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Richard Dawkins<br />
Das egoistische Gen<br />
science<br />
sachbuch<br />
<strong>ro</strong><br />
<strong>ro</strong><br />
<strong>ro</strong>
Das Buch<br />
In <strong>de</strong>r Titelgeschichte »Revolutionärer Evolutionist« <strong>de</strong>s amerikanischen<br />
Computer-culture-Magazins Wired (August 1995)<br />
heißt es: »Vor zwei Jahrzehnten präsentierte Dawkins ein radikales<br />
Evolutionsmo<strong>de</strong>ll in seinem Buch ›Das egoistische Gen‹,<br />
einer beunruhigend überzeugen<strong>de</strong>n Untersuchung, die darauf<br />
hinausläuft, daß leben<strong>de</strong> Organismen im wesentlichen leibliche<br />
Vehikel darstellen, ausgeliefert <strong>de</strong>m Diktat eigennütziger<br />
Gene, die auf ihre Replikation und Ausbreitung versessen sind.<br />
Wie schon vor einem Jahrhun<strong>de</strong>rt <strong>de</strong>r britische Philosoph und<br />
Romancier Samuel Butler erkannt hat, daß die Henne nichts<br />
an<strong>de</strong>res ist als das Mittel <strong>de</strong>s Eies, neue Eier hervorzubringen,<br />
ist Dawkins <strong>de</strong>r Auffassung, wir seien nichts an<strong>de</strong>res als<br />
Ausprägungen unserer egoistischen Gene in ihrem Bestreben,<br />
immer mehr egoistische Gene in die Welt zu setzen. Doch<br />
damit nicht genug: Er schlägt vor, die Gene ihrerseits als<br />
Ausprägungen eines raffinierten Co<strong>de</strong>s zu betrachten, <strong>de</strong>r<br />
die Welt um ihn her zum Zwecke seiner eigenen Rep<strong>ro</strong>duktion<br />
manipuliert. Diese Vorstellungen sind verblüffend<br />
und auch schockierend – aber vor allem haben sie sich als<br />
erstaunlich einflußreich erwiesen. Wenn Sie über die Zukunft<br />
<strong>de</strong>r natürlichen und künstlichen Evolution mitre<strong>de</strong>n wollen,<br />
müssen Sie Richard Dawkins lesen!«<br />
Der Autor<br />
Richard Dawkins, Jahrgang 1941, geboren<br />
und aufgewachsen in Ostafrika, Schüler<br />
<strong>de</strong>s Biologen und Nobelpreisträgers Niko<br />
Tinbergen, P<strong>ro</strong>fessor <strong>de</strong>r Zoologie am New<br />
College <strong>de</strong>r Oxford University, zählt zu <strong>de</strong>n<br />
be<strong>de</strong>utendsten mo<strong>de</strong>rnen Evolutionstheoretikern.
Richard Dawkins<br />
Das egoistische Gen<br />
Überarbeitete und erweiterte Neuausgabe<br />
Mit einem Vorwort von Wolfgang Wickler<br />
Deutsch von Karin <strong>de</strong> Sousa Ferreira<br />
<strong>ro</strong><br />
<strong>ro</strong><br />
<strong>ro</strong><br />
Rowohlt
o<strong>ro</strong><strong>ro</strong> science<br />
Lektorat Jens Petersen<br />
Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH,<br />
Reinbek bei Hamburg, Mai 1996<br />
Die Originalausgabe erschien 1976 unter <strong>de</strong>m Titel<br />
«The Selfish Gene» im Verlag Oxford University Press<br />
Copyright © 1976 by Oxford University Press (1. Auflage)<br />
Copyright © 1989, 1994 by Richard Dawkins (2. Auflage)<br />
Die <strong>de</strong>utsche Erstausgabe erschien 1978 im Springer-Verlag,<br />
Berlin, Hei<strong>de</strong>lberg, New York<br />
Die überarbeitete und erweiterte Neuausgabe erschien 1994<br />
bei Spektrum Aka<strong>de</strong>mischer Verlag GmbH, Hei<strong>de</strong>lberg, Berlin,<br />
Oxford<br />
Copyright © 1994 by Spektrum Aka<strong>de</strong>mischer Verlag GmbH<br />
Umschlaggestaltung Barbara Hanke (Foto: The Image Bank/<br />
Jerry Lofa<strong>ro</strong>)<br />
Alle <strong>de</strong>utschen Rechte vorbehalten<br />
Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck<br />
Printed in Germany<br />
2490-ISBN 3 499196093
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 5<br />
Vorwort zur <strong>de</strong>utschen Ausgabe<br />
Die Biologie ist zur Jahrhun<strong>de</strong>rtwissenschaft gewor<strong>de</strong>n. Genetik,<br />
Molekularbiologie und Evolutionstheorie haben uns einen<br />
neuen Verstehenshorizont erschlossen, <strong>de</strong>r gleichermaßen<br />
be<strong>de</strong>utsam ist für Biologie wie für Medizin und Philosophie,<br />
für das Verständnis und <strong>de</strong>n Umgang mit <strong>de</strong>r Natur wie für<br />
Schöpfungsvorstellungen. Dazu hat Richard Dawkins eine entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong><br />
neue I<strong>de</strong>e hinreißend formuliert. Sein sachlich<br />
überraschen<strong>de</strong>s, genial gedachtes und rasant geschriebenes<br />
Buch hat ihm jedoch nicht nur Beifalls-, son<strong>de</strong>rn auch<br />
Entrüstungsstürme eingebracht. Ein Grund für letztere liegt<br />
wohl darin, daß er einen Paradigmenwechsel für Laien<br />
verständlich erläuterte, noch bevor viele Fachleute ihn begriffen<br />
hatten. Dawkins tut das, in<strong>de</strong>m er die Theorien mit markanten<br />
Beispielen illustriert und nicht umständlich versucht,<br />
ihre Richtigkeit zu beweisen.<br />
Worum geht es? Noch zu Darwins Lebzeiten hatte sich in<br />
eu<strong>ro</strong>päische Denkgewohnheiten die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r Arterhaltung fest<br />
eingenistet. Es schien das Natürlichste von <strong>de</strong>r Welt, daß alle<br />
Lebewesen danach strebten, ihre Art zu erhalten. Schon im<br />
13. Jahrhun<strong>de</strong>rt hatte Thomas von Aquin die Arterhaltung<br />
zu <strong>de</strong>n grundlegen<strong>de</strong>n natürlichen Neigungen gezählt. Daraus<br />
abgeleitet wur<strong>de</strong> ein Recht <strong>de</strong>r Lebewesen auf Erhaltung<br />
ihrer jeweiligen Art. Auf solches Naturrecht baut die philosophische<br />
Ethik bis heute: Deutschen Juristen gilt die<br />
Sicherung <strong>de</strong>s menschlichen Überlebens als das Fundamentale<br />
<strong>de</strong>s biologischen Existierens. Der Biologe Hubert Markl<br />
koppelt die Menschenwür<strong>de</strong> mit <strong>de</strong>r Verantwortung für die<br />
Zukunftsfähigkeit <strong>de</strong>r menschlichen Spezies. Immanuel Kant<br />
meinte, daß ohne <strong>de</strong>n Menschen die ganze Schöpfung „umsonst<br />
und ohne Endzweck seyn wür<strong>de</strong>“, und entsprechend formulierte<br />
Hans Jonas als obersten Imperativ, „daß eine Menschheit<br />
sei“. Diese Ansicht aber scheint höchst unnatürlich.<br />
Nach Darwins Tod dauerte es fünfzig Jahre, bis konsequent<br />
<strong>de</strong>nken<strong>de</strong> Naturwissenschaftler darauf kamen, daß die lange
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 6<br />
<strong>Zeit</strong> beliebte Frage nach <strong>de</strong>m Arterhaltungswert eines Organs<br />
o<strong>de</strong>r Verhaltens zu keinen biologischen Einsichten führt, daß<br />
Arterhaltung kein natürliches Prinzip, son<strong>de</strong>rn eine falsche<br />
menschliche Interpretation ist. Mit dieser Erkenntnis begann<br />
eine kopernikanische Kehrt<strong>wen</strong>dung zurück zu <strong>de</strong>m, was<br />
Darwin wirklich gemeint hatte. Die Wen<strong>de</strong> geschah in zwei<br />
Schritten. Der erste Schritt folgte aus <strong>de</strong>r Einsicht, daß Arten<br />
sich wan<strong>de</strong>ln (Artenwan<strong>de</strong>l war Darwins Thema!), weil Individuen<br />
erblich verschie<strong>de</strong>n und dabei auch verschie<strong>de</strong>n erfolgreich<br />
in <strong>de</strong>r Fortpflanzung sind. Auf <strong>de</strong>m unterschiedlichen<br />
Erfolg von Individuen basiert Evolution. Wer Evolution – und<br />
damit die eigene Herkunft – verstehen will, <strong>de</strong>r muß individuelle<br />
Erfolgsunterschie<strong>de</strong> samt ihren Grün<strong>de</strong>n und Folgen untersuchen.<br />
Daß jeweils die erfolgreicheren Varianten schließlich<br />
das Bild <strong>de</strong>r Art bestimmen, ist – wie man dann bemerkt –<br />
keine Garantie dafür, daß auch die Art insgesamt damit besser<br />
fährt o<strong>de</strong>r erhalten bleibt; sie kann an <strong>de</strong>n erfolgreichen Varianten<br />
sogar zugrun<strong>de</strong> gehen.<br />
Dieser erste Wen<strong>de</strong>schritt – vorbereitet von R. A. Fisher 1930<br />
und J. B. S. Haidane 1955, massiv p<strong>ro</strong>pagiert von G. C. Williams<br />
1966 – schob das Augenmerk weg vom Wohl und Wehe <strong>de</strong>r Art<br />
hin zum Wohl und Wehe <strong>de</strong>s Individuums. Der zweite Schritt<br />
–vorbereitet von W. D. Hamilton 1964 und J. Maynard Smith<br />
1972, massiv p<strong>ro</strong>pagiert im vorliegen<strong>de</strong>n Buch von R. Dawkins<br />
– beruht auf Erkenntnissen <strong>de</strong>r Genetik, die Darwin nur erahnen<br />
konnte, und verschiebt nun das Augenmerk noch einmal,<br />
weg vom Wohl und Wehe <strong>de</strong>s Individuums hin zum Wohl und<br />
Wehe <strong>de</strong>r Gene. Die sind es ja letztlich, und nicht die Individuen,<br />
die vervielfacht und von Generation zu Generation weitergegeben<br />
wer<strong>de</strong>n. Gene überleben die Körper, in <strong>de</strong>nen<br />
sie hausen, um viele Millionen Jahre; zur Fortpflanzung vermehren<br />
die Individuen nicht sich selbst, son<strong>de</strong>rn ihre Erbanlagen,<br />
aus <strong>de</strong>nen dann an<strong>de</strong>re, neue Individuen entstehen.<br />
Was die Individuen im Leben tun, ist – je nach Art <strong>de</strong>s Lebewesens<br />
mehr o<strong>de</strong>r <strong>wen</strong>iger – von <strong>de</strong>n Erbanlagen p<strong>ro</strong>grammiert.<br />
Zwangsläufige Folge unter natürlicher Selektion ist dann ein<br />
Trend zu P<strong>ro</strong>grammen, die sich mit Hilfe entsprechen<strong>de</strong>n Ver-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 7<br />
haltens durch das Individuum maximal vervielfachen. Und das<br />
ist etwas an<strong>de</strong>res als etwa ein Trend, <strong>de</strong>r hinführte zu Gesundheit,<br />
langem Leben o<strong>de</strong>r Glück dieses Individuums o<strong>de</strong>r zum<br />
Wohlergehen einer Art beziehungsweise Gruppe.<br />
Das hat Dawkins in suggestiven Bil<strong>de</strong>rn verständlich<br />
gemacht. Und obwohl er dazu manche Zusammenhänge radikal<br />
vereinfacht, hat dieser Ansatz inzwischen kreatives Weiter<strong>de</strong>nken<br />
p<strong>ro</strong>voziert. Zu P<strong>ro</strong>test p<strong>ro</strong>voziert fühlten sich hingegen<br />
manche Fachvertreter, sei es, weil Dawkins sich nicht auf eine<br />
chemische Gen<strong>de</strong>finition festlegt, sei es, weil man nur ein personifiziertes<br />
Gen „egoistisch“ nennen dürfte. Tatsächlich ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>t<br />
Dawkins viele Begriffe aus <strong>de</strong>r beschreiben<strong>de</strong>n Alltagssprache,<br />
die ein bildliches Verstehen för<strong>de</strong>rn, die aber nicht<br />
beliebig wörtlich zu nehmen sind. (Auch ein Arzt sagt ja wohl,<br />
jemand sei an geb<strong>ro</strong>chenem Herzen gestorben, ohne damit<br />
materielle Bruchstellen in diesem Organ zu meinen.)<br />
Freilich, wer nach Kritikpunkten sucht, kann an diesem<br />
Buch einen weitgehen<strong>de</strong>n Verzicht auf die Grundlagen <strong>de</strong>r<br />
Populationsgenetik bemängeln. Freilich ist es strenggenommen<br />
unzulässig, so zu tun, als vollzöge sich Evolution nur<br />
jeweils an einem Gen. Freilich ist es gefährlich, <strong>de</strong>n Leser glauben<br />
zu lassen, er wür<strong>de</strong> mit <strong>de</strong>r Lektüre dieses Buches zu<br />
einem Fachmann, zumal die fast charismatische Darstellungsweise<br />
diesem Glauben eher för<strong>de</strong>rlich ist. Das Buch ist kein<br />
Referenzwerk zur genetischen Theorie <strong>de</strong>r Evolution. Bezeichnen<strong>de</strong>rweise<br />
richtet sich die laute Kritik aber <strong>wen</strong>iger gegen<br />
die hier geschil<strong>de</strong>rten Fakten als gegen die daraus zu ziehen<strong>de</strong>n<br />
Folgerungen. Diese Kritik erscheint eher wie ein Ausweichmanöver<br />
vor <strong>de</strong>n Konsequenzen, die man sich einhan<strong>de</strong>lt,<br />
falls man die Grundargumente ernst nimmt. Das wi<strong>de</strong>rfuhr<br />
schon E. O. Wilson, als er seine (inzwischen weltweit<br />
akzeptierte) Soziobiologie vorstellte und dafür vom Publikum<br />
mit Wassergüssen bedacht wur<strong>de</strong>. Dabei sind Wilsons soziobiologische<br />
Thesen noch vergleichsweise harmlos; die I<strong>de</strong>e von<br />
<strong>de</strong>n evolutionär stabilen Strategien, durch die gewissermaßen<br />
auch das Böse unter Naturschutz gestellt wird, kommt darin<br />
noch nicht vor. Dawkins’ Ansatz ist viel beunruhigen<strong>de</strong>r. Und
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 8<br />
er schil<strong>de</strong>rt nicht Science-fiction, wie mancher hofft, son<strong>de</strong>rn<br />
Realität.<br />
Zu Grabe getragen wird zunächst mit vehementer Begleitmusik<br />
die verbreitete Wunschvorstellung einer guten, in<br />
sich harmonischen Mutter Natur. Dawkins schil<strong>de</strong>rt die<br />
Zwangsläufigkeiten von Kooperation und Konflikten, und zwar<br />
allgemein zwischen <strong>de</strong>n Individuen, <strong>de</strong>n Geschlechtern, <strong>de</strong>n<br />
Generationen (zum Beispiel zwischen Mutter und Kind), aber<br />
auch zwischen Genen und kulturellen Verhaltensp<strong>ro</strong>grammen.<br />
Sein Buch han<strong>de</strong>lt auch von <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren P<strong>ro</strong>grammen, die<br />
nicht in <strong>de</strong>n Genen, son<strong>de</strong>rn in <strong>de</strong>n Hirnen gespeichert und<br />
vervielfältigt wer<strong>de</strong>n; die nicht über die Keimzellen, son<strong>de</strong>rn<br />
durch Tradition in neue Trägerindividuen gelangen; die sich<br />
nicht durch Zeugung, son<strong>de</strong>rn durch Überzeugung ausbreiten;<br />
und die dazu ein ganz an<strong>de</strong>res Verhalten vom Individuum<br />
brauchen, als es <strong>de</strong>n genetischen P<strong>ro</strong>grammen für ihre Ausbreitung<br />
nützlich ist. Kein Wun<strong>de</strong>r also, daß Kultur nicht<br />
immer die Fortpflanzung begünstigt. Je<strong>de</strong>s falsche, also nicht<br />
<strong>de</strong>r P<strong>ro</strong>grammausbreitung dienliche Verhalten wird automatisch<br />
eliminiert; als Evolution wirkt sich das aus, <strong>wen</strong>n das<br />
erfolgreichere P<strong>ro</strong>gramm an künftige Generationen weitergegeben<br />
wer<strong>de</strong>n kann und dort unter bestimmten Umweltbedingungen<br />
entsprechend erfolgversprechen<strong>de</strong>s Verhalten entwikkelt.<br />
Wie das P<strong>ro</strong>gramm zur nächsten Generation gelangt, ist<br />
prinzipiell egal. Natürliche Selektion ist auch unter tradierten<br />
P<strong>ro</strong>grammen wirksam, dort auf <strong>de</strong>r Ebene <strong>de</strong>r „Meme“, wie<br />
Dawkins die <strong>de</strong>n Genen analogen Einheiten kultureller P<strong>ro</strong>gramme<br />
nennt. Ergebnis ihrer Evolution ist schließlich auch<br />
das Kantsche moralische Gesetz in uns. Wir wer<strong>de</strong>n uns an<br />
das Bild gewöhnen müssen, das <strong>de</strong>n einzelnen Menschen zeigt<br />
als ausführen<strong>de</strong>s Organ für mehrere, oft gegeneinan<strong>de</strong>r arbeiten<strong>de</strong><br />
Verhaltensp<strong>ro</strong>gramme, die es heute <strong>de</strong>swegen noch gibt,<br />
weil sie in <strong>de</strong>r Vergangenheit ihre Träger entsprechend erfolgreich<br />
p<strong>ro</strong>grammiert haben. Solche P<strong>ro</strong>gramme richten sich<br />
zuweilen gegen uralte genetische P<strong>ro</strong>gramme, sie sind, wie<br />
die Geburtenbeschränkung, „unnatürlich“. Ebenso unnatürlich<br />
ist <strong>de</strong>r Wohlfahrtsstaat, <strong>de</strong>r in seiner Evolution instabil ist,
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 9<br />
weil er (nahezu naturnot<strong>wen</strong>dig) von egoistischen Ten<strong>de</strong>nzen<br />
<strong>de</strong>r Individuen ausgebeutet und unterlaufen wird. Daß wir<br />
unser G<strong>ro</strong>ßhirn <strong>de</strong>m Nutzen verdanken könnten, <strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>m<br />
Übertreten <strong>de</strong>r Zehn Gebote erwächst, ist eine von <strong>de</strong>n unbequemen<br />
Denkmöglichkeiten, die hier angeboten sind.<br />
Die elegante Übersetzung dieses an- und aufregen<strong>de</strong>n<br />
Buches läßt auch die <strong>de</strong>utsche Öffentlichkeit an einer Erkenntnissuche<br />
teilnehmen, die sich bislang weitgehend außerhalb<br />
von Deutschland abgespielt hat. Nach <strong>de</strong>r Vorgehensweise<br />
haben sich dabei, wie geistreich spötteln<strong>de</strong> Insi<strong>de</strong>r meinen,<br />
zwei Lager gebil<strong>de</strong>t: In Cambridge versucht man es nie mit<br />
einer einfachen Erklärung, <strong>wen</strong>n es noch eine kompliziertere<br />
gibt, während die Oxford-Taktik darin besteht, testbare Prinzipien<br />
zu mei<strong>de</strong>n, solange man nicht-falsifizierbare zur Hand<br />
hat. Obwohl Richard Dawkins in Oxford schreibt, hat er bislang<br />
weitgehend recht behalten.<br />
PROF. DR. WOLFGANG WICKLER<br />
Seewiesen, Februar 1994
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 10<br />
Vorwort zur zweiten Auflage<br />
In <strong>de</strong>n rund zehn Jahren seit Veröffentlichung <strong>de</strong>r ersten Auflage<br />
dieses Buches hat seine zentrale Botschaft Eingang in<br />
die meisten Lehrbücher gefun<strong>de</strong>n. Das ist paradox, allerdings<br />
nicht auf <strong>de</strong>n ersten Blick. Das egoistische Gen gehört nicht<br />
zu <strong>de</strong>n Büchern, die bei ihrem Erscheinen als revolutionär<br />
geschmäht wer<strong>de</strong>n und dann stetig an Anhängern gewinnen,<br />
bis sie schließlich so anerkannt sind, daß man sich fragt,<br />
worum seinerzeit bloß soviel Aufhebens gemacht wur<strong>de</strong>. Ganz<br />
im Gegenteil. Von Anfang an waren die Rezensionen erfreulich<br />
günstig, und Das egoistische Gen war zunächst nicht umstritten.<br />
Erst im Laufe <strong>de</strong>r Jahre geriet es in die Diskussion,<br />
und heute wird es von weiten Kreisen als ein Werk von radikalem<br />
Extremismus angesehen. Doch während genau <strong>de</strong>rselben<br />
Jahre, in <strong>de</strong>nen das Buch zunehmend in <strong>de</strong>n Ruf <strong>de</strong>r<br />
Radikalität geriet, erschien sein tatsächlicher Inhalt immer<br />
<strong>wen</strong>iger extrem, immer mehr allgemein akzeptiertem Gedankengut<br />
zu entsprechen.<br />
Die Theorie <strong>de</strong>s egoistischen Gens ist Darwins Theorie, auf<br />
eine Weise ausgedrückt, die Darwin nicht gewählt hat, <strong>de</strong>ren<br />
Eignung er aber, so meine ich, unverzüglich erkennen und<br />
begeistert aufnehmen wür<strong>de</strong>. In <strong>de</strong>r Tat ergibt sie sich logisch<br />
aus <strong>de</strong>m orthodoxen Neo-Darwinismus, geht aber von einem<br />
neuartigen Blickwinkel aus. Statt sich auf <strong>de</strong>n individuellen<br />
Organismus zu konzentrieren, sieht sie die Natur mit <strong>de</strong>n<br />
Augen <strong>de</strong>s Gens. Die Theorie <strong>de</strong>s egoistischen Gens ist eine<br />
an<strong>de</strong>re Art <strong>de</strong>r Betrachtung, nicht eine an<strong>de</strong>re Theorie. Auf<br />
<strong>de</strong>n ersten Seiten meines Buches The Exten<strong>de</strong>d Phenotype habe<br />
ich dies mit Hilfe <strong>de</strong>s sogenannten Necker-Würfels ver<strong>de</strong>utlicht.<br />
Dies ist ein zweidimensionales Muster, das mit Druckerschwärze<br />
auf Papier gezeichnet ist, wir sehen es jedoch als<br />
einen transparenten, dreidimensionalen Würfel. Man starre<br />
es ein paar Sekun<strong>de</strong>n lang an, und man wird plötzlich einen<br />
an<strong>de</strong>rs ausgerichteten Würfel wahrnehmen. Starrt man weiter,
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 11<br />
so springt er wie<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n urspünglichen Würfel zurück. Bei<strong>de</strong><br />
Würfel sind gleich gut mit <strong>de</strong>n zweidimensionalen Daten auf<br />
unserer Retina zu vereinbaren, so daß unser Gehirn bereitwillig<br />
von einem zum an<strong>de</strong>ren wechselt. Keiner <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n ist<br />
korrekter als <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re. Auch die natürliche Auslese kann<br />
man auf zwei Arten betrachten: aus <strong>de</strong>m Blickwinkel <strong>de</strong>s Gens<br />
und aus <strong>de</strong>m <strong>de</strong>s Individuums. Richtig verstan<strong>de</strong>n sind bei<strong>de</strong><br />
gleichwertig, zwei Ansichten <strong>de</strong>rselben Wahrheit. Man kann<br />
von einer zur an<strong>de</strong>ren springen, es bleibt <strong>de</strong>rselbe Neo-Darwinismus.<br />
Heute meine ich, daß dieser Vergleich zu vorsichtig war.<br />
Durch eine neuartige Betrachtungsweise bestehen<strong>de</strong>r Theorien<br />
o<strong>de</strong>r bekannter Tatsachen kann ein Wissenschaftler häufig<br />
Wichtigeres leisten als durch die Entwicklung einer neuen<br />
Theorie o<strong>de</strong>r die Ent<strong>de</strong>ckung neuer Fakten. Das Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>s<br />
Necker-Würfels ist insofern irreführend, als es <strong>de</strong>n Gedanken<br />
nahelegt, die bei<strong>de</strong>n Sichtweisen seien gleich gut. Zwar ist<br />
<strong>de</strong>r Vergleich teilweise treffend: (Blick-)Winkel lassen sich im<br />
Gegensatz zu Theorien nicht durch Experimente überprüfen;<br />
wir können nicht auf unsere vertrauten Kriterien <strong>de</strong>s Verifizierens<br />
und Falsifizierens zurückgreifen. Aber eine Verän<strong>de</strong>rung<br />
<strong>de</strong>r Sichtweise kann im besten Falle etwas Wertvolleres ergeben<br />
als eine Theorie. Sie kann die Pforte aufstoßen zu einem<br />
völlig neuen Klima <strong>de</strong>s Denkens, in <strong>de</strong>m viele aufregen<strong>de</strong> und<br />
überprüfbare Theorien geboren und bis dahin unvorstellbare<br />
Fakten aufge<strong>de</strong>ckt wer<strong>de</strong>n. Das Beispiel <strong>de</strong>s Necker-Würfels<br />
trifft hier ganz und gar daneben. Zwar kann es <strong>de</strong>n Gedanken<br />
eines Umschwungs <strong>de</strong>r Betrachtungsweise wie<strong>de</strong>rgeben, aber
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 12<br />
nicht <strong>de</strong>n Wert eines solchen Umschwungs. Worüber wir hier<br />
sprechen, ist nicht ein Wechsel zu einer gleichwertigen Sicht,<br />
son<strong>de</strong>rn eher – im Extremfall – eine Transfiguration.<br />
Ich beeile mich hinzuzufügen, daß ich einen solchen Status<br />
keineswegs für meine eigenen beschei<strong>de</strong>nen Beiträge beanspruche.<br />
Dennoch ist dies die Art von Grund, weshalb ich es<br />
vorziehe, keine scharfe Trennungslinie zwischen <strong>de</strong>r Wissenschaft<br />
und ihrer „Popularisierung“ zu ziehen. Gedanken allgemein<br />
verständlich zu erklären, die bisher nur in <strong>de</strong>r Fachliteratur<br />
Ausdruck gefun<strong>de</strong>n haben, ist eine schwierige Kunst.<br />
Sie verlangt eine einsichtsvolle neue Handhabung <strong>de</strong>r Sprache<br />
und aufschlußreiche Beispiele. Wenn wir die Neuheit von<br />
Sprache und bildhaftem Vergleich weit genug treiben, können<br />
wir zu einer neuen Betrachtungsweise gelangen. Und eine<br />
neue Art, die Dinge zu sehen, kann, wie ich gera<strong>de</strong> ausgeführt<br />
habe, ein eigenständiger schöpferischer Beitrag zur Wissenschaft<br />
sein. Einstein selbst hatte ein ausgeprägtes Talent, Wissenschaft<br />
zu popularisieren, und ich habe <strong>de</strong>n Verdacht, daß<br />
seine plastischen Vergleiche nicht nur uns an<strong>de</strong>ren halfen.<br />
Waren sie nicht auch Nahrung für sein schöpferisches Genie?<br />
Die Sicht <strong>de</strong>s Darwinismus mit <strong>de</strong>n Augen <strong>de</strong>s Gens ist in<br />
<strong>de</strong>n Schriften von R. A. Fisher und <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren g<strong>ro</strong>ßen Pionieren<br />
<strong>de</strong>s Neo-Darwinismus in <strong>de</strong>n frühen dreißiger Jahren<br />
implizit enthalten, explizit dargestellt wur<strong>de</strong> sie jedoch von W.<br />
D. Hamilton und G. C. Williams in <strong>de</strong>n sechziger Jahren. Für<br />
mich hatten die Erkenntnisse dieser Wissenschaftler visionäre<br />
Qualität. Aber ich fand, daß sie ihnen zu lakonisch, nicht lauthals<br />
genug, Ausdruck verliehen. Meiner Überzeugung nach<br />
konnte eine ausgebaute und weiterentwickelte Version dafür<br />
sorgen, daß sich alles, was man über das Leben wußte, richtig<br />
zusammenfügte, sowohl im Herzen als auch im Gehirn. Ich<br />
wollte ein Buch schreiben, in <strong>de</strong>m die Evolution mit <strong>de</strong>n Augen<br />
<strong>de</strong>s Gens gesehen wur<strong>de</strong>. Die Beispiele darin sollten vor allem<br />
aus <strong>de</strong>m Bereich <strong>de</strong>s Sozialverhaltens stammen und dazu beitragen,<br />
<strong>de</strong>n unbewußten Einfluß <strong>de</strong>r Gruppenselektionstheorie<br />
zu korrigieren, <strong>de</strong>r zu jener <strong>Zeit</strong> <strong>de</strong>n populären Darwinismus<br />
durchdrang. Ich begann das Buch im Jahre 1972, als
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 13<br />
St<strong>ro</strong>mausfälle meine Forschungsarbeiten im Labor unterbrachen.<br />
Unglücklicherweise hörten die St<strong>ro</strong>munterbrechungen<br />
schon nach zwei Kapiteln auf, und ich ließ das P<strong>ro</strong>jekt ruhen,<br />
bis ich 1975 in <strong>de</strong>n Genuß eines lehrfreien Forschungsjahres<br />
kam. Inzwischen war die Theorie erweitert wor<strong>de</strong>n, vor allem<br />
von John Maynard Smith und Robert Trivers. Heute sehe ich,<br />
daß dies eine jener geheimnisvollen <strong>Zeit</strong>en war, in <strong>de</strong>nen neue<br />
I<strong>de</strong>en in <strong>de</strong>r Luft liegen. Ich schrieb Das egoistische Gen in<br />
einem Zustand, <strong>de</strong>r fieberhafter Erregung ähnelte.<br />
Als Oxford University Press mit <strong>de</strong>m Vorschlag an mich herantrat,<br />
eine zweite Auflage herauszubringen, bestand <strong>de</strong>r Verlag<br />
darauf, daß eine herkömmliche, umfassen<strong>de</strong> Überarbeitung<br />
Seite für Seite nicht angebracht sei. Es gibt einige Bücher, die<br />
vom Konzept her offensichtlich dazu bestimmt sind, eine Reihe<br />
von Auflagen zu erleben, aber Das egoistische Gen ist nicht so<br />
angelegt. Die erste Auflage verdankte ihre jugendliche Qualität<br />
<strong>de</strong>r <strong>Zeit</strong>, in <strong>de</strong>r das Buch geschrieben wur<strong>de</strong>. In einer Reihe<br />
von Län<strong>de</strong>rn gab es damals einen frischen Luftzug von Revolution,<br />
einen Streifen von Wordsworths wonnevoller Morgenröte.<br />
Es wäre zu scha<strong>de</strong>, ein Kind jener <strong>Zeit</strong> zu verän<strong>de</strong>rn, es mit<br />
neuen Fakten zu mästen o<strong>de</strong>r mit Komplikationen und Warnungen<br />
zu verknittern. Daher sollte <strong>de</strong>r ursprüngliche Text<br />
stehenbleiben, t<strong>ro</strong>tz seiner Schwächen, sexistischen P<strong>ro</strong>nomen<br />
und so weiter. Nachbemerkungen wür<strong>de</strong>n für Korrekturen<br />
sorgen, Antworten geben und neue Entwicklungen aufzeigen.<br />
Und es sollte völlig neue Kapitel geben, <strong>de</strong>ren Themen heute<br />
so neu sind, daß sie die damalige Stimmung <strong>de</strong>r revolutionären<br />
Morgenröte weitertragen. Das Resultat waren die Kapitel 12<br />
und 13. Dabei ließ ich mich von <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Büchern meines<br />
Forschungsgebiets inspirieren, die für mich in <strong>de</strong>n Jahren<br />
seit Erscheinen <strong>de</strong>r ersten Auflage am aufregendsten waren:<br />
Robert Axel<strong>ro</strong>ds Die Evolution <strong>de</strong>r Kooperation, weil darin eine<br />
gewisse Hoffnung für unsere Zukunft durchscheint, und mein<br />
eigenes Buch The Exten<strong>de</strong>d Phenotype, weil es mich in jenen<br />
Jahren völlig beherrschte und weil es – was auch immer es<br />
wert sein mag – wahrscheinlich das Beste ist, was ich jemals<br />
schreiben wer<strong>de</strong>.
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 14<br />
Die Überschrift „Nette Kerle kommen zuerst ans Ziel“ ist<br />
einer Sen<strong>de</strong>reihe <strong>de</strong>s BBC namens Horizon entliehen, die ich<br />
1985 präsentierte. In einem 50 Minuten langen Dokumentarfilm<br />
dieses Titels, <strong>de</strong>r von Jeremy Taylor p<strong>ro</strong>duziert wor<strong>de</strong>n<br />
war, ging es um spieltheoretische Erklärungsansätze für die<br />
Evolution <strong>de</strong>r Zusammenarbeit. Die Herstellung dieses und<br />
eines weiteren Films, The Blind Watchmaker, durch <strong>de</strong>nselben<br />
P<strong>ro</strong>duzenten vermittelte mir einen neuen Respekt für <strong>de</strong>ssen<br />
Beruf. Im besten Fall wer<strong>de</strong>n die P<strong>ro</strong>duzenten von Horizon zu<br />
wahren Experten für das Thema, mit <strong>de</strong>m sie sich gera<strong>de</strong> befassen.<br />
Kapitel 12 verdankt <strong>de</strong>n Erfahrungen, die ich während<br />
<strong>de</strong>r engen Zusammenarbeit mit Jeremy Taylor und <strong>de</strong>m Horizon-Team<br />
machte, mehr als nur seine Überschrift, und ich bin<br />
dafür dankbar.<br />
Vor kurzem stieß ich auf eine unangenehme Tatsache: Es<br />
gibt einflußreiche Wissenschaftler, die die Gewohnheit haben,<br />
ihren Namen auf Veröffentlichungen zu setzen, bei <strong>de</strong>ren Entstehung<br />
sie keine Rolle gespielt haben. Allem Anschein nach<br />
bestehen manche Wissenschaftler darauf, daß sie als Mitautoren<br />
genannt wer<strong>de</strong>n, ohne mehr zu <strong>de</strong>m Forschungsp<strong>ro</strong>jekt<br />
beigetragen zu haben als Arbeitsraum, Stipendien und Durchsicht<br />
<strong>de</strong>s Manuskripts. Soweit ich weiß, können ganze wissenschaftliche<br />
Reputationen auf <strong>de</strong>r Arbeit von Stu<strong>de</strong>nten und<br />
Kollegen aufgebaut sein! Ich weiß nicht, was man tun kann,<br />
um diese Unehrlichkeit zu bekämpfen. Vielleicht sollten die<br />
Herausgeber wissenschaftlicher <strong>Zeit</strong>schriften eine unterschriebene<br />
Erklärung darüber verlangen, was je<strong>de</strong>r Autor beigetragen<br />
hat. Doch das nur nebenbei. Ich erwähne es hier, weil ich<br />
das Gegenteil konstatieren möchte. Helena C<strong>ro</strong>nin hat so viel<br />
getan, um je<strong>de</strong> Zeile, ja je<strong>de</strong>s Wort zu verbessern, daß ich sie<br />
als Koautorin aller neuen Teile dieses Buches genannt hätte,<br />
<strong>wen</strong>n sie sich nicht strikt dagegen gewehrt hätte. Ich bin ihr<br />
zutiefst dankbar und bedaure, daß meine Anerkennung auf<br />
diese Zeilen begrenzt bleiben muß. Ebenso danke ich Mark<br />
Ridley, Marian Dawkins und Alan Grafen für ihren Rat und die<br />
konstruktive Kritik an bestimmten Abschnitten. Thomas Webster,<br />
Hilary McGlynn und an<strong>de</strong>re bei Oxford University Press
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 15<br />
haben meine Launen und alle Verzögerungen guten Mutes<br />
ertragen.<br />
RICHARD DAWKINS
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 16<br />
Vorwort zur ersten Auflage<br />
Dieses Buch sollte beinahe wie Science-fiction gelesen wer<strong>de</strong>n,<br />
<strong>de</strong>nn es zielt darauf ab, die Vorstellungskraft anzusprechen.<br />
Doch es ist keine Science-fiction: Es ist Wissenschaft.<br />
Tatsächlich erscheint mir die Wirklichkeit noch phantastischer<br />
als ein utopischer Roman. Wir sind Überlebensmaschinen –<br />
Roboter, blind p<strong>ro</strong>grammiert zur Erhaltung <strong>de</strong>r selbstsüchtigen<br />
Moleküle, die Gene genannt wer<strong>de</strong>n. Dies ist eine Wahrheit,<br />
die mich immer noch mit Staunen erfüllt. Obwohl sie mir seit<br />
Jahren bekannt ist, scheine ich mich niemals an sie gewöhnen<br />
zu können, und eine meiner Hoffnungen geht dahin, daß es<br />
mir gelingen möge, auch an<strong>de</strong>re in Erstaunen zu versetzen.<br />
Drei imaginäre Leser haben mir beim Schreiben über die<br />
Schulter geschaut, und ihnen widme ich nun dieses Buch.<br />
Zunächst <strong>de</strong>r allgemein interessierte Leser, <strong>de</strong>r Laie. Ihm<br />
zuliebe habe ich beinahe völlig auf eine technische Sprache verzichtet,<br />
und wo ich nicht umhin konnte, Spezialausdrücke zu<br />
ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>n, wer<strong>de</strong>n diese erläutert. Inzwischen frage ich mich,<br />
warum wir nicht auch aus <strong>de</strong>n Fachzeitschriften einen G<strong>ro</strong>ßteil<br />
unserer Fachsprache verbannen. Mein Ausgangspunkt war,<br />
daß <strong>de</strong>r Laie zwar keine Spezialkenntnisse besitzt, aber auch<br />
nicht dumm ist. Durch starke Vereinfachung kann je<strong>de</strong>r die<br />
Wissenschaft für <strong>de</strong>n Laien verständlich machen. Ich habe<br />
es mir nicht leicht gemacht und versucht, einige subtile<br />
und komplizierte Gedanken in nichtmathematischer Sprache<br />
allgemeinverständlich auszudrücken, ohne daß sie ihren Gehalt<br />
verlieren. Inwieweit mir dies gelungen ist, weiß ich nicht; ebenso<strong>wen</strong>ig<br />
weiß ich, wieweit ich ein an<strong>de</strong>res meiner Ziele verwirklichen<br />
konnte: <strong>de</strong>n Versuch nämlich, dieses Buch so unterhaltsam<br />
und fesselnd zu machen, wie seine Materie es verdient.<br />
Ich bin seit langem <strong>de</strong>r Ansicht, die Biologie sollte als ebenso<br />
aufregend wie eine Kriminalgeschichte empfun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n,<br />
<strong>de</strong>nn sie ist genauso spannend und geheimnisvoll. Ich wage<br />
nicht zu hoffen, daß ich mehr als nur einen winzigen Bruchteil<br />
<strong>de</strong>r Faszination, die <strong>de</strong>r Gegenstand zu bieten hat, vermittelt<br />
habe.
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 17<br />
Mein zweiter imaginärer Leser war <strong>de</strong>r Fachmann. Er war<br />
ein strenger Kritiker, <strong>de</strong>r bei einigen meiner Analogien und<br />
Sprachfiguren tief Luft holte. Seine Lieblingsausdrücke sind<br />
„mit Ausnahme von“, „aber an<strong>de</strong>rerseits“ und „hm“. Ich habe<br />
ihm aufmerksam zugehört und sogar ein Kapitel einzig ihm<br />
zuliebe völlig neu geschrieben, aber schließlich mußte ich<br />
die Geschichte auf meine Art erzählen. Der Fachmann wird<br />
immer noch nicht restlos glücklich mit meiner Darstellungsweise<br />
sein. Doch meine größte Hoffnung ist, daß auch er<br />
hier etwas Neues fin<strong>de</strong>n wird, eine neue Art vielleicht, altvertraute<br />
I<strong>de</strong>en zu betrachten; möglicherweise wird er sogar<br />
selbst zu neuen I<strong>de</strong>en angeregt. Sollte dieses Ziel zu hochgesteckt<br />
sein, dann hoffe ich <strong>wen</strong>igstens, daß ihm das Buch<br />
einmal als Reiselektüre Vergnügen bereiten wird.<br />
Der dritte Leser in meiner Vorstellung war <strong>de</strong>r Stu<strong>de</strong>nt, <strong>de</strong>r<br />
nicht mehr ganz Laie, aber auch noch kein Experte ist. Wenn<br />
er sich noch nicht für ein Spezialgebiet entschie<strong>de</strong>n hat, so<br />
hoffe ich ihn dazu zu ermutigen, meinem eigenen Fachgebiet,<br />
<strong>de</strong>r Zoologie, einen zweiten Blick zu schenken. Es gibt noch<br />
einen besseren Grund für das Studium <strong>de</strong>r Zoologie als ihre<br />
potentielle „Nützlichkeit“ und die allgemeine Tatsache, daß<br />
Tiere liebenswerte Geschöpfe sind. Dieser Grund ist, daß wir<br />
Lebewesen die kompliziertesten und mit größter Perfektion<br />
konstruierten Maschinen <strong>de</strong>s bekannten Universums sind. So<br />
betrachtet, ist kaum vorstellbar, wie jemand überhaupt etwas<br />
an<strong>de</strong>res studieren kann! Für <strong>de</strong>n Stu<strong>de</strong>nten, <strong>de</strong>r sich bereits<br />
<strong>de</strong>r Zoologie verschrieben hat, besitzt mein Buch, so hoffe<br />
ich, vielleicht einen pädagogischen Wert. Er muß sich durch<br />
das Originalmaterial und die Fachbücher, auf <strong>de</strong>nen meine<br />
Abhandlung aufbaut, hindurcharbeiten. Falls er die Originalquellen<br />
schwer verdaulich fin<strong>de</strong>t, mag meine nichtmathematische<br />
Interpretation – als Einführung und Begleittext – vielleicht<br />
eine Hilfe sein.<br />
Die Gefahren, die sich ergeben, <strong>wen</strong>n man drei verschie<strong>de</strong>ne<br />
Lesertypen gleichzeitig ansprechen will, liegen auf <strong>de</strong>r<br />
Hand. Ich kann nur sagen, daß ich mir dieser Gefahren durchaus<br />
bewußt gewesen bin, daß sie mir jedoch durch die Vorteile
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 18<br />
eines solchen Versuchs aufgewogen schienen. Ich bin Ethologe,<br />
also Verhaltensforscher, und dies ist ein Buch über tierisches<br />
Verhalten. Wie sehr ich <strong>de</strong>r ethologischen Tradition, in <strong>de</strong>r<br />
ich meine Ausbildung erhielt, verpflichtet bin, wird <strong>de</strong>utlich<br />
zu erkennen sein. Insbeson<strong>de</strong>re Niko Tinbergen ist sich nicht<br />
bewußt, in welchem Ausmaß mich die zwölf Jahre beeinflußt<br />
haben, die ich unter seiner Leitung in Oxford arbeitete. Der<br />
Ausdruck „Überlebensmaschine“ könnte, obwohl er tatsächlich<br />
nicht von ihm ist, <strong>de</strong>nnoch gut von ihm stammen. Aber die Verhaltensforschung<br />
ist in jüngster <strong>Zeit</strong> durch eine Flut von I<strong>de</strong>en<br />
aus Quellen belebt wor<strong>de</strong>n, die man herkömmlicherweise nicht<br />
als ethologisch ansieht. Das vorliegen<strong>de</strong> Buch grün<strong>de</strong>t sich<br />
weitgehend auf diese neuen Vorstellungen. Auf ihre Urheber<br />
wird an <strong>de</strong>n entsprechen<strong>de</strong>n Textstellen verwiesen; die wichtigsten<br />
sind G. C. Williams, J. Maynard Smith, W. D. Hamilton<br />
und R. L. Trivers.<br />
Von verschie<strong>de</strong>nen Seiten wur<strong>de</strong>n Titelvorschläge für das<br />
Buch gemacht, die ich dankbar als Kapitelüberschriften ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>t<br />
habe: „Die unsterblichen Spiralen“, John Krebs; „Die<br />
Genmaschine“, Desmond Morris; „Genesmanship“*, Tim Clutton-B<strong>ro</strong>ck<br />
und Jean Dawkins, unabhängig voneinan<strong>de</strong>r und<br />
mit <strong>de</strong>r Bitte um Entschuldigung an Stephen Potter.<br />
Imaginäre Leser mögen als Ziel f<strong>ro</strong>mmer Wünsche und<br />
Hoffnungen ausreichen, sie sind jedoch von geringerem praktischem<br />
Nutzen als reale Leser und Kritiker. Ich habe eine<br />
beson<strong>de</strong>re Vorliebe dafür, Texte immer wie<strong>de</strong>r zu überarbeiten,<br />
und daher sah sich Marian Dawkins zahllosen Entwürfen<br />
und geän<strong>de</strong>rten Fassungen einer je<strong>de</strong>n Seite gegenüber. Ihre<br />
umfangreiche Kenntnis <strong>de</strong>r biologischen Literatur und ihr<br />
Verständnis in <strong>de</strong>n theoretischen Fragen sowie ihre andauern<strong>de</strong><br />
Ermutigung und moralische Unterstützung waren für<br />
mich entschei<strong>de</strong>nd wichtig. Auch John Krebs, <strong>de</strong>r mehr von<br />
* Der Titel ist in dieser <strong>de</strong>utschen Ausgabe mit „Genverwandtschaft“ übersetzt. Er<br />
wird hier in <strong>de</strong>r englischen Fassung genannt, damit die Anspielung auf die Titel von<br />
S. Potter (One-Upmanship, Supermanship) nicht verlorengeht.<br />
Anmerkung <strong>de</strong>r Übersetzerin
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 19<br />
<strong>de</strong>r Materie versteht als ich, las das ganze Buch im Entwurf<br />
und gab mir in g<strong>ro</strong>ßzügiger und freigiebiger Weise Rat und<br />
Anregungen. Glenys Thomson und Walter Bodmer kritisierten<br />
meine Behandlung genetischer Fragen freundlich, aber unbeirrbar.<br />
Ich fürchte, meine korrigierte Fassung wird sie vielleicht<br />
immer noch nicht völlig zufrie<strong>de</strong>nstellen, aber ich hoffe,<br />
sie fin<strong>de</strong>n sie etwas besser. Ich bin ihnen für die <strong>Zeit</strong> und<br />
Geduld, die sie mir gewidmet haben, dankbar. John Dawkins<br />
bewies eine unfehlbare Spürnase für irreführen<strong>de</strong> Ausdrucksweisen<br />
und machte ausgezeichnete konstruktive Vorschläge<br />
für an<strong>de</strong>re Formulierungen. Ich hätte mir keinen geeigneteren<br />
„intelligenten Laien“ wünschen können als Maxwell Stamp.<br />
Seine scharfsinnige Ent<strong>de</strong>ckung eines wichtigen allgemeinen<br />
Stilbruchs im ersten Entwurf trug viel zu <strong>de</strong>r endgültigen<br />
Fassung bei. An<strong>de</strong>re übten konstruktive Kritik an einzelnen<br />
Kapiteln o<strong>de</strong>r gaben sonst ihren fachmännischen Rat, so John<br />
Maynard Smith, Desmond Morris, Tom Maschler, Nick Blurton<br />
Jones, Sarah Kettlewell, Nick Humphrey, Tim Clutton-<br />
B<strong>ro</strong>ck, Louise Johnson, Christopher Graham, Geoff Parker und<br />
Robert Trivers. Pat Searle und Stephanie Verhoeven tippten<br />
nicht nur mit viel Geschick, sie machten mir auch Mut, weil es<br />
ihnen Freu<strong>de</strong> zu bereiten schien. Schließlich möchte ich noch<br />
Michael Rodgers von <strong>de</strong>r Oxford University Press danken,<br />
<strong>de</strong>r nicht nur <strong>de</strong>m Manuskript nützliche Kritik ange<strong>de</strong>ihen<br />
ließ, son<strong>de</strong>rn sich darüber hinaus allen Fragen <strong>de</strong>r Herstellung<br />
dieses Buches weit intensiver widmete, als es die bloße Pflicht<br />
erfor<strong>de</strong>rt hätte.<br />
RICHARD DAWKINS
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 20<br />
1. Warum gibt es Menschen?<br />
Intelligentes Leben auf einem Planeten erreicht einen Zustand<br />
<strong>de</strong>r Reife, <strong>wen</strong>n es zum ersten Mal die Grün<strong>de</strong> für seine Existenz<br />
erkennt. Sollten jemals höher entwickelte Lebewesen<br />
aus <strong>de</strong>m Weltraum die Er<strong>de</strong> besuchen, so wer<strong>de</strong>n sie, um<br />
unsere Zivilisationsstufe einzuschätzen, zuerst die Frage stellen:<br />
„Haben sie die Evolution schon ent<strong>de</strong>ckt?“ Mehr als drei<br />
Milliar<strong>de</strong>n Jahre lang hatten bereits Organismen auf <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong><br />
gelebt, ohne zu wissen warum, bis schließlich einem von ihnen<br />
die Wahrheit aufzugehen begann. Sein Name war Charles<br />
Darwin. Um gerecht zu sein, schon an<strong>de</strong>re hatten die Wahrheit<br />
geahnt, doch es war Darwin, <strong>de</strong>r als erster eine kohärente<br />
und haltbare Darstellung <strong>de</strong>r Grün<strong>de</strong> lieferte, warum wir existieren.<br />
Darwin versetzte uns in die Lage, <strong>de</strong>m neugierigen<br />
Kind, <strong>de</strong>ssen Frage dieses Kapitel einleitet, eine vernünftige<br />
Antwort zu geben. Wir brauchen nicht mehr auf Aberglauben<br />
zurückzugreifen, <strong>wen</strong>n wir uns mit <strong>de</strong>n g<strong>ro</strong>ßen Rätseln konf<strong>ro</strong>ntiert<br />
sehen: Hat das Leben einen Sinn? Wozu sind wir da?<br />
Was ist <strong>de</strong>r Mensch? Der be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong> Zoologe G. G. Simpson<br />
drückte es, nach<strong>de</strong>m er die letzte dieser Fragen gestellt hatte,<br />
folgen<strong>de</strong>rmaßen aus: „Ich möchte behaupten, daß alle Versuche,<br />
diese Frage vor <strong>de</strong>m Jahre 1859 zu beantworten, wertlos<br />
sind und daß es für uns besser ist, sie völlig zu ignorieren.“ 1<br />
Heute kann man die Evolutionstheorie ungefähr ebenso<br />
anzweifeln wie die Lehre, daß sich die Er<strong>de</strong> um die Sonne<br />
dreht, aber die eigentliche Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r Darwinschen Revolution<br />
in ihrem ganzen Ausmaß ist immer noch nicht allgemein<br />
in das Bewußtsein <strong>de</strong>r Menschen gedrungen. Die Zoologie ist<br />
in <strong>de</strong>n Universitäten immer noch ein Nebenfach, und selbst<br />
diejenigen, die sie Studieren, treffen ihre Entscheidung häufig,<br />
ohne sich ihrer inhaltsschweren philosophischen Be<strong>de</strong>utung<br />
gewahr zu wer<strong>de</strong>n. Die Philosophie und die als Geisteswissenschaften<br />
bezeichneten Fächer wer<strong>de</strong>n immer noch so gelehrt,<br />
als habe Darwin niemals gelebt. Dies wird sich ohne Zweifel<br />
mit <strong>de</strong>r <strong>Zeit</strong> än<strong>de</strong>rn. Gleichwie, dieses Buch ist nicht als all-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 21<br />
gemeines Plädoyer zugunsten <strong>de</strong>s Darwinismus gedacht. Statt<br />
<strong>de</strong>ssen wird es die Folgen <strong>de</strong>r Evolutionslehre für ein spezielles<br />
P<strong>ro</strong>blem erforschen. Ich habe mir vorgenommen, die Biologie<br />
von Egoismus und Altruismus zu untersuchen.<br />
Abgesehen von seinem aka<strong>de</strong>mischen Interesse liegt die<br />
Be<strong>de</strong>utung dieses Gegenstands für <strong>de</strong>n Menschen auf <strong>de</strong>r<br />
Hand. Er berührt je<strong>de</strong>n Aspekt unseres sozialen Lebens, unseres<br />
Liebens und Hassens, Kämpfens und Zusammenarbeitens,<br />
Gebens und Nehmens, unserer Habgier und unserer Freigebigkeit.<br />
Das gleiche können auch Lorenz’ Buch Das sogenannte<br />
Böse, Ardreys Der Gesellschaftsvertrag und Eibl-Eibesfeldts<br />
Liebe und Haß für sich in Anspruch nehmen. Die Schwierigkeit<br />
bei diesen Büchern ist nur, daß ihre Autoren ganz und<br />
gar falsch lagen. Sie irrten sich, weil sie nicht richtig verstan<strong>de</strong>n<br />
haben, wie die Evolution funktioniert. Sie gingen von <strong>de</strong>r<br />
irrigen Annahme aus, das Wesentliche bei <strong>de</strong>r Evolution sei<br />
<strong>de</strong>r Vorteil für die Art (o<strong>de</strong>r die Gruppe) und nicht <strong>de</strong>r Vorteil<br />
für das Individuum (o<strong>de</strong>r das Gen). Ungerechtfertigterweise<br />
wur<strong>de</strong> Lorenz von Ashley Montagu als ein „direkter Nachkomme<br />
<strong>de</strong>r ›Natur, Zähne und Klauen blutig<strong>ro</strong>t‹-Denker <strong>de</strong>s<br />
19. Jahrhun<strong>de</strong>rts ...“ kritisiert. So wie ich Lorenz’ Auffassung<br />
von <strong>de</strong>r Evolution verstehe, wäre er sich mit Montagu völlig<br />
darin einig, die Implikationen von Tennysons berühmtem<br />
Ausspruch zurückzuweisen. Im Gegensatz zu bei<strong>de</strong>n meine<br />
ich jedoch, daß „Natur, Zähne und Klauen blutig<strong>ro</strong>t“ unser<br />
mo<strong>de</strong>rnes Verständnis <strong>de</strong>r natürlichen Auslese vortrefflich<br />
zusammenfaßt.<br />
Bevor ich mit meiner eigentlichen Erörterung beginne,<br />
möchte ich kurz erklären, welche Art von Erörterung es ist und<br />
welche nicht. Wenn uns jemand erzählte, ein Mann habe in <strong>de</strong>r<br />
Chicagoer Gangsterwelt ein langes und erfolgreiches Leben<br />
geführt, so wären wir berechtigt, einige Überlegungen darüber<br />
anzustellen, was für eine Sorte Mensch er war. Wir könnten<br />
erwarten, daß er Eigenschaften hätte wie Härte, Reaktionsschnelligkeit<br />
und die Fähigkeit, loyale Freun<strong>de</strong> um sich zu<br />
sammeln. Dies wären zwar keine unfehlbaren Rückschlüsse,<br />
doch man kann sehr wohl einige Aussagen über <strong>de</strong>n Charakter
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 22<br />
eines Menschen machen, <strong>wen</strong>n man etwas über die Bedingungen<br />
weiß, unter <strong>de</strong>nen er überlebt und sich erfolgreich behauptet<br />
hat. Die These dieses Buches ist, daß wir und alle an<strong>de</strong>ren<br />
Tiere Maschinen sind, die durch Gene geschaffen wur<strong>de</strong>n. Wie<br />
erfolgreiche Chicagoer Gangster haben unsere Gene in einer<br />
Welt intensiven Existenzkampfes überlebt – in einigen Fällen<br />
mehrere Millionen Jahre. Auf Grund <strong>de</strong>ssen können wir ihnen<br />
bestimmte Eigenschaften unterstellen. Ich wür<strong>de</strong> argumentieren,<br />
daß eine vorherrschen<strong>de</strong> Eigenschaft, die wir bei einem<br />
erfolgreichen Gen erwarten müssen, ein skrupelloser Egoismus<br />
ist. Dieser Egoismus <strong>de</strong>s Gens wird gewöhnlich egoistisches<br />
Verhalten <strong>de</strong>s Individuums hervorrufen. Es gibt jedoch,<br />
wie wir sehen wer<strong>de</strong>n, beson<strong>de</strong>re Umstän<strong>de</strong>, unter <strong>de</strong>nen ein<br />
Gen seine eigenen egoistischen Ziele am besten dadurch erreichen<br />
kann, daß es einen begrenzten Altruismus auf <strong>de</strong>r Stufe<br />
<strong>de</strong>r Individuen för<strong>de</strong>rt. Die Worte „beson<strong>de</strong>rs“ und „begrenzt“<br />
in diesem Satz sind wichtig. So gern wir auch etwas an<strong>de</strong>res<br />
glauben wollen, universelle Liebe und das Wohlergehen einer<br />
Art als Ganzes sind Begriffe, die evolutionstheoretisch gesehen<br />
einfach keinen Sinn ergeben.<br />
Dies bringt mich zu <strong>de</strong>r ersten Feststellung, die ich darüber<br />
treffen möchte, was dieses Buch nicht ist. Ich trete nicht für<br />
eine Ethik auf <strong>de</strong>r Grundlage <strong>de</strong>r Evolution ein. 2 Ich berichte<br />
lediglich, wie die Dinge sich entwickelt haben. Ich sage nicht,<br />
wie wir Menschen uns in moralischer Hinsicht verhalten sollen.<br />
Ich betone dies angesichts <strong>de</strong>r Gefahr, daß ich von jenen – allzu<br />
zahlreichen – Leuten falsch verstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>, die nicht unterschei<strong>de</strong>n<br />
können zwischen einer Darstellung <strong>de</strong>ssen, was nach<br />
Überzeugung <strong>de</strong>s Sprechen<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r Schreiben<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Fall ist,<br />
und einem Plädoyer für das, was <strong>de</strong>r Fall sein sollte. Ich selbst<br />
bin <strong>de</strong>r Meinung, daß eine menschliche Gesellschaft, die lediglich<br />
auf <strong>de</strong>m Gesetz <strong>de</strong>s universellen, rücksichtslosen Gen-<br />
Egoismus beruhte, eine Gesellschaft wäre, in <strong>de</strong>r es sich sehr<br />
unangenehm lebte. Unglücklicherweise jedoch hört etwas, das<br />
wir beklagen, und sei es auch noch so sehr, <strong>de</strong>shalb nicht auf,<br />
wahr zu sein. Dieses Buch soll vor allem interessant sein. Wenn<br />
<strong>de</strong>r Leser jedoch eine Moral aus ihm ableiten möchte, möge
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 23<br />
er es als Warnung lesen: Wenn er – wie ich – eine Gesellschaft<br />
aufbauen möchte, in <strong>de</strong>r die einzelnen g<strong>ro</strong>ßzügig und selbstlos<br />
zugunsten eines gemeinsamen Wohlergehens zusammenarbeiten,<br />
kann er <strong>wen</strong>ig Hilfe von <strong>de</strong>r biologischen Natur erwarten.<br />
Laßt uns versuchen, G<strong>ro</strong>ßzügigkeit und Selbstlosigkeit zu<br />
lehren, <strong>de</strong>nn wir sind egoistisch geboren. Laßt uns verstehen<br />
lernen, was unsere eigenen egoistischen Gene vorhaben, <strong>de</strong>nn<br />
dann haben wir vielleicht die Chance, ihre Pläne zu durchkreuzen<br />
– etwas, das keine an<strong>de</strong>re Art bisher jemals angestrebt<br />
hat.<br />
Noch einen Zusatz zu dieser Bemerkung über das Lehren<br />
und Lernen: Es ist ein Trugschluß – nebenbei gesagt ein<br />
sehr häufiger – anzunehmen, daß genetisch ererbte Merkmale<br />
per <strong>de</strong>finitionem feststehend und unverän<strong>de</strong>rbar sind. Unsere<br />
Gene mögen uns anweisen, egoistisch zu sein, aber wir sind<br />
nicht unbedingt gezwungen, ihnen unser ganzes Leben lang<br />
zu gehorchen. Es mag uns vielleicht nur schwerer fallen,<br />
Altruismus zu lernen, als es uns fiele, <strong>wen</strong>n wir genetisch<br />
auf altruistisches Verhalten p<strong>ro</strong>grammiert wären. Unter allen<br />
Geschöpfen ist <strong>de</strong>r Mensch in einzigartiger Weise durch die<br />
Kultur beeinflußt, durch Eindrücke, die aufgenommen und<br />
überliefert wer<strong>de</strong>n. Einige wer<strong>de</strong>n sagen, die Kultur ist so<br />
wichtig, daß die Gene – ob nun egoistisch o<strong>de</strong>r nicht – praktisch<br />
für das Verständnis <strong>de</strong>r menschlichen Natur irrelevant<br />
sind. An<strong>de</strong>re wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>m nicht zustimmen. Alles hängt davon<br />
ab, welchen Standpunkt man in <strong>de</strong>r Debatte über „Natur o<strong>de</strong>r<br />
Erziehung“ als bestimmen<strong>de</strong> Faktoren für die menschlichen<br />
Eigenschaften einnimmt. Dies bringt mich zu <strong>de</strong>r zweiten Klarstellung,<br />
was dieses Buch nicht ist: eine Unterstützung <strong>de</strong>r<br />
einen o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Position in <strong>de</strong>r Kont<strong>ro</strong>verse Natur/<br />
Erziehung. Natürlich habe ich eine Meinung über diesen<br />
Punkt, aber ich wer<strong>de</strong> sie nur insofern äußern, als sie in meiner<br />
Kulturauffassung, die ich im letzten Kapitel darstellen wer<strong>de</strong>,<br />
enthalten ist. Sollte sich herausstellen, daß die Gene auf das<br />
Verhalten <strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>rnen Menschen keinerlei Einfluß haben,<br />
sollten wir also in dieser Beziehung wirklich einzigartig unter<br />
<strong>de</strong>n Tieren sein, so ist es zumin<strong>de</strong>st interessant, die Regel zu
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 24<br />
erforschen, von <strong>de</strong>r wir erst seit so kurzer <strong>Zeit</strong> die Ausnahme<br />
darstellen. Sollte sich aber zeigen, daß unsere Art nicht so<br />
außergewöhnlich ist, wie wir dies vielleicht glauben wollen, ist<br />
es um so wichtiger, daß wir uns mit <strong>de</strong>r Regel befassen.<br />
Das dritte, was dieses Buch nicht sein soll, ist eine beschreiben<strong>de</strong><br />
Darstellung <strong>de</strong>s menschlichen Verhaltens in seinen Einzelheiten<br />
o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Verhaltens irgen<strong>de</strong>iner an<strong>de</strong>ren Tierart.<br />
Konkrete Verhaltensweisen wer<strong>de</strong> ich nur als erläutern<strong>de</strong> Beispiele<br />
anführen. Ich wer<strong>de</strong> nicht sagen: „Wenn man das Verhalten<br />
<strong>de</strong>r Paviane betrachtet, wird man feststellen, daß es<br />
egoistisch ist; daher ist es wahrscheinlich, daß <strong>de</strong>r Mensch<br />
sich ebenfalls egoistisch verhält.“ Hinter meinem Beispiel <strong>de</strong>s<br />
Chicagoer Gangsters steckt eine ganz an<strong>de</strong>re Logik, nämlich die<br />
folgen<strong>de</strong>: Menschen und Paviane haben sich durch natürliche<br />
Selektion entwickelt. Aus <strong>de</strong>n Mechanismen <strong>de</strong>r Selektion<br />
scheint bei genauerem Hinsehen zu folgen, daß alles, was sich<br />
durch natürliche Auslese entwickelt hat, egoistisch sein muß.<br />
Deswegen müssen wir, <strong>wen</strong>n wir das Verhalten von Pavianen,<br />
Menschen und an<strong>de</strong>ren Lebewesen untersuchen, damit rechnen,<br />
daß es sich als egoistisch erweist. Wenn wir feststellen,<br />
daß unsere Erwartung falsch war, <strong>wen</strong>n wir im menschlichen<br />
Verhalten echten Altruismus ent<strong>de</strong>cken, dann sind wir auf<br />
etwas Erstaunliches gestoßen, auf etwas, das eine Erklärung<br />
verlangt.<br />
Bevor wir fortfahren, brauchen wir eine Definition. Ein<br />
Organismus, beispielsweise ein Pavian, gilt als altruistisch,<br />
<strong>wen</strong>n er sich so verhält, daß er das Wohlergehen eines an<strong>de</strong>ren,<br />
gleichartigen Organismus auf Kosten seines eigenen Wohlergehens<br />
steigert.<br />
Egoistisches Verhalten hat genau die entgegengesetzte Wirkung.<br />
Wohlergehen ist <strong>de</strong>finiert als Überlebenschancen, selbst<br />
<strong>wen</strong>n <strong>de</strong>r Effekt auf die tatsächlichen Lebens- und To<strong>de</strong>saussichten<br />
so klein ist, daß man ihn scheinbar vernachlässigen kann.<br />
Zu <strong>de</strong>n überraschen<strong>de</strong>n Implikationen <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen Version<br />
<strong>de</strong>r Darwinschen Theorie gehört, daß offensichtlich triviale,<br />
winzige Einwirkungen auf die Überlebenswahrscheinlichkeit<br />
einen g<strong>ro</strong>ßen Einfluß auf die Evolution haben können. Der
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 25<br />
Grund dafür ist die ungeheure <strong>Zeit</strong>, die diese Einflüsse haben,<br />
um sich bemerkbar zu machen.<br />
Es ist wichtig, sich darüber klar zu wer<strong>de</strong>n, daß die oben<br />
gegebenen Definitionen von Altruismus und Egoismus sich am<br />
objektiven Verhalten orientieren und nicht an Intentionen. Ich<br />
beschäftige mich hier nicht mit <strong>de</strong>r Psychologie <strong>de</strong>r Motive.<br />
Ich diskutiere nicht darüber, ob Leute, die sich selbstlos verhalten,<br />
dies „in Wirklichkeit“ aus insgeheim o<strong>de</strong>r unbewußt<br />
selbstsüchtigen Motiven tun. Vielleicht ist es so, vielleicht auch<br />
nicht, und vielleicht wer<strong>de</strong>n wir diese Frage niemals entschei<strong>de</strong>n<br />
können. Je<strong>de</strong>nfalls ist das nicht Gegenstand dieses Buches.<br />
Meine Definition fragt nur nach, ob <strong>de</strong>r Effekt einer Handlung<br />
darin besteht, die Überlebenschancen <strong>de</strong>s mutmaßlichen Altruisten<br />
beziehungsweise <strong>de</strong>s mutmaßlichen Nutznießers zu verringern<br />
o<strong>de</strong>r zu vergrößern.<br />
Es ist sehr schwierig, die Auswirkungen <strong>de</strong>s Verhaltens auf<br />
langfristige Überlebensaussichten zu <strong>de</strong>monstrieren. In <strong>de</strong>r<br />
Praxis müssen wir „Altruismus“ und „Egoismus“, <strong>wen</strong>n wir sie<br />
auf reales Verhalten an<strong>wen</strong><strong>de</strong>n, durch das Wort „anscheinend“<br />
einschränken. Eine anscheinend selbstlose Handlung ist eine<br />
Handlung, die oberflächlich betrachtet so aussieht, als müsse<br />
sie dazu führen, daß <strong>de</strong>r Altruist mit größerer Wahrscheinlichkeit<br />
(so gering <strong>de</strong>r Unterschied auch sein mag) stirbt und <strong>de</strong>r<br />
Nutznießer mit größerer Wahrscheinlichkeit überlebt. Häufig<br />
stellt sich bei genauerem Hinsehen heraus, daß scheinbar<br />
selbstlose Handlungen in Wirklichkeit versteckt selbstsüchtig<br />
sind. Noch einmal: Ich meine nicht, daß die zugrun<strong>de</strong>liegen<strong>de</strong>n<br />
Motive im geheimen eigennützig sind, son<strong>de</strong>rn daß <strong>de</strong>r<br />
tatsächliche Effekt einer Handlung auf die Überlebensaussichten<br />
sich als das Umgekehrte <strong>de</strong>ssen erweisen kann, was<br />
wir ursprünglich gedacht haben.<br />
Ich wer<strong>de</strong> nun einige Beispiele für anscheinend selbstsüchtiges<br />
und anscheinend selbstloses Verhalten anführen. Es<br />
ist schwierig, subjektive Denkgewohnheiten zu unterdrücken,<br />
<strong>wen</strong>n wir es mit unserer eigenen Art zu tun haben, daher habe<br />
ich statt <strong>de</strong>ssen verschie<strong>de</strong>ne Tierarten ausgewählt. Zuerst<br />
einige bunt durcheinan<strong>de</strong>rgewürfelte Beispiele von egoisti-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 26<br />
schem Verhalten einzelner Individuen.<br />
Lachmö<strong>wen</strong> nisten in g<strong>ro</strong>ßen Kolonien, wobei die Nester<br />
nur ein paar Meter voneinan<strong>de</strong>r entfernt sind. Die frisch<br />
ausgeschlüpften Küken sind klein und wehrlos und leicht zu<br />
verschlucken. Es ist keineswegs ungewöhnlich, daß eine Möwe<br />
wartet, bis <strong>de</strong>r Nachwuchs einer Nachbarin unbewacht ist,<br />
vielleicht während diese fort ist zum Fischen, um sich auf eines<br />
<strong>de</strong>r Küken zu stürzen und es ganz hinunterzuschlingen. Sie<br />
erhält dadurch eine gute, nahrhafte Mahlzeit, ohne daß sie sich<br />
die Mühe zu machen braucht, einen Fisch zu fangen, und ohne<br />
ihr eigenes Nest ungeschützt lassen zu müssen.<br />
Besser bekannt ist <strong>de</strong>r makabre Kannibalismus <strong>de</strong>s Fangheuschreckenweibchens.<br />
Die Gottesanbeterinnen sind g<strong>ro</strong>ße<br />
fleischfressen<strong>de</strong> Insekten. Normalerweise fressen sie kleinere<br />
Insekten, etwa Fliegen, aber sie greifen nahezu alles an, was<br />
sich bewegt. Bei <strong>de</strong>r Begattung kriecht das Männchen vorsichtig<br />
an das Weibchen heran, besteigt es und kopuliert. Wenn<br />
das Weibchen eine Gelegenheit dazu bekommt, das Männchen<br />
zu fressen, sei es während <strong>de</strong>r Annäherung, unmittelbar nach<br />
<strong>de</strong>r Begattung o<strong>de</strong>r nach <strong>de</strong>r Trennung, so tut es das, und<br />
es beginnt damit, daß es <strong>de</strong>m Männchen <strong>de</strong>n Kopf abbeißt.<br />
Man könnte meinen, es sei am vernünftigsten, <strong>wen</strong>n das Weibchen<br />
abwartete, bis die Kopulation been<strong>de</strong>t ist, bevor es<br />
das Männchen aufzufressen beginnt. Aber <strong>de</strong>r Verlust <strong>de</strong>s<br />
Kopfes scheint <strong>de</strong>n übrigen Körper <strong>de</strong>s Männchens nicht von<br />
seinem sexuellen Schwung abzubringen. Tatsächlich ist es –<br />
da <strong>de</strong>r Insektenkopf <strong>de</strong>r Sitz einiger inhibitorischer Nervenzentren<br />
ist – sogar möglich, daß das Weibchen die sexuelle<br />
Leistungsfähigkeit <strong>de</strong>s Männchens dadurch verbessert, daß<br />
es <strong>de</strong>ssen Kopf auffrißt. 3 Wenn dies zutrifft, stellt es einen<br />
zusätzlichen Gewinn dar. Der Hauptvorteil ist, daß das Weibchen<br />
eine gute Mahlzeit bekommt.<br />
Das Wort „egoistisch“ mag bei <strong>de</strong>rart extremen Verhaltensweisen<br />
wie Kannibalismus untertrieben erscheinen, aber diese<br />
Fälle stimmen gut mit unserer Definition überein. Vielleicht<br />
können wir das zaghafte Verhalten von Kaiserpinguinen in <strong>de</strong>r<br />
Antarktis besser nachempfin<strong>de</strong>n. Sie stehen am Rand <strong>de</strong>s Was-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 27<br />
sers und zögern hineinzutauchen, weil die Gefahr besteht, von<br />
einer Robbe erwartet und gefressen zu wer<strong>de</strong>n. Wenn einer<br />
von ihnen voranginge, wür<strong>de</strong>n die an<strong>de</strong>ren wissen, ob eine<br />
Robbe da ist. Natürlich will keiner das Versuchskaninchen<br />
sein, und so warten sie und versuchen manchmal sogar, sich<br />
gegenseitig hineinzustoßen.<br />
In <strong>wen</strong>iger ausgefallenen Fällen besteht das egoistische Verhalten<br />
vielleicht einfach in <strong>de</strong>r Weigerung, wertvolle Ressourcen<br />
wie Nahrung, Territorium o<strong>de</strong>r Geschlechtspartner mit<br />
an<strong>de</strong>ren zu teilen. Nun zu einigen Beispielen für anscheinend<br />
selbstloses Verhalten.<br />
Bei <strong>de</strong>n Bienen ist <strong>de</strong>r Stechapparat <strong>de</strong>r Arbeiterinnen<br />
ein sehr wirkungsvoller Schutz gegen Honigräuber. Doch die<br />
Bienen, die das Stechen übernehmen, sind Kamikazeflieger.<br />
Beim Stechvorgang wer<strong>de</strong>n gewöhnlich lebenswichtige Organe<br />
aus <strong>de</strong>m Körper <strong>de</strong>r Biene herausgerissen, und sie stirbt<br />
kurz danach. Ihre Selbstmordmission mag die lebenswichtigen<br />
Nahrungsvorräte <strong>de</strong>r Kolonie gerettet haben, aber sie hat<br />
keinen Anteil an <strong>de</strong>n Vorteilen mehr. Nach unserer Definition<br />
ist dies ein Akt altruistischen Verhaltens. Denken wir daran,<br />
daß wir nicht über bewußte Motive re<strong>de</strong>n. Diese mögen hier<br />
wie auch bei <strong>de</strong>n Beispielen für egoistisches Verhalten eine<br />
Rolle spielen o<strong>de</strong>r nicht – für unsere Definition sind sie nicht<br />
relevant.<br />
Sein Leben für das Leben seiner Freun<strong>de</strong> hinzugeben, ist<br />
offensichtlich altruistisch, aber ebenso selbstlos ist es, ein leichtes<br />
Risiko für sie einzugehen. Viele kleine Vögel geben, sobald<br />
sie einen fliegen<strong>de</strong>n Räuber, beispielsweise einen Falken, ent<strong>de</strong>cken,<br />
einen charakteristischen Alarmruf von sich, worauf<br />
<strong>de</strong>r gesamte Schwarm die Flucht ergreift. Es liegen indirekte<br />
Beweise dafür vor, daß <strong>de</strong>r Vogel, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Alarmruf ausstößt,<br />
sich selbst in beson<strong>de</strong>re Gefahr bringt, da er die Aufmerksamkeit<br />
<strong>de</strong>s Räubers vor allem auf sich lenkt. Dies ist lediglich<br />
ein geringes zusätzliches Risiko, nichts<strong>de</strong>sto<strong>wen</strong>iger scheint es<br />
<strong>de</strong>n Alarmruf, <strong>wen</strong>igstens auf <strong>de</strong>n ersten Blick, als eine unserer<br />
Definition entsprechend altruistische Handlung zu qualifizieren.
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 28<br />
Die häufigsten und auffälligsten Handlungen tierischer<br />
Selbstlosigkeit wer<strong>de</strong>n von Eltern, insbeson<strong>de</strong>re Müttern,<br />
gegenüber ihren Jungen erbracht. Sie brüten <strong>de</strong>n Nachwuchs<br />
aus, entwe<strong>de</strong>r in Nestern o<strong>de</strong>r in ihren eigenen Körpern,<br />
füttern ihn unter enormen Opfern und nehmen g<strong>ro</strong>ße Gefahren<br />
auf sich, um ihn vor Räubern zu schützen. Um nur ein<br />
Beispiel zu nennen: Viele am Bo<strong>de</strong>n nisten<strong>de</strong> Vögel vollführen<br />
ein wirkungsvolles Ablenkungsmanöver, <strong>wen</strong>n sich ein Räuber,<br />
beispielsweise ein Fuchs, nähert. Der Elternvogel hinkt vom<br />
Nest fort, wobei er einen Flügel schleifen läßt, als ob er geb<strong>ro</strong>chen<br />
wäre. Der Räuber, <strong>de</strong>r eine leichte Beute vor sich zu<br />
haben glaubt, wird vom Nest und <strong>de</strong>n Küken fortgelockt.<br />
Schließlich gibt <strong>de</strong>r Altvogel sein Täuschungsmanöver auf<br />
und schwingt sich gera<strong>de</strong> noch rechtzeitig in die Luft, um<br />
<strong>de</strong>n Fängen <strong>de</strong>s Fuchses zu entgehen. Er hat seinen Nestlingen<br />
höchstwahrscheinlich das Leben gerettet, sich dafür aber<br />
selbst einer gewissen Gefahr ausgesetzt.<br />
Ich versuche hier nicht, eine These aufzustellen, in<strong>de</strong>m<br />
ich Geschichten erzähle. Ausgewählte Beispiele sind niemals<br />
ernstzunehmen<strong>de</strong> Beweise für eine lohnenswerte Verallgemeinerung.<br />
Diese Geschichten sollen lediglich erläutern, was ich<br />
mit selbstlosem und selbstsüchtigem Verhalten auf <strong>de</strong>r Ebene<br />
<strong>de</strong>s Individuums meine. Dieses Buch wird zeigen, wie sich<br />
sowohl individueller Egoismus als auch individueller Altruismus<br />
durch das fundamentale Gesetz erklären lassen, das ich<br />
<strong>de</strong>n Gen-Egoismus nenne.<br />
Doch zuvor muß ich mich mit einer beson<strong>de</strong>rs irrigen<br />
Erklärung für altruistisches Verhalten beschäftigen, weil diese<br />
sehr verbreitet ist und selbst in vielen Schulen gelehrt wird.<br />
Diese Erklärung beruht auf <strong>de</strong>m bereits erwähnten<br />
Mißverständnis, daß Lebewesen sich entwickeln, um Dinge<br />
„zum Wohl <strong>de</strong>r Art“ o<strong>de</strong>r „zum Wohl <strong>de</strong>r Gruppe“ zu tun.<br />
Man kann sich leicht vorstellen, welche biologischen Tatsachen<br />
dieser I<strong>de</strong>e zugrun<strong>de</strong> liegen. Ein G<strong>ro</strong>ßteil <strong>de</strong>s Lebens eines<br />
Tieres dient <strong>de</strong>r Fortpflanzung, und die Mehrzahl <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r<br />
Natur beobachteten Handlungen uneigennütziger Selbstaufopferung<br />
wer<strong>de</strong>n von Eltern für ihre Jungen vollbracht. „Den
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 29<br />
Fortbestand <strong>de</strong>r Art sichern“ ist ein üblicher Euphemismus für<br />
die Fortpflanzung und als Konsequenz <strong>de</strong>r Rep<strong>ro</strong>duktion unbezweifelbar.<br />
Man braucht die Logik nur leicht zu über<strong>de</strong>hnen,<br />
um ableiten zu können, daß die „Funktion“ <strong>de</strong>r Fortpflanzung<br />
darin besteht, die Art zu erhalten. Von hier aus ist es nur<br />
ein kleiner falscher Schritt bis zu <strong>de</strong>m Schluß, die Tiere verhielten<br />
sich im allgemeinen so, daß es <strong>de</strong>m Fortbestand <strong>de</strong>r<br />
Art för<strong>de</strong>rlich ist. Selbstlosigkeit gegenüber <strong>de</strong>n Artgenossen<br />
scheint die logische Folge zu sein.<br />
Dieser Gedankengang läßt sich in etwas verschwommenen<br />
Darwinschen Begriffen ausdrücken. Die Evolution wirkt durch<br />
die natürliche Auslese, und natürliche Auslese be<strong>de</strong>utet das<br />
Überleben <strong>de</strong>r „am besten Angepaßten“. Aber sprechen wir<br />
dabei von <strong>de</strong>n geeignetsten Individuen, <strong>de</strong>n geeignetsten<br />
Rassen, Arten o<strong>de</strong>r wovon sonst? Für einige Zwecke macht<br />
dies keinen g<strong>ro</strong>ßen Unterschied, doch <strong>wen</strong>n wir von Altruismus<br />
sprechen, ist es offensichtlich von entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung.<br />
Wenn es die Arten sind, die bei <strong>de</strong>m, was Darwin <strong>de</strong>n<br />
Kampf ums Dasein nannte, miteinan<strong>de</strong>r konkurrieren, dann<br />
sieht man das Individuum wohl am besten als einen Bauern<br />
im Schachspiel an, <strong>de</strong>r geopfert wer<strong>de</strong>n muß, <strong>wen</strong>n es das<br />
übergeordnete Interesse <strong>de</strong>r Art verlangt. Um es etwas konventioneller<br />
auszudrücken: Eine Gruppe, zum Beispiel eine<br />
Art o<strong>de</strong>r eine Population innerhalb einer Art, <strong>de</strong>ren einzelne<br />
Angehörige bereit sind, sich selbst für das Wohlergehen <strong>de</strong>r<br />
Gruppe zu opfern, wird mit geringerer Wahrscheinlichkeit aussterben<br />
als eine rivalisieren<strong>de</strong> Gruppe, <strong>de</strong>ren einzelne Mitglie<strong>de</strong>r<br />
ihren eigenen selbstsüchtigen Interessen <strong>de</strong>n ersten Platz<br />
einräumen. Daher wird die Welt überwiegend von Gruppen<br />
bevölkert sein, die aus sich selbst aufopfern<strong>de</strong>n Individuen<br />
bestehen. Dies ist die Theorie <strong>de</strong>r „Gruppenselektion“, die von<br />
Biologen, welche mit <strong>de</strong>n Einzelheiten <strong>de</strong>r Evolutionstheorie<br />
nicht vertraut waren, lange für richtig gehalten wur<strong>de</strong>. Sie<br />
kam in einem berühmten Buch von V. C. Wynne-Edwards<br />
zum ersten Mal an die Öffentlichkeit und wur<strong>de</strong> durch Robert<br />
Ardreys Buch Der Gesellschaftsvertrag populär. Die orthodoxe<br />
Alternative dazu bezeichnet man gewöhnlich als „Individuals-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 30<br />
elektion“, obwohl ich persönlich lieber von Genselektion spreche.<br />
Die Antwort <strong>de</strong>s Verfechters <strong>de</strong>r „Individualselektion“ auf das<br />
gera<strong>de</strong> vorgebrachte Argument wür<strong>de</strong> kurz zusammengefaßt<br />
etwa folgen<strong>de</strong>rmaßen lauten: Selbst in <strong>de</strong>r Gruppe <strong>de</strong>r Altruisten<br />
wird es fast mit Sicherheit eine an<strong>de</strong>rs<strong>de</strong>nken<strong>de</strong> Min<strong>de</strong>rheit<br />
geben, die sich weigert, irgen<strong>de</strong>in Opfer zu bringen.<br />
Wenn es nur einen einzigen eigennützigen Rebellen gibt, <strong>de</strong>r<br />
entschlossen ist, <strong>de</strong>n Altruismus <strong>de</strong>r übrigen auszunutzen, so<br />
wird er per <strong>de</strong>finitionem mit größerer Wahrscheinlichkeit als<br />
sie überleben und Nachkommen haben. Seine Kin<strong>de</strong>r wer<strong>de</strong>n<br />
seine selbstsüchtigen Merkmale mit einiger Wahrscheinlichkeit<br />
erben. Nach mehreren Generationen dieser natürlichen<br />
Auslese wird die „altruistische Gruppe“ von egoistischen Individuen<br />
wimmeln und von einer egoistischen Gruppe nicht zu<br />
unterschei<strong>de</strong>n sein. Selbst <strong>wen</strong>n wir die unwahrscheinliche<br />
Möglichkeit ins Auge fassen, daß ursprünglich zufällig rein<br />
uneigennützige Gruppen ohne irgendwelche Rebellen bestan<strong>de</strong>n,<br />
so ist schwer einzusehen, was egoistische Individuen aus<br />
benachbarten egoistischen Gruppen daran hin<strong>de</strong>rn sollte, einzuwan<strong>de</strong>rn<br />
und <strong>de</strong>r Reinheit <strong>de</strong>r altruistischen Gruppen durch<br />
Einheirat ein En<strong>de</strong> zu setzen.<br />
Der Verfechter <strong>de</strong>r Individualselektion wür<strong>de</strong> zugeben, daß<br />
Gruppen aussterben und daß die Frage, ob eine Gruppe ausstirbt<br />
o<strong>de</strong>r nicht, vom Verhalten <strong>de</strong>r einzelnen Angehörigen<br />
dieser Gruppe beeinflußt wer<strong>de</strong>n kann. Er mag sogar zugeben,<br />
daß die Individuen einer Gruppe – <strong>wen</strong>n sie nur die Gabe<br />
<strong>de</strong>r Voraussicht besäßen – sehen könnten, daß sie langfristig<br />
gesehen ihrem Eigeninteresse am besten dienen, <strong>wen</strong>n sie ihre<br />
egoistische Gier zurückhalten, um die Zerstörung <strong>de</strong>r gesamten<br />
Gruppe zu verhin<strong>de</strong>rn. Wie viele Male mag dies in <strong>de</strong>n letzten<br />
Jahren <strong>de</strong>r britischen Arbeiterbevölkerung gesagt wor<strong>de</strong>n<br />
sein? Aber das Aussterben von Gruppen ist ein langsamer<br />
P<strong>ro</strong>zeß, verglichen mit <strong>de</strong>m raschen Hieb- und Stichwechsel<br />
<strong>de</strong>s individuellen Konkurrenzkampfes. Selbst <strong>wen</strong>n es mit<br />
<strong>de</strong>r Gruppe bereits langsam und unausweichlich bergab geht,<br />
ge<strong>de</strong>ihen egoistische Individuen kurzfristig auf Kosten von
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 31<br />
Altruisten. Die britischen Bürger mögen mit p<strong>ro</strong>phetischen<br />
Gaben gesegnet sein o<strong>de</strong>r nicht, die Evolution ist blind<br />
gegenüber <strong>de</strong>r Zukunft.<br />
Obwohl die Theorie <strong>de</strong>r Gruppenselektion heutzutage in <strong>de</strong>n<br />
Reihen jener Fachbiologen, die die Evolution verstehen, <strong>wen</strong>ig<br />
Unterstützung fin<strong>de</strong>t, hat sie tatsächlich eine g<strong>ro</strong>ße intuitive<br />
Anziehungskraft. Je<strong>de</strong> Generation englischer Zoologiestu<strong>de</strong>nten<br />
ist aufs neue erstaunt, <strong>wen</strong>n sie von <strong>de</strong>r Schule an die<br />
Universität kommt und feststellt, daß dies nicht die orthodoxe<br />
Auffassung ist. Dafür kann man sie kaum verantwortlich<br />
machen, <strong>de</strong>nn im Nuffield Biology Teachers’ Gui<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r für<br />
die Biologielehrer an <strong>de</strong>n höheren Schulen Englands geschrieben<br />
wor<strong>de</strong>n ist, fin<strong>de</strong>n wir <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Satz: „Bei höheren<br />
Tieren kann das Verhalten die Form <strong>de</strong>s Selbstmor<strong>de</strong>s einzelner<br />
Individuen annehmen, um <strong>de</strong>n Fortbestand <strong>de</strong>r Art<br />
sicherzustellen.“ Der anonyme Autor dieses Leitfa<strong>de</strong>ns schrieb<br />
dies in rühren<strong>de</strong>r Unkenntnis <strong>de</strong>r Tatsache, damit etwas Strittiges<br />
auszusagen. In dieser Beziehung stimmt er mit einem<br />
Nobelpreisträger überein. Konrad Lorenz spricht in seinem<br />
Buch Das sogenannte Böse von <strong>de</strong>n „arterhalten<strong>de</strong>n“ Funktionen<br />
aggressiven Verhaltens, wobei eine dieser Funktionen<br />
darin liegt, dafür zu sorgen, daß sich nur die geeignetsten<br />
Individuen fortpflanzen können. Dies ist ein Musterbeispiel<br />
für einen Zirkelschluß, doch ich will hier auf etwas an<strong>de</strong>res<br />
hinaus: Die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r Gruppenselektion ist so tief verwurzelt,<br />
daß offenbar we<strong>de</strong>r Lorenz noch <strong>de</strong>r Autor <strong>de</strong>s Nuffield Gui<strong>de</strong><br />
sich bewußt waren, daß ihre Feststellungen zu <strong>de</strong>r orthodoxen<br />
Darwinschen Theorie im Wi<strong>de</strong>rspruch stehen.<br />
Vor kurzem hörte ich ein weiteres köstliches Beispiel für<br />
diese Denkweise in einer ansonsten hervorragen<strong>de</strong>n Fernsehsendung<br />
<strong>de</strong>r BBC über australische Spinnen. Eine „Expertin“<br />
berichtete, daß die g<strong>ro</strong>ße Mehrheit <strong>de</strong>r jungen Spinnen als<br />
Beute an<strong>de</strong>rer Arten en<strong>de</strong>t, und sagte dann weiter: „Vielleicht<br />
ist dies <strong>de</strong>r wirkliche Sinn ihres Daseins, da für <strong>de</strong>n Fortbestand<br />
<strong>de</strong>r Art nur <strong>wen</strong>ige zu überleben brauchen!“<br />
Robert Ardrey benutzte in seinem Werk Der Gesellschaftsvertrag<br />
die Theorie <strong>de</strong>r Gruppenselektion dazu, die gesamte
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 32<br />
soziale Ordnung im allgemeinen zu erklären. Er sieht <strong>de</strong>n Menschen<br />
ein<strong>de</strong>utig als eine Art an, die vom Pfad <strong>de</strong>r tierischen<br />
Tugend abgewichen ist. Doch Ardrey hat zumin<strong>de</strong>st seine<br />
Hausaufgaben gemacht. Seine Entscheidung, sich in Wi<strong>de</strong>rspruch<br />
zu <strong>de</strong>r orthodoxen Theorie zu setzen, war bewußt, und<br />
dafür verdient er Anerkennung.<br />
Vielleicht hat die Theorie <strong>de</strong>r Gruppenselektion unter an<strong>de</strong>rem<br />
<strong>de</strong>shalb eine so g<strong>ro</strong>ße Anziehungskraft, weil sie völlig<br />
im Einklang mit <strong>de</strong>n moralischen und politischen I<strong>de</strong>alen<br />
steht, die die meisten von uns teilen. Wir mögen uns als einzelne<br />
häufig egoistisch verhalten, in unseren i<strong>de</strong>alistischeren<br />
Augenblicken aber ehren und bewun<strong>de</strong>rn wir diejenigen, die<br />
<strong>de</strong>m Wohlergehen <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren vor ihrem eigenen <strong>de</strong>n Vorzug<br />
geben. Allerdings ist uns nicht immer ganz klar, wie weit wir<br />
das Wort „an<strong>de</strong>ren“ auslegen sollen. Häufig geht Altruismus<br />
innerhalb einer Gruppe Hand in Hand mit Egoismus zwischen<br />
<strong>de</strong>n Gruppen. Dies ist eine <strong>de</strong>r Grundlagen <strong>de</strong>r gewerkschaftlichen<br />
Organisation. Auf einer an<strong>de</strong>ren Ebene ist die Nation<br />
ein wichtiger Nutznießer unserer altruistischen Selbstaufopferung,<br />
und von jungen Männern erwartet man, daß sie als Individuen<br />
ihr Leben lassen für <strong>de</strong>n größeren Ruhm ihres Lan<strong>de</strong>s.<br />
Darüber hinaus wer<strong>de</strong>n sie ermutigt, an<strong>de</strong>re Individuen zu<br />
töten, von <strong>de</strong>nen sie nichts weiter wissen, als daß sie einer<br />
an<strong>de</strong>ren Nation angehören. (Seltsamerweise scheinen in Frie<strong>de</strong>nszeiten<br />
Appelle an die Bereitschaft <strong>de</strong>s einzelnen, einige<br />
kleine Opfer hinsichtlich <strong>de</strong>r Geschwindigkeit zu erbringen,<br />
mit <strong>de</strong>r er seinen Lebensstandard erhöht, <strong>wen</strong>iger wirksam zu<br />
sein als in Kriegszeiten Appelle, sein Leben zu opfern.)<br />
In <strong>de</strong>n letzten Jahren hat sich eine Bewegung gegen Rassismus<br />
und Patriotismus erhoben, und es besteht eine Ten<strong>de</strong>nz,<br />
die gesamte menschliche Art zum Objekt unserer brü<strong>de</strong>rlichen<br />
Gefühle zu machen. Diese humane Erweiterung <strong>de</strong>r Zielscheibe<br />
unserer Uneigennützigkeit hat eine interessante Nebenerscheinung<br />
hervorgebracht, die wie<strong>de</strong>rum die Auffassung vom<br />
„Wohle <strong>de</strong>r Art“ in <strong>de</strong>r Evolution zu untermauern scheint. Politisch<br />
liberale Personen, gewöhnlich die überzeugtesten Verfechter<br />
<strong>de</strong>r Artenethik, zeigen jetzt häufig die größte Verach-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 33<br />
tung für jene, die etwas weiter gegangen sind und ihre Selbstlosigkeit<br />
so weit aus<strong>de</strong>hnen, daß sie auch an<strong>de</strong>re Arten mit einbezieht.<br />
Wenn ich sage, daß ich mehr daran interessiert bin, das<br />
Abschlachten <strong>de</strong>r g<strong>ro</strong>ßen Wale zu verhin<strong>de</strong>rn, als daran, daß<br />
die Wohnbedingungen <strong>de</strong>r Menschen verbessert wer<strong>de</strong>n, so<br />
schockiere ich damit wahrscheinlich einige meiner Freun<strong>de</strong>.<br />
Das Gefühl, daß die Angehörigen <strong>de</strong>r eigenen Art im Vergleich<br />
zu <strong>de</strong>n Angehörigen an<strong>de</strong>rer Arten beson<strong>de</strong>re moralische<br />
Beachtung verdienen, ist alt und tief in uns verwurzelt.<br />
Das Töten von Menschen außerhalb <strong>de</strong>s Krieges wird unter<br />
allen gewöhnlich begangenen Verbrechen für das schwerwiegendste<br />
angesehen. Das einzige, was unsere Kultur noch strenger<br />
verbietet, ist das Essen von Menschen (selbst <strong>wen</strong>n sie<br />
bereits tot sind). An<strong>de</strong>rerseits genießen wir es, Angehörige<br />
an<strong>de</strong>rer Arten zu verzehren. Viele von uns schrecken vor<br />
<strong>de</strong>r Vollstreckung <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>surteils an Menschen zurück,<br />
selbst <strong>wen</strong>n sie die schrecklichsten Verbrechen begangen<br />
haben, während wir das Töten relativ ungefährlicher tierischer<br />
Schädlinge ohne Gerichtsverfahren gedankenlos verteidigen.<br />
In <strong>de</strong>r Tat erlegen wir Angehörige an<strong>de</strong>rer harmloser<br />
Arten lediglich zu unserer Entspannung und zu unserem<br />
Vergnügen. Ein menschlicher Fötus, mit nicht mehr menschlichen<br />
Gefühlen als eine Amöbe, erfreut sich einer Achtung und<br />
eines gesetzlichen Schutzes, die weit über das hinausgehen,<br />
was einem ausgewachsenen Schimpansen zugestan<strong>de</strong>n wird.<br />
Doch <strong>de</strong>r Schimpanse fühlt und <strong>de</strong>nkt und ist – <strong>de</strong>n Ergebnissen<br />
jüngster Forschungen zufolge – möglicherweise sogar<br />
in <strong>de</strong>r Lage, eine Art menschlicher Sprache zu erlernen. Der<br />
Fötus gehört unserer eigenen Art an und bekommt daher<br />
sofort beson<strong>de</strong>re Privilegien und Rechte zuerkannt. Ob sich<br />
die Ethik <strong>de</strong>s „Speziesismus“, um Richard Ry<strong>de</strong>rs Ausdruck zu<br />
benutzen, auf eine soli<strong>de</strong>re logische Basis stellen läßt als die<br />
<strong>de</strong>s Rassismus, weiß ich nicht. Was ich aber sicher weiß, ist,<br />
daß sie in <strong>de</strong>r Evolutionsbiologie eigentlich keine Basis hat.<br />
Die Verwirrung in <strong>de</strong>r menschlichen Ethik über die Frage,<br />
auf welcher Ebene <strong>de</strong>r Altruismus wünschenswert ist – Familie,<br />
Nation, Rasse, Art o<strong>de</strong>r alle Lebewesen –, spiegelt sich in
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 34<br />
einer entsprechen<strong>de</strong>n Verwirrung in <strong>de</strong>r Biologie wi<strong>de</strong>r hinsichtlich<br />
<strong>de</strong>r Ebene, auf <strong>de</strong>r nach <strong>de</strong>r Evolutionstheorie Altruismus<br />
zu erwarten ist. Selbst <strong>de</strong>r Vertreter <strong>de</strong>r Gruppenselektion<br />
wäre nicht erstaunt, <strong>wen</strong>n er feststellte, daß die Angehörigen<br />
rivalisieren<strong>de</strong>r Gruppen sich gegeneinan<strong>de</strong>r nie<strong>de</strong>rträchtig<br />
verhalten: Auf diese Weise begünstigen sie – wie Gewerkschaftler<br />
o<strong>de</strong>r Soldaten – ihre eigene Gruppe in <strong>de</strong>r Auseinan<strong>de</strong>rsetzung<br />
um begrenzte Ressourcen. Doch dann lohnt es sich<br />
zu fragen, wie <strong>de</strong>r Verfechter <strong>de</strong>r Gruppenselektion entschei<strong>de</strong>t,<br />
welche Ebene ausschlaggebend ist. Wenn die Selektion<br />
zwischen <strong>de</strong>n Gruppen innerhalb einer Art sowie zwischen<br />
<strong>de</strong>n Arten erfolgt, warum sollte es sie nicht auch zwischen<br />
größeren Gruppierungen geben? Arten wer<strong>de</strong>n zu Gattungen<br />
zusammengefaßt, Gattungen zu Ordnungen und Ordnungen<br />
zu Klassen. Lö<strong>wen</strong> und Antilopen gehören bei<strong>de</strong> – wie wir auch<br />
– <strong>de</strong>r Klasse <strong>de</strong>r Säugetiere an. Sollten wir dann nicht erwarten,<br />
daß Lö<strong>wen</strong> „zum Wohl <strong>de</strong>r Säugetiere“ darauf verzichten,<br />
Antilopen zu töten? Sicherlich sollten sie statt <strong>de</strong>ssen lieber<br />
Vögel o<strong>de</strong>r Reptilien jagen, um das Aussterben <strong>de</strong>r Klasse<br />
zu verhin<strong>de</strong>rn. Doch was wird dann aus <strong>de</strong>r Not<strong>wen</strong>digkeit,<br />
<strong>de</strong>n Fortbestand <strong>de</strong>s gesamten Stammes <strong>de</strong>r Wirbeltiere zu<br />
sichern?<br />
Nun ist es natürlich schön und gut, <strong>wen</strong>n ich mit dieser<br />
Erörterung die Gruppenselektion ad absurdum führe und damit<br />
auf ihre schwachen Punkte aufmerksam mache; die augenscheinliche<br />
Existenz individueller Uneigennützigkeit bleibt<br />
<strong>de</strong>shalb jedoch immer noch zu erklären. Ardrey geht soweit zu<br />
behaupten, Gruppenselektion sei die einzig mögliche Erklärung<br />
für Verhaltensweisen wie beispielsweise die „Prellsprünge“ <strong>de</strong>r<br />
Thomsongazellen. Diese kraftvollen und auffälligen Sprünge<br />
vor <strong>de</strong>n Augen eines Räubers entsprechen <strong>de</strong>n Alarmrufen <strong>de</strong>r<br />
Vögel, da sie die Gefährten vor <strong>de</strong>r Gefahr zu warnen scheinen<br />
und dabei offensichtlich die Aufmerksamkeit <strong>de</strong>s Räubers auf<br />
das springen<strong>de</strong> Tier selbst lenken. Wir müssen eine Erklärung<br />
für das Prellen <strong>de</strong>r Thomsongazellen und ähnliche Phänomene<br />
liefern; ich wer<strong>de</strong> mich damit in späteren Kapiteln auseinan<strong>de</strong>rsetzen.
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 35<br />
Zuvor muß ich für meine Überzeugung eintreten, daß man<br />
die Evolution am besten anhand <strong>de</strong>r Selektion betrachtet, die<br />
auf <strong>de</strong>r allerniedrigsten Stufe auftritt. In dieser Überzeugung<br />
bin ich stark von G. C. Williams’ g<strong>ro</strong>ßartigem Buch Adaptation<br />
and Natural Selection beeinflußt. Den zentralen Gedanken,<br />
auf <strong>de</strong>n ich mich stützen wer<strong>de</strong>, hat A. Weismann schon zu<br />
Beginn <strong>de</strong>s Jahrhun<strong>de</strong>rts, das heißt zu einer <strong>Zeit</strong>, als das Gen<br />
noch nicht ent<strong>de</strong>ckt war, mit seiner Lehre von <strong>de</strong>r „Kontinuität<br />
<strong>de</strong>s Keimplasmas“ vorweggenommen. Ich wer<strong>de</strong> zeigen, daß<br />
die fundamentale Einheit für die Selektion und damit für das<br />
Eigeninteresse nicht die Art, nicht die Gruppe und – streng<br />
genommen – nicht einmal das Individuum ist. Es ist das Gen,<br />
die Erbeinheit. 4 Einigen Biologen mag dies zunächst extrem<br />
erscheinen. Sobald sie aber sehen, in welchem Sinne ich dies<br />
meine, wer<strong>de</strong>n sie, wie ich hoffe, zugeben, daß meine Auffassung<br />
im wesentlichen <strong>de</strong>r anerkannten Lehrmeinung entspricht<br />
– <strong>wen</strong>n ich sie auch auf etwas ungewohnte Weise<br />
ausdrücke. Es braucht einige <strong>Zeit</strong>, <strong>de</strong>n Gedankengang zu entwickeln,<br />
und wir müssen am Anfang beginnen, unmittelbar<br />
mit <strong>de</strong>m Ursprung <strong>de</strong>s Lebens selbst.
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 36<br />
2. Die Replikatoren<br />
Am Anfang war Einfachheit. Es ist schwierig genug zu erklären,<br />
wie ein auch nur einfaches Universum begann. Ich glaube,<br />
wir sind uns darin einig, daß es noch schwieriger wäre, das<br />
plötzliche Entstehen einer vollständig entwickelten komplexen<br />
Ordnung zu erklären – <strong>de</strong>s Lebens o<strong>de</strong>r eines Wesens, das in<br />
<strong>de</strong>r Lage ist, Leben zu schaffen. Die Darwinsche Lehre von<br />
<strong>de</strong>r Evolution durch natürliche Auslese ist überzeugend, weil<br />
sie uns einen Weg zeigt, wie aus <strong>de</strong>r Einfachheit Komplexität<br />
wer<strong>de</strong>n konnte, wie sich ungeordnete Atome zu immer komplexeren<br />
Strukturen gruppieren konnten, bis aus ihnen schließlich<br />
Menschen entstan<strong>de</strong>n. Darwin hat die bisher einzig gangbare<br />
Lösung für das unergründliche P<strong>ro</strong>blem unserer Existenz<br />
geliefert. Ich will versuchen, seine g<strong>ro</strong>ßartige Theorie auf eine<br />
allgemeinere Art und Weise als üblich zu erklären, und ich<br />
beginne mit <strong>de</strong>r <strong>Zeit</strong>, bevor die Evolution selbst ihren Anfang<br />
nahm.<br />
Darwins „Überleben <strong>de</strong>r Bestangepaßten“ ist in Wirklichkeit<br />
ein Son<strong>de</strong>rfall <strong>de</strong>s allgemeineren Gesetzes vom Fortbestand <strong>de</strong>s<br />
Stabilen. Das Universum ist voll von stabilen Gebil<strong>de</strong>n. Ein stabiles<br />
Gebil<strong>de</strong> ist eine Ansammlung von Atomen, die beständig<br />
o<strong>de</strong>r verbreitet genug ist, um einen Namen zu verdienen. Es<br />
kann eine einzigartige Ansammlung von Atomen sein wie beispielsweise<br />
das Matterhorn, das lange genug besteht, so daß<br />
es sich lohnt, ihm einen Namen zu geben. O<strong>de</strong>r es kann eine<br />
Klasse von Gebil<strong>de</strong>n sein, beispielsweise Regent<strong>ro</strong>pfen, die in<br />
ausreichend g<strong>ro</strong>ßer Menge entstehen, um einen Sammelnamen<br />
zu verdienen, selbst <strong>wen</strong>n je<strong>de</strong>r einzelne Regent<strong>ro</strong>pfen<br />
nur kurze <strong>Zeit</strong> existiert. Alle Dinge, die wir um uns herum<br />
sehen und die unserer Meinung nach eine Erklärung verlangen<br />
– Felsen, Galaxien, Meereswellen –, sind mehr o<strong>de</strong>r<br />
<strong>wen</strong>iger stabile Anordnungen von Atomen. Seifenblasen sind<br />
gewöhnlich rund, weil dies eine stabile Gestalt für dünne<br />
gasgefüllte Filme ist. In einem Raumschiff ist Wasser ebenfalls<br />
in kugelförmiger Gestalt stabil, doch auf <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>, unter <strong>de</strong>m
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 37<br />
Einfluß <strong>de</strong>r Schwerkraft, ist die stabile Oberfläche für stehen<strong>de</strong>s<br />
Wasser flach und horizontal. Salzkristalle zeigen eine Ten<strong>de</strong>nz<br />
zu würfelförmiger Gestalt, <strong>de</strong>nn dies ist eine Form, in<br />
<strong>de</strong>r Natrium- und Chloridionen stabil zusammengepackt sein<br />
können. Im Innern <strong>de</strong>r Sonne verschmelzen die einfachsten<br />
aller Atome, die Wasserstoffatome, miteinan<strong>de</strong>r und bil<strong>de</strong>n<br />
Helium, weil unter <strong>de</strong>n dort herrschen<strong>de</strong>n Bedingungen die<br />
Heliumstruktur stabiler ist. An<strong>de</strong>re, sogar noch komplexere<br />
Atome wer<strong>de</strong>n in Sternen überall im Universum gebil<strong>de</strong>t, und<br />
sie entstan<strong>de</strong>n beim „Urknall“, <strong>de</strong>r nach <strong>de</strong>r vorherrschen<strong>de</strong>n<br />
Theorie <strong>de</strong>n Anfang <strong>de</strong>s Universums bil<strong>de</strong>te. Auch die Elemente<br />
unserer Er<strong>de</strong> haben darin letztlich ihren Ursprung.<br />
Wenn Atome zusammentreffen, verbin<strong>de</strong>n sie sich gelegentlich<br />
in einer chemischen Reaktion miteinan<strong>de</strong>r und bil<strong>de</strong>n<br />
Moleküle, die mehr o<strong>de</strong>r <strong>wen</strong>iger stabil sein können. Solche<br />
Moleküle können sehr g<strong>ro</strong>ß sein. Ein Kristall wie beispielsweise<br />
ein Diamant kann als ein einziges Molekül betrachtet wer<strong>de</strong>n,<br />
ein sprichwörtlich stabiles in diesem Fall, aber auch ein sehr<br />
einfaches, da sich seine innere Atomstruktur endlos wie<strong>de</strong>rholt.<br />
In <strong>de</strong>n heute leben<strong>de</strong>n Organismen gibt es an<strong>de</strong>re g<strong>ro</strong>ße<br />
Moleküle, die äußerst komplex sind und <strong>de</strong>ren Komplexität<br />
sich auf verschie<strong>de</strong>nen Ebenen zeigt. Das Hämoglobin unseres<br />
Blutes ist ein typisches P<strong>ro</strong>teinmolekül. Es ist aus aneinan<strong>de</strong>rgereihten<br />
kleineren Molekülen, <strong>de</strong>n Aminosäuren, aufgebaut,<br />
von <strong>de</strong>nen je<strong>de</strong> circa zwei Dutzend in einem bestimmten<br />
Muster angeordnete Atome enthält. Das Hämoglobinmolekül<br />
besteht aus 574 Aminosäuremolekülen. Diese sind in vier<br />
Ketten angeordnet, welche sich umeinan<strong>de</strong>r schlingen und<br />
eine kugelförmige dreidimensionale Struktur von verwirren<strong>de</strong>r<br />
Komplexität bil<strong>de</strong>n. Das Mo<strong>de</strong>ll eines Hämoglobinmoleküls<br />
sieht etwa wie ein dichter Dornbusch aus. Aber im Gegensatz<br />
zu einem wirklichen Dornbusch ist es nicht ein zufälliges,<br />
ungefähres Muster, son<strong>de</strong>rn eine bestimmte, unwan<strong>de</strong>lbare<br />
Struktur, die sich in i<strong>de</strong>ntischer Gestalt mehr als sechstausend<br />
Trillionen Mal in einem menschlichen Körper wie<strong>de</strong>rholt,<br />
wobei sich kein einziges Ästchen und keine einzige Biegung<br />
am falschen Platz befin<strong>de</strong>t. Die exakte Dornbuschgestalt
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 38<br />
eines Eiweißmoleküls wie <strong>de</strong>s Hämoglobins ist stabil in <strong>de</strong>m<br />
Sinne, daß zwei aus <strong>de</strong>nselben Aminosäuresequenzen bestehen<strong>de</strong><br />
Ketten dazu tendieren wer<strong>de</strong>n, wie zwei Sprungfe<strong>de</strong>rn<br />
in genau <strong>de</strong>rselben dreidimensionalen Spiralstruktur zur Ruhe<br />
zu kommen. Hämoglobin-Dornbüsche springen in unserem<br />
Körper mit einer Geschwindigkeit von 400 Billionen p<strong>ro</strong><br />
Sekun<strong>de</strong> in ihre „bevorzugte“ Gestalt, und an<strong>de</strong>re wer<strong>de</strong>n mit<br />
<strong>de</strong>r gleichen Geschwindigkeit zerstört.<br />
Das Hämoglobin ist ein mo<strong>de</strong>rnes Molekül, von mir benutzt<br />
zur Erläuterung <strong>de</strong>s Prinzips, daß Atome dazu tendieren, stabile<br />
Strukturen zu bil<strong>de</strong>n. Der entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Punkt dabei<br />
ist, daß bereits vor <strong>de</strong>r Entstehung <strong>de</strong>s Lebens auf <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong><br />
eine gewisse rudimentäre Evolution von Molekülen durch<br />
gewöhnliche physikalische und chemische P<strong>ro</strong>zesse stattgefun<strong>de</strong>n<br />
haben könnte. Es besteht keinerlei Not<strong>wen</strong>digkeit, sich<br />
dabei einen Plan, eine Absicht o<strong>de</strong>r ein Gerichtetsein vorzustellen.<br />
Wenn eine Gruppe von Atomen unter Einwirkung von<br />
Energie eine stabile Struktur ausbil<strong>de</strong>t, bleibt diese gewöhnlich<br />
stabil. Die früheste Form <strong>de</strong>r natürlichen Auslese war einfach<br />
eine Selektion stabiler und ein Verwerfen instabiler Formen.<br />
Daran ist nichts Geheimnisvolles. Es mußte per <strong>de</strong>finitionem<br />
geschehen.<br />
Daraus folgt natürlich nicht, daß man die Existenz so komplexer<br />
Gebil<strong>de</strong>, wie <strong>de</strong>r Mensch eines ist, allein mit diesen Prinzipien<br />
erklären kann. Der Versuch, die richtige Zahl von Atomen<br />
unter Zugabe von etwas Energie durcheinan<strong>de</strong>rzuschütteln,<br />
bis sie zufällig die richtige Struktur einnehmen und Adam<br />
dabei herauskommt, hätte <strong>wen</strong>ig Sinn. Man kann auf diese<br />
Weise vielleicht ein Molekül herstellen, das aus ein paar Dutzend<br />
Atomen besteht, aber ein Mensch besteht aus über tausend<br />
Quadrillionen Atomen. Wollten wir versuchen, einen Menschen<br />
zu machen, so müßten wir unseren biochemischen Cocktailbecher<br />
so lange schütteln, daß uns das gesamte Alter <strong>de</strong>s<br />
Universums <strong>de</strong>mgegenüber nur wie ein Augenblick erschiene,<br />
und selbst dann wür<strong>de</strong> es uns nicht gelingen. An diesem Punkt<br />
kommt uns Darwins Theorie in ihrer allgemeinsten Form zu<br />
Hilfe. Sie führt dort weiter, wo die Geschichte <strong>de</strong>r langsamen
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 39<br />
Konstruktion <strong>de</strong>r Moleküle en<strong>de</strong>t. Die Darstellung, die ich vom<br />
Ursprung <strong>de</strong>s Lebens geben wer<strong>de</strong>, ist zwangsläufig spekulativ;<br />
<strong>de</strong>finitionsgemäß war niemand in <strong>de</strong>r Nähe, <strong>de</strong>r hätte<br />
sehen können, was geschah. Es gibt eine Reihe rivalisieren<strong>de</strong>r<br />
Theorien, doch haben sie alle bestimmte Züge gemein. Meine<br />
vereinfachte Darstellung ist wahrscheinlich nicht allzuweit von<br />
<strong>de</strong>r Wahrheit entfernt. 1<br />
Wir wissen nicht, welche chemischen Rohstoffe vor <strong>de</strong>r Entstehung<br />
<strong>de</strong>s Lebens auf <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> vorherrschten, zu <strong>de</strong>n plausiblen<br />
Möglichkeiten gehören jedoch Wasser, Kohlendioxid,<br />
Methan und Ammoniak: alles einfache Verbindungen, von<br />
<strong>de</strong>nen man weiß, daß sie auf zumin<strong>de</strong>st einigen <strong>de</strong>r übrigen Planeten<br />
in unserem Sonnensystem vorhan<strong>de</strong>n sind. Die Chemiker<br />
haben versucht, die chemischen Bedingungen <strong>de</strong>r jungen<br />
Er<strong>de</strong> zu imitieren. Sie haben diese einfachen Substanzen in<br />
ein Reaktionsgefäß gegeben und eine Energiequelle, beispielsweise<br />
ultraviolettes Licht o<strong>de</strong>r elektrische Funken, zugefügt –<br />
die Simulation eines Urgewitters. Nach ein paar Wochen fin<strong>de</strong>t<br />
man in <strong>de</strong>m Gefäß gewöhnlich etwas Interessantes: eine dünne<br />
braune Suppe, die eine Vielzahl von Molekülen enthält, welche<br />
komplexer sind als die ursprünglich hineingegebenen. Insbeson<strong>de</strong>re<br />
hat man Aminosäuren gefun<strong>de</strong>n – die Bausteine <strong>de</strong>r<br />
P<strong>ro</strong>teine, eine <strong>de</strong>r zwei g<strong>ro</strong>ßen Klassen biologischer Moleküle.<br />
Vor Durchführung dieser Experimente hätte man natürlich<br />
vorkommen<strong>de</strong> Aminosäuren als Zeichen für die Existenz von<br />
Leben angesehen. Wären sie beispielsweise auf <strong>de</strong>m Mars ent<strong>de</strong>ckt<br />
wor<strong>de</strong>n, so hätte man es für so gut wie sicher gehalten,<br />
daß auf diesem Planeten Leben existiert. Heute jedoch braucht<br />
ihre Existenz lediglich das Vorhan<strong>de</strong>nsein ein paar einfacher<br />
Gase in <strong>de</strong>r Atmosphäre sowie einiger Vulkane, etwas Sonnenlichtes<br />
o<strong>de</strong>r gewitterreichen Wetters zu be<strong>de</strong>uten. In jüngerer<br />
<strong>Zeit</strong> bil<strong>de</strong>ten sich in Laborversuchen, in <strong>de</strong>nen die chemischen<br />
Bedingungen auf <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> vor <strong>de</strong>r Entstehung <strong>de</strong>s Lebens<br />
simuliert wur<strong>de</strong>n, organische Substanzen, die man als Purine<br />
und Pyrimidine bezeichnet. Diese sind Bausteine <strong>de</strong>s genetischen<br />
Moleküls, <strong>de</strong>r Desoxyribonucleinsäure (DNA) selbst.<br />
Analog verlaufen<strong>de</strong> P<strong>ro</strong>zesse müssen zur Entstehung <strong>de</strong>r
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 40<br />
sogenannten Ursuppe geführt haben, aus <strong>de</strong>r, wie Biologen<br />
und Chemiker glauben, vor ungefähr drei bis vier Milliar<strong>de</strong>n<br />
Jahren die Meere bestan<strong>de</strong>n. Die organischen Substanzen konzentrierten<br />
sich an einigen Stellen, vielleicht in <strong>de</strong>m t<strong>ro</strong>cknen<strong>de</strong>n<br />
Schaum an <strong>de</strong>n Ufern o<strong>de</strong>r in winzigen, fein verteilten<br />
Tröpfchen. Unter <strong>de</strong>m weiteren Einfluß von Energie, beispielsweise<br />
ultraviolettem Sonnenlicht, verban<strong>de</strong>n sie sich zu<br />
größeren Molekülen. Heutzutage wür<strong>de</strong>n g<strong>ro</strong>ße organische<br />
Moleküle nicht lange genug bestehen, um bemerkt zu wer<strong>de</strong>n:<br />
Sie wür<strong>de</strong>n schnell von Bakterien o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Lebewesen<br />
absorbiert o<strong>de</strong>r aufgespalten wer<strong>de</strong>n. Doch die Bakterien und<br />
wir an<strong>de</strong>ren Lebewesen kamen erst sehr viel später; zu jener<br />
<strong>Zeit</strong> konnten g<strong>ro</strong>ße organische Moleküle ungestört durch die<br />
immer dicker wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Brühe dahintreiben.<br />
Irgendwann bil<strong>de</strong>te sich zufällig ein beson<strong>de</strong>rs bemerkenswertes<br />
Molekül. Wir nennen es Replikator. Es war vielleicht<br />
nicht unbedingt das größte o<strong>de</strong>r komplizierteste Molekül<br />
ringsumher, aber es besaß die außergewöhnliche Eigenschaft,<br />
Kopien seiner selbst herstellen zu können. Es mag uns sehr<br />
unwahrscheinlich vorkommen, daß sich ein <strong>de</strong>rartiger Zufall<br />
ereignet haben soll. Und das war es auch. Es war sogar<br />
mehr als unwahrscheinlich. Während eines Menschenalters<br />
können Dinge, die <strong>de</strong>rart unwahrscheinlich sind, als praktisch<br />
unmöglich angesehen wer<strong>de</strong>n. Deshalb gelingt uns nie ein<br />
Haupttreffer im Fußballtoto. Aber bei unseren menschlichen<br />
Begriffen davon, was wahrscheinlich ist und was nicht, sind<br />
wir nicht gewohnt, mit Hun<strong>de</strong>rten von Jahrmillionen zu rechnen.<br />
Wür<strong>de</strong>n wir hun<strong>de</strong>rt Millionen Jahre lang je<strong>de</strong> Woche unseren<br />
Lottozettel ausfüllen, so wür<strong>de</strong>n wir sehr wahrscheinlich<br />
mehrere Male <strong>de</strong>n Haupttreffer machen.<br />
Tatsächlich ist ein Molekül, das Kopien seiner selbst herstellt,<br />
nicht so schwer vorstellbar, wie es zunächst scheint, und<br />
es brauchte auch nur ein einziges Mal vorzukommen. Denken<br />
wir uns <strong>de</strong>n Replikator als eine Gußform o<strong>de</strong>r eine Schablone.<br />
Stellen wir ihn uns als ein g<strong>ro</strong>ßes Molekül vor, das aus einer<br />
komplexen Kette verschie<strong>de</strong>ner Arten von Bausteinmolekülen
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 41<br />
besteht. Die kleinen Bausteine waren in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Replikator<br />
umgeben<strong>de</strong>n Suppe reichlich vorhan<strong>de</strong>n. Nehmen wir nun an,<br />
daß je<strong>de</strong>r Baustein eine Affinität für seine eigene Art besitzt.<br />
Dann wer<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Suppe schwimmen<strong>de</strong> Bausteine, die in die<br />
Nähe eines Replikatorteiles geraten, für das sie eine Affinität<br />
besitzen, wahrscheinlich daran hängenbleiben. Die sich auf<br />
diese Weise anheften<strong>de</strong>n Bausteine wer<strong>de</strong>n automatisch in<br />
einer Reihenfolge angeordnet, die diejenige <strong>de</strong>s Replikators<br />
nachahmt. Es ist nicht schwer, sich als nächstes vorzustellen,<br />
daß sie sich genau wie bei <strong>de</strong>r Bildung <strong>de</strong>s ursprünglichen<br />
Replikators zu einer stabilen Kette verbin<strong>de</strong>n. Dieser P<strong>ro</strong>zeß<br />
könnte sich als ein fortwähren<strong>de</strong>s Aufstapeln, Schicht um<br />
Schicht, fortsetzen. So entstehen Kristalle. An<strong>de</strong>rerseits können<br />
sich die bei<strong>de</strong>n Ketten auch voneinan<strong>de</strong>r lösen; in diesem Fall<br />
haben wir zwei Replikatoren, die bei<strong>de</strong> weitere Kopien p<strong>ro</strong>duzieren<br />
können.<br />
Eine kompliziertere Möglichkeit ist die, daß die einzelnen<br />
Bausteine keine Affinität für ihre eigene Art besitzen, son<strong>de</strong>rn<br />
daß eine wechselseitige Affinität zwischen jeweils zwei verschie<strong>de</strong>nen<br />
Arten besteht. Dann wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Replikator nicht<br />
als Schablone für eine i<strong>de</strong>ntische Kopie, son<strong>de</strong>rn für eine<br />
Art Negativ dienen, das seinerseits wie<strong>de</strong>r eine genaue Kopie<br />
<strong>de</strong>s ursprünglichen Positivs herstellen wür<strong>de</strong>. Für unsere<br />
Zwecke ist es gleichgültig, ob <strong>de</strong>r ursprüngliche Kopiervorgang<br />
positiv-negativ o<strong>de</strong>r positiv-positiv verlief; es ist allerdings<br />
erwähnenswert, daß die mo<strong>de</strong>rnen Äquivalente <strong>de</strong>s ersten<br />
Replikators, die DNA-Moleküle, positiv-negativ kopieren. Entschei<strong>de</strong>nd<br />
ist, daß plötzlich eine neue Art von „Stabilität“ auf<br />
die Welt kam. Bis dahin gab es wahrscheinlich kein bestimmtes<br />
komplexes Molekül, das sehr reichlich in <strong>de</strong>r Suppe<br />
vorkam, weil je<strong>de</strong> Molekülart davon abhängig war, daß die<br />
Bausteine sich zufällig zu einer bestimmten stabilen Gestalt<br />
zusammenfügten. Sobald <strong>de</strong>r Replikator geboren war, muß<br />
er seine Kopien rasch über alle Meere verbreitet haben, bis<br />
die kleineren Bausteinmoleküle zu einer knappen Ressource<br />
wur<strong>de</strong>n und sich immer seltener an<strong>de</strong>re g<strong>ro</strong>ße Moleküle bil<strong>de</strong>ten.
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 42<br />
Damit scheinen wir zu einer g<strong>ro</strong>ßen Population von i<strong>de</strong>ntischen<br />
Kopien zu gelangen. Doch jetzt müssen wir eine wichtige<br />
Eigenschaft je<strong>de</strong>s Kopiervorgangs erwähnen: Er ist nicht vollkommen.<br />
Es kommen Fehler vor. Ich hoffe, daß es in diesem<br />
Buch keine Druckfehler gibt, <strong>wen</strong>n <strong>de</strong>r Leser aber genau<br />
darauf achtet, wird er vielleicht einen o<strong>de</strong>r zwei fin<strong>de</strong>n. Sie<br />
wer<strong>de</strong>n die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r Sätze wahrscheinlich nicht ernstlich<br />
verzerren, weil es sich bei ihnen um „Fehler in <strong>de</strong>r ersten<br />
Generation“ han<strong>de</strong>lt. Doch <strong>de</strong>nken wir an die <strong>Zeit</strong>en, als <strong>de</strong>r<br />
Buchdruck noch nicht erfun<strong>de</strong>n war und solche Bücher wie<br />
die Evangelien handschriftlich kopiert wur<strong>de</strong>n. Je<strong>de</strong>m Schreiber,<br />
so sorgfältig er auch sein mag, unterläuft ab und an ein<br />
Fehler – und nicht je<strong>de</strong>r ist dagegen gefeit, eine kleine bewußte<br />
„Verbesserung“ anzubringen. Wür<strong>de</strong>n alle von einem einzigen<br />
Original abschreiben, so wür<strong>de</strong> die Be<strong>de</strong>utung nicht sehr entstellt.<br />
Wer<strong>de</strong>n aber Kopien von Kopien hergestellt, die ihrerseits<br />
von an<strong>de</strong>ren Kopien gemacht wur<strong>de</strong>n, so fangen die<br />
Fehler an, sich zu häufen und gravierend zu wer<strong>de</strong>n. Wir halten<br />
unzuverlässiges Kopieren gewöhnlich für etwas Schlechtes,<br />
und was unsere menschlichen Dokumente betrifft, kann man<br />
sich in <strong>de</strong>r Tat schwer ein Beispiel <strong>de</strong>nken, bei <strong>de</strong>m Fehler<br />
als Verbesserungen gelten könnten. Ich <strong>de</strong>nke, man kann von<br />
<strong>de</strong>n Gelehrten, die die Septuaginta (die älteste griechische<br />
Übersetzung <strong>de</strong>s Alten Testaments) verfaßt haben, zumin<strong>de</strong>st<br />
sagen, daß sie etwas in Gang gesetzt haben, was weite Kreise<br />
ziehen sollte, als sie das hebräische Wort für „junge Frau“ in<br />
das griechische Wort für „Jungfrau“ übersetzten und zu <strong>de</strong>r<br />
P<strong>ro</strong>phezeiung gelangten: „Siehe, die Jungfrau wird schwanger<br />
wer<strong>de</strong>n und einen Sohn gebären ...“. 2 Wie <strong>de</strong>m auch sei,<br />
wir wer<strong>de</strong>n noch sehen, daß bei <strong>de</strong>n biologischen Replikatoren<br />
fehlerhaftes Kopieren zu realen Verbesserungen führen kann<br />
und daß eine gewisse Anzahl von Fehlern für die fortschreiten<strong>de</strong><br />
Evolution <strong>de</strong>s Lebens not<strong>wen</strong>dig ist. Wir wissen nicht,<br />
wie exakt die ursprünglichen Replikatormoleküle ihre Kopien<br />
machten. Ihre mo<strong>de</strong>rnen Abkömmlinge, die DNA-Moleküle,<br />
sind im Vergleich zu <strong>de</strong>n genauesten Kopierverfahren <strong>de</strong>s<br />
Menschen erstaunlich wie<strong>de</strong>rgabegetreu, aber sogar ihnen
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 43<br />
unterlaufen gelegentlich Fehler, und letzten En<strong>de</strong>s sind es<br />
diese Fehler, die eine Evolution möglich machen. Wahrscheinlich<br />
waren die ursprünglichen Replikatoren bei weitem<br />
unzuverlässiger; je<strong>de</strong>nfalls können wir sicher sein, daß Fehler<br />
vorkamen, und diese Fehler waren kumulativ.<br />
In <strong>de</strong>m Maße, wie falsche Kopien hergestellt und verbreitet<br />
wur<strong>de</strong>n, füllte sich die Ursuppe mit einer Population, die nicht<br />
aus i<strong>de</strong>ntischen Kopien, son<strong>de</strong>rn aus mehreren Varianten sich<br />
replizieren<strong>de</strong>r Moleküle bestand, die alle von <strong>de</strong>m gleichen<br />
„Vorfahren“ abstammten. Ob wohl einige Varianten häufiger<br />
waren als an<strong>de</strong>re? Fast mit Sicherheit ja. Bestimmte Moleküle<br />
dürften von Natur aus beson<strong>de</strong>rs stabil gewesen sein. Nach<strong>de</strong>m<br />
sie einmal gebil<strong>de</strong>t waren, brachen sie mit geringerer<br />
Wahrscheinlichkeit wie<strong>de</strong>r auseinan<strong>de</strong>r als an<strong>de</strong>re. Falls es<br />
solche Typen gab, mußten sie in <strong>de</strong>r Ursuppe relativ zahlreicher<br />
wer<strong>de</strong>n, nicht nur als eine unmittelbare logische Folge<br />
ihrer „Langlebigkeit“, son<strong>de</strong>rn auch <strong>de</strong>shalb, weil sie viel<br />
<strong>Zeit</strong> zur Verfügung hatten, um Kopien von sich herzustellen.<br />
Die Zahl <strong>de</strong>r langlebigen Replikatoren dürfte daher zugenommen<br />
haben, und falls die übrigen Umstän<strong>de</strong> unverän<strong>de</strong>rt blieben,<br />
mußte es in <strong>de</strong>r Molekülpopulation einen „evolutionären<br />
Trend“ zu größerer Langlebigkeit geben.<br />
Doch die übrigen Umstän<strong>de</strong> blieben wahrscheinlich nicht<br />
gleich, und eine weitere Eigenschaft, die eine erfolgreiche<br />
Replikatorvariante gehabt haben dürfte und die sogar von<br />
noch größerer Be<strong>de</strong>utung für ihre Verbreitung in <strong>de</strong>r Population<br />
gewesen sein muß als die Langlebigkeit, ist die<br />
Rep<strong>ro</strong>duktionsgeschwindigkeit o<strong>de</strong>r „Fruchtbarkeit“. Wenn die<br />
Replikatormoleküle <strong>de</strong>s Typs A sich durchschnittlich einmal<br />
p<strong>ro</strong> Woche rep<strong>ro</strong>duzieren, diejenigen <strong>de</strong>s Typs B dagegen<br />
einmal p<strong>ro</strong> Stun<strong>de</strong>, so läßt sich unschwer erkennen, daß die<br />
Moleküle <strong>de</strong>s Typs A ziemlich bald zahlenmäßig unterlegen<br />
sein wer<strong>de</strong>n, selbst <strong>wen</strong>n sie viel länger „leben“ als B-Moleküle.<br />
Daher dürfte es in <strong>de</strong>r Ursuppe einen „evolutionären Trend“<br />
zu höherer „Fruchtbarkeit“ <strong>de</strong>r Moleküle gegeben haben. Ein<br />
drittes Charakteristikum von Replikatormolekülen, das positiv<br />
selektiert wor<strong>de</strong>n wäre, ist die Kopiergenauigkeit. Wenn
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 44<br />
Moleküle vom Typ X und vom Typ Y die gleiche Lebensdauer<br />
haben und die gleiche Rep<strong>ro</strong>duktionsrate aufweisen, X jedoch<br />
bei einer von zehn Kopien einen Fehler macht, während Y<br />
nur bei je<strong>de</strong>r hun<strong>de</strong>rtsten Kopie ein Fehler unterläuft, so<br />
wird Y offensichtlich zahlreicher wer<strong>de</strong>n. Das X-Kontingent in<br />
<strong>de</strong>r Population verliert nicht nur die abweichen<strong>de</strong>n „Kin<strong>de</strong>r“<br />
selbst, son<strong>de</strong>rn auch alle ihre – tatsächlichen o<strong>de</strong>r potentiellen<br />
– Nachkommen.<br />
Wenn <strong>de</strong>r Leser bereits etwas über Evolution weiß, wird er<br />
<strong>de</strong>n letzten Punkt vielleicht ein <strong>wen</strong>ig paradox fin<strong>de</strong>n. Können<br />
wir <strong>de</strong>n Gedanken, daß Kopierfehler eine wesentliche Voraussetzung<br />
für das Stattfin<strong>de</strong>n von Evolution sind, mit <strong>de</strong>r<br />
Behauptung in Einklang bringen, daß die natürliche Auslese<br />
eine höhere Wie<strong>de</strong>rgabetreue begünstigt? Die Antwort ist, daß<br />
Evolution zwar in irgen<strong>de</strong>inem vagen Sinne „etwas Gutes“ zu<br />
sein scheint – vor allem da sie uns Menschen hervorgebracht<br />
hat –, daß aber tatsächlich keinerlei „Wunsch“ nach Evolution<br />
besteht. Evolution ist etwas, das wohl o<strong>de</strong>r übel geschieht,<br />
ungeachtet aller Anstrengungen <strong>de</strong>r Replikatoren (und heutzutage<br />
<strong>de</strong>r Gene), sie zu verhin<strong>de</strong>rn. Jacques Monod machte<br />
dies in seiner Herbert-Spencer-Vorlesung recht <strong>de</strong>utlich, nach<strong>de</strong>m<br />
er boshaft bemerkt hatte: „Ein weiterer seltsamer Aspekt<br />
<strong>de</strong>r Evolutionstheorie ist <strong>de</strong>r, daß je<strong>de</strong>rmann <strong>de</strong>nkt, er verstehe<br />
sie!“<br />
Kehren wir zur Ursuppe zurück: Sie muß zunehmend von<br />
stabilen Molekülvarianten bevölkert wor<strong>de</strong>n sein; stabil insoweit,<br />
als die einzelnen Moleküle entwe<strong>de</strong>r langlebig waren<br />
o<strong>de</strong>r sich schnell o<strong>de</strong>r genau replizierten. Es bestand eine<br />
Art evolutionärer Trend zu diesen drei Arten von Stabilität:<br />
Hätte man zu zwei verschie<strong>de</strong>nen <strong>Zeit</strong>en Stichp<strong>ro</strong>ben aus<br />
<strong>de</strong>r Suppe entnommen, so hätte die spätere Stichp<strong>ro</strong>be einen<br />
höheren P<strong>ro</strong>zentsatz von Varianten mit höherer Langlebigkeit/<br />
Fruchtbarkeit/Wie<strong>de</strong>rgabegenauigkeit enthalten. Dies entspricht<br />
im wesentlichen <strong>de</strong>m, was ein Biologe mit Evolution<br />
meint, <strong>wen</strong>n er von Lebewesen spricht, und <strong>de</strong>r Mechanismus<br />
ist <strong>de</strong>r gleiche: natürliche Auslese.<br />
Sollten wir dann die ursprünglichen Replikatormoleküle als
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 45<br />
„lebendig“ bezeichnen? Wen kümmert das schon? Ich könnte<br />
zu jeman<strong>de</strong>m sagen: „Darwin war <strong>de</strong>r größte Mensch, <strong>de</strong>r<br />
jemals gelebt hat“, und er könnte antworten: „Nein, das war<br />
Newton“, aber ich hoffe, wir wür<strong>de</strong>n die Diskussion nicht fortsetzen.<br />
Tatsache ist, daß unsere Diskussion, wie auch immer<br />
sie ausginge, nichts Wesentliches än<strong>de</strong>rn wür<strong>de</strong>. Die Fakten in<br />
bezug auf Leben und Leistung von Newton und Darwin bleiben<br />
völlig unverän<strong>de</strong>rt davon, ob wir sie „g<strong>ro</strong>ß“ nennen o<strong>de</strong>r nicht.<br />
Gleichermaßen hat sich die Geschichte <strong>de</strong>r Replikatormoleküle<br />
wahrscheinlich ungefähr so abgespielt, wie ich sie schil<strong>de</strong>re,<br />
ohne Rücksicht darauf, ob wir beschließen, diese Moleküle<br />
als „lebendig“ zu bezeichnen o<strong>de</strong>r nicht. Wieviel menschliches<br />
Leid hat es gegeben, weil zu viele von uns nicht begreifen<br />
können, daß Worte nur Werkzeuge sind, die wir benutzen,<br />
und daß die bloße Existenz eines Wortes wie „lebendig“ in<br />
unserem Lexikon nicht zwangsläufig be<strong>de</strong>utet, daß es sich<br />
auf etwas Bestimmtes in <strong>de</strong>r realen Welt beziehen muß. Ganz<br />
gleich, ob wir die frühen Replikatoren lebendig nennen o<strong>de</strong>r<br />
nicht, sie waren die Vorläufer <strong>de</strong>s Lebens, sie waren unsere<br />
Stammväter!<br />
Das nächste wichtige Glied in <strong>de</strong>m Gedankengang, eines,<br />
das Darwin selbst betonte (er sprach allerdings von Tieren<br />
und Pflanzen und nicht von Molekülen), ist die Konkurrenz.<br />
In <strong>de</strong>r Ursuppe konnte keine unbegrenzte Zahl von Replikatormolekülen<br />
existieren. Zum einen ist die Größe <strong>de</strong>r<br />
Er<strong>de</strong> begrenzt, aber darüber hinaus müssen noch weitere<br />
einschränken<strong>de</strong> Faktoren wichtig gewesen sein. Bei unserem<br />
Bild <strong>de</strong>s als Schablone o<strong>de</strong>r Gußform fungieren<strong>de</strong>n Replikators<br />
gingen wir davon aus, daß er von einer Ursuppe umgeben<br />
war, die reich an <strong>de</strong>n für die Herstellung von Kopien<br />
nötigen kleinen Bausteinen war. Doch als die Zahl <strong>de</strong>r Replikatoren<br />
zunahm, müssen die Bausteine mit einer <strong>de</strong>rartigen<br />
Schnelligkeit aufgebraucht wor<strong>de</strong>n sein, daß sie zu einer seltenen<br />
und kostbaren Ressource wur<strong>de</strong>n. Verschie<strong>de</strong>ne Varianten<br />
o<strong>de</strong>r Rassen von Replikatoren müssen um sie konkurriert<br />
haben. Wir haben die Faktoren untersucht, welche<br />
die Häufigkeit <strong>de</strong>r begünstigten Replikatorarten gesteigert
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 46<br />
haben dürften. Wir erkennen nunmehr, daß die <strong>wen</strong>iger<br />
begünstigten Varianten aufgrund <strong>de</strong>s Wettbewerbs tatsächlich<br />
<strong>wen</strong>iger häufig gewor<strong>de</strong>n sein müssen, und schließlich müssen<br />
viele ihrer Zweige ausgestorben sein. Unter <strong>de</strong>n Replikatorvarianten<br />
spielte sich ein Kampf ums Dasein ab. Sie wußten<br />
we<strong>de</strong>r, daß sie kämpften, noch machten sie sich <strong>de</strong>swegen<br />
Sorgen; <strong>de</strong>r Kampf wur<strong>de</strong> ohne Feindschaft, überhaupt ohne<br />
irgendwelche Gefühle geführt. Aber sie kämpften, nämlich<br />
in <strong>de</strong>m Sinne, daß je<strong>de</strong>r Kopierfehler, <strong>de</strong>ssen Ergebnis ein<br />
höheres Stabilitätsniveau war o<strong>de</strong>r eine neue Möglichkeit, die<br />
Stabilität von Rivalen zu vermin<strong>de</strong>rn, automatisch bewahrt<br />
und vervielfacht wur<strong>de</strong>. Die Metho<strong>de</strong>n zur Steigerung <strong>de</strong>r eigenen<br />
Stabilität und Vermin<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Stabilität <strong>de</strong>r Rivalen<br />
wur<strong>de</strong>n komplizierter und wirkungsvoller. Einige <strong>de</strong>r Replikatoren<br />
mögen sogar „ent<strong>de</strong>ckt“ haben, wie sie die Moleküle<br />
rivalisieren<strong>de</strong>r Varianten chemisch aufspalten und die auf diese<br />
Weise freigesetzen Bausteine zur Herstellung ihrer eigenen<br />
Kopien benutzen konnten. Diese P<strong>ro</strong>tofleischfresser erhielten<br />
damit Nahrung und beseitigten zugleich Konkurrenten. An<strong>de</strong>re<br />
Replikatoren ent<strong>de</strong>ckten vielleicht, wie sie sich schützen konnten,<br />
entwe<strong>de</strong>r chemisch o<strong>de</strong>r in<strong>de</strong>m sie eine P<strong>ro</strong>teinwand<br />
um sich herum aufbauten. Auf diese Weise mögen die<br />
ersten leben<strong>de</strong>n Zellen entstan<strong>de</strong>n sein. Die Replikatoren<br />
fingen an, nicht mehr einfach nur zu existieren, son<strong>de</strong>rn<br />
für sich selbst Behälter zu konstruieren, Vehikel für ihr<br />
Fortbestehen. Es überlebten diejenigen Replikatoren, die<br />
um sich herum Überlebensmaschinen bauten. Die ersten<br />
Überlebensmaschinen bestan<strong>de</strong>n wahrscheinlich aus nicht<br />
mehr als einer Schutzschicht. Aber in <strong>de</strong>m Maße, wie neue<br />
Rivalen mit besseren und wirkungsvolleren Schutzhüllen<br />
entstan<strong>de</strong>n, wur<strong>de</strong> das Leben ständig schwieriger. Die<br />
Überlebensmaschinen wur<strong>de</strong>n größer und perfekter, und <strong>de</strong>r<br />
Vorgang war kumulativ und p<strong>ro</strong>gressiv.<br />
Wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>r schrittweisen Verbesserung <strong>de</strong>r Techniken und<br />
Kunstgriffe, welche die Replikatoren zur Sicherstellung ihres<br />
Fortbestands auf <strong>de</strong>r Welt an<strong>wen</strong><strong>de</strong>ten, irgendwo ein En<strong>de</strong><br />
gesetzt sein? Eine Menge <strong>Zeit</strong> sollte für Verbesserungen zur
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 47<br />
Verfügung stehen. Welche son<strong>de</strong>rbaren Selbsterhaltungsmaschinen<br />
wür<strong>de</strong>n die Jahrtausen<strong>de</strong> hervorbringen? Welches<br />
Schicksal wür<strong>de</strong> vier Milliar<strong>de</strong>n Jahre später <strong>de</strong>n alten Replikatoren<br />
beschie<strong>de</strong>n sein? Sie starben nicht aus, <strong>de</strong>nn sie sind<br />
unübert<strong>ro</strong>ffene Meister in <strong>de</strong>r Kunst <strong>de</strong>s Überlebens. Doch<br />
dürfen wir sie nicht frei im Meer umhertreibend suchen; dieses<br />
ungebun<strong>de</strong>ne Leben haben sie seit langem aufgegeben. Heute<br />
drängen sie sich in riesigen Kolonien, sicher im Innern gigantischer,<br />
schwerfälliger Roboter 3 , hermetisch abgeschlossen von<br />
<strong>de</strong>r Außenwelt; sie verständigen sich mit ihr auf gewun<strong>de</strong>nen,<br />
indirekten Wegen, manipulieren sie durch Fernsteuerung.<br />
Sie sind in dir und in mir, sie schufen uns, Körper und<br />
Geist, und ihr Fortbestehen ist <strong>de</strong>r letzte Grund unserer Existenz.<br />
Sie haben einen weiten Weg hinter sich, diese Replikatoren.<br />
Heute tragen sie <strong>de</strong>n Namen Gene, und wir sind ihre<br />
Überlebensmaschinen.
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 48<br />
3. Die unsterblichen Spiralen<br />
Wir sind Überlebensmaschinen, aber mit <strong>de</strong>m Wort „wir“<br />
sind nicht nur wir Menschen gemeint. Es umfaßt alle<br />
Tiere, Pflanzen, Bakterien und Viren. Die Gesamtzahl <strong>de</strong>r<br />
Überlebensmaschinen ist schwer zu bestimmen, und selbst die<br />
genaue Zahl <strong>de</strong>r Arten ist unbekannt. Nehmen wir allein die<br />
Insekten: Schätzungen zufolge gibt es ungefähr drei Millionen<br />
rezente Arten, und die Zahl <strong>de</strong>r einzelnen Insekten beträgt<br />
vielleicht eine Trillion.<br />
Die verschie<strong>de</strong>nen Typen von Überlebensmaschinen unterschei<strong>de</strong>n<br />
sich in ihrer äußeren Erscheinung und ihren inneren<br />
Organen erheblich. Ein Krake hat keinerlei Ähnlichkeit mit<br />
einer Maus, und bei<strong>de</strong> sind völlig an<strong>de</strong>rs als eine Eiche. Biochemisch<br />
gesehen jedoch gleichen sie sich weitgehend, und<br />
vor allem sind die Replikatoren, die sie in sich tragen, die<br />
Gene, im Grun<strong>de</strong> in uns allen – von <strong>de</strong>n Bakterien bis hin<br />
zu <strong>de</strong>n Elefanten – die gleiche Art von Molekül. Wir sind<br />
alle Überlebensmaschinen für dieselbe Art von Replikator, für<br />
Moleküle mit <strong>de</strong>m Namen DNA. Doch auf <strong>de</strong>r Welt sind vielerlei<br />
verschie<strong>de</strong>ne Lebensweisen möglich, und die Replikatoren<br />
haben ein breites Spektrum von Maschinen gebaut, um sie<br />
sich alle zunutze zu machen. Ein Affe ist eine Maschine, die<br />
für <strong>de</strong>n Fortbestand von Genen auf Bäumen verantwortlich ist,<br />
ein Fisch ist eine Maschine, die Gene im Wasser fortbestehen<br />
läßt, und es gibt sogar einen kleinen Wurm, <strong>de</strong>r für <strong>de</strong>n Fortbestand<br />
von Genen in <strong>de</strong>utschen Bier<strong>de</strong>ckeln sorgt. Die DNA<br />
geht rätselhafte Wege.<br />
Der Einfachheit halber habe ich so getan, als seien die<br />
mo<strong>de</strong>rnen, aus DNA bestehen<strong>de</strong>n Moleküle ziemlich genau<br />
dasselbe wie die ersten Replikatoren in <strong>de</strong>r Ursuppe. Für<br />
unsere Erörterung spielt das keine g<strong>ro</strong>ße Rolle, aber es entspricht<br />
möglicherweise nicht ganz <strong>de</strong>r Wahrheit. Vielleicht<br />
waren die ursprünglichen Replikatoren eine <strong>de</strong>r DNA verwandte<br />
Art von Molekülen, sie können aber auch völlig<br />
an<strong>de</strong>rs gewesen sein. Im letzteren Fall könnten wir sagen,
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 49<br />
daß sich die DNA ihre Überlebensmaschinen irgendwann<br />
angeeignet haben muß. Wenn dies so war, dann sind die<br />
ursprünglichen Replikatoren restlos zerstört wor<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nn<br />
in <strong>de</strong>n mo<strong>de</strong>rnen Überlebensmaschinen ist keinerlei Spur<br />
von ihnen zurückgeblieben. Von diesen Überlegungen ausgehend,<br />
hat A. G. Cairns-Smith die faszinieren<strong>de</strong> Hypothese<br />
aufgestellt, daß unsere Stammeltern, die ersten Replikatoren,<br />
möglicherweise überhaupt keine organischen Moleküle waren,<br />
son<strong>de</strong>rn anorganische Kristalle – Mineralien, kleine Stückchen<br />
Ton. Usurpator o<strong>de</strong>r nicht, die DNA ist heute unbestritten an<br />
<strong>de</strong>r Macht, es sei <strong>de</strong>nn, wir stehen gera<strong>de</strong> jetzt, wie meine<br />
Gedankenspielerei in Kapitel 11 suggeriert, am Beginn einer<br />
neuen Machtübernahme.<br />
Die DNA ist eine lange Kette aus Bausteinen, kleinen<br />
Molekülen, die man als Nucleoti<strong>de</strong> bezeichnet. So wie<br />
Eiweißmoleküle Ketten von Aminosäuren sind, so sind DNA-<br />
Moleküle Nucleotidketten. Ein DNA-Molekül ist zu klein,<br />
als daß man es sehen könnte, aber durch scharfsinnige<br />
Überlegungen hat man seine genaue Gestalt auf indirekte<br />
Weise ermittelt. Es besteht aus einem Paar Nucleotidketten,<br />
die gemeinsam zu einer eleganten Spirale gedreht sind – <strong>de</strong>r<br />
„Doppelhelix“ o<strong>de</strong>r „unsterblichen Spirale“. Die Nucleotidbausteine<br />
kommen in nur vier verschie<strong>de</strong>nen Formen vor, <strong>de</strong>ren<br />
Namen mit <strong>de</strong>n Buchstaben A, T, C und G abgekürzt wer<strong>de</strong>n<br />
können. Sie sind in allen Tieren und Pflanzen gleich. Verschie<strong>de</strong>n<br />
ist nur die Reihenfolge, in <strong>de</strong>r sie miteinan<strong>de</strong>r verknüpft<br />
sind. Ein G-Baustein eines Menschen ist in je<strong>de</strong>r Einzelheit mit<br />
einem G-Baustein einer Schnecke i<strong>de</strong>ntisch. Aber die Sequenz<br />
<strong>de</strong>r Bausteine bei einem Menschen ist nicht nur von <strong>de</strong>r einer<br />
Schnecke verschie<strong>de</strong>n; sie unterschei<strong>de</strong>t sich auch – <strong>wen</strong>ngleich<br />
nicht so stark – von <strong>de</strong>r Reihenfolge in je<strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren<br />
Menschen (außer in <strong>de</strong>m beson<strong>de</strong>ren Fall eineiiger Zwillinge).<br />
Unsere DNA lebt im Innern unserer Körper. Sie ist nicht auf<br />
einen bestimmten Teil <strong>de</strong>s Körpers konzentriert, son<strong>de</strong>rn<br />
auf die Zellen verteilt. Ein menschlicher Körper besitzt im<br />
Durchschnitt eine Billiar<strong>de</strong> Zellen, und je<strong>de</strong> einzelne – mit<br />
einigen Ausnahmen, die wir vernachlässigen können – enthält
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 50<br />
eine vollständige Kopie <strong>de</strong>r DNA dieses Körpers. Man kann<br />
diese DNA als einen Satz von Instruktionen auffassen, die<br />
im Nucleotidalphabet A, T, C, G aufgezeichnet sind und angeben,<br />
wie ein Körper gemacht wer<strong>de</strong>n soll. Es ist so, als<br />
ob es in je<strong>de</strong>m Raum eines gigantischen Gebäu<strong>de</strong>s einen<br />
Bücherschrank gäbe, <strong>de</strong>r die Pläne <strong>de</strong>s Architekten für das<br />
gesamte Gebäu<strong>de</strong> enthält. Der „Bücherschrank“ in einer Zelle<br />
heißt Zellkern o<strong>de</strong>r Nucleus. Die Baupläne sind beim Menschen<br />
auf 46 Bän<strong>de</strong> verteilt – die Zahl ist je nach Art verschie<strong>de</strong>n.<br />
Die „Bän<strong>de</strong>“ heißen Ch<strong>ro</strong>mosomen. Sie sind unter <strong>de</strong>m<br />
Mik<strong>ro</strong>skop als lange Fä<strong>de</strong>n zu erkennen, in <strong>de</strong>nen die Gene<br />
aneinan<strong>de</strong>rgereiht sind. Es ist nicht leicht und möglicherweise<br />
noch nicht einmal sinnvoll, zu entschei<strong>de</strong>n, wo ein Gen aufhört<br />
und das nächste anfängt. Glücklicherweise ist das, wie wir in<br />
diesem Kapitel sehen wer<strong>de</strong>n, für unsere Zwecke nicht von<br />
Be<strong>de</strong>utung.<br />
Ich wer<strong>de</strong> mich auch weiterhin <strong>de</strong>r bildhaften Sprache<br />
bedienen und diese nach Belieben mit <strong>de</strong>r Sprache <strong>de</strong>r Realität<br />
vermischen. Das Wort „Band“ wird gleichbe<strong>de</strong>utend mit „Ch<strong>ro</strong>mosom“<br />
ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>t, „Seite“ einstweilen mit Gen gleichgesetzt,<br />
obwohl die Gene <strong>wen</strong>iger <strong>de</strong>utlich voneinan<strong>de</strong>r getrennt sind<br />
als die Seiten eines Buches. Mit diesem Vergleich kommen<br />
wir ziemlich weit. Wenn er uns schließlich nicht mehr weiterhilft,<br />
wer<strong>de</strong> ich an<strong>de</strong>re Bil<strong>de</strong>r einführen. Nebenbei gesagt<br />
gibt es selbstverständlich keinen Architekten: Die Instruktionen<br />
<strong>de</strong>r DNA wur<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>r natürlichen Selektion zusammengestellt.<br />
Die DNA-Moleküle haben zwei wichtige Funktionen. Erstens<br />
replizieren sie sich, das heißt, sie stellen Kopien von sich selbst<br />
her. Dies ist seit Anbeginn <strong>de</strong>s Lebens bis heute ohne Pause<br />
geschehen, und die DNA-Moleküle sind mittlerweile wirkliche<br />
Meister darin. Wenn ein Mensch erwachsen ist, besteht er aus<br />
einer Billiar<strong>de</strong> Zellen; doch bei <strong>de</strong>r Empfängnis existierte er<br />
lediglich als eine einzige, mit einer Kopie <strong>de</strong>r Baupläne ausgestattete<br />
Zelle. Diese Zelle verdoppelte sich durch Teilung, und<br />
je<strong>de</strong> <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Tochterzellen erhielt ihre eigene Kopie <strong>de</strong>r<br />
Pläne. In aufeinan<strong>de</strong>rfolgen<strong>de</strong>n Teilungen wuchs die Zahl <strong>de</strong>r
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 51<br />
Zellen dann auf vier, acht, 16, 32 und so weiter an – bis in die<br />
Billionen. Bei je<strong>de</strong>r Zellteilung wur<strong>de</strong>n die DNA-Pläne getreu<br />
kopiert, nahezu ohne je<strong>de</strong>n Fehler.<br />
Von <strong>de</strong>r Verdoppelung <strong>de</strong>r DNA zu sprechen, ist eine Sache.<br />
Eine an<strong>de</strong>re Sache ist die Frage: Wenn die DNA wirklich ein<br />
Satz von Plänen für <strong>de</strong>n Bau eines Körpers ist, wie wer<strong>de</strong>n die<br />
Pläne dann in die Praxis umgesetzt? Dies bringt mich zu <strong>de</strong>r<br />
zweiten wichtigen Funktion, die die DNA erfüllt. Sie überwacht<br />
mittelbar die Herstellung einer an<strong>de</strong>ren Art von Molekülen –<br />
<strong>de</strong>r P<strong>ro</strong>teine. Das im vorigen Kapitel erwähnte Hämoglobin ist<br />
nur eines unter einer enormen Vielzahl von Eiweißmolekülen.<br />
Die codierte Information <strong>de</strong>r DNA, die in <strong>de</strong>m aus vier Buchstaben<br />
bestehen<strong>de</strong>n Nucleotidalphabet aufgezeichnet ist, wird<br />
auf einfache mechanische Weise in ein an<strong>de</strong>res Alphabet<br />
übersetzt: das Alphabet <strong>de</strong>r Aminosäuren, aus <strong>de</strong>nen sich die<br />
Eiweißmoleküle Buchstabe für Buchstabe zusammensetzen.<br />
Von <strong>de</strong>r Bildung von P<strong>ro</strong>teinen scheint es noch ein weiter<br />
Weg bis zur Herstellung eines Körpers, doch <strong>de</strong>r erste kleine<br />
Schritt ist damit getan. Die P<strong>ro</strong>teine stellen nicht nur einen<br />
g<strong>ro</strong>ßen Anteil <strong>de</strong>r Körpersubstanz, sie üben auch eine empfindliche<br />
Kont<strong>ro</strong>lle über alle chemischen P<strong>ro</strong>zesse innerhalb<br />
<strong>de</strong>r Zelle aus, in<strong>de</strong>m sie sie selektiv exakt im richtigen Moment<br />
und am richtigen Ort in Gang setzen und stoppen. Auf welche<br />
Weise genau dies zur Entwicklung eines Babys führt, wer<strong>de</strong>n<br />
die Embryologen erst in Jahrzehnten, vielleicht in Jahrhun<strong>de</strong>rten<br />
herausgefun<strong>de</strong>n haben. Aber daß es dazu führt, ist eine<br />
Tatsache. Bei <strong>de</strong>r P<strong>ro</strong>duktion eines Körpers üben die Gene<br />
mittelbar die Kont<strong>ro</strong>lle aus. Der Einfluß verläuft ausschließlich<br />
in einer Richtung: Erworbene Merkmale wer<strong>de</strong>n nicht vererbt.<br />
Wieviel Kenntnisse und wieviel Weisheit wir während unseres<br />
Lebens auch erwerben mögen, nicht ein Jota davon wird unseren<br />
Kin<strong>de</strong>rn auf genetischem Wege weitergegeben. Je<strong>de</strong> neue<br />
Generation fängt ganz von vorn an. Ein Körper ist das Mittel,<br />
mit <strong>de</strong>ssen Hilfe Gene sich unverän<strong>de</strong>rt fortpflanzen.<br />
Die Tatsache, daß die Gene die Embryonalentwicklung steuern,<br />
ist für die Evolution be<strong>de</strong>utsam, weil die Gene damit<br />
zumin<strong>de</strong>st zum Teil selbst für ihr weiteres Überleben ver-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 52<br />
antwortlich sind: Ihr Fortbestand ist von <strong>de</strong>r Effizienz <strong>de</strong>r<br />
Körper abhängig, in <strong>de</strong>nen sie leben und an <strong>de</strong>ren Bau sie<br />
beteiligt waren. Früher einmal bestand die natürliche Selektion<br />
darin, daß die frei im Urmeer treiben<strong>de</strong>n Replikatoren<br />
unterschiedliche Überlebenschancen hatten. Heute begünstigt<br />
die natürliche Auslese Replikatoren, die fähige Konstrukteure<br />
von Überlebensmaschinen sind, Gene, die die Kunst <strong>de</strong>r Steuerung<br />
<strong>de</strong>r Embryonalentwicklung beherrschen. Dabei agieren<br />
die Replikatoren keineswegs bewußter o<strong>de</strong>r zielgerichteter<br />
als zuvor. Dieselben altbewährten P<strong>ro</strong>zesse <strong>de</strong>r automatischen<br />
Selektion unter konkurrieren<strong>de</strong>n Molekülen je nach ihrer<br />
Langlebigkeit, Fruchtbarkeit und Kopiergenauigkeit gehen<br />
immer noch ebenso blind und ebenso unvermeidlich weiter<br />
wie in längst vergangenen Tagen. Gene besitzen keine Voraussicht;<br />
sie planen nicht. Gene existieren ganz einfach, und einige<br />
existieren häufiger als an<strong>de</strong>re – das ist alles. Aber die Eigenschaften,<br />
welche die Langlebigkeit und Fruchtbarkeit eines<br />
Gens bestimmen, sind nicht mehr so einfach, wie sie einmal<br />
waren. Bei weitem nicht.<br />
In letzter <strong>Zeit</strong> – in <strong>de</strong>n letzten 600 Millionen Jahren<br />
etwa – haben die Replikatoren in <strong>de</strong>r Technologie <strong>de</strong>r<br />
Überlebensmaschinen bemerkenswerte Triumphe erzielt, beispielsweise<br />
die Konstruktion von Muskeln, Herz und Augen<br />
(die mehrmals unabhängig voneinan<strong>de</strong>r entwickelt wur<strong>de</strong>n).<br />
Zuvor hatten sie wesentliche Merkmale ihrer Lebensweise<br />
als Replikatoren von Grund auf geän<strong>de</strong>rt, was wir verstehen<br />
müssen, <strong>wen</strong>n wir die Erörterung weiterführen wollen.<br />
Das erste, was man über einen mo<strong>de</strong>rnen Replikator<br />
wissen muß, ist, daß er in g<strong>ro</strong>ßen Scharen auftritt. Eine<br />
Überlebensmaschine ist ein Vehikel, das nicht einfach nur ein<br />
Gen, son<strong>de</strong>rn viele Tausen<strong>de</strong> von Genen enthält. Die P<strong>ro</strong>duktion<br />
eines Körpers ist ein <strong>de</strong>rart verwickeltes kooperatives<br />
Unterfangen, daß es fast unmöglich ist, die Beiträge <strong>de</strong>r einzelnen<br />
Gene auseinan<strong>de</strong>rzuhalten. 1 Ein Gen hat gewöhnlich viele<br />
verschie<strong>de</strong>ne Auswirkungen auf ganz verschie<strong>de</strong>ne Teile <strong>de</strong>s<br />
Körpers. Je<strong>de</strong>r Teil <strong>de</strong>s Körpers wird von zahlreichen Genen<br />
beeinflußt, und <strong>de</strong>r Effekt je<strong>de</strong>s einzelnen Gens ist von <strong>de</strong>r
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 53<br />
Interaktion mit vielen an<strong>de</strong>ren Genen abhängig. Manche Gene<br />
fungieren als Dirigenten für Gruppen an<strong>de</strong>rer Gene, <strong>de</strong>ren<br />
Tätigkeit sie kont<strong>ro</strong>llieren. In unserer bildhaften Sprache<br />
ausgedrückt, enthält je<strong>de</strong> beliebige Seite <strong>de</strong>r Pläne Hinweise<br />
auf viele verschie<strong>de</strong>ne Teile <strong>de</strong>s Gebäu<strong>de</strong>s und ergibt selbst<br />
nur unter Beachtung <strong>de</strong>r Querverweise auf zahlreiche an<strong>de</strong>re<br />
Seiten Sinn.<br />
Diese verwickelte gegenseitige Abhängigkeit <strong>de</strong>r Gene mag<br />
<strong>de</strong>n Leser zu <strong>de</strong>r Frage veranlassen, warum wir überhaupt das<br />
Wort „Gen“ benutzen. Warum ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>n wir nicht ein Kollektivum<br />
wie „Genkomplex“? Die Antwort lautet, daß dies für<br />
viele Zwecke tatsächlich eine recht gute I<strong>de</strong>e wäre. Betrachten<br />
wir die Dinge jedoch von einer an<strong>de</strong>ren Seite, so ist es durchaus<br />
sinnvoll, sich <strong>de</strong>n Genkomplex als in einzelne Replikatoren<br />
o<strong>de</strong>r Gene aufgespalten vorzustellen. Der Grund dafür<br />
ist das Phänomen <strong>de</strong>r Sexualität. Die geschlechtliche Fortpflanzung<br />
bewirkt eine Mischung und Umgruppierung von<br />
Genen. Das be<strong>de</strong>utet, daß <strong>de</strong>r einzelne Körper lediglich ein<br />
vorübergehen<strong>de</strong>r Behälter für eine kurzlebige Kombination<br />
von Genen ist. Die Genkombination, welche je<strong>de</strong>s einzelne Individuum<br />
verkörpert, mag von kurzer Lebensdauer sein, die<br />
Gene selbst jedoch haben potentiell eine sehr hohe Lebensdauer.<br />
Im Ablauf <strong>de</strong>r Generationen kreuzen sich ihre Wege<br />
ständig und immer von neuem. Ein Gen läßt sich als eine Einheit<br />
auffassen, die eine Vielzahl aufeinan<strong>de</strong>rfolgen<strong>de</strong>r individueller<br />
Körper überlebt. Dies ist <strong>de</strong>r zentrale Gedankengang, <strong>de</strong>n<br />
ich in diesem Kapitel entwickeln möchte. Es ist ein Gedanke,<br />
<strong>de</strong>m beizupflichten sich einige meiner angesehensten Kollegen<br />
hartnäckig weigern; <strong>de</strong>r Leser mag mir darum verzeihen,<br />
<strong>wen</strong>n ich ihn etwas zu ausführlich darzulegen scheine! Doch<br />
zunächst muß ich kurz erläutern, was es mit <strong>de</strong>r Sexualität auf<br />
sich hat.<br />
Ich hatte gesagt, daß die Pläne für <strong>de</strong>n Bau eines menschlichen<br />
Körpers in 46 Bän<strong>de</strong>n nie<strong>de</strong>rgelegt sind. Tatsächlich war<br />
dies eine zu g<strong>ro</strong>ße Vereinfachung. Die Wahrheit ist recht eigenartig.<br />
Die 46 Ch<strong>ro</strong>mosomen bestehen aus 23 Ch<strong>ro</strong>mosomenpaaren.<br />
Man könnte sagen, daß in je<strong>de</strong>m Zellkern zwei alternative
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 54<br />
Sätze von 23 Bän<strong>de</strong>n mit Bauplänen abgelegt sind. Nennen<br />
wir sie Band 1a und Band 1b, Band 2a und Band 2b und so<br />
weiter bis hin zu Band 23a und Band 23b. Selbstverständlich<br />
sind die Zahlen, die ich zum Bezeichnen <strong>de</strong>r Bän<strong>de</strong> und später<br />
<strong>de</strong>r Seiten ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>, rein willkürlich gewählt.<br />
Wir erhalten je<strong>de</strong>s Ch<strong>ro</strong>mosom unversehrt von einem<br />
unserer bei<strong>de</strong>n Eltern, in <strong>de</strong>ssen Ho<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r Eierstock es<br />
zusammengefügt wur<strong>de</strong>. Nehmen wir einmal an, die Bän<strong>de</strong> 1a,<br />
2a, 3a ... kamen von unserem Vater und die Bän<strong>de</strong> 1b, 2b, 3b<br />
... von unserer Mutter. In <strong>de</strong>r Praxis ist es sehr schwierig, aber<br />
theoretisch könnten wir die 46 Ch<strong>ro</strong>mosomen in je<strong>de</strong>r einzelnen<br />
unserer Zellen mit einem Mik<strong>ro</strong>skop betrachten und die<br />
23, die von unserem Vater, beziehungsweise die 23, die von<br />
unserer Mutter kamen, heraussuchen.<br />
Die ein Paar bil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Ch<strong>ro</strong>mosomen verbringen nicht ihre<br />
ganze Lebensdauer in physischem Kontakt o<strong>de</strong>r <strong>wen</strong>igstens<br />
nahe beieinan<strong>de</strong>r. In welchem Sinne bil<strong>de</strong>n sie dann ein Paar?<br />
In <strong>de</strong>m Sinne, daß je<strong>de</strong>r ursprünglich vom Vater kommen<strong>de</strong><br />
Band Seite für Seite als eine direkte Alternative zu einem<br />
bestimmten, ursprünglich von <strong>de</strong>r Mutter kommen<strong>de</strong>n Band<br />
angesehen wer<strong>de</strong>n kann. Zum Beispiel „behan<strong>de</strong>ln“ vielleicht<br />
Seite 6 von Band 13a und Seite 6 von Band 13b bei<strong>de</strong> die<br />
Augenfarbe; vielleicht steht auf <strong>de</strong>r einen „blau“, während die<br />
an<strong>de</strong>re „braun“ vorschlägt.<br />
Manchmal sind die bei<strong>de</strong>n alternativen Seiten i<strong>de</strong>ntisch,<br />
in an<strong>de</strong>ren Fällen, wie in unserem Beispiel, sind sie verschie<strong>de</strong>n.<br />
Was tut <strong>de</strong>r Körper, <strong>wen</strong>n sie einan<strong>de</strong>r wi<strong>de</strong>rsprechen<strong>de</strong><br />
„Empfehlungen“ geben? Darauf gibt es verschie<strong>de</strong>ne Antworten.<br />
Gelegentlich setzt sich eine Lesart gegenüber <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren<br />
durch. In <strong>de</strong>m gera<strong>de</strong> angeführten Beispiel <strong>de</strong>r Augenfarbe<br />
wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Mensch tatsächlich braune Augen haben:<br />
Die Anweisungen zur Erzeugung blauer Augen wür<strong>de</strong>n beim<br />
Bau <strong>de</strong>s Körpers ignoriert wer<strong>de</strong>n, doch hin<strong>de</strong>rt sie dies<br />
nicht daran, an künftige Generationen vererbt zu wer<strong>de</strong>n. Ein<br />
Gen, das auf diese Weise unbeachtet bleibt, wird als rezessiv<br />
bezeichnet. Das Gegenteil eines rezessiven Gens ist ein dominantes<br />
Gen. Das Gen für braune Augen ist gegenüber <strong>de</strong>m Gen
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 55<br />
für blaue Augen dominant. Ein Mensch hat nur dann blaue<br />
Augen, <strong>wen</strong>n bei<strong>de</strong> Kopien <strong>de</strong>r entsprechen<strong>de</strong>n Seite einstimmig<br />
blaue Augen empfehlen. Häufiger allerdings ist, <strong>wen</strong>n zwei<br />
alternative Gene nicht i<strong>de</strong>ntisch sind, eine Art Komp<strong>ro</strong>miß<br />
das Ergebnis – <strong>de</strong>r Körper wird entsprechend einem zwischen<br />
bei<strong>de</strong>n Möglichkeiten liegen<strong>de</strong>n Plan o<strong>de</strong>r aber völlig an<strong>de</strong>rs<br />
gebaut.<br />
Wenn zwei Gene, wie das Gen für braune und das für blaue<br />
Augen, um <strong>de</strong>nselben Ort auf einem Ch<strong>ro</strong>mosom konkurrieren,<br />
so heißen sie Allele. Für unsere Zwecke ist das Wort Allel<br />
gleichbe<strong>de</strong>utend mit Rivale. Denken wir uns die Bän<strong>de</strong> mit<br />
Bauplänen als Schnellhefter, <strong>de</strong>ren Seiten herausgenommen<br />
und ausgetauscht wer<strong>de</strong>n können. Je<strong>de</strong>r Band 13 muß eine<br />
Seite 6 haben, aber es gibt mehrere mögliche Seiten 6, die zwischen<br />
Seite 5 und Seite 7 in <strong>de</strong>n Ordner passen könnten. Eine<br />
mögliche Version sagt „blaue Augen“, eine an<strong>de</strong>re „braune<br />
Augen“, und in <strong>de</strong>r gesamten Population mag es noch weitere<br />
Versionen geben, die an<strong>de</strong>re Farben vorschlagen, zum Beispiel<br />
grün. Vielleicht gibt es auf <strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Population verteilten<br />
Ch<strong>ro</strong>mosomen Nummer 13 ein halbes Dutzend alternative<br />
Allele, die sich auf <strong>de</strong>m unserer Seite 6 entsprechen<strong>de</strong>n Genort<br />
befin<strong>de</strong>n. Je<strong>de</strong>r einzelne Mensch besitzt lediglich zwei Bän<strong>de</strong>,<br />
das heißt zwei Ch<strong>ro</strong>mosomen, Nummer 13. Daher kann er auf<br />
<strong>de</strong>m Platz von Seite 6 höchstens zwei Allele haben. Er kann,<br />
wie ein blauäugiger Mensch, zwei Kopien <strong>de</strong>sselben Allels<br />
besitzen o<strong>de</strong>r zwei beliebige Allele aus <strong>de</strong>m halben Dutzend<br />
Alternativen, die in <strong>de</strong>r gesamten Population zur Verfügung<br />
stehen.<br />
Natürlich kann niemand tatsächlich hingehen und sich seine<br />
Allele aus einem <strong>de</strong>r ganzen Bevölkerung zur Verfügung stehen<strong>de</strong>n<br />
Reservoir heraussuchen. Zu je<strong>de</strong>m beliebigen <strong>Zeit</strong>punkt<br />
sind alle Gene im Innern individueller Überlebensmaschinen<br />
eingeschlossen. Wir erhalten unsere Gene bei <strong>de</strong>r Empfängnis<br />
in einer bestimmten Anzahl zugeteilt und können keinen<br />
Einfluß auf die Auswahl ausüben. In einem bestimmten Sinne<br />
allerdings lassen sich, langfristig betrachtet, die Gene <strong>de</strong>r<br />
Gesamtpopulation als ein Genvorrat ansehen. In <strong>de</strong>r Tat ver-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 56<br />
<strong>wen</strong><strong>de</strong>n die Genetiker <strong>de</strong>n Fachausdruck Genpool. Er ist eine<br />
nützliche Abstraktion, da die sexuelle Fortpflanzung die Gene,<br />
<strong>wen</strong>n auch in sorgfältig organisierter Weise, durcheinan<strong>de</strong>rmischt.<br />
Im einzelnen geschieht wirklich so etwas wie das<br />
Herauslösen und Austauschen von einzelnen o<strong>de</strong>r mehreren<br />
Seiten <strong>de</strong>s Schnellhefters, wie wir gleich noch sehen wer<strong>de</strong>n.<br />
Ich habe bereits die normale Zellteilung beschrieben, bei<br />
<strong>de</strong>r sich eine Zelle in zwei neue teilt, von <strong>de</strong>nen je<strong>de</strong> eine<br />
vollständige Kopie aller 46 Ch<strong>ro</strong>mosomen erhält. Diese normale<br />
Zellteilung wird Mitose genannt. Es gibt jedoch noch eine<br />
an<strong>de</strong>re Art von Zellteilung, die man als Meiose bezeichnet.<br />
Diese kommt lediglich bei <strong>de</strong>r Herstellung von Geschlechtszellen<br />
vor, also von Samen- o<strong>de</strong>r Eizellen. Spermien und Eier<br />
sind insofern einzigartig unter unseren Zellen, als sie statt 46<br />
Ch<strong>ro</strong>mosomen lediglich 23 enthalten. Das ist natürlich genau<br />
die Hälfte von 46 – eine praktische Einrichtung, <strong>wen</strong>n sie bei<br />
<strong>de</strong>r Befruchtung verschmelzen, um ein neues Individuum zu<br />
erzeugen! Die Meiose ist eine beson<strong>de</strong>re, ausschließlich in<br />
Ho<strong>de</strong>n und Eierstöcken stattfin<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Art von Zellteilung, bei<br />
<strong>de</strong>r sich eine Zelle mit <strong>de</strong>m vollständigen doppelten Satz von<br />
46 Ch<strong>ro</strong>mosomen teilt und Geschlechtszellen bil<strong>de</strong>t, die lediglich<br />
einen einzigen Satz von 23 Ch<strong>ro</strong>mosomen besitzen. (Wir<br />
benutzen hier zur Erläuterung die Ch<strong>ro</strong>mosomenzahl <strong>de</strong>s Menschen.)<br />
Eine Samenzelle mit ihren 23 Ch<strong>ro</strong>mosomen entsteht durch<br />
meiotische Teilung einer <strong>de</strong>r gewöhnlichen 46-Ch<strong>ro</strong>mosomen-<br />
Zellen im Ho<strong>de</strong>n. Welche 23 Ch<strong>ro</strong>mosomen erhält eine gegebene<br />
Samenzelle ? Es ist zweifellos wichtig, daß sie nicht einfach<br />
nur irgendwelche 23 Ch<strong>ro</strong>mosomen bekommt: Es darf<br />
nicht so ausgehen, daß sie am En<strong>de</strong> zwei Kopien von Band 13<br />
und keine von Band 17 enthält. Theoretisch wäre es möglich,<br />
daß ein Individuum eine seiner Samenzellen mit Ch<strong>ro</strong>mosomen<br />
ausstattet, die ausschließlich von seiner Mutter stammen,<br />
das heißt Band 1b, 2b, 3b ... 23b. In diesem unwahrscheinlichen<br />
Fall wür<strong>de</strong> ein aus <strong>de</strong>m Samen empfangenes Kind die<br />
Hälfte seiner Gene von seiner G<strong>ro</strong>ßmutter väterlicherseits und<br />
keine von seinem G<strong>ro</strong>ßvater väterlicherseits erben. Doch in
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 57<br />
<strong>de</strong>r Realität fin<strong>de</strong>t eine solche Verteilung ganzer Ch<strong>ro</strong>mosomen<br />
nicht statt. Die Wahrheit ist sehr viel komplizierter. Erinnern<br />
wir uns daran, daß wir uns die Bän<strong>de</strong> (Ch<strong>ro</strong>mosomen)<br />
als Schnellhefter gedacht haben. Während <strong>de</strong>r Herstellung<br />
<strong>de</strong>r Samenzelle wer<strong>de</strong>n nun einzelne Seiten o<strong>de</strong>r eher noch<br />
Päckchen von mehreren Seiten herausgenommen und gegen<br />
die entsprechen<strong>de</strong>n Päckchen <strong>de</strong>s alternativen Ban<strong>de</strong>s ausgetauscht.<br />
So stellt eine spezielle Samenzelle vielleicht ihren<br />
Band 1 her, in<strong>de</strong>m sie die ersten 65 Seiten aus Band 1a entnimmt<br />
und die restlichen Seiten ab Seite 66 aus Band 1b.<br />
Die an<strong>de</strong>ren 22 Bän<strong>de</strong> dieser Samenzelle wür<strong>de</strong>n auf ähnliche<br />
Weise zusammengestellt wer<strong>de</strong>n. Daher ist je<strong>de</strong> von einem<br />
Lebewesen p<strong>ro</strong>duzierte Samenzelle einzig in ihrer Art, obwohl<br />
in allen Samenzellen die 23 Ch<strong>ro</strong>mosomen aus Teilen <strong>de</strong>sselben<br />
Satzes von 46 Ch<strong>ro</strong>mosomen zusammengesetzt sind. Die<br />
Eier wer<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n Eierstöcken auf ähnliche Weise hergestellt,<br />
und auch sie sind einzigartig.<br />
Über die mechanischen Einzelheiten dieser Vermischung im<br />
wirklichen Leben weiß man ziemlich gut Bescheid. Während<br />
<strong>de</strong>r Herstellung einer Samenzelle (o<strong>de</strong>r einer Eizelle) lösen sich<br />
von je<strong>de</strong>m väterlichen Ch<strong>ro</strong>mosom kleine Stückchen ab und<br />
tauschen ihren Platz mit <strong>de</strong>n genau entsprechen<strong>de</strong>n Stückchen<br />
<strong>de</strong>s mütterlichen Ch<strong>ro</strong>mosoms. (Erinnern wir uns daran, daß<br />
wir von Ch<strong>ro</strong>mosomen sprechen, die ursprünglich von <strong>de</strong>n<br />
Eltern <strong>de</strong>s Individuums kommen, das <strong>de</strong>n Samen erzeugt,<br />
das heißt von <strong>de</strong>n G<strong>ro</strong>ßeltern väterlicherseits <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s, das<br />
schließlich aus <strong>de</strong>m Samen empfangen wird.) Der Vorgang <strong>de</strong>s<br />
Austauschens von Ch<strong>ro</strong>mosomenabschnitten wird als C<strong>ro</strong>ssing-over<br />
bezeichnet. Er ist für die gesamte Beweisführung in<br />
diesem Buch von g<strong>ro</strong>ßer Be<strong>de</strong>utung, da er eine entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong><br />
Folge hat: Wür<strong>de</strong>n wir unser Mik<strong>ro</strong>skop hervorholen und die<br />
Ch<strong>ro</strong>mosomen in einer unserer Samenzellen (beziehungsweise<br />
bei Frauen in einer Eizelle) betrachten, so wäre es <strong>Zeit</strong>versch<strong>wen</strong>dung,<br />
<strong>wen</strong>n wir die Ch<strong>ro</strong>mosomen, die ursprünglich<br />
von unserem Vater, und die Ch<strong>ro</strong>mosomen, die ursprünglich<br />
von unserer Mutter kamen, herauszufin<strong>de</strong>n suchten. (Dies<br />
steht in <strong>de</strong>utlichem Gegensatz zu <strong>de</strong>n Verhältnissen bei norma-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 58<br />
len Körperzellen.) Je<strong>de</strong>s einzelne Ch<strong>ro</strong>mosom in einer Samenzelle<br />
ist bunt zusammengewürfelt, ein Mosaik aus mütterlichen<br />
und väterlichen Genen.<br />
Hier beginnt unser Bild von <strong>de</strong>m Gen als einer Seite in<br />
einem Buch o<strong>de</strong>r Schnellhefter uns im Stich zu lassen. Man<br />
kann bei einem Schnellhefter eine ganze Seite einfügen, herausnehmen<br />
o<strong>de</strong>r auswechseln, aber mit einem Bruchstück<br />
einer Seite kann man dies nicht tun. Der Genkomplex ist aber<br />
lediglich eine lange Reihenfolge von Nucleotidbuchstaben, die<br />
keineswegs <strong>de</strong>utlich in einzelne Seiten unterteilt sind. Zwar<br />
gibt es spezielle Symbole für „En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r P<strong>ro</strong>teinketteninformation“<br />
und „Anfang <strong>de</strong>r P<strong>ro</strong>teinketteninformation“, die in <strong>de</strong>mselben<br />
Alphabet aus vier Buchstaben aufgezeichnet sind wie<br />
die Information für das P<strong>ro</strong>tein selbst. Zwischen diesen bei<strong>de</strong>n<br />
Interpunktionszeichen befin<strong>de</strong>n sich die codierten Anweisungen<br />
zur Herstellung eines P<strong>ro</strong>teins. Wenn wir wollen, können<br />
wir ein einzelnes Gen als eine Sequenz von Nucleotidbuchstaben<br />
<strong>de</strong>finieren, die zwischen einem Symbol für „Anfang“ und<br />
einem Symbol für „En<strong>de</strong>“ liegen und eine Eiweißkette codieren.<br />
Eine auf diese Weise <strong>de</strong>finierte Einheit ist mit <strong>de</strong>m Wort<br />
Cist<strong>ro</strong>n bezeichnet wor<strong>de</strong>n, und einige Leute ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>n das<br />
Wort Gen gleichbe<strong>de</strong>utend mit Cist<strong>ro</strong>n.<br />
Doch das C<strong>ro</strong>ssing-over beachtet die Grenzen zwischen<br />
Cist<strong>ro</strong>ns nicht. Teilungen können ebensogut mitten in einem<br />
Cist<strong>ro</strong>n wie zwischen zwei Cist<strong>ro</strong>ns vorkommen. Es ist so, als<br />
wären die Pläne <strong>de</strong>s Architekten nicht auf getrennten Seiten<br />
aufgezeichnet, son<strong>de</strong>rn auf 46 Rollen Papierstreifen. Cist<strong>ro</strong>ns<br />
haben keine feststehen<strong>de</strong> Länge. Die einzige Möglichkeit zu<br />
erkennen, wo ein Cist<strong>ro</strong>n aufhört und das nächste anfängt,<br />
wäre die, die Symbole auf <strong>de</strong>m Streifen zu lesen und nach <strong>de</strong>n<br />
Zeichen für „En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Information“ und „Anfang <strong>de</strong>r Information“<br />
zu suchen. Das C<strong>ro</strong>ssing-over geht so vor sich, daß alternative<br />
Papierstreifen väterlicher und mütterlicher Herkunft herausgegriffen<br />
und zerschnitten und entsprechen<strong>de</strong> Abschnitte<br />
gegeneinan<strong>de</strong>r ausgetauscht wer<strong>de</strong>n, ohne Rücksicht auf das,<br />
was darauf geschrieben steht.<br />
Das Wort Gen im Titel dieses Buches be<strong>de</strong>utet nicht ein
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 59<br />
einzelnes Cist<strong>ro</strong>n, son<strong>de</strong>rn etwas schwerer zu Fassen<strong>de</strong>s.<br />
Meine Definition wird nicht nach je<strong>de</strong>rmanns Geschmack<br />
sein, doch es gibt keine allgemein anerkannte Definition<br />
eines Gens. Wir können ein Wort <strong>de</strong>finieren, wie es uns für<br />
unsere Zwecke gefällt, vorausgesetzt, wir tun dies <strong>de</strong>utlich und<br />
unmißverständlich. Die Definition, die ich benutzen möchte,<br />
stammt von G. C. Williams. 2 Ein Gen ist <strong>de</strong>finiert als je<strong>de</strong>s<br />
beliebige Stück Ch<strong>ro</strong>mosomenmaterial, welches potentiell so<br />
viele Generationen überdauert, daß es als eine Einheit <strong>de</strong>r<br />
natürlichen Auslese dienen kann. In <strong>de</strong>r Sprache <strong>de</strong>s vorigen<br />
Kapitels ausgedrückt, ist ein Gen ein Replikator mit hoher<br />
Kopiergenauigkeit. Kopiergenauigkeit ist ein an<strong>de</strong>res Wort für<br />
„Langlebigkeit in Gestalt von Kopien“, und ich wer<strong>de</strong> dies<br />
einfach mit Langlebigkeit abkürzen. Diese Definition verlangt<br />
einige Rechtfertigung.<br />
Allen Definitionen zufolge ist ein Gen ein Stück eines Ch<strong>ro</strong>mosoms.<br />
Die Frage ist nur, ein wie g<strong>ro</strong>ßes Stück – wieviel von<br />
<strong>de</strong>r Papier<strong>ro</strong>lle? Stellen wir uns eine beliebige Sequenz nebeneinan<strong>de</strong>rliegen<strong>de</strong>r<br />
Co<strong>de</strong>buchstaben auf <strong>de</strong>r Rolle vor. Geben<br />
wir dieser Sequenz <strong>de</strong>n Namen genetische Einheit. Sie könnte<br />
eine Reihe von lediglich zehn Buchstaben innerhalb eines<br />
Cist<strong>ro</strong>ns sein, sie könnte aus einer Folge von acht Cist<strong>ro</strong>ns<br />
bestehen, und sie könnte in <strong>de</strong>r Mitte eines Cist<strong>ro</strong>ns anfangen<br />
und in <strong>de</strong>r Mitte eines Cist<strong>ro</strong>ns aufhören. Sie wird sich mit<br />
an<strong>de</strong>ren genetischen Einheiten überschnei<strong>de</strong>n. Sie wird kleinere<br />
Einheiten enthalten und selbst Teil größerer Einheiten<br />
sein. Gleichgültig, wie lang o<strong>de</strong>r wie kurz, für die Zwecke unserer<br />
gegenwärtigen Überlegung wer<strong>de</strong>n wir dies eine genetische<br />
Einheit nennen. Sie ist nichts an<strong>de</strong>res als ein Ch<strong>ro</strong>mosomenabschnitt,<br />
<strong>de</strong>r sich physisch in keinerlei Weise vom Rest<br />
<strong>de</strong>s Ch<strong>ro</strong>mosoms unterschei<strong>de</strong>t.<br />
Jetzt kommt <strong>de</strong>r wichtige Punkt. Je kürzer eine genetische<br />
Einheit ist, <strong>de</strong>sto länger – in Generationen gemessen – wird sie<br />
wahrscheinlich leben. Um so geringer ist vor allem die Wahrscheinlichkeit,<br />
daß sie bei irgen<strong>de</strong>inem C<strong>ro</strong>ssing-over aufgespalten<br />
wird. Stellen wir uns vor, daß ein ganzes Ch<strong>ro</strong>mosom<br />
je<strong>de</strong>smal, <strong>wen</strong>n durch meiotische Teilung eine Samen- o<strong>de</strong>r
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 60<br />
Eizelle entsteht, durchschnittlich einem C<strong>ro</strong>ssing-over ausgesetzt<br />
ist und daß dieses C<strong>ro</strong>ssing-over an je<strong>de</strong>r Stelle seiner<br />
gesamten Länge stattfin<strong>de</strong>n kann. Betrachten wir eine sehr<br />
g<strong>ro</strong>ße genetische Einheit von beispielsweise <strong>de</strong>r halben Länge<br />
eines Ch<strong>ro</strong>mosoms, so besteht eine Möglichkeit von 50 P<strong>ro</strong>zent,<br />
daß die Einheit aufgespalten wird. Wenn die genetische<br />
Einheit, die wir untersuchen, lediglich ein P<strong>ro</strong>zent <strong>de</strong>r<br />
Ch<strong>ro</strong>mosomenlänge ausmacht, so können wir annehmen, daß<br />
ihre Chance, in einer meiotischen Teilung aufgespalten zu<br />
wer<strong>de</strong>n, nicht mehr als ein P<strong>ro</strong>zent beträgt. Dies be<strong>de</strong>utet, daß<br />
die Einheit erwarten kann, während einer Vielzahl von Generationen<br />
in <strong>de</strong>n Nachkommen <strong>de</strong>s Individuums zu überleben.<br />
Ein einzelnes Cist<strong>ro</strong>n ist wahrscheinlich sehr viel kürzer als<br />
ein P<strong>ro</strong>zent <strong>de</strong>r Länge eines Ch<strong>ro</strong>mosoms. Selbst eine Gruppe<br />
benachbarter Cist<strong>ro</strong>ns kann damit rechnen, daß sie viele Generationen<br />
besteht, bevor sie durch C<strong>ro</strong>ssing-over aufgespalten<br />
wird.<br />
Die durchschnittliche Lebenserwartung einer genetischen<br />
Einheit kann man zweckmäßigerweise in Generationen<br />
ausdrücken, die sich wie<strong>de</strong>rum in Jahre „übersetzen“ lassen.<br />
Wenn wir ein ganzes Ch<strong>ro</strong>mosom als unsere angenommene<br />
genetische Einheit auswählen, so dauert seine Lebensgeschichte<br />
lediglich eine Generation. Nehmen wir an, es sei<br />
unser Ch<strong>ro</strong>mosom Nummer 8a, das wir von unserem Vater<br />
geerbt haben. Es wur<strong>de</strong>, kurz bevor wir gezeugt wur<strong>de</strong>n, in<br />
<strong>de</strong>n Ho<strong>de</strong>n unseres Vaters gebil<strong>de</strong>t. In <strong>de</strong>r gesamten Erdgeschichte<br />
hatte es niemals zuvor existiert. Es entstand durch <strong>de</strong>n<br />
meiotischen Umgruppierungsvorgang, durch das Zusammenkommen<br />
von Ch<strong>ro</strong>mosomen unserer G<strong>ro</strong>ßmutter und unseres<br />
G<strong>ro</strong>ßvaters väterlicherseits, gelangte es in eine bestimmte<br />
Samenzelle und war einzig in seiner Art. Die Samenzelle war<br />
eine von mehreren Millionen, einer gewaltigen Flotte winziger<br />
Schiffe, und alle zusammen segelten sie in unsere Mutter<br />
hinein. Diese spezielle Samenzelle war die einzige (es sei <strong>de</strong>nn,<br />
wir sind ein zweieiiger Zwilling o<strong>de</strong>r Mehrling), die in einer<br />
Eizelle unserer Mutter Zuflucht fand – und das ist <strong>de</strong>r Grund,<br />
warum es uns gibt. Die genetische Einheit, die wir untersu-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 61<br />
chen, unser Ch<strong>ro</strong>mosom Nummer 8a, machte sich daran, sich<br />
zu verdoppeln, ebenso wie <strong>de</strong>r Rest unseres genetischen Materials.<br />
Jetzt ist es in je<strong>de</strong>r Zelle unseres Körpers enthalten.<br />
Doch <strong>wen</strong>n wir selbst Eizellen (o<strong>de</strong>r Samenzellen) herstellen,<br />
wird dieses Ch<strong>ro</strong>mosom zerstört wer<strong>de</strong>n. Stückchen von ihm<br />
wer<strong>de</strong>n gegen Stückchen unseres mütterlichen Ch<strong>ro</strong>mosoms<br />
Nummer 8b ausgetauscht wer<strong>de</strong>n. In je<strong>de</strong>r Geschlechtszelle<br />
wird ein neues Ch<strong>ro</strong>mosom Nummer 8 geschaffen wer<strong>de</strong>n,<br />
vielleicht „besser“, vielleicht „schlechter“ als das alte, aber –<br />
solange nicht ein unwahrscheinlicher Zufall eintritt – ein<strong>de</strong>utig<br />
an<strong>de</strong>rs, ein<strong>de</strong>utig einzigartig. Die Lebensspanne eines Ch<strong>ro</strong>mosoms<br />
ist eine Generation.<br />
Wie sieht es nun mit <strong>de</strong>r Lebensspanne einer kleineren Einheit<br />
aus, nehmen wir einmal an, einem Tausendstel <strong>de</strong>r Länge<br />
unseres Ch<strong>ro</strong>mosoms Nummer 8a? Diese Einheit stammt ebenfalls<br />
von unserem Vater, aber sie wur<strong>de</strong> sehr wahrscheinlich<br />
ursprünglich nicht in ihm zusammengesetzt. Nach unseren<br />
vorangegangenen Überlegungen besteht eine 99-p<strong>ro</strong>zentige<br />
Chance, daß er sie unversehrt von einem seiner bei<strong>de</strong>n Eltern<br />
erhielt. Nehmen wir an, von seiner Mutter, unserer G<strong>ro</strong>ßmutter<br />
väterlicherseits. Wie<strong>de</strong>rum besteht eine 99p<strong>ro</strong>zentige Wahrscheinlichkeit,<br />
daß diese sie unversehrt von einem ihrer Eltern<br />
erhielt. Letzten En<strong>de</strong>s gelangen wir, <strong>wen</strong>n wir die Ahnenreihe<br />
einer kleinen genetischen Einheit weit genug zurückverfolgen,<br />
zu ihrem ursprünglichen Erzeuger. Irgendwann einmal muß<br />
sie zum ersten Mal in einem Ho<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r einem Eierstock eines<br />
unserer Vorfahren erzeugt wor<strong>de</strong>n sein.<br />
Der Leser möge mir erlauben, noch einmal zu wie<strong>de</strong>rholen,<br />
in welchem recht speziellen Sinn ich das Wort „erzeugen“<br />
benutze. Die kleineren Untereinheiten, aus <strong>de</strong>nen sich die von<br />
uns untersuchte genetische Einheit zusammensetzt, mögen<br />
durchaus schon lange vorher bestan<strong>de</strong>n haben. Unsere genetische<br />
Einheit wur<strong>de</strong> lediglich in <strong>de</strong>m Sinne zu einem speziellen<br />
<strong>Zeit</strong>punkt geschaffen, als die spezielle Anordnung von Untereinheiten,<br />
durch die sie <strong>de</strong>finiert ist, vor diesem Augenblick<br />
noch nicht existierte. Der <strong>Zeit</strong>punkt ihrer Erzeugung mag noch<br />
nicht lange zurückliegen, nehmen wir an, sie wur<strong>de</strong> in einem
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 62<br />
unserer G<strong>ro</strong>ßväter geschaffen. Wenn wir aber eine sehr kleine<br />
genetische Einheit untersuchen, so ist sie vielleicht zum ersten<br />
Mal in einem sehr viel weiter entfernten Ahnen zusammengestellt<br />
wor<strong>de</strong>n, vielleicht einem affenähnlichen, prähumanen<br />
Vorfahren. Überdies kann eine kleine genetische Einheit, die<br />
wir in uns tragen, möglicherweise noch einmal genausolang<br />
in <strong>de</strong>r Zukunft weiterleben, kann unversehrt eine lange Reihe<br />
unserer Nachkommen durchlaufen.<br />
Vergessen wir auch nicht, daß die Nachkommen eines Individuums<br />
keine einfache, son<strong>de</strong>rn eine sich verzweigen<strong>de</strong> Linie<br />
darstellen. Welcher unserer Ahnen es auch gewesen sein mag,<br />
<strong>de</strong>r einen speziellen kurzen Abschnitt unseres Ch<strong>ro</strong>mosoms<br />
8a „geschaffen“ hat, er o<strong>de</strong>r sie hat außer uns wahrscheinlich<br />
noch viele an<strong>de</strong>re Nachkommen. Eine unserer genetischen<br />
Einheiten ist vielleicht auch in unserem Vetter zweiten Gra<strong>de</strong>s<br />
vorhan<strong>de</strong>n. Sie kann in mir sein und im Bun<strong>de</strong>skanzler<br />
und in unserem Hund, <strong>de</strong>nn <strong>wen</strong>n wir nur weit genug<br />
zurückgehen, haben wir alle gemeinsame Vorfahren. Ebenso<br />
ist es <strong>de</strong>nkbar, daß dieselbe kleine Einheit durch Zufall mehrere<br />
Male unabhängig voneinan<strong>de</strong>r zusammengesetzt wird;<br />
bei einer kleinen Einheit ist das nicht allzu unwahrscheinlich.<br />
Dagegen dürfte selbst ein naher Verwandter kein ganzes Ch<strong>ro</strong>mosom<br />
mit uns gemeinsam haben. Je kleiner eine genetische<br />
Einheit ist, <strong>de</strong>sto wahrscheinlicher besitzt ein an<strong>de</strong>res Individuum<br />
sie ebenfalls – um so größer ist die Wahrscheinlichkeit,<br />
daß sie in Form von Kopien viele Male hintereinan<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>r<br />
Welt existiert.<br />
Gewöhnlich entsteht eine neue genetische Einheit durch<br />
das zufällige Zusammentreffen schon vorhan<strong>de</strong>ner Untereinheiten<br />
beim C<strong>ro</strong>ssing-over. Eine an<strong>de</strong>re Möglichkeit ist eine<br />
sogenannte Punktmutation. Das ist ein Fehler, <strong>de</strong>r einem einzigen<br />
falsch gedruckten Buchstaben in einem Buch entspricht.<br />
Punktmutationen kommen selten vor, sind aber von g<strong>ro</strong>ßer<br />
Be<strong>de</strong>utung für die Evolution. Je größer eine genetische Einheit<br />
ist, <strong>de</strong>sto größer ist natürlich auch die Wahrscheinlichkeit, daß<br />
sie an irgen<strong>de</strong>iner Stelle durch eine Mutation verän<strong>de</strong>rt wird.<br />
Eine weitere seltene Art von Fehler o<strong>de</strong>r Mutation mit
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 63<br />
be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>n langfristigen Konsequenzen wird als Inversion<br />
bezeichnet. Dabei löst sich ein Ch<strong>ro</strong>mosomenstück an bei<strong>de</strong>n<br />
En<strong>de</strong>n ab, dreht sich um 180 Grad und fügt sich in umgekehrter<br />
Stellung wie<strong>de</strong>r ein. Im Sinne unserer obigen Analogie<br />
wür<strong>de</strong> dies die Umnumerierung einiger Seiten erfor<strong>de</strong>rlich<br />
machen. Gelegentlich drehen sich die Ch<strong>ro</strong>mosomenabschnitte<br />
nicht nur einfach um, son<strong>de</strong>rn wer<strong>de</strong>n an einer völlig<br />
an<strong>de</strong>ren Stelle <strong>de</strong>s Ch<strong>ro</strong>mosoms wie<strong>de</strong>r eingebaut o<strong>de</strong>r verbin<strong>de</strong>n<br />
sich sogar mit einem gänzlich an<strong>de</strong>ren Ch<strong>ro</strong>mosom. Dies<br />
entspricht <strong>de</strong>r Übertragung eines Stoßes von Seiten von einem<br />
Band in einen an<strong>de</strong>ren. Die Be<strong>de</strong>utung dieser Art von Fehler,<br />
<strong>de</strong>r gewöhnlich verhängnisvoll ist, liegt darin, daß er gelegentlich<br />
zu einer engen Koppelung von Stücken genetischen Materials<br />
führen kann, die zufällig gut zusammenarbeiten. Vielleicht<br />
kommen infolge <strong>de</strong>r Inversion zwei Cist<strong>ro</strong>ns nahe beieinan<strong>de</strong>r<br />
zu liegen, die nur dann einen nützlichen Effekt haben, <strong>wen</strong>n<br />
sie bei<strong>de</strong> vorhan<strong>de</strong>n sind – sie ergänzen o<strong>de</strong>r verstärken einan<strong>de</strong>r<br />
auf eine bestimmte Weise. Dann tendiert die natürliche<br />
Auslese möglicherweise dazu, die so gebil<strong>de</strong>te neue „genetische<br />
Einheit“ zu begünstigen, und diese verbreitet sich über<br />
die zukünftige Population. Es ist möglich, daß Genkomplexe<br />
im Laufe <strong>de</strong>r Jahre durch <strong>de</strong>rartige Verfahren ausgiebig neu<br />
arrangiert o<strong>de</strong>r „überarbeitet“ wor<strong>de</strong>n sind.<br />
Eines <strong>de</strong>r prägnantesten Beispiele dafür betrifft das Phänomen,<br />
das unter <strong>de</strong>m Namen Mimikry bekannt ist. Bestimmte<br />
Schmetterlingsarten schmecken wi<strong>de</strong>rlich. Sie haben gewöhnlich<br />
leuchten<strong>de</strong> und charakteristische Farben, und die Vögel<br />
lernen sie anhand dieser Warnsignale mei<strong>de</strong>n. Dies machen<br />
sich an<strong>de</strong>re Schmetterlinge, die nicht schlecht schmecken,<br />
zunutze. Sie ahmen die ungenießbaren Arten nach, das heißt,<br />
sie ähneln diesen in Farbe und Gestalt. Damit halten sie<br />
häufig Naturforscher zum Narren, und ebenso täuschen sie die<br />
Vögel. Ein Vogel, <strong>de</strong>r einmal einen tatsächlich ungenießbaren<br />
Schmetterling p<strong>ro</strong>biert hat, wird gewöhnlich alle Schmetterlinge<br />
mei<strong>de</strong>n, die genauso aussehen. Dazu gehören die Nachahmer,<br />
und auf diese Weise wer<strong>de</strong>n die Gene für Mimikry<br />
durch die natürliche Auslese begünstigt. So entwickelt sich
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 64<br />
Mimikry. Es gibt viele verschie<strong>de</strong>ne Arten von ungenießbaren<br />
Schmetterlingen, und sie sehen nicht alle gleich aus. Ein<br />
Nachahmer kann nicht allen ähnlich sehen, er muß sich also<br />
für eine spezielle ungenießbare Art entschei<strong>de</strong>n. Im allgemeinen<br />
ist je<strong>de</strong> nachahmen<strong>de</strong> Art darauf spezialisiert, eine<br />
ganz bestimmte ungenießbare Spezies zu kopieren. Doch es<br />
gibt Schmetterlingsarten, die etwas sehr Seltsames tun: Einige<br />
ihrer Individuen imitieren eine ungenießbare Art, an<strong>de</strong>re Individuen<br />
eine an<strong>de</strong>re. Je<strong>de</strong>r Schmetterling, <strong>de</strong>r „dazwischenliegen“<br />
o<strong>de</strong>r versuchen wür<strong>de</strong>, bei<strong>de</strong> nachzuahmen, wür<strong>de</strong><br />
bald gefressen wer<strong>de</strong>n, aber <strong>de</strong>rartige „Zwischenexemplare“<br />
wer<strong>de</strong>n gar nicht erst geboren. Gera<strong>de</strong> so, wie je<strong>de</strong>s Individuum<br />
entwe<strong>de</strong>r <strong>de</strong>finitiv männlich o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>finitiv weiblich ist,<br />
imitiert es entwe<strong>de</strong>r die eine o<strong>de</strong>r die an<strong>de</strong>re ungenießbare Art.<br />
Einer dieser Schmetterlinge imitiert vielleicht Art A, während<br />
sein Bru<strong>de</strong>r Art B gleicht.<br />
Es sieht so aus, als bestimme ein einziges Gen, ob ein Individuum<br />
Art A o<strong>de</strong>r Art B imitiert. Doch wie kann ein einzelnes<br />
Gen für alle mannigfaltigen Aspekte <strong>de</strong>r Mimikry – Farbe,<br />
Gestalt, Fleckenmuster, Flugrhythmus – bestimmend sein?<br />
Die Antwort lautet, daß ein einzelnes Gen im Sinne eines<br />
Cist<strong>ro</strong>ns dies wahrscheinlich nicht kann. Doch das sich aus<br />
Inversionen und an<strong>de</strong>ren zufälligen Umgruppierungen von<br />
genetischem Material ergeben<strong>de</strong> unbewußte und automatische<br />
„Überarbeiten“ hat dazu geführt, daß eine g<strong>ro</strong>ße Gruppe<br />
früher getrennter Gene nunmehr in enger Koppelung auf<br />
einem Ch<strong>ro</strong>mosom zusammengefun<strong>de</strong>n hat. Diese gesamte<br />
Gengruppe benimmt sich wie ein einzelnes Gen – nach unserer<br />
Definition ist sie in <strong>de</strong>r Tat ein einzelnes Gen –, und sie<br />
besitzt ein „Allel“, das in Wirklichkeit eine an<strong>de</strong>re Gengruppe<br />
ist. Eine Gengruppe enthält die Cist<strong>ro</strong>ns für Mimikry von Art<br />
A, die an<strong>de</strong>re diejenigen, die für das Imitieren von Art B<br />
verantwortlich sind. Je<strong>de</strong> dieser Gengruppen wird so selten<br />
durch C<strong>ro</strong>ssing-over aufgespalten, daß in <strong>de</strong>r Natur niemals<br />
ein dazwischenliegen<strong>de</strong>r Schmetterling gesehen wird; beim<br />
Züchten g<strong>ro</strong>ßer Mengen von Schmetterlingen im Labor treten<br />
solche Exemplare jedoch gelegentlich auf.
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 65<br />
Ich ver<strong>wen</strong><strong>de</strong> das Wort Gen in <strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung einer genetischen<br />
Einheit, die klein genug ist, um eine Vielzahl von Generationen<br />
zu überdauern und in Form vieler Kopien überall verbreitet<br />
zu sein. Dies ist keine starre Alles-o<strong>de</strong>r-nichts-Definition,<br />
son<strong>de</strong>rn eher eine Art relativer Definition, wie die von<br />
„g<strong>ro</strong>ß“ o<strong>de</strong>r „alt“. Je wahrscheinlicher es ist, daß ein Ch<strong>ro</strong>mosomenabschnitt<br />
durch C<strong>ro</strong>ssing-over aufgespalten o<strong>de</strong>r durch<br />
Mutationen verschie<strong>de</strong>ner Art verän<strong>de</strong>rt wird, um so <strong>wen</strong>iger<br />
qualifiziert dieser sich für die Bezeichnung Gen in <strong>de</strong>m Sinne,<br />
in <strong>de</strong>m ich sie ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>. Ein Cist<strong>ro</strong>n qualifiziert sich vermutlich<br />
dafür, aber auch größere Einheiten. Ein Dutzend Cist<strong>ro</strong>ns<br />
können so dicht nebeneinan<strong>de</strong>r auf einem Ch<strong>ro</strong>mosom liegen,<br />
daß sie für unsere Zwecke eine einzige langlebige Einheit<br />
bil<strong>de</strong>n. Die Gengruppe für die Mimikry <strong>de</strong>r Schmetterlinge ist<br />
ein gutes Beispiel. Wenn die Cist<strong>ro</strong>ns einen Körper verlassen<br />
und in <strong>de</strong>n nächsten eintreten, <strong>wen</strong>n sie für die Reise in die<br />
nächste Generation an Bord einer Samen- o<strong>de</strong>r Eizelle gehen,<br />
so stellen sie wahrscheinlich fest, daß sich auf <strong>de</strong>m kleinen<br />
Schiff auch ihre nächsten Nachbarn von <strong>de</strong>r vorigen Reise<br />
befin<strong>de</strong>n, alte Schiffskamera<strong>de</strong>n, mit <strong>de</strong>nen sie auf <strong>de</strong>r langen<br />
Odyssee gesegelt sind, seit sie in <strong>de</strong>n Körpern lang vergangener<br />
Ahnen zum ersten Mal gebil<strong>de</strong>t wur<strong>de</strong>n. Benachbarte<br />
Cist<strong>ro</strong>ns auf <strong>de</strong>mselben Ch<strong>ro</strong>mosom bil<strong>de</strong>n eine eng verbun<strong>de</strong>ne<br />
Truppe von Reisegefährten, <strong>de</strong>nen es – <strong>wen</strong>n es wie<strong>de</strong>r<br />
einmal <strong>Zeit</strong> für die Meiose ist – nur selten nicht gelingt, an<br />
Bord <strong>de</strong>sselben Schiffes zu gelangen.<br />
Wollte man genau sein, so dürfte dieses Buch we<strong>de</strong>r Das egoistische<br />
Cist<strong>ro</strong>n noch Das egoistische Ch<strong>ro</strong>mosom heißen, son<strong>de</strong>rn<br />
eher Das etwas egoistische g<strong>ro</strong>ße Stückchen Ch<strong>ro</strong>mosom<br />
und das sogar noch egoistischere kleine Stückchen Ch<strong>ro</strong>mosom.<br />
Doch das ist ein – gelin<strong>de</strong> gesagt – nicht gera<strong>de</strong> spannen<strong>de</strong>r<br />
Titel, daher <strong>de</strong>finiere ich ein Gen als ein kleines Stückchen<br />
Ch<strong>ro</strong>mosom, das potentiell viele Generationen überdauert, und<br />
nenne das Buch Das egoistische Gen.<br />
Wir sind jetzt wie<strong>de</strong>r dort angelangt, wo wir am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s<br />
ersten Kapitels stehengeblieben waren. Dort hatten wir gesehen,<br />
daß man bei je<strong>de</strong>m Gebil<strong>de</strong>, welches die Bezeichnung
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 66<br />
Grun<strong>de</strong>inheit <strong>de</strong>r natürlichen Auslese verdient, Egoismus voraussetzen<br />
muß. Wir hatten festgestellt, daß einige Leute die Art<br />
als die Einheit <strong>de</strong>r natürlichen Selektion betrachten, an<strong>de</strong>re<br />
die Population o<strong>de</strong>r Gruppe innerhalb <strong>de</strong>r Art und wie<strong>de</strong>r<br />
an<strong>de</strong>re das Individuum. Ich hatte gesagt, ich zöge es vor, das<br />
Gen als die grundlegen<strong>de</strong> Einheit <strong>de</strong>s Eigennutzes anzusehen.<br />
Nunmehr habe ich das Gen so <strong>de</strong>finiert, daß ich gera<strong>de</strong>zu recht<br />
behalten muß!<br />
Möglichst allgemein formuliert, be<strong>de</strong>utet natürliche Selektion<br />
<strong>de</strong>n unterschiedlichen Überlebenserfolg von Gebil<strong>de</strong>n.<br />
Einige Gebil<strong>de</strong> leben und an<strong>de</strong>re sterben; damit aber dieser<br />
selektive Tod irgen<strong>de</strong>inen Einfluß auf die Welt haben kann,<br />
muß eine zusätzliche Bedingung erfüllt sein. Je<strong>de</strong>s dieser<br />
Gebil<strong>de</strong> muß in Form zahlreicher Kopien existieren, und<br />
zumin<strong>de</strong>st einige Gebil<strong>de</strong> müssen potentiell in <strong>de</strong>r Lage sein –<br />
in <strong>de</strong>r Gestalt von Kopien –, einen signifikanten Evolutionszeitraum<br />
zu überleben. Kleine genetische Einheiten besitzen diese<br />
Eigenschaften; Individuen, Gruppen und Arten besitzen sie<br />
nicht. Es war die g<strong>ro</strong>ße Leistung von Gregor Men<strong>de</strong>l zu zeigen,<br />
daß Erbeinheiten in <strong>de</strong>r Praxis als unteilbare und unabhängige<br />
Partikel behan<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n können. Heute wissen wir, daß dies<br />
etwas zu einfach ist. Selbst ein Cist<strong>ro</strong>n ist gelegentlich teilbar,<br />
und keine zwei Gene auf <strong>de</strong>mselben Ch<strong>ro</strong>mosom sind völlig<br />
voneinan<strong>de</strong>r unabhängig. Ich habe nun soeben das Gen als<br />
eine Einheit <strong>de</strong>finiert, die in hohem Maße <strong>de</strong>m I<strong>de</strong>al <strong>de</strong>s unteilbaren<br />
Partikels nahekommt. Ein Gen ist nicht unteilbar, aber es<br />
wird selten geteilt. Es ist im Körper eines bestimmten Lebewesens<br />
entwe<strong>de</strong>r <strong>de</strong>finitiv vorhan<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>finitiv nicht vorhan<strong>de</strong>n.<br />
Ein Gen reist intakt von G<strong>ro</strong>ßvater o<strong>de</strong>r G<strong>ro</strong>ßmutter zu<br />
Enkel und passiert die dazwischenliegen<strong>de</strong> Generation, ohne<br />
mit an<strong>de</strong>ren Genen zu verschmelzen. Wür<strong>de</strong>n sich die Gene<br />
ständig mischen, so wäre die natürliche Auslese, wie wir sie<br />
heute verstehen, unmöglich. Dies wur<strong>de</strong> übrigens noch zu Lebzeiten<br />
von Darwin nachgewiesen, und es bereitete ihm g<strong>ro</strong>ßen<br />
Verdruß, da man zu jener <strong>Zeit</strong> annahm, die Vererbung sei ein<br />
Mischvorgang. Men<strong>de</strong>ls Ent<strong>de</strong>ckung war bereits veröffentlicht,<br />
und sie hätte Darwin aus seinen Schwierigkeiten heraushelfen
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 67<br />
können, aber lei<strong>de</strong>r erfuhr er niemals davon: Erst Jahre später,<br />
als Darwin und Men<strong>de</strong>l bereits bei<strong>de</strong> gestorben waren, scheint<br />
sie jemand gelesen zu haben. Möglicherweise erkannte Men<strong>de</strong>l<br />
die Be<strong>de</strong>utung seiner Resultate nicht, sonst hätte er vielleicht<br />
an Darwin geschrieben.<br />
Ein weiterer Aspekt <strong>de</strong>r Partikelhaftigkeit <strong>de</strong>s Gens ist <strong>de</strong>r,<br />
daß es nicht altert; für ein Gen ist die Wahrscheinlichkeit<br />
zu sterben im Alter von einer Million Jahren nicht größer<br />
als mit hun<strong>de</strong>rt Jahren. Es springt von Körper zu Körper<br />
durch die Generationen, manipuliert Körper um Körper auf<br />
seine spezielle Art und für seine eigenen Zwecke und verläßt<br />
einen sterblichen Körper nach <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren, bevor dieser in<br />
Altersschwäche und Tod versinkt.<br />
Die Gene sind die Unsterblichen, o<strong>de</strong>r besser: Sie sind als<br />
Einheiten <strong>de</strong>finiert, die etwas nahekommen, das diese Bezeichnung<br />
verdient. Wir, die einzelnen Überlebensmaschinen auf<br />
<strong>de</strong>r Welt, können damit rechnen, noch ein paar Jahrzehnte<br />
zu leben. Die Lebensdauer <strong>de</strong>r Gene auf <strong>de</strong>r Welt jedoch darf<br />
nicht in Jahrzehnten, sie muß in Jahrtausen<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r Jahrmillionen<br />
gemessen wer<strong>de</strong>n.<br />
Bei Arten mit geschlechtlicher Fortpflanzung ist das einzelne<br />
Lebewesen eine zu g<strong>ro</strong>ße und zu vergängliche genetische<br />
Einheit, um sich als signifikante Einheit für die natürliche<br />
Auslese zu qualifizieren. 3 Die Gruppe von Individuen ist<br />
eine sogar noch größere Einheit. Was die Genetik betrifft,<br />
sind Individuen und Gruppen wie Wolken am Himmel o<strong>de</strong>r<br />
Sandstürme in <strong>de</strong>r Wüste. Sie sind temporäre Ansammlungen<br />
o<strong>de</strong>r Zusammenschlüsse, nicht stabil über <strong>Zeit</strong>räume, wie sie<br />
die Evolution benötigt. Populationen können eine lange <strong>Zeit</strong>spanne<br />
überdauern, aber sie mischen sich ständig mit an<strong>de</strong>ren<br />
Populationen und verlieren somit ihre I<strong>de</strong>ntität. Sie sind<br />
außer<strong>de</strong>m evolutionären Verän<strong>de</strong>rungen von innen her ausgesetzt.<br />
Eine Population ist kein ausreichend distinktes Gebil<strong>de</strong>,<br />
um als Einheit <strong>de</strong>r natürlichen Auslese zu dienen; sie ist nicht<br />
stabil und nicht einheitlich genug, als daß sie einer an<strong>de</strong>ren<br />
Population gegenüber selektiert wer<strong>de</strong>n könnte.<br />
Ein einzelner Körper scheint ausreichend distinkt, solange
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 68<br />
er dauert, doch wie lange ist das schon? Je<strong>de</strong>s Individuum<br />
ist einzigartig. Es gibt keine Evolution durch Selektion, <strong>wen</strong>n<br />
von je<strong>de</strong>m Lebewesen jeweils nur eine Kopie existiert! Die<br />
geschlechtliche Fortpflanzung ist keine Replikation. So wie<br />
eine Population von an<strong>de</strong>ren Populationen durchsetzt wird,<br />
so wird die Nachkommenschaft eines Individuums von <strong>de</strong>r<br />
seines Geschlechtspartners kontaminiert. Unsere Kin<strong>de</strong>r sind<br />
nur zur Hälfte wir, unsere Enkel nur zu einem Viertel. In ein<br />
paar Generationen ist das Beste, auf das wir hoffen können,<br />
eine g<strong>ro</strong>ße Zahl von Nachkommen, von <strong>de</strong>nen je<strong>de</strong>r nur ein<br />
winziges bißchen – ein paar Gene – von uns in sich trägt,<br />
selbst <strong>wen</strong>n einige darüber hinaus noch unseren Familiennamen<br />
führen.<br />
Einzelwesen sind keine stabilen Gebil<strong>de</strong>, sie sind vergänglich.<br />
Auch Ch<strong>ro</strong>mosomen wer<strong>de</strong>n gemischt und fallen <strong>de</strong>r Vergessenheit<br />
anheim wie ein Blatt Karten kurz nach <strong>de</strong>m Ausgeben.<br />
Doch die Karten selbst überdauern das Mischen. Die Karten<br />
sind die Gene. Die Gene wer<strong>de</strong>n durch das C<strong>ro</strong>ssing-over<br />
nicht zerstört, sie wechseln einfach ihre Partner und marschieren<br />
weiter. Das ist ihre Aufgabe. Sie sind die Replikatoren,<br />
und wir sind ihre Überlebensmaschinen. Wenn wir unseren<br />
Zweck erfüllt haben, wer<strong>de</strong>n wir beiseite geschoben. Die<br />
Gene aber sind die Bewohner <strong>de</strong>r geologischen <strong>Zeit</strong>: Gene sind<br />
unvergänglich.<br />
Gene sind immerwährend wie Diamanten, aber nicht ganz<br />
auf dieselbe Art wie Diamanten. Bei <strong>de</strong>n Diamanten ist es<br />
ein einzelner Kristall, <strong>de</strong>r als eine unverän<strong>de</strong>rte Atomstruktur<br />
fortdauert. Die DNA-Moleküle besitzen nicht diese Art von<br />
Beständigkeit. Das Leben je<strong>de</strong>s einzelnen DNA-Moleküls<br />
währt recht kurz – vielleicht ein paar Monate, mit Sicherheit<br />
nicht mehr als ein Lebensalter. Doch in Form seiner Kopien<br />
könnte ein DNA-Molekül theoretisch hun<strong>de</strong>rt Millionen Jahre<br />
überdauern. Außer<strong>de</strong>m sind die Kopien eines speziellen Gens<br />
vielleicht über die gesamte Welt verteilt, gera<strong>de</strong> so wie bei <strong>de</strong>n<br />
alten Replikatoren in <strong>de</strong>r Ursuppe. Der Unterschied ist nur<br />
<strong>de</strong>r, daß die mo<strong>de</strong>rnen Ausgaben alle or<strong>de</strong>ntlich im Innern <strong>de</strong>r<br />
Körper von Überlebensmaschinen verpackt sind.
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 69<br />
Ich unterstreiche also hier die potentielle Fast-Unsterblichkeit<br />
eines Gens in Gestalt seiner Kopien als eine das Gen <strong>de</strong>finieren<strong>de</strong><br />
Eigenschaft. Ein Gen als ein einzelnes Cist<strong>ro</strong>n zu <strong>de</strong>finieren,<br />
ist für einige Zwecke richtig, für die Zwecke <strong>de</strong>r Evolutionstheorie<br />
muß diese Definition jedoch erweitert wer<strong>de</strong>n.<br />
Das Ausmaß <strong>de</strong>r Erweiterung ist vom Zweck <strong>de</strong>r Definition<br />
abhängig. Wir suchen die brauchbare Einheit <strong>de</strong>r natürlichen<br />
Auslese. Zu diesem Zweck stellen wir zunächst fest, welche<br />
Eigenschaften eine erfolgreiche Einheit <strong>de</strong>r natürlichen Auslese<br />
haben muß. Im Sinne <strong>de</strong>s vorigen Kapitels waren dies<br />
Langlebigkeit, Fruchtbarkeit und Kopiergenauigkeit. Sodann<br />
<strong>de</strong>finieren wir ein Gen einfach als das größte Gebil<strong>de</strong>, das –<br />
zumin<strong>de</strong>st potentiell – diese Eigenschaften besitzt. Ein Gen<br />
ist ein langlebiger Replikator, <strong>de</strong>r in Form zahlreicher Kopien<br />
besteht. Seine Lebensdauer ist nicht unbegrenzt. Selbst ein<br />
Diamant ist nicht im buchstäblichen Sinne immerwährend,<br />
und selbst ein Cist<strong>ro</strong>n kann durch C<strong>ro</strong>ssing-over in zwei Teile<br />
aufgespalten wer<strong>de</strong>n. Ein Gen ist <strong>de</strong>finiert als ein Stück Ch<strong>ro</strong>mosom,<br />
das so kurz ist, daß es potentiell lange genug leben<br />
kann, um als eine signifikante Einheit <strong>de</strong>r natürlichen Selektion<br />
zu fungieren.<br />
Wie lange genau ist „lange genug“? Eine ausnahmslos<br />
gültige Antwort gibt es nicht. Es kommt darauf an, wie stark<br />
<strong>de</strong>r „Selektionsdruck“ ist, das heißt, mit wieviel größerer Wahrscheinlichkeit<br />
eine „schlechte“ genetische Einheit stirbt als ihr<br />
„gutes“ Allel. Ausschlaggebend dafür sind quantitative Einzelheiten,<br />
die von Fall zu Fall variieren wer<strong>de</strong>n. Es zeigt sich, daß<br />
die größte brauchbare Einheit <strong>de</strong>r natürlichen Auslese – das<br />
Gen – in <strong>de</strong>r Größenordnung gewöhnlich irgendwo zwischen<br />
Cist<strong>ro</strong>n und Ch<strong>ro</strong>mosom liegt.<br />
Was das Gen zu einem aussichtsreichen Anwärter auf die<br />
Einstufung als Grun<strong>de</strong>inheit <strong>de</strong>r natürlichen Auslese macht,<br />
ist seine potentielle Unsterblichkeit. Doch jetzt ist es an <strong>de</strong>r<br />
<strong>Zeit</strong>, das Wort „potentiell“ zu betonen. Ein Gen kann eine Million<br />
Jahre lang leben, doch vielen neuen Genen gelingt es<br />
nicht einmal, die erste Generation zu überdauern. Die <strong>wen</strong>igen<br />
neuen Gene, die erfolgreich sind, haben zum Teil einfach Glück,
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 70<br />
vor allem aber haben sie „das Zeug dazu“, und das be<strong>de</strong>utet,<br />
sie sind gute Konstrukteure von Überlebensmaschinen. Sie<br />
beeinflussen die Embryonalentwicklung je<strong>de</strong>s <strong>de</strong>r aufeinan<strong>de</strong>rfolgen<strong>de</strong>n<br />
Körper, in <strong>de</strong>nen sie sich befin<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>rart, daß<br />
dieser Körper eine geringfügig größere Chance hat, zu leben<br />
und sich zu rep<strong>ro</strong>duzieren, als er sie unter <strong>de</strong>m Einfluß <strong>de</strong>s<br />
konkurrieren<strong>de</strong>n Gens o<strong>de</strong>r Allels gehabt hätte. Beispielsweise<br />
gewährleistet ein „gutes“ Gen sein Überleben dadurch, daß es<br />
dazu neigt, die aufeinan<strong>de</strong>rfolgen<strong>de</strong>n Körper, in <strong>de</strong>nen es sich<br />
befin<strong>de</strong>t, mit langen Beinen auszustatten, die diesen Körpern<br />
bei <strong>de</strong>r Flucht vor Räubern helfen. Dies ist ein spezielles Beispiel,<br />
kein allgemeingültiges. Lange Beine sind schließlich<br />
nicht immer ein vorteilhafter Besitz. Für einen Maulwurf<br />
wären sie ein Handikap. Doch können wir uns, statt in Einzelheiten<br />
steckenzubleiben, nicht irgendwelche universellen<br />
Eigenschaften vorstellen, von <strong>de</strong>nen wir annehmen wür<strong>de</strong>n,<br />
daß sie in allen guten (das heißt langlebigen) Genen zu fin<strong>de</strong>n<br />
sein müßten? Und umgekehrt: Welches sind die Eigenschaften,<br />
die ein Gen sofort als ein „schlechtes“, das heißt kurzlebiges<br />
Gen kennzeichnen? Es mag mehrere solcher universellen<br />
Eigenschaften geben, aber eine ist für dieses Buch ganz<br />
beson<strong>de</strong>rs relevant: Auf <strong>de</strong>r Ebene <strong>de</strong>s Gens muß Altruismus<br />
schlecht und Egoismus gut sein. Dies folgt unweigerlich aus<br />
unseren Definitionen von Altruismus und Egoismus. Gene<br />
kämpfen mit ihren Allelen unmittelbar ums Dasein, da ihre<br />
Allele im Genpool Rivalen für ihren Genort auf <strong>de</strong>n Ch<strong>ro</strong>mosomen<br />
zukünftiger Generationen sind. Je<strong>de</strong>s Gen, welches sich<br />
so verhält, daß es seine eigenen Überlebenschancen im Genpool<br />
auf Kosten seiner Allele vergrößert, wird <strong>de</strong>finitionsgemäß<br />
dazu neigen zu überleben – das ist eine Tautologie. Das Gen ist<br />
die Grun<strong>de</strong>inheit <strong>de</strong>s Eigennutzes.<br />
Die wichtigste Aussage dieses Kapitels ist nunmehr gemacht.<br />
Doch bin ich über einige Schwierigkeiten und stillschweigen<strong>de</strong><br />
Annahmen hinweggeglitten. Die erste Schwierigkeit ist bereits<br />
kurz erwähnt wor<strong>de</strong>n. So unabhängig und frei die Gene auf<br />
ihrer Reise durch die Generationen auch sein mögen, bei <strong>de</strong>r<br />
Steuerung <strong>de</strong>r Embryonalentwicklung han<strong>de</strong>ln sie sehr <strong>wen</strong>ig
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 71<br />
frei und unabhängig. Zwischen <strong>de</strong>n Genen untereinan<strong>de</strong>r wie<br />
auch zwischen <strong>de</strong>n Genen und ihrer äußeren Umwelt fin<strong>de</strong>t<br />
auf unentwirrbar komplizierte Weise eine Zusammenarbeit<br />
und wechselseitige Beeinflussung statt. Ausdrücke wie „Gene<br />
für lange Beine“ o<strong>de</strong>r „Gene für uneigennütziges Verhalten“<br />
sind bequeme Sprachfiguren, aber es ist wichtig, daß wir verstehen,<br />
was sie be<strong>de</strong>uten. Es gibt kein Gen, das für sich allein<br />
ein Bein baut, gleichgültig ob lang o<strong>de</strong>r kurz. Die Fabrikation<br />
eines Beines ist ein Unternehmen, das die Zusammenarbeit<br />
zahlreicher Gene erfor<strong>de</strong>rt. Auch die äußere Umwelt ist daran<br />
beteiligt: Letzten En<strong>de</strong>s wer<strong>de</strong>n Beine eigentlich aus Nahrung<br />
gemacht! Aber es kann sehr wohl ein einzelnes Gen geben, das<br />
unter sonst gleichen Bedingungen gewöhnlich dafür sorgt, daß<br />
Beine länger wer<strong>de</strong>n, als sie unter <strong>de</strong>m Einfluß seines Allels<br />
wer<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>n.<br />
Stellen wir uns als ein analoges Bild <strong>de</strong>n Einfluß eines<br />
Düngemittels auf das Wachstum von Weizen vor. Je<strong>de</strong>r weiß,<br />
daß Weizenpflanzen bei Zugabe von Nitrat größer wer<strong>de</strong>n.<br />
Aber niemand wäre so töricht zu behaupten, daß Nitrat allein<br />
ausreicht, um eine Weizenpflanze entstehen zu lassen. Zweifellos<br />
sind außer<strong>de</strong>m Samen, Bo<strong>de</strong>n, Sonne, Wasser und verschie<strong>de</strong>ne<br />
Mineralien nötig. Doch <strong>wen</strong>n alle diese Faktoren<br />
konstant gehalten wer<strong>de</strong>n, selbst dann, <strong>wen</strong>n sie innerhalb<br />
gewisser Grenzen variieren dürfen, wird <strong>de</strong>r Zusatz von Nitrat<br />
das Wachstum <strong>de</strong>r Weizenpflanzen för<strong>de</strong>rn. Ebenso ist es mit<br />
<strong>de</strong>n einzelnen Genen bei <strong>de</strong>r Entwicklung eines Embryos. Die<br />
Embryonalentwicklung wird durch ein Netz aus ineinan<strong>de</strong>r<br />
verflochtenen Beziehungen gesteuert, das so verwickelt ist,<br />
daß wir am besten darauf verzichten, es näher zu betrachten.<br />
Es gibt keinen einzelnen – genetischen o<strong>de</strong>r umweltbedingten<br />
– Faktor, <strong>de</strong>r als die einzige „Ursache“ für irgen<strong>de</strong>inen Teil<br />
eines Babys angesehen wer<strong>de</strong>n kann. Alle Teile eines Babys<br />
haben eine nahezu unendlich g<strong>ro</strong>ße Zahl von Ursachen. Aber<br />
ein Unterschied zwischen zwei Babys, beispielsweise in <strong>de</strong>r<br />
Beinlänge, könnte leicht auf einen o<strong>de</strong>r ein paar einfache vorangehen<strong>de</strong><br />
Unterschie<strong>de</strong> zurückgeführt wer<strong>de</strong>n. Die Unterschie<strong>de</strong><br />
sind das, worauf es im Kampf ums Dasein ankommt;
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 72<br />
und bei <strong>de</strong>r Evolution kommt es auf die genetisch gesteuerten<br />
Unterschie<strong>de</strong> an.<br />
Was ein Gen betrifft, so sind seine Allele seine tödlichen<br />
Rivalen, die an<strong>de</strong>ren Gene jedoch sind einfach ein Teil seiner<br />
Umwelt, vergleichbar mit <strong>de</strong>r Temperatur, mit Nahrung,<br />
Räubern o<strong>de</strong>r Gefährten. Die Wirkung <strong>de</strong>s Gens ist von seiner<br />
Umwelt abhängig, und diese schließt an<strong>de</strong>re Gene ein. Manchmal<br />
hat ein Gen in Gegenwart eines speziellen an<strong>de</strong>ren Gens<br />
eine bestimmte Wirkung und in Gegenwart einer an<strong>de</strong>ren<br />
Gruppe von Gengefährten eine völlig an<strong>de</strong>re. Der gesamte<br />
Gensatz in einem Körper stellt eine Art genetisches Klima o<strong>de</strong>r<br />
genetischen Hintergrund dar, <strong>de</strong>r die Auswirkungen je<strong>de</strong>s speziellen<br />
Gens verän<strong>de</strong>rt o<strong>de</strong>r beeinflußt.<br />
Doch hier sind wir scheinbar auf einen inneren Wi<strong>de</strong>rspruch<br />
gestoßen. Wenn die Herstellung eines Babys ein <strong>de</strong>rart verwickeltes<br />
Unterfangen ist und <strong>wen</strong>n je<strong>de</strong>s Gen mehrere tausend<br />
Gengefährten braucht, um seine Aufgabe zu erfüllen, wie<br />
können wir dies mit meiner Darstellung <strong>de</strong>s unteilbaren Gens<br />
in Einklang bringen, das wie eine unsterbliche Gemse durch<br />
die <strong>Zeit</strong>alter von Körper zu Körper springt, als freier, ungebun<strong>de</strong>ner<br />
und eigennütziger Träger <strong>de</strong>s Lebens? War das alles<br />
Unsinn? Durchaus nicht. Vielleicht habe ich mich etwas vom<br />
rhetorischen Schwung mitreißen lassen, aber ich habe keinen<br />
Unsinn erzählt, und es gibt keinen wirklichen inneren Wi<strong>de</strong>rspruch.<br />
Wir können dies mit Hilfe eines an<strong>de</strong>ren Bil<strong>de</strong>s ver<strong>de</strong>utlichen.<br />
Ein einzelner Ru<strong>de</strong>rer, auf sich allein gestellt, kann die<br />
Ru<strong>de</strong>rregatta zwischen Oxford und Cambridge nicht gewinnen.<br />
Er braucht acht Kamera<strong>de</strong>n, die mitru<strong>de</strong>rn. Je<strong>de</strong>r dieser<br />
Kamera<strong>de</strong>n ist ein Spezialist, <strong>de</strong>r stets in einem bestimmten<br />
Teil <strong>de</strong>s Bootes sitzt – entwe<strong>de</strong>r im Bug o<strong>de</strong>r am Platz <strong>de</strong>s<br />
Schlagmannes, <strong>de</strong>s Steuermannes und so weiter. Das Ru<strong>de</strong>rn<br />
<strong>de</strong>s Bootes ist ein gemeinschaftliches Unterfangen, aber nichts<strong>de</strong>sto<strong>wen</strong>iger<br />
sind einige Männer darin besser als an<strong>de</strong>re.<br />
Nehmen wir an, ein Trainer habe seine i<strong>de</strong>ale Mannschaft<br />
aus einem Reservoir von Bewerbern auszuwählen, von <strong>de</strong>nen<br />
jeweils einige beson<strong>de</strong>rs für <strong>de</strong>n Platz im Bug, an<strong>de</strong>re als Steu-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 73<br />
ermann und so weiter geeignet sind. Stellen wir uns vor, er<br />
trifft seine Wahl folgen<strong>de</strong>rmaßen: Je<strong>de</strong>n Tag stellt er durch<br />
zufälliges Herumschieben <strong>de</strong>r Bewerber um je<strong>de</strong> Position drei<br />
neue Ausscheidungsmannschaften zusammen und läßt diese<br />
drei Mannschaften gegeneinan<strong>de</strong>r starten. Wenn er dies einige<br />
Wochen lang macht, beginnt sich herauszustellen, daß das<br />
Siegerboot häufig dieselben einzelnen Männer enthält. Diese<br />
wer<strong>de</strong>n als gute Ru<strong>de</strong>rer vermerkt. An<strong>de</strong>re scheinen sich<br />
ständig in <strong>de</strong>n langsameren Mannschaften zu befin<strong>de</strong>n, und<br />
diese wer<strong>de</strong>n schließlich abgelehnt. Aber selbst ein hervorragen<strong>de</strong>r<br />
Ru<strong>de</strong>rer kann gelegentlich einer langsamen Mannschaft<br />
angehören, entwe<strong>de</strong>r weil die übrigen Mannschaftsmitglie<strong>de</strong>r<br />
so schlecht sind o<strong>de</strong>r weil er Pech hatte – zum Beispiel<br />
starken Gegenwind. Lediglich im Durchschnitt gesehen sitzen<br />
die besten Männer gewöhnlich im Gewinnerboot.<br />
Die Ru<strong>de</strong>rer sind die Gene. Die Rivalen für je<strong>de</strong>n Platz im<br />
Boot sind die Allele, die potentiell in <strong>de</strong>r Lage sind, <strong>de</strong>nselben<br />
Platz auf einem Ch<strong>ro</strong>mosomenabschnitt einzunehmen. Das<br />
schnelle Ru<strong>de</strong>rn entspricht <strong>de</strong>m Bau eines Körpers, <strong>de</strong>r erfolgreich<br />
überlebt. Der Wind ist die äußere Umwelt, das Reservoir<br />
alternativer Bewerber <strong>de</strong>r Genpool. Soweit es das Überleben<br />
eines Körpers betrifft, sitzen alle seine Gene im selben Boot.<br />
Manch gutes Gen gerät in schlechte Gesellschaft und stellt fest,<br />
daß es <strong>de</strong>n Körper mit einem letalen Gen teilt, welches diesen<br />
im Kin<strong>de</strong>salter tötet. Dann wird das gute Gen zusammen mit<br />
<strong>de</strong>n übrigen zerstört. Doch dies ist nur ein Körper, und Kopien<br />
<strong>de</strong>sselben guten Gens leben in an<strong>de</strong>ren Körpern weiter, die<br />
das tödliche Gen nicht enthalten. Viele Kopien guter Gene<br />
gehen unter, weil sie sich zufällig mit schlechten Genen in<br />
einen Körper teilen, und viele kommen um, weil ihnen an<strong>de</strong>re<br />
Formen von Mißgeschick wi<strong>de</strong>rfahren, beispielsweise <strong>wen</strong>n<br />
ihr Körper vom Blitz get<strong>ro</strong>ffen wird. Aber <strong>de</strong>finitionsgemäß<br />
schlägt <strong>de</strong>r Zufall – <strong>de</strong>r glückliche wie <strong>de</strong>r unglückliche – aufs<br />
Geratewohl zu, und ein Gen, das beständig auf <strong>de</strong>r Seite <strong>de</strong>r<br />
Verlierer ist, ist kein Gen, das Pech hat; es ist ein schlechtes<br />
Gen.<br />
Eine <strong>de</strong>r Eigenschaften eines guten Ru<strong>de</strong>rers ist Teamgeist,
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 74<br />
das heißt die Fähigkeit, sich anzupassen und mit <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren<br />
in einer Mannschaft zusammenzuarbeiten. Dies kann gera<strong>de</strong><br />
so wichtig sein wie kräftige Muskeln. Wie wir im Fall <strong>de</strong>r<br />
Schmetterlinge gesehen haben, kann die natürliche Auslese<br />
durch Inversionen und an<strong>de</strong>re Umstellungen ganzer Ch<strong>ro</strong>mosomenabschnitte<br />
blindlings einen Genkomplex „überarbeiten“<br />
und dabei Gene, die gut zusammenarbeiten, in eng miteinan<strong>de</strong>r<br />
verbun<strong>de</strong>ne Gruppen zusammenfügen. In gewisser Beziehung<br />
wer<strong>de</strong>n aber auch Gene, die in keinerlei Weise physisch<br />
miteinan<strong>de</strong>r verbun<strong>de</strong>n sind, wegen ihrer gegenseitigen Vereinbarkeit<br />
selektiert. Ein Gen, das mit <strong>de</strong>n meisten an<strong>de</strong>ren<br />
Genen, die es in aufeinan<strong>de</strong>rfolgen<strong>de</strong>n Körpern wahrscheinlich<br />
treffen wird, das heißt mit <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Genen im Genpool,<br />
gut zusammenarbeitet, wird gewöhnlich im Vorteil sein.<br />
Zum Beispiel gibt es eine Reihe von Eigenschaften, die in<br />
einem effizienten Körper eines Fleischfressers wünschenswert<br />
sind, darunter scharfe Reißzähne, die richtige Art von Eingewei<strong>de</strong>n<br />
zum Verdauen von Fleisch und viele an<strong>de</strong>re. Ein effizienter<br />
Pflanzenfresser an<strong>de</strong>rerseits braucht flache Mahlzähne<br />
und einen viel längeren Verdauungstrakt mit einer an<strong>de</strong>rsgearteten<br />
Verdauungschemie. In einem Genpool von Pflanzenfressern<br />
wäre je<strong>de</strong>s neue Gen, das seinen Besitzer mit scharfen<br />
Fleischfresserzähnen ausstattete, nicht sehr erfolgreich. Und<br />
zwar nicht, weil Fleischfressen allgemein eine schlechte Eigenschaft<br />
ist, son<strong>de</strong>rn weil man nicht effizient Fleisch verzehren<br />
kann, <strong>wen</strong>n man nicht außer<strong>de</strong>m die richtige Art von Verdauungsapparat<br />
und all die an<strong>de</strong>ren Eigenschaften besitzt, die für<br />
eine fleischfressen<strong>de</strong> Lebensweise nötig sind. Gene für scharfe<br />
Fleischfresserzähne sind nicht an sich schlechte Gene. Sie sind<br />
schlechte Gene lediglich in einem Genpool, <strong>de</strong>r von Genen für<br />
Pflanzenfressereigenschaften beherrscht wird.<br />
Dies ist ein subtiler, komplizierter Gedanke. Kompliziert<br />
<strong>de</strong>shalb, weil die „Umwelt“ eines Gens überwiegend aus an<strong>de</strong>ren<br />
Genen besteht, von <strong>de</strong>nen je<strong>de</strong>s selbst wie<strong>de</strong>rum wegen<br />
seiner Fähigkeit selektiert wor<strong>de</strong>n ist, mit seiner Umwelt von<br />
an<strong>de</strong>ren Genen zusammenzuarbeiten. Zwar gibt es ein Analogon<br />
zu diesem schwierigen Gegenstand, aber es stammt
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 75<br />
nicht aus <strong>de</strong>r tagtäglichen Erfahrung. Es han<strong>de</strong>lt sich um die<br />
menschliche „Spieltheorie“, die wir in Kapitel 5 im Zusammenhang<br />
mit aggressiven Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen zwischen einzelnen<br />
Tieren einführen wer<strong>de</strong>n. Ich verschiebe daher die weitere<br />
Erörterung dieses Punktes auf das En<strong>de</strong> von Kapitel 5<br />
und kehre zur Hauptaussage dieses Kapitels zurück. Das ist<br />
<strong>de</strong>r Gedanke, daß man als die Grun<strong>de</strong>inheit <strong>de</strong>r natürlichen<br />
Selektion nicht die Art, auch nicht die Population und noch<br />
nicht einmal das Individuum betrachten sollte, son<strong>de</strong>rn eine<br />
bestimmte kleine Einheit genetischen Materials, <strong>de</strong>r man aus<br />
Grün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Zweckmäßigkeit <strong>de</strong>n Namen Gen gibt. Dieser<br />
Gedankengang basiert, wie schon früher dargestellt, auf <strong>de</strong>r<br />
Annahme, daß Gene potentiell unsterblich sind, Körper und<br />
alle an<strong>de</strong>ren höheren Einheiten dagegen vergänglich. Die<br />
Annahme beruht ihrerseits auf zwei Tatsachen: zum einen auf<br />
<strong>de</strong>r Existenz <strong>de</strong>r sexuellen Fortpflanzung und <strong>de</strong>s C<strong>ro</strong>ssingover<br />
und zum an<strong>de</strong>ren auf <strong>de</strong>r Sterblichkeit <strong>de</strong>r Individuen.<br />
Diese Tatsachen sind unleugbar wahr. Doch das hin<strong>de</strong>rt uns<br />
nicht zu fragen, warum sie wahr sind. Warum praktizieren wir<br />
und die Mehrheit <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Überlebensmaschinen sexuelle<br />
Fortpflanzung? Warum betreiben unsere Ch<strong>ro</strong>mosomen C<strong>ro</strong>ssing-over?<br />
Und warum leben wir nicht ewig?<br />
Die Antwort auf die Frage, warum wir sterben, <strong>wen</strong>n<br />
wir alt gewor<strong>de</strong>n sind, ist kompliziert, und die Einzelheiten<br />
gehen über <strong>de</strong>n Rahmen dieses Buches hinaus. Neben spezifischen<br />
Ursachen sind auch einige allgemeinere Grün<strong>de</strong> vorgebracht<br />
wor<strong>de</strong>n. Eine Theorie beispielsweise besagt, daß<br />
Altersschwäche eine Anhäufung schädlicher Kopierfehler und<br />
an<strong>de</strong>rer Arten von Genschä<strong>de</strong>n ist, die im Laufe <strong>de</strong>s Lebens<br />
auftreten. Eine an<strong>de</strong>re, von Sir Peter Medawar stammen<strong>de</strong><br />
Theorie ist ein gutes Beispiel für eine Betrachtung <strong>de</strong>r Evolution<br />
im Sinne <strong>de</strong>r Genselektion. 4 Medawar verwirft zunächst<br />
herkömmliche Argumente, wie etwa folgen<strong>de</strong>s: „Der Tod alter<br />
Individuen ist ein Akt von Altruismus gegenüber <strong>de</strong>m Rest <strong>de</strong>r<br />
Art, weil durch ihr Weiterleben, nach<strong>de</strong>m sie für die Fortpflanzung<br />
zu schwach gewor<strong>de</strong>n sind, die Welt nur sinnlos vollgestopft<br />
wür<strong>de</strong>.“ Wie Medawar zeigt, ist dies ein Zirkelschluß, <strong>de</strong>r
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 76<br />
gera<strong>de</strong> das voraussetzt, was zu beweisen er sich vorgenommen<br />
hat, nämlich daß alte Tiere zu schwach zur Fortpflanzung sind.<br />
Es ist darüber hinaus eine unkritische Art von Erklärung auf<br />
<strong>de</strong>r Grundlage <strong>de</strong>r Gruppen- o<strong>de</strong>r Artselektion, <strong>wen</strong>ngleich es<br />
möglich wäre, diesen Teil etwas konventioneller umzuformulieren.<br />
Medawars eigene Theorie besitzt eine wun<strong>de</strong>rschöne<br />
Logik. Wir können sie folgen<strong>de</strong>rmaßen rekonstruieren.<br />
Wir haben bereits die Frage gestellt, welche Attribute alle<br />
„guten“ Gene haben müssen, und kamen zu <strong>de</strong>m Schluß,<br />
daß Eigennutz eines von ihnen ist. Eine weitere allgemeine<br />
Eigenschaft, über die erfolgreiche Gene verfügen wer<strong>de</strong>n, ist<br />
die Ten<strong>de</strong>nz, <strong>de</strong>n Tod ihrer Überlebensmaschinen zumin<strong>de</strong>st<br />
bis nach <strong>de</strong>r Rep<strong>ro</strong>duktion hinauszuschieben. Zweifellos sind<br />
einige unserer Vettern o<strong>de</strong>r G<strong>ro</strong>ßonkel im Kin<strong>de</strong>salter gestorben,<br />
aber nicht ein einziger unserer Vorfahren starb so früh.<br />
Vorfahren sterben einfach nicht jung!<br />
Ein Gen, das <strong>de</strong>n Tod seines Besitzers herbeiführt, bezeichnet<br />
man als letales Gen. Ein semiletales Gen hat einen<br />
schwächen<strong>de</strong>n Einfluß, <strong>de</strong>r dazu führt, daß die Wahrscheinlichkeit<br />
<strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s aus an<strong>de</strong>ren Grün<strong>de</strong>n zunimmt. Je<strong>de</strong>s Gen<br />
übt seinen größten Einfluß auf <strong>de</strong>n Körper in einem speziellen<br />
Lebensstadium aus, und letale und semiletale Gene<br />
bil<strong>de</strong>n keine Ausnahme. Die meisten Gene wer<strong>de</strong>n während<br />
<strong>de</strong>s Fötalstadiums wirksam, an<strong>de</strong>re im Kin<strong>de</strong>salter, während<br />
<strong>de</strong>r Jugend, im mittleren Alter und wie<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re, <strong>wen</strong>n <strong>de</strong>r<br />
Körper alt ist. (Denken wir daran, daß die Raupe und <strong>de</strong>r<br />
Schmetterling, <strong>de</strong>r aus ihr entsteht, genau <strong>de</strong>nselben Satz von<br />
Genen besitzen.) Es liegt auf <strong>de</strong>r Hand, daß die Ten<strong>de</strong>nz bestehen<br />
wird, letale Gene aus <strong>de</strong>m Genpool zu beseitigen. Aber<br />
ebenso offensichtlich ist es, daß ein spät wirken<strong>de</strong>s letales Gen<br />
im Genpool stabiler sein wird als ein früh wirken<strong>de</strong>s letales<br />
Gen. Ein Gen, das in einem älteren Körper letal ist, kann im<br />
Genpool <strong>de</strong>nnoch erfolgreich sein, vorausgesetzt sein letaler<br />
Effekt macht sich erst bemerkbar, nach<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Körper <strong>Zeit</strong><br />
gehabt hat, sich zumin<strong>de</strong>st in gewissem Umfang zu rep<strong>ro</strong>duzieren.<br />
Beispielsweise könnte ein Gen, das in älteren Körpern<br />
Krebs hervorruft, an zahlreiche Nachkommen weitergegeben
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 77<br />
wer<strong>de</strong>n, weil die Individuen sich fortpflanzen wür<strong>de</strong>n, bevor<br />
sie Krebs bekämen. An<strong>de</strong>rerseits wür<strong>de</strong> ein Gen, das Krebs in<br />
jungen Körpern hervorriefe, nicht an viele Nachkommen vererbt<br />
wer<strong>de</strong>n, und ein Gen, das tödlichen Krebs bei kleinen Kin<strong>de</strong>rn<br />
hervorriefe, wür<strong>de</strong> überhaupt nicht vererbt. Nach dieser<br />
Theorie also ist <strong>de</strong>r Alterstod lediglich ein Nebenp<strong>ro</strong>dukt <strong>de</strong>r<br />
Ansammlung spät wirken<strong>de</strong>r letaler und semiletaler Gene im<br />
Genpool, <strong>de</strong>nen es nur <strong>de</strong>shalb gelungen ist, durch das Netz<br />
<strong>de</strong>r natürlichen Auslese zu schlüpfen, weil sie spät zur Wirkung<br />
gelangen.<br />
Medawar selbst hebt beson<strong>de</strong>rs <strong>de</strong>n Aspekt hervor, daß<br />
die Selektion Gene begünstigen wird, welche die Wirksamkeit<br />
an<strong>de</strong>rer, letaler Gene hinausschieben, und daß sie ebenso Gene<br />
för<strong>de</strong>rn wird, die die Wirksamkeit guter Gene beschleunigen.<br />
Es mag sein, daß ein G<strong>ro</strong>ßteil <strong>de</strong>r Evolution aus genetisch<br />
gesteuerten Verän<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>s <strong>Zeit</strong>punktes besteht, zu <strong>de</strong>m<br />
die Genaktivität einsetzt.<br />
Bemerkenswert ist an dieser Theorie, daß sie nicht die<br />
Annahme voraussetzt, die Rep<strong>ro</strong>duktion erfolge nur in<br />
bestimmten Lebensstadien. Wür<strong>de</strong>n wir von <strong>de</strong>r Voraussetzung<br />
ausgehen, alle Lebewesen könnten mit <strong>de</strong>r gleichen Wahrscheinlichkeit<br />
in je<strong>de</strong>m beliebigen Alter Nachkommen haben,<br />
so wür<strong>de</strong> Medawars Theorie bald die Akkumulation spät wirken<strong>de</strong>r<br />
schädlicher Gene im Genpool voraussagen, und daraus<br />
wür<strong>de</strong> sekundär die Ten<strong>de</strong>nz folgen, sich im hohen Alter <strong>wen</strong>iger<br />
zu rep<strong>ro</strong>duzieren.<br />
Als Nebeneffekt hat diese Theorie unter an<strong>de</strong>rem <strong>de</strong>n<br />
Vorzug, uns zu einigen recht interessanten Spekulationen zu<br />
verleiten. Beispielsweise folgt aus ihr, daß wir, <strong>wen</strong>n wir die<br />
Lebensdauer <strong>de</strong>s Menschen verlängern wollten, dies im Prinzip<br />
auf zweierlei Weise erreichen könnten. Erstens könnten<br />
wir die Fortpflanzung vor einem bestimmten Alter, nehmen<br />
wir einmal an vierzig, verbieten. Nach einigen Jahrhun<strong>de</strong>rten<br />
wür<strong>de</strong> die untere Altersgrenze auf fünfzig angehoben wer<strong>de</strong>n<br />
und so weiter. Es ist <strong>de</strong>nkbar, daß die Lebensdauer <strong>de</strong>s Menschen<br />
auf diese Weise auf mehrere hun<strong>de</strong>rt Jahre hochgetrieben<br />
wer<strong>de</strong>n könnte. Allerdings kann ich mir nicht vorstel-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 78<br />
len, daß irgend jemand ernsthaft eine solche Politik einführen<br />
wollte.<br />
Zum zweiten könnten wir versuchen, Gene zu „täuschen“,<br />
sie glauben zu machen, daß sie in einem jüngeren Körper<br />
sitzen, als es tatsächlich <strong>de</strong>r Fall ist. Für die Praxis hieße dies,<br />
daß man feststellen müßte, welche Verän<strong>de</strong>rungen während<br />
<strong>de</strong>s Alterns in <strong>de</strong>r inneren chemischen Umwelt eines Körpers<br />
stattfin<strong>de</strong>n. Je<strong>de</strong> dieser Verän<strong>de</strong>rungen könnte das „Signal“<br />
sein, welches die spät wirken<strong>de</strong>n letalen Gene „einschaltet“.<br />
Durch Simulation <strong>de</strong>r oberflächlichen chemischen Eigenschaften<br />
eines jungen Körpers könnte es möglich sein, das Einschalten<br />
spät wirken<strong>de</strong>r schädlicher Gene zu verhin<strong>de</strong>rn. Das Interessante<br />
daran ist, daß die chemischen Signale <strong>de</strong>s Alters als<br />
solche nicht schädlich zu sein brauchen. Nehmen wir zum Beispiel<br />
an, es ergäbe sich zufällig so, daß eine Substanz S in<br />
<strong>de</strong>n Körpern alter Individuen häufiger vorhan<strong>de</strong>n ist als in<br />
<strong>de</strong>nen junger Individuen. S als solches könnte völlig harmlos<br />
sein, vielleicht eine Substanz in <strong>de</strong>r Nahrung, die im Laufe<br />
<strong>de</strong>r <strong>Zeit</strong> im Körper akkumuliert wird. Irgen<strong>de</strong>in Gen jedoch,<br />
das in Gegenwart von S rein zufällig einen schädlichen Einfluß<br />
ausüben wür<strong>de</strong>, ansonsten aber einen positiven Effekt hätte,<br />
wür<strong>de</strong> im Genpool automatisch positiv selektiert und wäre<br />
somit in <strong>de</strong>r Tat ein Gen „für“ das Sterben im Alter. Das Heilmittel<br />
wäre einfach, S aus <strong>de</strong>m Körper zu entfernen.<br />
Das Revolutionäre an dieser I<strong>de</strong>e ist, daß S selbst lediglich<br />
ein „Kennzeichen“ für Alter ist. Je<strong>de</strong>r Arzt, <strong>de</strong>r feststellen<br />
wür<strong>de</strong>, daß eine starke Konzentration von S gewöhnlich zum<br />
Tod führt, wür<strong>de</strong> sich S wahrscheinlich als eine Art Gift vorstellen<br />
und sich <strong>de</strong>n Kopf zerbrechen, um einen unmittelbaren<br />
kausalen Zusammenhang zwischen S und <strong>de</strong>m körperlichen<br />
Versagen zu ent<strong>de</strong>cken. Doch in unserem hypothetischen Beispiel<br />
dürfte er damit nur seine <strong>Zeit</strong> versch<strong>wen</strong><strong>de</strong>n.<br />
Es könnte ebenfalls eine Substanz Y geben, ein „Kennzeichen“<br />
für Jugend in <strong>de</strong>m Sinne, daß sie in jungen Körpern<br />
stärker konzentriert ist als in alten. Wie<strong>de</strong>rum könnten – auf<br />
Grund an<strong>de</strong>rer Eigenschaften – Gene selektiert wer<strong>de</strong>n, die in<br />
Gegenwart von Y positive Auswirkungen haben, aber in Abwe-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 79<br />
senheit von Y schädlich wären. Ohne zu wissen, was S o<strong>de</strong>r<br />
Y ist – es könnte viele solcher Stoffe geben –, können wir einfach<br />
die allgemeine Voraussage machen: Je besser man die<br />
Eigenschaften eines jungen Körpers in einem alten simulieren<br />
o<strong>de</strong>r imitieren kann, so oberflächlich diese Eigenschaften auch<br />
scheinen mögen, um so länger müßte jener alte Körper leben.<br />
Ich muß betonen, daß dies lediglich Spekulationen sind,<br />
die auf Medawars Theorie aufbauen. Wenn auch logisch gesehen<br />
an dieser Theorie etwas Wahres sein muß, so be<strong>de</strong>utet<br />
das doch nicht, daß sie die richtige Erklärung für irgen<strong>de</strong>inen<br />
tatsächlichen Fall von Altersschwäche liefert. Für die Zwecke<br />
unserer Erörterung kommt es jedoch lediglich darauf an, daß<br />
die Genselektionstheorie <strong>de</strong>r Evolution ohne Schwierigkeiten<br />
die Tatsache erklären kann, daß Individuen gewöhnlich sterben,<br />
<strong>wen</strong>n sie alt wer<strong>de</strong>n. Die Annahme <strong>de</strong>r individuellen<br />
Sterblichkeit, auf <strong>de</strong>r die Argumentation in diesem Kapitel teilweise<br />
basiert, ist im Rahmen <strong>de</strong>r Theorie berechtigt.<br />
Die an<strong>de</strong>re Annahme, über die ich hinweggegangen bin,<br />
die <strong>de</strong>r Existenz von geschlechtlicher Fortpflanzung und C<strong>ro</strong>ssing-over,<br />
ist schwerer zu rechtfertigen. C<strong>ro</strong>ssing-over muß<br />
nicht immer auftreten, bei männlichen Fruchtfliegen beispielsweise<br />
kommt es nicht vor. Es gibt ein Gen, das <strong>de</strong>n Effekt<br />
hat, das C<strong>ro</strong>ssing-over auch bei weiblichen Fruchtfliegen zu<br />
unterdrücken. Wür<strong>de</strong>n wir eine Fliegenpopulation züchten,<br />
in <strong>de</strong>r dieses Gen universal wäre, so wür<strong>de</strong> das Ch<strong>ro</strong>mosom<br />
in einem „Ch<strong>ro</strong>mosomenpool“ zur grundlegen<strong>de</strong>n unteilbaren<br />
Einheit <strong>de</strong>r natürlichen Auslese wer<strong>de</strong>n. Genaugenommen<br />
wür<strong>de</strong>, <strong>wen</strong>n wir unsere Definition logisch bis zum Schluß<br />
durch<strong>de</strong>nken, ein ganzes Ch<strong>ro</strong>mosom als ein „Gen“ angesehen<br />
wer<strong>de</strong>n müssen.<br />
Darüber hinaus gibt es auch Alternativen zur sexuellen Fortpflanzung.<br />
Blattlausweibchen können leben<strong>de</strong>, vaterlose weibliche<br />
Nachkommen gebären, von <strong>de</strong>nen je<strong>de</strong>s die Gene <strong>de</strong>r<br />
Mutter besitzt. (Nebenbei gesagt kann ein im Leib <strong>de</strong>r Mutter<br />
befindlicher Embryo seinerseits einen noch kleineren Embryo<br />
in sich tragen. So kann ein Blattlausweibchen gleichzeitig<br />
eine Tochter und eine Enkelin zur Welt bringen, die bei<strong>de</strong>
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 80<br />
seinen eigenen eineiigen Zwillingen entsprechen.) Viele Pflanzen<br />
vermehren sich vegetativ, beispielsweise durch Ausläufer.<br />
In diesem Fall ziehen wir es vielleicht vor, von Wachstum zu<br />
sprechen statt von Rep<strong>ro</strong>duktion. Doch dann besteht, <strong>wen</strong>n<br />
wir darüber nach<strong>de</strong>nken, sowieso kaum ein Unterschied zwischen<br />
Wachstum und nicht-sexueller Fortpflanzung, da bei<strong>de</strong><br />
durch einfache mitotische Zellteilung erfolgen. Gelegentlich<br />
lösen sich die durch vegetative Rep<strong>ro</strong>duktion erzeugten Pflanzen<br />
von <strong>de</strong>r Mutterpflanze ab. In an<strong>de</strong>ren Fällen bleiben die<br />
verbin<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Ausläufer intakt, beispielsweise bei <strong>de</strong>n Ulmen,<br />
bei <strong>de</strong>nen an Ausläuferwurzeln junge Bäume entstehen, die<br />
sogenannte Wurzelbrut. Tatsächlich könnte man einen ganzen<br />
Ulmenwald als ein einzelnes Individuum betrachten.<br />
Die Frage heißt also: Wenn Blattläuse und Ulmen sich nicht<br />
sexuell fortpflanzen, warum machen wir an<strong>de</strong>ren uns dann<br />
soviel Mühe damit, unsere Gene mit <strong>de</strong>nen von jemand an<strong>de</strong>rem<br />
zu vermischen, bevor wir ein Baby herstellen? Das scheint<br />
doch eine merkwürdige Art <strong>de</strong>s Vorgehens zu sein. Warum ist<br />
die geschlechtliche Fortpflanzung, diese bizarre Entstellung<br />
<strong>de</strong>r unkomplizierten Replikation, überhaupt jemals entstan<strong>de</strong>n?<br />
Wozu ist Sex gut? 5<br />
Diese Frage ist für <strong>de</strong>n Evolutionstheoretiker auße<strong>ro</strong>r<strong>de</strong>ntlich<br />
schwer zu beantworten. Die meisten ernsthaften Versuche enthalten<br />
komplizierte mathematische Gedankengänge. Ich wer<strong>de</strong><br />
<strong>de</strong>r Frage, offen gesagt, ausweichen und nur das folgen<strong>de</strong><br />
dazu anmerken: Die Schwierigkeiten <strong>de</strong>r Theoretiker, die Entwicklung<br />
<strong>de</strong>r Sexualität zu erklären, sind zumin<strong>de</strong>st zum Teil<br />
darauf zurückzuführen, daß sie gewöhnlich davon ausgehen,<br />
ein Individuum versuche die Zahl seiner überleben<strong>de</strong>n Gene<br />
zu maximieren. In diesem Sinne erscheint die sexuelle Fortpflanzung<br />
paradox, da sie für ein Individuum keine „effiziente“<br />
Metho<strong>de</strong> zur Vermehrung seiner Gene ist: Je<strong>de</strong>s Kind dieses<br />
Individuums besitzt nur 50 P<strong>ro</strong>zent seiner Gene, während die<br />
an<strong>de</strong>ren 50 P<strong>ro</strong>zent von <strong>de</strong>m Geschlechtspartner kommen.<br />
Könnte das Individuum doch nur wie eine Blattlaus Kin<strong>de</strong>r<br />
in die Welt setzen, die genaue Kopien seiner selbst wären, so<br />
wür<strong>de</strong> es im Körper je<strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s 100 P<strong>ro</strong>zent seiner Gene an
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 81<br />
die nächste Generation weitergeben! Diese scheinbare innere<br />
Wi<strong>de</strong>rsinnigkeit hat einige Theoretiker veranlaßt, sich die<br />
Theorie <strong>de</strong>r Gruppenselektion zu eigen zu machen, da auf<br />
<strong>de</strong>r Ebene <strong>de</strong>r Gruppe relativ leicht Vorteile <strong>de</strong>r sexuellen<br />
Fortpflanzung vorstellbar sind. Wie W. F. Bodmer es prägnant<br />
ausgedrückt hat, „erleichtert [die geschlechtliche Fortpflanzung]<br />
die Anhäufung von getrennt voneinan<strong>de</strong>r in verschie<strong>de</strong>nen<br />
Individuen entstan<strong>de</strong>nen vorteilhaften Mutationen in<br />
einem einzelnen Individuum“.<br />
Doch die sexuelle Fortpflanzung erscheint <strong>wen</strong>iger wi<strong>de</strong>rsinnig,<br />
<strong>wen</strong>n wir <strong>de</strong>m Gedankengang dieses Buches folgen<br />
und das Individuum als eine von einem kurzlebigen Verband<br />
langlebiger Gene gebaute Überlebensmaschine behan<strong>de</strong>ln. Die<br />
„Effizienz“ unter <strong>de</strong>m Blickwinkel <strong>de</strong>s gesamten Individuums<br />
wird dann irrelevant. Geschlechtliche kontra ungeschlechtliche<br />
Fortpflanzung wird zu einer Eigenschaft, die <strong>de</strong>r Steuerung<br />
durch ein einziges Gen unterliegt, gera<strong>de</strong> so wie blaue<br />
Augen kontra braune Augen. Ein Gen „für“ sexuelle Fortpflanzung<br />
manipuliert alle übrigen Gene zugunsten seiner eigenen<br />
selbstsüchtigen Zwecke. Das gleiche tut ein Gen für C<strong>ro</strong>ssingover.<br />
Es gibt sogar Gene – mit <strong>de</strong>m Namen Mutatoren – die<br />
die Rate <strong>de</strong>r Kopierfehler bei an<strong>de</strong>ren Genen manipulieren.<br />
Definitionsgemäß ist ein Kopierfehler ein Nachteil für das Gen,<br />
das falsch kopiert wird. Doch <strong>wen</strong>n er einen Vorteil für das<br />
egoistische Mutatorgen be<strong>de</strong>utet, kann <strong>de</strong>r Mutator sich im<br />
gesamten Genpool ausbreiten. Ähnlich ist, <strong>wen</strong>n C<strong>ro</strong>ssing-over<br />
einem Gen für C<strong>ro</strong>ssing-over einen Vorteil bringt, dies allein<br />
eine ausreichen<strong>de</strong> Erklärung für die Existenz von C<strong>ro</strong>ssingover.<br />
Und <strong>wen</strong>n die geschlechtliche im Gegensatz zur ungeschlechtlichen<br />
Rep<strong>ro</strong>duktion einen Vorteil für ein Gen für<br />
sexuelle Rep<strong>ro</strong>duktion be<strong>de</strong>utet, so ist dies allein eine ausreichen<strong>de</strong><br />
Erklärung für die Existenz von sexueller Fortpflanzung.<br />
Ob sie all <strong>de</strong>n übrigen Genen <strong>de</strong>s Individuums einen Vorteil<br />
bringt o<strong>de</strong>r nicht, ist von verhältnismäßig geringer Relevanz.<br />
Vom Standpunkt <strong>de</strong>s egoistischen Gens aus gesehen, ist<br />
die Sexualität am En<strong>de</strong> gar nicht so son<strong>de</strong>rbar.<br />
Dies kommt einem Zirkelschluß gefährlich nahe, da die Exi-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 82<br />
stenz <strong>de</strong>r Sexualität eine Vorbedingung für die gesamte Kette<br />
von Argumenten ist, die uns veranlaßt, das Gen als die Einheit<br />
<strong>de</strong>r Selektion zu betrachten. Ich <strong>de</strong>nke, es wird einen Ausweg<br />
aus diesem Kreis geben, aber dieses Buch ist nicht <strong>de</strong>r Platz,<br />
um die Frage weiter zu verfolgen. Sexuelle Fortpflanzung ist<br />
eine Tatsache, soviel ist sicher. Und weil es Sexualität und<br />
C<strong>ro</strong>ssing-over gibt, kann die kleine genetische Einheit o<strong>de</strong>r das<br />
Gen unter <strong>de</strong>n uns heute bekannten Einheiten als diejenige<br />
angesehen wer<strong>de</strong>n, die einem grundlegen<strong>de</strong>n, unabhängigen<br />
Träger <strong>de</strong>r Evolution am nächsten kommt.<br />
Die sexuelle Fortpflanzung ist nicht das einzige scheinbar<br />
wi<strong>de</strong>rsinnige Phänomen, das etwas von seiner Rätselhaftigkeit<br />
verliert, sobald wir lernen, im Sinne <strong>de</strong>s eigennützigen Gens<br />
zu <strong>de</strong>nken. Es zeigt sich beispielsweise, daß die DNA-Menge in<br />
<strong>de</strong>n Organismen größer ist, als für <strong>de</strong>ren Konstruktion unbedingt<br />
erfor<strong>de</strong>rlich wäre: Ein g<strong>ro</strong>ßer Teil <strong>de</strong>r DNA wird niemals<br />
in Eiweiß umgesetzt. Vom Standpunkt <strong>de</strong>s individuellen Organismus<br />
aus betrachtet, scheint dies wi<strong>de</strong>rsinnig zu sein. Wenn<br />
<strong>de</strong>r, „Zweck“ <strong>de</strong>r DNA <strong>de</strong>r ist, <strong>de</strong>n Bau von Körpern zu beaufsichtigen,<br />
so ist es überraschend, eine g<strong>ro</strong>ße Menge von DNA<br />
zu fin<strong>de</strong>n, die nichts <strong>de</strong>rgleichen tut. Die Biologen zermartern<br />
sich <strong>de</strong>n Kopf darüber, welche nützliche Aufgabe diese offenbar<br />
überflüssige DNA erfüllt. Vom Blickpunkt <strong>de</strong>r egoistischen<br />
Gene selbst gesehen, gibt es jedoch keinen Wi<strong>de</strong>rspruch. Der<br />
wirkliche „Zweck“ <strong>de</strong>r DNA ist es, zu überleben – nicht<br />
mehr und nicht <strong>wen</strong>iger. Die überflüssige DNA erklärt man<br />
am einfachsten, <strong>wen</strong>n man annimmt, daß sie ein Parasit<br />
o<strong>de</strong>r bestenfalls ein harmloser, <strong>wen</strong>n auch nutzloser Passagier<br />
ist, <strong>de</strong>r sich in <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r restlichen DNA geschaffenen<br />
Überlebensmaschine mitnehmen läßt. 6<br />
Einige Leute erheben Einspruch gegen das, was sie für eine<br />
übertrieben auf das Gen ausgerichtete Auffassung von <strong>de</strong>r Evolution<br />
halten. Schließlich, so argumentieren sie, ist es das ganze<br />
Individuum mit allen seinen Genen, das tatsächlich lebt o<strong>de</strong>r<br />
stirbt. Ich hoffe, ich habe in diesem Kapitel <strong>de</strong>utlich gemacht,<br />
daß in diesem Punkt wirklich kein Wi<strong>de</strong>rspruch besteht. So<br />
wie ganze Boote Rennen gewinnen o<strong>de</strong>r verlieren, so sind es in
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 83<br />
<strong>de</strong>r Tat die Individuen, die leben o<strong>de</strong>r sterben, und die unmittelbare<br />
Äußerung <strong>de</strong>r natürlichen Auslese erfolgt fast immer<br />
auf <strong>de</strong>r Ebene <strong>de</strong>s Individuums.<br />
Doch die langfristigen Konsequenzen <strong>de</strong>s nichtzufälligen<br />
individuellen To<strong>de</strong>s und Fortpflanzungserfolgs manifestieren<br />
sich in Form <strong>de</strong>r sich än<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>n Genhäufigkeiten o<strong>de</strong>r Genfrequenzen<br />
im Genpool. Der Genpool spielt, mit Einschränkungen,<br />
dieselbe Rolle für die mo<strong>de</strong>rnen Replikatoren wie die Ursuppe<br />
für die ursprünglichen. Geschlechtliche Fortpflanzung und<br />
C<strong>ro</strong>ssing-over bewirken, daß die Liquidität <strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>rnen<br />
Gegenstückes <strong>de</strong>r „Suppe“ erhalten bleibt. Sie sorgen dafür,<br />
daß <strong>de</strong>r Genpool immer gut „durchgerührt“ wird und die Gene<br />
stückweise gemischt wer<strong>de</strong>n. Die Evolution ist <strong>de</strong>r Vorgang,<br />
durch <strong>de</strong>n einige Gene im Genpool zahlreicher und an<strong>de</strong>re<br />
seltener wer<strong>de</strong>n. Wir sollten es uns zur Gewohnheit machen,<br />
uns je<strong>de</strong>smal, <strong>wen</strong>n wir die Entwicklung eines Merkmals (beispielsweise<br />
<strong>de</strong>s uneigennützigen Verhaltens) zu erklären versuchen,<br />
einfach zu fragen: „Welche Auswirkung wird dieses<br />
Merkmal auf die Häufigkeit <strong>de</strong>r Gene im Genpool haben?“<br />
Zuweilen wird die Gensprache ein <strong>wen</strong>ig ermü<strong>de</strong>nd, und wir<br />
wer<strong>de</strong>n um <strong>de</strong>r Kürze und Klarheit willen zu bildhaften Vergleichen<br />
übergehen. Aber wir wer<strong>de</strong>n immer ein skeptisches<br />
Auge auf unsere Bil<strong>de</strong>r haben, um sicherzugehen, daß sie<br />
sich <strong>wen</strong>n nötig wie<strong>de</strong>r in die Gensprache zurückübersetzen<br />
lassen.<br />
Was das Gen betrifft, so ist <strong>de</strong>r Genpool lediglich die neue<br />
Art von „Suppe“, in <strong>de</strong>r es sein Leben verbringt. Der einzige<br />
Unterschied ist, daß es heutzutage sein Leben gestaltet, in<strong>de</strong>m<br />
es mit aufeinan<strong>de</strong>rfolgen<strong>de</strong>n Gruppen von Gefährten aus <strong>de</strong>m<br />
Genpool beim Bau einer sterblichen Überlebensmaschine nach<br />
<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren zusammenarbeitet. Im nächsten Kapitel <strong>wen</strong><strong>de</strong>n<br />
wir uns <strong>de</strong>n Überlebensmaschinen selbst zu und untersuchen,<br />
in welchem Sinn man sagen kann, daß ihr Verhalten von Genen<br />
gesteuert wird.
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 84<br />
4. Die Genmaschine<br />
Die Überlebensmaschinen begannen als passive Gefäße für<br />
die Gene, wobei sie diese mit kaum mehr versorgten als mit<br />
Wän<strong>de</strong>n zum Schutz vor <strong>de</strong>r chemischen Kriegsführung ihrer<br />
Rivalen und vor <strong>de</strong>n Gefahren zufälligen Molekülbeschusses.<br />
Zu Beginn „ernährten“ sie sich von organischen Molekülen, die<br />
in <strong>de</strong>r Suppe unbegrenzt verfügbar waren. Dieses leichte Leben<br />
nahm ein En<strong>de</strong>, als die organische Nahrung in <strong>de</strong>r Suppe, die<br />
unter <strong>de</strong>m energetischen Einfluß jahrhun<strong>de</strong>rtelanger Sonneneinstrahlung<br />
allmählich entstan<strong>de</strong>n war, gänzlich aufgebraucht<br />
war. Eine Hauptgruppe <strong>de</strong>r Überlebensmaschinen, heute als<br />
Pflanzen bezeichnet, begann die Energie <strong>de</strong>s Sonnenlichtes<br />
unmittelbar dazu zu ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>n, in eigener Regie aus einfachen<br />
Molekülen komplexere Verbindungen aufzubauen. Damit vollzog<br />
diese Gruppe die Synthesevorgänge, die im Urmeer abgelaufen<br />
waren, mit sehr viel größerer Geschwindigkeit nach.<br />
Ein an<strong>de</strong>rer Zweig, heute unter <strong>de</strong>m Namen Tiere bekannt,<br />
„ent<strong>de</strong>ckte“, wie er die chemische Arbeit <strong>de</strong>r Pflanzen für<br />
sich nutzen konnte, in<strong>de</strong>m er entwe<strong>de</strong>r die Pflanzen selbst<br />
o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Tiere verzehrte. Bei<strong>de</strong> g<strong>ro</strong>ßen Gruppen von<br />
Überlebensmaschinen entwickelten immer kunstvollere Tricks,<br />
um in ihren verschie<strong>de</strong>nen Lebensweisen eine größere Effizienz<br />
zu erzielen, und ständig wur<strong>de</strong>n neue Lebensweisen erschlossen.<br />
Es bil<strong>de</strong>ten sich Unterzweige heraus, von <strong>de</strong>nen sich je<strong>de</strong>r<br />
in einer eigenen, spezialisierten Art <strong>de</strong>r Lebensführung auszeichnete:<br />
im Meer, auf <strong>de</strong>m Erdbo<strong>de</strong>n, in <strong>de</strong>r Luft, unter <strong>de</strong>r<br />
Er<strong>de</strong>, auf Bäumen und in an<strong>de</strong>ren Körpern. Diese Verzweigung<br />
war <strong>de</strong>r Ursprung <strong>de</strong>r ungeheuren Vielfalt von Pflanzen<br />
und Tieren, die uns heute so beeindruckt.<br />
Sowohl Tiere als auch Pflanzen entwickelten sich zu vielzelligen<br />
Lebewesen, wobei je<strong>de</strong> Zelle vollständige Kopien aller<br />
Gene zugeteilt bekam. Wir wissen nicht, wann, warum und wie<br />
viele Male unabhängig voneinan<strong>de</strong>r dies geschehen ist. Einige<br />
Leute benutzen das Bild einer Kolonie und beschreiben einen<br />
Körper als eine Zellkolonie. Ich persönlich ziehe es vor, mir
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 85<br />
<strong>de</strong>n Körper als eine Kolonie von Genen vorzustellen und die<br />
Zelle als eine zweckmäßige Arbeitseinheit für die chemische<br />
Industrie <strong>de</strong>r Gene.<br />
Mögen die Körper auch Kolonien von Genen sein, in ihrem<br />
Verhalten haben sie unleugbar eine eigene Individualität erworben.<br />
Ein Tier bewegt sich als ein koordiniertes Ganzes, als<br />
eine Einheit. Subjektiv empfin<strong>de</strong> ich mich als Einheit, nicht<br />
als Kolonie. Das ist zu erwarten. Die Selektion hat Gene<br />
begünstigt, die mit an<strong>de</strong>ren zusammenarbeiten. In <strong>de</strong>r Auseinan<strong>de</strong>rsetzung<br />
um knappe Ressourcen, im schonungslosen<br />
Kampf darum, an<strong>de</strong>re Überlebensmaschinen zu fressen und<br />
zu verhin<strong>de</strong>rn, selbst gefressen zu wer<strong>de</strong>n, muß es eine Belohnung<br />
für die zentrale Koordination innerhalb <strong>de</strong>s gemeinschaftlichen<br />
Körpers gegeben haben, nicht für Anarchie.<br />
Heutzutage ist die verwickelte, sich wechselseitig beeinflussen<strong>de</strong><br />
gemeinsame Evolution von Genen so weit fortgeschritten,<br />
daß die gemeinschaftliche Natur einer individuellen<br />
Überlebensmaschine nicht mehr zu erkennen ist. In <strong>de</strong>r Tat<br />
erkennen viele Biologen sie nicht und wer<strong>de</strong>n mir nicht zustimmen.<br />
Zum Glück für die – wie Journalisten es nennen wür<strong>de</strong>n<br />
– „Glaubwürdigkeit“ <strong>de</strong>s übrigen Buches ist diese Meinungsverschie<strong>de</strong>nheit<br />
weitgehend eine theoretische Angelegenheit.<br />
So wie es nicht zweckmäßig ist, über Quanten und Elementarteilchen<br />
zu re<strong>de</strong>n, <strong>wen</strong>n wir die Funktionsweise eines<br />
Autos erörtern, ist es häufig ermü<strong>de</strong>nd und unnötig, beständig<br />
die Gene heranzuziehen, <strong>wen</strong>n wir das Verhalten von<br />
Überlebensmaschinen diskutieren. In <strong>de</strong>r Praxis ist es<br />
gewöhnlich zweckmäßig, <strong>de</strong>n einzelnen Körper annäherungsweise<br />
als ein Subjekt zu betrachten, das die Zahl aller seiner<br />
Gene in zukünftigen Generationen zu vergrößern „sucht“. Ich<br />
wer<strong>de</strong> mich einer zweckmäßigen Sprache bedienen. Solange<br />
nicht beson<strong>de</strong>rs vermerkt, be<strong>de</strong>utet „selbstloses Verhalten“<br />
und „selbstsüchtiges Verhalten“ dasjenige Verhalten, das ein<br />
Tierkörper einem an<strong>de</strong>ren gegenüber an <strong>de</strong>n Tag legt.<br />
Dieses Kapitel han<strong>de</strong>lt vom Verhalten – von <strong>de</strong>r Kunst <strong>de</strong>r<br />
raschen Bewegung, die sich hauptsächlich <strong>de</strong>r tierische Zweig
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 86<br />
<strong>de</strong>r Überlebensmaschinen zunutze gemacht hat. Die Tiere sind<br />
zu aktiven, draufgängerischen Genvehikeln gewor<strong>de</strong>n: zu Genmaschinen.<br />
Das charakteristische Merkmal <strong>de</strong>s Verhaltens in<br />
<strong>de</strong>m Sinne, wie die Biologen <strong>de</strong>n Ausdruck ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>n, ist<br />
seine Schnelligkeit. Auch Pflanzen bewegen sich, aber sehr<br />
langsam. In <strong>Zeit</strong>rafferfilmen sehen Kletterpflanzen wie emsige<br />
Tiere aus. Doch ein G<strong>ro</strong>ßteil <strong>de</strong>r Pflanzenbewegung ist in<br />
Wirklichkeit irreversibles Wachstum. Die Tiere dagegen haben<br />
Metho<strong>de</strong>n entwickelt, mit <strong>de</strong>nen sie sich mehrere hun<strong>de</strong>rttausendmal<br />
schneller bewegen. Darüber hinaus sind ihre Bewegungen<br />
reversibel und unbegrenzt wie<strong>de</strong>rholbar.<br />
Die Vorrichtung, welche die Tiere entwickelt haben, um<br />
rasche Bewegung zu erzielen, ist <strong>de</strong>r Muskel. Muskeln sind<br />
Maschinen, die – wie die Dampfmaschine und <strong>de</strong>r Verbrennungsmotor<br />
– in chemischem Kraftstoff gespeicherte Energie<br />
ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>n, um mechanische Bewegung zu erzeugen. Der<br />
Unterschied ist, daß die unmittelbare mechanische Kraft eines<br />
Muskels in Form von Spannung erzeugt wird und nicht in<br />
Form von Gasdruck wie bei <strong>de</strong>n Dampfmaschinen und Verbrennungsmotoren.<br />
Doch Muskeln sind <strong>de</strong>n Maschinen insofern<br />
ähnlich, als sie ihre Kraft häufig auf Seile und Hebel<br />
mit Gelenken ausüben. Die Hebel in uns sind unter <strong>de</strong>m<br />
Namen Knochen bekannt, die Seile heißen Sehnen, und die<br />
Gelenke bleiben Gelenke. Man weiß einiges über die molekulare<br />
Arbeitsweise <strong>de</strong>r Muskeln, doch viel interessanter fin<strong>de</strong><br />
ich die Frage, wie die Muskelkontraktionen zeitlich abgestimmt<br />
wer<strong>de</strong>n.<br />
Vielleicht hat <strong>de</strong>r Leser schon einmal eine etwas kompliziertere,<br />
von Menschenhand gemachte Maschine gesehen, eine<br />
Strick- o<strong>de</strong>r Nähmaschine, einen Webstuhl, eine automatische<br />
Flaschenabfüllanlage o<strong>de</strong>r eine Heupresse. Die Antriebskraft<br />
kommt von irgendwoher, nehmen wir einmal an, von einem<br />
Elekt<strong>ro</strong>motor o<strong>de</strong>r einem Traktor. Sehr viel verblüffen<strong>de</strong>r aber<br />
ist die verwickelte zeitliche Abstimmung <strong>de</strong>r Einzelvorgänge.<br />
Ventile öffnen und schließen sich in <strong>de</strong>r richtigen Reihenfolge,<br />
Stahlfinger knüpfen geschickt einen Knoten um einen Heuballen,<br />
und dann schießt genau im richtigen Augenblick
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 87<br />
ein Messer heraus und schnei<strong>de</strong>t die Schnur ab. Bei vielen<br />
Maschinen <strong>de</strong>s Menschen wird die zeitliche Koordinierung<br />
durch <strong>de</strong>n Nocken, eine glänzen<strong>de</strong> Erfindung, erreicht. Dieser<br />
übersetzt eine Drehbewegung mit Hilfe einer exzentrischen<br />
o<strong>de</strong>r beson<strong>de</strong>rs geformten Scheibe in ein komplexes rhythmisches<br />
Tätigkeitsmuster. Das Prinzip <strong>de</strong>r Spieldose ist ähnlich.<br />
An<strong>de</strong>re Maschinen, beispielsweise die Dampforgel und das<br />
Pianola, ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>n Papier<strong>ro</strong>llen o<strong>de</strong>r Karten mit in einer<br />
bestimmten Anordnung gestanzten Löchern. In jüngster <strong>Zeit</strong><br />
besteht ein Trend, solche einfachen mechanischen Synch<strong>ro</strong>nisatoren<br />
durch elekt<strong>ro</strong>nische zu ersetzen. Die Digitalrechenautomaten<br />
sind ein Beispiel g<strong>ro</strong>ßer und vielseitiger elekt<strong>ro</strong>nischer<br />
Anlagen, die zur Erzeugung komplexer, zeitlich koordinierter<br />
Bewegungsmuster benutzt wer<strong>de</strong>n können. Der wesentliche<br />
Bestandteil einer mo<strong>de</strong>rnen elekt<strong>ro</strong>nischen Maschine,<br />
beispielsweise eines Computers, ist <strong>de</strong>r Halbleiter, zu <strong>de</strong>ssen<br />
bekanntesten Formen <strong>de</strong>r Transistor gehört.<br />
Die Überlebensmaschinen scheinen <strong>de</strong>n Nocken und die<br />
Lochkarte völlig übersprungen zu haben. Die Einrichtung,<br />
die sie zum Koordinieren ihrer Bewegungen benutzen, hat<br />
mehr mit <strong>de</strong>m Elekt<strong>ro</strong>nenrechner gemein, obwohl ihre grundlegen<strong>de</strong><br />
Arbeitsweise völlig an<strong>de</strong>rs ist. Die Grun<strong>de</strong>inheit <strong>de</strong>r<br />
biologischen Computer, die Nervenzelle o<strong>de</strong>r das Neu<strong>ro</strong>n, hat<br />
in ihrer inneren Funktionsweise wirklich keinerlei Ähnlichkeit<br />
mit einem Transistor. Zwar scheint <strong>de</strong>r Co<strong>de</strong>, über <strong>de</strong>n die<br />
Neu<strong>ro</strong>nen untereinan<strong>de</strong>r in Verbindung stehen, ein <strong>wen</strong>ig<br />
<strong>de</strong>n Impulsco<strong>de</strong>s <strong>de</strong>r digitalen Computer zu ähneln, doch das<br />
einzelne Neu<strong>ro</strong>n ist eine sehr viel anspruchsvollere datenverarbeiten<strong>de</strong><br />
Einheit als <strong>de</strong>r Transistor. Statt über lediglich<br />
drei Anschlüsse zu an<strong>de</strong>ren Komponenten kann ein einzelnes<br />
Neu<strong>ro</strong>n über Zehntausen<strong>de</strong> solcher Anschlüsse verfügen. Das<br />
Neu<strong>ro</strong>n ist langsamer als <strong>de</strong>r Transistor, dafür ist seine Miniaturisierung<br />
– ein Trend, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n letzten zwei Jahrzehnten<br />
in <strong>de</strong>r elekt<strong>ro</strong>nischen Industrie vorherrschend war – sehr viel<br />
weiter fortgeschritten. Dies zeigt sich an <strong>de</strong>r Tatsache, daß das<br />
menschliche Gehirn etwa zehn Milliar<strong>de</strong>n Neu<strong>ro</strong>nen enthält,<br />
während man lediglich ein paar hun<strong>de</strong>rt Transistoren in einen
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 88<br />
Schä<strong>de</strong>l hineinpacken könnte. Die Pflanzen brauchen keine<br />
Nervenzellen, <strong>de</strong>nn sie bekommen alles, was sie zum Leben<br />
brauchen, ohne sich zu bewegen, aber die g<strong>ro</strong>ße Mehrheit<br />
<strong>de</strong>r Tiergruppen besitzt Neu<strong>ro</strong>nen. Die Nervenzelle kann zu<br />
Beginn <strong>de</strong>r tierischen Evolution „ent<strong>de</strong>ckt“ und von allen<br />
Gruppen ererbt wor<strong>de</strong>n sein, vielleicht wur<strong>de</strong> sie aber auch<br />
mehrere Male unabhängig voneinan<strong>de</strong>r neu erfun<strong>de</strong>n.<br />
Neu<strong>ro</strong>nen sind im wesentlichen einfach Zellen, mit einem<br />
Kern und Ch<strong>ro</strong>mosomen wie an<strong>de</strong>re Zellen. Ihre Zellwän<strong>de</strong><br />
sind jedoch zu langen, dünnen, drahtähnlichen Fortsätzen ausgezogen.<br />
Häufig besitzt ein Neu<strong>ro</strong>n einen beson<strong>de</strong>rs langen<br />
„Draht“, <strong>de</strong>r Axon genannt wird. Obwohl <strong>de</strong>r Durchmesser<br />
eines Axons mik<strong>ro</strong>skopisch klein ist, kann seine Länge ein<br />
paar Meter betragen: Es gibt einzelne Axone, die über die<br />
ganze Länge eines Giraffenhalses laufen. Die Axone sind<br />
gewöhnlich zu dicken, aus zahlreichen Fasern bestehen<strong>de</strong>n<br />
Kabeln gebün<strong>de</strong>lt, die Nerven genannt wer<strong>de</strong>n. Diese führen<br />
von einem Teil <strong>de</strong>s Körpers zu einem an<strong>de</strong>ren und beför<strong>de</strong>rn<br />
Nachrichten, ähnlich wie Telefonfernleitungen. An<strong>de</strong>re Neu<strong>ro</strong>ne<br />
besitzen kurze Axone und sind zu g<strong>ro</strong>ßen Komplexen<br />
von Nervengewebe zusammengeballt, die als Ganglien o<strong>de</strong>r,<br />
<strong>wen</strong>n sie sehr g<strong>ro</strong>ß sind, als Gehirn bezeichnet wer<strong>de</strong>n. Das<br />
Gehirn läßt sich in seiner Funktion mit einem Computer vergleichen.<br />
1 Bei<strong>de</strong> Maschinentypen erzeugen nach <strong>de</strong>r Analyse<br />
komplexer Inputmuster und <strong>de</strong>m Abruf gespeicherter Informationen<br />
komplizierte Outputmuster.<br />
Zum Erfolg einer Überlebensmaschine trägt das Gehirn<br />
hauptsächlich dadurch bei, daß es die Kontraktion von Muskeln<br />
steuert und koordiniert. Dazu benötigt es Kabel, die zu<br />
<strong>de</strong>n Muskeln führen ; man bezeichnet diese Kabel als motorische<br />
Nerven. Ein wirksamer Schutz <strong>de</strong>r Gene ist allerdings<br />
nur möglich, <strong>wen</strong>n <strong>de</strong>r <strong>Zeit</strong>punkt <strong>de</strong>r Muskelkontraktionen<br />
auf irgen<strong>de</strong>ine Weise auf <strong>de</strong>n zeitlichen Ablauf von Ereignissen<br />
in <strong>de</strong>r Außenwelt abgestimmt ist. Es ist wichtig, daß die<br />
Kiefermuskeln nur dann angespannt wer<strong>de</strong>n, <strong>wen</strong>n die Kiefer<br />
etwas enthalten, das sich zu beißen lohnt, und daß sich die<br />
Beinmuskeln nur dann kontrahieren, um Laufbewegungen
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 89<br />
durchzuführen, <strong>wen</strong>n etwas da ist, zu <strong>de</strong>m man hin- o<strong>de</strong>r<br />
vor <strong>de</strong>m man weglaufen muß. Aus diesem Grun<strong>de</strong> hat die<br />
natürliche Auslese die Evolution von Tieren begünstigt, die<br />
mit Sinnesorganen ausgestattet sind, das heißt mit Einrichtungen,<br />
die <strong>de</strong>n Ablauf physischer Ereignisse in <strong>de</strong>r Außenwelt in<br />
<strong>de</strong>n Impulsco<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Neu<strong>ro</strong>nen übersetzen. Das Gehirn ist mit<br />
<strong>de</strong>n Sinnesorganen – Augen, Ohren, Geschmacksknospen und<br />
so weiter – durch Kabel verbun<strong>de</strong>n, die man als sensorische<br />
Nerven bezeichnet. Die Sinnessysteme vollbringen erstaunliche<br />
Leistungen, <strong>de</strong>nn in <strong>de</strong>r Mustererkennung sind sie <strong>de</strong>n<br />
besten und kostspieligsten von Menschenhand geschaffenen<br />
Maschinen weit überlegen. Wäre dies an<strong>de</strong>rs, so wären alle Stenotypistinnen<br />
überflüssig; sie wür<strong>de</strong>n verdrängt durch Maschinen,<br />
die Sprache verstehen, o<strong>de</strong>r solche, die Handschriften<br />
lesen können. Menschliche Schreibkräfte wer<strong>de</strong>n jedoch noch<br />
viele Jahrzehnte gebraucht wer<strong>de</strong>n.<br />
Es mag einmal eine <strong>Zeit</strong> gegeben haben, in <strong>de</strong>r die Sinnesorgane<br />
mehr o<strong>de</strong>r <strong>wen</strong>iger direkt mit <strong>de</strong>n Muskeln in Verbindung<br />
stan<strong>de</strong>n; tatsächlich sind Seeanemonen noch heute nicht<br />
weit von diesem Zustand entfernt, da er für ihre Lebensweise<br />
geeignet ist. Doch um komplexere und <strong>wen</strong>iger direkte Beziehungen<br />
zwischen <strong>de</strong>m zeitlichen Ablauf von Ereignissen in <strong>de</strong>r<br />
Außenwelt und <strong>de</strong>m von Muskelkontraktionen zu erhalten, war<br />
so etwas wie ein Gehirn als Vermittler not<strong>wen</strong>dig. Einen bemerkenswerten<br />
Schritt vorwärts stellt die evolutionäre „Erfindung“<br />
<strong>de</strong>s Gedächtnisses dar. Durch diese Einrichtung kann<br />
die zeitliche Koordinierung von Muskelkontraktionen nicht<br />
nur von Ereignissen in <strong>de</strong>r unmittelbaren Vergangenheit, son<strong>de</strong>rn<br />
ebenso von länger zurückliegen<strong>de</strong>n Vorgängen beeinflußt<br />
wer<strong>de</strong>n. Das Gedächtnis o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Speicher ist auch beim elekt<strong>ro</strong>nischen<br />
Digitalrechner von entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung. Der<br />
Speicher eines Computers ist zuverlässiger als das Gehirn <strong>de</strong>s<br />
Menschen, aber er hat eine geringere Kapazität, und seine<br />
Techniken <strong>de</strong>r Informationswie<strong>de</strong>rgewinnung sind weit <strong>wen</strong>iger<br />
differenziert.<br />
Eines <strong>de</strong>r auffallendsten Merkmale <strong>de</strong>s Verhaltens von<br />
Überlebensmaschinen ist seine augenscheinliche Zielstrebig-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 90<br />
keit. Damit meine ich nicht nur, daß es bestens darauf ausgerichtet<br />
zu sein scheint, <strong>de</strong>n Genen <strong>de</strong>s Tieres beim Überleben<br />
zu helfen – was es natürlich ist. Ich meine eine noch stärkere<br />
Ähnlichkeit mit zielbewußtem menschlichem Verhalten. Wenn<br />
wir ein Tier beobachten, wie es Nahrung, einen Geschlechtspartner<br />
o<strong>de</strong>r ein verlorengegangenes Junges „sucht“, so können<br />
wir kaum umhin, ihm einige <strong>de</strong>r subjektiven Gefühle zuzuschreiben,<br />
die wir an uns selbst erfahren, <strong>wen</strong>n wir etwas<br />
suchen. Dazu gehört vielleicht das „Verlangen“ nach einem<br />
Objekt, ein „geistiges Bild“ <strong>de</strong>s ersehnten Gegenstands, ein<br />
„Ziel“ o<strong>de</strong>r eine „Absicht“. Je<strong>de</strong>r von uns weiß auf Grund<br />
von Beobachtungen, die er an sich selbst gemacht hat,<br />
daß diese Zielstrebigkeit zumin<strong>de</strong>st in einer <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen<br />
Überlebensmaschinen diejenige Eigenschaft hervorgebracht<br />
hat, die wir Bewußtsein nennen. Ich bin nicht Philosoph genug,<br />
um zu erörtern, was das be<strong>de</strong>utet. Aber glücklicherweise spielt<br />
dies für unsere Zwecke im Moment keine Rolle, <strong>de</strong>nn es ist<br />
nicht schwer, von Maschinen zu re<strong>de</strong>n, die sich so verhalten,<br />
als ob sie von einer Absicht getrieben wären, und dabei die<br />
Frage, ob sie sich tatsächlich bewußt verhalten, offenzulassen.<br />
Diese Maschinen sind im Grun<strong>de</strong> genommen sehr einfach, und<br />
die Prinzipien unbewußten zielstrebigen Verhaltens gehören<br />
zu <strong>de</strong>n Grundkenntnissen <strong>de</strong>s Ingenieurwesens. Ein klassisches<br />
Beispiel ist <strong>de</strong>r Wattsche Dampfregler.<br />
Das Grundprinzip, mit <strong>de</strong>m wir es zu tun haben, wird<br />
als negative Rückkoppelung bezeichnet, von <strong>de</strong>r es mehrere<br />
Formen gibt. Im allgemeinen geschieht folgen<strong>de</strong>s: Die „Zweckmaschine“,<br />
also das Objekt, das sich so verhält, als verfolge es<br />
einen bewußten Zweck, ist mit einer Art Meßeinrichtung ausgestattet,<br />
die <strong>de</strong>n Unterschied zwischen <strong>de</strong>m gegenwärtigen<br />
und <strong>de</strong>m erwünschten Zustand mißt. Diese Einrichtung ist<br />
so konstruiert, daß die Maschine um so härter arbeitet, je<br />
größer die Differenz <strong>de</strong>r Werte ist. Auf diese Weise tendiert<br />
die Maschine automatisch dazu, die Differenz zu verkleinern<br />
– daher <strong>de</strong>r Name negative Rückkoppelung –, und sie kann<br />
tatsächlich zur Ruhe kommen, <strong>wen</strong>n <strong>de</strong>r „gewünschte“ Zustand<br />
erreicht ist. Der Wattsche Fliehkraftregler besteht aus einem
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 91<br />
Paar Kugeln, die von einer Dampfmaschine herumgewirbelt<br />
wer<strong>de</strong>n. Je<strong>de</strong> Kugel sitzt am En<strong>de</strong> eines gelenkig befestigten<br />
Armes. Je schneller die Kugeln herumfliegen, um so stärker<br />
zieht die Zentrifugalkraft <strong>de</strong>n Arm in eine horizontale Lage,<br />
wobei <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rstand <strong>de</strong>r Schwerkraft überwun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n<br />
muß. Die Arme sind <strong>de</strong>rart mit <strong>de</strong>m die Maschine speisen<strong>de</strong>n<br />
Dampfventil verbun<strong>de</strong>n, daß <strong>de</strong>r Dampf abgestellt wird, <strong>wen</strong>n<br />
die Arme sich <strong>de</strong>r horizontalen Lage nähern. Wenn die<br />
Maschine also zu schnell läuft, wird <strong>de</strong>r Dampfst<strong>ro</strong>m ged<strong>ro</strong>sselt,<br />
und sie läuft langsamer. Wird sie zu langsam, so führt<br />
das Ventil <strong>de</strong>r Maschine automatisch mehr Dampf zu, und<br />
sie beschleunigt von neuem. Bei <strong>de</strong>rartigen Zweckmaschinen<br />
fin<strong>de</strong>t man häufig ein Pen<strong>de</strong>ln um <strong>de</strong>n Sollwert, entwe<strong>de</strong>r auf<br />
Grund von Übersteuerungen o<strong>de</strong>r weil <strong>Zeit</strong>verzögerungen eintreten.<br />
Es gehört zum Handwerk <strong>de</strong>r Ingenieure, ergänzen<strong>de</strong><br />
Einrichtungen einzubauen, damit dieses Oszillieren vermin<strong>de</strong>rt<br />
wird.<br />
Der „erwünschte“ Zustand <strong>de</strong>s Fliehkraftreglers ist eine<br />
bestimmte Rotationsgeschwindigkeit. Es liegt auf <strong>de</strong>r Hand,<br />
daß die Maschine diese nicht bewußt wünscht. Man <strong>de</strong>finiert<br />
als „Ziel“ <strong>de</strong>r Maschine lediglich jenen Zustand, zu <strong>de</strong>m sie<br />
zurückzukehren tendiert. Die mo<strong>de</strong>rnen „Zweckmaschinen“<br />
ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>n Weiterentwicklungen solcher Grundprinzipien wie<br />
<strong>de</strong>r negativen Rückkoppelung, um sehr viel komplexeres,<br />
„lebensechtes“ Verhalten zu erzielen. Ferngelenkte Flugkörper<br />
beispielsweise erwecken <strong>de</strong>n Anschein, aktiv nach ihrem Ziel<br />
zu suchen, und <strong>wen</strong>n sie es in Reichweite haben, scheinen sie<br />
es zu verfolgen, in<strong>de</strong>m sie je<strong>de</strong>r seiner ausweichen<strong>de</strong>n Drehungen<br />
und Wendungen Rechnung tragen und sie gelegentlich<br />
sogar „voraussagen“ o<strong>de</strong>r „vorwegnehmen“. Es lohnt sich nicht,<br />
genauer zu untersuchen, wie dies im einzelnen geschieht. Es<br />
hat mit negativen Rückkoppelungen <strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nsten Art,<br />
mit „Vorwärtsverstärkung“ und an<strong>de</strong>ren Prinzipien zu tun, die<br />
für die Ingenieure kein Geheimnis darstellen und von <strong>de</strong>nen<br />
man heute weiß, daß sie bei <strong>de</strong>n Aktivitäten leben<strong>de</strong>r Organismen<br />
in umfassen<strong>de</strong>r Weise beteiligt sind. Es ist keineswegs<br />
nötig, irgend etwas zu postulieren, das auch nur entfernt <strong>de</strong>m
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 92<br />
Bewußtsein nahekommt, selbst <strong>wen</strong>n ein Laie, <strong>de</strong>r das anscheinend<br />
überlegte und zielbewußte Verhalten eines Flugkörpers<br />
beobachtet, kaum glauben kann, daß dieser nicht unmittelbar<br />
von einem Piloten gesteuert wird.<br />
Es ist ein weitverbreitetes Mißverständnis, daß eine Maschine<br />
– beispielsweise ein ferngelenkter Flugkörper – <strong>de</strong>shalb, weil<br />
sie ursprünglich von <strong>de</strong>nken<strong>de</strong>n Menschen entworfen und<br />
gebaut wur<strong>de</strong>, auch tatsächlich direkt von einem Menschen<br />
gesteuert wer<strong>de</strong>n muß. Eine an<strong>de</strong>re Variante dieses Trugschlusses<br />
ist die, daß „Computer nicht wirklich Schach spielen,<br />
weil sie nur das tun können, was <strong>de</strong>r Operator ihnen sagt“.<br />
Es ist wichtig, daß wir verstehen, warum dies falsch ist, um<br />
zu begreifen, in welchem Sinne man von <strong>de</strong>r „Steuerung“ <strong>de</strong>s<br />
Verhaltens durch die Gene sprechen kann. Computerschach<br />
ist ein gutes Beispiel, um dies zu erläutern, daher wer<strong>de</strong> ich<br />
kurz darauf eingehen.<br />
Computer spielen nicht so gut Schach wie menschliche<br />
G<strong>ro</strong>ßmeister, aber sie haben das Niveau eines guten Amateurs<br />
erreicht. Genaugenommen sollte man sagen, daß die P<strong>ro</strong>gramme<br />
das Niveau eines guten Amateurs erreicht haben, <strong>de</strong>nn<br />
ein Schachp<strong>ro</strong>gramm macht nicht viel Aufhebens darum, welchen<br />
Computer es benutzt, um seine Fähigkeiten zu zeigen.<br />
Welches ist nun also die Rolle <strong>de</strong>s P<strong>ro</strong>grammierers? Zunächst<br />
einmal manipuliert er <strong>de</strong>n Computer zweifellos nicht in je<strong>de</strong>m<br />
Augenblick wie ein Puppenspieler, <strong>de</strong>r die Fä<strong>de</strong>n einer Marionette<br />
zieht. Das wäre einfach Schwin<strong>de</strong>l. Er schreibt vielmehr<br />
das P<strong>ro</strong>gramm, gibt es <strong>de</strong>m Computer ein, und dann ist dieser<br />
sich selbst überlassen: Es gibt keine weiteren Eingriffe seitens<br />
<strong>de</strong>s Menschen außer <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>s Gegners, <strong>de</strong>r seine Züge<br />
eintippt. Sieht <strong>de</strong>r P<strong>ro</strong>grammierer vielleicht alle möglichen<br />
Schachpositionen voraus und versieht <strong>de</strong>n Computer mit einer<br />
langen Liste guter Züge, für je<strong>de</strong>n möglicherweise eintreten<strong>de</strong>n<br />
Fall einen? Ganz bestimmt nicht, <strong>de</strong>nn die Zahl <strong>de</strong>r<br />
möglichen Situationen beim Schach ist <strong>de</strong>rart g<strong>ro</strong>ß, daß die<br />
Welt aufhören wür<strong>de</strong> zu existieren, bevor die Liste fertig wäre.<br />
Aus <strong>de</strong>m gleichen Grund kann <strong>de</strong>r Computer unmöglich so<br />
p<strong>ro</strong>grammiert wer<strong>de</strong>n, daß er alle <strong>de</strong>nkbaren Züge und alle
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 93<br />
möglichen Gegenzüge „im Kopf“ ausp<strong>ro</strong>bieren kann, bis er eine<br />
Gewinnstrategie fin<strong>de</strong>t. Beim Schach sind mehr unterschiedliche<br />
Partien möglich, als es in unserer Galaxie Atome gibt. Soviel<br />
zu <strong>de</strong>n naheliegen<strong>de</strong>n Vorgehensweisen, die keine Lösungen<br />
für das P<strong>ro</strong>blem sind, einen Computer für das Schachspiel<br />
zu p<strong>ro</strong>grammieren. Es ist in <strong>de</strong>r Tat ein auße<strong>ro</strong>r<strong>de</strong>ntlich<br />
schwieriges P<strong>ro</strong>blem, und es ist kaum überraschend, daß<br />
die besten P<strong>ro</strong>gramme immer noch nicht <strong>de</strong>n Status eines<br />
Schachg<strong>ro</strong>ßmeisters erreicht haben.<br />
Die tatsächliche Rolle <strong>de</strong>s P<strong>ro</strong>grammierers ähnelt eher <strong>de</strong>r<br />
eines Vaters, <strong>de</strong>r seinem Sohn das Schachspielen beibringt. Er<br />
erklärt <strong>de</strong>m Computer die wesentlichen Züge <strong>de</strong>s Spiels, nicht<br />
einzeln für je<strong>de</strong> Ausgangsposition, son<strong>de</strong>rn in Form sparsamer<br />
ausgedrückter Regeln. Er sagt nicht wortwörtlich in normaler<br />
Sprache: „Die Läufer bewegen sich diagonal“, son<strong>de</strong>rn etwas<br />
mathematisch Gleichbe<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>s, etwa: „Die neuen Koordinaten<br />
<strong>de</strong>s Läufers ergeben sich aus <strong>de</strong>n alten Koordinaten unter<br />
Addition <strong>de</strong>rselben, jedoch nicht zwangsläufig mit <strong>de</strong>mselben<br />
Vorzeichen versehenen Konstanten zu <strong>de</strong>r alten x- wie auch<br />
<strong>de</strong>r alten y-Koordinate.“ Allerdings drückt er es kürzer aus.<br />
Dann p<strong>ro</strong>gammiert er vielleicht einige „Ratschläge“, die in <strong>de</strong>r<br />
gleichen mathematischen o<strong>de</strong>r logischen Sprache formuliert<br />
sind und in menschlicher Ausdrucksweise etwa Hinweisen entsprechen<br />
wür<strong>de</strong>n wie „Laß <strong>de</strong>inen König nicht ungeschützt“<br />
o<strong>de</strong>r nützlichen Kniffen wie <strong>de</strong>m gleichzeitigen Angriff mit<br />
zwei Springern. Die Einzelheiten sind faszinierend, sie wür<strong>de</strong>n<br />
uns jedoch zu weit vom Thema abbringen. Der wichtige Punkt<br />
ist folgen<strong>de</strong>r: Sobald <strong>de</strong>r Computer tatsächlich spielt, ist er sich<br />
selbst überlassen und kann keinerlei Hilfe von seinem Meister<br />
erwarten. Der P<strong>ro</strong>grammierer kann nicht mehr tun, als <strong>de</strong>n<br />
Computer auf die bestmögliche Weise vorher mit einem P<strong>ro</strong>gramm<br />
zu versorgen, bei <strong>de</strong>m Listen mit spezifischen Kenntnissen<br />
und Ratschläge bezüglich Strategie und Taktik gut<br />
gegeneinan<strong>de</strong>r abgewogen sind.<br />
Auch die Gene steuern das Verhalten ihrer Überlebensmaschinen<br />
nicht unmittelbar mit <strong>de</strong>n Fingern an <strong>de</strong>r Marionettenschnur,<br />
son<strong>de</strong>rn mittelbar wie <strong>de</strong>r P<strong>ro</strong>grammierer <strong>de</strong>s Com-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 94<br />
puters. Sie können nicht mehr tun, als die Überlebensmaschine<br />
gut auszustatten ; dann ist sie sich selbst überlassen, und die<br />
Gene in ihr können sich lediglich passiv verhalten. Warum<br />
sind sie <strong>de</strong>rart passiv? Warum reißen sie nicht die Zügel an<br />
sich und übernehmen das Kommando über je<strong>de</strong>n einzelnen<br />
Augenblick? Die Antwort darauf ist, daß sie dies aus Grün<strong>de</strong>n<br />
<strong>de</strong>r <strong>Zeit</strong>verzögerung nicht können. Das läßt sich am besten an<br />
einer an<strong>de</strong>ren Analogie zeigen, die wir <strong>de</strong>r Science-fiction entnehmen.<br />
Das Buch A for And<strong>ro</strong>meda von Fred Hoyle und John<br />
Elliot ist eine aufregen<strong>de</strong> Geschichte, und auch ihm liegen wie<br />
allen guten Zukunfts<strong>ro</strong>manen einige interessante wissenschaftliche<br />
Fragen zugrun<strong>de</strong>. Seltsamerweise wird, so scheint es,<br />
die wichtigste dieser Fragen in <strong>de</strong>m Buch nicht ausdrücklich<br />
erwähnt. Sie wird vielmehr <strong>de</strong>r Vorstellungskraft <strong>de</strong>s Lesers<br />
überlassen. Ich hoffe, die Autoren nehmen es mir nicht übel,<br />
<strong>wen</strong>n ich diesem Punkt hier etwas weiter nachgehe.<br />
Im Sternbild And<strong>ro</strong>meda, 200 Lichtjahre entfernt, gibt es<br />
eine Zivilisation. 2 Sie will ihre Kultur auf ferne Welten aus<strong>de</strong>hnen.<br />
Wie soll sie dies am besten tun? Direkt hinzureisen ist<br />
ausgeschlossen. Die Lichtgeschwindigkeit setzt <strong>de</strong>r Schnelligkeit,<br />
mit <strong>de</strong>r man von einem Ort im Universum zu einem an<strong>de</strong>ren<br />
gelangen kann, eine theoretische Obergrenze, und mechanische<br />
Erwägungen erzwingen eine sehr viel niedrigere praktische<br />
Grenze. Abgesehen davon gibt es vielleicht gar nicht so<br />
viele Welten, die lohnen<strong>de</strong> Ziele sind, und wie soll man wissen,<br />
in welche Richtung man fahren muß? Funk ist ein besseres<br />
Mittel, um sich mit <strong>de</strong>m Rest <strong>de</strong>s Universums zu verständigen,<br />
da man eine sehr g<strong>ro</strong>ße Zahl von Welten erreichen kann, <strong>wen</strong>n<br />
man genügend Energie besitzt, um seine Signale in alle Richtungen<br />
auszusen<strong>de</strong>n, statt sie in eine einzige Richtung abzustrahlen<br />
(die Zahl wächst im Quadrat <strong>de</strong>r Entfernung, die<br />
das Signal zurücklegt). Radiowellen breiten sich mit Lichtgeschwindigkeit<br />
aus, das Signal braucht also 200 Jahre, um von<br />
And<strong>ro</strong>meda zur Er<strong>de</strong> zu gelangen. Die Schwierigkeit mit Entfernungen<br />
dieser Art ist, daß man niemals eine Unterhaltung<br />
führen kann. Selbst <strong>wen</strong>n man von <strong>de</strong>r Tatsache absieht, daß<br />
die nacheinan<strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> ausgesandten Botschaften von
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 95<br />
Menschen kommen wür<strong>de</strong>n, die jeweils durch zwölf Generationen<br />
voneinan<strong>de</strong>r getrennt wären: Der Versuch, sich über<br />
<strong>de</strong>rartige Entfernungen hinweg zu unterhalten, wäre schlicht<br />
und einfach nutzlos.<br />
Dieses P<strong>ro</strong>blem wird sich uns bald ernsthaft stellen: Radiowellen<br />
brauchen ungefähr vier Minuten, um die Entfernung<br />
zwischen <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> und <strong>de</strong>m Mars zurückzulegen. Zweifellos<br />
wer<strong>de</strong>n die Raumfahrer es sich abgewöhnen müssen, sich in<br />
kurzen abwechseln<strong>de</strong>n Sätzen miteinan<strong>de</strong>r zu verständigen,<br />
und statt <strong>de</strong>ssen lange Selbstgespräche o<strong>de</strong>r Monologe ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>n<br />
müssen, die eher Briefen ähneln als Unterhaltungen.<br />
Nehmen wir ein weiteres Beispiel: Roger Payne hat darauf aufmerksam<br />
gemacht, daß die Meeresakustik bestimmte Eigenschaften<br />
besitzt, aus <strong>de</strong>nen folgt, daß <strong>de</strong>r auße<strong>ro</strong>r<strong>de</strong>ntlich<br />
laute „Gesang“ <strong>de</strong>s Buckelwals theoretisch um die ganze Welt<br />
herum zu hören sein müßte, vorausgesetzt die Wale schwimmen<br />
in einer bestimmten Tiefe. Man weiß nicht, ob sie sich<br />
tatsächlich über sehr g<strong>ro</strong>ße Entfernungen hinweg untereinan<strong>de</strong>r<br />
verständigen, doch <strong>wen</strong>n sie es tun, müßten sie sich<br />
in ziemlich genau <strong>de</strong>rselben mißlichen Lage befin<strong>de</strong>n wie<br />
ein Ast<strong>ro</strong>naut auf <strong>de</strong>m Mars. Entsprechend <strong>de</strong>r Geschwindigkeit,<br />
mit <strong>de</strong>r sich <strong>de</strong>r Schall im Wasser fortpflanzt, wür<strong>de</strong> es<br />
ungefähr zwei Stun<strong>de</strong>n dauern, bis <strong>de</strong>r Gesang <strong>de</strong>n Atlantik<br />
durchquert hat und eine Antwort zurückkommt. Ich schlage<br />
dies als Erklärung für die Tatsache vor, daß manche Wale volle<br />
acht Minuten lang ein Selbstgespräch führen, ohne sich zu<br />
wie<strong>de</strong>rholen. Dann kehren sie zum Anfang <strong>de</strong>s Gesangs zurück<br />
und wie<strong>de</strong>rholen ihn von Anfang bis En<strong>de</strong>, viele Male hintereinan<strong>de</strong>r,<br />
wobei je<strong>de</strong>r Zyklus ungefähr acht Minuten dauert.<br />
Die Bewohner von And<strong>ro</strong>meda in unserem Roman taten<br />
genau das gleiche. Da es keinen Sinn hatte, auf eine Antwort<br />
zu warten, stellten sie alles, was sie sagen wollten, zu einer<br />
ungeheuer langen Botschaft zusammen und sandten diese im<br />
Abstand von mehreren Monaten immer wie<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n Raum<br />
hinaus. Ihre Botschaft unterschied sich jedoch sehr von<br />
<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Wale. Sie bestand aus verschlüsselten Anweisungen<br />
für <strong>de</strong>n Bau und das P<strong>ro</strong>grammieren eines riesigen Com-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 96<br />
puters. Natürlich waren die Anweisungen in keiner menschlichen<br />
Sprache geschrieben, aber fast je<strong>de</strong>r Co<strong>de</strong> läßt sich<br />
entschlüsseln, vor allem <strong>wen</strong>n seine Erfin<strong>de</strong>r die Absicht hatten,<br />
ihn leicht entschlüsselbar zu machen. Die Botschaft wur<strong>de</strong><br />
vom Jodrell-Bank-Radioteleskop aufgefangen und schließlich<br />
entschlüsselt, <strong>de</strong>r Computer wur<strong>de</strong> gebaut und das P<strong>ro</strong>gramm<br />
ausgeführt. Das Resultat wäre für die Menschheit beinahe<br />
verhängnisvoll gewesen, <strong>de</strong>nn die Absichten <strong>de</strong>r Bewohner<br />
von And<strong>ro</strong>meda waren nicht durchweg altruistischer Natur,<br />
und <strong>de</strong>r Computer befand sich bereits auf <strong>de</strong>m besten Wege,<br />
zum Diktator <strong>de</strong>r Welt zu wer<strong>de</strong>n, als ihm <strong>de</strong>r Held schließlich<br />
mit einer Axt <strong>de</strong>n Garaus machte.<br />
Die aus unserem Blickwinkel interessante Frage lautet:<br />
In welchem Sinne kann man behaupten, die Bewohner von<br />
And<strong>ro</strong>meda hätten die Ereignisse auf <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> manipuliert?<br />
Sie besaßen keine unmittelbare Kont<strong>ro</strong>lle über das, was<br />
<strong>de</strong>r Computer in je<strong>de</strong>m Augenblick tat; sie konnten in <strong>de</strong>r<br />
Tat nicht einmal wissen, daß er gebaut wor<strong>de</strong>n war, da die<br />
Information 200 Jahre gebraucht hätte, um wie<strong>de</strong>r zu ihnen<br />
zurückzugelangen. Die Entscheidungen und Handlungen <strong>de</strong>s<br />
Computers waren gänzlich seine eigene Angelegenheit. Er<br />
konnte sich nicht einmal wegen allgemeiner taktischer Instruktionen<br />
an seine Meister <strong>wen</strong><strong>de</strong>n. Alle seine Anweisungen<br />
mußten wegen <strong>de</strong>r unüberwindlichen Schranke von 200 Jahren<br />
im voraus eingebaut wer<strong>de</strong>n. Im Prinzip muß er ungefähr so<br />
wie ein Schachcomputer p<strong>ro</strong>grammiert wor<strong>de</strong>n sein, allerdings<br />
mit einer größeren Flexibilität und Kapazität zur Aufnahme<br />
lokaler Informationen. Das P<strong>ro</strong>gramm mußte ja so konzipiert<br />
sein, daß es nicht nur auf <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> funktionieren wür<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn<br />
auf je<strong>de</strong>r beliebigen technisch fortgeschrittenen Welt, auf<br />
je<strong>de</strong>r aus einer Reihe von Welten, <strong>de</strong>ren nähere Gegebenheiten<br />
die Bewohner von And<strong>ro</strong>meda nicht kennen konnten.<br />
So wie die Bewohner von And<strong>ro</strong>meda einen Computer auf<br />
<strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> brauchten, <strong>de</strong>r die tagtäglichen Entscheidungen für<br />
sie traf, müssen unsere Gene ein Gehirn bauen. Aber die<br />
Gene sind nicht nur die Bewohner von And<strong>ro</strong>meda, die die<br />
verschlüsselten Anweisungen aussandten, sie sind zugleich
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 97<br />
auch die Anweisungen selbst. Der Grund, aus <strong>de</strong>m sie unsere<br />
Marionettenschnüre nicht direkt bewegen können, ist <strong>de</strong>rselbe:<br />
<strong>Zeit</strong>verzögerung. Die Gene arbeiten mittels Steuerung<br />
<strong>de</strong>r Eiweißsynthese. Das ist eine wirkungsvolle Metho<strong>de</strong>, die<br />
Welt zu beeinflussen – aber auch eine langsame. Monate geduldigen<br />
Ziehens an <strong>de</strong>n Eiweiß„schnüren“ sind not<strong>wen</strong>dig, ehe<br />
ein Embryo entsteht. Am Verhalten dagegen ist das entschei<strong>de</strong>nd<br />
Wichtige, daß es schnell ist. Es spielt sich in einer zeitlichen<br />
Größenordnung nicht von Monaten, son<strong>de</strong>rn von Sekun<strong>de</strong>n<br />
und Bruchteilen von Sekun<strong>de</strong>n ab. Etwas geschieht auf <strong>de</strong>r<br />
Welt: Plötzlich taucht in <strong>de</strong>r Luft eine Eule auf, ein Rascheln im<br />
hohen Gras verrät die Beute, in Tausendstelsekun<strong>de</strong>n treten<br />
Nervensysteme in Aktion, Muskeln reagieren, und jeman<strong>de</strong>s<br />
Leben ist gerettet – o<strong>de</strong>r verloren. Gene haben keine solchen<br />
Reaktionszeiten. Wie die Bewohner von And<strong>ro</strong>meda können<br />
sie lediglich im voraus ihr Bestes tun, in<strong>de</strong>m sie sich einen<br />
schnell han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n Computer bauen und ihn im vorhinein mit<br />
Regeln und „Ratschlägen“ p<strong>ro</strong>grammieren, damit er es mit so<br />
vielen eventuellen Situationen aufnehmen kann, wie sie nur<br />
„voraussehen“ können. Doch wie das Schachspiel bietet auch<br />
das Leben zu viele verschie<strong>de</strong>ne Möglichkeiten, als daß sie alle<br />
vorausgesehen wer<strong>de</strong>n könnten. Wie <strong>de</strong>r Schachp<strong>ro</strong>grammierer<br />
müssen auch die Gene ihre Überlebensmaschinen nicht in<br />
spezifischen Fragen, son<strong>de</strong>rn in <strong>de</strong>n allgemeinen Strategien<br />
und Listen <strong>de</strong>s Metiers Leben „unterweisen“. 3<br />
Wie J. Z. Young dargelegt hat, haben die Gene eine Aufgabe<br />
zu erfüllen, die einer P<strong>ro</strong>phezeiung gleichkommt. Wenn sich<br />
ein Embryo einer Überlebensmaschine im Bau befin<strong>de</strong>t, liegen<br />
die Gefahren und P<strong>ro</strong>bleme seines Lebens in <strong>de</strong>r Zukunft.<br />
Wer kann vorhersagen, welche Fleischfresser hinter welchen<br />
Büschen kauern und auf ihn warten wer<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r welche<br />
schnellfüßige Beute seinen Weg pfeilschnell kreuzen wird?<br />
Kein P<strong>ro</strong>phet unter <strong>de</strong>n Menschen und auch kein Gen. Dennoch<br />
lassen sich einige allgemeine Voraussagen machen. Eisbärgene<br />
können ohne g<strong>ro</strong>ßes Risiko voraussagen, daß die Zukunft ihrer<br />
ungeborenen Überlebensmaschine kalt sein wird. Sie p<strong>ro</strong>phezeien<br />
dies nicht gedanklich, sie <strong>de</strong>nken überhaupt nicht: Sie
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 98<br />
installieren einfach ein dichtes Haarkleid, <strong>de</strong>nn das haben sie<br />
bei allen vorangehen<strong>de</strong>n Körpern auch gemacht, und genau<br />
<strong>de</strong>swegen gibt es sie im Genpool noch. Sie sagen außer<strong>de</strong>m<br />
voraus, daß <strong>de</strong>r Bo<strong>de</strong>n schneebe<strong>de</strong>ckt sein wird, und ihre Vorhersage<br />
drückt sich in Gestalt eines weißen und daher gut tarnen<strong>de</strong>n<br />
Haarklei<strong>de</strong>s aus. Wür<strong>de</strong> sich das Klima <strong>de</strong>r Arktis so<br />
rasch än<strong>de</strong>rn, daß das Bärenbaby in eine t<strong>ro</strong>pische Wüste hineingeboren<br />
wür<strong>de</strong>, so wären die Voraussagen <strong>de</strong>r Gene falsch,<br />
und sie müßten dafür büßen: Der junge Bär wür<strong>de</strong> sterben<br />
und sie mit ihm.<br />
Voraussagen sind in einer komplexen Welt eine unsichere<br />
Angelegenheit. Je<strong>de</strong> Entscheidung, die eine Überlebensmaschine<br />
trifft, ist ein Wagnis, und Aufgabe <strong>de</strong>r Gene ist es, das<br />
Gehirn im voraus so zu p<strong>ro</strong>grammieren, daß es im Durchschnitt<br />
Entscheidungen trifft, die sich auszahlen. Die in <strong>de</strong>r Spielbank<br />
Evolution gültige Währung ist das Überleben, genauer das<br />
Überleben <strong>de</strong>r Gene, doch für viele Zwecke ist das Überleben<br />
<strong>de</strong>s Individuums eine vernünftige Annäherung. Geht ein Tier<br />
zum Wasserloch hinunter, um zu trinken, so vergrößert es das<br />
Risiko, von Räubern gefressen zu wer<strong>de</strong>n, die davon leben, daß<br />
sie in <strong>de</strong>r Nähe von Wasserlöchern auf Beute lauern. Geht das<br />
Tier nicht zum Wasserloch, so wird es schließlich verdursten.<br />
Für was auch immer es sich entschei<strong>de</strong>t, überall lauern Gefahren,<br />
und es muß diejenige Entscheidung treffen, welche die<br />
langfristigen Überlebenschancen seiner Gene maximiert. Vielleicht<br />
ist die beste Taktik die, das Trinken so weit hinauszuschieben,<br />
bis es sehr durstig ist, dann hinzugehen und so viel<br />
zu trinken, daß es für geraume <strong>Zeit</strong> reicht. Auf diese Weise vermin<strong>de</strong>rt<br />
sich die Zahl <strong>de</strong>r einzelnen Besuche <strong>de</strong>s Wasserloches,<br />
an<strong>de</strong>rerseits muß es, <strong>wen</strong>n es dann endlich trinkt, lange<br />
<strong>Zeit</strong> <strong>de</strong>n Kopf unten halten. Alternativ dazu liegt die beste<br />
Chance unseres Tieres vielleicht darin, daß es <strong>wen</strong>ig und<br />
häufig trinkt, in<strong>de</strong>m es am Wasserloch vorbeiläuft und dabei<br />
kleine Schlucke Wasser nimmt. Welches die beste Strategie in<br />
diesem Glücksspiel ist, hängt von einer ganzen Reihe komplizierter<br />
Dinge ab, nicht zuletzt von <strong>de</strong>n Jagdgewohnheiten <strong>de</strong>r<br />
Räuber, welche sich ihrerseits so entwickelt haben, daß sie von
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 99<br />
<strong>de</strong>ren Standpunkt aus so effizient wie möglich sind. Auf irgen<strong>de</strong>ine<br />
Weise muß ein Abwägen <strong>de</strong>r Chancen stattfin<strong>de</strong>n. Aber<br />
selbstverständlich brauchen wir uns nicht vorzustellen, daß<br />
die Tiere ihre Berechnungen bewußt anstellen. Wir brauchen<br />
lediglich anzunehmen, daß Individuen, <strong>de</strong>ren Gene ein Gehirn<br />
so bauen, daß es gewöhnlich die richtige Entscheidung trifft,<br />
als unmittelbare Folge <strong>de</strong>ssen mit größerer Wahrscheinlichkeit<br />
überleben, und daß somit eben jene Gene weitervererbt<br />
wer<strong>de</strong>n.<br />
Wir können <strong>de</strong>n Vergleich mit <strong>de</strong>m Glücksspiel noch ein<br />
<strong>wen</strong>ig weiterführen. Ein Spieler muß drei wichtige Größen<br />
be<strong>de</strong>nken: Einsatz, Chancen und Gewinn. Wenn <strong>de</strong>r Gewinn<br />
sehr hoch ist, wird <strong>de</strong>r Spieler bereit sein, einen hohen Einsatz<br />
zu wagen. Ein Spieler, <strong>de</strong>r sein gesamtes Hab und Gut<br />
auf ein einziges Spiel setzt, strebt einen hohen Gewinn an.<br />
Er kann auch auf einen g<strong>ro</strong>ßen Verlust zusteuern; im Durchschnitt<br />
jedoch ergeht es <strong>de</strong>n Spielern, die hohe Einsätze wagen,<br />
nicht besser und nicht schlechter als <strong>de</strong>nen, die mit niedrigeren<br />
Einsätzen um niedrigere Gewinne spielen. Ein ähnlicher<br />
Vergleich läßt sich zwischen wagemutigen und vorsichtigen<br />
Kapitalanlegern an <strong>de</strong>r Wertpapierbörse ziehen. In gewisser<br />
Weise ist die Börse eine bessere Analogie als ein Kasino, weil<br />
das Kasino absichtlich zugunsten <strong>de</strong>r Bank beeinflußt ist (was<br />
genaugenommen be<strong>de</strong>utet, daß Spieler mit hohen Einsätzen<br />
im Durchschnitt ärmer nach Hause gehen als Spieler, die niedrigere<br />
Einsätze machen, und Spieler, die mit kleinen Einsätzen<br />
spielen, ärmer als jene, die überhaupt nicht spielen. Der Grund<br />
dafür hat jedoch mit unserer Erörterung nichts zu tun). Von<br />
diesem Fall abgesehen, erscheinen sowohl Spiele mit hohem<br />
als auch mit niedrigem Einsatz vernünftig. Gibt es Spieler<br />
unter <strong>de</strong>n Tieren, die mit hohem Einsatz spielen, und an<strong>de</strong>re,<br />
die ein vorsichtigeres Spiel bevorzugen? In Kapitel 9 wer<strong>de</strong>n<br />
wir sehen, daß man sich häufig die Männchen als Spieler<br />
mit hohem Einsatz und hohem Risiko und die Weibchen als<br />
vorsichtige Kapitalanleger vorstellen kann, insbeson<strong>de</strong>re bei<br />
polygamen Arten, bei <strong>de</strong>nen die Männchen um die Weibchen<br />
konkurrieren. Zoologen, die dieses Buch lesen, wer<strong>de</strong>n Arten
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 100<br />
kennen, welche sich als Spieler mit hohem Einsatz und hohem<br />
Risiko beschreiben lassen, und an<strong>de</strong>re Arten, die ein vorsichtigeres<br />
Spiel spielen. Kehren wir nun zu <strong>de</strong>m Thema zurück,<br />
auf welche Weise die Gene „Voraussagen“ über die Zukunft<br />
machen.<br />
Die Gene können das P<strong>ro</strong>blem, in ziemlich unvorhersehbaren<br />
Umwelten Voraussagen machen zu müssen, unter an<strong>de</strong>rem<br />
dadurch lösen, daß sie eine gewisse Lernfähigkeit einbauen.<br />
Dabei nimmt das P<strong>ro</strong>gramm vielleicht die Form folgen<strong>de</strong>r<br />
Instruktionen an die Überlebensmaschine an: „Hier<br />
ist eine Liste von Dingen, die als lohnend <strong>de</strong>finiert sind:<br />
süßer Geschmack im Mund, Orgasmus, mil<strong>de</strong> Temperaturen,<br />
lächeln<strong>de</strong>s Kind. Und hier ist eine Liste von unangenehmen<br />
Dingen: verschie<strong>de</strong>ne Arten von Schmerz, Übelkeit, leerer<br />
Magen, schreien<strong>de</strong>s Kind. Wenn du zufällig etwas tust, was<br />
eines <strong>de</strong>r unangenehmen Dinge nach sich zieht, so tu es nicht<br />
wie<strong>de</strong>r; an<strong>de</strong>rerseits wie<strong>de</strong>rhole alles, was eines <strong>de</strong>r angenehmen<br />
Dinge zur Folge hat.“ Der Vorteil dieser Art <strong>de</strong>s P<strong>ro</strong>grammierens<br />
liegt darin, daß die Anzahl <strong>de</strong>r <strong>de</strong>taillierten Vorschriften,<br />
die in das Originalp<strong>ro</strong>gramm eingebaut wer<strong>de</strong>n müssen,<br />
beträchtlich verringert wird. Darüber hinaus ist ein solches<br />
P<strong>ro</strong>gramm in <strong>de</strong>r Lage, Än<strong>de</strong>rungen in <strong>de</strong>r Umwelt gerecht<br />
zu wer<strong>de</strong>n, die nicht im einzelnen hätten vorausgesagt wer<strong>de</strong>n<br />
können. An<strong>de</strong>rerseits müssen t<strong>ro</strong>tz<strong>de</strong>m noch bestimmte Voraussagen<br />
gemacht wer<strong>de</strong>n. In unserem Beispiel sagen die<br />
Gene voraus, daß süßer Geschmack im Mund und Orgasmus<br />
„gut“ sind in <strong>de</strong>m Sinne, daß Zuckeressen und Kopulieren<br />
für das Überleben <strong>de</strong>r Gene wahrscheinlich von Vorteil sind.<br />
Die Möglichkeit, daß ein Individuum Saccharin verzehrt<br />
o<strong>de</strong>r masturbiert, ist in diesem Beispiel nicht vorausgesehen,<br />
und ebenso<strong>wen</strong>ig vorausgesehen sind die Gefahren <strong>de</strong>s<br />
übermäßigen Zuckergenusses in unserer Umwelt, wo Zucker<br />
in unnatürlicher Menge vorhan<strong>de</strong>n ist.<br />
Lernstrategien sind bereits bei einigen Computerschachp<strong>ro</strong>grammen<br />
verwandt wor<strong>de</strong>n. Diese P<strong>ro</strong>gramme wer<strong>de</strong>n im Verlauf<br />
ihrer Spiele gegen menschliche Gegner o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Computer<br />
tatsächlich besser. Sie sind zwar mit einem Repertoire
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 101<br />
an Regeln und Taktiken ausgestattet, doch ist in ihrem Entscheidungsablauf<br />
eine schwache Zufallsfunktion eingebaut. Sie<br />
p<strong>ro</strong>tokollieren vergangene Entscheidungen und erhöhen bei<br />
je<strong>de</strong>m Spiel, das sie gewinnen, geringfügig die Gewichtung <strong>de</strong>r<br />
Taktik, die <strong>de</strong>m Sieg vorausging, so daß beim nächsten Mal<br />
eine geringfügig größere Wahrscheinlichkeit besteht, daß sie<br />
dieselbe Taktik noch einmal wählen.<br />
Eine <strong>de</strong>r interessantesten Metho<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Zukunftsvoraussage<br />
ist die Simulation. Wenn ein General wissen will, ob ein<br />
bestimmter militärischer Plan besser ist als an<strong>de</strong>re Pläne, hat<br />
er es mit einem Voraussagep<strong>ro</strong>blem zu tun. Das Wetter, die<br />
Moral seiner Truppen und die möglichen Gegenmaßnahmen<br />
<strong>de</strong>s Fein<strong>de</strong>s stellen unbekannte Größen dar. Um herauszufin<strong>de</strong>n,<br />
ob <strong>de</strong>r Plan gut ist, kann er ihn einfach ausp<strong>ro</strong>bieren, aber<br />
es ist nicht empfehlenswert, diesen Test auf alle vorläufigen<br />
Pläne anzu<strong>wen</strong><strong>de</strong>n, die er sich ausgedacht hat, und sei es auch<br />
nur <strong>de</strong>shalb, weil das Kontingent an jungen Männern, die „für<br />
ihr Land“ zu sterben bereit sind, erschöpfbar und das Kontingent<br />
an möglichen Plänen sehr g<strong>ro</strong>ß ist. Es ist besser, die verschie<strong>de</strong>nen<br />
Pläne mit Blindläufen statt in tödlichem Ernst auszup<strong>ro</strong>bieren.<br />
Dies kann in Form von Übungen in natürlicher<br />
Größe geschehen, bei <strong>de</strong>nen „Nordland“ mit Übungsmunition<br />
gegen „Südland“ kämpft, aber selbst dies kostet <strong>Zeit</strong> und Material.<br />
Kriegsspiele lassen sich auf <strong>wen</strong>iger versch<strong>wen</strong><strong>de</strong>rische<br />
Weise spielen, <strong>wen</strong>n man Zinnsoldaten und kleine Spielzeugpanzer<br />
auf einer g<strong>ro</strong>ßen Karte herumschiebt.<br />
In letzter <strong>Zeit</strong> haben die Computer weitgehend die Aufgaben<br />
<strong>de</strong>r Simulation übernommen, nicht nur in <strong>de</strong>r Militärstrategie,<br />
son<strong>de</strong>rn auch in allen sonstigen Bereichen, in <strong>de</strong>nen eine<br />
Zukunftsp<strong>ro</strong>gnose nötig ist, wie <strong>de</strong>r Ökonomie, Ökologie, Soziologie<br />
und vielen an<strong>de</strong>ren. Die Metho<strong>de</strong> ist folgen<strong>de</strong>: Man errichtet<br />
im Computer ein Mo<strong>de</strong>ll eines bestimmten Aspekts <strong>de</strong>r<br />
Welt. Das heißt natürlich nicht, daß, <strong>wen</strong>n man <strong>de</strong>n Deckel<br />
abschraubt, eine Miniaturausgabe <strong>de</strong>s simulierten Gegenstands<br />
zum Vorschein kommt. Im schachspielen<strong>de</strong>n Computer<br />
gibt es im Innern <strong>de</strong>r Speicherbänke kein „geistiges Bild“,<br />
das als ein Schachbrett mit Springern und Bauern zu erken-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 102<br />
nen wäre. Das Schachbrett und die jeweilige Spielsituation<br />
sind vielmehr durch Listen elekt<strong>ro</strong>nisch codierter Zahlen dargestellt.<br />
Für uns ist eine Landkarte ein verkleinertes, auf<br />
zwei Dimensionen komprimiertes Mo<strong>de</strong>ll eines Teiles <strong>de</strong>r Welt.<br />
In einem Computer bestün<strong>de</strong> eine Landkarte wahrscheinlich<br />
eher aus einer Liste von Städten und an<strong>de</strong>ren Orten, jeweils<br />
mit zwei Zahlen kombiniert – Breiten- und Längengrad. Aber<br />
es kommt nicht darauf an, in welcher Form <strong>de</strong>r Computer<br />
tatsächlich sein Mo<strong>de</strong>ll von <strong>de</strong>r Welt im Kopf hat, solange diese<br />
Form es ihm erlaubt, an <strong>de</strong>m Mo<strong>de</strong>ll zu arbeiten, es zu manipulieren,<br />
Experimente mit ihm zu machen und <strong>de</strong>n Menschen,<br />
die ihn bedienen, darüber zu berichten, und zwar in einer<br />
für sie verständlichen Ausdrucksweise. Durch die Technik <strong>de</strong>r<br />
Simulation können Mo<strong>de</strong>llschlachten gewonnen o<strong>de</strong>r verloren<br />
wer<strong>de</strong>n, simulierte Verkehrsflugzeuge fliegen o<strong>de</strong>r abstürzen,<br />
wirtschaftspolitische Maßnahmen zu Wohlstand o<strong>de</strong>r Ruin<br />
führen. In je<strong>de</strong>m dieser Fälle spielt sich <strong>de</strong>r ganze Vorgang<br />
im Computer in einem winzigen Bruchteil <strong>de</strong>r <strong>Zeit</strong> ab, die er<br />
im wirklichen Leben benötigen wür<strong>de</strong>. Natürlich gibt es gute<br />
und schlechte Mo<strong>de</strong>lle <strong>de</strong>r Welt, und selbst die guten sind<br />
nur Näherungen. Keine noch so g<strong>ro</strong>ße Zahl von Simulationen<br />
kann genau voraussagen, was in <strong>de</strong>r Realität geschehen wird,<br />
aber <strong>de</strong>nnoch ist eine gute Simulation <strong>de</strong>m blin<strong>de</strong>n Hin- und<br />
Herp<strong>ro</strong>bieren bei weitem vorzuziehen. Man könnte die Simulation<br />
als „stellvertreten<strong>de</strong>s Versuchs- und Irrtumsverhalten“<br />
bezeichnen, ein Terminus, <strong>de</strong>r lei<strong>de</strong>r schon seit langem von <strong>de</strong>r<br />
„Rattenpsychologie“ mit Beschlag belegt wird.<br />
Wenn das Simulieren eine <strong>de</strong>rart gute I<strong>de</strong>e ist, dürfen<br />
wir erwarten, daß die Überlebensmaschinen als erste darauf<br />
gekommen sind. Schließlich erfan<strong>de</strong>n sie auch viele an<strong>de</strong>re<br />
Ingenieurtechniken <strong>de</strong>s Menschen, lange bevor wir die Szene<br />
betraten: die fokussieren<strong>de</strong> Linse und <strong>de</strong>n Parabolreflektor,<br />
die Frequenzanalyse von Schallwellen, die Servosteuerung, das<br />
Sonar, die Zwischenspeicherung hereinkommen<strong>de</strong>r Information<br />
und zahllose an<strong>de</strong>re mit langen Namen, <strong>de</strong>ren Einzelheiten<br />
hier nicht von Be<strong>de</strong>utung sind. Und die Simulation? Nun,<br />
<strong>wen</strong>n wir selbst eine schwierige Entscheidung zu treffen haben,
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 103<br />
die unbekannte zukünftige Größen einschließt, so betreiben<br />
wir tatsächlich eine Art Simulation. Wir stellen uns vor, was<br />
geschähe, <strong>wen</strong>n wir entsprechend dieser o<strong>de</strong>r jener Alternative<br />
han<strong>de</strong>ln wür<strong>de</strong>n. Wir errichten in unserem Geist ein<br />
Mo<strong>de</strong>ll, nicht von <strong>de</strong>r ganzen Welt, son<strong>de</strong>rn von <strong>de</strong>r begrenzten<br />
Gruppe von Dingen, von <strong>de</strong>nen wir meinen, daß sie relevant<br />
sein können. Wir sehen sie mit unserem inneren Auge vielleicht<br />
lebhaft vor uns, o<strong>de</strong>r wir sehen und manipulieren stilisierte<br />
Abstraktionen von ihnen. In bei<strong>de</strong>n Fällen ist es unwahrscheinlich,<br />
daß irgendwo in unserem Gehirn ein tatsächliches<br />
räumliches Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>r Ereignisse angelegt ist, die wir uns<br />
vorstellen. Doch wie beim Computer sind die Einzelheiten<br />
darüber, wie unser Gehirn sein Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>r Welt erstellt, <strong>wen</strong>iger<br />
wichtig als die Tatsache, daß es in <strong>de</strong>r Lage ist, dieses<br />
Mo<strong>de</strong>ll zur Voraussage möglicher Ereignisse zu ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>n.<br />
Überlebensmaschinen, die fähig sind, die Zukunft zu simulieren,<br />
sind an<strong>de</strong>ren Überlebensmaschinen, die nur durch konkretes<br />
Herump<strong>ro</strong>bieren lernen können, einen Schritt voraus.<br />
Das P<strong>ro</strong>blem beim konkreten P<strong>ro</strong>bieren ist nämlich, daß es<br />
<strong>Zeit</strong> und Energie kostet. Das P<strong>ro</strong>blem beim konkreten Irrtum<br />
ist, daß er häufig tödlich ist. Simulation ist sowohl sicherer als<br />
auch schneller.<br />
Die Evolution <strong>de</strong>r Fähigkeit zur Simulation scheint im subjektiven<br />
Bewußtsein ihren Höhepunkt erreicht zu haben. Warum<br />
dies geschehen sein mag, stellt für mich das unergründlichste<br />
Rätsel dar, <strong>de</strong>m sich die mo<strong>de</strong>rne Biologie gegenübersieht. Es<br />
gibt keinerlei Grund zu <strong>de</strong>r Annahme, elekt<strong>ro</strong>nische Rechenmaschinen<br />
seien sich <strong>de</strong>ssen bewußt, daß sie simulieren, wir<br />
müssen allerdings zugeben, daß sich dies in Zukunft än<strong>de</strong>rn<br />
könnte. Vielleicht entsteht Bewußtsein dann, <strong>wen</strong>n das Gehirn<br />
die Welt so vollständig simuliert, daß diese Simulation ein<br />
Mo<strong>de</strong>ll ihrer selbst enthalten muß. 4 Es liegt auf <strong>de</strong>r Hand, daß<br />
Glie<strong>de</strong>r und Körper einer Überlebensmaschine einen wichtigen<br />
Teil <strong>de</strong>r simulierten Welt dieser Überlebensmaschine darstellen<br />
müssen; vermutlich ließe sich aus einem ähnlich gearteten<br />
Grund die Simulation selbst als Teil <strong>de</strong>r zu simulieren<strong>de</strong>n<br />
Welt ansehen. Ein an<strong>de</strong>rer Ausdruck dafür wäre vielleicht
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 104<br />
in <strong>de</strong>r Tat „Sich-seiner-selbst-bewußt-sein“, aber ich glaube<br />
nicht, daß dies eine völlig befriedigen<strong>de</strong> Erklärung für die Evolution<br />
<strong>de</strong>s Bewußtseins darstellt, und dies nur zum Teil <strong>de</strong>shalb,<br />
weil es eine unendliche Regression in sich schließt –<br />
<strong>wen</strong>n es ein Mo<strong>de</strong>ll vom Mo<strong>de</strong>ll gibt, warum dann nicht ein<br />
Mo<strong>de</strong>ll vom Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>s Mo<strong>de</strong>lls ...?<br />
Welches auch immer die philosophischen P<strong>ro</strong>bleme sein<br />
mögen, die das Bewußtsein aufwirft, für unsere Betrachtungen<br />
ist die Vorstellung zweckdienlich, es sei <strong>de</strong>r Höhepunkt<br />
eines evolutionären Trends zur Emanzipation <strong>de</strong>r Überlebensmaschinen<br />
als <strong>de</strong>r ausführen<strong>de</strong>n Entscheidungsträger von<br />
ihren heimlichen Gebietern, <strong>de</strong>n Genen. Das Gehirn ist nicht<br />
nur für das tagtägliche Abwickeln <strong>de</strong>r Angelegenheiten <strong>de</strong>r<br />
Überlebensmaschine verantwortlich, es hat darüber hinaus die<br />
Fähigkeit erworben, die Zukunft vorauszusagen und entsprechend<br />
zu han<strong>de</strong>ln. Es verleiht <strong>de</strong>r Überlebensmaschine sogar<br />
die Macht, gegen das Diktat <strong>de</strong>r Gene zu rebellieren, beispielsweise<br />
in<strong>de</strong>m sie sich weigert, so viele Kin<strong>de</strong>r zu haben, wie sie<br />
könnte. Doch in dieser Beziehung ist <strong>de</strong>r Mensch ein sehr spezieller<br />
Fall, wie wir noch sehen wer<strong>de</strong>n.<br />
Was hat das alles mit Altruismus und Egoismus zu tun?<br />
Ich versuche <strong>de</strong>n Gedanken zu konstruieren, daß das tierische<br />
Verhalten, ob selbstlos o<strong>de</strong>r eigennützig, nur mittelbar<br />
<strong>de</strong>r – <strong>de</strong>nnoch sehr machtvollen – Kont<strong>ro</strong>lle <strong>de</strong>r Gene unterliegt.<br />
Dadurch, daß die Gene diktieren, auf welche Weise<br />
die Überlebensmaschinen und ihre Nervensysteme gebaut<br />
wer<strong>de</strong>n, üben sie die entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Macht über das Verhalten<br />
aus. Aber die von einem Augenblick zum an<strong>de</strong>ren zu treffen<strong>de</strong>n<br />
Entscheidungen über das, was als nächstes zu tun ist,<br />
trifft das Nervensystem. Die Gene entschei<strong>de</strong>n im wesentlichen<br />
über die Taktik, die <strong>de</strong>r Körper anzu<strong>wen</strong><strong>de</strong>n hat, das Gehirn<br />
ist das ausführen<strong>de</strong> Organ. Doch in <strong>de</strong>m Maße, wie das Gehirn<br />
einen immer höheren Entwicklungsstand erreichte, übernahm<br />
es einen ständig größeren Teil <strong>de</strong>r eigentlich taktischen Entscheidungen,<br />
wobei es Kunstgriffe wie Lernen und Simulation<br />
anwandte. Der logische Abschluß dieses Trends, <strong>de</strong>r bisher<br />
noch bei keiner Art erreicht wor<strong>de</strong>n ist, wäre <strong>de</strong>r, daß die
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 105<br />
Gene <strong>de</strong>r Überlebensmaschine lediglich eine einzige umfassen<strong>de</strong><br />
taktische Anweisung geben: Tu das, was auch immer es<br />
sein mag, von <strong>de</strong>m du meinst, daß es für unseren Fortbestand<br />
am besten ist.<br />
Vergleiche zwischen Computern und Menschen, die Entscheidungen<br />
treffen, sind schön und gut, aber wir müssen auf<br />
<strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Realität zurückkehren und uns daran erinnern,<br />
daß die Evolution in Wirklichkeit Schritt für Schritt durch die<br />
unterschiedliche Überlebensrate von Genen im Genpool stattfin<strong>de</strong>t.<br />
Damit sich ein Verhaltensmuster – ob altruistisch o<strong>de</strong>r<br />
eigennützig – entwickelt, ist es daher erfor<strong>de</strong>rlich, daß ein<br />
Gen „für“ dieses Verhalten im Genpool erfolgreicher ist als ein<br />
rivalisieren<strong>de</strong>s Gen o<strong>de</strong>r Allel „für“ irgen<strong>de</strong>in an<strong>de</strong>res Verhalten.<br />
Mit <strong>de</strong>m Ausdruck „Gen für altruistisches Verhalten“ ist<br />
je<strong>de</strong>s Gen gemeint, das die Entwicklung <strong>de</strong>s Nervensystems so<br />
beeinflußt, daß es sich mit größerer Wahrscheinlichkeit selbstlos<br />
verhält. 5 Gibt es irgendwelche experimentellen Beweise<br />
für die genetische Erblichkeit altruistischen Verhaltens? Nein,<br />
aber das ist kaum verwun<strong>de</strong>rlich, da die Genetik <strong>de</strong>s Verhaltens<br />
bisher <strong>wen</strong>ig erforscht wor<strong>de</strong>n ist. Der Leser möge mir<br />
erlauben, statt <strong>de</strong>ssen von <strong>de</strong>r Untersuchung eines Verhaltensmusters<br />
zu berichten, das zwar zufällig nicht augenscheinlich<br />
selbstlos, aber komplex genug ist, um interessant zu sein. Wir<br />
benutzen es als Mo<strong>de</strong>ll dafür, wie altruistisches Verhalten vererbt<br />
wer<strong>de</strong>n könnte.<br />
Honigbienen lei<strong>de</strong>n unter einer anstecken<strong>de</strong>n Krankheit,<br />
die Brutfäule genannt wird. Sie befällt die Larven in ihren<br />
Zellen. Von <strong>de</strong>n zahmen Rassen, die die Imker ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>n,<br />
sind einige mehr durch Brutfäule gefähr<strong>de</strong>t als an<strong>de</strong>re, und<br />
es hat sich herausgestellt, daß <strong>de</strong>r Unterschied zwischen <strong>de</strong>n<br />
Völkern zumin<strong>de</strong>st in einigen Fällen ein Verhaltensunterschied<br />
ist. Es gibt die sogenannten hygienischen Völker, die Epi<strong>de</strong>mien<br />
rasch stoppen, in<strong>de</strong>m sie die infizierten Larven lokalisieren,<br />
aus ihren Zellen zerren und aus <strong>de</strong>m Stock werfen.<br />
Die anfälligen Völker sind anfällig, weil sie diesen hygienischen<br />
Kin<strong>de</strong>smord nicht praktizieren. Das tatsächlich für<br />
diese Gesundheitspflege erfor<strong>de</strong>rliche Verhalten ist recht kom-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 106<br />
pliziert: Die Arbeiterinnen müssen die Zellen aller kranken<br />
Larven lokalisieren, <strong>de</strong>n Wachsverschluß von <strong>de</strong>r Zelle entfernen,<br />
die Larve herausziehen, sie durch <strong>de</strong>n Eingang <strong>de</strong>s Bienenstockes<br />
zerren und auf <strong>de</strong>n Müllplatz werfen.<br />
Die Durchführung genetischer Experimente mit Bienen<br />
ist aus verschie<strong>de</strong>nen Grün<strong>de</strong>n eine ziemlich komplizierte<br />
Angelegenheit. Die Arbeiterinnen selbst rep<strong>ro</strong>duzieren sich<br />
gewöhnlich nicht, man muß daher die Königin eines Volkes mit<br />
einer D<strong>ro</strong>hne (einem Männchen) eines an<strong>de</strong>ren Volkes kreuzen<br />
und das Verhalten <strong>de</strong>r Tochtergeneration von Arbeiterinnen<br />
beobachten. Genau das hat W. C. Rothenbuhler getan. Er stellte<br />
fest, daß alle hybri<strong>de</strong>n Tochterstöcke in <strong>de</strong>r ersten Generation<br />
keine Gesundheitspflege betrieben. Das Verhalten ihres hygienischen<br />
Elternteils schien verlorengegangen zu sein, obwohl<br />
die hygienischen Gene – wie sich später zeigen sollte –<br />
immer noch vorhan<strong>de</strong>n waren: Sie waren rezessiv wie bei<br />
<strong>de</strong>n Menschen die Gene für blaue Augen. Als Rothenbuhler<br />
die Hybri<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r ersten Generation mit einem reinerbigen<br />
hygienischen Volk „rückkreuzte“ (wobei er natürlich wie<strong>de</strong>r<br />
Königinnen und D<strong>ro</strong>hnen benutzte), erhielt er ein höchst eindrucksvolles<br />
Ergebnis: Die Tochterstöcke zerfielen in drei<br />
Gruppen. Eine dieser Gruppen zeigte perfektes hygienisches<br />
Verhalten, die zweite zeigte überhaupt kein hygienisches Verhalten,<br />
und die dritte hielt sich zwischen bei<strong>de</strong>n. Diese letztere<br />
Gruppe entfernte zwar <strong>de</strong>n Wachs<strong>de</strong>ckel <strong>de</strong>r Waben, sie<br />
ging aber nicht so weit, die Larven hinauszuwerfen. Rothenbuhler<br />
argwöhnte, daß es zwei getrennte Gene geben müsse,<br />
eins für das Auf<strong>de</strong>cken <strong>de</strong>r Zellen und eins für das Hinauswerfen.<br />
Die gewöhnlichen hygienischen Völker besitzen bei<strong>de</strong><br />
Gene, anfällige Völker statt <strong>de</strong>ssen die Allele – das heißt die<br />
Rivalen – <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Gene. Die Mischlinge, die nur teilweise<br />
hygienisches Verhalten an <strong>de</strong>n Tag legten, besaßen vermutlich<br />
nur das Gen für Auf<strong>de</strong>cken (in doppelter Ausfertigung),<br />
nicht aber das für Hinauswerfen. Rothenbuhler vermutete,<br />
daß seine Versuchsgruppe anscheinend völlig unhygienischer<br />
Bienen eine Untergruppe verbarg, die das Gen für Hinauswerfen<br />
besaß, es aber nicht realisieren konnte, da ihr das Gen für
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 107<br />
Auf<strong>de</strong>cken fehlte. Er bewies dies auf höchst elegante Weise,<br />
in<strong>de</strong>m er selbst die Deckel entfernte. Tatsächlich zeigte die<br />
Hälfte <strong>de</strong>r scheinbar unhygienischen Bienen daraufhin völlig<br />
normales Verhalten in bezug auf das Hinauswerfen. 6<br />
Dieser Bericht veranschaulicht eine Reihe wichtiger Punkte,<br />
die im vorigen Kapitel zur Sprache kamen. Er zeigt, daß es<br />
völlig berechtigt sein kann, von einem „Gen für ein Verhalten<br />
x“ zu sprechen, selbst <strong>wen</strong>n wir nicht die geringste Ahnung<br />
haben, welche chemische Kette embryonaler Ursachen nun<br />
tatsächlich vom Gen zum Verhalten führt. Es könnte sich<br />
sogar herausstellen, daß die Kette <strong>de</strong>r Ursachen das Lernen<br />
einschließt. Es wäre beispielsweise möglich, daß das Auf<strong>de</strong>ck-<br />
Gen seine Wirkung erzielt, in<strong>de</strong>m es die Bienen mit einer Vorliebe<br />
für infiziertes Wachs ausstattet. Das heißt, daß sie <strong>de</strong>n<br />
Genuß <strong>de</strong>r Wachshauben, die die Opfer <strong>de</strong>r Krankheit zu<strong>de</strong>kken,<br />
als angenehm empfin<strong>de</strong>n und ihn daher zu wie<strong>de</strong>rholen<br />
suchen. Selbst <strong>wen</strong>n das Gen auf eine solche Weise funktioniert,<br />
ist es immer noch ein echtes Gen „für das Auf<strong>de</strong>kken“,<br />
vorausgesetzt, daß unter sonst gleichen Bedingungen<br />
Bienen, die das Gen besitzen, schließlich die Deckel entfernen,<br />
während Bienen, die das Gen nicht besitzen, dies nicht tun.<br />
Zweitens veranschaulicht <strong>de</strong>r Bericht die Tatsache, daß<br />
Gene in ihren Auswirkungen auf das Verhalten <strong>de</strong>r gemeinschaftlichen<br />
Überlebensmaschine „zusammenarbeiten“. Das<br />
Hinauswerf-Gen ist sinnlos, solange es nicht von <strong>de</strong>m Auf<strong>de</strong>ck-Gen<br />
begleitet ist, und umgekehrt. Zugleich aber zeigen<br />
die genetischen Experimente ebenso klar, daß sich die bei<strong>de</strong>n<br />
Gene auf ihrer Reise durch die Generationen im Prinzip durchaus<br />
trennen lassen. Soweit es ihre nützliche Tätigkeit betrifft,<br />
können wir sie uns als eine zusammenarbeiten<strong>de</strong> Einheit vorstellen;<br />
als replizieren<strong>de</strong> Gene sind sie jedoch zwei freie und<br />
unabhängige Subjekte.<br />
Für die Zwecke unserer Erörterung wird es not<strong>wen</strong>dig sein,<br />
über Gene „für“ das Erledigen aller möglichen unwahrscheinlichen<br />
Dinge zu spekulieren. Wenn ich beispielsweise von<br />
einem hypothetischen Gen „für das Erretten von Gefährten<br />
vor <strong>de</strong>m Ertrinken“ spreche und <strong>de</strong>r Leser eine solche Vorstel-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 108<br />
lung unglaubhaft fin<strong>de</strong>t, so möge er sich an die hygienischen<br />
Bienen erinnern. Er rufe sich ins Gedächtnis, daß wir nicht<br />
vom Gen als <strong>de</strong>r einzigen vorangehen<strong>de</strong>n Ursache all <strong>de</strong>r komplexen<br />
Muskelkontraktionen, Sinnesempfindungen und sogar<br />
bewußten Entscheidungen sprechen, die ins Spiel kommen,<br />
<strong>wen</strong>n ein Individuum ein an<strong>de</strong>res vor <strong>de</strong>m Ertrinken rettet.<br />
Wir machen keine Aussage über die Frage, ob Lernen, Erfahrung<br />
o<strong>de</strong>r Umwelteinflüsse in die Entwicklung <strong>de</strong>s Verhaltens<br />
eingehen. Der Leser braucht lediglich einzuräumen, daß unter<br />
sonst gleichen Bedingungen und in Anwesenheit zahlreicher<br />
an<strong>de</strong>rer wichtiger Gene und Umweltfaktoren ein einzelnes Gen<br />
dafür verantwortlich sein kann, daß ein Körper mit größerer<br />
Wahrscheinlichkeit einen an<strong>de</strong>ren vor <strong>de</strong>m Ertrinken rettet, als<br />
er das unter <strong>de</strong>m Einfluß seines Allels tun wür<strong>de</strong>. Der Unterschied<br />
zwischen <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Genen mag sich im Grun<strong>de</strong> als<br />
eine geringfügige Verschie<strong>de</strong>nheit bei einer einfachen quantitativen<br />
Variablen herausstellen. Die Einzelheiten <strong>de</strong>s embryonalen<br />
Entwicklungsvorgangs, so interessant sie auch sein mögen,<br />
sind für evolutionäre Überlegungen nicht relevant. Konrad<br />
Lorenz hat diese Ansicht überzeugend dargelegt.<br />
Die Gene sind Meisterp<strong>ro</strong>grammierer, und sie p<strong>ro</strong>grammieren<br />
um ihr Leben. Sie wer<strong>de</strong>n danach beurteilt, wie erfolgreich<br />
ihre P<strong>ro</strong>gramme all <strong>de</strong>n Gefahren, die das Leben ihren<br />
Überlebensmaschinen entgegensetzt, gewachsen sind; und das<br />
Urteil fällt <strong>de</strong>r unbarmherzige Richter <strong>de</strong>s Überlebensgerichts.<br />
Wir wer<strong>de</strong>n später noch darauf zu sprechen kommen, auf<br />
welche Weise das Überleben <strong>de</strong>r Gene durch scheinbar altruistisches<br />
Verhalten geför<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n kann. Doch die ein<strong>de</strong>utig<br />
dringlichsten Aufgaben einer Überlebensmaschine und <strong>de</strong>s<br />
Gehirns, das die Entscheidungen für sie trifft, sind individuelles<br />
Überleben und individuelle Fortpflanzung. Alle Gene in<br />
<strong>de</strong>r „Kolonie“ wären sich über diese Prioritäten einig. Tiere<br />
machen sich daher beträchtliche Mühe damit, Nahrung zu<br />
suchen und zu erlegen, zu verhin<strong>de</strong>rn, daß sie selbst erlegt<br />
und gefressen wer<strong>de</strong>n, Krankheiten und Unfälle zu vermei<strong>de</strong>n,<br />
sich vor ungünstigen Witterungsbedingungen zu schützen,<br />
Angehörige <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren Geschlechts zu fin<strong>de</strong>n und zur Paa-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 109<br />
rung zu bewegen sowie ihren Kin<strong>de</strong>rn Vorteile weiterzugeben,<br />
die <strong>de</strong>nen ähneln, welcher sie sich selbst erfreuen. Ich<br />
führe dazu keine Beispiele an – <strong>wen</strong>n <strong>de</strong>r Leser ein Beispiel<br />
sucht, so möge er nur das nächste freileben<strong>de</strong> Tier, das er<br />
sieht, sorgfältig beobachten. Eine beson<strong>de</strong>re Art von Verhalten<br />
möchte ich allerdings erwähnen, weil wir uns ihm noch einmal<br />
zu<strong>wen</strong><strong>de</strong>n müssen, <strong>wen</strong>n wir auf Altruismus und Egoismus zu<br />
sprechen kommen. Dies ist das Verhalten, das man im weiteren<br />
Sinne als Kommunikation o<strong>de</strong>r Verständigung bezeichnen<br />
kann. 7<br />
Man kann sagen, daß eine Überlebensmaschine sich mit<br />
einer an<strong>de</strong>ren verständigt hat, <strong>wen</strong>n sie <strong>de</strong>ren Verhalten o<strong>de</strong>r<br />
<strong>de</strong>n Zustand ihres Nervensystems beeinflußt. Das ist zwar eine<br />
Definition, die ich nicht gern für lange <strong>Zeit</strong> zu verteidigen hätte,<br />
aber für unsere gegenwärtigen Zwecke reicht sie. Mit Einfluß<br />
meine ich einen unmittelbaren, ursächlichen Einfluß. Beispiele<br />
für Verständigung gibt es viele: <strong>de</strong>n Gesang <strong>de</strong>r Vögel, Frösche<br />
und Grillen, das Schwanzwe<strong>de</strong>ln und Sträuben <strong>de</strong>r Nackenund<br />
Rückenhaare bei Hun<strong>de</strong>n, das „Grinsen“ <strong>de</strong>r Schimpansen,<br />
Gestik und Sprache <strong>de</strong>r Menschen. Eine Vielzahl von<br />
Dingen, die Überlebensmaschinen tun, verbessern das Wohlergehen<br />
ihrer Gene indirekt dadurch, daß sie das Verhalten<br />
an<strong>de</strong>rer Überlebensmaschinen beeinflussen. Die Tiere machen<br />
sich beträchtliche Mühe, diese Verständigung wirkungsvoll zu<br />
gestalten. Der Gesang <strong>de</strong>r Vögel bezaubert eine Menschengeneration<br />
nach <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren. Ich habe bereits <strong>de</strong>n sogar noch<br />
kunstvolleren und geheimnisvolleren Gesang <strong>de</strong>s Buckelwals<br />
erwähnt, mit seiner gewaltigen Reichweite und einem Frequenzspektrum,<br />
das vom Infraschallknurren bis hin zum Ultraschallpfeifen<br />
reicht und damit über das Hörvermögen <strong>de</strong>s Menschen<br />
hinausgeht. Maulwurfsgrillen verstärken ihren Gesang<br />
zu Stentorlautstärke, in<strong>de</strong>m sie in einem Erdloch singen, das sie<br />
sorgfältig in Form eines doppelt exponentialen Schalltrichters<br />
o<strong>de</strong>r Megaphons graben. Bienen tanzen im dunklen Stock, um<br />
an<strong>de</strong>re Bienen genau über Richtung und Entfernung von Nahrung<br />
zu informieren – eine Glanzleistung <strong>de</strong>r Verständigung,<br />
die nur von <strong>de</strong>r menschlichen Sprache übert<strong>ro</strong>ffen wird.
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 110<br />
Nach <strong>de</strong>r traditionellen Darstellung <strong>de</strong>r Ethologen entstehen<br />
Verständigungssignale in <strong>de</strong>r Evolution zum Vorteil sowohl<br />
<strong>de</strong>s Sen<strong>de</strong>rs als auch <strong>de</strong>s Empfängers. Beispielsweise beeinflussen<br />
Hühnerküken das Verhalten ihrer Mütter, in<strong>de</strong>m sie hohe<br />
durchdringen<strong>de</strong> Piepslaute ausstoßen, <strong>wen</strong>n sie sich verlaufen<br />
haben o<strong>de</strong>r frieren. Dies ruft gewöhnlich sofort die Mutter<br />
herbei, die das Küken dann zur übrigen Brut zurückführt. Von<br />
diesem Verhalten könnte man sagen, daß es sich zum gegenseitigen<br />
Vorteil entwickelt hat in <strong>de</strong>m Sinne, daß die natürliche<br />
Auslese Küken begünstigt hat, die piepsen, <strong>wen</strong>n sie sich verlaufen<br />
haben, und Mütter, die in <strong>de</strong>r richtigen Weise auf das<br />
Piepsen reagieren.<br />
Wenn wir wollen (es ist nicht wirklich nötig), können wir<br />
Signale wie <strong>de</strong>n Piepslaut so auffassen, als ob sie eine Be<strong>de</strong>utung<br />
hätten o<strong>de</strong>r eine Information trügen, in diesem Fall beispielsweise:<br />
„Ich habe mich verlaufen.“ Von <strong>de</strong>m im ersten<br />
Kapitel erwähnten Alarmruf kleiner Vögel könnte man sagen,<br />
er übermittle die Information: „Da ist ein Falke.“ Individuen,<br />
die diese Information aufnehmen und entsprechend han<strong>de</strong>ln,<br />
wer<strong>de</strong>n begünstigt. Man kann diese Information daher als<br />
wahr bezeichnen. Vermitteln Tiere aber jemals eine falsche<br />
Information – lügen Tiere mitunter?<br />
Die Vorstellung, daß ein Tier lügt, kann zu Mißverständnissen<br />
führen. Ich muß daher vorab versuchen, dies zu verhin<strong>de</strong>rn.<br />
Ich erinnere mich, daß ich einmal einen Vortrag von Beatrice<br />
und Allen Gardner über ihre berühmte „sprechen<strong>de</strong>“ Schimpansin<br />
Washoe hörte. (Washoe benutzt die amerikanische Zeichensprache<br />
für Taubstumme, und ihre Leistungen sind für<br />
Sprachforscher von g<strong>ro</strong>ßem potentiellem Interesse.) Unter <strong>de</strong>n<br />
Zuhörern waren einige Philosophen, die sich in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Vortrag<br />
folgen<strong>de</strong>n Diskussion viel Gedanken über die Frage machten,<br />
ob Washoe lügen könne. Ich vermutete, daß die Gardners<br />
meinten, es gäbe interessantere Fragen zu besprechen, und ich<br />
war <strong>de</strong>rselben Meinung. In diesem Buch benutze ich Worte<br />
wie „täuschen“ und „lügen“ in einem sehr viel direkteren<br />
Sinne als jene Philosophen. Sie beschäftigten sich damit, ob<br />
bei Washoe eine bewußte Täuschungsabsicht möglich war. Ich
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 111<br />
dagegen spreche einfach von einer Wirkung, die funktional <strong>de</strong>r<br />
Täuschung entspricht. Wür<strong>de</strong> ein Vogel das Da-ist-ein-Falke-<br />
Signal benutzen, <strong>wen</strong>n kein Falke in <strong>de</strong>r Nähe ist, und dadurch<br />
seine Gefährten verscheuchen, so daß er ihre Nahrung für<br />
sich hätte, so könnten wir sagen, er habe gelogen. Wir wür<strong>de</strong>n<br />
damit nicht meinen, daß er sich absichtlich und bewußt vorgenommen<br />
hatte zu betrügen. Wir wollen lediglich sagen, daß<br />
<strong>de</strong>r Lügner sich auf Kosten <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Vögel Nahrung verschaffte,<br />
und die an<strong>de</strong>ren Vögel flogen <strong>de</strong>shalb weg, weil sie auf<br />
<strong>de</strong>n Ruf <strong>de</strong>s Lügners in einer Weise reagierten, wie dies angebracht<br />
ist, <strong>wen</strong>n tatsächlich ein Falke in <strong>de</strong>r Nähe ist.<br />
Viele genießbare Insekten wie die Schmetterlinge im vorigen<br />
Kapitel schützen sich dadurch, daß sie das Aussehen an<strong>de</strong>rer,<br />
wi<strong>de</strong>rlich schmecken<strong>de</strong>r o<strong>de</strong>r stechen<strong>de</strong>r Insekten nachahmen.<br />
Wir selbst lassen uns häufig täuschen und halten gelbschwarz<br />
gestreifte Schwebfliegen für Wespen. Einige Fliegen,<br />
die Bienen nachahmen, sind bei ihrer Täuschung sogar noch<br />
perfekter. Auch Räuber lügen. Anglerfische warten geduldig<br />
am Meeresgrund, wobei sie sich kaum vom Hintergrund unterschei<strong>de</strong>n.<br />
Der einzige auffällige Teil ist ein sich win<strong>de</strong>n<strong>de</strong>s wurmartiges<br />
Stück Fleisch am En<strong>de</strong> einer langen „Angelrute“, die<br />
vom Kopf absteht. Kommt ein kleiner Beutefisch in die Nähe,<br />
so läßt <strong>de</strong>r Angler seinen wurmartigen Kö<strong>de</strong>r vor ihm herumtanzen<br />
und lockt ihn hinunter in die Gegend, wo sein eigenes<br />
Maul verborgen ist. Plötzlich öffnet er die Kiefer, und <strong>de</strong>r<br />
kleine Fisch wird eingesaugt und verspeist. Der Angler lügt<br />
und nutzt dabei die Gewohnheit <strong>de</strong>s kleinen Fisches aus, sich<br />
wurmähnlichen, sich win<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Objekten zu nähern. Er sagt:<br />
„Hier ist ein Wurm“, und je<strong>de</strong>r kleine Fisch, <strong>de</strong>r die Lüge<br />
„glaubt“, wird rasch verspeist.<br />
Es gibt Überlebensmaschinen, die die sexuellen Wünsche<br />
an<strong>de</strong>rer Überlebensmaschinen ausnutzen. Die Blüten <strong>de</strong>r<br />
Hummelorchi<strong>de</strong>en verleiten durch ihre starke Ähnlichkeit mit<br />
Hummelweibchen männliche Hummeln zu Kopulationsversuchen.<br />
Was die Orchi<strong>de</strong>e bei dieser Täuschung zu gewinnen<br />
hat, ist die Bestäubung, <strong>de</strong>nn eine Hummel, die sich von zwei<br />
Orchi<strong>de</strong>en täuschen läßt, trägt als Nebeneffekt Pollen von einer
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 112<br />
zur an<strong>de</strong>ren. Glühwürmchen (die eigentlich Käfer sind) locken<br />
ihre Männchen an, in<strong>de</strong>m sie Lichtblitze aussen<strong>de</strong>n. Je<strong>de</strong> Art<br />
hat ihr eigenes spezifisches Punkt-Strich-Leuchtmuster, das<br />
Verwechslungen unter <strong>de</strong>n Arten und daraus resultieren<strong>de</strong><br />
schädliche Hybridisierungen verhin<strong>de</strong>rt. So wie die Seeleute<br />
nach <strong>de</strong>n Leuchtmustern bestimmter Leuchttürme Ausschau<br />
halten, suchen Leuchtkäfer die codierten Leuchtmuster ihrer<br />
eigenen Art. Die Weibchen <strong>de</strong>r Gattung Photuris haben „ent<strong>de</strong>ckt“,<br />
daß sie die Männchen <strong>de</strong>r Gattung Photinus anlocken<br />
können, <strong>wen</strong>n sie <strong>de</strong>n Leuchtco<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Photinus-Weibchen imitieren.<br />
Das tun sie, und <strong>wen</strong>n ein Photinus-Männchen sich<br />
von <strong>de</strong>r Lüge täuschen läßt und näherkommt, wird es von<br />
<strong>de</strong>m Photuris-Weibchen sofort gefressen. Ein Vergleich mit <strong>de</strong>n<br />
Sirenen und <strong>de</strong>r Loreley drängt sich auf, die Bewohner von<br />
Cornwall wer<strong>de</strong>n jedoch eher an die Strandräuber vergangener<br />
<strong>Zeit</strong>en <strong>de</strong>nken, die Schiffe mit Laternen auf die Felsen<br />
lockten und dann die aus <strong>de</strong>n Wracks herausgeschleu<strong>de</strong>rten<br />
Ladungen plün<strong>de</strong>rten.<br />
Bei je<strong>de</strong>m sich entwickeln<strong>de</strong>n Kommunikationssystem<br />
besteht die Gefahr, daß einige es für ihre eigenen Zwecke ausnutzen.<br />
Da wir mit <strong>de</strong>r Auffassung aufgewachsen sind, die Evolution<br />
diene <strong>de</strong>m „Wohle <strong>de</strong>r Art“, gehen wir selbstverständlich<br />
davon aus, daß Lügner und Getäuschte jeweils verschie<strong>de</strong>nen<br />
Arten angehören: Räuber, Beute, Parasiten und so weiter.<br />
Wir müssen jedoch immer dann mit Lügen und Täuschung<br />
sowie selbstsüchtigem Ausnutzen <strong>de</strong>r Verständigung rechnen,<br />
<strong>wen</strong>n die Interessen <strong>de</strong>r Gene verschie<strong>de</strong>ner Individuen nicht<br />
übereinstimmen. Dies gilt auch unter Individuen <strong>de</strong>rselben<br />
Art. Wie wir sehen wer<strong>de</strong>n, müssen wir sogar erwarten, daß<br />
Kin<strong>de</strong>r ihre Eltern täuschen, Ehemänner ihre Frauen betrügen<br />
und Brü<strong>de</strong>r sich belügen.<br />
Selbst die Überzeugung, daß die Verständigungssignale <strong>de</strong>r<br />
Tiere sich zunächst zum wechselseitigen Nutzen entwickeln<br />
und später von böswilligen Individuen ausgenutzt wer<strong>de</strong>n,<br />
ist zu einfach. Es ist ohne weiteres möglich, daß jegliche<br />
Verständigung unter Tieren von Anfang an ein Element <strong>de</strong>r<br />
Täuschung enthält, da je<strong>de</strong> Interaktion zumin<strong>de</strong>st einen gewis-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 113<br />
sen Interessenkonflikt beinhaltet. Im nächsten Kapitel kommt<br />
eine eindrucksvolle Betrachtungsweise <strong>de</strong>r Interessenkonflikte<br />
aus <strong>de</strong>m Blickwinkel <strong>de</strong>r Evolution zur Sprache.
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 114<br />
5. Aggression: Die egoistische Maschine und die Stabilität<br />
In diesem Kapitel geht es hauptsächlich um das oft mißverstan<strong>de</strong>ne<br />
Thema Aggression. Wir wer<strong>de</strong>n das Individuum weiterhin<br />
als eine eigennützige Maschine auffassen, die p<strong>ro</strong>grammiert<br />
ist, alles zu tun, was für ihre Gene als Gesamtheit von<br />
Vorteil ist. Dies ist eine zweckmäßige Betrachtungsweise. Am<br />
En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Kapitels kehren wir zum Blickwinkel <strong>de</strong>r einzelnen<br />
Gene zurück.<br />
Für eine Überlebensmaschine stellt eine an<strong>de</strong>re Überlebensmaschine<br />
(die nicht ihr eigenes Kind o<strong>de</strong>r ein enger Verwandter<br />
ist) einen Teil ihrer Umwelt dar, wie ein Felsen o<strong>de</strong>r ein<br />
Fluß o<strong>de</strong>r ein B<strong>ro</strong>cken Nahrung. Sie ist etwas, das ihr in <strong>de</strong>n<br />
Weg gerät, o<strong>de</strong>r etwas, das ausgebeutet wer<strong>de</strong>n kann. Von<br />
einem Felsen o<strong>de</strong>r einem Fluß unterschei<strong>de</strong>t sie sich in einem<br />
wichtigen Aspekt: Sie neigt dazu, zurückzuschlagen. Auch sie<br />
ist nämlich eine Maschine, die ihre unsterblichen Gene für die<br />
Zukunft verwaltet und vor nichts zurückschreckt, um <strong>de</strong>ren<br />
Fortbestand zu sichern. Die natürliche Auslese begünstigt<br />
Gene, die ihre Überlebensmaschinen so steuern, daß sie <strong>de</strong>n<br />
besten Nutzen aus ihrer Umwelt ziehen. Dies schließt die<br />
bestmögliche Nutzung an<strong>de</strong>rer Überlebensmaschinen ein, ob<br />
diese nun <strong>de</strong>r eigenen o<strong>de</strong>r einer frem<strong>de</strong>n Art angehören.<br />
Es gibt Fälle, in <strong>de</strong>nen Überlebensmaschinen relativ <strong>wen</strong>ig<br />
auf das Leben an<strong>de</strong>rer Überlebensmaschinen einzuwirken<br />
scheinen. Maulwurf und Amsel beispielsweise fressen sich<br />
nicht gegenseitig, paaren sich nicht miteinan<strong>de</strong>r und konkurrieren<br />
nicht um <strong>de</strong>n gleichen Lebensraum. Doch selbst dann<br />
dürfen wir sie nicht als völlig isoliert voneinan<strong>de</strong>r betrachten.<br />
Vielleicht besteht zwischen ihnen doch irgen<strong>de</strong>ine Konkurrenz,<br />
etwa um Regenwürmer. Daß heißt nicht, daß wir jemals<br />
sehen wer<strong>de</strong>n, wie ein Maulwurf und eine Amsel ein Tauziehen<br />
um einen Regenwurm veranstalten; tatsächlich bekommt<br />
eine Amsel vielleicht niemals in ihrem Leben einen Maulwurf<br />
zu Gesicht. Doch <strong>wen</strong>n man die Population <strong>de</strong>r Maulwürfe<br />
auslöschen wür<strong>de</strong>, hätte dies vielleicht gravieren<strong>de</strong> Folgen
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 115<br />
für die Amseln, <strong>wen</strong>n ich auch im Moment keinerlei Vermutung<br />
darüber anstellen könnte, wie dies im einzelnen aussehen<br />
wür<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r welche gewun<strong>de</strong>nen Wege <strong>de</strong>r Einfluß nehmen<br />
wür<strong>de</strong>.<br />
Überlebensmaschinen, die verschie<strong>de</strong>nen Arten angehören,<br />
beeinflussen einan<strong>de</strong>r auf vielerlei Weise. Sie können Räuber<br />
sein o<strong>de</strong>r Beute, Parasiten o<strong>de</strong>r Wirte, Konkurrenten um irgen<strong>de</strong>ine<br />
knappe Ressource. Sie können auf spezielle Art ausgenutzt<br />
wer<strong>de</strong>n wie beispielsweise Bienen, die von Blumen als<br />
Pollenträger benutzt wer<strong>de</strong>n.<br />
Überlebensmaschinen <strong>de</strong>rselben Art wirken in ihrem Leben<br />
gewöhnlich direkter aufeinan<strong>de</strong>r ein. Dafür gibt es viele<br />
Grün<strong>de</strong>. Einer ist <strong>de</strong>r, daß die Hälfte <strong>de</strong>r Population <strong>de</strong>r eigenen<br />
Art potentielle Geschlechtspartner und potentiell schwer arbeiten<strong>de</strong><br />
Väter beziehungsweise Mütter für die eigenen Kin<strong>de</strong>r<br />
sein können. Ein an<strong>de</strong>rer Grund ist, daß Angehörige <strong>de</strong>rselben<br />
Art, die einan<strong>de</strong>r sehr gleichen, da sie Maschinen zur Bewahrung<br />
von Genen an einem gleichartigen Ort und mit <strong>de</strong>rselben<br />
Lebensweise sind, beson<strong>de</strong>rs unmittelbar um alle zum Leben<br />
not<strong>wen</strong>digen Ressourcen konkurrieren. Für eine Amsel ist ein<br />
Maulwurf vielleicht ein Konkurrent, aber kein annähernd so<br />
starker Konkurrent wie eine an<strong>de</strong>re Amsel. Maulwürfe und<br />
Amseln mögen um Würmer konkurrieren, Amseln untereinan<strong>de</strong>r<br />
aber konkurrieren um Würmer und um alles an<strong>de</strong>re. Wenn<br />
sie <strong>de</strong>mselben Geschlecht angehören, konkurrieren sie vielleicht<br />
außer<strong>de</strong>m noch um Geschlechtspartner. Aus Grün<strong>de</strong>n,<br />
die wir noch kennenlernen wer<strong>de</strong>n, sind es gewöhnlich die<br />
Männchen, die miteinan<strong>de</strong>r um Weibchen konkurrieren. Das<br />
heißt, daß ein Männchen seinen eigenen Genen vielleicht<br />
einen Vorteil verschafft, <strong>wen</strong>n es etwas tut, das einem an<strong>de</strong>ren<br />
Männchen, mit <strong>de</strong>m es konkurriert, scha<strong>de</strong>t.<br />
Es könnte daher scheinen, als sei die folgerichtige Taktik<br />
für eine Überlebensmaschine die, ihre Rivalen zu ermor<strong>de</strong>n<br />
und dann am besten zu verzehren. Mord und Kannibalismus<br />
kommen zwar tatsächlich in <strong>de</strong>r Natur vor, sind aber nicht so<br />
häufig, wie eine unbefangene Interpretation <strong>de</strong>r Theorie <strong>de</strong>s<br />
egoistischen Gens voraussagen wür<strong>de</strong>. Konrad Lorenz etwa
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 116<br />
betont in seinem Buch Das sogenannte Böse <strong>de</strong>n maßvollen<br />
und fairen Charakter <strong>de</strong>r Tierkämpfe. Das Bemerkenswerte<br />
an diesen Kämpfen ist für ihn die Tatsache, daß es sich um<br />
formelle Turniere han<strong>de</strong>lt, die nach Regeln wie <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>s<br />
Boxens o<strong>de</strong>r Fechtens abgehalten wer<strong>de</strong>n. Die Tiere kämpfen<br />
mit behandschuhter Faust und stumpfem Florett. D<strong>ro</strong>hung<br />
und Bluff treten an die Stelle tödlichen Ernstes. Unterwerfungsgesten<br />
wer<strong>de</strong>n vom Sieger anerkannt, <strong>de</strong>r dann darauf<br />
verzichtet, <strong>de</strong>n To<strong>de</strong>sschlag o<strong>de</strong>r -biß auszuteilen, <strong>de</strong>n unsere<br />
Theorie in naiver Auslegung voraussagen wür<strong>de</strong>.<br />
Diese Interpretation, tierische Aggression sei verhalten und<br />
formal, läßt sich bestreiten. Insbeson<strong>de</strong>re ist es sicherlich<br />
falsch, <strong>de</strong>n armen alten Homo sapiens als die einzige Spezies<br />
zu verdammen, die ihre eigenen Artgenossen tötet, als <strong>de</strong>n<br />
einzigen Erben <strong>de</strong>s Kainsmales o<strong>de</strong>r etwas ähnlich Melodramatisches.<br />
Ob ein Zoologe die Heftigkeit o<strong>de</strong>r die Beherrschtheit<br />
<strong>de</strong>r tierischen Aggression hervorhebt, hängt zum Teil<br />
von <strong>de</strong>r Art <strong>de</strong>r Tiere ab, die zu beobachten er gewöhnt ist,<br />
und zum Teil von seinen evolutionstheoretischen Vorurteilen<br />
– schließlich ist Lorenz ein Verfechter <strong>de</strong>r These vom „Wohl<br />
<strong>de</strong>r Art“. Doch <strong>wen</strong>n die Auffassung, daß die Tiere mit behandschuhter<br />
Faust kämpfen, auch übertrieben wor<strong>de</strong>n ist, so hat<br />
sie <strong>de</strong>nnoch zumin<strong>de</strong>st etwas Wahres an sich. Auf <strong>de</strong>n ersten<br />
Blick sieht ein solches Verhalten wie eine Form von Altruismus<br />
aus. Die Theorie <strong>de</strong>s egoistischen Gens muß sich <strong>de</strong>r schwierigen<br />
Aufgabe stellen, eine Erklärung dafür zu fin<strong>de</strong>n. Warum<br />
versuchen nicht alle Tiere, bei je<strong>de</strong>r möglichen Gelegenheit<br />
rivalisieren<strong>de</strong> Angehörige ihrer eigenen Art zu töten ?<br />
Die allgemeine Antwort darauf lautet, daß vorbehaltlose<br />
Kampfeswut nicht nur Vorteile, son<strong>de</strong>rn auch Kosten mit sich<br />
bringt, und zwar nicht nur die <strong>de</strong>utlich erkennbaren Kosten<br />
an <strong>Zeit</strong> und Energie. Nehmen wir beispielsweise an, B und C<br />
seien bei<strong>de</strong> meine Rivalen und ich träfe B zufällig. Man könnte<br />
meinen, es sei für mich als egoistisches Individuum vernünftig,<br />
<strong>wen</strong>n ich versuchen wür<strong>de</strong>, ihn zu töten. Doch halt! C ist ebenfalls<br />
mein Rivale, und C ist auch ein Rivale von B. Wenn ich B<br />
töte, erweise ich möglicherweise C einen guten Dienst, in<strong>de</strong>m
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 117<br />
ich einen seiner Rivalen beseitige. Ich täte vielleicht besser<br />
daran, B leben zu lassen, <strong>de</strong>nn dann wür<strong>de</strong> er vielleicht mit C<br />
konkurrieren o<strong>de</strong>r kämpfen und damit indirekt mir einen Vorteil<br />
bringen. Die Moral dieses einfachen hypothetischen Beispiels<br />
ist, daß es offensichtlich keinen Nutzen bringt, <strong>wen</strong>n man<br />
unterschiedslos Rivalen zu töten versucht. In einem umfangreichen<br />
und komplexen System von Rivalitäten ist es nicht<br />
zwangsläufig ein Vorteil, <strong>wen</strong>n man einen Rivalen von <strong>de</strong>r<br />
Bühne beseitigt: Es kann sein, daß an<strong>de</strong>re Rivalen eher von<br />
<strong>de</strong>ssen Tod p<strong>ro</strong>fitieren als man selbst. Dies ist eine bittere Lektion,<br />
die auch Schädlingsbekämpfer lernen müssen. Man hat<br />
es mit einem gefährlichen landwirtschaftlichen Schädling zu<br />
tun, man ent<strong>de</strong>ckt ein gutes Mittel zu seiner Vernichtung, und<br />
man <strong>wen</strong><strong>de</strong>t es fröhlich an, nur um anschließend festzustellen,<br />
daß ein an<strong>de</strong>rer Schädling von dieser Aus<strong>ro</strong>ttung noch mehr<br />
p<strong>ro</strong>fitiert als die Landwirtschaft, und letzten En<strong>de</strong>s hat man<br />
sich statt eines Vorteils einen Nachteil eingehan<strong>de</strong>lt.<br />
An<strong>de</strong>rerseits könnte es ein guter Schachzug sein, <strong>wen</strong>n man<br />
auf eine umsichtige Art und Weise bestimmte einzelne Rivalen<br />
tötete o<strong>de</strong>r zumin<strong>de</strong>st mit ihnen kämpfte. Wenn B ein See-Elefant<br />
ist, <strong>de</strong>r einen g<strong>ro</strong>ßen Harem von Weibchen hat, und <strong>wen</strong>n<br />
ich, ein an<strong>de</strong>rer See-Elefant, seinen Harem dadurch erwerben<br />
kann, daß ich ihn töte, so bin ich vielleicht gut beraten, <strong>wen</strong>n<br />
ich dies versuche. Aber selbst bei selektiver Kampflust entstehen<br />
Kosten und Risiken. Es liegt im Interesse von B, sich<br />
zu wehren, seinen wertvollen Besitz zu verteidigen. Wenn ich<br />
einen Kampf vom Zaun breche, ist es ebenso wahrscheinlich,<br />
daß ich tot daraus hervorgehe, wie daß er getötet wird. Vielleicht<br />
sogar noch wahrscheinlicher. Er besitzt eine wertvolle<br />
Ressource, das ist <strong>de</strong>r Grund, weshalb ich mit ihm kämpfen<br />
will. Aber warum besitzt er sie? Vielleicht hat er sie im Kampf<br />
gewonnen. Wahrscheinlich hat er vor mir schon an<strong>de</strong>re Herausfor<strong>de</strong>rer<br />
zurückgeschlagen. Er ist wahrscheinlich ein guter<br />
Kämpfer. Selbst <strong>wen</strong>n ich siegreich aus <strong>de</strong>m Kampf hervorgehe<br />
und <strong>de</strong>n Harem gewinne, wer<strong>de</strong> ich während <strong>de</strong>s Kampfes<br />
vielleicht so böse zugerichtet, daß ich die errungenen Vorteile<br />
nicht genießen kann. Außer<strong>de</strong>m kostet Kämpfen <strong>Zeit</strong> und
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 118<br />
Energie. Vielleicht wäre es besser, diese im Augenblick zu<br />
sparen. Wenn ich mich eine <strong>Zeit</strong>lang darauf konzentriere, zu<br />
fressen und mich aus Schwierigkeiten herauszuhalten, wer<strong>de</strong><br />
ich größer und stärker. Letzten En<strong>de</strong>s wer<strong>de</strong> ich mit ihm um<br />
<strong>de</strong>n Harem kämpfen, aber ich habe vielleicht eine bessere<br />
Chance, schließlich zu gewinnen, <strong>wen</strong>n ich noch warte, statt<br />
jetzt über ihn herzufallen.<br />
Dieses subjektive Selbstgespräch soll lediglich zeigen, daß<br />
<strong>de</strong>r Entscheidung für o<strong>de</strong>r gegen einen Kampf im I<strong>de</strong>alfall<br />
eine komplexe, <strong>wen</strong>n auch unbewußte „Kosten-Nutzen-Rechnung“<br />
vorausgehen sollte. Die potentiellen Vorteile liegen nicht<br />
alle auf seiten <strong>de</strong>s Kampfes, einige tun dies allerdings zweifellos.<br />
Ähnlich ließen sich im Prinzip bei je<strong>de</strong>r taktischen Entscheidung<br />
im Verlauf eines Kampfes, diesen anzuheizen o<strong>de</strong>r<br />
abkühlen zu lassen, Kosten und Vorteile analysieren. Dies<br />
hatten die Verhaltensforscher seit langem auf eine etwas verschwommene<br />
Weise erkannt, es bedurfte jedoch erst eines J.<br />
Maynard Smith, <strong>de</strong>r normalerweise nicht zu <strong>de</strong>n Ethologen<br />
gezählt wird, damit dieser Gedanke kraftvoll und klar zum Ausdruck<br />
gebracht wur<strong>de</strong>. Gemeinsam mit G. R. Price und G. A.<br />
Parker bedient er sich <strong>de</strong>s als Spieltheorie bekannten Zweiges<br />
<strong>de</strong>r Mathematik. Ihre eleganten Gedankengänge lassen sich,<br />
obwohl sie dabei etwas an Exaktheit einbüßen, ohne mathematische<br />
Symbole in Worten ausdrücken.<br />
Der Grundbegriff, <strong>de</strong>n Maynard Smith einführt, ist die<br />
evolutionär stabile Strategie – ein Gedanke, <strong>de</strong>n er bis zu W<br />
D. Hamilton und R. H. MacArthur zurückverfolgt. Eine „Strategie“<br />
ist eine vorp<strong>ro</strong>grammierte Verhaltenstaktik. Ein Beispiel<br />
einer Strategie ist: „Greif <strong>de</strong>n Gegner an; <strong>wen</strong>n er flieht, verfolge<br />
ihn; <strong>wen</strong>n er zurückschlägt, lauf weg.“ Es ist wichtig, sich<br />
klarzumachen, daß wir die Strategie nicht als etwas betrachten,<br />
das von <strong>de</strong>m Individuum bewußt ausgearbeitet wird. Erinnern<br />
wir uns daran, daß wir uns das Tier als eine <strong>ro</strong>boterartige<br />
Überlebensmaschine mit einem die Muskeln steuern<strong>de</strong>n,<br />
vorp<strong>ro</strong>grammierten Computer vorstellen. Wenn wir die Strategie<br />
als eine Reihe einfacher Instruktionen in normaler Sprache<br />
nie<strong>de</strong>rschreiben, soll uns dies lediglich dabei helfen, sie
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 119<br />
uns vorzustellen. Mittels eines nichtspezifizierten Mechanismus<br />
verhält sich das Tier so, als ob es diesen Anweisungen<br />
Folge leistete.<br />
Eine evolutionär stabile Strategie o<strong>de</strong>r ESS ist <strong>de</strong>finiert als<br />
eine Strategie, die – <strong>wen</strong>n die Mehrzahl <strong>de</strong>r Angehörigen einer<br />
Population sie sich zu eigen macht – von keiner alternativen<br />
Strategie übert<strong>ro</strong>ffen wer<strong>de</strong>n kann. 1 Dies ist ein komplizierter<br />
und wichtiger Gedanke. An<strong>de</strong>rs ausgedrückt besagt er, daß<br />
die beste Strategie für ein Individuum davon abhängt, was die<br />
Mehrheit <strong>de</strong>r Bevölkerung tut. Da <strong>de</strong>r Rest <strong>de</strong>r Bevölkerung<br />
aus Individuen besteht, von <strong>de</strong>nen je<strong>de</strong>s seinen eigenen Erfolg<br />
zu maximieren sucht, wird nur eine solche Strategie fortbestehen,<br />
die, sobald sie sich einmal herausgebil<strong>de</strong>t hat, von<br />
keinem abweichen<strong>de</strong>n Individuum übert<strong>ro</strong>ffen wer<strong>de</strong>n kann.<br />
Nach einer größeren Umweltverän<strong>de</strong>rung kann es in <strong>de</strong>r Population<br />
eine kurze Perio<strong>de</strong> <strong>de</strong>r evolutionären Instabilität, vielleicht<br />
sogar <strong>de</strong>s evolutionären Hin- und Herpen<strong>de</strong>lns geben.<br />
Ist aber einmal eine ESS erreicht, so wird sie bleiben: Die<br />
Selektion wird je<strong>de</strong>s Abweichen von ihr bestrafen.<br />
Um diesen Gedanken auf die Aggression anzu<strong>wen</strong><strong>de</strong>n,<br />
wollen wir einen von Maynard Smiths einfachsten hypothetischen<br />
Fällen betrachten. Nehmen wir an, es gäbe in einer<br />
Population einer speziellen Art lediglich zwei Kampfstrategien,<br />
die als Falke und Taube bezeichnet wer<strong>de</strong>n. (Die Namen<br />
sind entsprechend <strong>de</strong>m traditionellen menschlichen Sprachgebrauch<br />
gewählt und stehen in keiner Verbindung zu <strong>de</strong>n<br />
Gewohnheiten <strong>de</strong>r Vögel, von <strong>de</strong>nen sie abgeleitet sind: Tauben<br />
sind in Wirklichkeit recht aggressive Vögel.) Alle Individuen<br />
unserer hypothetischen Population sind entwe<strong>de</strong>r Falke o<strong>de</strong>r<br />
Taube. Die Falken kämpfen so heftig und ungezügelt, wie sie<br />
nur können, und räumen das Feld erst, <strong>wen</strong>n sie ernstlich verletzt<br />
sind. Die Tauben d<strong>ro</strong>hen lediglich auf eine wür<strong>de</strong>volle,<br />
konventionelle Weise und verletzen niemals jeman<strong>de</strong>n. Wenn<br />
ein Falke eine Taube angreift, läuft die Taube schnell fort und<br />
wird daher nicht verletzt. Wenn ein Falke mit einem Falken<br />
kämpft, hören sie erst auf, <strong>wen</strong>n einer von ihnen ernstlich verletzt<br />
o<strong>de</strong>r tot ist. Trifft eine Taube auf eine an<strong>de</strong>re Taube, so
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 120<br />
wird niemand verletzt; in Imponierstellung stehen sie einan<strong>de</strong>r<br />
geraume <strong>Zeit</strong> gegenüber, bis eine von ihnen mü<strong>de</strong> wird o<strong>de</strong>r<br />
<strong>de</strong>n Entschluß faßt, sich nicht länger aufzuregen, und daher<br />
klein beigibt. Einstweilen nehmen wir an, daß es für ein Individuum<br />
keine Möglichkeit gibt, im voraus festzustellen, ob ein<br />
spezieller Rivale ein Falke o<strong>de</strong>r eine Taube ist. Es fin<strong>de</strong>t dies<br />
nur dadurch heraus, daß es mit ihm kämpft, und es hat keine<br />
Erinnerung an vergangene Kämpfe mit bestimmten Individuen,<br />
an <strong>de</strong>r es sich orientieren könnte.<br />
Wir setzen jetzt rein willkürlich Punktzahlen fest, die wir an<br />
die Kämpfen<strong>de</strong>n verteilen. Beispielsweise 50 Punkte für einen<br />
Sieg, null Punkte für eine Nie<strong>de</strong>rlage, -100 für eine ernste Verletzung<br />
und -10 für <strong>Zeit</strong>versch<strong>wen</strong>dung bei einer langen Auseinan<strong>de</strong>rsetzung.<br />
Wir können uns diese Punkte als unmittelbar<br />
in die Währung <strong>de</strong>s Genüberlebens konvertierbar vorstellen.<br />
Ein Individuum, das hohe Punktzahlen erreicht, in<br />
<strong>de</strong>r Regel also eine hohe „Prämie“ bekommt, ist ein Individuum,<br />
das viele Gene im Genpool hinterläßt. Innerhalb breiter<br />
Grenzen sind die tatsächlichen Zahlenwerte für die Analyse<br />
be<strong>de</strong>utungslos, aber sie helfen uns beim Durch<strong>de</strong>nken <strong>de</strong>s<br />
P<strong>ro</strong>blems.<br />
Wichtig ist, daß wir nicht wissen wollen, ob die Falken<br />
gewöhnlich die Tauben besiegen, <strong>wen</strong>n sie mit ihnen kämpfen.<br />
Die Antwort darauf kennen wir bereits: Die Falken gewinnen<br />
immer. Wir wollen wissen, ob eine <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Strategien, Falke<br />
o<strong>de</strong>r Taube, evolutionär stabil ist. Wenn eine von ihnen eine<br />
ESS ist und die an<strong>de</strong>re nicht, müssen wir erwarten, daß sich<br />
in <strong>de</strong>r Evolution diejenige herausbil<strong>de</strong>t, die die ESS ist. Theoretisch<br />
ist es möglich, daß es zwei evolutionär stabile Strategien<br />
gibt. Dies wäre <strong>de</strong>r Fall, <strong>wen</strong>n – unabhängig davon, welches<br />
zufällig die Mehrheitsstrategie ist – die beste Strategie<br />
für je<strong>de</strong>s beliebige Individuum darin bestün<strong>de</strong>, <strong>de</strong>m Beispiel<br />
<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren zu folgen. Die Population wür<strong>de</strong> dann dazu tendieren,<br />
in <strong>de</strong>mjenigen ihrer bei<strong>de</strong>n stabilen Zustän<strong>de</strong> zu verbleiben,<br />
<strong>de</strong>n sie zufällig zuerst erreicht. Doch wie wir gleich<br />
sehen wer<strong>de</strong>n, wäre in Wirklichkeit keine <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Strategien<br />
– Falke o<strong>de</strong>r Taube – auf sich allein gestellt evolutionär
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 121<br />
stabil, und wir sollten daher nicht erwarten, daß sich eine von<br />
ihnen entwickelt. Um dies <strong>de</strong>utlich zu machen, müssen wir die<br />
Durchschnittsprämien berechnen.<br />
Nehmen wir an, wir haben eine Population, die ausschließlich<br />
aus Tauben besteht. Wann immer sie kämpfen, es wird niemand<br />
verletzt. Die Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen bestehen aus langwierigen<br />
rituellen Turnieren, vielleicht aus Wettkämpfen im<br />
Anstarren, die erst en<strong>de</strong>n, <strong>wen</strong>n einer <strong>de</strong>r Rivalen klein beigibt.<br />
Der Sieger erzielt dann 50 Punkte dafür, daß er die umstrittene<br />
Ressource gewonnen hat, aber er zahlt eine Strafe von -10<br />
für <strong>Zeit</strong>versch<strong>wen</strong>dung bei einem langen Anstarr-Match; alles<br />
in allem erzielt er also 40 Punkte. Der Verlierer wird ebenfalls<br />
mit einer Strafe von -10 für <strong>Zeit</strong>vergeudung belegt. Im Durchschnitt<br />
kann je<strong>de</strong> einzelne Taube erwarten, daß sie die Hälfte<br />
ihrer Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen gewinnt und die Hälfte verliert.<br />
Ihre durchschnittliche Prämie p<strong>ro</strong> Auseinan<strong>de</strong>rsetzung ist<br />
daher das Mittel von +40 und -10, das heißt +15. Daher scheint<br />
es je<strong>de</strong>r einzelnen Taube in einer Population von Tauben recht<br />
gut zu gehen.<br />
Nehmen wir nun aber an, in <strong>de</strong>r Population trete ein durch<br />
Mutation entstan<strong>de</strong>ner Falke auf. Da er weit und breit <strong>de</strong>r einzige<br />
Falke ist, sind alle Kämpfe, die er führt, gegen Tauben.<br />
Falken schlagen Tauben immer, somit erzielt er in je<strong>de</strong>m Kampf<br />
+50, und das ist seine durchschnittliche Prämie. Er erfreut<br />
sich eines enormen Vorteils gegenüber <strong>de</strong>n Tauben, <strong>de</strong>ren<br />
Nettoprämie lediglich +15 beträgt. Infolge<strong>de</strong>ssen wer<strong>de</strong>n sich<br />
die Falkengene schnell über die gesamte Population verbreiten.<br />
Aber jetzt kann sich ein Falke nicht mehr darauf verlassen,<br />
daß je<strong>de</strong>r Rivale, <strong>de</strong>n er trifft, eine Taube ist. Um ein extremes<br />
Beispiel zu nennen: Wenn sich die Falkengene so erfolgreich<br />
ausbreiten wür<strong>de</strong>n, daß die gesamte Population schließlich aus<br />
Falken bestün<strong>de</strong>, wären alle Kämpfe nunmehr Falkenkämpfe.<br />
Jetzt liegen die Dinge völlig an<strong>de</strong>rs. Wenn zwei Falken aufeinan<strong>de</strong>rtreffen,<br />
wird einer von ihnen ernstlich verletzt und<br />
bekommt -100 Punkte, während <strong>de</strong>r Gewinner +50 erzielt.<br />
Je<strong>de</strong>r Falke in einer Falkenpopulation kann damit rechnen,<br />
daß er die Hälfte seiner Kämpfe gewinnt und die Hälfte ver-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 122<br />
liert. Die durchschnittliche Prämie, die er p<strong>ro</strong> Kampf zu erwarten<br />
hat, liegt daher in <strong>de</strong>r Mitte zwischen +50 und -100, das<br />
heißt bei -25. Denken wir uns jetzt eine einzelne Taube in einer<br />
Population von Falken. Zwar verliert sie alle ihre Kämpfe,<br />
an<strong>de</strong>rerseits aber wird sie auch niemals verletzt. Ihre durchschnittliche<br />
Prämie in einer Falkenpopulation ist null, wogegen<br />
die durchschnittliche Prämie für einen Falken in einer Falkenpopulation<br />
-25 beträgt. Die Taubengene wer<strong>de</strong>n daher dazu<br />
tendieren, sich in <strong>de</strong>r gesamten Population auszubreiten.<br />
So wie ich die Sache dargestellt habe, entsteht <strong>de</strong>r Eindruck,<br />
als gäbe es in <strong>de</strong>r Population eine fortwähren<strong>de</strong> Pen<strong>de</strong>lbewegung.<br />
Die Falkengene stürmen zur Vorherrschaft, als<br />
Folge <strong>de</strong>r Überzahl <strong>de</strong>r Falken erzielen dann die Taubengene<br />
einen Vorteil und nehmen an Zahl zu, bis die Falkengene<br />
von neuem erfolgreich sind. Eine <strong>de</strong>rartige Pen<strong>de</strong>lbewegung<br />
braucht jedoch nicht aufzutreten. Es gibt ein Verhältnis von<br />
Falken zu Tauben, das stabil ist. Für das willkürliche Punktsystem,<br />
das wir benutzen, errechnet sich ein Verhältnis von 5 / 12<br />
Tauben zu 7 / 12<br />
Falken. Wenn dieses stabile Verhältnis erreicht<br />
ist, dann ist die durchschnittliche Prämie für einen Falken<br />
genau gleich <strong>de</strong>r durchschnittlichen Prämie für eine Taube.<br />
Daher begünstigt die Selektion keinen von bei<strong>de</strong>n. Wür<strong>de</strong> die<br />
Zahl <strong>de</strong>r Falken in <strong>de</strong>r Population zu steigen beginnen, so<br />
daß ihr Anteil nicht mehr 7 / 12<br />
betrüge, so wür<strong>de</strong> sich für die<br />
Tauben ein zusätzlicher Vorteil einstellen, und die Relation<br />
wür<strong>de</strong> zu <strong>de</strong>m stabilen Zustand zurückschwingen. So wie das<br />
stabile Geschlechterverhältnis 50:50 beträgt – was wir noch<br />
sehen wer<strong>de</strong>n –, beträgt die stabile Rate von Falken zu Tauben<br />
in diesem Beispiel 7:5. In je<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Fälle brauchen<br />
eventuelle Schwankungen um <strong>de</strong>n Stabilitätspunkt nicht sehr<br />
g<strong>ro</strong>ß zu sein.<br />
Oberflächlich betrachtet erinnert dies ein <strong>wen</strong>ig an Gruppenselektion,<br />
in Wirklichkeit ist es jedoch nichts <strong>de</strong>rgleichen.<br />
Es klingt wie Gruppenselektion, weil wir in die Lage versetzt<br />
wer<strong>de</strong>n, uns vorzustellen, daß eine Population ein stabiles<br />
Gleichgewicht besitzt, zu <strong>de</strong>m sie nach einer Störung<br />
zurückzukehren tendiert. Doch das Konzept <strong>de</strong>r ESS ist sehr
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 123<br />
viel subtiler als das <strong>de</strong>r Gruppenselektion. Es hat nichts damit<br />
zu tun, daß einige Gruppen erfolgreicher sind als an<strong>de</strong>re. Dies<br />
läßt sich mit <strong>de</strong>m willkürlichen Punktsystem unseres hypothetischen<br />
Beispiels sehr schön veranschaulichen. Wie sich herausstellt,<br />
beträgt die durchschnittliche Prämie für ein Individuum<br />
in einer stabilen Population aus 7 / 12<br />
Falken und 5 / 12<br />
Tauben 6 1 / 4<br />
. Dies gilt unabhängig davon, ob das Individuum ein<br />
Falke o<strong>de</strong>r eine Taube ist. Nun ist 6 1 / 4<br />
sehr viel <strong>wen</strong>iger als die<br />
durchschnittliche Prämie für eine Taube in einer Taubenpopulation<br />
(15). Wenn doch je<strong>de</strong>s einzelne Individuum damit einverstan<strong>de</strong>n<br />
wäre, eine Taube zu sein! Im Falle einfacher Gruppenselektion<br />
wäre je<strong>de</strong> beliebige Gruppe, in <strong>de</strong>r alle Individuen<br />
untereinan<strong>de</strong>r vereinbaren wür<strong>de</strong>n, Tauben zu sein, bei<br />
weitem erfolgreicher als eine bei <strong>de</strong>r ESS-Relation verharren<strong>de</strong><br />
rivalisieren<strong>de</strong> Gruppe. (Um die Wahrheit zu sagen,<br />
eine „Verschwörung“ ausschließlich aus Tauben ist nicht ganz<br />
die erfolgreichste mögliche Gruppe. In einer Gruppe aus 1 / 6<br />
Falken und 5 / 6<br />
Tauben ist die durchschnittliche Prämie p<strong>ro</strong><br />
Kopf 16%. Dies ist die erfolgreichste mögliche Verschwörung,<br />
für die Zwecke unserer Erörterung können wir sie aber<br />
vernachlässigen. Eine einfachere reine Taubenverschwörung<br />
mit ihrer durchschnittlichen Prämie von 15 ist für je<strong>de</strong>s einzelne<br />
Individuum weit besser als die ESS.) Die Theorie <strong>de</strong>r<br />
Gruppenselektion wür<strong>de</strong> daher eine Ten<strong>de</strong>nz zur Herausbildung<br />
einer reinen Taubenverschwörung voraussagen, da eine<br />
Gruppe, in <strong>de</strong>r die Falken einen Anteil von 7 / 12<br />
hätten, <strong>wen</strong>iger<br />
erfolgreich wäre. Doch das Dumme an Verschwörungen – sogar<br />
jenen, die langfristig für alle von Vorteil sind – ist, daß sie<br />
anfällig gegen Mißbrauch sind. Zwar geht es in einer Nur-Tauben-Gruppe<br />
allen besser als in einer ESS-Gruppe. Doch lei<strong>de</strong>r<br />
schnei<strong>de</strong>t ein einzelner Falke in einer Taubenverschwörung so<br />
auße<strong>ro</strong>r<strong>de</strong>ntlich erfolgreich ab, daß nichts die Evolution von<br />
Falken aufhalten könnte. Die Verschwörung ist dazu verurteilt,<br />
durch Verrat von innen her zusammenzubrechen. Eine ESS-<br />
Gruppe ist stabil; nicht, weil sie für die an ihr beteiligten Individuen<br />
beson<strong>de</strong>rs gut ist, son<strong>de</strong>rn einfach, weil sie gegen Verrat<br />
durch Mitglie<strong>de</strong>r immun ist.
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 124<br />
Menschen können Pakte und Verschwörungen eingehen, von<br />
<strong>de</strong>nen alle Individuen p<strong>ro</strong>fitieren, selbst <strong>wen</strong>n diese Absprachen<br />
nicht stabil im Sinne einer ESS sind. Aber das ist nur <strong>de</strong>shalb<br />
möglich, weil je<strong>de</strong>r Mensch vorausschauend <strong>de</strong>nkt und zu<br />
erkennen vermag, daß es in seinem eigenen langfristigen Interesse<br />
liegt, die Regeln <strong>de</strong>s Paktes zu befolgen. Doch selbst bei<br />
Absprachen unter Menschen besteht eine ständige Gefahr, daß<br />
einzelne Personen kurzfristig so viel zu gewinnen haben, <strong>wen</strong>n<br />
sie <strong>de</strong>n Pakt brechen, daß die Versuchung dazu überwältigend<br />
wird. Das beste Beispiel ist vielleicht das <strong>de</strong>r Preisabsprache.<br />
Langfristig liegt es im Interesse aller einzelnen Tankstellenbesitzer,<br />
<strong>de</strong>n Benzinpreis einheitlich auf einem künstlich hohen<br />
Niveau festzulegen. Preiskartelle auf <strong>de</strong>r Grundlage einer<br />
bewußten Veranschlagung <strong>de</strong>r langfristig gesehen größten Vorteile<br />
können einen recht langen <strong>Zeit</strong>raum überdauern. Sehr<br />
häufig jedoch gibt ein einzelner Tankstellenbesitzer <strong>de</strong>r Versuchung<br />
nach, einen schnellen Gewinn zu erzielen, in<strong>de</strong>m er<br />
seine Preise herabsetzt. Sofort folgen seine Nachbarn diesem<br />
Beispiel, und eine Welle von Preissenkungen breitet sich im<br />
Lan<strong>de</strong> aus. Bedauerlicherweise für die Autofahrer gewinnt die<br />
Voraussicht <strong>de</strong>r Tankstellenbesitzer wie<strong>de</strong>r die Oberhand, und<br />
diese treffen eine neue Preisabsprache. Selbst beim Menschen,<br />
einer mit <strong>de</strong>r Gabe <strong>de</strong>s vorausschauen<strong>de</strong>n Denkens ausgestatteten<br />
Spezies, stehen Pakte o<strong>de</strong>r Abkommen auf <strong>de</strong>r Grundlage<br />
<strong>de</strong>r langfristig gesehen größten Vorteile also ständig am<br />
Ran<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Zusammenbruches durch Verrat. Bei freileben<strong>de</strong>n,<br />
von kämpfen<strong>de</strong>n Genen gesteuerten Tieren ist es sogar noch<br />
schwieriger, sich vorzustellen, wie sich Strategien zum Wohle<br />
<strong>de</strong>r Gruppe o<strong>de</strong>r Verschwörungsstrategien möglicherweise<br />
entwickeln könnten. Wir müssen erwarten, daß wir überall<br />
evolutionär stabile Strategien fin<strong>de</strong>n.<br />
In unserem hypothetischen Beispiel sind wir von <strong>de</strong>r einfachen<br />
Annahme ausgegangen, daß je<strong>de</strong>s Individuum entwe<strong>de</strong>r<br />
ein Falke o<strong>de</strong>r eine Taube ist. Wir gelangten zu einem<br />
evolutionär stabilen Zahlenverhältnis von Falken und Tauben.<br />
In <strong>de</strong>r Praxis be<strong>de</strong>utet dies, daß im Genpool ein stabiles<br />
Verhältnis von Falkengenen zu Taubengenen erzielt wür<strong>de</strong>.
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 125<br />
Der genetische Fachausdruck für diesen Zustand heißt stabiler<br />
Polymorphismus. Soweit es die Mathematik betrifft, läßt<br />
sich auch ohne Polymorphismus eine genau gleichwertige ESS<br />
folgen<strong>de</strong>rmaßen erzielen: Wenn je<strong>de</strong>s Individuum in <strong>de</strong>r Lage<br />
ist, sich in je<strong>de</strong>r einzelnen Auseinan<strong>de</strong>rsetzung entwe<strong>de</strong>r wie<br />
ein Falke o<strong>de</strong>r wie eine Taube zu verhalten, so läßt sich eine<br />
ESS erreichen, bei <strong>de</strong>r die Wahrscheinlichkeit, sich wie ein<br />
Falke zu verhalten, für alle Individuen die gleiche ist, und zwar<br />
wäre sie in unserem speziellen Beispiel 7 / 12<br />
. In <strong>de</strong>r Praxis wür<strong>de</strong><br />
dies be<strong>de</strong>uten, daß je<strong>de</strong>s Individuum vor je<strong>de</strong>m Kampf, <strong>de</strong>n<br />
es eingeht, aufs Geratewohl die Entscheidung trifft, ob es sich<br />
bei dieser Gelegenheit wie ein Falke o<strong>de</strong>r wie eine Taube verhalten<br />
will – aufs Geratewohl, aber mit einer Ten<strong>de</strong>nz von 7:5<br />
zugunsten <strong>de</strong>s Falken. Es ist sehr wichtig, daß die Entscheidungen<br />
zwar mit einer Voreingenommenheit zugunsten <strong>de</strong>s<br />
Falken, aber <strong>de</strong>nnoch aufs Geratewohl get<strong>ro</strong>ffen wer<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>m<br />
Sinne, daß ein Rivale keine Möglichkeit hat zu erraten, wie sich<br />
sein Gegner bei einer bestimmten Auseinan<strong>de</strong>rsetzung verhalten<br />
wird. Es hat beispielsweise keinen Sinn, sieben Kämpfe<br />
hintereinan<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Falken zu spielen, dann fünf Run<strong>de</strong>n hintereinan<strong>de</strong>r<br />
Taube und so weiter.<br />
Wür<strong>de</strong> sich ein Individuum einer einfachen Reihenfolge<br />
dieser Art bedienen, so wür<strong>de</strong>n seine Rivalen dies schnell<br />
herausfin<strong>de</strong>n und zu ihrem Vorteil ausnutzen. Einen solchen<br />
Gegner besiegt man, in<strong>de</strong>m man ihm gegenüber nur dann<br />
Falke spielt, <strong>wen</strong>n man weiß, daß er die Taubenstrategie anzu<strong>wen</strong><strong>de</strong>n<br />
beabsichtigt.<br />
Diese Geschichte von Falken und Tauben ist natürlich viel<br />
zu einfach. Sie ist ein Mo<strong>de</strong>ll, etwas, das in <strong>de</strong>r Natur nicht<br />
wirklich vorkommt, uns aber dabei hilft, Dinge, die in <strong>de</strong>r<br />
Natur tatsächlich geschehen, zu verstehen. Mo<strong>de</strong>lle können<br />
wie dieses sehr einfach sein und <strong>de</strong>nnoch nützlich für das<br />
Verständnis einer Frage o<strong>de</strong>r die Vermittlung einer I<strong>de</strong>e.<br />
Einfache Mo<strong>de</strong>lle lassen sich weiter ausarbeiten und schrittweise<br />
komplexer gestalten. Wenn alles gutgeht, wer<strong>de</strong>n sie mit<br />
zunehmen<strong>de</strong>r Komplexität schließlich <strong>de</strong>r realen Welt ähnlich.<br />
Eine Möglichkeit, das Falke-Taube-Mo<strong>de</strong>ll auszubauen, besteht
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 126<br />
darin, einige weitere Strategien einzuführen. Falke und Taube<br />
sind nicht die einzigen Möglichkeiten. Eine komplexere Strategie,<br />
die Maynard Smith und Price einführten, heißt Vergelter.<br />
Ein Vergelter verhält sich zu Beginn je<strong>de</strong>s Kampfes wie eine<br />
Taube. Das heißt, er inszeniert keinen ungehemmten wil<strong>de</strong>n<br />
Angriff wie ein Falke, son<strong>de</strong>rn er führt einen konventionellen<br />
D<strong>ro</strong>hkampf. Doch <strong>wen</strong>n sein Gegner ihn angreift, schlägt er<br />
zurück. Mit an<strong>de</strong>ren Worten: Ein Vergelter verhält sich wie ein<br />
Falke, <strong>wen</strong>n er von einem Falken angegriffen wird, und wie<br />
eine Taube, <strong>wen</strong>n er auf eine Taube trifft. Wenn er auf einen<br />
an<strong>de</strong>ren Vergelter trifft, verhält er sich wie eine Taube. Ein Vergelter<br />
verfolgt eine bedingte Strategie: Sein Verhalten ist vom<br />
Verhalten seines Gegners abhängig.<br />
Eine weitere bedingte Strategie heißt Angeber. Ein Angeber<br />
benimmt sich wie ein Falke, bis jemand zurückschlägt. Dann<br />
ergreift er sofort die Flucht. Noch eine an<strong>de</strong>re bedingte Strategie<br />
ist die <strong>de</strong>s p<strong>ro</strong>bierfreudigen Vergelters. Ein p<strong>ro</strong>bierfreudiger<br />
Vergelter verhält sich im wesentlichen wie ein Vergelter,<br />
aber er versucht gelegentlich experimentartig eine kurze Eskalation<br />
<strong>de</strong>s Kampfes. Wehrt sich sein Gegner nicht, so setzt<br />
er das falkenartige Verhalten fort. Schlägt sein Gegner dagegen<br />
zurück, so kehrt er zu <strong>de</strong>r konventionellen D<strong>ro</strong>hstrategie<br />
zurück. Wird er angegriffen, wehrt er sich genauso wie ein<br />
gewöhnlicher Vergelter.<br />
Wenn man alle fünf Strategien, die ich erwähnt habe, in<br />
einer Computersimulation aufeinan<strong>de</strong>r losläßt, so geht nur<br />
eine von ihnen als evolutionär stabil daraus hervor: Vergelter. 2<br />
P<strong>ro</strong>bierfreudiger Vergelter ist beinahe stabil. Taube ist nicht<br />
stabil, da eine Taubenpopulation mit <strong>de</strong>r Invasion von Falken<br />
und Angebern zu rechnen hätte. Falke ist nicht stabil, weil<br />
eine Falkenpopulation von Tauben und Angebern unterwan<strong>de</strong>rt<br />
wür<strong>de</strong>. Angeber ist nicht stabil, <strong>de</strong>nn eine Angeberpopulation<br />
wür<strong>de</strong> von Falken überfallen wer<strong>de</strong>n. In eine Vergelterpopulation<br />
wür<strong>de</strong> keine an<strong>de</strong>re Strategie eindringen, weil es<br />
keine an<strong>de</strong>re Strategie gibt, die besser abschnei<strong>de</strong>t als Vergelter.<br />
Die Taubenstrategie ist in einer Vergelterpopulation aller-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 127<br />
dings gleichfalls erfolgreich. Das be<strong>de</strong>utet, daß unter sonst gleichen<br />
Bedingungen die Zahl <strong>de</strong>r Tauben langsam zunehmen<br />
könnte. Wür<strong>de</strong> sie eine gewisse Höhe erreichen, so wür<strong>de</strong>n<br />
p<strong>ro</strong>bierfreudige Vergelter (und nebenbei gesagt auch Falken<br />
und Angeber) einen Vorteil zu verzeichnen beginnen, da sie<br />
Tauben gegenüber erfolgreicher sind als Vergelter. P<strong>ro</strong>bierfreudiger<br />
Vergelter selbst ist, im Gegensatz zu Falke und Angeber,<br />
nahezu eine ESS in <strong>de</strong>m Sinne, daß in einer Population p<strong>ro</strong>bierfreudiger<br />
Vergelter nur eine einzige an<strong>de</strong>re Strategie, die<br />
<strong>de</strong>s Vergelters, erfolgreicher ist, und dies auch nur geringfügig.<br />
Wir könnten daher erwarten, daß ten<strong>de</strong>nziell eine Mischung<br />
aus Vergelter und p<strong>ro</strong>bierfreudigem Vergelter, vielleicht sogar<br />
mit einer leichten Pen<strong>de</strong>lbewegung zwischen bei<strong>de</strong>n, sowie<br />
eine zahlenmäßig schwanken<strong>de</strong> kleine Taubenmin<strong>de</strong>rheit<br />
überwiegen wird. Wie<strong>de</strong>r brauchen wir uns dies nicht im Sinne<br />
eines Polymorphismus vorzustellen, bei <strong>de</strong>m je<strong>de</strong>s Individuum<br />
jeweils nur die eine o<strong>de</strong>r die an<strong>de</strong>re Strategie an<strong>wen</strong><strong>de</strong>t. Je<strong>de</strong>s<br />
Individuum könnte eine komplexe Mischung aus Vergelter,<br />
p<strong>ro</strong>bierfreudigem Vergelter und Taube spielen.<br />
Dieses theoretische Ergebnis kommt <strong>de</strong>m, was bei <strong>de</strong>n meisten<br />
freileben<strong>de</strong>n Tieren tatsächlich passiert, relativ nahe. Wir<br />
haben damit gewissermaßen <strong>de</strong>n Aspekt <strong>de</strong>r „behandschuhten<br />
Faust“ <strong>de</strong>r tierischen Aggression erklärt. Selbstverständlich<br />
hängen die Einzelheiten davon ab, welche genaue Zahl von<br />
„Punkten“ für das Gewinnen, Verletztwer<strong>de</strong>n, <strong>Zeit</strong>versch<strong>wen</strong><strong>de</strong>n<br />
und so weiter verteilt wird. Beim See-Elefanten kann<br />
<strong>de</strong>r Preis für <strong>de</strong>n Sieg in monopolartigen Rechten über einen<br />
g<strong>ro</strong>ßen Harem bestehen. Die Gewinnprämie ist daher als sehr<br />
hoch einzustufen. So ist es kaum verwun<strong>de</strong>rlich, daß die<br />
Kämpfe heftig sind und die Wahrscheinlichkeit ernster Verletzungen<br />
ebenfalls hoch ist. Die Kosten <strong>de</strong>r <strong>Zeit</strong>versch<strong>wen</strong>dung<br />
sind, verglichen mit <strong>de</strong>n Kosten <strong>de</strong>s Verletztwer<strong>de</strong>ns und <strong>de</strong>m<br />
Nutzen <strong>de</strong>s Gewinnens, vermutlich als niedrig einzuschätzen.<br />
Für einen kleinen Vogel in kaltem Klima dagegen stehen die<br />
Kosten <strong>de</strong>r <strong>Zeit</strong>versch<strong>wen</strong>dung vielleicht an allererster Stelle.<br />
Eine Kohlmeise muß, <strong>wen</strong>n sie ihre Nestlinge füttert, im Durchschnitt<br />
alle 30 Sekun<strong>de</strong>n ein Beutetier fangen. Je<strong>de</strong> Sekun<strong>de</strong>
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 128<br />
Tageslicht ist kostbar. Selbst die verhältnismäßig kurze <strong>Zeit</strong>,<br />
die ein Kampf zwischen zwei „Falken“ kosten wür<strong>de</strong>, wiegt bei<br />
einem solchen Vogel vielleicht schwerer als das Verletzungsrisiko.<br />
Bedauerlicherweise wissen wir gegenwärtig noch zu<br />
<strong>wen</strong>ig, um <strong>de</strong>n Gewinnen und Verlusten <strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nen<br />
Ausgänge von Konflikten in <strong>de</strong>r Natur realistische Zahlen<br />
zumessen zu können. 3 Wir müssen darauf bedacht sein,<br />
keine Schlüsse zu ziehen, die lediglich das Resultat unserer<br />
willkürlichen Zahlenauswahl sind. Die folgen<strong>de</strong>n allgemeinen<br />
Schlußfolgerungen sind wichtig: Es gibt eine Ten<strong>de</strong>nz zur Herausbildung<br />
evolutionär stabiler Strategien; eine ESS ist nicht<br />
dasselbe wie das von einer Gruppenverschwörung erzielte Optimum;<br />
<strong>de</strong>r gesun<strong>de</strong> Menschenverstand kann zu Fehlschlüssen<br />
verleiten.<br />
Ein an<strong>de</strong>res Kriegsspiel, über das Maynard Smith Betrachtungen<br />
anstellte, ist <strong>de</strong>r Zermürbungskrieg. Man kann sich<br />
vorstellen, daß dieser bei einer Art auftritt, die sich niemals<br />
auf einen gefährlichen Kampf einläßt, vielleicht eine gutbewehrte<br />
Art, bei <strong>de</strong>r Verletzungen sehr unwahrscheinlich sind.<br />
Alle Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen in dieser Spezies wer<strong>de</strong>n durch<br />
konventionelles Imponieren geregelt. Ein Streit en<strong>de</strong>t immer<br />
damit, daß einer <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Rivalen klein beigibt. Um zu<br />
gewinnen, braucht man nichts an<strong>de</strong>res zu tun, als die Stellung<br />
zu halten und <strong>de</strong>n Gegner anzustarren, bis er aufgibt. Nun<br />
liegt es aber auf <strong>de</strong>r Hand, daß kein Tier es sich leisten kann,<br />
unbegrenzte <strong>Zeit</strong> mit D<strong>ro</strong>hgesten zu verbringen, es gibt wichtigere<br />
Dinge zu tun. Die Ressource, um die es konkurriert, mag<br />
wertvoll sein, aber sie ist nicht unbegrenzt wertvoll. Sie ist nur<br />
soundso viel wert, und wie bei einer Auktion ist je<strong>de</strong>s Individuum<br />
nur bereit, diese bestimmte Summe dafür auszugeben.<br />
Die Währung bei dieser Versteigerung unter zwei Bietern ist<br />
die <strong>Zeit</strong>. Nehmen wir an, solche Individuen rechneten sich im<br />
voraus aus, wieviel eine bestimmte Ressource, beispielsweise<br />
ein Weibchen, ihrer Ansicht nach wert ist. Ein durch Mutation<br />
entstan<strong>de</strong>nes Individuum, das bereit wäre, nur gera<strong>de</strong> ein<br />
kleines bißchen länger auszuhalten, wür<strong>de</strong> immer gewinnen.<br />
Daher ist die Strategie einer festen Obergrenze für das Gebot
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 129<br />
instabil. Sie ist sogar dann instabil, <strong>wen</strong>n <strong>de</strong>r Wert <strong>de</strong>r Ressource<br />
sehr genau eingeschätzt wer<strong>de</strong>n kann und alle Individuen<br />
genau <strong>de</strong>n richtigen Wert bieten. Immer wür<strong>de</strong>n zwei<br />
Individuen, die dieser Maximalstrategie entsprechend bieten,<br />
in genau <strong>de</strong>mselben Augenblick aufgeben, und keiner wür<strong>de</strong><br />
die Ressource bekommen! Dann wür<strong>de</strong> es sich für ein Individuum<br />
auszahlen, gleich zu Beginn aufzugeben, statt überhaupt<br />
<strong>Zeit</strong> auf <strong>de</strong>n Streit zu versch<strong>wen</strong><strong>de</strong>n. Der wichtige Unterschied<br />
zwischen <strong>de</strong>m Zermürbungskrieg und einer echten Versteigerung<br />
ist im Grun<strong>de</strong> <strong>de</strong>r, daß beim Zermürbungskrieg bei<strong>de</strong><br />
Parteien <strong>de</strong>n Preis zahlen, aber nur einer die Ware bekommt.<br />
In einer Population von Höchstbietern wäre daher die Strategie,<br />
gleich zu Beginn aufzugeben, erfolgreich und wür<strong>de</strong> sich<br />
in <strong>de</strong>r Population ausbreiten. Infolge<strong>de</strong>ssen wür<strong>de</strong> ein gewisser<br />
Vorteil für jene Individuen aufzulaufen beginnen, die nicht<br />
sofort aufgeben, son<strong>de</strong>rn ein paar Sekun<strong>de</strong>n warten, bevor<br />
sie kapitulieren. Diese Strategie wür<strong>de</strong> sich auszahlen, <strong>wen</strong>n<br />
sie gegen die Sofort-Aufgeber eingesetzt wird, die gegenwärtig<br />
in <strong>de</strong>r Population überwiegen. Daraufhin wür<strong>de</strong> die Selektion<br />
eine fortschreiten<strong>de</strong> Verlängerung <strong>de</strong>r <strong>Zeit</strong> bis zum Aufgeben<br />
begünstigen, bis diese sich erneut <strong>de</strong>m Maximum annäherte,<br />
welches <strong>de</strong>m wahren wirtschaftlichen Wert <strong>de</strong>r umstrittenen<br />
Ressource entspricht.<br />
Wie<strong>de</strong>r einmal haben wir mit Worten die Vorstellung einer<br />
Pen<strong>de</strong>lbewegung in <strong>de</strong>r Population heraufbeschworen. Wie<strong>de</strong>r<br />
einmal zeigt uns die mathematische Analyse, daß diese Vorstellung<br />
nicht korrekt ist. Es gibt eine evolutionär stabile Strategie;<br />
sie kann als mathematische Formel ausgedrückt wer<strong>de</strong>n, läßt<br />
sich aber auch folgen<strong>de</strong>rmaßen in Worte fassen: Je<strong>de</strong>s Individuum<br />
hält eine unvorhersagbar lange <strong>Zeit</strong> durch. Das heißt bei<br />
je<strong>de</strong>r einzelnen Gelegenheit unvorhersagbar, im Durchschnitt<br />
jedoch gleich <strong>de</strong>m wahren Wert <strong>de</strong>r Ressource. Bei <strong>de</strong>r ESS<br />
hält ein bestimmtes Individuum vielleicht mehr als fünf Minuten<br />
durch o<strong>de</strong>r <strong>wen</strong>iger als fünf Minuten, es kann sogar genau<br />
fünf Minuten aushalten. Hauptsache ist, daß sein Gegner nicht<br />
erkennen kann, wie lange es bei dieser beson<strong>de</strong>ren Gelegenheit<br />
auszuhalten bereit ist.
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 130<br />
Es liegt auf <strong>de</strong>r Hand, daß es beim Zermürbungskrieg von<br />
entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Wichtigkeit ist, sich nicht anmerken zu lassen,<br />
wann man aufzugeben beabsichtigt. Je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r auch nur durch<br />
das kleinste Zittern eines Schnurrhaares verriete, daß er<br />
daran <strong>de</strong>nkt, die Flinte ins Korn zu werfen, wäre sofort im<br />
Nachteil. Wenn, sagen wir, das Zittern von Barthaaren ein<br />
verläßliches Anzeichen dafür wäre, daß innerhalb einer Minute<br />
<strong>de</strong>r Rückzug erfolgt, dann gäbe es eine sehr einfache Gewinnstrategie:<br />
„Wenn die Barthaare <strong>de</strong>ines Gegners zittern, warte<br />
noch eine Minute länger, ganz gleich, wie <strong>de</strong>ine eigenen Pläne<br />
hinsichtlich <strong>de</strong>s Aufgebens zuvor ausgesehen haben mögen.<br />
Wenn die Schnurrhaare <strong>de</strong>ines Gegners noch nicht gezittert<br />
haben und nur noch eine Minute fehlt bis zu <strong>de</strong>m <strong>Zeit</strong>punkt,<br />
an <strong>de</strong>m du in je<strong>de</strong>m Fall aufgeben wolltest, dann gib sofort<br />
auf und versch<strong>wen</strong><strong>de</strong> keine weitere <strong>Zeit</strong> mehr. Zittere niemals<br />
selbst mit <strong>de</strong>n Schnurrhaaren.“ So wür<strong>de</strong> die natürliche Auslese<br />
rasch das Zittern von Barthaaren und alle vergleichbaren<br />
verräterischen Hinweise auf das zukünftige Verhalten bestrafen.<br />
Es wür<strong>de</strong> sich das Pokergesicht herausbil<strong>de</strong>n.<br />
Warum das Pokergesicht und nicht das ungenierte Lügen?<br />
Abermals aus <strong>de</strong>m Grund, daß Lügen nicht stabil ist. Nehmen<br />
wir an, es wäre zufällig so, daß die Mehrheit <strong>de</strong>r Individuen<br />
ihre Nacken- und Rückenhaare nur dann aufstellten, <strong>wen</strong>n sie<br />
in <strong>de</strong>m Zermürbungskrieg wirklich sehr lange <strong>Zeit</strong> durchzuhalten<br />
beabsichtigten. Dies hätte eine Evolution <strong>de</strong>s naheliegen<strong>de</strong>n<br />
Gegenzuges zur Folge: Je<strong>de</strong>s Individuum wür<strong>de</strong> sofort<br />
aufgeben, <strong>wen</strong>n sein Gegner die Nackenhaare sträubte. Nun<br />
aber könnten sich Lügner herauszubil<strong>de</strong>n beginnen. Individuen,<br />
die in Wirklichkeit nicht die Absicht hätten, lange auszuhalten,<br />
wür<strong>de</strong>n bei je<strong>de</strong>r Gelegenheit die Nackenhaare aufstellen<br />
und die Früchte eines leichten und schnellen Sieges<br />
einheimsen. Auf diese Weise wür<strong>de</strong>n sich die Lügnergene verbreiten.<br />
Sobald die Lügner in <strong>de</strong>r Mehrheit wären, wür<strong>de</strong><br />
die Selektion Individuen begünstigen, die sich nicht bluffen<br />
lassen. Daher wür<strong>de</strong>n die Lügner wie<strong>de</strong>r zahlenmäßig abnehmen.<br />
Beim Zermürbungskrieg ist lügen evolutionär nicht stabiler<br />
als die Wahrheit sagen. Das Pokergesicht ist evolutionär
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 131<br />
stabil. Wenn es schließlich kapituliert, so geschieht dies unerwartet<br />
und unvorhersehbar.<br />
Bisher haben wir nur Fälle berücksichtigt, die Maynard<br />
Smith symmetrische Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen nennt: Wir sind<br />
davon ausgegangen, daß die Kämpfen<strong>de</strong>n außer in ihrer<br />
Kampfstrategie in je<strong>de</strong>r Hinsicht i<strong>de</strong>ntisch sind. Wir haben<br />
angenommen, daß Falken und Tauben gleich stark sind, gleich<br />
gut mit Waffen und Rüstungen ausgestattet und daß sie bei<br />
einem Sieg gleich viel gewinnen. Für ein Mo<strong>de</strong>ll ist dies eine<br />
geeignete Annahme, aber sie ist nicht sehr realistisch. Parker<br />
und Maynard Smith beschäftigten sich als nächstes mit asymmetrischen<br />
Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen. Wenn sich die Individuen<br />
beispielsweise in Größe und Kampffähigkeit unterschei<strong>de</strong>n<br />
und je<strong>de</strong>s Individuum in <strong>de</strong>r Lage ist, die Größe eines Rivalen<br />
im Verhältnis zu seiner eigenen abzuschätzen, beeinflußt dies<br />
dann die sich herausbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong> ESS? Ganz ohne Zweifel tut es<br />
das.<br />
Es scheint drei Hauptarten von Asymmetrien zu geben. Die<br />
erste haben wir gera<strong>de</strong> erwähnt: Die Individuen können in<br />
Körpergröße o<strong>de</strong>r Kampfausrüstung verschie<strong>de</strong>n sein. Zweitens<br />
können sie sich darin unterschei<strong>de</strong>n, wieviel sie bei<br />
einem Sieg zu gewinnen haben. Zum Beispiel dürfte ein altes<br />
Männchen, das sowieso nicht mehr lange zu leben hat, <strong>wen</strong>iger<br />
zu verlieren haben, <strong>wen</strong>n es verletzt wird, als ein junges<br />
Männchen, das <strong>de</strong>n Hauptteil seines rep<strong>ro</strong>duktiven Lebens<br />
noch vor sich hat.<br />
Drittens ist es eine seltsame Konsequenz <strong>de</strong>r Theorie, daß<br />
eine rein willkürliche, augenscheinlich irrelevante Asymmetrie<br />
zu einer ESS führen kann, da sie zum schnellen Beilegen von<br />
Streitfällen benutzt wer<strong>de</strong>n kann. Beispielsweise wird in <strong>de</strong>r<br />
Regel einer <strong>de</strong>r Kämpfer zufällig früher auf <strong>de</strong>m Kampfplatz<br />
ankommen als <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re. Nennen wir sie <strong>de</strong>n Ansässigen<br />
beziehungsweise <strong>de</strong>n Eindringling. Der Einfachheit halber<br />
gehe ich zunächst davon aus, daß we<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Ansässige noch<br />
<strong>de</strong>r Eindringling generell im Vorteil ist. Wie wir später sehen<br />
wer<strong>de</strong>n, gibt es praktische Grün<strong>de</strong>, weshalb diese Annahme<br />
vielleicht nicht <strong>de</strong>r Realität entspricht, aber darum geht es
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 132<br />
jetzt nicht. Entschei<strong>de</strong>nd ist folgen<strong>de</strong>s: Selbst <strong>wen</strong>n es keinen<br />
Grund zu <strong>de</strong>r Annahme gäbe, daß die Ansässigen <strong>de</strong>n Eindringlingen<br />
gegenüber generell im Vorteil sind, wür<strong>de</strong> sich<br />
wahrscheinlich eine von <strong>de</strong>r Asymmetrie als solcher abhängige<br />
ESS entwickeln. Eine einfache Analogie ist das Werfen einer<br />
Münze, um einen Streit rasch und ohne viel Aufhebens beizulegen.<br />
Die bedingte Strategie „Wenn du <strong>de</strong>r Ansässige bist, greif<br />
an; <strong>wen</strong>n du <strong>de</strong>r Eindringling bist, zieh dich zurück!“ könnte<br />
eine ESS sein. Da wir davon ausgehen, daß die Asymmetrie<br />
willkürlich ist, könnte die entgegengesetzte Strategie „Wenn<br />
Ansässiger, zieh dich zurück; <strong>wen</strong>n Eindringling, greif an!“<br />
ebenso stabil sein. Welche <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n evolutionär stabilen<br />
Strategien in einer bestimmten Population zur An<strong>wen</strong>dung<br />
kommt, wäre davon abhängig, welche zufällig zuerst eine<br />
Mehrheit erreicht. Wenn einmal eine Mehrheit von Individuen<br />
eine dieser bei<strong>de</strong>n bedingten Strategien an<strong>wen</strong><strong>de</strong>t, so<br />
wer<strong>de</strong>n jene bestraft, die von ihr abweichen. Das macht sie<br />
<strong>de</strong>finitionsgemäß zu einer ESS.<br />
Nehmen wir beispielsweise an, alle Individuen spielen<br />
„Ansässiger gewinnt, Eindringling läuft davon“. Das be<strong>de</strong>utet,<br />
sie gewinnen die Hälfte ihrer Kämpfe und verlieren die<br />
an<strong>de</strong>re Hälfte. Sie wer<strong>de</strong>n niemals verletzt und vergeu<strong>de</strong>n<br />
niemals <strong>Zeit</strong>, da alle Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen sofort durch die<br />
willkürliche Vereinbarung beigelegt wer<strong>de</strong>n. Stellen wir uns<br />
nun vor, es trete ein aus einer Mutation entstan<strong>de</strong>ner Rebell<br />
auf. Nehmen wir an, er spielt eine reine Falkenstrategie, greift<br />
also immer an und weicht niemals zurück. Er wird gewinnen,<br />
<strong>wen</strong>n sein Gegner ein Eindringling ist. Ist sein Gegner ein<br />
Ansässiger, so geht er ein g<strong>ro</strong>ßes Risiko ein, verletzt zu wer<strong>de</strong>n.<br />
Im Durchschnitt wird er eine niedrigere Prämie erzielen als<br />
Individuen, die sich entsprechend <strong>de</strong>n willkürlichen Regeln<br />
<strong>de</strong>r ESS verhalten. Ein Rebell, <strong>de</strong>r die umgekehrte Strategie<br />
„Wenn Ansässiger, lauf fort; <strong>wen</strong>n Eindringling, greif an“ ausp<strong>ro</strong>biert,<br />
wird sogar noch schlechter abschnei<strong>de</strong>n. Nicht nur<br />
wird er häufig verletzt wer<strong>de</strong>n, er wird auch selten einen<br />
Kampf gewinnen. Stellen wir uns nun jedoch vor, durch einige
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 133<br />
zufällige Ereignisse gelänge es <strong>de</strong>n Individuen, die sich nach<br />
dieser umgekehrten Regel verhalten, die Mehrheit zu erlangen.<br />
In diesem Fall wür<strong>de</strong> ihre Strategie zur stabilen Norm<br />
wer<strong>de</strong>n, und nunmehr wür<strong>de</strong> das Abweichen von dieser Strategie<br />
bestraft. Vermutlich könnten wir, <strong>wen</strong>n wir eine Population<br />
viele Generationen lang beobachten wür<strong>de</strong>n, eine Reihe gelegentlicher<br />
Umschwünge von einem stabilen Zustand in <strong>de</strong>n<br />
an<strong>de</strong>ren feststellen.<br />
Doch im realen Leben existieren wahrscheinlich keine<br />
wirklich willkürlichen Asymmetrien. Beispielsweise haben<br />
Ansässige Eindringlingen gegenüber wahrscheinlich meist<br />
einen praktischen Vorteil. Sie verfügen über eine bessere<br />
Kenntnis <strong>de</strong>s Terrains; zu<strong>de</strong>m ist ein Eindringling wahrscheinlich<br />
eher außer Atem, weil er sich erst in das Kampfgebiet begeben<br />
mußte, während <strong>de</strong>r Ansässige die ganze <strong>Zeit</strong> dort war.<br />
Außer<strong>de</strong>m gibt es noch einen mehr abstrakten Grund, warum<br />
von <strong>de</strong>n zwei stabilen Zustän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Zustand „Ansässiger<br />
gewinnt, Eindringling weicht zurück“ in <strong>de</strong>r Natur wahrscheinlicher<br />
ist. Die umgekehrte Strategie „Eindringling gewinnt,<br />
Ansässiger zieht sich zurück“ weist nämlich eine inhärente<br />
Ten<strong>de</strong>nz zur Selbstzerstörung auf – sie ist das, was Maynard<br />
Smith eine paradoxe Strategie nennen wür<strong>de</strong>. In je<strong>de</strong>r bei<br />
dieser paradoxen Strategie verharren<strong>de</strong>n Population wür<strong>de</strong>n<br />
die Individuen sich stets bemühen, niemals als Ansässige anget<strong>ro</strong>ffen<br />
zu wer<strong>de</strong>n: Sie wür<strong>de</strong>n immer versuchen, bei je<strong>de</strong>m<br />
Zusammentreffen <strong>de</strong>r Eindringling zu sein. Dies könnten sie<br />
nur durch unablässiges und ansonsten sinnloses Umherschweifen<br />
erreichen! Ganz abgesehen von <strong>de</strong>n damit verbun<strong>de</strong>nen<br />
Kosten an <strong>Zeit</strong> und Energie wür<strong>de</strong> dieser evolutionäre Trend<br />
von selbst dazu führen, daß die Kategorie „Ansässiger“ zu existieren<br />
aufhörte. In einer Population in <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren Zustand<br />
„Ansässiger gewinnt, Eindringling weicht zurück“ wür<strong>de</strong> die<br />
natürliche Auslese Individuen begünstigen, die danach strebten,<br />
Ansässige zu sein. Für je<strong>de</strong>s Individuum wür<strong>de</strong> dies be<strong>de</strong>uten,<br />
daß es an einem speziellen Stückchen Grund und Bo<strong>de</strong>n<br />
festhält, es so<strong>wen</strong>ig wie möglich verläßt und zu „verteidigen“<br />
scheint. Ein solches Verhalten ist in <strong>de</strong>r Natur häufig zu beob-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 134<br />
achten und als Territorialverhalten bekannt.<br />
Am treffendsten veranschaulicht hat diese Form <strong>de</strong>r Verhaltensasymmetrie<br />
<strong>de</strong>r g<strong>ro</strong>ße Ethologe Niko Tinbergen in<br />
einem Experiment von charakteristisch genialer Einfachheit. 4<br />
In einem Aquarium hielt er zwei Stichlingsmännchen. Diese<br />
hatten an <strong>de</strong>n entgegengesetzten En<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Beckens jeweils<br />
ein Nest gebaut, und je<strong>de</strong>s „verteidigte“ das Revier in <strong>de</strong>r Nähe<br />
seines Nestes. Tinbergen setzte die Stichlinge einzeln in je eine<br />
g<strong>ro</strong>ße Glasröhre; er hielt die bei<strong>de</strong>n Röhren nebeneinan<strong>de</strong>r<br />
und beobachtete, wie die Männchen sich durch das Glas zu<br />
bekämpfen suchten. Und jetzt kommt das Interessante: Wenn<br />
er die bei<strong>de</strong>n Röhren in die Nähe <strong>de</strong>s Nestes von Männchen A<br />
brachte, so nahm A eine Angreifstellung ein, und B versuchte<br />
zurückzuweichen. Wenn er die bei<strong>de</strong>n Röhren jedoch in das<br />
Territorium von B hineinführte, so drehte sich <strong>de</strong>r Spieß um.<br />
Durch ein einfaches Hin- und Herbewegen <strong>de</strong>r Röhren von<br />
einem En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Beckens zum an<strong>de</strong>ren konnte Tinbergen diktieren,<br />
welches Männchen angriff und welches zurückwich.<br />
Bei<strong>de</strong> Fische spielten ganz offensichtlich die einfache bedingte<br />
Strategie: „Wenn Ansässiger, greif an; <strong>wen</strong>n Eindringling, zieh<br />
dich zurück!“<br />
Biologen stellen häufig die Frage nach <strong>de</strong>n biologischen „Vorteilen“<br />
<strong>de</strong>s Territorialverhaltens. Zahlreiche Hypothesen sind<br />
aufgestellt wor<strong>de</strong>n, von <strong>de</strong>nen einige später erwähnt wer<strong>de</strong>n.<br />
Doch wir können bereits jetzt erkennen, daß die Frage an sich<br />
möglicherweise überflüssig ist. Es ist möglich, daß die „Verteidigung“<br />
<strong>de</strong>s Reviers einfach eine ESS ist, die sich aus <strong>de</strong>r<br />
Asymmetrie <strong>de</strong>r Ankunftszeit ergibt, welche gewöhnlich die<br />
Beziehung zwischen zwei Individuen und einem Stück Grund<br />
und Bo<strong>de</strong>n kennzeichnet.<br />
Die wichtigste Art <strong>de</strong>r nichtwillkürlichen Asymmetrie ist<br />
vermutlich die Asymmetrie in bezug auf Größe und allgemeine<br />
Kampfkraft. Körpergröße ist nicht unbedingt immer die wichtigste<br />
<strong>de</strong>r Eigenschaften, die zum Gewinnen von Kämpfen<br />
nötig sind, aber doch eine <strong>de</strong>r wichtigen. Wenn stets <strong>de</strong>r<br />
größere von zwei Kämpfern gewinnt und <strong>wen</strong>n je<strong>de</strong>s Individuum<br />
mit Sicherheit weiß, ob es größer o<strong>de</strong>r kleiner als sein
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 135<br />
Gegner ist, dann ist nur eine einzige Strategie sinnvoll: „Wenn<br />
<strong>de</strong>in Gegner größer ist als du, lauf fort. Suche <strong>de</strong>n Kampf<br />
mit Leuten, die kleiner sind als du.“ Die Dinge wer<strong>de</strong>n ein<br />
<strong>wen</strong>ig komplizierter, <strong>wen</strong>n die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r Größe <strong>wen</strong>iger<br />
ein<strong>de</strong>utig ist. Wenn eine g<strong>ro</strong>ße Körperstatur nur einen geringen<br />
Vorteil verleiht, ist die gera<strong>de</strong> genannte Strategie immer<br />
noch stabil. Besteht jedoch ein ernsthaftes Verletzungsrisiko,<br />
so könnte es eine Alternative geben, eine sogenannte paradoxe<br />
Strategie. Diese lautet: „Brich Streit vom Zaun mit Leuten, die<br />
größer sind als du, und lauf weg vor Leuten, die kleiner sind als<br />
du!“ Es liegt auf <strong>de</strong>r Hand, warum dies paradox genannt wird.<br />
Es scheint völlig <strong>de</strong>m gesun<strong>de</strong>n Menschenverstand zu wi<strong>de</strong>rsprechen.<br />
Der Grund, warum diese Strategie stabil sein kann,<br />
ist folgen<strong>de</strong>r: In einer Population, die nur aus An<strong>wen</strong><strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r<br />
paradoxen Strategie besteht, wird niemand verletzt, <strong>de</strong>nn bei<br />
allen Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen läuft einer <strong>de</strong>r Beteiligten, und<br />
zwar <strong>de</strong>r größere, davon. Ein Mutant von durchschnittlicher<br />
Größe, <strong>de</strong>r die „vernünftige“ Strategie an<strong>wen</strong><strong>de</strong>t, sich kleinere<br />
Gegner auszusuchen, muß bei je<strong>de</strong>r zweiten Begegnung mit<br />
einem Artgenossen einen heftigen Kampf ausfechten. Das liegt<br />
daran, daß er angreift, <strong>wen</strong>n er jeman<strong>de</strong>n trifft, <strong>de</strong>r kleiner<br />
ist als er, während das kleinere Individuum sich heftig wehrt,<br />
weil es „paradox“ spielt; zwar ist es wahrscheinlicher, daß das<br />
Individuum mit <strong>de</strong>r vernünftigen Strategie gewinnt als das mit<br />
<strong>de</strong>r paradoxen, doch läuft es immer noch beträchtliche Gefahr,<br />
zu verlieren und verletzt zu wer<strong>de</strong>n. Da sich die Mehrheit <strong>de</strong>r<br />
Population paradox verhält, ist das Verletzungsrisiko für <strong>de</strong>n<br />
An<strong>wen</strong><strong>de</strong>r <strong>de</strong>r vernünftigen Strategie größer als für je<strong>de</strong>s einzelne<br />
paradox agieren<strong>de</strong> Individuum.<br />
Obwohl eine paradoxe Strategie stabil sein kann, ist sie<br />
wahrscheinlich nur von theoretischem Interesse. Kämpfer, die<br />
sich paradox verhalten, erzielen nur dann eine höhere durchschnittliche<br />
Prämie, <strong>wen</strong>n sie <strong>de</strong>n Individuen mit vernünftiger<br />
Strategie zahlenmäßig hoch überlegen sind. Man kann sich<br />
schwer vorstellen, wie dieser Zustand überhaupt jemals eintreten<br />
könnte. Und selbst <strong>wen</strong>n er einträte, brauchte sich das<br />
Verhältnis von vernünftig zu paradox han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n Individuen
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 136<br />
in <strong>de</strong>r Population nur ein <strong>wen</strong>ig zugunsten <strong>de</strong>r vernünftigen<br />
Strategie zu verschieben, um in <strong>de</strong>n „Anziehungsbereich“ <strong>de</strong>r<br />
an<strong>de</strong>ren ESS, <strong>de</strong>r vernünftigen, zu geraten. Der Anziehungsbereich<br />
ist die Gesamtheit aller Relationen in <strong>de</strong>r Population,<br />
bei <strong>de</strong>nen – in diesem Fall – die vernünftige Strategie vorteilhaft<br />
wäre: Wenn die Population erst einmal diese Zone erreicht,<br />
wird sie unweigerlich zu <strong>de</strong>m Stabilitätspunkt hingezogen, bei<br />
<strong>de</strong>m die Individuen mit vernünftiger Strategie in <strong>de</strong>r Mehrzahl<br />
sind. Es wäre aufregend, ein Beispiel einer paradoxen ESS in<br />
<strong>de</strong>r Natur zu fin<strong>de</strong>n, doch ich bezweifle, daß wir wirklich hoffen<br />
können, jemals eins zu fin<strong>de</strong>n. (Ich habe dies zu früh gesagt.<br />
Nach<strong>de</strong>m ich diesen letzten Satz geschrieben hatte, machte<br />
mich P<strong>ro</strong>fessor Maynard Smith auf die folgen<strong>de</strong> Beschreibung<br />
aufmerksam, die J.W. Burgess vom Verhalten <strong>de</strong>r in Mexiko<br />
vorkommen<strong>de</strong>n sozialen Spinne Oecobius civitas gegeben hat:<br />
„Wenn eine Spinne gestört und aus ihrem Schlupfwinkel vertrieben<br />
wird, so schießt sie über <strong>de</strong>n Felsen und sucht, <strong>wen</strong>n<br />
sie keinen leeren Felsspalt fin<strong>de</strong>t, in <strong>de</strong>n sie sich verkriechen<br />
kann, vielleicht im Schlupfwinkel einer an<strong>de</strong>ren Spinne <strong>de</strong>rselben<br />
Art Zuflucht. Befin<strong>de</strong>t sich die an<strong>de</strong>re Spinne in ihrem<br />
Versteck, <strong>wen</strong>n <strong>de</strong>r Eindringling hereinkommt, so greift sie<br />
nicht etwa an, son<strong>de</strong>rn saust hinaus und sucht sich ihrerseits<br />
einen neuen Schlupfwinkel. Nach<strong>de</strong>m einmal die erste Spinne<br />
aufgescheucht wor<strong>de</strong>n ist, kann sich so das Verdrängen von<br />
Netz zu Netz mehrere Sekun<strong>de</strong>n lang fortsetzen, wobei häufig<br />
die Mehrzahl <strong>de</strong>r Spinnen in <strong>de</strong>r Gruppe dazu gebracht<br />
wird, von ihrem bisherigen Zufluchtsort in einen frem<strong>de</strong>n<br />
überzuwechseln.“ [Social Spi<strong>de</strong>rs. In: Scientific American, März<br />
1976]. Dies ist paradox im hier gebrauchten Sinne. 5 )<br />
Was geschieht, <strong>wen</strong>n die Individuen eine gewisse Erinnerung<br />
an <strong>de</strong>n Ausgang früherer Kämpfe zurückbehalten? Das<br />
hängt davon ab, ob die Erinnerung spezifisch o<strong>de</strong>r allgemein<br />
ist. Grillen haben eine generelle Erinnerung an das, was in<br />
vorangegangenen Kämpfen geschehen ist. Eine Grille, die in<br />
letzter <strong>Zeit</strong> eine Vielzahl von Kämpfen gewonnen hat, wird<br />
falkenähnlicher, eine Grille, die vor kurzem eine Reihe von<br />
Nie<strong>de</strong>rlagen einstecken mußte, taubenähnlicher. Dies ist von
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 137<br />
R.D. Alexan<strong>de</strong>r ein<strong>de</strong>utig <strong>de</strong>monstriert wor<strong>de</strong>n. Er bediente<br />
sich einer Grillenattrappe, mit <strong>de</strong>r er echte Grillen besiegte.<br />
Nach dieser Behandlung stieg bei <strong>de</strong>n Grillen die Wahrscheinlichkeit,<br />
daß sie Kämpfe gegen an<strong>de</strong>re echte Grillen verloren.<br />
Man kann sich dies so vorstellen, daß je<strong>de</strong> Grille die eigene<br />
Einschätzung ihrer kämpferischen Fähigkeiten im Verhältnis<br />
zu <strong>de</strong>nen eines durchschnittlichen Individuums in ihrer Population<br />
ständig auf <strong>de</strong>n neuesten Stand bringt. Wenn Tiere, die<br />
wie Grillen mit einem allgemeinen Erinnerungsvermögen an<br />
vergangene Kämpfe ausgestattet sind, eine <strong>Zeit</strong>lang zusammen<br />
in einer geschlossenen Gruppe gehalten wer<strong>de</strong>n, so wird<br />
sich wahrscheinlich eine Art Dominanzhierarchie herausbil<strong>de</strong>n.<br />
6 Ein Beobachter kann die einzelnen Tiere nach ihrem<br />
Status einordnen. Rangnie<strong>de</strong>re Individuen geben gewöhnlich<br />
höherrangigen Individuen gegenüber nach. Dabei besteht<br />
keine Not<strong>wen</strong>digkeit zu <strong>de</strong>r Annahme, daß die Individuen sich<br />
gegenseitig erkennen. Es geschieht weiter nichts, als daß bei<br />
Individuen, die zu siegen gewöhnt sind, die Wahrscheinlichkeit<br />
<strong>de</strong>s Sieges noch größer wird, wogegen Individuen, die<br />
zu verlieren gewöhnt sind, mit ständig wachsen<strong>de</strong>r Wahrscheinlichkeit<br />
verlieren. Selbst <strong>wen</strong>n die Individuen zu Beginn<br />
völlig zufällig gewönnen o<strong>de</strong>r verlören, wür<strong>de</strong>n sie versuchen,<br />
sich selbst in eine Rangfolge einzuordnen. Dies hat nebenbei<br />
bemerkt zur Folge, daß die Zahl ernster Kämpfe in <strong>de</strong>r Gruppe<br />
allmählich abnimmt.<br />
Ich muß <strong>de</strong>n Ausdruck „eine Art Dominanzhierarchie“<br />
benutzen, weil viele Leute <strong>de</strong>n Begriff Dominanzhierarchie für<br />
Fälle reservieren, bei <strong>de</strong>nen sich die Tiere individuell erkennen.<br />
In diesen Fällen ist die Erinnerung an vorangegangene<br />
Kämpfe nicht so sehr allgemeiner, son<strong>de</strong>rn vielmehr spezifischer<br />
Natur. Grillen erkennen einan<strong>de</strong>r nicht individuell, aber<br />
Hühner und Affen tun dies sehr wohl. Denken wir uns, ein Affe<br />
sei in <strong>de</strong>r Vergangenheit von einem an<strong>de</strong>ren besiegt wor<strong>de</strong>n,<br />
dann ist es wahrscheinlich, daß dieser ihn auch in Zukunft<br />
besiegen wird. Die beste Strategie für ein Individuum ist die,<br />
sich einem an<strong>de</strong>ren gegenüber, von <strong>de</strong>m es früher einmal<br />
besiegt wur<strong>de</strong>, relativ taubenartig zu verhalten. Läßt man eine
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 138<br />
Schar Hühner, die niemals zuvor zusammenget<strong>ro</strong>ffen sind, aufeinan<strong>de</strong>r<br />
los, so gibt es gewöhnlich zahlreiche Kämpfe. Nach<br />
einer Weile nimmt die Zahl <strong>de</strong>r Kämpfe ab, allerdings nicht<br />
aus <strong>de</strong>mselben Grund wie bei <strong>de</strong>n Grillen. Vielmehr lernt je<strong>de</strong>s<br />
Huhn, wo „sein Platz“ je<strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren Individuum gegenüber<br />
ist. Dies ist nebenbei gesagt gut für die Gruppe als Gesamtheit.<br />
Als Zeichen dafür hat man festgestellt, daß in etablierten<br />
Hühnergruppen, in <strong>de</strong>nen heftige Kämpfe selten sind, die Eierp<strong>ro</strong>duktion<br />
höher ist als in Hühnergruppen, <strong>de</strong>ren Zusammensetzung<br />
ständig geän<strong>de</strong>rt wird und in <strong>de</strong>nen infolge<strong>de</strong>ssen<br />
Kämpfe häufiger sind. Biologen sprechen häufig davon, <strong>de</strong>r<br />
biologische Vorteil o<strong>de</strong>r die biologische „Funktion“ <strong>de</strong>r Rangordnungen<br />
läge darin, die offene Aggression in <strong>de</strong>r Gruppe<br />
zu mil<strong>de</strong>rn. So ausgedrückt, ist dies jedoch falsch. Von einer<br />
Dominanzhierarchie per se kann man nicht sagen, daß sie eine<br />
Funktion im evolutionären Sinne hat, da es sich um die Eigenschaft<br />
einer Gruppe, nicht eines Individuums han<strong>de</strong>lt. Funktionen<br />
kann man nur <strong>de</strong>n individuellen Verhaltensmustern<br />
zuschreiben, die sich, auf <strong>de</strong>r Ebene <strong>de</strong>r Gruppe betrachtet,<br />
in Form von Dominanzhierarchien manifestieren. Noch besser<br />
ist es jedoch, auf das Wort „Funktion“ ganz und gar zu verzichten<br />
und Dominanzhierarchien als Ausfluß evolutionär stabiler<br />
Strategien bei asymmetrischen Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen<br />
mit individuellem Erkennen und spezifischer Erinnerung zu<br />
verstehen.<br />
Bisher haben wir uns mit Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen zwischen<br />
Artgenossen befaßt. Wie sieht es nun mit Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen<br />
zwischen unterschiedlichen Arten aus? Wie wir bereits<br />
festgestellt haben, sind Angehörige verschie<strong>de</strong>ner Arten <strong>wen</strong>iger<br />
unmittelbare Konkurrenten als Angehörige <strong>de</strong>rselben Art.<br />
Aus diesem Grun<strong>de</strong> sollten wir zwischen ihnen <strong>wen</strong>iger Kont<strong>ro</strong>versen<br />
um Ressourcen erwarten, und unsere Erwartung<br />
bestätigt sich. Zum Beispiel verteidigen Rotkehlchen ihre Territorien<br />
gegenüber an<strong>de</strong>ren Rotkehlchen, nicht aber gegenüber<br />
Kohlmeisen. Man kann eine Karte mit <strong>de</strong>n Revieren <strong>de</strong>r einzelnen<br />
Rotkehlchen in einem Wald zeichnen und in diese Karte<br />
zusätzlich die Territorien einzelner Kohlmeisen eintragen. Die
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 139<br />
Reviere <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Arten überschnei<strong>de</strong>n sich völlig wahllos.<br />
Sie könnten sich genausogut auf verschie<strong>de</strong>nen Planeten befin<strong>de</strong>n.<br />
Doch geraten die Interessen von Individuen verschie<strong>de</strong>ner<br />
Arten auf an<strong>de</strong>re Weise scharf miteinan<strong>de</strong>r in Konflikt. Beispielsweise<br />
will ein Löwe <strong>de</strong>n Körper einer Antilope fressen,<br />
doch die Antilope hat ganz an<strong>de</strong>re Pläne für ihren Körper.<br />
Dies wird normalerweise nicht als Konkurrenz um eine Ressource<br />
angesehen, aber logisch betrachtet ist schwer einzusehen<br />
warum nicht. Die Ressource ist in diesem Fall Fleisch.<br />
Die Gene <strong>de</strong>s Lö<strong>wen</strong> „wollen“ das Fleisch als Nahrung für<br />
ihre Überlebensmaschine. Die Antilopengene wollen es als<br />
arbeiten<strong>de</strong> Muskeln und Organe für ihre Überlebensmaschine.<br />
Diese bei<strong>de</strong>n Ver<strong>wen</strong>dungszwecke schließen sich gegenseitig<br />
aus; wir haben es daher mit einem Interessenkonflikt zu tun.<br />
Die Angehörigen <strong>de</strong>r eigenen Art bestehen ebenfalls aus<br />
Fleisch. Warum ist Kannibalismus relativ selten? Wie wir im<br />
Fall <strong>de</strong>r Lachmöwe gesehen haben, fressen erwachsene Tiere<br />
gelegentlich die Jungen ihrer eigenen Art. Doch sieht man niemals<br />
ausgewachsene Fleischfresser an<strong>de</strong>re erwachsene Individuen<br />
ihrer eigenen Art aktiv verfolgen in <strong>de</strong>r Absicht, sie zu<br />
verspeisen. Warum nicht? Wir sind immer noch so sehr daran<br />
gewöhnt, in Begriffen <strong>de</strong>r Arterhaltungsthese <strong>de</strong>r Evolutionstheorie<br />
zu <strong>de</strong>nken, daß wir häufig vergessen, völlig vernünftige<br />
Fragen zu stellen wie: „Warum jagen Lö<strong>wen</strong> keine an<strong>de</strong>ren<br />
Lö<strong>wen</strong>?“ Eine weitere gute Frage, die zu einer selten gestellten<br />
Art von Fragen gehört, lautet: „Warum laufen Antilopen vor<br />
Lö<strong>wen</strong> davon, statt sich zu wehren?“<br />
Lö<strong>wen</strong> jagen <strong>de</strong>shalb keine Lö<strong>wen</strong>, weil dies für sie keine<br />
ESS wäre. Eine Kannibalenstrategie wäre instabil, und zwar<br />
aus <strong>de</strong>mselben Grund wie die Falkenstrategie in unserem Beispiel:<br />
Die Gefahr <strong>de</strong>s Zurückschlagens wäre zu g<strong>ro</strong>ß. Diese<br />
Gefahr ist bei Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen zwischen Angehörigen<br />
verschie<strong>de</strong>ner Arten geringer, und das wie<strong>de</strong>rum ist <strong>de</strong>r Grund<br />
dafür, daß so viele Beutetiere davonlaufen, statt sich zu wehren.<br />
Ursprünglich ergibt sich dies vermutlich aus <strong>de</strong>r Tatsache,<br />
daß beim Aufeinan<strong>de</strong>rtreffen zweier Tiere, die verschie<strong>de</strong>nen
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 140<br />
Arten angehören, die Asymmetrie von vornherein größer ist<br />
als bei Angehörigen <strong>de</strong>rselben Art. Wann immer bei einer Auseinan<strong>de</strong>rsetzung<br />
eine starke Asymmetrie besteht, ist es wahrscheinlich,<br />
daß die evolutionär stabilen Strategien bedingte,<br />
von <strong>de</strong>r Asymmetrie abhängige Strategien sind. Bei Konflikten<br />
zwischen Angehörigen verschie<strong>de</strong>ner Arten wer<strong>de</strong>n sich –<br />
weil es so viele mögliche Asymmetrien gibt – mit g<strong>ro</strong>ßer Wahrscheinlichkeit<br />
analoge Strategien zu „Wenn du kleiner bist,<br />
lauf fort; bist du größer, greif an“ herausbil<strong>de</strong>n. Lö<strong>wen</strong> und<br />
Antilopen haben durch die evolutionäre Divergenz, welche die<br />
ursprüngliche Asymmetrie <strong>de</strong>r Auseinan<strong>de</strong>rsetzung ständig<br />
weiter verschärft hat, eine Art stabilen Zustand erreicht. Sie<br />
haben es in <strong>de</strong>r Kunst <strong>de</strong>s Jagens beziehungsweise <strong>de</strong>s Davonlaufens<br />
auße<strong>ro</strong>r<strong>de</strong>ntlich weit gebracht. Eine durch Mutation<br />
entstan<strong>de</strong>ne Antilope, die Lö<strong>wen</strong> gegenüber die Strategie<br />
„Behaupte dich und kämpfe“ an<strong>wen</strong><strong>de</strong>n wollte, wäre <strong>wen</strong>iger<br />
erfolgreich als rivalisieren<strong>de</strong> Antilopen, die am Horizont verschwin<strong>de</strong>n.<br />
Ich könnte mir vorstellen, daß wir eines Tages auf die Entwicklung<br />
<strong>de</strong>s Konzepts <strong>de</strong>r ESS als auf einen <strong>de</strong>r be<strong>de</strong>utendsten<br />
Fortschritte in <strong>de</strong>r Evolutionstheorie seit Darwin zurückblicken<br />
wer<strong>de</strong>n. 7 Dieses Konzept ist überall dort an<strong>wen</strong>dbar, wo wir<br />
einen Interessenkonflikt vorfin<strong>de</strong>n, und das heißt fast überall.<br />
In <strong>de</strong>r Verhaltensforschung hat man sich angewöhnt, über<br />
etwas zu re<strong>de</strong>n, das man als „soziale Organisation“ bezeichnet.<br />
Zu oft wird die gesellschaftliche Organisation einer Art wie<br />
ein eigenständiges Gebil<strong>de</strong> mit seinem eigenen biologischen<br />
„Vorteil“ behan<strong>de</strong>lt. Ein Beispiel dafür, das ich bereits genannt<br />
habe, ist die „Dominanzhierarchie“. Ich glaube, daß hinter<br />
einer g<strong>ro</strong>ßen Zahl von Aussagen, die Biologen über die soziale<br />
Organisation machen, Auffassungen verborgen sind, die auf<br />
<strong>de</strong>m Gruppenselektions<strong>de</strong>nken aufbauen. Maynard Smiths<br />
Konzept <strong>de</strong>r ESS versetzt uns zum ersten Mal in die Lage,<br />
<strong>de</strong>utlich zu erkennen, auf welche Weise eine Ansammlung<br />
unabhängiger egoistischer Organismen wie ein einziges organisiertes<br />
Ganzes aussehen kann. Meiner Meinung nach gilt<br />
dies nicht nur für die soziale Organisation innerhalb einer
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 141<br />
Art, son<strong>de</strong>rn auch für „Ökosysteme“ sowie „Gemeinschaften“,<br />
die aus vielen Arten bestehen. Langfristig gesehen rechne ich<br />
damit, daß das Konzept <strong>de</strong>r ESS die ökologische Wissenschaft<br />
revolutionieren wird.<br />
Auch auf eine Frage, die wir in Kapitel 3 zurückgestellt<br />
hatten, können wir dieses Konzept an<strong>wen</strong><strong>de</strong>n. Ausgangspunkt<br />
war das Bild <strong>de</strong>r (die Gene in einem Körper darstellen<strong>de</strong>n)<br />
Ru<strong>de</strong>rer in einem Boot, die guten Teamgeist brauchen. Gene<br />
wer<strong>de</strong>n selektiert, nicht weil sie für sich genommen „gut“ sind,<br />
son<strong>de</strong>rn weil sie vor <strong>de</strong>m Hintergrund <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Gene im<br />
Genpool gut arbeiten. Ein gutes Gen muß sich mit <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren<br />
Genen, mit <strong>de</strong>nen es sich in eine lange Reihe aufeinan<strong>de</strong>rfolgen<strong>de</strong>r<br />
Körper zu teilen hat, vertragen und diese ergänzen. Ein<br />
Gen für Zähne zum Zermahlen von Pflanzen ist im Genpool<br />
einer pflanzenfressen<strong>de</strong>n Spezies ein gutes, im Genpool einer<br />
fleischfressen<strong>de</strong>n Art aber ein schlechtes Gen.<br />
Man kann sich vorstellen, daß ein zusammenpassen<strong>de</strong>r Satz<br />
von Genen gemeinsam als eine Einheit selektiert wird. Im Beispiel<br />
<strong>de</strong>r Schmetterlingsmimikry von Kapitel 3 scheint genau<br />
dies eingetreten zu sein. Doch die Stärke <strong>de</strong>s ESS-Konzepts<br />
liegt darin, daß es uns in die Lage versetzt zu erkennen, wie<br />
ein <strong>de</strong>rartiges Ergebnis durch Selektion allein auf <strong>de</strong>r Ebene<br />
<strong>de</strong>s unabhängigen Gens erzielt wer<strong>de</strong>n könnte. Die Gene brauchen<br />
nicht auf <strong>de</strong>mselben Ch<strong>ro</strong>mosom miteinan<strong>de</strong>r gekoppelt<br />
zu sein.<br />
Eigentlich reicht <strong>de</strong>r Vergleich mit <strong>de</strong>n Ru<strong>de</strong>rern nicht zur<br />
Erklärung dieses Gedankens. Wir können uns ihr nur soweit<br />
wie möglich annähern: Nehmen wir an, für eine wirklich erfolgreiche<br />
Mannschaft sei es wichtig, daß die Ru<strong>de</strong>rer ihre Bewegungen<br />
mit Hilfe <strong>de</strong>r Sprache koordinieren. Nehmen wir weiter<br />
an, von <strong>de</strong>n <strong>de</strong>m Trainer zur Verfügung stehen<strong>de</strong>n Ru<strong>de</strong>rern<br />
sprächen einige nur Englisch und an<strong>de</strong>re nur Deutsch. Die<br />
Englän<strong>de</strong>r sind nicht durchweg bessere o<strong>de</strong>r schlechtere Ru<strong>de</strong>rer<br />
als die Deutschen. Dennoch wird wegen <strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r<br />
Verständigung eine gemischte Mannschaft gewöhnlich <strong>wen</strong>iger<br />
Rennen gewinnen als eine entwe<strong>de</strong>r rein englische o<strong>de</strong>r<br />
rein <strong>de</strong>utsche Mannschaft.
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 142<br />
Der Trainer ist sich <strong>de</strong>ssen nicht bewußt. Er tut nichts weiter,<br />
als seine Leute herumzuschieben, <strong>de</strong>n Individuen in Siegerbooten<br />
Pluspunkte anzuschreiben und die Individuen in Verliererbooten<br />
zu notieren. Wenn nun unter <strong>de</strong>n ihm zur Verfügung<br />
stehen<strong>de</strong>n Bewerbern zufällig die Englän<strong>de</strong>r überwiegen, so<br />
folgt daraus, daß je<strong>de</strong>r Deutsche, <strong>de</strong>r in ein Boot hineingerät,<br />
dieses wahrscheinlich zum Verlieren bringen wird, weil die<br />
Verständigung zusammenbricht. Umgekehrt wird, <strong>wen</strong>n das<br />
Reservoir von Ru<strong>de</strong>rern in <strong>de</strong>r Überzahl aus Deutschen<br />
besteht, ein Englän<strong>de</strong>r feststellen, daß er je<strong>de</strong>s Boot, in <strong>de</strong>m<br />
er sich befin<strong>de</strong>t, zum Verlieren bringt. Die Mannschaft, welche<br />
als die insgesamt beste aus <strong>de</strong>n Wettkämpfen hervorgeht, wird<br />
einem <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n stabilen Zustän<strong>de</strong> entsprechen – rein englisch<br />
o<strong>de</strong>r rein <strong>de</strong>utsch, aber nicht gemischt. Oberflächlich<br />
betrachtet sieht es so aus, als ob <strong>de</strong>r Trainer ganze Gruppen<br />
mit <strong>de</strong>rselben Sprache als Einheiten auswählt. Doch das tut<br />
er nicht. Er wählt einzelne Ru<strong>de</strong>rer nach ihrer offensichtlichen<br />
Fähigkeit aus, Rennen zu gewinnen. So kommt es,<br />
daß die Wahrscheinlichkeit, mit <strong>de</strong>r ein Individuum Rennen<br />
gewinnt, davon abhängig ist, aus welchen an<strong>de</strong>ren Individuen<br />
das Bewerberangebot besteht. Bewerber, die zur Min<strong>de</strong>rheit<br />
gehören, wer<strong>de</strong>n automatisch bestraft. Nicht, weil sie schlechte<br />
Ru<strong>de</strong>rer sind, son<strong>de</strong>rn einfach, weil sie einer Min<strong>de</strong>rheit<br />
angehören. In ähnlicher Weise be<strong>de</strong>utet die Tatsache, daß Gene<br />
wegen ihrer gegenseitigen Vereinbarkeit ausgewählt wer<strong>de</strong>n,<br />
nicht zwangsläufig, daß wir uns eine Selektion vorstellen<br />
müssen, <strong>de</strong>ren Einheit Gengruppen sind, wie dies im Beispiel<br />
<strong>de</strong>r Schmetterlinge <strong>de</strong>r Fall war. Die Selektion auf <strong>de</strong>r niedrigen<br />
Ebene <strong>de</strong>s einzelnen Gens kann <strong>de</strong>n Eindruck einer Selektion<br />
auf einem höheren Niveau erwecken.<br />
In diesem Beispiel begünstigt die Auslese einfach<br />
Konformität. Interessanter ist es, <strong>wen</strong>n Gene selektiert wer<strong>de</strong>n,<br />
weil sie einan<strong>de</strong>r ergänzen. Nehmen wir beispielsweise an,<br />
eine i<strong>de</strong>al ausgewogene Ru<strong>de</strong>rmannschaft bestün<strong>de</strong> aus vier<br />
Rechts- und vier Linkshän<strong>de</strong>rn. Nehmen wir außer<strong>de</strong>m wie<strong>de</strong>r<br />
an, <strong>de</strong>r Trainer sei sich dieser Tatsache nicht bewußt und<br />
wähle blind nach „Verdienst“ aus. Wenn nun <strong>de</strong>r Bewerber-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 143<br />
kreis zufällig in <strong>de</strong>r Überzahl aus Rechtshän<strong>de</strong>rn bestün<strong>de</strong>,<br />
wäre je<strong>de</strong>r einzelne Linkshän<strong>de</strong>r ten<strong>de</strong>nziell im Vorteil: Wahrscheinlich<br />
wür<strong>de</strong> er je<strong>de</strong>m Boot, in <strong>de</strong>m er sich befän<strong>de</strong>, zum<br />
Sieg verhelfen und erschiene daher als ein guter Ru<strong>de</strong>rer.<br />
Umgekehrt wür<strong>de</strong> in einem überwiegend aus Linkshän<strong>de</strong>rn<br />
bestehen<strong>de</strong>n Bewerberkreis ein Rechtshän<strong>de</strong>r einen Vorteil<br />
haben. Dies ist ähnlich wie <strong>de</strong>r Fall <strong>de</strong>s Falken, <strong>de</strong>r in einer<br />
Taubenpopulation, und <strong>de</strong>r Taube, die in einer Falkenpopulation<br />
erfolgreich ist. Der Unterschied besteht darin, daß es<br />
in jenem Fall um Wechselbeziehungen zwischen einzelnen<br />
Körpern – egoistischen Maschinen – ging, während wir hier<br />
mit Hilfe unseres Bil<strong>de</strong>s über Wechselbeziehungen zwischen<br />
Genen im Innern von Körpern sprechen.<br />
Die blin<strong>de</strong> Auswahl „guter“ Ru<strong>de</strong>rer durch <strong>de</strong>n Trainer wird<br />
am En<strong>de</strong> zu einer i<strong>de</strong>alen Mannschaft führen, die aus vier<br />
Links- und vier Rechtshän<strong>de</strong>rn besteht. Es wird so aussehen,<br />
als habe er sie alle zusammen als eine komplette, ausgewogene<br />
Einheit ausgewählt. Ich halte es für ökonomischer, mir vorzustellen,<br />
daß er seine Auswahl auf einer niedrigeren Ebene<br />
trifft, <strong>de</strong>r Ebene <strong>de</strong>r unabhängigen Bewerber. Der evolutionär<br />
stabile Zustand (das Wort „Strategie“ wäre in diesem Zusammenhang<br />
irreführend) von vier Links- und vier Rechtshän<strong>de</strong>rn<br />
wird sich einfach als eine Konsequenz <strong>de</strong>r Auslese auf <strong>de</strong>r<br />
Basis <strong>de</strong>s erkennbaren Verdienstes ergeben.<br />
Der Genpool ist die langfristige Umwelt <strong>de</strong>s Gens. „Gute“<br />
Gene wer<strong>de</strong>n durch blin<strong>de</strong> Selektion ausgewählt, es sind diejenigen,<br />
die im Genpool überleben. Dies ist keine Theorie, es<br />
ist noch nicht einmal eine beobachtete Tatsache: Es ist einfach<br />
eine Tautologie. Die interessante Frage ist, was genau<br />
ein Gen zu einem guten Gen macht. Als erste Näherung hatte<br />
ich gesagt, was ein Gen zu einem guten Gen macht, sei die<br />
Fähigkeit, effiziente Überlebensmaschinen zu bauen – Körper.<br />
Wir müssen diese Aussage nunmehr ergänzen. Der Genpool<br />
wird zu einem evolutionär stabilen Satz von Genen, <strong>de</strong>finiert<br />
als ein Genpool, in <strong>de</strong>n kein neues Gen eindringen kann. Die<br />
Mehrheit neuer Gene, die entstehen – durch Mutation, Neuanordnung<br />
o<strong>de</strong>r Einwan<strong>de</strong>rung – wer<strong>de</strong>n durch die natürliche
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 144<br />
Auslese rasch bestraft: Der evolutionär stabile Satz wird wie<strong>de</strong>rhergestellt.<br />
Gelegentlich jedoch gelingt es einem neuen<br />
Gen, in <strong>de</strong>n Satz einzudringen: Es breitet sich erfolgreich im<br />
Genpool aus. Dies führt zu einer vorübergehen<strong>de</strong>n Perio<strong>de</strong><br />
<strong>de</strong>r Instabilität, die in einen neuen evolutionär stabilen Satz<br />
mün<strong>de</strong>t – ein Stückchen Evolution hat stattgefun<strong>de</strong>n. Analog<br />
zu <strong>de</strong>n Aggressionsstrategien könnte eine Population mehr als<br />
einen alternativen Stabilitätspunkt besitzen und gelegentlich<br />
von einem zu einem an<strong>de</strong>ren überspringen. Die fortschreiten<strong>de</strong><br />
Evolution ist vielleicht <strong>wen</strong>iger ein stetes Aufwärtssteigen als<br />
vielmehr eine Reihe getrennter Schritte von einem stabilen<br />
Plateau zu einem an<strong>de</strong>ren. 8 Es mag so aussehen, als ob die<br />
Population insgesamt sich wie eine einzige, sich selbst regeln<strong>de</strong><br />
Einheit verhielte. Aber dieser falsche Eindruck wird durch<br />
eine Selektion erweckt, die auf <strong>de</strong>r Ebene <strong>de</strong>s einzelnen Gens<br />
erfolgt. Gene wer<strong>de</strong>n auf Grund ihres „Verdienstes“ selektiert.<br />
Verdienst jedoch wird beurteilt auf <strong>de</strong>r Basis <strong>de</strong>r Leistung<br />
vor <strong>de</strong>m Hintergrund <strong>de</strong>s evolutionär stabilen Satzes, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n<br />
jeweiligen Genpool darstellt.<br />
Maynard Smith konnte dadurch, daß er aggressive Interaktionen<br />
zwischen ganzen Individuen betrachtete, die Dinge sehr<br />
klar machen. Es ist leicht, sich stabile Zahlenverhältnisse von<br />
Falkenkörpern zu Taubenkörpern vorzustellen, weil Körper<br />
g<strong>ro</strong>ße Dinge sind, die man sehen kann. Derartige Wechselwirkungen<br />
zwischen Genen, die in verschie<strong>de</strong>nen Körpern sitzen,<br />
sind jedoch lediglich die Spitze <strong>de</strong>s Eisberges. Die g<strong>ro</strong>ße Mehrheit<br />
<strong>de</strong>r signifikanten Interaktionen zwischen Genen in <strong>de</strong>m<br />
evolutionär stabilen Satz – <strong>de</strong>m Genpool – besteht innerhalb<br />
ein und <strong>de</strong>sselben Körpers. Diese Interaktionen sind schwer<br />
zu erkennen, <strong>de</strong>nn sie fin<strong>de</strong>n im Innern von Zellen statt, insbeson<strong>de</strong>re<br />
im Innern <strong>de</strong>r Zellen sich entwickeln<strong>de</strong>r Embryos.<br />
Vollständige Körper existieren, weil sie das P<strong>ro</strong>dukt eines<br />
evolutionär stabilen Satzes egoistischer Gene sind.<br />
Doch ich muß zu <strong>de</strong>n Wechselbeziehungen auf <strong>de</strong>m Niveau<br />
ganzer Tiere zurückkehren, welche <strong>de</strong>n Gegenstand dieses<br />
Buches bil<strong>de</strong>n. Zum Verständnis <strong>de</strong>r Aggression war es angebracht,<br />
die einzelnen Tiere als unabhängige selbstsüchtige
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 145<br />
Maschinen zu behan<strong>de</strong>ln. Dieses Mo<strong>de</strong>ll hilft uns nicht mehr<br />
weiter, <strong>wen</strong>n es um enge Verwandte geht – Brü<strong>de</strong>r und Schwestern,<br />
Cousinen und Cousins, Eltern und Kin<strong>de</strong>r. Das liegt<br />
daran, daß Verwandte einen wesentlichen Teil ihrer Gene<br />
gemeinsam haben. Je<strong>de</strong>s egoistische Gen verteilt daher seine<br />
Loyalität auf verschie<strong>de</strong>ne Körper. Dies soll im nächsten Kapitel<br />
näher erklärt wer<strong>de</strong>n.
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 146<br />
6. Genverwandtschaft<br />
Was ist das egoistische Gen? Es ist nicht einfach nur ein einzelnes<br />
materielles Stückchen DNA. Es ist vielmehr – wie in <strong>de</strong>r<br />
Ursuppe – die Gesamtheit aller über die ganze Welt verteilten<br />
Kopien eines speziellen Stückchens DNA. Wenn wir uns die<br />
Freiheit nehmen, über Gene zu sprechen, als ob sie bewußte<br />
Ziele verfolgten – wobei wir uns immer wie<strong>de</strong>r rückversichern<br />
müssen, daß wir unsere etwas saloppe Sprache in eine korrekte<br />
Ausdrucksweise zurückübersetzen könnten, <strong>wen</strong>n wir<br />
wollten –, so können wir die Frage stellen, welche Absicht ein<br />
einzelnes egoistisches Gen <strong>de</strong>nn eigentlich verfolgt. Es versucht,<br />
im Genpool immer zahlreicher zu wer<strong>de</strong>n. Dies erreicht<br />
es im wesentlichen, in<strong>de</strong>m es dazu beiträgt, die Körper, in<br />
<strong>de</strong>nen es sich befin<strong>de</strong>t, so zu p<strong>ro</strong>grammieren, daß sie überleben<br />
und sich fortpflanzen. Für die folgen<strong>de</strong>n Betrachtungen ist<br />
jedoch vor allem <strong>de</strong>r Aspekt be<strong>de</strong>utsam, daß „es“ ein verbreitetes,<br />
vielfach vorhan<strong>de</strong>nes Gebil<strong>de</strong> ist, das in vielen verschie<strong>de</strong>nen<br />
Individuen gleichzeitig existiert. Die Kernaussage dieses<br />
Kapitels lautet: Möglicherweise ist ein Gen in <strong>de</strong>r Lage, <strong>de</strong>n<br />
Kopien seiner selbst, die in an<strong>de</strong>ren Körpern sitzen, zu helfen.<br />
Dies wür<strong>de</strong> wie individueller Altruismus aussehen, wäre aber<br />
tatsächlich das Ergebnis <strong>de</strong>s Genegoismus.<br />
Betrachten wir das Gen für Albinismus beim Menschen.<br />
Tatsächlich gibt es mehrere Gene, die Albinismus hervorrufen,<br />
ich spreche aber nur von einem von ihnen. Es ist rezessiv,<br />
das heißt, es muß in doppelter Ausfertigung vorhan<strong>de</strong>n sein,<br />
damit ein Mensch ein Albino wird. Dies ist bei jeweils einem<br />
von 20000 Menschen <strong>de</strong>r Fall. Außer<strong>de</strong>m liegt das Gen jedoch<br />
bei einem von etwa 70 Menschen in einfacher Ausfertigung<br />
vor, und diese Individuen sind keine Albinos. Da ein Gen wie<br />
das für Albinismus auf viele Individuen verteilt ist, könnte<br />
es theoretisch selbst sein Überleben im Genpool för<strong>de</strong>rn,<br />
in<strong>de</strong>m es seine Körper dahingehend p<strong>ro</strong>grammiert, sich an<strong>de</strong>ren<br />
Albinokörpern gegenüber selbstlos zu verhalten, da diese<br />
bekanntlich dasselbe Gen enthalten. Das Albinogen sollte
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 147<br />
ganz glücklich darüber sein, <strong>wen</strong>n einige <strong>de</strong>r Körper sterben,<br />
in <strong>de</strong>nen es lebt, vorausgesetzt diese helfen damit an<strong>de</strong>ren<br />
Körpern, die dasselbe Gen enthalten, beim Überleben. Wenn<br />
das Albinogen einen seiner Körper dazu veranlassen könnte,<br />
das Leben von zehn Albinokörpern zu retten, dann wäre die<br />
zahlenmäßige Zunahme <strong>de</strong>r Albinogene im Genpool eine reichliche<br />
Entschädigung sogar für <strong>de</strong>n Tod <strong>de</strong>s Altruisten.<br />
Sollten wir also erwarten, daß Albinos beson<strong>de</strong>rs freundlich<br />
zueinan<strong>de</strong>r sind? Tatsächlich sind sie es wahrscheinlich<br />
nicht. Wenn wir erkennen wollen, warum das so ist, müssen<br />
wir vorübergehend unser Bild von <strong>de</strong>m Gen als einem bewußt<br />
han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n Etwas aufgeben, weil es in diesem Zusammenhang<br />
ausgesp<strong>ro</strong>chen irreführend ist. Wir müssen auf die konventionelle,<br />
<strong>wen</strong>n auch langatmigere Ausdrucksweise zurückgreifen.<br />
Es ist nicht so, daß Albinogene wirklich überleben o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren<br />
Albinogenen helfen „wollen“. Doch <strong>wen</strong>n das Albinogen<br />
seine Körper rein zufällig dazu bewegen wür<strong>de</strong>, sich an<strong>de</strong>ren<br />
Albinos gegenüber uneigennützig zu verhalten, hätte dies die<br />
Folge, daß es im Genpool wohl o<strong>de</strong>r übel zahlreicher wür<strong>de</strong>.<br />
Doch damit dies geschähe, müßte das Gen zwei voneinan<strong>de</strong>r<br />
unabhängige Wirkungen auf die Körper ausüben. Es müßte<br />
ihnen nicht nur die typische, sehr helle Hautfarbe verleihen,<br />
son<strong>de</strong>rn darüber hinaus eine Ten<strong>de</strong>nz, sich gegenüber Individuen<br />
mit sehr heller Hautfarbe altruistisch zu verhalten. Ein<br />
<strong>de</strong>rartiges Gen mit zwei Effekten könnte, <strong>wen</strong>n es existierte, in<br />
<strong>de</strong>r Population sehr erfolgreich sein.<br />
Nun stimmt es zwar, daß Gene tatsächlich mehrfache Wirkungen<br />
erzielen, wie ich in Kapitel 3 betont habe. Theoretisch<br />
ist es möglich, daß ein Gen auftritt, welches ein äußerlich<br />
sichtbares „Kennzeichen“, beispielsweise eine helle Haut o<strong>de</strong>r<br />
einen grünen Bart o<strong>de</strong>r irgend etwas Auffälliges, hervorriefe<br />
und darüber hinaus eine Ten<strong>de</strong>nz, zu an<strong>de</strong>ren Trägern dieses<br />
auffälligen Merkmals beson<strong>de</strong>rs freundlich zu sein. Es ist<br />
möglich, aber nicht son<strong>de</strong>rlich wahrscheinlich. Genausogut<br />
könnte Grünbärtigkeit mit einer Ten<strong>de</strong>nz verbun<strong>de</strong>n sein, eingewachsene<br />
Zehennägel o<strong>de</strong>r irgen<strong>de</strong>in an<strong>de</strong>res Merkmal zu<br />
entwickeln, und eine Vorliebe für grüne Bärte könnte ebenso
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 148<br />
wahrscheinlich mit <strong>de</strong>r Unfähigkeit einhergehen, Freesienduft<br />
wahrzunehmen. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, daß ein und<br />
dasselbe Gen zusätzlich zu einem „Kennzeichen“ auch die entsprechen<strong>de</strong><br />
Art von Altruismus erzeugt. Nichts<strong>de</strong>sto<strong>wen</strong>iger<br />
ist das, was wir als <strong>de</strong>n Grünbart-Altruismuseffekt bezeichnen<br />
können, eine theoretische Möglichkeit.<br />
Ein beliebiges Merkmal wie ein grüner Bart ist lediglich eine<br />
Metho<strong>de</strong>, mit <strong>de</strong>ren Hilfe ein Gen Kopien seiner selbst in an<strong>de</strong>ren<br />
Individuen „erkennen“ kann. Gibt es noch an<strong>de</strong>re Metho<strong>de</strong>n?<br />
Ein beson<strong>de</strong>rs direktes mögliches Verfahren ist das folgen<strong>de</strong>.<br />
Der Besitzer eines altruistischen Gens könnte einfach<br />
an <strong>de</strong>r Tatsache erkannt wer<strong>de</strong>n, daß er altruistisch han<strong>de</strong>lt.<br />
Ein Gen könnte im Genpool Erfolg haben, <strong>wen</strong>n es etwas<br />
„sagte“, das <strong>de</strong>r folgen<strong>de</strong>n Anweisung entspräche: „Körper,<br />
<strong>wen</strong>n A untergeht, weil er versucht, jemand an<strong>de</strong>ren vor <strong>de</strong>m<br />
Ertrinken zu retten, so spring hinein und rette A!“ Ein solches<br />
Gen könnte gut abschnei<strong>de</strong>n, weil eine mehr als durchschnittliche<br />
Chance besteht, daß A ebendieses altruistische Lebensrettergen<br />
trägt. Die Tatsache, daß A dabei gesehen wird, wie<br />
er jemand an<strong>de</strong>ren zu retten versucht, ist ebenso ein „Kennzeichen“<br />
wie ein grüner Bart. Es ist <strong>wen</strong>iger willkürlich als ein<br />
grüner Bart, scheint aber immer noch ziemlich unwahrscheinlich.<br />
Gibt es irgendwelche plausiblen Möglichkeiten für Gene,<br />
ihre Kopien in an<strong>de</strong>ren Körpern zu „erkennen“?<br />
Die Antwort lautet ja. Wie sich leicht zeigen läßt, besteht<br />
bei nahen Verwandten – Familienangehörigen – eine mehr als<br />
durchschnittliche Chance für <strong>de</strong>n gemeinsamen Besitz von<br />
Genen. Schon seit langem gibt es keinen Zweifel mehr daran,<br />
daß dies <strong>de</strong>r Grund für die weit verbreitete Selbstlosigkeit von<br />
Eltern gegenüber ihren Nachkommen sein muß. Wie R. A.<br />
Fisher, J. B. S. Haidane und vor allem W. D. Hamilton erkannt<br />
haben, gilt das gleiche für an<strong>de</strong>re enge Verwandte – Brü<strong>de</strong>r<br />
und Schwestern, Neffen und Nichten, nahe Cousins und Cousinen.<br />
Wenn ein Individuum stirbt, um zehn nahe Verwandte<br />
zu retten, so geht zwar eine Kopie <strong>de</strong>s Gens für Familienaltruismus<br />
verloren, doch eine größere Zahl von Kopien <strong>de</strong>sselben<br />
Gens wird gerettet.
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 149<br />
Der Ausdruck „eine größere Zahl“ ist ein <strong>wen</strong>ig vage, „nahe<br />
Verwandte“ ebenso. Wie Hamilton gezeigt hat, können wir uns<br />
genauer ausdrücken. Seine bei<strong>de</strong>n Aufsätze aus <strong>de</strong>m Jahre<br />
1964 gehören zu <strong>de</strong>n be<strong>de</strong>utendsten Beiträgen zur Sozialethologie,<br />
die jemals geschrieben wor<strong>de</strong>n sind, und ich habe<br />
nie verstehen können, warum sie von <strong>de</strong>n Ethologen so <strong>wen</strong>ig<br />
beachtet wor<strong>de</strong>n sind. (Sein Name erscheint nicht einmal<br />
im In<strong>de</strong>x zweier g<strong>ro</strong>ßer Ethologielehrbücher, die bei<strong>de</strong> 1970<br />
veröffentlicht wur<strong>de</strong>n.) 1 Glücklicherweise gibt es in jüngster<br />
<strong>Zeit</strong> Anzeichen für ein Wie<strong>de</strong>raufleben <strong>de</strong>s Interesses an<br />
seinen I<strong>de</strong>en. Hamiltons Aufsätze sind ziemlich mathematisch;<br />
die Grundprinzipien lassen sich jedoch, <strong>wen</strong>ngleich<br />
auf Kosten einer etwas zu starken Vereinfachung, auch ohne<br />
strenge Mathematik leicht intuitiv begreifen. Was wir berechnen<br />
wollen, ist die Wahrscheinlichkeit o<strong>de</strong>r die Chance, daß<br />
zwei Individuen, beispielsweise zwei Schwestern, ein bestimmtes<br />
Gen gemeinsam haben.<br />
Der Einfachheit halber wer<strong>de</strong> ich davon ausgehen, daß wir<br />
über Gene re<strong>de</strong>n, die im Genpool insgesamt selten sind. 2 Die<br />
meisten Menschen haben, unabhängig davon, ob sie miteinan<strong>de</strong>r<br />
verwandt sind o<strong>de</strong>r nicht, „das Gen für Nichtalbinismus“<br />
gemeinsam. Dieses Gen ist <strong>de</strong>shalb so verbreitet, weil Albinos<br />
in <strong>de</strong>r Natur <strong>wen</strong>iger Überlebenschancen haben als Nichtalbinos.<br />
Beispielsweise wer<strong>de</strong>n sie leichter von <strong>de</strong>r Sonne geblen<strong>de</strong>t<br />
und übersehen daher mit größerer Wahrscheinlichkeit sich<br />
nähern<strong>de</strong> Räuber. Aber wir wollen nicht erklären, warum solch<br />
offensichtlich „gute“ Gene wie das für Nichtalbinismus im<br />
Genpool überwiegen. Uns interessieren vielmehr die Ursachen<br />
<strong>de</strong>s Erfolgs, <strong>de</strong>n Gene spezifisch auf Grund ihres Altruismus<br />
haben. Wir können daher für unsere Überlegungen davon ausgehen,<br />
daß diese Gene zumin<strong>de</strong>st in <strong>de</strong>n frühen Phasen <strong>de</strong>s<br />
Evolutionsp<strong>ro</strong>zesses selten sind. Der wichtige Punkt ist nun,<br />
daß selbst ein Gen, das in <strong>de</strong>r Population insgesamt selten vorkommt,<br />
innerhalb einer Familie allgemein verbreitet ist. Ich<br />
besitze eine Reihe von Genen, die in <strong>de</strong>r Population selten<br />
sind, und auch <strong>de</strong>r Leser hat solche Gene. Die Chance, daß wir<br />
bei<strong>de</strong> dieselben seltenen Gene besitzen, ist auße<strong>ro</strong>r<strong>de</strong>ntlich
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 150<br />
klein. Doch die Wahrscheinlichkeit, daß meine Schwester über<br />
dasselbe beson<strong>de</strong>rs seltene Gen verfügt wie ich, ist g<strong>ro</strong>ß, und<br />
mit <strong>de</strong>r gleichen Wahrscheinlichkeit hat <strong>de</strong>r Leser ein seltenes<br />
Gen mit seiner Schwester gemeinsam. Die Chancen sind in<br />
diesem Fall genau 50 P<strong>ro</strong>zent, und es läßt sich leicht erklären,<br />
warum das so ist.<br />
Nehmen wir an, ich besitze eine Kopie <strong>de</strong>s Gens G. Ich muß<br />
es entwe<strong>de</strong>r von meinem Vater o<strong>de</strong>r von meiner Mutter erhalten<br />
haben. (Der Einfachheit halber können wir verschie<strong>de</strong>ne<br />
nicht sehr häufige Möglichkeiten vernachlässigen – daß G eine<br />
neue Mutation ist, daß bei<strong>de</strong> Eltern es besaßen o<strong>de</strong>r daß je<strong>de</strong>r<br />
Elternteil zwei Kopien davon enthielt.) Nehmen wir an, es war<br />
mein Vater, <strong>de</strong>r mir das Gen vererbt hat. Dann muß je<strong>de</strong> seiner<br />
gewöhnlichen Körperzellen eine Kopie von G enthalten haben.<br />
Erinnern wir uns nun daran, daß ein Mann, <strong>wen</strong>n er eine<br />
Samenzelle erzeugt, die Hälfte seiner Gene an sie weitergibt. Es<br />
besteht daher eine 50-p<strong>ro</strong>zentige Chance, daß <strong>de</strong>r Samen, <strong>de</strong>r<br />
meine Schwester erzeugte, das Gen G bekam. Wenn ich an<strong>de</strong>rerseits<br />
G von meiner Mutter erhielt, so zeigt die genau parallele<br />
Beweisführung, daß die Hälfte ihrer Eizellen G enthalten<br />
haben muß; die Chancen, daß meine Schwester G enthält,<br />
betragen abermals 50 P<strong>ro</strong>zent. Das be<strong>de</strong>utet, <strong>wen</strong>n ich 100<br />
Brü<strong>de</strong>r und Schwestern hätte, wür<strong>de</strong> ungefähr die Hälfte von<br />
ihnen ein bestimmtes seltenes Gen tragen, das ich besitze. Es<br />
be<strong>de</strong>utet außer<strong>de</strong>m: Wenn ich 100 seltene Gene besitze, sind<br />
etwa 50 von ihnen im Körper je<strong>de</strong>s meiner Brü<strong>de</strong>r und je<strong>de</strong>r<br />
meiner Schwestern vorhan<strong>de</strong>n.<br />
Dieselbe Art von Rechnung kann man für je<strong>de</strong>n beliebigen<br />
Verwandtschaftsgrad durchführen. Eine wichtige Beziehung<br />
ist die zwischen Eltern und Kind. Wenn ich eine Kopie <strong>de</strong>s<br />
Gens H besitze, so ist die Chance, daß ein einzelnes meiner<br />
Kin<strong>de</strong>r dieses Gen trägt, 50 P<strong>ro</strong>zent, weil die Hälfte meiner<br />
Geschlechtszellen H enthält und das Kind aus einer jener<br />
Geschlechtszellen entstan<strong>de</strong>n ist. Wenn ich umgekehrt eine<br />
Kopie <strong>de</strong>s Gens J besitze, so ist die Chance, daß auch mein<br />
Vater J in sich hatte, ebenfalls 50 P<strong>ro</strong>zent, weil ich die Hälfte<br />
meiner Gene von ihm und die an<strong>de</strong>re Hälfte von meiner Mutter
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 151<br />
geerbt habe. Zur Erleichterung bedienen wir uns eines In<strong>de</strong>x<br />
für <strong>de</strong>n Verwandtschaftsgrad. Er ist ein Ausdruck für die<br />
Wahrscheinlichkeit, daß zwei Verwandte ein Gen gemeinsam<br />
haben. Der Verwandtschaftsgrad zwischen zwei Brü<strong>de</strong>rn ist<br />
1/2, weil die Hälfte <strong>de</strong>r Gene, die einer von ihnen besitzt, auch<br />
in <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren vorhan<strong>de</strong>n ist. Dabei han<strong>de</strong>lt es sich um einen<br />
Durchschnittswert: Durch <strong>de</strong>n Zufall <strong>de</strong>r meiotischen Ziehung<br />
können einzelne Brü<strong>de</strong>rpaare mehr o<strong>de</strong>r <strong>wen</strong>iger als die Hälfte<br />
ihrer Gene gemeinsam haben. Der Verwandtschaftsgrad zwischen<br />
Elternteil und Kind beträgt immer genau 1/2.<br />
Nun ist diese Art <strong>de</strong>r Berechnung ziemlich ermü<strong>de</strong>nd; im<br />
folgen<strong>de</strong>n eine nicht übermäßig genaue, aber leicht anzu<strong>wen</strong><strong>de</strong>n<strong>de</strong><br />
Regel, mit <strong>de</strong>r sich <strong>de</strong>r Verwandtschaftsgrad zwischen<br />
zwei beliebigen Individuen A und B ausrechnen läßt. Der<br />
Leser mag sie nützlich fin<strong>de</strong>n, <strong>wen</strong>n er sein Testament machen<br />
o<strong>de</strong>r augenfällige Ähnlichkeiten in seiner Familie interpretieren<br />
will. Sie gilt für alle einfachen Fälle, versagt jedoch, wie wir<br />
sehen wer<strong>de</strong>n, in Fällen von Inzest und bei bestimmten Insekten.<br />
Als erstes sind alle gemeinsamen Vorfahren von A und B festzustellen.<br />
Bei zwei Cousins o<strong>de</strong>r Cousinen ersten Gra<strong>de</strong>s beispielsweise<br />
sind das ihre gemeinsamen G<strong>ro</strong>ßeltern. Wenn A<br />
und B einen gemeinsamen Vorfahren fin<strong>de</strong>n, sind <strong>de</strong>ssen Vorfahren<br />
natürlich alle ebenfalls gemeinsame Vorfahren von<br />
A und B. Wir lassen aber alle außer <strong>de</strong>n jüngsten gemeinsamen<br />
Ahnen unberücksichtigt. In diesem Sinne haben Cousins<br />
und Cousinen ersten Gra<strong>de</strong>s nur zwei gemeinsame Vorfahren.<br />
Wenn B ein direkter Nachkomme von A ist, zum Beispiel sein<br />
Urenkel, dann ist A selbst <strong>de</strong>r „gemeinsame Ahne“, nach <strong>de</strong>m<br />
wir suchen.<br />
Nach<strong>de</strong>m wir die (o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n) gemeinsamen Vorfahren von A<br />
und B gefun<strong>de</strong>n haben, zählen wir <strong>de</strong>n Generationsabstand<br />
folgen<strong>de</strong>rmaßen. Wir beginnen bei A, verfolgen <strong>de</strong>n Stammbaum,<br />
bis wir auf einen gemeinsamen Ahnen treffen, und<br />
kehren dann wie<strong>de</strong>r bis zu B zurück. Die Gesamtzahl <strong>de</strong>r<br />
Schritte <strong>de</strong>n Baum hinauf und wie<strong>de</strong>r hinunter ist <strong>de</strong>r Generationsabstand.<br />
Wenn etwa A <strong>de</strong>r Onkel von B ist, so beträgt
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 152<br />
<strong>de</strong>r Generationsabstand 3. Der gemeinsame Vorfahre ist beispielsweise<br />
A‘s Vater und B‘s G<strong>ro</strong>ßvater. Wenn wir bei A anfangen,<br />
müssen wir eine Generation hinaufsteigen, um zu <strong>de</strong>m<br />
gemeinsamen Vorfahren zu kommen. Anschließend, um zu<br />
B zu gelangen, müssen wir auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite wie<strong>de</strong>r<br />
zwei Generationen hinuntersteigen. Der Generationsabstand<br />
ist daher 1+2 = 3.<br />
Nach<strong>de</strong>m wir über einen bestimmten gemeinsamen Ahnen<br />
<strong>de</strong>n Generationsabstand zwischen A und B gefun<strong>de</strong>n haben,<br />
berechnen wir <strong>de</strong>n Anteil an ihrem Verwandtschaftsgrad, für<br />
<strong>de</strong>n jener Ahne verantwortlich ist. Dazu multiplizieren wir p<strong>ro</strong><br />
Schritt <strong>de</strong>s Generationsabstan<strong>de</strong>s 1/2 einmal mit sich selbst.<br />
Wenn <strong>de</strong>r Generationsabstand 3 beträgt, müssen wir also 1/2<br />
x 1/2 x 1/2 o<strong>de</strong>r 1/2 3 rechnen. Beträgt <strong>de</strong>r Generationsabstand<br />
über einen speziellen Ahnen g Schritte, so ist <strong>de</strong>r auf diesen<br />
Ahnen zurückzuführen<strong>de</strong> Verwandtschaftsgrad (1/2) g .<br />
Doch dies macht nur einen Teil <strong>de</strong>s Verwandtschaftsgra<strong>de</strong>s<br />
zwischen A und B aus. Wenn sie mehr als einen gemeinsamen<br />
Vorfahren haben, müssen wir <strong>de</strong>n entsprechen<strong>de</strong>n Wert für<br />
je<strong>de</strong>n dieser Vorfahren hinzuzählen. Gewöhnlich ist <strong>de</strong>r Generationsabstand<br />
für alle gemeinsamen Vorfahren von zwei Individuen<br />
gleich. Daher braucht man, <strong>wen</strong>n man <strong>de</strong>n Verwandtschaftsgrad<br />
von A und B aufgrund irgen<strong>de</strong>ines beliebigen<br />
dieser Ahnen ausgerechnet hat, in <strong>de</strong>r Praxis nichts an<strong>de</strong>res<br />
mehr zu tun, als ihn mit <strong>de</strong>r Zahl <strong>de</strong>r Ahnen zu multiplizieren.<br />
Vettern ersten Gra<strong>de</strong>s beispielsweise haben zwei gemeinsame<br />
Vorfahren, und <strong>de</strong>r Generationsabstand über je<strong>de</strong>n von ihnen<br />
ist 4. Ihr Verwandtschaftsgrad beträgt daher 2 x (l/2) 4 = l/8.<br />
Wenn A <strong>de</strong>r Urenkel von B ist, so ist <strong>de</strong>r Generationsabstand<br />
3, und die Zahl <strong>de</strong>r gemeinsamen „Vorfahren“ ist 1 (B selbst).<br />
Der Verwandtschaftsgrad ist daher 1 x (1/2) 3 = 1/8. Genetisch<br />
gesehen entspricht mein Vetter ersten Gra<strong>de</strong>s meinem Urenkel.<br />
Und es ist ebenso wahrscheinlich, daß ich meinem Onkel<br />
„nachschlage“ (Verwandtschaftsgrad: 2 x (1/2) 3 = 1/4) wie<br />
meinem G<strong>ro</strong>ßvater (Verwandtschaftsgrad: 1 x (1/2) 2 = 1/4).<br />
Für so entfernte Verwandte wie Vettern dritten Gra<strong>de</strong>s<br />
nähert sich <strong>de</strong>r Verwandtschaftsgrad (2 x (1/2) 8 = 1/128) <strong>de</strong>r
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 153<br />
sehr geringen Wahrscheinlichkeit, daß A ein bestimmtes seiner<br />
Gene mit einem beliebigen Individuum <strong>de</strong>r Population gemeinsam<br />
hat. Soweit es ein altruistisches Gen betrifft, ist ein Vetter<br />
dritten Gra<strong>de</strong>s nicht sehr viel mehr als je<strong>de</strong>r Hinz o<strong>de</strong>r Kunz.<br />
Ein Vetter zweiten Gra<strong>de</strong>s (Verwandtschaftsgrad 1/32) ist, verglichen<br />
mit <strong>de</strong>m Rest <strong>de</strong>r Population, nur ein klein <strong>wen</strong>ig<br />
etwas Beson<strong>de</strong>res, ein Vetter ersten Gra<strong>de</strong>s etwas mehr (1/8).<br />
Leibliche Geschwister sowie Eltern und Kin<strong>de</strong>r sind für uns<br />
etwas ganz Beson<strong>de</strong>res (1/2), und eineiige Zwillinge (Verwandtschaftsgrad<br />
1) sind genauso beson<strong>de</strong>rs wie man selbst. Onkel,<br />
Tanten, Neffen und Nichten, G<strong>ro</strong>ßeltern und Enkel sowie Halbgeschwister<br />
liegen mit einem Verwandtschaftsgrad von 1 /4<br />
dazwischen.<br />
Jetzt sind wir in <strong>de</strong>r Lage, sehr viel präziser über Gene<br />
für Familienaltruismus zu sprechen. Ein Gen für das selbstmör<strong>de</strong>rische<br />
Retten von fünf Vettern wür<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r Population<br />
nicht zahlreicher wer<strong>de</strong>n, aber ein Gen zum Retten von fünf<br />
Brü<strong>de</strong>rn o<strong>de</strong>r zehn Vettern wür<strong>de</strong> dies sehr wohl. Damit<br />
ein selbstmör<strong>de</strong>risch altruistisches Gen erfolgreich ist, muß<br />
es mehr als zwei Geschwister (beziehungsweise Kin<strong>de</strong>r o<strong>de</strong>r<br />
Eltern) o<strong>de</strong>r mehr als vier Halbgeschwister (beziehungsweise<br />
Onkel, Tanten, Neffen, Nichten, G<strong>ro</strong>ßeltern, Enkel) o<strong>de</strong>r mehr<br />
als acht Vettern ersten Gra<strong>de</strong>s retten und so weiter. Ein <strong>de</strong>rartiges<br />
Gen lebt im Durchschnitt in <strong>de</strong>n Körpern von so vielen<br />
geretteten Individuen weiter, daß <strong>de</strong>r Tod <strong>de</strong>s Altruisten ausgeglichen<br />
wird.<br />
Wenn ein Individuum sicher sein könnte, daß ein bestimmtes<br />
an<strong>de</strong>res Individuum sein eineiiger Zwilling ist, so sollte<br />
es um <strong>de</strong>ssen Wohlergehen genauso besorgt sein wie um sein<br />
eigenes. Je<strong>de</strong>s Gen für Zwillingsaltruismus muß zwangsläufig<br />
in bei<strong>de</strong>n Zwillingen vorhan<strong>de</strong>n sein; <strong>wen</strong>n daher einer einen<br />
hel<strong>de</strong>nhaften Tod stirbt, um <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren zu retten, so lebt das<br />
Gen weiter. Neunbin<strong>de</strong>ngürteltiere wer<strong>de</strong>n in einem Wurf von<br />
eineiigen Vierlingen geboren. Soweit mir bekannt ist, liegen<br />
keine Berichte über he<strong>ro</strong>ische Selbstaufopferungstaten unter<br />
jungen Gürteltieren vor, doch ist darauf aufmerksam gemacht<br />
wor<strong>de</strong>n, daß mit Sicherheit eine starke Selbstlosigkeit unter
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 154<br />
ihnen zu erwarten ist, und es wür<strong>de</strong> sich lohnen, <strong>wen</strong>n jemand<br />
nach Südamerika führe, um das nachzuprüfen. 3<br />
Wir können nunmehr erkennen, daß die elterliche Fürsorge<br />
lediglich ein Son<strong>de</strong>rfall von Familienaltruismus ist. Genetisch<br />
gesp<strong>ro</strong>chen sollte ein Erwachsener seinem verwaisten kleinen<br />
Bru<strong>de</strong>r ebensoviel Pflege und Aufmerksamkeit entgegenbringen<br />
wie einem seiner eigenen Kin<strong>de</strong>r. Sein Verwandtschaftsgrad<br />
mit bei<strong>de</strong>n Kleinkin<strong>de</strong>rn ist genau i<strong>de</strong>ntisch, nämlich 1/2.<br />
Im Sinne <strong>de</strong>r Genselektion müßte ein Gen für altruistisches<br />
Verhalten <strong>de</strong>r g<strong>ro</strong>ßen Schwester eine ebenso gute Chance<br />
haben, sich in <strong>de</strong>r Population auszubreiten, wie ein Gen für<br />
Altruismus seitens <strong>de</strong>r Eltern. In <strong>de</strong>r Praxis ist dies aus mehreren<br />
Grün<strong>de</strong>n, auf die wir später noch zu sprechen kommen<br />
wer<strong>de</strong>n, eine allzu g<strong>ro</strong>ße Vereinfachung, und die brü<strong>de</strong>rliche<br />
und schwesterliche Fürsorge ist in <strong>de</strong>r Natur bei weitem nicht<br />
so verbreitet wie die elterliche. Worauf ich hier hinauswill,<br />
ist jedoch, daß genetisch gesehen an <strong>de</strong>r Eltern-Kind-Beziehung,<br />
verglichen mit <strong>de</strong>r Bru<strong>de</strong>r-Schwester-Beziehung, nichts<br />
Beson<strong>de</strong>res ist. Die Tatsache, daß Eltern Gene an Kin<strong>de</strong>r vererben,<br />
aber Schwestern untereinan<strong>de</strong>r keine Gene austauschen,<br />
ist nicht relevant, da bei<strong>de</strong> Schwestern i<strong>de</strong>ntische Kopien <strong>de</strong>rselben<br />
Gene von <strong>de</strong>nselben Eltern erhalten.<br />
Einige Leute benutzen <strong>de</strong>n Ausdruck Familienselektion<br />
o<strong>de</strong>r Verwandtschaftsselektion, um diese Art <strong>de</strong>r natürlichen<br />
Auslese von <strong>de</strong>r Gruppenselektion (<strong>de</strong>r unterschiedlichen<br />
Überlebensrate in verschie<strong>de</strong>nen Gruppen) und <strong>de</strong>r Individualselektion<br />
(<strong>de</strong>r unterschiedlichen Überlebensdauer von Individuen)<br />
zu unterschei<strong>de</strong>n. Die Familienselektion erklärt <strong>de</strong>n<br />
innerfamiliären Altruismus; je näher die Verwandtschaft, <strong>de</strong>sto<br />
stärker die Auslese. Es ist nichts gegen <strong>de</strong>n Ausdruck einzu<strong>wen</strong><strong>de</strong>n;<br />
doch bedauerlicherweise wird man ihn vielleicht aufgeben<br />
müssen, da er kürzlich g<strong>ro</strong>b mißbraucht wur<strong>de</strong>, was in<br />
<strong>de</strong>n kommen<strong>de</strong>n Jahren vermutlich Unklarheit und Verwirrung<br />
unter <strong>de</strong>n Biologen stiften wird. E. O. Wilson <strong>de</strong>finiert in<br />
seinem ansonsten bewun<strong>de</strong>rnswerten Buch Sociobiology: The<br />
New Synthesis die Familienselektion als einen Son<strong>de</strong>rfall <strong>de</strong>r<br />
Gruppenselektion. Er stellt ein Diagramm auf, aus <strong>de</strong>m <strong>de</strong>ut-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 155<br />
lich hervorgeht, daß er sie zwischen <strong>de</strong>r „Individualselektion“<br />
und <strong>de</strong>r „Gruppenselektion“ im konventionellen Sinne – in<br />
<strong>de</strong>m Sinne also, wie ich <strong>de</strong>n Begriff in Kapitel 1 benutzt habe<br />
– ansie<strong>de</strong>lt. Nun be<strong>de</strong>utet Gruppenselektion – sogar nach Wilsons<br />
eigener Definition – die unterschiedliche Überlebensrate<br />
in Gruppen von Individuen. Zugegeben, in einem gewissen<br />
Sinne kann man sagen, daß eine Familie eine beson<strong>de</strong>re<br />
Art von Gruppe ist. Doch <strong>de</strong>r Kern von Hamiltons Argumentation<br />
ist gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>r, daß die Trennung zwischen Familie<br />
und Nicht-Familie nicht ein<strong>de</strong>utig ist, son<strong>de</strong>rn eine Frage<br />
<strong>de</strong>r mathematischen Wahrscheinlichkeit. Hamiltons Theorie<br />
besagt nicht, daß Tiere sich allen „Familienangehörigen“<br />
gegenüber uneigennützig verhalten und allen an<strong>de</strong>ren Individuen<br />
gegenüber eigennützig. Zwischen Familie und Nicht-<br />
Familie lassen sich keine genauen Grenzen ziehen. Wir brauchen<br />
nicht zu entschei<strong>de</strong>n, ob beispielsweise Vettern zweiten<br />
Gra<strong>de</strong>s als zur Familie gehörig angesehen wer<strong>de</strong>n sollen o<strong>de</strong>r<br />
nicht: Wir erwarten einfach, daß die Wahrscheinlichkeit, Altruismus<br />
zu erfahren, für Vettern zweiten Gra<strong>de</strong>s 1/16 so g<strong>ro</strong>ß ist<br />
wie für Kin<strong>de</strong>r o<strong>de</strong>r Geschwister. Familienselektion ist ganz<br />
entschie<strong>de</strong>n kein Spezialfall <strong>de</strong>r Gruppenselektion. 4 Sie ist eine<br />
beson<strong>de</strong>re Folge <strong>de</strong>r Genselektion.<br />
Wilsons Definition <strong>de</strong>r Familienselektion hat einen sogar<br />
noch schwerwiegen<strong>de</strong>ren Mangel. Sie schließt bewußt die<br />
Nachkommen aus: Diese zählen nicht als Verwandte! 5 Nun<br />
weiß Wilson natürlich sehr genau, daß Kin<strong>de</strong>r mit ihren Eltern<br />
verwandt sind, aber er zieht es vor, die Theorie <strong>de</strong>r Familienselektion<br />
nicht zur Erklärung <strong>de</strong>r selbstlosen Sorge von Eltern<br />
für ihre Kin<strong>de</strong>r heranzuziehen. Selbstverständlich hat er das<br />
Recht, ein Wort zu <strong>de</strong>finieren, wie immer es ihm gefällt, aber<br />
dies ist eine höchst verwirren<strong>de</strong> Definition, und ich hoffe, daß<br />
er sie in späteren Auflagen seines zu Recht einflußreichen<br />
Buches än<strong>de</strong>rn wird. Genetisch gesehen entwickeln sich Brutpflege<br />
und Bru<strong>de</strong>r-Schwester-Altruismus aus genau <strong>de</strong>mselben<br />
Grund: In bei<strong>de</strong>n Fällen besteht eine g<strong>ro</strong>ße Wahrscheinlichkeit,<br />
daß das altruistische Gen im Körper <strong>de</strong>s Nutznießers<br />
vorhan<strong>de</strong>n ist.
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 156<br />
Ich bitte <strong>de</strong>n Leser um Nachsicht dafür, daß ich hier<br />
ein <strong>wen</strong>ig ausfällig gewor<strong>de</strong>n bin, und beeile mich, zu unserem<br />
Hauptthema zurückzukehren. Bisher habe ich etwas<br />
zu stark vereinfacht, und es ist nun an <strong>de</strong>r <strong>Zeit</strong>, einige<br />
Einschränkungen vorzunehmen. Ich habe mit einfachen Worten<br />
von selbstmör<strong>de</strong>rischen Genen für die Lebensrettung einer<br />
bestimmten Anzahl von Verwandten mit genau bekanntem Verwandtschaftsgrad<br />
gesp<strong>ro</strong>chen. Natürlich kann man im wirklichen<br />
Leben nicht erwarten, daß Tiere zählen, wie viele Verwandte<br />
sie gera<strong>de</strong> retten, und ebenso<strong>wen</strong>ig kann man erwarten,<br />
daß sie im Kopf Hamiltons Rechnungen durchführen,<br />
selbst <strong>wen</strong>n sie genau feststellen könnten, wer ihre Geschwister<br />
und Vettern sind. In <strong>de</strong>r Realität müssen sicherer Selbstmord<br />
und „absolutes“ Retten von Leben durch die statistischen<br />
Sterberisiken <strong>de</strong>s Altruisten und <strong>de</strong>r zu retten<strong>de</strong>n Individuen<br />
ersetzt wer<strong>de</strong>n. Selbst bei einem Vetter dritten Gra<strong>de</strong>s mag es<br />
sich lohnen, ihn zu retten, <strong>wen</strong>n das Risiko für mich gering<br />
ist. An<strong>de</strong>rerseits wer<strong>de</strong>n sowohl ich als auch <strong>de</strong>r Verwandte,<br />
<strong>de</strong>n zu retten ich vorhabe, eines Tages sowieso sterben. Je<strong>de</strong>s<br />
Individuum besitzt eine „Lebenserwartung“, die ein Versicherungsstatistiker<br />
mit einer gewissen Irrtumswahrscheinlichkeit<br />
berechnen könnte. Wenn man das Leben eines Verwandten<br />
rettet, <strong>de</strong>r aus Altersgrün<strong>de</strong>n sowieso bald sterben wird, so hat<br />
dies <strong>wen</strong>iger Einfluß auf <strong>de</strong>n zukünftigen Genpool, als <strong>wen</strong>n<br />
man einen ebenso nahen Verwandten rettet, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n größten<br />
Teil seines Lebens noch vor sich hat.<br />
Wir müssen unsere sauberen symmetrischen Berechnungen<br />
<strong>de</strong>s Verwandtschaftsgra<strong>de</strong>s durch verwirren<strong>de</strong> versicherungskalkulatorische<br />
Gewichtungen modifizieren. G<strong>ro</strong>ßeltern<br />
und Enkel haben genetisch gesehen <strong>de</strong>n gleichen Grund, sich<br />
selbstlos zueinan<strong>de</strong>r zu verhalten, da sie 1 /4 ihrer Gene teilen.<br />
Wenn aber die Enkel die größere Lebenserwartung haben, so<br />
verfügen Gene für Selbstlosigkeit von G<strong>ro</strong>ßeltern zu Enkeln<br />
über einen höheren Selektionsvorteil als Gene für Altruismus<br />
von Enkeln gegenüber G<strong>ro</strong>ßeltern. Es ist sehr gut möglich, daß<br />
<strong>de</strong>r Nettonutzen <strong>de</strong>r Hilfe, die man einem jüngeren entfernten<br />
Verwandten gewährt, größer ist als <strong>de</strong>r Nettonutzen <strong>de</strong>r Hil-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 157<br />
feleistung gegenüber einem alten nahen Verwandten. (Nebenbei<br />
gesagt haben G<strong>ro</strong>ßeltern natürlich nicht zwangsläufig eine<br />
kürzere Lebenserwartung als Enkelkin<strong>de</strong>r. In Arten mit einer<br />
hohen Kin<strong>de</strong>rsterblichkeit gilt vielleicht das Gegenteil.)<br />
Um im Bild <strong>de</strong>r Versicherungsstatistik zu bleiben, können<br />
wir uns vorstellen, daß die Individuen eine Lebensversicherung<br />
abschließen. Man kann erwarten, daß ein Individuum<br />
einen bestimmten Anteil seines Vermögens in das Leben<br />
eines an<strong>de</strong>ren Individuums investiert o<strong>de</strong>r für es riskiert. Es<br />
berücksichtigt in seiner Berechnung seinen Verwandtschaftsgrad<br />
zu <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren Individuum sowie die Frage, ob dieses<br />
hinsichtlich <strong>de</strong>r Lebenserwartung im Vergleich zu ihm selbst<br />
ein „gutes Risiko“ ist. Um genau zu sein, sollten wir von<br />
„Rep<strong>ro</strong>duktionserwartung“ sprechen o<strong>de</strong>r, <strong>wen</strong>n wir noch<br />
genauer sein wollen, von <strong>de</strong>r „generellen Erwartung, <strong>de</strong>n<br />
eigenen Genen in Zukunft nützen zu können“. Damit sich<br />
uneigennütziges Verhalten entwickelt, muß das Nettorisiko<br />
für <strong>de</strong>n Altruisten geringer sein als <strong>de</strong>r Nettogewinn für <strong>de</strong>n<br />
Empfänger, multipliziert mit <strong>de</strong>m Verwandtschaftsgrad. Risiken<br />
und Vorteile müssen auf die komplizierte versicherungskalkulatorische<br />
Weise berechnet wer<strong>de</strong>n, die ich kurz umrissen<br />
habe.<br />
Aber was für eine komplizierte Rechnung, die da von einer<br />
armen Überlebensmaschine verlangt wird, vor allem, <strong>wen</strong>n<br />
es schnell gehen muß! 6 Selbst <strong>de</strong>r g<strong>ro</strong>ße mathematisch arbeiten<strong>de</strong><br />
Biologe J.B.S. Haidane bemerkte (in einem Aufsatz aus<br />
<strong>de</strong>m Jahre 1955, in <strong>de</strong>m er Hamilton vorwegnahm und die Verbreitung<br />
eines Gens für die Rettung naher Verwandter vor <strong>de</strong>m<br />
Ertrinken postulierte): „ ... bei<strong>de</strong> Male, als ich möglicherweise<br />
ertrinken<strong>de</strong> Personen (mit einem verschwin<strong>de</strong>nd geringen<br />
Risiko für mich selbst) aus <strong>de</strong>m Wasser zog, hatte ich keine<br />
<strong>Zeit</strong> für solche Berechnungen.“ Zum Glück ist es jedoch,<br />
wie Haidane sehr wohl wußte, nicht nötig anzunehmen, daß<br />
Überlebensmaschinen diese Dinge bewußt im Kopf durchrechnen.<br />
So wie wir uns vielleicht eines Rechenschiebers bedienen,<br />
ohne uns <strong>de</strong>ssen bewußt zu sein, daß wir tatsächlich Logarithmen<br />
benutzen, kann ein Tier vorp<strong>ro</strong>grammiert sein, sich so
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 158<br />
zu benehmen, als ob es eine komplizierte Rechnung angestellt<br />
hätte.<br />
Sich dies vorzustellen ist nicht so schwer, wie es scheint.<br />
Wenn ein Mensch einen Ball hoch in die Luft wirft und wie<strong>de</strong>r<br />
auffängt, verhält er sich so, als hätte er eine Reihe von Differentialgleichungen<br />
gelöst, um die Flugbahn <strong>de</strong>s Balles vorauszusagen.<br />
Er mag gar nicht wissen o<strong>de</strong>r sich dafür interessieren,<br />
was eine Differentialgleichung ist, aber das beeinträchtigt<br />
seine Geschicklichkeit beim Ballspiel nicht im geringsten. Auf<br />
einer unbewußten Ebene geschieht etwas, das funktionell <strong>de</strong>n<br />
mathematischen Berechnungen entspricht. In ähnlicher Weise<br />
tut ein Mensch, <strong>de</strong>r eine Entscheidung trifft, nach<strong>de</strong>m er das<br />
Für und Wi<strong>de</strong>r und alle <strong>de</strong>nkbaren Konsequenzen dieser Entscheidung<br />
gegeneinan<strong>de</strong>r abgewogen hat, etwas, das funktionell<br />
einer umfangreichen „gewichteten Summenkalkulation“<br />
entspricht, wie sie vielleicht ein Computer durchführen<br />
wür<strong>de</strong>.<br />
Wenn wir einen Computer so zu p<strong>ro</strong>grammieren hätten,<br />
daß er ein Mo<strong>de</strong>ll einer Überlebensmaschine simuliert, die<br />
Entscheidungen darüber trifft, ob sie sich altruistisch verhalten<br />
soll o<strong>de</strong>r nicht, wür<strong>de</strong>n wir wahrscheinlich ungefähr<br />
folgen<strong>de</strong>rmaßen vorgehen. Wir wür<strong>de</strong>n eine Liste all <strong>de</strong>r alternativen<br />
Dinge, die das Tier tun könnte, aufstellen. Dann<br />
wür<strong>de</strong>n wir für je<strong>de</strong>s dieser alternativen Verhaltensmuster<br />
eine gewichtete Summenkalkulation p<strong>ro</strong>grammieren. Alle Vorteile<br />
bekommen ein Pluszeichen, alle Risiken ein Minuszeichen;<br />
sowohl Vorteile als auch Risiken wer<strong>de</strong>n vor <strong>de</strong>m Addieren<br />
gewichtet, in<strong>de</strong>m sie mit <strong>de</strong>m entsprechen<strong>de</strong>n In<strong>de</strong>x <strong>de</strong>s<br />
Verwandtschaftsgra<strong>de</strong>s multipliziert wer<strong>de</strong>n. Der Einfachheit<br />
halber können wir zunächst an<strong>de</strong>re Gewichtungen, beispielsweise<br />
für Alter und Gesundheit, vernachlässigen. Da <strong>de</strong>r „Verwandtschaftsgrad“<br />
eines Individuums mit sich selbst 1 ist (weil<br />
es – selbstverständlich – 100 P<strong>ro</strong>zent seiner eigenen Gene<br />
besitzt), wer<strong>de</strong>n Risiken und Vorteile für es selbst überhaupt<br />
nicht im Wert herabgesetzt, son<strong>de</strong>rn erhalten in <strong>de</strong>r Rechnung<br />
ihr volles Gewicht. Die Gesamtsumme für je<strong>de</strong>s <strong>de</strong>r alternativen<br />
Verhaltensmuster sieht folgen<strong>de</strong>rmaßen aus: Nettonut-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 159<br />
zen <strong>de</strong>s Verhaltensmusters = eigener Vorteil – eigenes Risiko<br />
+1/2 Vorteil für Bru<strong>de</strong>r -1/2 Risiko für Bru<strong>de</strong>r +1/2 Vorteil für<br />
an<strong>de</strong>ren Bru<strong>de</strong>r -1/2 Risiko für an<strong>de</strong>ren Bru<strong>de</strong>r +1/8 Vorteil für<br />
Vetter ersten Gra<strong>de</strong>s -1/8 Risiko für Vetter ersten Gra<strong>de</strong>s +1/2<br />
Vorteil für Kind -1/2 Risiko für Kind und so weiter.<br />
Das Ergebnis <strong>de</strong>r Addition ist eine Zahl, die als Nettovorteil<br />
bezeichnet wird. Sodann berechnet das Computermo<strong>de</strong>ll unseres<br />
Tieres die entsprechen<strong>de</strong> Summe für je<strong>de</strong>s alternative Verhaltensmuster<br />
seines Repertoires. Am En<strong>de</strong> beschließt es, dasjenige<br />
Verhaltensmuster zu realisieren, das <strong>de</strong>n größten Nettovorteil<br />
aufweist. Selbst <strong>wen</strong>n alle Berechnungen negativ ausfallen,<br />
sollte es immer noch die Handlung mit <strong>de</strong>r höchsten<br />
Punktzahl, also das kleinste Übel, auswählen. Be<strong>de</strong>nken wir,<br />
daß je<strong>de</strong> wirklich ausgeführte Handlung <strong>de</strong>n Verbrauch von<br />
Energie und <strong>Zeit</strong> be<strong>de</strong>utet, die bei<strong>de</strong> auf an<strong>de</strong>re Dinge hätten<br />
ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n können. Wenn sich herausstellt, daß Nichtstun<br />
das „Verhalten“ mit <strong>de</strong>m höchsten Nettonutzen ist, wird<br />
das Tiermo<strong>de</strong>ll nichts tun.<br />
Hier nun ein sehr stark vereinfachtes Beispiel, diesmal in<br />
Form eines Selbstgesprächs ausgedrückt statt in Form einer<br />
Computersimulation. Ich bin ein Tier, das eine Stelle mit acht<br />
Pilzen gefun<strong>de</strong>n hat. Nach<strong>de</strong>m ich ihren Nährwert zur Kenntnis<br />
genommen und etwas für das geringe Risiko abgezogen<br />
habe, daß sie giftig sein können, wür<strong>de</strong> ich sagen, daß je<strong>de</strong>r von<br />
ihnen +6 Einheiten wert ist (die Einheiten sind willkürliche<br />
Prämien wie im vorigen Kapitel). Die Pilze sind so g<strong>ro</strong>ß, daß<br />
ich nur drei von ihnen essen könnte. Soll ich jemand an<strong>de</strong>rem<br />
meinen Fund mitteilen, in<strong>de</strong>m ich einen „Futterruf“ ausstoße?<br />
Wer ist in Hörweite? Mein Bru<strong>de</strong>r B (sein Verwandtschaftsgrad<br />
zu mir beträgt 1/2), mein Vetter C (Verwandtschaftsgrad<br />
1/8) und D (keine beson<strong>de</strong>re Beziehung: Sein Verwandtschaftsgrad<br />
zu mir ist eine <strong>de</strong>rart kleine Zahl, daß sie für praktische<br />
Zwecke als gleich null behan<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n kann). Der Nettovorteil<br />
für mich, <strong>wen</strong>n ich meinen Fund verschweige, ist +6 für<br />
je<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r drei Pilze, die ich esse, das heißt insgesamt +18. Mein<br />
Nettovorteil, <strong>wen</strong>n ich <strong>de</strong>n Futterruf ausstoße, verlangt etwas<br />
Rechenarbeit. Die acht Pilze wer<strong>de</strong>n zu gleichen Teilen unter
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 160<br />
uns vieren aufgeteilt. Die Prämie für mich aus <strong>de</strong>n zweien, die<br />
ich selbst esse, beträgt +6 Einheiten p<strong>ro</strong> Pilz, das heißt insgesamt<br />
+ 12. Doch wegen unserer gemeinsamen Gene bekomme<br />
ich auch eine Prämie, <strong>wen</strong>n mein Bru<strong>de</strong>r und mein Vetter<br />
je<strong>de</strong>r ihre zwei Pilze essen. Die tatsächliche Punktzahl beläuft<br />
sich auf (1 x 12) + (1/2 x 12)+ (1/8 x 12) + (0 x 12) = +19½.<br />
Der entsprechen<strong>de</strong> Nettovorteil für das egoistische Verhalten<br />
war +18. Die Differenz ist gering, aber nichts<strong>de</strong>sto<strong>wen</strong>iger ist<br />
das Urteil ein<strong>de</strong>utig: Ich sollte <strong>de</strong>n Futterruf ausstoßen; mein<br />
Altruismus wür<strong>de</strong> in diesem Fall meinen egoistischen Genen<br />
zugute kommen.<br />
Ich habe vereinfachend angenommen, daß das einzelne Tier<br />
sich ausrechnet, was für seine Gene am besten ist. In Wirklichkeit<br />
füllt sich <strong>de</strong>r Genpool mit Genen, welche die Körper veranlassen,<br />
sich so zu verhalten, als hätten sie <strong>de</strong>rartige Rechnungen<br />
angestellt.<br />
In je<strong>de</strong>m Fall ist die obige Berechnung nur eine sehr<br />
vorläufige erste Annäherung an das, was sie im I<strong>de</strong>alfall sein<br />
sollte. Sie läßt viele Dinge unberücksichtigt, einschließlich <strong>de</strong>s<br />
Alters <strong>de</strong>r bet<strong>ro</strong>ffenen Individuen. Außer<strong>de</strong>m ist, <strong>wen</strong>n ich<br />
gera<strong>de</strong> eine gute Mahlzeit verzehrt habe und nur noch einen<br />
Pilz fressen kann, <strong>de</strong>r Nettonutzen <strong>de</strong>s Futterrufes größer,<br />
als <strong>wen</strong>n ich ausgehungert bin. In <strong>de</strong>r vollkommensten aller<br />
möglichen Welten ließe sich die Berechnung ad infinitum verfeinern.<br />
Aber das reale Leben wird nicht in <strong>de</strong>r vollkommensten<br />
aller möglichen Welten gelebt. Wir können nicht erwarten, daß<br />
Tiere in <strong>de</strong>r Realität je<strong>de</strong> kleinste Einzelheit berücksichtigen,<br />
um zu einer optimalen Entscheidung zu gelangen. Wir wer<strong>de</strong>n<br />
mit Hilfe von Beobachtungen und Freilan<strong>de</strong>xperimenten herausfin<strong>de</strong>n<br />
müssen, wie nahe die echten Tiere einer i<strong>de</strong>alen<br />
Kosten-Nutzen-Analyse kommen.<br />
Um sicherzugehen, daß wir uns nicht zu sehr von subjektiven<br />
Beispielen haben mitreißen lassen, sollten wir kurz auf die<br />
Ebene <strong>de</strong>s Gens zurückkehren. Leben<strong>de</strong> Körper sind Maschinen,<br />
die von überleben<strong>de</strong>n Genen p<strong>ro</strong>grammiert wor<strong>de</strong>n sind.<br />
Diese Gene haben unter Bedingungen überlebt, die im Durchschnitt<br />
für die Umwelt <strong>de</strong>r Spezies in <strong>de</strong>r Vergangenheit kenn-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 161<br />
zeichnend waren. Die „Schätzungen“ von Kosten und Nutzen<br />
beruhen daher auf vorangegangenen „Erfahrungen“, genau<br />
wie bei menschlichen Entscheidungen. Erfahrung in diesem<br />
Fall hat jedoch die beson<strong>de</strong>re Be<strong>de</strong>utung von Generfahrung<br />
o<strong>de</strong>r, genauer, von <strong>de</strong>n früheren Bedingungen, unter <strong>de</strong>nen die<br />
Gene überlebt haben. (Da die Gene die Überlebensmaschine<br />
auch mit <strong>de</strong>r Fähigkeit zu lernen ausstatten, könnte man sagen,<br />
daß einige <strong>de</strong>r Schätzungen über Kosten und Nutzen auch<br />
auf <strong>de</strong>r Grundlage individueller Erfahrung get<strong>ro</strong>ffen wer<strong>de</strong>n.)<br />
Solange die Bedingungen sich nicht allzu drastisch än<strong>de</strong>rn,<br />
wer<strong>de</strong>n die Schätzungen gut sein und die Überlebensmaschinen<br />
im Durchschnitt die richtigen Entscheidungen treffen. Wenn<br />
die Bedingungen sich grundlegend än<strong>de</strong>rn, wer<strong>de</strong>n die<br />
Überlebensmaschinen dazu tendieren, falsche Entscheidungen<br />
zu treffen, und ihre Gene wer<strong>de</strong>n dafür bezahlen müssen.<br />
Gera<strong>de</strong>so sind menschliche Entscheidungen, die auf überholter<br />
Information beruhen, gewöhnlich falsch.<br />
Auch die Einschätzung <strong>de</strong>s Verwandtschaftsgra<strong>de</strong>s unterliegt<br />
Irrtümern und Unwägbarkeiten. Bei unseren zu stark vereinfachten<br />
Berechnungen haben wir bisher so getan, als ob die<br />
Überlebensmaschinen wüßten, wer mit ihnen verwandt ist und<br />
wie nah. Im wirklichen Leben ist solche Gewißheit gelegentlich<br />
möglich, häufiger aber läßt sich <strong>de</strong>r Verwandtschaftsgrad<br />
nur als Durchschnittswert schätzen. Nehmen wir zum Beispiel<br />
an, A und B könnten ebensogut Halbgeschwister wie leibliche<br />
Geschwister sein. Ihr Verwandtschaftsgrad beträgt entwe<strong>de</strong>r<br />
1/4 o<strong>de</strong>r 1/2; weil wir aber nicht wissen, ob sie Halbgeschwister<br />
o<strong>de</strong>r leibliche Geschwister sind, ist die tatsächlich an<strong>wen</strong>dbare<br />
Zahl <strong>de</strong>r Durchschnittswert 3/8. Wenn sie mit Sicherheit dieselbe<br />
Mutter haben, die Wahrscheinlichkeit, daß sie <strong>de</strong>nselben<br />
Vater haben, aber nur eins zu zehn beträgt, dann ist es zu 90<br />
P<strong>ro</strong>zent sicher, daß sie Halbgeschwister sind, und zu zehn P<strong>ro</strong>zent<br />
sicher, daß sie leibliche Geschwister sind, und <strong>de</strong>r effektive<br />
Verwandtschaftsgrad ist 1/10 x 1/2+9/10 x 1/4=0,275.<br />
Doch <strong>wen</strong>n wir sagen, „es“ ist zu 90 P<strong>ro</strong>zent sicher, auf welches<br />
„es“ beziehen wir uns dann? Meinen wir, daß ein Zoologe<br />
nach einer langen Feldstudie zu 90 P<strong>ro</strong>zent sicher ist, o<strong>de</strong>r
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 162<br />
meinen wir, daß die Tiere zu 90 P<strong>ro</strong>zent sicher sind? Mit ein<br />
<strong>wen</strong>ig Glück können bei<strong>de</strong> Möglichkeiten auf fast dasselbe hinauslaufen.<br />
Um das zu erkennen, müssen wir überlegen, wie<br />
die Tiere es tatsächlich bewerkstelligen könnten abzuschätzen,<br />
welches ihre nahen Verwandten sind. 7<br />
Wir wissen, wer unsere Verwandten sind, weil man es<br />
uns sagt, weil wir ihnen Namen geben, weil wir formale<br />
Eheschließungen haben und weil wir schriftliche Unterlagen<br />
und ein gutes Gedächtnis besitzen. Viele Sozialanth<strong>ro</strong>pologen<br />
beschäftigen sich mit <strong>de</strong>r „Verwandtschaft“ in <strong>de</strong>n Gesellschaften,<br />
die sie untersuchen. Sie meinen keine wirkliche genetische<br />
Verwandtschaft, son<strong>de</strong>rn subjektive und kulturelle Vorstellungen<br />
von Verwandtschaft. Die menschlichen Bräuche<br />
und Stammesrituale messen <strong>de</strong>r Verwandtschaft gewöhnlich<br />
g<strong>ro</strong>ßes Gewicht bei, die Ahnenverehrung ist weit verbreitet,<br />
Verpflichtungen und Loyalität gegenüber <strong>de</strong>r Familie beherrschen<br />
einen G<strong>ro</strong>ßteil <strong>de</strong>s Lebens. Blutrache und Stammesfeh<strong>de</strong>n<br />
sind im Sinne <strong>de</strong>r Hamiltonschen genetischen Theorie<br />
leicht zu erklären. Inzesttabus zeugen von <strong>de</strong>m starken<br />
Verwandtschaftsbewußtsein <strong>de</strong>s Menschen, obwohl <strong>de</strong>r genetische<br />
Vorteil eines Inzesttabus nichts mit Altruismus zu tun hat;<br />
er hängt wahrscheinlich mit <strong>de</strong>n schädlichen Einflüssen rezessiver<br />
Gene zusammen, die bei Inzucht auftreten. (Aus irgen<strong>de</strong>inem<br />
Grun<strong>de</strong> mögen viele Anth<strong>ro</strong>pologen diese Erklärung<br />
nicht.) 8<br />
Woher könnten freileben<strong>de</strong> Tiere „wissen“, wer ihre Verwandten<br />
sind, mit an<strong>de</strong>ren Worten: Welche Verhaltensregeln<br />
könnten sie befolgen, um <strong>de</strong>n Eindruck zu erwecken, sie seien<br />
über die Verwandtschaftsverhältnisse im Bil<strong>de</strong>? Die Regel „Sei<br />
nett zu <strong>de</strong>inen Verwandten“ setzt die Frage voraus, wie Verwandte<br />
in <strong>de</strong>r Praxis zu erkennen sind. Die Tiere müssen<br />
von ihren Genen eine einfache Richtschnur zum Han<strong>de</strong>ln<br />
bekommen, eine Richtschnur, die keine allwissen<strong>de</strong> Erkenntnis<br />
<strong>de</strong>r eigentlichen Ziele dieses Han<strong>de</strong>lns erfor<strong>de</strong>rt, son<strong>de</strong>rn<br />
eine Regel, die <strong>de</strong>ssenungeachtet funktioniert, zumin<strong>de</strong>st<br />
unter durchschnittlichen Bedingungen. Wir Menschen sind<br />
mit Regeln vertraut, und sie haben so viel Macht über uns, daß
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 163<br />
wir – <strong>wen</strong>n wir engstirnig sind – einer Regel als solcher gehorchen,<br />
selbst <strong>wen</strong>n wir sehr wohl erkennen können, daß dies<br />
we<strong>de</strong>r für uns noch für irgend<strong>wen</strong> sonst gut ist. Beispielsweise<br />
wür<strong>de</strong>n viele orthodoxe Ju<strong>de</strong>n und Moslems eher sterben als<br />
gegen das Verbot, Schweinefleisch zu essen, zu verstoßen.<br />
Welche einfachen praktischen Regeln könnten Tiere befolgen<br />
– Regeln, die unter normalen Bedingungen die indirekte Wirkung<br />
hätten, ihren nahen Verwandten zu nutzen?<br />
Wenn Tiere eine Neigung zeigten, sich gegenüber Individuen,<br />
die ihnen äußerlich ähnlich sind, selbstlos zu verhalten,<br />
so könnten sie indirekt ihren Verwandten etwas Gutes tun.<br />
Dabei hinge vieles von <strong>de</strong>n Eigenheiten <strong>de</strong>r jeweiligen Art ab.<br />
Eine <strong>de</strong>rartige Regel wür<strong>de</strong> in je<strong>de</strong>m Fall nur im statistischen<br />
Sinne zu „richtigen“ Entscheidungen führen. Wenn die Bedingungen<br />
sich än<strong>de</strong>rten, <strong>wen</strong>n beispielsweise eine Art in viel<br />
größeren Gruppen zu leben begänne, könnte die Einhaltung<br />
<strong>de</strong>r Regel ein Fehler sein. Vermutlich lassen sich Rassenvorurteile<br />
als eine irrationale Verallgemeinerung einer Ten<strong>de</strong>nz <strong>de</strong>r<br />
Familienselektion interpretieren, die dahingeht, sich mit physisch<br />
ähnlichen Individuen zu i<strong>de</strong>ntifizieren und an<strong>de</strong>rs aussehen<strong>de</strong>n<br />
Individuen gegenüber feindselig zu verhalten.<br />
Bei einer Art, <strong>de</strong>ren Angehörige relativ seßhaft sind o<strong>de</strong>r<br />
sich in kleinen Gruppen bewegen, dürfte die Wahrscheinlichkeit<br />
g<strong>ro</strong>ß sein, daß je<strong>de</strong>s Individuum, <strong>de</strong>m man zufällig über<br />
<strong>de</strong>n Weg läuft, ein ziemlich naher Verwandter ist. In diesem<br />
Fall könnte die Regel „Sei nett zu je<strong>de</strong>m Artgenossen, <strong>de</strong>n du<br />
triffst“ einen positiven Überlebenswert besitzen in <strong>de</strong>m Sinne,<br />
daß ein Gen, welches seine Träger zur Befolgung <strong>de</strong>r Regel<br />
anhält, im Genpool zahlreicher wer<strong>de</strong>n könnte. Dies ist vielleicht<br />
<strong>de</strong>r Grund dafür, daß so häufig von altruistischem Verhalten<br />
in Affenhor<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r Walschulen berichtet wird. Wale und<br />
Delphine ertrinken, <strong>wen</strong>n sie keine Luft atmen können. Man<br />
hat beobachtet, wie Walbabys und verletzte Tiere, die nicht<br />
an die Oberfläche schwimmen können, von <strong>de</strong>n Gefährten im<br />
Ru<strong>de</strong>l gerettet und oben gehalten wer<strong>de</strong>n. Es ist nicht bekannt,<br />
ob Wale eine Möglichkeit haben zu erkennen, wer ihre nahen<br />
Verwandten sind, aber es ist <strong>de</strong>nkbar, daß dies keine Rolle
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 164<br />
spielt. Vielleicht ist die Wahrscheinlichkeit, daß ein beliebiger<br />
Angehöriger <strong>de</strong>r Schule ein Verwandter ist, so hoch, daß die<br />
Selbstlosigkeit sich lohnt. Übrigens gibt es zumin<strong>de</strong>st einen<br />
wohlverbürgten Bericht darüber, wie ein Mensch, <strong>de</strong>r beim<br />
Schwimmen zu ertrinken d<strong>ro</strong>hte, von einem wil<strong>de</strong>n Delphin<br />
gerettet wur<strong>de</strong>. Man könnte dies als eine Fehlleistung <strong>de</strong>r<br />
Regel ansehen, ertrinken<strong>de</strong> Gefährten zu retten. Die Regel<br />
könnte einen ertrinken<strong>de</strong>n Angehörigen <strong>de</strong>r Schule etwa<br />
folgen<strong>de</strong>rmaßen <strong>de</strong>finieren: „ein langgestrecktes Ding, das in<br />
<strong>de</strong>r Nähe <strong>de</strong>r Oberfläche um sich schlägt und keine Luft<br />
bekommt“.<br />
Von erwachsenen Pavianmännern ist berichtet wor<strong>de</strong>n, daß<br />
sie ihr Leben riskieren, um <strong>de</strong>n Rest <strong>de</strong>r Gruppe gegen Räuber,<br />
beispielsweise Leopar<strong>de</strong>n, zu verteidigen. Es ist ziemlich wahrscheinlich,<br />
daß ein durchschnittliches erwachsenes Männchen<br />
zahlreiche Gene mit an<strong>de</strong>ren Gruppenmitglie<strong>de</strong>rn teilt. Ein<br />
Gen, das sinngemäß sagt: „Körper, falls du ein erwachsenes<br />
Männchen bist, so verteidige die Gruppe gegen Leopar<strong>de</strong>n“,<br />
könnte im Genpool zahlreicher wer<strong>de</strong>n. Bevor wir dieses oft<br />
zitierte Beispiel verlassen, sollten wir fairerweise hinzufügen,<br />
daß zumin<strong>de</strong>st eine anerkannte Autorität ganz an<strong>de</strong>re Tatsachen<br />
berichtet hat. Ihren Berichten zufolge sind die erwachsenen<br />
Männchen die ersten, die am Horizont verschwin<strong>de</strong>n,<br />
sobald ein Leopard auftaucht.<br />
Wenn Hühnerküken auf Nahrungssuche gehen, bil<strong>de</strong>n sie<br />
mit ihren Geschwistern eine Schar, die <strong>de</strong>r Henne folgt.<br />
Sie verfügen im wesentlichen über zwei Rufe: <strong>de</strong>n bereits<br />
erwähnten durchdringen<strong>de</strong>n Piepslaut sowie ein kurzes,<br />
melodiöses Gezwitscher, das sie beim Fressen von sich geben.<br />
Die Piepslaute, welche die Hilfe <strong>de</strong>r Mutter herbeiholen sollen,<br />
wer<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Küken nicht zur Kenntnis genommen.<br />
Die Zwitscherlaute jedoch locken an<strong>de</strong>re Küken an. Das<br />
be<strong>de</strong>utet: Wenn ein Küken Nahrung fin<strong>de</strong>t, lockt sein Zwitschern<br />
auch an<strong>de</strong>re Küken zu <strong>de</strong>r Nahrungsquelle, es ist also<br />
ein „Futterruf“ im Sinne <strong>de</strong>s früheren hypothetischen Beispiels.<br />
Wie in jenem Fall läßt sich auch hier <strong>de</strong>r augenscheinliche<br />
Altruismus <strong>de</strong>r Küken leicht mit <strong>de</strong>r Verwandtschaftsaus-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 165<br />
lese erklären. Da in <strong>de</strong>r Natur die Küken alle leibliche Brü<strong>de</strong>r<br />
und Schwestern sind, wür<strong>de</strong> ein Gen für das Ausstoßen <strong>de</strong>s<br />
Futtergezwitschers sich ausbreiten, vorausgesetzt die Kosten<br />
für <strong>de</strong>n Zwitschern<strong>de</strong>n betragen <strong>wen</strong>iger als die Hälfte <strong>de</strong>s<br />
Nettovorteils für die an<strong>de</strong>ren Küken. Da <strong>de</strong>r Vorteil unter die<br />
ganze Brut aufgeteilt wird, die gewöhnlich aus mehr als zwei<br />
Küken besteht, kann man sich <strong>de</strong>nken, daß die Bedingung<br />
erfüllt ist. Unter <strong>de</strong>n Bedingungen <strong>de</strong>r Haustierhaltung o<strong>de</strong>r<br />
auf Hühnerfarmen, wo Hennen frem<strong>de</strong> Eier, sogar Truthahno<strong>de</strong>r<br />
Enteneier, untergeschoben wer<strong>de</strong>n, versagt die Regel<br />
natürlich. Aber man kann we<strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r Henne noch von ihren<br />
Küken erwarten, daß sie dies erkennen. Ihr Verhalten hat sich<br />
unter <strong>de</strong>n üblicherweise in <strong>de</strong>r Natur vorherrschen<strong>de</strong>n Bedingungen<br />
herausgebil<strong>de</strong>t, und dort fin<strong>de</strong>t man gewöhnlich keine<br />
Frem<strong>de</strong>n in seinem Nest.<br />
Gelegentlich kommen Fehler dieser Art jedoch auch bei freileben<strong>de</strong>n<br />
Tieren vor. Bei Arten, die in Ru<strong>de</strong>ln o<strong>de</strong>r Her<strong>de</strong>n<br />
leben, kann ein verwaistes Jungtier von einem frem<strong>de</strong>n Weibchen<br />
angenommen wer<strong>de</strong>n, meist von einem, das sein eigenes<br />
Junges verloren hat. Affenforscher benutzen gelegentlich das<br />
Wort „Tante“ für ein adoptieren<strong>de</strong>s Weibchen. In <strong>de</strong>n meisten<br />
Fällen liegen aber keinerlei Anzeichen dafür vor, daß es wirklich<br />
eine Tante o<strong>de</strong>r überhaupt eine Verwandte ist. Wenn<br />
die Affenforscher so genbewußt wären, wie sie sein könnten,<br />
wür<strong>de</strong>n sie ein wichtiges Wort wie „Tante“ nicht <strong>de</strong>rart unkritisch<br />
benutzen. In <strong>de</strong>r Mehrzahl <strong>de</strong>r Fälle sollten wir die Adoption,<br />
so rührend sie auch zu sein scheint, als Fehlan<strong>wen</strong>dung<br />
einer eingebauten Regel betrachten. Das e<strong>de</strong>lmütige Weibchen<br />
tut seinen eigenen Genen keinen Gefallen damit, daß<br />
es sich um das verwaiste Junge kümmert. Es versch<strong>wen</strong><strong>de</strong>t<br />
<strong>Zeit</strong> und Energie, die es in das Leben seiner eigenen Verwandten,<br />
insbeson<strong>de</strong>re zukünftiger eigener Nachkommen, investieren<br />
könnte. Vermutlich kommt <strong>de</strong>r Fehler zu selten vor, als<br />
daß sich die natürliche Auslese „die Mühe gemacht“ hätte,<br />
die Regel zu än<strong>de</strong>rn, in<strong>de</strong>m sie <strong>de</strong>n mütterlichen Instinkt<br />
kritischer macht. In zahlreichen Fällen kommt es übrigens<br />
nicht zur Adoption, und das verwaiste Junge ist <strong>de</strong>m Tod aus-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 166<br />
geliefert. Wir kennen ein Beispiel für eine Fehlleistung, das<br />
so extrem ist, daß <strong>de</strong>r Leser es vielleicht vorziehen wird, es<br />
überhaupt nicht als Fehler, son<strong>de</strong>rn als Beweis gegen die Theorie<br />
<strong>de</strong>s egoistischen Gens anzusehen. Ich meine <strong>de</strong>n Fall trauern<strong>de</strong>r<br />
Affenmütter, die dabei beobachtet wor<strong>de</strong>n sind, wie sie<br />
einem an<strong>de</strong>ren Weibchen ein Baby stehlen und sich seiner<br />
annehmen. Ich halte dies für einen doppelten Fehler, da die<br />
Pflegemutter nicht nur ihre eigene <strong>Zeit</strong> versch<strong>wen</strong><strong>de</strong>t, son<strong>de</strong>rn<br />
zugleich ein rivalisieren<strong>de</strong>s Weibchen <strong>de</strong>r Last <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>raufzucht<br />
enthebt und es in die Lage versetzt, schneller ein<br />
weiteres Kind zu bekommen. Dies scheint mir ein entschei<strong>de</strong>nd<br />
wichtiges Beispiel zu sein, das eine gründliche Erforschung<br />
verdient. Wir müssen wissen, wie häufig dieses Verhalten<br />
ist, welches <strong>de</strong>r wahrscheinliche durchschnittliche Verwandtschaftsgrad<br />
zwischen Pflegemutter und Jungem ist und<br />
wie sich die richtige Mutter <strong>de</strong>s Jungtieres verhält – schließlich<br />
ist es für sie ein Vorteil, daß ihr Kind adoptiert wird; versuchen<br />
Mütter absichtlich, unerfahrene junge Weibchen zur Adoption<br />
ihrer Kin<strong>de</strong>r zu verleiten? (Es ist auch die Vermutung geäußert<br />
wor<strong>de</strong>n, Pflegemütter könnten vom Kidnapping insofern p<strong>ro</strong>fitieren,<br />
als sie wertvolle Erfahrungen in <strong>de</strong>r Kunst <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>rpflege<br />
erwerben.)<br />
Ein Beispiel für eine absichtlich herbeigeführte Fehlleistung<br />
<strong>de</strong>s Mutterinstinkts liefern die Kuckucke und an<strong>de</strong>ren „Brutparasiten“<br />
– Vögel, die ihre Eier in die Nester an<strong>de</strong>rer Vögel<br />
legen. Sie nutzen die <strong>de</strong>n Vogeleltern eingepflanzte Anweisung<br />
aus: „Sei freundlich zu je<strong>de</strong>m kleinen Vogel, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>m von<br />
dir gebauten Nest sitzt.“ Kuckucke ausgenommen, hat diese<br />
Regel normalerweise <strong>de</strong>n gewünschten Effekt, <strong>de</strong>n Altruismus<br />
auf die unmittelbare Familie zu beschränken, weil die Nester<br />
nun einmal voneinan<strong>de</strong>r isoliert sind und es kaum an<strong>de</strong>rs sein<br />
kann, als daß <strong>de</strong>r Inhalt <strong>de</strong>s eigenen Nestes die eigenen Küken<br />
sind. Erwachsene Silbermö<strong>wen</strong> erkennen ihre eigenen Eier<br />
nicht und brüten ganz zufrie<strong>de</strong>n auf <strong>de</strong>n Eiern an<strong>de</strong>rer Mö<strong>wen</strong><br />
und sogar auf g<strong>ro</strong>ben hölzernen Attrappen, die man ihnen<br />
ersatzweise ins Nest legt. In <strong>de</strong>r Natur ist das Erkennen ihrer<br />
Eier für Mö<strong>wen</strong> nicht wichtig, weil die Eier nicht weit genug
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 167<br />
weg<strong>ro</strong>llen, um in die Nähe eines ein paar Meter entfernten<br />
Nachbarnestes zu geraten. Aber ihre eigenen Küken erkennen<br />
Mö<strong>wen</strong> sehr wohl: Küken wan<strong>de</strong>rn – im Gegensatz zu Eiern<br />
– und können leicht in die Nähe einer benachbarten erwachsenen<br />
Möwe geraten, häufig mit fatalem Ergebnis, wie wir im<br />
ersten Kapitel gesehen haben.<br />
T<strong>ro</strong>ttellummen dagegen erkennen ihre Eier an <strong>de</strong>r gesprenkelten<br />
Zeichnung und bebrüten gezielt nur diese. Der Grund<br />
dafür ist vermutlich, daß sie auf flachen Felsen nisten, wo die<br />
Gefahr besteht, daß die Eier herum<strong>ro</strong>llen und durcheinan<strong>de</strong>rgeraten.<br />
Nun könnte man fragen, warum sie sich die Mühe<br />
machen, zu unterschei<strong>de</strong>n und nur auf ihren eigenen Eiern zu<br />
brüten? Sicherlich wür<strong>de</strong> es, <strong>wen</strong>n je<strong>de</strong>s T<strong>ro</strong>ttellummenweibchen<br />
dafür sorgen wür<strong>de</strong>, daß es auf einem Ei (gleichgültig<br />
wessen) sitzt, keine Rolle spielen, ob je<strong>de</strong> einzelne Mutter auf<br />
ihrem eigenen o<strong>de</strong>r einem frem<strong>de</strong>n Ei säße. Dies ist das Argument<br />
eines Vertreters <strong>de</strong>r Gruppenauslese. Überlegen wir nun<br />
einmal, was geschähe, <strong>wen</strong>n sich ein solcher Gruppen-Babysitterkreis<br />
tatsächlich herausbil<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>. Die durchschnittliche<br />
Gelegegröße bei T<strong>ro</strong>ttellummen ist eins. Das be<strong>de</strong>utet,<br />
<strong>wen</strong>n <strong>de</strong>r wechselseitige Babysitterkreis erfolgreich funktionieren<br />
soll, müßte je<strong>de</strong>s erwachsene T<strong>ro</strong>ttellummenweibchen<br />
im Durchschnitt ein Ei ausbrüten. Stellen wir uns nun vor,<br />
ein Weibchen schwin<strong>de</strong>lte und weigerte sich zu brüten. Statt<br />
seine <strong>Zeit</strong> mit Brüten zu versch<strong>wen</strong><strong>de</strong>n, könnte es sie dazu<br />
benutzen, mehr Eier zu legen. Und das Schöne an <strong>de</strong>m System<br />
ist, daß die an<strong>de</strong>ren, selbstloseren Erwachsenen sich an seiner<br />
Stelle dieser Eier annehmen wür<strong>de</strong>n. Sie wür<strong>de</strong>n getreu <strong>de</strong>r<br />
Regel verfahren: „Wenn du ein vereinzeltes Ei in <strong>de</strong>r Nähe<br />
<strong>de</strong>ines Nestes siehst, so hol es herein und brüte es aus.“ So<br />
wür<strong>de</strong> das Gen für <strong>de</strong>n Betrug an <strong>de</strong>m System sich in <strong>de</strong>r<br />
gesamten Population verbreiten, und <strong>de</strong>r schöne Babysitterkreis<br />
wür<strong>de</strong> zusammenbrechen.<br />
„Gut und schön“, könnte man sagen, „was aber, <strong>wen</strong>n die<br />
ehrlichen Vögel zurückschlügen, in<strong>de</strong>m sie sich weigerten, sich<br />
erpressen zu lassen, und sich unbeirrbar entschlössen, auf<br />
einem und nur einem Ei zu brüten ? Das dürfte die Betrüger
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 168<br />
vernichten, <strong>de</strong>nn sie wür<strong>de</strong>n sehen, wie ihre Eier auf <strong>de</strong>n<br />
Felsen herumlägen und von nieman<strong>de</strong>m ausgebrütet wür<strong>de</strong>n.<br />
Es müßte sie bald zur Räson bringen.“ Lei<strong>de</strong>r wür<strong>de</strong> es das<br />
nicht. Da wir als gegeben annehmen, daß die Brüterinnen<br />
die Eier nicht voneinan<strong>de</strong>r unterschei<strong>de</strong>n, wären die Eier, die<br />
schließlich vernachlässigt wür<strong>de</strong>n, <strong>wen</strong>n die ehrlichen Vögel<br />
dieses System <strong>de</strong>s Wi<strong>de</strong>rstands gegen <strong>de</strong>n Schwin<strong>de</strong>l in die<br />
Praxis umsetzten, ebenso wahrscheinlich ihre eigenen wie die<br />
<strong>de</strong>r Schwindlerinnen. Die Schwindlerinnen wären immer noch<br />
im Vorteil, weil sie mehr Eier legen und mehr überleben<strong>de</strong><br />
Junge haben wür<strong>de</strong>n. Ein ehrliches T<strong>ro</strong>ttellummenweibchen<br />
könnte die Betrügerinnen nur auf eine Weise schlagen: in<strong>de</strong>m<br />
es seine eigenen Eier erkennt und sich beim Brüten für sie entschei<strong>de</strong>t.<br />
Es müßte also aufhören, selbstlos zu sein, und sich<br />
um seine eigenen Interessen kümmern.<br />
Um die Sprache von Maynard Smith zu ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>n: Die<br />
altruistische „Adoptionsstrategie“ ist keine evolutionär stabile<br />
Strategie. Sie ist instabil in <strong>de</strong>m Sinne, daß sie von einer rivalisieren<strong>de</strong>n<br />
egoistischen Strategie, mehr als <strong>de</strong>n fairen Anteil<br />
an Eiern zu legen und sie dann nicht ausbrüten zu wollen,<br />
übert<strong>ro</strong>ffen wer<strong>de</strong>n kann. Diese letztere egoistische Strategie<br />
wie<strong>de</strong>rum ist ebenfalls instabil, weil die altruistische Strategie,<br />
die sie ausnutzt, instabil ist und verschwin<strong>de</strong>n wird. Die einzige<br />
evolutionär stabile Strategie für eine T<strong>ro</strong>ttellumme ist die, ihr<br />
eigenes Ei zu erkennen und ausschließlich dieses auszubrüten,<br />
und genau das geschieht auch.<br />
Auch die Singvogelarten, bei <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Kuckuck als Brutparasit<br />
auftritt, haben sich zur Wehr gesetzt. In diesem Fall<br />
nicht dadurch, daß sie gelernt haben, wie ihre eigenen Eier<br />
aussehen, son<strong>de</strong>rn dadurch, daß sie sich instinktiv für Eier mit<br />
<strong>de</strong>r arttypischen Musterung entschei<strong>de</strong>n. Da bei ihnen keine<br />
Gefahr besteht, von Angehörigen <strong>de</strong>r eigenen Art ausgenutzt<br />
zu wer<strong>de</strong>n, ist dies eine wirksame Metho<strong>de</strong>. 9 Die Kuckucke<br />
ihrerseits haben jedoch zurückgeschlagen, in<strong>de</strong>m sie ihre Eier<br />
in Farbe, Größe und Zeichnung immer mehr <strong>de</strong>n Eiern <strong>de</strong>r<br />
Wirtsart angeglichen haben. Dies ist ein Beispiel für eine Lüge,<br />
und diese Lüge ist häufig erfolgreich. Das Ergebnis dieses
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 169<br />
evolutionären Wettrüstens ist eine bemerkenswerte Perfektion<br />
<strong>de</strong>r Mimikry seitens <strong>de</strong>r Kuckuckseier. Wir dürfen annehmen,<br />
daß ein Teil <strong>de</strong>r Kuckuckseier und -jungen „ent<strong>de</strong>ckt“ wird,<br />
und es sind diejenigen, die nicht ent<strong>de</strong>ckt wer<strong>de</strong>n, welche die<br />
nächste Generation von Kuckuckseiern legen. So breiten sich<br />
Gene für eine wirkungsvollere Täuschung im Kuckucksgenpool<br />
aus. Von <strong>de</strong>n Wirtsvögeln wie<strong>de</strong>rum wer<strong>de</strong>n diejenigen<br />
am meisten zu ihrem eigenen Genpool beitragen, <strong>de</strong>ren Augen<br />
scharf genug sind, um je<strong>de</strong> kleinste Unvollkommenheit in <strong>de</strong>r<br />
Mimikry <strong>de</strong>r Kuckuckseier zu ent<strong>de</strong>cken. So wer<strong>de</strong>n scharfe<br />
und skeptische Augen an die nächste Generation vererbt. Dies<br />
ist ein gutes Beispiel dafür, wie die natürliche Auslese die<br />
Unterscheidungsfähigkeit schärfen kann, in diesem Fall zum<br />
Nachteil einer an<strong>de</strong>ren Art, <strong>de</strong>ren Angehörige wie<strong>de</strong>rum ihr<br />
möglichstes tun, um dieser Entwicklung entgegenzuwirken.<br />
Kehren wir nun zu <strong>de</strong>m Vergleich zurück, <strong>de</strong>n wir zwischen<br />
<strong>de</strong>r Verwandtschaft mit an<strong>de</strong>ren Angehörigen <strong>de</strong>r Gruppe, wie<br />
ein Tier sie „einschätzt“, und <strong>de</strong>r entsprechen<strong>de</strong>n Bewertung<br />
durch einen erfahrenen Feldzoologen ziehen wollten. Brian<br />
Bertram hat viele Jahre damit zugebracht, die Biologie von<br />
Lö<strong>wen</strong> im Serengeti-Nationalpark zu untersuchen. Auf <strong>de</strong>r<br />
Grundlage seiner Kenntnisse ihrer Fortpflanzungsgewohnheiten<br />
hat er <strong>de</strong>n durchschnittlichen Verwandtschaftsgrad unter<br />
<strong>de</strong>n Individuen eines typischen Lö<strong>wen</strong>ru<strong>de</strong>ls abgeschätzt. Um<br />
zu seinen Schätzwerten zu gelangen, ging er von Tatsachen aus<br />
wie: Ein typisches Ru<strong>de</strong>l besteht aus sieben erwachsenen Weibchen,<br />
die <strong>de</strong>m Ru<strong>de</strong>l ständig angehören, und zwei erwachsenen<br />
Männchen, die nur vorübergehend dazugehören. Ungefähr die<br />
Hälfte <strong>de</strong>r erwachsenen Löwinnen werfen ihre Jungen zur<br />
selben <strong>Zeit</strong> und ziehen sie zusammen auf, so daß sich schwer<br />
unterschei<strong>de</strong>n läßt, welches Junge zu wem gehört. Ein Wurf<br />
besteht im typischen Fall aus drei Jungen. Die erwachsenen<br />
Männchen <strong>de</strong>s Ru<strong>de</strong>ls teilen sich die Vaterpflichten: Junge<br />
Weibchen bleiben im Ru<strong>de</strong>l und nehmen die Stelle alter<br />
Löwinnen ein, die sterben o<strong>de</strong>r das Ru<strong>de</strong>l verlassen. Junge<br />
männliche Tiere wer<strong>de</strong>n vertrieben, sobald sie herangewachsen<br />
sind. Sie streifen in kleinen Ban<strong>de</strong>n verwandter Tiere o<strong>de</strong>r
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 170<br />
paarweise von Ru<strong>de</strong>l zu Ru<strong>de</strong>l umher, und es ist unwahrscheinlich,<br />
daß sie zu ihrer ursprünglichen Familie zurückkehren.<br />
Von diesen und an<strong>de</strong>ren Annahmen ausgehend, ließe sich,<br />
wie <strong>de</strong>r Leser erkennen kann, ein Durchschnittswert für <strong>de</strong>n<br />
Verwandtschaftsgrad zweier Individuen in einem typischen<br />
Lö<strong>wen</strong>ru<strong>de</strong>l berechnen. Bertram gelangt zu <strong>de</strong>n Werten 0,22<br />
für zwei willkürlich herausgegriffene Männchen und 0,15 für<br />
zwei Weibchen. Demzufolge sind die Männchen in einem<br />
Ru<strong>de</strong>l im Durchschnitt geringfügig <strong>wen</strong>iger nah verwandt als<br />
Halbbrü<strong>de</strong>r und die Weibchen etwas näher als Cousinen ersten<br />
Gra<strong>de</strong>s. Nun besteht natürlich bei je<strong>de</strong>m konkreten Paar von<br />
Individuen die Möglichkeit, daß es sich um leibliche Geschwister<br />
han<strong>de</strong>lt, aber Bertram konnte dies nicht nachprüfen,<br />
und es ist anzunehmen, daß die Lö<strong>wen</strong> es ebenso<strong>wen</strong>ig<br />
wußten wie er. An<strong>de</strong>rerseits sind die Mittelwerte, die Bertram<br />
berechnete, in einem gewissen Sinne auch <strong>de</strong>n Lö<strong>wen</strong> selbst<br />
verfügbar. Wenn diese Zahlen wirklich für ein durchschnittliches<br />
Lö<strong>wen</strong>ru<strong>de</strong>l typisch sind, dann hätte je<strong>de</strong>s Gen, das<br />
die Männchen dafür prädisponierte, sich an<strong>de</strong>ren männlichen<br />
Tieren gegenüber so zu verhalten, als ob sie fast Halbbrü<strong>de</strong>r<br />
wären, einen positiven Überlebenswert. Im Durchschnitt wür<strong>de</strong><br />
je<strong>de</strong>s Gen, das zu weit ginge und die Männchen dazu brächte,<br />
sich so freundlich zu verhalten, wie es eher einem leiblichen<br />
Bru<strong>de</strong>r gegenüber angebracht ist, bestraft, ebenso wie ein<br />
Gen für ein zu<strong>wen</strong>ig freundliches Verhalten, bei <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>re<br />
Männchen beispielsweise wie Vettern zweiten Gra<strong>de</strong>s behan<strong>de</strong>lt<br />
wür<strong>de</strong>n. Wenn die Tatsachen <strong>de</strong>s Lö<strong>wen</strong>lebens so sind,<br />
wie Bertram sie darstellt, und <strong>wen</strong>n sie – was genauso wichtig<br />
ist – schon seit vielen Generationen so sind, dürfen wir erwarten,<br />
daß die natürliche Auslese einen Grad von Altruismus<br />
begünstigt hat, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m durchschnittlichen Grad <strong>de</strong>r Verwandtschaft<br />
in einem typischen Ru<strong>de</strong>l entspricht. Dies meinte<br />
ich, als ich sagte, daß die Schätzungen <strong>de</strong>s Verwandtschaftsgra<strong>de</strong>s<br />
durch ein Tier und durch einen Zoologen schließlich<br />
auf ziemlich dasselbe hinauslaufen könnten. l0<br />
Wir kommen also zu <strong>de</strong>m Ergebnis, daß <strong>de</strong>r „wahre“ Verwandtschaftsgrad<br />
bei <strong>de</strong>r Evolution <strong>de</strong>s Altruismus vielleicht
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 171<br />
<strong>wen</strong>iger wichtig ist als <strong>de</strong>r beste Schätzwert <strong>de</strong>s Verwandtschaftsgra<strong>de</strong>s,<br />
<strong>de</strong>n ein Tier erhalten kann. Diese Tatsache ist<br />
wahrscheinlich ein Schlüssel zum Verständnis zweier Fragen:<br />
Warum ist in <strong>de</strong>r Natur elterliche Fürsorge soviel weiter verbreitet<br />
und aufopfern<strong>de</strong>r als Bru<strong>de</strong>r-Schwester-Altruismus,<br />
und wie ist es möglich, daß Tiere sich selbst höher bewerten als<br />
sogar mehrere Brü<strong>de</strong>r. Damit will ich sagen, daß wir zusätzlich<br />
zu <strong>de</strong>m Verwandtschaftsin<strong>de</strong>x so etwas wie einen In<strong>de</strong>x <strong>de</strong>r<br />
„Gewißheit“ an<strong>wen</strong><strong>de</strong>n sollten. Obwohl die Eltern-Kind-Beziehung<br />
genetisch nicht enger ist als die Bru<strong>de</strong>r-Schwester-Beziehung,<br />
ist ihre Gewißheit größer. Ich kann normalerweise sehr<br />
viel sicherer sein, wer meine Kin<strong>de</strong>r sind, als wer meine<br />
Geschwister sind. Und noch sicherer kann ich <strong>de</strong>ssen sein, wer<br />
ich selbst bin!<br />
Wir haben bereits Betrachtungen über Schwindler unter<br />
<strong>de</strong>n T<strong>ro</strong>ttellummen angestellt, und wir wer<strong>de</strong>n in späteren<br />
Kapiteln noch mehr über Lügner, Betrüger und Ausbeuter<br />
zu sagen haben. In einer Welt, in <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Individuen<br />
beständig auf Gelegenheiten lauern, <strong>de</strong>n Verwandtschaftsaltruismus<br />
auszunutzen und für ihre Zwecke zu ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>n, muß<br />
eine Überlebensmaschine sich überlegen, wem sie vertrauen,<br />
wessen sie wirklich sicher sein kann. Wenn B wirklich mein<br />
kleiner Bru<strong>de</strong>r ist, dann sollte ich ihm bis zur Hälfte <strong>de</strong>r Pflege<br />
ange<strong>de</strong>ihen lassen, die ich mir selbst zukommen lasse, und<br />
genausoviel wie meinem eigenen Kind. Aber kann ich seiner<br />
ebenso sicher sein wie meines eigenen Kin<strong>de</strong>s? Woher weiß<br />
ich, daß er wirklich mein kleiner Bru<strong>de</strong>r ist?<br />
Wenn C mein eineiiger Zwilling ist, dann sollte ich doppelt<br />
so sehr für ihn sorgen wie für eins meiner Kin<strong>de</strong>r, tatsächlich<br />
sollte ich sein Leben nicht niedriger bewerten als mein eigenes.<br />
11 Aber kann ich seiner sicher sein? Er sieht zwar so aus<br />
wie ich, aber es könnte ja sein, daß wir nur zufällig die Gene für<br />
Gesichtszüge gemeinsam haben. Nein, ich wer<strong>de</strong> mein Leben<br />
nicht für ihn hingeben. Denn <strong>wen</strong>ngleich es möglich ist, daß er<br />
100 P<strong>ro</strong>zent meiner Gene besitzt, so weiß ich, was mich betrifft,<br />
mit absoluter Sicherheit, daß ich 100 P<strong>ro</strong>zent meiner Gene in<br />
mir trage, und daher bin ich mir selbst mehr wert, als er mir
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 172<br />
wert ist. Ich bin das einzige Individuum, <strong>de</strong>ssen sich je<strong>de</strong>s einzelne<br />
meiner egoistischen Gene sicher sein kann. Und obwohl<br />
im I<strong>de</strong>alfall ein Gen für <strong>de</strong>n individuellen Egoismus durch<br />
ein rivalisieren<strong>de</strong>s Gen für das selbstlose Retten von min<strong>de</strong>stens<br />
einem eineiigen Zwilling, zwei Kin<strong>de</strong>rn o<strong>de</strong>r Geschwistern<br />
o<strong>de</strong>r zumin<strong>de</strong>st vier Enkeln und so weiter ersetzbar ist,<br />
hat das Gen für <strong>de</strong>n individuellen Egoismus <strong>de</strong>n gewaltigen<br />
Vorteil <strong>de</strong>r Gewißheit <strong>de</strong>r individuellen I<strong>de</strong>ntität. Das rivalisieren<strong>de</strong><br />
familienaltruistische Gen läuft Gefahr, daß ihm I<strong>de</strong>ntifizierungsfehler<br />
unterlaufen, die entwe<strong>de</strong>r wirklich zufällig sind<br />
o<strong>de</strong>r von Schwindlern und Parasiten absichtlich herbeigeführt<br />
wer<strong>de</strong>n. Wir müssen daher in <strong>de</strong>r Natur ein größeres Ausmaß<br />
an individuellem Egoismus erwarten, als anhand <strong>de</strong>s genetischen<br />
Verwandtschaftsgra<strong>de</strong>s allein vorausgesagt wer<strong>de</strong>n<br />
könnte.<br />
Bei vielen Arten kann eine Mutter ihrer Jungen sicherer<br />
sein als ein Vater. Die Mutter legt das sichtbare, greifbare<br />
Ei o<strong>de</strong>r trägt das Kind aus. Sie hat eine gute Chance, die<br />
Träger ihrer Gene mit Sicherheit zu kennen. Der arme Vater<br />
ist <strong>de</strong>r Täuschung sehr viel stärker ausgeliefert. Es ist daher zu<br />
erwarten, daß Väter <strong>wen</strong>iger Anstrengungen in die Pflege <strong>de</strong>r<br />
Jungen investieren als Mütter. Wie wir in Kapitel 9, <strong>de</strong>m Kapitel<br />
über <strong>de</strong>n Krieg <strong>de</strong>r Geschlechter, sehen wer<strong>de</strong>n, gibt es noch<br />
an<strong>de</strong>re Grün<strong>de</strong> dafür, eben dies zu erwarten. Gleichermaßen<br />
können G<strong>ro</strong>ßmütter mütterlicherseits ihrer Enkel sicherer sein<br />
als G<strong>ro</strong>ßmütter väterlicherseits, und man kann erwarten, daß<br />
sie mehr Selbstlosigkeit zeigen als G<strong>ro</strong>ßmütter väterlicherseits.<br />
Schließlich kann eine G<strong>ro</strong>ßmutter <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r ihrer Tochter<br />
sicher sein, während ihr Sohn bet<strong>ro</strong>gen wor<strong>de</strong>n sein könnte.<br />
G<strong>ro</strong>ßväter mütterlicherseits sind ihrer Enkelkin<strong>de</strong>r ebenso<br />
sicher wie G<strong>ro</strong>ßmütter väterlicherseits, weil bei<strong>de</strong> auf eine<br />
Generation Gewißheit und eine Generation Ungewißheit zählen<br />
können. Ähnlich sollten Onkel mütterlicherseits mehr als<br />
Onkel väterlicherseits an <strong>de</strong>m Wohlergehen von Neffen und<br />
Nichten interessiert sein, und im allgemeinen müßten sie<br />
ebenso selbstlos sein wie Tanten. Tatsächlich sollten in einer<br />
Gesellschaft mit einem hohen Grad an mütterlicher Untreue
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 173<br />
Onkel mütterlicherseits selbstloser sein als „Väter“, da sie mehr<br />
Veranlassung zu <strong>de</strong>r Überzeugung haben, mit <strong>de</strong>m Kind verwandt<br />
zu sein. Sie wissen, daß die Mutter <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s zumin<strong>de</strong>st<br />
ihre Halbschwester ist. Der „offizielle“ Vater weiß gar<br />
nichts. Ich kann für diese Voraussagen keine Beweise anführen,<br />
aber ich bringe sie in <strong>de</strong>r Hoffnung vor, daß an<strong>de</strong>re Beweise<br />
kennen o<strong>de</strong>r vielleicht danach zu suchen beginnen. Insbeson<strong>de</strong>re<br />
die Sozialanth<strong>ro</strong>pologen haben möglicherweise interessante<br />
Dinge zu sagen. 12<br />
Kehren wir zu <strong>de</strong>r Tatsache zurück, daß elterlicher Altruismus<br />
weiter verbreitet ist als geschwisterlicher Altruismus:<br />
Es scheint in <strong>de</strong>r Tat vernünftig zu sein, dies mit <strong>de</strong>m „I<strong>de</strong>ntifizierungsp<strong>ro</strong>blem“<br />
zu erklären. Die grundlegen<strong>de</strong> Asymmetrie<br />
in <strong>de</strong>r Eltern-Kind-Beziehung selbst läßt sich so jedoch<br />
nicht begrün<strong>de</strong>n. Eltern tragen mehr Sorge um ihre Kin<strong>de</strong>r<br />
als umgekehrt, obwohl die genetische Verwandtschaft und die<br />
Gewißheit darüber in bei<strong>de</strong>n Richtungen gleich g<strong>ro</strong>ß ist. Ein<br />
Grund dafür ist, daß die Eltern in <strong>de</strong>r Praxis besser in <strong>de</strong>r Lage<br />
sind, ihren Jungen zu helfen, da sie älter und im Geschäft <strong>de</strong>s<br />
Lebens erfahrener sind. Selbst <strong>wen</strong>n ein Baby seine Eltern<br />
füttern wollte, ist es nicht gut dafür ausgerüstet, dies auch<br />
tatsächlich zu tun.<br />
Es gibt noch eine weitere Asymmetrie in <strong>de</strong>r Eltern-Kind-<br />
Beziehung, die auf das Verhältnis zwischen Geschwistern nicht<br />
zutrifft. Kin<strong>de</strong>r sind immer jünger als ihre Eltern. Das be<strong>de</strong>utet<br />
häufig, <strong>wen</strong>n auch nicht immer, daß ihre Lebenserwartung<br />
größer ist. Wie ich oben betont habe, ist die Lebenserwartung<br />
eine wichtige Variable, die das Tier in <strong>de</strong>r vollkommensten<br />
aller möglichen Welten in seine „Rechnung“ einbeziehen sollte,<br />
<strong>wen</strong>n es „entschei<strong>de</strong>t“, ob es sich uneigennützig verhalten<br />
soll o<strong>de</strong>r nicht. In einer Spezies, in <strong>de</strong>r die durchschnittliche<br />
Lebenserwartung <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r größer ist als die <strong>de</strong>r Eltern, wäre<br />
je<strong>de</strong>s Gen für altruistisches Verhalten <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s im Nachteil.<br />
Es wür<strong>de</strong> eine altruistische Selbstaufopferung zugunsten von<br />
Individuen herbeiführen, die <strong>de</strong>m Tod aus Altersgrün<strong>de</strong>n näher<br />
sind als <strong>de</strong>r Altruist selbst. Ein Gen für Elternaltruismus dagegen<br />
wäre, was die Komponenten für Lebenserwartung in <strong>de</strong>r
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 174<br />
Gleichung betrifft, entsprechend im Vorteil.<br />
Manchmal hört man sagen, Familienselektion als Theorie<br />
sei schön und gut, aber in <strong>de</strong>r Praxis gäbe es <strong>wen</strong>ig Beispiele<br />
für ihr Wirken. Diese Kritik kann nur von jemand kommen, <strong>de</strong>r<br />
nicht versteht, was Familienselektion be<strong>de</strong>utet. In Wirklichkeit<br />
sind alle Fälle, in <strong>de</strong>nen Kin<strong>de</strong>r beschützt wer<strong>de</strong>n, und alle Beispiele<br />
elterlicher Sorge sowie alle damit zusammenhängen<strong>de</strong>n<br />
Organe <strong>de</strong>s Körpers – Milchdrüsen, Känguruhbeutel und so<br />
weiter – Beispiele für das Wirken <strong>de</strong>s Prinzips <strong>de</strong>r Familienauslese<br />
in <strong>de</strong>r Natur. Natürlich ist <strong>de</strong>n Kritikern die weite Verbreitung<br />
<strong>de</strong>r Brutpflege bekannt, doch können sie nicht verstehen,<br />
daß elterliche Fürsorge nicht <strong>wen</strong>iger ein Beispiel für<br />
Verwandtschaftsselektion ist als geschwisterlicher Altruismus.<br />
Wenn sie sagen, sie wollen Beispiele, so meinen sie damit, sie<br />
wollen an<strong>de</strong>re Beispiele als die elterliche Fürsorge, und es<br />
ist richtig, daß solche Beispiele <strong>wen</strong>iger verbreitet sind. Ich<br />
habe auf Grün<strong>de</strong> hingewiesen, weshalb dies so sein könnte.<br />
Ich hätte mich beson<strong>de</strong>rs bemühen können, Beispiele geschwisterlicher<br />
Selbstlosigkeit anzuführen – es gibt in <strong>de</strong>r Tat gar<br />
nicht so <strong>wen</strong>ige. Doch ich möchte dies nicht tun, weil es die<br />
irrige Ansicht verstärken wür<strong>de</strong> (die, wie wir gesehen haben,<br />
von Wilson geför<strong>de</strong>rt wird), daß die Familienselektion spezifisch<br />
mit solchen Beziehungen zu tun hat, die keine Eltern-<br />
Kind-Beziehungen sind.<br />
Der Grund für das Entstehen dieses Irrtums ist weitgehend<br />
historischer Natur. Der evolutionäre Vorteil <strong>de</strong>r elterlichen<br />
Fürsorge ist <strong>de</strong>rart augenfällig, daß wir nicht auf Hamilton<br />
warten mußten, um darauf aufmerksam zu wer<strong>de</strong>n. Die<br />
Zusammenhänge sind seit Darwin verständlich. Als Hamilton<br />
die genetische Gleichwertigkeit an<strong>de</strong>rer Beziehungen und<br />
<strong>de</strong>ren evolutionäre Be<strong>de</strong>utung bewies, mußte er natürlich das<br />
Gewicht auf diese an<strong>de</strong>ren Beziehungen legen. Er entnahm<br />
seine Beispiele vor allem <strong>de</strong>r Biologie sozialer Insekten wie<br />
Ameisen und Bienen, bei <strong>de</strong>nen die Schwester-Schwester-<br />
Beziehung beson<strong>de</strong>rs wichtig ist, wie wir in einem späteren<br />
Kapitel sehen wer<strong>de</strong>n. Ich habe sogar Leute sagen hören, sie<br />
meinten, Hamiltons Theorie gelte nur für die sozial leben<strong>de</strong>n
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 175<br />
Insekten! Wenn jemand nicht zugeben möchte, daß elterliche<br />
Fürsorge ein Beispiel für das Wirken <strong>de</strong>r Familienauslese ist,<br />
so ist es an ihm, eine allgemeine Theorie <strong>de</strong>r natürlichen Auslese<br />
zu formulieren, welche zwar elterlichen Altruismus, nicht<br />
aber Altruismus unter Verwandten in <strong>de</strong>r Seitenlinie voraussagt.<br />
Ich glaube, daß ihm dies nicht gelingen wird.
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 176<br />
7. Familienplanung<br />
Es ist nicht schwer zu erkennen, warum manche Leute die<br />
elterliche Fürsorge gegen die an<strong>de</strong>ren Arten <strong>de</strong>r durch Familienselektion<br />
bedingten Selbstlosigkeit abgrenzen wollen. Es<br />
sieht so aus, als sei die Pflege <strong>de</strong>s Nachwuchses ein wesentlicher<br />
Bestandteil <strong>de</strong>r Fortpflanzung, während dies beispielsweise<br />
für <strong>de</strong>n Altruismus einem Neffen gegenüber nicht gilt.<br />
Ich meine, daß man tatsächlich eine wichtige Unterscheidung<br />
vornehmen muß, daß die Trennungslinie jedoch an <strong>de</strong>r falschen<br />
Stelle gezogen wird. Man stellt Rep<strong>ro</strong>duktion und Brutpflege<br />
auf die eine Seite und alle an<strong>de</strong>ren Arten von Altruismus<br />
auf die an<strong>de</strong>re. Ich dagegen möchte zwischen <strong>de</strong>m Indie-Welt-Setzen<br />
neuer Individuen einerseits und <strong>de</strong>m Sorgen für<br />
bestehen<strong>de</strong> Individuen an<strong>de</strong>rerseits unterschei<strong>de</strong>n. Ich wer<strong>de</strong><br />
diese bei<strong>de</strong>n Aktivitäten das Kin<strong>de</strong>rzeugen o<strong>de</strong>r Gebären<br />
beziehungsweise das Kin<strong>de</strong>rpflegen nennen. Eine einzelne<br />
Überlebensmaschine hat zwei ganz verschie<strong>de</strong>ne Arten von<br />
Entscheidungen zu treffen, Pflegeentscheidungen und Zeugungsentscheidungen.<br />
Ich ver<strong>wen</strong><strong>de</strong> das Wort Entscheidung<br />
zur <strong>de</strong>r Bezeichnung eines unbewußten strategischen Zuges.<br />
Die Pflegeentscheidungen gestalten sich so: „Da ist ein Kind;<br />
<strong>de</strong>r Grad seiner Verwandtschaft mit mir ist soundso; die<br />
Wahrscheinlichkeit, daß es stirbt, <strong>wen</strong>n ich es nicht ernähre,<br />
ist soundso; soll ich es ernähren?“ Zeugungsentscheidungen<br />
dagegen sehen folgen<strong>de</strong>rmaßen aus: „Soll ich die not<strong>wen</strong>digen<br />
Schritte, welche auch immer es sein mögen, unternehmen, um<br />
ein neues Individuum in die Welt zu setzen; soll ich mich fortpflanzen?“<br />
In gewissem Maße müssen Pflegen und Gebären<br />
unweigerlich miteinan<strong>de</strong>r um die <strong>Zeit</strong> und an<strong>de</strong>re Ressourcen<br />
eines Individuums konkurrieren.<br />
Unter Umstän<strong>de</strong>n muß das Individuum wählen: „Soll ich<br />
dieses Kind hier betreuen, o<strong>de</strong>r soll ich ein neues bekommen?“<br />
Je nach <strong>de</strong>r Lebensweise und <strong>de</strong>n Lebensbedingungen<br />
einer Art können verschie<strong>de</strong>ne Mischungen von Pflege- und<br />
Zeugungsstrategien evolutionär stabil sein. Das einzige, was
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 177<br />
nicht evolutionär stabil sein kann, ist eine reine Pflegestrategie.<br />
Wenn alle Individuen sich so sehr <strong>de</strong>r Pflege <strong>de</strong>r bereits<br />
vorhan<strong>de</strong>nen Kin<strong>de</strong>r annähmen, daß sie niemals neue Kin<strong>de</strong>r<br />
auf die Welt brächten, wür<strong>de</strong> die Population bald von Mutanten<br />
überrannt wer<strong>de</strong>n, die auf das Gebären spezialisiert<br />
wären. Das Pflegen kann nur als Teil einer gemischten Strategie<br />
evolutionär stabil sein – zumin<strong>de</strong>st einige Nachkommen<br />
müssen geboren wer<strong>de</strong>n.<br />
Die Arten, die wir am besten kennen – Säugetiere und Vögel<br />
– sind in <strong>de</strong>r Regel sehr fürsorglich. Auf eine Entscheidung,<br />
ein Junges zu bekommen, folgt gewöhnlich die Entscheidung,<br />
es zu betreuen. Weil Kin<strong>de</strong>rbekommen und -betreuen in <strong>de</strong>r<br />
Praxis so häufig Hand in Hand gehen, hat man diese bei<strong>de</strong>n<br />
Dinge durcheinan<strong>de</strong>rgebracht. Doch vom Standpunkt <strong>de</strong>r egoistischen<br />
Gene aus gibt es, wie wir gesehen haben, im Prinzip<br />
keinen Unterschied zwischen <strong>de</strong>r Pflege eines kleinen Bru<strong>de</strong>rs<br />
und <strong>de</strong>r eines kleinen Sohnes. Bei<strong>de</strong> Kleinkin<strong>de</strong>r sind gleich<br />
nah mit mir verwandt. Wenn ich zu wählen habe, <strong>wen</strong> von<br />
bei<strong>de</strong>n ich ernähre, gibt es genetisch keinen Grund, mich für<br />
meinen eigenen Sohn zu entschei<strong>de</strong>n. An<strong>de</strong>rerseits kann ich<br />
per <strong>de</strong>finitionem keinen kleinen Bru<strong>de</strong>r gebären. Ich kann<br />
ihn nur pflegen, nach<strong>de</strong>m jemand an<strong>de</strong>rs ihn auf die Welt<br />
gebracht hat. Im vorigen Kapitel haben wir uns angesehen, wie<br />
die einzelnen Überlebensmaschinen im I<strong>de</strong>alfall entschei<strong>de</strong>n<br />
sollten, ob sie sich an<strong>de</strong>ren, bereits existieren<strong>de</strong>n Individuen<br />
gegenüber altruistisch verhalten sollen o<strong>de</strong>r nicht. In diesem<br />
Kapitel wollen wir sehen, auf welche Weise sie entschei<strong>de</strong>n<br />
sollten, ob sie neue Individuen in die Welt setzen o<strong>de</strong>r nicht.<br />
Hauptsächlich an diesem Gegenstand hat sich die Auseinan<strong>de</strong>rsetzung<br />
über „Gruppenselektion“, die ich im ersten Kapitel<br />
erwähnt habe, entzün<strong>de</strong>t. Und dies <strong>de</strong>shalb, weil Wynne-<br />
Edwards, <strong>de</strong>r Hauptverantwortliche für die Verbreitung <strong>de</strong>s<br />
Gedankens <strong>de</strong>r Gruppenselektion, diese Auffassung im Rahmen<br />
einer Theorie <strong>de</strong>r „Regulierung <strong>de</strong>r Populationsgröße“ vorbrachte.<br />
1 Er äußerte die Ansicht, daß die einzelnen Tiere <strong>de</strong>m<br />
Wohl <strong>de</strong>r Gruppe zuliebe freiwillig und selbstlos ihre Geburtenrate<br />
reduzieren.
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 178<br />
Dies ist eine sehr verlocken<strong>de</strong> Hypothese, weil sie so gut<br />
damit übereinstimmt, was die einzelnen Menschen eigentlich<br />
tun sollten. Die Menschheit p<strong>ro</strong>duziert zu viele Kin<strong>de</strong>r. Die<br />
Bevölkerungsgröße hängt von vier Faktoren ab: Geburten,<br />
To<strong>de</strong>sfällen, Einwan<strong>de</strong>rungen und Auswan<strong>de</strong>rungen. Wenn<br />
wir die Weltbevölkerung als Ganzes betrachten, so fin<strong>de</strong>n keine<br />
Immigrationen und Emigrationen statt, es bleiben also nur<br />
Geburten und To<strong>de</strong>sfälle. Solange je<strong>de</strong>s Paar im Durchschnitt<br />
mehr als zwei überleben<strong>de</strong> und sich fortpflanzen<strong>de</strong> Nachkommen<br />
hat, wird die Geburtenziffer von Jahr zu Jahr mit ständig<br />
wachsen<strong>de</strong>r Geschwindigkeit zunehmen. In je<strong>de</strong>r Generation<br />
wächst die Bevölkerung nicht um einen festen Betrag, son<strong>de</strong>rn<br />
um etwas, das mehr einem festen Anteil <strong>de</strong>s Umfangs<br />
ähnelt, <strong>de</strong>n sie bereits erreicht hat. Da dieser Umfang selbst<br />
zunimmt, wird auch <strong>de</strong>r Zuwachs größer. Eine Population, in<br />
<strong>de</strong>r diese Art <strong>de</strong>s Wachstums sich unkont<strong>ro</strong>lliert fortsetzen<br />
könnte, wür<strong>de</strong> verblüffend schnell ast<strong>ro</strong>nomische Ausmaße<br />
erreichen.<br />
Nebenbei gesagt ist gelegentlich nicht einmal <strong>de</strong>njenigen,<br />
die sich um Bevölkerungsp<strong>ro</strong>bleme Sorgen machen, klar,<br />
daß das Bevölkerungswachstum ebenso davon abhängig ist,<br />
wann ein Mensch Kin<strong>de</strong>r bekommt, wie davon, wie viele<br />
er bekommt. Da die Populationsgröße gewöhnlich um einen<br />
bestimmten Anteil p<strong>ro</strong> Generation zunimmt, ist <strong>de</strong>r jährliche<br />
Bevölkerungszuwachs geringer, <strong>wen</strong>n man die Generationsdauer<br />
verlängert. Auf Spruchbän<strong>de</strong>r könnte man statt „Hör<br />
auf bei zwei!“ ebensogut „Fang an mit 30!“ schreiben. In je<strong>de</strong>m<br />
Fall jedoch be<strong>de</strong>utet die Beschleunigung <strong>de</strong>s Bevölkerungswachstums<br />
ernstliche Schwierigkeiten.<br />
Wir haben wahrscheinlich alle bereits Beispiele <strong>de</strong>r alarmieren<strong>de</strong>n<br />
Berechnungen gesehen, die dies veranschaulichen. Beispielsweise<br />
beläuft sich die gegenwärtige Bevölkerung Lateinamerikas<br />
auf rund 300 Millionen Menschen, und viele von ihnen<br />
sind bereits unterernährt. Wür<strong>de</strong> die Bevölkerung mit <strong>de</strong>r<br />
gegenwärtigen Rate weiterwachsen, so wäre in <strong>wen</strong>iger als 500<br />
Jahren <strong>de</strong>r Punkt erreicht, an <strong>de</strong>m die Menschen dichtgedrängt<br />
nebeneinan<strong>de</strong>rstehend einen zusammenhängen<strong>de</strong>n, die ganze
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 179<br />
Fläche <strong>de</strong>s Kontinents be<strong>de</strong>cken<strong>de</strong>n Menschenteppich bil<strong>de</strong>n<br />
wür<strong>de</strong>n. Dies gilt auch dann, <strong>wen</strong>n wir annehmen, daß sie<br />
nur Haut und Knochen wären – eine nicht unrealistische<br />
Annahme. In 1000 Jahren wür<strong>de</strong>n sie sich in mehr als einer<br />
Million Schichten übereinan<strong>de</strong>r gegenseitig auf <strong>de</strong>n Schultern<br />
stehen. In 2000 Jahren hätte <strong>de</strong>r mit Lichtgeschwindigkeit in<br />
die Höhe wachsen<strong>de</strong> Menschenberg <strong>de</strong>n Rand <strong>de</strong>s bekannten<br />
Universums erreicht.<br />
Es wird <strong>de</strong>m Leser nicht entgangen sein, daß dies eine<br />
hypothetische Berechnung ist! In Wirklichkeit wird es nicht<br />
so kommen, und zwar aus zwingen<strong>de</strong>n praktischen Grün<strong>de</strong>n.<br />
Einige dieser Grün<strong>de</strong> heißen Hungersnot, Seuchen und Krieg<br />
o<strong>de</strong>r, <strong>wen</strong>n wir Glück haben, Geburtenkont<strong>ro</strong>lle. Es hat keinen<br />
Zweck, sich auf Fortschritte in <strong>de</strong>r Landwirtschaft zu berufen<br />
– auf „grüne Revolutionen“ und <strong>de</strong>rgleichen. Steigerungen<br />
in <strong>de</strong>r Nahrungsmittelp<strong>ro</strong>duktion mögen das P<strong>ro</strong>blem zwar<br />
vorübergehend mil<strong>de</strong>rn, doch es ist mathematisch sicher, daß<br />
sie auf lange Sicht keine Lösung sein können; tatsächlich<br />
könnten sie, wie die Fortschritte in <strong>de</strong>r Medizin, welche die<br />
Krise beschleunigt haben, die Situation sogar verschärfen,<br />
in<strong>de</strong>m sie das Bevölkerungswachstum beschleunigen. Es ist<br />
eine einfache logische Wahrheit, daß – ohne eine Massenemigration<br />
in <strong>de</strong>n Weltraum, bei <strong>de</strong>r mehrere Millionen Menschen<br />
p<strong>ro</strong> Sekun<strong>de</strong> die Er<strong>de</strong> mit Raketen verlassen – unkont<strong>ro</strong>llierte<br />
Geburtenraten unweigerlich zu schrecklich erhöhten Sterberaten<br />
führen müssen. Es fällt schwer zu glauben, daß diese<br />
einfache Wahrheit nicht von jenen Führern begriffen wird, die<br />
ihren Anhängern die Ver<strong>wen</strong>dung wirksamer Metho<strong>de</strong>n zur<br />
Empfängnisverhütung verbieten. Sie zeigen eine Vorliebe für<br />
„natürliche“ Metho<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Bevölkerungskont<strong>ro</strong>lle, und eine<br />
natürliche Metho<strong>de</strong> ist genau das, was sie bekommen wer<strong>de</strong>n.<br />
Sie heißt Hungertod.<br />
Aber natürlich beruht die Beklommenheit, die solche langfristigen<br />
Berechnungen hervorrufen, auf <strong>de</strong>r Sorge um das<br />
zukünftige Wohlergehen unserer Spezies insgesamt. Menschen<br />
(einige von ihnen) sind in <strong>de</strong>r Lage, vorausschauend zu <strong>de</strong>nken<br />
und die katast<strong>ro</strong>phalen Folgen <strong>de</strong>r Überbevölkerung vorherzu-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 180<br />
sehen. Die grundlegen<strong>de</strong> Annahme <strong>de</strong>s vorliegen<strong>de</strong>n Buches<br />
ist, daß Überlebensmaschinen im allgemeinen von egoistischen<br />
Genen gelenkt wer<strong>de</strong>n, und von diesen kann man ganz gewiß<br />
we<strong>de</strong>r erwarten, daß sie in die Zukunft blicken, noch, daß<br />
ihnen das Wohl <strong>de</strong>r gesamten Spezies am Herzen liegt. Dies ist<br />
<strong>de</strong>r Punkt, an <strong>de</strong>m Wynne-Edwards an<strong>de</strong>rer Meinung ist als<br />
die orthodoxen Evolutionstheoretiker. Er glaubt, es gäbe einen<br />
Weg, wie die Evolution zu einer echten selbstlosen Geburtenkont<strong>ro</strong>lle<br />
führen kann.<br />
Eine Tatsache wird in <strong>de</strong>n Schriften von Wynne-Edwards<br />
o<strong>de</strong>r in Ardreys populärer Darstellung seiner Vorstellungen<br />
nicht erwähnt, nämlich daß es eine g<strong>ro</strong>ße Menge akzeptierter<br />
Fakten gibt, über die keine Meinungsverschie<strong>de</strong>nheiten bestehen.<br />
Es ist eine offenkundige Tatsache, daß freileben<strong>de</strong> Tierpopulationen<br />
nicht mit <strong>de</strong>n ast<strong>ro</strong>nomischen Raten wachsen,<br />
<strong>de</strong>ren sie theoretisch fähig wären. Manche sind relativ<br />
stabil, wobei Geburten- und Sterberate sich ungefähr die<br />
Waage halten. In vielen Fällen – ein berühmtes Beispiel<br />
sind die Lemminge – fluktuiert die Populationsgröße stark,<br />
heftige Bevölkerungsexplosionen wechseln sich ab mit<br />
Zusammenbrüchen und Rückgängen fast bis zum Aussterben.<br />
Gelegentlich ist das Resultat ein völliges Aussterben, zumin<strong>de</strong>st<br />
<strong>de</strong>r Population eines begrenzten Gebiets. Manchmal scheint<br />
die Population rhythmisch zu schwanken, etwa im Fall <strong>de</strong>s<br />
kanadischen Luchses. Darauf <strong>de</strong>utet zumin<strong>de</strong>st ein Vergleich<br />
<strong>de</strong>r Anzahl von Fellen hin, die die Hudson Bay Company in<br />
aufeinan<strong>de</strong>rfolgen<strong>de</strong>n Jahren verkauft. Das einzige, was es bei<br />
Tierpopulationen nicht gibt, ist unbegrenztes Wachstum.<br />
Freileben<strong>de</strong> Tiere sterben fast niemals an Altersschwäche:<br />
Sie fallen <strong>de</strong>m Hungertod, Krankheiten o<strong>de</strong>r Räubern zum<br />
Opfer, lange bevor sie wirklich altersschwach wer<strong>de</strong>n. Bis vor<br />
kurzem traf diese Aussage auch auf <strong>de</strong>n Menschen zu. Die meisten<br />
Tiere sterben im Kin<strong>de</strong>salter, und viele gelangen nicht<br />
über das Eistadium hinaus. Verhungern und an<strong>de</strong>re To<strong>de</strong>sursachen<br />
sind letztlich die Grün<strong>de</strong> dafür, daß Populationen nicht<br />
unbegrenzt wachsen können. Doch es gibt, wie wir bei unserer<br />
eigenen Art gesehen haben, keinen zwingen<strong>de</strong>n Grund,
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 181<br />
warum es jemals soweit kommen muß. Wür<strong>de</strong>n die Tiere ihre<br />
Geburtenraten kont<strong>ro</strong>llieren, so gäbe es keinen Hungertod. Die<br />
These von Wynne-Edwards besagt, daß sie ebendies tun. Aber<br />
selbst in diesem Punkt gehen die Meinungen <strong>wen</strong>iger auseinan<strong>de</strong>r,<br />
als <strong>de</strong>r Leser dieses Buches meinen könnte. Die<br />
Anhänger <strong>de</strong>r Theorie <strong>de</strong>s egoistischen Gens wür<strong>de</strong>n ohne<br />
weiteres zustimmen, daß die Tiere tatsächlich ihre Geburtsraten<br />
regulieren. Je<strong>de</strong> Art hat gewöhnlich eine mehr o<strong>de</strong>r<br />
<strong>wen</strong>iger feste Gelege- o<strong>de</strong>r Wurfgröße – kein Tier bekommt<br />
unendlich viele Junge. Die Meinungsverschie<strong>de</strong>nheiten betreffen<br />
nicht die Frage, ob Geburtenraten reguliert wer<strong>de</strong>n. Uneinigkeit<br />
besteht vielmehr darüber, warum sie reguliert wer<strong>de</strong>n:<br />
Durch welchen P<strong>ro</strong>zeß <strong>de</strong>r natürlichen Auslese hat sich die<br />
Familienplanung entwickelt? Mit an<strong>de</strong>ren Worten, die Meinungen<br />
gehen darüber auseinan<strong>de</strong>r, ob die Geburtenkont<strong>ro</strong>lle<br />
bei Tieren altruistisch ist, das heißt zum Wohle <strong>de</strong>r Gruppe<br />
praktiziert wird, o<strong>de</strong>r ob sie egoistisch ist, also zum Wohle <strong>de</strong>s<br />
sich rep<strong>ro</strong>duzieren<strong>de</strong>n Individuums geschieht. Ich wer<strong>de</strong> mich<br />
nacheinan<strong>de</strong>r mit bei<strong>de</strong>n Theorien befassen.<br />
Wynne-Edwards äußerte die Vermutung, daß die Individuen<br />
zum Wohle <strong>de</strong>r ganzen Gruppe <strong>wen</strong>iger Nachkommen<br />
haben, als sie zu bekommen fähig sind. Er war sich darüber<br />
im klaren, daß die normale Selektion unmöglich zur Evolution<br />
eines solchen Altruismus führen kann: Die natürliche Auslese<br />
unterdurchschnittlicher Fortpflanzungsraten ist schon auf<br />
<strong>de</strong>n ersten Blick ein Wi<strong>de</strong>rspruch in sich. Daher holte er die<br />
Gruppenselektion zu Hilfe, wie wir im ersten Kapitel gesehen<br />
haben. Seiner Ansicht nach ist die Wahrscheinlichkeit <strong>de</strong>s Aussterbens<br />
bei Gruppen, <strong>de</strong>ren einzelne Angehörige ihre Geburtenrate<br />
selbst beschränken, geringer als bei rivalisieren<strong>de</strong>n<br />
Gruppen, <strong>de</strong>ren Mitglie<strong>de</strong>r sich <strong>de</strong>rart rasch vermehren, daß<br />
sie das Nahrungsangebot gefähr<strong>de</strong>n. Daher wird die Welt von<br />
Gruppen bevölkert, <strong>de</strong>ren Angehörige sich bei <strong>de</strong>r P<strong>ro</strong>duktion<br />
von Nachwuchs zurückhalten. Die individuelle Zurückhaltung,<br />
die Wynne-Edwards suggeriert, läuft allgemein gesp<strong>ro</strong>chen auf<br />
Geburtenkont<strong>ro</strong>lle hinaus, doch präzisiert er dies weiter und<br />
bringt in <strong>de</strong>r Tat eine eindrucksvolle Konzeption vor, welche
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 182<br />
die Gesamtheit <strong>de</strong>s sozialen Lebens als einen Mechanismus<br />
zur Populationsregulation versteht. Zwei wichtige Merkmale<br />
<strong>de</strong>s Soziallebens bei vielen Tierarten sind beispielsweise Territorialverhalten<br />
und Dominanzhierarchien, die bei<strong>de</strong> bereits in<br />
Kapitel 5 erwähnt wur<strong>de</strong>n.<br />
Viele Tiere ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>n einen g<strong>ro</strong>ßen Teil ihrer <strong>Zeit</strong> und<br />
Energie auf die offensichtliche „Verteidigung“ eines Stückes<br />
Gelän<strong>de</strong>, das die Zoologen als Territorium bezeichnen. Dieses<br />
Phänomen ist im Tierreich weit verbreitet, nicht nur bei<br />
Vögeln, Säugetieren und Fischen, son<strong>de</strong>rn auch bei Insekten<br />
und sogar Seeanemonen. Das Territorium kann ein größeres<br />
Waldareal sein, das beispielsweise einem Brutpaar Rotkehlchen<br />
als Hauptgebiet für die Futtersuche dient. O<strong>de</strong>r es kann,<br />
wie bei <strong>de</strong>n Silbermö<strong>wen</strong>, eine kleine Fläche sein, die keine<br />
Nahrung bietet, doch in <strong>de</strong>ren Mitte ein Nest liegt. Wynne-<br />
Edwards ist überzeugt davon, daß Tiere, die um ein Territorium<br />
kämpfen, um einen symbolischen und nicht um einen wirklichen<br />
Preis, beispielsweise um ein Stück Nahrung, kämpfen. In<br />
vielen Fällen weigern Weibchen sich, sich mit einem Männchen<br />
zu paaren, das kein Revier besitzt. Es kommt sogar häufig vor,<br />
daß ein Weibchen, <strong>de</strong>ssen Männchen besiegt wird und sein<br />
Territorium verliert, sich p<strong>ro</strong>mpt <strong>de</strong>m Sieger anschließt. Selbst<br />
bei augenscheinlich treuen, monogamen Arten ist das Weibchen<br />
möglicherweise eher mit <strong>de</strong>m Revier <strong>de</strong>s Männchens als<br />
mit ihm selbst verheiratet.<br />
Wenn eine Population zu g<strong>ro</strong>ß wird, wer<strong>de</strong>n einige Individuen<br />
ohne Territorium bleiben und sich daher nicht vermehren.<br />
Die E<strong>ro</strong>berung eines Territoriums ist für Wynne-Edwards<br />
daher wie <strong>de</strong>r Gewinn einer Erlaubnis zum Fortpflanzen. Es<br />
steht nur eine begrenzte Zahl von Revieren zur Verfügung, und<br />
dies wirkt sich so aus, als wür<strong>de</strong> nur eine begrenzte Anzahl von<br />
Fortpflanzungsgenehmigungen ausgestellt. Die einzelnen Tiere<br />
mögen darum kämpfen, wer die Genehmigungen bekommt,<br />
aber <strong>de</strong>r Gesamtzahl <strong>de</strong>s Nachwuchses, <strong>de</strong>n die Population<br />
haben kann, ist durch die Zahl <strong>de</strong>r verfügbaren Territorien eine<br />
Grenze gesetzt. In einigen Fällen, beispielsweise beim Schottischen<br />
Moorschneehuhn, hat es tatsächlich auf <strong>de</strong>n ersten Blick
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 183<br />
<strong>de</strong>n Anschein, als hielten sich die Individuen zurück, <strong>de</strong>nn<br />
diejenigen, die keine Territorien erringen können, vermehren<br />
sich nicht nur nicht, sie scheinen auch <strong>de</strong>n Kampf um ein<br />
Revier aufzugeben. Es sieht so aus, als ob sie alle die Spielregeln<br />
akzeptierten: Wenn sich jemand bis zum En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Wettkampfperio<strong>de</strong><br />
nicht eine <strong>de</strong>r offiziellen Eintrittskarten für die<br />
Vermehrung gesichert hat, so verzichtet er freiwillig darauf,<br />
sich fortzupflanzen, und läßt die Erfolgreichen in Ruhe, damit<br />
sie <strong>de</strong>n Fortbestand <strong>de</strong>r Art sichern können.<br />
Die Dominanzhierarchie interpretiert Wynne-Edwards auf<br />
eine ähnliche Weise. Bei vielen Tiergruppen, vor allem in<br />
Gefangenschaft, in einigen Fällen aber auch in freier Wildbahn,<br />
lernen die Tiere, einan<strong>de</strong>r individuell zu erkennen, und sie<br />
lernen außer<strong>de</strong>m, <strong>wen</strong> sie im Kampf besiegen können und<br />
von wem sie selbst gewöhnlich besiegt wer<strong>de</strong>n. Wie wir in<br />
Kapitel 5 gesehen haben, unterwerfen sie sich gewöhnlich <strong>de</strong>n<br />
Individuen, von <strong>de</strong>nen sie „wissen“, daß sie ihnen wahrscheinlich<br />
sowieso unterliegen wür<strong>de</strong>n. Daher kann ein Zoologe eine<br />
Dominanzhierarchie o<strong>de</strong>r „Hackordnung“ (so genannt, weil sie<br />
zum ersten Mal bei Hennen beschrieben wur<strong>de</strong>) aufstellen –<br />
eine gesellschaftliche Rangordnung, in <strong>de</strong>r je<strong>de</strong>r seinen Platz<br />
kennt und keiner auf Gedanken kommt, die seinem Rang nicht<br />
angemessen sind. Natürlich fin<strong>de</strong>n hin und wie<strong>de</strong>r wirklich<br />
ernste Kämpfe statt, und zuweilen können einzelne Tiere eine<br />
Beför<strong>de</strong>rung über ihre früheren unmittelbaren Ranghöheren<br />
hinaus erringen. Doch wie wir in Kapitel 5 gesehen haben,<br />
wirkt sich die automatische Unterwerfung <strong>de</strong>r rangnie<strong>de</strong>ren<br />
Individuen im allgemeinen so aus, daß tatsächlich <strong>wen</strong>ige langwierige<br />
Kämpfe stattfin<strong>de</strong>n und selten schwere Verletzungen<br />
vorkommen.<br />
Viele Leute halten dies auf verschwommen gruppenselektionistische<br />
Weise für eine „gute Sache“. Wynne-Edwards’<br />
Interpretation ist aber sehr viel kühner. Die Wahrscheinlichkeit,<br />
sich zu vermehren, ist für ranghöhere Individuen größer<br />
als für rangnie<strong>de</strong>re, entwe<strong>de</strong>r weil die Weibchen ranghöhere<br />
Männchen vorziehen o<strong>de</strong>r weil diese mit physischer Gewalt<br />
rangnie<strong>de</strong>re Männchen daran hin<strong>de</strong>rn, in die Nähe <strong>de</strong>r Weib-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 184<br />
chen zu gelangen. In Wynne-Edwards’ Augen ist hoher sozialer<br />
Rang eine weitere Eintrittskarte, die zur Rep<strong>ro</strong>duktion berechtigt.<br />
Statt unmittelbar um die Weibchen selbst zu kämpfen,<br />
kämpfen die Individuen um sozialen Status und akzeptieren<br />
dann, daß sie nicht zur Fortpflanzung berechtigt sind, <strong>wen</strong>n sie<br />
nicht hoch oben auf <strong>de</strong>r sozialen Leiter ankommen. Sie halten<br />
sich, <strong>wen</strong>n es um die Weibchen selbst geht, zurück – obwohl sie<br />
immer wie<strong>de</strong>r einmal versuchen mögen, einen höheren Status<br />
zu erringen; man könnte daher sagen, daß sie mittelbar um<br />
Weibchen konkurrieren. Doch dieses „freiwillige Akzeptieren“<br />
<strong>de</strong>r Regel, daß sich nur Männchen mit hohem Status vermehren<br />
dürfen, führt nach Wynne-Edwards’ Ansicht wie im Fall<br />
<strong>de</strong>s Territorialverhaltens dazu, daß die Populationen nicht zu<br />
schnell wachsen. Statt zu viele Junge zu bekommen und dann<br />
durch böse Erfahrungen herauszufin<strong>de</strong>n, daß dies ein Fehler<br />
war, benutzen Populationen formale Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen<br />
über Status und Territorium, um ihre Größe knapp unter <strong>de</strong>m<br />
Niveau zu halten, bei <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Hungertod selbst tatsächlich<br />
einen Tribut verlangt.<br />
Vielleicht die verblüffendste von Wynne-Edwards’ Vorstellungen<br />
ist die <strong>de</strong>s epi<strong>de</strong>iktischen Verhaltens – ein Ausdruck,<br />
<strong>de</strong>n er selbst geprägt hat. Viele Tiere bringen beträchtliche <strong>Zeit</strong><br />
in Scharen, Her<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r Schwärmen zu. Es gibt verschie<strong>de</strong>ne<br />
mehr o<strong>de</strong>r <strong>wen</strong>iger vernünftige Vermutungen darüber, aus<br />
welchem Grun<strong>de</strong> die natürliche Auslese ein solches Ansammlungsverhalten<br />
geför<strong>de</strong>rt haben mag, und auf einige von ihnen<br />
wer<strong>de</strong> ich in Kapitel 10 noch zu sprechen kommen. Wynne-<br />
Edwards hat eine ganz eigene Vorstellung entwickelt. Seiner<br />
Ansicht nach führen Stare, <strong>wen</strong>n sie sich abends in riesigen<br />
Schwärmen sammeln, o<strong>de</strong>r Mücken, die als Wolke über einem<br />
Torpfosten tanzen, eine Volkszählung durch. Da er vermutet,<br />
daß die einzelnen Tiere ihre Geburtenrate im Interesse <strong>de</strong>r<br />
Gruppe beschränken und, <strong>wen</strong>n die Populationsdichte hoch ist,<br />
<strong>wen</strong>iger Junge bekommen, ist es vernünftig, <strong>wen</strong>n er annimmt,<br />
daß sie eine Möglichkeit zur Messung <strong>de</strong>r Populationsdichte<br />
haben müssen – ähnlich wie ein Thermostat als wichtigen<br />
Bestandteil seines Mechanismus ein Thermometer braucht.
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 185<br />
Für Wynne-Edwards ist epi<strong>de</strong>iktisches Verhalten ein absichtliches<br />
Sammeln, das die Schätzung <strong>de</strong>r Populationsgröße<br />
erleichtert. Er meint keine bewußte Schätzung, son<strong>de</strong>rn einen<br />
automatischen nervösen o<strong>de</strong>r hormonalen Mechanismus, <strong>de</strong>r<br />
in <strong>de</strong>n einzelnen Tieren eine Verbindung zwischen <strong>de</strong>r Sinneswahrnehmung<br />
<strong>de</strong>r Populationsdichte und <strong>de</strong>n Rep<strong>ro</strong>duktionssystemen<br />
herstellt.<br />
Ich habe, <strong>wen</strong>n auch in ziemlich knapper Form, Wynne-<br />
Edwards’ Theorie gerecht zu wer<strong>de</strong>n versucht. Wenn mir dies<br />
gelungen ist, so sollte <strong>de</strong>r Leser jetzt überzeugt sein, daß diese<br />
Theorie auf <strong>de</strong>n ersten Blick ziemlich einleuchtend erscheint.<br />
Aber die vorangegangenen Kapitel dieses Buches müßten ihn<br />
skeptisch gestimmt haben, und zwar <strong>de</strong>rart skeptisch, daß<br />
er sagt: So einleuchtend die Theorie auch klingen mag, die<br />
Beweise für sie müssen gut sein, an<strong>de</strong>rnfalls ... Und bedauerlicherweise<br />
sind die Beweise nicht gut. Sie bestehen aus einer<br />
langen Reihe von Beispielen, die zwar auf Wynne-Edwards’<br />
Art interpretiert wer<strong>de</strong>n können, die sich aber ebensogut im<br />
Sinne <strong>de</strong>r konventionellen Theorie vom „egoistischen Gen“<br />
interpretieren lassen.<br />
Der Haupturheber <strong>de</strong>r Genegoismus-Theorie <strong>de</strong>r Familienplanung<br />
– <strong>wen</strong>n er auch niemals diese Bezeichnung benutzt<br />
hätte – war <strong>de</strong>r g<strong>ro</strong>ße Ökologe David Lack. Er beschäftigte<br />
sich vor allem mit <strong>de</strong>r Gelegegröße bei freileben<strong>de</strong>n Vögeln,<br />
doch seine Theorien und Schlußfolgerungen haben <strong>de</strong>n Vorteil,<br />
allgemein an<strong>wen</strong>dbar zu sein. Je<strong>de</strong> Vogelart hat eine typische<br />
Gelegegröße. Beispielsweise brüten Baßtölpel und T<strong>ro</strong>ttellummen<br />
jeweils ein Ei aus, Mauersegler drei, Kohlmeisen ein<br />
halbes Dutzend o<strong>de</strong>r mehr. Dabei gibt es Variationen: Manche<br />
Mauersegler legen nur zwei Eier, Kohlmeisen bis zu zwölf. Es<br />
ist eine vernünftige Annahme, daß die Zahl <strong>de</strong>r Eier, die ein<br />
Weibchen legt und ausbrütet, zumin<strong>de</strong>st zum Teil genetisch<br />
kont<strong>ro</strong>lliert ist, wie je<strong>de</strong>s an<strong>de</strong>re Merkmal auch. Das heißt, es<br />
gibt vielleicht ein Gen für das Legen von zwei Eiern, ein rivalisieren<strong>de</strong>s<br />
Allel für drei Eier, ein weiteres Allel für vier und<br />
so weiter, <strong>wen</strong>n es auch in <strong>de</strong>r Realität nicht ganz so einfach<br />
sein dürfte. Nun verlangt die Theorie <strong>de</strong>s egoistischen Gens,
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 186<br />
daß wir fragen, welches dieser Allele im Genpool zahlreicher<br />
wer<strong>de</strong>n wird. Oberflächlich betrachtet könnte man meinen,<br />
das Gen für das Legen von vier Eiern müsse gegenüber <strong>de</strong>n<br />
Genen für das Legen von dreien o<strong>de</strong>r zweien im Vorteil sein.<br />
Eine kurze Überlegung zeigt jedoch, daß diese einfache Vorstellung<br />
von „Je-mehr-<strong>de</strong>sto-besser“ nicht richtig sein kann.<br />
Sie führt zu <strong>de</strong>r Schlußfolgerung, daß fünf Eier besser sein<br />
müßten als vier, zehn noch besser, hun<strong>de</strong>rt wie<strong>de</strong>rum besser<br />
und unendlich viele am allerbesten. Mit an<strong>de</strong>ren Worten: Diese<br />
Logik führt zu einem absur<strong>de</strong>n Ergebnis. Es liegt auf <strong>de</strong>r<br />
Hand, daß das Legen einer g<strong>ro</strong>ßen Eierzahl nicht nur Vorteile<br />
bringt, son<strong>de</strong>rn auch Kosten verursacht. Mehr Nachwuchs zu<br />
p<strong>ro</strong>duzieren be<strong>de</strong>utet unweigerlich, <strong>wen</strong>iger für ihn sorgen zu<br />
können. Der Kernpunkt von Lacks Gedanken ist, daß es für<br />
je<strong>de</strong> Spezies in je<strong>de</strong>r gegebenen Umweltsituation eine optimale<br />
Gelegegröße geben muß. Der Unterschied zwischen Lacks und<br />
Wynne-Edwards’ Meinung liegt in <strong>de</strong>r Antwort auf die Frage:<br />
„Optimal von wessen Standpunkt?“ Wynne-Edwards wür<strong>de</strong><br />
sagen, das wichtige Optimum, <strong>de</strong>m alle Individuen zustreben<br />
sollten, ist das Optimum für die Gruppe. Lack wür<strong>de</strong> sagen,<br />
je<strong>de</strong>s egoistische Individuum wählt die Gelegegröße, durch<br />
welche die Zahl <strong>de</strong>r Jungen, die es aufzieht, maximiert wird.<br />
Wenn drei die optimale Gelegegröße für Mauersegler ist, so<br />
be<strong>de</strong>utet dies für Lack, daß je<strong>de</strong>s Individuum, das vier Küken<br />
g<strong>ro</strong>ßzuziehen versucht, am En<strong>de</strong> wahrscheinlich <strong>wen</strong>iger<br />
Nachkommen haben wird als rivalisieren<strong>de</strong>, vorsichtigere Individuen,<br />
die nur drei aufzuziehen versuchen. Der augenfällige<br />
Grund dafür wäre, daß die Nahrung – auf die vier Jungen verteilt<br />
– so knapp ist, daß nur <strong>wen</strong>ige von ihnen bis ins Erwachsenenalter<br />
überleben. Dies wür<strong>de</strong> sowohl für die anfängliche<br />
Verteilung von Dotter auf die vier Eier als auch für die später<br />
an die vier Küken verfütterte Nahrung gelten. Nach Lack regulieren<br />
die Individuen daher ihre Gelegegröße aus Grün<strong>de</strong>n,<br />
die alles an<strong>de</strong>re als altruistisch sind. Sie praktizieren Geburtenkont<strong>ro</strong>lle<br />
nicht, um eine Überbelastung <strong>de</strong>r Ressourcen <strong>de</strong>r<br />
Gruppe zu verhin<strong>de</strong>rn, son<strong>de</strong>rn um die Anzahl ihrer tatsächlich<br />
überleben<strong>de</strong>n Jungen zu maximieren – ein Ziel, das das genaue
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 187<br />
Gegenteil <strong>de</strong>ssen ist, was wir gewöhnlich mit Geburtenkont<strong>ro</strong>lle<br />
assoziieren.<br />
Die Aufzucht junger Vögel ist eine kostspielige Angelegenheit.<br />
Die Mutter muß eine g<strong>ro</strong>ße Menge Nahrung und Energie<br />
für die Erzeugung <strong>de</strong>r Eier auf<strong>wen</strong><strong>de</strong>n. Möglicherweise mit<br />
Hilfe <strong>de</strong>s Männchens investiert sie beträchtliche Anstrengungen<br />
in <strong>de</strong>n Bau eines Nestes, das ihre Eier beherbergen und<br />
schützen soll. Die Eltern verbringen Wochen mit geduldigem<br />
Ausbrüten <strong>de</strong>r Eier. Wenn die Jungen dann ausgeschlüpft<br />
sind, arbeiten sich die Eltern fast zu To<strong>de</strong>, in<strong>de</strong>m sie mehr<br />
o<strong>de</strong>r <strong>wen</strong>iger pausenlos und ohne auszuruhen Futter für sie<br />
heranschleppen. Wie wir bereits gesagt haben, bringt eine<br />
Kohlmeise, solange Tageslicht herrscht, alle 30 Sekun<strong>de</strong>n ein<br />
Bröckchen Futter zum Nest. Säugetiere wie wir selbst gehen<br />
auf eine geringfügig an<strong>de</strong>re Weise vor, <strong>de</strong>r Grundgedanke<br />
aber, daß Rep<strong>ro</strong>duktion eine kostspielige Angelegenheit ist,<br />
vor allem für die Mütter, ist <strong>de</strong>shalb nicht <strong>wen</strong>iger wahr. Es<br />
liegt auf <strong>de</strong>r Hand, daß eine Mutter, die versuchen wür<strong>de</strong>, ihre<br />
begrenzten Mittel an Futter und Kraft auf zu viele Kin<strong>de</strong>r<br />
zu verteilen, letzten En<strong>de</strong>s <strong>wen</strong>iger g<strong>ro</strong>ßziehen wür<strong>de</strong>, als<br />
<strong>wen</strong>n sie von vornherein etwas beschei<strong>de</strong>ner gewesen wäre.<br />
Sie muß Gebären und Pflegen gegeneinan<strong>de</strong>r abwägen. Die<br />
Gesamtmenge an Nahrung und an<strong>de</strong>ren Mitteln, die ein einzelnes<br />
Weibchen o<strong>de</strong>r ein Elternpaar aufbringen kann, ist <strong>de</strong>r<br />
begrenzen<strong>de</strong> Faktor, <strong>de</strong>r bestimmt, wie viele Kin<strong>de</strong>r sie aufziehen<br />
können. Die natürliche Auslese bewirkt nach <strong>de</strong>r Lackschen<br />
Theorie ein Angleichen <strong>de</strong>r anfänglichen Gelege- beziehungsweise<br />
Wurfgröße <strong>de</strong>rgestalt, daß diese begrenzten Mittel<br />
maximal ausgenutzt wer<strong>de</strong>n.<br />
Individuen, die zu viele Kin<strong>de</strong>r haben, wer<strong>de</strong>n bestraft; nicht<br />
dadurch, daß die ganze Population ausstirbt, son<strong>de</strong>rn einfach<br />
damit, daß nur <strong>wen</strong>ige ihrer Kin<strong>de</strong>r überleben. Gene für das<br />
Bekommen von zu vielen Kin<strong>de</strong>rn wer<strong>de</strong>n einfach nicht in<br />
g<strong>ro</strong>ßen Mengen an die nächste Generation weitergegeben, weil<br />
<strong>wen</strong>ige <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r, die diese Gene in sich tragen, das Erwachsenenalter<br />
erreichen. Nun ist, was <strong>de</strong>n mo<strong>de</strong>rnen, zivilisierten<br />
Menschen betrifft, folgen<strong>de</strong>s geschehen: Die Größe <strong>de</strong>r Familie
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 188<br />
ist nicht mehr durch die begrenzten Mittel beschränkt, die die<br />
einzelnen Eltern aufbringen können. Wenn ein Mann und seine<br />
Frau mehr Kin<strong>de</strong>r haben, als sie ernähren können, so greift<br />
einfach <strong>de</strong>r Staat ein, das heißt <strong>de</strong>r Rest <strong>de</strong>r Bevölkerung, und<br />
hält die überzähligen Kin<strong>de</strong>r am Leben und bei Gesundheit. Es<br />
gibt in <strong>de</strong>r Tat nichts, was ein Ehepaar, welches keinerlei materielle<br />
Mittel besitzt, daran hin<strong>de</strong>rn könnte, so viele Kin<strong>de</strong>r zu<br />
haben und aufzuziehen, wie die Frau physisch verkraften kann.<br />
Aber <strong>de</strong>r Wohlfahrtsstaat ist eine sehr unnatürliche Sache. In<br />
<strong>de</strong>r Natur haben Eltern, die mehr Kin<strong>de</strong>r bekommen, als sie<br />
versorgen können, nicht viele Enkel, und ihre Gene wer<strong>de</strong>n<br />
nicht an zukünftige Generationen vererbt. Es besteht keine<br />
Not<strong>wen</strong>digkeit einer altruistischen Begrenzung <strong>de</strong>r Geburtenrate,<br />
weil es in <strong>de</strong>r Natur keinen Wohlfahrtsstaat gibt. Je<strong>de</strong>s<br />
Gen für Unmäßigkeit wird p<strong>ro</strong>mpt bestraft: Die mit diesem Gen<br />
ausgestatteten Kin<strong>de</strong>r verhungern. Da wir Menschen nicht zu<br />
<strong>de</strong>n alten egoistischen Metho<strong>de</strong>n zurückkehren wollen, die<br />
Kin<strong>de</strong>r allzu g<strong>ro</strong>ßer Familien verhungern zu lassen, haben<br />
wir die Familie als eine autarke Einheit abgeschafft und<br />
dafür <strong>de</strong>n Staat eingesetzt. Aber das Privileg <strong>de</strong>r verbürgten<br />
Unterstützung für Kin<strong>de</strong>r sollte nicht mißbraucht wer<strong>de</strong>n.<br />
Empfängnisverhütung wird zuweilen als „unnatürlich“ angegriffen.<br />
Und das ist sie, sehr unnatürlich sogar. Aber auch <strong>de</strong>r<br />
Wohlfahrtsstaat ist unnatürlich, und ich glaube, daß die meisten<br />
von uns ihn für sehr wünschenswert halten. Doch man<br />
kann keinen unnatürlichen Wohlfahrtsstaat haben, <strong>wen</strong>n man<br />
nicht auch unnatürliche Geburtenkont<strong>ro</strong>lle hat, an<strong>de</strong>rnfalls<br />
wird das En<strong>de</strong>rgebnis noch größeres Elend sein, als es in <strong>de</strong>r<br />
Natur vorherrscht. Der Wohlfahrtsstaat ist vielleicht das größte<br />
altruistische System, das das Tierreich je gekannt hat. Aber<br />
je<strong>de</strong>s altruistische System ist von Natur aus instabil, weil<br />
es <strong>de</strong>m Mißbrauch durch egoistische Individuen offensteht.<br />
Die einzelnen Menschen, die mehr Kin<strong>de</strong>r bekommen, als<br />
sie versorgen können, sind in <strong>de</strong>n meisten Fällen wahrscheinlich<br />
zu unwissend, als daß man sie böswilliger Ausnutzung<br />
beschuldigen könnte. Mächtige Institutionen und führen<strong>de</strong><br />
Persönlichkeiten, die sie bewußt dazu ermutigen, scheinen mir
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 189<br />
von diesem Verdacht <strong>wen</strong>iger frei zu sein.<br />
Kehren wir zu <strong>de</strong>n freileben<strong>de</strong>n Tieren zurück: Die Lacksche<br />
Argumentation bezüglich <strong>de</strong>r Gelegegröße läßt sich auf<br />
alle an<strong>de</strong>ren Beispiele aus<strong>de</strong>hnen, die Wynne-Edwards benutzt<br />
hat: Territorialverhalten, Dominanzhierarchie und so weiter.<br />
Nehmen wir beispielsweise das Schottische Moorschneehuhn,<br />
über das er und seine Kollegen gearbeitet haben. Diese Vögel<br />
ernähren sich von Hei<strong>de</strong>kraut und teilen das Hei<strong>de</strong>land in Territorien<br />
auf, die augenscheinlich mehr Nahrung enthalten, als<br />
die Revierbesitzer tatsächlich brauchen. Zu Beginn <strong>de</strong>r Paarungszeit<br />
kämpfen sie um Territorien, aber nach einer Weile<br />
scheinen die Verlierer zu akzeptieren, daß sie versagt haben,<br />
und kämpfen nicht weiter. Sie wer<strong>de</strong>n zu Ausgestoßenen, die<br />
niemals ein Revier bekommen. Bis zum En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Brutzeit sind<br />
sie größtenteils verhungert. Nur wer ein Territorium hat, vermehrt<br />
sich. Daß die revierlosen Individuen körperlich in <strong>de</strong>r<br />
Lage sind, Nachkommen zu zeugen und aufzuziehen, zeigt<br />
sich, <strong>wen</strong>n ein Territoriumsbesitzer erlegt wird: Sein Platz wird<br />
unverzüglich von einem <strong>de</strong>r früheren Ausgestoßenen eingenommen,<br />
<strong>de</strong>r sich dann vermehrt. Wynne-Edwards’ Interpretation<br />
dieses extremen Territorialverhaltens zufolge „akzeptieren“<br />
die Ausgestoßenen, wie wir gesehen haben, daß es ihnen<br />
nicht gelungen ist, eine Eintrittskarte o<strong>de</strong>r Genehmigung zum<br />
Fortpflanzen zu erringen; sie machen keinen Versuch, Nachkommen<br />
zu zeugen.<br />
Auf <strong>de</strong>n ersten Blick scheint es schwierig zu sein, dieses<br />
Beispiel mit <strong>de</strong>r Theorie <strong>de</strong>s egoistischen Gens zu erklären.<br />
Warum versuchen die Ausgestoßenen nicht wie<strong>de</strong>r und wie<strong>de</strong>r,<br />
einen Territoriumsbesitzer zu verdrängen – so lange, bis sie vor<br />
Erschöpfung sterben? Sie haben doch allem Anschein nach<br />
nichts zu verlieren. Aber vielleicht trügt dieser Anschein. Wie<br />
wir bereits gesehen haben, hat ein Ausgestoßener die Chance,<br />
<strong>de</strong>n Platz eines Revierbesitzers einzunehmen, <strong>wen</strong>n dieser<br />
sterben sollte, und daher auch eine Chance, sich fortzupflanzen.<br />
Wenn die Wahrscheinlichkeit, auf diese Weise ein Territorium<br />
übernehmen zu können, größer ist als die, eines im Kampf<br />
zu erringen, dann könnte es sich für einen Ausgestoßenen als
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 190<br />
selbstsüchtiges Individuum auszahlen, lieber zu warten – in<br />
<strong>de</strong>r Hoffnung, daß jemand stirbt –, als sein bißchen Energie<br />
in aussichtslosen Kämpfen zu vergeu<strong>de</strong>n. Für Wynne-Edwards<br />
besteht die Funktion <strong>de</strong>s Ausgestoßenen für das Wohl <strong>de</strong>r<br />
Gruppe darin, als Ersatzmann in <strong>de</strong>n Kulissen zu warten –<br />
bereit, in die Rolle irgen<strong>de</strong>ines Revierbesitzers zu schlüpfen,<br />
<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>r Bühne <strong>de</strong>r Gruppenrep<strong>ro</strong>duktion stirbt. Wir haben<br />
jetzt erkannt, daß dies genausogut die Strategie eines egoistischen<br />
Individuums sein könnte. Wie wir in Kapitel 4 gesehen<br />
haben, können wir die Tiere als Spieler betrachten. Die beste<br />
Strategie für einen Spieler ist zuweilen die <strong>de</strong>s Abwartens und<br />
Hoffens und nicht die <strong>de</strong>s „wüten<strong>de</strong>n Stieres“.<br />
Auf ähnliche Weise lassen sich die vielen an<strong>de</strong>ren Beispiele<br />
von Tieren, die <strong>de</strong>n nichtrep<strong>ro</strong>duktiven Status passiv zu<br />
„akzeptieren“ scheinen, ziemlich leicht mit <strong>de</strong>r Theorie <strong>de</strong>s<br />
egoistischen Gens erklären. In ihrer allgemeinen Form ist die<br />
Erklärung immer dieselbe: Der sicherste Schachzug für das<br />
Individuum ist, sich in <strong>de</strong>r Hoffnung auf bessere Chancen vorerst<br />
zurückzuhalten. Ein Robbenmännchen, das die Haremsbesitzer<br />
in Ruhe läßt, tut dies nicht zum Wohl <strong>de</strong>r Gruppe. Es<br />
wartet auf eine günstige Gelegenheit. Selbst <strong>wen</strong>n eine solche<br />
Gelegenheit niemals kommt und das Männchen schließlich<br />
ohne Nachkommen bleibt – die Taktik hätte sich auszahlen<br />
können, auch <strong>wen</strong>n wir im nachhinein wissen, daß sie es in<br />
diesem Fall nicht getan hat. Wenn Lemminge in Millionenscharen<br />
vom Zentrum <strong>de</strong>r Bevölkerungsexplosion wegströmen,<br />
tun sie dies nicht, um die Populationsdichte in <strong>de</strong>m Gebiet,<br />
das sie verlassen, zu vermin<strong>de</strong>rn! Sie suchen – je<strong>de</strong>r einzelne<br />
egoistische Lemming sucht – einen <strong>wen</strong>iger überfüllten Platz<br />
zum Leben. Daß es irgen<strong>de</strong>inem einzelnen unter ihnen nicht<br />
gelingt, einen solchen Platz zu fin<strong>de</strong>n, und daß er stirbt, ist<br />
etwas, das wir im nachhinein sehen können. Es än<strong>de</strong>rt nichts<br />
an <strong>de</strong>r Tatsache, daß Dableiben vielleicht eine noch schlechtere<br />
Strategie gewesen wäre.<br />
Es ist gut dokumentiert, daß Überbevölkerung zuweilen die<br />
Geburtenrate reduziert. Dies wird manchmal als Beweis für<br />
die Theorie von Wynne-Edwards herangezogen, allerdings zu
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 191<br />
Unrecht. Diese Tatsache ist mit seiner Theorie vereinbar, und<br />
genauso vereinbar ist sie mit <strong>de</strong>r Theorie <strong>de</strong>s egoistischen<br />
Gens. Beispielsweise hat man bei einem Experiment Mäuse<br />
in ein Freigehege mit ausreichend Nahrung gesetzt und sich<br />
ungehin<strong>de</strong>rt vermehren lassen. Die Population wuchs nur bis<br />
zu einem bestimmten Punkt an und blieb dann zahlenmäßig<br />
gleich. Als Ursache dafür stellte sich heraus, daß die Fruchtbarkeit<br />
<strong>de</strong>r Weibchen infolge <strong>de</strong>r Überfüllung abnahm: Sie bekamen<br />
<strong>wen</strong>iger Junge. Ein <strong>de</strong>rartiger Effekt ist häufig beschrieben<br />
wor<strong>de</strong>n. Seine unmittelbare Ursache wird oft als „Streß“<br />
bezeichnet, allerdings trägt die Bezeichnung als solche noch<br />
nichts zur Erklärung <strong>de</strong>s Effekts bei. Was auch immer <strong>de</strong>ssen<br />
unmittelbare Ursache sein mag, auf je<strong>de</strong>n Fall müssen wir nach<br />
<strong>de</strong>r letzten, <strong>de</strong>r evolutionären Ursache suchen. Warum för<strong>de</strong>rt<br />
die natürliche Auslese Weibchen, die ihre Geburtenrate bei<br />
Übervölkerung reduzieren? Die Antwort von Wynne-Edwards<br />
ist klar: Die Gruppenselektion begünstigt Gruppen, in <strong>de</strong>nen<br />
die Weibchen die Größe <strong>de</strong>r Population registrieren und ihre<br />
Geburtenrate so anpassen, daß die Nahrungsquellen nicht<br />
übernutzt wer<strong>de</strong>n. Unter <strong>de</strong>n Bedingungen <strong>de</strong>s Experiments<br />
war es nun zufällig so, daß die Nahrung niemals knapp wur<strong>de</strong>,<br />
aber es ist nicht davon auszugehen, daß die Mäuse dies wußten.<br />
Sie sind für das Leben in freier Wildbahn p<strong>ro</strong>grammiert,<br />
und unter natürlichen Bedingungen dürfte Übervölkerung ein<br />
zuverlässiger Indikator für zukünftige Hungersnot sein.<br />
Was sagt die Theorie <strong>de</strong>s egoistischen Gens? Fast genau dasselbe,<br />
aber mit einem entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Unterschied. Der Leser<br />
wird sich erinnern, daß nach Lacks Ansicht die Tiere dazu<br />
tendieren, die von ihrem eigenen egoistischen Standpunkt aus<br />
gesehen optimale Zahl von Jungen zu haben. Wenn sie zu<br />
<strong>wen</strong>ige o<strong>de</strong>r zu viele bekommen, wer<strong>de</strong>n sie schließlich <strong>wen</strong>iger<br />
g<strong>ro</strong>ßziehen, als <strong>wen</strong>n sie genau die richtige Zahl get<strong>ro</strong>ffen<br />
hätten. Nun ist „genau die richtige Zahl“ in einem Jahr mit<br />
sehr hoher Populationsdichte wahrscheinlich kleiner als in<br />
einem Jahr, in <strong>de</strong>m die Bevölkerungsdichte gering ist. Wir<br />
waren uns bereits darüber einig, daß Übervölkerung wahrscheinlich<br />
Hungersnot ankündigt. Zweifellos ist es im eigenen
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 192<br />
Interesse eines Weibchens, seine Geburtenrate zu reduzieren,<br />
<strong>wen</strong>n es verläßliche Vorzeichen einer Hungersnot ent<strong>de</strong>ckt.<br />
Rivalen, die auf die Warnsignale nicht auf diese Weise reagieren,<br />
wer<strong>de</strong>n letzten En<strong>de</strong>s <strong>wen</strong>iger Junge g<strong>ro</strong>ßziehen, selbst<br />
<strong>wen</strong>n sie mehr gebären. Wir kommen also beinahe zum gleichen<br />
Schluß wie Wynne-Edwards, aber wir gelangen mit einer<br />
völlig an<strong>de</strong>ren Art <strong>de</strong>r evolutionären Beweisführung dorthin.<br />
Die Theorie <strong>de</strong>s egoistischen Gens hat noch nicht einmal<br />
Schwierigkeiten mit <strong>de</strong>n „epi<strong>de</strong>iktischen Darstellungen“. Der<br />
Leser wird sich erinnern, daß Wynne-Edwards die Hypothese<br />
aufstellte, die Tiere versammelten sich absichtlich in g<strong>ro</strong>ßen<br />
Mengen, um es allen Individuen leicht zu machen, einen<br />
Zensus durchzuführen und ihre Geburtenraten entsprechend<br />
zu regulieren. Es gibt keinen direkten Beweis dafür, daß irgen<strong>de</strong>ine<br />
Ansammlung tatsächlich epi<strong>de</strong>iktisch ist, aber nehmen<br />
wir ruhig einmal an, man fän<strong>de</strong> einen <strong>de</strong>rartigen Beweis.<br />
Wür<strong>de</strong> dies die Theorie <strong>de</strong>s egoistischen Gens in Verlegenheit<br />
bringen? Nicht im geringsten.<br />
Stare verbringen die Nacht in riesigen Scharen. Nehmen<br />
wir an, es wür<strong>de</strong> nicht nur bewiesen, daß Überbevölkerung im<br />
Winter die Fruchtbarkeit im darauffolgen<strong>de</strong>n Frühjahr senkt,<br />
son<strong>de</strong>rn auch, daß dies unmittelbar darauf zurückzuführen<br />
ist, daß die Vögel die Lautäußerungen <strong>de</strong>r Schar registrieren.<br />
Es ließe sich vielleicht experimentell zeigen, daß Individuen,<br />
die <strong>de</strong>r Tonbandaufnahme eines überfüllten und sehr lauten<br />
Starenschlafplatzes ausgesetzt wur<strong>de</strong>n, <strong>wen</strong>iger Eier legen als<br />
Individuen, die die Aufnahme eines ruhigeren, <strong>wen</strong>iger stark<br />
frequentierten Schlafplatzes hörten. Definitionsgemäß wür<strong>de</strong><br />
dies darauf hin<strong>de</strong>uten, daß die Rufe <strong>de</strong>r Stare tatsächlich<br />
eine epi<strong>de</strong>iktische Darstellung sind. Die Theorie <strong>de</strong>s egoistischen<br />
Gens wür<strong>de</strong> dies fast genauso erklären wie <strong>de</strong>n Fall <strong>de</strong>r<br />
Mäuse.<br />
Wie<strong>de</strong>r gehen wir von <strong>de</strong>r Annahme aus, daß Gene für die<br />
P<strong>ro</strong>duktion von mehr Nachwuchs, als man tatsächlich unterhalten<br />
kann, automatisch bestraft wer<strong>de</strong>n und im Genpool an<br />
Zahl abnehmen. Eine sich effizient fortpflanzen<strong>de</strong> Vogelmutter<br />
muß voraussagen, welches in <strong>de</strong>r kommen<strong>de</strong>n Brutzeit die
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 193<br />
optimale Gelegegröße für sie in ihrer Eigenschaft als egoistisches<br />
Individuum sein wird. Der Leser wird sich von Kapitel 4<br />
her an die beson<strong>de</strong>re Be<strong>de</strong>utung erinnern, in <strong>de</strong>r wir das Wort<br />
Voraussage ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>n. Wie kann nun ein Vogelweibchen seine<br />
optimale Gelegegröße voraussagen? Welche Variablen sollten<br />
in seine Berechnung eingehen? Es mag sein, daß viele Arten<br />
eine feste Voraussage machen, die sich von einem Jahr zum<br />
an<strong>de</strong>ren nicht än<strong>de</strong>rt. So ist für einen Baßtölpel in <strong>de</strong>r Regel<br />
ein Gelege mit nur einem Ei optimal. Möglicherweise steigt das<br />
tatsächliche Optimum in Rekordfischjahren vorübergehend<br />
auf zwei Eier. Doch <strong>wen</strong>n es für die Tölpel keine Möglichkeit<br />
gibt vorherzusehen, ob ein bestimmtes Jahr ein Rekordjahr<br />
sein wird o<strong>de</strong>r nicht, können wir nicht erwarten, daß einzelne<br />
Weibchen das Risiko eingehen, ihre Kräfte auf zwei Eier zu<br />
versch<strong>wen</strong><strong>de</strong>n, <strong>wen</strong>n dies in einem Durchschnittsjahr ihren<br />
Fortpflanzungserfolg beeinträchtigen wür<strong>de</strong>.<br />
Es mag aber an<strong>de</strong>re Arten geben, vielleicht Stare, für die<br />
es im Prinzip möglich ist, im Winter vorauszusagen, ob eine<br />
bestimmte Nahrungsquelle im kommen<strong>de</strong>n Frühjahr eine gute<br />
Ernte liefern wird. Es gibt zahlreiche alte Bauernregeln, <strong>de</strong>nen<br />
zufolge Anzeichen wie beispielsweise <strong>de</strong>r Überfluß von Stechpalmenbeeren<br />
gute Indikatoren für das Wetter im darauffolgen<strong>de</strong>n<br />
Frühjahr sein können. Gleichgültig, ob irgen<strong>de</strong>ine einzelne<br />
Altweibergeschichte wahr ist o<strong>de</strong>r nicht, es ist auf je<strong>de</strong>n<br />
Fall logisch möglich, daß es solche Hinweise gibt und daß eine<br />
gute P<strong>ro</strong>phetin theoretisch ihre Brutgröße von Jahr zu Jahr<br />
so steuern könnte, wie das für sie von Vorteil wäre. Stechpalmenbeeren<br />
mögen verläßliche Indikatoren sein o<strong>de</strong>r nicht, die<br />
Populationsdichte dürfte jedoch – wie im Fall <strong>de</strong>r Mäuse – mit<br />
ziemlicher Wahrscheinlichkeit ein guter Indikator sein. Eine<br />
Starenmutter kann im Prinzip wissen, daß sie im kommen<strong>de</strong>n<br />
Frühjahr, <strong>wen</strong>n sie ihre Jungen wird füttern müssen, mit rivalisieren<strong>de</strong>n<br />
Artgenossen um Nahrung konkurriert. Wenn sie im<br />
Winter irgendwie die örtliche Dichte ihrer eigenen Art schätzen<br />
kann, so könnte ihr dies bei <strong>de</strong>r Voraussage, wie schwierig<br />
es sein wird, im nächsten Frühjahr Futter für junge Vögel zu<br />
bekommen, eine wertvolle Hilfe sein. Stellt sie fest, daß die
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 194<br />
Winterpopulation beson<strong>de</strong>rs g<strong>ro</strong>ß ist, so könnte es von ihrem<br />
eigenen egoistischen Standpunkt sehr wohl eine kluge Strategie<br />
sein, relativ <strong>wen</strong>ige Eier zu legen: Der Schätzwert für ihre<br />
eigene optimale Gelegegröße wür<strong>de</strong> vermin<strong>de</strong>rt.<br />
Nun wird es in <strong>de</strong>m Moment, in <strong>de</strong>m die Individuen<br />
tatsächlich ihre Brutgröße auf <strong>de</strong>r Basis ihrer Schätzung <strong>de</strong>r<br />
Populationsdichte reduzieren, unmittelbar zum Vorteil je<strong>de</strong>s<br />
egoistischen Individuums sein, seinem Rivalen gegenüber vorzugeben,<br />
daß die Population g<strong>ro</strong>ß ist – gleichgültig, ob sie<br />
dies wirklich ist o<strong>de</strong>r nicht. Wenn Stare die Populationsgröße<br />
anhand <strong>de</strong>s Geräuschvolumens an einer Winterschlafstelle<br />
schätzen, so wür<strong>de</strong> es sich für je<strong>de</strong>s Individuum auszahlen, so<br />
laut wie möglich zu rufen, damit es eher wie zwei Stare klingt<br />
als wie einer. Der Gedanke, daß Tiere vorgeben, mehrere Tiere<br />
auf einmal zu sein, ist in einem an<strong>de</strong>ren Zusammenhang von<br />
J. R. Krebs entwickelt wor<strong>de</strong>n und wird als Beau-Geste-Effekt<br />
bezeichnet nach <strong>de</strong>m Roman, in <strong>de</strong>m eine ähnliche Taktik von<br />
einer Einheit <strong>de</strong>r französischen Frem<strong>de</strong>nlegion ange<strong>wen</strong><strong>de</strong>t<br />
wur<strong>de</strong>. Im Fall <strong>de</strong>r Stare ginge es darum, benachbarte Individuen<br />
dazu zu veranlassen, ihre Gelegegröße auf ein Niveau zu<br />
reduzieren, das unter <strong>de</strong>m wirklichen Optimum liegt. Wenn<br />
ich ein Star bin, <strong>de</strong>m dies gelingt, so ist das für mich egoistisches<br />
Individuum ein Vorteil, da ich die Zahl <strong>de</strong>r Individuen<br />
vermin<strong>de</strong>re, die nicht meine Gene tragen. Wir kommen daher<br />
zu <strong>de</strong>m Schluß, daß Wynne-Edwards’ Vorstellung <strong>de</strong>r epi<strong>de</strong>iktischen<br />
Schaustellung tatsächlich eine gute I<strong>de</strong>e sein dürfte:<br />
Möglicherweise hat er von Anfang an recht gehabt, aber aus<br />
<strong>de</strong>n falschen Grün<strong>de</strong>n. Im g<strong>ro</strong>ßen und ganzen ist die Lacksche<br />
Art <strong>de</strong>r Hypothese überzeugend genug, um für alle Beweise,<br />
welche die Theorie <strong>de</strong>r Gruppenselektion zu untermauern<br />
scheinen, eine Erklärung im Sinne <strong>de</strong>s egoistischen Gens zu<br />
liefern – falls <strong>de</strong>rartige Beweise auftauchen sollten.<br />
Unsere Schlußfolgerung aus diesem Kapitel lautet, daß die<br />
einzelnen Eltern Familienplanung praktizieren, aber in <strong>de</strong>m<br />
Sinne, daß sie ihre Geburtenraten optimieren, statt sie um <strong>de</strong>s<br />
Gemeinwohles willen einzuschränken. Sie versuchen, die Zahl<br />
ihrer überleben<strong>de</strong>n Jungen zu maximieren, und das be<strong>de</strong>utet,
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 195<br />
we<strong>de</strong>r zu viele noch zu <strong>wen</strong>ige Nachkommen zu p<strong>ro</strong>duzieren.<br />
Gene, die ein Individuum veranlassen, zu viele Nachkommen<br />
zu haben, tendieren dazu, im Genpool nicht weiterzubestehen,<br />
weil Kin<strong>de</strong>r, die <strong>de</strong>rartige Gene tragen, oft nicht bis zum<br />
Erwachsenenalter überleben.<br />
Soviel also zu quantitativen Überlegungen über die Familien-größe.<br />
Wir <strong>wen</strong><strong>de</strong>n uns nun <strong>de</strong>n Interessenkonflikten<br />
innerhalb <strong>de</strong>r Familie zu. Wird es sich für eine Mutter immer<br />
auszahlen, <strong>wen</strong>n sie alle ihre Kin<strong>de</strong>r gleich behan<strong>de</strong>lt, o<strong>de</strong>r<br />
sollte sie Lieblingskin<strong>de</strong>r haben? Funktioniert die Familie als<br />
eine kooperieren<strong>de</strong> Einheit, o<strong>de</strong>r müssen wir sogar zwischen<br />
<strong>de</strong>n nächsten Verwandten Egoismus und Täuschung erwarten?<br />
Wer<strong>de</strong>n alle Mitglie<strong>de</strong>r einer Familie auf dasselbe Optimum<br />
hin zusammenarbeiten, o<strong>de</strong>r wer<strong>de</strong>n sie „uneinig sein“<br />
darüber, welches dieses Optimum ist? Dies sind die Fragen,<br />
die wir im nächsten Kapitel zu beantworten suchen. Die damit<br />
zusammenhängen<strong>de</strong> Frage, ob es möglicherweise einen Interessenkonflikt<br />
zwischen <strong>de</strong>n Partnern gibt, stellen wir bis zum<br />
Kapitel 9 zurück.
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 196<br />
8. Der Krieg <strong>de</strong>r Generationen<br />
Beginnen wir mit <strong>de</strong>r ersten <strong>de</strong>r am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s vorigen Kapitels<br />
gestellten Fragen: Soll eine Mutter Lieblingskin<strong>de</strong>r haben,<br />
o<strong>de</strong>r sollte sie zu allen gleich uneigennützig sein? Auch hier<br />
muß ich wie<strong>de</strong>r meine gewohnte Warnung anbringen. Das Wort<br />
„Lieblingskind“ hat keinerlei subjektiven Beiklang und das<br />
Wort „sollte“ keinen moralischen. Ich betrachte eine Mutter als<br />
eine Maschine, die so p<strong>ro</strong>grammiert ist, daß sie alles in ihrer<br />
Macht Stehen<strong>de</strong> tut, um Kopien <strong>de</strong>r in ihr eingeschlossenen<br />
Gene zu verbreiten. Weil <strong>de</strong>r Leser und ich Menschen sind,<br />
die wissen, wie es ist, <strong>wen</strong>n man bewußt ein Ziel verfolgt, ist<br />
es für mich zweckmäßig, zur Erklärung <strong>de</strong>s Verhaltens von<br />
Überlebensmaschinen eine Sprache zu benutzen, die normalerweise<br />
zielstrebiges Han<strong>de</strong>ln beschreibt.<br />
Was wür<strong>de</strong> es in <strong>de</strong>r Praxis be<strong>de</strong>uten, <strong>wen</strong>n man sagte, daß<br />
eine Mutter ein Lieblingskind hat? Es wür<strong>de</strong> be<strong>de</strong>uten, daß<br />
sie ihre Mittel ungleich auf ihre Kin<strong>de</strong>r verteilt. Die Mittel,<br />
die eine Mutter in ihre Kin<strong>de</strong>r investieren kann, bestehen aus<br />
einer Vielzahl von Dingen. Das Augenfälligste ist die Nahrung<br />
sowie die Anstrengung, die auf die Futterbeschaffung ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>t<br />
wird, <strong>de</strong>nn diese an sich kostet die Mutter ebenfalls etwas.<br />
Das Risiko, welches die Mutter auf sich nimmt, um ihre Jungen<br />
vor Räubern zu schützen, ist eine weitere Ressource, die sie<br />
„verausgaben“ o<strong>de</strong>r zu verausgaben sich weigern kann. Kraft<br />
und <strong>Zeit</strong>, die die Erhaltung <strong>de</strong>s Nestes o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Wohnung und<br />
<strong>de</strong>r Schutz vor <strong>de</strong>n Elementen kosten, sowie bei einigen Arten<br />
die <strong>Zeit</strong>, die auf die Unterweisung <strong>de</strong>r Jungen verwandt wird,<br />
sind wertvolle Gaben, die eine Mutter ihren Kin<strong>de</strong>rn „nach<br />
Belieben“ gleichmäßig o<strong>de</strong>r ungleichmäßig verteilt zukommen<br />
lassen kann.<br />
Man kann sich schwer eine gemeinsame Währung vorstellen,<br />
in <strong>de</strong>r sich alle diese Mittel, die ein Elternteil investieren<br />
kann, messen lassen. So wie die menschliche Gesellschaft das<br />
Geld als eine universal konvertierbare Währung benutzt, die in<br />
Nahrung o<strong>de</strong>r Grund und Bo<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r Arbeitszeit umgerechnet
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 197<br />
wer<strong>de</strong>n kann, benötigen wir eine Währung, in welcher wir die<br />
Mittel messen können, die eine einzelne Überlebensmaschine<br />
in das Leben eines an<strong>de</strong>ren Lebewesens, insbeson<strong>de</strong>re eines<br />
Kin<strong>de</strong>s, investieren kann. Ein Energiemaß wie die Kalorie<br />
bietet sich an, und tatsächlich befassen sich einige Ökologen<br />
mit <strong>de</strong>r Berechnung <strong>de</strong>r Energiekosten in <strong>de</strong>r Natur. Doch<br />
dieses Maß ist ungeeignet, da es nur ungenau in die Währung<br />
konvertierbar ist, auf die es wirklich ankommt, nämlich <strong>de</strong>n<br />
„Goldstandard“ <strong>de</strong>r Evolution, das Überleben <strong>de</strong>r Gene. R. L.<br />
Trivers löste das P<strong>ro</strong>blem im Jahre 1972 auf geschickte Weise<br />
mit seinem Begriff <strong>de</strong>s Elternaufwands (obwohl man, <strong>wen</strong>n<br />
man zwischen <strong>de</strong>n dichtgedrängten Zeilen liest, <strong>de</strong>n Eindruck<br />
hat, daß <strong>de</strong>r größte Biologe <strong>de</strong>s 20. Jahrhun<strong>de</strong>rts, Sir Ronald<br />
Fisher, schon 1930 mit seinem Begriff <strong>de</strong>r parental expenditure<br />
ziemlich genau dasselbe meinte). 1<br />
Der Elternaufwand ist <strong>de</strong>finiert als „je<strong>de</strong> beliebige Investition<br />
<strong>de</strong>s Elternteils in einen einzelnen Nachkommen, die<br />
<strong>de</strong>ssen Chancen zu überleben (und damit auch sich fortzupflanzen)<br />
auf Kosten <strong>de</strong>r Fähigkeit <strong>de</strong>s Elternteils, in an<strong>de</strong>re<br />
Nachkommen zu investieren, vergrößert“. Das Schöne am Triversschen<br />
Elternaufwand ist, daß er in Einheiten gemessen<br />
wird, die <strong>de</strong>nen, auf die es wirklich ankommt, sehr nahekommen.<br />
Wenn ein Kind einen Teil <strong>de</strong>r Milch seiner Mutter verbraucht,<br />
so wird die Menge dieser Milch we<strong>de</strong>r in Litern noch<br />
in Kalorien gemessen, son<strong>de</strong>rn in Einheiten <strong>de</strong>s Nachteils für<br />
an<strong>de</strong>re Kin<strong>de</strong>r <strong>de</strong>rselben Mutter. Wenn beispielsweise eine<br />
Mutter zwei Babys hat, X und Y, und X einen halben Liter<br />
Milch trinkt, so wird ein G<strong>ro</strong>ßteil <strong>de</strong>s Elternaufwan<strong>de</strong>s, <strong>de</strong>n<br />
dieser halbe Liter Milch verkörpert, in Einheiten <strong>de</strong>r gestiegenen<br />
Wahrscheinlichkeit gemessen, daß Y stirbt, weil es diesen<br />
halben Liter nicht getrunken hat. Der Elternaufwand wird in<br />
Einheiten <strong>de</strong>r Herabsetzung <strong>de</strong>r Lebenserwartung an<strong>de</strong>rer –<br />
bereits geborener o<strong>de</strong>r zukünftiger – Kin<strong>de</strong>r gemessen.<br />
Dennoch ist <strong>de</strong>r Elternaufwand kein i<strong>de</strong>ales Maß, weil er die<br />
Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r Elternschaft im Verhältnis zu an<strong>de</strong>ren genetischen<br />
Verwandtschaftsverhältnissen überbetont. Im I<strong>de</strong>alfall<br />
sollten wir ein allgemeiner an<strong>wen</strong>dbares Maß benutzen: <strong>de</strong>n
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 198<br />
Altruismusaufwand. Man kann sagen, daß Individuum A in<br />
Individuum B investiert, <strong>wen</strong>n es <strong>de</strong>ssen Überlebenschancen<br />
auf Kosten seiner eigenen Fähigkeit vergrößert, in an<strong>de</strong>re<br />
Individuen einschließlich seiner selbst zu investieren, wobei<br />
alle Kosten entsprechend <strong>de</strong>m jeweiligen Verwandtschaftsgrad<br />
gewichtet wer<strong>de</strong>n. So sollte die Investition einer Mutter in<br />
irgen<strong>de</strong>ines ihrer Kin<strong>de</strong>r im I<strong>de</strong>alfall in Form <strong>de</strong>r vermin<strong>de</strong>rten<br />
Lebenserwartung nicht nur ihrer an<strong>de</strong>ren Kin<strong>de</strong>r, son<strong>de</strong>rn<br />
auch ihrer Neffen, Nichten, ihrer selbst und so weiter gemessen<br />
wer<strong>de</strong>n. In vielerlei Hinsicht ist dies jedoch nichts an<strong>de</strong>res<br />
als Haarspalterei, und Trivers’ Maß ist in <strong>de</strong>r Praxis sehr gut<br />
brauchbar.<br />
Nun verfügt je<strong>de</strong>s einzelne erwachsene Weibchen in seiner<br />
gesamten Lebenszeit über eine bestimmte Gesamtmenge an<br />
Elternaufwand, die es in Kin<strong>de</strong>r investieren kann (sowie in<br />
an<strong>de</strong>re Verwandte und in sich selbst; <strong>de</strong>r Einfachheit halber<br />
betrachten wir aber nur Kin<strong>de</strong>r). Dieser Elternaufwand entspricht<br />
<strong>de</strong>r Summe aller Nahrung, die die Mutter in einem<br />
Leben voller Arbeit sammeln o<strong>de</strong>r p<strong>ro</strong>duzieren kann, aller<br />
Risiken, die sie auf sich zu nehmen bereit ist, und aller Energie<br />
und Anstrengung, die sie für das Wohlergehen ihrer Kin<strong>de</strong>r<br />
aufbringen kann. Wie sollte ein junges Weibchen, das an <strong>de</strong>r<br />
Schwelle seines Erwachsenenlebens steht, das Kapital seines<br />
Lebens anlegen? Welches wäre eine kluge Anlagepolitik, die<br />
es befolgen könnte? Der Lackschen Theorie zufolge sollte es<br />
seine begrenzten Mittel nicht auf zu viele Junge verteilen. Auf<br />
diese Weise wird es zu viele Gene verlieren: Es wird nicht<br />
genug Enkel bekommen. An<strong>de</strong>rerseits darf es auch nicht seine<br />
gesamten Mittel auf zu <strong>wen</strong>ige Kin<strong>de</strong>r – verzogene Gören –<br />
konzentrieren. Zwar mag es sich damit tatsächlich ein paar<br />
Enkelkin<strong>de</strong>r sichern. Aber Rivalinnen, die in die optimale Kin<strong>de</strong>rzahl<br />
investieren, wer<strong>de</strong>n letzten En<strong>de</strong>s mehr Enkel haben.<br />
Soviel über eine unparteiische Anlagepolitik. Im Moment interessiert<br />
uns die Frage, ob es sich für eine Mutter jemals auszahlen<br />
könnte, ihr Kapital ungleich unter ihre Kin<strong>de</strong>r zu verteilen,<br />
das heißt, ob sie einige ihrer Kin<strong>de</strong>r bevorzugen sollte.<br />
Die Antwort lautet, daß es genetisch keinen Grund gibt,
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 199<br />
warum eine Mutter Lieblingskin<strong>de</strong>r haben sollte. Ihr Verwandtschaftsgrad<br />
ist mit je<strong>de</strong>m ihrer Kin<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r gleiche, nämlich<br />
1/2. Ihre optimale Strategie ist die gleichmäßige Investition in<br />
die größte Zahl von Kin<strong>de</strong>rn, die sie bis zu <strong>de</strong>m Alter aufziehen<br />
kann, in <strong>de</strong>m diese selber Kin<strong>de</strong>r bekommen. Doch wir<br />
haben bereits gesehen, daß manche Individuen ein geringeres<br />
Lebensversicherungsrisiko sind als an<strong>de</strong>re. Ein zu klein geratenes,<br />
verkümmertes Junges trägt genauso viele Gene seiner<br />
Mutter wie seine besser gediehenen Wurfgeschwister. Aber<br />
seine Lebenserwartung ist geringer. An<strong>de</strong>rs ausgedrückt heißt<br />
das, daß es mehr als seinen gerechten Anteil <strong>de</strong>s Elternaufwands<br />
benötigt, um überhaupt erst einmal <strong>de</strong>n Vorsprung<br />
seiner Geschwister aufzuholen. Unter Umstän<strong>de</strong>n kann es<br />
sich für eine Mutter lohnen, <strong>wen</strong>n sie sich weigert, einen<br />
Kümmerling zu füttern, und statt <strong>de</strong>ssen seinen gesamten<br />
Anteil an Elternaufwand auf seine Brü<strong>de</strong>r und Schwestern<br />
verteilt. Es kann sich für sie sogar auszahlen, dieses Junge<br />
an seine Geschwister zu verfüttern o<strong>de</strong>r es selber zu fressen<br />
und zur Milchp<strong>ro</strong>duktion zu ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>n. Schweine verschlingen<br />
gelegentlich ihre Jungen, aber ich weiß nicht, ob sie speziell<br />
die im Wachstum zurückgebliebenen Ferkel herausgreifen.<br />
Das Beispiel <strong>de</strong>s Kümmerlings ist ein Son<strong>de</strong>rfall. Allgemeinere<br />
Aussagen können wir darüber machen, wie die Bereitschaft<br />
einer Mutter, in ein Kind zu investieren, durch <strong>de</strong>ssen<br />
Alter beeinflußt wer<strong>de</strong>n könnte. Wenn sie vor die Wahl gestellt<br />
wird, von zwei Kin<strong>de</strong>rn einem das Leben zu retten, wobei<br />
das, welches sie nicht rettet, sterben muß, so sollte sie das<br />
ältere vorziehen. Wenn dieses stirbt, verliert sie nämlich einen<br />
höheren Anteil <strong>de</strong>s Elternaufwands ihres gesamten Lebens,<br />
als <strong>wen</strong>n das jüngere Kind stirbt. Dies läßt sich vielleicht<br />
folgen<strong>de</strong>rmaßen besser ausdrücken: Wenn sie <strong>de</strong>n kleinen<br />
Bru<strong>de</strong>r rettet, so wird sie, allein um ihn bis zum Alter seines<br />
g<strong>ro</strong>ßen Bru<strong>de</strong>rs aufzuziehen, noch einige wertvolle Mittel in<br />
ihn investieren müssen.<br />
Wenn an<strong>de</strong>rerseits die Wahl, die sie zu treffen hat, nicht eine<br />
<strong>de</strong>rart unbarmherzige Entscheidung über Leben und Tod ist,<br />
so könnte es günstiger sein, das jüngere Kind zu bevorzugen.
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 200<br />
Nehmen wir zum Beispiel an, das Dilemma <strong>de</strong>r Mutter bestehe<br />
in <strong>de</strong>r Frage, ob sie einen bestimmten Futterb<strong>ro</strong>cken einem<br />
kleinen o<strong>de</strong>r einem g<strong>ro</strong>ßen Kind geben soll. Das größere ist<br />
wahrscheinlich eher in <strong>de</strong>r Lage, sich sein Futter selbst zu<br />
suchen. Wenn sie aufhörte, es zu füttern, wür<strong>de</strong> es also nicht<br />
unbedingt sterben müssen. An<strong>de</strong>rerseits wür<strong>de</strong> das kleine<br />
Kind, da es zu jung ist, um selbst Nahrung zu fin<strong>de</strong>n, mit<br />
größerer Wahrscheinlichkeit sterben müssen, <strong>wen</strong>n die Mutter<br />
das Futter seinem größeren Bru<strong>de</strong>r gäbe. Deshalb kann es<br />
sein, daß die Mutter, selbst <strong>wen</strong>n ihr das Überleben <strong>de</strong>s g<strong>ro</strong>ßen<br />
Bru<strong>de</strong>rs wichtiger ist als das <strong>de</strong>s kleinen, <strong>de</strong>nnoch <strong>de</strong>m kleinen<br />
das Futter gibt, weil es sowieso unwahrscheinlich ist, daß <strong>de</strong>r<br />
g<strong>ro</strong>ße stirbt. Aus diesem Grund entwöhnen Säugetiermütter<br />
ihre Jungen, statt sie ihr ganzes Leben lang zu säugen. Es<br />
kommt im Leben eines Kin<strong>de</strong>s eine <strong>Zeit</strong>, wo es sich für die<br />
Mutter auszahlt, ihr Anlagekapital von ihm ab- und zukünftigen<br />
Kin<strong>de</strong>rn zuzu<strong>wen</strong><strong>de</strong>n. Ist dieser <strong>Zeit</strong>punkt gekommen, so<br />
möchte sie es entwöhnen. Von einer Mutter, die in Erfahrung<br />
bringen könnte, daß sie ihr letztes Kind geboren hat, könnte<br />
man erwarten, daß sie für <strong>de</strong>n Rest ihres Lebens alle ihre<br />
Mittel in dieses Kind investiert und es vielleicht bis weit in das<br />
Erwachsenenalter hinein säugt. Nichts<strong>de</strong>sto<strong>wen</strong>iger müßte sie<br />
„abwägen“, ob es ihr nicht mehr einbringen wür<strong>de</strong>, <strong>wen</strong>n sie<br />
ihr Kapital in Enkeln o<strong>de</strong>r Neffen und Nichten anlegte; diese<br />
sind zwar nur halb so nah mit ihr verwandt wie ihre eigenen<br />
Kin<strong>de</strong>r, sie können aber möglicherweise mehr als doppelt so<br />
stark von <strong>de</strong>m Aufwand p<strong>ro</strong>fitieren wie ihre eigenen Kin<strong>de</strong>r.<br />
Dies scheint mir ein guter <strong>Zeit</strong>punkt für eine kurze<br />
Anmerkung über das verwirren<strong>de</strong> Phänomen <strong>de</strong>r Menopause,<br />
das heißt <strong>de</strong>r Tatsache, daß beim Menschen die<br />
Fortpflanzungsfähigkeit <strong>de</strong>r Frau in <strong>de</strong>n mittleren Lebensjahren<br />
ziemlich abrupt aufhört. Dieses Phänomen mag bei<br />
unseren primitiven Vorfahren nicht allzu häufig aufgetreten<br />
sein, da sowieso nicht viele Frauen so lange gelebt haben<br />
dürften. Nichts<strong>de</strong>sto<strong>wen</strong>iger läßt <strong>de</strong>r Unterschied zwischen<br />
<strong>de</strong>m einschnei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Wechsel im Leben <strong>de</strong>r Frauen und <strong>de</strong>m<br />
allmählichen Abflauen <strong>de</strong>r Fruchtbarkeit bei <strong>de</strong>n Männern
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 201<br />
darauf schließen, daß an <strong>de</strong>r Menopause genetisch gesehen<br />
etwas „beabsichtigt“ ist – daß sie eine „Anpassung“ darstellt.<br />
Dies ist ziemlich schwer zu erklären. Auf <strong>de</strong>n ersten Blick<br />
könnten wir erwarten, daß eine Frau bis zu ihrem En<strong>de</strong> immer<br />
weiter Kin<strong>de</strong>r gebären wür<strong>de</strong>, selbst <strong>wen</strong>n mit fortschreiten<strong>de</strong>m<br />
Alter <strong>de</strong>r Mutter die Überlebenswahrscheinlichkeit für<br />
je<strong>de</strong>s einzelne Kind stetig abnähme. Wäre es nicht immerhin<br />
<strong>de</strong>n Versuch wert? Wir dürfen aber nicht vergessen, daß sie<br />
auch mit ihren Enkeln verwandt ist, <strong>wen</strong>ngleich nur halb so<br />
nah.<br />
Aus verschie<strong>de</strong>nen Grün<strong>de</strong>n, die sich möglicherweise aus<br />
<strong>de</strong>r Medawarschen Theorie <strong>de</strong>s Alterns ableiten lassen, wur<strong>de</strong>n<br />
die Frauen zu Urzeiten mit fortschreiten<strong>de</strong>m Alter allmählich<br />
<strong>wen</strong>iger leistungsfähig bei <strong>de</strong>r Aufzucht <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r. Daher<br />
hatte das Kind einer alten Mutter eine geringere Lebenserwartung<br />
als das einer jungen. Das be<strong>de</strong>utet, <strong>wen</strong>n eine Frau an<br />
ein und <strong>de</strong>mselben Tag ein Enkelkind bekam und selbst ein<br />
Kind gebar, war die Lebenserwartung <strong>de</strong>s Enkelkin<strong>de</strong>s höher<br />
als die <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s. Wenn eine Frau das Alter erreichte, in <strong>de</strong>m<br />
die Durchschnittschance je<strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s, bis zum Erwachsenenalter<br />
zu überleben, etwas <strong>wen</strong>iger als halb so g<strong>ro</strong>ß war wie<br />
die entsprechen<strong>de</strong> durchschnittliche Chance je<strong>de</strong>s gleichaltrigen<br />
Enkelkin<strong>de</strong>s, dann wür<strong>de</strong> je<strong>de</strong>s Gen für die Investition in<br />
Enkelkin<strong>de</strong>r statt in Kin<strong>de</strong>r erfolgreicher wer<strong>de</strong>n. Zwar fin<strong>de</strong>t<br />
sich ein solches Gen nur in jeweils einem von vier Enkeln<br />
wie<strong>de</strong>r, während eines von zwei Kin<strong>de</strong>rn das rivalisieren<strong>de</strong> Gen<br />
trägt, aber dies wird durch die größere Lebenserwartung <strong>de</strong>r<br />
Enkel aufgewogen, und das Gen für „Altruismus gegenüber<br />
Enkelkin<strong>de</strong>rn“ gewinnt im Genpool die Oberhand. Eine Frau<br />
könnte nicht maximal in ihre Enkel investieren, <strong>wen</strong>n sie weiter<br />
eigene Kin<strong>de</strong>r bekäme. Daher wur<strong>de</strong>n Gene für das Unfruchtbarwer<strong>de</strong>n<br />
im mittleren Lebensalter zahlreicher, <strong>de</strong>nn sie<br />
waren in <strong>de</strong>n Körpern <strong>de</strong>r Enkel enthalten, zu <strong>de</strong>ren Überleben<br />
<strong>de</strong>r g<strong>ro</strong>ßmütterliche Altruismus beigetragen hatte.<br />
Dies ist eine mögliche Erklärung für die Entwicklung <strong>de</strong>r<br />
Menopause bei <strong>de</strong>n Frauen. Die Fruchtbarkeit <strong>de</strong>r Männer<br />
nimmt wahrscheinlich <strong>de</strong>shalb nicht abrupt, son<strong>de</strong>rn allmählich
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 202<br />
ab, weil Männer sowieso <strong>wen</strong>iger in je<strong>de</strong>s einzelne Kind investieren<br />
als Frauen. Vorausgesetzt, er kann mit jungen Frauen<br />
Kin<strong>de</strong>r zeugen, wird es sich für einen Mann immer – selbst im<br />
hohen Alter noch – auszahlen, eher in Kin<strong>de</strong>r als in Enkel zu<br />
investieren.<br />
In diesem und im vorangehen<strong>de</strong>n Kapitel haben wir bisher<br />
alle Fragen vom Standpunkt <strong>de</strong>r Eltern aus betrachtet,<br />
hauptsächlich von <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Mutter. Wir haben gefragt, ob zu<br />
erwarten ist, daß Eltern Lieblingskin<strong>de</strong>r haben, und ganz allgemein,<br />
welches die beste Anlagepolitik für einen Elternteil<br />
ist. Doch vielleicht kann ein Kind Einfluß darauf nehmen, wieviel<br />
seine Eltern in es investieren und nicht in seine Geschwister.<br />
Selbst <strong>wen</strong>n die Eltern nicht „beabsichtigen“, eines ihrer<br />
Kin<strong>de</strong>r zu bevorzugen, könnte es nicht sein, daß die Kin<strong>de</strong>r<br />
selbst die Eltern rücksichtslos dazu drängen, sie zu bevorzugen?<br />
Wäre ein solches Vorgehen für sie lohnend? Genauer:<br />
Wür<strong>de</strong>n Gene für das eigennützige Streben nach bevorzugter<br />
Behandlung unter Kin<strong>de</strong>rn im Genpool zahlreicher wer<strong>de</strong>n<br />
als rivalisieren<strong>de</strong> Gene für das Sich-Zufrie<strong>de</strong>ngeben mit nicht<br />
mehr als <strong>de</strong>m gerechten Anteil? Diese Frage hat Trivers in<br />
seinem 1974 veröffentlichten Aufsatz mit <strong>de</strong>m Titel Parent-Offspring<br />
Conflict auf brillante Weise analysiert.<br />
Eine Mutter ist mit allen ihren Kin<strong>de</strong>rn – geborenen wie<br />
noch ungeborenen – gleich nah verwandt. Aus rein genetischen<br />
Grün<strong>de</strong>n dürfte sie also, wie wir gesehen haben, keine<br />
Lieblingskin<strong>de</strong>r haben. Wenn sie <strong>de</strong>nnoch eines ihrer Kin<strong>de</strong>r<br />
bevorzugt, so sollte <strong>de</strong>r Grund dafür ein Unterschied in <strong>de</strong>r<br />
Lebenserwartung sein, <strong>de</strong>r seinerseits wie<strong>de</strong>r vom Alter und<br />
von an<strong>de</strong>ren Faktoren abhängig ist. Die Mutter ist, wie je<strong>de</strong>s<br />
an<strong>de</strong>re Lebewesen, zweimal so nahe mit sich selbst „verwandt“<br />
wie mit irgen<strong>de</strong>inem ihrer Kin<strong>de</strong>r. Unter sonst gleichen<br />
Umstän<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong> das be<strong>de</strong>uten, daß sie <strong>de</strong>n G<strong>ro</strong>ßteil<br />
ihrer Mittel eigennützig in sich selbst investieren sollte; aber<br />
die sonstigen Umstän<strong>de</strong> sind nun einmal nicht gleich. Sie kann<br />
ihren Genen mehr Gutes tun, <strong>wen</strong>n sie einen angemessenen<br />
Teil ihres Kapitals in ihre Kin<strong>de</strong>r investiert, <strong>de</strong>nn diese sind<br />
jünger und hilfloser als sie und können daher stärker von
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 203<br />
je<strong>de</strong>r angelegten Einheit p<strong>ro</strong>fitieren als sie selbst. Gene für<br />
das bevorzugte Investieren in Geschöpfe, die hilfloser sind<br />
als man selbst, können im Genpool die Oberhand gewinnen,<br />
auch dann, <strong>wen</strong>n man möglicherweise nur einen Bruchteil<br />
seiner Gene mit <strong>de</strong>n Nutznießern teilt. Dies ist <strong>de</strong>r Grund<br />
dafür, daß Tiere elterlichen Altruismus an <strong>de</strong>n Tag legen<br />
o<strong>de</strong>r überhaupt irgen<strong>de</strong>ine Art verwandtschaftlich selektierter<br />
Uneigennützigkeit zeigen.<br />
Betrachten wir die Situation nun aus <strong>de</strong>m Blickwinkel eines<br />
einzelnen Kin<strong>de</strong>s. Es ist mit seinen Geschwistern ebenso nahe<br />
verwandt wie seine Mutter. Der Verwandtschaftsgrad beträgt<br />
in allen Fällen 1/2. Das Kind „möchte“ daher, daß seine Mutter<br />
einen Teil ihrer Mittel in seine Geschwister investiert. Genetisch<br />
gesehen ist es ihnen gegenüber genauso uneigennützig<br />
eingestellt wie seine Mutter. Aber es ist ebenfalls doppelt so<br />
nahe mit sich selbst verwandt wie mit irgen<strong>de</strong>inem seiner<br />
Brü<strong>de</strong>r und Schwestern, und <strong>de</strong>shalb wird es wünschen, daß<br />
seine Mutter unter sonst gleichen Umstän<strong>de</strong>n mehr in es selbst<br />
investiert als in irgen<strong>de</strong>ines seiner Geschwister. In diesem Fall<br />
aber können die sonstigen Umstän<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r Tat gleich sein.<br />
Wenn mein Bru<strong>de</strong>r und ich gleich alt sind und wir bei<strong>de</strong> gleich<br />
viel von einem halben Liter Muttermilch p<strong>ro</strong>fitieren können,<br />
dann „sollte“ ich versuchen, mehr als meinen gerechten Anteil<br />
zu ergattern, und er sollte dasselbe tun. Hat <strong>de</strong>r Leser jemals<br />
einen Wurf Ferkel quieken gehört, von <strong>de</strong>nen je<strong>de</strong>s als erstes<br />
zur Stelle sein will, <strong>wen</strong>n die Muttersau sich zum Säugen hinlegt?<br />
O<strong>de</strong>r kleine Jungen beobachtet, die sich um das letzte<br />
Stück Kuchen streiten ? Eigennützige Gier scheint für einen<br />
G<strong>ro</strong>ßteil <strong>de</strong>s kindlichen Verhaltens bezeichnend zu sein.<br />
Aber das ist noch nicht alles. Wenn ich mit meinem Bru<strong>de</strong>r<br />
um einen B<strong>ro</strong>cken Nahrung konkurriere und er viel jünger<br />
ist als ich, so daß er mehr als ich davon p<strong>ro</strong>fitieren kann, so<br />
könnte es sich für meine Gene lohnen, <strong>wen</strong>n ich ihm diesen<br />
B<strong>ro</strong>cken überlasse. Ein älterer Bru<strong>de</strong>r kann genau dieselben<br />
Grün<strong>de</strong> für Selbstlosigkeit haben wie ein Elternteil: In bei<strong>de</strong>n<br />
Fällen ist, wie wir gesehen haben, <strong>de</strong>r Verwandtschaftsgrad<br />
1/2, und in bei<strong>de</strong>n Fällen kann das jüngere Geschöpf besseren
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 204<br />
Gebrauch von <strong>de</strong>r Ressource machen als das ältere. Wenn<br />
ich ein Gen für das Überlassen von Futter besitze, so besteht<br />
eine 50p<strong>ro</strong>zentige Möglichkeit, daß mein kleiner Bru<strong>de</strong>r dasselbe<br />
Gen trägt. Obwohl die Chance, daß sich das Gen in<br />
meinem eigenen Körper befin<strong>de</strong>t, doppelt so g<strong>ro</strong>ß ist – es ist<br />
mit 100-p<strong>ro</strong>zentiger Sicherheit in meinem Körper –, brauche<br />
ich die Nahrung vielleicht <strong>wen</strong>iger als halb so dringend. Generell<br />
„sollte“ ein Kind mehr als seinen gerechten Anteil an<br />
Elternaufwand an sich reißen, aber nur bis zu einem gewissen<br />
Ausmaß. Und bis zu welchem? Bis zu <strong>de</strong>m Punkt, an <strong>de</strong>m die<br />
Nettokosten für seine bereits geborenen und eventuell noch<br />
zur Welt kommen<strong>de</strong>n Geschwister genau halb so g<strong>ro</strong>ß sind wie<br />
<strong>de</strong>r Vorteil, <strong>de</strong>n es selbst aus <strong>de</strong>m gierigen Ansichreißen zieht.<br />
Betrachten wir die Frage nach <strong>de</strong>m richtigen <strong>Zeit</strong>punkt<br />
zur Entwöhnung. Eine Mutter möchte mit <strong>de</strong>m Säugen ihres<br />
gegenwärtigen Jungen aufhören, damit sie sich auf das nächste<br />
vorbereiten kann. Das jetzige Kind dagegen möchte noch nicht<br />
entwöhnt wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nn die Muttermilch ist eine bequeme,<br />
p<strong>ro</strong>blemlos nutzbare Nahrungsquelle, und es will nicht auf sich<br />
allein gestellt für seinen Lebensunterhalt sorgen müssen. Um<br />
es genauer zu sagen: Irgendwann will es tatsächlich einmal für<br />
seinen Lebensunterhalt sorgen, aber erst dann, <strong>wen</strong>n es seinen<br />
Genen dadurch, daß es seine Mutter für die Aufzucht seiner<br />
kleinen Geschwister freigibt, einen größeren Vorteil erweisen<br />
kann, als <strong>wen</strong>n es selbst noch bei <strong>de</strong>r Mutter bliebe. Je älter ein<br />
Kind ist, <strong>de</strong>sto kleiner ist relativ gesehen <strong>de</strong>r Nutzen, <strong>de</strong>n es<br />
aus je<strong>de</strong>m halben Liter Milch zieht. Zum einen weil es größer<br />
ist und ein halber Liter Milch daher einen kleineren Teil seines<br />
Bedarfs ausmacht, zum an<strong>de</strong>ren weil es zunehmend besser in<br />
<strong>de</strong>r Lage ist, sich allein durchs Leben zu schlagen, falls es dazu<br />
gezwungen sein sollte. Daher beansprucht ein älteres Kind,<br />
<strong>wen</strong>n es einen halben Liter Milch trinkt, <strong>de</strong>r einem jüngeren<br />
Kind hätte zukommen können, relativ mehr Elternaufwand für<br />
sich, als <strong>wen</strong>n ein kleines Kind einen halben Liter trinkt. Bei<br />
je<strong>de</strong>m Kind kommt irgendwann ein <strong>Zeit</strong>punkt, an <strong>de</strong>m es sich<br />
für seine Mutter bezahlt machen wür<strong>de</strong>, <strong>wen</strong>n sie aufhörte, es<br />
zu füttern und ihre Mittel statt <strong>de</strong>ssen in ein weiteres Kind
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 205<br />
investierte. Etwas später kommt eine <strong>Zeit</strong>, zu <strong>de</strong>r auch das<br />
Kind selbst seinen Genen am meisten damit nützen wür<strong>de</strong>,<br />
daß es sich selbst entwöhnt. Das ist <strong>de</strong>r Moment, von <strong>de</strong>m an<br />
ein halber Liter Milch <strong>de</strong>n eventuell in Geschwistern vorhan<strong>de</strong>nen<br />
Kopien seiner Gene mehr nützen kann als <strong>de</strong>n Genen, die<br />
ganz sicher in ihm selbst gegenwärtig sind.<br />
Der Konflikt zwischen Mutter und Kind ist nicht absoluter,<br />
son<strong>de</strong>rn quantitativer Natur; im vorliegen<strong>de</strong>n Fall ist es ein<br />
Konflikt hinsichtlich <strong>de</strong>s <strong>Zeit</strong>punktes. Die Mutter möchte ihr<br />
jetziges Kind so lange weitersäugen, bis es seinen „gerechten“<br />
Anteil an ihren Mitteln erhalten hat; dabei berücksichtigt sie<br />
seine Lebenserwartung sowie die bereits in dieses Kind investierte<br />
Kapitalmenge. Bis dahin besteht keinerlei Wi<strong>de</strong>rspruch.<br />
Desgleichen sind sich Mutter und Kind darin einig, daß das<br />
Kind nicht über <strong>de</strong>n Punkt hinaus gesäugt wer<strong>de</strong>n sollte,<br />
an <strong>de</strong>m die Kosten für zukünftige Kin<strong>de</strong>r mehr als das Doppelte<br />
seines Nutzens betragen. Uneinigkeit zwischen Mutter<br />
und Kind herrscht jedoch während <strong>de</strong>r dazwischenliegen<strong>de</strong>n<br />
Perio<strong>de</strong>, das heißt während <strong>de</strong>r <strong>Zeit</strong>spanne, in <strong>de</strong>r das Kind<br />
nach Ansicht <strong>de</strong>r Mutter mehr als seinen Anteil bekommt, die<br />
Kosten für die an<strong>de</strong>ren Kin<strong>de</strong>r aber noch <strong>wen</strong>iger als das Doppelte<br />
<strong>de</strong>s Nutzens für das gegenwärtige Kind betragen.<br />
Die Entwöhnung ist lediglich ein Punkt, in <strong>de</strong>m Interessenkonflikte<br />
zwischen Mutter und Kind bestehen. In diesem<br />
Fall ließe sich <strong>de</strong>r Konflikt auch als Auseinan<strong>de</strong>rsetzung zwischen<br />
einem Individuum und allen seinen noch ungeborenen<br />
Geschwistern auffassen, wobei die Mutter die Partei ihrer<br />
zukünftigen Kin<strong>de</strong>r ergreift. Eine direktere Konkurrenz um<br />
die Anlagemittel <strong>de</strong>r Mutter kann es zwischen gleichaltrigen<br />
Rivalen geben, also zwischen Wurf- o<strong>de</strong>r Nestgeschwistern.<br />
Auch hier wird die Mutter gewöhnlich darum besorgt sein, daß<br />
es fair zugeht.<br />
Viele Vogeljunge wer<strong>de</strong>n im Nest von ihren Eltern gefüttert.<br />
Sie alle sperren <strong>de</strong>n Schnabel auf und schreien, und <strong>de</strong>r Altvogel<br />
läßt einen Wurm o<strong>de</strong>r einen an<strong>de</strong>ren Leckerbissen in<br />
<strong>de</strong>n Rachen eines von ihnen fallen. Die Lautstärke, mit <strong>de</strong>r<br />
je<strong>de</strong>s Küken schreit, ist im I<strong>de</strong>alfall ein direktes Maß für seinen
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 206<br />
Hunger. Wenn also die Eltern das Futter immer <strong>de</strong>m größten<br />
Schreihals geben, sollten normalerweise alle ihren gerechten<br />
Anteil bekommen, da eines, das genug bekommen hat, nicht<br />
so laut schreien wird. Zumin<strong>de</strong>st wäre dies in <strong>de</strong>r vollkommensten<br />
aller Welten so, das heißt es wäre so, <strong>wen</strong>n niemand<br />
mogeln wür<strong>de</strong>. Unserer Auffassung vom egoistischen Gen folgend,<br />
müssen wir jedoch erwarten, daß je<strong>de</strong>s Küken ganz<br />
bestimmt betrügt und ganz bestimmt hinsichtlich seines Hungers<br />
lügt. Dies führt, scheinbar ziemlich sinnlos, zu einer Eskalation,<br />
<strong>de</strong>nn man sollte meinen, <strong>wen</strong>n alle lügen, in<strong>de</strong>m sie<br />
zu laut schreien, dann wird dieses Lärmniveau zur Norm und<br />
hört damit praktisch auf, eine Lüge zu sein. Es kann jedoch<br />
nicht wie<strong>de</strong>r abschwellen, da je<strong>de</strong>s Individuum, das <strong>de</strong>n ersten<br />
Schritt tut und die Lautstärke seines Geschreis vermin<strong>de</strong>rt,<br />
dadurch bestraft wird, daß es <strong>wen</strong>iger Futter bekommt und<br />
mit größerer Wahrscheinlichkeit verhungert. Daß das Lärmen<br />
junger Vögel nicht unbegrenzt anwächst, hat an<strong>de</strong>re Ursachen.<br />
Beispielsweise ruft zu lautes Geschrei gewöhnlich Räuber auf<br />
<strong>de</strong>n Plan, und außer<strong>de</strong>m verbraucht es Energie.<br />
Wie wir gesehen haben, kommt es gelegentlich vor, daß eins<br />
<strong>de</strong>r Tiere in einem Wurf zurückgeblieben ist, also viel kleiner<br />
als die übrigen. Es kann nicht so heftig um Futter kämpfen<br />
wie die an<strong>de</strong>ren, und häufig stirbt es. Wir haben untersucht,<br />
unter welchen Bedingungen es sich für eine Mutter auszahlen<br />
wür<strong>de</strong>, einen Kümmerling verhungern zu lassen. Man könnte<br />
intuitiv vermuten, daß das zurückgebliebene Junge selbst bis<br />
zum letzten weiterkämpft, aber <strong>de</strong>r Theorie zufolge muß dies<br />
nicht zwangsläufig so sein. Sobald ein schwächeres Junges so<br />
klein und schwach gewor<strong>de</strong>n und seine Lebenserwartung so<br />
weit abgesunken ist, daß <strong>de</strong>r Nutzen, <strong>de</strong>n es aus <strong>de</strong>m Elternaufwand<br />
zieht, kleiner ist als die Hälfte <strong>de</strong>s Nutzens, <strong>de</strong>n <strong>de</strong>rselbe<br />
Aufwand <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Jungen bringen könnte, sollte<br />
es unauffällig und bereitwillig sterben. Damit kann es seinen<br />
Genen am meisten dienen. Das heißt, ein Gen, das die Anweisung<br />
gibt: „Körper, <strong>wen</strong>n du sehr viel kleiner bist als <strong>de</strong>ine<br />
Wurfgeschwister, gib <strong>de</strong>n Kampf auf und stirb“, könnte im<br />
Genpool erfolgreich sein, <strong>de</strong>nn die Chance, daß es im Körper
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 207<br />
je<strong>de</strong>s überleben<strong>de</strong>n Geschwisters existiert, beträgt 50 P<strong>ro</strong>zent,<br />
und die Chance, daß es im Körper <strong>de</strong>s Kümmerlings<br />
überlebt, ist sowieso sehr klein. Es dürfte also im Lebenslauf<br />
eines verkümmerten Jungtieres einen Punkt ohne Wie<strong>de</strong>rkehr<br />
geben. Bevor es diesen Punkt erreicht, darf es <strong>de</strong>n Kampf nicht<br />
aufgeben. Hat es ihn aber erreicht, so sollte es sofort aufgeben<br />
und sich am besten von seinen Wurfgeschwistern o<strong>de</strong>r seinen<br />
Eltern verspeisen lassen.<br />
Bei <strong>de</strong>r Erörterung <strong>de</strong>r Lackschen Theorie über die Gelegegröße<br />
habe ich die folgen<strong>de</strong> Strategie zwar nicht erwähnt,<br />
sie ist aber für einen Elternvogel, <strong>de</strong>r hinsichtlich seiner optimalen<br />
Gelegegröße für das laufen<strong>de</strong> Jahr unentschlossen ist,<br />
durchaus vernünftig. Die Vogelmutter könnte ein Ei mehr<br />
legen als die Anzahl, die sie eigentlich als das wahre Optimum<br />
„einschätzt“. Wenn sich dann herausstellt, daß das Nahrungsangebot<br />
in diesem Jahr besser ist als erwartet, so wird sie<br />
das zusätzliche Junge aufziehen. Wenn nicht, kann sie ihre<br />
Verluste minimieren: In<strong>de</strong>m sie sorgfältig darauf achtet, daß<br />
sie ihre Jungen immer in <strong>de</strong>rselben Reihenfolge füttert, beispielsweise<br />
<strong>de</strong>r Größe nach, sorgt sie dafür, daß eines, vielleicht<br />
ein Kümmerling, schnell stirbt und daß – abgesehen<br />
von <strong>de</strong>r anfänglichen Investition in Gestalt <strong>de</strong>s Eidotters o<strong>de</strong>r<br />
einer entsprechen<strong>de</strong>n Ressource – nicht zuviel Futter auf ihn<br />
versch<strong>wen</strong><strong>de</strong>t wird. Vom Standpunkt <strong>de</strong>r Mutter aus gesehen,<br />
kann dies die Erklärung für das Phänomen <strong>de</strong>s Kümmerlings<br />
sein. Er stellt eine Absicherung <strong>de</strong>r Spekulation <strong>de</strong>r Mutter<br />
dar. Dieses Phänomen ist bei zahlreichen Vogelarten beobachtet<br />
wor<strong>de</strong>n.<br />
Mit Hilfe unseres Bil<strong>de</strong>s vom einzelnen Tier als einer<br />
Überlebensmaschine, die sich so verhält, als „beabsichtige“ sie,<br />
<strong>de</strong>n Fortbestand ihrer Gene zu sichern, können wir von einem<br />
Konflikt zwischen Eltern und Jungen sprechen, einem Krieg<br />
<strong>de</strong>r Generationen. Dieser Kampf ist eine subtile Angelegenheit,<br />
und auf bei<strong>de</strong>n Seiten sind alle Griffe erlaubt. Ein Kind<br />
wird sich keine Gelegenheit zur Täuschung entgehen lassen.<br />
Es wird vorgeben, hungriger zu sein, als es ist, vielleicht jünger,<br />
als es ist und gefähr<strong>de</strong>ter, als es in Wirklichkeit ist. Es ist zu
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 208<br />
klein und zu schwach, um seine Eltern physisch zu tyrannisieren,<br />
aber es wird je<strong>de</strong> psychologische Waffe einsetzen, die ihm<br />
zur Verfügung steht: Es wird lügen, betrügen, täuschen, ausbeuten<br />
– genau bis zu <strong>de</strong>m Punkt, an <strong>de</strong>m es seine Verwandten<br />
stärker zu benachteiligen beginnt, als die genetische Verwandtschaft<br />
mit ihnen erlaubt. Die Eltern an<strong>de</strong>rerseits müssen<br />
vor Betrug und Täuschung auf <strong>de</strong>r Hut sein und versuchen,<br />
sich dadurch nicht hinters Licht führen zu lassen. Man könnte<br />
meinen, dies sei eine einfache Aufgabe. Wenn ein Elternteil<br />
weiß, daß sein Kind in bezug auf seinen Hunger wahrscheinlich<br />
lügt, so könnte er die Taktik an<strong>wen</strong><strong>de</strong>n, ihm eine feste<br />
Menge Nahrung zu geben und nicht mehr, auch <strong>wen</strong>n das<br />
Junge noch weiter schreit. Das P<strong>ro</strong>blem dabei ist nur, daß<br />
das Junge möglicherweise nicht gelogen hat, und <strong>wen</strong>n es<br />
nun stirbt, weil es nicht gefüttert wor<strong>de</strong>n ist, hätte <strong>de</strong>r Altvogel<br />
einige seiner kostbaren Gene verloren. Freileben<strong>de</strong> Vögel<br />
können sterben, <strong>wen</strong>n sie nur ein paar Stun<strong>de</strong>n nichts zu fressen<br />
bekommen haben.<br />
A. Zahavi hat auf die Möglichkeit einer beson<strong>de</strong>rs teuflischen<br />
Form kindlicher Erpressung hingewiesen: Das Junge<br />
lärmt absichtlich <strong>de</strong>rart, daß es Räuber an das Nest heranlockt.<br />
Es „ruft“: „Fuchs, Fuchs, komm und hol mich!“ Die Eltern<br />
können es nur zum Schweigen bringen, in<strong>de</strong>m sie es füttern.<br />
So erzielt das Junge mehr als seinen gerechten Futteranteil,<br />
doch auf Kosten eines gewissen Risikos für sich selbst.<br />
Dieser skrupellosen Taktik liegt dasselbe Prinzip zugrun<strong>de</strong><br />
wie <strong>de</strong>r eines Luftpiraten, <strong>de</strong>r das Flugzeug, in <strong>de</strong>m er sich<br />
selbst befin<strong>de</strong>t, in die Luft zu sprengen d<strong>ro</strong>ht, <strong>wen</strong>n er kein<br />
Lösegeld bekommt. Ich bezweifle, daß diese Taktik in <strong>de</strong>r Evolution<br />
jemals begünstigt wer<strong>de</strong>n kann; nicht, weil sie allzu<br />
rücksichtslos ist, son<strong>de</strong>rn weil ich nicht glaube, daß sie sich<br />
für das erpresserische Junge jemals auszahlen könnte. Es hat<br />
zuviel zu verlieren, <strong>wen</strong>n wirklich ein Räuber käme. Dies<br />
ist ein<strong>de</strong>utig bei einem einzigen Jungen, in <strong>de</strong>m Fall also,<br />
<strong>de</strong>n Zahavi selbst untersucht. Ganz gleich, wieviel die Mutter<br />
bereits in das Junge investiert haben mag, das Junge selbst<br />
sollte sein Leben immer noch höher bewerten, als sie dies
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 209<br />
tut, da sie ja nur die Hälfte seiner Gene besitzt. Überdies<br />
wür<strong>de</strong> sich die Taktik nicht einmal dann auszahlen, <strong>wen</strong>n<br />
<strong>de</strong>r Erpresser zu einer gemeinsam in einem Nest hocken<strong>de</strong>n<br />
Brut ungeschützter Küken gehörte, da er mit einem genetischen<br />
„Einsatz“ von 50 P<strong>ro</strong>zent an je<strong>de</strong>m seiner gefähr<strong>de</strong>ten<br />
Geschwister und mit einem 100-p<strong>ro</strong>zentigen Einsatz an sich<br />
selbst beteiligt ist. Meines Erachtens könnte die Theorie eventuell<br />
zutreffen, <strong>wen</strong>n <strong>de</strong>r Haupträuber die Gewohnheit hätte,<br />
jeweils nur <strong>de</strong>n größten Nestling aus einem Nest herauszuholen.<br />
Dann könnte es sich für ein kleineres Vogeljunges auszahlen,<br />
damit zu d<strong>ro</strong>hen, daß es einen Räuber herbeiruft, da<br />
es sich selbst damit keiner g<strong>ro</strong>ßen Gefahr aussetzen wür<strong>de</strong>.<br />
Dies entspräche <strong>de</strong>r Taktik, seinem Bru<strong>de</strong>r die Pistole an die<br />
Schläfe zu setzen, statt damit zu d<strong>ro</strong>hen, sich selbst in die Luft<br />
zu jagen.<br />
Es leuchtet eher ein, daß diese erpresserische Taktik sich<br />
für ein Kuckucksjunges bezahlt machen könnte. Wie je<strong>de</strong>r<br />
weiß, legen Kuckucksweibchen in mehrere Wirtsnester je ein<br />
Ei und überlassen es dann <strong>de</strong>n nichtsahnen<strong>de</strong>n Pflegeeltern<br />
einer ganz an<strong>de</strong>ren Art, das Kuckucksjunge aufzuziehen. Ein<br />
Jungkuckuck hat daher kein genetisches Interesse an seinen<br />
Stiefbrü<strong>de</strong>rn und -schwestern. (Die Jungen mancher Kukkucksarten<br />
haben aus einem schlimmen Grun<strong>de</strong>, auf <strong>de</strong>n wir<br />
noch zu sprechen kommen wer<strong>de</strong>n, überhaupt keine Stiefgeschwister.<br />
Im Moment gehe ich jedoch davon aus, daß wir es<br />
mit einer jener Arten zu tun haben, bei <strong>de</strong>nen Stiefgeschwister<br />
und Kuckucksjunges nebeneinan<strong>de</strong>r existieren.) Wür<strong>de</strong> ein<br />
Kuckucksjunges so laut schreien, daß es Räuber herbeilockte,<br />
so hätte es eine Menge zu verlieren – nämlich sein Leben –,<br />
aber die Pflegemutter hätte noch mehr zu verlieren, vielleicht<br />
vier ihrer Jungen. Es könnte sich daher für sie bezahlt machen,<br />
<strong>de</strong>m kleinen Kuckuck mehr als seinen Anteil am Futter zu<br />
geben, und für <strong>de</strong>n Kuckuck könnte <strong>de</strong>r Nutzen, <strong>de</strong>n er daraus<br />
zieht, das Risiko aufwiegen.<br />
An dieser Stelle sollten wir innehalten und vorübergehend<br />
auf die Ebene <strong>de</strong>r Gene zurückkehren, nur um sicherzugehen,<br />
daß wir uns nicht zu sehr von einer subjektivieren<strong>de</strong>n Sprache
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 210<br />
haben hinreißen lassen. Was be<strong>de</strong>utet es wirklich, <strong>wen</strong>n wir die<br />
Hypothese aufstellen, Kuckucksjunge „erpreßten“ ihre Pflegeeltern,<br />
in<strong>de</strong>m sie schreien: „Räuber, Räuber, komm und hol<br />
mich und alle meine kleinen Geschwister“? Genetisch gesehen<br />
heißt es folgen<strong>de</strong>s: Kuckucksgene für lautes Schreien sind<br />
im Kuckucksgenpool zahlreicher gewor<strong>de</strong>n, weil das Lärmen<br />
die Wahrscheinlichkeit erhöht hat, daß die Pflegeeltern die<br />
Kuckucksjungen füttern. Die Pflegeeltern sprachen <strong>de</strong>shalb<br />
in dieser Weise auf das Schreien an, weil die entsprechen<strong>de</strong>n<br />
Gene sich im Genpool <strong>de</strong>r Wirtsart ausgebreitet hatten. Das<br />
lag wie<strong>de</strong>rum daran, daß die einzelnen Pflegeeltern, die<br />
<strong>de</strong>n Kuckucken kein Extrafutter zukommen ließen, <strong>wen</strong>iger<br />
eigene Kin<strong>de</strong>r aufzogen – <strong>wen</strong>iger als rivalisieren<strong>de</strong> Eltern,<br />
die die Kuckucke besser fütterten –, weil durch die Kuckucksschreie<br />
Räuber zu ihren Nestern hingelockt wur<strong>de</strong>n. Zwar lan<strong>de</strong>ten<br />
Kuckucksgene für Nichtschreien wahrscheinlich <strong>wen</strong>iger<br />
häufig im Magen von Räubern als Gene für Schreien,<br />
aber die nichtschreien<strong>de</strong>n Kuckucke litten unter <strong>de</strong>m größeren<br />
Übel, daß sie keine Extrarationen zu fressen bekamen. Daher<br />
breiteten sich die Gene für Schreien im Kuckucksgenpool aus.<br />
Wie eine ähnliche, von <strong>de</strong>r obigen subjektiveren Argumentation<br />
ausgehen<strong>de</strong> Beweisführung zeigen wür<strong>de</strong>, ist<br />
es zwar vorstellbar, daß sich ein <strong>de</strong>rartiges Erpressergen<br />
in einem Kuckucksgenpool ausbreiten könnte, im Genpool<br />
einer gewöhnlichen Art wird es jedoch wahrscheinlich nicht<br />
Überhand nehmen, zumin<strong>de</strong>st nicht <strong>de</strong>shalb, weil es Räuber<br />
anlockt. Natürlich könnte es in einer gewöhnlichen Spezies –<br />
wie wir bereits gesehen haben – an<strong>de</strong>re Grün<strong>de</strong> geben, weshalb<br />
sich Gene für Lärmen ausbreiten, und diese wür<strong>de</strong>n als Nebeneffekt<br />
gelegentlich Räuber auf <strong>de</strong>n Plan rufen. Aber hier wür<strong>de</strong><br />
<strong>de</strong>r Selektionsdruck durch natürliche Fein<strong>de</strong>, <strong>wen</strong>n überhaupt,<br />
dann dahingehend wirken, die Schreie leiser wer<strong>de</strong>n zu lassen.<br />
Im hypothetischen Fall <strong>de</strong>r Kuckucke könnte, so paradox dies<br />
auch auf <strong>de</strong>n ersten Blick scheinen mag, <strong>de</strong>r Nettoeffekt <strong>de</strong>r<br />
Räuber dahin gehen, die Schreie lauter wer<strong>de</strong>n zu lassen.<br />
Es gibt keinerlei Beweismaterial dafür, daß Kuckucke<br />
und ähnliche „Brutparasiten“ tatsächlich die Erpressertaktik
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 211<br />
an<strong>wen</strong><strong>de</strong>n. Aber es fehlt ihnen mit Sicherheit nicht an<br />
Rücksichtslosigkeit. Da gibt es zum Beispiel die Honiganzeiger,<br />
die wie Kuckucke ihre Eier in die Nester an<strong>de</strong>rer Arten<br />
legen. Der junge Honiganzeiger ist mit einem scharfen gebogenen<br />
Schnabel ausgestattet. Kaum ist er ausgeschlüpft, noch<br />
blind, nackt und ansonsten hilflos, so schnei<strong>de</strong>t und schlägt er<br />
seine Stiefbrü<strong>de</strong>r und -schwestern tot: Tote Geschwister konkurrieren<br />
nicht um Futter! Der uns vertraute eu<strong>ro</strong>päische Kukkuck<br />
erzielt auf etwas an<strong>de</strong>rem Wege dasselbe Resultat. Seine<br />
Brutdauer ist kurz, und so schafft es das Kuckucksjunge, einige<br />
Tage vor seinen Stiefgeschwistern auszuschlüpfen. Sofort nach<br />
<strong>de</strong>m Schlüpfen wirft es, blind und instinktiv, aber mit verheeren<strong>de</strong>r<br />
Effizienz, die an<strong>de</strong>ren Eier aus <strong>de</strong>m Nest. Es schiebt<br />
sich unter ein Ei und manövriert dieses in eine Vertiefung<br />
auf seinem Rücken. Dann bewegt es sich langsam rückwärts<br />
zum Rand <strong>de</strong>s Nestes, wobei es das Ei zwischen seinen<br />
Flügelansätzen balanciert, und wirft das Ei hinaus. Dasselbe<br />
macht es mit allen an<strong>de</strong>ren Eiern, bis es das Nest und daher die<br />
Aufmerksamkeit seiner Pflegeeltern ganz für sich allein hat.<br />
Eine <strong>de</strong>r bemerkenswertesten Tatsachen, von <strong>de</strong>nen ich im<br />
vorigen Jahr erfahren habe, ist von F. Alvarez, L. Arias <strong>de</strong><br />
Reyna und H. Segura aus Spanien berichtet wor<strong>de</strong>n. Diese drei<br />
Wissenschaftler erforschten die Fähigkeit potentieller Pflegeeltern<br />
– also potentieller Kuckucksopfer –, Eindringlinge (Kukkuckseier<br />
o<strong>de</strong>r junge Kuckucke) zu ent<strong>de</strong>cken. Im Verlauf ihrer<br />
Versuche hatten sie die Möglichkeit, Kuckuckseier und junge<br />
Kuckucke sowie zu Vergleichszwecken Eier und Küken an<strong>de</strong>rer<br />
Arten, beispielsweise Schwalben, in Elsternnester hineinzulegen.<br />
Einmal setzten sie ein Schwalbenküken in ein Elsternnest.<br />
Am nächsten Tag bemerkten sie, daß eines <strong>de</strong>r Elsterneier<br />
unter <strong>de</strong>m Nest auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n lag. Es war nicht zerb<strong>ro</strong>chen,<br />
und so hoben sie es auf, legten es wie<strong>de</strong>r zurück und beobachteten,<br />
was geschah. Was sie sahen, war im höchsten Gra<strong>de</strong><br />
bemerkenswert. Das Schwalbenjunge verhielt sich genauso,<br />
als ob es ein Kuckucksjunges wäre, und warf das Ei hinaus.<br />
Sie legten das Ei erneut zurück, und wie<strong>de</strong>r geschah genau<br />
das gleiche. Das Schwalbenbaby benutzte dieselbe Metho<strong>de</strong>
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 212<br />
wie <strong>de</strong>r Kuckuck, es balancierte das Ei auf seinem Rücken zwischen<br />
<strong>de</strong>n Flügelansätzen und bewegte sich rückwärts zum<br />
Nestrand, bis das Ei hinauspurzelte.<br />
Vielleicht war es klug, daß Alvarez und seine Kollegen<br />
keinen Versuch machten, ihre erstaunliche Beobachtung zu<br />
erklären. Wie konnte sich ein <strong>de</strong>rartiges Verhalten im Schwalbengenpool<br />
entwickelt haben? Es muß zu etwas passen, das im<br />
normalen Leben einer Schwalbe vorkommt. Schwalbenjunge<br />
sind nicht daran gewöhnt, sich in Elsternnestern wie<strong>de</strong>rzufin<strong>de</strong>n.<br />
Sie befin<strong>de</strong>n sich normalerweise niemals in einem an<strong>de</strong>ren<br />
Nest als ihrem eigenen. Könnte das Verhalten eine evolutionäre<br />
Anti-Kuckuck-Anpassung darstellen? Hat die natürliche Auslese<br />
im Schwalbengenpool eine Politik <strong>de</strong>s Gegenangriffs<br />
geför<strong>de</strong>rt, also Gene hervorgebracht, die <strong>de</strong>n Kuckuck mit<br />
seinen eigenen Waffen schlagen? Es scheint eine Tatsache<br />
zu sein, daß Schwalbennester gewöhnlich nicht von Kuckukken<br />
heimgesucht wer<strong>de</strong>n. Vielleicht ist dies <strong>de</strong>r Grund dafür.<br />
Dieser Theorie zufolge hätten die Elsterneier in <strong>de</strong>m Experiment<br />
zufällig dieselbe Behandlung erfahren, vielleicht weil sie<br />
wie Kuckuckseier größer sind als Schwalbeneier. Doch <strong>wen</strong>n<br />
ein Schwalbenküken <strong>de</strong>n Unterschied zwischen einem g<strong>ro</strong>ßen<br />
Ei und einem normalen Schwalbenei erkennen kann, dürfte<br />
die Mutter mit Sicherheit ebenfalls dazu in <strong>de</strong>r Lage sein.<br />
Warum ist es dann nicht die Mutter, die das Kuckucksei hinauswirft,<br />
da dies für sie soviel leichter wäre als für das Küken?<br />
Derselbe Einwand gilt auch für die Theorie, daß das Verhalten<br />
<strong>de</strong>s Schwalbenkükens normalerweise die Funktion hat,<br />
unbefruchtete Eier und an<strong>de</strong>ren Abfall aus <strong>de</strong>m Nest zu entfernen.<br />
Wie<strong>de</strong>r könnte die Aufgabe vom Altvogel besser erledigt<br />
wer<strong>de</strong>n – und wird es auch. Die Tatsache, daß ein schwaches<br />
und hilfloses Schwalbenküken dabei beobachtet wur<strong>de</strong>,<br />
wie es die schwierige und Geschicklichkeit erfor<strong>de</strong>rn<strong>de</strong> Operation<br />
<strong>de</strong>s Hinauswerfens durchführte, die einer erwachsenen<br />
Schwalbe sicherlich viel leichter fiele, zwingt mich zu <strong>de</strong>m<br />
Schluß, daß das Küken, mit <strong>de</strong>n Augen <strong>de</strong>r Eltern gesehen,<br />
nichts Gutes im Schil<strong>de</strong> führte.<br />
Ich könnte mir vorstellen, daß die richtige Erklärung
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 213<br />
überhaupt nichts mit Kuckucken zu tun hat. Das Blut mag<br />
einem stocken bei <strong>de</strong>m Gedanken – aber könnte es nicht sein,<br />
daß Schwalbenjunge sich gegenseitig etwas Derartiges antun?<br />
Da das Erstgeborene mit seinen noch nicht ausgeschlüpften<br />
Geschwistern um elterliche Mittel konkurrieren wird, könnte<br />
es zu seinem Vorteil sein, <strong>wen</strong>n es sein Leben damit begänne,<br />
eines <strong>de</strong>r übrigen Eier hinauszuwerfen.<br />
Bei <strong>de</strong>r Lackschen Theorie über die Gelegegröße betrachteten<br />
wir das Optimum vom Standpunkt <strong>de</strong>r Eltern. Wenn ich<br />
eine Schwalbenmutter bin, ist die optimale Gelegegröße von<br />
meinem Standpunkt aus gesehen zum Beispiel fünf. Bin ich<br />
dagegen ein Schwalbenküken, so kann die in meinen Augen<br />
optimale Gelegegröße sehr wohl kleiner sein, vorausgesetzt<br />
ich gehöre dazu! Die Mutter besitzt eine bestimmte Menge<br />
an elterlichen Mitteln, die sie unparteiisch unter fünf Junge<br />
verteilen „möchte“. Aber je<strong>de</strong>s Küken will mehr als <strong>de</strong>n ihm<br />
zustehen<strong>de</strong>n fünften Teil. Im Gegensatz zum Kuckuck will es<br />
zwar nicht alles, weil es mit <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Küken verwandt ist,<br />
aber es will mehr als ein Fünftel. In<strong>de</strong>m es einfach ein Ei hinauswirft,<br />
kann es ein Viertel bekommen, durch das Hinauswerfen<br />
eines weiteren Eies ein Drittel. Betrachten wir dies auf <strong>de</strong>r<br />
Ebene <strong>de</strong>r Gene, so wäre <strong>de</strong>nkbar, daß sich ein Gen für Bru<strong>de</strong>rmord<br />
im Genpool ausbreitet, da es sich mit 100-p<strong>ro</strong>zentiger<br />
Sicherheit im Körper <strong>de</strong>s Bru<strong>de</strong>rmör<strong>de</strong>rs befin<strong>de</strong>t, aber nur<br />
mit 50p<strong>ro</strong>zentiger Wahrscheinlichkeit im Körper <strong>de</strong>s Opfers.<br />
Gegen diese Theorie läßt sich vor allem ein<strong>wen</strong><strong>de</strong>n, daß niemand<br />
dieses teuflische Verhalten bisher beobachtet hat, was<br />
doch <strong>de</strong>r Fall sein müßte, <strong>wen</strong>n es wirklich vorkäme. Ich habe<br />
keine überzeugen<strong>de</strong> Erklärung dafür. Bei Schwalben gibt es<br />
geographische Rassen, die in verschie<strong>de</strong>nen Teilen <strong>de</strong>r Welt<br />
vorkommen. Es ist bekannt, daß die spanische Rasse sich<br />
in bestimmten Verhaltensweisen beispielsweise von <strong>de</strong>r britischen<br />
unterschei<strong>de</strong>t. Die spanische Rasse ist bisher nicht <strong>de</strong>m<br />
gleichen Grad intensiver Beobachtung unterworfen wie die<br />
britische, und ich vermute, es wäre einfach möglich, daß Bru<strong>de</strong>rmord<br />
vorkommt, aber bisher übersehen wor<strong>de</strong>n ist.<br />
Ich bringe an dieser Stelle einen <strong>de</strong>rart unwahrscheinli-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 214<br />
chen Gedanken wie die Bru<strong>de</strong>rmord-Hypothese vor, weil ich<br />
eine allgemeine These aufstellen möchte. Nämlich die, daß<br />
das skrupellose Verhalten eines jungen Kuckucks lediglich ein<br />
Extremfall <strong>de</strong>ssen ist, was in je<strong>de</strong>r Familie vor sich gehen muß.<br />
Leibliche Geschwister sind untereinan<strong>de</strong>r näher verwandt als<br />
ein Kuckucksjunges mit seinen Stiefgeschwistern, aber <strong>de</strong>r<br />
Unterschied ist lediglich quantitativer Art. Selbst <strong>wen</strong>n wir<br />
nicht glauben können, daß sich offener Bru<strong>de</strong>rmord entwikkeln<br />
könnte, muß es zahllose <strong>wen</strong>iger extreme Beispiele von<br />
Eigennutz geben, bei <strong>de</strong>nen die Kosten, die einem Kind in<br />
Form von Verlusten für seine Geschwister entstehen, mehr als<br />
doppelt aufgewogen wer<strong>de</strong>n durch <strong>de</strong>n Nutzen, <strong>de</strong>n es selbst<br />
davonträgt. In solchen Fällen, etwa <strong>wen</strong>n es um <strong>de</strong>n <strong>Zeit</strong>punkt<br />
<strong>de</strong>r Entwöhnung geht, existiert ein echter Interessenkonflikt<br />
zwischen Eltern und Kind.<br />
Wer geht mit größerer Wahrscheinlichkeit als Sieger aus<br />
diesem Krieg <strong>de</strong>r Generationen hervor? R. D. Alexan<strong>de</strong>r schlägt<br />
in einem interessanten Aufsatz eine allgemeingültige Antwort<br />
auf diese Frage vor. Seiner Ansicht nach gewinnen immer die<br />
Eltern. 2 Falls dies zutrifft, hat <strong>de</strong>r Leser seine <strong>Zeit</strong> vergeu<strong>de</strong>t, als<br />
er dieses Kapitel las. Alexan<strong>de</strong>rs These hat viele interessante<br />
Implikationen. Zum Beispiel könnte sich uneigennütziges Verhalten<br />
allein wegen <strong>de</strong>r Vorteile entwickeln, die es <strong>de</strong>n Genen<br />
<strong>de</strong>r Eltern altruistisch han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>r Individuen bringt, nicht<br />
wegen <strong>de</strong>r Vorteile für die Gene <strong>de</strong>r Altruisten selbst. Die elterliche<br />
Manipulation – um Alexan<strong>de</strong>rs Begriff zu gebrauchen –<br />
wird, unabhängig von einfacher Verwandtschaftsselektion, zu<br />
einer alternativen Ursache für die Evolution altruistischen Verhaltens.<br />
Es ist für uns daher wichtig, Alexan<strong>de</strong>rs Gedankengang<br />
zu untersuchen und uns davon zu überzeugen, daß wir<br />
verstehen, warum er unrecht haben muß. Dies müßte eigentlich<br />
auf mathematische Weise geschehen, aber wir vermei<strong>de</strong>n<br />
in diesem Buch die unmittelbare An<strong>wen</strong>dung <strong>de</strong>r Mathematik,<br />
und es läßt sich auch so eine intuitive Vorstellung davon vermitteln,<br />
was an Alexan<strong>de</strong>rs These falsch ist.<br />
Seine grundlegen<strong>de</strong> genetische Aussage ist im folgen<strong>de</strong>n,<br />
verkürzt wie<strong>de</strong>rgegebenen Zitat enthalten. „Nehmen wir an,
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 215<br />
ein junges ... verursacht eine ungleiche Verteilung elterlicher<br />
Leistungen zu seinen eigenen Gunsten und verringert damit<br />
die Gesamtrep<strong>ro</strong>duktion seiner Mutter. Ein Gen, das auf<br />
diese Weise die Fitneß eines Individuums im Jugendalter verbessert,<br />
muß <strong>de</strong>ssen Fitneß als Erwachsener zwangsläufig<br />
min<strong>de</strong>rn, <strong>de</strong>nn solche durch Mutation entstan<strong>de</strong>nen Gene<br />
wer<strong>de</strong>n bei <strong>de</strong>n Nachkommen <strong>de</strong>s mutierten Individuums<br />
überdurchschnittlich häufig sein.“ Die Tatsache, daß Alexan<strong>de</strong>r<br />
ein gera<strong>de</strong> erst durch Mutation entstan<strong>de</strong>nes Gen betrachtet,<br />
ist für das Argument nicht von Be<strong>de</strong>utung. Es ist besser, sich<br />
ein vererbtes seltenes Gen vorzustellen. Der Begriff „Fitneß“<br />
be<strong>de</strong>utet in diesem Zusammenhang Fortpflanzungserfolg. Alexan<strong>de</strong>rs<br />
Aussage ist im wesentlichen die folgen<strong>de</strong>: Ein Gen, das<br />
ein Lebewesen dazu veranlaßt, im Kin<strong>de</strong>salter mehr als seinen<br />
gerechten Anteil an sich zu reißen, und zwar auf Kosten <strong>de</strong>s<br />
Fortpflanzungserfolgs seiner Eltern, könnte in <strong>de</strong>r Tat seine<br />
Überlebenschancen vergrößern. Es wür<strong>de</strong> es aber zu büßen<br />
haben, <strong>wen</strong>n es eines Tages selbst Vater o<strong>de</strong>r Mutter wer<strong>de</strong>n<br />
sollte, weil seine Kin<strong>de</strong>r wahrscheinlich dasselbe egoistische<br />
Gen besitzen und dies seinen eigenen Fortpflanzungserfolg<br />
senken wür<strong>de</strong>. Es wür<strong>de</strong> mit seinen eigenen Waffen geschlagen<br />
wer<strong>de</strong>n. Daher kann das Gen nicht erfolgreich sein, und in<br />
<strong>de</strong>m Konflikt müssen immer die Eltern gewinnen.<br />
Dieses Argument sollte sofort unseren Verdacht erregen,<br />
<strong>de</strong>nn es beruht auf <strong>de</strong>r Annahme einer genetischen Asymmetrie,<br />
die in Wirklichkeit nicht existiert. Alexan<strong>de</strong>r benutzt die<br />
Worte „Eltern“ und „Nachkommen“, als ob zwischen ihnen<br />
ein grundlegen<strong>de</strong>r genetischer Unterschied bestün<strong>de</strong>. Wie wir<br />
gesehen haben, gibt es zwischen Eltern und Kin<strong>de</strong>rn zwar<br />
praktische Unterschie<strong>de</strong> – beispielsweise sind Eltern älter als<br />
Kin<strong>de</strong>r, und Kin<strong>de</strong>r entstammen <strong>de</strong>n Körpern ihrer Eltern<br />
–, aber es existiert keinerlei grundsätzliche genetische Asymmetrie.<br />
Der Verwandtschaftsgrad zwischen ihnen beträgt aus<br />
bei<strong>de</strong>n Richtungen betrachtet 50 P<strong>ro</strong>zent. Um zu zeigen, was<br />
ich meine, wer<strong>de</strong> ich Alexan<strong>de</strong>rs Worte wie<strong>de</strong>rholen, dabei<br />
aber die Begriffe „Eltern“, „Kind“ und an<strong>de</strong>re entsprechen<strong>de</strong><br />
Wörter umkehren: „Nehmen wir an, ein Elternteil besitzt ein
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 216<br />
Gen, das ten<strong>de</strong>nziell eine gleichmäßige Verteilung elterlicher<br />
Leistungen verursacht. Ein Gen, das auf diese Weise die Fitneß<br />
eines Individuums verbessert, <strong>wen</strong>n dieses ein Elternteil ist,<br />
muß <strong>de</strong>ssen Fitneß im Kin<strong>de</strong>salter zwangsläufig gemin<strong>de</strong>rt<br />
haben.“ Wir kommen daher zum entgegengesetzten Schluß<br />
wie Alexan<strong>de</strong>r, nämlich, daß in je<strong>de</strong>m Eltern-Kind-Konflikt das<br />
Kind gewinnen muß!<br />
Es liegt auf <strong>de</strong>r Hand, daß hier etwas nicht stimmt. Bei<strong>de</strong><br />
Argumente sind zu stark vereinfacht. Zweck meiner Umkehrung<br />
<strong>de</strong>s Zitats ist nicht, das Gegenteil von Alexan<strong>de</strong>rs Behauptung<br />
zu beweisen, son<strong>de</strong>rn lediglich zu zeigen, daß man nicht<br />
auf diese künstlich asymmetrische Art und Weise argumentieren<br />
kann. Sowohl Alexan<strong>de</strong>rs Beweisführung als auch meine<br />
Umkehrung davon waren falsch, weil sie die Dinge vom Standpunkt<br />
eines Individuums aus betrachteten – in Alexan<strong>de</strong>rs Fall<br />
<strong>de</strong>m <strong>de</strong>s Elternteils, in meinem <strong>de</strong>m <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s. Ich glaube,<br />
diese Art von Irrtum unterläuft einem nur zu leicht, <strong>wen</strong>n man<br />
<strong>de</strong>n Fachausdruck „Fitneß“ benutzt. Aus diesem Grun<strong>de</strong> habe<br />
ich es vermie<strong>de</strong>n, das Wort in diesem Buch zu ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>n.<br />
Es gibt in Wirklichkeit nur eine Einheit, <strong>de</strong>ren Standpunkt in<br />
<strong>de</strong>r Evolution wichtig ist, und diese Einheit ist das egoistische<br />
Gen. Die Gene in <strong>de</strong>n Körpern von Kin<strong>de</strong>rn wer<strong>de</strong>n auf Grund<br />
ihrer Fähigkeit selektiert, Elternkörper zu überlisten; Gene in<br />
Elternkörpern wer<strong>de</strong>n umgekehrt auf Grund ihrer Fähigkeit<br />
selektiert, die Jungen zu überlisten. Die Tatsache, daß genau<br />
dieselben Gene nacheinan<strong>de</strong>r in einem Kin<strong>de</strong>r- und einem<br />
Erwachsenenkörper sitzen, ist dabei keineswegs paradox.<br />
Gene wer<strong>de</strong>n nach ihrer Fähigkeit selektiert, die ihnen zur<br />
Verfügung stehen<strong>de</strong>n Machtmittel am besten zu gebrauchen:<br />
Sie wer<strong>de</strong>n ihre praktischen Möglichkeiten ausnutzen. Wenn<br />
ein Gen in einem Kin<strong>de</strong>rkörper sitzt, wer<strong>de</strong>n seine praktischen<br />
Möglichkeiten an<strong>de</strong>rs aussehen, als <strong>wen</strong>n es in einem<br />
Elternkörper sitzt. Daher wird seine optimale Taktik in bei<strong>de</strong>n<br />
Phasen <strong>de</strong>r Lebensgeschichte seines Körpers verschie<strong>de</strong>n sein.<br />
Es gibt aber auch keinen Grund zu Alexan<strong>de</strong>rs Annahme, daß<br />
die spätere optimale Taktik zwangsläufig über die frühere die<br />
Oberhand gewinnt. Man kann auch noch an<strong>de</strong>rs gegen Alex-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 217<br />
an<strong>de</strong>r argumentieren. Er legt stillschweigend eine Asymmetrie<br />
zwischen <strong>de</strong>r Eltern-Kind-Beziehung einerseits und <strong>de</strong>r Bru<strong>de</strong>r-Schwester-Beziehung<br />
an<strong>de</strong>rerseits zugrun<strong>de</strong>, die in Wirklichkeit<br />
nicht besteht. Der Leser wird sich daran erinnern,<br />
daß nach Trivers die Kosten, die einem eigennützigen Kind<br />
daraus entstehen, daß es sich mehr als seinen Anteil aneignet<br />
– also auch <strong>de</strong>r Grund dafür, daß es nur bis zu einem bestimmten<br />
Punkt eigennützig ist –, in <strong>de</strong>r Gefahr <strong>de</strong>s Verlusts seiner<br />
Geschwister bestehen, von <strong>de</strong>nen je<strong>de</strong>s die Hälfte seiner Gene<br />
in sich trägt. Doch Geschwister sind lediglich ein Son<strong>de</strong>rfall<br />
von Verwandten mit einem Verwandtschaftsgrad von 50 P<strong>ro</strong>zent.<br />
Die zukünftigen Kin<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s eigennützigen Kin<strong>de</strong>s sind<br />
für dieses nicht mehr und nicht <strong>wen</strong>iger „wertvoll“ als seine<br />
Geschwister. Daher sollten die Gesamtnettokosten für das<br />
Ansichreißen von mehr als <strong>de</strong>m gerechten Anteil <strong>de</strong>r elterlichen<br />
Mittel eigentlich nicht nur in Geschwistern, son<strong>de</strong>rn auch<br />
in zukünftigen Nachkommen gemessen wer<strong>de</strong>n, die aufgrund<br />
<strong>de</strong>s Egoismus <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r untereinan<strong>de</strong>r verlorengehen. Alexan<strong>de</strong>rs<br />
Äußerung über <strong>de</strong>n Nachteil, <strong>de</strong>r darin liegt, daß <strong>de</strong>r<br />
Eigennutz eines jungen Individuums an <strong>de</strong>ssen Kin<strong>de</strong>r weitergegeben<br />
wird und daher auf lange Sicht <strong>de</strong>n eigenen Fortpflanzungserfolg<br />
dieses Individuums beeinträchtigt, ist zutreffend,<br />
aber das be<strong>de</strong>utet lediglich, daß wir diesen Faktor auf <strong>de</strong>r<br />
Kostenseite <strong>de</strong>r Gleichung einkalkulieren müssen. Ein einzelnes<br />
Kind wird, solange sein Nettovorteil min<strong>de</strong>stens halb so<br />
g<strong>ro</strong>ß ist wie die Nettokosten für nahe Verwandte, immer noch<br />
gut daran tun, eigennützig zu sein. Zu <strong>de</strong>n „nahen Verwandten“<br />
sollten jedoch nicht nur Brü<strong>de</strong>r und Schwestern, son<strong>de</strong>rn<br />
auch zukünftige Kin<strong>de</strong>r gerechnet wer<strong>de</strong>n. Ein Individuum<br />
sollte sein eigenes Wohlergehen als doppelt so wertvoll<br />
einschätzen wie das seiner Geschwister – das ist Trivers’ grundlegen<strong>de</strong><br />
Annahme. Es sollte sich aber ebenfalls doppelt so hoch<br />
bewerten wie eins seiner eigenen zukünftigen Kin<strong>de</strong>r. Alexan<strong>de</strong>rs<br />
Schlußfolgerung, daß es im Interessenkonflikt einen eingebauten<br />
Vorteil auf <strong>de</strong>r elterlichen Seite gibt, ist nicht richtig.<br />
Neben seiner grundlegen<strong>de</strong>n genetischen These bringt Alexan<strong>de</strong>r<br />
auch eher praktische Argumente vor, die auf unleugbare
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 218<br />
Asymmetrien in <strong>de</strong>r Eltern-Kind-Beziehung zurückgehen. Der<br />
Elternteil ist <strong>de</strong>r aktive Partner, <strong>de</strong>rjenige, <strong>de</strong>r tatsächlich die<br />
Arbeit <strong>de</strong>r Futterbeschaffung leistet und daher in <strong>de</strong>r Lage ist,<br />
<strong>de</strong>n Ton anzugeben. Wenn er beschließt, seine Arbeit einzustellen,<br />
so kann das Kind nicht viel dagegen tun, da es kleiner<br />
ist und nicht zurückschlagen kann. Daher sind die Eltern in<br />
einer Position, in <strong>de</strong>r sie ihren Willen ohne Rücksicht auf die<br />
Wünsche <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s durchsetzen können. Dieses Argument<br />
ist nicht offensichtlich falsch, da in diesem Fall die Asymmetrie,<br />
die es postuliert, real ist.<br />
Eltern sind tatsächlich größer, stärker und welterfahrener<br />
als Kin<strong>de</strong>r. Sie scheinen alle Trümpfe in <strong>de</strong>r Hand zu haben.<br />
Aber auch die Jungen haben ein paar Asse im Ärmel. Zum<br />
Beispiel ist es für Eltern wichtig zu wissen, wie hungrig je<strong>de</strong>s<br />
ihrer Kin<strong>de</strong>r ist, damit sie das Futter möglichst effizient austeilen<br />
können. Sie könnten die Nahrung natürlich genau gleich<br />
für alle rationieren, aber selbst im I<strong>de</strong>alfall wäre dies <strong>wen</strong>iger<br />
effizient als ein System, bei <strong>de</strong>m diejenigen ein bißchen mehr<br />
bekommen, die es am besten verwerten können. Für die Eltern<br />
wäre ein System, bei <strong>de</strong>m je<strong>de</strong>s Kind sagt, wie hungrig es ist,<br />
i<strong>de</strong>al, und ein solches System scheint sich, wie wir gesehen<br />
haben, entwickelt zu haben. Die Jungen allerdings befin<strong>de</strong>n<br />
sich stark im Vorteil, <strong>wen</strong>n sie die Eltern belügen wollen, <strong>de</strong>nn<br />
sie wissen genau, wie hungrig sie sind, während die Eltern nur<br />
raten können, ob sie die Wahrheit sagen o<strong>de</strong>r nicht. Ein Elternteil<br />
kann zwar vielleicht eine g<strong>ro</strong>ße Lüge durchschauen, eine<br />
kleine Lüge zu ent<strong>de</strong>cken ist für ihn aber fast unmöglich.<br />
Für Eltern ist es vorteilhaft, <strong>wen</strong>n sie wissen, wann ein Kind<br />
glücklich ist, und für ein Kind ist es gut, seinen Eltern mitteilen<br />
zu können, wann es glücklich ist. Signale wie Schnurren<br />
und Lächeln mögen selektiert wor<strong>de</strong>n sein, weil sie es<br />
<strong>de</strong>n Eltern möglich machen zu erkennen, welche ihrer Handlungen<br />
für ihre Kin<strong>de</strong>r am wohltuendsten sind. Der Anblick<br />
ihres lächeln<strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>s o<strong>de</strong>r das Geräusch ihres schnurren<strong>de</strong>n<br />
Kätzchens ist für eine Menschen- beziehungsweise Katzenmutter<br />
in <strong>de</strong>mselben Sinne lohnend wie eine Futtergabe<br />
für eine Ratte im Labyrinthversuch. Doch sobald ein süßes
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 219<br />
Lächeln o<strong>de</strong>r ein lautes Schnurren lohnend gewor<strong>de</strong>n ist, kann<br />
das Kind das Lächeln o<strong>de</strong>r das Kätzchen das Schnurren zur<br />
Manipulation <strong>de</strong>r Eltern einsetzen, um mehr als seinen gerechten<br />
Anteil am Elternaufwand zu erhalten.<br />
Es gibt also keine allgemeingültige Antwort auf die Frage,<br />
wer mit größerer Wahrscheinlichkeit <strong>de</strong>n Krieg <strong>de</strong>r Generationen<br />
gewinnt. Das Resultat dieses Krieges ist ein Komp<strong>ro</strong>miß<br />
zwischen <strong>de</strong>r für das Kind und <strong>de</strong>r für <strong>de</strong>n Erwachsenen i<strong>de</strong>alen<br />
Situation. Es ist ein Kampf, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m zwischen Kuckuck<br />
und Pflegeeltern vergleichbar ist – natürlich kein <strong>de</strong>rart verbissener<br />
Kampf, <strong>de</strong>nn die Gegner haben einige genetische Interessen<br />
gemeinsam; ihre Gegnerschaft besteht nur bis zu einem<br />
gewissen Grad o<strong>de</strong>r während bestimmter sensibler Perio<strong>de</strong>n.<br />
Dennoch mögen Jungtiere viele <strong>de</strong>r von Kuckucken angewandten<br />
Taktiken <strong>de</strong>r Täuschung und Ausbeutung gegen ihre<br />
eigenen Eltern praktizieren; allerdings wer<strong>de</strong>n sie dabei nicht<br />
so grenzenlos egoistisch sein, wie man es von einem Kuckuck<br />
erwarten muß.<br />
Dieses Kapitel wie auch das nächste, in <strong>de</strong>m wir <strong>de</strong>n Konflikt<br />
zwischen Geschlechtspartnern erörtern wer<strong>de</strong>n, wirken<br />
möglicherweise furchtbar zynisch, und sie mögen schrecklich<br />
sein für Menscheneltern, die in inniger Zuneigung an ihren<br />
Kin<strong>de</strong>rn und aneinan<strong>de</strong>r hängen. Ich muß daher noch einmal<br />
betonen, daß ich nicht von bewußten Motiven spreche. Niemand<br />
behauptet, daß Kin<strong>de</strong>r wegen <strong>de</strong>r eigennützigen Gene,<br />
die sie in sich tragen, absichtlich und bewußt ihre Eltern<br />
täuschen. Und ich muß wie<strong>de</strong>rholen : Wenn ich etwas sage<br />
wie „Ein Kind sollte sich keine Gelegenheit zum Betrügen ...<br />
Lügen, Täuschen, Ausbeuten ... entgehen lassen“, so benutze<br />
ich das Wort „sollte“ in einem speziellen Sinne. Keineswegs<br />
verfechte ich diese Art von Verhalten als moralisch o<strong>de</strong>r gar<br />
wünschenswert. Ich sage lediglich, daß die natürliche Auslese<br />
ten<strong>de</strong>nziell Kin<strong>de</strong>r begünstigen wird, die so han<strong>de</strong>ln, und<br />
daß wir daher, <strong>wen</strong>n wir freileben<strong>de</strong> Populationen beobachten,<br />
im engsten Familienkreis Betrug und Eigennutz erwarten<br />
müssen. Der Satz „Das Kind sollte betrügen“ be<strong>de</strong>utet, daß<br />
Gene, die Kin<strong>de</strong>r zum Betrug veranlassen, einen Vorteil im
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 220<br />
Genpool erringen wer<strong>de</strong>n. Wenn für <strong>de</strong>n Menschen eine<br />
Moral daraus abzuleiten ist, dann die, daß wir unsere Kin<strong>de</strong>r<br />
zur Selbstlosigkeit erziehen müssen, <strong>de</strong>nn wir können nicht<br />
damit rechnen, daß Selbstlosigkeit zu ihrer biologischen Natur<br />
gehört.
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 221<br />
9. Der Krieg <strong>de</strong>r Geschlechter<br />
Wenn es einen Interessenkonflikt zwischen Eltern und Kin<strong>de</strong>rn<br />
gibt, die 50 P<strong>ro</strong>zent ihrer Gene gemeinsam haben, wieviel ernster<br />
muß dann <strong>de</strong>r Konflikt zwischen Gatten sein, die ja nicht<br />
miteinan<strong>de</strong>r verwandt sind? 1 Das einzige, was sie gemeinsam<br />
haben, ist ein genetischer Aktienbesitz von je 50 P<strong>ro</strong>zent an<br />
<strong>de</strong>nselben Kin<strong>de</strong>rn. Da Vater und Mutter am Wohlergehen verschie<strong>de</strong>ner<br />
Hälften <strong>de</strong>rselben Kin<strong>de</strong>r interessiert sind, kann<br />
es für bei<strong>de</strong> von Nutzen sein, bei <strong>de</strong>r Aufzucht dieser Kin<strong>de</strong>r<br />
zusammenzuarbeiten. Wenn ein Elternteil jedoch ungestraft<br />
<strong>wen</strong>iger als seinen gerechten Anteil an wertvollen Ressourcen<br />
in je<strong>de</strong>s Kind investieren kann, so ist er <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren<br />
gegenüber im Vorteil, da er mehr in weitere Kin<strong>de</strong>r mit an<strong>de</strong>ren<br />
Geschlechtspartnern anlegen und auf diese Weise eine<br />
größere Menge seiner Gene vererben kann. Man kann sich<br />
daher vorstellen, daß je<strong>de</strong>r Partner <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren ausbeuten<br />
möchte, in<strong>de</strong>m er ihn zu zwingen versucht, mehr zu investieren.<br />
Was ein Individuum im I<strong>de</strong>alfall „gern hätte“ (ich meine<br />
nicht physisch gern haben, obwohl das auch sein könnte),<br />
wäre, sich mit so vielen Angehörigen <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren Geschlechts<br />
zu paaren wie möglich und die Aufzucht <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r dann<br />
stets <strong>de</strong>m Partner zu überlassen. Wie wir sehen wer<strong>de</strong>n, hat<br />
das männliche Geschlecht bei einer Reihe von Arten diesen<br />
Zustand erreicht, bei an<strong>de</strong>ren Arten jedoch sind die Männchen<br />
gezwungen, sich mit einem gleich g<strong>ro</strong>ßen Anteil an <strong>de</strong>r Last <strong>de</strong>r<br />
Kin<strong>de</strong>raufzucht zu beteiligen. Diese Auffassung <strong>de</strong>r sexuellen<br />
Partnerschaft als einer Beziehung gegenseitigen Mißtrauens<br />
und wechselseitiger Ausbeutung ist beson<strong>de</strong>rs von Trivers hervorgehoben<br />
wor<strong>de</strong>n. Sie ist für die Verhaltensforscher relativ<br />
neu. Wir haben Sexualverhalten, Paarung und die ihr vorausgehen<strong>de</strong><br />
Werbung bisher meist als ein im wesentlichen gemeinschaftliches<br />
Unterfangen angesehen, das zum wechselseitigen<br />
Nutzen o<strong>de</strong>r sogar zum Wohle <strong>de</strong>r Art unternommen wird!<br />
Lassen Sie uns bis ganz zu <strong>de</strong>n Anfängen zurückgehen<br />
und die eigentliche Natur <strong>de</strong>s Männlichen und <strong>de</strong>s Weiblichen<br />
untersuchen. In Kapitel 3 haben wir uns mit <strong>de</strong>r Sexualität
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 222<br />
befaßt, ohne ihre grundlegen<strong>de</strong> Asymmetrie zu betonen. Wir<br />
haben einfach akzeptiert, daß einige Tiere als männlich,<br />
an<strong>de</strong>re als weiblich bezeichnet wer<strong>de</strong>n, ohne zu fragen, was<br />
diese Worte wirklich be<strong>de</strong>uten. Was aber ist das Wesen <strong>de</strong>s<br />
Männlichen? Wodurch ist ein weibliches Geschöpf prinzipiell<br />
gekennzeichnet? Für uns als Säugetiere sind die Geschlechter<br />
durch ganze Merkmalskomplexe <strong>de</strong>finiert – <strong>de</strong>n Besitz eines<br />
Penis, das Austragen von Jungen, das Säugen mit Hilfe spezieller<br />
Milchdrüsen, bestimmte Ch<strong>ro</strong>mosomenmerkmale und<br />
so weiter. Diese Kriterien für das Geschlecht eines Individuums<br />
sind schön und gut, was die Säugetiere betrifft, für<br />
Tiere und Pflanzen im allgemeinen sind sie jedoch ebenso<strong>wen</strong>ig<br />
zuverlässig wie die Neigung zum Hosentragen als Kriterium<br />
für die Geschlechtszugehörigkeit beim Menschen. Bei<br />
<strong>de</strong>n Fröschen beispielsweise hat keines <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Geschlechter<br />
einen Penis. Vielleicht haben dann die Wörter männlich<br />
und weiblich keine allgemeine Be<strong>de</strong>utung? Es sind schließlich<br />
nur Wörter, und <strong>wen</strong>n wir feststellen, daß sie für die Beschreibung<br />
von Fröschen nicht brauchbar sind, so steht es uns völlig<br />
frei, auf sie zu verzichten. Wenn wir wollten, könnten wir die<br />
Frösche willkürlich in Geschlecht 1 und Geschlecht 2 einteilen.<br />
Es gibt jedoch ein grundlegen<strong>de</strong>s Geschlechtsmerkmal,<br />
das dazu benutzt wer<strong>de</strong>n kann, bei allen Tieren und Pflanzen<br />
Männchen als Männchen und Weibchen als Weibchen zu klassifizieren.<br />
Und zwar sind die Geschlechtszellen o<strong>de</strong>r „Gameten“<br />
<strong>de</strong>r männlichen Organismen viel kleiner und zahlreicher<br />
als die weiblichen Gameten. Dies gilt sowohl für Tiere als<br />
auch für Pflanzen. Die eine Gruppe von Lebewesen hat g<strong>ro</strong>ße<br />
Geschlechtszellen, und es ist zweckmäßig, sie als Weibchen<br />
zu bezeichnen. Die an<strong>de</strong>re Gruppe, die man <strong>de</strong>r Einfachheit<br />
halber Männchen nennt, hat kleine Geschlechtszellen. Der<br />
Unterschied ist bei Reptilien und Vögeln beson<strong>de</strong>rs ausgeprägt,<br />
bei <strong>de</strong>nen eine einzige Eizelle g<strong>ro</strong>ß und nährstoffhaltig genug<br />
ist, um einen sich entwickeln<strong>de</strong>n Embryo mehrere Monate<br />
lang zu ernähren. Selbst die mik<strong>ro</strong>skopisch kleinen Eizellen<br />
<strong>de</strong>s Menschen sind immer noch viele Male größer als die Spermien.<br />
Wie wir sehen wer<strong>de</strong>n, lassen sich alle an<strong>de</strong>ren Unter-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 223<br />
schie<strong>de</strong> zwischen <strong>de</strong>n Geschlechtern aus diesem einen grundlegen<strong>de</strong>n<br />
Unterschied ableiten.<br />
Bei bestimmten nie<strong>de</strong>ren Organismen, beispielsweise einigen<br />
Pilzen, gibt es keine männlichen und weiblichen Geschlechtszellen,<br />
obwohl eine Art geschlechtlicher Fortpflanzung stattfin<strong>de</strong>t.<br />
Bei <strong>de</strong>m als Isogametie bezeichneten System lassen sich<br />
die Individuen nicht in zwei Geschlechter unterteilen. Je<strong>de</strong>s<br />
Individuum kann sich mit je<strong>de</strong>m paaren. Es gibt nicht zwei<br />
verschie<strong>de</strong>ne Gametensorten – Samen- und Eizellen –, son<strong>de</strong>rn<br />
alle Geschlechtszellen sind gleich und heißen Isogameten.<br />
Neue Lebewesen entstehen aus <strong>de</strong>r Verschmelzung von<br />
zwei Isogameten, von <strong>de</strong>nen je<strong>de</strong>r durch meiotische Teilung<br />
entstan<strong>de</strong>n ist. Wenn wir drei Isogameten haben, A, B und C,<br />
so könnte A mit B o<strong>de</strong>r C und B mit A o<strong>de</strong>r C verschmelzen.<br />
Dies ist bei normaler geschlechtlicher Fortpflanzung niemals<br />
<strong>de</strong>r Fall. Wenn A eine Samenzelle ist und sich mit B und C vereinigen<br />
kann, dann müssen B und C Eizellen sein, und B kann<br />
nicht mit C verschmelzen.<br />
Wenn zwei Isogameten sich vereinigen, tragen sie bei<strong>de</strong> die<br />
gleiche Anzahl von Genen zu <strong>de</strong>m neuen Lebewesen bei und<br />
ebenso gleiche Mengen an Nahrungsreserven. Auch Spermien<br />
und Eizellen tragen die gleiche Genzahl bei, doch was die Nahrungsreserven<br />
betrifft, so ist <strong>de</strong>r Beitrag <strong>de</strong>r Eier sehr viel<br />
größer: Tatsächlich leisten die Samenzellen überhaupt keinen<br />
Beitrag und sind lediglich daran interessiert, ihre Gene so<br />
schnell wie möglich zu einem Ei zu transportieren. Zum <strong>Zeit</strong>punkt<br />
<strong>de</strong>r Befruchtung hat <strong>de</strong>r Vater daher <strong>wen</strong>iger als <strong>de</strong>n auf<br />
ihn entfallen<strong>de</strong>n Anteil (das heißt 50 P<strong>ro</strong>zent) an Mitteln in die<br />
Nachkommenschaft investiert.<br />
Da je<strong>de</strong>s Spermium so winzig ist, kann ein männlicher Organismus<br />
es sich leisten, je<strong>de</strong>n Tag viele Millionen davon zu p<strong>ro</strong>duzieren.<br />
Das be<strong>de</strong>utet, daß er potentiell in <strong>de</strong>r Lage ist, in<br />
einer kurzen <strong>Zeit</strong>spanne – mit verschie<strong>de</strong>nen Weibchen – eine<br />
sehr g<strong>ro</strong>ße Zahl von Kin<strong>de</strong>rn zu zeugen. Dies ist nur <strong>de</strong>shalb<br />
möglich, weil je<strong>de</strong>r neue Embryo von <strong>de</strong>r jeweiligen Mutter mit<br />
ausreichend Nahrung versorgt wird. Der Kin<strong>de</strong>rzahl, die ein<br />
Weibchen haben kann, ist daher eine Grenze gesetzt, während
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 224<br />
ein Männchen praktisch unbegrenzt viele Kin<strong>de</strong>r zeugen kann.<br />
Damit beginnt die Ausbeutung <strong>de</strong>s weiblichen Geschlechts. 2<br />
Parker und an<strong>de</strong>re haben gezeigt, wie diese Asymmetrie sich<br />
aus einem ursprünglich isogamen Zustand entwickelt haben<br />
könnte. Zu <strong>de</strong>r <strong>Zeit</strong>, als alle Geschlechtszellen austauschbar<br />
und ungefähr gleich g<strong>ro</strong>ß waren, mag es einige gegeben haben,<br />
die rein zufällig geringfügig größer waren als die an<strong>de</strong>ren. Ein<br />
g<strong>ro</strong>ßer Isogamet wür<strong>de</strong> in gewisser Hinsicht einem Isogameten<br />
durchschnittlicher Größe gegenüber im Vorteil sein, <strong>de</strong>nn<br />
er wür<strong>de</strong> seinem Embryo dadurch, daß er ihn zu Beginn mit<br />
einer g<strong>ro</strong>ßen Nahrungsreserve ausstattet, einen guten Start<br />
sichern. Daher könnte es einen evolutiven Trend zu größeren<br />
Gameten gegeben haben. Die Sache hat jedoch einen Haken.<br />
Die Entwicklung von Gameten, die größer sind als unbedingt<br />
erfor<strong>de</strong>rlich, wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>r egoistischen Ausbeutung Tür und<br />
Tor öffnen. Individuen, die kleinere als die durchschnittlichen<br />
Gameten p<strong>ro</strong>duzieren wür<strong>de</strong>n, könnten davon p<strong>ro</strong>fitieren, vorausgesetzt<br />
sie könnten sicherstellen, daß ihre kleinen Gameten<br />
sich mit extra g<strong>ro</strong>ßen vereinigen. Dies könnte dadurch erreicht<br />
wer<strong>de</strong>n, daß die kleinen beweglicher gemacht und in die Lage<br />
versetzt wer<strong>de</strong>n, g<strong>ro</strong>ße Gameten gezielt aufzuspüren. Der<br />
Vorteil für ein Individuum, das kleine, schnell bewegliche<br />
Gameten herstellt, könnte darin bestehen, daß dieses es sich<br />
leisten könnte, eine größere Zahl von Gameten herzustellen,<br />
und daß es daher potentiell mehr Kin<strong>de</strong>r haben könnte. Die<br />
natürliche Auslese wür<strong>de</strong> die P<strong>ro</strong>duktion von Geschlechtszellen<br />
begünstigen, die kleiner wären und aktiv darangingen, g<strong>ro</strong>ße<br />
Gameten zur Kopulation ausfindig zu machen. So können<br />
wir uns die Herausbildung von zwei divergieren<strong>de</strong>n sexuellen<br />
„Strategien“ vorstellen. Die eine war die „aufrichtige“ Strategie,<br />
die <strong>de</strong>r g<strong>ro</strong>ßen Investition. Diese bahnte automatisch<br />
einer „ausbeuterischen“ Strategie <strong>de</strong>r kleinen Investitionen<br />
<strong>de</strong>n Weg. Nach<strong>de</strong>m die Auseinan<strong>de</strong>rentwicklung <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n<br />
Strategien erst einmal begonnen hatte, mußte sie sich unaufhaltsam<br />
weiter fortsetzen. Dazwischenliegen<strong>de</strong> mittelg<strong>ro</strong>ße<br />
Gameten wur<strong>de</strong>n bestraft, <strong>de</strong>nn sie erfreuten sich we<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r<br />
Vorteile <strong>de</strong>r einen noch <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren extremen Strategie. Die
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 225<br />
arglistigen Gameten wur<strong>de</strong>n im Laufe <strong>de</strong>r Evolution immer<br />
kleiner und beweglicher. Die aufrichtigen wur<strong>de</strong>n immer<br />
größer, um die zunehmend kleinere Investition <strong>de</strong>r ausbeuterischen<br />
Geschlechtszellen auszugleichen, und immer unbeweglicher,<br />
da die Ausbeuter sowieso immer Jagd auf sie gemacht<br />
hätten. Je<strong>de</strong>r ehrliche Gamet wäre zwar „lieber“ mit einem<br />
an<strong>de</strong>ren ehrlichen Gameten verschmolzen. Aber <strong>de</strong>r Selektionsdruck<br />
für <strong>de</strong>n Ausschluß <strong>de</strong>r ausbeuterischen Gameten war<br />
geringer als <strong>de</strong>r auf diese wirken<strong>de</strong> Druck, durch die Sperre<br />
hindurchzuschlüpfen: Die Ausbeuter hatten mehr zu verlieren,<br />
und daher trugen sie im Evolutionskrieg <strong>de</strong>n Sieg davon.<br />
Die ehrlichen Gameten wur<strong>de</strong>n zu Eizellen, die unehrlichen zu<br />
Spermien.<br />
Das männliche Geschlecht scheint also aus ziemlich wertlosen<br />
Burschen zu bestehen, und unter <strong>de</strong>m Aspekt <strong>de</strong>s Wohles<br />
<strong>de</strong>r Art wäre zu erwarten, daß die männlichen Organismen<br />
<strong>wen</strong>iger zahlreich wür<strong>de</strong>n als die weiblichen. Da ein einziges<br />
Männchen theoretisch genug Spermien erzeugen kann, um<br />
einen Harem von 100 Weibchen zu begatten, sollten wir annehmen,<br />
daß in Tierpopulationen die Zahl <strong>de</strong>r Weibchen um<br />
<strong>de</strong>n Faktor 100 größer wäre als die <strong>de</strong>r Männchen. An<strong>de</strong>rs<br />
ausgedrückt heißt dies, daß die Männchen für die Art „entbehrlicher“<br />
und die Weibchen „wertvoller“ sind. Vom Standpunkt<br />
<strong>de</strong>r Art als Gesamtheit betrachtet, ist dies natürlich völlig richtig.<br />
Um ein extremes Beispiel zu nennen: Bei einer Untersuchung<br />
über See-Elefanten waren vier P<strong>ro</strong>zent <strong>de</strong>r männlichen<br />
Tiere für 88 P<strong>ro</strong>zent aller beobachteten Kopulationen verantwortlich.<br />
In diesem und in vielen an<strong>de</strong>ren Fällen besteht ein<br />
g<strong>ro</strong>ßer Überschuß an Junggesellen, die wahrscheinlich niemals<br />
in ihrem ganzen Leben eine Chance zur Paarung bekommen<br />
wer<strong>de</strong>n. Doch diese überschüssigen Männchen führen<br />
ein ansonsten normales Leben und verzehren die Nahrungsressourcen<br />
<strong>de</strong>r Population mit genauso g<strong>ro</strong>ßem Appetit wie<br />
an<strong>de</strong>re Erwachsene. Aus einem am „Wohl <strong>de</strong>r Art“ orientierten<br />
Blickwinkel gesehen, ist das eine furchtbare Versch<strong>wen</strong>dung.<br />
Man könnte die Junggesellen als soziale Parasiten betrachten.<br />
Dies ist nur ein weiteres Beispiel für die Schwierigkeiten, mit
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 226<br />
<strong>de</strong>nen die Theorie <strong>de</strong>r Gruppenselektion zu kämpfen hat. Die<br />
Theorie vom egoistischen Gen dagegen erklärt ohne weiteres<br />
die Tatsache, daß die Zahl männlicher und weiblicher Individuen<br />
sich ungefähr im Gleichgewicht befin<strong>de</strong>t, selbst <strong>wen</strong>n die<br />
Männchen, die sich tatsächlich fortpflanzen, möglicherweise<br />
nur einen kleinen Bruchteil <strong>de</strong>r Gesamtpopulation darstellen.<br />
Die Erklärung wur<strong>de</strong> zuerst von R. A. Fisher geliefert.<br />
Das P<strong>ro</strong>blem, wie viele männliche und wie viele weibliche<br />
Kin<strong>de</strong>r geboren wer<strong>de</strong>n sollen, stellt einen Son<strong>de</strong>rfall <strong>de</strong>s P<strong>ro</strong>blems<br />
<strong>de</strong>r Elternstrategie dar. In <strong>de</strong>r gleichen Weise, in <strong>de</strong>r<br />
wir erörtert haben, welches die optimale Familiengröße für<br />
eine Mutter ist, die <strong>de</strong>n Fortbestand ihrer Gene zu maximieren<br />
versucht, können wir auch die optimale Geschlechterverteilung<br />
erörtern. Sollte man seine kostbaren Gene lieber Söhnen<br />
o<strong>de</strong>r Töchtern anvertrauen? Nehmen wir an, eine Mutter investierte<br />
alle ihre Mittel in Söhne und hätte daher keine übrig,<br />
um sie in Töchtern anzulegen: Wür<strong>de</strong> sie im Durchschnitt<br />
mehr zum Genpool <strong>de</strong>r Zukunft beitragen als eine rivalisieren<strong>de</strong><br />
Mutter, die in Töchter investiert? Nehmen Gene für das<br />
Bevorzugen von Söhnen gegenüber Genen für das Bevorzugen<br />
von Töchtern an Zahl zu o<strong>de</strong>r ab? Fisher bewies, daß unter<br />
normalen Umstän<strong>de</strong>n das optimale Geschlechterverhältnis 50<br />
zu 50 beträgt. Wenn wir wissen wollen, warum dies so ist,<br />
müssen wir uns zunächst ein <strong>wen</strong>ig mit <strong>de</strong>m Mechanismus <strong>de</strong>r<br />
Geschlechtsbestimmung befassen.<br />
Bei <strong>de</strong>n Säugetieren wird das Geschlecht genetisch<br />
folgen<strong>de</strong>rmaßen festgelegt. Alle Eier sind in <strong>de</strong>r Lage, sich<br />
entwe<strong>de</strong>r zu männlichen o<strong>de</strong>r zu weiblichen Lebewesen zu<br />
entwickeln. Die Spermien sind diejenigen, welche die für das<br />
Geschlecht ausschlaggeben<strong>de</strong>n Ch<strong>ro</strong>mosomen beherbergen.<br />
Die Hälfte <strong>de</strong>r von einem Mann p<strong>ro</strong>duzierten Spermien sind<br />
X-Spermien, die Töchter erzeugen, die an<strong>de</strong>re Hälfte, die<br />
Y-Spermien, erzeugt Söhne. Die bei<strong>de</strong>n Spermientypen sehen<br />
gleich aus. Sie unterschei<strong>de</strong>n sich lediglich in bezug auf ein einziges<br />
Ch<strong>ro</strong>mosom. Ein Gen, durch <strong>de</strong>ssen Wirkung ein Mann<br />
ausschließlich Töchter bekäme, könnte dies erreichen, in<strong>de</strong>m<br />
es ihn nur X-Spermien erzeugen ließe. Ein Gen, das eine Frau
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 227<br />
ausschließlich Töchter bekommen ließe, könnte so funktionieren,<br />
daß es sie veranlaßte, ein selektives Spermizid auszuschei<strong>de</strong>n<br />
o<strong>de</strong>r männliche Embryos vorzeitig abzustoßen.<br />
Was wir suchen, ist etwas, das einer evolutionär stabilen Strategie<br />
(ESS) entspricht, wobei allerdings hier das Wort „Strategie“<br />
sogar noch mehr als in <strong>de</strong>m Kapitel über Aggression<br />
lediglich ein bildhafter Ausdruck ist. Ein Individuum kann nicht<br />
tatsächlich das Geschlecht seiner Kin<strong>de</strong>r auswählen. Aber<br />
Gene dafür, daß man eher Kin<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s einen o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s<br />
an<strong>de</strong>ren Geschlechts bekommt, sind möglich. Wenn wir<br />
von <strong>de</strong>r Existenz solcher Gene ausgehen, die ein unausgewogenes<br />
Geschlechterverhältnis begünstigen, ist es dann<br />
wahrscheinlich, daß einige von ihnen im Genpool zahlreicher<br />
wer<strong>de</strong>n als ihre rivalisieren<strong>de</strong>n Allele, die eine ausgeglichene<br />
Verteilung <strong>de</strong>r Geschlechter för<strong>de</strong>rn?<br />
Nehmen wir an, bei <strong>de</strong>n oben erwähnten See-Elefanten trete<br />
durch Mutation ein Gen auf, das bei seinen Trägern eine Ten<strong>de</strong>nz<br />
verursachte, überwiegend Töchter zu bekommen. Da es<br />
in <strong>de</strong>r Population keinen Mangel an männlichen Tieren gibt,<br />
hätten die Töchter keine Schwierigkeiten, Gatten zu fin<strong>de</strong>n,<br />
und das töchtererzeugen<strong>de</strong> Gen könnte sich ausbreiten. Das<br />
Geschlechterverhältnis in <strong>de</strong>r Population wür<strong>de</strong> sich dann<br />
in Richtung eines Weibchenüberschusses verschieben. Vom<br />
Gesichtspunkt <strong>de</strong>r Arterhaltungsthese aus betrachtet, wäre<br />
dies ganz in Ordnung, weil, wie wir gesehen haben, nur <strong>wen</strong>ige<br />
männliche Tiere ohne weiteres ausreichen wür<strong>de</strong>n, um die<br />
selbst für einen riesigen Überschuß an Weibchen erfor<strong>de</strong>rlichen<br />
Spermien zu liefern. Oberflächlich gesehen könnten wir<br />
daher erwarten, daß das töchterp<strong>ro</strong>duzieren<strong>de</strong> Gen sich weiter<br />
ausbreitet, bis die Geschlechterverteilung so unausgeglichen<br />
wäre, daß die <strong>wen</strong>igen verbleiben<strong>de</strong>n Männchen, <strong>wen</strong>n sie<br />
sich völlig verausgabten, ihre Aufgabe gera<strong>de</strong> bewerkstelligen<br />
könnten. Doch be<strong>de</strong>nken wir jetzt, welchen enormen genetischen<br />
Vorteil jene <strong>wen</strong>igen Eltern genießen, die Söhne haben.<br />
Je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r in einen Sohn investiert, hat eine sehr gute Chance,<br />
G<strong>ro</strong>ßvater o<strong>de</strong>r G<strong>ro</strong>ßmutter von Hun<strong>de</strong>rten von See-Elefanten<br />
zu wer<strong>de</strong>n. Diejenigen, die ausschließlich Töchter erzeugen,
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 228<br />
wer<strong>de</strong>n zwar mit Sicherheit einige <strong>wen</strong>ige Enkelkin<strong>de</strong>r bekommen,<br />
doch ist dies nichts im Vergleich zu <strong>de</strong>n g<strong>ro</strong>ßartigen genetischen<br />
Möglichkeiten, die sich je<strong>de</strong>m eröffnen, <strong>de</strong>r sich auf<br />
Söhne spezialisiert. Daher wer<strong>de</strong>n die Gene für das Erzeugen<br />
von Söhnen wie<strong>de</strong>r zahlreicher wer<strong>de</strong>n, und das Pen<strong>de</strong>l wird<br />
zurückschwingen.<br />
Der Einfachheit halber habe ich das Bild einer Pen<strong>de</strong>lschwingung<br />
benutzt. In <strong>de</strong>r Praxis wäre es <strong>de</strong>m Pen<strong>de</strong>l niemals<br />
gestattet wor<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>rart weit in Richtung einer weiblichen Vorherrschaft<br />
auszuschlagen, da <strong>de</strong>r Druck zugunsten <strong>de</strong>r Erzeugung<br />
von Söhnen es sofort in die entgegengesetzte Richtung<br />
angestoßen hätte, sobald die Geschlechterverteilung unausgeglichen<br />
gewor<strong>de</strong>n wäre. Die Strategie, gleich viele Söhne und<br />
Töchter zu erzeugen, ist eine evolutionär stabile Strategie in<br />
<strong>de</strong>m Sinne, daß je<strong>de</strong>s Gen für das Abweichen von ihr einen<br />
Nettoverlust zu verzeichnen hat.<br />
Ich habe diese Geschichte so erzählt, als ginge es um die<br />
Zahl <strong>de</strong>r Söhne gegenüber <strong>de</strong>r Zahl <strong>de</strong>r Töchter. Dies erleichtert<br />
unsere Überlegungen, doch genaugenommen sollten wir<br />
über <strong>de</strong>n Elternaufwand sprechen, das heißt über die Gesamtheit<br />
an Nahrung und an<strong>de</strong>ren Ressourcen, die ein Elternteil<br />
anzubieten hat, wobei dieser Elternaufwand so gemessen wird,<br />
wie wir dies im vorigen Kapitel erörtert haben. Eltern sollten<br />
zu gleichen Teilen in Söhne und in Töchter investieren. Das<br />
be<strong>de</strong>utet gewöhnlich, daß sie zahlenmäßig ebenso viele Söhne<br />
haben sollten wie Töchter. Es könnte aber auch ungleiche<br />
Geschlechterverteilungen geben, die evolutionär stabil sind,<br />
vorausgesetzt, daß in die einzelnen Kin<strong>de</strong>r je nach Geschlecht<br />
entsprechend ungleiche Mengen von Mitteln investiert wer<strong>de</strong>n.<br />
Im Fall <strong>de</strong>r See-Elefanten könnte eine Politik, dreimal so<br />
viele Töchter wie Söhne zu haben, je<strong>de</strong>n Sohn dafür jedoch<br />
durch die dreifache Investition von Futter und an<strong>de</strong>ren Ressourcen<br />
zu einem „Supermann“ zu machen, durchaus stabil<br />
sein. Dadurch, daß ein Elternteil mehr Nahrung in einen<br />
Sohn investiert und ihn g<strong>ro</strong>ß und stark macht, kann er die<br />
Chancen dieses Sohnes vergrößern, <strong>de</strong>n Höchstpreis – einen<br />
Harem – zu gewinnen. Doch dies ist ein Son<strong>de</strong>rfall. Gewöhnlich
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 229<br />
wird <strong>de</strong>r in je<strong>de</strong>n Sohn investierte Betrag ungefähr <strong>de</strong>m<br />
in je<strong>de</strong> Tochter investierten Betrag entsprechen, und das<br />
Geschlechterverhältnis wird gewöhnlich eins zu eins sein.<br />
Auf seiner Reise durch die Generationen wird ein Durchschnittsgen<br />
daher ungefähr die Hälfte seiner <strong>Zeit</strong> in männlichen<br />
und die an<strong>de</strong>re Hälfte in weiblichen Körpern verbringen.<br />
Manche Genwirkungen manifestieren sich nur bei einem<br />
Geschlecht. Sie wer<strong>de</strong>n als geschlechtsgebun<strong>de</strong>ne Genwirkungen<br />
bezeichnet. Ein Gen, das die Penislänge reguliert, zeigt<br />
diese Wirkung nur in männlichen Körpern, es befin<strong>de</strong>t sich<br />
aber auch in weiblichen Körpern und kann auf diese eine<br />
völlig an<strong>de</strong>re Wirkung haben. Es gibt keinen Grund, warum<br />
ein Mann die Anlage, einen langen Penis herauszubil<strong>de</strong>n, nicht<br />
von seiner Mutter erben sollte.<br />
In welcher <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Sorten von Körpern ein Gen sich<br />
auch befin<strong>de</strong>n mag, wir können erwarten, daß es von <strong>de</strong>n<br />
Möglichkeiten, die diese Sorte Körper bietet, <strong>de</strong>n besten<br />
Gebrauch macht. Diese Möglichkeiten mögen je nach<strong>de</strong>m, ob<br />
es sich um einen männlichen o<strong>de</strong>r einen weiblichen Körper<br />
han<strong>de</strong>lt, recht verschie<strong>de</strong>n sein. Als eine brauchbare Näherung<br />
können wir wie<strong>de</strong>r einmal annehmen, daß je<strong>de</strong>r einzelne<br />
Körper eine egoistische Maschine ist, die das Beste für alle ihre<br />
Gene zu tun versucht. Die beste Politik für eine solche egoistische<br />
Maschine wird häufig etwas ganz an<strong>de</strong>res sein, <strong>wen</strong>n es<br />
sich um eine weibliche, als <strong>wen</strong>n es sich um eine männliche<br />
Maschine han<strong>de</strong>lt. Um <strong>de</strong>r Kürze willen stellen wir uns das<br />
Individuum wie<strong>de</strong>r so vor, als ob es eine bewußte Absicht verfolgte.<br />
Wie zuvor wer<strong>de</strong>n wir uns immer <strong>de</strong>ssen bewußt sein,<br />
daß es sich hierbei lediglich um eine bildhafte Ausdrucksweise<br />
han<strong>de</strong>lt. Ein Körper ist in Wirklichkeit eine von ihren<br />
eigennützigen Genen blind p<strong>ro</strong>grammierte Maschine.<br />
Betrachten wir wie<strong>de</strong>r das Gattenpaar vom Anfang <strong>de</strong>s<br />
Kapitels. In ihrer Eigenschaft als eigennützige Maschinen<br />
„wünschen“ sich bei<strong>de</strong> Partner gleich viele Söhne und Töchter.<br />
Soweit sind sie sich einig. Nicht mehr einig sind sie sich darin,<br />
wer die Hauptlast <strong>de</strong>r Kosten für die Aufzucht je<strong>de</strong>s einzelnen<br />
dieser Kin<strong>de</strong>r tragen soll. Je<strong>de</strong>s Individuum wünscht sich so
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 230<br />
viele leben<strong>de</strong> Kin<strong>de</strong>r wie möglich. Je <strong>wen</strong>iger er o<strong>de</strong>r sie in<br />
je<strong>de</strong>s dieser Kin<strong>de</strong>r zu investieren gezwungen ist, <strong>de</strong>sto mehr<br />
Kin<strong>de</strong>r kann er o<strong>de</strong>r sie haben. Wie dieser wünschenswerte<br />
Zustand zu erreichen ist, liegt auf <strong>de</strong>r Hand: Ich muß meinen<br />
Geschlechtspartner dazu veranlassen, mehr als seinen gerechten<br />
Anteil an Mitteln in je<strong>de</strong>s Kind zu investieren und damit<br />
mich zu entlasten, so daß ich mit an<strong>de</strong>ren Gatten weitere<br />
Kin<strong>de</strong>r bekommen kann. Dies wäre für bei<strong>de</strong> Geschlechter<br />
eine wünschenswerte Strategie; sie in die Praxis umzusetzen,<br />
ist aber für die Weibchen schwerer. Da eine Mutter bereits ganz<br />
zu Anfang – in Form eines g<strong>ro</strong>ßen, nahrhaften Eies – mehr<br />
als das Männchen investiert, ist sie schon zum <strong>Zeit</strong>punkt <strong>de</strong>r<br />
Empfängnis je<strong>de</strong>m Kind tiefer „verbun<strong>de</strong>n“ als <strong>de</strong>r Vater. Sie<br />
hat, <strong>wen</strong>n das Kind stirbt, mehr zu verlieren als <strong>de</strong>ssen Vater.<br />
Wichtiger noch: Sie müßte in Zukunft mehr als <strong>de</strong>r Vater investieren,<br />
<strong>wen</strong>n sie als Ersatz ein neues Kind bis zum selben Entwicklungsstadium<br />
bringen wollte. Versuchte sie die Taktik, <strong>de</strong>n<br />
Vater <strong>de</strong>n Kopf hinhalten und das Kind versorgen zu lassen,<br />
während sie mit einem an<strong>de</strong>ren Männchen auf und davon geht,<br />
so könnte <strong>de</strong>r Vater sich mit relativ geringem eigenem Verlust<br />
dadurch rächen, daß er das Baby ebenfalls verläßt. Daher ist<br />
es, <strong>wen</strong>n überhaupt einer <strong>de</strong>r Gatten <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren im Stich<br />
läßt, zumin<strong>de</strong>st in <strong>de</strong>n frühen Entwicklungsphasen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s<br />
vermutlich eher <strong>de</strong>r Vater, <strong>de</strong>r die Mutter verläßt, und nicht<br />
umgekehrt. Gleichermaßen kann man erwarten, daß die Weibchen<br />
nicht nur zu Beginn, son<strong>de</strong>rn während <strong>de</strong>r gesamten<br />
Entwicklung <strong>de</strong>r Jungen mehr in diese investieren als die<br />
Männchen. So ist es bei <strong>de</strong>n Säugetieren zum Beispiel das<br />
Weibchen, in <strong>de</strong>ssen Körper <strong>de</strong>r Fötus heranwächst und das<br />
die Milch p<strong>ro</strong>duziert, um das Junge nach <strong>de</strong>r Geburt zu säugen,<br />
und es ist das Weibchen, das <strong>de</strong>n Hauptteil <strong>de</strong>r Last seiner<br />
Aufzucht und seines Schutzes trägt. Das weibliche Geschlecht<br />
wird ausgebeutet, und die grundlegen<strong>de</strong> evolutionäre Basis für<br />
diese Ausbeutung ist die Tatsache, daß Eizellen größer sind als<br />
Samenzellen.<br />
Natürlich gibt es viele Arten, bei <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Vater schwer<br />
arbeitet und pflichtgetreu an <strong>de</strong>r Pflege <strong>de</strong>r Jungen teilhat.
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 231<br />
Aber <strong>de</strong>nnoch müssen wir erwarten, daß gewöhnlich ein gewisser<br />
evolutionärer Druck auf die Männchen wirkt, ein kleines<br />
bißchen <strong>wen</strong>iger in je<strong>de</strong>s Kind zu investieren und zu versuchen,<br />
von an<strong>de</strong>ren Weibchen weitere Kin<strong>de</strong>r zu haben. Damit<br />
meine ich lediglich, daß Gene, die sagen: „Körper, <strong>wen</strong>n du<br />
männlichen Geschlechts bist, so verlaß <strong>de</strong>ine Gattin ein klein<br />
bißchen früher, als du dies auf Veranlassung meines rivalisieren<strong>de</strong>n<br />
Gens tun wür<strong>de</strong>st, und such dir ein an<strong>de</strong>res Weibchen“,<br />
im Genpool wahrscheinlich erfolgreich sein wer<strong>de</strong>n.<br />
In welchem Umfang dieser evolutionäre Druck in <strong>de</strong>r Praxis<br />
tatsächlich zum Tragen kommt, variiert von Art zu Art stark.<br />
Bei vielen Spezies, beispielsweise bei <strong>de</strong>n Paradiesvögeln,<br />
erhält das Weibchen keinerlei Hilfe von irgen<strong>de</strong>inem Männchen<br />
und zieht seine Jungen allein auf. An<strong>de</strong>re Arten, wie die<br />
Dreizehenmö<strong>wen</strong>, bil<strong>de</strong>n monogame Paare von beispielhafter<br />
Treue, und bei<strong>de</strong> Partner teilen sich die Aufgabe <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>raufzucht.<br />
Hier müssen wir vermuten, daß ein evolutionärer<br />
Gegendruck wirksam war: Mit <strong>de</strong>r eigennützigen Gattenausbeutungsstrategie<br />
muß nicht nur ein Vorteil, son<strong>de</strong>rn auch ein<br />
Nachteil verbun<strong>de</strong>n sein, und bei <strong>de</strong>n Dreizehenmö<strong>wen</strong> ist <strong>de</strong>r<br />
Nachteil größer als <strong>de</strong>r Vorteil. Es wird sich je<strong>de</strong>nfalls nur dann<br />
für einen Vater lohnen, Frau und Kind zu verlassen, <strong>wen</strong>n<br />
eine vernünftige Chance besteht, daß seine Partnerin das Kind<br />
allein aufziehen kann.<br />
Trivers hat sich Gedanken darüber gemacht, welche Handlungsweisen<br />
einer Mutter offenstehen, die von ihrem Mann<br />
verlassen wor<strong>de</strong>n ist. Für sie am vorteilhaftesten wäre es zu<br />
versuchen, ein an<strong>de</strong>res Männchen soweit zu täuschen, daß es<br />
ihr Kind adoptiert in <strong>de</strong>m „Glauben“, es sei sein eigenes. Das<br />
dürfte, <strong>wen</strong>n das Junge noch ein Fötus, also noch nicht geboren<br />
ist, nicht allzu schwierig sein. Natürlich trägt das Junge<br />
dann zwar die Hälfte <strong>de</strong>r Gene seiner Mutter, aber überhaupt<br />
keine Gene <strong>de</strong>s leichtgläubigen Stiefvaters. Die natürliche<br />
Auslese wür<strong>de</strong> eine solche Leichtgläubigkeit bei männlichen<br />
Tieren streng bestrafen und vielmehr Männchen begünstigen,<br />
die sofort nach <strong>de</strong>r Paarung mit einer neuen Gattin wirksame<br />
Schritte unternähmen, um alle potentiellen Stiefkin<strong>de</strong>r zu
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 232<br />
töten. Dies ist sehr wahrscheinlich die Erklärung für <strong>de</strong>n sogenannten<br />
Bruce-Effekt: Männliche Mäuse schei<strong>de</strong>n eine Substanz<br />
aus, <strong>de</strong>ren Geruch bei einem trächtigen Weibchen eine<br />
Fehlgeburt verursachen kann. Dieses verliert seine Jungen<br />
aber nur, <strong>wen</strong>n <strong>de</strong>r Geruch von <strong>de</strong>m seines früheren Gatten<br />
verschie<strong>de</strong>n ist. Auf diese Weise entledigt sich das Männchen<br />
potentieller Stiefkin<strong>de</strong>r und macht seine neue Partnerin für<br />
seine eigenen sexuellen Annäherungsversuche empfänglich.<br />
Ardrey hält, nebenbei gesagt, <strong>de</strong>n Bruce-Effekt für einen<br />
Mechanismus <strong>de</strong>r Populationskont<strong>ro</strong>lle. Ein ähnliches Beispiel<br />
ist vom Lö<strong>wen</strong> bekannt: Wenn ein männlicher Löwe neu in<br />
ein Ru<strong>de</strong>l kommt, so tötet er gewöhnlich alle vorhan<strong>de</strong>nen<br />
Lö<strong>wen</strong>babys, vermutlich weil diese nicht seine eigenen Kin<strong>de</strong>r<br />
sind.<br />
Ein Männchen kann dasselbe Ergebnis auch erreichen,<br />
ohne seine Stiefkin<strong>de</strong>r zu töten. Es kann, bevor es mit einem<br />
Weibchen kopuliert, auf einer langen Werbungszeit bestehen,<br />
während <strong>de</strong>r es alle an<strong>de</strong>ren Männchen vertreibt, die sich<br />
seiner Auserwählten nähern, und sie ihrerseits daran hin<strong>de</strong>rt,<br />
ihm zu entkommen. Auf diese Weise kann es abwarten, ob sie<br />
ungeborene Stiefkin<strong>de</strong>r in sich trägt, und sie verlassen, <strong>wen</strong>n<br />
dies <strong>de</strong>r Fall ist. Wir wer<strong>de</strong>n weiter unten einen Grund kennenlernen,<br />
aus <strong>de</strong>m ein Weibchen vor <strong>de</strong>r Kopulation eine<br />
sehr lange „Verlobungszeit“ wünschen könnte. Hier haben wir<br />
einen entsprechen<strong>de</strong>n Grund für ein Männchen. Vorausgesetzt<br />
es gelingt ihm, das Weibchen von allen Kontakten mit an<strong>de</strong>ren<br />
Männchen zu isolieren, so kann es mit Hilfe einer langen Verlobungszeit<br />
verhin<strong>de</strong>rn, daß es unwissentlich zum Wohltäter <strong>de</strong>r<br />
Nachkommen eines an<strong>de</strong>ren Männchens wird.<br />
Wenn wir also annehmen, daß eine verlassene Mutter kein<br />
neues Männchen dazu verleiten kann, ihr Kind zu adoptieren,<br />
was kann sie dann tun? Viel mag davon abhängen, wie alt das<br />
Kind ist. Wenn es gera<strong>de</strong> erst empfangen wor<strong>de</strong>n ist, hat sie<br />
zwar ein ganzes Ei in es investiert und vielleicht mehr, aber<br />
es könnte sich für sie immer noch auszahlen, eine Fehlgeburt<br />
zu haben und so schnell wie möglich einen neuen Gatten zu<br />
fin<strong>de</strong>n. Unter diesen Umstän<strong>de</strong>n wäre es sowohl für sie selbst
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 233<br />
als auch für <strong>de</strong>n potentiellen neuen Partner von Vorteil, <strong>wen</strong>n<br />
sie eine Fehlgeburt hätte – da wir davon ausgehen, daß sie<br />
nicht hoffen kann, das Männchen zur Adoption <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s<br />
zu verleiten. Dies könnte eine Erklärung dafür sein, warum<br />
<strong>de</strong>r Bruce-Effekt vom Standpunkt <strong>de</strong>s Weibchens aus funktioniert.<br />
Eine weitere Möglichkeit wäre, die Sache durchzustehen<br />
und zu versuchen, das Kind allein aufzuziehen. Dies wird sich<br />
für eine Mutter vor allem dann bezahlt machen, <strong>wen</strong>n das Kind<br />
schon ziemlich g<strong>ro</strong>ß ist. Je älter es ist, um so mehr hat sie<br />
bereits in es investiert und um so <strong>wen</strong>iger wird es sie kosten,<br />
die Aufgabe, es g<strong>ro</strong>ßzuziehen, zu En<strong>de</strong> zu führen. Auch <strong>wen</strong>n<br />
das Kind noch ziemlich klein ist, könnte es für eine Mutter<br />
eventuell lohnend sein, <strong>wen</strong>n sie versuchte, etwas von ihrer<br />
anfänglichen Investition zu retten, selbst <strong>wen</strong>n sie jetzt ohne<br />
Männchen doppelt so schwer arbeiten muß, um das Kind zu<br />
ernähren. Es ist kein T<strong>ro</strong>st für sie, daß das Kind auch die<br />
Hälfte <strong>de</strong>r Gene <strong>de</strong>s Vaters enthält und sie diesem eins auswischen<br />
könnte, in<strong>de</strong>m sie es im Stich läßt. Boshaftigkeit um<br />
ihrer selbst willen ist sinnlos. Das Kind trägt die Hälfte ihrer<br />
Gene, und nur sie steht jetzt vor einem Dilemma.<br />
So paradox das scheinen mag, könnte es für ein Weibchen,<br />
das Gefahr läuft, verlassen zu wer<strong>de</strong>n, eine vernünftige Politik<br />
sein, <strong>de</strong>n Gatten im Stich zu lassen, bevor er es im Stich läßt.<br />
Diese Politik könnte sich selbst dann bezahlt machen, <strong>wen</strong>n<br />
das Weibchen bereits mehr in das Junge investiert hat als<br />
das Männchen. Die traurige Wahrheit ist, daß unter gewissen<br />
Umstän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>mjenigen Partner ein Vorteil entsteht, <strong>de</strong>r sich<br />
als erster aus <strong>de</strong>m Staub macht, gleichgültig, ob Vater o<strong>de</strong>r<br />
Mutter. Trivers drückt es so aus, daß <strong>de</strong>r zurückbleiben<strong>de</strong><br />
Partner in eine „grausame Bindung“ (cruel bind) hineingestellt<br />
wird. Das ist ein ziemlich schrecklicher, aber feinsinniger<br />
Gedanke. Man kann erwarten, daß ein Elternteil sich davonmacht,<br />
sobald er o<strong>de</strong>r sie sagen kann: „Dieses Kind ist jetzt<br />
so weit entwickelt, daß je<strong>de</strong>r von uns es allein zu En<strong>de</strong> aufziehen<br />
könnte. Deshalb wür<strong>de</strong> es sich für mich lohnen, jetzt zu<br />
gehen, vorausgesetzt ich kann sicher sein, daß mein Partner
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 234<br />
nicht ebenfalls geht. Wenn ich jetzt tatsächlich ginge, wür<strong>de</strong><br />
mein Partner das tun, was für seine Gene am besten ist. Er<br />
wäre gezwungen, eine einschnei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>re Entscheidung zu treffen,<br />
als ich es jetzt tue, <strong>de</strong>nn ich wäre bereits gegangen. Mein<br />
Partner wür<strong>de</strong> ›wissen‹, daß das Kind mit Sicherheit sterben<br />
wür<strong>de</strong>, <strong>wen</strong>n er ebenfalls davonliefe. Wenn ich davon ausgehe,<br />
daß er die Entscheidung treffen wird, die für seine eigenen<br />
Gene am besten ist, komme ich daher zu <strong>de</strong>m Schluß: Das<br />
beste, was ich tun kann, ist, mich zuerst aus <strong>de</strong>m Staub zu<br />
machen. Vor allem <strong>de</strong>shalb, weil mein Partner möglicherweise<br />
ganz genauso ›<strong>de</strong>nkt‹ und je<strong>de</strong>rzeit die Initiative ergreifen<br />
und mich verlassen kann!“ Wie immer dient das imaginäre<br />
Selbstgespräch lediglich <strong>de</strong>r Erläuterung. Das Wesentliche ist,<br />
daß Gene für das Verlassen als erster einfach <strong>de</strong>shalb bevorzugt<br />
selektiert wer<strong>de</strong>n könnten, weil Gene für das Verlassen als<br />
zweiter es nicht wür<strong>de</strong>n.<br />
Wir haben einige <strong>de</strong>r Schritte betrachtet, die ein Weibchen<br />
unternehmen könnte, nach<strong>de</strong>m es von seinem Partner verlassen<br />
wor<strong>de</strong>n ist. Aber sie alle haben <strong>de</strong>n Beigeschmack <strong>de</strong>s<br />
„Retten, was zu retten ist“. Kann ein Weibchen nicht irgend<br />
etwas tun, um überhaupt erst einmal das Ausmaß seiner Ausbeutung<br />
durch <strong>de</strong>n Partner zu reduzieren? Es hat tatsächlich<br />
einen Trumpf in <strong>de</strong>r Hand: Es kann die Kopulation verweigern.<br />
Es ist gefragt, und zwar auf einem Markt, auf <strong>de</strong>m die<br />
Nachfrage größer ist als das Angebot. Das liegt daran, daß es<br />
als Morgengabe ein g<strong>ro</strong>ßes, nährstoffreiches Ei mitbringt. Ein<br />
Männchen, <strong>de</strong>m es gelingt, sich mit <strong>de</strong>m Weibchen zu paaren,<br />
gewinnt eine wertvolle Nahrungsreserve für seine Nachkommen.<br />
Das Weibchen ist potentiell in einer Position, die es ihm<br />
erlaubt, seine Interessen rücksichtslos durchzusetzen, bevor<br />
es kopuliert. Hat es jedoch erst einmal kopuliert, so hat es sein<br />
As ausgespielt – es hat sein Ei <strong>de</strong>m Männchen zur Verfügung<br />
gestellt. Nun ist es natürlich recht einfach, vom rücksichtslosen<br />
Durchsetzen von Interessen zu sprechen, aber wir wissen sehr<br />
gut, daß es nicht wirklich so ist. Gibt es irgen<strong>de</strong>ine realistische<br />
Möglichkeit, wie sich durch die natürliche Auslese etwas entwickeln<br />
könnte, das <strong>de</strong>m rücksichtslosen Vertreten <strong>de</strong>r eigenen
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 235<br />
Interessen entspricht? Ich wer<strong>de</strong> zwei Hauptmöglichkeiten<br />
untersuchen, die Strategie <strong>de</strong>r „trauten Häuslichkeit“ (domestic<br />
bliss) und die <strong>de</strong>s „Supermannes“.<br />
Die einfachste Version <strong>de</strong>r Strategie <strong>de</strong>r Häuslichkeit sieht<br />
so aus: Das Weibchen mustert die Männchen sorgfältig und versucht<br />
im voraus, Anzeichen von Treue und Häuslichkeit zu ent<strong>de</strong>cken.<br />
Es muß in <strong>de</strong>r männlichen Population Unterschie<strong>de</strong><br />
in <strong>de</strong>r Veranlagung zum treuen Ehemann geben. Wenn die<br />
Weibchen solche Eigenschaften im voraus ent<strong>de</strong>cken könnten,<br />
könnten sie sich einen Vorteil sichern, in<strong>de</strong>m sie Männchen<br />
auswählten, die diese Eigenschaften besitzen. Eine Möglichkeit,<br />
wie ein Weibchen dies tun kann, besteht darin, sich eine lange<br />
<strong>Zeit</strong> hindurch schwer e<strong>ro</strong>bern zu lassen, also sprö<strong>de</strong> zu sein.<br />
Ein Männchen, das nicht genügend Geduld aufbringt, um zu<br />
warten, bis das Weibchen endlich zur Paarung bereit ist, ist<br />
wahrscheinlich kein guter Kandidat für einen treuen Ehemann.<br />
Dadurch, daß ein Weibchen auf einer langen Verlobungszeit<br />
besteht, son<strong>de</strong>rt es flatterhafte Freier aus und paart<br />
sich schließlich mit einem Männchen, das seine Qualitäten an<br />
Treue und Beharrlichkeit im voraus unter Beweis gestellt hat.<br />
Weibliche Zurückhaltung ist in <strong>de</strong>r Tat in <strong>de</strong>r Tierwelt weit<br />
verbreitet, ebenso wie lange Werbe- o<strong>de</strong>r Brautzeiten. Wie wir<br />
bereits gesehen haben, kann eine lange Verlobung auch für ein<br />
Männchen vorteilhaft sein, <strong>wen</strong>n die Gefahr besteht, daß es<br />
dazu verleitet wird, für die Nachkommenschaft eines an<strong>de</strong>ren<br />
Männchens zu sorgen.<br />
Die Werbungsrituale erfor<strong>de</strong>rn häufig eine beträchtliche<br />
Investition durch das Männchen, die es vor <strong>de</strong>r Paarung zu<br />
leisten hat. Das Weibchen verweigert beispielsweise die Kopulation,<br />
bis das Männchen ihm ein Nest gebaut hat, o<strong>de</strong>r das<br />
Männchen muß es erst mit recht beachtlichen Futtermengen<br />
versorgen. Dies ist natürlich von g<strong>ro</strong>ßem unmittelbarem Vorteil<br />
für das Weibchen, aber es läßt darüber hinaus noch an<br />
eine an<strong>de</strong>re mögliche Version <strong>de</strong>r Strategie <strong>de</strong>r Häuslichkeit<br />
<strong>de</strong>nken: Könnte es sein, daß die Weibchen, bevor sie die Kopulation<br />
gestatten, die Männchen zwingen, <strong>de</strong>rart viel in ihre<br />
Nachkommen zu investieren, daß es sich für sie nicht mehr
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 236<br />
lohnt, sich nach <strong>de</strong>r Kopulation aus <strong>de</strong>m Staub zu machen? Das<br />
ist ein reizvoller Gedanke. Ein Männchen, das darauf wartet,<br />
daß sich ein abweisen<strong>de</strong>s Weibchen schließlich mit ihm paart,<br />
zahlt einen Preis: Es verzichtet auf die Chance, sich mit an<strong>de</strong>ren<br />
Weibchen zu paaren, und es ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>t eine Menge <strong>Zeit</strong><br />
und Energie darauf, seiner Braut <strong>de</strong>n Hof zu machen. Bis es<br />
schließlich mit einem bestimmten Weibchen kopulieren darf,<br />
wird es diesem unweigerlich stark „verbun<strong>de</strong>n“ sein. Es wird<br />
kaum in Versuchung kommen, es zu verlassen, <strong>wen</strong>n es weiß,<br />
daß je<strong>de</strong>s Weibchen, <strong>de</strong>m es sich in Zukunft nähern mag, ebenfalls<br />
in <strong>de</strong>r gleichen Weise zögern wird, bevor es zur Sache<br />
kommt.<br />
Wie ich in einem Aufsatz gezeigt habe, enthält Trivers’<br />
Gedankengang hier einen Fehler. Er ist <strong>de</strong>r Meinung, die vorausgehen<strong>de</strong><br />
Investition als solche verpflichte ein Individuum<br />
auch zu zukünftiger Investition. Das ist wirtschaftlich nicht<br />
richtig gedacht. Ein Geschäftsmann sollte niemals sagen: „Ich<br />
habe bereits so viel in die Concor<strong>de</strong> (zum Beispiel) investiert,<br />
daß ich es mir jetzt nicht leisten kann, sie zu versch<strong>ro</strong>tten.“<br />
Er sollte sich statt <strong>de</strong>ssen immer fragen, ob es sich für ihn in<br />
Zukunft auszahlen wür<strong>de</strong>, seine Verluste zu min<strong>de</strong>rn, in<strong>de</strong>m er<br />
das P<strong>ro</strong>jekt jetzt aufgibt, auch <strong>wen</strong>n er bereits viel in es investiert<br />
hat. Ähnlich hat es keinen Zweck, <strong>wen</strong>n ein Weibchen<br />
seinen Bewerber zwingt, stark in es zu investieren, in <strong>de</strong>r Hoffnung,<br />
dies allein wür<strong>de</strong> ihn davon abhalten, es anschließend<br />
im Stich zu lassen. Diese Version <strong>de</strong>r Strategie <strong>de</strong>r trauten<br />
Häuslichkeit hängt von einer weiteren entschei<strong>de</strong>nd wichtigen<br />
Voraussetzung ab, nämlich <strong>de</strong>r, daß die Mehrheit <strong>de</strong>r Weibchen<br />
zuverlässig das gleiche Spiel spielt. Wenn es in <strong>de</strong>r Population<br />
„leichte Mädchen“ gibt, die bereit sind, Männchen freundlich<br />
aufzunehmen, die ihre Frauen verlassen haben, dann könnte<br />
es sich für ein Männchen lohnen, seine Partnerin im Stich zu<br />
lassen, ganz gleich, wieviel er bereits in ihre Kin<strong>de</strong>r investiert<br />
hat.<br />
, Viel hängt daher davon ab, wie sich die Mehrheit <strong>de</strong>r Weibchen<br />
verhält. Wenn wir im Sinne einer Verschwörung <strong>de</strong>r Weibchen<br />
<strong>de</strong>nken dürften, so wür<strong>de</strong> sich das P<strong>ro</strong>blem gar nicht stel-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 237<br />
len. Aber eine solche Verschwörung ist ebenso<strong>wen</strong>ig möglich<br />
wie die Verschwörung <strong>de</strong>r Tauben, die wir in Kapitel 5 betrachtet<br />
haben. Wir müssen uns statt <strong>de</strong>ssen nach evolutionär stabilen<br />
Strategien umsehen. Lassen Sie uns Maynard Smiths<br />
Metho<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Analyse aggressiver Konflikte auf die Geschlechter<br />
an<strong>wen</strong><strong>de</strong>n. 3 Es wird ein <strong>wen</strong>ig komplizierter sein als im Fall<br />
<strong>de</strong>r Falken und <strong>de</strong>r Tauben, da wir es mit zwei weiblichen und<br />
zwei männlichen Strategien zu tun haben.<br />
Wie bei Maynard Smiths Analyse bezieht sich auch hier<br />
<strong>de</strong>r Ausdruck „Strategie“ auf ein blin<strong>de</strong>s, unbewußtes Verhaltensp<strong>ro</strong>gramm.<br />
Wir wer<strong>de</strong>n die bei<strong>de</strong>n weiblichen Strategien<br />
als sprö<strong>de</strong> und leichtfertig und die bei<strong>de</strong>n männlichen als<br />
treu und flatterhaft bezeichnen. Die Verhaltensnormen <strong>de</strong>r vier<br />
Typen sehen folgen<strong>de</strong>rmaßen aus: Sprö<strong>de</strong> Weibchen paaren<br />
sich nicht mit einem Männchen, bevor dieses nicht eine lange<br />
und kostspielige Brautzeit von mehreren Wochen durchgehalten<br />
hat. Leichtfertige Weibchen kopulieren sofort mit je<strong>de</strong>m.<br />
Treue Männchen sind bereit, das Weibchen lange <strong>Zeit</strong> zu<br />
umwerben; nach <strong>de</strong>r Kopulation bleiben sie bei ihm und helfen<br />
ihm bei <strong>de</strong>r Aufzucht <strong>de</strong>r Jungen. Flatterhafte Männchen verlieren<br />
rasch die Geduld, <strong>wen</strong>n ein Weibchen sich nicht auf <strong>de</strong>r<br />
Stelle mit ihnen paaren will: Sie gehen weg und suchen sich<br />
ein an<strong>de</strong>res Weibchen. Nach <strong>de</strong>r Paarung bleiben sie nicht und<br />
betragen sich wie gute Väter, son<strong>de</strong>rn sie machen sich gleich<br />
wie<strong>de</strong>r auf die Suche nach neuen E<strong>ro</strong>berungen. Wie im Fall <strong>de</strong>r<br />
Falken und Tauben sind dies nicht die einzigen möglichen Strategien;<br />
nichts<strong>de</strong>sto<strong>wen</strong>iger ist es aufschlußreich, ihr Schicksal<br />
zu untersuchen.<br />
Wie Maynard Smith wer<strong>de</strong>n wir für die verschie<strong>de</strong>nen<br />
Kosten und Nutzen einige willkürliche hypothetische Werte<br />
benutzen. Wenn man eine allgemeingültigere Aussage erhalten<br />
will, so kann man sich algebraischer Symbole bedienen, aber<br />
mit Zahlen ist es leichter verständlich. Nehmen wir an, die<br />
genetische Prämie, die je<strong>de</strong>r Elternteil für ein erfolgreich aufgezogenes<br />
Kind gewinnt, ist + 15 Einheiten. Die Kosten für das<br />
Aufziehen eines Kin<strong>de</strong>s, das heißt die Kosten für die gesamte<br />
Nahrung, die gesamte auf seine Pflege ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>te <strong>Zeit</strong> und
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 238<br />
alle für es eingegangenen Risiken, betragen -20 Einheiten. Die<br />
Kosten erhalten ein Minuszeichen, weil sie von <strong>de</strong>n Eltern<br />
„verausgabt“ wer<strong>de</strong>n. Ebenfalls negativ sind die Kosten <strong>de</strong>r<br />
<strong>Zeit</strong>versch<strong>wen</strong>dung in einer langen Brautzeit. Wir wollen sie<br />
mit -3 Einheiten ansetzen.<br />
Stellen wir uns vor, wir haben es mit einer Population zu<br />
tun, in <strong>de</strong>r alle Weibchen zurückhaltend und alle Männchen<br />
treu sind. Es ist eine i<strong>de</strong>ale monogame Gemeinschaft. Bei<br />
je<strong>de</strong>m Paar erhalten Männchen und Weibchen dieselbe<br />
Durchschnittsprämie ausbezahlt. Sie erhalten +15 für je<strong>de</strong>s<br />
aufgezogene Kind; sie teilen sich zu zweit gleichmäßig in die<br />
Kosten seiner Erziehung (-20), das heißt, im Durchschnitt entfallen<br />
auf je<strong>de</strong>n -10. Für die auf eine lange Werbung versch<strong>wen</strong><strong>de</strong>te<br />
<strong>Zeit</strong> zahlen sie bei<strong>de</strong> eine Strafe von -3 Punkten. Die<br />
durchschnittliche Prämie für je<strong>de</strong>n ist daher + 15-10-3 = +2.<br />
Nehmen wir nun an, in <strong>de</strong>r Population tritt ein leichtfertiges<br />
Weibchen auf. Es schnei<strong>de</strong>t sehr gut ab. Es bezahlt keine<br />
Strafe für <strong>Zeit</strong>versch<strong>wen</strong>dung, weil es keiner langen Brautzeit<br />
frönt. Da alle Männchen in <strong>de</strong>r Population treu sind, kann es<br />
damit rechnen, einen guten Vater für seine Kin<strong>de</strong>r zu fin<strong>de</strong>n,<br />
gleichgültig mit wem es sich paart. Seine durchschnittliche<br />
Prämie p<strong>ro</strong> Kind beträgt +15 – 10 = +5. Es schnei<strong>de</strong>t drei Einheiten<br />
besser ab als seine zurückhalten<strong>de</strong>n Rivalinnen. Daher<br />
wer<strong>de</strong>n sich Gene für Leichtfertigkeit auszubreiten beginnen.<br />
Wenn <strong>de</strong>r Erfolg leichtfertiger Weibchen so g<strong>ro</strong>ß ist, daß<br />
sie schließlich in <strong>de</strong>r Population überwiegen, beginnen sich<br />
die Dinge auch im männlichen Lager zu än<strong>de</strong>rn. Bisher<br />
hatten die treuen Männchen ein Monopol. Doch <strong>wen</strong>n jetzt<br />
ein Schürzenjäger in <strong>de</strong>r Population auftritt, wird er besser<br />
abschnei<strong>de</strong>n als seine treuen Rivalen. In einer Population, in<br />
<strong>de</strong>r alle Weibchen leichtfertig sind, ist <strong>de</strong>r Gewinn für ein<br />
flatterhaftes Männchen tatsächlich g<strong>ro</strong>ß. Es bekommt die 15<br />
Punkte, <strong>wen</strong>n ein Kind erfolgreich aufgezogen wor<strong>de</strong>n ist, und<br />
es trägt keinerlei Kosten. Dieses Fehlen von Kosten be<strong>de</strong>utet<br />
für es hauptsächlich, daß es sich erlauben kann, wegzugehen<br />
und sich mit neuen Weibchen zu paaren. Je<strong>de</strong> seiner bedauernswerten<br />
Frauen schlägt sich mit <strong>de</strong>m Kind allein durch und
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 239<br />
zahlt <strong>de</strong>n vollen Preis von -20 Punkten. Allerdings hat sie nichts<br />
für auf die Werbung vergeu<strong>de</strong>te <strong>Zeit</strong> zu bezahlen. Wenn ein<br />
leichtfertiges Weibchen auf ein flatterhaftes Männchen trifft,<br />
so beträgt die Nettoprämie <strong>de</strong>s Weibchens +15 – 20 = -5. Die<br />
Prämie für <strong>de</strong>n Schürzenjäger selbst ist +15. In einer Population,<br />
in <strong>de</strong>r alle Weibchen leichtfertig sind, verbreiten sich<br />
Schürzenjäger wie ein Lauffeuer.<br />
Wenn die Schürzenjäger so erfolgreich zunehmen, daß<br />
sie im männlichen Teil <strong>de</strong>r Population die Oberhand gewinnen,<br />
geraten die leichtfertigen Weibchen in böse Schwierigkeiten.<br />
Je<strong>de</strong>s sprö<strong>de</strong> Weibchen wäre stark im Vorteil. Wenn ein<br />
zurückhalten<strong>de</strong>s Weibchen einen Schürzenjäger trifft, so führt<br />
dies zu nichts. Sie besteht auf einer langen Werbezeit; er weigert<br />
sich und macht sich auf die Suche nach einem an<strong>de</strong>ren<br />
Weibchen. Keiner <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n zahlt eine Strafe für versch<strong>wen</strong><strong>de</strong>te<br />
<strong>Zeit</strong>. Und keiner gewinnt etwas, da kein Kind erzeugt<br />
wird. Dies ergibt eine Nettoprämie von null für ein sprö<strong>de</strong>s<br />
Weibchen in einer Population, in <strong>de</strong>r alle Männchen flatterhaft<br />
sind. Null mag nicht viel scheinen, aber es ist besser als<br />
-5, die durchschnittliche Punktzahl für ein leichtfertiges Weibchen.<br />
Selbst <strong>wen</strong>n ein leichtfertiges Weibchen sich entschlösse,<br />
seine Jungen zu verlassen, nach<strong>de</strong>m es selbst von einem<br />
Schürzenjäger im Stich gelassen wor<strong>de</strong>n ist, hätte es immer<br />
noch <strong>de</strong>n beträchtlichen Preis eines Eies bezahlt. So breiten<br />
sich Gene für Sprödigkeit wie<strong>de</strong>r im Genpool aus.<br />
Um <strong>de</strong>n hypothetischen Kreislauf zu schließen: Wenn sprö<strong>de</strong><br />
Weibchen zahlenmäßig so stark zunehmen, daß sie überwiegen,<br />
geraten die flatterhaften Männchen, die mit <strong>de</strong>n leichtfertigen<br />
Weibchen ein so sorgenfreies Leben hatten, in Schwierigkeiten.<br />
Ein Weibchen nach <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren besteht darauf, daß ihm lang<br />
und ausdauernd <strong>de</strong>r Hof gemacht wird. Die Schürzenjäger flattern<br />
von Weibchen zu Weibchen, es ist immer dasselbe. Wenn<br />
alle Weibchen sprö<strong>de</strong> sind, ist die Nettoprämie für einen flatterhaften<br />
Bewerber gleich null. Wenn jetzt ein einzelner treuer<br />
Ehemann auftritt, so ist er <strong>de</strong>r einzige, mit <strong>de</strong>m die sprö<strong>de</strong>n<br />
Weibchen sich paaren wer<strong>de</strong>n. Seine Nettoprämie beträgt +2,<br />
also mehr als die <strong>de</strong>r Schürzenjäger. So beginnen Gene für
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 240<br />
Treue wie<strong>de</strong>r zuzunehmen, und <strong>de</strong>r Kreis schließt sich.<br />
Wie bei <strong>de</strong>r Analyse <strong>de</strong>r Aggression habe ich das Ganze so<br />
dargestellt, als ob es sich um eine endlose Pen<strong>de</strong>lbewegung<br />
han<strong>de</strong>le. Doch wie in jenem Fall läßt sich auch hier zeigen, daß<br />
in Wirklichkeit keine Pen<strong>de</strong>lbewegung stattfin<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>. Das<br />
System wür<strong>de</strong> sich einem stabilen Zustand annähern. 4 Wenn<br />
man es durchrechnet, so stellt sich heraus, daß eine Population,<br />
in <strong>de</strong>r 5/6 <strong>de</strong>r Weibchen zurückhaltend und 5/8 <strong>de</strong>r Männchen<br />
treu sind, evolutionär stabil ist. Dies gilt selbstverständlich nur<br />
für die speziellen Willkürlichen Zahlen, von <strong>de</strong>nen wir ausgegangen<br />
sind, doch die stabilen Relationen für beliebige an<strong>de</strong>re<br />
Zahlenwerte lassen sich leicht ausrechnen.<br />
Wie bei <strong>de</strong>n Analysen von Maynard Smith brauchen wir<br />
uns nicht vorzustellen, daß es zwei verschie<strong>de</strong>ne Arten von<br />
Männchen und zwei verschie<strong>de</strong>ne Arten von Weibchen gibt.<br />
Die evolutionär stabile Strategie ließe sich ebensogut erreichen,<br />
<strong>wen</strong>n je<strong>de</strong>s Männchen 5/8 seiner <strong>Zeit</strong> treu wäre und<br />
<strong>de</strong>n Rest mit Herumtän<strong>de</strong>ln verbrächte und <strong>wen</strong>n je<strong>de</strong>s Weibchen<br />
5/6 seiner <strong>Zeit</strong> sprö<strong>de</strong> und 1/6 seiner <strong>Zeit</strong> leichtfertig<br />
wäre. Gleichgültig, wie wir uns die ESS vorstellen, sie be<strong>de</strong>utet<br />
folgen<strong>de</strong>s: Je<strong>de</strong>r Versuch <strong>de</strong>r Angehörigen eines <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n<br />
Geschlechter, von <strong>de</strong>r für dieses Geschlecht stabilen P<strong>ro</strong>portion<br />
abzuweichen, wird durch eine daraus resultieren<strong>de</strong><br />
Verän<strong>de</strong>rung in <strong>de</strong>r Strategienrelation <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren Geschlechts<br />
bestraft, was wie<strong>de</strong>rum für das ursprünglich abweichen<strong>de</strong><br />
Geschlecht ein Nachteil ist. Daher wird die ESS fortbestehen.<br />
Wir kommen zu <strong>de</strong>m Ergebnis, daß sich sicherlich eine<br />
Population entwickeln kann, die weitgehend aus sprö<strong>de</strong>n Weibchen<br />
und treuen Männchen besteht. Unter diesen Bedingungen<br />
scheint die Strategie <strong>de</strong>r trauten Häuslichkeit für die Weibchen<br />
tatsächlich zu funktionieren. Wir brauchen uns dies nicht<br />
in Gestalt einer Verschwörung <strong>de</strong>r sprö<strong>de</strong>n Weibchen vorzustellen.<br />
Zurückhaltung kann sich für die egoistischen Gene<br />
eines Weibchens tatsächlich bezahlt machen.<br />
Es gibt verschie<strong>de</strong>ne Möglichkeiten, wie die Weibchen diese<br />
Art von Strategie in die Praxis umsetzen können. Ich habe<br />
bereits ange<strong>de</strong>utet, daß ein Weibchen sich weigern kann, mit
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 241<br />
einem Männchen zu kopulieren, das ihm nicht zuvor ein Nest<br />
gebaut o<strong>de</strong>r zumin<strong>de</strong>st beim Nestbau geholfen hat. Tatsächlich<br />
kommt es bei vielen monogamen Vögeln nicht zur Paarung,<br />
bevor das Nest gebaut ist. Das führt dazu, daß zum <strong>Zeit</strong>punkt<br />
<strong>de</strong>r Befruchtung das Männchen beträchtlich mehr in das<br />
Junge investiert hat als lediglich seinen ohne Anstrengung<br />
erhältlichen Samen.<br />
Von einem angehen<strong>de</strong>n Partner zu for<strong>de</strong>rn, daß er ein Nest<br />
baut, ist für ein Weibchen eine wirksame Metho<strong>de</strong>, ihn einzufangen.<br />
Man sollte meinen, daß theoretisch fast alles, was<br />
das Männchen viel kostet, <strong>de</strong>n Zweck erfüllt, selbst <strong>wen</strong>n es<br />
<strong>de</strong>n ungeborenen Kin<strong>de</strong>rn keinen unmittelbaren Vorteil bringt.<br />
Wür<strong>de</strong>n alle Weibchen einer Population die Männchen zwingen,<br />
eine schwierige und kostspielige Tat zu vollbringen –<br />
beispielsweise einen Drachen zu töten o<strong>de</strong>r einen Berg zu<br />
besteigen –, bevor sie einverstan<strong>de</strong>n wären, sich mit ihnen<br />
zu paaren, so könnten sie theoretisch die Versuchung für die<br />
Männchen, sie nach <strong>de</strong>r Kopulation zu verlassen, herabsetzen.<br />
Je<strong>de</strong>s Männchen, das versucht wäre, seine Gattin im Stich<br />
zu lassen und mit Hilfe eines an<strong>de</strong>ren Weibchens mehr Gene<br />
zu vererben, wür<strong>de</strong> von <strong>de</strong>m Gedanken abgeschreckt, daß es<br />
einen weiteren Drachen zu töten hätte. In <strong>de</strong>r Praxis ist es<br />
jedoch unwahrscheinlich, daß eine Braut ihrem Freier <strong>de</strong>rart<br />
willkürliche Aufgaben wie das Drachentöten o<strong>de</strong>r die Suche<br />
nach <strong>de</strong>m Heiligen Gral auferlegt. Der Grund ist, daß rivalisieren<strong>de</strong><br />
Frauen, die nicht <strong>wen</strong>iger schwere, für sie und die<br />
Kin<strong>de</strong>r jedoch nützlichere Aufgaben verlangen, <strong>de</strong>n <strong>ro</strong>mantischer<br />
gesinnten, eine zwecklose Liebesmüh’ for<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>n Frauen<br />
gegenüber im Vorteil sind. Ein Nest zu bauen mag <strong>wen</strong>iger<br />
<strong>ro</strong>mantisch sein, als einen Drachen zu erschlagen o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Hellespont<br />
zu durchschwimmen, aber es ist sehr viel nützlicher.<br />
Ebenfalls nützlich für das Weibchen ist die bereits erwähnte<br />
Praxis, daß das männliche Tier das weibliche während <strong>de</strong>r<br />
Balzperio<strong>de</strong> füttert. Bei <strong>de</strong>n Vögeln hat man dies gewöhnlich<br />
als eine Art Rückkehr zum kindlichen Verhalten seitens <strong>de</strong>s<br />
Weibchens angesehen. Es erbettelt Futter von <strong>de</strong>m Männchen,<br />
in<strong>de</strong>m es dieselben Gesten benutzt, die ein junger Vogel benut-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 242<br />
zen wür<strong>de</strong>. Man hat vermutet, daß dies auf das Männchen automatisch<br />
anziehend wirkt, so wie ein Mann bei einer erwachsenen<br />
Frau ein Lispeln o<strong>de</strong>r einen Schmollmund attraktiv fin<strong>de</strong>n<br />
mag. Die Vogelfrau braucht zu dieser <strong>Zeit</strong> so viel Extrafutter,<br />
wie sie nur bekommen kann, <strong>de</strong>nn sie stockt ihre Reserven<br />
auf für die anstrengen<strong>de</strong> Aufgabe, ihre riesenhaften Eier zu<br />
p<strong>ro</strong>duzieren. Das Füttern <strong>de</strong>s Weibchens während <strong>de</strong>r Balzperio<strong>de</strong><br />
stellt wahrscheinlich eine unmittelbare Investition <strong>de</strong>s<br />
Männchens in die Eier dar. Es führt somit dazu, die zwischen<br />
bei<strong>de</strong>n Eltern bestehen<strong>de</strong> Disparität <strong>de</strong>r Anfangsinvestition in<br />
die Jungen zu verringern.<br />
Auch bei manchen Insekten und Spinnen gehört das Füttern<br />
<strong>de</strong>s Weibchens zum Balzverhalten. Hier liegt zuweilen eine<br />
an<strong>de</strong>re Interpretation nahe. Da das Männchen, wie im Fall <strong>de</strong>r<br />
Gottesanbeterin, Gefahr laufen kann, von <strong>de</strong>m größeren Weibchen<br />
verspeist zu wer<strong>de</strong>n, dürfte alles, was es tun kann, um <strong>de</strong>n<br />
Appetit seiner Gattin abzuschwächen, für es von Vorteil sein.<br />
In einem makabren Sinne kann man sagen, daß das bedauernswerte<br />
Gottesanbetermännchen in seine Kin<strong>de</strong>r investiert.<br />
Es bil<strong>de</strong>t das Futter, welches zur Herstellung <strong>de</strong>r Eier beiträgt,<br />
die dann posthum mit seinem eigenen gespeicherten Samen<br />
befruchtet wer<strong>de</strong>n.<br />
Ein Weibchen, das die Strategie <strong>de</strong>r Häuslichkeit an<strong>wen</strong><strong>de</strong>t<br />
und dabei die Männchen lediglich mustert und im voraus Zeichen<br />
für Treue zu erkennen sucht, setzt sich <strong>de</strong>r Gefahr <strong>de</strong>r<br />
Täuschung aus. Je<strong>de</strong>r Freier, <strong>de</strong>m es gelingt, sich als guter,<br />
zuverlässiger, häuslicher Typ auszugeben, <strong>de</strong>r aber in Wirklichkeit<br />
eine starke Anlage zu Abtrünnigkeit und Untreue verbirgt,<br />
zieht daraus erhebliche Vorteile. Solange die Frauen,<br />
die von einem Schürzenjäger verlassen wur<strong>de</strong>n, auch nur die<br />
geringste Chance haben, einige ihrer Kin<strong>de</strong>r aufzuziehen, wird<br />
dieser unweigerlich einen größeren Teil seiner Gene vererben<br />
als ein rivalisieren<strong>de</strong>s Männchen, das ein rechtschaffener Ehemann<br />
und Vater ist. Gene, die die Männchen zu einer wirksamen<br />
Täuschung befähigen, wer<strong>de</strong>n im Genpool ten<strong>de</strong>nziell<br />
begünstigt wer<strong>de</strong>n.<br />
Umgekehrt wird die natürliche Auslese gemeinhin Weib-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 243<br />
chen begünstigen, die die Fähigkeit entwickeln, eine <strong>de</strong>rartige<br />
Täuschung zu durchschauen. Eine mögliche Vorgehensweise<br />
für sie besteht darin, sich beson<strong>de</strong>rs abweisend zu verhalten,<br />
<strong>wen</strong>n ihnen ein neues Männchen <strong>de</strong>n Hof macht, in <strong>de</strong>n aufeinan<strong>de</strong>rfolgen<strong>de</strong>n<br />
Fortpflanzungsperio<strong>de</strong>n aber zunehmend<br />
schneller bereit zu sein, die Annäherungsversuche <strong>de</strong>s Gatten<br />
vom vorigen Jahr zu akzeptieren. Dies führt automatisch zu<br />
einer Benachteiligung junger Männchen, für die es die erste<br />
Paarungszeit ist, unabhängig davon, ob sie Betrüger sind<br />
o<strong>de</strong>r nicht. Die erste Brut unerfahrener Weibchen enthält<br />
gewöhnlich einen relativ hohen Anteil an Genen untreuer<br />
Väter, aber im zweiten Jahr sowie in darauffolgen<strong>de</strong>n Jahren<br />
im Leben einer Mutter sind treue Väter im Vorteil, da sie<br />
nicht mehr dieselben langwierigen, kraft- und zeitvergeu<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />
Balzrituale absolvieren müssen. Wenn die Mehrheit <strong>de</strong>r<br />
Individuen in einer Population von erfahrenen und nicht von<br />
unkritischen jungen Müttern abstammt – in je<strong>de</strong>r langlebigen<br />
Art eine vernünftige Annahme –, dann wer<strong>de</strong>n Gene für rechtschaffene,<br />
gute Vaterschaft im Genpool die Oberhand gewinnen.<br />
Der Einfachheit halber habe ich mich so ausgedrückt, als ob<br />
ein Männchen entwe<strong>de</strong>r völlig ehrlich o<strong>de</strong>r durch und durch<br />
falsch wäre. In <strong>de</strong>r Realität ist es eher wahrscheinlich, daß alle<br />
Männchen, ja alle Individuen ein kleines bißchen betrügerisch<br />
sind insofern, als sie dafür p<strong>ro</strong>grammiert sind, je<strong>de</strong> Gelegenheit<br />
zum Ausnutzen ihrer Gatten wahrzunehmen. Die natürliche<br />
Auslese hat die g<strong>ro</strong>ßangelegte Täuschung auf einem recht niedrigen<br />
Niveau gehalten, in<strong>de</strong>m sie die Fähigkeit je<strong>de</strong>s Partners,<br />
beim an<strong>de</strong>ren Unehrlichkeit zu ent<strong>de</strong>cken, verschärft hat. Das<br />
männliche Geschlecht kann durch Unehrlichkeit mehr gewinnen<br />
als das weibliche, und wir müssen selbst bei jenen Arten,<br />
<strong>de</strong>ren Männchen beachtliche elterliche Selbstlosigkeit an <strong>de</strong>n<br />
Tag legen, mit einer männlichen Ten<strong>de</strong>nz rechnen, ein kleines<br />
bißchen <strong>wen</strong>iger zu arbeiten als die Weibchen und ein kleines<br />
bißchen eher bereit zu sein, sich davonzumachen. Bei Vögeln<br />
und Säugetieren ist dies mit Sicherheit gewöhnlich <strong>de</strong>r Fall.<br />
Es gibt jedoch auch Arten, bei <strong>de</strong>nen das Männchen mehr
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 244<br />
für die Pflege <strong>de</strong>r Jungen tut als das Weibchen. Bei Vögeln<br />
und Säugetieren sind diese Fälle väterlicher Aufopferung<br />
auße<strong>ro</strong>r<strong>de</strong>ntlich rar, aber unter <strong>de</strong>n Fischen sind sie weit verbreitet.<br />
Warum? 5 Diese Frage ist eine Herausfor<strong>de</strong>rung an die<br />
Theorie <strong>de</strong>s egoistischen Gens, die mir eine geraume <strong>Zeit</strong> zu<br />
<strong>de</strong>nken gegeben hat. Eine geniale Lösung ist mir vor kurzem in<br />
einer Diskussion von Tamsin R. Carlisle vorgeschlagen wor<strong>de</strong>n.<br />
Sie <strong>wen</strong><strong>de</strong>t <strong>de</strong>n oben erwähnten Triversschen Gedanken <strong>de</strong>r<br />
„grausamen Bindung“ folgen<strong>de</strong>rmaßen an.<br />
Viele Fische kopulieren nicht, son<strong>de</strong>rn setzen ihre<br />
Geschlechtszellen ins Wasser ab. Die Befruchtung fin<strong>de</strong>t im<br />
offenen Wasser statt, nicht im Körper eines <strong>de</strong>r Partner. So hat<br />
die geschlechtliche Fortpflanzung vermutlich einmal angefangen.<br />
Auf <strong>de</strong>m Land leben<strong>de</strong> Tiere wie Vögel, Säugetiere und<br />
Reptilien können sich diese Art äußerer Befruchtung nicht leisten,<br />
weil ihre Geschlechtszellen zu anfällig gegen Aust<strong>ro</strong>cknen<br />
sind. Die Gameten eines Geschlechts – <strong>de</strong>s männlichen, da<br />
Spermien beweglich sind – wer<strong>de</strong>n in das feuchte Innere eines<br />
Angehörigen <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren Geschlechts – <strong>de</strong>s weiblichen – hineingebracht.<br />
Soweit die Tatsachen. Jetzt kommt die I<strong>de</strong>e. Bei<br />
Landtieren verbleibt nach <strong>de</strong>r Kopulation <strong>de</strong>r Embryo physisch<br />
im Besitz <strong>de</strong>r Mutter. Er befin<strong>de</strong>t sich im Innern ihres<br />
Körpers. Selbst <strong>wen</strong>n sie das befruchtete Ei fast unverzüglich<br />
legt, hat das Männchen immer noch <strong>Zeit</strong>, zu verschwin<strong>de</strong>n und<br />
damit das Weibchen in Trivers’ „grausame Bindung“ hineinzuzwingen.<br />
Zwangsläufig erhält das Männchen die Gelegenheit,<br />
sich als erster davonzumachen, womit es <strong>de</strong>r Entscheidungsfreiheit<br />
<strong>de</strong>s Weibchens ein En<strong>de</strong> setzt und diesem die Alternative<br />
aufzwingt, entwe<strong>de</strong>r das Junge <strong>de</strong>m sicheren Tod auszuliefern<br />
o<strong>de</strong>r bei ihm zu bleiben und es aufzuziehen. Daher ist<br />
die mütterliche Pflege bei <strong>de</strong>n Landtieren stärker verbreitet<br />
als die väterliche Pflege.<br />
Aber für Fische und an<strong>de</strong>re im Wasser leben<strong>de</strong> Tiere sehen<br />
die Dinge ganz an<strong>de</strong>rs aus. Wenn das Männchen sein Sperma<br />
nicht physisch in <strong>de</strong>n Körper <strong>de</strong>s Weibchens hineinbringt,<br />
besteht für dieses keinerlei Not<strong>wen</strong>digkeit, „<strong>de</strong>n Kopf hinzuhalten“.<br />
Je<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Partner könnte sich schnell davon-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 245<br />
machen und <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren mit <strong>de</strong>n gera<strong>de</strong> erst befruchteten<br />
Eiern zurücklassen. Es gibt aber sogar einen möglichen Grund,<br />
warum häufig das Männchen eher in Gefahr ist, im Stich<br />
gelassen zu wer<strong>de</strong>n. Wahrscheinlich wird ein evolutionärer<br />
Krieg darum entbrennen, wer seine Geschlechtszellen zuerst<br />
abgibt. Der Gatte, <strong>de</strong>r dies tut, hat <strong>de</strong>n Vorteil, daß er o<strong>de</strong>r<br />
sie dann <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren mit <strong>de</strong>n gera<strong>de</strong> erst entstan<strong>de</strong>nen<br />
Embryos zurücklassen kann. An<strong>de</strong>rerseits geht <strong>de</strong>r Partner,<br />
<strong>de</strong>r zuerst ablaicht, das Risiko ein, daß <strong>de</strong>r angehen<strong>de</strong> Gatte es<br />
anschließend versäumt, seinem Beispiel zu folgen. Nun ist das<br />
Männchen in diesem Punkt im Nachteil, und sei es auch<br />
nur <strong>de</strong>shalb, weil Spermien leichter sind und sich leichter verteilen<br />
als Eier. Wenn ein Weibchen zu früh ablaicht, das heißt<br />
bevor das Männchen bereit ist, so spielt das keine g<strong>ro</strong>ße<br />
Rolle, weil die Eier, da sie relativ g<strong>ro</strong>ß und schwer sind,<br />
wahrscheinlich einige <strong>Zeit</strong> lang als eine zusammenhängen<strong>de</strong><br />
Masse zurückbleiben wer<strong>de</strong>n. Daher kann ein Fischweibchen<br />
es sich leisten, das „Risiko“ <strong>de</strong>s frühen Ablaichens auf sich zu<br />
nehmen. Das Männchen wagt dieses Risiko nicht einzugehen,<br />
<strong>de</strong>nn <strong>wen</strong>n es seinen Samen zu früh abgibt, wird dieser sich<br />
überallhin zerstreut haben, bevor das Weibchen soweit ist, und<br />
das Weibchen wird seinen Laich dann nicht mehr ablegen, weil<br />
es nicht mehr <strong>de</strong>r Mühe wert ist. Wegen dieses P<strong>ro</strong>blems muß<br />
das Männchen das Ablaichen <strong>de</strong>s Weibchens abwarten und<br />
dann seinen Samen über die Eier ausschütten. Doch die<br />
Fischmutter gewinnt ein paar kostbare Sekun<strong>de</strong>n, in <strong>de</strong>nen<br />
sie verschwin<strong>de</strong>n kann, wobei sie das Männchen mit <strong>de</strong>n<br />
Embryos zurückläßt und ihm die bei<strong>de</strong>n Alternativen <strong>de</strong>s Triversschen<br />
Dilemmas aufzwingt. So liefert diese Theorie eine<br />
gute Erklärung dafür, warum die väterliche Pflege im Wasser<br />
verbreitet, an Land aber selten ist. Verlassen wir nun die<br />
Fische und <strong>wen</strong><strong>de</strong>n uns <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren weiblichen Hauptstrategie<br />
zu, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>s „Supermannes“. Bei Arten, die sich diese Politik<br />
zu eigen gemacht haben, fin<strong>de</strong>n die Weibchen sich praktisch<br />
damit ab, daß sie keinerlei Hilfe vom Vater ihrer Kin<strong>de</strong>r erhalten,<br />
und bemühen sich statt <strong>de</strong>ssen uneingeschränkt um gute<br />
Gene. Wie<strong>de</strong>r einmal benutzen sie die Waffe, die Paarung zu
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 246<br />
versagen. Sie weigern sich, mit je<strong>de</strong>m beliebigen Männchen<br />
zu kopulieren, und üben äußerste Sorgfalt bei <strong>de</strong>r Auswahl<br />
<strong>de</strong>s Männchens, <strong>de</strong>m sie schließlich erlauben, sie zu begatten.<br />
Zweifellos verfügen einige Männchen über eine größere Zahl<br />
guter Gene als an<strong>de</strong>re, das heißt sie besitzen Gene, die <strong>de</strong>n<br />
Überlebenschancen von Söhnen wie Töchtern zugute kommen<br />
wür<strong>de</strong>n. Wenn ein Weibchen anhand äußerlich sichtbarer<br />
Anhaltspunkte auf irgen<strong>de</strong>ine Weise gute Gene bei Männchen<br />
ent<strong>de</strong>cken kann, so kann es seinen eigenen Genen einen Vorteil<br />
verschaffen, in<strong>de</strong>m es sie mit guten väterlichen Genen vereint.<br />
Denken wir an unseren Vergleich mit <strong>de</strong>n Ru<strong>de</strong>rmannschaften:<br />
Ein Weibchen kann die Wahrscheinlichkeit minimieren,<br />
daß seine Gene durch schlechte Gesellschaft beeinträchtigt<br />
wer<strong>de</strong>n. Es kann versuchen, mit aller Sorgfalt gute Mannschaftskamera<strong>de</strong>n<br />
für sie auszuwählen.<br />
Wahrscheinlich wird die Mehrzahl <strong>de</strong>r Weibchen sich<br />
darüber einig sein, welches die besten Männchen sind, da die<br />
Information, nach <strong>de</strong>r sie sich richten können, für alle gleich<br />
ist. Daher wer<strong>de</strong>n diese <strong>wen</strong>igen glücklichen Männchen für<br />
<strong>de</strong>n G<strong>ro</strong>ßteil <strong>de</strong>r Kopulationen verantwortlich sein. Dazu sind<br />
sie ohne weiteres in <strong>de</strong>r Lage, da sie je<strong>de</strong>m Weibchen nicht<br />
mehr als einige ohne Anstrengung erhältliche Spermien zu<br />
geben brauchen. Etwas Derartiges hat sich vermutlich bei<br />
<strong>de</strong>n See-Elefanten und Paradiesvögeln abgespielt. Die Weibchen<br />
gestatten lediglich ein paar Männchen, ungestraft mit <strong>de</strong>r<br />
von allen männlichen Individuen angestrebten, i<strong>de</strong>alen egoistischen<br />
Ausbeutungsstrategie davonzukommen – aber sie stellen<br />
sicher, daß nur die besten Männchen diesen Luxus genießen.<br />
Wonach hält nun ein Weibchen Ausschau, das gute Gene<br />
herauszufin<strong>de</strong>n sucht, um sie mit seinen eigenen Genen<br />
zu vereinen? Auf je<strong>de</strong>n Fall will es einen Beweis <strong>de</strong>r<br />
Überlebensfähigkeit. Es liegt auf <strong>de</strong>r Hand, daß je<strong>de</strong>r potentielle<br />
Geschlechtspartner, <strong>de</strong>r ihm <strong>de</strong>n Hof macht, seine<br />
Fähigkeit bewiesen hat, zumin<strong>de</strong>st bis ins Erwachsenenalter<br />
zu überleben; aber das be<strong>de</strong>utet noch nicht zwangsläufig, daß<br />
er noch viel länger überleben kann. Eine recht gute Politik<br />
dürfte es sein, alte Männchen auszuwählen. Was auch immer
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 247<br />
ihre Mängel sein mögen, sie haben zumin<strong>de</strong>st bewiesen, daß<br />
sie überleben können, und das Weibchen wird seine Gene<br />
wahrscheinlich mit Genen für Langlebigkeit verbin<strong>de</strong>n. Allerdings<br />
hat es für das Weibchen keinen Zweck, dafür zu sorgen,<br />
daß seine Kin<strong>de</strong>r lange leben, <strong>wen</strong>n diese ihm nicht auch eine<br />
Menge Enkel schenken. Langlebigkeit an sich ist kein Beweis<br />
<strong>de</strong>r Virilität. Tatsächlich kann ein langlebiges Männchen gera<strong>de</strong><br />
<strong>de</strong>shalb überlebt haben, weil es für die Fortpflanzung keine<br />
Risiken eingeht. Ein Weibchen, das sich für ein altes Männchen<br />
entschei<strong>de</strong>t, hat nicht unbedingt mehr Nachkommen als ein<br />
rivalisieren<strong>de</strong>s Weibchen, das ein junges Männchen auswählt,<br />
welches irgen<strong>de</strong>inen an<strong>de</strong>ren Beweis für gute Gene liefert.<br />
Welchen an<strong>de</strong>ren Beweis? Es gibt viele Möglichkeiten. Vielleicht<br />
starke Muskeln als Beweis für die Fähigkeit, sich Nahrung<br />
zu beschaffen, vielleicht lange Beine als Beweis für die<br />
Fähigkeit, vor Räubern davonzulaufen. Ein Weibchen dürfte<br />
seinen Genen dadurch einen Vorteil verschaffen, daß es sie mit<br />
solchen Merkmalen vereint, da diese sowohl seinen Söhnen<br />
als auch seinen Töchtern nützlich sein dürften. Wir müssen<br />
uns also vorstellen, daß die Weibchen ihre Geschlechtspartner<br />
zunächst aufgrund völlig unverfälschter Merkmale o<strong>de</strong>r Anzeichen<br />
auswählen, die gewöhnlich auf gute zugrun<strong>de</strong>liegen<strong>de</strong><br />
Gene hinweisen. Doch hier kommt nun ein sehr interessanter<br />
Punkt, <strong>de</strong>n bereits Darwin erkannte und <strong>de</strong>r von Fisher<br />
<strong>de</strong>utlich formuliert wur<strong>de</strong>. In einer Gemeinschaft, in <strong>de</strong>r die<br />
männlichen Individuen miteinan<strong>de</strong>r darum konkurrieren, von<br />
<strong>de</strong>n Weibchen als Supermänner ausgewählt zu wer<strong>de</strong>n, ist es<br />
eines <strong>de</strong>r besten Dinge, die eine Mutter für ihre Gene tun kann,<br />
daß sie einen Sohn erzeugt, <strong>de</strong>r sich seinerseits wie<strong>de</strong>r als<br />
ein attraktiver Supermann entpuppt. Wenn sie dafür sorgen<br />
kann, daß ihr Sohn eines <strong>de</strong>r <strong>wen</strong>igen vom Glück begünstigten<br />
Männchen wird, das, <strong>wen</strong>n es herangewachsen ist, die meisten<br />
Kopulationen in <strong>de</strong>r Gemeinschaft erlangt, so wird sie eine<br />
gewaltige Zahl von Enkeln bekommen. Infolge<strong>de</strong>ssen ist eine<br />
<strong>de</strong>r wünschenswertesten Eigenschaften, die ein Männchen in<br />
<strong>de</strong>n Augen eines Weibchens haben kann, ganz einfach die<br />
sexuelle Anziehungskraft als solche. Ein Weibchen, das sich
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 248<br />
mit einem hochattraktiven Supermann paart, hat mit größerer<br />
Wahrscheinlichkeit Söhne, die für die Weibchen <strong>de</strong>r nächsten<br />
Generation attraktiv sind und ihm eine Menge Enkel schenken<br />
wer<strong>de</strong>n. Ursprünglich also, so kann man sich vorstellen,<br />
wählten die Weibchen die Männchen auf <strong>de</strong>r Basis offensichtlich<br />
nützlicher Eigenschaften wie starke Muskeln aus; nach<strong>de</strong>m<br />
solche Eigenschaften aber einmal unter <strong>de</strong>n Weibchen<br />
einer Spezies allgemein als attraktiv galten, begünstigte die<br />
natürliche Auslese sie lediglich um dieser Attraktivität willen<br />
weiter.<br />
Extravaganzen wie die Schwänze <strong>de</strong>r Paradiesvogelmännchen<br />
mögen sich daher durch eine Art instabilen, unaufhaltsamen<br />
P<strong>ro</strong>zeß herausgebil<strong>de</strong>t haben. 6 Zu Beginn wählten die<br />
Weibchen vielleicht einen Schwanz, <strong>de</strong>r geringfügig länger als<br />
normal war, als eine erwünschte Eigenschaft bei <strong>de</strong>n Männchen<br />
aus; möglicherweise, weil er eine kräftige und gesun<strong>de</strong> Konstitution<br />
bezeichnete. Ein kurzer Schwanz bei einem Männchen<br />
mag ein Zeichen für irgen<strong>de</strong>inen Vitaminmangel gewesen sein<br />
– Beweis für eine mangelhafte Fähigkeit, sich Nahrung zu<br />
verschaffen. O<strong>de</strong>r vielleicht waren kurzschwänzige Männchen<br />
nicht beson<strong>de</strong>rs gut, <strong>wen</strong>n es darum ging, vor Räubern davonzulaufen,<br />
und <strong>de</strong>shalb wur<strong>de</strong>n ihnen die Schwänze abgebissen.<br />
Man beachte, daß wir nicht anzunehmen brauchen, <strong>de</strong>r<br />
kurze Schwanz selbst sei genetisch vererbt wor<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn<br />
lediglich, daß er als Erkennungsmerkmal für eine genetische<br />
Unterlegenheit diente. Wie <strong>de</strong>m auch sei, nehmen wir an,<br />
daß aus irgendwelchen Grün<strong>de</strong>n die Weibchen <strong>de</strong>r vor Urzeiten<br />
leben<strong>de</strong>n Paradiesvogelart vorzugsweise Männchen mit<br />
überdurchschnittlich langen Schwänzen aussuchten. Vorausgesetzt,<br />
die natürliche Variation <strong>de</strong>r Schwanzlänge bei <strong>de</strong>n<br />
Männchen war zumin<strong>de</strong>st teilweise genetisch bedingt, so wür<strong>de</strong><br />
dies mit <strong>de</strong>r <strong>Zeit</strong> zu einer Zunahme <strong>de</strong>r durchschnittlichen<br />
Schwanzlänge <strong>de</strong>r Männchen in <strong>de</strong>r Population führen. Die<br />
Weibchen folgten einer sehr einfachen Regel: Mustere sorgfältig<br />
alle Männchen und entschei<strong>de</strong> dich für das mit <strong>de</strong>m längsten<br />
Schwanz. Je<strong>de</strong>s Weibchen, das von dieser Regel abwich, wur<strong>de</strong><br />
bestraft, auch dann noch, als die Schwänze bereits so lang
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 249<br />
gewor<strong>de</strong>n waren, daß sie ihre Besitzer tatsächlich behin<strong>de</strong>rten!<br />
Denn <strong>wen</strong>n ein Weibchen keine langschwänzigen Söhne p<strong>ro</strong>duzierte,<br />
hatte es kaum eine Chance, daß einer ihrer Söhne für<br />
attraktiv gehalten wer<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>. Wie eine Mo<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r Frauenkleidung<br />
o<strong>de</strong>r bei amerikanischen Automo<strong>de</strong>llen kam <strong>de</strong>r<br />
Trend zu längeren Schwänzen ins Rollen und gewann seine<br />
eigene Dynamik. Er wur<strong>de</strong> erst gestoppt, als die Schwänze so<br />
g<strong>ro</strong>tesk lang wur<strong>de</strong>n, daß ihre offenkundigen Nachteile <strong>de</strong>n<br />
Vorteil <strong>de</strong>r sexuellen Anziehungskraft zu überwiegen begannen.<br />
Dieser Gedanke ist nicht leicht zu schlucken und hat seit<br />
<strong>de</strong>r <strong>Zeit</strong>, als Darwin ihn unter <strong>de</strong>m Namen sexuelle Auslese<br />
zum ersten Mal vorbrachte, Skeptiker auf <strong>de</strong>n Plan gerufen.<br />
Einer <strong>de</strong>rer, die ihre Zweifel daran haben, ist A. Zahavi,<br />
<strong>de</strong>ssen Theorie <strong>de</strong>r kindlichen Erpressung wir bereits kennengelernt<br />
haben. Er bringt als rivalisieren<strong>de</strong> Erklärung sein<br />
eigenes, aufreizend dazu im Wi<strong>de</strong>rspruch stehen<strong>de</strong>s „Handikap-Prinzip“<br />
vor. 7 Seiner Ansicht nach öffnet allein die Tatsache,<br />
daß die Weibchen versuchen, Männchen mit guten Genen<br />
auszuwählen, <strong>de</strong>r Täuschung durch die Männchen Tür und<br />
Tor. Starke Muskeln mögen eine wirklich gute Eigenschaft<br />
sein, die ein Weibchen auswählen kann, aber was sollte ein<br />
Männchen daran hin<strong>de</strong>rn, sich Scheinmuskeln wachsen zu<br />
lassen, die nicht mehr echte Substanz haben als wattierte<br />
Schultern beim Menschen? Wenn es ein Männchen <strong>wen</strong>iger<br />
kostet, sich falsche Muskeln zuzulegen als echte, dann sollte<br />
die sexuelle Auslese Gene für die Erzeugung falscher Muskeln<br />
begünstigen. Es wird jedoch nicht lange dauern, bis die Gegenselektion<br />
zur Entwicklung von Weibchen führt, die in <strong>de</strong>r Lage<br />
sind, die Täuschung zu durchschauen. Zahavis grundlegen<strong>de</strong><br />
Prämisse ist die, daß falsche sexuelle Reklame schließlich von<br />
<strong>de</strong>n Weibchen durchschaut wird. Er kommt daher zu <strong>de</strong>m<br />
Schluß, daß wirklich erfolgreich nur diejenigen sein wer<strong>de</strong>n,<br />
die keine falschen Tatsachen vorspiegeln, son<strong>de</strong>rn greifbar<br />
<strong>de</strong>monstrieren, daß sie nicht täuschen. Wenn es um starke<br />
Muskeln geht, wer<strong>de</strong>n Männchen, die lediglich <strong>de</strong>n optischen<br />
Eindruck starker Muskeln vermitteln, bald von <strong>de</strong>n Weibchen
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 250<br />
entlarvt wer<strong>de</strong>n. Ein Männchen jedoch, das durch etwas <strong>de</strong>m<br />
Heben von Gewichten o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m ostentativen Spielenlassen <strong>de</strong>r<br />
Muskeln Vergleichbares <strong>de</strong>monstriert, daß es wirklich starke<br />
Muskeln hat, wird die Weibchen erfolgreich überzeugen. Mit<br />
an<strong>de</strong>ren Worten: Zahavi meint, ein Supermann dürfe nicht nur<br />
ein erstklassiger Mann zu sein scheinen, er müsse auch wirklich<br />
ein erstklassiger Mann sein, sonst wür<strong>de</strong> er von <strong>de</strong>n skeptischen<br />
Weibchen nicht als solcher akzeptiert. Es wer<strong>de</strong>n sich<br />
daher „Turniere“ entwickeln, <strong>de</strong>nen nur ein wirklicher Supermann<br />
gewachsen ist.<br />
So weit, so gut. Jetzt kommt <strong>de</strong>r Teil von Zahavis Theorie,<br />
<strong>de</strong>r wirklich nicht zu schlucken ist. Er äußert die Ansicht,<br />
daß die Schwänze von Paradiesvögeln und Pfauen, die gewaltigen<br />
Geweihe von Hirschen sowie die an<strong>de</strong>ren sexuell selektierten<br />
Merkmale, die immer schon paradox erschienen, weil<br />
sie für ihren Besitzer eine Belastung zu sein scheinen, sich<br />
gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>shalb so herausbil<strong>de</strong>n, weil sie Handikaps sind. Ein<br />
männlicher Vogel mit einem langen und hin<strong>de</strong>rlichen Schwanz<br />
präsentiert sich <strong>de</strong>n Weibchen damit als Supermann, <strong>de</strong>r<br />
so stark ist, daß er t<strong>ro</strong>tz seines Schwanzes überleben kann.<br />
Denken wir uns eine Frau, die einem Wettlauf zweier Männer<br />
zusieht. Wenn bei<strong>de</strong> gleichzeitig am Ziel ankommen, einer sich<br />
jedoch absichtlich mit einem Sack Kohlen auf <strong>de</strong>m Rücken<br />
gehandikapt hat, so wird die Frau natürlich zu <strong>de</strong>m Schluß<br />
kommen, daß <strong>de</strong>r Mann mit <strong>de</strong>r Last in Wirklichkeit <strong>de</strong>r schnellere<br />
Läufer ist.<br />
Ich halte nicht sehr viel von dieser Theorie, obwohl ich in<br />
meiner Skepsis nicht mehr ganz so sicher bin, wie ich es war,<br />
als ich sie zum ersten Mal hörte. Ich wies damals darauf hin,<br />
daß die logische Folge davon die Entwicklung von Männern<br />
mit nur einem Bein und einem Auge sein müßte. Zahavi, <strong>de</strong>r<br />
aus Israel kommt, gab auch p<strong>ro</strong>mpt zurück: „Einige unserer<br />
besten Generäle haben nur ein Auge!“ Nichts<strong>de</strong>sto<strong>wen</strong>iger<br />
bleibt das P<strong>ro</strong>blem bestehen, daß die Handikap-Theorie einen<br />
fundamentalen Wi<strong>de</strong>rspruch zu enthalten scheint. Wenn das<br />
Handikap echt ist – und seine Echtheit ist ein wesentlicher<br />
Bestandteil <strong>de</strong>r Theorie –, dann wird es mit <strong>de</strong>rselben Sicher-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 251<br />
heit, mit <strong>de</strong>r es Frauen anziehen mag, die Nachkommen<br />
benachteiligen. In je<strong>de</strong>m Fall ist es wichtig, daß das Handikap<br />
nicht an Töchter weitervererbt wird.<br />
Wenn wir die Handikap-Theorie auf <strong>de</strong>r Ebene <strong>de</strong>r Gene<br />
formulieren, so erhalten wir etwa folgen<strong>de</strong>s: Ein Gen, das<br />
männliche Individuen dazu bringt, ein Handikap zu entwikkeln,<br />
zum Beispiel einen langen Schwanz, wird im Genpool<br />
zahlreicher, weil die Weibchen Partner mit Handikaps bevorzugen.<br />
Die Weibchen entschei<strong>de</strong>n sich <strong>de</strong>shalb für Männchen<br />
mit Handikaps, weil die Gene, die sie zu dieser Wahl veranlassen,<br />
ebenfalls im Genpool zunehmen. Der Grund ist, daß<br />
Weibchen mit einer Vorliebe für behin<strong>de</strong>rte Männchen sich<br />
automatisch für Partner mit ansonsten guten Genen entschei<strong>de</strong>n,<br />
<strong>de</strong>nn diese Männchen haben t<strong>ro</strong>tz ihres Handikaps bis<br />
in das Erwachsenenalter überlebt. Die „guten“ Gene wer<strong>de</strong>n<br />
<strong>de</strong>n Körpern <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r einen Vorteil verschaffen; die Kin<strong>de</strong>r<br />
wer<strong>de</strong>n daher überleben, um die Gene für das Handikap selbst<br />
sowie die Gene für das Auswählen gehandikapter Männchen<br />
weiterzugeben. Wenn man voraussetzt, daß die Gene für das<br />
Handikap ihren Einfluß nur in Söhnen ausüben und die Gene<br />
für die sexuelle Vorliebe für Handikapträger nur bei Töchtern<br />
wirken, so könnte die Theorie gera<strong>de</strong> zum Funktionieren zu<br />
bringen sein. Doch solange sie lediglich in Worten ausgedrückt<br />
ist, können wir nicht sicher sein, ob sie funktioniert o<strong>de</strong>r nicht.<br />
Wir bekommen eine bessere Vorstellung davon, wie praktikabel<br />
eine <strong>de</strong>rartige Theorie ist, <strong>wen</strong>n sie in Gestalt eines mathematischen<br />
Mo<strong>de</strong>lls umformuliert ist. Bisher sind die Mathematiker<br />
unter <strong>de</strong>n Genetikern, die das Handikap-Prinzip in ein brauchbares<br />
Mo<strong>de</strong>ll umzusetzen versucht haben, erfolglos geblieben.<br />
Das kann entwe<strong>de</strong>r daran liegen, daß es kein brauchbares<br />
Prinzip ist, o<strong>de</strong>r daran, daß sie nicht klug genug sind. Einer<br />
von ihnen ist Maynard Smith, und ich habe <strong>de</strong>n Verdacht, daß<br />
eher die erstere Möglichkeit zutrifft.<br />
Wenn ein Männchen seine Überlegenheit über an<strong>de</strong>re<br />
Männchen auf eine Weise <strong>de</strong>monstrieren kann, die nicht verlangt,<br />
daß es sich selbst behin<strong>de</strong>rt, dann könnte es – daran<br />
wür<strong>de</strong> niemand zweifeln – damit <strong>de</strong>n Erfolg seiner Gene
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 252<br />
vergrößern. So e<strong>ro</strong>bern und behaupten See-Elefanten ihre<br />
Harems nicht, weil sie für die Weibchen ästhetisch attraktiv<br />
sind, son<strong>de</strong>rn durch das einfache Mittel, daß sie je<strong>de</strong>n<br />
Bullen durchprügeln, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n Harem einzudringen d<strong>ro</strong>ht.<br />
Gewöhnlich gewinnen die Haremsbesitzer diese Kämpfe mit<br />
Möchtegern-Usurpatoren, und sei es auch nur aus <strong>de</strong>m naheliegen<strong>de</strong>n<br />
Grund, daß sie eben gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>swegen Haremsbesitzer<br />
sind. Eindringlinge gewinnen nicht oft <strong>de</strong>n Kampf, <strong>de</strong>nn<br />
<strong>wen</strong>n sie zu gewinnen fähig wären, so hätten sie dies bereits<br />
früher getan! Je<strong>de</strong>s Weibchen, das sich nur mit einem Haremsbesitzer<br />
paart, verbin<strong>de</strong>t seine Gene daher mit <strong>de</strong>nen eines<br />
Bullen, <strong>de</strong>r stark genug ist, eine Herausfor<strong>de</strong>rung nach <strong>de</strong>r<br />
an<strong>de</strong>ren seitens <strong>de</strong>r g<strong>ro</strong>ßen Überzahl verzweifelter Junggesellen<br />
zurückzuschlagen. Wenn es Glück hat, wer<strong>de</strong>n seine Söhne<br />
die Fähigkeiten ihres Vaters erben, einen Harem zu erringen.<br />
In <strong>de</strong>r Praxis hat eine See-Elefantenkuh allerdings kaum eine<br />
an<strong>de</strong>re Wahl, <strong>de</strong>r Haremsbesitzer verprügelt sie nämlich ebenfalls,<br />
<strong>wen</strong>n sie wegzulaufen versucht. Das Prinzip bleibt jedoch<br />
bestehen: Weibchen, die sich vorzugsweise mit Männchen<br />
paaren, welche im Kampf gewinnen, erweisen ihren Genen<br />
damit einen Gefallen. Wie wir gesehen haben, gibt es Arten,<br />
<strong>de</strong>ren Weibchen es vorziehen, sich mit Männchen zu paaren,<br />
die Reviere besitzen o<strong>de</strong>r einen hohen Rang in <strong>de</strong>r Dominanzhierarchie<br />
einnehmen.<br />
Fassen wir dieses Kapitel soweit zusammen: Die verschie<strong>de</strong>nen<br />
Fortpflanzungssysteme, die wir bei <strong>de</strong>n Tieren fin<strong>de</strong>n –<br />
Monogamie, P<strong>ro</strong>miskuität, Harems und so weiter –, lassen sich<br />
im Sinne eines Interessenkonflikts zwischen <strong>de</strong>m männlichen<br />
und <strong>de</strong>m weiblichen Geschlecht verstehen. Die Individuen<br />
bei<strong>de</strong>r Geschlechter „wollen“ ihren Fortpflanzungserfolg maximieren.<br />
Auf Grund eines fundamentalen Unterschieds zwischen<br />
Spermien und Eizellen hinsichtlich <strong>de</strong>ren Größe und<br />
Anzahl ist es generell wahrscheinlich, daß das männliche<br />
Geschlecht eher zu P<strong>ro</strong>miskuität und Vernachlässigung <strong>de</strong>r<br />
Vaterpflichten neigt. Dem weiblichen Geschlecht stehen zwei<br />
Gegenzüge zur Verfügung, die ich die Strategie <strong>de</strong>s „Supermannes“<br />
und die Strategie <strong>de</strong>r „trauten Häuslichkeit“ genannt
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 253<br />
habe. Zu welchem dieser Schachzüge die Weibchen neigen,<br />
wird durch die ökologischen Bedingungen bestimmt, unter<br />
<strong>de</strong>nen eine Art lebt; das gleiche gilt für die Reaktion <strong>de</strong>r<br />
Männchen auf die weibliche Strategie. In <strong>de</strong>r Realität fin<strong>de</strong>n<br />
sich alle Zwischenstufen zwischen „Supermann“ und „trauter<br />
Häuslichkeit“, und es gibt, wie wir gesehen haben, auch Fälle,<br />
in <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Vater sogar mehr Brutpflege betreibt als die<br />
Mutter. Dieses Buch befaßt sich nicht mit <strong>de</strong>n Details bei<br />
einzelnen Tierarten, daher will ich nicht die Frage erörtern,<br />
wodurch eine Art eher für dieses o<strong>de</strong>r für jenes Fortpflanzungssystem<br />
prädisponiert wer<strong>de</strong>n könnte. Statt <strong>de</strong>ssen möchte ich<br />
mich mit verbreiteten generellen Unterschie<strong>de</strong>n zwischen <strong>de</strong>n<br />
Geschlechtern beschäftigen und zeigen, wie diese sich interpretieren<br />
lassen. Ich wer<strong>de</strong> daher <strong>de</strong>n Schwerpunkt nicht<br />
auf Arten legen, bei <strong>de</strong>nen die Unterschie<strong>de</strong> zwischen <strong>de</strong>n<br />
Geschlechtern gering sind; das sind im allgemeinen diejenigen,<br />
<strong>de</strong>ren Weibchen sich für die Strategie <strong>de</strong>r Häuslichkeit<br />
entschie<strong>de</strong>n haben.<br />
Erstens sind es gemeinhin die Männchen, die sexuell attraktive,<br />
grelle Farben bevorzugen, während die Weibchen in<br />
<strong>de</strong>r Regel unauffälliger gefärbt sind. Die Angehörigen bei<strong>de</strong>r<br />
Geschlechter wollen vermei<strong>de</strong>n, von Räubern verspeist zu<br />
wer<strong>de</strong>n, und so wird bei bei<strong>de</strong>n Geschlechtern ein gewisser<br />
evolutionärer Druck zugunsten ge<strong>de</strong>ckter Farben wirksam<br />
sein. Leuchten<strong>de</strong> Farben locken die Räuber nicht <strong>wen</strong>iger<br />
an, als sie Geschlechtspartner anziehen. Gene für auffallen<strong>de</strong><br />
Farben en<strong>de</strong>n also mit größerer Wahrscheinlichkeit im Magen<br />
eines Räubers als Gene für ein unscheinbares Äußeres. An<strong>de</strong>rerseits<br />
wer<strong>de</strong>n sich Gene für unauffällige Farben vielleicht<br />
mit geringerer Wahrscheinlichkeit in <strong>de</strong>r nächsten Generation<br />
wie<strong>de</strong>rfin<strong>de</strong>n als Gene für leuchten<strong>de</strong> Farben, da farblose Individuen<br />
Schwierigkeiten haben, einen Gatten anzulocken. Es<br />
bestehen also zwei gegensätzliche Selektionsdrücke: Der durch<br />
die Räuber begünstigt die Beseitigung <strong>de</strong>r Gene für leuchten<strong>de</strong><br />
Farben aus <strong>de</strong>m Genpool, <strong>de</strong>r durch die Geschlechtspartner<br />
richtet sich gegen die Gene für unauffällige Farben.<br />
Wie in so vielen an<strong>de</strong>ren Fällen auch lassen sich effiziente
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 254<br />
Überlebensmaschinen als das Ergebnis eines Komp<strong>ro</strong>misses<br />
zwischen gegensätzlichen Selektionsdrücken ansehen. An<br />
dieser Stelle interessiert uns, daß <strong>de</strong>r für Männchen optimale<br />
Komp<strong>ro</strong>miß sich von <strong>de</strong>m für Weibchen optimalen Komp<strong>ro</strong>miß<br />
zu unterschei<strong>de</strong>n scheint. Das steht natürlich völlig im Einklang<br />
mit unserer Auffassung von <strong>de</strong>n Männchen als Spielern<br />
mit hohem Einsatz und hohem Gewinn. Da auf je<strong>de</strong> von<br />
einem Weibchen p<strong>ro</strong>duzierte Eizelle viele Millionen von einem<br />
Männchen erzeugte Spermien entfallen, sind die Spermien<br />
in <strong>de</strong>r Population <strong>de</strong>n Eizellen zahlenmäßig weit überlegen.<br />
Daher ist die Chance einer Eizelle, mit einem Spermium zu verschmelzen,<br />
sehr viel größer als die einer Samenzelle, sich mit<br />
einer Eizelle zu vereinigen. Eier sind eine relativ wertvolle Ressource,<br />
<strong>de</strong>shalb braucht ein Weibchen sexuell nicht so attraktiv<br />
zu sein wie ein Männchen, um sicherzugehen, daß seine<br />
Eier befruchtet wer<strong>de</strong>n. Ein Männchen ist durchaus in <strong>de</strong>r<br />
Lage, alle Kin<strong>de</strong>r zu zeugen, die in einer g<strong>ro</strong>ßen Weibchenpopulation<br />
geboren wer<strong>de</strong>n. Selbst <strong>wen</strong>n ein Männchen nicht alt<br />
wird, weil sein auffälliger Schwanz Räuber anlockt o<strong>de</strong>r sich<br />
im Gebüsch verfängt, kann es eine sehr g<strong>ro</strong>ße Zahl von Kin<strong>de</strong>rn<br />
gezeugt haben, bevor es stirbt. Ein <strong>wen</strong>ig attraktives o<strong>de</strong>r<br />
unscheinbares Männchen lebt vielleicht sogar so lange wie<br />
ein Weibchen, aber es hat <strong>wen</strong>ige Nachkommen, und seine<br />
Gene wer<strong>de</strong>n nicht vererbt. Was nützt es einem Männchen,<br />
<strong>wen</strong>n es die ganze Welt gewinnt, seine unsterblichen Gene<br />
aber einbüßt?<br />
Ein an<strong>de</strong>rer weitverbreiteter Unterschied zwischen <strong>de</strong>n<br />
Geschlechtern ist <strong>de</strong>r, daß Weibchen mehr Aufhebens darum<br />
machen, mit wem sie sich paaren. Einer <strong>de</strong>r Grün<strong>de</strong>, warum<br />
die Angehörigen bei<strong>de</strong>r Geschlechter bei <strong>de</strong>r Wahl <strong>de</strong>s Partners<br />
heikel sein sollten, ist die Not<strong>wen</strong>digkeit, die Paarung<br />
mit einem Angehörigen einer an<strong>de</strong>ren Art zu vermei<strong>de</strong>n.<br />
Solche Kreuzungen sind aus verschie<strong>de</strong>nen Grün<strong>de</strong>n unvorteilhaft.<br />
Mitunter, zum Beispiel <strong>wen</strong>n ein Mensch mit einem<br />
Schaf kopuliert, führt die Kopulation nicht zur Bildung eines<br />
Embryos, und so ist nicht viel verloren. Wenn sich jedoch enger<br />
miteinan<strong>de</strong>r verwandte Arten wie Pfer<strong>de</strong> und Esel kreuzen, so
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 255<br />
kann <strong>de</strong>r Preis, zumin<strong>de</strong>st für <strong>de</strong>n weiblichen Teil, erheblich<br />
sein. Wahrscheinlich wird ein Mauleselembryo entstehen, und<br />
er wird <strong>de</strong>n Leib <strong>de</strong>r Stute elf Monate lang mit Beschlag belegen.<br />
Er verbraucht eine g<strong>ro</strong>ße Menge ihres Elternaufwands,<br />
nicht nur in Gestalt <strong>de</strong>r über die Plazenta aufgenommenen<br />
Nahrung und dann später in Gestalt von Milch, son<strong>de</strong>rn vor<br />
allem an <strong>Zeit</strong>, die auf die Aufzucht an<strong>de</strong>rer Jungen hätte verwandt<br />
wer<strong>de</strong>n können. Wenn <strong>de</strong>r Maulesel dann das Erwachsenenalter<br />
erreicht, stellt sich heraus, daß er unfruchtbar ist.<br />
Das liegt vermutlich daran, daß Pfer<strong>de</strong>- und Eselch<strong>ro</strong>mosomen<br />
einan<strong>de</strong>r zwar hinreichend ähnlich sind, um beim Bau<br />
eines guten, starken Mauleselkörpers zusammenzuarbeiten,<br />
daß sie aber nicht ähnlich genug sind, um bei <strong>de</strong>r Meiose<br />
richtig zusammenzuwirken. Welches auch immer <strong>de</strong>r genaue<br />
Grund sein mag, die erhebliche Investition <strong>de</strong>r Mutter in das<br />
Aufziehen eines Maulesels ist vom Standpunkt ihrer Gene aus<br />
betrachtet restlos vergeu<strong>de</strong>t. Pfer<strong>de</strong>stuten sollten sehr, sehr<br />
sorgfältig darauf bedacht sein, daß das Individuum, mit <strong>de</strong>m sie<br />
kopulieren, ebenfalls ein Pferd ist und nicht ein Esel. Auf <strong>de</strong>r<br />
Ebene <strong>de</strong>r Gene heißt das: Je<strong>de</strong>s Pfer<strong>de</strong>gen, das sagt:<br />
„Körper, <strong>wen</strong>n du eine Stute bist, so kopuliere mit je<strong>de</strong>m<br />
x-beliebigen guten alten Hengst, gleichgültig, ob Esel o<strong>de</strong>r<br />
Pferd“, könnte sich <strong>de</strong>mnächst in <strong>de</strong>m ausweglosen Körper<br />
eines Maulesels wie<strong>de</strong>rfin<strong>de</strong>n, und die Investition <strong>de</strong>r Mutter in<br />
<strong>de</strong>n jungen Maulesel wür<strong>de</strong> ihre Fähigkeit, fruchtbare Pfer<strong>de</strong><br />
g<strong>ro</strong>ßzuziehen, erheblich schmälern. Ein Hengst dagegen hat<br />
<strong>wen</strong>iger zu verlieren, <strong>wen</strong>n er sich mit einer Angehörigen <strong>de</strong>r<br />
falschen Art paart, und obwohl er vielleicht auch nichts zu<br />
gewinnen hat, dürfen wir <strong>de</strong>nnoch erwarten, daß Hengste in<br />
<strong>de</strong>r Wahl ihrer Geschlechtspartner <strong>wen</strong>iger heikel sind. Wo<br />
immer diese Frage untersucht wur<strong>de</strong>, hat sich gezeigt, daß dies<br />
tatsächlich so ist.<br />
Selbst innerhalb einer Art mag es Grün<strong>de</strong> dafür geben,<br />
bei <strong>de</strong>r Partnerwahl eigen zu sein. Inzest zum Beispiel hat,<br />
wie die Hybridisation, wahrscheinlich schädliche genetische<br />
Folgen, und zwar, weil letale und semiletale Gene zum Tragen<br />
kommen. Wie<strong>de</strong>r einmal haben die Weibchen mehr zu verlie-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 256<br />
ren als die Männchen, weil ihre Investition in je<strong>de</strong>s einzelne<br />
Kind gewöhnlich größer ist. Wo Inzesttabus bestehen, sollten<br />
wir erwarten, daß die Weibchen strenger darauf beharren<br />
als die Männchen. Wenn wir annehmen, daß bei einem<br />
Inzestverhältnis mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit <strong>de</strong>r ältere<br />
Partner <strong>de</strong>r aktive Initiator ist, dann sollten wir erwarten, daß<br />
inzestuöse Vereinigungen, bei <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r männliche Partner<br />
älter ist als <strong>de</strong>r weibliche, häufiger sind als solche, bei <strong>de</strong>nen<br />
<strong>de</strong>r weibliche Partner älter ist. Beispielsweise dürfte Vater-<br />
Tochter-Inzest weiter verbreitet sein als Mutter-Sohn-Inzest.<br />
Bru<strong>de</strong>r-Schwester-Inzest dürfte in <strong>de</strong>r Häufigkeit dazwischenliegen.<br />
Im g<strong>ro</strong>ßen und ganzen neigen Männchen mehr zu P<strong>ro</strong>miskuität<br />
als Weibchen. Da ein Weibchen eine begrenzte Zahl von<br />
Eizellen in relativ g<strong>ro</strong>ßen Abstän<strong>de</strong>n p<strong>ro</strong>duziert, kann es durch<br />
zahlreiche Kopulationen mit verschie<strong>de</strong>nen Männchen nicht<br />
viel gewinnen. Ein Männchen an<strong>de</strong>rerseits, das je<strong>de</strong>n Tag<br />
Millionen von Spermien erzeugen kann, hat durch möglichst<br />
viele wahllose Paarungen alles zu gewinnen. Übermäßig viele<br />
Kopulationen mögen ein Weibchen nicht eigentlich viel kosten,<br />
außer ein <strong>wen</strong>ig verlorener <strong>Zeit</strong> und Kraft, aber sie bringen<br />
ihm auch keinen ausdrücklichen Vorteil. Für ein Männchen<br />
an<strong>de</strong>rerseits kann die Zahl <strong>de</strong>r Kopulationen mit so vielen verschie<strong>de</strong>nen<br />
Weibchen wie nur möglich niemals zu g<strong>ro</strong>ß sein:<br />
Das Wort übermäßig hat in diesem Zusammenhang für ein<br />
Männchen keine Be<strong>de</strong>utung.<br />
Ich habe nicht ausdrücklich über <strong>de</strong>n Menschen gesp<strong>ro</strong>chen,<br />
doch <strong>wen</strong>n wir es mit evolutionären Argumenten wie<br />
<strong>de</strong>nen in diesem Kapitel zu tun haben, so können wir kaum<br />
umhin, auch über unsere eigene Art und unsere eigenen Erfahrungen<br />
nachzusinnen. Der Gedanke, daß ein Weibchen die<br />
Kopulation verweigert, bis ein Männchen einige Anzeichen<br />
langfristiger Treue erkennen läßt, läßt vielleicht vertraute<br />
Saiten in uns anklingen. Demzufolge dürften wir vermuten,<br />
daß bei <strong>de</strong>n Menschen die Frauen eher die Strategie <strong>de</strong>r trauten<br />
Häuslichkeit verfolgen als die <strong>de</strong>s Supermannes. Viele<br />
menschliche Gesellschaften sind in <strong>de</strong>r Tat monogam. In unse-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 257<br />
rer eigenen Gesellschaft ist <strong>de</strong>r Elternaufwand bei<strong>de</strong>r Eltern<br />
g<strong>ro</strong>ß und nicht offenkundig unausgeglichen. Zweifellos leisten<br />
die Mütter mehr unmittelbare Arbeit für die Kin<strong>de</strong>r als die<br />
Väter, aber die Väter arbeiten häufig schwer, um die materiellen<br />
Mittel zu beschaffen, die die Kin<strong>de</strong>r verbrauchen. Auf<br />
<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite gibt es einige menschliche Gesellschaften,<br />
in <strong>de</strong>nen P<strong>ro</strong>miskuität herrscht, und viele, die auf <strong>de</strong>r Institution<br />
<strong>de</strong>s Harems beruhen. Diese erstaunliche Vielfalt läßt vermuten,<br />
daß die Lebensweise <strong>de</strong>s Menschen in einem hohen<br />
Maße von <strong>de</strong>r Kultur und <strong>wen</strong>iger von <strong>de</strong>n Genen bestimmt<br />
wird. Dennoch ist es möglich, daß bei Männern generell eine<br />
Ten<strong>de</strong>nz zur P<strong>ro</strong>miskuität besteht und bei Frauen eine Ten<strong>de</strong>nz<br />
zur Monogamie, wie wir es aus evolutionären Grün<strong>de</strong>n<br />
voraussagen wür<strong>de</strong>n. Welche <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Ten<strong>de</strong>nzen in einer<br />
Gesellschaft zum Tragen kommt, hängt von <strong>de</strong>n jeweiligen kulturellen<br />
Gegebenheiten ab, gera<strong>de</strong> so wie es bei verschie<strong>de</strong>nen<br />
Tierarten von ökologischen Einzelheiten abhängig ist.<br />
Ein Merkmal unserer eigenen Gesellschaft, das entschie<strong>de</strong>n<br />
ungewöhnlich zu sein scheint, betrifft die sexuellen Lockmittel.<br />
Wie wir gesehen haben, ist aus evolutionären Grün<strong>de</strong>n mit<br />
ziemlicher Sicherheit zu erwarten, daß es bei Arten, <strong>de</strong>ren<br />
Geschlechter sich im Aussehen unterschei<strong>de</strong>n, die Männchen<br />
sein sollten, die sich sexuell anpreisen, und die Weibchen, die<br />
farblos sind. Der mo<strong>de</strong>rne westliche Mensch stellt in dieser<br />
Hinsicht zweifellos eine Ausnahme dar. Natürlich gibt es auch<br />
Männer, die sich auffallend, und Frauen, die sich langweilig<br />
klei<strong>de</strong>n, aber im Durchschnitt kann kein Zweifel daran bestehen,<br />
daß in unserer Gesellschaft das Gegenstück <strong>de</strong>s Pfauenschwanzes<br />
von <strong>de</strong>r Frau und nicht vom Mann zur Schau<br />
getragen wird. Frauen bemalen sich das Gesicht und kleben<br />
sich falsche Wimpern an. Von Son<strong>de</strong>rfällen, etwa Schauspielern,<br />
abgesehen, tun Männer das nicht. Frauen scheinen an<br />
ihrer persönlichen Erscheinung interessiert zu sein, und sie<br />
wer<strong>de</strong>n darin von ihren Magazinen und <strong>Zeit</strong>schriften bestärkt.<br />
Männermagazine beschäftigen sich <strong>wen</strong>iger mit <strong>de</strong>r sexuellen<br />
Attraktivität ihrer Leser, und ein Mann, <strong>de</strong>r seiner Kleidung<br />
und Erscheinung ungewöhnlich viel Be<strong>de</strong>utung beimißt, erregt
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 258<br />
leicht Verdacht, und zwar bei Männern wie bei Frauen. Wenn<br />
in einer Unterhaltung von einer Frau die Re<strong>de</strong> ist, so ist es<br />
ziemlich wahrscheinlich, daß ihre sexuelle Anziehungskraft<br />
o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>ren Fehlen an hervorragen<strong>de</strong>r Stelle erwähnt wer<strong>de</strong>n<br />
wird. Dies gilt unabhängig davon, ob <strong>de</strong>r Sprecher ein Mann<br />
o<strong>de</strong>r eine Frau ist. Wenn ein Mann beschrieben wird, so ist es<br />
sehr viel wahrscheinlicher, daß die benutzten Adjektive nichts<br />
mit Sex zu tun haben.<br />
Angesichts dieser Tatsachen müßte ein Biologe argwöhnen,<br />
daß er es mit einer Gesellschaft zu tun hat, in <strong>de</strong>r das weibliche<br />
Geschlecht um das männliche konkurriert und nicht<br />
umgekehrt. Im Falle <strong>de</strong>r Paradiesvögel kamen wir zu <strong>de</strong>m<br />
Schluß, daß die Weibchen unscheinbar sind, weil sie nicht um<br />
Männchen zu konkurrieren brauchen. Die Männchen an<strong>de</strong>rerseits<br />
sind farbenprächtig und auffallend, weil die Weibchen<br />
sehr begehrt sind und es sich leisten können, wählerisch zu<br />
sein. Dies hat wie<strong>de</strong>rum <strong>de</strong>n Grund, daß Eier eine seltenere<br />
Ressource darstellen als Spermien. Was ist mit <strong>de</strong>m mo<strong>de</strong>rnen<br />
westlichen Menschen geschehen? Ist <strong>de</strong>r Mann wirklich das<br />
umworbene Geschlecht gewor<strong>de</strong>n, das Geschlecht, das gefragt<br />
ist, das Geschlecht, das es sich leisten kann, wählerisch zu<br />
sein? Wenn ja, warum?
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 259<br />
10. Kratz mir meinen Rücken, dann reite ich auf <strong>de</strong>inem!<br />
Wir haben nun Betrachtungen über elterliche, sexuelle und<br />
aggressive Wechselbeziehungen zwischen Überlebensmaschinen<br />
angestellt, die <strong>de</strong>rselben Art angehören. Es gibt aber<br />
auch auffällige tierische Interaktionen, die sich offensichtlich<br />
keiner dieser Kategorien zuordnen lassen. Dazu gehört das im<br />
Tierreich weitverbreitete Zusammenleben in Gruppen. Vögel,<br />
Insekten und Fische bil<strong>de</strong>n Schwärme, Wale Schulen, in <strong>de</strong>r<br />
Ebene leben<strong>de</strong> Säugetiere leben in Her<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r jagen in<br />
Ru<strong>de</strong>ln. Diese Aggregationen bestehen gewöhnlich nur aus<br />
<strong>de</strong>n Angehörigen einer einzigen Art, aber es gibt Ausnahmen.<br />
Zebras bil<strong>de</strong>n häufig mit Gnus zusammen eine Her<strong>de</strong>, und<br />
zuweilen sieht man Vogelschwärme aus mehreren Arten.<br />
Die Vorteile, die ein egoistisches Individuum vermutlich<br />
<strong>de</strong>m Leben in einer Gruppe abgewinnen kann, sind sehr unterschiedlicher<br />
Art. Ich habe nicht vor, <strong>de</strong>n Katalog hier im einzelnen<br />
aufzulisten, son<strong>de</strong>rn will lediglich ein paar Vermutungen<br />
erwähnen. Dabei möchte ich auf die restlichen Beispiele<br />
anscheinend uneigennützigen Verhaltens zurückkommen, die<br />
ich im ersten Kapitel genannt habe und zu erklären versprach.<br />
Dies wird uns zu einer Betrachtung über die staatenbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />
Insekten führen, ohne die keine Darstellung tierischer<br />
Uneigennützigkeit vollständig wäre. Schließlich wer<strong>de</strong> ich in<br />
diesem ziemlich abwechslungsreichen Kapitel noch auf <strong>de</strong>n<br />
wichtigen Gedanken <strong>de</strong>s wechselseitigen Altruismus zu sprechen<br />
kommen, auf das Prinzip „Kratz mir meinen Rücken,<br />
dann kratze ich <strong>de</strong>inen“.<br />
Wenn Tiere in Gruppen zusammenleben, muß dies ihren<br />
Genen mehr Nutzen bringen, als es sie Investitionen kostet.<br />
Ein Ru<strong>de</strong>l Hyänen kann ein soviel größeres Beutetier fangen<br />
als eine einzelne Hyäne, daß es sich für je<strong>de</strong>s egoistische Individuum<br />
bezahlt macht, im Ru<strong>de</strong>l zu jagen, obwohl das be<strong>de</strong>utet,<br />
daß die Nahrung geteilt wer<strong>de</strong>n muß. Aus wahrscheinlich<br />
ähnlichen Grün<strong>de</strong>n arbeiten einige Spinnen bei <strong>de</strong>r Errichtung<br />
eines riesigen gemeinschaftlichen Netzes zusammen. Kaiser-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 260<br />
pinguine halten sich warm, in<strong>de</strong>m sie sich zusammendrängen.<br />
Je<strong>de</strong>r gewinnt dadurch, daß er <strong>de</strong>n Elementen eine kleinere<br />
Oberfläche aussetzt, als <strong>wen</strong>n er allein wäre. Ein Fisch,<br />
<strong>de</strong>r schräg hinter einem an<strong>de</strong>ren herschwimmt, gewinnt vielleicht<br />
einen hyd<strong>ro</strong>dynamischen Vorteil aus <strong>de</strong>r Turbulenz, die<br />
<strong>de</strong>r vor<strong>de</strong>re Fisch erzeugt. Dies könnte zum Teil erklären,<br />
warum Fische Schwärme bil<strong>de</strong>n. Radrennfahrer kennen einen<br />
ähnlichen Trick im Zusammenhang mit <strong>de</strong>r Luftturbulenz, und<br />
dies mag auch die Erklärung für die V-Formation fliegen<strong>de</strong>r<br />
Vögel sein. Wahrscheinlich gibt es einen Konkurrenzkampf um<br />
die Ablösung von <strong>de</strong>r unvorteilhaften Position an <strong>de</strong>r Spitze<br />
<strong>de</strong>s Schwarmes. Möglicherweise wechseln sich die Vögel nur<br />
wi<strong>de</strong>rwillig als Anführer ab – eine Form <strong>de</strong>s verzögerten wechselseitigen<br />
Altruismus, <strong>de</strong>r am En<strong>de</strong> dieses Kapitels zu erörtern<br />
sein wird.<br />
Viele <strong>de</strong>r mutmaßlichen Vorteile <strong>de</strong>s Gruppenlebens haben<br />
damit zu tun, daß die Tiere zu verhin<strong>de</strong>rn suchen, Räubern<br />
zum Opfer zu fallen. Eine elegante Formulierung einer <strong>de</strong>rartigen<br />
Theorie lieferte W. D. Hamilton in einem Aufsatz mit <strong>de</strong>m<br />
Titel Geometry for the Selfish Herd. Um keine Mißverständnisse<br />
aufkommen zu lassen, muß ich betonen, daß er mit „egoistischer<br />
Her<strong>de</strong>“ eine „Her<strong>de</strong> egoistischer Individuen“ meinte.<br />
Wie<strong>de</strong>r einmal beginnen wir mit einem einfachen „Mo<strong>de</strong>ll“,<br />
das zwar abstrakt ist, uns aber die reale Welt zu verstehen<br />
hilft. Nehmen wir an, eine Art wird von einem Räuber gejagt,<br />
<strong>de</strong>r immer dazu neigt, das am nächsten befindliche Beutetier<br />
anzugreifen. Vom Standpunkt <strong>de</strong>s Räubers aus betrachtet, ist<br />
dies eine vernünftige Strategie, da sie darauf abzielt, Kraft<br />
zu sparen. Vom Standpunkt <strong>de</strong>r Beute aus gesehen, hat sie<br />
eine interessante Konsequenz. Sie be<strong>de</strong>utet nämlich, daß je<strong>de</strong>s<br />
Beutetier fortwährend versuchen wird zu verhin<strong>de</strong>rn, <strong>de</strong>m<br />
Räuber am nächsten zu sein. Wenn das Beutetier <strong>de</strong>n Räuber<br />
von weitem ent<strong>de</strong>cken kann, wird es einfach davonlaufen. Aber<br />
auch <strong>wen</strong>n <strong>de</strong>r Räuber plötzlich ohne Warnung auftauchen<br />
kann, <strong>wen</strong>n er sich beispielsweise im hohen Gras auf die Lauer<br />
legt, kann je<strong>de</strong>s einzelne Beutetier etwas tun, um die Wahrscheinlichkeit,<br />
daß es <strong>de</strong>m Räuber am nächsten ist, zu mini-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 261<br />
mieren. Wir können uns je<strong>de</strong>s Beutetier als von einer „Gefahrenzone“<br />
umgeben vorstellen. Diese ist <strong>de</strong>finiert als diejenige<br />
Bo<strong>de</strong>nfläche, innerhalb <strong>de</strong>rer <strong>de</strong>r Abstand je<strong>de</strong>s beliebigen<br />
Punktes zu diesem Individuum kleiner ist als zu je<strong>de</strong>m<br />
an<strong>de</strong>ren Individuum. Wenn die Beutetiere beispielsweise in<br />
einer regelmäßigen geometrischen Formation dahermarschieren<br />
wür<strong>de</strong>n, so könnte die Gefahrenzone um je<strong>de</strong>s einzelne<br />
Tier ungefähr sechseckig sein (es sei <strong>de</strong>nn, das Tier befän<strong>de</strong><br />
sich am Rand). Wenn nun zufällig ein Räuber in <strong>de</strong>r Individuum<br />
A umgeben<strong>de</strong>n Gefahrenzone lauert, so ist es wahrscheinlich,<br />
daß Individuum A gefressen wird. Die Individuen<br />
am Ran<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Her<strong>de</strong> sind beson<strong>de</strong>rs ungeschützt, da ihre<br />
Gefahrenzone nicht ein relativ kleines Sechseck ist, son<strong>de</strong>rn<br />
eine weite Fläche auf <strong>de</strong>r offenen Seite einschließt.<br />
Nun wird ein vernünftiges Individuum selbstverständlich<br />
versuchen, seine Gefahrenzone so klein wie möglich zu halten.<br />
Insbeson<strong>de</strong>re wird es <strong>de</strong>n Rand <strong>de</strong>r Her<strong>de</strong> zu mei<strong>de</strong>n suchen.<br />
Wenn es sich am Rand wie<strong>de</strong>rfin<strong>de</strong>t, wird es sofort Schritte<br />
ergreifen, um sich zur Mitte hin zu begeben. Lei<strong>de</strong>r ist es<br />
nun einmal so, daß jemand am Rand sein muß, doch <strong>wen</strong>n es<br />
nach je<strong>de</strong>m einzelnen Tier ginge, so wäre es selbst nicht dieser<br />
Jemand! Es wird ein unaufhörliches Hineinwan<strong>de</strong>rn vom Rand<br />
einer Aggregation in ihre Mitte geben. War die Her<strong>de</strong> zuvor<br />
locker verstreut, so wird sie infolge <strong>de</strong>r Einwärtsbewegung<br />
bald dicht zusammengepfercht sein. Selbst <strong>wen</strong>n wir in unserem<br />
Mo<strong>de</strong>ll keinerlei Aggregationsneigung voraussetzen und<br />
die Beutetiere zu Beginn aufs Geratewohl zerstreut sind, wird<br />
<strong>de</strong>r eigennützige Drang je<strong>de</strong>s Individuums dahingehen, seine<br />
Gefahrenzone zu verkleinern, in<strong>de</strong>m es sich in eine Lücke<br />
zwischen an<strong>de</strong>ren Tieren zu plazieren sucht. Dies wird rasch<br />
zur Bildung von Aggregationen führen, die sich immer dichter<br />
zusammendrängen wer<strong>de</strong>n.<br />
Es liegt auf <strong>de</strong>r Hand, daß dieser Ten<strong>de</strong>nz zum Zusammendrängen<br />
im wirklichen Leben von entgegengesetzten Drücken<br />
eine Grenze gesetzt wird: An<strong>de</strong>rnfalls wür<strong>de</strong>n schließlich alle<br />
Individuen einen sich win<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Haufen bil<strong>de</strong>n! Nichts<strong>de</strong>sto<strong>wen</strong>iger<br />
ist das Mo<strong>de</strong>ll interessant, <strong>de</strong>nn es zeigt uns, daß sich
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 262<br />
die Aggregation sogar auf Grund sehr einfacher Annahmen<br />
voraussagen läßt. Es sind noch an<strong>de</strong>re, kompliziertere Mo<strong>de</strong>lle<br />
entwickelt wor<strong>de</strong>n. Die Tatsache, daß sie realistischer sind, tut<br />
<strong>de</strong>m Wert von Hamiltons einfacherem Mo<strong>de</strong>ll als Denkhilfe bei<br />
<strong>de</strong>r Betrachtung <strong>de</strong>r Tieraggregationen keinen Abbruch.<br />
Das Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>r „egoistischen Her<strong>de</strong>“ an sich läßt keinen<br />
Raum für kooperatives Verhalten. Hier gibt es keinen Altruismus<br />
lediglich egoistische Ausnutzung je<strong>de</strong>s Individuums durch<br />
je<strong>de</strong>s an<strong>de</strong>re. Im wirklichen Leben gibt es aber Fälle, in <strong>de</strong>nen<br />
einzelne Tiere wirksame Maßnahmen zu ergreifen scheinen,<br />
um die übrigen Gruppenmitglie<strong>de</strong>r vor Räubern zu schützen.<br />
Sofort fallen einem die Alarmrufe <strong>de</strong>r Vögel ein. Diese haben<br />
mit Sicherheit die Funktion von Alarmsignalen, insofern als<br />
sie die Individuen, die sie hören, zur sofortigen Flucht veranlassen.<br />
Es gibt keinerlei Hinweis darauf, daß <strong>de</strong>r Rufer „<strong>de</strong>n<br />
Angriff <strong>de</strong>s Räubers von seinen Kumpanen abzulenken versucht“.<br />
Er setzt sie einfach über die Anwesenheit <strong>de</strong>s Raubvogels<br />
in Kenntnis – warnt sie. Dennoch scheint <strong>de</strong>r Akt <strong>de</strong>s Warnens,<br />
zumin<strong>de</strong>st auf <strong>de</strong>n ersten Blick, uneigennützig zu sein,<br />
weil er <strong>de</strong>n Effekt hat, die Aufmerksamkeit <strong>de</strong>s Räubers auf<br />
<strong>de</strong>n Rufen<strong>de</strong>n zu lenken. Wir können dies indirekt aus einer<br />
Tatsache ableiten, die P. R. Marler festgestellt hat. Die physikalischen<br />
Merkmale <strong>de</strong>r Alarmrufe scheinen in i<strong>de</strong>aler Weise<br />
so beschaffen zu sein, daß <strong>de</strong>r Rufer schwer zu lokalisieren<br />
ist. Wür<strong>de</strong> man einen Akustiker beauftragen, ein Geräusch zu<br />
entwickeln, an das ein Räuber sich nur schwer heranpirschen<br />
kann, so wür<strong>de</strong> er etwas p<strong>ro</strong>duzieren, das <strong>de</strong>n tatsächlichen<br />
Alarmrufen vieler kleiner Singvögel sehr ähnlich wäre. Nun<br />
muß in <strong>de</strong>r Natur die natürliche Auslese die Gestaltung <strong>de</strong>r<br />
Rufe übernommen haben, und wir wissen, was das be<strong>de</strong>utet. Es<br />
be<strong>de</strong>utet, daß unzählige Vögel gestorben sind, weil ihre Alarmrufe<br />
nicht ganz perfekt waren. Also scheint das Ausstoßen <strong>de</strong>s<br />
Alarmrufes mit Gefahr verbun<strong>de</strong>n zu sein. Die Theorie <strong>de</strong>s<br />
egoistischen Gens muß einen überzeugen<strong>de</strong>n Vorteil für Warnrufe<br />
aufzeigen können, einen Vorteil, <strong>de</strong>r so g<strong>ro</strong>ß ist, daß er<br />
diese Gefahr aufwiegt.<br />
Tatsächlich ist das nicht sehr schwierig. Die Warnrufe <strong>de</strong>r
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 263<br />
Vögel sind <strong>de</strong>rart oft als ein für die Darwinsche Theorie p<strong>ro</strong>blematisches<br />
Phänomen hingestellt wor<strong>de</strong>n, daß es zu einer<br />
Art Sport gewor<strong>de</strong>n ist, sich Erklärungen für sie auszu<strong>de</strong>nken.<br />
Infolge<strong>de</strong>ssen haben wir heute so viele gute Erklärungen,<br />
daß man sich kaum noch daran erinnern kann, worum es bei<br />
<strong>de</strong>r ganzen Aufregung eigentlich ging. Wenn die Möglichkeit<br />
besteht, daß <strong>de</strong>r Schwarm einige enge Verwandte enthält, so<br />
leuchtet es ein, daß ein Gen für das Ausstoßen <strong>de</strong>s Alarmrufes<br />
im Genpool ge<strong>de</strong>ihen kann, weil es sich sehr wahrscheinlich<br />
im Körper einiger <strong>de</strong>r geretteten Individuen befin<strong>de</strong>t. Das gilt<br />
sogar dann, <strong>wen</strong>n <strong>de</strong>r Rufer seinen Altruismus teuer bezahlt,<br />
in<strong>de</strong>m er die Aufmerksamkeit <strong>de</strong>s Räubers auf sich selbst<br />
lenkt.<br />
Sollte jemand mit diesem auf <strong>de</strong>r Verwandtschaftsselektion<br />
aufbauen<strong>de</strong>n Gedanken nicht zufrie<strong>de</strong>n sein, so hat er eine<br />
ganze Reihe an<strong>de</strong>rer Theorien zur Auswahl. Es gibt zahlreiche<br />
Möglichkeiten, wie <strong>de</strong>r Warner aus <strong>de</strong>m Alarmieren<br />
seiner Kumpane einen egoistischen Nutzen ziehen könnte.<br />
Trivers weiß auf Anhieb fünf gute Thesen zu nennen, ich<br />
fin<strong>de</strong> jedoch die bei<strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n, von mir entwickelten noch<br />
überzeugen<strong>de</strong>r.<br />
Die erste nenne ich die cave-Theorie, aus <strong>de</strong>m Lateinischen<br />
für „nimm dich in acht“. Dieser Ausdruck wird in England<br />
heute noch von Schülern als Warnung beim Nahen von<br />
Autoritätspersonen benutzt. Die Theorie eignet sich für Vögel<br />
mit Tarnfarben, die sich, <strong>wen</strong>n Gefahr d<strong>ro</strong>ht, unbeweglich ins<br />
Unterholz ducken.<br />
Nehmen wir an, ein Schwarm solcher Vögel sei auf einem<br />
Feld bei <strong>de</strong>r Nahrungssuche. In einiger Entfernung fliegt ein<br />
Falke vorüber. Er hat <strong>de</strong>n Schwarm noch nicht gesehen und<br />
fliegt auch nicht unmittelbar auf ihn zu, aber es besteht die<br />
Gefahr, daß seine scharfen Augen ihn je<strong>de</strong>n Augenblick ent<strong>de</strong>cken<br />
und er dann auf ihn herunterstößt. Nehmen wir an,<br />
ein Mitglied dieses Schwarmes sieht <strong>de</strong>n Falken, die übrigen<br />
haben ihn aber noch nicht gesehen. Dieses eine scharfäugige<br />
Individuum könnte sofort erstarren und sich ins Gras ducken.<br />
Doch wür<strong>de</strong> ihm das <strong>wen</strong>ig nützen, weil seine Kumpane immer
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 264<br />
noch auffällig und lärmend herumspazierten. Je<strong>de</strong>r von ihnen<br />
könnte die Aufmerksamkeit <strong>de</strong>s Falken erregen, und dann<br />
wäre <strong>de</strong>r ganze Schwarm in Gefahr. Von einem rein egoistischen<br />
Standpunkt aus ist es für das Individuum, welches <strong>de</strong>n<br />
Falken zuerst erspäht, die beste Politik, seinen Kumpanen<br />
einen raschen Warnruf zuzuzischen, sie damit zum Schweigen<br />
zu bringen und so die Wahrscheinlichkeit zu verringern, daß<br />
sie <strong>de</strong>n Falken unbeabsichtigt in seine Nähe rufen.<br />
Die zweite Theorie, die ich erwähnen möchte, folgt <strong>de</strong>m<br />
Prinzip „Verlaß niemals Reih und Glied“ o<strong>de</strong>r „Tanz niemals<br />
aus <strong>de</strong>r Reihe“. Sie eignet sich für Vogelarten, die beim Herannahen<br />
eines Räubers im Schwarm davonfliegen, vielleicht auf<br />
einen Baum. Stellen wir uns wie<strong>de</strong>r vor, daß ein Individuum<br />
aus einem Schwarm fressen<strong>de</strong>r Vögel einen Räuber erspäht<br />
hat. Was soll es tun? Es könnte einfach selbst davonfliegen,<br />
ohne seine Gefährten zu warnen. Doch dann wäre es ein einzelner<br />
Vogel, nicht mehr Teil eines relativ anonymen Schwarmes,<br />
son<strong>de</strong>rn ein Außenseiter. Falken sind in <strong>de</strong>r Tat dafür<br />
bekannt, daß sie auf einzelne Tauben Jagd machen, aber<br />
selbst <strong>wen</strong>n dies nicht so wäre, gäbe es viele theoretische<br />
Grün<strong>de</strong> für die Ausnahme, daß Ausscheren aus Reih und<br />
Glied eine selbstmör<strong>de</strong>rische Taktik sein dürfte. Selbst <strong>wen</strong>n<br />
seine Gefährten ihm schließlich folgen, vergrößert das Individuum,<br />
das als erstes vom Bo<strong>de</strong>n auffliegt, vorübergehend seine<br />
Gefahrenzone. Gleichgültig, ob Hamiltons spezielle Theorie<br />
richtig o<strong>de</strong>r falsch ist, irgen<strong>de</strong>inen be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>n Vorteil muß<br />
das Leben im Schwarm bieten, sonst wür<strong>de</strong>n die Vögel sich<br />
nicht zusammentun. Welches auch immer jener Vorteil sein<br />
mag, das Individuum, das <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren voraus <strong>de</strong>n Schwarm<br />
verläßt, wird dieses Vorteils zumin<strong>de</strong>st zum Teil verlustig<br />
gehen. Wenn <strong>de</strong>r wachsame Vogel also nicht aus <strong>de</strong>r Reihe<br />
tanzen darf, was soll er dann tun? Vielleicht sollte er einfach<br />
weiterfressen, als ob nichts geschehen wäre, und sich auf <strong>de</strong>n<br />
Schutz verlassen, <strong>de</strong>n die Zugehörigkeit zum Schwarm ihm<br />
verleiht. Aber auch das ist mit einem schweren Risiko verbun<strong>de</strong>n.<br />
Er ist ja noch draußen im offenen Feld und so aufs höchste<br />
gefähr<strong>de</strong>t. Oben auf einem Baum wäre er viel sicherer. Die
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 265<br />
beste Politik besteht tatsächlich darin, auf einen Baum hinaufzufliegen,<br />
aber gleichzeitig sicherzustellen, daß alle an<strong>de</strong>ren<br />
dies auch tun. Auf diese Weise wird er nicht zu einem<br />
Außenseiter und braucht nicht auf die Vorteile zu verzichten,<br />
Mitglied im Schwarm zu sein, er gewinnt aber <strong>de</strong>nnoch <strong>de</strong>n<br />
Vorteil, in Deckung fliegen zu können. Wie<strong>de</strong>r sieht man, daß<br />
das Ausstoßen eines Warnrufes einen rein egoistischen Nutzen<br />
bringt. E. L. Charnov und J. R. Krebs haben eine ähnliche<br />
Theorie aufgestellt, in <strong>de</strong>r sie sogar so weit gehen, für das, was<br />
<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Ruf ausstoßen<strong>de</strong> Vogel mit <strong>de</strong>m restlichen Schwarm<br />
macht, das Wort „Manipulation“ zu benutzen. Damit sind wir<br />
meilenweit von einem reinen, selbstlosen Altruismus entfernt!<br />
Auf <strong>de</strong>n ersten Blick mag es so aussehen, als seien diese<br />
Theorien mit <strong>de</strong>r Feststellung unvereinbar, daß das <strong>de</strong>n Alarmruf<br />
ausstoßen<strong>de</strong> Individuum sich selbst in Gefahr bringt.<br />
Tatsächlich gibt es jedoch keinerlei Unvereinbarkeit. Der Vogel<br />
wür<strong>de</strong> sich, <strong>wen</strong>n er nicht riefe, noch größerer Gefahr aussetzen.<br />
Manche Vögel sind gestorben, weil sie Alarmrufe<br />
ausgestoßen haben, vor allem diejenigen, <strong>de</strong>ren Rufe leicht zu<br />
lokalisieren waren. An<strong>de</strong>re wie<strong>de</strong>rum sind gestorben, weil sie<br />
nicht gerufen haben. Die „Nimm dich in acht“-Theorie und<br />
die „Tanz niemals aus <strong>de</strong>r Reihe“-Theorie sind nur zwei unter<br />
vielen, die erklären warum.<br />
Wie steht es nun mit <strong>de</strong>r springen<strong>de</strong>n Thomsongazelle, die<br />
ich im ersten Kapitel erwähnt habe und <strong>de</strong>ren anscheinend<br />
selbstmör<strong>de</strong>rischer Altruismus Ardrey zu <strong>de</strong>r kategorischen<br />
Feststellung verleitete, er lasse sich nur mit Hilfe <strong>de</strong>r Gruppenselektion<br />
erklären? Hier hat die Theorie vom egoistischen<br />
Gen es mit einer größeren Herausfor<strong>de</strong>rung zu tun. Die Alarmrufe<br />
<strong>de</strong>r Vögel erfüllen ihren Zweck, aber sie sind ein<strong>de</strong>utig<br />
so strukturiert, daß sie möglichst unauffällig und vorsichtig<br />
wirken können. Nicht so die Prellsprünge <strong>de</strong>r Gazellen. Sie<br />
sind <strong>de</strong>rart auffällig, daß sie beinahe schon eine ausgesp<strong>ro</strong>chene<br />
P<strong>ro</strong>vokation darstellen. Es sieht so aus, als for<strong>de</strong>rten die<br />
Gazellen absichtlich die Aufmerksamkeit <strong>de</strong>s Räubers heraus,<br />
fast als wollten sie ihn reizen. Diese Beobachtung hat zu einer<br />
herrlich kühnen Theorie geführt, die in ihren Grundzügen auf
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 266<br />
N. Smythe zurückgeht, <strong>de</strong>ren Ausarbeitung bis zum logischen<br />
Schluß aber unverwechselbar die Handschrift von A. Zahavi<br />
trägt.<br />
Zahavis Theorie läßt sich folgen<strong>de</strong>rmaßen darstellen. Sie<br />
weicht von <strong>de</strong>r üblichen Vorstellung entschei<strong>de</strong>nd dadurch ab,<br />
daß ihr zufolge das „Prellen“ – weit davon entfernt, ein Signal<br />
für die an<strong>de</strong>ren Gazellen zu sein – sich in Wirklichkeit an <strong>de</strong>n<br />
Räuber richtet. Zwar wird es von <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Gazellen zur<br />
Kenntnis genommen und beeinflußt ihr Verhalten, doch das<br />
ist nebensächlich, <strong>de</strong>nn selektiert wur<strong>de</strong> es hauptsächlich als<br />
ein Signal für <strong>de</strong>n Räuber. In menschliche Sprache übersetzt,<br />
lautet es ungefähr: „Sieh, wie hoch ich springen kann! Ich<br />
bin offensichtlich eine so kräftige und gesun<strong>de</strong> Gazelle, daß<br />
du mich nicht fangen kannst; du tätest sehr viel klüger daran,<br />
<strong>wen</strong>n du meinen Nachbarn zu fangen versuchtest, <strong>de</strong>r nicht<br />
so hoch springt!“ Weniger anth<strong>ro</strong>pomorph ausgedrückt: Gene<br />
für hohes und auffälliges Springen wer<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>n Räubern<br />
wahrscheinlich nicht aufgefressen, weil diese sich eher Beute<br />
aussuchen, die leicht zu erlegen ist. Insbeson<strong>de</strong>re sind viele<br />
fleischfressen<strong>de</strong> Säugetiere dafür bekannt, daß sie sich alte und<br />
kranke Opfer aussuchen. Ein Individuum, das hoch springt,<br />
signalisiert auf übertriebene Art und Weise die Tatsache, daß<br />
es we<strong>de</strong>r alt noch krank ist. Nach dieser Theorie ist die Zurschaustellung<br />
weit davon entfernt, altruistisch zu sein. Wenn<br />
überhaupt, dann ist sie egoistisch, <strong>de</strong>nn ihre Absicht ist, <strong>de</strong>n<br />
Räuber davon zu überzeugen, daß er jemand an<strong>de</strong>res jagen<br />
soll. In gewisser Weise spielt sich zwischen <strong>de</strong>n möglichen Beutetieren<br />
ein Wettkampf darum ab, wer am höchsten springen<br />
kann, und <strong>de</strong>r Räuber entschei<strong>de</strong>t, wer <strong>de</strong>r Verlierer ist.<br />
Das an<strong>de</strong>re Beispiel, auf das ich zurückkommen wollte, ist<br />
<strong>de</strong>r Fall <strong>de</strong>r Kamikaze-Bienen, die Honigdiebe stechen, dabei<br />
aber fast mit Sicherheit Selbstmord begehen. Die Honigbiene<br />
ist nur eine Art <strong>de</strong>r staatenbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Insekten. Weitere Beispiele<br />
sind Wespen, Ameisen und Termiten o<strong>de</strong>r „weiße Ameisen“.<br />
Ich möchte die staatenbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Insekten im allgemeinen<br />
erörtern, nicht nur die selbstmör<strong>de</strong>rischen Bienen. Die<br />
G<strong>ro</strong>ßtaten <strong>de</strong>r sozialen Insekten sind legendär, vor allem ihre
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 267<br />
erstaunlichen Leistungen <strong>de</strong>r Zusammenarbeit und anscheinen<strong>de</strong>n<br />
Selbstlosigkeit. Die selbstmör<strong>de</strong>rischen Stechmissionen<br />
sind typisch für ihre Wun<strong>de</strong>rtaten <strong>de</strong>r Selbstverleugnung.<br />
Bei <strong>de</strong>n Honigameisen gibt es eine Arbeiterkaste mit g<strong>ro</strong>tesk<br />
angeschwollenen, mit Honig vollgestopften Hinterleibern,<br />
<strong>de</strong>ren einzige Lebensaufgabe darin besteht, wie aufgedunsene<br />
Glühbirnen bewegungslos von <strong>de</strong>r Decke herabzuhängen und<br />
sich von <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Arbeiterinnen als Nahrungsspeicher<br />
(sogenannte Honigtöpfe) benutzen zu lassen. In <strong>de</strong>r menschlichen<br />
Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s Wortes leben sie als Individuen gar nicht;<br />
ihre Individualität ist offenbar <strong>de</strong>m Wohlergehen <strong>de</strong>r Gemeinschaft<br />
geopfert wor<strong>de</strong>n. Eine Gesellschaft von Ameisen, Bienen<br />
o<strong>de</strong>r Termiten erzielt eine Art Individualität auf einer höheren<br />
Ebene. Die Nahrung wird in einem solchen Ausmaß untereinan<strong>de</strong>r<br />
geteilt, daß man von einem gemeinschaftlichen Magen<br />
sprechen könnte. Informationen wer<strong>de</strong>n mit Hilfe chemischer<br />
Signale und <strong>de</strong>s berühmten „Tanzes“ <strong>de</strong>r Bienen <strong>de</strong>rart effizient<br />
ausgetauscht, daß die Gemeinschaft sich nahezu so verhält,<br />
als wäre sie eine Einheit mit eigenem Nervensystem und eigenen<br />
Sinnesorganen. Eindringlinge wer<strong>de</strong>n erkannt und vernichtet,<br />
und zwar mit einer Selektivität, die <strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Immunsystems<br />
von Säugetieren vergleichbar ist. Die relativ hohe Temperatur<br />
im Innern eines Bienenstockes wird fast ebenso genau<br />
reguliert wie die eines menschlichen Körpers, obwohl eine einzelne<br />
Biene kein „warmblütiges“ Tier ist. Schließlich und vor<br />
allem erstreckt sich die Analogie auch auf die Fortpflanzung.<br />
Die Mehrheit <strong>de</strong>r Individuen in einem Insektenstaat sind sterile<br />
Arbeiter. Die „Keimbahn“ – die kontinuierliche Linie <strong>de</strong>r<br />
unsterblichen Gene – fließt durch die Körper einer kleinen Min<strong>de</strong>rheit<br />
sich fortpflanzen<strong>de</strong>r Individuen, <strong>de</strong>r Geschlechtstiere.<br />
Diese bil<strong>de</strong>n die Gegenstücke zu unseren eigenen Geschlechtszellen<br />
in unseren Ho<strong>de</strong>n und Eierstöcken. Die sterilen Arbeiter<br />
entsprechen unseren Leber-, Muskel- und Nervenzellen.<br />
Das Kamikaze-Verhalten und an<strong>de</strong>re Formen von<br />
Uneigennützigkeit und Zusammenarbeit <strong>de</strong>r Arbeiter sind<br />
nicht mehr erstaunlich, sobald wir be<strong>de</strong>nken, daß es sich<br />
um unfruchtbare Individuen han<strong>de</strong>lt. Normalerweise ist <strong>de</strong>r
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 268<br />
Körper eines Tieres so manipuliert, daß er das Überleben<br />
seiner Gene sichert, und zwar zum einen, in<strong>de</strong>m er Nachkommen<br />
erzeugt, und zum an<strong>de</strong>ren durch die Fürsorge für an<strong>de</strong>re,<br />
dieselben Gene besitzen<strong>de</strong> Individuen. Selbstmord um <strong>de</strong>r<br />
Sorge für an<strong>de</strong>re Individuen willen ist mit <strong>de</strong>r zukünftigen P<strong>ro</strong>duktion<br />
eigener Nachkommen unvereinbar. Daher ist tödliche<br />
Selbstaufopferung selten. Aber eine Bienenarbeiterin hat niemals<br />
eigene Nachkommen. Alle ihre Bemühungen richten sich<br />
darauf, <strong>de</strong>n Fortbestand ihrer Gene dadurch zu sichern, daß<br />
sie an<strong>de</strong>re Verwandte als ihre Nachkommen pflegt. Der Tod<br />
einer einzelnen sterilen Arbeiterin ist für <strong>de</strong>ren Gene nicht<br />
schlimmer als das Abfallen eines Blattes im Herbst für die<br />
Gene eines Baumes.<br />
Man gerät in Versuchung, mystisch zu wer<strong>de</strong>n, <strong>wen</strong>n man<br />
über staatenbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Insekten spricht, doch dazu besteht<br />
keinerlei Not<strong>wen</strong>digkeit. Es lohnt, sich etwas eingehen<strong>de</strong>r<br />
damit zu befassen, wie die Theorie <strong>de</strong>s egoistischen Gens<br />
sich mit ihnen auseinan<strong>de</strong>rsetzt, insbeson<strong>de</strong>re wie sie <strong>de</strong>n<br />
evolutionären Ursprung jenes außergewöhnlichen Phänomens<br />
<strong>de</strong>r Unfruchtbarkeit <strong>de</strong>r Arbeiterinnen erklärt, das so weitreichen<strong>de</strong><br />
Folgen zu haben scheint.<br />
Ein Insektenstaat ist eine riesige Familie, <strong>de</strong>ren Angehörige<br />
gewöhnlich alle von <strong>de</strong>rselben Mutter abstammen. Die Arbeiter,<br />
die sich selten o<strong>de</strong>r nie fortpflanzen, sind häufig in eine<br />
Reihe verschie<strong>de</strong>ner Kasten unterteilt, zu <strong>de</strong>nen kleine Arbeiter,<br />
g<strong>ro</strong>ße Arbeiter, Soldaten und hochspezialisierte Kasten wie<br />
die „Honigtöpfe“ gehören. Die fortpflanzungsfähigen Weibchen<br />
heißen Königinnen, die fruchtbaren Männchen wer<strong>de</strong>n teilweise<br />
als D<strong>ro</strong>hnen o<strong>de</strong>r Könige bezeichnet. In höher entwikkelten<br />
Insektenstaaten betätigen sich die Geschlechtstiere niemals<br />
mit etwas an<strong>de</strong>rem als <strong>de</strong>r P<strong>ro</strong>duktion von Nachwuchs,<br />
aber bei dieser einen Aufgabe leisten sie Außergewöhnliches.<br />
Was ihre Ernährung und ihren Schutz betrifft, verlassen sie<br />
sich auf die Arbeiter, und diese sind auch für die Brutpflege<br />
verantwortlich. Bei manchen Ameisen- und Termitenarten ist<br />
die Königin zu einer gigantischen Eierfabrik angeschwollen,<br />
überhaupt kaum noch als Insekt erkennbar, Hun<strong>de</strong>rte von
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 269<br />
Malen größer als ein Arbeiter und völlig unfähig, sich zu bewegen.<br />
Sie wird fortwährend von Arbeitern umsorgt, die sie pflegen,<br />
füttern und ihren unaufhörlichen Eiersegen in die gemeinschaftlichen<br />
Kin<strong>de</strong>rstuben transportieren. Wenn eine solche<br />
monströse Königin ihre Königinnenzelle jemals verlassen muß,<br />
so reitet sie mit g<strong>ro</strong>ßem Aufwand auf <strong>de</strong>m Rücken ganzer<br />
Schwad<strong>ro</strong>nen von sich mühsam fortschleppen<strong>de</strong>n Arbeitern.<br />
In Kapitel 7 habe ich die Unterscheidung zwischen Zeugen<br />
und Pflegen eingeführt. Ich sagte, daß sich normalerweise<br />
gemischte Strategien entwickeln wür<strong>de</strong>n, bei <strong>de</strong>nen Kin<strong>de</strong>rbekommen<br />
und Kin<strong>de</strong>rpflegen kombiniert sind. In Kapitel 5<br />
haben wir gesehen, daß es generell zwei Typen von gemischten<br />
evolutionär stabilen Strategien geben kann. Entwe<strong>de</strong>r verhält<br />
sich je<strong>de</strong>s Mitglied einer Population gemischt; auf diese Weise<br />
erreichen Individuen gewöhnlich eine vernünftige Mischung<br />
aus P<strong>ro</strong>duktion und Pflege ihrer Nachkommenschaft. O<strong>de</strong>r die<br />
Population ist in zwei verschie<strong>de</strong>ne Typen von Individuen aufgeteilt;<br />
so haben wir uns zunächst das Gleichgewicht zwischen<br />
Falken und Tauben vorgestellt. Nun ist es theoretisch durchaus<br />
möglich, daß ein evolutionär stabiles Gleichgewicht zwischen<br />
Zeugen und Pflegen auf die letztgenannte Art und Weise<br />
erreicht wird: Die Population könnte in kin<strong>de</strong>rzeugen<strong>de</strong> und<br />
pflegen<strong>de</strong> Individuen aufgeteilt sein. Ein solcher Zustand kann<br />
jedoch nur dann evolutionär stabil sein, <strong>wen</strong>n die Pfleger<br />
eng mit <strong>de</strong>n Gepflegten verwandt sind, und zwar min<strong>de</strong>stens<br />
ebenso eng, wie sie mit ihren eigenen Nachkommen verwandt<br />
wären, <strong>wen</strong>n sie welche hätten. Obwohl die Evolution theoretisch<br />
diese Richtung nehmen kann, scheint sie es nur bei <strong>de</strong>n<br />
staatenbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Insekten tatsächlich getan zu haben. 1<br />
Bei diesen Insekten sind die Individuen in zwei Hauptklassen<br />
aufgeteilt: in Zeugen<strong>de</strong> und Pflegen<strong>de</strong>. Die Zeugen<strong>de</strong>n sind<br />
die fortpflanzungsfähigen Männchen und Weibchen. Die Pflegen<strong>de</strong>n<br />
sind die Arbeiter – unfruchtbare Männchen und Weibchen<br />
bei <strong>de</strong>n Termiten, unfruchtbare Weibchen bei allen an<strong>de</strong>ren<br />
staatenbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Insekten. Bei<strong>de</strong> Klassen erfüllen ihre<br />
Aufgabe effizienter, weil sie nicht auch noch die an<strong>de</strong>re Aufgabe<br />
übernehmen müssen. Aber von wessen Standpunkt aus
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 270<br />
betrachtet effizient? Die Frage, die man <strong>de</strong>r Darwinschen<br />
Theorie entgegenschleu<strong>de</strong>rn wird, ist <strong>de</strong>r vertraute Aufschrei:<br />
„Was haben die Arbeiter davon?“<br />
Einige haben geantwortet: „Nichts!“ Ihrer Meinung nach<br />
richtet sich die Königin alles zu ihrem eigenen Vorteil ein,<br />
in<strong>de</strong>m sie die Arbeiterinnen durch chemische Mittel manipuliert<br />
und sie ihre wimmeln<strong>de</strong> Brut pflegen läßt. Dies ist eine<br />
Version <strong>de</strong>r Alexan<strong>de</strong>rschen Theorie <strong>de</strong>r „elterlichen Manipulation“,<br />
die wir in Kapitel 8 kennengelernt haben. Die entgegengesetzte<br />
Vorstellung lautet, daß die Arbeiterinnen die<br />
Geschlechtstiere „kultivieren“ o<strong>de</strong>r „bewirtschaften“, daß sie<br />
sie manipulieren, um ihre P<strong>ro</strong>duktivität bei <strong>de</strong>r Erzeugung von<br />
Kopien <strong>de</strong>r Arbeitergene zu erhöhen. Zwar sind die von <strong>de</strong>r<br />
Königin p<strong>ro</strong>duzierten Überlebensmaschinen keine Nachkommen<br />
<strong>de</strong>r Arbeiterinnen, aber sie sind <strong>de</strong>nnoch enge Verwandte.<br />
Es war Hamilton, <strong>de</strong>r zu <strong>de</strong>r brillanten Erkenntnis kam, daß<br />
– zumin<strong>de</strong>st bei <strong>de</strong>n Ameisen, Bienen und Wespen – die Arbeiterinnen<br />
tatsächlich näher mit <strong>de</strong>r Brut verwandt sein können<br />
als die Königin selbst!<br />
Dies verhalf ihm und später Trivers und Hare zu einem <strong>de</strong>r<br />
spektakulärsten Triumphe <strong>de</strong>r Theorie <strong>de</strong>s egoistischen Gens.<br />
Die Beweisführung ist die folgen<strong>de</strong>.<br />
Die sogenannten Hautflügler o<strong>de</strong>r Hymenopteren – zu dieser<br />
Insektengruppe gehören Ameisen, Bienen und Wespen – haben<br />
ein seltsames System <strong>de</strong>r Geschlechtsbestimmung. Die Termiten<br />
gehören zu einer an<strong>de</strong>ren Gruppe und besitzen diese<br />
Eigenart nicht. In einem typischen Hymenopterennest gibt es<br />
nur eine einzige reife Königin. Sie hat in ihrer Jugend einen<br />
Begattungsflug unternommen und die Spermien für <strong>de</strong>n Rest<br />
ihres langen Lebens gespeichert – für zehn Jahre o<strong>de</strong>r sogar<br />
noch mehr. Im Laufe <strong>de</strong>r Jahre verteilt sie die Samenflüssigkeit<br />
auf ihre Eier, die auf <strong>de</strong>m Weg durch die Eileiter besamt<br />
wer<strong>de</strong>n. Aber nicht alle Eier wer<strong>de</strong>n befruchtet. Die unbefruchteten<br />
entwickeln sich zu Männchen. Ein Männchen hat<br />
daher keinen Vater, und alle seine Zellen enthalten nur einen<br />
einzigen Satz von Ch<strong>ro</strong>mosomen (die es alle von seiner Mutter<br />
bekommen hat) statt eines doppelten Satzes (einen vom Vater
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 271<br />
und einen von <strong>de</strong>r Mutter), wie wir ihn haben. In unserem<br />
Bild aus Kapitel 3 ausgedrückt, heißt das: Ein männlicher<br />
Hautflügler besitzt in je<strong>de</strong>r seiner Zellen lediglich eine Kopie<br />
je<strong>de</strong>s „Ban<strong>de</strong>s“ statt <strong>de</strong>r üblichen zwei.<br />
Ein Hymenopterenweibchen dagegen ist insofern normal, als<br />
es einen Vater hat, und es besitzt in je<strong>de</strong>r seiner Körperzellen<br />
<strong>de</strong>n doppelten Ch<strong>ro</strong>mosomensatz. Ob sich ein Weibchen zu<br />
einer Arbeiterin o<strong>de</strong>r zu einer Königin entwickelt, hängt nicht<br />
von seinen Genen ab. Je<strong>de</strong>s Weibchen hat einen vollständigen<br />
Satz von Genen für die Entwicklung zur Königin und einen<br />
kompletten Satz für die Entwicklung zur Arbeiterin (o<strong>de</strong>r vielmehr<br />
Gensätze für die Erzeugung je<strong>de</strong>r spezialisierten Kaste<br />
von Arbeiterinnen, Soldaten und so weiter). Welcher Satz von<br />
Genen „eingeschaltet“ wird, hängt davon ab, wie das Weibchen<br />
aufgezogen wird, insbeson<strong>de</strong>re von <strong>de</strong>r Nahrung, die es erhält.<br />
In Wirklichkeit ist dies alles noch sehr viel komplizierter,<br />
aber im wesentlichen stimmt es so. Wir wissen nicht, warum<br />
sich dieses ungewöhnliche System <strong>de</strong>r sexuellen Fortpflanzung<br />
entwickelt hat. Zweifellos gab es gute Grün<strong>de</strong> dafür, aber vorerst<br />
müssen wir es einfach als eine son<strong>de</strong>rbare Erscheinung<br />
bei <strong>de</strong>n Hautflüglern hinnehmen. Aus welchem Grund auch<br />
immer sich diese Beson<strong>de</strong>rheit ursprünglich entwickelt haben<br />
mag, sie macht je<strong>de</strong>nfalls die sauberen Regeln zunichte, die<br />
wir in Kapitel 6 für die Berechnung <strong>de</strong>s Verwandtschaftsgra<strong>de</strong>s<br />
aufgestellt haben. Sie be<strong>de</strong>utet nämlich, daß sich die einzelnen<br />
Spermien eines Hymenopterenmännchens, etwa einer<br />
D<strong>ro</strong>hne, nicht wie bei uns voneinan<strong>de</strong>r unterschei<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn<br />
daß sie alle genau gleich sind. Eine D<strong>ro</strong>hne besitzt in je<strong>de</strong>r<br />
ihrer Körperzellen lediglich einen einzelnen Satz von Genen,<br />
keinen doppelten. In je<strong>de</strong>s Spermium muß daher <strong>de</strong>r gesamte<br />
Satz eingehen, nicht nur eine Auswahl von 50 P<strong>ro</strong>zent, und<br />
daher sind alle Spermien einer D<strong>ro</strong>hne i<strong>de</strong>ntisch. Versuchen<br />
wir nun, <strong>de</strong>n Verwandtschaftsgrad zwischen einer Mutter und<br />
ihrem Sohn zu berechnen. Wenn wir wissen, daß eine D<strong>ro</strong>hne<br />
ein Gen A besitzt, wie g<strong>ro</strong>ß ist dann die Wahrscheinlichkeit,<br />
daß ihre Mutter das Gen mit ihr teilt? Die Antwort muß lauten<br />
100 P<strong>ro</strong>zent, da die D<strong>ro</strong>hne keinen Vater hatte und alle ihre
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 272<br />
Gene von <strong>de</strong>r Mutter bekam. Nehmen wir jetzt aber an, wir<br />
wissen, daß eine Königin das Gen B besitzt. Die Möglichkeit,<br />
daß ihr Sohn das Gen mit ihr gemeinsam hat, ist nur 50 P<strong>ro</strong>zent,<br />
da er nur die Hälfte ihrer Gene besitzt. Das klingt wie ein<br />
Wi<strong>de</strong>rspruch, ist es aber nicht. Eine D<strong>ro</strong>hne bekommt alle ihre<br />
Gene von ihrer Mutter, aber eine Mutter gibt nur die Hälfte<br />
ihrer Gene an ihren Sohn weiter. Die Lösung für dieses scheinbare<br />
Paradoxon liegt in <strong>de</strong>r Tatsache, daß eine D<strong>ro</strong>hne lediglich<br />
die Hälfte <strong>de</strong>r üblichen Genzahl besitzt. Es hat keinen Sinn<br />
herumzurätseln, ob <strong>de</strong>r „richtige“ Verwandtschaftsin<strong>de</strong>x 1/2<br />
o<strong>de</strong>r eins ist. Dieser In<strong>de</strong>x ist nur ein vom Menschen gemachtes<br />
Maß, und <strong>wen</strong>n er in beson<strong>de</strong>ren Fällen zu Schwierigkeiten<br />
führt, so wer<strong>de</strong>n wir ihn wohl aufgeben und zu <strong>de</strong>n Quellen<br />
zurückgehen müssen. Vom Standpunkt eines Gens A im<br />
Körper einer Königin aus gesehen, ist die Wahrscheinlichkeit,<br />
daß es auch in einem Sohn enthalten ist, 1/2, gera<strong>de</strong>so wie<br />
bei einer Tochter. Eine Insektenkönigin ist daher – von ihrem<br />
Standpunkt aus betrachtet – genauso nah mit ihren Nachkommen<br />
bei<strong>de</strong>rlei Geschlechts verwandt wie bei uns Menschen<br />
eine Mutter mit ihren Kin<strong>de</strong>rn.<br />
Wirklich spannend wird es, <strong>wen</strong>n wir zum Verwandtschaftsgrad<br />
zwischen Schwestern kommen. Bei Hautflüglern haben<br />
leibliche Schwestern nicht nur <strong>de</strong>nselben Vater: Die bei<strong>de</strong>n<br />
Spermien, die sie gezeugt haben, waren darüber hinaus in<br />
je<strong>de</strong>m Gen i<strong>de</strong>ntisch. Die Schwestern entsprechen daher,<br />
soweit es ihre väterlichen Gene betrifft, eineiigen Zwillingen.<br />
Wenn ein Weibchen ein Gen A besitzt, so muß es dieses entwe<strong>de</strong>r<br />
von seinem Vater o<strong>de</strong>r von seiner Mutter bekommen<br />
haben. Wenn das Gen von seiner Mutter stammt, so besteht<br />
eine Chance von 50 P<strong>ro</strong>zent, daß seine Schwester es ebenfalls<br />
besitzt. Hat es das Gen aber von seinem Vater bekommen, so<br />
ist die Chance, daß die Schwester es teilt, 100 P<strong>ro</strong>zent. Daher<br />
ist <strong>de</strong>r Verwandtschaftsgrad zwischen leiblichen Schwestern<br />
bei <strong>de</strong>n Hautflüglern nicht 1/2, wie bei normalen Tieren mit<br />
geschlechtlicher Fortpflanzung, son<strong>de</strong>rn 3/4.<br />
Daraus folgt, daß bei <strong>de</strong>n Hymenopteren ein Weibchen<br />
mit seinen leiblichen Schwestern näher verwandt ist als mit
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 273<br />
seinen Nachkommen bei<strong>de</strong>rlei Geschlechts. 2 Wie Hamilton<br />
erkannte (obwohl er es nicht ganz genauso formulierte), könnte<br />
dieser Umstand sehr wohl ein Weibchen dazu prädisponieren,<br />
seine eigene Mutter als effiziente Schwestern p<strong>ro</strong>duzieren<strong>de</strong><br />
Maschine zu „betreiben“. Ein Gen für die stellvertreten<strong>de</strong> Herstellung<br />
von Schwestern repliziert sich schneller als ein Gen<br />
für die direkte Erzeugung von Nachkommen. Hieraus entwikkelte<br />
sich die Unfruchtbarkeit <strong>de</strong>r Arbeiterinnen. Es ist vermutlich<br />
kein Zufall, daß echte Tierstaaten mit Sterilität <strong>de</strong>r<br />
Arbeiterinnen sich bei <strong>de</strong>n Hymenopteren nicht <strong>wen</strong>iger als elf<br />
Mal unabhängig voneinan<strong>de</strong>r entwickelt haben und im gesamten<br />
übrigen Tierreich nur ein einziges Mal, nämlich bei <strong>de</strong>n<br />
Termiten.<br />
Das Ganze hat jedoch einen Haken. Wenn die Arbeiterinnen<br />
ihre Mutter erfolgreich als Schwestern p<strong>ro</strong>duzieren<strong>de</strong><br />
Maschine betreiben wollen, müssen sie auf irgen<strong>de</strong>ine Weise<br />
<strong>de</strong>ren natürliche Neigung, ihnen auch eine gleiche Zahl von<br />
kleinen Brü<strong>de</strong>rn zu schenken, eindämmen. Vom Standpunkt<br />
einer Arbeiterin aus gesehen, beträgt die Wahrscheinlichkeit,<br />
daß irgen<strong>de</strong>iner ihrer Brü<strong>de</strong>r ein spezielles Gen mit ihr teilt,<br />
nur 1/4. Wenn man daher <strong>de</strong>r Königin erlauben wür<strong>de</strong>, zu<br />
gleichen Teilen männliche und weibliche fortpflanzungsfähige<br />
Nachkommen zu erzeugen, so wür<strong>de</strong> die „Farm“, soweit es die<br />
Arbeiterinnen betrifft, keinen Gewinn erbringen. Sie wür<strong>de</strong>n<br />
die Vermehrung ihrer kostbaren Gene nicht maximieren.<br />
Trivers und Hare erkannten, daß die Arbeiterinnen versuchen<br />
müssen, das Geschlechterverhältnis zugunsten <strong>de</strong>r Weibchen<br />
zu beeinflussen. Sie nahmen die Fisherschen Berechnungen<br />
über die optimale Geschlechterverteilung (auf die<br />
wir im vorigen Kapitel einen Blick geworfen haben) und<br />
überarbeiteten sie für <strong>de</strong>n speziellen Fall <strong>de</strong>r Hymenopteren.<br />
Es stellte sich heraus, daß das optimale Investitionsverhältnis<br />
für eine Mutter wie üblich 1:1 beträgt. Das optimale Verhältnis<br />
für eine Schwester beträgt 3:1 zugunsten <strong>de</strong>r Schwestern<br />
beziehungsweise zum Nachteil <strong>de</strong>r Brü<strong>de</strong>r. Wenn ich ein<br />
Hautflüglerweibchen bin, so kann ich meine Gene am wirksamsten<br />
verbreiten, <strong>wen</strong>n ich darauf verzichte, mich selbst fortzu-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 274<br />
pflanzen, und statt <strong>de</strong>ssen meine Mutter veranlasse, mich mit<br />
fortpflanzungsfähigen Schwestern und Brü<strong>de</strong>rn im Verhältnis<br />
3:1 zu versorgen. Wenn ich aber eigene Nachkommen haben<br />
muß, so kann ich meinen Genen am meisten nützen, <strong>wen</strong>n ich<br />
Söhne und Töchter zu gleichen Teilen bekomme.<br />
Wie wir gesehen haben, ist <strong>de</strong>r Unterschied zwischen<br />
Königinnen und Arbeiterinnen nicht genetischer Natur. Soweit<br />
es seine Gene betrifft, könnte ein weiblicher Embryo sowohl<br />
dazu bestimmt sein, eine Arbeiterin zu wer<strong>de</strong>n, die sich ein<br />
Geschlechterverhältnis von 3:1, als auch eine Königin, die<br />
sich ein Verhältnis von 1:1 „wünscht“. Was be<strong>de</strong>utet dieses<br />
Wünschen also? Es be<strong>de</strong>utet, daß ein Gen, welches sich im<br />
Körper einer Königin befin<strong>de</strong>t, sich am besten vermehren kann,<br />
<strong>wen</strong>n jener Körper zu gleichen Teilen in fortpflanzungsfähige<br />
Söhne und Töchter investiert. Wenn das gleiche Gen sich aber<br />
im Körper einer Arbeiterin befin<strong>de</strong>t, so kann es sich am besten<br />
dadurch vermehren, daß es die Mutter jenes Körpers dazu<br />
bringt, mehr Töchter als Söhne zu haben. Es besteht hier kein<br />
wirklicher Wi<strong>de</strong>rspruch. Ein Gen muß die Machtmittel, die ihm<br />
zufällig zur Verfügung stehen, bestmöglich ausnutzen. Wenn es<br />
sich in <strong>de</strong>r Lage sieht, die Entwicklung eines Körpers zu beeinflussen,<br />
<strong>de</strong>r dazu bestimmt ist, eine Königin zu wer<strong>de</strong>n, so<br />
ist seine optimale Strategie zur erfolgreichen Nutzung dieser<br />
Kont<strong>ro</strong>llmöglichkeit eine Sache. Wenn es in <strong>de</strong>r Lage ist, darauf<br />
Einfluß auszuüben, auf welche Weise sich <strong>de</strong>r Körper einer<br />
Arbeiterin entwickelt, so ist die optimale Strategie zur Ausnutzung<br />
dieser Macht eine an<strong>de</strong>re Sache.<br />
Dies be<strong>de</strong>utet, daß es auf unserer „Farm“ einen Interessenkonflikt<br />
gibt. Die Königin „versucht“, gleichmäßig in männliche<br />
und weibliche Nachkommen zu investieren. Die Arbeiterinnen<br />
dagegen versuchen, das Verhältnis <strong>de</strong>r Geschlechtstiere so zu<br />
verschieben, daß auf je<strong>de</strong>s Männchen drei Weibchen entfallen.<br />
Wenn wir recht haben mit unserer Vorstellung von <strong>de</strong>n<br />
Arbeiterinnen als Farmern und <strong>de</strong>r Königin als ihrer Zuchtstute,<br />
so wer<strong>de</strong>n die Arbeiterinnen vermutlich das von ihnen<br />
„gewünschte“ Verhältnis 3:1 durchsetzen können. Wenn nicht,<br />
<strong>wen</strong>n die Königin also wirklich ihrem Namen Ehre macht und
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 275<br />
die Arbeiterinnen ihre Sklaven und gehorsamen Wächterinnen<br />
<strong>de</strong>r königlichen Kin<strong>de</strong>rstube sind, dann sollten wir erwarten,<br />
daß das von <strong>de</strong>r Königin „bevorzugte“ Verhältnis 1:1 sich<br />
durchsetzt. Wer gewinnt in diesem Spezialfall eines Krieges<br />
<strong>de</strong>r Generationen? Diese Frage läßt sich praktisch klären, und<br />
genau das haben Trivers und Hare in einer Untersuchung<br />
getan, bei <strong>de</strong>r sie eine beträchtliche Zahl von Ameisenarten<br />
benutzten.<br />
Das Geschlechterverhältnis, um das es hier geht, ist das<br />
Verhältnis von männlichen zu weiblichen Geschlechtstieren.<br />
Das sind die g<strong>ro</strong>ßen geflügelten Individuen, die in periodischen<br />
Ausbrüchen aus <strong>de</strong>n Ameisennestern herausströmen,<br />
um ihren Begattungsflug anzutreten, wonach die jungen<br />
Königinnen häufig neue Kolonien zu grün<strong>de</strong>n versuchen.<br />
Diese geflügelten Tiere muß man zählen, um einen Schätzwert<br />
für das Geschlechterverhältnis zu erhalten. Nun haben die<br />
männlichen und weiblichen fortpflanzungsfähigen Individuen<br />
bei vielen Arten eine sehr unterschiedliche Körpergröße. Das<br />
kompliziert die Dinge, da sich die Fisherschen Berechnungen<br />
<strong>de</strong>r optimalen Geschlechterverteilung, wie wir im vorigen Kapitel<br />
gesehen haben, genaugenommen nicht auf die Anzahl von<br />
Männchen und Weibchen, son<strong>de</strong>rn auf die in Männchen und<br />
Weibchen angelegte Investitionsmenge beziehen. Trivers und<br />
Hare berücksichtigten dies, in<strong>de</strong>m sie Männchen und Weibchen<br />
wogen. Sie griffen 20 Ameisenarten heraus und schätzten<br />
das Verhältnis <strong>de</strong>r Investitionen in fortpflanzungsfähige Weibchen<br />
zu <strong>de</strong>n Investitionen in Männchen. Das Ergebnis kam<br />
<strong>de</strong>m Quotienten von 3:1 überzeugend nahe, <strong>de</strong>r nach <strong>de</strong>r Theorie,<br />
daß die Arbeiterinnen ihren Willen durchzusetzen verstehen,<br />
zu erwarten war. 3<br />
Es sieht also so aus, als ob bei <strong>de</strong>n untersuchten Ameisen <strong>de</strong>r<br />
Interessenkonflikt von <strong>de</strong>n Arbeiterinnen „gewonnen“ wird.<br />
Dies ist nicht allzu überraschend, da die Arbeiterinnenkörper<br />
als Wächter <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>rstuben in <strong>de</strong>r Praxis mehr Macht<br />
haben als Königinnenkörper. Gene, die die Welt durch<br />
Königinnenkörper zu manipulieren suchen, wer<strong>de</strong>n von Genen<br />
ausmanövriert, die die Welt durch Arbeiterinnenkörper mani-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 276<br />
pulieren. Nun ist es interessant, sich nach beson<strong>de</strong>ren<br />
Umstän<strong>de</strong>n umzusehen, unter <strong>de</strong>nen man erwarten könnte,<br />
daß die Königinnen mehr praktische Macht als die Arbeiterinnen<br />
besitzen. Trivers und Hare erkannten, daß es genau so<br />
einen Umstand gibt, <strong>de</strong>r als entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Test für die Theorie<br />
dienen kann.<br />
Dieser Umstand ergibt sich aus <strong>de</strong>r Tatsache, daß einige<br />
Ameisenarten Sklaven halten. Die Arbeiterinnen einer solchen<br />
sklavenhalten<strong>de</strong>n Art leisten überhaupt keine gewöhnliche<br />
Arbeit, o<strong>de</strong>r sie tun sie ziemlich schlecht. Gut sind sie dagegen<br />
in <strong>de</strong>r Sklavenjagd. Richtige Kriege, in <strong>de</strong>nen g<strong>ro</strong>ße Armeen<br />
sich gegenseitig bis aufs Messer bekämpfen, gibt es, soviel man<br />
weiß, nur beim Menschen und bei <strong>de</strong>n staatenbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Insekten.<br />
Bei vielen Ameisenarten besitzt die spezialisierte Arbeiterkaste<br />
<strong>de</strong>r Soldaten fürchterliche für <strong>de</strong>n Kampf spezialisierte<br />
Mundwerkzeuge, und sie widmet ihre <strong>Zeit</strong> ausschließlich<br />
<strong>de</strong>m Kampf gegen an<strong>de</strong>re Ameisenarmeen. Sklavenjag<strong>de</strong>n sind<br />
lediglich eine spezielle Art kriegerischer Betätigung. Die Sklavenhalter<br />
überfallen ein Nest einer an<strong>de</strong>ren Ameisenart, versuchen<br />
die es verteidigen<strong>de</strong>n Arbeiter o<strong>de</strong>r Soldaten zu töten und<br />
tragen die noch nicht geschlüpfte Brut davon. Diese Jungen<br />
schlüpfen im Nest ihrer Entführer aus. Sie „merken“ nicht,<br />
daß sie Sklaven sind, und machen sich, ihren eingebauten Nervenp<strong>ro</strong>grammen<br />
folgend, an die Arbeit. Sie erledigen alle Aufgaben,<br />
die sie normalerweise in ihrem eigenen Nest verrichten<br />
wür<strong>de</strong>n. Die Arbeiter o<strong>de</strong>r Soldaten <strong>de</strong>r Sklavenhalter gehen<br />
auf neue Sklavenexpeditionen, während die Sklaven zu Hause<br />
bleiben und die tagtäglich in einem Ameisenstaat anfallen<strong>de</strong>n<br />
Arbeiten – Saubermachen, Auf-Futtersuche-Gehen und Brutpflege<br />
– erledigen.<br />
Die Sklaven leben natürlich in seliger Unkenntnis <strong>de</strong>r Tatsache,<br />
daß sie mit <strong>de</strong>r Königin und <strong>de</strong>r Brut, die sie hegen, nicht<br />
verwandt sind. Ohne es zu wissen, ziehen sie neue Aufgebote<br />
von Sklavenjägern g<strong>ro</strong>ß. Zweifellos begünstigt die natürliche<br />
Auslese, die auf die Gene <strong>de</strong>r Sklavenspezies wirkt, gegen<br />
die Sklaverei gerichtete Anpassungen. Doch sind diese offenbar<br />
nicht voll wirksam, <strong>de</strong>nn die Sklaverei ist eine weit ver-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 277<br />
breitete Erscheinung. Für unsere gegenwärtigen Betrachtungen<br />
interessant ist die folgen<strong>de</strong> Konsequenz <strong>de</strong>r Sklaverei:<br />
Die Königin einer sklavenhalten<strong>de</strong>n Art ist in <strong>de</strong>r Lage, das<br />
Geschlechterverhältnis in die von ihr „bevorzugte“ Richtung<br />
zu verschieben. Der Grund ist, daß ihre eigenen leiblichen<br />
Kin<strong>de</strong>r, die Sklavenhalter, nicht mehr die praktische Gewalt<br />
in <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>rstube innehaben. Diese Macht haben jetzt die<br />
Sklaven. Die Sklaven „glauben“, daß sie ihre eigenen Geschwister<br />
versorgen, und sie tun vermutlich alles, was in ihren<br />
eigenen Nestern geeignet wäre, das von ihnen gewünschte<br />
Verhältnis von 3:1 zugunsten <strong>de</strong>r Schwestern zu erzielen. Aber<br />
die Königin <strong>de</strong>r sklavenhalten<strong>de</strong>n Art kann diesmal wirksame<br />
Gegenmaßnahmen ergreifen; es gibt auf Seiten <strong>de</strong>r Sklaven<br />
keine Selektion, die dahingehend wirkt, diese Maßnahmen wirkungslos<br />
zu machen, da die Sklaven überhaupt nicht mit <strong>de</strong>r<br />
Brut verwandt sind.<br />
Nehmen wir zum Beispiel an, bei irgen<strong>de</strong>iner Ameisenart<br />
„versuchten“ die Königinnen, männliche Eier zu tarnen, in<strong>de</strong>m<br />
sie sie wie weibliche Eier riechen ließen. Die natürliche Auslese<br />
wird normalerweise je<strong>de</strong> Ten<strong>de</strong>nz <strong>de</strong>r Arbeiterinnen<br />
för<strong>de</strong>rn, die Tarnung zu „durchschauen“. Wir können uns<br />
einen evolutionären Krieg vorstellen, in <strong>de</strong>ssen Verlauf die<br />
Königinnen ständig „<strong>de</strong>n Co<strong>de</strong> än<strong>de</strong>rn“ und die Arbeiterinnen<br />
„<strong>de</strong>n Co<strong>de</strong> entschlüsseln“. Sieger in diesem Krieg wird <strong>de</strong>rjenige<br />
sein, <strong>de</strong>m es gelingt, über die Körper <strong>de</strong>r Geschlechtstiere<br />
einen größeren Teil seiner Gene an die nächste Generation<br />
weiterzugeben. Dies wer<strong>de</strong>n, wie wir gesehen haben,<br />
gewöhnlich die Arbeiterinnen sein. Wenn jedoch die Königin<br />
einer sklavenhalten<strong>de</strong>n Art <strong>de</strong>n Co<strong>de</strong> verän<strong>de</strong>rt, können die<br />
Arbeiterinnen <strong>de</strong>r Sklavenart keinerlei Fähigkeit entwickeln,<br />
ihn zu entschlüsseln. Denn je<strong>de</strong>s Gen für „das Entschlüsseln<br />
<strong>de</strong>s Co<strong>de</strong>s“, das in einer versklavten Arbeiterin vorhan<strong>de</strong>n<br />
sein mag, fehlt im Körper <strong>de</strong>r rep<strong>ro</strong>duktiven Individuen und<br />
wird daher nicht vererbt. Alle fortpflanzungsfähigen Individuen<br />
gehören <strong>de</strong>r sklavenhalten<strong>de</strong>n Art an und sind mit <strong>de</strong>r<br />
Königin, nicht aber mit <strong>de</strong>n Sklaven verwandt. Wenn die Gene<br />
<strong>de</strong>r Sklaven überhaupt <strong>de</strong>n Weg in irgendwelche Geschlecht-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 278<br />
stiere fin<strong>de</strong>n, dann in diejenigen, die in ihrem eigenen Nest heranwachsen,<br />
aus welchem sie geraubt wur<strong>de</strong>n. Wenn überhaupt,<br />
so sind die Sklavenarbeiter damit beschäftigt, <strong>de</strong>n falschen<br />
Co<strong>de</strong> zu entschlüsseln! Daher können die Königinnen einer<br />
sklavenhalten<strong>de</strong>n Art ihren Co<strong>de</strong> ungestraft än<strong>de</strong>rn, wie es<br />
ihnen gefällt; es besteht keinerlei Gefahr, daß Gene für seine<br />
Entschlüsselung an die nächste Generation vererbt wer<strong>de</strong>n.<br />
Das Fazit dieser komplizierten Argumentation ist, daß wir<br />
bei sklavenhalten<strong>de</strong>n Arten ein Verhältnis <strong>de</strong>r Investitionen<br />
in fortpflanzungsfähige Weibchen zu <strong>de</strong>n Investitionen in<br />
Männchen erwarten sollten, das näher bei 1:1 als bei 3:1 liegt.<br />
Dieses eine Mal bekommt die Königin ihren Willen. Genau<br />
dies haben Trivers und Hare herausgefun<strong>de</strong>n; allerdings untersuchten<br />
sie lediglich zwei sklavenhalten<strong>de</strong> Arten.<br />
Ich muß betonen, daß ich das Ganze i<strong>de</strong>alisiert dargestellt<br />
habe. Das wirkliche Leben ist nicht so sauber und or<strong>de</strong>ntlich.<br />
Beispielsweise scheint die am besten bekannte Art <strong>de</strong>r staatenbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />
Insekten, die Honigbiene, ganz und gar das „Falsche“<br />
zu tun. Die Investition in D<strong>ro</strong>hnen ist viel größer als die<br />
in Königinnen – etwas, das keinen Sinn zu ergeben scheint,<br />
we<strong>de</strong>r vom Standpunkt <strong>de</strong>r Arbeiterinnen noch vom Standpunkt<br />
<strong>de</strong>r Mutter, das heißt <strong>de</strong>r Königin, aus gesehen. Hamilton<br />
hat eine mögliche Lösung für dieses Rätsel geliefert. Er<br />
weist darauf hin, daß eine Bienenkönigin, <strong>wen</strong>n sie <strong>de</strong>n Stock<br />
verläßt, ein g<strong>ro</strong>ßes Gefolge von Arbeiterinnen mitnimmt, die<br />
ihr bei <strong>de</strong>r Gründung eines neuen Staates helfen. Diese Arbeiterinnen<br />
sind für <strong>de</strong>n elterlichen Stock verloren, und die<br />
Kosten ihrer Erzeugung müssen zu <strong>de</strong>n Rep<strong>ro</strong>duktionskosten<br />
hinzugezählt wer<strong>de</strong>n: Für je<strong>de</strong> Königin, die ausschwärmt,<br />
müssen viele zusätzliche Arbeiterinnen p<strong>ro</strong>duziert wer<strong>de</strong>n. Die<br />
Investition in diese Arbeiterinnen muß als Teil <strong>de</strong>r Investition<br />
in fortpflanzungsfähige Weibchen angesehen wer<strong>de</strong>n. Diese<br />
zusätzlichen Arbeiterinnen sollten bei <strong>de</strong>r Berechnung <strong>de</strong>r<br />
Geschlechterverteilung mit gegen die Männchen aufgewogen<br />
wer<strong>de</strong>n. So war dies am En<strong>de</strong> doch keine ernsthafte Schwierigkeit<br />
für unsere Theorie. Ein sehr viel schwererer Schlag<br />
für unsere elegante Theorie ist die Tatsache, daß sich bei eini-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 279<br />
gen Arten die junge Königin auf ihrem Hochzeitsflug nicht mit<br />
einem, son<strong>de</strong>rn mit mehreren Männchen paart. Das be<strong>de</strong>utet,<br />
daß <strong>de</strong>r durchschnittliche Verwandtschaftsgrad ihrer Töchter<br />
untereinan<strong>de</strong>r <strong>wen</strong>iger als 3/4 beträgt und in extremen Fällen<br />
sogar bis auf 1/4 absinken kann. Es ist verlockend, <strong>wen</strong>n<br />
auch wahrscheinlich nicht sehr logisch, dies als einen klugen<br />
Schachzug <strong>de</strong>r Königin gegen die Arbeiterinnen anzusehen!<br />
Man könnte übrigens meinen, daß dies die Arbeiterinnen auf<br />
<strong>de</strong>n Gedanken bringen müßte, eine Königin auf ihrem Hochzeitsflug<br />
als „Anstandsdamen“ zu begleiten, um sie davon abzuhalten,<br />
sich mehr als einmal zu paaren. Doch wür<strong>de</strong> dies keineswegs<br />
<strong>de</strong>n Genen <strong>de</strong>r Arbeiterinnen selbst zugute kommen<br />
– lediglich <strong>de</strong>n Genen <strong>de</strong>r nächsten Arbeitergeneration. Unter<br />
<strong>de</strong>n Arbeiterinnen als einer Klasse gibt es keinen Gewerkschaftsgeist.<br />
Das einzige, wofür je<strong>de</strong> einzelne von ihnen „sich<br />
interessiert“, sind ihre eigenen Gene. Eine Arbeiterin hätte<br />
vielleicht gerne die „Anstandsdame“ ihrer eigenen Mutter<br />
gespielt, doch dazu fehlte ihr die Gelegenheit, weil sie zu jener<br />
<strong>Zeit</strong> noch nicht gezeugt war. Eine junge Königin auf ihrem<br />
Hochzeitsflug ist die Schwester <strong>de</strong>r gegenwärtigen Generation<br />
von Arbeiterinnen, nicht die Mutter. Diese sind daher auf<br />
ihrer Seite und nicht auf <strong>de</strong>r Seite <strong>de</strong>r nächsten Generation<br />
von Arbeiterinnen, die lediglich ihre Nichten sind. Jetzt dreht<br />
sich mir <strong>de</strong>r Kopf, und es wird höchste <strong>Zeit</strong>, dieses Thema<br />
abzuschließen.<br />
Ich habe für das, was die Arbeiterinnen <strong>de</strong>r Hymenopteren<br />
mit ihren Müttern tun, das Bild <strong>de</strong>s Kultivierens o<strong>de</strong>r Bewirtschaftens<br />
einer Farm gebraucht. Die Farm ist eine Genfarm.<br />
Die Arbeiterinnen benutzen ihre Mutter als eine effizientere<br />
P<strong>ro</strong>duzentin von Kopien ihrer Gene, als sie selbst es wären.<br />
Die Gene verlassen die Fertigungsstraße in Verpackungen, die<br />
<strong>de</strong>n Namen fortpflanzungsfähige Individuen tragen. Man kann<br />
aber noch in einem ganz an<strong>de</strong>ren Sinne sagen, daß die sozialen<br />
Insekten Farmarbeit leisten, und darf dies nicht mit unserer<br />
obigen Analogie <strong>de</strong>r Farmarbeit verwechseln. Staatenbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong><br />
Insekten haben – ebenso wie <strong>de</strong>r Mensch sehr viel später –<br />
ent<strong>de</strong>ckt, daß seßhafter Anbau von Nahrungsmitteln effekti-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 280<br />
ver sein kann als Jagen und Sammeln. Zum Beispiel kultivieren<br />
mehrere Ameisenarten in <strong>de</strong>r Neuen Welt sowie – ganz<br />
unabhängig davon – afrikanische Termiten „Pilzgärten“. Am<br />
bekanntesten sind die sogenannten Blattschnei<strong>de</strong>rameisen in<br />
Südamerika. Sie sind ungeheuer erfolgreich. Man hat einzelne<br />
Kolonien mit mehr als zwei Millionen Individuen gefun<strong>de</strong>n.<br />
Ihre Nester bestehen aus enorm ausge<strong>de</strong>hnten unterirdischen<br />
Anlagen von Gängen und Höhlen, die drei o<strong>de</strong>r mehr Meter<br />
in die Tiefe reichen und zu <strong>de</strong>ren Herstellung nicht <strong>wen</strong>iger<br />
als vierzig Tonnen Bo<strong>de</strong>n an die Oberfläche transportiert<br />
wer<strong>de</strong>n mußten. Die unterirdischen Kammern beherbergen<br />
die Pilzgärten. Die Ameisen übertragen eine bestimmte Pilzart<br />
in spezielle Kompostbeete, zu <strong>de</strong>ren Vorbereitung sie Blätter<br />
in kleine Stückchen zerkauen. Statt unmittelbar auf die Suche<br />
nach ihrer eigenen Nahrung zu gehen, suchen die Arbeiterinnen<br />
nach Blättern, um daraus Kompost zu machen. Der<br />
„Appetit“ einer Kolonie von Blattschnei<strong>de</strong>rameisen auf Blätter<br />
ist gewaltig. Dies macht sie zu einem erheblichen Schädling für<br />
die Wirtschaft, aber die Blätter sind nicht ihre eigene Nahrung,<br />
son<strong>de</strong>rn die ihrer Pilze. Schließlich ernten und verzehren die<br />
Ameisen die Pilze und füttern ihre Brut damit. Die Pilze sind<br />
beim Aufspalten <strong>de</strong>s Blattmaterials leistungsfähiger, als es <strong>de</strong>r<br />
Magen <strong>de</strong>r Ameisen wäre, daher p<strong>ro</strong>fitieren die Ameisen von<br />
dieser Einrichtung. Und obwohl die Pilze geerntet wer<strong>de</strong>n,<br />
ist es möglich, daß sie ebenfalls davon p<strong>ro</strong>fitieren: Die Ameisen<br />
verbreiten die Pilze nämlich wirkungsvoller, als diese mit<br />
ihrem Mechanismus <strong>de</strong>r Sporenausstreuung selbst dazu in <strong>de</strong>r<br />
Lage sind. Außer<strong>de</strong>m „jäten“ die Ameisen die Pilzgärten, das<br />
heißt, sie halten sie von an<strong>de</strong>ren Pilzarten frei. Da dadurch<br />
die Konkurrenz beseitigt wird, könnte dies <strong>de</strong>n von <strong>de</strong>n Ameisen<br />
gezogenen Pilzen nützen. Man könnte sagen, daß eine<br />
Art wechselseitiger Altruismus zwischen Ameisen und Pilzen<br />
besteht. Es ist bemerkenswert, daß sich bei Termiten, die nicht<br />
im geringsten mit ihnen verwandt sind, ein sehr ähnliches<br />
System <strong>de</strong>s „Pilzanbaus“ entwickelt hat.<br />
Ameisen kultivieren nicht nur Pflanzen, sie haben auch ihre<br />
eigenen Haustiere. Blattläuse sind hochspezialisierte Pflanzen-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 281<br />
sauger. Ihre Leistungsfähigkeit beim Heraussaugen <strong>de</strong>s Saftes<br />
aus <strong>de</strong>n Leitungsbahnen <strong>de</strong>r Pflanzen ist recht g<strong>ro</strong>ß. Wenn sie<br />
anschließend <strong>de</strong>n Saft verdauen, schei<strong>de</strong>n sie eine Flüssigkeit<br />
aus, <strong>de</strong>r lediglich ein Teil ihres Nährwertes entzogen wor<strong>de</strong>n<br />
ist. An ihrem Hinteren<strong>de</strong> son<strong>de</strong>rn sie ständig Tröpfchen von<br />
zuckerreichem „Honigtau“ ab; manche schei<strong>de</strong>n p<strong>ro</strong> Stun<strong>de</strong><br />
mehr davon aus, als sie selbst wiegen. Der Honigtau regnet normalerweise<br />
auf <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n herunter – es ist sehr gut möglich,<br />
daß es sich bei <strong>de</strong>r als „Manna“ bezeichneten göttlichen Speise<br />
<strong>de</strong>s Alten Testaments um Honigtau gehan<strong>de</strong>lt hat. Aber es gibt<br />
mehrere Ameisenarten, die ihn auffangen, sobald er die Blattlaus<br />
verläßt. Die Ameisen „melken“ die Blattläuse, in<strong>de</strong>m sie<br />
mit ihren Fühlern und Beinen über <strong>de</strong>ren Hinterleib streichen.<br />
Die Blattläuse reagieren darauf; in einigen Fällen halten sie<br />
offensichtlich ihre Tröpfchen so lange zurück, bis eine Ameise<br />
sie berührt, o<strong>de</strong>r sie halten sogar ein Tröpfchen fest, <strong>wen</strong>n<br />
eine Ameise noch nicht bereit ist, es entgegenzunehmen. Es<br />
ist darauf hingewiesen wor<strong>de</strong>n, daß einige Blattläuse, um die<br />
Ameisen besser anzulocken, einen Hinterleib entwickelt haben,<br />
<strong>de</strong>r wie das Gesicht einer Ameise aussieht und sich auch so<br />
anfühlt. Was die Blattläuse aus <strong>de</strong>r Beziehung zu gewinnen<br />
haben, ist anscheinend Schutz vor ihren natürlichen Fein<strong>de</strong>n.<br />
Wie unser Milchvieh führen sie ein geschütztes Leben, und<br />
Blattlausarten, die häufig von Ameisen kultiviert wer<strong>de</strong>n,<br />
haben ihre üblichen Verteidigungsmechanismen eingebüßt. In<br />
einigen Fällen pflegen die Ameisen die Blattlauseier in ihren<br />
eigenen unterirdischen Nestern, füttern die jungen Blattläuse<br />
und tragen sie schließlich, <strong>wen</strong>n sie erwachsen sind, vorsichtig<br />
auf die geschützten Wei<strong>de</strong>flächen hinaus.<br />
Eine Beziehung zum gegenseitigen Nutzen zwischen<br />
Angehörigen verschie<strong>de</strong>ner Arten wird als Mutualismus o<strong>de</strong>r<br />
Symbiose bezeichnet. Angehörige verschie<strong>de</strong>ner Arten haben<br />
einan<strong>de</strong>r häufig viel zu bieten, da sie unterschiedliche „Fertigkeiten“<br />
in die Partnerschaft einbringen können. Eine <strong>de</strong>rartige<br />
grundlegen<strong>de</strong> Asymmetrie kann zu evolutionär stabilen<br />
Strategien gegenseitiger Zusammenarbeit führen. Blattläuse<br />
haben die richtige Art von Mundwerkzeugen, um Pflanzensaft
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 282<br />
zu saugen, aber zum Saugen geeignete Mundwerkzeuge sind<br />
nicht gut für die Selbstverteidigung. Ameisen wie<strong>de</strong>rum sind<br />
nicht beson<strong>de</strong>rs gut darin, Saft aus Pflanzen herauszusaugen,<br />
aber sie verstehen sich aufs Kämpfen.<br />
Ameisengene für das Halten und Schützen von Blattläusen<br />
sind in Ameisengenpools begünstigt wor<strong>de</strong>n. Umgekehrt sind<br />
in Blattlausgenpools Gene für die Zusammenarbeit mit Ameisen<br />
geför<strong>de</strong>rt wor<strong>de</strong>n.<br />
Symbiotische Beziehungen zum gegenseitigen Nutzen sind<br />
unter Tieren und Pflanzen weit verbreitet. Eine Flechte scheint,<br />
oberflächlich betrachtet, eine einzelne Pflanze wie je<strong>de</strong> an<strong>de</strong>re<br />
zu sein. In Wirklichkeit ist sie jedoch eine enge symbiotische<br />
Verbindung zwischen einem Pilz und einer Alge. Keiner <strong>de</strong>r<br />
Partner könnte ohne <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren leben. Wäre ihre Verbindung<br />
noch ein kleines bißchen enger, so wären wir nicht mehr<br />
in <strong>de</strong>r Lage festzustellen, daß eine Flechte überhaupt ein Doppelorganismus<br />
ist. Vielleicht gibt es dann noch an<strong>de</strong>re aus zwei<br />
o<strong>de</strong>r mehr Partnern zusammengesetzte Organismen, die wir<br />
nicht als solche erkennen? Sind eventuell sogar wir selbst ein<br />
zusammengesetzter Organismus?<br />
In je<strong>de</strong>r einzelnen unserer Zellen gibt es zahlreiche winzige<br />
Körper, die Mitochondrien heißen. Die Mitochondrien sind<br />
chemische Fabriken; sie liefern uns <strong>de</strong>n größten Teil <strong>de</strong>r Energie,<br />
die wir verbrauchen. Wenn wir unsere Mitochondrien<br />
verlören, wären wir innerhalb von Sekun<strong>de</strong>n tot. Vor kurzem<br />
wur<strong>de</strong> glaubhaft die Ansicht vertreten, daß die Mitochondrien<br />
ihrem Ursprung nach symbiotische Bakterien sind, die sich<br />
bereits in einem sehr frühen Stadium <strong>de</strong>r Evolution mit unserem<br />
Zelltyp zusammengetan haben. Ähnliche Vermutungen<br />
sind in bezug auf an<strong>de</strong>re kleine Körper im Innern unserer<br />
Zellen geäußert wor<strong>de</strong>n. Dies ist einer jener revolutionären<br />
Gedanken, bei <strong>de</strong>nen man <strong>Zeit</strong> braucht, um sich an sie zu<br />
gewöhnen; aber es ist ein Gedanke, für <strong>de</strong>n die <strong>Zeit</strong> reif ist. Ich<br />
vermute, wir wer<strong>de</strong>n schließlich auch noch die radikalere I<strong>de</strong>e<br />
akzeptieren, daß je<strong>de</strong>s einzelne unserer Gene eine symbiotische<br />
Einheit ist. Wir sind gigantische Kolonien symbiotischer<br />
Gene. Man kann nicht eigentlich von „Beweisen“ für diese Vor-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 283<br />
stellung sprechen, aber sie ist – wie ich in <strong>de</strong>n vorangehen<strong>de</strong>n<br />
Kapiteln stellenweise anzu<strong>de</strong>uten versucht habe – tatsächlich<br />
unseren Vorstellungen von <strong>de</strong>r Wirkungsweise <strong>de</strong>r Gene bei<br />
Arten mit sexueller Fortpflanzung inhärent. Die an<strong>de</strong>re Seite<br />
<strong>de</strong>r Medaille ist, daß Viren Gene sein können, die von „Kolonien“,<br />
wie wir selbst eine sind, losgeb<strong>ro</strong>chen sind. Viren bestehen<br />
aus reiner DNA (o<strong>de</strong>r einem verwandten sich selbst replizieren<strong>de</strong>n<br />
Molekül), die von einer P<strong>ro</strong>teinhülle umgeben ist.<br />
Sie sind alle Parasiten. Es liegt nahe, daß sie sich aus „rebellieren<strong>de</strong>n“<br />
Genen entwickelt haben, die <strong>de</strong>m Körper entschlüpft<br />
sind und nun statt mit <strong>de</strong>n gebräuchlichen Vehikeln – <strong>de</strong>n<br />
Spermien und Eiern – unmittelbar durch die Luft von Körper<br />
zu Körper reisen. Wenn dies zutrifft, könnten wir uns ebensogut<br />
als eine Kolonie von Viren ansehen! Einige von ihnen<br />
arbeiten in Symbiose zusammen und bewegen sich in Samenund<br />
Eizellen von Körper zu Körper fort. Das sind die konventionellen<br />
„Gene“. An<strong>de</strong>re leben als Parasiten und reisen<br />
mit je<strong>de</strong>m verfügbaren Verkehrsmittel. Wenn die parasitäre<br />
DNA sich in Eiern und Spermien fortbewegt, dann bil<strong>de</strong>t<br />
sie vielleicht <strong>de</strong>n in Kapitel 3 erwähnten „paradoxen“ DNA-<br />
Überschuß. Bewegt sie sich durch die Luft o<strong>de</strong>r auf an<strong>de</strong>ren<br />
direkten Wegen fort, so heißt sie „Virus“ im üblichen Sinne.<br />
Doch dies sind Spekulationen für die Zukunft. Im Augenblick<br />
beschäftigen wir uns mit <strong>de</strong>r Symbiose auf <strong>de</strong>r höheren<br />
Ebene <strong>de</strong>r Beziehungen zwischen vielzelligen Organismen und<br />
nicht im Innern dieser Organismen. Das Wort Symbiose wird<br />
gewöhnlich für Verbindungen zwischen Angehörigen verschie<strong>de</strong>ner<br />
Arten gebraucht. Doch nach<strong>de</strong>m wir in diesem Buch die<br />
Vorstellung von <strong>de</strong>r Evolution „zum Wohle <strong>de</strong>r Art“ vermie<strong>de</strong>n<br />
haben, scheint es keinen logischen Grund zu geben, warum wir<br />
Verbindungen zwischen Angehörigen verschie<strong>de</strong>ner Arten und<br />
zwischen Angehörigen <strong>de</strong>rselben Art als getrennte Erscheinungen<br />
betrachten sollten. Im allgemeinen wer<strong>de</strong>n sich Verbindungen<br />
zum wechselseitigen Nutzen dann entwickeln, <strong>wen</strong>n<br />
je<strong>de</strong>r Partner mehr gewinnen kann, als er investiert. Dies<br />
gilt unabhängig davon, ob wir von Angehörigen <strong>de</strong>sselben<br />
Hyänenru<strong>de</strong>ls o<strong>de</strong>r von ganz verschie<strong>de</strong>nen Geschöpfen wie
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 284<br />
Ameisen und Blattläusen o<strong>de</strong>r Bienen und Blumen sprechen.<br />
In <strong>de</strong>r Praxis ist es möglicherweise schwierig, zwischen Fällen<br />
von echtem – in bei<strong>de</strong>n Richtungen wirksamem – wechselseitigem<br />
Nutzen und Fällen einseitiger Ausbeutung zu unterschei<strong>de</strong>n.<br />
Die Evolution symbiotischer Verbindungen ist theoretisch<br />
leicht vorstellbar, <strong>wen</strong>n die Vorteile gleichzeitig gegeben und<br />
entgegengenommen wer<strong>de</strong>n, wie im Falle <strong>de</strong>r Partner, die eine<br />
Flechte bil<strong>de</strong>n. P<strong>ro</strong>bleme entstehen jedoch da, wo zwischen<br />
<strong>de</strong>m Leisten eines Gefallens und seiner Erwi<strong>de</strong>rung ein zeitlicher<br />
Abstand liegt. Schließlich könnte <strong>de</strong>rjenige, <strong>de</strong>m zuerst<br />
ein Gefallen getan wird, in Versuchung geraten, zu betrügen<br />
und die Gegenleistung zu verweigern, <strong>wen</strong>n er an <strong>de</strong>r Reihe<br />
ist. Die Lösung dieses P<strong>ro</strong>blems ist interessant und verdient es,<br />
ausführlich erörtert zu wer<strong>de</strong>n. Ich kann dies am besten mit<br />
Hilfe eines hypothetischen Beispiels tun.<br />
Nehmen wir an, eine Vogelart wird von einer beson<strong>de</strong>rs<br />
unangenehmen Zeckensorte befallen, die eine gefährliche<br />
Krankheit überträgt. Es ist sehr wichtig, daß diese Zecken so<br />
bald wie möglich entfernt wer<strong>de</strong>n. Gewöhnlich kann ein Vogel<br />
sich diese Parasiten beim Gefie<strong>de</strong>rputzen selbst herausziehen.<br />
Es gibt jedoch eine Stelle – oben auf <strong>de</strong>m Kopf –, die er mit<br />
seinem Schnabel nicht erreichen kann. Die Lösung <strong>de</strong>s P<strong>ro</strong>blems<br />
fällt je<strong>de</strong>m Menschen sofort ein. Ein Individuum mag<br />
nicht in <strong>de</strong>r Lage sein, selbst an seinen Kopf heranzureichen,<br />
aber nichts ist leichter, als daß ein Freund das für es tut. Später,<br />
<strong>wen</strong>n <strong>de</strong>r Freund selbst von Parasiten geplagt wird, kann die<br />
gute Tat vergolten wer<strong>de</strong>n. Gegenseitige Hautpflege ist in <strong>de</strong>r<br />
Tat bei Vögeln wie auch Säugetieren sehr verbreitet.<br />
Dies ergibt intuitiv sofort einen Sinn. Je<strong>de</strong>s zu vorausschauen<strong>de</strong>m<br />
Denken fähige Geschöpf kann sich vorstellen,<br />
daß es vernünftig ist, Vereinbarungen zum gegenseitigen<br />
Rückenkratzen einzugehen. Aber wir haben gelernt, vorsichtig<br />
zu sein mit <strong>de</strong>m, was intuitiv vernünftig erscheint. Das Gen<br />
besitzt keine Voraussicht. Kann die Theorie <strong>de</strong>s egoistischen<br />
Gens eine Erklärung liefern für gegenseitiges Rückenkratzen<br />
o<strong>de</strong>r „Altruismus auf Gegenseitigkeit“ in Fällen, in <strong>de</strong>nen zwi-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 285<br />
schen <strong>de</strong>r guten Tat und <strong>de</strong>ren Vergeltung eine Verzögerung<br />
eintritt? Williams erörterte das P<strong>ro</strong>blem kurz in seinem 1966<br />
erschienenen Buch, auf das ich bereits hingewiesen habe. Er<br />
kam – wie schon Darwin – zu <strong>de</strong>m Schluß, daß wechselseitiger<br />
Altruismus sich bei Arten entwickeln kann, die in <strong>de</strong>r Lage<br />
sind, einan<strong>de</strong>r individuell zu erkennen. Trivers beschäftigte<br />
sich in seinem 1971 veröffentlichten Buch weiter mit <strong>de</strong>r Frage.<br />
Als er an <strong>de</strong>m Buch arbeitete, war Maynard Smiths Begriff<br />
<strong>de</strong>r evolutionär stabilen Strategie noch nicht geprägt. Hätte<br />
es ihn schon gegeben, so hätte Trivers meiner Meinung nach<br />
Gebrauch davon gemacht, <strong>de</strong>nn dieser Begriff bietet eine<br />
natürliche Möglichkeit, seine Gedanken auszudrücken. Trivers’<br />
Hinweis auf das „Gefangenendilemma“ – ein beliebtes<br />
Rätsel in <strong>de</strong>r Spieltheorie – zeigt, daß er bereits in <strong>de</strong>nselben<br />
Bahnen dachte.<br />
Nehmen wir an, B hat einen Parasiten oben auf <strong>de</strong>m Kopf.<br />
A entfernt diesen Parasiten. Später kommt <strong>de</strong>r <strong>Zeit</strong>punkt, an<br />
<strong>de</strong>m A einen Parasiten auf <strong>de</strong>m Kopf hat. Natürlich sucht<br />
er B auf, damit dieser ihm seine gute Tat vergelten kann. B<br />
aber rümpft lediglich die Nase und stolziert davon. B ist ein<br />
Betrüger, ein Individuum, das zwar <strong>de</strong>n Vorteil annimmt, <strong>de</strong>n<br />
die Selbstlosigkeit an<strong>de</strong>rer Individuen ihm bringt, das aber<br />
eine gute Tat nicht o<strong>de</strong>r nur unbefriedigend vergilt. Betrüger<br />
schnei<strong>de</strong>n besser ab als unkritische Altruisten, <strong>de</strong>nn sie bekommen<br />
die Vorteile, ohne <strong>de</strong>n Preis zu zahlen. Zwar erscheint<br />
<strong>de</strong>r Preis – einem an<strong>de</strong>ren Individuum <strong>de</strong>n Kopf zu säubern –<br />
gering im Vergleich zu <strong>de</strong>m Nutzen, einen gefährlichen Parasiten<br />
entfernt zu bekommen, aber er ist <strong>de</strong>nnoch nicht zu<br />
vernachlässigen. Er be<strong>de</strong>utet die Verausgabung einer gewissen<br />
Menge wertvoller Energie und <strong>Zeit</strong>.<br />
Lassen wir die Population aus Individuen bestehen, die sich<br />
jeweils eine von zwei Strategien zu eigen machen. Wie bei<br />
Maynard Smiths Analysen sprechen wir auch hier nicht von<br />
bewußten Strategien, son<strong>de</strong>rn von unbewußten, gengesteuerten<br />
Verhaltensp<strong>ro</strong>grammen. Nennen wir die bei<strong>de</strong>n Strategien<br />
„Betrüger“ und „Bet<strong>ro</strong>gener“. Die Bet<strong>ro</strong>genen säubern<br />
unterschiedslos je<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r es nötig hat. Die Betrüger nehmen
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 286<br />
von <strong>de</strong>n Bet<strong>ro</strong>genen Uneigennutz an, säubern aber selbst niemals<br />
jemand an<strong>de</strong>ren, nicht einmal jeman<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r zuvor sie<br />
gesäubert hat. Wie im Beispiel <strong>de</strong>r Falken und Tauben teilen wir<br />
willkürlich Prämienpunkte zu. Dabei kommt es nicht auf die<br />
genauen Werte an, solange <strong>de</strong>r Nutzen <strong>de</strong>s Gesäubertwer<strong>de</strong>ns<br />
die Kosten <strong>de</strong>s Säuberns überwiegt. Treten viele Parasiten<br />
auf, so kann je<strong>de</strong>r einzelne Bet<strong>ro</strong>gene in einer Population<br />
von Bet<strong>ro</strong>genen damit rechnen, daß er ungefähr ebensooft<br />
gesäubert wird, wie er selbst säubert. Die Durchschnittsprämie<br />
für einen Bet<strong>ro</strong>genen unter Bet<strong>ro</strong>genen ist daher positiv. Sie<br />
schnei<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Tat alle sehr gut ab, und das Wort Bet<strong>ro</strong>gener<br />
scheint unangebracht. Aber nehmen wir jetzt an, es trete<br />
ein Betrüger in <strong>de</strong>r Population auf. Da er <strong>de</strong>r einzige Betrüger<br />
ist, kann er damit rechnen, daß er von allen an<strong>de</strong>ren gesäubert<br />
wird; er selbst zahlt aber nichts zurück. Seine durchschnittliche<br />
Prämie liegt höher als <strong>de</strong>r Durchschnitt für einen Bet<strong>ro</strong>genen.<br />
Daher wer<strong>de</strong>n sich Betrügergene in <strong>de</strong>r Population auszubreiten<br />
beginnen. Bet<strong>ro</strong>genengene wer<strong>de</strong>n bald ausge<strong>ro</strong>ttet<br />
sein. Das liegt daran, daß die Betrüger immer besser abschnei<strong>de</strong>n<br />
als die Bet<strong>ro</strong>genen, unabhängig von ihrem Anteil an <strong>de</strong>r<br />
Gesamtpopulation. Betrachten wir beispielsweise <strong>de</strong>n Fall, daß<br />
die Population zu je 50 P<strong>ro</strong>zent aus Bet<strong>ro</strong>genen und Betrügern<br />
besteht. Die durchschnittliche Prämie wird sowohl für Bet<strong>ro</strong>gene<br />
als auch für Betrüger geringer sein als für ein Individuum<br />
in einer Population aus 100 P<strong>ro</strong>zent Bet<strong>ro</strong>genen. Aber<br />
die Betrüger wer<strong>de</strong>n immer noch besser abschnei<strong>de</strong>n als die<br />
Bet<strong>ro</strong>genen, da sie alle Vorteile – welche auch immer – erhalten<br />
und nichts vergelten. Wenn <strong>de</strong>r Anteil <strong>de</strong>r Betrüger 90 P<strong>ro</strong>zent<br />
erreicht, wird die durchschnittliche Prämie für alle Individuen<br />
sehr niedrig: Viele aus bei<strong>de</strong>n Kategorien mögen inzwischen<br />
an <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>n Zecken übertragenen Infektion erkrankt<br />
sein und im Sterben liegen. Aber immer noch schnei<strong>de</strong>n die<br />
Betrüger besser ab als die Bet<strong>ro</strong>genen. Selbst <strong>wen</strong>n die Population<br />
schließlich auszusterben d<strong>ro</strong>ht, wer<strong>de</strong>n die Bet<strong>ro</strong>genen zu<br />
keinem <strong>Zeit</strong>punkt besser abschnei<strong>de</strong>n als die Betrüger. Solange<br />
wir also nur diese bei<strong>de</strong>n Strategien in Betracht ziehen, kann<br />
nichts die Aus<strong>ro</strong>ttung <strong>de</strong>r Bet<strong>ro</strong>genen und sehr wahrschein-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 287<br />
lich sogar <strong>de</strong>n Untergang <strong>de</strong>r gesamten Population aufhalten.<br />
Nehmen wir jetzt aber an, es gäbe noch eine dritte Strategie,<br />
die wir <strong>de</strong>n „Nachtragen<strong>de</strong>n“ nennen. Nachtragen<strong>de</strong> säubern<br />
Frem<strong>de</strong> und Individuen, von <strong>de</strong>nen sie zuvor gesäubert wor<strong>de</strong>n<br />
sind. Wenn jedoch ein Individuum sie betrügt, so vergessen<br />
sie <strong>de</strong>n Vorfall nicht und ärgern sich: In Zukunft weigern<br />
sie sich, dieses Individuum zu säubern. In einer Population<br />
aus Nachtragen<strong>de</strong>n und Bet<strong>ro</strong>genen kann man unmöglich<br />
feststellen, wer was ist. Bei<strong>de</strong> Typen verhalten sich je<strong>de</strong>m<br />
gegenüber altruistisch, und bei<strong>de</strong> verdienen die gleiche hohe<br />
Durchschnittsprämie. In einer weitgehend aus Betrügern<br />
bestehen<strong>de</strong>n Population wäre ein einziger Nachtragen<strong>de</strong>r nicht<br />
sehr erfolgreich. Er wür<strong>de</strong> sehr viel Energie darauf ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>n,<br />
die Mehrzahl <strong>de</strong>r Individuen, die er trifft, zu säubern – <strong>de</strong>nn<br />
es wür<strong>de</strong> eine Weile dauern, bis er über sie alle verärgert ist.<br />
An<strong>de</strong>rerseits wür<strong>de</strong> niemand ihm als Gegenleistung die Parasiten<br />
entfernen. Wenn die Nachtragen<strong>de</strong>n im Verhältnis zu<br />
<strong>de</strong>n Betrügern selten sind, wird das Gen für Nachtragen aussterben.<br />
Ist es <strong>de</strong>n Nachtragen<strong>de</strong>n aber erst einmal gelungen,<br />
ihre Zahl bis auf einen kritischen Anteil an <strong>de</strong>r Population zu<br />
vergrößern, dann wird ihre Chance, auf ihresgleichen zu treffen,<br />
so g<strong>ro</strong>ß, daß die mit <strong>de</strong>r Hautpflege von Betrügern<br />
vergeu<strong>de</strong>te Anstrengung ausgeglichen wird. Ist dieser kritische<br />
P<strong>ro</strong>zentsatz erreicht, so beginnen sie durchschnittlich höhere<br />
Prämien zu kassieren als die Betrüger, und diese wer<strong>de</strong>n sich<br />
mit zunehmen<strong>de</strong>r Geschwindigkeit <strong>de</strong>m Aussterben nähern.<br />
Kurz bevor die Betrüger verschwun<strong>de</strong>n sind, wird ihr Rückgang<br />
langsamer, und als eine Min<strong>de</strong>rheit können sie ziemlich lange<br />
überleben. Das liegt daran, daß für je<strong>de</strong>n einzelnen seltenen<br />
Betrüger die Wahrscheinlichkeit, zweimal auf <strong>de</strong>nselben Nachtragen<strong>de</strong>n<br />
zu treffen, nur klein ist: Daher wird in <strong>de</strong>r Population<br />
<strong>de</strong>r Anteil <strong>de</strong>r Individuen, die gegen einen bestimmten<br />
Betrüger einen G<strong>ro</strong>ll hegen, klein sein.<br />
Ich habe das Schicksal dieser Strategien so dargestellt, als<br />
ob intuitiv kein Zweifel daran bestehen könne, was geschehen<br />
wür<strong>de</strong>. In Wirklichkeit ist dies keineswegs <strong>de</strong>rart offensichtlich,<br />
und ich habe die Abläufe sicherheitshalber im Computer simu-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 288<br />
liert, um zu überprüfen, ob die Intuition richtig war. Es stellt<br />
sich heraus, daß Nachtragen<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Tat eine evolutionär<br />
stabile Strategie gegenüber Betrügern und Bet<strong>ro</strong>genen ist in<br />
<strong>de</strong>m Sinne, daß in eine weitgehend aus Nachtragen<strong>de</strong>n bestehen<strong>de</strong><br />
Population we<strong>de</strong>r Betrüger noch Bet<strong>ro</strong>gene eindringen<br />
wer<strong>de</strong>n. Doch Betrüger ist ebenfalls eine ESS, weil es keinem<br />
Nachtragen<strong>de</strong>n und auch keinem Bet<strong>ro</strong>genen gelingen wird,<br />
in eine überwiegend aus Betrügern bestehen<strong>de</strong> Population<br />
einzuwan<strong>de</strong>rn. Eine Population könnte je<strong>de</strong> dieser bei<strong>de</strong>n<br />
evolutionär stabilen Strategien dauerhaft verfolgen; langfristig<br />
gesehen könnte sie sogar zwischen ihnen wechseln. Je nach <strong>de</strong>n<br />
genauen Prämienwerten – die <strong>de</strong>r Simulation zugrun<strong>de</strong> gelegten<br />
Annahmen waren natürlich völlig willkürlich – wird jeweils<br />
einer <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n stabilen Zustän<strong>de</strong> eine größere „Attraktionszone“<br />
besitzen und mit größerer Wahrscheinlichkeit eintreten.<br />
Man beachte übrigens, daß eine Population von Betrügern<br />
zwar möglicherweise mit größerer Wahrscheinlichkeit ausstirbt<br />
als eine Population von Nachtragen<strong>de</strong>n, daß dies aber keineswegs<br />
ihren Status als ESS beeinträchtigt. Wenn eine Population<br />
bei einer ESS anlangt, die sie <strong>de</strong>m Untergang weiht, dann<br />
geht sie eben unter, da ist nichts zu machen. 4<br />
Es ist recht amüsant, eine Computersimulation zu verfolgen,<br />
die von einer starken Mehrheit von Bet<strong>ro</strong>genen, einer<br />
gera<strong>de</strong> oberhalb <strong>de</strong>r kritischen Grenze liegen<strong>de</strong>n Min<strong>de</strong>rheit<br />
von Nachtragen<strong>de</strong>n und einer ungefähr gleich g<strong>ro</strong>ßen Min<strong>de</strong>rheit<br />
von Betrügern ausgeht. Zunächst kommt es zu einem<br />
dramatischen Einbruch in <strong>de</strong>r Population <strong>de</strong>r Bet<strong>ro</strong>genen,<br />
und zwar als Folge <strong>de</strong>r rücksichtslosen Ausbeutung durch<br />
die Betrüger. Die Betrüger erfreuen sich eines stürmischen<br />
Bevölkerungswachstums und erreichen ihren Höhepunkt<br />
gera<strong>de</strong> in <strong>de</strong>m Moment, in <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r letzte Bet<strong>ro</strong>gene stirbt.<br />
Aber die Betrüger haben noch mit <strong>de</strong>n Nachtragen<strong>de</strong>n zu rechnen.<br />
Während <strong>de</strong>s steilen Nie<strong>de</strong>rgangs <strong>de</strong>r Bet<strong>ro</strong>genen hat die<br />
Zahl <strong>de</strong>r Nachtragen<strong>de</strong>n unter <strong>de</strong>m Angriff <strong>de</strong>r sich prächtig<br />
entwickeln<strong>de</strong>n Betrüger langsam abgenommen, aber sie sind<br />
gera<strong>de</strong> noch in <strong>de</strong>r Lage, ihre Stellung zu behaupten. Nach<strong>de</strong>m<br />
<strong>de</strong>r letzte Bet<strong>ro</strong>gene dahingegangen ist und die Betrüger
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 289<br />
mit ihrer egoistischen Ausbeutung nicht mehr so leicht ungestraft<br />
davonkommen, beginnen die Nachtragen<strong>de</strong>n langsam<br />
auf Kosten <strong>de</strong>r Betrüger zuzunehmen. Ihr Bevölkerungsanstieg<br />
gewinnt beständig an Schwung. Er wird immer steiler; die<br />
Betrügerbevölkerung stürzt fast bis zur Aus<strong>ro</strong>ttung ab und<br />
fängt sich dann, weil sie die Vorzüge <strong>de</strong>r Seltenheit genießt, die<br />
vor allem darin bestehen, daß <strong>de</strong>r einzelne Betrüger vom Zorn<br />
<strong>de</strong>r Nachtragen<strong>de</strong>n relativ frei ist. Langsam und unerbittlich<br />
jedoch gehen die Betrüger <strong>de</strong>m Untergang entgegen, und die<br />
Nachtragen<strong>de</strong>n bleiben als alleinige Sieger zurück. Paradoxerweise<br />
be<strong>de</strong>utet die Anwesenheit <strong>de</strong>r Bet<strong>ro</strong>genen tatsächlich zu<br />
Beginn <strong>de</strong>r Entwicklung eine Gefahr für die Nachtragen<strong>de</strong>n,<br />
da sie für <strong>de</strong>n vorübergehen<strong>de</strong>n Aufschwung <strong>de</strong>r Betrüger verantwortlich<br />
sind.<br />
Nebenbei gesagt ist mein hypothetisches Beispiel von <strong>de</strong>n<br />
Gefahren <strong>de</strong>s Nichtgesäubertwer<strong>de</strong>ns recht glaubhaft. Isoliert<br />
gehaltene Mäuse neigen dazu, unangenehme Entzündungen<br />
an <strong>de</strong>n Stellen <strong>de</strong>s Kopfes zu entwickeln, die sie nicht erreichen<br />
können. Bei einer Untersuchung zeigte sich, daß Mäuse,<br />
die in Gruppen gehalten wur<strong>de</strong>n, nicht auf diese Weise litten,<br />
da sie sich gegenseitig die Köpfe leckten. Es wäre interessant,<br />
die Theorie <strong>de</strong>s Altruismus auf Gegenseitigkeit experimentell<br />
zu testen, und es sieht so aus, als seien Mäuse die geeigneten<br />
Objekte dafür.<br />
Trivers behan<strong>de</strong>lt die bemerkenswerte Symbiose <strong>de</strong>r Putzerfische.<br />
Von etwa 50 Arten, zu <strong>de</strong>nen kleine Fische und Garnelen<br />
gehören, weiß man, daß sie sich von Parasiten ernähren, die sie<br />
vom Körper größerer Fische an<strong>de</strong>rer Arten ablesen. Die g<strong>ro</strong>ßen<br />
Fische p<strong>ro</strong>fitieren offensichtlich von <strong>de</strong>r Säuberungsaktion,<br />
und die „Putzer“ bekommen eine gute Mahlzeit. Die Beziehung<br />
ist symbiotischer Natur. In vielen Fällen öffnen die g<strong>ro</strong>ßen<br />
Fische ihr Maul und lassen die Putzer gera<strong>de</strong>wegs hineinschwimmen,<br />
wo sie ihnen in <strong>de</strong>n Zähnen herumstochern, um<br />
dann durch die Kiemen wie<strong>de</strong>r hinauszuschwimmen, die sie<br />
ebenfalls saubermachen. Man könnte erwarten, daß ein g<strong>ro</strong>ßer<br />
Fisch so listig ist, daß er abwartet, bis er gründlich gesäubert<br />
wor<strong>de</strong>n ist, und dann <strong>de</strong>n Putzer verschlingt. Doch statt <strong>de</strong>ssen
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 290<br />
läßt er gewöhnlich <strong>de</strong>n Putzer ungeschoren davonschwimmen.<br />
Das ist ein Meisterstück augenscheinlicher Selbstlosigkeit,<br />
<strong>de</strong>nn in vielen Fällen ist <strong>de</strong>r Putzer genauso g<strong>ro</strong>ß wie die<br />
übliche Beute <strong>de</strong>s Fisches.<br />
Putzerfische haben beson<strong>de</strong>re Streifenmuster und führen<br />
spezielle Tänze auf, die sie als Putzer erkenntlich machen. Die<br />
g<strong>ro</strong>ßen Fische sehen gewöhnlich davon ab, kleine Fische zu<br />
verzehren, die die richtige Art von Streifen besitzen und sich<br />
ihnen mit <strong>de</strong>r richtigen Art von Tanz nähern. Vielmehr verharren<br />
sie in einem tranceähnlichen Zustand und gestatten <strong>de</strong>m<br />
Putzer freien Zugang zu ihrem Äußeren und Inneren. Wie die<br />
egoistischen Gene nun einmal sind, ist es nicht weiter verwun<strong>de</strong>rlich,<br />
daß rücksichtslose, ausbeuterische Betrüger sich<br />
dies zunutze gemacht haben. Es gibt kleine Fischarten, die<br />
ganz genauso aussehen wie Putzer und dieselbe Art von Tanz<br />
vollführen, um sich gefahrlos einem g<strong>ro</strong>ßen Fisch nähern zu<br />
können. Wenn dieser aber in seine erwartungsvolle Trance<br />
verfallen ist, beißt <strong>de</strong>r Betrüger, statt einen Parasiten zu entfernen,<br />
ein Stück aus <strong>de</strong>r Flosse <strong>de</strong>s g<strong>ro</strong>ßen Fisches heraus<br />
und tritt einen hastigen Rückzug an. Ungeachtet <strong>de</strong>r Betrüger<br />
ist die Beziehung zwischen Fischputzern und ihren Klienten<br />
jedoch meistens freundschaftlich und beständig. Der Beruf <strong>de</strong>r<br />
Putzer spielt im täglichen Leben <strong>de</strong>r Korallenriffgemeinschaft<br />
eine wichtige Rolle. Je<strong>de</strong>r Putzer hat sein eigenes Territorium,<br />
und man hat g<strong>ro</strong>ße Fische beobachtet, die wie Kun<strong>de</strong>n vor<br />
einem Friseurla<strong>de</strong>n Schlange stan<strong>de</strong>n, um bedient zu wer<strong>de</strong>n.<br />
Wahrscheinlich ist es diese Ortstreue, die in diesem Fall die<br />
Evolution von verzögertem Altruismus auf Gegenseitigkeit<br />
möglich macht. Der Nutzen, <strong>de</strong>n ein g<strong>ro</strong>ßer Fisch davon hat,<br />
daß er wie<strong>de</strong>rholt zu <strong>de</strong>mselben „Friseurla<strong>de</strong>n“ zurückkommen<br />
kann, statt immer wie<strong>de</strong>r nach einem neuen suchen zu müssen,<br />
muß die Kosten aufwiegen, die <strong>de</strong>r Verzicht auf das Verspeisen<br />
<strong>de</strong>s Putzers be<strong>de</strong>utet. Da Putzerfische klein sind, ist das nicht<br />
schwer einzusehen. Die Existenz betrügerischer Nachahmer<br />
<strong>de</strong>r Putzerfische bringt wahrscheinlich indirekt die aufrichtigen<br />
Putzer in Gefahr, da sie einen geringfügigen Druck<br />
auf g<strong>ro</strong>ße Fische ausübt, gestreifte, einen Tanz aufführen<strong>de</strong>
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 291<br />
Fischchen zu verzehren. Ortstreue seitens <strong>de</strong>r echten Putzer<br />
ermöglicht es <strong>de</strong>n Kun<strong>de</strong>n, sie zu fin<strong>de</strong>n und Betrüger zu<br />
mei<strong>de</strong>n.<br />
Beim Menschen sind langes Erinnerungsvermögen und die<br />
Fähigkeit, Individuen zu erkennen, gut entwickelt. Dies berechtigt<br />
uns zu <strong>de</strong>r Vermutung, daß <strong>de</strong>r gegenseitige Altruismus<br />
bei <strong>de</strong>r Entwicklung <strong>de</strong>s Menschen eine be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong> Rolle<br />
gespielt hat. Trivers hält es sogar für möglich, daß viele<br />
<strong>de</strong>r für unsere Art charakteristischen Empfindungen – Neid,<br />
Schuldgefühle, Dankbarkeit, Sympathie und so weiter – von <strong>de</strong>r<br />
natürlichen Auslese geformt wor<strong>de</strong>n sind, damit <strong>de</strong>r Mensch<br />
besser betrügen, Betrügereien ent<strong>de</strong>cken sowie vermei<strong>de</strong>n<br />
kann, für einen Betrüger gehalten zu wer<strong>de</strong>n. Von beson<strong>de</strong>rem<br />
Interesse sind die „raffinierten Betrüger“, bei <strong>de</strong>nen es so<br />
aussieht, als revanchierten sie sich, die aber durchweg etwas<br />
<strong>wen</strong>iger zurückzahlen, als sie erhalten. Es ist sogar möglich,<br />
daß sich das vergrößerte Gehirn <strong>de</strong>s Menschen und seine Veranlagung<br />
für mathematisches Denken als ein Mechanismus<br />
immer ausgefalleneren Betrügens und immer scharfsinnigeren<br />
Erkennens von Betrug bei an<strong>de</strong>ren herausgebil<strong>de</strong>t hat.<br />
Geld ist ein formales Symbol für <strong>de</strong>n verzögerten gegenseitigen<br />
Altruismus.<br />
Den faszinieren<strong>de</strong>n Spekulationen, welche <strong>de</strong>r Gedanke <strong>de</strong>s<br />
wechselseitigen Altruismus heraufbeschwört, <strong>wen</strong>n wir ihn auf<br />
unsere eigene Spezies an<strong>wen</strong><strong>de</strong>n, sind keine Grenzen gesetzt.<br />
Doch so verlockend es auch ist, bei solchen Gedankenspielereien<br />
bin ich nicht besser als je<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re auch, und ich<br />
überlasse es <strong>de</strong>m Leser, sich selbst damit zu amüsieren.
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 292<br />
11. Meme, die neuen Replikatoren<br />
Bisher habe ich nicht viel über <strong>de</strong>n Menschen im beson<strong>de</strong>ren<br />
gesagt, obwohl ich ihn an<strong>de</strong>rerseits auch nicht bewußt ausgeschlossen<br />
habe. Wenn ich <strong>de</strong>n Ausdruck „Überlebensmaschine“<br />
benutzt habe, so zum Teil <strong>de</strong>shalb, weil das Wort „Tier“ die<br />
Pflanzen und in <strong>de</strong>n Augen einiger auch <strong>de</strong>n Menschen ausgeklammert<br />
hätte. Die Argumente, die ich vorgebracht habe,<br />
müßten auf <strong>de</strong>n ersten Blick gesehen auf je<strong>de</strong>s durch Evolution<br />
entstan<strong>de</strong>ne Wesen zutreffen. Wenn eine Art ausgenommen<br />
wer<strong>de</strong>n soll, so muß es dafür gute Grün<strong>de</strong> geben. Gibt<br />
es gute Grün<strong>de</strong> für die Vermutung, daß unsere eigene Spezies<br />
einzigartig ist? Ich glaube, die Antwort lautet ja.<br />
Ein G<strong>ro</strong>ßteil <strong>de</strong>ssen, was am Menschen ungewöhnlich ist,<br />
läßt sich in einem einzigen Wort zusammenfassen: „Kultur“.<br />
Ich ver<strong>wen</strong><strong>de</strong> das Wort nicht in seinem snobistischen Sinne,<br />
son<strong>de</strong>rn so, wie ein Wissenschaftler es benutzt. Die kulturelle<br />
Überlieferung ist <strong>de</strong>r genetischen Vererbung insofern ähnlich,<br />
als sie zwar im wesentlichen konservativ ist, aber <strong>de</strong>nnoch eine<br />
Form von Evolution hervorrufen kann. Der englische Dichter<br />
Geoffrey Chaucer könnte mit einem Englän<strong>de</strong>r von heute keine<br />
Unterhaltung führen, obwohl die bei<strong>de</strong>n durch eine ununterb<strong>ro</strong>chene<br />
Kette von etwa 20 Generationen miteinan<strong>de</strong>r verbun<strong>de</strong>n<br />
sind, von <strong>de</strong>nen je<strong>de</strong> sich mit ihren unmittelbaren Nachbarn<br />
in <strong>de</strong>r Generationenfolge wie Vater und Sohn unterhalten<br />
konnte. In <strong>de</strong>r Sprache scheint es eine nichtgenetische „Evolution“<br />
zu geben, und diese verläuft um ein Vielfaches schneller<br />
als die genetische Evolution.<br />
Kulturelle Vererbung gibt es nicht nur beim Menschen. Das<br />
beste nicht auf Menschen bezogene Beispiel, das ich kenne,<br />
hat kürzlich P. F. Jenkins beschrieben. Es ist <strong>de</strong>r Gesang eines<br />
Vogels, <strong>de</strong>s Neuseeland-Lappenstares, <strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>n Inseln vor<br />
<strong>de</strong>r neuseeländischen Küste lebt. Auf <strong>de</strong>r Insel, auf <strong>de</strong>r Jenkins<br />
arbeitete, gab es im ganzen ein Repertoire von etwa neun verschie<strong>de</strong>nen<br />
Melodien. Je<strong>de</strong>s Männchen beherrschte nur eine<br />
o<strong>de</strong>r ein paar dieser Melodien. Die Männchen ließen sich in
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 293<br />
Dialektgruppen einteilen. Zum Beispiel sang eine Gruppe von<br />
acht Männchen mit benachbarten Revieren ein spezielles Lied,<br />
das Jenkins die CC-Melodie nannte. An<strong>de</strong>re Dialektgruppen<br />
sangen davon abweichen<strong>de</strong> Melodien. Zuweilen hatten die<br />
Angehörigen einer Dialektgruppe mehr als einen charakteristischen<br />
Gesang gemeinsam. Durch Vergleichen <strong>de</strong>r Melodien<br />
von Vätern und Söhnen zeigte Jenkins, daß die Gesangsmuster<br />
nicht genetisch ererbt waren. Wahrscheinlich übernahm<br />
je<strong>de</strong>s junge Männchen durch Nachahmung Gesänge von seinen<br />
Reviernachbarn, auf eine ähnliche Weise, wie dies auch bei <strong>de</strong>r<br />
menschlichen Sprache geschieht. Fast während <strong>de</strong>r gesamten<br />
<strong>Zeit</strong>, die Jenkins dort verbrachte, gab es auf <strong>de</strong>r Insel eine<br />
feststehen<strong>de</strong> Zahl von Melodien, eine Art „Melodiepool“, aus<br />
<strong>de</strong>m je<strong>de</strong>s junge Männchen sein eigenes kleines Repertoire<br />
schöpfte. Hin und wie<strong>de</strong>r hatte Jenkins das Glück, die „Erfindung“<br />
eines neuen Gesangs mitzuerleben, <strong>de</strong>r durch einen<br />
Fehler bei <strong>de</strong>r Nachahmung einer alten Melodie entstand. Er<br />
schreibt: „Wie gezeigt wur<strong>de</strong>, entstehen neue Gesangsformen<br />
auf verschie<strong>de</strong>ne Weise durch Verän<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Tonhöhe, Wie<strong>de</strong>rholung<br />
eines Tones, Auslassung von Tönen und Verknüpfung<br />
von Teilen an<strong>de</strong>rer bestehen<strong>de</strong>r Lie<strong>de</strong>r ... Das Auftreten einer<br />
neuen Form war ein plötzliches Ereignis, und das P<strong>ro</strong>dukt blieb<br />
für eine Reihe von Jahren ziemlich unverän<strong>de</strong>rt. Außer<strong>de</strong>m<br />
wur<strong>de</strong> in einer Reihe von Fällen die Variante in ihrer neuen<br />
Gestalt an junge Sänger weitergegeben, so daß sich eine<br />
erkennbar kohärente Gruppe von Individuen mit ähnlichem<br />
Gesang entwickelte.“ Jenkins bezeichnet die Entstehung neuer<br />
Melodien als „kulturelle Mutation“.<br />
Der Gesang <strong>de</strong>r Neuseeland-Lappenstare entwickelt sich in<br />
<strong>de</strong>r Tat auf nichtgenetische Weise. Es gibt noch an<strong>de</strong>re Beispiele<br />
kultureller Evolution bei Vögeln und Affen, doch sie sind<br />
lediglich interessante Kuriositäten. Unsere eigene Art ist es, die<br />
wirklich zeigt, was die kulturelle Evolution zu leisten vermag.<br />
Die Sprache ist nur ein Beispiel unter vielen. Klei<strong>de</strong>rmo<strong>de</strong><br />
und Ernährungsgewohnheiten, Zeremonien und Brauchtum,<br />
Kunst und Architektur, Ingenieurwesen und Technologie – sie<br />
alle entwickeln sich im Verlauf <strong>de</strong>r geschichtlichen <strong>Zeit</strong> auf
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 294<br />
eine Art und Weise, die wie gewaltig beschleunigte genetische<br />
Evolution aussieht, in Wirklichkeit jedoch nichts mit genetischer<br />
Evolution zu tun hat. Doch wie bei <strong>de</strong>r genetischen Evolution<br />
kann Verän<strong>de</strong>rung auch hier Fortschritt be<strong>de</strong>uten. In<br />
gewissem Sinne ist die mo<strong>de</strong>rne Wissenschaft <strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Altertums<br />
überlegen. Unser Verständnis <strong>de</strong>s Universums verän<strong>de</strong>rt<br />
sich im Laufe <strong>de</strong>r Jahrhun<strong>de</strong>rte nicht nur, es verbessert sich.<br />
Zugegeben, die gegenwärtige stürmische Entwicklung reicht<br />
nicht weiter als bis zur Renaissance zurück; davor lag eine<br />
düstere Perio<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Stagnation, in <strong>de</strong>r die eu<strong>ro</strong>päische wissenschaftliche<br />
Kultur auf <strong>de</strong>m von <strong>de</strong>n Griechen erreichten<br />
Niveau eingef<strong>ro</strong>ren war. Aber auch die genetische Evolution<br />
kann, wie wir in Kapitel 5 gesehen haben, die Gestalt einer<br />
Reihe plötzlicher Sprünge von einem stabilen Niveau zu einem<br />
an<strong>de</strong>ren annehmen.<br />
Die Ähnlichkeit zwischen kultureller und genetischer Evolution<br />
ist häufig hervorgehoben wor<strong>de</strong>n, gelegentlich in Rahmen<br />
gänzlich unnötiger mystischer Gedankenverbindungen. Die<br />
Ähnlichkeit zwischen wissenschaftlichem Fortschritt und genetischer<br />
Evolution durch natürliche Auslese hat insbeson<strong>de</strong>re<br />
Sir Karl Popper erläutert. Ich möchte sogar noch weitergehen,<br />
und zwar in Richtungen, die auch von an<strong>de</strong>ren erforscht<br />
wer<strong>de</strong>n, beispielsweise von <strong>de</strong>m Genetiker L. L. Cavalli-Sforza,<br />
<strong>de</strong>m Anth<strong>ro</strong>pologen F. T. Cloak und <strong>de</strong>m Ethologen J. M.<br />
Cullen.<br />
Als enthusiastischen Anhänger <strong>de</strong>r Darwinschen Lehre<br />
befriedigen mich die Erklärungen nicht, die meine begeisterten<br />
Mit-Darwinisten für das Verhalten <strong>de</strong>r Menschen vorgebracht<br />
haben. Sie haben in verschie<strong>de</strong>nen Attributen <strong>de</strong>r menschlichen<br />
Zivilisation „biologische Vorteile“ ausfindig zu machen<br />
versucht. Beispielsweise verstehen sie die Stammesreligionen<br />
als einen Mechanismus zur Festigung <strong>de</strong>r Gruppeni<strong>de</strong>ntität –<br />
nützlich für eine im Ru<strong>de</strong>l jagen<strong>de</strong> Spezies, bei <strong>de</strong>r je<strong>de</strong>s Individuum<br />
beim Erlegen g<strong>ro</strong>ßer und schneller Beutetiere auf die<br />
Zusammenarbeit mit an<strong>de</strong>ren angewiesen ist. Häufig gehen<br />
solche Theorien aus einer Vorstellung <strong>de</strong>r Evolution hervor,<br />
die stillschweigend auf <strong>de</strong>r Gruppenselektion beruht, aber
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 295<br />
sie lassen sich auch im Sinne <strong>de</strong>r orthodoxen Genselektion<br />
umformulieren. Es ist gut möglich, daß <strong>de</strong>r Mensch während<br />
eines G<strong>ro</strong>ßteiles <strong>de</strong>r letzten Jahrmillionen in kleinen Verwandtschaftsgruppen<br />
gelebt hat. Es mag sein, daß die Einwirkung<br />
<strong>de</strong>r Verwandtschaftsselektion sowie <strong>de</strong>r Selektion zugunsten<br />
<strong>de</strong>s gegenseitigen Altruismus auf die menschlichen Gene viele<br />
unserer grundlegen<strong>de</strong>n psychischen Merkmale und Neigungen<br />
hervorgebracht hat. Diese Vorstellungen an sich sind plausibel,<br />
aber meiner Meinung nach sind sie auch nicht im entferntesten<br />
<strong>de</strong>r gewaltigen Herausfor<strong>de</strong>rung gewachsen, eine<br />
Erklärung für die Kultur, die kulturelle Entwicklung und die<br />
ungeheuren Unterschie<strong>de</strong> zwischen <strong>de</strong>n menschlichen Kulturen<br />
überall auf <strong>de</strong>r Welt zu liefern, von <strong>de</strong>m krassen Egoismus<br />
<strong>de</strong>r Ik in Uganda, wie er von Colin Turnbull beschrieben<br />
wor<strong>de</strong>n ist, bis hin zu <strong>de</strong>r sanften Uneigennützigkeit von Margaret<br />
Meads Arapesh-Indianern. Ich glaube, wir müssen neu<br />
beginnen und ganz an <strong>de</strong>n Anfang zurückgehen. Die folgen<strong>de</strong><br />
Aussage mag überraschen, da sie vom Autor <strong>de</strong>r vorigen Kapitel<br />
kommt: Ich behaupte, daß wir uns, um die Evolution <strong>de</strong>s<br />
mo<strong>de</strong>rnen Menschen verstehen zu können, zunächst davon<br />
freimachen müssen, das Gen als die einzige Grundlage unserer<br />
Vorstellung von Evolution anzusehen. Ich bin ein begeisterter<br />
Darwinist, aber ich glaube, <strong>de</strong>r Darwinismus ist eine zu gewaltige<br />
Theorie, als daß man ihn auf <strong>de</strong>n engen Rahmen <strong>de</strong>s Gens<br />
beschränken könnte. Ich wer<strong>de</strong> das Gen als ein Analogon in<br />
meine These einbeziehen, nicht mehr.<br />
Was ist im Grun<strong>de</strong> so Beson<strong>de</strong>res an <strong>de</strong>n Genen? Die Antwort<br />
lautet: die Tatsache, daß sie Replikatoren sind. Von <strong>de</strong>n<br />
Gesetzen <strong>de</strong>r Physik nimmt man an, daß sie im gesamten<br />
bekannten Universum gelten. Gibt es irgendwelche Grundsätze<br />
<strong>de</strong>r Biologie, bei <strong>de</strong>nen die Wahrscheinlichkeit besteht, daß sie<br />
eine ähnlich universelle Gültigkeit besitzen? Wenn Ast<strong>ro</strong>nauten<br />
auf <strong>de</strong>r Suche nach Leben zu fernen Planeten reisen, so<br />
können sie erwarten, Lebewesen vorzufin<strong>de</strong>n, die zu fremd<br />
und zu unirdisch sind, als daß wir sie uns vorstellen könnten.<br />
Aber gibt es nicht irgend etwas, das für alles Leben gelten<br />
muß, wo immer es auch gefun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n mag und was auch
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 296<br />
immer seine chemischen Grundbausteine sein mögen? Wenn<br />
Lebensformen bestehen, <strong>de</strong>ren chemische Struktur auf Silikon<br />
aufbaut und nicht auf Kohlenstoff, o<strong>de</strong>r auf Ammoniak<br />
und nicht auf Wasser, <strong>wen</strong>n Geschöpfe ent<strong>de</strong>ckt wer<strong>de</strong>n, die<br />
bei minus 100 Grad Celsius zu To<strong>de</strong> sie<strong>de</strong>n, <strong>wen</strong>n eine Form<br />
von Leben gefun<strong>de</strong>n wird, die überhaupt nicht auf Chemie<br />
beruht, son<strong>de</strong>rn auf elekt<strong>ro</strong>nischen Schwingkreisen, wird es<br />
dann immer noch irgen<strong>de</strong>in allgemeines Prinzip geben, das<br />
auf alles Leben zutrifft? Es ist offensichtlich, daß ich das<br />
nicht wissen kann, doch <strong>wen</strong>n ich mich für etwas entschei<strong>de</strong>n<br />
müßte, dann gibt es ein Grundprinzip, auf das ich setzen<br />
wür<strong>de</strong>. Nämlich auf das Gesetz, daß alles Leben sich durch <strong>de</strong>n<br />
unterschiedlichen Überlebenserfolg sich replizieren<strong>de</strong>r Einheiten<br />
entwickelt. 1 Das Gen, das Stückchen DNA, ist zufällig<br />
die Replikationseinheit, die auf unserem eigenen Planeten<br />
überwiegt. Es mag an<strong>de</strong>re geben. Wenn es an<strong>de</strong>re gibt, so<br />
wer<strong>de</strong>n sie – vorausgesetzt bestimmte zusätzliche Bedingungen<br />
sind erfüllt – fast unweigerlich zur Grundlage für einen<br />
evolutionären P<strong>ro</strong>zeß wer<strong>de</strong>n.<br />
Doch müssen wir uns in frem<strong>de</strong> Welten begeben, um an<strong>de</strong>re<br />
Replikatortypen und an<strong>de</strong>re, daraus resultieren<strong>de</strong> Arten von<br />
Evolution zu fin<strong>de</strong>n? Ich meine, daß auf diesem unserem Planeten<br />
kürzlich eine neue Art von Replikator aufgetreten ist.<br />
Zwar ist er noch jung, treibt noch unbeholfen in seiner Ursuppe<br />
herum, aber er ruft bereits evolutionären Wan<strong>de</strong>l hervor, und<br />
zwar mit einer Geschwindigkeit, die das gute alte Gen weit in<br />
<strong>de</strong>n Schatten stellt.<br />
Das neue Urmeer ist die „Suppe“ <strong>de</strong>r menschlichen Kultur.<br />
Wir brauchen einen Namen für <strong>de</strong>n neuen Replikator, ein Substantiv,<br />
das die Assoziation einer Einheit <strong>de</strong>r kulturellen Vererbung<br />
vermittelt, o<strong>de</strong>r eine Einheit <strong>de</strong>r Imitation. Von einer entsprechen<strong>de</strong>n<br />
griechischen Wurzel ließe sich das Wort „Mimem“<br />
ableiten, aber ich suche ein einsilbiges Wort, das ein <strong>wen</strong>ig wie<br />
„Gen“ klingt. Ich hoffe, meine klassisch gebil<strong>de</strong>ten Freun<strong>de</strong><br />
wer<strong>de</strong>n mir verzeihen, <strong>wen</strong>n ich Mimem zu Mem verkürze. 2<br />
Sollte es irgend jeman<strong>de</strong>m ein T<strong>ro</strong>st sein, so könnte er sich<br />
wahlweise vorstellen, daß es mit <strong>de</strong>m lateinischen memoria
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 297<br />
o<strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>m französischen Wort même verwandt ist.<br />
Beispiele für Meme sind Melodien, Gedanken, Schlagworte,<br />
Klei<strong>de</strong>rmo<strong>de</strong>n, die Art, Töpfe zu machen o<strong>de</strong>r Bögen zu bauen.<br />
So wie Gene sich im Genpool vermehren, in<strong>de</strong>m sie sich mit<br />
Hilfe von Spermien o<strong>de</strong>r Eizellen von Körper zu Körper fortbewegen,<br />
verbreiten sich Meme im Mempool, in<strong>de</strong>m sie von<br />
Gehirn zu Gehirn überspringen, vermittelt durch einen P<strong>ro</strong>zeß,<br />
<strong>de</strong>n man im weitesten Sinne als Imitation bezeichnen kann.<br />
Wenn ein Wissenschaftler einen guten Gedanken hört o<strong>de</strong>r<br />
liest, so gibt er ihn an seine Kollegen und Stu<strong>de</strong>nten weiter.<br />
Er erwähnt ihn in seinen Veröffentlichungen und Vorlesungen.<br />
Fin<strong>de</strong>t <strong>de</strong>r Gedanke neue Anhänger, so kann man sagen, daß er<br />
sich vermehrt, in<strong>de</strong>m er sich von einem Gehirn zum an<strong>de</strong>ren<br />
ausbreitet. Wie mein Kollege N. K. Humphrey einen früheren<br />
Entwurf dieses Kapitels treffend zusammenfaßte, sollten „<br />
...Meme ... als lebendige Strukturen verstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n, nicht<br />
nur im übertragenen, son<strong>de</strong>rn im technischen Sinne. 3 Wenn<br />
jemand ein fruchtbares Mem in meinen Geist einpflanzt, so<br />
setzt er mir im wahrsten Sinne <strong>de</strong>s Wortes einen Parasiten ins<br />
Gehirn und macht es auf genau die gleiche Weise zu einem<br />
Vehikel für die Verbreitung <strong>de</strong>s Mems, wie ein Virus dies mit<br />
<strong>de</strong>m genetischen Mechanismus einer Wirtszelle tut ... Und<br />
dies ist nicht einfach nur eine Re<strong>de</strong>weise – das Mem etwa<br />
für ›<strong>de</strong>n Glauben an das Leben nach <strong>de</strong>m Tod‹ ist tatsächlich<br />
viele Millionen Male physikalisch verwirklicht, nämlich als eine<br />
bestimmte Struktur in <strong>de</strong>n Nervensystemen von Menschen<br />
überall auf <strong>de</strong>r Welt.“<br />
Betrachten wir die I<strong>de</strong>e „Gott“. Wir wissen nicht, wie sie<br />
im Mempool entstan<strong>de</strong>n ist. Wahrscheinlich wur<strong>de</strong> sie viele Male<br />
durch voneinan<strong>de</strong>r unabhängige „Mutationen“ geboren. Auf<br />
je<strong>de</strong>n Fall ist sie wirklich sehr alt. Wie repliziert sie sich? Durch<br />
das gesp<strong>ro</strong>chene und geschriebene Wort, unterstützt von g<strong>ro</strong>ßer<br />
Musik und g<strong>ro</strong>ßer Kunst. Warum hat sie einen <strong>de</strong>rart hohen<br />
Überlebenswert? Denken wir daran, daß „Überlebenswert“<br />
hier nicht Wert für ein Gen im Genpool be<strong>de</strong>utet, son<strong>de</strong>rn Wert<br />
für ein Mem in einem Mempool. Die Frage heißt eigentlich:<br />
Was ist an <strong>de</strong>r Vorstellung von einem Gott so Beson<strong>de</strong>res, das
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 298<br />
ihr in <strong>de</strong>r kulturellen Umwelt ihre Beständigkeit und Wirksamkeit<br />
verleiht? Der Überlebenswert <strong>de</strong>s Gott-Mems im Mempool<br />
ergibt sich aus seiner g<strong>ro</strong>ßen psychologischen Anziehungskraft.<br />
Es liefert eine auf <strong>de</strong>n ersten Blick einleuchten<strong>de</strong> Antwort<br />
auf unergründliche und beunruhigen<strong>de</strong> Fragen über das<br />
Dasein. Es legt <strong>de</strong>n Gedanken nahe, daß Ungerechtigkeiten auf<br />
dieser Welt vielleicht in <strong>de</strong>r nächsten ausgeglichen wer<strong>de</strong>n. Die<br />
Arme <strong>de</strong>s ewigen Gottes geben uns in unserer Unzulänglichkeit<br />
einen Halt, <strong>de</strong>r – wie die Placebo-Pille <strong>de</strong>s Arztes – dadurch<br />
nicht <strong>wen</strong>iger wirksam wird, daß er nur in <strong>de</strong>r Vorstellung<br />
besteht. Dies sind einige <strong>de</strong>r Grün<strong>de</strong>, warum die I<strong>de</strong>e „Gott“ so<br />
bereitwillig von aufeinan<strong>de</strong>rfolgen<strong>de</strong>n Generationen individueller<br />
Gehirne kopiert wird. Gott existiert, und sei es auch nur<br />
in <strong>de</strong>r Gestalt eines Mems, das in <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r menschlichen<br />
Kultur geschaffenen Umwelt einen hohen Überlebenswert<br />
o<strong>de</strong>r eine hohe Ansteckungsfähigkeit besitzt.<br />
Einige meiner Kollegen haben mir zu verstehen gegeben,<br />
daß diese Darstellung <strong>de</strong>s Überlebenswertes <strong>de</strong>s Gott-Mems<br />
gera<strong>de</strong> das voraussetzt, was sie zu beweisen versucht. Letzten<br />
En<strong>de</strong>s wollen sie immer wie<strong>de</strong>r auf die „biologischen Vorteile“<br />
hinaus. Es reicht ihnen nicht, <strong>wen</strong>n ich sage, daß die I<strong>de</strong>e von<br />
<strong>de</strong>r Existenz eines Gottes „g<strong>ro</strong>ße psychologische Anziehungskraft“<br />
besitzt. Sie wollen wissen, warum das so ist. Psychologische<br />
Anziehungskraft be<strong>de</strong>utet Anziehungskraft für Gehirne,<br />
und Gehirne wer<strong>de</strong>n durch die natürliche Auslese von Genen<br />
im Genpool geformt. Sie wollen herausfin<strong>de</strong>n, auf welche Art<br />
und Weise <strong>de</strong>r Besitz eines <strong>de</strong>rartigen Gehirns das Überleben<br />
von Genen för<strong>de</strong>rt.<br />
Ich kann diese Haltung sehr gut verstehen, und ich selbst<br />
zweifle nicht daran, daß <strong>de</strong>r Besitz eines Gehirns wie <strong>de</strong>s unsrigen<br />
genetische Vorteile bringt. Nichts<strong>de</strong>sto<strong>wen</strong>iger glaube<br />
ich, daß diese Kollegen, <strong>wen</strong>n sie die Fundamente ihrer eigenen<br />
Thesen sorgfältig untersuchen, feststellen wer<strong>de</strong>n, daß<br />
sie genausooft wie ich Dinge voraussetzen, die sie zu beweisen<br />
suchen. Der Versuch, biologische Phänomene mit Vorteilen<br />
für die Gene zu erklären, ist im wesentlichen <strong>de</strong>shalb eine<br />
gute Taktik, weil Gene Replikatoren sind. Sobald die Ursuppe
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 299<br />
die Voraussetzungen geschaffen hatte, unter <strong>de</strong>nen Moleküle<br />
Kopien ihrer selbst anfertigen konnten, übernahmen die Replikatoren<br />
selbst die Regie. Mehr als drei Milliar<strong>de</strong>n Jahre lang war<br />
die DNA <strong>de</strong>r einzige erwähnenswerte Replikator auf <strong>de</strong>r Welt.<br />
Aber diese Monopolstellung hat sie nicht zwangsläufig für alle<br />
<strong>Zeit</strong>en inne. Wann immer sich Bedingungen entwickeln, unter<br />
<strong>de</strong>nen eine neue Art von Replikator Kopien von sich machen<br />
kann, wer<strong>de</strong>n die neuen Replikatoren höchstwahrscheinlich<br />
die Gelegenheit ergreifen und eine neue, eigene Art von Evolution<br />
in Gang setzen. Setzt diese neue Evolution erst einmal ein,<br />
so braucht sie <strong>de</strong>r alten keineswegs untergeordnet zu sein. Die<br />
alte genselektierte Evolution hat dadurch, daß sie das Gehirn<br />
erzeugte, die „Ursuppe“ geliefert, in <strong>de</strong>r die ersten Meme entstan<strong>de</strong>n.<br />
Sobald die sich selbst kopieren<strong>de</strong>n Meme erst einmal<br />
entstan<strong>de</strong>n waren, setzte ihre eigene, viel schnellere Art von<br />
Evolution ein. Wir Biologen haben uns <strong>de</strong>n Gedanken <strong>de</strong>r<br />
genetischen Evolution <strong>de</strong>rart gründlich angeeignet, daß wir<br />
gewöhnlich vergessen, daß es sich dabei nur um eine von<br />
vielen möglichen Arten <strong>de</strong>r Evolution han<strong>de</strong>lt.<br />
Wenn Meme sich replizieren, tun sie dies durch Imitation<br />
im weitesten Sinne <strong>de</strong>s Wortes. Aber so wie nicht alle Gene,<br />
die sich vermehren können, dies erfolgreich tun, gibt es auch<br />
bei <strong>de</strong>n Memen einige, die im Mempool erfolgreicher sind<br />
als an<strong>de</strong>re. Dies entspricht <strong>de</strong>r natürlichen Auslese. Ich habe<br />
beson<strong>de</strong>re Beispiele von Eigenschaften angeführt, die bei<br />
Memen zu einem hohen Überlebenswert beitragen. Aber im<br />
g<strong>ro</strong>ßen und ganzen müssen es dieselben Eigenschaften sein,<br />
wie wir sie für die Replikatoren von Kapitel 2 erörtert haben:<br />
Langlebigkeit, Fruchtbarkeit und Wie<strong>de</strong>rgabetreue. Die Langlebigkeit<br />
einer einzelnen Kopie eines Mems ist wahrscheinlich<br />
relativ unwichtig, ebenso wie die einer einzelnen Kopie eines<br />
Gens. Die Kopie einer bekannten Melodie, zum Beispiel von<br />
Auld Lang Syne, die in meinem Gehirn existiert, wird nur<br />
bis zum En<strong>de</strong> meines Lebens bestehen. 4 Die Kopie <strong>de</strong>rselben<br />
Melodie, die in einem Lie<strong>de</strong>rbuch gedruckt ist, wird wahrscheinlich<br />
nicht von sehr viel längerer Dauer sein. Aber ich<br />
möchte annehmen, daß es noch in Jahrhun<strong>de</strong>rten Kopien
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 300<br />
dieser Melodie auf Papier und in <strong>de</strong>n Köpfen <strong>de</strong>r Leute geben<br />
wird. Wie bei <strong>de</strong>n Genen ist die Fruchtbarkeit <strong>de</strong>r einzelnen<br />
Kopien viel wichtiger als ihre Langlebigkeit. Wenn es sich bei<br />
<strong>de</strong>m Mem um eine wissenschaftliche I<strong>de</strong>e han<strong>de</strong>lt, wird <strong>de</strong>ren<br />
Verbreitung davon abhängen, wie annehmbar sie für die Individuen<br />
<strong>de</strong>r Wissenschaftlerpopulation ist; ein g<strong>ro</strong>bes Maß ihres<br />
Überlebenswertes könnte man erhalten, <strong>wen</strong>n man zählte,<br />
wie oft sie in aufeinan<strong>de</strong>rfolgen<strong>de</strong>n Jahren in wissenschaftlichen<br />
<strong>Zeit</strong>schriften erwähnt wird. 5 Wenn das Mem eine beliebte<br />
Melodie ist, so läßt sich seine Verbreitung im Mempool anhand<br />
<strong>de</strong>r Zahl von Menschen schätzen, die man diese Melodie auf<br />
<strong>de</strong>r Straße pfeifen hört. Ist es eine Damenschuhmo<strong>de</strong>, so kann<br />
<strong>de</strong>r Memforscher <strong>de</strong>r Population die Verkaufsstatistiken <strong>de</strong>r<br />
Schuhgeschäfte benutzen. Einige Meme sind – wie einige Gene<br />
– eine kurze <strong>Zeit</strong> lang überaus erfolgreich und verbreiten<br />
sich rasch, aber sie halten sich nicht lange im Mempool. Schlager<br />
und Pfennigabsätze sind Beispiele dafür. An<strong>de</strong>re, wie die<br />
religiösen Gesetze <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n, können sich jahrtausen<strong>de</strong>lang<br />
weiter fortsetzen, gewöhnlich wegen <strong>de</strong>r g<strong>ro</strong>ßen potentiellen<br />
Beständigkeit schriftlicher Aufzeichnungen.<br />
Dies bringt mich zu <strong>de</strong>r dritten allgemeinen Eigenschaft<br />
erfolgreicher Replikatoren: <strong>de</strong>r Kopiergenauigkeit. Hier befin<strong>de</strong><br />
ich mich, wie ich zugeben muß, auf schwanken<strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n. Auf<br />
<strong>de</strong>n ersten Blick sieht es so aus, als seien Meme überhaupt<br />
keine Replikatoren mit hoher Wie<strong>de</strong>rgabetreue. Je<strong>de</strong>smal,<br />
<strong>wen</strong>n ein Wissenschaftler einen Gedanken hört und ihn an<br />
jemand an<strong>de</strong>rs weitergibt, wird er ihn wahrscheinlich ein<br />
<strong>wen</strong>ig verän<strong>de</strong>rn. Ich habe kein Geheimnis daraus gemacht,<br />
wie sehr dieses Buch <strong>de</strong>n Gedanken von R. L. Trivers verpflichtet<br />
ist. Doch ich habe Trivers’ Vorstellungen nicht mit<br />
seinen eigenen Worten wie<strong>de</strong>rgegeben. Ich habe sie für meine<br />
eigenen Zwecke umgeformt, habe einen an<strong>de</strong>ren Schwerpunkt<br />
gesetzt, sie mit meinen eigenen und an<strong>de</strong>rer Leute Gedanken<br />
vermischt. Die Meme wur<strong>de</strong>n <strong>de</strong>m Leser in verän<strong>de</strong>rter Gestalt<br />
weitergegeben. Das sieht <strong>de</strong>r partikelweisen Alles-o<strong>de</strong>r-nichts-<br />
Natur <strong>de</strong>r Genvererbung nicht im geringsten ähnlich. Es<br />
scheint vielmehr, als sei die Mem-Übermittlung ständiger
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 301<br />
Mutation und Mischung unterworfen. Es ist aber möglich,<br />
daß dieser Anschein <strong>de</strong>r Nicht-Partikelhaftigkeit trügt und die<br />
Übereinstimmung mit <strong>de</strong>n Genen doch nicht am En<strong>de</strong> ist.<br />
Schließlich erweckt die Vererbung vieler genetischer Merkmale,<br />
beispielsweise <strong>de</strong>r Größe o<strong>de</strong>r Hautfarbe eines Menschen,<br />
auch nicht <strong>de</strong>n Eindruck, als sei sie das Werk unteilbarer<br />
und unvermischbarer Gene. Wenn ein schwarzer und ein<br />
weißer Mensch Kin<strong>de</strong>r bekommen, so sind diese nicht entwe<strong>de</strong>r<br />
schwarz o<strong>de</strong>r weiß, son<strong>de</strong>rn haben eine zwischen diesen<br />
Extremen liegen<strong>de</strong> Mischfarbe. Das be<strong>de</strong>utet nicht, daß die<br />
beteiligten Gene nicht einzelne Partikel sind. Vielmehr sind<br />
einfach so viele von ihnen für die Hautfarbe verantwortlich,<br />
und je<strong>de</strong>s erzielt eine <strong>de</strong>rart kleine Wirkung, daß es scheint, als<br />
mischten sie sich. Bisher habe ich von Memen gesp<strong>ro</strong>chen, als<br />
sei es offensichtlich, woraus ein einzelnes Mem besteht. Aber<br />
das ist natürlich alles an<strong>de</strong>re als offensichtlich. Ich habe gesagt,<br />
eine Melodie ist ein Mem; aber wie steht es mit einer Symphonie:<br />
Wie viele Meme stellt eine Symphonie dar? Ist je<strong>de</strong>r Satz<br />
ein Mem, je<strong>de</strong> erkennbare Phrase, je<strong>de</strong>r Takt, je<strong>de</strong>r Akkord<br />
o<strong>de</strong>r was sonst?<br />
Ich <strong>wen</strong><strong>de</strong> <strong>de</strong>n gleichen sprachlichen Kunstgriff wie im dritten<br />
Kapitel an. Dort teilte ich <strong>de</strong>n „Genkomplex“ in g<strong>ro</strong>ße<br />
und kleine genetische Einheiten und Untereinheiten ein. Das<br />
„Gen“ wur<strong>de</strong> nicht auf eine starre Alles-o<strong>de</strong>r-nichts-Weise <strong>de</strong>finiert,<br />
son<strong>de</strong>rn als eine zweckmäßige Einheit, ein Ch<strong>ro</strong>mosomenabschnitt<br />
mit gera<strong>de</strong> ausreichend g<strong>ro</strong>ßer Kopiergenauigkeit,<br />
um als eine lebensfähige Einheit <strong>de</strong>r natürlichen Auslese<br />
zu dienen. Wenn eine einzelne Phrase aus Beethovens neunter<br />
Symphonie charakteristisch und einprägsam genug ist, um<br />
aus <strong>de</strong>m Zusammenhang <strong>de</strong>r Symphonie herausgelöst und von<br />
einem empörend geschmacklosen eu<strong>ro</strong>päischen Rundfunksen<strong>de</strong>r<br />
als Pausenzeichen ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>t zu wer<strong>de</strong>n, dann verdient<br />
sie in diesem Umfang <strong>de</strong>n Namen Mem. Nebenbei gesagt hat<br />
meine Fähigkeit, die Originalsymphonie zu genießen, erheblich<br />
darunter gelitten.<br />
Ebenso meinen wir mit <strong>de</strong>r Aussage, daß alle Biologen heutzutage<br />
die Darwinsche Theorie für richtig halten, nicht, daß im
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 302<br />
Gehirn je<strong>de</strong>s Biologen eine genaue Kopie <strong>de</strong>r Worte Darwins<br />
eingraviert ist. Je<strong>de</strong>s Individuum interpretiert Darwins I<strong>de</strong>en<br />
auf seine eigene Art. Es kennt sie wahrscheinlich auch nicht<br />
aus Darwins eigenen Schriften, son<strong>de</strong>rn aus <strong>de</strong>nen mo<strong>de</strong>rnerer<br />
Autoren. Viel von <strong>de</strong>m, was Darwin sagte, ist im Detail<br />
falsch. Wür<strong>de</strong> Darwin dieses Buch lesen, so wür<strong>de</strong> er seine<br />
eigene Theorie kaum darin wie<strong>de</strong>rerkennen, <strong>wen</strong>n ich auch<br />
hoffe, daß ihm die Art, wie ich sie dargestellt habe, gefallen<br />
wür<strong>de</strong>. Doch t<strong>ro</strong>tz alle<strong>de</strong>m ist im Kopf je<strong>de</strong>s Individuums, das<br />
die Theorie versteht, etwas Bestimmtes – das Wesen <strong>de</strong>s Darwinismus<br />
– vorhan<strong>de</strong>n. Wenn dies nicht so wäre, dann wäre<br />
fast je<strong>de</strong> Feststellung, daß zwei Menschen sich über etwas einig<br />
sind, be<strong>de</strong>utungslos. Man könnte ein „Gedanken-Mem“ vielleicht<br />
als eine von einem Gehirn auf ein an<strong>de</strong>res übertragbare<br />
Einheit <strong>de</strong>finieren. Das Mem <strong>de</strong>r Darwinschen Theorie ist<br />
daher jene wesentliche Grundlage <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>e, die allen Gehirnen,<br />
welche die Theorie verstehen, gemeinsam ist. Die Unterschie<strong>de</strong><br />
in <strong>de</strong>r Art, wie wir Menschen die Theorie darstellen,<br />
sind dann <strong>de</strong>finitionsgemäß nicht Teil <strong>de</strong>s Mems. Wenn man<br />
Darwins Theorie <strong>de</strong>rart in Bestandteile zerlegen kann, daß<br />
einige Leute die Komponente A für richtig halten, aber nicht<br />
die Komponente B, während an<strong>de</strong>re viel von B, aber nichts von<br />
A halten, dann sollten A und B als getrennte Meme angesehen<br />
wer<strong>de</strong>n. Wenn fast je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r A für richtig hält, auch mit<br />
B einverstan<strong>de</strong>n ist – <strong>wen</strong>n die Meme eng „gekoppelt“ sind,<br />
um <strong>de</strong>n Ausdruck aus <strong>de</strong>r Genetik zu benutzen –, dann ist es<br />
zweckmäßig, sie als ein einziges Mem zusammenzufassen.<br />
Verfolgen wir die Analogie zwischen Memen und Genen noch<br />
etwas weiter. In diesem Buch habe ich stets betont, daß wir<br />
uns die Gene nicht als bewußte, zielbewußte Handlungsträger<br />
vorstellen dürfen. Die blin<strong>de</strong> natürliche Selektion führt jedoch<br />
dazu, daß sie sich mehr o<strong>de</strong>r <strong>wen</strong>iger so verhalten, als ob sie<br />
eine Absicht verfolgten, und es war bequem, die Gene <strong>de</strong>r<br />
Kürze halber in <strong>de</strong>r Sprache <strong>de</strong>r Absicht zu beschreiben. Wenn<br />
wir beispielsweise sagen: „Die Gene versuchen, ihre Zahl in<br />
zukünftigen Genpools zu vergrößern“, so meinen wir damit in<br />
Wirklichkeit: „Gene, die sich so verhalten, daß sie ihre Zahl
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 303<br />
in zukünftigen Genpools vergrößern, wer<strong>de</strong>n schließlich diejenigen<br />
sein, <strong>de</strong>ren Wirkungen wir auf <strong>de</strong>r Welt feststellen.“ So<br />
wie es sich als brauchbar erwiesen hat, daß wir uns die Gene<br />
als aktive Handlungsträger vorstellten, die zielbewußt auf ihr<br />
eigenes Überleben hinarbeiten, könnte es vielleicht nützlich<br />
sein, sich die Meme ebenfalls so vorzustellen. In keinem <strong>de</strong>r<br />
bei<strong>de</strong>n Fälle brauchen wir dabei geheimnisvoll zu wer<strong>de</strong>n.<br />
In bei<strong>de</strong>n Fällen dient die Vorstellung <strong>de</strong>r Absicht lediglich<br />
<strong>de</strong>r Veranschaulichung, aber wir haben bereits gesehen, wie<br />
nützlich dieses Bild im Fall <strong>de</strong>r Gene gewesen ist. Wir haben<br />
Bezeichnungen wie „eigennützig“ und „rücksichtslos“ auf die<br />
Gene angewandt und waren uns dabei völlig im klaren darüber,<br />
daß es sich lediglich um eine Sprachfigur han<strong>de</strong>lt. Können<br />
wir, in genau <strong>de</strong>m gleichen Sinne, nach eigennützigen o<strong>de</strong>r<br />
rücksichtslosen Memen Ausschau halten?<br />
Hier stellt sich nun ein P<strong>ro</strong>blem, das die Natur <strong>de</strong>r Konkurrenz<br />
betrifft. Wo es geschlechtliche Fortpflanzung gibt, konkurriert<br />
je<strong>de</strong>s Gen vor allem mit seinen eigenen Allelen – Rivalen<br />
für dieselbe Stelle auf <strong>de</strong>m Ch<strong>ro</strong>mosom. Bei <strong>de</strong>n Memen<br />
scheint es nichts <strong>de</strong>n Ch<strong>ro</strong>mosomen Entsprechen<strong>de</strong>s zu geben<br />
und nichts, was <strong>de</strong>n Allelen entspricht. Ich nehme an, in<br />
einem banalen Sinne kann man bei vielen Gedanken von ihren<br />
„Gegensätzen“ sprechen. Doch im g<strong>ro</strong>ßen und ganzen gleichen<br />
die Meme eher <strong>de</strong>n frühen sich replizieren<strong>de</strong>n Molekülen, die<br />
frei und ungeordnet in <strong>de</strong>r Ursuppe trieben, als <strong>de</strong>n mo<strong>de</strong>rnen<br />
Genen in ihren or<strong>de</strong>ntlichen, paarweise vorhan<strong>de</strong>nen<br />
Ch<strong>ro</strong>mosomenregimentern. In welchem Sinne also konkurrieren<br />
die Meme miteinan<strong>de</strong>r? Sollen wir annehmen, daß sie<br />
„eigennützig“ o<strong>de</strong>r daß sie „rücksichtslos“ sind, <strong>wen</strong>n sie keine<br />
Allele haben? Tatsächlich können wir dies erwarten, <strong>de</strong>nn in<br />
gewissem Sinne müssen Meme sich auf eine Art Konkurrenz<br />
miteinan<strong>de</strong>r einlassen.<br />
Je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r einmal einen G<strong>ro</strong>ßrechner benutzt hat, weiß,<br />
wie kostbar Rechenzeit und Speicherkapazität sind. In vielen<br />
g<strong>ro</strong>ßen Rechenzentren muß man dafür tatsächlich Geld bezahlen,<br />
o<strong>de</strong>r man bekommt eine Laufzeit zugeteilt, die in Sekun<strong>de</strong>n<br />
gemessen wird, und einen Anteil an <strong>de</strong>r Speicherkapazität,
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 304<br />
<strong>de</strong>r in „Worten“ gemessen wird. Die Computer, in <strong>de</strong>nen die<br />
Meme leben, sind die Gehirne <strong>de</strong>r Menschen. 6 Bei diesen ist<br />
die <strong>Zeit</strong> möglicherweise ein wichtigerer begrenzen<strong>de</strong>r Faktor<br />
als <strong>de</strong>r Speicherplatz, und sie ist Gegenstand heftiger Konkurrenz.<br />
Das menschliche Gehirn und <strong>de</strong>r Körper, <strong>de</strong>n es steuert,<br />
können nicht mehr als eins o<strong>de</strong>r einige <strong>wen</strong>ige Dinge gleichzeitig<br />
tun. Wenn ein Mem die Aufmerksamkeit eines menschlichen<br />
Gehirns in Anspruch nehmen will, so muß es dies auf<br />
Kosten „rivalisieren<strong>de</strong>r“ Meme tun. An<strong>de</strong>re Güter, um die<br />
Meme konkurrieren, sind Sen<strong>de</strong>zeiten in Rundfunk und Fernsehen,<br />
Raum auf Anschlagtafeln und in <strong>Zeit</strong>ungsspalten sowie<br />
Platz in Bücherregalen.<br />
Was die Gene betrifft, so haben wir in Kapitel 3 gesehen,<br />
daß im Genpool koadaptierte Genkomplexe entstehen können.<br />
Eine für die Mimikry bei Schmetterlingen verantwortliche<br />
g<strong>ro</strong>ße Gruppe von Genen ist auf <strong>de</strong>mselben Ch<strong>ro</strong>mosom fest<br />
miteinan<strong>de</strong>r gekoppelt, <strong>de</strong>rart fest, daß man sie wie ein einziges<br />
Gen behan<strong>de</strong>ln kann. In Kapitel 5 haben wir <strong>de</strong>n komplizierten<br />
Gedanken <strong>de</strong>s evolutionär stabilen Gensatzes kennengelernt.<br />
Jeweils zusammenpassen<strong>de</strong> Zähne, Klauen, Eingewei<strong>de</strong><br />
und Sinnesorgane bil<strong>de</strong>ten sich in Fleischfresser-<br />
Genpools heraus, während gleichzeitig ein an<strong>de</strong>rer stabiler<br />
Satz von Merkmalen aus Pflanzenfresser-Genpools hervorging.<br />
Geschieht in Mempools irgend etwas Vergleichbares? Ist<br />
das Gott-Mem zum Beispiel mit an<strong>de</strong>ren speziellen Memen<br />
verknüpft wor<strong>de</strong>n, und för<strong>de</strong>rt diese Verbindung das Überleben<br />
je<strong>de</strong>s <strong>de</strong>r beteiligten Meine? Vielleicht können wir eine organisierte<br />
Kirche mit ihrer Architektur, ihren Ritualen und Gesetzen,<br />
ihrer Musik und Kunst sowie ihrer geschriebenen Tradition<br />
als einen koadaptierten stabilen Satz sich gegenseitig<br />
stützen<strong>de</strong>r Meme betrachten.<br />
Greifen wir ein spezielles Beispiel heraus: Ein Aspekt <strong>de</strong>r<br />
Lehre, <strong>de</strong>r auf sehr wirkungsvolle Weise religiösen Gehorsam<br />
erzwungen hat, ist die D<strong>ro</strong>hung mit <strong>de</strong>m Fegefeuer. Viele<br />
Kin<strong>de</strong>r und selbst manche Erwachsene glauben, daß sie nach<br />
<strong>de</strong>m To<strong>de</strong> gräßliche Qualen erlei<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n, <strong>wen</strong>n sie die priesterlichen<br />
Vorschriften nicht befolgen. Diese ausgesp<strong>ro</strong>chen
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 305<br />
üble Überredungstechnik hat während <strong>de</strong>s Mittelalters viel<br />
seelisches Leid hervorgerufen und tut das sogar heute noch.<br />
Aber sie ist äußerst wirksam. Fast scheint es, als sei sie von<br />
einer in tiefenpsychologischen Unterweisungstechniken ausgebil<strong>de</strong>ten<br />
macchiavellischen Priesterschaft mit Bedacht ersonnen<br />
wor<strong>de</strong>n. Doch ich bezweifle, daß die Priester <strong>de</strong>rart schlau<br />
waren. Sehr viel wahrscheinlicher ist es, daß Meme – unbewußt<br />
– ihr Überleben selbst sichergestellt haben, und zwar mit Hilfe<br />
<strong>de</strong>rselben Pseudo-Skrupellosigkeit, die auch erfolgreiche Gene<br />
an <strong>de</strong>n Tag legen. Die Vorstellung <strong>de</strong>s Fegefeuers setzt sich<br />
wegen ihrer tiefgreifen<strong>de</strong>n psychologischen Wirkung ganz einfach<br />
von allein endlos weiter fort. Sie ist mit <strong>de</strong>m Gott-Mem<br />
verknüpft, weil bei<strong>de</strong> Meme sich gegenseitig verstärken und<br />
das eine jeweils zum Überleben <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren im Mempool<br />
beiträgt.<br />
Ein weiteres Glied <strong>de</strong>s zur Religion gehörigen Memkomplexes<br />
heißt Glaube. Dieser be<strong>de</strong>utet blin<strong>de</strong>s Vertrauen – Vertrauen<br />
ohne Beweise und sogar <strong>de</strong>n Beweisen zum T<strong>ro</strong>tz.<br />
Die Geschichte vom ungläubigen Thomas wird nicht erzählt,<br />
damit wir Thomas bewun<strong>de</strong>rn, son<strong>de</strong>rn damit wir im Gegensatz<br />
dazu die an<strong>de</strong>ren Apostel bewun<strong>de</strong>rn. Thomas verlangte<br />
Beweise. Nichts ist für bestimmte Arten von Memen tödlicher<br />
als die Neigung, nach Beweisen zu suchen. Die an<strong>de</strong>ren Apostel,<br />
<strong>de</strong>ren Glaube so stark war, daß sie keine Beweise brauchten,<br />
wer<strong>de</strong>n uns als nachahmenswert hingestellt. Das Mem für<br />
blin<strong>de</strong>n Glauben sichert sich seinen Fortbestand selbst durch<br />
das einfache, unbewußte, wirksame Mittel, daß es das rationale<br />
Nachforschen mißbilligt.<br />
Mit blin<strong>de</strong>m Glauben läßt sich alles rechtfertigen. 7 Wenn<br />
jemand an einen an<strong>de</strong>ren Gott glaubt o<strong>de</strong>r <strong>wen</strong>n er auch nur<br />
ein an<strong>de</strong>res Ritual benutzt, um <strong>de</strong>nselben Gott zu verehren,<br />
kann <strong>de</strong>r blin<strong>de</strong> Glaube ve<strong>ro</strong>rdnen, daß er sterben muß – am<br />
Kreuz, auf <strong>de</strong>m Scheiterhaufen, aufgespießt auf <strong>de</strong>m Schwert<br />
eines Kreuzritters, erschossen auf einer Straße in Beirut o<strong>de</strong>r<br />
in die Luft gesprengt in einem Wirtshaus in Belfast. Meme<br />
für blin<strong>de</strong>n Glauben haben ihre eigenen skrupellosen Metho<strong>de</strong>n,<br />
sich auszubreiten. Das gilt für patriotische und politische
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 306<br />
Überzeugungen genauso wie für religiöse. Meme und Gene<br />
mögen sich häufig gegenseitig verstärken, gelegentlich geraten<br />
sie aber auch in Gegensatz zueinan<strong>de</strong>r. Beispielsweise ist <strong>de</strong>r<br />
Brauch <strong>de</strong>s Zölibats vermutlich nicht genetischen Ursprungs.<br />
Ein Gen für Ehelosigkeit wäre im Genpool zum Scheitern verurteilt,<br />
außer unter sehr speziellen Umstän<strong>de</strong>n, wie wir sie<br />
zum Beispiel bei <strong>de</strong>n staatenbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Insekten fin<strong>de</strong>n. Dennoch<br />
kann ein Mem für das Zölibat im Mempool erfolgreich<br />
sein. Nehmen wir beispielsweise an, <strong>de</strong>r Erfolg eines Mems<br />
hänge entschei<strong>de</strong>nd davon ab, wieviel <strong>Zeit</strong> ein Mensch darauf<br />
ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>t, es aktiv an an<strong>de</strong>re Menschen weiterzugeben. Je<strong>de</strong>r<br />
Augenblick, <strong>de</strong>r auf an<strong>de</strong>re Dinge ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>t wird als auf die<br />
Bemühung, das Mem zu übermitteln, kann vom Standpunkt<br />
<strong>de</strong>s Mems aus als versch<strong>wen</strong><strong>de</strong>te <strong>Zeit</strong> betrachtet wer<strong>de</strong>n. Das<br />
Mem für das Zölibat wird von Priestern an Jugendliche weitergegeben,<br />
die noch nicht entschie<strong>de</strong>n haben, was sie mit<br />
ihrem Leben anfangen wollen. Das Medium <strong>de</strong>r Übermittlung<br />
ist menschlicher Einfluß <strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nsten Art, das gesp<strong>ro</strong>chene<br />
und geschriebene Wort, das persönliche Beispiel und so<br />
weiter. Nehmen wir an, die Ehe vermin<strong>de</strong>re die Kraft eines<br />
Priesters, seine Gemein<strong>de</strong> zu beeinflussen – zum Beispiel,<br />
weil sie einen g<strong>ro</strong>ßen Teil seiner <strong>Zeit</strong> und Aufmerksamkeit in<br />
Anspruch nimmt. Dies ist in <strong>de</strong>r Tat offiziell als ein Grund dafür<br />
vorgebracht wor<strong>de</strong>n, daß <strong>de</strong>n Priestern das Zölibat aufgezwungen<br />
wird. Wäre dies tatsächlich <strong>de</strong>r Fall, dann wür<strong>de</strong> daraus<br />
folgen, daß das Mem für die Ehelosigkeit einen größeren<br />
Überlebenswert hat als das Mem für die Ehe. Natürlich wür<strong>de</strong><br />
auf ein Gen für Ehelosigkeit genau das Gegenteil zutreffen.<br />
Wenn ein Priester eine Überlebensmaschine für Meme ist,<br />
so ist das Zölibat eine Eigenschaft, die in ihn einzupflanzen<br />
nützlich ist. Das Zölibat ist nur ein unbe<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>r Bestandteil<br />
in einem g<strong>ro</strong>ßen Komplex sich gegenseitig verstärken<strong>de</strong>r<br />
religiöser Meme.<br />
Ich vermute, daß sich koadaptierte Memkomplexe auf dieselbe<br />
Weise herausbil<strong>de</strong>n wie koadaptierte Genkomplexe. Die<br />
Selektion begünstigt Meme, die ihre kulturelle Umwelt zu<br />
ihrem eigenen Nutzen ausbeuten. Diese kulturelle Umwelt
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 307<br />
besteht aus an<strong>de</strong>ren Memen, die ebenfalls selektiert wer<strong>de</strong>n.<br />
Der Mempool nimmt daher die charakteristischen Merkmale<br />
eines evolutionär stabilen Satzes an, in <strong>de</strong>n einzudringen<br />
neuen Memen schwerfällt.<br />
Was ich bisher über Meme gesagt habe, war ein <strong>wen</strong>ig negativ,<br />
aber sie haben auch ihre erfreuliche Seite. Wenn wir einmal<br />
sterben, so können wir zwei Dinge hinterlassen: Gene und<br />
Meme. Wir sind als Genmaschinen konstruiert, dazu geschaffen,<br />
unsere Gene zu vererben. Aber dieser Aspekt von uns<br />
wird in drei Generationen vergessen sein. Mein Kind, sogar<br />
mein Enkel noch mag mir ähnlich sein, vielleicht in <strong>de</strong>n<br />
Gesichtszügen, in einer musikalischen Begabung o<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r<br />
Haarfarbe. Aber mit je<strong>de</strong>r Generation, die vorbeigeht, wird<br />
<strong>de</strong>r Beitrag meiner Gene halbiert. Es dauert nicht lange, und<br />
er ist so klein gewor<strong>de</strong>n, daß man ihn vernachlässigen kann.<br />
Unsere Gene mögen unsterblich sein, aber die Sammlung von<br />
Genen, die je<strong>de</strong>r einzelne von uns darstellt, muß zwangsläufig<br />
auseinan<strong>de</strong>rbröckeln. Königin Elisabeth von England ist ein<br />
direkter Nachfahre von Wilhelm <strong>de</strong>m E<strong>ro</strong>berer. Doch es ist<br />
ziemlich wahrscheinlich, daß sie nicht ein einziges <strong>de</strong>r Gene<br />
<strong>de</strong>s alten Königs in sich trägt. Wir sollten Unsterblichkeit nicht<br />
in <strong>de</strong>r Fortpflanzung suchen.<br />
Doch <strong>wen</strong>n ich einen Beitrag zur Kultur <strong>de</strong>r Welt leiste,<br />
<strong>wen</strong>n ich einen guten Gedanken habe, eine Melodie komponiere,<br />
eine Zündkerze erfin<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r ein Gedicht schreibe, so<br />
kann dieser Beitrag noch lange, nach<strong>de</strong>m meine Gene sich im<br />
gemeinsamen Genpool aufgelöst haben, unversehrt weiterleben.<br />
Von Sokrates mögen heute, wie G.C. Williams bemerkt<br />
hat, vielleicht noch ein o<strong>de</strong>r zwei Gene auf <strong>de</strong>r Welt leben o<strong>de</strong>r<br />
auch nicht, aber <strong>wen</strong> interessiert das schon? Die Memkomplexe<br />
von Sokrates, Leonardo da Vinci, Kopernikus und Marconi<br />
sind immer noch ungeschwächt.<br />
So spekulativ meine Mem-Theorie auch sein mag, einen<br />
ernstzunehmen<strong>de</strong>n Punkt gibt es, <strong>de</strong>n ich noch einmal unterstreichen<br />
möchte: Wenn wir die Evolution kultureller Merkmale<br />
und ihren Überlebenswert betrachten, so müssen wir uns<br />
darüber im klaren sein, über wessen Überleben wir sprechen.
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 308<br />
Die Biologen sind, wie wir gesehen haben, daran gewöhnt,<br />
nach Vorteilen auf <strong>de</strong>r Ebene <strong>de</strong>s Gens (o<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>r Ebene <strong>de</strong>s<br />
Individuums, <strong>de</strong>r Gruppe o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Art, je nach Geschmack) zu<br />
suchen. Was wir bisher nicht in Betracht gezogen haben, ist,<br />
daß ein kulturelles Merkmal sich einfach <strong>de</strong>shalb so entwickelt<br />
haben mag, wie es sich entwickelt hat, weil es für sich selbst von<br />
Nutzen ist.<br />
Wir brauchen nicht nach herkömmlichen biologischen<br />
Überlebenswerten von Merkmalen wie Religion, Musik und<br />
rituellem Tanz zu forschen, obwohl diese ebenfalls vorhan<strong>de</strong>n<br />
sein mögen. Nach<strong>de</strong>m die Gene einmal ihre Überlebensmaschinen<br />
mit einem Gehirn ausgestattet haben, das zu rascher<br />
Imitation fähig ist, wer<strong>de</strong>n die Meme automatisch das Ru<strong>de</strong>r<br />
übernehmen. Wir brauchen <strong>de</strong>r Imitation nicht einmal einen<br />
genetischen Vorteil zuzuschreiben, obwohl dies mit Sicherheit<br />
eine Hilfe wäre. Es ist nichts weiter nötig, als daß das Gehirn<br />
zur Imitation fähig ist: Dann wer<strong>de</strong>n sich Meme herausbil<strong>de</strong>n,<br />
die diese Fähigkeit bis zum äußersten ausnutzen.<br />
Ich schließe jetzt das Thema <strong>de</strong>r neuen Replikatoren ab und<br />
möchte am En<strong>de</strong> dieses Kapitels einer gewissen Hoffnung Ausdruck<br />
verleihen. Ein Merkmal <strong>de</strong>s Menschen, das einzigartig<br />
ist und sich memisch entwickelt haben mag o<strong>de</strong>r auch nicht,<br />
ist seine Fähigkeit zu vorausschauen<strong>de</strong>m Denken. Egoistische<br />
Gene (und, <strong>wen</strong>n <strong>de</strong>r Leser die Spekulation dieses Kapitels<br />
gestattet, auch Meme) besitzen keine Voraussicht. Sie sind<br />
blin<strong>de</strong> Replikatoren ohne Bewußtsein. Die Tatsache, daß sie<br />
sich replizieren, hat in Kombination mit bestimmten an<strong>de</strong>ren<br />
Umstän<strong>de</strong>n wohl o<strong>de</strong>r übel zur Folge, daß sie dazu neigen,<br />
Eigenschaften herauszubil<strong>de</strong>n, die im speziellen Sinne dieses<br />
Buches egoistisch genannt wer<strong>de</strong>n können. Von einem einfachen<br />
Replikator, ob Gen o<strong>de</strong>r Mem, kann man nicht erwarten,<br />
daß er auf kurzfristig erreichbare egoistische Vorteile verzichtet,<br />
selbst <strong>wen</strong>n sich dies auf lange Sicht tatsächlich auszahlen<br />
wür<strong>de</strong>. Wir haben dies in <strong>de</strong>m Kapitel über die Aggression<br />
gesehen. Auch <strong>wen</strong>n eine „Verschwörung <strong>de</strong>r Tauben“ für je<strong>de</strong>s<br />
einzelne Individuum besser wäre als die evolutionär stabile<br />
Strategie, kann die natürliche Selektion nicht an<strong>de</strong>rs, als die
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 309<br />
ESS zu begünstigen. Es ist möglich, daß <strong>de</strong>r Mensch über<br />
eine weitere einzigartige Eigenschaft verfügt: die Fähigkeit zu<br />
echtem, uneigennützigem, aufrichtigem Altruismus. Ich hoffe<br />
es, aber ich wer<strong>de</strong> we<strong>de</strong>r dafür noch dagegen argumentieren,<br />
und ebenso<strong>wen</strong>ig wer<strong>de</strong> ich über die mögliche memische Evolution<br />
<strong>de</strong>s Altruismus spekulieren. Entschei<strong>de</strong>nd ist für mich<br />
folgen<strong>de</strong>s: Selbst <strong>wen</strong>n wir die Schattenseite betrachten und<br />
davon ausgehen, daß <strong>de</strong>r einzelne Mensch im Grun<strong>de</strong> egoistisch<br />
ist, könnte uns das vorausschauen<strong>de</strong> Denken – unsere<br />
Fähigkeit, die Zukunft in unserer Vorstellung zu simulieren<br />
– vor <strong>de</strong>n schlimmsten egoistischen Exzessen <strong>de</strong>r blin<strong>de</strong>n<br />
Replikatoren bewahren. Wir besitzen zumin<strong>de</strong>st das geistige<br />
Rüstzeug, um <strong>wen</strong>iger unsere kurzfristigen als vielmehr unsere<br />
langfristigen egoistischen Interessen zu för<strong>de</strong>rn. Wir sind in<br />
<strong>de</strong>r Lage, die langfristigen Vorteile <strong>de</strong>r Beteiligung an einer<br />
„Verschwörung <strong>de</strong>r Tauben“ zu erkennen, und wir können uns<br />
zusammensetzen und Mittel und Wege diskutieren, wie die<br />
Verschwörung zum Funktionieren gebracht wer<strong>de</strong>n kann. Wir<br />
haben die Macht, <strong>de</strong>n egoistischen Genen unserer Geburt und,<br />
<strong>wen</strong>n nötig, auch <strong>de</strong>n egoistischen Memen unserer Erziehung<br />
zu t<strong>ro</strong>tzen. Wir können sogar erörtern, auf welche Weise sich<br />
bewußt ein reiner, selbstloser Altruismus kultivieren und pflegen<br />
läßt – etwas, für das es in <strong>de</strong>r Natur keinen Raum gibt,<br />
etwas, das es in <strong>de</strong>r gesamten Geschichte <strong>de</strong>r Welt nie zuvor<br />
gegeben hat. Wir sind als Genmaschinen gebaut und wer<strong>de</strong>n<br />
als Memmaschinen erzogen, aber wir haben die Macht, uns<br />
unseren Schöpfern entgegenzustellen. Als einzige Lebewesen<br />
auf <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> können wir uns gegen die Tyrannei <strong>de</strong>r egoistischen<br />
Replikatoren auflehnen. 8
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 310<br />
12. Nette Kerle kommen zuerst ans Ziel<br />
Nette Kerle gehen als letzte durchs Ziel. Dieser Satz scheint<br />
aus <strong>de</strong>r Welt <strong>de</strong>s Sports zu kommen, <strong>wen</strong>ngleich einige wichtige<br />
Leute behaupten, er sei zuvor bereits in einem an<strong>de</strong>ren<br />
Zusammenhang ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>t wor<strong>de</strong>n. Der amerikanische Biologe<br />
Garrett Hardin benutzte ihn, um die Kernaussage <strong>de</strong>r<br />
Soziobiologie beziehungsweise <strong>de</strong>r Theorie vom „egoistischen<br />
Gen“ zu umschreiben. Wie passend <strong>de</strong>r Satz ist, läßt sich leicht<br />
erkennen. Wenn wir die landläufige Be<strong>de</strong>utung von „netter<br />
Kerl“ in ihr darwinistisches Äquivalent übersetzen, so ist ein<br />
netter Kerl ein Individuum, das auf seine Kosten an<strong>de</strong>ren Mitglie<strong>de</strong>rn<br />
seiner Art hilft, ihre Gene an die nächste Generation<br />
weiterzugeben. Somit scheinen nette Kerle dazu verdammt<br />
zu sein, zahlenmäßig abzunehmen: Das Nettsein stirbt einen<br />
darwinistischen Tod. Doch gibt es noch eine an<strong>de</strong>re, fachgebun<strong>de</strong>ne<br />
Auslegung <strong>de</strong>s landläufigen Wortes „nett“. Legen wir<br />
diese zweite Definition zugrun<strong>de</strong>, die von <strong>de</strong>r umgangssprachlichen<br />
Be<strong>de</strong>utung nicht allzuweit entfernt ist, so können nette<br />
Kerle tatsächlich zuerst durchs Ziel gehen. Diese optimistischere<br />
Perspektive ist das Thema dieses Kapitels.<br />
Erinnern wir uns an die „Nachtragen<strong>de</strong>n“ aus Kapitel 10.<br />
Das waren Vögel, die einan<strong>de</strong>r in scheinbar altruistischer Weise<br />
halfen, sich aber weigerten, solchen Individuen zu helfen,<br />
die zuvor ihnen ihre Hilfe verweigert hatten. Die Nachtragen<strong>de</strong>n<br />
wur<strong>de</strong>n schließlich in <strong>de</strong>r Population vorherrschend,<br />
<strong>de</strong>nn sie gaben mehr Gene an zukünftige Generationen weiter<br />
als die „Bet<strong>ro</strong>genen“ (die allen an<strong>de</strong>ren ohne Unterschied<br />
halfen und ausgebeutet wur<strong>de</strong>n) und auch die „Betrüger“<br />
(die rücksichtslos je<strong>de</strong>n auszubeuten versuchten und sich<br />
schließlich untereinan<strong>de</strong>r bet<strong>ro</strong>gen). Die Geschichte <strong>de</strong>r Nachtragen<strong>de</strong>n<br />
illustriert ein wichtiges allgemeines Prinzip, das<br />
Robert Trivers als „wechselseitigen Altruismus“ bezeichnete.<br />
Wie wir am Beispiel <strong>de</strong>s Putzerfisches (Kapitel 10) gesehen<br />
haben, gibt es gegenseitigen Altruismus nicht nur unter Artgenossen.<br />
Er ist in allen Beziehungen im Spiel, die wir als
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 311<br />
symbiotisch bezeichnen – zum Beispiel bei <strong>de</strong>n Ameisen, die<br />
ihre „Blattlausher<strong>de</strong>n“ melken. Seit <strong>de</strong>r <strong>Zeit</strong>, in <strong>de</strong>r Kapitel 10<br />
geschrieben wur<strong>de</strong>, hat <strong>de</strong>r amerikanische Politologe Robert<br />
Axel<strong>ro</strong>d (zum Teil in Zusammenarbeit mit W. D. Hamilton,<br />
<strong>de</strong>ssen Namen wir auf so vielen Seiten dieses Buches wie<strong>de</strong>rfin<strong>de</strong>n)<br />
die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s rezip<strong>ro</strong>ken Altruismus in aufregen<strong>de</strong> neue<br />
Richtungen weiterentwickelt. Es war Axel<strong>ro</strong>d, <strong>de</strong>r die fachgebun<strong>de</strong>ne<br />
Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s Wortes „nett“ geprägt hat, auf die ich<br />
im ersten Absatz dieses Kapitels hingewiesen habe.<br />
Wie viele an<strong>de</strong>re Politologen, Ökonomen, Mathematiker<br />
und Psychologen auch war Axel<strong>ro</strong>d von einem einfachen<br />
Glücksspiel fasziniert, das <strong>de</strong>n Namen „Gefangenendilemma“<br />
trägt. Es ist so einfach, daß manche intelligente Leute es<br />
völlig mißverstehen, weil sie mehr dahinter vermuten! Aber<br />
seine Einfachheit täuscht. Ganze Bibliotheksregale sind <strong>de</strong>n<br />
Verzweigungen dieses aufregen<strong>de</strong>n Spiels gewidmet. Viele<br />
einflußreiche Leute sind <strong>de</strong>r Ansicht, es sei <strong>de</strong>r Schlüssel<br />
zur strategischen Verteidigungsplanung und wir sollten uns<br />
eingehend mit ihm befassen, um einen Dritten Weltkrieg zu<br />
verhin<strong>de</strong>rn. Als Biologe bin ich wie Axel<strong>ro</strong>d und Hamilton<br />
<strong>de</strong>r Meinung, daß viele wildleben<strong>de</strong> Tiere und Pflanzen in<br />
unaufhörliche „Gefangenendilemma-Spiele“ verwickelt sind,<br />
die in evolutionär be<strong>de</strong>utsamen <strong>Zeit</strong>räumen ausgetragen<br />
wer<strong>de</strong>n.<br />
In seiner Originalfassung, <strong>de</strong>r menschlichen Version, geht<br />
das Spiel folgen<strong>de</strong>rmaßen vor sich: Es gibt eine „Bank“, die<br />
<strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Spielern Gewinne zuweist und auszahlt. Nehmen<br />
wir an, ich spiele gegen einen Leser (obwohl, wie wir sehen<br />
wer<strong>de</strong>n, wir gera<strong>de</strong> nicht „gegeneinan<strong>de</strong>r“ spielen müssen).<br />
Wir haben je<strong>de</strong>r nur zwei Karten in <strong>de</strong>r Hand, von <strong>de</strong>nen die<br />
eine die Aufschrift Zusammenarbeiten trägt und die an<strong>de</strong>re<br />
die Aufschrift Zusammenarbeit verweigern. Das Spiel besteht<br />
darin, daß je<strong>de</strong>r von uns eine dieser bei<strong>de</strong>n Karten zieht und<br />
ver<strong>de</strong>ckt auf <strong>de</strong>n Tisch legt. Ver<strong>de</strong>ckt, damit keiner von uns<br />
durch <strong>de</strong>n Zug <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren beeinflußt wer<strong>de</strong>n kann; es ist, als<br />
zögen wir die Karten gleichzeitig. Nun warten wir voller Spannung<br />
darauf, daß die Bank die Karten auf<strong>de</strong>ckt. Die Spannung
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 312<br />
ergibt sich daraus, daß Gewinn o<strong>de</strong>r Verlust für <strong>de</strong>n einzelnen<br />
nicht nur von <strong>de</strong>r Karte abhängt, die er selbst ausgespielt hat<br />
(und kennt), son<strong>de</strong>rn auch von <strong>de</strong>r Karte <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren Spielers<br />
(die er nicht kennt, solange die Bank sie nicht auf<strong>de</strong>ckt).<br />
Bei 2x2 Karten sind vier Resultate möglich, die wie folgt<br />
belohnt beziehungsweise bestraft wer<strong>de</strong>n (zu Ehren <strong>de</strong>s nordamerikanischen<br />
Ursprungs <strong>de</strong>s Spiels wird um „Dollar“<br />
gespielt):<br />
Ergebnis I: Wir haben bei<strong>de</strong> die Karte Zusammenarbeiten<br />
gespielt. Die Bank zahlt je<strong>de</strong>m von uns 300 Dollar. Diese ansehnliche<br />
Summe heißt „Belohnung für bei<strong>de</strong>rseitige Zusammenarbeit“.<br />
Ergebnis II: Wir haben bei<strong>de</strong> Zusammenarbeit verweigern<br />
gespielt. Die Bank belegt je<strong>de</strong>n von uns mit einer Strafe von<br />
zehn Dollar, <strong>de</strong>r „Bestrafung für bei<strong>de</strong>rseitiges Verweigern“.<br />
Ergebnis III: Der Leser hat Zusammenarbeiten gespielt, ich<br />
dagegen Zusammenarbeit verweigern. Die Bank zahlt mir 500<br />
Dollar (<strong>de</strong>n „Anreiz zum Verweigern“) und erhebt vom Leser<br />
(<strong>de</strong>m Bet<strong>ro</strong>genen) ein Bußgeld von 100 Dollar.<br />
Ergebnis IV: Der Leser hat Zusammenarbeit verweigern gespielt<br />
und ich Zusammenarbeiten. Die Bank zahlt <strong>de</strong>m Leser die<br />
Summe <strong>de</strong>s „Anreizes“ in Höhe von 500 Dollar aus und belegt<br />
mich, <strong>de</strong>n Bet<strong>ro</strong>genen, mit einem Bußgeld von 100 Dollar.<br />
Die Situationen III und IV sind offensichtlich Spiegelbil<strong>de</strong>r:<br />
Einem Spieler ergeht es auße<strong>ro</strong>r<strong>de</strong>ntlich gut und <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren<br />
sehr schlecht. In <strong>de</strong>n Situationen I und II schnei<strong>de</strong>n bei<strong>de</strong><br />
Spieler jeweils gleich gut ab, doch geht es in Situation I bei<strong>de</strong>n<br />
besser als in II. Die genauen Geldbeträge spielen keine Rolle.<br />
Es ist noch nicht einmal wichtig, wie viele von ihnen positive<br />
Beträge sind (Auszahlungen) und wie viele negative (Strafen)<br />
o<strong>de</strong>r ob es überhaupt Strafen gibt. Worauf es ankommt, damit<br />
sich das Spiel als ein echtes „Gefangenendilemma“ qualifi-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 313<br />
1 Gefangenendilemma: mögliche Resultate für mich<br />
ziert, ist die Rangordnung: Der „Anreiz“ zum Verweigern <strong>de</strong>r<br />
Zusammenarbeit muß größer sein als die „Belohnung“ für<br />
bei<strong>de</strong>rseitige Zusammenarbeit, die ihrerseits besser sein muß<br />
als die „Bestrafung“ für bei<strong>de</strong>rseitiges Verweigern; diese wie<strong>de</strong>rum<br />
muß <strong>wen</strong>iger negativ sein als das „Resultat für <strong>de</strong>n<br />
Bet<strong>ro</strong>genen“. (Strenggenommen gibt es noch eine weitere Voraussetzung<br />
dafür, daß das Spiel als echtes Gefangenendilemma<br />
funktioniert: Der Mittelwert aus „Anreiz“ und „Resultat für<br />
<strong>de</strong>n Bet<strong>ro</strong>genen“ darf nicht größer sein als die „Belohnung“.<br />
Auf <strong>de</strong>n Grund für diese zusätzliche Bedingung wer<strong>de</strong>n wir<br />
später zu sprechen kommen.) Die vier Resultate sind in <strong>de</strong>r<br />
Auszahlungsmatrix in Abbildung 1 zusammengefaßt.<br />
Warum aber nun „Dilemma“? Um dies zu verstehen,<br />
betrachte man die Auszahlungsmatrix und stelle sich vor,<br />
welche Gedanken mir während <strong>de</strong>s Spiels durch <strong>de</strong>n Kopf<br />
gehen. Ich weiß, daß <strong>de</strong>r Leser nur zwei Karten ausspielen<br />
kann, Zusammenarbeiten und Zusammenarbeit verweigern.
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 314<br />
Sehen wir sie uns <strong>de</strong>r Reihe nach an. Wenn <strong>de</strong>r Leser Zusammenarbeit<br />
verweigern ausgespielt hat (das heißt, wir müssen<br />
uns die rechte Seite <strong>de</strong>r Abbildung ansehen), dann ist die beste<br />
Karte, die ich hätte ausspielen können, ebenfalls Zusammenarbeit<br />
verweigern. Zwar wäre mir die Strafe für bei<strong>de</strong>rseitiges<br />
Verweigern <strong>de</strong>r Zusammenarbeit auferlegt wor<strong>de</strong>n, doch hätte<br />
ich zusammengearbeitet, so wäre ich mit <strong>de</strong>m Bußgeld <strong>de</strong>s<br />
Bet<strong>ro</strong>genen belegt wor<strong>de</strong>n, was noch schlechter ist. Stellen wir<br />
uns nun die an<strong>de</strong>re Möglichkeit vor, die <strong>de</strong>r Leser hatte: Er<br />
hätte die Karte Zusammenarbeiten spielen können (sehen wir<br />
uns die linke Seite <strong>de</strong>r Abbildung an). Erneut wäre es für mich<br />
am besten gewesen, Zusammenarbeit verweigern zu spielen.<br />
Hätte ich zusammengearbeitet, so hätten wir bei<strong>de</strong> die recht<br />
hohe Belohnung von 300 Dollar erhalten, hätte ich mich aber<br />
geweigert, so hätte ich sogar noch mehr bekommen, nämlich<br />
500 Dollar. Die Schlußfolgerung ist: Gleichgültig, welche Karte<br />
<strong>de</strong>r Leser ausspielt, meine beste Strategie ist „Immer Zusammenarbeit<br />
verweigern“.<br />
So habe ich mich nun mit unangreifbarer Logik zu <strong>de</strong>m<br />
Ergebnis durchgearbeitet, daß ich, gleichgültig, was <strong>de</strong>r Gegenspieler<br />
tut, immer die Zusammenarbeit verweigern muß. Und<br />
<strong>de</strong>r Leser wird, mit nicht <strong>wen</strong>iger unfehlbarer Logik, zu<br />
ganz genau <strong>de</strong>m gleichen Schluß kommen. Wenn also zwei<br />
vernünftige Spieler aufeinan<strong>de</strong>rtreffen, wer<strong>de</strong>n sie bei<strong>de</strong> verweigern,<br />
und bei<strong>de</strong> wer<strong>de</strong>n dafür entwe<strong>de</strong>r eine Strafe o<strong>de</strong>r<br />
eine geringe Auszahlung erhalten. Doch je<strong>de</strong>r von ihnen weiß<br />
ganz genau, daß bei<strong>de</strong>, hätten sie nur die Karte Zusammenarbeiten<br />
ausgespielt, <strong>de</strong>n relativ hohen Preis (in unserem Beispiel<br />
300 Dollar) für gegenseitige Zusammenarbeit erhalten hätten.<br />
Genau aus diesem Grund wird das Spiel als Dilemma bezeichnet,<br />
<strong>de</strong>shalb scheint es so entnervend paradox, und <strong>de</strong>shalb<br />
wur<strong>de</strong> sogar vorgeschlagen, es gesetzlich zu verbieten.<br />
„Gefangener“ kommt von einem bestimmten imaginären<br />
Beispiel. In diesem Fall geht es nicht um Geldbeträge, son<strong>de</strong>rn<br />
um Gefängnisstrafen. Zwei Männer – nennen wir sie Peterson<br />
und Moriarty – sitzen unter <strong>de</strong>m Verdacht im Gefängnis,<br />
gemeinsam ein Verbrechen begangen zu haben. In getrennten
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 315<br />
Zellen untergebracht, wird je<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Gefangenen aufgefor<strong>de</strong>rt,<br />
seinen Kollegen zu verraten (Zusammenarbeit verweigern)<br />
und als K<strong>ro</strong>nzeuge gegen ihn aufzutreten. Was dabei<br />
herauskommt, hängt davon ab, was bei<strong>de</strong> Gefangene tun,<br />
und keiner von bei<strong>de</strong>n weiß, was <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re getan hat.<br />
Wenn Peterson Moriarty die alleinige Schuld zuschiebt und<br />
Moriarty die Geschichte plausibel erscheinen läßt, in<strong>de</strong>m er<br />
schweigt (<strong>wen</strong>n er also mit seinem früheren und, wie sich<br />
zeigt, verräterischen Freund zusammenarbeitet), erhält Moriarty<br />
eine lange Gefängnisstrafe, wohingegen Peterson ungestraft<br />
davonkommt, weil er <strong>de</strong>m „Anreiz“, die Zusammenarbeit<br />
zu verweigern, erlegen ist. Wenn je<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren<br />
verrät, wer<strong>de</strong>n bei<strong>de</strong> wegen <strong>de</strong>s Verbrechens verurteilt, erhalten<br />
jedoch einen gewissen Bonus dafür, daß sie ausgesagt<br />
haben, und bekommen eine etwas geringere, <strong>wen</strong>n auch immer<br />
noch erhebliche Strafe, die „Bestrafung für bei<strong>de</strong>rseitiges Verweigern“<br />
<strong>de</strong>r Zusammenarbeit. Wenn bei<strong>de</strong> zusammenarbeiten<br />
(miteinan<strong>de</strong>r, nicht mit <strong>de</strong>r Justiz) und sich weigern auszusagen,<br />
gibt es nicht genügend Beweismaterial, um einen<br />
von ihnen <strong>de</strong>s Hauptverbrechens zu überführen, und bei<strong>de</strong><br />
erhalten eine mil<strong>de</strong> Strafe für ein geringeres Verbrechen, die<br />
„Belohnung für bei<strong>de</strong>rseitige Zusammenarbeit“. Zwar mag es<br />
son<strong>de</strong>rbar erscheinen, eine Gefängnisstrafe als „Belohnung“<br />
zu bezeichnen, doch wür<strong>de</strong>n die bei<strong>de</strong>n Männer es gewiß so<br />
nennen, <strong>wen</strong>n die Alternative eine längere Verbannung hinter<br />
Gitter wäre. Obwohl die „Auszahlungen“ nicht in Dollar, son<strong>de</strong>rn<br />
in Gefängnisstrafen erfolgen, bleiben die wesentlichen<br />
Merkmale <strong>de</strong>s Spiels offensichtlich erhalten (man betrachte die<br />
Rangordnung <strong>de</strong>r Erwünschtheit <strong>de</strong>r vier Ergebnisse). Wenn<br />
wir uns vorstellen, wir wären an Stelle <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Gefangenen,<br />
und davon ausgehen, daß bei<strong>de</strong> von vernünftigem Eigeninteresse<br />
getrieben und sich <strong>de</strong>ssen bewußt sind, daß sie<br />
nicht miteinan<strong>de</strong>r re<strong>de</strong>n und eine Absprache treffen können,<br />
so kommen wir zu <strong>de</strong>m Schluß, daß keiner von bei<strong>de</strong>n eine<br />
an<strong>de</strong>re Wahl hat, als <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren zu verraten, und daß bei<strong>de</strong><br />
sich und <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren dadurch eine schwere Strafe einhan<strong>de</strong>ln.
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 316<br />
Gibt es einen Ausweg aus diesem Dilemma? Bei<strong>de</strong> Spieler<br />
wissen, daß, was auch immer ihr Gegenspieler tut, für sie selbst<br />
Zusammenarbeit verweigern die beste Entscheidung ist; aber<br />
bei<strong>de</strong> wissen ebenfalls, daß je<strong>de</strong>r von ihnen besser abschnei<strong>de</strong>n<br />
könnte, <strong>wen</strong>n sie nur bei<strong>de</strong> zusammenarbeiten wür<strong>de</strong>n.<br />
Wenn nur ... <strong>wen</strong>n nur ... <strong>wen</strong>n es nur einen Weg gäbe, zu einer<br />
Absprache zu kommen, <strong>wen</strong>n es nur irgen<strong>de</strong>ine Möglichkeit<br />
gäbe, sich zu vergewissern, daß man <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren trauen kann<br />
und dieser nicht <strong>de</strong>n egoistischen Jackpot wählt; <strong>wen</strong>n es nur<br />
irgen<strong>de</strong>inen Weg gäbe, die Absprache zu überwachen.<br />
In <strong>de</strong>m einfachen Gefangenendilemma-Spiel gibt es keine<br />
Möglichkeit, Vertrauen sicherzustellen. Wenn nicht min<strong>de</strong>stens<br />
einer <strong>de</strong>r Spieler ein halber Heiliger ist, <strong>de</strong>r zu gut für diese<br />
Welt ist und bet<strong>ro</strong>gen wird, muß das Spiel mit gegenseitigem<br />
Verrat en<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r das so paradox schlechte Resultat für bei<strong>de</strong><br />
Spieler nach sich zieht. Aber es gibt noch eine an<strong>de</strong>re Version<br />
<strong>de</strong>s Spiels. Sie heißt „Wie<strong>de</strong>rholtes Gefangenendilemma“. Das<br />
wie<strong>de</strong>rholte Spiel ist komplizierter, und in seiner Kompliziertheit<br />
liegt Hoffnung.<br />
Das wie<strong>de</strong>rholte Spiel ist nichts an<strong>de</strong>res als das gewöhnliche<br />
Spiel, das eine unbestimmte Anzahl von Malen mit <strong>de</strong>nselben<br />
Spielern durchgespielt wird. Wie<strong>de</strong>r stehen <strong>de</strong>r Leser und ich<br />
uns gegenüber, die Bank zwischen uns. Wie<strong>de</strong>r hat je<strong>de</strong>r von<br />
uns nur zwei Karten, die eine mit <strong>de</strong>r Aufschrift Zusammenarbeiten<br />
und die an<strong>de</strong>re mit <strong>de</strong>r Aufschrift Zusammenarbeit verweigern.<br />
Wie<strong>de</strong>r machen wir bei<strong>de</strong> unseren Zug, in<strong>de</strong>m wir eine<br />
<strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Karten ausspielen, und die Bank zahlt o<strong>de</strong>r belegt<br />
uns mit Strafen, entsprechend <strong>de</strong>n oben genannten Regeln.<br />
Aber diesmal ist das Spiel damit nicht zu En<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn wir<br />
nehmen unsere Karten auf und bereiten uns auf eine weitere<br />
Run<strong>de</strong> vor. Die aufeinan<strong>de</strong>rfolgen<strong>de</strong>n Run<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Spiels geben<br />
uns Gelegenheit, Vertrauen o<strong>de</strong>r Mißtrauen aufzubauen, uns<br />
zu revanchieren o<strong>de</strong>r zu beschwichtigen, zu vergeben o<strong>de</strong>r<br />
uns zu rächen. Das Wichtige bei einem Spiel von unbestimmter<br />
Dauer ist, daß wir bei<strong>de</strong> gewinnen können, und zwar auf<br />
Kosten <strong>de</strong>r Bank und nicht auf Kosten <strong>de</strong>s jeweiligen Mitspielers.
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 317<br />
Nach zehn Spielrun<strong>de</strong>n könnte ich theoretisch bis zu<br />
5000 Dollar gewonnen haben, aber nur, <strong>wen</strong>n <strong>de</strong>r Leser<br />
auße<strong>ro</strong>r<strong>de</strong>ntlich dumm (o<strong>de</strong>r zu gut für diese Welt) war und<br />
je<strong>de</strong>s Mal Zusammenarbeiten gespielt hat, obwohl ich ihn<br />
durchgehend verraten habe. In einem realistischeren Szenario<br />
kann je<strong>de</strong>r von uns leicht 3000 Dollar von <strong>de</strong>r Bank erhalten,<br />
<strong>wen</strong>n wir bei<strong>de</strong> in allen zehn Spielrun<strong>de</strong>n die Karte Zusammenarbeiten<br />
spielen. Dazu brauchen wir nicht unbedingt Heilige<br />
zu sein, <strong>de</strong>nn wir können bei<strong>de</strong> an <strong>de</strong>n bisherigen Zügen<br />
<strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren erkennen, daß dieser Vertrauen verdient. Wir<br />
können in <strong>de</strong>r Tat unser Verhalten gegenseitig kont<strong>ro</strong>llieren.<br />
Eine an<strong>de</strong>re Situation, die mit recht g<strong>ro</strong>ßer Wahrscheinlichkeit<br />
eintreten wird, ist, daß keiner von uns <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren traut:<br />
Wir können bei<strong>de</strong> alle zehn Spielrun<strong>de</strong>n hindurch Zusammenarbeit<br />
verweigern spielen, und die Bank gewinnt je<strong>de</strong>m von uns<br />
100 Dollar an Strafen ab. Am wahrscheinlichsten jedoch ist es,<br />
daß wir einan<strong>de</strong>r teilweise trauen und je<strong>de</strong>r eine gemischte<br />
Reihenfolge von Zusammenarbeiten und Zusammenarbeit verweigern<br />
spielt, wobei je<strong>de</strong>r das Spiel mit einem irgendwo in <strong>de</strong>r<br />
Mitte liegen<strong>de</strong>n Geldbetrag been<strong>de</strong>t.<br />
Die Vögel in Kapitel 10, die sich gegenseitig die Zecken aus<br />
<strong>de</strong>m Gefie<strong>de</strong>r entfernten, spielten ein „Wie<strong>de</strong>rholtes-Gefangenendilemma-Spiel“.<br />
Wieso das? Es ist wichtig für einen Vogel,<br />
so erinnern wir uns, sich von seinen Zecken zu befreien, aber<br />
er kommt nicht an die Zecken auf seinem Kopf heran und<br />
braucht einen Gefährten, <strong>de</strong>r ihm hilft. Es scheint nur gerecht,<br />
daß er diesem Gefährten später umgekehrt <strong>de</strong>nselben Gefallen<br />
erweist. Aber dieser Gefallen kostet ihn <strong>Zeit</strong> und Energie,<br />
<strong>wen</strong>n auch nicht sehr viel. Wenn es einem Vogel gelingt zu<br />
betrügen, das heißt, <strong>wen</strong>n er seine eigenen Zecken entfernt<br />
bekommt, sich aber dann weigert, <strong>de</strong>n Gefallen zu erwi<strong>de</strong>rn,<br />
so hat er <strong>de</strong>n vollen Gewinn, ohne die Kosten zu bezahlen.<br />
Ordnen wir die Resultate in <strong>de</strong>r richtigen Reihenfolge an, so<br />
stellen wir fest, daß wir es in <strong>de</strong>r Tat mit einem echten Gefangenendilemma<br />
zu tun haben. Wenn bei<strong>de</strong> zusammenarbeiten<br />
(sich also gegenseitig die Zecken ablesen), ist das Ergebnis<br />
recht gut, aber es besteht immer noch eine gewisse Versu-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 318<br />
2 Das Zecken-Entfernungsspiel <strong>de</strong>r Vögel: mögliche Resultate für mich<br />
chung, besser wegzukommen, in<strong>de</strong>m man sich weigert, die<br />
Kosten <strong>de</strong>s Erwi<strong>de</strong>rns auf sich zu nehmen. Wenn bei<strong>de</strong> die<br />
Zusammenarbeit verweigern (sich weigern, Zecken zu entfernen),<br />
ist das Resultat ziemlich schlecht, aber nicht so schlecht,<br />
als <strong>wen</strong>n man sich anstrengt, die Zecken von jemand an<strong>de</strong>rem<br />
abzupicken und selbst von Zecken befallen bleibt. Abbildung 2<br />
zeigt die Auszahlungsmatrix.<br />
Aber dies ist nur ein einziges Beispiel. Je länger wir darüber<br />
nach<strong>de</strong>nken, <strong>de</strong>sto klarer wird uns, daß das Leben durchsetzt<br />
ist mit „Wie<strong>de</strong>rholtes-Gefangenendilemma-Spielen“, und zwar<br />
nicht nur das Leben <strong>de</strong>s Menschen, son<strong>de</strong>rn auch das von<br />
Tieren und Pflanzen. Das Leben von Pflanzen? Ja, warum<br />
<strong>de</strong>nn nicht? Erinnern wir uns daran, daß wir nicht von<br />
bewußten Strategien sprechen (obgleich wir dies gelegentlich<br />
tun könnten), son<strong>de</strong>rn von Strategien im Sinne von Maynard
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 319<br />
Smith, Strategien <strong>de</strong>r Art, die von Genen vorp<strong>ro</strong>grammiert<br />
wer<strong>de</strong>n könnten. Weiter unten wer<strong>de</strong>n wir Pflanzen, verschie<strong>de</strong>ne<br />
Tiere und sogar Bakterien kennenlernen, die alle das<br />
Wie<strong>de</strong>rholte Gefangenendilemma spielen. Inzwischen wollen<br />
wir uns etwas ausführlicher damit beschäftigen, was an <strong>de</strong>r<br />
Wie<strong>de</strong>rholung so wichtig ist.<br />
An<strong>de</strong>rs als das einfache Spiel, das insofern keine allzu<br />
g<strong>ro</strong>ßen Überraschungen bietet, als Zusammenarbeit verweigern<br />
die einzige rationale Strategie ist, bietet die Version mit<br />
Wie<strong>de</strong>rholungen eine Fülle an strategischem Spielraum. Bei<br />
<strong>de</strong>m einfachen Spiel existieren lediglich zwei mögliche Strategien,<br />
Zusammenarbeiten und Zusammenarbeit verweigern. Die<br />
Wie<strong>de</strong>rholung jedoch erlaubt eine Menge an <strong>de</strong>nkbaren Strategien,<br />
und es ist keineswegs offenkundig, welche die beste ist.<br />
Eine Strategie unter tausen<strong>de</strong>n zum Beispiel lautet: „Arbeite<br />
meistens zusammen, aber bei willkürlichen zehn P<strong>ro</strong>zent <strong>de</strong>r<br />
Run<strong>de</strong>n verweigere die Zusammenarbeit.“ Möglich sind auch<br />
Strategien, bei <strong>de</strong>nen das Verhalten vom bisherigen Verlauf<br />
<strong>de</strong>s Spiels abhängig ist. Mein „Nachtragen<strong>de</strong>r“ ist ein Beispiel<br />
dafür; er hat ein gutes Gedächtnis für Gesichter, und obwohl er<br />
im Grun<strong>de</strong> zusammenarbeitet, verweigert er die Zusammenarbeit,<br />
<strong>wen</strong>n <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Spieler jemals zuvor nicht zusammengearbeitet<br />
hat. Bei an<strong>de</strong>ren Strategien könnte zum Beispiel leichter<br />
vergeben wer<strong>de</strong>n, o<strong>de</strong>r die Spieler könnten ein kürzeres<br />
Gedächtnis haben.<br />
Offensichtlich sind <strong>de</strong>n Möglichkeiten im wie<strong>de</strong>rholten Spiel<br />
nur durch unsere Kreativität Grenzen gesetzt. Können wir feststellen,<br />
welche Strategie die beste ist? Dies war die Aufgabe,<br />
die Axel<strong>ro</strong>d sich selbst stellte. Er hatte <strong>de</strong>n amüsanten Gedanken,<br />
einen Wettbewerb durchzuführen, und gab eine Anzeige<br />
auf, mit <strong>de</strong>r er Experten in <strong>de</strong>r Spieltheorie auffor<strong>de</strong>rte, Strategien<br />
einzusen<strong>de</strong>n. In diesem Zusammenhang sind Strategien<br />
vorp<strong>ro</strong>grammierte Handlungsanweisungen, daher war es<br />
angebracht, daß die Bewerber ihre Beiträge in Computersprache<br />
einsandten. Es wur<strong>de</strong>n 14 Strategien eingereicht. Um<br />
auf eine run<strong>de</strong> Zahl zu kommen, fügte Axel<strong>ro</strong>d selbst eine<br />
fünfzehnte hinzu, die er „Willkür“ nannte und die schlicht
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 320<br />
3 Axel<strong>ro</strong>ds Computerturnier: mögliche Resultate für mich<br />
darin bestand, völlig beliebig zwischen Zusammenarbeiten und<br />
Zusammenarbeit verweigern abzuwechseln. Diese „Nicht-Strategie“<br />
diente als eine Art Nullinie: Wenn eine Strategie nicht<br />
besser abschnei<strong>de</strong>n kann als „Willkür“, muß sie schon ziemlich<br />
schlecht sein.<br />
Axel<strong>ro</strong>d übersetzte alle 15 Strategien in eine gemeinsame<br />
P<strong>ro</strong>grammiersprache und ließ sie in einem leistungsstarken<br />
Computer gegeneinan<strong>de</strong>r antreten. Je<strong>de</strong> Strategie spielte gegen<br />
je<strong>de</strong> an<strong>de</strong>re Strategie (einschließlich einer Kopie ihrer selbst)<br />
das Wie<strong>de</strong>rholte Gefangenendilemma. Bei 15 Strategien waren<br />
dies 15 x 15 o<strong>de</strong>r 225 einzelne Spiele, die in <strong>de</strong>m Computer<br />
gleichzeitig abliefen. Nach<strong>de</strong>m je<strong>de</strong>s Paar 200 Züge <strong>de</strong>s Spiels<br />
durchgeführt hatte, wur<strong>de</strong>n die Gewinne addiert und <strong>de</strong>r<br />
Gewinner <strong>de</strong>s Wettstreits verkün<strong>de</strong>t. Wir sind nicht daran<br />
interessiert, welche Strategie gegen welchen spezifischen
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 321<br />
Gegner gewann. Es kommt vielmehr darauf an, welche Strategie<br />
am meisten „Geld“ anhäufte, <strong>wen</strong>n man alle 15 Kämpfe<br />
zusammenzählte. „Geld“ be<strong>de</strong>utet nichts an<strong>de</strong>res als „Punkte“,<br />
die nach folgen<strong>de</strong>m Schema verteilt wur<strong>de</strong>n: bei<strong>de</strong>rseitige<br />
Zusammenarbeit – drei Punkte; Anreiz zum Verweigern <strong>de</strong>r<br />
Zusammenarbeit – fünf Punkte; Strafe für bei<strong>de</strong>rseitiges Verweigern<br />
<strong>de</strong>r Zusammenarbeit – ein Punkt (was in unserem<br />
früheren Spiel einer leichten Strafe entspricht); Resultat für<br />
<strong>de</strong>n Bet<strong>ro</strong>genen – null Punkte (entspricht in unserem früheren<br />
Spiel einer schweren Strafe).<br />
Die höchste Punktzahl, die eine Strategie erreichen konnte,<br />
war 15000 (für je<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r 15 Gegner 200 Run<strong>de</strong>n zu fünf Punkten<br />
p<strong>ro</strong> Run<strong>de</strong>). Die niedrigste mögliche Punktzahl war null.<br />
Es erübrigt sich, darauf hinzuweisen, daß keiner dieser bei<strong>de</strong>n<br />
Extremwerte erreicht wur<strong>de</strong>. Der maximale Gewinn, <strong>de</strong>n eine<br />
Strategie realistischerweise durchschnittlich in je<strong>de</strong>r ihrer 15<br />
Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen erhoffen darf, kann nicht weit über 600<br />
Punkten liegen. Das ist die Punktzahl, die je<strong>de</strong>r von zwei Spielern<br />
erhalten wür<strong>de</strong>, <strong>wen</strong>n sie bei<strong>de</strong> durchweg zusammenarbeiten<br />
und so je drei Punkte für je<strong>de</strong> <strong>de</strong>r 200 Run<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s<br />
Spiels gewinnen wür<strong>de</strong>n. Wür<strong>de</strong> einer von ihnen <strong>de</strong>r Versuchung<br />
unterliegen, nicht zusammenzuarbeiten, so wür<strong>de</strong> er<br />
wegen <strong>de</strong>r Vergeltungszüge <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren Spielers am En<strong>de</strong><br />
wahrscheinlich <strong>wen</strong>iger als 600 Punkte aufzuweisen haben (bei<br />
<strong>de</strong>r Mehrzahl <strong>de</strong>r eingereichten Strategien war irgen<strong>de</strong>ine Art<br />
von Vergeltungsverhalten eingebaut). Wir können die Zahl 600<br />
als Vergleichsniveau benutzen und alle Ergebnisse in P<strong>ro</strong>zent<br />
dieses Grundwertes angeben. Theoretisch ist es möglich, auf<br />
dieser Skala bis zu 166 P<strong>ro</strong>zent (1000 Punkte) zu erzielen, aber<br />
in <strong>de</strong>r Praxis erlangte kein Mittelwert einer Strategie mehr als<br />
600 Punkte.<br />
Erinnern wir uns daran, daß die „Spieler“ in <strong>de</strong>m Wettbewerb<br />
nicht Menschen waren, son<strong>de</strong>rn Computerp<strong>ro</strong>gramme,<br />
das heißt vorp<strong>ro</strong>grammierte Strategien. Die Menschen, die sie<br />
erdacht hatten, spielten dieselbe Rolle wie Gene, die Körper<br />
vorp<strong>ro</strong>grammieren (<strong>de</strong>nken wir an das Computerschachspiel<br />
in Kapitel 4 und <strong>de</strong>n And<strong>ro</strong>meda-Computer). Wir können uns
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 322<br />
die Strategien als „Miniatur-Bevollmächtigte“ ihrer Autoren<br />
vorstellen. Tatsächlich hätte ein Autor mehr als eine Strategie<br />
einsen<strong>de</strong>n können (obwohl es Betrug gewesen wäre – und<br />
Axel<strong>ro</strong>d es vermutlich nicht erlaubt hätte –, <strong>wen</strong>n ein Autor<br />
<strong>de</strong>n Wettbewerb mit Strategien „vollgestopft“ hätte, von <strong>de</strong>nen<br />
eine von <strong>de</strong>r aufopfern<strong>de</strong>n Kooperation <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren p<strong>ro</strong>fitiert<br />
hätte).<br />
Einige <strong>de</strong>r eingereichten Strategien waren genial, <strong>wen</strong>n<br />
auch natürlich weit <strong>wen</strong>iger genial als ihre Autoren. Bemerkenswerterweise<br />
war die siegreiche Strategie die einfachste<br />
und, oberflächlich betrachtet, am <strong>wen</strong>igsten geniale von allen.<br />
Sie hieß „Wie du mir, so ich dir“ und wur<strong>de</strong> von P<strong>ro</strong>fessor<br />
Anatol Rapoport eingereicht, einem renommierten Psychologen<br />
und Spieltheoretiker aus To<strong>ro</strong>nto. „Wie du mir, so ich dir“<br />
beginnt mit Zusammenarbeiten beim ersten Zug und kopiert<br />
von da an lediglich <strong>de</strong>n vorhergehen<strong>de</strong>n Zug <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren Spielers.<br />
Wie könnte ein Spiel mit <strong>de</strong>r Strategie „Wie du mir, so ich<br />
dir“ ablaufen? Wie immer hängt es vom an<strong>de</strong>ren Spieler ab,<br />
was geschieht. Nehmen wir zunächst an, dieser <strong>wen</strong><strong>de</strong>t die<br />
gleiche Strategie an (erinnern wir uns, daß je<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Strategien<br />
nicht nur gegen die an<strong>de</strong>ren 14 Strategien spielte, son<strong>de</strong>rn<br />
auch gegen eine Kopie ihrer selbst). Bei<strong>de</strong> Wie-du-mir-so-ichdir-Strategen<br />
beginnen mit Zusammenarbeit. Beim nächsten<br />
Zug kopiert je<strong>de</strong>r Spieler <strong>de</strong>n vorherigen Zug <strong>de</strong>s Gegenspielers,<br />
<strong>de</strong>r Zusammenarbeiten hieß. Bei<strong>de</strong> fahren bis zum En<strong>de</strong><br />
<strong>de</strong>s Spiels mit Zusammenarbeiten fort, und bei<strong>de</strong> been<strong>de</strong>n das<br />
Spiel mit 600 Punkten, <strong>de</strong>n vollen 100 P<strong>ro</strong>zent <strong>de</strong>s Vergleichsniveaus.<br />
Nehmen wir nun an, „Wie du mir, so ich dir“ spielt gegen<br />
eine Strategie namens „Naiver P<strong>ro</strong>bierer“. Diese Strategie gab<br />
es in Axel<strong>ro</strong>ds Wettbewerb in Wirklichkeit nicht, aber sie ist<br />
<strong>de</strong>nnoch lehrreich. Sie ist im wesentlichen i<strong>de</strong>ntisch mit „Wie<br />
du mir, so ich dir“, außer daß sie von <strong>Zeit</strong> zu <strong>Zeit</strong>, sagen wir in<br />
einem beliebigen Zug in je<strong>de</strong>r Gruppe von zehn Zügen, völlig<br />
grundlos die Zusammenarbeit verweigert und die hohe Punktzahl<br />
<strong>de</strong>s Anreizes beansprucht. Bis zu <strong>de</strong>m <strong>Zeit</strong>punkt, an <strong>de</strong>m
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 323<br />
„Naiver P<strong>ro</strong>bierer“ <strong>de</strong>n ersten verräterischen Zug ausp<strong>ro</strong>biert,<br />
könnten die bei<strong>de</strong>n Spieler genausogut zwei Wie-du-mir-soich-dir-Strategen<br />
sein. Es scheint, als nähme eine lange und<br />
für bei<strong>de</strong> Seiten p<strong>ro</strong>fitable Abfolge von Zusammenarbeit ihren<br />
Lauf, mit einer beruhigen<strong>de</strong>n Punktzahl von 100 P<strong>ro</strong>zent <strong>de</strong>s<br />
Vergleichsniveaus für je<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Spieler. Aber plötzlich<br />
und ohne Vorwarnung, beispielsweise beim achten Zug, verweigert<br />
„Naiver P<strong>ro</strong>bierer“ die Zusammenarbeit. „Wie du mir,<br />
so ich dir“ hat bei diesem Zug natürlich Zusammenarbeiten<br />
gespielt und muß somit das Resultat <strong>de</strong>s Bet<strong>ro</strong>genen (null<br />
Punkte) einstecken. Der Naive P<strong>ro</strong>bierer scheint gut abgeschnitten<br />
zu haben, da er durch diesen Zug fünf Punkte erhalten<br />
hat. Doch beim nächsten Zug übt <strong>de</strong>r Wie-du-mir-so-ichdir-Stratege<br />
„Vergeltung“. Er spielt Zusammenarbeit verweigern<br />
und folgt dabei lediglich <strong>de</strong>r Regel, <strong>de</strong>n vorhergehen<strong>de</strong>n<br />
Zug seines Gegenspielers zu imitieren. Inzwischen hat <strong>de</strong>r<br />
Naive P<strong>ro</strong>bierer, blindlings <strong>de</strong>r auch seiner Strategie eingebauten<br />
Kopierregel folgend, <strong>de</strong>n Zug Zusammenarbeiten seines<br />
Gegenspielers wie<strong>de</strong>rholt. Somit ist nun er es, <strong>de</strong>r als Bet<strong>ro</strong>gener<br />
null Punkte bekommt, wohingegen <strong>de</strong>rjenige, <strong>de</strong>r „Wie du<br />
mir, so ich dir“ gespielt hat, die hohe Punktzahl von fünf erhält.<br />
Beim nächsten Zug ist es nun am Naiven P<strong>ro</strong>bierer, sich für<br />
<strong>de</strong>n Verrat von „Wie du mir, so ich dir“ zu rächen“ – ziemlich<br />
zu unrecht, möchte man glauben. Und so geht es mit alternieren<strong>de</strong>n<br />
Zügen weiter. Dabei erhalten bei<strong>de</strong> Spieler im Durchschnitt<br />
2,5 Punkte p<strong>ro</strong> Zug (<strong>de</strong>n Mittelwert von fünf und null).<br />
Das ist <strong>wen</strong>iger als die regelmäßigen drei Punkte p<strong>ro</strong> Zug,<br />
die bei<strong>de</strong> Spieler anhäufen können, <strong>wen</strong>n sie miteinan<strong>de</strong>r<br />
kooperieren (nebenbei gesagt ist dies auch <strong>de</strong>r Grund für<br />
die „zusätzliche Bedingung“, die zuvor unerklärt blieb). Das<br />
heißt also, <strong>wen</strong>n ein Naiver P<strong>ro</strong>bierer gegen einen Wie-dumir-so-ich-dir-Strategen<br />
spielt, so ergeht es bei<strong>de</strong>n schlechter,<br />
als <strong>wen</strong>n zwei Wie-du-mir-so-ich-dir-Strategen gegeneinan<strong>de</strong>r<br />
spielen. Und <strong>wen</strong>n ein Naiver P<strong>ro</strong>bierer gegen einen an<strong>de</strong>ren<br />
Naiven P<strong>ro</strong>bierer spielt, so schnei<strong>de</strong>n bei<strong>de</strong> gewöhnlich noch<br />
schlechter ab, da das Verweigern <strong>de</strong>r Zusammenarbeit im allgemeinen<br />
schon früher beginnt.
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 324<br />
Stellen wir uns nun eine an<strong>de</strong>re Strategie vor, die wir<br />
„Reumütiger P<strong>ro</strong>bierer“ nennen. Der Reumütige P<strong>ro</strong>bierer ist<br />
wie <strong>de</strong>r Naive P<strong>ro</strong>bierer, mit <strong>de</strong>r Ausnahme, daß er aktive<br />
Schritte unternimmt, um aus <strong>de</strong>m Kreis <strong>de</strong>r alternieren<strong>de</strong>n<br />
Gegenschläge auszubrechen. Zu diesem Zweck benötigt er ein<br />
geringfügig längeres „Gedächtnis“ als <strong>de</strong>r Wie-du-mir-so-ichdir-Stratege<br />
und <strong>de</strong>r Naive P<strong>ro</strong>bierer. Der Reumütige P<strong>ro</strong>bierer<br />
erinnert sich, ob er eben spontan die Zusammenarbeit verweigert<br />
hat und ob das Resultat sofortige Vergeltung war. Wenn<br />
ja, so erlaubt er seinem Gegenspieler „reumütig einen freien<br />
Gegenschlag“, ohne Vergeltung zu üben. Das be<strong>de</strong>utet, Sequenzen<br />
wechselseitiger Vergeltung wer<strong>de</strong>n im Ansatz gestoppt.<br />
Wenn wir nun in Gedanken ein Spiel zwischen „Reumütiger<br />
P<strong>ro</strong>bierer“ und „Wie du mir, so ich dir“ durchspielen, stellen<br />
wir fest, daß Serien möglicher gegenseitiger Vergeltungszüge<br />
p<strong>ro</strong>mpt unterdrückt wer<strong>de</strong>n. Der größte Teil <strong>de</strong>s Spiels<br />
verläuft in gegenseitiger Zusammenarbeit, und bei<strong>de</strong> Spieler<br />
erfreuen sich <strong>de</strong>r daraus resultieren<strong>de</strong>n g<strong>ro</strong>ßzügigen Punktzahl.<br />
„Reumütiger P<strong>ro</strong>bierer“ schnei<strong>de</strong>t gegen „Wie du mir, so<br />
ich dir“ besser ab als „Naiver P<strong>ro</strong>bierer“, <strong>wen</strong>n auch nicht so<br />
gut wie „Wie du mir, so ich dir“ gegen sich selbst.<br />
Einige <strong>de</strong>r Strategien, die an Axel<strong>ro</strong>ds Turnier teilnahmen,<br />
waren sehr viel komplizierter als „Reumütiger P<strong>ro</strong>bierer“ o<strong>de</strong>r<br />
„Naiver P<strong>ro</strong>bierer“, aber auch sie erzielten im Durchschnitt<br />
<strong>wen</strong>iger Punkte als die einfache Strategie „Wie du mir, so<br />
ich dir“. Tatsächlich war umgekehrt die komplizierteste Strategie<br />
am <strong>wen</strong>igsten erfolgreich (sieht man von „Willkür“ ab).<br />
Sie wur<strong>de</strong> als „Name nicht angegeben“ eingeschrieben – ein<br />
Anreiz zu anregen<strong>de</strong>n Spekulationen: War <strong>de</strong>r Urheber irgen<strong>de</strong>ine<br />
graue Eminenz im Pentagon? Der Chef <strong>de</strong>r CIA? Henry<br />
Kissinger? Axel<strong>ro</strong>d selbst? Wir wer<strong>de</strong>n es wohl nie erfahren.<br />
Es ist nicht allzu interessant, die einzelnen Strategien bis<br />
in je<strong>de</strong>s Detail zu untersuchen. Dieses Buch han<strong>de</strong>lt nicht von<br />
<strong>de</strong>r Genialität von Computerp<strong>ro</strong>grammierern. Viel interessanter<br />
ist es, Strategien nach bestimmten Kategorien zu klassifizieren<br />
und <strong>de</strong>n Erfolg <strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nen Gruppen zu untersuchen.<br />
Die wichtigste Kategorie, die Axel<strong>ro</strong>d erkennt, ist „nett“.
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 325<br />
Eine nette Strategie ist <strong>de</strong>finiert als eine Strategie, die niemals<br />
als erste die Zusammenarbeit verweigert. Ein Beispiel<br />
dafür ist „Wie du mir, so ich dir“. Diese Strategie kann die<br />
Zusammenarbeit verweigern, tut dies aber nur als Vergeltungsschlag.<br />
Sowohl „Naiver P<strong>ro</strong>bierer“ als auch „Reumütiger P<strong>ro</strong>bierer“<br />
sind „gemeine“ Strategien, <strong>de</strong>nn gelegentlich, <strong>wen</strong>n<br />
auch selten, verweigern sie die Zusammenarbeit, ohne dazu<br />
p<strong>ro</strong>voziert wor<strong>de</strong>n zu sein. Von <strong>de</strong>n 15 an <strong>de</strong>m Turnier beteiligten<br />
Strategien waren acht nett. Bemerkenswerterweise waren<br />
die acht erfolgreichsten Strategien eben diese acht netten Strategien,<br />
hinter <strong>de</strong>nen mit Abstand die sieben gemeinen Strategien<br />
folgten. „Wie du mir, so ich dir“ erzielte einen Durchschnitt<br />
von 504,5 Punkten, das sind 84 P<strong>ro</strong>zent unseres Grundwertes<br />
von 600 Punkten, ein gutes Ergebnis. Die an<strong>de</strong>ren netten Strategien<br />
errangen nur geringfügig <strong>wen</strong>iger Punkte, mit Werten,<br />
die von 83,4 P<strong>ro</strong>zent bis hinunter zu 78,6 P<strong>ro</strong>zent reichten.<br />
Zwischen dieser Punktzahl und <strong>de</strong>n 66,8 P<strong>ro</strong>zent, die von<br />
„Graaskamp“, <strong>de</strong>r erfolgreichsten aller gemeinen Strategien,<br />
erreicht wur<strong>de</strong>n, besteht eine breite Kluft. Es scheint ziemlich<br />
überzeugend, daß nette Kerle in diesem Spiel gut abschnei<strong>de</strong>n.<br />
Ein an<strong>de</strong>res landläufiges Wort, das Axel<strong>ro</strong>d in spezieller<br />
Be<strong>de</strong>utung ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>t, ist „verzeihend“. Eine Strategie ist verzeihend,<br />
<strong>wen</strong>n sie zwar Vergeltung üben könnte, aber ein<br />
kurzes Gedächtnis besitzt. Sie ist schnell bereit, über alte<br />
Missetaten hinwegzusehen. „Wie du mir, so ich dir“ ist eine<br />
verzeihen<strong>de</strong> Strategie. Zwar klopft sie jeman<strong>de</strong>m, <strong>de</strong>r die<br />
Zusammenarbeit verweigert, unverzüglich auf die Finger, doch<br />
anschließend läßt sie Vergangenes ruhen. Der Nachtragen<strong>de</strong><br />
aus Kapitel 10 ist alles an<strong>de</strong>re als verzeihend. Seine Erinnerung<br />
bleibt das ganze Spiel über bestehen. Niemals vergißt er<br />
seinen Ärger über einen Spieler, <strong>de</strong>r ihm irgendwann einmal<br />
die Zusammenarbeit verweigert hat, und sei es auch nur ein<br />
einziges Mal gewesen. Eine Strategie, die formal gesehen<br />
<strong>de</strong>m Nachtragen<strong>de</strong>n entspricht, wur<strong>de</strong> in Axel<strong>ro</strong>ds Turnier<br />
unter <strong>de</strong>m Namen „Friedman“ eingetragen, und sie schnitt<br />
nicht beson<strong>de</strong>rs gut ab. Von allen netten Strategien (man
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 326<br />
beachte, daß die Strategie zwar völlig unversöhnlich, aber<br />
<strong>de</strong>finitionsgemäß „nett“ ist) schnitt Nachtragen<strong>de</strong>r/Friedman<br />
am zweitschlechtesten ab. Nicht verzeihen<strong>de</strong> Strategien erzielen<br />
<strong>de</strong>shalb keine sehr guten Ergebnisse, weil sie nicht in <strong>de</strong>r<br />
Lage sind, aus <strong>de</strong>m Kreislauf gegenseitiger Vergeltung auszubrechen,<br />
selbst <strong>wen</strong>n ihr Gegenspieler „Reue“ zeigt.<br />
Es ist möglich, sogar noch verzeihen<strong>de</strong>r zu sein als „Wie<br />
du mir, so ich dir“. Die Strategie „Wie du zweimal mir, so ich<br />
dir“ gestattet <strong>de</strong>m Gegner zwei Verweigerungen hintereinan<strong>de</strong>r,<br />
bevor sie zurückschlägt. Dies mag übertrieben duldsam<br />
erscheinen, doch Axel<strong>ro</strong>d kam zu <strong>de</strong>r Überzeugung, daß<br />
diese Strategie das Turnier gewonnen hätte, hätte sie nur<br />
jemand eingereicht. Der Grund: „Wie du zweimal mir, so ich<br />
dir“ ist hervorragend darin, Sequenzen von gegenseitigen<br />
Vergeltungszügen zu vermei<strong>de</strong>n.<br />
Wir haben also zwei charakteristische Merkmale von siegreichen<br />
Strategien i<strong>de</strong>ntifiziert: Nettsein und Versöhnlichkeit.<br />
Diese nahezu utopisch klingen<strong>de</strong> Schlußfolgerung – daß<br />
Nettsein und Versöhnlichkeit sich auszahlen – war eine<br />
Überraschung für viele <strong>de</strong>r Experten, die versucht hatten,<br />
beson<strong>de</strong>rs schlau zu sein, in<strong>de</strong>m sie Strategien vorschlugen, die<br />
auf subtile Art gemein waren, während selbst die Autoren netter<br />
Strategien es nicht gewagt hatten, eine <strong>de</strong>rart versöhnliche<br />
Strategie wie „Wie du zweimal mir, so ich dir“ vorzuschlagen.<br />
Axel<strong>ro</strong>d kündigte ein zweites Turnier an. Er erhielt 62 Antworten<br />
und fügte wie<strong>de</strong>r die Strategie „Willkür“ hinzu. Diesmal<br />
war die Anzahl <strong>de</strong>r Züge p<strong>ro</strong> Spiel nicht auf 200 festgelegt,<br />
son<strong>de</strong>rn blieb offen, und zwar aus einem guten Grund,<br />
auf <strong>de</strong>n ich später noch zu sprechen kommen wer<strong>de</strong>. Wir<br />
können die Bewertung immer noch in P<strong>ro</strong>zent <strong>de</strong>s Vergleichsniveaus,<br />
das heißt <strong>de</strong>r Bewertung für „Immer zusammenarbeiten“,<br />
ausdrücken, auch <strong>wen</strong>n dieser Grundwert nun kompliziertere<br />
Berechnungen erfor<strong>de</strong>rt und nicht länger bei 600<br />
Punkten festgemacht ist.<br />
Alle am zweiten Wettbewerb teilnehmen<strong>de</strong>n P<strong>ro</strong>grammierer<br />
waren über die Resultate <strong>de</strong>s ersten Turniers unterrichtet<br />
wor<strong>de</strong>n, ebenso wie über Axel<strong>ro</strong>ds Analyse <strong>de</strong>r Grün<strong>de</strong>, wes-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 327<br />
halb „Wie du mir, so ich dir“ und an<strong>de</strong>re nette und verzeihen<strong>de</strong><br />
Strategien so gut abgeschnitten hatten. Es war nur<br />
natürlich zu erwarten, daß die Teilnehmer diese Hintergrundinformation<br />
in <strong>de</strong>r einen o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Weise berücksichtigen<br />
wür<strong>de</strong>n. Tatsächlich bil<strong>de</strong>ten sie zwei Lager mit verschie<strong>de</strong>nen<br />
Denkweisen. Die einen schlossen, daß Nettigkeit und<br />
Versöhnlichkeit offensichtlich gewinnbringen<strong>de</strong> Qualitäten<br />
seien, und reichten <strong>de</strong>mentsprechend nette, verzeihen<strong>de</strong> Strategien<br />
ein. John Maynard Smith ging so weit, die auße<strong>ro</strong>r<strong>de</strong>ntlich<br />
versöhnliche Strategie „Wie du zweimal mir, so ich dir“ vorzuschlagen.<br />
Die an<strong>de</strong>re Denkschule ging davon aus, daß eine<br />
Reihe ihrer Kollegen nach Lektüre von Axel<strong>ro</strong>ds Analyse nunmehr<br />
nette, versöhnliche Strategien einreichen wür<strong>de</strong>n. Sie<br />
erarbeiteten daher gemeine Strategien, mit <strong>de</strong>nen sie diese<br />
voraussichtlichen Einfaltspinsel auszubeuten suchten.<br />
Aber wie<strong>de</strong>r einmal zahlte sich Gemeinheit nicht aus. Erneut<br />
war die von Anatol Rapoport eingereichte Strategie „Wie du<br />
mir, so ich dir“ siegreich, sie erreichte massive 96 P<strong>ro</strong>zent <strong>de</strong>s<br />
Vergleichsniveaus. Auch diesmal erging es <strong>de</strong>n netten Strategien<br />
generell besser als <strong>de</strong>n gemeinen. Von <strong>de</strong>n 15 Spitzenstrategien<br />
waren alle bis auf eine nett, und die 15 Schlußlichter<br />
waren mit einer Ausnahme sämtlich gemeine Strategien. Aber<br />
obwohl die e<strong>de</strong>lmütige Strategie „Wie du zweimal mir, so ich<br />
dir“ das erste Turnier gewonnen hätte, <strong>wen</strong>n sie daran teilgenommen<br />
hätte, war sie im zweiten Wettbewerb nicht siegreich.<br />
Denn nun schloß das Feld subtilere gemeine Strategien<br />
ein, die in <strong>de</strong>r Lage waren, solche absoluten Einfaltspinsel<br />
rücksichtslos auszubeuten.<br />
Damit sind wir auf eine wichtige Tatsache gestoßen: Bei<br />
solchen Turnieren hängt <strong>de</strong>r Erfolg einer Strategie davon ab,<br />
welche an<strong>de</strong>ren Strategien am Wettbewerb teilnehmen. Nur<br />
auf diese Weise läßt sich erklären, warum „Wie du zweimal mir,<br />
so ich dir“ im zweiten Turnier ziemlich weit hinten rangierte,<br />
während dieselbe Strategie im ersten Wettbewerb gewonnen<br />
hätte. Aber wie ich schon sagte, befaßt sich dieses Buch nicht<br />
mit <strong>de</strong>r Genialität von Computerp<strong>ro</strong>grammierern. Gibt es eine<br />
objektive Metho<strong>de</strong>, mit <strong>de</strong>r wir beurteilen können, welches,
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 328<br />
in einem allgemeineren und <strong>wen</strong>iger willkürlichen Sinne, die<br />
wirklich beste Strategie ist? Wer die vorigen Kapitel gelesen<br />
hat, wird bereits darauf vorbereitet sein, die Antwort in <strong>de</strong>r<br />
Theorie <strong>de</strong>r evolutionär stabilen Strategien zu suchen.<br />
Ich gehörte zu <strong>de</strong>n Personen, <strong>de</strong>nen Axel<strong>ro</strong>d seine ersten<br />
Resultate zukommen ließ mit <strong>de</strong>r Einladung, mich mit einer<br />
Strategie an <strong>de</strong>m zweiten Turnier zu beteiligen. Ich tat dies<br />
nicht, machte aber einen an<strong>de</strong>ren Vorschlag. Axel<strong>ro</strong>d hatte<br />
bereits im Sinne <strong>de</strong>r evolutionär stabilen Strategien (ESS) zu<br />
<strong>de</strong>nken begonnen, aber ich hielt diese Ten<strong>de</strong>nz für so be<strong>de</strong>utsam,<br />
daß ich ihm schriftlich vorschlug, sich mit W. D. Hamilton<br />
in Verbindung zu setzen, <strong>de</strong>r damals, ohne daß Axel<strong>ro</strong>d<br />
davon wußte, in einer an<strong>de</strong>ren Abteilung <strong>de</strong>rselben Institution,<br />
<strong>de</strong>r Michigan-Universität, arbeitete. Axel<strong>ro</strong>d nahm<br />
tatsächlich sofort Kontakt mit Hamilton auf, und das Resultat<br />
ihrer anschließen<strong>de</strong>n Zusammenarbeit war ein brillanter Beitrag,<br />
<strong>de</strong>n sie 1981 gemeinsam in <strong>de</strong>r <strong>Zeit</strong>schrift Science<br />
veröffentlichten. Der Beitrag gewann <strong>de</strong>n Newcomb-Cleveland-Preis<br />
<strong>de</strong>r American Association for the Advancement of<br />
Science. Abgesehen davon, daß Axel<strong>ro</strong>d und Hamilton einige<br />
herrlich ausgefallene Beispiele <strong>de</strong>s „Wie<strong>de</strong>rholten Gefangenendilemmas“<br />
aus <strong>de</strong>r Biologie erörterten, zollten sie <strong>de</strong>r ESS-<br />
These die meiner Ansicht nach verdiente Anerkennung.<br />
Vergleichen wir die ESS-Metho<strong>de</strong> mit <strong>de</strong>m Je<strong>de</strong>r-gegenje<strong>de</strong>n-System,<br />
das Axel<strong>ro</strong>d bei seinen bei<strong>de</strong>n Turnieren<br />
benutzte. Dieses System kennen wir aus <strong>de</strong>r Fußballiga. Je<strong>de</strong><br />
Strategie wur<strong>de</strong> gleich oft gegen je<strong>de</strong> an<strong>de</strong>re Strategie ausgespielt.<br />
Das En<strong>de</strong>rgebnis einer Strategie war die Summe <strong>de</strong>r<br />
Punkte, die sie gegen alle an<strong>de</strong>ren Strategien gewann. Um<br />
in einem solchen Je<strong>de</strong>r-gegen-je<strong>de</strong>n-Wettkampf erfolgreich zu<br />
sein, muß eine Strategie daher gut gegen alle an<strong>de</strong>ren Strategien<br />
abschnei<strong>de</strong>n, die zufällig mitspielen. Axel<strong>ro</strong>ds Bezeichnung<br />
für eine Strategie, die sich erfolgreich gegen eine Vielzahl<br />
an<strong>de</strong>rer Strategien durchsetzt, ist „<strong>ro</strong>bust“. „Wie du mir,<br />
so ich dir“ erwies sich als <strong>ro</strong>buste Strategie. Aber wie die<br />
Gruppe <strong>de</strong>r eingereichten Strategien zusammengesetzt ist,<br />
hängt vom Zufall ab. Das war <strong>de</strong>r Punkt, <strong>de</strong>r uns weiter oben
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 329<br />
Sorgen gemacht hat. Es ergab sich einfach so, daß bei Axel<strong>ro</strong>ds<br />
ursprünglichem Wettbewerb die Hälfte <strong>de</strong>r Teilnehmer<br />
nett war. In diesem Klima war „Wie du mir, so ich dir“ <strong>de</strong>r<br />
Gewinner, und in diesem Umfeld hätte „Wie du zweimal mir,<br />
so ich dir“ gewonnen, <strong>wen</strong>n es mitgespielt hätte. Aber nehmen<br />
wir an, es hätte sich zufällig so ergeben, daß fast alle Mitspieler<br />
gemein gewesen wären. Das hätte leicht geschehen<br />
können. Schließlich waren sechs <strong>de</strong>r 14 eingereichten Strategien<br />
gemein. Wären dreizehn von ihnen gemein gewesen, so<br />
hätte „Wie du mir, so ich dir“ nicht gewonnen. Es hätte nicht<br />
das richtige „Klima“ dafür geherrscht. Nicht nur <strong>de</strong>r gewonnene<br />
Geldbetrag, son<strong>de</strong>rn auch die Rangordnung <strong>de</strong>s Erfolgs<br />
unter Strategien hängt davon ab, welche Strategien zufällig<br />
zu <strong>de</strong>m Wettbewerb eingereicht wur<strong>de</strong>n; es hängt, mit an<strong>de</strong>ren<br />
Worten, von etwas so Willkürlichem wie <strong>de</strong>r menschlichen<br />
Laune ab. Wie können wir diese Willkür reduzieren? Durch<br />
„ESS-Denken“.<br />
Wie wir uns aus vorangegangenen Kapiteln erinnern, ist ein<br />
wichtiges Merkmal einer evolutionär stabilen Strategie, daß<br />
sie auch dann noch gut abschnei<strong>de</strong>t, <strong>wen</strong>n sie in <strong>de</strong>r Population<br />
bereits zahlreich ist. Wür<strong>de</strong>n wir zum Beispiel „Wie du mir,<br />
so ich dir“ als ESS bezeichnen, so wür<strong>de</strong> dies be<strong>de</strong>uten, daß<br />
„Wie du mir, so ich dir“ in einem von Wie-du-mir-so-ich-dir-<br />
Strategen beherrschten Umfeld erfolgreich wäre. Man könnte<br />
dies als eine beson<strong>de</strong>re Art von „Robustheit“ betrachten. Als<br />
Evolutionsbiologen sind wir versucht, es als die einzige Art von<br />
Robustheit anzusehen, auf die es ankommt.<br />
Warum kommt es so sehr darauf an? Weil Gewinne in <strong>de</strong>r<br />
Welt <strong>de</strong>s Darwinismus nicht als Geld ausgezahlt wer<strong>de</strong>n; sie<br />
wer<strong>de</strong>n in Form von Nachkommen ausgezahlt. Für einen Darwinisten<br />
ist eine Strategie erfolgreich, <strong>wen</strong>n sie in <strong>de</strong>r Population<br />
von Strategien zahlreich gewor<strong>de</strong>n ist. Damit eine Strategie<br />
erfolgreich bleibt, muß sie beson<strong>de</strong>rs gut abschnei<strong>de</strong>n,<br />
<strong>wen</strong>n sie zahlreich vertreten ist, das heißt in einem Klima, das<br />
von Kopien ihrer selbst beherrscht ist.<br />
Auf <strong>de</strong>r Suche nach einer ESS spielte Axel<strong>ro</strong>d tatsächlich<br />
eine dritte Run<strong>de</strong> seines Turniers durch, so wie die natürliche
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 330<br />
Auslese dies getan haben könnte. Er bezeichnete sie allerdings<br />
nicht als dritte Run<strong>de</strong>, da er keine neuen Teilnehmer<br />
auffor<strong>de</strong>rte, son<strong>de</strong>rn dieselben 63 Strategien benutzte wie bei<br />
<strong>de</strong>r zweiten Run<strong>de</strong>. Doch meiner Meinung nach ist es angebracht,<br />
sie als dritte Run<strong>de</strong> zu behan<strong>de</strong>ln, <strong>de</strong>nn ich glaube,<br />
sie unterschei<strong>de</strong>t sich grundsätzlicher von <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Je<strong>de</strong>rgegen-je<strong>de</strong>n-Wettbewerben,<br />
als diese sich voneinan<strong>de</strong>r unterschei<strong>de</strong>n.<br />
Axel<strong>ro</strong>d nahm die 63 Strategien und speiste sie wie<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n<br />
Computer ein, um die „erste Generation“ einer evolutionären<br />
Sequenz zu erzeugen. In <strong>de</strong>r „ersten Generation“ bestand das<br />
„Klima“ daher aus gleich häufigen Strategien. Am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r<br />
ersten Generation wur<strong>de</strong>n je<strong>de</strong>r Strategie Gewinne ausgezahlt,<br />
und zwar nicht in Form von „Geld“ o<strong>de</strong>r „Punkten“, son<strong>de</strong>rn<br />
in Form von Nachkommen, die mit ihren (ungeschlechtlichen)<br />
Eltern i<strong>de</strong>ntisch waren. Einige Strategien wur<strong>de</strong>n von Generation<br />
zu Generation seltener und starben schließlich aus.<br />
An<strong>de</strong>re wur<strong>de</strong>n häufiger. In <strong>de</strong>m Maße, wie <strong>de</strong>r zahlenmäßige<br />
Anteil <strong>de</strong>r Strategien sich verän<strong>de</strong>rte, än<strong>de</strong>rte sich auch das<br />
„Klima“, in <strong>de</strong>m die weiteren Züge <strong>de</strong>s Spiels stattfan<strong>de</strong>n.<br />
Schließlich, nach ungefähr 1000 Generationen, än<strong>de</strong>rten<br />
sich die Anteile nicht mehr, es gab also auch keine weiteren<br />
Verän<strong>de</strong>rungen im Klima. Ein stabiler Zustand war erreicht.<br />
Vorher waren die Geschicke <strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nen Strategien<br />
abwechselnd günstig und ungünstig gewesen, genauso wie<br />
in meiner Computersimulation <strong>de</strong>r Betrüger, Bet<strong>ro</strong>genen und<br />
Nachtragen<strong>de</strong>n. Einige <strong>de</strong>r Strategien steuerten von Anfang an<br />
auf das Aussterben zu, und die meisten waren nach 200 Generationen<br />
ausgestorben. Von <strong>de</strong>n gemeinen Strategien nahm<br />
die eine o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re anfänglich an Häufigkeit zu, aber ihr<br />
Ge<strong>de</strong>ihen war, wie das <strong>de</strong>r Betrüger in meiner Simulation,<br />
nur von kurzer Dauer. Die einzige gemeine Strategie, die<br />
Generation 200 überlebte, hieß „Harrington“. Ihr Wohlergehen<br />
stieg während <strong>de</strong>r ersten ungefähr 150 Generationen steil<br />
an. Danach ging es mit ihr recht allmählich bergab, und etwa<br />
bei Generation 1000 starb sie aus. „Harrington“ war es aus<br />
<strong>de</strong>mselben Grund eine <strong>Zeit</strong>lang gut ergangen wie meinem
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 331<br />
ursprünglichen Betrüger. Die Strategie beutete T<strong>ro</strong>ttel wie<br />
„Wie du zweimal mir, so ich dir“ (zu verzeihend) aus, solange<br />
es diese gab. Dann, als die T<strong>ro</strong>ttel ausge<strong>ro</strong>ttet waren, folgte die<br />
Strategie „Harrington“ ihnen nach, da sie keine leichte Beute<br />
mehr hatte. Das Feld war frei für „nette“, aber „p<strong>ro</strong>vozierbare“<br />
Strategien wie „Wie du mir, so ich dir“.<br />
In <strong>de</strong>r Tat ging „Wie du mir, so ich dir“ aus fünf von sechs<br />
Durchläufen <strong>de</strong>r dritten Run<strong>de</strong> als Sieger hervor, wie sie es<br />
auch in <strong>de</strong>r ersten und zweiten Run<strong>de</strong> getan hatte. Fünf an<strong>de</strong>re<br />
nette, aber p<strong>ro</strong>vozierbare Strategien waren letzten En<strong>de</strong>s fast<br />
genauso erfolgreich (genauso häufig in <strong>de</strong>r Population) wie<br />
„Wie du mir, so ich dir“; eine von ihnen gewann sogar <strong>de</strong>n sechsten<br />
Durchlauf. Sobald alle gemeinen Strategien ausgestorben<br />
waren, war es ganz und gar nicht mehr möglich, irgen<strong>de</strong>ine <strong>de</strong>r<br />
netten Strategien von „Wie du mir, so ich dir“ o<strong>de</strong>r voneinan<strong>de</strong>r<br />
zu unterschei<strong>de</strong>n, da sie alle, nett wie sie waren, Zusammenarbeiten<br />
spielten.<br />
Eine Konsequenz aus dieser Ununterscheidbarkeit ist, daß<br />
„Wie du mir, so ich dir“ zwar wie eine ESS aussieht, aber<br />
strenggenommen keine echte ESS ist. Erinnern wir uns, daß<br />
eine Strategie, um eine ESS zu sein, nicht von einer seltenen,<br />
mutierten Strategie unterwan<strong>de</strong>rbar sein darf, <strong>wen</strong>n sie weit<br />
verbreitet ist. Nun kann „Wie du mir, so ich dir“ zwar von<br />
keiner gemeinen Strategie unterwan<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n, doch bei<br />
einer an<strong>de</strong>ren netten Strategie liegen die Dinge an<strong>de</strong>rs. Wie wir<br />
gera<strong>de</strong> gesehen haben, sehen nette Strategien in einer Population<br />
solcher Strategien alle genau gleich aus und verhalten sich<br />
alle gleich: Sie spielen alle ständig Zusammenarbeiten. Daher<br />
kann je<strong>de</strong> an<strong>de</strong>re nette Strategie, etwa die uneingeschränkt<br />
e<strong>de</strong>lmütige Strategie „Immer zusammenarbeiten“, auch <strong>wen</strong>n<br />
sie zugegebenermaßen keinen positiven Selektionsvorteil<br />
gegenüber „Wie du mir, so ich dir“ besitzt, in die Population<br />
hineindriften, ohne bemerkt zu wer<strong>de</strong>n. Somit ist „Wie du mir,<br />
so ich dir“ keine echte ESS.<br />
Nun könnte man meinen, daß wir, da die Welt ja genauso nett<br />
bleibt, „Wie du mir, so ich dir“ ebensogut als ESS betrachten<br />
könnten. Doch sehen wir uns an, was als nächstes geschieht. Im
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 332<br />
Gegensatz zu „Wie du mir, so ich dir“ ist „Immer Zusammenarbeiten“<br />
nicht gegen die Invasion gemeiner Strategien wie<br />
„Immer Zusammenarbeit verweigern“ stabil. Diese ist gegen<br />
„Immer zusammenarbeiten“ erfolgreich, weil sie bei je<strong>de</strong>m<br />
Zug <strong>de</strong>n hohen Gewinn <strong>de</strong>s Anreizes erhält. Daher wer<strong>de</strong>n<br />
gemeine Strategien wie „Immer Zusammenarbeit verweigern“<br />
in die Population eindringen und die Anzahl allzu netter Strategien<br />
wie „Immer zusammenarbeiten“ niedrig halten.<br />
Aber obgleich „Wie du mir, so ich dir“ strenggenommen<br />
keine echte ESS ist, ist es wahrscheinlich richtig, eine gewisse<br />
Mischung von hauptsächlich netten, aber Vergeltung üben<strong>de</strong>n<br />
„Wie du mir, so ich dir“-ähnlichen Strategien in <strong>de</strong>r Praxis<br />
so zu behan<strong>de</strong>ln, als entspräche sie in etwa einer ESS. Eine<br />
solche Mischung könnte ein geringes Quantum Gemeinheit<br />
enthalten. In einer <strong>de</strong>r interessanteren Nachfolgearbeiten zu<br />
Axel<strong>ro</strong>ds Arbeit warfen Robert Boyd und Jeffrey Lorberbaum<br />
einen Blick auf eine Mischung aus „Wie du zweimal mir, so ich<br />
dir“ und einer Strategie namens „Argwöhnisches Wie-du-mirso-ich-dir“.<br />
Letztere ist <strong>de</strong>finitionsgemäß eine gemeine Strategie,<br />
aber sie ist nicht sehr gemein. Nach <strong>de</strong>m ersten Zug<br />
verhält sie sich genauso wie „Wie du mir, so ich dir“ selbst, aber<br />
– und dies ist es, was sie zu einer gemeinen Strategie macht –<br />
beim allerersten Zug <strong>de</strong>s Spiels verweigert sie die Zusammenarbeit.<br />
In einem völlig von „Wie du mir, so ich dir“ beherrschten<br />
Klima ge<strong>de</strong>iht „Argwöhnisches Wie-du-mir-so-ich-dir“ nicht,<br />
da ihre anfängliche Verweigerung <strong>de</strong>r Zusammenarbeit eine<br />
ununterb<strong>ro</strong>chene Serie wechselseitiger Gegenschläge auslöst.<br />
Stößt sie jedoch an<strong>de</strong>rerseits auf einen Spieler, <strong>de</strong>r die Strategie<br />
„Wie du zweimal mir, so ich dir“ an<strong>wen</strong><strong>de</strong>t, so unterdrückt<br />
<strong>de</strong>ssen größere Vergebungsbereitschaft die Vergeltung im<br />
Keim. Bei<strong>de</strong> Spieler been<strong>de</strong>n das Spiel min<strong>de</strong>stens mit <strong>de</strong>r<br />
Punktzahl <strong>de</strong>s Vergleichsniveaus (alle arbeiten immer zusammen),<br />
und die Strategie „Argwöhnisches Wie-du-mir-so-ichdir“<br />
gewinnt einen Bonus für ihre anfängliche Zusammenarbeitsverweigerung.<br />
Boyd und Lorberbaum zeigten, daß es,<br />
evolutionär ausgedrückt, einer Mischung von „Wie du zweimal<br />
mir, so ich dir“ und „Argwöhnisches Wie-du-mir-so-ich-dir“
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 333<br />
möglich ist, in eine Population von „Wie du mir, so ich dir“ einzudringen,<br />
wobei je<strong>de</strong>r von bei<strong>de</strong>n jeweils in <strong>de</strong>r Gegenwart<br />
<strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren gut ge<strong>de</strong>iht. Diese Kombination ist fast mit Sicherheit<br />
nicht die einzige, <strong>de</strong>r auf diese Weise eine Invasion gelänge.<br />
Wahrscheinlich gibt es eine ganze Reihe von Mischungen aus<br />
nur <strong>wen</strong>ig gemeinen mit netten und sehr versöhnlichen Strategien,<br />
die zusammen zur Invasion fähig sind. Man könnte versucht<br />
sein, hier Ähnlichkeiten mit vertrauten Aspekten <strong>de</strong>s<br />
menschlichen Lebens zu ent<strong>de</strong>cken.<br />
Axel<strong>ro</strong>d erkannte, daß „Wie du mir, so ich dir“ strenggenommen<br />
keine ESS ist, und prägte für sie daher <strong>de</strong>n Ausdruck<br />
„kollektiv stabile Strategie“. Wie auch im Falle echter<br />
evolutionär stabiler Strategien ist es möglich, daß mehr als<br />
eine Strategie zur selben <strong>Zeit</strong> kollektiv stabil ist. Und wie<strong>de</strong>r<br />
ist es eine Frage <strong>de</strong>s Zufalls, welche Strategie schließlich eine<br />
Population beherrscht. „Immer Zusammenarbeit verweigern“<br />
ist ebenso stabil wie „Wie du mir, so ich dir“. In einer bereits<br />
von „Immer Zusammenarbeit verweigern“ beherrschten Population<br />
ist keine an<strong>de</strong>re Strategie erfolgreicher. Wir können<br />
das System als bistabil behan<strong>de</strong>ln: In einem <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n stabilen<br />
Zustän<strong>de</strong> dominiert „Immer Zusammenarbeit verweigern“,<br />
in <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren „Wie du mir, so ich dir“ (o<strong>de</strong>r irgen<strong>de</strong>ine<br />
Mischung von überwiegend netten, Vergeltung üben<strong>de</strong>n Strategien).<br />
Derjenige stabile Zustand, <strong>de</strong>r zuerst in <strong>de</strong>r Population<br />
herrscht, gleich welcher es ist, wird gewöhnlich bestehen bleiben.<br />
Aber was be<strong>de</strong>utet „dominieren“ quantitativ ausgedrückt?<br />
Wie häufig muß „Wie du mir, so ich dir“ sein, damit diese Strategie<br />
besser abschnei<strong>de</strong>t als „Immer Zusammenarbeit verweigern“?<br />
Das hängt davon ab, welche Gewinne im einzelnen<br />
<strong>de</strong>r Bankier sich in diesem speziellen Spiel auszuzahlen bereit<br />
erklärt hat. Allgemein können wir nur sagen, daß es eine kritische<br />
Frequenz gibt, eine Art Bergkamm. Auf <strong>de</strong>r einen Seite<br />
<strong>de</strong>s Grates ist die kritische Frequenz von „Wie du mir, so ich<br />
dir“ überschritten, und die natürliche Auslese sorgt für eine<br />
stetige Zunahme dieser Strategie. Auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite<br />
<strong>de</strong>s Grates ist die kritische Frequenz für „Immer Zusammen-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 334<br />
arbeit verweigern“ überschritten, und die natürliche Auslese<br />
för<strong>de</strong>rt „Immer Zusammenarbeit verweigern“ immer stärker.<br />
Wir sind einem Äquivalent dieses Grates, wie <strong>de</strong>r Leser sich<br />
erinnern wird, bereits in <strong>de</strong>r Geschichte <strong>de</strong>r Nachtragen<strong>de</strong>n<br />
und Betrüger in Kapitel 10 begegnet.<br />
Es ist daher offensichtlich wichtig, auf welcher Seite <strong>de</strong>s<br />
Grates die Entwicklung einer Population zufällig beginnt. Und<br />
wir müssen wissen, auf welche Weise es dazu kommen könnte,<br />
daß eine Population von einer Seite <strong>de</strong>s Grates auf die an<strong>de</strong>re<br />
gelangt. Nehmen wir an, wir beginnen mit einer Population,<br />
die sich bereits auf <strong>de</strong>r Seite von „Immer Zusammenarbeit verweigern“<br />
befin<strong>de</strong>t. Die <strong>wen</strong>igen Individuen, die „Wie du mir,<br />
so ich dir“ spielen, treffen einan<strong>de</strong>r nicht oft genug, um sich<br />
gegenseitig von Nutzen zu sein. Somit drängt die natürliche<br />
Auslese die Population immer noch weiter in Richtung <strong>de</strong>s<br />
Extrems von „Immer Zusammenarbeit verweigern“. Wenn es<br />
<strong>de</strong>r Population nur eben gelingen wür<strong>de</strong>, durch zufällige Drift<br />
auf die an<strong>de</strong>re Seite <strong>de</strong>s Grates zu gelangen, so könnte sie <strong>de</strong>n<br />
Abhang zur „Wie du mir, so ich dir“-Seite hinabgleiten, und es<br />
ginge allen viel besser, und zwar auf Kosten <strong>de</strong>r Bank (o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r<br />
Natur). Doch natürlich haben Populationen we<strong>de</strong>r einen Gruppenwillen<br />
noch eine Gruppenabsicht o<strong>de</strong>r ein Gruppenziel. Sie<br />
können sich nicht bemühen, über <strong>de</strong>n Grat hinwegzuspringen,<br />
son<strong>de</strong>rn wer<strong>de</strong>n ihn nur dann überqueren, <strong>wen</strong>n die ungerichteten<br />
Kräfte <strong>de</strong>r Natur sie zufällig hinüberführen.<br />
Wie könnte es dazu kommen? Eine Möglichkeit, die Antwort<br />
auszudrücken, ist: „Durch Zufall.“ Aber „Zufall“ ist lediglich<br />
ein Wort, das unserer Unkenntnis Ausdruck gibt. Es be<strong>de</strong>utet<br />
„durch ein bisher unbekanntes o<strong>de</strong>r nicht spezifiziertes Mittel<br />
bedingt“. Wir sind in <strong>de</strong>r Lage, eine etwas bessere Antwort zu<br />
geben. Wir können uns vorzustellen versuchen, mit welchen<br />
praktischen Metho<strong>de</strong>n es einer Min<strong>de</strong>rheit von Individuen mit<br />
<strong>de</strong>r Strategie „Wie du mir, so ich dir“ gelingen könnte, ihre Zahl<br />
auf <strong>de</strong>n kritischen Wert zu erhöhen. Dies läuft auf die Frage<br />
hinaus, welche Möglichkeiten es für Individuen gibt, die „Wie<br />
du mir, so ich dir“ spielen, sich in ausreichend g<strong>ro</strong>ßer Zahl<br />
zusammenzufin<strong>de</strong>n, damit sie alle auf Kosten <strong>de</strong>r Bank p<strong>ro</strong>fi-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 335<br />
tieren können. Dieser Gedankengang scheint vielversprechend<br />
zu sein, ist jedoch ziemlich vage. Auf welche Weise genau<br />
könnte es dazu kommen, daß einan<strong>de</strong>r ähnliche Individuen<br />
sich lokal zusammenballen? In <strong>de</strong>r Natur zweifellos durch<br />
genetische Verwandtschaft. Die Angehörigen <strong>de</strong>r meisten Tierarten<br />
leben wahrscheinlich eher in <strong>de</strong>r Nähe ihrer Schwestern,<br />
Brü<strong>de</strong>r und Vettern als in <strong>de</strong>r Nähe irgendwelcher an<strong>de</strong>ren<br />
beliebigen Populationsmitglie<strong>de</strong>r. Dies ist nicht unbedingt <strong>de</strong>shalb<br />
<strong>de</strong>r Fall, weil sie es so wollen. Es ergibt sich automatisch<br />
aus <strong>de</strong>r „Viskosität“ in <strong>de</strong>r Population. Viskosität be<strong>de</strong>utet je<strong>de</strong><br />
Ten<strong>de</strong>nz von Individuen, in <strong>de</strong>r Nähe <strong>de</strong>s Ortes zu bleiben, an<br />
<strong>de</strong>m sie geboren wur<strong>de</strong>n. Beispielsweise war es während eines<br />
G<strong>ro</strong>ßteils <strong>de</strong>r Geschichte und in <strong>de</strong>n meisten Teilen <strong>de</strong>r Welt so<br />
(<strong>wen</strong>n auch zufällig gera<strong>de</strong> nicht in unserer mo<strong>de</strong>rnen Welt),<br />
daß sich einzelne Menschen selten mehr als ein paar Kilometer<br />
von ihrem Geburtsort entfernten. Als Folge davon entstehen<br />
gewöhnlich örtlich begrenzte Ansammlungen genetisch<br />
verwandter Individuen. Ich erinnere mich, wie ich einmal eine<br />
entlegene Insel vor <strong>de</strong>r Westküste von Irland besuchte und<br />
über die Tatsache verblüfft war, daß fast alle Bewohner dieser<br />
Insel enorm g<strong>ro</strong>ße, abstehen<strong>de</strong> Ohren hatten. Das konnte kaum<br />
eine Anpassung an das örtliche Klima sein (gewöhnlich herrschen<br />
starke von <strong>de</strong>r Küste kommen<strong>de</strong> Win<strong>de</strong>). Der Grund für<br />
dieses Phänomen war vielmehr, daß die meisten Inselbewohner<br />
eng miteinan<strong>de</strong>r verwandt waren.<br />
Genetische Verwandte haben gewöhnlich nicht nur ähnliche<br />
Gesichtszüge, son<strong>de</strong>rn gleichen sich auch in allen möglichen<br />
an<strong>de</strong>ren Beziehungen. Beispielsweise wer<strong>de</strong>n sie einan<strong>de</strong>r<br />
gewöhnlich in bezug auf die genetische Neigung ähneln, die<br />
Strategie „Wie du mir, so ich dir“ anzu<strong>wen</strong><strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r nicht.<br />
Daher kann „Wie du mir, so ich dir“ selbst in einer Population,<br />
in <strong>de</strong>r sie insgesamt selten ist, in lokal begrenzten Bereichen<br />
verbreitet sein. Dort können Individuen, die diese Strategie<br />
an<strong>wen</strong><strong>de</strong>n, oft genug aufeinan<strong>de</strong>rtreffen, um von <strong>de</strong>r gegenseitigen<br />
Zusammenarbeit zu p<strong>ro</strong>fitieren, auch <strong>wen</strong>n Berechnungen,<br />
bei <strong>de</strong>nen nur die globale Häufigkeit in <strong>de</strong>r Gesamtpopulation<br />
in Betracht gezogen wird, anzeigen, daß sie unterhalb
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 336<br />
<strong>de</strong>r kritischen Frequenz liegen. „Wie du mir, so ich dir“ spielen<strong>de</strong><br />
Individuen, die in traulichen kleinen lokalen Enklaven<br />
miteinan<strong>de</strong>r zusammenarbeiten, können so prächtig ge<strong>de</strong>ihen,<br />
daß sich aus kleinen Gruppen größere Ansammlungen entwickeln.<br />
Wenn diese g<strong>ro</strong>ß genug wer<strong>de</strong>n, können sie sich auf<br />
Gebiete aus<strong>de</strong>hnen, in <strong>de</strong>nen bis dahin Individuen mit <strong>de</strong>r<br />
Strategie „Immer Zusammenarbeit verweigern“ dominierten.<br />
Es wäre verkehrt, bei diesen lokalen Enklaven an meine irische<br />
Insel zu <strong>de</strong>nken, <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>ren Bewohner sind räumlich isoliert.<br />
Stellen wir uns statt <strong>de</strong>ssen eine g<strong>ro</strong>ße Population vor,<br />
in <strong>de</strong>r nicht viel Bewegung herrscht, so daß die Individuen<br />
dieser Gruppe ihren nächsten Nachbarn gewöhnlich ähnlicher<br />
sind als <strong>de</strong>n etwas weiter entfernten Nachbarn, selbst <strong>wen</strong>n<br />
überall in <strong>de</strong>m gesamten Gebiet ein permanentes Vermischen<br />
von Genen stattfin<strong>de</strong>t.<br />
Kehren wir zu unserem Grat zurück: „Wie du mir, so ich<br />
dir“ könnte ihn also überwin<strong>de</strong>n. Dazu ist weiter nichts nötig<br />
als eine kleine lokale Ansammlung einan<strong>de</strong>r ähnlicher Individuen,<br />
eine Ansammlung <strong>de</strong>r Art, wie sie in natürlichen Populationen<br />
gewöhnlich von selbst entstehen. Die Strategie „Wie<br />
du mir, so ich dir“ besitzt eine eingebaute Begabung dafür,<br />
<strong>de</strong>n Grat hinüber zu ihrer eigenen Seite zu überqueren, selbst<br />
dann, <strong>wen</strong>n sie selten ist. Es ist, als führe ein Geheimgang<br />
unter <strong>de</strong>m Grat hindurch. Doch dieser Geheimgang enthält ein<br />
Einwegventil: Es besteht eine Asymmetrie. An<strong>de</strong>rs als „Wie<br />
du mir, so ich dir“ kann „Immer Zusammenarbeit verweigern“,<br />
obwohl sie eine echte ESS ist, lokale Zusammenballungen<br />
nicht dazu benutzen, <strong>de</strong>n Grat zu überwin<strong>de</strong>n. Ganz im<br />
Gegenteil. Wenn sie lokal gehäuft auftreten, sind Individuen<br />
mit <strong>de</strong>r Strategie „Immer Zusammenarbeit verweigern“ weit<br />
davon entfernt zu ge<strong>de</strong>ihen: Sie schnei<strong>de</strong>n vielmehr beson<strong>de</strong>rs<br />
schlecht ab. Statt einan<strong>de</strong>r ohne viel Aufhebens auf Kosten<br />
<strong>de</strong>r Bank zu helfen, richten sie sich gegenseitig zugrun<strong>de</strong>. Das<br />
heißt, an<strong>de</strong>rs als „Wie du mir, so ich dir“ erhält „Immer Zusammenarbeit<br />
verweigern“ keinerlei Hilfe in <strong>de</strong>r Population.<br />
Das heißt, „Wie du mir, so ich dir“ kann zwar nur mit einigen<br />
Zweifeln als ESS angesehen wer<strong>de</strong>n, besitzt aber eine Art
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 337<br />
Stabilität höherer Ordnung. Was könnte das be<strong>de</strong>uten? Gewiß,<br />
stabil ist stabil. Aber hier betrachten wir die Dinge langfristig.<br />
Während einer langen <strong>Zeit</strong>spanne wi<strong>de</strong>rsteht „Immer Zusammenarbeit<br />
verweigern“ <strong>de</strong>r Invasion. Doch <strong>wen</strong>n wir lange<br />
genug warten, vielleicht Tausen<strong>de</strong> von Jahren, wird „Wie du<br />
mir, so ich dir“ schließlich häufig genug wer<strong>de</strong>n, um <strong>de</strong>n<br />
Grat zu überwin<strong>de</strong>n, und es wird zu einer Wendung in <strong>de</strong>r<br />
Population kommen. Die umgekehrte Entwicklung ist nicht<br />
möglich. Da „Immer Zusammenarbeit verweigern“ nicht von<br />
Zusammenballungen p<strong>ro</strong>fitieren kann, erfreut sie sich dieser<br />
Stabilität höherer Ordnung nicht.<br />
Wie wir gesehen haben, ist die Strategie „Wie du mir, so ich<br />
dir“ „nett“, was be<strong>de</strong>utet, daß sie niemals als erste die Zusammenarbeit<br />
verweigert, und „verzeihend“, was be<strong>de</strong>utet, daß<br />
ihr Gedächtnis für vergangene Missetaten kurz ist. Ich führe<br />
jetzt einen weiteren von Axel<strong>ro</strong>d in einem speziellen Sinne ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>ten<br />
Ausdruck ein. „Wie du mir, so ich dir“ ist außer<strong>de</strong>m<br />
„nicht neidisch“. Neidisch sein be<strong>de</strong>utet hier, daß ein Spieler<br />
danach trachtet, mehr Geld zu gewinnen als sein Gegner,<br />
statt eine bestimmte Summe vom Geld <strong>de</strong>r Bank haben zu<br />
wollen. Nicht neidisch sein be<strong>de</strong>utet, daß ein Spieler völlig<br />
damit zufrie<strong>de</strong>n ist, <strong>wen</strong>n <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Spieler genausoviel Geld<br />
gewinnt wie er selbst, solange bei<strong>de</strong> auf diese Weise mehr von<br />
<strong>de</strong>r Bank erhalten. In <strong>de</strong>r Tat „gewinnt“ „Wie du mir, so ich dir“<br />
niemals ein Spiel. Wenn wir darüber nach<strong>de</strong>nken, erkennen<br />
wir, daß diese Strategie in keinem Spiel eine höhere Punktzahl<br />
als ihr „Gegner“ erlangen kann, da sie niemals die Zusammenarbeit<br />
verweigert, es sei <strong>de</strong>nn als Gegenschlag. Im besten Fall<br />
kann sie ein Unentschie<strong>de</strong>n erreichen. Bei diesem Unentschie<strong>de</strong>n<br />
erzielen aber bei<strong>de</strong> Seiten gewöhnlich hohe Punktzahlen.<br />
Wo es um „Wie du mir, so ich dir“ und an<strong>de</strong>re nette Strategien<br />
geht, ist schon das Wort „Gegner“ unangebracht. Doch <strong>wen</strong>n<br />
Psychologen echte Menschen das Wie<strong>de</strong>rholte Gefangenendilemma<br />
spielen lassen, verfallen lei<strong>de</strong>r fast alle Spieler <strong>de</strong>m<br />
Neid und erzielen daher in bezug auf Geld relativ niedrige<br />
Gewinne. Es sieht so aus, als wollten viele Menschen, vielleicht<br />
ohne auch nur darüber nachzu<strong>de</strong>nken, eher <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Spie-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 338<br />
ler zugrun<strong>de</strong> richten, als mit ihm zusammenarbeiten, um die<br />
Bank zu schädigen. Axel<strong>ro</strong>ds Untersuchungen haben gezeigt,<br />
welch ein Fehler dies ist.<br />
Es ist nur bei bestimmten Arten von Spielen ein Fehler.<br />
Spieltheoretiker unterteilen alle Spiele in „Nullsummenspiele“<br />
und „Nichtnullsummenspiele“. Bei einem Nullsummenspiel<br />
ist ein Gewinn für <strong>de</strong>n einen Spieler ein Verlust für <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren.<br />
Schach beispielsweise ist ein Nullsummenspiel, <strong>de</strong>nn das<br />
Ziel je<strong>de</strong>s Spielers ist, zu gewinnen, und das be<strong>de</strong>utet, er<br />
muß dafür sorgen, daß <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Spieler verliert. Das Gefangenendilemma<br />
jedoch ist ein Nichtnullsummenspiel. Es gibt<br />
eine Bank, die Geld auszahlt, und die bei<strong>de</strong>n Spieler können<br />
sehr wohl Arm in Arm lachend <strong>de</strong>n ganzen Weg bis zur Bank<br />
gehen.<br />
Dieser Ausdruck, daß sie lachend <strong>de</strong>n ganzen Weg bis zur<br />
Bank gehen, erinnert mich an eine g<strong>ro</strong>ßartige Zeile bei Shakespeare:<br />
Das erste, was wir tun: laßt uns alle Rechtsanwälte töten.<br />
Heinrich VI., II. Akt<br />
Zivilp<strong>ro</strong>zesse sind „Streitfälle“, in <strong>de</strong>nen es häufig einen breiten<br />
Spielraum für Zusammenarbeit gibt. Was wie eine Nullsummen-Konf<strong>ro</strong>ntation<br />
aussieht, kann mit ein <strong>wen</strong>ig gutem<br />
Willen in ein für alle Seiten vorteilhaftes Nichtnullsummenspiel<br />
umgewan<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n. Betrachten wir <strong>de</strong>n Fall von Ehescheidungen.<br />
Eine gute Ehe ist offensichtlich ein Nichtnullsummenspiel,<br />
das voll von gegenseitiger Zusammenarbeit ist.<br />
Aber selbst <strong>wen</strong>n eine Ehe zerbricht, wäre es für das Paar<br />
aus zahlreichen Grün<strong>de</strong>n von Vorteil, weiterhin zusammenzuarbeiten<br />
und auch seine Scheidung als Nichtnullsummenspiel<br />
zu behan<strong>de</strong>ln. Als ob das Wohlergehen <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r nicht Grund<br />
genug wäre, reißen die Honorare von zwei Rechtsanwälten<br />
auch noch ein häßliches Loch in die Familienfinanzen. So<br />
wird ein vernünftiges und zivilisiertes Ehepaar offensichtlich<br />
zunächst zusammen einen Rechtsanwalt konsultieren, o<strong>de</strong>r<br />
etwa nicht?
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 339<br />
Nun, in Wahrheit ist es nicht so. Zumin<strong>de</strong>st in England<br />
und bis vor kurzem auch in allen fünfzig Staaten <strong>de</strong>r USA<br />
erlaubt ihnen das Gesetz nicht, sich so zu verhalten, o<strong>de</strong>r<br />
genauer gesagt – und be<strong>de</strong>utsamer – erlaubt <strong>de</strong>r Berufsko<strong>de</strong>x<br />
<strong>de</strong>r Rechtsanwälte es ihnen nicht. Rechtsanwälte dürfen nur<br />
einen Ehepartner als Klienten annehmen. Der an<strong>de</strong>re wird<br />
abgewiesen und erhält entwe<strong>de</strong>r überhaupt keinen rechtlichen<br />
Beistand o<strong>de</strong>r ist gezwungen, einen zweiten Rechtsanwalt aufzusuchen.<br />
Und dann geht <strong>de</strong>r Spaß los. In getrennten Bü<strong>ro</strong>s,<br />
aber unisono beginnen die bei<strong>de</strong>n Rechtsanwälte unverzüglich,<br />
von „uns“ und „ihnen“ zu sprechen. „Uns“, verstehen wir das<br />
recht, be<strong>de</strong>utet nicht ich und meine Frau; es be<strong>de</strong>utet ich und<br />
mein Rechtsanwalt gegen meine Frau und ihren Rechtsanwalt.<br />
Wenn <strong>de</strong>r Fall vor Gericht kommt, wird er in <strong>de</strong>r Tat als<br />
„Schmidt gegen Schmidt“ aufgerufen! Es wird davon ausgegangen,<br />
daß es ein kont<strong>ro</strong>verser Fall ist, gleichgültig, ob die Ehepartner<br />
feindliche Gefühle gegeneinan<strong>de</strong>r hegen o<strong>de</strong>r nicht, und<br />
gleichgültig, ob sie eigens vereinbart haben, vernünftigerweise<br />
freundschaftlich miteinan<strong>de</strong>r umzugehen. Und wer hat einen<br />
Vorteil davon, daß <strong>de</strong>r Fall als eine „Ich gewinne, du verlierst“-<br />
Rauferei behan<strong>de</strong>lt wird? Vermutlich nur die Rechtsanwälte.<br />
Das glücklose Ehepaar ist in ein Nullsummenspiel<br />
hineingedrängt wor<strong>de</strong>n. Für die Rechtsanwälte jedoch ist <strong>de</strong>r<br />
Fall Schmidt gegen Schmidt ein nettes, fettes Nichtnullsummenspiel,<br />
bei <strong>de</strong>m die Schmidts die Belohnungen zahlen und<br />
sie selbst das gemeinsame Konto ihrer bei<strong>de</strong>n Klienten in<br />
sorgfältig kodierter Zusammenarbeit plün<strong>de</strong>rn. Beispielsweise<br />
machen sie Vorschläge, die, wie sie bei<strong>de</strong> wissen, von <strong>de</strong>r<br />
jeweils an<strong>de</strong>ren Seite nicht akzeptiert wer<strong>de</strong>n. Dies p<strong>ro</strong>voziert<br />
einen Gegenvorschlag, von <strong>de</strong>m sie ebenfalls bei<strong>de</strong> wissen, daß<br />
er nicht akzeptabel ist. Und so geht es weiter. Je<strong>de</strong>r Brief, je<strong>de</strong>r<br />
Telefonanruf, <strong>de</strong>r zwischen <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n zusammenarbeiten<strong>de</strong>n<br />
„Gegnern“ ausgetauscht wird, erhöht die Rechnung um einen<br />
weiteren Batzen. Mit einigem Glück läßt sich dieses Vorgehen<br />
monate- o<strong>de</strong>r sogar jahrelang hinziehen, und entsprechend<br />
steigen die Kosten. Die bei<strong>de</strong>n Rechtsanwälte setzen sich nicht<br />
etwa zusammen, um sich dies alles einfallen zu lassen. Im
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 340<br />
Gegenteil, i<strong>ro</strong>nischerweise ist gera<strong>de</strong> die Tatsache, daß sie<br />
so peinlich getrennt sind, das Hauptinstrument ihrer Zusammenarbeit<br />
auf Kosten <strong>de</strong>r Klienten. Möglicherweise sind die<br />
Rechtsanwälte sich gar nicht <strong>de</strong>ssen bewußt, was sie tun. Wie<br />
die Vampire, mit <strong>de</strong>nen wir uns gleich befassen wer<strong>de</strong>n, spielen<br />
sie lediglich nach perfekt ritualisierten Regeln. Das System<br />
funktioniert ohne je<strong>de</strong> bewußte Aufsicht o<strong>de</strong>r Organisation. Es<br />
ist völlig darauf angelegt, uns in Nullsummenspiele hineinzuzwingen.<br />
Nullsummenspiele für die Klienten, aber ausgesp<strong>ro</strong>chene<br />
Nichtnullsummenspiele für die Rechtsanwälte.<br />
Was sollen wir tun? Shakespeares Lösung verursacht eine<br />
Menge Schlamassel. Es wäre sauberer, für eine Gesetzesän<strong>de</strong>rung<br />
zu sorgen. Aber die meisten Parlamentarier<br />
kommen aus <strong>de</strong>n juristischen Berufen und haben eine<br />
Nullsummenmentalität. Man kann sich kaum eine feindlichere<br />
Atmosphäre vorstellen als das englische Unterhaus. (Vor<br />
Gericht wird in <strong>de</strong>r Debatte <strong>wen</strong>igstens <strong>de</strong>r Anstand gewahrt.<br />
Das fällt auch nicht schwer, da „mein gelehrter Freund und<br />
ich“ <strong>de</strong>n ganzen Weg zur Bank sehr schön zusammenarbeiten.)<br />
Vielleicht sollte man wohlmeinen<strong>de</strong>n Gesetzgebern und wirklich<br />
reumütigen Juristen ein <strong>wen</strong>ig Spieltheorie beibringen.<br />
Es ist nur gerecht, <strong>wen</strong>n wir hinzufügen, daß einige Juristen<br />
genau die umgekehrte Rolle spielen, in<strong>de</strong>m sie ihre Klienten,<br />
die auf einen Nullsummenkampf aus sind, davon überzeugen,<br />
daß eine außergerichtliche Nichtnullsummenregelung für sie<br />
günstiger wäre.<br />
Wie sieht es mit an<strong>de</strong>ren Spielen im menschlichen Leben<br />
aus? Welches sind Nullsummen- und welches Nichtnullsummenspiele?<br />
Und – <strong>de</strong>nn das ist nicht dasselbe – welche Aspekte<br />
<strong>de</strong>s Lebens verstehen wir als Nullsummen- o<strong>de</strong>r Nichtnullsummenspiele?<br />
Welche Aspekte <strong>de</strong>s Lebens för<strong>de</strong>rn „Neid“<br />
und welche die Zusammenarbeit gegen eine „Bank“? Denken<br />
wir beispielsweise an Lohnverhandlungen und Lohngefälle.<br />
Wer<strong>de</strong>n wir, <strong>wen</strong>n wir unsere Lohnerhöhungen aushan<strong>de</strong>ln,<br />
von „Neid“ getrieben, o<strong>de</strong>r arbeiten wir zusammen, um unser<br />
Realeinkommen zu maximieren? Glauben wir – im wirklichen<br />
Leben ebenso wie in psychologischen Experimenten –, daß wir
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 341<br />
ein Nullsummenspiel spielen, <strong>wen</strong>n dies tatsächlich nicht <strong>de</strong>r<br />
Fall ist? Ich stelle diese schwierigen Fragen einfach nur. Sie zu<br />
beantworten, wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>n Rahmen dieses Buches sprengen.<br />
Fußball ist ein Nullsummenspiel. Wenigstens ist es das normalerweise;<br />
gelegentlich kann es aber zu einem Nichtnullsummenspiel<br />
wer<strong>de</strong>n. Dies geschah 1977 in <strong>de</strong>r englischen<br />
Fußballiga. Die Mannschaften in <strong>de</strong>r Fußballiga wer<strong>de</strong>n in vier<br />
Divisionen aufgeteilt. Die Vereine spielen gegen an<strong>de</strong>re Vereine<br />
in ihrer eigenen Division und sammeln während <strong>de</strong>r ganzen<br />
Saison Punkte für Siege und unentschie<strong>de</strong>ne Spiele. In <strong>de</strong>r<br />
Ersten Division zu sein bringt Prestige und ist außer<strong>de</strong>m für<br />
einen Verein lukrativ, <strong>de</strong>nn es garantiert g<strong>ro</strong>ße Zuschauermengen.<br />
Am En<strong>de</strong> je<strong>de</strong>r Spielzeit steigen die untersten drei Vereine<br />
<strong>de</strong>r Ersten Division für die nächste Saison in die Zweite Division<br />
ab. Absteigen scheint als schreckliches Schicksal angesehen<br />
zu wer<strong>de</strong>n, und um es zu vermei<strong>de</strong>n, sind g<strong>ro</strong>ße Anstrengungen<br />
gerechtfertigt.<br />
Der 18. Mai 1977 war <strong>de</strong>r letzte Tag <strong>de</strong>r Fußballsaison jenes<br />
Jahres. Zwei <strong>de</strong>r drei Absteiger aus <strong>de</strong>r Ersten Division waren<br />
bereits ermittelt, aber um <strong>de</strong>n dritten Abstieg wur<strong>de</strong> noch<br />
gekämpft. Es wür<strong>de</strong> zweifellos einer <strong>de</strong>r drei Vereine Sun<strong>de</strong>rland,<br />
Bristol o<strong>de</strong>r Coventry sein. Diese Vereine hatten also an<br />
jenem Samstag allen Grund, sich anzustrengen. Sun<strong>de</strong>rland<br />
spielte gegen einen vierten Verein (über <strong>de</strong>ssen Verbleib in <strong>de</strong>r<br />
Ersten Division kein Zweifel bestand). Und es ergab sich, daß<br />
Bristol und Coventry gegeneinan<strong>de</strong>r spielten. Man wußte, daß,<br />
<strong>wen</strong>n Sun<strong>de</strong>rland das Spiel verlor, Bristol und Coventry lediglich<br />
ein Unentschie<strong>de</strong>n benötigten, um in <strong>de</strong>r Ersten Division<br />
zu bleiben. Sollte Sun<strong>de</strong>rland jedoch gewinnen, so wäre, je<br />
nach <strong>de</strong>m Ergebnis <strong>de</strong>s Spieles zwischen Bristol und Coventry,<br />
einer <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Absteiger. Die bei<strong>de</strong>n entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />
Spiele fan<strong>de</strong>n theoretisch gleichzeitig statt. In Wirklichkeit<br />
jedoch begann das Spiel Bristol-Coventry zufällig mit fünf<br />
Minuten Verspätung. Aus diesem Grun<strong>de</strong> wur<strong>de</strong> das Ergebnis<br />
von Sun<strong>de</strong>rlands Spiel vor En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Begegnung Bristol-Coventry<br />
bekannt. Und das ist <strong>de</strong>r Clou dieser ganzen komplizierten<br />
Geschichte.
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 342<br />
Während <strong>de</strong>r größten <strong>Zeit</strong> <strong>de</strong>s Spiels zwischen Bristol und<br />
Coventry war die Begegnung, um einen zeitgenössischen Sportbericht<br />
zu zitieren, „schnell und häufig wütend“, ein erregen<strong>de</strong>r<br />
(<strong>wen</strong>n man so etwas mag) Schlag-auf-Schlag-Kampf. Einige<br />
glänzen<strong>de</strong> Torschüsse von bei<strong>de</strong>n Seiten hatten dafür gesorgt,<br />
daß das Spiel in <strong>de</strong>r 80. Minute zwei zu zwei stand. Dann<br />
drang, zwei Minuten vor Spielen<strong>de</strong>, die Nachricht vom an<strong>de</strong>ren<br />
Spielfeld durch, daß Sun<strong>de</strong>rland verloren hatte. Unverzüglich<br />
sorgte <strong>de</strong>r Mannschaftskapitän von Coventry dafür, daß die<br />
Nachricht auf <strong>de</strong>m riesigen elekt<strong>ro</strong>nischen Standanzeiger an<br />
einem En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Spielfel<strong>de</strong>s aufflammte. Offensichtlich waren<br />
alle 22 Spieler <strong>de</strong>s Lesens mächtig, und sie begriffen alle,<br />
daß sie sich nun nicht mehr anzustrengen brauchten. Ein<br />
Unentschie<strong>de</strong>n war alles, was je<strong>de</strong> <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Mannschaften<br />
brauchte, um vor <strong>de</strong>m Abstieg sicher zu sein. Sich anzustrengen,<br />
um Tore zu erzielen, wäre nun sogar eine ein<strong>de</strong>utig<br />
schlechte Taktik gewesen, <strong>de</strong>nn es hätte Spieler von <strong>de</strong>r Verteidigung<br />
abgezogen und dadurch das Risiko erhöht, tatsächlich<br />
zu verlieren – und schließlich doch noch abzusteigen. Bei<strong>de</strong><br />
Seiten waren eifrig darauf bedacht, ein Unentschie<strong>de</strong>n sicherzustellen.<br />
Um dieselben Sportnachrichten zu zitieren: „Fans,<br />
die Sekun<strong>de</strong>n zuvor, als Don Gillies in <strong>de</strong>r 80. Minute ein Ausgleichstor<br />
für Bristol schoß, wüten<strong>de</strong> Gegner gewesen waren,<br />
taten sich plötzlich zu gemeinsamer Feier zusammen. Schiedsrichter<br />
Ron Challis schaute hilflos zu, wie die Spieler <strong>de</strong>n<br />
Ball herumschubsten und dabei <strong>de</strong>n Spieler, <strong>de</strong>r am Ball war,<br />
<strong>wen</strong>ig o<strong>de</strong>r gar nicht herausfor<strong>de</strong>rten.“ Was zuvor ein Nullsummenspiel<br />
gewesen war, war wegen einer Nachricht aus <strong>de</strong>r<br />
Außenwelt plötzlich zu einem Nichtnullsummenspiel gewor<strong>de</strong>n.<br />
Es ist, als sei plötzlich durch Zauberkraft von außen<br />
eine „Bank“ erschienen, die es bei<strong>de</strong>n, Bristol wie Coventry,<br />
möglich machte, von <strong>de</strong>m gleichen Resultat zu p<strong>ro</strong>fitieren –<br />
einem Unentschie<strong>de</strong>n.<br />
Zuschauerspiele wie Fußball sind normalerweise Nullsummenspiele,<br />
und das aus gutem Grund. Es ist für eine Menschenmenge<br />
weitaus erregen<strong>de</strong>r, Spieler zu beobachten, die<br />
verbissen gegeneinan<strong>de</strong>r kämpfen, als solche, die sich in aller
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 343<br />
Freundschaft gegenseitig gewähren lassen. Aber das wirkliche<br />
Leben, sowohl das menschliche als auch das <strong>de</strong>r Tiere und<br />
Pflanzen, fin<strong>de</strong>t nicht für Zuschauer statt. Viele Situationen im<br />
wirklichen Leben entsprechen in <strong>de</strong>r Tat Nichtnullsummenspielen.<br />
Die Natur spielt häufig die Rolle <strong>de</strong>r „Bank“, daher<br />
kann ein Individuum vom Erfolg <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren p<strong>ro</strong>fitieren und<br />
umgekehrt. Man braucht keine Rivalen zugrun<strong>de</strong> zu richten,<br />
um selbst erfolgreich zu sein. Ohne von <strong>de</strong>n grundlegen<strong>de</strong>n<br />
Gesetzen <strong>de</strong>s egoistischen Gens abzugehen, erkennen wir, wie<br />
Zusammenarbeit und wechselseitige Hilfe selbst in einer im<br />
wesentlichen egoistischen Welt blühen und ge<strong>de</strong>ihen können.<br />
Nun ist <strong>de</strong>utlich, auf welche Weise (in Axel<strong>ro</strong>ds Sinne) nette<br />
Kerle als erste ans Ziel gelangen können.<br />
Aber dies alles funktioniert nicht, solange das Spiel nicht<br />
wie<strong>de</strong>rholt wird. Die Spieler müssen wissen (o<strong>de</strong>r „wissen“), daß<br />
das gegenwärtig stattfin<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Spiel nicht das letzte zwischen<br />
ihnen ist. In Axel<strong>ro</strong>ds eindringlicher Sprache ausgedrückt,<br />
heißt das: Der „Schatten <strong>de</strong>r Zukunft“ muß lang sein. Aber wie<br />
lang? Er kann nicht unendlich lang sein. Theoretisch gesehen<br />
kommt es nicht darauf an, wie lang das Spiel ist; wichtig ist, daß<br />
keiner <strong>de</strong>r Spieler wissen sollte, wann es en<strong>de</strong>t. Nehmen wir<br />
an, <strong>de</strong>r Leser und ich spielten gegeneinan<strong>de</strong>r, und nehmen wir<br />
weiter an, wir wüßten bei<strong>de</strong>, daß das Spiel genau 100 Run<strong>de</strong>n<br />
dauern soll. Nun ist uns bei<strong>de</strong>n klar, daß die 100. Run<strong>de</strong>, da sie<br />
die letzte ist, einem einfachen einmaligen Gefangenendilemma<br />
entspricht. Daher ist in <strong>de</strong>r 100. Run<strong>de</strong> die einzig vernünftige<br />
Strategie für je<strong>de</strong>n von uns bei<strong>de</strong>n Zusammenarbeit verweigern,<br />
und wir können bei<strong>de</strong> davon ausgehen, daß <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re<br />
Spieler zu <strong>de</strong>mselben Ergebnis kommen und entschlossen sein<br />
wird, in <strong>de</strong>r letzten Run<strong>de</strong> die Zusammenarbeit zu verweigern.<br />
Die letzte Run<strong>de</strong> kann daher als vorhersehbar abgeschrieben<br />
wer<strong>de</strong>n. Nun aber wird die 99. Run<strong>de</strong> gleichbe<strong>de</strong>utend mit<br />
einem einzigen Spiel, und die einzig vernünftige Wahl für je<strong>de</strong>n<br />
Spieler in diesem vorletzten Spiel ist ebenfalls Zusammenarbeit<br />
verweigern. Die 98. Run<strong>de</strong> unterliegt <strong>de</strong>mselben Gedankengang<br />
– und so weiter. Zwei strikt vernünftige Spieler, von<br />
<strong>de</strong>nen je<strong>de</strong>r davon ausgeht, daß <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re sich ebenfalls strikt
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 344<br />
rational verhält, können nichts an<strong>de</strong>res tun, als die Zusammenarbeit<br />
zu verweigern, solange sie bei<strong>de</strong> wissen, wie viele<br />
Run<strong>de</strong>n das Spiel haben wird. Aus diesem Grund gehen Spieltheoretiker,<br />
<strong>wen</strong>n sie über das Wie<strong>de</strong>rholte Gefangenendilemma<br />
sprechen, immer von <strong>de</strong>r Annahme aus, daß das En<strong>de</strong><br />
<strong>de</strong>s Spiels unvorhersagbar o<strong>de</strong>r nur <strong>de</strong>r Bank bekannt ist.<br />
Selbst <strong>wen</strong>n die genaue Anzahl <strong>de</strong>r Run<strong>de</strong>n eines Spiels<br />
nicht mit Sicherheit bekannt ist, ist es im wirklichen Leben<br />
oft möglich, statistisch abzuschätzen, wie lange das Spiel wahrscheinlich<br />
noch dauern wird. Diese Einschätzung kann zu<br />
einem wichtigen Teil <strong>de</strong>r Strategie wer<strong>de</strong>n. Wenn ich bemerke,<br />
daß <strong>de</strong>r Bankier unruhig wird und auf seine Uhr sieht, ist<br />
die Vermutung berechtigt, daß das Spiel gleich zu En<strong>de</strong> sein<br />
wird, und ich kann daher versucht sein, die Zusammenarbeit<br />
zu verweigern. Wenn ich <strong>de</strong>n Verdacht habe, daß <strong>de</strong>r Leser<br />
die Nervosität <strong>de</strong>s Bankiers ebenfalls bemerkt hat, so fürchte<br />
ich möglicherweise, daß er ebenfalls daran <strong>de</strong>nkt, die Zusammenarbeit<br />
zu verweigern. Ich wer<strong>de</strong> wahrscheinlich ängstlich<br />
darum bemüht sein, als erster die Zusammenarbeit zu verweigern.<br />
Beson<strong>de</strong>rs, da ich die Befürchtung hege, daß <strong>de</strong>r Leser<br />
befürchtet, daß ich ...<br />
Die einfache Unterscheidung <strong>de</strong>s Mathematikers zwischen<br />
<strong>de</strong>m „Einmaligen“ und <strong>de</strong>m „Wie<strong>de</strong>rholten Gefangenendilemmaspiel“<br />
ist zu einfach. Man kann davon ausgehen, daß je<strong>de</strong>r<br />
Spieler sich so verhält, als besäße er eine ständig aktualisierte<br />
Vorstellung davon, wie lange das Spiel wahrscheinlich noch<br />
weitergeht. Je länger <strong>de</strong>r von ihm geschätzte <strong>Zeit</strong>raum, <strong>de</strong>sto<br />
mehr wird sein Spiel <strong>de</strong>n Erwartungen <strong>de</strong>s Mathematikers<br />
hinsichtlich <strong>de</strong>s echten wie<strong>de</strong>rholten Spiels entsprechen, mit<br />
an<strong>de</strong>ren Worten: Um so netter, verständnisvoller, <strong>wen</strong>iger<br />
neidisch wird er sein. Je kürzer er die restliche Spieldauer<br />
einschätzt, <strong>de</strong>sto stärker wird er geneigt sein, entsprechend<br />
<strong>de</strong>n Erwartungen <strong>de</strong>s Mathematikers für das einmalige Spiel<br />
zu han<strong>de</strong>ln: Um so gemeiner und <strong>wen</strong>iger verzeihend wird er<br />
sein.<br />
Um die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s Schattens <strong>de</strong>r Zukunft zu illustrieren,<br />
führt Axel<strong>ro</strong>d ein bewegen<strong>de</strong>s Beispiel an. Es hat mit
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 345<br />
einem bemerkenswerten Phänomen zu tun, das während <strong>de</strong>s<br />
Ersten Weltkrieges entstand, <strong>de</strong>m System „Leben und leben<br />
lassen“. Seine Quelle sind die Forschungen <strong>de</strong>s Historikers und<br />
Soziologen Tony Ashworth. Es ist recht bekannt, daß sich zu<br />
Weihnachten britische und <strong>de</strong>utsche Soldaten für kurze <strong>Zeit</strong><br />
verbrü<strong>de</strong>rten und im Niemandsland zusammen tranken. Weniger<br />
gut bekannt, aber in meinen Augen interessanter ist die<br />
Tatsache, daß ab 1914 <strong>wen</strong>igstens zwei Jahre lang überall entlang<br />
<strong>de</strong>r F<strong>ro</strong>ntlinien inoffizielle und unausgesp<strong>ro</strong>chene Nichtangriffspakte<br />
gediehen, ein System, in <strong>de</strong>m „Leben und leben<br />
lassen“ galt. Es wird berichtet, daß ein höherer britischer Offizier,<br />
<strong>de</strong>r die Schützengräben inspizierte, verblüfft darüber war,<br />
<strong>de</strong>utsche Soldaten zu beobachten, die in Schußweite hinter<br />
ihren eigenen Linien herumspazierten. „Unsere Leute schienen<br />
davon keine Notiz davon zu nehmen. Ich beschloß im<br />
stillen, diesen Zustand zu been<strong>de</strong>n, sobald wir übernommen<br />
hatten; solche Dinge sollten nicht erlaubt sein. Diese Leute<br />
wußten ganz offensichtlich nicht, daß ein Krieg im Gange war.<br />
Bei<strong>de</strong> Seiten glaubten anscheinend an die Politik „Leben und<br />
leben lassen.“<br />
Die Spieltheorie und das „Gefangenendilemma“ waren in<br />
jenen Tagen noch nicht erfun<strong>de</strong>n, aber im Rückblick können<br />
wir uns diese Vorgänge ohne weiteres erklären, und Axel<strong>ro</strong>d<br />
liefert eine faszinieren<strong>de</strong> Analyse. In <strong>de</strong>m Schützengrabenkrieg<br />
jener <strong>Zeit</strong> war <strong>de</strong>r Schatten <strong>de</strong>r Zukunft bei je<strong>de</strong>m Zug<br />
lang. Das heißt, je<strong>de</strong> im Schützengraben sitzen<strong>de</strong> Gruppe<br />
von britischen Soldaten konnte davon ausgehen, daß sie sich<br />
monatelang <strong>de</strong>rselben eingegrabenen Gruppe von Deutschen<br />
gegenübersehen wür<strong>de</strong>. Darüber hinaus wußten die einfachen<br />
Soldaten niemals, wann – <strong>wen</strong>n überhaupt – sie verlegt<br />
wer<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>n; Heeresbefehle erscheinen ihren Empfängern<br />
seit jeher willkürlich, launenhaft und unverständlich. Der<br />
Schatten <strong>de</strong>r Zukunft war damals lang und unbestimmt genug,<br />
um eine Zusammenarbeit nach <strong>de</strong>m Prinzip „Wie du mir, so<br />
ich dir“ zu för<strong>de</strong>rn. Vorausgesetzt natürlich, daß die Situation<br />
einem Gefangenendilemma entsprach. Erinnern wir uns, daß,<br />
damit sich ein Spiel als ein echtes Gefangenendilemma qualifi-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 346<br />
ziert, die Belohnungen einer beson<strong>de</strong>ren Rangordnung folgen<br />
müssen. Bei<strong>de</strong> Seiten müssen gegenseitige Zusammenarbeit<br />
<strong>de</strong>r wechselseitigen Verweigerung <strong>de</strong>r Zusammenarbeit vorziehen.<br />
Die Zusammenarbeit verweigern, während die an<strong>de</strong>re<br />
Seite zusammenarbeitet, ist sogar noch besser, falls es gelingt.<br />
Zusammenarbeiten, während die an<strong>de</strong>re Seite die Zusammenarbeit<br />
verweigert, ist am schlimmsten. Bei<strong>de</strong>rseitige Verweigerung<br />
<strong>de</strong>r Zusammenarbeit ist das, was <strong>de</strong>r Generalstab gern<br />
sehen wür<strong>de</strong>. Die Generäle wollen ihre Jungs begeistert Deutsche<br />
(o<strong>de</strong>r Englän<strong>de</strong>r) abknallen sehen, wann immer sich die<br />
Gelegenheit dazu bietet.<br />
Bei<strong>de</strong>rseitige Zusammenarbeit war vom Standpunkt <strong>de</strong>r<br />
Generäle aus unerwünscht, half es ihnen doch nicht, <strong>de</strong>n Krieg<br />
zu gewinnen. In <strong>de</strong>n Augen <strong>de</strong>r einzelnen Soldaten bei<strong>de</strong>r<br />
Seiten war sie dagegen auße<strong>ro</strong>r<strong>de</strong>ntlich wünschenswert. Sie<br />
wollten nicht erschossen wer<strong>de</strong>n. Zugegebenermaßen – und<br />
dies hat mit <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Auszahlungsbedingungen zu tun, die<br />
erfor<strong>de</strong>rlich sind, damit eine Situation ein echtes Gefangenendilemma<br />
ist – waren sie sich wahrscheinlich mit <strong>de</strong>n Generälen<br />
darin einig, daß sie <strong>de</strong>n Krieg lieber gewinnen als verlieren<br />
wollten. Aber das ist nicht die Wahl, <strong>de</strong>r sich ein einzelner<br />
Soldat gegenübersieht. Es ist unwahrscheinlich, daß <strong>de</strong>r Ausgang<br />
<strong>de</strong>s Krieges wesentlich davon beeinflußt wird, was er<br />
als einzelne Person tut. Gegenseitige Zusammenarbeit mit <strong>de</strong>n<br />
konkreten feindlichen Soldaten, die einem auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren<br />
Seite <strong>de</strong>s Niemandslan<strong>de</strong>s gegenüberstehen, beeinflußt jedoch<br />
höchst entschei<strong>de</strong>nd das eigene Schicksal und ist bei weitem<br />
<strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>rseitigen Verweigerung <strong>de</strong>r Zusammenarbeit vorzuziehen,<br />
auch <strong>wen</strong>n man diese aus Grün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Patriotismus<br />
o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Disziplin vielleicht vorziehen wür<strong>de</strong>, <strong>wen</strong>n man damit<br />
davonkäme. Die damalige Situation scheint ein echtes Gefangenendilemma<br />
gewesen zu sein. Es war zu erwarten, daß so<br />
etwas wie „Wie du mir, so ich dir“ entstehen wür<strong>de</strong>, und es entstand<br />
wirklich.<br />
Die örtlich stabile Strategie war nicht unbedingt an je<strong>de</strong>m<br />
F<strong>ro</strong>ntabschnitt „Wie du mir, so ich dir“ selbst. „Wie du mir,<br />
so ich dir“ gehört zu einer Familie von netten, Vergeltung
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 347<br />
üben<strong>de</strong>n, aber verzeihen<strong>de</strong>n Strategien, die alle zwar nicht<br />
stabil im hier gebrauchten Sinne sind, aber doch zumin<strong>de</strong>st<br />
schwer zu unterwan<strong>de</strong>rn, <strong>wen</strong>n sie sich erst einmal entwickelt<br />
haben. Wie wir einem zeitgenössischen Bericht entnehmen,<br />
entstand zum Beispiel an einer Stelle <strong>de</strong>r F<strong>ro</strong>nt eine Strategie<br />
<strong>de</strong>s „Wie du dreimal mir, so ich dir“.<br />
Wir gehen nachts vor die Gräben hinaus ... Die <strong>de</strong>ut<br />
schen Arbeitstrupps sind ebenfalls draußen, <strong>de</strong>shalb<br />
verstieße es gegen die Etikette, jetzt zu schießen. Wirklich<br />
ekelhaft sind die Gewehrgranaten ... Sie können<br />
bis zu acht o<strong>de</strong>r neun Mann töten, <strong>wen</strong>n sie in einen<br />
Schützengraben fallen ... Aber wir benutzen unsere nie,<br />
solange die Deutschen nicht beson<strong>de</strong>rs laut wer<strong>de</strong>n, da<br />
bei ihrem Vergeltungsystem für je<strong>de</strong> einzelne unserer<br />
Granaten drei von ihnen zurückkommen.<br />
Es ist für je<strong>de</strong> Strategie <strong>de</strong>r Familie „Wie du mir, so ich dir“<br />
wichtig, daß die Spieler für das Verweigern von Zusammenarbeit<br />
bestraft wer<strong>de</strong>n. Die D<strong>ro</strong>hung <strong>de</strong>r Vergeltung muß immer<br />
präsent sein. Zurschaustellungen <strong>de</strong>r Vergeltungskapazität<br />
waren ein bemerkenswerter Zug <strong>de</strong>s Systems „Leben und<br />
leben lassen“. Meisterschützen auf bei<strong>de</strong>n Seiten pflegten ihre<br />
tödliche Virtuosität zu zeigen, in<strong>de</strong>m sie nicht auf feindliche<br />
Soldaten, son<strong>de</strong>rn auf leblose Ziele in <strong>de</strong>ren Nähe schossen,<br />
eine Technik, die auch in Wildwestfilmen verwandt wird (wie<br />
das Ausschießen von Kerzenflammen). Allem Anschein nach<br />
ist niemals eine befriedigen<strong>de</strong> Antwort auf die Frage gegeben<br />
wor<strong>de</strong>n, warum die bei<strong>de</strong>n ersten funktionsfähigen Atombomben<br />
– gegen <strong>de</strong>n ausdrücklichen Willen <strong>de</strong>r führen<strong>de</strong>n<br />
Physiker, die für ihre Entwicklung verantwortlich waren –<br />
dazu benutzt wur<strong>de</strong>n, zwei Städte zu zerstören, statt sie zu<br />
einer Demonstration zu ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>n, die <strong>de</strong>m spektakulären<br />
Ausschießen von Kerzen entspricht. Eine wichtige Eigenschaft<br />
von Strategien, die „Wie du mir, so ich dir“ ähnlich sind, ist,<br />
daß sie vergeben können. Dies trägt, wie wir gesehen haben,<br />
dazu bei zu dämpfen, was an<strong>de</strong>rnfalls zu langen und Scha<strong>de</strong>n
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 348<br />
anrichten<strong>de</strong>n Serien gegenseitiger Vergeltungsschläge wer<strong>de</strong>n<br />
könnte. Die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s Eindämmens von Vergeltung<br />
kommt in <strong>de</strong>m folgen<strong>de</strong>n Bericht eines britischen (als ob nicht<br />
<strong>de</strong>r erste Satz jegliche Zweifel in dieser Hinsicht beseitigen<br />
wür<strong>de</strong>) Offiziers dramatisch zum Ausdruck:<br />
Ich war zum Tee bei Kompanie A, als wir eine Menge<br />
Geschrei hörten und <strong>de</strong>r Sache nachgingen. Wir fan<strong>de</strong>n<br />
unsere Männer und die Deutschen auf ihren jeweiligen<br />
Brustwehren stehend. Plötzlich erreichte uns eine Salve,<br />
richtete aber keinen Scha<strong>de</strong>n an. Natürlich gingen bei<strong>de</strong><br />
Seiten in Deckung, und unsere Männer begannen auf<br />
die Deutschen zu fluchen, als urplötzlich ein mutiger<br />
Deutscher auf seine Brustwehr stieg und ausrief: „Es tut<br />
uns sehr leid; wir hoffen, es ist niemand verletzt wor<strong>de</strong>n.<br />
Es ist nicht unsere Schuld, es ist diese verdammte<br />
preußische Artillerie.“<br />
Wie Axel<strong>ro</strong>d kommentiert, geht diese Entschuldigung „weit<br />
über eine bloße zweckdienliche Anstrengung, Vergeltung zu<br />
vermei<strong>de</strong>n, hinaus. Sie spiegelt moralisches Bedauern darüber<br />
wi<strong>de</strong>r, daß eine Vertrauenssituation verletzt wor<strong>de</strong>n ist, und<br />
sie zeigt Besorgnis, daß jemand verletzt wor<strong>de</strong>n sein könnte.“<br />
Gewiß ein bewun<strong>de</strong>rnswerter und sehr mutiger Deutscher.<br />
Axel<strong>ro</strong>d betont außer<strong>de</strong>m die Be<strong>de</strong>utung von Vorhersagbarkeit<br />
und Ritual für die Erhaltung eines stabilen Musters<br />
gegenseitigen Vertrauens. Ein schönes Beispiel dafür ist die<br />
„Abendkanone“, die die britische Artillerie in einem bestimmten<br />
F<strong>ro</strong>ntabschnitt mit uhrwerkartiger Regelmäßigkeit abfeuerte.<br />
Mit <strong>de</strong>n Worten eines <strong>de</strong>utschen Soldaten:<br />
Um sieben kam er – so pünktlich, daß man seine Uhr<br />
danach stellen konnte ... Er hatte immer dasselbe Ziel,<br />
seine Schußweite war genau, niemals wich er seitlich ab,<br />
ging über das Ziel hinaus o<strong>de</strong>r war nicht weit genug ...<br />
Es gab sogar einige neugierige Kerle, die kurz vor sieben<br />
... hinausk<strong>ro</strong>chen, um ihn explodieren zu sehen.
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 349<br />
Die <strong>de</strong>utsche Artillerie tat genau das gleiche, wie <strong>de</strong>r folgen<strong>de</strong><br />
Bericht <strong>de</strong>r britischen Seite zeigt:<br />
So regelmäßig waren sie [die Deutschen] in ihrer Wahl<br />
<strong>de</strong>r Ziele, <strong>de</strong>m <strong>Zeit</strong>punkt <strong>de</strong>r Schüsse und <strong>de</strong>r Anzahl<br />
von Run<strong>de</strong>n, die gefeuert wur<strong>de</strong>n, daß ... Oberst Jones<br />
... auf die Minute genau wußte, wo das nächste Geschoß<br />
einschlagen wür<strong>de</strong>. Seine Berechnungen waren sehr,<br />
exakt, und er war in <strong>de</strong>r Lage, Risiken einzugehen,<br />
die nicht eingeweihten Stabsoffizieren sehr g<strong>ro</strong>ß erschienen,<br />
wußte er doch, daß die Schießerei aufhören wür<strong>de</strong>,<br />
bevor er <strong>de</strong>n unter Feuer genommenen Platz erreichte.<br />
Axel<strong>ro</strong>d bemerkt, daß <strong>de</strong>rartige „Rituale nichtssagen<strong>de</strong>n und<br />
<strong>ro</strong>utinemäßigen Feuerns eine doppelte Botschaft aussandten.<br />
Dem Oberkommando vermittelten sie <strong>de</strong>n Eindruck von<br />
Aggression, <strong>de</strong>m Feind aber die Botschaft von Frie<strong>de</strong>n.“<br />
Das System „Leben und Leben lassen“ hätte am grünen<br />
Tisch verbal ausgehan<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n können, vereinbart von<br />
Strategen, die über Bewußtsein verfügten. In <strong>de</strong>r Tat war dies<br />
jedoch nicht <strong>de</strong>r Fall. Es entstand aus einer Reihe lokaler<br />
Konventionen, dadurch, daß Menschen auf das Verhalten an<strong>de</strong>rer<br />
reagierten; <strong>de</strong>n einzelnen Soldaten war dieser P<strong>ro</strong>zeß<br />
wahrscheinlich kaum bewußt. Das braucht uns nicht zu erstaunen.<br />
Die Strategien in Axel<strong>ro</strong>ds Computer waren <strong>de</strong>finitiv<br />
unbewußt. Es war ihr Verhalten, das sie als nett o<strong>de</strong>r gemein,<br />
als verzeihend o<strong>de</strong>r nachtragend neidisch o<strong>de</strong>r nicht neidisch<br />
<strong>de</strong>finierte. Die P<strong>ro</strong>grammierer, die sie entwarfen, können je<strong>de</strong><br />
dieser Eigenschaften besessen haben, aber das ist irrelevant.<br />
Eine nette, verzeihen<strong>de</strong>, nicht neidische Strategie könnte<br />
leicht von einem sehr unangenehmen Menschen p<strong>ro</strong>grammiert<br />
wer<strong>de</strong>n – und umgekehrt. Die Nettigkeit einer Strategie<br />
erkennt man an ihrem Verhalten, nicht an ihren Motiven (<strong>de</strong>nn<br />
sie hat keine) und auch nicht an <strong>de</strong>r Persönlichkeit ihres Verfassers<br />
(<strong>de</strong>r zu <strong>de</strong>m <strong>Zeit</strong>punkt, an <strong>de</strong>m das P<strong>ro</strong>gramm im Computer<br />
läuft, in <strong>de</strong>n Hintergrund getreten ist). Ein Computerp<strong>ro</strong>gramm<br />
kann sich strategisch verhalten, ohne sich seiner Stra-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 350<br />
tegie o<strong>de</strong>r überhaupt irgen<strong>de</strong>ines Dinges bewußt zu sein. Wir<br />
sind natürlich mit <strong>de</strong>r Vorstellung unbewußt agieren<strong>de</strong>r Strategen<br />
völlig vertraut, o<strong>de</strong>r zumin<strong>de</strong>st solcher Strategen, <strong>de</strong>ren<br />
Bewußtsein, falls sie es haben, irrelevant ist. Dieses Buch ist<br />
voll von Strategen, <strong>de</strong>nen ein Bewußtsein fehlt. Axel<strong>ro</strong>ds P<strong>ro</strong>gramme<br />
sind ein hervorragen<strong>de</strong>s Mo<strong>de</strong>ll für die Art und Weise,<br />
wie wir uns in <strong>de</strong>n vorangegangenen Kapiteln mit Tieren und<br />
Pflanzen, ja in <strong>de</strong>r Tat mit Genen befaßt haben. Es liegt daher<br />
nahe zu fragen, ob seine optimistischen Schlußfolgerungen –<br />
über <strong>de</strong>n Erfolg von nichtneidischer, verzeihen<strong>de</strong>r Nettigkeit<br />
– auch auf das Reich <strong>de</strong>r Natur zutreffen. Die Antwort ist: Ja,<br />
natürlich tun sie das. Not<strong>wen</strong>dige Voraussetzungen dafür sind<br />
lediglich, daß die Natur gelegentlich „Gefangenendilemma-<br />
Spiele“ ansetzt, daß <strong>de</strong>r Schatten <strong>de</strong>r Zukunft lang ist und<br />
daß die Spiele Nichtnullsummenspiele sind. Diese Bedingungen<br />
wer<strong>de</strong>n mit Sicherheit überall im Reich <strong>de</strong>s Lebendigen<br />
erfüllt.<br />
Niemand wür<strong>de</strong> jemals behaupten, eine Bakterie sei ein<br />
bewußt han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>r Stratege, und doch spielen bakterielle Parasiten<br />
mit ihren Wirten wahrscheinlich unaufhörliche „Gefangenendilemma-Spiele“.<br />
Es gibt keinen Grund, ihre Strategien<br />
nicht mit Axel<strong>ro</strong>dschen Adjektiven – verzeihend, nicht neidisch<br />
und so weiter – zu belegen. Axel<strong>ro</strong>d und Hamilton weisen<br />
darauf hin, daß bei einer Person, die verletzt ist, normalerweise<br />
harmlose o<strong>de</strong>r nützliche Bakterien „gemein“ wer<strong>de</strong>n<br />
und sogar eine tödliche Sepsis verursachen können. Ein Arzt<br />
könnte sagen, die „natürliche Wi<strong>de</strong>rstandskraft“ <strong>de</strong>r Person<br />
sei durch die Verletzung geschwächt. Aber vielleicht hängt <strong>de</strong>r<br />
wirkliche Grund mit einem Gefangenendilemma zusammen.<br />
Haben die Bakterien vielleicht etwas zu gewinnen, halten sich<br />
jedoch gewöhnlich zurück? Im Spiel zwischen Mensch und<br />
Bakterie ist <strong>de</strong>r „Schatten <strong>de</strong>r Zukunft“ normalerweise lang,<br />
da bei einem typischen Menschen damit zu rechnen ist,<br />
daß er von je<strong>de</strong>m beliebigen Startpunkt an noch jahrelang<br />
lebt. Ein Schwerverletzter dagegen bietet seinen bakteriellen<br />
Gästen möglicherweise einen potentiell viel kürzeren Schatten.<br />
Dementsprechend beginnt <strong>de</strong>r „Anreiz zum Verweigern“ <strong>de</strong>r
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 351<br />
Zusammenarbeit als attraktiver zu erscheinen als die „Belohnung<br />
für bei<strong>de</strong>rseitige Zusammenarbeit“. Es ist überflüssig zu<br />
sagen, daß niemand behauptet, die Bakterien wür<strong>de</strong>n all dies<br />
in ihren häßlichen kleinen Köpfen erfin<strong>de</strong>n! Der Einfluß <strong>de</strong>r<br />
Selektion auf Generationen von Bakterien hat ihnen vermutlich<br />
eine unbewußte Daumenregel eingebaut, die auf rein biochemische<br />
Weise funktioniert.<br />
Nach Ansicht von Axel<strong>ro</strong>d und Hamilton können Pflanzen<br />
sogar Vergeltung üben, natürlich wie<strong>de</strong>r unbewußt. Zwischen<br />
Feigenbäumen und bestimmten Gallwespen besteht eine enge<br />
kooperative Beziehung. Die Feige, die wir essen, ist nicht wirklich<br />
eine Frucht. Sie hat ein winziges Loch am En<strong>de</strong>, und <strong>wen</strong>n<br />
wir in dieses Loch hineinkriechen (wir müßten zu diesem<br />
Zweck so klein sein wie die Gallwespen, und sie sind winzig<br />
– zum Glück so winzig, daß wir sie nicht bemerken, <strong>wen</strong>n<br />
wir eine Feige essen), so fin<strong>de</strong>n wir Hun<strong>de</strong>rte von winzigen<br />
Blüten, die die Wän<strong>de</strong> überziehen. Die Feige ist ein dunkles<br />
Gewächshaus für Blüten, eine Bestäubungskammer. Und die<br />
Bestäubung kann nur durch Gallwespen erfolgen. Der Baum<br />
hat also einen Vorteil davon, daß er die Wespen beherbergt.<br />
Aber was haben die Wespen davon? Sie legen ihre Eier in<br />
einige <strong>de</strong>r winzigen Blüten, die dann von <strong>de</strong>n Larven gefressen<br />
wer<strong>de</strong>n, und bestäuben an<strong>de</strong>re Blüten innerhalb <strong>de</strong>rselben<br />
Feige. Die Zusammenarbeit verweigern wür<strong>de</strong> für eine Wespe<br />
be<strong>de</strong>uten, daß sie ihre Eier in zu viele Blüten in einer Feige legt<br />
und zu <strong>wen</strong>ige von ihnen bestäubt. Aber wie könnte ein Feigenbaum<br />
„Vergeltung üben“? Glauben wir Axel<strong>ro</strong>d und Hamilton,<br />
„so zeigt es sich in vielen Fällen, daß, <strong>wen</strong>n eine Wespe<br />
in eine junge Feige hineinkriecht und nicht ausreichend viele<br />
Blüten bestäubt, son<strong>de</strong>rn statt <strong>de</strong>ssen in fast alle Blüten Eier<br />
legt, <strong>de</strong>r Baum die sich entwickeln<strong>de</strong> Feige in einem frühen<br />
Stadium absterben läßt. Dann stirbt die gesamte Nachkommenschaft<br />
<strong>de</strong>r Wespe.“<br />
Ein seltsames Beispiel von einem offensichtlich nach <strong>de</strong>m<br />
Prinzip „Wie du mir, so ich dir“ funktionieren<strong>de</strong>n Arrangement<br />
in <strong>de</strong>r Natur wur<strong>de</strong> von Eric Fischer an einem hermaph<strong>ro</strong>ditischen<br />
Fisch ent<strong>de</strong>ckt, <strong>de</strong>m Seebarsch. An<strong>de</strong>rs als bei uns
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 352<br />
Menschen wird das Geschlecht dieser Fische nicht bei <strong>de</strong>r<br />
Befruchtung durch ihre Ch<strong>ro</strong>mosomen bestimmt. Statt <strong>de</strong>ssen<br />
ist je<strong>de</strong>s Individuum in <strong>de</strong>r Lage, sowohl weibliche als auch<br />
männliche Funktionen auszuüben. Bei je<strong>de</strong>r einzelnen Laichepiso<strong>de</strong><br />
stoßen Seebarsche entwe<strong>de</strong>r Eier o<strong>de</strong>r Spermien aus.<br />
Sie bil<strong>de</strong>n monogame Paare, und in je<strong>de</strong>m Paar spielen die<br />
Gatten abwechselnd die Rolle <strong>de</strong>s Männchens und <strong>de</strong>s Weibchens.<br />
Nun können wir annehmen, daß je<strong>de</strong>r Fisch, <strong>wen</strong>n er<br />
ungeschoren davonkäme, es „vorziehen“ wür<strong>de</strong>, die ganze <strong>Zeit</strong><br />
hindurch die männliche Rolle zu spielen, <strong>de</strong>nn diese ist billiger.<br />
An<strong>de</strong>rs ausgedrückt, ein Individuum, das seinen Partner<br />
dazu bringen könnte, die meiste <strong>Zeit</strong> die weibliche Rolle zu<br />
spielen, wür<strong>de</strong> alle Vorteile „ihrer“ Investitionen in Eier gewinnen,<br />
während „er“ Ressourcen übrigbehielte, die er auf an<strong>de</strong>re<br />
Dinge ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>n könnte, zum Beispiel auf die Paarung mit<br />
an<strong>de</strong>ren Individuen.<br />
Tatsächlich beobachtete Fischer, daß die Barsche sich mit<br />
recht strenger Regelmäßigkeit abwechseln. Genau das ist zu<br />
erwarten, falls sie „Wie du mir, so ich dir“ spielen. Und es<br />
wäre einleuchtend, <strong>wen</strong>n sie dies täten, <strong>de</strong>nn das Spiel scheint<br />
wirklich ein echtes Gefangenendilemma zu sein, <strong>wen</strong>n auch<br />
ein etwas kompliziertes. Die Karte Zusammenarbeiten spielen<br />
be<strong>de</strong>utet, die weibliche Rolle zu übernehmen, <strong>wen</strong>n ich damit<br />
an <strong>de</strong>r Reihe bin. Der Versuch, statt <strong>de</strong>ssen die Rolle <strong>de</strong>s<br />
Männchens zu spielen, entspricht <strong>de</strong>m Ausspielen <strong>de</strong>r Karte<br />
Zusammenarbeit verweigern. Verweigern ist anfällig gegen Vergeltung:<br />
Der Partner kann sich weigern, die Rolle <strong>de</strong>s Weibchens<br />
zu übernehmen, <strong>wen</strong>n „sie“ („er“) das nächste Mal an<br />
<strong>de</strong>r Reihe ist, o<strong>de</strong>r „sie“ kann einfach die ganze Beziehung<br />
aufkündigen. Fischer beobachtete in <strong>de</strong>r Tat, daß Paare mit<br />
ungleicher Verteilung <strong>de</strong>r Geschlechter<strong>ro</strong>llen leichter auseinan<strong>de</strong>rbrachen.<br />
Soziologen und Psychologen stellen gelegentlich die Frage,<br />
warum Menschen (in Län<strong>de</strong>rn wie England, wo sie dafür nicht<br />
bezahlt wer<strong>de</strong>n) Blut spen<strong>de</strong>n. Ich kann nicht glauben, daß<br />
die Antwort in Gegenseitigkeit o<strong>de</strong>r verstecktem Egoismus zu<br />
suchen ist, je<strong>de</strong>nfalls nicht im einfachen Sinne. Regelmäßige
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 353<br />
Blutspen<strong>de</strong>r genießen keineswegs bevorzugte Behandlung,<br />
<strong>wen</strong>n sie selbst einmal eine Transfusion brauchen. Sie erhalten<br />
nicht einmal kleine gol<strong>de</strong>ne Ansteckna<strong>de</strong>ln. Mag sein, daß<br />
ich naiv bin, aber ich fühle mich versucht, Blutspen<strong>de</strong>n als<br />
einen echten Fall von reinem, uneigennützigem Altruismus<br />
anzusehen. Wie auch immer es sich beim Menschen verhält,<br />
das Abgeben von Blut bei Vampiren – einer Fle<strong>de</strong>rmausart –<br />
scheint gut in das Mo<strong>de</strong>ll von Axel<strong>ro</strong>d zu passen. Dies zeigen<br />
uns die Untersuchungen von G.S.Wilkinson.<br />
Bekanntlich ernähren sich Vampire nachts von Blut. Es ist<br />
nicht leicht für sie, eine Mahlzeit zu bekommen, aber <strong>wen</strong>n<br />
sie erfolgreich sind, ist es mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit<br />
eine g<strong>ro</strong>ße Mahlzeit. Wenn <strong>de</strong>r Morgen kommt, haben einige<br />
Individuen kein Glück gehabt und kehren mit völlig leerem<br />
Magen zurück, wohingegen jene Tiere, <strong>de</strong>nen es gelungen ist,<br />
ein Opfer zu fin<strong>de</strong>n, mit aller Wahrscheinlichkeit ein Übermaß<br />
an Blut aufgenommen haben. In einer <strong>de</strong>r nächsten Nächte<br />
mögen die Rollen vertauscht sein. Daher sieht dies wie ein vielversprechen<strong>de</strong>r<br />
Fall für ein <strong>wen</strong>ig gegenseitigen Altruismus<br />
aus. Wilkinson fand heraus, daß Individuen, die in <strong>de</strong>r Nacht<br />
Glück hatten, tatsächlich gelegentlich ihren <strong>wen</strong>iger erfolgreichen<br />
Kamera<strong>de</strong>n Blut abgaben, das sie wie<strong>de</strong>r auswürgten. Bei<br />
77 von 110 <strong>de</strong>rartigen Fällen, die Wilkinson beobachtete, han<strong>de</strong>lte<br />
es sich um die leicht verständliche Fütterung von Jungtieren<br />
durch ihre Mütter, und in vielen an<strong>de</strong>ren Fällen waren<br />
die Beteiligten ebenfalls genetische Verwandte. Es blieben<br />
jedoch einige Fälle übrig, bei <strong>de</strong>nen Spen<strong>de</strong>r und Empfänger<br />
nicht verwandt waren, die Erklärung, daß „Blut dicker ist<br />
als Wasser“, also nicht mit <strong>de</strong>n Tatsachen übereinstimmte.<br />
Auffällig oft waren die Individuen Tiere, die an ihrem Schlafplatz<br />
häufig aufeinan<strong>de</strong>rtrafen – sie hatten reichlich Gelegenheit<br />
zur wie<strong>de</strong>rholten Interaktion, wie es für ein Wie<strong>de</strong>rholtes<br />
Gefangenendilemma erfor<strong>de</strong>rlich ist. Aber wur<strong>de</strong>n die übrigen<br />
Bedingungen für ein Gefangenendilemma erfüllt? Wenn ja,<br />
sollten wir Resultate entsprechend <strong>de</strong>r Matrix in Abbildung 4<br />
erwarten.
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 354<br />
4 Abgeben von Blut bei Vampiren: mögliche Resultate für mich<br />
Stimmt die Vampirökonomie wirklich mit dieser Tabelle<br />
überein? Wilkinson untersuchte, mit welcher Geschwindigkeit<br />
hungern<strong>de</strong> Vampire Gewicht verlieren. Davon ausgehend<br />
berechnete er die <strong>Zeit</strong>, die es dauern wür<strong>de</strong>, bis ein satt getrunkener<br />
Vampir Hungers stirbt, die <strong>Zeit</strong>, die ein hungriger Vampir<br />
ohne Nahrung überlebt, und alle dazwischenliegen<strong>de</strong>n Werte.<br />
Dadurch wur<strong>de</strong> es ihm möglich, Blut in die Währung von Stun<strong>de</strong>n<br />
verlängerten Lebens umzurechnen. Er fand heraus – was<br />
nicht wirklich überraschend ist –, daß die Austauschrate davon<br />
abhängt, wie verhungert ein Vampir ist. Eine gegebene Menge<br />
Blut verlängert das Leben eines sehr hungrigen Vampirs um<br />
mehr Stun<strong>de</strong>n als das eines <strong>wen</strong>iger hungrigen Artgenossen.<br />
Mit an<strong>de</strong>ren Worten, die Abgabe von Blut erhöht zwar die Wahrscheinlichkeit,<br />
daß <strong>de</strong>r Spen<strong>de</strong>r stirbt, doch ist diese Erhöhung
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 355<br />
klein im Vergleich zu <strong>de</strong>m Anstieg <strong>de</strong>r Überlebenschancen <strong>de</strong>s<br />
Empfängers. Ökonomisch gesehen scheint es also plausibel,<br />
daß die Vampirökonomie <strong>de</strong>n Regeln eines Gefangenendilemmas<br />
entspricht. Das Blut, das die Spen<strong>de</strong>rin (soziale Gruppen<br />
bei Vampiren sind Weibchengruppen) abgibt, ist für sie <strong>wen</strong>iger<br />
kostbar als für die Empfängerin. In glücklosen Nächten wür<strong>de</strong><br />
sie selbst wirklich erheblich von einer Blutgabe p<strong>ro</strong>fitieren.<br />
In erfolgreichen Nächten jedoch hätte sie einen geringfügigen<br />
Vorteil vom Verweigern <strong>de</strong>r Zusammenarbeit, also <strong>de</strong>r Weigerung,<br />
Blut abzugeben – solange sie damit davonkäme. „Damit<br />
davonkommen“ be<strong>de</strong>utet natürlich nur dann etwas, <strong>wen</strong>n die<br />
Vampire irgen<strong>de</strong>ine Strategie <strong>de</strong>r Art „Wie du mir, so ich dir“<br />
an<strong>wen</strong><strong>de</strong>n. Sind also die übrigen Voraussetzungen für die Evolution<br />
eines wechselseitigen „Wie du mir, so ich dir“ erfüllt?<br />
Insbeson<strong>de</strong>re, können diese Fle<strong>de</strong>rmäuse einan<strong>de</strong>r individuell<br />
erkennen? Wilkinson führte ein Experiment mit Vampiren<br />
in Gefangenschaft durch, mit <strong>de</strong>m er bewies, daß sie dazu<br />
in <strong>de</strong>r Lage sind. Er sperrte jeweils einen Vampir eine Nacht<br />
lang an<strong>de</strong>rswo ein und ließ ihn hungern, während alle an<strong>de</strong>ren<br />
gut gefüttert wur<strong>de</strong>n. Der arme ausgehungerte Vampir wur<strong>de</strong><br />
dann zum Schlafplatz zurückgebracht, und Wilkinson beobachtete,<br />
ob ein an<strong>de</strong>rer ihm Nahrung gab, und <strong>wen</strong>n ja, wer.<br />
Das Experiment wur<strong>de</strong> viele Male wie<strong>de</strong>rholt, wobei die Vampire<br />
reihum das ausgehungerte Opfer spielten. Der entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong><br />
Punkt war, daß diese Population von gefangenen Vampiren<br />
sich aus zwei Gruppen zusammensetzte, die aus viele Kilometer<br />
voneinan<strong>de</strong>r entfernten Höhlen stammten. Wenn Vampire<br />
in <strong>de</strong>r Lage sind, ihre Freun<strong>de</strong> zu erkennen, hätte sich<br />
erweisen sollen, daß die im Experiment ausgehungerten Tiere<br />
nur von Individuen aus ihrer eigenen ursprünglichen Höhle<br />
gefüttert wur<strong>de</strong>n.<br />
Ziemlich genau dies geschah auch. Dreizehn Fütterungen<br />
wur<strong>de</strong>n beobachtet. In zwölf dieser dreizehn Fälle war <strong>de</strong>r<br />
Blut abgeben<strong>de</strong> Vampir ein „alter Freund“ <strong>de</strong>s ausgehungerten<br />
Opfers, <strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>rselben Höhle stammte; in nur einem<br />
Fall wur<strong>de</strong> das ausgehungerte Tier von einem aus <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren<br />
Höhle stammen<strong>de</strong>n „neuen Freund“ gefüttert. Natürlich
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 356<br />
könnte dies Zufall sein, aber wir können die Chance dagegen<br />
ausrechnen. Sie beläuft sich auf <strong>wen</strong>iger als eins zu 500. Wir<br />
können also mit ziemlicher Sicherheit zu <strong>de</strong>m Schluß kommen,<br />
daß die Vampire in <strong>de</strong>r Tat bevorzugt alte Freun<strong>de</strong> fütterten.<br />
Vampire sind ein bevorzugter Gegenstand von Mythen. Für<br />
die Anhänger viktorianischer Gruselliteratur sind sie dunkle<br />
Kräfte, die nachts Schrecken verbreiten, weil sie Lebenssäfte<br />
aussaugen und unschuldiges Leben opfern, nur um ihren Durst<br />
zu stillen. Kombinieren wir dies mit jenem an<strong>de</strong>ren viktorianischen<br />
Mythos, „Natur, Zähne und Klauen blutig<strong>ro</strong>t“, sind<br />
Vampire dann nicht die Inkarnation tiefsitzen<strong>de</strong>r Ängste vor<br />
<strong>de</strong>r Welt <strong>de</strong>r egoistischen Gene? Was mich betrifft, so stehe<br />
ich allen Mythen skeptisch gegenüber. Auf <strong>de</strong>r Suche nach <strong>de</strong>r<br />
Wahrheit müssen wir je<strong>de</strong>n Fall einzeln untersuchen. Was die<br />
Darwinsche Lehre uns gibt, sind nicht <strong>de</strong>taillierte Erwartungen<br />
über bestimmte Organismen. Sie verhilft uns zu etwas,<br />
das subtiler und wertvoller ist: zum Verständnis <strong>de</strong>s Prinzips.<br />
Wenn wir aber Mythen brauchen, so könnte uns das Verhalten<br />
<strong>de</strong>r Vampire eine ganz an<strong>de</strong>re Moralgeschichte lehren. Für<br />
diese Fle<strong>de</strong>rmäuse ist nicht nur Blut dicker als Wasser. Sie<br />
erheben sich über Verwandtschaftsban<strong>de</strong> und bil<strong>de</strong>n ihre eigenen<br />
dauerhaften Bindungen loyaler Blutsbru<strong>de</strong>rschaft. Vampire<br />
könnten die Vorhut eines beruhigen<strong>de</strong>n neuen Mythos<br />
bil<strong>de</strong>n, eines Mythos <strong>de</strong>s Teilens, <strong>de</strong>r gegenseitigen Zusammenarbeit.<br />
Sie könnten <strong>de</strong>n wohltuen<strong>de</strong>n Gedanken verkün<strong>de</strong>n,<br />
daß – selbst mit egoistischen Genen am Ru<strong>de</strong>r – nette Kerle als<br />
erste ans Ziel gelangen können.
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 357<br />
13. Die g<strong>ro</strong>ße Reichweite <strong>de</strong>s Gens<br />
Ein beunruhigen<strong>de</strong>r Konflikt stört die Theorie <strong>de</strong>s egoistischen<br />
Gens genau in ihrem Kern. Es ist <strong>de</strong>r Zwiespalt darüber, was<br />
das fundamentale Agens, die treiben<strong>de</strong> Kraft, <strong>de</strong>s Lebens ist<br />
– das Gen o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r individuelle Körper. Auf <strong>de</strong>r einen Seite<br />
haben wir das verlocken<strong>de</strong> Bild unabhängiger DNA-Replikatoren:<br />
Wie Gemsen springen sie frei und ungehin<strong>de</strong>rt durch<br />
die Generationen, lediglich zeitweilig zusammen in Wegwerf-<br />
Überlebensmaschinen eingeschlossen, unsterbliche Spiralen,<br />
die sich von einer endlosen Kette von Sterblichen befreien,<br />
während sie vorwärtsdrängen und sich Bahn brechen in Richtung<br />
auf ihre separaten Ewigkeiten. Auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite<br />
sehen wir die einzelnen Körper, und je<strong>de</strong>r von ihnen ist offensichtlich<br />
eine kohärente, ein Ganzes darstellen<strong>de</strong>, unendlich<br />
komplizierte Maschine mit <strong>de</strong>utlich erkennbarer Einheit <strong>de</strong>r<br />
Absicht. Ein Körper sieht nicht aus wie das P<strong>ro</strong>dukt einer losen<br />
und zeitlich begrenzten Fö<strong>de</strong>ration von kriegführen<strong>de</strong>n Agenzien,<br />
die kaum <strong>Zeit</strong> haben, Kontakt miteinan<strong>de</strong>r aufzunehmen,<br />
bevor sie sich in einem Spermium o<strong>de</strong>r Ei auf die nächste<br />
Etappe <strong>de</strong>r g<strong>ro</strong>ßen Zerstreuung <strong>de</strong>r Gene begeben. Er hat ein<br />
Gehirn, das eine Genossenschaft von Gliedmaßen und Sinnesorganen<br />
koordiniert, um ein Ziel zu erreichen. Der Körper<br />
sieht wie ein eindrucksvolles selbständiges Agens aus, und er<br />
verhält sich auch so.<br />
In einigen Kapiteln dieses Buches haben wir uns in <strong>de</strong>r Tat<br />
<strong>de</strong>n Einzelorganismus als Agens vorgestellt, das danach strebt,<br />
bei <strong>de</strong>r Weitergabe seiner Gene möglichst erfolgreich zu sein.<br />
Wir nahmen an, daß Tiere komplizierte ökonomische „Berechnungen“<br />
über die genetischen Vorteile verschie<strong>de</strong>ner Handlungsweisen<br />
anstellen. Doch in an<strong>de</strong>ren Kapiteln wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r<br />
Grundgedanke vom Standpunkt <strong>de</strong>r Gene aus dargestellt.<br />
Wenn man das Leben nicht aus <strong>de</strong>m Blickwinkel <strong>de</strong>s Gens<br />
betrachtet, fin<strong>de</strong>t man keinen Grund, aus <strong>de</strong>m ein Organismus<br />
an seinem Fortpflanzungserfolg und <strong>de</strong>m seiner Verwandten<br />
„interessiert sein“ sollte, statt sich zum Beispiel um seine
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 358<br />
eigene Langlebigkeit zu kümmern. Wie sollen wir dieses Paradoxon<br />
<strong>de</strong>r zwei Betrachtungsweisen <strong>de</strong>s Lebens lösen? Mein<br />
eigener Versuch einer Lösung ist in meinem Buch The Exten<strong>de</strong>d<br />
Phenotype erklärt, das, mehr als alles an<strong>de</strong>re, was ich in<br />
meinem Berufsleben erreicht habe, meinen Stolz und meine<br />
Freu<strong>de</strong> darstellt. Dieses Kapitel ist ein knapper Auszug von ein<br />
paar Themen in jenem Buch, doch tatsächlich wäre es mir fast<br />
lieber, <strong>wen</strong>n <strong>de</strong>r Leser jetzt hier zu lesen aufhörte und sich<br />
statt <strong>de</strong>ssen The Exten<strong>de</strong>d Phenotype vornähme!<br />
Bei vernünftiger Betrachtung <strong>de</strong>r Angelegenheit wirkt die<br />
natürliche Selektion nicht direkt auf Gene ein. Die DNA ist<br />
in P<strong>ro</strong>teine eingesponnen, in Membranen eingewickelt, von<br />
<strong>de</strong>r Welt abgeschirmt und für die natürliche Auslese unsichtbar.<br />
Wenn die Auslese versuchen wür<strong>de</strong>, DNA-Moleküle direkt<br />
auszuwählen, so wür<strong>de</strong> sie kaum ein Kriterium fin<strong>de</strong>n, an <strong>de</strong>m<br />
sie sich dabei orientieren könnte. Alle Gene sehen gleich aus,<br />
gera<strong>de</strong>so wie alle Tonbän<strong>de</strong>r gleich aussehen. Die wichtigen<br />
Unterschie<strong>de</strong> zwischen Genen zeigen sich nur in ihren Auswirkungen.<br />
Dabei han<strong>de</strong>lt es sich gewöhnlich um Auswirkungen<br />
auf die Vorgänge <strong>de</strong>r Embryonalentwicklung und somit auf<br />
Körperform und Verhalten. Erfolgreiche Gene sind solche, die<br />
in <strong>de</strong>r von allen an<strong>de</strong>ren Genen in einem gemeinsamen Embryo<br />
beeinflußten Umgebung einen günstigen Einfluß auf diesen<br />
Embryo haben. Günstig be<strong>de</strong>utet, sie machen es wahrscheinlich,<br />
daß sich <strong>de</strong>r Embryo zu einem erfolgreichen Erwachsenen<br />
entwickelt, zu einem Erwachsenen, <strong>de</strong>r sich aller Wahrscheinlichkeit<br />
nach fortpflanzt und eben diese Gene an zukünftige<br />
Generationen weitergibt. Die körperlichen Manifestationen<br />
eines Gens, das heißt die Auswirkungen, die ein Gen im Gegensatz<br />
zu seinen Allelen über die Entwicklung auf <strong>de</strong>n Körper<br />
hat, bezeichnet man als Phänotyp. Der phänotypische Effekt<br />
eines bestimmten Gens könnte etwa die grüne Augenfarbe<br />
sein. In Wirklichkeit haben die meisten Gene mehr als einen<br />
phänotypischen Effekt; so könnte es beispielsweise ein Gen für<br />
grüne Augen und lockiges Haar geben. Die natürliche Auslese<br />
begünstigt einige Gene gegenüber an<strong>de</strong>ren, nicht wegen <strong>de</strong>r<br />
Natur <strong>de</strong>r Gene selbst, son<strong>de</strong>rn wegen ihrer Effekte – ihrer
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 359<br />
phänotypischen Auswirkungen. Darwinisten ziehen es bisher<br />
gewöhnlich vor, über Gene zu sprechen, <strong>de</strong>ren phänotypische<br />
Effekte das Überleben o<strong>de</strong>r die Fortpflanzung ganzer Körper<br />
för<strong>de</strong>rn o<strong>de</strong>r beeinträchtigen. Mit <strong>de</strong>n Vorteilen für das Gen<br />
selbst befassen sie sich in <strong>de</strong>r Regel nicht. Das ist einer<br />
<strong>de</strong>r Grün<strong>de</strong> dafür, daß das Paradoxon im Kern <strong>de</strong>r Theorie<br />
gewöhnlich nicht <strong>de</strong>utlich wird. Beispielsweise kann ein Gen<br />
dadurch erfolgreich sein, daß es die Laufgeschwindigkeit<br />
eines Räubers verbessert. Der gesamte Körper <strong>de</strong>s Räubers,<br />
einschließlich aller seiner Gene, ist erfolgreicher, weil er schneller<br />
läuft. Seine Geschwindigkeit hilft ihm zu überleben, so daß<br />
er Kin<strong>de</strong>r haben kann, und <strong>de</strong>shalb wer<strong>de</strong>n mehr Kopien aller<br />
seiner Gene, einschließlich <strong>de</strong>s Gens für schnelles Laufen, an<br />
die nächste Generation weitergegeben. Hier verschwin<strong>de</strong>t das<br />
Paradoxon passen<strong>de</strong>rweise, <strong>de</strong>nn was für ein Gen gut ist, ist<br />
gut für alle.<br />
Doch was geschieht, <strong>wen</strong>n ein Gen einen phänotypischen<br />
Effekt hat, <strong>de</strong>r für es selbst vorteilhaft, für die restlichen Gene<br />
in <strong>de</strong>m Körper aber schädlich ist? Das ist keine Phantasterei.<br />
Solche Fälle sind bekannt, zum Beispiel das faszinieren<strong>de</strong><br />
Phänomen namens meiotic drive. Wie wir uns erinnern, ist die<br />
Meiose die beson<strong>de</strong>re Art <strong>de</strong>r Zellteilung, bei <strong>de</strong>r die Ch<strong>ro</strong>mosomenzahl<br />
halbiert wird und Samen- und Eizellen entstehen.<br />
Die gewöhnliche Meiose ist eine absolut gerechte Lotterie.<br />
Von je<strong>de</strong>m Paar von Allelen kann nur eines das glückliche sein,<br />
das in ein gegebenes Spermium o<strong>de</strong>r Ei hineingelangt. Aber<br />
die Wahrscheinlichkeit ist für je<strong>de</strong>s <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Allele absolut<br />
gleich, und <strong>wen</strong>n wir eine g<strong>ro</strong>ße Menge Spermien (o<strong>de</strong>r Eier)<br />
betrachten, so stellt sich heraus, daß durchschnittlich die Hälfte<br />
von ihnen das eine Allel und die an<strong>de</strong>re Hälfte das an<strong>de</strong>re Allel<br />
enthält. Die Meiose ist gerecht wie das Werfen einer Münze.<br />
Doch selbst dieser Inbegriff einer Zufallsentscheidung ist ein<br />
physikalischer Vorgang, <strong>de</strong>r von einer Vielzahl von Umstän<strong>de</strong>n<br />
beeinflußt wird – etwa vom Wind und von <strong>de</strong>r genauen Kraft,<br />
mit <strong>de</strong>r die Münze geworfen wird. Die Meiose ist ebenfalls ein<br />
physikalischer Vorgang, und sie kann von Genen beeinflußt<br />
wer<strong>de</strong>n. Was, <strong>wen</strong>n durch Mutation ein Gen entstün<strong>de</strong>, das
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 360<br />
zufällig keine Auswirkung auf etwas so Offensichtliches wie<br />
Augenfarbe o<strong>de</strong>r Haarstruktur hätte, son<strong>de</strong>rn auf die Meiose<br />
selbst? Nehmen wir an, das mutierte Gen wür<strong>de</strong> die Meiose<br />
<strong>de</strong>rart beeinflussen, daß es selbst mit größerer Wahrscheinlichkeit<br />
in das Ei gelangte als sein Allel. Es gibt solche Gene,<br />
und sie heißen Segregationsverzerrer. Sie sind von diabolischer<br />
Einfachheit. Wenn durch Mutation ein Segregationsverzerrer<br />
entsteht, wird er sich auf Kosten seines Allels unaufhaltsam<br />
in <strong>de</strong>r ganzen Population ausbreiten. Das ist es, was man<br />
als meiotic drive bezeichnet. Der Segregationsverzerrer wird<br />
die Population sogar dann durchdringen, <strong>wen</strong>n seine Auswirkungen<br />
auf das Wohlergehen <strong>de</strong>s Körpers und aller an<strong>de</strong>ren<br />
Gene in <strong>de</strong>m Körper katast<strong>ro</strong>phal sind.<br />
In diesem Buch haben wir unsere Aufmerksamkeit stets<br />
auf die Möglichkeit gerichtet, daß einzelne Organismen subtile<br />
Wege fin<strong>de</strong>n, ihre sozialen Gefährten zu „betrügen“. Hier nun<br />
re<strong>de</strong>n wir von einzelnen Genen, die die an<strong>de</strong>ren Gene im selben<br />
Körper betrügen. Der Genetiker James C<strong>ro</strong>w hat sie „Gene, die<br />
das System schlagen“ genannt. Einer <strong>de</strong>r bekanntesten Segregationsverzerrer<br />
ist das sogenannte t-Gen bei Mäusen. Wenn<br />
eine Maus zwei t-Allele besitzt, stirbt sie entwe<strong>de</strong>r früh, o<strong>de</strong>r<br />
sie ist steril. Man sagt daher, t sei im homozygoten Zustand<br />
„letal“. Männliche Mäuse mit nur einem t-Allel sind normale,<br />
gesun<strong>de</strong> Tiere – außer in einer bemerkenswerten Hinsicht.<br />
Wenn wir die Spermien einer solchen männlichen Maus untersuchen,<br />
stellen wir fest, daß bis zu 95 P<strong>ro</strong>zent von ihnen das<br />
t-Allel enthalten und nur 5 P<strong>ro</strong>zent das normale Allel. Dies<br />
ist ganz offensichtlich eine g<strong>ro</strong>be Abweichung von <strong>de</strong>m zu<br />
erwarten<strong>de</strong>n Verhältnis 1:1. Wann immer in einer wildleben<strong>de</strong>n<br />
Population durch Mutation ein t-Allel entsteht, breitet es<br />
sich unverzüglich wie eine Feuersbrunst aus. Wie sollte es auch<br />
an<strong>de</strong>rs, wo es doch in <strong>de</strong>r meiotischen Lotterie einen solch<br />
gewaltigen ungerechten Vorteil besitzt? Es breitet sich <strong>de</strong>rart<br />
rasch aus, daß ziemlich bald eine g<strong>ro</strong>ße Zahl von Individuen in<br />
<strong>de</strong>r Population das t-Gen in doppelter Ausfertigung (das heißt<br />
von bei<strong>de</strong>n Eltern) erben. Diese Individuen sterben o<strong>de</strong>r sind<br />
steril, und binnen kurzem wird die ganze Population wahr-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 361<br />
scheinlich aussterben. Es gibt einige Hinweise darauf, daß<br />
wildleben<strong>de</strong> Mäusepopulationen in <strong>de</strong>r Vergangenheit durch<br />
Epi<strong>de</strong>mien von t-Genen ausge<strong>ro</strong>ttet wur<strong>de</strong>n.<br />
Nicht alle Segregationsverzerrer haben <strong>de</strong>rart <strong>de</strong>struktive<br />
Nebenwirkungen wie t. Doch die Mehrzahl von ihnen hat min<strong>de</strong>stens<br />
einige negative Auswirkungen. (Fast alle genetischen<br />
Nebenwirkungen sind ungünstig, und eine neue Mutation breitet<br />
sich normalerweise nur dann aus, <strong>wen</strong>n ihre negativen Auswirkungen<br />
durch positive Effekte aufgewogen wer<strong>de</strong>n. Wenn<br />
sowohl die guten als auch die schlechten Auswirkungen <strong>de</strong>n<br />
ganzen Körper betreffen, ist ein positiver Nettoeffekt für <strong>de</strong>n<br />
Körper möglich. Wenn aber die Auswirkungen auf <strong>de</strong>n Körper<br />
negativ sind und es nur <strong>de</strong>m Gen besser geht, ist <strong>de</strong>r Nettoeffekt<br />
vom Standpunkt <strong>de</strong>s Körpers aus durchweg schlecht.)<br />
T<strong>ro</strong>tz seiner schädlichen Nebeneffekte wird ein durch Mutation<br />
entstan<strong>de</strong>ner Segregationsverzerrer sich gewöhnlich in<br />
<strong>de</strong>r ganzen Population ausbreiten. Die natürliche Auslese<br />
(die schließlich auf <strong>de</strong>r Ebene <strong>de</strong>r Gene wirksam ist) för<strong>de</strong>rt<br />
<strong>de</strong>n Segregationsverzerrer, obwohl seine Auswirkungen auf<br />
<strong>de</strong>r Ebene <strong>de</strong>s einzelnen Organismus wahrscheinlich schlimm<br />
sind.<br />
Zwar gibt es Segregationsverzerrer, doch sind sie nicht allzu<br />
häufig. Wir könnten nun fragen, warum sie nicht weit verbreitet<br />
sind, mit an<strong>de</strong>ren Worten, warum <strong>de</strong>r Meiosevorgang normalerweise<br />
gerecht ist – so unparteiisch wie das Werfen einer<br />
Münze. Wir wer<strong>de</strong>n feststellen, daß die Antwort sich von selbst<br />
ergibt, sobald wir einmal verstan<strong>de</strong>n haben, warum Organismen<br />
überhaupt existieren.<br />
Der Einzelorganismus ist etwas, <strong>de</strong>ssen Existenz die Mehrheit<br />
<strong>de</strong>r Biologen als selbstverständlich voraussetzt, wahrscheinlich,<br />
weil seine Teile <strong>de</strong>rart einig und als Ganzes dieselbe<br />
Absicht verfolgen. Fragen über das Leben sind in <strong>de</strong>r Regel<br />
Fragen über Organismen. Biologen fragen, warum Organismen<br />
dies tun und warum sie das tun. Häufig fragen sie, warum<br />
Organismen Gemeinschaften bil<strong>de</strong>n. Sie fragen nicht – obwohl<br />
sie das tun sollten –, warum leben<strong>de</strong> Materie sich überhaupt<br />
zu Organismen organisiert. Warum ist das Meer kein urzeitli-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 362<br />
ches Schlachtfeld freier und unabhängiger Replikatoren mehr?<br />
Warum haben sich die Replikatoren zusammenge<strong>ro</strong>ttet, um<br />
gemeinsam schwerfällige Roboter zu bauen und in ihnen zu<br />
wohnen, und warum sind jene Roboter – individuelle Körper,<br />
Sie und ich – so g<strong>ro</strong>ß und so kompliziert?<br />
Es fällt vielen Biologen sogar schwer einzusehen, daß sich<br />
hier überhaupt eine Frage stellt. Es ist ihnen einfach zur zweiten<br />
Natur gewor<strong>de</strong>n, ihre Fragen auf <strong>de</strong>r Ebene <strong>de</strong>s individuellen<br />
Organismus zu stellen. Einige Biologen gehen so weit, die<br />
DNA als einen Mechanismus anzusehen, <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>n Organismen<br />
dazu benutzt wird, sich fortzupflanzen, gera<strong>de</strong>so wie ein<br />
Auge eine Vorrichtung ist, die ein Körper zum Sehen benutzt!<br />
Wer dieses Buch gelesen hat, wird erkennen, daß diese Einstellung<br />
ein schwerwiegen<strong>de</strong>r Irrtum ist. Sie stellt die Wahrheit<br />
krachend auf <strong>de</strong>n Kopf. Er wird auch erkennen, daß die alternative<br />
Haltung, nämlich die Sicht <strong>de</strong>s Lebens entsprechend<br />
<strong>de</strong>r Theorie <strong>de</strong>s egoistischen Gens, ihr eigenes schwieriges<br />
P<strong>ro</strong>blem mit sich bringt. Dieses P<strong>ro</strong>blem – fast das umgekehrte<br />
– ist die Frage, warum überhaupt Einzelorganismen existieren,<br />
beson<strong>de</strong>rs in so g<strong>ro</strong>ßer und auf kohärente Weise zweckmäßiger<br />
Form, einer Form, die die Biologen dazu verführt, die Wahrheit<br />
auf <strong>de</strong>n Kopf zu stellen. Um unser P<strong>ro</strong>blem zu lösen, müssen<br />
wir zuerst unseren Geist von alten Ansichten befreien, die<br />
stillschweigend <strong>de</strong>n Einzelorganismus als selbstverständlich<br />
voraussetzen; an<strong>de</strong>rnfalls gehen wir von falschen Grundlagen<br />
aus.<br />
Das Mittel, mit <strong>de</strong>m wir in unserem Kopf aufräumen, ist die<br />
Vorstellung, die ich <strong>de</strong>n erweiterten Phänotyp nenne. Wen<strong>de</strong>n<br />
wir uns nun diesem Gedanken und seinen Implikationen zu.<br />
Unter phänotypischen Wirkungen eines Gens versteht man<br />
gewöhnlich alle Auswirkungen, die es auf <strong>de</strong>n Körper hat,<br />
in <strong>de</strong>m es sitzt. Dies ist die traditionelle Definition. Aber wir<br />
wer<strong>de</strong>n jetzt sehen, daß wir uns unter <strong>de</strong>n phänotypischen<br />
Effekten eines Gens alle Auswirkungen vorstellen müssen, die<br />
es auf die Welt hat. Es mag sich herausstellen, daß die Auswirkungen<br />
eines bestimmten Gens in <strong>de</strong>r Tat auf die aufeinan<strong>de</strong>rfolgen<strong>de</strong>n<br />
Körper beschränkt sind, in <strong>de</strong>nen das Gen sitzt.
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 363<br />
Dieser im Einzelfall gegebene Umstand sollte jedoch nicht Teil<br />
unserer Definition sein. Denken wir bei all<strong>de</strong>m daran, daß die<br />
phänotypischen Effekte eines Gens die Werkzeuge sind, mit<br />
<strong>de</strong>nen es sich selbst in die nächste Generation hinüberhievt.<br />
Ich füge als einzigen neuen Gedanken hinzu, daß die Werkzeuge<br />
über die Grenzen <strong>de</strong>s Körpers hinausreichen können.<br />
Was könnte es in <strong>de</strong>r Praxis be<strong>de</strong>uten, <strong>wen</strong>n wir davon sprechen,<br />
daß ein Gen einen erweiterten phänotypischen Effekt auf<br />
die Welt außerhalb <strong>de</strong>s Körpers hat, in <strong>de</strong>m es sitzt? Beispiele,<br />
die uns sofort einfallen, sind Artefakte wie Biberdämme, Vogelnester<br />
und die Gehäuse <strong>de</strong>r Köcherfliegen.<br />
Köcherfliegen sind recht unauffällige, schmutzigbraune<br />
Insekten, die die meisten von uns gar nicht bemerken, <strong>wen</strong>n<br />
sie ziemlich unbeholfen über Flüssen fliegen. Bevor sie zu<br />
flugfähigen Insekten wer<strong>de</strong>n, leben sie längere <strong>Zeit</strong> als Larven,<br />
die auf <strong>de</strong>m Gewässergrund herumlaufen. Das Leben <strong>de</strong>r<br />
Köcherfliegenlarven ist recht gut erforscht. Sie gehören zu <strong>de</strong>n<br />
bemerkenswertesten Geschöpfen <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>. Aus selbstp<strong>ro</strong>duziertem<br />
Zement und Materialien, die sie am Gewässergrund<br />
fin<strong>de</strong>n, bauen sie sich mit viel Geschick röhrenförmige Gehäuse.<br />
Solch ein sogenannter Köcher ist ein bewegliches Heim, das<br />
die Larve mit sich herumträgt, wie das Haus einer Schnecke<br />
o<strong>de</strong>r eines Einsiedlerkrebses, nur daß die Köcherfliegenlarve<br />
es selbst baut, statt daß es auf ihr wächst o<strong>de</strong>r sie es fin<strong>de</strong>t.<br />
Einige Köcherfliegenarten ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>n Holzstückchen als Baumaterial,<br />
an<strong>de</strong>re Teile von abgestorbenen Blättern, wie<strong>de</strong>r<br />
an<strong>de</strong>re kleine Schneckenhäuser. Aber die vielleicht eindrucksvollsten<br />
Köcher sind die aus kleinen Steinchen. Die Larve<br />
wählt die Steinchen sorgfältig aus und verschmäht die, die<br />
für das jeweilige Loch in <strong>de</strong>r Wand zu g<strong>ro</strong>ß o<strong>de</strong>r zu klein<br />
sind; sie dreht und <strong>wen</strong><strong>de</strong>t sogar je<strong>de</strong>n Stein, bis er am besten<br />
eingepaßt ist.<br />
Warum imponiert uns dies so? Wenn wir uns zu objektivem<br />
Denken zwingen wür<strong>de</strong>n, wären wir von <strong>de</strong>r Architektur <strong>de</strong>s<br />
Auges o<strong>de</strong>r Ellenbogengelenks <strong>de</strong>r Köcherfliege gewiß stärker<br />
beeindruckt als von <strong>de</strong>r vergleichsweise beschei<strong>de</strong>nen Architektur<br />
ihres Steinhauses. Schließlich sind sowohl Auge als
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 364<br />
auch Ellenbogengelenk weitaus komplizierter und „besser entworfen“<br />
als das Gehäuse. Doch unlogischerweise beeindruckt<br />
uns dieses mehr – vielleicht weil Auge und Ellenbogengelenk<br />
sich auf dieselbe Weise entwickeln wie unsere eigenen Augen<br />
und Ellenbogen und wir uns diesen im Innern unserer Mütter<br />
stattfin<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n P<strong>ro</strong>zeß nicht als Verdienst anrechnen können.<br />
Nach<strong>de</strong>m ich schon so weit vom Thema abgewichen bin,<br />
kann ich <strong>de</strong>r Versuchung nicht wi<strong>de</strong>rstehen, noch ein <strong>wen</strong>ig<br />
weiterzugehen. Sosehr uns das Gehäuse <strong>de</strong>r Köcherfliegenlarve<br />
auch imponieren mag, sind wir davon paradoxerweise doch<br />
<strong>wen</strong>iger beeindruckt, als wir es von gleichwertigen Leistungen<br />
an<strong>de</strong>rer Tiere wären, die uns selbst näherstehen. Stellen<br />
wir uns nur vor, welch balkenartige Schlagzeilen es gäbe,<br />
<strong>wen</strong>n ein Meeresbiologe eine Delphinart ent<strong>de</strong>cken wür<strong>de</strong>, die<br />
g<strong>ro</strong>ße, kompliziert vermaschte Fischernetze mit einem Durchmesser<br />
von zwanzig Delphinlängen webt! Doch ein Spinnennetz<br />
halten wir für etwas Selbstverständliches, es ist für uns<br />
eher ein Ärgernis im Haus als eines <strong>de</strong>r Wun<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Welt. Und<br />
stellen wir uns nur <strong>de</strong>n Wirbel vor, <strong>wen</strong>n Jane Goodall vom<br />
Gombest<strong>ro</strong>m zurückkehrte mit Fotografien von wil<strong>de</strong>n Schimpansen,<br />
die ihre eigenen Häuser bauen, mit or<strong>de</strong>ntlichem Dach<br />
und gut isoliert, aus sorgfältig ausgewählten Steinen sauber<br />
zusammengesetzt und mit Mörtel befestigt! Doch die Larven<br />
von Köcherfliegen, die genau dies tun, gewinnen uns nur<br />
vorübergehen<strong>de</strong>s Interesse ab. Es wird manchmal gesagt, als<br />
wollte man dieses Messen mit zweierlei Maß verteidigen, daß<br />
Spinnen und Köcherfliegen ihre Meisterleistungen <strong>de</strong>r Architektur<br />
durch „Instinkt“ erzielen. Na und? In gewisser Weise<br />
macht sie das nur um so eindrucksvoller.<br />
Kehren wir zum eigentlichen Thema zurück. Das Gehäuse<br />
<strong>de</strong>r Köcherfliegenlarve, daran kann niemand zweifeln, ist eine<br />
Anpassung, die durch natürliche Selektion entstan<strong>de</strong>n ist.<br />
Es muß von <strong>de</strong>r Auslese auf ziemlich genau dieselbe Weise<br />
geför<strong>de</strong>rt wor<strong>de</strong>n sein wie beispielsweise <strong>de</strong>r harte Panzer<br />
von Hummern. Der Köcher ist eine schützen<strong>de</strong> Hülle für <strong>de</strong>n<br />
Körper. Als solche ist er für <strong>de</strong>n ganzen Organismus und alle<br />
seine Gene von Vorteil. Aber nun haben wir uns gera<strong>de</strong> klarge-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 365<br />
macht, daß Vorteile für <strong>de</strong>n Organismus nur Nebeneffekte <strong>de</strong>r<br />
natürlichen Auslese sind. Entschei<strong>de</strong>nd sind die Vorteile für<br />
jene Gene, die <strong>de</strong>r Schale ihre schützen<strong>de</strong>n Eigenschaften verleihen.<br />
Im Fall <strong>de</strong>s Hummers ist dies die alte Geschichte. Der<br />
Panzer <strong>de</strong>s Hummers ist offensichtlich ein Teil seines Körpers.<br />
Wie sieht es nun aber mit <strong>de</strong>m Gehäuse <strong>de</strong>r Köcherfliege aus?<br />
Die natürliche Auslese begünstigte bei <strong>de</strong>n Vorfahren <strong>de</strong>r<br />
Köcherfliegen jene Gene, die ihre Besitzer dazu veranlaßten,<br />
brauchbare Gehäuse zu bauen. Die Gene wirkten auf das<br />
Verhalten, vermutlich in<strong>de</strong>m sie die Embryonalentwicklung<br />
<strong>de</strong>s Nervensystems beeinflußten. Für einen mit Köcherfliegen<br />
befaßten Genetiker wäre jedoch nur <strong>de</strong>r Effekt <strong>de</strong>r Gene auf die<br />
Form und an<strong>de</strong>re Eigenschaften <strong>de</strong>r Gehäuse tatsächlich sichtbar.<br />
Der Genetiker sollte in genau <strong>de</strong>mselben Sinne Gene „für“<br />
die Gehäuseform fin<strong>de</strong>n können, wie es Gene für, sagen wir<br />
einmal, die Beinform gibt. Zugegebenermaßen hat sich bisher<br />
niemand mit <strong>de</strong>m genetischen Hintergrund <strong>de</strong>s Gehäusebaus<br />
bei Köcherfliegen beschäftigt. Für solche Untersuchungen<br />
brauchte man sorgfältig geführte Abstammungsregister von<br />
in Gefangenschaft gezüchteten Köcherfliegen, und die Zucht<br />
dieser Insekten ist schwierig. Aber man braucht nicht Genetik<br />
studiert zu haben, um sicher zu sein, daß es Gene gibt o<strong>de</strong>r<br />
zumin<strong>de</strong>st gab, die die Form <strong>de</strong>r Köcher beeinflußt haben. Wir<br />
brauchen lediglich einen guten Grund, um zu glauben, daß die<br />
Gehäuse von Köcherfliegen eine evolutionäre Anpassung sind.<br />
Wenn das so ist, muß es Gene gegeben haben, die die Variation<br />
<strong>de</strong>r Gehäuse verursachten, <strong>de</strong>nn die Auslese kann keine<br />
Anpassungen p<strong>ro</strong>duzieren, solange es keine erblichen Unterschie<strong>de</strong><br />
gibt, zwischen <strong>de</strong>nen sie auswählen kann.<br />
Daher ist es vernünftig – obwohl es Genetiker geben mag,<br />
die dies für eine son<strong>de</strong>rbare I<strong>de</strong>e halten –, <strong>wen</strong>n wir von Genen<br />
„für“ Steinform, Steingröße, Steinhärte und so weiter sprechen.<br />
Je<strong>de</strong>r Genetiker, <strong>de</strong>r etwas gegen diese Sprache einzu<strong>wen</strong><strong>de</strong>n<br />
hat, muß, <strong>wen</strong>n er konsequent sein will, auch dagegen<br />
sein, von Genen für Augenfarbe, Genen für die „runzelige“<br />
Form von Erbsen und so weiter zu sprechen. Ein Grund,<br />
aus <strong>de</strong>m die I<strong>de</strong>e im Falle von Steinchen son<strong>de</strong>rbar erscheinen
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 366<br />
könnte, ist die Tatsache, daß Steine kein lebendiges Material<br />
sind. Außer<strong>de</strong>m scheint <strong>de</strong>r Einfluß von Genen auf Steineigenschaften<br />
beson<strong>de</strong>rs indirekt zu sein. Ein Genetiker mag ein<strong>wen</strong><strong>de</strong>n,<br />
direkten Einfluß nähmen die Gene auf das Nervensystem,<br />
das für das Verhalten bei <strong>de</strong>r Auswahl <strong>de</strong>r Steinchen<br />
verantwortlich ist, nicht auf die Steinchen selbst. Doch ich for<strong>de</strong>re<br />
einen solchen Genetiker auf, sich genau anzusehen, was<br />
es überhaupt be<strong>de</strong>uten kann, <strong>wen</strong>n wir davon sprechen, daß<br />
Gene einen Einfluß auf ein Nervensystem ausüben. Das einzige,<br />
was Gene wirklich direkt beeinflussen können, ist die<br />
P<strong>ro</strong>teinsynthese. Der Einfluß eines Gens auf ein Nervensystem<br />
ist wie <strong>de</strong>r auf die Farbe eines Auges o<strong>de</strong>r die Form<br />
einer Erbse immer indirekt. Das Gen bestimmt eine P<strong>ro</strong>teinsequenz,<br />
die X beeinflußt, das Y beeinflußt, das Z beeinflußt, welches<br />
schließlich die Form <strong>de</strong>s Samenkorns o<strong>de</strong>r die zelluläre<br />
Vernetzung <strong>de</strong>s Nervensystems beeinflußt. Das Gehäuse <strong>de</strong>r<br />
Köcherfliegenlarve ist lediglich eine weitere Aus<strong>de</strong>hnung<br />
dieser Art von Sequenz. Die Steinhärte ist ein erweiterter<br />
phänotypischer Effekt <strong>de</strong>r Köcherfliegengene. Wenn es gerechtfertigt<br />
ist, davon zu sprechen, daß ein Gen auf die Form einer<br />
Erbse o<strong>de</strong>r das Nervensystem eines Tieres einwirkt (alle Genetiker<br />
sind dieser Meinung), dann muß es auch gerechtfertigt<br />
sein, von einem Gen zu sprechen, das die Härte <strong>de</strong>r Steinchen<br />
im Gehäuse einer Köcherfliegenlarve beeinflußt. Das ist ein<br />
verblüffen<strong>de</strong>r Gedanke, nicht wahr? Doch die Beweisführung<br />
ist zwingend.<br />
Wir sind nun bereit für <strong>de</strong>n nächsten Schritt in unserem<br />
Gedankengang: Gene in einem Organismus können erweiterte<br />
phänotypische Effekte auf <strong>de</strong>n Körper eines an<strong>de</strong>ren<br />
Organismus haben. Die Gehäuse von Köcherfliegenlarven<br />
halfen uns bei unserem ersten Schritt, beim nächsten wer<strong>de</strong>n<br />
uns Schneckenhäuser helfen. Das Schneckenhaus spielt für<br />
die Schnecke dieselbe Rolle wie das Gehäuse für eine<br />
Köcherfliegenlarve. Es wird von speziellen Zellen <strong>de</strong>r Schnecke<br />
abgeschie<strong>de</strong>n, daher wäre ein traditioneller Genetiker damit<br />
einverstan<strong>de</strong>n, von Genen „für“ Eigenschaften wie etwa die<br />
Schalendicke zu sprechen. Man hat aber festgestellt, daß
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 367<br />
Schnecken, die von bestimmten Saugwürmern parasitiert sind,<br />
beson<strong>de</strong>rs dicke Schalen haben. Was kann diese Verdickung<br />
be<strong>de</strong>uten? Hätten von <strong>de</strong>m Parasiten befallene Schnecken<br />
ungewöhnlich dünne Schalen, so könnten wir dies p<strong>ro</strong>blemlos<br />
als Folge einer geschwächten Konstitution erklären. Doch eine<br />
dickere Schale? Ein kräftigeres Haus schützt die Schnecke vermutlich<br />
besser. Es sieht so aus, als wür<strong>de</strong>n die Parasiten ihrem<br />
Wirt helfen, in<strong>de</strong>m sie sein Haus verbessern. Aber tun sie das<br />
wirklich?<br />
Wir müssen sorgfältiger nach<strong>de</strong>nken. Wenn eine dickere<br />
Schale für die Schnecke wirklich besser ist, warum hat sie sie<br />
dann nicht in je<strong>de</strong>m Fall? Die Antwort liegt wahrscheinlich in<br />
<strong>de</strong>r Ökonomie. Die P<strong>ro</strong>duktion <strong>de</strong>r Schale ist für die Schnecke<br />
mit hohen Kosten verbun<strong>de</strong>n. Sie erfor<strong>de</strong>rt Energie sowie Kalzium<br />
und an<strong>de</strong>re Substanzen, die aus mühselig erworbener<br />
Nahrung gewonnen wer<strong>de</strong>n müssen. Alle diese Mittel könnten,<br />
<strong>wen</strong>n sie nicht auf die Schalenbildung verwandt wür<strong>de</strong>n, für<br />
etwas an<strong>de</strong>res ausgegeben wer<strong>de</strong>n, etwa für die P<strong>ro</strong>duktion<br />
von mehr Nachkommen. Eine Schnecke, die eine Fülle von<br />
Ressourcen auf die Herstellung einer extradicken Schale ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>t,<br />
hat sich damit Sicherheit für ihren eigenen Körper<br />
erkauft. Aber zu welchen Kosten? Sie mag länger leben, aber<br />
sie wird sich <strong>wen</strong>iger erfolgreich rep<strong>ro</strong>duzieren, und vielleicht<br />
wird es ihr nicht gelingen, ihre Gene weiterzugeben. Unter <strong>de</strong>n<br />
Genen, die nicht weitergegeben wer<strong>de</strong>n, wer<strong>de</strong>n auch die für<br />
ein extrastarkes Haus sein. Mit an<strong>de</strong>ren Worten, ein Schnekkenhaus<br />
kann nicht nur zu dünnwandig sein (was leichter einzusehen<br />
ist), son<strong>de</strong>rn auch zu dickwandig. Wenn also ein Saugwurm<br />
eine Schnecke dazu bringt, ein beson<strong>de</strong>rs stabiles Haus<br />
zu sezernieren, so tut er <strong>de</strong>r Schnecke keinen Gefallen, es sei<br />
<strong>de</strong>nn, er trägt die ökonomischen Kosten <strong>de</strong>r dickeren Wand.<br />
Und wir können ohne g<strong>ro</strong>ßes Risiko wetten, daß er nicht so<br />
g<strong>ro</strong>ßzügig ist. Der Saugwurm übt irgen<strong>de</strong>inen versteckten chemischen<br />
Einfluß auf die Schnecke aus, <strong>de</strong>r diese zwingt, auf<br />
ihre eigene „bevorzugte“ Schalendicke zu verzichten. Dies mag<br />
das Leben <strong>de</strong>r Schnecke verlängern. Aber es hilft ihren Genen<br />
nicht weiter.
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 368<br />
Was hat <strong>de</strong>r Saugwurm davon? Warum tut er das? Ich vermute<br />
folgen<strong>de</strong>s: Unter sonst gleichen Voraussetzungen haben<br />
sowohl Schneckengene als auch Saugwurmgene einen Vorteil<br />
vom Überleben <strong>de</strong>s Schneckenkörpers. Aber Überleben ist<br />
nicht dasselbe wie Rep<strong>ro</strong>duktion, und es ist wahrscheinlich,<br />
daß es einen Komp<strong>ro</strong>miß gibt. Während Schneckengene von<br />
<strong>de</strong>r Fortpflanzung <strong>de</strong>r Schnecke p<strong>ro</strong>fitieren, tun Saugwurmgene<br />
dies nicht. Ein Saugwurm kann nicht erwarten, daß seine<br />
Gene in <strong>de</strong>n Nachkommen seines gegenwärtigen Wirts beherbergt<br />
sein wer<strong>de</strong>n. Natürlich wäre es möglich, aber ebenso<br />
möglich wäre es für die Gene aller seiner Saugwurmrivalen.<br />
Wenn die Langlebigkeit <strong>de</strong>r Schnecke tatsächlich mit einem<br />
geringeren Fortpflanzungserfolg erkauft wer<strong>de</strong>n muß, sind die<br />
Saugwurmgene „glücklich“, die Schnecke diese Kosten zahlen<br />
zu lassen, da sie keinerlei Interesse daran haben, daß die<br />
Schnecke sich fortpflanzt. Die Schneckengene sind ganz und<br />
gar nicht glücklich, diese Kosten tragen zu müssen, da langfristig<br />
ihre Zukunft davon abhängt, daß die Schnecke sich fortpflanzt.<br />
Daher mutmaße ich, daß die Saugwurmgene einen<br />
Einfluß auf die schalenbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Zellen <strong>de</strong>r Schnecke ausüben,<br />
und zwar einen Einfluß, <strong>de</strong>r ihnen selbst Vorteile bringt, die<br />
Schneckengene aber teuer zu stehen kommt. Diese Theorie<br />
läßt sich testen, was bisher allerdings noch nicht geschehen<br />
ist.<br />
Wir sind jetzt in <strong>de</strong>r Lage, das am Beispiel <strong>de</strong>r Köcherfliegen<br />
Gelernte zu verallgemeinern. Wenn meine Annahme über<br />
die Saugwurmgene richtig ist, dürfen wir behaupten, daß<br />
Schneckenkörper in genau <strong>de</strong>mselben Sinne von Saugwurmgenen<br />
beeinflußt wer<strong>de</strong>n wie von Schneckengenen. Es ist, als<br />
reichten die Gene aus ihren „eigenen“ Körpern heraus und<br />
manipulierten die Außenwelt. Wie im Falle <strong>de</strong>r Köcherfliegen<br />
ist diese Sprache für Genetiker möglicherweise beunruhigend.<br />
Sie sind daran gewöhnt, daß die Wirkungen eines Gens auf <strong>de</strong>n<br />
Körper begrenzt sind, in <strong>de</strong>m es sitzt. Aber wie<strong>de</strong>rum wie im<br />
Fall <strong>de</strong>r Köcherfliegen zeigt ein genauerer Blick darauf, was<br />
Genetiker überhaupt mit <strong>de</strong>n „Effekten“ eines Gens meinen,<br />
daß eine solche Beunruhigung fehl am Platze ist. Wir brauchen
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 369<br />
lediglich zu akzeptieren, daß die Verän<strong>de</strong>rung in <strong>de</strong>r Schnecke<br />
eine Anpassung <strong>de</strong>s Saugwurms ist. Wenn sie das ist, muß sie<br />
durch die natürliche Selektion von Saugwurmgenen entstan<strong>de</strong>n<br />
sein. Wir haben gezeigt, daß die phänotypischen Auswirkungen<br />
eines Gens sich nicht nur auf unbelebte Objekte wie<br />
Steine, son<strong>de</strong>rn auch auf „an<strong>de</strong>re“ lebendige Körper aus<strong>de</strong>hnen<br />
können.<br />
Die Geschichte <strong>de</strong>r Schnecken und Saugwürmer ist erst<br />
<strong>de</strong>r Anfang. Man kennt seit langem Parasiten aller Typen, die<br />
faszinierend tückische Einflüsse auf ihre Wirte ausüben. Eine<br />
mik<strong>ro</strong>skopisch kleine P<strong>ro</strong>tozoenart namens Nosema, die die<br />
Larven von Mehlkäfern parasitiert, hat „ent<strong>de</strong>ckt“, wie sie<br />
eine chemische Verbindung herstellen kann, die für die Käfer<br />
sehr wichtig ist. Wie bei an<strong>de</strong>ren Insekten gibt es auch bei<br />
diesen Käfern ein Hormon, das als Juvenilhormon bezeichnet<br />
wird und dafür sorgt, daß Larven Larven bleiben. Die normale<br />
Umwandlung von <strong>de</strong>r Larve in <strong>de</strong>n erwachsenen Käfer wird<br />
dadurch ausgelöst, daß die Larve aufhört, das Juvenilhormon<br />
zu p<strong>ro</strong>duzieren. Dem Parasiten Nosema ist es gelungen, dieses<br />
Hormon (genaugenommen eine sehr ähnliche Verbindung) zu<br />
synthetisieren. Millionen von Nosema bemühen sich zusammen<br />
um die Massenp<strong>ro</strong>duktion dieses Juvenilhormons im<br />
Körper <strong>de</strong>r Käferlarve und verhin<strong>de</strong>rn damit, daß die Larve<br />
sich in einen Käfer verwan<strong>de</strong>lt. Statt <strong>de</strong>ssen wächst sie weiter<br />
und wird schließlich zu einer Riesenlarve mit <strong>de</strong>m doppelten<br />
Gewicht eines normalen erwachsenen Käfers. Das ist für die<br />
Fortpflanzung von Käfergenen von keinerlei Nutzen, aber<br />
ein Füllhorn für <strong>de</strong>n Parasiten Nosema. Der Riesenwuchs<br />
<strong>de</strong>r Käferlarven ist ein erweiterter phänotypischer Effekt <strong>de</strong>r<br />
P<strong>ro</strong>tozoengene.<br />
Und nun eine Fallgeschichte, die noch stärker an unbewußte<br />
Ängste rührt als die <strong>de</strong>r Peter-Pan-Käfer: Kastration durch<br />
einen Parasiten! Krabben wer<strong>de</strong>n von einem Geschöpf namens<br />
Sacculina parasitiert. Der Wurzelkrebs Sacculina ist ein Verwandter<br />
<strong>de</strong>r Seepocken, obwohl man, <strong>wen</strong>n man ihn sieht,<br />
meinen könnte, er sei eine parasitäre Pflanze. Er treibt ein<br />
kunstvolles Wurzelsystem tief in das Gewebe <strong>de</strong>r unglücklichen
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 370<br />
Krabbe und saugt seine Nahrung aus <strong>de</strong>ren Körper. Wahrscheinlich<br />
ist es kein Zufall, daß zu <strong>de</strong>n ersten Organen, die <strong>de</strong>r<br />
Wurzelkrebs angreift, die Ho<strong>de</strong>n beziehungsweise Eierstöcke<br />
<strong>de</strong>r Krabbe gehören; er verschont zunächst die Organe, die<br />
die Krabbe zum Überleben braucht – im Gegensatz zu <strong>de</strong>nen,<br />
die zur Fortpflanzung nötig sind. Die Krabbe wird <strong>de</strong> facto von<br />
<strong>de</strong>m Parasiten kastriert. Wie ein Mastochse lenkt die kastrierte<br />
Krabbe Energie und Mittel von <strong>de</strong>r Rep<strong>ro</strong>duktion fort und in<br />
ihren eigenen Körper hinein – eine reiche Ernte für <strong>de</strong>n Parasiten<br />
auf Kosten <strong>de</strong>r Fortpflanzung <strong>de</strong>r Krabbe. Es ist ziemlich<br />
genau dieselbe Geschichte, wie ich sie für Nosema beim<br />
Mehlkäfer und für <strong>de</strong>n Saugwurm bei <strong>de</strong>r Schnecke vorgeschlagen<br />
habe. Wenn wir annehmen, daß in allen drei Fällen<br />
die Verän<strong>de</strong>rungen im Wirt evolutionäre Anpassungen zum<br />
Vorteil <strong>de</strong>s Parasiten sind, so müssen diese als erweiterte<br />
phänotypische Effekte von Parasitengenen angesehen wer<strong>de</strong>n.<br />
Das heißt also, Gene reichen aus ihrem „eigenen“ Körper<br />
heraus, um Phänotypen in an<strong>de</strong>ren Körpern zu beeinflussen.<br />
Die Interessen von Parasiten- und Wirtsgenen können<br />
durchaus weitgehend übereinstimmen. Der Theorie <strong>de</strong>r egoistischen<br />
Gene folgend, können wir uns bei<strong>de</strong>, Saugwurmgene<br />
und Schneckengene, als „Parasiten“ im Schneckenkörper vorstellen.<br />
Bei<strong>de</strong> haben einen Vorteil davon, von <strong>de</strong>mselben<br />
schützen<strong>de</strong>n Haus umgeben zu sein, auch <strong>wen</strong>n sie in bezug<br />
auf die „bevorzugte“ Wandstärke unterschiedlicher Meinung<br />
sind. Diese Divergenz ergibt sich im wesentlichen aus <strong>de</strong>r<br />
Tatsache, daß die Art und Weise, wie sie <strong>de</strong>n Körper dieser<br />
Schnecke verlassen und in <strong>de</strong>n nächsten gelangen, verschie<strong>de</strong>n<br />
ist. Schneckengene verlassen <strong>de</strong>n Schneckenkörper in<br />
Schneckenspermien und -eiern. Die Saugwurmgene nehmen<br />
einen ganz an<strong>de</strong>ren Weg. Auf die furchtbar komplizierten Einzelheiten<br />
möchte ich hier nicht eingehen; entschei<strong>de</strong>nd ist, daß<br />
sie <strong>de</strong>n Körper <strong>de</strong>r Schnecke nicht in <strong>de</strong>ren Spermien o<strong>de</strong>r<br />
Eiern verlassen.<br />
Ich schlage vor, daß dies die wichtigste Frage in bezug auf<br />
je<strong>de</strong>n Parasiten sein sollte: Wer<strong>de</strong>n seine Gene über dieselben<br />
Vehikel an zukünftige Generationen weitergegeben wie die
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 371<br />
Gene <strong>de</strong>s Wirtes? Wenn dies nicht <strong>de</strong>r Fall ist, so wür<strong>de</strong> ich<br />
erwarten, daß sie <strong>de</strong>m Wirt auf die eine o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Weise<br />
Scha<strong>de</strong>n zufügen. Doch <strong>wen</strong>n es <strong>de</strong>r Fall ist, so wird <strong>de</strong>r Parasit<br />
alles in seiner Macht Stehen<strong>de</strong> tun, um <strong>de</strong>m Wirt nicht nur<br />
beim Überleben, son<strong>de</strong>rn auch bei <strong>de</strong>r Fortpflanzung zu helfen.<br />
Im Laufe <strong>de</strong>r Evolution wird er aufhören ein Parasit zu sein,<br />
wird mit <strong>de</strong>m Wirt zusammenarbeiten, und möglicherweise<br />
verschmilzt er schließlich mit <strong>de</strong>m Gewebe <strong>de</strong>s Wirtes und<br />
ist überhaupt nicht mehr als Parasit zu erkennen. Vielleicht<br />
sind, wie ich in Kapitel 10 ange<strong>de</strong>utet habe, unsere Zellen<br />
das Ergebnis einer <strong>de</strong>rartigen Entwicklung, und wir sind alle<br />
Relikte parasitärer Verschmelzungen in <strong>de</strong>r Urzeit.<br />
Sehen wir uns an, was geschehen kann, <strong>wen</strong>n Parasitenund<br />
Wirtsgene tatsächlich einen gemeinsamen Ausgang aus<br />
<strong>de</strong>m Wirtskörper haben. Der Parasit <strong>de</strong>s Borkenkäfers Xyleborus<br />
ferrugineus ist ein Bakterium, das nicht nur im Körper <strong>de</strong>s<br />
Wirtes lebt, son<strong>de</strong>rn auch <strong>de</strong>ssen Eier als Transportmittel zu<br />
einem neuen Wirt benutzt. Die Gene solcher Parasiten p<strong>ro</strong>fitieren<br />
daher von fast <strong>de</strong>nselben zukünftigen Umstän<strong>de</strong>n wie die<br />
Gene ihres Wirtes. Man kann erwarten, daß die bei<strong>de</strong>n Gruppen<br />
von Genen „an einem Strick ziehen“, und zwar aus genau<br />
<strong>de</strong>nselben Grün<strong>de</strong>n, aus <strong>de</strong>nen die Gene eines Individuums<br />
dies normalerweise tun. Es spielt keine Rolle, daß einige von<br />
ihnen zufällig „Käfergene“ und die an<strong>de</strong>ren „Bakteriengene“<br />
sind. Bei<strong>de</strong> Gruppen von Genen sind am Überleben <strong>de</strong>s Käfers<br />
und an <strong>de</strong>r Verbreitung von Käfereiern „interessiert“, <strong>de</strong>nn<br />
sie „verstehen“ Käfereier als ihren Fahrschein in die Zukunft.<br />
Somit teilen die Gene <strong>de</strong>r Bakterien das Schicksal <strong>de</strong>r Wirtsgene,<br />
und nach meiner Interpretation ist zu erwarten, daß<br />
die Bakterien in allen Aspekten <strong>de</strong>s Lebens mit ihren Käfern<br />
zusammenarbeiten.<br />
Es zeigt sich, daß „zusammenarbeiten“ mil<strong>de</strong> ausgedrückt<br />
ist. Der Dienst, <strong>de</strong>n sie <strong>de</strong>n Käfern leisten, könnte kaum intimer<br />
sein. Diese Käfer sind haplodiploid, wie Bienen und Ameisen<br />
(siehe Kapitel 10). Wenn ein Ei von einem Männchen<br />
befruchtet wird, entwickelt es sich immer zu einem Weibchen.<br />
Ein unbefruchtetes Ei entwickelt sich zu einem Männchen. Mit
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 372<br />
an<strong>de</strong>ren Worten, die männlichen Käfer haben keinen Vater.<br />
Die Eier, aus <strong>de</strong>nen sie entstehen, entwickeln sich spontan,<br />
ohne daß ein Spermium in sie eingedrungen ist. Doch an<strong>de</strong>rs<br />
als bei Bienen und Ameisen muß bei <strong>de</strong>n Borkenkäfern irgend<br />
etwas in die Eier eindringen. Diese Aufgabe übernehmen die<br />
Bakterien, die so die Entwicklung <strong>de</strong>r unbefruchteten Eier<br />
zu männlichen Käfern in Gang setzen. Diese Bakterien sind<br />
natürlich genau die Art von Parasiten, die, wie ich argumentiert<br />
habe, aufhören sollten parasitär zu sein und mutualistisch<br />
wer<strong>de</strong>n sollten, gera<strong>de</strong> weil sie zusammen mit <strong>de</strong>n „eigenen“<br />
Genen <strong>de</strong>s Wirtes in <strong>de</strong>ssen Eiern weitergegeben wer<strong>de</strong>n. Letzten<br />
En<strong>de</strong>s wer<strong>de</strong>n ihre „eigenen“ Körper wahrscheinlich verschwin<strong>de</strong>n,<br />
in<strong>de</strong>m sie völlig mit <strong>de</strong>m Körper <strong>de</strong>s „Wirtes“ verschmelzen.<br />
Ein aufschlußreiches Spektrum fin<strong>de</strong>t man heute noch unter<br />
<strong>de</strong>n Hydra-Arten. Hydren sind Süßwasserpolypen: kleine, festsitzen<strong>de</strong>,<br />
tentakeltragen<strong>de</strong> Tiere, die Seeanemonen ähneln.<br />
In ihrem Gewebe leben häufig parasitieren<strong>de</strong> Algen. Bei <strong>de</strong>n<br />
Arten Hydra vulgaris und Hydra attenuata sind die Algen echte<br />
Parasiten, die die Hydren krank machen. Das Gewebe von<br />
Chlo<strong>ro</strong>hydra viridissima dagegen enthält stets Algen, und diese<br />
leisten einen nützlichen Beitrag zum Wohlergehen <strong>de</strong>s Polypen,<br />
in<strong>de</strong>m sie ihn mit Sauerstoff versorgen. Und nun wird es<br />
interessant: Genau wie wir erwartet hätten, wer<strong>de</strong>n die Algen<br />
bei Chlo<strong>ro</strong>hydra mittels <strong>de</strong>r Hydraeier auf die nächste Generation<br />
übertragen. Bei <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren bei<strong>de</strong>n Arten ist das nicht<br />
<strong>de</strong>r Fall. Die Gene <strong>de</strong>r Algen und die von Chlo<strong>ro</strong>hydra haben<br />
ein gemeinsames Interesse: alles in ihrer Macht Stehen<strong>de</strong> zu<br />
tun, um die P<strong>ro</strong>duktion von Hydraeiern zu steigern. Die Gene<br />
<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren bei<strong>de</strong>n Hydraarten jedoch sind nicht „einer Meinung“<br />
mit <strong>de</strong>n Genen ihrer Algen. Je<strong>de</strong>nfalls nicht in <strong>de</strong>mselben<br />
Ausmaß. Zwar mögen bei<strong>de</strong> Gruppen von Genen ein Interesse<br />
am Überleben von Hydrakörpern haben. Aber nur die<br />
Hydragene sind an <strong>de</strong>r Fortpflanzung <strong>de</strong>r Hydren interessiert.<br />
So lungern die Algen als schwächen<strong>de</strong> Parasiten herum, statt<br />
sich in Richtung auf eine vorteilhafte Kooperation zu entwikkeln.<br />
Der entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Punkt ist, wie schon gesagt, daß ein
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 373<br />
Parasit, <strong>de</strong>ssen Gene <strong>de</strong>mselben Schicksal entgegengehen wie<br />
die Gene seines Wirtes, alle Interessen dieses Wirtes teilt und<br />
schließlich aufhören wird, parasitär zu han<strong>de</strong>ln.<br />
Schicksal ist in diesem Fall gleichbe<strong>de</strong>utend mit zukünftigen<br />
Generationen. Die Gene von Chlo<strong>ro</strong>hydra und die Gene <strong>de</strong>r<br />
Algen, Käfergene und Bakteriengene können nur über die Eier<br />
<strong>de</strong>s Wirtes in die Zukunft gelangen. Daher wird sich bei allen<br />
„Berechnungen“, die Parasitengene über ihre optimale Taktik<br />
in je<strong>de</strong>r beliebigen Abteilung <strong>de</strong>s Lebens anstellen, genau<br />
o<strong>de</strong>r fast genau dieselbe Taktik als optimal erweisen wie bei<br />
ähnlichen „Berechnungen“ <strong>de</strong>r Wirtsgene. Im Fall <strong>de</strong>r Schnekken<br />
und <strong>de</strong>r sie parasitieren<strong>de</strong>n Saugwürmer kamen wir zu<br />
<strong>de</strong>m Schluß, daß sie unterschiedliche Schalendicken bevorzugen.<br />
Im Fall <strong>de</strong>s Borkenkäfers Xyleborus ferrugineus und<br />
seiner Bakterien wer<strong>de</strong>n Wirt und Parasit einer Meinung sein,<br />
was die bevorzugte Flügellänge und je<strong>de</strong>s an<strong>de</strong>re Merkmal<br />
<strong>de</strong>s Käferkörpers betrifft. Wir können dies voraussagen, ohne<br />
irgend etwas Genaueres darüber zu wissen, wozu die Käfer<br />
ihre Flügel o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Körperteile benutzen. Es folgt einfach<br />
aus unserer Überlegung, daß sowohl die Käfergene als auch die<br />
Bakteriengene alles in ihrer Macht Stehen<strong>de</strong> tun wer<strong>de</strong>n, um<br />
dieselben zukünftigen Ereignisse zu bewerkstelligen – Ereignisse,<br />
die für die Verbreitung von Käfereiern vorteilhaft sind.<br />
Wir können diese Argumentation zu ihrem logischen Schluß<br />
führen und sie auf normale, „eigene“ Gene an<strong>wen</strong><strong>de</strong>n. Unsere<br />
eigenen Gene arbeiten nicht zusammen, weil sie unsere Gene<br />
sind, son<strong>de</strong>rn weil sie <strong>de</strong>nselben Ausgang in die Zukunft – Spermium<br />
o<strong>de</strong>r Ei – haben. Wenn irgendwelche Gene eines Organismus,<br />
beispielsweise <strong>de</strong>s menschlichen, einen Weg fin<strong>de</strong>n<br />
könnten, sich auszubreiten, <strong>de</strong>r nicht über die herkömmliche<br />
Spermium- o<strong>de</strong>r Ei-Route führte, so wür<strong>de</strong>n sie ihn einschlagen<br />
und <strong>wen</strong>iger kooperationsbereit sein. Der Grund ist, daß<br />
sie dann von einem an<strong>de</strong>ren Satz zukünftiger Resultate p<strong>ro</strong>fitieren<br />
könnten als die übrigen Gene im Körper. Wir haben<br />
bereits Gene kennengelernt, die die Meiose zu ihrem eigenen<br />
Vorteil beeinflussen. Vielleicht gibt es auch Gene, die ganz aus<br />
<strong>de</strong>n „richtigen Kanälen“ – über Spermium o<strong>de</strong>r Ei – ausgeb<strong>ro</strong>-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 374<br />
chen sind und sich <strong>de</strong>n Weg über eine Neben<strong>ro</strong>ute gebahnt<br />
haben.<br />
Es gibt DNA-Fragmente, die nicht in Ch<strong>ro</strong>mosomen eingeschlossen<br />
sind, son<strong>de</strong>rn frei im flüssigen Zellinhalt herumschwimmen<br />
und sich dort vermehren, beson<strong>de</strong>rs in Bakterienzellen.<br />
Sie sind unter verschie<strong>de</strong>nen Namen bekannt, etwa als<br />
Vi<strong>ro</strong>i<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r Plasmi<strong>de</strong>. Ein Plasmid ist sogar noch kleiner als<br />
ein Virus, und es besteht gewöhnlich nur aus ein paar Genen.<br />
Einige Plasmi<strong>de</strong> sind in <strong>de</strong>r Lage, sich nahtlos in ein Ch<strong>ro</strong>mosom<br />
zu integrieren. Die Verbindungsstelle ist so glatt, daß man<br />
die Naht nicht sehen kann; das Plasmid ist von je<strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren<br />
Teil <strong>de</strong>s Ch<strong>ro</strong>mosoms nicht mehr zu unterschei<strong>de</strong>n. Dieselben<br />
Plasmi<strong>de</strong> können auch wie<strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>m Ch<strong>ro</strong>mosom aussteigen.<br />
Diese Fähigkeit <strong>de</strong>r DNA, sich herauszuschnei<strong>de</strong>n und<br />
einzufügen, im Handumdrehen in Ch<strong>ro</strong>mosomen hinein- und<br />
aus ihnen herauszuspringen, gehört zu <strong>de</strong>n beson<strong>de</strong>rs aufregen<strong>de</strong>n<br />
unter <strong>de</strong>n Tatsachen, die seit Erscheinen <strong>de</strong>r ersten<br />
Auflage dieses Buches ent<strong>de</strong>ckt wor<strong>de</strong>n sind. In <strong>de</strong>r Tat lassen<br />
sich die neuen Erkenntnisse über Plasmi<strong>de</strong> als eindrucksvolle<br />
unterstützen<strong>de</strong> Beweise für die Mutmaßungen ansehen, die<br />
ich in Kapitel 10 anstellte und die, als ich sie damals nie<strong>de</strong>rschrieb,<br />
ein <strong>wen</strong>ig weit hergeholt erschienen. Unter einer<br />
Reihe von Gesichtspunkten kommt es nicht wirklich darauf an,<br />
ob diese Fragmente als eindringen<strong>de</strong> Parasiten o<strong>de</strong>r ausbrechen<strong>de</strong><br />
Rebellen entstan<strong>de</strong>n. Ihr voraussichtliches Verhalten<br />
ist dasselbe. Befassen wir uns etwas näher mit einem ausbrechen<strong>de</strong>n<br />
Fragment, um <strong>de</strong>utlich zu machen, was ich meine.<br />
Stellen wir uns ein rebellieren<strong>de</strong>s Stück menschlicher DNA<br />
vor, das in <strong>de</strong>r Lage ist, sich aus seinem Ch<strong>ro</strong>mosom hinauszuschnei<strong>de</strong>n,<br />
das frei in <strong>de</strong>r Zelle treibt, sich vielleicht vermehrt,<br />
bis viele Kopien von ihm existieren, und sich dann in ein an<strong>de</strong>res<br />
Ch<strong>ro</strong>mosom integriert. Welche unorthodoxen alternativen<br />
Wege in die Zukunft könnte ein solcher rebellieren<strong>de</strong>r Replikator<br />
ausbeuten ? Wir verlieren fortwährend Zellen unserer<br />
Haut! Ein G<strong>ro</strong>ßteil <strong>de</strong>s Staubs in unseren Wohnungen besteht<br />
aus unseren abgestoßenen Zellen. Wir atmen wahrscheinlich<br />
auch ständig Zellen an<strong>de</strong>rer Menschen ein. Wenn wir mit
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 375<br />
<strong>de</strong>m Fingernagel über die Innenseite unseres Mun<strong>de</strong>s fahren,<br />
bleiben Hun<strong>de</strong>rte von leben<strong>de</strong>n Zellen daran hängen. Küsse<br />
und Zärtlichkeiten von Lieben<strong>de</strong>n dürften g<strong>ro</strong>ße Mengen von<br />
Zellen in bei<strong>de</strong> Richtungen transportieren. Ein Stück rebellieren<strong>de</strong>r<br />
DNA könnte je<strong>de</strong> dieser Zellen als Mitfahrgelegenheit<br />
benutzen. Falls Gene eine Ritze ent<strong>de</strong>cken sollten, die ihnen<br />
Zugang zu einem unorthodoxen Weg in einen an<strong>de</strong>ren Körper<br />
verschafft (neben o<strong>de</strong>r anstelle <strong>de</strong>r normalen Route über Spermien<br />
beziehungsweise Eizellen), so müssen wir erwarten, daß<br />
die natürliche Auslese ihren Opportunismus för<strong>de</strong>rn und verbessern<br />
wür<strong>de</strong>. Was ihre genauen Metho<strong>de</strong>n anbelangt, so gibt<br />
es keinen Grund, warum diese auf irgen<strong>de</strong>ine Weise an<strong>de</strong>rs<br />
sein sollten als die Erfindungen von Viren, die vor <strong>de</strong>m Hintergrund<br />
<strong>de</strong>r Theorie vom egoistischen Gen und erweiterten<br />
Phänotyp nur allzu vorhersagbar sind.<br />
Wenn wir Schnupfen o<strong>de</strong>r Husten haben, betrachten wir<br />
die Symptome gewöhnlich als ärgerliche Nebenp<strong>ro</strong>dukte <strong>de</strong>r<br />
Virentätigkeit. In einigen Fällen scheint es jedoch wahrscheinlicher,<br />
daß sie von <strong>de</strong>m Virus absichtlich hervorgerufen wer<strong>de</strong>n,<br />
um ihm bei seiner Reise von einem Wirt zum an<strong>de</strong>ren helfen.<br />
Nicht zufrie<strong>de</strong>n damit, einfach in die Atmosphäre hinausgeatmet<br />
zu wer<strong>de</strong>n, bringt das Virus uns zum Niesen o<strong>de</strong>r<br />
explosionsartigen Husten. Das Tollwutvirus wird im Speichel<br />
übertragen, <strong>wen</strong>n ein Tier das an<strong>de</strong>re beißt. Bei Hun<strong>de</strong>n<br />
äußert sich die Krankheit unter an<strong>de</strong>rem darin, daß normalerweise<br />
friedliche und freundliche Tiere zu wüten<strong>de</strong>n Beißern<br />
mit Schaum vor <strong>de</strong>m Maul wer<strong>de</strong>n. Normale Hun<strong>de</strong> entfernen<br />
sich meist nicht weiter als etwa einen Kilometer von ihrem<br />
Wohnort; tollwutinfizierte Tiere wer<strong>de</strong>n verhängnisvollerweise<br />
zu ruhelosen Wan<strong>de</strong>rern und verbreiten das Virus in weitem<br />
Umkreis. Es wur<strong>de</strong> sogar <strong>de</strong>r Gedanke geäußert, daß das<br />
bekannte Symptom <strong>de</strong>r Wasserscheu <strong>de</strong>n Hund dazu veranlaßt,<br />
<strong>de</strong>n nassen Schaum von <strong>de</strong>r Schnauze zu schütteln – und<br />
damit das Virus. Mir sind keine Beweise dafür bekannt, daß<br />
sexuell übertragbare Krankheiten <strong>de</strong>n Geschlechtstrieb beim<br />
Menschen verstärken, doch ich vermute, es wäre <strong>de</strong>r Mühe<br />
wert, sich näher mit dieser Frage zu befassen. Mit Sicherheit
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 376<br />
soll zumin<strong>de</strong>st ein angebliches Aph<strong>ro</strong>sidiakum, die Spanische<br />
Fliege, dadurch wirken, daß es einen Juckreiz erzeugt ... Und<br />
<strong>wen</strong>n Viren Husten o<strong>de</strong>r Niesen hervorrufen können, warum<br />
dann nicht auch einen Juckreiz?<br />
Worauf ich bei diesem Vergleich von rebellieren<strong>de</strong>r menschlicher<br />
DNA mit einfallen<strong>de</strong>n parasitären Viren hinauswill, ist,<br />
daß zwischen bei<strong>de</strong>n kein wirklich be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>r Unterschied<br />
besteht. Ja, es ist in <strong>de</strong>r Tat gut möglich, daß Viren als Ansammlungen<br />
von ausgeb<strong>ro</strong>chenen Genen entstan<strong>de</strong>n sind. Wenn wir<br />
überhaupt eine Unterscheidung treffen wollen, so sollte es<br />
die sein zwischen Genen, die auf <strong>de</strong>m orthodoxen Wege, also<br />
in Spermien o<strong>de</strong>r Eizellen, von einem Körper zum an<strong>de</strong>ren<br />
gelangen, und Genen, die ungewöhnliche „Nebenwege“ einschlagen.<br />
Zu bei<strong>de</strong>n Gruppen können sowohl Gene gehören,<br />
die als „körpereigene“ ch<strong>ro</strong>mosomale Gene entstan<strong>de</strong>n sind,<br />
als auch Gene, die ursprünglich körperfrem<strong>de</strong>, eindringen<strong>de</strong><br />
Parasiten waren. O<strong>de</strong>r vielleicht, wie ich in Kapitel 10 spekuliert<br />
habe, sollten alle „eigenen“ ch<strong>ro</strong>mosomalen Gene als<br />
wechselseitig parasitär angesehen wer<strong>de</strong>n. Der entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong><br />
Unterschied zwischen meinen bei<strong>de</strong>n Klassen von Genen liegt<br />
in <strong>de</strong>n unterschiedlichen Umstän<strong>de</strong>n, von <strong>de</strong>nen sie wahrscheinlich<br />
in <strong>de</strong>r Zukunft p<strong>ro</strong>fitieren wer<strong>de</strong>n. Ein Gen <strong>de</strong>s<br />
Erkältungsvirus und ein ausgeb<strong>ro</strong>chenes menschliches ch<strong>ro</strong>mosomales<br />
Gen stimmen miteinan<strong>de</strong>r darin überein, daß sie<br />
ihren Wirt zum Niesen bringen „wollen“. Ein orthodoxes ch<strong>ro</strong>mosomales<br />
Gen und ein sexuell übertragbares Virus sind sich<br />
in <strong>de</strong>m Wunsch einig, daß ihr Wirt kopuliert. Es ist ein faszinieren<strong>de</strong>r<br />
Gedanke, daß bei<strong>de</strong> darauf aus sein könnten, daß<br />
<strong>de</strong>r Wirt sexuell attraktiv ist. Außer<strong>de</strong>m wären sich ein ch<strong>ro</strong>mosomales<br />
Gen und ein Virus, das im Ei <strong>de</strong>s Wirtes übertragen<br />
wird, in <strong>de</strong>m Wunsch einig, daß <strong>de</strong>r Wirt nicht nur in seiner<br />
Brautwerbung, son<strong>de</strong>rn auch in je<strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren Aspekt seines<br />
Lebens erfolgreich ist, bis hin zu <strong>de</strong>m Punkt, daß er ein<br />
zuverlässiger, hingebungsvoller Vater und sogar G<strong>ro</strong>ßvater ist.<br />
Die Köcherfliegenlarve lebt in ihrem Gehäuse, und die Parasiten,<br />
von <strong>de</strong>nen ich bisher gesp<strong>ro</strong>chen habe, leben in ihren<br />
Wirten. Die Gene befin<strong>de</strong>n sich somit physisch in <strong>de</strong>r Nähe
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 377<br />
ihrer erweiterten phänotypischen Effekte, so nahe, wie Gene<br />
gewöhnlich ihren herkömmlichen Phänotypen sind. Doch Gene<br />
können auch auf Entfernung wirken; erweiterte Phänotypen<br />
können sehr ausge<strong>de</strong>hnt sein. Einer <strong>de</strong>r längsten, die mir<br />
einfallen, überspannt einen See. Wie das Spinnennetz o<strong>de</strong>r<br />
das Gehäuse <strong>de</strong>r Köcherfliege gehört <strong>de</strong>r Biberdamm zu <strong>de</strong>n<br />
wahren Wun<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Welt. Es ist nicht völlig klar, was sein<br />
evolutionärer Zweck ist, aber er hat mit Sicherheit einen, da<br />
die Biber soviel <strong>Zeit</strong> und Energie auf seinen Bau ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>n.<br />
Der See, <strong>de</strong>n er erzeugt, dient wahrscheinlich <strong>de</strong>m Schutz <strong>de</strong>s<br />
Biberbaus gegen Räuber. Er bil<strong>de</strong>t außer<strong>de</strong>m einen bequemen<br />
Wasserweg zum Reisen und zum Transport von Ästen.<br />
Die Biber <strong>wen</strong><strong>de</strong>n diese Technik aus <strong>de</strong>mselben Grund an,<br />
aus <strong>de</strong>m kanadische Holzgesellschaften Flüsse benutzen und<br />
die Kohlenhändler <strong>de</strong>s 18. Jahrhun<strong>de</strong>rts Kanäle befuhren. Was<br />
auch immer sein Nutzen ist, ein Bibersee ist ein auffallen<strong>de</strong>r<br />
und charakteristischer Landschaftsbestandteil. Er gehört zum<br />
Phänotyp <strong>de</strong>s Bibers, nicht <strong>wen</strong>iger als <strong>de</strong>ssen Zähne o<strong>de</strong>r<br />
Schwanz, und er hat sich im Laufe <strong>de</strong>r Evolution unter <strong>de</strong>m<br />
Einfluß <strong>de</strong>r natürlichen Auslese entwickelt. Die Wahl muß<br />
dabei zwischen guten Seen und <strong>wen</strong>iger guten Seen get<strong>ro</strong>ffen<br />
wor<strong>de</strong>n sein. Die Auslese begünstigte Bibergene, die gute Seen<br />
zum Transport von Bäumen erzeugten, genau wie sie Gene<br />
för<strong>de</strong>rte, die für gute Zähne zum Fällen von Bäumen sorgten.<br />
Biberseen sind erweiterte phänotypische Effekte von Bibergenen,<br />
und sie können sich über mehrere hun<strong>de</strong>rt Meter erstrekken.<br />
In <strong>de</strong>r Tat eine g<strong>ro</strong>ße Reichweite!<br />
Auch Parasiten brauchen nicht im Innern ihrer Wirte zu<br />
leben; ihre Gene können über eine Entfernung hinweg in<br />
Wirten zum Ausdruck kommen. Kuckucksnestlinge leben nicht<br />
im Innern von Rotkehlchen o<strong>de</strong>r Rohrsängern; sie saugen nicht<br />
ihr Blut o<strong>de</strong>r verschlingen ihr Gewebe, und doch zögern wir<br />
nicht im min<strong>de</strong>sten, sie als Parasiten zu bezeichnen. Kuckucksadaptationen<br />
zum Manipulieren <strong>de</strong>s Verhaltens <strong>de</strong>r Pflegeeltern<br />
können als erweiterter phänotypischer Effekt <strong>de</strong>r Kukkucksgene<br />
angesehen wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r auf Entfernung wirksam<br />
wird.
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 378<br />
Es ist leicht, Mitgefühl mit Pflegeeltern zu haben, die<br />
von <strong>de</strong>m Kuckuck so getäuscht wer<strong>de</strong>n, daß sie seine Eier<br />
ausbrüten. Auch menschliche Eiersammler haben sich von<br />
<strong>de</strong>r ungeheuren Ähnlichkeit von Kuckuckseiern mit <strong>de</strong>n Eiern<br />
etwa von Wiesenpiepern o<strong>de</strong>r Rohrsängern (verschie<strong>de</strong>ne<br />
Rassen von Kuckucksweibchen spezialisieren sich auf verschie<strong>de</strong>ne<br />
Wirtsarten) täuschen lassen. Schwerer zu verstehen<br />
ist das Verhalten, das Pflegeeltern später <strong>de</strong>n jungen Kuckukken<br />
gegenüber an <strong>de</strong>n Tag legen, die fast flügge sind. Der Kukkuck<br />
ist gewöhnlich viel größer, mitunter sogar auf g<strong>ro</strong>teske<br />
Weise größer als seine „Eltern“. Vor mir liegt die Fotografie<br />
einer ausgewachsenen Heckenbraunelle, die im Verhältnis zu<br />
ihrem monströsen Pflegekind so klein ist, daß sie sich zum<br />
Füttern auf <strong>de</strong>ssen Rücken nie<strong>de</strong>rlassen muß. Hier empfin<strong>de</strong>n<br />
wir <strong>wen</strong>iger Sympathie für <strong>de</strong>n Wirt. Wir wun<strong>de</strong>rn uns über<br />
seine Dummheit, seine Leichtgläubigkeit. Je<strong>de</strong>r Dummkopf<br />
sollte doch wohl in <strong>de</strong>r Lage sein zu merken, daß mit einem<br />
solchen Kind etwas nicht stimmt.<br />
Ich meine, junge Kuckucke müssen eine ganze Menge mehr<br />
tun als nur ihre Wirte „täuschen“, mehr als nur vorgeben,<br />
etwas zu sein, das sie nicht sind. Sie scheinen auf ziemlich<br />
dieselbe Weise auf das Nervensystem <strong>de</strong>s Wirtes einzuwirken<br />
wie eine süchtig machen<strong>de</strong> D<strong>ro</strong>ge. Dies ist nicht so schwer<br />
nachzufühlen, selbst für jene nicht, die keine Erfahrung mit<br />
abhängig machen<strong>de</strong>n D<strong>ro</strong>gen haben. Ein Mann kann von einer<br />
gedruckten Fotografie <strong>de</strong>s Körpers einer Frau bis zur Erektion<br />
erregt wer<strong>de</strong>n. Er wird nicht „getäuscht“, nicht glauben<br />
gemacht, das Muster <strong>de</strong>r Druckfarbe sei tatsächlich eine Frau.<br />
Er weiß, daß er nur Farbe auf Papier sieht, doch sein Nervensystem<br />
reagiert darauf genauso, wie es auf eine wirkliche<br />
Frau reagieren wür<strong>de</strong>. Wir können sehr wohl die Reize eines<br />
bestimmten Angehörigen <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren Geschlechts unwi<strong>de</strong>rstehlich<br />
fin<strong>de</strong>n, obwohl das sichere Urteil unseres besseren Ich<br />
uns sagt, daß eine Liaison mit jener Person langfristig in nieman<strong>de</strong>s<br />
Interesse liegt. Das gleiche kann auf die unwi<strong>de</strong>rstehliche<br />
Anziehungskraft ungesun<strong>de</strong>r Nahrungsmittel zutreffen.<br />
Die Heckenbraunelle besitzt wahrscheinlich keine bewußte
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 379<br />
Kenntnis ihrer langfristig besten Interessen, <strong>de</strong>shalb ist es sogar<br />
noch leichter zu verstehen, daß ihr Nervensystem bestimmte<br />
Arten von Stimulation unwi<strong>de</strong>rstehlich fin<strong>de</strong>n kann.<br />
So lockend ist <strong>de</strong>r aufgesperrte Schnabel eines Jungkukkucks<br />
mit seinem <strong>ro</strong>ten Rachen, daß Ornithologen nicht selten<br />
Vögel beobachten, die Nahrung in <strong>de</strong>n Schnabel eines Kukkucks<br />
fallen lassen, <strong>de</strong>r in einem frem<strong>de</strong>n Nest sitzt! Es kann<br />
vorkommen, daß ein Vogel, <strong>de</strong>r mit Nahrung für seine eigenen<br />
Jungen nach Hause fliegt, plötzlich aus <strong>de</strong>m Augenwinkel<br />
<strong>de</strong>n <strong>ro</strong>ten Superrachen eines jungen Kuckucks im Nest eines<br />
Vogels einer völlig an<strong>de</strong>ren Art sieht. Er wird zu <strong>de</strong>m frem<strong>de</strong>n<br />
Nest umgelenkt, wo er die Nahrung, die für seine eigenen<br />
Jungen bestimmt war, in <strong>de</strong>n Schnabel <strong>de</strong>s Kuckucks fallen<br />
läßt. Die „Unwi<strong>de</strong>rstehlichkeitstheorie“ stimmt mit <strong>de</strong>n Ansichten<br />
früher <strong>de</strong>utscher Ornithologen überein, die von Pflegeeltern<br />
sagten, sie verhielten sich wie „Süchtige“, und die die<br />
Kuckucksnestlinge als <strong>de</strong>ren „Laster“ bezeichneten. Ehrlicherweise<br />
sollte man hinzufügen, daß diese Art <strong>de</strong>r Sprache bei<br />
einigen mo<strong>de</strong>rnen Experimentatoren auf recht geringe Sympathie<br />
stößt. Zweifellos wird es jedoch sehr viel leichter, die<br />
eben beschriebenen Beobachtungen zu erklären, <strong>wen</strong>n wir <strong>de</strong>n<br />
offenen Schnabel <strong>de</strong>s Kuckucks tatsächlich als einen machtvollen<br />
d<strong>ro</strong>genähnlichen Superstimulus ansehen. Es wird leichter,<br />
Sympathie mit <strong>de</strong>m Verhalten <strong>de</strong>s winzigen Altvogels zu empfin<strong>de</strong>n,<br />
<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m Rücken seines monströsen Kin<strong>de</strong>s steht. Er<br />
ist nicht dumm. Sein Nervensystem wird getäuscht, und zwar<br />
so unwi<strong>de</strong>rstehlich, als sei er ein hilfloser D<strong>ro</strong>genabhängiger<br />
o<strong>de</strong>r als sei <strong>de</strong>r Kuckuck ein Wissenschaftler, <strong>de</strong>r Elekt<strong>ro</strong><strong>de</strong>n in<br />
sein Gehirn stöpselt.<br />
Doch selbst <strong>wen</strong>n wir jetzt eine größere persönliche Sympathie<br />
für die manipulierten Pflegeeltern empfin<strong>de</strong>n, können wir<br />
immer noch fragen, warum die natürliche Auslese es <strong>de</strong>m Kukkuck<br />
erlaubt, sich ungestraft so zu verhalten. Warum haben die<br />
Nervensysteme <strong>de</strong>r Wirte keine Resistenz gegen die D<strong>ro</strong>ge <strong>de</strong>s<br />
<strong>ro</strong>ten Rachens entwickelt? Vielleicht hat die Selektion noch<br />
keine <strong>Zeit</strong> gehabt, ihre Arbeit zu tun. Vielleicht parasitieren<br />
die Kuckucke ihre gegenwärtigen Wirte erst seit einigen hun-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 380<br />
<strong>de</strong>rt Jahren und wer<strong>de</strong>n in ein paar Jahrhun<strong>de</strong>rten gezwungen<br />
sein, sie wie<strong>de</strong>r aufzugeben und sich an<strong>de</strong>re Arten als Opfer zu<br />
suchen. Es gibt einige Hinweise, die diese Theorie stützen. Ich<br />
kann mich jedoch <strong>de</strong>s Gefühls nicht erwehren, daß hier noch<br />
mehr im Spiel sein muß.<br />
Im evolutionären „Wettrüsten“ zwischen <strong>de</strong>n Kuckucken<br />
und allen ihren Wirtsarten besteht eine Art eingebaute Ungerechtigkeit,<br />
die sich aus <strong>de</strong>n ungleichen Kosten für Versagen<br />
ergibt. Je<strong>de</strong>r Kuckucksnestling stammt von einer langen Reihe<br />
von Kuckucksnestlingen ab, von <strong>de</strong>nen je<strong>de</strong>r einzelne seine<br />
Pflegeeltern erfolgreich manipuliert haben muß. Je<strong>de</strong>r Jungkuckuck,<br />
<strong>de</strong>r, <strong>wen</strong>n auch nur vorübergehend, die Kont<strong>ro</strong>lle<br />
über seinen Wirt verlor, ist als Folge <strong>de</strong>ssen gestorben. Die einzelnen<br />
Pflegeeltern dagegen stammen von einer langen Reihe<br />
von Vorfahren ab, von <strong>de</strong>nen viele niemals in ihrem Leben auf<br />
einen Kuckuck get<strong>ro</strong>ffen sind. Und selbst jene, die wirklich<br />
einmal einen Kuckuck in ihrem Nest vorfan<strong>de</strong>n, konnten <strong>de</strong>r<br />
Verlockung, ihn zu pflegen, erliegen und <strong>de</strong>nnoch weiterleben,<br />
um in <strong>de</strong>r nächsten Paarungszeit eine an<strong>de</strong>re Brut aufzuziehen.<br />
Der entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Punkt ist, daß die Kosten für Versagen<br />
eine Asymmetrie aufweisen. Gene für das Versagen, <strong>de</strong>r<br />
Versklavung durch Kuckucke zu wi<strong>de</strong>rstehen, können von Rotkehlchen<br />
und Heckenbraunellen leicht über die Generationen<br />
hinweg weitergegeben wer<strong>de</strong>n. Gene für das Versagen, Pflegeeltern<br />
zu versklaven, können nicht über Generationen von<br />
Kuckucken weitergereicht wer<strong>de</strong>n. Das ist es, was ich mit „eingebauter<br />
Ungerechtigkeit“ und „Asymmetrie in <strong>de</strong>n Kosten<br />
für Versagen“ gemeint habe. Das Prinzip wird in einer von<br />
Äsops Fabeln zusammengefaßt: „Das Kaninchen läuft schneller<br />
als <strong>de</strong>r Fuchs, <strong>de</strong>nn das Kaninchen läuft um sein Leben,<br />
während <strong>de</strong>r Fuchs nur um seine Mahlzeit läuft.“ Mein Kollege<br />
John Krebs und ich haben dies das „Leben/Mahlzeit-Prinzip“<br />
getauft.<br />
Wegen <strong>de</strong>s Leben/Mahlzeit-Prinzips ist es möglich, daß sich<br />
Tiere, die von einem an<strong>de</strong>ren Tier manipuliert wer<strong>de</strong>n, gelegentlich<br />
auf eine Weise verhalten, die für sie selbst nicht von<br />
Vorteil ist. Tatsächlich han<strong>de</strong>ln sie in gewissem Sinne sehr wohl
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 381<br />
zu ihrem eigenen Besten: Die ganze Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s Leben/<br />
Mahlzeit-Prinzips liegt darin, daß die Tiere sich theoretisch<br />
gegen die Manipulation wehren könnten, daß es jedoch zu<br />
teuer wäre, dies zu tun. Vielleicht brauchte man, um <strong>de</strong>r Manipulation<br />
durch einen Kuckuck zu wi<strong>de</strong>rstehen, größere Augen<br />
o<strong>de</strong>r ein größeres Gehirn, was allgemeine Kosten mit sich<br />
bringen wür<strong>de</strong>. Rivalen mit einer genetischen Ten<strong>de</strong>nz, <strong>de</strong>r<br />
Manipulation zu wi<strong>de</strong>rstehen, wären wegen <strong>de</strong>r ökonomischen<br />
Kosten <strong>de</strong>s Wi<strong>de</strong>rstands <strong>wen</strong>iger erfolgreich bei <strong>de</strong>r Weitergabe<br />
ihrer Gene.<br />
Aber wir sind wie<strong>de</strong>r einmal rückfällig gewor<strong>de</strong>n und<br />
betrachten das Leben vom Standpunkt <strong>de</strong>s Einzelorganismus<br />
und nicht von <strong>de</strong>m seiner Gene. Als wir über Saugwürmer<br />
und Schnecken sprachen, gewöhnten wir uns an die Vorstellung,<br />
daß die Gene eines Parasiten auf genau dieselbe Weise<br />
phänotypische Auswirkungen auf <strong>de</strong>n Körper <strong>de</strong>s Wirtes haben<br />
könnten, wie die Gene irgen<strong>de</strong>ines Tieres phänotypische Auswirkungen<br />
auf <strong>de</strong>ssen „eigenen“ Körper haben. Wir zeigten,<br />
daß schon die I<strong>de</strong>e eines „eigenen“ Körpers falsch ist. In gewissem<br />
Sinne sind alle Gene in einem Körper „parasitär“, ob wir<br />
sie nun als „körpereigene“ Gene bezeichnen wollen o<strong>de</strong>r nicht.<br />
Die Kuckucke dienten in unseren Überlegungen als Beispiel<br />
für Parasiten, die nicht im Körper ihrer Wirte leben. Sie manipulieren<br />
ihre Wirte auf ziemlich genau dieselbe Weise wie im<br />
Wirt leben<strong>de</strong> Parasiten, und die Manipulation kann, wie wir<br />
gesehen haben, so stark und unwi<strong>de</strong>rstehlich sein wie eine<br />
D<strong>ro</strong>ge o<strong>de</strong>r ein Hormon. Wie im Fall <strong>de</strong>r im Körper leben<strong>de</strong>n<br />
Parasiten sollten wir nun die ganze Angelegenheit im Sinne<br />
von Genen und erweiterten Phänotypen neu formulieren.<br />
Im evolutionären Wettrüsten zwischen Kuckucken und<br />
Wirten nahmen Fortschritte auf bei<strong>de</strong>n Seiten die Form genetischer<br />
Mutationen an, die entstan<strong>de</strong>n und von <strong>de</strong>r natürlichen<br />
Auslese geför<strong>de</strong>rt wur<strong>de</strong>n. Was auch immer das Geheimnis<br />
<strong>de</strong>s aufgesperrten Kuckucksschnabels ist, <strong>de</strong>r wie eine D<strong>ro</strong>ge<br />
auf das Nervensystem <strong>de</strong>s Wirtes wirkt, es muß als genetische<br />
Mutation entstan<strong>de</strong>n sein. Diese Mutation wirkte über ihren<br />
Effekt auf, sagen wir, Farbe und Form <strong>de</strong>s Kuckucksrachens.
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 382<br />
Aber selbst dies war nicht ihr unmittelbarer Effekt. Unmittelbar<br />
wirkte sie auf unsichtbare chemische Abläufe im Innern<br />
von Zellen. Der Effekt, <strong>de</strong>n Gene auf Farbe und Form <strong>de</strong>s<br />
Rachens haben, ist selbst indirekt. Und nun <strong>de</strong>r entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong><br />
Punkt: Nur ein <strong>wen</strong>ig indirekter ist <strong>de</strong>r Effekt <strong>de</strong>rselben Kukkucksgene<br />
auf das Verhalten <strong>de</strong>s betörten Wirtes. In genau<br />
<strong>de</strong>mselben Sinne, wie wir davon sprechen können, daß Kukkucksgene<br />
(phänotypische) Auswirkungen auf Farbe und Form<br />
<strong>de</strong>s Kuckucksrachens haben, können wir auch davon sprechen,<br />
daß Kuckucksgene (erweiterte phänotypische) Wirkungen auf<br />
das Wirtsverhalten haben. Parasitengene können nicht nur<br />
dann Auswirkungen auf Wirtskörper haben, <strong>wen</strong>n <strong>de</strong>r Parasit<br />
im Innern <strong>de</strong>s Wirtes lebt, wo er ihn unmittelbar durch chemische<br />
Mittel manipulieren kann, son<strong>de</strong>rn auch dann, <strong>wen</strong>n <strong>de</strong>r<br />
Parasit völlig vom Wirt getrennt ist und ihn aus <strong>de</strong>r Entfernung<br />
manipuliert. In <strong>de</strong>r Tat können, wie wir gleich sehen wer<strong>de</strong>n,<br />
sogar chemische Einflüsse außerhalb <strong>de</strong>s Körpers wirksam<br />
sein.<br />
Kuckucke sind bemerkenswerte und lehrreiche Geschöpfe.<br />
Aber nahezu je<strong>de</strong>s Wun<strong>de</strong>r bei <strong>de</strong>n Wirbeltieren kann von <strong>de</strong>n<br />
Insekten übert<strong>ro</strong>ffen wer<strong>de</strong>n. Sie haben <strong>de</strong>n Vorteil, daß es einfach<br />
so viele von ihnen gibt; mein Kollege Robert May hat sehr<br />
passend bemerkt: „Es ist eine gute Näherung zu sagen, daß<br />
alle Tierarten Insekten sind.“ Die „Kuckucke“ bei <strong>de</strong>n Insekten<br />
lassen sich unmöglich aufzählen; sie sind zu zahlreich, und<br />
ihre Verhaltensweise ist sehr oft neu erfun<strong>de</strong>n wor<strong>de</strong>n. Einige<br />
Beispiele, mit <strong>de</strong>nen wir uns befassen wer<strong>de</strong>n, gehen weit über<br />
das bekannte Kuckucksverhalten hinaus und erfüllen die wil<strong>de</strong>sten<br />
Phantasien, die mein Buch The Exten<strong>de</strong>d Phenotype<br />
geweckt haben mag.<br />
Ein echter Kuckuck legt sein Ei und verschwin<strong>de</strong>t. Einige<br />
„Kuckucksweibchen“ bei <strong>de</strong>n Ameisen machen auf dramatischere<br />
Weise auf sich aufmerksam. Ich nenne nicht oft lateinische<br />
Namen, aber Bothriomyrmex regicidus und B. <strong>de</strong>capitans<br />
sind wirklich bemerkenswert. Diese bei<strong>de</strong>n Arten leben als<br />
Parasiten an<strong>de</strong>rer Ameisenarten. Bei allen Ameisen wer<strong>de</strong>n<br />
die Jungen natürlich normalerweise nicht von ihren Eltern,
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 383<br />
son<strong>de</strong>rn von Arbeiterinnen gefüttert. Somit sind es die Arbeiterinnen,<br />
die je<strong>de</strong>r Möchtegern-Kuckuck betrügen o<strong>de</strong>r manipulieren<br />
muß. Ein nützlicher erster Schritt ist es, sich <strong>de</strong>r echten<br />
Königin <strong>de</strong>r Arbeiterinnen zu entledigen, da diese darauf p<strong>ro</strong>grammiert<br />
ist, ständig konkurrieren<strong>de</strong> Brut zu erzeugen. Bei<br />
diesen bei<strong>de</strong>n Arten schleicht sich die Parasitenkönigin ganz<br />
allein in das Nest einer an<strong>de</strong>ren Ameisenart. Sie sucht sich<br />
die Wirtskönigin heraus und läßt sich von ihr herumtragen,<br />
während sie still und leise, um Edward Wilsons gewandtmakabres<br />
Un<strong>de</strong>rstatement zu zitieren, „<strong>de</strong>n einzigen Akt vollbringt,<br />
für <strong>de</strong>n sie so einzigartig spezialisiert ist: Sie schnei<strong>de</strong>t<br />
langsam <strong>de</strong>n Kopf ihres Opfers ab“. Die Mör<strong>de</strong>rin wird dann<br />
von <strong>de</strong>n verwaisten Arbeiterinnen adoptiert, und diese pflegen<br />
nun ihre Eier und Larven, ohne Verdacht zu schöpfen. Einige<br />
Nachkommen wer<strong>de</strong>n selbst zu Arbeiterinnen aufgezogen, die<br />
allmählich die ursprüngliche Art im Nest ersetzen. An<strong>de</strong>re<br />
wer<strong>de</strong>n zu Königinnen, die ausfliegen, um neue Wei<strong>de</strong>grün<strong>de</strong><br />
und noch nicht abgetrennte königliche Häupter zu suchen.<br />
Aber Köpfe absägen ist eine nicht ganz leichte Arbeit. Parasiten<br />
sind nicht daran gewöhnt, sich anzustrengen, <strong>wen</strong>n sie<br />
gute Beziehungen erzwingen können. Die Figur, die mir in Wilsons<br />
Buch The Insect Societies am liebsten ist, ist Monomorium<br />
santschii. Diese Art hat im Verlauf <strong>de</strong>r Evolution ihre Arbeiterinnenkaste<br />
gänzlich verloren. Die Arbeiterinnen <strong>de</strong>r Wirtsart<br />
erledigen alle Arbeiten für ihre Parasiten und erfüllen sogar die<br />
schrecklichste aller Aufgaben. Auf Befehl <strong>de</strong>r Invasorenkönigin<br />
ermor<strong>de</strong>n sie tatsächlich ihre eigene Mutter. Die Usurpatorin<br />
braucht nicht einmal ihre eigenen Kiefer zu gebrauchen. Auf<br />
welche Weise sie das Verhalten <strong>de</strong>r Wirtsart kont<strong>ro</strong>lliert, ist ein<br />
Rätsel; vermutlich ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>t sie eine Chemikalie, <strong>de</strong>nn die<br />
Nervensysteme <strong>de</strong>r Ameisen sprechen generell stark auf chemische<br />
Reize an. Wenn ihre Waffe tatsächlich eine Chemikalie<br />
ist, dann ist diese heimtückischer als je<strong>de</strong> D<strong>ro</strong>ge, die die<br />
Wissenschaft kennt. Denn überlegen wir nur, was sie vollbringt.<br />
Sie überflutet das Gehirn <strong>de</strong>r Arbeiterin, ergreift die<br />
Zügel ihrer Muskeln, drängt sie, tief verwurzelte Pflichten zu<br />
vernachlässigen, und <strong>wen</strong><strong>de</strong>t sie gegen ihre eigene Mutter.
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 384<br />
Für Ameisen ist Muttermord eine Tat von beson<strong>de</strong>rem genetischem<br />
Irrsinn, und furchtbar muß die D<strong>ro</strong>ge sein, die sie dazu<br />
treibt. In <strong>de</strong>r Welt <strong>de</strong>s erweiterten Phänotyps frage man nicht<br />
danach, wie das Verhalten eines Tieres seinen Genen zum Vorteil<br />
gereicht; man frage statt <strong>de</strong>ssen, wessen Genen es zum Vorteil<br />
gereicht.<br />
Es ist kaum überraschend, daß Ameisen von Parasiten ausgebeutet<br />
wer<strong>de</strong>n, nicht nur von an<strong>de</strong>ren Ameisen, son<strong>de</strong>rn auch<br />
von einer erstaunlichen Menagerie spezialisierter „Mitläufer“.<br />
Arbeiterameisen transportieren einen reichen Nahrungsst<strong>ro</strong>m<br />
aus einem ausge<strong>de</strong>hnten Sammelgebiet in eine zentrale Vorratskammer,<br />
die ein lohnen<strong>de</strong>s Ziel für Schnorrer darstellt.<br />
Ameisen sind außer<strong>de</strong>m gute Schutzpolizisten: Sie sind gut<br />
bewaffnet und zahlreich. Die Blattläuse aus Kapitel 10 zahlten,<br />
wie wir sahen, mit Nektar, um p<strong>ro</strong>fessionelle Leibwächter<br />
zu mieten. Mehrere Schmetterlingsarten verbringen ihr Raupenstadium<br />
in einem Ameisennest. Einige sind nichts als<br />
Plün<strong>de</strong>rer. An<strong>de</strong>re bieten <strong>de</strong>n Ameisen eine Belohnung dafür,<br />
daß diese sie beschützen. Häufig st<strong>ro</strong>tzen sie buchstäblich von<br />
Mechanismen zur Manipulation ihrer Beschützer. Die Raupe<br />
eines Schmetterlings namens Thisbe irenea besitzt ein lauterzeugen<strong>de</strong>s<br />
Organ im Kopf, mit <strong>de</strong>m sie Ameisen herbeiruft,<br />
sowie ein Paar teleskopartige Röhren an ihrem Hinterteil, aus<br />
<strong>de</strong>nen verführerischer Nektar ausgeschie<strong>de</strong>n wird. Auf ihren<br />
Schultern steht ein weiteres Paar Röhren, die einen noch subtileren<br />
Zauber verbreiten. Ihr Sekret scheint keine Nahrung zu<br />
sein, son<strong>de</strong>rn ein flüchtiger Zaubertrank, <strong>de</strong>r einen dramatischen<br />
Einfluß auf das Verhalten <strong>de</strong>r Ameisen hat. Eine Ameise,<br />
die unter diesen Einfluß gerät, springt glatt in die Luft. Ihre<br />
Kiefer öffnen sich weit, und sie wird aggressiv – bei weitem<br />
begieriger als gewöhnlich, je<strong>de</strong>s sich bewegen<strong>de</strong> Objekt anzugreifen,<br />
es zu beißen und mit Ameisensäure zu bespritzen. Nur<br />
die Raupe nicht, die für <strong>de</strong>n Rausch <strong>de</strong>r Ameise verantwortlich<br />
ist! Darüber hinaus gerät eine Ameise unter <strong>de</strong>r Kont<strong>ro</strong>lle<br />
einer rauschmittelverströmen<strong>de</strong>n Raupe schließlich in einen<br />
Zustand, <strong>de</strong>n man „Bindung“ nennt, in <strong>de</strong>m sie für einen<br />
<strong>Zeit</strong>raum von vielen Tagen von ihrer Raupe unzertrennlich
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 385<br />
wird. Wie eine Blattlaus beschäftigt die Raupe dann Ameisen<br />
als Leibwächter, aber sie geht noch einen Schritt weiter.<br />
Während die Blattläuse sich auf die normale Aggressivität <strong>de</strong>r<br />
Ameisen gegen Räuber verlassen, gibt die Raupe ihnen eine<br />
die Aggressivität steigern<strong>de</strong> D<strong>ro</strong>ge ein, und sie scheint ihnen<br />
außer<strong>de</strong>m noch eine süchtig machen<strong>de</strong> Substanz mit zu verabreichen.<br />
Ich habe extreme Beispiele ausgewählt. Doch von Tieren<br />
und Pflanzen, die an<strong>de</strong>re Tiere und Pflanzen ihrer eigenen<br />
Art o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rer Arten auf etwas maßvollere Weise manipulieren,<br />
wimmelt es in <strong>de</strong>r Natur nur so. In allen Fällen, in <strong>de</strong>nen<br />
die natürliche Auslese Gene für Manipulation geför<strong>de</strong>rt hat,<br />
ist es berechtigt, davon zu sprechen, daß diese Gene (erweiterte<br />
phänotypische) Effekte auf <strong>de</strong>n Körper <strong>de</strong>r manipulierten<br />
Organismen haben. Es kommt nicht darauf an, in welchem<br />
Körper ein Gen sitzt. Das Ziel seiner Manipulation kann <strong>de</strong>rselbe<br />
Körper sein o<strong>de</strong>r ein an<strong>de</strong>rer. Die natürliche Auslese<br />
för<strong>de</strong>rt jene Gene, die die Welt manipulieren, um ihre eigene<br />
Fortpflanzung zu garantieren. Dies führt zu <strong>de</strong>r These, die<br />
ich das Zentrale Theorem <strong>de</strong>s erweiterten Phänotyps genannt<br />
habe: Das Verhalten eines Tieres tendiert dahin, das Überleben<br />
von Genen „für“ ein spezielles Verhalten zu maximieren, unabhängig<br />
davon, ob jene Gene zufällig im Körper eben dieses Tieres<br />
sitzen o<strong>de</strong>r nicht. Ich habe dies im Zusammenhang mit <strong>de</strong>m<br />
Verhalten von Tieren geschrieben, aber das Theorem könnte<br />
natürlich auch auf Farbe, Größe, Form und alles an<strong>de</strong>re zutreffen.<br />
Es ist endlich an <strong>de</strong>r <strong>Zeit</strong>, zu <strong>de</strong>m P<strong>ro</strong>blem zurückzukehren,<br />
mit <strong>de</strong>m wir begonnen haben: <strong>de</strong>m Konflikt zwischen einzelnem<br />
Organismus und Gen als rivalisieren<strong>de</strong>n Kandidaten für<br />
die zentrale Rolle in <strong>de</strong>r natürlichen Auslese. In früheren Kapiteln<br />
ging ich von <strong>de</strong>r Annahme aus, es gebe kein P<strong>ro</strong>blem,<br />
weil die Rep<strong>ro</strong>duktion <strong>de</strong>s Individuums gleichbe<strong>de</strong>utend mit<br />
<strong>de</strong>m Überleben <strong>de</strong>r Gene sei. Ich setzte voraus, daß man entwe<strong>de</strong>r<br />
sagen kann „Der Organismus arbeitet darauf hin, alle<br />
seine Gene weiterzugeben“ o<strong>de</strong>r „Die Gene arbeiten daraufhin,<br />
Organismen aufeinan<strong>de</strong>rfolgen<strong>de</strong>r Generationen zu zwingen,
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 386<br />
sie weiterzugeben.“ Es schien mir, als seien dies zwei gleichwertige<br />
Arten, dasselbe zu sagen, und welche Form man wählt,<br />
sei lediglich eine Frage <strong>de</strong>s Geschmacks. Aber irgendwie blieb<br />
<strong>de</strong>r Konflikt bestehen.<br />
Eine Metho<strong>de</strong>, diese ganze Angelegenheit zu entwirren,<br />
besteht darin, daß man die Ausdrücke „Replikator“ und „Vehikel“<br />
benutzt. Die Grun<strong>de</strong>inheiten <strong>de</strong>r natürlichen Auslese, die<br />
grundlegen<strong>de</strong>n Agenzien, die überleben o<strong>de</strong>r nicht überleben,<br />
die Ahnenreihen i<strong>de</strong>ntischer Kopien mit gelegentlich auftreten<strong>de</strong>n<br />
Zufallsmutationen bil<strong>de</strong>n, heißen Replikatoren. DNA-<br />
Moleküle sind Replikatoren. Aus Grün<strong>de</strong>n, auf die wir noch<br />
zu sprechen kommen wer<strong>de</strong>n, tun sie sich im allgemeinen in<br />
g<strong>ro</strong>ßen gemeinsamen Überlebensmaschinen o<strong>de</strong>r „Vehikeln“<br />
zusammen. Die Vehikel, die wir am besten kennen, sind individuelle<br />
Körper wie unsere eigenen. Ein Körper ist somit<br />
kein Replikator; er ist ein Vehikel. Ich muß dies betonen, da<br />
dieser Punkt mißverstan<strong>de</strong>n wor<strong>de</strong>n ist. Vehikel machen keine<br />
Kopien von sich selbst; sie arbeiten, um ihre Replikatoren zu<br />
vermehren. Replikatoren verhalten sich nicht, sie nehmen die<br />
Welt nicht wahr, fangen keine Beute und laufen auch nicht vor<br />
Räubern davon; sie konstruieren Vehikel, die alle diese Dinge<br />
tun. Für viele Zwecke ist es für die Biologen sinnvoll, ihre Aufmerksamkeit<br />
auf die Ebene <strong>de</strong>s Vehikels zu konzentrieren, für<br />
an<strong>de</strong>re Zwecke ist eine Betrachtung auf <strong>de</strong>r Ebene <strong>de</strong>s Replikators<br />
angebracht. Gen und Einzelorganismus sind keine Rivalen<br />
um dieselbe Star<strong>ro</strong>lle im Darwinschen Drama. Sie spielen<br />
unterschiedliche, sich ergänzen<strong>de</strong> und in vielen Beziehungen<br />
gleich wichtige Rollen – die Rolle <strong>de</strong>s Replikators und die Rolle<br />
<strong>de</strong>s Vehikels.<br />
Die Replikator/Vehikel-Terminologie ist auf mehrerlei Art<br />
hilfreich. Zum Beispiel legt sie eine lästige Kont<strong>ro</strong>verse über die<br />
Ebene bei, auf <strong>de</strong>r die natürliche Auslese agiert. Oberflächlich<br />
betrachtet mag es logisch erscheinen, auf einer Art Skala <strong>de</strong>r<br />
Selektionsniveaus die „Individualselektion“ auf halbem Wege<br />
zwischen <strong>de</strong>r Genselektion, die ich in Kapitel 3 verfochten<br />
habe, und <strong>de</strong>r in Kapitel 7 kritisierten „Gruppenselektion“<br />
anzusie<strong>de</strong>ln. Die „Individualselektion“ scheint vage ein Mit-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 387<br />
telding zwischen zwei Extremen zu sein, und viele Biologen<br />
und Philosophen haben sich dazu verführen lassen, diesen einfachen<br />
Weg einzuschlagen und sie als solches zu behan<strong>de</strong>ln.<br />
Wie wir nun erkennen können, ist diese Sichtweise falsch. Der<br />
Organismus und die Gruppe von Organismen sind zwar echte<br />
Rivalen um die Vehikel<strong>ro</strong>lle in <strong>de</strong>r Geschichte, doch kommt<br />
keiner von ihnen auch nur als Kandidat für die Rolle <strong>de</strong>s Replikators<br />
in Frage. Die Kont<strong>ro</strong>verse zwischen „Individualselektion“<br />
und „Gruppenselektion“ ist eine echte Kont<strong>ro</strong>verse zwischen<br />
alternativen Vehikeln. Die Kont<strong>ro</strong>verse zwischen Individualselektion<br />
und Genselektion ist überhaupt keine Kont<strong>ro</strong>verse,<br />
<strong>de</strong>nn Gen und Organismus sind Kandidaten für unterschiedliche,<br />
sogar komplementäre Rollen in <strong>de</strong>r Geschichte:<br />
Replikator und Vehikel.<br />
Die Rivalität um die Vehikel<strong>ro</strong>lle zwischen <strong>de</strong>m Einzelorganismus<br />
und <strong>de</strong>r Gruppe von Organismen, die eine echte<br />
Rivalität ist, kann beigelegt wer<strong>de</strong>n. Das Ergebnis ist in meinen<br />
Augen entschie<strong>de</strong>n ein Sieg für <strong>de</strong>n Einzelorganismus. Die<br />
Gruppe ist als Einheit zu ungenau. Ein Ru<strong>de</strong>l von Hirschen,<br />
Lö<strong>wen</strong> o<strong>de</strong>r Wölfen besitzt einen rudimentären Zusammenhalt<br />
und eine gewisse Einheit <strong>de</strong>r Absicht. Doch dies ist jämmerlich<br />
im Vergleich zum Zusammenhalt und zur Einheit <strong>de</strong>r Absicht,<br />
die <strong>de</strong>r Körper eines einzelnen Lö<strong>wen</strong>, Wolfes o<strong>de</strong>r Hirsches<br />
aufweist. Daß dies zutrifft, ist inzwischen weithin akzeptiert,<br />
aber warum trifft es zu? Erweiterte Phänotypen und Parasiten<br />
können uns auch hier weiterhelfen.<br />
Wenn die zusammenarbeiten<strong>de</strong>n Gene eines Parasiten gegen<br />
die Interessen <strong>de</strong>r (ebenfalls zusammenarbeiten<strong>de</strong>n) Gene <strong>de</strong>s<br />
Wirtes wirken, liegt <strong>de</strong>r Grund dafür, wie wir gesehen haben,<br />
in <strong>de</strong>r Tatsache, daß die bei<strong>de</strong>n Gruppen von Genen das<br />
gemeinsame Vehikel, <strong>de</strong>n Körper <strong>de</strong>s Wirtes, auf unterschiedliche<br />
Weise verlassen. Schneckengene verlassen das gemeinsame<br />
Vehikel auf <strong>de</strong>m Weg über Schneckenspermien und -eier.<br />
Da <strong>de</strong>r Einsatz aller Schneckengene in je<strong>de</strong>m Spermium und<br />
je<strong>de</strong>m Ei gleich ist, da sie alle an <strong>de</strong>r unparteiischen Meiose<br />
teilnehmen, arbeiten alle für das gemeinsame Wohl zusammen<br />
und machen daher <strong>de</strong>n Schneckenkörper gewöhnlich zu einem
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 388<br />
einheitlichen, zweckmäßigen Vehikel. Der wirkliche Grund,<br />
warum ein Saugwurm von seinem Wirt erkennbar getrennt ist,<br />
<strong>de</strong>r Grund, warum er seine Absichten und seine I<strong>de</strong>ntität nicht<br />
mit <strong>de</strong>n Absichten und <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntität <strong>de</strong>s Wirtes verschmelzen<br />
läßt, ist, daß die Saugwurmgene nicht dieselbe Metho<strong>de</strong> benutzen,<br />
um das gemeinsame Vehikel zu verlassen wie die Schnekkengene,<br />
und daß sie nicht an <strong>de</strong>r meiotischen Lotterie <strong>de</strong>r<br />
Schnecke beteiligt sind – sie haben ihre eigene Lotterie.<br />
Daher bleiben, in diesem Maße und nur in diesem Maße,<br />
die bei<strong>de</strong>n Vehikel getrennt als eine Schnecke und ein erkennbar<br />
eigenständiger Saugwurm in ihrem Innern. Wür<strong>de</strong>n Saugwurmgene<br />
in Schneckeneiern und -spermien weitergegeben,<br />
so wür<strong>de</strong> die Evolution die bei<strong>de</strong>n Körper zu einem Fleisch<br />
wer<strong>de</strong>n lassen. Möglicherweise wären wir nicht einmal in <strong>de</strong>r<br />
Lage zu erkennen, daß es einmal zwei Vehikel waren.<br />
„Einzelorganismen“ wie wir selbst sind das En<strong>de</strong>rgebnis<br />
vieler solcher Verschmelzungen. Die Gruppe von Organismen<br />
– <strong>de</strong>r Vogelschwarm o<strong>de</strong>r das Wolfsru<strong>de</strong>l – verschmilzt genau<br />
<strong>de</strong>shalb nicht zu einem einzigen Vehikel, weil die Gene im<br />
Schwarm o<strong>de</strong>r im Ru<strong>de</strong>l keine gemeinsame Metho<strong>de</strong> haben,<br />
das gegenwärtige Vehikel zu verlassen. Zwar können aus einem<br />
Ru<strong>de</strong>l Tochterru<strong>de</strong>l hervorgehen. Aber die Gene <strong>de</strong>s Elternru<strong>de</strong>ls<br />
gehen nicht in einem einzigen Behältnis, an <strong>de</strong>m alle<br />
einen gleichen Anteil haben, an das Tochterru<strong>de</strong>l über. Die<br />
Gene in einem Wolfsru<strong>de</strong>l p<strong>ro</strong>fitieren nicht alle in gleicher Weise<br />
von <strong>de</strong>mselben Satz zukünftiger Ereignisse. Ein Gen kann sein<br />
zukünftiges Wohlergehen för<strong>de</strong>rn, in<strong>de</strong>m es seinen eigenen<br />
Wolf auf Kosten <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren einzelnen Wölfe begünstigt. Ein<br />
einzelner Wolf ist daher ein Vehikel, das dieser Bezeichnung<br />
würdig ist. Ein Wolfsru<strong>de</strong>l ist es nicht. Genetisch gesehen ist<br />
<strong>de</strong>r Grund dafür, daß mit Ausnahme <strong>de</strong>r Geschlechtszellen alle<br />
Zellen im Körper eines Wolfes dieselben Gene besitzen, und<br />
was die Geschlechtszellen betrifft, so haben alle Gene die gleiche<br />
Chance, in je<strong>de</strong>r von ihnen vertreten zu sein. Die Zellen in<br />
einem Ru<strong>de</strong>l Wölfe jedoch besitzen nicht dieselben Gene, und<br />
ebenso<strong>wen</strong>ig haben sie dieselbe Chance, in <strong>de</strong>n Zellen von sich<br />
abspalten<strong>de</strong>n Unterru<strong>de</strong>ln enthalten zu sein. Sie haben alles
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 389<br />
zu gewinnen, <strong>wen</strong>n sie gegen Rivalen in an<strong>de</strong>ren Wolfskörpern<br />
kämpfen (allerdings wird die Tatsache, daß ein Wolfsru<strong>de</strong>l<br />
wahrscheinlich eine Verwandtschaftsgruppe ist, <strong>de</strong>n Kampf<br />
mil<strong>de</strong>rn).<br />
Die wesentliche Eigenschaft, die eine Einheit braucht, <strong>wen</strong>n<br />
sie ein effizientes Genvehikel wer<strong>de</strong>n soll, ist folgen<strong>de</strong>: Sie muß<br />
für alle Gene, die in ihr sitzen, einen unparteiischen Ausgangskanal<br />
in die Zukunft haben. Dies trifft auf einen einzelnen Wolf<br />
zu. Der Kanal ist <strong>de</strong>r dünne St<strong>ro</strong>m von Spermien o<strong>de</strong>r Eizellen,<br />
<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Wolf durch Meiose herstellt. Auf ein Ru<strong>de</strong>l Wölfe trifft<br />
es nicht zu. Durch die egoistische För<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Individuums,<br />
in <strong>de</strong>m sie sitzen, können Gene sich auf Kosten <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren<br />
Gene im Wolfsru<strong>de</strong>l Vorteile verschaffen. Ein schwärmen<strong>de</strong>s<br />
Bienenvolk scheint sich wie ein Wolfsru<strong>de</strong>l durch Abspaltung<br />
einer Gruppe fortzupflanzen. Wenn wir jedoch genauer hinsehen,<br />
stellen wir fest, daß es, soweit die Gene bet<strong>ro</strong>ffen sind,<br />
ein weitgehend gemeinsames Schicksal hat. Die Zukunft <strong>de</strong>r<br />
Gene in <strong>de</strong>m Schwarm ist, zumin<strong>de</strong>st zu einem g<strong>ro</strong>ßen Teil,<br />
in <strong>de</strong>n Ovarien einer einzigen Königin angesie<strong>de</strong>lt. Genau <strong>de</strong>shalb<br />
sieht die Bienenkolonie wie ein wirklich integriertes einziges<br />
Vehikel aus und verhält sich auch so – wir drücken hier die<br />
Botschaft früherer Kapitel lediglich auf an<strong>de</strong>re Art und Weise<br />
aus.<br />
Überall fin<strong>de</strong>n wir, daß das Leben in <strong>de</strong>r Tat in getrennte,<br />
individuell zielbewußte Vehikel wie Wölfe und Bienenschwärme<br />
gebün<strong>de</strong>lt ist. Aber die Doktrin <strong>de</strong>s erweiterten Phänotyps hat<br />
uns gelehrt, daß dies nicht so hätte sein müssen. Im wesentlichen<br />
ist die einzige Erwartung, die wir aus unserer Theorie<br />
ableiten dürfen, daß es ein Schlachtfeld von Replikatoren gibt,<br />
die sich drängen, sich gegenseitig überlisten und bekämpfen,<br />
um sich eine Zukunft im genetischen Jenseits zu sichern. Die<br />
Waffen in <strong>de</strong>m Kampf sind phänotypische Effekte, anfangs<br />
direkte chemische Effekte im Innern von Zellen, schließlich<br />
aber „Fe<strong>de</strong>rn und Fänge“ und sogar Effekte über noch weitere<br />
Entfernungen hinweg. Unleugbar sind diese phänotypischen<br />
Wirkungen tatsächlich g<strong>ro</strong>ßenteils zu separaten Vehikeln<br />
zusammengebün<strong>de</strong>lt, wobei die Gene je<strong>de</strong>s dieser Vehikel von
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 390<br />
<strong>de</strong>r Aussicht auf einen gemeinsamen Engpaß in Form von<br />
Spermien und Eiern, durch <strong>de</strong>n sie in die Zukunft geschleust<br />
wer<strong>de</strong>n, diszipliniert und geordnet sind. Doch dies ist keine<br />
Tatsache, die als selbstverständlich zugrun<strong>de</strong> gelegt wer<strong>de</strong>n<br />
darf. Es ist eine Tatsache, die für sich genommen zu hinterfragen<br />
ist und unsere Neugier beschäftigen muß. Warum taten<br />
sich Gene in g<strong>ro</strong>ßen Vehikeln zusammen, von <strong>de</strong>nen je<strong>de</strong>s eine<br />
einzige genetische Ausgangstür besitzt? Warum entschie<strong>de</strong>n<br />
sich Gene dafür, sich zusammenzu<strong>ro</strong>tten und g<strong>ro</strong>ße Körper<br />
herzustellen, in <strong>de</strong>nen sie leben können? In meinem Buch The<br />
Exten<strong>de</strong>d Phenotype mache ich <strong>de</strong>n Versuch, eine Antwort auf<br />
dieses schwierige P<strong>ro</strong>blem herauszuarbeiten. An dieser Stelle<br />
kann ich lediglich einen Teil jener Antwort skizzieren – allerdings<br />
kann ich sie nun, wie man nach sieben Jahren erwarten<br />
darf, auch ein <strong>wen</strong>ig weiterführen.<br />
Ich wer<strong>de</strong> die Frage in drei Teile unterteilen. Warum <strong>ro</strong>tteten<br />
sich Gene in Zellen zusammen? Aus welchem Grund<br />
begannen Zellen, gemeinsam vielzellige Körper aufzubauen?<br />
Und warum nahmen die Körper das an, was ich als „Engpaß-<br />
Lebenszyklus“ bezeichnen wer<strong>de</strong>?<br />
Zunächst also, warum <strong>ro</strong>tteten sich die Gene in Zellen<br />
zusammen? Warum gaben diese alten Replikatoren die sorglose<br />
Freiheit <strong>de</strong>r Ursuppe auf und fingen an, in riesigen Kolonien<br />
zu schwärmen? Warum arbeiten sie zusammen? Wir<br />
können einen Teil <strong>de</strong>r Antwort erkennen, <strong>wen</strong>n wir uns ansehen,<br />
wie mo<strong>de</strong>rne DNA-Moleküle in <strong>de</strong>n chemischen Fabriken,<br />
die leben<strong>de</strong> Zellen darstellen, zusammenarbeiten. DNA-<br />
Moleküle p<strong>ro</strong>duzieren P<strong>ro</strong>teine. P<strong>ro</strong>teine arbeiten als Enzyme,<br />
das sind Katalysatoren für spezifische chemische Reaktionen.<br />
Häufig reicht eine einzelne chemische Reaktion nicht zur Synthese<br />
eines brauchbaren Endp<strong>ro</strong>dukts. In einer menschlichen<br />
pharmazeutischen Fabrik erfor<strong>de</strong>rt die Synthese einer brauchbaren<br />
Chemikalie eine Fertigungsstraße. Die Ausgangschemikalie<br />
läßt sich nicht unmittelbar in das gewünschte Endp<strong>ro</strong>dukt<br />
umwan<strong>de</strong>ln. Es ist erfor<strong>de</strong>rlich, eine Reihe von Zwischenp<strong>ro</strong>dukten<br />
in strikter Reihenfolge zu synthetisieren. Die<br />
Forschungsabteilung einer chemischen Fabrik investiert einen
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 391<br />
G<strong>ro</strong>ßteil ihres Scharfsinns in die Entwicklung praktikabler<br />
Synthesewege zwischen Anfangschemikalien und gewünschten<br />
Endp<strong>ro</strong>dukten. In gleicher Weise sind einzelne Enzyme in<br />
<strong>de</strong>r leben<strong>de</strong>n Zelle gewöhnlich nicht allein in <strong>de</strong>r Lage, aus<br />
einer gegebenen Anfangschemikalie ein nützliches Endp<strong>ro</strong>dukt<br />
zu synthetisieren. Es bedarf einer ganzen Gruppe von<br />
Enzymen: Eines katalysiert die Umwandlung <strong>de</strong>s Rohmaterials<br />
in das erste Zwischenp<strong>ro</strong>dukt, ein an<strong>de</strong>res die Umwandlung<br />
<strong>de</strong>s ersten Zwischenp<strong>ro</strong>dukts in das zweite und so weiter.<br />
Je<strong>de</strong>s dieser Enzyme wird von einem Gen hergestellt. Wenn<br />
für einen spezifischen Syntheseweg eine Sequenz von sechs<br />
Enzymen erfor<strong>de</strong>rlich ist, so müssen alle sechs dazugehörigen<br />
Gene vorhan<strong>de</strong>n sein. Nun ist es recht wahrscheinlich, daß es<br />
zwei alternative Synthesewege für dasselbe Endp<strong>ro</strong>dukt gibt,<br />
an <strong>de</strong>nen jeweils sechs verschie<strong>de</strong>ne Enzyme beteiligt sind,<br />
und daß keine dazwischenliegen<strong>de</strong> Möglichkeit existiert. Entsprechen<strong>de</strong>s<br />
kennen wir aus chemischen Fabriken. Welcher<br />
Weg gewählt wird, kann ein historischer Zufall sein, o<strong>de</strong>r aber<br />
es ist eine Frage <strong>de</strong>r bewußten Planung durch die Chemiker.<br />
In <strong>de</strong>r chemischen Fabrik <strong>de</strong>r Natur ist die Wahl natürlich niemals<br />
bewußt. Statt <strong>de</strong>ssen erfolgt sie durch die natürliche Auslese.<br />
Aber wie kann die natürliche Auslese verhin<strong>de</strong>rn, daß<br />
die bei<strong>de</strong>n Synthesewege vermischt wer<strong>de</strong>n, und dafür sorgen,<br />
daß zusammenarbeiten<strong>de</strong> Gruppen kompatibler Gene entstehen?<br />
Auf ziemlich genau dieselbe Art und Weise, wie ich sie in<br />
meinem Beispiel <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen und englischen Ru<strong>de</strong>rer (Kapitel<br />
5) vorschlug. Wichtig ist, daß ein Gen für einen Schritt auf<br />
Weg 1 in <strong>de</strong>r Anwesenheit von Genen für an<strong>de</strong>re Schritte auf<br />
Weg 1 ge<strong>de</strong>iht, aber nicht in Gegenwart von Genen für Weg 2.<br />
Wenn die Population zufällig von Genen für Pfad i beherrscht<br />
wird, so wird die Auslese an<strong>de</strong>re Gene für Pfad 1 för<strong>de</strong>rn und<br />
Gene für Pfad 2 benachteiligen. Umgekehrt gilt das gleiche.<br />
So verlockend es auch sein mag, es ist absolut falsch, davon<br />
zu sprechen, daß die Gene für die sechs Enzyme von Weg 2<br />
„als Gruppe“ selektiert wer<strong>de</strong>n. Je<strong>de</strong>s wird als einzelnes egoistisches<br />
Gen selektiert, aber es ge<strong>de</strong>iht nur in Gegenwart <strong>de</strong>r<br />
richtigen Garnitur an<strong>de</strong>rer Gene.
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 392<br />
Heutzutage fin<strong>de</strong>t diese Zusammenarbeit zwischen Genen<br />
im Innern von Zellen statt. Begonnen haben muß sie als<br />
rudimentäre Kooperation zwischen sich selbst kopieren<strong>de</strong>n<br />
Molekülen in <strong>de</strong>r Ursuppe (o<strong>de</strong>r was auch immer das Urmedium<br />
war). Zellwän<strong>de</strong> entstan<strong>de</strong>n vielleicht als Vorrichtung,<br />
um brauchbare Chemikalien zusammenzuhalten und am Entweichen<br />
zu hin<strong>de</strong>rn. Viele <strong>de</strong>r chemischen Reaktionen in <strong>de</strong>r<br />
Zelle laufen in <strong>de</strong>r Tat an Membranen ab; eine Membran funktioniert<br />
wie eine Kombination von Fließband und Reagenzglasgestell.<br />
Aber die Kooperation zwischen Genen blieb nicht<br />
auf die Zellbiochemie beschränkt. Zellen taten sich zusammen<br />
(o<strong>de</strong>r versäumten es, sich nach <strong>de</strong>r Zellteilung zu trennen), um<br />
vielzellige Körper zu bil<strong>de</strong>n.<br />
Dies bringt uns zu <strong>de</strong>r zweiten meiner drei Fragen: Warum<br />
<strong>ro</strong>tteten die Zellen sich zusammen, wozu die schwerfälligen<br />
Roboter? Auch hier geht es um Kooperation. Aber <strong>de</strong>r Bereich,<br />
in <strong>de</strong>m wir uns bewegen, hat sich von <strong>de</strong>r Welt <strong>de</strong>r Moleküle zu<br />
einem größeren Maßstab hin verschoben. Vielzellige Körper<br />
sind zu g<strong>ro</strong>ß für das Mik<strong>ro</strong>skop. Sie können sogar zu Elefanten<br />
o<strong>de</strong>r Walen wer<strong>de</strong>n. G<strong>ro</strong>ß zu sein ist nicht not<strong>wen</strong>digerweise<br />
etwas Gutes: Die meisten Organismen sind Bakterien,<br />
und sehr <strong>wen</strong>ige sind Elefanten. Aber <strong>wen</strong>n die <strong>de</strong>n kleinen<br />
Organismen offenstehen<strong>de</strong>n Metho<strong>de</strong>n, sich seinen Lebensunterhalt<br />
zu verdienen, bereits alle vergeben sind, gibt es immer<br />
noch Möglichkeiten, die für größere Organismen geeignet sind.<br />
G<strong>ro</strong>ße Organismen können beispielsweise kleinere fressen,<br />
und sie können verhin<strong>de</strong>rn, von ihnen gefressen zu wer<strong>de</strong>n.<br />
Die Vorteile eines Klubs von Zellen hören nicht bei <strong>de</strong>r<br />
Größe auf. Die Zellen in <strong>de</strong>m Klub können sich spezialisieren,<br />
wodurch je<strong>de</strong> von ihnen bei <strong>de</strong>r Erfüllung ihrer beson<strong>de</strong>ren<br />
Aufgabe leistungsfähiger wird. Spezialisierte Zellen dienen<br />
an<strong>de</strong>ren Klubmitglie<strong>de</strong>rn, und sie selbst p<strong>ro</strong>fitieren ebenfalls<br />
von <strong>de</strong>r Effizienz an<strong>de</strong>rer Spezialisten. In einem Verband<br />
vieler Zellen können einige sich als Sensoren spezialisieren,<br />
die Beute ent<strong>de</strong>cken, an<strong>de</strong>re als Nerven, die die Botschaft weitergeben,<br />
wie<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re als Nesselzellen, um das Opfer zu<br />
lähmen, als Muskelzellen zum Bewegen von Tentakeln und
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 393<br />
Einfangen <strong>de</strong>r Beute, als sezernieren<strong>de</strong> und resorbieren<strong>de</strong><br />
Zellen, um die Beute zu zersetzen und die Säfte aufzunehmen.<br />
Wir dürfen nicht vergessen, daß, zumin<strong>de</strong>st in mo<strong>de</strong>rnen<br />
Körpern wie unseren eigenen, die Zellen Klone sind. Alle<br />
enthalten dieselben Gene, auch <strong>wen</strong>n in <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen<br />
spezialisierten Zellen verschie<strong>de</strong>ne Gene aktiviert wer<strong>de</strong>n. Die<br />
Gene in je<strong>de</strong>m Zelltyp begünstigen direkt ihre eigenen Kopien<br />
in <strong>de</strong>r Min<strong>de</strong>rheit <strong>de</strong>r Zellen, die auf die Fortpflanzung spezialisiert<br />
sind, <strong>de</strong>n Zellen <strong>de</strong>r unsterblichen Keimbahn.<br />
Nun zu <strong>de</strong>r dritten Frage. Warum beteiligen sich Körper an<br />
einem Lebenszyklus „mit Engpaß“?<br />
Zunächst muß ich erklären, was ich mit „Engpaß“ meine.<br />
Gleichgültig wie viele Zellen es im Körper eines Elefanten<br />
geben mag, <strong>de</strong>r Elefant begann sein Leben als eine einzelne<br />
Zelle, ein befruchtetes Ei. Das befruchtete Ei ist ein Engpaß,<br />
<strong>de</strong>r sich während <strong>de</strong>r Embryonalentwicklung zu <strong>de</strong>n Trillionen<br />
von Zellen eines ausgewachsenen Elefanten ausweitet.<br />
Und gleichgültig wie viele Zellen in wie vielen unterschiedlichen<br />
Spezialisierungen zusammenarbeiten, um die unvorstellbar<br />
komplizierte Aufgabe zu erfüllen, die Lebensfunktionen<br />
eines ausgewachsenen Elefanten aufrechtzuerhalten, die<br />
Anstrengungen all jener Zellen laufen letztlich wie<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>mselben<br />
Endziel zusammen, einzelne Zellen – Spermien o<strong>de</strong>r<br />
Eier – zu p<strong>ro</strong>duzieren. Der Elefant nimmt nicht nur seinen<br />
Anfang in einer einzigen Zelle, einem befruchteten Ei. Sein<br />
Endziel, also sein Zweck, ist die P<strong>ro</strong>duktion einzelner Zellen,<br />
befruchteter Eier <strong>de</strong>r nächsten Generation. Der Lebenszyklus<br />
<strong>de</strong>s g<strong>ro</strong>ßen und bulligen Elefanten beginnt und en<strong>de</strong>t in einem<br />
Engpaß. Dieses Passieren eines Engpasses ist charakteristisch<br />
für die Lebenszyklen aller vielzelligen Tiere und <strong>de</strong>r meisten<br />
Pflanzen. Warum? Was ist seine Be<strong>de</strong>utung? Wir können diese<br />
Frage nicht beantworten, ohne uns darüber Gedanken zu<br />
machen, wie das Leben ohne diese Tatsache aussähe.<br />
Stellen wir uns zwei hypothetische Arten von Meeresalgen<br />
vor, die wir Engpaßtang und Wucheralgen nennen wollen. Die<br />
Wucheralgen wachsen als eine Reihe wuchern<strong>de</strong>r, amorpher<br />
Zweige im Meer. Hin und wie<strong>de</strong>r brechen Zweige ab und trei-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 394<br />
ben davon. Diese Brüche können an je<strong>de</strong>r Stelle <strong>de</strong>r Pflanze<br />
vorkommen, und die Fragmente können g<strong>ro</strong>ß o<strong>de</strong>r klein sein.<br />
Wie Stecklinge in einem Garten sind sie in <strong>de</strong>r Lage, gera<strong>de</strong>so<br />
wie die ursprüngliche Pflanze zu wachsen. Das Abwerfen von<br />
Teilen ist die Fortpflanzungsmetho<strong>de</strong> dieser Spezies. Wie <strong>de</strong>r<br />
Leser bemerken wird, unterschei<strong>de</strong>t sie sich nicht wirklich von<br />
<strong>de</strong>r Art und Weise, in <strong>de</strong>r diese Pflanze wächst, mit <strong>de</strong>r Ausnahme,<br />
daß die wachsen<strong>de</strong>n Teile sich physisch voneinan<strong>de</strong>r<br />
trennen.<br />
Engpaßtang sieht genauso aus und wächst auf die gleiche<br />
wuchern<strong>de</strong> Weise. Doch es gibt einen entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Unterschied.<br />
Er vermehrt sich, in<strong>de</strong>m er einzellige Sporen freisetzt,<br />
die im Meer davontreiben und zu neuen Pflanzen heranwachsen.<br />
Die Sporen sind Zellen <strong>de</strong>r Pflanze wie alle an<strong>de</strong>ren.<br />
Wie bei <strong>de</strong>n Wucheralgen gibt es auch beim Engpaßtang<br />
keine geschlechtliche Fortpflanzung. Die Zellen einer Pflanze<br />
gehören <strong>de</strong>mselben Klon an wie die Zellen ihrer Elternpflanze.<br />
Der einzige Unterschied zwischen <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Arten ist, daß<br />
die Wucheralge sich vermehrt, in<strong>de</strong>m sie g<strong>ro</strong>ße Stücke von sich<br />
selbst abstößt, die jeweils aus einer unbestimmten Zahl von<br />
Zellen bestehen, wohingegen Engpaßtang zur Fortpflanzung<br />
Stücke seiner selbst abstößt, die immer aus einzelnen Zellen<br />
bestehen.<br />
Wenn wir uns diese bei<strong>de</strong>n Arten von Pflanzen vorstellen,<br />
legen wir <strong>de</strong>n Finger auf <strong>de</strong>n entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Unterschied<br />
zwischen Lebenszyklen mit und ohne Engpaß. Engpaßtang<br />
pflanzt sich fort, in<strong>de</strong>m er sich in je<strong>de</strong>r Generation durch<br />
einen einzelligen Engpaß zwängt. Wucheralgen wachsen einfach<br />
und brechen in zwei Stücke auseinan<strong>de</strong>r. Man kann kaum<br />
sagen, daß diese Art genau <strong>de</strong>finierte Generationen besitzt o<strong>de</strong>r<br />
daß sie überhaupt aus getrennten „Organismen“ besteht. Wie<br />
sieht es mit Engpaßtang aus? Ich wer<strong>de</strong> es gleich ausführlich<br />
erklären, aber wir ahnen schon, wie die Antwort aussehen<br />
wird. Wirkt Engpaßtang nicht bereits mehr wie eine Art, bei<br />
<strong>de</strong>r man von Einzelorganismen sprechen kann?<br />
Wucheralgen rep<strong>ro</strong>duzieren sich, wie wir gesehen haben,<br />
auf dieselbe Weise, wie sie auch wachsen. Genaugenommen
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 395<br />
ist „rep<strong>ro</strong>duzieren“ kaum das richtige Wort. Bei Engpaßtang<br />
dagegen existiert eine <strong>de</strong>utliche Trennung zwischen Wachstum<br />
und Rep<strong>ro</strong>duktion. Wir sind jetzt vielleicht <strong>de</strong>m Unterschied<br />
auf die Spur gekommen, aber was nun? Was be<strong>de</strong>utet das?<br />
Warum ist es wichtig? Ich habe lange <strong>Zeit</strong> darüber nachgedacht,<br />
und ich glaube, ich weiß die Antwort. (Nebenbei gesagt<br />
war es schwieriger, überhaupt herauszufin<strong>de</strong>n, daß es eine<br />
Frage gab, als auf die Antwort zu kommen!) Ich kann die Antwort<br />
in drei Teile zerlegen, von <strong>de</strong>nen die ersten bei<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>r<br />
Beziehung zwischen Evolution und Embryonalentwicklung zu<br />
tun haben.<br />
Denken wir zuerst über das P<strong>ro</strong>blem nach, auf welche Weise<br />
aus einem einfacheren Organ durch Evolution ein kompliziertes<br />
Organ entsteht. Wir brauchen dafür nicht bei <strong>de</strong>n Pflanzen<br />
zu bleiben, und für diese Phase <strong>de</strong>r Argumentation könnte<br />
es sogar besser sein, auf die Tiere überzusch<strong>wen</strong>ken, <strong>de</strong>nn<br />
sie haben mehr offensichtlich komplizierte Organe. Wie<strong>de</strong>r ist<br />
es nicht nötig, an sexuelle Vermehrung zu <strong>de</strong>nken; die Unterscheidung<br />
zwischen geschlechtlicher und ungeschlechtlicher<br />
Fortpflanzung ist hier nur irreführend. Wir können uns vorstellen,<br />
daß unsere Tiere sich vermehren, in<strong>de</strong>m sie asexuelle<br />
Sporen aussen<strong>de</strong>n, einzelne Zellen, die, sieht man von Mutationen<br />
ab, untereinan<strong>de</strong>r sowie mit allen an<strong>de</strong>ren Zellen <strong>de</strong>s<br />
Körpers genetisch i<strong>de</strong>ntisch sind.<br />
Die komplizierten Organe eines höher entwickelten Tieres,<br />
etwa eines Menschen o<strong>de</strong>r einer Assel, haben sich Schritt<br />
für Schritt durch Evolution aus einfacheren Organen <strong>de</strong>r Vorfahren<br />
dieses Tieres entwickelt. Aber die Organe <strong>de</strong>r Vorfahren<br />
„verwan<strong>de</strong>lten“ sich nicht buchstäblich in die Organe<br />
<strong>de</strong>r Nachkommen, wie Schwerter, die zu Pflugscharen umgeschmie<strong>de</strong>t<br />
wer<strong>de</strong>n. Nicht nur taten sie dies nicht: Worauf ich<br />
hinauswill, ist, daß sie es in <strong>de</strong>n meisten Fällen auch gar<br />
nicht konnten. Durch unmittelbare Transformation <strong>de</strong>r Art<br />
„Schwerter zu Pflugscharen“ kann nur ein begrenzter Grad an<br />
Verän<strong>de</strong>rung erzielt wer<strong>de</strong>n. Wirklich radikale Verän<strong>de</strong>rungen<br />
sind nur durch ein „Zurückgehen ans Zeichenbrett“ zu erreichen,<br />
bei <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r vorherige Entwurf verworfen wird und man
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 396<br />
neu anfängt. Wenn Ingenieure ans Zeichenbrett zurückkehren<br />
und einen neuen Entwurf schaffen, verwerfen sie nicht unbedingt<br />
die I<strong>de</strong>en <strong>de</strong>s alten Entwurfs. Aber sie versuchen auch<br />
nicht, das reale alte Objekt in ein neues umzuformen. Das alte<br />
Objekt ist vom Konzept her zu sehr durch die Geschichte seiner<br />
Entwicklung geprägt. Vielleicht läßt sich ja aus einem Schwert<br />
eine Pflugschar schmie<strong>de</strong>n, aber man versuche einmal, eine<br />
P<strong>ro</strong>pellermaschine in einen Düsenmotor „umzuschmie<strong>de</strong>n“!<br />
Das geht nicht. Man muß die P<strong>ro</strong>pellermaschine ausrangieren<br />
und an <strong>de</strong>n Zeichentisch zurückkehren.<br />
Lebewesen sind natürlich niemals am Zeichentisch entworfen<br />
wor<strong>de</strong>n. Aber sie gehen auf Neuanfänge zurück. Sie beginnen<br />
in je<strong>de</strong>r Generation von vorn. Je<strong>de</strong>r Organismus beginnt<br />
als einzelne Zelle und wächst neu. Er erbt die I<strong>de</strong>en <strong>de</strong>s Entwurfs<br />
seiner Ahnen in Form <strong>de</strong>s DNA-P<strong>ro</strong>gramms, aber nicht<br />
die physischen Organe seiner Vorfahren. Er erbt nicht das Herz<br />
seines Elters und formt daraus ein neues (und möglicherweise<br />
verbessertes) Herz. Er beginnt völlig neu, als einzelne Zelle,<br />
und läßt ein neues Herz wachsen, wobei er dasselbe Entwurfsp<strong>ro</strong>gramm<br />
benutzt wie sein Elter für <strong>de</strong>ssen Herz, <strong>de</strong>m nun<br />
Verbesserungen hinzugefügt wer<strong>de</strong>n können. Wir sehen, auf<br />
welche Schlußfolgerung ich abziele. Ein wichtiges Merkmal<br />
eines Lebenszyklus mit „Engpaß“ ist, daß er etwas möglich<br />
macht, das gleichbe<strong>de</strong>utend ist mit einem Zurückkehren ans<br />
Zeichenbrett.<br />
Ein Engpaß im Lebenszyklus hat eine zweite Konsequenz,<br />
die damit im Zusammenhang steht. Er liefert einen „Kalen<strong>de</strong>r“,<br />
<strong>de</strong>r dazu benutzt wer<strong>de</strong>n kann, die Vorgänge <strong>de</strong>r Embryonalentwicklung<br />
zu regulieren. Bei einem Lebenszyklus mit<br />
Engpaß marschiert je<strong>de</strong> neue Generation durch ungefähr dieselbe<br />
Abfolge von Ereignissen. Der Organismus beginnt als<br />
eine einzelne Zelle. Er wächst durch Zellteilung. Und er rep<strong>ro</strong>duziert<br />
sich, in<strong>de</strong>m er Tochterzellen aussen<strong>de</strong>t. Vermutlich<br />
stirbt er irgendwann, aber das ist <strong>wen</strong>iger wichtig, als es uns<br />
Sterblichen vorkommt; soweit es diese Erörterung betrifft, ist<br />
das En<strong>de</strong> eines Zyklus erreicht, <strong>wen</strong>n <strong>de</strong>r gegenwärtige Organismus<br />
sich rep<strong>ro</strong>duziert und <strong>de</strong>r Zyklus einer neuen Gene-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 397<br />
ration beginnt. Obgleich sich <strong>de</strong>r Organismus theoretisch zu<br />
je<strong>de</strong>m beliebigen <strong>Zeit</strong>punkt seines Lebens vermehren könnte,<br />
erwarten wir, daß irgendwann einmal ein optimaler <strong>Zeit</strong>punkt<br />
zur Rep<strong>ro</strong>duktion eintreten sollte. Organismen, die Sporen<br />
aussen<strong>de</strong>n, <strong>wen</strong>n sie zu jung o<strong>de</strong>r zu alt sind, haben am En<strong>de</strong><br />
gewöhnlich <strong>wen</strong>iger Nachkommen als Rivalen, die sich erst zu<br />
voller Stärke entwickeln und dann auf <strong>de</strong>m Höhepunkt ihres<br />
Lebens eine gewaltige Zahl an Sporen abstoßen.<br />
Unser Gedankengang bewegt sich auf die Vorstellung von<br />
einem stereotypen, regelmäßig wie<strong>de</strong>rholten Lebenszyklus<br />
zu. Je<strong>de</strong> Generation beginnt nicht nur mit einem einzelligen<br />
Engpaß, sie hat auch eine Wachstumsphase – „Kindheit“ – von<br />
ziemlich feststehen<strong>de</strong>r Dauer. Diese Stereotypie <strong>de</strong>r Wachstumsphase<br />
macht es möglich, daß bestimmte Dinge zu bestimmten<br />
<strong>Zeit</strong>en während <strong>de</strong>r Embryonalentwicklung geschehen, als<br />
seien sie von einem streng eingehaltenen Kalen<strong>de</strong>r geregelt.<br />
Die Zellteilungen während <strong>de</strong>r Entwicklung erfolgen in – je<br />
nach Art <strong>de</strong>s Organismus mehr o<strong>de</strong>r <strong>wen</strong>iger – strenger Reihenfolge,<br />
einer Reihenfolge, die bei je<strong>de</strong>r Wie<strong>de</strong>rholung <strong>de</strong>s<br />
Lebenszyklus wie<strong>de</strong>r auftritt. Je<strong>de</strong> Zelle hat ihren eigenen<br />
Platz und ihren eigenen Entstehungstermin in <strong>de</strong>r Abfolge <strong>de</strong>r<br />
Zellteilungen. Nebenbei gesagt ist dieser Ablauf bei manchen<br />
Organismen so genau festgelegt, daß die Embryologen je<strong>de</strong>r<br />
Zelle einen Namen geben können und daß man einer bestimmten<br />
Zelle in einem Individuum ein genaues Gegenstück in<br />
einem an<strong>de</strong>ren Individuum zuordnen kann.<br />
Auf diese Weise stellt <strong>de</strong>r stereotypisierte Wachstumszyklus<br />
eine Uhr o<strong>de</strong>r einen Kalen<strong>de</strong>r dar, mit <strong>de</strong>ssen Hilfe Ereignisse in<br />
<strong>de</strong>r Embryonalentwicklung ausgelöst wer<strong>de</strong>n können. Denken<br />
wir daran, wie bereitwillig wir Menschen die Zyklen <strong>de</strong>r<br />
täglichen Erd<strong>ro</strong>tation und <strong>de</strong>n jährlichen Umlauf <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> um<br />
die Sonne dazu benutzen, unserem Leben Struktur und Ordnung<br />
zu geben. Auf dieselbe Weise wer<strong>de</strong>n – es scheint fast<br />
unvermeidlich – die von einem Engpaß-Lebenszyklus erzwungenen<br />
endlos wie<strong>de</strong>rholten Wachstumsrhythmen dazu benutzt,<br />
die Embryonalentwicklung zu ordnen und zu strukturieren.<br />
Spezifische Gene können zu bestimmten <strong>Zeit</strong>en an- und abge-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 398<br />
schaltet wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Engpaß/Wachstumszyklus-Kalen<strong>de</strong>r<br />
garantiert, daß es so etwas wie eine bestimmte <strong>Zeit</strong> gibt. Solche<br />
gut angepaßten Regulationen <strong>de</strong>r Genaktivität sind eine not<strong>wen</strong>dige<br />
Voraussetzung für die Evolution von embryonalen<br />
Entwicklungsp<strong>ro</strong>grammen, die komplexe Gewebe und Organe<br />
zu fertigen in <strong>de</strong>r Lage sind. So komplizierte, präzise arbeiten<strong>de</strong><br />
Organe wie ein Adlerauge o<strong>de</strong>r ein Schwalbenflügel<br />
könnten unmöglich entstehen, <strong>wen</strong>n es nicht uhrwerkartige<br />
Regeln dafür gäbe, wann mit <strong>de</strong>m Bau welches Teiles zu beginnen<br />
ist.<br />
Die dritte Konsequenz einer Engpaß-Lebensgeschichte<br />
ist genetischer Natur. Auch hier hilft uns das Beispiel<br />
von Engpaßtang und Wucheralgen. Nehmen wir <strong>de</strong>r Einfachheit<br />
halber wie<strong>de</strong>r an, daß bei<strong>de</strong> Arten sich ungeschlechtlich<br />
fortpflanzen, und überlegen wir, wie sie sich durch Evolution<br />
entwickeln könnten. Die Evolution benötigt genetische<br />
Verän<strong>de</strong>rungen, Mutationen. Mutationen können während<br />
je<strong>de</strong>r Zellteilung eintreten. Bei <strong>de</strong>n Wucheralgen sind die<br />
Abstammungslinien <strong>de</strong>r Zellen breit gefächert, genau das<br />
Gegenteil von engpaßartig. Je<strong>de</strong>r Zweig, <strong>de</strong>r abbricht und<br />
davontreibt, ist vielzellig. Es ist daher gut möglich, daß zwei<br />
Zellen einer Tochterpflanze entferntere Verwandte sind, als<br />
je<strong>de</strong> von ihnen mit bestimmten Zellen <strong>de</strong>r Elternpflanze verwandt<br />
ist. (Mit „Verwandten“ meine ich tatsächlich Vettern,<br />
Enkel und so weiter. Zellen haben ein<strong>de</strong>utige Abstammungslinien,<br />
und diese Linien verzweigen sich, so daß Bezeichnungen<br />
wie Vetter zweiten Gra<strong>de</strong>s auf die Zellen in einem Körper angewandt<br />
wer<strong>de</strong>n können, ohne daß man dafür um Entschuldigung<br />
bitten müßte.) In diesem Punkt besteht ein krasser Unterschied<br />
zwischen Engpaßtang und Wucheralgen. Bei ersterem<br />
stammen alle Zellen einer Tochterpflanze von einer einzigen<br />
Sporenzelle ab, so daß alle Zellen <strong>de</strong>r Pflanze näher miteinan<strong>de</strong>r<br />
verwandt sind als mit irgen<strong>de</strong>iner an<strong>de</strong>ren Zelle einer<br />
an<strong>de</strong>ren Pflanze.<br />
Dieser Unterschied zwischen <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Arten hat wichtige<br />
genetische Folgen. Stellen wir uns das Schicksal eines<br />
eben mutierten Gens vor, zuerst bei Wucheralgen, dann bei
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 399<br />
Engpaßtang. Bei <strong>de</strong>n Wucheralgen kann die Mutation in<br />
je<strong>de</strong>r beliebigen Zelle entstehen, in je<strong>de</strong>m beliebigen Zweig<br />
<strong>de</strong>r Pflanze. Da Tochterpflanzen durch Knospung p<strong>ro</strong>duziert<br />
wer<strong>de</strong>n, an ihrer Entstehung also viele Mutterzellen beteiligt<br />
sind, ist es möglich, daß lineare Nachkommen <strong>de</strong>r mutierten<br />
Zelle Tochterpflanzen und Enkelinnenpflanzen mit nichtmutierten<br />
Zellen teilen, die relativ entfernte Vettern von ihnen<br />
sind. Beim Engpaßtang an<strong>de</strong>rerseits ist <strong>de</strong>r jüngste gemeinsame<br />
Vorfahre aller Zellen einer Pflanze nicht älter als die<br />
Spore, die <strong>de</strong>n engpaßartigen Ursprung <strong>de</strong>r Pflanze bil<strong>de</strong>te.<br />
Wenn jene Spore das mutierte Gen enthielt, wer<strong>de</strong>n alle Zellen<br />
<strong>de</strong>r neuen Pflanze es enthalten. Enthielt die Spore das mutierte<br />
Gen nicht, so enthalten sie es ebenfalls nicht. Die Zellen einer<br />
Pflanze sind beim Engpaßtang genetisch gesehen einheitlicher<br />
als bei <strong>de</strong>n Wucheralgen (sieht man von gelegentlichen<br />
Rückmutationen ab). Was <strong>de</strong>n Engpaßtang betrifft, so ist<br />
die einzelne Pflanze eine Einheit mit genetischer I<strong>de</strong>ntität<br />
und verdient es, als Individuum bezeichnet zu wer<strong>de</strong>n. Bei<br />
<strong>de</strong>n Wucheralgen besitzen die Pflanzen geringere genetische<br />
I<strong>de</strong>ntität und haben <strong>wen</strong>iger Anrecht auf die Bezeichnung<br />
„Individuum“ als ihre Gegenstücke beim Engpaßtang.<br />
Dies ist nicht einfach nur eine Frage <strong>de</strong>r Terminologie.<br />
Wenn Mutationen auftreten, so haben nicht alle Zellen einer<br />
Wucheralge dieselben genetischen Interessen. Ein Gen in einer<br />
Wucheralgenzelle p<strong>ro</strong>fitiert davon, die Fortpflanzung seiner<br />
Zelle zu begünstigen. Es p<strong>ro</strong>fitiert nicht not<strong>wen</strong>digerweise<br />
davon, daß es die Fortpflanzung seiner beson<strong>de</strong>ren „individuellen“<br />
Pflanze för<strong>de</strong>rt. Infolge von Mutationen ist es unwahrscheinlich,<br />
daß die Zellen einer Pflanze genetisch i<strong>de</strong>ntisch<br />
sind, daher wer<strong>de</strong>n sie bei <strong>de</strong>r Herstellung von Organen<br />
und neuen Pflanzen nicht ernsthaft zusammenarbeiten. Die<br />
natürliche Auslese wird eher unter Zellen als unter „Pflanzen“<br />
auswählen. Bei Engpaßtang dagegen besitzen alle Zellen einer<br />
Pflanze wahrscheinlich dieselben Gene, <strong>de</strong>nn nur gera<strong>de</strong> erst<br />
entstan<strong>de</strong>ne Mutationen könnten dies än<strong>de</strong>rn. Daher wer<strong>de</strong>n<br />
sie bereitwillig beim Bau effizienter Überlebensmaschinen<br />
mitarbeiten. Die Zellen verschie<strong>de</strong>ner Pflanzen haben mit
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 400<br />
größerer Wahrscheinlichkeit verschie<strong>de</strong>ne Gene. Schließlich<br />
lassen sich Zellen, die durch unterschiedliche Engpässe hindurchgegangen<br />
sind, anhand aller mit Ausnahme <strong>de</strong>r jüngsten<br />
Mutationen – und das heißt anhand <strong>de</strong>r Mehrheit <strong>de</strong>r Mutationen<br />
– voneinan<strong>de</strong>r unterschei<strong>de</strong>n. Die Selektion wird daher<br />
über rivalisieren<strong>de</strong> Pflanzen richten, nicht über rivalisieren<strong>de</strong><br />
Zellen wie bei <strong>de</strong>n Wucheralgen. Wir können daher die Evolution<br />
von Organismen und Mechanismen erwarten, die <strong>de</strong>r<br />
gesamten Pflanze dienen.<br />
Nebenbei gesagt – nur für Leser mit beruflichem Interesse<br />
– besteht hier eine Analogie zur Diskussion über Gruppenselektion.<br />
Wir können uns einen Einzelorganismus als eine<br />
„Gruppe“ von Zellen vorstellen. Vorausgesetzt es fin<strong>de</strong>t sich<br />
ein Mittel, die Variation zwischen Gruppen relativ zur Variation<br />
innerhalb von Gruppen zu steigern, so kann eine Form<br />
<strong>de</strong>r Gruppenselektion zum Tragen kommen. Die Fortpflanzungsmetho<strong>de</strong><br />
von Engpaßtang hat genau diesen Effekt, die<br />
von Wucheralgen <strong>de</strong>n umgekehrten. Es gibt auch an<strong>de</strong>re<br />
Ähnlichkeiten, die aufschlußreich sein mögen, auf die ich aber<br />
nicht näher eingehen möchte, zwischen „<strong>de</strong>r Passage durch<br />
<strong>de</strong>n Engpaß“ und <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren bei<strong>de</strong>n I<strong>de</strong>en, von <strong>de</strong>nen in<br />
diesem Kapitel hauptsächlich die Re<strong>de</strong> war. Das war erstens<br />
die Vorstellung, daß Parasiten in <strong>de</strong>m Maße mit ihren Wirten<br />
zusammenarbeiten wer<strong>de</strong>n, wie ihre Gene in <strong>de</strong>nselben Fortpflanzungszellen<br />
wie die Wirtsgene in die nächste Generation<br />
hinüberreisen, sich also durch <strong>de</strong>nselben Engpaß zwängen.<br />
Und zweitens <strong>de</strong>r Gedanke, daß die Zellen eines sich geschlechtlich<br />
fortpflanzen<strong>de</strong>n Körpers nur <strong>de</strong>shalb zusammenarbeiten,<br />
weil die Meiose absolut gerecht ist.<br />
Fassen wir zusammen: Wir haben drei Grün<strong>de</strong> kennengelernt,<br />
warum eine Lebensgeschichte, die durch einen Engpaß<br />
geht, gewöhnlich die Evolution <strong>de</strong>s Organismus als abgeschlossenes<br />
und einheitliches Vehikel för<strong>de</strong>rt. Wir können die drei<br />
folgen<strong>de</strong>rmaßen betiteln: „Zurück ans Zeichenbrett“, „Zyklus<br />
mit or<strong>de</strong>ntlichem <strong>Zeit</strong>plan“ und „Zelleinheitlichkeit“. Was war<br />
zuerst da, <strong>de</strong>r Engpaß <strong>de</strong>s Lebenszyklus o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r in sich<br />
geschlossene Organismus? Ich möchte annehmen, daß sie sich
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 401<br />
gemeinsam entwickelt haben. Ja, ich habe <strong>de</strong>n Verdacht, die<br />
wesentliche Eigenschaft, die einen Einzelorganismus <strong>de</strong>finiert,<br />
ist, daß er mit einem einzelligen Engpaß beginnt und auch<br />
en<strong>de</strong>t. Wenn Lebenszyklen Engpässe bekommen, scheint es,<br />
daß leben<strong>de</strong> Materie zwangsläufig in getrennte, einheitliche<br />
Organismen eingeschlossen wird. Und je mehr diese leben<strong>de</strong><br />
Materie in getrennte Überlebensmaschinen gepackt wird, um<br />
so mehr wer<strong>de</strong>n die Zellen dieser Überlebensmaschinen ihre<br />
Anstrengungen auf jene beson<strong>de</strong>re Klasse von Zellen konzentrieren,<br />
die dazu bestimmt ist, ihre gemeinsamen Gene<br />
durch <strong>de</strong>n Engpaß in die nächste Generation hineinzuschleusen.<br />
Die bei<strong>de</strong>n Phänomene, Lebenszyklen mit Engpässen und<br />
getrennte Organismen, gehen Hand in Hand. In <strong>de</strong>m Maße,<br />
wie je<strong>de</strong>s <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n sich fortentwickelt, stärkt es das jeweils<br />
an<strong>de</strong>re. Die bei<strong>de</strong>n verstärken sich gegenseitig, wie die Gefühle<br />
einer Frau und eines Mannes im Verlauf einer Liebesaffäre.<br />
The Exten<strong>de</strong>d Phenotype ist ein langes Buch, und sein Inhalt<br />
läßt sich nicht leicht in ein einziges Kapitel hineinzwängen. Ich<br />
war gezwungen, mich hier eines kon<strong>de</strong>nsierten, eher intuitiven,<br />
ja sogar impressionistischen Stils zu bedienen. Ich hoffe,<br />
es ist mir <strong>de</strong>nnoch gelungen, eine Vorstellung von seinem<br />
Thema zu vermitteln.<br />
Lassen Sie mich mit einem kurzen Manifest en<strong>de</strong>n, mit<br />
einer Zusammenfassung <strong>de</strong>r gesamten Sicht <strong>de</strong>s Lebens aus<br />
<strong>de</strong>m Blickwinkel <strong>de</strong>s egoistischen Gens beziehungsweise <strong>de</strong>s<br />
erweiterten Phänotyps. Es ist eine Sicht, so behaupte ich, die<br />
auf Lebewesen überall im Universum zutrifft. Die grundlegen<strong>de</strong><br />
Einheit, <strong>de</strong>r Hauptmotor allen Lebens, ist <strong>de</strong>r Replikator.<br />
Replikatoren sind alles im Universum, wovon Kopien<br />
gemacht wer<strong>de</strong>n. Replikatoren entstehen ursprünglich durch<br />
Zufall, durch das zufällige Zusammenprallen kleinerer Partikel.<br />
Ist ein Replikator einmal entstan<strong>de</strong>n, so ist er in <strong>de</strong>r<br />
Lage, einen unbegrenzt g<strong>ro</strong>ßen Satz von Kopien seiner selbst<br />
zu erzeugen. Kein Kopiervorgang ist jedoch perfekt, und die<br />
Population von Replikatoren wird schließlich Varietäten enthalten,<br />
die voneinan<strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>n sind. Bei einigen dieser<br />
Varietäten erweist es sich, daß sie die Fähigkeit <strong>de</strong>r Selbstre-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 402<br />
plikation verloren haben, und ihresgleichen hört auf zu existieren,<br />
<strong>wen</strong>n sie selbst zu existieren aufhören. An<strong>de</strong>re können<br />
sich zwar noch selbst kopieren, aber <strong>wen</strong>iger effizient. Doch<br />
wie<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Varietäten gelangen zufällig in <strong>de</strong>n Besitz neuer<br />
Tricks: Sie erweisen sich als sogar noch bessere Selbstkopierer<br />
als ihre Vorgänger und <strong>Zeit</strong>genossen. Ihre Nachkommen sind<br />
es, die die Population beherrschen wer<strong>de</strong>n. Im Laufe <strong>de</strong>r <strong>Zeit</strong><br />
füllt sich die Welt mit <strong>de</strong>n mächtigsten und erfindungsreichsten<br />
Replikatoren.<br />
Schritt für Schritt wer<strong>de</strong>n immer ausgefeiltere Arten erfun<strong>de</strong>n,<br />
ein guter Replikator zu sein. Replikatoren überleben nicht<br />
nur mittels ihrer eigenen, ihnen innewohnen<strong>de</strong>n Eigenschaften,<br />
son<strong>de</strong>rn kraft <strong>de</strong>r Wirkungen, die sie auf die Welt haben.<br />
Diese Wirkungen können ziemlich indirekt sein. Es ist weiter<br />
nichts not<strong>wen</strong>dig, als daß die Wirkungen, auf welchen Umwegen<br />
und wie indirekt auch immer, schließlich rückkoppeln und<br />
<strong>de</strong>n Erfolg, mit <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Replikator sich selbst kopiert, beeinflussen.<br />
Welchen Erfolg ein Replikator in <strong>de</strong>r Welt hat, wird davon<br />
abhängen, welche Art von Welt es ist, das heißt, von <strong>de</strong>n bereits<br />
bestehen<strong>de</strong>n Bedingungen. Zu <strong>de</strong>n wichtigsten dieser Bedingungen<br />
gehören an<strong>de</strong>re Replikatoren und <strong>de</strong>ren Wirkungen.<br />
Wie die englischen und <strong>de</strong>utschen Ru<strong>de</strong>rer wer<strong>de</strong>n Replikatoren,<br />
die sich gegenseitig positiv beeinflussen, schließlich in<br />
<strong>de</strong>r Gegenwart <strong>de</strong>s jeweils an<strong>de</strong>ren vorherrschend sein. An<br />
irgen<strong>de</strong>inem Punkt in <strong>de</strong>r Evolution <strong>de</strong>s Lebens auf unserer<br />
Er<strong>de</strong> wur<strong>de</strong> dieses Zusammen<strong>ro</strong>tten untereinan<strong>de</strong>r kompatibler<br />
Replikatoren durch die Schaffung getrennter Vehikel –<br />
Zellen und später vielzelliger Körper – formalisiert. Vehikel,<br />
die einen Engpaß-Lebenszyklus entwickelten, gediehen und<br />
wur<strong>de</strong>n noch abgeschlossener und vehikelähnlicher.<br />
Dieses Hineinpacken von leben<strong>de</strong>r Materie in getrennte<br />
Vehikel wur<strong>de</strong> zu einem <strong>de</strong>rart ins Auge fallen<strong>de</strong>n und vorherrschen<strong>de</strong>n<br />
Phänomen, daß die Biologen, als sie auf <strong>de</strong>r Bühne<br />
erschienen und Fragen über das Leben zu stellen begannen,<br />
hauptsächlich Fragen über Vehikel – Einzelorganismen – stellten.<br />
Der Einzelorganismus kam im Bewußtsein <strong>de</strong>r Biologen
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 403<br />
zuerst, wohingegen die Replikatoren – heute als Gene bekannt<br />
– als Teil <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>n Einzelorganismen benutzten Maschinerie<br />
betrachtet wur<strong>de</strong>n. Es erfor<strong>de</strong>rt eine bewußte geistige Anstrengung,<br />
die Biologie vom Kopf wie<strong>de</strong>r auf die Beine zu stellen<br />
und uns die Stellung <strong>de</strong>r Replikatoren ins Gedächtnis zu rufen:<br />
Sie waren zuerst da, und ihnen kommt größere Be<strong>de</strong>utung zu.<br />
Wir brauchen nur daran zu <strong>de</strong>nken, daß sogar heute nicht<br />
alle phänotypischen Effekte eines Gens in <strong>de</strong>n individuellen<br />
Körper eingebun<strong>de</strong>n sind, in <strong>de</strong>m dieses Gen sitzt. Zweifellos<br />
wirkt das Gen vom Prinzip her und auch in Wirklichkeit über<br />
<strong>de</strong>n individuellen Körper hinaus und manipuliert Objekte in<br />
<strong>de</strong>r Außenwelt, von <strong>de</strong>nen einige unbelebte Dinge, an<strong>de</strong>re<br />
Lebewesen sind und die sich zum Teil in weiter Entfernung<br />
befin<strong>de</strong>n. Mit nur ein <strong>wen</strong>ig Vorstellungskraft können wir das<br />
Gen im Zentrum eines strahlenförmigen Netzes erweiterter<br />
phänotypischer Macht sitzen sehen.<br />
Und fast je<strong>de</strong>s Objekt in <strong>de</strong>r Welt ist das Zentrum eines<br />
Netzes aus konvergieren<strong>de</strong>n Einflüssen vieler Gene, die in<br />
vielen Organismen sitzen. Die g<strong>ro</strong>ße Reichweite <strong>de</strong>s Gens<br />
hat keine erkennbaren Grenzen. Die ganze Welt ist kreuz<br />
und quer von Kausalitätspfeilen durchzogen, die Gene und<br />
phänotypische Effekte über g<strong>ro</strong>ße und kleine Entfernungen<br />
miteinan<strong>de</strong>r verbin<strong>de</strong>n.<br />
Es ist eine zusätzliche Tatsache, zu wichtig in <strong>de</strong>r Praxis, um<br />
nebensächlich, aber in <strong>de</strong>r Theorie nicht not<strong>wen</strong>dig genug, um<br />
unvermeidlich genannt zu wer<strong>de</strong>n, daß diese Kausalitätspfeile<br />
gebün<strong>de</strong>lt wor<strong>de</strong>n sind. Replikatoren sind nicht mehr frei<br />
im Meer verteilt; sie sind in riesige Kolonien – einzelne<br />
Körper – hineingepackt. Und phänotypische Wirkungen, statt<br />
gleichmäßig in <strong>de</strong>r ganzen Welt verteilt zu sein, sind in vielen<br />
Fällen in eben diesen Körpern erstarrt. Aber <strong>de</strong>r einzelne<br />
Körper, <strong>de</strong>r uns auf unserem Planeten so vertraut ist, brauchte<br />
nicht zu existieren. Die einzige Einheit, die existieren muß,<br />
damit irgendwo im Universum Leben entsteht, ist <strong>de</strong>r unsterbliche<br />
Replikator.
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 404<br />
Nachbemerkungen<br />
Die folgen<strong>de</strong>n Anmerkungen beziehen sich auf die Kapitel 1 bis<br />
11 (<strong>de</strong>n Text <strong>de</strong>r ersten Auflage). Sie kommentieren Textstellen,<br />
die dort mit hochgestellten Ziffern gekennzeichnet sind.<br />
1. Warum gibt es Menschen?<br />
1 Einige Leute, sogar solche, die nicht religiös sind, haben<br />
an diesem Zitat aus Simpson Anstoß genommen. Ich gebe<br />
zu, <strong>wen</strong>n man es zum ersten Mal liest, klingt es schrecklich<br />
philisterhaft, taktlos und intolerant, ein bißchen wie Henry<br />
Fords „Geschichte ist mehr o<strong>de</strong>r <strong>wen</strong>iger Humbug“. Doch von<br />
religiösen Antworten einmal abgesehen (sie sind mir bekannt,<br />
sparen Sie die Briefmarke) – können wir auch nur eine einzige<br />
Antwort nennen, die vor Darwin auf Fragen wie „Was ist <strong>de</strong>r<br />
Mensch?“, „Hat das Leben einen Sinn?“, „Wozu sind wir da?“<br />
gegeben wur<strong>de</strong> und die, sieht man von ihrem (beträchtlichen)<br />
historischen Interesse ab, heute nicht völlig wertlos ist? Aussagen<br />
können ganz einfach falsch sein, und das trifft, vor 1859,<br />
auf alle Antworten auf jene Fragen zu.<br />
2 Gelegentlich mißverstehen Kritiker Das egoistische Gen insofern,<br />
als sie meinen, es befürworte <strong>de</strong>n Egoismus als ein Prinzip,<br />
nach <strong>de</strong>m wir leben sollten! An<strong>de</strong>re glauben – vielleicht,<br />
weil sie nur <strong>de</strong>n Titel <strong>de</strong>s Buches gelesen haben o<strong>de</strong>r nicht über<br />
die ersten bei<strong>de</strong>n Seiten hinausgekommen sind –, ich verträte<br />
die Ansicht, Egoismus und an<strong>de</strong>re häßliche Verhaltensweisen<br />
seien ein unentrinnbarer Teil unserer Natur, gleichgültig, ob<br />
wir das nun schön fin<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r nicht. In diesen Fehler kann<br />
man leicht verfallen, <strong>wen</strong>n man meint (wie viele Leute es<br />
unerklärlicherweise tun), daß „genetisch <strong>de</strong>terminiert“ gleichbe<strong>de</strong>utend<br />
ist mit schicksalhaft und unabän<strong>de</strong>rlich. De facto<br />
„<strong>de</strong>terminieren“ Gene das Verhalten lediglich im statistischen<br />
Sinne (siehe auch Kapitel 3). Ein guter Vergleich ist die<br />
bekannte Bauernregel „Der Morgen grau, <strong>de</strong>r Abend <strong>ro</strong>t, ist
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 405<br />
ein gutes Wetterbot“. Statistisch gesehen mag es eine Tatsache<br />
sein, daß Abend<strong>ro</strong>t schönes Wetter für <strong>de</strong>n nächsten<br />
Tag ankündigt, aber wir wür<strong>de</strong>n keine hohe Wette darauf<br />
abschließen. Wie wir genau wissen, wird das Wetter auf sehr<br />
komplexe Weise von vielen verschie<strong>de</strong>nen Faktoren beeinflußt.<br />
Je<strong>de</strong> Wettervoraussage kann falsch sein. Es han<strong>de</strong>lt sich lediglich<br />
um eine statistische Vorhersage. In unseren Augen hat<br />
Abend<strong>ro</strong>t nicht zwangsläufig schönes Wetter am nächsten<br />
Tag zur Folge, und ebenso<strong>wen</strong>ig sollten wir davon ausgehen,<br />
daß Gene unwi<strong>de</strong>rruflich irgend etwas <strong>de</strong>terminieren. Es gibt<br />
keinen Grund anzunehmen, daß <strong>de</strong>r Einfluß von Genen nicht<br />
leicht von an<strong>de</strong>ren Einflüssen in sein Gegenteil verkehrt<br />
wer<strong>de</strong>n könnte. Wer eine ausführliche Erörterung <strong>de</strong>s „genetischen<br />
Determinismus“ sucht und erfahren möchte, warum<br />
Mißverständnisse entstan<strong>de</strong>n sind, lese in Kapitel 2 meines<br />
Buches The Exten<strong>de</strong>d Phenotype und in meinem Aufsatz Sociobiology:<br />
The New Storm in a Teacup nach. Man hat mir sogar<br />
vorgeworfen, ich behaupte, die Menschen seien im Grun<strong>de</strong> alle<br />
Chicagoer Gangster! Doch natürlich wollte ich mit diesem Vergleich<br />
hauptsächlich auf folgen<strong>de</strong>s hinaus:<br />
Wenn wir wissen, in welcher Art von Welt ein Mann<br />
Erfolg hatte, so sagt uns dies etwas über <strong>de</strong>n Mann.<br />
Das hatte nichts mit <strong>de</strong>n beson<strong>de</strong>ren Eigenschaften von<br />
Chicagoer Gangstern zu tun. Ich hätte genausogut das<br />
Beispiel eines Mannes benutzen können, <strong>de</strong>r in die<br />
Spitze <strong>de</strong>r Kirche von England aufgestiegen o<strong>de</strong>r in<br />
das Athenaeum gewählt wor<strong>de</strong>n ist. In je<strong>de</strong>m Fall ging<br />
es bei meinem Vergleich nicht um Menschen, son<strong>de</strong>rn<br />
um Gene.<br />
Ich habe dieses und an<strong>de</strong>re Mißverständnisse, die daraus entstehen,<br />
daß man meine Aussagen allzu wörtlich nimmt, in<br />
meinem Aufsatz In Defence of Selfish Genes erörtert, aus <strong>de</strong>m<br />
auch das obige Zitat entnommen ist.<br />
Ich muß hinzufügen, daß meine gelegentlichen politischen<br />
Nebenbemerkungen in diesem Kapitel die erneute Lektüre
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 406<br />
im Jahre 1989 für mich reichlich unangenehm machen. „Wie<br />
viele Male mag dies [die Not<strong>wen</strong>digkeit, ihre egoistische Gier<br />
zurückzuhalten, um die Zerstörung <strong>de</strong>r gesamten Gruppe<br />
zu verhin<strong>de</strong>rn] in <strong>de</strong>n letzten Jahren <strong>de</strong>r britischen<br />
Arbeiterbevölkerung gesagt wor<strong>de</strong>n sein?“ (Seite 34), das<br />
klingt, als wäre ich ein Konservativer.<br />
1975, als ich diesen Satz schrieb, kämpfte eine sozialistische<br />
Regierung, die zu wählen ich mitgeholfen hatte, verzweifelt<br />
gegen eine Inflation von 23 P<strong>ro</strong>zent und machte sich ganz<br />
offensichtlich Sorgen wegen <strong>de</strong>r hohen Lohnfor<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r<br />
Arbeiterschaft. Meine Bemerkung könnte aus einer Re<strong>de</strong> je<strong>de</strong>s<br />
beliebigen Labour-Ministers jener <strong>Zeit</strong> entnommen sein. Heutzutage,<br />
da in England eine Regierung <strong>de</strong>r neuen Rechten<br />
herrscht, die Bösartigkeit und Egoismus zur I<strong>de</strong>ologie erhoben<br />
hat, rufen meine Worte Assoziationen hervor, die sie gemein<br />
scheinen lassen, was ich zutiefst bedauere. Nicht, daß ich<br />
zurücknehmen wollte, was ich damals gesagt habe. Egoistische<br />
Kurzsichtigkeit hat immer und überall noch die von mir<br />
genannten unerwünschten Konsequenzen. Aber <strong>wen</strong>n man<br />
heute nach Beispielen für egoistische Kurzsichtigkeit in England<br />
suchen wollte, wür<strong>de</strong> man nicht zuerst auf die Arbeiterklasse<br />
schauen. Davon abgesehen ist es wahrscheinlich am ratsamsten,<br />
eine wissenschaftliche Arbeit überhaupt nicht mit<br />
politischen Bemerkungen zu belasten, ist es doch bemerkenswert,<br />
wie schnell diese überholt sind. Die Schriften, die politisch<br />
<strong>de</strong>nken<strong>de</strong> Wissenschaftler – beispielsweise J. B. S. Haidane<br />
und Lancelot Hogben – in <strong>de</strong>n dreißiger Jahren unseres<br />
Jahrhun<strong>de</strong>rts verfaßten, sind heute durch ihre anach<strong>ro</strong>nistischen<br />
Spitzen entschei<strong>de</strong>nd beeinträchtigt.<br />
3 Ich habe von diesem son<strong>de</strong>rbaren Zusammenhang bei<br />
männlichen Insekten zum ersten Mal während einer Forschungsvorlesung<br />
gehört, die ein Kollege über Köcherfliegen<br />
hielt. Er versuchte, Köcherfliegen in Gefangenschaft zu<br />
züchten, konnte sie aber t<strong>ro</strong>tz aller Anstrengungen nicht dazu<br />
bewegen, sich zu paaren. Darauf knurrte <strong>de</strong>r Entomologiep<strong>ro</strong>fessor<br />
aus <strong>de</strong>r vor<strong>de</strong>rsten Reihe: „Haben Sie niemals versucht,
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 407<br />
ihre Köpfe abzuschnei<strong>de</strong>n?“, als habe <strong>de</strong>r Kollege eine ganz<br />
und gar offensichtliche Möglichkeit übersehen.<br />
4 Seit <strong>de</strong>r Nie<strong>de</strong>rschrift meines Manifests <strong>de</strong>r Genselektion<br />
habe ich reiflich darüber nachgedacht, ob es nicht doch auch<br />
eine Art Selektion auf höherer Ebene geben kann, die gelegentlich<br />
während <strong>de</strong>s langen Weges <strong>de</strong>r Evolution wirksam ist. Ich<br />
beeile mich hinzuzufügen, daß ich mit „auf höherer Ebene“<br />
nichts meine, das irgendwie mit „Gruppenselektion“ zu tun<br />
hat. Ich spreche von etwas, das sehr viel subtiler und auch<br />
sehr viel interessanter ist. Inzwischen glaube ich, daß nicht nur<br />
einige Individuen im Überleben besser sind als an<strong>de</strong>re; vielleicht<br />
sind auch ganze Klassen von Organismen an<strong>de</strong>ren in <strong>de</strong>r<br />
Fähigkeit zur evolutionären Entwicklung überlegen. Natürlich<br />
ist dieses Sich-Entwickeln, über das wir hier re<strong>de</strong>n, immer<br />
noch die alte Evolution, die über die Selektion von Genen<br />
zustan<strong>de</strong> kommt. Mutationen wer<strong>de</strong>n immer noch geför<strong>de</strong>rt,<br />
weil sie das Überleben und <strong>de</strong>n Fortpflanzungserfolg von Individuen<br />
beeinflussen. Aber eine wichtige neue Mutation im<br />
Entwicklungsp<strong>ro</strong>gramm eines Embryos kann außer<strong>de</strong>m die<br />
Schleusen für eine Auffächerung <strong>de</strong>r Evolution während <strong>de</strong>r<br />
nächsten Jahrmillionen öffnen. Es ist möglich, daß es eine<br />
Art Selektion auf höherer Ebene gibt, nämlich für Entwicklungsp<strong>ro</strong>gramme,<br />
die für Evolution geeignet sind – eine Selektion<br />
zugunsten <strong>de</strong>r Evolutionsfähigkeit. Diese Art <strong>de</strong>r Selektion<br />
kann sogar kumulativ und daher p<strong>ro</strong>gressiv sein, auf eine<br />
Weise, in <strong>de</strong>r Gruppenselektion dies nicht ist. Diese Gedanken<br />
sind in meinem Aufsatz The Evolution of Evolvability genauer<br />
dargestellt. Inspiriert wur<strong>de</strong> ich dazu weitgehend durch das<br />
Herumspielen mit <strong>de</strong>m Computerp<strong>ro</strong>gramm Der blin<strong>de</strong> Uhrmacher,<br />
das Aspekte <strong>de</strong>r Evolution simuliert.<br />
2. Die Replikatoren<br />
1 Es gibt zahlreiche Theorien über <strong>de</strong>n Ursprung <strong>de</strong>s Lebens.<br />
Statt mich durch alle hindurchzuarbeiten, habe ich im vorliegen<strong>de</strong>n<br />
Buch nur eine davon ausgewählt, um <strong>de</strong>n Grund-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 408<br />
gedanken zu illustrieren. Ich möchte jedoch nicht <strong>de</strong>n Eindruck<br />
erwecken, als sei diese <strong>de</strong>r einzige ernstzunehmen<strong>de</strong><br />
o<strong>de</strong>r sogar <strong>de</strong>r beste Kandidat gewesen. Tatsächlich habe ich<br />
in Der blin<strong>de</strong> Uhrmacher bewußt eine an<strong>de</strong>re Theorie zu <strong>de</strong>mselben<br />
Zweck ausgesucht, nämlich A. G. Cairn-Smiths Tontheorie.<br />
In keinem <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Bücher habe ich mich auf die<br />
jeweils gewählte spezielle Hypothese festgelegt. Sollte ich ein<br />
weiteres Buch schreiben, wer<strong>de</strong> ich wahrscheinlich die Gelegenheit<br />
nutzen und noch einen an<strong>de</strong>ren Gesichtspunkt darzulegen<br />
versuchen: <strong>de</strong>n <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen mathematischen Chemikers<br />
Manfred Eigen und seiner Kollegen. Was ich meinen<br />
Lesern immer verständlich zu machen versuche, sind grundlegen<strong>de</strong><br />
Eigenschaften, die je<strong>de</strong> gute Theorie über <strong>de</strong>n Ursprung<br />
<strong>de</strong>s Lebens auf je<strong>de</strong>m Planeten aufweisen muß, vor allem die<br />
I<strong>de</strong>e von sich selbst vermehren<strong>de</strong>n genetischen Einheiten.<br />
2 Mehrere erschreckte Briefschreiber haben <strong>de</strong>n Übersetzungsfehler<br />
von „junger Frau“ in „Jungfrau“ in <strong>de</strong>r biblischen P<strong>ro</strong>phezeiung<br />
in Frage gestellt und eine Antwort von mir verlangt.<br />
Religiöse Empfindlichkeiten zu verletzen ist heutzutage eine<br />
gefährliche Angelegenheit, daher komme ich dieser Auffor<strong>de</strong>rung<br />
lieber nach. Tatsächlich ist es mir ein Vergnügen, <strong>de</strong>nn<br />
Wissenschaftler haben nicht oft die Gelegenheit, je<strong>de</strong> Menge<br />
Bibliotheksstaub einzuatmen, um in einer wirklich aka<strong>de</strong>mischen<br />
Fußnote zu schwelgen. Die Frage ist in <strong>de</strong>r Tat <strong>de</strong>n<br />
Gelehrten, die sich mit <strong>de</strong>r Bibel befassen, wohl bekannt und<br />
wird von ihnen nicht in Zweifel gezogen. Das hebräische Wort<br />
bei Jesaja ist almah, was ohne je<strong>de</strong>n Zweifel „junge Frau“<br />
be<strong>de</strong>utet, ohne im geringsten Jungfräulichkeit zu implizieren.<br />
Wäre es beabsichtigt gewesen, „Jungfrau“ zu sagen, hätte statt<br />
<strong>de</strong>ssen das Wort bethulah benutzt wer<strong>de</strong>n können (das doppel<strong>de</strong>utige<br />
englische Wort „mai<strong>de</strong>n“ zeigt, wie leicht es ist,<br />
zwischen <strong>de</strong>n zwei Be<strong>de</strong>utungen ins Schlittern zu kommen).<br />
Die „Mutation“ erfolgte, als die vorchristliche griechische<br />
Übersetzung, bekannt als Septuaginta, almah mit parthénos<br />
wie<strong>de</strong>rgab, was in <strong>de</strong>r Tat gewöhnlich Jungfrau be<strong>de</strong>utet.<br />
Matthäus (natürlich nicht <strong>de</strong>r Apostel und <strong>Zeit</strong>genosse Jesu,
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 409<br />
son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Evangelist, <strong>de</strong>r viel später schrieb) zitierte Jesaja<br />
in einem Text, <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r Version <strong>de</strong>r Septuaginta abgeleitet<br />
zu sein scheint (abgesehen von zweien sind alle fünfzehn griechischen<br />
Wörter i<strong>de</strong>ntisch), als er schrieb, „Dies alles jedoch ist<br />
geschehen, damit erfüllt wür<strong>de</strong>, was vom Herrn durch <strong>de</strong>n P<strong>ro</strong>pheten<br />
gesp<strong>ro</strong>chen wor<strong>de</strong>n ist, welcher sagt: Siehe, die Jungfrau<br />
wird schwanger wer<strong>de</strong>n und einen Sohn gebären, und<br />
man wird ihm <strong>de</strong>n Namen Immanuel geben“ (offizielle <strong>de</strong>utsche<br />
Übersetzung). Unter christlichen Gelehrten ist die Auffassung<br />
weit verbreitet, daß die jungfräuliche Geburt Jesu<br />
eine spätere Einfügung ist, die vermutlich von griechisch sprechen<strong>de</strong>n<br />
Gelehrten vorgenommen wur<strong>de</strong>, damit die (falsch<br />
übersetzte) P<strong>ro</strong>phezeiung als erfüllt erschien. In mo<strong>de</strong>rnen<br />
Bibelübersetzungen wie etwa <strong>de</strong>r New English Bible steht<br />
bei Jesaja korrekt „junge Frau“. Ebenso korrekt bleibt bei<br />
Matthäus „Jungfrau“ stehen, da dort <strong>de</strong>ssen griechischer Text<br />
übersetzt ist.<br />
3 Diese Stelle (einer <strong>de</strong>r seltenen – nun gut, relativ seltenen<br />
– Fälle, in <strong>de</strong>nen ich geschwelgt habe) ist wie<strong>de</strong>r und wie<strong>de</strong>r<br />
f<strong>ro</strong>hlockend als Beweis für meinen fanatischen „genetischen<br />
Determinismus“ zitiert wor<strong>de</strong>n. Die Ursache <strong>de</strong>s P<strong>ro</strong>blems liegt<br />
zum Teil in <strong>de</strong>n volkstümlichen, aber falschen Assoziationen,<br />
die das Wort „Roboter“ hervorruft. Wir befin<strong>de</strong>n uns im gol<strong>de</strong>nen<br />
<strong>Zeit</strong>alter <strong>de</strong>r Elekt<strong>ro</strong>nik, und Roboter sind schon lange<br />
keine starren, unwan<strong>de</strong>lbaren T<strong>ro</strong>ttel mehr, son<strong>de</strong>rn fähig zu<br />
lernen, zu <strong>de</strong>nken und kreativ zu sein. I<strong>ro</strong>nischerweise waren<br />
sogar schon im Jahre 1920, als Karel Čapek das Wort prägte,<br />
„Roboter“ mechanische Wesen, die letzten En<strong>de</strong>s menschlicher<br />
Gefühle fähig waren und sich beispielsweise verliebten.<br />
Wer glaubt, Roboter seien <strong>de</strong>finitionsgemäß stärker „<strong>de</strong>terministisch“<br />
als menschliche Wesen, bringt einiges durcheinan<strong>de</strong>r<br />
(es sei <strong>de</strong>nn, er ist religiös, in welchem Fall er durchweg die<br />
Ansicht vertreten kann, daß wir Menschen die göttliche Gabe<br />
<strong>de</strong>s freien Willens besitzen, die bloßen Maschinen verwehrt<br />
ist). Wenn <strong>de</strong>r Leser, wie die Mehrzahl <strong>de</strong>r Kritiker meines<br />
Satzes von <strong>de</strong>n „schwerfälligen Robotern“, nicht religiös ist,
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 410<br />
stelle er sich <strong>de</strong>r folgen<strong>de</strong>n Frage: Was in aller Wert glauben wir<br />
<strong>de</strong>nn zu sein, <strong>wen</strong>n nicht Roboter, <strong>wen</strong>n auch überaus komplizierte?<br />
Ich habe dies alles in meinem Buch The Exten<strong>de</strong>d Phenotype<br />
erörtert (Seite 15-17).<br />
Der Irrtum ist durch eine an<strong>de</strong>re eindrucksvolle „Mutation“<br />
noch gefestigt wor<strong>de</strong>n. Gera<strong>de</strong>so, wie es theologisch not<strong>wen</strong>dig<br />
schien, daß Jesus von einer Jungfrau geboren wor<strong>de</strong>n sei,<br />
scheint es dämonologisch erfor<strong>de</strong>rlich, daß je<strong>de</strong>r echte Vertreter<br />
<strong>de</strong>s „genetischen Determinismus“ davon überzeugt sein<br />
muß, daß die Gene sämtliche Aspekte unseres Verhaltens „kont<strong>ro</strong>llieren“.<br />
Am En<strong>de</strong> von Kapitel 2 schrieb ich über die genetischen<br />
Replikatoren: „sie schufen uns, Körper und Geist“. Dies<br />
ist wie<strong>de</strong>rholt als „[sie] kont<strong>ro</strong>llieren uns, Körper und Geist“<br />
(meine Hervorhebung) fehlzitiert wor<strong>de</strong>n (etwa in Die Gene<br />
sind es nicht von Rose, Kamin und Lewontin und zuvor in einer<br />
wissenschaftlichen Veröffentlichung Lewontins). Im Zusammenhang<br />
meines Kapitels ist es, glaube ich, offensichtlich,<br />
was ich mit „schufen“ meinte, nämlich etwas ganz an<strong>de</strong>res als<br />
„kont<strong>ro</strong>llieren“. Es ist für je<strong>de</strong>rmann offensichtlich, daß in <strong>de</strong>r<br />
Tat die Gene ihre Geschöpfe nicht in <strong>de</strong>m strengen Sinne kont<strong>ro</strong>llieren,<br />
<strong>de</strong>r als „Determinismus“ kritisiert wird. Wir t<strong>ro</strong>tzen<br />
ihnen mühelos (nun gut, ziemlich mühelos), wann immer wir<br />
Empfängnisverhütung betreiben.<br />
3. Die unsterblichen Spiralen<br />
1 Hier, wie auch auf <strong>de</strong>n letzten Seiten von Kapitel 5, ist meine<br />
Antwort an diejenigen, die mir genetischen „Atomismus“ vorwerfen.<br />
Strenggenommen nehme ich etwas vorweg, statt, zu<br />
antworten, <strong>de</strong>nn meine Antwort geht <strong>de</strong>r Kritik voraus! Es tut<br />
mir leid, daß ich mich selbst so ausführlich zitieren muß, aber<br />
es scheint beunruhigend leicht zu sein, die hierfür be<strong>de</strong>utsamen<br />
Absätze zu übersehen! S. J. Gould zum Beispiel schrieb<br />
im Kapitel „Altruistische Gruppen und egoistische Gene“ (in<br />
Der Daumen <strong>de</strong>s Panda):
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 411<br />
Es gibt kein Gen „für“ so unzwei<strong>de</strong>utige Teile <strong>de</strong>r Morphologie<br />
wie die linke Kniescheibe o<strong>de</strong>r einen Fingernagel.<br />
Körper können nicht in Teile atomisiert wer<strong>de</strong>n,<br />
von <strong>de</strong>nen je einer durch ein einzelnes Gen aufgebaut<br />
wird. Hun<strong>de</strong>rte von Genen tragen zum Aufbau <strong>de</strong>r meisten<br />
Körperteile bei ...<br />
Gould schrieb dies in einer Kritik über Das egoistische Gen.<br />
Gehen wir zurück zum Haupttext, um zu sehen, was ich wirklich<br />
geschrieben habe:<br />
Die P<strong>ro</strong>duktion eines Körpers ist ein <strong>de</strong>rart verwickeltes<br />
kooperatives Unterfangen, daß es fast unmöglich ist, die<br />
Beiträge <strong>de</strong>r einzelnen Gene auseinan<strong>de</strong>rzuhalten. Ein<br />
Gen hat gewöhnlich viele verschie<strong>de</strong>ne Auswirkungen<br />
auf ganz verschie<strong>de</strong>ne Teile <strong>de</strong>s Körpers. Je<strong>de</strong>r Teil <strong>de</strong>s<br />
Körpers wird von zahlreichen Genen beeinflußt, und<br />
<strong>de</strong>r Effekt je<strong>de</strong>s einzelnen Gens ist von <strong>de</strong>r Interaktion<br />
mit vielen an<strong>de</strong>ren Genen abhängig.<br />
Und weiter (Seite 75):<br />
So unabhängig und frei die Gene auf ihrer Reise<br />
durch die Generationen auch sein mögen, bei <strong>de</strong>r Steuerung<br />
<strong>de</strong>r Embryonalentwicklung han<strong>de</strong>ln sie sehr <strong>wen</strong>ig<br />
frei und unabhängig. Zwischen <strong>de</strong>n Genen untereinan<strong>de</strong>r<br />
wie auch zwischen <strong>de</strong>n Genen und ihrer äußeren<br />
Umwelt fin<strong>de</strong>t auf unentwirrbar komplizierte Weise<br />
eine Zusammenarbeit und wechselseitige Beeinflussung<br />
statt. Ausdrücke wie „Gene für lange Beine“ o<strong>de</strong>r „Gene<br />
für uneigennütziges Verhalten“ sind bequeme Sprachfiguren,<br />
aber es ist wichtig, daß wir verstehen, was sie<br />
be<strong>de</strong>uten. Es gibt kein Gen, das für sich allein ein Bein<br />
baut, gleichgültig ob lang o<strong>de</strong>r kurz. Die Fabrikation<br />
eines Beines ist ein Unternehmen, das die Zusammenarbeit<br />
zahlreicher Gene erfor<strong>de</strong>rt. Auch die äußere<br />
Umwelt ist daran beteiligt: Letzten En<strong>de</strong>s wer<strong>de</strong>n Beine
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 412<br />
eigentlich aus Nahrung gemacht! Aber es kann sehr<br />
wohl ein einzelnes Gen geben, das unter sonst gleichen<br />
Bedingungen gewöhnlich dafür sorgt, daß Beine länger<br />
wer<strong>de</strong>n, als sie unter <strong>de</strong>m Einfluß seines Allels wer<strong>de</strong>n<br />
wür<strong>de</strong>n.<br />
Ich erläuterte diese Aussage in meinem darauffolgen<strong>de</strong>n Absatz<br />
noch durch einen Vergleich mit <strong>de</strong>n Auswirkungen von<br />
Düngemittel auf das Wachstum von Weizen. Es sieht fast so aus,<br />
als sei Gould im voraus <strong>de</strong>rart sicher, ich müsse ein naiver Vertreter<br />
<strong>de</strong>s Atomismus sein, daß er die langen Absätze übersah,<br />
in <strong>de</strong>nen ich genau die gleiche wechselseitige Beeinflussung<br />
<strong>de</strong>r Gene vertrat, auf <strong>de</strong>r er später bestehen sollte. Gould sagt<br />
weiter:<br />
Dawkins wird sich an<strong>de</strong>rer Metaphern bedienen müssen:<br />
... daß Gene sich versammeln, Bündnisse schließen, einan<strong>de</strong>r<br />
Achtung zollen, einem Pakt beitreten und eine<br />
mögliche Umwelt auskundschaften.<br />
In meinem Ru<strong>de</strong>rbeispiel hatte ich bereits genau das getan,<br />
was Gould später empfahl. Schauen wir uns die Ru<strong>de</strong>rpassage<br />
auch <strong>de</strong>shalb an, um zu sehen, warum Gould, obwohl wir in<br />
so vielem übereinstimmen, unrecht hat, <strong>wen</strong>n er behauptet,<br />
die natürliche Auslese „akzeptiert o<strong>de</strong>r verwirft ganze Organismen,<br />
weil eine bestimmte Ausstattung einiger Körperteile,<br />
welche auf komplexe Art aufeinan<strong>de</strong>r einwirken, bestimmte<br />
Vorteile mit sich bringt“. Die richtige Erklärung für die „Bereitschaft<br />
zur Zusammenarbeit“ unter Genen ist folgen<strong>de</strong>:<br />
Gene wer<strong>de</strong>n selektiert, nicht weil sie für sich genommen<br />
„gut“ sind, son<strong>de</strong>rn weil sie vor <strong>de</strong>m Hintergrund<br />
<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Gene im Genpool gut arbeiten. Ein gutes<br />
Gen muß sich mit <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Genen, mit <strong>de</strong>nen es sich<br />
in eine lange Reihe aufeinan<strong>de</strong>rfolgen<strong>de</strong>r Körper zu<br />
teilen hat, vertragen und diese ergänzen.
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 413<br />
Eine ausführlichere Antwort auf die Kritik, ich verträte einen<br />
genetischen Atomismus, habe ich in meinem Buch The Exten<strong>de</strong>d<br />
Phenotype gegeben, beson<strong>de</strong>rs auf <strong>de</strong>n Seiten 116-117 und<br />
239-247.<br />
2 Williams’ genaue Worte, in Adaptation and Natural Selection,<br />
sind:<br />
Ich ver<strong>wen</strong><strong>de</strong> <strong>de</strong>n Ausdruck Gen in <strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung von<br />
„das, was sich mit erheblicher Häufigkeit trennt und<br />
wie<strong>de</strong>r neu zusammenfügt“ .... Ein Gen könnte <strong>de</strong>finiert<br />
wer<strong>de</strong>n als je<strong>de</strong> beliebige Erbinformation, für die es<br />
einen günstigen o<strong>de</strong>r ungünstigen Selektionseinfluß<br />
gibt, <strong>de</strong>r mehrere o<strong>de</strong>r viele Male so stark ist wie die<br />
Rate <strong>de</strong>r endogenen Verän<strong>de</strong>rung.<br />
Williams’ Buch ist inzwischen in weiten Kreisen, und zu Recht,<br />
als Klassiker anerkannt, von „Soziobiologen“ und Kritikern <strong>de</strong>r<br />
Soziobiologie gleichermaßen respektiert. Ich <strong>de</strong>nke, es ist <strong>de</strong>utlich,<br />
daß Williams sich nie als jemand verstan<strong>de</strong>n hat, <strong>de</strong>r mit<br />
seiner „genetischen Selektion“ eine neue o<strong>de</strong>r revolutionäre<br />
I<strong>de</strong>e vertritt, und das gleiche trifft auf mich im Jahre 1976<br />
zu. Wir waren bei<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Überzeugung, wir täten nichts an<strong>de</strong>res,<br />
als einfach ein grundlegen<strong>de</strong>s Prinzip von Fisher, Haidane<br />
und Wright, <strong>de</strong>n Grün<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>s „Neo-Darwinismus“ in <strong>de</strong>n<br />
dreißiger Jahren dieses Jahrhun<strong>de</strong>rts, erneut zu bekräftigen.<br />
Dennoch – vielleicht wegen unserer komp<strong>ro</strong>mißlosen Sprache<br />
– nehmen einige Leute, unter ihnen Sewall Wright selbst, offensichtlich<br />
Anstoß an unserer Ansicht, daß das Gen die Einheit<br />
<strong>de</strong>r Selektion ist. Ihr Hauptgrund ist, daß die natürliche Auslese<br />
es mit Organismen zu tun hat, nicht mit <strong>de</strong>n Genen in<br />
<strong>de</strong>ren Innerem. Meine Antwort auf Ansichten, wie Wright<br />
sie vertritt, fin<strong>de</strong>t sich in meinem Buch The Exten<strong>de</strong>d Phenotype,<br />
beson<strong>de</strong>rs auf <strong>de</strong>n Seiten 238-247. Williams’ jüngste<br />
Überlegungen zur Frage <strong>de</strong>s Gens als Selektionseinheit, die er<br />
in seiner Publikation Defense of Reductionism in Evolutionary<br />
Biology zum Ausdruck bringt, sind so scharfsinnig wie immer.
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 414<br />
Einige Philosophen, etwa D.L. Hull, K. Sterelny und P. Kitcher<br />
sowie M. Hampe und S. R. Morgan, haben ebenfalls in jüngster<br />
<strong>Zeit</strong> nützliche Beiträge zur Klärung <strong>de</strong>r Frage <strong>de</strong>r „Selektionseinheiten“<br />
geleistet. Bedauerlicherweise haben an<strong>de</strong>re Philosophen<br />
in dieser Frage Verwirrung gestiftet.<br />
3 In Anlehnung an Williams legte ich in meiner Begründung<br />
dafür, daß <strong>de</strong>r einzelne Organismus in <strong>de</strong>r natürlichen Auslese<br />
nicht die Rolle <strong>de</strong>s Replikators spielen kann, g<strong>ro</strong>ßes Gewicht<br />
auf die Fragmentierungseffekte <strong>de</strong>r Meiose. Ich sehe jetzt, daß<br />
dies nur die eine Hälfte <strong>de</strong>r Geschichte ist. Die an<strong>de</strong>re Hälfte<br />
ist in The Exten<strong>de</strong>d Phenotype (Seite 97-99) sowie in meiner<br />
Veröffentlichung Replicators and Vehicles erklärt. Wenn die<br />
Fragmentierungseffekte <strong>de</strong>r Meiose alles wären, wäre ein sich<br />
ungeschlechtlich rep<strong>ro</strong>duzieren<strong>de</strong>r Organismus wie eine weibliche<br />
Stabheuschrecke ein echter Replikator, eine Art Riesengen.<br />
Wenn eine Stabheuschrecke jedoch verän<strong>de</strong>rt wird – zum<br />
Beispiel ein Bein verliert –, so wird die Verän<strong>de</strong>rung nicht an<br />
zukünftige Generationen weitergegeben. Nur Gene reisen von<br />
Generation zu Generation, ganz gleichgültig, ob es sich um<br />
geschlechtliche o<strong>de</strong>r ungeschlechtliche Fortpflanzung han<strong>de</strong>lt.<br />
Gene sind daher echte Replikatoren. Im Fall einer sich ungeschlechtlich<br />
vermehren<strong>de</strong>n Stabheuschrecke ist das gesamte<br />
Genom (die Gesamtheit ihrer Gene) ein Replikator. Aber das<br />
Insekt selbst ist kein Replikator. Der Körper einer Stabheuschrecke<br />
wird nicht als Abbild eines Körpers <strong>de</strong>r vorherigen<br />
Generation geformt. In je<strong>de</strong>r Generation entwickelt sich <strong>de</strong>r<br />
Körper unter <strong>de</strong>r Anleitung seines Genoms neu aus einem Ei,<br />
und dieses Genom ist in <strong>de</strong>r Tat ein Abbild <strong>de</strong>s Genoms <strong>de</strong>r<br />
vorherigen Generation.<br />
Alle gedruckten Exemplare dieses Buches wer<strong>de</strong>n völlig<br />
gleich sein. Sie sind Kopien, aber keine Replikatoren. Sie sind<br />
Kopien nicht <strong>de</strong>swegen, weil sie sich untereinan<strong>de</strong>r kopiert<br />
hätten, son<strong>de</strong>rn weil sie alle von <strong>de</strong>nselben Druckplatten<br />
kopiert wor<strong>de</strong>n sind. Sie bil<strong>de</strong>n keine Ahnenreihe von Kopien,<br />
bei <strong>de</strong>r einige Bücher die Vorfahren <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren sind. Eine<br />
solche Ahnenreihe wür<strong>de</strong> bestehen, <strong>wen</strong>n wir eine Seite eines
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 415<br />
Buches fotokopieren wür<strong>de</strong>n, dann die Kopie kopieren und<br />
danach eine Kopie <strong>de</strong>r Kopie <strong>de</strong>r Kopie anfertigen wür<strong>de</strong>n und<br />
so weiter. Bei einer solchen Aufeinan<strong>de</strong>rfolge von Seiten gäbe<br />
es tatsächlich eine Beziehung zwischen Vor- und Nachfahre.<br />
Und je<strong>de</strong>r Fehler, <strong>de</strong>r an irgen<strong>de</strong>iner Stelle in dieser Reihe auftauchte,<br />
wäre ebenso bei <strong>de</strong>n Nachfahren vorzufin<strong>de</strong>n, nicht<br />
aber bei <strong>de</strong>n Vorfahren. Eine Reihe, die in dieser Weise von<br />
Vorfahre zu Nachfahre verläuft, besitzt das Potential zur Evolution.<br />
Oberflächlich betrachtet scheinen aufeinan<strong>de</strong>rfolgen<strong>de</strong> Generationen<br />
von Stabheuschreckenkörpern eine Reihe von<br />
Kopien darzustellen. Wenn wir aber im Experiment ein Individuum<br />
in dieser Reihe verän<strong>de</strong>rn (beispielsweise in<strong>de</strong>m wir<br />
ihm ein Bein entfernen), wird die Verän<strong>de</strong>rung nicht an seine<br />
Nachkommen weitergegeben. Verän<strong>de</strong>rn wir dagegen experimentell<br />
ein Glied in einer Abfolge von Genomen (zum Beispiel<br />
durch Röntgenbestrahlung), so wird die Verän<strong>de</strong>rung an die<br />
Folgegenerationen weitergegeben. Dies ist, eher als <strong>de</strong>r fragmentieren<strong>de</strong><br />
Effekt <strong>de</strong>r Meiose, <strong>de</strong>r Hauptgrund für die Feststellung,<br />
daß <strong>de</strong>r einzelne Organismus nicht die „Einheit <strong>de</strong>r<br />
Selektion“, also kein echter Replikator ist – eine <strong>de</strong>r wichtigsten<br />
Konsequenzen <strong>de</strong>r allgemein akzeptierten Tatsache, daß<br />
die Lamarcksche „Vererbungstheorie“ falsch ist.<br />
4 Ich bin dafür gescholten wor<strong>de</strong>n (natürlich we<strong>de</strong>r von Williams<br />
selbst noch auch nur mit seinem Wissen), daß ich diese<br />
Theorie <strong>de</strong>s Alterns P. B. Medawar zuschreibe und nicht G.<br />
C. Williams. Tatsächlich kennen viele Biologen, vor allem<br />
in Amerika, diese Theorie hauptsächlich aus Williams’ 1957<br />
veröffentlichter Arbeit Pleiot<strong>ro</strong>py, Natural Selection and the<br />
Evolution of Senescence. Außer<strong>de</strong>m trifft es zu, daß Williams<br />
die Theorie über Medawars Behandlung hinaus weiter ausarbeitete.<br />
Dennoch war es meiner Vorstellung nach Medawar, <strong>de</strong>r<br />
in seinem 1952 veröffentlichten Buch An Unsolved P<strong>ro</strong>blem in<br />
Biology wie auch 1957 in The Uniqueness of the Individual <strong>de</strong>n<br />
wesentlichen Kern <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>e nie<strong>de</strong>rlegte. Ich sollte hinzufügen,<br />
daß ich Williams’ Weiterentwicklung <strong>de</strong>r Theorie sehr hilfreich
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 416<br />
fin<strong>de</strong>, da sie einen not<strong>wen</strong>digen Schritt in <strong>de</strong>r Beweisführung<br />
<strong>de</strong>utlich macht (die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r „Pleiot<strong>ro</strong>pie“ o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r multiplen<br />
Geneffekte), <strong>de</strong>r von Medawar nicht ausdrücklich hervorgehoben<br />
wur<strong>de</strong>. W. D. Hamilton hat inzwischen in seinem<br />
Beitrag The Moulding of Senescence by Natural Selection diese<br />
Art von Theorie sogar noch weiterentwickelt. Übrigens habe<br />
ich viele interessante Zuschriften von Ärzten erhalten, doch<br />
soweit ich mich erinnere, kommentierte keiner von ihnen<br />
meine Spekulationen darüber, daß man Gene über das Alter<br />
<strong>de</strong>s Körpers, in <strong>de</strong>m sie sich befin<strong>de</strong>n, „täuschen“ könnte. Ich<br />
halte die I<strong>de</strong>e immer noch nicht für ein<strong>de</strong>utig töricht, und<br />
<strong>wen</strong>n sie richtig wäre, wäre dies nicht medizinisch gesehen<br />
ziemlich wichtig?<br />
5 Die Frage, wozu Sex gut ist, ist immer noch genauso quälend<br />
wie eh und je, t<strong>ro</strong>tz einiger Bücher, die zum Nach<strong>de</strong>nken<br />
anregen, darunter die von M. T. Ghiselin, G. C. Williams, J.<br />
Maynard Smith und G. Bell sowie ein von R. Michod und<br />
B. Levin herausgegebener Band. Die für mich aufregendste<br />
neue I<strong>de</strong>e ist W. D. Hamiltons Parasitentheorie. Jeremy Cherfas<br />
und John Gribbin erklären sie in The Redundant Male in<br />
allgemeinverständlicher Sprache.<br />
6 Mein Vorschlag, daß es sich bei überschüssiger, unübersetzter<br />
DNA um einen selbstsüchtigen Parasiten han<strong>de</strong>ln könnte, ist<br />
unter <strong>de</strong>m Schlagwort „egoistische DNA“ von <strong>de</strong>n Molekularbiologen<br />
aufgenommen und weiterentwickelt wor<strong>de</strong>n (siehe<br />
Veröffentlichungen von Orgel und Crick sowie Doolittle und<br />
Sapienza). J.S. Gould hat in Hen’s Teeth and Horse’s Toes<br />
(in <strong>de</strong>utscher Sprache erschienen unter <strong>de</strong>m Titel Wie das<br />
Zebra zu seinen Streifen kam) die (meiner Ansicht nach!) p<strong>ro</strong>vozieren<strong>de</strong><br />
Behauptung aufgestellt, t<strong>ro</strong>tz <strong>de</strong>r geschichtlichen<br />
Ursprünge <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r egoistischen DNA könnten „die Theorie<br />
<strong>de</strong>r egoistischen Gene und die <strong>de</strong>r egoistischen DNA in<br />
<strong>de</strong>n Erklärungsstrukturen, aus <strong>de</strong>nen sie sich nähren, kaum<br />
unterschiedlicher sein“. Ich fin<strong>de</strong> seinen Gedankengang falsch,<br />
aber interessant, was nebenbei gesagt genau das ist, was Gould
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 417<br />
gewöhnlich von meinen Überlegungen hält, wie er mir freundlicherweise<br />
erzählt hat. Nach einer Einleitung über „Reduktionismus“<br />
und „Hierarchie“ (die ich, wie üblich, we<strong>de</strong>r falsch<br />
noch interessant fin<strong>de</strong>) sagt er weiter:<br />
Dawkins’ egoistische Gene nehmen an Häufigkeit zu,<br />
weil sie Auswirkungen auf Körper haben, die diesen bei<br />
ihrem Kampf ums Überleben helfen. Egoistische DNA<br />
nimmt aus genau <strong>de</strong>m entgegengesetzten Grund an<br />
Häufigkeit zu – weil sie keinen Effekt auf Körper hat ...<br />
Ich sehe, welche Unterscheidung Gould vornimmt, doch kann<br />
ich sie nicht als wesentlich ansehen. Im Gegenteil, ich verstehe<br />
egoistische DNA immer noch als einen Son<strong>de</strong>rfall in <strong>de</strong>r<br />
ganzen Theorie <strong>de</strong>r egoistischen Gene, und genauso ist die<br />
Vorstellung von <strong>de</strong>r egoistischen DNA ursprünglich entstan<strong>de</strong>n.<br />
(Diese Vorstellung, daß die egoistische DNA ein Spezialfall<br />
ist, wird in Kapitel 10 vielleicht noch <strong>de</strong>utlicher als in Kapitel<br />
3, <strong>de</strong>n Doolittle und Sapienza sowie Orgel und Crick zitieren.<br />
Doolittle und Sapienza ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>n in ihrem Titel übrigens <strong>de</strong>n<br />
Ausdruck „egoistische Gene“ statt „egoistische DNA“.) Lassen<br />
Sie mich Gould mit folgen<strong>de</strong>m Vergleich antworten. Gene, die<br />
Wespen ihre gelben und schwarzen Streifen verleihen, nehmen<br />
an Häufigkeit zu, <strong>de</strong>nn dieses („warnen<strong>de</strong>“) Farbmuster übt<br />
eine stark stimulieren<strong>de</strong> Wirkung auf das Gehirn an<strong>de</strong>rer Tiere<br />
aus. Gene, die Tigern ihre gelben und schwarzen Streifen verleihen,<br />
nehmen „aus genau <strong>de</strong>m entgegengesetzten Grund“<br />
an Häufigkeit zu – weil im I<strong>de</strong>alfall dieses (Tarn-)Farbmuster<br />
überhaupt keine stimulieren<strong>de</strong> Wirkung auf an<strong>de</strong>re Tiergehirne<br />
ausübt. Es gibt hier tatsächlich einen Unterschied, <strong>de</strong>r<br />
(auf einer an<strong>de</strong>ren hierarchischen Ebene!) Goulds Unterscheidung<br />
stark ähnelt, aber es ist ein subtiler Unterschied im<br />
Detail. Wir wer<strong>de</strong>n kaum behaupten wollen, die zwei Fälle<br />
könnten „in <strong>de</strong>n Erklärungsstrukturen, aus <strong>de</strong>nen sie sich<br />
nähren, kaum unterschiedlicher sein“. Orgel und Crick treffen<br />
mit ihrem Vergleich von egoistischer DNA und Kuckuckseiern<br />
<strong>de</strong>n Nagel auf <strong>de</strong>n Kopf: Schließlich schaffen es Kuckuckseier
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 418<br />
gera<strong>de</strong> dadurch, <strong>de</strong>r Ent<strong>de</strong>ckung zu entgehen, daß sie ganz<br />
genauso aussehen wie die Eier <strong>de</strong>s Nestbesitzers.<br />
Nebenbei gesagt wird in <strong>de</strong>r letzten Auflage <strong>de</strong>s Oxford<br />
English Dictionary eine neue Be<strong>de</strong>utung von „egoistisch“<br />
aufgeführt, und zwar: „von einem Gen o<strong>de</strong>r genetischem Material:<br />
neigt dazu, beibehalten zu wer<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r sich zu verbreiten,<br />
obwohl es keine Auswirkung auf <strong>de</strong>n Phänotyp hat“.<br />
Dies ist eine bewun<strong>de</strong>rnswert knappe Definition <strong>de</strong>r „egoistischen<br />
DNA“, und das zweite zur Ver<strong>de</strong>utlichung angefügte<br />
Zitat betrifft in <strong>de</strong>r Tat die egoistische DNA. Meiner Meinung<br />
nach ist jedoch die abschließen<strong>de</strong> Formulierung „obwohl es<br />
keine Auswirkung auf <strong>de</strong>n Phänotyp hat“ nicht sehr glücklich<br />
gewählt. Egoistische Gene müssen sich nicht unbedingt auf <strong>de</strong>n<br />
Phänotyp auswirken, viele von ihnen tun es aber. Es stün<strong>de</strong><br />
<strong>de</strong>n Lexikographen frei zu behaupten, daß es ihre Absicht<br />
war, die Be<strong>de</strong>utung auf „egoistische DNA“ zu beschränken,<br />
die in <strong>de</strong>r Tat keine phänotypischen Effekte hat. Aber ihr<br />
erstes erläutern<strong>de</strong>s Zitat, das aus meinem Buch Das egoistische<br />
Gen stammt, schließt egoistische Gene ein, die sehr wohl<br />
phänotypische Auswirkungen haben. Doch liegt es mir fern<br />
herumzunörgeln, <strong>wen</strong>n mir die Ehre wi<strong>de</strong>rfährt, im Oxford<br />
English Dictionary zitiert zu wer<strong>de</strong>n!<br />
Eine ausführlichere Erörterung <strong>de</strong>r egoistischen DNA fin<strong>de</strong>t<br />
sich in meinem Buch The Exten<strong>de</strong>d Phenotype (Seite 156-164).<br />
4. Die Genmaschine<br />
1 Eine Behauptung wie diese beunruhigt Kritiker, die sie<br />
wortwörtlich nehmen. Sie haben natürlich recht damit, daß<br />
sich das Gehirn in vielerlei Hinsicht von einem Computer<br />
unterschei<strong>de</strong>t. Seine innere Arbeitsweise zum Beispiel ist<br />
nun einmal völlig an<strong>de</strong>rs als die <strong>de</strong>r speziellen Art von Computern,<br />
die unsere Technik entwickelt hat. Dies schmälert<br />
jedoch keineswegs <strong>de</strong>n Wahrheitsgehalt meiner Feststellung,<br />
Gehirn und Computer seien in ihrer Funktion vergleichbar.<br />
Funktionsmäßig spielt das Gehirn exakt die Rolle eines
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 419<br />
An-Bord-Computers – Datenverarbeitung, Mustererkennung,<br />
Kurz- und Langzeit-Datenspeicherung, Koordinierung <strong>de</strong>r<br />
Operationen und so weiter.<br />
Da wir schon bei <strong>de</strong>n Computern sind: Meine Bemerkungen<br />
über sie sind erfreulich – o<strong>de</strong>r erschreckend, das hängt von<br />
<strong>de</strong>r Einstellung ab – überholt. Ich schrieb, daß „man lediglich<br />
ein paar hun<strong>de</strong>rt Transistoren in einen Schä<strong>de</strong>l hineinpacken<br />
könnte“. Heutzutage sind Transistoren in integrierten Schaltkreisen<br />
zusammengefaßt. Die Zahl <strong>de</strong>r Transistoräquivalente,<br />
die man heute in einen Schä<strong>de</strong>l packen könnte, muß wohl<br />
Milliar<strong>de</strong>n erreichen. Ich sagte außer<strong>de</strong>m, daß die Computer<br />
beim Schachspielen das Niveau eines guten Amateurs erreicht<br />
hätten. Heute sind Computerp<strong>ro</strong>gramme in billigen Heimcomputern,<br />
die mit Ausnahme sehr guter Schachspieler je<strong>de</strong>n<br />
Gegner schlagen, etwas Alltägliches, und die besten Schachp<strong>ro</strong>gramme<br />
<strong>de</strong>r Welt stellen heute eine ernstzunehmen<strong>de</strong> Herausfor<strong>de</strong>rung<br />
für die G<strong>ro</strong>ßmeister dar. Der Schachkorrespon<strong>de</strong>nt<br />
Raymond Keene <strong>de</strong>s Spectator schrieb beispielsweise in<br />
<strong>de</strong>r Ausgabe vom 7. Oktober 1988:<br />
Es ist immer noch so etwas wie eine Sensation, <strong>wen</strong>n<br />
ein amtieren<strong>de</strong>r Schachmeister von einem Computer<br />
eschlagen wird, aber vielleicht nicht mehr sehr lange.<br />
Das bisher gefährlichste Metallungeheuer, das das<br />
menschliche Gehirn herausfor<strong>de</strong>rt, trägt <strong>de</strong>n son<strong>de</strong>rbaren<br />
Namen „Deep Thought“ (DT), zweifellos zu Ehren<br />
von Douglas Adams. Deep Thoughts letzte Leistung<br />
war es, seine menschlichen Gegner bei <strong>de</strong>r US-Open-<br />
Championship, die im August in Boston stattfand, zu<br />
ter<strong>ro</strong>risieren. Ich habe DTs allgemeine Leistungsbewertung<br />
noch nicht zur Hand, die <strong>de</strong>n entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Test<br />
seiner Leistungsfähigkeit bei einem offenen Wettkampf<br />
im Schweizer System darstellen wird, aber ich habe<br />
einen bemerkenswert eindrucksvollen Sieg über <strong>de</strong>n s<br />
tarken kanadischen Spieler Igor Ivanov gesehen, einen<br />
Mann, <strong>de</strong>r einmal Karpov besiegt hat! Geben Sie acht,<br />
dies mag die Zukunft <strong>de</strong>s Schachspiels sein.
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 420<br />
Es folgt eine Beschreibung <strong>de</strong>r aufeinan<strong>de</strong>rfolgen<strong>de</strong>n Spielzüge.<br />
Auf Deep Thoughts Zug 22 reagiert Keenes so:<br />
Ein wun<strong>de</strong>rbarer Zug ... Seine Absicht ist, die Dame ins<br />
Zentrum zu bringen ... und dieser Plan führt erstaunlich<br />
rasch zum Erfolg ... Das überraschen<strong>de</strong> Resultat ...<br />
Der schwarze Damenflügel ist nun durch das Vordringen<br />
<strong>de</strong>r Dame total zerstört.<br />
Ivanovs Gegenzug wird folgen<strong>de</strong>rmaßen beschrieben:<br />
Ein verzweifelter Zug, <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Computer verächtlich<br />
beiseite fegt ... die tiefste Demütigung. DT verzichtet<br />
darauf, die Dame zuückzugewinnen, steuert statt <strong>de</strong>ssen<br />
auf ein blitzartiges Schachmatt hin ... Schwarz gibt auf.<br />
Deep Thought ist nicht nur einer <strong>de</strong>r weltbesten Schachspieler.<br />
Beinahe noch verblüffen<strong>de</strong>r fin<strong>de</strong> ich, daß <strong>de</strong>r Kommentator<br />
sich bemüßigt fühlt, eine Sprache zu ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>n, die menschliche<br />
Gedanken und Gefühle impliziert: Deep Thought „fegt<br />
verächtlich“ Ivanovs „verzweifelten Zug beiseite“. DT wird<br />
als „aggressiv“ beschrieben. Keene spricht davon, daß Ivanov<br />
auf ein bestimmtes Resultat „hofft“, aber seine Sprache zeigt,<br />
daß er einen Ausdruck wie „Hoffnung“ genauso gern im<br />
Zusammenhang mit Deep Thought benutzen wür<strong>de</strong>. Was mich<br />
persönlich betrifft, so freue ich mich schon auf <strong>de</strong>n Moment,<br />
in <strong>de</strong>m ein Computerp<strong>ro</strong>gramm die Schachweltmeisterschaft<br />
gewinnt. Die Menschheit braucht eine Lektion in Sachen<br />
Demut.<br />
2 A für And<strong>ro</strong>meda und <strong>de</strong>r Nachfolgeband And<strong>ro</strong>meda Breakth<strong>ro</strong>ugh<br />
wi<strong>de</strong>rsprechen einan<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Frage, ob die<br />
außerirdische Zivilisation aus <strong>de</strong>m And<strong>ro</strong>medanebel, einer<br />
ungeheuer weit entfernten Galaxie, kommt o<strong>de</strong>r von einem<br />
näheren Stern im Sternbild And<strong>ro</strong>meda, wie ich sagte. Im<br />
ersten Roman liegt <strong>de</strong>r Planet 200 Lichtjahre entfernt, mitten<br />
in unserer eigenen Galaxie. Im zweiten Roman jedoch wer<strong>de</strong>n
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 421<br />
dieselben Außerirdischen im And<strong>ro</strong>medanebel angesie<strong>de</strong>lt, <strong>de</strong>r<br />
etwa zwei Millionen Lichtjahre entfernt ist. Die Leser können<br />
mein „200“ durch „zwei Millionen“ ersetzen, <strong>wen</strong>n es ihnen<br />
Spaß macht. Die Relevanz <strong>de</strong>r Geschichte für meine Zwecke<br />
wird dadurch nicht beeinträchtigt.<br />
Fred Hoyle, <strong>de</strong>r Hauptautor dieser bei<strong>de</strong>n Romane, ist ein<br />
berühmter Ast<strong>ro</strong>nom und außer<strong>de</strong>m Autor <strong>de</strong>r Science-fiction-<br />
Geschichte, die ich mit Abstand am liebsten lese, The Black<br />
Cloud. Die g<strong>ro</strong>ßartige wissenschaftliche Kenntnis, die in seinen<br />
Romanen zum Ausdruck kommt, steht in krassem Gegensatz<br />
zu <strong>de</strong>r Flut von Büchern, die er in <strong>de</strong>n letzten Jahren zusammen<br />
mit C. Wickramasinghe geschrieben hat. Ihre falsche Darstellung<br />
<strong>de</strong>s Darwinismus (als eine Theorie <strong>de</strong>s puren Zufalls)<br />
und ihre giftigen Angriffe auf Darwin selbst helfen ihren ansonsten<br />
interessanten (<strong>wen</strong>n auch <strong>wen</strong>ig plausiblen) Spekulationen<br />
über <strong>de</strong>n interstellaren Ursprung <strong>de</strong>s Lebens in keiner<br />
Weise weiter. Die Verleger sollten ihre falsche Vorstellung korrigieren,<br />
daß ein Wissenschaftler, <strong>de</strong>r sich auf einem Gebiet<br />
auszeichnet, dadurch automatisch auch eine Autorität auf<br />
einem an<strong>de</strong>ren Gebiet ist. Und solange diese falsche Vorstellung<br />
besteht, sollten renommierte Wissenschaftler <strong>de</strong>r Versuchung<br />
wi<strong>de</strong>rstehen, sie zu mißbrauchen.<br />
3 Diese Art, über die Strategie eines Tieres, einer Pflanze o<strong>de</strong>r<br />
sogar eines Gens zu re<strong>de</strong>n, als ob sie bewußt herauszufin<strong>de</strong>n<br />
suchten, wie sie ihren Erfolg am besten steigern können –<br />
<strong>wen</strong>n wir uns also zum Beispiel „die Männchen als Spieler<br />
mit hohem Einsatz und hohem Risiko und die Weibchen als<br />
vorsichtige Kapitalanleger“ vorstellen –, ist unter forschen<strong>de</strong>n<br />
Biologen alltäglich gewor<strong>de</strong>n. Es ist eine Sprache, die aus<br />
Grün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Bequemlichkeit benutzt wird und die harmlos ist,<br />
solange sie nicht zufällig <strong>de</strong>nen zu Ohren kommt, die nicht mit<br />
<strong>de</strong>n nötigen Kenntnissen ausgerüstet sind, um sie zu verstehen.<br />
O<strong>de</strong>r <strong>de</strong>nen, die über zu viele Kenntnisse verfügen und<br />
sie <strong>de</strong>shalb mißverstehen? Nur so kann ich mir zum Beispiel<br />
einen kritischen Artikel über Das egoistische Gen erklären, <strong>de</strong>r<br />
von jeman<strong>de</strong>m namens Mary Midgley in <strong>de</strong>r <strong>Zeit</strong>schrift Phi-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 422<br />
losophy veröffentlicht wur<strong>de</strong> und <strong>de</strong>ssen erster Satz typisch<br />
für <strong>de</strong>n ganzen Artikel ist: „Gene können nicht egoistisch o<strong>de</strong>r<br />
altruistisch sein, ebenso<strong>wen</strong>ig wie Atome eifersüchtig, Elefanten<br />
abstrakt o<strong>de</strong>r Kekse teleologisch sein können.“<br />
Mein eigener Beitrag In Defence of Selfish Genes, <strong>de</strong>r in<br />
einem darauffolgen<strong>de</strong>n Heft <strong>de</strong>r gleichen <strong>Zeit</strong>schrift erschien,<br />
ist eine ausführliche Antwort auf diesen nebenbei gesagt sehr<br />
unmäßigen und bösartigen Artikel. Es scheint, daß einige<br />
Leute, die durch ihre Bildung mit <strong>de</strong>n Werkzeugen <strong>de</strong>r Philosophie<br />
überausgestattet sind, <strong>de</strong>r Versuchung nicht wi<strong>de</strong>rstehen<br />
können, mit ihrem gelehrten Apparat dort herumzustochern,<br />
wo er zu nichts nütze ist. Das erinnert mich an P. B.<br />
Medawars Bemerkung über die Faszination <strong>de</strong>r „Philosophie-<br />
Romane“ für „eine g<strong>ro</strong>ße Zahl von Leuten, häufig mit gut entwickeltem<br />
literarischem und wissenschaftlichem Geschmack,<br />
<strong>de</strong>ren Bildung weit über ihre Fähigkeit <strong>de</strong>s analytischen Denkens<br />
hinausgeht“.<br />
4 Die I<strong>de</strong>e, daß Gehirne Welten simulieren, wird in meiner Gifford-Vorlesung<br />
<strong>de</strong>s Jahres 1988 Worlds in Mic<strong>ro</strong>cosm erörtert.<br />
Ich bin mir immer noch nicht darüber im klaren, ob diese I<strong>de</strong>e<br />
uns bei <strong>de</strong>r Lösung <strong>de</strong>s schwierigen P<strong>ro</strong>blems <strong>de</strong>s Bewußtseins<br />
eine g<strong>ro</strong>ße Hilfe ist, aber ich gestehe, es hat mich gefreut, daß<br />
sie die Aufmerksamkeit von Sir Karl Popper in seiner Darwin-<br />
Vorlesung gefun<strong>de</strong>n hat. Der Philosoph Daniel Dennett schlug<br />
eine Theorie <strong>de</strong>s Bewußtseins vor, die das Bild <strong>de</strong>r Computersimulation<br />
noch weiterführt. Um seine Theorie zu begreifen,<br />
müssen wir zwei technische Begriffe aus <strong>de</strong>r Welt <strong>de</strong>r Computer<br />
verstehen: die I<strong>de</strong>e einer virtuellen Maschine und die<br />
Unterscheidung zwischen sequentiellen P<strong>ro</strong>zessoren und Parallelp<strong>ro</strong>zessoren.<br />
Zunächst muß ich diese Begriffe erklären.<br />
Ein Computer ist eine reale Maschine, Hardware in einem<br />
Kasten. Aber sobald er eingeschaltet ist, läuft irgen<strong>de</strong>in P<strong>ro</strong>gramm,<br />
das ihn wie eine an<strong>de</strong>re Maschine erscheinen läßt,<br />
eine virtuelle Maschine. Das gilt seit langem für alle Computer,<br />
aber die mo<strong>de</strong>rnen „benutzerfreundlichen“ Computer führen<br />
es uns ganz beson<strong>de</strong>rs lebhaft vor Augen. Zu <strong>de</strong>m <strong>Zeit</strong>punkt,
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 423<br />
zu <strong>de</strong>m ich dies schreibe, ist <strong>de</strong>r Apple Macintosh nach weitverbreiteter<br />
Meinung <strong>de</strong>r Marktführer in bezug auf Benutzerfreundlichkeit.<br />
Sein Erfolg beruht auf fest eingebauten Dienstp<strong>ro</strong>grammen,<br />
die die reale Hardware-Maschine – <strong>de</strong>ren Mechanismen,<br />
wie bei je<strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren Computer auch, wi<strong>de</strong>rwärtig<br />
kompliziert und mit <strong>de</strong>r menschlichen Intuition nicht sehr<br />
gut vereinbar sind – wie eine an<strong>de</strong>re Art von Maschine aussehen<br />
lassen: eine virtuelle Maschine, die speziell dafür entworfen<br />
wur<strong>de</strong>, mit Gehirn und Hand <strong>de</strong>s Menschen zusammenzuarbeiten.<br />
Die unter <strong>de</strong>n Namen Macintosh-Benutzer-Interface<br />
bekannte virtuelle Maschine ist <strong>de</strong>utlich erkennbar eine<br />
Maschine. Sie hat Knöpfe zum Drücken und Schieberegler<br />
wie eine HiFi-Anlage. Aber sie ist eine virtuelle Maschine. Die<br />
Knöpfe und Regler sind nicht aus Metall o<strong>de</strong>r Plastik. Sie<br />
sind Bil<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m Bildschirm, und man drückt o<strong>de</strong>r betätigt<br />
sie, in<strong>de</strong>m man einen virtuellen Finger über <strong>de</strong>n Bildschirm<br />
bewegt. Wir Menschen haben das Gefühl, die Maschine zu<br />
beherrschen, <strong>de</strong>nn wir sind daran gewöhnt, mit <strong>de</strong>m Finger<br />
Dinge zu bewegen. Fünfundzwanzig Jahre lang habe ich ausgiebig<br />
eine g<strong>ro</strong>ße Vielfalt von Digitalcomputern p<strong>ro</strong>grammiert<br />
und benutzt und kann bezeugen, daß das Benutzen <strong>de</strong>s Macintosh-Computers<br />
(o<strong>de</strong>r seiner Nachahmer) eine qualitativ ganz<br />
an<strong>de</strong>re Erfahrung ist als das Benutzen je<strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren älteren<br />
Computertyps. Er vermittelt ein Gefühl <strong>de</strong>r Mühelosigkeit, <strong>de</strong>s<br />
Natürlichen, beinahe so, als wäre die virtuelle Maschine eine<br />
Verlängerung unseres Körpers. In bemerkenswertem Maße<br />
erlaubt uns die virtuelle Maschine, unserer Intuition zu folgen,<br />
statt uns am Handbuch zu orientieren.<br />
Ich <strong>wen</strong><strong>de</strong> mich nun <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Hintergrundi<strong>de</strong>e zu, die<br />
wir aus <strong>de</strong>r Computerwissenschaft einführen müssen, <strong>de</strong>r<br />
I<strong>de</strong>e von sequentiellen P<strong>ro</strong>zessoren und Parallelp<strong>ro</strong>zessoren.<br />
Die heutigen Digitalcomputer arbeiten fast ausschließlich mit<br />
sequentiellen P<strong>ro</strong>zessoren. Sie besitzen eine zentrale Arithmetikeinheit,<br />
einen einzigen elekt<strong>ro</strong>nischen Engpaß, durch <strong>de</strong>n<br />
alle Daten bei <strong>de</strong>r Verarbeitung durchgeschleust wer<strong>de</strong>n. Sie<br />
sind in <strong>de</strong>r Lage, die Illusion zu schaffen, daß sie viele Dinge<br />
gleichzeitig tun, weil sie so schnell sind. Ein sequentieller Com-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 424<br />
puter ist wie ein Schachmeister, <strong>de</strong>r „simultan“ gegen zwanzig<br />
Gegner spielt, während er in Wirklichkeit von einem zum<br />
an<strong>de</strong>ren geht. An<strong>de</strong>rs als <strong>de</strong>r Schachmeister geht <strong>de</strong>r Computer<br />
so rasch und geräuschlos von einer Aufgabe zur an<strong>de</strong>ren<br />
über, daß er je<strong>de</strong>m Menschen, <strong>de</strong>r ihn benutzt, die Illusion<br />
vermittelt, er genieße die ausschließliche Aufmerksamkeit <strong>de</strong>s<br />
Computers. Tatsächlich jedoch <strong>wen</strong><strong>de</strong>t <strong>de</strong>r Computer seine<br />
Aufmerksamkeit einem Benutzer nach <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren zu.<br />
In jüngster <strong>Zeit</strong> haben die Ingenieure, als Teil <strong>de</strong>r Bestrebungen<br />
um immer schwin<strong>de</strong>lerregen<strong>de</strong>re Arbeitsgeschwindigkeiten,<br />
tatsächlich parallel verarbeiten<strong>de</strong> Maschinen geschaffen.<br />
Eine davon ist <strong>de</strong>r Edinburgher Supercomputer. Ich hatte<br />
vor kurzem das Privileg, ihn zu besichtigen. Er besteht aus<br />
einer parallelen Anordnung von einigen Hun<strong>de</strong>rten von „Transputern“,<br />
von <strong>de</strong>nen je<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Leistung einem heutigen<br />
Desktop-Computer entspricht. Der Supercomputer funktioniert<br />
folgen<strong>de</strong>rmaßen: Er nimmt das P<strong>ro</strong>blem, das ihm gestellt<br />
wor<strong>de</strong>n ist, unterteilt es in kleinere Aufgaben, die unabhängig<br />
voneinan<strong>de</strong>r angegangen wer<strong>de</strong>n können, und gibt diese Aufgaben<br />
an Gruppen von Transputern weiter. Die Transputer<br />
empfangen das Subp<strong>ro</strong>blem, lösen es, übergeben die Antwort<br />
und mel<strong>de</strong>n ihre Bereitschaft für eine neue Aufgabe. Inzwischen<br />
stellen an<strong>de</strong>re Transputergruppen ihre Lösungen zur<br />
Verfügung, so daß <strong>de</strong>r ganze Supercomputer um mehrere<br />
Größenordnungen schneller zu <strong>de</strong>r endgültigen Antwort<br />
gelangt, als ein normaler sequentieller Computer dies könnte.<br />
Ich sagte, ein gewöhnlicher sequentieller Computer kann<br />
die Illusion schaffen, ein Parallelp<strong>ro</strong>zessor zu sein, in<strong>de</strong>m er<br />
seine „Aufmerksamkeit“ ausreichend rasch nach <strong>de</strong>m Rotationsprinzip<br />
einer Anzahl von Aufgaben zu<strong>wen</strong><strong>de</strong>t. Wir könnten<br />
sagen, daß die sequentielle Hardware durch einen virtuellen<br />
Parallelp<strong>ro</strong>zessor über<strong>de</strong>ckt wird. Dennets Vorstellung ist, daß<br />
das menschliche Gehirn genau das Umgekehrte getan hat.<br />
Die Hardware <strong>de</strong>s Gehirns ist im wesentlichen parallel, wie<br />
die <strong>de</strong>r Edinburgher Maschine. Und sie arbeitet mit Software,<br />
die darauf ausgelegt ist, eine Illusion von sequentieller Datenverarbeitung<br />
zu schaffen: eine sequentiell arbeiten<strong>de</strong> virtuelle
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 425<br />
Maschine, die Huckepack auf paralleler Computerarchitektur<br />
reitet. Nach Dennets Ansicht ist das hervorstechen<strong>de</strong> Merkmal<br />
beim subjektiven Erleben <strong>de</strong>s Denkens das sequentielle<br />
„Eins nach <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren“, <strong>de</strong>r Joycesche „Bewußtseinsst<strong>ro</strong>m“.<br />
Seiner Auffassung nach fehlt <strong>de</strong>r Mehrzahl <strong>de</strong>r Tiere dieses<br />
sequentielle Erleben, und sie benutzen ihr Gehirn unmittelbar<br />
in seinem ursprünglichen Parallelverarbeitungsmodus.<br />
Ohne je<strong>de</strong>n Zweifel benutzt auch das menschliche Gehirn<br />
seine parallele Architektur unmittelbar, und zwar für viele <strong>de</strong>r<br />
Routineaufgaben, die damit zu tun haben, eine komplizierte<br />
Überlebensmaschine am Laufen zu halten. Aber zusätzlich<br />
entwickelte es im Laufe <strong>de</strong>r Evolution eine software-virtuelle<br />
Maschine, um einen sequentiellen P<strong>ro</strong>zessor zu simulieren.<br />
Der Verstand mit seinem sequentiellen Bewußtseinsst<strong>ro</strong>m ist<br />
eine virtuelle Maschine, eine „benutzerfreundliche“ Art, das<br />
Gehirn zu erleben, gera<strong>de</strong>so wie das „Macintosh-Benutzer-<br />
Interface“ eine benutzerfreundliche Art ist, <strong>de</strong>n physischen<br />
Computer im Innern seines grauen Gehäuses zu erleben.<br />
Es ist nicht ohne weiteres klar, warum wir Menschen<br />
eine sequentielle virtuelle Maschine benötigten, wo doch<br />
an<strong>de</strong>re Arten mit ihren schlichten parallelen Maschinen völlig<br />
glücklich zu sein scheinen. Möglicherweise ist etwas grundlegend<br />
Sequentielles an <strong>de</strong>n schwierigeren unter <strong>de</strong>n Aufgaben,<br />
die ein wildleben<strong>de</strong>r Mensch zu erledigen hat, o<strong>de</strong>r vielleicht<br />
hat Dennett unrecht, <strong>wen</strong>n er uns heraushebt. Er glaubt<br />
außer<strong>de</strong>m, daß die Entwicklung <strong>de</strong>r sequentiellen Software<br />
weitgehend ein kulturelles Phänomen gewesen ist, und wie<strong>de</strong>r<br />
ist mir nicht klar, warum dies beson<strong>de</strong>rs wahrscheinlich sein<br />
sollte. Aber ich sollte auch hinzufügen, daß Dennetts Arbeit<br />
zu <strong>de</strong>m <strong>Zeit</strong>punkt, an <strong>de</strong>m ich dies nie<strong>de</strong>rschreibe, noch<br />
unveröffentlicht ist und meine Darstellung sich auf meine Erinnerung<br />
an seine 1988 in London gehaltene Jacobsen-Vorlesung<br />
stützt. Ich rate <strong>de</strong>m Leser, sich Dennetts eigenen Bericht<br />
anzusehen, sobald er erscheint, statt sich auf meine zweifellos<br />
unvollständige und impressionistische – möglicherweise sogar<br />
ausgeschmückte – Darstellung zu verlassen. Der Psychologe<br />
Nicholas Humphrey hat ebenfalls eine verlocken<strong>de</strong> Hypothese
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 426<br />
darüber entwickelt, wie die Evolution <strong>de</strong>r Simulationsfähigkeit<br />
zur Entstehung von Bewußtsein geführt hat. In seinem Buch<br />
The Inner Eye vertritt Humphrey überzeugend die Ansicht,<br />
daß in hohem Gra<strong>de</strong> sozial leben<strong>de</strong> Tiere, wie wir Menschen<br />
und die Schimpansen, sich zu psychologischen Experten entwickeln<br />
müssen. Das Gehirn muß mit vielen Aspekten <strong>de</strong>r Welt<br />
jonglieren und sie simulieren. Aber die meisten Aspekte <strong>de</strong>r<br />
Welt sind im Vergleich zum Gehirn selbst recht einfach. Ein<br />
sozial leben<strong>de</strong>s Tier lebt in einer Welt voller an<strong>de</strong>rer Tiere,<br />
einer Welt potentieller Geschlechtspartner, Rivalen, Gefährten<br />
und Fein<strong>de</strong>. Um in einer solchen Welt zu überleben und<br />
zu ge<strong>de</strong>ihen, muß man relativ gut vorhersagen können, was<br />
diese an<strong>de</strong>ren Individuen als nächstes tun wer<strong>de</strong>n. P<strong>ro</strong>gnosen<br />
darüber, was in <strong>de</strong>r unbelebten Welt geschehen wird, sind<br />
ein Kin<strong>de</strong>rspiel im Vergleich zu Vorhersagen über zukünftige<br />
Ereignisse in <strong>de</strong>r sozialen Welt. Wissenschaftlich arbeiten<strong>de</strong><br />
Psychologen sind tatsächlich nicht sehr gut darin, menschliches<br />
Verhalten vorherzusagen. Dagegen können soziale Gefährten,<br />
die sich an winzigen Bewegungen <strong>de</strong>r Gesichtsmuskeln und<br />
an<strong>de</strong>ren subtilen Zeichen orientieren, häufig erstaunlich gut<br />
Gedanken lesen und Verhalten in Sekun<strong>de</strong>nschnelle erraten.<br />
Humphrey glaubt, daß sich diese „natürliche psychologische“<br />
Fertigkeit bei sozial leben<strong>de</strong>n Tieren zu einem hohen Niveau<br />
entwickelt hat, beinahe wie ein zusätzliches Auge o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>res<br />
kompliziertes Organ. Das „innere Auge“ ist das durch Evolution<br />
entstan<strong>de</strong>ne Organ zur Wahrnehmung sozialer und psychologischer<br />
Vorgänge, gera<strong>de</strong> so wie das äußere Auge das<br />
Sehorgan ist.<br />
Soweit scheint mir Humphreys Gedankengang überzeugend.<br />
Er argumentiert weiter, daß das innere Auge mittels Selbstbeobachtung<br />
funktioniert. Je<strong>de</strong>s Tier sieht nach innen auf seine<br />
eigenen Gefühle und Emotionen, um die Gefühle und Emotionen<br />
von an<strong>de</strong>ren zu verstehen. Das psychologische Organ funktioniert<br />
mittels Int<strong>ro</strong>spektion. Ich bin nicht völlig überzeugt<br />
davon, daß uns dies hilft, Bewußtsein zu verstehen, aber Humphrey<br />
schreibt elegant, und sein Buch verleitet zur Zustimmung.
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 427<br />
5 Manchmal erregen sich die Leute schrecklich über Gene<br />
„für“ Altruismus o<strong>de</strong>r für ein an<strong>de</strong>res scheinbar kompliziertes<br />
Verhalten. Sie meinen (zu Unrecht), daß das Verhalten in seiner<br />
ganzen Komplexität in irgen<strong>de</strong>inem Sinne im Innern <strong>de</strong>s Gens<br />
enthalten sein muß. Wie kann es ein einzelnes Gen für Altruismus<br />
geben, fragen sie, <strong>wen</strong>n ein Gen nichts an<strong>de</strong>res tut,<br />
als eine P<strong>ro</strong>teinkette zu codieren? Aber <strong>wen</strong>n wir von einem<br />
Gen „für“ etwas sprechen, so meinen wir immer nur, daß eine<br />
Verän<strong>de</strong>rung in <strong>de</strong>m Gen eine Verän<strong>de</strong>rung in diesem Etwas<br />
hervorruft. Ein einzelner genetischer Unterschied verursacht –<br />
durch die Verän<strong>de</strong>rung irgen<strong>de</strong>iner Einzelheit <strong>de</strong>r Moleküle in<br />
<strong>de</strong>n Zellen – einen Unterschied in <strong>de</strong>n bereits komplexen P<strong>ro</strong>zessen<br />
im Embryo und damit beispielsweise im Verhalten.<br />
So wird ein mutantes Gen „für“ brü<strong>de</strong>rlichen Altruismus bei<br />
Vögeln nicht allein für ein völlig neues kompliziertes Verhaltensmuster<br />
verantwortlich sein. Statt <strong>de</strong>ssen wird es irgen<strong>de</strong>in<br />
bereits bestehen<strong>de</strong>s und wahrscheinlich bereits kompliziertes<br />
Verhaltensmuster än<strong>de</strong>rn. Der wahrscheinlichste Vorgänger<br />
ist in diesem Fall das Verhalten <strong>de</strong>r Eltern. Vögel verfügen<br />
selbstverständlich über <strong>de</strong>n komplizierten Nervenapparat, <strong>de</strong>r<br />
nötig ist, um ihre Nachkommenschaft zu ernähren und zu versorgen.<br />
Dieser seinerseits ist, von seinen Vorläufern ausgehend,<br />
während vieler Generationen durch langsame, schrittweise<br />
Evolution aufgebaut wor<strong>de</strong>n. (Übrigens, Skeptiker in bezug<br />
auf Gene für geschwisterliche Fürsorge sind häufig inkonsequent:<br />
Warum sind sie nicht gera<strong>de</strong>so skeptisch in bezug auf<br />
Gene für die gleichermaßen komplizierte elterliche Fürsorge?)<br />
Das zuvor bereits bestehen<strong>de</strong> Verhaltensmuster – in diesem<br />
Fall elterliche Fürsorge – wird vermutlich durch eine geeignete<br />
Daumenregel vermittelt wie etwa „Füttere alle piepsen<strong>de</strong>n,<br />
<strong>de</strong>n Schnabel aufreißen<strong>de</strong>n Dinge in <strong>de</strong>inem Nest“. Das<br />
Gen „für das Füttern von jüngeren Brü<strong>de</strong>rn und Schwestern“<br />
könnte dann dadurch funktionieren, daß es das Alter herabsetzt,<br />
in <strong>de</strong>m diese Daumenregel im Laufe <strong>de</strong>r Entwicklung<br />
reif wird. Ein Nestling, <strong>de</strong>r das brü<strong>de</strong>rliche Gen als eine neue<br />
Mutation trägt, wird einfach seine „elterliche“ Daumenregel<br />
ein <strong>wen</strong>ig früher als ein normaler Vogel aktivieren. Er wird
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 428<br />
die piepsen<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>n Schnabel aufsperren<strong>de</strong>n Dinge im Nest<br />
seiner Eltern – seine jüngeren Brü<strong>de</strong>r und Schwestern – so<br />
behan<strong>de</strong>ln, als wären sie die piepsen<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>n Schnabel aufsperren<strong>de</strong>n<br />
Dinge in seinem eigenen Nest – seine Jungen. Weit<br />
davon entfernt, eine brandneue, komplizierte Verhaltensinnovation<br />
zu sein, wür<strong>de</strong> „brü<strong>de</strong>rliches Verhalten“ zunächst als eine<br />
leichte Variante im <strong>Zeit</strong>punkt <strong>de</strong>r Entwicklung bereits bestehen<strong>de</strong>n<br />
Verhaltens auftreten. Wie so oft entstehen auch hier<br />
irrige Ansichten, <strong>wen</strong>n wir die grundlegen<strong>de</strong> Allmählichkeit<br />
<strong>de</strong>r Evolution vergessen, die Tatsache, daß die anpassen<strong>de</strong><br />
Evolution mittels kleiner, schrittweiser Verän<strong>de</strong>rungen bereits<br />
bestehen<strong>de</strong>r Strukturen o<strong>de</strong>r Verhaltensweisen vor sich geht.<br />
6 Wenn es in <strong>de</strong>r ersten Auflage Fußnoten gegeben hätte, so<br />
hätte eine von ihnen <strong>de</strong>r Erklärung gedient – wie Rothenbuhler<br />
selbst dies mit peinlicher Genauigkeit tat –, daß die Bienenresultate<br />
nicht ganz so ein<strong>de</strong>utig und sauber waren. Unter<br />
<strong>de</strong>n vielen Kolonien, die <strong>de</strong>r Theorie zufolge kein hygienisches<br />
Verhalten hätten zeigen sollen, war eine, die dies <strong>de</strong>nnoch tat.<br />
Rothenbuhlers eigene Worte dazu: „Wir können dieses Resultat<br />
nicht unbeachtet lassen, so gern wir es auch täten, aber<br />
wir grün<strong>de</strong>n die genetische Hypothese auf die übrigen Daten.“<br />
Eine Mutation in <strong>de</strong>r anormalen Kolonie ist eine mögliche<br />
Erklärung, obwohl sie nicht sehr wahrscheinlich ist.<br />
7 Heute bin ich mit dieser Behandlung <strong>de</strong>r tierischen Kommunikation<br />
nicht mehr zufrie<strong>de</strong>n. John Krebs und ich vertraten<br />
in zwei Artikeln die Ansicht, daß die Mehrzahl <strong>de</strong>r tierischen<br />
Signale wohl als we<strong>de</strong>r informativ noch <strong>de</strong>r Täuschung dienend,<br />
son<strong>de</strong>rn vielmehr als manipulierend anzusehen sind. Ein<br />
Signal ist für ein Tier ein Mittel, um sich <strong>de</strong>r Muskelkraft eines<br />
an<strong>de</strong>ren Tieres zu bedienen. Der Gesang einer Nachtigall ist<br />
keine Information, noch nicht einmal täuschen<strong>de</strong> Information.<br />
Er ist überzeugen<strong>de</strong>, hypnotisieren<strong>de</strong>, fesseln<strong>de</strong> Rhetorik. Die<br />
logische Schlußfolgerung aus Behauptungen wie diesen wird<br />
in meinem Buch The Exten<strong>de</strong>d Phenotype gezogen, von <strong>de</strong>m<br />
ich einen Teil in Kapitel 13 zusammengefaßt habe. Krebs und
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 429<br />
ich argumentieren, daß Signale durch Evolution aus einem<br />
Wechselspiel von Aktivitäten hervorgehen, die wir Gedankenlesen<br />
und Manipulation nennen. Auf verblüffend an<strong>de</strong>re<br />
Art geht Amotz Zahavi an das Thema Tiersignale heran. In<br />
einer Anmerkung zu Kapitel 9 erörtere ich Zahavis Ansichten<br />
bei weitem wohlwollen<strong>de</strong>r als in <strong>de</strong>r ersten Auflage dieses<br />
Buches.<br />
5. Aggression: Die egoistische Maschine<br />
und die Stabilität<br />
1 Heutzutage drücke ich die Grundi<strong>de</strong>e einer ESS gern auf<br />
die folgen<strong>de</strong>, knappere Weise aus. Eine ESS ist eine Strategie,<br />
die gegen Kopien ihrer selbst gut abschnei<strong>de</strong>t. Das Grundprinzip<br />
ist folgen<strong>de</strong>s: Eine Strategie ist erfolgreich, <strong>wen</strong>n sie in <strong>de</strong>r<br />
Population vorherrschend ist. Daher wird sie gewöhnlich auf<br />
Kopien ihrer selbst treffen. Also wird sie nur dann erfolgreich<br />
bleiben, <strong>wen</strong>n sie gegen Kopien ihrer selbst gut abschnei<strong>de</strong>t.<br />
Diese Definition ist nicht so mathematisch präzise wie die<br />
von Maynard Smith, und sie kann seine Definition nicht ersetzen,<br />
<strong>de</strong>nn sie ist tatsächlich unvollständig. Aber sie hat <strong>de</strong>n<br />
ein<strong>de</strong>utigen Vorteil, die Grundi<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r ESS intuitiv in sich<br />
einzuschließen.<br />
Das Denken im Sinne <strong>de</strong>r ESS ist heutzutage unter Biologen<br />
weiter verbreitet als zu <strong>de</strong>r <strong>Zeit</strong>, als ich dieses Kapitel<br />
schrieb. Maynard Smith selbst hat in seinem Buch Evolution<br />
and the Theory of Games die Entwicklungen bis zum Jahre<br />
1982 zusammengefaßt. Geoffrey Parker, ein an<strong>de</strong>rer Wissenschaftler,<br />
<strong>de</strong>r führen<strong>de</strong> Beiträge auf diesem Gebiet geleistet<br />
hat, veröffentlichte einen etwas aktuelleren Bericht. Robert<br />
Axel<strong>ro</strong>d ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>t die ESS-Theorie in seinem Buch Die Evolution<br />
<strong>de</strong>r Kooperation, aber ich wer<strong>de</strong> es an dieser Stelle<br />
nicht erörtern, da eins <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n neuen Kapitel dieser Auflage,<br />
„Nette Kerle kommen zuerst ans Ziel“, weitgehend <strong>de</strong>r<br />
Erklärung von Axel<strong>ro</strong>ds Arbeit gewidmet ist. Ich selbst habe<br />
mich seit Erscheinen <strong>de</strong>r ersten Auflage dieses Buches in einem
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 430<br />
Artikel mit <strong>de</strong>m Titel Good Strategy or Evolutionarily Stable<br />
Strategy? und in <strong>de</strong>n weiter unten erörterten, gemeinsam mit<br />
an<strong>de</strong>ren Autoren veröffentlichten Beiträgen über Grabwespen<br />
mit <strong>de</strong>r Frage <strong>de</strong>r ESS-Theorie auseinan<strong>de</strong>rgesetzt.<br />
2 Diese Feststellung war lei<strong>de</strong>r falsch. Die Originalveröffentlichung<br />
von Maynard Smith und Price enthielt einen Irrtum,<br />
und ich wie<strong>de</strong>rholte ihn in diesem Kapitel, ja, ich verschlimmerte<br />
ihn noch, in<strong>de</strong>m ich die recht törichte Behauptung aufstellte,<br />
daß „p<strong>ro</strong>bierfreudiger Vergelter“ „beinahe“ eine ESS<br />
ist (<strong>wen</strong>n eine Strategie beinahe eine ESS ist, dann ist sie eben<br />
keine ESS und wird unterwan<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n). „Vergelter“ sieht<br />
oberflächlich wie eine ESS aus, da es in einer Population von<br />
Vergeltern keine an<strong>de</strong>re Strategie gibt, die besser abschnei<strong>de</strong>t.<br />
Doch „Taube“ schnei<strong>de</strong>t gleich gut ab, da sie vom Verhalten<br />
her in einer Population von Vergeltern nicht von einem Vergelter<br />
zu unterschei<strong>de</strong>n ist. Taube kann daher in die Population<br />
hineindriften. Das P<strong>ro</strong>blem liegt in <strong>de</strong>r Frage, was als nächstes<br />
geschieht. J. S. Gale und Ehrwür<strong>de</strong>n L. J. Eaves spielten eine<br />
dynamische Computersimulation durch, in <strong>de</strong>r sie eine Population<br />
von Mo<strong>de</strong>lltieren eine lange Reihe von Generationen <strong>de</strong>r<br />
Evolution durchlaufen ließen. Sie zeigten, daß die echte ESS<br />
in diesem Spiel eine stabile Mischung aus „Falken“ und „Angebern“<br />
ist. Dies ist nicht <strong>de</strong>r einzige Irrtum in <strong>de</strong>r frühen ESS-<br />
Literatur, <strong>de</strong>r durch dynamische Behandlung dieser Art ent<strong>de</strong>ckt<br />
wor<strong>de</strong>n ist. Ein an<strong>de</strong>res schönes Beispiel ist ein Fehler,<br />
<strong>de</strong>r mir selbst unterlaufen ist und auf <strong>de</strong>n ich in meinen Anmerkungen<br />
zu Kapitel 9 näher eingehen wer<strong>de</strong>.<br />
3 Inzwischen gibt es gute Feldmessungen von Kosten und<br />
Nutzen in <strong>de</strong>r Natur, die in beson<strong>de</strong>re ESS-Mo<strong>de</strong>lle eingegeben<br />
wor<strong>de</strong>n sind. Eines <strong>de</strong>r besten Beispiele liefert eine nordamerikanische<br />
Grabwespenart, Sphex ichneumoneus. Grabwespen<br />
sind nicht die vertrauten sozial leben<strong>de</strong>n Wespen unserer<br />
herbstlichen Marmela<strong>de</strong>ntöpfe, die unfruchtbare Weibchen<br />
sind und für eine Kolonie arbeiten. Je<strong>de</strong> weibliche Grabwespe<br />
ist ihr eigener Herr, und sie widmet ihr Leben <strong>de</strong>r Aufgabe,
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 431<br />
einer ihrer Larven nach <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Schutz und Nahrung<br />
zur Verfügung zu stellen. Im typischen Fall beginnt ein Weibchen<br />
damit, daß es ein langes Bohrloch in die Er<strong>de</strong> gräbt, auf<br />
<strong>de</strong>ssen Grund sich eine ausgehöhlte Kammer befin<strong>de</strong>t. Sodann<br />
geht die Wespe auf Beutejagd. Wenn sie ein Beutetier, etwa<br />
eine Laubheuschrecke, gefun<strong>de</strong>n hat, sticht sie es, um es zu<br />
lähmen, und zerrt es in ihr Erdloch. Sobald sie vier o<strong>de</strong>r fünf<br />
Heuschrecken zusammengetragen hat, legt sie ein Ei oben auf<br />
<strong>de</strong>n Haufen und versiegelt <strong>de</strong>n Gang. Aus <strong>de</strong>m Ei schlüpft<br />
eine Larve, die sich von <strong>de</strong>n Heuschrecken ernährt. Die Beute<br />
wird übrigens <strong>de</strong>shalb gelähmt und nicht getötet, weil sie dann<br />
nicht verwest, son<strong>de</strong>rn lebendig und daher frisch gefressen<br />
wer<strong>de</strong>n kann. Diese makabre Gewohnheit bei <strong>de</strong>n verwandten<br />
Schlupfwespen (Ichneumoni<strong>de</strong>n) veranlaßte Darwin zur<br />
Nie<strong>de</strong>rschrift <strong>de</strong>s Satzes: „Ich kann beim besten Willen nicht<br />
glauben, daß ein wohlwollen<strong>de</strong>r und allmächtiger Gott willentlich<br />
die Ichneumonidae geschaffen hätte, auf daß sie im<br />
Innern lebendiger Raupenkörper fressen ...“ Er hätte genausogut<br />
das Beispiel eines französischen Meisterkochs anführen<br />
können, <strong>de</strong>r Hummer lebend ins kochen<strong>de</strong> Wasser wirft, um<br />
<strong>de</strong>n Geschmack zu bewahren. Kehren wir zur weiblichen Grabwespe<br />
zurück: Sie führt ein einsames Leben, sieht man davon<br />
ab, daß mehrere Weibchen unabhängig voneinan<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>mselben<br />
Gebiet arbeiten und daß sie gelegentlich die Höhlen<br />
ihrer Artgenossinnen besetzen, statt sich die Mühe zu machen,<br />
ein neues Erdloch zu graben.<br />
Dr. Jane B<strong>ro</strong>ckmann ist so etwas wie eine Jane Goodall <strong>de</strong>r<br />
Wespen. Sie kam aus Amerika, um in Oxford mit mir zusammenzuarbeiten,<br />
und brachte ihre umfangreichen Unterlagen<br />
über praktisch alle Ereignisse im Leben von zwei vollständigen<br />
Populationen individuell i<strong>de</strong>ntifizierter weiblicher Wespen mit.<br />
Diese Unterlagen waren so vollständig, daß sich <strong>Zeit</strong>budgets<br />
für die einzelnen Wespen aufstellen ließen. <strong>Zeit</strong> ist ein Wirtschaftsgut:<br />
Je mehr davon auf einen Teil <strong>de</strong>s Lebens verwandt<br />
wird, <strong>de</strong>sto <strong>wen</strong>iger steht für an<strong>de</strong>re Teile zur Verfügung. Alan<br />
Grafen gesellte sich zu uns und lehrte uns korrektes Denken<br />
in <strong>de</strong>n Kategorien <strong>Zeit</strong>kosten und Fortpflanzungsnutzen. Wir
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 432<br />
fan<strong>de</strong>n Indizien für eine echte gemischte ESS in einem Spiel,<br />
das zwischen weiblichen Wespen in einer Population in New<br />
Hampshire ausgetragen wur<strong>de</strong>. Allerdings gelang es uns nicht,<br />
solche Hinweise in einer an<strong>de</strong>ren Population in Michigan zu<br />
fin<strong>de</strong>n. Kurz zusammengefaßt graben die Wespen <strong>de</strong>r Population<br />
in New Hampshire entwe<strong>de</strong>r ihr eigenes Nest, o<strong>de</strong>r<br />
sie beziehen ein Nest, das eine an<strong>de</strong>re Wespe gegraben hat.<br />
Nach unserer Interpretation können Wespen einen Vorteil<br />
daraus ziehen, in ein frem<strong>de</strong>s Nest einzudringen, <strong>de</strong>nn einige<br />
Erdlöcher wer<strong>de</strong>n von ihren Erbauerinnen verlassen und<br />
können wie<strong>de</strong>r benutzt wer<strong>de</strong>n. Es zahlt sich nicht aus, eine<br />
Höhle zu beziehen, die besetzt ist, doch ein Eindringling<br />
hat keine Möglichkeit festzustellen, welche Höhlen besetzt<br />
und welche verlassen sind. Eine Wespe, die ein frem<strong>de</strong>s Erdloch<br />
bezieht, geht das Risiko ein, daß sie es tagelang mit<br />
einer an<strong>de</strong>ren Bewohnerin teilt und irgendwann nach Hause<br />
zurückkommt, nur um herauszufin<strong>de</strong>n, daß das Nest versiegelt<br />
wor<strong>de</strong>n ist und alle ihre Anstrengungen umsonst waren – die<br />
an<strong>de</strong>re Wespe hat ihr Ei gelegt und wird die Vorteile ernten.<br />
Wenn in einer Population zu viele Wespen frem<strong>de</strong> Erdlöcher<br />
besetzen, wer<strong>de</strong>n leerstehen<strong>de</strong> Höhlen rar, die Chance <strong>de</strong>r<br />
Doppelbesetzung steigt, und es zahlt sich daher aus zu<br />
graben. Wenn dagegen viele Wespen selbst graben, för<strong>de</strong>rt die<br />
g<strong>ro</strong>ße Menge verfügbarer Höhlen das Eindringen in frem<strong>de</strong><br />
Erdlöcher. Es gibt eine kritische Häufigkeit <strong>de</strong>s Besetzens in<br />
<strong>de</strong>r Population, bei <strong>de</strong>r Graben und Besetzen gleichen Nutzen<br />
bringen. Liegt die gegenwärtige Häufigkeit unterhalb <strong>de</strong>r kritischen<br />
Frequenz, so för<strong>de</strong>rt die natürliche Auslese das Besetzen,<br />
<strong>de</strong>nn es besteht ein g<strong>ro</strong>ßes Angebot an verlassenen Höhlen.<br />
Ist umgekehrt die aktuelle Häufigkeit höher als <strong>de</strong>r kritische<br />
Wert, dann herrscht ein Mangel an verfügbaren Höhlen,<br />
und die natürliche Auslese för<strong>de</strong>rt das Graben. Auf diese Weise<br />
wird ein Gleichgewicht in <strong>de</strong>r Population aufrechterhalten. Das<br />
<strong>de</strong>taillierte quantitative Datenmaterial läßt darauf schließen,<br />
daß es sich hier um eine echte gemischte ESS han<strong>de</strong>lt, bei <strong>de</strong>r<br />
für je<strong>de</strong> einzelne Wespe eine Wahrscheinlichkeit besteht, eine<br />
Höhle zu graben o<strong>de</strong>r zu besetzen, statt daß die Population
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 433<br />
eine Mischung aus graben<strong>de</strong>n und besetzen<strong>de</strong>n Spezialisten<br />
ist.<br />
4 Eine sogar noch ein<strong>de</strong>utigere Demonstration <strong>de</strong>s Phänomens<br />
„Ansässiger gewinnt immer“ als Tinbergen liefern N. B. Davies’<br />
Studien über Pararge aegeria, einen Augenfalter. Tinbergens<br />
Arbeit stammt aus einer <strong>Zeit</strong>, als die ESS-Theorie noch nicht<br />
erfun<strong>de</strong>n war, und meine Interpretation in <strong>de</strong>r ersten Auflage<br />
dieses Buches erfolgte im nachhinein. Davies dagegen konzipierte<br />
seine Schmetterlingsstudien im Lichte <strong>de</strong>r ESS-Theorie.<br />
Er bemerkte, daß einzelne männliche Schmetterlinge in<br />
Wytham Wood, in <strong>de</strong>r Nähe von Oxford, Flecken von Sonnenlicht<br />
verteidigten. Die Weibchen wer<strong>de</strong>n von solchen Flekken<br />
mit Sonnenlicht angezogen, somit war ein sonniger Fleck<br />
eine wertvolle Ressource, etwas, um das es sich zu kämpfen<br />
lohnte. Es gab mehr Männchen als sonnige Flecken, und<br />
die überzähligen Männchen warteten im Blätterdach auf ihre<br />
Chance. Davies fing Männchen ein und ließ sie eins nach <strong>de</strong>m<br />
an<strong>de</strong>ren wie<strong>de</strong>r fliegen, um zu zeigen, daß stets dasjenige<br />
<strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Individuen, das als erstes freigelassen wur<strong>de</strong> und<br />
auf <strong>de</strong>m Sonnenflecken ankam, von bei<strong>de</strong>n als <strong>de</strong>r „Besitzer“<br />
angesehen wur<strong>de</strong>. Welches Männchen auch immer als zweiter<br />
auf <strong>de</strong>m Sonnenflecken anlangte, wur<strong>de</strong> als „Eindringling“<br />
behan<strong>de</strong>lt. Der Eindringling gab sich ohne Ausnahme immer<br />
sofort geschlagen und überließ <strong>de</strong>m Besitzer die alleinige Herrschaft.<br />
In einem letzten Experiment gelang es Davies, bei<strong>de</strong><br />
Schmetterlinge so zu „täuschen“, daß je<strong>de</strong>r „dachte“, er sei <strong>de</strong>r<br />
Ansässige und <strong>de</strong>r jeweils an<strong>de</strong>re <strong>de</strong>r Eindringling. Nur unter<br />
diesen Bedingungen brach ein wirklich ernsthafter, langandauern<strong>de</strong>r<br />
Kampf aus. Übrigens, in all <strong>de</strong>n Fällen, in <strong>de</strong>nen ich<br />
<strong>de</strong>r Einfachheit halber die Dinge so dargestellt habe, als habe<br />
es nur ein einziges Schmetterlingspaar gegeben, han<strong>de</strong>lte es<br />
sich natürlich in Wirklichkeit um eine statistische Auswahl von<br />
Paaren.<br />
5 Ein an<strong>de</strong>rer Fall, <strong>de</strong>r möglicherweise eine paradoxe ESS darstellt,<br />
ist in einem Brief eines Herrn James Dawson an
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 434<br />
die <strong>Zeit</strong>ung The Times (London, 7. Dezember 1977) festgehalten:<br />
„Während einer Reihe von Jahren habe ich beobachtet,<br />
daß eine Möwe, die einen günstigen Platz auf einer Fahnenstange<br />
errungen hat, ausnahmslos einer an<strong>de</strong>ren Möwe Platz<br />
macht, die sich auf <strong>de</strong>r Stange nie<strong>de</strong>rlassen möchte, und dies<br />
unabhängig von <strong>de</strong>r Größe <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Vögel.“<br />
Das überzeugendste Beispiel einer paradoxen Strategie, das<br />
ich kenne, betrifft Hausschweine in einer Skinner-Box. Die<br />
Strategie ist in <strong>de</strong>mselben Sinne stabil, wie eine ESS dies ist,<br />
aber man sollte sie eher „entwicklungsmäßig stabile Strategie“<br />
nennen, <strong>de</strong>nn sie entsteht während <strong>de</strong>r Lebenszeit <strong>de</strong>r betreffen<strong>de</strong>n<br />
Tiere und nicht in evolutionärer <strong>Zeit</strong>. Eine Skinner-Box<br />
ist ein Apparat, in <strong>de</strong>m ein Tier lernt, sich selbst mit Futter zu<br />
versorgen, in<strong>de</strong>m es einen Hebel drückt, woraufhin die Nahrung<br />
automatisch durch eine Schütte in <strong>de</strong>n Käfig fällt. Experimentell<br />
arbeiten<strong>de</strong> Psychologen sind es gewohnt, Tauben<br />
o<strong>de</strong>r Mäuse in kleine Skinnerkäfige zu setzen, wo diese bald<br />
lernen, empfindliche kleine Hebel zu drücken, um mit Nahrung<br />
belohnt zu wer<strong>de</strong>n. Schweine können dasselbe in einer<br />
größeren Skinner-Box mit einem sehr <strong>de</strong>rben Rüsselhebel<br />
lernen. (Vor vielen Jahren sah ich einen wissenschaftlichen<br />
Film darüber, und ich erinnere mich, daß ich mich vor Lachen<br />
kaum halten konnte.) B. A. Baldwin und G. B. Meese trainierten<br />
Schweine in einem Skinner-Stall, aber mit einer zusätzlichen<br />
Schwierigkeit. Der Rüsselhebel befand sich an einem En<strong>de</strong><br />
<strong>de</strong>s Stalls, <strong>de</strong>r Nahrungsspen<strong>de</strong>r am an<strong>de</strong>ren. So mußte das<br />
Schwein also <strong>de</strong>n Hebel drücken, dann zum an<strong>de</strong>ren En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s<br />
Stalls spurten, um die Nahrung zu erhalten, wie<strong>de</strong>r zu <strong>de</strong>m<br />
Hebel zurückrennen und so weiter. So weit, so gut, aber Baldwin<br />
und Meese setzten Paare von Schweinen in <strong>de</strong>n Apparat.<br />
Nun wur<strong>de</strong> es für eins <strong>de</strong>r Schweine möglich, das an<strong>de</strong>re<br />
auszubeuten. Der „Sklave“ raste hin und her und drückte <strong>de</strong>n<br />
Hebel, <strong>de</strong>r „Herr“ saß neben <strong>de</strong>r Nahrungsschütte und fraß.<br />
Die an <strong>de</strong>m Experiment teilnehmen<strong>de</strong>n Paare von Schweinen<br />
gelangten tatsächlich zu einem stabilen Muster <strong>de</strong>r Art Herr/<br />
Sklave, bei <strong>de</strong>m das eine arbeitete und rannte und das an<strong>de</strong>re<br />
einen G<strong>ro</strong>ßteil <strong>de</strong>s Fressens übernahm.
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 435<br />
Nun zu <strong>de</strong>m Paradox. Es stellte sich heraus, daß die Etikettierungen<br />
„Herr“ und „Sklave“ völlig auf <strong>de</strong>n Kopf gestellt<br />
waren. Wann immer sich ein Paar von Schweinen bei einem stabilen<br />
Muster einpen<strong>de</strong>lte, spielte schließlich dasjenige Schwein<br />
die Rolle <strong>de</strong>s „Herren“ o<strong>de</strong>r „Ausbeuters“, das ansonsten in<br />
je<strong>de</strong>r Hinsicht untergeordnet war. Der sogenannte „Sklave“,<br />
<strong>de</strong>r alle Arbeit leistete, war das Schwein, das gewöhnlich dominierte.<br />
Je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r die Schweine kannte, hätte vorausgesagt, daß<br />
umgekehrt das dominieren<strong>de</strong> Schwein <strong>de</strong>r Herr sein wür<strong>de</strong>,<br />
<strong>de</strong>r meistens fraß, während das untergeordnete Schwein <strong>de</strong>r<br />
hart arbeiten<strong>de</strong> und kaum fressen<strong>de</strong> Sklave wäre.<br />
Wie es zu dieser paradoxen Umkehrung kommen konnte, ist<br />
nicht schwer zu verstehen, sobald wir anfangen, im Sinne stabiler<br />
Strategien zu <strong>de</strong>nken. Wir müssen das Prinzip lediglich<br />
von evolutionär be<strong>de</strong>utsamen <strong>Zeit</strong>räumen auf die <strong>Zeit</strong>spanne<br />
übertragen, in <strong>de</strong>r sich die Beziehungen zwischen zwei einzelnen<br />
Geschöpfen entwickeln. Die Strategie „Wenn dominierend,<br />
sitze am Futtert<strong>ro</strong>g; <strong>wen</strong>n untergeordnet, bediene <strong>de</strong>n<br />
Hebel“ klingt vernünftig, wäre aber nicht stabil. Das untergeordnete<br />
Schwein wür<strong>de</strong>, nach<strong>de</strong>m es <strong>de</strong>n Hebel gedrückt hat,<br />
hinübergerannt kommen, nur um zu sehen, wie das dominieren<strong>de</strong><br />
Schwein mit seinen Vor<strong>de</strong>rfüßen fest im T<strong>ro</strong>g steht und<br />
unmöglich weggedrängt wer<strong>de</strong>n kann. Es wür<strong>de</strong> bald aufgeben,<br />
<strong>de</strong>n Hebel zu drücken, <strong>de</strong>nn diese Handlung wür<strong>de</strong> niemals<br />
belohnt wer<strong>de</strong>n. Stellen wir uns nun jedoch die umgekehrte<br />
Strategie vor: „Wenn dominierend, bediene <strong>de</strong>n Hebel;<br />
<strong>wen</strong>n untergeordnet, sitze am Futtert<strong>ro</strong>g.“ Dies wäre stabil,<br />
obgleich es das paradoxe Resultat hat, daß das untergeordnete<br />
Schwein <strong>de</strong>n G<strong>ro</strong>ßteil <strong>de</strong>s Futters bekommt. Es ist nichts<br />
weiter erfor<strong>de</strong>rlich, als daß etwas Futter für das dominieren<strong>de</strong><br />
Schwein übriggeblieben ist, <strong>wen</strong>n es vom an<strong>de</strong>ren En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s<br />
Stalls angerannt kommt. Sobald es ankommt, hat es keine<br />
Schwierigkeiten, das untergeordnete Schwein aus <strong>de</strong>m T<strong>ro</strong>g<br />
hinauszuwerfen. Solange ein Krümel übriggeblieben ist, mit<br />
<strong>de</strong>m es belohnt wird, wird seine Gewohnheit, <strong>de</strong>n Hebel<br />
zu bewegen und dabei unwissentlich das untergeordnete<br />
Schwein mit Futter vollzustopfen, bestehen bleiben. Und die
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 436<br />
Gewohnheit <strong>de</strong>s untergeordneten Schweins, sich faul am T<strong>ro</strong>g<br />
zurückzulegen, wird ebenfalls belohnt. Somit wird die ganze<br />
Strategie „Wenn dominierend, verhalte dich wie ein ›Sklave‹;<br />
<strong>wen</strong>n untergeordnet, benimm dich wie ein ›Herr‹“ belohnt und<br />
ist daher stabil.<br />
6 Ted Burk, seinerzeit mein graduierter Stu<strong>de</strong>nt, fand weitere<br />
Beweise für <strong>de</strong>rartige Pseudo-Dominanzhierarchien bei Grillen.<br />
Er zeigte auch, daß ein Grillenmännchen mit größerer<br />
Wahrscheinlichkeit Weibchen <strong>de</strong>n Hof macht, <strong>wen</strong>n es vor<br />
kurzem einen Kampf gegen ein an<strong>de</strong>res Männchen gewonnen<br />
hat. Man sollte dies <strong>de</strong>n „Herzog-von-Marlbo<strong>ro</strong>ugh-Effekt“<br />
nennen, nach <strong>de</strong>r folgen<strong>de</strong>n Tagebucheintragung <strong>de</strong>r ersten<br />
Herzogin von Marlbo<strong>ro</strong>ugh: „Seine Gna<strong>de</strong>n kam heute aus <strong>de</strong>m<br />
Krieg zurück und ergötzte mich zweimal in seinen Stulpenstiefeln.“<br />
Zu einem an<strong>de</strong>ren möglichen Namen könnte das folgen<strong>de</strong><br />
Zitat aus <strong>de</strong>r <strong>Zeit</strong>schrift New Scientist über Verän<strong>de</strong>rungen in<br />
<strong>de</strong>r Konzentration <strong>de</strong>s männlichen Hormons Testoste<strong>ro</strong>n anregen:<br />
„Der Hormonspiegel verdoppelte sich bei Tennisspielern<br />
während <strong>de</strong>r 24 Stun<strong>de</strong>n vor einem g<strong>ro</strong>ßen Match. Danach<br />
blieb er bei Siegern hoch, bei Verlierern dagegen sank er ab.“<br />
7 Dieser Satz geht ein bißchen zu weit. Wahrscheinlich habe<br />
ich nur zu stark auf die damals übliche Vernachlässigung <strong>de</strong>r<br />
ESS-I<strong>de</strong>e in <strong>de</strong>r zeitgenössischen biologischen Literatur, vor<br />
allem in Amerika, reagiert. In E.O. Wilsons g<strong>ro</strong>ßem Werk Sociobiology<br />
beispielsweise kommt <strong>de</strong>r Ausdruck kein einziges Mal<br />
vor. Heute wird er nicht mehr übergangen, und ich kann jetzt<br />
einen ausgewogeneren und <strong>wen</strong>iger missionarischen Standpunkt<br />
einnehmen. Man braucht nicht wirklich die ESS-Sprache<br />
zu benutzen, <strong>wen</strong>n man klar genug <strong>de</strong>nkt. Aber sie ist<br />
eine g<strong>ro</strong>ße Hilfe, <strong>wen</strong>n man klar <strong>de</strong>nken will, beson<strong>de</strong>rs in<br />
jenen Fällen – die in <strong>de</strong>r Praxis überwiegen –, in <strong>de</strong>nen es an<br />
<strong>de</strong>taillierten genetischen Kenntnissen fehlt. Man hört gelegentlich,<br />
die ESS-Mo<strong>de</strong>lle setzten das Vorliegen ungeschlechtlicher<br />
Fortpflanzung voraus. Aber diese Behauptung ist irreführend,<br />
sofern eine ausdrückliche Voraussetzung <strong>de</strong>r ungeschlechtli-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 437<br />
chen – im Gegensatz zur geschlechtlichen – Fortpflanzung<br />
gemeint ist. Die Wahrheit ist eher, daß ESS-Mo<strong>de</strong>lle es nicht<br />
erfor<strong>de</strong>rn, sich in bezug auf die Einzelheiten <strong>de</strong>s genetischen<br />
Systems festzulegen. Statt <strong>de</strong>ssen wird darin unterstellt, daß<br />
Gleiches in irgen<strong>de</strong>inem vagen Sinne Gleiches erzeugt. Für<br />
viele Zwecke ist diese Annahme angemessen. Ja, ihr vager<br />
Charakter kann sogar ein Vorteil sein, da er die Gedanken<br />
auf das Wesentliche konzentriert und von Einzelheiten, etwa<br />
<strong>de</strong>r genetischen Dominanz, ablenkt, die in spezifischen Fällen<br />
gewöhnlich unbekannt sind. Am nützlichsten ist ESS-Denken<br />
in einer negativen Rolle; es hilft uns, theoretische Fehler zu vermei<strong>de</strong>n,<br />
zu <strong>de</strong>nen wir an<strong>de</strong>rnfalls verleitet wer<strong>de</strong>n könnten.<br />
8 Dieser Absatz ist eine akzeptable Zusammenfassung einer<br />
Möglichkeit, die heute wohlbekannte Theorie <strong>de</strong>s unterb<strong>ro</strong>chenen<br />
Gleichgewichts darzustellen. Ich schäme mich zuzugeben,<br />
daß mir, als ich meine Mutmaßung nie<strong>de</strong>rschrieb, wie damals<br />
vielen an<strong>de</strong>ren Biologen in England jene Theorie völlig unbekannt<br />
war, obgleich sie bereits drei Jahre zuvor veröffentlicht<br />
wor<strong>de</strong>n war. Seither bin ich, zum Beispiel in meinem Buch<br />
Der blin<strong>de</strong> Uhrmacher, etwas ärgerlich gewor<strong>de</strong>n – vielleicht zu<br />
ärgerlich – über die Art und Weise, wie die Theorie <strong>de</strong>s unterb<strong>ro</strong>chenen<br />
Gleichgewichts überbewertet wor<strong>de</strong>n ist. Wenn dies<br />
jeman<strong>de</strong>s Gefühle verletzt hat, so bedauere ich das. Er mag<br />
erfreut feststellen, daß zumin<strong>de</strong>st im Jahre 1976 mein Herz für<br />
die richtige Sache schlug.<br />
6. Genverwandtschaft<br />
1 Hamiltons Veröffentlichungen aus <strong>de</strong>m Jahre 1964 wer<strong>de</strong>n<br />
heute nicht mehr übergangen. Die Geschichte ihrer Mißachtung<br />
und anschließen<strong>de</strong>n Anerkennung bil<strong>de</strong>t selbst einen Gegenstand<br />
für eine interessante quantitative Untersuchung, eine<br />
Fallstudie über die Einglie<strong>de</strong>rung eines „Mems“ in <strong>de</strong>n Mempool.<br />
Ich zeichne die Fortschritte dieses Mems in <strong>de</strong>n Nachbemerkungen<br />
zu Kapitel 11 nach.
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 438<br />
2 Die Annahme, daß wir über ein Gen sprechen, das in <strong>de</strong>r<br />
Population insgesamt selten ist, war ein Trick, um die Messung<br />
<strong>de</strong>s Verwandtschaftsgra<strong>de</strong>s leichter erklären zu können.<br />
Eine <strong>de</strong>r wichtigsten Leistungen Hamiltons lag gera<strong>de</strong> darin<br />
zu zeigen, daß seine Schlußfolgerungen ungeachtet <strong>de</strong>ssen eintreten,<br />
ob das betreffen<strong>de</strong> Gen selten o<strong>de</strong>r weit verbreitet ist.<br />
Es zeigt sich, daß dieser Aspekt <strong>de</strong>r Theorie für viele schwer zu<br />
verstehen ist.<br />
Das P<strong>ro</strong>blem <strong>de</strong>r Messung von Verwandtschaftsgra<strong>de</strong>n<br />
bringt viele von uns auf die folgen<strong>de</strong> Weise ins Stolpern. Zwei<br />
beliebige Artgenossen, ob sie <strong>de</strong>rselben Familie angehören<br />
o<strong>de</strong>r nicht, haben gewöhnlich mehr als 90 P<strong>ro</strong>zent ihrer Gene<br />
gemeinsam. Was meinen wir dann, <strong>wen</strong>n wir davon sprechen,<br />
daß <strong>de</strong>r Verwandtschaftsgrad unter Brü<strong>de</strong>rn 1/2 beträgt o<strong>de</strong>r<br />
unter Vettern ersten Gra<strong>de</strong>s 1/8? Die Antwort lautet, daß<br />
Geschwister über die 90 P<strong>ro</strong>zent hinaus (o<strong>de</strong>r wieviel P<strong>ro</strong>zent<br />
es auch immer sind), die alle Individuen in je<strong>de</strong>m Fall teilen,<br />
noch die Hälfte ihrer Gene gemeinsam haben. Es gibt eine<br />
Art Grundverwandtschaft zwischen allen Angehörigen einer<br />
Art, in geringerem Ausmaß sogar zwischen Angehörigen verschie<strong>de</strong>ner<br />
Arten. Altruismus ist unter Individuen zu erwarten,<br />
<strong>de</strong>ren Verwandtschaft enger als die jeweilige Grundverwandtschaft<br />
ist.<br />
In <strong>de</strong>r ersten Auflage umging ich das P<strong>ro</strong>blem, in<strong>de</strong>m ich<br />
<strong>de</strong>n Trick benutzte, über seltene Gene zu sprechen. Dies ist<br />
soweit korrekt, reicht aber nicht aus. Hamilton selbst spricht<br />
von Genen, die „durch Abstammung i<strong>de</strong>ntisch“ sind, doch dies<br />
bringt Schwierigkeiten eigener Art mit sich, wie Alan Grafen<br />
gezeigt hat. An<strong>de</strong>re Wissenschaftler gaben in ihren Schriften<br />
nicht einmal zu, daß hier ein P<strong>ro</strong>blem besteht, und sprachen<br />
einfach von absoluten P<strong>ro</strong>zentsätzen gemeinsamer Gene, was<br />
entschie<strong>de</strong>n und unzweifelhaft ein Fehler ist. Derart gedankenloses<br />
Gere<strong>de</strong> hat in <strong>de</strong>r Tat zu ernsthaften Mißverständnissen<br />
geführt. Beispielsweise argumentierte ein bekannter Anth<strong>ro</strong>pologe<br />
im Verlauf einer 1978 veröffentlichten bitterbösen<br />
Attacke auf die „Soziobiologie“, <strong>wen</strong>n wir Verwandtschaftsselektion<br />
ernst nähmen, müßten wir erwarten, daß alle Men-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 439<br />
schen altruistisch zueinan<strong>de</strong>r sind, da alle Menschen mehr als<br />
99 P<strong>ro</strong>zent ihrer Gene gemeinsam haben. Ich habe in meiner<br />
Veröffentlichung Twelve Misun<strong>de</strong>rstandings of Kin Selection<br />
eine kurze Antwort auf diesen Irrtum gegeben (er entspricht<br />
Mißverständnis Nummer 5). Die an<strong>de</strong>ren elf Mißverständnisse<br />
sind ebenfalls einen Blick wert.<br />
Alan Grafen liefert in seinem Aufsatz Geometric View of Relatedness<br />
die möglicherweise <strong>de</strong>finitive Lösung für das P<strong>ro</strong>blem<br />
<strong>de</strong>r Messung <strong>de</strong>s Verwandtschaftsgra<strong>de</strong>s, die ich hier nicht darzulegen<br />
versuchen wer<strong>de</strong>. Und in einer an<strong>de</strong>ren Arbeit, Natural<br />
Selection, Kin Selection and G<strong>ro</strong>up Selection, klärt Grafen ein<br />
an<strong>de</strong>res weit verbreitetes und wichtiges P<strong>ro</strong>blem, nämlich die<br />
häufig falsche An<strong>wen</strong>dung von Hamiltons Begriff <strong>de</strong>r inclusive<br />
fitness. Er zeigt uns außer<strong>de</strong>m, wie man Kosten und Nutzen für<br />
genetische Verwandte richtig beziehungsweise falsch berechnet.<br />
3 Von <strong>de</strong>r Gürteltierf<strong>ro</strong>nt ist nichts Neues zu berichten, doch<br />
über eine an<strong>de</strong>re Gruppe von „klonbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n“ Tieren, die<br />
Blattläuse, hat man aufsehenerregen<strong>de</strong> neue Fakten herausgefun<strong>de</strong>n.<br />
Es ist seit langem bekannt, daß manche Blattläuse sich<br />
sowohl ungeschlechtlich als auch geschlechtlich fortpflanzen.<br />
Wenn wir zahlreiche Blattläuse auf einer Pflanze sehen, so sind<br />
sie mit relativ g<strong>ro</strong>ßer Wahrscheinlichkeit alle Angehörige eines<br />
i<strong>de</strong>ntischen weiblichen Klons, wohingegen jene auf <strong>de</strong>r danebenstehen<strong>de</strong>n<br />
Pflanze zu einem an<strong>de</strong>ren Klon gehören. Theoretisch<br />
sind diese Bedingungen i<strong>de</strong>al für die Evolution von verwandtschaftsselektiertem<br />
Altruismus. Doch war kein Fall von<br />
Altruismus bei Blattläusen bekannt, bevor Shigeyuki Aoki im<br />
Jahre 1977 bei einer japanischen Blattlausart sterile „Soldaten“<br />
ent<strong>de</strong>ckte – nur ein <strong>wen</strong>ig zu spät, um in die erste Auflage<br />
dieses Buches Eingang zu fin<strong>de</strong>n. Seither hat Aoki das<br />
Phänomen in einer Reihe an<strong>de</strong>rer Arten vorgefun<strong>de</strong>n, und er<br />
besitzt gutes Beweismaterial dafür, daß es <strong>wen</strong>igstens viermal<br />
in unterschiedlichen Blattlausgruppen unabhängig voneinan<strong>de</strong>r<br />
entstan<strong>de</strong>n ist.
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 440<br />
Kurz zusammengefaßt berichtet Aoki das Folgen<strong>de</strong>. Die „Soldaten“<br />
bei Blattläusen sind eine Kaste mit beson<strong>de</strong>ren anatomischen<br />
Merkmalen, gera<strong>de</strong>so wie die Kasten herkömmlicher<br />
sozialer Insekten, etwa <strong>de</strong>r Ameisen. Sie sind Larven, die nicht<br />
vollständig zu Erwachsenen heranreifen, und sie sind daher<br />
steril. We<strong>de</strong>r sehen sie so aus, noch benehmen sie sich wie<br />
die Larven, die ihre Altersgenossen, aber keine Soldaten sind,<br />
obwohl sie mit diesen genetisch i<strong>de</strong>ntisch sind. Soldaten sind<br />
größer als Nichtsoldaten, sie haben beson<strong>de</strong>rs g<strong>ro</strong>ße Vor<strong>de</strong>rbeine,<br />
die sie skorpionähnlich aussehen lassen, und scharfe,<br />
nach vorn gerichtete Fortsätze am Kopf. Sie benutzen diese<br />
Waffen, um eventuelle Räuber zu bekämpfen und zu töten.<br />
Dabei lassen sie häufig ihr Leben, aber selbst <strong>wen</strong>n sie nicht<br />
sterben, kann man sie als genetisch „altruistisch“ bezeichnen,<br />
weil sie steril sind.<br />
Was geschieht hier, <strong>wen</strong>n man es im Hinblick auf <strong>de</strong>n Egoismus<br />
<strong>de</strong>r Gene betrachtet? Aoki erwähnt nicht, was genau<br />
bestimmt, welche Individuen zu sterilen Soldaten wer<strong>de</strong>n und<br />
welche zu normalen fortpflanzungsfähigen Erwachsenen, aber<br />
wir können mit Gewißheit sagen, daß es ein umweltbedingter<br />
Unterschied sein muß, kein genetischer – schließlich sind die<br />
sterilen Soldaten und die normalen Blattläuse auf einer Pflanze<br />
genetisch i<strong>de</strong>ntisch. Doch es muß Gene für die Fähigkeit<br />
geben, von <strong>de</strong>r Umwelt auf einen <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Entwicklungspfa<strong>de</strong><br />
geschaltet zu wer<strong>de</strong>n. Warum hat die natürliche Auslese<br />
diese Gene geför<strong>de</strong>rt, obwohl einige von ihnen in <strong>de</strong>n Körpern<br />
von sterilen Soldaten en<strong>de</strong>n und daher nicht weitergegeben<br />
wer<strong>de</strong>n?<br />
Weil dank <strong>de</strong>r Soldaten Kopien eben dieser Gene in<br />
<strong>de</strong>n Körpern <strong>de</strong>r sich fortpflanzen<strong>de</strong>n Nichtsoldaten gerettet<br />
wor<strong>de</strong>n sind! Das Grundprinzip ist genau dasselbe wie bei<br />
allen sozialen Insekten (siehe Kapitel 10), mit <strong>de</strong>m Unterschied,<br />
daß bei an<strong>de</strong>ren Gruppen, etwa Ameisen o<strong>de</strong>r Termiten, die<br />
Gene in <strong>de</strong>n sterilen „Altruisten“ lediglich eine statistische<br />
Chance haben, Kopien ihrer selbst in nichtsterilen Individuen<br />
zu helfen. Die altruistischen Gene bei Blattläusen erfreuen sich<br />
nicht einer statistischen Wahrscheinlichkeit, son<strong>de</strong>rn haben
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 441<br />
Gewißheit, da Blattlaussoldaten <strong>de</strong>m gleichen Klon angehören<br />
wie ihre sich vermehren<strong>de</strong>n Schwestern, <strong>de</strong>nen sie einen Vorteil<br />
bringen. In mancher Hinsicht veranschaulichen Aokis<br />
Blattläuse im wirklichen Leben überzeugend die Macht von<br />
Hamiltons I<strong>de</strong>en.<br />
Sollten die Blattläuse also in <strong>de</strong>n exklusiven Klub <strong>de</strong>r echten<br />
sozialen Insekten aufgenommen wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r traditionsgemäß<br />
die Bastion von Ameisen, Bienen, Wespen und Termiten ist?<br />
Konservative Entomologen könnten aus mehreren Grün<strong>de</strong>n<br />
gegen sie stimmen. Sie haben zum Beispiel keine langlebige<br />
Königin. Außer<strong>de</strong>m sind die Blattläuse als echter Klon nicht<br />
„sozialer“ als die Zellen in unserem Körper. Es ist ein einziges<br />
Tier, das an <strong>de</strong>r Pflanze saugt. Sein Körper ist ganz einfach<br />
zufällig in einzelne Blattläuse unterteilt, von <strong>de</strong>nen einige eine<br />
spezialisierte Verteidiger<strong>ro</strong>lle spielen, gera<strong>de</strong>so wie die weißen<br />
Blutkörperchen im menschlichen Körper. „Echte“ staatenbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong><br />
Insekten, so lautet das Argument, arbeiten zusammen,<br />
obwohl sie nicht Teil <strong>de</strong>sselben Organismus sind, wohingegen<br />
Aokis Blattläuse kooperieren, gera<strong>de</strong> weil sie zu <strong>de</strong>mselben<br />
„Organismus“ gehören. Ich kann mich über diese semantische<br />
Frage nicht ereifern. Mir scheint, solange wir verstehen, was<br />
bei Ameisen, Blattläusen und menschlichen Zellen vor sich<br />
geht, sollten wir die Freiheit haben, sie nach Belieben sozial<br />
zu nennen o<strong>de</strong>r nicht. Was meine eigene Wortwahl betrifft,<br />
so habe ich Grün<strong>de</strong> dafür, Aokis Blattläuse als sozial leben<strong>de</strong><br />
Organismen und nicht als Teile eines einzigen Organismus zu<br />
bezeichnen. Es gibt grundlegen<strong>de</strong> Eigenschaften eines Organismus,<br />
die eine einzelne Blattlaus besitzt, ein Blattlausklon<br />
aber nicht. Ausführlich behan<strong>de</strong>lt wird dieser Gedankengang<br />
in meinem Buch The Exten<strong>de</strong>d Phenotype, und zwar in <strong>de</strong>m<br />
Kapitel Rediscovering the Organism, sowie in Kapitel 13 <strong>de</strong>s<br />
vorliegen<strong>de</strong>n Buches.<br />
4 Die Verwirrung über <strong>de</strong>n Unterschied zwischen Gruppenselektion<br />
und Familienselektion ist nicht verschwun<strong>de</strong>n. Sie<br />
mag sogar noch zugenommen haben. Ich stehe mit Nachdruck<br />
zu meinen Bemerkungen, habe allerdings selbst durch<br />
eine gedankenlose Wortwahl – die ich nun korrigieren möchte
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 442<br />
– in <strong>de</strong>r ersten Auflage dieses Buches ein Mißverständnis<br />
heraufbeschworen. Ich sagte dort (dies ist eine <strong>de</strong>r <strong>wen</strong>igen<br />
Än<strong>de</strong>rungen, die ich im Text <strong>de</strong>r Neuauflage vorgenommen<br />
habe): „Wir erwarten einfach, daß Vettern zweiten Gra<strong>de</strong>s<br />
gewöhnlich 1/16 <strong>de</strong>s Altruismus zu spüren bekommen wie<br />
Kin<strong>de</strong>r o<strong>de</strong>r sehr nahe Verwandte.“ Wie S. Altmann aufgezeigt<br />
hat, ist dies ganz offensichtlich falsch. Es ist falsch aus einem<br />
Grund, <strong>de</strong>r meine damalige Argumentation nicht berührt.<br />
Wenn ein altruistisches Tier einen Kuchen hat, <strong>de</strong>n es seinen<br />
Verwandten geben will, besteht nicht <strong>de</strong>r geringste Grund,<br />
je<strong>de</strong>m Verwandten eine Scheibe zu geben, wobei die Größe<br />
<strong>de</strong>r Scheiben von <strong>de</strong>r Nähe <strong>de</strong>r Verwandtschaft bestimmt ist.<br />
In <strong>de</strong>r Tat wäre dies absurd, da alle Angehörigen <strong>de</strong>r Art, von<br />
an<strong>de</strong>ren Arten ganz zu schweigen, zumin<strong>de</strong>st entfernte Verwandte<br />
sind, von <strong>de</strong>nen daher je<strong>de</strong>r eine sorgfältig abgemessene<br />
Krume verlangen könnte! Im Gegenteil, <strong>wen</strong>n es in <strong>de</strong>r<br />
Nachbarschaft einen nahen Verwandten gibt, so besteht kein<br />
Grund, einem entfernten Verwandten überhaupt irgen<strong>de</strong>inen<br />
Teil <strong>de</strong>s Kuchens zukommen zu lassen. Abhängig von an<strong>de</strong>ren<br />
Komplikationen, wie <strong>de</strong>m Gesetz vom abnehmen<strong>de</strong>n Ertrag,<br />
sollte <strong>de</strong>r ganze Kuchen <strong>de</strong>m nächsten verfügbaren Verwandten<br />
zukommen. Was ich hatte sagen wollen, war natürlich: „Wir<br />
erwarten einfach, daß die Wahrscheinlichkeit, Altruismus zu<br />
erfahren, für Vettern zweiten Gra<strong>de</strong>s 1/16 so g<strong>ro</strong>ß ist wie für<br />
Kin<strong>de</strong>r o<strong>de</strong>r Geschwister“, und so steht es in dieser Auflage.<br />
5 Ich gab <strong>de</strong>r Hoffnung Ausdruck, daß E. O. Wilson in zukünftigen<br />
Veröffentlichungen seine Definition von Familienselektion<br />
in <strong>de</strong>m Sinne än<strong>de</strong>rn möge, daß sie auch Nachkommen<br />
zu <strong>de</strong>n „Verwandten“ zählt. Ich freue mich, daß in Wilsons<br />
Buch On Human Nature das Anstoß erregen<strong>de</strong> „außer Nachkommen“<br />
tatsächlich nicht mehr vorkommt – ich nehme keinerlei<br />
Verdienst daran für mich in Anspruch! Wilson fährt fort:<br />
„Obwohl Verwandtschaft so <strong>de</strong>finiert ist, daß sie Nachkommen<br />
einschließt, wird <strong>de</strong>r Ausdruck Familienselektion gewöhnlich<br />
nur dann ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>t, <strong>wen</strong>n min<strong>de</strong>stens einige an<strong>de</strong>re Verwandte,<br />
beispielsweise Brü<strong>de</strong>r, Schwestern o<strong>de</strong>r Eltern, eben-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 443<br />
falls bet<strong>ro</strong>ffen sind.“ Dies ist bedauerlicherweise eine korrekte<br />
Feststellung über <strong>de</strong>n gewöhnlichen Gebrauch seitens <strong>de</strong>r Biologen<br />
und spiegelt lediglich die Tatsache wi<strong>de</strong>r, daß vielen Biologen<br />
immer noch ein tieferes Verständnis <strong>de</strong>ssen fehlt, worum<br />
es bei Familienselektion überhaupt geht. Sie glauben immer<br />
noch, daß Familienselektion etwas Beson<strong>de</strong>res ist, das über<br />
<strong>de</strong>r gewöhnlichen „Individualselektion“ steht. Sie ist es nicht.<br />
Familienselektion folgt aus <strong>de</strong>n grundlegen<strong>de</strong>n Annahmen <strong>de</strong>s<br />
Neodarwinismus, wie die Nacht auf <strong>de</strong>n Tag folgt.<br />
6 Der Trugschluß, daß die Theorie <strong>de</strong>r Familienselektion unrealistische<br />
Rechenleistungen von Tieren verlangt, wird ohne<br />
Abschwächung von aufeinan<strong>de</strong>rfolgen<strong>de</strong>n Generationen von<br />
Stu<strong>de</strong>nten wie<strong>de</strong>r zum Leben erweckt. Und nicht nur von<br />
unteren Semestern. Das Buch The Use and Abuse of Biology<br />
<strong>de</strong>s renommierten Sozialanth<strong>ro</strong>pologen Marshall Sahlins wäre<br />
nicht weiter erwähnenswert, <strong>wen</strong>n es nicht als „vernichten<strong>de</strong>r<br />
Angriff“ auf die „Soziobiologie“ bejubelt wor<strong>de</strong>n wäre. Das folgen<strong>de</strong><br />
Zitat, im Zusammenhang mit <strong>de</strong>r Frage, ob Familienselektion<br />
beim Menschen funktionieren könnte, ist fast zu schön,<br />
um wahr zu sein:<br />
Im Vorübergehen muß bemerkt wer<strong>de</strong>n, daß die erkenntnistheoretischen<br />
P<strong>ro</strong>bleme, die sich aus <strong>de</strong>m Mangel<br />
an linguistischen Hilfsmitteln zur Berechnung <strong>de</strong>r Verwandtschaftskoeffizienten<br />
r ergeben, einen schweren<br />
Mangel in <strong>de</strong>r Theorie <strong>de</strong>r Familienselektion darstellen.<br />
Brüche kommen in <strong>de</strong>n Sprachen <strong>de</strong>r Welt sehr selten<br />
vor. Es gibt sie im Indogermanischen und in <strong>de</strong>n archaischen<br />
Zivilisationen <strong>de</strong>s Nahen und <strong>de</strong>s Fernen Ostens,<br />
aber sie fehlen im allgemeinen unter <strong>de</strong>n sogenannten<br />
primitiven Völkern. Jäger und Sammler verfügen<br />
gewöhnlich nicht über Zahlensysteme, die über eins,<br />
zwei und drei hinausgehen. Ich verzichte auf Kommentare<br />
zu <strong>de</strong>m sogar noch größeren P<strong>ro</strong>blem, wie Tiere<br />
herausfin<strong>de</strong>n sollen, daß r [ego, Vettern ersten Gra<strong>de</strong>s]<br />
= 1/8.
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 444<br />
Ich zitiere obige äußerst aufschlußreiche Passage nicht zum<br />
ersten Mal und kann auch meine ziemlich ungnädige Antwort<br />
darauf aus Twelve Misun<strong>de</strong>rstandings of Kin Selection zitieren:<br />
Es ist scha<strong>de</strong>, daß Sahlins <strong>de</strong>r Versuchung erlag, „auf<br />
Kommentare zu <strong>de</strong>m ... P<strong>ro</strong>blem, wie Tiere [r] herausfin<strong>de</strong>n<br />
sollen“, zu verzichten. Gera<strong>de</strong> die Absurdität an<br />
<strong>de</strong>r I<strong>de</strong>e, die er lächerlich zu machen versuchte, hätte<br />
geistige Alarmglocken anschlagen sollen. Ein Schnekkenhaus<br />
ist eine vollkommene logarithmische Spirale,<br />
aber wo bewahrt die Schnecke ihre Logarithmentafeln<br />
auf; ja, wie liest sie diese überhaupt, wo doch <strong>de</strong>r Linse<br />
in ihrem Auge das „linguistische Hilfsmittel“ fehlt, um<br />
<strong>de</strong>n Brechungskoeffizienten m zu berechnen? Wie<br />
„fin<strong>de</strong>n“ grüne Pflanzen die Formel <strong>de</strong>s Chlo<strong>ro</strong>phylls<br />
„heraus“?<br />
Wenn wir über Anatomie, Physiologie o<strong>de</strong>r fast je<strong>de</strong>n Aspekt<br />
<strong>de</strong>r Biologie – nicht nur das Verhalten – genauso dächten wie<br />
Sahlins, so wür<strong>de</strong>n wir exakt auf sein nicht existentes P<strong>ro</strong>blem<br />
stoßen. Die Embryonalentwicklung je<strong>de</strong>s Teiles eines<br />
Tier- o<strong>de</strong>r Pflanzenkörpers erfor<strong>de</strong>rt zu ihrer vollständigen<br />
Beschreibung komplizierte Mathematik, aber dies be<strong>de</strong>utet<br />
nicht, daß das Tier o<strong>de</strong>r die Pflanze selbst ein schlauer Mathematiker<br />
sein muß! Sehr hohe Bäume haben gewöhnlich gewaltige<br />
Stützwurzeln, die wie Flügel aus <strong>de</strong>m Fuß ihrer Stämme<br />
herausragen. Bei je<strong>de</strong>r Art nimmt die relative Größe dieser<br />
Stützen mit <strong>de</strong>r Höhe <strong>de</strong>s Baumes zu. Es ist weithin akzeptiert,<br />
daß Form und Größe <strong>de</strong>r Stützwurzeln <strong>de</strong>m ökonomischen<br />
Optimum zum Aufrechthalten <strong>de</strong>s Baumes nahekommen,<br />
obgleich ein Ingenieur recht komplizierte Berechnungen anstellen<br />
müßte, <strong>wen</strong>n er dies beweisen sollte. Es wür<strong>de</strong> we<strong>de</strong>r Sahlins<br />
noch irgend jemand an<strong>de</strong>rem jemals einfallen, die Theorie,<br />
<strong>de</strong>r die Stützwurzeln Genüge tun, einfach mit <strong>de</strong>m Argument<br />
anzuzweifeln, <strong>de</strong>n Bäumen fehlten die mathematischen Kenntnisse,<br />
um die nötigen Berechnungen durchzuführen. Warum<br />
stellt sich dieses P<strong>ro</strong>blem dann im speziellen Fall <strong>de</strong>s durch
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 445<br />
Familienselektion bestimmten Verhaltens? Der Grund kann<br />
nicht sein, daß es sich um Verhalten han<strong>de</strong>lt und nicht um<br />
Anatomie, <strong>de</strong>nn es gibt eine Fülle an<strong>de</strong>rer Beispiele von Verhalten<br />
(ich meine nicht durch Familienselektion bestimmtes<br />
Verhalten), die Sahlins freudig akzeptieren wür<strong>de</strong>, ohne seinen<br />
„erkenntnistheoretischen“ Einwand vorzubringen; <strong>de</strong>nken wir<br />
etwa an meine eigene Illustration <strong>de</strong>r komplizierten Berechnungen,<br />
die wir in einem gewissen Sinne alle vornehmen<br />
müssen, <strong>wen</strong>n wir einen Ball fangen. Man kommt nicht umhin<br />
zu fragen: Gibt es Sozialwissenschaftler, die mit <strong>de</strong>r Theorie <strong>de</strong>r<br />
natürlichen Auslese im allgemeinen einverstan<strong>de</strong>n sind, aber<br />
aus Grün<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>ren Wurzeln möglicherweise in <strong>de</strong>r Geschichte<br />
ihres Fachgebiets liegen, die aber mit <strong>de</strong>r Sache nichts zu tun<br />
haben, verzweifelt etwas – irgend etwas – zu fin<strong>de</strong>n suchen, das<br />
speziell an <strong>de</strong>r Theorie <strong>de</strong>r Familienselektion falsch ist?<br />
7 Die gesamte Thematik <strong>de</strong>s Erkennens von Verwandten hat<br />
seit <strong>de</strong>r <strong>Zeit</strong>, in <strong>de</strong>r ich dieses Buches schrieb, einen g<strong>ro</strong>ßen<br />
Aufschwung genommen. Tiere, wir Menschen eingeschlossen,<br />
scheinen bemerkenswert gut in <strong>de</strong>r Lage zu sein, Verwandte<br />
von Nicht-Verwandten zu unterschei<strong>de</strong>n, häufig anhand ihres<br />
Geruchs. Ein vor kurzem erschienenes Buch, Kin Recognition<br />
in Animals, liefert eine Zusammenfassung <strong>de</strong>s gegenwärtigen<br />
Wissensstan<strong>de</strong>s. Das Kapitel über Menschen von Pamela Wells<br />
zeigt, daß die obige Feststellung („Wir wissen, wer unsere Verwandten<br />
sind, weil man es uns sagt“) <strong>de</strong>r Ergänzung bedarf: Es<br />
gibt zumin<strong>de</strong>st sekundäre Indizien dafür, daß wir in <strong>de</strong>r Lage<br />
sind, uns verschie<strong>de</strong>ner nonverbaler Anhaltspunkte zu bedienen,<br />
einschließlich <strong>de</strong>s Schweißgeruchs unserer Verwandten.<br />
Das ganze Thema ist für mich in <strong>de</strong>m Zitat<br />
all good kumrads you can tell by their altruistic smell<br />
e. e. cummings<br />
zusammengefaßt, mit <strong>de</strong>m Pamela Wells beginnt: Alle guten<br />
Kamera<strong>de</strong>n kann man an ihrem altruistischen Geruch erkennen.
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 446<br />
Es mag neben <strong>de</strong>m Altruismus noch an<strong>de</strong>re Grün<strong>de</strong> dafür<br />
geben, daß Verwandte einan<strong>de</strong>r erkennen sollten. Ein solcher<br />
Grund könnte sein, daß sie das Gleichgewicht zwischen <strong>de</strong>r<br />
Fortpflanzung außerhalb und innerhalb <strong>de</strong>r Verwandtschaft<br />
wahren wollen, wie wir in <strong>de</strong>r nächsten Nachbemerkung sehen<br />
wer<strong>de</strong>n.<br />
8 Ein letales Gen ist ein Gen, das seinen Träger tötet. Ein<br />
rezessives letales Gen übt, wie je<strong>de</strong>s an<strong>de</strong>re rezessive Gen,<br />
seinen Einfluß nur dann aus, <strong>wen</strong>n es doppelt auftritt. Rezessive<br />
letale Gene halten sich im Genpool, da die meisten Individuen<br />
sie lediglich in einer Kopie besitzen und daher niemals<br />
ihren Einfluß spüren. Je<strong>de</strong>s einzelne letale Gen ist selten, <strong>de</strong>nn<br />
<strong>wen</strong>n es sich jemals weiter verbreitet, trifft es auf Kopien seiner<br />
selbst und tötet seine Träger.<br />
Doch möglicherweise gibt es zahlreiche verschie<strong>de</strong>ne letale<br />
Gene, so daß wir alle von ihnen durchsetzt sind. Die Schätzwerte<br />
darüber, wie viele solcher Gene im menschlichen Genpool<br />
lauern, variieren. In einigen Büchern wird die durchschnittliche<br />
Zahl letaler Gene p<strong>ro</strong> Person mit nicht <strong>wen</strong>iger als zwei<br />
angegeben. Wenn irgen<strong>de</strong>in beliebiger Mann mit irgen<strong>de</strong>iner<br />
beliebigen Frau Kin<strong>de</strong>r zeugt, so ist es wahrscheinlich, daß<br />
seine letalen Gene nicht genau ihren letalen Genen entsprechen<br />
und ihre Kin<strong>de</strong>r keinen Scha<strong>de</strong>n nehmen. Wenn aber ein<br />
Bru<strong>de</strong>r mit seiner Schwester ein Kind zeugt o<strong>de</strong>r ein Vater<br />
mit seiner Tochter, so liegen die Dinge auf unheilvolle Weise<br />
an<strong>de</strong>rs. Selbst <strong>wen</strong>n meine rezessiven letalen Gene wie auch<br />
die meiner Schwester in <strong>de</strong>r Gesamtpopulation äußerst selten<br />
sind, besteht eine beunruhigend g<strong>ro</strong>ße Wahrscheinlichkeit, daß<br />
ihre und meine i<strong>de</strong>ntisch sind. Rein rechnerisch wird für je<strong>de</strong>s<br />
rezessive letale Gen, das ich besitze, eines von acht Kin<strong>de</strong>rn,<br />
die ich mit meiner Schwester zeuge, tot geboren wer<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r<br />
jung sterben. Genetisch gesehen ist Sterben im Jugendalter<br />
übrigens noch „letaler“ als tot geboren wer<strong>de</strong>n: Ein totgeborenes<br />
Kind kostet seine Eltern <strong>wen</strong>iger lebenswichtige <strong>Zeit</strong> und<br />
Energie. Wie auch immer wir es betrachten, Inzucht mit nahen<br />
Verwandten ist nicht nur ein <strong>wen</strong>ig schädlich. Sie ist potenti-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 447<br />
ell katast<strong>ro</strong>phal. Möglicherweise gibt es in <strong>de</strong>r Natur keinen<br />
stärkeren Selektionsdruck als <strong>de</strong>n zugunsten <strong>de</strong>s aktiven Vermei<strong>de</strong>ns<br />
von Inzucht.<br />
Die Anth<strong>ro</strong>pologen, die Einwän<strong>de</strong> gegen die darwinistische<br />
Erklärung <strong>de</strong>r Inzuchtvermeidung erheben, sind sich vielleicht<br />
nicht darüber im klaren, wie stark das Beweismaterial ist,<br />
gegen das sie antreten. Ihre Gegenargumente sind gelegentlich<br />
so schwach, daß sie wie ein verzweifeltes Vorbringen von<br />
Nebenmaterial erscheinen. Sie lauten zum Beispiel häufig:<br />
„Wenn die natürliche Selektion uns wirklich eine instinktive<br />
Abneigung gegen Inzucht eingebaut hätte, brauchten wir diese<br />
nicht zu verbieten. Das Tabu besteht nur, weil die Menschen<br />
inzestuöse Wünsche haben. Daher kann die Ablehnung <strong>de</strong>s<br />
Inzests keine „biologische“ Funktion haben, sie muß rein<br />
„sozial“ sein.“ Dieser Einwand ist mehr o<strong>de</strong>r <strong>wen</strong>iger so, als<br />
wollte man sagen: „Autos brauchen kein Zündschloß, <strong>de</strong>nn sie<br />
haben Schlösser an <strong>de</strong>n Türen. Daher können Zündschlösser<br />
keine Vorrichtungen gegen Diebstahl sein; sie müssen irgen<strong>de</strong>ine<br />
rein rituelle Be<strong>de</strong>utung haben!“ Anth<strong>ro</strong>pologen betonen<br />
auch gern, daß verschie<strong>de</strong>ne Kulturen verschie<strong>de</strong>ne Tabus, ja<br />
sogar verschie<strong>de</strong>ne Definitionen <strong>de</strong>r Verwandtschaft haben. Sie<br />
scheinen zu glauben, auch dies unterminiere die Bemühungen,<br />
die Inzestvermeidung darwinistisch zu erklären. Aber man<br />
könnte genausogut sagen, <strong>de</strong>r Sexualtrieb könne keine Anpassung<br />
im Darwinschen Sinne sein, weil verschie<strong>de</strong>ne Kulturen<br />
bei <strong>de</strong>r Kopulation unterschiedliche Positionen bevorzugen. Es<br />
erscheint mir höchst plausibel, daß das Vermei<strong>de</strong>n von Inzucht<br />
beim Menschen, nicht <strong>wen</strong>iger als bei an<strong>de</strong>ren Tieren, die Konsequenz<br />
einer starken natürlichen Auslese ist.<br />
Nicht nur die Paarung mit <strong>de</strong>nen, die uns genetisch zu nahe<br />
stehen, ist ungünstig. Auch die Vereinigung von Partnern sehr<br />
unterschiedlicher Herkunft kann – wegen eventueller genetischer<br />
Unverträglichkeit – Nachteile mit sich bringen. Wo genau<br />
<strong>de</strong>r i<strong>de</strong>ale Mittelweg liegt, ist nicht leicht vorherzusagen. Sollte<br />
man sich mit einem Vetter ersten Gra<strong>de</strong>s paaren? Mit einem<br />
Vetter zweiten o<strong>de</strong>r dritten Gra<strong>de</strong>s? Patrick Bateson hat versucht,<br />
Japanwachteln zu fragen, wo ihre Präferenzen liegen. In
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 448<br />
einer Versuchsanordnung namens Amsterdam-Apparat konnten<br />
die Vögel unter Angehörigen <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren Geschlechts<br />
wählen, die hinter Miniaturschaufenstern ausgestellt waren.<br />
Sie zogen Vettern ersten Gra<strong>de</strong>s sowohl Geschwistern als auch<br />
nicht verwandten Vögeln vor. Weitere Experimente ließen<br />
darauf schließen, daß junge Wachteln sich die Merkmale ihrer<br />
Nestgefährten einprägen und in ihrem späteren Leben dazu<br />
neigen, Geschlechtspartner zu wählen, die diesen ähnlich, aber<br />
nicht zu ähnlich sind.<br />
Die Wachteln scheinen Inzucht also dadurch zu vermei<strong>de</strong>n,<br />
daß sie diejenigen, mit <strong>de</strong>nen sie aufgewachsen sind, von sich<br />
aus nicht begehren. An<strong>de</strong>re Tiere befolgen statt <strong>de</strong>ssen soziale<br />
Gesetze, von <strong>de</strong>r Gruppe durchgesetzte Regeln, die <strong>de</strong>r<br />
Verteilung <strong>de</strong>r Art im Lebensraum dienen. Heranwachsen<strong>de</strong><br />
männliche Lö<strong>wen</strong> zum Beispiel wer<strong>de</strong>n aus <strong>de</strong>m elterlichen<br />
Ru<strong>de</strong>l vertrieben, wo ihre weiblichen Verwandten bleiben und<br />
sie in Versuchung führen wür<strong>de</strong>n. Sie pflanzen sich nur fort,<br />
<strong>wen</strong>n es ihnen gelingt, die Herrschaft über ein an<strong>de</strong>res Ru<strong>de</strong>l<br />
zu e<strong>ro</strong>bern. In Schimpansen- und Gorillagesellschaften sind es<br />
gewöhnlich die jungen Weibchen, die sich entfernen, um Partner<br />
in an<strong>de</strong>ren Gruppen zu suchen. Bei<strong>de</strong> Mechanismen <strong>de</strong>r<br />
Ausbreitung, ebenso wie das System <strong>de</strong>r Wachteln, fin<strong>de</strong>t man<br />
auch in Kulturen unserer eigenen Art.<br />
9 Dies trifft wahrscheinlich auf die meisten Vogelarten zu. Dennoch<br />
sollten wir nicht erstaunt sein, <strong>wen</strong>n wir herausfin<strong>de</strong>n,<br />
daß einige Vögel in <strong>de</strong>n Nestern ihrer eigenen Art als Parasiten<br />
auftreten. Und in <strong>de</strong>r Tat wird dieses Phänomen bei immer<br />
mehr Arten ent<strong>de</strong>ckt, vor allem seit man neue molekularbiologische<br />
Techniken benutzt, um festzustellen, wer mit wem verwandt<br />
ist. Die Theorie <strong>de</strong>s Genegoismus könnte sogar erwarten<br />
lassen, daß innerartlicher Brutparasitismus noch verbreiteter<br />
ist, als wir bis heute wissen.<br />
10 Das Gewicht, das Bertram auf die Familienselektion als<br />
Hauptmotor für die Zusammenarbeit unter Lö<strong>wen</strong> legt, ist von<br />
C. Packer und A. Pusey in Frage gestellt wor<strong>de</strong>n. Sie behaup-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 449<br />
ten, daß in vielen Ru<strong>de</strong>ln die bei<strong>de</strong>n Lö<strong>wen</strong>männchen nicht<br />
miteinan<strong>de</strong>r verwandt sind. Packer und Pusey vertreten die<br />
These, wechselseitiger Altruismus sei als Erklärung für die<br />
Zusammenarbeit unter Lö<strong>wen</strong> min<strong>de</strong>stens ebenso wahrscheinlich<br />
wie die Familienselektion. Wahrscheinlich haben bei<strong>de</strong><br />
Seiten recht. In Kapitel 12 betone ich, daß Han<strong>de</strong>ln auf Gegenseitigkeit<br />
(„Wie du mir, so ich dir“) nur dann durch Evolution<br />
entstehen kann, <strong>wen</strong>n anfänglich eine kritische Min<strong>de</strong>stzahl<br />
von Individuen mit entsprechen<strong>de</strong>m Verhalten vorhan<strong>de</strong>n ist.<br />
Dadurch wird eine vernünftige Chance sichergestellt, daß ein<br />
möglicher Partner ein „Erwi<strong>de</strong>rer“ ist. In diesem Zusammenhang<br />
mag Verwandtschaft eine entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Rolle spielen.<br />
Verwandte sind einan<strong>de</strong>r von Natur aus ähnlich, so daß die kritische<br />
Häufigkeit innerhalb einer Familie gegeben sein kann,<br />
selbst <strong>wen</strong>n sie in <strong>de</strong>r Population als Ganzes nicht erreicht wird.<br />
Vielleicht begann die Zusammenarbeit unter Lö<strong>wen</strong> durch die<br />
Familieneffekte, wie Bertram sie anführt, und dies schuf die<br />
erfor<strong>de</strong>rlichen Voraussetzungen zur selektiven Begünstigung<br />
<strong>de</strong>r Rezip<strong>ro</strong>zität. Die Auseinan<strong>de</strong>rsetzung in bezug auf die<br />
Lö<strong>wen</strong> kann nur anhand von Fakten beigelegt wer<strong>de</strong>n, und<br />
Fakten sagen uns stets nur etwas über <strong>de</strong>n speziellen Fall,<br />
nicht über die allgemeine theoretische Behauptung.<br />
11 Es ist jetzt weithin verstan<strong>de</strong>n, daß ein eineiiger Zwilling<br />
theoretisch ebenso wertvoll für mich ist, wie ich es selbst bin<br />
– solange <strong>de</strong>r Zwilling wirklich garantiert eineiig ist. Nicht so<br />
weithin verstan<strong>de</strong>n ist die Tatsache, daß das gleiche auch auf<br />
eine garantiert monogame Mutter zutrifft. Wenn ein Individuum<br />
mit Sicherheit weiß, daß seine Mutter weiterhin – und<br />
ausschließlich – die Kin<strong>de</strong>r seines Vaters gebären wird, so ist<br />
die Mutter für dieses Individuum genetisch ebenso wertvoll<br />
wie ein eineiiger Zwilling o<strong>de</strong>r wie das Individuum selbst. Stellen<br />
wir uns vor, jemand sei eine Nachkommen p<strong>ro</strong>duzieren<strong>de</strong><br />
Maschine. Dann ist seine monogame Mutter eine Maschine,<br />
die leibliche Geschwister p<strong>ro</strong>duziert, und Vollgeschwister sind<br />
genetisch ebenso wertvoll wie eigene Nachkommen. Natürlich<br />
lassen wir hier alle möglichen praktischen Überlegungen außer
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 450<br />
acht. Beispielsweise ist die Mutter eines Individuums älter<br />
als dieses Individuum, obgleich die Frage, ob dies sie für die<br />
zukünftige Rep<strong>ro</strong>duktion besser o<strong>de</strong>r schlechter geeignet sein<br />
läßt als das Individuum selbst, von <strong>de</strong>n beson<strong>de</strong>ren Umstän<strong>de</strong>n<br />
abhängt – eine allgemeingültige Regel gibt es dafür nicht.<br />
Die obige Argumentation geht von <strong>de</strong>r Annahme aus, daß<br />
die Mutter <strong>de</strong>s Individuums mit absoluter Sicherheit weiterhin<br />
Kin<strong>de</strong>r seines Vaters, aber keine Kin<strong>de</strong>r von an<strong>de</strong>ren<br />
männlichen Partnern erzeugt. Das Ausmaß, in <strong>de</strong>m man sich<br />
darauf verlassen kann, ist von <strong>de</strong>m Paarungssystem <strong>de</strong>r Art<br />
abhängig. Wenn das Individuum einer Art angehört, in <strong>de</strong>r<br />
P<strong>ro</strong>miskuität die Regel ist, kann es nicht damit rechnen, daß<br />
die Nachkommen seiner Mutter seine Vollgeschwister sind.<br />
Sogar unter i<strong>de</strong>alen monogamen Verhältnissen gibt es einen<br />
scheinbar unwi<strong>de</strong>rlegbaren Grund dafür, daß es für das Individuum<br />
<strong>wen</strong>iger sicher ist, auf seine Mutter zu setzen als auf sich<br />
selbst: Sein Vater kann sterben. Wenn <strong>de</strong>r Vater <strong>de</strong>s Individuums<br />
tot ist, kann es von seiner Mutter beim besten Willen kaum<br />
erwarten, daß sie weiterhin <strong>de</strong>ssen Kin<strong>de</strong>r zur Welt bringt,<br />
o<strong>de</strong>r etwa doch?<br />
Nun, tatsächlich kann es das doch. Die Umstän<strong>de</strong>, unter<br />
<strong>de</strong>nen dies möglich ist, sind aus offensichtlichen Grün<strong>de</strong>n von<br />
g<strong>ro</strong>ßem Interesse für die Theorie <strong>de</strong>r Familienselektion. Als<br />
Säugetiere sind wir an die Vorstellung gewöhnt, daß die Geburt<br />
nach einem feststehen<strong>de</strong>n und relativ kurzen <strong>Zeit</strong>intervall auf<br />
die Kopulation folgt. Bei uns Menschen kann ein Mann nur<br />
dann posthum <strong>de</strong>r Vater eines Kin<strong>de</strong>s wer<strong>de</strong>n, <strong>wen</strong>n er nicht<br />
länger als neun Monate tot ist (es sei <strong>de</strong>nn, seine Spermien<br />
wur<strong>de</strong>n in einer Samenbank tiefgef<strong>ro</strong>ren). Es gibt jedoch mehrere<br />
Insektengruppen, bei <strong>de</strong>nen das Weibchen Sperma im<br />
Innern seines Körpers aufbewahrt, das für sein ganzes Leben<br />
reicht und das es im Laufe <strong>de</strong>r Jahre auf seine Eier verteilt, um<br />
sie zu besamen, oft lange nach <strong>de</strong>m Tod seines Partners. Ein<br />
Individuum einer Art, die diese Eigenart besitzt, kann potentiell<br />
wirklich sehr sicher sein, daß es – genetisch gesehen – weiterhin<br />
auf seine Mutter setzen kann. Eine weibliche Ameise<br />
paart sich nur auf einem einzigen Hochzeitsflug zu Beginn
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 451<br />
ihres Erwachsenenlebens. Dann verliert sie ihre Flügel und<br />
paart sich nie wie<strong>de</strong>r. Zugegeben, bei vielen Ameisenarten<br />
kopuliert das Weibchen auf seinem Hochzeitsflug mit mehreren<br />
Männchen. Wenn das Individuum aber einer jener Arten<br />
angehört, <strong>de</strong>ren Weibchen stets monogam sind, so kann es in<br />
genetischer Hinsicht min<strong>de</strong>stens ebenso sicher auf seine Mutter<br />
setzen wie auf sich selbst. Der entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Unterschied zwischen<br />
einer jungen Ameise und einem jungen Säugetier ist,<br />
daß es für die Ameise keine Be<strong>de</strong>utung hat, ob ihr Vater tot<br />
ist o<strong>de</strong>r nicht. (Höchstwahrscheinlich ist er tatsächlich tot!) Sie<br />
kann ziemlich sicher sein, daß das Sperma ihres Vaters diesen<br />
überlebt und daß ihre Mutter weiterhin Vollgeschwister von<br />
ihr selbst p<strong>ro</strong>duzieren kann.<br />
Wenn wir an <strong>de</strong>n evolutionären Ursprüngen von Geschwisterfürsorge<br />
und Phänomenen wie <strong>de</strong>n Insektensoldaten interessiert<br />
sind, sollten wir also mit beson<strong>de</strong>rer Aufmerksamkeit<br />
jene Arten betrachten, <strong>de</strong>ren Weibchen ihr Leben lang Sperma<br />
speichern. Im Fall von Ameisen, Bienen und Wespen besteht,<br />
wie in Kapitel 10 erörtert wird, eine genetische Beson<strong>de</strong>rheit –<br />
Haplodiploidie –, die diese Arten möglicherweise prädisponiert<br />
hat, eine ausgeprägte soziale Organisation zu entwickeln.<br />
Ich behaupte aber, daß die Haplodiploidie nicht <strong>de</strong>r einzige<br />
prädisponieren<strong>de</strong> Faktor ist. Die Eigenart <strong>de</strong>s lebenslangen<br />
Spermaspeicherns ist möglicherweise min<strong>de</strong>stens ebenso wichtig<br />
gewesen. Durch sie kann eine Mutter unter i<strong>de</strong>alen Bedingungen<br />
genetisch ebenso wertvoll und ebenso <strong>de</strong>r „altruistischen“<br />
Hilfe wert sein wie ein eineiiger Zwilling.<br />
12 Diese Bemerkung läßt mich heute vor Scham erröten. Wie<br />
ich inzwischen weiß, haben die Sozialanth<strong>ro</strong>pologen nicht nur<br />
etwas über <strong>de</strong>n „Onkel-Effekt“ zu sagen: Viele von ihnen haben<br />
seit Jahren über kaum etwas an<strong>de</strong>res gesp<strong>ro</strong>chen! Der Effekt,<br />
<strong>de</strong>n ich „vorhersagte“, ist in zahlreichen Kulturen eine empirisch<br />
belegte Tatsache, die <strong>de</strong>n Anth<strong>ro</strong>pologen seit Jahrzehnten<br />
gut bekannt ist. Als ich die spezifische These vortrug, daß<br />
„in einer Gesellschaft mit einem hohen Grad an mütterlicher<br />
Untreue Onkel mütterlicherseits selbstloser sein [sollten] als
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 452<br />
›Väter‹, da sie mehr Veranlassung zu <strong>de</strong>r Überzeugung haben,<br />
mit <strong>de</strong>m Kind verwandt zu sein“, übersah ich außer<strong>de</strong>m lei<strong>de</strong>r<br />
die Tatsache, daß Richard Alexan<strong>de</strong>r bereits <strong>de</strong>nselben Vorschlag<br />
gemacht hatte (in späteren Nachdrucken <strong>de</strong>r ersten<br />
Auflage dieses Buches wird darauf in einer Fußnote hingewiesen).<br />
Die Hypothese wur<strong>de</strong> von Alexan<strong>de</strong>r selbst und an<strong>de</strong>ren<br />
getestet, wobei man quantitative Ergebnisse aus <strong>de</strong>r anth<strong>ro</strong>pologischen<br />
Literatur verwandte – mit positivem Resultat.<br />
7. Familienplanung<br />
1 Wynne-Edwards wird im allgemeinen freundlicher behan<strong>de</strong>lt,<br />
als es bei aka<strong>de</strong>mischen Häretikern oft <strong>de</strong>r Fall ist. Zwar<br />
hatte er ohne je<strong>de</strong>n Zweifel unrecht, doch hält man ihm weithin<br />
zugute (obwohl meiner persönlichen Meinung nach an diesem<br />
Punkt ziemlich übertrieben wird), daß er die Leute dadurch zu<br />
einem schärferen Nach<strong>de</strong>nken über die Selektion gezwungen<br />
hat. Er selbst brachte 1978 einen g<strong>ro</strong>ßmütigen Wi<strong>de</strong>rruf vor, als<br />
er schrieb:<br />
Gegenwärtig herrscht unter <strong>de</strong>n theoretischen Biologen<br />
allgemeiner Konsens darüber, daß keine glaubwürdigen<br />
Mo<strong>de</strong>lle aufgestellt wer<strong>de</strong>n können, wie <strong>de</strong>r<br />
langsame Marsch <strong>de</strong>r Gruppenauslese die viel raschere<br />
Verbreitung von egoistischen Genen, die Gewinne an<br />
individueller Fitneß bringen, überholen könnte. Ich<br />
akzeptiere daher ihre Ansicht.<br />
So g<strong>ro</strong>ßmütig das Über<strong>de</strong>nken seiner Theorie auch gewesen<br />
sein mag, er hat es lei<strong>de</strong>r nochmals überdacht: Sein jüngstes<br />
Buch wi<strong>de</strong>rruft <strong>de</strong>n Wi<strong>de</strong>rruf.<br />
Die Gruppenselektion, wie wir alle sie seit langem verstehen,<br />
ist unter Biologen heute sogar noch stärker in Ungna<strong>de</strong><br />
gefallen als zu <strong>de</strong>r <strong>Zeit</strong>, als meine erste Auflage veröffentlicht<br />
wur<strong>de</strong>. Allerdings könnte ich <strong>de</strong>m Leser verzeihen, <strong>wen</strong>n er<br />
das Gegenteil vermutet: Es ist – beson<strong>de</strong>rs in Amerika – eine
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 453<br />
Generation herangewachsen, die mit <strong>de</strong>m Wort „Gruppenselektion“<br />
wie mit Konfetti um sich wirft. Sie streut es über<br />
alle möglichen Arten von Fällen aus, die zuvor ein<strong>de</strong>utig und<br />
p<strong>ro</strong>blemlos als etwas an<strong>de</strong>res aufgefaßt wur<strong>de</strong>n (und von uns<br />
an<strong>de</strong>ren immer noch so aufgefaßt wer<strong>de</strong>n), etwa als Familienselektion.<br />
Ich nehme an, es ist zwecklos, über solche semantischen<br />
Parvenus allzu ärgerlich zu wer<strong>de</strong>n. Nichts<strong>de</strong>sto<strong>wen</strong>iger:<br />
Die ganze Frage <strong>de</strong>r Gruppenselektion war vor einem<br />
Jahrzehnt von John Maynard Smith und an<strong>de</strong>ren sehr zufrie<strong>de</strong>nstellend<br />
beigelegt wor<strong>de</strong>n, und es ist irritierend festzustellen,<br />
daß wir jetzt in zwei Generationen und auch in zwei Nationen<br />
aufgespalten sind, die nur durch eine gemeinsame Sprache<br />
getrennt sind. Es ist beson<strong>de</strong>rs unglücklich, daß Philosophen,<br />
die jetzt verspätet das Feld betreten, gleich zu Beginn von<br />
dieser jüngsten Laune <strong>de</strong>r Terminologie verwirrt wer<strong>de</strong>n. Ich<br />
empfehle Alan Grafens Essay Natural Selection, Kin Selection<br />
and G<strong>ro</strong>up Selection als ein gedanklich klares und, wie ich hoffe,<br />
nunmehr <strong>de</strong>finitives Ausräumen <strong>de</strong>s Neo-Gruppenselektionsp<strong>ro</strong>blems.<br />
8. Der Krieg <strong>de</strong>r Generationen<br />
1 Robert Trivers, <strong>de</strong>ssen Veröffentlichungen in <strong>de</strong>n frühen<br />
siebziger Jahren zu meinen wichtigsten Inspirationen beim<br />
Verfassen <strong>de</strong>r ersten Auflage dieses Buches gehörten und von<br />
<strong>de</strong>ssen Gedanken vor allem Kapitel 8 geprägt ist, hat endlich<br />
sein eigenes Buch, Social Evolution, geschrieben. Ich empfehle<br />
es nicht nur um seines Inhalts willen, son<strong>de</strong>rn auch wegen<br />
seines Stils: gedanklich klar, wissenschaftlich korrekt, aber mit<br />
gera<strong>de</strong> genug Anth<strong>ro</strong>pomorphismen, um Wichtigtuer auf <strong>de</strong>n<br />
Arm zu nehmen, und gewürzt mit persönlichen, autobiographischen<br />
Nebenbemerkungen. Ich kann nicht umhin, eine dieser<br />
letzteren zu zitieren – sie ist einfach zu charakteristisch. Trivers<br />
beschreibt seine Erregung beim Beobachten <strong>de</strong>r Beziehung<br />
zwischen zwei rivalisieren<strong>de</strong>n Pavianmännchen in Kenia:<br />
„Es gab noch einen an<strong>de</strong>ren Grund für meine Aufregung, und<br />
das war eine unbewußte I<strong>de</strong>ntifikation mit Arthur. Arthur war
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 454<br />
ein g<strong>ro</strong>ßartiger Bursche in <strong>de</strong>r Blüte seiner Jahre ...“ Trivers’<br />
neues Kapitel über <strong>de</strong>n Konflikt zwischen Eltern und ihren<br />
Jungen bringt das Thema auf <strong>de</strong>n neuesten Stand. Viel ist<br />
seiner Arbeit aus <strong>de</strong>m Jahre 1974 nicht hinzuzufügen, abgesehen<br />
von einigen neuen faktischen Beispielen. Die Theorie hat<br />
<strong>de</strong>n Test <strong>de</strong>r <strong>Zeit</strong> bestan<strong>de</strong>n. Mehr ins Detail gehen<strong>de</strong> mathematische<br />
und genetische Mo<strong>de</strong>lle haben bestätigt, daß Trivers’<br />
größtenteils verbale Beweisführung in <strong>de</strong>r Tat aus <strong>de</strong>r<br />
gegenwärtig akzeptierten Darwinschen Theorie folgt.<br />
2 Alexan<strong>de</strong>r hat, in seinem 1980 veröffentlichten Buch Darwinism<br />
and Human Affairs (Seite 39), g<strong>ro</strong>ßzügig zugegeben,<br />
daß er unrecht hatte, als er behauptete, <strong>de</strong>r Sieg <strong>de</strong>r Eltern in<br />
<strong>de</strong>m Konflikt zwischen Eltern und ihren Jungen folge unausweichlich<br />
aus grundlegen<strong>de</strong>n darwinistischen Annahmen. Es<br />
kommt mir jetzt so vor, als könne seine These, daß die Eltern<br />
im Kampf <strong>de</strong>r Generationen einen asymmetrischen Vorteil<br />
gegenüber ihren Jungen genießen, durch ein Argument an<strong>de</strong>rer<br />
Art gestützt wer<strong>de</strong>n, mit <strong>de</strong>m mich Eric Charnov bekannt<br />
machte.<br />
Charnov schrieb über staatenbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Insekten und die<br />
Ursprünge unfruchtbarer Kasten, aber sein Argument hat<br />
eine allgemeinere Gültigkeit, und ich wer<strong>de</strong> es in allgemeiner<br />
Form ausdrücken. Stellen wir uns ein junges Weibchen einer<br />
monogamen Art – nicht not<strong>wen</strong>digerweise ein Insekt – auf<br />
<strong>de</strong>r Schwelle zum Erwachsenenleben vor. Es steht vor <strong>de</strong>m<br />
Dilemma, ob es das Nest verlassen und versuchen soll, sich auf<br />
sich allein gestellt zu rep<strong>ro</strong>duzieren, o<strong>de</strong>r ob es im elterlichen<br />
Nest bleiben und bei <strong>de</strong>r Aufzucht seiner jüngeren Brü<strong>de</strong>r und<br />
Schwestern mithelfen soll. Auf Grund <strong>de</strong>r Fortpflanzungsgewohnheiten<br />
seiner Art kann es darauf vertrauen, daß seine<br />
Mutter ihm noch für eine lange <strong>Zeit</strong> weiterhin Brü<strong>de</strong>r und<br />
Schwestern schenken wird. Nach Hamiltons Logik sind diese<br />
Geschwister für das Weibchen genetisch ebenso „wertvoll“,<br />
wie seine eigenen Nachkommen dies wären. Soweit es um<br />
<strong>de</strong>n genetischen Verwandtschaftsgrad geht, sind die bei<strong>de</strong>n<br />
Handlungsmöglichkeiten für das junge Weibchen gleich; ob es
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 455<br />
geht o<strong>de</strong>r bleibt, macht für es selbst keinen Unterschied. Aber<br />
für seine Eltern ist es alles an<strong>de</strong>re als gleichgültig, was es tut.<br />
Vom Standpunkt seiner alten Mutter aus gesehen, geht es um<br />
die Entscheidung zwischen Enkeln und Kin<strong>de</strong>rn. Neue Kin<strong>de</strong>r<br />
sind, genetisch gesehen, doppelt so wertvoll wie neue Enkel.<br />
Wenn wir im Zusammenhang mit <strong>de</strong>r Frage, ob die Nachkommen<br />
das Nest verlassen o<strong>de</strong>r bleiben und im Nest mithelfen,<br />
von einem Konflikt zwischen Eltern und Nachkommen sprechen,<br />
han<strong>de</strong>lt es sich nach Charnovs Ansicht um einen Konflikt,<br />
<strong>de</strong>n die Eltern leicht für sich entschei<strong>de</strong>n können, und<br />
zwar aus <strong>de</strong>m sehr guten Grund, daß nur sie ihn überhaupt als<br />
Konflikt sehen!<br />
Es ist ein bißchen wie ein Wettlauf zwischen zwei Athleten,<br />
bei <strong>de</strong>m man <strong>de</strong>m einen 1000 Mark für <strong>de</strong>n Fall seines Sieges<br />
versp<strong>ro</strong>chen hat, seinem Gegner hingegen die gleiche Summe<br />
unabhängig davon, ob er gewinnt o<strong>de</strong>r verliert. In einem solchen<br />
Fall wür<strong>de</strong> man erwarten, daß <strong>de</strong>r erste Läufer sich mehr<br />
anstrengt und daß er, <strong>wen</strong>n die zwei sonst gleich gut sind, wahrscheinlich<br />
gewinnen wird. Tatsächlich ist Charnovs Argument<br />
stärker, als dieser Vergleich erkennen läßt, weil die Kosten <strong>de</strong>s<br />
Schnellaufens nicht so hoch sind, daß sie viele Leute abschrekken,<br />
ob sie nun eine finanzielle Belohnung dafür erhalten o<strong>de</strong>r<br />
nicht. Solche olympischen I<strong>de</strong>ale sind ein zu g<strong>ro</strong>ßer Luxus für<br />
die darwinistischen Spiele: Anstrengung in eine Richtung wird<br />
immer in Form von verlorener Anstrengung in eine an<strong>de</strong>re<br />
Richtung bezahlt. Es ist so, als ob die Wahrscheinlichkeit,<br />
zukünftige Rennen zu gewinnen, infolge von Erschöpfung um<br />
so weiter abnimmt, je mehr Anstrengung man in irgen<strong>de</strong>in<br />
beliebiges Wettrennen steckt.<br />
Die Bedingungen wer<strong>de</strong>n von Art zu Art verschie<strong>de</strong>n sein,<br />
so daß wir nicht immer die Resultate darwinistischer Spiele<br />
vorhersagen können. Wenn wir aber nur die Nähe <strong>de</strong>r genetischen<br />
Verwandtschaft in Betracht ziehen und ein monogames<br />
Begattungssystem zugrun<strong>de</strong> legen (bei <strong>de</strong>m die Tochter<br />
sicher sein kann, daß ihre Geschwister Vollgeschwister sind),<br />
können wir erwarten, daß eine alte Mutter ihre junge erwachsene<br />
Tochter mit Erfolg dazu bringen kann, zu bleiben und
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 456<br />
mitzuhelfen. Die Mutter hat alles zu gewinnen, während die<br />
Tochter keinen Anreiz haben wird, <strong>de</strong>n Überzeugungskünsten<br />
ihrer Mutter zu wi<strong>de</strong>rstehen, weil sie genetisch <strong>de</strong>n möglichen<br />
Alternativen gegenüber indifferent ist.<br />
Wie<strong>de</strong>r einmal ist es wichtig zu betonen, daß dies ein „Unter<br />
sonst gleichen Voraussetzungen“-Argument ist. Obwohl die<br />
übrigen Voraussetzungen gewöhnlich nicht gleich sein wer<strong>de</strong>n,<br />
könnte Charnovs Beweisführung für Alexan<strong>de</strong>r o<strong>de</strong>r jemand<br />
an<strong>de</strong>ren nützlich sein, <strong>de</strong>r eine Theorie <strong>de</strong>r elterlichen Manipulation<br />
vertritt. Auf je<strong>de</strong>n Fall sind Alexan<strong>de</strong>rs praktische<br />
Argumente zugunsten eines zu erwarten<strong>de</strong>n elterlichen Sieges<br />
– Eltern sind größer, stärker und so weiter – stichhaltig.<br />
9. Der Krieg <strong>de</strong>r Geschlechter<br />
1 Wie so oft verbirgt auch dieser Eingangssatz ein implizites<br />
„unter sonst gleichen Voraussetzungen“. Selbstverständlich<br />
haben Partner eine ganze Menge zu gewinnen, <strong>wen</strong>n sie zusammenarbeiten.<br />
Dies wird das ganze Kapitel hindurch immer<br />
wie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>utlich. Denn schließlich ist es wahrscheinlich, daß<br />
Gatten miteinan<strong>de</strong>r ein Nichtnullsummenspiel spielen, das<br />
heißt ein Spiel, bei <strong>de</strong>m bei<strong>de</strong> ihre Gewinne durch Zusammenarbeit<br />
vergrößern können und nicht <strong>de</strong>r Gewinn <strong>de</strong>s einen<br />
zwangsläufig <strong>de</strong>r Verlust <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren ist. (Ich wer<strong>de</strong> diesen<br />
Gedanken in Kapitel 12 erklären.) Dies ist eine <strong>de</strong>r Stellen im<br />
Buch, an <strong>de</strong>nen mein Ton zu weit in Richtung <strong>de</strong>r zynischen,<br />
egoistischen Sichtweise <strong>de</strong>s Lebens ausgeschlagen ist. Zu jener<br />
<strong>Zeit</strong> schien das not<strong>wen</strong>dig, da die damals vorherrschen<strong>de</strong> Sicht<br />
<strong>de</strong>r Paarbildung im Tierreich allzuweit in die entgegengesetzte<br />
Richtung ging. Nahezu überall ging man völlig unkritisch davon<br />
aus, daß Partner unverän<strong>de</strong>rlich miteinan<strong>de</strong>r kooperieren. Die<br />
Möglichkeit <strong>de</strong>r Ausbeutung wur<strong>de</strong> nicht einmal in Betracht<br />
gezogen. In diesem historischen Zusammenhang ist <strong>de</strong>r offensichtliche<br />
Zynismus meines Eingangssatzes verständlich, doch<br />
heute wür<strong>de</strong> ich einen mil<strong>de</strong>ren Ton anschlagen. In ähnlicher<br />
Weise erscheinen mir heute meine Bemerkungen über die
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 457<br />
menschlichen Geschlechter<strong>ro</strong>llen naiv in ihrer Ausdrucksweise.<br />
Zwei Bücher, die sich ausführlicher mit <strong>de</strong>r Evolution<br />
<strong>de</strong>r menschlichen Geschlechtsunterschie<strong>de</strong> befassen, sind Sex,<br />
Evolution and Behavior von Martin Daly und Margo Wilson<br />
sowie Donald Symons’ The Evolution of Human Sexuality.<br />
2 Es scheint heute irreführend, <strong>de</strong>n Größenunterschied zwischen<br />
Spermien und Eizellen als Grundlage <strong>de</strong>r Geschlechter<strong>ro</strong>llen<br />
zu betonen. Selbst <strong>wen</strong>n ein einzelnes Spermium<br />
klein und billig ist, ist es alles an<strong>de</strong>re als billig, Millionen von<br />
Spermien zu p<strong>ro</strong>duzieren und gegen all die Konkurrenz in<br />
ein Weibchen hineinzupraktizieren. Heute ziehe ich es vor, die<br />
grundlegen<strong>de</strong> Asymmetrie zwischen Männchen und Weibchen<br />
folgen<strong>de</strong>rmaßen zu erklären: Nehmen wir an, wir beginnen<br />
mit zwei Geschlechtern, die keine <strong>de</strong>r beson<strong>de</strong>ren Attribute<br />
von Männchen und Weibchen besitzen. Geben wir ihnen die<br />
neutralen Namen A und B. Wir brauchen lediglich festzulegen,<br />
daß alle Paarungen zwischen A und B vor sich gehen müssen.<br />
Nun sieht sich je<strong>de</strong>s Tier, ob A o<strong>de</strong>r B, <strong>de</strong>r Not<strong>wen</strong>digkeit eines<br />
Komp<strong>ro</strong>misses gegenüber. <strong>Zeit</strong> und Anstrengung, die auf <strong>de</strong>n<br />
Kampf mit Rivalen verwandt wer<strong>de</strong>n, können nicht zum Aufziehen<br />
existieren<strong>de</strong>r Nachkommen genutzt wer<strong>de</strong>n und umgekehrt.<br />
Man kann erwarten, daß je<strong>de</strong>s Tier seine Anstrengung<br />
in einem konstanten Verhältnis auf diese bei<strong>de</strong>n rivalisieren<strong>de</strong>n<br />
Ziele verteilt. Nun ist es aber möglich, und das ist <strong>de</strong>r<br />
Punkt, auf <strong>de</strong>n ich hinauswill, daß sich das Geschlecht A bei<br />
einem an<strong>de</strong>ren Gleichgewicht einspielt als B, und <strong>wen</strong>n sie<br />
dies tun, wird sich wahrscheinlich ein immer größer wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r<br />
Unterschied zwischen ihnen einstellen.<br />
Um dies nachzuvollziehen, nehmen wir an, daß die bei<strong>de</strong>n<br />
Geschlechter A und B sich von Anfang an darin unterschei<strong>de</strong>n,<br />
ob sie ihren Erfolg stärker durch Investition in Kin<strong>de</strong>r o<strong>de</strong>r<br />
durch Investition in Kämpfe beeinflussen können. (Ich wer<strong>de</strong><br />
<strong>de</strong>n Ausdruck „kämpfen“ für alle Sorten direkter Konkurrenz<br />
innerhalb <strong>de</strong>sselben Geschlechts benutzen.) Anfänglich kann<br />
<strong>de</strong>r Unterschied zwischen <strong>de</strong>n Geschlechtern sehr gering sein,<br />
<strong>de</strong>nn ich will ja gera<strong>de</strong> beweisen, daß er eine inhärente Ten-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 458<br />
<strong>de</strong>nz besitzt, immer größer zu wer<strong>de</strong>n. Nehmen wir an, bei<br />
Geschlecht A ist zu Anfang das Kämpfen entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r für<br />
<strong>de</strong>n Fortpflanzungserfolg als elterliche Fürsorge; bei B dagegen<br />
trägt zu Beginn die elterliche Fürsorge ein <strong>wen</strong>ig mehr als<br />
das Kämpfen zur Variation <strong>de</strong>s Fortpflanzungserfolgs bei. Dies<br />
be<strong>de</strong>utet zum Beispiel, daß die Angehörigen <strong>de</strong>s Geschlechts<br />
A zwar selbstverständlich von <strong>de</strong>r elterlichen Fürsorge p<strong>ro</strong>fitieren,<br />
<strong>de</strong>r Unterschied zwischen einem erfolgreich und einem<br />
nicht erfolgreich pflegen<strong>de</strong>n Elternteil bei ihnen jedoch kleiner<br />
ist als <strong>de</strong>r zwischen einem erfolgreichen und einem nicht<br />
erfolgreichen Kämpfer. Beim Geschlecht B trifft genau das<br />
Gegenteil zu. Bei gegebenem Aufwand kann A also durch<br />
Kämpfen einen Gewinn erzielen, wohingegen B mit größerer<br />
Wahrscheinlichkeit p<strong>ro</strong>fitiert, <strong>wen</strong>n er seine Anstrengungen<br />
zu Lasten <strong>de</strong>s Kämpfens verstärkt auf die elterliche Fürsorge<br />
lenkt.<br />
In je<strong>de</strong>r Generation wird daher das Geschlecht A ein bißchen<br />
mehr kämpfen als in <strong>de</strong>r vorhergehen<strong>de</strong>n, und das Geschlecht<br />
B wird ein bißchen <strong>wen</strong>iger kämpfen und ein <strong>wen</strong>ig mehr<br />
Fürsorge üben. Nun wird <strong>de</strong>r Unterschied zwischen <strong>de</strong>m<br />
besten und <strong>de</strong>m schlechtesten A, was das Kämpfen betrifft,<br />
sogar noch größer und <strong>de</strong>r Unterschied zwischen <strong>de</strong>m besten<br />
und <strong>de</strong>m schlechtesten A in bezug auf Elternfürsorge sogar<br />
noch geringer sein. Daher hat ein A sogar noch mehr dadurch<br />
zu gewinnen, daß er seine Kräfte auf das Kämpfen richtet,<br />
und sogar noch <strong>wen</strong>iger dadurch, daß er seine Anstrengungen<br />
in die Fürsorge steckt. Genau das Umgekehrte wird im<br />
Verlauf <strong>de</strong>r Generationen auf das Geschlecht B zutreffen. Die<br />
Schlüsselüberlegung dabei ist, daß ein geringer anfänglicher<br />
Unterschied zwischen <strong>de</strong>n Geschlechtern sich von allein<br />
vergrößert: Die Auslese kann bei einer leichten Differenz<br />
beginnen und sie größer und größer wer<strong>de</strong>n lassen, bis die<br />
Angehörigen <strong>de</strong>s Geschlechts A das wer<strong>de</strong>n, was wir heute<br />
Männchen nennen, und die Individuen mit <strong>de</strong>m Geschlecht B<br />
das, was wir heute als Weibchen bezeichnen. Die anfängliche<br />
Differenz kann so klein sein, daß sie durch Zufall entstehen<br />
kann. Schließlich ist es sehr unwahrscheinlich, daß die Start-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 459<br />
bedingungen <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Geschlechter genau i<strong>de</strong>ntisch sind.<br />
Wie <strong>de</strong>r Leser bemerken wird, ähnelt dies <strong>de</strong>r von Parker,<br />
Baker und Smith entwickelten Theorie über die frühe Aufteilung<br />
<strong>de</strong>r ursprünglichen Gameten in Spermien und Eizellen,<br />
die ich in Kapitel 9 erörtert habe. Das gera<strong>de</strong> ausgeführte<br />
Argument ist aber allgemeinerer Art. Die Trennung in Samenund<br />
Eizellen ist nur ein Aspekt einer grundlegen<strong>de</strong>ren Trennung<br />
<strong>de</strong>r Geschlechter<strong>ro</strong>llen. Statt sie als primär zu behan<strong>de</strong>ln<br />
und alle charakteristischen Attribute von Männchen und<br />
Weibchen auf sie zurückzuführen, kennen wir nun eine Argumentation,<br />
die die Aufteilung in Spermien und Eizellen sowie<br />
an<strong>de</strong>re Aspekte alle auf dieselbe Weise erklärt. Wir brauchen<br />
lediglich vorauszusetzen, daß es zwei Geschlechter gibt, die<br />
sich miteinan<strong>de</strong>r paaren; weitere Informationen über diese<br />
Geschlechter sind nicht not<strong>wen</strong>dig. Von dieser Min<strong>de</strong>stannahme<br />
ausgehend, erwarten wir positiv, daß sich die bei<strong>de</strong>n<br />
Geschlechter, so gleich sie einan<strong>de</strong>r zu Beginn auch sein<br />
mögen, in zwei Geschlechter auseinan<strong>de</strong>rentwickeln wer<strong>de</strong>n,<br />
die sich auf entgegengesetzte und einan<strong>de</strong>r komplementäre<br />
Fortpflanzungstechniken spezialisieren. Die Trennung in Spermien<br />
und Eizellen ist ein Symptom dieser allgemeineren Aufteilung,<br />
nicht ihre Ursache.<br />
3 Diese I<strong>de</strong>e, zu versuchen, eine evolutionär stabile Mischung<br />
von Strategien innerhalb eines Geschlechts zu fin<strong>de</strong>n, die<br />
durch eine evolutionär stabile Mischung von Strategien in<br />
<strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren Geschlecht ausgeglichen wird, ist inzwischen<br />
von Maynard Smith selbst weiter vorangetrieben wor<strong>de</strong>n und,<br />
unabhängig davon, aber in eine ähnliche Richtung weisend,<br />
auch von Alan Grafen und Richard Sibly. Der Beitrag von<br />
Grafen und Sibly ist technisch weiter fortgeschritten, <strong>de</strong>r von<br />
Maynard Smith dagegen ist leichter mit Worten zu erklären.<br />
Kurz zusammengefaßt, beginnt er mit <strong>de</strong>r Annahme von zwei<br />
Strategien – Behüten und Verlassen –, die von je<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n<br />
Geschlechter angewandt wer<strong>de</strong>n können. Wie in meinem<br />
Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>r Strategien „sprö<strong>de</strong>/leichtfertig“ und „treu/ flatterhaft“<br />
ist von Interesse, welche Kombinationen männlicher
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 460<br />
Strategien gegen welche Kombinationen weiblicher Strategien<br />
stabil sind. Die Antwort hängt von unseren Annahmen über die<br />
ökonomischen Lebensbedingungen <strong>de</strong>r Spezies ab. Interessanterweise<br />
jedoch erhalten wir, sosehr wir die ökonomischen Voraussetzungen<br />
auch variieren, niemals ein vollständiges Kontinuum<br />
quantitativ variieren<strong>de</strong>r stabiler Resultate. Das Mo<strong>de</strong>ll<br />
neigt dazu, sich bei einem von nicht mehr als vier stabilen<br />
Resultaten einzuspielen. Diese vier Resultate wer<strong>de</strong>n nach<br />
Tierarten benannt, die beispielhaft für sie sind. Es gibt die Ente<br />
(Männchen verläßt, Weibchen behütet), <strong>de</strong>n Stichling (Weibchen<br />
verläßt, Männchen behütet), die Fruchtfliege (bei<strong>de</strong> verlassen)<br />
und <strong>de</strong>n Gibbon (bei<strong>de</strong> behüten).<br />
Und nun etwas noch Interessanteres. Wie wir aus Kapitel<br />
5 wissen, können ESS-Mo<strong>de</strong>lle sich bei je<strong>de</strong>m von zwei alternativen<br />
Resultaten einspielen, die bei<strong>de</strong> gleich stabil sind.<br />
Das gleiche gilt für dieses Mo<strong>de</strong>ll von Maynard Smith. Beson<strong>de</strong>rs<br />
interessant daran ist, daß bestimmte Paare dieser Ergebnisse<br />
im Gegensatz zu an<strong>de</strong>ren Ergebnispaaren unter <strong>de</strong>nselben<br />
ökonomischen Umstän<strong>de</strong>n stabil sind. Beispielsweise<br />
sind unter einer Reihe von Umstän<strong>de</strong>n sowohl Ente als auch<br />
Stichling stabil. Welches <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n tatsächlich eintritt, hängt<br />
vom Zufall ab o<strong>de</strong>r, genauer gesagt, von Zufallsereignissen <strong>de</strong>r<br />
Evolutionsgeschichte – von Anfangsbedingungen. Unter einer<br />
an<strong>de</strong>ren Reihe von Umstän<strong>de</strong>n sind Gibbon und Fruchtfliege<br />
bei<strong>de</strong> stabil. Wie<strong>de</strong>rum bestimmt <strong>de</strong>r historische Zufall, welches<br />
<strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Mo<strong>de</strong>lle bei einer gegebenen Tierart eintritt.<br />
Aber es gibt keine Umstän<strong>de</strong>, unter <strong>de</strong>nen sowohl Gibbon als<br />
auch Ente stabil sind, und ebenso keine Umstän<strong>de</strong>, unter <strong>de</strong>nen<br />
Ente und Fruchtfliege stabil sind. Diese Analyse von Kombinationen<br />
zusammenpassen<strong>de</strong>r und nicht zusammenpassen<strong>de</strong>r<br />
evolutionär stabiler Strategien hat interessante Konsequenzen<br />
für unsere Rekonstruktionen <strong>de</strong>r Evolutionsgeschichte. Beispielsweise<br />
veranlaßt sie uns zu <strong>de</strong>r Erwartung, daß gewisse<br />
Sorten von Übergängen zwischen Paarungssystemen in <strong>de</strong>r<br />
Evolutionsgeschichte wahrscheinlich, an<strong>de</strong>re dagegen unwahrscheinlich<br />
sein wer<strong>de</strong>n. Maynard Smith befaßt sich mit diesen<br />
historischen Vernetzungen in einem kurzen Überblick über die
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 461<br />
verschie<strong>de</strong>nen Paarungsmuster im Tierreich, und er schließt<br />
mit <strong>de</strong>r <strong>de</strong>nkwürdigen rhetorischen Frage: „Warum haben<br />
männliche Säugetiere keine Milch?“<br />
4 Ich bedaure sagen zu müssen, daß diese Feststellung falsch<br />
ist. Sie ist jedoch auf interessante Weise falsch, <strong>de</strong>shalb habe<br />
ich <strong>de</strong>n Fehler stehengelassen und wer<strong>de</strong> mir nun einige <strong>Zeit</strong><br />
nehmen, um ihn aufzuzeigen. Es han<strong>de</strong>lt sich um einen Fehler<br />
<strong>de</strong>rselben Art, wie ihn Gale und Eaves in <strong>de</strong>m Originalbeitrag<br />
von Maynard Smith und Price ent<strong>de</strong>ckt haben (siehe Seite<br />
448, Anmerkung 2). Zwei mathematisch arbeiten<strong>de</strong> Biologen in<br />
Österreich, P. Schuster und K. Sigmund, machten auf meinen<br />
Fehler aufmerksam.<br />
Ich hatte die Verhältniszahlen von treuen Männchen zu<br />
Schürzenjägern und von sprö<strong>de</strong>n zu leichtfertigen Weibchen<br />
korrekt ausgerechnet, bei <strong>de</strong>nen die bei<strong>de</strong>n Sorten von<br />
Männchen beziehungsweise Weibchen gleich erfolgreich waren.<br />
Bei diesen Werten besteht in <strong>de</strong>r Tat ein Gleichgewicht, doch<br />
habe ich versäumt nachzuprüfen, ob es auch ein stabiles Gleichgewicht<br />
ist. Es hätte eine Situation sein können, die einer unsicheren<br />
Gratwan<strong>de</strong>rung glich und nicht einem sicheren Tal.<br />
Um eine Situation auf ihre Stabilität zu überprüfen, müssen<br />
wir feststellen, was geschehen wür<strong>de</strong>, <strong>wen</strong>n wir das Gleichgewicht<br />
leicht stören. (Wenn wir einen Ball von einem Grat<br />
hinunterstoßen, verlieren wir ihn; <strong>wen</strong>n wir ihn von <strong>de</strong>r Mitte<br />
eines Tales wegstoßen, kommt er zurückge<strong>ro</strong>llt.) In meinem<br />
speziellen Zahlenbeispiel war das Gleichgewichtsverhältnis für<br />
Männchen 5/8 treu und 3/8 Schürzenjäger.<br />
Was geschieht nun, <strong>wen</strong>n durch Zufall das Verhältnis von<br />
Schürzenjägern in <strong>de</strong>r Population auf einen Wert ansteigt, <strong>de</strong>r<br />
geringfügig über <strong>de</strong>m <strong>de</strong>s Gleichgewichts liegt? Damit sich<br />
das Gleichgewicht als stabil und sich-selbst-korrigierend qualifiziert,<br />
sollten die Schürzenjäger unverzüglich anfangen, ein<br />
<strong>wen</strong>ig schlechter abzuschnei<strong>de</strong>n. Unglücklicherweise geschieht<br />
dies nicht, wie Schuster und Sigmund zeigten. Im Gegenteil,<br />
<strong>de</strong>n Schürzenjägern beginnt es besserzugehen! Weit entfernt<br />
davon, selbststabilisierend zu sein, wird ihre Häufigkeit in
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 462<br />
<strong>de</strong>r Population zunehmend größer. Sie steigt an – nicht unbegrenzt,<br />
son<strong>de</strong>rn nur bis zu einem gewissen Punkt. Wenn wir<br />
eine dynamische Computersimulation <strong>de</strong>s Mo<strong>de</strong>lls vornehmen,<br />
wie ich dies inzwischen getan habe, so erhalten wir einen<br />
sich endlos wie<strong>de</strong>rholen<strong>de</strong>n Zyklus. I<strong>ro</strong>nischerweise ist dies<br />
genau <strong>de</strong>r Zyklus, <strong>de</strong>n ich hypothetisch beschrieben habe, aber<br />
damals glaubte ich, er sei lediglich ein gutes Hilfsmittel zur<br />
Erklärung <strong>de</strong>s Prinzips, gera<strong>de</strong>so wie das Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>r Falken<br />
und Tauben. In Anlehnung an die Falken und Tauben nahm<br />
ich an – was völlig falsch war –, daß <strong>de</strong>r Zyklus nur hypothetischer<br />
Art sei und daß das System sich in Wirklichkeit bei einem<br />
stabilen Gleichgewicht einpen<strong>de</strong>ln wür<strong>de</strong>. Schusters und Sigmunds<br />
Startschuß habe ich nichts hinzuzufügen:<br />
Kurz gesagt können wir also zwei Schlußfolgerungen<br />
ziehen:<br />
(a) daß <strong>de</strong>r Kampf <strong>de</strong>r Geschlechter vieles gemein hat<br />
mit Raub; und<br />
(b) daß das Verhalten von Lieben<strong>de</strong>n sich wan<strong>de</strong>lt wie<br />
<strong>de</strong>r Mond und unvorhersagbar ist wie das Wetter.<br />
Natürlich brauchte man keine Differentialgleichungen,<br />
um dies schon früher zu bemerken.<br />
5 Die Hypothese, die Tamsin Carlisle noch als Stu<strong>de</strong>ntin über<br />
Fische aufstellte, ist inzwischen von Mark Ridley getestet<br />
wor<strong>de</strong>n, und zwar anhand von Vergleichen, die dieser im Verlauf<br />
einer erschöpfen<strong>de</strong>n Betrachtung <strong>de</strong>r väterlichen Fürsorge<br />
im ganzen Tierreich angestellt hat. Seine Veröffentlichung ist<br />
ein erstaunlicher Kraftakt, <strong>de</strong>r, wie Carlisles Hypothese selbst,<br />
ebenfalls als ein Referat begann, das er während seines Studiums<br />
für mich schrieb. Bedauerlicherweise wur<strong>de</strong> Carlisles<br />
Hypothese durch Ridleys Arbeit nicht bestätigt.<br />
6 R. A. Fishers in extremer Kürze dargestellte Theorie eines<br />
unaufhaltsamen P<strong>ro</strong>zesses <strong>de</strong>r geschlechtlichen Auslese ist<br />
nunmehr mathematisch von R. Lan<strong>de</strong> und an<strong>de</strong>ren ausgearbeitet<br />
wor<strong>de</strong>n. Sie ist zu einem schwierigen Thema gewor<strong>de</strong>n,<br />
aber man kann sie auch mit nichtmathematischen Ausdrücken
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 463<br />
erklären, sofern man über ausreichend Raum dafür verfügt.<br />
Doch bedarf es dazu eines ganzen Kapitels, und ich habe ihr<br />
in meinem Buch Der blin<strong>de</strong> Uhrmacher eines (Kapitel 8) gewidmet,<br />
<strong>de</strong>shalb wer<strong>de</strong> ich hier nichts mehr darüber sagen.<br />
Statt <strong>de</strong>ssen wer<strong>de</strong> ich mich mit einem P<strong>ro</strong>blem befassen,<br />
das im Zusammenhang mit <strong>de</strong>r geschlechtlichen Auslese steht<br />
und das ich in keinem meiner Bücher jemals ausreichend hervorgehoben<br />
habe. Wie bleibt die erfor<strong>de</strong>rliche Variabilität erhalten?<br />
Die natürliche Selektion kann nur dann funktionieren,<br />
<strong>wen</strong>n es einen reichlichen Vorrat an genetischer Variabilität<br />
gibt, auf die sie einwirken kann. Sollte ich beispielsweise versuchen,<br />
Kaninchen mit immer längeren Ohren zu züchten,<br />
so wer<strong>de</strong> ich zu Beginn Erfolg damit haben. Das durchschnittliche<br />
Kaninchen in einer wildleben<strong>de</strong>n Population wird<br />
mittelg<strong>ro</strong>ße Ohren haben (nach Kaninchen-Maßstab; nach<br />
unseren menschlichen Maßstäben wer<strong>de</strong>n die Ohren natürlich<br />
sehr lang sein). Ein paar Kaninchen wer<strong>de</strong>n Ohren haben,<br />
die kürzer als <strong>de</strong>r Durchschnitt sind, und ein paar an<strong>de</strong>re<br />
überdurchschnittlich lange. Wenn wir lediglich die mit <strong>de</strong>n<br />
längsten Ohren zur Zucht heranziehen, wird es uns gelingen,<br />
<strong>de</strong>n Durchschnitt in <strong>de</strong>n nachfolgen<strong>de</strong>n Generationen zu<br />
vergrößern – eine <strong>Zeit</strong>lang. Wenn wir jedoch in unserer Zucht<br />
immer weiter die Individuen einsetzen, die die längsten Ohren<br />
haben, so wird ein <strong>Zeit</strong>punkt kommen, an <strong>de</strong>m die erfor<strong>de</strong>rliche<br />
Variabilität nicht mehr verfügbar ist. Sie wer<strong>de</strong>n alle die<br />
„längsten“ Ohren haben, und die Evolution wird zum Stillstand<br />
kommen. Bei <strong>de</strong>r normalen Evolution ist so etwas kein<br />
P<strong>ro</strong>blem, da die Umwelt in <strong>de</strong>r Regel nicht durchgehend und<br />
unwan<strong>de</strong>lbar Druck in nur eine Richtung ausübt. Die „beste“<br />
Länge für je<strong>de</strong>s Teil eines Tieres ist normalerweise nicht „ein<br />
bißchen länger als <strong>de</strong>r gegenwärtige Durchschnitt, gleichgültig<br />
welches dieser gegenwärtige Durchschnitt sein mag“. Die beste<br />
Länge ist mit größerer Wahrscheinlichkeit ein bestimmtes<br />
Maß, etwa drei Zentimeter. Aber die geschlechtliche Auslese<br />
kann tatsächlich die peinliche Eigenschaft haben, ein immer<br />
weiter fortschreiten<strong>de</strong>s „Optimum“ zu forcieren. Die Mo<strong>de</strong> bei<br />
<strong>de</strong>n Weibchen könnte in <strong>de</strong>r Tat wünschen, daß die Ohren
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 464<br />
<strong>de</strong>r Männchen immer länger wer<strong>de</strong>n, gleichgültig, wie lang die<br />
Ohren <strong>de</strong>r gegenwärtigen Population bereits sein mögen. So<br />
könnte die Variabilität ernstlich in Gefahr geraten verlorenzugehen.<br />
Und doch scheint die sexuelle Auslese funktioniert zu<br />
haben; es gibt in <strong>de</strong>r Tat absurd übertriebenen männlichen<br />
Schmuck. Wir scheinen es hier mit einem Paradox zu tun<br />
zu haben, das wir als das Paradox <strong>de</strong>r verschwin<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />
Variabilität bezeichnen können.<br />
Lan<strong>de</strong>s Lösung für das Paradox ist die Mutation. Er glaubt,<br />
daß es immer genug Mutationen geben wird, um einer anhalten<strong>de</strong>n<br />
Selektion als Treibstoff zu dienen. Man hatte dies zuvor<br />
bezweifelt, weil man stets im Sinne jeweils nur eines einzelnen<br />
Gens gedacht hatte: Die Mutationsrate an je<strong>de</strong>m einzelnen<br />
Genlocus ist zu gering, um das Paradox <strong>de</strong>r verschwin<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />
Variabilität zu lösen. Lan<strong>de</strong> erinnerte uns daran, daß<br />
„Schwänze“ und an<strong>de</strong>re Dinge, auf die die geschlechtliche<br />
Auslese einwirkt, von einer g<strong>ro</strong>ßen Zahl verschie<strong>de</strong>ner Gene<br />
– „Polygenen“ – beeinflußt sind, <strong>de</strong>ren geringe Effekte sich<br />
summieren. Außer<strong>de</strong>m wird sich <strong>de</strong>r Satz relevanter Polygene<br />
mit <strong>de</strong>m Fortschreiten <strong>de</strong>r Evolution verän<strong>de</strong>rn: Neue Gene<br />
wer<strong>de</strong>n hinzukommen, die die Variabilität <strong>de</strong>r „Schwanzlänge“<br />
beeinflussen, alte wer<strong>de</strong>n verlorengehen. Mutationen können<br />
je<strong>de</strong>n dieser g<strong>ro</strong>ßen und sich verschieben<strong>de</strong>n Sätze von<br />
Genen verän<strong>de</strong>rn, so daß das Paradox <strong>de</strong>r verschwin<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />
Variabilität selbst verschwin<strong>de</strong>t.<br />
W. D. Hamiltons Antwort auf das Paradox sieht an<strong>de</strong>rs aus.<br />
Er beantwortet es auf dieselbe Weise, wie er heute auf die meisten<br />
Fragen antwortet: „Parasiten“. Denken wir wie<strong>de</strong>r an die<br />
Kaninchen. Die beste Länge für Kaninchenohren ist vermutlich<br />
von verschie<strong>de</strong>nen akustischen Faktoren abhängig. Es gibt<br />
keinen Grund anzunehmen, daß diese Faktoren sich im Verlauf<br />
<strong>de</strong>r Generationen anhaltend und in gleichbleiben<strong>de</strong>r Richtung<br />
verän<strong>de</strong>rn. Die beste Länge für Kaninchenohren mag nicht<br />
absolut konstant sein, aber die Auslese wird sie kaum so weit<br />
in irgen<strong>de</strong>ine spezielle Richtung drängen, daß sie von <strong>de</strong>r im<br />
gegenwärtigen Genpool vorhan<strong>de</strong>nen Variabilität nicht mehr<br />
ohne weiteres abge<strong>de</strong>ckt wird. Also kein Paradox <strong>de</strong>r ver-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 465<br />
schwin<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Variabilität. Doch schauen wir uns nun die Art<br />
stark fluktuieren<strong>de</strong>r Umwelt an, wie Parasiten sie schaffen. In<br />
einer Welt voller Parasiten besteht eine starke Auslese zugunsten<br />
<strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rstandsfähigkeit gegen diese. Die natürliche Auslese<br />
wird jeweils die Kaninchen begünstigen, die am <strong>wen</strong>igsten<br />
anfällig für die zufällig in ihrer Umwelt vorhan<strong>de</strong>nen Parasiten<br />
sind. Der entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Punkt ist, daß es nicht immer dieselben<br />
Parasiten sein wer<strong>de</strong>n. Seuchen kommen und gehen.<br />
Heute mag es die Myxomatose sein, im nächsten Jahr eine<br />
Krankheit, die bei <strong>de</strong>n Kaninchen <strong>de</strong>r Pest entspricht, im<br />
Jahr darauf Kaninchen-Aids und so weiter. Dann, vielleicht<br />
nach einem Zehnjahreszyklus, ist es erneut die Myxomatose,<br />
und <strong>de</strong>r Kreis beginnt von neuem. O<strong>de</strong>r das Myxomatosevirus<br />
selbst mag sich so entwickeln, daß es alle <strong>de</strong>nkbaren Gegenanpassungen<br />
<strong>de</strong>r Kaninchen überwin<strong>de</strong>t. Hamilton stellt sich<br />
Zyklen von Gegenanpassungen und Gegen-Gegenanpassungen<br />
vor, die sich endlos fortsetzen und ständig für neue, völlig<br />
verän<strong>de</strong>rte Definitionen <strong>de</strong>s „besten“ Kaninchens sorgen.<br />
Das Fazit all dieser Überlegungen ist, daß ein wichtiger<br />
Unterschied zwischen <strong>de</strong>n Anpassungen zugunsten <strong>de</strong>r Resistenz<br />
gegen Krankheiten und Anpassungen an die physische<br />
Umwelt besteht.<br />
Während es eine relativ feststehen<strong>de</strong> „beste“ Länge für<br />
ein Kaninchenbein geben könnte, gibt es kein unverän<strong>de</strong>rlich<br />
„bestes“ Kaninchen, soweit es die Resistenz gegen Krankheiten<br />
betrifft. Mit <strong>de</strong>m Wechsel <strong>de</strong>r jeweils gefährlichsten Krankheit<br />
wechselt auch das „beste“ Kaninchen. Sind Parasiten<br />
die einzige selektive Kraft, die auf diese Weise funktioniert?<br />
Wie beeinflussen beispielsweise Räuber ihre Beute und umgekehrt?<br />
Hamilton stimmt mit uns darin überein, daß sie im<br />
wesentlichen wie Parasiten aufeinan<strong>de</strong>r wirken. Doch ihre<br />
Evolution verläuft nicht so schnell wie die vieler Parasiten.<br />
Und Parasiten bringen mit größerer Wahrscheinlichkeit als<br />
Räuber o<strong>de</strong>r Beute <strong>de</strong>taillierte Gen-für-Gen-Gegenanpassungen<br />
hervor.<br />
Hamilton macht die zyklischen Herausfor<strong>de</strong>rungen durch<br />
die Parasiten zur Grundlage einer alles in allem viel grandiose-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 466<br />
ren Theorie, seiner Theorie darüber, warum es überhaupt Sex<br />
gibt. Doch an dieser Stelle geht es uns um seine Lösung <strong>de</strong>s<br />
Paradoxons <strong>de</strong>r verschwin<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Variabilität bei geschlechtlicher<br />
Auslese: Er sucht die Ursache bei <strong>de</strong>n Parasiten. Er glaubt,<br />
daß erbliche Krankheitsresistenz das wichtigste Kriterium ist,<br />
anhand <strong>de</strong>ssen die Weibchen Männchen auswählen. Krankheiten<br />
sind ein so schwerwiegen<strong>de</strong>s Übel, daß die Weibchen<br />
von je<strong>de</strong>r eventuellen Fähigkeit, eine Krankheit bei potentiellen<br />
Partnern zu erkennen, einen g<strong>ro</strong>ßen Gewinn haben. Ein<br />
Weibchen, das sich wie ein guter Diagnostiker verhält und das<br />
gesün<strong>de</strong>ste Männchen als Partner auswählt, wird gewöhnlich<br />
gesun<strong>de</strong> Gene für seine Kin<strong>de</strong>r gewinnen. Da nun die Definition<br />
<strong>de</strong>s „besten Kaninchens“ sich ständig verän<strong>de</strong>rt, wird es<br />
immer etwas Wichtiges geben, zwischen <strong>de</strong>m die Weibchen<br />
zu wählen haben, <strong>wen</strong>n sie die Männchen durchmustern. Es<br />
wird immer „gute“ und „schlechte“ Männchen geben. Sie<br />
wer<strong>de</strong>n nicht alle nach Generationen <strong>de</strong>r Auslese zu „guten<br />
Männchen“ gewor<strong>de</strong>n sein, <strong>de</strong>nn inzwischen wer<strong>de</strong>n die Parasiten<br />
und damit auch die Definition eines „guten“ Kaninchens<br />
sich verän<strong>de</strong>rt haben. Gene für die Resistenz gegen einen<br />
Stamm <strong>de</strong>s Myxomatosevirus wer<strong>de</strong>n gegen <strong>de</strong>n nächsten<br />
Stamm, <strong>de</strong>r durch Mutation die Szene betritt, nicht viel nützen.<br />
Und dieser Zyklus <strong>de</strong>r Krankheitsevolution schreitet unbegrenzt<br />
fort. Der Druck durch die Parasiten läßt niemals nach,<br />
und so können auch die Weibchen in ihrer unbarmherzigen<br />
Suche nach gesun<strong>de</strong>n Männchen nicht nachgeben.<br />
Wie wer<strong>de</strong>n die Männchen darauf reagieren, von Weibchen,<br />
die wie Ärzte han<strong>de</strong>ln, untersucht zu wer<strong>de</strong>n? Kommt es<br />
zur Begünstigung von Genen für das Vorspiegeln von guter<br />
Gesundheit? Zu Beginn vielleicht, aber dann wird die Auslese<br />
auf die Weibchen einwirken und ihre diagnostischen Fertigkeiten<br />
verschärfen, so daß sie die Vortäuscher von <strong>de</strong>n wirklich<br />
Gesun<strong>de</strong>n unterschei<strong>de</strong>n können. Am En<strong>de</strong>, so glaubt<br />
Hamilton, wer<strong>de</strong>n die Weibchen <strong>de</strong>rart gute Ärzte sein, daß die<br />
Männchen gezwungen sein wer<strong>de</strong>n, <strong>wen</strong>n sie sich überhaupt<br />
anpreisen, dies ehrlich zu tun. Wenn irgen<strong>de</strong>ine sexuelle<br />
Reklame bei Männchen übertrieben wird, so wird dies daran
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 467<br />
liegen, daß sie ein echtes Anzeichen für Gesundheit ist. Die<br />
Evolution bei <strong>de</strong>n Männchen wird dahin gehen, es für die<br />
Weibchen leicht erkennbar zu machen, daß sie gesund sind<br />
– <strong>wen</strong>n dies <strong>de</strong>r Fall ist. Wirklich gesun<strong>de</strong> Männchen wer<strong>de</strong>n<br />
nur zu gern auf diese Tatsache aufmerksam machen. Kranke<br />
Männchen natürlich nicht, aber was können sie tun? Wenn sie<br />
nicht <strong>wen</strong>igstens versuchen, ein Gesundheitszeugnis vorzuweisen,<br />
wer<strong>de</strong>n die Weibchen die schlimmsten Schlußfolgerungen<br />
ziehen. Nebenbei gesagt wäre all dieses Gere<strong>de</strong> von Ärzten<br />
irreführend, <strong>wen</strong>n es <strong>de</strong>n Gedanken nahelegen wür<strong>de</strong>, daß die<br />
Weibchen daran interessiert sind, die Männchen zu heilen. Ihr<br />
einziges Interesse ist die Diagnose, und es ist kein altruistisches<br />
Interesse. Und ich nehme an, es ist nicht mehr erfor<strong>de</strong>rlich,<br />
mich für im übertragenen Sinne gebrauchte Ausdrücke wie<br />
„Ehrlichkeit“ und „Schlußfolgerungen ziehen“ zu entschuldigen.<br />
Um zur Reklame zurückzukehren: Es ist, als ob die Männchen<br />
von <strong>de</strong>n Weibchen gezwungen wer<strong>de</strong>n, Fieberthermometer<br />
zu entwickeln, die ständig aus ihrem Mund herausschauen<br />
und für die Weibchen gut leserlich sind. Worin könnten diese<br />
„Thermometer“ bestehen? Nun, <strong>de</strong>nken wir zum Beispiel an<br />
<strong>de</strong>n spektakulär langen Schwanz eines männlichen Paradiesvogels.<br />
Wir haben bereits Fishers elegante Erklärung für diesen<br />
auffälligen Schmuck kennengelernt. Hamiltons Erklärung ist<br />
im Ganzen realistischer. Ein weitverbreitetes Krankheitssymptom<br />
bei Vögeln ist Durchfall. Wenn ein Vogel einen langen<br />
Schwanz hat, wird dieser durch Durchfall wahrscheinlich verschmutzt.<br />
Wenn ein Vogel die Tatsache verschleiern will, daß<br />
er an Durchfall lei<strong>de</strong>t, so kann er dies am besten tun, in<strong>de</strong>m er<br />
es vermei<strong>de</strong>t, einen langen Schwanz zu haben. Entsprechend<br />
kann ein Vogel, <strong>de</strong>r darauf aufmerksam machen will, daß er<br />
nicht unter Durchfall lei<strong>de</strong>t, dies am besten mit Hilfe eines<br />
sehr langen Schwanzes tun. Dadurch wird die Tatsache, daß<br />
sein Schwanz sauber ist, um so augenfälliger. Wenn <strong>de</strong>r Vogel<br />
überhaupt kaum einen Schwanz hat, können die Weibchen<br />
nicht sehen, ob er sauber ist o<strong>de</strong>r nicht, und vermuten das<br />
Schlimmste. Hamilton wür<strong>de</strong> sich nicht auf diese spezielle
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 468<br />
Erklärung für die Schwänze <strong>de</strong>r Paradiesvögel festlegen wollen,<br />
aber es ist ein gutes Beispiel für die Art Erklärung, die er<br />
bevorzugt.<br />
Ich habe das Bild von Weibchen benutzt, die wie diagnostizieren<strong>de</strong><br />
Ärzte han<strong>de</strong>ln, und von Männchen, die ihnen ihre<br />
Aufgabe erleichtern, in<strong>de</strong>m sie überall „Thermometer“ zur<br />
Schau stellen. Der Gedanke an an<strong>de</strong>re diagnostische Hilfsmittel<br />
<strong>de</strong>s Arztes, wie Blutdruckmesser und Stethoskop, brachte<br />
mich auf eine Reihe von Spekulationen über die sexuelle Auslese<br />
beim Menschen. Ich wer<strong>de</strong> sie kurz darstellen, obgleich ich<br />
zugebe, daß ich sie <strong>wen</strong>iger plausibel als unterhaltsam fin<strong>de</strong>.<br />
Zuerst eine Theorie darüber, warum bei <strong>de</strong>n Menschen <strong>de</strong>r<br />
Penisknochen verlorengegangen ist. Ein erigierter Penis kann<br />
so hart und steif sein, daß viele Leute im Spaß ihren Zweifeln<br />
darüber Ausdruck geben, ob nicht ein Knochen darin sei.<br />
Viele Säugetiere besitzen tatsächlich einen versteifen<strong>de</strong>n Knochen,<br />
das Baculum o<strong>de</strong>r Os penis, um die Erektion zu<br />
stützen. Darüber hinaus ist er bei unseren Verwandten, <strong>de</strong>n<br />
Menschenaffen, weit verbreitet; sogar unser engster Vetter,<br />
<strong>de</strong>r Schimpanse, hat einen solchen Knochen, <strong>wen</strong>ngleich<br />
zugegebenermaßen einen sehr winzigen, <strong>de</strong>r möglicherweise<br />
auf <strong>de</strong>m evolutionären Rückzug ist. Es scheint bei <strong>de</strong>n Menschenaffen<br />
eine Ten<strong>de</strong>nz gegeben zu haben, <strong>de</strong>n Penisknochen<br />
zu reduzieren; unsere Art, ebenso wie eine Reihe von Affenarten,<br />
hat ihn völlig verloren. Somit sind wir <strong>de</strong>n Knochen los,<br />
<strong>de</strong>r es unseren Ahnen vermutlich leicht gemacht hat, einen<br />
schön steifen Penis zu haben. Statt <strong>de</strong>ssen verlassen wir uns<br />
völlig auf ein hydraulisches Pumpsystem, das doch unbestreitbar<br />
eine teure und umständliche Lösung zu sein scheint. Und<br />
es ist nur zu bekannt, daß die Erektion versagen kann – bedauerlich,<br />
um das Min<strong>de</strong>ste zu sagen, für <strong>de</strong>n genetischen Erfolg<br />
eines Männchens in <strong>de</strong>r freien Wildbahn. Womit kann <strong>de</strong>m<br />
ganz offensichtlich abgeholfen wer<strong>de</strong>n? Mit einem Knochen im<br />
Penis natürlich. Warum verhilft uns die Evolution dann nicht<br />
zu einem? Dieses Mal <strong>wen</strong>igstens können die Biologen <strong>de</strong>r Briga<strong>de</strong><br />
<strong>de</strong>r „genetischen Beschränkungen“ sich nicht mit einem<br />
„Oh, die erfor<strong>de</strong>rliche Variation konnte einfach nicht entste-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 469<br />
hen“ aus <strong>de</strong>r Affäre ziehen. Denn bis vor kurzem besaßen<br />
unsere Vorfahren ja gera<strong>de</strong> einen solchen Knochen, und wir<br />
haben in Wirklichkeit alle nur <strong>de</strong>nkbaren Anstrengungen<br />
unternommen, um ihn loszuwer<strong>de</strong>n! Warum?<br />
Die Erektion beim Menschen erfolgt ausschließlich durch<br />
Blutdruck. Es ist lei<strong>de</strong>r nicht sehr plausibel vorzuschlagen, daß<br />
die Härte <strong>de</strong>r Erektion das Äquivalent zum Blutdruckmesser<br />
eines Arztes ist, das vom weiblichen Geschlecht dazu benutzt<br />
wird, die Gesundheit <strong>de</strong>s männlichen Partners zu untersuchen.<br />
Aber wir sind nicht an das Bild <strong>de</strong>s Blutdruckmessers gebun<strong>de</strong>n.<br />
Wenn, aus welchem Grund auch immer, ein Versagen <strong>de</strong>r<br />
Erektion eine zuverlässige Frühwarnung für bestimmte Arten<br />
von Krankheiten ist, seien es physische o<strong>de</strong>r psychische, so<br />
kann eine Version <strong>de</strong>r Theorie zutreffen. Die Frauen benötigen<br />
lediglich ein verläßliches Werkzeug für die Diagnose. Die Ärzte<br />
benutzen bei Routineuntersuchungen keinen Erektionstest –<br />
sie ziehen es vor, uns zu bitten, die Zunge herauszustrecken.<br />
Aber Erektionsversagen ist ein bekanntes frühes Warnzeichen<br />
für Diabetes und gewisse neu<strong>ro</strong>logische Erkrankungen. Weit<br />
häufiger ist es das Resultat psychischer Faktoren – Depressionen,<br />
Angstzustän<strong>de</strong>, Streß, Überarbeitung, Vertrauensverlust<br />
und so weiter. (In <strong>de</strong>r Natur mögen vielleicht unten in <strong>de</strong>r<br />
Hackordnung angesie<strong>de</strong>lte Männchen auf diese Weise bet<strong>ro</strong>ffen<br />
sein. Einige Affen benutzen <strong>de</strong>n aufgerichteten Penis als<br />
D<strong>ro</strong>hsignal.) Es ist nicht un<strong>de</strong>nkbar, daß die Frauen, <strong>wen</strong>n die<br />
natürliche Auslese ihre diagnostischen Fertigkeiten verfeinert<br />
hat, alle möglichen Hinweise auf die Gesundheit und psychische<br />
Belastbarkeit eines Mannes aus <strong>de</strong>m Tonus und <strong>de</strong>r Haltung<br />
seines Penis ablesen können. Aber ein Knochen könnte<br />
dies zunichte machen! Je<strong>de</strong>r kann einen Knochen in seinem<br />
Penis wachsen lassen; man braucht dazu nicht beson<strong>de</strong>rs<br />
gesund o<strong>de</strong>r wi<strong>de</strong>rstandsfähig zu sein. Daher hat <strong>de</strong>r Selektionsdruck<br />
seitens <strong>de</strong>r Frauen die Männer gezwungen, das<br />
Os penis zu verlieren, weil dann nur wirklich gesun<strong>de</strong> und<br />
starke Männer einen wirklich steifen Penis präsentieren und<br />
die Frauen ungehin<strong>de</strong>rt eine Diagnose vornehmen konnten. An<br />
diesem Punkt wird möglicherweise Wi<strong>de</strong>rspruch laut. Woher,
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 470<br />
so könnte man fragen, hätten die Weibchen, die die Auslese<br />
durchsetzten, wohl wissen sollen, ob die Steifheit, die sie<br />
fühlten, Knochen war o<strong>de</strong>r hydraulischer Druck? Schließlich<br />
bemerkte ich eingangs, daß sich eine Erektion beim Menschen<br />
wie ein Knochen anfühlen kann. Doch ich habe meine Zweifel<br />
daran, ob die Frauen wirklich so leicht zu täuschen waren.<br />
Sie unterlagen ebenfalls <strong>de</strong>r Selektion, die in ihrem Fall nicht<br />
dahinging, einen Knochen zu verlieren, son<strong>de</strong>rn Urteilskraft<br />
zu gewinnen. Und man vergesse nicht, daß die Frau auch mit<br />
<strong>de</strong>mselben Penis zu tun hat, <strong>wen</strong>n er nicht erigiert ist, und <strong>de</strong>r<br />
Gegensatz ist enorm auffallend. Knochen können sich nicht<br />
auflösen (aber zugegebenermaßen eingezogen wer<strong>de</strong>n). Vielleicht<br />
ist es das beeindrucken<strong>de</strong> Doppelleben <strong>de</strong>s Penis, das<br />
die Glaubwürdigkeit <strong>de</strong>s hydraulischen Anpreisens garantiert.<br />
Nun zum „Stethoskop“. Betrachten wir ein an<strong>de</strong>res bekanntes<br />
Schlafzimmerp<strong>ro</strong>blem, das Schnarchen. Heutzutage ist es<br />
vielleicht nur eine Unannehmlichkeit <strong>de</strong>s Zusammenlebens.<br />
Früher einmal konnte es über Leben und Tod entschei<strong>de</strong>n.<br />
In <strong>de</strong>r Stille einer ruhigen Nacht kann Schnarchen bemerkenswert<br />
laut sein. Es könnte von weit und breit Räuber zu<br />
<strong>de</strong>m Schnarcher und <strong>de</strong>r Gruppe, in <strong>de</strong>r er liegt, heranrufen.<br />
Warum aber schnarchen dann so viele Menschen? Stellen wir<br />
uns eine schlafen<strong>de</strong> Hor<strong>de</strong> unserer Vorfahren in irgen<strong>de</strong>iner<br />
Höhle <strong>de</strong>s Pleistozän vor. Die Männer schnarchen in verschie<strong>de</strong>nen<br />
Tönen, die Frauen liegen wach und haben nichts an<strong>de</strong>res<br />
zu tun als zuzuhören (ich nehme an, es ist wahr, daß Männer<br />
mehr schnarchen). Liefern die Männer <strong>de</strong>n Frauen absichtlich<br />
angezeigte und verstärkte stethoskopische Informationen?<br />
Könnte die genaue Qualität und das Timbre <strong>de</strong>s Schnarchens<br />
eine Diagnose über <strong>de</strong>n Zustand <strong>de</strong>r Atemwege erlauben? Ich<br />
möchte nicht behaupten, daß man nur schnarcht, <strong>wen</strong>n man<br />
krank ist. Eher schon, daß das Schnarchen wie die konstante<br />
Trägerfrequenz eines Radiosen<strong>de</strong>rs ist: ein klares Signal, das<br />
in diagnostisch brauchbarer Weise von <strong>de</strong>m Zustand moduliert<br />
wird, in <strong>de</strong>m sich Nase und Kehle befin<strong>de</strong>n. Der Gedanke,<br />
daß Frauen <strong>de</strong>n klaren T<strong>ro</strong>mpetenton sauberer B<strong>ro</strong>nchien<br />
einem von Viren kün<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Schnorcheln vorziehen, ist gut
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 471<br />
und schön, aber ich gestehe, daß es mir schwerfällt, mir<br />
vorzustellen, daß Frauen überhaupt positiv auf einen Schnarcher<br />
reagieren. Doch die persönliche Intuition ist bekanntlich<br />
unzuverlässig. Vielleicht wür<strong>de</strong> dies zumin<strong>de</strong>st ein Forschungsp<strong>ro</strong>jekt<br />
für eine an Schlaflosigkeit lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Ärztin abgeben.<br />
Diese könnte sich übrigens in einer guten Ausgangsposition<br />
befin<strong>de</strong>n, um die an<strong>de</strong>re Theorie ebenfalls zu testen.<br />
Der Leser sollte diese bei<strong>de</strong>n Spekulationen nicht allzu ernst<br />
nehmen. Sie haben ihren Zweck erfüllt, <strong>wen</strong>n sie das Prinzip<br />
<strong>de</strong>r Hamiltonschen Theorie darüber, wie die Frauen gesun<strong>de</strong><br />
Männer auszuwählen versuchen, zweifelsfrei erklärt haben.<br />
Vielleicht das Interessanteste an ihnen ist, daß sie die Verbindung<br />
zwischen Hamiltons Parasitentheorie und Amotz Zahavis<br />
Theorie <strong>de</strong>s „Handikaps“ aufzeigen. Wenn <strong>de</strong>r Leser <strong>de</strong>r<br />
Logik meiner Hypothese über <strong>de</strong>n Penis folgt, sind die Männer<br />
durch <strong>de</strong>n Verlust <strong>de</strong>s Knochens gehandikapt, und das Handikap<br />
besteht nicht zufällig. Die hydraulische Anpreisung funktioniert<br />
gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>shalb, weil die Erektion manchmal versagt.<br />
Lesern, die mit <strong>de</strong>m Darwinismus vertraut sind, wird diese<br />
Implikation eines „Handikaps“ gewiß aufgefallen sein, und<br />
sie hat möglicherweise einen schweren Verdacht bei ihnen<br />
ausgelöst. Ich bitte sie, ihr Urteil noch bis nach <strong>de</strong>r Lektüre <strong>de</strong>r<br />
nächsten Anmerkung zurückzuhalten, die sich mit einer neuen<br />
Betrachtungsweise <strong>de</strong>s Handikap-Prinzips befaßt.<br />
7 In <strong>de</strong>r ersten Auflage schrieb ich: „Ich halte nicht sehr viel<br />
von dieser Theorie, obwohl ich in meiner Skepsis nicht mehr<br />
ganz so sicher bin, wie ich dies war, als ich sie zum ersten<br />
Mal hörte.“ Ich bin f<strong>ro</strong>h, daß ich jenes „obwohl“ hinzugefügt<br />
habe, <strong>de</strong>nn Zahavis Theorie scheint heute weit glaubwürdiger<br />
zu sein als damals. Mehrere geachtete Theoretiker haben neuerdings<br />
begonnen, sie ernst zu nehmen. Am meisten beunruhigt<br />
mich, daß zu ihnen mein Kollege Alan Grafen gehört, <strong>de</strong>r,<br />
wie bereits irgendwo gedruckt steht, „die höchst ärgerliche<br />
Gewohnheit hat, immer recht zu haben“. Er übertrug Zahavis<br />
in Worten ausgedrückte I<strong>de</strong>en in ein mathematisches Mo<strong>de</strong>ll
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 472<br />
und behauptet, es funktioniere. Außer<strong>de</strong>m sei sein Mo<strong>de</strong>ll im<br />
Gegensatz zu <strong>de</strong>n Spielereien an<strong>de</strong>rer kein verrücktes, esoterisches<br />
Zerrbild von Zahavis Theorie, son<strong>de</strong>rn eine unmittelbare<br />
mathematische Übersetzung. Ich wer<strong>de</strong> Grafens ursprüngliche<br />
ESS-Version seines Mo<strong>de</strong>lls erörtern, obgleich er selbst jetzt<br />
an einer rein genetischen Version arbeitet, die in verschie<strong>de</strong>ner<br />
Hinsicht über das ESS-Mo<strong>de</strong>ll hinausreichen wird.<br />
Dies be<strong>de</strong>utet nicht, daß das ESS-Mo<strong>de</strong>ll falsch ist. Es ist<br />
eine gute Annäherung. Tatsächlich sind alle ESS-Mo<strong>de</strong>lle,<br />
einschließlich <strong>de</strong>rjenigen in diesem Buch, in <strong>de</strong>mselben Sinne<br />
Annäherungen.<br />
Das Handikap-Prinzip ist prinzipiell auf alle Situationen<br />
an<strong>wen</strong>dbar, in <strong>de</strong>nen Individuen die Qualität an<strong>de</strong>rer Individuen<br />
zu beurteilen versuchen, aber wir wer<strong>de</strong>n uns darauf<br />
beschränken, von Männchen zu sprechen, die sich Weibchen<br />
anpreisen. Dies um <strong>de</strong>r Klarheit willen; es ist einer jener Fälle,<br />
in <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Sexismus von P<strong>ro</strong>nomen wirklich nützlich ist.<br />
Grafen bemerkt, daß es min<strong>de</strong>stens vier Möglichkeiten gibt,<br />
das Handikap-Prinzip aufzufassen. Es sind dies: das Qualifizieren<strong>de</strong><br />
Handikap (je<strong>de</strong>s Männchen, das t<strong>ro</strong>tz seines Handikaps<br />
überlebt hat, muß ansonsten ziemlich gut sein, daher wählen<br />
Weibchen es aus); das Enthüllen<strong>de</strong> Handikap (Männchen vollbringen<br />
eine beschwerliche Aufgabe, um ihre sonst verborgenen<br />
Fähigkeiten aufzuzeigen); das Bedingte Handikap (nur<br />
hervorragen<strong>de</strong> Männchen entwickeln überhaupt ein Handikap);<br />
und schließlich Grafens bevorzugte Interpretation, die er<br />
das Strategisch gewählte Handikap nennt (Männchen haben<br />
Informationen über ihre eigene Qualität, die <strong>de</strong>n Weibchen verborgen<br />
sind, und sie „entschei<strong>de</strong>n“ auf <strong>de</strong>r Grundlage dieser<br />
Informationen, ob sie ein Handikap entwickeln o<strong>de</strong>r nicht<br />
und wie g<strong>ro</strong>ß es sein sollte). Grafens Interpretation <strong>de</strong>s Strategisch<br />
gewählten Handikaps eignet sich zur ESS-Analyse. Es<br />
besteht keine vorherige Annahme, daß die Mittel, mit <strong>de</strong>nen<br />
die Männchen für sich werben, teuer sein o<strong>de</strong>r ein Handikap<br />
bil<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n. Ganz im Gegenteil, die Männchen können je<strong>de</strong><br />
Art von Reklame entwickeln, ehrlich o<strong>de</strong>r unehrlich, teuer<br />
o<strong>de</strong>r billig. Aber Grafen zeigt, daß ein Handikap-System, <strong>wen</strong>n
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 473<br />
man ihm diese Startfreiheit erlaubt, sich wahrscheinlich als<br />
evolutionär stabil herausstellt. Er geht dabei von vier Annahmen<br />
aus:<br />
1. Die Männchen unterschei<strong>de</strong>n sich qualitativ. Qualität ist<br />
keine vage Eigenschaft, auf die man auf snobistische, gedankenlose<br />
Weise stolz sein kann, etwa <strong>de</strong>r Besuch einer bestimmten<br />
Universität o<strong>de</strong>r die Zugehörigkeit zu einer Bru<strong>de</strong>rschaft.<br />
(Ich erhielt einmal einen Brief von einem Leser, <strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>m<br />
Satz schloß: „Ich hoffe, Sie halten dies nicht für ar<strong>ro</strong>gant,<br />
aber schließlich bin ich Balliol-Schüler“.) Für Grafen be<strong>de</strong>utet<br />
Qualität, daß es so etwas wie gute Männchen und<br />
schlechte Männchen gibt in <strong>de</strong>m Sinne, daß Weibchen genetisch<br />
davon p<strong>ro</strong>fitieren, <strong>wen</strong>n sie sich mit guten Männchen<br />
paaren und schlechte vermei<strong>de</strong>n. Qualität be<strong>de</strong>utet Dinge wie<br />
Muskelstärke, Laufgeschwindigkeit, die Fähigkeit, Beute zu<br />
fin<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r gute Nester zu bauen. Wir sprechen nicht über <strong>de</strong>n<br />
tatsächlichen Fortpflanzungserfolg eines Männchens, da dieser<br />
davon beeinflußt wird, ob es von <strong>de</strong>n Weibchen ausgewählt<br />
wird o<strong>de</strong>r nicht. Wür<strong>de</strong>n wir zu diesem <strong>Zeit</strong>punkt darüber<br />
sprechen, so wür<strong>de</strong> dies be<strong>de</strong>uten, daß wir <strong>de</strong>n fraglichen<br />
Punkt von vornherein als bewiesen ansehen, während das<br />
Mo<strong>de</strong>ll ihn bestätigen kann o<strong>de</strong>r nicht.<br />
2. Die Weibchen können die Qualität <strong>de</strong>r Männchen nicht<br />
direkt erkennen, son<strong>de</strong>rn müssen sich an <strong>de</strong>ren Reklame orientieren.<br />
Zu diesem <strong>Zeit</strong>punkt machen wir keine Annahme<br />
darüber, ob die Reklame ehrlich ist. Ehrlichkeit ist etwas, das<br />
aus <strong>de</strong>m Mo<strong>de</strong>ll hervorgehen kann o<strong>de</strong>r nicht; wie<strong>de</strong>rum ist<br />
dies <strong>de</strong>r Zweck <strong>de</strong>s Mo<strong>de</strong>lls. Ein Männchen könnte zum Beispiel<br />
gepolsterte Schultern entwickeln, um Größe und Stärke<br />
vorzuspiegeln. Es ist Aufgabe <strong>de</strong>s Mo<strong>de</strong>lls, uns zu zeigen, ob<br />
ein solches vorgespiegeltes Signal evolutionär stabil ist, o<strong>de</strong>r<br />
ob die natürliche Auslese anständige und ehrliche Reklame<br />
zum Standard erhebt.<br />
3. An<strong>de</strong>rs als die Weibchen, von <strong>de</strong>nen sie in Augenschein<br />
genommen wer<strong>de</strong>n, „kennen“ die Männchen in gewissem
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 474<br />
Sinne ihre eigene Qualität; und sie <strong>wen</strong><strong>de</strong>n eine „Reklamestrategie“<br />
an, eine Metho<strong>de</strong>, für sich zu werben, die von ihrer<br />
Qualität abhängig ist. Wie üblich meine ich mit „kennen“<br />
kein bewußtes Kennen. Aber wir gehen davon aus, daß die<br />
Männchen Gene besitzen, die, abhängig von <strong>de</strong>r eigenen<br />
Qualität <strong>de</strong>s Männchens, angeschaltet wer<strong>de</strong>n (und privilegierter<br />
Zugang zu dieser Information ist keine unvernünftige<br />
Annahme; die Gene eines Männchens sind schließlich in die<br />
Biochemie seines Körpers eingebun<strong>de</strong>n und haben damit eine<br />
weit bessere Ausgangsposition, um auf seine Qualität zu reagieren,<br />
als die Gene <strong>de</strong>r Weibchen). Verschie<strong>de</strong>ne Männchen<br />
<strong>wen</strong><strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>ne Regeln an. Beispielsweise folgt ein<br />
Männchen <strong>de</strong>r Regel „Zeige einen Schwanz, <strong>de</strong>ssen Größe<br />
p<strong>ro</strong>portional zu <strong>de</strong>iner wahren Qualität ist“; ein an<strong>de</strong>res folgt<br />
möglicherweise <strong>de</strong>r entgegengesetzten Regel. Dies gibt <strong>de</strong>r<br />
natürlichen Auslese die Möglichkeit, die Regeln zu steuern,<br />
in<strong>de</strong>m sie zwischen <strong>de</strong>n Männchen auswählt, die genetisch<br />
p<strong>ro</strong>grammiert sind, unterschiedliche Regeln anzu<strong>wen</strong><strong>de</strong>n. Das<br />
Ausmaß <strong>de</strong>r Reklame muß nicht direkt p<strong>ro</strong>portional zur wirklichen<br />
Qualität sein; ja, ein Männchen könnte <strong>de</strong>r umgekehrten<br />
Regel <strong>de</strong>n Vorzug geben. Es ist weiter nichts nötig, als<br />
daß die Männchen p<strong>ro</strong>grammiert sind, bei <strong>de</strong>r „Betrachtung“<br />
ihrer wahren Qualität und <strong>de</strong>r darauf basieren<strong>de</strong>n „Entscheidung“<br />
für das Ausmaß <strong>de</strong>r Reklame – etwa die Größe <strong>de</strong>s<br />
Schwanzes o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Geweihs – nach irgen<strong>de</strong>iner Regel vorzugehen.<br />
Welche <strong>de</strong>r möglichen Regeln schließlich evolutionär<br />
stabil sein wer<strong>de</strong>n, ist abermals etwas, das das Mo<strong>de</strong>ll herauszufin<strong>de</strong>n<br />
bemüht ist.<br />
4. Die Weibchen besitzen parallel dazu die Freiheit, ihre eigenen<br />
Regeln zu entwickeln. In ihrem Fall geht es bei <strong>de</strong>n Regeln<br />
darum, die Männchen auf <strong>de</strong>r Basis <strong>de</strong>r Überzeugungskraft<br />
ihrer Reklame auszuwählen (erinnern wir uns, daß die Weibchen,<br />
o<strong>de</strong>r vielmehr ihre Gene, nicht über die privilegierte<br />
Kenntnis <strong>de</strong>r wirklichen Qualität verfügen, wie die Männchen<br />
sie haben). Beispielsweise mag ein Weibchen die Regel<br />
zugrun<strong>de</strong> legen: „Glaube <strong>de</strong>n Männchen hun<strong>de</strong>rtp<strong>ro</strong>zentig.“<br />
Ein an<strong>de</strong>res Weibchen dagegen könnte die Regel an<strong>wen</strong><strong>de</strong>n:
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 475<br />
„Ignoriere die Reklame <strong>de</strong>r Männchen hun<strong>de</strong>rtp<strong>ro</strong>zentig.“ Und<br />
wie<strong>de</strong>rum ein an<strong>de</strong>res die Regel: „Nimm das Gegenteil von<br />
<strong>de</strong>m an, was die Reklame sagt.“<br />
Wir stellen uns also Männchen vor, bei <strong>de</strong>nen die Regeln für die<br />
Beziehung zwischen eigener Qualität und Umfang <strong>de</strong>r Reklame<br />
variieren, und Weibchen mit verschie<strong>de</strong>nen Regeln für die<br />
Wahl <strong>de</strong>s Partners in Abhängigkeit vom Ausmaß <strong>de</strong>r Reklame.<br />
In bei<strong>de</strong>n Fällen verän<strong>de</strong>rn sich die Regeln fortwährend und<br />
unter genetischem Einfluß. Bis zu diesem Punkt in unserer<br />
Erörterung können die Männchen die Beziehung zwischen<br />
Qualität und Reklame nach je<strong>de</strong>r beliebigen Regel wählen;<br />
das gleiche gilt bei <strong>de</strong>n Weibchen für <strong>de</strong>n Zusammenhang zwischen<br />
Ausmaß <strong>de</strong>r männlichen Reklame und Wahl <strong>de</strong>s Partners.<br />
Aus <strong>de</strong>m Spektrum möglicher Regeln von Männchen und<br />
Weibchen suchen wir ein evolutionär stabiles Paar von Regeln.<br />
Dies ist ein <strong>wen</strong>ig wie das Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>r „treuen/flatterhaften“ und<br />
„sprö<strong>de</strong>n/leichtfertigen“ Individuen, und zwar insofern, als wir<br />
nach einer evolutionär stabilen männlichen Regel und einer<br />
evolutionär stabilen weiblichen Regel suchen. Dabei be<strong>de</strong>utet<br />
Stabilität wechselseitige Stabilität, also daß beim gleichzeitigen<br />
Wirken zweier Regeln bei<strong>de</strong> stabil sind. Wenn wir ein<br />
<strong>de</strong>rart stabiles Paar von Regeln fin<strong>de</strong>n können, so können wir<br />
sie untersuchen, um herauszufin<strong>de</strong>n, wie das Leben in einer<br />
Gesellschaft sein wür<strong>de</strong>, in <strong>de</strong>r die Geschlechter nach diesen<br />
Regeln spielen, und vor allem, ob es eine Welt mit Zahavischen<br />
Handikaps wäre. Grafen stellte sich die Aufgabe, ein solches<br />
wechselseitig stabiles Paar von Regeln zu fin<strong>de</strong>n. Wollte ich eine<br />
solche Aufgabe durchführen, so wür<strong>de</strong> ich mich vermutlich<br />
durch eine mühsame Computersimulation hindurchquälen.<br />
Ich wür<strong>de</strong> eine Auswahl an Männchen in <strong>de</strong>n Computer einspeisen,<br />
die eigene Qualität und Reklame nach unterschiedlichen<br />
Regeln zueinan<strong>de</strong>r in Beziehung setzen, sowie eine Auswahl<br />
an Weibchen, die sich bei <strong>de</strong>r Wahl ihrer Geschlechtspartner<br />
nach unterschiedlichen Regeln am Werbeaufwand <strong>de</strong>r<br />
Männchen orientieren. Dann wür<strong>de</strong> ich die Männchen und<br />
Weibchen im Computer herumlaufen lassen, sie wür<strong>de</strong>n aufein-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 476<br />
an<strong>de</strong>rtreffen, sich paaren, <strong>wen</strong>n das Wahlkriterium <strong>de</strong>s Weibchens<br />
erfüllt ist, und dann ihre männlichen und weiblichen<br />
Regeln an ihre Söhne und Töchter weitergeben. Und natürlich<br />
wür<strong>de</strong>n Individuen als Resultat ihrer ererbten „Qualität“<br />
überleben o<strong>de</strong>r nicht überleben. Im Verlauf <strong>de</strong>r Generationen<br />
wür<strong>de</strong>n die sich wan<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n Geschicke je<strong>de</strong>r einzelnen<br />
männlichen und je<strong>de</strong>r einzelnen weiblichen Regel als<br />
Verän<strong>de</strong>rungen in <strong>de</strong>ren Häufigkeit in <strong>de</strong>r Population erkennbar<br />
sein. Von <strong>Zeit</strong> zu <strong>Zeit</strong> wür<strong>de</strong> ich in <strong>de</strong>n Computer<br />
hineinsehen, um festzustellen, ob sich irgen<strong>de</strong>ine stabile<br />
Mischung herauskristallisiert. Diese Metho<strong>de</strong> wür<strong>de</strong> im Prinzip<br />
funktionieren, doch in <strong>de</strong>r Praxis trifft sie auf Schwierigkeiten.<br />
Glücklicherweise können Mathematiker zu <strong>de</strong>rselben<br />
Schlußfolgerung gelangen, wie eine Simulation sie liefern<br />
wür<strong>de</strong>, in<strong>de</strong>m sie eine Reihe von Gleichungen aufstellen und<br />
lösen. Grafen hat das getan. Ich wer<strong>de</strong> seinen mathematischen<br />
Gedankengang hier nicht wie<strong>de</strong>rholen und auch seine weiteren<br />
Annahmen nicht im einzelnen erklären. Statt <strong>de</strong>ssen<br />
komme ich unmittelbar zum Ergebnis. Er fand in <strong>de</strong>r Tat ein<br />
evolutionär stabiles Paar von Regeln.<br />
Nun zu <strong>de</strong>r g<strong>ro</strong>ßen Frage. Stellt Grafens ESS die Art von Welt<br />
dar, die Zahavi als eine Welt <strong>de</strong>r Handikaps und Ehrlichkeit<br />
erkennen wür<strong>de</strong>? Die Antwort lautet ja. Grafen fand heraus,<br />
daß es in <strong>de</strong>r Tat eine evolutionär stabile Welt geben kann, die<br />
die folgen<strong>de</strong>n, Zahavis Theorie entsprechen<strong>de</strong>n Eigenschaften<br />
in sich vereint:<br />
1. Obwohl sie die freie strategische Wahl <strong>de</strong>s Reklameaufwands<br />
haben, entschei<strong>de</strong>n sich die Männchen für ein Niveau, das ihre<br />
wahre Qualität korrekt wie<strong>de</strong>rgibt, selbst <strong>wen</strong>n das be<strong>de</strong>utet<br />
zu zeigen, daß diese gering ist. Mit an<strong>de</strong>ren Worten, bei ESS<br />
sind die Männchen ehrlich.<br />
2. Obwohl sie die freie strategische Wahl <strong>de</strong>r Reaktion auf die<br />
Reklame <strong>de</strong>r Männchen haben, entschei<strong>de</strong>n sich die Weibchen<br />
schließlich für die Strategie „Glaube <strong>de</strong>n Männchen“. Bei ESS<br />
zeigen die Weibchen gerechtfertigterweise „Vertrauen“.<br />
3. Reklame ist teuer. Mit an<strong>de</strong>ren Worten, <strong>wen</strong>n wir auf irgen<strong>de</strong>ine<br />
Weise die Effekte von Qualität und Anziehungskraft igno-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 477<br />
rieren könnten, ginge es einem Männchen besser, <strong>wen</strong>n es<br />
keine Reklame machte (und dabei Energie sparte o<strong>de</strong>r <strong>wen</strong>iger<br />
auffällig für einen Räuber wäre). Nicht nur ist Reklame<br />
teuer; ein Reklamesystem wird gera<strong>de</strong> wegen seiner Kosten<br />
ausgewählt. Es wird gewählt, weil es <strong>de</strong>n Effekt hat, <strong>de</strong>n Erfolg<br />
<strong>de</strong>s Reklametreiben<strong>de</strong>n zu verringern – unter sonst gleichen<br />
Umstän<strong>de</strong>n.<br />
4. Reklame ist für schlechtere Männchen teurer. Derselbe<br />
Reklameaufwand erhöht das Risiko für ein schwächliches<br />
Männchen mehr als für ein starkes Männchen. Für Männchen<br />
von niedriger Qualität be<strong>de</strong>utet teure Reklame ein größeres<br />
Risiko als für Männchen von hoher Qualität.<br />
Diese Eigenschaften, beson<strong>de</strong>rs die von Punkt 3, entsprechen<br />
hun<strong>de</strong>rtp<strong>ro</strong>zentig Zahavis Theorie. Grafens Demonstration,<br />
daß sie unter glaubwürdigen Bedingungen evolutionär stabil<br />
sind, wirkt sehr überzeugend. Aber das gleiche gilt für Zahavis<br />
Kritiker, die die erste Auflage dieses Buches beeinflußten<br />
und die zu <strong>de</strong>m Schluß kamen, daß Zahavis I<strong>de</strong>en in <strong>de</strong>r Evolution<br />
nicht funktionieren könnten. Wir sollten uns nicht mit<br />
Grafens Schlußfolgerungen zufrie<strong>de</strong>ngeben, solange wir nicht<br />
sicher sind zu verstehen, wo – <strong>wen</strong>n überhaupt – jene früheren<br />
Kritiker Fehler gemacht haben. Von welcher Annahme gingen<br />
sie aus, die sie zu einem an<strong>de</strong>ren Schluß führte? Ein Teil <strong>de</strong>r<br />
Antwort scheint darin zu liegen, daß sie ihren hypothetischen<br />
Tieren nicht die Wahl aus einem kontinuierlichen Spektrum<br />
von Strategien erlaubten. Dies be<strong>de</strong>utete häufig, daß sie Zahavis<br />
verbale I<strong>de</strong>en in <strong>de</strong>r einen o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren <strong>de</strong>r ersten drei<br />
von Grafen angeführten Arten <strong>de</strong>r Interpretation verstan<strong>de</strong>n<br />
– als das Qualifizieren<strong>de</strong> Handikap, das Enthüllen<strong>de</strong> Handikap<br />
o<strong>de</strong>r das Bedingte Handikap. Sie zogen keine Version<br />
<strong>de</strong>r vierten Interpretation, <strong>de</strong>s Strategisch gewählten Handikaps,<br />
in Betracht. Das Resultat war entwe<strong>de</strong>r, daß es ihnen<br />
überhaupt nicht gelang, das Handikap-Prinzip zum Funktionieren<br />
zu bringen, o<strong>de</strong>r daß es zwar funktionierte, aber nur unter<br />
speziellen, mathematisch abstrakten Bedingungen, die nicht<br />
die volle Zahavische paradoxe Qualität besaßen. Außer<strong>de</strong>m
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 478<br />
ist es ein wesentlicher Zug <strong>de</strong>s Handikap-Prinzips mit Strategisch<br />
gewähltem Handikap, daß bei ESS sowohl hochqualifizierte<br />
als auch gering qualifizierte Individuen dieselbe Strategie<br />
spielen, nämlich „Mache ehrliche Reklame“. Bei älteren<br />
Mo<strong>de</strong>llen setzte man voraus, daß hochqualifizierte Männchen<br />
an<strong>de</strong>re Strategien an<strong>wen</strong><strong>de</strong>n als Männchen von niedriger<br />
Qualität und somit eine an<strong>de</strong>re Reklame entwickeln. Dagegen<br />
geht Grafen davon aus, daß bei ESS die Unterschie<strong>de</strong> zwischen<br />
<strong>de</strong>n hohe und niedrige Qualität signalisieren<strong>de</strong>n Individuen<br />
<strong>de</strong>shalb entstehen, weil sie alle dieselbe Strategie benutzen<br />
– ihre unterschiedliche Reklame ergibt sich, weil ihre unterschiedliche<br />
Qualität durch die Signalisierungsregel wahrheitsgetreu<br />
kundgetan wird.<br />
Wir haben immer zugegeben, daß Signale in <strong>de</strong>r Tat Handikaps<br />
sein können. Wir haben immer verstan<strong>de</strong>n, daß durch<br />
die Evolution extreme Handikaps entstehen können, insbeson<strong>de</strong>re<br />
als Konsequenz <strong>de</strong>r geschlechtlichen Auslese, t<strong>ro</strong>tz <strong>de</strong>r<br />
Tatsache, daß sie Handikaps sind. Der Teil von Zahavis Theorie,<br />
<strong>de</strong>m wir uns alle wi<strong>de</strong>rsetzt haben, war <strong>de</strong>r Gedanke, daß<br />
Signale von <strong>de</strong>r Auslese gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>shalb begünstigt wer<strong>de</strong>n<br />
könnten, weil sie Handikaps für die Signalisieren<strong>de</strong>n sind. Daß<br />
dies zutrifft, hat Alan Grafen allem Anschein nach bewiesen.<br />
Wenn Grafen recht hat – und ich glaube, das ist <strong>de</strong>r Fall<br />
–, so ist dieses Resultat von erheblicher Be<strong>de</strong>utung für das<br />
gesamte Studium <strong>de</strong>r Tiersignale. Es könnte sogar eine radikale<br />
Verän<strong>de</strong>rung unserer ganzen Betrachtungsweise <strong>de</strong>r Evolution<br />
<strong>de</strong>s Verhaltens erfor<strong>de</strong>rlich machen, eine radikale Verän<strong>de</strong>rung<br />
auch unserer Haltung zu vielen <strong>de</strong>r in diesem Buch erörterten<br />
Fragen. Geschlechtliche Reklame ist lediglich eine Art <strong>de</strong>r<br />
Reklame. Wenn die Zahavi-Grafen-Theorie zutrifft, so wird sie<br />
die Vorstellungen <strong>de</strong>r Biologen über die Beziehungen zwischen<br />
Rivalen <strong>de</strong>sselben Geschlechts, zwischen Eltern und Jungen<br />
sowie zwischen Fein<strong>de</strong>n unterschiedlicher Arten völlig auf <strong>de</strong>n<br />
Kopf stellen. Ich halte diese Aussicht für ziemlich beunruhigend,<br />
<strong>de</strong>nn sie be<strong>de</strong>utet, daß Theorien von fast unbegrenzter<br />
Verrücktheit nicht mehr beiseite geschoben wer<strong>de</strong>n können,<br />
nur weil sie <strong>de</strong>m gesun<strong>de</strong>n Menschenverstand wi<strong>de</strong>rsprechen.
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 479<br />
Wenn wir beobachten, wie ein Tier etwas wirklich Törichtes<br />
tut, etwa auf <strong>de</strong>m Kopf steht, statt vor einem Lö<strong>wen</strong> davonzulaufen,<br />
so ist es möglich, daß es dies tut, um einem Weibchen<br />
zu imponieren. Vielleicht gibt es sogar vor <strong>de</strong>m Lö<strong>wen</strong> an: „Ich<br />
bin ein Tier von solch hoher Qualität, daß du <strong>de</strong>ine <strong>Zeit</strong> vergeu<strong>de</strong>n<br />
wür<strong>de</strong>st, <strong>wen</strong>n du versuchen solltest, mich zu fangen“.<br />
Aber so verrückt etwas in meinen Augen auch sein mag,<br />
die natürliche Auslese mag an<strong>de</strong>re Vorstellungen darüber<br />
haben. Ein Tier wird im Angesicht eines geifern<strong>de</strong>n Ru<strong>de</strong>ls von<br />
Räubern Rückwärtssaltos schlagen, <strong>wen</strong>n das damit verbun<strong>de</strong>ne<br />
Risiko die Reklame stärker steigert, als es <strong>de</strong>n Anpreisen<strong>de</strong>n<br />
in Gefahr bringt. Es ist gera<strong>de</strong> ihre Gefährlichkeit, die<br />
die Geste so imposant macht. Natürlich wird die natürliche<br />
Auslese nicht unbegrenzte Gefahr för<strong>de</strong>rn. Sobald <strong>de</strong>r Exhibitionismus<br />
ein<strong>de</strong>utig tollkühn wird, wird er bestraft wer<strong>de</strong>n.<br />
Eine riskante o<strong>de</strong>r teure Leistung mag uns verrückt erscheinen.<br />
Aber unsere Meinung ist nicht gefragt. Nur die natürliche<br />
Auslese hat das Recht zu urteilen.<br />
10. Kratz mir meinen Rücken, dann reite ich auf <strong>de</strong>inem!<br />
1 Zumin<strong>de</strong>st dachten wir das damals. Aber wir hatten unsere<br />
Rechnung ohne die Nacktmulle gemacht. Nacktmulle sind<br />
eine Spezies haarloser, fast blin<strong>de</strong>r kleiner Nagetiere, die in<br />
g<strong>ro</strong>ßen unterirdischen Kolonien in <strong>de</strong>n T<strong>ro</strong>ckengebieten von<br />
Kenia, Somalia und Äthiopien leben. Sie scheinen echte „soziale<br />
Insekten“ <strong>de</strong>r Säugetierwelt zu sein. Die bahnbrechen<strong>de</strong>n<br />
Untersuchungen, die Jennifer Jarvis von <strong>de</strong>r Universität Kapstadt<br />
an in Gefangenschaft leben<strong>de</strong>n Kolonien durchführte,<br />
sind jetzt durch die Feldstudien von Robert Brett in Kenia<br />
ergänzt wor<strong>de</strong>n; weitere Untersuchungen an in Gefangenschaft<br />
leben<strong>de</strong>n Kolonien wer<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n USA von Richard Alexan<strong>de</strong>r<br />
und Paul Sherman durchgeführt. Diese vier Forscher<br />
haben ein gemeinsames Buch versp<strong>ro</strong>chen, <strong>de</strong>m zumin<strong>de</strong>st ich<br />
mit g<strong>ro</strong>ßem Interesse entgegensehe. Die vorliegen<strong>de</strong> Darstellung<br />
beruht auf <strong>de</strong>r Lektüre <strong>de</strong>r <strong>wen</strong>igen bereits erschiene-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 480<br />
nen Publikationen und <strong>de</strong>m, was ich in <strong>de</strong>n Forschungsvorlesungen<br />
von Paul Sherman und Robert Brett gehört habe.<br />
Außer<strong>de</strong>m hatte ich das Privileg, von <strong>de</strong>m damaligen Kurator<br />
<strong>de</strong>r Säugetierabteilung <strong>de</strong>s Londoner Zoos, Brian Bertram, die<br />
dortige Nacktmullekolonie gezeigt zu bekommen.<br />
Nacktmulle leben in weitverzweigten unterirdischen Gangsystemen.<br />
Typische Kolonien zählen 70 o<strong>de</strong>r 80 Tiere, die Zahl<br />
<strong>de</strong>r Individuen kann aber bis auf mehrere hun<strong>de</strong>rt ansteigen.<br />
Das Gangnetz, das von einer Kolonie besetzt wird, kann<br />
eine Gesamtlänge von drei bis mehr als vier Kilometern<br />
haben, und eine Kolonie kann jährlich drei o<strong>de</strong>r vier Tonnen<br />
Er<strong>de</strong> ausgraben. Das Tunnelgraben ist eine gemeinschaftliche<br />
Tätigkeit. Ein Arbeiter bil<strong>de</strong>t die Spitze und gräbt mit seinen<br />
Zähnen vorwärts; dabei schiebt er die Er<strong>de</strong> durch ein leben<strong>de</strong>s<br />
Fließband, eine b<strong>ro</strong><strong>de</strong>ln<strong>de</strong>, scharren<strong>de</strong> Kette aus einem halben<br />
Dutzend kleiner <strong>ro</strong>sa Tiere, nach hinten. Von <strong>Zeit</strong> zu <strong>Zeit</strong> wird<br />
er von einem <strong>de</strong>r weiter hinten Arbeiten<strong>de</strong>n abgelöst.<br />
Nur ein einziges Weibchen in <strong>de</strong>r Kolonie pflanzt sich fort,<br />
und zwar über eine <strong>Zeit</strong>spanne von mehreren Jahren. Jarvis<br />
<strong>wen</strong><strong>de</strong>t, meiner Meinung nach zu recht, die Terminologie für<br />
staatenbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Insekten an und nennt dieses Weibchen die<br />
Königin. Die Königin paart sich mit nicht mehr als zwei o<strong>de</strong>r<br />
drei Männchen. Alle an<strong>de</strong>ren Individuen bei<strong>de</strong>rlei Geschlechts<br />
pflanzen sich nicht fort, wie die Arbeiter bei Insekten. Und<br />
<strong>wen</strong>n man die Königin entfernt, wer<strong>de</strong>n, wie bei vielen sozialen<br />
Insekten, mehrere zuvor sterile Weibchen fruchtbar und<br />
kämpfen miteinan<strong>de</strong>r um die Position <strong>de</strong>r Königin.<br />
Die sterilen Individuen wer<strong>de</strong>n „Arbeiter“ genannt, und<br />
wie<strong>de</strong>rum ist dies gerechtfertigt. Es gibt Arbeiter bei<strong>de</strong>rlei<br />
Geschlechts wie bei <strong>de</strong>n Termiten (während man bei Ameisen,<br />
Bienen und Wespen nur Arbeiterinnen fin<strong>de</strong>t). Die Aufgaben<br />
eines Arbeiters bei <strong>de</strong>n Nacktmullen hängen von seiner<br />
Körpergröße ab. Die kleinsten, die Jarvis „Vielarbeiter“ nennt,<br />
graben und transportieren Er<strong>de</strong>, füttern die Jungen und<br />
nehmen vermutlich <strong>de</strong>r Königin alles ab, damit diese sich<br />
auf das Gebären konzentrieren kann. Sie hat größere Würfe,<br />
als dies für Säugetiere ihrer Größe normal ist; auch dies
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 481<br />
erinnert an die Königinnen staatenbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Insekten. Die<br />
größten unter <strong>de</strong>n nicht fortpflanzungsfähigen Individuen<br />
scheinen außer schlafen und fressen <strong>wen</strong>ig zu tun, während<br />
die mittelg<strong>ro</strong>ßen sich auf dazwischenliegen<strong>de</strong> Weise verhalten:<br />
Es besteht ein Kontinuum wie bei <strong>de</strong>n Bienen anstelle getrennter<br />
Kasten wie bei vielen Ameisen.<br />
Ursprünglich nannte Jarvis die größten nicht fortpflanzungsfähigen<br />
Individuen Nichtarbeiter. Aber konnte es wirklich<br />
sein, daß sie nichts tun? Inzwischen haben sowohl Laborals<br />
auch Feldbeobachtungen einige Hinweise darauf geliefert,<br />
daß sie Soldaten sind, die die Kolonie verteidigen, <strong>wen</strong>n sie<br />
bed<strong>ro</strong>ht wird; die wichtigsten Räuber sind Schlangen. Es<br />
besteht auch die Möglichkeit, daß sie wie die „Honigtöpfe“<br />
<strong>de</strong>r Honigameisen als „Nahrungsbehälter“ fungieren. Nacktmulle<br />
sind „homokop<strong>ro</strong>phag“, was eine höfliche Ausdrucksweise<br />
dafür ist, daß sie gegenseitig ihre Exkremente fressen<br />
(nicht ausschließlich, das wür<strong>de</strong> mit <strong>de</strong>n Gesetzen <strong>de</strong>s Universums<br />
in Kollision geraten). Vielleicht spielen die g<strong>ro</strong>ßen Individuen<br />
eine wertvolle Rolle, in<strong>de</strong>m sie ihre Exkremente in ihrem<br />
Körper speichern, <strong>wen</strong>n es Nahrung in Fülle gibt, so daß sie als<br />
Notspeisekammer dienen können – eine Art verstopfte Verpflegungseinheit.<br />
Das für mich verblüffendste Merkmal <strong>de</strong>r Nacktmulle ist,<br />
daß sie, obwohl sie in so vielerlei Hinsicht <strong>de</strong>n staatenbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />
Insekten ähneln, keine Kaste zu haben scheinen, die <strong>de</strong>n<br />
jungen geflügelten Geschlechtstieren <strong>de</strong>r Ameisen und Termiten<br />
entspricht. Natürlich gibt es bei ihnen fortpflanzungsfähige<br />
Individuen, aber diese beginnen ihre Karriere nicht damit,<br />
daß sie davonfliegen und ihre Gene in neuen Gebieten verbreiten.<br />
Soweit wir wissen, wachsen Nacktmullkolonien einfach<br />
an <strong>de</strong>n Rän<strong>de</strong>rn, in<strong>de</strong>m die Tiere das unterirdische Gangsystem<br />
vergrößern. Anscheinend gehen aus ihnen keine Individuen<br />
hervor, die ausschwärmen und an<strong>de</strong>rswo neue Kolonien<br />
grün<strong>de</strong>n. Dies ist für meine darwinistische Intuition so<br />
überraschend, daß es mich zu Spekulationen verleitet. Ich vermute,<br />
wir wer<strong>de</strong>n eines Tages eine Ausbreitungsphase ent<strong>de</strong>kken,<br />
die aus irgen<strong>de</strong>inem Grun<strong>de</strong> bisher übersehen wor<strong>de</strong>n
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 482<br />
ist. Es wäre übertrieben zu hoffen, daß <strong>de</strong>n fortziehen<strong>de</strong>n<br />
Individuen wortwörtlich Flügel wachsen! Aber sie könnten<br />
auf verschie<strong>de</strong>nerlei Art für das Leben an <strong>de</strong>r Erdoberfläche<br />
und nicht unter <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> ausgerüstet sein, beispielsweise<br />
könnten sie ein Haarkleid haben. Nacktmulle regulieren ihre<br />
Körpertemperatur nicht auf dieselbe Weise, wie normale<br />
Säugetiere dies tun; sie sind mehr wie „kaltblütige“ Reptilien.<br />
Möglicherweise kont<strong>ro</strong>llieren sie die Temperatur gemeinschaftlich<br />
– eine weitere Ähnlichkeit zu Termiten und Bienen.<br />
O<strong>de</strong>r nutzen sie vielleicht die konstante Temperatur aus, die<br />
bekanntlich eine typische Eigenschaft je<strong>de</strong>s guten Kellers darstellt?<br />
Auf alle Fälle könnten meine hypothetischen davonziehen<strong>de</strong>n<br />
Individuen, an<strong>de</strong>rs als die unterirdisch arbeiten<strong>de</strong>n,<br />
traditionelle „Warmblüter“ sein. Ist es vorstellbar, daß<br />
ein bereits bekanntes behaartes Säugetier, das bisher als eine<br />
völlig verschie<strong>de</strong>ne Art klassifiziert wor<strong>de</strong>n ist, sich als die verlorene<br />
Kaste <strong>de</strong>r Nacktmulle erweist?<br />
Schließlich gibt es entsprechen<strong>de</strong> Präze<strong>de</strong>nzfälle. Wan<strong>de</strong>rheuschrecken<br />
zum Beispiel leben normalerweise so einsam,<br />
versteckt und zurückgezogen, wie das für ihre Verwandten, die<br />
Heupfer<strong>de</strong>, typisch ist. Aber unter gewissen Bedingungen kann<br />
sich ihre Lebensweise radikal – und katast<strong>ro</strong>phal – än<strong>de</strong>rn.<br />
Sie verlieren ihre Tarnfarbe und wer<strong>de</strong>n lebhaft gestreift. Man<br />
könnte dies beinahe als Warnung auffassen. Unbegrün<strong>de</strong>t<br />
wäre eine solche Warnung je<strong>de</strong>nfalls nicht, <strong>de</strong>nn das Verhalten<br />
<strong>de</strong>r Tiere än<strong>de</strong>rt sich ebenfalls. Sie geben ihr Einsiedlerdasein<br />
auf und schließen sich zu Ban<strong>de</strong>n zusammen, und zwar<br />
mit bed<strong>ro</strong>hlichem Resultat. Von <strong>de</strong>n legendären biblischen<br />
Heuschreckenplagen bis zum heutigen Tag ist kein Tier als<br />
Zerstörer menschlichen Wohlstands <strong>de</strong>rart gefürchtet wor<strong>de</strong>n.<br />
Wan<strong>de</strong>rheuschrecken bil<strong>de</strong>n Schwärme von Millionenstärke<br />
– Mähdrescher, die Dutzen<strong>de</strong> von Kilometern breite Pfa<strong>de</strong><br />
dreschen, manchmal Hun<strong>de</strong>rte von Kilometern p<strong>ro</strong> Tag<br />
zurücklegen, täglich 2000 Tonnen Getrei<strong>de</strong> verschlingen und<br />
eine Welle von Hunger und Zerstörung hinter sich zurücklassen.<br />
Und nun kommen wir zu <strong>de</strong>r möglichen Analogie mit Nacktmullen.<br />
Der Unterschied zwischen einem einzelgängerischen
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 483<br />
Individuum und seiner schwarmbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Inkarnation ist<br />
nicht größer als <strong>de</strong>r zwischen zwei Ameisenkasten. Außer<strong>de</strong>m<br />
galten, gera<strong>de</strong> wie wir für die „verlorene Kaste“ <strong>de</strong>r Nacktmulle<br />
postuliert hatten, Solitär- und Schwarmform <strong>de</strong>r Wan<strong>de</strong>rheuschrecken<br />
bis 1921 als verschie<strong>de</strong>ne Arten.<br />
Aber lei<strong>de</strong>r erscheint es nicht allzu wahrscheinlich, daß<br />
sich die Säugetierexperten bis zum heutigen Tag <strong>de</strong>rart haben<br />
täuschen lassen. Übrigens sollte ich erwähnen, daß gelegentlich<br />
gewöhnliche, unverän<strong>de</strong>rte Nacktmulle an <strong>de</strong>r Oberfläche gesehen<br />
wer<strong>de</strong>n, und vielleicht reisen sie weiter, als man allgemein<br />
annimmt. Aber bevor wir die Spekulationen über „verwan<strong>de</strong>lte<br />
Geschlechtstiere“ ganz aufgeben, läßt uns <strong>de</strong>r Vergleich<br />
mit <strong>de</strong>n Wan<strong>de</strong>rheuschrecken an eine weitere Möglichkeit<br />
<strong>de</strong>nken. Vielleicht bringen Nacktmulle ja tatsächlich verwan<strong>de</strong>lte<br />
Geschlechtstiere hervor, allerdings nur unter bestimmten<br />
Bedingungen – und diese sind in <strong>de</strong>n letzten Jahrzehnten nicht<br />
eingetreten. In Afrika und im Nahen Osten sind Heuschreckenplagen<br />
immer noch eine Bed<strong>ro</strong>hung, genauso wie in biblischen<br />
<strong>Zeit</strong>en. Aber in Nordamerika liegen die Dinge an<strong>de</strong>rs. Auch<br />
dort gibt es einige Wan<strong>de</strong>rheuschreckenarten. Dennoch sind,<br />
anscheinend weil die Bedingungen nicht die richtigen waren,<br />
in diesem Jahrhun<strong>de</strong>rt in Nordamerika keine Heuschreckenplagen<br />
aufgetreten. (Allerdings tauchen Zika<strong>de</strong>n, eine gänzlich<br />
an<strong>de</strong>re Sorte von Schadinsekten, immer noch plötzlich und<br />
mit schöner Regelmäßigkeit in g<strong>ro</strong>ßen Schwärmen auf und<br />
wer<strong>de</strong>n verwirren<strong>de</strong>rweise in <strong>de</strong>r amerikanischen Umgangssprache<br />
als „Wan<strong>de</strong>rheuschrecken“ bezeichnet.) Nichts<strong>de</strong>sto<strong>wen</strong>iger<br />
wäre es nicht beson<strong>de</strong>rs überraschend, <strong>wen</strong>n heute<br />
in Amerika eine echte Wan<strong>de</strong>rheuschreckenplage aufträte:<br />
Der Vulkan ist nicht erloschen, er schläft lediglich. Doch es<br />
wäre eine Überraschung – eine schlimme –, <strong>wen</strong>n wir keine<br />
schriftlich überlieferten historischen Zeugnisse und Informationen<br />
aus an<strong>de</strong>ren Teilen <strong>de</strong>r Welt besäßen, <strong>de</strong>nn dann<br />
wären die Tiere in <strong>de</strong>n Augen aller nichts als gewöhnliche,<br />
einzelgängerische, harmlose Grashüpfer. Was wäre, <strong>wen</strong>n die<br />
Nacktmulle wie die amerikanischen Wan<strong>de</strong>rheuschrecken sind,<br />
darauf vorbereitet, eine an<strong>de</strong>re, sich ausbreiten<strong>de</strong> Kaste her-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 484<br />
vorzubringen, aber nur unter Bedingungen, die aus irgen<strong>de</strong>inem<br />
Grun<strong>de</strong> in diesem Jahrhun<strong>de</strong>rt nicht eingetreten sind? Im<br />
19. Jahrhun<strong>de</strong>rt könnte Ostafrika von herumschwärmen<strong>de</strong>n<br />
Plagen behaarter Nacktmulle heimgesucht wor<strong>de</strong>n sein, die<br />
wie Lemminge an <strong>de</strong>r Oberfläche wan<strong>de</strong>rten, ohne daß<br />
Berichte darüber bis heute erhalten geblieben wären. O<strong>de</strong>r<br />
sind sie vielleicht doch in <strong>de</strong>n Legen<strong>de</strong>n und Sagen von<br />
Eingeborenenstämmmen festgehalten?<br />
2 Die bemerkenswerte Genialität von Hamiltons Hypothese<br />
<strong>de</strong>r „3/4-Verwandtschaft“, die er für <strong>de</strong>n beson<strong>de</strong>ren Fall <strong>de</strong>r<br />
Hautflügler aufstellte, hat sich paradoxerweise als ein Hin<strong>de</strong>rnis<br />
für die Glaubwürdigkeit seiner allgemeineren und grundlegen<strong>de</strong>n<br />
Theorie erwiesen. Die Geschichte von <strong>de</strong>r haplodiploi<strong>de</strong>n<br />
3/4-Verwandtschaft ist gera<strong>de</strong> noch unkompliziert genug,<br />
um für je<strong>de</strong>rmann mit ein <strong>wen</strong>ig Anstrengung verständlich<br />
zu sein, aber auch schon so schwierig, daß man stolz darauf<br />
ist, sie verstan<strong>de</strong>n zu haben, und begierig, sie an<strong>de</strong>ren<br />
weiterzuerzählen. Sie ist ein gutes „Mem“. Wenn man Hamiltons<br />
Theorie nicht durch die Lektüre seiner Publikationen,<br />
son<strong>de</strong>rn durch eine Unterhaltung im Café o<strong>de</strong>r Gasthaus kennenlernt,<br />
so hört man mit sehr g<strong>ro</strong>ßer Wahrscheinlichkeit von<br />
nichts an<strong>de</strong>rem als von <strong>de</strong>r Haplodiploidie. Heutzutage ist<br />
je<strong>de</strong>s Lehrbuch <strong>de</strong>r Biologie, gleichgültig wie kurz es sich mit<br />
<strong>de</strong>r Verwandtschaftsselektion befaßt, beinahe gezwungen, <strong>de</strong>r<br />
„3/4-Verwandtschaft“ einen Absatz zu widmen. Ein Kollege, <strong>de</strong>r<br />
heute als Kapazität für das Sozialverhalten g<strong>ro</strong>ßer Säugetiere<br />
gilt, hat mir gestan<strong>de</strong>n, daß er jahrelang geglaubt hat, Hamiltons<br />
Theorie <strong>de</strong>r Verwandtschaftsselektion sei die Hypothese<br />
<strong>de</strong>r 3/4-Verwandtschaft und nicht mehr! All dies hat folgen<strong>de</strong><br />
Konsequenz: Sollten neu ent<strong>de</strong>ckte Fakten uns einmal veranlassen,<br />
die Be<strong>de</strong>utung dieser einen Hypothese anzuzweifeln,<br />
so könnte dies leicht als Beweis gegen die gesamte Theorie<br />
<strong>de</strong>r Verwandtschaftsauslese angesehen wer<strong>de</strong>n. Es ist so, als<br />
schriebe ein g<strong>ro</strong>ßer Komponist eine lange und höchst originelle<br />
Symphonie, in <strong>de</strong>r eine beson<strong>de</strong>re Melodie, die kurz in<br />
<strong>de</strong>r Mitte auftaucht, so unmittelbar mitreißend ist, daß sie zum
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 485<br />
Gassenhauer wird. Man i<strong>de</strong>ntifiziert daraufhin die ganze Symphonie<br />
mit dieser einen Melodie, und <strong>wen</strong>n diese dann irgendwann<br />
einmal ihren Zauber verliert, glauben die Leute, daß sie<br />
die ganze Symphonie nicht mehr mögen.<br />
Nehmen wir zum Beispiel einen ansonsten brauchbaren<br />
Artikel von Linda Gamlin über Nacktmulle, <strong>de</strong>r kürzlich in <strong>de</strong>r<br />
<strong>Zeit</strong>schrift New Scientist veröffentlicht wur<strong>de</strong>. Er ist ernstlich<br />
durch die Anspielung beeinträchtigt, daß Nacktmulle und Termiten<br />
in gewisser Hinsicht eine Schwierigkeit für Hamiltons<br />
These darstellen, einfach weil sie nicht haplodiploid sind! Es<br />
fällt schwer zu glauben, daß die Autorin Hamiltons klassisches<br />
Paar von Veröffentlichungen jemals auch nur gesehen<br />
hat, <strong>de</strong>nn dort nimmt die Haplodiploidie von <strong>de</strong>n fünfzig<br />
Seiten nicht mehr als vier in Anspruch. Sie muß sich auf<br />
Sekundärquellen verlassen haben – nicht auf Das egoistische<br />
Gen, hoffe ich.<br />
Ein weiteres aufschlußreiches Beispiel betrifft die Blattlaussoldaten,<br />
die ich in <strong>de</strong>n Anmerkungen zu Kapitel 6 beschrieben<br />
habe. Wie dort erklärt ist, sollte man, da Blattläuse Klone eineiiger<br />
Mehrlinge bil<strong>de</strong>n, bei ihnen mit g<strong>ro</strong>ßer Sicherheit altruistische<br />
Selbstaufopferung erwarten. Hamilton wur<strong>de</strong> dieser<br />
Zusammenhang im Jahre 1964 klar, und er machte sich nicht<br />
geringe Mühe, die peinliche Tatsache zu erklären, daß – soweit<br />
damals bekannt war – Tierklone keinerlei beson<strong>de</strong>re Ten<strong>de</strong>nz<br />
zu altruistischem Verhalten zeigten. Als man die Blattlaussoldaten<br />
ent<strong>de</strong>ckte, hätte diese Ent<strong>de</strong>ckung kaum perfekter mit<br />
Hamiltons Theorie im Einklang stehen können. Doch i<strong>ro</strong>nischerweise<br />
behan<strong>de</strong>lt <strong>de</strong>r Originalbeitrag, <strong>de</strong>r jene Ent<strong>de</strong>ckung<br />
verkün<strong>de</strong>t, die Blattlaussoldaten, als stellten sie eine Schwierigkeit<br />
für Hamiltons Theorie dar, da Blattläuse nicht haplodiploid<br />
sind!<br />
Bei <strong>de</strong>n Termiten – die ebenfalls häufig als eine Schwierigkeit<br />
für Hamiltons Theorie angesehen wer<strong>de</strong>n – setzt sich<br />
die I<strong>ro</strong>nie fort, <strong>de</strong>nn Hamilton selbst entwickelte im Jahre<br />
1972 eine <strong>de</strong>r genialsten Theorien darüber, warum diese Tiere<br />
zum sozialen Leben übergingen, eine Theorie, die man als<br />
intelligente Analogie zur Haplodiploidie-Hypothese ansehen
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 486<br />
kann. Diese sogenannte Theorie <strong>de</strong>r zyklischen Inzucht wird<br />
gewöhnlich S. Bartz zugeschrieben, <strong>de</strong>r sie sieben Jahre nach<br />
Hamiltons Originalveröffentlichung entwickelte. Typischerweise<br />
vergaß Hamilton selbst, daß ihm die „Bartzsche Theorie“<br />
zuerst eingefallen war, und ich mußte ihm erst seinen eigenen<br />
Beitrag unter die Nase halten, damit er es endlich glaubte!<br />
Doch lassen wir die Frage <strong>de</strong>r Priorität beiseite; die Theorie<br />
selbst ist so interessant, daß ich bedaure, sie nicht in <strong>de</strong>r ersten<br />
Auflage erörtert zu haben. Ich wer<strong>de</strong> diese Unterlassung jetzt<br />
korrigieren.<br />
Ich sagte, die Theorie sei eine kluge Analogie zur Haplodiploidie-Hypothese.<br />
Damit meinte ich folgen<strong>de</strong>s. Vom Standpunkt<br />
<strong>de</strong>r sozialen Evolution her gesehen ist das wesentliche<br />
Merkmal haplodiploi<strong>de</strong>r Tiere, daß ein Individuum seinen<br />
leiblichen Geschwistern genetisch näher sein kann als seinen<br />
Nachkommen. Hierdurch wird es prädisponiert, im elterlichen<br />
Nest zu bleiben und Geschwister g<strong>ro</strong>ßzuziehen, statt<br />
das Nest zu verlassen, um eigene Nachkommen in die Welt<br />
zu setzen und aufzuziehen. Hamilton suchte einen Grund,<br />
warum auch bei <strong>de</strong>n Termiten die leiblichen Geschwister einan<strong>de</strong>r<br />
genetisch näher sein könnten als Eltern ihren Jungen.<br />
Den Schlüssel liefert die Inzucht. Wenn Tiere sich mit ihren<br />
Geschwistern paaren, wer<strong>de</strong>n ihre daraus entstehen<strong>de</strong>n Nachkommen<br />
genetisch einheitlicher. Weiße Mäuse je<strong>de</strong>r beliebigen<br />
Laborrasse sind genetisch nahezu mit eineiigen Zwillingen<br />
gleichzusetzen. Der Grund ist, daß sie aus einer langen<br />
Reihe von Bru<strong>de</strong>r-Schwester-Paarungen hervorgegangen sind.<br />
Ihre Genome wer<strong>de</strong>n hochgradig homozygot, um <strong>de</strong>n Fachausdruck<br />
zu benutzen: Die bei<strong>de</strong>n Allele an nahezu je<strong>de</strong>m Genlocus<br />
sind i<strong>de</strong>ntisch, und sie stimmen auch mit <strong>de</strong>n Genen <strong>de</strong>sselben<br />
Locus in allen an<strong>de</strong>ren Individuen <strong>de</strong>r Rasse überein.<br />
In <strong>de</strong>r Natur treffen wir nicht oft auf lange Reihen inzestuöser<br />
Paarungen, aber es gibt eine be<strong>de</strong>utsame Ausnahme – die Termiten!<br />
Ein typisches Termitennest wird von einem König und einer<br />
Königin gegrün<strong>de</strong>t, die sich dann ausschließlich miteinan<strong>de</strong>r<br />
paaren, bis einer von ihnen stirbt. Seinen o<strong>de</strong>r ihren Platz
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 487<br />
nimmt dann einer ihrer Nachkommen ein, <strong>de</strong>r sich inzestuös<br />
mit <strong>de</strong>m überleben<strong>de</strong>n Elternteil paart. Wenn bei<strong>de</strong> Teile <strong>de</strong>s<br />
ursprünglichen Königspaares sterben, wer<strong>de</strong>n sie von einem<br />
inzestuösen Bru<strong>de</strong>r-Schwester-Paar ersetzt und so weiter.<br />
Eine reife Kolonie hat wahrscheinlich mehrere Könige und<br />
Königinnen verloren, und die Nachkommenschaft, die nach<br />
einigen Jahren aufgezogen wird, ist wahrscheinlich sehr stark<br />
durch Inzucht erzeugt, ebenso wie Labormäuse. Im Verlauf<br />
<strong>de</strong>r Jahre wer<strong>de</strong>n die Geschlechtstiere in einem Termitennest<br />
immer wie<strong>de</strong>r durch ihre Nachkommen o<strong>de</strong>r Geschwister<br />
ersetzt, und die durchschnittliche Homozygotie sowie <strong>de</strong>r mittlere<br />
Verwandtschaftskoeffizient nehmen immer weiter zu. Doch<br />
dies ist erst <strong>de</strong>r erste Schritt in Hamiltons Beweisführung.<br />
Jetzt folgt <strong>de</strong>r geniale Teil.<br />
Das Endp<strong>ro</strong>dukt je<strong>de</strong>s Insektenstaates sind neue Geschlechtstiere,<br />
die aus <strong>de</strong>r elterlichen Kolonie ausfliegen, sich paaren<br />
und eine neue Kolonie grün<strong>de</strong>n. Dabei besteht eine gute<br />
Chance, daß die Paarungen <strong>de</strong>r neuen jungen Könige und<br />
Königinnen nicht inzestuös sind. Es sieht in <strong>de</strong>r Tat so aus, als<br />
gäbe es beson<strong>de</strong>re Synch<strong>ro</strong>nisierungsmechanismen, die dafür<br />
sorgen, daß alle Termitennester in einer Region am selben<br />
Tag geflügelte Geschlechtstiere p<strong>ro</strong>duzieren, vermutlich, um<br />
die Paarung nicht näher verwandter Individuen zu för<strong>de</strong>rn.<br />
Betrachten wir also die genetischen Konsequenzen einer Paarung<br />
zwischen einem jungen König aus Kolonie A und einer<br />
jungen Königin aus Kolonie B. Bei<strong>de</strong> sind in hohem Maße<br />
durch Inzucht entstan<strong>de</strong>n und insofern Labormäusen vergleichbar.<br />
Da sie aber die P<strong>ro</strong>dukte verschie<strong>de</strong>ner, voneinan<strong>de</strong>r<br />
unabhängiger P<strong>ro</strong>gramme inzestuöser Fortpflanzung sind,<br />
wer<strong>de</strong>n sie auch genetisch voneinan<strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>n sein. Sie<br />
sind wie durch Inzucht erzeugte weiße Mäuse, die unterschiedlichen<br />
Laborrassen angehören. Wenn sie sich paaren,<br />
wer<strong>de</strong>n ihre Nachkommen hochgradig hete<strong>ro</strong>zygot, aber einheitlich<br />
hete<strong>ro</strong>zygot sein. Hochgradig hete<strong>ro</strong>zygot be<strong>de</strong>utet,<br />
daß an vielen Genloci zwei voneinan<strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>ne Allele<br />
sitzen. Einheitlich hete<strong>ro</strong>zygot be<strong>de</strong>utet, daß fast alle Nachkommen<br />
in genau <strong>de</strong>rselben Weise hete<strong>ro</strong>zygot sein wer<strong>de</strong>n.
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 488<br />
Sie wer<strong>de</strong>n genetisch nahezu i<strong>de</strong>ntisch mit ihren Geschwistern<br />
sein, aber gleichzeitig hochgradig hete<strong>ro</strong>zygot.<br />
Betrachten wir nun die Verhältnisse einige <strong>Zeit</strong> später. Die<br />
neue Kolonie mit ihrem Grün<strong>de</strong>rpaar ist gewachsen. Sie ist von<br />
einer g<strong>ro</strong>ßen Anzahl i<strong>de</strong>ntischer hete<strong>ro</strong>zygoter junger Termiten<br />
bevölkert. Stellen wir uns vor, was geschehen wird, <strong>wen</strong>n<br />
das Grün<strong>de</strong>rpaar beziehungsweise ein Teil dieses Paares stirbt.<br />
Der alte Inzuchtzyklus wird wie<strong>de</strong>r beginnen, mit bemerkenswerten<br />
Folgen. In <strong>de</strong>r ersten inzestuös erzeugten Generation<br />
wird die genetische Variabilität gegenüber <strong>de</strong>r vorhergegangenen<br />
Generation dramatisch erhöht sein. Es ist gleichgültig, ob<br />
wir uns eine Bru<strong>de</strong>r-Schwester-, eine Vater-Tochter- o<strong>de</strong>r eine<br />
Mutter-Sohn-Paarung vorstellen. Das Prinzip ist in allen Fällen<br />
dasselbe, aber es ist am einfachsten, eine Bru<strong>de</strong>r-Schwester-<br />
Paarung zu betrachten. Wenn Bru<strong>de</strong>r und Schwester in i<strong>de</strong>ntischer<br />
Weise hete<strong>ro</strong>zygot sind, wer<strong>de</strong>n ihre Nachkommen ein<br />
höchst variabler Mischmasch genetischer Rekombinationen<br />
sein. Dies ergibt sich aus elementarer Men<strong>de</strong>lscher Genetik<br />
und gilt im Prinzip für alle Tiere und Pflanzen, nicht nur für<br />
Termiten. Nimmt man einheitlich hete<strong>ro</strong>zygote Individuen und<br />
kreuzt sie entwe<strong>de</strong>r miteinan<strong>de</strong>r o<strong>de</strong>r mit einer <strong>de</strong>r homozygoten<br />
Elternrassen, so bricht – genetisch gesp<strong>ro</strong>chen – die Hölle<br />
los. Der Grund dafür läßt sich in je<strong>de</strong>m einführen<strong>de</strong>n Lehrbuch<br />
<strong>de</strong>r Genetik nachlesen, und ich wer<strong>de</strong> ihn nicht genauer<br />
erklären. Die für unsere Betrachtungen wichtige Konsequenz<br />
ist, daß während dieser Entwicklungsphase einer Termitenkolonie<br />
ein Individuum typischerweise seinen Geschwistern<br />
genetisch näher ist als seinen möglichen Nachkommen. Und<br />
dies ist, wie wir im Fall <strong>de</strong>r haplodiploi<strong>de</strong>n Hymenopteren<br />
sahen, eine wahrscheinliche Voraussetzung für die Evolution<br />
altruistisch steriler Arbeiterkasten.<br />
Aber selbst <strong>wen</strong>n es keinen beson<strong>de</strong>ren Grund zu <strong>de</strong>r<br />
Annahme gibt, daß die Individuen einer Population ihren<br />
Geschwistern näher stehen als ihren Nachkommen, gibt es<br />
häufig genug gute Grün<strong>de</strong> anzunehmen, daß sie ihnen genauso<br />
nahestehen. Die einzige Voraussetzung, die dazu erfüllt sein<br />
muß, ist ein gewisser Grad an Monogamie. In gewisser Weise
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 489<br />
ist es von Hamiltons Standpunkt aus eher überraschend, daß<br />
es nicht mehr Arten gibt, bei <strong>de</strong>nen sterile Arbeiter ihre<br />
jüngeren Brü<strong>de</strong>r und Schwestern aufziehen. Tatsächlich weit<br />
verbreitet ist dagegen, wie sich immer mehr herausstellt, eine<br />
Art verwässerter Version <strong>de</strong>s Phänomens <strong>de</strong>r sterilen Arbeiter,<br />
die als „im Nest helfen“ bekannt ist. Bei vielen Vogel- und<br />
Säugetierarten bleiben junge Erwachsene während einer o<strong>de</strong>r<br />
zwei Fortpflanzungsperio<strong>de</strong>n bei ihren Eltern und helfen bei<br />
<strong>de</strong>r Aufzucht ihrer jüngeren Brü<strong>de</strong>r und Schwestern, bevor sie<br />
ausziehen, um eigene Familien zu grün<strong>de</strong>n. Kopien von Genen<br />
für diese Handlungsweise wer<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n Körpern <strong>de</strong>r Brü<strong>de</strong>r<br />
und Schwestern weitergegeben. Wenn wir davon ausgehen,<br />
daß die Nutznießer Vollgeschwister und keine Halbgeschwister<br />
sind, so bringt je<strong>de</strong>s in einen Bru<strong>de</strong>r o<strong>de</strong>r eine Schwester<br />
investierte Gramm Nahrung genetisch gesp<strong>ro</strong>chen genau <strong>de</strong>nselben<br />
Gewinn, als <strong>wen</strong>n es in ein Kind investiert wor<strong>de</strong>n<br />
wäre. Doch dies trifft nur unter sonst gleichen Voraussetzungen<br />
zu. Wir müssen uns die Ungleichheiten ansehen, <strong>wen</strong>n wir<br />
erklären wollen, warum das Helfen im Nest bei einigen Arten<br />
vorkommt und bei an<strong>de</strong>ren nicht.<br />
Denken wir zum Beispiel an eine Vogelart, die in hohlen<br />
Bäumen nistet. Diese Bäume sind wertvoll, <strong>de</strong>nn es gibt<br />
nur ein begrenztes Angebot von ihnen. Wenn ich ein junger<br />
Erwachsener bin, <strong>de</strong>ssen Eltern noch leben, so besitzen diese<br />
wahrscheinlich einen <strong>de</strong>r <strong>wen</strong>igen verfügbaren hohlen Bäume<br />
(<strong>wen</strong>igstens müssen sie noch vor kurzem einen besessen haben,<br />
sonst gäbe es mich nicht). Ich lebe also wahrscheinlich in<br />
einem hohlen Baum, <strong>de</strong>r ein blühen<strong>de</strong>s, gut funktionieren<strong>de</strong>s<br />
Unternehmen ist, und die neuen kleinen Bewohner dieser p<strong>ro</strong>duktiven<br />
Bruthöhle sind meine Vollgeschwister, die mir genetisch<br />
so nahe sind, wie meine eigenen Nachkommen es wären.<br />
Wenn ich gehe und mich allein durchzuschlagen versuche, so<br />
sind die Chancen, daß ich einen hohlen Baum besetzen kann,<br />
gering. Selbst <strong>wen</strong>n es mir gelingt, sind die Jungen, die ich<br />
aufziehe, mir genetisch nicht näher als Brü<strong>de</strong>r und Schwestern.<br />
Eine gegebene Menge an Anstrengungen, in <strong>de</strong>n hohlen<br />
Baum meiner Eltern investiert, ist mehr wert als dieselbe
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 490<br />
Menge an Anstrengungen, die ich in <strong>de</strong>n Versuch investiere,<br />
mich selbständig zu machen. Solche Bedingungen könnten<br />
also Geschwisterfürsorge – „im Nest helfen“ – för<strong>de</strong>rn.<br />
T<strong>ro</strong>tz<strong>de</strong>m müssen auch weiterhin einige Individuen – o<strong>de</strong>r<br />
alle Individuen für eine gewisse <strong>Zeit</strong> – hinausgehen und neue<br />
hohle Bäume suchen o<strong>de</strong>r was immer <strong>de</strong>m in ihrer Spezies<br />
entspricht. Um die Terminologie <strong>de</strong>s „Kin<strong>de</strong>rzeugens und Kin<strong>de</strong>rpflegens“<br />
aus Kapitel 7 zu benutzen: Irgend jemand muß<br />
die P<strong>ro</strong>duktion von Nachkommen übernehmen, sonst gäbe es<br />
keine Jungen, die man pflegen könnte! Das Wichtige hier ist<br />
nicht, daß „sonst die Art ausstirbt“. Vielmehr wer<strong>de</strong>n in je<strong>de</strong>r<br />
Population, die von Genen für reines Pflegen beherrscht ist,<br />
Gene für Kin<strong>de</strong>rerzeugen einen Vorteil haben. Bei staatenbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />
Insekten wird die Erzeuger<strong>ro</strong>lle von <strong>de</strong>n Königinnen<br />
und Männchen ausgefüllt. Sie sind es, die in die Welt hinausgehen<br />
und nach neuen „hohlen Bäumen“ suchen, und das ist <strong>de</strong>r<br />
Grund, weshalb sie Flügel haben, selbst bei <strong>de</strong>n Ameisen, <strong>de</strong>ren<br />
Arbeiter flügellos sind. Diese Kasten <strong>de</strong>r fortpflanzungsfähigen<br />
Individuen sind für ihre gesamte Lebenszeit spezialisiert. Bei<br />
Vögeln und Säugetieren, die am Nest helfen, ist es an<strong>de</strong>rs. Je<strong>de</strong>s<br />
Individuum verbringt einen Teil seines Lebens (gewöhnlich<br />
die erste Fortpflanzungsperio<strong>de</strong>, die es als ausgewachsenes<br />
Tier erlebt, mitunter auch die ersten bei<strong>de</strong>n) als „Arbeiter“,<br />
<strong>de</strong>r dabei hilft, jüngere Brü<strong>de</strong>r und Schwestern g<strong>ro</strong>ßzuziehen,<br />
während er für <strong>de</strong>n verbleiben<strong>de</strong>n Teil seines Lebens darauf<br />
hinstrebt, „Geschlechtstier“ zu sein.<br />
Wie sieht es mit <strong>de</strong>n Nacktmullen aus <strong>de</strong>r vorigen Anmerkung<br />
aus? Sie sind ein perfektes Beispiel für das Prinzip <strong>de</strong>s<br />
„gutgehen<strong>de</strong>n Unternehmens“ o<strong>de</strong>r „hohlen Baumes“, obwohl<br />
ihr gutgehen<strong>de</strong>s Unternehmen nicht wortwörtlich einen hohlen<br />
Baum betrifft. Der Schlüssel zu ihrer Geschichte ist wahrscheinlich<br />
die ungleichmäßige Verteilung ihrer Nahrung im<br />
Savannenbo<strong>de</strong>n. Sie ernähren sich hauptsächlich von unterirdischen<br />
Wurzelknollen. Diese Knollen können sehr g<strong>ro</strong>ß<br />
sein und sehr tief liegen. Eine einzige Knolle einer solchen<br />
Spezies kann mehr wiegen als 1000 Nacktmulle und, <strong>wen</strong>n<br />
sie einmal gefun<strong>de</strong>n ist, die Kolonie monate- o<strong>de</strong>r sogar jah-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 491<br />
relang ernähren. Das P<strong>ro</strong>blem besteht darin, die Knollen zu<br />
fin<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nn sie sind unregelmäßig und sporadisch über die<br />
ganze Savanne verstreut. Die Nahrung <strong>de</strong>r Nacktmulle ist also<br />
schwer zu fin<strong>de</strong>n, aber aller Mühe wert, <strong>wen</strong>n sie erst einmal<br />
gefun<strong>de</strong>n ist. Robert Brett hat ausgerechnet, daß ein einzelner<br />
Nacktmull, <strong>de</strong>r allein arbeitet, so lange suchen müßte, um<br />
eine einzige Knolle zu fin<strong>de</strong>n, daß er seine Zähne beim Graben<br />
restlos abnutzen wür<strong>de</strong>. Eine g<strong>ro</strong>ße Kolonie, mit ihren kilometerlangen,<br />
eifrig pat<strong>ro</strong>ullierten Gängen, ist ein ergiebiges Knollenbergwerk.<br />
Je<strong>de</strong>m Individuum geht es ökonomisch besser,<br />
<strong>wen</strong>n es Teil einer Gemeinschaft von Bergleuten ist.<br />
Ein ausge<strong>de</strong>hntes Gangsystem, mit Dutzen<strong>de</strong>n von kooperieren<strong>de</strong>n<br />
Arbeitern bemannt, ist also ebenso ein funktionieren<strong>de</strong>r<br />
Betrieb wie unser hypothetischer „hohler Baum“, nur<br />
in noch stärkerem Maße! Vorausgesetzt, daß wir erstens in<br />
einem blühen<strong>de</strong>n kommunalen Labyrinth leben und daß zweitens<br />
unsere Mutter darin immer noch leibliche Brü<strong>de</strong>r und<br />
Schwestern erzeugt, wird <strong>de</strong>r Anreiz, zu gehen und eine<br />
eigene Familie zu grün<strong>de</strong>n, in <strong>de</strong>r Tat sehr klein. Selbst <strong>wen</strong>n<br />
einige <strong>de</strong>r Jungtiere nur Halbgeschwister sind, kann das Argument<br />
<strong>de</strong>s „gut funktionieren<strong>de</strong>n Unternehmens“ noch mächtig<br />
genug sein, um junge Erwachsene zu Hause zurückzuhalten.<br />
3 Richard Alexan<strong>de</strong>r und Paul Sherman schrieben einen Beitrag,<br />
in <strong>de</strong>m sie die Metho<strong>de</strong>n und Schlußfolgerungen von Trivers<br />
und Hare kritisierten. Zwar stimmten sie ihnen zu, daß<br />
zugunsten <strong>de</strong>r Weibchen beeinflußte Geschlechterverhältnisse<br />
bei sozialen Insekten normal sind, zogen aber die Behauptung<br />
in Zweifel, daß diese <strong>de</strong>m Verhältnis drei zu eins sehr nahekommen.<br />
Sie zogen eine an<strong>de</strong>re Erklärung für die Geschlechterverteilung<br />
zugunsten <strong>de</strong>r Weibchen vor, die wie die von Trivers<br />
und Hare ursprünglich von Hamilton stammt. Ich fin<strong>de</strong><br />
Alexan<strong>de</strong>rs und Shermans Beweisführung recht überzeugend,<br />
bekenne mich aber zu <strong>de</strong>m instinktiven Gefühl, daß ein <strong>de</strong>rart<br />
schönes Stück Arbeit wie das von Trivers und Hare nicht ganz<br />
falsch sein kann. Alan Grafen machte mich in bezug auf meine<br />
Darstellung <strong>de</strong>r Geschlechterverhältnisse bei Hautflüglern in
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 492<br />
<strong>de</strong>r ersten Auflage dieses Buches auf ein an<strong>de</strong>res und eher<br />
besorgniserregen<strong>de</strong>s P<strong>ro</strong>blem aufmerksam. Ich habe seine<br />
Überlegung in meinem Buch The Exten<strong>de</strong>d Phenotype (Seite<br />
75-76) erklärt. Hier ist ein kurzer Auszug:<br />
Für die potentielle Arbeiterin ist es bei je<strong>de</strong>m beliebigen<br />
vorstellbaren Geschlechterverhältnis in <strong>de</strong>r Population<br />
gleichgültig, ob sie Geschwister o<strong>de</strong>r Nachkommen aufzieht.<br />
Nehmen wir daher an, das Geschlechterverhältnis<br />
sei zugunsten <strong>de</strong>r Weibchen beeinflußt, nehmen wir s<br />
ogar an, es entspräche <strong>de</strong>m von Trivers und Hare vor<br />
ausgesagten drei zu eins. Da die Arbeiterin mit ihrer<br />
Schwester näher verwandt ist als mit ihrem Bru<strong>de</strong>r<br />
o<strong>de</strong>r ihren Nachkommen bei<strong>de</strong>rlei Geschlechts, könnte<br />
man meinen, sie ziehe bei einem solchen, zugunsten<br />
<strong>de</strong>r Weibchen beeinflußten Geschlechterverhältnis „lieber“<br />
Geschwister statt Nachkommen g<strong>ro</strong>ß: Gewinnt sie<br />
nicht vor allem wertvolle Schwestern (plus nur einige<br />
relativ wertlose Brü<strong>de</strong>r), <strong>wen</strong>n sie sich zugunsten <strong>de</strong>r<br />
Geschwister entschei<strong>de</strong>t? Doch dieser Gedankengang<br />
läßt <strong>de</strong>n infolge ihrer Seltenheit relativ hohen Fortpflanzungswert<br />
<strong>de</strong>r Männchen in einer <strong>de</strong>rartigen Population<br />
außer acht. Die Arbeiterin ist möglicherweise nicht<br />
mit je<strong>de</strong>m ihrer Brü<strong>de</strong>r eng verwandt, aber <strong>wen</strong>n<br />
Männchen in <strong>de</strong>r Population insgesamt selten sind, ist<br />
die Wahrscheinlichkeit entsprechend hoch, daß je<strong>de</strong>r<br />
einzelne jener Brü<strong>de</strong>r zum Ahnherrn zukünftiger Generationen<br />
wird.<br />
4 Der bereits verstorbene bekannte Philosoph J. L. Mackie<br />
hat die Aufmerksamkeit auf eine interessante Konsequenz<br />
<strong>de</strong>r Tatsache gelenkt, daß Populationen meiner „Betrüger“<br />
und „Nachtragen<strong>de</strong>n“ gleichzeitig stabil sein können. Es mag<br />
„nichts zu machen“ sein, <strong>wen</strong>n eine Population bei einer ESS<br />
anlangt, die sie <strong>de</strong>m Untergang weiht; Mackie stellt zusätzlich<br />
fest, daß einige Sorten von ESS Populationen mit größerer
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 493<br />
Wahrscheinlichkeit <strong>de</strong>m Untergang weihen als an<strong>de</strong>re. In<br />
diesem speziellen Beispiel sind sowohl Betrüger als auch Nachtragen<strong>de</strong>r<br />
evolutionär stabil: Eine Population kann sich beim<br />
Betrüger-Gleichgewicht o<strong>de</strong>r beim Nachtragen<strong>de</strong>n-Gleichgewicht<br />
einpen<strong>de</strong>ln. Mackie behauptet, daß Populationen, bei<br />
<strong>de</strong>nen sich zufällig das Betrüger-Gleichgewicht einstellt, mit<br />
größerer Wahrscheinlichkeit anschließend aussterben wer<strong>de</strong>n.<br />
Es kann daher eine Art Selektion auf höherer Ebene, auf <strong>de</strong>r<br />
Ebene „zwischen evolutionär stabilen Strategien“, zugunsten<br />
<strong>de</strong>s wechselseitigen Altruismus geben. Dies läßt sich zu einem<br />
Argument zugunsten einer Art von Gruppenselektion weiterentwickeln,<br />
die, an<strong>de</strong>rs als die meisten Theorien <strong>de</strong>r Gruppenselektion,<br />
tatsächlich funktionieren kann. Ich habe <strong>de</strong>n<br />
Gedankengang in meinem Aufsatz In Defence of Selfish Genes<br />
genauer erklärt.<br />
11. Meme, die neuen Replikatoren<br />
1 Meine These, es wür<strong>de</strong> sich erweisen, daß sich alles Leben<br />
überall im Universum entsprechend <strong>de</strong>r Darwinschen Evolutionstheorie<br />
entwickelt hat, ist jetzt in meinem Aufsatz Universal<br />
Darwinism und im letzten Kapitel meines Buches Der blin<strong>de</strong><br />
Uhrmacher ausführlicher erklärt und begrün<strong>de</strong>t wor<strong>de</strong>n. Ich<br />
zeige, daß alle jemals vorgeschlagenen Alternativen zum Darwinismus<br />
im Prinzip nicht in <strong>de</strong>r Lage sind, die organisierte<br />
Komplexität <strong>de</strong>s Lebens zu erklären. Die Beweisführung ist<br />
allgemeiner Art, das heißt, sie beruht nicht auf <strong>de</strong>n spezifischen<br />
Eigenschaften <strong>de</strong>s Lebens, wie wir es kennen. Als solche<br />
ist sie von Wissenschaftlern kritisiert wor<strong>de</strong>n, die phantasielos<br />
genug sind zu meinen, die Sklavenarbeit über einem heißen<br />
Reagenzglas (o<strong>de</strong>r in kalten schlammigen Stiefeln) sei die einzige<br />
Metho<strong>de</strong>, mit <strong>de</strong>r man in <strong>de</strong>r Wissenschaft Ent<strong>de</strong>ckungen<br />
machen könne. Einer <strong>de</strong>r Kritiker beschwerte sich, meine<br />
Argumentation sei „philosophisch“, als ob dies ausreichte, um<br />
sie zu verwerfen. Philosophisch o<strong>de</strong>r nicht, Tatsache ist, daß
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 494<br />
we<strong>de</strong>r dieser Kritiker noch irgend jemand sonst auch nur <strong>de</strong>n<br />
geringsten Mangel an <strong>de</strong>m gefun<strong>de</strong>n hat, was ich sagte. Und<br />
„Im-Prinzip“-Argumentationen wie die meine können, ganz<br />
abgesehen davon, daß sie keineswegs für die reale Welt irrelevant<br />
sind, gewichtiger sein als Beweisführungen, die auf konkreten,<br />
spezifischen Forschungsergebnissen beruhen. Wenn<br />
meine Überlegungen richtig sind, so sagen sie uns etwas Wichtiges<br />
über das Leben überall im Universum. Labor- und Feldforschung<br />
können nur Aussagen über die Art von Leben liefern,<br />
die wir hier vorfin<strong>de</strong>n.<br />
2 Das Wort Mem scheint sich als ein gutes Mem zu erweisen.<br />
Es wird jetzt in ziemlich weiten Kreisen benutzt und wur<strong>de</strong><br />
1988 in die offizielle Liste von Wörtern aufgenommen, die<br />
für zukünftige Auflagen <strong>de</strong>r Oxford English Dictionaries in<br />
Betracht gezogen wer<strong>de</strong>n. Um so dringen<strong>de</strong>r möchte ich<br />
wie<strong>de</strong>rholen, daß meine Vorstellungen über die menschliche<br />
Kultur äußerst beschei<strong>de</strong>n waren. Meine wirklichen Ambitionen<br />
– und diese sind zugegebenermaßen g<strong>ro</strong>ß – gehen in eine<br />
gänzlich an<strong>de</strong>re Richtung. Ich möchte behaupten, daß Einheiten,<br />
die sich mit einer gewissen Fehlerquote selbst kopieren,<br />
nahezu unbegrenzte Macht haben, sobald sie irgendwo im<br />
Universum entstan<strong>de</strong>n sind. Solche Einheiten wer<strong>de</strong>n nämlich<br />
einer natürlichen Selektion unterliegen, <strong>de</strong>ren kumulatives<br />
Ergebnis nach ausreichend vielen Generationen Systeme von<br />
g<strong>ro</strong>ßer Komplexität sind. Ich glaube, daß sich Replikatoren<br />
unter <strong>de</strong>n richtigen Bedingungen automatisch zusammentun,<br />
um Systeme o<strong>de</strong>r Maschinen zu schaffen, von <strong>de</strong>nen sie herumgetragen<br />
wer<strong>de</strong>n und die ihre fortgesetzte Replikation<br />
begünstigen. Die ersten zehn Kapitel <strong>de</strong>s vorliegen<strong>de</strong>n Buches<br />
befassen sich ausschließlich mit einer Art von Replikator, <strong>de</strong>m<br />
Gen. Durch die Erörterung <strong>de</strong>r Meme im letzten Kapitel <strong>de</strong>r<br />
ersten Auflage versuchte ich, meine Argumentation auf Replikatoren<br />
im allgemeinen auszu<strong>de</strong>hnen und zu zeigen, daß Gene<br />
nicht die einzigen Angehörigen jener wichtigen Klasse sind.<br />
Ich bin mir nicht sicher, ob die Umwelt <strong>de</strong>r menschlichen
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 495<br />
Kultur tatsächlich das besitzt, was not<strong>wen</strong>dig ist, um eine Evolution<br />
im Darwinschen Sinne in Gang zu setzen. Diese Frage<br />
ist jedoch für mein Anliegen nebensächlich. Mit Kapitel 11<br />
habe ich erreicht, was ich wollte, <strong>wen</strong>n <strong>de</strong>r Leser das Buch<br />
mit <strong>de</strong>m Gefühl zuklappt, daß DNA-Moleküle nicht die einzigen<br />
Einheiten sind, an <strong>de</strong>nen eine Evolution angreifen<br />
kann. Meine Absicht war es, das Gen auf seine richtige Be<strong>de</strong>utung<br />
zurückzustutzen, und nicht, eine g<strong>ro</strong>ßartige Theorie <strong>de</strong>r<br />
menschlichen Kultur zu entwerfen.<br />
3 Die DNA ist ein sich selbst kopieren<strong>de</strong>s Stück Hardware.<br />
Je<strong>de</strong>s Stück hat eine spezifische Struktur, die sich von <strong>de</strong>r rivalisieren<strong>de</strong>r<br />
DNA-Stücke unterschei<strong>de</strong>t. Wenn Meme in Gehirnen<br />
<strong>de</strong>n Genen vergleichbar sind, so müssen sie sich selbst<br />
kopieren<strong>de</strong> Gehirnstrukturen sein, konkrete Muster neu<strong>ro</strong>naler<br />
Vernetzung, die sich in einem Gehirn nach <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren<br />
ausbil<strong>de</strong>n. Ich habe mich niemals sehr wohl dabei gefühlt, dies<br />
laut zu erklären, <strong>de</strong>nn wir wissen sehr viel <strong>wen</strong>iger über das<br />
Gehirn als über Gene und drücken uns daher not<strong>wen</strong>digerweise<br />
vage darüber aus, was eine solche Gehirnstruktur wirklich<br />
sein könnte. Daher war ich erleichtert, als ich vor kurzem<br />
eine sehr interessante Veröffentlichung von Juan Delius von<br />
<strong>de</strong>r Universität Konstanz erhielt. Im Gegensatz zu mir braucht<br />
Delius sich nicht unwohl zu fühlen, <strong>de</strong>nn er ist ein hervorragen<strong>de</strong>r<br />
Gehirnforscher, wohingegen ich überhaupt kein Gehirnspezialist<br />
bin. Ich bin daher begeistert darüber, daß er so mutig<br />
ist, diesen Punkt zu ver<strong>de</strong>utlichen, in<strong>de</strong>m er tatsächlich ein<br />
<strong>de</strong>tailliertes Bild davon veröffentlicht, wie die neu<strong>ro</strong>nale Hardware<br />
eines Mems aussehen könnte. Zu <strong>de</strong>n sonstigen interessanten<br />
Dingen, die er tut, gehört die Erforschung – und dabei<br />
geht er sehr viel tiefer, als ich es tat – <strong>de</strong>r Vergleichbarkeit<br />
von Memen mit Parasiten, genauer gesagt mit <strong>de</strong>m Spektrum,<br />
auf <strong>de</strong>m bösartige Parasiten das eine Extrem darstellen und<br />
wohltuen<strong>de</strong> „Symbionten“ das an<strong>de</strong>re. Ich bin von diesem<br />
Thema beson<strong>de</strong>rs angetan, weil ich selbst an <strong>de</strong>n „erweiterten<br />
phänotypischen“ Effekten parasitärer Gene auf das Wirtsverhalten<br />
interessiert bin (siehe Kapitel 13 dieses Buches und
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 496<br />
beson<strong>de</strong>rs Kapitel 12 meines Buches The Exten<strong>de</strong>d Phenotype).<br />
Nebenbei gesagt betont Delius <strong>de</strong>n Unterschied zwischen<br />
Memen und ihren („phänotypischen“) Effekten. Außer<strong>de</strong>m<br />
weist er nochmals auf die Be<strong>de</strong>utung von koadaptierten Memkomplexen<br />
hin, in <strong>de</strong>nen die Meme entsprechend ihrer wechselseitigen<br />
Kompatibilität selektiert wer<strong>de</strong>n.<br />
4 Mit <strong>de</strong>m schottischen Volkslied Auld Lang Syne (Die gute alte<br />
<strong>Zeit</strong>) habe ich unabsichtlich ein beson<strong>de</strong>rs brauchbares Beispiel<br />
gewählt. Es wird nämlich fast überall mit einem Fehler,<br />
einer Mutation, wie<strong>de</strong>rgegeben. Als Refrain hört man heute<br />
so gut wie immer „for the sake of auld lang syne“, während<br />
<strong>de</strong>r Text von Burns ursprünglich lautet „for auld lang syne“.<br />
Ein membewußter Darwinist stellt sich unverzüglich die Frage<br />
nach <strong>de</strong>m „Überlebenswert“ <strong>de</strong>r eingefügten Phrase „the sake<br />
of“ (um ... willen). Denken wir daran, daß wir nicht nach einer<br />
Art und Weise suchen, wie die Menschen besser überlebt haben<br />
mögen, in<strong>de</strong>m sie das Lied in verän<strong>de</strong>rter Form sangen. Wir<br />
möchten herausfin<strong>de</strong>n, auf welche Art die Än<strong>de</strong>rung selbst gut<br />
abgeschnitten hat, was ihr Überleben im Mempool betrifft.<br />
Je<strong>de</strong>r lernt das Lied in seiner Kindheit, nicht in<strong>de</strong>m er <strong>de</strong>n<br />
Text von Burns liest, son<strong>de</strong>rn weil er hört, wie es am Silvesterabend<br />
gesungen wird. Vor langer <strong>Zeit</strong> sangen alle vermutlich<br />
die richtigen Worte. „For the sake of“ muß als eine seltene<br />
Mutation entstan<strong>de</strong>n sein. Unsere Frage lautet: Warum hat die<br />
anfänglich seltene Mutation sich so hartnäckig ausgebreitet,<br />
daß sie heute im Mempool zur Norm gewor<strong>de</strong>n ist?<br />
Ich glaube, wir brauchen nicht lange nach <strong>de</strong>r Antwort zu<br />
suchen. Der Zischlaut s ist bekanntlich beson<strong>de</strong>rs durchdringend.<br />
Kirchenchöre wer<strong>de</strong>n darauf gedrillt, das stimmlose s<br />
so leicht wie möglich auszusprechen, damit nicht die ganze<br />
Kirche vom Zischen wi<strong>de</strong>rhallt. Von einem leise sprechen<strong>de</strong>n<br />
Priester am Altar einer g<strong>ro</strong>ßen Kathedrale hört man hinten im<br />
Kirchenschiff manchmal nur ein sporadisches Zischen – die<br />
S-Laute. Der an<strong>de</strong>re Konsonant in sake, das k, ist fast ebenso<br />
durchdringend. Stellen wir uns vor, daß neunzehn Leute korrekt<br />
„for auld lang syne“ singen, während eine einzige Person
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 497<br />
irgendwo im Raum das falsche „for the sake of auld lang syne“<br />
einfließen läßt. Ein Kind, das das Lied zum ersten Mal hört,<br />
möchte allzu gern mitsingen, weiß aber die Worte nicht genau.<br />
Obwohl fast alle „for auld lang syne“ singen, erzwingen das<br />
Zischen <strong>de</strong>s s und <strong>de</strong>r schnei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Laut <strong>de</strong>s k sich <strong>de</strong>n Weg in<br />
das Ohr <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s, und <strong>wen</strong>n es wie<strong>de</strong>r <strong>Zeit</strong> für <strong>de</strong>n Refrain<br />
ist, singt es auch „for the sake of auld lang syne“. Das mutante<br />
Mem hat ein weiteres Vehikel e<strong>ro</strong>rbert. Wenn an<strong>de</strong>re Kin<strong>de</strong>r<br />
in <strong>de</strong>r Nähe sind o<strong>de</strong>r Erwachsene, die sich <strong>de</strong>s Textes nicht<br />
sicher sind, wer<strong>de</strong>n sie mit größerer Wahrscheinlichkeit auf<br />
die mutierte Form umsteigen, <strong>wen</strong>n <strong>de</strong>r Refrain wie<strong>de</strong>r an <strong>de</strong>r<br />
Reihe ist. Es ist nicht so, daß sie die mutierte Form „vorziehen“.<br />
Sie wissen die Worte wirklich nicht und möchten sie<br />
tatsächlich gern lernen. Selbst <strong>wen</strong>n die, die es besser wissen,<br />
indigniert, so laut sie können, „for auld lang syne“ bellen (was<br />
ich übrigens tue!), haben die richtigen Worte zufällig keine auffallen<strong>de</strong>n<br />
Konsonanten, und die mutierte Form ist bei weitem<br />
leichter zu hören, selbst <strong>wen</strong>n sie leise und schüchtern gesungen<br />
wird.<br />
Ein ähnlicher Fall ist das patriotische Lied Rule Britannia.<br />
Die korrekte zweite Zeile <strong>de</strong>s Refrains lautet „Britannia, rule<br />
the waves“ (Britannien, herrsche über die Wellen). Sie wird<br />
häufig, <strong>wen</strong>n auch nicht überall als „Britannia rules the waves“<br />
(Britannien herrscht über die Wellen) gesungen. Hier erhält das<br />
hartnäckig zischen<strong>de</strong> s <strong>de</strong>s Mems Hilfe von einem zusätzlichen<br />
Faktor. Die Be<strong>de</strong>utung, die <strong>de</strong>r Dichter James Thompson<br />
im Sinne hatte, war vermutlich die Befehlsform (Britannien,<br />
geh hin und herrsche über die Wellen) o<strong>de</strong>r möglicherweise<br />
<strong>de</strong>r Konjunktiv (möge Britannien über die Wellen herrschen).<br />
Aber es ist oberflächlich gesehen leichter, <strong>de</strong>n Satz als Indikativ<br />
mißzuverstehen (Britannien herrscht in <strong>de</strong>r Tat über<br />
die Wellen). Dieses mutante Mem besitzt also zwei einzelne<br />
Überlebenswerte mehr als die ursprüngliche Form, an <strong>de</strong>ren<br />
Stelle es getreten ist: Sein Klang ist auffallen<strong>de</strong>r, und es ist<br />
leichter zu verstehen.<br />
Der entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Test für eine Hypothese sollte experimenteller<br />
Art sein. Es müßte möglich sein, das zischen<strong>de</strong> Mem
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 498<br />
bewußt mit einer sehr niedrigen Häufigkeit in <strong>de</strong>n Mempool<br />
einzugeben und dann zu beobachten, wie es sich auf Grund<br />
seines Überlebenswertes ausbreitet. Was geschähe, <strong>wen</strong>n ein<br />
paar von uns anfangen wür<strong>de</strong>n zu singen „God saves our gracious<br />
Queen“ statt „God save our gracious Queen“?<br />
5 Ich wäre sehr ärgerlich, <strong>wen</strong>n jemand dies in <strong>de</strong>m Sinne auffassen<br />
wollte, daß „Eingängigkeit“ das einzige Kriterium für<br />
das Akzeptieren einer wissenschaftlichen I<strong>de</strong>e ist. Schließlich<br />
sind einige wissenschaftliche I<strong>de</strong>en <strong>de</strong> facto richtig und an<strong>de</strong>re<br />
falsch! Ob sie richtig o<strong>de</strong>r falsch sind, läßt sich überprüfen,<br />
und ihre Logik läßt sich zerlegen. Sie sind nicht wie Popsongs,<br />
religiöse Sekten o<strong>de</strong>r Punkfrisuren. Dennoch gibt es sowohl<br />
eine Soziologie als auch eine Logik <strong>de</strong>r Wissenschaft. Einige<br />
schlechte wissenschaftliche I<strong>de</strong>en können sich ungeheuer verbreiten,<br />
zumin<strong>de</strong>st für eine Weile. Und einige gute I<strong>de</strong>en bleiben<br />
jahrelang unbeachtet, bevor sie schließlich die Vorstellungskraft<br />
<strong>de</strong>r Wissenschaftler e<strong>ro</strong>bern und kolonisieren.<br />
Als hervorragen<strong>de</strong>s Beispiel dieses Unbeachtetbleibens, <strong>de</strong>m<br />
eine um sich greifen<strong>de</strong> Verbreitung folgt, können wir eine <strong>de</strong>r<br />
Haupti<strong>de</strong>en dieses Buches anführen, nämlich Hamiltons Theorie<br />
<strong>de</strong>r Familien- o<strong>de</strong>r Verwandtschaftsselektion. Da ich sie für<br />
ein geeignetes Objekt hielt, habe ich an ihr die I<strong>de</strong>e ausp<strong>ro</strong>biert,<br />
die Verbreitung eines Mems dadurch zu messen, daß<br />
man zählt, wie viele Male es in <strong>Zeit</strong>schriften erwähnt wird.<br />
In <strong>de</strong>r ersten Auflage bemerkte ich: „Seine bei<strong>de</strong>n Aufsätze<br />
aus <strong>de</strong>m Jahre 1964 gehören zu <strong>de</strong>n be<strong>de</strong>utendsten Beiträgen<br />
zur Sozialethologie, die jemals geschrieben wor<strong>de</strong>n sind,<br />
und ich habe nie verstehen können, warum sie von <strong>de</strong>n Ethologen<br />
so <strong>wen</strong>ig beachtet wor<strong>de</strong>n sind. (Sein Name erscheint<br />
nicht einmal im In<strong>de</strong>x zweier g<strong>ro</strong>ßer Ethologielehrbücher, die<br />
bei<strong>de</strong> 1970 veröffentlicht wur<strong>de</strong>n.) Glücklicherweise gibt es in<br />
jüngster <strong>Zeit</strong> Anzeichen für ein Wie<strong>de</strong>raufleben <strong>de</strong>s Interesses<br />
an seinen I<strong>de</strong>en.“ Ich schrieb dies im Jahre 1976. Verfolgen wir<br />
nun <strong>de</strong>n Verlauf <strong>de</strong>s Wie<strong>de</strong>rauflebens dieses Mems im darauffolgen<strong>de</strong>n<br />
Jahrzehnt.
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 499<br />
Der Science Citation In<strong>de</strong>x ist eine recht son<strong>de</strong>rbare Publikation,<br />
in <strong>de</strong>r man erstens je<strong>de</strong> veröffentlichte Arbeit nachschlagen<br />
kann und in <strong>de</strong>r zweitens für je<strong>de</strong>s Jahr tabellenartig<br />
aufgeführt wird, wie viele Male sie in späteren Arbeiten<br />
zitiert wur<strong>de</strong>. Dieser In<strong>de</strong>x ist als Hilfe bei <strong>de</strong>r Suche nach Literatur<br />
über ein gegebenes Thema gedacht. Die Ernennungskommissionen<br />
<strong>de</strong>r Universitäten haben es sich zur Gewohnheit<br />
gemacht, diesen In<strong>de</strong>x als einen g<strong>ro</strong>ben, aber leicht verfügbaren<br />
(zu g<strong>ro</strong>ben und zu leicht verfügbaren) Maßstab anzulegen,<br />
<strong>wen</strong>n es darum geht, die wissenschaftlichen Leistungen von<br />
Stellenbewerbern zu vergleichen. Wenn wir zählen, wie viele<br />
Male Hamiltons Arbeiten ab 1964 in je<strong>de</strong>m Jahr zitiert wur<strong>de</strong>n,<br />
so können wir das Vordringen seiner Vorstellungen in das<br />
Bewußtsein <strong>de</strong>r Biologen ungefähr verfolgen (Abbildung 5).<br />
Es ist sehr <strong>de</strong>utlich, daß seine I<strong>de</strong>en zu Beginn nicht beachtet<br />
wur<strong>de</strong>n. Dann, während <strong>de</strong>r siebziger Jahre, scheint das Interesse<br />
an <strong>de</strong>r Verwandtschaftsselektion dramatisch angestiegen<br />
zu sein. Wenn es irgen<strong>de</strong>inen spezifischen Punkt gibt, an<br />
<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Aufwärtstrend beginnt, dann scheint er zwischen<br />
1973 und 1974 zu liegen. Die Aufwärtsbewegung gewinnt<br />
dann an Geschwindigkeit bis zu einem Höhepunkt im Jahre<br />
1981. Danach schwankt die Anzahl <strong>de</strong>r Zitierungen p<strong>ro</strong> Jahr<br />
unregelmäßig um einen hohen Wert.<br />
Es ist ein memischer Mythos entstan<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>mzufolge <strong>de</strong>r<br />
Anstoß für die Zunahme <strong>de</strong>s Interesses an <strong>de</strong>r Verwandtschaftsselektion<br />
ausschließlich von Büchern kam, die zwischen<br />
1975 und 1976 veröffentlicht wur<strong>de</strong>n. Die graphische Darstellung<br />
(Abbildung 5), in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Anstieg im Jahre 1974 beginnt,<br />
scheint diese I<strong>de</strong>e zu wi<strong>de</strong>rlegen. Im Gegenteil, man könnte<br />
mit <strong>de</strong>n Fakten eine ganz an<strong>de</strong>re Hypothese stützen, nämlich,<br />
daß wir es mit einer jener I<strong>de</strong>en zu tun haben, die „in <strong>de</strong>r Luft<br />
lagen“, „für die die <strong>Zeit</strong> reif war“. Unter diesem Blickwinkel<br />
wür<strong>de</strong>n jene Bücher aus <strong>de</strong>r Mitte <strong>de</strong>r siebziger Jahre eher<br />
vom Aufspringen auf einen fahren<strong>de</strong>n Zug als vom Ingangsetzen<br />
einer Bewegung zeugen.<br />
Vielleicht haben wir es in Wirklichkeit mit einer längerfristigen,<br />
langsam an<strong>ro</strong>llen<strong>de</strong>n und sich exponentiell beschleunigen-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 500<br />
<strong>de</strong>n Bewegung zu tun, die viel früher begann. Eine Möglichkeit,<br />
diese einfache Hypothese <strong>de</strong>r exponentiellen Beschleunigung<br />
zu testen, besteht darin, die Zitate kumulativ auf einer logarithmischen<br />
Skala einzutragen. Je<strong>de</strong>n Wachstumsp<strong>ro</strong>zeß, <strong>de</strong>ssen<br />
Wachstumsrate p<strong>ro</strong>portional zur bereits erreichten Größe ist,<br />
5 Jährliche Zitierungen von Hamilton !964) im Science Citation In<strong>de</strong>x<br />
nennt man exponentielles Wachstum. Ein typisches Beispiel<br />
für einen exponentiellen P<strong>ro</strong>zeß ist eine Epi<strong>de</strong>mie: Je<strong>de</strong>s infizierte<br />
Individuum gibt das Virus über seinen Atem an mehrere<br />
Personen weiter, von <strong>de</strong>nen je<strong>de</strong> wie<strong>de</strong>rum dieselbe Anzahl<br />
von Leuten infiziert, so daß die Zahl <strong>de</strong>r Opfer mit ständig<br />
wachsen<strong>de</strong>r Geschwindigkeit zunimmt. Charakteristisch für<br />
eine exponentielle Kurve ist, daß sie zu einer Gera<strong>de</strong>n wird,<br />
<strong>wen</strong>n man sie auf einer logarithmischen Skala einträgt. Bei<br />
einer solchen logarithmischen Darstellung ist es nicht erfor<strong>de</strong>rlich,<br />
aber bequem und üblich, die Werte kumulativ einzuzeichnen.<br />
Wenn die Verbreitung von Hamiltons Mem wirklich<br />
wie eine um sich greifen<strong>de</strong> Epi<strong>de</strong>mie vor sich ging, so sollten
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 501<br />
6 Logarithmus <strong>de</strong>r Zitierungshäufigkeit von Hamilton (1964)<br />
die Punkte bei einer kumulativen logarithmischen Darstellung<br />
eine Gera<strong>de</strong> bil<strong>de</strong>n. Tun sie das?<br />
Die in Abbildung 6 dargestellte Linie ist diejenige Gera<strong>de</strong>,<br />
die statistisch gesehen <strong>de</strong>r Punkteschar am besten angepaßt<br />
ist. Der scheinbare plötzliche Anstieg zwischen 1966 und 1967<br />
sollte wahrscheinlich als ein durch <strong>wen</strong>ige Daten p<strong>ro</strong>vozierter<br />
unzuverlässiger Effekt, <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r logarithmischen Darstellung<br />
gewöhnlich übertrieben wird, ignoriert wer<strong>de</strong>n. Danach<br />
ist die Graphik keine schlechte Annäherung an eine einzige<br />
Gera<strong>de</strong>, obwohl sich auch geringfügige Überlagerungsmuster<br />
feststellen lassen. Wenn meine exponentielle Interpretation<br />
akzeptiert wird, dann haben wir es hier mit einer einzigen<br />
langsam brennen<strong>de</strong>n Explosion <strong>de</strong>s Interesses zu tun, die von<br />
1967 bis in die späten achtziger Jahre gleichmäßig anhält. Die<br />
einzelnen Bücher und Beiträge sollten sowohl als Symptome<br />
als auch als Ursachen dieses langfristigen Trends angesehen<br />
wer<strong>de</strong>n. Man glaube übrigens nicht, daß dieses Wachstumsmuster<br />
irgendwie trivial ist in <strong>de</strong>m Sinne, daß es unvermeidlich
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 502<br />
7 Logarithmus <strong>de</strong>r kumlativen Zitierungshäufigkeit von drei Arbeiten, die<br />
nicht von Hamilton stammen, im Vergleich zur „theoretischen“Kurve für<br />
Hamilton (Einzelheiten sind im Text erklärt)<br />
wäre. Natürlich wür<strong>de</strong> je<strong>de</strong> kumulative Kurve ansteigen, selbst<br />
<strong>wen</strong>n die Anzahl <strong>de</strong>r Zitierungen p<strong>ro</strong> Jahr konstant wäre. Auf<br />
<strong>de</strong>r logarithmischen Skala wür<strong>de</strong> sie jedoch mit einer stetig<br />
langsamer wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Rate ansteigen: Sie wür<strong>de</strong> abflauen. Die<br />
fette Linie oben in Abbildung 7 zeigt die theoretische Kurve,<br />
die wir erhalten wür<strong>de</strong>n, <strong>wen</strong>n die Anzahl <strong>de</strong>r Zitierungen<br />
in je<strong>de</strong>m Jahr gleich wäre (gleich <strong>de</strong>r mittleren Rate <strong>de</strong>r<br />
Hamilton-Zitierungen, die bei etwa 37 p<strong>ro</strong> Jahr liegt). Diese<br />
abflauen<strong>de</strong> Kurve ist direkt mit <strong>de</strong>r beobachteten Gera<strong>de</strong>n<br />
in Abbildung 6 vergleichbar, die eine exponentielle Zuwachsrate<br />
anzeigt. Wir haben es tatsächlich mit einem Fall stetigen<br />
Ansteigens zu tun, nicht mit einer gleichbleiben<strong>de</strong>n Rate von<br />
Zitierungen.
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 503<br />
Zweitens könnte man versucht sein zu glauben, das exponentielle<br />
Anwachsen sei, <strong>wen</strong>n schon nicht unvermeidlich, so<br />
doch auf triviale Weise zu erwarten. Steigt nicht die gesamte<br />
Rate <strong>de</strong>r Veröffentlichung wissenschaftlicher Beiträge selbst<br />
exponentiell an und damit die Gelegenheit, an<strong>de</strong>re Arbeiten zu<br />
zitieren? Vielleicht nimmt auch die Größe <strong>de</strong>r wissenschaftlichen<br />
Gemeinschaft exponentiell zu. Wenn wir zeigen wollen,<br />
daß an <strong>de</strong>m Hamiltonschen Mem etwas Beson<strong>de</strong>res ist, so<br />
erstellen wir am einfachsten dieselbe Art von Graphik für<br />
einige an<strong>de</strong>re Arbeiten. In Abbildung 7 sind außer<strong>de</strong>m die<br />
kumulativen Zitierungshäufigkeiten dreier an<strong>de</strong>rer Arbeiten<br />
logarithmisch aufgetragen (die nebenbei gesagt ebenfalls einen<br />
starken Einfluß auf die erste Auflage dieses Buches hatten). Es<br />
han<strong>de</strong>lt sich um Williams’ Buch Adaptation and Natural Selection<br />
aus <strong>de</strong>m Jahre 1966, Trivers’ 1971 erschienenen Beitrag<br />
über wechselseitigen Altruismus und die Veröffentlichung von<br />
Maynard Smith und Price aus <strong>de</strong>m Jahre 1973, mit <strong>de</strong>r sie die<br />
I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r ESS einführten. Für alle drei Arbeiten ergeben<br />
sich Kurven, die während <strong>de</strong>r gesamten <strong>Zeit</strong>spanne ein<strong>de</strong>utig<br />
nicht exponentiell sind. Die jährlichen Zitierungsraten dieser<br />
Arbeiten sind jedoch ebenfalls alles an<strong>de</strong>re als konstant, und<br />
zeitweise mögen sie sogar exponentiell zugenommen haben.<br />
Die Williams-Kurve beispielsweise ist auf <strong>de</strong>r logarithmischen<br />
Skala ab etwa 1970 annähernd eine Gera<strong>de</strong>, was <strong>de</strong>n Gedanken<br />
nahelegt, daß damals eine Phase einsetzte, in <strong>de</strong>r Williams’<br />
Einfluß zunahm.<br />
Ich habe darauf aufmerksam gemacht, daß <strong>de</strong>r Einfluß<br />
bestimmter Bücher bei <strong>de</strong>r Verbreitung <strong>de</strong>s Hamilton-Mems<br />
geringer war als gemeinhin angenommen. Nichts<strong>de</strong>sto<strong>wen</strong>iger<br />
gibt es ein anscheinend vielsagen<strong>de</strong>s Postskriptum zu diesem<br />
kleinen Stück Memanalyse. Wie im Fall von Auld Lang Syne<br />
und Rule Britannia stoßen wir auf einen aufschlußreichen<br />
mutanten Fehler. Der korrekte Titel von Hamiltons bei<strong>de</strong>n<br />
Arbeiten im Jahre 1964 lautete The Genetical Evolution of Social<br />
Behaviour. In <strong>de</strong>r zweiten Hälfte <strong>de</strong>r siebziger Jahre wur<strong>de</strong>n in<br />
einer Vielzahl von Veröffentlichungen, darunter auch Sociobiology<br />
und die erste Auflage <strong>de</strong>s vorliegen<strong>de</strong>n Buches, Hamiltons
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 504<br />
Arbeiten irrtümlich als The Genetical Theory of Social Behaviour<br />
zitiert. Jon Seger und Paul Harvey suchten nach <strong>de</strong>r<br />
Stelle, an <strong>de</strong>r dieses mutante Mem zum ersten Mal aufgetreten<br />
war, weil sie dachten, es könnte ihnen, fast wie eine radioaktive<br />
Markierung, als Anhaltspunkt dienen, um <strong>de</strong>n Weg wissenschaftlichen<br />
Einflusses nachzuvollziehen. Sie verfolgten es<br />
zurück auf E.O. Wilsons einflußreiches Buch Sociobiology, das<br />
1975 veröffentlicht wur<strong>de</strong>, und fan<strong>de</strong>n sogar einige indirekte<br />
Hinweise auf diese mutmaßliche Herkunft.<br />
So sehr ich auch Wilsons Glanzleistung bewun<strong>de</strong>re – ich<br />
wünschte, die Leute läsen mehr in diesem Buch und <strong>wen</strong>iger<br />
darüber –, haben sich mir immer die Haare gesträubt angesichts<br />
<strong>de</strong>r gänzlich falschen Annahme, mein Buch sei von<br />
seinem beeinflußt wor<strong>de</strong>n. Da mein Buch jedoch ebenfalls das<br />
mutante Zitat – die „radioaktive Markierung“ – enthielt, sah es<br />
erschrecken<strong>de</strong>rweise so aus, als hätte zumin<strong>de</strong>st ein Mem die<br />
Reise von Wilson zu mir unternommen! Dies wäre nicht allzu<br />
erstaunlich gewesen, da das Buch Sociobiology gera<strong>de</strong> zu <strong>de</strong>m<br />
<strong>Zeit</strong>punkt in England ankam, als ich The Selfish Gene fertigstellte,<br />
das heißt genau zu <strong>de</strong>r <strong>Zeit</strong>, als ich an meiner Bibliographie<br />
arbeitete. Wilsons umfangreiche Bibliographie hätte<br />
mir wie ein Geschenk <strong>de</strong>s Himmels vorkommen können, das<br />
lange Stun<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Bibliothek ersparte. Mein Kummer verwan<strong>de</strong>lte<br />
sich daher in F<strong>ro</strong>hlocken, als mir zufällig ein alter<br />
Matrizenabzug einer Bibliographie in die Hän<strong>de</strong> fiel, die ich<br />
1970 in einer Vorlesung in Oxford ausgegeben hatte. Mit<br />
g<strong>ro</strong>ßen Buchstaben stand es da: „The Genetical Theory of Social<br />
Behaviour“, ganze fünf Jahre vor <strong>de</strong>r Veröffentlichung von<br />
Wilsons Buch. Wilson kann unmöglich meine Bibliographie<br />
aus <strong>de</strong>m Jahre 1970 gesehen haben. Es bestand kein Zweifel<br />
daran: Wilson und ich hatten unabhängig voneinan<strong>de</strong>r dasselbe<br />
mutante Mem eingeführt! Wie konnte es zu einer <strong>de</strong>rartigen<br />
Koinzi<strong>de</strong>nz kommen? Wie<strong>de</strong>r einmal, wie im Fall von<br />
Auld Lang Syne, ist es nicht schwer, eine plausible Erklärung<br />
zu fin<strong>de</strong>n. R. A. Fishers bekanntestes Buch heißt The Genetical<br />
Theory of Natural Selection. Der Titel ist in <strong>de</strong>r Welt <strong>de</strong>r Evolutionsbiologen<br />
<strong>de</strong>rart geläufig gewor<strong>de</strong>n, daß es schwer für uns
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 505<br />
ist, die ersten bei<strong>de</strong>n Wörter zu hören, ohne automatisch das<br />
dritte hinzuzufügen. Ich vermute, daß sowohl Wilson als auch<br />
ich genau das getan haben. Dies ist ein glückliches En<strong>de</strong> für<br />
alle Beteiligten, da es nieman<strong>de</strong>m etwas ausmacht zuzugeben,<br />
von Fisher beeinflußt wor<strong>de</strong>n zu sein!<br />
6 Es war offensichtlich voraussehbar, daß vom Menschen hergestellte<br />
elekt<strong>ro</strong>nische Computer ebenfalls irgendwann <strong>de</strong>n<br />
Wirt für sich selbst kopieren<strong>de</strong> Informationsmuster – Meme<br />
– abgeben wür<strong>de</strong>n. Computer sind in zunehmen<strong>de</strong>m Maße<br />
in komplizierte Netze gemeinsamer Information eingebun<strong>de</strong>n.<br />
Viele von ihnen stehen im elekt<strong>ro</strong>nischen Briefverkehr und<br />
sind wortwörtlich miteinan<strong>de</strong>r verdrahtet. An<strong>de</strong>re teilen Informationen,<br />
<strong>wen</strong>n ihre Besitzer Disketten austauschen. Damit<br />
ist eine Umwelt entstan<strong>de</strong>n, in <strong>de</strong>r sich selbst kopieren<strong>de</strong> P<strong>ro</strong>gramme<br />
hervorragend ge<strong>de</strong>ihen und sich verbreiten können.<br />
Als ich an <strong>de</strong>r ersten Auflage dieses Buches schrieb, war ich<br />
naiv genug anzunehmen, daß ein unerwünschtes Computer-<br />
Mem durch einen spontanen Fehler beim Kopieren eines lizenzierten<br />
P<strong>ro</strong>gramms entstehen müsse, und hielt dies für ein<br />
unwahrscheinliches Ereignis. In <strong>de</strong>r Tat, jene <strong>Zeit</strong> war eine<br />
<strong>Zeit</strong> <strong>de</strong>r Unschuld. Heutzutage sind Epi<strong>de</strong>mien von „Viren“<br />
und „Würmern“, die von böswilligen P<strong>ro</strong>grammierern absichtlich<br />
losgelassen wer<strong>de</strong>n, bekannte Risiken für Computerbenutzer<br />
in <strong>de</strong>r ganzen Welt. Mein eigener Computer ist, soweit<br />
ich weiß, im vergangenen Jahr während zweier verschie<strong>de</strong>ner<br />
Virusepi<strong>de</strong>mien infiziert wor<strong>de</strong>n, und das ist für Leute, die<br />
viel mit <strong>de</strong>m Computer arbeiten, eine ziemlich typische Erfahrung.<br />
Ich wer<strong>de</strong> keinen Virus* beim Namen nennen, um nicht<br />
seinem nie<strong>de</strong>rträchtigen kleinen Schöpfer eine nie<strong>de</strong>rträchtige<br />
kleine Genugtuung zu verschaffen. Ich sage „nie<strong>de</strong>rträchtig“,<br />
<strong>de</strong>nn das Verhalten eines solchen Menschen scheint mir mora-<br />
* In Medizin und Biologie wird im allgemeinen <strong>de</strong>r sächliche Artikel ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>t<br />
(„das Virus“), im Computerbereich hat sich hingegen die Bezeichnung<br />
„<strong>de</strong>r Virus“ durchgesetzt.
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 506<br />
lisch gesehen nicht an<strong>de</strong>rs als das eines Technikers in einem<br />
mik<strong>ro</strong>biologischen Labor, <strong>de</strong>r absichtlich das Trinkwasser infiziert<br />
und Epi<strong>de</strong>mien sät, nur um sich über die Leute zu<br />
amüsieren, die krank wer<strong>de</strong>n. Ich sage „klein“, <strong>de</strong>nn diese<br />
Leute sind geistig klein. Es ist nichts Schlaues daran, einen<br />
Computervirus zu erfin<strong>de</strong>n. Je<strong>de</strong>r halbwegs kompetente P<strong>ro</strong>grammierer<br />
könnte das tun, und die Welt ist heute voll von<br />
halbwegs kompetenten Computerp<strong>ro</strong>grammierern. Ich bin<br />
selbst einer. Und ich wer<strong>de</strong> mir nicht einmal die Mühe machen,<br />
zu erklären, wie Computerviren funktionieren. Es ist nur zu<br />
offensichtlich.<br />
Weniger einfach ist es herauszufin<strong>de</strong>n, wie man sie<br />
bekämpfen kann. Lei<strong>de</strong>r mußten einige sehr erfahrene P<strong>ro</strong>grammierer<br />
ihre wertvolle <strong>Zeit</strong> darauf versch<strong>wen</strong><strong>de</strong>n, P<strong>ro</strong>gramme<br />
zum Ent<strong>de</strong>cken von Viren, Immunisierungsp<strong>ro</strong>gramme<br />
und so weiter zu schreiben (nebenbei gesagt ist die<br />
Ähnlichkeit mit <strong>de</strong>r medizinischen Impfung erstaunlich g<strong>ro</strong>ß,<br />
bis hin zur Eingabe einer „geschwächten Abart“ <strong>de</strong>s Virus). Es<br />
besteht die Gefahr, daß sich ein Wettrüsten entwickeln wird,<br />
bei <strong>de</strong>m je<strong>de</strong>r Fortschritt in <strong>de</strong>r Virenvorbeugung von Gegen-<br />
Fortschritten bei neuen Virusp<strong>ro</strong>grammen ausgeglichen wird.<br />
Bisher wer<strong>de</strong>n die meisten Anti-Virus-P<strong>ro</strong>gramme von Altruisten<br />
geschrieben und gratis zur Verfügung gestellt. Doch ich<br />
sehe das Heranwachsen einer ganzen neuen Berufsklasse – die<br />
sich gera<strong>de</strong>so wie in je<strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren Beruf in lukrative Spezialisierungen<br />
aufteilt – voraus: Software-Ärzte auf Hausbesuch<br />
mit schwarzen Taschen voller diagnostischer und heilen<strong>de</strong>r<br />
Disketten. Ich ver<strong>wen</strong><strong>de</strong> die Bezeichnung „Ärzte“, aber wirkliche<br />
Ärzte lösen natürliche P<strong>ro</strong>bleme, die nicht absichtlich von<br />
menschlicher Bösartigkeit hervorgerufen wur<strong>de</strong>n. Meine Software-Ärzte<br />
dagegen wer<strong>de</strong>n, wie Rechtsanwälte, menschengemachte<br />
P<strong>ro</strong>bleme lösen, die überhaupt niemals hätten existieren<br />
sollen. Soweit die Viruserzeuger irgen<strong>de</strong>in i<strong>de</strong>ntifizierbares<br />
Motiv haben, fühlen sie sich vermutlich vage anarchistisch.<br />
An sie richte ich meinen Appell: Wollen Sie wirklich einem<br />
neuen hochbezahlten Beruf <strong>de</strong>n Weg bereiten? Wenn nicht,<br />
hören Sie auf, mit dummen Memen zu spielen, und stellen
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 507<br />
Sie Ihre beschei<strong>de</strong>nen P<strong>ro</strong>grammiertalente in <strong>de</strong>n Dienst einer<br />
besseren Sache.<br />
7 Ich habe, wie vorauszusehen war, eine Flut von Briefen von<br />
Opfern <strong>de</strong>s Glaubens erhalten, die gegen meine Kritik am<br />
Glauben p<strong>ro</strong>testieren. Der Glaube ist ein <strong>de</strong>rart erfolgreicher<br />
Gehirnwäscher in eigener Sache, daß es schwer ist, seinen Griff<br />
zu lockern. Bei Kin<strong>de</strong>rn wirkt die Gehirnwäsche beson<strong>de</strong>rs<br />
gut. Doch was ist Glaube eigentlich? Er ist ein Gemütszustand,<br />
<strong>de</strong>r Menschen dazu bringt, etwas zu glauben – es kommt nicht<br />
darauf an, was –, das durch keinerlei Beweise gestützt wird.<br />
Gäbe es gute Beweise dafür, so wäre <strong>de</strong>r Glaube überflüssig,<br />
<strong>de</strong>nn auf Grund dieser Beweise müßten wir es ohnehin glauben.<br />
Deshalb ist die so oft nachgeplapperte Behauptung,<br />
daß „die Evolution selbst eine Frage <strong>de</strong>s Glaubens ist“, so<br />
töricht. Menschen glauben nicht an die Evolution, weil sie aus<br />
einer Laune heraus daran glauben wollen, son<strong>de</strong>rn wegen <strong>de</strong>r<br />
überwältigen<strong>de</strong>n und je<strong>de</strong>rmann zugänglichen Beweise.<br />
Ich sagte, „es kommt nicht darauf an, was“ die Glauben<strong>de</strong>n<br />
glauben, was <strong>de</strong>n Gedanken nahelegt, daß die Leute total<br />
unsinnige, willkürliche Dinge glauben, wie <strong>de</strong>r elektrische<br />
Mönch in Douglas Adams’ ergötzlichem Buch Dirk Gently’s<br />
Holistische Detektei. Dieser war einzig und allein zu <strong>de</strong>m<br />
Zweck gebaut, das Glauben für uns zu erledigen, und er war<br />
sehr erfolgreich darin. An <strong>de</strong>m Tag, an <strong>de</strong>m wir ihm begegnen,<br />
glaubt er unerschütterlich und allen Gegenbeweisen zum<br />
T<strong>ro</strong>tz, daß alles auf <strong>de</strong>r Welt <strong>ro</strong>sa ist. Ich habe nicht vor, jeman<strong>de</strong>m<br />
zu beweisen, daß die Dinge, an die er glaubt, Unsinn sein<br />
müssen. Sie können es sein o<strong>de</strong>r auch nicht. Entschei<strong>de</strong>nd ist,<br />
daß es keine Möglichkeit gibt festzustellen, ob sie es sind, und<br />
ebenso<strong>wen</strong>ig eine Metho<strong>de</strong>, mit <strong>de</strong>ren Hilfe man einen Glaubensartikel<br />
einem an<strong>de</strong>ren vorziehen könnte, <strong>de</strong>nn Beweise<br />
wer<strong>de</strong>n ausdrücklich gemie<strong>de</strong>n. Vielmehr wird die Tatsache,<br />
daß wahrer Glaube keiner Beweise bedarf, als <strong>de</strong>ssen größter<br />
Vorzug aufgezeigt; darum ging es mir, als ich die Geschichte<br />
vom ungläubigen Thomas erzählte, <strong>de</strong>m einzigen <strong>de</strong>r zwölf<br />
Apostel, <strong>de</strong>r wirklich bewun<strong>de</strong>rnswert war.
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 508<br />
Glaube kann keine Berge versetzen (auch <strong>wen</strong>n Generationen<br />
von Kin<strong>de</strong>rn feierlich das Gegenteil erzählt wird und<br />
sie es glauben). Aber er ist in <strong>de</strong>r Lage, Menschen zu <strong>de</strong>rart<br />
gefährlichem Wahnsinn zu treiben, daß er sich in meinen<br />
Augen als eine Art Geisteskrankheit qualifiziert. Es gibt Leute,<br />
die so stark an etwas – was auch immer es sein mag – glauben,<br />
daß sie in extremen Fällen bereit sind, dafür zu töten o<strong>de</strong>r<br />
zu sterben, ohne die Not<strong>wen</strong>digkeit einer weiteren Rechtfertigung.<br />
Keith Henson hat <strong>de</strong>n Namen „Memoid“ geprägt für<br />
„Opfer, die so sehr von einem Mem besessen sind, daß ihr eigenes<br />
Überleben unwichtig wird. Man sieht eine Menge solcher<br />
Leute in <strong>de</strong>n Abendnachrichten aus Orten wie Belfast o<strong>de</strong>r<br />
Beirut.“ Glaube ist mächtig genug, um Menschen gegen alle<br />
Bitten um Gna<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r Vergebung, gegen alle Appelle an<br />
ihre Menschlichkeit immun zu machen. Er macht sie sogar<br />
immun gegen Angst, <strong>wen</strong>n sie ehrlich daran glauben, daß ein<br />
Märtyrertod sie direkt in <strong>de</strong>n Himmel schickt. Was für eine<br />
Waffe! Religiöser Glaube verdient ein eigenes Kapitel in <strong>de</strong>n<br />
Annalen <strong>de</strong>r Kriegstechnologie, auf gleicher Stufe mit <strong>de</strong>m<br />
Langbogen, <strong>de</strong>m Schlacht<strong>ro</strong>ß, <strong>de</strong>m Panzer und <strong>de</strong>r Wasserstoffbombe.<br />
8 Der optimistische Ton meines Schlußsatzes hat bei Kritikern,<br />
die meinen, er stehe im Gegensatz zum Rest <strong>de</strong>s Buches,<br />
Skepsis geweckt. In einigen Fällen kommt die Kritik von<br />
doktrinären Soziobiologen, die eifersüchtig die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s<br />
genetischen Einflusses schützen. In an<strong>de</strong>ren Fällen kommt<br />
sie aus einer gera<strong>de</strong>zu paradox entgegengesetzten Ecke, von<br />
Hohepriestern <strong>de</strong>r Linken, die eifersüchtig eine ihnen liebe<br />
dämonische Ikone schützen! Rose, Kamin und Lewontin frönen<br />
in Die Gene sind es nicht einem privaten Popanz namens<br />
„Reduktionismus“, und sie nehmen außer<strong>de</strong>m an, daß alle<br />
wirklich guten Reduktionisten „Deterministen“ sind, vorzugsweise<br />
„genetische Deterministen“.<br />
Das Gehirn ist für Reduktionisten ein umschriebenes<br />
biologisches Objekt, <strong>de</strong>ssen Eigenschaften die beobacht-
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 509<br />
baren Verhaltensweisen o<strong>de</strong>r die aus diesem Verhalten<br />
zu erschließen<strong>de</strong>n gedanklichen o<strong>de</strong>r intentionalen<br />
Zustän<strong>de</strong> hervorbringen ... Diese Position stimmt vollkommen<br />
– o<strong>de</strong>r sollte es eigentlich tun – mit <strong>de</strong>n von<br />
Wilson o<strong>de</strong>r Dawkins vorgetragenen Prinzipien <strong>de</strong>r<br />
Soziobiologie überein. Wür<strong>de</strong>n die bei<strong>de</strong>n Autoren diese<br />
Position tatsächlich übernehmen, müßten sie das Dilemma<br />
bewältigen, daß sie einerseits weite Bereiche –<br />
gera<strong>de</strong> auch für sie als Liberale – unerfreulichen menschlichen<br />
Verhaltens (Gehässigkeit, Indoktrination und so<br />
weiter) als angeboren behaupten und an<strong>de</strong>rerseits sich<br />
in liberal-ethischen Skrupeln verstricken, <strong>wen</strong>n es um<br />
die Feststellung <strong>de</strong>r Verantwortlichkeit für kriminelle<br />
Handlungen geht – da diese doch wie alle an<strong>de</strong>ren<br />
Handlungen biologisch <strong>de</strong>terminiert sind. Um dieses<br />
P<strong>ro</strong>blem zu umgehen, reklamieren Wilson und Dawkins<br />
einen freien Willen, <strong>de</strong>r uns befähigt, <strong>wen</strong>n wir nur<br />
wollen, gegen das Diktat unserer Gene anzugehen<br />
.... Im wesentlichen be<strong>de</strong>utet dies eine Rückkehr zum<br />
uneingeschränkten Kartesianismus und einem dualistischen<br />
<strong>de</strong>us ex machina.<br />
Ich glaube, daß Rose und seine Kollegen uns anklagen, uns<br />
nicht für eines <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Dinge entschei<strong>de</strong>n zu können. Entwe<strong>de</strong>r<br />
müssen wir „genetische Deterministen“ sein, o<strong>de</strong>r wir<br />
glauben an <strong>de</strong>n „freien Willen“; wir können nicht bei<strong>de</strong>s haben.<br />
Aber – und hier, nehme ich an, spreche ich genauso für P<strong>ro</strong>fessor<br />
Wilson wie für mich selbst – wir sind nur in <strong>de</strong>n Augen<br />
von Rose und seinen Kollegen „genetische Deterministen“. Sie<br />
verstehen nicht (so scheint es, obwohl es schwer zu glauben<br />
ist), daß es sehr wohl möglich ist, <strong>de</strong>r Ansicht zu sein, daß<br />
Gene einen statistischen Einfluß auf menschliches Verhalten<br />
ausüben, und gleichzeitig zu glauben, daß dieser Einfluß durch<br />
an<strong>de</strong>re Einflüsse verän<strong>de</strong>rt, außer Kraft gesetzt o<strong>de</strong>r umgekehrt<br />
wer<strong>de</strong>n kann. Gene müssen einen statistischen Einfluß<br />
auf je<strong>de</strong>s Verhaltensmuster ausüben, das sich durch natürliche<br />
Auslese entwickelt. Vermutlich sind Rose und seine Kollegen
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 510<br />
mit mir darin einig, daß das sexuelle Verlangen beim Menschen<br />
mittels <strong>de</strong>r natürlichen Auslese entstan<strong>de</strong>n ist, auf dieselbe<br />
Weise, wie alles an<strong>de</strong>re entsteht, das die Evolution hervorbringt.<br />
Sie müssen daher damit übereinstimmen, daß Gene das<br />
sexuelle Begehren beeinflußt haben – in <strong>de</strong>mselben Sinne, in<br />
<strong>de</strong>m Gene auch alles an<strong>de</strong>re beeinflussen. Doch sie haben vermutlich<br />
keine Schwierigkeiten damit, ihre sexuellen Wünsche<br />
zu kont<strong>ro</strong>llieren, <strong>wen</strong>n dies gesellschaftlich erfor<strong>de</strong>rlich ist.<br />
Was ist dualistisch daran? Offensichtlich gar nichts. Und ebenso<strong>wen</strong>ig<br />
dualistisch ist es, <strong>wen</strong>n ich zur Rebellion gegen „die<br />
Tyrannei <strong>de</strong>r egoistischen Replikatoren“ aufrufe. Wir, das heißt<br />
unser Gehirn, sind ausreichend getrennt und unabhängig von<br />
unseren Genen, um gegen sie rebellieren zu können. Wie ich<br />
bereits sagte, tun wir dies immer dann im kleinen, <strong>wen</strong>n wir<br />
Empfängnisverhütung betreiben. Nichts spricht dagegen, uns<br />
auch im g<strong>ro</strong>ßen gegen unsere Gene aufzulehnen.
Richard Dawkins: Das egoistische Gen 511<br />
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* Die so gekennzeichneten Literaturstellen wur<strong>de</strong>n für die <strong>de</strong>utsche Ausgabe<br />
zusätzlich aufgenommen.
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