre <strong>de</strong>s<br />
platonischen Textes in seinen einzelnen Verwicklungen erleichtern dürfte.<br />
(20) Ich rufe die Ausgangsfrage in Erinnerung: Weshalb sollte <strong>de</strong>r Mensch seine Gesinnung<br />
vom eigenen Vorteilsinteresse <strong>de</strong>s homo oeconomicus (§ 16-b) auf die Gerechtigkeit und<br />
Achtung <strong>de</strong>s sittlichen Menschen umstellen? Weshalb sollte er die ciceronische Selbstachtung<br />
(§ 16-a) aufbringen, wenn er doch selbst nichts davon hat? Ich mache nun folgen<strong>de</strong> Voraussetzung,<br />
die mir von intuitiver Einleuchtekraft zu sein scheint: Gerechtigkeit um ihrer<br />
selbst willen zu pflegen, kann nicht be<strong>de</strong>uten, schlechterdings gar nichts von ihr zu haben.<br />
Es kann nur be<strong>de</strong>uten, dass <strong>de</strong>r Vorteil, <strong>de</strong>n eine um ihrer selbst willen erstrebte Gerechtigkeit<br />
im Gefolge hat, von an<strong>de</strong>rer Art ist als <strong>de</strong>r von meinem Interesse bestimmte Vorteil.<br />
„Wenn das, was ich soll, schlechterdings mit <strong>de</strong>m, um was es mir selbst im Leben geht, nichts<br />
zu tun hat, dann geht es mich nichts an“ 20 . Der Grund für mich, das zu tun, was ich soll,<br />
kann nur darin liegen, dass es das ist, um was es mir eigentlich geht, was ich eigentlich<br />
will. Woher aber weiß ich, was ich eigentlich will? Daher, dass ich mich unvoreingenommen<br />
auf meine Selbst- und Welterfahrung einlasse. Wer <strong>de</strong>n Sonnenuntergang o<strong>de</strong>r seine Kin<strong>de</strong>r<br />
im Sand spielen sieht, <strong>de</strong>r braucht keinen weiteren Grund, um gegen Luftverschmutzung und<br />
Kin<strong>de</strong>rvernachlässigung zu sein. Der Grund dafür, eine intakte Natur und fröhliche Kin<strong>de</strong>r zu<br />
wollen, ist einfach das Erleben von Natur und Kin<strong>de</strong>rn selbst.<br />
(21) Entschei<strong>de</strong>nd in diesem Erleben ist aber nun, dass ich Natur und Kin<strong>de</strong>r nicht <strong>de</strong>swegen<br />
achte, weil ich das für meinen persönlichen Glückszustand als Vorteil empfin<strong>de</strong> (so <strong>de</strong>nkt<br />
<strong>de</strong>r homo oeconomicus), son<strong>de</strong>rn dass <strong>de</strong>r vorteilhafte (weil bereichern<strong>de</strong>) Glückszustand<br />
dann und nur dann eintritt, wenn ich gera<strong>de</strong> nicht auf meinen subjektiven Zustand ziele, son<strong>de</strong>rn,<br />
diesen vergessend, mich auf Natur und Kin<strong>de</strong>r um ihrer selbst willen einlasse, d. h. sie<br />
mit keinem an<strong>de</strong>ren Interesse betrachte als <strong>de</strong>m, sie zu erleben, wie sie an sich selber, statt<br />
im Spiegel meines Vorteils sind. Was <strong>de</strong>r Mensch eigentlich will, ist dieser „Vorteil“, <strong>de</strong>r<br />
von an<strong>de</strong>rer Art ist als <strong>de</strong>r <strong>de</strong>s homo oeconomicus, weil er <strong>de</strong>m Menschen eine Erfüllung eröffnet,<br />
die nicht in <strong>de</strong>r Gewissheit besteht, sein eigenes Belieben befriedigt zu sehen, son<strong>de</strong>rn<br />
die ihm von <strong>de</strong>n Sachen selbst her, nämlich aus <strong>de</strong>r Schau <strong>de</strong>r Dinge um ihrer selbst willen<br />
heraus erwächst. Der homo oeconomicus fin<strong>de</strong>t seine Erfüllung darin, dass er seinen Vorteil<br />
gefun<strong>de</strong>n hat. Der Mensch fin<strong>de</strong>t seine Erfüllung in Weltinhalten, an die er, die Kalkulation<br />
seines Vorteils vergessend, hingegeben ist. Insoweit ein homo oeconomicus im „guten Leben“<br />
seinen Vorteil sieht, ist seine intentio directa schon nicht mehr auf seinen Vorteil gerichtet,<br />
son<strong>de</strong>rn auf die Sache um ihrer selbst willen. Und insoweit ist er kein homo oeconomicus<br />
mehr, son<strong>de</strong>rn sittlicher Mensch.<br />
Zusatz: Der Mensch ist von seinem Wesen her zum sittlichen Menschen angelegt. Sittlichkeit ist die Fähigkeit<br />
und Bereitschaft ist, die Dinge auch (!) um ihrer selbst willen zu achten, d. h. die eigene Wirklichkeit <strong>de</strong>r Dinge<br />
zu verstehen und zu würdigen. Es ist klar, dass <strong>de</strong>r Mensch ohne solche Sittlichkeit nicht leben kann, <strong>de</strong>nn: Nur<br />
im Erleben <strong>de</strong>r Sachen um ihrer selbst willen hat das menschliche Leben Inhalt und Erfüllung. Insoweit <strong>de</strong>r<br />
20 Spaemann 2005-a<br />
13
<strong>Platon</strong>: <strong>Politeia</strong><br />
Mensch nur das zum Inhalt seines Erlebens hat, was Nur-Er-Selbst ist, bleibt er leeres Ich=Ich. Wer sich nicht<br />
auf die eigene Wirklichkeit von Sachen einlassen will, <strong>de</strong>r will genau das nicht, was er vermöge seines<br />
Menschseins eigentlich doch will und wollen muss. Und damit vergeht er sich gegen die Achtung (die ciceronische<br />
Selbstachtung) die er <strong>de</strong>r „Menschheit in seiner Person“ 21 schul<strong>de</strong>t. Die paradoxe Struktur <strong>de</strong>s menschlichen<br />
Selbst besteht gera<strong>de</strong> darin, dass ich nur in <strong>de</strong>m Maße Ich-Selbst bin, in <strong>de</strong>m ich mich mit <strong>de</strong>m An<strong>de</strong>ren,<br />
was Nicht-Ich-Selbst ist, nämlich mit <strong>de</strong>n in sich schönen Weltinhalten und ihrer autarken Wirklichkeit, erfülle.<br />
22<br />
(22) Welchen Grund hat <strong>de</strong>r Mensch also, <strong>de</strong>n Sachen gerecht wer<strong>de</strong>n zu wollen? Der<br />
Grund ist ein dreifacher:<br />
[a]<br />
[b]<br />
[c]<br />
Es ist die Achtungswürdigkeit <strong>de</strong>r Sachen um ihrer selbst willen (§ 9), die sich darin<br />
zeigt, dass wir Sachen als solche erleben, die Freu<strong>de</strong> machen und/o<strong>de</strong>r Scheu vor ihrer<br />
Beeinträchtigung erwecken: Auch wenn wir Freu<strong>de</strong> und Scheu manchmal nicht<br />
aktuell erleben, wissen wir meistens doch, dass wir sie empfin<strong>de</strong>n sollten. So gibt es<br />
Situationen, in <strong>de</strong>nen eine Person uns so in Rage bringt, dass wir we<strong>de</strong>r Freu<strong>de</strong> über<br />
sie empfin<strong>de</strong>n noch eine Scheu davor, ihr Schimpfwörter an <strong>de</strong>n Kopf zu werfen.<br />
Dennoch wissen wir in solchen Fällen, dass in <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Person ein Wesen „unseresgleichen“<br />
zu ehren ist, das heißt, dass die an<strong>de</strong>re Person eine von unserem Gemütszustand<br />
ganz unabhängige eigene Wirklichkeit besitzt, die Wirklichkeit <strong>de</strong>s Personseins<br />
nämlich, und dass wir diese Wirklichkeit da, wo sie uns in einem an<strong>de</strong>ren begegnet,<br />
so zu behan<strong>de</strong>ln haben, wie wir aus unserer Selbsterfahrung wissen, dass es<br />
<strong>de</strong>m Personsein zukommt.<br />
Da sich die Achtungswürdigkeit <strong>de</strong>r Sachen in <strong>de</strong>r Freu<strong>de</strong> zeigt, ist die Achtung vor<br />
<strong>de</strong>n Sachen gleichbe<strong>de</strong>utend mit spezifisch menschlicher Erfüllung, auf die <strong>de</strong>r<br />
Mensch nicht wirklich Verzicht tun wollen kann. So liegt <strong>de</strong>r Grund für <strong>de</strong>n Menschen,<br />
die Sachen zu achten (ihnen gerecht zu wer<strong>de</strong>n), darin, dass er nur auf diese<br />
Weise dazu gelangt, wirklich er selbst zu sein und glücklich zu wer<strong>de</strong>n als das Wesen,<br />
das „zum Sehen geboren / zum Schauen“ bestellt ist (§ 11).<br />
Wer die Wesen nicht achtet und dadurch seine spezifisch menschliche Erfüllung<br />
missachtet, <strong>de</strong>r verletzt seine Selbstachtung als Mensch, die er sich selbst eigentlich<br />
schul<strong>de</strong>t und entgegenbringen will (§ 13). Die Selbstachtung verlangt, die höhere<br />
menschliche Erfüllung, wie sie in <strong>de</strong>r Freu<strong>de</strong> am Kosmos <strong>de</strong>r Wesen (als einem<br />
„Reich <strong>de</strong>r Zwecke“) besteht, nicht zugunsten unmittelbarer, die spezifische Fähigkeit<br />
<strong>de</strong>s Menschen als schauen<strong>de</strong>n und verstehen<strong>de</strong>n Vernunftwesens nicht zu verraten.<br />
An<strong>de</strong>rs gewen<strong>de</strong>t: Die Selbstachtung verlangt, dass <strong>de</strong>r Mensch das echte Glück, das<br />
er nur durch Achtung und Gerechtigkeit <strong>de</strong>n Wesen gegenüber erlangt, nicht zugunsten<br />
eines verkürzten und verfälschten Glücks verrät, wie es zustan<strong>de</strong> kommt, wenn<br />
man sich mit unmittelbaren und kurzfristigen Befriedigungen begnügt.<br />
(23) Was aber ist mit <strong>de</strong>n Einwän<strong>de</strong>n, die Glaukon und A<strong>de</strong>imantos erhoben haben (§ 16)<br />
und die zeigen sollten, dass die Achtungswürdigkeit <strong>de</strong>r Sachen um ihrer selbst willen aufgewogen<br />
wird vom Streben nach <strong>de</strong>m eigenen Nutzen und Vorteil?<br />
[a]<br />
Gyges ist wi<strong>de</strong>rlegt, sobald er auch nur einem Menschen gegenüber sich schämen<br />
wür<strong>de</strong>, Ring o<strong>de</strong>r Tarnkappe (612 b) anzuwen<strong>de</strong>n, selbst wenn er vor Ent<strong>de</strong>ckung si-<br />
21 Vgl. Kant IV, 429 (Grundlegung zur Metaphysik <strong>de</strong>r Sitten, Zweiter Abschnitt)<br />
22 <strong>Huber</strong> 2006, §§ 211-216<br />
14
<strong>Platon</strong>: <strong>Politeia</strong><br />
cher sein könnte. Denn darin bewiese er Ehrfurcht vor diesem an<strong>de</strong>ren, mithin Gerechtigkeit<br />
<strong>de</strong>ssen eigener Wirklichkeit und eigenem Recht gegenüber. Wenn Gyges<br />
bei allem abgebrühten Immoralismus auch nur einmal zögert, z. B. seine kleinen Kin<strong>de</strong>r,<br />
seine alten Eltern, seinen besten Freund o<strong>de</strong>r seinen bewun<strong>de</strong>rten Fußballtrainer<br />
zu hintergehen, obgleich er selber vor Ent<strong>de</strong>ckung völlig sicher wäre, dann hat sich<br />
Gerechtigkeit in sein Empfin<strong>de</strong>n eingeschlichen, <strong>de</strong>nn dann zögert er nicht um seines<br />
eigenen Vorteils, son<strong>de</strong>rn um jener an<strong>de</strong>ren Wesen willen.<br />
[b]<br />
Der scheinbar Gerechte ist wi<strong>de</strong>rlegt, wenn er auch nur einer Person gegenüber sich<br />
schämen wür<strong>de</strong>, von ihr für gerecht gehalten zu wer<strong>de</strong>n und es doch nicht wirklich zu<br />
sein.<br />
Zusatz: Einen Menschen, <strong>de</strong>r innerlich so beschaffen wäre, dass er ohne zu zögern vollkommen be<strong>de</strong>nkenlos<br />
und völlig kalten Blutes je<strong>de</strong>rmann mit Tarnkappe (wie Gyges) und/o<strong>de</strong>r Heuchelei (wie <strong>de</strong>r scheinbar Gerechte)<br />
zu betrügen bereit wäre, wür<strong>de</strong>n wir kaum als einen Menschen ansehen, bei <strong>de</strong>m alles in Ordnung ist, son<strong>de</strong>rn<br />
ihn für einen pathologischen Fall halten.<br />
[c]<br />
Gyges und <strong>de</strong>r scheinbar Gerechte sind Beispiele für Ungerechtigkeit. Der lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong><br />
Gerechte hingegen ist ein Beispiel für Gerechtigkeit. Deshalb ist bei ihm die Frage<br />
nicht, wie er zu wi<strong>de</strong>rlegen sei, son<strong>de</strong>rn ob er zu beweisen ist. Der lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Gerechte<br />
ist bewiesen, wenn es Menschen gibt, die angesichts <strong>de</strong>s völligen Verlustes von Vorteilen,<br />
also angesichts <strong>de</strong>s vielleicht sogar qualvollen Verlustes <strong>de</strong>s Lebens und allen<br />
bürgerlichen Ansehens, <strong>de</strong>nnoch an <strong>de</strong>r Gerechtigkeit um ihrer selbst willen festhalten.<br />
Menschen wie Pater Kolbe, Bonhoeffer o<strong>de</strong>r die Geschwister Scholl beweisen<br />
<strong>de</strong>n lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Gerechten, <strong>de</strong>nn sie hielten an <strong>de</strong>r Achtungswürdigkeit <strong>de</strong>r Humanität<br />
fest, ohne selber auch nur auf die Anerkennung ihrer Mitmenschen rechnen zu können.<br />
Zusatz: Ich wür<strong>de</strong> mich also nicht so völlig wie Kersting <strong>de</strong>m Einwand <strong>de</strong>s Aristoteles anschließen, dass jene,<br />
„die behaupten, ein Mensch, <strong>de</strong>r aufs Rad geflochten wer<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r in großes Unglück gerate, sei glückselig, wenn<br />
er nur tugendhaft sei, behaupten absichtlich o<strong>de</strong>r unabsichtlich Nichtiges“ 23 . Natürlich han<strong>de</strong>lt es sich bei <strong>de</strong>r<br />
„Glückseligkeit“ <strong>de</strong>s lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Gerechten nicht um die paradiesische Erfüllung aller Bedürfnisse und Wünsche.<br />
Eher han<strong>de</strong>lt es sich um etwas, das man als „Einklang mit sich selbst“ (§ 13) verstehen muss. Entschei<strong>de</strong>nd<br />
scheint mir zu sein, dass Menschen wie die im § genannten diesen Einklang höher schätzen als die Erfüllung<br />
von Wünschen und Bedürfnissen, die aus <strong>de</strong>n Daseinszwecken <strong>de</strong>s menschlichen Lebens erwachsen. Sicherlich<br />
ist <strong>de</strong>r lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Gerechte nicht <strong>de</strong>r eigentliche Ort von Moralität und Sittlichkeit. Dieser Ort ist zweifellos die<br />
Normalität, in welcher <strong>de</strong>r Extremfall <strong>de</strong>s lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Gerechten nicht vorkommt. Da hat Kersting sicherlich<br />
recht. Normalerweise stehen Glück und Gerechtigkeit nicht in einem totalen Ausschließungsverhältnis, und <strong>de</strong>r<br />
Gerechte wird nicht das ganze Glück aufgeben müssen, um gerecht zu bleiben, son<strong>de</strong>rn allenfalls partielle Einbußen<br />
hinnehmen müssen. Aber in <strong>de</strong>r Extremsituation kann sich, wie unter einem Vergößerungsglas das eigentliche<br />
und wahre Gewichtsverhältnis zwischen Glückseligkeit und Gerechtigkeit zeigen: Alle Glückseligkeit<br />
ist nichts ohne Gerechtigkeit. Dass <strong>de</strong>m so ist, empfin<strong>de</strong>n wir irgendwie. Menschen von heroischer Seelengröße<br />
führen es uns vor Augen. Wir alle aber wissen darum, dass wir selber wahrscheinlich kaum in <strong>de</strong>r Lage wären,<br />
im Ernstfall uns wie <strong>de</strong>r lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Gerechte zu verhalten – obgleich wir ebenso wissen, dass es besser wäre, wir<br />
könnten es. – Der lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Gerechte ist auch eine biblische Gestalt <strong>de</strong>s Alten Testamentes: Hiob und <strong>de</strong>r<br />
Schmerzensmann aus Jesaia 53, <strong>de</strong>r als prophetisches Bild auf Jesus Christus vorausweist, weil dieser als höchster<br />
göttlicher Gerechter alle Sün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Welt auf sich genommen und so sich selbst einem Ungerechten gleichgemacht<br />
hat und wie ein Ungerechter hingerichtet wur<strong>de</strong>.<br />
Gerechtigkeit ist „etwas Göttliches“<br />
(23) A<strong>de</strong>imantos wie auch Sokrates sind <strong>de</strong>r Auffassung, die Gerechtigkeit sei etwas Gött-<br />
23 Nikomachische Ethik, 1153 b; vgl. Kersting 1999, 66f<br />
15
<strong>Platon</strong>: <strong>Politeia</strong><br />
liches im Menschen: Der Gerechte verschmäht „vermöge einer göttlichen Natur das Unrechttun“<br />
(366 c); „gar etwas Göttliches muß euch begegnet sein, wenn ihr nicht überzeugt<br />
seid, daß die Ungerechtigkeit besser ist als die Gerechtigkeit“ (368 a). Seine Darstellung <strong>de</strong>s<br />
Begriffs <strong>de</strong>r Gerechtigkeit beginnt Sokrates <strong>de</strong>mentsprechend mit einer Anrufung <strong>de</strong>r Gottheit,<br />
mit einem Gebet (432 c). Goethe hat in <strong>de</strong>r „Pädagogischen Provinz“ als grundlegend<br />
humanisieren<strong>de</strong> Tugend die Ehrfurcht eingeführt. Ehrfurcht ist die Furcht davor, die Integrität<br />
irgen<strong>de</strong>ines achtungswürdigen Wesens zu beeinträchtigen (§ 9). Damit entspricht sie <strong>de</strong>m,<br />
was bei <strong>Platon</strong> „Gerechtigkeit“ heißt: Ehrfurcht achtet ein Wesen um seiner selbst willen,<br />
statt es nur um <strong>de</strong>s Nutzens willen zu schätzen, in <strong>de</strong>ssen Dienst es ausgebeutet und aufgezehrt<br />
wird. Ehrfurcht geht gegen die Dynamik <strong>de</strong>r Natur, die ein Wesen veranlasst, sich um<br />
seinen eigenen Vorteil zu bemühen, ohne dabei Rücksicht auf an<strong>de</strong>re zu nehmen. Der Löwe<br />
ist nicht imstan<strong>de</strong>, danach zu fragen, ob die Antilope, die er reißen will, die letzte ist und er<br />
sie aus Ehrfurcht, nämlich um <strong>de</strong>s Erhalts <strong>de</strong>s Artenreichtums willen, verschonen soll. Der<br />
Mensch kann so fragen (wenn es gleich oft nicht tut). In<strong>de</strong>m er nicht nur seine eigenen Daseinszwecke<br />
verstehen und achten kann, ist er aber über die reine animalische Triebstruktur<br />
hinausgetreten, die völlig in <strong>de</strong>n Horizont <strong>de</strong>r eigenen Daseinszwecke eines Wesens eingesperrt<br />
bleibt (§ 10 Zusatz). Ehrfurcht lässt sich daher aus <strong>de</strong>r animalischen Natur nicht ableiten<br />
und sie entwickelt sich daher auch beim Menschen nicht von selbst als naturwüchsiger<br />
Trieb, son<strong>de</strong>rn stellt <strong>de</strong>r Naturwüchsigkeit gegenüber ein superadditum dar. Wenn sich Ehrfurcht<br />
bei gewissen Menschen doch von selbst zu entwickeln scheint, han<strong>de</strong>lt es sich bei diesen<br />
daher, Goethe zufolge, um beson<strong>de</strong>rs Begünstigte, „die man auch <strong>de</strong>swegen von jeher für<br />
Heilige, für Götter gehalten“ 24 hat. Ehrfurcht und Gerechtigkeit sind <strong>de</strong>swegen etwas Göttliches,<br />
weil sie mehr sind als naturwüchsige Natur. 25 Mit <strong>Platon</strong> gesprochen, han<strong>de</strong>lt es sich<br />
bei ihnen um „göttliche Natur“ (366 c), ihnen ist „ein Gott zu Hilfe“ (492 a) gekommen.<br />
Denn Ehrfurcht und Gerechtigkeit zielen auf einen an<strong>de</strong>ren Zweck als nur auf die partikularen<br />
Zwecke im eigenen Interesse eines je<strong>de</strong>n Einzelwesens, nämlich auf <strong>de</strong>n Zweck <strong>de</strong>r universalen<br />
Zusammenstimmung zum „Reich <strong>de</strong>r Zwecke“ 26 .<br />
Sittliche Bildung<br />
(24) „Denn Väter sprechen zu Söhnen und ermahnen sie und so auch alle, die irgend dafür<br />
zu sorgen haben, daß man gerecht sein müsse, nicht in<strong>de</strong>m sie die Gerechtigkeit selbst loben,<br />
son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>n daraus entstehen<strong>de</strong>n guten Ruf ... Und noch weiter re<strong>de</strong>n diese immer nur von<br />
<strong>de</strong>m, was mit <strong>de</strong>r Meinung an<strong>de</strong>rer zusammenhängt. Denn sie werfen uns <strong>de</strong>n Beifall <strong>de</strong>r<br />
Götter mit hinein und haben unzähliges Gutes vorzutragen, was die Götter <strong>de</strong>n Frommen<br />
geben sollen“ (362 e – 363 a). Während Glaukon das Lob <strong>de</strong>r Ungerechtigkeit stark zu machen<br />
versuchte, schlägt A<strong>de</strong>imantos von einer an<strong>de</strong>ren Richtung her in dieselbe Kerbe: Er<br />
weist darauf hin, dass sogar das Lob <strong>de</strong>r Gerechtigkeit und <strong>de</strong>r Ta<strong>de</strong>l <strong>de</strong>r Ungerechtigkeit,<br />
wie sie gewöhnlich von Dichtern und Erziehern vorgebracht wer<strong>de</strong>n, letztlich auf eine Unterstützung<br />
<strong>de</strong>r Ungerechtigkeit hinauslaufen.<br />
[a]<br />
Man lobt die Gerechtigkeit um <strong>de</strong>s Ansehens willen, das <strong>de</strong>r Gerechte bei Menschen<br />
und Götter genießt (362 c – 363 e). Ein solches Lob <strong>de</strong>r Gerechtigkeit ist aber nur ein<br />
Lob ihrer äußeren Vorteile, nicht ihres inneren Wertes.<br />
24 Goethe VIII, 171 (Wilhelm Meisters Wan<strong>de</strong>rjahre, Zweites Buch, Erstes Kapitel)<br />
25 Zur Unterscheidung von naturwüchsiger und natürlicher Natur vgl. <strong>Huber</strong> 2006, §§ 218ff<br />
26 <strong>Huber</strong> 2006, §§ 3; 78<br />
16
<strong>Platon</strong>: <strong>Politeia</strong><br />
[b]<br />
[c]<br />
Bei <strong>de</strong>n Dichtern lernt man außer<strong>de</strong>m, dass die Götter die Gerechtigkeit nicht beson<strong>de</strong>rs<br />
hoch bewerten, <strong>de</strong>nn leicht teilen sie auch <strong>de</strong>m Gerechten Unglück zu, und die<br />
Strafe <strong>de</strong>s Ungerechten lassen sie sich durch geringe Opfergaben abkaufen (363 e –<br />
365 a).<br />
Dies hat hinsichtlich <strong>de</strong>r sittlichen Bildung zur Folge, dass Kin<strong>de</strong>r und Jugendliche<br />
nie die Gerechtigkeit in ihrem inneren Wert erkennen und sie folglich auch nicht um<br />
ihrer selbst willen schätzen und erstreben (365 a – 367 a).<br />
Was A<strong>de</strong>imantos sagt, läuft darauf hinaus, dass man auf keine an<strong>de</strong>re Weise zur Gerechtigkeit<br />
bil<strong>de</strong>n und erziehen kann, als dadurch, dass man die Gerechtigkeit als etwas darstellt, das<br />
um ihrer selbst willen erstrebenswürdig ist. Tut man dies nicht und versucht, die Gerechtigkeit<br />
von ihren äußeren Vorteilen her als erstrebenswert zu begrün<strong>de</strong>n, unterstützt man in <strong>de</strong>r<br />
Seele <strong>de</strong>s Zöglings die ungerechte Maxime, dass es in <strong>de</strong>r Hauptsache darauf ankäme, <strong>de</strong>n<br />
eigenen Vorteil nicht zu verfehlen, ja womöglich zu steigern.<br />
Zusatz: Kant hat öfters eindringlich darauf hingewiesen, dass man die Tugend o<strong>de</strong>r Pflicht einzig als um ihrer<br />
selbst willen, nicht aber um etwaiger Vorteile willen erstrebenswürdig darstellen müsse, weil nur so die moralische<br />
Gesinnung wirklich eine von Achtung bestimmte moralische Gesinnung bil<strong>de</strong>t, statt bloß Ausfluss einer<br />
auf Vorteilssteigerung gerichteten Maxime zu sein. 27<br />
Zweites mit Fünftes Buch<br />
(25) Bisher habe ich ein Verständnis von Gerechtigkeit vorausgesetzt (§ 12), ohne zu zeigen,<br />
ob und wie es <strong>de</strong>m sokratischen bzw. platonischen entspricht. Die Bestimmung <strong>de</strong>r Gerechtigkeit<br />
durch Sokrates mittels <strong>de</strong>r Analogie von Staat und Seele beginnt im Zweiten<br />
Buch und en<strong>de</strong>t erst im Fünften Buch, das mit <strong>de</strong>r Notwendigkeit von <strong>de</strong>r Philosophenherrschaft<br />
en<strong>de</strong>t. Das Sechste Buch und das Siebente Buch behan<strong>de</strong>ln das Herzstück <strong>de</strong>s i<strong>de</strong>alen<br />
Staates bzw. <strong>de</strong>r i<strong>de</strong>alen Seele: die Bildung zur Philosophie und das Philosophieren. Hier<br />
fin<strong>de</strong>n sich die berühmten Gleichnisse, das Sonnen- und das Liniengleichnis (Sechstes Buch)<br />
sowie das Höhlengleichnis (Siebentes Buch). Das Achte Buch und das Neunte Buch behan<strong>de</strong>ln<br />
die Ungerechtigkeit in Staat und Menschenseele (Timokratie, Oligarchie, Demokratie,<br />
Tyrannis als Gegenformen zur Aristokratie als <strong>de</strong>r gerechten Staats- und Seelenverfassung).<br />
Das Zehnte Buch zeigt nach längeren Ausführungen zur Dichtung und ihrem Verhältnis zur<br />
gerechten Seele, welchen „nutzlosen Nutzen“ (§ 13) die Gerechtigkeit für die Seele darstellt.<br />
Die Bestimmung <strong>de</strong>r Gerechtigkeit durch Sokrates<br />
(26) Zum Zweck <strong>de</strong>r Erfassung <strong>de</strong>ssen, was Gerechtigkeit ist, geht Sokrates davon aus, dass<br />
eine Analogie bestehe zwischen <strong>de</strong>r individuellen menschlichen Seele und <strong>de</strong>m Staat: „Gerechtigkeit,<br />
sagen wir doch, fin<strong>de</strong>t sich an einem einzelnen Manne, fin<strong>de</strong>t sich aber auch an<br />
einer ganzen Stadt“ (368 e). Die Verhältnisse in <strong>de</strong>r Stadt o<strong>de</strong>r im Staat (427 c – 434 d) entsprechen<br />
<strong>de</strong>nen in <strong>de</strong>r Seele (434 d – 444 a), haben jedoch größere Gestalt und sind daher<br />
<strong>de</strong>utlicher und leichter wahrnehmbar (368 c – 369 b).<br />
[a]<br />
Der einfache Staat (369 b – 372 c) ist ein System <strong>de</strong>r Befriedigung naturwüchsiger<br />
Bedürfnisse. <strong>Platon</strong> geht davon aus, dass die Menschen unterschiedliche Begabungen<br />
27 Kant IV, 408f (Grundlegung zur Metaphysik <strong>de</strong>r Sitten, Zweiter Abschnitt); Kant V, 154-157 (Kritik <strong>de</strong>r<br />
praktischen Vernunft, Metho<strong>de</strong>nlehre); Kant VI, 48f (Die Religion innerhalb <strong>de</strong>r Grenzen <strong>de</strong>r bloßen Vernunft,<br />
Erstes Stück, Allgemeine Anmerkung)<br />
17
<strong>Platon</strong>: <strong>Politeia</strong><br />
besitzen und dass diese sich über die Gesamtheit <strong>de</strong>s Gemeinwesens untereinan<strong>de</strong>r so<br />
ergänzen, dass alle Bedürfnisse abge<strong>de</strong>ckt sind. Daher versorgt sich nicht ein je<strong>de</strong>r<br />
rundum selbst, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r einfache Staat lebt arbeitsteilig: Je<strong>de</strong>r spezialisiert sich<br />
seiner Begabung entsprechend auf eine bestimmte Tätigkeit und erzeugt entsprechen<strong>de</strong><br />
Produkte und Dienstleistungen über seinen eigenen Bedarf hinaus, die er dann gegen<br />
an<strong>de</strong>rsartige Produkte und Dienstleistungen an<strong>de</strong>rer eintauschen kann, um so seine<br />
eigene Versorgung zu komplementieren.<br />
[b]<br />
[c]<br />
Der üppige Staat (372 c – 427 c) ist <strong>de</strong>m einfachen gegenüber durch Gebietserweiterung<br />
und Bedürfnissteigerung sowie Bedürfnisverfeinerung gekennzeichnet. Er glie<strong>de</strong>rt<br />
sich in drei Stän<strong>de</strong>: <strong>de</strong>n produktiven Stand <strong>de</strong>r Bauern, Handwerker, Dienstleister<br />
(373 bd), <strong>de</strong>n polizeilich-militärischen Stand <strong>de</strong>r Wächter (phylakes), <strong>de</strong>r die Staatsordnung<br />
nach innen und nach außen schützt (373 d – 414 b) sowie <strong>de</strong>n regieren<strong>de</strong>n<br />
Stand <strong>de</strong>r Herrscher (archontes), welche die optimale Organisation <strong>de</strong>s Staates entwickeln<br />
(412 b – 414 b). Erst hier im üppigen Staat wird die Gerechtigkeit zum ausdrücklichen<br />
Thema, weil sie wegen <strong>de</strong>r größeren Komplexität dieses Staates jetzt von<br />
<strong>de</strong>n Menschen eigens organisiert wer<strong>de</strong>n muss, statt sich wie im einfachen Staat von<br />
selber herzustellen. Deshalb kann A<strong>de</strong>imantos nicht sehen, wie die Gerechtigkeit im<br />
einfachen Staat entsteht. Sie ist „im gegenseitigen Verkehr“ (371 e – 372 a) <strong>de</strong>r arbeitsteilig<br />
Tätigen immer schon enthalten, während sie im üppigen Staat durch weise<br />
Gesetze und polizeiliche Macht erst organisiert wer<strong>de</strong>n muss.<br />
Der Staat ist in <strong>de</strong>m Maße vollen<strong>de</strong>ter o<strong>de</strong>r i<strong>de</strong>aler Staat (473 b – 541 b), als seine<br />
Ordnung nach innen und außen – also seine Verhältnisse in sich selbst und zur übrigen<br />
Wirklichkeit – gemäß <strong>de</strong>r philosophischen Einsicht <strong>de</strong>r Herrscher in die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s<br />
Guten gebil<strong>de</strong>t ist. Die Herrscher bil<strong>de</strong>n diejenige Klasse im i<strong>de</strong>alen Staate, „welche<br />
nicht über irgend etwas von <strong>de</strong>m in <strong>de</strong>r Stadt Rat gibt, son<strong>de</strong>rn über sie selbst ganz,<br />
auf welche Weise sie mit sich selbst und mit an<strong>de</strong>ren Städten am besten umgehen soll“<br />
(428 cd) 28 .<br />
Zusatz: Wenn <strong>Platon</strong> von polis spricht, kann das mit Stadt o<strong>de</strong>r Staat übersetzt wer<strong>de</strong>n. Die griechischen<br />
poleis waren Stadtstaaten, die nicht wie Städte <strong>de</strong>r umfassen<strong>de</strong>ren Herrschaftsordnung eines Staates eingeglie<strong>de</strong>rt<br />
waren, son<strong>de</strong>rn selbst souveräne Herrschaftsbereiche darstellten. Polis be<strong>de</strong>utet daher so viel als Republik<br />
o<strong>de</strong>r Gemeinwesen.<br />
(27) Gerechtigkeit besteht für Sokrates darin, dass je<strong>de</strong>r Teil <strong>de</strong>s Ganzen das Seinige tut<br />
und dies richtig tut, statt sich in Vielgeschäftigkeit zu zerstreuen und seine Tüchtigkeit auf<br />
vieles zu konzentrieren und damit qualitativ zu verwässern, <strong>de</strong>nn es ist „unmöglich, daß einer<br />
viele Künste zugleich gut ausüben könne“ (374 a). Es gilt daher, „daß das Seinige zu tun und<br />
sich nicht in vielerlei einzumischen Gerechtigkeit ist“ (433 b; vgl. 370 bc; 433 e – 434 c; 443<br />
b). Gerecht ist <strong>de</strong>r Staat, wenn darin je<strong>de</strong>r Stand das Seinige tut. Das be<strong>de</strong>utet vor allem, dass<br />
die zur Herrschaft kraft Einsicht Fähigen herrschen und die übrigen mit <strong>de</strong>m Beherrschtwer<strong>de</strong>n<br />
durch diese einverstan<strong>de</strong>n sein müssen. Dies ist die Besonnenheit <strong>de</strong>r Menschen im Staat<br />
(430 c – 432 b), ihre Bereitschaft, die Dinge in <strong>de</strong>r gerechten Ordnung sein zu lassen. So geordnet<br />
wird <strong>de</strong>r Staat nicht nur je<strong>de</strong>m seiner Stän<strong>de</strong> und sich selber als <strong>de</strong>ren Ganzheit gerecht<br />
– also nach innen gerecht han<strong>de</strong>ln –, son<strong>de</strong>rn vermöge <strong>de</strong>r Herrschaft <strong>de</strong>r Vernünftigen<br />
wird er auch <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Staaten gerecht – also nach außen gerecht han<strong>de</strong>ln (§ 26-c).<br />
28 Schleiermacher übersetzt polis mit Stadt. Daher ist bei ihm die Stadt dasjenige, was ich hier sonst <strong>de</strong>n Staat<br />
nenne (§ 25 Zusatz).<br />
18
<strong>Platon</strong>: <strong>Politeia</strong><br />
(28) Die Dreiteilung <strong>de</strong>r Stän<strong>de</strong> (§ 26-b) wird dann entsprechend auch für die Seele entwickelt<br />
(434 d – 444 a). Dem ersten Stand entspricht in <strong>de</strong>r Seele das Begehrliche (epithymetikon<br />
[439 d]), <strong>de</strong>m zweiten Stand das Eifrige (thymoei<strong>de</strong>s [441 a]) und <strong>de</strong>m dritten das Vernünftige<br />
(logistikon [439 d]). Gerecht ist die Seele, wenn je<strong>de</strong>r Seelenteil das Seinige tut. Die<br />
Gerechtigkeit <strong>de</strong>r Seele besteht <strong>de</strong>shalb darin, dass das Vernünftige herrscht, und dass das<br />
Eifrige, „von Natur <strong>de</strong>m Vernünftigen beistehend“ (441 a), sich selbst und das Begehrliche in<br />
Besonenheit zum Gehorsam gegen die Herrschaft <strong>de</strong>r Vernunft bringt. Die Gerechtigkeit <strong>de</strong>r<br />
Seele besteht nicht in irgen<strong>de</strong>iner materialen Handlung, wie etwa <strong>de</strong>m Zurückgeben von Geliehenem<br />
(§ 2), son<strong>de</strong>rn in <strong>de</strong>r „inneren Tätigkeit in Absicht auf sich selbst und das Seinige,<br />
in<strong>de</strong>m einer nämlich jegliches in ihm nicht Frem<strong>de</strong>s verrichten läßt noch die verschie<strong>de</strong>nen<br />
Kräfte seiner Seele sich gegenseitig in ihre Geschäfte einmischen, son<strong>de</strong>rn jeglichem sein<br />
wahrhaft Angehöriges beilegt und sich selbst beherrscht und ordnet und Freund seiner selbst<br />
ist, ... und so erst verrichtet, wenn er etwas verrichtet“ (443 d). Das „Seinige“ <strong>de</strong>s Menschen<br />
und seiner Seele ist es, Präsenzraum für das Ganze <strong>de</strong>r Wirklichkeit zu sein (§ 11).<br />
(29) Das Seinige richtig zu tun, be<strong>de</strong>utet, <strong>de</strong>r eigenen Wirklichkeit gerecht zu wer<strong>de</strong>n, die<br />
spezifische Ordnung zu erfüllen, welche die eigene Wirklichkeit eines Wesens ausmacht. 29<br />
Der eigenen Wirklichkeit eines Wesens gerecht zu wer<strong>de</strong>n, ist gut für dieses Wesen, <strong>de</strong>nn es<br />
be<strong>de</strong>utet, das zu tun o<strong>de</strong>r zu wirken, was das Wesen eigentlich o<strong>de</strong>r im Letzten will, nämlich<br />
das zu sein, was es selber ist (statt von sich selbst entfrem<strong>de</strong>t zu sein). Die Erfüllung dieses<br />
Willens zum Selbstsein das Selbsersein-Dürfen und Selbersein-Können stellt das Gute o<strong>de</strong>r<br />
Bejahungswürdige für ein Wesen dar. 30 Das Gute ist alles das, was in <strong>de</strong>r (unverfälschten)<br />
Selbstbejahung eines Wesens eingeschlossen ist (§ 30). Hierin liegt <strong>de</strong>r Zusammenhang <strong>de</strong>r<br />
Gerechtigkeit mit <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s Guten (§§ 38-44): Gerechtigkeit be<strong>de</strong>utet, die eigene Wirklichkeit<br />
<strong>de</strong>r Wesen zu achten (§ 12). Was aber die eigene Wirklichkeit eines Wesens ist, worin<br />
sie besteht, das zeigt sich an seinem Guten. Wenn wir nämlich wissen,<br />
[a]<br />
[b]<br />
[c]<br />
was das spezifisch Gute für gera<strong>de</strong> dieses Wesen selbst ist,<br />
wie dieses Wesen in seinem Wirken gut ist für an<strong>de</strong>re Wesen, und<br />
wie umgekehrt an<strong>de</strong>re für es selbst gut sind,<br />
dann wissen wir, was es mit diesem Wesen auf sich hat, von welcher Beschaffenheit es ist. 31<br />
Das wechselseitige Gutsein-für-an<strong>de</strong>re im Sinne von [b] und [c] ist natürlich nicht als eine<br />
Instrumentalisierung zu verstehen, die das jeweilige Wesen in seiner eigenen Wirklichkeit<br />
zerstört, son<strong>de</strong>rn als die Funktionalität eines integren Selbstseins, <strong>de</strong>ssen Wirksamkeit und<br />
Lebendigkeit in dieser Funktionalität besteht. 32<br />
(30) Dass je<strong>de</strong>r und je<strong>de</strong>s das Seinige tut, ist aber nur möglich, wenn je<strong>de</strong>r und je<strong>de</strong>s das<br />
Seinige genau auf die Weise tut, dass dadurch an<strong>de</strong>re nicht daran gehin<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n, das<br />
Ihrige zu tun. Der zur gerechten Herrschaft fähige Philosoph wird daher geleitet vom I<strong>de</strong>albild<br />
<strong>de</strong>ssen, „was unter sich kein Unrecht tut o<strong>de</strong>r lei<strong>de</strong>t, son<strong>de</strong>rn nach Ordnung (kosmo)<br />
und Regel (kata logon) sich verhält“ (500 c). Gerechtigkeit ist nicht nur Sorge um das Tun<br />
29 Scriptum zum Gorgias, § 19; <strong>Huber</strong> 2003, 49ff<br />
30 Scriptum zum Gorgias, § 3<br />
31 <strong>Huber</strong> 2006, §§ 130; 133<br />
32 <strong>Huber</strong> 2006, §§ 125; 140<br />
19
<strong>Platon</strong>: <strong>Politeia</strong><br />
<strong>de</strong>s eigenen „Seinigen“, son<strong>de</strong>rn auch <strong>de</strong>s frem<strong>de</strong>n „Seinigen“. Nur wenn je<strong>de</strong>s Wesen das<br />
Seinige tut, ist je<strong>de</strong>s Einzelne und damit auch das Ganze aller im optimalen Zustand. An<strong>de</strong>rnfalls<br />
bleibt bei<strong>de</strong>s hinter <strong>de</strong>m zurück, was es eigentlich ist. Damit aber richtet sich Gerechtigkeit<br />
im Prinzip auf die gesamte Wirklichkeit, nicht nur auf die eigene Seele o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n eigenen<br />
Staat (wie <strong>Platon</strong> 421 <strong>de</strong>, arg verkürzend und im Gegensatz zu 428 <strong>de</strong>, schreibt). Wächter und<br />
Herrscher (§ 26-b-c) im Staate 33 sollen <strong>de</strong>mentsprechend diejenigen sein, „welche jegliches,<br />
wie es ist, erkennen“ (484 d; vgl. 532 a; 533 b; 534 b), <strong>de</strong>nn wer die Wesen in <strong>de</strong>r Welt nicht<br />
versteht, <strong>de</strong>r kann nicht wissen, wie er in Bezug auf sie sein Seiniges so tun soll, dass er das<br />
Ihrige nicht verdrängt: Wer „<strong>de</strong>r Erkenntnis eines je<strong>de</strong>n, was ist, beraubt“ (484 c) ist, <strong>de</strong>r ist<br />
nicht imstan<strong>de</strong>, „das Bestehen<strong>de</strong> hütend zu erhalten“ (484 d). Jegliches zu erkennen, wie es<br />
selber – also in seiner eigenen Wirklichkeit – ist, be<strong>de</strong>utet aber nichts an<strong>de</strong>res, als zu wissen,<br />
was gut für ein je<strong>de</strong>s ist (§ 29): Gerecht ist, wer in Bezug auf je<strong>de</strong>s Wesen nicht nur irgen<strong>de</strong>inen<br />
frem<strong>de</strong>n Nutzen, son<strong>de</strong>rn immer auch das für dieses Wesen selber Gute und<br />
Zuträgliche berücksichtigt und wahrt. In diesem Sinne konnte Sokrates im Gorgias sagen,<br />
gerecht sei es, zu tun, „was sich gebührt gegen Götter und Menschen“ (Gorgias 507 a) 34 , also<br />
gegen alles, was überhaupt ist.<br />
Zusatz: Kersting übersieht <strong>de</strong>n im § angesprochenen Sachverhalt, wenn er behauptet: „Gerechtigkeit ist für<br />
<strong>de</strong>n Tugen<strong>de</strong>thiker <strong>Platon</strong> kein fremdgerichtetes, das Recht an<strong>de</strong>rer respektieren<strong>de</strong>s Verhaltensprogramm, son<strong>de</strong>rn<br />
rationale Selbstsorge“ 35 . Gerechtigkeit ist für <strong>Platon</strong> auch eine Weise <strong>de</strong>s Verhaltens an<strong>de</strong>ren gegenüber.<br />
Und sie ist rationale Selbstsorge nicht im heutigen Sinne eines Kalküls <strong>de</strong>r optimalen Realisierung eines bunten<br />
Straußes subjektiver Präferenzen, son<strong>de</strong>rn im Sinne <strong>de</strong>r Herausbildung einer praktisch vernünftigen, sittlichen<br />
Seele, die ihr wahres Selbstsein als Präsenzraum aller Wesen (<strong>de</strong>s „Reiches <strong>de</strong>r Zwecke“) realisiert, und zu<strong>de</strong>m<br />
auf ihr ewiges Heil bedacht ist (§§ 33f).<br />
(31) Gerecht ist es, wenn je<strong>de</strong>r das Seinige tut, d. h. wenn je<strong>de</strong>s Wesen das sein kann, was<br />
es selber ist (§ 30). Aber warum soll Gerechtigkeit sein, warum soll je<strong>de</strong>r im Seinigen sein<br />
und walten? Weil je<strong>de</strong>s einzelne gut ist, d. h. bejahungswürdig (§ 22 und § 39 Zusatz 1-b).<br />
Zusatz: Die Tugend <strong>de</strong>r Gerechtigkeit ist somit aber nur möglich auf <strong>de</strong>r Grundlage von Weisheit, <strong>de</strong>nn eben<br />
diese ist „die Erkenntnis <strong>de</strong>ssen, was einem je<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>m Ganzen, aus allen ... gemeinsamen, zuträglich ist“<br />
(442 c). Die Tugend <strong>de</strong>r Besonnenheit ist die lebendige Bereitschaft, das Han<strong>de</strong>ln <strong>de</strong>n Erkenntnissen <strong>de</strong>r Weisheit<br />
zu unterwerfen. Besonnenheit ist die Bereitschaft, gerecht zu han<strong>de</strong>ln. Diese Bereitschaft muss gegen die<br />
Versuchungen <strong>de</strong>r Ungerechtigkeit aufrechterhalten wer<strong>de</strong>n durch Standhaftigkeit, d. h. durch Tapferkeit (zum<br />
Zusammenhang <strong>de</strong>r Tugen<strong>de</strong>n vgl. 427 c – 434 c und 441 c – 442 d).<br />
Der Staat und die Bestimmung <strong>de</strong>s Menschen<br />
(32) Aus <strong>de</strong>r strikten Entsprechung zwischen <strong>de</strong>m Staat und <strong>de</strong>m individuellen Menschen<br />
(464 b), an welcher <strong>Platon</strong> unverrückbar festhält, ergeben sich Vorschriften, die für uns<br />
kontraintuitiv sind, weil wir das Verhältnis <strong>de</strong>s einzelnen Menschen zum Staatsganzen nicht<br />
wie <strong>Platon</strong> nach <strong>de</strong>m Muster <strong>de</strong>s Verhältnisses eines Glie<strong>de</strong>s zum ganzen Organismus verstehen,<br />
son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>m einzelnen Menschen eine größere Selbstständigkeit zugestehen. Während<br />
33 <strong>Platon</strong> schreibt erst nur von <strong>de</strong>n „Wächtern“ (484 c), dann aber differenziert er zwischen <strong>de</strong>nen, die das „Gesetzliche<br />
und Schöne in bezug auf Recht und Unrecht ... verzeichnen, wenn es erst verzeichnet wer<strong>de</strong>n soll“, und<br />
<strong>de</strong>nen, die „das Bestehen<strong>de</strong> hütend ... erhalten“ (484 d). Diejenigen, welche die Gesetze geben (tithestai = festgesetzt<br />
wer<strong>de</strong>n), sind aber die Herrscher. Der Terminus „Wächter“ bezeichnet zum einen die gesamte Gruppe<br />
<strong>de</strong>r Wächter und Herrscher, zum an<strong>de</strong>ren aber auch die polizeilich-militärische Teilgruppe im Unterschied von<br />
<strong>de</strong>n Herrschern (412 b – 414 b).<br />
34 Scriptum zum Gorgias, § 19<br />
35 Kersting 1999, 303<br />
20
<strong>Platon</strong>: <strong>Politeia</strong><br />
für uns <strong>de</strong>r Zweck <strong>de</strong>s Staates darin besteht, <strong>de</strong>n Individuen in sozietätsverträglicher Weise<br />
die Suche und Praxis eines persönlich erfüllten Lebens zu ermöglichen, hat <strong>de</strong>r einzelne<br />
Mensch für <strong>Platon</strong> keine an<strong>de</strong>re raison d’être als die, <strong>de</strong>m Staat instrumentell als Mittel zu<br />
dienen. Deshalb wird in <strong>de</strong>r platonischen I<strong>de</strong>alrepublik <strong>de</strong>m unheilbar Kranken (<strong>de</strong>r zu nichts<br />
mehr nütze ist) die medizinische Hilfe verwehrt und <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Seele „Bösartige“ wird liquidiert<br />
(409 e – 410 a); bei <strong>de</strong>n Wächtern wird nach einem staatlich organisierten Zuchtprogramm<br />
gezeugt und zur Welt gebracht (458 c – 461 e), Kin<strong>de</strong>r schlechter Eltern wer<strong>de</strong>n ausgemerzt<br />
(459 <strong>de</strong>), es gibt kein Privateigentum (464 bc), und sogar Frauen und Kin<strong>de</strong>r sind<br />
allen gemeinsam (423 e – 424 a; 449 c; 457 b – 465 c). Das Familienleben dient hier nicht<br />
<strong>de</strong>m einzelnen Menschen als privater Ort, um ein persönlich erfülltes Leben zu führen, son<strong>de</strong>rn<br />
alle persönlichen Belange <strong>de</strong>s Einzelnen wer<strong>de</strong>n ausgeschaltet und völlig <strong>de</strong>r Funktionalität<br />
für <strong>de</strong>n Staat unterworfen.<br />
Zusatz: <strong>Platon</strong>s Motiv, das menschliche Individuum gänzlich für <strong>de</strong>n Staat zu instrumentalisieren, ist die<br />
Einheit <strong>de</strong>s Staates (462 a – 462 e; 464 b): Je mehr die einzelnen Bürger zu unselbstständigen Glie<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>s<br />
Staatsorganismus wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>sto weniger ist die Einheit und Funktionsfähigkeit dieses Organismus gefähr<strong>de</strong>t.<br />
Aristoteles hat bereits gegen <strong>Platon</strong> eingewandt, dass er „<strong>de</strong>n Staat zu sehr zu einem“ mache: „Freilich muß das<br />
Haus und muß <strong>de</strong>r Staat in einem gewissen Sinne eins sein, aber sie dürfen es nicht ganz und gar sein“ 36 . Es<br />
gibt hinsichtlich <strong>de</strong>s Gra<strong>de</strong>s <strong>de</strong>r inneren Differenziertheit unterschiedliche Arten von Einheit. Die Einheit <strong>de</strong>r<br />
Materie in einem Stein ist eine sehr viel dichter gefügte Einheit als die Einheit einer Freundschaft.<br />
(33) Wenn <strong>de</strong>r Mensch um <strong>de</strong>s Staates willen existiert, wozu gibt es dann <strong>de</strong>n Staat? Darauf<br />
gibt <strong>Platon</strong> in <strong>de</strong>r <strong>Politeia</strong> die folgen<strong>de</strong>n vier Antworten. Dabei scheint in allen vier Fällen<br />
<strong>de</strong>r Staat für <strong>de</strong>n Menschen da zu sein. Das steht in erheblicher Spannung zu <strong>Platon</strong>s Behandlung<br />
<strong>de</strong>r Wächter nach <strong>de</strong>r umgekehrten Maxime, <strong>de</strong>r Mensch sei für <strong>de</strong>n Staat da.<br />
[a]<br />
[b]<br />
[c]<br />
Der einfache Staat (§ 26-a) dient <strong>de</strong>r Befriedigung vitaler Bedürfnisse, sein Zweck<br />
besteht also darin, die Existenz von Menschen zu ermöglichen.<br />
Der üppige Staat (§ 26-b) dient <strong>de</strong>r Befriedigung verfeinerter Bedürfnisse durch Luxusgüter<br />
und Kulturgüter (372 c – 373 d), sein Zweck besteht also darin, <strong>de</strong>r menschlichen<br />
Existenz so etwas wie Erfüllung zu ermöglichen.<br />
Der i<strong>de</strong>ale Staat (§ 26-c) dient dazu, vermittelst <strong>de</strong>r Einsicht <strong>de</strong>r Philosophenkönige<br />
die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s Guten zur Herrschaft zu bringen (473 cd; 505 a), sein Zweck besteht also<br />
darin, <strong>de</strong>m Menschen Teilhabe an <strong>de</strong>m wahren Sein (am Wahrhaftesten, am alethestaton<br />
[484 c]) und somit eine höhere Erfüllung, als sie <strong>de</strong>r üppige Staat kennt, zu ermöglichen.<br />
Zwar sollen die Könige um <strong>de</strong>s Staates willen philosophieren, aber eigentlich<br />
ist die Philosophie Selbstzweck und macht zur Herrschaft unlustig. So müssen<br />
und sollen die Herrscher, sobald sie zu Philosophen gewor<strong>de</strong>n sind und <strong>de</strong>swegen<br />
nicht mehr herrschen wollen, zum Herrschen gezwungen bzw. überre<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n (519<br />
b – 521 b).<br />
Wenn <strong>de</strong>r Dienst für <strong>de</strong>n Staat nicht die letzte Bestimmung <strong>de</strong>r menschlichen Seele ist, worin<br />
liegt dann die Bestimmung <strong>de</strong>s Menschen? Sie besteht in <strong>de</strong>r Bestimmung seiner Seele zu<br />
einem unsterblichen Leben im Himmel (614 <strong>de</strong>), in <strong>de</strong>n sie nach je<strong>de</strong>r irdischen Wie<strong>de</strong>rgeburt<br />
zu einer tausendjährigen Wan<strong>de</strong>rung eingeht und wo sie die Betrachtung „<strong>de</strong>r unbegreiflichen<br />
Schönheit <strong>de</strong>s dort zu Schauen<strong>de</strong>n“ (615 a) genießt. Die Seligkeit o<strong>de</strong>r das Wohlergehen<br />
(eupatheia [615 a]) dieser Schau ist <strong>de</strong>r visio beatifica vergleichbar, obschon sie im Un-<br />
36 Aristoteles: Politik II, 5, 1263 b<br />
21
<strong>Platon</strong>: <strong>Politeia</strong><br />
terschied zu dieser immer wie<strong>de</strong>r durch Wie<strong>de</strong>rgeburten unterbrochen wird. Die himmlische<br />
beseligen<strong>de</strong> Schau erreicht die Seele aber nur unter <strong>de</strong>r Bedingung, dass die von ihr gewählte<br />
irdische Lebensform gerecht war (617 d – 619 e). Daraus ergibt sich eine vierte Auffassung<br />
von <strong>de</strong>r Bestimmung <strong>de</strong>s Staates:<br />
[d]<br />
Das gesamte irdische Leben in <strong>de</strong>r polis dient letztendlich <strong>de</strong>m Zweck, <strong>de</strong>n Menschen<br />
für die höchste, nämlich die himmlische Erfüllung vorzubereiten und würdig<br />
zu machen: „Son<strong>de</strong>rn wenn es nach mir geht, wollen wir, in <strong>de</strong>r Überzeugung, die<br />
Seele sei unsterblich und vermöge alles Übel und alles Gute zu ertragen, uns immer<br />
an <strong>de</strong>n oberen Weg halten und <strong>de</strong>r Gerechtigkeit mit Vernünftigkeit auf alle Weise<br />
nachtrachten, damit wir uns selbst und <strong>de</strong>n Göttern lieb seien, sowohl während wir<br />
noch hier weilen, als auch, wenn wir <strong>de</strong>n Preis dafür davontragen, <strong>de</strong>n wir uns wie<br />
die Sieger von allen Seiten umher einholen, und hier sowie auch auf <strong>de</strong>r tausendjährigen<br />
Wan<strong>de</strong>rung, von <strong>de</strong>r wir eben erzählt, uns wohl befin<strong>de</strong>n“ (621 cd).<br />
Genaugenommen und in letzter Instanz verstan<strong>de</strong>n, ist <strong>de</strong>mnach bei <strong>Platon</strong> keineswegs <strong>de</strong>r<br />
Mensch um <strong>de</strong>s Staates willen da, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Staat um <strong>de</strong>s Menschen willen.<br />
(34) Die naturgegebene Seelenart und Begabungslage wird im Schlussmythos <strong>de</strong>r <strong>Politeia</strong><br />
als Resultat <strong>de</strong>r freien Selbstbestimmung <strong>de</strong>r individuellen Seele verstan<strong>de</strong>n. Das schließt nun<br />
aber ein, dass an sich je<strong>de</strong> Seele zum Philosophen wer<strong>de</strong>n kann. Wenn sie es nicht wird, ist<br />
das ihre eigene Schuld. Wenn auch <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>alstaat die Seele nicht bessern, son<strong>de</strong>rn ihre jeweils<br />
vorfindliche Beschaffenheit optimal für das Ganze <strong>de</strong>s Gemeinwesens nutzen will 37 , so hat<br />
doch die einzelne Seele selbst die Aufgabe <strong>de</strong>r ethischen Selbstsorge. Ihre eigene Gesinnung<br />
kann ja die Seele tatsächlich nur aus und durch sich selbst verbessern, weil je<strong>de</strong> von außen<br />
induzierte Besserung nicht die ihrige und ihr nicht zurechenbar wäre. 38<br />
Fünftes mit Siebentes Buch<br />
(35) Das Fünfte Buch en<strong>de</strong>t mit <strong>de</strong>r Behauptung <strong>de</strong>s Sokrates, die wahren Herrscher seinen<br />
die Philosophen, gerecht herrschen könne nur <strong>de</strong>r Philosoph (473 b – 474 b). Unmittelbar<br />
nach dieser Behauptung beginnt Sokrates noch im Fünften Buch mit einer näheren Kennzeichnung<br />
<strong>de</strong>s Philosophen, die er dann im Sechsten Buch und im Siebenten Buch weiterführt<br />
(474 b – 506 b; hierin das Gleichnis vom Schiff [487 a – 489 d]) und in einer Darstellung<br />
<strong>de</strong>r Philosophie und <strong>de</strong>s Philosophen im Lichte von drei Gleichnissen gipfeln lässt: <strong>de</strong>m<br />
Sonnengleichnis (506 b – 509 b), <strong>de</strong>m Liniengleichnis (509 c – 511 e) und <strong>de</strong>m Höhlengleichnis<br />
(514 a – 518 b). Mit <strong>de</strong>m Höhlengleichnis beginnt das Siebente Buch, das sich sodann,<br />
nach einer weiteren Bekräftigung <strong>de</strong>r Notwendigkeit <strong>de</strong>r Philosophenherrschaft (519 b<br />
– 521 b), mit <strong>de</strong>m philosophischen Denken (521 c – 534 e) und <strong>de</strong>m Ausbildungsgang <strong>de</strong>r<br />
Philosophenherrscher (535 a – 540 c) befasst.<br />
Philosophenherrschaft<br />
(36) Warum sollen Philosophen herrschen? Der Grund liegt für <strong>Platon</strong> darin, dass die philosophische<br />
Erkenntnis spezifisch die Erkenntnis <strong>de</strong>s Guten ist. Wer weiß, was „ein jegliches<br />
ist“ und somit auch, was gut ist für je<strong>de</strong>s und alle zusammen (§§ 29f), wird als Herrscher für<br />
37 Kersting 1999, 183<br />
38 „Die wahre Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r Gerechtigkeit liegt vielmehr im inneren Wirken <strong>de</strong>r Seele <strong>de</strong>s Menschen, in <strong>de</strong>r<br />
seelischen Selbstsorge“ (Kersting 1999, 168)<br />
22
<strong>Platon</strong>: <strong>Politeia</strong><br />
ein je<strong>de</strong>s und für alle zusammen das Beste verordnen und zuteilen (473 e). Es muss daher im<br />
Interesse eines je<strong>de</strong>n liegen, dass <strong>de</strong>r Philosoph, <strong>de</strong>r allein über ein solches Wissen verfügt,<br />
herrscht. Wie aber, wenn <strong>de</strong>r Philosoph das Gute zwar weiß, es als Herrscher aber nicht praktiziert?<br />
Diese Möglichkeit besteht für <strong>Platon</strong> nicht. Zwar möchte <strong>de</strong>r Philosoph, da er <strong>de</strong>s<br />
Guten selbst ansichtig gewor<strong>de</strong>n ist, nicht gerne wie<strong>de</strong>r in die Höhle hinabsteigen, um dort<br />
Einzelgeschäfte zur Teilhabe am Guten zu führen (516 d). Aber wenn man ihn dazu zwingt<br />
(519 b – 520 e), wird er gar nicht an<strong>de</strong>rs als im Sinne <strong>de</strong>s Guten herrschen können, <strong>de</strong>nn die<br />
Erkenntnis <strong>de</strong>s Guten macht die Seele <strong>de</strong>s Erkennen<strong>de</strong>n gut (500 b-d). Der Grund liegt darin,<br />
dass man sich mit einem Ersatz für das Gute nicht begnügen kann: Wenn ich weiß – und<br />
zwar nicht nur theoretisch weiß, son<strong>de</strong>rn es mit all meinen Gemütskräften erlebe –, dass das,<br />
was ich da bekomme, nicht wirklich das ist, was ich eigentlich wollte, dann kann ich nicht<br />
wirklich befriedigt sein, auch wenn es sich um einen täuschend ähnlichen Ersatz han<strong>de</strong>lt.<br />
Man kann scheinbar gerecht sein wollen, aber nicht scheinbar glücklich: „Gutes aber genügt<br />
nieman<strong>de</strong>m nur scheinbares zu haben, son<strong>de</strong>rn je<strong>de</strong>r sucht, was gut ist, und <strong>de</strong>n Schein verachtet<br />
hierbei schon je<strong>de</strong>r“ (505 d). Man kann falsche Gerechtigkeit wollen, weil man eigentlich<br />
etwas an<strong>de</strong>res will. Aber man kann nicht etwas an<strong>de</strong>res eigentlich wollen, als das<br />
Gute. Das Gute ist ja gera<strong>de</strong> das, was <strong>de</strong>r Mensch eigentlich will. Dieses Gute zu wissen, es<br />
aber nicht tun zu wollen, hieße, das nicht tun zu wollen, was man doch gera<strong>de</strong> will. Deshalb<br />
wer<strong>de</strong>n Philosophen, wenn sie überhaupt dazu gebracht sind, etwas im Staate zu tun, mit<br />
Notwendigkeit das Gute tun.<br />
Zusatz: <strong>Platon</strong>s Gleichnis vom Staatsschiff (488 a – 489 d) sieht im Schiffseigner das Volk, in <strong>de</strong>n Matrosen<br />
diejenigen, die herrschen wollen, ohne es zu können. Von <strong>de</strong>n Matrosen will je<strong>de</strong>r nur „ans Ru<strong>de</strong>r kommen“<br />
(488 d). Zu diesem Zweck intrigieren sie gegeneinan<strong>de</strong>r und je<strong>de</strong>r versucht, <strong>de</strong>n Schiffsherrn zur Überlassung<br />
<strong>de</strong>s Kommandos zu überre<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r zu zwingen. Wer die Geschicklichkeit, sich ans Ru<strong>de</strong>r zu bringen für „das<br />
Seinige“ hält, <strong>de</strong>r kann nicht zugleich auch noch die Steuermannskunst wirklich verstehen: „daß man diese<br />
unmöglich haben könne und dabei die Steuermannskunst zugleich“ (488 e). <strong>Platon</strong> ist offenbar <strong>de</strong>r Ansicht,<br />
dass, wer die Kunst <strong>de</strong>s Politikers, sich selbst möglichst gut zu präsentieren, ernsthaft betreibt, nicht auch noch<br />
die Zeit und die Kraft haben kann, Sachverstand zu erwerben und zu kultivieren (§ 27). Es wur<strong>de</strong> eingewandt,<br />
dass <strong>de</strong>r Steuermann nicht über Zweck und Ziel <strong>de</strong>r Schiffsreise entschei<strong>de</strong>n müsse, son<strong>de</strong>rn nur über <strong>de</strong>n besten<br />
Weg dahin, und dass er <strong>de</strong>shalb kein wirkliches Analogon zum Politiker sei, <strong>de</strong>r ja doch die Ziele <strong>de</strong>r Politik<br />
bestimmen müsse. 39 Aber das stimmt nur bedingt. Grundlegen<strong>de</strong> Ziele, über die er nicht entschei<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn<br />
die er nur unter gegebenen Umstän<strong>de</strong>n möglichst optimal verwirklichen soll, sind <strong>de</strong>m Politiker von <strong>de</strong>r Verfassung<br />
vorgegeben – ebenso wie <strong>de</strong>m Steuermann das Ziel <strong>de</strong>r Reise vom Ree<strong>de</strong>r.<br />
(37) Dass Philosophen herrschen wer<strong>de</strong>n, ist jedoch äußerst unwahrscheinlich. Von <strong>de</strong>r<br />
Philosophenherrschaft sagt Sokrates: „unmöglich ist sie nicht, noch bringen wir Unmögliches<br />
vor, Schweres aber, das geben wir selbst zu“ (499 d). Das wahre Gute ist vom kurzsichtigen<br />
alltäglichen Nutzenkalkül <strong>de</strong>r normalen Menschen so weit entfernt, dass ihnen <strong>de</strong>r Philosoph<br />
lächerlich und gefährlich vorkommt (516 e – 517 d). Wie sollten sie von ihm regiert wer<strong>de</strong>n<br />
wollen? Aber selbst wenn ein Volk „durch eine göttliche Eingebung wahre Liebe zu wahrer<br />
Philosophie“ (499 bc) gefasst hätte, wie sollte es wissen, wer ein echter Philosoph ist? Nichtphilosophen<br />
vermögen nicht zu entschei<strong>de</strong>n, ob einer, <strong>de</strong>r behauptet, echter Philosoph und<br />
daher zur Herrschaft geeignet zu sein, dies auch tatsächlich ist o<strong>de</strong>r nicht doch nur um persönlicher<br />
Macht willen nach <strong>de</strong>r Herrschaft strebt. Dass Philosophen herrschen, scheint darüber<br />
hinaus nicht nur unwahrscheinlich, son<strong>de</strong>rn sogar unmöglich. Kann es <strong>de</strong>nn überhaupt<br />
Philosophen geben, also Menschen die das Gute für jegliches einzelne Wesen und für die<br />
Welt als das Ganze aller Wesen wissen? Offensichtlich nicht unter Menschen. Welcher<br />
Mensch sollte schon einen universalen Überblick über das All erwerben können? Das vermag<br />
nur ein Gott: „Die Gottheit dürfte nun für uns am ehesten das Maß aller Dinge sein, und dies<br />
39 Kersting 1999, 205<br />
23
<strong>Platon</strong>: <strong>Politeia</strong><br />
weit mehr als etwa, wie manche sagen, irgend so ein Mensch“ (<strong>Platon</strong>: Nomoi 716 c). Menschen<br />
können bei ihren Herrschaftsbemühungen das I<strong>de</strong>al <strong>de</strong>s absolut gerechten Herrschers<br />
nicht verwirklichen, sie können nur versuchen, sich diesem I<strong>de</strong>al „soweit es ... möglich ist“<br />
(500 cd) anzunähern und es im Übrigen in ihren Gemeinwesen als heiligen (d. h. unverletzlich<br />
sein sollen<strong>de</strong>n) Maßstab präsent halten, in <strong>de</strong>ssen Licht allein die Auseinan<strong>de</strong>rsetzung<br />
über die Legitimität <strong>de</strong>r Herrschaft <strong>de</strong>r Herrschen<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>r Kritik, welche die Beherrschten<br />
daran üben, geführt wer<strong>de</strong>n kann. 40 Derartiges, wie es sich bei uns in <strong>de</strong>n Präambeln zum<br />
Grundgesetz und zur Bayerischen Verfassung in Gestalt <strong>de</strong>r invocatio Dei fin<strong>de</strong>t, hatte <strong>Platon</strong><br />
wohl im Auge.<br />
Sechstes und Siebentes Buch<br />
Die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s Guten I: Das Gute<br />
Das Gute ist Gegenstand <strong>de</strong>r größten Einsicht<br />
(38) Die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s Guten ist die höchste Erkenntnis (505 a): Vom Guten zu wissen, ist das<br />
oberste und höchste Wissen, weil das Gutsein nicht nur allem Wissen, son<strong>de</strong>rn auch allem<br />
Han<strong>de</strong>ln, ja allem Sein überhaupt schaffend (kosmogonisch) und ordnend (kosmologisch)<br />
zugrun<strong>de</strong> liegt. Denn bei allem, was man wissen o<strong>de</strong>r tun kann, und bei allem, was es überhaupt<br />
gibt (was Sein hat), kann man ja doch immer fragen, ob es gut ist, dies zu wissen o<strong>de</strong>r<br />
zu tun, und ob es gut ist, dass es dieses gibt. Schönheit und Gerechtigkeit beispielsweise sind<br />
zwar in sich gut. Dennoch kann es je nach <strong>de</strong>r konkreten Lebenslage schlecht sein, etwas<br />
Schönes und Gerechtes zu wissen und/o<strong>de</strong>r zu tun. So wäre es schlecht, wenn ein Künstler<br />
um seines schönen Werkes willen seine Kin<strong>de</strong>r vernachlässigen wollte. Auch eine noch so<br />
große Schönheit <strong>de</strong>s Werkes zählt in dieser Lage nicht, weil es nicht gut ist, <strong>de</strong>r Schönheit<br />
das Wohl <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r zu opfern. Auch wäre es nicht gut, sein Leben bei <strong>de</strong>r Rettung an<strong>de</strong>rer<br />
zu riskieren, wenn <strong>de</strong>r Retter damit die Verantwortung seiner Familie gegenüber verriete.<br />
Dadurch wür<strong>de</strong> aus <strong>de</strong>r eigentlich schönen Tat eine schlechte. Es genügt also nicht, dass Sachen<br />
in sich selbst gut sind. Es muss noch hinzukommen, dass sie nicht nur isoliert für sich<br />
selbst betrachtet, son<strong>de</strong>rn unter Berücksichtigung <strong>de</strong>r jeweiligen konkreten Lebenslage <strong>de</strong>s<br />
jeweiligen Han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n gut (bejahungswürdig) sind. Kein Mensch überblickt alle Dinge,<br />
noch steht er zu allen in gleicher Nähe und Verantwortlichkeit. Wer allem und je<strong>de</strong>m im<br />
gleichen Maß gerecht wer<strong>de</strong>n will, <strong>de</strong>r übt summam iustitiam, wird aber gera<strong>de</strong> dadurch<br />
gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>mjenigen, wofür er persönlich in höherem Maße verantwortlich wäre,<br />
nicht gerecht: summum ius, summa iniuria. Man kann es mit <strong>de</strong>r Gerechtigkeit übertreiben,<br />
und dann ist sie nicht gut, nicht bejahungswürdig. Deswegen gilt: „Denn daß die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s<br />
Guten die größte Einsicht ist, hast du schon vielfältig gehört, durch welche erst das Gerechte<br />
und alles, was sonst Gebrauch von ihr macht, nützlich und heilsam wird“ (505 a; 506 a). 41<br />
Zusatz: Man könnte hier in unplatonischer Terminologie die Sache mittels einer Unterscheidung Leibnizens<br />
ausdrücken. 42 Es gibt einen ersten Willen (volonté antécé<strong>de</strong>nte). Dieser richtet sich auf das, was man an Gutem<br />
alles sieht. Weil aber nicht alle Güter dieser ersten Stufe miteinan<strong>de</strong>r bzw. mit <strong>de</strong>r konkreten Verantwortung<br />
eines bestimmten Menschen kompatibel sind, bedarf es eines zweiten Willens (volonté conséquente), <strong>de</strong>r sich<br />
auf dasjenige Gute richtet, das im Lichte <strong>de</strong>r konkreten Gesamtlebenslage (und Gesamtverantwortungslage)<br />
dieses Menschen ihn verpflichtet.<br />
Die Frage ist immer: Wie passt dieses eine Gut, mit <strong>de</strong>m ich gera<strong>de</strong> zu tun habe, in das Ganze aller Wesen<br />
40 Spaemann, 2005-b, 167ff<br />
41 Zur Perspektivität <strong>de</strong>r Verantwortung <strong>Huber</strong> 2006, §§ 75-78; 80-83; zum römischen Spruch <strong>Huber</strong> 1996-a, 76<br />
42 Theodicee, §§ 22f<br />
24
<strong>Platon</strong>: <strong>Politeia</strong><br />
bzw. Güter? Für die Gutheit in Bezug auf alles sind wir aber nicht verantwortlich, weil wir das Ganze we<strong>de</strong>r<br />
überblicken noch beherrschen. Verantwortlich sind wir nicht für das bonum totius universi (§ 40), wie die Utilitaristen<br />
meinen, son<strong>de</strong>rn nur für unseren begrenzten Verantwortungsbereich. Unsere Verantwortung für das<br />
Ganze ist indirekt und realisiert sich weniger im Han<strong>de</strong>ln als im Unterlassen: Es steht nicht in unserer Verantwortung,<br />
das Ganze han<strong>de</strong>lnd zu optimieren (weil wir gar nicht wissen können worin ein solches Besseres o<strong>de</strong>r<br />
Bestes für das Ganze läge), wohl aber müssen wir, wenn wir schlechte Folgen über unseren Verantwortungsbereich<br />
hinaus absehen, die entsprechen<strong>de</strong>n Handlungen unterlassen.<br />
Das Gute verleiht Sein und Ordnung<br />
(39) Nicht nur die Gerechtigkeit wird erst „wirklich“ gut, wenn sie nicht nur in sich selbst,<br />
son<strong>de</strong>rn auch im Lichte <strong>de</strong>r konkreten Gesamtlebenslage gut ist, son<strong>de</strong>rn dies gilt von allem,<br />
„was sonst Gebrauch von“ <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s Guten macht (Text am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s vorhergehen<strong>de</strong>n §).<br />
Was aber macht solchen Gebrauch? Schlechthin alles, was ist. Sokrates ist <strong>de</strong>r Auffassung,<br />
dass je<strong>de</strong>s Wesen im Universum und dieses selbst sowohl sein Dasein (d. h. dass es überhaupt<br />
existiert), als auch sein Sosein (d. h. dass es auf eine bestimmte Weise existiert)<br />
<strong>de</strong>r I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s Guten verdankt. Das Gute ist die schaffen<strong>de</strong> Macht <strong>de</strong>s Seins (kosmogonischer<br />
Urgrund) und die ordnen<strong>de</strong> Macht <strong>de</strong>s Seins (kosmologischer Urgrund). Im Sonnengleichnis<br />
hält <strong>Platon</strong> diese Seinsmacht <strong>de</strong>s Guten folgen<strong>de</strong>rmaßen fest: „Ebenso nun sage<br />
auch, daß <strong>de</strong>m Erkennbaren nicht nur das Erkanntwer<strong>de</strong>n [§ 29] von <strong>de</strong>m Guten komme, son<strong>de</strong>rn<br />
auch das Sein (einai) und Wesen (ousia) habe es von ihm, da doch das Gute selbst nicht<br />
das Sein ist, son<strong>de</strong>rn noch über das Sein an Wür<strong>de</strong> und Kraft hinausragt“ (509 b; vgl. 516 bc<br />
und 517 bc). Den kosmologischen Ordnungsaspekt betont <strong>Platon</strong> vor allem im Dialog Phaidon<br />
(Phaidon 97 b – 99 d; vgl. Timaios 29 d – 31 b).<br />
Zusatz 1: Was Sokrates damit meint, dass das Sein vom Guten komme, führt er we<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r <strong>Politeia</strong> noch im<br />
Phaidon näher aus. Man kann es sich aber durch folgen<strong>de</strong> Überlegungen <strong>de</strong>utlich zu machen versuchen:<br />
[a]<br />
[b]<br />
Man kann fragen, wie kommt das Dasein und Sosein einer Sache zustan<strong>de</strong>? Damit fragt man nach <strong>de</strong>n<br />
Ursachen (causae): Wie macht man es, dass etwas entsteht, wo vorher nichts war? Diese Frage nach<br />
<strong>de</strong>m Dasein ist unbeantwortbar, <strong>de</strong>nn wir wissen nicht, was man machen muss, um da, wo nichts ist<br />
(gar nichts, auch keine Anlage, kein Keim), etwas in’s Sein zu bringen. Die Ursachen <strong>de</strong>s Daseins kennen<br />
wir nicht, die Ursachen <strong>de</strong>s Soseins aber kennen wir oft: Eisen wird flüssig, wenn es genügend erhitzt<br />
wird. Ein Stein fällt, weil ihn die Schwerkraft beherrscht. Wir wissen zwar auch hier nicht, wie<br />
man es machen muss, um als Feuer zu brennen o<strong>de</strong>r als Schwerkraft Massen anzuziehen, aber wir wissen,<br />
unter welchen Bedingungen diese (unbekannten) Kräfte auftreten und wie wir sie als Ursachen in<br />
<strong>de</strong>n Dienst unserer Zwecke stellen können.<br />
Man kann aber auch fragen, wozu ist etwas gut? Damit fragt man nach <strong>de</strong>n Grün<strong>de</strong>n (rationes): Wozu<br />
ist es gut, dass es überhaupt Dinge gibt und dass sie so sind, wie sie sind? Nun, Dasein und Sosein eines<br />
Wesens kann gut sein für das Wesen selbst und/o<strong>de</strong>r für an<strong>de</strong>re Wesen und/o<strong>de</strong>r für das Ganze aller<br />
Wesen.<br />
[] Gut für das Wesen selbst: Unser Dasein erleben wir als schön und gut, es zeigt sich uns als<br />
schön und gut, als bejahungswürdig und erstrebenswert. Deshalb wollen wir unser Dasein erhalten.<br />
Ähnlich erlebt ein Löwe sein Dasein als gut und schön und will es erhalten. Sogar ein Stein hält an seinem<br />
Dasein fest und setzt seiner Auflösung durch die Witterung langen Wi<strong>de</strong>rstand entgegen. Nicht<br />
das Dasein als solches nur wird jedoch als gut erlebt, <strong>de</strong>nn dann wäre es gleichgültig, von welcher Art<br />
das Dasein ist. Vielmehr will <strong>de</strong>r Mensch als Mensch dasein, <strong>de</strong>r Löwe als Löwe, die Birke als Birke<br />
und <strong>de</strong>r Granit als Granit: Alle Wesen halten ihr je spezifisches Sosein fest, weil es sich ihnen als gut,<br />
bejahungswürdig, erstrebenswert zeigt. Die Bestandteile und Funktionen eines Wesens dienen primär<br />
<strong>de</strong>m Wesen selbst, nämlich dazu, das zu sein, was es selber ist. Das Herz dient <strong>de</strong>m Blutkreislauf, das<br />
Gehirn <strong>de</strong>r zentralen Steuerung, und zwar beim Menschen auf menschenartige, beim Löwen auf löwenartige<br />
Weise. Die Atome eines Steins dienen seiner steinernen Härte, und zwar beim Granit auf granithafte<br />
Weise, beim Achat auf achathafte Weise.<br />
[] Gut für an<strong>de</strong>re Wesen: Je<strong>de</strong>s Wesen ist auch gut für an<strong>de</strong>re, es hat Funktion und Nutzen für<br />
25
<strong>Platon</strong>: <strong>Politeia</strong><br />
an<strong>de</strong>re. So befreit <strong>de</strong>r Löwe die Savanne von kranken Tieren, und die Bäume halten die Luft voller<br />
Sauerstoff. Aber <strong>de</strong>r Nutzen, <strong>de</strong>n es für an<strong>de</strong>re hat, ist für ein Wesen sekundär, <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Nutzen etwa<br />
<strong>de</strong>s Löwen könnte auch an<strong>de</strong>rs als durch Löwen erzielt wer<strong>de</strong>n. Offensichtlich kommt es beim Löwen<br />
nicht einfach darauf an, dass eine bestimmte Funktion erfüllt wird, son<strong>de</strong>rn darauf, dass sie auf löwenartige<br />
Weise erfüllt wird. Das ist <strong>de</strong>r primäre Zweck <strong>de</strong>s Löwen, löwenartig zu sein (§ 39-b-). Ebenso<br />
kommt es bei <strong>de</strong>n Bäumen nicht bloß darauf an, in <strong>de</strong>r Luft <strong>de</strong>n Sauerstoff zu erhalten, son<strong>de</strong>rn es<br />
kommt darauf an, dass dies hier auf die Weise einer Eiche und nicht einer Buche, dort aber auf die<br />
Weise einer Buche und nicht einer Eiche geschieht.<br />
[] Gut für das Ganze aller Wesen: Je<strong>de</strong>s Wesen übt durch sein Selbstsein (§ 39-b-) eine Funktion<br />
für das Ganze aller Wesen aus: Dieses Ganze wird durch das jeweilige Wesen mannigfaltiger, reicher.<br />
Und in diesem Sinn ist je<strong>de</strong>s Wesen für das Ganze gut: Es trägt seinen Teil bei zu <strong>de</strong>r in tausen<strong>de</strong>rlei<br />
Abschattungen funkeln<strong>de</strong>n Schönheit <strong>de</strong>s Alls. Wozu ist das Ganze <strong>de</strong>r Wesen gut? Wozu ist es gut,<br />
dass es so viele verschie<strong>de</strong>nartige Wesen gibt? Wäre es nicht genauso gut, wenn weniger verschie<strong>de</strong>ne<br />
Arten wären o<strong>de</strong>r wenn gar nichts wäre? Die Frage stellen, heißt, sie verneinen. Wer nicht krank ist an<br />
<strong>de</strong>r Seele, ist außerstan<strong>de</strong> es für besser zu halten, dass geringerer Reichtum o<strong>de</strong>r gar nichts existierte. 43<br />
Sein ist besser als Nichts, weil es schöner ist; und Mannigfaltigkeit ist besser als Eintönigkeit, weil sie<br />
schöner ist.<br />
Zusatz 2: Dass überhaupt etwas existiert, setzt voraus, dass es so etwas wie ein „Wozu“ dafür gibt, dass das<br />
Wesen sich selbst als Zweck verfolgt. Ich versuche, dies zu erklären: Dass etwas existiert, heißt, dass es für eine<br />
gewisse Zeitspanne stabil bleibt. Was für keine Zeitspanne stabil bleibt, ist immer schon aufgelöst. Wo keine<br />
Stabilität, da gibt es kein Sein, da we<strong>de</strong>r etwas entsteht noch vergeht: wo nichts auch nur <strong>de</strong>n kürzesten Bestand<br />
hat, entsteht nie etwas und folglich gibt es auch nie etwas, das dann vergehen könnte. Zu sein be<strong>de</strong>utet daher, für<br />
eine gewisse Zeitspanne als ein Dieses-statt-Jenes zu existieren, es be<strong>de</strong>utet, als ein Wesen von stabiler I<strong>de</strong>ntität<br />
zu existieren. Stabilität ist in <strong>de</strong>r Gegenwart schon festgelegte Zukunft: Wäre in <strong>de</strong>r Gegenwart nicht schon<br />
festgelegt, dass <strong>de</strong>r Granit ein Granit bleibt, könnte er im nächsten Augenblick zum Achat mutieren o<strong>de</strong>r in<br />
seine Atome zerfallen. Dass er Granit bleibt, wäre ganz zufällig. So verstehen wir aber die Dinge nicht. Sie<br />
bleiben nicht zufällig die, die sie sind (sonst müsste man erwarten, dass sie öfters aus ihrer I<strong>de</strong>ntität herausfielen),<br />
son<strong>de</strong>rn in ihnen ist eine Festlegung wirksam, die ihnen eine bestimmte Gestalt <strong>de</strong>s Seins – ihr je spezifisches<br />
Sosein – vorgibt. Die Vorgabe einer bestimmten Gestalt, auf die hin alle einzelnen Prozesse und Vollzüge<br />
eines Wesens konvergieren, ist die Vorgabe eines Zieles o<strong>de</strong>r Zweckes. Das stabile Wasserstoffatom realisiert<br />
<strong>de</strong>n Zweck, ein Wasserstoffatom zu sein; das stabile Sauerstoffatom realisiert <strong>de</strong>n Zweck, ein Sauerstoffatom zu<br />
sein; <strong>de</strong>r stabile Granit realisiert <strong>de</strong>n Zweck, ein Granit zu sein. Dass etwas existiert, be<strong>de</strong>utet, dass es dazu da<br />
ist – d. h. dass es <strong>de</strong>n Zweck realisiert –, dieses statt jenes zu sein. Sein heißt, etwas Bestimmtes zu sein, und<br />
etwas Bestimmtes zu sein, heißt, <strong>de</strong>n Zweck zu haben, gera<strong>de</strong> diese Bestimmtheit zu realisieren statt einer an<strong>de</strong>ren.<br />
44 Dass die wirklichen Wesen nicht nur jeweils ihr eigener Zweck sind, son<strong>de</strong>rn dass diese Zwecke bejahungswürdig<br />
– also gut – sind, zeigt die obige Überlegung (Zusatz 1-b-).<br />
Zusatz 3: Die Dinge existieren, weil es gut ist, dass sie existieren. Das Gutsein ist die Dynamik, welche die<br />
Dinge in’s Dasein bringt, jedoch nicht in’s Dasein überhaupt, son<strong>de</strong>rn in ein Dasein, das sich als universales<br />
Reich mannigfaltigen, geordneten Soseins ausdifferenziert. Das Gutsein ist nach Plato die schöpferische Kraft,<br />
die da, wo nichts ist, etwas in’s Sein setzt. Nun be<strong>de</strong>utet gut sein soviel als sein sollen. So wie wir Menschen<br />
das Seinsollen kennen, realisiert es sich aber nicht aus sich heraus, son<strong>de</strong>rn nur auf einem Umweg, in<strong>de</strong>m es<br />
nämlich <strong>de</strong>n Menschen bewegt, es zu realisieren. Dabei zwingt allerdings das Gute <strong>de</strong>n Menschen nicht, son<strong>de</strong>rn<br />
er kann sich ihm verweigern. So scheint es, als wür<strong>de</strong> das Gute o<strong>de</strong>r Seinsollen<strong>de</strong> sich doch nicht aus eigener<br />
Kraft realisieren. Jedoch macht das vom Menschen zu realisieren<strong>de</strong> Gute nur einen kleinen Teil <strong>de</strong>r Wirklichkeit<br />
aus. Die Wesen in <strong>de</strong>r Welt – einschließlich <strong>de</strong>s Menschen selber – entstehen in natürlichem Prozess,<br />
ohne dass sie vom Menschen erst gemacht wer<strong>de</strong>n müssten. Dieses naturgenerierte Dasein <strong>de</strong>r Wesen wird nicht<br />
erst dadurch gut, dass es <strong>de</strong>r Mensch durch sein Han<strong>de</strong>ln dazu macht, son<strong>de</strong>rn je<strong>de</strong>s Wesen erlebt sein naturgegebenes<br />
Dasein als etwas Gutes (Zusatz 1-b-) 45 , – sei es bewusst wie beim Menschen, sei es halbbewusst in<br />
einem dunkel empfun<strong>de</strong>nen Drang zu sich selbst wie bei <strong>de</strong>n Tieren und Pflanzen, o<strong>de</strong>r sei es unbewusst in<br />
einem empfindungslosen Festhalten an <strong>de</strong>r eigenen spezifischen Natur wie bei <strong>de</strong>n Mineralien. Wir wissen alle,<br />
dass wir unser Dasein schon vor je<strong>de</strong>r eigenen Tat als etwas Gutes erleben, das wir dann mit selbstbestimmten<br />
Handlungen zu erhalten und zu steigern suchen. Die Gutheit – das Seinsollen <strong>de</strong>s Seins – tritt gleichursprünglich<br />
43 <strong>Huber</strong> 1996-a, 179-187<br />
44 <strong>Huber</strong> 2006, §§ 39-46<br />
45 <strong>Huber</strong> 2006, § 53<br />
26
<strong>Platon</strong>: <strong>Politeia</strong><br />
mit <strong>de</strong>m Sein selbst auf, das sich im Daseinsdrang eines je<strong>de</strong>m einzelnen Wesens selber bejaht. Der Daseinsdrang<br />
eines Wesens ist nicht nur ein Sollen, son<strong>de</strong>rn auch die Kraft, dieses Sollen zu realisieren. Der Daseinsdrang<br />
ist nicht nur Grund, nämlich Drängen um <strong>de</strong>s Seins willen (Zusatz 1-b), son<strong>de</strong>rn er ist zugleich auch<br />
Ursache, nämlich aktives Drängen um <strong>de</strong>s Seins willen (Zusatz 1-a). Der Daseinsdrang eines Wesens hat nicht<br />
nur die ohnmächtige Absicht auf Sein, son<strong>de</strong>rn er ist zugleich auch die tätige Kraft, das einmal vorhan<strong>de</strong>ne<br />
Dasein zu erhalten und zu steigern. So wie <strong>de</strong>r Daseinsdrang in je<strong>de</strong>m Wesen die Ursache für das Dauern <strong>de</strong>s<br />
Daseins ist, macht <strong>de</strong>r Daseinsdrang, wenn man ihn in’s Große <strong>de</strong>s Seins überhaupt rechnet, die Ursache aus für<br />
die Hervorbringung <strong>de</strong>s Universums und <strong>de</strong>r unabsehbar vielen und mannigfaltigen Wesen. Der Daseinsdrang<br />
ist außer<strong>de</strong>m intelligent, weil er die Wesen in universaler Ordnung hervorbringt.<br />
Zusatz 4: Alles, was ist, ist (<strong>Platon</strong> zufolge) nur, weil es gut ist. Nun existieren aber auch das Übel und das<br />
Böse in <strong>de</strong>r Welt. Ist bei<strong>de</strong>s <strong>de</strong>swegen gut? Der Kern <strong>de</strong>s Übels wie <strong>de</strong>s Bösen ist tatsächlich immer ein Gutes,<br />
das aber ohne Maß erstrebt und realisiert wird. Das Böse ist das maßlos gewor<strong>de</strong>ne Gute. 46 Weil es dadurch<br />
an<strong>de</strong>re Güter verdrängt und zerstört, wird es zum Übel und zum Bösen. So ist die elementare Kraft im Ausbruch<br />
<strong>de</strong>s Vesuv, die zur Zerstörung von Pompeji und Herculaneum führte, an sich etwas Schönes und Gutes. Ohne<br />
die Kräfte in ihrem Inneren, wäre die Er<strong>de</strong> nicht <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Leben so freundliche Ort, <strong>de</strong>r sie ist. Im Übermaß<br />
freigesetzt zerstören jene Kräfte jedoch alles, was ihnen begegnet. Wer eine tyrannische Herrschaft zur Demokratisierung<br />
bringen will, verfolgt ein gutes Ziel. Wenn er diesem Ziel aber alles Übrige opfert – wenn er Krankenhäuser<br />
zerbombt, Gefangene foltert, Luft und Er<strong>de</strong> radioaktiv verseucht –, dann hat sich das maßlos gewor<strong>de</strong>ne<br />
Gute zum Bösen gewan<strong>de</strong>lt.<br />
Zusatz 5: Das Gute ragt „noch über das Sein an Wür<strong>de</strong> und Kraft (dynamis) hinaus“, weil es <strong>de</strong>r Urgrund <strong>de</strong>s<br />
Seins ist. Sein ist Dasein, ist das, was schon vorhan<strong>de</strong>n ist. Worauf <strong>Platon</strong> abzielt, ist diejenige Kraft, die das<br />
Vorhan<strong>de</strong>ne in’s Vorhan<strong>de</strong>nsein gebracht hat; die Kraft, die das Seien<strong>de</strong> gegen die Möglichkeit <strong>de</strong>s Nichtseins<br />
im Sein hält. So wie das Entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> am Leben nicht das bloße Existieren ist, son<strong>de</strong>rn die Kraft, die das Leben<br />
erst bil<strong>de</strong>t und dann gegen Krankheit und Zerfall erhält.<br />
Das Gute ist we<strong>de</strong>r in vollkommener Klarheit noch abschließend zu erfassen<br />
(40) Das Gute – bzw. die I<strong>de</strong>e (§ 43-47) <strong>de</strong>s Guten – im Sinne <strong>Platon</strong>s meint nicht nur eine<br />
moralische Haltung, son<strong>de</strong>rn die alles durchdringen<strong>de</strong> Macht, durch welche das Universum<br />
und je<strong>de</strong>s einzelne Wesen in ihm geschaffen wird (kosmogonische Macht) und die<br />
rechte (gute) Gesamtordnung aller gesetzt und aufrechterhalten wird (kosmologische<br />
Macht). Die höchste o<strong>de</strong>r größte Einsicht <strong>de</strong>s Philosophen besteht in <strong>de</strong>r Einsicht in dieses<br />
Gute. Inwieweit aber ist <strong>de</strong>r Mensch überhaupt imstan<strong>de</strong>, diese Einsicht zu gewinnen? Er<br />
vermag nicht einzusehen und zu verstehen, wie jene Macht es anstellt, das Universum zu<br />
schaffen, <strong>de</strong>m Chaos Ordnung abzuringen und das Ganze im Sein zu erhalten. Er vermag es<br />
lediglich, die einmal gegebene Ordnung (theoretisch) zu betrachten und sie (technisch) partiell<br />
zu manipulieren (inzwischen ist er allerdings imstan<strong>de</strong>, seine partiellen Manipulationen<br />
so anzulegen, dass sie zur Zerstörung <strong>de</strong>r Ordnung <strong>de</strong>s ganzen Planeten sich zu akkumulieren<br />
drohen), aber was er wie<strong>de</strong>rum nicht vermag, ist, sie im Ganzen zu überschauen. Der Mensch<br />
kann aber nur gerecht und verantwortlich han<strong>de</strong>ln (was er muss, weil es für sein Menschsein<br />
konstitutiv ist), wenn er auf alle von seiner Tat betroffenen Wesen Rücksicht nimmt. Von<br />
je<strong>de</strong>r Tat sind aber indirekt immer alle Wesen betroffen, weil alles mit allem zusammenhängt.<br />
Daher kann eine Tat nur dann vollkommen gerecht sein, wenn sie sich am Wissen<br />
darum ausrichtet, was das Gute für das Ganze aller Wesen ist. Um ganz gerecht zu han<strong>de</strong>ln,<br />
darf man nicht nur zusehen, worauf es für diesen o<strong>de</strong>r jenen Teilbereich <strong>de</strong>s Ganzen<br />
ankommt, son<strong>de</strong>rn man muss wissen, worauf es überhaupt – d. h. für das Ganze – ankommt,<br />
weil man nur so die Autarkie <strong>de</strong>s Reiches <strong>de</strong>r selbstzwecklichen Wesen bewahrt und es vermei<strong>de</strong>t,<br />
einen Teil <strong>de</strong>s Ganzen <strong>de</strong>r Instrumentalisierung für einen an<strong>de</strong>ren Teil zu opfern. 47<br />
Vollkommen gerecht vermag <strong>de</strong>r Mensch nicht zu han<strong>de</strong>ln, dazu fehlt ihm <strong>de</strong>r Gesamtüber-<br />
46 <strong>Huber</strong> 2007, Erstes Kapitel<br />
47 <strong>Huber</strong> 2006, § 77<br />
27
<strong>Platon</strong>: <strong>Politeia</strong><br />
blick über das Gute für das Ganze, <strong>de</strong>r Überblick über das bonum totius universi 48 , welchen<br />
nur Gott – „Er, <strong>de</strong>r einzige Gerechte“ 49 – besitzt. Der Mensch hingegen muss darauf vertrauen,<br />
dass das, was er aus seinem Teilwissen heraus tut, mit <strong>de</strong>r rechten Gesamtordnung,<br />
die er nicht überblickt, doch kompatibel ist, dass eine Art prästabilierte Harmonie besteht<br />
zwischen seinem, von nur partiellem Wissen <strong>de</strong>s Guten geleiteten Bestreben nach Gerechtigkeit<br />
einerseits und <strong>de</strong>r rechten Ordnung <strong>de</strong>s Ganzen an<strong>de</strong>rerseits. Er muss darauf vertrauen,<br />
dass in seinem partiellen Wissen vom Guten sich, wenn auch un<strong>de</strong>utlich und nicht mit Sicherheit<br />
erfassbar, doch das Wissen vom Guten überhaupt spiegelt, wie sich aus <strong>de</strong>m Bruchstück<br />
eines Tongefäßes <strong>de</strong>ssen gesamte Gestalt erahnen lässt: Die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s Guten ist dasjenige,<br />
was „je<strong>de</strong> Seele anstrebt und um <strong>de</strong>ssentwillen alles tut, ahnend, es gäbe so etwas, aber<br />
doch nur schwankend und nicht recht treffen könnend, was es wohl ist, noch zu einer festen<br />
Überzeugung gelangend“ (505 e). Das sind die grundsätzlichen Beschränkungen <strong>de</strong>r<br />
Einsicht in das Gute, die aufgrund <strong>de</strong>r endlichen Kraft <strong>de</strong>r menschlichen Einsichtsfähigkeit<br />
nicht überwindbar sind. 50<br />
Zusatz: Um so zu han<strong>de</strong>ln, dass durch unser Tun (positiv) „je<strong>de</strong>m zu <strong>de</strong>m Seinigen verholfen“ 51 und (negativ)<br />
keinem das Seinige dadurch genommen wer<strong>de</strong>, setzt voraus, dass <strong>de</strong>r Han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong> in je<strong>de</strong>r Situation alle Umstän<strong>de</strong><br />
seines Han<strong>de</strong>lns, <strong>de</strong>n faktischen Zustand sowie <strong>de</strong>n seinsollen<strong>de</strong>n Zustand – das Gute – aller von seinem<br />
Han<strong>de</strong>ln betroffenen Wesen genau kennt. Umstän<strong>de</strong> und Zustän<strong>de</strong> aber variieren oft schnell und stark: „Das<br />
agathologische Urteil ist also hochgradig relativ, es ist kontext- und zeitabhängig“ 52 . Durch die Kultivierung von<br />
Sensitivitäten für die Wahrnehmung <strong>de</strong>r je eigenen Wirklichkeit <strong>de</strong>r Sachen und durch die Erarbeitung von<br />
Wissensbestän<strong>de</strong>n über die Sachen kann und muss <strong>de</strong>r Mensch seine dunkle und „schwanken<strong>de</strong>“ Erfassung <strong>de</strong>s<br />
Guten präzisieren, weiter aufhellen und befestigen, wohl wissend, dass er auch dadurch niemals vollkommene<br />
Einsicht in es gewinnen wird. Weil je<strong>de</strong>r Mensch als Vernunftwesen gera<strong>de</strong> dadurch ausgezeichnet ist, dass er<br />
die eigene Wirklichkeit <strong>de</strong>r Dinge und ihre Achtungswürdigkeit erfassen kann, ist je<strong>de</strong>m Menschen immer<br />
schon die Einsicht in das erschlossen, was für je<strong>de</strong>s Wesen das je „Seinige“ ist. Insoweit verfügt je<strong>de</strong>r Mensch<br />
über eine Einsicht in die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s Guten, wenngleich nicht je<strong>de</strong>r im selben Maß, weil nicht je<strong>de</strong>r dieselbe Sorgfalt<br />
auf die Erarbeitung und Kultivierung von Wissen und Sensibilität wen<strong>de</strong>n will o<strong>de</strong>r kann. Daher gibt es<br />
verschie<strong>de</strong>ne Meinungen über das Gute unter <strong>de</strong>n Menschen, so wie auch über an<strong>de</strong>re Dinge. Um Meinungsverschie<strong>de</strong>nheiten<br />
zu klären, muss die Frage nach <strong>de</strong>r Wahrheit gestellt wer<strong>de</strong>n: Wenn <strong>de</strong>r eine dies meint, <strong>de</strong>r<br />
an<strong>de</strong>re jenes in Bezug auf dieselbe Sache, wie verhält sich dann die Sache selber? Dies ist die eigentümlich<br />
philosophische Frage, „was jegliches selbst sei“ (533 b; vgl. 532 a; 534 b; 484 d) – es an sich selbst, nicht bloß<br />
im Wi<strong>de</strong>rschein <strong>de</strong>r Meinungen, son<strong>de</strong>rn in <strong>de</strong>r Wahrheit (490 ab). Der nichtphilosophische Mensch vernachlässigt<br />
diese Frage nach <strong>de</strong>r Wahrheit gewöhnlich und verliert sich <strong>de</strong>swegen im unübersichtlichen Gestrüpp <strong>de</strong>r<br />
Meinungen. Einzig in Bezug auf das Gute ist je<strong>de</strong>r Mensch im Ansatz philosophisch, weil beim Guten keiner<br />
mit einem bloßen Anschein und Ersatz zufrie<strong>de</strong>n sein kann, son<strong>de</strong>rn das Gute selbst erstrebt (§ 36). Solange er<br />
sich mit einem Ersatz zufrie<strong>de</strong>ngibt (Geld, Macht, Karriere usw.), wird er irgendwann spüren, dass er das gute<br />
Leben verfehlt hat und unter seinem Irrtum lei<strong>de</strong>n.<br />
Das Gute umfasst alle Güter<br />
(41) Wenn je<strong>de</strong>m Wesen im Universum das Seinige zukommen und nicht verkümmert<br />
wer<strong>de</strong>n soll – das ist <strong>de</strong>r für Menschsein konstitutive Imperativ –, dann muss <strong>de</strong>r han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong><br />
Mensch sich an einer Vorstellung vom Gut <strong>de</strong>s Ganzen orientieren, einer Vorstellung, über<br />
die er doch nur unklar und ahnungsweise verfügt. Nun hat <strong>de</strong>r Mensch <strong>de</strong>utliche Anzeichen<br />
dafür, dass die Wirklichkeit insgesamt tatsächlich so geordnet ist, dass je<strong>de</strong>s Wesen „das<br />
48 Thomas von Aquin: Sth I-II, qu. 19, art. 10<br />
49 Goethe III, 290 (West-östlicher Divan, Buch <strong>de</strong>s Sängers, Talismane): „Er, <strong>de</strong>r einzige Gerechte, / Will für<br />
je<strong>de</strong>rmann das Rechte. / Sei, von seinen hun<strong>de</strong>rt Namen, / dieser hochgelobet! Amen“.<br />
50 Vgl. das Kästchensymbol in Goethes Wan<strong>de</strong>rjahren (<strong>Huber</strong> 19990, 131-134).<br />
51 Kersting 1999, 215<br />
52 Kersting 1999, 237<br />
28
<strong>Platon</strong>: <strong>Politeia</strong><br />
Seinige“ an Daseinskraft und Daseinsfrist erhält (wie immer die Macht, welche dies zuteilt,<br />
<strong>de</strong>s Näheren beschaffen sein mag): Das Fressen-und-gefressen-Wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Natur führt nicht<br />
zur gegenseitigen Vernichtung aller Wesen, son<strong>de</strong>rn zu <strong>de</strong>ren immer mannigfaltigerer Ausdifferenzierung.<br />
53 Es scheint <strong>de</strong>mnach tatsächlich eine Gesamtordnung <strong>de</strong>s Guten zu geben,<br />
mithin so etwas wie ein Gesamtgutes, das sich <strong>de</strong>n einzelnen Wesen mitteilt und sich in <strong>de</strong>ren<br />
Vielfalt darstellt. Dieses Gesamtgute ist nicht einfach die bloße Summe aller zum Dasein<br />
drängen<strong>de</strong>n (§ 39 Zusatz 3) Güter, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r eine und selbige schöpferische Drang, <strong>de</strong>r in<br />
<strong>de</strong>n einzelnen Gütern die unterschiedlichen Aspekt seiner Fülle darstellt und sie in wohlabgestimmter<br />
Ordnung zu einem vielfältig in sich differenzierten Ganzen fügt.<br />
(42) Man kann sich das Gesamtgute nach <strong>de</strong>r Analogie zur gelungenen Aufführung eines<br />
Musikstückes vorstellen. Die Vorstellung, wie es insgesamt klingen soll, ist <strong>de</strong>r Grund dafür,<br />
wie hart o<strong>de</strong>r mild, wie laut o<strong>de</strong>r leise man die einzelnen Töne spielt, welche Tempi man einhält,<br />
ob man mehr die Melodie o<strong>de</strong>r mehr <strong>de</strong>n Rhythmus überwiegen lässt und so fort. Die<br />
recht gespielten einzelnen Töne entsprechen <strong>de</strong>n einzelnen Gütern in Welt und Leben, <strong>de</strong>r<br />
Zusammenklang zum Ganzen entspricht <strong>de</strong>m Gesamtguten. So sehr im Musiker <strong>de</strong>r Zusammenklang<br />
<strong>de</strong>s Ganzen vor und neben <strong>de</strong>m Spielen <strong>de</strong>r einzelnen Töne lebendig sein<br />
muss, kann er diesen Gesamtzusammenklang doch nicht unabhängig von <strong>de</strong>n einzelnen<br />
Tönen und nicht ohne sie darstellen. Ähnlich kann das Gesamtgute nicht für sich isoliert<br />
und abgelöst von <strong>de</strong>n vielen einzelnen Gütern dingfest gemacht wer<strong>de</strong>n. An<strong>de</strong>rerseits ist das<br />
Gesamtgute aber auch nicht bloß die nachträgliche Summe aller einzelnen Güter (ebenso wie<br />
ein Musikstück nicht die nachträgliche Summe zufällig gespielter Töne ist), son<strong>de</strong>rn dasjenige,<br />
was diesen einzelnen Gütern ordnend zugrun<strong>de</strong> liegt, ihnen untereinan<strong>de</strong>r einen bestimmten<br />
Zusammenhang gibt und damit je<strong>de</strong>m seinen Stellenwert zuweist. Wie <strong>de</strong>r Gesamtzusammenhang<br />
– die I<strong>de</strong>e – einer musikalischen Komposition eigene Wirklichkeit besitzt und<br />
<strong>de</strong>swegen im Komponisten, im Dirigenten, in <strong>de</strong>n Musikern und in <strong>de</strong>n Hörern, die das Werk<br />
schon kennen und die konkrete Aufführung an ihren Erwartungen messen, machtvoll lebendig<br />
ist, ohne dass man diesen Gesamtzusammenhang isoliert für sich, unabhängig vom Spielen<br />
<strong>de</strong>r einzelnen Töne darstellen könnte, – ebenso ist das Gute an sich und als solches nicht<br />
darstellbar unabhängig von <strong>de</strong>n einzelnen Gütern. Wenn man <strong>de</strong>n Gesamtzusammenhang <strong>de</strong>r<br />
Komposition losgelöst von <strong>de</strong>n einzelnen Tönen erfassen wollte, hätte man „eine Form ohne<br />
Gehalt“ 54 in Hän<strong>de</strong>n, ebenso wie wenn man <strong>de</strong>s Gesamtguten losgelöst von <strong>de</strong>n einzelnen<br />
Gütern habhaft wer<strong>de</strong>n wollte.<br />
Zusatz: Wieland 1982 und 1996 wie Kersting 1999 sehen zutreffend, dass die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s Guten nicht gegenständlich<br />
und propositional gewusst wer<strong>de</strong>n kann, son<strong>de</strong>rn dass es sich bei ihr um so etwas wie ein Gebrauchswissen<br />
han<strong>de</strong>lt. Der Dirigent kann nicht in Sätzen angeben, wie das aufzuführen<strong>de</strong> Werk insgesamt klingen soll,<br />
und <strong>de</strong>nnoch weiß er es (wüsste er es nicht, wäre er unfähig zu dirigieren). Freilich ist dies ein an<strong>de</strong>res Wissen<br />
als ein bloß kognitives, son<strong>de</strong>rn es reicht in alle Tiefen <strong>de</strong>s Gemüts und seiner Kräfte hinab. 55 Was Wieland und<br />
Kersting nicht recht sehen, ist die Tatsache, dass es sich beim I<strong>de</strong>enwissen nicht bloß um die menschliche Fertigkeit<br />
im Umgang mit I<strong>de</strong>en han<strong>de</strong>lt, son<strong>de</strong>rn dass die I<strong>de</strong>e selbst in <strong>de</strong>r Seele <strong>de</strong>s Menschen tätig und wirksam<br />
ist (§ 39), wenn und insoweit sie gewusst und gedacht wird. Die I<strong>de</strong>e ist das von sich selbst her tätige Prinzip,<br />
sie ist die autarke Macht 56 , die im Menschen wirkt und zwar in paradoxer Einheit mit <strong>de</strong>s Menschen Eigenwirken.<br />
Die I<strong>de</strong>e ist nicht bloß vorstellungshafter Reflex <strong>de</strong>ssen, was <strong>de</strong>r Mensch aus sich selber heraus tut. Letzteres<br />
wäre eine nominalistische Verkürzung <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>en (§ 45).<br />
53 <strong>Huber</strong> 2006, §§ 218ff<br />
54 Aristoteles: Nikomachische Ethik, I, 4, 1096 b (Aristoteles 2001, 21)<br />
55 <strong>Huber</strong> 2006, §§ 148-153<br />
56 <strong>Huber</strong> 2006, § 43<br />
29
<strong>Platon</strong>: <strong>Politeia</strong><br />
Die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s Guten II: Die I<strong>de</strong>e<br />
Die I<strong>de</strong>e ist Eins und Vieles<br />
(43) Eine I<strong>de</strong>e realisiert sich in vielen konkreten Wesen. Sie ist das Allgemeine zwischen<br />
vielen unterschie<strong>de</strong>nen Einzelnen. So ist sie wie je<strong>de</strong>r Allgemeinbegriff in sich eins: <strong>de</strong>r Allgemeinbegriff<br />
hat eine bestimmte Be<strong>de</strong>utung, keine an<strong>de</strong>re; die I<strong>de</strong>e ist I<strong>de</strong>e von diesem,<br />
nicht von etwas an<strong>de</strong>rem. Aber an<strong>de</strong>rerseits kommt das Allgemeine gera<strong>de</strong> in <strong>de</strong>n vielen unterschiedlichen<br />
einzelnen konkreten Wesen vor. Wir fin<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Welt nicht „das Löwesein“,<br />
son<strong>de</strong>rn nur viele einzelne Löwen. Wir treffen nirgendwo „die Gerechtigkeit“, son<strong>de</strong>rn<br />
nur viele unterschiedliche gerechte Handlungen und Verhältnisse in ganz verschie<strong>de</strong>nen Lebenslagen.<br />
Wir begegnen nicht „<strong>de</strong>m Guten“, son<strong>de</strong>rn einzelnen Gütern. Je<strong>de</strong> I<strong>de</strong>e ist ein<br />
solches Allgemeines, das in vielen Einzelwesen und einzelnen Situationen vorkommt. So ist<br />
die I<strong>de</strong>e Eines und Vieles zugleich: „Und mit <strong>de</strong>m Gerechten und Ungerechten und Guten<br />
und Bösen und allen an<strong>de</strong>ren Begriffen ebenso, daß je<strong>de</strong>r für sich eins ist; aber da je<strong>de</strong>r vermöge<br />
seiner Gemeinschaft mit <strong>de</strong>n Handlungen und körperlichen Dingen und <strong>de</strong>n übrigen<br />
Begriffen überall zum Vorschein kommt, auch je<strong>de</strong>r als vieles erscheint“ (476 a).<br />
Zusatz: Bei <strong>Platon</strong> ist die Re<strong>de</strong> vom kakon, und das ist eigentlich das Schlechte o<strong>de</strong>r das Übel, nicht jedoch<br />
das moralische Böse, wie Schleiermacher überträgt (vgl. Scriptum zum Gorgias, § 3). Wo Schleiermacher von<br />
Begriffen spricht, steht bei <strong>Platon</strong> eidos, d. h. I<strong>de</strong>e. Schleiermacher übersetzt öfters eidos mit Begriff.<br />
Die I<strong>de</strong>e ist abgetrennt<br />
(44) Wie verhält sich die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s Löwen zu <strong>de</strong>n vielen Löwen? Die eine I<strong>de</strong>e stellt sich in<br />
<strong>de</strong>n vielen Löwen dar (§ 41). Ist <strong>de</strong>r Löwe in <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>e (<strong>de</strong>r i<strong>de</strong>ale Löwe) ein zusätzlicher Löwe,<br />
<strong>de</strong>r zu <strong>de</strong>n vielen Löwen hinzukommt, wenn er auch schöner, größer und stärker als je<strong>de</strong>r<br />
einzelne von diesen ist? An manchen Stellen scheint es so, als wür<strong>de</strong> <strong>Platon</strong> unter <strong>de</strong>r „I<strong>de</strong>e<br />
<strong>de</strong>s Löwen“ gera<strong>de</strong> einen solchen „Löwen an sich“ verstehen, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n wirklichen Löwen als<br />
ein weiterer Löwe von höherer Realität gegenübersteht. Hier greift dann aber die Kritik am<br />
„dritten Löwen“ (bzw. „dritten Menschen“), die Aristoteles vorgetragen hat 57 , die man aber<br />
bei <strong>Platon</strong> selbst schon fin<strong>de</strong>t (Parmeni<strong>de</strong>s 132 a – 133 a). <strong>Platon</strong> war sich darüber klar,<br />
[a]<br />
dass man die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s Löwen von <strong>de</strong>n konkreten Löwen abtrennen muss, weil das<br />
Löwesein etwas ist, das tatsächlich über das, was<br />
[a-a] am einzelnen Löwen analytisch i<strong>de</strong>ntifizierbar und greifbar ist, hinausgeht<br />
[b-b] und ihn mit <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren löwenartigen Wesen verbin<strong>de</strong>t;<br />
[b]<br />
dass man die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s Löwen aber nicht in <strong>de</strong>m Sinn als abgetrennt <strong>de</strong>nken darf, als<br />
wäre sie eine weitere Figur wie die an<strong>de</strong>ren konkreten Löwen (nur größer und schöner),<br />
weil man hierbei dann wie<strong>de</strong>rum eine weitere I<strong>de</strong>e voraussetzen müsste, einen<br />
„dritten Löwen“, an <strong>de</strong>m die konkreten Löwen und <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>allöwe teilhaben und <strong>de</strong>r<br />
diese bei<strong>de</strong>n erst zu löwenartigen Gebil<strong>de</strong>n macht. Und so ginge es „unbegrenzt“<br />
(Parmeni<strong>de</strong>s 132 b) weiter, <strong>de</strong>nn wodurch an<strong>de</strong>rs sollte <strong>de</strong>r „dritte Löwe“ gera<strong>de</strong> ein<br />
Löwe sein, wenn nicht durch die Teilhabe an einer noch höheren Löweni<strong>de</strong>e (einem<br />
„vierten Löwen“), die <strong>de</strong>n vielen konkreten Löwen, <strong>de</strong>m I<strong>de</strong>allöwen und <strong>de</strong>m „dritten<br />
Löwen“ gemeinsam Teilhabe gewährt (und so fort)?<br />
57 <strong>Huber</strong> 2006, § 30<br />
30
<strong>Platon</strong>: <strong>Politeia</strong><br />
Die I<strong>de</strong>e ist unverän<strong>de</strong>rlich und überzeitlich<br />
(45) Ein Kreis ist ein Kreis, ob er von Archime<strong>de</strong>s, Newton, Einstein o<strong>de</strong>r einem Schüler<br />
kurz vor <strong>de</strong>m Weltuntergang gezeichnet wird. Zwar wird <strong>de</strong>r Kreis in je<strong>de</strong>r Zeichnung ein<br />
wenig an<strong>de</strong>rs aussehen, aber gemeint ist zu allen Zeiten und an allen Orten immer <strong>de</strong>rselbe<br />
unverän<strong>de</strong>rliche Kreis. Was Kreissein be<strong>de</strong>utet, ist von überzeitlicher Geltung. Desgleichen<br />
ist ein Löwe bei aller Variabilität, die in seiner Gattungsgeschichte und zwischen <strong>de</strong>n<br />
verschie<strong>de</strong>nen Löwenindividualitäten herrscht, doch immer dieselbe spezifische Daseinsform<br />
<strong>de</strong>s Löweseins. Die Grenzen mögen variabel sein, sie bestehen aber fest: Ein Löwe mag sich<br />
vom an<strong>de</strong>ren noch so sehr unterschei<strong>de</strong>n, er wird dadurch doch kein Panther o<strong>de</strong>r Tiger. Die<br />
Artgrenzen sind fest, die Individualitätsgrenzen variabel, aber stabil. I<strong>de</strong>en sind „das sich<br />
immer gleich und auf dieselbe Weise Verhalten<strong>de</strong>“ (484 b).<br />
Zusatz: Dass <strong>de</strong>r Kreis o<strong>de</strong>r das Löwesein sich immer auf dieselbe Weise verhalten, zeigt sich daran, dass<br />
man bei ein schlecht gezogenen Kreisen genau angeben kann, worin ein je<strong>de</strong>r vom Kreisförmigen abweicht, und<br />
dass man bei je<strong>de</strong>m konkreten Löwen genau angeben kann, in welchen Punkten er inwieweit das erfüllt o<strong>de</strong>r<br />
hinter <strong>de</strong>m zurückbleibt, was einen Löwen ausmacht. Man kann nicht angeben, welche Fülle und Farbenkraft<br />
die Mähne eines Löwen exakt haben muss, damit es noch ein Löwe sei. Aber man wird ab einem gewissen Grad<br />
sagen können, dass dieser Löwe für einen Löwen zuwenig o<strong>de</strong>r zuviel Mähnenwachstum entwickelt. Das „Füreinen-Löwen“<br />
ist <strong>de</strong>r Bezug auf die I<strong>de</strong>e, <strong>de</strong>ren Grenzen nicht ganz exakt angegeben wer<strong>de</strong>n können, die aber<br />
doch ab einem gewissen Punkt ein<strong>de</strong>utig anzeigen, dass sie überschritten wur<strong>de</strong>n. Es mag bei diesem o<strong>de</strong>r jenem<br />
Löwen strittig sein, ob <strong>de</strong>r Zustand seiner Mähne schon krankhaft aus <strong>de</strong>m Löwesein herausfällt o<strong>de</strong>r nicht.<br />
Steigert man <strong>de</strong>n Zustand kontinuierlich, so wird er irgendwann ein<strong>de</strong>utig als krankhaft sichtbar sein. Innerhalb<br />
<strong>de</strong>r Variationsbreite verhält das Löwesein „sich immer gleich und auf dieselbe Weise“ – d. h. stabil –, weil aus<br />
Löwen schließlich immer Löwen, niemals aber Panther entstehen.<br />
Die I<strong>de</strong>e ist das eigentlich Wirkliche<br />
(46) Die I<strong>de</strong>e ist nicht nominalistisch als bloß subjektive Vorstellung zu verstehen, die nur<br />
in unserem Kopf als bloßer Gedanke vorhan<strong>de</strong>n ist, son<strong>de</strong>rn als ein lebendiges, aktives<br />
Wirkprinzip. Die I<strong>de</strong>e ist diejenige Kraft in <strong>de</strong>n Wesen, die ihre Wirklichkeit ausmacht. Die<br />
I<strong>de</strong>e ist das, wodurch die Dinge überhaupt existieren und wodurch sie auf ihre spezifische<br />
Weise existieren, d. h. tätig und wirksam sind. Zum Beispiel: Die I<strong>de</strong>e, die Michelangelo von<br />
<strong>de</strong>r Pietà im Kopfe hatte, war auch kein Bild bloß in seinem Kopf, keine flüchtige „I<strong>de</strong>e“<br />
ohne Kraft zu Existenz und Wirklichkeit, son<strong>de</strong>rn diese I<strong>de</strong>e lebte zwar in <strong>de</strong>r Seele <strong>de</strong>s Michelangelo,<br />
sie war aber zugleich die Kraft zu ihrer eigenen Verwirklichung, die <strong>de</strong>n Michelangelo<br />
dazu angetrieben hat, das subjektive Vorstellungsbild objektiv aus <strong>de</strong>m Stein herauszubil<strong>de</strong>n.<br />
Das Material, aus <strong>de</strong>m ein Wesen besteht, ist nicht seine eigentliche o<strong>de</strong>r wahre<br />
Wirklichkeit. Denn dasselbe Material könnte auch zu einem an<strong>de</strong>ren Wesen gebil<strong>de</strong>t sein: Es<br />
sind chemisch dieselben Knochen, Muskeln und Sehnen, aus <strong>de</strong>nen Löwe und Tiger bestehen.<br />
Der Unterschied liegt in <strong>de</strong>r unterschiedlichen Anordnung dieser Materialien: Die wahre<br />
Wirklichkeit eines Wesens ist das Prinzip (die I<strong>de</strong>e), welche das Material beseelt und ihm<br />
seine spezifische Form und Tätigkeitsweise verleiht. Die <strong>de</strong>n Löwen zum Löwen und <strong>de</strong>n<br />
Tiger zum Tiger formen<strong>de</strong> Kraft (die I<strong>de</strong>e) ist die eigentliche Wirklichkeit von Löwe und<br />
Tiger, nicht das Zellen- und Organmaterial, das bei bei<strong>de</strong>n gleich ist (Phaidon 78 cd).<br />
Die I<strong>de</strong>e ist nicht sichtbar, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>nkbar<br />
(47) Es sind zwar die Erscheinungen einer I<strong>de</strong>e (ihre Verwirklichungen) sichtbar, die I<strong>de</strong>e<br />
selbst jedoch kann nur im Denken erfasst wer<strong>de</strong>n: „Und von jenem vielen sagen wir, daß es<br />
gesehen (horasthai) wer<strong>de</strong>, aber nicht gedacht; von <strong>de</strong>n I<strong>de</strong>en hingegen, daß sie gedacht<br />
31
<strong>Platon</strong>: <strong>Politeia</strong><br />
(noesthai) wer<strong>de</strong>n, aber nicht gesehen“ (507 bc). Die in Wahrheit wirklichen Wesen sind<br />
diese unsichtbaren, i<strong>de</strong>ellen Wirkprinzipien, die nicht mehr bloß angeschaut wer<strong>de</strong>n können,<br />
son<strong>de</strong>rn nur <strong>de</strong>m <strong>de</strong>nken<strong>de</strong>n Verstehen zugänglich sind. Der Raum <strong>de</strong>s Verstehbaren (<strong>de</strong>r<br />
Raum <strong>de</strong>r noumena o<strong>de</strong>r gignoskomena) 58 ist vom Raum <strong>de</strong>s Sichtbaren nicht räumlich abgeschie<strong>de</strong>n,<br />
son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r erstere wirkt in letzterem: Die unsichtbaren strukturieren<strong>de</strong>n Kräfte,<br />
<strong>de</strong>ren eine hier <strong>de</strong>n Löwen, <strong>de</strong>ren an<strong>de</strong>re dort <strong>de</strong>n Tiger aus <strong>de</strong>n gleichen organischen Zellen<br />
webt, wirken in <strong>de</strong>m sichtbaren Stoff, aus <strong>de</strong>m Tiger und Löwen gebil<strong>de</strong>t sind. Wir sehen die<br />
Auswirkungen <strong>de</strong>r Wirkprinzipien in <strong>de</strong>n Phänomenen, die sie gestalten, nicht jedoch die<br />
inneren Wirkmechanismen <strong>de</strong>r Prinzipien selbst. Wir sehen diese autarken Mächte nicht, aber<br />
wir verstehen, dass sie in <strong>de</strong>n sichtbaren Phänomenen am Werk sind, und wir verstehen ihre<br />
spezifischen Unterschie<strong>de</strong>, nämlich was es heißt, ein Löwe zu sein und was es im Unterschied<br />
dazu be<strong>de</strong>utet, als Tiger zu existieren. Was das schauen<strong>de</strong> Auge zu sehen bekommt,<br />
hat immer auch Dimensionen, welche sich <strong>de</strong>r verstehen<strong>de</strong>n Intelligenz 59 erschließen. Die<br />
sichtbaren Dimensionen einer Sache leuchten in’s Auge, die unsichtbar geistigen leuchten <strong>de</strong>r<br />
Vernunft ein.<br />
Zusatz: Unter Vernunft, Intelligenz und Denken verstehe ich nicht rein kognitive Leistungen, son<strong>de</strong>rn ein<br />
Erfassen und Vernehmen, mit allen Kräften <strong>de</strong>s Gemütes. Echtes und unverkürztes Wissen ist nicht bloß <strong>de</strong>r<br />
Besitz von Kenntnissen, son<strong>de</strong>rn die verstehen<strong>de</strong>n und achten<strong>de</strong> Anteilnahme an <strong>de</strong>m Gewussten. 60<br />
Die I<strong>de</strong>e ist geistig<br />
(48) Die in <strong>de</strong>n sichtbaren Phänomenen wirksamen Prinzipien, welche die Dinge zu <strong>de</strong>m<br />
machen und formen, was sie sind, sind geistiger Art.<br />
[a]<br />
Formprinzipien sind geistig, weil sie von <strong>de</strong>r Materie <strong>de</strong>r Dinge unterschie<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n<br />
müssen. Die spezifische Form eines Adlers verwirklicht sich in diesem, in jenem<br />
und in noch tausend weiteren Adlern. Was <strong>de</strong>n Adler zum Adler macht (sein genetisches<br />
Programm) wirkt zwar in <strong>de</strong>r Materie und kann von dieser auch nicht abgelöst<br />
wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nnoch aber ist es selber nicht die Materie, son<strong>de</strong>rn das, was dieser die<br />
Formung gibt. Was wir sehen, wenn wir einen Löwen sehen, ist nicht ein Materiehaufen,<br />
son<strong>de</strong>rn eine spezifisch geformte Materieansammlung. Diese Form zeigt sich in<br />
<strong>de</strong>r Materie, ist mit ihr aber nicht i<strong>de</strong>ntisch. Man kann einen Löwen statt in Fleisch<br />
und Blut auch in Kunststoff o<strong>de</strong>r Stein formen. Die Form ist es, welche das Fleisch<br />
und Blut, <strong>de</strong>n Kunststoff o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Stein zum einem Löwen (o<strong>de</strong>r zum Bild eines Löwen)<br />
macht, nicht Fleisch und Blut, Kunststoff o<strong>de</strong>r Stein als solche. Die Form ist das,<br />
was sich von <strong>de</strong>r Materie unterschei<strong>de</strong>t, obgleich es nicht ohne sie vorkommt.<br />
Zusatz: Ein glühen<strong>de</strong>r Kohlefa<strong>de</strong>n in einer Lampe und ein nicht glühen<strong>de</strong>r sind zwei getrennte Materiezustän<strong>de</strong>.<br />
Was bei<strong>de</strong> ineinan<strong>de</strong>r überführt, ist die elektrische Kraft. Diese ist mit <strong>de</strong>m Kohlefa<strong>de</strong>n<br />
nicht i<strong>de</strong>ntisch und mit keinem seiner Elementarteilchen. Wenn wir <strong>de</strong>n glühen<strong>de</strong>n Kohlefa<strong>de</strong>n unter<br />
<strong>de</strong>m stärksten Mikroskop zerlegen, wer<strong>de</strong>n wir nichts an<strong>de</strong>res fin<strong>de</strong>n als beim nicht-glühen<strong>de</strong>n Kohlefa<strong>de</strong>n,<br />
nämlich dieselben Elementarteilchen, jedoch in unterschiedlicher Bewegungsform. Die elektrische<br />
Kraft, die in ihm wirkt, ist nicht mit <strong>de</strong>n materiellen Teilchen i<strong>de</strong>ntisch, son<strong>de</strong>rn mit <strong>de</strong>r Form ihrer<br />
Bewegung.<br />
[b]<br />
Formprinzipien sind geistig, weil sie die Einheit eines Wesens ausmachen. Einheit<br />
58 <strong>Platon</strong>: <strong>Politeia</strong> 508 c und e<br />
59 intelligere heißt im Inneren <strong>de</strong>r Sache lesen (Thomas von Aquin: Sth II-II, 8, 1)<br />
60 <strong>Huber</strong> 2006, §§ 148ff; 272<br />
32
<strong>Platon</strong>: <strong>Politeia</strong><br />
aber kann nicht in <strong>de</strong>r Materie begrün<strong>de</strong>t sein, da Materie ja vielmehr das Prinzip<br />
<strong>de</strong>r unendlichen Teilbarkeit darstellt. Ein Löwe ist nicht die Summe so und so vieler<br />
Millionen von Zellen, son<strong>de</strong>rn das eine Muster, nach <strong>de</strong>m diese Zellen miteinan<strong>de</strong>r<br />
verwoben sind. Das Muster „Löwe“ ist unteilbar. Wollte man es zerteilen, in<strong>de</strong>m man<br />
die Teilmuster „Mähne“, „Pranken“, „Reißzähne“ und „Krallen“ herauslöste, wäre es<br />
nicht mehr das Gesamtmuster „Löwe“. Ein Wesen ist gera<strong>de</strong> dadurch ein Wesen, dass<br />
die Trennbarkeit seiner Teile nicht aktiviert wird bzw. dass es seine Teile gegen ihre<br />
Trennbarkeit (die im Augenblick <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s wirksam wird) zusammenhält. Ein Wesen<br />
besteht, solange es diese Untrennbarkeit aufrecht erhalten kann. 61<br />
Zusatz: Ein Stein, <strong>de</strong>r hoch oben auf <strong>de</strong>m Gipfel eines Berges liegt, aufgehoben und geworfen wird,<br />
<strong>de</strong>r durch die Luft fliegt und dann schließlich sich zur Er<strong>de</strong> senkt und im Tal zu liegen kommt, ist eine<br />
Abfolge vieler unterschiedlicher Zustän<strong>de</strong>, die <strong>de</strong>nnoch ein Phänomen ausmachen. Die Einheit <strong>de</strong>s<br />
Phänomens – <strong>de</strong>s Zur-Er<strong>de</strong>-Fliegens <strong>de</strong>s Steins – ist nicht in <strong>de</strong>r Materie <strong>de</strong>s Steins begrün<strong>de</strong>t und in<br />
keinem ihrer Zustän<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn in <strong>de</strong>r Schwerkraft, welche die verschie<strong>de</strong>nen Zustän<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Steinmaterie<br />
miteinan<strong>de</strong>r verbin<strong>de</strong>t. Von sich her kann <strong>de</strong>r Stein genauso gut in <strong>de</strong>r Luft schweben wie zur Er<strong>de</strong><br />
fallen. Ob er fällt o<strong>de</strong>r schwebt, hängt von <strong>de</strong>r Kraft <strong>de</strong>r Schwere ab, die etwas vom Stein Verschie<strong>de</strong>nes<br />
ist, obgleich sie gegebenenfalls in ihm wirkt. Die Schwerkraft strukturiert die Abfolge <strong>de</strong>r Zustän<strong>de</strong><br />
<strong>de</strong>r Steinmaterie zu einer spezifisch an<strong>de</strong>ren Art von Einheit („Fallen“) als es die Schwerelosigkeit<br />
(„Schweben“) tut.<br />
[c]<br />
Schließlich sind Formprinzipien geistig, weil in <strong>de</strong>n formen<strong>de</strong>n Prinzipien eines Wesens<br />
<strong>de</strong>ssen Zukunft schon gegenwärtig und wirksam ist, obgleich sie noch gar nicht<br />
realisiert und <strong>de</strong>swegen auch nicht sichtbar o<strong>de</strong>r greifbar ist. Sie ist in unsichtbarer<br />
und ungreifbarer Weise, eben auf geistige Art, gegenwärtig 62 : So ist beispielsweise in<br />
<strong>de</strong>r kleinen Kastanie <strong>de</strong>r riesige Kastanienbaum ebensowenig sichtbar und greifbar<br />
wie in <strong>de</strong>r befruchteten Eizelle <strong>de</strong>r erwachsene Mensch, <strong>de</strong>nnoch aber sind bei<strong>de</strong> gegenwärtig<br />
und wirksam, <strong>de</strong>nn die Kastanie bil<strong>de</strong>t sich ganz aus sich selbst heraus zum<br />
Kastanienbaum und die befruchtete Eizelle bil<strong>de</strong>t sich zum erwachsenen Menschen<br />
(wenn man sie nur lässt). In je<strong>de</strong>m Keim ist auf nicht sicht- und greifbare Weise das<br />
Wesen schon gegenwärtig und wirksam, das sich im Laufe <strong>de</strong>r Zeit erst aus <strong>de</strong>m Keim<br />
heraus entwickeln wird. Der Raum, in <strong>de</strong>m unsichtbare und ungreifbare Präsenzen<br />
möglich sind, ist <strong>de</strong>r Raum <strong>de</strong>s Geistes: Es ist die spezifische Fähigkeit <strong>de</strong>s Geistes,<br />
etwas präsent zu haben, das äußerlich nicht sichtbar und greifbar ist. Deswegen sind<br />
alle Wirkprinzipien, welche in ihrer gegenwärtigen Wirksamkeit die spezifische I<strong>de</strong>ntität<br />
<strong>de</strong>r Dinge in die Zukunft hinein konstant stabil halten, geistiger Art, <strong>de</strong>nn in ihnen<br />
ist die noch unverwirklichte Zukunft schon präsent und festgeschrieben. Eine äußerlich<br />
noch unverwirklichte Präsenz aber ist eben geistige Vergegenwärtigung.<br />
Zusatz: Wir kennen und erleben <strong>de</strong>n Geist nur als <strong>de</strong>n Raum unsichtbarer Präsenzen, wenn wir z. B.<br />
<strong>de</strong>n Plan eines Hauses in unserem Kopf machen, das Fundament berechnen und alle Zimmer einrichten,<br />
bevor auch nur ein Stein auf <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>rn zu liegen gekommen ist. Unsere Pläne machen etwas im Geist<br />
präsent, das es noch nicht in sichtbarer Gestalt gibt. Aus unseren geistigen Plänen wächst jedoch nicht<br />
von selbst die sichtbare Gestalt hervor. Der Architekt mag einen noch so sorgfältig überlegten Plan <strong>de</strong>s<br />
Hauses entwerfen, dieser Plan baut ihm doch nicht das Haus. An<strong>de</strong>rs bei <strong>de</strong>n Keimen in <strong>de</strong>r Natur: Die<br />
Kastanie und <strong>de</strong>r Embryo sind selbstverwirklichen<strong>de</strong> Pläne; genetische Programme sind Programme,<br />
die sich von selbst im Stoff verwirklichen. Unser Geist vermag nur zu planen, d. h. sich Dinge unsichtbar<br />
zu vergegenwärtigen. Der Geist in <strong>de</strong>r Natur hingegen ist schaffend, d. h. seine unsichtbaren Präsenzen<br />
erwirken sich selber ihre Sichtbarkeit.<br />
61 <strong>Huber</strong> 2003, 125-134<br />
62 <strong>Huber</strong> 2006, §§ 41; 45f<br />
33
<strong>Platon</strong>: <strong>Politeia</strong><br />
Die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s Guten III: Die Gleichnisse<br />
Sonnengleichnis: Ontologie – Sein als geordnete Welt (Kosmos) von Seien<strong>de</strong>n<br />
(49) Mittels <strong>de</strong>r Sonne veranschaulicht Sokrates die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s Guten. Dabei sind es zwei<br />
grundlegen<strong>de</strong> Funktionen, welche bei<strong>de</strong>n zukommen, <strong>de</strong>r Sonne in eingeschränktem, überschaubarem<br />
Maßstab, <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s Guten im kosmischen Maßstab:<br />
[a]<br />
[b]<br />
So wenig das Auge etwas zu sehen vermag, wo sich räumlich nichts unterschei<strong>de</strong>n<br />
lässt (sei es in <strong>de</strong>r schwarzen Finsternis o<strong>de</strong>r im weißen Nebel), ebenso wenig vermag<br />
die Vernunft da etwas zu verstehen, wo sich gedanklich nichts unterschei<strong>de</strong>n lässt:<br />
Etwas zu <strong>de</strong>nken, be<strong>de</strong>utet immer, nicht etwas an<strong>de</strong>res zu <strong>de</strong>nken, und diese Unterscheidung<br />
muss je<strong>de</strong>r Gedanke machen, wenn er auch das an<strong>de</strong>re alles, das er nicht<br />
<strong>de</strong>nkt (obgleich es zu <strong>de</strong>nken möglich wäre), nicht weiter ausdifferenziert. So wie die<br />
Sonne im Raum <strong>de</strong>s Sichtbaren die Unterscheidungslosigkeit <strong>de</strong>r Finsternis vertreibt<br />
und dadurch die Dinge in ihren Unterschie<strong>de</strong>n und Differenziertheiten hervortreten<br />
und damit erst wahrnehmbar und i<strong>de</strong>ntifizierbar wer<strong>de</strong>n lässt, ebenso lässt die I<strong>de</strong>e<br />
<strong>de</strong>s Guten die verstehbaren Dinge und Wesen erst unterscheidbar wer<strong>de</strong>n und an ihnen<br />
<strong>de</strong>utlich hervortreten, „was je<strong>de</strong>s ist“ (532 a; 533 b; 534 b; 484 d). Wenn man die<br />
Dinge nämlich unter <strong>de</strong>r Perspektive <strong>de</strong>s Guten betrachtet, dann fragt man, wozu es<br />
gut sei, dass dies gera<strong>de</strong> so und jenes gera<strong>de</strong> an<strong>de</strong>rs ist. Die Antworten auf solche<br />
Fragen nach <strong>de</strong>m Guten zeigen uns die Unterschie<strong>de</strong> und spezifischen I<strong>de</strong>ntitäten<br />
<strong>de</strong>r Wesen. Die Frage nach <strong>de</strong>m Guten erschließt die komplexe Welt <strong>de</strong>s Verstehbaren,<br />
<strong>de</strong>n Raum <strong>de</strong>r Grün<strong>de</strong> (§ 39 Zusatz 1-b). Erst wenn wir wissen, aus welchem<br />
Grund <strong>de</strong>r Reißzahn eines Löwen spitz sein muss, haben wir verstan<strong>de</strong>n, was ein<br />
Reißzahn ist – haben wir die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s Reißzahnes verstan<strong>de</strong>n.<br />
Wo kein Unterschied herrscht, da ist soviel als nichts. 63 Wenn das Sein in sich selbst<br />
nicht unterschie<strong>de</strong>n wäre, wenn es nicht ausdifferenziert wäre in unterschiedliche Seien<strong>de</strong>,<br />
son<strong>de</strong>rn nur einen gestaltlosen Nebel bil<strong>de</strong>te, so wäre es in dieser inneren Unterscheidungslosigkeit<br />
<strong>de</strong>m Nichts gleich: Wenn sich Löwesein, Tigersein, Granitsein<br />
usw. nicht unterschei<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>n, dann gäbe es we<strong>de</strong>r Tiger noch Löwen noch Granit,<br />
son<strong>de</strong>rn nur ein unterschiedslos allgemeines Sein. Wo alles unterschiedslos dasselbe<br />
Sein ist, da ist so viel als gar nichts. Damit das Sein die Leerheit und Nichtigkeit verliere<br />
und als Sein wirklich wer<strong>de</strong>, muss es sich in unterschie<strong>de</strong>ne Seien<strong>de</strong> trennen, in<br />
die bunte Mannigfaltigkeit einer Welt von verschie<strong>de</strong>nartigen Wesen. Dass überhaupt<br />
etwas ist (statt dass gar nichts wäre), hat daher seine Ursache darin, dass das Sein unterschiedliche<br />
geistige Wirkprinzipien – d. h. unterschiedliche I<strong>de</strong>en (§ 44) – hervorbringt,<br />
welche die unterschiedslose Gleichheit <strong>de</strong>s Seins zu unterschiedlich gestalten<br />
Wesen bil<strong>de</strong>n. So wie die Sonne (ihr Licht, ihre Wärme) die Ursache dafür ist, dass<br />
sich aus <strong>de</strong>m unterschiedslosen Urstoff <strong>de</strong>r Welt verschie<strong>de</strong>ngestaltige Wesen heraus<br />
entwickeln, ist das Gute Ursache und Grund dafür, dass das Sein einzelne Seien<strong>de</strong><br />
aus sich hervorgehen lässt (§ 39 Zusatz 3): Das Sein drängt danach, etwas Bestimmtes<br />
zu sein, statt unterschiedsloses Nichts zu bleiben (so ist es Grund für die<br />
Wesen); und das Sein drängt danach, zu sein (so ist es zugleich Ursache für die Wesen,<br />
eine Ursache, <strong>de</strong>ren Wirkweise wir nicht zu verstehen vermögen).<br />
Zusammenfassend halte ich fest: Das Gute lässt die Welt als Reich vielgestaltiger Wesen<br />
63 <strong>Huber</strong> 2006, §§ 34ff<br />
34
<strong>Platon</strong>: <strong>Politeia</strong><br />
überhaupt erst wirklich wer<strong>de</strong>n und es erschließt dieses Reich <strong>de</strong>m differenzierten Verstehen.<br />
Zusatz: So ist das Gute <strong>de</strong>r Urgrund, die eine ungeheuere Potentialität <strong>de</strong>s Seins. Aber erst ein begrenzen<strong>de</strong>s<br />
Prinzip gibt Gestalt. Erst wo das Sein sich in Unterschie<strong>de</strong> bringt, existiert etwas statt <strong>de</strong>s leeren gestaltlosen<br />
Nebels. 64 Seine Begrenzung muss das Sein wissen, um sie für eine gewisse Zeitspanne konstant stabil halten zu<br />
können. 65 Und es muss in Allvernunft vom Zusammenspiel <strong>de</strong>r Begrenzungen wissen, um das Ganze und je<strong>de</strong>s<br />
einzelne Begrenzte chaosresistent einrichten zu können. 66 Es sind immer bei<strong>de</strong> Prinzipien erfor<strong>de</strong>rlich: Einerseits<br />
das Unbegrenzte bzw. Unbestimmte, das gestaltlos ist, aber <strong>de</strong>n Raum abgibt, innerhalb <strong>de</strong>ssen Gestaltung<br />
erst möglich ist. An<strong>de</strong>rerseits ist es das Begrenzen<strong>de</strong>, das gestaltet. Das Unbegrenzte allein bleibt gestaltlos wie<br />
das Nichts. Die Begrenzung allein schrumpft zum punctum mathematicum, also ebenfalls zum Nichts. Nur die<br />
begrenzte Begrenzung gibt Gestalt.<br />
Dementsprechend macht das Licht nur als schon begrenztes o<strong>de</strong>r abgeschattetes Licht etwas sichtbar. Reines<br />
Licht ist wie reine Finsternis ohne je<strong>de</strong>n inneren Unterschied: man sieht nichts. Das Licht begrenzt, es schnei<strong>de</strong>t<br />
aus <strong>de</strong>m Umfeld etwas aus, hebt es hervor und negiert insoweit das Übrige. Je mehr o<strong>de</strong>r je weniger es ausschnei<strong>de</strong>t<br />
– in bei<strong>de</strong>n Richtungen nähert es sich <strong>de</strong>m Nichts-mehr-Sehen, weil alles ins Konturlose zurückgetreten<br />
ist, wenn das Licht so hell wird, dass gar nichts mehr ausgeschnitten, konturiert wird, o<strong>de</strong>r wenn <strong>de</strong>r Lichtkegel<br />
sich so zusammengezogen hat, dass sein Radius zur Aus<strong>de</strong>hnungslosigkeit zusammengefallen ist.<br />
Liniengleichnis: Kosmologie – Arten und Rangstufen <strong>de</strong>r Seien<strong>de</strong>n 67<br />
(50) Während das Höhlengleichnis vom Urgrund <strong>de</strong>s Seins überhaupt spricht (in<strong>de</strong>m es<br />
<strong>de</strong>n Grund zeigt, warum überhaupt etwas ist, statt dass nichts wäre), hat es das Liniengleichnis<br />
mit <strong>de</strong>n speziellen Arten von Seien<strong>de</strong>n zu tun (jedoch nicht mit konkreten einzelnen Seien<strong>de</strong>n).<br />
Diese Arten von Seien<strong>de</strong>n unterschei<strong>de</strong>n sich hinsichtlich <strong>de</strong>ssen, in welchem Grad<br />
sie eigene Wirklichkeit besitzen und welchen Rang diese Wirklichkeit einnimmt. Das Liniengleichnis<br />
zeigt die kosmologische Stufenfolge <strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nen Arten von Seien<strong>de</strong>n.<br />
Dabei bemisst sich <strong>de</strong>r Rang <strong>de</strong>r eigenen Wirklichkeit eines Wesens<br />
[a]<br />
[b]<br />
[c]<br />
nach <strong>de</strong>r Dauerhaftigkeit und Stärke, mit <strong>de</strong>r es seine spezifische I<strong>de</strong>ntität (das, was<br />
es ist) aus sich selbst heraus in und gegen Irritationen konstant stabil zu halten imstan<strong>de</strong><br />
ist. 68<br />
nach seinem Komplexitätsgrad, d. h. danach, in wieweit es Daseinsvollzüge, wie sie<br />
für einfachere Wesen spezifisch sind, zu eigenen höheren Daseinsvollzügen integriert<br />
(so wie <strong>de</strong>r Mensch vegetative und animalische Funktionalität zur spezifischen<br />
Daseinsform sittlicher Existenz integriert) 69 .<br />
nach seinem Wirklichkeitsgehalt, d. h. nach <strong>de</strong>r Reichhaltigkeit seiner Sinnbezüge in<br />
sich selbst und zu an<strong>de</strong>ren Wesen (§ 39 Zusatz 1-b), <strong>de</strong>nn in <strong>de</strong>n Be<strong>de</strong>utungen, welche<br />
Wesen füreinan<strong>de</strong>r haben, liegt ihre Wirksamkeit o<strong>de</strong>r Wirklichkeit. Und so manifestiert<br />
sich in reicheren Sinnbezügen (in einer reicheren Be<strong>de</strong>utsamkeitsaura) ein<br />
reicherer Gehalt an Wirksamkeit o<strong>de</strong>r Wirklichkeit. 70<br />
64 <strong>Huber</strong> 2006, §§ 85-87<br />
65 <strong>Huber</strong> 2006, § 46<br />
66 <strong>Huber</strong> 2006, §§ 93-99<br />
67 <strong>Huber</strong> 2006, §§ 37f<br />
68 <strong>Huber</strong> 2006, § 43<br />
69 <strong>Huber</strong> 2006, § 75<br />
70 <strong>Huber</strong> 2006, § 131<br />
35
<strong>Platon</strong>: <strong>Politeia</strong><br />
[d]<br />
nach <strong>de</strong>r Reichweite und Tiefe seines Fürsichseins, d. h. danach, in welchem Maß<br />
ein Wesen fähig ist, seine eigenen Daseinszwecke und neben diesen auch die <strong>de</strong>r übrigen<br />
Wesen zu verstehen und zu achten. 71<br />
Zusatz 1: Fürsichsein liegt vor, wenn ein Wesen sich selbst in dumpferer o<strong>de</strong>r hellerer Empfindung,<br />
in <strong>de</strong>r Weise <strong>de</strong>s Bewusstseins o<strong>de</strong>r gar mit Selbstbewusstsein gegeben ist. Bewusstsein, ja sogar<br />
schon Empfindung hat immer ein Moment von Selbstbewusstsein an sich. Hätte man bei einer Empfindung<br />
keinerlei Empfindung auch von sich selbst, wür<strong>de</strong> man die Empfindung sozusagen nicht registrieren<br />
können: Man empfin<strong>de</strong>t nichts, wenn man in <strong>de</strong>r Empfindung nicht auch sich selbst mitempfin<strong>de</strong>t.<br />
Aber es ist ein Unterschied sich selbst bloß mitzuempfin<strong>de</strong>n, wobei <strong>de</strong>r Brennpunkt <strong>de</strong>s Gewahrseins<br />
nur auf <strong>de</strong>m Inhalt <strong>de</strong>r Empfindung, nicht aber auch auf <strong>de</strong>m empfin<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Selbst liegt, o<strong>de</strong>r aber die<br />
ganze Komplexität eines Selbst, das von sich im An<strong>de</strong>ren weiß, klar zu erfassen.<br />
Zusatz 2: Ein Tier versteht seine Daseinszwecke nicht bewusst, aber in Form <strong>de</strong>r Empfindung, in<br />
Form also eines sozusagen gefühlten Verstehens. Aber auch in dieser empfin<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Weise versteht es<br />
seine Daseinszwecke nur unvollkommen: So empfin<strong>de</strong>t es z. B. die Lust, die mit <strong>de</strong>r Sättigung verbun<strong>de</strong>n<br />
ist, als seinen eigenen Daseinszweck. Aber diese Lust ist <strong>de</strong>r Zweck <strong>de</strong>r Sättigung nur für das Tier,<br />
welches nicht erfasst, dass <strong>de</strong>r Zweck <strong>de</strong>r Sättigung an sich mehr umfasst: Die Sättigung zielt an sich<br />
nicht nur darauf, <strong>de</strong>m Tier momentane Lust zu verschaffen, son<strong>de</strong>rn darauf, ihm sein Dasein über längere<br />
Zeit zu erhalten. Eben dies aber empfin<strong>de</strong>t und weiß das Tier ebensowenig wie es z. B. weiß, dass<br />
<strong>de</strong>r Paarungstrieb an sich nicht nur die momentane Lust bezweckt (wie es das Tier für sich selbst empfin<strong>de</strong>t),<br />
son<strong>de</strong>rn unmittelbar auf Junge und durch diese und <strong>de</strong>ren Junge dann weiter auf <strong>de</strong>n Fortbestand<br />
<strong>de</strong>r Gattung aus ist. Das Tier kann auch die Daseinszwecke an<strong>de</strong>rer Wesen nicht erfassen: Die<br />
Katze kann nicht verstehen, wie es ist, ein Adler zu sein (und es interessiert sie auch nicht). Nur <strong>de</strong>r<br />
Mensch ist das Wesen, das potentiell (wenn auch nicht faktisch) seine eigenen Daseinszwecke über die<br />
momentane Befriedigung hinaus erfassen und auch die Daseinszwecke <strong>de</strong>r übrigen Wesen verstehen<br />
und achten kann. Darin ist er Vernunftwesen. 72<br />
Folgen<strong>de</strong> Arten von Seien<strong>de</strong>n unterschei<strong>de</strong>t <strong>Platon</strong> im Liniengleichnis und in folgen<strong>de</strong> kosmologische<br />
Stufenfolge sieht er sie geglie<strong>de</strong>rt (ich beginne mit <strong>de</strong>r untersten Stufe und steige<br />
schrittweise höher):<br />
A. Bil<strong>de</strong>r<br />
A.1 Schatten und Spiegelungen<br />
(51) „Ich nenne aber Bil<strong>de</strong>r zuerst die Schatten, dann die Erscheinungen im Wasser und<br />
die sich auf allen dichten, glatten und glänzen<strong>de</strong>n Flächen fin<strong>de</strong>n und alle <strong>de</strong>rgleichen“ (509<br />
d – 510 a).<br />
[a]<br />
[b]<br />
Die eigene Wirklichkeit konstant stabil zu halten (§ 50-a), vermögen am wenigsten<br />
die Schatten und Spiegelungen: Sie halten ihre Gestalt (das, was sie sind) nicht aus eigener<br />
Kraft fest, son<strong>de</strong>rn nur solange das Ding, <strong>de</strong>ssen Schatten sie sind, seine Gestalt<br />
behält, behalten auch sie diese. Schatten (o<strong>de</strong>r Spiegelungen) sind vollkommen abhängig<br />
von <strong>de</strong>m, <strong>de</strong>ssen Nachbildungen sie sind. Verschwin<strong>de</strong>t das Urbild, verschwin<strong>de</strong>t<br />
<strong>de</strong>r Schatten.<br />
Spiegelungen sind von höherer Komplexität als Schatten, <strong>de</strong>nn Schatten zeigen nur<br />
die Umrisse, während Spiegelungen auch Farben und Aussehen abbil<strong>de</strong>n. Spiegelungen<br />
integrieren das, was Schatten leisten, vollziehen selber aber eine höhere Abbil-<br />
71 <strong>Huber</strong> 2006, §§ 59; 78<br />
72 <strong>Huber</strong> 2006, §§ 3; 5; 54; 78; 223<br />
36
<strong>Platon</strong>: <strong>Politeia</strong><br />
dungsleistung (§ 50-b).<br />
[c]<br />
[d]<br />
Spiegelungen haben höheren Wirklichkeitsgehalt als Schatten, <strong>de</strong>nn wegen ihrer höheren<br />
Komplexität zeigen sie <strong>de</strong>m Betrachter ein reicheres Be<strong>de</strong>utungsgeflecht als<br />
Schatten (§ 50-c).<br />
Was das Fürsichsein betrifft (§ 50-d), so weisen Schatten und Spiegelungen gar keines<br />
(nicht einmal dumpf empfin<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Art) auf.<br />
B. Lebensweltliche Sachen („bei uns“)<br />
B.1 Artefakte<br />
(52) „Und als <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Abschnitt setze das, <strong>de</strong>m diese [die Bil<strong>de</strong>r] gleichen, nämlich die<br />
Tiere bei uns und das gesamte Gewächsreich und alle Arten <strong>de</strong>s künstlich Gearbeiteten“<br />
(510 a).<br />
Während <strong>Platon</strong> im Text zu Beginn <strong>de</strong>s § 51 eine im ontologischen Rang aufsteigen<strong>de</strong> Aufzählung<br />
gab (erst die Schatten, dann die höhere Stufe <strong>de</strong>r Spiegelungen), gelangt er hier absteigend<br />
von <strong>de</strong>n Tieren über die Pflanzen zu <strong>de</strong>n leblosen Artefakten. Ich behalte in <strong>de</strong>r<br />
Kommentierung aber die aufsteigen<strong>de</strong> Darstellung bei und gehe von <strong>de</strong>n Artefakten über zur<br />
Gruppe <strong>de</strong>r Pflanzen und Tiere (B.2) als <strong>de</strong>n eigenwirklichen sichtbaren Wesen. Artefakte<br />
sind Maschinen, Schwalbennester und <strong>de</strong>rgleichen, weil sie nicht von selbst entstehen, son<strong>de</strong>rn<br />
von existieren<strong>de</strong>n Wesen zusammengefügt wer<strong>de</strong>n.<br />
Zusatz: <strong>Platon</strong> hat von „Bil<strong>de</strong>rn“ gesprochen, dann aber nur Schatten und Spiegelungen genannt, nicht jedoch<br />
gemalte Bil<strong>de</strong>rn und Skulpturen (die ich zum Zwecke besserer Unterscheidung „Nachbil<strong>de</strong>r“ nenne). Da diese<br />
einerseits zwar „Bil<strong>de</strong>r“ sind (und so eigentlich in A fallen), an<strong>de</strong>rerseits aber zweifellos zum Bezirk <strong>de</strong>s<br />
„künstlich Gearbeiteten“ gehören und außer<strong>de</strong>m eine höhere Daseinsstufe ausmachen als Schatten und Spiegelungen,<br />
behandle ich sie hier bei <strong>de</strong>n Artefakten.<br />
[a]<br />
[b]<br />
[c]<br />
Ein wenig mehr halten die Nachbil<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Dinge ihre I<strong>de</strong>ntität fest (§ 50-a): Das gemalte<br />
Bild o<strong>de</strong>r die Skulptur eines Hirsches auf einer Waldlichtung verschwin<strong>de</strong>t<br />
nicht, wenn <strong>de</strong>r Hirsch davonläuft, die Lichtung zuwächst o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Wald gero<strong>de</strong>t und<br />
durch eine Wohnsiedlung ersetzt wird. Solche Nachbil<strong>de</strong>r sind auch alle an<strong>de</strong>ren Artefakte,<br />
nämlich alle Instrumente, die nicht wie die Nachbil<strong>de</strong>r bloß <strong>de</strong>m Zweck <strong>de</strong>r<br />
Darstellung, son<strong>de</strong>rn allerlei sonstigen lebenspraktischen Zwecken dienen, wie z. B.<br />
das Auto zum Fahren. Nach ihren Zwecken wer<strong>de</strong>n die Instrumente gebil<strong>de</strong>t, und so<br />
bil<strong>de</strong>n sie in sich ihren Zweck nach.<br />
Der Komplexitätsgrad (§ 50-b) <strong>de</strong>r Nachbil<strong>de</strong>r und Instrumente ist höher als <strong>de</strong>r von<br />
Schatten und Spiegelungen, weil sie nicht nur aus reflektiertem Licht gebil<strong>de</strong>t sind,<br />
son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>n nachgebil<strong>de</strong>ten Formen sichtbare Wirksamkeit in <strong>de</strong>r stofflichen Realität<br />
verschaffen. Zugleich geben sie damit <strong>de</strong>r verstehen<strong>de</strong>n Aktivität <strong>de</strong>s Menschen und<br />
ihren Gehalten Ausdruck und äußere Wirklichkeit.<br />
Eine gespiegelte Skulptur verliert ihre Dreidimensionalität (man kann um sie nicht<br />
mehr herumgehen) und so wird sie ärmer an Perspektiven. Ein bloß gespiegeltes Instrument<br />
hat seine Be<strong>de</strong>utsamkeit gänzlich verloren, <strong>de</strong>nn es kann nicht eingesetzt<br />
wer<strong>de</strong>n. Daher ist <strong>de</strong>r Wirklichkeitsgehalt von Artefakten normalerweise reicher als<br />
<strong>de</strong>r von Schatten und Spiegelungen (§ 50-c).<br />
37
<strong>Platon</strong>: <strong>Politeia</strong><br />
[d]<br />
Hinsichtlich <strong>de</strong>s Fürsichseins (§ 50-d) gilt auch bei <strong>de</strong>n Nachbil<strong>de</strong>rn und Instrumenten,<br />
dass sie keines aufweisen.<br />
B.2 Eigenwirkliche sichtbare Wesen<br />
(53) „Und als <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Abschnitt setze das, <strong>de</strong>m diese [die Bil<strong>de</strong>r] gleichen, nämlich die<br />
Tiere bei uns und das gesamte Gewächsreich und alle Arten <strong>de</strong>s künstlich Gearbeiteten“<br />
(510 a).<br />
Schleiermacher übersetzt „zôa“ mit „Tiere“. Tatsächlich be<strong>de</strong>utet <strong>de</strong>r Terminus bei <strong>Platon</strong><br />
je<strong>de</strong>s Wesen innerhalb <strong>de</strong>s Kosmos (also Pflanzen, Tiere, Menschen, aber auch etwa die Gestirne),<br />
welche Wesen <strong>Platon</strong> allesamt als beseelt <strong>de</strong>nkt. 73 Der Ausdruck „Die Tiere bei uns<br />
und das gesamte Gewächsreich“ steht also paradigmatisch für alle eigenwirklichen sichtbaren<br />
Wesen. Tiere und Pflanzen erschöpfen diese Gruppe aber nicht, son<strong>de</strong>rn zu ihr gehören<br />
alle natürlich entstehen<strong>de</strong>n Wesen, also auch etwa Atome, Mineralien und Menschen. Solche<br />
Wesen, die in <strong>de</strong>r uns bekannten Natur von selbst entstehen und sich bil<strong>de</strong>n, nenne ich<br />
eigenwirkliche sichtbare Wesen.<br />
[a] Diese Wesen halten ihre I<strong>de</strong>ntität, also das, was sie sind, weitaus stärker noch fest (§<br />
50-a) als Artefakte. Ein Auto ist nicht aus sich heraus Auto, son<strong>de</strong>rn aus <strong>de</strong>r Manipulation<br />
<strong>de</strong>s Mechanikers heraus; und ein Schwalbennest ist nicht aus sich heraus<br />
Schwalbennest, son<strong>de</strong>rn aus <strong>de</strong>r Manipulation <strong>de</strong>r Schwalbe heraus. Ein Stück Granit<br />
o<strong>de</strong>r ein Löwe hingegen sind aus sich selbst heraus Granit und Löwe, sie wer<strong>de</strong>n nicht<br />
erst durch die Manipulation an<strong>de</strong>rer dazu gemacht.<br />
[b]<br />
Der Komplexitätsgrad <strong>de</strong>r eigenwirklichen Wesen ist höher (§ 50-b) als <strong>de</strong>r von Artefakten<br />
und Spiegelungen, weil in <strong>de</strong>n eigenwirklichen Wesen ein Prinzip <strong>de</strong>r Eigentätigkeit<br />
am Werk ist, das jenen fehlt. Dieses Prinzip ist nicht das Prinzip <strong>de</strong>s Lebens<br />
(<strong>de</strong>nn das kommt z. B. Mineralien nicht zu), son<strong>de</strong>rn das Prinzip einer nicht vom<br />
Menschen gemachten Selbstbehauptung im Dasein.<br />
Zusatz: Da Artefakte letztlich immer aus natürlichen Stoffen gefertigt sind, haben sie in ihren Bestandteilen<br />
immer auch dieses Prinzip <strong>de</strong>r Eigentätigkeit in sich: Das Metall, aus <strong>de</strong>m ein Auto besteht,<br />
ist qua Metall kein Artefakt, son<strong>de</strong>rn ein Wesen, das seine spezifische I<strong>de</strong>ntität vermöge seiner Natur<br />
herausbil<strong>de</strong>t und festhält. Das Auto als zusammengesetztes Produkt ist kein Wesen, das seine I<strong>de</strong>ntität<br />
vermöge seiner Natur herausbil<strong>de</strong>t und festhält, <strong>de</strong>nn von Natur aus fügen sich Metalle und Erdöl nicht<br />
von selbst zusammen, um die Gestalt eines Autos festzuhalten.<br />
[c]<br />
[d]<br />
Die Be<strong>de</strong>utsamkeitsaura o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Wirklichkeitsgehalt (§ 50-c) eigenwirklicher Wesen<br />
ist reicher als bei Artefakten, weil letztere in ihrer Be<strong>de</strong>utung in erster Linie menschliche<br />
Belange ausdrücken (<strong>de</strong>nen zu dienen ja ihr Zweck ist). Eigenwirkliche Wesen<br />
ziehen die Aufmerksamkeit nicht auf solche begrenzte Be<strong>de</strong>utungen, son<strong>de</strong>rn in ihnen<br />
eröffnet sich <strong>de</strong>m Betrachter potentiell <strong>de</strong>r ganze Raum <strong>de</strong>s Verstehens.<br />
Alle eigenwirkliche Wesen verfügen (ebenso wie Schatten, Spiegelungen und Artefakte)<br />
über Fürsein, wenngleich nicht alle über Fürsichsein (§ 50-d). Ein Granit nimmt<br />
Einflüsse aus seiner Umwelt in sich auf (z. B. <strong>de</strong>n Spalt, <strong>de</strong>n das Eis im Winter in ihn<br />
reißt). So kann man sagen, er nimmt an sich selber wahr (es be-eindruckt ihn), was<br />
ihm geschieht. Diese Wahrnehmung ist zwar keine bewusste, aber die Spuren seiner<br />
73 Horn / Rapp 2002, 464<br />
38
<strong>Platon</strong>: <strong>Politeia</strong><br />
Wi<strong>de</strong>rfahrnisse trägt <strong>de</strong>r Stein an sich, ja er reagiert sogar in seiner spezifischen Weise<br />
darauf: In seiner Natur ist vorgegeben, bei welcher Belastung er splittert, bei welcher<br />
er zerbricht. Er reagiert auf die Welt in spezifischer Weise, und so ist ihm die Welt auf<br />
spezifische Weise gegeben, freilich ohne dass er ein Bewusstsein davon hätte.<br />
Zusatz: Auch ein gentechnisch manipuliertes Wesen ist noch ein eigenwirkliches Wesen, weil es zwar anlässlich<br />
<strong>de</strong>r Manipulation zu einer verän<strong>de</strong>rten Wirklichkeit gebracht wur<strong>de</strong>, diese neu entstan<strong>de</strong>ne Wirklichkeit<br />
sich aber weiterhin aus sich selbst heraus vollzieht. Darin liegt die grundlegen<strong>de</strong> ethische Be<strong>de</strong>nklichkeit: Die<br />
Eigenwirklichkeit eines Wesens wird hier in <strong>de</strong>n Dienst <strong>de</strong>r Zwecke <strong>de</strong>s Manipulierers gestellt, ohne dass das<br />
Wesen sich dieser Entfremdung entziehen könnte, da sie <strong>de</strong>r Manipulierer in die Eigenwirklichkeit sozusagen<br />
eingebaut hat. Entfremdung tritt in <strong>de</strong>r Gestalt von Eigenwirklichkeit auf, und so ist ein solches Wesen in sich<br />
selbst verfälscht.<br />
C. Eigenwirkliche <strong>de</strong>nkbare Wesen: I<strong>de</strong>en, wissenschaftlich erfasst<br />
(54) „jenes selbst ..., was man nicht an<strong>de</strong>rs sehen kann als mit <strong>de</strong>m Verständnis (dianoia)“<br />
(510 e – 511 a) und zwar „von Voraussetzungen aus, nicht zum Anfang zurückschreitend“<br />
(510 b).<br />
Eigenwirkliche <strong>de</strong>nkbare Wesen sind solche eigenwirkliche Wesen, die nicht sichtbar und<br />
greifbar gegeben sind, die sich aber <strong>de</strong>m <strong>de</strong>nken<strong>de</strong>n Verstehen (§ 47) als die eigentlich und<br />
in Wahrheit wirklichen Wesen (§ 46) zeigen und erschließen. Solche Wesen heißen bei <strong>Platon</strong><br />
I<strong>de</strong>en.<br />
[] I<strong>de</strong>en sind überzeitliche (§ 45) und unsichtbare (§ 47) Wirkprinzipien (§ 46), die sich selbst in <strong>de</strong>r<br />
sichtbaren Welt Ausdruck verschaffen, in<strong>de</strong>m sie sich in sichtbaren und greifbaren Phänomenen zeitliche Wirklichkeit<br />
geben.<br />
[] Es gibt mathematische (geometrische, algebraische) I<strong>de</strong>en; qualitative I<strong>de</strong>en von physikalischen Größen<br />
wie <strong>de</strong>r Bewegung, von chemischen Elementen wie <strong>de</strong>m Wasserstoff, von biologischen Wesen wie Löwen und<br />
Menschen, von medizinischen Zustän<strong>de</strong>n wie Gesundheit und Krankheit; normative I<strong>de</strong>en wie Schönheit,<br />
Wahrheit und Gutheit; sittlich be<strong>de</strong>utsame I<strong>de</strong>en wie Liebe und Hass, Krieg und Frie<strong>de</strong>n, Gerechtigkeit und<br />
Profitmaximierung. Schließlich gibt es die universale I<strong>de</strong>e, die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s Guten (G).<br />
[] I<strong>de</strong>en stehen ihrerseits in einer Hierarchie: Höhere, komplexere I<strong>de</strong>en nehmen einfachere I<strong>de</strong>en zu ihrer<br />
eigenen Organisation in Anspruch (§ 50-b). So ist beispielsweise die I<strong>de</strong>e „Mensch“ eine komplexe Integration<br />
von geometrischen I<strong>de</strong>en (die Formen <strong>de</strong>r Organe), qualitativen I<strong>de</strong>en (die Funktionalität <strong>de</strong>r Organe), normativen<br />
I<strong>de</strong>en (die ästhetische Proportionalität <strong>de</strong>s Baus), sittlich be<strong>de</strong>utsamen I<strong>de</strong>en (Lebensführung unter <strong>de</strong>n<br />
Perspektiven von Anständigkeit und Erfüllung).<br />
[] Die I<strong>de</strong>en sind allesamt einerseits passiv, insofern sie durch an<strong>de</strong>re agieren<strong>de</strong> Subjekte, wie z. M. Menschen,<br />
in Wirksamkeit gesetzt o<strong>de</strong>r verwirklicht wer<strong>de</strong>n, so wenn z. B. ein Architekt einen Kreis zeichnet, o<strong>de</strong>r<br />
durch eine Zeugung die wirken<strong>de</strong>n Formprinzipien – die I<strong>de</strong>en – <strong>de</strong>s genetischen Prozesses in Gang gesetzt<br />
wer<strong>de</strong>n. Die geometrische I<strong>de</strong>e „Kreis“ wie auch die biologische I<strong>de</strong>e „Genom“ wird nicht von selbst wirksam,<br />
son<strong>de</strong>rn erst anlässlich o<strong>de</strong>r durch Veranlassung <strong>de</strong>r Tätigkeit <strong>de</strong>s zeichnen<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r zeugen<strong>de</strong>n Wesens. – Selbst<br />
die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s Guten, obgleich sie <strong>de</strong>r Urgrund ist, <strong>de</strong>r alles erst in das Sein bringt, hat doch auch Passivität an<br />
sich, in<strong>de</strong>m sie eigentätige Wesen setzt, von <strong>de</strong>ren Eigentätigkeit sie sich selbst – nämlich die Wirklichkeit <strong>de</strong>s<br />
Universums, in <strong>de</strong>r sie sich manifestiert – bestimmen lässt.<br />
[] Die I<strong>de</strong>en sind dann aber an<strong>de</strong>rerseits allesamt auch aktiv, insofern sie aus sich selbst heraus – d. h. als<br />
autarke Mächte – ihre Verwirklichung betreiben, so wenn die Vorstellung eines kreisförmigen Grundrisses<br />
<strong>de</strong>m Architekten ohne <strong>de</strong>ssen Zutun „einfach nicht mehr aus <strong>de</strong>m Kopf geht“; o<strong>de</strong>r wenn beim einmal gezeugten<br />
Kind die Kreisgestalt sich von selbst in <strong>de</strong>r Pupillenform <strong>de</strong>s Auges bil<strong>de</strong>t; o<strong>de</strong>r auch o<strong>de</strong>r wenn eine Melodie<br />
<strong>de</strong>n Komponisten „nicht mehr loslässt“; o<strong>de</strong>r wenn Hass und Liebe „von jeman<strong>de</strong>m Besitz ergreifen“; o<strong>de</strong>r<br />
wenn ein Krieg „ausbricht“. Solche Re<strong>de</strong>wendungen wollen nicht besagen, dass <strong>de</strong>r Mensch gar nichts zu<br />
Krieg und Frie<strong>de</strong>n, Liebe und Hass, Komponieren und Häuserentwerfen täte und sich alles das nur von selbst<br />
mache. Sie wollen nur besagen, dass Liebe und Hass, Krieg und Frie<strong>de</strong>n usw. oft nicht restlos aus <strong>de</strong>m erklärbar<br />
39
<strong>Platon</strong>: <strong>Politeia</strong><br />
sind, was <strong>de</strong>r Mensch dazu tut, son<strong>de</strong>rn dass jene Phänomene darüber hinaus eine emergente Eigengesetzlichkeit<br />
aufweisen, <strong>de</strong>ren „Regie“ offensichtlich (wenn auch die Grenzen hier schwer zu bestimmen sind) nicht<br />
mehr beim Menschen allein liegt. 74<br />
[a]<br />
[b]<br />
[c]<br />
I<strong>de</strong>en halten ihre I<strong>de</strong>ntität im höchsten Maße aus sich selbst heraus fest (50-a), <strong>de</strong>nn<br />
die spezifische Einheit eines je<strong>de</strong>n Wesens ist nicht materiell, son<strong>de</strong>rn geistig o<strong>de</strong>r i-<br />
<strong>de</strong>ell konstituiert (§ 48). Der Kreis bleibt immer ein Kreis, die kleinste Abweihung<br />
macht etwas an<strong>de</strong>res aus ihm als einen Kreis; <strong>de</strong>r Löwe bleibt immer ein Löwe, aus<br />
ihm entsteht nie ein Panther (§ 45 Zusatz). Auch wenn die Materie eines Löwen zerfällt,<br />
erhält sich die Daseinsform o<strong>de</strong>r I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s Löweseins völlig intakt weiter und tritt<br />
in an<strong>de</strong>ren Löwen immer wie<strong>de</strong>r auf. Selbst wo Wesen aussterben (wie die Dinosaurier),<br />
verschwin<strong>de</strong>t nicht die I<strong>de</strong>e, son<strong>de</strong>rn nur ihre Verwirklichung in Raum und Zeit.<br />
Der Komplexitätsgrad (§ 50-b) geistiger, verstehbarer Wesen ist höher als <strong>de</strong>rjenige<br />
von bloß sichtbaren und greifbaren Phänomenen, weil das Verstehen die in <strong>de</strong>n eigenwirklichen<br />
Dingen wirken<strong>de</strong>n I<strong>de</strong>en und <strong>de</strong>ren Gegebenheit für ein Subjekt zu höherer<br />
Einheit integriert. In kontemplativer Forschung o<strong>de</strong>r in einem tiefsinnigen Gedicht<br />
über die Natur, manifestiert sich die Wirklichkeit <strong>de</strong>r Natur <strong>de</strong>utlicher und in<br />
höherem Maße als es beim bloßen gedankenlose Hinschauen <strong>de</strong>r Fall sein könnte.<br />
Der Wirklichkeitsgrad (§ 50-c) <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>en ist höher als <strong>de</strong>rjenige <strong>de</strong>r Phänomene, in<br />
<strong>de</strong>nen sich die I<strong>de</strong>en verwirklichen, weil erst die I<strong>de</strong>en <strong>de</strong>r materiellen, stofflichen<br />
Außenseite <strong>de</strong>r Phänomene die bestimmte Be<strong>de</strong>utung und Verstehbarkeit geben. Nur<br />
weil wir <strong>de</strong>n Holzstoff als Buche, als Eiche, als Schiff o<strong>de</strong>r als Scheune sehen, haben<br />
wir i<strong>de</strong>ntifizierbare und verstehbare Sinngebil<strong>de</strong> statt amorpher Masse vor uns. I<strong>de</strong>en<br />
haben einen reicheren Wirklichkeitsgehalt (§ 50-d) o<strong>de</strong>r eine reichere Be<strong>de</strong>utsamkeitsaura<br />
als <strong>de</strong>r sichtbare und greifbare Stoff, weil sie es sind, die <strong>de</strong>m amorphen<br />
Stoff erst „be-<strong>de</strong>uten“, was er sei. Das Dasein und <strong>de</strong>r Inhalt von Be<strong>de</strong>utsamkeit liegt<br />
niemals in <strong>de</strong>r sichtbaren und greifbaren Materie als solcher, son<strong>de</strong>rn in <strong>de</strong>n sie formieren<strong>de</strong>n<br />
i<strong>de</strong>ellen Wirkprinzipien.<br />
Zusatz: Freilich hat die I<strong>de</strong>e ohne Phänomenalität – die I<strong>de</strong>e als bloß abgetrennte (§ 44) – einen geringeren<br />
Wirklichkeitsgehalt als die in <strong>de</strong>r Phänomenalität sich selbst darstellen<strong>de</strong> I<strong>de</strong>e (das ist <strong>de</strong>r<br />
wahre Kern <strong>de</strong>r aristotelischen Kritik an <strong>Platon</strong>s Lehre von <strong>de</strong>n I<strong>de</strong>en „an sich“ 75 ). Wahr bleibt aber,<br />
dass innerhalb <strong>de</strong>r sich darstellen<strong>de</strong>n I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r Dimension <strong>de</strong>r formen<strong>de</strong>n Prinzipien ein höherer Wirklichkeitsgrad<br />
zukommt als <strong>de</strong>m Stoff, <strong>de</strong>r für sich genommen formlos ist daher gar nichts darstellt, mithin<br />
keinerlei bestimmte Wirklichkeit ausdrückt, also keinerlei Wirklichkeitsgehalt besitzt (formloser<br />
Stoff ist soviel als Nichts).<br />
[d] Eigenwirkliche <strong>de</strong>nkbare Wesen verfügen über Fürsein, teils auch über Fürsichsein (§<br />
50-d).<br />
[d-a] Über Fürsein verfügen sie, insoweit sie auf die Welt wirken: Entwickelt sich irgendwo<br />
in Raum und Zeit ein Mensch, tauchen auch geometrische Formen auf wie <strong>de</strong>r<br />
Kreis in <strong>de</strong>r Pupille. Zur Geschichte <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>e „Kreis“ gehört, wann und wo in Raum<br />
und Zeit sie gemeint (wenn auch nicht rein realisiert) war, ist und sein wird. Zur<br />
Kreisi<strong>de</strong>e gehört alles in <strong>de</strong>r Welt, was etwas Kreisförmiges an sich hat – und zu <strong>de</strong>n<br />
kreisförmigen Wesen gehört wie<strong>de</strong>rum alles, womit sie in irgen<strong>de</strong>iner Hinsicht in<br />
74 <strong>Huber</strong> 2006, §§ 43 Zusätze; 44<br />
75 <strong>Huber</strong> 2006, § 30 Zusatz<br />
40
<strong>Platon</strong>: <strong>Politeia</strong><br />
Verbindung stehen. So ist schließlich alles mit allem verflochten und so spiegelt sich<br />
in <strong>de</strong>r Kreisi<strong>de</strong>e (wie in je<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren auch) genau genommen die Welt als ganze. Die<br />
Welt als ganze ist (tatsächlicher o<strong>de</strong>r möglicher) Verwirklichungsraum für eine je<strong>de</strong><br />
I<strong>de</strong>e: Eigenschaft einer je<strong>de</strong>n I<strong>de</strong>e ist das Für-sie-Sein (Fürsein) <strong>de</strong>r Welt.<br />
[d-b] Das Fürsichsein ist ein Fürsein, das sich selbst als Empfindung, Bewusstsein o-<br />
<strong>de</strong>r/und Selbstbewusstsein gegeben ist. 76 Darüber verfügen diejenigen I<strong>de</strong>en (Wirkprinzipien),<br />
welche sich als Wesen mit empfun<strong>de</strong>ner, bewusster o<strong>de</strong>r/und selbstbewusster<br />
Selbstgegebenheit verwirklichen (§ 50-d Zusätze), d. h. als Pflanzen, Tiere,<br />
Menschen, Dämonen (gute, böse) o<strong>de</strong>r Götter. Dabei ist <strong>de</strong>n Pflanzen und Tieren die<br />
Wirklichkeit nur in Bezug auf ihre eigenen Daseinszwecke gegeben, und selbst nur<br />
insoweit ihnen diese Daseinszwecke fühlbar und damit wirklich wer<strong>de</strong>n (§ 50-c Zusatz<br />
2). Der Mensch hingegen ist dasjenige Wesen, <strong>de</strong>m potentiell alle eigenen und<br />
frem<strong>de</strong>n Daseinszwecke wirklich wer<strong>de</strong>n, weil er sie verstehen und in seinem Han<strong>de</strong>ln<br />
achten kann. Für Gott schließlich ist das All <strong>de</strong>r Wesen, das universale „Reich<br />
<strong>de</strong>r Zwecke“ je<strong>de</strong>rzeit aktuell wirklich, weil er alles überschaut, versteht und erhält.<br />
Zusatz 1: Welche I<strong>de</strong>en über ihre autarke Wirksamkeit (in welcher die Welt für sie als Verwirklichungsraum<br />
ist) hinaus auch noch über Fürsichsein – also Selbstgegebenheit und, darauf basierend, freie Entscheidungsmöglichkeit<br />
über ihr Wirken – besitzen, können wir nicht sicher wissen. Wenn es einem Architekten einfällt,<br />
<strong>de</strong>m Grundriss seines nächsten Hauses die Form eines Kreises zu geben, kann man fragen, ob hier nur <strong>de</strong>r Architekt<br />
es war, <strong>de</strong>r mit seiner Einfallsgabe aktiv die ihrerseits ganz passive I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s Kreises aufgegriffen hat,<br />
o<strong>de</strong>r ob nicht auch <strong>de</strong>r Kreis seinerseits aktiv war und sich aus eigenem Entschluss in <strong>de</strong>n Geist <strong>de</strong>s Architekten<br />
gedrängt hat, um sich so die Möglichkeit einer neuen Realisierung zu geben. Da die Einfallsgabe ja bekanntlich<br />
etwas ist, das wir nicht genau kontrollieren und steuern können, scheinen in ihr tatsächlich noch an<strong>de</strong>re Aktivitäten<br />
als nur unsere eigenen tätig zu sein. Nicht nur ergreifen wir I<strong>de</strong>en, son<strong>de</strong>rn die I<strong>de</strong>en können uns ergreifen.<br />
Dennoch hat, soweit mir bekannt ist, kein Volk bisher <strong>de</strong>n Kreis als Gottheit – d. h. hieße eben als selbstgegebene<br />
und selber bestimmen<strong>de</strong> Macht – verehrt o<strong>de</strong>r gefürchtet. An<strong>de</strong>rs bei Liebe, Krieg und Frie<strong>de</strong>n: Insoweit<br />
diese unberechenbar sind und menschliche „Regie“ übersteigen, wur<strong>de</strong>n sie als Gottheiten erfahren (Amor,<br />
Mars, Concordia) und man trat mit ihnen in Kommunikation, in<strong>de</strong>m man sie kultisch anrief.<br />
Zusatz 2: Artefakte sind keine Bezugspunkte für das Fürsein <strong>de</strong>r Welt, <strong>de</strong>nn sie sind keine echten, selbstständigen<br />
Wirklichkeiten. Nicht die vom Menschen entworfene „I<strong>de</strong>e“ Auto erwirkt stets neue Autos, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r<br />
Daseinszweck <strong>de</strong>s Menschen, ein im Raum bewegliches und bewegen<strong>de</strong>s Wesen zu sein. Daher ist die „I<strong>de</strong>e“<br />
eines Autos keine echte I<strong>de</strong>e, <strong>de</strong>nn nicht sie ist tätig, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Mensch bzw. sein Daseinszweck durch sie.<br />
Der Daseinszweck „bewegliches Wesen“ hingegen ist ein wirken<strong>de</strong>s Prinzip, welches sich von selbst in Tieren<br />
und Menschen immer wie<strong>de</strong>r Dasein erwirkt.<br />
Zusatz 3: <strong>Platon</strong> sagt, die sichtbaren Wesen <strong>de</strong>r Pflanzen, Tiere und Menschen seien „Bil<strong>de</strong>r“ für die sich<br />
<strong>de</strong>m Verstehen erschließen<strong>de</strong>n I<strong>de</strong>en (510 b). Die I<strong>de</strong>e „Mensch“ zeigt sich, macht sich sichtbar in <strong>de</strong>n vielerlei<br />
Menschen. Der wirkliche Mensch erlebt seine sichtbare Gestalt als Darstellung o<strong>de</strong>r als Phänomen eines Innenaspekts,<br />
<strong>de</strong>r nur noumenal zugänglich ist: Mein Ich und mein Selbst ist nicht in <strong>de</strong>r Phänomenalität greifbar<br />
(sonst könnte ein an<strong>de</strong>rer mein Ich ergreifen wie meine Hand), son<strong>de</strong>rn nur im Selbsterleben, das nur als verstehen<strong>de</strong><br />
noumenale Sphäre gegeben ist. So ist meine äußere Wirklichkeit die Darstellung, das „Bild“ meiner<br />
inneren Wirklichkeit. Ähnlich ist je<strong>de</strong>r Krieg (natürlich nur, was seine emergente Eigengesetzlichkeit betrifft)<br />
„Bild“ o<strong>de</strong>r Selbstdarstellung <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>e, die als autarke Macht in ihm wirkt (was das menschliche Zutun zum<br />
Krieg betrifft, so ist <strong>de</strong>r Krieg Selbstdarstellung <strong>de</strong>s Menschen, <strong>de</strong>r in ihm wirkt o<strong>de</strong>r sich äußert).<br />
(55) Die I<strong>de</strong>en bil<strong>de</strong>n ontologisch eine einheitliche Gruppe, eben die autark wirksamen<br />
Mächte, die sich nur <strong>de</strong>m Verstehen erschließen und so die Be<strong>de</strong>utung (<strong>de</strong>n Sinn) <strong>de</strong>r sichtbaren<br />
Phänomene ausmachen. Insofern ist die Gruppe <strong>de</strong>s „Denkbaren“, ontologisch gesehen,<br />
nur eine Gruppe, und die Linie in <strong>Platon</strong>s Gleichnis dürfte daher nur einen einzigen Abschnitt<br />
<strong>de</strong>s Denkbaren aufweisen. Tatsächlich unterschei<strong>de</strong>t <strong>Platon</strong> aber zwei Bereiche <strong>de</strong>s Denkba-<br />
76 <strong>Huber</strong> 2006, §§ 39; 47<br />
41
<strong>Platon</strong>: <strong>Politeia</strong><br />
ren. Dieser Unterschied ist jedoch kein ontologischer, son<strong>de</strong>rn ein epistemologischer o<strong>de</strong>r<br />
gnoseologischer. Die I<strong>de</strong>en wer<strong>de</strong>n nämlich von <strong>de</strong>r menschlichen Erkenntnis auf zweifache<br />
Weise erfasst: in ausschnitthafter Perspektive (Wissenschaften) und in synoptischer Gesamtschau<br />
(Dialektik).<br />
(56) Die Wissenschaften gehen jeweils von bestimmten I<strong>de</strong>en aus. So untersucht etwa die<br />
Physik die äußeren, mechanischen Eigenschaften <strong>de</strong>r Materie (Druck und Stoß), während die<br />
Chemie die inneren Wechselwirkungen materieller Stoffe untersucht (Stoffumwandlungen)<br />
und die Biologie schließlich die Eigenschaften <strong>de</strong>s Lebendigen thematisiert. So liegen <strong>de</strong>n<br />
Disziplinen jeweils an<strong>de</strong>re I<strong>de</strong>en zugrun<strong>de</strong>: Die I<strong>de</strong>en von Druck, Wi<strong>de</strong>rstand und Bewegung<br />
in <strong>de</strong>r Physik, die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s spezifischen Zusammenhalts von Atomverbän<strong>de</strong>n 77 in <strong>de</strong>r Chemie,<br />
die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s Lebens in <strong>de</strong>r Biologie. Diese I<strong>de</strong>en haben sukzessive einen höheren Komplexitätsgrad<br />
(§ 50-b), d. h. die höhere I<strong>de</strong>e besitzt emergente Eigenschaften, die sich auf <strong>de</strong>r<br />
Grundlage <strong>de</strong>r niedrigeren I<strong>de</strong>en manifestieren. Die Wissenschaften stoßen auf ihre I<strong>de</strong>en<br />
durch die Beschreibung <strong>de</strong>r Regelmäßigkeit <strong>de</strong>s Auftretens <strong>de</strong>r für die jeweilige Disziplin<br />
spezifischen Phänomenabfolgen: Wissenschaften sagen, dass „dieser bestimmte Zustand <strong>de</strong>r<br />
Materie jenen an<strong>de</strong>rn herbeiführt“ 78 . Was <strong>de</strong>n bestimmten Zustand herbeiführt, ist die spezifische<br />
Kraft, die autark wirksam in <strong>de</strong>n Phänomenen am Werk ist. Diese Kraft ist von geistiger<br />
Art, d. h. sie ist I<strong>de</strong>e (§ 48). So führt die autark wirken<strong>de</strong> i<strong>de</strong>elle Größe „Schwerkraft“<br />
<strong>de</strong>n Zustand <strong>de</strong>s Fallens beim geworfenen Stein herbei. Dagegen führt die autark wirken<strong>de</strong><br />
i<strong>de</strong>elle Größe „Elektrizität“ <strong>de</strong>n Zustand <strong>de</strong>s Erglühens beim Kohlefa<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Lampe herbei.<br />
Elektrizität und Schwerkraft sind i<strong>de</strong>elle Größen, weil sie keine Materiestücke, son<strong>de</strong>rn<br />
die Art <strong>de</strong>s Verhaltens von Materiestücken sind.<br />
Zusatz: Die Verbindung von Elementarteilchen durch die Gravitation ist physikalisch. Die Verbindung von<br />
Elementarteichen in einem bestimmten Zahlenverhältnis erweckt in ihnen neben <strong>de</strong>n physikalischen Eigenschaften<br />
weitere Eigenschaften, nämlich chemische. 79 Erreichen die chemischen Verbindungen eine gewisse Komplexität<br />
– eine rein quantitative Mehrverflechtung <strong>de</strong>r qualitativ selbigen Stoffe – zeigen sich an ihnen plötzlich<br />
ganz neue Qualitäten, nämlich die biologischen Eigenschaften <strong>de</strong>s Lebens.<br />
(57) Die konstituieren<strong>de</strong>n I<strong>de</strong>en <strong>de</strong>r Wissenschaften – d. h. die Gegenstän<strong>de</strong> und Kräfte,<br />
welche das spezifische Gebiet <strong>de</strong>r betreffen<strong>de</strong>n Wissenschaft ausmachen – wer<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>n<br />
Wissenschaften aus <strong>de</strong>r Erfahrung aufgenommen. Erforscht und expliziert wird ihr Inhalt<br />
jedoch nur insoweit, als er sich in <strong>de</strong>n Phänomenen zeigt, für die sich die betreffen<strong>de</strong> Disziplin<br />
interessiert. Diejenigen inhaltlichen Implikationen und „Voraussetzungen“ (Text § 54)<br />
<strong>de</strong>r wissenschaftlichen I<strong>de</strong>en, die keinen unmittelbar rekonstruierbaren Bezug zu <strong>de</strong>n die jeweilige<br />
Wissenschaft interessieren<strong>de</strong>n Phänomenen haben, wer<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>n Wissenschaften<br />
nicht untersucht. <strong>Platon</strong> beschreibt sehr treffend, dass die Wissenschaften, „nach<strong>de</strong>m sie die<br />
als wissend zugrun<strong>de</strong>gelegt haben, keine Rechenschaft weiter darüber we<strong>de</strong>r sich noch an<strong>de</strong>ren<br />
glauben geben zu müssen, als sei dies schon allen <strong>de</strong>utlich, son<strong>de</strong>rn hiervon beginnend<br />
gleich das Weitere ausführen und dann folgerechterweise bei <strong>de</strong>m anlangen, auf <strong>de</strong>ssen Untersuchung<br />
sie ausgegangen waren“ (510 cd).<br />
Zusatz: Von <strong>de</strong>r Wissenschaft gilt: „In<strong>de</strong>ssen thut sie im Grun<strong>de</strong> nichts weiter, als daß sie die gesetzmäßige<br />
Ordnung, nach <strong>de</strong>r die Zustän<strong>de</strong> in Raum und Zeit eintreten, nachweist und | für alle Fälle lehrt, welche Erschei-<br />
77 Brockhaus: Enzyklopädie, Bd. IV ( 19 Mannheim: Brockhaus 1987), 445 (Artikel „chemische Bindung“)<br />
78 Schopenhauer 1859, 147 (Die Welt als Wille und Vorstellung, Band I, § 17)<br />
79 Atomarten unterschei<strong>de</strong>n sich durch die jeweils spezifische Anzahl positiv gela<strong>de</strong>ner Protonen in ihrem Kern<br />
und <strong>de</strong>r zahlgleichen Menge negativ gela<strong>de</strong>ner Elektronen in <strong>de</strong>r Hülle (Brockhaus: Enzyklopädie, Bd. II,<br />
19 Mannheim: Brockhaus 1987, 270)<br />
42
<strong>Platon</strong>: <strong>Politeia</strong><br />
nung zu dieser Zeit, an diesem Orte, nothwendig eintreten muß: sie bestimmt ihnen also ihre Stelle in Zeit und<br />
Raum, nach einem Gesetz, <strong>de</strong>ssen bestimmten Inhalt die Erfahrung gelehrt hat, <strong>de</strong>ssen allgemeine Form und<br />
Nothwendigkeit jedoch unabhängig von ihr uns bewußt ist. Ueber das innere Wesen irgend einer jener Erscheinungen<br />
erhalten wir dadurch aber nicht <strong>de</strong>n min<strong>de</strong>sten Aufschluß: dieses wird NATURKRAFT genannt und liegt<br />
außerhalb <strong>de</strong>s Gebietes <strong>de</strong>r ätiologischen Erklärung, welche die unwan<strong>de</strong>lbare Konstanz <strong>de</strong>s Eintritts <strong>de</strong>r Aeußerung<br />
einer solchen Kraft, so oft die ihr bekannten Bedingungen dazu da sind, NATURGESETZ nennt. Dieses Naturgesetz,<br />
diese Bedingungen, dieser Eintritt, in Bezug auf bestimmten Ort zu bestimmter Zeit, sind aber Alles,<br />
was sie weiß und je wissen kann. Die Kraft selbst, die sich äußert, das innere Wesen <strong>de</strong>r nach jenen Gesetzen<br />
eintreten<strong>de</strong>n Erscheinungen, bleibt ihr ewig ein Geheimniß, ein ganz Frem<strong>de</strong>s und Unbekanntes, sowohl bei <strong>de</strong>r<br />
einfachsten wie bei <strong>de</strong>r komplicirtesten Erscheinung. Denn, wiewohl die Aetiologie bis jetzt ihren Zweck am<br />
vollkommensten in <strong>de</strong>r Mechanik, am unvollkommensten in <strong>de</strong>r Physiologie erreicht hat; so ist <strong>de</strong>nnoch die<br />
Kraft, vermöge welcher ein Stein zur Er<strong>de</strong> fällt, o<strong>de</strong>r ein Körper <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>rn fortstößt, ihrem innern Wesen nach,<br />
uns nicht min<strong>de</strong>r fremd und geheimnißvoll, als die, welche die Bewegungen und das Wachstum eines Thieres<br />
hervorbringt.“ 80<br />
D. Eigenwirkliche <strong>de</strong>nkbare Wesen: I<strong>de</strong>en, philosophisch erfasst<br />
(58) „was die Vernunft unmittelbar ergreift, in<strong>de</strong>m sie mittels <strong>de</strong>s dialektischen Vermögens<br />
Voraussetzungen macht, nicht als Anfänge, son<strong>de</strong>rn wahrhaft Voraussetzungen als Einschritt<br />
und Anlauf, damit sie, bis zum Aufhören aller Voraussetzungen <strong>de</strong>n Anfang von allem gelangend,<br />
diesen ergreife und so wie<strong>de</strong>rum, sich an alles haltend, was mit jenem zusammenhängt,<br />
zum En<strong>de</strong> hinabsteige“ (511 b).<br />
So fragt die Physik zwar nach <strong>de</strong>r quantenmechanischen Natur, wie sie sich in <strong>de</strong>n entsprechen<strong>de</strong>n<br />
Phänomenen zeigt, aber sie fragt nicht danach, wie die allgemeine quantenmechanische<br />
Natur etwas von ihr ganz Verschie<strong>de</strong>nes wie chemische und biologische lebendige Natur<br />
o<strong>de</strong>r gar sittliche Freiheitssubjekte emergiere. Auch die weitere Frage, was Emergenz ist und<br />
wie sie angesichts <strong>de</strong>s allgemeinen Prinzips, dass aus Nichts nichts zu entstehen vermöge,<br />
überhaupt als möglich gedacht wer<strong>de</strong>n könne, ist keine Frage <strong>de</strong>r Physik. Derartige Grundlagenfragen<br />
überschreiten die jeweilige wissenschaftliche Disziplin und ihre konstitutiven I-<br />
<strong>de</strong>en auf diejenigen von <strong>de</strong>ren Grundlagen hin, die sich nicht unmittelbar in <strong>de</strong>n Phänomenen<br />
manifestieren. Derartige Grundlagenfragen gehören vielmehr <strong>de</strong>m Gebiet <strong>de</strong>r Philosophie an,<br />
und sie wer<strong>de</strong>n nicht durch die jeweiligen spezifischen Metho<strong>de</strong>n einer Wissenschaft behan<strong>de</strong>lt,<br />
son<strong>de</strong>rn durch dialektische Untersuchung.<br />
(59) Was ein einzelnes Stück eines Puzzle-Bil<strong>de</strong>s be<strong>de</strong>utet, kann man nur beurteilen, wenn<br />
man eine wenigstens ungefähre Vorstellung vom ganzen Bild hat. Die Dialektik ist das<br />
Durchmustern 81 nicht nur bestimmter Wirklichkeitsausschnitte (wie in <strong>de</strong>n Wissenschaften),<br />
son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>s Ganzen alles Wirklichen. Zwar verfügen wir über keinen klaren und abgeschlossenen<br />
Begriff <strong>de</strong>s Ganzen, weil wir vieles nur ungenau und noch mehr gar nicht wissen, aber<br />
wir wissen, dass es mehr gibt, als wir wissen. Wenn wir nun irgen<strong>de</strong>ine Sache nicht nur wie<br />
die Wissenschaften unter einer bestimmten Perspektive betrachten, son<strong>de</strong>rn versuchen, alles<br />
zu berücksichtigen und zu einem Gesamtbild zusammenzuschauen, was man von dieser Sache<br />
überhaupt wissen kann, wenn wir also das ganze Spektrum ansehen,<br />
[a]<br />
[b]<br />
was verschie<strong>de</strong>ne Wissenschaften,<br />
die Kunst (Musik, bil<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Kunst, Dichtung),<br />
80 Schopenhauer 1859, 147f (Die Welt als Wille und Vorstellung, Band I, § 17); vgl. 178; 180 (§ 24).<br />
81 <strong>Huber</strong> 2003, 115f<br />
43
<strong>Platon</strong>: <strong>Politeia</strong><br />
[c]<br />
[d]<br />
[e]<br />
die Religion,<br />
die lebensweltliche Erfahrung über diese Sache lehren,<br />
und wenn wir schließlich noch die unbekannten Sphären <strong>de</strong>ssen, was wir über die<br />
Sache alles nicht wissen können, in Rechnung stellen,<br />
dann haben wir einen integralen Begriff <strong>de</strong>r Sache – wenigstens so integral, wie ihn endliche<br />
Wesen erreichen können. Dann ist nichts mehr von <strong>de</strong>m, was die Sache ausmacht, unberücksichtigt<br />
und unbedacht, d. h. wie <strong>Platon</strong> sagt, es sind alle „Voraussetzungen“ (hypotheseis)<br />
aufgehoben (533 c). Somit liegt die Dialektik – als die Zusammenschau möglichst aller Be<strong>de</strong>utungskontexte<br />
einer Sache (in ihr selbst und im innerhalb <strong>de</strong>s ganzen Universums) – „über<br />
allen an<strong>de</strong>ren Kenntnissen“ (534 e), die ja immer nur vereinzelt und ausschnitthaft sind.<br />
E. Die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s Guten<br />
(60) Die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s Guten wird innerhalb <strong>de</strong>s Liniengleichnisses nicht eigens thematisiert.<br />
Wir wissen von ihr aber aus <strong>de</strong>m Sonnengleichnis (509 b) und wer<strong>de</strong>n es im Höhlengleichnis<br />
wie<strong>de</strong>r so fin<strong>de</strong>n (516 bc), dass sie dasjenige eigenwirkliche Wesen ist, welches allen an<strong>de</strong>ren<br />
Wesen ihre jeweilige I<strong>de</strong>ntität und die Kraft, sie festzuhalten, erst gibt, und welches außer<strong>de</strong>m<br />
das All <strong>de</strong>r Wesen so ordnet, dass eine gegenstrebige Mannigfaltigkeit ohne wechselseitige<br />
Auslöschung möglich ist. Sind die an<strong>de</strong>ren eigenwirklichen Wesen in ihrem Eigenwirken<br />
nur relativ selbstständig, weil sie zwar aus sich heraus wirken, aber die Fähigkeit zu diesem<br />
Wirken nicht wie<strong>de</strong>rum aus sich selbst heraus sich erwirkt bzw. gegeben haben, ist die I<strong>de</strong>e<br />
<strong>de</strong>s Guten absolut selbstständig, weil sie ihr Eigenwirken ganz nur aus sich selbst heraus sich<br />
erwirkt bzw. gegeben hat, <strong>de</strong>nn sie ist <strong>de</strong>r universale schöpferischen Urgrund, aus <strong>de</strong>m alles<br />
an<strong>de</strong>re die Güter Dasein und Ordnung erhält (zur Gutheit <strong>de</strong>s Daseins § 39 Zusätze 1 und 3).<br />
Weil die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s Guten (als <strong>de</strong>r logos allen Seins) je<strong>de</strong>m Wesen seine spezifische Gutheit im<br />
Ganzen aller Güter gibt, drückt ein je<strong>de</strong>s Wesen das Ganze in einer bestimmten Perspektive<br />
aus. Um ein einzelnes Wesen in seiner Be<strong>de</strong>utung – d. h. in seinem Sinn, in seinem spezifischen<br />
Beitrag zum Reichtum <strong>de</strong>s Kosmos, in seiner Gutheit – wirklich zu verstehen, muss<br />
man daher seine Bezüge zu allen an<strong>de</strong>ren Wesen und <strong>de</strong>ren rechtes Zusammenspiel verstehen.<br />
Mit an<strong>de</strong>ren Worten: Ein einzelnes Wesen läst sich angemessen nur verstehen im Lichte<br />
<strong>de</strong>s Gesamtguten, also im Lichte <strong>de</strong>r das All und alles Einzelne schaffen<strong>de</strong>n und ordnen<strong>de</strong>n<br />
I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s Gesamtguten.<br />
[a]<br />
[b]<br />
[c]<br />
[d]<br />
Das Gesamtgute erhält sich selbst in seiner I<strong>de</strong>ntität, weil es nichts an<strong>de</strong>res außer sich<br />
hat, für welches es gut wäre, son<strong>de</strong>rn weil es (als das letzte o<strong>de</strong>r oberste Gute) dasjenige<br />
ist, das um seiner selbst willen gewollt wird (§ 50-a).<br />
Das Gesamtgute hat <strong>de</strong>n höchsten Komplexitätsgrad (§ 50-b), weil es als universale<br />
Ordnung schlechthin alles in sich schließt.<br />
Das Gesamtgute hat <strong>de</strong>n reichsten Wirklichkeitsgehalt (§ 50-c) o<strong>de</strong>r die reichste Be<strong>de</strong>utsamkeitsaura,<br />
weil es <strong>de</strong>r Inbegriff aller Be<strong>de</strong>utungsgeflechte ist.<br />
Das Gesamtgute ist fürsichseiend (§ 50-d), weil sonst überhaupt kein Fürsichsein (wie<br />
animalische Empfindung und menschliches Selbstbewusstsein) in <strong>de</strong>r Welt möglich<br />
wäre: wenn nämlich kein Fürsichsein im Urgrund wäre, wo sollte es bei <strong>de</strong>n Geschöpfen<br />
dann herkommen, woher sollte es evolvieren können? Wenn Wissen <strong>de</strong>m<br />
44
<strong>Platon</strong>: <strong>Politeia</strong><br />
Sein – <strong>de</strong>r konstanten Stabilität von I<strong>de</strong>ntitäten – zugrun<strong>de</strong>liegt, dann muss es in Bezug<br />
auf das Universum ein All-logos sein.<br />
Höhlengleichnis: Weltverstehen – Der Bildungsgang <strong>de</strong>r Person 82<br />
(61) Die Seinsstufen im Höhlengleichnis sind die folgen<strong>de</strong>n und entsprechen auf folgen<strong>de</strong><br />
Weise <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>s Liniengleichnisses. Dabei muss man Folgen<strong>de</strong>s beachten. Das Höhlengleichnis<br />
hat zwei Dimensionen: die Höhle und die Welt im Sonnenlicht. Dies sind bei<strong>de</strong>s<br />
Bezirke <strong>de</strong>s Sichtbaren. Davon entspricht aber nur <strong>de</strong>r erste Bezirk (die Höhle) <strong>de</strong>m Sichtbaren<br />
im Liniengleichnis, während <strong>de</strong>r zweite Bezirk (die Welt im Sonnenlicht) das Denkbare<br />
<strong>de</strong>s Liniengleichnisses versinnbildlicht. Schematisch:<br />
Liniengleichnis:<br />
Sichtbares:<br />
A.1 Schatten, Spiegelungen<br />
A.2 Bil<strong>de</strong>r, Artefakte<br />
Höhlengleichnis:<br />
Höhle:<br />
Höhlenschatten (515 a)<br />
B. Eigenwirklich sichtbare Wesen („sprechen<strong>de</strong>“) Höhlenbil<strong>de</strong>r, Höhlenartefakte (514 c – 515 a)<br />
(„jene Dinge ..., wovon er vorher die Schatten sah“ [515 d])<br />
Denkbares:<br />
C./D. Eigenwirklich <strong>de</strong>nkbare Wesen<br />
Welt außerhalb:<br />
Die ganze sichtbare Welt im Licht <strong>de</strong>r Sonne (515 e – 516 b):<br />
C. Wissenschaften Sonnenweltschatten, Sonnenweltbil<strong>de</strong>r<br />
(„Schatten ..., hernach die Bil<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Menschen und <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Dinge im Wasser“ [516 a])<br />
D. Philosophie Eigenwirklich sichtbare Sonnenweltwesen<br />
(„sie selbst“ [516 a])<br />
E. I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s Guten Sonne manifestiert sich in <strong>de</strong>n Dingen<br />
(„die ... alles ordnet ... und ... die Ursache ist“ [516 bc])<br />
A. Die Schatten (515 a) an <strong>de</strong>r Höhlenwand entsprechen <strong>de</strong>n Schatten, Spiegelungen,<br />
Bil<strong>de</strong>rn und Artefakten <strong>de</strong>s Liniengleichnisses. Im Höhlengleichnis liegt die Betonung<br />
aber nicht (wie im Liniengleichnis) auf <strong>de</strong>r ontologischen Feinglie<strong>de</strong>rung selbst<br />
innerhalb <strong>de</strong>r Bil<strong>de</strong>rsphäre noch, son<strong>de</strong>rn es geht vor allem um <strong>de</strong>n Kontrast <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n<br />
Hauptgebiete Sichtbares versus Denkbares, und hierbei dann beson<strong>de</strong>rs um die<br />
Unterscheidungen im Denkbaren.<br />
B. Die Bil<strong>de</strong>r und Artefakte in <strong>de</strong>r Höhle von welchen die Schatten stammen (514 c –<br />
515 a), entsprechen <strong>de</strong>n eigenwirklichen sichtbaren Wesen <strong>de</strong>s Liniengleichnisses.<br />
Es sind – innerhalb <strong>de</strong>s Sichtbaren – die Urbil<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r vorigen Schatten.<br />
C./D. Die gesamte sichtbare Welt außerhalb <strong>de</strong>r Höhle im Sonnenlicht entspricht <strong>de</strong>n eigenwirklich<br />
<strong>de</strong>nkbaren Wesen <strong>de</strong>s Liniengleichnisses, <strong>de</strong>n I<strong>de</strong>en. Denn Schatten,<br />
Bil<strong>de</strong>r und eigenwirkliche Wesen <strong>de</strong>r Sonnenlichtwelt sind die „I<strong>de</strong>en“, d. h. die<br />
(mehr o<strong>de</strong>r weniger angemessen erfassten) Urbil<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r eigenwirklich sichtbaren Wesen<br />
(also <strong>de</strong>r Bil<strong>de</strong>r und Artefakte innerhalb), sowie <strong>de</strong>ren Abbil<strong>de</strong>r (also <strong>de</strong>r Schatten<br />
innerhalb <strong>de</strong>r Höhle).<br />
C. Dabei stehen die Sonnenweltschatten und Sonnenweltbil<strong>de</strong>r für die noch unzurei-<br />
82 <strong>Huber</strong> 2006, §§ 148-175<br />
45
<strong>Platon</strong>: <strong>Politeia</strong><br />
chend – nämlich erst wissenschaftlich und noch nicht philosophisch (dialektisch) –<br />
erfassten I<strong>de</strong>en. Hier wer<strong>de</strong>n die I<strong>de</strong>en noch isoliert für sich als einzelne, nicht aber im<br />
Lichte <strong>de</strong>s Ganzen thematisiert, d. h. sie wer<strong>de</strong>n als so und so beschaffene einfach<br />
vorausgesetzt, ohne dass die Konstitution je<strong>de</strong>r einzelnen durch das Ganze aller I<strong>de</strong>en<br />
schon reflektiert wür<strong>de</strong>, das doch die Voraussetzung ist für das Dasein und das Verstehens<br />
je<strong>de</strong>r einzelnen I<strong>de</strong>e. In dieser Vergessenheit <strong>de</strong>r Voraussetzungen entspricht<br />
<strong>de</strong>r einzelne Sonnelichtschatten bzw. das einzelne Sonnenlichtbild <strong>de</strong>r Sphäre <strong>de</strong>r<br />
Wissenschaft im Liniengleichnis.<br />
D. Die Wesen selbst stehen für die philosophisch, d. h. im Lichte <strong>de</strong>s Ganzen erfassten<br />
I<strong>de</strong>en <strong>de</strong>s Liniengleichnisses. Das Betrachten z. B. <strong>de</strong>s Löwen selbst (<strong>de</strong>r I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s<br />
Löwen, nicht bloß diesen o<strong>de</strong>r jenen empirischen Löwen) ist ein Sinnbild für eine Betrachtung,<br />
die <strong>de</strong>n gesamten Daseinskreis <strong>de</strong>s Löwen, seine Verflechtung in alle Kontexte<br />
(sein Selbstsein, seine Ästhetik, seine Symbolik, seine Herkunft, seine ökologischen<br />
Funktionen, seine Darstellung in <strong>de</strong>r Kunst, seine zu achten<strong>de</strong> Wür<strong>de</strong> als Geschöpf,<br />
das nicht von Gna<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Menschen lebt) erfasst und synoptisch zusammenschaut.<br />
Der „Löwe selbst“ ist <strong>de</strong>r Löwe, wie er nicht nur aus dieser o<strong>de</strong>r jener Perspektive,<br />
unter dieser o<strong>de</strong>r jener Metho<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn insgesamt und in <strong>de</strong>r ganzen Ordnung<br />
all <strong>de</strong>r Momente erfasst, die das Löwesein im Gesamtkontext <strong>de</strong>s Seins überhaupt<br />
ausmachen. Erst wenn <strong>de</strong>r Blick das Einzelne sieht, dieses aber nicht isoliert für<br />
sich, son<strong>de</strong>rn im Horizont <strong>de</strong>s „Himmels“ (516 ab) erfasst, kann erkannt wer<strong>de</strong>n, dass<br />
alle Dinge in einem einzigen Licht zusammenhängen und durch dasselbe Licht je<strong>de</strong>s<br />
einzelne als es selbst und alle in ihrem Zusammenhang verstehbar wer<strong>de</strong>n.<br />
E. Hängen die vielen Einzelwesen in <strong>de</strong>m einen Licht zusammen, so ist es <strong>de</strong>r eine Urgrund<br />
dieses Lichts – die Sonne selbst –, welche sich selbst und die Fülle ihrer Kraft<br />
in <strong>de</strong>r Welt <strong>de</strong>r einzelnen Wesen und Dinge manifestiert. Die Sonne <strong>de</strong>s Höhlengleichnisses<br />
entspricht <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s Guten im Liniengleichnis.<br />
Erst D. und E. zusammen in ihrer gleichzeitigen Gegenläufigkeit machen die philosophische<br />
Gesamtschau <strong>de</strong>r Welt aus: Das Einzelne führt zum Urgrund <strong>de</strong>s Ganzen, <strong>de</strong>r Urgrund<br />
<strong>de</strong>s Ganzen zeigt sich als Welt einzelner und zusammenhängen<strong>de</strong>r Dinge – zu einem Ganzen<br />
freilich, das we<strong>de</strong>r vollkommen <strong>de</strong>utlich noch material o<strong>de</strong>r hinsichtlich <strong>de</strong>r Mannigfaltigkeit<br />
seiner Perspektiven abgeschlossen gegeben sein kann.<br />
Die Weisen <strong>de</strong>s Weltverstehens 83<br />
(62) Das Höhlengleichnis kennt drei Weisen <strong>de</strong>s Weltverstehens: Die Verstehensweise in<br />
<strong>de</strong>r Höhle, die Verstehensweise <strong>de</strong>s Aufstiegs und schließlich die Verstehensweise <strong>de</strong>s offenen<br />
Raumes <strong>de</strong>r im Sonnenlicht gelegenen Welt im Licht außerhalb <strong>de</strong>r Höhle.<br />
[a]<br />
Die Höhlenschatten repräsentieren die gesamte Wirklichkeit, wenngleich un<strong>de</strong>utlich<br />
und unreflektiert. In <strong>de</strong>n Schatten sind die Bil<strong>de</strong>r und die sie tragen<strong>de</strong>n Menschen<br />
(und an<strong>de</strong>ren natürlichen Wesen) am Werk, und die natürlichen Wesen (samt <strong>de</strong>n artefaktebil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />
Menschen) existieren und wirken nur vermöge <strong>de</strong>r Sonne. So sind in<br />
<strong>de</strong>n Schatten implizit alle Bereiche <strong>de</strong>s Wirklichen präsent.<br />
Die Höhle ist <strong>de</strong>r Bereich <strong>de</strong>s intuitiven unmittelbares Sinnverstehens. Hierbei han<strong>de</strong>lt<br />
es sich um die menschliche Alltagspraxis, die auf unreflektierte Ziele fixiert ist<br />
83 <strong>Huber</strong> 2006, §§ 156-175<br />
46
<strong>Platon</strong>: <strong>Politeia</strong><br />
(die Köpfe <strong>de</strong>r Höhleninsassen sind angebun<strong>de</strong>n) und <strong>de</strong>ren Welt- und Menschenverständnis<br />
von Selbstverständlichkeiten und Erfahrungen geleitet ist, die nur schattenhaft<br />
präsent sind, d. h. ohne tiefergehen<strong>de</strong>s Nach<strong>de</strong>nken und ohne umfassen<strong>de</strong>re Ausarbeitung<br />
im Geiste wirken.<br />
[b]<br />
Auch die Höhlenbil<strong>de</strong>r und Höhlenartefakte (als die eigenwirklichen natürlichen Wesen)<br />
repräsentieren wie<strong>de</strong>rum die gesamte Wirklichkeit, <strong>de</strong>nn sie sind die Ursachen<br />
<strong>de</strong>r Schatten und in ihnen realisieren sich die Dinge aus <strong>de</strong>r Welt außerhalb <strong>de</strong>r Höhle<br />
und letztlich die Sonne selbst.<br />
Der Aufstieg ist <strong>de</strong>r Bereich <strong>de</strong>s diskursiv vermittelten Sinnverstehens:<br />
[b-a] Dieses reicht auf <strong>de</strong>r einen Seite bis in die Sphäre <strong>de</strong>s Alltagsverstehens und<br />
damit in das Höhlenlicht hinab, <strong>de</strong>nn schon das Alltagsverstehen sieht selbst<br />
im trüben Schein <strong>de</strong>s Höhlenfeuers da und dort genauer zu und „durchläuft“ so<br />
Vermittlungsmomente, statt einfach ein unmittelbares Gewahrsein zu bleiben.<br />
[b-b] Auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite reicht das diskursive Verstehen in die Welt <strong>de</strong>s Sonnenlichts<br />
hinauf, <strong>de</strong>nn auch Wissenschaften und Alltagsprofessionalitäten sind<br />
durch Diskursivität gekennzeichnet, durch eine Diskursivität, die gegenüber<br />
<strong>de</strong>r alltagsweltlichen konsequenter und reflektierter vorgeht. Wissenschaften<br />
und Alltagsprofessionalitäten tauchen Leben und Welt in ein Licht, das für je<strong>de</strong>n<br />
einzelnen Zweck, <strong>de</strong>r im Leben <strong>de</strong>s Einzelnen und <strong>de</strong>s Staates eine Rolle<br />
spielt, ausreicht, <strong>de</strong>nnoch aber keine umfassen<strong>de</strong> Einsicht und Klarheit darüber<br />
bringt, wie alles mit allem zusammenhängt. Wissenschaft ist ein intellektuelles<br />
Licht, das durch praktische Interessen und inhaltliche wie methodische Blickverengungen<br />
gebrochen wur<strong>de</strong>, genau wie das visuelle Sonnenlicht an einem<br />
einzelnen Gegenstand nicht in seiner gesamten Lichtfülle und in seinem ganzen<br />
Farbenspektrum sichtbar wer<strong>de</strong>n kann. So ist die Welt <strong>de</strong>s Sonnenlichts<br />
hier noch eine unvollständige Welt, weil sie zwar das Licht <strong>de</strong>r Sonne, nicht<br />
aber diese selbst sieht. Wer ohne Kenntnis <strong>de</strong>r Sonne das Sonnenlicht sieht,<br />
<strong>de</strong>ssen Licht erkennt seine Voraussetzungen nicht.<br />
[c]<br />
Erst wenn auch <strong>de</strong>r große Gesamthorizont <strong>de</strong>s Himmels noch in <strong>de</strong>n Blick genommen<br />
wird, innerhalb <strong>de</strong>ssen alles Einzelne zu stehen kommt und in seinem Zusammenhang<br />
mit allem an<strong>de</strong>ren bestimmt ist, und wenn darin dann auch die Sonne selbst noch in<br />
das Blickfeld tritt, haben wir die vollständige Welt im Licht erreicht (mit <strong>de</strong>r Sonne<br />
selbst als betrachtetem Gegenstand, nicht nur als selbst unbemerktem Lichtgeber a<br />
tergo). Auch diese vollständige Sonnenwelt repräsentiert wie<strong>de</strong>rum die gesamte Wirklichkeit,<br />
d. h. auch die Höhlenwelt, <strong>de</strong>nn die Sonne ist Ursache und Grund von allem,<br />
was ist, und es sind Wesen wie sie im Sonnenlicht leben (Menschen), die – auf welche<br />
Weise auch immer – in die Höhle kamen und dort leben und Dinge produzieren, welche<br />
jene untersten Schatten werfen.<br />
[c-a] Die vollständige Sonnenlichtwelt ist zum einen wie<strong>de</strong>rum <strong>de</strong>r Bereich <strong>de</strong>s wissenschaftlichen<br />
Verstehens, jedoch nur insofern dieses seine Gegenstän<strong>de</strong><br />
nicht mehr einfach diskursiv durchläuft (wie in b-b), son<strong>de</strong>rn sie im Lichte<br />
<strong>de</strong>rselben Sonne eine unter <strong>de</strong>m einen alles umfassen<strong>de</strong>n Himmel zusammenhängen<strong>de</strong><br />
Welt bil<strong>de</strong>n sieht.<br />
[c-b] Zum an<strong>de</strong>ren ist die Sonnenlichtwelt außerhalb <strong>de</strong>r Höhle <strong>de</strong>r Bereich <strong>de</strong>s spe-<br />
47
<strong>Platon</strong>: <strong>Politeia</strong><br />
kulativ begreifen<strong>de</strong>n Sinnverstehens, welches bewusst und explizit alles Einzelne<br />
im Lichte <strong>de</strong>s unabschließbaren Ganzen zu verstehen trachtet, dieses<br />
Ganze als es selbst betrachtend, und auch als sich im Einzelnen manifestierend.<br />
So führt das spekulative Begreifen – die Philosophie – zu einer Schau,<br />
welche die Dinge je für sich selbst und alle in ihrem Zusammenhang in ruhiges,<br />
von keinem instrumentellen Interesse getrübtes, klares und helles Licht<br />
taucht, wie die Sonne am Himmel.<br />
Zehntes Buch<br />
Mythos von <strong>de</strong>r Lebenswahl<br />
Hier nicht ausgeführt. Dazu <strong>Huber</strong> 2006, §§ 235-249<br />
48
<strong>Platon</strong>: <strong>Politeia</strong><br />
Schriften:<br />
Aristoteles: Die Nikomachische Ethik. Griechisch-<strong>de</strong>utsch (Übersetzt von Olof Gigon, Düsseldorf, Zürich: Artemis<br />
und Winkler 2001 [Sammlung Tusculum])<br />
Goethe, Johann Wolfgang: Werke, XVIII Bän<strong>de</strong> (Artemis-Ausgabe, München: dtv 1977)<br />
Höffe, Otfried: <strong>Platon</strong>. <strong>Politeia</strong> (Berlin: Aka<strong>de</strong>mie Verlag 2005)<br />
Homann, Karl: Individualisierung: Verfall <strong>de</strong>r Moral? Zum ökonomischen Fundament aller Moral. In: Aus<br />
Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament (16. Mai 1997) 13-21<br />
Homann, Karl: Die Be<strong>de</strong>utung von Dilemmastrukturen für die Ethik. In: Sönke Abelt u. a. (Hg): „... was es<br />
be<strong>de</strong>utet, verletzbarer Mensch zu sein“. Erziehungswissenschaft im Gespräch mit Theologie, Philosophie und<br />
Gesellschaftstheorie. Helmut Peukert zum 65. Geburtstag (Mainz: Matthias Grünewald 2000) 256-266<br />
Horn, Christoph / Rapp, Christof (Hg): Wörterbuch <strong>de</strong>r antiken Philosophie (München: Beck 2002)<br />
<strong>Huber</strong>, Herbert: Die Gottesi<strong>de</strong>e bei Immanuel Kant. In: Theologie und Philosophie, 55. Jg. 1980, 1-43 und 230-<br />
249<br />
<strong>Huber</strong>, Herbert: Menschen, Märchen, Mythen. Sinnbil<strong>de</strong>r vom Leben (Asendorf: Mut-Verlag 1990)<br />
<strong>Huber</strong>, Herbert: Sittlichkeit und Sinn. Ein Beitrag zu <strong>de</strong>n Grundlagen sittlicher Bildung (Donauwörth: Auer<br />
1996-a)<br />
<strong>Huber</strong>, Herbert: Ethische Themen in Märchen und Sagen (Donauwörth: Auer 1996-b)<br />
<strong>Huber</strong>, Herbert: Philosophische Exempel. Ausgewählte und erklärte Texte ( = Philosophie und Ethik. Eine<br />
Hinführung, Band II, Donauwörth: Auer 2003)<br />
<strong>Huber</strong> Herbert: Zu <strong>de</strong>n Formulierungen <strong>de</strong>s kategorischen Imperativs (Türkheim 2004, unter www.huber<strong>tuerkheim</strong>.<strong>de</strong>,<br />
hier „Philosophie und Ethik“)<br />
<strong>Huber</strong>, Herbert: Philosophieren – wie und wozu? ( = Philosophie und Ethik. Eine Hinführung, Band I, Donauwörth:<br />
Auer 2006)<br />
Kant, Immanuel: Werke. Aka<strong>de</strong>mie Textausgabe, IX B<strong>de</strong>. (Nachdruck <strong>de</strong>r Ausgabe Berlin 1902 und 1910,<br />
Berlin: <strong>de</strong> Gruyter 1968)<br />
Kersting, Wolfgang: <strong>Platon</strong>s „Staat“ (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1999)<br />
Kobusch, Theo / Mojsisch, Burkhard (Hg): <strong>Platon</strong>. Seine Dialoge in <strong>de</strong>r Sicht neuer Forschungen (Darmstadt:<br />
Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1996)<br />
Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, XV B<strong>de</strong>. (dtv-<strong>de</strong>-Gruyter, München 1980)<br />
Quante, Michael: Einführung in die Allgemeine Ethik (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2003)<br />
Schopenhauer, Arthur: Die Qwelt als Wille und Vorstellung, Band I (1859). Werke in fünf Bän<strong>de</strong>n. Nach <strong>de</strong>n<br />
Ausgaben letzter Hand hg. von Ludger Lütkehaus, Band I (Zürich: Haffmans Verlag 1988)<br />
Spaemann, Robert: Die Zwei<strong>de</strong>utigkeit <strong>de</strong>s Glücks. Vortrag am 5. 12. 2005-a an <strong>de</strong>r Technischen Universität<br />
München (http://www.cvl-a.tum.<strong>de</strong>/Download/Robert%20Spaemann.pdf)<br />
Spaemann, Robert: Die Philosophenkönige. In: Höffe (Hg.) 2005, 161-177<br />
Wieland, Wolfgang: <strong>Platon</strong> und die Formen <strong>de</strong>s Wissens (Göttingen: Van<strong>de</strong>nhoeck 1982)<br />
Wieland, Wolfgang: Das sokratische Erbe – Laches. In: Kobusch / Mojsisch (Hg) 1996, 5-24<br />
49