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Richard Dawkins<br />

Das egoistische Gen<br />

science<br />

sachbuch<br />

<strong>ro</strong><br />

<strong>ro</strong><br />

<strong>ro</strong>


Das Buch<br />

In <strong>de</strong>r Titelgeschichte »Revolutionärer Evolutionist« <strong>de</strong>s amerikanischen<br />

Computer-culture-Magazins Wired (August 1995)<br />

heißt es: »Vor zwei Jahrzehnten präsentierte Dawkins ein radikales<br />

Evolutionsmo<strong>de</strong>ll in seinem Buch ›Das egoistische Gen‹,<br />

einer beunruhigend überzeugen<strong>de</strong>n Untersuchung, die darauf<br />

hinausläuft, daß leben<strong>de</strong> Organismen im wesentlichen leibliche<br />

Vehikel darstellen, ausgeliefert <strong>de</strong>m Diktat eigennütziger<br />

Gene, die auf ihre Replikation und Ausbreitung versessen sind.<br />

Wie schon vor einem Jahrhun<strong>de</strong>rt <strong>de</strong>r britische Philosoph und<br />

Romancier Samuel Butler erkannt hat, daß die Henne nichts<br />

an<strong>de</strong>res ist als das Mittel <strong>de</strong>s Eies, neue Eier hervorzubringen,<br />

ist Dawkins <strong>de</strong>r Auffassung, wir seien nichts an<strong>de</strong>res als<br />

Ausprägungen unserer egoistischen Gene in ihrem Bestreben,<br />

immer mehr egoistische Gene in die Welt zu setzen. Doch<br />

damit nicht genug: Er schlägt vor, die Gene ihrerseits als<br />

Ausprägungen eines raffinierten Co<strong>de</strong>s zu betrachten, <strong>de</strong>r<br />

die Welt um ihn her zum Zwecke seiner eigenen Rep<strong>ro</strong>duktion<br />

manipuliert. Diese Vorstellungen sind verblüffend<br />

und auch schockierend – aber vor allem haben sie sich als<br />

erstaunlich einflußreich erwiesen. Wenn Sie über die Zukunft<br />

<strong>de</strong>r natürlichen und künstlichen Evolution mitre<strong>de</strong>n wollen,<br />

müssen Sie Richard Dawkins lesen!«<br />

Der Autor<br />

Richard Dawkins, Jahrgang 1941, geboren<br />

und aufgewachsen in Ostafrika, Schüler<br />

<strong>de</strong>s Biologen und Nobelpreisträgers Niko<br />

Tinbergen, P<strong>ro</strong>fessor <strong>de</strong>r Zoologie am New<br />

College <strong>de</strong>r Oxford University, zählt zu <strong>de</strong>n<br />

be<strong>de</strong>utendsten mo<strong>de</strong>rnen Evolutionstheoretikern.


Richard Dawkins<br />

Das egoistische Gen<br />

Überarbeitete und erweiterte Neuausgabe<br />

Mit einem Vorwort von Wolfgang Wickler<br />

Deutsch von Karin <strong>de</strong> Sousa Ferreira<br />

<strong>ro</strong><br />

<strong>ro</strong><br />

<strong>ro</strong><br />

Rowohlt


o<strong>ro</strong><strong>ro</strong> science<br />

Lektorat Jens Petersen<br />

Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH,<br />

Reinbek bei Hamburg, Mai 1996<br />

Die Originalausgabe erschien 1976 unter <strong>de</strong>m Titel<br />

«The Selfish Gene» im Verlag Oxford University Press<br />

Copyright © 1976 by Oxford University Press (1. Auflage)<br />

Copyright © 1989, 1994 by Richard Dawkins (2. Auflage)<br />

Die <strong>de</strong>utsche Erstausgabe erschien 1978 im Springer-Verlag,<br />

Berlin, Hei<strong>de</strong>lberg, New York<br />

Die überarbeitete und erweiterte Neuausgabe erschien 1994<br />

bei Spektrum Aka<strong>de</strong>mischer Verlag GmbH, Hei<strong>de</strong>lberg, Berlin,<br />

Oxford<br />

Copyright © 1994 by Spektrum Aka<strong>de</strong>mischer Verlag GmbH<br />

Umschlaggestaltung Barbara Hanke (Foto: The Image Bank/<br />

Jerry Lofa<strong>ro</strong>)<br />

Alle <strong>de</strong>utschen Rechte vorbehalten<br />

Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck<br />

Printed in Germany<br />

2490-ISBN 3 499196093


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 5<br />

Vorwort zur <strong>de</strong>utschen Ausgabe<br />

Die Biologie ist zur Jahrhun<strong>de</strong>rtwissenschaft gewor<strong>de</strong>n. Genetik,<br />

Molekularbiologie und Evolutionstheorie haben uns einen<br />

neuen Verstehenshorizont erschlossen, <strong>de</strong>r gleichermaßen<br />

be<strong>de</strong>utsam ist für Biologie wie für Medizin und Philosophie,<br />

für das Verständnis und <strong>de</strong>n Umgang mit <strong>de</strong>r Natur wie für<br />

Schöpfungsvorstellungen. Dazu hat Richard Dawkins eine entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong><br />

neue I<strong>de</strong>e hinreißend formuliert. Sein sachlich<br />

überraschen<strong>de</strong>s, genial gedachtes und rasant geschriebenes<br />

Buch hat ihm jedoch nicht nur Beifalls-, son<strong>de</strong>rn auch<br />

Entrüstungsstürme eingebracht. Ein Grund für letztere liegt<br />

wohl darin, daß er einen Paradigmenwechsel für Laien<br />

verständlich erläuterte, noch bevor viele Fachleute ihn begriffen<br />

hatten. Dawkins tut das, in<strong>de</strong>m er die Theorien mit markanten<br />

Beispielen illustriert und nicht umständlich versucht,<br />

ihre Richtigkeit zu beweisen.<br />

Worum geht es? Noch zu Darwins Lebzeiten hatte sich in<br />

eu<strong>ro</strong>päische Denkgewohnheiten die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r Arterhaltung fest<br />

eingenistet. Es schien das Natürlichste von <strong>de</strong>r Welt, daß alle<br />

Lebewesen danach strebten, ihre Art zu erhalten. Schon im<br />

13. Jahrhun<strong>de</strong>rt hatte Thomas von Aquin die Arterhaltung<br />

zu <strong>de</strong>n grundlegen<strong>de</strong>n natürlichen Neigungen gezählt. Daraus<br />

abgeleitet wur<strong>de</strong> ein Recht <strong>de</strong>r Lebewesen auf Erhaltung<br />

ihrer jeweiligen Art. Auf solches Naturrecht baut die philosophische<br />

Ethik bis heute: Deutschen Juristen gilt die<br />

Sicherung <strong>de</strong>s menschlichen Überlebens als das Fundamentale<br />

<strong>de</strong>s biologischen Existierens. Der Biologe Hubert Markl<br />

koppelt die Menschenwür<strong>de</strong> mit <strong>de</strong>r Verantwortung für die<br />

Zukunftsfähigkeit <strong>de</strong>r menschlichen Spezies. Immanuel Kant<br />

meinte, daß ohne <strong>de</strong>n Menschen die ganze Schöpfung „umsonst<br />

und ohne Endzweck seyn wür<strong>de</strong>“, und entsprechend formulierte<br />

Hans Jonas als obersten Imperativ, „daß eine Menschheit<br />

sei“. Diese Ansicht aber scheint höchst unnatürlich.<br />

Nach Darwins Tod dauerte es fünfzig Jahre, bis konsequent<br />

<strong>de</strong>nken<strong>de</strong> Naturwissenschaftler darauf kamen, daß die lange


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 6<br />

<strong>Zeit</strong> beliebte Frage nach <strong>de</strong>m Arterhaltungswert eines Organs<br />

o<strong>de</strong>r Verhaltens zu keinen biologischen Einsichten führt, daß<br />

Arterhaltung kein natürliches Prinzip, son<strong>de</strong>rn eine falsche<br />

menschliche Interpretation ist. Mit dieser Erkenntnis begann<br />

eine kopernikanische Kehrt<strong>wen</strong>dung zurück zu <strong>de</strong>m, was<br />

Darwin wirklich gemeint hatte. Die Wen<strong>de</strong> geschah in zwei<br />

Schritten. Der erste Schritt folgte aus <strong>de</strong>r Einsicht, daß Arten<br />

sich wan<strong>de</strong>ln (Artenwan<strong>de</strong>l war Darwins Thema!), weil Individuen<br />

erblich verschie<strong>de</strong>n und dabei auch verschie<strong>de</strong>n erfolgreich<br />

in <strong>de</strong>r Fortpflanzung sind. Auf <strong>de</strong>m unterschiedlichen<br />

Erfolg von Individuen basiert Evolution. Wer Evolution – und<br />

damit die eigene Herkunft – verstehen will, <strong>de</strong>r muß individuelle<br />

Erfolgsunterschie<strong>de</strong> samt ihren Grün<strong>de</strong>n und Folgen untersuchen.<br />

Daß jeweils die erfolgreicheren Varianten schließlich<br />

das Bild <strong>de</strong>r Art bestimmen, ist – wie man dann bemerkt –<br />

keine Garantie dafür, daß auch die Art insgesamt damit besser<br />

fährt o<strong>de</strong>r erhalten bleibt; sie kann an <strong>de</strong>n erfolgreichen Varianten<br />

sogar zugrun<strong>de</strong> gehen.<br />

Dieser erste Wen<strong>de</strong>schritt – vorbereitet von R. A. Fisher 1930<br />

und J. B. S. Haidane 1955, massiv p<strong>ro</strong>pagiert von G. C. Williams<br />

1966 – schob das Augenmerk weg vom Wohl und Wehe <strong>de</strong>r Art<br />

hin zum Wohl und Wehe <strong>de</strong>s Individuums. Der zweite Schritt<br />

–vorbereitet von W. D. Hamilton 1964 und J. Maynard Smith<br />

1972, massiv p<strong>ro</strong>pagiert im vorliegen<strong>de</strong>n Buch von R. Dawkins<br />

– beruht auf Erkenntnissen <strong>de</strong>r Genetik, die Darwin nur erahnen<br />

konnte, und verschiebt nun das Augenmerk noch einmal,<br />

weg vom Wohl und Wehe <strong>de</strong>s Individuums hin zum Wohl und<br />

Wehe <strong>de</strong>r Gene. Die sind es ja letztlich, und nicht die Individuen,<br />

die vervielfacht und von Generation zu Generation weitergegeben<br />

wer<strong>de</strong>n. Gene überleben die Körper, in <strong>de</strong>nen<br />

sie hausen, um viele Millionen Jahre; zur Fortpflanzung vermehren<br />

die Individuen nicht sich selbst, son<strong>de</strong>rn ihre Erbanlagen,<br />

aus <strong>de</strong>nen dann an<strong>de</strong>re, neue Individuen entstehen.<br />

Was die Individuen im Leben tun, ist – je nach Art <strong>de</strong>s Lebewesens<br />

mehr o<strong>de</strong>r <strong>wen</strong>iger – von <strong>de</strong>n Erbanlagen p<strong>ro</strong>grammiert.<br />

Zwangsläufige Folge unter natürlicher Selektion ist dann ein<br />

Trend zu P<strong>ro</strong>grammen, die sich mit Hilfe entsprechen<strong>de</strong>n Ver-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 7<br />

haltens durch das Individuum maximal vervielfachen. Und das<br />

ist etwas an<strong>de</strong>res als etwa ein Trend, <strong>de</strong>r hinführte zu Gesundheit,<br />

langem Leben o<strong>de</strong>r Glück dieses Individuums o<strong>de</strong>r zum<br />

Wohlergehen einer Art beziehungsweise Gruppe.<br />

Das hat Dawkins in suggestiven Bil<strong>de</strong>rn verständlich<br />

gemacht. Und obwohl er dazu manche Zusammenhänge radikal<br />

vereinfacht, hat dieser Ansatz inzwischen kreatives Weiter<strong>de</strong>nken<br />

p<strong>ro</strong>voziert. Zu P<strong>ro</strong>test p<strong>ro</strong>voziert fühlten sich hingegen<br />

manche Fachvertreter, sei es, weil Dawkins sich nicht auf eine<br />

chemische Gen<strong>de</strong>finition festlegt, sei es, weil man nur ein personifiziertes<br />

Gen „egoistisch“ nennen dürfte. Tatsächlich ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>t<br />

Dawkins viele Begriffe aus <strong>de</strong>r beschreiben<strong>de</strong>n Alltagssprache,<br />

die ein bildliches Verstehen för<strong>de</strong>rn, die aber nicht<br />

beliebig wörtlich zu nehmen sind. (Auch ein Arzt sagt ja wohl,<br />

jemand sei an geb<strong>ro</strong>chenem Herzen gestorben, ohne damit<br />

materielle Bruchstellen in diesem Organ zu meinen.)<br />

Freilich, wer nach Kritikpunkten sucht, kann an diesem<br />

Buch einen weitgehen<strong>de</strong>n Verzicht auf die Grundlagen <strong>de</strong>r<br />

Populationsgenetik bemängeln. Freilich ist es strenggenommen<br />

unzulässig, so zu tun, als vollzöge sich Evolution nur<br />

jeweils an einem Gen. Freilich ist es gefährlich, <strong>de</strong>n Leser glauben<br />

zu lassen, er wür<strong>de</strong> mit <strong>de</strong>r Lektüre dieses Buches zu<br />

einem Fachmann, zumal die fast charismatische Darstellungsweise<br />

diesem Glauben eher för<strong>de</strong>rlich ist. Das Buch ist kein<br />

Referenzwerk zur genetischen Theorie <strong>de</strong>r Evolution. Bezeichnen<strong>de</strong>rweise<br />

richtet sich die laute Kritik aber <strong>wen</strong>iger gegen<br />

die hier geschil<strong>de</strong>rten Fakten als gegen die daraus zu ziehen<strong>de</strong>n<br />

Folgerungen. Diese Kritik erscheint eher wie ein Ausweichmanöver<br />

vor <strong>de</strong>n Konsequenzen, die man sich einhan<strong>de</strong>lt,<br />

falls man die Grundargumente ernst nimmt. Das wi<strong>de</strong>rfuhr<br />

schon E. O. Wilson, als er seine (inzwischen weltweit<br />

akzeptierte) Soziobiologie vorstellte und dafür vom Publikum<br />

mit Wassergüssen bedacht wur<strong>de</strong>. Dabei sind Wilsons soziobiologische<br />

Thesen noch vergleichsweise harmlos; die I<strong>de</strong>e von<br />

<strong>de</strong>n evolutionär stabilen Strategien, durch die gewissermaßen<br />

auch das Böse unter Naturschutz gestellt wird, kommt darin<br />

noch nicht vor. Dawkins’ Ansatz ist viel beunruhigen<strong>de</strong>r. Und


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 8<br />

er schil<strong>de</strong>rt nicht Science-fiction, wie mancher hofft, son<strong>de</strong>rn<br />

Realität.<br />

Zu Grabe getragen wird zunächst mit vehementer Begleitmusik<br />

die verbreitete Wunschvorstellung einer guten, in<br />

sich harmonischen Mutter Natur. Dawkins schil<strong>de</strong>rt die<br />

Zwangsläufigkeiten von Kooperation und Konflikten, und zwar<br />

allgemein zwischen <strong>de</strong>n Individuen, <strong>de</strong>n Geschlechtern, <strong>de</strong>n<br />

Generationen (zum Beispiel zwischen Mutter und Kind), aber<br />

auch zwischen Genen und kulturellen Verhaltensp<strong>ro</strong>grammen.<br />

Sein Buch han<strong>de</strong>lt auch von <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren P<strong>ro</strong>grammen, die<br />

nicht in <strong>de</strong>n Genen, son<strong>de</strong>rn in <strong>de</strong>n Hirnen gespeichert und<br />

vervielfältigt wer<strong>de</strong>n; die nicht über die Keimzellen, son<strong>de</strong>rn<br />

durch Tradition in neue Trägerindividuen gelangen; die sich<br />

nicht durch Zeugung, son<strong>de</strong>rn durch Überzeugung ausbreiten;<br />

und die dazu ein ganz an<strong>de</strong>res Verhalten vom Individuum<br />

brauchen, als es <strong>de</strong>n genetischen P<strong>ro</strong>grammen für ihre Ausbreitung<br />

nützlich ist. Kein Wun<strong>de</strong>r also, daß Kultur nicht<br />

immer die Fortpflanzung begünstigt. Je<strong>de</strong>s falsche, also nicht<br />

<strong>de</strong>r P<strong>ro</strong>grammausbreitung dienliche Verhalten wird automatisch<br />

eliminiert; als Evolution wirkt sich das aus, <strong>wen</strong>n das<br />

erfolgreichere P<strong>ro</strong>gramm an künftige Generationen weitergegeben<br />

wer<strong>de</strong>n kann und dort unter bestimmten Umweltbedingungen<br />

entsprechend erfolgversprechen<strong>de</strong>s Verhalten entwikkelt.<br />

Wie das P<strong>ro</strong>gramm zur nächsten Generation gelangt, ist<br />

prinzipiell egal. Natürliche Selektion ist auch unter tradierten<br />

P<strong>ro</strong>grammen wirksam, dort auf <strong>de</strong>r Ebene <strong>de</strong>r „Meme“, wie<br />

Dawkins die <strong>de</strong>n Genen analogen Einheiten kultureller P<strong>ro</strong>gramme<br />

nennt. Ergebnis ihrer Evolution ist schließlich auch<br />

das Kantsche moralische Gesetz in uns. Wir wer<strong>de</strong>n uns an<br />

das Bild gewöhnen müssen, das <strong>de</strong>n einzelnen Menschen zeigt<br />

als ausführen<strong>de</strong>s Organ für mehrere, oft gegeneinan<strong>de</strong>r arbeiten<strong>de</strong><br />

Verhaltensp<strong>ro</strong>gramme, die es heute <strong>de</strong>swegen noch gibt,<br />

weil sie in <strong>de</strong>r Vergangenheit ihre Träger entsprechend erfolgreich<br />

p<strong>ro</strong>grammiert haben. Solche P<strong>ro</strong>gramme richten sich<br />

zuweilen gegen uralte genetische P<strong>ro</strong>gramme, sie sind, wie<br />

die Geburtenbeschränkung, „unnatürlich“. Ebenso unnatürlich<br />

ist <strong>de</strong>r Wohlfahrtsstaat, <strong>de</strong>r in seiner Evolution instabil ist,


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 9<br />

weil er (nahezu naturnot<strong>wen</strong>dig) von egoistischen Ten<strong>de</strong>nzen<br />

<strong>de</strong>r Individuen ausgebeutet und unterlaufen wird. Daß wir<br />

unser G<strong>ro</strong>ßhirn <strong>de</strong>m Nutzen verdanken könnten, <strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>m<br />

Übertreten <strong>de</strong>r Zehn Gebote erwächst, ist eine von <strong>de</strong>n unbequemen<br />

Denkmöglichkeiten, die hier angeboten sind.<br />

Die elegante Übersetzung dieses an- und aufregen<strong>de</strong>n<br />

Buches läßt auch die <strong>de</strong>utsche Öffentlichkeit an einer Erkenntnissuche<br />

teilnehmen, die sich bislang weitgehend außerhalb<br />

von Deutschland abgespielt hat. Nach <strong>de</strong>r Vorgehensweise<br />

haben sich dabei, wie geistreich spötteln<strong>de</strong> Insi<strong>de</strong>r meinen,<br />

zwei Lager gebil<strong>de</strong>t: In Cambridge versucht man es nie mit<br />

einer einfachen Erklärung, <strong>wen</strong>n es noch eine kompliziertere<br />

gibt, während die Oxford-Taktik darin besteht, testbare Prinzipien<br />

zu mei<strong>de</strong>n, solange man nicht-falsifizierbare zur Hand<br />

hat. Obwohl Richard Dawkins in Oxford schreibt, hat er bislang<br />

weitgehend recht behalten.<br />

PROF. DR. WOLFGANG WICKLER<br />

Seewiesen, Februar 1994


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 10<br />

Vorwort zur zweiten Auflage<br />

In <strong>de</strong>n rund zehn Jahren seit Veröffentlichung <strong>de</strong>r ersten Auflage<br />

dieses Buches hat seine zentrale Botschaft Eingang in<br />

die meisten Lehrbücher gefun<strong>de</strong>n. Das ist paradox, allerdings<br />

nicht auf <strong>de</strong>n ersten Blick. Das egoistische Gen gehört nicht<br />

zu <strong>de</strong>n Büchern, die bei ihrem Erscheinen als revolutionär<br />

geschmäht wer<strong>de</strong>n und dann stetig an Anhängern gewinnen,<br />

bis sie schließlich so anerkannt sind, daß man sich fragt,<br />

worum seinerzeit bloß soviel Aufhebens gemacht wur<strong>de</strong>. Ganz<br />

im Gegenteil. Von Anfang an waren die Rezensionen erfreulich<br />

günstig, und Das egoistische Gen war zunächst nicht umstritten.<br />

Erst im Laufe <strong>de</strong>r Jahre geriet es in die Diskussion,<br />

und heute wird es von weiten Kreisen als ein Werk von radikalem<br />

Extremismus angesehen. Doch während genau <strong>de</strong>rselben<br />

Jahre, in <strong>de</strong>nen das Buch zunehmend in <strong>de</strong>n Ruf <strong>de</strong>r<br />

Radikalität geriet, erschien sein tatsächlicher Inhalt immer<br />

<strong>wen</strong>iger extrem, immer mehr allgemein akzeptiertem Gedankengut<br />

zu entsprechen.<br />

Die Theorie <strong>de</strong>s egoistischen Gens ist Darwins Theorie, auf<br />

eine Weise ausgedrückt, die Darwin nicht gewählt hat, <strong>de</strong>ren<br />

Eignung er aber, so meine ich, unverzüglich erkennen und<br />

begeistert aufnehmen wür<strong>de</strong>. In <strong>de</strong>r Tat ergibt sie sich logisch<br />

aus <strong>de</strong>m orthodoxen Neo-Darwinismus, geht aber von einem<br />

neuartigen Blickwinkel aus. Statt sich auf <strong>de</strong>n individuellen<br />

Organismus zu konzentrieren, sieht sie die Natur mit <strong>de</strong>n<br />

Augen <strong>de</strong>s Gens. Die Theorie <strong>de</strong>s egoistischen Gens ist eine<br />

an<strong>de</strong>re Art <strong>de</strong>r Betrachtung, nicht eine an<strong>de</strong>re Theorie. Auf<br />

<strong>de</strong>n ersten Seiten meines Buches The Exten<strong>de</strong>d Phenotype habe<br />

ich dies mit Hilfe <strong>de</strong>s sogenannten Necker-Würfels ver<strong>de</strong>utlicht.<br />

Dies ist ein zweidimensionales Muster, das mit Druckerschwärze<br />

auf Papier gezeichnet ist, wir sehen es jedoch als<br />

einen transparenten, dreidimensionalen Würfel. Man starre<br />

es ein paar Sekun<strong>de</strong>n lang an, und man wird plötzlich einen<br />

an<strong>de</strong>rs ausgerichteten Würfel wahrnehmen. Starrt man weiter,


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 11<br />

so springt er wie<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n urspünglichen Würfel zurück. Bei<strong>de</strong><br />

Würfel sind gleich gut mit <strong>de</strong>n zweidimensionalen Daten auf<br />

unserer Retina zu vereinbaren, so daß unser Gehirn bereitwillig<br />

von einem zum an<strong>de</strong>ren wechselt. Keiner <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n ist<br />

korrekter als <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re. Auch die natürliche Auslese kann<br />

man auf zwei Arten betrachten: aus <strong>de</strong>m Blickwinkel <strong>de</strong>s Gens<br />

und aus <strong>de</strong>m <strong>de</strong>s Individuums. Richtig verstan<strong>de</strong>n sind bei<strong>de</strong><br />

gleichwertig, zwei Ansichten <strong>de</strong>rselben Wahrheit. Man kann<br />

von einer zur an<strong>de</strong>ren springen, es bleibt <strong>de</strong>rselbe Neo-Darwinismus.<br />

Heute meine ich, daß dieser Vergleich zu vorsichtig war.<br />

Durch eine neuartige Betrachtungsweise bestehen<strong>de</strong>r Theorien<br />

o<strong>de</strong>r bekannter Tatsachen kann ein Wissenschaftler häufig<br />

Wichtigeres leisten als durch die Entwicklung einer neuen<br />

Theorie o<strong>de</strong>r die Ent<strong>de</strong>ckung neuer Fakten. Das Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>s<br />

Necker-Würfels ist insofern irreführend, als es <strong>de</strong>n Gedanken<br />

nahelegt, die bei<strong>de</strong>n Sichtweisen seien gleich gut. Zwar ist<br />

<strong>de</strong>r Vergleich teilweise treffend: (Blick-)Winkel lassen sich im<br />

Gegensatz zu Theorien nicht durch Experimente überprüfen;<br />

wir können nicht auf unsere vertrauten Kriterien <strong>de</strong>s Verifizierens<br />

und Falsifizierens zurückgreifen. Aber eine Verän<strong>de</strong>rung<br />

<strong>de</strong>r Sichtweise kann im besten Falle etwas Wertvolleres ergeben<br />

als eine Theorie. Sie kann die Pforte aufstoßen zu einem<br />

völlig neuen Klima <strong>de</strong>s Denkens, in <strong>de</strong>m viele aufregen<strong>de</strong> und<br />

überprüfbare Theorien geboren und bis dahin unvorstellbare<br />

Fakten aufge<strong>de</strong>ckt wer<strong>de</strong>n. Das Beispiel <strong>de</strong>s Necker-Würfels<br />

trifft hier ganz und gar daneben. Zwar kann es <strong>de</strong>n Gedanken<br />

eines Umschwungs <strong>de</strong>r Betrachtungsweise wie<strong>de</strong>rgeben, aber


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 12<br />

nicht <strong>de</strong>n Wert eines solchen Umschwungs. Worüber wir hier<br />

sprechen, ist nicht ein Wechsel zu einer gleichwertigen Sicht,<br />

son<strong>de</strong>rn eher – im Extremfall – eine Transfiguration.<br />

Ich beeile mich hinzuzufügen, daß ich einen solchen Status<br />

keineswegs für meine eigenen beschei<strong>de</strong>nen Beiträge beanspruche.<br />

Dennoch ist dies die Art von Grund, weshalb ich es<br />

vorziehe, keine scharfe Trennungslinie zwischen <strong>de</strong>r Wissenschaft<br />

und ihrer „Popularisierung“ zu ziehen. Gedanken allgemein<br />

verständlich zu erklären, die bisher nur in <strong>de</strong>r Fachliteratur<br />

Ausdruck gefun<strong>de</strong>n haben, ist eine schwierige Kunst.<br />

Sie verlangt eine einsichtsvolle neue Handhabung <strong>de</strong>r Sprache<br />

und aufschlußreiche Beispiele. Wenn wir die Neuheit von<br />

Sprache und bildhaftem Vergleich weit genug treiben, können<br />

wir zu einer neuen Betrachtungsweise gelangen. Und eine<br />

neue Art, die Dinge zu sehen, kann, wie ich gera<strong>de</strong> ausgeführt<br />

habe, ein eigenständiger schöpferischer Beitrag zur Wissenschaft<br />

sein. Einstein selbst hatte ein ausgeprägtes Talent, Wissenschaft<br />

zu popularisieren, und ich habe <strong>de</strong>n Verdacht, daß<br />

seine plastischen Vergleiche nicht nur uns an<strong>de</strong>ren halfen.<br />

Waren sie nicht auch Nahrung für sein schöpferisches Genie?<br />

Die Sicht <strong>de</strong>s Darwinismus mit <strong>de</strong>n Augen <strong>de</strong>s Gens ist in<br />

<strong>de</strong>n Schriften von R. A. Fisher und <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren g<strong>ro</strong>ßen Pionieren<br />

<strong>de</strong>s Neo-Darwinismus in <strong>de</strong>n frühen dreißiger Jahren<br />

implizit enthalten, explizit dargestellt wur<strong>de</strong> sie jedoch von W.<br />

D. Hamilton und G. C. Williams in <strong>de</strong>n sechziger Jahren. Für<br />

mich hatten die Erkenntnisse dieser Wissenschaftler visionäre<br />

Qualität. Aber ich fand, daß sie ihnen zu lakonisch, nicht lauthals<br />

genug, Ausdruck verliehen. Meiner Überzeugung nach<br />

konnte eine ausgebaute und weiterentwickelte Version dafür<br />

sorgen, daß sich alles, was man über das Leben wußte, richtig<br />

zusammenfügte, sowohl im Herzen als auch im Gehirn. Ich<br />

wollte ein Buch schreiben, in <strong>de</strong>m die Evolution mit <strong>de</strong>n Augen<br />

<strong>de</strong>s Gens gesehen wur<strong>de</strong>. Die Beispiele darin sollten vor allem<br />

aus <strong>de</strong>m Bereich <strong>de</strong>s Sozialverhaltens stammen und dazu beitragen,<br />

<strong>de</strong>n unbewußten Einfluß <strong>de</strong>r Gruppenselektionstheorie<br />

zu korrigieren, <strong>de</strong>r zu jener <strong>Zeit</strong> <strong>de</strong>n populären Darwinismus<br />

durchdrang. Ich begann das Buch im Jahre 1972, als


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 13<br />

St<strong>ro</strong>mausfälle meine Forschungsarbeiten im Labor unterbrachen.<br />

Unglücklicherweise hörten die St<strong>ro</strong>munterbrechungen<br />

schon nach zwei Kapiteln auf, und ich ließ das P<strong>ro</strong>jekt ruhen,<br />

bis ich 1975 in <strong>de</strong>n Genuß eines lehrfreien Forschungsjahres<br />

kam. Inzwischen war die Theorie erweitert wor<strong>de</strong>n, vor allem<br />

von John Maynard Smith und Robert Trivers. Heute sehe ich,<br />

daß dies eine jener geheimnisvollen <strong>Zeit</strong>en war, in <strong>de</strong>nen neue<br />

I<strong>de</strong>en in <strong>de</strong>r Luft liegen. Ich schrieb Das egoistische Gen in<br />

einem Zustand, <strong>de</strong>r fieberhafter Erregung ähnelte.<br />

Als Oxford University Press mit <strong>de</strong>m Vorschlag an mich herantrat,<br />

eine zweite Auflage herauszubringen, bestand <strong>de</strong>r Verlag<br />

darauf, daß eine herkömmliche, umfassen<strong>de</strong> Überarbeitung<br />

Seite für Seite nicht angebracht sei. Es gibt einige Bücher, die<br />

vom Konzept her offensichtlich dazu bestimmt sind, eine Reihe<br />

von Auflagen zu erleben, aber Das egoistische Gen ist nicht so<br />

angelegt. Die erste Auflage verdankte ihre jugendliche Qualität<br />

<strong>de</strong>r <strong>Zeit</strong>, in <strong>de</strong>r das Buch geschrieben wur<strong>de</strong>. In einer Reihe<br />

von Län<strong>de</strong>rn gab es damals einen frischen Luftzug von Revolution,<br />

einen Streifen von Wordsworths wonnevoller Morgenröte.<br />

Es wäre zu scha<strong>de</strong>, ein Kind jener <strong>Zeit</strong> zu verän<strong>de</strong>rn, es mit<br />

neuen Fakten zu mästen o<strong>de</strong>r mit Komplikationen und Warnungen<br />

zu verknittern. Daher sollte <strong>de</strong>r ursprüngliche Text<br />

stehenbleiben, t<strong>ro</strong>tz seiner Schwächen, sexistischen P<strong>ro</strong>nomen<br />

und so weiter. Nachbemerkungen wür<strong>de</strong>n für Korrekturen<br />

sorgen, Antworten geben und neue Entwicklungen aufzeigen.<br />

Und es sollte völlig neue Kapitel geben, <strong>de</strong>ren Themen heute<br />

so neu sind, daß sie die damalige Stimmung <strong>de</strong>r revolutionären<br />

Morgenröte weitertragen. Das Resultat waren die Kapitel 12<br />

und 13. Dabei ließ ich mich von <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Büchern meines<br />

Forschungsgebiets inspirieren, die für mich in <strong>de</strong>n Jahren<br />

seit Erscheinen <strong>de</strong>r ersten Auflage am aufregendsten waren:<br />

Robert Axel<strong>ro</strong>ds Die Evolution <strong>de</strong>r Kooperation, weil darin eine<br />

gewisse Hoffnung für unsere Zukunft durchscheint, und mein<br />

eigenes Buch The Exten<strong>de</strong>d Phenotype, weil es mich in jenen<br />

Jahren völlig beherrschte und weil es – was auch immer es<br />

wert sein mag – wahrscheinlich das Beste ist, was ich jemals<br />

schreiben wer<strong>de</strong>.


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 14<br />

Die Überschrift „Nette Kerle kommen zuerst ans Ziel“ ist<br />

einer Sen<strong>de</strong>reihe <strong>de</strong>s BBC namens Horizon entliehen, die ich<br />

1985 präsentierte. In einem 50 Minuten langen Dokumentarfilm<br />

dieses Titels, <strong>de</strong>r von Jeremy Taylor p<strong>ro</strong>duziert wor<strong>de</strong>n<br />

war, ging es um spieltheoretische Erklärungsansätze für die<br />

Evolution <strong>de</strong>r Zusammenarbeit. Die Herstellung dieses und<br />

eines weiteren Films, The Blind Watchmaker, durch <strong>de</strong>nselben<br />

P<strong>ro</strong>duzenten vermittelte mir einen neuen Respekt für <strong>de</strong>ssen<br />

Beruf. Im besten Fall wer<strong>de</strong>n die P<strong>ro</strong>duzenten von Horizon zu<br />

wahren Experten für das Thema, mit <strong>de</strong>m sie sich gera<strong>de</strong> befassen.<br />

Kapitel 12 verdankt <strong>de</strong>n Erfahrungen, die ich während<br />

<strong>de</strong>r engen Zusammenarbeit mit Jeremy Taylor und <strong>de</strong>m Horizon-Team<br />

machte, mehr als nur seine Überschrift, und ich bin<br />

dafür dankbar.<br />

Vor kurzem stieß ich auf eine unangenehme Tatsache: Es<br />

gibt einflußreiche Wissenschaftler, die die Gewohnheit haben,<br />

ihren Namen auf Veröffentlichungen zu setzen, bei <strong>de</strong>ren Entstehung<br />

sie keine Rolle gespielt haben. Allem Anschein nach<br />

bestehen manche Wissenschaftler darauf, daß sie als Mitautoren<br />

genannt wer<strong>de</strong>n, ohne mehr zu <strong>de</strong>m Forschungsp<strong>ro</strong>jekt<br />

beigetragen zu haben als Arbeitsraum, Stipendien und Durchsicht<br />

<strong>de</strong>s Manuskripts. Soweit ich weiß, können ganze wissenschaftliche<br />

Reputationen auf <strong>de</strong>r Arbeit von Stu<strong>de</strong>nten und<br />

Kollegen aufgebaut sein! Ich weiß nicht, was man tun kann,<br />

um diese Unehrlichkeit zu bekämpfen. Vielleicht sollten die<br />

Herausgeber wissenschaftlicher <strong>Zeit</strong>schriften eine unterschriebene<br />

Erklärung darüber verlangen, was je<strong>de</strong>r Autor beigetragen<br />

hat. Doch das nur nebenbei. Ich erwähne es hier, weil ich<br />

das Gegenteil konstatieren möchte. Helena C<strong>ro</strong>nin hat so viel<br />

getan, um je<strong>de</strong> Zeile, ja je<strong>de</strong>s Wort zu verbessern, daß ich sie<br />

als Koautorin aller neuen Teile dieses Buches genannt hätte,<br />

<strong>wen</strong>n sie sich nicht strikt dagegen gewehrt hätte. Ich bin ihr<br />

zutiefst dankbar und bedaure, daß meine Anerkennung auf<br />

diese Zeilen begrenzt bleiben muß. Ebenso danke ich Mark<br />

Ridley, Marian Dawkins und Alan Grafen für ihren Rat und die<br />

konstruktive Kritik an bestimmten Abschnitten. Thomas Webster,<br />

Hilary McGlynn und an<strong>de</strong>re bei Oxford University Press


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 15<br />

haben meine Launen und alle Verzögerungen guten Mutes<br />

ertragen.<br />

RICHARD DAWKINS


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 16<br />

Vorwort zur ersten Auflage<br />

Dieses Buch sollte beinahe wie Science-fiction gelesen wer<strong>de</strong>n,<br />

<strong>de</strong>nn es zielt darauf ab, die Vorstellungskraft anzusprechen.<br />

Doch es ist keine Science-fiction: Es ist Wissenschaft.<br />

Tatsächlich erscheint mir die Wirklichkeit noch phantastischer<br />

als ein utopischer Roman. Wir sind Überlebensmaschinen –<br />

Roboter, blind p<strong>ro</strong>grammiert zur Erhaltung <strong>de</strong>r selbstsüchtigen<br />

Moleküle, die Gene genannt wer<strong>de</strong>n. Dies ist eine Wahrheit,<br />

die mich immer noch mit Staunen erfüllt. Obwohl sie mir seit<br />

Jahren bekannt ist, scheine ich mich niemals an sie gewöhnen<br />

zu können, und eine meiner Hoffnungen geht dahin, daß es<br />

mir gelingen möge, auch an<strong>de</strong>re in Erstaunen zu versetzen.<br />

Drei imaginäre Leser haben mir beim Schreiben über die<br />

Schulter geschaut, und ihnen widme ich nun dieses Buch.<br />

Zunächst <strong>de</strong>r allgemein interessierte Leser, <strong>de</strong>r Laie. Ihm<br />

zuliebe habe ich beinahe völlig auf eine technische Sprache verzichtet,<br />

und wo ich nicht umhin konnte, Spezialausdrücke zu<br />

ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>n, wer<strong>de</strong>n diese erläutert. Inzwischen frage ich mich,<br />

warum wir nicht auch aus <strong>de</strong>n Fachzeitschriften einen G<strong>ro</strong>ßteil<br />

unserer Fachsprache verbannen. Mein Ausgangspunkt war,<br />

daß <strong>de</strong>r Laie zwar keine Spezialkenntnisse besitzt, aber auch<br />

nicht dumm ist. Durch starke Vereinfachung kann je<strong>de</strong>r die<br />

Wissenschaft für <strong>de</strong>n Laien verständlich machen. Ich habe<br />

es mir nicht leicht gemacht und versucht, einige subtile<br />

und komplizierte Gedanken in nichtmathematischer Sprache<br />

allgemeinverständlich auszudrücken, ohne daß sie ihren Gehalt<br />

verlieren. Inwieweit mir dies gelungen ist, weiß ich nicht; ebenso<strong>wen</strong>ig<br />

weiß ich, wieweit ich ein an<strong>de</strong>res meiner Ziele verwirklichen<br />

konnte: <strong>de</strong>n Versuch nämlich, dieses Buch so unterhaltsam<br />

und fesselnd zu machen, wie seine Materie es verdient.<br />

Ich bin seit langem <strong>de</strong>r Ansicht, die Biologie sollte als ebenso<br />

aufregend wie eine Kriminalgeschichte empfun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n,<br />

<strong>de</strong>nn sie ist genauso spannend und geheimnisvoll. Ich wage<br />

nicht zu hoffen, daß ich mehr als nur einen winzigen Bruchteil<br />

<strong>de</strong>r Faszination, die <strong>de</strong>r Gegenstand zu bieten hat, vermittelt<br />

habe.


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 17<br />

Mein zweiter imaginärer Leser war <strong>de</strong>r Fachmann. Er war<br />

ein strenger Kritiker, <strong>de</strong>r bei einigen meiner Analogien und<br />

Sprachfiguren tief Luft holte. Seine Lieblingsausdrücke sind<br />

„mit Ausnahme von“, „aber an<strong>de</strong>rerseits“ und „hm“. Ich habe<br />

ihm aufmerksam zugehört und sogar ein Kapitel einzig ihm<br />

zuliebe völlig neu geschrieben, aber schließlich mußte ich<br />

die Geschichte auf meine Art erzählen. Der Fachmann wird<br />

immer noch nicht restlos glücklich mit meiner Darstellungsweise<br />

sein. Doch meine größte Hoffnung ist, daß auch er<br />

hier etwas Neues fin<strong>de</strong>n wird, eine neue Art vielleicht, altvertraute<br />

I<strong>de</strong>en zu betrachten; möglicherweise wird er sogar<br />

selbst zu neuen I<strong>de</strong>en angeregt. Sollte dieses Ziel zu hochgesteckt<br />

sein, dann hoffe ich <strong>wen</strong>igstens, daß ihm das Buch<br />

einmal als Reiselektüre Vergnügen bereiten wird.<br />

Der dritte Leser in meiner Vorstellung war <strong>de</strong>r Stu<strong>de</strong>nt, <strong>de</strong>r<br />

nicht mehr ganz Laie, aber auch noch kein Experte ist. Wenn<br />

er sich noch nicht für ein Spezialgebiet entschie<strong>de</strong>n hat, so<br />

hoffe ich ihn dazu zu ermutigen, meinem eigenen Fachgebiet,<br />

<strong>de</strong>r Zoologie, einen zweiten Blick zu schenken. Es gibt noch<br />

einen besseren Grund für das Studium <strong>de</strong>r Zoologie als ihre<br />

potentielle „Nützlichkeit“ und die allgemeine Tatsache, daß<br />

Tiere liebenswerte Geschöpfe sind. Dieser Grund ist, daß wir<br />

Lebewesen die kompliziertesten und mit größter Perfektion<br />

konstruierten Maschinen <strong>de</strong>s bekannten Universums sind. So<br />

betrachtet, ist kaum vorstellbar, wie jemand überhaupt etwas<br />

an<strong>de</strong>res studieren kann! Für <strong>de</strong>n Stu<strong>de</strong>nten, <strong>de</strong>r sich bereits<br />

<strong>de</strong>r Zoologie verschrieben hat, besitzt mein Buch, so hoffe<br />

ich, vielleicht einen pädagogischen Wert. Er muß sich durch<br />

das Originalmaterial und die Fachbücher, auf <strong>de</strong>nen meine<br />

Abhandlung aufbaut, hindurcharbeiten. Falls er die Originalquellen<br />

schwer verdaulich fin<strong>de</strong>t, mag meine nichtmathematische<br />

Interpretation – als Einführung und Begleittext – vielleicht<br />

eine Hilfe sein.<br />

Die Gefahren, die sich ergeben, <strong>wen</strong>n man drei verschie<strong>de</strong>ne<br />

Lesertypen gleichzeitig ansprechen will, liegen auf <strong>de</strong>r<br />

Hand. Ich kann nur sagen, daß ich mir dieser Gefahren durchaus<br />

bewußt gewesen bin, daß sie mir jedoch durch die Vorteile


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 18<br />

eines solchen Versuchs aufgewogen schienen. Ich bin Ethologe,<br />

also Verhaltensforscher, und dies ist ein Buch über tierisches<br />

Verhalten. Wie sehr ich <strong>de</strong>r ethologischen Tradition, in <strong>de</strong>r<br />

ich meine Ausbildung erhielt, verpflichtet bin, wird <strong>de</strong>utlich<br />

zu erkennen sein. Insbeson<strong>de</strong>re Niko Tinbergen ist sich nicht<br />

bewußt, in welchem Ausmaß mich die zwölf Jahre beeinflußt<br />

haben, die ich unter seiner Leitung in Oxford arbeitete. Der<br />

Ausdruck „Überlebensmaschine“ könnte, obwohl er tatsächlich<br />

nicht von ihm ist, <strong>de</strong>nnoch gut von ihm stammen. Aber die Verhaltensforschung<br />

ist in jüngster <strong>Zeit</strong> durch eine Flut von I<strong>de</strong>en<br />

aus Quellen belebt wor<strong>de</strong>n, die man herkömmlicherweise nicht<br />

als ethologisch ansieht. Das vorliegen<strong>de</strong> Buch grün<strong>de</strong>t sich<br />

weitgehend auf diese neuen Vorstellungen. Auf ihre Urheber<br />

wird an <strong>de</strong>n entsprechen<strong>de</strong>n Textstellen verwiesen; die wichtigsten<br />

sind G. C. Williams, J. Maynard Smith, W. D. Hamilton<br />

und R. L. Trivers.<br />

Von verschie<strong>de</strong>nen Seiten wur<strong>de</strong>n Titelvorschläge für das<br />

Buch gemacht, die ich dankbar als Kapitelüberschriften ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>t<br />

habe: „Die unsterblichen Spiralen“, John Krebs; „Die<br />

Genmaschine“, Desmond Morris; „Genesmanship“*, Tim Clutton-B<strong>ro</strong>ck<br />

und Jean Dawkins, unabhängig voneinan<strong>de</strong>r und<br />

mit <strong>de</strong>r Bitte um Entschuldigung an Stephen Potter.<br />

Imaginäre Leser mögen als Ziel f<strong>ro</strong>mmer Wünsche und<br />

Hoffnungen ausreichen, sie sind jedoch von geringerem praktischem<br />

Nutzen als reale Leser und Kritiker. Ich habe eine<br />

beson<strong>de</strong>re Vorliebe dafür, Texte immer wie<strong>de</strong>r zu überarbeiten,<br />

und daher sah sich Marian Dawkins zahllosen Entwürfen<br />

und geän<strong>de</strong>rten Fassungen einer je<strong>de</strong>n Seite gegenüber. Ihre<br />

umfangreiche Kenntnis <strong>de</strong>r biologischen Literatur und ihr<br />

Verständnis in <strong>de</strong>n theoretischen Fragen sowie ihre andauern<strong>de</strong><br />

Ermutigung und moralische Unterstützung waren für<br />

mich entschei<strong>de</strong>nd wichtig. Auch John Krebs, <strong>de</strong>r mehr von<br />

* Der Titel ist in dieser <strong>de</strong>utschen Ausgabe mit „Genverwandtschaft“ übersetzt. Er<br />

wird hier in <strong>de</strong>r englischen Fassung genannt, damit die Anspielung auf die Titel von<br />

S. Potter (One-Upmanship, Supermanship) nicht verlorengeht.<br />

Anmerkung <strong>de</strong>r Übersetzerin


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 19<br />

<strong>de</strong>r Materie versteht als ich, las das ganze Buch im Entwurf<br />

und gab mir in g<strong>ro</strong>ßzügiger und freigiebiger Weise Rat und<br />

Anregungen. Glenys Thomson und Walter Bodmer kritisierten<br />

meine Behandlung genetischer Fragen freundlich, aber unbeirrbar.<br />

Ich fürchte, meine korrigierte Fassung wird sie vielleicht<br />

immer noch nicht völlig zufrie<strong>de</strong>nstellen, aber ich hoffe,<br />

sie fin<strong>de</strong>n sie etwas besser. Ich bin ihnen für die <strong>Zeit</strong> und<br />

Geduld, die sie mir gewidmet haben, dankbar. John Dawkins<br />

bewies eine unfehlbare Spürnase für irreführen<strong>de</strong> Ausdrucksweisen<br />

und machte ausgezeichnete konstruktive Vorschläge<br />

für an<strong>de</strong>re Formulierungen. Ich hätte mir keinen geeigneteren<br />

„intelligenten Laien“ wünschen können als Maxwell Stamp.<br />

Seine scharfsinnige Ent<strong>de</strong>ckung eines wichtigen allgemeinen<br />

Stilbruchs im ersten Entwurf trug viel zu <strong>de</strong>r endgültigen<br />

Fassung bei. An<strong>de</strong>re übten konstruktive Kritik an einzelnen<br />

Kapiteln o<strong>de</strong>r gaben sonst ihren fachmännischen Rat, so John<br />

Maynard Smith, Desmond Morris, Tom Maschler, Nick Blurton<br />

Jones, Sarah Kettlewell, Nick Humphrey, Tim Clutton-<br />

B<strong>ro</strong>ck, Louise Johnson, Christopher Graham, Geoff Parker und<br />

Robert Trivers. Pat Searle und Stephanie Verhoeven tippten<br />

nicht nur mit viel Geschick, sie machten mir auch Mut, weil es<br />

ihnen Freu<strong>de</strong> zu bereiten schien. Schließlich möchte ich noch<br />

Michael Rodgers von <strong>de</strong>r Oxford University Press danken,<br />

<strong>de</strong>r nicht nur <strong>de</strong>m Manuskript nützliche Kritik ange<strong>de</strong>ihen<br />

ließ, son<strong>de</strong>rn sich darüber hinaus allen Fragen <strong>de</strong>r Herstellung<br />

dieses Buches weit intensiver widmete, als es die bloße Pflicht<br />

erfor<strong>de</strong>rt hätte.<br />

RICHARD DAWKINS


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 20<br />

1. Warum gibt es Menschen?<br />

Intelligentes Leben auf einem Planeten erreicht einen Zustand<br />

<strong>de</strong>r Reife, <strong>wen</strong>n es zum ersten Mal die Grün<strong>de</strong> für seine Existenz<br />

erkennt. Sollten jemals höher entwickelte Lebewesen<br />

aus <strong>de</strong>m Weltraum die Er<strong>de</strong> besuchen, so wer<strong>de</strong>n sie, um<br />

unsere Zivilisationsstufe einzuschätzen, zuerst die Frage stellen:<br />

„Haben sie die Evolution schon ent<strong>de</strong>ckt?“ Mehr als drei<br />

Milliar<strong>de</strong>n Jahre lang hatten bereits Organismen auf <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong><br />

gelebt, ohne zu wissen warum, bis schließlich einem von ihnen<br />

die Wahrheit aufzugehen begann. Sein Name war Charles<br />

Darwin. Um gerecht zu sein, schon an<strong>de</strong>re hatten die Wahrheit<br />

geahnt, doch es war Darwin, <strong>de</strong>r als erster eine kohärente<br />

und haltbare Darstellung <strong>de</strong>r Grün<strong>de</strong> lieferte, warum wir existieren.<br />

Darwin versetzte uns in die Lage, <strong>de</strong>m neugierigen<br />

Kind, <strong>de</strong>ssen Frage dieses Kapitel einleitet, eine vernünftige<br />

Antwort zu geben. Wir brauchen nicht mehr auf Aberglauben<br />

zurückzugreifen, <strong>wen</strong>n wir uns mit <strong>de</strong>n g<strong>ro</strong>ßen Rätseln konf<strong>ro</strong>ntiert<br />

sehen: Hat das Leben einen Sinn? Wozu sind wir da?<br />

Was ist <strong>de</strong>r Mensch? Der be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong> Zoologe G. G. Simpson<br />

drückte es, nach<strong>de</strong>m er die letzte dieser Fragen gestellt hatte,<br />

folgen<strong>de</strong>rmaßen aus: „Ich möchte behaupten, daß alle Versuche,<br />

diese Frage vor <strong>de</strong>m Jahre 1859 zu beantworten, wertlos<br />

sind und daß es für uns besser ist, sie völlig zu ignorieren.“ 1<br />

Heute kann man die Evolutionstheorie ungefähr ebenso<br />

anzweifeln wie die Lehre, daß sich die Er<strong>de</strong> um die Sonne<br />

dreht, aber die eigentliche Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r Darwinschen Revolution<br />

in ihrem ganzen Ausmaß ist immer noch nicht allgemein<br />

in das Bewußtsein <strong>de</strong>r Menschen gedrungen. Die Zoologie ist<br />

in <strong>de</strong>n Universitäten immer noch ein Nebenfach, und selbst<br />

diejenigen, die sie Studieren, treffen ihre Entscheidung häufig,<br />

ohne sich ihrer inhaltsschweren philosophischen Be<strong>de</strong>utung<br />

gewahr zu wer<strong>de</strong>n. Die Philosophie und die als Geisteswissenschaften<br />

bezeichneten Fächer wer<strong>de</strong>n immer noch so gelehrt,<br />

als habe Darwin niemals gelebt. Dies wird sich ohne Zweifel<br />

mit <strong>de</strong>r <strong>Zeit</strong> än<strong>de</strong>rn. Gleichwie, dieses Buch ist nicht als all-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 21<br />

gemeines Plädoyer zugunsten <strong>de</strong>s Darwinismus gedacht. Statt<br />

<strong>de</strong>ssen wird es die Folgen <strong>de</strong>r Evolutionslehre für ein spezielles<br />

P<strong>ro</strong>blem erforschen. Ich habe mir vorgenommen, die Biologie<br />

von Egoismus und Altruismus zu untersuchen.<br />

Abgesehen von seinem aka<strong>de</strong>mischen Interesse liegt die<br />

Be<strong>de</strong>utung dieses Gegenstands für <strong>de</strong>n Menschen auf <strong>de</strong>r<br />

Hand. Er berührt je<strong>de</strong>n Aspekt unseres sozialen Lebens, unseres<br />

Liebens und Hassens, Kämpfens und Zusammenarbeitens,<br />

Gebens und Nehmens, unserer Habgier und unserer Freigebigkeit.<br />

Das gleiche können auch Lorenz’ Buch Das sogenannte<br />

Böse, Ardreys Der Gesellschaftsvertrag und Eibl-Eibesfeldts<br />

Liebe und Haß für sich in Anspruch nehmen. Die Schwierigkeit<br />

bei diesen Büchern ist nur, daß ihre Autoren ganz und<br />

gar falsch lagen. Sie irrten sich, weil sie nicht richtig verstan<strong>de</strong>n<br />

haben, wie die Evolution funktioniert. Sie gingen von <strong>de</strong>r<br />

irrigen Annahme aus, das Wesentliche bei <strong>de</strong>r Evolution sei<br />

<strong>de</strong>r Vorteil für die Art (o<strong>de</strong>r die Gruppe) und nicht <strong>de</strong>r Vorteil<br />

für das Individuum (o<strong>de</strong>r das Gen). Ungerechtfertigterweise<br />

wur<strong>de</strong> Lorenz von Ashley Montagu als ein „direkter Nachkomme<br />

<strong>de</strong>r ›Natur, Zähne und Klauen blutig<strong>ro</strong>t‹-Denker <strong>de</strong>s<br />

19. Jahrhun<strong>de</strong>rts ...“ kritisiert. So wie ich Lorenz’ Auffassung<br />

von <strong>de</strong>r Evolution verstehe, wäre er sich mit Montagu völlig<br />

darin einig, die Implikationen von Tennysons berühmtem<br />

Ausspruch zurückzuweisen. Im Gegensatz zu bei<strong>de</strong>n meine<br />

ich jedoch, daß „Natur, Zähne und Klauen blutig<strong>ro</strong>t“ unser<br />

mo<strong>de</strong>rnes Verständnis <strong>de</strong>r natürlichen Auslese vortrefflich<br />

zusammenfaßt.<br />

Bevor ich mit meiner eigentlichen Erörterung beginne,<br />

möchte ich kurz erklären, welche Art von Erörterung es ist und<br />

welche nicht. Wenn uns jemand erzählte, ein Mann habe in <strong>de</strong>r<br />

Chicagoer Gangsterwelt ein langes und erfolgreiches Leben<br />

geführt, so wären wir berechtigt, einige Überlegungen darüber<br />

anzustellen, was für eine Sorte Mensch er war. Wir könnten<br />

erwarten, daß er Eigenschaften hätte wie Härte, Reaktionsschnelligkeit<br />

und die Fähigkeit, loyale Freun<strong>de</strong> um sich zu<br />

sammeln. Dies wären zwar keine unfehlbaren Rückschlüsse,<br />

doch man kann sehr wohl einige Aussagen über <strong>de</strong>n Charakter


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 22<br />

eines Menschen machen, <strong>wen</strong>n man etwas über die Bedingungen<br />

weiß, unter <strong>de</strong>nen er überlebt und sich erfolgreich behauptet<br />

hat. Die These dieses Buches ist, daß wir und alle an<strong>de</strong>ren<br />

Tiere Maschinen sind, die durch Gene geschaffen wur<strong>de</strong>n. Wie<br />

erfolgreiche Chicagoer Gangster haben unsere Gene in einer<br />

Welt intensiven Existenzkampfes überlebt – in einigen Fällen<br />

mehrere Millionen Jahre. Auf Grund <strong>de</strong>ssen können wir ihnen<br />

bestimmte Eigenschaften unterstellen. Ich wür<strong>de</strong> argumentieren,<br />

daß eine vorherrschen<strong>de</strong> Eigenschaft, die wir bei einem<br />

erfolgreichen Gen erwarten müssen, ein skrupelloser Egoismus<br />

ist. Dieser Egoismus <strong>de</strong>s Gens wird gewöhnlich egoistisches<br />

Verhalten <strong>de</strong>s Individuums hervorrufen. Es gibt jedoch,<br />

wie wir sehen wer<strong>de</strong>n, beson<strong>de</strong>re Umstän<strong>de</strong>, unter <strong>de</strong>nen ein<br />

Gen seine eigenen egoistischen Ziele am besten dadurch erreichen<br />

kann, daß es einen begrenzten Altruismus auf <strong>de</strong>r Stufe<br />

<strong>de</strong>r Individuen för<strong>de</strong>rt. Die Worte „beson<strong>de</strong>rs“ und „begrenzt“<br />

in diesem Satz sind wichtig. So gern wir auch etwas an<strong>de</strong>res<br />

glauben wollen, universelle Liebe und das Wohlergehen einer<br />

Art als Ganzes sind Begriffe, die evolutionstheoretisch gesehen<br />

einfach keinen Sinn ergeben.<br />

Dies bringt mich zu <strong>de</strong>r ersten Feststellung, die ich darüber<br />

treffen möchte, was dieses Buch nicht ist. Ich trete nicht für<br />

eine Ethik auf <strong>de</strong>r Grundlage <strong>de</strong>r Evolution ein. 2 Ich berichte<br />

lediglich, wie die Dinge sich entwickelt haben. Ich sage nicht,<br />

wie wir Menschen uns in moralischer Hinsicht verhalten sollen.<br />

Ich betone dies angesichts <strong>de</strong>r Gefahr, daß ich von jenen – allzu<br />

zahlreichen – Leuten falsch verstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>, die nicht unterschei<strong>de</strong>n<br />

können zwischen einer Darstellung <strong>de</strong>ssen, was nach<br />

Überzeugung <strong>de</strong>s Sprechen<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r Schreiben<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Fall ist,<br />

und einem Plädoyer für das, was <strong>de</strong>r Fall sein sollte. Ich selbst<br />

bin <strong>de</strong>r Meinung, daß eine menschliche Gesellschaft, die lediglich<br />

auf <strong>de</strong>m Gesetz <strong>de</strong>s universellen, rücksichtslosen Gen-<br />

Egoismus beruhte, eine Gesellschaft wäre, in <strong>de</strong>r es sich sehr<br />

unangenehm lebte. Unglücklicherweise jedoch hört etwas, das<br />

wir beklagen, und sei es auch noch so sehr, <strong>de</strong>shalb nicht auf,<br />

wahr zu sein. Dieses Buch soll vor allem interessant sein. Wenn<br />

<strong>de</strong>r Leser jedoch eine Moral aus ihm ableiten möchte, möge


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 23<br />

er es als Warnung lesen: Wenn er – wie ich – eine Gesellschaft<br />

aufbauen möchte, in <strong>de</strong>r die einzelnen g<strong>ro</strong>ßzügig und selbstlos<br />

zugunsten eines gemeinsamen Wohlergehens zusammenarbeiten,<br />

kann er <strong>wen</strong>ig Hilfe von <strong>de</strong>r biologischen Natur erwarten.<br />

Laßt uns versuchen, G<strong>ro</strong>ßzügigkeit und Selbstlosigkeit zu<br />

lehren, <strong>de</strong>nn wir sind egoistisch geboren. Laßt uns verstehen<br />

lernen, was unsere eigenen egoistischen Gene vorhaben, <strong>de</strong>nn<br />

dann haben wir vielleicht die Chance, ihre Pläne zu durchkreuzen<br />

– etwas, das keine an<strong>de</strong>re Art bisher jemals angestrebt<br />

hat.<br />

Noch einen Zusatz zu dieser Bemerkung über das Lehren<br />

und Lernen: Es ist ein Trugschluß – nebenbei gesagt ein<br />

sehr häufiger – anzunehmen, daß genetisch ererbte Merkmale<br />

per <strong>de</strong>finitionem feststehend und unverän<strong>de</strong>rbar sind. Unsere<br />

Gene mögen uns anweisen, egoistisch zu sein, aber wir sind<br />

nicht unbedingt gezwungen, ihnen unser ganzes Leben lang<br />

zu gehorchen. Es mag uns vielleicht nur schwerer fallen,<br />

Altruismus zu lernen, als es uns fiele, <strong>wen</strong>n wir genetisch<br />

auf altruistisches Verhalten p<strong>ro</strong>grammiert wären. Unter allen<br />

Geschöpfen ist <strong>de</strong>r Mensch in einzigartiger Weise durch die<br />

Kultur beeinflußt, durch Eindrücke, die aufgenommen und<br />

überliefert wer<strong>de</strong>n. Einige wer<strong>de</strong>n sagen, die Kultur ist so<br />

wichtig, daß die Gene – ob nun egoistisch o<strong>de</strong>r nicht – praktisch<br />

für das Verständnis <strong>de</strong>r menschlichen Natur irrelevant<br />

sind. An<strong>de</strong>re wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>m nicht zustimmen. Alles hängt davon<br />

ab, welchen Standpunkt man in <strong>de</strong>r Debatte über „Natur o<strong>de</strong>r<br />

Erziehung“ als bestimmen<strong>de</strong> Faktoren für die menschlichen<br />

Eigenschaften einnimmt. Dies bringt mich zu <strong>de</strong>r zweiten Klarstellung,<br />

was dieses Buch nicht ist: eine Unterstützung <strong>de</strong>r<br />

einen o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Position in <strong>de</strong>r Kont<strong>ro</strong>verse Natur/<br />

Erziehung. Natürlich habe ich eine Meinung über diesen<br />

Punkt, aber ich wer<strong>de</strong> sie nur insofern äußern, als sie in meiner<br />

Kulturauffassung, die ich im letzten Kapitel darstellen wer<strong>de</strong>,<br />

enthalten ist. Sollte sich herausstellen, daß die Gene auf das<br />

Verhalten <strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>rnen Menschen keinerlei Einfluß haben,<br />

sollten wir also in dieser Beziehung wirklich einzigartig unter<br />

<strong>de</strong>n Tieren sein, so ist es zumin<strong>de</strong>st interessant, die Regel zu


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 24<br />

erforschen, von <strong>de</strong>r wir erst seit so kurzer <strong>Zeit</strong> die Ausnahme<br />

darstellen. Sollte sich aber zeigen, daß unsere Art nicht so<br />

außergewöhnlich ist, wie wir dies vielleicht glauben wollen, ist<br />

es um so wichtiger, daß wir uns mit <strong>de</strong>r Regel befassen.<br />

Das dritte, was dieses Buch nicht sein soll, ist eine beschreiben<strong>de</strong><br />

Darstellung <strong>de</strong>s menschlichen Verhaltens in seinen Einzelheiten<br />

o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Verhaltens irgen<strong>de</strong>iner an<strong>de</strong>ren Tierart.<br />

Konkrete Verhaltensweisen wer<strong>de</strong> ich nur als erläutern<strong>de</strong> Beispiele<br />

anführen. Ich wer<strong>de</strong> nicht sagen: „Wenn man das Verhalten<br />

<strong>de</strong>r Paviane betrachtet, wird man feststellen, daß es<br />

egoistisch ist; daher ist es wahrscheinlich, daß <strong>de</strong>r Mensch<br />

sich ebenfalls egoistisch verhält.“ Hinter meinem Beispiel <strong>de</strong>s<br />

Chicagoer Gangsters steckt eine ganz an<strong>de</strong>re Logik, nämlich die<br />

folgen<strong>de</strong>: Menschen und Paviane haben sich durch natürliche<br />

Selektion entwickelt. Aus <strong>de</strong>n Mechanismen <strong>de</strong>r Selektion<br />

scheint bei genauerem Hinsehen zu folgen, daß alles, was sich<br />

durch natürliche Auslese entwickelt hat, egoistisch sein muß.<br />

Deswegen müssen wir, <strong>wen</strong>n wir das Verhalten von Pavianen,<br />

Menschen und an<strong>de</strong>ren Lebewesen untersuchen, damit rechnen,<br />

daß es sich als egoistisch erweist. Wenn wir feststellen,<br />

daß unsere Erwartung falsch war, <strong>wen</strong>n wir im menschlichen<br />

Verhalten echten Altruismus ent<strong>de</strong>cken, dann sind wir auf<br />

etwas Erstaunliches gestoßen, auf etwas, das eine Erklärung<br />

verlangt.<br />

Bevor wir fortfahren, brauchen wir eine Definition. Ein<br />

Organismus, beispielsweise ein Pavian, gilt als altruistisch,<br />

<strong>wen</strong>n er sich so verhält, daß er das Wohlergehen eines an<strong>de</strong>ren,<br />

gleichartigen Organismus auf Kosten seines eigenen Wohlergehens<br />

steigert.<br />

Egoistisches Verhalten hat genau die entgegengesetzte Wirkung.<br />

Wohlergehen ist <strong>de</strong>finiert als Überlebenschancen, selbst<br />

<strong>wen</strong>n <strong>de</strong>r Effekt auf die tatsächlichen Lebens- und To<strong>de</strong>saussichten<br />

so klein ist, daß man ihn scheinbar vernachlässigen kann.<br />

Zu <strong>de</strong>n überraschen<strong>de</strong>n Implikationen <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen Version<br />

<strong>de</strong>r Darwinschen Theorie gehört, daß offensichtlich triviale,<br />

winzige Einwirkungen auf die Überlebenswahrscheinlichkeit<br />

einen g<strong>ro</strong>ßen Einfluß auf die Evolution haben können. Der


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 25<br />

Grund dafür ist die ungeheure <strong>Zeit</strong>, die diese Einflüsse haben,<br />

um sich bemerkbar zu machen.<br />

Es ist wichtig, sich darüber klar zu wer<strong>de</strong>n, daß die oben<br />

gegebenen Definitionen von Altruismus und Egoismus sich am<br />

objektiven Verhalten orientieren und nicht an Intentionen. Ich<br />

beschäftige mich hier nicht mit <strong>de</strong>r Psychologie <strong>de</strong>r Motive.<br />

Ich diskutiere nicht darüber, ob Leute, die sich selbstlos verhalten,<br />

dies „in Wirklichkeit“ aus insgeheim o<strong>de</strong>r unbewußt<br />

selbstsüchtigen Motiven tun. Vielleicht ist es so, vielleicht auch<br />

nicht, und vielleicht wer<strong>de</strong>n wir diese Frage niemals entschei<strong>de</strong>n<br />

können. Je<strong>de</strong>nfalls ist das nicht Gegenstand dieses Buches.<br />

Meine Definition fragt nur nach, ob <strong>de</strong>r Effekt einer Handlung<br />

darin besteht, die Überlebenschancen <strong>de</strong>s mutmaßlichen Altruisten<br />

beziehungsweise <strong>de</strong>s mutmaßlichen Nutznießers zu verringern<br />

o<strong>de</strong>r zu vergrößern.<br />

Es ist sehr schwierig, die Auswirkungen <strong>de</strong>s Verhaltens auf<br />

langfristige Überlebensaussichten zu <strong>de</strong>monstrieren. In <strong>de</strong>r<br />

Praxis müssen wir „Altruismus“ und „Egoismus“, <strong>wen</strong>n wir sie<br />

auf reales Verhalten an<strong>wen</strong><strong>de</strong>n, durch das Wort „anscheinend“<br />

einschränken. Eine anscheinend selbstlose Handlung ist eine<br />

Handlung, die oberflächlich betrachtet so aussieht, als müsse<br />

sie dazu führen, daß <strong>de</strong>r Altruist mit größerer Wahrscheinlichkeit<br />

(so gering <strong>de</strong>r Unterschied auch sein mag) stirbt und <strong>de</strong>r<br />

Nutznießer mit größerer Wahrscheinlichkeit überlebt. Häufig<br />

stellt sich bei genauerem Hinsehen heraus, daß scheinbar<br />

selbstlose Handlungen in Wirklichkeit versteckt selbstsüchtig<br />

sind. Noch einmal: Ich meine nicht, daß die zugrun<strong>de</strong>liegen<strong>de</strong>n<br />

Motive im geheimen eigennützig sind, son<strong>de</strong>rn daß <strong>de</strong>r<br />

tatsächliche Effekt einer Handlung auf die Überlebensaussichten<br />

sich als das Umgekehrte <strong>de</strong>ssen erweisen kann, was<br />

wir ursprünglich gedacht haben.<br />

Ich wer<strong>de</strong> nun einige Beispiele für anscheinend selbstsüchtiges<br />

und anscheinend selbstloses Verhalten anführen. Es<br />

ist schwierig, subjektive Denkgewohnheiten zu unterdrücken,<br />

<strong>wen</strong>n wir es mit unserer eigenen Art zu tun haben, daher habe<br />

ich statt <strong>de</strong>ssen verschie<strong>de</strong>ne Tierarten ausgewählt. Zuerst<br />

einige bunt durcheinan<strong>de</strong>rgewürfelte Beispiele von egoisti-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 26<br />

schem Verhalten einzelner Individuen.<br />

Lachmö<strong>wen</strong> nisten in g<strong>ro</strong>ßen Kolonien, wobei die Nester<br />

nur ein paar Meter voneinan<strong>de</strong>r entfernt sind. Die frisch<br />

ausgeschlüpften Küken sind klein und wehrlos und leicht zu<br />

verschlucken. Es ist keineswegs ungewöhnlich, daß eine Möwe<br />

wartet, bis <strong>de</strong>r Nachwuchs einer Nachbarin unbewacht ist,<br />

vielleicht während diese fort ist zum Fischen, um sich auf eines<br />

<strong>de</strong>r Küken zu stürzen und es ganz hinunterzuschlingen. Sie<br />

erhält dadurch eine gute, nahrhafte Mahlzeit, ohne daß sie sich<br />

die Mühe zu machen braucht, einen Fisch zu fangen, und ohne<br />

ihr eigenes Nest ungeschützt lassen zu müssen.<br />

Besser bekannt ist <strong>de</strong>r makabre Kannibalismus <strong>de</strong>s Fangheuschreckenweibchens.<br />

Die Gottesanbeterinnen sind g<strong>ro</strong>ße<br />

fleischfressen<strong>de</strong> Insekten. Normalerweise fressen sie kleinere<br />

Insekten, etwa Fliegen, aber sie greifen nahezu alles an, was<br />

sich bewegt. Bei <strong>de</strong>r Begattung kriecht das Männchen vorsichtig<br />

an das Weibchen heran, besteigt es und kopuliert. Wenn<br />

das Weibchen eine Gelegenheit dazu bekommt, das Männchen<br />

zu fressen, sei es während <strong>de</strong>r Annäherung, unmittelbar nach<br />

<strong>de</strong>r Begattung o<strong>de</strong>r nach <strong>de</strong>r Trennung, so tut es das, und<br />

es beginnt damit, daß es <strong>de</strong>m Männchen <strong>de</strong>n Kopf abbeißt.<br />

Man könnte meinen, es sei am vernünftigsten, <strong>wen</strong>n das Weibchen<br />

abwartete, bis die Kopulation been<strong>de</strong>t ist, bevor es<br />

das Männchen aufzufressen beginnt. Aber <strong>de</strong>r Verlust <strong>de</strong>s<br />

Kopfes scheint <strong>de</strong>n übrigen Körper <strong>de</strong>s Männchens nicht von<br />

seinem sexuellen Schwung abzubringen. Tatsächlich ist es –<br />

da <strong>de</strong>r Insektenkopf <strong>de</strong>r Sitz einiger inhibitorischer Nervenzentren<br />

ist – sogar möglich, daß das Weibchen die sexuelle<br />

Leistungsfähigkeit <strong>de</strong>s Männchens dadurch verbessert, daß<br />

es <strong>de</strong>ssen Kopf auffrißt. 3 Wenn dies zutrifft, stellt es einen<br />

zusätzlichen Gewinn dar. Der Hauptvorteil ist, daß das Weibchen<br />

eine gute Mahlzeit bekommt.<br />

Das Wort „egoistisch“ mag bei <strong>de</strong>rart extremen Verhaltensweisen<br />

wie Kannibalismus untertrieben erscheinen, aber diese<br />

Fälle stimmen gut mit unserer Definition überein. Vielleicht<br />

können wir das zaghafte Verhalten von Kaiserpinguinen in <strong>de</strong>r<br />

Antarktis besser nachempfin<strong>de</strong>n. Sie stehen am Rand <strong>de</strong>s Was-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 27<br />

sers und zögern hineinzutauchen, weil die Gefahr besteht, von<br />

einer Robbe erwartet und gefressen zu wer<strong>de</strong>n. Wenn einer<br />

von ihnen voranginge, wür<strong>de</strong>n die an<strong>de</strong>ren wissen, ob eine<br />

Robbe da ist. Natürlich will keiner das Versuchskaninchen<br />

sein, und so warten sie und versuchen manchmal sogar, sich<br />

gegenseitig hineinzustoßen.<br />

In <strong>wen</strong>iger ausgefallenen Fällen besteht das egoistische Verhalten<br />

vielleicht einfach in <strong>de</strong>r Weigerung, wertvolle Ressourcen<br />

wie Nahrung, Territorium o<strong>de</strong>r Geschlechtspartner mit<br />

an<strong>de</strong>ren zu teilen. Nun zu einigen Beispielen für anscheinend<br />

selbstloses Verhalten.<br />

Bei <strong>de</strong>n Bienen ist <strong>de</strong>r Stechapparat <strong>de</strong>r Arbeiterinnen<br />

ein sehr wirkungsvoller Schutz gegen Honigräuber. Doch die<br />

Bienen, die das Stechen übernehmen, sind Kamikazeflieger.<br />

Beim Stechvorgang wer<strong>de</strong>n gewöhnlich lebenswichtige Organe<br />

aus <strong>de</strong>m Körper <strong>de</strong>r Biene herausgerissen, und sie stirbt<br />

kurz danach. Ihre Selbstmordmission mag die lebenswichtigen<br />

Nahrungsvorräte <strong>de</strong>r Kolonie gerettet haben, aber sie hat<br />

keinen Anteil an <strong>de</strong>n Vorteilen mehr. Nach unserer Definition<br />

ist dies ein Akt altruistischen Verhaltens. Denken wir daran,<br />

daß wir nicht über bewußte Motive re<strong>de</strong>n. Diese mögen hier<br />

wie auch bei <strong>de</strong>n Beispielen für egoistisches Verhalten eine<br />

Rolle spielen o<strong>de</strong>r nicht – für unsere Definition sind sie nicht<br />

relevant.<br />

Sein Leben für das Leben seiner Freun<strong>de</strong> hinzugeben, ist<br />

offensichtlich altruistisch, aber ebenso selbstlos ist es, ein leichtes<br />

Risiko für sie einzugehen. Viele kleine Vögel geben, sobald<br />

sie einen fliegen<strong>de</strong>n Räuber, beispielsweise einen Falken, ent<strong>de</strong>cken,<br />

einen charakteristischen Alarmruf von sich, worauf<br />

<strong>de</strong>r gesamte Schwarm die Flucht ergreift. Es liegen indirekte<br />

Beweise dafür vor, daß <strong>de</strong>r Vogel, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Alarmruf ausstößt,<br />

sich selbst in beson<strong>de</strong>re Gefahr bringt, da er die Aufmerksamkeit<br />

<strong>de</strong>s Räubers vor allem auf sich lenkt. Dies ist lediglich<br />

ein geringes zusätzliches Risiko, nichts<strong>de</strong>sto<strong>wen</strong>iger scheint es<br />

<strong>de</strong>n Alarmruf, <strong>wen</strong>igstens auf <strong>de</strong>n ersten Blick, als eine unserer<br />

Definition entsprechend altruistische Handlung zu qualifizieren.


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 28<br />

Die häufigsten und auffälligsten Handlungen tierischer<br />

Selbstlosigkeit wer<strong>de</strong>n von Eltern, insbeson<strong>de</strong>re Müttern,<br />

gegenüber ihren Jungen erbracht. Sie brüten <strong>de</strong>n Nachwuchs<br />

aus, entwe<strong>de</strong>r in Nestern o<strong>de</strong>r in ihren eigenen Körpern,<br />

füttern ihn unter enormen Opfern und nehmen g<strong>ro</strong>ße Gefahren<br />

auf sich, um ihn vor Räubern zu schützen. Um nur ein<br />

Beispiel zu nennen: Viele am Bo<strong>de</strong>n nisten<strong>de</strong> Vögel vollführen<br />

ein wirkungsvolles Ablenkungsmanöver, <strong>wen</strong>n sich ein Räuber,<br />

beispielsweise ein Fuchs, nähert. Der Elternvogel hinkt vom<br />

Nest fort, wobei er einen Flügel schleifen läßt, als ob er geb<strong>ro</strong>chen<br />

wäre. Der Räuber, <strong>de</strong>r eine leichte Beute vor sich zu<br />

haben glaubt, wird vom Nest und <strong>de</strong>n Küken fortgelockt.<br />

Schließlich gibt <strong>de</strong>r Altvogel sein Täuschungsmanöver auf<br />

und schwingt sich gera<strong>de</strong> noch rechtzeitig in die Luft, um<br />

<strong>de</strong>n Fängen <strong>de</strong>s Fuchses zu entgehen. Er hat seinen Nestlingen<br />

höchstwahrscheinlich das Leben gerettet, sich dafür aber<br />

selbst einer gewissen Gefahr ausgesetzt.<br />

Ich versuche hier nicht, eine These aufzustellen, in<strong>de</strong>m<br />

ich Geschichten erzähle. Ausgewählte Beispiele sind niemals<br />

ernstzunehmen<strong>de</strong> Beweise für eine lohnenswerte Verallgemeinerung.<br />

Diese Geschichten sollen lediglich erläutern, was ich<br />

mit selbstlosem und selbstsüchtigem Verhalten auf <strong>de</strong>r Ebene<br />

<strong>de</strong>s Individuums meine. Dieses Buch wird zeigen, wie sich<br />

sowohl individueller Egoismus als auch individueller Altruismus<br />

durch das fundamentale Gesetz erklären lassen, das ich<br />

<strong>de</strong>n Gen-Egoismus nenne.<br />

Doch zuvor muß ich mich mit einer beson<strong>de</strong>rs irrigen<br />

Erklärung für altruistisches Verhalten beschäftigen, weil diese<br />

sehr verbreitet ist und selbst in vielen Schulen gelehrt wird.<br />

Diese Erklärung beruht auf <strong>de</strong>m bereits erwähnten<br />

Mißverständnis, daß Lebewesen sich entwickeln, um Dinge<br />

„zum Wohl <strong>de</strong>r Art“ o<strong>de</strong>r „zum Wohl <strong>de</strong>r Gruppe“ zu tun.<br />

Man kann sich leicht vorstellen, welche biologischen Tatsachen<br />

dieser I<strong>de</strong>e zugrun<strong>de</strong> liegen. Ein G<strong>ro</strong>ßteil <strong>de</strong>s Lebens eines<br />

Tieres dient <strong>de</strong>r Fortpflanzung, und die Mehrzahl <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r<br />

Natur beobachteten Handlungen uneigennütziger Selbstaufopferung<br />

wer<strong>de</strong>n von Eltern für ihre Jungen vollbracht. „Den


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 29<br />

Fortbestand <strong>de</strong>r Art sichern“ ist ein üblicher Euphemismus für<br />

die Fortpflanzung und als Konsequenz <strong>de</strong>r Rep<strong>ro</strong>duktion unbezweifelbar.<br />

Man braucht die Logik nur leicht zu über<strong>de</strong>hnen,<br />

um ableiten zu können, daß die „Funktion“ <strong>de</strong>r Fortpflanzung<br />

darin besteht, die Art zu erhalten. Von hier aus ist es nur<br />

ein kleiner falscher Schritt bis zu <strong>de</strong>m Schluß, die Tiere verhielten<br />

sich im allgemeinen so, daß es <strong>de</strong>m Fortbestand <strong>de</strong>r<br />

Art för<strong>de</strong>rlich ist. Selbstlosigkeit gegenüber <strong>de</strong>n Artgenossen<br />

scheint die logische Folge zu sein.<br />

Dieser Gedankengang läßt sich in etwas verschwommenen<br />

Darwinschen Begriffen ausdrücken. Die Evolution wirkt durch<br />

die natürliche Auslese, und natürliche Auslese be<strong>de</strong>utet das<br />

Überleben <strong>de</strong>r „am besten Angepaßten“. Aber sprechen wir<br />

dabei von <strong>de</strong>n geeignetsten Individuen, <strong>de</strong>n geeignetsten<br />

Rassen, Arten o<strong>de</strong>r wovon sonst? Für einige Zwecke macht<br />

dies keinen g<strong>ro</strong>ßen Unterschied, doch <strong>wen</strong>n wir von Altruismus<br />

sprechen, ist es offensichtlich von entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung.<br />

Wenn es die Arten sind, die bei <strong>de</strong>m, was Darwin <strong>de</strong>n<br />

Kampf ums Dasein nannte, miteinan<strong>de</strong>r konkurrieren, dann<br />

sieht man das Individuum wohl am besten als einen Bauern<br />

im Schachspiel an, <strong>de</strong>r geopfert wer<strong>de</strong>n muß, <strong>wen</strong>n es das<br />

übergeordnete Interesse <strong>de</strong>r Art verlangt. Um es etwas konventioneller<br />

auszudrücken: Eine Gruppe, zum Beispiel eine<br />

Art o<strong>de</strong>r eine Population innerhalb einer Art, <strong>de</strong>ren einzelne<br />

Angehörige bereit sind, sich selbst für das Wohlergehen <strong>de</strong>r<br />

Gruppe zu opfern, wird mit geringerer Wahrscheinlichkeit aussterben<br />

als eine rivalisieren<strong>de</strong> Gruppe, <strong>de</strong>ren einzelne Mitglie<strong>de</strong>r<br />

ihren eigenen selbstsüchtigen Interessen <strong>de</strong>n ersten Platz<br />

einräumen. Daher wird die Welt überwiegend von Gruppen<br />

bevölkert sein, die aus sich selbst aufopfern<strong>de</strong>n Individuen<br />

bestehen. Dies ist die Theorie <strong>de</strong>r „Gruppenselektion“, die von<br />

Biologen, welche mit <strong>de</strong>n Einzelheiten <strong>de</strong>r Evolutionstheorie<br />

nicht vertraut waren, lange für richtig gehalten wur<strong>de</strong>. Sie<br />

kam in einem berühmten Buch von V. C. Wynne-Edwards<br />

zum ersten Mal an die Öffentlichkeit und wur<strong>de</strong> durch Robert<br />

Ardreys Buch Der Gesellschaftsvertrag populär. Die orthodoxe<br />

Alternative dazu bezeichnet man gewöhnlich als „Individuals-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 30<br />

elektion“, obwohl ich persönlich lieber von Genselektion spreche.<br />

Die Antwort <strong>de</strong>s Verfechters <strong>de</strong>r „Individualselektion“ auf das<br />

gera<strong>de</strong> vorgebrachte Argument wür<strong>de</strong> kurz zusammengefaßt<br />

etwa folgen<strong>de</strong>rmaßen lauten: Selbst in <strong>de</strong>r Gruppe <strong>de</strong>r Altruisten<br />

wird es fast mit Sicherheit eine an<strong>de</strong>rs<strong>de</strong>nken<strong>de</strong> Min<strong>de</strong>rheit<br />

geben, die sich weigert, irgen<strong>de</strong>in Opfer zu bringen.<br />

Wenn es nur einen einzigen eigennützigen Rebellen gibt, <strong>de</strong>r<br />

entschlossen ist, <strong>de</strong>n Altruismus <strong>de</strong>r übrigen auszunutzen, so<br />

wird er per <strong>de</strong>finitionem mit größerer Wahrscheinlichkeit als<br />

sie überleben und Nachkommen haben. Seine Kin<strong>de</strong>r wer<strong>de</strong>n<br />

seine selbstsüchtigen Merkmale mit einiger Wahrscheinlichkeit<br />

erben. Nach mehreren Generationen dieser natürlichen<br />

Auslese wird die „altruistische Gruppe“ von egoistischen Individuen<br />

wimmeln und von einer egoistischen Gruppe nicht zu<br />

unterschei<strong>de</strong>n sein. Selbst <strong>wen</strong>n wir die unwahrscheinliche<br />

Möglichkeit ins Auge fassen, daß ursprünglich zufällig rein<br />

uneigennützige Gruppen ohne irgendwelche Rebellen bestan<strong>de</strong>n,<br />

so ist schwer einzusehen, was egoistische Individuen aus<br />

benachbarten egoistischen Gruppen daran hin<strong>de</strong>rn sollte, einzuwan<strong>de</strong>rn<br />

und <strong>de</strong>r Reinheit <strong>de</strong>r altruistischen Gruppen durch<br />

Einheirat ein En<strong>de</strong> zu setzen.<br />

Der Verfechter <strong>de</strong>r Individualselektion wür<strong>de</strong> zugeben, daß<br />

Gruppen aussterben und daß die Frage, ob eine Gruppe ausstirbt<br />

o<strong>de</strong>r nicht, vom Verhalten <strong>de</strong>r einzelnen Angehörigen<br />

dieser Gruppe beeinflußt wer<strong>de</strong>n kann. Er mag sogar zugeben,<br />

daß die Individuen einer Gruppe – <strong>wen</strong>n sie nur die Gabe<br />

<strong>de</strong>r Voraussicht besäßen – sehen könnten, daß sie langfristig<br />

gesehen ihrem Eigeninteresse am besten dienen, <strong>wen</strong>n sie ihre<br />

egoistische Gier zurückhalten, um die Zerstörung <strong>de</strong>r gesamten<br />

Gruppe zu verhin<strong>de</strong>rn. Wie viele Male mag dies in <strong>de</strong>n letzten<br />

Jahren <strong>de</strong>r britischen Arbeiterbevölkerung gesagt wor<strong>de</strong>n<br />

sein? Aber das Aussterben von Gruppen ist ein langsamer<br />

P<strong>ro</strong>zeß, verglichen mit <strong>de</strong>m raschen Hieb- und Stichwechsel<br />

<strong>de</strong>s individuellen Konkurrenzkampfes. Selbst <strong>wen</strong>n es mit<br />

<strong>de</strong>r Gruppe bereits langsam und unausweichlich bergab geht,<br />

ge<strong>de</strong>ihen egoistische Individuen kurzfristig auf Kosten von


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 31<br />

Altruisten. Die britischen Bürger mögen mit p<strong>ro</strong>phetischen<br />

Gaben gesegnet sein o<strong>de</strong>r nicht, die Evolution ist blind<br />

gegenüber <strong>de</strong>r Zukunft.<br />

Obwohl die Theorie <strong>de</strong>r Gruppenselektion heutzutage in <strong>de</strong>n<br />

Reihen jener Fachbiologen, die die Evolution verstehen, <strong>wen</strong>ig<br />

Unterstützung fin<strong>de</strong>t, hat sie tatsächlich eine g<strong>ro</strong>ße intuitive<br />

Anziehungskraft. Je<strong>de</strong> Generation englischer Zoologiestu<strong>de</strong>nten<br />

ist aufs neue erstaunt, <strong>wen</strong>n sie von <strong>de</strong>r Schule an die<br />

Universität kommt und feststellt, daß dies nicht die orthodoxe<br />

Auffassung ist. Dafür kann man sie kaum verantwortlich<br />

machen, <strong>de</strong>nn im Nuffield Biology Teachers’ Gui<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r für<br />

die Biologielehrer an <strong>de</strong>n höheren Schulen Englands geschrieben<br />

wor<strong>de</strong>n ist, fin<strong>de</strong>n wir <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Satz: „Bei höheren<br />

Tieren kann das Verhalten die Form <strong>de</strong>s Selbstmor<strong>de</strong>s einzelner<br />

Individuen annehmen, um <strong>de</strong>n Fortbestand <strong>de</strong>r Art<br />

sicherzustellen.“ Der anonyme Autor dieses Leitfa<strong>de</strong>ns schrieb<br />

dies in rühren<strong>de</strong>r Unkenntnis <strong>de</strong>r Tatsache, damit etwas Strittiges<br />

auszusagen. In dieser Beziehung stimmt er mit einem<br />

Nobelpreisträger überein. Konrad Lorenz spricht in seinem<br />

Buch Das sogenannte Böse von <strong>de</strong>n „arterhalten<strong>de</strong>n“ Funktionen<br />

aggressiven Verhaltens, wobei eine dieser Funktionen<br />

darin liegt, dafür zu sorgen, daß sich nur die geeignetsten<br />

Individuen fortpflanzen können. Dies ist ein Musterbeispiel<br />

für einen Zirkelschluß, doch ich will hier auf etwas an<strong>de</strong>res<br />

hinaus: Die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r Gruppenselektion ist so tief verwurzelt,<br />

daß offenbar we<strong>de</strong>r Lorenz noch <strong>de</strong>r Autor <strong>de</strong>s Nuffield Gui<strong>de</strong><br />

sich bewußt waren, daß ihre Feststellungen zu <strong>de</strong>r orthodoxen<br />

Darwinschen Theorie im Wi<strong>de</strong>rspruch stehen.<br />

Vor kurzem hörte ich ein weiteres köstliches Beispiel für<br />

diese Denkweise in einer ansonsten hervorragen<strong>de</strong>n Fernsehsendung<br />

<strong>de</strong>r BBC über australische Spinnen. Eine „Expertin“<br />

berichtete, daß die g<strong>ro</strong>ße Mehrheit <strong>de</strong>r jungen Spinnen als<br />

Beute an<strong>de</strong>rer Arten en<strong>de</strong>t, und sagte dann weiter: „Vielleicht<br />

ist dies <strong>de</strong>r wirkliche Sinn ihres Daseins, da für <strong>de</strong>n Fortbestand<br />

<strong>de</strong>r Art nur <strong>wen</strong>ige zu überleben brauchen!“<br />

Robert Ardrey benutzte in seinem Werk Der Gesellschaftsvertrag<br />

die Theorie <strong>de</strong>r Gruppenselektion dazu, die gesamte


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 32<br />

soziale Ordnung im allgemeinen zu erklären. Er sieht <strong>de</strong>n Menschen<br />

ein<strong>de</strong>utig als eine Art an, die vom Pfad <strong>de</strong>r tierischen<br />

Tugend abgewichen ist. Doch Ardrey hat zumin<strong>de</strong>st seine<br />

Hausaufgaben gemacht. Seine Entscheidung, sich in Wi<strong>de</strong>rspruch<br />

zu <strong>de</strong>r orthodoxen Theorie zu setzen, war bewußt, und<br />

dafür verdient er Anerkennung.<br />

Vielleicht hat die Theorie <strong>de</strong>r Gruppenselektion unter an<strong>de</strong>rem<br />

<strong>de</strong>shalb eine so g<strong>ro</strong>ße Anziehungskraft, weil sie völlig<br />

im Einklang mit <strong>de</strong>n moralischen und politischen I<strong>de</strong>alen<br />

steht, die die meisten von uns teilen. Wir mögen uns als einzelne<br />

häufig egoistisch verhalten, in unseren i<strong>de</strong>alistischeren<br />

Augenblicken aber ehren und bewun<strong>de</strong>rn wir diejenigen, die<br />

<strong>de</strong>m Wohlergehen <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren vor ihrem eigenen <strong>de</strong>n Vorzug<br />

geben. Allerdings ist uns nicht immer ganz klar, wie weit wir<br />

das Wort „an<strong>de</strong>ren“ auslegen sollen. Häufig geht Altruismus<br />

innerhalb einer Gruppe Hand in Hand mit Egoismus zwischen<br />

<strong>de</strong>n Gruppen. Dies ist eine <strong>de</strong>r Grundlagen <strong>de</strong>r gewerkschaftlichen<br />

Organisation. Auf einer an<strong>de</strong>ren Ebene ist die Nation<br />

ein wichtiger Nutznießer unserer altruistischen Selbstaufopferung,<br />

und von jungen Männern erwartet man, daß sie als Individuen<br />

ihr Leben lassen für <strong>de</strong>n größeren Ruhm ihres Lan<strong>de</strong>s.<br />

Darüber hinaus wer<strong>de</strong>n sie ermutigt, an<strong>de</strong>re Individuen zu<br />

töten, von <strong>de</strong>nen sie nichts weiter wissen, als daß sie einer<br />

an<strong>de</strong>ren Nation angehören. (Seltsamerweise scheinen in Frie<strong>de</strong>nszeiten<br />

Appelle an die Bereitschaft <strong>de</strong>s einzelnen, einige<br />

kleine Opfer hinsichtlich <strong>de</strong>r Geschwindigkeit zu erbringen,<br />

mit <strong>de</strong>r er seinen Lebensstandard erhöht, <strong>wen</strong>iger wirksam zu<br />

sein als in Kriegszeiten Appelle, sein Leben zu opfern.)<br />

In <strong>de</strong>n letzten Jahren hat sich eine Bewegung gegen Rassismus<br />

und Patriotismus erhoben, und es besteht eine Ten<strong>de</strong>nz,<br />

die gesamte menschliche Art zum Objekt unserer brü<strong>de</strong>rlichen<br />

Gefühle zu machen. Diese humane Erweiterung <strong>de</strong>r Zielscheibe<br />

unserer Uneigennützigkeit hat eine interessante Nebenerscheinung<br />

hervorgebracht, die wie<strong>de</strong>rum die Auffassung vom<br />

„Wohle <strong>de</strong>r Art“ in <strong>de</strong>r Evolution zu untermauern scheint. Politisch<br />

liberale Personen, gewöhnlich die überzeugtesten Verfechter<br />

<strong>de</strong>r Artenethik, zeigen jetzt häufig die größte Verach-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 33<br />

tung für jene, die etwas weiter gegangen sind und ihre Selbstlosigkeit<br />

so weit aus<strong>de</strong>hnen, daß sie auch an<strong>de</strong>re Arten mit einbezieht.<br />

Wenn ich sage, daß ich mehr daran interessiert bin, das<br />

Abschlachten <strong>de</strong>r g<strong>ro</strong>ßen Wale zu verhin<strong>de</strong>rn, als daran, daß<br />

die Wohnbedingungen <strong>de</strong>r Menschen verbessert wer<strong>de</strong>n, so<br />

schockiere ich damit wahrscheinlich einige meiner Freun<strong>de</strong>.<br />

Das Gefühl, daß die Angehörigen <strong>de</strong>r eigenen Art im Vergleich<br />

zu <strong>de</strong>n Angehörigen an<strong>de</strong>rer Arten beson<strong>de</strong>re moralische<br />

Beachtung verdienen, ist alt und tief in uns verwurzelt.<br />

Das Töten von Menschen außerhalb <strong>de</strong>s Krieges wird unter<br />

allen gewöhnlich begangenen Verbrechen für das schwerwiegendste<br />

angesehen. Das einzige, was unsere Kultur noch strenger<br />

verbietet, ist das Essen von Menschen (selbst <strong>wen</strong>n sie<br />

bereits tot sind). An<strong>de</strong>rerseits genießen wir es, Angehörige<br />

an<strong>de</strong>rer Arten zu verzehren. Viele von uns schrecken vor<br />

<strong>de</strong>r Vollstreckung <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>surteils an Menschen zurück,<br />

selbst <strong>wen</strong>n sie die schrecklichsten Verbrechen begangen<br />

haben, während wir das Töten relativ ungefährlicher tierischer<br />

Schädlinge ohne Gerichtsverfahren gedankenlos verteidigen.<br />

In <strong>de</strong>r Tat erlegen wir Angehörige an<strong>de</strong>rer harmloser<br />

Arten lediglich zu unserer Entspannung und zu unserem<br />

Vergnügen. Ein menschlicher Fötus, mit nicht mehr menschlichen<br />

Gefühlen als eine Amöbe, erfreut sich einer Achtung und<br />

eines gesetzlichen Schutzes, die weit über das hinausgehen,<br />

was einem ausgewachsenen Schimpansen zugestan<strong>de</strong>n wird.<br />

Doch <strong>de</strong>r Schimpanse fühlt und <strong>de</strong>nkt und ist – <strong>de</strong>n Ergebnissen<br />

jüngster Forschungen zufolge – möglicherweise sogar<br />

in <strong>de</strong>r Lage, eine Art menschlicher Sprache zu erlernen. Der<br />

Fötus gehört unserer eigenen Art an und bekommt daher<br />

sofort beson<strong>de</strong>re Privilegien und Rechte zuerkannt. Ob sich<br />

die Ethik <strong>de</strong>s „Speziesismus“, um Richard Ry<strong>de</strong>rs Ausdruck zu<br />

benutzen, auf eine soli<strong>de</strong>re logische Basis stellen läßt als die<br />

<strong>de</strong>s Rassismus, weiß ich nicht. Was ich aber sicher weiß, ist,<br />

daß sie in <strong>de</strong>r Evolutionsbiologie eigentlich keine Basis hat.<br />

Die Verwirrung in <strong>de</strong>r menschlichen Ethik über die Frage,<br />

auf welcher Ebene <strong>de</strong>r Altruismus wünschenswert ist – Familie,<br />

Nation, Rasse, Art o<strong>de</strong>r alle Lebewesen –, spiegelt sich in


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 34<br />

einer entsprechen<strong>de</strong>n Verwirrung in <strong>de</strong>r Biologie wi<strong>de</strong>r hinsichtlich<br />

<strong>de</strong>r Ebene, auf <strong>de</strong>r nach <strong>de</strong>r Evolutionstheorie Altruismus<br />

zu erwarten ist. Selbst <strong>de</strong>r Vertreter <strong>de</strong>r Gruppenselektion<br />

wäre nicht erstaunt, <strong>wen</strong>n er feststellte, daß die Angehörigen<br />

rivalisieren<strong>de</strong>r Gruppen sich gegeneinan<strong>de</strong>r nie<strong>de</strong>rträchtig<br />

verhalten: Auf diese Weise begünstigen sie – wie Gewerkschaftler<br />

o<strong>de</strong>r Soldaten – ihre eigene Gruppe in <strong>de</strong>r Auseinan<strong>de</strong>rsetzung<br />

um begrenzte Ressourcen. Doch dann lohnt es sich<br />

zu fragen, wie <strong>de</strong>r Verfechter <strong>de</strong>r Gruppenselektion entschei<strong>de</strong>t,<br />

welche Ebene ausschlaggebend ist. Wenn die Selektion<br />

zwischen <strong>de</strong>n Gruppen innerhalb einer Art sowie zwischen<br />

<strong>de</strong>n Arten erfolgt, warum sollte es sie nicht auch zwischen<br />

größeren Gruppierungen geben? Arten wer<strong>de</strong>n zu Gattungen<br />

zusammengefaßt, Gattungen zu Ordnungen und Ordnungen<br />

zu Klassen. Lö<strong>wen</strong> und Antilopen gehören bei<strong>de</strong> – wie wir auch<br />

– <strong>de</strong>r Klasse <strong>de</strong>r Säugetiere an. Sollten wir dann nicht erwarten,<br />

daß Lö<strong>wen</strong> „zum Wohl <strong>de</strong>r Säugetiere“ darauf verzichten,<br />

Antilopen zu töten? Sicherlich sollten sie statt <strong>de</strong>ssen lieber<br />

Vögel o<strong>de</strong>r Reptilien jagen, um das Aussterben <strong>de</strong>r Klasse<br />

zu verhin<strong>de</strong>rn. Doch was wird dann aus <strong>de</strong>r Not<strong>wen</strong>digkeit,<br />

<strong>de</strong>n Fortbestand <strong>de</strong>s gesamten Stammes <strong>de</strong>r Wirbeltiere zu<br />

sichern?<br />

Nun ist es natürlich schön und gut, <strong>wen</strong>n ich mit dieser<br />

Erörterung die Gruppenselektion ad absurdum führe und damit<br />

auf ihre schwachen Punkte aufmerksam mache; die augenscheinliche<br />

Existenz individueller Uneigennützigkeit bleibt<br />

<strong>de</strong>shalb jedoch immer noch zu erklären. Ardrey geht soweit zu<br />

behaupten, Gruppenselektion sei die einzig mögliche Erklärung<br />

für Verhaltensweisen wie beispielsweise die „Prellsprünge“ <strong>de</strong>r<br />

Thomsongazellen. Diese kraftvollen und auffälligen Sprünge<br />

vor <strong>de</strong>n Augen eines Räubers entsprechen <strong>de</strong>n Alarmrufen <strong>de</strong>r<br />

Vögel, da sie die Gefährten vor <strong>de</strong>r Gefahr zu warnen scheinen<br />

und dabei offensichtlich die Aufmerksamkeit <strong>de</strong>s Räubers auf<br />

das springen<strong>de</strong> Tier selbst lenken. Wir müssen eine Erklärung<br />

für das Prellen <strong>de</strong>r Thomsongazellen und ähnliche Phänomene<br />

liefern; ich wer<strong>de</strong> mich damit in späteren Kapiteln auseinan<strong>de</strong>rsetzen.


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 35<br />

Zuvor muß ich für meine Überzeugung eintreten, daß man<br />

die Evolution am besten anhand <strong>de</strong>r Selektion betrachtet, die<br />

auf <strong>de</strong>r allerniedrigsten Stufe auftritt. In dieser Überzeugung<br />

bin ich stark von G. C. Williams’ g<strong>ro</strong>ßartigem Buch Adaptation<br />

and Natural Selection beeinflußt. Den zentralen Gedanken,<br />

auf <strong>de</strong>n ich mich stützen wer<strong>de</strong>, hat A. Weismann schon zu<br />

Beginn <strong>de</strong>s Jahrhun<strong>de</strong>rts, das heißt zu einer <strong>Zeit</strong>, als das Gen<br />

noch nicht ent<strong>de</strong>ckt war, mit seiner Lehre von <strong>de</strong>r „Kontinuität<br />

<strong>de</strong>s Keimplasmas“ vorweggenommen. Ich wer<strong>de</strong> zeigen, daß<br />

die fundamentale Einheit für die Selektion und damit für das<br />

Eigeninteresse nicht die Art, nicht die Gruppe und – streng<br />

genommen – nicht einmal das Individuum ist. Es ist das Gen,<br />

die Erbeinheit. 4 Einigen Biologen mag dies zunächst extrem<br />

erscheinen. Sobald sie aber sehen, in welchem Sinne ich dies<br />

meine, wer<strong>de</strong>n sie, wie ich hoffe, zugeben, daß meine Auffassung<br />

im wesentlichen <strong>de</strong>r anerkannten Lehrmeinung entspricht<br />

– <strong>wen</strong>n ich sie auch auf etwas ungewohnte Weise<br />

ausdrücke. Es braucht einige <strong>Zeit</strong>, <strong>de</strong>n Gedankengang zu entwickeln,<br />

und wir müssen am Anfang beginnen, unmittelbar<br />

mit <strong>de</strong>m Ursprung <strong>de</strong>s Lebens selbst.


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 36<br />

2. Die Replikatoren<br />

Am Anfang war Einfachheit. Es ist schwierig genug zu erklären,<br />

wie ein auch nur einfaches Universum begann. Ich glaube,<br />

wir sind uns darin einig, daß es noch schwieriger wäre, das<br />

plötzliche Entstehen einer vollständig entwickelten komplexen<br />

Ordnung zu erklären – <strong>de</strong>s Lebens o<strong>de</strong>r eines Wesens, das in<br />

<strong>de</strong>r Lage ist, Leben zu schaffen. Die Darwinsche Lehre von<br />

<strong>de</strong>r Evolution durch natürliche Auslese ist überzeugend, weil<br />

sie uns einen Weg zeigt, wie aus <strong>de</strong>r Einfachheit Komplexität<br />

wer<strong>de</strong>n konnte, wie sich ungeordnete Atome zu immer komplexeren<br />

Strukturen gruppieren konnten, bis aus ihnen schließlich<br />

Menschen entstan<strong>de</strong>n. Darwin hat die bisher einzig gangbare<br />

Lösung für das unergründliche P<strong>ro</strong>blem unserer Existenz<br />

geliefert. Ich will versuchen, seine g<strong>ro</strong>ßartige Theorie auf eine<br />

allgemeinere Art und Weise als üblich zu erklären, und ich<br />

beginne mit <strong>de</strong>r <strong>Zeit</strong>, bevor die Evolution selbst ihren Anfang<br />

nahm.<br />

Darwins „Überleben <strong>de</strong>r Bestangepaßten“ ist in Wirklichkeit<br />

ein Son<strong>de</strong>rfall <strong>de</strong>s allgemeineren Gesetzes vom Fortbestand <strong>de</strong>s<br />

Stabilen. Das Universum ist voll von stabilen Gebil<strong>de</strong>n. Ein stabiles<br />

Gebil<strong>de</strong> ist eine Ansammlung von Atomen, die beständig<br />

o<strong>de</strong>r verbreitet genug ist, um einen Namen zu verdienen. Es<br />

kann eine einzigartige Ansammlung von Atomen sein wie beispielsweise<br />

das Matterhorn, das lange genug besteht, so daß<br />

es sich lohnt, ihm einen Namen zu geben. O<strong>de</strong>r es kann eine<br />

Klasse von Gebil<strong>de</strong>n sein, beispielsweise Regent<strong>ro</strong>pfen, die in<br />

ausreichend g<strong>ro</strong>ßer Menge entstehen, um einen Sammelnamen<br />

zu verdienen, selbst <strong>wen</strong>n je<strong>de</strong>r einzelne Regent<strong>ro</strong>pfen<br />

nur kurze <strong>Zeit</strong> existiert. Alle Dinge, die wir um uns herum<br />

sehen und die unserer Meinung nach eine Erklärung verlangen<br />

– Felsen, Galaxien, Meereswellen –, sind mehr o<strong>de</strong>r<br />

<strong>wen</strong>iger stabile Anordnungen von Atomen. Seifenblasen sind<br />

gewöhnlich rund, weil dies eine stabile Gestalt für dünne<br />

gasgefüllte Filme ist. In einem Raumschiff ist Wasser ebenfalls<br />

in kugelförmiger Gestalt stabil, doch auf <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>, unter <strong>de</strong>m


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 37<br />

Einfluß <strong>de</strong>r Schwerkraft, ist die stabile Oberfläche für stehen<strong>de</strong>s<br />

Wasser flach und horizontal. Salzkristalle zeigen eine Ten<strong>de</strong>nz<br />

zu würfelförmiger Gestalt, <strong>de</strong>nn dies ist eine Form, in<br />

<strong>de</strong>r Natrium- und Chloridionen stabil zusammengepackt sein<br />

können. Im Innern <strong>de</strong>r Sonne verschmelzen die einfachsten<br />

aller Atome, die Wasserstoffatome, miteinan<strong>de</strong>r und bil<strong>de</strong>n<br />

Helium, weil unter <strong>de</strong>n dort herrschen<strong>de</strong>n Bedingungen die<br />

Heliumstruktur stabiler ist. An<strong>de</strong>re, sogar noch komplexere<br />

Atome wer<strong>de</strong>n in Sternen überall im Universum gebil<strong>de</strong>t, und<br />

sie entstan<strong>de</strong>n beim „Urknall“, <strong>de</strong>r nach <strong>de</strong>r vorherrschen<strong>de</strong>n<br />

Theorie <strong>de</strong>n Anfang <strong>de</strong>s Universums bil<strong>de</strong>te. Auch die Elemente<br />

unserer Er<strong>de</strong> haben darin letztlich ihren Ursprung.<br />

Wenn Atome zusammentreffen, verbin<strong>de</strong>n sie sich gelegentlich<br />

in einer chemischen Reaktion miteinan<strong>de</strong>r und bil<strong>de</strong>n<br />

Moleküle, die mehr o<strong>de</strong>r <strong>wen</strong>iger stabil sein können. Solche<br />

Moleküle können sehr g<strong>ro</strong>ß sein. Ein Kristall wie beispielsweise<br />

ein Diamant kann als ein einziges Molekül betrachtet wer<strong>de</strong>n,<br />

ein sprichwörtlich stabiles in diesem Fall, aber auch ein sehr<br />

einfaches, da sich seine innere Atomstruktur endlos wie<strong>de</strong>rholt.<br />

In <strong>de</strong>n heute leben<strong>de</strong>n Organismen gibt es an<strong>de</strong>re g<strong>ro</strong>ße<br />

Moleküle, die äußerst komplex sind und <strong>de</strong>ren Komplexität<br />

sich auf verschie<strong>de</strong>nen Ebenen zeigt. Das Hämoglobin unseres<br />

Blutes ist ein typisches P<strong>ro</strong>teinmolekül. Es ist aus aneinan<strong>de</strong>rgereihten<br />

kleineren Molekülen, <strong>de</strong>n Aminosäuren, aufgebaut,<br />

von <strong>de</strong>nen je<strong>de</strong> circa zwei Dutzend in einem bestimmten<br />

Muster angeordnete Atome enthält. Das Hämoglobinmolekül<br />

besteht aus 574 Aminosäuremolekülen. Diese sind in vier<br />

Ketten angeordnet, welche sich umeinan<strong>de</strong>r schlingen und<br />

eine kugelförmige dreidimensionale Struktur von verwirren<strong>de</strong>r<br />

Komplexität bil<strong>de</strong>n. Das Mo<strong>de</strong>ll eines Hämoglobinmoleküls<br />

sieht etwa wie ein dichter Dornbusch aus. Aber im Gegensatz<br />

zu einem wirklichen Dornbusch ist es nicht ein zufälliges,<br />

ungefähres Muster, son<strong>de</strong>rn eine bestimmte, unwan<strong>de</strong>lbare<br />

Struktur, die sich in i<strong>de</strong>ntischer Gestalt mehr als sechstausend<br />

Trillionen Mal in einem menschlichen Körper wie<strong>de</strong>rholt,<br />

wobei sich kein einziges Ästchen und keine einzige Biegung<br />

am falschen Platz befin<strong>de</strong>t. Die exakte Dornbuschgestalt


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 38<br />

eines Eiweißmoleküls wie <strong>de</strong>s Hämoglobins ist stabil in <strong>de</strong>m<br />

Sinne, daß zwei aus <strong>de</strong>nselben Aminosäuresequenzen bestehen<strong>de</strong><br />

Ketten dazu tendieren wer<strong>de</strong>n, wie zwei Sprungfe<strong>de</strong>rn<br />

in genau <strong>de</strong>rselben dreidimensionalen Spiralstruktur zur Ruhe<br />

zu kommen. Hämoglobin-Dornbüsche springen in unserem<br />

Körper mit einer Geschwindigkeit von 400 Billionen p<strong>ro</strong><br />

Sekun<strong>de</strong> in ihre „bevorzugte“ Gestalt, und an<strong>de</strong>re wer<strong>de</strong>n mit<br />

<strong>de</strong>r gleichen Geschwindigkeit zerstört.<br />

Das Hämoglobin ist ein mo<strong>de</strong>rnes Molekül, von mir benutzt<br />

zur Erläuterung <strong>de</strong>s Prinzips, daß Atome dazu tendieren, stabile<br />

Strukturen zu bil<strong>de</strong>n. Der entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Punkt dabei<br />

ist, daß bereits vor <strong>de</strong>r Entstehung <strong>de</strong>s Lebens auf <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong><br />

eine gewisse rudimentäre Evolution von Molekülen durch<br />

gewöhnliche physikalische und chemische P<strong>ro</strong>zesse stattgefun<strong>de</strong>n<br />

haben könnte. Es besteht keinerlei Not<strong>wen</strong>digkeit, sich<br />

dabei einen Plan, eine Absicht o<strong>de</strong>r ein Gerichtetsein vorzustellen.<br />

Wenn eine Gruppe von Atomen unter Einwirkung von<br />

Energie eine stabile Struktur ausbil<strong>de</strong>t, bleibt diese gewöhnlich<br />

stabil. Die früheste Form <strong>de</strong>r natürlichen Auslese war einfach<br />

eine Selektion stabiler und ein Verwerfen instabiler Formen.<br />

Daran ist nichts Geheimnisvolles. Es mußte per <strong>de</strong>finitionem<br />

geschehen.<br />

Daraus folgt natürlich nicht, daß man die Existenz so komplexer<br />

Gebil<strong>de</strong>, wie <strong>de</strong>r Mensch eines ist, allein mit diesen Prinzipien<br />

erklären kann. Der Versuch, die richtige Zahl von Atomen<br />

unter Zugabe von etwas Energie durcheinan<strong>de</strong>rzuschütteln,<br />

bis sie zufällig die richtige Struktur einnehmen und Adam<br />

dabei herauskommt, hätte <strong>wen</strong>ig Sinn. Man kann auf diese<br />

Weise vielleicht ein Molekül herstellen, das aus ein paar Dutzend<br />

Atomen besteht, aber ein Mensch besteht aus über tausend<br />

Quadrillionen Atomen. Wollten wir versuchen, einen Menschen<br />

zu machen, so müßten wir unseren biochemischen Cocktailbecher<br />

so lange schütteln, daß uns das gesamte Alter <strong>de</strong>s<br />

Universums <strong>de</strong>mgegenüber nur wie ein Augenblick erschiene,<br />

und selbst dann wür<strong>de</strong> es uns nicht gelingen. An diesem Punkt<br />

kommt uns Darwins Theorie in ihrer allgemeinsten Form zu<br />

Hilfe. Sie führt dort weiter, wo die Geschichte <strong>de</strong>r langsamen


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 39<br />

Konstruktion <strong>de</strong>r Moleküle en<strong>de</strong>t. Die Darstellung, die ich vom<br />

Ursprung <strong>de</strong>s Lebens geben wer<strong>de</strong>, ist zwangsläufig spekulativ;<br />

<strong>de</strong>finitionsgemäß war niemand in <strong>de</strong>r Nähe, <strong>de</strong>r hätte<br />

sehen können, was geschah. Es gibt eine Reihe rivalisieren<strong>de</strong>r<br />

Theorien, doch haben sie alle bestimmte Züge gemein. Meine<br />

vereinfachte Darstellung ist wahrscheinlich nicht allzuweit von<br />

<strong>de</strong>r Wahrheit entfernt. 1<br />

Wir wissen nicht, welche chemischen Rohstoffe vor <strong>de</strong>r Entstehung<br />

<strong>de</strong>s Lebens auf <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> vorherrschten, zu <strong>de</strong>n plausiblen<br />

Möglichkeiten gehören jedoch Wasser, Kohlendioxid,<br />

Methan und Ammoniak: alles einfache Verbindungen, von<br />

<strong>de</strong>nen man weiß, daß sie auf zumin<strong>de</strong>st einigen <strong>de</strong>r übrigen Planeten<br />

in unserem Sonnensystem vorhan<strong>de</strong>n sind. Die Chemiker<br />

haben versucht, die chemischen Bedingungen <strong>de</strong>r jungen<br />

Er<strong>de</strong> zu imitieren. Sie haben diese einfachen Substanzen in<br />

ein Reaktionsgefäß gegeben und eine Energiequelle, beispielsweise<br />

ultraviolettes Licht o<strong>de</strong>r elektrische Funken, zugefügt –<br />

die Simulation eines Urgewitters. Nach ein paar Wochen fin<strong>de</strong>t<br />

man in <strong>de</strong>m Gefäß gewöhnlich etwas Interessantes: eine dünne<br />

braune Suppe, die eine Vielzahl von Molekülen enthält, welche<br />

komplexer sind als die ursprünglich hineingegebenen. Insbeson<strong>de</strong>re<br />

hat man Aminosäuren gefun<strong>de</strong>n – die Bausteine <strong>de</strong>r<br />

P<strong>ro</strong>teine, eine <strong>de</strong>r zwei g<strong>ro</strong>ßen Klassen biologischer Moleküle.<br />

Vor Durchführung dieser Experimente hätte man natürlich<br />

vorkommen<strong>de</strong> Aminosäuren als Zeichen für die Existenz von<br />

Leben angesehen. Wären sie beispielsweise auf <strong>de</strong>m Mars ent<strong>de</strong>ckt<br />

wor<strong>de</strong>n, so hätte man es für so gut wie sicher gehalten,<br />

daß auf diesem Planeten Leben existiert. Heute jedoch braucht<br />

ihre Existenz lediglich das Vorhan<strong>de</strong>nsein ein paar einfacher<br />

Gase in <strong>de</strong>r Atmosphäre sowie einiger Vulkane, etwas Sonnenlichtes<br />

o<strong>de</strong>r gewitterreichen Wetters zu be<strong>de</strong>uten. In jüngerer<br />

<strong>Zeit</strong> bil<strong>de</strong>ten sich in Laborversuchen, in <strong>de</strong>nen die chemischen<br />

Bedingungen auf <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> vor <strong>de</strong>r Entstehung <strong>de</strong>s Lebens<br />

simuliert wur<strong>de</strong>n, organische Substanzen, die man als Purine<br />

und Pyrimidine bezeichnet. Diese sind Bausteine <strong>de</strong>s genetischen<br />

Moleküls, <strong>de</strong>r Desoxyribonucleinsäure (DNA) selbst.<br />

Analog verlaufen<strong>de</strong> P<strong>ro</strong>zesse müssen zur Entstehung <strong>de</strong>r


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 40<br />

sogenannten Ursuppe geführt haben, aus <strong>de</strong>r, wie Biologen<br />

und Chemiker glauben, vor ungefähr drei bis vier Milliar<strong>de</strong>n<br />

Jahren die Meere bestan<strong>de</strong>n. Die organischen Substanzen konzentrierten<br />

sich an einigen Stellen, vielleicht in <strong>de</strong>m t<strong>ro</strong>cknen<strong>de</strong>n<br />

Schaum an <strong>de</strong>n Ufern o<strong>de</strong>r in winzigen, fein verteilten<br />

Tröpfchen. Unter <strong>de</strong>m weiteren Einfluß von Energie, beispielsweise<br />

ultraviolettem Sonnenlicht, verban<strong>de</strong>n sie sich zu<br />

größeren Molekülen. Heutzutage wür<strong>de</strong>n g<strong>ro</strong>ße organische<br />

Moleküle nicht lange genug bestehen, um bemerkt zu wer<strong>de</strong>n:<br />

Sie wür<strong>de</strong>n schnell von Bakterien o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Lebewesen<br />

absorbiert o<strong>de</strong>r aufgespalten wer<strong>de</strong>n. Doch die Bakterien und<br />

wir an<strong>de</strong>ren Lebewesen kamen erst sehr viel später; zu jener<br />

<strong>Zeit</strong> konnten g<strong>ro</strong>ße organische Moleküle ungestört durch die<br />

immer dicker wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Brühe dahintreiben.<br />

Irgendwann bil<strong>de</strong>te sich zufällig ein beson<strong>de</strong>rs bemerkenswertes<br />

Molekül. Wir nennen es Replikator. Es war vielleicht<br />

nicht unbedingt das größte o<strong>de</strong>r komplizierteste Molekül<br />

ringsumher, aber es besaß die außergewöhnliche Eigenschaft,<br />

Kopien seiner selbst herstellen zu können. Es mag uns sehr<br />

unwahrscheinlich vorkommen, daß sich ein <strong>de</strong>rartiger Zufall<br />

ereignet haben soll. Und das war es auch. Es war sogar<br />

mehr als unwahrscheinlich. Während eines Menschenalters<br />

können Dinge, die <strong>de</strong>rart unwahrscheinlich sind, als praktisch<br />

unmöglich angesehen wer<strong>de</strong>n. Deshalb gelingt uns nie ein<br />

Haupttreffer im Fußballtoto. Aber bei unseren menschlichen<br />

Begriffen davon, was wahrscheinlich ist und was nicht, sind<br />

wir nicht gewohnt, mit Hun<strong>de</strong>rten von Jahrmillionen zu rechnen.<br />

Wür<strong>de</strong>n wir hun<strong>de</strong>rt Millionen Jahre lang je<strong>de</strong> Woche unseren<br />

Lottozettel ausfüllen, so wür<strong>de</strong>n wir sehr wahrscheinlich<br />

mehrere Male <strong>de</strong>n Haupttreffer machen.<br />

Tatsächlich ist ein Molekül, das Kopien seiner selbst herstellt,<br />

nicht so schwer vorstellbar, wie es zunächst scheint, und<br />

es brauchte auch nur ein einziges Mal vorzukommen. Denken<br />

wir uns <strong>de</strong>n Replikator als eine Gußform o<strong>de</strong>r eine Schablone.<br />

Stellen wir ihn uns als ein g<strong>ro</strong>ßes Molekül vor, das aus einer<br />

komplexen Kette verschie<strong>de</strong>ner Arten von Bausteinmolekülen


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 41<br />

besteht. Die kleinen Bausteine waren in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Replikator<br />

umgeben<strong>de</strong>n Suppe reichlich vorhan<strong>de</strong>n. Nehmen wir nun an,<br />

daß je<strong>de</strong>r Baustein eine Affinität für seine eigene Art besitzt.<br />

Dann wer<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Suppe schwimmen<strong>de</strong> Bausteine, die in die<br />

Nähe eines Replikatorteiles geraten, für das sie eine Affinität<br />

besitzen, wahrscheinlich daran hängenbleiben. Die sich auf<br />

diese Weise anheften<strong>de</strong>n Bausteine wer<strong>de</strong>n automatisch in<br />

einer Reihenfolge angeordnet, die diejenige <strong>de</strong>s Replikators<br />

nachahmt. Es ist nicht schwer, sich als nächstes vorzustellen,<br />

daß sie sich genau wie bei <strong>de</strong>r Bildung <strong>de</strong>s ursprünglichen<br />

Replikators zu einer stabilen Kette verbin<strong>de</strong>n. Dieser P<strong>ro</strong>zeß<br />

könnte sich als ein fortwähren<strong>de</strong>s Aufstapeln, Schicht um<br />

Schicht, fortsetzen. So entstehen Kristalle. An<strong>de</strong>rerseits können<br />

sich die bei<strong>de</strong>n Ketten auch voneinan<strong>de</strong>r lösen; in diesem Fall<br />

haben wir zwei Replikatoren, die bei<strong>de</strong> weitere Kopien p<strong>ro</strong>duzieren<br />

können.<br />

Eine kompliziertere Möglichkeit ist die, daß die einzelnen<br />

Bausteine keine Affinität für ihre eigene Art besitzen, son<strong>de</strong>rn<br />

daß eine wechselseitige Affinität zwischen jeweils zwei verschie<strong>de</strong>nen<br />

Arten besteht. Dann wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Replikator nicht<br />

als Schablone für eine i<strong>de</strong>ntische Kopie, son<strong>de</strong>rn für eine<br />

Art Negativ dienen, das seinerseits wie<strong>de</strong>r eine genaue Kopie<br />

<strong>de</strong>s ursprünglichen Positivs herstellen wür<strong>de</strong>. Für unsere<br />

Zwecke ist es gleichgültig, ob <strong>de</strong>r ursprüngliche Kopiervorgang<br />

positiv-negativ o<strong>de</strong>r positiv-positiv verlief; es ist allerdings<br />

erwähnenswert, daß die mo<strong>de</strong>rnen Äquivalente <strong>de</strong>s ersten<br />

Replikators, die DNA-Moleküle, positiv-negativ kopieren. Entschei<strong>de</strong>nd<br />

ist, daß plötzlich eine neue Art von „Stabilität“ auf<br />

die Welt kam. Bis dahin gab es wahrscheinlich kein bestimmtes<br />

komplexes Molekül, das sehr reichlich in <strong>de</strong>r Suppe<br />

vorkam, weil je<strong>de</strong> Molekülart davon abhängig war, daß die<br />

Bausteine sich zufällig zu einer bestimmten stabilen Gestalt<br />

zusammenfügten. Sobald <strong>de</strong>r Replikator geboren war, muß<br />

er seine Kopien rasch über alle Meere verbreitet haben, bis<br />

die kleineren Bausteinmoleküle zu einer knappen Ressource<br />

wur<strong>de</strong>n und sich immer seltener an<strong>de</strong>re g<strong>ro</strong>ße Moleküle bil<strong>de</strong>ten.


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 42<br />

Damit scheinen wir zu einer g<strong>ro</strong>ßen Population von i<strong>de</strong>ntischen<br />

Kopien zu gelangen. Doch jetzt müssen wir eine wichtige<br />

Eigenschaft je<strong>de</strong>s Kopiervorgangs erwähnen: Er ist nicht vollkommen.<br />

Es kommen Fehler vor. Ich hoffe, daß es in diesem<br />

Buch keine Druckfehler gibt, <strong>wen</strong>n <strong>de</strong>r Leser aber genau<br />

darauf achtet, wird er vielleicht einen o<strong>de</strong>r zwei fin<strong>de</strong>n. Sie<br />

wer<strong>de</strong>n die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r Sätze wahrscheinlich nicht ernstlich<br />

verzerren, weil es sich bei ihnen um „Fehler in <strong>de</strong>r ersten<br />

Generation“ han<strong>de</strong>lt. Doch <strong>de</strong>nken wir an die <strong>Zeit</strong>en, als <strong>de</strong>r<br />

Buchdruck noch nicht erfun<strong>de</strong>n war und solche Bücher wie<br />

die Evangelien handschriftlich kopiert wur<strong>de</strong>n. Je<strong>de</strong>m Schreiber,<br />

so sorgfältig er auch sein mag, unterläuft ab und an ein<br />

Fehler – und nicht je<strong>de</strong>r ist dagegen gefeit, eine kleine bewußte<br />

„Verbesserung“ anzubringen. Wür<strong>de</strong>n alle von einem einzigen<br />

Original abschreiben, so wür<strong>de</strong> die Be<strong>de</strong>utung nicht sehr entstellt.<br />

Wer<strong>de</strong>n aber Kopien von Kopien hergestellt, die ihrerseits<br />

von an<strong>de</strong>ren Kopien gemacht wur<strong>de</strong>n, so fangen die<br />

Fehler an, sich zu häufen und gravierend zu wer<strong>de</strong>n. Wir halten<br />

unzuverlässiges Kopieren gewöhnlich für etwas Schlechtes,<br />

und was unsere menschlichen Dokumente betrifft, kann man<br />

sich in <strong>de</strong>r Tat schwer ein Beispiel <strong>de</strong>nken, bei <strong>de</strong>m Fehler<br />

als Verbesserungen gelten könnten. Ich <strong>de</strong>nke, man kann von<br />

<strong>de</strong>n Gelehrten, die die Septuaginta (die älteste griechische<br />

Übersetzung <strong>de</strong>s Alten Testaments) verfaßt haben, zumin<strong>de</strong>st<br />

sagen, daß sie etwas in Gang gesetzt haben, was weite Kreise<br />

ziehen sollte, als sie das hebräische Wort für „junge Frau“ in<br />

das griechische Wort für „Jungfrau“ übersetzten und zu <strong>de</strong>r<br />

P<strong>ro</strong>phezeiung gelangten: „Siehe, die Jungfrau wird schwanger<br />

wer<strong>de</strong>n und einen Sohn gebären ...“. 2 Wie <strong>de</strong>m auch sei,<br />

wir wer<strong>de</strong>n noch sehen, daß bei <strong>de</strong>n biologischen Replikatoren<br />

fehlerhaftes Kopieren zu realen Verbesserungen führen kann<br />

und daß eine gewisse Anzahl von Fehlern für die fortschreiten<strong>de</strong><br />

Evolution <strong>de</strong>s Lebens not<strong>wen</strong>dig ist. Wir wissen nicht,<br />

wie exakt die ursprünglichen Replikatormoleküle ihre Kopien<br />

machten. Ihre mo<strong>de</strong>rnen Abkömmlinge, die DNA-Moleküle,<br />

sind im Vergleich zu <strong>de</strong>n genauesten Kopierverfahren <strong>de</strong>s<br />

Menschen erstaunlich wie<strong>de</strong>rgabegetreu, aber sogar ihnen


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 43<br />

unterlaufen gelegentlich Fehler, und letzten En<strong>de</strong>s sind es<br />

diese Fehler, die eine Evolution möglich machen. Wahrscheinlich<br />

waren die ursprünglichen Replikatoren bei weitem<br />

unzuverlässiger; je<strong>de</strong>nfalls können wir sicher sein, daß Fehler<br />

vorkamen, und diese Fehler waren kumulativ.<br />

In <strong>de</strong>m Maße, wie falsche Kopien hergestellt und verbreitet<br />

wur<strong>de</strong>n, füllte sich die Ursuppe mit einer Population, die nicht<br />

aus i<strong>de</strong>ntischen Kopien, son<strong>de</strong>rn aus mehreren Varianten sich<br />

replizieren<strong>de</strong>r Moleküle bestand, die alle von <strong>de</strong>m gleichen<br />

„Vorfahren“ abstammten. Ob wohl einige Varianten häufiger<br />

waren als an<strong>de</strong>re? Fast mit Sicherheit ja. Bestimmte Moleküle<br />

dürften von Natur aus beson<strong>de</strong>rs stabil gewesen sein. Nach<strong>de</strong>m<br />

sie einmal gebil<strong>de</strong>t waren, brachen sie mit geringerer<br />

Wahrscheinlichkeit wie<strong>de</strong>r auseinan<strong>de</strong>r als an<strong>de</strong>re. Falls es<br />

solche Typen gab, mußten sie in <strong>de</strong>r Ursuppe relativ zahlreicher<br />

wer<strong>de</strong>n, nicht nur als eine unmittelbare logische Folge<br />

ihrer „Langlebigkeit“, son<strong>de</strong>rn auch <strong>de</strong>shalb, weil sie viel<br />

<strong>Zeit</strong> zur Verfügung hatten, um Kopien von sich herzustellen.<br />

Die Zahl <strong>de</strong>r langlebigen Replikatoren dürfte daher zugenommen<br />

haben, und falls die übrigen Umstän<strong>de</strong> unverän<strong>de</strong>rt blieben,<br />

mußte es in <strong>de</strong>r Molekülpopulation einen „evolutionären<br />

Trend“ zu größerer Langlebigkeit geben.<br />

Doch die übrigen Umstän<strong>de</strong> blieben wahrscheinlich nicht<br />

gleich, und eine weitere Eigenschaft, die eine erfolgreiche<br />

Replikatorvariante gehabt haben dürfte und die sogar von<br />

noch größerer Be<strong>de</strong>utung für ihre Verbreitung in <strong>de</strong>r Population<br />

gewesen sein muß als die Langlebigkeit, ist die<br />

Rep<strong>ro</strong>duktionsgeschwindigkeit o<strong>de</strong>r „Fruchtbarkeit“. Wenn die<br />

Replikatormoleküle <strong>de</strong>s Typs A sich durchschnittlich einmal<br />

p<strong>ro</strong> Woche rep<strong>ro</strong>duzieren, diejenigen <strong>de</strong>s Typs B dagegen<br />

einmal p<strong>ro</strong> Stun<strong>de</strong>, so läßt sich unschwer erkennen, daß die<br />

Moleküle <strong>de</strong>s Typs A ziemlich bald zahlenmäßig unterlegen<br />

sein wer<strong>de</strong>n, selbst <strong>wen</strong>n sie viel länger „leben“ als B-Moleküle.<br />

Daher dürfte es in <strong>de</strong>r Ursuppe einen „evolutionären Trend“<br />

zu höherer „Fruchtbarkeit“ <strong>de</strong>r Moleküle gegeben haben. Ein<br />

drittes Charakteristikum von Replikatormolekülen, das positiv<br />

selektiert wor<strong>de</strong>n wäre, ist die Kopiergenauigkeit. Wenn


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 44<br />

Moleküle vom Typ X und vom Typ Y die gleiche Lebensdauer<br />

haben und die gleiche Rep<strong>ro</strong>duktionsrate aufweisen, X jedoch<br />

bei einer von zehn Kopien einen Fehler macht, während Y<br />

nur bei je<strong>de</strong>r hun<strong>de</strong>rtsten Kopie ein Fehler unterläuft, so<br />

wird Y offensichtlich zahlreicher wer<strong>de</strong>n. Das X-Kontingent in<br />

<strong>de</strong>r Population verliert nicht nur die abweichen<strong>de</strong>n „Kin<strong>de</strong>r“<br />

selbst, son<strong>de</strong>rn auch alle ihre – tatsächlichen o<strong>de</strong>r potentiellen<br />

– Nachkommen.<br />

Wenn <strong>de</strong>r Leser bereits etwas über Evolution weiß, wird er<br />

<strong>de</strong>n letzten Punkt vielleicht ein <strong>wen</strong>ig paradox fin<strong>de</strong>n. Können<br />

wir <strong>de</strong>n Gedanken, daß Kopierfehler eine wesentliche Voraussetzung<br />

für das Stattfin<strong>de</strong>n von Evolution sind, mit <strong>de</strong>r<br />

Behauptung in Einklang bringen, daß die natürliche Auslese<br />

eine höhere Wie<strong>de</strong>rgabetreue begünstigt? Die Antwort ist, daß<br />

Evolution zwar in irgen<strong>de</strong>inem vagen Sinne „etwas Gutes“ zu<br />

sein scheint – vor allem da sie uns Menschen hervorgebracht<br />

hat –, daß aber tatsächlich keinerlei „Wunsch“ nach Evolution<br />

besteht. Evolution ist etwas, das wohl o<strong>de</strong>r übel geschieht,<br />

ungeachtet aller Anstrengungen <strong>de</strong>r Replikatoren (und heutzutage<br />

<strong>de</strong>r Gene), sie zu verhin<strong>de</strong>rn. Jacques Monod machte<br />

dies in seiner Herbert-Spencer-Vorlesung recht <strong>de</strong>utlich, nach<strong>de</strong>m<br />

er boshaft bemerkt hatte: „Ein weiterer seltsamer Aspekt<br />

<strong>de</strong>r Evolutionstheorie ist <strong>de</strong>r, daß je<strong>de</strong>rmann <strong>de</strong>nkt, er verstehe<br />

sie!“<br />

Kehren wir zur Ursuppe zurück: Sie muß zunehmend von<br />

stabilen Molekülvarianten bevölkert wor<strong>de</strong>n sein; stabil insoweit,<br />

als die einzelnen Moleküle entwe<strong>de</strong>r langlebig waren<br />

o<strong>de</strong>r sich schnell o<strong>de</strong>r genau replizierten. Es bestand eine<br />

Art evolutionärer Trend zu diesen drei Arten von Stabilität:<br />

Hätte man zu zwei verschie<strong>de</strong>nen <strong>Zeit</strong>en Stichp<strong>ro</strong>ben aus<br />

<strong>de</strong>r Suppe entnommen, so hätte die spätere Stichp<strong>ro</strong>be einen<br />

höheren P<strong>ro</strong>zentsatz von Varianten mit höherer Langlebigkeit/<br />

Fruchtbarkeit/Wie<strong>de</strong>rgabegenauigkeit enthalten. Dies entspricht<br />

im wesentlichen <strong>de</strong>m, was ein Biologe mit Evolution<br />

meint, <strong>wen</strong>n er von Lebewesen spricht, und <strong>de</strong>r Mechanismus<br />

ist <strong>de</strong>r gleiche: natürliche Auslese.<br />

Sollten wir dann die ursprünglichen Replikatormoleküle als


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 45<br />

„lebendig“ bezeichnen? Wen kümmert das schon? Ich könnte<br />

zu jeman<strong>de</strong>m sagen: „Darwin war <strong>de</strong>r größte Mensch, <strong>de</strong>r<br />

jemals gelebt hat“, und er könnte antworten: „Nein, das war<br />

Newton“, aber ich hoffe, wir wür<strong>de</strong>n die Diskussion nicht fortsetzen.<br />

Tatsache ist, daß unsere Diskussion, wie auch immer<br />

sie ausginge, nichts Wesentliches än<strong>de</strong>rn wür<strong>de</strong>. Die Fakten in<br />

bezug auf Leben und Leistung von Newton und Darwin bleiben<br />

völlig unverän<strong>de</strong>rt davon, ob wir sie „g<strong>ro</strong>ß“ nennen o<strong>de</strong>r nicht.<br />

Gleichermaßen hat sich die Geschichte <strong>de</strong>r Replikatormoleküle<br />

wahrscheinlich ungefähr so abgespielt, wie ich sie schil<strong>de</strong>re,<br />

ohne Rücksicht darauf, ob wir beschließen, diese Moleküle<br />

als „lebendig“ zu bezeichnen o<strong>de</strong>r nicht. Wieviel menschliches<br />

Leid hat es gegeben, weil zu viele von uns nicht begreifen<br />

können, daß Worte nur Werkzeuge sind, die wir benutzen,<br />

und daß die bloße Existenz eines Wortes wie „lebendig“ in<br />

unserem Lexikon nicht zwangsläufig be<strong>de</strong>utet, daß es sich<br />

auf etwas Bestimmtes in <strong>de</strong>r realen Welt beziehen muß. Ganz<br />

gleich, ob wir die frühen Replikatoren lebendig nennen o<strong>de</strong>r<br />

nicht, sie waren die Vorläufer <strong>de</strong>s Lebens, sie waren unsere<br />

Stammväter!<br />

Das nächste wichtige Glied in <strong>de</strong>m Gedankengang, eines,<br />

das Darwin selbst betonte (er sprach allerdings von Tieren<br />

und Pflanzen und nicht von Molekülen), ist die Konkurrenz.<br />

In <strong>de</strong>r Ursuppe konnte keine unbegrenzte Zahl von Replikatormolekülen<br />

existieren. Zum einen ist die Größe <strong>de</strong>r<br />

Er<strong>de</strong> begrenzt, aber darüber hinaus müssen noch weitere<br />

einschränken<strong>de</strong> Faktoren wichtig gewesen sein. Bei unserem<br />

Bild <strong>de</strong>s als Schablone o<strong>de</strong>r Gußform fungieren<strong>de</strong>n Replikators<br />

gingen wir davon aus, daß er von einer Ursuppe umgeben<br />

war, die reich an <strong>de</strong>n für die Herstellung von Kopien<br />

nötigen kleinen Bausteinen war. Doch als die Zahl <strong>de</strong>r Replikatoren<br />

zunahm, müssen die Bausteine mit einer <strong>de</strong>rartigen<br />

Schnelligkeit aufgebraucht wor<strong>de</strong>n sein, daß sie zu einer seltenen<br />

und kostbaren Ressource wur<strong>de</strong>n. Verschie<strong>de</strong>ne Varianten<br />

o<strong>de</strong>r Rassen von Replikatoren müssen um sie konkurriert<br />

haben. Wir haben die Faktoren untersucht, welche<br />

die Häufigkeit <strong>de</strong>r begünstigten Replikatorarten gesteigert


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 46<br />

haben dürften. Wir erkennen nunmehr, daß die <strong>wen</strong>iger<br />

begünstigten Varianten aufgrund <strong>de</strong>s Wettbewerbs tatsächlich<br />

<strong>wen</strong>iger häufig gewor<strong>de</strong>n sein müssen, und schließlich müssen<br />

viele ihrer Zweige ausgestorben sein. Unter <strong>de</strong>n Replikatorvarianten<br />

spielte sich ein Kampf ums Dasein ab. Sie wußten<br />

we<strong>de</strong>r, daß sie kämpften, noch machten sie sich <strong>de</strong>swegen<br />

Sorgen; <strong>de</strong>r Kampf wur<strong>de</strong> ohne Feindschaft, überhaupt ohne<br />

irgendwelche Gefühle geführt. Aber sie kämpften, nämlich<br />

in <strong>de</strong>m Sinne, daß je<strong>de</strong>r Kopierfehler, <strong>de</strong>ssen Ergebnis ein<br />

höheres Stabilitätsniveau war o<strong>de</strong>r eine neue Möglichkeit, die<br />

Stabilität von Rivalen zu vermin<strong>de</strong>rn, automatisch bewahrt<br />

und vervielfacht wur<strong>de</strong>. Die Metho<strong>de</strong>n zur Steigerung <strong>de</strong>r eigenen<br />

Stabilität und Vermin<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Stabilität <strong>de</strong>r Rivalen<br />

wur<strong>de</strong>n komplizierter und wirkungsvoller. Einige <strong>de</strong>r Replikatoren<br />

mögen sogar „ent<strong>de</strong>ckt“ haben, wie sie die Moleküle<br />

rivalisieren<strong>de</strong>r Varianten chemisch aufspalten und die auf diese<br />

Weise freigesetzen Bausteine zur Herstellung ihrer eigenen<br />

Kopien benutzen konnten. Diese P<strong>ro</strong>tofleischfresser erhielten<br />

damit Nahrung und beseitigten zugleich Konkurrenten. An<strong>de</strong>re<br />

Replikatoren ent<strong>de</strong>ckten vielleicht, wie sie sich schützen konnten,<br />

entwe<strong>de</strong>r chemisch o<strong>de</strong>r in<strong>de</strong>m sie eine P<strong>ro</strong>teinwand<br />

um sich herum aufbauten. Auf diese Weise mögen die<br />

ersten leben<strong>de</strong>n Zellen entstan<strong>de</strong>n sein. Die Replikatoren<br />

fingen an, nicht mehr einfach nur zu existieren, son<strong>de</strong>rn<br />

für sich selbst Behälter zu konstruieren, Vehikel für ihr<br />

Fortbestehen. Es überlebten diejenigen Replikatoren, die<br />

um sich herum Überlebensmaschinen bauten. Die ersten<br />

Überlebensmaschinen bestan<strong>de</strong>n wahrscheinlich aus nicht<br />

mehr als einer Schutzschicht. Aber in <strong>de</strong>m Maße, wie neue<br />

Rivalen mit besseren und wirkungsvolleren Schutzhüllen<br />

entstan<strong>de</strong>n, wur<strong>de</strong> das Leben ständig schwieriger. Die<br />

Überlebensmaschinen wur<strong>de</strong>n größer und perfekter, und <strong>de</strong>r<br />

Vorgang war kumulativ und p<strong>ro</strong>gressiv.<br />

Wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>r schrittweisen Verbesserung <strong>de</strong>r Techniken und<br />

Kunstgriffe, welche die Replikatoren zur Sicherstellung ihres<br />

Fortbestands auf <strong>de</strong>r Welt an<strong>wen</strong><strong>de</strong>ten, irgendwo ein En<strong>de</strong><br />

gesetzt sein? Eine Menge <strong>Zeit</strong> sollte für Verbesserungen zur


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 47<br />

Verfügung stehen. Welche son<strong>de</strong>rbaren Selbsterhaltungsmaschinen<br />

wür<strong>de</strong>n die Jahrtausen<strong>de</strong> hervorbringen? Welches<br />

Schicksal wür<strong>de</strong> vier Milliar<strong>de</strong>n Jahre später <strong>de</strong>n alten Replikatoren<br />

beschie<strong>de</strong>n sein? Sie starben nicht aus, <strong>de</strong>nn sie sind<br />

unübert<strong>ro</strong>ffene Meister in <strong>de</strong>r Kunst <strong>de</strong>s Überlebens. Doch<br />

dürfen wir sie nicht frei im Meer umhertreibend suchen; dieses<br />

ungebun<strong>de</strong>ne Leben haben sie seit langem aufgegeben. Heute<br />

drängen sie sich in riesigen Kolonien, sicher im Innern gigantischer,<br />

schwerfälliger Roboter 3 , hermetisch abgeschlossen von<br />

<strong>de</strong>r Außenwelt; sie verständigen sich mit ihr auf gewun<strong>de</strong>nen,<br />

indirekten Wegen, manipulieren sie durch Fernsteuerung.<br />

Sie sind in dir und in mir, sie schufen uns, Körper und<br />

Geist, und ihr Fortbestehen ist <strong>de</strong>r letzte Grund unserer Existenz.<br />

Sie haben einen weiten Weg hinter sich, diese Replikatoren.<br />

Heute tragen sie <strong>de</strong>n Namen Gene, und wir sind ihre<br />

Überlebensmaschinen.


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 48<br />

3. Die unsterblichen Spiralen<br />

Wir sind Überlebensmaschinen, aber mit <strong>de</strong>m Wort „wir“<br />

sind nicht nur wir Menschen gemeint. Es umfaßt alle<br />

Tiere, Pflanzen, Bakterien und Viren. Die Gesamtzahl <strong>de</strong>r<br />

Überlebensmaschinen ist schwer zu bestimmen, und selbst die<br />

genaue Zahl <strong>de</strong>r Arten ist unbekannt. Nehmen wir allein die<br />

Insekten: Schätzungen zufolge gibt es ungefähr drei Millionen<br />

rezente Arten, und die Zahl <strong>de</strong>r einzelnen Insekten beträgt<br />

vielleicht eine Trillion.<br />

Die verschie<strong>de</strong>nen Typen von Überlebensmaschinen unterschei<strong>de</strong>n<br />

sich in ihrer äußeren Erscheinung und ihren inneren<br />

Organen erheblich. Ein Krake hat keinerlei Ähnlichkeit mit<br />

einer Maus, und bei<strong>de</strong> sind völlig an<strong>de</strong>rs als eine Eiche. Biochemisch<br />

gesehen jedoch gleichen sie sich weitgehend, und<br />

vor allem sind die Replikatoren, die sie in sich tragen, die<br />

Gene, im Grun<strong>de</strong> in uns allen – von <strong>de</strong>n Bakterien bis hin<br />

zu <strong>de</strong>n Elefanten – die gleiche Art von Molekül. Wir sind<br />

alle Überlebensmaschinen für dieselbe Art von Replikator, für<br />

Moleküle mit <strong>de</strong>m Namen DNA. Doch auf <strong>de</strong>r Welt sind vielerlei<br />

verschie<strong>de</strong>ne Lebensweisen möglich, und die Replikatoren<br />

haben ein breites Spektrum von Maschinen gebaut, um sie<br />

sich alle zunutze zu machen. Ein Affe ist eine Maschine, die<br />

für <strong>de</strong>n Fortbestand von Genen auf Bäumen verantwortlich ist,<br />

ein Fisch ist eine Maschine, die Gene im Wasser fortbestehen<br />

läßt, und es gibt sogar einen kleinen Wurm, <strong>de</strong>r für <strong>de</strong>n Fortbestand<br />

von Genen in <strong>de</strong>utschen Bier<strong>de</strong>ckeln sorgt. Die DNA<br />

geht rätselhafte Wege.<br />

Der Einfachheit halber habe ich so getan, als seien die<br />

mo<strong>de</strong>rnen, aus DNA bestehen<strong>de</strong>n Moleküle ziemlich genau<br />

dasselbe wie die ersten Replikatoren in <strong>de</strong>r Ursuppe. Für<br />

unsere Erörterung spielt das keine g<strong>ro</strong>ße Rolle, aber es entspricht<br />

möglicherweise nicht ganz <strong>de</strong>r Wahrheit. Vielleicht<br />

waren die ursprünglichen Replikatoren eine <strong>de</strong>r DNA verwandte<br />

Art von Molekülen, sie können aber auch völlig<br />

an<strong>de</strong>rs gewesen sein. Im letzteren Fall könnten wir sagen,


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 49<br />

daß sich die DNA ihre Überlebensmaschinen irgendwann<br />

angeeignet haben muß. Wenn dies so war, dann sind die<br />

ursprünglichen Replikatoren restlos zerstört wor<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nn<br />

in <strong>de</strong>n mo<strong>de</strong>rnen Überlebensmaschinen ist keinerlei Spur<br />

von ihnen zurückgeblieben. Von diesen Überlegungen ausgehend,<br />

hat A. G. Cairns-Smith die faszinieren<strong>de</strong> Hypothese<br />

aufgestellt, daß unsere Stammeltern, die ersten Replikatoren,<br />

möglicherweise überhaupt keine organischen Moleküle waren,<br />

son<strong>de</strong>rn anorganische Kristalle – Mineralien, kleine Stückchen<br />

Ton. Usurpator o<strong>de</strong>r nicht, die DNA ist heute unbestritten an<br />

<strong>de</strong>r Macht, es sei <strong>de</strong>nn, wir stehen gera<strong>de</strong> jetzt, wie meine<br />

Gedankenspielerei in Kapitel 11 suggeriert, am Beginn einer<br />

neuen Machtübernahme.<br />

Die DNA ist eine lange Kette aus Bausteinen, kleinen<br />

Molekülen, die man als Nucleoti<strong>de</strong> bezeichnet. So wie<br />

Eiweißmoleküle Ketten von Aminosäuren sind, so sind DNA-<br />

Moleküle Nucleotidketten. Ein DNA-Molekül ist zu klein,<br />

als daß man es sehen könnte, aber durch scharfsinnige<br />

Überlegungen hat man seine genaue Gestalt auf indirekte<br />

Weise ermittelt. Es besteht aus einem Paar Nucleotidketten,<br />

die gemeinsam zu einer eleganten Spirale gedreht sind – <strong>de</strong>r<br />

„Doppelhelix“ o<strong>de</strong>r „unsterblichen Spirale“. Die Nucleotidbausteine<br />

kommen in nur vier verschie<strong>de</strong>nen Formen vor, <strong>de</strong>ren<br />

Namen mit <strong>de</strong>n Buchstaben A, T, C und G abgekürzt wer<strong>de</strong>n<br />

können. Sie sind in allen Tieren und Pflanzen gleich. Verschie<strong>de</strong>n<br />

ist nur die Reihenfolge, in <strong>de</strong>r sie miteinan<strong>de</strong>r verknüpft<br />

sind. Ein G-Baustein eines Menschen ist in je<strong>de</strong>r Einzelheit mit<br />

einem G-Baustein einer Schnecke i<strong>de</strong>ntisch. Aber die Sequenz<br />

<strong>de</strong>r Bausteine bei einem Menschen ist nicht nur von <strong>de</strong>r einer<br />

Schnecke verschie<strong>de</strong>n; sie unterschei<strong>de</strong>t sich auch – <strong>wen</strong>ngleich<br />

nicht so stark – von <strong>de</strong>r Reihenfolge in je<strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren<br />

Menschen (außer in <strong>de</strong>m beson<strong>de</strong>ren Fall eineiiger Zwillinge).<br />

Unsere DNA lebt im Innern unserer Körper. Sie ist nicht auf<br />

einen bestimmten Teil <strong>de</strong>s Körpers konzentriert, son<strong>de</strong>rn<br />

auf die Zellen verteilt. Ein menschlicher Körper besitzt im<br />

Durchschnitt eine Billiar<strong>de</strong> Zellen, und je<strong>de</strong> einzelne – mit<br />

einigen Ausnahmen, die wir vernachlässigen können – enthält


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 50<br />

eine vollständige Kopie <strong>de</strong>r DNA dieses Körpers. Man kann<br />

diese DNA als einen Satz von Instruktionen auffassen, die<br />

im Nucleotidalphabet A, T, C, G aufgezeichnet sind und angeben,<br />

wie ein Körper gemacht wer<strong>de</strong>n soll. Es ist so, als<br />

ob es in je<strong>de</strong>m Raum eines gigantischen Gebäu<strong>de</strong>s einen<br />

Bücherschrank gäbe, <strong>de</strong>r die Pläne <strong>de</strong>s Architekten für das<br />

gesamte Gebäu<strong>de</strong> enthält. Der „Bücherschrank“ in einer Zelle<br />

heißt Zellkern o<strong>de</strong>r Nucleus. Die Baupläne sind beim Menschen<br />

auf 46 Bän<strong>de</strong> verteilt – die Zahl ist je nach Art verschie<strong>de</strong>n.<br />

Die „Bän<strong>de</strong>“ heißen Ch<strong>ro</strong>mosomen. Sie sind unter <strong>de</strong>m<br />

Mik<strong>ro</strong>skop als lange Fä<strong>de</strong>n zu erkennen, in <strong>de</strong>nen die Gene<br />

aneinan<strong>de</strong>rgereiht sind. Es ist nicht leicht und möglicherweise<br />

noch nicht einmal sinnvoll, zu entschei<strong>de</strong>n, wo ein Gen aufhört<br />

und das nächste anfängt. Glücklicherweise ist das, wie wir in<br />

diesem Kapitel sehen wer<strong>de</strong>n, für unsere Zwecke nicht von<br />

Be<strong>de</strong>utung.<br />

Ich wer<strong>de</strong> mich auch weiterhin <strong>de</strong>r bildhaften Sprache<br />

bedienen und diese nach Belieben mit <strong>de</strong>r Sprache <strong>de</strong>r Realität<br />

vermischen. Das Wort „Band“ wird gleichbe<strong>de</strong>utend mit „Ch<strong>ro</strong>mosom“<br />

ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>t, „Seite“ einstweilen mit Gen gleichgesetzt,<br />

obwohl die Gene <strong>wen</strong>iger <strong>de</strong>utlich voneinan<strong>de</strong>r getrennt sind<br />

als die Seiten eines Buches. Mit diesem Vergleich kommen<br />

wir ziemlich weit. Wenn er uns schließlich nicht mehr weiterhilft,<br />

wer<strong>de</strong> ich an<strong>de</strong>re Bil<strong>de</strong>r einführen. Nebenbei gesagt<br />

gibt es selbstverständlich keinen Architekten: Die Instruktionen<br />

<strong>de</strong>r DNA wur<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>r natürlichen Selektion zusammengestellt.<br />

Die DNA-Moleküle haben zwei wichtige Funktionen. Erstens<br />

replizieren sie sich, das heißt, sie stellen Kopien von sich selbst<br />

her. Dies ist seit Anbeginn <strong>de</strong>s Lebens bis heute ohne Pause<br />

geschehen, und die DNA-Moleküle sind mittlerweile wirkliche<br />

Meister darin. Wenn ein Mensch erwachsen ist, besteht er aus<br />

einer Billiar<strong>de</strong> Zellen; doch bei <strong>de</strong>r Empfängnis existierte er<br />

lediglich als eine einzige, mit einer Kopie <strong>de</strong>r Baupläne ausgestattete<br />

Zelle. Diese Zelle verdoppelte sich durch Teilung, und<br />

je<strong>de</strong> <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Tochterzellen erhielt ihre eigene Kopie <strong>de</strong>r<br />

Pläne. In aufeinan<strong>de</strong>rfolgen<strong>de</strong>n Teilungen wuchs die Zahl <strong>de</strong>r


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 51<br />

Zellen dann auf vier, acht, 16, 32 und so weiter an – bis in die<br />

Billionen. Bei je<strong>de</strong>r Zellteilung wur<strong>de</strong>n die DNA-Pläne getreu<br />

kopiert, nahezu ohne je<strong>de</strong>n Fehler.<br />

Von <strong>de</strong>r Verdoppelung <strong>de</strong>r DNA zu sprechen, ist eine Sache.<br />

Eine an<strong>de</strong>re Sache ist die Frage: Wenn die DNA wirklich ein<br />

Satz von Plänen für <strong>de</strong>n Bau eines Körpers ist, wie wer<strong>de</strong>n die<br />

Pläne dann in die Praxis umgesetzt? Dies bringt mich zu <strong>de</strong>r<br />

zweiten wichtigen Funktion, die die DNA erfüllt. Sie überwacht<br />

mittelbar die Herstellung einer an<strong>de</strong>ren Art von Molekülen –<br />

<strong>de</strong>r P<strong>ro</strong>teine. Das im vorigen Kapitel erwähnte Hämoglobin ist<br />

nur eines unter einer enormen Vielzahl von Eiweißmolekülen.<br />

Die codierte Information <strong>de</strong>r DNA, die in <strong>de</strong>m aus vier Buchstaben<br />

bestehen<strong>de</strong>n Nucleotidalphabet aufgezeichnet ist, wird<br />

auf einfache mechanische Weise in ein an<strong>de</strong>res Alphabet<br />

übersetzt: das Alphabet <strong>de</strong>r Aminosäuren, aus <strong>de</strong>nen sich die<br />

Eiweißmoleküle Buchstabe für Buchstabe zusammensetzen.<br />

Von <strong>de</strong>r Bildung von P<strong>ro</strong>teinen scheint es noch ein weiter<br />

Weg bis zur Herstellung eines Körpers, doch <strong>de</strong>r erste kleine<br />

Schritt ist damit getan. Die P<strong>ro</strong>teine stellen nicht nur einen<br />

g<strong>ro</strong>ßen Anteil <strong>de</strong>r Körpersubstanz, sie üben auch eine empfindliche<br />

Kont<strong>ro</strong>lle über alle chemischen P<strong>ro</strong>zesse innerhalb<br />

<strong>de</strong>r Zelle aus, in<strong>de</strong>m sie sie selektiv exakt im richtigen Moment<br />

und am richtigen Ort in Gang setzen und stoppen. Auf welche<br />

Weise genau dies zur Entwicklung eines Babys führt, wer<strong>de</strong>n<br />

die Embryologen erst in Jahrzehnten, vielleicht in Jahrhun<strong>de</strong>rten<br />

herausgefun<strong>de</strong>n haben. Aber daß es dazu führt, ist eine<br />

Tatsache. Bei <strong>de</strong>r P<strong>ro</strong>duktion eines Körpers üben die Gene<br />

mittelbar die Kont<strong>ro</strong>lle aus. Der Einfluß verläuft ausschließlich<br />

in einer Richtung: Erworbene Merkmale wer<strong>de</strong>n nicht vererbt.<br />

Wieviel Kenntnisse und wieviel Weisheit wir während unseres<br />

Lebens auch erwerben mögen, nicht ein Jota davon wird unseren<br />

Kin<strong>de</strong>rn auf genetischem Wege weitergegeben. Je<strong>de</strong> neue<br />

Generation fängt ganz von vorn an. Ein Körper ist das Mittel,<br />

mit <strong>de</strong>ssen Hilfe Gene sich unverän<strong>de</strong>rt fortpflanzen.<br />

Die Tatsache, daß die Gene die Embryonalentwicklung steuern,<br />

ist für die Evolution be<strong>de</strong>utsam, weil die Gene damit<br />

zumin<strong>de</strong>st zum Teil selbst für ihr weiteres Überleben ver-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 52<br />

antwortlich sind: Ihr Fortbestand ist von <strong>de</strong>r Effizienz <strong>de</strong>r<br />

Körper abhängig, in <strong>de</strong>nen sie leben und an <strong>de</strong>ren Bau sie<br />

beteiligt waren. Früher einmal bestand die natürliche Selektion<br />

darin, daß die frei im Urmeer treiben<strong>de</strong>n Replikatoren<br />

unterschiedliche Überlebenschancen hatten. Heute begünstigt<br />

die natürliche Auslese Replikatoren, die fähige Konstrukteure<br />

von Überlebensmaschinen sind, Gene, die die Kunst <strong>de</strong>r Steuerung<br />

<strong>de</strong>r Embryonalentwicklung beherrschen. Dabei agieren<br />

die Replikatoren keineswegs bewußter o<strong>de</strong>r zielgerichteter<br />

als zuvor. Dieselben altbewährten P<strong>ro</strong>zesse <strong>de</strong>r automatischen<br />

Selektion unter konkurrieren<strong>de</strong>n Molekülen je nach ihrer<br />

Langlebigkeit, Fruchtbarkeit und Kopiergenauigkeit gehen<br />

immer noch ebenso blind und ebenso unvermeidlich weiter<br />

wie in längst vergangenen Tagen. Gene besitzen keine Voraussicht;<br />

sie planen nicht. Gene existieren ganz einfach, und einige<br />

existieren häufiger als an<strong>de</strong>re – das ist alles. Aber die Eigenschaften,<br />

welche die Langlebigkeit und Fruchtbarkeit eines<br />

Gens bestimmen, sind nicht mehr so einfach, wie sie einmal<br />

waren. Bei weitem nicht.<br />

In letzter <strong>Zeit</strong> – in <strong>de</strong>n letzten 600 Millionen Jahren<br />

etwa – haben die Replikatoren in <strong>de</strong>r Technologie <strong>de</strong>r<br />

Überlebensmaschinen bemerkenswerte Triumphe erzielt, beispielsweise<br />

die Konstruktion von Muskeln, Herz und Augen<br />

(die mehrmals unabhängig voneinan<strong>de</strong>r entwickelt wur<strong>de</strong>n).<br />

Zuvor hatten sie wesentliche Merkmale ihrer Lebensweise<br />

als Replikatoren von Grund auf geän<strong>de</strong>rt, was wir verstehen<br />

müssen, <strong>wen</strong>n wir die Erörterung weiterführen wollen.<br />

Das erste, was man über einen mo<strong>de</strong>rnen Replikator<br />

wissen muß, ist, daß er in g<strong>ro</strong>ßen Scharen auftritt. Eine<br />

Überlebensmaschine ist ein Vehikel, das nicht einfach nur ein<br />

Gen, son<strong>de</strong>rn viele Tausen<strong>de</strong> von Genen enthält. Die P<strong>ro</strong>duktion<br />

eines Körpers ist ein <strong>de</strong>rart verwickeltes kooperatives<br />

Unterfangen, daß es fast unmöglich ist, die Beiträge <strong>de</strong>r einzelnen<br />

Gene auseinan<strong>de</strong>rzuhalten. 1 Ein Gen hat gewöhnlich viele<br />

verschie<strong>de</strong>ne Auswirkungen auf ganz verschie<strong>de</strong>ne Teile <strong>de</strong>s<br />

Körpers. Je<strong>de</strong>r Teil <strong>de</strong>s Körpers wird von zahlreichen Genen<br />

beeinflußt, und <strong>de</strong>r Effekt je<strong>de</strong>s einzelnen Gens ist von <strong>de</strong>r


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 53<br />

Interaktion mit vielen an<strong>de</strong>ren Genen abhängig. Manche Gene<br />

fungieren als Dirigenten für Gruppen an<strong>de</strong>rer Gene, <strong>de</strong>ren<br />

Tätigkeit sie kont<strong>ro</strong>llieren. In unserer bildhaften Sprache<br />

ausgedrückt, enthält je<strong>de</strong> beliebige Seite <strong>de</strong>r Pläne Hinweise<br />

auf viele verschie<strong>de</strong>ne Teile <strong>de</strong>s Gebäu<strong>de</strong>s und ergibt selbst<br />

nur unter Beachtung <strong>de</strong>r Querverweise auf zahlreiche an<strong>de</strong>re<br />

Seiten Sinn.<br />

Diese verwickelte gegenseitige Abhängigkeit <strong>de</strong>r Gene mag<br />

<strong>de</strong>n Leser zu <strong>de</strong>r Frage veranlassen, warum wir überhaupt das<br />

Wort „Gen“ benutzen. Warum ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>n wir nicht ein Kollektivum<br />

wie „Genkomplex“? Die Antwort lautet, daß dies für<br />

viele Zwecke tatsächlich eine recht gute I<strong>de</strong>e wäre. Betrachten<br />

wir die Dinge jedoch von einer an<strong>de</strong>ren Seite, so ist es durchaus<br />

sinnvoll, sich <strong>de</strong>n Genkomplex als in einzelne Replikatoren<br />

o<strong>de</strong>r Gene aufgespalten vorzustellen. Der Grund dafür<br />

ist das Phänomen <strong>de</strong>r Sexualität. Die geschlechtliche Fortpflanzung<br />

bewirkt eine Mischung und Umgruppierung von<br />

Genen. Das be<strong>de</strong>utet, daß <strong>de</strong>r einzelne Körper lediglich ein<br />

vorübergehen<strong>de</strong>r Behälter für eine kurzlebige Kombination<br />

von Genen ist. Die Genkombination, welche je<strong>de</strong>s einzelne Individuum<br />

verkörpert, mag von kurzer Lebensdauer sein, die<br />

Gene selbst jedoch haben potentiell eine sehr hohe Lebensdauer.<br />

Im Ablauf <strong>de</strong>r Generationen kreuzen sich ihre Wege<br />

ständig und immer von neuem. Ein Gen läßt sich als eine Einheit<br />

auffassen, die eine Vielzahl aufeinan<strong>de</strong>rfolgen<strong>de</strong>r individueller<br />

Körper überlebt. Dies ist <strong>de</strong>r zentrale Gedankengang, <strong>de</strong>n<br />

ich in diesem Kapitel entwickeln möchte. Es ist ein Gedanke,<br />

<strong>de</strong>m beizupflichten sich einige meiner angesehensten Kollegen<br />

hartnäckig weigern; <strong>de</strong>r Leser mag mir darum verzeihen,<br />

<strong>wen</strong>n ich ihn etwas zu ausführlich darzulegen scheine! Doch<br />

zunächst muß ich kurz erläutern, was es mit <strong>de</strong>r Sexualität auf<br />

sich hat.<br />

Ich hatte gesagt, daß die Pläne für <strong>de</strong>n Bau eines menschlichen<br />

Körpers in 46 Bän<strong>de</strong>n nie<strong>de</strong>rgelegt sind. Tatsächlich war<br />

dies eine zu g<strong>ro</strong>ße Vereinfachung. Die Wahrheit ist recht eigenartig.<br />

Die 46 Ch<strong>ro</strong>mosomen bestehen aus 23 Ch<strong>ro</strong>mosomenpaaren.<br />

Man könnte sagen, daß in je<strong>de</strong>m Zellkern zwei alternative


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 54<br />

Sätze von 23 Bän<strong>de</strong>n mit Bauplänen abgelegt sind. Nennen<br />

wir sie Band 1a und Band 1b, Band 2a und Band 2b und so<br />

weiter bis hin zu Band 23a und Band 23b. Selbstverständlich<br />

sind die Zahlen, die ich zum Bezeichnen <strong>de</strong>r Bän<strong>de</strong> und später<br />

<strong>de</strong>r Seiten ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>, rein willkürlich gewählt.<br />

Wir erhalten je<strong>de</strong>s Ch<strong>ro</strong>mosom unversehrt von einem<br />

unserer bei<strong>de</strong>n Eltern, in <strong>de</strong>ssen Ho<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r Eierstock es<br />

zusammengefügt wur<strong>de</strong>. Nehmen wir einmal an, die Bän<strong>de</strong> 1a,<br />

2a, 3a ... kamen von unserem Vater und die Bän<strong>de</strong> 1b, 2b, 3b<br />

... von unserer Mutter. In <strong>de</strong>r Praxis ist es sehr schwierig, aber<br />

theoretisch könnten wir die 46 Ch<strong>ro</strong>mosomen in je<strong>de</strong>r einzelnen<br />

unserer Zellen mit einem Mik<strong>ro</strong>skop betrachten und die<br />

23, die von unserem Vater, beziehungsweise die 23, die von<br />

unserer Mutter kamen, heraussuchen.<br />

Die ein Paar bil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Ch<strong>ro</strong>mosomen verbringen nicht ihre<br />

ganze Lebensdauer in physischem Kontakt o<strong>de</strong>r <strong>wen</strong>igstens<br />

nahe beieinan<strong>de</strong>r. In welchem Sinne bil<strong>de</strong>n sie dann ein Paar?<br />

In <strong>de</strong>m Sinne, daß je<strong>de</strong>r ursprünglich vom Vater kommen<strong>de</strong><br />

Band Seite für Seite als eine direkte Alternative zu einem<br />

bestimmten, ursprünglich von <strong>de</strong>r Mutter kommen<strong>de</strong>n Band<br />

angesehen wer<strong>de</strong>n kann. Zum Beispiel „behan<strong>de</strong>ln“ vielleicht<br />

Seite 6 von Band 13a und Seite 6 von Band 13b bei<strong>de</strong> die<br />

Augenfarbe; vielleicht steht auf <strong>de</strong>r einen „blau“, während die<br />

an<strong>de</strong>re „braun“ vorschlägt.<br />

Manchmal sind die bei<strong>de</strong>n alternativen Seiten i<strong>de</strong>ntisch,<br />

in an<strong>de</strong>ren Fällen, wie in unserem Beispiel, sind sie verschie<strong>de</strong>n.<br />

Was tut <strong>de</strong>r Körper, <strong>wen</strong>n sie einan<strong>de</strong>r wi<strong>de</strong>rsprechen<strong>de</strong><br />

„Empfehlungen“ geben? Darauf gibt es verschie<strong>de</strong>ne Antworten.<br />

Gelegentlich setzt sich eine Lesart gegenüber <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren<br />

durch. In <strong>de</strong>m gera<strong>de</strong> angeführten Beispiel <strong>de</strong>r Augenfarbe<br />

wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Mensch tatsächlich braune Augen haben:<br />

Die Anweisungen zur Erzeugung blauer Augen wür<strong>de</strong>n beim<br />

Bau <strong>de</strong>s Körpers ignoriert wer<strong>de</strong>n, doch hin<strong>de</strong>rt sie dies<br />

nicht daran, an künftige Generationen vererbt zu wer<strong>de</strong>n. Ein<br />

Gen, das auf diese Weise unbeachtet bleibt, wird als rezessiv<br />

bezeichnet. Das Gegenteil eines rezessiven Gens ist ein dominantes<br />

Gen. Das Gen für braune Augen ist gegenüber <strong>de</strong>m Gen


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 55<br />

für blaue Augen dominant. Ein Mensch hat nur dann blaue<br />

Augen, <strong>wen</strong>n bei<strong>de</strong> Kopien <strong>de</strong>r entsprechen<strong>de</strong>n Seite einstimmig<br />

blaue Augen empfehlen. Häufiger allerdings ist, <strong>wen</strong>n zwei<br />

alternative Gene nicht i<strong>de</strong>ntisch sind, eine Art Komp<strong>ro</strong>miß<br />

das Ergebnis – <strong>de</strong>r Körper wird entsprechend einem zwischen<br />

bei<strong>de</strong>n Möglichkeiten liegen<strong>de</strong>n Plan o<strong>de</strong>r aber völlig an<strong>de</strong>rs<br />

gebaut.<br />

Wenn zwei Gene, wie das Gen für braune und das für blaue<br />

Augen, um <strong>de</strong>nselben Ort auf einem Ch<strong>ro</strong>mosom konkurrieren,<br />

so heißen sie Allele. Für unsere Zwecke ist das Wort Allel<br />

gleichbe<strong>de</strong>utend mit Rivale. Denken wir uns die Bän<strong>de</strong> mit<br />

Bauplänen als Schnellhefter, <strong>de</strong>ren Seiten herausgenommen<br />

und ausgetauscht wer<strong>de</strong>n können. Je<strong>de</strong>r Band 13 muß eine<br />

Seite 6 haben, aber es gibt mehrere mögliche Seiten 6, die zwischen<br />

Seite 5 und Seite 7 in <strong>de</strong>n Ordner passen könnten. Eine<br />

mögliche Version sagt „blaue Augen“, eine an<strong>de</strong>re „braune<br />

Augen“, und in <strong>de</strong>r gesamten Population mag es noch weitere<br />

Versionen geben, die an<strong>de</strong>re Farben vorschlagen, zum Beispiel<br />

grün. Vielleicht gibt es auf <strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Population verteilten<br />

Ch<strong>ro</strong>mosomen Nummer 13 ein halbes Dutzend alternative<br />

Allele, die sich auf <strong>de</strong>m unserer Seite 6 entsprechen<strong>de</strong>n Genort<br />

befin<strong>de</strong>n. Je<strong>de</strong>r einzelne Mensch besitzt lediglich zwei Bän<strong>de</strong>,<br />

das heißt zwei Ch<strong>ro</strong>mosomen, Nummer 13. Daher kann er auf<br />

<strong>de</strong>m Platz von Seite 6 höchstens zwei Allele haben. Er kann,<br />

wie ein blauäugiger Mensch, zwei Kopien <strong>de</strong>sselben Allels<br />

besitzen o<strong>de</strong>r zwei beliebige Allele aus <strong>de</strong>m halben Dutzend<br />

Alternativen, die in <strong>de</strong>r gesamten Population zur Verfügung<br />

stehen.<br />

Natürlich kann niemand tatsächlich hingehen und sich seine<br />

Allele aus einem <strong>de</strong>r ganzen Bevölkerung zur Verfügung stehen<strong>de</strong>n<br />

Reservoir heraussuchen. Zu je<strong>de</strong>m beliebigen <strong>Zeit</strong>punkt<br />

sind alle Gene im Innern individueller Überlebensmaschinen<br />

eingeschlossen. Wir erhalten unsere Gene bei <strong>de</strong>r Empfängnis<br />

in einer bestimmten Anzahl zugeteilt und können keinen<br />

Einfluß auf die Auswahl ausüben. In einem bestimmten Sinne<br />

allerdings lassen sich, langfristig betrachtet, die Gene <strong>de</strong>r<br />

Gesamtpopulation als ein Genvorrat ansehen. In <strong>de</strong>r Tat ver-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 56<br />

<strong>wen</strong><strong>de</strong>n die Genetiker <strong>de</strong>n Fachausdruck Genpool. Er ist eine<br />

nützliche Abstraktion, da die sexuelle Fortpflanzung die Gene,<br />

<strong>wen</strong>n auch in sorgfältig organisierter Weise, durcheinan<strong>de</strong>rmischt.<br />

Im einzelnen geschieht wirklich so etwas wie das<br />

Herauslösen und Austauschen von einzelnen o<strong>de</strong>r mehreren<br />

Seiten <strong>de</strong>s Schnellhefters, wie wir gleich noch sehen wer<strong>de</strong>n.<br />

Ich habe bereits die normale Zellteilung beschrieben, bei<br />

<strong>de</strong>r sich eine Zelle in zwei neue teilt, von <strong>de</strong>nen je<strong>de</strong> eine<br />

vollständige Kopie aller 46 Ch<strong>ro</strong>mosomen erhält. Diese normale<br />

Zellteilung wird Mitose genannt. Es gibt jedoch noch eine<br />

an<strong>de</strong>re Art von Zellteilung, die man als Meiose bezeichnet.<br />

Diese kommt lediglich bei <strong>de</strong>r Herstellung von Geschlechtszellen<br />

vor, also von Samen- o<strong>de</strong>r Eizellen. Spermien und Eier<br />

sind insofern einzigartig unter unseren Zellen, als sie statt 46<br />

Ch<strong>ro</strong>mosomen lediglich 23 enthalten. Das ist natürlich genau<br />

die Hälfte von 46 – eine praktische Einrichtung, <strong>wen</strong>n sie bei<br />

<strong>de</strong>r Befruchtung verschmelzen, um ein neues Individuum zu<br />

erzeugen! Die Meiose ist eine beson<strong>de</strong>re, ausschließlich in<br />

Ho<strong>de</strong>n und Eierstöcken stattfin<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Art von Zellteilung, bei<br />

<strong>de</strong>r sich eine Zelle mit <strong>de</strong>m vollständigen doppelten Satz von<br />

46 Ch<strong>ro</strong>mosomen teilt und Geschlechtszellen bil<strong>de</strong>t, die lediglich<br />

einen einzigen Satz von 23 Ch<strong>ro</strong>mosomen besitzen. (Wir<br />

benutzen hier zur Erläuterung die Ch<strong>ro</strong>mosomenzahl <strong>de</strong>s Menschen.)<br />

Eine Samenzelle mit ihren 23 Ch<strong>ro</strong>mosomen entsteht durch<br />

meiotische Teilung einer <strong>de</strong>r gewöhnlichen 46-Ch<strong>ro</strong>mosomen-<br />

Zellen im Ho<strong>de</strong>n. Welche 23 Ch<strong>ro</strong>mosomen erhält eine gegebene<br />

Samenzelle ? Es ist zweifellos wichtig, daß sie nicht einfach<br />

nur irgendwelche 23 Ch<strong>ro</strong>mosomen bekommt: Es darf<br />

nicht so ausgehen, daß sie am En<strong>de</strong> zwei Kopien von Band 13<br />

und keine von Band 17 enthält. Theoretisch wäre es möglich,<br />

daß ein Individuum eine seiner Samenzellen mit Ch<strong>ro</strong>mosomen<br />

ausstattet, die ausschließlich von seiner Mutter stammen,<br />

das heißt Band 1b, 2b, 3b ... 23b. In diesem unwahrscheinlichen<br />

Fall wür<strong>de</strong> ein aus <strong>de</strong>m Samen empfangenes Kind die<br />

Hälfte seiner Gene von seiner G<strong>ro</strong>ßmutter väterlicherseits und<br />

keine von seinem G<strong>ro</strong>ßvater väterlicherseits erben. Doch in


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 57<br />

<strong>de</strong>r Realität fin<strong>de</strong>t eine solche Verteilung ganzer Ch<strong>ro</strong>mosomen<br />

nicht statt. Die Wahrheit ist sehr viel komplizierter. Erinnern<br />

wir uns daran, daß wir uns die Bän<strong>de</strong> (Ch<strong>ro</strong>mosomen)<br />

als Schnellhefter gedacht haben. Während <strong>de</strong>r Herstellung<br />

<strong>de</strong>r Samenzelle wer<strong>de</strong>n nun einzelne Seiten o<strong>de</strong>r eher noch<br />

Päckchen von mehreren Seiten herausgenommen und gegen<br />

die entsprechen<strong>de</strong>n Päckchen <strong>de</strong>s alternativen Ban<strong>de</strong>s ausgetauscht.<br />

So stellt eine spezielle Samenzelle vielleicht ihren<br />

Band 1 her, in<strong>de</strong>m sie die ersten 65 Seiten aus Band 1a entnimmt<br />

und die restlichen Seiten ab Seite 66 aus Band 1b.<br />

Die an<strong>de</strong>ren 22 Bän<strong>de</strong> dieser Samenzelle wür<strong>de</strong>n auf ähnliche<br />

Weise zusammengestellt wer<strong>de</strong>n. Daher ist je<strong>de</strong> von einem<br />

Lebewesen p<strong>ro</strong>duzierte Samenzelle einzig in ihrer Art, obwohl<br />

in allen Samenzellen die 23 Ch<strong>ro</strong>mosomen aus Teilen <strong>de</strong>sselben<br />

Satzes von 46 Ch<strong>ro</strong>mosomen zusammengesetzt sind. Die<br />

Eier wer<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n Eierstöcken auf ähnliche Weise hergestellt,<br />

und auch sie sind einzigartig.<br />

Über die mechanischen Einzelheiten dieser Vermischung im<br />

wirklichen Leben weiß man ziemlich gut Bescheid. Während<br />

<strong>de</strong>r Herstellung einer Samenzelle (o<strong>de</strong>r einer Eizelle) lösen sich<br />

von je<strong>de</strong>m väterlichen Ch<strong>ro</strong>mosom kleine Stückchen ab und<br />

tauschen ihren Platz mit <strong>de</strong>n genau entsprechen<strong>de</strong>n Stückchen<br />

<strong>de</strong>s mütterlichen Ch<strong>ro</strong>mosoms. (Erinnern wir uns daran, daß<br />

wir von Ch<strong>ro</strong>mosomen sprechen, die ursprünglich von <strong>de</strong>n<br />

Eltern <strong>de</strong>s Individuums kommen, das <strong>de</strong>n Samen erzeugt,<br />

das heißt von <strong>de</strong>n G<strong>ro</strong>ßeltern väterlicherseits <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s, das<br />

schließlich aus <strong>de</strong>m Samen empfangen wird.) Der Vorgang <strong>de</strong>s<br />

Austauschens von Ch<strong>ro</strong>mosomenabschnitten wird als C<strong>ro</strong>ssing-over<br />

bezeichnet. Er ist für die gesamte Beweisführung in<br />

diesem Buch von g<strong>ro</strong>ßer Be<strong>de</strong>utung, da er eine entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong><br />

Folge hat: Wür<strong>de</strong>n wir unser Mik<strong>ro</strong>skop hervorholen und die<br />

Ch<strong>ro</strong>mosomen in einer unserer Samenzellen (beziehungsweise<br />

bei Frauen in einer Eizelle) betrachten, so wäre es <strong>Zeit</strong>versch<strong>wen</strong>dung,<br />

<strong>wen</strong>n wir die Ch<strong>ro</strong>mosomen, die ursprünglich<br />

von unserem Vater, und die Ch<strong>ro</strong>mosomen, die ursprünglich<br />

von unserer Mutter kamen, herauszufin<strong>de</strong>n suchten. (Dies<br />

steht in <strong>de</strong>utlichem Gegensatz zu <strong>de</strong>n Verhältnissen bei norma-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 58<br />

len Körperzellen.) Je<strong>de</strong>s einzelne Ch<strong>ro</strong>mosom in einer Samenzelle<br />

ist bunt zusammengewürfelt, ein Mosaik aus mütterlichen<br />

und väterlichen Genen.<br />

Hier beginnt unser Bild von <strong>de</strong>m Gen als einer Seite in<br />

einem Buch o<strong>de</strong>r Schnellhefter uns im Stich zu lassen. Man<br />

kann bei einem Schnellhefter eine ganze Seite einfügen, herausnehmen<br />

o<strong>de</strong>r auswechseln, aber mit einem Bruchstück<br />

einer Seite kann man dies nicht tun. Der Genkomplex ist aber<br />

lediglich eine lange Reihenfolge von Nucleotidbuchstaben, die<br />

keineswegs <strong>de</strong>utlich in einzelne Seiten unterteilt sind. Zwar<br />

gibt es spezielle Symbole für „En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r P<strong>ro</strong>teinketteninformation“<br />

und „Anfang <strong>de</strong>r P<strong>ro</strong>teinketteninformation“, die in <strong>de</strong>mselben<br />

Alphabet aus vier Buchstaben aufgezeichnet sind wie<br />

die Information für das P<strong>ro</strong>tein selbst. Zwischen diesen bei<strong>de</strong>n<br />

Interpunktionszeichen befin<strong>de</strong>n sich die codierten Anweisungen<br />

zur Herstellung eines P<strong>ro</strong>teins. Wenn wir wollen, können<br />

wir ein einzelnes Gen als eine Sequenz von Nucleotidbuchstaben<br />

<strong>de</strong>finieren, die zwischen einem Symbol für „Anfang“ und<br />

einem Symbol für „En<strong>de</strong>“ liegen und eine Eiweißkette codieren.<br />

Eine auf diese Weise <strong>de</strong>finierte Einheit ist mit <strong>de</strong>m Wort<br />

Cist<strong>ro</strong>n bezeichnet wor<strong>de</strong>n, und einige Leute ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>n das<br />

Wort Gen gleichbe<strong>de</strong>utend mit Cist<strong>ro</strong>n.<br />

Doch das C<strong>ro</strong>ssing-over beachtet die Grenzen zwischen<br />

Cist<strong>ro</strong>ns nicht. Teilungen können ebensogut mitten in einem<br />

Cist<strong>ro</strong>n wie zwischen zwei Cist<strong>ro</strong>ns vorkommen. Es ist so, als<br />

wären die Pläne <strong>de</strong>s Architekten nicht auf getrennten Seiten<br />

aufgezeichnet, son<strong>de</strong>rn auf 46 Rollen Papierstreifen. Cist<strong>ro</strong>ns<br />

haben keine feststehen<strong>de</strong> Länge. Die einzige Möglichkeit zu<br />

erkennen, wo ein Cist<strong>ro</strong>n aufhört und das nächste anfängt,<br />

wäre die, die Symbole auf <strong>de</strong>m Streifen zu lesen und nach <strong>de</strong>n<br />

Zeichen für „En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Information“ und „Anfang <strong>de</strong>r Information“<br />

zu suchen. Das C<strong>ro</strong>ssing-over geht so vor sich, daß alternative<br />

Papierstreifen väterlicher und mütterlicher Herkunft herausgegriffen<br />

und zerschnitten und entsprechen<strong>de</strong> Abschnitte<br />

gegeneinan<strong>de</strong>r ausgetauscht wer<strong>de</strong>n, ohne Rücksicht auf das,<br />

was darauf geschrieben steht.<br />

Das Wort Gen im Titel dieses Buches be<strong>de</strong>utet nicht ein


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 59<br />

einzelnes Cist<strong>ro</strong>n, son<strong>de</strong>rn etwas schwerer zu Fassen<strong>de</strong>s.<br />

Meine Definition wird nicht nach je<strong>de</strong>rmanns Geschmack<br />

sein, doch es gibt keine allgemein anerkannte Definition<br />

eines Gens. Wir können ein Wort <strong>de</strong>finieren, wie es uns für<br />

unsere Zwecke gefällt, vorausgesetzt, wir tun dies <strong>de</strong>utlich und<br />

unmißverständlich. Die Definition, die ich benutzen möchte,<br />

stammt von G. C. Williams. 2 Ein Gen ist <strong>de</strong>finiert als je<strong>de</strong>s<br />

beliebige Stück Ch<strong>ro</strong>mosomenmaterial, welches potentiell so<br />

viele Generationen überdauert, daß es als eine Einheit <strong>de</strong>r<br />

natürlichen Auslese dienen kann. In <strong>de</strong>r Sprache <strong>de</strong>s vorigen<br />

Kapitels ausgedrückt, ist ein Gen ein Replikator mit hoher<br />

Kopiergenauigkeit. Kopiergenauigkeit ist ein an<strong>de</strong>res Wort für<br />

„Langlebigkeit in Gestalt von Kopien“, und ich wer<strong>de</strong> dies<br />

einfach mit Langlebigkeit abkürzen. Diese Definition verlangt<br />

einige Rechtfertigung.<br />

Allen Definitionen zufolge ist ein Gen ein Stück eines Ch<strong>ro</strong>mosoms.<br />

Die Frage ist nur, ein wie g<strong>ro</strong>ßes Stück – wieviel von<br />

<strong>de</strong>r Papier<strong>ro</strong>lle? Stellen wir uns eine beliebige Sequenz nebeneinan<strong>de</strong>rliegen<strong>de</strong>r<br />

Co<strong>de</strong>buchstaben auf <strong>de</strong>r Rolle vor. Geben<br />

wir dieser Sequenz <strong>de</strong>n Namen genetische Einheit. Sie könnte<br />

eine Reihe von lediglich zehn Buchstaben innerhalb eines<br />

Cist<strong>ro</strong>ns sein, sie könnte aus einer Folge von acht Cist<strong>ro</strong>ns<br />

bestehen, und sie könnte in <strong>de</strong>r Mitte eines Cist<strong>ro</strong>ns anfangen<br />

und in <strong>de</strong>r Mitte eines Cist<strong>ro</strong>ns aufhören. Sie wird sich mit<br />

an<strong>de</strong>ren genetischen Einheiten überschnei<strong>de</strong>n. Sie wird kleinere<br />

Einheiten enthalten und selbst Teil größerer Einheiten<br />

sein. Gleichgültig, wie lang o<strong>de</strong>r wie kurz, für die Zwecke unserer<br />

gegenwärtigen Überlegung wer<strong>de</strong>n wir dies eine genetische<br />

Einheit nennen. Sie ist nichts an<strong>de</strong>res als ein Ch<strong>ro</strong>mosomenabschnitt,<br />

<strong>de</strong>r sich physisch in keinerlei Weise vom Rest<br />

<strong>de</strong>s Ch<strong>ro</strong>mosoms unterschei<strong>de</strong>t.<br />

Jetzt kommt <strong>de</strong>r wichtige Punkt. Je kürzer eine genetische<br />

Einheit ist, <strong>de</strong>sto länger – in Generationen gemessen – wird sie<br />

wahrscheinlich leben. Um so geringer ist vor allem die Wahrscheinlichkeit,<br />

daß sie bei irgen<strong>de</strong>inem C<strong>ro</strong>ssing-over aufgespalten<br />

wird. Stellen wir uns vor, daß ein ganzes Ch<strong>ro</strong>mosom<br />

je<strong>de</strong>smal, <strong>wen</strong>n durch meiotische Teilung eine Samen- o<strong>de</strong>r


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 60<br />

Eizelle entsteht, durchschnittlich einem C<strong>ro</strong>ssing-over ausgesetzt<br />

ist und daß dieses C<strong>ro</strong>ssing-over an je<strong>de</strong>r Stelle seiner<br />

gesamten Länge stattfin<strong>de</strong>n kann. Betrachten wir eine sehr<br />

g<strong>ro</strong>ße genetische Einheit von beispielsweise <strong>de</strong>r halben Länge<br />

eines Ch<strong>ro</strong>mosoms, so besteht eine Möglichkeit von 50 P<strong>ro</strong>zent,<br />

daß die Einheit aufgespalten wird. Wenn die genetische<br />

Einheit, die wir untersuchen, lediglich ein P<strong>ro</strong>zent <strong>de</strong>r<br />

Ch<strong>ro</strong>mosomenlänge ausmacht, so können wir annehmen, daß<br />

ihre Chance, in einer meiotischen Teilung aufgespalten zu<br />

wer<strong>de</strong>n, nicht mehr als ein P<strong>ro</strong>zent beträgt. Dies be<strong>de</strong>utet, daß<br />

die Einheit erwarten kann, während einer Vielzahl von Generationen<br />

in <strong>de</strong>n Nachkommen <strong>de</strong>s Individuums zu überleben.<br />

Ein einzelnes Cist<strong>ro</strong>n ist wahrscheinlich sehr viel kürzer als<br />

ein P<strong>ro</strong>zent <strong>de</strong>r Länge eines Ch<strong>ro</strong>mosoms. Selbst eine Gruppe<br />

benachbarter Cist<strong>ro</strong>ns kann damit rechnen, daß sie viele Generationen<br />

besteht, bevor sie durch C<strong>ro</strong>ssing-over aufgespalten<br />

wird.<br />

Die durchschnittliche Lebenserwartung einer genetischen<br />

Einheit kann man zweckmäßigerweise in Generationen<br />

ausdrücken, die sich wie<strong>de</strong>rum in Jahre „übersetzen“ lassen.<br />

Wenn wir ein ganzes Ch<strong>ro</strong>mosom als unsere angenommene<br />

genetische Einheit auswählen, so dauert seine Lebensgeschichte<br />

lediglich eine Generation. Nehmen wir an, es sei<br />

unser Ch<strong>ro</strong>mosom Nummer 8a, das wir von unserem Vater<br />

geerbt haben. Es wur<strong>de</strong>, kurz bevor wir gezeugt wur<strong>de</strong>n, in<br />

<strong>de</strong>n Ho<strong>de</strong>n unseres Vaters gebil<strong>de</strong>t. In <strong>de</strong>r gesamten Erdgeschichte<br />

hatte es niemals zuvor existiert. Es entstand durch <strong>de</strong>n<br />

meiotischen Umgruppierungsvorgang, durch das Zusammenkommen<br />

von Ch<strong>ro</strong>mosomen unserer G<strong>ro</strong>ßmutter und unseres<br />

G<strong>ro</strong>ßvaters väterlicherseits, gelangte es in eine bestimmte<br />

Samenzelle und war einzig in seiner Art. Die Samenzelle war<br />

eine von mehreren Millionen, einer gewaltigen Flotte winziger<br />

Schiffe, und alle zusammen segelten sie in unsere Mutter<br />

hinein. Diese spezielle Samenzelle war die einzige (es sei <strong>de</strong>nn,<br />

wir sind ein zweieiiger Zwilling o<strong>de</strong>r Mehrling), die in einer<br />

Eizelle unserer Mutter Zuflucht fand – und das ist <strong>de</strong>r Grund,<br />

warum es uns gibt. Die genetische Einheit, die wir untersu-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 61<br />

chen, unser Ch<strong>ro</strong>mosom Nummer 8a, machte sich daran, sich<br />

zu verdoppeln, ebenso wie <strong>de</strong>r Rest unseres genetischen Materials.<br />

Jetzt ist es in je<strong>de</strong>r Zelle unseres Körpers enthalten.<br />

Doch <strong>wen</strong>n wir selbst Eizellen (o<strong>de</strong>r Samenzellen) herstellen,<br />

wird dieses Ch<strong>ro</strong>mosom zerstört wer<strong>de</strong>n. Stückchen von ihm<br />

wer<strong>de</strong>n gegen Stückchen unseres mütterlichen Ch<strong>ro</strong>mosoms<br />

Nummer 8b ausgetauscht wer<strong>de</strong>n. In je<strong>de</strong>r Geschlechtszelle<br />

wird ein neues Ch<strong>ro</strong>mosom Nummer 8 geschaffen wer<strong>de</strong>n,<br />

vielleicht „besser“, vielleicht „schlechter“ als das alte, aber –<br />

solange nicht ein unwahrscheinlicher Zufall eintritt – ein<strong>de</strong>utig<br />

an<strong>de</strong>rs, ein<strong>de</strong>utig einzigartig. Die Lebensspanne eines Ch<strong>ro</strong>mosoms<br />

ist eine Generation.<br />

Wie sieht es nun mit <strong>de</strong>r Lebensspanne einer kleineren Einheit<br />

aus, nehmen wir einmal an, einem Tausendstel <strong>de</strong>r Länge<br />

unseres Ch<strong>ro</strong>mosoms Nummer 8a? Diese Einheit stammt ebenfalls<br />

von unserem Vater, aber sie wur<strong>de</strong> sehr wahrscheinlich<br />

ursprünglich nicht in ihm zusammengesetzt. Nach unseren<br />

vorangegangenen Überlegungen besteht eine 99-p<strong>ro</strong>zentige<br />

Chance, daß er sie unversehrt von einem seiner bei<strong>de</strong>n Eltern<br />

erhielt. Nehmen wir an, von seiner Mutter, unserer G<strong>ro</strong>ßmutter<br />

väterlicherseits. Wie<strong>de</strong>rum besteht eine 99p<strong>ro</strong>zentige Wahrscheinlichkeit,<br />

daß diese sie unversehrt von einem ihrer Eltern<br />

erhielt. Letzten En<strong>de</strong>s gelangen wir, <strong>wen</strong>n wir die Ahnenreihe<br />

einer kleinen genetischen Einheit weit genug zurückverfolgen,<br />

zu ihrem ursprünglichen Erzeuger. Irgendwann einmal muß<br />

sie zum ersten Mal in einem Ho<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r einem Eierstock eines<br />

unserer Vorfahren erzeugt wor<strong>de</strong>n sein.<br />

Der Leser möge mir erlauben, noch einmal zu wie<strong>de</strong>rholen,<br />

in welchem recht speziellen Sinn ich das Wort „erzeugen“<br />

benutze. Die kleineren Untereinheiten, aus <strong>de</strong>nen sich die von<br />

uns untersuchte genetische Einheit zusammensetzt, mögen<br />

durchaus schon lange vorher bestan<strong>de</strong>n haben. Unsere genetische<br />

Einheit wur<strong>de</strong> lediglich in <strong>de</strong>m Sinne zu einem speziellen<br />

<strong>Zeit</strong>punkt geschaffen, als die spezielle Anordnung von Untereinheiten,<br />

durch die sie <strong>de</strong>finiert ist, vor diesem Augenblick<br />

noch nicht existierte. Der <strong>Zeit</strong>punkt ihrer Erzeugung mag noch<br />

nicht lange zurückliegen, nehmen wir an, sie wur<strong>de</strong> in einem


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 62<br />

unserer G<strong>ro</strong>ßväter geschaffen. Wenn wir aber eine sehr kleine<br />

genetische Einheit untersuchen, so ist sie vielleicht zum ersten<br />

Mal in einem sehr viel weiter entfernten Ahnen zusammengestellt<br />

wor<strong>de</strong>n, vielleicht einem affenähnlichen, prähumanen<br />

Vorfahren. Überdies kann eine kleine genetische Einheit, die<br />

wir in uns tragen, möglicherweise noch einmal genausolang<br />

in <strong>de</strong>r Zukunft weiterleben, kann unversehrt eine lange Reihe<br />

unserer Nachkommen durchlaufen.<br />

Vergessen wir auch nicht, daß die Nachkommen eines Individuums<br />

keine einfache, son<strong>de</strong>rn eine sich verzweigen<strong>de</strong> Linie<br />

darstellen. Welcher unserer Ahnen es auch gewesen sein mag,<br />

<strong>de</strong>r einen speziellen kurzen Abschnitt unseres Ch<strong>ro</strong>mosoms<br />

8a „geschaffen“ hat, er o<strong>de</strong>r sie hat außer uns wahrscheinlich<br />

noch viele an<strong>de</strong>re Nachkommen. Eine unserer genetischen<br />

Einheiten ist vielleicht auch in unserem Vetter zweiten Gra<strong>de</strong>s<br />

vorhan<strong>de</strong>n. Sie kann in mir sein und im Bun<strong>de</strong>skanzler<br />

und in unserem Hund, <strong>de</strong>nn <strong>wen</strong>n wir nur weit genug<br />

zurückgehen, haben wir alle gemeinsame Vorfahren. Ebenso<br />

ist es <strong>de</strong>nkbar, daß dieselbe kleine Einheit durch Zufall mehrere<br />

Male unabhängig voneinan<strong>de</strong>r zusammengesetzt wird;<br />

bei einer kleinen Einheit ist das nicht allzu unwahrscheinlich.<br />

Dagegen dürfte selbst ein naher Verwandter kein ganzes Ch<strong>ro</strong>mosom<br />

mit uns gemeinsam haben. Je kleiner eine genetische<br />

Einheit ist, <strong>de</strong>sto wahrscheinlicher besitzt ein an<strong>de</strong>res Individuum<br />

sie ebenfalls – um so größer ist die Wahrscheinlichkeit,<br />

daß sie in Form von Kopien viele Male hintereinan<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>r<br />

Welt existiert.<br />

Gewöhnlich entsteht eine neue genetische Einheit durch<br />

das zufällige Zusammentreffen schon vorhan<strong>de</strong>ner Untereinheiten<br />

beim C<strong>ro</strong>ssing-over. Eine an<strong>de</strong>re Möglichkeit ist eine<br />

sogenannte Punktmutation. Das ist ein Fehler, <strong>de</strong>r einem einzigen<br />

falsch gedruckten Buchstaben in einem Buch entspricht.<br />

Punktmutationen kommen selten vor, sind aber von g<strong>ro</strong>ßer<br />

Be<strong>de</strong>utung für die Evolution. Je größer eine genetische Einheit<br />

ist, <strong>de</strong>sto größer ist natürlich auch die Wahrscheinlichkeit, daß<br />

sie an irgen<strong>de</strong>iner Stelle durch eine Mutation verän<strong>de</strong>rt wird.<br />

Eine weitere seltene Art von Fehler o<strong>de</strong>r Mutation mit


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 63<br />

be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>n langfristigen Konsequenzen wird als Inversion<br />

bezeichnet. Dabei löst sich ein Ch<strong>ro</strong>mosomenstück an bei<strong>de</strong>n<br />

En<strong>de</strong>n ab, dreht sich um 180 Grad und fügt sich in umgekehrter<br />

Stellung wie<strong>de</strong>r ein. Im Sinne unserer obigen Analogie<br />

wür<strong>de</strong> dies die Umnumerierung einiger Seiten erfor<strong>de</strong>rlich<br />

machen. Gelegentlich drehen sich die Ch<strong>ro</strong>mosomenabschnitte<br />

nicht nur einfach um, son<strong>de</strong>rn wer<strong>de</strong>n an einer völlig<br />

an<strong>de</strong>ren Stelle <strong>de</strong>s Ch<strong>ro</strong>mosoms wie<strong>de</strong>r eingebaut o<strong>de</strong>r verbin<strong>de</strong>n<br />

sich sogar mit einem gänzlich an<strong>de</strong>ren Ch<strong>ro</strong>mosom. Dies<br />

entspricht <strong>de</strong>r Übertragung eines Stoßes von Seiten von einem<br />

Band in einen an<strong>de</strong>ren. Die Be<strong>de</strong>utung dieser Art von Fehler,<br />

<strong>de</strong>r gewöhnlich verhängnisvoll ist, liegt darin, daß er gelegentlich<br />

zu einer engen Koppelung von Stücken genetischen Materials<br />

führen kann, die zufällig gut zusammenarbeiten. Vielleicht<br />

kommen infolge <strong>de</strong>r Inversion zwei Cist<strong>ro</strong>ns nahe beieinan<strong>de</strong>r<br />

zu liegen, die nur dann einen nützlichen Effekt haben, <strong>wen</strong>n<br />

sie bei<strong>de</strong> vorhan<strong>de</strong>n sind – sie ergänzen o<strong>de</strong>r verstärken einan<strong>de</strong>r<br />

auf eine bestimmte Weise. Dann tendiert die natürliche<br />

Auslese möglicherweise dazu, die so gebil<strong>de</strong>te neue „genetische<br />

Einheit“ zu begünstigen, und diese verbreitet sich über<br />

die zukünftige Population. Es ist möglich, daß Genkomplexe<br />

im Laufe <strong>de</strong>r Jahre durch <strong>de</strong>rartige Verfahren ausgiebig neu<br />

arrangiert o<strong>de</strong>r „überarbeitet“ wor<strong>de</strong>n sind.<br />

Eines <strong>de</strong>r prägnantesten Beispiele dafür betrifft das Phänomen,<br />

das unter <strong>de</strong>m Namen Mimikry bekannt ist. Bestimmte<br />

Schmetterlingsarten schmecken wi<strong>de</strong>rlich. Sie haben gewöhnlich<br />

leuchten<strong>de</strong> und charakteristische Farben, und die Vögel<br />

lernen sie anhand dieser Warnsignale mei<strong>de</strong>n. Dies machen<br />

sich an<strong>de</strong>re Schmetterlinge, die nicht schlecht schmecken,<br />

zunutze. Sie ahmen die ungenießbaren Arten nach, das heißt,<br />

sie ähneln diesen in Farbe und Gestalt. Damit halten sie<br />

häufig Naturforscher zum Narren, und ebenso täuschen sie die<br />

Vögel. Ein Vogel, <strong>de</strong>r einmal einen tatsächlich ungenießbaren<br />

Schmetterling p<strong>ro</strong>biert hat, wird gewöhnlich alle Schmetterlinge<br />

mei<strong>de</strong>n, die genauso aussehen. Dazu gehören die Nachahmer,<br />

und auf diese Weise wer<strong>de</strong>n die Gene für Mimikry<br />

durch die natürliche Auslese begünstigt. So entwickelt sich


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 64<br />

Mimikry. Es gibt viele verschie<strong>de</strong>ne Arten von ungenießbaren<br />

Schmetterlingen, und sie sehen nicht alle gleich aus. Ein<br />

Nachahmer kann nicht allen ähnlich sehen, er muß sich also<br />

für eine spezielle ungenießbare Art entschei<strong>de</strong>n. Im allgemeinen<br />

ist je<strong>de</strong> nachahmen<strong>de</strong> Art darauf spezialisiert, eine<br />

ganz bestimmte ungenießbare Spezies zu kopieren. Doch es<br />

gibt Schmetterlingsarten, die etwas sehr Seltsames tun: Einige<br />

ihrer Individuen imitieren eine ungenießbare Art, an<strong>de</strong>re Individuen<br />

eine an<strong>de</strong>re. Je<strong>de</strong>r Schmetterling, <strong>de</strong>r „dazwischenliegen“<br />

o<strong>de</strong>r versuchen wür<strong>de</strong>, bei<strong>de</strong> nachzuahmen, wür<strong>de</strong><br />

bald gefressen wer<strong>de</strong>n, aber <strong>de</strong>rartige „Zwischenexemplare“<br />

wer<strong>de</strong>n gar nicht erst geboren. Gera<strong>de</strong> so, wie je<strong>de</strong>s Individuum<br />

entwe<strong>de</strong>r <strong>de</strong>finitiv männlich o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>finitiv weiblich ist,<br />

imitiert es entwe<strong>de</strong>r die eine o<strong>de</strong>r die an<strong>de</strong>re ungenießbare Art.<br />

Einer dieser Schmetterlinge imitiert vielleicht Art A, während<br />

sein Bru<strong>de</strong>r Art B gleicht.<br />

Es sieht so aus, als bestimme ein einziges Gen, ob ein Individuum<br />

Art A o<strong>de</strong>r Art B imitiert. Doch wie kann ein einzelnes<br />

Gen für alle mannigfaltigen Aspekte <strong>de</strong>r Mimikry – Farbe,<br />

Gestalt, Fleckenmuster, Flugrhythmus – bestimmend sein?<br />

Die Antwort lautet, daß ein einzelnes Gen im Sinne eines<br />

Cist<strong>ro</strong>ns dies wahrscheinlich nicht kann. Doch das sich aus<br />

Inversionen und an<strong>de</strong>ren zufälligen Umgruppierungen von<br />

genetischem Material ergeben<strong>de</strong> unbewußte und automatische<br />

„Überarbeiten“ hat dazu geführt, daß eine g<strong>ro</strong>ße Gruppe<br />

früher getrennter Gene nunmehr in enger Koppelung auf<br />

einem Ch<strong>ro</strong>mosom zusammengefun<strong>de</strong>n hat. Diese gesamte<br />

Gengruppe benimmt sich wie ein einzelnes Gen – nach unserer<br />

Definition ist sie in <strong>de</strong>r Tat ein einzelnes Gen –, und sie<br />

besitzt ein „Allel“, das in Wirklichkeit eine an<strong>de</strong>re Gengruppe<br />

ist. Eine Gengruppe enthält die Cist<strong>ro</strong>ns für Mimikry von Art<br />

A, die an<strong>de</strong>re diejenigen, die für das Imitieren von Art B<br />

verantwortlich sind. Je<strong>de</strong> dieser Gengruppen wird so selten<br />

durch C<strong>ro</strong>ssing-over aufgespalten, daß in <strong>de</strong>r Natur niemals<br />

ein dazwischenliegen<strong>de</strong>r Schmetterling gesehen wird; beim<br />

Züchten g<strong>ro</strong>ßer Mengen von Schmetterlingen im Labor treten<br />

solche Exemplare jedoch gelegentlich auf.


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 65<br />

Ich ver<strong>wen</strong><strong>de</strong> das Wort Gen in <strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung einer genetischen<br />

Einheit, die klein genug ist, um eine Vielzahl von Generationen<br />

zu überdauern und in Form vieler Kopien überall verbreitet<br />

zu sein. Dies ist keine starre Alles-o<strong>de</strong>r-nichts-Definition,<br />

son<strong>de</strong>rn eher eine Art relativer Definition, wie die von<br />

„g<strong>ro</strong>ß“ o<strong>de</strong>r „alt“. Je wahrscheinlicher es ist, daß ein Ch<strong>ro</strong>mosomenabschnitt<br />

durch C<strong>ro</strong>ssing-over aufgespalten o<strong>de</strong>r durch<br />

Mutationen verschie<strong>de</strong>ner Art verän<strong>de</strong>rt wird, um so <strong>wen</strong>iger<br />

qualifiziert dieser sich für die Bezeichnung Gen in <strong>de</strong>m Sinne,<br />

in <strong>de</strong>m ich sie ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>. Ein Cist<strong>ro</strong>n qualifiziert sich vermutlich<br />

dafür, aber auch größere Einheiten. Ein Dutzend Cist<strong>ro</strong>ns<br />

können so dicht nebeneinan<strong>de</strong>r auf einem Ch<strong>ro</strong>mosom liegen,<br />

daß sie für unsere Zwecke eine einzige langlebige Einheit<br />

bil<strong>de</strong>n. Die Gengruppe für die Mimikry <strong>de</strong>r Schmetterlinge ist<br />

ein gutes Beispiel. Wenn die Cist<strong>ro</strong>ns einen Körper verlassen<br />

und in <strong>de</strong>n nächsten eintreten, <strong>wen</strong>n sie für die Reise in die<br />

nächste Generation an Bord einer Samen- o<strong>de</strong>r Eizelle gehen,<br />

so stellen sie wahrscheinlich fest, daß sich auf <strong>de</strong>m kleinen<br />

Schiff auch ihre nächsten Nachbarn von <strong>de</strong>r vorigen Reise<br />

befin<strong>de</strong>n, alte Schiffskamera<strong>de</strong>n, mit <strong>de</strong>nen sie auf <strong>de</strong>r langen<br />

Odyssee gesegelt sind, seit sie in <strong>de</strong>n Körpern lang vergangener<br />

Ahnen zum ersten Mal gebil<strong>de</strong>t wur<strong>de</strong>n. Benachbarte<br />

Cist<strong>ro</strong>ns auf <strong>de</strong>mselben Ch<strong>ro</strong>mosom bil<strong>de</strong>n eine eng verbun<strong>de</strong>ne<br />

Truppe von Reisegefährten, <strong>de</strong>nen es – <strong>wen</strong>n es wie<strong>de</strong>r<br />

einmal <strong>Zeit</strong> für die Meiose ist – nur selten nicht gelingt, an<br />

Bord <strong>de</strong>sselben Schiffes zu gelangen.<br />

Wollte man genau sein, so dürfte dieses Buch we<strong>de</strong>r Das egoistische<br />

Cist<strong>ro</strong>n noch Das egoistische Ch<strong>ro</strong>mosom heißen, son<strong>de</strong>rn<br />

eher Das etwas egoistische g<strong>ro</strong>ße Stückchen Ch<strong>ro</strong>mosom<br />

und das sogar noch egoistischere kleine Stückchen Ch<strong>ro</strong>mosom.<br />

Doch das ist ein – gelin<strong>de</strong> gesagt – nicht gera<strong>de</strong> spannen<strong>de</strong>r<br />

Titel, daher <strong>de</strong>finiere ich ein Gen als ein kleines Stückchen<br />

Ch<strong>ro</strong>mosom, das potentiell viele Generationen überdauert, und<br />

nenne das Buch Das egoistische Gen.<br />

Wir sind jetzt wie<strong>de</strong>r dort angelangt, wo wir am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s<br />

ersten Kapitels stehengeblieben waren. Dort hatten wir gesehen,<br />

daß man bei je<strong>de</strong>m Gebil<strong>de</strong>, welches die Bezeichnung


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 66<br />

Grun<strong>de</strong>inheit <strong>de</strong>r natürlichen Auslese verdient, Egoismus voraussetzen<br />

muß. Wir hatten festgestellt, daß einige Leute die Art<br />

als die Einheit <strong>de</strong>r natürlichen Selektion betrachten, an<strong>de</strong>re<br />

die Population o<strong>de</strong>r Gruppe innerhalb <strong>de</strong>r Art und wie<strong>de</strong>r<br />

an<strong>de</strong>re das Individuum. Ich hatte gesagt, ich zöge es vor, das<br />

Gen als die grundlegen<strong>de</strong> Einheit <strong>de</strong>s Eigennutzes anzusehen.<br />

Nunmehr habe ich das Gen so <strong>de</strong>finiert, daß ich gera<strong>de</strong>zu recht<br />

behalten muß!<br />

Möglichst allgemein formuliert, be<strong>de</strong>utet natürliche Selektion<br />

<strong>de</strong>n unterschiedlichen Überlebenserfolg von Gebil<strong>de</strong>n.<br />

Einige Gebil<strong>de</strong> leben und an<strong>de</strong>re sterben; damit aber dieser<br />

selektive Tod irgen<strong>de</strong>inen Einfluß auf die Welt haben kann,<br />

muß eine zusätzliche Bedingung erfüllt sein. Je<strong>de</strong>s dieser<br />

Gebil<strong>de</strong> muß in Form zahlreicher Kopien existieren, und<br />

zumin<strong>de</strong>st einige Gebil<strong>de</strong> müssen potentiell in <strong>de</strong>r Lage sein –<br />

in <strong>de</strong>r Gestalt von Kopien –, einen signifikanten Evolutionszeitraum<br />

zu überleben. Kleine genetische Einheiten besitzen diese<br />

Eigenschaften; Individuen, Gruppen und Arten besitzen sie<br />

nicht. Es war die g<strong>ro</strong>ße Leistung von Gregor Men<strong>de</strong>l zu zeigen,<br />

daß Erbeinheiten in <strong>de</strong>r Praxis als unteilbare und unabhängige<br />

Partikel behan<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n können. Heute wissen wir, daß dies<br />

etwas zu einfach ist. Selbst ein Cist<strong>ro</strong>n ist gelegentlich teilbar,<br />

und keine zwei Gene auf <strong>de</strong>mselben Ch<strong>ro</strong>mosom sind völlig<br />

voneinan<strong>de</strong>r unabhängig. Ich habe nun soeben das Gen als<br />

eine Einheit <strong>de</strong>finiert, die in hohem Maße <strong>de</strong>m I<strong>de</strong>al <strong>de</strong>s unteilbaren<br />

Partikels nahekommt. Ein Gen ist nicht unteilbar, aber es<br />

wird selten geteilt. Es ist im Körper eines bestimmten Lebewesens<br />

entwe<strong>de</strong>r <strong>de</strong>finitiv vorhan<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>finitiv nicht vorhan<strong>de</strong>n.<br />

Ein Gen reist intakt von G<strong>ro</strong>ßvater o<strong>de</strong>r G<strong>ro</strong>ßmutter zu<br />

Enkel und passiert die dazwischenliegen<strong>de</strong> Generation, ohne<br />

mit an<strong>de</strong>ren Genen zu verschmelzen. Wür<strong>de</strong>n sich die Gene<br />

ständig mischen, so wäre die natürliche Auslese, wie wir sie<br />

heute verstehen, unmöglich. Dies wur<strong>de</strong> übrigens noch zu Lebzeiten<br />

von Darwin nachgewiesen, und es bereitete ihm g<strong>ro</strong>ßen<br />

Verdruß, da man zu jener <strong>Zeit</strong> annahm, die Vererbung sei ein<br />

Mischvorgang. Men<strong>de</strong>ls Ent<strong>de</strong>ckung war bereits veröffentlicht,<br />

und sie hätte Darwin aus seinen Schwierigkeiten heraushelfen


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 67<br />

können, aber lei<strong>de</strong>r erfuhr er niemals davon: Erst Jahre später,<br />

als Darwin und Men<strong>de</strong>l bereits bei<strong>de</strong> gestorben waren, scheint<br />

sie jemand gelesen zu haben. Möglicherweise erkannte Men<strong>de</strong>l<br />

die Be<strong>de</strong>utung seiner Resultate nicht, sonst hätte er vielleicht<br />

an Darwin geschrieben.<br />

Ein weiterer Aspekt <strong>de</strong>r Partikelhaftigkeit <strong>de</strong>s Gens ist <strong>de</strong>r,<br />

daß es nicht altert; für ein Gen ist die Wahrscheinlichkeit<br />

zu sterben im Alter von einer Million Jahren nicht größer<br />

als mit hun<strong>de</strong>rt Jahren. Es springt von Körper zu Körper<br />

durch die Generationen, manipuliert Körper um Körper auf<br />

seine spezielle Art und für seine eigenen Zwecke und verläßt<br />

einen sterblichen Körper nach <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren, bevor dieser in<br />

Altersschwäche und Tod versinkt.<br />

Die Gene sind die Unsterblichen, o<strong>de</strong>r besser: Sie sind als<br />

Einheiten <strong>de</strong>finiert, die etwas nahekommen, das diese Bezeichnung<br />

verdient. Wir, die einzelnen Überlebensmaschinen auf<br />

<strong>de</strong>r Welt, können damit rechnen, noch ein paar Jahrzehnte<br />

zu leben. Die Lebensdauer <strong>de</strong>r Gene auf <strong>de</strong>r Welt jedoch darf<br />

nicht in Jahrzehnten, sie muß in Jahrtausen<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r Jahrmillionen<br />

gemessen wer<strong>de</strong>n.<br />

Bei Arten mit geschlechtlicher Fortpflanzung ist das einzelne<br />

Lebewesen eine zu g<strong>ro</strong>ße und zu vergängliche genetische<br />

Einheit, um sich als signifikante Einheit für die natürliche<br />

Auslese zu qualifizieren. 3 Die Gruppe von Individuen ist<br />

eine sogar noch größere Einheit. Was die Genetik betrifft,<br />

sind Individuen und Gruppen wie Wolken am Himmel o<strong>de</strong>r<br />

Sandstürme in <strong>de</strong>r Wüste. Sie sind temporäre Ansammlungen<br />

o<strong>de</strong>r Zusammenschlüsse, nicht stabil über <strong>Zeit</strong>räume, wie sie<br />

die Evolution benötigt. Populationen können eine lange <strong>Zeit</strong>spanne<br />

überdauern, aber sie mischen sich ständig mit an<strong>de</strong>ren<br />

Populationen und verlieren somit ihre I<strong>de</strong>ntität. Sie sind<br />

außer<strong>de</strong>m evolutionären Verän<strong>de</strong>rungen von innen her ausgesetzt.<br />

Eine Population ist kein ausreichend distinktes Gebil<strong>de</strong>,<br />

um als Einheit <strong>de</strong>r natürlichen Auslese zu dienen; sie ist nicht<br />

stabil und nicht einheitlich genug, als daß sie einer an<strong>de</strong>ren<br />

Population gegenüber selektiert wer<strong>de</strong>n könnte.<br />

Ein einzelner Körper scheint ausreichend distinkt, solange


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 68<br />

er dauert, doch wie lange ist das schon? Je<strong>de</strong>s Individuum<br />

ist einzigartig. Es gibt keine Evolution durch Selektion, <strong>wen</strong>n<br />

von je<strong>de</strong>m Lebewesen jeweils nur eine Kopie existiert! Die<br />

geschlechtliche Fortpflanzung ist keine Replikation. So wie<br />

eine Population von an<strong>de</strong>ren Populationen durchsetzt wird,<br />

so wird die Nachkommenschaft eines Individuums von <strong>de</strong>r<br />

seines Geschlechtspartners kontaminiert. Unsere Kin<strong>de</strong>r sind<br />

nur zur Hälfte wir, unsere Enkel nur zu einem Viertel. In ein<br />

paar Generationen ist das Beste, auf das wir hoffen können,<br />

eine g<strong>ro</strong>ße Zahl von Nachkommen, von <strong>de</strong>nen je<strong>de</strong>r nur ein<br />

winziges bißchen – ein paar Gene – von uns in sich trägt,<br />

selbst <strong>wen</strong>n einige darüber hinaus noch unseren Familiennamen<br />

führen.<br />

Einzelwesen sind keine stabilen Gebil<strong>de</strong>, sie sind vergänglich.<br />

Auch Ch<strong>ro</strong>mosomen wer<strong>de</strong>n gemischt und fallen <strong>de</strong>r Vergessenheit<br />

anheim wie ein Blatt Karten kurz nach <strong>de</strong>m Ausgeben.<br />

Doch die Karten selbst überdauern das Mischen. Die Karten<br />

sind die Gene. Die Gene wer<strong>de</strong>n durch das C<strong>ro</strong>ssing-over<br />

nicht zerstört, sie wechseln einfach ihre Partner und marschieren<br />

weiter. Das ist ihre Aufgabe. Sie sind die Replikatoren,<br />

und wir sind ihre Überlebensmaschinen. Wenn wir unseren<br />

Zweck erfüllt haben, wer<strong>de</strong>n wir beiseite geschoben. Die<br />

Gene aber sind die Bewohner <strong>de</strong>r geologischen <strong>Zeit</strong>: Gene sind<br />

unvergänglich.<br />

Gene sind immerwährend wie Diamanten, aber nicht ganz<br />

auf dieselbe Art wie Diamanten. Bei <strong>de</strong>n Diamanten ist es<br />

ein einzelner Kristall, <strong>de</strong>r als eine unverän<strong>de</strong>rte Atomstruktur<br />

fortdauert. Die DNA-Moleküle besitzen nicht diese Art von<br />

Beständigkeit. Das Leben je<strong>de</strong>s einzelnen DNA-Moleküls<br />

währt recht kurz – vielleicht ein paar Monate, mit Sicherheit<br />

nicht mehr als ein Lebensalter. Doch in Form seiner Kopien<br />

könnte ein DNA-Molekül theoretisch hun<strong>de</strong>rt Millionen Jahre<br />

überdauern. Außer<strong>de</strong>m sind die Kopien eines speziellen Gens<br />

vielleicht über die gesamte Welt verteilt, gera<strong>de</strong> so wie bei <strong>de</strong>n<br />

alten Replikatoren in <strong>de</strong>r Ursuppe. Der Unterschied ist nur<br />

<strong>de</strong>r, daß die mo<strong>de</strong>rnen Ausgaben alle or<strong>de</strong>ntlich im Innern <strong>de</strong>r<br />

Körper von Überlebensmaschinen verpackt sind.


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 69<br />

Ich unterstreiche also hier die potentielle Fast-Unsterblichkeit<br />

eines Gens in Gestalt seiner Kopien als eine das Gen <strong>de</strong>finieren<strong>de</strong><br />

Eigenschaft. Ein Gen als ein einzelnes Cist<strong>ro</strong>n zu <strong>de</strong>finieren,<br />

ist für einige Zwecke richtig, für die Zwecke <strong>de</strong>r Evolutionstheorie<br />

muß diese Definition jedoch erweitert wer<strong>de</strong>n.<br />

Das Ausmaß <strong>de</strong>r Erweiterung ist vom Zweck <strong>de</strong>r Definition<br />

abhängig. Wir suchen die brauchbare Einheit <strong>de</strong>r natürlichen<br />

Auslese. Zu diesem Zweck stellen wir zunächst fest, welche<br />

Eigenschaften eine erfolgreiche Einheit <strong>de</strong>r natürlichen Auslese<br />

haben muß. Im Sinne <strong>de</strong>s vorigen Kapitels waren dies<br />

Langlebigkeit, Fruchtbarkeit und Kopiergenauigkeit. Sodann<br />

<strong>de</strong>finieren wir ein Gen einfach als das größte Gebil<strong>de</strong>, das –<br />

zumin<strong>de</strong>st potentiell – diese Eigenschaften besitzt. Ein Gen<br />

ist ein langlebiger Replikator, <strong>de</strong>r in Form zahlreicher Kopien<br />

besteht. Seine Lebensdauer ist nicht unbegrenzt. Selbst ein<br />

Diamant ist nicht im buchstäblichen Sinne immerwährend,<br />

und selbst ein Cist<strong>ro</strong>n kann durch C<strong>ro</strong>ssing-over in zwei Teile<br />

aufgespalten wer<strong>de</strong>n. Ein Gen ist <strong>de</strong>finiert als ein Stück Ch<strong>ro</strong>mosom,<br />

das so kurz ist, daß es potentiell lange genug leben<br />

kann, um als eine signifikante Einheit <strong>de</strong>r natürlichen Selektion<br />

zu fungieren.<br />

Wie lange genau ist „lange genug“? Eine ausnahmslos<br />

gültige Antwort gibt es nicht. Es kommt darauf an, wie stark<br />

<strong>de</strong>r „Selektionsdruck“ ist, das heißt, mit wieviel größerer Wahrscheinlichkeit<br />

eine „schlechte“ genetische Einheit stirbt als ihr<br />

„gutes“ Allel. Ausschlaggebend dafür sind quantitative Einzelheiten,<br />

die von Fall zu Fall variieren wer<strong>de</strong>n. Es zeigt sich, daß<br />

die größte brauchbare Einheit <strong>de</strong>r natürlichen Auslese – das<br />

Gen – in <strong>de</strong>r Größenordnung gewöhnlich irgendwo zwischen<br />

Cist<strong>ro</strong>n und Ch<strong>ro</strong>mosom liegt.<br />

Was das Gen zu einem aussichtsreichen Anwärter auf die<br />

Einstufung als Grun<strong>de</strong>inheit <strong>de</strong>r natürlichen Auslese macht,<br />

ist seine potentielle Unsterblichkeit. Doch jetzt ist es an <strong>de</strong>r<br />

<strong>Zeit</strong>, das Wort „potentiell“ zu betonen. Ein Gen kann eine Million<br />

Jahre lang leben, doch vielen neuen Genen gelingt es<br />

nicht einmal, die erste Generation zu überdauern. Die <strong>wen</strong>igen<br />

neuen Gene, die erfolgreich sind, haben zum Teil einfach Glück,


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 70<br />

vor allem aber haben sie „das Zeug dazu“, und das be<strong>de</strong>utet,<br />

sie sind gute Konstrukteure von Überlebensmaschinen. Sie<br />

beeinflussen die Embryonalentwicklung je<strong>de</strong>s <strong>de</strong>r aufeinan<strong>de</strong>rfolgen<strong>de</strong>n<br />

Körper, in <strong>de</strong>nen sie sich befin<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>rart, daß<br />

dieser Körper eine geringfügig größere Chance hat, zu leben<br />

und sich zu rep<strong>ro</strong>duzieren, als er sie unter <strong>de</strong>m Einfluß <strong>de</strong>s<br />

konkurrieren<strong>de</strong>n Gens o<strong>de</strong>r Allels gehabt hätte. Beispielsweise<br />

gewährleistet ein „gutes“ Gen sein Überleben dadurch, daß es<br />

dazu neigt, die aufeinan<strong>de</strong>rfolgen<strong>de</strong>n Körper, in <strong>de</strong>nen es sich<br />

befin<strong>de</strong>t, mit langen Beinen auszustatten, die diesen Körpern<br />

bei <strong>de</strong>r Flucht vor Räubern helfen. Dies ist ein spezielles Beispiel,<br />

kein allgemeingültiges. Lange Beine sind schließlich<br />

nicht immer ein vorteilhafter Besitz. Für einen Maulwurf<br />

wären sie ein Handikap. Doch können wir uns, statt in Einzelheiten<br />

steckenzubleiben, nicht irgendwelche universellen<br />

Eigenschaften vorstellen, von <strong>de</strong>nen wir annehmen wür<strong>de</strong>n,<br />

daß sie in allen guten (das heißt langlebigen) Genen zu fin<strong>de</strong>n<br />

sein müßten? Und umgekehrt: Welches sind die Eigenschaften,<br />

die ein Gen sofort als ein „schlechtes“, das heißt kurzlebiges<br />

Gen kennzeichnen? Es mag mehrere solcher universellen<br />

Eigenschaften geben, aber eine ist für dieses Buch ganz<br />

beson<strong>de</strong>rs relevant: Auf <strong>de</strong>r Ebene <strong>de</strong>s Gens muß Altruismus<br />

schlecht und Egoismus gut sein. Dies folgt unweigerlich aus<br />

unseren Definitionen von Altruismus und Egoismus. Gene<br />

kämpfen mit ihren Allelen unmittelbar ums Dasein, da ihre<br />

Allele im Genpool Rivalen für ihren Genort auf <strong>de</strong>n Ch<strong>ro</strong>mosomen<br />

zukünftiger Generationen sind. Je<strong>de</strong>s Gen, welches sich<br />

so verhält, daß es seine eigenen Überlebenschancen im Genpool<br />

auf Kosten seiner Allele vergrößert, wird <strong>de</strong>finitionsgemäß<br />

dazu neigen zu überleben – das ist eine Tautologie. Das Gen ist<br />

die Grun<strong>de</strong>inheit <strong>de</strong>s Eigennutzes.<br />

Die wichtigste Aussage dieses Kapitels ist nunmehr gemacht.<br />

Doch bin ich über einige Schwierigkeiten und stillschweigen<strong>de</strong><br />

Annahmen hinweggeglitten. Die erste Schwierigkeit ist bereits<br />

kurz erwähnt wor<strong>de</strong>n. So unabhängig und frei die Gene auf<br />

ihrer Reise durch die Generationen auch sein mögen, bei <strong>de</strong>r<br />

Steuerung <strong>de</strong>r Embryonalentwicklung han<strong>de</strong>ln sie sehr <strong>wen</strong>ig


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 71<br />

frei und unabhängig. Zwischen <strong>de</strong>n Genen untereinan<strong>de</strong>r wie<br />

auch zwischen <strong>de</strong>n Genen und ihrer äußeren Umwelt fin<strong>de</strong>t<br />

auf unentwirrbar komplizierte Weise eine Zusammenarbeit<br />

und wechselseitige Beeinflussung statt. Ausdrücke wie „Gene<br />

für lange Beine“ o<strong>de</strong>r „Gene für uneigennütziges Verhalten“<br />

sind bequeme Sprachfiguren, aber es ist wichtig, daß wir verstehen,<br />

was sie be<strong>de</strong>uten. Es gibt kein Gen, das für sich allein<br />

ein Bein baut, gleichgültig ob lang o<strong>de</strong>r kurz. Die Fabrikation<br />

eines Beines ist ein Unternehmen, das die Zusammenarbeit<br />

zahlreicher Gene erfor<strong>de</strong>rt. Auch die äußere Umwelt ist daran<br />

beteiligt: Letzten En<strong>de</strong>s wer<strong>de</strong>n Beine eigentlich aus Nahrung<br />

gemacht! Aber es kann sehr wohl ein einzelnes Gen geben, das<br />

unter sonst gleichen Bedingungen gewöhnlich dafür sorgt, daß<br />

Beine länger wer<strong>de</strong>n, als sie unter <strong>de</strong>m Einfluß seines Allels<br />

wer<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>n.<br />

Stellen wir uns als ein analoges Bild <strong>de</strong>n Einfluß eines<br />

Düngemittels auf das Wachstum von Weizen vor. Je<strong>de</strong>r weiß,<br />

daß Weizenpflanzen bei Zugabe von Nitrat größer wer<strong>de</strong>n.<br />

Aber niemand wäre so töricht zu behaupten, daß Nitrat allein<br />

ausreicht, um eine Weizenpflanze entstehen zu lassen. Zweifellos<br />

sind außer<strong>de</strong>m Samen, Bo<strong>de</strong>n, Sonne, Wasser und verschie<strong>de</strong>ne<br />

Mineralien nötig. Doch <strong>wen</strong>n alle diese Faktoren<br />

konstant gehalten wer<strong>de</strong>n, selbst dann, <strong>wen</strong>n sie innerhalb<br />

gewisser Grenzen variieren dürfen, wird <strong>de</strong>r Zusatz von Nitrat<br />

das Wachstum <strong>de</strong>r Weizenpflanzen för<strong>de</strong>rn. Ebenso ist es mit<br />

<strong>de</strong>n einzelnen Genen bei <strong>de</strong>r Entwicklung eines Embryos. Die<br />

Embryonalentwicklung wird durch ein Netz aus ineinan<strong>de</strong>r<br />

verflochtenen Beziehungen gesteuert, das so verwickelt ist,<br />

daß wir am besten darauf verzichten, es näher zu betrachten.<br />

Es gibt keinen einzelnen – genetischen o<strong>de</strong>r umweltbedingten<br />

– Faktor, <strong>de</strong>r als die einzige „Ursache“ für irgen<strong>de</strong>inen Teil<br />

eines Babys angesehen wer<strong>de</strong>n kann. Alle Teile eines Babys<br />

haben eine nahezu unendlich g<strong>ro</strong>ße Zahl von Ursachen. Aber<br />

ein Unterschied zwischen zwei Babys, beispielsweise in <strong>de</strong>r<br />

Beinlänge, könnte leicht auf einen o<strong>de</strong>r ein paar einfache vorangehen<strong>de</strong><br />

Unterschie<strong>de</strong> zurückgeführt wer<strong>de</strong>n. Die Unterschie<strong>de</strong><br />

sind das, worauf es im Kampf ums Dasein ankommt;


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 72<br />

und bei <strong>de</strong>r Evolution kommt es auf die genetisch gesteuerten<br />

Unterschie<strong>de</strong> an.<br />

Was ein Gen betrifft, so sind seine Allele seine tödlichen<br />

Rivalen, die an<strong>de</strong>ren Gene jedoch sind einfach ein Teil seiner<br />

Umwelt, vergleichbar mit <strong>de</strong>r Temperatur, mit Nahrung,<br />

Räubern o<strong>de</strong>r Gefährten. Die Wirkung <strong>de</strong>s Gens ist von seiner<br />

Umwelt abhängig, und diese schließt an<strong>de</strong>re Gene ein. Manchmal<br />

hat ein Gen in Gegenwart eines speziellen an<strong>de</strong>ren Gens<br />

eine bestimmte Wirkung und in Gegenwart einer an<strong>de</strong>ren<br />

Gruppe von Gengefährten eine völlig an<strong>de</strong>re. Der gesamte<br />

Gensatz in einem Körper stellt eine Art genetisches Klima o<strong>de</strong>r<br />

genetischen Hintergrund dar, <strong>de</strong>r die Auswirkungen je<strong>de</strong>s speziellen<br />

Gens verän<strong>de</strong>rt o<strong>de</strong>r beeinflußt.<br />

Doch hier sind wir scheinbar auf einen inneren Wi<strong>de</strong>rspruch<br />

gestoßen. Wenn die Herstellung eines Babys ein <strong>de</strong>rart verwickeltes<br />

Unterfangen ist und <strong>wen</strong>n je<strong>de</strong>s Gen mehrere tausend<br />

Gengefährten braucht, um seine Aufgabe zu erfüllen, wie<br />

können wir dies mit meiner Darstellung <strong>de</strong>s unteilbaren Gens<br />

in Einklang bringen, das wie eine unsterbliche Gemse durch<br />

die <strong>Zeit</strong>alter von Körper zu Körper springt, als freier, ungebun<strong>de</strong>ner<br />

und eigennütziger Träger <strong>de</strong>s Lebens? War das alles<br />

Unsinn? Durchaus nicht. Vielleicht habe ich mich etwas vom<br />

rhetorischen Schwung mitreißen lassen, aber ich habe keinen<br />

Unsinn erzählt, und es gibt keinen wirklichen inneren Wi<strong>de</strong>rspruch.<br />

Wir können dies mit Hilfe eines an<strong>de</strong>ren Bil<strong>de</strong>s ver<strong>de</strong>utlichen.<br />

Ein einzelner Ru<strong>de</strong>rer, auf sich allein gestellt, kann die<br />

Ru<strong>de</strong>rregatta zwischen Oxford und Cambridge nicht gewinnen.<br />

Er braucht acht Kamera<strong>de</strong>n, die mitru<strong>de</strong>rn. Je<strong>de</strong>r dieser<br />

Kamera<strong>de</strong>n ist ein Spezialist, <strong>de</strong>r stets in einem bestimmten<br />

Teil <strong>de</strong>s Bootes sitzt – entwe<strong>de</strong>r im Bug o<strong>de</strong>r am Platz <strong>de</strong>s<br />

Schlagmannes, <strong>de</strong>s Steuermannes und so weiter. Das Ru<strong>de</strong>rn<br />

<strong>de</strong>s Bootes ist ein gemeinschaftliches Unterfangen, aber nichts<strong>de</strong>sto<strong>wen</strong>iger<br />

sind einige Männer darin besser als an<strong>de</strong>re.<br />

Nehmen wir an, ein Trainer habe seine i<strong>de</strong>ale Mannschaft<br />

aus einem Reservoir von Bewerbern auszuwählen, von <strong>de</strong>nen<br />

jeweils einige beson<strong>de</strong>rs für <strong>de</strong>n Platz im Bug, an<strong>de</strong>re als Steu-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 73<br />

ermann und so weiter geeignet sind. Stellen wir uns vor, er<br />

trifft seine Wahl folgen<strong>de</strong>rmaßen: Je<strong>de</strong>n Tag stellt er durch<br />

zufälliges Herumschieben <strong>de</strong>r Bewerber um je<strong>de</strong> Position drei<br />

neue Ausscheidungsmannschaften zusammen und läßt diese<br />

drei Mannschaften gegeneinan<strong>de</strong>r starten. Wenn er dies einige<br />

Wochen lang macht, beginnt sich herauszustellen, daß das<br />

Siegerboot häufig dieselben einzelnen Männer enthält. Diese<br />

wer<strong>de</strong>n als gute Ru<strong>de</strong>rer vermerkt. An<strong>de</strong>re scheinen sich<br />

ständig in <strong>de</strong>n langsameren Mannschaften zu befin<strong>de</strong>n, und<br />

diese wer<strong>de</strong>n schließlich abgelehnt. Aber selbst ein hervorragen<strong>de</strong>r<br />

Ru<strong>de</strong>rer kann gelegentlich einer langsamen Mannschaft<br />

angehören, entwe<strong>de</strong>r weil die übrigen Mannschaftsmitglie<strong>de</strong>r<br />

so schlecht sind o<strong>de</strong>r weil er Pech hatte – zum Beispiel<br />

starken Gegenwind. Lediglich im Durchschnitt gesehen sitzen<br />

die besten Männer gewöhnlich im Gewinnerboot.<br />

Die Ru<strong>de</strong>rer sind die Gene. Die Rivalen für je<strong>de</strong>n Platz im<br />

Boot sind die Allele, die potentiell in <strong>de</strong>r Lage sind, <strong>de</strong>nselben<br />

Platz auf einem Ch<strong>ro</strong>mosomenabschnitt einzunehmen. Das<br />

schnelle Ru<strong>de</strong>rn entspricht <strong>de</strong>m Bau eines Körpers, <strong>de</strong>r erfolgreich<br />

überlebt. Der Wind ist die äußere Umwelt, das Reservoir<br />

alternativer Bewerber <strong>de</strong>r Genpool. Soweit es das Überleben<br />

eines Körpers betrifft, sitzen alle seine Gene im selben Boot.<br />

Manch gutes Gen gerät in schlechte Gesellschaft und stellt fest,<br />

daß es <strong>de</strong>n Körper mit einem letalen Gen teilt, welches diesen<br />

im Kin<strong>de</strong>salter tötet. Dann wird das gute Gen zusammen mit<br />

<strong>de</strong>n übrigen zerstört. Doch dies ist nur ein Körper, und Kopien<br />

<strong>de</strong>sselben guten Gens leben in an<strong>de</strong>ren Körpern weiter, die<br />

das tödliche Gen nicht enthalten. Viele Kopien guter Gene<br />

gehen unter, weil sie sich zufällig mit schlechten Genen in<br />

einen Körper teilen, und viele kommen um, weil ihnen an<strong>de</strong>re<br />

Formen von Mißgeschick wi<strong>de</strong>rfahren, beispielsweise <strong>wen</strong>n<br />

ihr Körper vom Blitz get<strong>ro</strong>ffen wird. Aber <strong>de</strong>finitionsgemäß<br />

schlägt <strong>de</strong>r Zufall – <strong>de</strong>r glückliche wie <strong>de</strong>r unglückliche – aufs<br />

Geratewohl zu, und ein Gen, das beständig auf <strong>de</strong>r Seite <strong>de</strong>r<br />

Verlierer ist, ist kein Gen, das Pech hat; es ist ein schlechtes<br />

Gen.<br />

Eine <strong>de</strong>r Eigenschaften eines guten Ru<strong>de</strong>rers ist Teamgeist,


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 74<br />

das heißt die Fähigkeit, sich anzupassen und mit <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren<br />

in einer Mannschaft zusammenzuarbeiten. Dies kann gera<strong>de</strong><br />

so wichtig sein wie kräftige Muskeln. Wie wir im Fall <strong>de</strong>r<br />

Schmetterlinge gesehen haben, kann die natürliche Auslese<br />

durch Inversionen und an<strong>de</strong>re Umstellungen ganzer Ch<strong>ro</strong>mosomenabschnitte<br />

blindlings einen Genkomplex „überarbeiten“<br />

und dabei Gene, die gut zusammenarbeiten, in eng miteinan<strong>de</strong>r<br />

verbun<strong>de</strong>ne Gruppen zusammenfügen. In gewisser Beziehung<br />

wer<strong>de</strong>n aber auch Gene, die in keinerlei Weise physisch<br />

miteinan<strong>de</strong>r verbun<strong>de</strong>n sind, wegen ihrer gegenseitigen Vereinbarkeit<br />

selektiert. Ein Gen, das mit <strong>de</strong>n meisten an<strong>de</strong>ren<br />

Genen, die es in aufeinan<strong>de</strong>rfolgen<strong>de</strong>n Körpern wahrscheinlich<br />

treffen wird, das heißt mit <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Genen im Genpool,<br />

gut zusammenarbeitet, wird gewöhnlich im Vorteil sein.<br />

Zum Beispiel gibt es eine Reihe von Eigenschaften, die in<br />

einem effizienten Körper eines Fleischfressers wünschenswert<br />

sind, darunter scharfe Reißzähne, die richtige Art von Eingewei<strong>de</strong>n<br />

zum Verdauen von Fleisch und viele an<strong>de</strong>re. Ein effizienter<br />

Pflanzenfresser an<strong>de</strong>rerseits braucht flache Mahlzähne<br />

und einen viel längeren Verdauungstrakt mit einer an<strong>de</strong>rsgearteten<br />

Verdauungschemie. In einem Genpool von Pflanzenfressern<br />

wäre je<strong>de</strong>s neue Gen, das seinen Besitzer mit scharfen<br />

Fleischfresserzähnen ausstattete, nicht sehr erfolgreich. Und<br />

zwar nicht, weil Fleischfressen allgemein eine schlechte Eigenschaft<br />

ist, son<strong>de</strong>rn weil man nicht effizient Fleisch verzehren<br />

kann, <strong>wen</strong>n man nicht außer<strong>de</strong>m die richtige Art von Verdauungsapparat<br />

und all die an<strong>de</strong>ren Eigenschaften besitzt, die für<br />

eine fleischfressen<strong>de</strong> Lebensweise nötig sind. Gene für scharfe<br />

Fleischfresserzähne sind nicht an sich schlechte Gene. Sie sind<br />

schlechte Gene lediglich in einem Genpool, <strong>de</strong>r von Genen für<br />

Pflanzenfressereigenschaften beherrscht wird.<br />

Dies ist ein subtiler, komplizierter Gedanke. Kompliziert<br />

<strong>de</strong>shalb, weil die „Umwelt“ eines Gens überwiegend aus an<strong>de</strong>ren<br />

Genen besteht, von <strong>de</strong>nen je<strong>de</strong>s selbst wie<strong>de</strong>rum wegen<br />

seiner Fähigkeit selektiert wor<strong>de</strong>n ist, mit seiner Umwelt von<br />

an<strong>de</strong>ren Genen zusammenzuarbeiten. Zwar gibt es ein Analogon<br />

zu diesem schwierigen Gegenstand, aber es stammt


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 75<br />

nicht aus <strong>de</strong>r tagtäglichen Erfahrung. Es han<strong>de</strong>lt sich um die<br />

menschliche „Spieltheorie“, die wir in Kapitel 5 im Zusammenhang<br />

mit aggressiven Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen zwischen einzelnen<br />

Tieren einführen wer<strong>de</strong>n. Ich verschiebe daher die weitere<br />

Erörterung dieses Punktes auf das En<strong>de</strong> von Kapitel 5<br />

und kehre zur Hauptaussage dieses Kapitels zurück. Das ist<br />

<strong>de</strong>r Gedanke, daß man als die Grun<strong>de</strong>inheit <strong>de</strong>r natürlichen<br />

Selektion nicht die Art, auch nicht die Population und noch<br />

nicht einmal das Individuum betrachten sollte, son<strong>de</strong>rn eine<br />

bestimmte kleine Einheit genetischen Materials, <strong>de</strong>r man aus<br />

Grün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Zweckmäßigkeit <strong>de</strong>n Namen Gen gibt. Dieser<br />

Gedankengang basiert, wie schon früher dargestellt, auf <strong>de</strong>r<br />

Annahme, daß Gene potentiell unsterblich sind, Körper und<br />

alle an<strong>de</strong>ren höheren Einheiten dagegen vergänglich. Die<br />

Annahme beruht ihrerseits auf zwei Tatsachen: zum einen auf<br />

<strong>de</strong>r Existenz <strong>de</strong>r sexuellen Fortpflanzung und <strong>de</strong>s C<strong>ro</strong>ssingover<br />

und zum an<strong>de</strong>ren auf <strong>de</strong>r Sterblichkeit <strong>de</strong>r Individuen.<br />

Diese Tatsachen sind unleugbar wahr. Doch das hin<strong>de</strong>rt uns<br />

nicht zu fragen, warum sie wahr sind. Warum praktizieren wir<br />

und die Mehrheit <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Überlebensmaschinen sexuelle<br />

Fortpflanzung? Warum betreiben unsere Ch<strong>ro</strong>mosomen C<strong>ro</strong>ssing-over?<br />

Und warum leben wir nicht ewig?<br />

Die Antwort auf die Frage, warum wir sterben, <strong>wen</strong>n<br />

wir alt gewor<strong>de</strong>n sind, ist kompliziert, und die Einzelheiten<br />

gehen über <strong>de</strong>n Rahmen dieses Buches hinaus. Neben spezifischen<br />

Ursachen sind auch einige allgemeinere Grün<strong>de</strong> vorgebracht<br />

wor<strong>de</strong>n. Eine Theorie beispielsweise besagt, daß<br />

Altersschwäche eine Anhäufung schädlicher Kopierfehler und<br />

an<strong>de</strong>rer Arten von Genschä<strong>de</strong>n ist, die im Laufe <strong>de</strong>s Lebens<br />

auftreten. Eine an<strong>de</strong>re, von Sir Peter Medawar stammen<strong>de</strong><br />

Theorie ist ein gutes Beispiel für eine Betrachtung <strong>de</strong>r Evolution<br />

im Sinne <strong>de</strong>r Genselektion. 4 Medawar verwirft zunächst<br />

herkömmliche Argumente, wie etwa folgen<strong>de</strong>s: „Der Tod alter<br />

Individuen ist ein Akt von Altruismus gegenüber <strong>de</strong>m Rest <strong>de</strong>r<br />

Art, weil durch ihr Weiterleben, nach<strong>de</strong>m sie für die Fortpflanzung<br />

zu schwach gewor<strong>de</strong>n sind, die Welt nur sinnlos vollgestopft<br />

wür<strong>de</strong>.“ Wie Medawar zeigt, ist dies ein Zirkelschluß, <strong>de</strong>r


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 76<br />

gera<strong>de</strong> das voraussetzt, was zu beweisen er sich vorgenommen<br />

hat, nämlich daß alte Tiere zu schwach zur Fortpflanzung sind.<br />

Es ist darüber hinaus eine unkritische Art von Erklärung auf<br />

<strong>de</strong>r Grundlage <strong>de</strong>r Gruppen- o<strong>de</strong>r Artselektion, <strong>wen</strong>ngleich es<br />

möglich wäre, diesen Teil etwas konventioneller umzuformulieren.<br />

Medawars eigene Theorie besitzt eine wun<strong>de</strong>rschöne<br />

Logik. Wir können sie folgen<strong>de</strong>rmaßen rekonstruieren.<br />

Wir haben bereits die Frage gestellt, welche Attribute alle<br />

„guten“ Gene haben müssen, und kamen zu <strong>de</strong>m Schluß,<br />

daß Eigennutz eines von ihnen ist. Eine weitere allgemeine<br />

Eigenschaft, über die erfolgreiche Gene verfügen wer<strong>de</strong>n, ist<br />

die Ten<strong>de</strong>nz, <strong>de</strong>n Tod ihrer Überlebensmaschinen zumin<strong>de</strong>st<br />

bis nach <strong>de</strong>r Rep<strong>ro</strong>duktion hinauszuschieben. Zweifellos sind<br />

einige unserer Vettern o<strong>de</strong>r G<strong>ro</strong>ßonkel im Kin<strong>de</strong>salter gestorben,<br />

aber nicht ein einziger unserer Vorfahren starb so früh.<br />

Vorfahren sterben einfach nicht jung!<br />

Ein Gen, das <strong>de</strong>n Tod seines Besitzers herbeiführt, bezeichnet<br />

man als letales Gen. Ein semiletales Gen hat einen<br />

schwächen<strong>de</strong>n Einfluß, <strong>de</strong>r dazu führt, daß die Wahrscheinlichkeit<br />

<strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s aus an<strong>de</strong>ren Grün<strong>de</strong>n zunimmt. Je<strong>de</strong>s Gen<br />

übt seinen größten Einfluß auf <strong>de</strong>n Körper in einem speziellen<br />

Lebensstadium aus, und letale und semiletale Gene<br />

bil<strong>de</strong>n keine Ausnahme. Die meisten Gene wer<strong>de</strong>n während<br />

<strong>de</strong>s Fötalstadiums wirksam, an<strong>de</strong>re im Kin<strong>de</strong>salter, während<br />

<strong>de</strong>r Jugend, im mittleren Alter und wie<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re, <strong>wen</strong>n <strong>de</strong>r<br />

Körper alt ist. (Denken wir daran, daß die Raupe und <strong>de</strong>r<br />

Schmetterling, <strong>de</strong>r aus ihr entsteht, genau <strong>de</strong>nselben Satz von<br />

Genen besitzen.) Es liegt auf <strong>de</strong>r Hand, daß die Ten<strong>de</strong>nz bestehen<br />

wird, letale Gene aus <strong>de</strong>m Genpool zu beseitigen. Aber<br />

ebenso offensichtlich ist es, daß ein spät wirken<strong>de</strong>s letales Gen<br />

im Genpool stabiler sein wird als ein früh wirken<strong>de</strong>s letales<br />

Gen. Ein Gen, das in einem älteren Körper letal ist, kann im<br />

Genpool <strong>de</strong>nnoch erfolgreich sein, vorausgesetzt sein letaler<br />

Effekt macht sich erst bemerkbar, nach<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Körper <strong>Zeit</strong><br />

gehabt hat, sich zumin<strong>de</strong>st in gewissem Umfang zu rep<strong>ro</strong>duzieren.<br />

Beispielsweise könnte ein Gen, das in älteren Körpern<br />

Krebs hervorruft, an zahlreiche Nachkommen weitergegeben


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 77<br />

wer<strong>de</strong>n, weil die Individuen sich fortpflanzen wür<strong>de</strong>n, bevor<br />

sie Krebs bekämen. An<strong>de</strong>rerseits wür<strong>de</strong> ein Gen, das Krebs in<br />

jungen Körpern hervorriefe, nicht an viele Nachkommen vererbt<br />

wer<strong>de</strong>n, und ein Gen, das tödlichen Krebs bei kleinen Kin<strong>de</strong>rn<br />

hervorriefe, wür<strong>de</strong> überhaupt nicht vererbt. Nach dieser<br />

Theorie also ist <strong>de</strong>r Alterstod lediglich ein Nebenp<strong>ro</strong>dukt <strong>de</strong>r<br />

Ansammlung spät wirken<strong>de</strong>r letaler und semiletaler Gene im<br />

Genpool, <strong>de</strong>nen es nur <strong>de</strong>shalb gelungen ist, durch das Netz<br />

<strong>de</strong>r natürlichen Auslese zu schlüpfen, weil sie spät zur Wirkung<br />

gelangen.<br />

Medawar selbst hebt beson<strong>de</strong>rs <strong>de</strong>n Aspekt hervor, daß<br />

die Selektion Gene begünstigen wird, welche die Wirksamkeit<br />

an<strong>de</strong>rer, letaler Gene hinausschieben, und daß sie ebenso Gene<br />

för<strong>de</strong>rn wird, die die Wirksamkeit guter Gene beschleunigen.<br />

Es mag sein, daß ein G<strong>ro</strong>ßteil <strong>de</strong>r Evolution aus genetisch<br />

gesteuerten Verän<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>s <strong>Zeit</strong>punktes besteht, zu <strong>de</strong>m<br />

die Genaktivität einsetzt.<br />

Bemerkenswert ist an dieser Theorie, daß sie nicht die<br />

Annahme voraussetzt, die Rep<strong>ro</strong>duktion erfolge nur in<br />

bestimmten Lebensstadien. Wür<strong>de</strong>n wir von <strong>de</strong>r Voraussetzung<br />

ausgehen, alle Lebewesen könnten mit <strong>de</strong>r gleichen Wahrscheinlichkeit<br />

in je<strong>de</strong>m beliebigen Alter Nachkommen haben,<br />

so wür<strong>de</strong> Medawars Theorie bald die Akkumulation spät wirken<strong>de</strong>r<br />

schädlicher Gene im Genpool voraussagen, und daraus<br />

wür<strong>de</strong> sekundär die Ten<strong>de</strong>nz folgen, sich im hohen Alter <strong>wen</strong>iger<br />

zu rep<strong>ro</strong>duzieren.<br />

Als Nebeneffekt hat diese Theorie unter an<strong>de</strong>rem <strong>de</strong>n<br />

Vorzug, uns zu einigen recht interessanten Spekulationen zu<br />

verleiten. Beispielsweise folgt aus ihr, daß wir, <strong>wen</strong>n wir die<br />

Lebensdauer <strong>de</strong>s Menschen verlängern wollten, dies im Prinzip<br />

auf zweierlei Weise erreichen könnten. Erstens könnten<br />

wir die Fortpflanzung vor einem bestimmten Alter, nehmen<br />

wir einmal an vierzig, verbieten. Nach einigen Jahrhun<strong>de</strong>rten<br />

wür<strong>de</strong> die untere Altersgrenze auf fünfzig angehoben wer<strong>de</strong>n<br />

und so weiter. Es ist <strong>de</strong>nkbar, daß die Lebensdauer <strong>de</strong>s Menschen<br />

auf diese Weise auf mehrere hun<strong>de</strong>rt Jahre hochgetrieben<br />

wer<strong>de</strong>n könnte. Allerdings kann ich mir nicht vorstel-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 78<br />

len, daß irgend jemand ernsthaft eine solche Politik einführen<br />

wollte.<br />

Zum zweiten könnten wir versuchen, Gene zu „täuschen“,<br />

sie glauben zu machen, daß sie in einem jüngeren Körper<br />

sitzen, als es tatsächlich <strong>de</strong>r Fall ist. Für die Praxis hieße dies,<br />

daß man feststellen müßte, welche Verän<strong>de</strong>rungen während<br />

<strong>de</strong>s Alterns in <strong>de</strong>r inneren chemischen Umwelt eines Körpers<br />

stattfin<strong>de</strong>n. Je<strong>de</strong> dieser Verän<strong>de</strong>rungen könnte das „Signal“<br />

sein, welches die spät wirken<strong>de</strong>n letalen Gene „einschaltet“.<br />

Durch Simulation <strong>de</strong>r oberflächlichen chemischen Eigenschaften<br />

eines jungen Körpers könnte es möglich sein, das Einschalten<br />

spät wirken<strong>de</strong>r schädlicher Gene zu verhin<strong>de</strong>rn. Das Interessante<br />

daran ist, daß die chemischen Signale <strong>de</strong>s Alters als<br />

solche nicht schädlich zu sein brauchen. Nehmen wir zum Beispiel<br />

an, es ergäbe sich zufällig so, daß eine Substanz S in<br />

<strong>de</strong>n Körpern alter Individuen häufiger vorhan<strong>de</strong>n ist als in<br />

<strong>de</strong>nen junger Individuen. S als solches könnte völlig harmlos<br />

sein, vielleicht eine Substanz in <strong>de</strong>r Nahrung, die im Laufe<br />

<strong>de</strong>r <strong>Zeit</strong> im Körper akkumuliert wird. Irgen<strong>de</strong>in Gen jedoch,<br />

das in Gegenwart von S rein zufällig einen schädlichen Einfluß<br />

ausüben wür<strong>de</strong>, ansonsten aber einen positiven Effekt hätte,<br />

wür<strong>de</strong> im Genpool automatisch positiv selektiert und wäre<br />

somit in <strong>de</strong>r Tat ein Gen „für“ das Sterben im Alter. Das Heilmittel<br />

wäre einfach, S aus <strong>de</strong>m Körper zu entfernen.<br />

Das Revolutionäre an dieser I<strong>de</strong>e ist, daß S selbst lediglich<br />

ein „Kennzeichen“ für Alter ist. Je<strong>de</strong>r Arzt, <strong>de</strong>r feststellen<br />

wür<strong>de</strong>, daß eine starke Konzentration von S gewöhnlich zum<br />

Tod führt, wür<strong>de</strong> sich S wahrscheinlich als eine Art Gift vorstellen<br />

und sich <strong>de</strong>n Kopf zerbrechen, um einen unmittelbaren<br />

kausalen Zusammenhang zwischen S und <strong>de</strong>m körperlichen<br />

Versagen zu ent<strong>de</strong>cken. Doch in unserem hypothetischen Beispiel<br />

dürfte er damit nur seine <strong>Zeit</strong> versch<strong>wen</strong><strong>de</strong>n.<br />

Es könnte ebenfalls eine Substanz Y geben, ein „Kennzeichen“<br />

für Jugend in <strong>de</strong>m Sinne, daß sie in jungen Körpern<br />

stärker konzentriert ist als in alten. Wie<strong>de</strong>rum könnten – auf<br />

Grund an<strong>de</strong>rer Eigenschaften – Gene selektiert wer<strong>de</strong>n, die in<br />

Gegenwart von Y positive Auswirkungen haben, aber in Abwe-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 79<br />

senheit von Y schädlich wären. Ohne zu wissen, was S o<strong>de</strong>r<br />

Y ist – es könnte viele solcher Stoffe geben –, können wir einfach<br />

die allgemeine Voraussage machen: Je besser man die<br />

Eigenschaften eines jungen Körpers in einem alten simulieren<br />

o<strong>de</strong>r imitieren kann, so oberflächlich diese Eigenschaften auch<br />

scheinen mögen, um so länger müßte jener alte Körper leben.<br />

Ich muß betonen, daß dies lediglich Spekulationen sind,<br />

die auf Medawars Theorie aufbauen. Wenn auch logisch gesehen<br />

an dieser Theorie etwas Wahres sein muß, so be<strong>de</strong>utet<br />

das doch nicht, daß sie die richtige Erklärung für irgen<strong>de</strong>inen<br />

tatsächlichen Fall von Altersschwäche liefert. Für die Zwecke<br />

unserer Erörterung kommt es jedoch lediglich darauf an, daß<br />

die Genselektionstheorie <strong>de</strong>r Evolution ohne Schwierigkeiten<br />

die Tatsache erklären kann, daß Individuen gewöhnlich sterben,<br />

<strong>wen</strong>n sie alt wer<strong>de</strong>n. Die Annahme <strong>de</strong>r individuellen<br />

Sterblichkeit, auf <strong>de</strong>r die Argumentation in diesem Kapitel teilweise<br />

basiert, ist im Rahmen <strong>de</strong>r Theorie berechtigt.<br />

Die an<strong>de</strong>re Annahme, über die ich hinweggegangen bin,<br />

die <strong>de</strong>r Existenz von geschlechtlicher Fortpflanzung und C<strong>ro</strong>ssing-over,<br />

ist schwerer zu rechtfertigen. C<strong>ro</strong>ssing-over muß<br />

nicht immer auftreten, bei männlichen Fruchtfliegen beispielsweise<br />

kommt es nicht vor. Es gibt ein Gen, das <strong>de</strong>n Effekt<br />

hat, das C<strong>ro</strong>ssing-over auch bei weiblichen Fruchtfliegen zu<br />

unterdrücken. Wür<strong>de</strong>n wir eine Fliegenpopulation züchten,<br />

in <strong>de</strong>r dieses Gen universal wäre, so wür<strong>de</strong> das Ch<strong>ro</strong>mosom<br />

in einem „Ch<strong>ro</strong>mosomenpool“ zur grundlegen<strong>de</strong>n unteilbaren<br />

Einheit <strong>de</strong>r natürlichen Auslese wer<strong>de</strong>n. Genaugenommen<br />

wür<strong>de</strong>, <strong>wen</strong>n wir unsere Definition logisch bis zum Schluß<br />

durch<strong>de</strong>nken, ein ganzes Ch<strong>ro</strong>mosom als ein „Gen“ angesehen<br />

wer<strong>de</strong>n müssen.<br />

Darüber hinaus gibt es auch Alternativen zur sexuellen Fortpflanzung.<br />

Blattlausweibchen können leben<strong>de</strong>, vaterlose weibliche<br />

Nachkommen gebären, von <strong>de</strong>nen je<strong>de</strong>s die Gene <strong>de</strong>r<br />

Mutter besitzt. (Nebenbei gesagt kann ein im Leib <strong>de</strong>r Mutter<br />

befindlicher Embryo seinerseits einen noch kleineren Embryo<br />

in sich tragen. So kann ein Blattlausweibchen gleichzeitig<br />

eine Tochter und eine Enkelin zur Welt bringen, die bei<strong>de</strong>


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 80<br />

seinen eigenen eineiigen Zwillingen entsprechen.) Viele Pflanzen<br />

vermehren sich vegetativ, beispielsweise durch Ausläufer.<br />

In diesem Fall ziehen wir es vielleicht vor, von Wachstum zu<br />

sprechen statt von Rep<strong>ro</strong>duktion. Doch dann besteht, <strong>wen</strong>n<br />

wir darüber nach<strong>de</strong>nken, sowieso kaum ein Unterschied zwischen<br />

Wachstum und nicht-sexueller Fortpflanzung, da bei<strong>de</strong><br />

durch einfache mitotische Zellteilung erfolgen. Gelegentlich<br />

lösen sich die durch vegetative Rep<strong>ro</strong>duktion erzeugten Pflanzen<br />

von <strong>de</strong>r Mutterpflanze ab. In an<strong>de</strong>ren Fällen bleiben die<br />

verbin<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Ausläufer intakt, beispielsweise bei <strong>de</strong>n Ulmen,<br />

bei <strong>de</strong>nen an Ausläuferwurzeln junge Bäume entstehen, die<br />

sogenannte Wurzelbrut. Tatsächlich könnte man einen ganzen<br />

Ulmenwald als ein einzelnes Individuum betrachten.<br />

Die Frage heißt also: Wenn Blattläuse und Ulmen sich nicht<br />

sexuell fortpflanzen, warum machen wir an<strong>de</strong>ren uns dann<br />

soviel Mühe damit, unsere Gene mit <strong>de</strong>nen von jemand an<strong>de</strong>rem<br />

zu vermischen, bevor wir ein Baby herstellen? Das scheint<br />

doch eine merkwürdige Art <strong>de</strong>s Vorgehens zu sein. Warum ist<br />

die geschlechtliche Fortpflanzung, diese bizarre Entstellung<br />

<strong>de</strong>r unkomplizierten Replikation, überhaupt jemals entstan<strong>de</strong>n?<br />

Wozu ist Sex gut? 5<br />

Diese Frage ist für <strong>de</strong>n Evolutionstheoretiker auße<strong>ro</strong>r<strong>de</strong>ntlich<br />

schwer zu beantworten. Die meisten ernsthaften Versuche enthalten<br />

komplizierte mathematische Gedankengänge. Ich wer<strong>de</strong><br />

<strong>de</strong>r Frage, offen gesagt, ausweichen und nur das folgen<strong>de</strong><br />

dazu anmerken: Die Schwierigkeiten <strong>de</strong>r Theoretiker, die Entwicklung<br />

<strong>de</strong>r Sexualität zu erklären, sind zumin<strong>de</strong>st zum Teil<br />

darauf zurückzuführen, daß sie gewöhnlich davon ausgehen,<br />

ein Individuum versuche die Zahl seiner überleben<strong>de</strong>n Gene<br />

zu maximieren. In diesem Sinne erscheint die sexuelle Fortpflanzung<br />

paradox, da sie für ein Individuum keine „effiziente“<br />

Metho<strong>de</strong> zur Vermehrung seiner Gene ist: Je<strong>de</strong>s Kind dieses<br />

Individuums besitzt nur 50 P<strong>ro</strong>zent seiner Gene, während die<br />

an<strong>de</strong>ren 50 P<strong>ro</strong>zent von <strong>de</strong>m Geschlechtspartner kommen.<br />

Könnte das Individuum doch nur wie eine Blattlaus Kin<strong>de</strong>r<br />

in die Welt setzen, die genaue Kopien seiner selbst wären, so<br />

wür<strong>de</strong> es im Körper je<strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s 100 P<strong>ro</strong>zent seiner Gene an


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 81<br />

die nächste Generation weitergeben! Diese scheinbare innere<br />

Wi<strong>de</strong>rsinnigkeit hat einige Theoretiker veranlaßt, sich die<br />

Theorie <strong>de</strong>r Gruppenselektion zu eigen zu machen, da auf<br />

<strong>de</strong>r Ebene <strong>de</strong>r Gruppe relativ leicht Vorteile <strong>de</strong>r sexuellen<br />

Fortpflanzung vorstellbar sind. Wie W. F. Bodmer es prägnant<br />

ausgedrückt hat, „erleichtert [die geschlechtliche Fortpflanzung]<br />

die Anhäufung von getrennt voneinan<strong>de</strong>r in verschie<strong>de</strong>nen<br />

Individuen entstan<strong>de</strong>nen vorteilhaften Mutationen in<br />

einem einzelnen Individuum“.<br />

Doch die sexuelle Fortpflanzung erscheint <strong>wen</strong>iger wi<strong>de</strong>rsinnig,<br />

<strong>wen</strong>n wir <strong>de</strong>m Gedankengang dieses Buches folgen<br />

und das Individuum als eine von einem kurzlebigen Verband<br />

langlebiger Gene gebaute Überlebensmaschine behan<strong>de</strong>ln. Die<br />

„Effizienz“ unter <strong>de</strong>m Blickwinkel <strong>de</strong>s gesamten Individuums<br />

wird dann irrelevant. Geschlechtliche kontra ungeschlechtliche<br />

Fortpflanzung wird zu einer Eigenschaft, die <strong>de</strong>r Steuerung<br />

durch ein einziges Gen unterliegt, gera<strong>de</strong> so wie blaue<br />

Augen kontra braune Augen. Ein Gen „für“ sexuelle Fortpflanzung<br />

manipuliert alle übrigen Gene zugunsten seiner eigenen<br />

selbstsüchtigen Zwecke. Das gleiche tut ein Gen für C<strong>ro</strong>ssingover.<br />

Es gibt sogar Gene – mit <strong>de</strong>m Namen Mutatoren – die<br />

die Rate <strong>de</strong>r Kopierfehler bei an<strong>de</strong>ren Genen manipulieren.<br />

Definitionsgemäß ist ein Kopierfehler ein Nachteil für das Gen,<br />

das falsch kopiert wird. Doch <strong>wen</strong>n er einen Vorteil für das<br />

egoistische Mutatorgen be<strong>de</strong>utet, kann <strong>de</strong>r Mutator sich im<br />

gesamten Genpool ausbreiten. Ähnlich ist, <strong>wen</strong>n C<strong>ro</strong>ssing-over<br />

einem Gen für C<strong>ro</strong>ssing-over einen Vorteil bringt, dies allein<br />

eine ausreichen<strong>de</strong> Erklärung für die Existenz von C<strong>ro</strong>ssingover.<br />

Und <strong>wen</strong>n die geschlechtliche im Gegensatz zur ungeschlechtlichen<br />

Rep<strong>ro</strong>duktion einen Vorteil für ein Gen für<br />

sexuelle Rep<strong>ro</strong>duktion be<strong>de</strong>utet, so ist dies allein eine ausreichen<strong>de</strong><br />

Erklärung für die Existenz von sexueller Fortpflanzung.<br />

Ob sie all <strong>de</strong>n übrigen Genen <strong>de</strong>s Individuums einen Vorteil<br />

bringt o<strong>de</strong>r nicht, ist von verhältnismäßig geringer Relevanz.<br />

Vom Standpunkt <strong>de</strong>s egoistischen Gens aus gesehen, ist<br />

die Sexualität am En<strong>de</strong> gar nicht so son<strong>de</strong>rbar.<br />

Dies kommt einem Zirkelschluß gefährlich nahe, da die Exi-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 82<br />

stenz <strong>de</strong>r Sexualität eine Vorbedingung für die gesamte Kette<br />

von Argumenten ist, die uns veranlaßt, das Gen als die Einheit<br />

<strong>de</strong>r Selektion zu betrachten. Ich <strong>de</strong>nke, es wird einen Ausweg<br />

aus diesem Kreis geben, aber dieses Buch ist nicht <strong>de</strong>r Platz,<br />

um die Frage weiter zu verfolgen. Sexuelle Fortpflanzung ist<br />

eine Tatsache, soviel ist sicher. Und weil es Sexualität und<br />

C<strong>ro</strong>ssing-over gibt, kann die kleine genetische Einheit o<strong>de</strong>r das<br />

Gen unter <strong>de</strong>n uns heute bekannten Einheiten als diejenige<br />

angesehen wer<strong>de</strong>n, die einem grundlegen<strong>de</strong>n, unabhängigen<br />

Träger <strong>de</strong>r Evolution am nächsten kommt.<br />

Die sexuelle Fortpflanzung ist nicht das einzige scheinbar<br />

wi<strong>de</strong>rsinnige Phänomen, das etwas von seiner Rätselhaftigkeit<br />

verliert, sobald wir lernen, im Sinne <strong>de</strong>s eigennützigen Gens<br />

zu <strong>de</strong>nken. Es zeigt sich beispielsweise, daß die DNA-Menge in<br />

<strong>de</strong>n Organismen größer ist, als für <strong>de</strong>ren Konstruktion unbedingt<br />

erfor<strong>de</strong>rlich wäre: Ein g<strong>ro</strong>ßer Teil <strong>de</strong>r DNA wird niemals<br />

in Eiweiß umgesetzt. Vom Standpunkt <strong>de</strong>s individuellen Organismus<br />

aus betrachtet, scheint dies wi<strong>de</strong>rsinnig zu sein. Wenn<br />

<strong>de</strong>r, „Zweck“ <strong>de</strong>r DNA <strong>de</strong>r ist, <strong>de</strong>n Bau von Körpern zu beaufsichtigen,<br />

so ist es überraschend, eine g<strong>ro</strong>ße Menge von DNA<br />

zu fin<strong>de</strong>n, die nichts <strong>de</strong>rgleichen tut. Die Biologen zermartern<br />

sich <strong>de</strong>n Kopf darüber, welche nützliche Aufgabe diese offenbar<br />

überflüssige DNA erfüllt. Vom Blickpunkt <strong>de</strong>r egoistischen<br />

Gene selbst gesehen, gibt es jedoch keinen Wi<strong>de</strong>rspruch. Der<br />

wirkliche „Zweck“ <strong>de</strong>r DNA ist es, zu überleben – nicht<br />

mehr und nicht <strong>wen</strong>iger. Die überflüssige DNA erklärt man<br />

am einfachsten, <strong>wen</strong>n man annimmt, daß sie ein Parasit<br />

o<strong>de</strong>r bestenfalls ein harmloser, <strong>wen</strong>n auch nutzloser Passagier<br />

ist, <strong>de</strong>r sich in <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r restlichen DNA geschaffenen<br />

Überlebensmaschine mitnehmen läßt. 6<br />

Einige Leute erheben Einspruch gegen das, was sie für eine<br />

übertrieben auf das Gen ausgerichtete Auffassung von <strong>de</strong>r Evolution<br />

halten. Schließlich, so argumentieren sie, ist es das ganze<br />

Individuum mit allen seinen Genen, das tatsächlich lebt o<strong>de</strong>r<br />

stirbt. Ich hoffe, ich habe in diesem Kapitel <strong>de</strong>utlich gemacht,<br />

daß in diesem Punkt wirklich kein Wi<strong>de</strong>rspruch besteht. So<br />

wie ganze Boote Rennen gewinnen o<strong>de</strong>r verlieren, so sind es in


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 83<br />

<strong>de</strong>r Tat die Individuen, die leben o<strong>de</strong>r sterben, und die unmittelbare<br />

Äußerung <strong>de</strong>r natürlichen Auslese erfolgt fast immer<br />

auf <strong>de</strong>r Ebene <strong>de</strong>s Individuums.<br />

Doch die langfristigen Konsequenzen <strong>de</strong>s nichtzufälligen<br />

individuellen To<strong>de</strong>s und Fortpflanzungserfolgs manifestieren<br />

sich in Form <strong>de</strong>r sich än<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>n Genhäufigkeiten o<strong>de</strong>r Genfrequenzen<br />

im Genpool. Der Genpool spielt, mit Einschränkungen,<br />

dieselbe Rolle für die mo<strong>de</strong>rnen Replikatoren wie die Ursuppe<br />

für die ursprünglichen. Geschlechtliche Fortpflanzung und<br />

C<strong>ro</strong>ssing-over bewirken, daß die Liquidität <strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>rnen<br />

Gegenstückes <strong>de</strong>r „Suppe“ erhalten bleibt. Sie sorgen dafür,<br />

daß <strong>de</strong>r Genpool immer gut „durchgerührt“ wird und die Gene<br />

stückweise gemischt wer<strong>de</strong>n. Die Evolution ist <strong>de</strong>r Vorgang,<br />

durch <strong>de</strong>n einige Gene im Genpool zahlreicher und an<strong>de</strong>re<br />

seltener wer<strong>de</strong>n. Wir sollten es uns zur Gewohnheit machen,<br />

uns je<strong>de</strong>smal, <strong>wen</strong>n wir die Entwicklung eines Merkmals (beispielsweise<br />

<strong>de</strong>s uneigennützigen Verhaltens) zu erklären versuchen,<br />

einfach zu fragen: „Welche Auswirkung wird dieses<br />

Merkmal auf die Häufigkeit <strong>de</strong>r Gene im Genpool haben?“<br />

Zuweilen wird die Gensprache ein <strong>wen</strong>ig ermü<strong>de</strong>nd, und wir<br />

wer<strong>de</strong>n um <strong>de</strong>r Kürze und Klarheit willen zu bildhaften Vergleichen<br />

übergehen. Aber wir wer<strong>de</strong>n immer ein skeptisches<br />

Auge auf unsere Bil<strong>de</strong>r haben, um sicherzugehen, daß sie<br />

sich <strong>wen</strong>n nötig wie<strong>de</strong>r in die Gensprache zurückübersetzen<br />

lassen.<br />

Was das Gen betrifft, so ist <strong>de</strong>r Genpool lediglich die neue<br />

Art von „Suppe“, in <strong>de</strong>r es sein Leben verbringt. Der einzige<br />

Unterschied ist, daß es heutzutage sein Leben gestaltet, in<strong>de</strong>m<br />

es mit aufeinan<strong>de</strong>rfolgen<strong>de</strong>n Gruppen von Gefährten aus <strong>de</strong>m<br />

Genpool beim Bau einer sterblichen Überlebensmaschine nach<br />

<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren zusammenarbeitet. Im nächsten Kapitel <strong>wen</strong><strong>de</strong>n<br />

wir uns <strong>de</strong>n Überlebensmaschinen selbst zu und untersuchen,<br />

in welchem Sinn man sagen kann, daß ihr Verhalten von Genen<br />

gesteuert wird.


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 84<br />

4. Die Genmaschine<br />

Die Überlebensmaschinen begannen als passive Gefäße für<br />

die Gene, wobei sie diese mit kaum mehr versorgten als mit<br />

Wän<strong>de</strong>n zum Schutz vor <strong>de</strong>r chemischen Kriegsführung ihrer<br />

Rivalen und vor <strong>de</strong>n Gefahren zufälligen Molekülbeschusses.<br />

Zu Beginn „ernährten“ sie sich von organischen Molekülen, die<br />

in <strong>de</strong>r Suppe unbegrenzt verfügbar waren. Dieses leichte Leben<br />

nahm ein En<strong>de</strong>, als die organische Nahrung in <strong>de</strong>r Suppe, die<br />

unter <strong>de</strong>m energetischen Einfluß jahrhun<strong>de</strong>rtelanger Sonneneinstrahlung<br />

allmählich entstan<strong>de</strong>n war, gänzlich aufgebraucht<br />

war. Eine Hauptgruppe <strong>de</strong>r Überlebensmaschinen, heute als<br />

Pflanzen bezeichnet, begann die Energie <strong>de</strong>s Sonnenlichtes<br />

unmittelbar dazu zu ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>n, in eigener Regie aus einfachen<br />

Molekülen komplexere Verbindungen aufzubauen. Damit vollzog<br />

diese Gruppe die Synthesevorgänge, die im Urmeer abgelaufen<br />

waren, mit sehr viel größerer Geschwindigkeit nach.<br />

Ein an<strong>de</strong>rer Zweig, heute unter <strong>de</strong>m Namen Tiere bekannt,<br />

„ent<strong>de</strong>ckte“, wie er die chemische Arbeit <strong>de</strong>r Pflanzen für<br />

sich nutzen konnte, in<strong>de</strong>m er entwe<strong>de</strong>r die Pflanzen selbst<br />

o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Tiere verzehrte. Bei<strong>de</strong> g<strong>ro</strong>ßen Gruppen von<br />

Überlebensmaschinen entwickelten immer kunstvollere Tricks,<br />

um in ihren verschie<strong>de</strong>nen Lebensweisen eine größere Effizienz<br />

zu erzielen, und ständig wur<strong>de</strong>n neue Lebensweisen erschlossen.<br />

Es bil<strong>de</strong>ten sich Unterzweige heraus, von <strong>de</strong>nen sich je<strong>de</strong>r<br />

in einer eigenen, spezialisierten Art <strong>de</strong>r Lebensführung auszeichnete:<br />

im Meer, auf <strong>de</strong>m Erdbo<strong>de</strong>n, in <strong>de</strong>r Luft, unter <strong>de</strong>r<br />

Er<strong>de</strong>, auf Bäumen und in an<strong>de</strong>ren Körpern. Diese Verzweigung<br />

war <strong>de</strong>r Ursprung <strong>de</strong>r ungeheuren Vielfalt von Pflanzen<br />

und Tieren, die uns heute so beeindruckt.<br />

Sowohl Tiere als auch Pflanzen entwickelten sich zu vielzelligen<br />

Lebewesen, wobei je<strong>de</strong> Zelle vollständige Kopien aller<br />

Gene zugeteilt bekam. Wir wissen nicht, wann, warum und wie<br />

viele Male unabhängig voneinan<strong>de</strong>r dies geschehen ist. Einige<br />

Leute benutzen das Bild einer Kolonie und beschreiben einen<br />

Körper als eine Zellkolonie. Ich persönlich ziehe es vor, mir


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 85<br />

<strong>de</strong>n Körper als eine Kolonie von Genen vorzustellen und die<br />

Zelle als eine zweckmäßige Arbeitseinheit für die chemische<br />

Industrie <strong>de</strong>r Gene.<br />

Mögen die Körper auch Kolonien von Genen sein, in ihrem<br />

Verhalten haben sie unleugbar eine eigene Individualität erworben.<br />

Ein Tier bewegt sich als ein koordiniertes Ganzes, als<br />

eine Einheit. Subjektiv empfin<strong>de</strong> ich mich als Einheit, nicht<br />

als Kolonie. Das ist zu erwarten. Die Selektion hat Gene<br />

begünstigt, die mit an<strong>de</strong>ren zusammenarbeiten. In <strong>de</strong>r Auseinan<strong>de</strong>rsetzung<br />

um knappe Ressourcen, im schonungslosen<br />

Kampf darum, an<strong>de</strong>re Überlebensmaschinen zu fressen und<br />

zu verhin<strong>de</strong>rn, selbst gefressen zu wer<strong>de</strong>n, muß es eine Belohnung<br />

für die zentrale Koordination innerhalb <strong>de</strong>s gemeinschaftlichen<br />

Körpers gegeben haben, nicht für Anarchie.<br />

Heutzutage ist die verwickelte, sich wechselseitig beeinflussen<strong>de</strong><br />

gemeinsame Evolution von Genen so weit fortgeschritten,<br />

daß die gemeinschaftliche Natur einer individuellen<br />

Überlebensmaschine nicht mehr zu erkennen ist. In <strong>de</strong>r Tat<br />

erkennen viele Biologen sie nicht und wer<strong>de</strong>n mir nicht zustimmen.<br />

Zum Glück für die – wie Journalisten es nennen wür<strong>de</strong>n<br />

– „Glaubwürdigkeit“ <strong>de</strong>s übrigen Buches ist diese Meinungsverschie<strong>de</strong>nheit<br />

weitgehend eine theoretische Angelegenheit.<br />

So wie es nicht zweckmäßig ist, über Quanten und Elementarteilchen<br />

zu re<strong>de</strong>n, <strong>wen</strong>n wir die Funktionsweise eines<br />

Autos erörtern, ist es häufig ermü<strong>de</strong>nd und unnötig, beständig<br />

die Gene heranzuziehen, <strong>wen</strong>n wir das Verhalten von<br />

Überlebensmaschinen diskutieren. In <strong>de</strong>r Praxis ist es<br />

gewöhnlich zweckmäßig, <strong>de</strong>n einzelnen Körper annäherungsweise<br />

als ein Subjekt zu betrachten, das die Zahl aller seiner<br />

Gene in zukünftigen Generationen zu vergrößern „sucht“. Ich<br />

wer<strong>de</strong> mich einer zweckmäßigen Sprache bedienen. Solange<br />

nicht beson<strong>de</strong>rs vermerkt, be<strong>de</strong>utet „selbstloses Verhalten“<br />

und „selbstsüchtiges Verhalten“ dasjenige Verhalten, das ein<br />

Tierkörper einem an<strong>de</strong>ren gegenüber an <strong>de</strong>n Tag legt.<br />

Dieses Kapitel han<strong>de</strong>lt vom Verhalten – von <strong>de</strong>r Kunst <strong>de</strong>r<br />

raschen Bewegung, die sich hauptsächlich <strong>de</strong>r tierische Zweig


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 86<br />

<strong>de</strong>r Überlebensmaschinen zunutze gemacht hat. Die Tiere sind<br />

zu aktiven, draufgängerischen Genvehikeln gewor<strong>de</strong>n: zu Genmaschinen.<br />

Das charakteristische Merkmal <strong>de</strong>s Verhaltens in<br />

<strong>de</strong>m Sinne, wie die Biologen <strong>de</strong>n Ausdruck ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>n, ist<br />

seine Schnelligkeit. Auch Pflanzen bewegen sich, aber sehr<br />

langsam. In <strong>Zeit</strong>rafferfilmen sehen Kletterpflanzen wie emsige<br />

Tiere aus. Doch ein G<strong>ro</strong>ßteil <strong>de</strong>r Pflanzenbewegung ist in<br />

Wirklichkeit irreversibles Wachstum. Die Tiere dagegen haben<br />

Metho<strong>de</strong>n entwickelt, mit <strong>de</strong>nen sie sich mehrere hun<strong>de</strong>rttausendmal<br />

schneller bewegen. Darüber hinaus sind ihre Bewegungen<br />

reversibel und unbegrenzt wie<strong>de</strong>rholbar.<br />

Die Vorrichtung, welche die Tiere entwickelt haben, um<br />

rasche Bewegung zu erzielen, ist <strong>de</strong>r Muskel. Muskeln sind<br />

Maschinen, die – wie die Dampfmaschine und <strong>de</strong>r Verbrennungsmotor<br />

– in chemischem Kraftstoff gespeicherte Energie<br />

ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>n, um mechanische Bewegung zu erzeugen. Der<br />

Unterschied ist, daß die unmittelbare mechanische Kraft eines<br />

Muskels in Form von Spannung erzeugt wird und nicht in<br />

Form von Gasdruck wie bei <strong>de</strong>n Dampfmaschinen und Verbrennungsmotoren.<br />

Doch Muskeln sind <strong>de</strong>n Maschinen insofern<br />

ähnlich, als sie ihre Kraft häufig auf Seile und Hebel<br />

mit Gelenken ausüben. Die Hebel in uns sind unter <strong>de</strong>m<br />

Namen Knochen bekannt, die Seile heißen Sehnen, und die<br />

Gelenke bleiben Gelenke. Man weiß einiges über die molekulare<br />

Arbeitsweise <strong>de</strong>r Muskeln, doch viel interessanter fin<strong>de</strong><br />

ich die Frage, wie die Muskelkontraktionen zeitlich abgestimmt<br />

wer<strong>de</strong>n.<br />

Vielleicht hat <strong>de</strong>r Leser schon einmal eine etwas kompliziertere,<br />

von Menschenhand gemachte Maschine gesehen, eine<br />

Strick- o<strong>de</strong>r Nähmaschine, einen Webstuhl, eine automatische<br />

Flaschenabfüllanlage o<strong>de</strong>r eine Heupresse. Die Antriebskraft<br />

kommt von irgendwoher, nehmen wir einmal an, von einem<br />

Elekt<strong>ro</strong>motor o<strong>de</strong>r einem Traktor. Sehr viel verblüffen<strong>de</strong>r aber<br />

ist die verwickelte zeitliche Abstimmung <strong>de</strong>r Einzelvorgänge.<br />

Ventile öffnen und schließen sich in <strong>de</strong>r richtigen Reihenfolge,<br />

Stahlfinger knüpfen geschickt einen Knoten um einen Heuballen,<br />

und dann schießt genau im richtigen Augenblick


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 87<br />

ein Messer heraus und schnei<strong>de</strong>t die Schnur ab. Bei vielen<br />

Maschinen <strong>de</strong>s Menschen wird die zeitliche Koordinierung<br />

durch <strong>de</strong>n Nocken, eine glänzen<strong>de</strong> Erfindung, erreicht. Dieser<br />

übersetzt eine Drehbewegung mit Hilfe einer exzentrischen<br />

o<strong>de</strong>r beson<strong>de</strong>rs geformten Scheibe in ein komplexes rhythmisches<br />

Tätigkeitsmuster. Das Prinzip <strong>de</strong>r Spieldose ist ähnlich.<br />

An<strong>de</strong>re Maschinen, beispielsweise die Dampforgel und das<br />

Pianola, ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>n Papier<strong>ro</strong>llen o<strong>de</strong>r Karten mit in einer<br />

bestimmten Anordnung gestanzten Löchern. In jüngster <strong>Zeit</strong><br />

besteht ein Trend, solche einfachen mechanischen Synch<strong>ro</strong>nisatoren<br />

durch elekt<strong>ro</strong>nische zu ersetzen. Die Digitalrechenautomaten<br />

sind ein Beispiel g<strong>ro</strong>ßer und vielseitiger elekt<strong>ro</strong>nischer<br />

Anlagen, die zur Erzeugung komplexer, zeitlich koordinierter<br />

Bewegungsmuster benutzt wer<strong>de</strong>n können. Der wesentliche<br />

Bestandteil einer mo<strong>de</strong>rnen elekt<strong>ro</strong>nischen Maschine,<br />

beispielsweise eines Computers, ist <strong>de</strong>r Halbleiter, zu <strong>de</strong>ssen<br />

bekanntesten Formen <strong>de</strong>r Transistor gehört.<br />

Die Überlebensmaschinen scheinen <strong>de</strong>n Nocken und die<br />

Lochkarte völlig übersprungen zu haben. Die Einrichtung,<br />

die sie zum Koordinieren ihrer Bewegungen benutzen, hat<br />

mehr mit <strong>de</strong>m Elekt<strong>ro</strong>nenrechner gemein, obwohl ihre grundlegen<strong>de</strong><br />

Arbeitsweise völlig an<strong>de</strong>rs ist. Die Grun<strong>de</strong>inheit <strong>de</strong>r<br />

biologischen Computer, die Nervenzelle o<strong>de</strong>r das Neu<strong>ro</strong>n, hat<br />

in ihrer inneren Funktionsweise wirklich keinerlei Ähnlichkeit<br />

mit einem Transistor. Zwar scheint <strong>de</strong>r Co<strong>de</strong>, über <strong>de</strong>n die<br />

Neu<strong>ro</strong>nen untereinan<strong>de</strong>r in Verbindung stehen, ein <strong>wen</strong>ig<br />

<strong>de</strong>n Impulsco<strong>de</strong>s <strong>de</strong>r digitalen Computer zu ähneln, doch das<br />

einzelne Neu<strong>ro</strong>n ist eine sehr viel anspruchsvollere datenverarbeiten<strong>de</strong><br />

Einheit als <strong>de</strong>r Transistor. Statt über lediglich<br />

drei Anschlüsse zu an<strong>de</strong>ren Komponenten kann ein einzelnes<br />

Neu<strong>ro</strong>n über Zehntausen<strong>de</strong> solcher Anschlüsse verfügen. Das<br />

Neu<strong>ro</strong>n ist langsamer als <strong>de</strong>r Transistor, dafür ist seine Miniaturisierung<br />

– ein Trend, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n letzten zwei Jahrzehnten<br />

in <strong>de</strong>r elekt<strong>ro</strong>nischen Industrie vorherrschend war – sehr viel<br />

weiter fortgeschritten. Dies zeigt sich an <strong>de</strong>r Tatsache, daß das<br />

menschliche Gehirn etwa zehn Milliar<strong>de</strong>n Neu<strong>ro</strong>nen enthält,<br />

während man lediglich ein paar hun<strong>de</strong>rt Transistoren in einen


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 88<br />

Schä<strong>de</strong>l hineinpacken könnte. Die Pflanzen brauchen keine<br />

Nervenzellen, <strong>de</strong>nn sie bekommen alles, was sie zum Leben<br />

brauchen, ohne sich zu bewegen, aber die g<strong>ro</strong>ße Mehrheit<br />

<strong>de</strong>r Tiergruppen besitzt Neu<strong>ro</strong>nen. Die Nervenzelle kann zu<br />

Beginn <strong>de</strong>r tierischen Evolution „ent<strong>de</strong>ckt“ und von allen<br />

Gruppen ererbt wor<strong>de</strong>n sein, vielleicht wur<strong>de</strong> sie aber auch<br />

mehrere Male unabhängig voneinan<strong>de</strong>r neu erfun<strong>de</strong>n.<br />

Neu<strong>ro</strong>nen sind im wesentlichen einfach Zellen, mit einem<br />

Kern und Ch<strong>ro</strong>mosomen wie an<strong>de</strong>re Zellen. Ihre Zellwän<strong>de</strong><br />

sind jedoch zu langen, dünnen, drahtähnlichen Fortsätzen ausgezogen.<br />

Häufig besitzt ein Neu<strong>ro</strong>n einen beson<strong>de</strong>rs langen<br />

„Draht“, <strong>de</strong>r Axon genannt wird. Obwohl <strong>de</strong>r Durchmesser<br />

eines Axons mik<strong>ro</strong>skopisch klein ist, kann seine Länge ein<br />

paar Meter betragen: Es gibt einzelne Axone, die über die<br />

ganze Länge eines Giraffenhalses laufen. Die Axone sind<br />

gewöhnlich zu dicken, aus zahlreichen Fasern bestehen<strong>de</strong>n<br />

Kabeln gebün<strong>de</strong>lt, die Nerven genannt wer<strong>de</strong>n. Diese führen<br />

von einem Teil <strong>de</strong>s Körpers zu einem an<strong>de</strong>ren und beför<strong>de</strong>rn<br />

Nachrichten, ähnlich wie Telefonfernleitungen. An<strong>de</strong>re Neu<strong>ro</strong>ne<br />

besitzen kurze Axone und sind zu g<strong>ro</strong>ßen Komplexen<br />

von Nervengewebe zusammengeballt, die als Ganglien o<strong>de</strong>r,<br />

<strong>wen</strong>n sie sehr g<strong>ro</strong>ß sind, als Gehirn bezeichnet wer<strong>de</strong>n. Das<br />

Gehirn läßt sich in seiner Funktion mit einem Computer vergleichen.<br />

1 Bei<strong>de</strong> Maschinentypen erzeugen nach <strong>de</strong>r Analyse<br />

komplexer Inputmuster und <strong>de</strong>m Abruf gespeicherter Informationen<br />

komplizierte Outputmuster.<br />

Zum Erfolg einer Überlebensmaschine trägt das Gehirn<br />

hauptsächlich dadurch bei, daß es die Kontraktion von Muskeln<br />

steuert und koordiniert. Dazu benötigt es Kabel, die zu<br />

<strong>de</strong>n Muskeln führen ; man bezeichnet diese Kabel als motorische<br />

Nerven. Ein wirksamer Schutz <strong>de</strong>r Gene ist allerdings<br />

nur möglich, <strong>wen</strong>n <strong>de</strong>r <strong>Zeit</strong>punkt <strong>de</strong>r Muskelkontraktionen<br />

auf irgen<strong>de</strong>ine Weise auf <strong>de</strong>n zeitlichen Ablauf von Ereignissen<br />

in <strong>de</strong>r Außenwelt abgestimmt ist. Es ist wichtig, daß die<br />

Kiefermuskeln nur dann angespannt wer<strong>de</strong>n, <strong>wen</strong>n die Kiefer<br />

etwas enthalten, das sich zu beißen lohnt, und daß sich die<br />

Beinmuskeln nur dann kontrahieren, um Laufbewegungen


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 89<br />

durchzuführen, <strong>wen</strong>n etwas da ist, zu <strong>de</strong>m man hin- o<strong>de</strong>r<br />

vor <strong>de</strong>m man weglaufen muß. Aus diesem Grun<strong>de</strong> hat die<br />

natürliche Auslese die Evolution von Tieren begünstigt, die<br />

mit Sinnesorganen ausgestattet sind, das heißt mit Einrichtungen,<br />

die <strong>de</strong>n Ablauf physischer Ereignisse in <strong>de</strong>r Außenwelt in<br />

<strong>de</strong>n Impulsco<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Neu<strong>ro</strong>nen übersetzen. Das Gehirn ist mit<br />

<strong>de</strong>n Sinnesorganen – Augen, Ohren, Geschmacksknospen und<br />

so weiter – durch Kabel verbun<strong>de</strong>n, die man als sensorische<br />

Nerven bezeichnet. Die Sinnessysteme vollbringen erstaunliche<br />

Leistungen, <strong>de</strong>nn in <strong>de</strong>r Mustererkennung sind sie <strong>de</strong>n<br />

besten und kostspieligsten von Menschenhand geschaffenen<br />

Maschinen weit überlegen. Wäre dies an<strong>de</strong>rs, so wären alle Stenotypistinnen<br />

überflüssig; sie wür<strong>de</strong>n verdrängt durch Maschinen,<br />

die Sprache verstehen, o<strong>de</strong>r solche, die Handschriften<br />

lesen können. Menschliche Schreibkräfte wer<strong>de</strong>n jedoch noch<br />

viele Jahrzehnte gebraucht wer<strong>de</strong>n.<br />

Es mag einmal eine <strong>Zeit</strong> gegeben haben, in <strong>de</strong>r die Sinnesorgane<br />

mehr o<strong>de</strong>r <strong>wen</strong>iger direkt mit <strong>de</strong>n Muskeln in Verbindung<br />

stan<strong>de</strong>n; tatsächlich sind Seeanemonen noch heute nicht<br />

weit von diesem Zustand entfernt, da er für ihre Lebensweise<br />

geeignet ist. Doch um komplexere und <strong>wen</strong>iger direkte Beziehungen<br />

zwischen <strong>de</strong>m zeitlichen Ablauf von Ereignissen in <strong>de</strong>r<br />

Außenwelt und <strong>de</strong>m von Muskelkontraktionen zu erhalten, war<br />

so etwas wie ein Gehirn als Vermittler not<strong>wen</strong>dig. Einen bemerkenswerten<br />

Schritt vorwärts stellt die evolutionäre „Erfindung“<br />

<strong>de</strong>s Gedächtnisses dar. Durch diese Einrichtung kann<br />

die zeitliche Koordinierung von Muskelkontraktionen nicht<br />

nur von Ereignissen in <strong>de</strong>r unmittelbaren Vergangenheit, son<strong>de</strong>rn<br />

ebenso von länger zurückliegen<strong>de</strong>n Vorgängen beeinflußt<br />

wer<strong>de</strong>n. Das Gedächtnis o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Speicher ist auch beim elekt<strong>ro</strong>nischen<br />

Digitalrechner von entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung. Der<br />

Speicher eines Computers ist zuverlässiger als das Gehirn <strong>de</strong>s<br />

Menschen, aber er hat eine geringere Kapazität, und seine<br />

Techniken <strong>de</strong>r Informationswie<strong>de</strong>rgewinnung sind weit <strong>wen</strong>iger<br />

differenziert.<br />

Eines <strong>de</strong>r auffallendsten Merkmale <strong>de</strong>s Verhaltens von<br />

Überlebensmaschinen ist seine augenscheinliche Zielstrebig-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 90<br />

keit. Damit meine ich nicht nur, daß es bestens darauf ausgerichtet<br />

zu sein scheint, <strong>de</strong>n Genen <strong>de</strong>s Tieres beim Überleben<br />

zu helfen – was es natürlich ist. Ich meine eine noch stärkere<br />

Ähnlichkeit mit zielbewußtem menschlichem Verhalten. Wenn<br />

wir ein Tier beobachten, wie es Nahrung, einen Geschlechtspartner<br />

o<strong>de</strong>r ein verlorengegangenes Junges „sucht“, so können<br />

wir kaum umhin, ihm einige <strong>de</strong>r subjektiven Gefühle zuzuschreiben,<br />

die wir an uns selbst erfahren, <strong>wen</strong>n wir etwas<br />

suchen. Dazu gehört vielleicht das „Verlangen“ nach einem<br />

Objekt, ein „geistiges Bild“ <strong>de</strong>s ersehnten Gegenstands, ein<br />

„Ziel“ o<strong>de</strong>r eine „Absicht“. Je<strong>de</strong>r von uns weiß auf Grund<br />

von Beobachtungen, die er an sich selbst gemacht hat,<br />

daß diese Zielstrebigkeit zumin<strong>de</strong>st in einer <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen<br />

Überlebensmaschinen diejenige Eigenschaft hervorgebracht<br />

hat, die wir Bewußtsein nennen. Ich bin nicht Philosoph genug,<br />

um zu erörtern, was das be<strong>de</strong>utet. Aber glücklicherweise spielt<br />

dies für unsere Zwecke im Moment keine Rolle, <strong>de</strong>nn es ist<br />

nicht schwer, von Maschinen zu re<strong>de</strong>n, die sich so verhalten,<br />

als ob sie von einer Absicht getrieben wären, und dabei die<br />

Frage, ob sie sich tatsächlich bewußt verhalten, offenzulassen.<br />

Diese Maschinen sind im Grun<strong>de</strong> genommen sehr einfach, und<br />

die Prinzipien unbewußten zielstrebigen Verhaltens gehören<br />

zu <strong>de</strong>n Grundkenntnissen <strong>de</strong>s Ingenieurwesens. Ein klassisches<br />

Beispiel ist <strong>de</strong>r Wattsche Dampfregler.<br />

Das Grundprinzip, mit <strong>de</strong>m wir es zu tun haben, wird<br />

als negative Rückkoppelung bezeichnet, von <strong>de</strong>r es mehrere<br />

Formen gibt. Im allgemeinen geschieht folgen<strong>de</strong>s: Die „Zweckmaschine“,<br />

also das Objekt, das sich so verhält, als verfolge es<br />

einen bewußten Zweck, ist mit einer Art Meßeinrichtung ausgestattet,<br />

die <strong>de</strong>n Unterschied zwischen <strong>de</strong>m gegenwärtigen<br />

und <strong>de</strong>m erwünschten Zustand mißt. Diese Einrichtung ist<br />

so konstruiert, daß die Maschine um so härter arbeitet, je<br />

größer die Differenz <strong>de</strong>r Werte ist. Auf diese Weise tendiert<br />

die Maschine automatisch dazu, die Differenz zu verkleinern<br />

– daher <strong>de</strong>r Name negative Rückkoppelung –, und sie kann<br />

tatsächlich zur Ruhe kommen, <strong>wen</strong>n <strong>de</strong>r „gewünschte“ Zustand<br />

erreicht ist. Der Wattsche Fliehkraftregler besteht aus einem


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 91<br />

Paar Kugeln, die von einer Dampfmaschine herumgewirbelt<br />

wer<strong>de</strong>n. Je<strong>de</strong> Kugel sitzt am En<strong>de</strong> eines gelenkig befestigten<br />

Armes. Je schneller die Kugeln herumfliegen, um so stärker<br />

zieht die Zentrifugalkraft <strong>de</strong>n Arm in eine horizontale Lage,<br />

wobei <strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rstand <strong>de</strong>r Schwerkraft überwun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n<br />

muß. Die Arme sind <strong>de</strong>rart mit <strong>de</strong>m die Maschine speisen<strong>de</strong>n<br />

Dampfventil verbun<strong>de</strong>n, daß <strong>de</strong>r Dampf abgestellt wird, <strong>wen</strong>n<br />

die Arme sich <strong>de</strong>r horizontalen Lage nähern. Wenn die<br />

Maschine also zu schnell läuft, wird <strong>de</strong>r Dampfst<strong>ro</strong>m ged<strong>ro</strong>sselt,<br />

und sie läuft langsamer. Wird sie zu langsam, so führt<br />

das Ventil <strong>de</strong>r Maschine automatisch mehr Dampf zu, und<br />

sie beschleunigt von neuem. Bei <strong>de</strong>rartigen Zweckmaschinen<br />

fin<strong>de</strong>t man häufig ein Pen<strong>de</strong>ln um <strong>de</strong>n Sollwert, entwe<strong>de</strong>r auf<br />

Grund von Übersteuerungen o<strong>de</strong>r weil <strong>Zeit</strong>verzögerungen eintreten.<br />

Es gehört zum Handwerk <strong>de</strong>r Ingenieure, ergänzen<strong>de</strong><br />

Einrichtungen einzubauen, damit dieses Oszillieren vermin<strong>de</strong>rt<br />

wird.<br />

Der „erwünschte“ Zustand <strong>de</strong>s Fliehkraftreglers ist eine<br />

bestimmte Rotationsgeschwindigkeit. Es liegt auf <strong>de</strong>r Hand,<br />

daß die Maschine diese nicht bewußt wünscht. Man <strong>de</strong>finiert<br />

als „Ziel“ <strong>de</strong>r Maschine lediglich jenen Zustand, zu <strong>de</strong>m sie<br />

zurückzukehren tendiert. Die mo<strong>de</strong>rnen „Zweckmaschinen“<br />

ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>n Weiterentwicklungen solcher Grundprinzipien wie<br />

<strong>de</strong>r negativen Rückkoppelung, um sehr viel komplexeres,<br />

„lebensechtes“ Verhalten zu erzielen. Ferngelenkte Flugkörper<br />

beispielsweise erwecken <strong>de</strong>n Anschein, aktiv nach ihrem Ziel<br />

zu suchen, und <strong>wen</strong>n sie es in Reichweite haben, scheinen sie<br />

es zu verfolgen, in<strong>de</strong>m sie je<strong>de</strong>r seiner ausweichen<strong>de</strong>n Drehungen<br />

und Wendungen Rechnung tragen und sie gelegentlich<br />

sogar „voraussagen“ o<strong>de</strong>r „vorwegnehmen“. Es lohnt sich nicht,<br />

genauer zu untersuchen, wie dies im einzelnen geschieht. Es<br />

hat mit negativen Rückkoppelungen <strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nsten Art,<br />

mit „Vorwärtsverstärkung“ und an<strong>de</strong>ren Prinzipien zu tun, die<br />

für die Ingenieure kein Geheimnis darstellen und von <strong>de</strong>nen<br />

man heute weiß, daß sie bei <strong>de</strong>n Aktivitäten leben<strong>de</strong>r Organismen<br />

in umfassen<strong>de</strong>r Weise beteiligt sind. Es ist keineswegs<br />

nötig, irgend etwas zu postulieren, das auch nur entfernt <strong>de</strong>m


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 92<br />

Bewußtsein nahekommt, selbst <strong>wen</strong>n ein Laie, <strong>de</strong>r das anscheinend<br />

überlegte und zielbewußte Verhalten eines Flugkörpers<br />

beobachtet, kaum glauben kann, daß dieser nicht unmittelbar<br />

von einem Piloten gesteuert wird.<br />

Es ist ein weitverbreitetes Mißverständnis, daß eine Maschine<br />

– beispielsweise ein ferngelenkter Flugkörper – <strong>de</strong>shalb, weil<br />

sie ursprünglich von <strong>de</strong>nken<strong>de</strong>n Menschen entworfen und<br />

gebaut wur<strong>de</strong>, auch tatsächlich direkt von einem Menschen<br />

gesteuert wer<strong>de</strong>n muß. Eine an<strong>de</strong>re Variante dieses Trugschlusses<br />

ist die, daß „Computer nicht wirklich Schach spielen,<br />

weil sie nur das tun können, was <strong>de</strong>r Operator ihnen sagt“.<br />

Es ist wichtig, daß wir verstehen, warum dies falsch ist, um<br />

zu begreifen, in welchem Sinne man von <strong>de</strong>r „Steuerung“ <strong>de</strong>s<br />

Verhaltens durch die Gene sprechen kann. Computerschach<br />

ist ein gutes Beispiel, um dies zu erläutern, daher wer<strong>de</strong> ich<br />

kurz darauf eingehen.<br />

Computer spielen nicht so gut Schach wie menschliche<br />

G<strong>ro</strong>ßmeister, aber sie haben das Niveau eines guten Amateurs<br />

erreicht. Genaugenommen sollte man sagen, daß die P<strong>ro</strong>gramme<br />

das Niveau eines guten Amateurs erreicht haben, <strong>de</strong>nn<br />

ein Schachp<strong>ro</strong>gramm macht nicht viel Aufhebens darum, welchen<br />

Computer es benutzt, um seine Fähigkeiten zu zeigen.<br />

Welches ist nun also die Rolle <strong>de</strong>s P<strong>ro</strong>grammierers? Zunächst<br />

einmal manipuliert er <strong>de</strong>n Computer zweifellos nicht in je<strong>de</strong>m<br />

Augenblick wie ein Puppenspieler, <strong>de</strong>r die Fä<strong>de</strong>n einer Marionette<br />

zieht. Das wäre einfach Schwin<strong>de</strong>l. Er schreibt vielmehr<br />

das P<strong>ro</strong>gramm, gibt es <strong>de</strong>m Computer ein, und dann ist dieser<br />

sich selbst überlassen: Es gibt keine weiteren Eingriffe seitens<br />

<strong>de</strong>s Menschen außer <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>s Gegners, <strong>de</strong>r seine Züge<br />

eintippt. Sieht <strong>de</strong>r P<strong>ro</strong>grammierer vielleicht alle möglichen<br />

Schachpositionen voraus und versieht <strong>de</strong>n Computer mit einer<br />

langen Liste guter Züge, für je<strong>de</strong>n möglicherweise eintreten<strong>de</strong>n<br />

Fall einen? Ganz bestimmt nicht, <strong>de</strong>nn die Zahl <strong>de</strong>r<br />

möglichen Situationen beim Schach ist <strong>de</strong>rart g<strong>ro</strong>ß, daß die<br />

Welt aufhören wür<strong>de</strong> zu existieren, bevor die Liste fertig wäre.<br />

Aus <strong>de</strong>m gleichen Grund kann <strong>de</strong>r Computer unmöglich so<br />

p<strong>ro</strong>grammiert wer<strong>de</strong>n, daß er alle <strong>de</strong>nkbaren Züge und alle


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 93<br />

möglichen Gegenzüge „im Kopf“ ausp<strong>ro</strong>bieren kann, bis er eine<br />

Gewinnstrategie fin<strong>de</strong>t. Beim Schach sind mehr unterschiedliche<br />

Partien möglich, als es in unserer Galaxie Atome gibt. Soviel<br />

zu <strong>de</strong>n naheliegen<strong>de</strong>n Vorgehensweisen, die keine Lösungen<br />

für das P<strong>ro</strong>blem sind, einen Computer für das Schachspiel<br />

zu p<strong>ro</strong>grammieren. Es ist in <strong>de</strong>r Tat ein auße<strong>ro</strong>r<strong>de</strong>ntlich<br />

schwieriges P<strong>ro</strong>blem, und es ist kaum überraschend, daß<br />

die besten P<strong>ro</strong>gramme immer noch nicht <strong>de</strong>n Status eines<br />

Schachg<strong>ro</strong>ßmeisters erreicht haben.<br />

Die tatsächliche Rolle <strong>de</strong>s P<strong>ro</strong>grammierers ähnelt eher <strong>de</strong>r<br />

eines Vaters, <strong>de</strong>r seinem Sohn das Schachspielen beibringt. Er<br />

erklärt <strong>de</strong>m Computer die wesentlichen Züge <strong>de</strong>s Spiels, nicht<br />

einzeln für je<strong>de</strong> Ausgangsposition, son<strong>de</strong>rn in Form sparsamer<br />

ausgedrückter Regeln. Er sagt nicht wortwörtlich in normaler<br />

Sprache: „Die Läufer bewegen sich diagonal“, son<strong>de</strong>rn etwas<br />

mathematisch Gleichbe<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>s, etwa: „Die neuen Koordinaten<br />

<strong>de</strong>s Läufers ergeben sich aus <strong>de</strong>n alten Koordinaten unter<br />

Addition <strong>de</strong>rselben, jedoch nicht zwangsläufig mit <strong>de</strong>mselben<br />

Vorzeichen versehenen Konstanten zu <strong>de</strong>r alten x- wie auch<br />

<strong>de</strong>r alten y-Koordinate.“ Allerdings drückt er es kürzer aus.<br />

Dann p<strong>ro</strong>gammiert er vielleicht einige „Ratschläge“, die in <strong>de</strong>r<br />

gleichen mathematischen o<strong>de</strong>r logischen Sprache formuliert<br />

sind und in menschlicher Ausdrucksweise etwa Hinweisen entsprechen<br />

wür<strong>de</strong>n wie „Laß <strong>de</strong>inen König nicht ungeschützt“<br />

o<strong>de</strong>r nützlichen Kniffen wie <strong>de</strong>m gleichzeitigen Angriff mit<br />

zwei Springern. Die Einzelheiten sind faszinierend, sie wür<strong>de</strong>n<br />

uns jedoch zu weit vom Thema abbringen. Der wichtige Punkt<br />

ist folgen<strong>de</strong>r: Sobald <strong>de</strong>r Computer tatsächlich spielt, ist er sich<br />

selbst überlassen und kann keinerlei Hilfe von seinem Meister<br />

erwarten. Der P<strong>ro</strong>grammierer kann nicht mehr tun, als <strong>de</strong>n<br />

Computer auf die bestmögliche Weise vorher mit einem P<strong>ro</strong>gramm<br />

zu versorgen, bei <strong>de</strong>m Listen mit spezifischen Kenntnissen<br />

und Ratschläge bezüglich Strategie und Taktik gut<br />

gegeneinan<strong>de</strong>r abgewogen sind.<br />

Auch die Gene steuern das Verhalten ihrer Überlebensmaschinen<br />

nicht unmittelbar mit <strong>de</strong>n Fingern an <strong>de</strong>r Marionettenschnur,<br />

son<strong>de</strong>rn mittelbar wie <strong>de</strong>r P<strong>ro</strong>grammierer <strong>de</strong>s Com-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 94<br />

puters. Sie können nicht mehr tun, als die Überlebensmaschine<br />

gut auszustatten ; dann ist sie sich selbst überlassen, und die<br />

Gene in ihr können sich lediglich passiv verhalten. Warum<br />

sind sie <strong>de</strong>rart passiv? Warum reißen sie nicht die Zügel an<br />

sich und übernehmen das Kommando über je<strong>de</strong>n einzelnen<br />

Augenblick? Die Antwort darauf ist, daß sie dies aus Grün<strong>de</strong>n<br />

<strong>de</strong>r <strong>Zeit</strong>verzögerung nicht können. Das läßt sich am besten an<br />

einer an<strong>de</strong>ren Analogie zeigen, die wir <strong>de</strong>r Science-fiction entnehmen.<br />

Das Buch A for And<strong>ro</strong>meda von Fred Hoyle und John<br />

Elliot ist eine aufregen<strong>de</strong> Geschichte, und auch ihm liegen wie<br />

allen guten Zukunfts<strong>ro</strong>manen einige interessante wissenschaftliche<br />

Fragen zugrun<strong>de</strong>. Seltsamerweise wird, so scheint es,<br />

die wichtigste dieser Fragen in <strong>de</strong>m Buch nicht ausdrücklich<br />

erwähnt. Sie wird vielmehr <strong>de</strong>r Vorstellungskraft <strong>de</strong>s Lesers<br />

überlassen. Ich hoffe, die Autoren nehmen es mir nicht übel,<br />

<strong>wen</strong>n ich diesem Punkt hier etwas weiter nachgehe.<br />

Im Sternbild And<strong>ro</strong>meda, 200 Lichtjahre entfernt, gibt es<br />

eine Zivilisation. 2 Sie will ihre Kultur auf ferne Welten aus<strong>de</strong>hnen.<br />

Wie soll sie dies am besten tun? Direkt hinzureisen ist<br />

ausgeschlossen. Die Lichtgeschwindigkeit setzt <strong>de</strong>r Schnelligkeit,<br />

mit <strong>de</strong>r man von einem Ort im Universum zu einem an<strong>de</strong>ren<br />

gelangen kann, eine theoretische Obergrenze, und mechanische<br />

Erwägungen erzwingen eine sehr viel niedrigere praktische<br />

Grenze. Abgesehen davon gibt es vielleicht gar nicht so<br />

viele Welten, die lohnen<strong>de</strong> Ziele sind, und wie soll man wissen,<br />

in welche Richtung man fahren muß? Funk ist ein besseres<br />

Mittel, um sich mit <strong>de</strong>m Rest <strong>de</strong>s Universums zu verständigen,<br />

da man eine sehr g<strong>ro</strong>ße Zahl von Welten erreichen kann, <strong>wen</strong>n<br />

man genügend Energie besitzt, um seine Signale in alle Richtungen<br />

auszusen<strong>de</strong>n, statt sie in eine einzige Richtung abzustrahlen<br />

(die Zahl wächst im Quadrat <strong>de</strong>r Entfernung, die<br />

das Signal zurücklegt). Radiowellen breiten sich mit Lichtgeschwindigkeit<br />

aus, das Signal braucht also 200 Jahre, um von<br />

And<strong>ro</strong>meda zur Er<strong>de</strong> zu gelangen. Die Schwierigkeit mit Entfernungen<br />

dieser Art ist, daß man niemals eine Unterhaltung<br />

führen kann. Selbst <strong>wen</strong>n man von <strong>de</strong>r Tatsache absieht, daß<br />

die nacheinan<strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> ausgesandten Botschaften von


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 95<br />

Menschen kommen wür<strong>de</strong>n, die jeweils durch zwölf Generationen<br />

voneinan<strong>de</strong>r getrennt wären: Der Versuch, sich über<br />

<strong>de</strong>rartige Entfernungen hinweg zu unterhalten, wäre schlicht<br />

und einfach nutzlos.<br />

Dieses P<strong>ro</strong>blem wird sich uns bald ernsthaft stellen: Radiowellen<br />

brauchen ungefähr vier Minuten, um die Entfernung<br />

zwischen <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> und <strong>de</strong>m Mars zurückzulegen. Zweifellos<br />

wer<strong>de</strong>n die Raumfahrer es sich abgewöhnen müssen, sich in<br />

kurzen abwechseln<strong>de</strong>n Sätzen miteinan<strong>de</strong>r zu verständigen,<br />

und statt <strong>de</strong>ssen lange Selbstgespräche o<strong>de</strong>r Monologe ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>n<br />

müssen, die eher Briefen ähneln als Unterhaltungen.<br />

Nehmen wir ein weiteres Beispiel: Roger Payne hat darauf aufmerksam<br />

gemacht, daß die Meeresakustik bestimmte Eigenschaften<br />

besitzt, aus <strong>de</strong>nen folgt, daß <strong>de</strong>r auße<strong>ro</strong>r<strong>de</strong>ntlich<br />

laute „Gesang“ <strong>de</strong>s Buckelwals theoretisch um die ganze Welt<br />

herum zu hören sein müßte, vorausgesetzt die Wale schwimmen<br />

in einer bestimmten Tiefe. Man weiß nicht, ob sie sich<br />

tatsächlich über sehr g<strong>ro</strong>ße Entfernungen hinweg untereinan<strong>de</strong>r<br />

verständigen, doch <strong>wen</strong>n sie es tun, müßten sie sich<br />

in ziemlich genau <strong>de</strong>rselben mißlichen Lage befin<strong>de</strong>n wie<br />

ein Ast<strong>ro</strong>naut auf <strong>de</strong>m Mars. Entsprechend <strong>de</strong>r Geschwindigkeit,<br />

mit <strong>de</strong>r sich <strong>de</strong>r Schall im Wasser fortpflanzt, wür<strong>de</strong> es<br />

ungefähr zwei Stun<strong>de</strong>n dauern, bis <strong>de</strong>r Gesang <strong>de</strong>n Atlantik<br />

durchquert hat und eine Antwort zurückkommt. Ich schlage<br />

dies als Erklärung für die Tatsache vor, daß manche Wale volle<br />

acht Minuten lang ein Selbstgespräch führen, ohne sich zu<br />

wie<strong>de</strong>rholen. Dann kehren sie zum Anfang <strong>de</strong>s Gesangs zurück<br />

und wie<strong>de</strong>rholen ihn von Anfang bis En<strong>de</strong>, viele Male hintereinan<strong>de</strong>r,<br />

wobei je<strong>de</strong>r Zyklus ungefähr acht Minuten dauert.<br />

Die Bewohner von And<strong>ro</strong>meda in unserem Roman taten<br />

genau das gleiche. Da es keinen Sinn hatte, auf eine Antwort<br />

zu warten, stellten sie alles, was sie sagen wollten, zu einer<br />

ungeheuer langen Botschaft zusammen und sandten diese im<br />

Abstand von mehreren Monaten immer wie<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n Raum<br />

hinaus. Ihre Botschaft unterschied sich jedoch sehr von<br />

<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Wale. Sie bestand aus verschlüsselten Anweisungen<br />

für <strong>de</strong>n Bau und das P<strong>ro</strong>grammieren eines riesigen Com-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 96<br />

puters. Natürlich waren die Anweisungen in keiner menschlichen<br />

Sprache geschrieben, aber fast je<strong>de</strong>r Co<strong>de</strong> läßt sich<br />

entschlüsseln, vor allem <strong>wen</strong>n seine Erfin<strong>de</strong>r die Absicht hatten,<br />

ihn leicht entschlüsselbar zu machen. Die Botschaft wur<strong>de</strong><br />

vom Jodrell-Bank-Radioteleskop aufgefangen und schließlich<br />

entschlüsselt, <strong>de</strong>r Computer wur<strong>de</strong> gebaut und das P<strong>ro</strong>gramm<br />

ausgeführt. Das Resultat wäre für die Menschheit beinahe<br />

verhängnisvoll gewesen, <strong>de</strong>nn die Absichten <strong>de</strong>r Bewohner<br />

von And<strong>ro</strong>meda waren nicht durchweg altruistischer Natur,<br />

und <strong>de</strong>r Computer befand sich bereits auf <strong>de</strong>m besten Wege,<br />

zum Diktator <strong>de</strong>r Welt zu wer<strong>de</strong>n, als ihm <strong>de</strong>r Held schließlich<br />

mit einer Axt <strong>de</strong>n Garaus machte.<br />

Die aus unserem Blickwinkel interessante Frage lautet:<br />

In welchem Sinne kann man behaupten, die Bewohner von<br />

And<strong>ro</strong>meda hätten die Ereignisse auf <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> manipuliert?<br />

Sie besaßen keine unmittelbare Kont<strong>ro</strong>lle über das, was<br />

<strong>de</strong>r Computer in je<strong>de</strong>m Augenblick tat; sie konnten in <strong>de</strong>r<br />

Tat nicht einmal wissen, daß er gebaut wor<strong>de</strong>n war, da die<br />

Information 200 Jahre gebraucht hätte, um wie<strong>de</strong>r zu ihnen<br />

zurückzugelangen. Die Entscheidungen und Handlungen <strong>de</strong>s<br />

Computers waren gänzlich seine eigene Angelegenheit. Er<br />

konnte sich nicht einmal wegen allgemeiner taktischer Instruktionen<br />

an seine Meister <strong>wen</strong><strong>de</strong>n. Alle seine Anweisungen<br />

mußten wegen <strong>de</strong>r unüberwindlichen Schranke von 200 Jahren<br />

im voraus eingebaut wer<strong>de</strong>n. Im Prinzip muß er ungefähr so<br />

wie ein Schachcomputer p<strong>ro</strong>grammiert wor<strong>de</strong>n sein, allerdings<br />

mit einer größeren Flexibilität und Kapazität zur Aufnahme<br />

lokaler Informationen. Das P<strong>ro</strong>gramm mußte ja so konzipiert<br />

sein, daß es nicht nur auf <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> funktionieren wür<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn<br />

auf je<strong>de</strong>r beliebigen technisch fortgeschrittenen Welt, auf<br />

je<strong>de</strong>r aus einer Reihe von Welten, <strong>de</strong>ren nähere Gegebenheiten<br />

die Bewohner von And<strong>ro</strong>meda nicht kennen konnten.<br />

So wie die Bewohner von And<strong>ro</strong>meda einen Computer auf<br />

<strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> brauchten, <strong>de</strong>r die tagtäglichen Entscheidungen für<br />

sie traf, müssen unsere Gene ein Gehirn bauen. Aber die<br />

Gene sind nicht nur die Bewohner von And<strong>ro</strong>meda, die die<br />

verschlüsselten Anweisungen aussandten, sie sind zugleich


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 97<br />

auch die Anweisungen selbst. Der Grund, aus <strong>de</strong>m sie unsere<br />

Marionettenschnüre nicht direkt bewegen können, ist <strong>de</strong>rselbe:<br />

<strong>Zeit</strong>verzögerung. Die Gene arbeiten mittels Steuerung<br />

<strong>de</strong>r Eiweißsynthese. Das ist eine wirkungsvolle Metho<strong>de</strong>, die<br />

Welt zu beeinflussen – aber auch eine langsame. Monate geduldigen<br />

Ziehens an <strong>de</strong>n Eiweiß„schnüren“ sind not<strong>wen</strong>dig, ehe<br />

ein Embryo entsteht. Am Verhalten dagegen ist das entschei<strong>de</strong>nd<br />

Wichtige, daß es schnell ist. Es spielt sich in einer zeitlichen<br />

Größenordnung nicht von Monaten, son<strong>de</strong>rn von Sekun<strong>de</strong>n<br />

und Bruchteilen von Sekun<strong>de</strong>n ab. Etwas geschieht auf <strong>de</strong>r<br />

Welt: Plötzlich taucht in <strong>de</strong>r Luft eine Eule auf, ein Rascheln im<br />

hohen Gras verrät die Beute, in Tausendstelsekun<strong>de</strong>n treten<br />

Nervensysteme in Aktion, Muskeln reagieren, und jeman<strong>de</strong>s<br />

Leben ist gerettet – o<strong>de</strong>r verloren. Gene haben keine solchen<br />

Reaktionszeiten. Wie die Bewohner von And<strong>ro</strong>meda können<br />

sie lediglich im voraus ihr Bestes tun, in<strong>de</strong>m sie sich einen<br />

schnell han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n Computer bauen und ihn im vorhinein mit<br />

Regeln und „Ratschlägen“ p<strong>ro</strong>grammieren, damit er es mit so<br />

vielen eventuellen Situationen aufnehmen kann, wie sie nur<br />

„voraussehen“ können. Doch wie das Schachspiel bietet auch<br />

das Leben zu viele verschie<strong>de</strong>ne Möglichkeiten, als daß sie alle<br />

vorausgesehen wer<strong>de</strong>n könnten. Wie <strong>de</strong>r Schachp<strong>ro</strong>grammierer<br />

müssen auch die Gene ihre Überlebensmaschinen nicht in<br />

spezifischen Fragen, son<strong>de</strong>rn in <strong>de</strong>n allgemeinen Strategien<br />

und Listen <strong>de</strong>s Metiers Leben „unterweisen“. 3<br />

Wie J. Z. Young dargelegt hat, haben die Gene eine Aufgabe<br />

zu erfüllen, die einer P<strong>ro</strong>phezeiung gleichkommt. Wenn sich<br />

ein Embryo einer Überlebensmaschine im Bau befin<strong>de</strong>t, liegen<br />

die Gefahren und P<strong>ro</strong>bleme seines Lebens in <strong>de</strong>r Zukunft.<br />

Wer kann vorhersagen, welche Fleischfresser hinter welchen<br />

Büschen kauern und auf ihn warten wer<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r welche<br />

schnellfüßige Beute seinen Weg pfeilschnell kreuzen wird?<br />

Kein P<strong>ro</strong>phet unter <strong>de</strong>n Menschen und auch kein Gen. Dennoch<br />

lassen sich einige allgemeine Voraussagen machen. Eisbärgene<br />

können ohne g<strong>ro</strong>ßes Risiko voraussagen, daß die Zukunft ihrer<br />

ungeborenen Überlebensmaschine kalt sein wird. Sie p<strong>ro</strong>phezeien<br />

dies nicht gedanklich, sie <strong>de</strong>nken überhaupt nicht: Sie


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 98<br />

installieren einfach ein dichtes Haarkleid, <strong>de</strong>nn das haben sie<br />

bei allen vorangehen<strong>de</strong>n Körpern auch gemacht, und genau<br />

<strong>de</strong>swegen gibt es sie im Genpool noch. Sie sagen außer<strong>de</strong>m<br />

voraus, daß <strong>de</strong>r Bo<strong>de</strong>n schneebe<strong>de</strong>ckt sein wird, und ihre Vorhersage<br />

drückt sich in Gestalt eines weißen und daher gut tarnen<strong>de</strong>n<br />

Haarklei<strong>de</strong>s aus. Wür<strong>de</strong> sich das Klima <strong>de</strong>r Arktis so<br />

rasch än<strong>de</strong>rn, daß das Bärenbaby in eine t<strong>ro</strong>pische Wüste hineingeboren<br />

wür<strong>de</strong>, so wären die Voraussagen <strong>de</strong>r Gene falsch,<br />

und sie müßten dafür büßen: Der junge Bär wür<strong>de</strong> sterben<br />

und sie mit ihm.<br />

Voraussagen sind in einer komplexen Welt eine unsichere<br />

Angelegenheit. Je<strong>de</strong> Entscheidung, die eine Überlebensmaschine<br />

trifft, ist ein Wagnis, und Aufgabe <strong>de</strong>r Gene ist es, das<br />

Gehirn im voraus so zu p<strong>ro</strong>grammieren, daß es im Durchschnitt<br />

Entscheidungen trifft, die sich auszahlen. Die in <strong>de</strong>r Spielbank<br />

Evolution gültige Währung ist das Überleben, genauer das<br />

Überleben <strong>de</strong>r Gene, doch für viele Zwecke ist das Überleben<br />

<strong>de</strong>s Individuums eine vernünftige Annäherung. Geht ein Tier<br />

zum Wasserloch hinunter, um zu trinken, so vergrößert es das<br />

Risiko, von Räubern gefressen zu wer<strong>de</strong>n, die davon leben, daß<br />

sie in <strong>de</strong>r Nähe von Wasserlöchern auf Beute lauern. Geht das<br />

Tier nicht zum Wasserloch, so wird es schließlich verdursten.<br />

Für was auch immer es sich entschei<strong>de</strong>t, überall lauern Gefahren,<br />

und es muß diejenige Entscheidung treffen, welche die<br />

langfristigen Überlebenschancen seiner Gene maximiert. Vielleicht<br />

ist die beste Taktik die, das Trinken so weit hinauszuschieben,<br />

bis es sehr durstig ist, dann hinzugehen und so viel<br />

zu trinken, daß es für geraume <strong>Zeit</strong> reicht. Auf diese Weise vermin<strong>de</strong>rt<br />

sich die Zahl <strong>de</strong>r einzelnen Besuche <strong>de</strong>s Wasserloches,<br />

an<strong>de</strong>rerseits muß es, <strong>wen</strong>n es dann endlich trinkt, lange<br />

<strong>Zeit</strong> <strong>de</strong>n Kopf unten halten. Alternativ dazu liegt die beste<br />

Chance unseres Tieres vielleicht darin, daß es <strong>wen</strong>ig und<br />

häufig trinkt, in<strong>de</strong>m es am Wasserloch vorbeiläuft und dabei<br />

kleine Schlucke Wasser nimmt. Welches die beste Strategie in<br />

diesem Glücksspiel ist, hängt von einer ganzen Reihe komplizierter<br />

Dinge ab, nicht zuletzt von <strong>de</strong>n Jagdgewohnheiten <strong>de</strong>r<br />

Räuber, welche sich ihrerseits so entwickelt haben, daß sie von


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 99<br />

<strong>de</strong>ren Standpunkt aus so effizient wie möglich sind. Auf irgen<strong>de</strong>ine<br />

Weise muß ein Abwägen <strong>de</strong>r Chancen stattfin<strong>de</strong>n. Aber<br />

selbstverständlich brauchen wir uns nicht vorzustellen, daß<br />

die Tiere ihre Berechnungen bewußt anstellen. Wir brauchen<br />

lediglich anzunehmen, daß Individuen, <strong>de</strong>ren Gene ein Gehirn<br />

so bauen, daß es gewöhnlich die richtige Entscheidung trifft,<br />

als unmittelbare Folge <strong>de</strong>ssen mit größerer Wahrscheinlichkeit<br />

überleben, und daß somit eben jene Gene weitervererbt<br />

wer<strong>de</strong>n.<br />

Wir können <strong>de</strong>n Vergleich mit <strong>de</strong>m Glücksspiel noch ein<br />

<strong>wen</strong>ig weiterführen. Ein Spieler muß drei wichtige Größen<br />

be<strong>de</strong>nken: Einsatz, Chancen und Gewinn. Wenn <strong>de</strong>r Gewinn<br />

sehr hoch ist, wird <strong>de</strong>r Spieler bereit sein, einen hohen Einsatz<br />

zu wagen. Ein Spieler, <strong>de</strong>r sein gesamtes Hab und Gut<br />

auf ein einziges Spiel setzt, strebt einen hohen Gewinn an.<br />

Er kann auch auf einen g<strong>ro</strong>ßen Verlust zusteuern; im Durchschnitt<br />

jedoch ergeht es <strong>de</strong>n Spielern, die hohe Einsätze wagen,<br />

nicht besser und nicht schlechter als <strong>de</strong>nen, die mit niedrigeren<br />

Einsätzen um niedrigere Gewinne spielen. Ein ähnlicher<br />

Vergleich läßt sich zwischen wagemutigen und vorsichtigen<br />

Kapitalanlegern an <strong>de</strong>r Wertpapierbörse ziehen. In gewisser<br />

Weise ist die Börse eine bessere Analogie als ein Kasino, weil<br />

das Kasino absichtlich zugunsten <strong>de</strong>r Bank beeinflußt ist (was<br />

genaugenommen be<strong>de</strong>utet, daß Spieler mit hohen Einsätzen<br />

im Durchschnitt ärmer nach Hause gehen als Spieler, die niedrigere<br />

Einsätze machen, und Spieler, die mit kleinen Einsätzen<br />

spielen, ärmer als jene, die überhaupt nicht spielen. Der Grund<br />

dafür hat jedoch mit unserer Erörterung nichts zu tun). Von<br />

diesem Fall abgesehen, erscheinen sowohl Spiele mit hohem<br />

als auch mit niedrigem Einsatz vernünftig. Gibt es Spieler<br />

unter <strong>de</strong>n Tieren, die mit hohem Einsatz spielen, und an<strong>de</strong>re,<br />

die ein vorsichtigeres Spiel bevorzugen? In Kapitel 9 wer<strong>de</strong>n<br />

wir sehen, daß man sich häufig die Männchen als Spieler<br />

mit hohem Einsatz und hohem Risiko und die Weibchen als<br />

vorsichtige Kapitalanleger vorstellen kann, insbeson<strong>de</strong>re bei<br />

polygamen Arten, bei <strong>de</strong>nen die Männchen um die Weibchen<br />

konkurrieren. Zoologen, die dieses Buch lesen, wer<strong>de</strong>n Arten


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 100<br />

kennen, welche sich als Spieler mit hohem Einsatz und hohem<br />

Risiko beschreiben lassen, und an<strong>de</strong>re Arten, die ein vorsichtigeres<br />

Spiel spielen. Kehren wir nun zu <strong>de</strong>m Thema zurück,<br />

auf welche Weise die Gene „Voraussagen“ über die Zukunft<br />

machen.<br />

Die Gene können das P<strong>ro</strong>blem, in ziemlich unvorhersehbaren<br />

Umwelten Voraussagen machen zu müssen, unter an<strong>de</strong>rem<br />

dadurch lösen, daß sie eine gewisse Lernfähigkeit einbauen.<br />

Dabei nimmt das P<strong>ro</strong>gramm vielleicht die Form folgen<strong>de</strong>r<br />

Instruktionen an die Überlebensmaschine an: „Hier<br />

ist eine Liste von Dingen, die als lohnend <strong>de</strong>finiert sind:<br />

süßer Geschmack im Mund, Orgasmus, mil<strong>de</strong> Temperaturen,<br />

lächeln<strong>de</strong>s Kind. Und hier ist eine Liste von unangenehmen<br />

Dingen: verschie<strong>de</strong>ne Arten von Schmerz, Übelkeit, leerer<br />

Magen, schreien<strong>de</strong>s Kind. Wenn du zufällig etwas tust, was<br />

eines <strong>de</strong>r unangenehmen Dinge nach sich zieht, so tu es nicht<br />

wie<strong>de</strong>r; an<strong>de</strong>rerseits wie<strong>de</strong>rhole alles, was eines <strong>de</strong>r angenehmen<br />

Dinge zur Folge hat.“ Der Vorteil dieser Art <strong>de</strong>s P<strong>ro</strong>grammierens<br />

liegt darin, daß die Anzahl <strong>de</strong>r <strong>de</strong>taillierten Vorschriften,<br />

die in das Originalp<strong>ro</strong>gramm eingebaut wer<strong>de</strong>n müssen,<br />

beträchtlich verringert wird. Darüber hinaus ist ein solches<br />

P<strong>ro</strong>gramm in <strong>de</strong>r Lage, Än<strong>de</strong>rungen in <strong>de</strong>r Umwelt gerecht<br />

zu wer<strong>de</strong>n, die nicht im einzelnen hätten vorausgesagt wer<strong>de</strong>n<br />

können. An<strong>de</strong>rerseits müssen t<strong>ro</strong>tz<strong>de</strong>m noch bestimmte Voraussagen<br />

gemacht wer<strong>de</strong>n. In unserem Beispiel sagen die<br />

Gene voraus, daß süßer Geschmack im Mund und Orgasmus<br />

„gut“ sind in <strong>de</strong>m Sinne, daß Zuckeressen und Kopulieren<br />

für das Überleben <strong>de</strong>r Gene wahrscheinlich von Vorteil sind.<br />

Die Möglichkeit, daß ein Individuum Saccharin verzehrt<br />

o<strong>de</strong>r masturbiert, ist in diesem Beispiel nicht vorausgesehen,<br />

und ebenso<strong>wen</strong>ig vorausgesehen sind die Gefahren <strong>de</strong>s<br />

übermäßigen Zuckergenusses in unserer Umwelt, wo Zucker<br />

in unnatürlicher Menge vorhan<strong>de</strong>n ist.<br />

Lernstrategien sind bereits bei einigen Computerschachp<strong>ro</strong>grammen<br />

verwandt wor<strong>de</strong>n. Diese P<strong>ro</strong>gramme wer<strong>de</strong>n im Verlauf<br />

ihrer Spiele gegen menschliche Gegner o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Computer<br />

tatsächlich besser. Sie sind zwar mit einem Repertoire


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 101<br />

an Regeln und Taktiken ausgestattet, doch ist in ihrem Entscheidungsablauf<br />

eine schwache Zufallsfunktion eingebaut. Sie<br />

p<strong>ro</strong>tokollieren vergangene Entscheidungen und erhöhen bei<br />

je<strong>de</strong>m Spiel, das sie gewinnen, geringfügig die Gewichtung <strong>de</strong>r<br />

Taktik, die <strong>de</strong>m Sieg vorausging, so daß beim nächsten Mal<br />

eine geringfügig größere Wahrscheinlichkeit besteht, daß sie<br />

dieselbe Taktik noch einmal wählen.<br />

Eine <strong>de</strong>r interessantesten Metho<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Zukunftsvoraussage<br />

ist die Simulation. Wenn ein General wissen will, ob ein<br />

bestimmter militärischer Plan besser ist als an<strong>de</strong>re Pläne, hat<br />

er es mit einem Voraussagep<strong>ro</strong>blem zu tun. Das Wetter, die<br />

Moral seiner Truppen und die möglichen Gegenmaßnahmen<br />

<strong>de</strong>s Fein<strong>de</strong>s stellen unbekannte Größen dar. Um herauszufin<strong>de</strong>n,<br />

ob <strong>de</strong>r Plan gut ist, kann er ihn einfach ausp<strong>ro</strong>bieren, aber<br />

es ist nicht empfehlenswert, diesen Test auf alle vorläufigen<br />

Pläne anzu<strong>wen</strong><strong>de</strong>n, die er sich ausgedacht hat, und sei es auch<br />

nur <strong>de</strong>shalb, weil das Kontingent an jungen Männern, die „für<br />

ihr Land“ zu sterben bereit sind, erschöpfbar und das Kontingent<br />

an möglichen Plänen sehr g<strong>ro</strong>ß ist. Es ist besser, die verschie<strong>de</strong>nen<br />

Pläne mit Blindläufen statt in tödlichem Ernst auszup<strong>ro</strong>bieren.<br />

Dies kann in Form von Übungen in natürlicher<br />

Größe geschehen, bei <strong>de</strong>nen „Nordland“ mit Übungsmunition<br />

gegen „Südland“ kämpft, aber selbst dies kostet <strong>Zeit</strong> und Material.<br />

Kriegsspiele lassen sich auf <strong>wen</strong>iger versch<strong>wen</strong><strong>de</strong>rische<br />

Weise spielen, <strong>wen</strong>n man Zinnsoldaten und kleine Spielzeugpanzer<br />

auf einer g<strong>ro</strong>ßen Karte herumschiebt.<br />

In letzter <strong>Zeit</strong> haben die Computer weitgehend die Aufgaben<br />

<strong>de</strong>r Simulation übernommen, nicht nur in <strong>de</strong>r Militärstrategie,<br />

son<strong>de</strong>rn auch in allen sonstigen Bereichen, in <strong>de</strong>nen eine<br />

Zukunftsp<strong>ro</strong>gnose nötig ist, wie <strong>de</strong>r Ökonomie, Ökologie, Soziologie<br />

und vielen an<strong>de</strong>ren. Die Metho<strong>de</strong> ist folgen<strong>de</strong>: Man errichtet<br />

im Computer ein Mo<strong>de</strong>ll eines bestimmten Aspekts <strong>de</strong>r<br />

Welt. Das heißt natürlich nicht, daß, <strong>wen</strong>n man <strong>de</strong>n Deckel<br />

abschraubt, eine Miniaturausgabe <strong>de</strong>s simulierten Gegenstands<br />

zum Vorschein kommt. Im schachspielen<strong>de</strong>n Computer<br />

gibt es im Innern <strong>de</strong>r Speicherbänke kein „geistiges Bild“,<br />

das als ein Schachbrett mit Springern und Bauern zu erken-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 102<br />

nen wäre. Das Schachbrett und die jeweilige Spielsituation<br />

sind vielmehr durch Listen elekt<strong>ro</strong>nisch codierter Zahlen dargestellt.<br />

Für uns ist eine Landkarte ein verkleinertes, auf<br />

zwei Dimensionen komprimiertes Mo<strong>de</strong>ll eines Teiles <strong>de</strong>r Welt.<br />

In einem Computer bestün<strong>de</strong> eine Landkarte wahrscheinlich<br />

eher aus einer Liste von Städten und an<strong>de</strong>ren Orten, jeweils<br />

mit zwei Zahlen kombiniert – Breiten- und Längengrad. Aber<br />

es kommt nicht darauf an, in welcher Form <strong>de</strong>r Computer<br />

tatsächlich sein Mo<strong>de</strong>ll von <strong>de</strong>r Welt im Kopf hat, solange diese<br />

Form es ihm erlaubt, an <strong>de</strong>m Mo<strong>de</strong>ll zu arbeiten, es zu manipulieren,<br />

Experimente mit ihm zu machen und <strong>de</strong>n Menschen,<br />

die ihn bedienen, darüber zu berichten, und zwar in einer<br />

für sie verständlichen Ausdrucksweise. Durch die Technik <strong>de</strong>r<br />

Simulation können Mo<strong>de</strong>llschlachten gewonnen o<strong>de</strong>r verloren<br />

wer<strong>de</strong>n, simulierte Verkehrsflugzeuge fliegen o<strong>de</strong>r abstürzen,<br />

wirtschaftspolitische Maßnahmen zu Wohlstand o<strong>de</strong>r Ruin<br />

führen. In je<strong>de</strong>m dieser Fälle spielt sich <strong>de</strong>r ganze Vorgang<br />

im Computer in einem winzigen Bruchteil <strong>de</strong>r <strong>Zeit</strong> ab, die er<br />

im wirklichen Leben benötigen wür<strong>de</strong>. Natürlich gibt es gute<br />

und schlechte Mo<strong>de</strong>lle <strong>de</strong>r Welt, und selbst die guten sind<br />

nur Näherungen. Keine noch so g<strong>ro</strong>ße Zahl von Simulationen<br />

kann genau voraussagen, was in <strong>de</strong>r Realität geschehen wird,<br />

aber <strong>de</strong>nnoch ist eine gute Simulation <strong>de</strong>m blin<strong>de</strong>n Hin- und<br />

Herp<strong>ro</strong>bieren bei weitem vorzuziehen. Man könnte die Simulation<br />

als „stellvertreten<strong>de</strong>s Versuchs- und Irrtumsverhalten“<br />

bezeichnen, ein Terminus, <strong>de</strong>r lei<strong>de</strong>r schon seit langem von <strong>de</strong>r<br />

„Rattenpsychologie“ mit Beschlag belegt wird.<br />

Wenn das Simulieren eine <strong>de</strong>rart gute I<strong>de</strong>e ist, dürfen<br />

wir erwarten, daß die Überlebensmaschinen als erste darauf<br />

gekommen sind. Schließlich erfan<strong>de</strong>n sie auch viele an<strong>de</strong>re<br />

Ingenieurtechniken <strong>de</strong>s Menschen, lange bevor wir die Szene<br />

betraten: die fokussieren<strong>de</strong> Linse und <strong>de</strong>n Parabolreflektor,<br />

die Frequenzanalyse von Schallwellen, die Servosteuerung, das<br />

Sonar, die Zwischenspeicherung hereinkommen<strong>de</strong>r Information<br />

und zahllose an<strong>de</strong>re mit langen Namen, <strong>de</strong>ren Einzelheiten<br />

hier nicht von Be<strong>de</strong>utung sind. Und die Simulation? Nun,<br />

<strong>wen</strong>n wir selbst eine schwierige Entscheidung zu treffen haben,


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 103<br />

die unbekannte zukünftige Größen einschließt, so betreiben<br />

wir tatsächlich eine Art Simulation. Wir stellen uns vor, was<br />

geschähe, <strong>wen</strong>n wir entsprechend dieser o<strong>de</strong>r jener Alternative<br />

han<strong>de</strong>ln wür<strong>de</strong>n. Wir errichten in unserem Geist ein<br />

Mo<strong>de</strong>ll, nicht von <strong>de</strong>r ganzen Welt, son<strong>de</strong>rn von <strong>de</strong>r begrenzten<br />

Gruppe von Dingen, von <strong>de</strong>nen wir meinen, daß sie relevant<br />

sein können. Wir sehen sie mit unserem inneren Auge vielleicht<br />

lebhaft vor uns, o<strong>de</strong>r wir sehen und manipulieren stilisierte<br />

Abstraktionen von ihnen. In bei<strong>de</strong>n Fällen ist es unwahrscheinlich,<br />

daß irgendwo in unserem Gehirn ein tatsächliches<br />

räumliches Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>r Ereignisse angelegt ist, die wir uns<br />

vorstellen. Doch wie beim Computer sind die Einzelheiten<br />

darüber, wie unser Gehirn sein Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>r Welt erstellt, <strong>wen</strong>iger<br />

wichtig als die Tatsache, daß es in <strong>de</strong>r Lage ist, dieses<br />

Mo<strong>de</strong>ll zur Voraussage möglicher Ereignisse zu ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>n.<br />

Überlebensmaschinen, die fähig sind, die Zukunft zu simulieren,<br />

sind an<strong>de</strong>ren Überlebensmaschinen, die nur durch konkretes<br />

Herump<strong>ro</strong>bieren lernen können, einen Schritt voraus.<br />

Das P<strong>ro</strong>blem beim konkreten P<strong>ro</strong>bieren ist nämlich, daß es<br />

<strong>Zeit</strong> und Energie kostet. Das P<strong>ro</strong>blem beim konkreten Irrtum<br />

ist, daß er häufig tödlich ist. Simulation ist sowohl sicherer als<br />

auch schneller.<br />

Die Evolution <strong>de</strong>r Fähigkeit zur Simulation scheint im subjektiven<br />

Bewußtsein ihren Höhepunkt erreicht zu haben. Warum<br />

dies geschehen sein mag, stellt für mich das unergründlichste<br />

Rätsel dar, <strong>de</strong>m sich die mo<strong>de</strong>rne Biologie gegenübersieht. Es<br />

gibt keinerlei Grund zu <strong>de</strong>r Annahme, elekt<strong>ro</strong>nische Rechenmaschinen<br />

seien sich <strong>de</strong>ssen bewußt, daß sie simulieren, wir<br />

müssen allerdings zugeben, daß sich dies in Zukunft än<strong>de</strong>rn<br />

könnte. Vielleicht entsteht Bewußtsein dann, <strong>wen</strong>n das Gehirn<br />

die Welt so vollständig simuliert, daß diese Simulation ein<br />

Mo<strong>de</strong>ll ihrer selbst enthalten muß. 4 Es liegt auf <strong>de</strong>r Hand, daß<br />

Glie<strong>de</strong>r und Körper einer Überlebensmaschine einen wichtigen<br />

Teil <strong>de</strong>r simulierten Welt dieser Überlebensmaschine darstellen<br />

müssen; vermutlich ließe sich aus einem ähnlich gearteten<br />

Grund die Simulation selbst als Teil <strong>de</strong>r zu simulieren<strong>de</strong>n<br />

Welt ansehen. Ein an<strong>de</strong>rer Ausdruck dafür wäre vielleicht


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 104<br />

in <strong>de</strong>r Tat „Sich-seiner-selbst-bewußt-sein“, aber ich glaube<br />

nicht, daß dies eine völlig befriedigen<strong>de</strong> Erklärung für die Evolution<br />

<strong>de</strong>s Bewußtseins darstellt, und dies nur zum Teil <strong>de</strong>shalb,<br />

weil es eine unendliche Regression in sich schließt –<br />

<strong>wen</strong>n es ein Mo<strong>de</strong>ll vom Mo<strong>de</strong>ll gibt, warum dann nicht ein<br />

Mo<strong>de</strong>ll vom Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>s Mo<strong>de</strong>lls ...?<br />

Welches auch immer die philosophischen P<strong>ro</strong>bleme sein<br />

mögen, die das Bewußtsein aufwirft, für unsere Betrachtungen<br />

ist die Vorstellung zweckdienlich, es sei <strong>de</strong>r Höhepunkt<br />

eines evolutionären Trends zur Emanzipation <strong>de</strong>r Überlebensmaschinen<br />

als <strong>de</strong>r ausführen<strong>de</strong>n Entscheidungsträger von<br />

ihren heimlichen Gebietern, <strong>de</strong>n Genen. Das Gehirn ist nicht<br />

nur für das tagtägliche Abwickeln <strong>de</strong>r Angelegenheiten <strong>de</strong>r<br />

Überlebensmaschine verantwortlich, es hat darüber hinaus die<br />

Fähigkeit erworben, die Zukunft vorauszusagen und entsprechend<br />

zu han<strong>de</strong>ln. Es verleiht <strong>de</strong>r Überlebensmaschine sogar<br />

die Macht, gegen das Diktat <strong>de</strong>r Gene zu rebellieren, beispielsweise<br />

in<strong>de</strong>m sie sich weigert, so viele Kin<strong>de</strong>r zu haben, wie sie<br />

könnte. Doch in dieser Beziehung ist <strong>de</strong>r Mensch ein sehr spezieller<br />

Fall, wie wir noch sehen wer<strong>de</strong>n.<br />

Was hat das alles mit Altruismus und Egoismus zu tun?<br />

Ich versuche <strong>de</strong>n Gedanken zu konstruieren, daß das tierische<br />

Verhalten, ob selbstlos o<strong>de</strong>r eigennützig, nur mittelbar<br />

<strong>de</strong>r – <strong>de</strong>nnoch sehr machtvollen – Kont<strong>ro</strong>lle <strong>de</strong>r Gene unterliegt.<br />

Dadurch, daß die Gene diktieren, auf welche Weise<br />

die Überlebensmaschinen und ihre Nervensysteme gebaut<br />

wer<strong>de</strong>n, üben sie die entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Macht über das Verhalten<br />

aus. Aber die von einem Augenblick zum an<strong>de</strong>ren zu treffen<strong>de</strong>n<br />

Entscheidungen über das, was als nächstes zu tun ist,<br />

trifft das Nervensystem. Die Gene entschei<strong>de</strong>n im wesentlichen<br />

über die Taktik, die <strong>de</strong>r Körper anzu<strong>wen</strong><strong>de</strong>n hat, das Gehirn<br />

ist das ausführen<strong>de</strong> Organ. Doch in <strong>de</strong>m Maße, wie das Gehirn<br />

einen immer höheren Entwicklungsstand erreichte, übernahm<br />

es einen ständig größeren Teil <strong>de</strong>r eigentlich taktischen Entscheidungen,<br />

wobei es Kunstgriffe wie Lernen und Simulation<br />

anwandte. Der logische Abschluß dieses Trends, <strong>de</strong>r bisher<br />

noch bei keiner Art erreicht wor<strong>de</strong>n ist, wäre <strong>de</strong>r, daß die


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 105<br />

Gene <strong>de</strong>r Überlebensmaschine lediglich eine einzige umfassen<strong>de</strong><br />

taktische Anweisung geben: Tu das, was auch immer es<br />

sein mag, von <strong>de</strong>m du meinst, daß es für unseren Fortbestand<br />

am besten ist.<br />

Vergleiche zwischen Computern und Menschen, die Entscheidungen<br />

treffen, sind schön und gut, aber wir müssen auf<br />

<strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Realität zurückkehren und uns daran erinnern,<br />

daß die Evolution in Wirklichkeit Schritt für Schritt durch die<br />

unterschiedliche Überlebensrate von Genen im Genpool stattfin<strong>de</strong>t.<br />

Damit sich ein Verhaltensmuster – ob altruistisch o<strong>de</strong>r<br />

eigennützig – entwickelt, ist es daher erfor<strong>de</strong>rlich, daß ein<br />

Gen „für“ dieses Verhalten im Genpool erfolgreicher ist als ein<br />

rivalisieren<strong>de</strong>s Gen o<strong>de</strong>r Allel „für“ irgen<strong>de</strong>in an<strong>de</strong>res Verhalten.<br />

Mit <strong>de</strong>m Ausdruck „Gen für altruistisches Verhalten“ ist<br />

je<strong>de</strong>s Gen gemeint, das die Entwicklung <strong>de</strong>s Nervensystems so<br />

beeinflußt, daß es sich mit größerer Wahrscheinlichkeit selbstlos<br />

verhält. 5 Gibt es irgendwelche experimentellen Beweise<br />

für die genetische Erblichkeit altruistischen Verhaltens? Nein,<br />

aber das ist kaum verwun<strong>de</strong>rlich, da die Genetik <strong>de</strong>s Verhaltens<br />

bisher <strong>wen</strong>ig erforscht wor<strong>de</strong>n ist. Der Leser möge mir<br />

erlauben, statt <strong>de</strong>ssen von <strong>de</strong>r Untersuchung eines Verhaltensmusters<br />

zu berichten, das zwar zufällig nicht augenscheinlich<br />

selbstlos, aber komplex genug ist, um interessant zu sein. Wir<br />

benutzen es als Mo<strong>de</strong>ll dafür, wie altruistisches Verhalten vererbt<br />

wer<strong>de</strong>n könnte.<br />

Honigbienen lei<strong>de</strong>n unter einer anstecken<strong>de</strong>n Krankheit,<br />

die Brutfäule genannt wird. Sie befällt die Larven in ihren<br />

Zellen. Von <strong>de</strong>n zahmen Rassen, die die Imker ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>n,<br />

sind einige mehr durch Brutfäule gefähr<strong>de</strong>t als an<strong>de</strong>re, und<br />

es hat sich herausgestellt, daß <strong>de</strong>r Unterschied zwischen <strong>de</strong>n<br />

Völkern zumin<strong>de</strong>st in einigen Fällen ein Verhaltensunterschied<br />

ist. Es gibt die sogenannten hygienischen Völker, die Epi<strong>de</strong>mien<br />

rasch stoppen, in<strong>de</strong>m sie die infizierten Larven lokalisieren,<br />

aus ihren Zellen zerren und aus <strong>de</strong>m Stock werfen.<br />

Die anfälligen Völker sind anfällig, weil sie diesen hygienischen<br />

Kin<strong>de</strong>smord nicht praktizieren. Das tatsächlich für<br />

diese Gesundheitspflege erfor<strong>de</strong>rliche Verhalten ist recht kom-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 106<br />

pliziert: Die Arbeiterinnen müssen die Zellen aller kranken<br />

Larven lokalisieren, <strong>de</strong>n Wachsverschluß von <strong>de</strong>r Zelle entfernen,<br />

die Larve herausziehen, sie durch <strong>de</strong>n Eingang <strong>de</strong>s Bienenstockes<br />

zerren und auf <strong>de</strong>n Müllplatz werfen.<br />

Die Durchführung genetischer Experimente mit Bienen<br />

ist aus verschie<strong>de</strong>nen Grün<strong>de</strong>n eine ziemlich komplizierte<br />

Angelegenheit. Die Arbeiterinnen selbst rep<strong>ro</strong>duzieren sich<br />

gewöhnlich nicht, man muß daher die Königin eines Volkes mit<br />

einer D<strong>ro</strong>hne (einem Männchen) eines an<strong>de</strong>ren Volkes kreuzen<br />

und das Verhalten <strong>de</strong>r Tochtergeneration von Arbeiterinnen<br />

beobachten. Genau das hat W. C. Rothenbuhler getan. Er stellte<br />

fest, daß alle hybri<strong>de</strong>n Tochterstöcke in <strong>de</strong>r ersten Generation<br />

keine Gesundheitspflege betrieben. Das Verhalten ihres hygienischen<br />

Elternteils schien verlorengegangen zu sein, obwohl<br />

die hygienischen Gene – wie sich später zeigen sollte –<br />

immer noch vorhan<strong>de</strong>n waren: Sie waren rezessiv wie bei<br />

<strong>de</strong>n Menschen die Gene für blaue Augen. Als Rothenbuhler<br />

die Hybri<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r ersten Generation mit einem reinerbigen<br />

hygienischen Volk „rückkreuzte“ (wobei er natürlich wie<strong>de</strong>r<br />

Königinnen und D<strong>ro</strong>hnen benutzte), erhielt er ein höchst eindrucksvolles<br />

Ergebnis: Die Tochterstöcke zerfielen in drei<br />

Gruppen. Eine dieser Gruppen zeigte perfektes hygienisches<br />

Verhalten, die zweite zeigte überhaupt kein hygienisches Verhalten,<br />

und die dritte hielt sich zwischen bei<strong>de</strong>n. Diese letztere<br />

Gruppe entfernte zwar <strong>de</strong>n Wachs<strong>de</strong>ckel <strong>de</strong>r Waben, sie<br />

ging aber nicht so weit, die Larven hinauszuwerfen. Rothenbuhler<br />

argwöhnte, daß es zwei getrennte Gene geben müsse,<br />

eins für das Auf<strong>de</strong>cken <strong>de</strong>r Zellen und eins für das Hinauswerfen.<br />

Die gewöhnlichen hygienischen Völker besitzen bei<strong>de</strong><br />

Gene, anfällige Völker statt <strong>de</strong>ssen die Allele – das heißt die<br />

Rivalen – <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Gene. Die Mischlinge, die nur teilweise<br />

hygienisches Verhalten an <strong>de</strong>n Tag legten, besaßen vermutlich<br />

nur das Gen für Auf<strong>de</strong>cken (in doppelter Ausfertigung),<br />

nicht aber das für Hinauswerfen. Rothenbuhler vermutete,<br />

daß seine Versuchsgruppe anscheinend völlig unhygienischer<br />

Bienen eine Untergruppe verbarg, die das Gen für Hinauswerfen<br />

besaß, es aber nicht realisieren konnte, da ihr das Gen für


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 107<br />

Auf<strong>de</strong>cken fehlte. Er bewies dies auf höchst elegante Weise,<br />

in<strong>de</strong>m er selbst die Deckel entfernte. Tatsächlich zeigte die<br />

Hälfte <strong>de</strong>r scheinbar unhygienischen Bienen daraufhin völlig<br />

normales Verhalten in bezug auf das Hinauswerfen. 6<br />

Dieser Bericht veranschaulicht eine Reihe wichtiger Punkte,<br />

die im vorigen Kapitel zur Sprache kamen. Er zeigt, daß es<br />

völlig berechtigt sein kann, von einem „Gen für ein Verhalten<br />

x“ zu sprechen, selbst <strong>wen</strong>n wir nicht die geringste Ahnung<br />

haben, welche chemische Kette embryonaler Ursachen nun<br />

tatsächlich vom Gen zum Verhalten führt. Es könnte sich<br />

sogar herausstellen, daß die Kette <strong>de</strong>r Ursachen das Lernen<br />

einschließt. Es wäre beispielsweise möglich, daß das Auf<strong>de</strong>ck-<br />

Gen seine Wirkung erzielt, in<strong>de</strong>m es die Bienen mit einer Vorliebe<br />

für infiziertes Wachs ausstattet. Das heißt, daß sie <strong>de</strong>n<br />

Genuß <strong>de</strong>r Wachshauben, die die Opfer <strong>de</strong>r Krankheit zu<strong>de</strong>kken,<br />

als angenehm empfin<strong>de</strong>n und ihn daher zu wie<strong>de</strong>rholen<br />

suchen. Selbst <strong>wen</strong>n das Gen auf eine solche Weise funktioniert,<br />

ist es immer noch ein echtes Gen „für das Auf<strong>de</strong>kken“,<br />

vorausgesetzt, daß unter sonst gleichen Bedingungen<br />

Bienen, die das Gen besitzen, schließlich die Deckel entfernen,<br />

während Bienen, die das Gen nicht besitzen, dies nicht tun.<br />

Zweitens veranschaulicht <strong>de</strong>r Bericht die Tatsache, daß<br />

Gene in ihren Auswirkungen auf das Verhalten <strong>de</strong>r gemeinschaftlichen<br />

Überlebensmaschine „zusammenarbeiten“. Das<br />

Hinauswerf-Gen ist sinnlos, solange es nicht von <strong>de</strong>m Auf<strong>de</strong>ck-Gen<br />

begleitet ist, und umgekehrt. Zugleich aber zeigen<br />

die genetischen Experimente ebenso klar, daß sich die bei<strong>de</strong>n<br />

Gene auf ihrer Reise durch die Generationen im Prinzip durchaus<br />

trennen lassen. Soweit es ihre nützliche Tätigkeit betrifft,<br />

können wir sie uns als eine zusammenarbeiten<strong>de</strong> Einheit vorstellen;<br />

als replizieren<strong>de</strong> Gene sind sie jedoch zwei freie und<br />

unabhängige Subjekte.<br />

Für die Zwecke unserer Erörterung wird es not<strong>wen</strong>dig sein,<br />

über Gene „für“ das Erledigen aller möglichen unwahrscheinlichen<br />

Dinge zu spekulieren. Wenn ich beispielsweise von<br />

einem hypothetischen Gen „für das Erretten von Gefährten<br />

vor <strong>de</strong>m Ertrinken“ spreche und <strong>de</strong>r Leser eine solche Vorstel-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 108<br />

lung unglaubhaft fin<strong>de</strong>t, so möge er sich an die hygienischen<br />

Bienen erinnern. Er rufe sich ins Gedächtnis, daß wir nicht<br />

vom Gen als <strong>de</strong>r einzigen vorangehen<strong>de</strong>n Ursache all <strong>de</strong>r komplexen<br />

Muskelkontraktionen, Sinnesempfindungen und sogar<br />

bewußten Entscheidungen sprechen, die ins Spiel kommen,<br />

<strong>wen</strong>n ein Individuum ein an<strong>de</strong>res vor <strong>de</strong>m Ertrinken rettet.<br />

Wir machen keine Aussage über die Frage, ob Lernen, Erfahrung<br />

o<strong>de</strong>r Umwelteinflüsse in die Entwicklung <strong>de</strong>s Verhaltens<br />

eingehen. Der Leser braucht lediglich einzuräumen, daß unter<br />

sonst gleichen Bedingungen und in Anwesenheit zahlreicher<br />

an<strong>de</strong>rer wichtiger Gene und Umweltfaktoren ein einzelnes Gen<br />

dafür verantwortlich sein kann, daß ein Körper mit größerer<br />

Wahrscheinlichkeit einen an<strong>de</strong>ren vor <strong>de</strong>m Ertrinken rettet, als<br />

er das unter <strong>de</strong>m Einfluß seines Allels tun wür<strong>de</strong>. Der Unterschied<br />

zwischen <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Genen mag sich im Grun<strong>de</strong> als<br />

eine geringfügige Verschie<strong>de</strong>nheit bei einer einfachen quantitativen<br />

Variablen herausstellen. Die Einzelheiten <strong>de</strong>s embryonalen<br />

Entwicklungsvorgangs, so interessant sie auch sein mögen,<br />

sind für evolutionäre Überlegungen nicht relevant. Konrad<br />

Lorenz hat diese Ansicht überzeugend dargelegt.<br />

Die Gene sind Meisterp<strong>ro</strong>grammierer, und sie p<strong>ro</strong>grammieren<br />

um ihr Leben. Sie wer<strong>de</strong>n danach beurteilt, wie erfolgreich<br />

ihre P<strong>ro</strong>gramme all <strong>de</strong>n Gefahren, die das Leben ihren<br />

Überlebensmaschinen entgegensetzt, gewachsen sind; und das<br />

Urteil fällt <strong>de</strong>r unbarmherzige Richter <strong>de</strong>s Überlebensgerichts.<br />

Wir wer<strong>de</strong>n später noch darauf zu sprechen kommen, auf<br />

welche Weise das Überleben <strong>de</strong>r Gene durch scheinbar altruistisches<br />

Verhalten geför<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n kann. Doch die ein<strong>de</strong>utig<br />

dringlichsten Aufgaben einer Überlebensmaschine und <strong>de</strong>s<br />

Gehirns, das die Entscheidungen für sie trifft, sind individuelles<br />

Überleben und individuelle Fortpflanzung. Alle Gene in<br />

<strong>de</strong>r „Kolonie“ wären sich über diese Prioritäten einig. Tiere<br />

machen sich daher beträchtliche Mühe damit, Nahrung zu<br />

suchen und zu erlegen, zu verhin<strong>de</strong>rn, daß sie selbst erlegt<br />

und gefressen wer<strong>de</strong>n, Krankheiten und Unfälle zu vermei<strong>de</strong>n,<br />

sich vor ungünstigen Witterungsbedingungen zu schützen,<br />

Angehörige <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren Geschlechts zu fin<strong>de</strong>n und zur Paa-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 109<br />

rung zu bewegen sowie ihren Kin<strong>de</strong>rn Vorteile weiterzugeben,<br />

die <strong>de</strong>nen ähneln, welcher sie sich selbst erfreuen. Ich<br />

führe dazu keine Beispiele an – <strong>wen</strong>n <strong>de</strong>r Leser ein Beispiel<br />

sucht, so möge er nur das nächste freileben<strong>de</strong> Tier, das er<br />

sieht, sorgfältig beobachten. Eine beson<strong>de</strong>re Art von Verhalten<br />

möchte ich allerdings erwähnen, weil wir uns ihm noch einmal<br />

zu<strong>wen</strong><strong>de</strong>n müssen, <strong>wen</strong>n wir auf Altruismus und Egoismus zu<br />

sprechen kommen. Dies ist das Verhalten, das man im weiteren<br />

Sinne als Kommunikation o<strong>de</strong>r Verständigung bezeichnen<br />

kann. 7<br />

Man kann sagen, daß eine Überlebensmaschine sich mit<br />

einer an<strong>de</strong>ren verständigt hat, <strong>wen</strong>n sie <strong>de</strong>ren Verhalten o<strong>de</strong>r<br />

<strong>de</strong>n Zustand ihres Nervensystems beeinflußt. Das ist zwar eine<br />

Definition, die ich nicht gern für lange <strong>Zeit</strong> zu verteidigen hätte,<br />

aber für unsere gegenwärtigen Zwecke reicht sie. Mit Einfluß<br />

meine ich einen unmittelbaren, ursächlichen Einfluß. Beispiele<br />

für Verständigung gibt es viele: <strong>de</strong>n Gesang <strong>de</strong>r Vögel, Frösche<br />

und Grillen, das Schwanzwe<strong>de</strong>ln und Sträuben <strong>de</strong>r Nackenund<br />

Rückenhaare bei Hun<strong>de</strong>n, das „Grinsen“ <strong>de</strong>r Schimpansen,<br />

Gestik und Sprache <strong>de</strong>r Menschen. Eine Vielzahl von<br />

Dingen, die Überlebensmaschinen tun, verbessern das Wohlergehen<br />

ihrer Gene indirekt dadurch, daß sie das Verhalten<br />

an<strong>de</strong>rer Überlebensmaschinen beeinflussen. Die Tiere machen<br />

sich beträchtliche Mühe, diese Verständigung wirkungsvoll zu<br />

gestalten. Der Gesang <strong>de</strong>r Vögel bezaubert eine Menschengeneration<br />

nach <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren. Ich habe bereits <strong>de</strong>n sogar noch<br />

kunstvolleren und geheimnisvolleren Gesang <strong>de</strong>s Buckelwals<br />

erwähnt, mit seiner gewaltigen Reichweite und einem Frequenzspektrum,<br />

das vom Infraschallknurren bis hin zum Ultraschallpfeifen<br />

reicht und damit über das Hörvermögen <strong>de</strong>s Menschen<br />

hinausgeht. Maulwurfsgrillen verstärken ihren Gesang<br />

zu Stentorlautstärke, in<strong>de</strong>m sie in einem Erdloch singen, das sie<br />

sorgfältig in Form eines doppelt exponentialen Schalltrichters<br />

o<strong>de</strong>r Megaphons graben. Bienen tanzen im dunklen Stock, um<br />

an<strong>de</strong>re Bienen genau über Richtung und Entfernung von Nahrung<br />

zu informieren – eine Glanzleistung <strong>de</strong>r Verständigung,<br />

die nur von <strong>de</strong>r menschlichen Sprache übert<strong>ro</strong>ffen wird.


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 110<br />

Nach <strong>de</strong>r traditionellen Darstellung <strong>de</strong>r Ethologen entstehen<br />

Verständigungssignale in <strong>de</strong>r Evolution zum Vorteil sowohl<br />

<strong>de</strong>s Sen<strong>de</strong>rs als auch <strong>de</strong>s Empfängers. Beispielsweise beeinflussen<br />

Hühnerküken das Verhalten ihrer Mütter, in<strong>de</strong>m sie hohe<br />

durchdringen<strong>de</strong> Piepslaute ausstoßen, <strong>wen</strong>n sie sich verlaufen<br />

haben o<strong>de</strong>r frieren. Dies ruft gewöhnlich sofort die Mutter<br />

herbei, die das Küken dann zur übrigen Brut zurückführt. Von<br />

diesem Verhalten könnte man sagen, daß es sich zum gegenseitigen<br />

Vorteil entwickelt hat in <strong>de</strong>m Sinne, daß die natürliche<br />

Auslese Küken begünstigt hat, die piepsen, <strong>wen</strong>n sie sich verlaufen<br />

haben, und Mütter, die in <strong>de</strong>r richtigen Weise auf das<br />

Piepsen reagieren.<br />

Wenn wir wollen (es ist nicht wirklich nötig), können wir<br />

Signale wie <strong>de</strong>n Piepslaut so auffassen, als ob sie eine Be<strong>de</strong>utung<br />

hätten o<strong>de</strong>r eine Information trügen, in diesem Fall beispielsweise:<br />

„Ich habe mich verlaufen.“ Von <strong>de</strong>m im ersten<br />

Kapitel erwähnten Alarmruf kleiner Vögel könnte man sagen,<br />

er übermittle die Information: „Da ist ein Falke.“ Individuen,<br />

die diese Information aufnehmen und entsprechend han<strong>de</strong>ln,<br />

wer<strong>de</strong>n begünstigt. Man kann diese Information daher als<br />

wahr bezeichnen. Vermitteln Tiere aber jemals eine falsche<br />

Information – lügen Tiere mitunter?<br />

Die Vorstellung, daß ein Tier lügt, kann zu Mißverständnissen<br />

führen. Ich muß daher vorab versuchen, dies zu verhin<strong>de</strong>rn.<br />

Ich erinnere mich, daß ich einmal einen Vortrag von Beatrice<br />

und Allen Gardner über ihre berühmte „sprechen<strong>de</strong>“ Schimpansin<br />

Washoe hörte. (Washoe benutzt die amerikanische Zeichensprache<br />

für Taubstumme, und ihre Leistungen sind für<br />

Sprachforscher von g<strong>ro</strong>ßem potentiellem Interesse.) Unter <strong>de</strong>n<br />

Zuhörern waren einige Philosophen, die sich in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Vortrag<br />

folgen<strong>de</strong>n Diskussion viel Gedanken über die Frage machten,<br />

ob Washoe lügen könne. Ich vermutete, daß die Gardners<br />

meinten, es gäbe interessantere Fragen zu besprechen, und ich<br />

war <strong>de</strong>rselben Meinung. In diesem Buch benutze ich Worte<br />

wie „täuschen“ und „lügen“ in einem sehr viel direkteren<br />

Sinne als jene Philosophen. Sie beschäftigten sich damit, ob<br />

bei Washoe eine bewußte Täuschungsabsicht möglich war. Ich


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 111<br />

dagegen spreche einfach von einer Wirkung, die funktional <strong>de</strong>r<br />

Täuschung entspricht. Wür<strong>de</strong> ein Vogel das Da-ist-ein-Falke-<br />

Signal benutzen, <strong>wen</strong>n kein Falke in <strong>de</strong>r Nähe ist, und dadurch<br />

seine Gefährten verscheuchen, so daß er ihre Nahrung für<br />

sich hätte, so könnten wir sagen, er habe gelogen. Wir wür<strong>de</strong>n<br />

damit nicht meinen, daß er sich absichtlich und bewußt vorgenommen<br />

hatte zu betrügen. Wir wollen lediglich sagen, daß<br />

<strong>de</strong>r Lügner sich auf Kosten <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Vögel Nahrung verschaffte,<br />

und die an<strong>de</strong>ren Vögel flogen <strong>de</strong>shalb weg, weil sie auf<br />

<strong>de</strong>n Ruf <strong>de</strong>s Lügners in einer Weise reagierten, wie dies angebracht<br />

ist, <strong>wen</strong>n tatsächlich ein Falke in <strong>de</strong>r Nähe ist.<br />

Viele genießbare Insekten wie die Schmetterlinge im vorigen<br />

Kapitel schützen sich dadurch, daß sie das Aussehen an<strong>de</strong>rer,<br />

wi<strong>de</strong>rlich schmecken<strong>de</strong>r o<strong>de</strong>r stechen<strong>de</strong>r Insekten nachahmen.<br />

Wir selbst lassen uns häufig täuschen und halten gelbschwarz<br />

gestreifte Schwebfliegen für Wespen. Einige Fliegen,<br />

die Bienen nachahmen, sind bei ihrer Täuschung sogar noch<br />

perfekter. Auch Räuber lügen. Anglerfische warten geduldig<br />

am Meeresgrund, wobei sie sich kaum vom Hintergrund unterschei<strong>de</strong>n.<br />

Der einzige auffällige Teil ist ein sich win<strong>de</strong>n<strong>de</strong>s wurmartiges<br />

Stück Fleisch am En<strong>de</strong> einer langen „Angelrute“, die<br />

vom Kopf absteht. Kommt ein kleiner Beutefisch in die Nähe,<br />

so läßt <strong>de</strong>r Angler seinen wurmartigen Kö<strong>de</strong>r vor ihm herumtanzen<br />

und lockt ihn hinunter in die Gegend, wo sein eigenes<br />

Maul verborgen ist. Plötzlich öffnet er die Kiefer, und <strong>de</strong>r<br />

kleine Fisch wird eingesaugt und verspeist. Der Angler lügt<br />

und nutzt dabei die Gewohnheit <strong>de</strong>s kleinen Fisches aus, sich<br />

wurmähnlichen, sich win<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Objekten zu nähern. Er sagt:<br />

„Hier ist ein Wurm“, und je<strong>de</strong>r kleine Fisch, <strong>de</strong>r die Lüge<br />

„glaubt“, wird rasch verspeist.<br />

Es gibt Überlebensmaschinen, die die sexuellen Wünsche<br />

an<strong>de</strong>rer Überlebensmaschinen ausnutzen. Die Blüten <strong>de</strong>r<br />

Hummelorchi<strong>de</strong>en verleiten durch ihre starke Ähnlichkeit mit<br />

Hummelweibchen männliche Hummeln zu Kopulationsversuchen.<br />

Was die Orchi<strong>de</strong>e bei dieser Täuschung zu gewinnen<br />

hat, ist die Bestäubung, <strong>de</strong>nn eine Hummel, die sich von zwei<br />

Orchi<strong>de</strong>en täuschen läßt, trägt als Nebeneffekt Pollen von einer


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 112<br />

zur an<strong>de</strong>ren. Glühwürmchen (die eigentlich Käfer sind) locken<br />

ihre Männchen an, in<strong>de</strong>m sie Lichtblitze aussen<strong>de</strong>n. Je<strong>de</strong> Art<br />

hat ihr eigenes spezifisches Punkt-Strich-Leuchtmuster, das<br />

Verwechslungen unter <strong>de</strong>n Arten und daraus resultieren<strong>de</strong><br />

schädliche Hybridisierungen verhin<strong>de</strong>rt. So wie die Seeleute<br />

nach <strong>de</strong>n Leuchtmustern bestimmter Leuchttürme Ausschau<br />

halten, suchen Leuchtkäfer die codierten Leuchtmuster ihrer<br />

eigenen Art. Die Weibchen <strong>de</strong>r Gattung Photuris haben „ent<strong>de</strong>ckt“,<br />

daß sie die Männchen <strong>de</strong>r Gattung Photinus anlocken<br />

können, <strong>wen</strong>n sie <strong>de</strong>n Leuchtco<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Photinus-Weibchen imitieren.<br />

Das tun sie, und <strong>wen</strong>n ein Photinus-Männchen sich<br />

von <strong>de</strong>r Lüge täuschen läßt und näherkommt, wird es von<br />

<strong>de</strong>m Photuris-Weibchen sofort gefressen. Ein Vergleich mit <strong>de</strong>n<br />

Sirenen und <strong>de</strong>r Loreley drängt sich auf, die Bewohner von<br />

Cornwall wer<strong>de</strong>n jedoch eher an die Strandräuber vergangener<br />

<strong>Zeit</strong>en <strong>de</strong>nken, die Schiffe mit Laternen auf die Felsen<br />

lockten und dann die aus <strong>de</strong>n Wracks herausgeschleu<strong>de</strong>rten<br />

Ladungen plün<strong>de</strong>rten.<br />

Bei je<strong>de</strong>m sich entwickeln<strong>de</strong>n Kommunikationssystem<br />

besteht die Gefahr, daß einige es für ihre eigenen Zwecke ausnutzen.<br />

Da wir mit <strong>de</strong>r Auffassung aufgewachsen sind, die Evolution<br />

diene <strong>de</strong>m „Wohle <strong>de</strong>r Art“, gehen wir selbstverständlich<br />

davon aus, daß Lügner und Getäuschte jeweils verschie<strong>de</strong>nen<br />

Arten angehören: Räuber, Beute, Parasiten und so weiter.<br />

Wir müssen jedoch immer dann mit Lügen und Täuschung<br />

sowie selbstsüchtigem Ausnutzen <strong>de</strong>r Verständigung rechnen,<br />

<strong>wen</strong>n die Interessen <strong>de</strong>r Gene verschie<strong>de</strong>ner Individuen nicht<br />

übereinstimmen. Dies gilt auch unter Individuen <strong>de</strong>rselben<br />

Art. Wie wir sehen wer<strong>de</strong>n, müssen wir sogar erwarten, daß<br />

Kin<strong>de</strong>r ihre Eltern täuschen, Ehemänner ihre Frauen betrügen<br />

und Brü<strong>de</strong>r sich belügen.<br />

Selbst die Überzeugung, daß die Verständigungssignale <strong>de</strong>r<br />

Tiere sich zunächst zum wechselseitigen Nutzen entwickeln<br />

und später von böswilligen Individuen ausgenutzt wer<strong>de</strong>n,<br />

ist zu einfach. Es ist ohne weiteres möglich, daß jegliche<br />

Verständigung unter Tieren von Anfang an ein Element <strong>de</strong>r<br />

Täuschung enthält, da je<strong>de</strong> Interaktion zumin<strong>de</strong>st einen gewis-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 113<br />

sen Interessenkonflikt beinhaltet. Im nächsten Kapitel kommt<br />

eine eindrucksvolle Betrachtungsweise <strong>de</strong>r Interessenkonflikte<br />

aus <strong>de</strong>m Blickwinkel <strong>de</strong>r Evolution zur Sprache.


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 114<br />

5. Aggression: Die egoistische Maschine und die Stabilität<br />

In diesem Kapitel geht es hauptsächlich um das oft mißverstan<strong>de</strong>ne<br />

Thema Aggression. Wir wer<strong>de</strong>n das Individuum weiterhin<br />

als eine eigennützige Maschine auffassen, die p<strong>ro</strong>grammiert<br />

ist, alles zu tun, was für ihre Gene als Gesamtheit von<br />

Vorteil ist. Dies ist eine zweckmäßige Betrachtungsweise. Am<br />

En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Kapitels kehren wir zum Blickwinkel <strong>de</strong>r einzelnen<br />

Gene zurück.<br />

Für eine Überlebensmaschine stellt eine an<strong>de</strong>re Überlebensmaschine<br />

(die nicht ihr eigenes Kind o<strong>de</strong>r ein enger Verwandter<br />

ist) einen Teil ihrer Umwelt dar, wie ein Felsen o<strong>de</strong>r ein<br />

Fluß o<strong>de</strong>r ein B<strong>ro</strong>cken Nahrung. Sie ist etwas, das ihr in <strong>de</strong>n<br />

Weg gerät, o<strong>de</strong>r etwas, das ausgebeutet wer<strong>de</strong>n kann. Von<br />

einem Felsen o<strong>de</strong>r einem Fluß unterschei<strong>de</strong>t sie sich in einem<br />

wichtigen Aspekt: Sie neigt dazu, zurückzuschlagen. Auch sie<br />

ist nämlich eine Maschine, die ihre unsterblichen Gene für die<br />

Zukunft verwaltet und vor nichts zurückschreckt, um <strong>de</strong>ren<br />

Fortbestand zu sichern. Die natürliche Auslese begünstigt<br />

Gene, die ihre Überlebensmaschinen so steuern, daß sie <strong>de</strong>n<br />

besten Nutzen aus ihrer Umwelt ziehen. Dies schließt die<br />

bestmögliche Nutzung an<strong>de</strong>rer Überlebensmaschinen ein, ob<br />

diese nun <strong>de</strong>r eigenen o<strong>de</strong>r einer frem<strong>de</strong>n Art angehören.<br />

Es gibt Fälle, in <strong>de</strong>nen Überlebensmaschinen relativ <strong>wen</strong>ig<br />

auf das Leben an<strong>de</strong>rer Überlebensmaschinen einzuwirken<br />

scheinen. Maulwurf und Amsel beispielsweise fressen sich<br />

nicht gegenseitig, paaren sich nicht miteinan<strong>de</strong>r und konkurrieren<br />

nicht um <strong>de</strong>n gleichen Lebensraum. Doch selbst dann<br />

dürfen wir sie nicht als völlig isoliert voneinan<strong>de</strong>r betrachten.<br />

Vielleicht besteht zwischen ihnen doch irgen<strong>de</strong>ine Konkurrenz,<br />

etwa um Regenwürmer. Daß heißt nicht, daß wir jemals<br />

sehen wer<strong>de</strong>n, wie ein Maulwurf und eine Amsel ein Tauziehen<br />

um einen Regenwurm veranstalten; tatsächlich bekommt<br />

eine Amsel vielleicht niemals in ihrem Leben einen Maulwurf<br />

zu Gesicht. Doch <strong>wen</strong>n man die Population <strong>de</strong>r Maulwürfe<br />

auslöschen wür<strong>de</strong>, hätte dies vielleicht gravieren<strong>de</strong> Folgen


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 115<br />

für die Amseln, <strong>wen</strong>n ich auch im Moment keinerlei Vermutung<br />

darüber anstellen könnte, wie dies im einzelnen aussehen<br />

wür<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r welche gewun<strong>de</strong>nen Wege <strong>de</strong>r Einfluß nehmen<br />

wür<strong>de</strong>.<br />

Überlebensmaschinen, die verschie<strong>de</strong>nen Arten angehören,<br />

beeinflussen einan<strong>de</strong>r auf vielerlei Weise. Sie können Räuber<br />

sein o<strong>de</strong>r Beute, Parasiten o<strong>de</strong>r Wirte, Konkurrenten um irgen<strong>de</strong>ine<br />

knappe Ressource. Sie können auf spezielle Art ausgenutzt<br />

wer<strong>de</strong>n wie beispielsweise Bienen, die von Blumen als<br />

Pollenträger benutzt wer<strong>de</strong>n.<br />

Überlebensmaschinen <strong>de</strong>rselben Art wirken in ihrem Leben<br />

gewöhnlich direkter aufeinan<strong>de</strong>r ein. Dafür gibt es viele<br />

Grün<strong>de</strong>. Einer ist <strong>de</strong>r, daß die Hälfte <strong>de</strong>r Population <strong>de</strong>r eigenen<br />

Art potentielle Geschlechtspartner und potentiell schwer arbeiten<strong>de</strong><br />

Väter beziehungsweise Mütter für die eigenen Kin<strong>de</strong>r<br />

sein können. Ein an<strong>de</strong>rer Grund ist, daß Angehörige <strong>de</strong>rselben<br />

Art, die einan<strong>de</strong>r sehr gleichen, da sie Maschinen zur Bewahrung<br />

von Genen an einem gleichartigen Ort und mit <strong>de</strong>rselben<br />

Lebensweise sind, beson<strong>de</strong>rs unmittelbar um alle zum Leben<br />

not<strong>wen</strong>digen Ressourcen konkurrieren. Für eine Amsel ist ein<br />

Maulwurf vielleicht ein Konkurrent, aber kein annähernd so<br />

starker Konkurrent wie eine an<strong>de</strong>re Amsel. Maulwürfe und<br />

Amseln mögen um Würmer konkurrieren, Amseln untereinan<strong>de</strong>r<br />

aber konkurrieren um Würmer und um alles an<strong>de</strong>re. Wenn<br />

sie <strong>de</strong>mselben Geschlecht angehören, konkurrieren sie vielleicht<br />

außer<strong>de</strong>m noch um Geschlechtspartner. Aus Grün<strong>de</strong>n,<br />

die wir noch kennenlernen wer<strong>de</strong>n, sind es gewöhnlich die<br />

Männchen, die miteinan<strong>de</strong>r um Weibchen konkurrieren. Das<br />

heißt, daß ein Männchen seinen eigenen Genen vielleicht<br />

einen Vorteil verschafft, <strong>wen</strong>n es etwas tut, das einem an<strong>de</strong>ren<br />

Männchen, mit <strong>de</strong>m es konkurriert, scha<strong>de</strong>t.<br />

Es könnte daher scheinen, als sei die folgerichtige Taktik<br />

für eine Überlebensmaschine die, ihre Rivalen zu ermor<strong>de</strong>n<br />

und dann am besten zu verzehren. Mord und Kannibalismus<br />

kommen zwar tatsächlich in <strong>de</strong>r Natur vor, sind aber nicht so<br />

häufig, wie eine unbefangene Interpretation <strong>de</strong>r Theorie <strong>de</strong>s<br />

egoistischen Gens voraussagen wür<strong>de</strong>. Konrad Lorenz etwa


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 116<br />

betont in seinem Buch Das sogenannte Böse <strong>de</strong>n maßvollen<br />

und fairen Charakter <strong>de</strong>r Tierkämpfe. Das Bemerkenswerte<br />

an diesen Kämpfen ist für ihn die Tatsache, daß es sich um<br />

formelle Turniere han<strong>de</strong>lt, die nach Regeln wie <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>s<br />

Boxens o<strong>de</strong>r Fechtens abgehalten wer<strong>de</strong>n. Die Tiere kämpfen<br />

mit behandschuhter Faust und stumpfem Florett. D<strong>ro</strong>hung<br />

und Bluff treten an die Stelle tödlichen Ernstes. Unterwerfungsgesten<br />

wer<strong>de</strong>n vom Sieger anerkannt, <strong>de</strong>r dann darauf<br />

verzichtet, <strong>de</strong>n To<strong>de</strong>sschlag o<strong>de</strong>r -biß auszuteilen, <strong>de</strong>n unsere<br />

Theorie in naiver Auslegung voraussagen wür<strong>de</strong>.<br />

Diese Interpretation, tierische Aggression sei verhalten und<br />

formal, läßt sich bestreiten. Insbeson<strong>de</strong>re ist es sicherlich<br />

falsch, <strong>de</strong>n armen alten Homo sapiens als die einzige Spezies<br />

zu verdammen, die ihre eigenen Artgenossen tötet, als <strong>de</strong>n<br />

einzigen Erben <strong>de</strong>s Kainsmales o<strong>de</strong>r etwas ähnlich Melodramatisches.<br />

Ob ein Zoologe die Heftigkeit o<strong>de</strong>r die Beherrschtheit<br />

<strong>de</strong>r tierischen Aggression hervorhebt, hängt zum Teil<br />

von <strong>de</strong>r Art <strong>de</strong>r Tiere ab, die zu beobachten er gewöhnt ist,<br />

und zum Teil von seinen evolutionstheoretischen Vorurteilen<br />

– schließlich ist Lorenz ein Verfechter <strong>de</strong>r These vom „Wohl<br />

<strong>de</strong>r Art“. Doch <strong>wen</strong>n die Auffassung, daß die Tiere mit behandschuhter<br />

Faust kämpfen, auch übertrieben wor<strong>de</strong>n ist, so hat<br />

sie <strong>de</strong>nnoch zumin<strong>de</strong>st etwas Wahres an sich. Auf <strong>de</strong>n ersten<br />

Blick sieht ein solches Verhalten wie eine Form von Altruismus<br />

aus. Die Theorie <strong>de</strong>s egoistischen Gens muß sich <strong>de</strong>r schwierigen<br />

Aufgabe stellen, eine Erklärung dafür zu fin<strong>de</strong>n. Warum<br />

versuchen nicht alle Tiere, bei je<strong>de</strong>r möglichen Gelegenheit<br />

rivalisieren<strong>de</strong> Angehörige ihrer eigenen Art zu töten ?<br />

Die allgemeine Antwort darauf lautet, daß vorbehaltlose<br />

Kampfeswut nicht nur Vorteile, son<strong>de</strong>rn auch Kosten mit sich<br />

bringt, und zwar nicht nur die <strong>de</strong>utlich erkennbaren Kosten<br />

an <strong>Zeit</strong> und Energie. Nehmen wir beispielsweise an, B und C<br />

seien bei<strong>de</strong> meine Rivalen und ich träfe B zufällig. Man könnte<br />

meinen, es sei für mich als egoistisches Individuum vernünftig,<br />

<strong>wen</strong>n ich versuchen wür<strong>de</strong>, ihn zu töten. Doch halt! C ist ebenfalls<br />

mein Rivale, und C ist auch ein Rivale von B. Wenn ich B<br />

töte, erweise ich möglicherweise C einen guten Dienst, in<strong>de</strong>m


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 117<br />

ich einen seiner Rivalen beseitige. Ich täte vielleicht besser<br />

daran, B leben zu lassen, <strong>de</strong>nn dann wür<strong>de</strong> er vielleicht mit C<br />

konkurrieren o<strong>de</strong>r kämpfen und damit indirekt mir einen Vorteil<br />

bringen. Die Moral dieses einfachen hypothetischen Beispiels<br />

ist, daß es offensichtlich keinen Nutzen bringt, <strong>wen</strong>n man<br />

unterschiedslos Rivalen zu töten versucht. In einem umfangreichen<br />

und komplexen System von Rivalitäten ist es nicht<br />

zwangsläufig ein Vorteil, <strong>wen</strong>n man einen Rivalen von <strong>de</strong>r<br />

Bühne beseitigt: Es kann sein, daß an<strong>de</strong>re Rivalen eher von<br />

<strong>de</strong>ssen Tod p<strong>ro</strong>fitieren als man selbst. Dies ist eine bittere Lektion,<br />

die auch Schädlingsbekämpfer lernen müssen. Man hat<br />

es mit einem gefährlichen landwirtschaftlichen Schädling zu<br />

tun, man ent<strong>de</strong>ckt ein gutes Mittel zu seiner Vernichtung, und<br />

man <strong>wen</strong><strong>de</strong>t es fröhlich an, nur um anschließend festzustellen,<br />

daß ein an<strong>de</strong>rer Schädling von dieser Aus<strong>ro</strong>ttung noch mehr<br />

p<strong>ro</strong>fitiert als die Landwirtschaft, und letzten En<strong>de</strong>s hat man<br />

sich statt eines Vorteils einen Nachteil eingehan<strong>de</strong>lt.<br />

An<strong>de</strong>rerseits könnte es ein guter Schachzug sein, <strong>wen</strong>n man<br />

auf eine umsichtige Art und Weise bestimmte einzelne Rivalen<br />

tötete o<strong>de</strong>r zumin<strong>de</strong>st mit ihnen kämpfte. Wenn B ein See-Elefant<br />

ist, <strong>de</strong>r einen g<strong>ro</strong>ßen Harem von Weibchen hat, und <strong>wen</strong>n<br />

ich, ein an<strong>de</strong>rer See-Elefant, seinen Harem dadurch erwerben<br />

kann, daß ich ihn töte, so bin ich vielleicht gut beraten, <strong>wen</strong>n<br />

ich dies versuche. Aber selbst bei selektiver Kampflust entstehen<br />

Kosten und Risiken. Es liegt im Interesse von B, sich<br />

zu wehren, seinen wertvollen Besitz zu verteidigen. Wenn ich<br />

einen Kampf vom Zaun breche, ist es ebenso wahrscheinlich,<br />

daß ich tot daraus hervorgehe, wie daß er getötet wird. Vielleicht<br />

sogar noch wahrscheinlicher. Er besitzt eine wertvolle<br />

Ressource, das ist <strong>de</strong>r Grund, weshalb ich mit ihm kämpfen<br />

will. Aber warum besitzt er sie? Vielleicht hat er sie im Kampf<br />

gewonnen. Wahrscheinlich hat er vor mir schon an<strong>de</strong>re Herausfor<strong>de</strong>rer<br />

zurückgeschlagen. Er ist wahrscheinlich ein guter<br />

Kämpfer. Selbst <strong>wen</strong>n ich siegreich aus <strong>de</strong>m Kampf hervorgehe<br />

und <strong>de</strong>n Harem gewinne, wer<strong>de</strong> ich während <strong>de</strong>s Kampfes<br />

vielleicht so böse zugerichtet, daß ich die errungenen Vorteile<br />

nicht genießen kann. Außer<strong>de</strong>m kostet Kämpfen <strong>Zeit</strong> und


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 118<br />

Energie. Vielleicht wäre es besser, diese im Augenblick zu<br />

sparen. Wenn ich mich eine <strong>Zeit</strong>lang darauf konzentriere, zu<br />

fressen und mich aus Schwierigkeiten herauszuhalten, wer<strong>de</strong><br />

ich größer und stärker. Letzten En<strong>de</strong>s wer<strong>de</strong> ich mit ihm um<br />

<strong>de</strong>n Harem kämpfen, aber ich habe vielleicht eine bessere<br />

Chance, schließlich zu gewinnen, <strong>wen</strong>n ich noch warte, statt<br />

jetzt über ihn herzufallen.<br />

Dieses subjektive Selbstgespräch soll lediglich zeigen, daß<br />

<strong>de</strong>r Entscheidung für o<strong>de</strong>r gegen einen Kampf im I<strong>de</strong>alfall<br />

eine komplexe, <strong>wen</strong>n auch unbewußte „Kosten-Nutzen-Rechnung“<br />

vorausgehen sollte. Die potentiellen Vorteile liegen nicht<br />

alle auf seiten <strong>de</strong>s Kampfes, einige tun dies allerdings zweifellos.<br />

Ähnlich ließen sich im Prinzip bei je<strong>de</strong>r taktischen Entscheidung<br />

im Verlauf eines Kampfes, diesen anzuheizen o<strong>de</strong>r<br />

abkühlen zu lassen, Kosten und Vorteile analysieren. Dies<br />

hatten die Verhaltensforscher seit langem auf eine etwas verschwommene<br />

Weise erkannt, es bedurfte jedoch erst eines J.<br />

Maynard Smith, <strong>de</strong>r normalerweise nicht zu <strong>de</strong>n Ethologen<br />

gezählt wird, damit dieser Gedanke kraftvoll und klar zum Ausdruck<br />

gebracht wur<strong>de</strong>. Gemeinsam mit G. R. Price und G. A.<br />

Parker bedient er sich <strong>de</strong>s als Spieltheorie bekannten Zweiges<br />

<strong>de</strong>r Mathematik. Ihre eleganten Gedankengänge lassen sich,<br />

obwohl sie dabei etwas an Exaktheit einbüßen, ohne mathematische<br />

Symbole in Worten ausdrücken.<br />

Der Grundbegriff, <strong>de</strong>n Maynard Smith einführt, ist die<br />

evolutionär stabile Strategie – ein Gedanke, <strong>de</strong>n er bis zu W<br />

D. Hamilton und R. H. MacArthur zurückverfolgt. Eine „Strategie“<br />

ist eine vorp<strong>ro</strong>grammierte Verhaltenstaktik. Ein Beispiel<br />

einer Strategie ist: „Greif <strong>de</strong>n Gegner an; <strong>wen</strong>n er flieht, verfolge<br />

ihn; <strong>wen</strong>n er zurückschlägt, lauf weg.“ Es ist wichtig, sich<br />

klarzumachen, daß wir die Strategie nicht als etwas betrachten,<br />

das von <strong>de</strong>m Individuum bewußt ausgearbeitet wird. Erinnern<br />

wir uns daran, daß wir uns das Tier als eine <strong>ro</strong>boterartige<br />

Überlebensmaschine mit einem die Muskeln steuern<strong>de</strong>n,<br />

vorp<strong>ro</strong>grammierten Computer vorstellen. Wenn wir die Strategie<br />

als eine Reihe einfacher Instruktionen in normaler Sprache<br />

nie<strong>de</strong>rschreiben, soll uns dies lediglich dabei helfen, sie


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 119<br />

uns vorzustellen. Mittels eines nichtspezifizierten Mechanismus<br />

verhält sich das Tier so, als ob es diesen Anweisungen<br />

Folge leistete.<br />

Eine evolutionär stabile Strategie o<strong>de</strong>r ESS ist <strong>de</strong>finiert als<br />

eine Strategie, die – <strong>wen</strong>n die Mehrzahl <strong>de</strong>r Angehörigen einer<br />

Population sie sich zu eigen macht – von keiner alternativen<br />

Strategie übert<strong>ro</strong>ffen wer<strong>de</strong>n kann. 1 Dies ist ein komplizierter<br />

und wichtiger Gedanke. An<strong>de</strong>rs ausgedrückt besagt er, daß<br />

die beste Strategie für ein Individuum davon abhängt, was die<br />

Mehrheit <strong>de</strong>r Bevölkerung tut. Da <strong>de</strong>r Rest <strong>de</strong>r Bevölkerung<br />

aus Individuen besteht, von <strong>de</strong>nen je<strong>de</strong>s seinen eigenen Erfolg<br />

zu maximieren sucht, wird nur eine solche Strategie fortbestehen,<br />

die, sobald sie sich einmal herausgebil<strong>de</strong>t hat, von<br />

keinem abweichen<strong>de</strong>n Individuum übert<strong>ro</strong>ffen wer<strong>de</strong>n kann.<br />

Nach einer größeren Umweltverän<strong>de</strong>rung kann es in <strong>de</strong>r Population<br />

eine kurze Perio<strong>de</strong> <strong>de</strong>r evolutionären Instabilität, vielleicht<br />

sogar <strong>de</strong>s evolutionären Hin- und Herpen<strong>de</strong>lns geben.<br />

Ist aber einmal eine ESS erreicht, so wird sie bleiben: Die<br />

Selektion wird je<strong>de</strong>s Abweichen von ihr bestrafen.<br />

Um diesen Gedanken auf die Aggression anzu<strong>wen</strong><strong>de</strong>n,<br />

wollen wir einen von Maynard Smiths einfachsten hypothetischen<br />

Fällen betrachten. Nehmen wir an, es gäbe in einer<br />

Population einer speziellen Art lediglich zwei Kampfstrategien,<br />

die als Falke und Taube bezeichnet wer<strong>de</strong>n. (Die Namen<br />

sind entsprechend <strong>de</strong>m traditionellen menschlichen Sprachgebrauch<br />

gewählt und stehen in keiner Verbindung zu <strong>de</strong>n<br />

Gewohnheiten <strong>de</strong>r Vögel, von <strong>de</strong>nen sie abgeleitet sind: Tauben<br />

sind in Wirklichkeit recht aggressive Vögel.) Alle Individuen<br />

unserer hypothetischen Population sind entwe<strong>de</strong>r Falke o<strong>de</strong>r<br />

Taube. Die Falken kämpfen so heftig und ungezügelt, wie sie<br />

nur können, und räumen das Feld erst, <strong>wen</strong>n sie ernstlich verletzt<br />

sind. Die Tauben d<strong>ro</strong>hen lediglich auf eine wür<strong>de</strong>volle,<br />

konventionelle Weise und verletzen niemals jeman<strong>de</strong>n. Wenn<br />

ein Falke eine Taube angreift, läuft die Taube schnell fort und<br />

wird daher nicht verletzt. Wenn ein Falke mit einem Falken<br />

kämpft, hören sie erst auf, <strong>wen</strong>n einer von ihnen ernstlich verletzt<br />

o<strong>de</strong>r tot ist. Trifft eine Taube auf eine an<strong>de</strong>re Taube, so


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 120<br />

wird niemand verletzt; in Imponierstellung stehen sie einan<strong>de</strong>r<br />

geraume <strong>Zeit</strong> gegenüber, bis eine von ihnen mü<strong>de</strong> wird o<strong>de</strong>r<br />

<strong>de</strong>n Entschluß faßt, sich nicht länger aufzuregen, und daher<br />

klein beigibt. Einstweilen nehmen wir an, daß es für ein Individuum<br />

keine Möglichkeit gibt, im voraus festzustellen, ob ein<br />

spezieller Rivale ein Falke o<strong>de</strong>r eine Taube ist. Es fin<strong>de</strong>t dies<br />

nur dadurch heraus, daß es mit ihm kämpft, und es hat keine<br />

Erinnerung an vergangene Kämpfe mit bestimmten Individuen,<br />

an <strong>de</strong>r es sich orientieren könnte.<br />

Wir setzen jetzt rein willkürlich Punktzahlen fest, die wir an<br />

die Kämpfen<strong>de</strong>n verteilen. Beispielsweise 50 Punkte für einen<br />

Sieg, null Punkte für eine Nie<strong>de</strong>rlage, -100 für eine ernste Verletzung<br />

und -10 für <strong>Zeit</strong>versch<strong>wen</strong>dung bei einer langen Auseinan<strong>de</strong>rsetzung.<br />

Wir können uns diese Punkte als unmittelbar<br />

in die Währung <strong>de</strong>s Genüberlebens konvertierbar vorstellen.<br />

Ein Individuum, das hohe Punktzahlen erreicht, in<br />

<strong>de</strong>r Regel also eine hohe „Prämie“ bekommt, ist ein Individuum,<br />

das viele Gene im Genpool hinterläßt. Innerhalb breiter<br />

Grenzen sind die tatsächlichen Zahlenwerte für die Analyse<br />

be<strong>de</strong>utungslos, aber sie helfen uns beim Durch<strong>de</strong>nken <strong>de</strong>s<br />

P<strong>ro</strong>blems.<br />

Wichtig ist, daß wir nicht wissen wollen, ob die Falken<br />

gewöhnlich die Tauben besiegen, <strong>wen</strong>n sie mit ihnen kämpfen.<br />

Die Antwort darauf kennen wir bereits: Die Falken gewinnen<br />

immer. Wir wollen wissen, ob eine <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Strategien, Falke<br />

o<strong>de</strong>r Taube, evolutionär stabil ist. Wenn eine von ihnen eine<br />

ESS ist und die an<strong>de</strong>re nicht, müssen wir erwarten, daß sich<br />

in <strong>de</strong>r Evolution diejenige herausbil<strong>de</strong>t, die die ESS ist. Theoretisch<br />

ist es möglich, daß es zwei evolutionär stabile Strategien<br />

gibt. Dies wäre <strong>de</strong>r Fall, <strong>wen</strong>n – unabhängig davon, welches<br />

zufällig die Mehrheitsstrategie ist – die beste Strategie<br />

für je<strong>de</strong>s beliebige Individuum darin bestün<strong>de</strong>, <strong>de</strong>m Beispiel<br />

<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren zu folgen. Die Population wür<strong>de</strong> dann dazu tendieren,<br />

in <strong>de</strong>mjenigen ihrer bei<strong>de</strong>n stabilen Zustän<strong>de</strong> zu verbleiben,<br />

<strong>de</strong>n sie zufällig zuerst erreicht. Doch wie wir gleich<br />

sehen wer<strong>de</strong>n, wäre in Wirklichkeit keine <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Strategien<br />

– Falke o<strong>de</strong>r Taube – auf sich allein gestellt evolutionär


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 121<br />

stabil, und wir sollten daher nicht erwarten, daß sich eine von<br />

ihnen entwickelt. Um dies <strong>de</strong>utlich zu machen, müssen wir die<br />

Durchschnittsprämien berechnen.<br />

Nehmen wir an, wir haben eine Population, die ausschließlich<br />

aus Tauben besteht. Wann immer sie kämpfen, es wird niemand<br />

verletzt. Die Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen bestehen aus langwierigen<br />

rituellen Turnieren, vielleicht aus Wettkämpfen im<br />

Anstarren, die erst en<strong>de</strong>n, <strong>wen</strong>n einer <strong>de</strong>r Rivalen klein beigibt.<br />

Der Sieger erzielt dann 50 Punkte dafür, daß er die umstrittene<br />

Ressource gewonnen hat, aber er zahlt eine Strafe von -10<br />

für <strong>Zeit</strong>versch<strong>wen</strong>dung bei einem langen Anstarr-Match; alles<br />

in allem erzielt er also 40 Punkte. Der Verlierer wird ebenfalls<br />

mit einer Strafe von -10 für <strong>Zeit</strong>vergeudung belegt. Im Durchschnitt<br />

kann je<strong>de</strong> einzelne Taube erwarten, daß sie die Hälfte<br />

ihrer Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen gewinnt und die Hälfte verliert.<br />

Ihre durchschnittliche Prämie p<strong>ro</strong> Auseinan<strong>de</strong>rsetzung ist<br />

daher das Mittel von +40 und -10, das heißt +15. Daher scheint<br />

es je<strong>de</strong>r einzelnen Taube in einer Population von Tauben recht<br />

gut zu gehen.<br />

Nehmen wir nun aber an, in <strong>de</strong>r Population trete ein durch<br />

Mutation entstan<strong>de</strong>ner Falke auf. Da er weit und breit <strong>de</strong>r einzige<br />

Falke ist, sind alle Kämpfe, die er führt, gegen Tauben.<br />

Falken schlagen Tauben immer, somit erzielt er in je<strong>de</strong>m Kampf<br />

+50, und das ist seine durchschnittliche Prämie. Er erfreut<br />

sich eines enormen Vorteils gegenüber <strong>de</strong>n Tauben, <strong>de</strong>ren<br />

Nettoprämie lediglich +15 beträgt. Infolge<strong>de</strong>ssen wer<strong>de</strong>n sich<br />

die Falkengene schnell über die gesamte Population verbreiten.<br />

Aber jetzt kann sich ein Falke nicht mehr darauf verlassen,<br />

daß je<strong>de</strong>r Rivale, <strong>de</strong>n er trifft, eine Taube ist. Um ein extremes<br />

Beispiel zu nennen: Wenn sich die Falkengene so erfolgreich<br />

ausbreiten wür<strong>de</strong>n, daß die gesamte Population schließlich aus<br />

Falken bestün<strong>de</strong>, wären alle Kämpfe nunmehr Falkenkämpfe.<br />

Jetzt liegen die Dinge völlig an<strong>de</strong>rs. Wenn zwei Falken aufeinan<strong>de</strong>rtreffen,<br />

wird einer von ihnen ernstlich verletzt und<br />

bekommt -100 Punkte, während <strong>de</strong>r Gewinner +50 erzielt.<br />

Je<strong>de</strong>r Falke in einer Falkenpopulation kann damit rechnen,<br />

daß er die Hälfte seiner Kämpfe gewinnt und die Hälfte ver-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 122<br />

liert. Die durchschnittliche Prämie, die er p<strong>ro</strong> Kampf zu erwarten<br />

hat, liegt daher in <strong>de</strong>r Mitte zwischen +50 und -100, das<br />

heißt bei -25. Denken wir uns jetzt eine einzelne Taube in einer<br />

Population von Falken. Zwar verliert sie alle ihre Kämpfe,<br />

an<strong>de</strong>rerseits aber wird sie auch niemals verletzt. Ihre durchschnittliche<br />

Prämie in einer Falkenpopulation ist null, wogegen<br />

die durchschnittliche Prämie für einen Falken in einer Falkenpopulation<br />

-25 beträgt. Die Taubengene wer<strong>de</strong>n daher dazu<br />

tendieren, sich in <strong>de</strong>r gesamten Population auszubreiten.<br />

So wie ich die Sache dargestellt habe, entsteht <strong>de</strong>r Eindruck,<br />

als gäbe es in <strong>de</strong>r Population eine fortwähren<strong>de</strong> Pen<strong>de</strong>lbewegung.<br />

Die Falkengene stürmen zur Vorherrschaft, als<br />

Folge <strong>de</strong>r Überzahl <strong>de</strong>r Falken erzielen dann die Taubengene<br />

einen Vorteil und nehmen an Zahl zu, bis die Falkengene<br />

von neuem erfolgreich sind. Eine <strong>de</strong>rartige Pen<strong>de</strong>lbewegung<br />

braucht jedoch nicht aufzutreten. Es gibt ein Verhältnis von<br />

Falken zu Tauben, das stabil ist. Für das willkürliche Punktsystem,<br />

das wir benutzen, errechnet sich ein Verhältnis von 5 / 12<br />

Tauben zu 7 / 12<br />

Falken. Wenn dieses stabile Verhältnis erreicht<br />

ist, dann ist die durchschnittliche Prämie für einen Falken<br />

genau gleich <strong>de</strong>r durchschnittlichen Prämie für eine Taube.<br />

Daher begünstigt die Selektion keinen von bei<strong>de</strong>n. Wür<strong>de</strong> die<br />

Zahl <strong>de</strong>r Falken in <strong>de</strong>r Population zu steigen beginnen, so<br />

daß ihr Anteil nicht mehr 7 / 12<br />

betrüge, so wür<strong>de</strong> sich für die<br />

Tauben ein zusätzlicher Vorteil einstellen, und die Relation<br />

wür<strong>de</strong> zu <strong>de</strong>m stabilen Zustand zurückschwingen. So wie das<br />

stabile Geschlechterverhältnis 50:50 beträgt – was wir noch<br />

sehen wer<strong>de</strong>n –, beträgt die stabile Rate von Falken zu Tauben<br />

in diesem Beispiel 7:5. In je<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Fälle brauchen<br />

eventuelle Schwankungen um <strong>de</strong>n Stabilitätspunkt nicht sehr<br />

g<strong>ro</strong>ß zu sein.<br />

Oberflächlich betrachtet erinnert dies ein <strong>wen</strong>ig an Gruppenselektion,<br />

in Wirklichkeit ist es jedoch nichts <strong>de</strong>rgleichen.<br />

Es klingt wie Gruppenselektion, weil wir in die Lage versetzt<br />

wer<strong>de</strong>n, uns vorzustellen, daß eine Population ein stabiles<br />

Gleichgewicht besitzt, zu <strong>de</strong>m sie nach einer Störung<br />

zurückzukehren tendiert. Doch das Konzept <strong>de</strong>r ESS ist sehr


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 123<br />

viel subtiler als das <strong>de</strong>r Gruppenselektion. Es hat nichts damit<br />

zu tun, daß einige Gruppen erfolgreicher sind als an<strong>de</strong>re. Dies<br />

läßt sich mit <strong>de</strong>m willkürlichen Punktsystem unseres hypothetischen<br />

Beispiels sehr schön veranschaulichen. Wie sich herausstellt,<br />

beträgt die durchschnittliche Prämie für ein Individuum<br />

in einer stabilen Population aus 7 / 12<br />

Falken und 5 / 12<br />

Tauben 6 1 / 4<br />

. Dies gilt unabhängig davon, ob das Individuum ein<br />

Falke o<strong>de</strong>r eine Taube ist. Nun ist 6 1 / 4<br />

sehr viel <strong>wen</strong>iger als die<br />

durchschnittliche Prämie für eine Taube in einer Taubenpopulation<br />

(15). Wenn doch je<strong>de</strong>s einzelne Individuum damit einverstan<strong>de</strong>n<br />

wäre, eine Taube zu sein! Im Falle einfacher Gruppenselektion<br />

wäre je<strong>de</strong> beliebige Gruppe, in <strong>de</strong>r alle Individuen<br />

untereinan<strong>de</strong>r vereinbaren wür<strong>de</strong>n, Tauben zu sein, bei<br />

weitem erfolgreicher als eine bei <strong>de</strong>r ESS-Relation verharren<strong>de</strong><br />

rivalisieren<strong>de</strong> Gruppe. (Um die Wahrheit zu sagen,<br />

eine „Verschwörung“ ausschließlich aus Tauben ist nicht ganz<br />

die erfolgreichste mögliche Gruppe. In einer Gruppe aus 1 / 6<br />

Falken und 5 / 6<br />

Tauben ist die durchschnittliche Prämie p<strong>ro</strong><br />

Kopf 16%. Dies ist die erfolgreichste mögliche Verschwörung,<br />

für die Zwecke unserer Erörterung können wir sie aber<br />

vernachlässigen. Eine einfachere reine Taubenverschwörung<br />

mit ihrer durchschnittlichen Prämie von 15 ist für je<strong>de</strong>s einzelne<br />

Individuum weit besser als die ESS.) Die Theorie <strong>de</strong>r<br />

Gruppenselektion wür<strong>de</strong> daher eine Ten<strong>de</strong>nz zur Herausbildung<br />

einer reinen Taubenverschwörung voraussagen, da eine<br />

Gruppe, in <strong>de</strong>r die Falken einen Anteil von 7 / 12<br />

hätten, <strong>wen</strong>iger<br />

erfolgreich wäre. Doch das Dumme an Verschwörungen – sogar<br />

jenen, die langfristig für alle von Vorteil sind – ist, daß sie<br />

anfällig gegen Mißbrauch sind. Zwar geht es in einer Nur-Tauben-Gruppe<br />

allen besser als in einer ESS-Gruppe. Doch lei<strong>de</strong>r<br />

schnei<strong>de</strong>t ein einzelner Falke in einer Taubenverschwörung so<br />

auße<strong>ro</strong>r<strong>de</strong>ntlich erfolgreich ab, daß nichts die Evolution von<br />

Falken aufhalten könnte. Die Verschwörung ist dazu verurteilt,<br />

durch Verrat von innen her zusammenzubrechen. Eine ESS-<br />

Gruppe ist stabil; nicht, weil sie für die an ihr beteiligten Individuen<br />

beson<strong>de</strong>rs gut ist, son<strong>de</strong>rn einfach, weil sie gegen Verrat<br />

durch Mitglie<strong>de</strong>r immun ist.


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 124<br />

Menschen können Pakte und Verschwörungen eingehen, von<br />

<strong>de</strong>nen alle Individuen p<strong>ro</strong>fitieren, selbst <strong>wen</strong>n diese Absprachen<br />

nicht stabil im Sinne einer ESS sind. Aber das ist nur <strong>de</strong>shalb<br />

möglich, weil je<strong>de</strong>r Mensch vorausschauend <strong>de</strong>nkt und zu<br />

erkennen vermag, daß es in seinem eigenen langfristigen Interesse<br />

liegt, die Regeln <strong>de</strong>s Paktes zu befolgen. Doch selbst bei<br />

Absprachen unter Menschen besteht eine ständige Gefahr, daß<br />

einzelne Personen kurzfristig so viel zu gewinnen haben, <strong>wen</strong>n<br />

sie <strong>de</strong>n Pakt brechen, daß die Versuchung dazu überwältigend<br />

wird. Das beste Beispiel ist vielleicht das <strong>de</strong>r Preisabsprache.<br />

Langfristig liegt es im Interesse aller einzelnen Tankstellenbesitzer,<br />

<strong>de</strong>n Benzinpreis einheitlich auf einem künstlich hohen<br />

Niveau festzulegen. Preiskartelle auf <strong>de</strong>r Grundlage einer<br />

bewußten Veranschlagung <strong>de</strong>r langfristig gesehen größten Vorteile<br />

können einen recht langen <strong>Zeit</strong>raum überdauern. Sehr<br />

häufig jedoch gibt ein einzelner Tankstellenbesitzer <strong>de</strong>r Versuchung<br />

nach, einen schnellen Gewinn zu erzielen, in<strong>de</strong>m er<br />

seine Preise herabsetzt. Sofort folgen seine Nachbarn diesem<br />

Beispiel, und eine Welle von Preissenkungen breitet sich im<br />

Lan<strong>de</strong> aus. Bedauerlicherweise für die Autofahrer gewinnt die<br />

Voraussicht <strong>de</strong>r Tankstellenbesitzer wie<strong>de</strong>r die Oberhand, und<br />

diese treffen eine neue Preisabsprache. Selbst beim Menschen,<br />

einer mit <strong>de</strong>r Gabe <strong>de</strong>s vorausschauen<strong>de</strong>n Denkens ausgestatteten<br />

Spezies, stehen Pakte o<strong>de</strong>r Abkommen auf <strong>de</strong>r Grundlage<br />

<strong>de</strong>r langfristig gesehen größten Vorteile also ständig am<br />

Ran<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Zusammenbruches durch Verrat. Bei freileben<strong>de</strong>n,<br />

von kämpfen<strong>de</strong>n Genen gesteuerten Tieren ist es sogar noch<br />

schwieriger, sich vorzustellen, wie sich Strategien zum Wohle<br />

<strong>de</strong>r Gruppe o<strong>de</strong>r Verschwörungsstrategien möglicherweise<br />

entwickeln könnten. Wir müssen erwarten, daß wir überall<br />

evolutionär stabile Strategien fin<strong>de</strong>n.<br />

In unserem hypothetischen Beispiel sind wir von <strong>de</strong>r einfachen<br />

Annahme ausgegangen, daß je<strong>de</strong>s Individuum entwe<strong>de</strong>r<br />

ein Falke o<strong>de</strong>r eine Taube ist. Wir gelangten zu einem<br />

evolutionär stabilen Zahlenverhältnis von Falken und Tauben.<br />

In <strong>de</strong>r Praxis be<strong>de</strong>utet dies, daß im Genpool ein stabiles<br />

Verhältnis von Falkengenen zu Taubengenen erzielt wür<strong>de</strong>.


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 125<br />

Der genetische Fachausdruck für diesen Zustand heißt stabiler<br />

Polymorphismus. Soweit es die Mathematik betrifft, läßt<br />

sich auch ohne Polymorphismus eine genau gleichwertige ESS<br />

folgen<strong>de</strong>rmaßen erzielen: Wenn je<strong>de</strong>s Individuum in <strong>de</strong>r Lage<br />

ist, sich in je<strong>de</strong>r einzelnen Auseinan<strong>de</strong>rsetzung entwe<strong>de</strong>r wie<br />

ein Falke o<strong>de</strong>r wie eine Taube zu verhalten, so läßt sich eine<br />

ESS erreichen, bei <strong>de</strong>r die Wahrscheinlichkeit, sich wie ein<br />

Falke zu verhalten, für alle Individuen die gleiche ist, und zwar<br />

wäre sie in unserem speziellen Beispiel 7 / 12<br />

. In <strong>de</strong>r Praxis wür<strong>de</strong><br />

dies be<strong>de</strong>uten, daß je<strong>de</strong>s Individuum vor je<strong>de</strong>m Kampf, <strong>de</strong>n<br />

es eingeht, aufs Geratewohl die Entscheidung trifft, ob es sich<br />

bei dieser Gelegenheit wie ein Falke o<strong>de</strong>r wie eine Taube verhalten<br />

will – aufs Geratewohl, aber mit einer Ten<strong>de</strong>nz von 7:5<br />

zugunsten <strong>de</strong>s Falken. Es ist sehr wichtig, daß die Entscheidungen<br />

zwar mit einer Voreingenommenheit zugunsten <strong>de</strong>s<br />

Falken, aber <strong>de</strong>nnoch aufs Geratewohl get<strong>ro</strong>ffen wer<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>m<br />

Sinne, daß ein Rivale keine Möglichkeit hat zu erraten, wie sich<br />

sein Gegner bei einer bestimmten Auseinan<strong>de</strong>rsetzung verhalten<br />

wird. Es hat beispielsweise keinen Sinn, sieben Kämpfe<br />

hintereinan<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Falken zu spielen, dann fünf Run<strong>de</strong>n hintereinan<strong>de</strong>r<br />

Taube und so weiter.<br />

Wür<strong>de</strong> sich ein Individuum einer einfachen Reihenfolge<br />

dieser Art bedienen, so wür<strong>de</strong>n seine Rivalen dies schnell<br />

herausfin<strong>de</strong>n und zu ihrem Vorteil ausnutzen. Einen solchen<br />

Gegner besiegt man, in<strong>de</strong>m man ihm gegenüber nur dann<br />

Falke spielt, <strong>wen</strong>n man weiß, daß er die Taubenstrategie anzu<strong>wen</strong><strong>de</strong>n<br />

beabsichtigt.<br />

Diese Geschichte von Falken und Tauben ist natürlich viel<br />

zu einfach. Sie ist ein Mo<strong>de</strong>ll, etwas, das in <strong>de</strong>r Natur nicht<br />

wirklich vorkommt, uns aber dabei hilft, Dinge, die in <strong>de</strong>r<br />

Natur tatsächlich geschehen, zu verstehen. Mo<strong>de</strong>lle können<br />

wie dieses sehr einfach sein und <strong>de</strong>nnoch nützlich für das<br />

Verständnis einer Frage o<strong>de</strong>r die Vermittlung einer I<strong>de</strong>e.<br />

Einfache Mo<strong>de</strong>lle lassen sich weiter ausarbeiten und schrittweise<br />

komplexer gestalten. Wenn alles gutgeht, wer<strong>de</strong>n sie mit<br />

zunehmen<strong>de</strong>r Komplexität schließlich <strong>de</strong>r realen Welt ähnlich.<br />

Eine Möglichkeit, das Falke-Taube-Mo<strong>de</strong>ll auszubauen, besteht


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 126<br />

darin, einige weitere Strategien einzuführen. Falke und Taube<br />

sind nicht die einzigen Möglichkeiten. Eine komplexere Strategie,<br />

die Maynard Smith und Price einführten, heißt Vergelter.<br />

Ein Vergelter verhält sich zu Beginn je<strong>de</strong>s Kampfes wie eine<br />

Taube. Das heißt, er inszeniert keinen ungehemmten wil<strong>de</strong>n<br />

Angriff wie ein Falke, son<strong>de</strong>rn er führt einen konventionellen<br />

D<strong>ro</strong>hkampf. Doch <strong>wen</strong>n sein Gegner ihn angreift, schlägt er<br />

zurück. Mit an<strong>de</strong>ren Worten: Ein Vergelter verhält sich wie ein<br />

Falke, <strong>wen</strong>n er von einem Falken angegriffen wird, und wie<br />

eine Taube, <strong>wen</strong>n er auf eine Taube trifft. Wenn er auf einen<br />

an<strong>de</strong>ren Vergelter trifft, verhält er sich wie eine Taube. Ein Vergelter<br />

verfolgt eine bedingte Strategie: Sein Verhalten ist vom<br />

Verhalten seines Gegners abhängig.<br />

Eine weitere bedingte Strategie heißt Angeber. Ein Angeber<br />

benimmt sich wie ein Falke, bis jemand zurückschlägt. Dann<br />

ergreift er sofort die Flucht. Noch eine an<strong>de</strong>re bedingte Strategie<br />

ist die <strong>de</strong>s p<strong>ro</strong>bierfreudigen Vergelters. Ein p<strong>ro</strong>bierfreudiger<br />

Vergelter verhält sich im wesentlichen wie ein Vergelter,<br />

aber er versucht gelegentlich experimentartig eine kurze Eskalation<br />

<strong>de</strong>s Kampfes. Wehrt sich sein Gegner nicht, so setzt<br />

er das falkenartige Verhalten fort. Schlägt sein Gegner dagegen<br />

zurück, so kehrt er zu <strong>de</strong>r konventionellen D<strong>ro</strong>hstrategie<br />

zurück. Wird er angegriffen, wehrt er sich genauso wie ein<br />

gewöhnlicher Vergelter.<br />

Wenn man alle fünf Strategien, die ich erwähnt habe, in<br />

einer Computersimulation aufeinan<strong>de</strong>r losläßt, so geht nur<br />

eine von ihnen als evolutionär stabil daraus hervor: Vergelter. 2<br />

P<strong>ro</strong>bierfreudiger Vergelter ist beinahe stabil. Taube ist nicht<br />

stabil, da eine Taubenpopulation mit <strong>de</strong>r Invasion von Falken<br />

und Angebern zu rechnen hätte. Falke ist nicht stabil, weil<br />

eine Falkenpopulation von Tauben und Angebern unterwan<strong>de</strong>rt<br />

wür<strong>de</strong>. Angeber ist nicht stabil, <strong>de</strong>nn eine Angeberpopulation<br />

wür<strong>de</strong> von Falken überfallen wer<strong>de</strong>n. In eine Vergelterpopulation<br />

wür<strong>de</strong> keine an<strong>de</strong>re Strategie eindringen, weil es<br />

keine an<strong>de</strong>re Strategie gibt, die besser abschnei<strong>de</strong>t als Vergelter.<br />

Die Taubenstrategie ist in einer Vergelterpopulation aller-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 127<br />

dings gleichfalls erfolgreich. Das be<strong>de</strong>utet, daß unter sonst gleichen<br />

Bedingungen die Zahl <strong>de</strong>r Tauben langsam zunehmen<br />

könnte. Wür<strong>de</strong> sie eine gewisse Höhe erreichen, so wür<strong>de</strong>n<br />

p<strong>ro</strong>bierfreudige Vergelter (und nebenbei gesagt auch Falken<br />

und Angeber) einen Vorteil zu verzeichnen beginnen, da sie<br />

Tauben gegenüber erfolgreicher sind als Vergelter. P<strong>ro</strong>bierfreudiger<br />

Vergelter selbst ist, im Gegensatz zu Falke und Angeber,<br />

nahezu eine ESS in <strong>de</strong>m Sinne, daß in einer Population p<strong>ro</strong>bierfreudiger<br />

Vergelter nur eine einzige an<strong>de</strong>re Strategie, die<br />

<strong>de</strong>s Vergelters, erfolgreicher ist, und dies auch nur geringfügig.<br />

Wir könnten daher erwarten, daß ten<strong>de</strong>nziell eine Mischung<br />

aus Vergelter und p<strong>ro</strong>bierfreudigem Vergelter, vielleicht sogar<br />

mit einer leichten Pen<strong>de</strong>lbewegung zwischen bei<strong>de</strong>n, sowie<br />

eine zahlenmäßig schwanken<strong>de</strong> kleine Taubenmin<strong>de</strong>rheit<br />

überwiegen wird. Wie<strong>de</strong>r brauchen wir uns dies nicht im Sinne<br />

eines Polymorphismus vorzustellen, bei <strong>de</strong>m je<strong>de</strong>s Individuum<br />

jeweils nur die eine o<strong>de</strong>r die an<strong>de</strong>re Strategie an<strong>wen</strong><strong>de</strong>t. Je<strong>de</strong>s<br />

Individuum könnte eine komplexe Mischung aus Vergelter,<br />

p<strong>ro</strong>bierfreudigem Vergelter und Taube spielen.<br />

Dieses theoretische Ergebnis kommt <strong>de</strong>m, was bei <strong>de</strong>n meisten<br />

freileben<strong>de</strong>n Tieren tatsächlich passiert, relativ nahe. Wir<br />

haben damit gewissermaßen <strong>de</strong>n Aspekt <strong>de</strong>r „behandschuhten<br />

Faust“ <strong>de</strong>r tierischen Aggression erklärt. Selbstverständlich<br />

hängen die Einzelheiten davon ab, welche genaue Zahl von<br />

„Punkten“ für das Gewinnen, Verletztwer<strong>de</strong>n, <strong>Zeit</strong>versch<strong>wen</strong><strong>de</strong>n<br />

und so weiter verteilt wird. Beim See-Elefanten kann<br />

<strong>de</strong>r Preis für <strong>de</strong>n Sieg in monopolartigen Rechten über einen<br />

g<strong>ro</strong>ßen Harem bestehen. Die Gewinnprämie ist daher als sehr<br />

hoch einzustufen. So ist es kaum verwun<strong>de</strong>rlich, daß die<br />

Kämpfe heftig sind und die Wahrscheinlichkeit ernster Verletzungen<br />

ebenfalls hoch ist. Die Kosten <strong>de</strong>r <strong>Zeit</strong>versch<strong>wen</strong>dung<br />

sind, verglichen mit <strong>de</strong>n Kosten <strong>de</strong>s Verletztwer<strong>de</strong>ns und <strong>de</strong>m<br />

Nutzen <strong>de</strong>s Gewinnens, vermutlich als niedrig einzuschätzen.<br />

Für einen kleinen Vogel in kaltem Klima dagegen stehen die<br />

Kosten <strong>de</strong>r <strong>Zeit</strong>versch<strong>wen</strong>dung vielleicht an allererster Stelle.<br />

Eine Kohlmeise muß, <strong>wen</strong>n sie ihre Nestlinge füttert, im Durchschnitt<br />

alle 30 Sekun<strong>de</strong>n ein Beutetier fangen. Je<strong>de</strong> Sekun<strong>de</strong>


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 128<br />

Tageslicht ist kostbar. Selbst die verhältnismäßig kurze <strong>Zeit</strong>,<br />

die ein Kampf zwischen zwei „Falken“ kosten wür<strong>de</strong>, wiegt bei<br />

einem solchen Vogel vielleicht schwerer als das Verletzungsrisiko.<br />

Bedauerlicherweise wissen wir gegenwärtig noch zu<br />

<strong>wen</strong>ig, um <strong>de</strong>n Gewinnen und Verlusten <strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nen<br />

Ausgänge von Konflikten in <strong>de</strong>r Natur realistische Zahlen<br />

zumessen zu können. 3 Wir müssen darauf bedacht sein,<br />

keine Schlüsse zu ziehen, die lediglich das Resultat unserer<br />

willkürlichen Zahlenauswahl sind. Die folgen<strong>de</strong>n allgemeinen<br />

Schlußfolgerungen sind wichtig: Es gibt eine Ten<strong>de</strong>nz zur Herausbildung<br />

evolutionär stabiler Strategien; eine ESS ist nicht<br />

dasselbe wie das von einer Gruppenverschwörung erzielte Optimum;<br />

<strong>de</strong>r gesun<strong>de</strong> Menschenverstand kann zu Fehlschlüssen<br />

verleiten.<br />

Ein an<strong>de</strong>res Kriegsspiel, über das Maynard Smith Betrachtungen<br />

anstellte, ist <strong>de</strong>r Zermürbungskrieg. Man kann sich<br />

vorstellen, daß dieser bei einer Art auftritt, die sich niemals<br />

auf einen gefährlichen Kampf einläßt, vielleicht eine gutbewehrte<br />

Art, bei <strong>de</strong>r Verletzungen sehr unwahrscheinlich sind.<br />

Alle Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen in dieser Spezies wer<strong>de</strong>n durch<br />

konventionelles Imponieren geregelt. Ein Streit en<strong>de</strong>t immer<br />

damit, daß einer <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Rivalen klein beigibt. Um zu<br />

gewinnen, braucht man nichts an<strong>de</strong>res zu tun, als die Stellung<br />

zu halten und <strong>de</strong>n Gegner anzustarren, bis er aufgibt. Nun<br />

liegt es aber auf <strong>de</strong>r Hand, daß kein Tier es sich leisten kann,<br />

unbegrenzte <strong>Zeit</strong> mit D<strong>ro</strong>hgesten zu verbringen, es gibt wichtigere<br />

Dinge zu tun. Die Ressource, um die es konkurriert, mag<br />

wertvoll sein, aber sie ist nicht unbegrenzt wertvoll. Sie ist nur<br />

soundso viel wert, und wie bei einer Auktion ist je<strong>de</strong>s Individuum<br />

nur bereit, diese bestimmte Summe dafür auszugeben.<br />

Die Währung bei dieser Versteigerung unter zwei Bietern ist<br />

die <strong>Zeit</strong>. Nehmen wir an, solche Individuen rechneten sich im<br />

voraus aus, wieviel eine bestimmte Ressource, beispielsweise<br />

ein Weibchen, ihrer Ansicht nach wert ist. Ein durch Mutation<br />

entstan<strong>de</strong>nes Individuum, das bereit wäre, nur gera<strong>de</strong> ein<br />

kleines bißchen länger auszuhalten, wür<strong>de</strong> immer gewinnen.<br />

Daher ist die Strategie einer festen Obergrenze für das Gebot


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 129<br />

instabil. Sie ist sogar dann instabil, <strong>wen</strong>n <strong>de</strong>r Wert <strong>de</strong>r Ressource<br />

sehr genau eingeschätzt wer<strong>de</strong>n kann und alle Individuen<br />

genau <strong>de</strong>n richtigen Wert bieten. Immer wür<strong>de</strong>n zwei<br />

Individuen, die dieser Maximalstrategie entsprechend bieten,<br />

in genau <strong>de</strong>mselben Augenblick aufgeben, und keiner wür<strong>de</strong><br />

die Ressource bekommen! Dann wür<strong>de</strong> es sich für ein Individuum<br />

auszahlen, gleich zu Beginn aufzugeben, statt überhaupt<br />

<strong>Zeit</strong> auf <strong>de</strong>n Streit zu versch<strong>wen</strong><strong>de</strong>n. Der wichtige Unterschied<br />

zwischen <strong>de</strong>m Zermürbungskrieg und einer echten Versteigerung<br />

ist im Grun<strong>de</strong> <strong>de</strong>r, daß beim Zermürbungskrieg bei<strong>de</strong><br />

Parteien <strong>de</strong>n Preis zahlen, aber nur einer die Ware bekommt.<br />

In einer Population von Höchstbietern wäre daher die Strategie,<br />

gleich zu Beginn aufzugeben, erfolgreich und wür<strong>de</strong> sich<br />

in <strong>de</strong>r Population ausbreiten. Infolge<strong>de</strong>ssen wür<strong>de</strong> ein gewisser<br />

Vorteil für jene Individuen aufzulaufen beginnen, die nicht<br />

sofort aufgeben, son<strong>de</strong>rn ein paar Sekun<strong>de</strong>n warten, bevor<br />

sie kapitulieren. Diese Strategie wür<strong>de</strong> sich auszahlen, <strong>wen</strong>n<br />

sie gegen die Sofort-Aufgeber eingesetzt wird, die gegenwärtig<br />

in <strong>de</strong>r Population überwiegen. Daraufhin wür<strong>de</strong> die Selektion<br />

eine fortschreiten<strong>de</strong> Verlängerung <strong>de</strong>r <strong>Zeit</strong> bis zum Aufgeben<br />

begünstigen, bis diese sich erneut <strong>de</strong>m Maximum annäherte,<br />

welches <strong>de</strong>m wahren wirtschaftlichen Wert <strong>de</strong>r umstrittenen<br />

Ressource entspricht.<br />

Wie<strong>de</strong>r einmal haben wir mit Worten die Vorstellung einer<br />

Pen<strong>de</strong>lbewegung in <strong>de</strong>r Population heraufbeschworen. Wie<strong>de</strong>r<br />

einmal zeigt uns die mathematische Analyse, daß diese Vorstellung<br />

nicht korrekt ist. Es gibt eine evolutionär stabile Strategie;<br />

sie kann als mathematische Formel ausgedrückt wer<strong>de</strong>n, läßt<br />

sich aber auch folgen<strong>de</strong>rmaßen in Worte fassen: Je<strong>de</strong>s Individuum<br />

hält eine unvorhersagbar lange <strong>Zeit</strong> durch. Das heißt bei<br />

je<strong>de</strong>r einzelnen Gelegenheit unvorhersagbar, im Durchschnitt<br />

jedoch gleich <strong>de</strong>m wahren Wert <strong>de</strong>r Ressource. Bei <strong>de</strong>r ESS<br />

hält ein bestimmtes Individuum vielleicht mehr als fünf Minuten<br />

durch o<strong>de</strong>r <strong>wen</strong>iger als fünf Minuten, es kann sogar genau<br />

fünf Minuten aushalten. Hauptsache ist, daß sein Gegner nicht<br />

erkennen kann, wie lange es bei dieser beson<strong>de</strong>ren Gelegenheit<br />

auszuhalten bereit ist.


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 130<br />

Es liegt auf <strong>de</strong>r Hand, daß es beim Zermürbungskrieg von<br />

entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Wichtigkeit ist, sich nicht anmerken zu lassen,<br />

wann man aufzugeben beabsichtigt. Je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r auch nur durch<br />

das kleinste Zittern eines Schnurrhaares verriete, daß er<br />

daran <strong>de</strong>nkt, die Flinte ins Korn zu werfen, wäre sofort im<br />

Nachteil. Wenn, sagen wir, das Zittern von Barthaaren ein<br />

verläßliches Anzeichen dafür wäre, daß innerhalb einer Minute<br />

<strong>de</strong>r Rückzug erfolgt, dann gäbe es eine sehr einfache Gewinnstrategie:<br />

„Wenn die Barthaare <strong>de</strong>ines Gegners zittern, warte<br />

noch eine Minute länger, ganz gleich, wie <strong>de</strong>ine eigenen Pläne<br />

hinsichtlich <strong>de</strong>s Aufgebens zuvor ausgesehen haben mögen.<br />

Wenn die Schnurrhaare <strong>de</strong>ines Gegners noch nicht gezittert<br />

haben und nur noch eine Minute fehlt bis zu <strong>de</strong>m <strong>Zeit</strong>punkt,<br />

an <strong>de</strong>m du in je<strong>de</strong>m Fall aufgeben wolltest, dann gib sofort<br />

auf und versch<strong>wen</strong><strong>de</strong> keine weitere <strong>Zeit</strong> mehr. Zittere niemals<br />

selbst mit <strong>de</strong>n Schnurrhaaren.“ So wür<strong>de</strong> die natürliche Auslese<br />

rasch das Zittern von Barthaaren und alle vergleichbaren<br />

verräterischen Hinweise auf das zukünftige Verhalten bestrafen.<br />

Es wür<strong>de</strong> sich das Pokergesicht herausbil<strong>de</strong>n.<br />

Warum das Pokergesicht und nicht das ungenierte Lügen?<br />

Abermals aus <strong>de</strong>m Grund, daß Lügen nicht stabil ist. Nehmen<br />

wir an, es wäre zufällig so, daß die Mehrheit <strong>de</strong>r Individuen<br />

ihre Nacken- und Rückenhaare nur dann aufstellten, <strong>wen</strong>n sie<br />

in <strong>de</strong>m Zermürbungskrieg wirklich sehr lange <strong>Zeit</strong> durchzuhalten<br />

beabsichtigten. Dies hätte eine Evolution <strong>de</strong>s naheliegen<strong>de</strong>n<br />

Gegenzuges zur Folge: Je<strong>de</strong>s Individuum wür<strong>de</strong> sofort<br />

aufgeben, <strong>wen</strong>n sein Gegner die Nackenhaare sträubte. Nun<br />

aber könnten sich Lügner herauszubil<strong>de</strong>n beginnen. Individuen,<br />

die in Wirklichkeit nicht die Absicht hätten, lange auszuhalten,<br />

wür<strong>de</strong>n bei je<strong>de</strong>r Gelegenheit die Nackenhaare aufstellen<br />

und die Früchte eines leichten und schnellen Sieges<br />

einheimsen. Auf diese Weise wür<strong>de</strong>n sich die Lügnergene verbreiten.<br />

Sobald die Lügner in <strong>de</strong>r Mehrheit wären, wür<strong>de</strong><br />

die Selektion Individuen begünstigen, die sich nicht bluffen<br />

lassen. Daher wür<strong>de</strong>n die Lügner wie<strong>de</strong>r zahlenmäßig abnehmen.<br />

Beim Zermürbungskrieg ist lügen evolutionär nicht stabiler<br />

als die Wahrheit sagen. Das Pokergesicht ist evolutionär


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 131<br />

stabil. Wenn es schließlich kapituliert, so geschieht dies unerwartet<br />

und unvorhersehbar.<br />

Bisher haben wir nur Fälle berücksichtigt, die Maynard<br />

Smith symmetrische Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen nennt: Wir sind<br />

davon ausgegangen, daß die Kämpfen<strong>de</strong>n außer in ihrer<br />

Kampfstrategie in je<strong>de</strong>r Hinsicht i<strong>de</strong>ntisch sind. Wir haben<br />

angenommen, daß Falken und Tauben gleich stark sind, gleich<br />

gut mit Waffen und Rüstungen ausgestattet und daß sie bei<br />

einem Sieg gleich viel gewinnen. Für ein Mo<strong>de</strong>ll ist dies eine<br />

geeignete Annahme, aber sie ist nicht sehr realistisch. Parker<br />

und Maynard Smith beschäftigten sich als nächstes mit asymmetrischen<br />

Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen. Wenn sich die Individuen<br />

beispielsweise in Größe und Kampffähigkeit unterschei<strong>de</strong>n<br />

und je<strong>de</strong>s Individuum in <strong>de</strong>r Lage ist, die Größe eines Rivalen<br />

im Verhältnis zu seiner eigenen abzuschätzen, beeinflußt dies<br />

dann die sich herausbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong> ESS? Ganz ohne Zweifel tut es<br />

das.<br />

Es scheint drei Hauptarten von Asymmetrien zu geben. Die<br />

erste haben wir gera<strong>de</strong> erwähnt: Die Individuen können in<br />

Körpergröße o<strong>de</strong>r Kampfausrüstung verschie<strong>de</strong>n sein. Zweitens<br />

können sie sich darin unterschei<strong>de</strong>n, wieviel sie bei<br />

einem Sieg zu gewinnen haben. Zum Beispiel dürfte ein altes<br />

Männchen, das sowieso nicht mehr lange zu leben hat, <strong>wen</strong>iger<br />

zu verlieren haben, <strong>wen</strong>n es verletzt wird, als ein junges<br />

Männchen, das <strong>de</strong>n Hauptteil seines rep<strong>ro</strong>duktiven Lebens<br />

noch vor sich hat.<br />

Drittens ist es eine seltsame Konsequenz <strong>de</strong>r Theorie, daß<br />

eine rein willkürliche, augenscheinlich irrelevante Asymmetrie<br />

zu einer ESS führen kann, da sie zum schnellen Beilegen von<br />

Streitfällen benutzt wer<strong>de</strong>n kann. Beispielsweise wird in <strong>de</strong>r<br />

Regel einer <strong>de</strong>r Kämpfer zufällig früher auf <strong>de</strong>m Kampfplatz<br />

ankommen als <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re. Nennen wir sie <strong>de</strong>n Ansässigen<br />

beziehungsweise <strong>de</strong>n Eindringling. Der Einfachheit halber<br />

gehe ich zunächst davon aus, daß we<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Ansässige noch<br />

<strong>de</strong>r Eindringling generell im Vorteil ist. Wie wir später sehen<br />

wer<strong>de</strong>n, gibt es praktische Grün<strong>de</strong>, weshalb diese Annahme<br />

vielleicht nicht <strong>de</strong>r Realität entspricht, aber darum geht es


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 132<br />

jetzt nicht. Entschei<strong>de</strong>nd ist folgen<strong>de</strong>s: Selbst <strong>wen</strong>n es keinen<br />

Grund zu <strong>de</strong>r Annahme gäbe, daß die Ansässigen <strong>de</strong>n Eindringlingen<br />

gegenüber generell im Vorteil sind, wür<strong>de</strong> sich<br />

wahrscheinlich eine von <strong>de</strong>r Asymmetrie als solcher abhängige<br />

ESS entwickeln. Eine einfache Analogie ist das Werfen einer<br />

Münze, um einen Streit rasch und ohne viel Aufhebens beizulegen.<br />

Die bedingte Strategie „Wenn du <strong>de</strong>r Ansässige bist, greif<br />

an; <strong>wen</strong>n du <strong>de</strong>r Eindringling bist, zieh dich zurück!“ könnte<br />

eine ESS sein. Da wir davon ausgehen, daß die Asymmetrie<br />

willkürlich ist, könnte die entgegengesetzte Strategie „Wenn<br />

Ansässiger, zieh dich zurück; <strong>wen</strong>n Eindringling, greif an!“<br />

ebenso stabil sein. Welche <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n evolutionär stabilen<br />

Strategien in einer bestimmten Population zur An<strong>wen</strong>dung<br />

kommt, wäre davon abhängig, welche zufällig zuerst eine<br />

Mehrheit erreicht. Wenn einmal eine Mehrheit von Individuen<br />

eine dieser bei<strong>de</strong>n bedingten Strategien an<strong>wen</strong><strong>de</strong>t, so<br />

wer<strong>de</strong>n jene bestraft, die von ihr abweichen. Das macht sie<br />

<strong>de</strong>finitionsgemäß zu einer ESS.<br />

Nehmen wir beispielsweise an, alle Individuen spielen<br />

„Ansässiger gewinnt, Eindringling läuft davon“. Das be<strong>de</strong>utet,<br />

sie gewinnen die Hälfte ihrer Kämpfe und verlieren die<br />

an<strong>de</strong>re Hälfte. Sie wer<strong>de</strong>n niemals verletzt und vergeu<strong>de</strong>n<br />

niemals <strong>Zeit</strong>, da alle Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen sofort durch die<br />

willkürliche Vereinbarung beigelegt wer<strong>de</strong>n. Stellen wir uns<br />

nun vor, es trete ein aus einer Mutation entstan<strong>de</strong>ner Rebell<br />

auf. Nehmen wir an, er spielt eine reine Falkenstrategie, greift<br />

also immer an und weicht niemals zurück. Er wird gewinnen,<br />

<strong>wen</strong>n sein Gegner ein Eindringling ist. Ist sein Gegner ein<br />

Ansässiger, so geht er ein g<strong>ro</strong>ßes Risiko ein, verletzt zu wer<strong>de</strong>n.<br />

Im Durchschnitt wird er eine niedrigere Prämie erzielen als<br />

Individuen, die sich entsprechend <strong>de</strong>n willkürlichen Regeln<br />

<strong>de</strong>r ESS verhalten. Ein Rebell, <strong>de</strong>r die umgekehrte Strategie<br />

„Wenn Ansässiger, lauf fort; <strong>wen</strong>n Eindringling, greif an“ ausp<strong>ro</strong>biert,<br />

wird sogar noch schlechter abschnei<strong>de</strong>n. Nicht nur<br />

wird er häufig verletzt wer<strong>de</strong>n, er wird auch selten einen<br />

Kampf gewinnen. Stellen wir uns nun jedoch vor, durch einige


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 133<br />

zufällige Ereignisse gelänge es <strong>de</strong>n Individuen, die sich nach<br />

dieser umgekehrten Regel verhalten, die Mehrheit zu erlangen.<br />

In diesem Fall wür<strong>de</strong> ihre Strategie zur stabilen Norm<br />

wer<strong>de</strong>n, und nunmehr wür<strong>de</strong> das Abweichen von dieser Strategie<br />

bestraft. Vermutlich könnten wir, <strong>wen</strong>n wir eine Population<br />

viele Generationen lang beobachten wür<strong>de</strong>n, eine Reihe gelegentlicher<br />

Umschwünge von einem stabilen Zustand in <strong>de</strong>n<br />

an<strong>de</strong>ren feststellen.<br />

Doch im realen Leben existieren wahrscheinlich keine<br />

wirklich willkürlichen Asymmetrien. Beispielsweise haben<br />

Ansässige Eindringlingen gegenüber wahrscheinlich meist<br />

einen praktischen Vorteil. Sie verfügen über eine bessere<br />

Kenntnis <strong>de</strong>s Terrains; zu<strong>de</strong>m ist ein Eindringling wahrscheinlich<br />

eher außer Atem, weil er sich erst in das Kampfgebiet begeben<br />

mußte, während <strong>de</strong>r Ansässige die ganze <strong>Zeit</strong> dort war.<br />

Außer<strong>de</strong>m gibt es noch einen mehr abstrakten Grund, warum<br />

von <strong>de</strong>n zwei stabilen Zustän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Zustand „Ansässiger<br />

gewinnt, Eindringling weicht zurück“ in <strong>de</strong>r Natur wahrscheinlicher<br />

ist. Die umgekehrte Strategie „Eindringling gewinnt,<br />

Ansässiger zieht sich zurück“ weist nämlich eine inhärente<br />

Ten<strong>de</strong>nz zur Selbstzerstörung auf – sie ist das, was Maynard<br />

Smith eine paradoxe Strategie nennen wür<strong>de</strong>. In je<strong>de</strong>r bei<br />

dieser paradoxen Strategie verharren<strong>de</strong>n Population wür<strong>de</strong>n<br />

die Individuen sich stets bemühen, niemals als Ansässige anget<strong>ro</strong>ffen<br />

zu wer<strong>de</strong>n: Sie wür<strong>de</strong>n immer versuchen, bei je<strong>de</strong>m<br />

Zusammentreffen <strong>de</strong>r Eindringling zu sein. Dies könnten sie<br />

nur durch unablässiges und ansonsten sinnloses Umherschweifen<br />

erreichen! Ganz abgesehen von <strong>de</strong>n damit verbun<strong>de</strong>nen<br />

Kosten an <strong>Zeit</strong> und Energie wür<strong>de</strong> dieser evolutionäre Trend<br />

von selbst dazu führen, daß die Kategorie „Ansässiger“ zu existieren<br />

aufhörte. In einer Population in <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren Zustand<br />

„Ansässiger gewinnt, Eindringling weicht zurück“ wür<strong>de</strong> die<br />

natürliche Auslese Individuen begünstigen, die danach strebten,<br />

Ansässige zu sein. Für je<strong>de</strong>s Individuum wür<strong>de</strong> dies be<strong>de</strong>uten,<br />

daß es an einem speziellen Stückchen Grund und Bo<strong>de</strong>n<br />

festhält, es so<strong>wen</strong>ig wie möglich verläßt und zu „verteidigen“<br />

scheint. Ein solches Verhalten ist in <strong>de</strong>r Natur häufig zu beob-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 134<br />

achten und als Territorialverhalten bekannt.<br />

Am treffendsten veranschaulicht hat diese Form <strong>de</strong>r Verhaltensasymmetrie<br />

<strong>de</strong>r g<strong>ro</strong>ße Ethologe Niko Tinbergen in<br />

einem Experiment von charakteristisch genialer Einfachheit. 4<br />

In einem Aquarium hielt er zwei Stichlingsmännchen. Diese<br />

hatten an <strong>de</strong>n entgegengesetzten En<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Beckens jeweils<br />

ein Nest gebaut, und je<strong>de</strong>s „verteidigte“ das Revier in <strong>de</strong>r Nähe<br />

seines Nestes. Tinbergen setzte die Stichlinge einzeln in je eine<br />

g<strong>ro</strong>ße Glasröhre; er hielt die bei<strong>de</strong>n Röhren nebeneinan<strong>de</strong>r<br />

und beobachtete, wie die Männchen sich durch das Glas zu<br />

bekämpfen suchten. Und jetzt kommt das Interessante: Wenn<br />

er die bei<strong>de</strong>n Röhren in die Nähe <strong>de</strong>s Nestes von Männchen A<br />

brachte, so nahm A eine Angreifstellung ein, und B versuchte<br />

zurückzuweichen. Wenn er die bei<strong>de</strong>n Röhren jedoch in das<br />

Territorium von B hineinführte, so drehte sich <strong>de</strong>r Spieß um.<br />

Durch ein einfaches Hin- und Herbewegen <strong>de</strong>r Röhren von<br />

einem En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Beckens zum an<strong>de</strong>ren konnte Tinbergen diktieren,<br />

welches Männchen angriff und welches zurückwich.<br />

Bei<strong>de</strong> Fische spielten ganz offensichtlich die einfache bedingte<br />

Strategie: „Wenn Ansässiger, greif an; <strong>wen</strong>n Eindringling, zieh<br />

dich zurück!“<br />

Biologen stellen häufig die Frage nach <strong>de</strong>n biologischen „Vorteilen“<br />

<strong>de</strong>s Territorialverhaltens. Zahlreiche Hypothesen sind<br />

aufgestellt wor<strong>de</strong>n, von <strong>de</strong>nen einige später erwähnt wer<strong>de</strong>n.<br />

Doch wir können bereits jetzt erkennen, daß die Frage an sich<br />

möglicherweise überflüssig ist. Es ist möglich, daß die „Verteidigung“<br />

<strong>de</strong>s Reviers einfach eine ESS ist, die sich aus <strong>de</strong>r<br />

Asymmetrie <strong>de</strong>r Ankunftszeit ergibt, welche gewöhnlich die<br />

Beziehung zwischen zwei Individuen und einem Stück Grund<br />

und Bo<strong>de</strong>n kennzeichnet.<br />

Die wichtigste Art <strong>de</strong>r nichtwillkürlichen Asymmetrie ist<br />

vermutlich die Asymmetrie in bezug auf Größe und allgemeine<br />

Kampfkraft. Körpergröße ist nicht unbedingt immer die wichtigste<br />

<strong>de</strong>r Eigenschaften, die zum Gewinnen von Kämpfen<br />

nötig sind, aber doch eine <strong>de</strong>r wichtigen. Wenn stets <strong>de</strong>r<br />

größere von zwei Kämpfern gewinnt und <strong>wen</strong>n je<strong>de</strong>s Individuum<br />

mit Sicherheit weiß, ob es größer o<strong>de</strong>r kleiner als sein


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 135<br />

Gegner ist, dann ist nur eine einzige Strategie sinnvoll: „Wenn<br />

<strong>de</strong>in Gegner größer ist als du, lauf fort. Suche <strong>de</strong>n Kampf<br />

mit Leuten, die kleiner sind als du.“ Die Dinge wer<strong>de</strong>n ein<br />

<strong>wen</strong>ig komplizierter, <strong>wen</strong>n die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r Größe <strong>wen</strong>iger<br />

ein<strong>de</strong>utig ist. Wenn eine g<strong>ro</strong>ße Körperstatur nur einen geringen<br />

Vorteil verleiht, ist die gera<strong>de</strong> genannte Strategie immer<br />

noch stabil. Besteht jedoch ein ernsthaftes Verletzungsrisiko,<br />

so könnte es eine Alternative geben, eine sogenannte paradoxe<br />

Strategie. Diese lautet: „Brich Streit vom Zaun mit Leuten, die<br />

größer sind als du, und lauf weg vor Leuten, die kleiner sind als<br />

du!“ Es liegt auf <strong>de</strong>r Hand, warum dies paradox genannt wird.<br />

Es scheint völlig <strong>de</strong>m gesun<strong>de</strong>n Menschenverstand zu wi<strong>de</strong>rsprechen.<br />

Der Grund, warum diese Strategie stabil sein kann,<br />

ist folgen<strong>de</strong>r: In einer Population, die nur aus An<strong>wen</strong><strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r<br />

paradoxen Strategie besteht, wird niemand verletzt, <strong>de</strong>nn bei<br />

allen Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen läuft einer <strong>de</strong>r Beteiligten, und<br />

zwar <strong>de</strong>r größere, davon. Ein Mutant von durchschnittlicher<br />

Größe, <strong>de</strong>r die „vernünftige“ Strategie an<strong>wen</strong><strong>de</strong>t, sich kleinere<br />

Gegner auszusuchen, muß bei je<strong>de</strong>r zweiten Begegnung mit<br />

einem Artgenossen einen heftigen Kampf ausfechten. Das liegt<br />

daran, daß er angreift, <strong>wen</strong>n er jeman<strong>de</strong>n trifft, <strong>de</strong>r kleiner<br />

ist als er, während das kleinere Individuum sich heftig wehrt,<br />

weil es „paradox“ spielt; zwar ist es wahrscheinlicher, daß das<br />

Individuum mit <strong>de</strong>r vernünftigen Strategie gewinnt als das mit<br />

<strong>de</strong>r paradoxen, doch läuft es immer noch beträchtliche Gefahr,<br />

zu verlieren und verletzt zu wer<strong>de</strong>n. Da sich die Mehrheit <strong>de</strong>r<br />

Population paradox verhält, ist das Verletzungsrisiko für <strong>de</strong>n<br />

An<strong>wen</strong><strong>de</strong>r <strong>de</strong>r vernünftigen Strategie größer als für je<strong>de</strong>s einzelne<br />

paradox agieren<strong>de</strong> Individuum.<br />

Obwohl eine paradoxe Strategie stabil sein kann, ist sie<br />

wahrscheinlich nur von theoretischem Interesse. Kämpfer, die<br />

sich paradox verhalten, erzielen nur dann eine höhere durchschnittliche<br />

Prämie, <strong>wen</strong>n sie <strong>de</strong>n Individuen mit vernünftiger<br />

Strategie zahlenmäßig hoch überlegen sind. Man kann sich<br />

schwer vorstellen, wie dieser Zustand überhaupt jemals eintreten<br />

könnte. Und selbst <strong>wen</strong>n er einträte, brauchte sich das<br />

Verhältnis von vernünftig zu paradox han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n Individuen


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 136<br />

in <strong>de</strong>r Population nur ein <strong>wen</strong>ig zugunsten <strong>de</strong>r vernünftigen<br />

Strategie zu verschieben, um in <strong>de</strong>n „Anziehungsbereich“ <strong>de</strong>r<br />

an<strong>de</strong>ren ESS, <strong>de</strong>r vernünftigen, zu geraten. Der Anziehungsbereich<br />

ist die Gesamtheit aller Relationen in <strong>de</strong>r Population,<br />

bei <strong>de</strong>nen – in diesem Fall – die vernünftige Strategie vorteilhaft<br />

wäre: Wenn die Population erst einmal diese Zone erreicht,<br />

wird sie unweigerlich zu <strong>de</strong>m Stabilitätspunkt hingezogen, bei<br />

<strong>de</strong>m die Individuen mit vernünftiger Strategie in <strong>de</strong>r Mehrzahl<br />

sind. Es wäre aufregend, ein Beispiel einer paradoxen ESS in<br />

<strong>de</strong>r Natur zu fin<strong>de</strong>n, doch ich bezweifle, daß wir wirklich hoffen<br />

können, jemals eins zu fin<strong>de</strong>n. (Ich habe dies zu früh gesagt.<br />

Nach<strong>de</strong>m ich diesen letzten Satz geschrieben hatte, machte<br />

mich P<strong>ro</strong>fessor Maynard Smith auf die folgen<strong>de</strong> Beschreibung<br />

aufmerksam, die J.W. Burgess vom Verhalten <strong>de</strong>r in Mexiko<br />

vorkommen<strong>de</strong>n sozialen Spinne Oecobius civitas gegeben hat:<br />

„Wenn eine Spinne gestört und aus ihrem Schlupfwinkel vertrieben<br />

wird, so schießt sie über <strong>de</strong>n Felsen und sucht, <strong>wen</strong>n<br />

sie keinen leeren Felsspalt fin<strong>de</strong>t, in <strong>de</strong>n sie sich verkriechen<br />

kann, vielleicht im Schlupfwinkel einer an<strong>de</strong>ren Spinne <strong>de</strong>rselben<br />

Art Zuflucht. Befin<strong>de</strong>t sich die an<strong>de</strong>re Spinne in ihrem<br />

Versteck, <strong>wen</strong>n <strong>de</strong>r Eindringling hereinkommt, so greift sie<br />

nicht etwa an, son<strong>de</strong>rn saust hinaus und sucht sich ihrerseits<br />

einen neuen Schlupfwinkel. Nach<strong>de</strong>m einmal die erste Spinne<br />

aufgescheucht wor<strong>de</strong>n ist, kann sich so das Verdrängen von<br />

Netz zu Netz mehrere Sekun<strong>de</strong>n lang fortsetzen, wobei häufig<br />

die Mehrzahl <strong>de</strong>r Spinnen in <strong>de</strong>r Gruppe dazu gebracht<br />

wird, von ihrem bisherigen Zufluchtsort in einen frem<strong>de</strong>n<br />

überzuwechseln.“ [Social Spi<strong>de</strong>rs. In: Scientific American, März<br />

1976]. Dies ist paradox im hier gebrauchten Sinne. 5 )<br />

Was geschieht, <strong>wen</strong>n die Individuen eine gewisse Erinnerung<br />

an <strong>de</strong>n Ausgang früherer Kämpfe zurückbehalten? Das<br />

hängt davon ab, ob die Erinnerung spezifisch o<strong>de</strong>r allgemein<br />

ist. Grillen haben eine generelle Erinnerung an das, was in<br />

vorangegangenen Kämpfen geschehen ist. Eine Grille, die in<br />

letzter <strong>Zeit</strong> eine Vielzahl von Kämpfen gewonnen hat, wird<br />

falkenähnlicher, eine Grille, die vor kurzem eine Reihe von<br />

Nie<strong>de</strong>rlagen einstecken mußte, taubenähnlicher. Dies ist von


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 137<br />

R.D. Alexan<strong>de</strong>r ein<strong>de</strong>utig <strong>de</strong>monstriert wor<strong>de</strong>n. Er bediente<br />

sich einer Grillenattrappe, mit <strong>de</strong>r er echte Grillen besiegte.<br />

Nach dieser Behandlung stieg bei <strong>de</strong>n Grillen die Wahrscheinlichkeit,<br />

daß sie Kämpfe gegen an<strong>de</strong>re echte Grillen verloren.<br />

Man kann sich dies so vorstellen, daß je<strong>de</strong> Grille die eigene<br />

Einschätzung ihrer kämpferischen Fähigkeiten im Verhältnis<br />

zu <strong>de</strong>nen eines durchschnittlichen Individuums in ihrer Population<br />

ständig auf <strong>de</strong>n neuesten Stand bringt. Wenn Tiere, die<br />

wie Grillen mit einem allgemeinen Erinnerungsvermögen an<br />

vergangene Kämpfe ausgestattet sind, eine <strong>Zeit</strong>lang zusammen<br />

in einer geschlossenen Gruppe gehalten wer<strong>de</strong>n, so wird<br />

sich wahrscheinlich eine Art Dominanzhierarchie herausbil<strong>de</strong>n.<br />

6 Ein Beobachter kann die einzelnen Tiere nach ihrem<br />

Status einordnen. Rangnie<strong>de</strong>re Individuen geben gewöhnlich<br />

höherrangigen Individuen gegenüber nach. Dabei besteht<br />

keine Not<strong>wen</strong>digkeit zu <strong>de</strong>r Annahme, daß die Individuen sich<br />

gegenseitig erkennen. Es geschieht weiter nichts, als daß bei<br />

Individuen, die zu siegen gewöhnt sind, die Wahrscheinlichkeit<br />

<strong>de</strong>s Sieges noch größer wird, wogegen Individuen, die<br />

zu verlieren gewöhnt sind, mit ständig wachsen<strong>de</strong>r Wahrscheinlichkeit<br />

verlieren. Selbst <strong>wen</strong>n die Individuen zu Beginn<br />

völlig zufällig gewönnen o<strong>de</strong>r verlören, wür<strong>de</strong>n sie versuchen,<br />

sich selbst in eine Rangfolge einzuordnen. Dies hat nebenbei<br />

bemerkt zur Folge, daß die Zahl ernster Kämpfe in <strong>de</strong>r Gruppe<br />

allmählich abnimmt.<br />

Ich muß <strong>de</strong>n Ausdruck „eine Art Dominanzhierarchie“<br />

benutzen, weil viele Leute <strong>de</strong>n Begriff Dominanzhierarchie für<br />

Fälle reservieren, bei <strong>de</strong>nen sich die Tiere individuell erkennen.<br />

In diesen Fällen ist die Erinnerung an vorangegangene<br />

Kämpfe nicht so sehr allgemeiner, son<strong>de</strong>rn vielmehr spezifischer<br />

Natur. Grillen erkennen einan<strong>de</strong>r nicht individuell, aber<br />

Hühner und Affen tun dies sehr wohl. Denken wir uns, ein Affe<br />

sei in <strong>de</strong>r Vergangenheit von einem an<strong>de</strong>ren besiegt wor<strong>de</strong>n,<br />

dann ist es wahrscheinlich, daß dieser ihn auch in Zukunft<br />

besiegen wird. Die beste Strategie für ein Individuum ist die,<br />

sich einem an<strong>de</strong>ren gegenüber, von <strong>de</strong>m es früher einmal<br />

besiegt wur<strong>de</strong>, relativ taubenartig zu verhalten. Läßt man eine


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 138<br />

Schar Hühner, die niemals zuvor zusammenget<strong>ro</strong>ffen sind, aufeinan<strong>de</strong>r<br />

los, so gibt es gewöhnlich zahlreiche Kämpfe. Nach<br />

einer Weile nimmt die Zahl <strong>de</strong>r Kämpfe ab, allerdings nicht<br />

aus <strong>de</strong>mselben Grund wie bei <strong>de</strong>n Grillen. Vielmehr lernt je<strong>de</strong>s<br />

Huhn, wo „sein Platz“ je<strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren Individuum gegenüber<br />

ist. Dies ist nebenbei gesagt gut für die Gruppe als Gesamtheit.<br />

Als Zeichen dafür hat man festgestellt, daß in etablierten<br />

Hühnergruppen, in <strong>de</strong>nen heftige Kämpfe selten sind, die Eierp<strong>ro</strong>duktion<br />

höher ist als in Hühnergruppen, <strong>de</strong>ren Zusammensetzung<br />

ständig geän<strong>de</strong>rt wird und in <strong>de</strong>nen infolge<strong>de</strong>ssen<br />

Kämpfe häufiger sind. Biologen sprechen häufig davon, <strong>de</strong>r<br />

biologische Vorteil o<strong>de</strong>r die biologische „Funktion“ <strong>de</strong>r Rangordnungen<br />

läge darin, die offene Aggression in <strong>de</strong>r Gruppe<br />

zu mil<strong>de</strong>rn. So ausgedrückt, ist dies jedoch falsch. Von einer<br />

Dominanzhierarchie per se kann man nicht sagen, daß sie eine<br />

Funktion im evolutionären Sinne hat, da es sich um die Eigenschaft<br />

einer Gruppe, nicht eines Individuums han<strong>de</strong>lt. Funktionen<br />

kann man nur <strong>de</strong>n individuellen Verhaltensmustern<br />

zuschreiben, die sich, auf <strong>de</strong>r Ebene <strong>de</strong>r Gruppe betrachtet,<br />

in Form von Dominanzhierarchien manifestieren. Noch besser<br />

ist es jedoch, auf das Wort „Funktion“ ganz und gar zu verzichten<br />

und Dominanzhierarchien als Ausfluß evolutionär stabiler<br />

Strategien bei asymmetrischen Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen<br />

mit individuellem Erkennen und spezifischer Erinnerung zu<br />

verstehen.<br />

Bisher haben wir uns mit Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen zwischen<br />

Artgenossen befaßt. Wie sieht es nun mit Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen<br />

zwischen unterschiedlichen Arten aus? Wie wir bereits<br />

festgestellt haben, sind Angehörige verschie<strong>de</strong>ner Arten <strong>wen</strong>iger<br />

unmittelbare Konkurrenten als Angehörige <strong>de</strong>rselben Art.<br />

Aus diesem Grun<strong>de</strong> sollten wir zwischen ihnen <strong>wen</strong>iger Kont<strong>ro</strong>versen<br />

um Ressourcen erwarten, und unsere Erwartung<br />

bestätigt sich. Zum Beispiel verteidigen Rotkehlchen ihre Territorien<br />

gegenüber an<strong>de</strong>ren Rotkehlchen, nicht aber gegenüber<br />

Kohlmeisen. Man kann eine Karte mit <strong>de</strong>n Revieren <strong>de</strong>r einzelnen<br />

Rotkehlchen in einem Wald zeichnen und in diese Karte<br />

zusätzlich die Territorien einzelner Kohlmeisen eintragen. Die


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 139<br />

Reviere <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Arten überschnei<strong>de</strong>n sich völlig wahllos.<br />

Sie könnten sich genausogut auf verschie<strong>de</strong>nen Planeten befin<strong>de</strong>n.<br />

Doch geraten die Interessen von Individuen verschie<strong>de</strong>ner<br />

Arten auf an<strong>de</strong>re Weise scharf miteinan<strong>de</strong>r in Konflikt. Beispielsweise<br />

will ein Löwe <strong>de</strong>n Körper einer Antilope fressen,<br />

doch die Antilope hat ganz an<strong>de</strong>re Pläne für ihren Körper.<br />

Dies wird normalerweise nicht als Konkurrenz um eine Ressource<br />

angesehen, aber logisch betrachtet ist schwer einzusehen<br />

warum nicht. Die Ressource ist in diesem Fall Fleisch.<br />

Die Gene <strong>de</strong>s Lö<strong>wen</strong> „wollen“ das Fleisch als Nahrung für<br />

ihre Überlebensmaschine. Die Antilopengene wollen es als<br />

arbeiten<strong>de</strong> Muskeln und Organe für ihre Überlebensmaschine.<br />

Diese bei<strong>de</strong>n Ver<strong>wen</strong>dungszwecke schließen sich gegenseitig<br />

aus; wir haben es daher mit einem Interessenkonflikt zu tun.<br />

Die Angehörigen <strong>de</strong>r eigenen Art bestehen ebenfalls aus<br />

Fleisch. Warum ist Kannibalismus relativ selten? Wie wir im<br />

Fall <strong>de</strong>r Lachmöwe gesehen haben, fressen erwachsene Tiere<br />

gelegentlich die Jungen ihrer eigenen Art. Doch sieht man niemals<br />

ausgewachsene Fleischfresser an<strong>de</strong>re erwachsene Individuen<br />

ihrer eigenen Art aktiv verfolgen in <strong>de</strong>r Absicht, sie zu<br />

verspeisen. Warum nicht? Wir sind immer noch so sehr daran<br />

gewöhnt, in Begriffen <strong>de</strong>r Arterhaltungsthese <strong>de</strong>r Evolutionstheorie<br />

zu <strong>de</strong>nken, daß wir häufig vergessen, völlig vernünftige<br />

Fragen zu stellen wie: „Warum jagen Lö<strong>wen</strong> keine an<strong>de</strong>ren<br />

Lö<strong>wen</strong>?“ Eine weitere gute Frage, die zu einer selten gestellten<br />

Art von Fragen gehört, lautet: „Warum laufen Antilopen vor<br />

Lö<strong>wen</strong> davon, statt sich zu wehren?“<br />

Lö<strong>wen</strong> jagen <strong>de</strong>shalb keine Lö<strong>wen</strong>, weil dies für sie keine<br />

ESS wäre. Eine Kannibalenstrategie wäre instabil, und zwar<br />

aus <strong>de</strong>mselben Grund wie die Falkenstrategie in unserem Beispiel:<br />

Die Gefahr <strong>de</strong>s Zurückschlagens wäre zu g<strong>ro</strong>ß. Diese<br />

Gefahr ist bei Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen zwischen Angehörigen<br />

verschie<strong>de</strong>ner Arten geringer, und das wie<strong>de</strong>rum ist <strong>de</strong>r Grund<br />

dafür, daß so viele Beutetiere davonlaufen, statt sich zu wehren.<br />

Ursprünglich ergibt sich dies vermutlich aus <strong>de</strong>r Tatsache,<br />

daß beim Aufeinan<strong>de</strong>rtreffen zweier Tiere, die verschie<strong>de</strong>nen


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 140<br />

Arten angehören, die Asymmetrie von vornherein größer ist<br />

als bei Angehörigen <strong>de</strong>rselben Art. Wann immer bei einer Auseinan<strong>de</strong>rsetzung<br />

eine starke Asymmetrie besteht, ist es wahrscheinlich,<br />

daß die evolutionär stabilen Strategien bedingte,<br />

von <strong>de</strong>r Asymmetrie abhängige Strategien sind. Bei Konflikten<br />

zwischen Angehörigen verschie<strong>de</strong>ner Arten wer<strong>de</strong>n sich –<br />

weil es so viele mögliche Asymmetrien gibt – mit g<strong>ro</strong>ßer Wahrscheinlichkeit<br />

analoge Strategien zu „Wenn du kleiner bist,<br />

lauf fort; bist du größer, greif an“ herausbil<strong>de</strong>n. Lö<strong>wen</strong> und<br />

Antilopen haben durch die evolutionäre Divergenz, welche die<br />

ursprüngliche Asymmetrie <strong>de</strong>r Auseinan<strong>de</strong>rsetzung ständig<br />

weiter verschärft hat, eine Art stabilen Zustand erreicht. Sie<br />

haben es in <strong>de</strong>r Kunst <strong>de</strong>s Jagens beziehungsweise <strong>de</strong>s Davonlaufens<br />

auße<strong>ro</strong>r<strong>de</strong>ntlich weit gebracht. Eine durch Mutation<br />

entstan<strong>de</strong>ne Antilope, die Lö<strong>wen</strong> gegenüber die Strategie<br />

„Behaupte dich und kämpfe“ an<strong>wen</strong><strong>de</strong>n wollte, wäre <strong>wen</strong>iger<br />

erfolgreich als rivalisieren<strong>de</strong> Antilopen, die am Horizont verschwin<strong>de</strong>n.<br />

Ich könnte mir vorstellen, daß wir eines Tages auf die Entwicklung<br />

<strong>de</strong>s Konzepts <strong>de</strong>r ESS als auf einen <strong>de</strong>r be<strong>de</strong>utendsten<br />

Fortschritte in <strong>de</strong>r Evolutionstheorie seit Darwin zurückblicken<br />

wer<strong>de</strong>n. 7 Dieses Konzept ist überall dort an<strong>wen</strong>dbar, wo wir<br />

einen Interessenkonflikt vorfin<strong>de</strong>n, und das heißt fast überall.<br />

In <strong>de</strong>r Verhaltensforschung hat man sich angewöhnt, über<br />

etwas zu re<strong>de</strong>n, das man als „soziale Organisation“ bezeichnet.<br />

Zu oft wird die gesellschaftliche Organisation einer Art wie<br />

ein eigenständiges Gebil<strong>de</strong> mit seinem eigenen biologischen<br />

„Vorteil“ behan<strong>de</strong>lt. Ein Beispiel dafür, das ich bereits genannt<br />

habe, ist die „Dominanzhierarchie“. Ich glaube, daß hinter<br />

einer g<strong>ro</strong>ßen Zahl von Aussagen, die Biologen über die soziale<br />

Organisation machen, Auffassungen verborgen sind, die auf<br />

<strong>de</strong>m Gruppenselektions<strong>de</strong>nken aufbauen. Maynard Smiths<br />

Konzept <strong>de</strong>r ESS versetzt uns zum ersten Mal in die Lage,<br />

<strong>de</strong>utlich zu erkennen, auf welche Weise eine Ansammlung<br />

unabhängiger egoistischer Organismen wie ein einziges organisiertes<br />

Ganzes aussehen kann. Meiner Meinung nach gilt<br />

dies nicht nur für die soziale Organisation innerhalb einer


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 141<br />

Art, son<strong>de</strong>rn auch für „Ökosysteme“ sowie „Gemeinschaften“,<br />

die aus vielen Arten bestehen. Langfristig gesehen rechne ich<br />

damit, daß das Konzept <strong>de</strong>r ESS die ökologische Wissenschaft<br />

revolutionieren wird.<br />

Auch auf eine Frage, die wir in Kapitel 3 zurückgestellt<br />

hatten, können wir dieses Konzept an<strong>wen</strong><strong>de</strong>n. Ausgangspunkt<br />

war das Bild <strong>de</strong>r (die Gene in einem Körper darstellen<strong>de</strong>n)<br />

Ru<strong>de</strong>rer in einem Boot, die guten Teamgeist brauchen. Gene<br />

wer<strong>de</strong>n selektiert, nicht weil sie für sich genommen „gut“ sind,<br />

son<strong>de</strong>rn weil sie vor <strong>de</strong>m Hintergrund <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Gene im<br />

Genpool gut arbeiten. Ein gutes Gen muß sich mit <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren<br />

Genen, mit <strong>de</strong>nen es sich in eine lange Reihe aufeinan<strong>de</strong>rfolgen<strong>de</strong>r<br />

Körper zu teilen hat, vertragen und diese ergänzen. Ein<br />

Gen für Zähne zum Zermahlen von Pflanzen ist im Genpool<br />

einer pflanzenfressen<strong>de</strong>n Spezies ein gutes, im Genpool einer<br />

fleischfressen<strong>de</strong>n Art aber ein schlechtes Gen.<br />

Man kann sich vorstellen, daß ein zusammenpassen<strong>de</strong>r Satz<br />

von Genen gemeinsam als eine Einheit selektiert wird. Im Beispiel<br />

<strong>de</strong>r Schmetterlingsmimikry von Kapitel 3 scheint genau<br />

dies eingetreten zu sein. Doch die Stärke <strong>de</strong>s ESS-Konzepts<br />

liegt darin, daß es uns in die Lage versetzt zu erkennen, wie<br />

ein <strong>de</strong>rartiges Ergebnis durch Selektion allein auf <strong>de</strong>r Ebene<br />

<strong>de</strong>s unabhängigen Gens erzielt wer<strong>de</strong>n könnte. Die Gene brauchen<br />

nicht auf <strong>de</strong>mselben Ch<strong>ro</strong>mosom miteinan<strong>de</strong>r gekoppelt<br />

zu sein.<br />

Eigentlich reicht <strong>de</strong>r Vergleich mit <strong>de</strong>n Ru<strong>de</strong>rern nicht zur<br />

Erklärung dieses Gedankens. Wir können uns ihr nur soweit<br />

wie möglich annähern: Nehmen wir an, für eine wirklich erfolgreiche<br />

Mannschaft sei es wichtig, daß die Ru<strong>de</strong>rer ihre Bewegungen<br />

mit Hilfe <strong>de</strong>r Sprache koordinieren. Nehmen wir weiter<br />

an, von <strong>de</strong>n <strong>de</strong>m Trainer zur Verfügung stehen<strong>de</strong>n Ru<strong>de</strong>rern<br />

sprächen einige nur Englisch und an<strong>de</strong>re nur Deutsch. Die<br />

Englän<strong>de</strong>r sind nicht durchweg bessere o<strong>de</strong>r schlechtere Ru<strong>de</strong>rer<br />

als die Deutschen. Dennoch wird wegen <strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r<br />

Verständigung eine gemischte Mannschaft gewöhnlich <strong>wen</strong>iger<br />

Rennen gewinnen als eine entwe<strong>de</strong>r rein englische o<strong>de</strong>r<br />

rein <strong>de</strong>utsche Mannschaft.


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 142<br />

Der Trainer ist sich <strong>de</strong>ssen nicht bewußt. Er tut nichts weiter,<br />

als seine Leute herumzuschieben, <strong>de</strong>n Individuen in Siegerbooten<br />

Pluspunkte anzuschreiben und die Individuen in Verliererbooten<br />

zu notieren. Wenn nun unter <strong>de</strong>n ihm zur Verfügung<br />

stehen<strong>de</strong>n Bewerbern zufällig die Englän<strong>de</strong>r überwiegen, so<br />

folgt daraus, daß je<strong>de</strong>r Deutsche, <strong>de</strong>r in ein Boot hineingerät,<br />

dieses wahrscheinlich zum Verlieren bringen wird, weil die<br />

Verständigung zusammenbricht. Umgekehrt wird, <strong>wen</strong>n das<br />

Reservoir von Ru<strong>de</strong>rern in <strong>de</strong>r Überzahl aus Deutschen<br />

besteht, ein Englän<strong>de</strong>r feststellen, daß er je<strong>de</strong>s Boot, in <strong>de</strong>m<br />

er sich befin<strong>de</strong>t, zum Verlieren bringt. Die Mannschaft, welche<br />

als die insgesamt beste aus <strong>de</strong>n Wettkämpfen hervorgeht, wird<br />

einem <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n stabilen Zustän<strong>de</strong> entsprechen – rein englisch<br />

o<strong>de</strong>r rein <strong>de</strong>utsch, aber nicht gemischt. Oberflächlich<br />

betrachtet sieht es so aus, als ob <strong>de</strong>r Trainer ganze Gruppen<br />

mit <strong>de</strong>rselben Sprache als Einheiten auswählt. Doch das tut<br />

er nicht. Er wählt einzelne Ru<strong>de</strong>rer nach ihrer offensichtlichen<br />

Fähigkeit aus, Rennen zu gewinnen. So kommt es,<br />

daß die Wahrscheinlichkeit, mit <strong>de</strong>r ein Individuum Rennen<br />

gewinnt, davon abhängig ist, aus welchen an<strong>de</strong>ren Individuen<br />

das Bewerberangebot besteht. Bewerber, die zur Min<strong>de</strong>rheit<br />

gehören, wer<strong>de</strong>n automatisch bestraft. Nicht, weil sie schlechte<br />

Ru<strong>de</strong>rer sind, son<strong>de</strong>rn einfach, weil sie einer Min<strong>de</strong>rheit<br />

angehören. In ähnlicher Weise be<strong>de</strong>utet die Tatsache, daß Gene<br />

wegen ihrer gegenseitigen Vereinbarkeit ausgewählt wer<strong>de</strong>n,<br />

nicht zwangsläufig, daß wir uns eine Selektion vorstellen<br />

müssen, <strong>de</strong>ren Einheit Gengruppen sind, wie dies im Beispiel<br />

<strong>de</strong>r Schmetterlinge <strong>de</strong>r Fall war. Die Selektion auf <strong>de</strong>r niedrigen<br />

Ebene <strong>de</strong>s einzelnen Gens kann <strong>de</strong>n Eindruck einer Selektion<br />

auf einem höheren Niveau erwecken.<br />

In diesem Beispiel begünstigt die Auslese einfach<br />

Konformität. Interessanter ist es, <strong>wen</strong>n Gene selektiert wer<strong>de</strong>n,<br />

weil sie einan<strong>de</strong>r ergänzen. Nehmen wir beispielsweise an,<br />

eine i<strong>de</strong>al ausgewogene Ru<strong>de</strong>rmannschaft bestün<strong>de</strong> aus vier<br />

Rechts- und vier Linkshän<strong>de</strong>rn. Nehmen wir außer<strong>de</strong>m wie<strong>de</strong>r<br />

an, <strong>de</strong>r Trainer sei sich dieser Tatsache nicht bewußt und<br />

wähle blind nach „Verdienst“ aus. Wenn nun <strong>de</strong>r Bewerber-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 143<br />

kreis zufällig in <strong>de</strong>r Überzahl aus Rechtshän<strong>de</strong>rn bestün<strong>de</strong>,<br />

wäre je<strong>de</strong>r einzelne Linkshän<strong>de</strong>r ten<strong>de</strong>nziell im Vorteil: Wahrscheinlich<br />

wür<strong>de</strong> er je<strong>de</strong>m Boot, in <strong>de</strong>m er sich befän<strong>de</strong>, zum<br />

Sieg verhelfen und erschiene daher als ein guter Ru<strong>de</strong>rer.<br />

Umgekehrt wür<strong>de</strong> in einem überwiegend aus Linkshän<strong>de</strong>rn<br />

bestehen<strong>de</strong>n Bewerberkreis ein Rechtshän<strong>de</strong>r einen Vorteil<br />

haben. Dies ist ähnlich wie <strong>de</strong>r Fall <strong>de</strong>s Falken, <strong>de</strong>r in einer<br />

Taubenpopulation, und <strong>de</strong>r Taube, die in einer Falkenpopulation<br />

erfolgreich ist. Der Unterschied besteht darin, daß es<br />

in jenem Fall um Wechselbeziehungen zwischen einzelnen<br />

Körpern – egoistischen Maschinen – ging, während wir hier<br />

mit Hilfe unseres Bil<strong>de</strong>s über Wechselbeziehungen zwischen<br />

Genen im Innern von Körpern sprechen.<br />

Die blin<strong>de</strong> Auswahl „guter“ Ru<strong>de</strong>rer durch <strong>de</strong>n Trainer wird<br />

am En<strong>de</strong> zu einer i<strong>de</strong>alen Mannschaft führen, die aus vier<br />

Links- und vier Rechtshän<strong>de</strong>rn besteht. Es wird so aussehen,<br />

als habe er sie alle zusammen als eine komplette, ausgewogene<br />

Einheit ausgewählt. Ich halte es für ökonomischer, mir vorzustellen,<br />

daß er seine Auswahl auf einer niedrigeren Ebene<br />

trifft, <strong>de</strong>r Ebene <strong>de</strong>r unabhängigen Bewerber. Der evolutionär<br />

stabile Zustand (das Wort „Strategie“ wäre in diesem Zusammenhang<br />

irreführend) von vier Links- und vier Rechtshän<strong>de</strong>rn<br />

wird sich einfach als eine Konsequenz <strong>de</strong>r Auslese auf <strong>de</strong>r<br />

Basis <strong>de</strong>s erkennbaren Verdienstes ergeben.<br />

Der Genpool ist die langfristige Umwelt <strong>de</strong>s Gens. „Gute“<br />

Gene wer<strong>de</strong>n durch blin<strong>de</strong> Selektion ausgewählt, es sind diejenigen,<br />

die im Genpool überleben. Dies ist keine Theorie, es<br />

ist noch nicht einmal eine beobachtete Tatsache: Es ist einfach<br />

eine Tautologie. Die interessante Frage ist, was genau<br />

ein Gen zu einem guten Gen macht. Als erste Näherung hatte<br />

ich gesagt, was ein Gen zu einem guten Gen macht, sei die<br />

Fähigkeit, effiziente Überlebensmaschinen zu bauen – Körper.<br />

Wir müssen diese Aussage nunmehr ergänzen. Der Genpool<br />

wird zu einem evolutionär stabilen Satz von Genen, <strong>de</strong>finiert<br />

als ein Genpool, in <strong>de</strong>n kein neues Gen eindringen kann. Die<br />

Mehrheit neuer Gene, die entstehen – durch Mutation, Neuanordnung<br />

o<strong>de</strong>r Einwan<strong>de</strong>rung – wer<strong>de</strong>n durch die natürliche


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 144<br />

Auslese rasch bestraft: Der evolutionär stabile Satz wird wie<strong>de</strong>rhergestellt.<br />

Gelegentlich jedoch gelingt es einem neuen<br />

Gen, in <strong>de</strong>n Satz einzudringen: Es breitet sich erfolgreich im<br />

Genpool aus. Dies führt zu einer vorübergehen<strong>de</strong>n Perio<strong>de</strong><br />

<strong>de</strong>r Instabilität, die in einen neuen evolutionär stabilen Satz<br />

mün<strong>de</strong>t – ein Stückchen Evolution hat stattgefun<strong>de</strong>n. Analog<br />

zu <strong>de</strong>n Aggressionsstrategien könnte eine Population mehr als<br />

einen alternativen Stabilitätspunkt besitzen und gelegentlich<br />

von einem zu einem an<strong>de</strong>ren überspringen. Die fortschreiten<strong>de</strong><br />

Evolution ist vielleicht <strong>wen</strong>iger ein stetes Aufwärtssteigen als<br />

vielmehr eine Reihe getrennter Schritte von einem stabilen<br />

Plateau zu einem an<strong>de</strong>ren. 8 Es mag so aussehen, als ob die<br />

Population insgesamt sich wie eine einzige, sich selbst regeln<strong>de</strong><br />

Einheit verhielte. Aber dieser falsche Eindruck wird durch<br />

eine Selektion erweckt, die auf <strong>de</strong>r Ebene <strong>de</strong>s einzelnen Gens<br />

erfolgt. Gene wer<strong>de</strong>n auf Grund ihres „Verdienstes“ selektiert.<br />

Verdienst jedoch wird beurteilt auf <strong>de</strong>r Basis <strong>de</strong>r Leistung<br />

vor <strong>de</strong>m Hintergrund <strong>de</strong>s evolutionär stabilen Satzes, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n<br />

jeweiligen Genpool darstellt.<br />

Maynard Smith konnte dadurch, daß er aggressive Interaktionen<br />

zwischen ganzen Individuen betrachtete, die Dinge sehr<br />

klar machen. Es ist leicht, sich stabile Zahlenverhältnisse von<br />

Falkenkörpern zu Taubenkörpern vorzustellen, weil Körper<br />

g<strong>ro</strong>ße Dinge sind, die man sehen kann. Derartige Wechselwirkungen<br />

zwischen Genen, die in verschie<strong>de</strong>nen Körpern sitzen,<br />

sind jedoch lediglich die Spitze <strong>de</strong>s Eisberges. Die g<strong>ro</strong>ße Mehrheit<br />

<strong>de</strong>r signifikanten Interaktionen zwischen Genen in <strong>de</strong>m<br />

evolutionär stabilen Satz – <strong>de</strong>m Genpool – besteht innerhalb<br />

ein und <strong>de</strong>sselben Körpers. Diese Interaktionen sind schwer<br />

zu erkennen, <strong>de</strong>nn sie fin<strong>de</strong>n im Innern von Zellen statt, insbeson<strong>de</strong>re<br />

im Innern <strong>de</strong>r Zellen sich entwickeln<strong>de</strong>r Embryos.<br />

Vollständige Körper existieren, weil sie das P<strong>ro</strong>dukt eines<br />

evolutionär stabilen Satzes egoistischer Gene sind.<br />

Doch ich muß zu <strong>de</strong>n Wechselbeziehungen auf <strong>de</strong>m Niveau<br />

ganzer Tiere zurückkehren, welche <strong>de</strong>n Gegenstand dieses<br />

Buches bil<strong>de</strong>n. Zum Verständnis <strong>de</strong>r Aggression war es angebracht,<br />

die einzelnen Tiere als unabhängige selbstsüchtige


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 145<br />

Maschinen zu behan<strong>de</strong>ln. Dieses Mo<strong>de</strong>ll hilft uns nicht mehr<br />

weiter, <strong>wen</strong>n es um enge Verwandte geht – Brü<strong>de</strong>r und Schwestern,<br />

Cousinen und Cousins, Eltern und Kin<strong>de</strong>r. Das liegt<br />

daran, daß Verwandte einen wesentlichen Teil ihrer Gene<br />

gemeinsam haben. Je<strong>de</strong>s egoistische Gen verteilt daher seine<br />

Loyalität auf verschie<strong>de</strong>ne Körper. Dies soll im nächsten Kapitel<br />

näher erklärt wer<strong>de</strong>n.


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 146<br />

6. Genverwandtschaft<br />

Was ist das egoistische Gen? Es ist nicht einfach nur ein einzelnes<br />

materielles Stückchen DNA. Es ist vielmehr – wie in <strong>de</strong>r<br />

Ursuppe – die Gesamtheit aller über die ganze Welt verteilten<br />

Kopien eines speziellen Stückchens DNA. Wenn wir uns die<br />

Freiheit nehmen, über Gene zu sprechen, als ob sie bewußte<br />

Ziele verfolgten – wobei wir uns immer wie<strong>de</strong>r rückversichern<br />

müssen, daß wir unsere etwas saloppe Sprache in eine korrekte<br />

Ausdrucksweise zurückübersetzen könnten, <strong>wen</strong>n wir<br />

wollten –, so können wir die Frage stellen, welche Absicht ein<br />

einzelnes egoistisches Gen <strong>de</strong>nn eigentlich verfolgt. Es versucht,<br />

im Genpool immer zahlreicher zu wer<strong>de</strong>n. Dies erreicht<br />

es im wesentlichen, in<strong>de</strong>m es dazu beiträgt, die Körper, in<br />

<strong>de</strong>nen es sich befin<strong>de</strong>t, so zu p<strong>ro</strong>grammieren, daß sie überleben<br />

und sich fortpflanzen. Für die folgen<strong>de</strong>n Betrachtungen ist<br />

jedoch vor allem <strong>de</strong>r Aspekt be<strong>de</strong>utsam, daß „es“ ein verbreitetes,<br />

vielfach vorhan<strong>de</strong>nes Gebil<strong>de</strong> ist, das in vielen verschie<strong>de</strong>nen<br />

Individuen gleichzeitig existiert. Die Kernaussage dieses<br />

Kapitels lautet: Möglicherweise ist ein Gen in <strong>de</strong>r Lage, <strong>de</strong>n<br />

Kopien seiner selbst, die in an<strong>de</strong>ren Körpern sitzen, zu helfen.<br />

Dies wür<strong>de</strong> wie individueller Altruismus aussehen, wäre aber<br />

tatsächlich das Ergebnis <strong>de</strong>s Genegoismus.<br />

Betrachten wir das Gen für Albinismus beim Menschen.<br />

Tatsächlich gibt es mehrere Gene, die Albinismus hervorrufen,<br />

ich spreche aber nur von einem von ihnen. Es ist rezessiv,<br />

das heißt, es muß in doppelter Ausfertigung vorhan<strong>de</strong>n sein,<br />

damit ein Mensch ein Albino wird. Dies ist bei jeweils einem<br />

von 20000 Menschen <strong>de</strong>r Fall. Außer<strong>de</strong>m liegt das Gen jedoch<br />

bei einem von etwa 70 Menschen in einfacher Ausfertigung<br />

vor, und diese Individuen sind keine Albinos. Da ein Gen wie<br />

das für Albinismus auf viele Individuen verteilt ist, könnte<br />

es theoretisch selbst sein Überleben im Genpool för<strong>de</strong>rn,<br />

in<strong>de</strong>m es seine Körper dahingehend p<strong>ro</strong>grammiert, sich an<strong>de</strong>ren<br />

Albinokörpern gegenüber selbstlos zu verhalten, da diese<br />

bekanntlich dasselbe Gen enthalten. Das Albinogen sollte


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 147<br />

ganz glücklich darüber sein, <strong>wen</strong>n einige <strong>de</strong>r Körper sterben,<br />

in <strong>de</strong>nen es lebt, vorausgesetzt diese helfen damit an<strong>de</strong>ren<br />

Körpern, die dasselbe Gen enthalten, beim Überleben. Wenn<br />

das Albinogen einen seiner Körper dazu veranlassen könnte,<br />

das Leben von zehn Albinokörpern zu retten, dann wäre die<br />

zahlenmäßige Zunahme <strong>de</strong>r Albinogene im Genpool eine reichliche<br />

Entschädigung sogar für <strong>de</strong>n Tod <strong>de</strong>s Altruisten.<br />

Sollten wir also erwarten, daß Albinos beson<strong>de</strong>rs freundlich<br />

zueinan<strong>de</strong>r sind? Tatsächlich sind sie es wahrscheinlich<br />

nicht. Wenn wir erkennen wollen, warum das so ist, müssen<br />

wir vorübergehend unser Bild von <strong>de</strong>m Gen als einem bewußt<br />

han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n Etwas aufgeben, weil es in diesem Zusammenhang<br />

ausgesp<strong>ro</strong>chen irreführend ist. Wir müssen auf die konventionelle,<br />

<strong>wen</strong>n auch langatmigere Ausdrucksweise zurückgreifen.<br />

Es ist nicht so, daß Albinogene wirklich überleben o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren<br />

Albinogenen helfen „wollen“. Doch <strong>wen</strong>n das Albinogen<br />

seine Körper rein zufällig dazu bewegen wür<strong>de</strong>, sich an<strong>de</strong>ren<br />

Albinos gegenüber uneigennützig zu verhalten, hätte dies die<br />

Folge, daß es im Genpool wohl o<strong>de</strong>r übel zahlreicher wür<strong>de</strong>.<br />

Doch damit dies geschähe, müßte das Gen zwei voneinan<strong>de</strong>r<br />

unabhängige Wirkungen auf die Körper ausüben. Es müßte<br />

ihnen nicht nur die typische, sehr helle Hautfarbe verleihen,<br />

son<strong>de</strong>rn darüber hinaus eine Ten<strong>de</strong>nz, sich gegenüber Individuen<br />

mit sehr heller Hautfarbe altruistisch zu verhalten. Ein<br />

<strong>de</strong>rartiges Gen mit zwei Effekten könnte, <strong>wen</strong>n es existierte, in<br />

<strong>de</strong>r Population sehr erfolgreich sein.<br />

Nun stimmt es zwar, daß Gene tatsächlich mehrfache Wirkungen<br />

erzielen, wie ich in Kapitel 3 betont habe. Theoretisch<br />

ist es möglich, daß ein Gen auftritt, welches ein äußerlich<br />

sichtbares „Kennzeichen“, beispielsweise eine helle Haut o<strong>de</strong>r<br />

einen grünen Bart o<strong>de</strong>r irgend etwas Auffälliges, hervorriefe<br />

und darüber hinaus eine Ten<strong>de</strong>nz, zu an<strong>de</strong>ren Trägern dieses<br />

auffälligen Merkmals beson<strong>de</strong>rs freundlich zu sein. Es ist<br />

möglich, aber nicht son<strong>de</strong>rlich wahrscheinlich. Genausogut<br />

könnte Grünbärtigkeit mit einer Ten<strong>de</strong>nz verbun<strong>de</strong>n sein, eingewachsene<br />

Zehennägel o<strong>de</strong>r irgen<strong>de</strong>in an<strong>de</strong>res Merkmal zu<br />

entwickeln, und eine Vorliebe für grüne Bärte könnte ebenso


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 148<br />

wahrscheinlich mit <strong>de</strong>r Unfähigkeit einhergehen, Freesienduft<br />

wahrzunehmen. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, daß ein und<br />

dasselbe Gen zusätzlich zu einem „Kennzeichen“ auch die entsprechen<strong>de</strong><br />

Art von Altruismus erzeugt. Nichts<strong>de</strong>sto<strong>wen</strong>iger<br />

ist das, was wir als <strong>de</strong>n Grünbart-Altruismuseffekt bezeichnen<br />

können, eine theoretische Möglichkeit.<br />

Ein beliebiges Merkmal wie ein grüner Bart ist lediglich eine<br />

Metho<strong>de</strong>, mit <strong>de</strong>ren Hilfe ein Gen Kopien seiner selbst in an<strong>de</strong>ren<br />

Individuen „erkennen“ kann. Gibt es noch an<strong>de</strong>re Metho<strong>de</strong>n?<br />

Ein beson<strong>de</strong>rs direktes mögliches Verfahren ist das folgen<strong>de</strong>.<br />

Der Besitzer eines altruistischen Gens könnte einfach<br />

an <strong>de</strong>r Tatsache erkannt wer<strong>de</strong>n, daß er altruistisch han<strong>de</strong>lt.<br />

Ein Gen könnte im Genpool Erfolg haben, <strong>wen</strong>n es etwas<br />

„sagte“, das <strong>de</strong>r folgen<strong>de</strong>n Anweisung entspräche: „Körper,<br />

<strong>wen</strong>n A untergeht, weil er versucht, jemand an<strong>de</strong>ren vor <strong>de</strong>m<br />

Ertrinken zu retten, so spring hinein und rette A!“ Ein solches<br />

Gen könnte gut abschnei<strong>de</strong>n, weil eine mehr als durchschnittliche<br />

Chance besteht, daß A ebendieses altruistische Lebensrettergen<br />

trägt. Die Tatsache, daß A dabei gesehen wird, wie<br />

er jemand an<strong>de</strong>ren zu retten versucht, ist ebenso ein „Kennzeichen“<br />

wie ein grüner Bart. Es ist <strong>wen</strong>iger willkürlich als ein<br />

grüner Bart, scheint aber immer noch ziemlich unwahrscheinlich.<br />

Gibt es irgendwelche plausiblen Möglichkeiten für Gene,<br />

ihre Kopien in an<strong>de</strong>ren Körpern zu „erkennen“?<br />

Die Antwort lautet ja. Wie sich leicht zeigen läßt, besteht<br />

bei nahen Verwandten – Familienangehörigen – eine mehr als<br />

durchschnittliche Chance für <strong>de</strong>n gemeinsamen Besitz von<br />

Genen. Schon seit langem gibt es keinen Zweifel mehr daran,<br />

daß dies <strong>de</strong>r Grund für die weit verbreitete Selbstlosigkeit von<br />

Eltern gegenüber ihren Nachkommen sein muß. Wie R. A.<br />

Fisher, J. B. S. Haidane und vor allem W. D. Hamilton erkannt<br />

haben, gilt das gleiche für an<strong>de</strong>re enge Verwandte – Brü<strong>de</strong>r<br />

und Schwestern, Neffen und Nichten, nahe Cousins und Cousinen.<br />

Wenn ein Individuum stirbt, um zehn nahe Verwandte<br />

zu retten, so geht zwar eine Kopie <strong>de</strong>s Gens für Familienaltruismus<br />

verloren, doch eine größere Zahl von Kopien <strong>de</strong>sselben<br />

Gens wird gerettet.


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 149<br />

Der Ausdruck „eine größere Zahl“ ist ein <strong>wen</strong>ig vage, „nahe<br />

Verwandte“ ebenso. Wie Hamilton gezeigt hat, können wir uns<br />

genauer ausdrücken. Seine bei<strong>de</strong>n Aufsätze aus <strong>de</strong>m Jahre<br />

1964 gehören zu <strong>de</strong>n be<strong>de</strong>utendsten Beiträgen zur Sozialethologie,<br />

die jemals geschrieben wor<strong>de</strong>n sind, und ich habe<br />

nie verstehen können, warum sie von <strong>de</strong>n Ethologen so <strong>wen</strong>ig<br />

beachtet wor<strong>de</strong>n sind. (Sein Name erscheint nicht einmal<br />

im In<strong>de</strong>x zweier g<strong>ro</strong>ßer Ethologielehrbücher, die bei<strong>de</strong> 1970<br />

veröffentlicht wur<strong>de</strong>n.) 1 Glücklicherweise gibt es in jüngster<br />

<strong>Zeit</strong> Anzeichen für ein Wie<strong>de</strong>raufleben <strong>de</strong>s Interesses an<br />

seinen I<strong>de</strong>en. Hamiltons Aufsätze sind ziemlich mathematisch;<br />

die Grundprinzipien lassen sich jedoch, <strong>wen</strong>ngleich<br />

auf Kosten einer etwas zu starken Vereinfachung, auch ohne<br />

strenge Mathematik leicht intuitiv begreifen. Was wir berechnen<br />

wollen, ist die Wahrscheinlichkeit o<strong>de</strong>r die Chance, daß<br />

zwei Individuen, beispielsweise zwei Schwestern, ein bestimmtes<br />

Gen gemeinsam haben.<br />

Der Einfachheit halber wer<strong>de</strong> ich davon ausgehen, daß wir<br />

über Gene re<strong>de</strong>n, die im Genpool insgesamt selten sind. 2 Die<br />

meisten Menschen haben, unabhängig davon, ob sie miteinan<strong>de</strong>r<br />

verwandt sind o<strong>de</strong>r nicht, „das Gen für Nichtalbinismus“<br />

gemeinsam. Dieses Gen ist <strong>de</strong>shalb so verbreitet, weil Albinos<br />

in <strong>de</strong>r Natur <strong>wen</strong>iger Überlebenschancen haben als Nichtalbinos.<br />

Beispielsweise wer<strong>de</strong>n sie leichter von <strong>de</strong>r Sonne geblen<strong>de</strong>t<br />

und übersehen daher mit größerer Wahrscheinlichkeit sich<br />

nähern<strong>de</strong> Räuber. Aber wir wollen nicht erklären, warum solch<br />

offensichtlich „gute“ Gene wie das für Nichtalbinismus im<br />

Genpool überwiegen. Uns interessieren vielmehr die Ursachen<br />

<strong>de</strong>s Erfolgs, <strong>de</strong>n Gene spezifisch auf Grund ihres Altruismus<br />

haben. Wir können daher für unsere Überlegungen davon ausgehen,<br />

daß diese Gene zumin<strong>de</strong>st in <strong>de</strong>n frühen Phasen <strong>de</strong>s<br />

Evolutionsp<strong>ro</strong>zesses selten sind. Der wichtige Punkt ist nun,<br />

daß selbst ein Gen, das in <strong>de</strong>r Population insgesamt selten vorkommt,<br />

innerhalb einer Familie allgemein verbreitet ist. Ich<br />

besitze eine Reihe von Genen, die in <strong>de</strong>r Population selten<br />

sind, und auch <strong>de</strong>r Leser hat solche Gene. Die Chance, daß wir<br />

bei<strong>de</strong> dieselben seltenen Gene besitzen, ist auße<strong>ro</strong>r<strong>de</strong>ntlich


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 150<br />

klein. Doch die Wahrscheinlichkeit, daß meine Schwester über<br />

dasselbe beson<strong>de</strong>rs seltene Gen verfügt wie ich, ist g<strong>ro</strong>ß, und<br />

mit <strong>de</strong>r gleichen Wahrscheinlichkeit hat <strong>de</strong>r Leser ein seltenes<br />

Gen mit seiner Schwester gemeinsam. Die Chancen sind in<br />

diesem Fall genau 50 P<strong>ro</strong>zent, und es läßt sich leicht erklären,<br />

warum das so ist.<br />

Nehmen wir an, ich besitze eine Kopie <strong>de</strong>s Gens G. Ich muß<br />

es entwe<strong>de</strong>r von meinem Vater o<strong>de</strong>r von meiner Mutter erhalten<br />

haben. (Der Einfachheit halber können wir verschie<strong>de</strong>ne<br />

nicht sehr häufige Möglichkeiten vernachlässigen – daß G eine<br />

neue Mutation ist, daß bei<strong>de</strong> Eltern es besaßen o<strong>de</strong>r daß je<strong>de</strong>r<br />

Elternteil zwei Kopien davon enthielt.) Nehmen wir an, es war<br />

mein Vater, <strong>de</strong>r mir das Gen vererbt hat. Dann muß je<strong>de</strong> seiner<br />

gewöhnlichen Körperzellen eine Kopie von G enthalten haben.<br />

Erinnern wir uns nun daran, daß ein Mann, <strong>wen</strong>n er eine<br />

Samenzelle erzeugt, die Hälfte seiner Gene an sie weitergibt. Es<br />

besteht daher eine 50-p<strong>ro</strong>zentige Chance, daß <strong>de</strong>r Samen, <strong>de</strong>r<br />

meine Schwester erzeugte, das Gen G bekam. Wenn ich an<strong>de</strong>rerseits<br />

G von meiner Mutter erhielt, so zeigt die genau parallele<br />

Beweisführung, daß die Hälfte ihrer Eizellen G enthalten<br />

haben muß; die Chancen, daß meine Schwester G enthält,<br />

betragen abermals 50 P<strong>ro</strong>zent. Das be<strong>de</strong>utet, <strong>wen</strong>n ich 100<br />

Brü<strong>de</strong>r und Schwestern hätte, wür<strong>de</strong> ungefähr die Hälfte von<br />

ihnen ein bestimmtes seltenes Gen tragen, das ich besitze. Es<br />

be<strong>de</strong>utet außer<strong>de</strong>m: Wenn ich 100 seltene Gene besitze, sind<br />

etwa 50 von ihnen im Körper je<strong>de</strong>s meiner Brü<strong>de</strong>r und je<strong>de</strong>r<br />

meiner Schwestern vorhan<strong>de</strong>n.<br />

Dieselbe Art von Rechnung kann man für je<strong>de</strong>n beliebigen<br />

Verwandtschaftsgrad durchführen. Eine wichtige Beziehung<br />

ist die zwischen Eltern und Kind. Wenn ich eine Kopie <strong>de</strong>s<br />

Gens H besitze, so ist die Chance, daß ein einzelnes meiner<br />

Kin<strong>de</strong>r dieses Gen trägt, 50 P<strong>ro</strong>zent, weil die Hälfte meiner<br />

Geschlechtszellen H enthält und das Kind aus einer jener<br />

Geschlechtszellen entstan<strong>de</strong>n ist. Wenn ich umgekehrt eine<br />

Kopie <strong>de</strong>s Gens J besitze, so ist die Chance, daß auch mein<br />

Vater J in sich hatte, ebenfalls 50 P<strong>ro</strong>zent, weil ich die Hälfte<br />

meiner Gene von ihm und die an<strong>de</strong>re Hälfte von meiner Mutter


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 151<br />

geerbt habe. Zur Erleichterung bedienen wir uns eines In<strong>de</strong>x<br />

für <strong>de</strong>n Verwandtschaftsgrad. Er ist ein Ausdruck für die<br />

Wahrscheinlichkeit, daß zwei Verwandte ein Gen gemeinsam<br />

haben. Der Verwandtschaftsgrad zwischen zwei Brü<strong>de</strong>rn ist<br />

1/2, weil die Hälfte <strong>de</strong>r Gene, die einer von ihnen besitzt, auch<br />

in <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren vorhan<strong>de</strong>n ist. Dabei han<strong>de</strong>lt es sich um einen<br />

Durchschnittswert: Durch <strong>de</strong>n Zufall <strong>de</strong>r meiotischen Ziehung<br />

können einzelne Brü<strong>de</strong>rpaare mehr o<strong>de</strong>r <strong>wen</strong>iger als die Hälfte<br />

ihrer Gene gemeinsam haben. Der Verwandtschaftsgrad zwischen<br />

Elternteil und Kind beträgt immer genau 1/2.<br />

Nun ist diese Art <strong>de</strong>r Berechnung ziemlich ermü<strong>de</strong>nd; im<br />

folgen<strong>de</strong>n eine nicht übermäßig genaue, aber leicht anzu<strong>wen</strong><strong>de</strong>n<strong>de</strong><br />

Regel, mit <strong>de</strong>r sich <strong>de</strong>r Verwandtschaftsgrad zwischen<br />

zwei beliebigen Individuen A und B ausrechnen läßt. Der<br />

Leser mag sie nützlich fin<strong>de</strong>n, <strong>wen</strong>n er sein Testament machen<br />

o<strong>de</strong>r augenfällige Ähnlichkeiten in seiner Familie interpretieren<br />

will. Sie gilt für alle einfachen Fälle, versagt jedoch, wie wir<br />

sehen wer<strong>de</strong>n, in Fällen von Inzest und bei bestimmten Insekten.<br />

Als erstes sind alle gemeinsamen Vorfahren von A und B festzustellen.<br />

Bei zwei Cousins o<strong>de</strong>r Cousinen ersten Gra<strong>de</strong>s beispielsweise<br />

sind das ihre gemeinsamen G<strong>ro</strong>ßeltern. Wenn A<br />

und B einen gemeinsamen Vorfahren fin<strong>de</strong>n, sind <strong>de</strong>ssen Vorfahren<br />

natürlich alle ebenfalls gemeinsame Vorfahren von<br />

A und B. Wir lassen aber alle außer <strong>de</strong>n jüngsten gemeinsamen<br />

Ahnen unberücksichtigt. In diesem Sinne haben Cousins<br />

und Cousinen ersten Gra<strong>de</strong>s nur zwei gemeinsame Vorfahren.<br />

Wenn B ein direkter Nachkomme von A ist, zum Beispiel sein<br />

Urenkel, dann ist A selbst <strong>de</strong>r „gemeinsame Ahne“, nach <strong>de</strong>m<br />

wir suchen.<br />

Nach<strong>de</strong>m wir die (o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n) gemeinsamen Vorfahren von A<br />

und B gefun<strong>de</strong>n haben, zählen wir <strong>de</strong>n Generationsabstand<br />

folgen<strong>de</strong>rmaßen. Wir beginnen bei A, verfolgen <strong>de</strong>n Stammbaum,<br />

bis wir auf einen gemeinsamen Ahnen treffen, und<br />

kehren dann wie<strong>de</strong>r bis zu B zurück. Die Gesamtzahl <strong>de</strong>r<br />

Schritte <strong>de</strong>n Baum hinauf und wie<strong>de</strong>r hinunter ist <strong>de</strong>r Generationsabstand.<br />

Wenn etwa A <strong>de</strong>r Onkel von B ist, so beträgt


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 152<br />

<strong>de</strong>r Generationsabstand 3. Der gemeinsame Vorfahre ist beispielsweise<br />

A‘s Vater und B‘s G<strong>ro</strong>ßvater. Wenn wir bei A anfangen,<br />

müssen wir eine Generation hinaufsteigen, um zu <strong>de</strong>m<br />

gemeinsamen Vorfahren zu kommen. Anschließend, um zu<br />

B zu gelangen, müssen wir auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite wie<strong>de</strong>r<br />

zwei Generationen hinuntersteigen. Der Generationsabstand<br />

ist daher 1+2 = 3.<br />

Nach<strong>de</strong>m wir über einen bestimmten gemeinsamen Ahnen<br />

<strong>de</strong>n Generationsabstand zwischen A und B gefun<strong>de</strong>n haben,<br />

berechnen wir <strong>de</strong>n Anteil an ihrem Verwandtschaftsgrad, für<br />

<strong>de</strong>n jener Ahne verantwortlich ist. Dazu multiplizieren wir p<strong>ro</strong><br />

Schritt <strong>de</strong>s Generationsabstan<strong>de</strong>s 1/2 einmal mit sich selbst.<br />

Wenn <strong>de</strong>r Generationsabstand 3 beträgt, müssen wir also 1/2<br />

x 1/2 x 1/2 o<strong>de</strong>r 1/2 3 rechnen. Beträgt <strong>de</strong>r Generationsabstand<br />

über einen speziellen Ahnen g Schritte, so ist <strong>de</strong>r auf diesen<br />

Ahnen zurückzuführen<strong>de</strong> Verwandtschaftsgrad (1/2) g .<br />

Doch dies macht nur einen Teil <strong>de</strong>s Verwandtschaftsgra<strong>de</strong>s<br />

zwischen A und B aus. Wenn sie mehr als einen gemeinsamen<br />

Vorfahren haben, müssen wir <strong>de</strong>n entsprechen<strong>de</strong>n Wert für<br />

je<strong>de</strong>n dieser Vorfahren hinzuzählen. Gewöhnlich ist <strong>de</strong>r Generationsabstand<br />

für alle gemeinsamen Vorfahren von zwei Individuen<br />

gleich. Daher braucht man, <strong>wen</strong>n man <strong>de</strong>n Verwandtschaftsgrad<br />

von A und B aufgrund irgen<strong>de</strong>ines beliebigen<br />

dieser Ahnen ausgerechnet hat, in <strong>de</strong>r Praxis nichts an<strong>de</strong>res<br />

mehr zu tun, als ihn mit <strong>de</strong>r Zahl <strong>de</strong>r Ahnen zu multiplizieren.<br />

Vettern ersten Gra<strong>de</strong>s beispielsweise haben zwei gemeinsame<br />

Vorfahren, und <strong>de</strong>r Generationsabstand über je<strong>de</strong>n von ihnen<br />

ist 4. Ihr Verwandtschaftsgrad beträgt daher 2 x (l/2) 4 = l/8.<br />

Wenn A <strong>de</strong>r Urenkel von B ist, so ist <strong>de</strong>r Generationsabstand<br />

3, und die Zahl <strong>de</strong>r gemeinsamen „Vorfahren“ ist 1 (B selbst).<br />

Der Verwandtschaftsgrad ist daher 1 x (1/2) 3 = 1/8. Genetisch<br />

gesehen entspricht mein Vetter ersten Gra<strong>de</strong>s meinem Urenkel.<br />

Und es ist ebenso wahrscheinlich, daß ich meinem Onkel<br />

„nachschlage“ (Verwandtschaftsgrad: 2 x (1/2) 3 = 1/4) wie<br />

meinem G<strong>ro</strong>ßvater (Verwandtschaftsgrad: 1 x (1/2) 2 = 1/4).<br />

Für so entfernte Verwandte wie Vettern dritten Gra<strong>de</strong>s<br />

nähert sich <strong>de</strong>r Verwandtschaftsgrad (2 x (1/2) 8 = 1/128) <strong>de</strong>r


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 153<br />

sehr geringen Wahrscheinlichkeit, daß A ein bestimmtes seiner<br />

Gene mit einem beliebigen Individuum <strong>de</strong>r Population gemeinsam<br />

hat. Soweit es ein altruistisches Gen betrifft, ist ein Vetter<br />

dritten Gra<strong>de</strong>s nicht sehr viel mehr als je<strong>de</strong>r Hinz o<strong>de</strong>r Kunz.<br />

Ein Vetter zweiten Gra<strong>de</strong>s (Verwandtschaftsgrad 1/32) ist, verglichen<br />

mit <strong>de</strong>m Rest <strong>de</strong>r Population, nur ein klein <strong>wen</strong>ig<br />

etwas Beson<strong>de</strong>res, ein Vetter ersten Gra<strong>de</strong>s etwas mehr (1/8).<br />

Leibliche Geschwister sowie Eltern und Kin<strong>de</strong>r sind für uns<br />

etwas ganz Beson<strong>de</strong>res (1/2), und eineiige Zwillinge (Verwandtschaftsgrad<br />

1) sind genauso beson<strong>de</strong>rs wie man selbst. Onkel,<br />

Tanten, Neffen und Nichten, G<strong>ro</strong>ßeltern und Enkel sowie Halbgeschwister<br />

liegen mit einem Verwandtschaftsgrad von 1 /4<br />

dazwischen.<br />

Jetzt sind wir in <strong>de</strong>r Lage, sehr viel präziser über Gene<br />

für Familienaltruismus zu sprechen. Ein Gen für das selbstmör<strong>de</strong>rische<br />

Retten von fünf Vettern wür<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r Population<br />

nicht zahlreicher wer<strong>de</strong>n, aber ein Gen zum Retten von fünf<br />

Brü<strong>de</strong>rn o<strong>de</strong>r zehn Vettern wür<strong>de</strong> dies sehr wohl. Damit<br />

ein selbstmör<strong>de</strong>risch altruistisches Gen erfolgreich ist, muß<br />

es mehr als zwei Geschwister (beziehungsweise Kin<strong>de</strong>r o<strong>de</strong>r<br />

Eltern) o<strong>de</strong>r mehr als vier Halbgeschwister (beziehungsweise<br />

Onkel, Tanten, Neffen, Nichten, G<strong>ro</strong>ßeltern, Enkel) o<strong>de</strong>r mehr<br />

als acht Vettern ersten Gra<strong>de</strong>s retten und so weiter. Ein <strong>de</strong>rartiges<br />

Gen lebt im Durchschnitt in <strong>de</strong>n Körpern von so vielen<br />

geretteten Individuen weiter, daß <strong>de</strong>r Tod <strong>de</strong>s Altruisten ausgeglichen<br />

wird.<br />

Wenn ein Individuum sicher sein könnte, daß ein bestimmtes<br />

an<strong>de</strong>res Individuum sein eineiiger Zwilling ist, so sollte<br />

es um <strong>de</strong>ssen Wohlergehen genauso besorgt sein wie um sein<br />

eigenes. Je<strong>de</strong>s Gen für Zwillingsaltruismus muß zwangsläufig<br />

in bei<strong>de</strong>n Zwillingen vorhan<strong>de</strong>n sein; <strong>wen</strong>n daher einer einen<br />

hel<strong>de</strong>nhaften Tod stirbt, um <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren zu retten, so lebt das<br />

Gen weiter. Neunbin<strong>de</strong>ngürteltiere wer<strong>de</strong>n in einem Wurf von<br />

eineiigen Vierlingen geboren. Soweit mir bekannt ist, liegen<br />

keine Berichte über he<strong>ro</strong>ische Selbstaufopferungstaten unter<br />

jungen Gürteltieren vor, doch ist darauf aufmerksam gemacht<br />

wor<strong>de</strong>n, daß mit Sicherheit eine starke Selbstlosigkeit unter


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 154<br />

ihnen zu erwarten ist, und es wür<strong>de</strong> sich lohnen, <strong>wen</strong>n jemand<br />

nach Südamerika führe, um das nachzuprüfen. 3<br />

Wir können nunmehr erkennen, daß die elterliche Fürsorge<br />

lediglich ein Son<strong>de</strong>rfall von Familienaltruismus ist. Genetisch<br />

gesp<strong>ro</strong>chen sollte ein Erwachsener seinem verwaisten kleinen<br />

Bru<strong>de</strong>r ebensoviel Pflege und Aufmerksamkeit entgegenbringen<br />

wie einem seiner eigenen Kin<strong>de</strong>r. Sein Verwandtschaftsgrad<br />

mit bei<strong>de</strong>n Kleinkin<strong>de</strong>rn ist genau i<strong>de</strong>ntisch, nämlich 1/2.<br />

Im Sinne <strong>de</strong>r Genselektion müßte ein Gen für altruistisches<br />

Verhalten <strong>de</strong>r g<strong>ro</strong>ßen Schwester eine ebenso gute Chance<br />

haben, sich in <strong>de</strong>r Population auszubreiten, wie ein Gen für<br />

Altruismus seitens <strong>de</strong>r Eltern. In <strong>de</strong>r Praxis ist dies aus mehreren<br />

Grün<strong>de</strong>n, auf die wir später noch zu sprechen kommen<br />

wer<strong>de</strong>n, eine allzu g<strong>ro</strong>ße Vereinfachung, und die brü<strong>de</strong>rliche<br />

und schwesterliche Fürsorge ist in <strong>de</strong>r Natur bei weitem nicht<br />

so verbreitet wie die elterliche. Worauf ich hier hinauswill,<br />

ist jedoch, daß genetisch gesehen an <strong>de</strong>r Eltern-Kind-Beziehung,<br />

verglichen mit <strong>de</strong>r Bru<strong>de</strong>r-Schwester-Beziehung, nichts<br />

Beson<strong>de</strong>res ist. Die Tatsache, daß Eltern Gene an Kin<strong>de</strong>r vererben,<br />

aber Schwestern untereinan<strong>de</strong>r keine Gene austauschen,<br />

ist nicht relevant, da bei<strong>de</strong> Schwestern i<strong>de</strong>ntische Kopien <strong>de</strong>rselben<br />

Gene von <strong>de</strong>nselben Eltern erhalten.<br />

Einige Leute benutzen <strong>de</strong>n Ausdruck Familienselektion<br />

o<strong>de</strong>r Verwandtschaftsselektion, um diese Art <strong>de</strong>r natürlichen<br />

Auslese von <strong>de</strong>r Gruppenselektion (<strong>de</strong>r unterschiedlichen<br />

Überlebensrate in verschie<strong>de</strong>nen Gruppen) und <strong>de</strong>r Individualselektion<br />

(<strong>de</strong>r unterschiedlichen Überlebensdauer von Individuen)<br />

zu unterschei<strong>de</strong>n. Die Familienselektion erklärt <strong>de</strong>n<br />

innerfamiliären Altruismus; je näher die Verwandtschaft, <strong>de</strong>sto<br />

stärker die Auslese. Es ist nichts gegen <strong>de</strong>n Ausdruck einzu<strong>wen</strong><strong>de</strong>n;<br />

doch bedauerlicherweise wird man ihn vielleicht aufgeben<br />

müssen, da er kürzlich g<strong>ro</strong>b mißbraucht wur<strong>de</strong>, was in<br />

<strong>de</strong>n kommen<strong>de</strong>n Jahren vermutlich Unklarheit und Verwirrung<br />

unter <strong>de</strong>n Biologen stiften wird. E. O. Wilson <strong>de</strong>finiert in<br />

seinem ansonsten bewun<strong>de</strong>rnswerten Buch Sociobiology: The<br />

New Synthesis die Familienselektion als einen Son<strong>de</strong>rfall <strong>de</strong>r<br />

Gruppenselektion. Er stellt ein Diagramm auf, aus <strong>de</strong>m <strong>de</strong>ut-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 155<br />

lich hervorgeht, daß er sie zwischen <strong>de</strong>r „Individualselektion“<br />

und <strong>de</strong>r „Gruppenselektion“ im konventionellen Sinne – in<br />

<strong>de</strong>m Sinne also, wie ich <strong>de</strong>n Begriff in Kapitel 1 benutzt habe<br />

– ansie<strong>de</strong>lt. Nun be<strong>de</strong>utet Gruppenselektion – sogar nach Wilsons<br />

eigener Definition – die unterschiedliche Überlebensrate<br />

in Gruppen von Individuen. Zugegeben, in einem gewissen<br />

Sinne kann man sagen, daß eine Familie eine beson<strong>de</strong>re<br />

Art von Gruppe ist. Doch <strong>de</strong>r Kern von Hamiltons Argumentation<br />

ist gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>r, daß die Trennung zwischen Familie<br />

und Nicht-Familie nicht ein<strong>de</strong>utig ist, son<strong>de</strong>rn eine Frage<br />

<strong>de</strong>r mathematischen Wahrscheinlichkeit. Hamiltons Theorie<br />

besagt nicht, daß Tiere sich allen „Familienangehörigen“<br />

gegenüber uneigennützig verhalten und allen an<strong>de</strong>ren Individuen<br />

gegenüber eigennützig. Zwischen Familie und Nicht-<br />

Familie lassen sich keine genauen Grenzen ziehen. Wir brauchen<br />

nicht zu entschei<strong>de</strong>n, ob beispielsweise Vettern zweiten<br />

Gra<strong>de</strong>s als zur Familie gehörig angesehen wer<strong>de</strong>n sollen o<strong>de</strong>r<br />

nicht: Wir erwarten einfach, daß die Wahrscheinlichkeit, Altruismus<br />

zu erfahren, für Vettern zweiten Gra<strong>de</strong>s 1/16 so g<strong>ro</strong>ß ist<br />

wie für Kin<strong>de</strong>r o<strong>de</strong>r Geschwister. Familienselektion ist ganz<br />

entschie<strong>de</strong>n kein Spezialfall <strong>de</strong>r Gruppenselektion. 4 Sie ist eine<br />

beson<strong>de</strong>re Folge <strong>de</strong>r Genselektion.<br />

Wilsons Definition <strong>de</strong>r Familienselektion hat einen sogar<br />

noch schwerwiegen<strong>de</strong>ren Mangel. Sie schließt bewußt die<br />

Nachkommen aus: Diese zählen nicht als Verwandte! 5 Nun<br />

weiß Wilson natürlich sehr genau, daß Kin<strong>de</strong>r mit ihren Eltern<br />

verwandt sind, aber er zieht es vor, die Theorie <strong>de</strong>r Familienselektion<br />

nicht zur Erklärung <strong>de</strong>r selbstlosen Sorge von Eltern<br />

für ihre Kin<strong>de</strong>r heranzuziehen. Selbstverständlich hat er das<br />

Recht, ein Wort zu <strong>de</strong>finieren, wie immer es ihm gefällt, aber<br />

dies ist eine höchst verwirren<strong>de</strong> Definition, und ich hoffe, daß<br />

er sie in späteren Auflagen seines zu Recht einflußreichen<br />

Buches än<strong>de</strong>rn wird. Genetisch gesehen entwickeln sich Brutpflege<br />

und Bru<strong>de</strong>r-Schwester-Altruismus aus genau <strong>de</strong>mselben<br />

Grund: In bei<strong>de</strong>n Fällen besteht eine g<strong>ro</strong>ße Wahrscheinlichkeit,<br />

daß das altruistische Gen im Körper <strong>de</strong>s Nutznießers<br />

vorhan<strong>de</strong>n ist.


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 156<br />

Ich bitte <strong>de</strong>n Leser um Nachsicht dafür, daß ich hier<br />

ein <strong>wen</strong>ig ausfällig gewor<strong>de</strong>n bin, und beeile mich, zu unserem<br />

Hauptthema zurückzukehren. Bisher habe ich etwas<br />

zu stark vereinfacht, und es ist nun an <strong>de</strong>r <strong>Zeit</strong>, einige<br />

Einschränkungen vorzunehmen. Ich habe mit einfachen Worten<br />

von selbstmör<strong>de</strong>rischen Genen für die Lebensrettung einer<br />

bestimmten Anzahl von Verwandten mit genau bekanntem Verwandtschaftsgrad<br />

gesp<strong>ro</strong>chen. Natürlich kann man im wirklichen<br />

Leben nicht erwarten, daß Tiere zählen, wie viele Verwandte<br />

sie gera<strong>de</strong> retten, und ebenso<strong>wen</strong>ig kann man erwarten,<br />

daß sie im Kopf Hamiltons Rechnungen durchführen,<br />

selbst <strong>wen</strong>n sie genau feststellen könnten, wer ihre Geschwister<br />

und Vettern sind. In <strong>de</strong>r Realität müssen sicherer Selbstmord<br />

und „absolutes“ Retten von Leben durch die statistischen<br />

Sterberisiken <strong>de</strong>s Altruisten und <strong>de</strong>r zu retten<strong>de</strong>n Individuen<br />

ersetzt wer<strong>de</strong>n. Selbst bei einem Vetter dritten Gra<strong>de</strong>s mag es<br />

sich lohnen, ihn zu retten, <strong>wen</strong>n das Risiko für mich gering<br />

ist. An<strong>de</strong>rerseits wer<strong>de</strong>n sowohl ich als auch <strong>de</strong>r Verwandte,<br />

<strong>de</strong>n zu retten ich vorhabe, eines Tages sowieso sterben. Je<strong>de</strong>s<br />

Individuum besitzt eine „Lebenserwartung“, die ein Versicherungsstatistiker<br />

mit einer gewissen Irrtumswahrscheinlichkeit<br />

berechnen könnte. Wenn man das Leben eines Verwandten<br />

rettet, <strong>de</strong>r aus Altersgrün<strong>de</strong>n sowieso bald sterben wird, so hat<br />

dies <strong>wen</strong>iger Einfluß auf <strong>de</strong>n zukünftigen Genpool, als <strong>wen</strong>n<br />

man einen ebenso nahen Verwandten rettet, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n größten<br />

Teil seines Lebens noch vor sich hat.<br />

Wir müssen unsere sauberen symmetrischen Berechnungen<br />

<strong>de</strong>s Verwandtschaftsgra<strong>de</strong>s durch verwirren<strong>de</strong> versicherungskalkulatorische<br />

Gewichtungen modifizieren. G<strong>ro</strong>ßeltern<br />

und Enkel haben genetisch gesehen <strong>de</strong>n gleichen Grund, sich<br />

selbstlos zueinan<strong>de</strong>r zu verhalten, da sie 1 /4 ihrer Gene teilen.<br />

Wenn aber die Enkel die größere Lebenserwartung haben, so<br />

verfügen Gene für Selbstlosigkeit von G<strong>ro</strong>ßeltern zu Enkeln<br />

über einen höheren Selektionsvorteil als Gene für Altruismus<br />

von Enkeln gegenüber G<strong>ro</strong>ßeltern. Es ist sehr gut möglich, daß<br />

<strong>de</strong>r Nettonutzen <strong>de</strong>r Hilfe, die man einem jüngeren entfernten<br />

Verwandten gewährt, größer ist als <strong>de</strong>r Nettonutzen <strong>de</strong>r Hil-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 157<br />

feleistung gegenüber einem alten nahen Verwandten. (Nebenbei<br />

gesagt haben G<strong>ro</strong>ßeltern natürlich nicht zwangsläufig eine<br />

kürzere Lebenserwartung als Enkelkin<strong>de</strong>r. In Arten mit einer<br />

hohen Kin<strong>de</strong>rsterblichkeit gilt vielleicht das Gegenteil.)<br />

Um im Bild <strong>de</strong>r Versicherungsstatistik zu bleiben, können<br />

wir uns vorstellen, daß die Individuen eine Lebensversicherung<br />

abschließen. Man kann erwarten, daß ein Individuum<br />

einen bestimmten Anteil seines Vermögens in das Leben<br />

eines an<strong>de</strong>ren Individuums investiert o<strong>de</strong>r für es riskiert. Es<br />

berücksichtigt in seiner Berechnung seinen Verwandtschaftsgrad<br />

zu <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren Individuum sowie die Frage, ob dieses<br />

hinsichtlich <strong>de</strong>r Lebenserwartung im Vergleich zu ihm selbst<br />

ein „gutes Risiko“ ist. Um genau zu sein, sollten wir von<br />

„Rep<strong>ro</strong>duktionserwartung“ sprechen o<strong>de</strong>r, <strong>wen</strong>n wir noch<br />

genauer sein wollen, von <strong>de</strong>r „generellen Erwartung, <strong>de</strong>n<br />

eigenen Genen in Zukunft nützen zu können“. Damit sich<br />

uneigennütziges Verhalten entwickelt, muß das Nettorisiko<br />

für <strong>de</strong>n Altruisten geringer sein als <strong>de</strong>r Nettogewinn für <strong>de</strong>n<br />

Empfänger, multipliziert mit <strong>de</strong>m Verwandtschaftsgrad. Risiken<br />

und Vorteile müssen auf die komplizierte versicherungskalkulatorische<br />

Weise berechnet wer<strong>de</strong>n, die ich kurz umrissen<br />

habe.<br />

Aber was für eine komplizierte Rechnung, die da von einer<br />

armen Überlebensmaschine verlangt wird, vor allem, <strong>wen</strong>n<br />

es schnell gehen muß! 6 Selbst <strong>de</strong>r g<strong>ro</strong>ße mathematisch arbeiten<strong>de</strong><br />

Biologe J.B.S. Haidane bemerkte (in einem Aufsatz aus<br />

<strong>de</strong>m Jahre 1955, in <strong>de</strong>m er Hamilton vorwegnahm und die Verbreitung<br />

eines Gens für die Rettung naher Verwandter vor <strong>de</strong>m<br />

Ertrinken postulierte): „ ... bei<strong>de</strong> Male, als ich möglicherweise<br />

ertrinken<strong>de</strong> Personen (mit einem verschwin<strong>de</strong>nd geringen<br />

Risiko für mich selbst) aus <strong>de</strong>m Wasser zog, hatte ich keine<br />

<strong>Zeit</strong> für solche Berechnungen.“ Zum Glück ist es jedoch,<br />

wie Haidane sehr wohl wußte, nicht nötig anzunehmen, daß<br />

Überlebensmaschinen diese Dinge bewußt im Kopf durchrechnen.<br />

So wie wir uns vielleicht eines Rechenschiebers bedienen,<br />

ohne uns <strong>de</strong>ssen bewußt zu sein, daß wir tatsächlich Logarithmen<br />

benutzen, kann ein Tier vorp<strong>ro</strong>grammiert sein, sich so


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 158<br />

zu benehmen, als ob es eine komplizierte Rechnung angestellt<br />

hätte.<br />

Sich dies vorzustellen ist nicht so schwer, wie es scheint.<br />

Wenn ein Mensch einen Ball hoch in die Luft wirft und wie<strong>de</strong>r<br />

auffängt, verhält er sich so, als hätte er eine Reihe von Differentialgleichungen<br />

gelöst, um die Flugbahn <strong>de</strong>s Balles vorauszusagen.<br />

Er mag gar nicht wissen o<strong>de</strong>r sich dafür interessieren,<br />

was eine Differentialgleichung ist, aber das beeinträchtigt<br />

seine Geschicklichkeit beim Ballspiel nicht im geringsten. Auf<br />

einer unbewußten Ebene geschieht etwas, das funktionell <strong>de</strong>n<br />

mathematischen Berechnungen entspricht. In ähnlicher Weise<br />

tut ein Mensch, <strong>de</strong>r eine Entscheidung trifft, nach<strong>de</strong>m er das<br />

Für und Wi<strong>de</strong>r und alle <strong>de</strong>nkbaren Konsequenzen dieser Entscheidung<br />

gegeneinan<strong>de</strong>r abgewogen hat, etwas, das funktionell<br />

einer umfangreichen „gewichteten Summenkalkulation“<br />

entspricht, wie sie vielleicht ein Computer durchführen<br />

wür<strong>de</strong>.<br />

Wenn wir einen Computer so zu p<strong>ro</strong>grammieren hätten,<br />

daß er ein Mo<strong>de</strong>ll einer Überlebensmaschine simuliert, die<br />

Entscheidungen darüber trifft, ob sie sich altruistisch verhalten<br />

soll o<strong>de</strong>r nicht, wür<strong>de</strong>n wir wahrscheinlich ungefähr<br />

folgen<strong>de</strong>rmaßen vorgehen. Wir wür<strong>de</strong>n eine Liste all <strong>de</strong>r alternativen<br />

Dinge, die das Tier tun könnte, aufstellen. Dann<br />

wür<strong>de</strong>n wir für je<strong>de</strong>s dieser alternativen Verhaltensmuster<br />

eine gewichtete Summenkalkulation p<strong>ro</strong>grammieren. Alle Vorteile<br />

bekommen ein Pluszeichen, alle Risiken ein Minuszeichen;<br />

sowohl Vorteile als auch Risiken wer<strong>de</strong>n vor <strong>de</strong>m Addieren<br />

gewichtet, in<strong>de</strong>m sie mit <strong>de</strong>m entsprechen<strong>de</strong>n In<strong>de</strong>x <strong>de</strong>s<br />

Verwandtschaftsgra<strong>de</strong>s multipliziert wer<strong>de</strong>n. Der Einfachheit<br />

halber können wir zunächst an<strong>de</strong>re Gewichtungen, beispielsweise<br />

für Alter und Gesundheit, vernachlässigen. Da <strong>de</strong>r „Verwandtschaftsgrad“<br />

eines Individuums mit sich selbst 1 ist (weil<br />

es – selbstverständlich – 100 P<strong>ro</strong>zent seiner eigenen Gene<br />

besitzt), wer<strong>de</strong>n Risiken und Vorteile für es selbst überhaupt<br />

nicht im Wert herabgesetzt, son<strong>de</strong>rn erhalten in <strong>de</strong>r Rechnung<br />

ihr volles Gewicht. Die Gesamtsumme für je<strong>de</strong>s <strong>de</strong>r alternativen<br />

Verhaltensmuster sieht folgen<strong>de</strong>rmaßen aus: Nettonut-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 159<br />

zen <strong>de</strong>s Verhaltensmusters = eigener Vorteil – eigenes Risiko<br />

+1/2 Vorteil für Bru<strong>de</strong>r -1/2 Risiko für Bru<strong>de</strong>r +1/2 Vorteil für<br />

an<strong>de</strong>ren Bru<strong>de</strong>r -1/2 Risiko für an<strong>de</strong>ren Bru<strong>de</strong>r +1/8 Vorteil für<br />

Vetter ersten Gra<strong>de</strong>s -1/8 Risiko für Vetter ersten Gra<strong>de</strong>s +1/2<br />

Vorteil für Kind -1/2 Risiko für Kind und so weiter.<br />

Das Ergebnis <strong>de</strong>r Addition ist eine Zahl, die als Nettovorteil<br />

bezeichnet wird. Sodann berechnet das Computermo<strong>de</strong>ll unseres<br />

Tieres die entsprechen<strong>de</strong> Summe für je<strong>de</strong>s alternative Verhaltensmuster<br />

seines Repertoires. Am En<strong>de</strong> beschließt es, dasjenige<br />

Verhaltensmuster zu realisieren, das <strong>de</strong>n größten Nettovorteil<br />

aufweist. Selbst <strong>wen</strong>n alle Berechnungen negativ ausfallen,<br />

sollte es immer noch die Handlung mit <strong>de</strong>r höchsten<br />

Punktzahl, also das kleinste Übel, auswählen. Be<strong>de</strong>nken wir,<br />

daß je<strong>de</strong> wirklich ausgeführte Handlung <strong>de</strong>n Verbrauch von<br />

Energie und <strong>Zeit</strong> be<strong>de</strong>utet, die bei<strong>de</strong> auf an<strong>de</strong>re Dinge hätten<br />

ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n können. Wenn sich herausstellt, daß Nichtstun<br />

das „Verhalten“ mit <strong>de</strong>m höchsten Nettonutzen ist, wird<br />

das Tiermo<strong>de</strong>ll nichts tun.<br />

Hier nun ein sehr stark vereinfachtes Beispiel, diesmal in<br />

Form eines Selbstgesprächs ausgedrückt statt in Form einer<br />

Computersimulation. Ich bin ein Tier, das eine Stelle mit acht<br />

Pilzen gefun<strong>de</strong>n hat. Nach<strong>de</strong>m ich ihren Nährwert zur Kenntnis<br />

genommen und etwas für das geringe Risiko abgezogen<br />

habe, daß sie giftig sein können, wür<strong>de</strong> ich sagen, daß je<strong>de</strong>r von<br />

ihnen +6 Einheiten wert ist (die Einheiten sind willkürliche<br />

Prämien wie im vorigen Kapitel). Die Pilze sind so g<strong>ro</strong>ß, daß<br />

ich nur drei von ihnen essen könnte. Soll ich jemand an<strong>de</strong>rem<br />

meinen Fund mitteilen, in<strong>de</strong>m ich einen „Futterruf“ ausstoße?<br />

Wer ist in Hörweite? Mein Bru<strong>de</strong>r B (sein Verwandtschaftsgrad<br />

zu mir beträgt 1/2), mein Vetter C (Verwandtschaftsgrad<br />

1/8) und D (keine beson<strong>de</strong>re Beziehung: Sein Verwandtschaftsgrad<br />

zu mir ist eine <strong>de</strong>rart kleine Zahl, daß sie für praktische<br />

Zwecke als gleich null behan<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n kann). Der Nettovorteil<br />

für mich, <strong>wen</strong>n ich meinen Fund verschweige, ist +6 für<br />

je<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r drei Pilze, die ich esse, das heißt insgesamt +18. Mein<br />

Nettovorteil, <strong>wen</strong>n ich <strong>de</strong>n Futterruf ausstoße, verlangt etwas<br />

Rechenarbeit. Die acht Pilze wer<strong>de</strong>n zu gleichen Teilen unter


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 160<br />

uns vieren aufgeteilt. Die Prämie für mich aus <strong>de</strong>n zweien, die<br />

ich selbst esse, beträgt +6 Einheiten p<strong>ro</strong> Pilz, das heißt insgesamt<br />

+ 12. Doch wegen unserer gemeinsamen Gene bekomme<br />

ich auch eine Prämie, <strong>wen</strong>n mein Bru<strong>de</strong>r und mein Vetter<br />

je<strong>de</strong>r ihre zwei Pilze essen. Die tatsächliche Punktzahl beläuft<br />

sich auf (1 x 12) + (1/2 x 12)+ (1/8 x 12) + (0 x 12) = +19½.<br />

Der entsprechen<strong>de</strong> Nettovorteil für das egoistische Verhalten<br />

war +18. Die Differenz ist gering, aber nichts<strong>de</strong>sto<strong>wen</strong>iger ist<br />

das Urteil ein<strong>de</strong>utig: Ich sollte <strong>de</strong>n Futterruf ausstoßen; mein<br />

Altruismus wür<strong>de</strong> in diesem Fall meinen egoistischen Genen<br />

zugute kommen.<br />

Ich habe vereinfachend angenommen, daß das einzelne Tier<br />

sich ausrechnet, was für seine Gene am besten ist. In Wirklichkeit<br />

füllt sich <strong>de</strong>r Genpool mit Genen, welche die Körper veranlassen,<br />

sich so zu verhalten, als hätten sie <strong>de</strong>rartige Rechnungen<br />

angestellt.<br />

In je<strong>de</strong>m Fall ist die obige Berechnung nur eine sehr<br />

vorläufige erste Annäherung an das, was sie im I<strong>de</strong>alfall sein<br />

sollte. Sie läßt viele Dinge unberücksichtigt, einschließlich <strong>de</strong>s<br />

Alters <strong>de</strong>r bet<strong>ro</strong>ffenen Individuen. Außer<strong>de</strong>m ist, <strong>wen</strong>n ich<br />

gera<strong>de</strong> eine gute Mahlzeit verzehrt habe und nur noch einen<br />

Pilz fressen kann, <strong>de</strong>r Nettonutzen <strong>de</strong>s Futterrufes größer,<br />

als <strong>wen</strong>n ich ausgehungert bin. In <strong>de</strong>r vollkommensten aller<br />

möglichen Welten ließe sich die Berechnung ad infinitum verfeinern.<br />

Aber das reale Leben wird nicht in <strong>de</strong>r vollkommensten<br />

aller möglichen Welten gelebt. Wir können nicht erwarten, daß<br />

Tiere in <strong>de</strong>r Realität je<strong>de</strong> kleinste Einzelheit berücksichtigen,<br />

um zu einer optimalen Entscheidung zu gelangen. Wir wer<strong>de</strong>n<br />

mit Hilfe von Beobachtungen und Freilan<strong>de</strong>xperimenten herausfin<strong>de</strong>n<br />

müssen, wie nahe die echten Tiere einer i<strong>de</strong>alen<br />

Kosten-Nutzen-Analyse kommen.<br />

Um sicherzugehen, daß wir uns nicht zu sehr von subjektiven<br />

Beispielen haben mitreißen lassen, sollten wir kurz auf die<br />

Ebene <strong>de</strong>s Gens zurückkehren. Leben<strong>de</strong> Körper sind Maschinen,<br />

die von überleben<strong>de</strong>n Genen p<strong>ro</strong>grammiert wor<strong>de</strong>n sind.<br />

Diese Gene haben unter Bedingungen überlebt, die im Durchschnitt<br />

für die Umwelt <strong>de</strong>r Spezies in <strong>de</strong>r Vergangenheit kenn-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 161<br />

zeichnend waren. Die „Schätzungen“ von Kosten und Nutzen<br />

beruhen daher auf vorangegangenen „Erfahrungen“, genau<br />

wie bei menschlichen Entscheidungen. Erfahrung in diesem<br />

Fall hat jedoch die beson<strong>de</strong>re Be<strong>de</strong>utung von Generfahrung<br />

o<strong>de</strong>r, genauer, von <strong>de</strong>n früheren Bedingungen, unter <strong>de</strong>nen die<br />

Gene überlebt haben. (Da die Gene die Überlebensmaschine<br />

auch mit <strong>de</strong>r Fähigkeit zu lernen ausstatten, könnte man sagen,<br />

daß einige <strong>de</strong>r Schätzungen über Kosten und Nutzen auch<br />

auf <strong>de</strong>r Grundlage individueller Erfahrung get<strong>ro</strong>ffen wer<strong>de</strong>n.)<br />

Solange die Bedingungen sich nicht allzu drastisch än<strong>de</strong>rn,<br />

wer<strong>de</strong>n die Schätzungen gut sein und die Überlebensmaschinen<br />

im Durchschnitt die richtigen Entscheidungen treffen. Wenn<br />

die Bedingungen sich grundlegend än<strong>de</strong>rn, wer<strong>de</strong>n die<br />

Überlebensmaschinen dazu tendieren, falsche Entscheidungen<br />

zu treffen, und ihre Gene wer<strong>de</strong>n dafür bezahlen müssen.<br />

Gera<strong>de</strong>so sind menschliche Entscheidungen, die auf überholter<br />

Information beruhen, gewöhnlich falsch.<br />

Auch die Einschätzung <strong>de</strong>s Verwandtschaftsgra<strong>de</strong>s unterliegt<br />

Irrtümern und Unwägbarkeiten. Bei unseren zu stark vereinfachten<br />

Berechnungen haben wir bisher so getan, als ob die<br />

Überlebensmaschinen wüßten, wer mit ihnen verwandt ist und<br />

wie nah. Im wirklichen Leben ist solche Gewißheit gelegentlich<br />

möglich, häufiger aber läßt sich <strong>de</strong>r Verwandtschaftsgrad<br />

nur als Durchschnittswert schätzen. Nehmen wir zum Beispiel<br />

an, A und B könnten ebensogut Halbgeschwister wie leibliche<br />

Geschwister sein. Ihr Verwandtschaftsgrad beträgt entwe<strong>de</strong>r<br />

1/4 o<strong>de</strong>r 1/2; weil wir aber nicht wissen, ob sie Halbgeschwister<br />

o<strong>de</strong>r leibliche Geschwister sind, ist die tatsächlich an<strong>wen</strong>dbare<br />

Zahl <strong>de</strong>r Durchschnittswert 3/8. Wenn sie mit Sicherheit dieselbe<br />

Mutter haben, die Wahrscheinlichkeit, daß sie <strong>de</strong>nselben<br />

Vater haben, aber nur eins zu zehn beträgt, dann ist es zu 90<br />

P<strong>ro</strong>zent sicher, daß sie Halbgeschwister sind, und zu zehn P<strong>ro</strong>zent<br />

sicher, daß sie leibliche Geschwister sind, und <strong>de</strong>r effektive<br />

Verwandtschaftsgrad ist 1/10 x 1/2+9/10 x 1/4=0,275.<br />

Doch <strong>wen</strong>n wir sagen, „es“ ist zu 90 P<strong>ro</strong>zent sicher, auf welches<br />

„es“ beziehen wir uns dann? Meinen wir, daß ein Zoologe<br />

nach einer langen Feldstudie zu 90 P<strong>ro</strong>zent sicher ist, o<strong>de</strong>r


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 162<br />

meinen wir, daß die Tiere zu 90 P<strong>ro</strong>zent sicher sind? Mit ein<br />

<strong>wen</strong>ig Glück können bei<strong>de</strong> Möglichkeiten auf fast dasselbe hinauslaufen.<br />

Um das zu erkennen, müssen wir überlegen, wie<br />

die Tiere es tatsächlich bewerkstelligen könnten abzuschätzen,<br />

welches ihre nahen Verwandten sind. 7<br />

Wir wissen, wer unsere Verwandten sind, weil man es<br />

uns sagt, weil wir ihnen Namen geben, weil wir formale<br />

Eheschließungen haben und weil wir schriftliche Unterlagen<br />

und ein gutes Gedächtnis besitzen. Viele Sozialanth<strong>ro</strong>pologen<br />

beschäftigen sich mit <strong>de</strong>r „Verwandtschaft“ in <strong>de</strong>n Gesellschaften,<br />

die sie untersuchen. Sie meinen keine wirkliche genetische<br />

Verwandtschaft, son<strong>de</strong>rn subjektive und kulturelle Vorstellungen<br />

von Verwandtschaft. Die menschlichen Bräuche<br />

und Stammesrituale messen <strong>de</strong>r Verwandtschaft gewöhnlich<br />

g<strong>ro</strong>ßes Gewicht bei, die Ahnenverehrung ist weit verbreitet,<br />

Verpflichtungen und Loyalität gegenüber <strong>de</strong>r Familie beherrschen<br />

einen G<strong>ro</strong>ßteil <strong>de</strong>s Lebens. Blutrache und Stammesfeh<strong>de</strong>n<br />

sind im Sinne <strong>de</strong>r Hamiltonschen genetischen Theorie<br />

leicht zu erklären. Inzesttabus zeugen von <strong>de</strong>m starken<br />

Verwandtschaftsbewußtsein <strong>de</strong>s Menschen, obwohl <strong>de</strong>r genetische<br />

Vorteil eines Inzesttabus nichts mit Altruismus zu tun hat;<br />

er hängt wahrscheinlich mit <strong>de</strong>n schädlichen Einflüssen rezessiver<br />

Gene zusammen, die bei Inzucht auftreten. (Aus irgen<strong>de</strong>inem<br />

Grun<strong>de</strong> mögen viele Anth<strong>ro</strong>pologen diese Erklärung<br />

nicht.) 8<br />

Woher könnten freileben<strong>de</strong> Tiere „wissen“, wer ihre Verwandten<br />

sind, mit an<strong>de</strong>ren Worten: Welche Verhaltensregeln<br />

könnten sie befolgen, um <strong>de</strong>n Eindruck zu erwecken, sie seien<br />

über die Verwandtschaftsverhältnisse im Bil<strong>de</strong>? Die Regel „Sei<br />

nett zu <strong>de</strong>inen Verwandten“ setzt die Frage voraus, wie Verwandte<br />

in <strong>de</strong>r Praxis zu erkennen sind. Die Tiere müssen<br />

von ihren Genen eine einfache Richtschnur zum Han<strong>de</strong>ln<br />

bekommen, eine Richtschnur, die keine allwissen<strong>de</strong> Erkenntnis<br />

<strong>de</strong>r eigentlichen Ziele dieses Han<strong>de</strong>lns erfor<strong>de</strong>rt, son<strong>de</strong>rn<br />

eine Regel, die <strong>de</strong>ssenungeachtet funktioniert, zumin<strong>de</strong>st<br />

unter durchschnittlichen Bedingungen. Wir Menschen sind<br />

mit Regeln vertraut, und sie haben so viel Macht über uns, daß


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 163<br />

wir – <strong>wen</strong>n wir engstirnig sind – einer Regel als solcher gehorchen,<br />

selbst <strong>wen</strong>n wir sehr wohl erkennen können, daß dies<br />

we<strong>de</strong>r für uns noch für irgend<strong>wen</strong> sonst gut ist. Beispielsweise<br />

wür<strong>de</strong>n viele orthodoxe Ju<strong>de</strong>n und Moslems eher sterben als<br />

gegen das Verbot, Schweinefleisch zu essen, zu verstoßen.<br />

Welche einfachen praktischen Regeln könnten Tiere befolgen<br />

– Regeln, die unter normalen Bedingungen die indirekte Wirkung<br />

hätten, ihren nahen Verwandten zu nutzen?<br />

Wenn Tiere eine Neigung zeigten, sich gegenüber Individuen,<br />

die ihnen äußerlich ähnlich sind, selbstlos zu verhalten,<br />

so könnten sie indirekt ihren Verwandten etwas Gutes tun.<br />

Dabei hinge vieles von <strong>de</strong>n Eigenheiten <strong>de</strong>r jeweiligen Art ab.<br />

Eine <strong>de</strong>rartige Regel wür<strong>de</strong> in je<strong>de</strong>m Fall nur im statistischen<br />

Sinne zu „richtigen“ Entscheidungen führen. Wenn die Bedingungen<br />

sich än<strong>de</strong>rten, <strong>wen</strong>n beispielsweise eine Art in viel<br />

größeren Gruppen zu leben begänne, könnte die Einhaltung<br />

<strong>de</strong>r Regel ein Fehler sein. Vermutlich lassen sich Rassenvorurteile<br />

als eine irrationale Verallgemeinerung einer Ten<strong>de</strong>nz <strong>de</strong>r<br />

Familienselektion interpretieren, die dahingeht, sich mit physisch<br />

ähnlichen Individuen zu i<strong>de</strong>ntifizieren und an<strong>de</strong>rs aussehen<strong>de</strong>n<br />

Individuen gegenüber feindselig zu verhalten.<br />

Bei einer Art, <strong>de</strong>ren Angehörige relativ seßhaft sind o<strong>de</strong>r<br />

sich in kleinen Gruppen bewegen, dürfte die Wahrscheinlichkeit<br />

g<strong>ro</strong>ß sein, daß je<strong>de</strong>s Individuum, <strong>de</strong>m man zufällig über<br />

<strong>de</strong>n Weg läuft, ein ziemlich naher Verwandter ist. In diesem<br />

Fall könnte die Regel „Sei nett zu je<strong>de</strong>m Artgenossen, <strong>de</strong>n du<br />

triffst“ einen positiven Überlebenswert besitzen in <strong>de</strong>m Sinne,<br />

daß ein Gen, welches seine Träger zur Befolgung <strong>de</strong>r Regel<br />

anhält, im Genpool zahlreicher wer<strong>de</strong>n könnte. Dies ist vielleicht<br />

<strong>de</strong>r Grund dafür, daß so häufig von altruistischem Verhalten<br />

in Affenhor<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r Walschulen berichtet wird. Wale und<br />

Delphine ertrinken, <strong>wen</strong>n sie keine Luft atmen können. Man<br />

hat beobachtet, wie Walbabys und verletzte Tiere, die nicht<br />

an die Oberfläche schwimmen können, von <strong>de</strong>n Gefährten im<br />

Ru<strong>de</strong>l gerettet und oben gehalten wer<strong>de</strong>n. Es ist nicht bekannt,<br />

ob Wale eine Möglichkeit haben zu erkennen, wer ihre nahen<br />

Verwandten sind, aber es ist <strong>de</strong>nkbar, daß dies keine Rolle


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 164<br />

spielt. Vielleicht ist die Wahrscheinlichkeit, daß ein beliebiger<br />

Angehöriger <strong>de</strong>r Schule ein Verwandter ist, so hoch, daß die<br />

Selbstlosigkeit sich lohnt. Übrigens gibt es zumin<strong>de</strong>st einen<br />

wohlverbürgten Bericht darüber, wie ein Mensch, <strong>de</strong>r beim<br />

Schwimmen zu ertrinken d<strong>ro</strong>hte, von einem wil<strong>de</strong>n Delphin<br />

gerettet wur<strong>de</strong>. Man könnte dies als eine Fehlleistung <strong>de</strong>r<br />

Regel ansehen, ertrinken<strong>de</strong> Gefährten zu retten. Die Regel<br />

könnte einen ertrinken<strong>de</strong>n Angehörigen <strong>de</strong>r Schule etwa<br />

folgen<strong>de</strong>rmaßen <strong>de</strong>finieren: „ein langgestrecktes Ding, das in<br />

<strong>de</strong>r Nähe <strong>de</strong>r Oberfläche um sich schlägt und keine Luft<br />

bekommt“.<br />

Von erwachsenen Pavianmännern ist berichtet wor<strong>de</strong>n, daß<br />

sie ihr Leben riskieren, um <strong>de</strong>n Rest <strong>de</strong>r Gruppe gegen Räuber,<br />

beispielsweise Leopar<strong>de</strong>n, zu verteidigen. Es ist ziemlich wahrscheinlich,<br />

daß ein durchschnittliches erwachsenes Männchen<br />

zahlreiche Gene mit an<strong>de</strong>ren Gruppenmitglie<strong>de</strong>rn teilt. Ein<br />

Gen, das sinngemäß sagt: „Körper, falls du ein erwachsenes<br />

Männchen bist, so verteidige die Gruppe gegen Leopar<strong>de</strong>n“,<br />

könnte im Genpool zahlreicher wer<strong>de</strong>n. Bevor wir dieses oft<br />

zitierte Beispiel verlassen, sollten wir fairerweise hinzufügen,<br />

daß zumin<strong>de</strong>st eine anerkannte Autorität ganz an<strong>de</strong>re Tatsachen<br />

berichtet hat. Ihren Berichten zufolge sind die erwachsenen<br />

Männchen die ersten, die am Horizont verschwin<strong>de</strong>n,<br />

sobald ein Leopard auftaucht.<br />

Wenn Hühnerküken auf Nahrungssuche gehen, bil<strong>de</strong>n sie<br />

mit ihren Geschwistern eine Schar, die <strong>de</strong>r Henne folgt.<br />

Sie verfügen im wesentlichen über zwei Rufe: <strong>de</strong>n bereits<br />

erwähnten durchdringen<strong>de</strong>n Piepslaut sowie ein kurzes,<br />

melodiöses Gezwitscher, das sie beim Fressen von sich geben.<br />

Die Piepslaute, welche die Hilfe <strong>de</strong>r Mutter herbeiholen sollen,<br />

wer<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Küken nicht zur Kenntnis genommen.<br />

Die Zwitscherlaute jedoch locken an<strong>de</strong>re Küken an. Das<br />

be<strong>de</strong>utet: Wenn ein Küken Nahrung fin<strong>de</strong>t, lockt sein Zwitschern<br />

auch an<strong>de</strong>re Küken zu <strong>de</strong>r Nahrungsquelle, es ist also<br />

ein „Futterruf“ im Sinne <strong>de</strong>s früheren hypothetischen Beispiels.<br />

Wie in jenem Fall läßt sich auch hier <strong>de</strong>r augenscheinliche<br />

Altruismus <strong>de</strong>r Küken leicht mit <strong>de</strong>r Verwandtschaftsaus-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 165<br />

lese erklären. Da in <strong>de</strong>r Natur die Küken alle leibliche Brü<strong>de</strong>r<br />

und Schwestern sind, wür<strong>de</strong> ein Gen für das Ausstoßen <strong>de</strong>s<br />

Futtergezwitschers sich ausbreiten, vorausgesetzt die Kosten<br />

für <strong>de</strong>n Zwitschern<strong>de</strong>n betragen <strong>wen</strong>iger als die Hälfte <strong>de</strong>s<br />

Nettovorteils für die an<strong>de</strong>ren Küken. Da <strong>de</strong>r Vorteil unter die<br />

ganze Brut aufgeteilt wird, die gewöhnlich aus mehr als zwei<br />

Küken besteht, kann man sich <strong>de</strong>nken, daß die Bedingung<br />

erfüllt ist. Unter <strong>de</strong>n Bedingungen <strong>de</strong>r Haustierhaltung o<strong>de</strong>r<br />

auf Hühnerfarmen, wo Hennen frem<strong>de</strong> Eier, sogar Truthahno<strong>de</strong>r<br />

Enteneier, untergeschoben wer<strong>de</strong>n, versagt die Regel<br />

natürlich. Aber man kann we<strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r Henne noch von ihren<br />

Küken erwarten, daß sie dies erkennen. Ihr Verhalten hat sich<br />

unter <strong>de</strong>n üblicherweise in <strong>de</strong>r Natur vorherrschen<strong>de</strong>n Bedingungen<br />

herausgebil<strong>de</strong>t, und dort fin<strong>de</strong>t man gewöhnlich keine<br />

Frem<strong>de</strong>n in seinem Nest.<br />

Gelegentlich kommen Fehler dieser Art jedoch auch bei freileben<strong>de</strong>n<br />

Tieren vor. Bei Arten, die in Ru<strong>de</strong>ln o<strong>de</strong>r Her<strong>de</strong>n<br />

leben, kann ein verwaistes Jungtier von einem frem<strong>de</strong>n Weibchen<br />

angenommen wer<strong>de</strong>n, meist von einem, das sein eigenes<br />

Junges verloren hat. Affenforscher benutzen gelegentlich das<br />

Wort „Tante“ für ein adoptieren<strong>de</strong>s Weibchen. In <strong>de</strong>n meisten<br />

Fällen liegen aber keinerlei Anzeichen dafür vor, daß es wirklich<br />

eine Tante o<strong>de</strong>r überhaupt eine Verwandte ist. Wenn<br />

die Affenforscher so genbewußt wären, wie sie sein könnten,<br />

wür<strong>de</strong>n sie ein wichtiges Wort wie „Tante“ nicht <strong>de</strong>rart unkritisch<br />

benutzen. In <strong>de</strong>r Mehrzahl <strong>de</strong>r Fälle sollten wir die Adoption,<br />

so rührend sie auch zu sein scheint, als Fehlan<strong>wen</strong>dung<br />

einer eingebauten Regel betrachten. Das e<strong>de</strong>lmütige Weibchen<br />

tut seinen eigenen Genen keinen Gefallen damit, daß<br />

es sich um das verwaiste Junge kümmert. Es versch<strong>wen</strong><strong>de</strong>t<br />

<strong>Zeit</strong> und Energie, die es in das Leben seiner eigenen Verwandten,<br />

insbeson<strong>de</strong>re zukünftiger eigener Nachkommen, investieren<br />

könnte. Vermutlich kommt <strong>de</strong>r Fehler zu selten vor, als<br />

daß sich die natürliche Auslese „die Mühe gemacht“ hätte,<br />

die Regel zu än<strong>de</strong>rn, in<strong>de</strong>m sie <strong>de</strong>n mütterlichen Instinkt<br />

kritischer macht. In zahlreichen Fällen kommt es übrigens<br />

nicht zur Adoption, und das verwaiste Junge ist <strong>de</strong>m Tod aus-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 166<br />

geliefert. Wir kennen ein Beispiel für eine Fehlleistung, das<br />

so extrem ist, daß <strong>de</strong>r Leser es vielleicht vorziehen wird, es<br />

überhaupt nicht als Fehler, son<strong>de</strong>rn als Beweis gegen die Theorie<br />

<strong>de</strong>s egoistischen Gens anzusehen. Ich meine <strong>de</strong>n Fall trauern<strong>de</strong>r<br />

Affenmütter, die dabei beobachtet wor<strong>de</strong>n sind, wie sie<br />

einem an<strong>de</strong>ren Weibchen ein Baby stehlen und sich seiner<br />

annehmen. Ich halte dies für einen doppelten Fehler, da die<br />

Pflegemutter nicht nur ihre eigene <strong>Zeit</strong> versch<strong>wen</strong><strong>de</strong>t, son<strong>de</strong>rn<br />

zugleich ein rivalisieren<strong>de</strong>s Weibchen <strong>de</strong>r Last <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>raufzucht<br />

enthebt und es in die Lage versetzt, schneller ein<br />

weiteres Kind zu bekommen. Dies scheint mir ein entschei<strong>de</strong>nd<br />

wichtiges Beispiel zu sein, das eine gründliche Erforschung<br />

verdient. Wir müssen wissen, wie häufig dieses Verhalten<br />

ist, welches <strong>de</strong>r wahrscheinliche durchschnittliche Verwandtschaftsgrad<br />

zwischen Pflegemutter und Jungem ist und<br />

wie sich die richtige Mutter <strong>de</strong>s Jungtieres verhält – schließlich<br />

ist es für sie ein Vorteil, daß ihr Kind adoptiert wird; versuchen<br />

Mütter absichtlich, unerfahrene junge Weibchen zur Adoption<br />

ihrer Kin<strong>de</strong>r zu verleiten? (Es ist auch die Vermutung geäußert<br />

wor<strong>de</strong>n, Pflegemütter könnten vom Kidnapping insofern p<strong>ro</strong>fitieren,<br />

als sie wertvolle Erfahrungen in <strong>de</strong>r Kunst <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>rpflege<br />

erwerben.)<br />

Ein Beispiel für eine absichtlich herbeigeführte Fehlleistung<br />

<strong>de</strong>s Mutterinstinkts liefern die Kuckucke und an<strong>de</strong>ren „Brutparasiten“<br />

– Vögel, die ihre Eier in die Nester an<strong>de</strong>rer Vögel<br />

legen. Sie nutzen die <strong>de</strong>n Vogeleltern eingepflanzte Anweisung<br />

aus: „Sei freundlich zu je<strong>de</strong>m kleinen Vogel, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>m von<br />

dir gebauten Nest sitzt.“ Kuckucke ausgenommen, hat diese<br />

Regel normalerweise <strong>de</strong>n gewünschten Effekt, <strong>de</strong>n Altruismus<br />

auf die unmittelbare Familie zu beschränken, weil die Nester<br />

nun einmal voneinan<strong>de</strong>r isoliert sind und es kaum an<strong>de</strong>rs sein<br />

kann, als daß <strong>de</strong>r Inhalt <strong>de</strong>s eigenen Nestes die eigenen Küken<br />

sind. Erwachsene Silbermö<strong>wen</strong> erkennen ihre eigenen Eier<br />

nicht und brüten ganz zufrie<strong>de</strong>n auf <strong>de</strong>n Eiern an<strong>de</strong>rer Mö<strong>wen</strong><br />

und sogar auf g<strong>ro</strong>ben hölzernen Attrappen, die man ihnen<br />

ersatzweise ins Nest legt. In <strong>de</strong>r Natur ist das Erkennen ihrer<br />

Eier für Mö<strong>wen</strong> nicht wichtig, weil die Eier nicht weit genug


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 167<br />

weg<strong>ro</strong>llen, um in die Nähe eines ein paar Meter entfernten<br />

Nachbarnestes zu geraten. Aber ihre eigenen Küken erkennen<br />

Mö<strong>wen</strong> sehr wohl: Küken wan<strong>de</strong>rn – im Gegensatz zu Eiern<br />

– und können leicht in die Nähe einer benachbarten erwachsenen<br />

Möwe geraten, häufig mit fatalem Ergebnis, wie wir im<br />

ersten Kapitel gesehen haben.<br />

T<strong>ro</strong>ttellummen dagegen erkennen ihre Eier an <strong>de</strong>r gesprenkelten<br />

Zeichnung und bebrüten gezielt nur diese. Der Grund<br />

dafür ist vermutlich, daß sie auf flachen Felsen nisten, wo die<br />

Gefahr besteht, daß die Eier herum<strong>ro</strong>llen und durcheinan<strong>de</strong>rgeraten.<br />

Nun könnte man fragen, warum sie sich die Mühe<br />

machen, zu unterschei<strong>de</strong>n und nur auf ihren eigenen Eiern zu<br />

brüten? Sicherlich wür<strong>de</strong> es, <strong>wen</strong>n je<strong>de</strong>s T<strong>ro</strong>ttellummenweibchen<br />

dafür sorgen wür<strong>de</strong>, daß es auf einem Ei (gleichgültig<br />

wessen) sitzt, keine Rolle spielen, ob je<strong>de</strong> einzelne Mutter auf<br />

ihrem eigenen o<strong>de</strong>r einem frem<strong>de</strong>n Ei säße. Dies ist das Argument<br />

eines Vertreters <strong>de</strong>r Gruppenauslese. Überlegen wir nun<br />

einmal, was geschähe, <strong>wen</strong>n sich ein solcher Gruppen-Babysitterkreis<br />

tatsächlich herausbil<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>. Die durchschnittliche<br />

Gelegegröße bei T<strong>ro</strong>ttellummen ist eins. Das be<strong>de</strong>utet,<br />

<strong>wen</strong>n <strong>de</strong>r wechselseitige Babysitterkreis erfolgreich funktionieren<br />

soll, müßte je<strong>de</strong>s erwachsene T<strong>ro</strong>ttellummenweibchen<br />

im Durchschnitt ein Ei ausbrüten. Stellen wir uns nun vor,<br />

ein Weibchen schwin<strong>de</strong>lte und weigerte sich zu brüten. Statt<br />

seine <strong>Zeit</strong> mit Brüten zu versch<strong>wen</strong><strong>de</strong>n, könnte es sie dazu<br />

benutzen, mehr Eier zu legen. Und das Schöne an <strong>de</strong>m System<br />

ist, daß die an<strong>de</strong>ren, selbstloseren Erwachsenen sich an seiner<br />

Stelle dieser Eier annehmen wür<strong>de</strong>n. Sie wür<strong>de</strong>n getreu <strong>de</strong>r<br />

Regel verfahren: „Wenn du ein vereinzeltes Ei in <strong>de</strong>r Nähe<br />

<strong>de</strong>ines Nestes siehst, so hol es herein und brüte es aus.“ So<br />

wür<strong>de</strong> das Gen für <strong>de</strong>n Betrug an <strong>de</strong>m System sich in <strong>de</strong>r<br />

gesamten Population verbreiten, und <strong>de</strong>r schöne Babysitterkreis<br />

wür<strong>de</strong> zusammenbrechen.<br />

„Gut und schön“, könnte man sagen, „was aber, <strong>wen</strong>n die<br />

ehrlichen Vögel zurückschlügen, in<strong>de</strong>m sie sich weigerten, sich<br />

erpressen zu lassen, und sich unbeirrbar entschlössen, auf<br />

einem und nur einem Ei zu brüten ? Das dürfte die Betrüger


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 168<br />

vernichten, <strong>de</strong>nn sie wür<strong>de</strong>n sehen, wie ihre Eier auf <strong>de</strong>n<br />

Felsen herumlägen und von nieman<strong>de</strong>m ausgebrütet wür<strong>de</strong>n.<br />

Es müßte sie bald zur Räson bringen.“ Lei<strong>de</strong>r wür<strong>de</strong> es das<br />

nicht. Da wir als gegeben annehmen, daß die Brüterinnen<br />

die Eier nicht voneinan<strong>de</strong>r unterschei<strong>de</strong>n, wären die Eier, die<br />

schließlich vernachlässigt wür<strong>de</strong>n, <strong>wen</strong>n die ehrlichen Vögel<br />

dieses System <strong>de</strong>s Wi<strong>de</strong>rstands gegen <strong>de</strong>n Schwin<strong>de</strong>l in die<br />

Praxis umsetzten, ebenso wahrscheinlich ihre eigenen wie die<br />

<strong>de</strong>r Schwindlerinnen. Die Schwindlerinnen wären immer noch<br />

im Vorteil, weil sie mehr Eier legen und mehr überleben<strong>de</strong><br />

Junge haben wür<strong>de</strong>n. Ein ehrliches T<strong>ro</strong>ttellummenweibchen<br />

könnte die Betrügerinnen nur auf eine Weise schlagen: in<strong>de</strong>m<br />

es seine eigenen Eier erkennt und sich beim Brüten für sie entschei<strong>de</strong>t.<br />

Es müßte also aufhören, selbstlos zu sein, und sich<br />

um seine eigenen Interessen kümmern.<br />

Um die Sprache von Maynard Smith zu ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>n: Die<br />

altruistische „Adoptionsstrategie“ ist keine evolutionär stabile<br />

Strategie. Sie ist instabil in <strong>de</strong>m Sinne, daß sie von einer rivalisieren<strong>de</strong>n<br />

egoistischen Strategie, mehr als <strong>de</strong>n fairen Anteil<br />

an Eiern zu legen und sie dann nicht ausbrüten zu wollen,<br />

übert<strong>ro</strong>ffen wer<strong>de</strong>n kann. Diese letztere egoistische Strategie<br />

wie<strong>de</strong>rum ist ebenfalls instabil, weil die altruistische Strategie,<br />

die sie ausnutzt, instabil ist und verschwin<strong>de</strong>n wird. Die einzige<br />

evolutionär stabile Strategie für eine T<strong>ro</strong>ttellumme ist die, ihr<br />

eigenes Ei zu erkennen und ausschließlich dieses auszubrüten,<br />

und genau das geschieht auch.<br />

Auch die Singvogelarten, bei <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Kuckuck als Brutparasit<br />

auftritt, haben sich zur Wehr gesetzt. In diesem Fall<br />

nicht dadurch, daß sie gelernt haben, wie ihre eigenen Eier<br />

aussehen, son<strong>de</strong>rn dadurch, daß sie sich instinktiv für Eier mit<br />

<strong>de</strong>r arttypischen Musterung entschei<strong>de</strong>n. Da bei ihnen keine<br />

Gefahr besteht, von Angehörigen <strong>de</strong>r eigenen Art ausgenutzt<br />

zu wer<strong>de</strong>n, ist dies eine wirksame Metho<strong>de</strong>. 9 Die Kuckucke<br />

ihrerseits haben jedoch zurückgeschlagen, in<strong>de</strong>m sie ihre Eier<br />

in Farbe, Größe und Zeichnung immer mehr <strong>de</strong>n Eiern <strong>de</strong>r<br />

Wirtsart angeglichen haben. Dies ist ein Beispiel für eine Lüge,<br />

und diese Lüge ist häufig erfolgreich. Das Ergebnis dieses


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 169<br />

evolutionären Wettrüstens ist eine bemerkenswerte Perfektion<br />

<strong>de</strong>r Mimikry seitens <strong>de</strong>r Kuckuckseier. Wir dürfen annehmen,<br />

daß ein Teil <strong>de</strong>r Kuckuckseier und -jungen „ent<strong>de</strong>ckt“ wird,<br />

und es sind diejenigen, die nicht ent<strong>de</strong>ckt wer<strong>de</strong>n, welche die<br />

nächste Generation von Kuckuckseiern legen. So breiten sich<br />

Gene für eine wirkungsvollere Täuschung im Kuckucksgenpool<br />

aus. Von <strong>de</strong>n Wirtsvögeln wie<strong>de</strong>rum wer<strong>de</strong>n diejenigen<br />

am meisten zu ihrem eigenen Genpool beitragen, <strong>de</strong>ren Augen<br />

scharf genug sind, um je<strong>de</strong> kleinste Unvollkommenheit in <strong>de</strong>r<br />

Mimikry <strong>de</strong>r Kuckuckseier zu ent<strong>de</strong>cken. So wer<strong>de</strong>n scharfe<br />

und skeptische Augen an die nächste Generation vererbt. Dies<br />

ist ein gutes Beispiel dafür, wie die natürliche Auslese die<br />

Unterscheidungsfähigkeit schärfen kann, in diesem Fall zum<br />

Nachteil einer an<strong>de</strong>ren Art, <strong>de</strong>ren Angehörige wie<strong>de</strong>rum ihr<br />

möglichstes tun, um dieser Entwicklung entgegenzuwirken.<br />

Kehren wir nun zu <strong>de</strong>m Vergleich zurück, <strong>de</strong>n wir zwischen<br />

<strong>de</strong>r Verwandtschaft mit an<strong>de</strong>ren Angehörigen <strong>de</strong>r Gruppe, wie<br />

ein Tier sie „einschätzt“, und <strong>de</strong>r entsprechen<strong>de</strong>n Bewertung<br />

durch einen erfahrenen Feldzoologen ziehen wollten. Brian<br />

Bertram hat viele Jahre damit zugebracht, die Biologie von<br />

Lö<strong>wen</strong> im Serengeti-Nationalpark zu untersuchen. Auf <strong>de</strong>r<br />

Grundlage seiner Kenntnisse ihrer Fortpflanzungsgewohnheiten<br />

hat er <strong>de</strong>n durchschnittlichen Verwandtschaftsgrad unter<br />

<strong>de</strong>n Individuen eines typischen Lö<strong>wen</strong>ru<strong>de</strong>ls abgeschätzt. Um<br />

zu seinen Schätzwerten zu gelangen, ging er von Tatsachen aus<br />

wie: Ein typisches Ru<strong>de</strong>l besteht aus sieben erwachsenen Weibchen,<br />

die <strong>de</strong>m Ru<strong>de</strong>l ständig angehören, und zwei erwachsenen<br />

Männchen, die nur vorübergehend dazugehören. Ungefähr die<br />

Hälfte <strong>de</strong>r erwachsenen Löwinnen werfen ihre Jungen zur<br />

selben <strong>Zeit</strong> und ziehen sie zusammen auf, so daß sich schwer<br />

unterschei<strong>de</strong>n läßt, welches Junge zu wem gehört. Ein Wurf<br />

besteht im typischen Fall aus drei Jungen. Die erwachsenen<br />

Männchen <strong>de</strong>s Ru<strong>de</strong>ls teilen sich die Vaterpflichten: Junge<br />

Weibchen bleiben im Ru<strong>de</strong>l und nehmen die Stelle alter<br />

Löwinnen ein, die sterben o<strong>de</strong>r das Ru<strong>de</strong>l verlassen. Junge<br />

männliche Tiere wer<strong>de</strong>n vertrieben, sobald sie herangewachsen<br />

sind. Sie streifen in kleinen Ban<strong>de</strong>n verwandter Tiere o<strong>de</strong>r


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 170<br />

paarweise von Ru<strong>de</strong>l zu Ru<strong>de</strong>l umher, und es ist unwahrscheinlich,<br />

daß sie zu ihrer ursprünglichen Familie zurückkehren.<br />

Von diesen und an<strong>de</strong>ren Annahmen ausgehend, ließe sich,<br />

wie <strong>de</strong>r Leser erkennen kann, ein Durchschnittswert für <strong>de</strong>n<br />

Verwandtschaftsgrad zweier Individuen in einem typischen<br />

Lö<strong>wen</strong>ru<strong>de</strong>l berechnen. Bertram gelangt zu <strong>de</strong>n Werten 0,22<br />

für zwei willkürlich herausgegriffene Männchen und 0,15 für<br />

zwei Weibchen. Demzufolge sind die Männchen in einem<br />

Ru<strong>de</strong>l im Durchschnitt geringfügig <strong>wen</strong>iger nah verwandt als<br />

Halbbrü<strong>de</strong>r und die Weibchen etwas näher als Cousinen ersten<br />

Gra<strong>de</strong>s. Nun besteht natürlich bei je<strong>de</strong>m konkreten Paar von<br />

Individuen die Möglichkeit, daß es sich um leibliche Geschwister<br />

han<strong>de</strong>lt, aber Bertram konnte dies nicht nachprüfen,<br />

und es ist anzunehmen, daß die Lö<strong>wen</strong> es ebenso<strong>wen</strong>ig<br />

wußten wie er. An<strong>de</strong>rerseits sind die Mittelwerte, die Bertram<br />

berechnete, in einem gewissen Sinne auch <strong>de</strong>n Lö<strong>wen</strong> selbst<br />

verfügbar. Wenn diese Zahlen wirklich für ein durchschnittliches<br />

Lö<strong>wen</strong>ru<strong>de</strong>l typisch sind, dann hätte je<strong>de</strong>s Gen, das<br />

die Männchen dafür prädisponierte, sich an<strong>de</strong>ren männlichen<br />

Tieren gegenüber so zu verhalten, als ob sie fast Halbbrü<strong>de</strong>r<br />

wären, einen positiven Überlebenswert. Im Durchschnitt wür<strong>de</strong><br />

je<strong>de</strong>s Gen, das zu weit ginge und die Männchen dazu brächte,<br />

sich so freundlich zu verhalten, wie es eher einem leiblichen<br />

Bru<strong>de</strong>r gegenüber angebracht ist, bestraft, ebenso wie ein<br />

Gen für ein zu<strong>wen</strong>ig freundliches Verhalten, bei <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>re<br />

Männchen beispielsweise wie Vettern zweiten Gra<strong>de</strong>s behan<strong>de</strong>lt<br />

wür<strong>de</strong>n. Wenn die Tatsachen <strong>de</strong>s Lö<strong>wen</strong>lebens so sind,<br />

wie Bertram sie darstellt, und <strong>wen</strong>n sie – was genauso wichtig<br />

ist – schon seit vielen Generationen so sind, dürfen wir erwarten,<br />

daß die natürliche Auslese einen Grad von Altruismus<br />

begünstigt hat, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m durchschnittlichen Grad <strong>de</strong>r Verwandtschaft<br />

in einem typischen Ru<strong>de</strong>l entspricht. Dies meinte<br />

ich, als ich sagte, daß die Schätzungen <strong>de</strong>s Verwandtschaftsgra<strong>de</strong>s<br />

durch ein Tier und durch einen Zoologen schließlich<br />

auf ziemlich dasselbe hinauslaufen könnten. l0<br />

Wir kommen also zu <strong>de</strong>m Ergebnis, daß <strong>de</strong>r „wahre“ Verwandtschaftsgrad<br />

bei <strong>de</strong>r Evolution <strong>de</strong>s Altruismus vielleicht


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 171<br />

<strong>wen</strong>iger wichtig ist als <strong>de</strong>r beste Schätzwert <strong>de</strong>s Verwandtschaftsgra<strong>de</strong>s,<br />

<strong>de</strong>n ein Tier erhalten kann. Diese Tatsache ist<br />

wahrscheinlich ein Schlüssel zum Verständnis zweier Fragen:<br />

Warum ist in <strong>de</strong>r Natur elterliche Fürsorge soviel weiter verbreitet<br />

und aufopfern<strong>de</strong>r als Bru<strong>de</strong>r-Schwester-Altruismus,<br />

und wie ist es möglich, daß Tiere sich selbst höher bewerten als<br />

sogar mehrere Brü<strong>de</strong>r. Damit will ich sagen, daß wir zusätzlich<br />

zu <strong>de</strong>m Verwandtschaftsin<strong>de</strong>x so etwas wie einen In<strong>de</strong>x <strong>de</strong>r<br />

„Gewißheit“ an<strong>wen</strong><strong>de</strong>n sollten. Obwohl die Eltern-Kind-Beziehung<br />

genetisch nicht enger ist als die Bru<strong>de</strong>r-Schwester-Beziehung,<br />

ist ihre Gewißheit größer. Ich kann normalerweise sehr<br />

viel sicherer sein, wer meine Kin<strong>de</strong>r sind, als wer meine<br />

Geschwister sind. Und noch sicherer kann ich <strong>de</strong>ssen sein, wer<br />

ich selbst bin!<br />

Wir haben bereits Betrachtungen über Schwindler unter<br />

<strong>de</strong>n T<strong>ro</strong>ttellummen angestellt, und wir wer<strong>de</strong>n in späteren<br />

Kapiteln noch mehr über Lügner, Betrüger und Ausbeuter<br />

zu sagen haben. In einer Welt, in <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Individuen<br />

beständig auf Gelegenheiten lauern, <strong>de</strong>n Verwandtschaftsaltruismus<br />

auszunutzen und für ihre Zwecke zu ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>n, muß<br />

eine Überlebensmaschine sich überlegen, wem sie vertrauen,<br />

wessen sie wirklich sicher sein kann. Wenn B wirklich mein<br />

kleiner Bru<strong>de</strong>r ist, dann sollte ich ihm bis zur Hälfte <strong>de</strong>r Pflege<br />

ange<strong>de</strong>ihen lassen, die ich mir selbst zukommen lasse, und<br />

genausoviel wie meinem eigenen Kind. Aber kann ich seiner<br />

ebenso sicher sein wie meines eigenen Kin<strong>de</strong>s? Woher weiß<br />

ich, daß er wirklich mein kleiner Bru<strong>de</strong>r ist?<br />

Wenn C mein eineiiger Zwilling ist, dann sollte ich doppelt<br />

so sehr für ihn sorgen wie für eins meiner Kin<strong>de</strong>r, tatsächlich<br />

sollte ich sein Leben nicht niedriger bewerten als mein eigenes.<br />

11 Aber kann ich seiner sicher sein? Er sieht zwar so aus<br />

wie ich, aber es könnte ja sein, daß wir nur zufällig die Gene für<br />

Gesichtszüge gemeinsam haben. Nein, ich wer<strong>de</strong> mein Leben<br />

nicht für ihn hingeben. Denn <strong>wen</strong>ngleich es möglich ist, daß er<br />

100 P<strong>ro</strong>zent meiner Gene besitzt, so weiß ich, was mich betrifft,<br />

mit absoluter Sicherheit, daß ich 100 P<strong>ro</strong>zent meiner Gene in<br />

mir trage, und daher bin ich mir selbst mehr wert, als er mir


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 172<br />

wert ist. Ich bin das einzige Individuum, <strong>de</strong>ssen sich je<strong>de</strong>s einzelne<br />

meiner egoistischen Gene sicher sein kann. Und obwohl<br />

im I<strong>de</strong>alfall ein Gen für <strong>de</strong>n individuellen Egoismus durch<br />

ein rivalisieren<strong>de</strong>s Gen für das selbstlose Retten von min<strong>de</strong>stens<br />

einem eineiigen Zwilling, zwei Kin<strong>de</strong>rn o<strong>de</strong>r Geschwistern<br />

o<strong>de</strong>r zumin<strong>de</strong>st vier Enkeln und so weiter ersetzbar ist,<br />

hat das Gen für <strong>de</strong>n individuellen Egoismus <strong>de</strong>n gewaltigen<br />

Vorteil <strong>de</strong>r Gewißheit <strong>de</strong>r individuellen I<strong>de</strong>ntität. Das rivalisieren<strong>de</strong><br />

familienaltruistische Gen läuft Gefahr, daß ihm I<strong>de</strong>ntifizierungsfehler<br />

unterlaufen, die entwe<strong>de</strong>r wirklich zufällig sind<br />

o<strong>de</strong>r von Schwindlern und Parasiten absichtlich herbeigeführt<br />

wer<strong>de</strong>n. Wir müssen daher in <strong>de</strong>r Natur ein größeres Ausmaß<br />

an individuellem Egoismus erwarten, als anhand <strong>de</strong>s genetischen<br />

Verwandtschaftsgra<strong>de</strong>s allein vorausgesagt wer<strong>de</strong>n<br />

könnte.<br />

Bei vielen Arten kann eine Mutter ihrer Jungen sicherer<br />

sein als ein Vater. Die Mutter legt das sichtbare, greifbare<br />

Ei o<strong>de</strong>r trägt das Kind aus. Sie hat eine gute Chance, die<br />

Träger ihrer Gene mit Sicherheit zu kennen. Der arme Vater<br />

ist <strong>de</strong>r Täuschung sehr viel stärker ausgeliefert. Es ist daher zu<br />

erwarten, daß Väter <strong>wen</strong>iger Anstrengungen in die Pflege <strong>de</strong>r<br />

Jungen investieren als Mütter. Wie wir in Kapitel 9, <strong>de</strong>m Kapitel<br />

über <strong>de</strong>n Krieg <strong>de</strong>r Geschlechter, sehen wer<strong>de</strong>n, gibt es noch<br />

an<strong>de</strong>re Grün<strong>de</strong> dafür, eben dies zu erwarten. Gleichermaßen<br />

können G<strong>ro</strong>ßmütter mütterlicherseits ihrer Enkel sicherer sein<br />

als G<strong>ro</strong>ßmütter väterlicherseits, und man kann erwarten, daß<br />

sie mehr Selbstlosigkeit zeigen als G<strong>ro</strong>ßmütter väterlicherseits.<br />

Schließlich kann eine G<strong>ro</strong>ßmutter <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r ihrer Tochter<br />

sicher sein, während ihr Sohn bet<strong>ro</strong>gen wor<strong>de</strong>n sein könnte.<br />

G<strong>ro</strong>ßväter mütterlicherseits sind ihrer Enkelkin<strong>de</strong>r ebenso<br />

sicher wie G<strong>ro</strong>ßmütter väterlicherseits, weil bei<strong>de</strong> auf eine<br />

Generation Gewißheit und eine Generation Ungewißheit zählen<br />

können. Ähnlich sollten Onkel mütterlicherseits mehr als<br />

Onkel väterlicherseits an <strong>de</strong>m Wohlergehen von Neffen und<br />

Nichten interessiert sein, und im allgemeinen müßten sie<br />

ebenso selbstlos sein wie Tanten. Tatsächlich sollten in einer<br />

Gesellschaft mit einem hohen Grad an mütterlicher Untreue


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 173<br />

Onkel mütterlicherseits selbstloser sein als „Väter“, da sie mehr<br />

Veranlassung zu <strong>de</strong>r Überzeugung haben, mit <strong>de</strong>m Kind verwandt<br />

zu sein. Sie wissen, daß die Mutter <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s zumin<strong>de</strong>st<br />

ihre Halbschwester ist. Der „offizielle“ Vater weiß gar<br />

nichts. Ich kann für diese Voraussagen keine Beweise anführen,<br />

aber ich bringe sie in <strong>de</strong>r Hoffnung vor, daß an<strong>de</strong>re Beweise<br />

kennen o<strong>de</strong>r vielleicht danach zu suchen beginnen. Insbeson<strong>de</strong>re<br />

die Sozialanth<strong>ro</strong>pologen haben möglicherweise interessante<br />

Dinge zu sagen. 12<br />

Kehren wir zu <strong>de</strong>r Tatsache zurück, daß elterlicher Altruismus<br />

weiter verbreitet ist als geschwisterlicher Altruismus:<br />

Es scheint in <strong>de</strong>r Tat vernünftig zu sein, dies mit <strong>de</strong>m „I<strong>de</strong>ntifizierungsp<strong>ro</strong>blem“<br />

zu erklären. Die grundlegen<strong>de</strong> Asymmetrie<br />

in <strong>de</strong>r Eltern-Kind-Beziehung selbst läßt sich so jedoch<br />

nicht begrün<strong>de</strong>n. Eltern tragen mehr Sorge um ihre Kin<strong>de</strong>r<br />

als umgekehrt, obwohl die genetische Verwandtschaft und die<br />

Gewißheit darüber in bei<strong>de</strong>n Richtungen gleich g<strong>ro</strong>ß ist. Ein<br />

Grund dafür ist, daß die Eltern in <strong>de</strong>r Praxis besser in <strong>de</strong>r Lage<br />

sind, ihren Jungen zu helfen, da sie älter und im Geschäft <strong>de</strong>s<br />

Lebens erfahrener sind. Selbst <strong>wen</strong>n ein Baby seine Eltern<br />

füttern wollte, ist es nicht gut dafür ausgerüstet, dies auch<br />

tatsächlich zu tun.<br />

Es gibt noch eine weitere Asymmetrie in <strong>de</strong>r Eltern-Kind-<br />

Beziehung, die auf das Verhältnis zwischen Geschwistern nicht<br />

zutrifft. Kin<strong>de</strong>r sind immer jünger als ihre Eltern. Das be<strong>de</strong>utet<br />

häufig, <strong>wen</strong>n auch nicht immer, daß ihre Lebenserwartung<br />

größer ist. Wie ich oben betont habe, ist die Lebenserwartung<br />

eine wichtige Variable, die das Tier in <strong>de</strong>r vollkommensten<br />

aller möglichen Welten in seine „Rechnung“ einbeziehen sollte,<br />

<strong>wen</strong>n es „entschei<strong>de</strong>t“, ob es sich uneigennützig verhalten<br />

soll o<strong>de</strong>r nicht. In einer Spezies, in <strong>de</strong>r die durchschnittliche<br />

Lebenserwartung <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r größer ist als die <strong>de</strong>r Eltern, wäre<br />

je<strong>de</strong>s Gen für altruistisches Verhalten <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s im Nachteil.<br />

Es wür<strong>de</strong> eine altruistische Selbstaufopferung zugunsten von<br />

Individuen herbeiführen, die <strong>de</strong>m Tod aus Altersgrün<strong>de</strong>n näher<br />

sind als <strong>de</strong>r Altruist selbst. Ein Gen für Elternaltruismus dagegen<br />

wäre, was die Komponenten für Lebenserwartung in <strong>de</strong>r


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 174<br />

Gleichung betrifft, entsprechend im Vorteil.<br />

Manchmal hört man sagen, Familienselektion als Theorie<br />

sei schön und gut, aber in <strong>de</strong>r Praxis gäbe es <strong>wen</strong>ig Beispiele<br />

für ihr Wirken. Diese Kritik kann nur von jemand kommen, <strong>de</strong>r<br />

nicht versteht, was Familienselektion be<strong>de</strong>utet. In Wirklichkeit<br />

sind alle Fälle, in <strong>de</strong>nen Kin<strong>de</strong>r beschützt wer<strong>de</strong>n, und alle Beispiele<br />

elterlicher Sorge sowie alle damit zusammenhängen<strong>de</strong>n<br />

Organe <strong>de</strong>s Körpers – Milchdrüsen, Känguruhbeutel und so<br />

weiter – Beispiele für das Wirken <strong>de</strong>s Prinzips <strong>de</strong>r Familienauslese<br />

in <strong>de</strong>r Natur. Natürlich ist <strong>de</strong>n Kritikern die weite Verbreitung<br />

<strong>de</strong>r Brutpflege bekannt, doch können sie nicht verstehen,<br />

daß elterliche Fürsorge nicht <strong>wen</strong>iger ein Beispiel für<br />

Verwandtschaftsselektion ist als geschwisterlicher Altruismus.<br />

Wenn sie sagen, sie wollen Beispiele, so meinen sie damit, sie<br />

wollen an<strong>de</strong>re Beispiele als die elterliche Fürsorge, und es<br />

ist richtig, daß solche Beispiele <strong>wen</strong>iger verbreitet sind. Ich<br />

habe auf Grün<strong>de</strong> hingewiesen, weshalb dies so sein könnte.<br />

Ich hätte mich beson<strong>de</strong>rs bemühen können, Beispiele geschwisterlicher<br />

Selbstlosigkeit anzuführen – es gibt in <strong>de</strong>r Tat gar<br />

nicht so <strong>wen</strong>ige. Doch ich möchte dies nicht tun, weil es die<br />

irrige Ansicht verstärken wür<strong>de</strong> (die, wie wir gesehen haben,<br />

von Wilson geför<strong>de</strong>rt wird), daß die Familienselektion spezifisch<br />

mit solchen Beziehungen zu tun hat, die keine Eltern-<br />

Kind-Beziehungen sind.<br />

Der Grund für das Entstehen dieses Irrtums ist weitgehend<br />

historischer Natur. Der evolutionäre Vorteil <strong>de</strong>r elterlichen<br />

Fürsorge ist <strong>de</strong>rart augenfällig, daß wir nicht auf Hamilton<br />

warten mußten, um darauf aufmerksam zu wer<strong>de</strong>n. Die<br />

Zusammenhänge sind seit Darwin verständlich. Als Hamilton<br />

die genetische Gleichwertigkeit an<strong>de</strong>rer Beziehungen und<br />

<strong>de</strong>ren evolutionäre Be<strong>de</strong>utung bewies, mußte er natürlich das<br />

Gewicht auf diese an<strong>de</strong>ren Beziehungen legen. Er entnahm<br />

seine Beispiele vor allem <strong>de</strong>r Biologie sozialer Insekten wie<br />

Ameisen und Bienen, bei <strong>de</strong>nen die Schwester-Schwester-<br />

Beziehung beson<strong>de</strong>rs wichtig ist, wie wir in einem späteren<br />

Kapitel sehen wer<strong>de</strong>n. Ich habe sogar Leute sagen hören, sie<br />

meinten, Hamiltons Theorie gelte nur für die sozial leben<strong>de</strong>n


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 175<br />

Insekten! Wenn jemand nicht zugeben möchte, daß elterliche<br />

Fürsorge ein Beispiel für das Wirken <strong>de</strong>r Familienauslese ist,<br />

so ist es an ihm, eine allgemeine Theorie <strong>de</strong>r natürlichen Auslese<br />

zu formulieren, welche zwar elterlichen Altruismus, nicht<br />

aber Altruismus unter Verwandten in <strong>de</strong>r Seitenlinie voraussagt.<br />

Ich glaube, daß ihm dies nicht gelingen wird.


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 176<br />

7. Familienplanung<br />

Es ist nicht schwer zu erkennen, warum manche Leute die<br />

elterliche Fürsorge gegen die an<strong>de</strong>ren Arten <strong>de</strong>r durch Familienselektion<br />

bedingten Selbstlosigkeit abgrenzen wollen. Es<br />

sieht so aus, als sei die Pflege <strong>de</strong>s Nachwuchses ein wesentlicher<br />

Bestandteil <strong>de</strong>r Fortpflanzung, während dies beispielsweise<br />

für <strong>de</strong>n Altruismus einem Neffen gegenüber nicht gilt.<br />

Ich meine, daß man tatsächlich eine wichtige Unterscheidung<br />

vornehmen muß, daß die Trennungslinie jedoch an <strong>de</strong>r falschen<br />

Stelle gezogen wird. Man stellt Rep<strong>ro</strong>duktion und Brutpflege<br />

auf die eine Seite und alle an<strong>de</strong>ren Arten von Altruismus<br />

auf die an<strong>de</strong>re. Ich dagegen möchte zwischen <strong>de</strong>m Indie-Welt-Setzen<br />

neuer Individuen einerseits und <strong>de</strong>m Sorgen für<br />

bestehen<strong>de</strong> Individuen an<strong>de</strong>rerseits unterschei<strong>de</strong>n. Ich wer<strong>de</strong><br />

diese bei<strong>de</strong>n Aktivitäten das Kin<strong>de</strong>rzeugen o<strong>de</strong>r Gebären<br />

beziehungsweise das Kin<strong>de</strong>rpflegen nennen. Eine einzelne<br />

Überlebensmaschine hat zwei ganz verschie<strong>de</strong>ne Arten von<br />

Entscheidungen zu treffen, Pflegeentscheidungen und Zeugungsentscheidungen.<br />

Ich ver<strong>wen</strong><strong>de</strong> das Wort Entscheidung<br />

zur <strong>de</strong>r Bezeichnung eines unbewußten strategischen Zuges.<br />

Die Pflegeentscheidungen gestalten sich so: „Da ist ein Kind;<br />

<strong>de</strong>r Grad seiner Verwandtschaft mit mir ist soundso; die<br />

Wahrscheinlichkeit, daß es stirbt, <strong>wen</strong>n ich es nicht ernähre,<br />

ist soundso; soll ich es ernähren?“ Zeugungsentscheidungen<br />

dagegen sehen folgen<strong>de</strong>rmaßen aus: „Soll ich die not<strong>wen</strong>digen<br />

Schritte, welche auch immer es sein mögen, unternehmen, um<br />

ein neues Individuum in die Welt zu setzen; soll ich mich fortpflanzen?“<br />

In gewissem Maße müssen Pflegen und Gebären<br />

unweigerlich miteinan<strong>de</strong>r um die <strong>Zeit</strong> und an<strong>de</strong>re Ressourcen<br />

eines Individuums konkurrieren.<br />

Unter Umstän<strong>de</strong>n muß das Individuum wählen: „Soll ich<br />

dieses Kind hier betreuen, o<strong>de</strong>r soll ich ein neues bekommen?“<br />

Je nach <strong>de</strong>r Lebensweise und <strong>de</strong>n Lebensbedingungen<br />

einer Art können verschie<strong>de</strong>ne Mischungen von Pflege- und<br />

Zeugungsstrategien evolutionär stabil sein. Das einzige, was


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 177<br />

nicht evolutionär stabil sein kann, ist eine reine Pflegestrategie.<br />

Wenn alle Individuen sich so sehr <strong>de</strong>r Pflege <strong>de</strong>r bereits<br />

vorhan<strong>de</strong>nen Kin<strong>de</strong>r annähmen, daß sie niemals neue Kin<strong>de</strong>r<br />

auf die Welt brächten, wür<strong>de</strong> die Population bald von Mutanten<br />

überrannt wer<strong>de</strong>n, die auf das Gebären spezialisiert<br />

wären. Das Pflegen kann nur als Teil einer gemischten Strategie<br />

evolutionär stabil sein – zumin<strong>de</strong>st einige Nachkommen<br />

müssen geboren wer<strong>de</strong>n.<br />

Die Arten, die wir am besten kennen – Säugetiere und Vögel<br />

– sind in <strong>de</strong>r Regel sehr fürsorglich. Auf eine Entscheidung,<br />

ein Junges zu bekommen, folgt gewöhnlich die Entscheidung,<br />

es zu betreuen. Weil Kin<strong>de</strong>rbekommen und -betreuen in <strong>de</strong>r<br />

Praxis so häufig Hand in Hand gehen, hat man diese bei<strong>de</strong>n<br />

Dinge durcheinan<strong>de</strong>rgebracht. Doch vom Standpunkt <strong>de</strong>r egoistischen<br />

Gene aus gibt es, wie wir gesehen haben, im Prinzip<br />

keinen Unterschied zwischen <strong>de</strong>r Pflege eines kleinen Bru<strong>de</strong>rs<br />

und <strong>de</strong>r eines kleinen Sohnes. Bei<strong>de</strong> Kleinkin<strong>de</strong>r sind gleich<br />

nah mit mir verwandt. Wenn ich zu wählen habe, <strong>wen</strong> von<br />

bei<strong>de</strong>n ich ernähre, gibt es genetisch keinen Grund, mich für<br />

meinen eigenen Sohn zu entschei<strong>de</strong>n. An<strong>de</strong>rerseits kann ich<br />

per <strong>de</strong>finitionem keinen kleinen Bru<strong>de</strong>r gebären. Ich kann<br />

ihn nur pflegen, nach<strong>de</strong>m jemand an<strong>de</strong>rs ihn auf die Welt<br />

gebracht hat. Im vorigen Kapitel haben wir uns angesehen, wie<br />

die einzelnen Überlebensmaschinen im I<strong>de</strong>alfall entschei<strong>de</strong>n<br />

sollten, ob sie sich an<strong>de</strong>ren, bereits existieren<strong>de</strong>n Individuen<br />

gegenüber altruistisch verhalten sollen o<strong>de</strong>r nicht. In diesem<br />

Kapitel wollen wir sehen, auf welche Weise sie entschei<strong>de</strong>n<br />

sollten, ob sie neue Individuen in die Welt setzen o<strong>de</strong>r nicht.<br />

Hauptsächlich an diesem Gegenstand hat sich die Auseinan<strong>de</strong>rsetzung<br />

über „Gruppenselektion“, die ich im ersten Kapitel<br />

erwähnt habe, entzün<strong>de</strong>t. Und dies <strong>de</strong>shalb, weil Wynne-<br />

Edwards, <strong>de</strong>r Hauptverantwortliche für die Verbreitung <strong>de</strong>s<br />

Gedankens <strong>de</strong>r Gruppenselektion, diese Auffassung im Rahmen<br />

einer Theorie <strong>de</strong>r „Regulierung <strong>de</strong>r Populationsgröße“ vorbrachte.<br />

1 Er äußerte die Ansicht, daß die einzelnen Tiere <strong>de</strong>m<br />

Wohl <strong>de</strong>r Gruppe zuliebe freiwillig und selbstlos ihre Geburtenrate<br />

reduzieren.


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 178<br />

Dies ist eine sehr verlocken<strong>de</strong> Hypothese, weil sie so gut<br />

damit übereinstimmt, was die einzelnen Menschen eigentlich<br />

tun sollten. Die Menschheit p<strong>ro</strong>duziert zu viele Kin<strong>de</strong>r. Die<br />

Bevölkerungsgröße hängt von vier Faktoren ab: Geburten,<br />

To<strong>de</strong>sfällen, Einwan<strong>de</strong>rungen und Auswan<strong>de</strong>rungen. Wenn<br />

wir die Weltbevölkerung als Ganzes betrachten, so fin<strong>de</strong>n keine<br />

Immigrationen und Emigrationen statt, es bleiben also nur<br />

Geburten und To<strong>de</strong>sfälle. Solange je<strong>de</strong>s Paar im Durchschnitt<br />

mehr als zwei überleben<strong>de</strong> und sich fortpflanzen<strong>de</strong> Nachkommen<br />

hat, wird die Geburtenziffer von Jahr zu Jahr mit ständig<br />

wachsen<strong>de</strong>r Geschwindigkeit zunehmen. In je<strong>de</strong>r Generation<br />

wächst die Bevölkerung nicht um einen festen Betrag, son<strong>de</strong>rn<br />

um etwas, das mehr einem festen Anteil <strong>de</strong>s Umfangs<br />

ähnelt, <strong>de</strong>n sie bereits erreicht hat. Da dieser Umfang selbst<br />

zunimmt, wird auch <strong>de</strong>r Zuwachs größer. Eine Population, in<br />

<strong>de</strong>r diese Art <strong>de</strong>s Wachstums sich unkont<strong>ro</strong>lliert fortsetzen<br />

könnte, wür<strong>de</strong> verblüffend schnell ast<strong>ro</strong>nomische Ausmaße<br />

erreichen.<br />

Nebenbei gesagt ist gelegentlich nicht einmal <strong>de</strong>njenigen,<br />

die sich um Bevölkerungsp<strong>ro</strong>bleme Sorgen machen, klar,<br />

daß das Bevölkerungswachstum ebenso davon abhängig ist,<br />

wann ein Mensch Kin<strong>de</strong>r bekommt, wie davon, wie viele<br />

er bekommt. Da die Populationsgröße gewöhnlich um einen<br />

bestimmten Anteil p<strong>ro</strong> Generation zunimmt, ist <strong>de</strong>r jährliche<br />

Bevölkerungszuwachs geringer, <strong>wen</strong>n man die Generationsdauer<br />

verlängert. Auf Spruchbän<strong>de</strong>r könnte man statt „Hör<br />

auf bei zwei!“ ebensogut „Fang an mit 30!“ schreiben. In je<strong>de</strong>m<br />

Fall jedoch be<strong>de</strong>utet die Beschleunigung <strong>de</strong>s Bevölkerungswachstums<br />

ernstliche Schwierigkeiten.<br />

Wir haben wahrscheinlich alle bereits Beispiele <strong>de</strong>r alarmieren<strong>de</strong>n<br />

Berechnungen gesehen, die dies veranschaulichen. Beispielsweise<br />

beläuft sich die gegenwärtige Bevölkerung Lateinamerikas<br />

auf rund 300 Millionen Menschen, und viele von ihnen<br />

sind bereits unterernährt. Wür<strong>de</strong> die Bevölkerung mit <strong>de</strong>r<br />

gegenwärtigen Rate weiterwachsen, so wäre in <strong>wen</strong>iger als 500<br />

Jahren <strong>de</strong>r Punkt erreicht, an <strong>de</strong>m die Menschen dichtgedrängt<br />

nebeneinan<strong>de</strong>rstehend einen zusammenhängen<strong>de</strong>n, die ganze


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 179<br />

Fläche <strong>de</strong>s Kontinents be<strong>de</strong>cken<strong>de</strong>n Menschenteppich bil<strong>de</strong>n<br />

wür<strong>de</strong>n. Dies gilt auch dann, <strong>wen</strong>n wir annehmen, daß sie<br />

nur Haut und Knochen wären – eine nicht unrealistische<br />

Annahme. In 1000 Jahren wür<strong>de</strong>n sie sich in mehr als einer<br />

Million Schichten übereinan<strong>de</strong>r gegenseitig auf <strong>de</strong>n Schultern<br />

stehen. In 2000 Jahren hätte <strong>de</strong>r mit Lichtgeschwindigkeit in<br />

die Höhe wachsen<strong>de</strong> Menschenberg <strong>de</strong>n Rand <strong>de</strong>s bekannten<br />

Universums erreicht.<br />

Es wird <strong>de</strong>m Leser nicht entgangen sein, daß dies eine<br />

hypothetische Berechnung ist! In Wirklichkeit wird es nicht<br />

so kommen, und zwar aus zwingen<strong>de</strong>n praktischen Grün<strong>de</strong>n.<br />

Einige dieser Grün<strong>de</strong> heißen Hungersnot, Seuchen und Krieg<br />

o<strong>de</strong>r, <strong>wen</strong>n wir Glück haben, Geburtenkont<strong>ro</strong>lle. Es hat keinen<br />

Zweck, sich auf Fortschritte in <strong>de</strong>r Landwirtschaft zu berufen<br />

– auf „grüne Revolutionen“ und <strong>de</strong>rgleichen. Steigerungen<br />

in <strong>de</strong>r Nahrungsmittelp<strong>ro</strong>duktion mögen das P<strong>ro</strong>blem zwar<br />

vorübergehend mil<strong>de</strong>rn, doch es ist mathematisch sicher, daß<br />

sie auf lange Sicht keine Lösung sein können; tatsächlich<br />

könnten sie, wie die Fortschritte in <strong>de</strong>r Medizin, welche die<br />

Krise beschleunigt haben, die Situation sogar verschärfen,<br />

in<strong>de</strong>m sie das Bevölkerungswachstum beschleunigen. Es ist<br />

eine einfache logische Wahrheit, daß – ohne eine Massenemigration<br />

in <strong>de</strong>n Weltraum, bei <strong>de</strong>r mehrere Millionen Menschen<br />

p<strong>ro</strong> Sekun<strong>de</strong> die Er<strong>de</strong> mit Raketen verlassen – unkont<strong>ro</strong>llierte<br />

Geburtenraten unweigerlich zu schrecklich erhöhten Sterberaten<br />

führen müssen. Es fällt schwer zu glauben, daß diese<br />

einfache Wahrheit nicht von jenen Führern begriffen wird, die<br />

ihren Anhängern die Ver<strong>wen</strong>dung wirksamer Metho<strong>de</strong>n zur<br />

Empfängnisverhütung verbieten. Sie zeigen eine Vorliebe für<br />

„natürliche“ Metho<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Bevölkerungskont<strong>ro</strong>lle, und eine<br />

natürliche Metho<strong>de</strong> ist genau das, was sie bekommen wer<strong>de</strong>n.<br />

Sie heißt Hungertod.<br />

Aber natürlich beruht die Beklommenheit, die solche langfristigen<br />

Berechnungen hervorrufen, auf <strong>de</strong>r Sorge um das<br />

zukünftige Wohlergehen unserer Spezies insgesamt. Menschen<br />

(einige von ihnen) sind in <strong>de</strong>r Lage, vorausschauend zu <strong>de</strong>nken<br />

und die katast<strong>ro</strong>phalen Folgen <strong>de</strong>r Überbevölkerung vorherzu-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 180<br />

sehen. Die grundlegen<strong>de</strong> Annahme <strong>de</strong>s vorliegen<strong>de</strong>n Buches<br />

ist, daß Überlebensmaschinen im allgemeinen von egoistischen<br />

Genen gelenkt wer<strong>de</strong>n, und von diesen kann man ganz gewiß<br />

we<strong>de</strong>r erwarten, daß sie in die Zukunft blicken, noch, daß<br />

ihnen das Wohl <strong>de</strong>r gesamten Spezies am Herzen liegt. Dies ist<br />

<strong>de</strong>r Punkt, an <strong>de</strong>m Wynne-Edwards an<strong>de</strong>rer Meinung ist als<br />

die orthodoxen Evolutionstheoretiker. Er glaubt, es gäbe einen<br />

Weg, wie die Evolution zu einer echten selbstlosen Geburtenkont<strong>ro</strong>lle<br />

führen kann.<br />

Eine Tatsache wird in <strong>de</strong>n Schriften von Wynne-Edwards<br />

o<strong>de</strong>r in Ardreys populärer Darstellung seiner Vorstellungen<br />

nicht erwähnt, nämlich daß es eine g<strong>ro</strong>ße Menge akzeptierter<br />

Fakten gibt, über die keine Meinungsverschie<strong>de</strong>nheiten bestehen.<br />

Es ist eine offenkundige Tatsache, daß freileben<strong>de</strong> Tierpopulationen<br />

nicht mit <strong>de</strong>n ast<strong>ro</strong>nomischen Raten wachsen,<br />

<strong>de</strong>ren sie theoretisch fähig wären. Manche sind relativ<br />

stabil, wobei Geburten- und Sterberate sich ungefähr die<br />

Waage halten. In vielen Fällen – ein berühmtes Beispiel<br />

sind die Lemminge – fluktuiert die Populationsgröße stark,<br />

heftige Bevölkerungsexplosionen wechseln sich ab mit<br />

Zusammenbrüchen und Rückgängen fast bis zum Aussterben.<br />

Gelegentlich ist das Resultat ein völliges Aussterben, zumin<strong>de</strong>st<br />

<strong>de</strong>r Population eines begrenzten Gebiets. Manchmal scheint<br />

die Population rhythmisch zu schwanken, etwa im Fall <strong>de</strong>s<br />

kanadischen Luchses. Darauf <strong>de</strong>utet zumin<strong>de</strong>st ein Vergleich<br />

<strong>de</strong>r Anzahl von Fellen hin, die die Hudson Bay Company in<br />

aufeinan<strong>de</strong>rfolgen<strong>de</strong>n Jahren verkauft. Das einzige, was es bei<br />

Tierpopulationen nicht gibt, ist unbegrenztes Wachstum.<br />

Freileben<strong>de</strong> Tiere sterben fast niemals an Altersschwäche:<br />

Sie fallen <strong>de</strong>m Hungertod, Krankheiten o<strong>de</strong>r Räubern zum<br />

Opfer, lange bevor sie wirklich altersschwach wer<strong>de</strong>n. Bis vor<br />

kurzem traf diese Aussage auch auf <strong>de</strong>n Menschen zu. Die meisten<br />

Tiere sterben im Kin<strong>de</strong>salter, und viele gelangen nicht<br />

über das Eistadium hinaus. Verhungern und an<strong>de</strong>re To<strong>de</strong>sursachen<br />

sind letztlich die Grün<strong>de</strong> dafür, daß Populationen nicht<br />

unbegrenzt wachsen können. Doch es gibt, wie wir bei unserer<br />

eigenen Art gesehen haben, keinen zwingen<strong>de</strong>n Grund,


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 181<br />

warum es jemals soweit kommen muß. Wür<strong>de</strong>n die Tiere ihre<br />

Geburtenraten kont<strong>ro</strong>llieren, so gäbe es keinen Hungertod. Die<br />

These von Wynne-Edwards besagt, daß sie ebendies tun. Aber<br />

selbst in diesem Punkt gehen die Meinungen <strong>wen</strong>iger auseinan<strong>de</strong>r,<br />

als <strong>de</strong>r Leser dieses Buches meinen könnte. Die<br />

Anhänger <strong>de</strong>r Theorie <strong>de</strong>s egoistischen Gens wür<strong>de</strong>n ohne<br />

weiteres zustimmen, daß die Tiere tatsächlich ihre Geburtsraten<br />

regulieren. Je<strong>de</strong> Art hat gewöhnlich eine mehr o<strong>de</strong>r<br />

<strong>wen</strong>iger feste Gelege- o<strong>de</strong>r Wurfgröße – kein Tier bekommt<br />

unendlich viele Junge. Die Meinungsverschie<strong>de</strong>nheiten betreffen<br />

nicht die Frage, ob Geburtenraten reguliert wer<strong>de</strong>n. Uneinigkeit<br />

besteht vielmehr darüber, warum sie reguliert wer<strong>de</strong>n:<br />

Durch welchen P<strong>ro</strong>zeß <strong>de</strong>r natürlichen Auslese hat sich die<br />

Familienplanung entwickelt? Mit an<strong>de</strong>ren Worten, die Meinungen<br />

gehen darüber auseinan<strong>de</strong>r, ob die Geburtenkont<strong>ro</strong>lle<br />

bei Tieren altruistisch ist, das heißt zum Wohle <strong>de</strong>r Gruppe<br />

praktiziert wird, o<strong>de</strong>r ob sie egoistisch ist, also zum Wohle <strong>de</strong>s<br />

sich rep<strong>ro</strong>duzieren<strong>de</strong>n Individuums geschieht. Ich wer<strong>de</strong> mich<br />

nacheinan<strong>de</strong>r mit bei<strong>de</strong>n Theorien befassen.<br />

Wynne-Edwards äußerte die Vermutung, daß die Individuen<br />

zum Wohle <strong>de</strong>r ganzen Gruppe <strong>wen</strong>iger Nachkommen<br />

haben, als sie zu bekommen fähig sind. Er war sich darüber<br />

im klaren, daß die normale Selektion unmöglich zur Evolution<br />

eines solchen Altruismus führen kann: Die natürliche Auslese<br />

unterdurchschnittlicher Fortpflanzungsraten ist schon auf<br />

<strong>de</strong>n ersten Blick ein Wi<strong>de</strong>rspruch in sich. Daher holte er die<br />

Gruppenselektion zu Hilfe, wie wir im ersten Kapitel gesehen<br />

haben. Seiner Ansicht nach ist die Wahrscheinlichkeit <strong>de</strong>s Aussterbens<br />

bei Gruppen, <strong>de</strong>ren einzelne Angehörige ihre Geburtenrate<br />

selbst beschränken, geringer als bei rivalisieren<strong>de</strong>n<br />

Gruppen, <strong>de</strong>ren Mitglie<strong>de</strong>r sich <strong>de</strong>rart rasch vermehren, daß<br />

sie das Nahrungsangebot gefähr<strong>de</strong>n. Daher wird die Welt von<br />

Gruppen bevölkert, <strong>de</strong>ren Angehörige sich bei <strong>de</strong>r P<strong>ro</strong>duktion<br />

von Nachwuchs zurückhalten. Die individuelle Zurückhaltung,<br />

die Wynne-Edwards suggeriert, läuft allgemein gesp<strong>ro</strong>chen auf<br />

Geburtenkont<strong>ro</strong>lle hinaus, doch präzisiert er dies weiter und<br />

bringt in <strong>de</strong>r Tat eine eindrucksvolle Konzeption vor, welche


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 182<br />

die Gesamtheit <strong>de</strong>s sozialen Lebens als einen Mechanismus<br />

zur Populationsregulation versteht. Zwei wichtige Merkmale<br />

<strong>de</strong>s Soziallebens bei vielen Tierarten sind beispielsweise Territorialverhalten<br />

und Dominanzhierarchien, die bei<strong>de</strong> bereits in<br />

Kapitel 5 erwähnt wur<strong>de</strong>n.<br />

Viele Tiere ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>n einen g<strong>ro</strong>ßen Teil ihrer <strong>Zeit</strong> und<br />

Energie auf die offensichtliche „Verteidigung“ eines Stückes<br />

Gelän<strong>de</strong>, das die Zoologen als Territorium bezeichnen. Dieses<br />

Phänomen ist im Tierreich weit verbreitet, nicht nur bei<br />

Vögeln, Säugetieren und Fischen, son<strong>de</strong>rn auch bei Insekten<br />

und sogar Seeanemonen. Das Territorium kann ein größeres<br />

Waldareal sein, das beispielsweise einem Brutpaar Rotkehlchen<br />

als Hauptgebiet für die Futtersuche dient. O<strong>de</strong>r es kann,<br />

wie bei <strong>de</strong>n Silbermö<strong>wen</strong>, eine kleine Fläche sein, die keine<br />

Nahrung bietet, doch in <strong>de</strong>ren Mitte ein Nest liegt. Wynne-<br />

Edwards ist überzeugt davon, daß Tiere, die um ein Territorium<br />

kämpfen, um einen symbolischen und nicht um einen wirklichen<br />

Preis, beispielsweise um ein Stück Nahrung, kämpfen. In<br />

vielen Fällen weigern Weibchen sich, sich mit einem Männchen<br />

zu paaren, das kein Revier besitzt. Es kommt sogar häufig vor,<br />

daß ein Weibchen, <strong>de</strong>ssen Männchen besiegt wird und sein<br />

Territorium verliert, sich p<strong>ro</strong>mpt <strong>de</strong>m Sieger anschließt. Selbst<br />

bei augenscheinlich treuen, monogamen Arten ist das Weibchen<br />

möglicherweise eher mit <strong>de</strong>m Revier <strong>de</strong>s Männchens als<br />

mit ihm selbst verheiratet.<br />

Wenn eine Population zu g<strong>ro</strong>ß wird, wer<strong>de</strong>n einige Individuen<br />

ohne Territorium bleiben und sich daher nicht vermehren.<br />

Die E<strong>ro</strong>berung eines Territoriums ist für Wynne-Edwards<br />

daher wie <strong>de</strong>r Gewinn einer Erlaubnis zum Fortpflanzen. Es<br />

steht nur eine begrenzte Zahl von Revieren zur Verfügung, und<br />

dies wirkt sich so aus, als wür<strong>de</strong> nur eine begrenzte Anzahl von<br />

Fortpflanzungsgenehmigungen ausgestellt. Die einzelnen Tiere<br />

mögen darum kämpfen, wer die Genehmigungen bekommt,<br />

aber <strong>de</strong>r Gesamtzahl <strong>de</strong>s Nachwuchses, <strong>de</strong>n die Population<br />

haben kann, ist durch die Zahl <strong>de</strong>r verfügbaren Territorien eine<br />

Grenze gesetzt. In einigen Fällen, beispielsweise beim Schottischen<br />

Moorschneehuhn, hat es tatsächlich auf <strong>de</strong>n ersten Blick


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 183<br />

<strong>de</strong>n Anschein, als hielten sich die Individuen zurück, <strong>de</strong>nn<br />

diejenigen, die keine Territorien erringen können, vermehren<br />

sich nicht nur nicht, sie scheinen auch <strong>de</strong>n Kampf um ein<br />

Revier aufzugeben. Es sieht so aus, als ob sie alle die Spielregeln<br />

akzeptierten: Wenn sich jemand bis zum En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Wettkampfperio<strong>de</strong><br />

nicht eine <strong>de</strong>r offiziellen Eintrittskarten für die<br />

Vermehrung gesichert hat, so verzichtet er freiwillig darauf,<br />

sich fortzupflanzen, und läßt die Erfolgreichen in Ruhe, damit<br />

sie <strong>de</strong>n Fortbestand <strong>de</strong>r Art sichern können.<br />

Die Dominanzhierarchie interpretiert Wynne-Edwards auf<br />

eine ähnliche Weise. Bei vielen Tiergruppen, vor allem in<br />

Gefangenschaft, in einigen Fällen aber auch in freier Wildbahn,<br />

lernen die Tiere, einan<strong>de</strong>r individuell zu erkennen, und sie<br />

lernen außer<strong>de</strong>m, <strong>wen</strong> sie im Kampf besiegen können und<br />

von wem sie selbst gewöhnlich besiegt wer<strong>de</strong>n. Wie wir in<br />

Kapitel 5 gesehen haben, unterwerfen sie sich gewöhnlich <strong>de</strong>n<br />

Individuen, von <strong>de</strong>nen sie „wissen“, daß sie ihnen wahrscheinlich<br />

sowieso unterliegen wür<strong>de</strong>n. Daher kann ein Zoologe eine<br />

Dominanzhierarchie o<strong>de</strong>r „Hackordnung“ (so genannt, weil sie<br />

zum ersten Mal bei Hennen beschrieben wur<strong>de</strong>) aufstellen –<br />

eine gesellschaftliche Rangordnung, in <strong>de</strong>r je<strong>de</strong>r seinen Platz<br />

kennt und keiner auf Gedanken kommt, die seinem Rang nicht<br />

angemessen sind. Natürlich fin<strong>de</strong>n hin und wie<strong>de</strong>r wirklich<br />

ernste Kämpfe statt, und zuweilen können einzelne Tiere eine<br />

Beför<strong>de</strong>rung über ihre früheren unmittelbaren Ranghöheren<br />

hinaus erringen. Doch wie wir in Kapitel 5 gesehen haben,<br />

wirkt sich die automatische Unterwerfung <strong>de</strong>r rangnie<strong>de</strong>ren<br />

Individuen im allgemeinen so aus, daß tatsächlich <strong>wen</strong>ige langwierige<br />

Kämpfe stattfin<strong>de</strong>n und selten schwere Verletzungen<br />

vorkommen.<br />

Viele Leute halten dies auf verschwommen gruppenselektionistische<br />

Weise für eine „gute Sache“. Wynne-Edwards’<br />

Interpretation ist aber sehr viel kühner. Die Wahrscheinlichkeit,<br />

sich zu vermehren, ist für ranghöhere Individuen größer<br />

als für rangnie<strong>de</strong>re, entwe<strong>de</strong>r weil die Weibchen ranghöhere<br />

Männchen vorziehen o<strong>de</strong>r weil diese mit physischer Gewalt<br />

rangnie<strong>de</strong>re Männchen daran hin<strong>de</strong>rn, in die Nähe <strong>de</strong>r Weib-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 184<br />

chen zu gelangen. In Wynne-Edwards’ Augen ist hoher sozialer<br />

Rang eine weitere Eintrittskarte, die zur Rep<strong>ro</strong>duktion berechtigt.<br />

Statt unmittelbar um die Weibchen selbst zu kämpfen,<br />

kämpfen die Individuen um sozialen Status und akzeptieren<br />

dann, daß sie nicht zur Fortpflanzung berechtigt sind, <strong>wen</strong>n sie<br />

nicht hoch oben auf <strong>de</strong>r sozialen Leiter ankommen. Sie halten<br />

sich, <strong>wen</strong>n es um die Weibchen selbst geht, zurück – obwohl sie<br />

immer wie<strong>de</strong>r einmal versuchen mögen, einen höheren Status<br />

zu erringen; man könnte daher sagen, daß sie mittelbar um<br />

Weibchen konkurrieren. Doch dieses „freiwillige Akzeptieren“<br />

<strong>de</strong>r Regel, daß sich nur Männchen mit hohem Status vermehren<br />

dürfen, führt nach Wynne-Edwards’ Ansicht wie im Fall<br />

<strong>de</strong>s Territorialverhaltens dazu, daß die Populationen nicht zu<br />

schnell wachsen. Statt zu viele Junge zu bekommen und dann<br />

durch böse Erfahrungen herauszufin<strong>de</strong>n, daß dies ein Fehler<br />

war, benutzen Populationen formale Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen<br />

über Status und Territorium, um ihre Größe knapp unter <strong>de</strong>m<br />

Niveau zu halten, bei <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Hungertod selbst tatsächlich<br />

einen Tribut verlangt.<br />

Vielleicht die verblüffendste von Wynne-Edwards’ Vorstellungen<br />

ist die <strong>de</strong>s epi<strong>de</strong>iktischen Verhaltens – ein Ausdruck,<br />

<strong>de</strong>n er selbst geprägt hat. Viele Tiere bringen beträchtliche <strong>Zeit</strong><br />

in Scharen, Her<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r Schwärmen zu. Es gibt verschie<strong>de</strong>ne<br />

mehr o<strong>de</strong>r <strong>wen</strong>iger vernünftige Vermutungen darüber, aus<br />

welchem Grun<strong>de</strong> die natürliche Auslese ein solches Ansammlungsverhalten<br />

geför<strong>de</strong>rt haben mag, und auf einige von ihnen<br />

wer<strong>de</strong> ich in Kapitel 10 noch zu sprechen kommen. Wynne-<br />

Edwards hat eine ganz eigene Vorstellung entwickelt. Seiner<br />

Ansicht nach führen Stare, <strong>wen</strong>n sie sich abends in riesigen<br />

Schwärmen sammeln, o<strong>de</strong>r Mücken, die als Wolke über einem<br />

Torpfosten tanzen, eine Volkszählung durch. Da er vermutet,<br />

daß die einzelnen Tiere ihre Geburtenrate im Interesse <strong>de</strong>r<br />

Gruppe beschränken und, <strong>wen</strong>n die Populationsdichte hoch ist,<br />

<strong>wen</strong>iger Junge bekommen, ist es vernünftig, <strong>wen</strong>n er annimmt,<br />

daß sie eine Möglichkeit zur Messung <strong>de</strong>r Populationsdichte<br />

haben müssen – ähnlich wie ein Thermostat als wichtigen<br />

Bestandteil seines Mechanismus ein Thermometer braucht.


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 185<br />

Für Wynne-Edwards ist epi<strong>de</strong>iktisches Verhalten ein absichtliches<br />

Sammeln, das die Schätzung <strong>de</strong>r Populationsgröße<br />

erleichtert. Er meint keine bewußte Schätzung, son<strong>de</strong>rn einen<br />

automatischen nervösen o<strong>de</strong>r hormonalen Mechanismus, <strong>de</strong>r<br />

in <strong>de</strong>n einzelnen Tieren eine Verbindung zwischen <strong>de</strong>r Sinneswahrnehmung<br />

<strong>de</strong>r Populationsdichte und <strong>de</strong>n Rep<strong>ro</strong>duktionssystemen<br />

herstellt.<br />

Ich habe, <strong>wen</strong>n auch in ziemlich knapper Form, Wynne-<br />

Edwards’ Theorie gerecht zu wer<strong>de</strong>n versucht. Wenn mir dies<br />

gelungen ist, so sollte <strong>de</strong>r Leser jetzt überzeugt sein, daß diese<br />

Theorie auf <strong>de</strong>n ersten Blick ziemlich einleuchtend erscheint.<br />

Aber die vorangegangenen Kapitel dieses Buches müßten ihn<br />

skeptisch gestimmt haben, und zwar <strong>de</strong>rart skeptisch, daß<br />

er sagt: So einleuchtend die Theorie auch klingen mag, die<br />

Beweise für sie müssen gut sein, an<strong>de</strong>rnfalls ... Und bedauerlicherweise<br />

sind die Beweise nicht gut. Sie bestehen aus einer<br />

langen Reihe von Beispielen, die zwar auf Wynne-Edwards’<br />

Art interpretiert wer<strong>de</strong>n können, die sich aber ebensogut im<br />

Sinne <strong>de</strong>r konventionellen Theorie vom „egoistischen Gen“<br />

interpretieren lassen.<br />

Der Haupturheber <strong>de</strong>r Genegoismus-Theorie <strong>de</strong>r Familienplanung<br />

– <strong>wen</strong>n er auch niemals diese Bezeichnung benutzt<br />

hätte – war <strong>de</strong>r g<strong>ro</strong>ße Ökologe David Lack. Er beschäftigte<br />

sich vor allem mit <strong>de</strong>r Gelegegröße bei freileben<strong>de</strong>n Vögeln,<br />

doch seine Theorien und Schlußfolgerungen haben <strong>de</strong>n Vorteil,<br />

allgemein an<strong>wen</strong>dbar zu sein. Je<strong>de</strong> Vogelart hat eine typische<br />

Gelegegröße. Beispielsweise brüten Baßtölpel und T<strong>ro</strong>ttellummen<br />

jeweils ein Ei aus, Mauersegler drei, Kohlmeisen ein<br />

halbes Dutzend o<strong>de</strong>r mehr. Dabei gibt es Variationen: Manche<br />

Mauersegler legen nur zwei Eier, Kohlmeisen bis zu zwölf. Es<br />

ist eine vernünftige Annahme, daß die Zahl <strong>de</strong>r Eier, die ein<br />

Weibchen legt und ausbrütet, zumin<strong>de</strong>st zum Teil genetisch<br />

kont<strong>ro</strong>lliert ist, wie je<strong>de</strong>s an<strong>de</strong>re Merkmal auch. Das heißt, es<br />

gibt vielleicht ein Gen für das Legen von zwei Eiern, ein rivalisieren<strong>de</strong>s<br />

Allel für drei Eier, ein weiteres Allel für vier und<br />

so weiter, <strong>wen</strong>n es auch in <strong>de</strong>r Realität nicht ganz so einfach<br />

sein dürfte. Nun verlangt die Theorie <strong>de</strong>s egoistischen Gens,


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 186<br />

daß wir fragen, welches dieser Allele im Genpool zahlreicher<br />

wer<strong>de</strong>n wird. Oberflächlich betrachtet könnte man meinen,<br />

das Gen für das Legen von vier Eiern müsse gegenüber <strong>de</strong>n<br />

Genen für das Legen von dreien o<strong>de</strong>r zweien im Vorteil sein.<br />

Eine kurze Überlegung zeigt jedoch, daß diese einfache Vorstellung<br />

von „Je-mehr-<strong>de</strong>sto-besser“ nicht richtig sein kann.<br />

Sie führt zu <strong>de</strong>r Schlußfolgerung, daß fünf Eier besser sein<br />

müßten als vier, zehn noch besser, hun<strong>de</strong>rt wie<strong>de</strong>rum besser<br />

und unendlich viele am allerbesten. Mit an<strong>de</strong>ren Worten: Diese<br />

Logik führt zu einem absur<strong>de</strong>n Ergebnis. Es liegt auf <strong>de</strong>r<br />

Hand, daß das Legen einer g<strong>ro</strong>ßen Eierzahl nicht nur Vorteile<br />

bringt, son<strong>de</strong>rn auch Kosten verursacht. Mehr Nachwuchs zu<br />

p<strong>ro</strong>duzieren be<strong>de</strong>utet unweigerlich, <strong>wen</strong>iger für ihn sorgen zu<br />

können. Der Kernpunkt von Lacks Gedanken ist, daß es für<br />

je<strong>de</strong> Spezies in je<strong>de</strong>r gegebenen Umweltsituation eine optimale<br />

Gelegegröße geben muß. Der Unterschied zwischen Lacks und<br />

Wynne-Edwards’ Meinung liegt in <strong>de</strong>r Antwort auf die Frage:<br />

„Optimal von wessen Standpunkt?“ Wynne-Edwards wür<strong>de</strong><br />

sagen, das wichtige Optimum, <strong>de</strong>m alle Individuen zustreben<br />

sollten, ist das Optimum für die Gruppe. Lack wür<strong>de</strong> sagen,<br />

je<strong>de</strong>s egoistische Individuum wählt die Gelegegröße, durch<br />

welche die Zahl <strong>de</strong>r Jungen, die es aufzieht, maximiert wird.<br />

Wenn drei die optimale Gelegegröße für Mauersegler ist, so<br />

be<strong>de</strong>utet dies für Lack, daß je<strong>de</strong>s Individuum, das vier Küken<br />

g<strong>ro</strong>ßzuziehen versucht, am En<strong>de</strong> wahrscheinlich <strong>wen</strong>iger<br />

Nachkommen haben wird als rivalisieren<strong>de</strong>, vorsichtigere Individuen,<br />

die nur drei aufzuziehen versuchen. Der augenfällige<br />

Grund dafür wäre, daß die Nahrung – auf die vier Jungen verteilt<br />

– so knapp ist, daß nur <strong>wen</strong>ige von ihnen bis ins Erwachsenenalter<br />

überleben. Dies wür<strong>de</strong> sowohl für die anfängliche<br />

Verteilung von Dotter auf die vier Eier als auch für die später<br />

an die vier Küken verfütterte Nahrung gelten. Nach Lack regulieren<br />

die Individuen daher ihre Gelegegröße aus Grün<strong>de</strong>n,<br />

die alles an<strong>de</strong>re als altruistisch sind. Sie praktizieren Geburtenkont<strong>ro</strong>lle<br />

nicht, um eine Überbelastung <strong>de</strong>r Ressourcen <strong>de</strong>r<br />

Gruppe zu verhin<strong>de</strong>rn, son<strong>de</strong>rn um die Anzahl ihrer tatsächlich<br />

überleben<strong>de</strong>n Jungen zu maximieren – ein Ziel, das das genaue


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 187<br />

Gegenteil <strong>de</strong>ssen ist, was wir gewöhnlich mit Geburtenkont<strong>ro</strong>lle<br />

assoziieren.<br />

Die Aufzucht junger Vögel ist eine kostspielige Angelegenheit.<br />

Die Mutter muß eine g<strong>ro</strong>ße Menge Nahrung und Energie<br />

für die Erzeugung <strong>de</strong>r Eier auf<strong>wen</strong><strong>de</strong>n. Möglicherweise mit<br />

Hilfe <strong>de</strong>s Männchens investiert sie beträchtliche Anstrengungen<br />

in <strong>de</strong>n Bau eines Nestes, das ihre Eier beherbergen und<br />

schützen soll. Die Eltern verbringen Wochen mit geduldigem<br />

Ausbrüten <strong>de</strong>r Eier. Wenn die Jungen dann ausgeschlüpft<br />

sind, arbeiten sich die Eltern fast zu To<strong>de</strong>, in<strong>de</strong>m sie mehr<br />

o<strong>de</strong>r <strong>wen</strong>iger pausenlos und ohne auszuruhen Futter für sie<br />

heranschleppen. Wie wir bereits gesagt haben, bringt eine<br />

Kohlmeise, solange Tageslicht herrscht, alle 30 Sekun<strong>de</strong>n ein<br />

Bröckchen Futter zum Nest. Säugetiere wie wir selbst gehen<br />

auf eine geringfügig an<strong>de</strong>re Weise vor, <strong>de</strong>r Grundgedanke<br />

aber, daß Rep<strong>ro</strong>duktion eine kostspielige Angelegenheit ist,<br />

vor allem für die Mütter, ist <strong>de</strong>shalb nicht <strong>wen</strong>iger wahr. Es<br />

liegt auf <strong>de</strong>r Hand, daß eine Mutter, die versuchen wür<strong>de</strong>, ihre<br />

begrenzten Mittel an Futter und Kraft auf zu viele Kin<strong>de</strong>r<br />

zu verteilen, letzten En<strong>de</strong>s <strong>wen</strong>iger g<strong>ro</strong>ßziehen wür<strong>de</strong>, als<br />

<strong>wen</strong>n sie von vornherein etwas beschei<strong>de</strong>ner gewesen wäre.<br />

Sie muß Gebären und Pflegen gegeneinan<strong>de</strong>r abwägen. Die<br />

Gesamtmenge an Nahrung und an<strong>de</strong>ren Mitteln, die ein einzelnes<br />

Weibchen o<strong>de</strong>r ein Elternpaar aufbringen kann, ist <strong>de</strong>r<br />

begrenzen<strong>de</strong> Faktor, <strong>de</strong>r bestimmt, wie viele Kin<strong>de</strong>r sie aufziehen<br />

können. Die natürliche Auslese bewirkt nach <strong>de</strong>r Lackschen<br />

Theorie ein Angleichen <strong>de</strong>r anfänglichen Gelege- beziehungsweise<br />

Wurfgröße <strong>de</strong>rgestalt, daß diese begrenzten Mittel<br />

maximal ausgenutzt wer<strong>de</strong>n.<br />

Individuen, die zu viele Kin<strong>de</strong>r haben, wer<strong>de</strong>n bestraft; nicht<br />

dadurch, daß die ganze Population ausstirbt, son<strong>de</strong>rn einfach<br />

damit, daß nur <strong>wen</strong>ige ihrer Kin<strong>de</strong>r überleben. Gene für das<br />

Bekommen von zu vielen Kin<strong>de</strong>rn wer<strong>de</strong>n einfach nicht in<br />

g<strong>ro</strong>ßen Mengen an die nächste Generation weitergegeben, weil<br />

<strong>wen</strong>ige <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r, die diese Gene in sich tragen, das Erwachsenenalter<br />

erreichen. Nun ist, was <strong>de</strong>n mo<strong>de</strong>rnen, zivilisierten<br />

Menschen betrifft, folgen<strong>de</strong>s geschehen: Die Größe <strong>de</strong>r Familie


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 188<br />

ist nicht mehr durch die begrenzten Mittel beschränkt, die die<br />

einzelnen Eltern aufbringen können. Wenn ein Mann und seine<br />

Frau mehr Kin<strong>de</strong>r haben, als sie ernähren können, so greift<br />

einfach <strong>de</strong>r Staat ein, das heißt <strong>de</strong>r Rest <strong>de</strong>r Bevölkerung, und<br />

hält die überzähligen Kin<strong>de</strong>r am Leben und bei Gesundheit. Es<br />

gibt in <strong>de</strong>r Tat nichts, was ein Ehepaar, welches keinerlei materielle<br />

Mittel besitzt, daran hin<strong>de</strong>rn könnte, so viele Kin<strong>de</strong>r zu<br />

haben und aufzuziehen, wie die Frau physisch verkraften kann.<br />

Aber <strong>de</strong>r Wohlfahrtsstaat ist eine sehr unnatürliche Sache. In<br />

<strong>de</strong>r Natur haben Eltern, die mehr Kin<strong>de</strong>r bekommen, als sie<br />

versorgen können, nicht viele Enkel, und ihre Gene wer<strong>de</strong>n<br />

nicht an zukünftige Generationen vererbt. Es besteht keine<br />

Not<strong>wen</strong>digkeit einer altruistischen Begrenzung <strong>de</strong>r Geburtenrate,<br />

weil es in <strong>de</strong>r Natur keinen Wohlfahrtsstaat gibt. Je<strong>de</strong>s<br />

Gen für Unmäßigkeit wird p<strong>ro</strong>mpt bestraft: Die mit diesem Gen<br />

ausgestatteten Kin<strong>de</strong>r verhungern. Da wir Menschen nicht zu<br />

<strong>de</strong>n alten egoistischen Metho<strong>de</strong>n zurückkehren wollen, die<br />

Kin<strong>de</strong>r allzu g<strong>ro</strong>ßer Familien verhungern zu lassen, haben<br />

wir die Familie als eine autarke Einheit abgeschafft und<br />

dafür <strong>de</strong>n Staat eingesetzt. Aber das Privileg <strong>de</strong>r verbürgten<br />

Unterstützung für Kin<strong>de</strong>r sollte nicht mißbraucht wer<strong>de</strong>n.<br />

Empfängnisverhütung wird zuweilen als „unnatürlich“ angegriffen.<br />

Und das ist sie, sehr unnatürlich sogar. Aber auch <strong>de</strong>r<br />

Wohlfahrtsstaat ist unnatürlich, und ich glaube, daß die meisten<br />

von uns ihn für sehr wünschenswert halten. Doch man<br />

kann keinen unnatürlichen Wohlfahrtsstaat haben, <strong>wen</strong>n man<br />

nicht auch unnatürliche Geburtenkont<strong>ro</strong>lle hat, an<strong>de</strong>rnfalls<br />

wird das En<strong>de</strong>rgebnis noch größeres Elend sein, als es in <strong>de</strong>r<br />

Natur vorherrscht. Der Wohlfahrtsstaat ist vielleicht das größte<br />

altruistische System, das das Tierreich je gekannt hat. Aber<br />

je<strong>de</strong>s altruistische System ist von Natur aus instabil, weil<br />

es <strong>de</strong>m Mißbrauch durch egoistische Individuen offensteht.<br />

Die einzelnen Menschen, die mehr Kin<strong>de</strong>r bekommen, als<br />

sie versorgen können, sind in <strong>de</strong>n meisten Fällen wahrscheinlich<br />

zu unwissend, als daß man sie böswilliger Ausnutzung<br />

beschuldigen könnte. Mächtige Institutionen und führen<strong>de</strong><br />

Persönlichkeiten, die sie bewußt dazu ermutigen, scheinen mir


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 189<br />

von diesem Verdacht <strong>wen</strong>iger frei zu sein.<br />

Kehren wir zu <strong>de</strong>n freileben<strong>de</strong>n Tieren zurück: Die Lacksche<br />

Argumentation bezüglich <strong>de</strong>r Gelegegröße läßt sich auf<br />

alle an<strong>de</strong>ren Beispiele aus<strong>de</strong>hnen, die Wynne-Edwards benutzt<br />

hat: Territorialverhalten, Dominanzhierarchie und so weiter.<br />

Nehmen wir beispielsweise das Schottische Moorschneehuhn,<br />

über das er und seine Kollegen gearbeitet haben. Diese Vögel<br />

ernähren sich von Hei<strong>de</strong>kraut und teilen das Hei<strong>de</strong>land in Territorien<br />

auf, die augenscheinlich mehr Nahrung enthalten, als<br />

die Revierbesitzer tatsächlich brauchen. Zu Beginn <strong>de</strong>r Paarungszeit<br />

kämpfen sie um Territorien, aber nach einer Weile<br />

scheinen die Verlierer zu akzeptieren, daß sie versagt haben,<br />

und kämpfen nicht weiter. Sie wer<strong>de</strong>n zu Ausgestoßenen, die<br />

niemals ein Revier bekommen. Bis zum En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Brutzeit sind<br />

sie größtenteils verhungert. Nur wer ein Territorium hat, vermehrt<br />

sich. Daß die revierlosen Individuen körperlich in <strong>de</strong>r<br />

Lage sind, Nachkommen zu zeugen und aufzuziehen, zeigt<br />

sich, <strong>wen</strong>n ein Territoriumsbesitzer erlegt wird: Sein Platz wird<br />

unverzüglich von einem <strong>de</strong>r früheren Ausgestoßenen eingenommen,<br />

<strong>de</strong>r sich dann vermehrt. Wynne-Edwards’ Interpretation<br />

dieses extremen Territorialverhaltens zufolge „akzeptieren“<br />

die Ausgestoßenen, wie wir gesehen haben, daß es ihnen<br />

nicht gelungen ist, eine Eintrittskarte o<strong>de</strong>r Genehmigung zum<br />

Fortpflanzen zu erringen; sie machen keinen Versuch, Nachkommen<br />

zu zeugen.<br />

Auf <strong>de</strong>n ersten Blick scheint es schwierig zu sein, dieses<br />

Beispiel mit <strong>de</strong>r Theorie <strong>de</strong>s egoistischen Gens zu erklären.<br />

Warum versuchen die Ausgestoßenen nicht wie<strong>de</strong>r und wie<strong>de</strong>r,<br />

einen Territoriumsbesitzer zu verdrängen – so lange, bis sie vor<br />

Erschöpfung sterben? Sie haben doch allem Anschein nach<br />

nichts zu verlieren. Aber vielleicht trügt dieser Anschein. Wie<br />

wir bereits gesehen haben, hat ein Ausgestoßener die Chance,<br />

<strong>de</strong>n Platz eines Revierbesitzers einzunehmen, <strong>wen</strong>n dieser<br />

sterben sollte, und daher auch eine Chance, sich fortzupflanzen.<br />

Wenn die Wahrscheinlichkeit, auf diese Weise ein Territorium<br />

übernehmen zu können, größer ist als die, eines im Kampf<br />

zu erringen, dann könnte es sich für einen Ausgestoßenen als


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 190<br />

selbstsüchtiges Individuum auszahlen, lieber zu warten – in<br />

<strong>de</strong>r Hoffnung, daß jemand stirbt –, als sein bißchen Energie<br />

in aussichtslosen Kämpfen zu vergeu<strong>de</strong>n. Für Wynne-Edwards<br />

besteht die Funktion <strong>de</strong>s Ausgestoßenen für das Wohl <strong>de</strong>r<br />

Gruppe darin, als Ersatzmann in <strong>de</strong>n Kulissen zu warten –<br />

bereit, in die Rolle irgen<strong>de</strong>ines Revierbesitzers zu schlüpfen,<br />

<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>r Bühne <strong>de</strong>r Gruppenrep<strong>ro</strong>duktion stirbt. Wir haben<br />

jetzt erkannt, daß dies genausogut die Strategie eines egoistischen<br />

Individuums sein könnte. Wie wir in Kapitel 4 gesehen<br />

haben, können wir die Tiere als Spieler betrachten. Die beste<br />

Strategie für einen Spieler ist zuweilen die <strong>de</strong>s Abwartens und<br />

Hoffens und nicht die <strong>de</strong>s „wüten<strong>de</strong>n Stieres“.<br />

Auf ähnliche Weise lassen sich die vielen an<strong>de</strong>ren Beispiele<br />

von Tieren, die <strong>de</strong>n nichtrep<strong>ro</strong>duktiven Status passiv zu<br />

„akzeptieren“ scheinen, ziemlich leicht mit <strong>de</strong>r Theorie <strong>de</strong>s<br />

egoistischen Gens erklären. In ihrer allgemeinen Form ist die<br />

Erklärung immer dieselbe: Der sicherste Schachzug für das<br />

Individuum ist, sich in <strong>de</strong>r Hoffnung auf bessere Chancen vorerst<br />

zurückzuhalten. Ein Robbenmännchen, das die Haremsbesitzer<br />

in Ruhe läßt, tut dies nicht zum Wohl <strong>de</strong>r Gruppe. Es<br />

wartet auf eine günstige Gelegenheit. Selbst <strong>wen</strong>n eine solche<br />

Gelegenheit niemals kommt und das Männchen schließlich<br />

ohne Nachkommen bleibt – die Taktik hätte sich auszahlen<br />

können, auch <strong>wen</strong>n wir im nachhinein wissen, daß sie es in<br />

diesem Fall nicht getan hat. Wenn Lemminge in Millionenscharen<br />

vom Zentrum <strong>de</strong>r Bevölkerungsexplosion wegströmen,<br />

tun sie dies nicht, um die Populationsdichte in <strong>de</strong>m Gebiet,<br />

das sie verlassen, zu vermin<strong>de</strong>rn! Sie suchen – je<strong>de</strong>r einzelne<br />

egoistische Lemming sucht – einen <strong>wen</strong>iger überfüllten Platz<br />

zum Leben. Daß es irgen<strong>de</strong>inem einzelnen unter ihnen nicht<br />

gelingt, einen solchen Platz zu fin<strong>de</strong>n, und daß er stirbt, ist<br />

etwas, das wir im nachhinein sehen können. Es än<strong>de</strong>rt nichts<br />

an <strong>de</strong>r Tatsache, daß Dableiben vielleicht eine noch schlechtere<br />

Strategie gewesen wäre.<br />

Es ist gut dokumentiert, daß Überbevölkerung zuweilen die<br />

Geburtenrate reduziert. Dies wird manchmal als Beweis für<br />

die Theorie von Wynne-Edwards herangezogen, allerdings zu


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 191<br />

Unrecht. Diese Tatsache ist mit seiner Theorie vereinbar, und<br />

genauso vereinbar ist sie mit <strong>de</strong>r Theorie <strong>de</strong>s egoistischen<br />

Gens. Beispielsweise hat man bei einem Experiment Mäuse<br />

in ein Freigehege mit ausreichend Nahrung gesetzt und sich<br />

ungehin<strong>de</strong>rt vermehren lassen. Die Population wuchs nur bis<br />

zu einem bestimmten Punkt an und blieb dann zahlenmäßig<br />

gleich. Als Ursache dafür stellte sich heraus, daß die Fruchtbarkeit<br />

<strong>de</strong>r Weibchen infolge <strong>de</strong>r Überfüllung abnahm: Sie bekamen<br />

<strong>wen</strong>iger Junge. Ein <strong>de</strong>rartiger Effekt ist häufig beschrieben<br />

wor<strong>de</strong>n. Seine unmittelbare Ursache wird oft als „Streß“<br />

bezeichnet, allerdings trägt die Bezeichnung als solche noch<br />

nichts zur Erklärung <strong>de</strong>s Effekts bei. Was auch immer <strong>de</strong>ssen<br />

unmittelbare Ursache sein mag, auf je<strong>de</strong>n Fall müssen wir nach<br />

<strong>de</strong>r letzten, <strong>de</strong>r evolutionären Ursache suchen. Warum för<strong>de</strong>rt<br />

die natürliche Auslese Weibchen, die ihre Geburtenrate bei<br />

Übervölkerung reduzieren? Die Antwort von Wynne-Edwards<br />

ist klar: Die Gruppenselektion begünstigt Gruppen, in <strong>de</strong>nen<br />

die Weibchen die Größe <strong>de</strong>r Population registrieren und ihre<br />

Geburtenrate so anpassen, daß die Nahrungsquellen nicht<br />

übernutzt wer<strong>de</strong>n. Unter <strong>de</strong>n Bedingungen <strong>de</strong>s Experiments<br />

war es nun zufällig so, daß die Nahrung niemals knapp wur<strong>de</strong>,<br />

aber es ist nicht davon auszugehen, daß die Mäuse dies wußten.<br />

Sie sind für das Leben in freier Wildbahn p<strong>ro</strong>grammiert,<br />

und unter natürlichen Bedingungen dürfte Übervölkerung ein<br />

zuverlässiger Indikator für zukünftige Hungersnot sein.<br />

Was sagt die Theorie <strong>de</strong>s egoistischen Gens? Fast genau dasselbe,<br />

aber mit einem entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Unterschied. Der Leser<br />

wird sich erinnern, daß nach Lacks Ansicht die Tiere dazu<br />

tendieren, die von ihrem eigenen egoistischen Standpunkt aus<br />

gesehen optimale Zahl von Jungen zu haben. Wenn sie zu<br />

<strong>wen</strong>ige o<strong>de</strong>r zu viele bekommen, wer<strong>de</strong>n sie schließlich <strong>wen</strong>iger<br />

g<strong>ro</strong>ßziehen, als <strong>wen</strong>n sie genau die richtige Zahl get<strong>ro</strong>ffen<br />

hätten. Nun ist „genau die richtige Zahl“ in einem Jahr mit<br />

sehr hoher Populationsdichte wahrscheinlich kleiner als in<br />

einem Jahr, in <strong>de</strong>m die Bevölkerungsdichte gering ist. Wir<br />

waren uns bereits darüber einig, daß Übervölkerung wahrscheinlich<br />

Hungersnot ankündigt. Zweifellos ist es im eigenen


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 192<br />

Interesse eines Weibchens, seine Geburtenrate zu reduzieren,<br />

<strong>wen</strong>n es verläßliche Vorzeichen einer Hungersnot ent<strong>de</strong>ckt.<br />

Rivalen, die auf die Warnsignale nicht auf diese Weise reagieren,<br />

wer<strong>de</strong>n letzten En<strong>de</strong>s <strong>wen</strong>iger Junge g<strong>ro</strong>ßziehen, selbst<br />

<strong>wen</strong>n sie mehr gebären. Wir kommen also beinahe zum gleichen<br />

Schluß wie Wynne-Edwards, aber wir gelangen mit einer<br />

völlig an<strong>de</strong>ren Art <strong>de</strong>r evolutionären Beweisführung dorthin.<br />

Die Theorie <strong>de</strong>s egoistischen Gens hat noch nicht einmal<br />

Schwierigkeiten mit <strong>de</strong>n „epi<strong>de</strong>iktischen Darstellungen“. Der<br />

Leser wird sich erinnern, daß Wynne-Edwards die Hypothese<br />

aufstellte, die Tiere versammelten sich absichtlich in g<strong>ro</strong>ßen<br />

Mengen, um es allen Individuen leicht zu machen, einen<br />

Zensus durchzuführen und ihre Geburtenraten entsprechend<br />

zu regulieren. Es gibt keinen direkten Beweis dafür, daß irgen<strong>de</strong>ine<br />

Ansammlung tatsächlich epi<strong>de</strong>iktisch ist, aber nehmen<br />

wir ruhig einmal an, man fän<strong>de</strong> einen <strong>de</strong>rartigen Beweis.<br />

Wür<strong>de</strong> dies die Theorie <strong>de</strong>s egoistischen Gens in Verlegenheit<br />

bringen? Nicht im geringsten.<br />

Stare verbringen die Nacht in riesigen Scharen. Nehmen<br />

wir an, es wür<strong>de</strong> nicht nur bewiesen, daß Überbevölkerung im<br />

Winter die Fruchtbarkeit im darauffolgen<strong>de</strong>n Frühjahr senkt,<br />

son<strong>de</strong>rn auch, daß dies unmittelbar darauf zurückzuführen<br />

ist, daß die Vögel die Lautäußerungen <strong>de</strong>r Schar registrieren.<br />

Es ließe sich vielleicht experimentell zeigen, daß Individuen,<br />

die <strong>de</strong>r Tonbandaufnahme eines überfüllten und sehr lauten<br />

Starenschlafplatzes ausgesetzt wur<strong>de</strong>n, <strong>wen</strong>iger Eier legen als<br />

Individuen, die die Aufnahme eines ruhigeren, <strong>wen</strong>iger stark<br />

frequentierten Schlafplatzes hörten. Definitionsgemäß wür<strong>de</strong><br />

dies darauf hin<strong>de</strong>uten, daß die Rufe <strong>de</strong>r Stare tatsächlich<br />

eine epi<strong>de</strong>iktische Darstellung sind. Die Theorie <strong>de</strong>s egoistischen<br />

Gens wür<strong>de</strong> dies fast genauso erklären wie <strong>de</strong>n Fall <strong>de</strong>r<br />

Mäuse.<br />

Wie<strong>de</strong>r gehen wir von <strong>de</strong>r Annahme aus, daß Gene für die<br />

P<strong>ro</strong>duktion von mehr Nachwuchs, als man tatsächlich unterhalten<br />

kann, automatisch bestraft wer<strong>de</strong>n und im Genpool an<br />

Zahl abnehmen. Eine sich effizient fortpflanzen<strong>de</strong> Vogelmutter<br />

muß voraussagen, welches in <strong>de</strong>r kommen<strong>de</strong>n Brutzeit die


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 193<br />

optimale Gelegegröße für sie in ihrer Eigenschaft als egoistisches<br />

Individuum sein wird. Der Leser wird sich von Kapitel 4<br />

her an die beson<strong>de</strong>re Be<strong>de</strong>utung erinnern, in <strong>de</strong>r wir das Wort<br />

Voraussage ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>n. Wie kann nun ein Vogelweibchen seine<br />

optimale Gelegegröße voraussagen? Welche Variablen sollten<br />

in seine Berechnung eingehen? Es mag sein, daß viele Arten<br />

eine feste Voraussage machen, die sich von einem Jahr zum<br />

an<strong>de</strong>ren nicht än<strong>de</strong>rt. So ist für einen Baßtölpel in <strong>de</strong>r Regel<br />

ein Gelege mit nur einem Ei optimal. Möglicherweise steigt das<br />

tatsächliche Optimum in Rekordfischjahren vorübergehend<br />

auf zwei Eier. Doch <strong>wen</strong>n es für die Tölpel keine Möglichkeit<br />

gibt vorherzusehen, ob ein bestimmtes Jahr ein Rekordjahr<br />

sein wird o<strong>de</strong>r nicht, können wir nicht erwarten, daß einzelne<br />

Weibchen das Risiko eingehen, ihre Kräfte auf zwei Eier zu<br />

versch<strong>wen</strong><strong>de</strong>n, <strong>wen</strong>n dies in einem Durchschnittsjahr ihren<br />

Fortpflanzungserfolg beeinträchtigen wür<strong>de</strong>.<br />

Es mag aber an<strong>de</strong>re Arten geben, vielleicht Stare, für die<br />

es im Prinzip möglich ist, im Winter vorauszusagen, ob eine<br />

bestimmte Nahrungsquelle im kommen<strong>de</strong>n Frühjahr eine gute<br />

Ernte liefern wird. Es gibt zahlreiche alte Bauernregeln, <strong>de</strong>nen<br />

zufolge Anzeichen wie beispielsweise <strong>de</strong>r Überfluß von Stechpalmenbeeren<br />

gute Indikatoren für das Wetter im darauffolgen<strong>de</strong>n<br />

Frühjahr sein können. Gleichgültig, ob irgen<strong>de</strong>ine einzelne<br />

Altweibergeschichte wahr ist o<strong>de</strong>r nicht, es ist auf je<strong>de</strong>n<br />

Fall logisch möglich, daß es solche Hinweise gibt und daß eine<br />

gute P<strong>ro</strong>phetin theoretisch ihre Brutgröße von Jahr zu Jahr<br />

so steuern könnte, wie das für sie von Vorteil wäre. Stechpalmenbeeren<br />

mögen verläßliche Indikatoren sein o<strong>de</strong>r nicht, die<br />

Populationsdichte dürfte jedoch – wie im Fall <strong>de</strong>r Mäuse – mit<br />

ziemlicher Wahrscheinlichkeit ein guter Indikator sein. Eine<br />

Starenmutter kann im Prinzip wissen, daß sie im kommen<strong>de</strong>n<br />

Frühjahr, <strong>wen</strong>n sie ihre Jungen wird füttern müssen, mit rivalisieren<strong>de</strong>n<br />

Artgenossen um Nahrung konkurriert. Wenn sie im<br />

Winter irgendwie die örtliche Dichte ihrer eigenen Art schätzen<br />

kann, so könnte ihr dies bei <strong>de</strong>r Voraussage, wie schwierig<br />

es sein wird, im nächsten Frühjahr Futter für junge Vögel zu<br />

bekommen, eine wertvolle Hilfe sein. Stellt sie fest, daß die


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 194<br />

Winterpopulation beson<strong>de</strong>rs g<strong>ro</strong>ß ist, so könnte es von ihrem<br />

eigenen egoistischen Standpunkt sehr wohl eine kluge Strategie<br />

sein, relativ <strong>wen</strong>ige Eier zu legen: Der Schätzwert für ihre<br />

eigene optimale Gelegegröße wür<strong>de</strong> vermin<strong>de</strong>rt.<br />

Nun wird es in <strong>de</strong>m Moment, in <strong>de</strong>m die Individuen<br />

tatsächlich ihre Brutgröße auf <strong>de</strong>r Basis ihrer Schätzung <strong>de</strong>r<br />

Populationsdichte reduzieren, unmittelbar zum Vorteil je<strong>de</strong>s<br />

egoistischen Individuums sein, seinem Rivalen gegenüber vorzugeben,<br />

daß die Population g<strong>ro</strong>ß ist – gleichgültig, ob sie<br />

dies wirklich ist o<strong>de</strong>r nicht. Wenn Stare die Populationsgröße<br />

anhand <strong>de</strong>s Geräuschvolumens an einer Winterschlafstelle<br />

schätzen, so wür<strong>de</strong> es sich für je<strong>de</strong>s Individuum auszahlen, so<br />

laut wie möglich zu rufen, damit es eher wie zwei Stare klingt<br />

als wie einer. Der Gedanke, daß Tiere vorgeben, mehrere Tiere<br />

auf einmal zu sein, ist in einem an<strong>de</strong>ren Zusammenhang von<br />

J. R. Krebs entwickelt wor<strong>de</strong>n und wird als Beau-Geste-Effekt<br />

bezeichnet nach <strong>de</strong>m Roman, in <strong>de</strong>m eine ähnliche Taktik von<br />

einer Einheit <strong>de</strong>r französischen Frem<strong>de</strong>nlegion ange<strong>wen</strong><strong>de</strong>t<br />

wur<strong>de</strong>. Im Fall <strong>de</strong>r Stare ginge es darum, benachbarte Individuen<br />

dazu zu veranlassen, ihre Gelegegröße auf ein Niveau zu<br />

reduzieren, das unter <strong>de</strong>m wirklichen Optimum liegt. Wenn<br />

ich ein Star bin, <strong>de</strong>m dies gelingt, so ist das für mich egoistisches<br />

Individuum ein Vorteil, da ich die Zahl <strong>de</strong>r Individuen<br />

vermin<strong>de</strong>re, die nicht meine Gene tragen. Wir kommen daher<br />

zu <strong>de</strong>m Schluß, daß Wynne-Edwards’ Vorstellung <strong>de</strong>r epi<strong>de</strong>iktischen<br />

Schaustellung tatsächlich eine gute I<strong>de</strong>e sein dürfte:<br />

Möglicherweise hat er von Anfang an recht gehabt, aber aus<br />

<strong>de</strong>n falschen Grün<strong>de</strong>n. Im g<strong>ro</strong>ßen und ganzen ist die Lacksche<br />

Art <strong>de</strong>r Hypothese überzeugend genug, um für alle Beweise,<br />

welche die Theorie <strong>de</strong>r Gruppenselektion zu untermauern<br />

scheinen, eine Erklärung im Sinne <strong>de</strong>s egoistischen Gens zu<br />

liefern – falls <strong>de</strong>rartige Beweise auftauchen sollten.<br />

Unsere Schlußfolgerung aus diesem Kapitel lautet, daß die<br />

einzelnen Eltern Familienplanung praktizieren, aber in <strong>de</strong>m<br />

Sinne, daß sie ihre Geburtenraten optimieren, statt sie um <strong>de</strong>s<br />

Gemeinwohles willen einzuschränken. Sie versuchen, die Zahl<br />

ihrer überleben<strong>de</strong>n Jungen zu maximieren, und das be<strong>de</strong>utet,


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 195<br />

we<strong>de</strong>r zu viele noch zu <strong>wen</strong>ige Nachkommen zu p<strong>ro</strong>duzieren.<br />

Gene, die ein Individuum veranlassen, zu viele Nachkommen<br />

zu haben, tendieren dazu, im Genpool nicht weiterzubestehen,<br />

weil Kin<strong>de</strong>r, die <strong>de</strong>rartige Gene tragen, oft nicht bis zum<br />

Erwachsenenalter überleben.<br />

Soviel also zu quantitativen Überlegungen über die Familien-größe.<br />

Wir <strong>wen</strong><strong>de</strong>n uns nun <strong>de</strong>n Interessenkonflikten<br />

innerhalb <strong>de</strong>r Familie zu. Wird es sich für eine Mutter immer<br />

auszahlen, <strong>wen</strong>n sie alle ihre Kin<strong>de</strong>r gleich behan<strong>de</strong>lt, o<strong>de</strong>r<br />

sollte sie Lieblingskin<strong>de</strong>r haben? Funktioniert die Familie als<br />

eine kooperieren<strong>de</strong> Einheit, o<strong>de</strong>r müssen wir sogar zwischen<br />

<strong>de</strong>n nächsten Verwandten Egoismus und Täuschung erwarten?<br />

Wer<strong>de</strong>n alle Mitglie<strong>de</strong>r einer Familie auf dasselbe Optimum<br />

hin zusammenarbeiten, o<strong>de</strong>r wer<strong>de</strong>n sie „uneinig sein“<br />

darüber, welches dieses Optimum ist? Dies sind die Fragen,<br />

die wir im nächsten Kapitel zu beantworten suchen. Die damit<br />

zusammenhängen<strong>de</strong> Frage, ob es möglicherweise einen Interessenkonflikt<br />

zwischen <strong>de</strong>n Partnern gibt, stellen wir bis zum<br />

Kapitel 9 zurück.


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 196<br />

8. Der Krieg <strong>de</strong>r Generationen<br />

Beginnen wir mit <strong>de</strong>r ersten <strong>de</strong>r am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s vorigen Kapitels<br />

gestellten Fragen: Soll eine Mutter Lieblingskin<strong>de</strong>r haben,<br />

o<strong>de</strong>r sollte sie zu allen gleich uneigennützig sein? Auch hier<br />

muß ich wie<strong>de</strong>r meine gewohnte Warnung anbringen. Das Wort<br />

„Lieblingskind“ hat keinerlei subjektiven Beiklang und das<br />

Wort „sollte“ keinen moralischen. Ich betrachte eine Mutter als<br />

eine Maschine, die so p<strong>ro</strong>grammiert ist, daß sie alles in ihrer<br />

Macht Stehen<strong>de</strong> tut, um Kopien <strong>de</strong>r in ihr eingeschlossenen<br />

Gene zu verbreiten. Weil <strong>de</strong>r Leser und ich Menschen sind,<br />

die wissen, wie es ist, <strong>wen</strong>n man bewußt ein Ziel verfolgt, ist<br />

es für mich zweckmäßig, zur Erklärung <strong>de</strong>s Verhaltens von<br />

Überlebensmaschinen eine Sprache zu benutzen, die normalerweise<br />

zielstrebiges Han<strong>de</strong>ln beschreibt.<br />

Was wür<strong>de</strong> es in <strong>de</strong>r Praxis be<strong>de</strong>uten, <strong>wen</strong>n man sagte, daß<br />

eine Mutter ein Lieblingskind hat? Es wür<strong>de</strong> be<strong>de</strong>uten, daß<br />

sie ihre Mittel ungleich auf ihre Kin<strong>de</strong>r verteilt. Die Mittel,<br />

die eine Mutter in ihre Kin<strong>de</strong>r investieren kann, bestehen aus<br />

einer Vielzahl von Dingen. Das Augenfälligste ist die Nahrung<br />

sowie die Anstrengung, die auf die Futterbeschaffung ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>t<br />

wird, <strong>de</strong>nn diese an sich kostet die Mutter ebenfalls etwas.<br />

Das Risiko, welches die Mutter auf sich nimmt, um ihre Jungen<br />

vor Räubern zu schützen, ist eine weitere Ressource, die sie<br />

„verausgaben“ o<strong>de</strong>r zu verausgaben sich weigern kann. Kraft<br />

und <strong>Zeit</strong>, die die Erhaltung <strong>de</strong>s Nestes o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Wohnung und<br />

<strong>de</strong>r Schutz vor <strong>de</strong>n Elementen kosten, sowie bei einigen Arten<br />

die <strong>Zeit</strong>, die auf die Unterweisung <strong>de</strong>r Jungen verwandt wird,<br />

sind wertvolle Gaben, die eine Mutter ihren Kin<strong>de</strong>rn „nach<br />

Belieben“ gleichmäßig o<strong>de</strong>r ungleichmäßig verteilt zukommen<br />

lassen kann.<br />

Man kann sich schwer eine gemeinsame Währung vorstellen,<br />

in <strong>de</strong>r sich alle diese Mittel, die ein Elternteil investieren<br />

kann, messen lassen. So wie die menschliche Gesellschaft das<br />

Geld als eine universal konvertierbare Währung benutzt, die in<br />

Nahrung o<strong>de</strong>r Grund und Bo<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r Arbeitszeit umgerechnet


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 197<br />

wer<strong>de</strong>n kann, benötigen wir eine Währung, in welcher wir die<br />

Mittel messen können, die eine einzelne Überlebensmaschine<br />

in das Leben eines an<strong>de</strong>ren Lebewesens, insbeson<strong>de</strong>re eines<br />

Kin<strong>de</strong>s, investieren kann. Ein Energiemaß wie die Kalorie<br />

bietet sich an, und tatsächlich befassen sich einige Ökologen<br />

mit <strong>de</strong>r Berechnung <strong>de</strong>r Energiekosten in <strong>de</strong>r Natur. Doch<br />

dieses Maß ist ungeeignet, da es nur ungenau in die Währung<br />

konvertierbar ist, auf die es wirklich ankommt, nämlich <strong>de</strong>n<br />

„Goldstandard“ <strong>de</strong>r Evolution, das Überleben <strong>de</strong>r Gene. R. L.<br />

Trivers löste das P<strong>ro</strong>blem im Jahre 1972 auf geschickte Weise<br />

mit seinem Begriff <strong>de</strong>s Elternaufwands (obwohl man, <strong>wen</strong>n<br />

man zwischen <strong>de</strong>n dichtgedrängten Zeilen liest, <strong>de</strong>n Eindruck<br />

hat, daß <strong>de</strong>r größte Biologe <strong>de</strong>s 20. Jahrhun<strong>de</strong>rts, Sir Ronald<br />

Fisher, schon 1930 mit seinem Begriff <strong>de</strong>r parental expenditure<br />

ziemlich genau dasselbe meinte). 1<br />

Der Elternaufwand ist <strong>de</strong>finiert als „je<strong>de</strong> beliebige Investition<br />

<strong>de</strong>s Elternteils in einen einzelnen Nachkommen, die<br />

<strong>de</strong>ssen Chancen zu überleben (und damit auch sich fortzupflanzen)<br />

auf Kosten <strong>de</strong>r Fähigkeit <strong>de</strong>s Elternteils, in an<strong>de</strong>re<br />

Nachkommen zu investieren, vergrößert“. Das Schöne am Triversschen<br />

Elternaufwand ist, daß er in Einheiten gemessen<br />

wird, die <strong>de</strong>nen, auf die es wirklich ankommt, sehr nahekommen.<br />

Wenn ein Kind einen Teil <strong>de</strong>r Milch seiner Mutter verbraucht,<br />

so wird die Menge dieser Milch we<strong>de</strong>r in Litern noch<br />

in Kalorien gemessen, son<strong>de</strong>rn in Einheiten <strong>de</strong>s Nachteils für<br />

an<strong>de</strong>re Kin<strong>de</strong>r <strong>de</strong>rselben Mutter. Wenn beispielsweise eine<br />

Mutter zwei Babys hat, X und Y, und X einen halben Liter<br />

Milch trinkt, so wird ein G<strong>ro</strong>ßteil <strong>de</strong>s Elternaufwan<strong>de</strong>s, <strong>de</strong>n<br />

dieser halbe Liter Milch verkörpert, in Einheiten <strong>de</strong>r gestiegenen<br />

Wahrscheinlichkeit gemessen, daß Y stirbt, weil es diesen<br />

halben Liter nicht getrunken hat. Der Elternaufwand wird in<br />

Einheiten <strong>de</strong>r Herabsetzung <strong>de</strong>r Lebenserwartung an<strong>de</strong>rer –<br />

bereits geborener o<strong>de</strong>r zukünftiger – Kin<strong>de</strong>r gemessen.<br />

Dennoch ist <strong>de</strong>r Elternaufwand kein i<strong>de</strong>ales Maß, weil er die<br />

Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r Elternschaft im Verhältnis zu an<strong>de</strong>ren genetischen<br />

Verwandtschaftsverhältnissen überbetont. Im I<strong>de</strong>alfall<br />

sollten wir ein allgemeiner an<strong>wen</strong>dbares Maß benutzen: <strong>de</strong>n


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 198<br />

Altruismusaufwand. Man kann sagen, daß Individuum A in<br />

Individuum B investiert, <strong>wen</strong>n es <strong>de</strong>ssen Überlebenschancen<br />

auf Kosten seiner eigenen Fähigkeit vergrößert, in an<strong>de</strong>re<br />

Individuen einschließlich seiner selbst zu investieren, wobei<br />

alle Kosten entsprechend <strong>de</strong>m jeweiligen Verwandtschaftsgrad<br />

gewichtet wer<strong>de</strong>n. So sollte die Investition einer Mutter in<br />

irgen<strong>de</strong>ines ihrer Kin<strong>de</strong>r im I<strong>de</strong>alfall in Form <strong>de</strong>r vermin<strong>de</strong>rten<br />

Lebenserwartung nicht nur ihrer an<strong>de</strong>ren Kin<strong>de</strong>r, son<strong>de</strong>rn<br />

auch ihrer Neffen, Nichten, ihrer selbst und so weiter gemessen<br />

wer<strong>de</strong>n. In vielerlei Hinsicht ist dies jedoch nichts an<strong>de</strong>res<br />

als Haarspalterei, und Trivers’ Maß ist in <strong>de</strong>r Praxis sehr gut<br />

brauchbar.<br />

Nun verfügt je<strong>de</strong>s einzelne erwachsene Weibchen in seiner<br />

gesamten Lebenszeit über eine bestimmte Gesamtmenge an<br />

Elternaufwand, die es in Kin<strong>de</strong>r investieren kann (sowie in<br />

an<strong>de</strong>re Verwandte und in sich selbst; <strong>de</strong>r Einfachheit halber<br />

betrachten wir aber nur Kin<strong>de</strong>r). Dieser Elternaufwand entspricht<br />

<strong>de</strong>r Summe aller Nahrung, die die Mutter in einem<br />

Leben voller Arbeit sammeln o<strong>de</strong>r p<strong>ro</strong>duzieren kann, aller<br />

Risiken, die sie auf sich zu nehmen bereit ist, und aller Energie<br />

und Anstrengung, die sie für das Wohlergehen ihrer Kin<strong>de</strong>r<br />

aufbringen kann. Wie sollte ein junges Weibchen, das an <strong>de</strong>r<br />

Schwelle seines Erwachsenenlebens steht, das Kapital seines<br />

Lebens anlegen? Welches wäre eine kluge Anlagepolitik, die<br />

es befolgen könnte? Der Lackschen Theorie zufolge sollte es<br />

seine begrenzten Mittel nicht auf zu viele Junge verteilen. Auf<br />

diese Weise wird es zu viele Gene verlieren: Es wird nicht<br />

genug Enkel bekommen. An<strong>de</strong>rerseits darf es auch nicht seine<br />

gesamten Mittel auf zu <strong>wen</strong>ige Kin<strong>de</strong>r – verzogene Gören –<br />

konzentrieren. Zwar mag es sich damit tatsächlich ein paar<br />

Enkelkin<strong>de</strong>r sichern. Aber Rivalinnen, die in die optimale Kin<strong>de</strong>rzahl<br />

investieren, wer<strong>de</strong>n letzten En<strong>de</strong>s mehr Enkel haben.<br />

Soviel über eine unparteiische Anlagepolitik. Im Moment interessiert<br />

uns die Frage, ob es sich für eine Mutter jemals auszahlen<br />

könnte, ihr Kapital ungleich unter ihre Kin<strong>de</strong>r zu verteilen,<br />

das heißt, ob sie einige ihrer Kin<strong>de</strong>r bevorzugen sollte.<br />

Die Antwort lautet, daß es genetisch keinen Grund gibt,


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 199<br />

warum eine Mutter Lieblingskin<strong>de</strong>r haben sollte. Ihr Verwandtschaftsgrad<br />

ist mit je<strong>de</strong>m ihrer Kin<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r gleiche, nämlich<br />

1/2. Ihre optimale Strategie ist die gleichmäßige Investition in<br />

die größte Zahl von Kin<strong>de</strong>rn, die sie bis zu <strong>de</strong>m Alter aufziehen<br />

kann, in <strong>de</strong>m diese selber Kin<strong>de</strong>r bekommen. Doch wir<br />

haben bereits gesehen, daß manche Individuen ein geringeres<br />

Lebensversicherungsrisiko sind als an<strong>de</strong>re. Ein zu klein geratenes,<br />

verkümmertes Junges trägt genauso viele Gene seiner<br />

Mutter wie seine besser gediehenen Wurfgeschwister. Aber<br />

seine Lebenserwartung ist geringer. An<strong>de</strong>rs ausgedrückt heißt<br />

das, daß es mehr als seinen gerechten Anteil <strong>de</strong>s Elternaufwands<br />

benötigt, um überhaupt erst einmal <strong>de</strong>n Vorsprung<br />

seiner Geschwister aufzuholen. Unter Umstän<strong>de</strong>n kann es<br />

sich für eine Mutter lohnen, <strong>wen</strong>n sie sich weigert, einen<br />

Kümmerling zu füttern, und statt <strong>de</strong>ssen seinen gesamten<br />

Anteil an Elternaufwand auf seine Brü<strong>de</strong>r und Schwestern<br />

verteilt. Es kann sich für sie sogar auszahlen, dieses Junge<br />

an seine Geschwister zu verfüttern o<strong>de</strong>r es selber zu fressen<br />

und zur Milchp<strong>ro</strong>duktion zu ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>n. Schweine verschlingen<br />

gelegentlich ihre Jungen, aber ich weiß nicht, ob sie speziell<br />

die im Wachstum zurückgebliebenen Ferkel herausgreifen.<br />

Das Beispiel <strong>de</strong>s Kümmerlings ist ein Son<strong>de</strong>rfall. Allgemeinere<br />

Aussagen können wir darüber machen, wie die Bereitschaft<br />

einer Mutter, in ein Kind zu investieren, durch <strong>de</strong>ssen<br />

Alter beeinflußt wer<strong>de</strong>n könnte. Wenn sie vor die Wahl gestellt<br />

wird, von zwei Kin<strong>de</strong>rn einem das Leben zu retten, wobei<br />

das, welches sie nicht rettet, sterben muß, so sollte sie das<br />

ältere vorziehen. Wenn dieses stirbt, verliert sie nämlich einen<br />

höheren Anteil <strong>de</strong>s Elternaufwands ihres gesamten Lebens,<br />

als <strong>wen</strong>n das jüngere Kind stirbt. Dies läßt sich vielleicht<br />

folgen<strong>de</strong>rmaßen besser ausdrücken: Wenn sie <strong>de</strong>n kleinen<br />

Bru<strong>de</strong>r rettet, so wird sie, allein um ihn bis zum Alter seines<br />

g<strong>ro</strong>ßen Bru<strong>de</strong>rs aufzuziehen, noch einige wertvolle Mittel in<br />

ihn investieren müssen.<br />

Wenn an<strong>de</strong>rerseits die Wahl, die sie zu treffen hat, nicht eine<br />

<strong>de</strong>rart unbarmherzige Entscheidung über Leben und Tod ist,<br />

so könnte es günstiger sein, das jüngere Kind zu bevorzugen.


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 200<br />

Nehmen wir zum Beispiel an, das Dilemma <strong>de</strong>r Mutter bestehe<br />

in <strong>de</strong>r Frage, ob sie einen bestimmten Futterb<strong>ro</strong>cken einem<br />

kleinen o<strong>de</strong>r einem g<strong>ro</strong>ßen Kind geben soll. Das größere ist<br />

wahrscheinlich eher in <strong>de</strong>r Lage, sich sein Futter selbst zu<br />

suchen. Wenn sie aufhörte, es zu füttern, wür<strong>de</strong> es also nicht<br />

unbedingt sterben müssen. An<strong>de</strong>rerseits wür<strong>de</strong> das kleine<br />

Kind, da es zu jung ist, um selbst Nahrung zu fin<strong>de</strong>n, mit<br />

größerer Wahrscheinlichkeit sterben müssen, <strong>wen</strong>n die Mutter<br />

das Futter seinem größeren Bru<strong>de</strong>r gäbe. Deshalb kann es<br />

sein, daß die Mutter, selbst <strong>wen</strong>n ihr das Überleben <strong>de</strong>s g<strong>ro</strong>ßen<br />

Bru<strong>de</strong>rs wichtiger ist als das <strong>de</strong>s kleinen, <strong>de</strong>nnoch <strong>de</strong>m kleinen<br />

das Futter gibt, weil es sowieso unwahrscheinlich ist, daß <strong>de</strong>r<br />

g<strong>ro</strong>ße stirbt. Aus diesem Grund entwöhnen Säugetiermütter<br />

ihre Jungen, statt sie ihr ganzes Leben lang zu säugen. Es<br />

kommt im Leben eines Kin<strong>de</strong>s eine <strong>Zeit</strong>, wo es sich für die<br />

Mutter auszahlt, ihr Anlagekapital von ihm ab- und zukünftigen<br />

Kin<strong>de</strong>rn zuzu<strong>wen</strong><strong>de</strong>n. Ist dieser <strong>Zeit</strong>punkt gekommen, so<br />

möchte sie es entwöhnen. Von einer Mutter, die in Erfahrung<br />

bringen könnte, daß sie ihr letztes Kind geboren hat, könnte<br />

man erwarten, daß sie für <strong>de</strong>n Rest ihres Lebens alle ihre<br />

Mittel in dieses Kind investiert und es vielleicht bis weit in das<br />

Erwachsenenalter hinein säugt. Nichts<strong>de</strong>sto<strong>wen</strong>iger müßte sie<br />

„abwägen“, ob es ihr nicht mehr einbringen wür<strong>de</strong>, <strong>wen</strong>n sie<br />

ihr Kapital in Enkeln o<strong>de</strong>r Neffen und Nichten anlegte; diese<br />

sind zwar nur halb so nah mit ihr verwandt wie ihre eigenen<br />

Kin<strong>de</strong>r, sie können aber möglicherweise mehr als doppelt so<br />

stark von <strong>de</strong>m Aufwand p<strong>ro</strong>fitieren wie ihre eigenen Kin<strong>de</strong>r.<br />

Dies scheint mir ein guter <strong>Zeit</strong>punkt für eine kurze<br />

Anmerkung über das verwirren<strong>de</strong> Phänomen <strong>de</strong>r Menopause,<br />

das heißt <strong>de</strong>r Tatsache, daß beim Menschen die<br />

Fortpflanzungsfähigkeit <strong>de</strong>r Frau in <strong>de</strong>n mittleren Lebensjahren<br />

ziemlich abrupt aufhört. Dieses Phänomen mag bei<br />

unseren primitiven Vorfahren nicht allzu häufig aufgetreten<br />

sein, da sowieso nicht viele Frauen so lange gelebt haben<br />

dürften. Nichts<strong>de</strong>sto<strong>wen</strong>iger läßt <strong>de</strong>r Unterschied zwischen<br />

<strong>de</strong>m einschnei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Wechsel im Leben <strong>de</strong>r Frauen und <strong>de</strong>m<br />

allmählichen Abflauen <strong>de</strong>r Fruchtbarkeit bei <strong>de</strong>n Männern


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 201<br />

darauf schließen, daß an <strong>de</strong>r Menopause genetisch gesehen<br />

etwas „beabsichtigt“ ist – daß sie eine „Anpassung“ darstellt.<br />

Dies ist ziemlich schwer zu erklären. Auf <strong>de</strong>n ersten Blick<br />

könnten wir erwarten, daß eine Frau bis zu ihrem En<strong>de</strong> immer<br />

weiter Kin<strong>de</strong>r gebären wür<strong>de</strong>, selbst <strong>wen</strong>n mit fortschreiten<strong>de</strong>m<br />

Alter <strong>de</strong>r Mutter die Überlebenswahrscheinlichkeit für<br />

je<strong>de</strong>s einzelne Kind stetig abnähme. Wäre es nicht immerhin<br />

<strong>de</strong>n Versuch wert? Wir dürfen aber nicht vergessen, daß sie<br />

auch mit ihren Enkeln verwandt ist, <strong>wen</strong>ngleich nur halb so<br />

nah.<br />

Aus verschie<strong>de</strong>nen Grün<strong>de</strong>n, die sich möglicherweise aus<br />

<strong>de</strong>r Medawarschen Theorie <strong>de</strong>s Alterns ableiten lassen, wur<strong>de</strong>n<br />

die Frauen zu Urzeiten mit fortschreiten<strong>de</strong>m Alter allmählich<br />

<strong>wen</strong>iger leistungsfähig bei <strong>de</strong>r Aufzucht <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r. Daher<br />

hatte das Kind einer alten Mutter eine geringere Lebenserwartung<br />

als das einer jungen. Das be<strong>de</strong>utet, <strong>wen</strong>n eine Frau an<br />

ein und <strong>de</strong>mselben Tag ein Enkelkind bekam und selbst ein<br />

Kind gebar, war die Lebenserwartung <strong>de</strong>s Enkelkin<strong>de</strong>s höher<br />

als die <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s. Wenn eine Frau das Alter erreichte, in <strong>de</strong>m<br />

die Durchschnittschance je<strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s, bis zum Erwachsenenalter<br />

zu überleben, etwas <strong>wen</strong>iger als halb so g<strong>ro</strong>ß war wie<br />

die entsprechen<strong>de</strong> durchschnittliche Chance je<strong>de</strong>s gleichaltrigen<br />

Enkelkin<strong>de</strong>s, dann wür<strong>de</strong> je<strong>de</strong>s Gen für die Investition in<br />

Enkelkin<strong>de</strong>r statt in Kin<strong>de</strong>r erfolgreicher wer<strong>de</strong>n. Zwar fin<strong>de</strong>t<br />

sich ein solches Gen nur in jeweils einem von vier Enkeln<br />

wie<strong>de</strong>r, während eines von zwei Kin<strong>de</strong>rn das rivalisieren<strong>de</strong> Gen<br />

trägt, aber dies wird durch die größere Lebenserwartung <strong>de</strong>r<br />

Enkel aufgewogen, und das Gen für „Altruismus gegenüber<br />

Enkelkin<strong>de</strong>rn“ gewinnt im Genpool die Oberhand. Eine Frau<br />

könnte nicht maximal in ihre Enkel investieren, <strong>wen</strong>n sie weiter<br />

eigene Kin<strong>de</strong>r bekäme. Daher wur<strong>de</strong>n Gene für das Unfruchtbarwer<strong>de</strong>n<br />

im mittleren Lebensalter zahlreicher, <strong>de</strong>nn sie<br />

waren in <strong>de</strong>n Körpern <strong>de</strong>r Enkel enthalten, zu <strong>de</strong>ren Überleben<br />

<strong>de</strong>r g<strong>ro</strong>ßmütterliche Altruismus beigetragen hatte.<br />

Dies ist eine mögliche Erklärung für die Entwicklung <strong>de</strong>r<br />

Menopause bei <strong>de</strong>n Frauen. Die Fruchtbarkeit <strong>de</strong>r Männer<br />

nimmt wahrscheinlich <strong>de</strong>shalb nicht abrupt, son<strong>de</strong>rn allmählich


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 202<br />

ab, weil Männer sowieso <strong>wen</strong>iger in je<strong>de</strong>s einzelne Kind investieren<br />

als Frauen. Vorausgesetzt, er kann mit jungen Frauen<br />

Kin<strong>de</strong>r zeugen, wird es sich für einen Mann immer – selbst im<br />

hohen Alter noch – auszahlen, eher in Kin<strong>de</strong>r als in Enkel zu<br />

investieren.<br />

In diesem und im vorangehen<strong>de</strong>n Kapitel haben wir bisher<br />

alle Fragen vom Standpunkt <strong>de</strong>r Eltern aus betrachtet,<br />

hauptsächlich von <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Mutter. Wir haben gefragt, ob zu<br />

erwarten ist, daß Eltern Lieblingskin<strong>de</strong>r haben, und ganz allgemein,<br />

welches die beste Anlagepolitik für einen Elternteil<br />

ist. Doch vielleicht kann ein Kind Einfluß darauf nehmen, wieviel<br />

seine Eltern in es investieren und nicht in seine Geschwister.<br />

Selbst <strong>wen</strong>n die Eltern nicht „beabsichtigen“, eines ihrer<br />

Kin<strong>de</strong>r zu bevorzugen, könnte es nicht sein, daß die Kin<strong>de</strong>r<br />

selbst die Eltern rücksichtslos dazu drängen, sie zu bevorzugen?<br />

Wäre ein solches Vorgehen für sie lohnend? Genauer:<br />

Wür<strong>de</strong>n Gene für das eigennützige Streben nach bevorzugter<br />

Behandlung unter Kin<strong>de</strong>rn im Genpool zahlreicher wer<strong>de</strong>n<br />

als rivalisieren<strong>de</strong> Gene für das Sich-Zufrie<strong>de</strong>ngeben mit nicht<br />

mehr als <strong>de</strong>m gerechten Anteil? Diese Frage hat Trivers in<br />

seinem 1974 veröffentlichten Aufsatz mit <strong>de</strong>m Titel Parent-Offspring<br />

Conflict auf brillante Weise analysiert.<br />

Eine Mutter ist mit allen ihren Kin<strong>de</strong>rn – geborenen wie<br />

noch ungeborenen – gleich nah verwandt. Aus rein genetischen<br />

Grün<strong>de</strong>n dürfte sie also, wie wir gesehen haben, keine<br />

Lieblingskin<strong>de</strong>r haben. Wenn sie <strong>de</strong>nnoch eines ihrer Kin<strong>de</strong>r<br />

bevorzugt, so sollte <strong>de</strong>r Grund dafür ein Unterschied in <strong>de</strong>r<br />

Lebenserwartung sein, <strong>de</strong>r seinerseits wie<strong>de</strong>r vom Alter und<br />

von an<strong>de</strong>ren Faktoren abhängig ist. Die Mutter ist, wie je<strong>de</strong>s<br />

an<strong>de</strong>re Lebewesen, zweimal so nahe mit sich selbst „verwandt“<br />

wie mit irgen<strong>de</strong>inem ihrer Kin<strong>de</strong>r. Unter sonst gleichen<br />

Umstän<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong> das be<strong>de</strong>uten, daß sie <strong>de</strong>n G<strong>ro</strong>ßteil<br />

ihrer Mittel eigennützig in sich selbst investieren sollte; aber<br />

die sonstigen Umstän<strong>de</strong> sind nun einmal nicht gleich. Sie kann<br />

ihren Genen mehr Gutes tun, <strong>wen</strong>n sie einen angemessenen<br />

Teil ihres Kapitals in ihre Kin<strong>de</strong>r investiert, <strong>de</strong>nn diese sind<br />

jünger und hilfloser als sie und können daher stärker von


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 203<br />

je<strong>de</strong>r angelegten Einheit p<strong>ro</strong>fitieren als sie selbst. Gene für<br />

das bevorzugte Investieren in Geschöpfe, die hilfloser sind<br />

als man selbst, können im Genpool die Oberhand gewinnen,<br />

auch dann, <strong>wen</strong>n man möglicherweise nur einen Bruchteil<br />

seiner Gene mit <strong>de</strong>n Nutznießern teilt. Dies ist <strong>de</strong>r Grund<br />

dafür, daß Tiere elterlichen Altruismus an <strong>de</strong>n Tag legen<br />

o<strong>de</strong>r überhaupt irgen<strong>de</strong>ine Art verwandtschaftlich selektierter<br />

Uneigennützigkeit zeigen.<br />

Betrachten wir die Situation nun aus <strong>de</strong>m Blickwinkel eines<br />

einzelnen Kin<strong>de</strong>s. Es ist mit seinen Geschwistern ebenso nahe<br />

verwandt wie seine Mutter. Der Verwandtschaftsgrad beträgt<br />

in allen Fällen 1/2. Das Kind „möchte“ daher, daß seine Mutter<br />

einen Teil ihrer Mittel in seine Geschwister investiert. Genetisch<br />

gesehen ist es ihnen gegenüber genauso uneigennützig<br />

eingestellt wie seine Mutter. Aber es ist ebenfalls doppelt so<br />

nahe mit sich selbst verwandt wie mit irgen<strong>de</strong>inem seiner<br />

Brü<strong>de</strong>r und Schwestern, und <strong>de</strong>shalb wird es wünschen, daß<br />

seine Mutter unter sonst gleichen Umstän<strong>de</strong>n mehr in es selbst<br />

investiert als in irgen<strong>de</strong>ines seiner Geschwister. In diesem Fall<br />

aber können die sonstigen Umstän<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r Tat gleich sein.<br />

Wenn mein Bru<strong>de</strong>r und ich gleich alt sind und wir bei<strong>de</strong> gleich<br />

viel von einem halben Liter Muttermilch p<strong>ro</strong>fitieren können,<br />

dann „sollte“ ich versuchen, mehr als meinen gerechten Anteil<br />

zu ergattern, und er sollte dasselbe tun. Hat <strong>de</strong>r Leser jemals<br />

einen Wurf Ferkel quieken gehört, von <strong>de</strong>nen je<strong>de</strong>s als erstes<br />

zur Stelle sein will, <strong>wen</strong>n die Muttersau sich zum Säugen hinlegt?<br />

O<strong>de</strong>r kleine Jungen beobachtet, die sich um das letzte<br />

Stück Kuchen streiten ? Eigennützige Gier scheint für einen<br />

G<strong>ro</strong>ßteil <strong>de</strong>s kindlichen Verhaltens bezeichnend zu sein.<br />

Aber das ist noch nicht alles. Wenn ich mit meinem Bru<strong>de</strong>r<br />

um einen B<strong>ro</strong>cken Nahrung konkurriere und er viel jünger<br />

ist als ich, so daß er mehr als ich davon p<strong>ro</strong>fitieren kann, so<br />

könnte es sich für meine Gene lohnen, <strong>wen</strong>n ich ihm diesen<br />

B<strong>ro</strong>cken überlasse. Ein älterer Bru<strong>de</strong>r kann genau dieselben<br />

Grün<strong>de</strong> für Selbstlosigkeit haben wie ein Elternteil: In bei<strong>de</strong>n<br />

Fällen ist, wie wir gesehen haben, <strong>de</strong>r Verwandtschaftsgrad<br />

1/2, und in bei<strong>de</strong>n Fällen kann das jüngere Geschöpf besseren


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 204<br />

Gebrauch von <strong>de</strong>r Ressource machen als das ältere. Wenn<br />

ich ein Gen für das Überlassen von Futter besitze, so besteht<br />

eine 50p<strong>ro</strong>zentige Möglichkeit, daß mein kleiner Bru<strong>de</strong>r dasselbe<br />

Gen trägt. Obwohl die Chance, daß sich das Gen in<br />

meinem eigenen Körper befin<strong>de</strong>t, doppelt so g<strong>ro</strong>ß ist – es ist<br />

mit 100-p<strong>ro</strong>zentiger Sicherheit in meinem Körper –, brauche<br />

ich die Nahrung vielleicht <strong>wen</strong>iger als halb so dringend. Generell<br />

„sollte“ ein Kind mehr als seinen gerechten Anteil an<br />

Elternaufwand an sich reißen, aber nur bis zu einem gewissen<br />

Ausmaß. Und bis zu welchem? Bis zu <strong>de</strong>m Punkt, an <strong>de</strong>m die<br />

Nettokosten für seine bereits geborenen und eventuell noch<br />

zur Welt kommen<strong>de</strong>n Geschwister genau halb so g<strong>ro</strong>ß sind wie<br />

<strong>de</strong>r Vorteil, <strong>de</strong>n es selbst aus <strong>de</strong>m gierigen Ansichreißen zieht.<br />

Betrachten wir die Frage nach <strong>de</strong>m richtigen <strong>Zeit</strong>punkt<br />

zur Entwöhnung. Eine Mutter möchte mit <strong>de</strong>m Säugen ihres<br />

gegenwärtigen Jungen aufhören, damit sie sich auf das nächste<br />

vorbereiten kann. Das jetzige Kind dagegen möchte noch nicht<br />

entwöhnt wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nn die Muttermilch ist eine bequeme,<br />

p<strong>ro</strong>blemlos nutzbare Nahrungsquelle, und es will nicht auf sich<br />

allein gestellt für seinen Lebensunterhalt sorgen müssen. Um<br />

es genauer zu sagen: Irgendwann will es tatsächlich einmal für<br />

seinen Lebensunterhalt sorgen, aber erst dann, <strong>wen</strong>n es seinen<br />

Genen dadurch, daß es seine Mutter für die Aufzucht seiner<br />

kleinen Geschwister freigibt, einen größeren Vorteil erweisen<br />

kann, als <strong>wen</strong>n es selbst noch bei <strong>de</strong>r Mutter bliebe. Je älter ein<br />

Kind ist, <strong>de</strong>sto kleiner ist relativ gesehen <strong>de</strong>r Nutzen, <strong>de</strong>n es<br />

aus je<strong>de</strong>m halben Liter Milch zieht. Zum einen weil es größer<br />

ist und ein halber Liter Milch daher einen kleineren Teil seines<br />

Bedarfs ausmacht, zum an<strong>de</strong>ren weil es zunehmend besser in<br />

<strong>de</strong>r Lage ist, sich allein durchs Leben zu schlagen, falls es dazu<br />

gezwungen sein sollte. Daher beansprucht ein älteres Kind,<br />

<strong>wen</strong>n es einen halben Liter Milch trinkt, <strong>de</strong>r einem jüngeren<br />

Kind hätte zukommen können, relativ mehr Elternaufwand für<br />

sich, als <strong>wen</strong>n ein kleines Kind einen halben Liter trinkt. Bei<br />

je<strong>de</strong>m Kind kommt irgendwann ein <strong>Zeit</strong>punkt, an <strong>de</strong>m es sich<br />

für seine Mutter bezahlt machen wür<strong>de</strong>, <strong>wen</strong>n sie aufhörte, es<br />

zu füttern und ihre Mittel statt <strong>de</strong>ssen in ein weiteres Kind


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 205<br />

investierte. Etwas später kommt eine <strong>Zeit</strong>, zu <strong>de</strong>r auch das<br />

Kind selbst seinen Genen am meisten damit nützen wür<strong>de</strong>,<br />

daß es sich selbst entwöhnt. Das ist <strong>de</strong>r Moment, von <strong>de</strong>m an<br />

ein halber Liter Milch <strong>de</strong>n eventuell in Geschwistern vorhan<strong>de</strong>nen<br />

Kopien seiner Gene mehr nützen kann als <strong>de</strong>n Genen, die<br />

ganz sicher in ihm selbst gegenwärtig sind.<br />

Der Konflikt zwischen Mutter und Kind ist nicht absoluter,<br />

son<strong>de</strong>rn quantitativer Natur; im vorliegen<strong>de</strong>n Fall ist es ein<br />

Konflikt hinsichtlich <strong>de</strong>s <strong>Zeit</strong>punktes. Die Mutter möchte ihr<br />

jetziges Kind so lange weitersäugen, bis es seinen „gerechten“<br />

Anteil an ihren Mitteln erhalten hat; dabei berücksichtigt sie<br />

seine Lebenserwartung sowie die bereits in dieses Kind investierte<br />

Kapitalmenge. Bis dahin besteht keinerlei Wi<strong>de</strong>rspruch.<br />

Desgleichen sind sich Mutter und Kind darin einig, daß das<br />

Kind nicht über <strong>de</strong>n Punkt hinaus gesäugt wer<strong>de</strong>n sollte,<br />

an <strong>de</strong>m die Kosten für zukünftige Kin<strong>de</strong>r mehr als das Doppelte<br />

seines Nutzens betragen. Uneinigkeit zwischen Mutter<br />

und Kind herrscht jedoch während <strong>de</strong>r dazwischenliegen<strong>de</strong>n<br />

Perio<strong>de</strong>, das heißt während <strong>de</strong>r <strong>Zeit</strong>spanne, in <strong>de</strong>r das Kind<br />

nach Ansicht <strong>de</strong>r Mutter mehr als seinen Anteil bekommt, die<br />

Kosten für die an<strong>de</strong>ren Kin<strong>de</strong>r aber noch <strong>wen</strong>iger als das Doppelte<br />

<strong>de</strong>s Nutzens für das gegenwärtige Kind betragen.<br />

Die Entwöhnung ist lediglich ein Punkt, in <strong>de</strong>m Interessenkonflikte<br />

zwischen Mutter und Kind bestehen. In diesem<br />

Fall ließe sich <strong>de</strong>r Konflikt auch als Auseinan<strong>de</strong>rsetzung zwischen<br />

einem Individuum und allen seinen noch ungeborenen<br />

Geschwistern auffassen, wobei die Mutter die Partei ihrer<br />

zukünftigen Kin<strong>de</strong>r ergreift. Eine direktere Konkurrenz um<br />

die Anlagemittel <strong>de</strong>r Mutter kann es zwischen gleichaltrigen<br />

Rivalen geben, also zwischen Wurf- o<strong>de</strong>r Nestgeschwistern.<br />

Auch hier wird die Mutter gewöhnlich darum besorgt sein, daß<br />

es fair zugeht.<br />

Viele Vogeljunge wer<strong>de</strong>n im Nest von ihren Eltern gefüttert.<br />

Sie alle sperren <strong>de</strong>n Schnabel auf und schreien, und <strong>de</strong>r Altvogel<br />

läßt einen Wurm o<strong>de</strong>r einen an<strong>de</strong>ren Leckerbissen in<br />

<strong>de</strong>n Rachen eines von ihnen fallen. Die Lautstärke, mit <strong>de</strong>r<br />

je<strong>de</strong>s Küken schreit, ist im I<strong>de</strong>alfall ein direktes Maß für seinen


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 206<br />

Hunger. Wenn also die Eltern das Futter immer <strong>de</strong>m größten<br />

Schreihals geben, sollten normalerweise alle ihren gerechten<br />

Anteil bekommen, da eines, das genug bekommen hat, nicht<br />

so laut schreien wird. Zumin<strong>de</strong>st wäre dies in <strong>de</strong>r vollkommensten<br />

aller Welten so, das heißt es wäre so, <strong>wen</strong>n niemand<br />

mogeln wür<strong>de</strong>. Unserer Auffassung vom egoistischen Gen folgend,<br />

müssen wir jedoch erwarten, daß je<strong>de</strong>s Küken ganz<br />

bestimmt betrügt und ganz bestimmt hinsichtlich seines Hungers<br />

lügt. Dies führt, scheinbar ziemlich sinnlos, zu einer Eskalation,<br />

<strong>de</strong>nn man sollte meinen, <strong>wen</strong>n alle lügen, in<strong>de</strong>m sie<br />

zu laut schreien, dann wird dieses Lärmniveau zur Norm und<br />

hört damit praktisch auf, eine Lüge zu sein. Es kann jedoch<br />

nicht wie<strong>de</strong>r abschwellen, da je<strong>de</strong>s Individuum, das <strong>de</strong>n ersten<br />

Schritt tut und die Lautstärke seines Geschreis vermin<strong>de</strong>rt,<br />

dadurch bestraft wird, daß es <strong>wen</strong>iger Futter bekommt und<br />

mit größerer Wahrscheinlichkeit verhungert. Daß das Lärmen<br />

junger Vögel nicht unbegrenzt anwächst, hat an<strong>de</strong>re Ursachen.<br />

Beispielsweise ruft zu lautes Geschrei gewöhnlich Räuber auf<br />

<strong>de</strong>n Plan, und außer<strong>de</strong>m verbraucht es Energie.<br />

Wie wir gesehen haben, kommt es gelegentlich vor, daß eins<br />

<strong>de</strong>r Tiere in einem Wurf zurückgeblieben ist, also viel kleiner<br />

als die übrigen. Es kann nicht so heftig um Futter kämpfen<br />

wie die an<strong>de</strong>ren, und häufig stirbt es. Wir haben untersucht,<br />

unter welchen Bedingungen es sich für eine Mutter auszahlen<br />

wür<strong>de</strong>, einen Kümmerling verhungern zu lassen. Man könnte<br />

intuitiv vermuten, daß das zurückgebliebene Junge selbst bis<br />

zum letzten weiterkämpft, aber <strong>de</strong>r Theorie zufolge muß dies<br />

nicht zwangsläufig so sein. Sobald ein schwächeres Junges so<br />

klein und schwach gewor<strong>de</strong>n und seine Lebenserwartung so<br />

weit abgesunken ist, daß <strong>de</strong>r Nutzen, <strong>de</strong>n es aus <strong>de</strong>m Elternaufwand<br />

zieht, kleiner ist als die Hälfte <strong>de</strong>s Nutzens, <strong>de</strong>n <strong>de</strong>rselbe<br />

Aufwand <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Jungen bringen könnte, sollte<br />

es unauffällig und bereitwillig sterben. Damit kann es seinen<br />

Genen am meisten dienen. Das heißt, ein Gen, das die Anweisung<br />

gibt: „Körper, <strong>wen</strong>n du sehr viel kleiner bist als <strong>de</strong>ine<br />

Wurfgeschwister, gib <strong>de</strong>n Kampf auf und stirb“, könnte im<br />

Genpool erfolgreich sein, <strong>de</strong>nn die Chance, daß es im Körper


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 207<br />

je<strong>de</strong>s überleben<strong>de</strong>n Geschwisters existiert, beträgt 50 P<strong>ro</strong>zent,<br />

und die Chance, daß es im Körper <strong>de</strong>s Kümmerlings<br />

überlebt, ist sowieso sehr klein. Es dürfte also im Lebenslauf<br />

eines verkümmerten Jungtieres einen Punkt ohne Wie<strong>de</strong>rkehr<br />

geben. Bevor es diesen Punkt erreicht, darf es <strong>de</strong>n Kampf nicht<br />

aufgeben. Hat es ihn aber erreicht, so sollte es sofort aufgeben<br />

und sich am besten von seinen Wurfgeschwistern o<strong>de</strong>r seinen<br />

Eltern verspeisen lassen.<br />

Bei <strong>de</strong>r Erörterung <strong>de</strong>r Lackschen Theorie über die Gelegegröße<br />

habe ich die folgen<strong>de</strong> Strategie zwar nicht erwähnt,<br />

sie ist aber für einen Elternvogel, <strong>de</strong>r hinsichtlich seiner optimalen<br />

Gelegegröße für das laufen<strong>de</strong> Jahr unentschlossen ist,<br />

durchaus vernünftig. Die Vogelmutter könnte ein Ei mehr<br />

legen als die Anzahl, die sie eigentlich als das wahre Optimum<br />

„einschätzt“. Wenn sich dann herausstellt, daß das Nahrungsangebot<br />

in diesem Jahr besser ist als erwartet, so wird sie<br />

das zusätzliche Junge aufziehen. Wenn nicht, kann sie ihre<br />

Verluste minimieren: In<strong>de</strong>m sie sorgfältig darauf achtet, daß<br />

sie ihre Jungen immer in <strong>de</strong>rselben Reihenfolge füttert, beispielsweise<br />

<strong>de</strong>r Größe nach, sorgt sie dafür, daß eines, vielleicht<br />

ein Kümmerling, schnell stirbt und daß – abgesehen<br />

von <strong>de</strong>r anfänglichen Investition in Gestalt <strong>de</strong>s Eidotters o<strong>de</strong>r<br />

einer entsprechen<strong>de</strong>n Ressource – nicht zuviel Futter auf ihn<br />

versch<strong>wen</strong><strong>de</strong>t wird. Vom Standpunkt <strong>de</strong>r Mutter aus gesehen,<br />

kann dies die Erklärung für das Phänomen <strong>de</strong>s Kümmerlings<br />

sein. Er stellt eine Absicherung <strong>de</strong>r Spekulation <strong>de</strong>r Mutter<br />

dar. Dieses Phänomen ist bei zahlreichen Vogelarten beobachtet<br />

wor<strong>de</strong>n.<br />

Mit Hilfe unseres Bil<strong>de</strong>s vom einzelnen Tier als einer<br />

Überlebensmaschine, die sich so verhält, als „beabsichtige“ sie,<br />

<strong>de</strong>n Fortbestand ihrer Gene zu sichern, können wir von einem<br />

Konflikt zwischen Eltern und Jungen sprechen, einem Krieg<br />

<strong>de</strong>r Generationen. Dieser Kampf ist eine subtile Angelegenheit,<br />

und auf bei<strong>de</strong>n Seiten sind alle Griffe erlaubt. Ein Kind<br />

wird sich keine Gelegenheit zur Täuschung entgehen lassen.<br />

Es wird vorgeben, hungriger zu sein, als es ist, vielleicht jünger,<br />

als es ist und gefähr<strong>de</strong>ter, als es in Wirklichkeit ist. Es ist zu


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 208<br />

klein und zu schwach, um seine Eltern physisch zu tyrannisieren,<br />

aber es wird je<strong>de</strong> psychologische Waffe einsetzen, die ihm<br />

zur Verfügung steht: Es wird lügen, betrügen, täuschen, ausbeuten<br />

– genau bis zu <strong>de</strong>m Punkt, an <strong>de</strong>m es seine Verwandten<br />

stärker zu benachteiligen beginnt, als die genetische Verwandtschaft<br />

mit ihnen erlaubt. Die Eltern an<strong>de</strong>rerseits müssen<br />

vor Betrug und Täuschung auf <strong>de</strong>r Hut sein und versuchen,<br />

sich dadurch nicht hinters Licht führen zu lassen. Man könnte<br />

meinen, dies sei eine einfache Aufgabe. Wenn ein Elternteil<br />

weiß, daß sein Kind in bezug auf seinen Hunger wahrscheinlich<br />

lügt, so könnte er die Taktik an<strong>wen</strong><strong>de</strong>n, ihm eine feste<br />

Menge Nahrung zu geben und nicht mehr, auch <strong>wen</strong>n das<br />

Junge noch weiter schreit. Das P<strong>ro</strong>blem dabei ist nur, daß<br />

das Junge möglicherweise nicht gelogen hat, und <strong>wen</strong>n es<br />

nun stirbt, weil es nicht gefüttert wor<strong>de</strong>n ist, hätte <strong>de</strong>r Altvogel<br />

einige seiner kostbaren Gene verloren. Freileben<strong>de</strong> Vögel<br />

können sterben, <strong>wen</strong>n sie nur ein paar Stun<strong>de</strong>n nichts zu fressen<br />

bekommen haben.<br />

A. Zahavi hat auf die Möglichkeit einer beson<strong>de</strong>rs teuflischen<br />

Form kindlicher Erpressung hingewiesen: Das Junge<br />

lärmt absichtlich <strong>de</strong>rart, daß es Räuber an das Nest heranlockt.<br />

Es „ruft“: „Fuchs, Fuchs, komm und hol mich!“ Die Eltern<br />

können es nur zum Schweigen bringen, in<strong>de</strong>m sie es füttern.<br />

So erzielt das Junge mehr als seinen gerechten Futteranteil,<br />

doch auf Kosten eines gewissen Risikos für sich selbst.<br />

Dieser skrupellosen Taktik liegt dasselbe Prinzip zugrun<strong>de</strong><br />

wie <strong>de</strong>r eines Luftpiraten, <strong>de</strong>r das Flugzeug, in <strong>de</strong>m er sich<br />

selbst befin<strong>de</strong>t, in die Luft zu sprengen d<strong>ro</strong>ht, <strong>wen</strong>n er kein<br />

Lösegeld bekommt. Ich bezweifle, daß diese Taktik in <strong>de</strong>r Evolution<br />

jemals begünstigt wer<strong>de</strong>n kann; nicht, weil sie allzu<br />

rücksichtslos ist, son<strong>de</strong>rn weil ich nicht glaube, daß sie sich<br />

für das erpresserische Junge jemals auszahlen könnte. Es hat<br />

zuviel zu verlieren, <strong>wen</strong>n wirklich ein Räuber käme. Dies<br />

ist ein<strong>de</strong>utig bei einem einzigen Jungen, in <strong>de</strong>m Fall also,<br />

<strong>de</strong>n Zahavi selbst untersucht. Ganz gleich, wieviel die Mutter<br />

bereits in das Junge investiert haben mag, das Junge selbst<br />

sollte sein Leben immer noch höher bewerten, als sie dies


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 209<br />

tut, da sie ja nur die Hälfte seiner Gene besitzt. Überdies<br />

wür<strong>de</strong> sich die Taktik nicht einmal dann auszahlen, <strong>wen</strong>n<br />

<strong>de</strong>r Erpresser zu einer gemeinsam in einem Nest hocken<strong>de</strong>n<br />

Brut ungeschützter Küken gehörte, da er mit einem genetischen<br />

„Einsatz“ von 50 P<strong>ro</strong>zent an je<strong>de</strong>m seiner gefähr<strong>de</strong>ten<br />

Geschwister und mit einem 100-p<strong>ro</strong>zentigen Einsatz an sich<br />

selbst beteiligt ist. Meines Erachtens könnte die Theorie eventuell<br />

zutreffen, <strong>wen</strong>n <strong>de</strong>r Haupträuber die Gewohnheit hätte,<br />

jeweils nur <strong>de</strong>n größten Nestling aus einem Nest herauszuholen.<br />

Dann könnte es sich für ein kleineres Vogeljunges auszahlen,<br />

damit zu d<strong>ro</strong>hen, daß es einen Räuber herbeiruft, da<br />

es sich selbst damit keiner g<strong>ro</strong>ßen Gefahr aussetzen wür<strong>de</strong>.<br />

Dies entspräche <strong>de</strong>r Taktik, seinem Bru<strong>de</strong>r die Pistole an die<br />

Schläfe zu setzen, statt damit zu d<strong>ro</strong>hen, sich selbst in die Luft<br />

zu jagen.<br />

Es leuchtet eher ein, daß diese erpresserische Taktik sich<br />

für ein Kuckucksjunges bezahlt machen könnte. Wie je<strong>de</strong>r<br />

weiß, legen Kuckucksweibchen in mehrere Wirtsnester je ein<br />

Ei und überlassen es dann <strong>de</strong>n nichtsahnen<strong>de</strong>n Pflegeeltern<br />

einer ganz an<strong>de</strong>ren Art, das Kuckucksjunge aufzuziehen. Ein<br />

Jungkuckuck hat daher kein genetisches Interesse an seinen<br />

Stiefbrü<strong>de</strong>rn und -schwestern. (Die Jungen mancher Kukkucksarten<br />

haben aus einem schlimmen Grun<strong>de</strong>, auf <strong>de</strong>n wir<br />

noch zu sprechen kommen wer<strong>de</strong>n, überhaupt keine Stiefgeschwister.<br />

Im Moment gehe ich jedoch davon aus, daß wir es<br />

mit einer jener Arten zu tun haben, bei <strong>de</strong>nen Stiefgeschwister<br />

und Kuckucksjunges nebeneinan<strong>de</strong>r existieren.) Wür<strong>de</strong> ein<br />

Kuckucksjunges so laut schreien, daß es Räuber herbeilockte,<br />

so hätte es eine Menge zu verlieren – nämlich sein Leben –,<br />

aber die Pflegemutter hätte noch mehr zu verlieren, vielleicht<br />

vier ihrer Jungen. Es könnte sich daher für sie bezahlt machen,<br />

<strong>de</strong>m kleinen Kuckuck mehr als seinen Anteil am Futter zu<br />

geben, und für <strong>de</strong>n Kuckuck könnte <strong>de</strong>r Nutzen, <strong>de</strong>n er daraus<br />

zieht, das Risiko aufwiegen.<br />

An dieser Stelle sollten wir innehalten und vorübergehend<br />

auf die Ebene <strong>de</strong>r Gene zurückkehren, nur um sicherzugehen,<br />

daß wir uns nicht zu sehr von einer subjektivieren<strong>de</strong>n Sprache


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 210<br />

haben hinreißen lassen. Was be<strong>de</strong>utet es wirklich, <strong>wen</strong>n wir die<br />

Hypothese aufstellen, Kuckucksjunge „erpreßten“ ihre Pflegeeltern,<br />

in<strong>de</strong>m sie schreien: „Räuber, Räuber, komm und hol<br />

mich und alle meine kleinen Geschwister“? Genetisch gesehen<br />

heißt es folgen<strong>de</strong>s: Kuckucksgene für lautes Schreien sind<br />

im Kuckucksgenpool zahlreicher gewor<strong>de</strong>n, weil das Lärmen<br />

die Wahrscheinlichkeit erhöht hat, daß die Pflegeeltern die<br />

Kuckucksjungen füttern. Die Pflegeeltern sprachen <strong>de</strong>shalb<br />

in dieser Weise auf das Schreien an, weil die entsprechen<strong>de</strong>n<br />

Gene sich im Genpool <strong>de</strong>r Wirtsart ausgebreitet hatten. Das<br />

lag wie<strong>de</strong>rum daran, daß die einzelnen Pflegeeltern, die<br />

<strong>de</strong>n Kuckucken kein Extrafutter zukommen ließen, <strong>wen</strong>iger<br />

eigene Kin<strong>de</strong>r aufzogen – <strong>wen</strong>iger als rivalisieren<strong>de</strong> Eltern,<br />

die die Kuckucke besser fütterten –, weil durch die Kuckucksschreie<br />

Räuber zu ihren Nestern hingelockt wur<strong>de</strong>n. Zwar lan<strong>de</strong>ten<br />

Kuckucksgene für Nichtschreien wahrscheinlich <strong>wen</strong>iger<br />

häufig im Magen von Räubern als Gene für Schreien,<br />

aber die nichtschreien<strong>de</strong>n Kuckucke litten unter <strong>de</strong>m größeren<br />

Übel, daß sie keine Extrarationen zu fressen bekamen. Daher<br />

breiteten sich die Gene für Schreien im Kuckucksgenpool aus.<br />

Wie eine ähnliche, von <strong>de</strong>r obigen subjektiveren Argumentation<br />

ausgehen<strong>de</strong> Beweisführung zeigen wür<strong>de</strong>, ist<br />

es zwar vorstellbar, daß sich ein <strong>de</strong>rartiges Erpressergen<br />

in einem Kuckucksgenpool ausbreiten könnte, im Genpool<br />

einer gewöhnlichen Art wird es jedoch wahrscheinlich nicht<br />

Überhand nehmen, zumin<strong>de</strong>st nicht <strong>de</strong>shalb, weil es Räuber<br />

anlockt. Natürlich könnte es in einer gewöhnlichen Spezies –<br />

wie wir bereits gesehen haben – an<strong>de</strong>re Grün<strong>de</strong> geben, weshalb<br />

sich Gene für Lärmen ausbreiten, und diese wür<strong>de</strong>n als Nebeneffekt<br />

gelegentlich Räuber auf <strong>de</strong>n Plan rufen. Aber hier wür<strong>de</strong><br />

<strong>de</strong>r Selektionsdruck durch natürliche Fein<strong>de</strong>, <strong>wen</strong>n überhaupt,<br />

dann dahingehend wirken, die Schreie leiser wer<strong>de</strong>n zu lassen.<br />

Im hypothetischen Fall <strong>de</strong>r Kuckucke könnte, so paradox dies<br />

auch auf <strong>de</strong>n ersten Blick scheinen mag, <strong>de</strong>r Nettoeffekt <strong>de</strong>r<br />

Räuber dahin gehen, die Schreie lauter wer<strong>de</strong>n zu lassen.<br />

Es gibt keinerlei Beweismaterial dafür, daß Kuckucke<br />

und ähnliche „Brutparasiten“ tatsächlich die Erpressertaktik


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 211<br />

an<strong>wen</strong><strong>de</strong>n. Aber es fehlt ihnen mit Sicherheit nicht an<br />

Rücksichtslosigkeit. Da gibt es zum Beispiel die Honiganzeiger,<br />

die wie Kuckucke ihre Eier in die Nester an<strong>de</strong>rer Arten<br />

legen. Der junge Honiganzeiger ist mit einem scharfen gebogenen<br />

Schnabel ausgestattet. Kaum ist er ausgeschlüpft, noch<br />

blind, nackt und ansonsten hilflos, so schnei<strong>de</strong>t und schlägt er<br />

seine Stiefbrü<strong>de</strong>r und -schwestern tot: Tote Geschwister konkurrieren<br />

nicht um Futter! Der uns vertraute eu<strong>ro</strong>päische Kukkuck<br />

erzielt auf etwas an<strong>de</strong>rem Wege dasselbe Resultat. Seine<br />

Brutdauer ist kurz, und so schafft es das Kuckucksjunge, einige<br />

Tage vor seinen Stiefgeschwistern auszuschlüpfen. Sofort nach<br />

<strong>de</strong>m Schlüpfen wirft es, blind und instinktiv, aber mit verheeren<strong>de</strong>r<br />

Effizienz, die an<strong>de</strong>ren Eier aus <strong>de</strong>m Nest. Es schiebt<br />

sich unter ein Ei und manövriert dieses in eine Vertiefung<br />

auf seinem Rücken. Dann bewegt es sich langsam rückwärts<br />

zum Rand <strong>de</strong>s Nestes, wobei es das Ei zwischen seinen<br />

Flügelansätzen balanciert, und wirft das Ei hinaus. Dasselbe<br />

macht es mit allen an<strong>de</strong>ren Eiern, bis es das Nest und daher die<br />

Aufmerksamkeit seiner Pflegeeltern ganz für sich allein hat.<br />

Eine <strong>de</strong>r bemerkenswertesten Tatsachen, von <strong>de</strong>nen ich im<br />

vorigen Jahr erfahren habe, ist von F. Alvarez, L. Arias <strong>de</strong><br />

Reyna und H. Segura aus Spanien berichtet wor<strong>de</strong>n. Diese drei<br />

Wissenschaftler erforschten die Fähigkeit potentieller Pflegeeltern<br />

– also potentieller Kuckucksopfer –, Eindringlinge (Kukkuckseier<br />

o<strong>de</strong>r junge Kuckucke) zu ent<strong>de</strong>cken. Im Verlauf ihrer<br />

Versuche hatten sie die Möglichkeit, Kuckuckseier und junge<br />

Kuckucke sowie zu Vergleichszwecken Eier und Küken an<strong>de</strong>rer<br />

Arten, beispielsweise Schwalben, in Elsternnester hineinzulegen.<br />

Einmal setzten sie ein Schwalbenküken in ein Elsternnest.<br />

Am nächsten Tag bemerkten sie, daß eines <strong>de</strong>r Elsterneier<br />

unter <strong>de</strong>m Nest auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n lag. Es war nicht zerb<strong>ro</strong>chen,<br />

und so hoben sie es auf, legten es wie<strong>de</strong>r zurück und beobachteten,<br />

was geschah. Was sie sahen, war im höchsten Gra<strong>de</strong><br />

bemerkenswert. Das Schwalbenjunge verhielt sich genauso,<br />

als ob es ein Kuckucksjunges wäre, und warf das Ei hinaus.<br />

Sie legten das Ei erneut zurück, und wie<strong>de</strong>r geschah genau<br />

das gleiche. Das Schwalbenbaby benutzte dieselbe Metho<strong>de</strong>


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 212<br />

wie <strong>de</strong>r Kuckuck, es balancierte das Ei auf seinem Rücken zwischen<br />

<strong>de</strong>n Flügelansätzen und bewegte sich rückwärts zum<br />

Nestrand, bis das Ei hinauspurzelte.<br />

Vielleicht war es klug, daß Alvarez und seine Kollegen<br />

keinen Versuch machten, ihre erstaunliche Beobachtung zu<br />

erklären. Wie konnte sich ein <strong>de</strong>rartiges Verhalten im Schwalbengenpool<br />

entwickelt haben? Es muß zu etwas passen, das im<br />

normalen Leben einer Schwalbe vorkommt. Schwalbenjunge<br />

sind nicht daran gewöhnt, sich in Elsternnestern wie<strong>de</strong>rzufin<strong>de</strong>n.<br />

Sie befin<strong>de</strong>n sich normalerweise niemals in einem an<strong>de</strong>ren<br />

Nest als ihrem eigenen. Könnte das Verhalten eine evolutionäre<br />

Anti-Kuckuck-Anpassung darstellen? Hat die natürliche Auslese<br />

im Schwalbengenpool eine Politik <strong>de</strong>s Gegenangriffs<br />

geför<strong>de</strong>rt, also Gene hervorgebracht, die <strong>de</strong>n Kuckuck mit<br />

seinen eigenen Waffen schlagen? Es scheint eine Tatsache<br />

zu sein, daß Schwalbennester gewöhnlich nicht von Kuckukken<br />

heimgesucht wer<strong>de</strong>n. Vielleicht ist dies <strong>de</strong>r Grund dafür.<br />

Dieser Theorie zufolge hätten die Elsterneier in <strong>de</strong>m Experiment<br />

zufällig dieselbe Behandlung erfahren, vielleicht weil sie<br />

wie Kuckuckseier größer sind als Schwalbeneier. Doch <strong>wen</strong>n<br />

ein Schwalbenküken <strong>de</strong>n Unterschied zwischen einem g<strong>ro</strong>ßen<br />

Ei und einem normalen Schwalbenei erkennen kann, dürfte<br />

die Mutter mit Sicherheit ebenfalls dazu in <strong>de</strong>r Lage sein.<br />

Warum ist es dann nicht die Mutter, die das Kuckucksei hinauswirft,<br />

da dies für sie soviel leichter wäre als für das Küken?<br />

Derselbe Einwand gilt auch für die Theorie, daß das Verhalten<br />

<strong>de</strong>s Schwalbenkükens normalerweise die Funktion hat,<br />

unbefruchtete Eier und an<strong>de</strong>ren Abfall aus <strong>de</strong>m Nest zu entfernen.<br />

Wie<strong>de</strong>r könnte die Aufgabe vom Altvogel besser erledigt<br />

wer<strong>de</strong>n – und wird es auch. Die Tatsache, daß ein schwaches<br />

und hilfloses Schwalbenküken dabei beobachtet wur<strong>de</strong>,<br />

wie es die schwierige und Geschicklichkeit erfor<strong>de</strong>rn<strong>de</strong> Operation<br />

<strong>de</strong>s Hinauswerfens durchführte, die einer erwachsenen<br />

Schwalbe sicherlich viel leichter fiele, zwingt mich zu <strong>de</strong>m<br />

Schluß, daß das Küken, mit <strong>de</strong>n Augen <strong>de</strong>r Eltern gesehen,<br />

nichts Gutes im Schil<strong>de</strong> führte.<br />

Ich könnte mir vorstellen, daß die richtige Erklärung


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 213<br />

überhaupt nichts mit Kuckucken zu tun hat. Das Blut mag<br />

einem stocken bei <strong>de</strong>m Gedanken – aber könnte es nicht sein,<br />

daß Schwalbenjunge sich gegenseitig etwas Derartiges antun?<br />

Da das Erstgeborene mit seinen noch nicht ausgeschlüpften<br />

Geschwistern um elterliche Mittel konkurrieren wird, könnte<br />

es zu seinem Vorteil sein, <strong>wen</strong>n es sein Leben damit begänne,<br />

eines <strong>de</strong>r übrigen Eier hinauszuwerfen.<br />

Bei <strong>de</strong>r Lackschen Theorie über die Gelegegröße betrachteten<br />

wir das Optimum vom Standpunkt <strong>de</strong>r Eltern. Wenn ich<br />

eine Schwalbenmutter bin, ist die optimale Gelegegröße von<br />

meinem Standpunkt aus gesehen zum Beispiel fünf. Bin ich<br />

dagegen ein Schwalbenküken, so kann die in meinen Augen<br />

optimale Gelegegröße sehr wohl kleiner sein, vorausgesetzt<br />

ich gehöre dazu! Die Mutter besitzt eine bestimmte Menge<br />

an elterlichen Mitteln, die sie unparteiisch unter fünf Junge<br />

verteilen „möchte“. Aber je<strong>de</strong>s Küken will mehr als <strong>de</strong>n ihm<br />

zustehen<strong>de</strong>n fünften Teil. Im Gegensatz zum Kuckuck will es<br />

zwar nicht alles, weil es mit <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Küken verwandt ist,<br />

aber es will mehr als ein Fünftel. In<strong>de</strong>m es einfach ein Ei hinauswirft,<br />

kann es ein Viertel bekommen, durch das Hinauswerfen<br />

eines weiteren Eies ein Drittel. Betrachten wir dies auf <strong>de</strong>r<br />

Ebene <strong>de</strong>r Gene, so wäre <strong>de</strong>nkbar, daß sich ein Gen für Bru<strong>de</strong>rmord<br />

im Genpool ausbreitet, da es sich mit 100-p<strong>ro</strong>zentiger<br />

Sicherheit im Körper <strong>de</strong>s Bru<strong>de</strong>rmör<strong>de</strong>rs befin<strong>de</strong>t, aber nur<br />

mit 50p<strong>ro</strong>zentiger Wahrscheinlichkeit im Körper <strong>de</strong>s Opfers.<br />

Gegen diese Theorie läßt sich vor allem ein<strong>wen</strong><strong>de</strong>n, daß niemand<br />

dieses teuflische Verhalten bisher beobachtet hat, was<br />

doch <strong>de</strong>r Fall sein müßte, <strong>wen</strong>n es wirklich vorkäme. Ich habe<br />

keine überzeugen<strong>de</strong> Erklärung dafür. Bei Schwalben gibt es<br />

geographische Rassen, die in verschie<strong>de</strong>nen Teilen <strong>de</strong>r Welt<br />

vorkommen. Es ist bekannt, daß die spanische Rasse sich<br />

in bestimmten Verhaltensweisen beispielsweise von <strong>de</strong>r britischen<br />

unterschei<strong>de</strong>t. Die spanische Rasse ist bisher nicht <strong>de</strong>m<br />

gleichen Grad intensiver Beobachtung unterworfen wie die<br />

britische, und ich vermute, es wäre einfach möglich, daß Bru<strong>de</strong>rmord<br />

vorkommt, aber bisher übersehen wor<strong>de</strong>n ist.<br />

Ich bringe an dieser Stelle einen <strong>de</strong>rart unwahrscheinli-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 214<br />

chen Gedanken wie die Bru<strong>de</strong>rmord-Hypothese vor, weil ich<br />

eine allgemeine These aufstellen möchte. Nämlich die, daß<br />

das skrupellose Verhalten eines jungen Kuckucks lediglich ein<br />

Extremfall <strong>de</strong>ssen ist, was in je<strong>de</strong>r Familie vor sich gehen muß.<br />

Leibliche Geschwister sind untereinan<strong>de</strong>r näher verwandt als<br />

ein Kuckucksjunges mit seinen Stiefgeschwistern, aber <strong>de</strong>r<br />

Unterschied ist lediglich quantitativer Art. Selbst <strong>wen</strong>n wir<br />

nicht glauben können, daß sich offener Bru<strong>de</strong>rmord entwikkeln<br />

könnte, muß es zahllose <strong>wen</strong>iger extreme Beispiele von<br />

Eigennutz geben, bei <strong>de</strong>nen die Kosten, die einem Kind in<br />

Form von Verlusten für seine Geschwister entstehen, mehr als<br />

doppelt aufgewogen wer<strong>de</strong>n durch <strong>de</strong>n Nutzen, <strong>de</strong>n es selbst<br />

davonträgt. In solchen Fällen, etwa <strong>wen</strong>n es um <strong>de</strong>n <strong>Zeit</strong>punkt<br />

<strong>de</strong>r Entwöhnung geht, existiert ein echter Interessenkonflikt<br />

zwischen Eltern und Kind.<br />

Wer geht mit größerer Wahrscheinlichkeit als Sieger aus<br />

diesem Krieg <strong>de</strong>r Generationen hervor? R. D. Alexan<strong>de</strong>r schlägt<br />

in einem interessanten Aufsatz eine allgemeingültige Antwort<br />

auf diese Frage vor. Seiner Ansicht nach gewinnen immer die<br />

Eltern. 2 Falls dies zutrifft, hat <strong>de</strong>r Leser seine <strong>Zeit</strong> vergeu<strong>de</strong>t, als<br />

er dieses Kapitel las. Alexan<strong>de</strong>rs These hat viele interessante<br />

Implikationen. Zum Beispiel könnte sich uneigennütziges Verhalten<br />

allein wegen <strong>de</strong>r Vorteile entwickeln, die es <strong>de</strong>n Genen<br />

<strong>de</strong>r Eltern altruistisch han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>r Individuen bringt, nicht<br />

wegen <strong>de</strong>r Vorteile für die Gene <strong>de</strong>r Altruisten selbst. Die elterliche<br />

Manipulation – um Alexan<strong>de</strong>rs Begriff zu gebrauchen –<br />

wird, unabhängig von einfacher Verwandtschaftsselektion, zu<br />

einer alternativen Ursache für die Evolution altruistischen Verhaltens.<br />

Es ist für uns daher wichtig, Alexan<strong>de</strong>rs Gedankengang<br />

zu untersuchen und uns davon zu überzeugen, daß wir<br />

verstehen, warum er unrecht haben muß. Dies müßte eigentlich<br />

auf mathematische Weise geschehen, aber wir vermei<strong>de</strong>n<br />

in diesem Buch die unmittelbare An<strong>wen</strong>dung <strong>de</strong>r Mathematik,<br />

und es läßt sich auch so eine intuitive Vorstellung davon vermitteln,<br />

was an Alexan<strong>de</strong>rs These falsch ist.<br />

Seine grundlegen<strong>de</strong> genetische Aussage ist im folgen<strong>de</strong>n,<br />

verkürzt wie<strong>de</strong>rgegebenen Zitat enthalten. „Nehmen wir an,


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 215<br />

ein junges ... verursacht eine ungleiche Verteilung elterlicher<br />

Leistungen zu seinen eigenen Gunsten und verringert damit<br />

die Gesamtrep<strong>ro</strong>duktion seiner Mutter. Ein Gen, das auf<br />

diese Weise die Fitneß eines Individuums im Jugendalter verbessert,<br />

muß <strong>de</strong>ssen Fitneß als Erwachsener zwangsläufig<br />

min<strong>de</strong>rn, <strong>de</strong>nn solche durch Mutation entstan<strong>de</strong>nen Gene<br />

wer<strong>de</strong>n bei <strong>de</strong>n Nachkommen <strong>de</strong>s mutierten Individuums<br />

überdurchschnittlich häufig sein.“ Die Tatsache, daß Alexan<strong>de</strong>r<br />

ein gera<strong>de</strong> erst durch Mutation entstan<strong>de</strong>nes Gen betrachtet,<br />

ist für das Argument nicht von Be<strong>de</strong>utung. Es ist besser, sich<br />

ein vererbtes seltenes Gen vorzustellen. Der Begriff „Fitneß“<br />

be<strong>de</strong>utet in diesem Zusammenhang Fortpflanzungserfolg. Alexan<strong>de</strong>rs<br />

Aussage ist im wesentlichen die folgen<strong>de</strong>: Ein Gen, das<br />

ein Lebewesen dazu veranlaßt, im Kin<strong>de</strong>salter mehr als seinen<br />

gerechten Anteil an sich zu reißen, und zwar auf Kosten <strong>de</strong>s<br />

Fortpflanzungserfolgs seiner Eltern, könnte in <strong>de</strong>r Tat seine<br />

Überlebenschancen vergrößern. Es wür<strong>de</strong> es aber zu büßen<br />

haben, <strong>wen</strong>n es eines Tages selbst Vater o<strong>de</strong>r Mutter wer<strong>de</strong>n<br />

sollte, weil seine Kin<strong>de</strong>r wahrscheinlich dasselbe egoistische<br />

Gen besitzen und dies seinen eigenen Fortpflanzungserfolg<br />

senken wür<strong>de</strong>. Es wür<strong>de</strong> mit seinen eigenen Waffen geschlagen<br />

wer<strong>de</strong>n. Daher kann das Gen nicht erfolgreich sein, und in<br />

<strong>de</strong>m Konflikt müssen immer die Eltern gewinnen.<br />

Dieses Argument sollte sofort unseren Verdacht erregen,<br />

<strong>de</strong>nn es beruht auf <strong>de</strong>r Annahme einer genetischen Asymmetrie,<br />

die in Wirklichkeit nicht existiert. Alexan<strong>de</strong>r benutzt die<br />

Worte „Eltern“ und „Nachkommen“, als ob zwischen ihnen<br />

ein grundlegen<strong>de</strong>r genetischer Unterschied bestün<strong>de</strong>. Wie wir<br />

gesehen haben, gibt es zwischen Eltern und Kin<strong>de</strong>rn zwar<br />

praktische Unterschie<strong>de</strong> – beispielsweise sind Eltern älter als<br />

Kin<strong>de</strong>r, und Kin<strong>de</strong>r entstammen <strong>de</strong>n Körpern ihrer Eltern<br />

–, aber es existiert keinerlei grundsätzliche genetische Asymmetrie.<br />

Der Verwandtschaftsgrad zwischen ihnen beträgt aus<br />

bei<strong>de</strong>n Richtungen betrachtet 50 P<strong>ro</strong>zent. Um zu zeigen, was<br />

ich meine, wer<strong>de</strong> ich Alexan<strong>de</strong>rs Worte wie<strong>de</strong>rholen, dabei<br />

aber die Begriffe „Eltern“, „Kind“ und an<strong>de</strong>re entsprechen<strong>de</strong><br />

Wörter umkehren: „Nehmen wir an, ein Elternteil besitzt ein


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 216<br />

Gen, das ten<strong>de</strong>nziell eine gleichmäßige Verteilung elterlicher<br />

Leistungen verursacht. Ein Gen, das auf diese Weise die Fitneß<br />

eines Individuums verbessert, <strong>wen</strong>n dieses ein Elternteil ist,<br />

muß <strong>de</strong>ssen Fitneß im Kin<strong>de</strong>salter zwangsläufig gemin<strong>de</strong>rt<br />

haben.“ Wir kommen daher zum entgegengesetzten Schluß<br />

wie Alexan<strong>de</strong>r, nämlich, daß in je<strong>de</strong>m Eltern-Kind-Konflikt das<br />

Kind gewinnen muß!<br />

Es liegt auf <strong>de</strong>r Hand, daß hier etwas nicht stimmt. Bei<strong>de</strong><br />

Argumente sind zu stark vereinfacht. Zweck meiner Umkehrung<br />

<strong>de</strong>s Zitats ist nicht, das Gegenteil von Alexan<strong>de</strong>rs Behauptung<br />

zu beweisen, son<strong>de</strong>rn lediglich zu zeigen, daß man nicht<br />

auf diese künstlich asymmetrische Art und Weise argumentieren<br />

kann. Sowohl Alexan<strong>de</strong>rs Beweisführung als auch meine<br />

Umkehrung davon waren falsch, weil sie die Dinge vom Standpunkt<br />

eines Individuums aus betrachteten – in Alexan<strong>de</strong>rs Fall<br />

<strong>de</strong>m <strong>de</strong>s Elternteils, in meinem <strong>de</strong>m <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s. Ich glaube,<br />

diese Art von Irrtum unterläuft einem nur zu leicht, <strong>wen</strong>n man<br />

<strong>de</strong>n Fachausdruck „Fitneß“ benutzt. Aus diesem Grun<strong>de</strong> habe<br />

ich es vermie<strong>de</strong>n, das Wort in diesem Buch zu ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>n.<br />

Es gibt in Wirklichkeit nur eine Einheit, <strong>de</strong>ren Standpunkt in<br />

<strong>de</strong>r Evolution wichtig ist, und diese Einheit ist das egoistische<br />

Gen. Die Gene in <strong>de</strong>n Körpern von Kin<strong>de</strong>rn wer<strong>de</strong>n auf Grund<br />

ihrer Fähigkeit selektiert, Elternkörper zu überlisten; Gene in<br />

Elternkörpern wer<strong>de</strong>n umgekehrt auf Grund ihrer Fähigkeit<br />

selektiert, die Jungen zu überlisten. Die Tatsache, daß genau<br />

dieselben Gene nacheinan<strong>de</strong>r in einem Kin<strong>de</strong>r- und einem<br />

Erwachsenenkörper sitzen, ist dabei keineswegs paradox.<br />

Gene wer<strong>de</strong>n nach ihrer Fähigkeit selektiert, die ihnen zur<br />

Verfügung stehen<strong>de</strong>n Machtmittel am besten zu gebrauchen:<br />

Sie wer<strong>de</strong>n ihre praktischen Möglichkeiten ausnutzen. Wenn<br />

ein Gen in einem Kin<strong>de</strong>rkörper sitzt, wer<strong>de</strong>n seine praktischen<br />

Möglichkeiten an<strong>de</strong>rs aussehen, als <strong>wen</strong>n es in einem<br />

Elternkörper sitzt. Daher wird seine optimale Taktik in bei<strong>de</strong>n<br />

Phasen <strong>de</strong>r Lebensgeschichte seines Körpers verschie<strong>de</strong>n sein.<br />

Es gibt aber auch keinen Grund zu Alexan<strong>de</strong>rs Annahme, daß<br />

die spätere optimale Taktik zwangsläufig über die frühere die<br />

Oberhand gewinnt. Man kann auch noch an<strong>de</strong>rs gegen Alex-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 217<br />

an<strong>de</strong>r argumentieren. Er legt stillschweigend eine Asymmetrie<br />

zwischen <strong>de</strong>r Eltern-Kind-Beziehung einerseits und <strong>de</strong>r Bru<strong>de</strong>r-Schwester-Beziehung<br />

an<strong>de</strong>rerseits zugrun<strong>de</strong>, die in Wirklichkeit<br />

nicht besteht. Der Leser wird sich daran erinnern,<br />

daß nach Trivers die Kosten, die einem eigennützigen Kind<br />

daraus entstehen, daß es sich mehr als seinen Anteil aneignet<br />

– also auch <strong>de</strong>r Grund dafür, daß es nur bis zu einem bestimmten<br />

Punkt eigennützig ist –, in <strong>de</strong>r Gefahr <strong>de</strong>s Verlusts seiner<br />

Geschwister bestehen, von <strong>de</strong>nen je<strong>de</strong>s die Hälfte seiner Gene<br />

in sich trägt. Doch Geschwister sind lediglich ein Son<strong>de</strong>rfall<br />

von Verwandten mit einem Verwandtschaftsgrad von 50 P<strong>ro</strong>zent.<br />

Die zukünftigen Kin<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s eigennützigen Kin<strong>de</strong>s sind<br />

für dieses nicht mehr und nicht <strong>wen</strong>iger „wertvoll“ als seine<br />

Geschwister. Daher sollten die Gesamtnettokosten für das<br />

Ansichreißen von mehr als <strong>de</strong>m gerechten Anteil <strong>de</strong>r elterlichen<br />

Mittel eigentlich nicht nur in Geschwistern, son<strong>de</strong>rn auch<br />

in zukünftigen Nachkommen gemessen wer<strong>de</strong>n, die aufgrund<br />

<strong>de</strong>s Egoismus <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r untereinan<strong>de</strong>r verlorengehen. Alexan<strong>de</strong>rs<br />

Äußerung über <strong>de</strong>n Nachteil, <strong>de</strong>r darin liegt, daß <strong>de</strong>r<br />

Eigennutz eines jungen Individuums an <strong>de</strong>ssen Kin<strong>de</strong>r weitergegeben<br />

wird und daher auf lange Sicht <strong>de</strong>n eigenen Fortpflanzungserfolg<br />

dieses Individuums beeinträchtigt, ist zutreffend,<br />

aber das be<strong>de</strong>utet lediglich, daß wir diesen Faktor auf <strong>de</strong>r<br />

Kostenseite <strong>de</strong>r Gleichung einkalkulieren müssen. Ein einzelnes<br />

Kind wird, solange sein Nettovorteil min<strong>de</strong>stens halb so<br />

g<strong>ro</strong>ß ist wie die Nettokosten für nahe Verwandte, immer noch<br />

gut daran tun, eigennützig zu sein. Zu <strong>de</strong>n „nahen Verwandten“<br />

sollten jedoch nicht nur Brü<strong>de</strong>r und Schwestern, son<strong>de</strong>rn<br />

auch zukünftige Kin<strong>de</strong>r gerechnet wer<strong>de</strong>n. Ein Individuum<br />

sollte sein eigenes Wohlergehen als doppelt so wertvoll<br />

einschätzen wie das seiner Geschwister – das ist Trivers’ grundlegen<strong>de</strong><br />

Annahme. Es sollte sich aber ebenfalls doppelt so hoch<br />

bewerten wie eins seiner eigenen zukünftigen Kin<strong>de</strong>r. Alexan<strong>de</strong>rs<br />

Schlußfolgerung, daß es im Interessenkonflikt einen eingebauten<br />

Vorteil auf <strong>de</strong>r elterlichen Seite gibt, ist nicht richtig.<br />

Neben seiner grundlegen<strong>de</strong>n genetischen These bringt Alexan<strong>de</strong>r<br />

auch eher praktische Argumente vor, die auf unleugbare


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 218<br />

Asymmetrien in <strong>de</strong>r Eltern-Kind-Beziehung zurückgehen. Der<br />

Elternteil ist <strong>de</strong>r aktive Partner, <strong>de</strong>rjenige, <strong>de</strong>r tatsächlich die<br />

Arbeit <strong>de</strong>r Futterbeschaffung leistet und daher in <strong>de</strong>r Lage ist,<br />

<strong>de</strong>n Ton anzugeben. Wenn er beschließt, seine Arbeit einzustellen,<br />

so kann das Kind nicht viel dagegen tun, da es kleiner<br />

ist und nicht zurückschlagen kann. Daher sind die Eltern in<br />

einer Position, in <strong>de</strong>r sie ihren Willen ohne Rücksicht auf die<br />

Wünsche <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s durchsetzen können. Dieses Argument<br />

ist nicht offensichtlich falsch, da in diesem Fall die Asymmetrie,<br />

die es postuliert, real ist.<br />

Eltern sind tatsächlich größer, stärker und welterfahrener<br />

als Kin<strong>de</strong>r. Sie scheinen alle Trümpfe in <strong>de</strong>r Hand zu haben.<br />

Aber auch die Jungen haben ein paar Asse im Ärmel. Zum<br />

Beispiel ist es für Eltern wichtig zu wissen, wie hungrig je<strong>de</strong>s<br />

ihrer Kin<strong>de</strong>r ist, damit sie das Futter möglichst effizient austeilen<br />

können. Sie könnten die Nahrung natürlich genau gleich<br />

für alle rationieren, aber selbst im I<strong>de</strong>alfall wäre dies <strong>wen</strong>iger<br />

effizient als ein System, bei <strong>de</strong>m diejenigen ein bißchen mehr<br />

bekommen, die es am besten verwerten können. Für die Eltern<br />

wäre ein System, bei <strong>de</strong>m je<strong>de</strong>s Kind sagt, wie hungrig es ist,<br />

i<strong>de</strong>al, und ein solches System scheint sich, wie wir gesehen<br />

haben, entwickelt zu haben. Die Jungen allerdings befin<strong>de</strong>n<br />

sich stark im Vorteil, <strong>wen</strong>n sie die Eltern belügen wollen, <strong>de</strong>nn<br />

sie wissen genau, wie hungrig sie sind, während die Eltern nur<br />

raten können, ob sie die Wahrheit sagen o<strong>de</strong>r nicht. Ein Elternteil<br />

kann zwar vielleicht eine g<strong>ro</strong>ße Lüge durchschauen, eine<br />

kleine Lüge zu ent<strong>de</strong>cken ist für ihn aber fast unmöglich.<br />

Für Eltern ist es vorteilhaft, <strong>wen</strong>n sie wissen, wann ein Kind<br />

glücklich ist, und für ein Kind ist es gut, seinen Eltern mitteilen<br />

zu können, wann es glücklich ist. Signale wie Schnurren<br />

und Lächeln mögen selektiert wor<strong>de</strong>n sein, weil sie es<br />

<strong>de</strong>n Eltern möglich machen zu erkennen, welche ihrer Handlungen<br />

für ihre Kin<strong>de</strong>r am wohltuendsten sind. Der Anblick<br />

ihres lächeln<strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>s o<strong>de</strong>r das Geräusch ihres schnurren<strong>de</strong>n<br />

Kätzchens ist für eine Menschen- beziehungsweise Katzenmutter<br />

in <strong>de</strong>mselben Sinne lohnend wie eine Futtergabe<br />

für eine Ratte im Labyrinthversuch. Doch sobald ein süßes


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 219<br />

Lächeln o<strong>de</strong>r ein lautes Schnurren lohnend gewor<strong>de</strong>n ist, kann<br />

das Kind das Lächeln o<strong>de</strong>r das Kätzchen das Schnurren zur<br />

Manipulation <strong>de</strong>r Eltern einsetzen, um mehr als seinen gerechten<br />

Anteil am Elternaufwand zu erhalten.<br />

Es gibt also keine allgemeingültige Antwort auf die Frage,<br />

wer mit größerer Wahrscheinlichkeit <strong>de</strong>n Krieg <strong>de</strong>r Generationen<br />

gewinnt. Das Resultat dieses Krieges ist ein Komp<strong>ro</strong>miß<br />

zwischen <strong>de</strong>r für das Kind und <strong>de</strong>r für <strong>de</strong>n Erwachsenen i<strong>de</strong>alen<br />

Situation. Es ist ein Kampf, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m zwischen Kuckuck<br />

und Pflegeeltern vergleichbar ist – natürlich kein <strong>de</strong>rart verbissener<br />

Kampf, <strong>de</strong>nn die Gegner haben einige genetische Interessen<br />

gemeinsam; ihre Gegnerschaft besteht nur bis zu einem<br />

gewissen Grad o<strong>de</strong>r während bestimmter sensibler Perio<strong>de</strong>n.<br />

Dennoch mögen Jungtiere viele <strong>de</strong>r von Kuckucken angewandten<br />

Taktiken <strong>de</strong>r Täuschung und Ausbeutung gegen ihre<br />

eigenen Eltern praktizieren; allerdings wer<strong>de</strong>n sie dabei nicht<br />

so grenzenlos egoistisch sein, wie man es von einem Kuckuck<br />

erwarten muß.<br />

Dieses Kapitel wie auch das nächste, in <strong>de</strong>m wir <strong>de</strong>n Konflikt<br />

zwischen Geschlechtspartnern erörtern wer<strong>de</strong>n, wirken<br />

möglicherweise furchtbar zynisch, und sie mögen schrecklich<br />

sein für Menscheneltern, die in inniger Zuneigung an ihren<br />

Kin<strong>de</strong>rn und aneinan<strong>de</strong>r hängen. Ich muß daher noch einmal<br />

betonen, daß ich nicht von bewußten Motiven spreche. Niemand<br />

behauptet, daß Kin<strong>de</strong>r wegen <strong>de</strong>r eigennützigen Gene,<br />

die sie in sich tragen, absichtlich und bewußt ihre Eltern<br />

täuschen. Und ich muß wie<strong>de</strong>rholen : Wenn ich etwas sage<br />

wie „Ein Kind sollte sich keine Gelegenheit zum Betrügen ...<br />

Lügen, Täuschen, Ausbeuten ... entgehen lassen“, so benutze<br />

ich das Wort „sollte“ in einem speziellen Sinne. Keineswegs<br />

verfechte ich diese Art von Verhalten als moralisch o<strong>de</strong>r gar<br />

wünschenswert. Ich sage lediglich, daß die natürliche Auslese<br />

ten<strong>de</strong>nziell Kin<strong>de</strong>r begünstigen wird, die so han<strong>de</strong>ln, und<br />

daß wir daher, <strong>wen</strong>n wir freileben<strong>de</strong> Populationen beobachten,<br />

im engsten Familienkreis Betrug und Eigennutz erwarten<br />

müssen. Der Satz „Das Kind sollte betrügen“ be<strong>de</strong>utet, daß<br />

Gene, die Kin<strong>de</strong>r zum Betrug veranlassen, einen Vorteil im


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 220<br />

Genpool erringen wer<strong>de</strong>n. Wenn für <strong>de</strong>n Menschen eine<br />

Moral daraus abzuleiten ist, dann die, daß wir unsere Kin<strong>de</strong>r<br />

zur Selbstlosigkeit erziehen müssen, <strong>de</strong>nn wir können nicht<br />

damit rechnen, daß Selbstlosigkeit zu ihrer biologischen Natur<br />

gehört.


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 221<br />

9. Der Krieg <strong>de</strong>r Geschlechter<br />

Wenn es einen Interessenkonflikt zwischen Eltern und Kin<strong>de</strong>rn<br />

gibt, die 50 P<strong>ro</strong>zent ihrer Gene gemeinsam haben, wieviel ernster<br />

muß dann <strong>de</strong>r Konflikt zwischen Gatten sein, die ja nicht<br />

miteinan<strong>de</strong>r verwandt sind? 1 Das einzige, was sie gemeinsam<br />

haben, ist ein genetischer Aktienbesitz von je 50 P<strong>ro</strong>zent an<br />

<strong>de</strong>nselben Kin<strong>de</strong>rn. Da Vater und Mutter am Wohlergehen verschie<strong>de</strong>ner<br />

Hälften <strong>de</strong>rselben Kin<strong>de</strong>r interessiert sind, kann<br />

es für bei<strong>de</strong> von Nutzen sein, bei <strong>de</strong>r Aufzucht dieser Kin<strong>de</strong>r<br />

zusammenzuarbeiten. Wenn ein Elternteil jedoch ungestraft<br />

<strong>wen</strong>iger als seinen gerechten Anteil an wertvollen Ressourcen<br />

in je<strong>de</strong>s Kind investieren kann, so ist er <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren<br />

gegenüber im Vorteil, da er mehr in weitere Kin<strong>de</strong>r mit an<strong>de</strong>ren<br />

Geschlechtspartnern anlegen und auf diese Weise eine<br />

größere Menge seiner Gene vererben kann. Man kann sich<br />

daher vorstellen, daß je<strong>de</strong>r Partner <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren ausbeuten<br />

möchte, in<strong>de</strong>m er ihn zu zwingen versucht, mehr zu investieren.<br />

Was ein Individuum im I<strong>de</strong>alfall „gern hätte“ (ich meine<br />

nicht physisch gern haben, obwohl das auch sein könnte),<br />

wäre, sich mit so vielen Angehörigen <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren Geschlechts<br />

zu paaren wie möglich und die Aufzucht <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r dann<br />

stets <strong>de</strong>m Partner zu überlassen. Wie wir sehen wer<strong>de</strong>n, hat<br />

das männliche Geschlecht bei einer Reihe von Arten diesen<br />

Zustand erreicht, bei an<strong>de</strong>ren Arten jedoch sind die Männchen<br />

gezwungen, sich mit einem gleich g<strong>ro</strong>ßen Anteil an <strong>de</strong>r Last <strong>de</strong>r<br />

Kin<strong>de</strong>raufzucht zu beteiligen. Diese Auffassung <strong>de</strong>r sexuellen<br />

Partnerschaft als einer Beziehung gegenseitigen Mißtrauens<br />

und wechselseitiger Ausbeutung ist beson<strong>de</strong>rs von Trivers hervorgehoben<br />

wor<strong>de</strong>n. Sie ist für die Verhaltensforscher relativ<br />

neu. Wir haben Sexualverhalten, Paarung und die ihr vorausgehen<strong>de</strong><br />

Werbung bisher meist als ein im wesentlichen gemeinschaftliches<br />

Unterfangen angesehen, das zum wechselseitigen<br />

Nutzen o<strong>de</strong>r sogar zum Wohle <strong>de</strong>r Art unternommen wird!<br />

Lassen Sie uns bis ganz zu <strong>de</strong>n Anfängen zurückgehen<br />

und die eigentliche Natur <strong>de</strong>s Männlichen und <strong>de</strong>s Weiblichen<br />

untersuchen. In Kapitel 3 haben wir uns mit <strong>de</strong>r Sexualität


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 222<br />

befaßt, ohne ihre grundlegen<strong>de</strong> Asymmetrie zu betonen. Wir<br />

haben einfach akzeptiert, daß einige Tiere als männlich,<br />

an<strong>de</strong>re als weiblich bezeichnet wer<strong>de</strong>n, ohne zu fragen, was<br />

diese Worte wirklich be<strong>de</strong>uten. Was aber ist das Wesen <strong>de</strong>s<br />

Männlichen? Wodurch ist ein weibliches Geschöpf prinzipiell<br />

gekennzeichnet? Für uns als Säugetiere sind die Geschlechter<br />

durch ganze Merkmalskomplexe <strong>de</strong>finiert – <strong>de</strong>n Besitz eines<br />

Penis, das Austragen von Jungen, das Säugen mit Hilfe spezieller<br />

Milchdrüsen, bestimmte Ch<strong>ro</strong>mosomenmerkmale und<br />

so weiter. Diese Kriterien für das Geschlecht eines Individuums<br />

sind schön und gut, was die Säugetiere betrifft, für<br />

Tiere und Pflanzen im allgemeinen sind sie jedoch ebenso<strong>wen</strong>ig<br />

zuverlässig wie die Neigung zum Hosentragen als Kriterium<br />

für die Geschlechtszugehörigkeit beim Menschen. Bei<br />

<strong>de</strong>n Fröschen beispielsweise hat keines <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Geschlechter<br />

einen Penis. Vielleicht haben dann die Wörter männlich<br />

und weiblich keine allgemeine Be<strong>de</strong>utung? Es sind schließlich<br />

nur Wörter, und <strong>wen</strong>n wir feststellen, daß sie für die Beschreibung<br />

von Fröschen nicht brauchbar sind, so steht es uns völlig<br />

frei, auf sie zu verzichten. Wenn wir wollten, könnten wir die<br />

Frösche willkürlich in Geschlecht 1 und Geschlecht 2 einteilen.<br />

Es gibt jedoch ein grundlegen<strong>de</strong>s Geschlechtsmerkmal,<br />

das dazu benutzt wer<strong>de</strong>n kann, bei allen Tieren und Pflanzen<br />

Männchen als Männchen und Weibchen als Weibchen zu klassifizieren.<br />

Und zwar sind die Geschlechtszellen o<strong>de</strong>r „Gameten“<br />

<strong>de</strong>r männlichen Organismen viel kleiner und zahlreicher<br />

als die weiblichen Gameten. Dies gilt sowohl für Tiere als<br />

auch für Pflanzen. Die eine Gruppe von Lebewesen hat g<strong>ro</strong>ße<br />

Geschlechtszellen, und es ist zweckmäßig, sie als Weibchen<br />

zu bezeichnen. Die an<strong>de</strong>re Gruppe, die man <strong>de</strong>r Einfachheit<br />

halber Männchen nennt, hat kleine Geschlechtszellen. Der<br />

Unterschied ist bei Reptilien und Vögeln beson<strong>de</strong>rs ausgeprägt,<br />

bei <strong>de</strong>nen eine einzige Eizelle g<strong>ro</strong>ß und nährstoffhaltig genug<br />

ist, um einen sich entwickeln<strong>de</strong>n Embryo mehrere Monate<br />

lang zu ernähren. Selbst die mik<strong>ro</strong>skopisch kleinen Eizellen<br />

<strong>de</strong>s Menschen sind immer noch viele Male größer als die Spermien.<br />

Wie wir sehen wer<strong>de</strong>n, lassen sich alle an<strong>de</strong>ren Unter-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 223<br />

schie<strong>de</strong> zwischen <strong>de</strong>n Geschlechtern aus diesem einen grundlegen<strong>de</strong>n<br />

Unterschied ableiten.<br />

Bei bestimmten nie<strong>de</strong>ren Organismen, beispielsweise einigen<br />

Pilzen, gibt es keine männlichen und weiblichen Geschlechtszellen,<br />

obwohl eine Art geschlechtlicher Fortpflanzung stattfin<strong>de</strong>t.<br />

Bei <strong>de</strong>m als Isogametie bezeichneten System lassen sich<br />

die Individuen nicht in zwei Geschlechter unterteilen. Je<strong>de</strong>s<br />

Individuum kann sich mit je<strong>de</strong>m paaren. Es gibt nicht zwei<br />

verschie<strong>de</strong>ne Gametensorten – Samen- und Eizellen –, son<strong>de</strong>rn<br />

alle Geschlechtszellen sind gleich und heißen Isogameten.<br />

Neue Lebewesen entstehen aus <strong>de</strong>r Verschmelzung von<br />

zwei Isogameten, von <strong>de</strong>nen je<strong>de</strong>r durch meiotische Teilung<br />

entstan<strong>de</strong>n ist. Wenn wir drei Isogameten haben, A, B und C,<br />

so könnte A mit B o<strong>de</strong>r C und B mit A o<strong>de</strong>r C verschmelzen.<br />

Dies ist bei normaler geschlechtlicher Fortpflanzung niemals<br />

<strong>de</strong>r Fall. Wenn A eine Samenzelle ist und sich mit B und C vereinigen<br />

kann, dann müssen B und C Eizellen sein, und B kann<br />

nicht mit C verschmelzen.<br />

Wenn zwei Isogameten sich vereinigen, tragen sie bei<strong>de</strong> die<br />

gleiche Anzahl von Genen zu <strong>de</strong>m neuen Lebewesen bei und<br />

ebenso gleiche Mengen an Nahrungsreserven. Auch Spermien<br />

und Eizellen tragen die gleiche Genzahl bei, doch was die Nahrungsreserven<br />

betrifft, so ist <strong>de</strong>r Beitrag <strong>de</strong>r Eier sehr viel<br />

größer: Tatsächlich leisten die Samenzellen überhaupt keinen<br />

Beitrag und sind lediglich daran interessiert, ihre Gene so<br />

schnell wie möglich zu einem Ei zu transportieren. Zum <strong>Zeit</strong>punkt<br />

<strong>de</strong>r Befruchtung hat <strong>de</strong>r Vater daher <strong>wen</strong>iger als <strong>de</strong>n auf<br />

ihn entfallen<strong>de</strong>n Anteil (das heißt 50 P<strong>ro</strong>zent) an Mitteln in die<br />

Nachkommenschaft investiert.<br />

Da je<strong>de</strong>s Spermium so winzig ist, kann ein männlicher Organismus<br />

es sich leisten, je<strong>de</strong>n Tag viele Millionen davon zu p<strong>ro</strong>duzieren.<br />

Das be<strong>de</strong>utet, daß er potentiell in <strong>de</strong>r Lage ist, in<br />

einer kurzen <strong>Zeit</strong>spanne – mit verschie<strong>de</strong>nen Weibchen – eine<br />

sehr g<strong>ro</strong>ße Zahl von Kin<strong>de</strong>rn zu zeugen. Dies ist nur <strong>de</strong>shalb<br />

möglich, weil je<strong>de</strong>r neue Embryo von <strong>de</strong>r jeweiligen Mutter mit<br />

ausreichend Nahrung versorgt wird. Der Kin<strong>de</strong>rzahl, die ein<br />

Weibchen haben kann, ist daher eine Grenze gesetzt, während


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 224<br />

ein Männchen praktisch unbegrenzt viele Kin<strong>de</strong>r zeugen kann.<br />

Damit beginnt die Ausbeutung <strong>de</strong>s weiblichen Geschlechts. 2<br />

Parker und an<strong>de</strong>re haben gezeigt, wie diese Asymmetrie sich<br />

aus einem ursprünglich isogamen Zustand entwickelt haben<br />

könnte. Zu <strong>de</strong>r <strong>Zeit</strong>, als alle Geschlechtszellen austauschbar<br />

und ungefähr gleich g<strong>ro</strong>ß waren, mag es einige gegeben haben,<br />

die rein zufällig geringfügig größer waren als die an<strong>de</strong>ren. Ein<br />

g<strong>ro</strong>ßer Isogamet wür<strong>de</strong> in gewisser Hinsicht einem Isogameten<br />

durchschnittlicher Größe gegenüber im Vorteil sein, <strong>de</strong>nn<br />

er wür<strong>de</strong> seinem Embryo dadurch, daß er ihn zu Beginn mit<br />

einer g<strong>ro</strong>ßen Nahrungsreserve ausstattet, einen guten Start<br />

sichern. Daher könnte es einen evolutiven Trend zu größeren<br />

Gameten gegeben haben. Die Sache hat jedoch einen Haken.<br />

Die Entwicklung von Gameten, die größer sind als unbedingt<br />

erfor<strong>de</strong>rlich, wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>r egoistischen Ausbeutung Tür und<br />

Tor öffnen. Individuen, die kleinere als die durchschnittlichen<br />

Gameten p<strong>ro</strong>duzieren wür<strong>de</strong>n, könnten davon p<strong>ro</strong>fitieren, vorausgesetzt<br />

sie könnten sicherstellen, daß ihre kleinen Gameten<br />

sich mit extra g<strong>ro</strong>ßen vereinigen. Dies könnte dadurch erreicht<br />

wer<strong>de</strong>n, daß die kleinen beweglicher gemacht und in die Lage<br />

versetzt wer<strong>de</strong>n, g<strong>ro</strong>ße Gameten gezielt aufzuspüren. Der<br />

Vorteil für ein Individuum, das kleine, schnell bewegliche<br />

Gameten herstellt, könnte darin bestehen, daß dieses es sich<br />

leisten könnte, eine größere Zahl von Gameten herzustellen,<br />

und daß es daher potentiell mehr Kin<strong>de</strong>r haben könnte. Die<br />

natürliche Auslese wür<strong>de</strong> die P<strong>ro</strong>duktion von Geschlechtszellen<br />

begünstigen, die kleiner wären und aktiv darangingen, g<strong>ro</strong>ße<br />

Gameten zur Kopulation ausfindig zu machen. So können<br />

wir uns die Herausbildung von zwei divergieren<strong>de</strong>n sexuellen<br />

„Strategien“ vorstellen. Die eine war die „aufrichtige“ Strategie,<br />

die <strong>de</strong>r g<strong>ro</strong>ßen Investition. Diese bahnte automatisch<br />

einer „ausbeuterischen“ Strategie <strong>de</strong>r kleinen Investitionen<br />

<strong>de</strong>n Weg. Nach<strong>de</strong>m die Auseinan<strong>de</strong>rentwicklung <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n<br />

Strategien erst einmal begonnen hatte, mußte sie sich unaufhaltsam<br />

weiter fortsetzen. Dazwischenliegen<strong>de</strong> mittelg<strong>ro</strong>ße<br />

Gameten wur<strong>de</strong>n bestraft, <strong>de</strong>nn sie erfreuten sich we<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r<br />

Vorteile <strong>de</strong>r einen noch <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren extremen Strategie. Die


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 225<br />

arglistigen Gameten wur<strong>de</strong>n im Laufe <strong>de</strong>r Evolution immer<br />

kleiner und beweglicher. Die aufrichtigen wur<strong>de</strong>n immer<br />

größer, um die zunehmend kleinere Investition <strong>de</strong>r ausbeuterischen<br />

Geschlechtszellen auszugleichen, und immer unbeweglicher,<br />

da die Ausbeuter sowieso immer Jagd auf sie gemacht<br />

hätten. Je<strong>de</strong>r ehrliche Gamet wäre zwar „lieber“ mit einem<br />

an<strong>de</strong>ren ehrlichen Gameten verschmolzen. Aber <strong>de</strong>r Selektionsdruck<br />

für <strong>de</strong>n Ausschluß <strong>de</strong>r ausbeuterischen Gameten war<br />

geringer als <strong>de</strong>r auf diese wirken<strong>de</strong> Druck, durch die Sperre<br />

hindurchzuschlüpfen: Die Ausbeuter hatten mehr zu verlieren,<br />

und daher trugen sie im Evolutionskrieg <strong>de</strong>n Sieg davon.<br />

Die ehrlichen Gameten wur<strong>de</strong>n zu Eizellen, die unehrlichen zu<br />

Spermien.<br />

Das männliche Geschlecht scheint also aus ziemlich wertlosen<br />

Burschen zu bestehen, und unter <strong>de</strong>m Aspekt <strong>de</strong>s Wohles<br />

<strong>de</strong>r Art wäre zu erwarten, daß die männlichen Organismen<br />

<strong>wen</strong>iger zahlreich wür<strong>de</strong>n als die weiblichen. Da ein einziges<br />

Männchen theoretisch genug Spermien erzeugen kann, um<br />

einen Harem von 100 Weibchen zu begatten, sollten wir annehmen,<br />

daß in Tierpopulationen die Zahl <strong>de</strong>r Weibchen um<br />

<strong>de</strong>n Faktor 100 größer wäre als die <strong>de</strong>r Männchen. An<strong>de</strong>rs<br />

ausgedrückt heißt dies, daß die Männchen für die Art „entbehrlicher“<br />

und die Weibchen „wertvoller“ sind. Vom Standpunkt<br />

<strong>de</strong>r Art als Gesamtheit betrachtet, ist dies natürlich völlig richtig.<br />

Um ein extremes Beispiel zu nennen: Bei einer Untersuchung<br />

über See-Elefanten waren vier P<strong>ro</strong>zent <strong>de</strong>r männlichen<br />

Tiere für 88 P<strong>ro</strong>zent aller beobachteten Kopulationen verantwortlich.<br />

In diesem und in vielen an<strong>de</strong>ren Fällen besteht ein<br />

g<strong>ro</strong>ßer Überschuß an Junggesellen, die wahrscheinlich niemals<br />

in ihrem ganzen Leben eine Chance zur Paarung bekommen<br />

wer<strong>de</strong>n. Doch diese überschüssigen Männchen führen<br />

ein ansonsten normales Leben und verzehren die Nahrungsressourcen<br />

<strong>de</strong>r Population mit genauso g<strong>ro</strong>ßem Appetit wie<br />

an<strong>de</strong>re Erwachsene. Aus einem am „Wohl <strong>de</strong>r Art“ orientierten<br />

Blickwinkel gesehen, ist das eine furchtbare Versch<strong>wen</strong>dung.<br />

Man könnte die Junggesellen als soziale Parasiten betrachten.<br />

Dies ist nur ein weiteres Beispiel für die Schwierigkeiten, mit


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 226<br />

<strong>de</strong>nen die Theorie <strong>de</strong>r Gruppenselektion zu kämpfen hat. Die<br />

Theorie vom egoistischen Gen dagegen erklärt ohne weiteres<br />

die Tatsache, daß die Zahl männlicher und weiblicher Individuen<br />

sich ungefähr im Gleichgewicht befin<strong>de</strong>t, selbst <strong>wen</strong>n die<br />

Männchen, die sich tatsächlich fortpflanzen, möglicherweise<br />

nur einen kleinen Bruchteil <strong>de</strong>r Gesamtpopulation darstellen.<br />

Die Erklärung wur<strong>de</strong> zuerst von R. A. Fisher geliefert.<br />

Das P<strong>ro</strong>blem, wie viele männliche und wie viele weibliche<br />

Kin<strong>de</strong>r geboren wer<strong>de</strong>n sollen, stellt einen Son<strong>de</strong>rfall <strong>de</strong>s P<strong>ro</strong>blems<br />

<strong>de</strong>r Elternstrategie dar. In <strong>de</strong>r gleichen Weise, in <strong>de</strong>r<br />

wir erörtert haben, welches die optimale Familiengröße für<br />

eine Mutter ist, die <strong>de</strong>n Fortbestand ihrer Gene zu maximieren<br />

versucht, können wir auch die optimale Geschlechterverteilung<br />

erörtern. Sollte man seine kostbaren Gene lieber Söhnen<br />

o<strong>de</strong>r Töchtern anvertrauen? Nehmen wir an, eine Mutter investierte<br />

alle ihre Mittel in Söhne und hätte daher keine übrig,<br />

um sie in Töchtern anzulegen: Wür<strong>de</strong> sie im Durchschnitt<br />

mehr zum Genpool <strong>de</strong>r Zukunft beitragen als eine rivalisieren<strong>de</strong><br />

Mutter, die in Töchter investiert? Nehmen Gene für das<br />

Bevorzugen von Söhnen gegenüber Genen für das Bevorzugen<br />

von Töchtern an Zahl zu o<strong>de</strong>r ab? Fisher bewies, daß unter<br />

normalen Umstän<strong>de</strong>n das optimale Geschlechterverhältnis 50<br />

zu 50 beträgt. Wenn wir wissen wollen, warum dies so ist,<br />

müssen wir uns zunächst ein <strong>wen</strong>ig mit <strong>de</strong>m Mechanismus <strong>de</strong>r<br />

Geschlechtsbestimmung befassen.<br />

Bei <strong>de</strong>n Säugetieren wird das Geschlecht genetisch<br />

folgen<strong>de</strong>rmaßen festgelegt. Alle Eier sind in <strong>de</strong>r Lage, sich<br />

entwe<strong>de</strong>r zu männlichen o<strong>de</strong>r zu weiblichen Lebewesen zu<br />

entwickeln. Die Spermien sind diejenigen, welche die für das<br />

Geschlecht ausschlaggeben<strong>de</strong>n Ch<strong>ro</strong>mosomen beherbergen.<br />

Die Hälfte <strong>de</strong>r von einem Mann p<strong>ro</strong>duzierten Spermien sind<br />

X-Spermien, die Töchter erzeugen, die an<strong>de</strong>re Hälfte, die<br />

Y-Spermien, erzeugt Söhne. Die bei<strong>de</strong>n Spermientypen sehen<br />

gleich aus. Sie unterschei<strong>de</strong>n sich lediglich in bezug auf ein einziges<br />

Ch<strong>ro</strong>mosom. Ein Gen, durch <strong>de</strong>ssen Wirkung ein Mann<br />

ausschließlich Töchter bekäme, könnte dies erreichen, in<strong>de</strong>m<br />

es ihn nur X-Spermien erzeugen ließe. Ein Gen, das eine Frau


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 227<br />

ausschließlich Töchter bekommen ließe, könnte so funktionieren,<br />

daß es sie veranlaßte, ein selektives Spermizid auszuschei<strong>de</strong>n<br />

o<strong>de</strong>r männliche Embryos vorzeitig abzustoßen.<br />

Was wir suchen, ist etwas, das einer evolutionär stabilen Strategie<br />

(ESS) entspricht, wobei allerdings hier das Wort „Strategie“<br />

sogar noch mehr als in <strong>de</strong>m Kapitel über Aggression<br />

lediglich ein bildhafter Ausdruck ist. Ein Individuum kann nicht<br />

tatsächlich das Geschlecht seiner Kin<strong>de</strong>r auswählen. Aber<br />

Gene dafür, daß man eher Kin<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s einen o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s<br />

an<strong>de</strong>ren Geschlechts bekommt, sind möglich. Wenn wir<br />

von <strong>de</strong>r Existenz solcher Gene ausgehen, die ein unausgewogenes<br />

Geschlechterverhältnis begünstigen, ist es dann<br />

wahrscheinlich, daß einige von ihnen im Genpool zahlreicher<br />

wer<strong>de</strong>n als ihre rivalisieren<strong>de</strong>n Allele, die eine ausgeglichene<br />

Verteilung <strong>de</strong>r Geschlechter för<strong>de</strong>rn?<br />

Nehmen wir an, bei <strong>de</strong>n oben erwähnten See-Elefanten trete<br />

durch Mutation ein Gen auf, das bei seinen Trägern eine Ten<strong>de</strong>nz<br />

verursachte, überwiegend Töchter zu bekommen. Da es<br />

in <strong>de</strong>r Population keinen Mangel an männlichen Tieren gibt,<br />

hätten die Töchter keine Schwierigkeiten, Gatten zu fin<strong>de</strong>n,<br />

und das töchtererzeugen<strong>de</strong> Gen könnte sich ausbreiten. Das<br />

Geschlechterverhältnis in <strong>de</strong>r Population wür<strong>de</strong> sich dann<br />

in Richtung eines Weibchenüberschusses verschieben. Vom<br />

Gesichtspunkt <strong>de</strong>r Arterhaltungsthese aus betrachtet, wäre<br />

dies ganz in Ordnung, weil, wie wir gesehen haben, nur <strong>wen</strong>ige<br />

männliche Tiere ohne weiteres ausreichen wür<strong>de</strong>n, um die<br />

selbst für einen riesigen Überschuß an Weibchen erfor<strong>de</strong>rlichen<br />

Spermien zu liefern. Oberflächlich gesehen könnten wir<br />

daher erwarten, daß das töchterp<strong>ro</strong>duzieren<strong>de</strong> Gen sich weiter<br />

ausbreitet, bis die Geschlechterverteilung so unausgeglichen<br />

wäre, daß die <strong>wen</strong>igen verbleiben<strong>de</strong>n Männchen, <strong>wen</strong>n sie<br />

sich völlig verausgabten, ihre Aufgabe gera<strong>de</strong> bewerkstelligen<br />

könnten. Doch be<strong>de</strong>nken wir jetzt, welchen enormen genetischen<br />

Vorteil jene <strong>wen</strong>igen Eltern genießen, die Söhne haben.<br />

Je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r in einen Sohn investiert, hat eine sehr gute Chance,<br />

G<strong>ro</strong>ßvater o<strong>de</strong>r G<strong>ro</strong>ßmutter von Hun<strong>de</strong>rten von See-Elefanten<br />

zu wer<strong>de</strong>n. Diejenigen, die ausschließlich Töchter erzeugen,


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 228<br />

wer<strong>de</strong>n zwar mit Sicherheit einige <strong>wen</strong>ige Enkelkin<strong>de</strong>r bekommen,<br />

doch ist dies nichts im Vergleich zu <strong>de</strong>n g<strong>ro</strong>ßartigen genetischen<br />

Möglichkeiten, die sich je<strong>de</strong>m eröffnen, <strong>de</strong>r sich auf<br />

Söhne spezialisiert. Daher wer<strong>de</strong>n die Gene für das Erzeugen<br />

von Söhnen wie<strong>de</strong>r zahlreicher wer<strong>de</strong>n, und das Pen<strong>de</strong>l wird<br />

zurückschwingen.<br />

Der Einfachheit halber habe ich das Bild einer Pen<strong>de</strong>lschwingung<br />

benutzt. In <strong>de</strong>r Praxis wäre es <strong>de</strong>m Pen<strong>de</strong>l niemals<br />

gestattet wor<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>rart weit in Richtung einer weiblichen Vorherrschaft<br />

auszuschlagen, da <strong>de</strong>r Druck zugunsten <strong>de</strong>r Erzeugung<br />

von Söhnen es sofort in die entgegengesetzte Richtung<br />

angestoßen hätte, sobald die Geschlechterverteilung unausgeglichen<br />

gewor<strong>de</strong>n wäre. Die Strategie, gleich viele Söhne und<br />

Töchter zu erzeugen, ist eine evolutionär stabile Strategie in<br />

<strong>de</strong>m Sinne, daß je<strong>de</strong>s Gen für das Abweichen von ihr einen<br />

Nettoverlust zu verzeichnen hat.<br />

Ich habe diese Geschichte so erzählt, als ginge es um die<br />

Zahl <strong>de</strong>r Söhne gegenüber <strong>de</strong>r Zahl <strong>de</strong>r Töchter. Dies erleichtert<br />

unsere Überlegungen, doch genaugenommen sollten wir<br />

über <strong>de</strong>n Elternaufwand sprechen, das heißt über die Gesamtheit<br />

an Nahrung und an<strong>de</strong>ren Ressourcen, die ein Elternteil<br />

anzubieten hat, wobei dieser Elternaufwand so gemessen wird,<br />

wie wir dies im vorigen Kapitel erörtert haben. Eltern sollten<br />

zu gleichen Teilen in Söhne und in Töchter investieren. Das<br />

be<strong>de</strong>utet gewöhnlich, daß sie zahlenmäßig ebenso viele Söhne<br />

haben sollten wie Töchter. Es könnte aber auch ungleiche<br />

Geschlechterverteilungen geben, die evolutionär stabil sind,<br />

vorausgesetzt, daß in die einzelnen Kin<strong>de</strong>r je nach Geschlecht<br />

entsprechend ungleiche Mengen von Mitteln investiert wer<strong>de</strong>n.<br />

Im Fall <strong>de</strong>r See-Elefanten könnte eine Politik, dreimal so<br />

viele Töchter wie Söhne zu haben, je<strong>de</strong>n Sohn dafür jedoch<br />

durch die dreifache Investition von Futter und an<strong>de</strong>ren Ressourcen<br />

zu einem „Supermann“ zu machen, durchaus stabil<br />

sein. Dadurch, daß ein Elternteil mehr Nahrung in einen<br />

Sohn investiert und ihn g<strong>ro</strong>ß und stark macht, kann er die<br />

Chancen dieses Sohnes vergrößern, <strong>de</strong>n Höchstpreis – einen<br />

Harem – zu gewinnen. Doch dies ist ein Son<strong>de</strong>rfall. Gewöhnlich


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 229<br />

wird <strong>de</strong>r in je<strong>de</strong>n Sohn investierte Betrag ungefähr <strong>de</strong>m<br />

in je<strong>de</strong> Tochter investierten Betrag entsprechen, und das<br />

Geschlechterverhältnis wird gewöhnlich eins zu eins sein.<br />

Auf seiner Reise durch die Generationen wird ein Durchschnittsgen<br />

daher ungefähr die Hälfte seiner <strong>Zeit</strong> in männlichen<br />

und die an<strong>de</strong>re Hälfte in weiblichen Körpern verbringen.<br />

Manche Genwirkungen manifestieren sich nur bei einem<br />

Geschlecht. Sie wer<strong>de</strong>n als geschlechtsgebun<strong>de</strong>ne Genwirkungen<br />

bezeichnet. Ein Gen, das die Penislänge reguliert, zeigt<br />

diese Wirkung nur in männlichen Körpern, es befin<strong>de</strong>t sich<br />

aber auch in weiblichen Körpern und kann auf diese eine<br />

völlig an<strong>de</strong>re Wirkung haben. Es gibt keinen Grund, warum<br />

ein Mann die Anlage, einen langen Penis herauszubil<strong>de</strong>n, nicht<br />

von seiner Mutter erben sollte.<br />

In welcher <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Sorten von Körpern ein Gen sich<br />

auch befin<strong>de</strong>n mag, wir können erwarten, daß es von <strong>de</strong>n<br />

Möglichkeiten, die diese Sorte Körper bietet, <strong>de</strong>n besten<br />

Gebrauch macht. Diese Möglichkeiten mögen je nach<strong>de</strong>m, ob<br />

es sich um einen männlichen o<strong>de</strong>r einen weiblichen Körper<br />

han<strong>de</strong>lt, recht verschie<strong>de</strong>n sein. Als eine brauchbare Näherung<br />

können wir wie<strong>de</strong>r einmal annehmen, daß je<strong>de</strong>r einzelne<br />

Körper eine egoistische Maschine ist, die das Beste für alle ihre<br />

Gene zu tun versucht. Die beste Politik für eine solche egoistische<br />

Maschine wird häufig etwas ganz an<strong>de</strong>res sein, <strong>wen</strong>n es<br />

sich um eine weibliche, als <strong>wen</strong>n es sich um eine männliche<br />

Maschine han<strong>de</strong>lt. Um <strong>de</strong>r Kürze willen stellen wir uns das<br />

Individuum wie<strong>de</strong>r so vor, als ob es eine bewußte Absicht verfolgte.<br />

Wie zuvor wer<strong>de</strong>n wir uns immer <strong>de</strong>ssen bewußt sein,<br />

daß es sich hierbei lediglich um eine bildhafte Ausdrucksweise<br />

han<strong>de</strong>lt. Ein Körper ist in Wirklichkeit eine von ihren<br />

eigennützigen Genen blind p<strong>ro</strong>grammierte Maschine.<br />

Betrachten wir wie<strong>de</strong>r das Gattenpaar vom Anfang <strong>de</strong>s<br />

Kapitels. In ihrer Eigenschaft als eigennützige Maschinen<br />

„wünschen“ sich bei<strong>de</strong> Partner gleich viele Söhne und Töchter.<br />

Soweit sind sie sich einig. Nicht mehr einig sind sie sich darin,<br />

wer die Hauptlast <strong>de</strong>r Kosten für die Aufzucht je<strong>de</strong>s einzelnen<br />

dieser Kin<strong>de</strong>r tragen soll. Je<strong>de</strong>s Individuum wünscht sich so


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 230<br />

viele leben<strong>de</strong> Kin<strong>de</strong>r wie möglich. Je <strong>wen</strong>iger er o<strong>de</strong>r sie in<br />

je<strong>de</strong>s dieser Kin<strong>de</strong>r zu investieren gezwungen ist, <strong>de</strong>sto mehr<br />

Kin<strong>de</strong>r kann er o<strong>de</strong>r sie haben. Wie dieser wünschenswerte<br />

Zustand zu erreichen ist, liegt auf <strong>de</strong>r Hand: Ich muß meinen<br />

Geschlechtspartner dazu veranlassen, mehr als seinen gerechten<br />

Anteil an Mitteln in je<strong>de</strong>s Kind zu investieren und damit<br />

mich zu entlasten, so daß ich mit an<strong>de</strong>ren Gatten weitere<br />

Kin<strong>de</strong>r bekommen kann. Dies wäre für bei<strong>de</strong> Geschlechter<br />

eine wünschenswerte Strategie; sie in die Praxis umzusetzen,<br />

ist aber für die Weibchen schwerer. Da eine Mutter bereits ganz<br />

zu Anfang – in Form eines g<strong>ro</strong>ßen, nahrhaften Eies – mehr<br />

als das Männchen investiert, ist sie schon zum <strong>Zeit</strong>punkt <strong>de</strong>r<br />

Empfängnis je<strong>de</strong>m Kind tiefer „verbun<strong>de</strong>n“ als <strong>de</strong>r Vater. Sie<br />

hat, <strong>wen</strong>n das Kind stirbt, mehr zu verlieren als <strong>de</strong>ssen Vater.<br />

Wichtiger noch: Sie müßte in Zukunft mehr als <strong>de</strong>r Vater investieren,<br />

<strong>wen</strong>n sie als Ersatz ein neues Kind bis zum selben Entwicklungsstadium<br />

bringen wollte. Versuchte sie die Taktik, <strong>de</strong>n<br />

Vater <strong>de</strong>n Kopf hinhalten und das Kind versorgen zu lassen,<br />

während sie mit einem an<strong>de</strong>ren Männchen auf und davon geht,<br />

so könnte <strong>de</strong>r Vater sich mit relativ geringem eigenem Verlust<br />

dadurch rächen, daß er das Baby ebenfalls verläßt. Daher ist<br />

es, <strong>wen</strong>n überhaupt einer <strong>de</strong>r Gatten <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren im Stich<br />

läßt, zumin<strong>de</strong>st in <strong>de</strong>n frühen Entwicklungsphasen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s<br />

vermutlich eher <strong>de</strong>r Vater, <strong>de</strong>r die Mutter verläßt, und nicht<br />

umgekehrt. Gleichermaßen kann man erwarten, daß die Weibchen<br />

nicht nur zu Beginn, son<strong>de</strong>rn während <strong>de</strong>r gesamten<br />

Entwicklung <strong>de</strong>r Jungen mehr in diese investieren als die<br />

Männchen. So ist es bei <strong>de</strong>n Säugetieren zum Beispiel das<br />

Weibchen, in <strong>de</strong>ssen Körper <strong>de</strong>r Fötus heranwächst und das<br />

die Milch p<strong>ro</strong>duziert, um das Junge nach <strong>de</strong>r Geburt zu säugen,<br />

und es ist das Weibchen, das <strong>de</strong>n Hauptteil <strong>de</strong>r Last seiner<br />

Aufzucht und seines Schutzes trägt. Das weibliche Geschlecht<br />

wird ausgebeutet, und die grundlegen<strong>de</strong> evolutionäre Basis für<br />

diese Ausbeutung ist die Tatsache, daß Eizellen größer sind als<br />

Samenzellen.<br />

Natürlich gibt es viele Arten, bei <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Vater schwer<br />

arbeitet und pflichtgetreu an <strong>de</strong>r Pflege <strong>de</strong>r Jungen teilhat.


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 231<br />

Aber <strong>de</strong>nnoch müssen wir erwarten, daß gewöhnlich ein gewisser<br />

evolutionärer Druck auf die Männchen wirkt, ein kleines<br />

bißchen <strong>wen</strong>iger in je<strong>de</strong>s Kind zu investieren und zu versuchen,<br />

von an<strong>de</strong>ren Weibchen weitere Kin<strong>de</strong>r zu haben. Damit<br />

meine ich lediglich, daß Gene, die sagen: „Körper, <strong>wen</strong>n du<br />

männlichen Geschlechts bist, so verlaß <strong>de</strong>ine Gattin ein klein<br />

bißchen früher, als du dies auf Veranlassung meines rivalisieren<strong>de</strong>n<br />

Gens tun wür<strong>de</strong>st, und such dir ein an<strong>de</strong>res Weibchen“,<br />

im Genpool wahrscheinlich erfolgreich sein wer<strong>de</strong>n.<br />

In welchem Umfang dieser evolutionäre Druck in <strong>de</strong>r Praxis<br />

tatsächlich zum Tragen kommt, variiert von Art zu Art stark.<br />

Bei vielen Spezies, beispielsweise bei <strong>de</strong>n Paradiesvögeln,<br />

erhält das Weibchen keinerlei Hilfe von irgen<strong>de</strong>inem Männchen<br />

und zieht seine Jungen allein auf. An<strong>de</strong>re Arten, wie die<br />

Dreizehenmö<strong>wen</strong>, bil<strong>de</strong>n monogame Paare von beispielhafter<br />

Treue, und bei<strong>de</strong> Partner teilen sich die Aufgabe <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>raufzucht.<br />

Hier müssen wir vermuten, daß ein evolutionärer<br />

Gegendruck wirksam war: Mit <strong>de</strong>r eigennützigen Gattenausbeutungsstrategie<br />

muß nicht nur ein Vorteil, son<strong>de</strong>rn auch ein<br />

Nachteil verbun<strong>de</strong>n sein, und bei <strong>de</strong>n Dreizehenmö<strong>wen</strong> ist <strong>de</strong>r<br />

Nachteil größer als <strong>de</strong>r Vorteil. Es wird sich je<strong>de</strong>nfalls nur dann<br />

für einen Vater lohnen, Frau und Kind zu verlassen, <strong>wen</strong>n<br />

eine vernünftige Chance besteht, daß seine Partnerin das Kind<br />

allein aufziehen kann.<br />

Trivers hat sich Gedanken darüber gemacht, welche Handlungsweisen<br />

einer Mutter offenstehen, die von ihrem Mann<br />

verlassen wor<strong>de</strong>n ist. Für sie am vorteilhaftesten wäre es zu<br />

versuchen, ein an<strong>de</strong>res Männchen soweit zu täuschen, daß es<br />

ihr Kind adoptiert in <strong>de</strong>m „Glauben“, es sei sein eigenes. Das<br />

dürfte, <strong>wen</strong>n das Junge noch ein Fötus, also noch nicht geboren<br />

ist, nicht allzu schwierig sein. Natürlich trägt das Junge<br />

dann zwar die Hälfte <strong>de</strong>r Gene seiner Mutter, aber überhaupt<br />

keine Gene <strong>de</strong>s leichtgläubigen Stiefvaters. Die natürliche<br />

Auslese wür<strong>de</strong> eine solche Leichtgläubigkeit bei männlichen<br />

Tieren streng bestrafen und vielmehr Männchen begünstigen,<br />

die sofort nach <strong>de</strong>r Paarung mit einer neuen Gattin wirksame<br />

Schritte unternähmen, um alle potentiellen Stiefkin<strong>de</strong>r zu


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 232<br />

töten. Dies ist sehr wahrscheinlich die Erklärung für <strong>de</strong>n sogenannten<br />

Bruce-Effekt: Männliche Mäuse schei<strong>de</strong>n eine Substanz<br />

aus, <strong>de</strong>ren Geruch bei einem trächtigen Weibchen eine<br />

Fehlgeburt verursachen kann. Dieses verliert seine Jungen<br />

aber nur, <strong>wen</strong>n <strong>de</strong>r Geruch von <strong>de</strong>m seines früheren Gatten<br />

verschie<strong>de</strong>n ist. Auf diese Weise entledigt sich das Männchen<br />

potentieller Stiefkin<strong>de</strong>r und macht seine neue Partnerin für<br />

seine eigenen sexuellen Annäherungsversuche empfänglich.<br />

Ardrey hält, nebenbei gesagt, <strong>de</strong>n Bruce-Effekt für einen<br />

Mechanismus <strong>de</strong>r Populationskont<strong>ro</strong>lle. Ein ähnliches Beispiel<br />

ist vom Lö<strong>wen</strong> bekannt: Wenn ein männlicher Löwe neu in<br />

ein Ru<strong>de</strong>l kommt, so tötet er gewöhnlich alle vorhan<strong>de</strong>nen<br />

Lö<strong>wen</strong>babys, vermutlich weil diese nicht seine eigenen Kin<strong>de</strong>r<br />

sind.<br />

Ein Männchen kann dasselbe Ergebnis auch erreichen,<br />

ohne seine Stiefkin<strong>de</strong>r zu töten. Es kann, bevor es mit einem<br />

Weibchen kopuliert, auf einer langen Werbungszeit bestehen,<br />

während <strong>de</strong>r es alle an<strong>de</strong>ren Männchen vertreibt, die sich<br />

seiner Auserwählten nähern, und sie ihrerseits daran hin<strong>de</strong>rt,<br />

ihm zu entkommen. Auf diese Weise kann es abwarten, ob sie<br />

ungeborene Stiefkin<strong>de</strong>r in sich trägt, und sie verlassen, <strong>wen</strong>n<br />

dies <strong>de</strong>r Fall ist. Wir wer<strong>de</strong>n weiter unten einen Grund kennenlernen,<br />

aus <strong>de</strong>m ein Weibchen vor <strong>de</strong>r Kopulation eine<br />

sehr lange „Verlobungszeit“ wünschen könnte. Hier haben wir<br />

einen entsprechen<strong>de</strong>n Grund für ein Männchen. Vorausgesetzt<br />

es gelingt ihm, das Weibchen von allen Kontakten mit an<strong>de</strong>ren<br />

Männchen zu isolieren, so kann es mit Hilfe einer langen Verlobungszeit<br />

verhin<strong>de</strong>rn, daß es unwissentlich zum Wohltäter <strong>de</strong>r<br />

Nachkommen eines an<strong>de</strong>ren Männchens wird.<br />

Wenn wir also annehmen, daß eine verlassene Mutter kein<br />

neues Männchen dazu verleiten kann, ihr Kind zu adoptieren,<br />

was kann sie dann tun? Viel mag davon abhängen, wie alt das<br />

Kind ist. Wenn es gera<strong>de</strong> erst empfangen wor<strong>de</strong>n ist, hat sie<br />

zwar ein ganzes Ei in es investiert und vielleicht mehr, aber<br />

es könnte sich für sie immer noch auszahlen, eine Fehlgeburt<br />

zu haben und so schnell wie möglich einen neuen Gatten zu<br />

fin<strong>de</strong>n. Unter diesen Umstän<strong>de</strong>n wäre es sowohl für sie selbst


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 233<br />

als auch für <strong>de</strong>n potentiellen neuen Partner von Vorteil, <strong>wen</strong>n<br />

sie eine Fehlgeburt hätte – da wir davon ausgehen, daß sie<br />

nicht hoffen kann, das Männchen zur Adoption <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s<br />

zu verleiten. Dies könnte eine Erklärung dafür sein, warum<br />

<strong>de</strong>r Bruce-Effekt vom Standpunkt <strong>de</strong>s Weibchens aus funktioniert.<br />

Eine weitere Möglichkeit wäre, die Sache durchzustehen<br />

und zu versuchen, das Kind allein aufzuziehen. Dies wird sich<br />

für eine Mutter vor allem dann bezahlt machen, <strong>wen</strong>n das Kind<br />

schon ziemlich g<strong>ro</strong>ß ist. Je älter es ist, um so mehr hat sie<br />

bereits in es investiert und um so <strong>wen</strong>iger wird es sie kosten,<br />

die Aufgabe, es g<strong>ro</strong>ßzuziehen, zu En<strong>de</strong> zu führen. Auch <strong>wen</strong>n<br />

das Kind noch ziemlich klein ist, könnte es für eine Mutter<br />

eventuell lohnend sein, <strong>wen</strong>n sie versuchte, etwas von ihrer<br />

anfänglichen Investition zu retten, selbst <strong>wen</strong>n sie jetzt ohne<br />

Männchen doppelt so schwer arbeiten muß, um das Kind zu<br />

ernähren. Es ist kein T<strong>ro</strong>st für sie, daß das Kind auch die<br />

Hälfte <strong>de</strong>r Gene <strong>de</strong>s Vaters enthält und sie diesem eins auswischen<br />

könnte, in<strong>de</strong>m sie es im Stich läßt. Boshaftigkeit um<br />

ihrer selbst willen ist sinnlos. Das Kind trägt die Hälfte ihrer<br />

Gene, und nur sie steht jetzt vor einem Dilemma.<br />

So paradox das scheinen mag, könnte es für ein Weibchen,<br />

das Gefahr läuft, verlassen zu wer<strong>de</strong>n, eine vernünftige Politik<br />

sein, <strong>de</strong>n Gatten im Stich zu lassen, bevor er es im Stich läßt.<br />

Diese Politik könnte sich selbst dann bezahlt machen, <strong>wen</strong>n<br />

das Weibchen bereits mehr in das Junge investiert hat als<br />

das Männchen. Die traurige Wahrheit ist, daß unter gewissen<br />

Umstän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>mjenigen Partner ein Vorteil entsteht, <strong>de</strong>r sich<br />

als erster aus <strong>de</strong>m Staub macht, gleichgültig, ob Vater o<strong>de</strong>r<br />

Mutter. Trivers drückt es so aus, daß <strong>de</strong>r zurückbleiben<strong>de</strong><br />

Partner in eine „grausame Bindung“ (cruel bind) hineingestellt<br />

wird. Das ist ein ziemlich schrecklicher, aber feinsinniger<br />

Gedanke. Man kann erwarten, daß ein Elternteil sich davonmacht,<br />

sobald er o<strong>de</strong>r sie sagen kann: „Dieses Kind ist jetzt<br />

so weit entwickelt, daß je<strong>de</strong>r von uns es allein zu En<strong>de</strong> aufziehen<br />

könnte. Deshalb wür<strong>de</strong> es sich für mich lohnen, jetzt zu<br />

gehen, vorausgesetzt ich kann sicher sein, daß mein Partner


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 234<br />

nicht ebenfalls geht. Wenn ich jetzt tatsächlich ginge, wür<strong>de</strong><br />

mein Partner das tun, was für seine Gene am besten ist. Er<br />

wäre gezwungen, eine einschnei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>re Entscheidung zu treffen,<br />

als ich es jetzt tue, <strong>de</strong>nn ich wäre bereits gegangen. Mein<br />

Partner wür<strong>de</strong> ›wissen‹, daß das Kind mit Sicherheit sterben<br />

wür<strong>de</strong>, <strong>wen</strong>n er ebenfalls davonliefe. Wenn ich davon ausgehe,<br />

daß er die Entscheidung treffen wird, die für seine eigenen<br />

Gene am besten ist, komme ich daher zu <strong>de</strong>m Schluß: Das<br />

beste, was ich tun kann, ist, mich zuerst aus <strong>de</strong>m Staub zu<br />

machen. Vor allem <strong>de</strong>shalb, weil mein Partner möglicherweise<br />

ganz genauso ›<strong>de</strong>nkt‹ und je<strong>de</strong>rzeit die Initiative ergreifen<br />

und mich verlassen kann!“ Wie immer dient das imaginäre<br />

Selbstgespräch lediglich <strong>de</strong>r Erläuterung. Das Wesentliche ist,<br />

daß Gene für das Verlassen als erster einfach <strong>de</strong>shalb bevorzugt<br />

selektiert wer<strong>de</strong>n könnten, weil Gene für das Verlassen als<br />

zweiter es nicht wür<strong>de</strong>n.<br />

Wir haben einige <strong>de</strong>r Schritte betrachtet, die ein Weibchen<br />

unternehmen könnte, nach<strong>de</strong>m es von seinem Partner verlassen<br />

wor<strong>de</strong>n ist. Aber sie alle haben <strong>de</strong>n Beigeschmack <strong>de</strong>s<br />

„Retten, was zu retten ist“. Kann ein Weibchen nicht irgend<br />

etwas tun, um überhaupt erst einmal das Ausmaß seiner Ausbeutung<br />

durch <strong>de</strong>n Partner zu reduzieren? Es hat tatsächlich<br />

einen Trumpf in <strong>de</strong>r Hand: Es kann die Kopulation verweigern.<br />

Es ist gefragt, und zwar auf einem Markt, auf <strong>de</strong>m die<br />

Nachfrage größer ist als das Angebot. Das liegt daran, daß es<br />

als Morgengabe ein g<strong>ro</strong>ßes, nährstoffreiches Ei mitbringt. Ein<br />

Männchen, <strong>de</strong>m es gelingt, sich mit <strong>de</strong>m Weibchen zu paaren,<br />

gewinnt eine wertvolle Nahrungsreserve für seine Nachkommen.<br />

Das Weibchen ist potentiell in einer Position, die es ihm<br />

erlaubt, seine Interessen rücksichtslos durchzusetzen, bevor<br />

es kopuliert. Hat es jedoch erst einmal kopuliert, so hat es sein<br />

As ausgespielt – es hat sein Ei <strong>de</strong>m Männchen zur Verfügung<br />

gestellt. Nun ist es natürlich recht einfach, vom rücksichtslosen<br />

Durchsetzen von Interessen zu sprechen, aber wir wissen sehr<br />

gut, daß es nicht wirklich so ist. Gibt es irgen<strong>de</strong>ine realistische<br />

Möglichkeit, wie sich durch die natürliche Auslese etwas entwickeln<br />

könnte, das <strong>de</strong>m rücksichtslosen Vertreten <strong>de</strong>r eigenen


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 235<br />

Interessen entspricht? Ich wer<strong>de</strong> zwei Hauptmöglichkeiten<br />

untersuchen, die Strategie <strong>de</strong>r „trauten Häuslichkeit“ (domestic<br />

bliss) und die <strong>de</strong>s „Supermannes“.<br />

Die einfachste Version <strong>de</strong>r Strategie <strong>de</strong>r Häuslichkeit sieht<br />

so aus: Das Weibchen mustert die Männchen sorgfältig und versucht<br />

im voraus, Anzeichen von Treue und Häuslichkeit zu ent<strong>de</strong>cken.<br />

Es muß in <strong>de</strong>r männlichen Population Unterschie<strong>de</strong><br />

in <strong>de</strong>r Veranlagung zum treuen Ehemann geben. Wenn die<br />

Weibchen solche Eigenschaften im voraus ent<strong>de</strong>cken könnten,<br />

könnten sie sich einen Vorteil sichern, in<strong>de</strong>m sie Männchen<br />

auswählten, die diese Eigenschaften besitzen. Eine Möglichkeit,<br />

wie ein Weibchen dies tun kann, besteht darin, sich eine lange<br />

<strong>Zeit</strong> hindurch schwer e<strong>ro</strong>bern zu lassen, also sprö<strong>de</strong> zu sein.<br />

Ein Männchen, das nicht genügend Geduld aufbringt, um zu<br />

warten, bis das Weibchen endlich zur Paarung bereit ist, ist<br />

wahrscheinlich kein guter Kandidat für einen treuen Ehemann.<br />

Dadurch, daß ein Weibchen auf einer langen Verlobungszeit<br />

besteht, son<strong>de</strong>rt es flatterhafte Freier aus und paart<br />

sich schließlich mit einem Männchen, das seine Qualitäten an<br />

Treue und Beharrlichkeit im voraus unter Beweis gestellt hat.<br />

Weibliche Zurückhaltung ist in <strong>de</strong>r Tat in <strong>de</strong>r Tierwelt weit<br />

verbreitet, ebenso wie lange Werbe- o<strong>de</strong>r Brautzeiten. Wie wir<br />

bereits gesehen haben, kann eine lange Verlobung auch für ein<br />

Männchen vorteilhaft sein, <strong>wen</strong>n die Gefahr besteht, daß es<br />

dazu verleitet wird, für die Nachkommenschaft eines an<strong>de</strong>ren<br />

Männchens zu sorgen.<br />

Die Werbungsrituale erfor<strong>de</strong>rn häufig eine beträchtliche<br />

Investition durch das Männchen, die es vor <strong>de</strong>r Paarung zu<br />

leisten hat. Das Weibchen verweigert beispielsweise die Kopulation,<br />

bis das Männchen ihm ein Nest gebaut hat, o<strong>de</strong>r das<br />

Männchen muß es erst mit recht beachtlichen Futtermengen<br />

versorgen. Dies ist natürlich von g<strong>ro</strong>ßem unmittelbarem Vorteil<br />

für das Weibchen, aber es läßt darüber hinaus noch an<br />

eine an<strong>de</strong>re mögliche Version <strong>de</strong>r Strategie <strong>de</strong>r Häuslichkeit<br />

<strong>de</strong>nken: Könnte es sein, daß die Weibchen, bevor sie die Kopulation<br />

gestatten, die Männchen zwingen, <strong>de</strong>rart viel in ihre<br />

Nachkommen zu investieren, daß es sich für sie nicht mehr


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 236<br />

lohnt, sich nach <strong>de</strong>r Kopulation aus <strong>de</strong>m Staub zu machen? Das<br />

ist ein reizvoller Gedanke. Ein Männchen, das darauf wartet,<br />

daß sich ein abweisen<strong>de</strong>s Weibchen schließlich mit ihm paart,<br />

zahlt einen Preis: Es verzichtet auf die Chance, sich mit an<strong>de</strong>ren<br />

Weibchen zu paaren, und es ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>t eine Menge <strong>Zeit</strong><br />

und Energie darauf, seiner Braut <strong>de</strong>n Hof zu machen. Bis es<br />

schließlich mit einem bestimmten Weibchen kopulieren darf,<br />

wird es diesem unweigerlich stark „verbun<strong>de</strong>n“ sein. Es wird<br />

kaum in Versuchung kommen, es zu verlassen, <strong>wen</strong>n es weiß,<br />

daß je<strong>de</strong>s Weibchen, <strong>de</strong>m es sich in Zukunft nähern mag, ebenfalls<br />

in <strong>de</strong>r gleichen Weise zögern wird, bevor es zur Sache<br />

kommt.<br />

Wie ich in einem Aufsatz gezeigt habe, enthält Trivers’<br />

Gedankengang hier einen Fehler. Er ist <strong>de</strong>r Meinung, die vorausgehen<strong>de</strong><br />

Investition als solche verpflichte ein Individuum<br />

auch zu zukünftiger Investition. Das ist wirtschaftlich nicht<br />

richtig gedacht. Ein Geschäftsmann sollte niemals sagen: „Ich<br />

habe bereits so viel in die Concor<strong>de</strong> (zum Beispiel) investiert,<br />

daß ich es mir jetzt nicht leisten kann, sie zu versch<strong>ro</strong>tten.“<br />

Er sollte sich statt <strong>de</strong>ssen immer fragen, ob es sich für ihn in<br />

Zukunft auszahlen wür<strong>de</strong>, seine Verluste zu min<strong>de</strong>rn, in<strong>de</strong>m er<br />

das P<strong>ro</strong>jekt jetzt aufgibt, auch <strong>wen</strong>n er bereits viel in es investiert<br />

hat. Ähnlich hat es keinen Zweck, <strong>wen</strong>n ein Weibchen<br />

seinen Bewerber zwingt, stark in es zu investieren, in <strong>de</strong>r Hoffnung,<br />

dies allein wür<strong>de</strong> ihn davon abhalten, es anschließend<br />

im Stich zu lassen. Diese Version <strong>de</strong>r Strategie <strong>de</strong>r trauten<br />

Häuslichkeit hängt von einer weiteren entschei<strong>de</strong>nd wichtigen<br />

Voraussetzung ab, nämlich <strong>de</strong>r, daß die Mehrheit <strong>de</strong>r Weibchen<br />

zuverlässig das gleiche Spiel spielt. Wenn es in <strong>de</strong>r Population<br />

„leichte Mädchen“ gibt, die bereit sind, Männchen freundlich<br />

aufzunehmen, die ihre Frauen verlassen haben, dann könnte<br />

es sich für ein Männchen lohnen, seine Partnerin im Stich zu<br />

lassen, ganz gleich, wieviel er bereits in ihre Kin<strong>de</strong>r investiert<br />

hat.<br />

, Viel hängt daher davon ab, wie sich die Mehrheit <strong>de</strong>r Weibchen<br />

verhält. Wenn wir im Sinne einer Verschwörung <strong>de</strong>r Weibchen<br />

<strong>de</strong>nken dürften, so wür<strong>de</strong> sich das P<strong>ro</strong>blem gar nicht stel-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 237<br />

len. Aber eine solche Verschwörung ist ebenso<strong>wen</strong>ig möglich<br />

wie die Verschwörung <strong>de</strong>r Tauben, die wir in Kapitel 5 betrachtet<br />

haben. Wir müssen uns statt <strong>de</strong>ssen nach evolutionär stabilen<br />

Strategien umsehen. Lassen Sie uns Maynard Smiths<br />

Metho<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Analyse aggressiver Konflikte auf die Geschlechter<br />

an<strong>wen</strong><strong>de</strong>n. 3 Es wird ein <strong>wen</strong>ig komplizierter sein als im Fall<br />

<strong>de</strong>r Falken und <strong>de</strong>r Tauben, da wir es mit zwei weiblichen und<br />

zwei männlichen Strategien zu tun haben.<br />

Wie bei Maynard Smiths Analyse bezieht sich auch hier<br />

<strong>de</strong>r Ausdruck „Strategie“ auf ein blin<strong>de</strong>s, unbewußtes Verhaltensp<strong>ro</strong>gramm.<br />

Wir wer<strong>de</strong>n die bei<strong>de</strong>n weiblichen Strategien<br />

als sprö<strong>de</strong> und leichtfertig und die bei<strong>de</strong>n männlichen als<br />

treu und flatterhaft bezeichnen. Die Verhaltensnormen <strong>de</strong>r vier<br />

Typen sehen folgen<strong>de</strong>rmaßen aus: Sprö<strong>de</strong> Weibchen paaren<br />

sich nicht mit einem Männchen, bevor dieses nicht eine lange<br />

und kostspielige Brautzeit von mehreren Wochen durchgehalten<br />

hat. Leichtfertige Weibchen kopulieren sofort mit je<strong>de</strong>m.<br />

Treue Männchen sind bereit, das Weibchen lange <strong>Zeit</strong> zu<br />

umwerben; nach <strong>de</strong>r Kopulation bleiben sie bei ihm und helfen<br />

ihm bei <strong>de</strong>r Aufzucht <strong>de</strong>r Jungen. Flatterhafte Männchen verlieren<br />

rasch die Geduld, <strong>wen</strong>n ein Weibchen sich nicht auf <strong>de</strong>r<br />

Stelle mit ihnen paaren will: Sie gehen weg und suchen sich<br />

ein an<strong>de</strong>res Weibchen. Nach <strong>de</strong>r Paarung bleiben sie nicht und<br />

betragen sich wie gute Väter, son<strong>de</strong>rn sie machen sich gleich<br />

wie<strong>de</strong>r auf die Suche nach neuen E<strong>ro</strong>berungen. Wie im Fall <strong>de</strong>r<br />

Falken und Tauben sind dies nicht die einzigen möglichen Strategien;<br />

nichts<strong>de</strong>sto<strong>wen</strong>iger ist es aufschlußreich, ihr Schicksal<br />

zu untersuchen.<br />

Wie Maynard Smith wer<strong>de</strong>n wir für die verschie<strong>de</strong>nen<br />

Kosten und Nutzen einige willkürliche hypothetische Werte<br />

benutzen. Wenn man eine allgemeingültigere Aussage erhalten<br />

will, so kann man sich algebraischer Symbole bedienen, aber<br />

mit Zahlen ist es leichter verständlich. Nehmen wir an, die<br />

genetische Prämie, die je<strong>de</strong>r Elternteil für ein erfolgreich aufgezogenes<br />

Kind gewinnt, ist + 15 Einheiten. Die Kosten für das<br />

Aufziehen eines Kin<strong>de</strong>s, das heißt die Kosten für die gesamte<br />

Nahrung, die gesamte auf seine Pflege ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>te <strong>Zeit</strong> und


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 238<br />

alle für es eingegangenen Risiken, betragen -20 Einheiten. Die<br />

Kosten erhalten ein Minuszeichen, weil sie von <strong>de</strong>n Eltern<br />

„verausgabt“ wer<strong>de</strong>n. Ebenfalls negativ sind die Kosten <strong>de</strong>r<br />

<strong>Zeit</strong>versch<strong>wen</strong>dung in einer langen Brautzeit. Wir wollen sie<br />

mit -3 Einheiten ansetzen.<br />

Stellen wir uns vor, wir haben es mit einer Population zu<br />

tun, in <strong>de</strong>r alle Weibchen zurückhaltend und alle Männchen<br />

treu sind. Es ist eine i<strong>de</strong>ale monogame Gemeinschaft. Bei<br />

je<strong>de</strong>m Paar erhalten Männchen und Weibchen dieselbe<br />

Durchschnittsprämie ausbezahlt. Sie erhalten +15 für je<strong>de</strong>s<br />

aufgezogene Kind; sie teilen sich zu zweit gleichmäßig in die<br />

Kosten seiner Erziehung (-20), das heißt, im Durchschnitt entfallen<br />

auf je<strong>de</strong>n -10. Für die auf eine lange Werbung versch<strong>wen</strong><strong>de</strong>te<br />

<strong>Zeit</strong> zahlen sie bei<strong>de</strong> eine Strafe von -3 Punkten. Die<br />

durchschnittliche Prämie für je<strong>de</strong>n ist daher + 15-10-3 = +2.<br />

Nehmen wir nun an, in <strong>de</strong>r Population tritt ein leichtfertiges<br />

Weibchen auf. Es schnei<strong>de</strong>t sehr gut ab. Es bezahlt keine<br />

Strafe für <strong>Zeit</strong>versch<strong>wen</strong>dung, weil es keiner langen Brautzeit<br />

frönt. Da alle Männchen in <strong>de</strong>r Population treu sind, kann es<br />

damit rechnen, einen guten Vater für seine Kin<strong>de</strong>r zu fin<strong>de</strong>n,<br />

gleichgültig mit wem es sich paart. Seine durchschnittliche<br />

Prämie p<strong>ro</strong> Kind beträgt +15 – 10 = +5. Es schnei<strong>de</strong>t drei Einheiten<br />

besser ab als seine zurückhalten<strong>de</strong>n Rivalinnen. Daher<br />

wer<strong>de</strong>n sich Gene für Leichtfertigkeit auszubreiten beginnen.<br />

Wenn <strong>de</strong>r Erfolg leichtfertiger Weibchen so g<strong>ro</strong>ß ist, daß<br />

sie schließlich in <strong>de</strong>r Population überwiegen, beginnen sich<br />

die Dinge auch im männlichen Lager zu än<strong>de</strong>rn. Bisher<br />

hatten die treuen Männchen ein Monopol. Doch <strong>wen</strong>n jetzt<br />

ein Schürzenjäger in <strong>de</strong>r Population auftritt, wird er besser<br />

abschnei<strong>de</strong>n als seine treuen Rivalen. In einer Population, in<br />

<strong>de</strong>r alle Weibchen leichtfertig sind, ist <strong>de</strong>r Gewinn für ein<br />

flatterhaftes Männchen tatsächlich g<strong>ro</strong>ß. Es bekommt die 15<br />

Punkte, <strong>wen</strong>n ein Kind erfolgreich aufgezogen wor<strong>de</strong>n ist, und<br />

es trägt keinerlei Kosten. Dieses Fehlen von Kosten be<strong>de</strong>utet<br />

für es hauptsächlich, daß es sich erlauben kann, wegzugehen<br />

und sich mit neuen Weibchen zu paaren. Je<strong>de</strong> seiner bedauernswerten<br />

Frauen schlägt sich mit <strong>de</strong>m Kind allein durch und


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 239<br />

zahlt <strong>de</strong>n vollen Preis von -20 Punkten. Allerdings hat sie nichts<br />

für auf die Werbung vergeu<strong>de</strong>te <strong>Zeit</strong> zu bezahlen. Wenn ein<br />

leichtfertiges Weibchen auf ein flatterhaftes Männchen trifft,<br />

so beträgt die Nettoprämie <strong>de</strong>s Weibchens +15 – 20 = -5. Die<br />

Prämie für <strong>de</strong>n Schürzenjäger selbst ist +15. In einer Population,<br />

in <strong>de</strong>r alle Weibchen leichtfertig sind, verbreiten sich<br />

Schürzenjäger wie ein Lauffeuer.<br />

Wenn die Schürzenjäger so erfolgreich zunehmen, daß<br />

sie im männlichen Teil <strong>de</strong>r Population die Oberhand gewinnen,<br />

geraten die leichtfertigen Weibchen in böse Schwierigkeiten.<br />

Je<strong>de</strong>s sprö<strong>de</strong> Weibchen wäre stark im Vorteil. Wenn ein<br />

zurückhalten<strong>de</strong>s Weibchen einen Schürzenjäger trifft, so führt<br />

dies zu nichts. Sie besteht auf einer langen Werbezeit; er weigert<br />

sich und macht sich auf die Suche nach einem an<strong>de</strong>ren<br />

Weibchen. Keiner <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n zahlt eine Strafe für versch<strong>wen</strong><strong>de</strong>te<br />

<strong>Zeit</strong>. Und keiner gewinnt etwas, da kein Kind erzeugt<br />

wird. Dies ergibt eine Nettoprämie von null für ein sprö<strong>de</strong>s<br />

Weibchen in einer Population, in <strong>de</strong>r alle Männchen flatterhaft<br />

sind. Null mag nicht viel scheinen, aber es ist besser als<br />

-5, die durchschnittliche Punktzahl für ein leichtfertiges Weibchen.<br />

Selbst <strong>wen</strong>n ein leichtfertiges Weibchen sich entschlösse,<br />

seine Jungen zu verlassen, nach<strong>de</strong>m es selbst von einem<br />

Schürzenjäger im Stich gelassen wor<strong>de</strong>n ist, hätte es immer<br />

noch <strong>de</strong>n beträchtlichen Preis eines Eies bezahlt. So breiten<br />

sich Gene für Sprödigkeit wie<strong>de</strong>r im Genpool aus.<br />

Um <strong>de</strong>n hypothetischen Kreislauf zu schließen: Wenn sprö<strong>de</strong><br />

Weibchen zahlenmäßig so stark zunehmen, daß sie überwiegen,<br />

geraten die flatterhaften Männchen, die mit <strong>de</strong>n leichtfertigen<br />

Weibchen ein so sorgenfreies Leben hatten, in Schwierigkeiten.<br />

Ein Weibchen nach <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren besteht darauf, daß ihm lang<br />

und ausdauernd <strong>de</strong>r Hof gemacht wird. Die Schürzenjäger flattern<br />

von Weibchen zu Weibchen, es ist immer dasselbe. Wenn<br />

alle Weibchen sprö<strong>de</strong> sind, ist die Nettoprämie für einen flatterhaften<br />

Bewerber gleich null. Wenn jetzt ein einzelner treuer<br />

Ehemann auftritt, so ist er <strong>de</strong>r einzige, mit <strong>de</strong>m die sprö<strong>de</strong>n<br />

Weibchen sich paaren wer<strong>de</strong>n. Seine Nettoprämie beträgt +2,<br />

also mehr als die <strong>de</strong>r Schürzenjäger. So beginnen Gene für


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 240<br />

Treue wie<strong>de</strong>r zuzunehmen, und <strong>de</strong>r Kreis schließt sich.<br />

Wie bei <strong>de</strong>r Analyse <strong>de</strong>r Aggression habe ich das Ganze so<br />

dargestellt, als ob es sich um eine endlose Pen<strong>de</strong>lbewegung<br />

han<strong>de</strong>le. Doch wie in jenem Fall läßt sich auch hier zeigen, daß<br />

in Wirklichkeit keine Pen<strong>de</strong>lbewegung stattfin<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>. Das<br />

System wür<strong>de</strong> sich einem stabilen Zustand annähern. 4 Wenn<br />

man es durchrechnet, so stellt sich heraus, daß eine Population,<br />

in <strong>de</strong>r 5/6 <strong>de</strong>r Weibchen zurückhaltend und 5/8 <strong>de</strong>r Männchen<br />

treu sind, evolutionär stabil ist. Dies gilt selbstverständlich nur<br />

für die speziellen Willkürlichen Zahlen, von <strong>de</strong>nen wir ausgegangen<br />

sind, doch die stabilen Relationen für beliebige an<strong>de</strong>re<br />

Zahlenwerte lassen sich leicht ausrechnen.<br />

Wie bei <strong>de</strong>n Analysen von Maynard Smith brauchen wir<br />

uns nicht vorzustellen, daß es zwei verschie<strong>de</strong>ne Arten von<br />

Männchen und zwei verschie<strong>de</strong>ne Arten von Weibchen gibt.<br />

Die evolutionär stabile Strategie ließe sich ebensogut erreichen,<br />

<strong>wen</strong>n je<strong>de</strong>s Männchen 5/8 seiner <strong>Zeit</strong> treu wäre und<br />

<strong>de</strong>n Rest mit Herumtän<strong>de</strong>ln verbrächte und <strong>wen</strong>n je<strong>de</strong>s Weibchen<br />

5/6 seiner <strong>Zeit</strong> sprö<strong>de</strong> und 1/6 seiner <strong>Zeit</strong> leichtfertig<br />

wäre. Gleichgültig, wie wir uns die ESS vorstellen, sie be<strong>de</strong>utet<br />

folgen<strong>de</strong>s: Je<strong>de</strong>r Versuch <strong>de</strong>r Angehörigen eines <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n<br />

Geschlechter, von <strong>de</strong>r für dieses Geschlecht stabilen P<strong>ro</strong>portion<br />

abzuweichen, wird durch eine daraus resultieren<strong>de</strong><br />

Verän<strong>de</strong>rung in <strong>de</strong>r Strategienrelation <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren Geschlechts<br />

bestraft, was wie<strong>de</strong>rum für das ursprünglich abweichen<strong>de</strong><br />

Geschlecht ein Nachteil ist. Daher wird die ESS fortbestehen.<br />

Wir kommen zu <strong>de</strong>m Ergebnis, daß sich sicherlich eine<br />

Population entwickeln kann, die weitgehend aus sprö<strong>de</strong>n Weibchen<br />

und treuen Männchen besteht. Unter diesen Bedingungen<br />

scheint die Strategie <strong>de</strong>r trauten Häuslichkeit für die Weibchen<br />

tatsächlich zu funktionieren. Wir brauchen uns dies nicht<br />

in Gestalt einer Verschwörung <strong>de</strong>r sprö<strong>de</strong>n Weibchen vorzustellen.<br />

Zurückhaltung kann sich für die egoistischen Gene<br />

eines Weibchens tatsächlich bezahlt machen.<br />

Es gibt verschie<strong>de</strong>ne Möglichkeiten, wie die Weibchen diese<br />

Art von Strategie in die Praxis umsetzen können. Ich habe<br />

bereits ange<strong>de</strong>utet, daß ein Weibchen sich weigern kann, mit


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 241<br />

einem Männchen zu kopulieren, das ihm nicht zuvor ein Nest<br />

gebaut o<strong>de</strong>r zumin<strong>de</strong>st beim Nestbau geholfen hat. Tatsächlich<br />

kommt es bei vielen monogamen Vögeln nicht zur Paarung,<br />

bevor das Nest gebaut ist. Das führt dazu, daß zum <strong>Zeit</strong>punkt<br />

<strong>de</strong>r Befruchtung das Männchen beträchtlich mehr in das<br />

Junge investiert hat als lediglich seinen ohne Anstrengung<br />

erhältlichen Samen.<br />

Von einem angehen<strong>de</strong>n Partner zu for<strong>de</strong>rn, daß er ein Nest<br />

baut, ist für ein Weibchen eine wirksame Metho<strong>de</strong>, ihn einzufangen.<br />

Man sollte meinen, daß theoretisch fast alles, was<br />

das Männchen viel kostet, <strong>de</strong>n Zweck erfüllt, selbst <strong>wen</strong>n es<br />

<strong>de</strong>n ungeborenen Kin<strong>de</strong>rn keinen unmittelbaren Vorteil bringt.<br />

Wür<strong>de</strong>n alle Weibchen einer Population die Männchen zwingen,<br />

eine schwierige und kostspielige Tat zu vollbringen –<br />

beispielsweise einen Drachen zu töten o<strong>de</strong>r einen Berg zu<br />

besteigen –, bevor sie einverstan<strong>de</strong>n wären, sich mit ihnen<br />

zu paaren, so könnten sie theoretisch die Versuchung für die<br />

Männchen, sie nach <strong>de</strong>r Kopulation zu verlassen, herabsetzen.<br />

Je<strong>de</strong>s Männchen, das versucht wäre, seine Gattin im Stich<br />

zu lassen und mit Hilfe eines an<strong>de</strong>ren Weibchens mehr Gene<br />

zu vererben, wür<strong>de</strong> von <strong>de</strong>m Gedanken abgeschreckt, daß es<br />

einen weiteren Drachen zu töten hätte. In <strong>de</strong>r Praxis ist es<br />

jedoch unwahrscheinlich, daß eine Braut ihrem Freier <strong>de</strong>rart<br />

willkürliche Aufgaben wie das Drachentöten o<strong>de</strong>r die Suche<br />

nach <strong>de</strong>m Heiligen Gral auferlegt. Der Grund ist, daß rivalisieren<strong>de</strong><br />

Frauen, die nicht <strong>wen</strong>iger schwere, für sie und die<br />

Kin<strong>de</strong>r jedoch nützlichere Aufgaben verlangen, <strong>de</strong>n <strong>ro</strong>mantischer<br />

gesinnten, eine zwecklose Liebesmüh’ for<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>n Frauen<br />

gegenüber im Vorteil sind. Ein Nest zu bauen mag <strong>wen</strong>iger<br />

<strong>ro</strong>mantisch sein, als einen Drachen zu erschlagen o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Hellespont<br />

zu durchschwimmen, aber es ist sehr viel nützlicher.<br />

Ebenfalls nützlich für das Weibchen ist die bereits erwähnte<br />

Praxis, daß das männliche Tier das weibliche während <strong>de</strong>r<br />

Balzperio<strong>de</strong> füttert. Bei <strong>de</strong>n Vögeln hat man dies gewöhnlich<br />

als eine Art Rückkehr zum kindlichen Verhalten seitens <strong>de</strong>s<br />

Weibchens angesehen. Es erbettelt Futter von <strong>de</strong>m Männchen,<br />

in<strong>de</strong>m es dieselben Gesten benutzt, die ein junger Vogel benut-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 242<br />

zen wür<strong>de</strong>. Man hat vermutet, daß dies auf das Männchen automatisch<br />

anziehend wirkt, so wie ein Mann bei einer erwachsenen<br />

Frau ein Lispeln o<strong>de</strong>r einen Schmollmund attraktiv fin<strong>de</strong>n<br />

mag. Die Vogelfrau braucht zu dieser <strong>Zeit</strong> so viel Extrafutter,<br />

wie sie nur bekommen kann, <strong>de</strong>nn sie stockt ihre Reserven<br />

auf für die anstrengen<strong>de</strong> Aufgabe, ihre riesenhaften Eier zu<br />

p<strong>ro</strong>duzieren. Das Füttern <strong>de</strong>s Weibchens während <strong>de</strong>r Balzperio<strong>de</strong><br />

stellt wahrscheinlich eine unmittelbare Investition <strong>de</strong>s<br />

Männchens in die Eier dar. Es führt somit dazu, die zwischen<br />

bei<strong>de</strong>n Eltern bestehen<strong>de</strong> Disparität <strong>de</strong>r Anfangsinvestition in<br />

die Jungen zu verringern.<br />

Auch bei manchen Insekten und Spinnen gehört das Füttern<br />

<strong>de</strong>s Weibchens zum Balzverhalten. Hier liegt zuweilen eine<br />

an<strong>de</strong>re Interpretation nahe. Da das Männchen, wie im Fall <strong>de</strong>r<br />

Gottesanbeterin, Gefahr laufen kann, von <strong>de</strong>m größeren Weibchen<br />

verspeist zu wer<strong>de</strong>n, dürfte alles, was es tun kann, um <strong>de</strong>n<br />

Appetit seiner Gattin abzuschwächen, für es von Vorteil sein.<br />

In einem makabren Sinne kann man sagen, daß das bedauernswerte<br />

Gottesanbetermännchen in seine Kin<strong>de</strong>r investiert.<br />

Es bil<strong>de</strong>t das Futter, welches zur Herstellung <strong>de</strong>r Eier beiträgt,<br />

die dann posthum mit seinem eigenen gespeicherten Samen<br />

befruchtet wer<strong>de</strong>n.<br />

Ein Weibchen, das die Strategie <strong>de</strong>r Häuslichkeit an<strong>wen</strong><strong>de</strong>t<br />

und dabei die Männchen lediglich mustert und im voraus Zeichen<br />

für Treue zu erkennen sucht, setzt sich <strong>de</strong>r Gefahr <strong>de</strong>r<br />

Täuschung aus. Je<strong>de</strong>r Freier, <strong>de</strong>m es gelingt, sich als guter,<br />

zuverlässiger, häuslicher Typ auszugeben, <strong>de</strong>r aber in Wirklichkeit<br />

eine starke Anlage zu Abtrünnigkeit und Untreue verbirgt,<br />

zieht daraus erhebliche Vorteile. Solange die Frauen,<br />

die von einem Schürzenjäger verlassen wur<strong>de</strong>n, auch nur die<br />

geringste Chance haben, einige ihrer Kin<strong>de</strong>r aufzuziehen, wird<br />

dieser unweigerlich einen größeren Teil seiner Gene vererben<br />

als ein rivalisieren<strong>de</strong>s Männchen, das ein rechtschaffener Ehemann<br />

und Vater ist. Gene, die die Männchen zu einer wirksamen<br />

Täuschung befähigen, wer<strong>de</strong>n im Genpool ten<strong>de</strong>nziell<br />

begünstigt wer<strong>de</strong>n.<br />

Umgekehrt wird die natürliche Auslese gemeinhin Weib-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 243<br />

chen begünstigen, die die Fähigkeit entwickeln, eine <strong>de</strong>rartige<br />

Täuschung zu durchschauen. Eine mögliche Vorgehensweise<br />

für sie besteht darin, sich beson<strong>de</strong>rs abweisend zu verhalten,<br />

<strong>wen</strong>n ihnen ein neues Männchen <strong>de</strong>n Hof macht, in <strong>de</strong>n aufeinan<strong>de</strong>rfolgen<strong>de</strong>n<br />

Fortpflanzungsperio<strong>de</strong>n aber zunehmend<br />

schneller bereit zu sein, die Annäherungsversuche <strong>de</strong>s Gatten<br />

vom vorigen Jahr zu akzeptieren. Dies führt automatisch zu<br />

einer Benachteiligung junger Männchen, für die es die erste<br />

Paarungszeit ist, unabhängig davon, ob sie Betrüger sind<br />

o<strong>de</strong>r nicht. Die erste Brut unerfahrener Weibchen enthält<br />

gewöhnlich einen relativ hohen Anteil an Genen untreuer<br />

Väter, aber im zweiten Jahr sowie in darauffolgen<strong>de</strong>n Jahren<br />

im Leben einer Mutter sind treue Väter im Vorteil, da sie<br />

nicht mehr dieselben langwierigen, kraft- und zeitvergeu<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />

Balzrituale absolvieren müssen. Wenn die Mehrheit <strong>de</strong>r<br />

Individuen in einer Population von erfahrenen und nicht von<br />

unkritischen jungen Müttern abstammt – in je<strong>de</strong>r langlebigen<br />

Art eine vernünftige Annahme –, dann wer<strong>de</strong>n Gene für rechtschaffene,<br />

gute Vaterschaft im Genpool die Oberhand gewinnen.<br />

Der Einfachheit halber habe ich mich so ausgedrückt, als ob<br />

ein Männchen entwe<strong>de</strong>r völlig ehrlich o<strong>de</strong>r durch und durch<br />

falsch wäre. In <strong>de</strong>r Realität ist es eher wahrscheinlich, daß alle<br />

Männchen, ja alle Individuen ein kleines bißchen betrügerisch<br />

sind insofern, als sie dafür p<strong>ro</strong>grammiert sind, je<strong>de</strong> Gelegenheit<br />

zum Ausnutzen ihrer Gatten wahrzunehmen. Die natürliche<br />

Auslese hat die g<strong>ro</strong>ßangelegte Täuschung auf einem recht niedrigen<br />

Niveau gehalten, in<strong>de</strong>m sie die Fähigkeit je<strong>de</strong>s Partners,<br />

beim an<strong>de</strong>ren Unehrlichkeit zu ent<strong>de</strong>cken, verschärft hat. Das<br />

männliche Geschlecht kann durch Unehrlichkeit mehr gewinnen<br />

als das weibliche, und wir müssen selbst bei jenen Arten,<br />

<strong>de</strong>ren Männchen beachtliche elterliche Selbstlosigkeit an <strong>de</strong>n<br />

Tag legen, mit einer männlichen Ten<strong>de</strong>nz rechnen, ein kleines<br />

bißchen <strong>wen</strong>iger zu arbeiten als die Weibchen und ein kleines<br />

bißchen eher bereit zu sein, sich davonzumachen. Bei Vögeln<br />

und Säugetieren ist dies mit Sicherheit gewöhnlich <strong>de</strong>r Fall.<br />

Es gibt jedoch auch Arten, bei <strong>de</strong>nen das Männchen mehr


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 244<br />

für die Pflege <strong>de</strong>r Jungen tut als das Weibchen. Bei Vögeln<br />

und Säugetieren sind diese Fälle väterlicher Aufopferung<br />

auße<strong>ro</strong>r<strong>de</strong>ntlich rar, aber unter <strong>de</strong>n Fischen sind sie weit verbreitet.<br />

Warum? 5 Diese Frage ist eine Herausfor<strong>de</strong>rung an die<br />

Theorie <strong>de</strong>s egoistischen Gens, die mir eine geraume <strong>Zeit</strong> zu<br />

<strong>de</strong>nken gegeben hat. Eine geniale Lösung ist mir vor kurzem in<br />

einer Diskussion von Tamsin R. Carlisle vorgeschlagen wor<strong>de</strong>n.<br />

Sie <strong>wen</strong><strong>de</strong>t <strong>de</strong>n oben erwähnten Triversschen Gedanken <strong>de</strong>r<br />

„grausamen Bindung“ folgen<strong>de</strong>rmaßen an.<br />

Viele Fische kopulieren nicht, son<strong>de</strong>rn setzen ihre<br />

Geschlechtszellen ins Wasser ab. Die Befruchtung fin<strong>de</strong>t im<br />

offenen Wasser statt, nicht im Körper eines <strong>de</strong>r Partner. So hat<br />

die geschlechtliche Fortpflanzung vermutlich einmal angefangen.<br />

Auf <strong>de</strong>m Land leben<strong>de</strong> Tiere wie Vögel, Säugetiere und<br />

Reptilien können sich diese Art äußerer Befruchtung nicht leisten,<br />

weil ihre Geschlechtszellen zu anfällig gegen Aust<strong>ro</strong>cknen<br />

sind. Die Gameten eines Geschlechts – <strong>de</strong>s männlichen, da<br />

Spermien beweglich sind – wer<strong>de</strong>n in das feuchte Innere eines<br />

Angehörigen <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren Geschlechts – <strong>de</strong>s weiblichen – hineingebracht.<br />

Soweit die Tatsachen. Jetzt kommt die I<strong>de</strong>e. Bei<br />

Landtieren verbleibt nach <strong>de</strong>r Kopulation <strong>de</strong>r Embryo physisch<br />

im Besitz <strong>de</strong>r Mutter. Er befin<strong>de</strong>t sich im Innern ihres<br />

Körpers. Selbst <strong>wen</strong>n sie das befruchtete Ei fast unverzüglich<br />

legt, hat das Männchen immer noch <strong>Zeit</strong>, zu verschwin<strong>de</strong>n und<br />

damit das Weibchen in Trivers’ „grausame Bindung“ hineinzuzwingen.<br />

Zwangsläufig erhält das Männchen die Gelegenheit,<br />

sich als erster davonzumachen, womit es <strong>de</strong>r Entscheidungsfreiheit<br />

<strong>de</strong>s Weibchens ein En<strong>de</strong> setzt und diesem die Alternative<br />

aufzwingt, entwe<strong>de</strong>r das Junge <strong>de</strong>m sicheren Tod auszuliefern<br />

o<strong>de</strong>r bei ihm zu bleiben und es aufzuziehen. Daher ist<br />

die mütterliche Pflege bei <strong>de</strong>n Landtieren stärker verbreitet<br />

als die väterliche Pflege.<br />

Aber für Fische und an<strong>de</strong>re im Wasser leben<strong>de</strong> Tiere sehen<br />

die Dinge ganz an<strong>de</strong>rs aus. Wenn das Männchen sein Sperma<br />

nicht physisch in <strong>de</strong>n Körper <strong>de</strong>s Weibchens hineinbringt,<br />

besteht für dieses keinerlei Not<strong>wen</strong>digkeit, „<strong>de</strong>n Kopf hinzuhalten“.<br />

Je<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Partner könnte sich schnell davon-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 245<br />

machen und <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren mit <strong>de</strong>n gera<strong>de</strong> erst befruchteten<br />

Eiern zurücklassen. Es gibt aber sogar einen möglichen Grund,<br />

warum häufig das Männchen eher in Gefahr ist, im Stich<br />

gelassen zu wer<strong>de</strong>n. Wahrscheinlich wird ein evolutionärer<br />

Krieg darum entbrennen, wer seine Geschlechtszellen zuerst<br />

abgibt. Der Gatte, <strong>de</strong>r dies tut, hat <strong>de</strong>n Vorteil, daß er o<strong>de</strong>r<br />

sie dann <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren mit <strong>de</strong>n gera<strong>de</strong> erst entstan<strong>de</strong>nen<br />

Embryos zurücklassen kann. An<strong>de</strong>rerseits geht <strong>de</strong>r Partner,<br />

<strong>de</strong>r zuerst ablaicht, das Risiko ein, daß <strong>de</strong>r angehen<strong>de</strong> Gatte es<br />

anschließend versäumt, seinem Beispiel zu folgen. Nun ist das<br />

Männchen in diesem Punkt im Nachteil, und sei es auch<br />

nur <strong>de</strong>shalb, weil Spermien leichter sind und sich leichter verteilen<br />

als Eier. Wenn ein Weibchen zu früh ablaicht, das heißt<br />

bevor das Männchen bereit ist, so spielt das keine g<strong>ro</strong>ße<br />

Rolle, weil die Eier, da sie relativ g<strong>ro</strong>ß und schwer sind,<br />

wahrscheinlich einige <strong>Zeit</strong> lang als eine zusammenhängen<strong>de</strong><br />

Masse zurückbleiben wer<strong>de</strong>n. Daher kann ein Fischweibchen<br />

es sich leisten, das „Risiko“ <strong>de</strong>s frühen Ablaichens auf sich zu<br />

nehmen. Das Männchen wagt dieses Risiko nicht einzugehen,<br />

<strong>de</strong>nn <strong>wen</strong>n es seinen Samen zu früh abgibt, wird dieser sich<br />

überallhin zerstreut haben, bevor das Weibchen soweit ist, und<br />

das Weibchen wird seinen Laich dann nicht mehr ablegen, weil<br />

es nicht mehr <strong>de</strong>r Mühe wert ist. Wegen dieses P<strong>ro</strong>blems muß<br />

das Männchen das Ablaichen <strong>de</strong>s Weibchens abwarten und<br />

dann seinen Samen über die Eier ausschütten. Doch die<br />

Fischmutter gewinnt ein paar kostbare Sekun<strong>de</strong>n, in <strong>de</strong>nen<br />

sie verschwin<strong>de</strong>n kann, wobei sie das Männchen mit <strong>de</strong>n<br />

Embryos zurückläßt und ihm die bei<strong>de</strong>n Alternativen <strong>de</strong>s Triversschen<br />

Dilemmas aufzwingt. So liefert diese Theorie eine<br />

gute Erklärung dafür, warum die väterliche Pflege im Wasser<br />

verbreitet, an Land aber selten ist. Verlassen wir nun die<br />

Fische und <strong>wen</strong><strong>de</strong>n uns <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren weiblichen Hauptstrategie<br />

zu, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>s „Supermannes“. Bei Arten, die sich diese Politik<br />

zu eigen gemacht haben, fin<strong>de</strong>n die Weibchen sich praktisch<br />

damit ab, daß sie keinerlei Hilfe vom Vater ihrer Kin<strong>de</strong>r erhalten,<br />

und bemühen sich statt <strong>de</strong>ssen uneingeschränkt um gute<br />

Gene. Wie<strong>de</strong>r einmal benutzen sie die Waffe, die Paarung zu


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 246<br />

versagen. Sie weigern sich, mit je<strong>de</strong>m beliebigen Männchen<br />

zu kopulieren, und üben äußerste Sorgfalt bei <strong>de</strong>r Auswahl<br />

<strong>de</strong>s Männchens, <strong>de</strong>m sie schließlich erlauben, sie zu begatten.<br />

Zweifellos verfügen einige Männchen über eine größere Zahl<br />

guter Gene als an<strong>de</strong>re, das heißt sie besitzen Gene, die <strong>de</strong>n<br />

Überlebenschancen von Söhnen wie Töchtern zugute kommen<br />

wür<strong>de</strong>n. Wenn ein Weibchen anhand äußerlich sichtbarer<br />

Anhaltspunkte auf irgen<strong>de</strong>ine Weise gute Gene bei Männchen<br />

ent<strong>de</strong>cken kann, so kann es seinen eigenen Genen einen Vorteil<br />

verschaffen, in<strong>de</strong>m es sie mit guten väterlichen Genen vereint.<br />

Denken wir an unseren Vergleich mit <strong>de</strong>n Ru<strong>de</strong>rmannschaften:<br />

Ein Weibchen kann die Wahrscheinlichkeit minimieren,<br />

daß seine Gene durch schlechte Gesellschaft beeinträchtigt<br />

wer<strong>de</strong>n. Es kann versuchen, mit aller Sorgfalt gute Mannschaftskamera<strong>de</strong>n<br />

für sie auszuwählen.<br />

Wahrscheinlich wird die Mehrzahl <strong>de</strong>r Weibchen sich<br />

darüber einig sein, welches die besten Männchen sind, da die<br />

Information, nach <strong>de</strong>r sie sich richten können, für alle gleich<br />

ist. Daher wer<strong>de</strong>n diese <strong>wen</strong>igen glücklichen Männchen für<br />

<strong>de</strong>n G<strong>ro</strong>ßteil <strong>de</strong>r Kopulationen verantwortlich sein. Dazu sind<br />

sie ohne weiteres in <strong>de</strong>r Lage, da sie je<strong>de</strong>m Weibchen nicht<br />

mehr als einige ohne Anstrengung erhältliche Spermien zu<br />

geben brauchen. Etwas Derartiges hat sich vermutlich bei<br />

<strong>de</strong>n See-Elefanten und Paradiesvögeln abgespielt. Die Weibchen<br />

gestatten lediglich ein paar Männchen, ungestraft mit <strong>de</strong>r<br />

von allen männlichen Individuen angestrebten, i<strong>de</strong>alen egoistischen<br />

Ausbeutungsstrategie davonzukommen – aber sie stellen<br />

sicher, daß nur die besten Männchen diesen Luxus genießen.<br />

Wonach hält nun ein Weibchen Ausschau, das gute Gene<br />

herauszufin<strong>de</strong>n sucht, um sie mit seinen eigenen Genen<br />

zu vereinen? Auf je<strong>de</strong>n Fall will es einen Beweis <strong>de</strong>r<br />

Überlebensfähigkeit. Es liegt auf <strong>de</strong>r Hand, daß je<strong>de</strong>r potentielle<br />

Geschlechtspartner, <strong>de</strong>r ihm <strong>de</strong>n Hof macht, seine<br />

Fähigkeit bewiesen hat, zumin<strong>de</strong>st bis ins Erwachsenenalter<br />

zu überleben; aber das be<strong>de</strong>utet noch nicht zwangsläufig, daß<br />

er noch viel länger überleben kann. Eine recht gute Politik<br />

dürfte es sein, alte Männchen auszuwählen. Was auch immer


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 247<br />

ihre Mängel sein mögen, sie haben zumin<strong>de</strong>st bewiesen, daß<br />

sie überleben können, und das Weibchen wird seine Gene<br />

wahrscheinlich mit Genen für Langlebigkeit verbin<strong>de</strong>n. Allerdings<br />

hat es für das Weibchen keinen Zweck, dafür zu sorgen,<br />

daß seine Kin<strong>de</strong>r lange leben, <strong>wen</strong>n diese ihm nicht auch eine<br />

Menge Enkel schenken. Langlebigkeit an sich ist kein Beweis<br />

<strong>de</strong>r Virilität. Tatsächlich kann ein langlebiges Männchen gera<strong>de</strong><br />

<strong>de</strong>shalb überlebt haben, weil es für die Fortpflanzung keine<br />

Risiken eingeht. Ein Weibchen, das sich für ein altes Männchen<br />

entschei<strong>de</strong>t, hat nicht unbedingt mehr Nachkommen als ein<br />

rivalisieren<strong>de</strong>s Weibchen, das ein junges Männchen auswählt,<br />

welches irgen<strong>de</strong>inen an<strong>de</strong>ren Beweis für gute Gene liefert.<br />

Welchen an<strong>de</strong>ren Beweis? Es gibt viele Möglichkeiten. Vielleicht<br />

starke Muskeln als Beweis für die Fähigkeit, sich Nahrung<br />

zu beschaffen, vielleicht lange Beine als Beweis für die<br />

Fähigkeit, vor Räubern davonzulaufen. Ein Weibchen dürfte<br />

seinen Genen dadurch einen Vorteil verschaffen, daß es sie mit<br />

solchen Merkmalen vereint, da diese sowohl seinen Söhnen<br />

als auch seinen Töchtern nützlich sein dürften. Wir müssen<br />

uns also vorstellen, daß die Weibchen ihre Geschlechtspartner<br />

zunächst aufgrund völlig unverfälschter Merkmale o<strong>de</strong>r Anzeichen<br />

auswählen, die gewöhnlich auf gute zugrun<strong>de</strong>liegen<strong>de</strong><br />

Gene hinweisen. Doch hier kommt nun ein sehr interessanter<br />

Punkt, <strong>de</strong>n bereits Darwin erkannte und <strong>de</strong>r von Fisher<br />

<strong>de</strong>utlich formuliert wur<strong>de</strong>. In einer Gemeinschaft, in <strong>de</strong>r die<br />

männlichen Individuen miteinan<strong>de</strong>r darum konkurrieren, von<br />

<strong>de</strong>n Weibchen als Supermänner ausgewählt zu wer<strong>de</strong>n, ist es<br />

eines <strong>de</strong>r besten Dinge, die eine Mutter für ihre Gene tun kann,<br />

daß sie einen Sohn erzeugt, <strong>de</strong>r sich seinerseits wie<strong>de</strong>r als<br />

ein attraktiver Supermann entpuppt. Wenn sie dafür sorgen<br />

kann, daß ihr Sohn eines <strong>de</strong>r <strong>wen</strong>igen vom Glück begünstigten<br />

Männchen wird, das, <strong>wen</strong>n es herangewachsen ist, die meisten<br />

Kopulationen in <strong>de</strong>r Gemeinschaft erlangt, so wird sie eine<br />

gewaltige Zahl von Enkeln bekommen. Infolge<strong>de</strong>ssen ist eine<br />

<strong>de</strong>r wünschenswertesten Eigenschaften, die ein Männchen in<br />

<strong>de</strong>n Augen eines Weibchens haben kann, ganz einfach die<br />

sexuelle Anziehungskraft als solche. Ein Weibchen, das sich


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 248<br />

mit einem hochattraktiven Supermann paart, hat mit größerer<br />

Wahrscheinlichkeit Söhne, die für die Weibchen <strong>de</strong>r nächsten<br />

Generation attraktiv sind und ihm eine Menge Enkel schenken<br />

wer<strong>de</strong>n. Ursprünglich also, so kann man sich vorstellen,<br />

wählten die Weibchen die Männchen auf <strong>de</strong>r Basis offensichtlich<br />

nützlicher Eigenschaften wie starke Muskeln aus; nach<strong>de</strong>m<br />

solche Eigenschaften aber einmal unter <strong>de</strong>n Weibchen<br />

einer Spezies allgemein als attraktiv galten, begünstigte die<br />

natürliche Auslese sie lediglich um dieser Attraktivität willen<br />

weiter.<br />

Extravaganzen wie die Schwänze <strong>de</strong>r Paradiesvogelmännchen<br />

mögen sich daher durch eine Art instabilen, unaufhaltsamen<br />

P<strong>ro</strong>zeß herausgebil<strong>de</strong>t haben. 6 Zu Beginn wählten die<br />

Weibchen vielleicht einen Schwanz, <strong>de</strong>r geringfügig länger als<br />

normal war, als eine erwünschte Eigenschaft bei <strong>de</strong>n Männchen<br />

aus; möglicherweise, weil er eine kräftige und gesun<strong>de</strong> Konstitution<br />

bezeichnete. Ein kurzer Schwanz bei einem Männchen<br />

mag ein Zeichen für irgen<strong>de</strong>inen Vitaminmangel gewesen sein<br />

– Beweis für eine mangelhafte Fähigkeit, sich Nahrung zu<br />

verschaffen. O<strong>de</strong>r vielleicht waren kurzschwänzige Männchen<br />

nicht beson<strong>de</strong>rs gut, <strong>wen</strong>n es darum ging, vor Räubern davonzulaufen,<br />

und <strong>de</strong>shalb wur<strong>de</strong>n ihnen die Schwänze abgebissen.<br />

Man beachte, daß wir nicht anzunehmen brauchen, <strong>de</strong>r<br />

kurze Schwanz selbst sei genetisch vererbt wor<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn<br />

lediglich, daß er als Erkennungsmerkmal für eine genetische<br />

Unterlegenheit diente. Wie <strong>de</strong>m auch sei, nehmen wir an,<br />

daß aus irgendwelchen Grün<strong>de</strong>n die Weibchen <strong>de</strong>r vor Urzeiten<br />

leben<strong>de</strong>n Paradiesvogelart vorzugsweise Männchen mit<br />

überdurchschnittlich langen Schwänzen aussuchten. Vorausgesetzt,<br />

die natürliche Variation <strong>de</strong>r Schwanzlänge bei <strong>de</strong>n<br />

Männchen war zumin<strong>de</strong>st teilweise genetisch bedingt, so wür<strong>de</strong><br />

dies mit <strong>de</strong>r <strong>Zeit</strong> zu einer Zunahme <strong>de</strong>r durchschnittlichen<br />

Schwanzlänge <strong>de</strong>r Männchen in <strong>de</strong>r Population führen. Die<br />

Weibchen folgten einer sehr einfachen Regel: Mustere sorgfältig<br />

alle Männchen und entschei<strong>de</strong> dich für das mit <strong>de</strong>m längsten<br />

Schwanz. Je<strong>de</strong>s Weibchen, das von dieser Regel abwich, wur<strong>de</strong><br />

bestraft, auch dann noch, als die Schwänze bereits so lang


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 249<br />

gewor<strong>de</strong>n waren, daß sie ihre Besitzer tatsächlich behin<strong>de</strong>rten!<br />

Denn <strong>wen</strong>n ein Weibchen keine langschwänzigen Söhne p<strong>ro</strong>duzierte,<br />

hatte es kaum eine Chance, daß einer ihrer Söhne für<br />

attraktiv gehalten wer<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>. Wie eine Mo<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r Frauenkleidung<br />

o<strong>de</strong>r bei amerikanischen Automo<strong>de</strong>llen kam <strong>de</strong>r<br />

Trend zu längeren Schwänzen ins Rollen und gewann seine<br />

eigene Dynamik. Er wur<strong>de</strong> erst gestoppt, als die Schwänze so<br />

g<strong>ro</strong>tesk lang wur<strong>de</strong>n, daß ihre offenkundigen Nachteile <strong>de</strong>n<br />

Vorteil <strong>de</strong>r sexuellen Anziehungskraft zu überwiegen begannen.<br />

Dieser Gedanke ist nicht leicht zu schlucken und hat seit<br />

<strong>de</strong>r <strong>Zeit</strong>, als Darwin ihn unter <strong>de</strong>m Namen sexuelle Auslese<br />

zum ersten Mal vorbrachte, Skeptiker auf <strong>de</strong>n Plan gerufen.<br />

Einer <strong>de</strong>rer, die ihre Zweifel daran haben, ist A. Zahavi,<br />

<strong>de</strong>ssen Theorie <strong>de</strong>r kindlichen Erpressung wir bereits kennengelernt<br />

haben. Er bringt als rivalisieren<strong>de</strong> Erklärung sein<br />

eigenes, aufreizend dazu im Wi<strong>de</strong>rspruch stehen<strong>de</strong>s „Handikap-Prinzip“<br />

vor. 7 Seiner Ansicht nach öffnet allein die Tatsache,<br />

daß die Weibchen versuchen, Männchen mit guten Genen<br />

auszuwählen, <strong>de</strong>r Täuschung durch die Männchen Tür und<br />

Tor. Starke Muskeln mögen eine wirklich gute Eigenschaft<br />

sein, die ein Weibchen auswählen kann, aber was sollte ein<br />

Männchen daran hin<strong>de</strong>rn, sich Scheinmuskeln wachsen zu<br />

lassen, die nicht mehr echte Substanz haben als wattierte<br />

Schultern beim Menschen? Wenn es ein Männchen <strong>wen</strong>iger<br />

kostet, sich falsche Muskeln zuzulegen als echte, dann sollte<br />

die sexuelle Auslese Gene für die Erzeugung falscher Muskeln<br />

begünstigen. Es wird jedoch nicht lange dauern, bis die Gegenselektion<br />

zur Entwicklung von Weibchen führt, die in <strong>de</strong>r Lage<br />

sind, die Täuschung zu durchschauen. Zahavis grundlegen<strong>de</strong><br />

Prämisse ist die, daß falsche sexuelle Reklame schließlich von<br />

<strong>de</strong>n Weibchen durchschaut wird. Er kommt daher zu <strong>de</strong>m<br />

Schluß, daß wirklich erfolgreich nur diejenigen sein wer<strong>de</strong>n,<br />

die keine falschen Tatsachen vorspiegeln, son<strong>de</strong>rn greifbar<br />

<strong>de</strong>monstrieren, daß sie nicht täuschen. Wenn es um starke<br />

Muskeln geht, wer<strong>de</strong>n Männchen, die lediglich <strong>de</strong>n optischen<br />

Eindruck starker Muskeln vermitteln, bald von <strong>de</strong>n Weibchen


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 250<br />

entlarvt wer<strong>de</strong>n. Ein Männchen jedoch, das durch etwas <strong>de</strong>m<br />

Heben von Gewichten o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m ostentativen Spielenlassen <strong>de</strong>r<br />

Muskeln Vergleichbares <strong>de</strong>monstriert, daß es wirklich starke<br />

Muskeln hat, wird die Weibchen erfolgreich überzeugen. Mit<br />

an<strong>de</strong>ren Worten: Zahavi meint, ein Supermann dürfe nicht nur<br />

ein erstklassiger Mann zu sein scheinen, er müsse auch wirklich<br />

ein erstklassiger Mann sein, sonst wür<strong>de</strong> er von <strong>de</strong>n skeptischen<br />

Weibchen nicht als solcher akzeptiert. Es wer<strong>de</strong>n sich<br />

daher „Turniere“ entwickeln, <strong>de</strong>nen nur ein wirklicher Supermann<br />

gewachsen ist.<br />

So weit, so gut. Jetzt kommt <strong>de</strong>r Teil von Zahavis Theorie,<br />

<strong>de</strong>r wirklich nicht zu schlucken ist. Er äußert die Ansicht,<br />

daß die Schwänze von Paradiesvögeln und Pfauen, die gewaltigen<br />

Geweihe von Hirschen sowie die an<strong>de</strong>ren sexuell selektierten<br />

Merkmale, die immer schon paradox erschienen, weil<br />

sie für ihren Besitzer eine Belastung zu sein scheinen, sich<br />

gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>shalb so herausbil<strong>de</strong>n, weil sie Handikaps sind. Ein<br />

männlicher Vogel mit einem langen und hin<strong>de</strong>rlichen Schwanz<br />

präsentiert sich <strong>de</strong>n Weibchen damit als Supermann, <strong>de</strong>r<br />

so stark ist, daß er t<strong>ro</strong>tz seines Schwanzes überleben kann.<br />

Denken wir uns eine Frau, die einem Wettlauf zweier Männer<br />

zusieht. Wenn bei<strong>de</strong> gleichzeitig am Ziel ankommen, einer sich<br />

jedoch absichtlich mit einem Sack Kohlen auf <strong>de</strong>m Rücken<br />

gehandikapt hat, so wird die Frau natürlich zu <strong>de</strong>m Schluß<br />

kommen, daß <strong>de</strong>r Mann mit <strong>de</strong>r Last in Wirklichkeit <strong>de</strong>r schnellere<br />

Läufer ist.<br />

Ich halte nicht sehr viel von dieser Theorie, obwohl ich in<br />

meiner Skepsis nicht mehr ganz so sicher bin, wie ich es war,<br />

als ich sie zum ersten Mal hörte. Ich wies damals darauf hin,<br />

daß die logische Folge davon die Entwicklung von Männern<br />

mit nur einem Bein und einem Auge sein müßte. Zahavi, <strong>de</strong>r<br />

aus Israel kommt, gab auch p<strong>ro</strong>mpt zurück: „Einige unserer<br />

besten Generäle haben nur ein Auge!“ Nichts<strong>de</strong>sto<strong>wen</strong>iger<br />

bleibt das P<strong>ro</strong>blem bestehen, daß die Handikap-Theorie einen<br />

fundamentalen Wi<strong>de</strong>rspruch zu enthalten scheint. Wenn das<br />

Handikap echt ist – und seine Echtheit ist ein wesentlicher<br />

Bestandteil <strong>de</strong>r Theorie –, dann wird es mit <strong>de</strong>rselben Sicher-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 251<br />

heit, mit <strong>de</strong>r es Frauen anziehen mag, die Nachkommen<br />

benachteiligen. In je<strong>de</strong>m Fall ist es wichtig, daß das Handikap<br />

nicht an Töchter weitervererbt wird.<br />

Wenn wir die Handikap-Theorie auf <strong>de</strong>r Ebene <strong>de</strong>r Gene<br />

formulieren, so erhalten wir etwa folgen<strong>de</strong>s: Ein Gen, das<br />

männliche Individuen dazu bringt, ein Handikap zu entwikkeln,<br />

zum Beispiel einen langen Schwanz, wird im Genpool<br />

zahlreicher, weil die Weibchen Partner mit Handikaps bevorzugen.<br />

Die Weibchen entschei<strong>de</strong>n sich <strong>de</strong>shalb für Männchen<br />

mit Handikaps, weil die Gene, die sie zu dieser Wahl veranlassen,<br />

ebenfalls im Genpool zunehmen. Der Grund ist, daß<br />

Weibchen mit einer Vorliebe für behin<strong>de</strong>rte Männchen sich<br />

automatisch für Partner mit ansonsten guten Genen entschei<strong>de</strong>n,<br />

<strong>de</strong>nn diese Männchen haben t<strong>ro</strong>tz ihres Handikaps bis<br />

in das Erwachsenenalter überlebt. Die „guten“ Gene wer<strong>de</strong>n<br />

<strong>de</strong>n Körpern <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r einen Vorteil verschaffen; die Kin<strong>de</strong>r<br />

wer<strong>de</strong>n daher überleben, um die Gene für das Handikap selbst<br />

sowie die Gene für das Auswählen gehandikapter Männchen<br />

weiterzugeben. Wenn man voraussetzt, daß die Gene für das<br />

Handikap ihren Einfluß nur in Söhnen ausüben und die Gene<br />

für die sexuelle Vorliebe für Handikapträger nur bei Töchtern<br />

wirken, so könnte die Theorie gera<strong>de</strong> zum Funktionieren zu<br />

bringen sein. Doch solange sie lediglich in Worten ausgedrückt<br />

ist, können wir nicht sicher sein, ob sie funktioniert o<strong>de</strong>r nicht.<br />

Wir bekommen eine bessere Vorstellung davon, wie praktikabel<br />

eine <strong>de</strong>rartige Theorie ist, <strong>wen</strong>n sie in Gestalt eines mathematischen<br />

Mo<strong>de</strong>lls umformuliert ist. Bisher sind die Mathematiker<br />

unter <strong>de</strong>n Genetikern, die das Handikap-Prinzip in ein brauchbares<br />

Mo<strong>de</strong>ll umzusetzen versucht haben, erfolglos geblieben.<br />

Das kann entwe<strong>de</strong>r daran liegen, daß es kein brauchbares<br />

Prinzip ist, o<strong>de</strong>r daran, daß sie nicht klug genug sind. Einer<br />

von ihnen ist Maynard Smith, und ich habe <strong>de</strong>n Verdacht, daß<br />

eher die erstere Möglichkeit zutrifft.<br />

Wenn ein Männchen seine Überlegenheit über an<strong>de</strong>re<br />

Männchen auf eine Weise <strong>de</strong>monstrieren kann, die nicht verlangt,<br />

daß es sich selbst behin<strong>de</strong>rt, dann könnte es – daran<br />

wür<strong>de</strong> niemand zweifeln – damit <strong>de</strong>n Erfolg seiner Gene


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 252<br />

vergrößern. So e<strong>ro</strong>bern und behaupten See-Elefanten ihre<br />

Harems nicht, weil sie für die Weibchen ästhetisch attraktiv<br />

sind, son<strong>de</strong>rn durch das einfache Mittel, daß sie je<strong>de</strong>n<br />

Bullen durchprügeln, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n Harem einzudringen d<strong>ro</strong>ht.<br />

Gewöhnlich gewinnen die Haremsbesitzer diese Kämpfe mit<br />

Möchtegern-Usurpatoren, und sei es auch nur aus <strong>de</strong>m naheliegen<strong>de</strong>n<br />

Grund, daß sie eben gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>swegen Haremsbesitzer<br />

sind. Eindringlinge gewinnen nicht oft <strong>de</strong>n Kampf, <strong>de</strong>nn<br />

<strong>wen</strong>n sie zu gewinnen fähig wären, so hätten sie dies bereits<br />

früher getan! Je<strong>de</strong>s Weibchen, das sich nur mit einem Haremsbesitzer<br />

paart, verbin<strong>de</strong>t seine Gene daher mit <strong>de</strong>nen eines<br />

Bullen, <strong>de</strong>r stark genug ist, eine Herausfor<strong>de</strong>rung nach <strong>de</strong>r<br />

an<strong>de</strong>ren seitens <strong>de</strong>r g<strong>ro</strong>ßen Überzahl verzweifelter Junggesellen<br />

zurückzuschlagen. Wenn es Glück hat, wer<strong>de</strong>n seine Söhne<br />

die Fähigkeiten ihres Vaters erben, einen Harem zu erringen.<br />

In <strong>de</strong>r Praxis hat eine See-Elefantenkuh allerdings kaum eine<br />

an<strong>de</strong>re Wahl, <strong>de</strong>r Haremsbesitzer verprügelt sie nämlich ebenfalls,<br />

<strong>wen</strong>n sie wegzulaufen versucht. Das Prinzip bleibt jedoch<br />

bestehen: Weibchen, die sich vorzugsweise mit Männchen<br />

paaren, welche im Kampf gewinnen, erweisen ihren Genen<br />

damit einen Gefallen. Wie wir gesehen haben, gibt es Arten,<br />

<strong>de</strong>ren Weibchen es vorziehen, sich mit Männchen zu paaren,<br />

die Reviere besitzen o<strong>de</strong>r einen hohen Rang in <strong>de</strong>r Dominanzhierarchie<br />

einnehmen.<br />

Fassen wir dieses Kapitel soweit zusammen: Die verschie<strong>de</strong>nen<br />

Fortpflanzungssysteme, die wir bei <strong>de</strong>n Tieren fin<strong>de</strong>n –<br />

Monogamie, P<strong>ro</strong>miskuität, Harems und so weiter –, lassen sich<br />

im Sinne eines Interessenkonflikts zwischen <strong>de</strong>m männlichen<br />

und <strong>de</strong>m weiblichen Geschlecht verstehen. Die Individuen<br />

bei<strong>de</strong>r Geschlechter „wollen“ ihren Fortpflanzungserfolg maximieren.<br />

Auf Grund eines fundamentalen Unterschieds zwischen<br />

Spermien und Eizellen hinsichtlich <strong>de</strong>ren Größe und<br />

Anzahl ist es generell wahrscheinlich, daß das männliche<br />

Geschlecht eher zu P<strong>ro</strong>miskuität und Vernachlässigung <strong>de</strong>r<br />

Vaterpflichten neigt. Dem weiblichen Geschlecht stehen zwei<br />

Gegenzüge zur Verfügung, die ich die Strategie <strong>de</strong>s „Supermannes“<br />

und die Strategie <strong>de</strong>r „trauten Häuslichkeit“ genannt


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 253<br />

habe. Zu welchem dieser Schachzüge die Weibchen neigen,<br />

wird durch die ökologischen Bedingungen bestimmt, unter<br />

<strong>de</strong>nen eine Art lebt; das gleiche gilt für die Reaktion <strong>de</strong>r<br />

Männchen auf die weibliche Strategie. In <strong>de</strong>r Realität fin<strong>de</strong>n<br />

sich alle Zwischenstufen zwischen „Supermann“ und „trauter<br />

Häuslichkeit“, und es gibt, wie wir gesehen haben, auch Fälle,<br />

in <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Vater sogar mehr Brutpflege betreibt als die<br />

Mutter. Dieses Buch befaßt sich nicht mit <strong>de</strong>n Details bei<br />

einzelnen Tierarten, daher will ich nicht die Frage erörtern,<br />

wodurch eine Art eher für dieses o<strong>de</strong>r für jenes Fortpflanzungssystem<br />

prädisponiert wer<strong>de</strong>n könnte. Statt <strong>de</strong>ssen möchte ich<br />

mich mit verbreiteten generellen Unterschie<strong>de</strong>n zwischen <strong>de</strong>n<br />

Geschlechtern beschäftigen und zeigen, wie diese sich interpretieren<br />

lassen. Ich wer<strong>de</strong> daher <strong>de</strong>n Schwerpunkt nicht<br />

auf Arten legen, bei <strong>de</strong>nen die Unterschie<strong>de</strong> zwischen <strong>de</strong>n<br />

Geschlechtern gering sind; das sind im allgemeinen diejenigen,<br />

<strong>de</strong>ren Weibchen sich für die Strategie <strong>de</strong>r Häuslichkeit<br />

entschie<strong>de</strong>n haben.<br />

Erstens sind es gemeinhin die Männchen, die sexuell attraktive,<br />

grelle Farben bevorzugen, während die Weibchen in<br />

<strong>de</strong>r Regel unauffälliger gefärbt sind. Die Angehörigen bei<strong>de</strong>r<br />

Geschlechter wollen vermei<strong>de</strong>n, von Räubern verspeist zu<br />

wer<strong>de</strong>n, und so wird bei bei<strong>de</strong>n Geschlechtern ein gewisser<br />

evolutionärer Druck zugunsten ge<strong>de</strong>ckter Farben wirksam<br />

sein. Leuchten<strong>de</strong> Farben locken die Räuber nicht <strong>wen</strong>iger<br />

an, als sie Geschlechtspartner anziehen. Gene für auffallen<strong>de</strong><br />

Farben en<strong>de</strong>n also mit größerer Wahrscheinlichkeit im Magen<br />

eines Räubers als Gene für ein unscheinbares Äußeres. An<strong>de</strong>rerseits<br />

wer<strong>de</strong>n sich Gene für unauffällige Farben vielleicht<br />

mit geringerer Wahrscheinlichkeit in <strong>de</strong>r nächsten Generation<br />

wie<strong>de</strong>rfin<strong>de</strong>n als Gene für leuchten<strong>de</strong> Farben, da farblose Individuen<br />

Schwierigkeiten haben, einen Gatten anzulocken. Es<br />

bestehen also zwei gegensätzliche Selektionsdrücke: Der durch<br />

die Räuber begünstigt die Beseitigung <strong>de</strong>r Gene für leuchten<strong>de</strong><br />

Farben aus <strong>de</strong>m Genpool, <strong>de</strong>r durch die Geschlechtspartner<br />

richtet sich gegen die Gene für unauffällige Farben.<br />

Wie in so vielen an<strong>de</strong>ren Fällen auch lassen sich effiziente


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 254<br />

Überlebensmaschinen als das Ergebnis eines Komp<strong>ro</strong>misses<br />

zwischen gegensätzlichen Selektionsdrücken ansehen. An<br />

dieser Stelle interessiert uns, daß <strong>de</strong>r für Männchen optimale<br />

Komp<strong>ro</strong>miß sich von <strong>de</strong>m für Weibchen optimalen Komp<strong>ro</strong>miß<br />

zu unterschei<strong>de</strong>n scheint. Das steht natürlich völlig im Einklang<br />

mit unserer Auffassung von <strong>de</strong>n Männchen als Spielern<br />

mit hohem Einsatz und hohem Gewinn. Da auf je<strong>de</strong> von<br />

einem Weibchen p<strong>ro</strong>duzierte Eizelle viele Millionen von einem<br />

Männchen erzeugte Spermien entfallen, sind die Spermien<br />

in <strong>de</strong>r Population <strong>de</strong>n Eizellen zahlenmäßig weit überlegen.<br />

Daher ist die Chance einer Eizelle, mit einem Spermium zu verschmelzen,<br />

sehr viel größer als die einer Samenzelle, sich mit<br />

einer Eizelle zu vereinigen. Eier sind eine relativ wertvolle Ressource,<br />

<strong>de</strong>shalb braucht ein Weibchen sexuell nicht so attraktiv<br />

zu sein wie ein Männchen, um sicherzugehen, daß seine<br />

Eier befruchtet wer<strong>de</strong>n. Ein Männchen ist durchaus in <strong>de</strong>r<br />

Lage, alle Kin<strong>de</strong>r zu zeugen, die in einer g<strong>ro</strong>ßen Weibchenpopulation<br />

geboren wer<strong>de</strong>n. Selbst <strong>wen</strong>n ein Männchen nicht alt<br />

wird, weil sein auffälliger Schwanz Räuber anlockt o<strong>de</strong>r sich<br />

im Gebüsch verfängt, kann es eine sehr g<strong>ro</strong>ße Zahl von Kin<strong>de</strong>rn<br />

gezeugt haben, bevor es stirbt. Ein <strong>wen</strong>ig attraktives o<strong>de</strong>r<br />

unscheinbares Männchen lebt vielleicht sogar so lange wie<br />

ein Weibchen, aber es hat <strong>wen</strong>ige Nachkommen, und seine<br />

Gene wer<strong>de</strong>n nicht vererbt. Was nützt es einem Männchen,<br />

<strong>wen</strong>n es die ganze Welt gewinnt, seine unsterblichen Gene<br />

aber einbüßt?<br />

Ein an<strong>de</strong>rer weitverbreiteter Unterschied zwischen <strong>de</strong>n<br />

Geschlechtern ist <strong>de</strong>r, daß Weibchen mehr Aufhebens darum<br />

machen, mit wem sie sich paaren. Einer <strong>de</strong>r Grün<strong>de</strong>, warum<br />

die Angehörigen bei<strong>de</strong>r Geschlechter bei <strong>de</strong>r Wahl <strong>de</strong>s Partners<br />

heikel sein sollten, ist die Not<strong>wen</strong>digkeit, die Paarung<br />

mit einem Angehörigen einer an<strong>de</strong>ren Art zu vermei<strong>de</strong>n.<br />

Solche Kreuzungen sind aus verschie<strong>de</strong>nen Grün<strong>de</strong>n unvorteilhaft.<br />

Mitunter, zum Beispiel <strong>wen</strong>n ein Mensch mit einem<br />

Schaf kopuliert, führt die Kopulation nicht zur Bildung eines<br />

Embryos, und so ist nicht viel verloren. Wenn sich jedoch enger<br />

miteinan<strong>de</strong>r verwandte Arten wie Pfer<strong>de</strong> und Esel kreuzen, so


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 255<br />

kann <strong>de</strong>r Preis, zumin<strong>de</strong>st für <strong>de</strong>n weiblichen Teil, erheblich<br />

sein. Wahrscheinlich wird ein Mauleselembryo entstehen, und<br />

er wird <strong>de</strong>n Leib <strong>de</strong>r Stute elf Monate lang mit Beschlag belegen.<br />

Er verbraucht eine g<strong>ro</strong>ße Menge ihres Elternaufwands,<br />

nicht nur in Gestalt <strong>de</strong>r über die Plazenta aufgenommenen<br />

Nahrung und dann später in Gestalt von Milch, son<strong>de</strong>rn vor<br />

allem an <strong>Zeit</strong>, die auf die Aufzucht an<strong>de</strong>rer Jungen hätte verwandt<br />

wer<strong>de</strong>n können. Wenn <strong>de</strong>r Maulesel dann das Erwachsenenalter<br />

erreicht, stellt sich heraus, daß er unfruchtbar ist.<br />

Das liegt vermutlich daran, daß Pfer<strong>de</strong>- und Eselch<strong>ro</strong>mosomen<br />

einan<strong>de</strong>r zwar hinreichend ähnlich sind, um beim Bau<br />

eines guten, starken Mauleselkörpers zusammenzuarbeiten,<br />

daß sie aber nicht ähnlich genug sind, um bei <strong>de</strong>r Meiose<br />

richtig zusammenzuwirken. Welches auch immer <strong>de</strong>r genaue<br />

Grund sein mag, die erhebliche Investition <strong>de</strong>r Mutter in das<br />

Aufziehen eines Maulesels ist vom Standpunkt ihrer Gene aus<br />

betrachtet restlos vergeu<strong>de</strong>t. Pfer<strong>de</strong>stuten sollten sehr, sehr<br />

sorgfältig darauf bedacht sein, daß das Individuum, mit <strong>de</strong>m sie<br />

kopulieren, ebenfalls ein Pferd ist und nicht ein Esel. Auf <strong>de</strong>r<br />

Ebene <strong>de</strong>r Gene heißt das: Je<strong>de</strong>s Pfer<strong>de</strong>gen, das sagt:<br />

„Körper, <strong>wen</strong>n du eine Stute bist, so kopuliere mit je<strong>de</strong>m<br />

x-beliebigen guten alten Hengst, gleichgültig, ob Esel o<strong>de</strong>r<br />

Pferd“, könnte sich <strong>de</strong>mnächst in <strong>de</strong>m ausweglosen Körper<br />

eines Maulesels wie<strong>de</strong>rfin<strong>de</strong>n, und die Investition <strong>de</strong>r Mutter in<br />

<strong>de</strong>n jungen Maulesel wür<strong>de</strong> ihre Fähigkeit, fruchtbare Pfer<strong>de</strong><br />

g<strong>ro</strong>ßzuziehen, erheblich schmälern. Ein Hengst dagegen hat<br />

<strong>wen</strong>iger zu verlieren, <strong>wen</strong>n er sich mit einer Angehörigen <strong>de</strong>r<br />

falschen Art paart, und obwohl er vielleicht auch nichts zu<br />

gewinnen hat, dürfen wir <strong>de</strong>nnoch erwarten, daß Hengste in<br />

<strong>de</strong>r Wahl ihrer Geschlechtspartner <strong>wen</strong>iger heikel sind. Wo<br />

immer diese Frage untersucht wur<strong>de</strong>, hat sich gezeigt, daß dies<br />

tatsächlich so ist.<br />

Selbst innerhalb einer Art mag es Grün<strong>de</strong> dafür geben,<br />

bei <strong>de</strong>r Partnerwahl eigen zu sein. Inzest zum Beispiel hat,<br />

wie die Hybridisation, wahrscheinlich schädliche genetische<br />

Folgen, und zwar, weil letale und semiletale Gene zum Tragen<br />

kommen. Wie<strong>de</strong>r einmal haben die Weibchen mehr zu verlie-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 256<br />

ren als die Männchen, weil ihre Investition in je<strong>de</strong>s einzelne<br />

Kind gewöhnlich größer ist. Wo Inzesttabus bestehen, sollten<br />

wir erwarten, daß die Weibchen strenger darauf beharren<br />

als die Männchen. Wenn wir annehmen, daß bei einem<br />

Inzestverhältnis mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit <strong>de</strong>r ältere<br />

Partner <strong>de</strong>r aktive Initiator ist, dann sollten wir erwarten, daß<br />

inzestuöse Vereinigungen, bei <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r männliche Partner<br />

älter ist als <strong>de</strong>r weibliche, häufiger sind als solche, bei <strong>de</strong>nen<br />

<strong>de</strong>r weibliche Partner älter ist. Beispielsweise dürfte Vater-<br />

Tochter-Inzest weiter verbreitet sein als Mutter-Sohn-Inzest.<br />

Bru<strong>de</strong>r-Schwester-Inzest dürfte in <strong>de</strong>r Häufigkeit dazwischenliegen.<br />

Im g<strong>ro</strong>ßen und ganzen neigen Männchen mehr zu P<strong>ro</strong>miskuität<br />

als Weibchen. Da ein Weibchen eine begrenzte Zahl von<br />

Eizellen in relativ g<strong>ro</strong>ßen Abstän<strong>de</strong>n p<strong>ro</strong>duziert, kann es durch<br />

zahlreiche Kopulationen mit verschie<strong>de</strong>nen Männchen nicht<br />

viel gewinnen. Ein Männchen an<strong>de</strong>rerseits, das je<strong>de</strong>n Tag<br />

Millionen von Spermien erzeugen kann, hat durch möglichst<br />

viele wahllose Paarungen alles zu gewinnen. Übermäßig viele<br />

Kopulationen mögen ein Weibchen nicht eigentlich viel kosten,<br />

außer ein <strong>wen</strong>ig verlorener <strong>Zeit</strong> und Kraft, aber sie bringen<br />

ihm auch keinen ausdrücklichen Vorteil. Für ein Männchen<br />

an<strong>de</strong>rerseits kann die Zahl <strong>de</strong>r Kopulationen mit so vielen verschie<strong>de</strong>nen<br />

Weibchen wie nur möglich niemals zu g<strong>ro</strong>ß sein:<br />

Das Wort übermäßig hat in diesem Zusammenhang für ein<br />

Männchen keine Be<strong>de</strong>utung.<br />

Ich habe nicht ausdrücklich über <strong>de</strong>n Menschen gesp<strong>ro</strong>chen,<br />

doch <strong>wen</strong>n wir es mit evolutionären Argumenten wie<br />

<strong>de</strong>nen in diesem Kapitel zu tun haben, so können wir kaum<br />

umhin, auch über unsere eigene Art und unsere eigenen Erfahrungen<br />

nachzusinnen. Der Gedanke, daß ein Weibchen die<br />

Kopulation verweigert, bis ein Männchen einige Anzeichen<br />

langfristiger Treue erkennen läßt, läßt vielleicht vertraute<br />

Saiten in uns anklingen. Demzufolge dürften wir vermuten,<br />

daß bei <strong>de</strong>n Menschen die Frauen eher die Strategie <strong>de</strong>r trauten<br />

Häuslichkeit verfolgen als die <strong>de</strong>s Supermannes. Viele<br />

menschliche Gesellschaften sind in <strong>de</strong>r Tat monogam. In unse-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 257<br />

rer eigenen Gesellschaft ist <strong>de</strong>r Elternaufwand bei<strong>de</strong>r Eltern<br />

g<strong>ro</strong>ß und nicht offenkundig unausgeglichen. Zweifellos leisten<br />

die Mütter mehr unmittelbare Arbeit für die Kin<strong>de</strong>r als die<br />

Väter, aber die Väter arbeiten häufig schwer, um die materiellen<br />

Mittel zu beschaffen, die die Kin<strong>de</strong>r verbrauchen. Auf<br />

<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite gibt es einige menschliche Gesellschaften,<br />

in <strong>de</strong>nen P<strong>ro</strong>miskuität herrscht, und viele, die auf <strong>de</strong>r Institution<br />

<strong>de</strong>s Harems beruhen. Diese erstaunliche Vielfalt läßt vermuten,<br />

daß die Lebensweise <strong>de</strong>s Menschen in einem hohen<br />

Maße von <strong>de</strong>r Kultur und <strong>wen</strong>iger von <strong>de</strong>n Genen bestimmt<br />

wird. Dennoch ist es möglich, daß bei Männern generell eine<br />

Ten<strong>de</strong>nz zur P<strong>ro</strong>miskuität besteht und bei Frauen eine Ten<strong>de</strong>nz<br />

zur Monogamie, wie wir es aus evolutionären Grün<strong>de</strong>n<br />

voraussagen wür<strong>de</strong>n. Welche <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Ten<strong>de</strong>nzen in einer<br />

Gesellschaft zum Tragen kommt, hängt von <strong>de</strong>n jeweiligen kulturellen<br />

Gegebenheiten ab, gera<strong>de</strong> so wie es bei verschie<strong>de</strong>nen<br />

Tierarten von ökologischen Einzelheiten abhängig ist.<br />

Ein Merkmal unserer eigenen Gesellschaft, das entschie<strong>de</strong>n<br />

ungewöhnlich zu sein scheint, betrifft die sexuellen Lockmittel.<br />

Wie wir gesehen haben, ist aus evolutionären Grün<strong>de</strong>n mit<br />

ziemlicher Sicherheit zu erwarten, daß es bei Arten, <strong>de</strong>ren<br />

Geschlechter sich im Aussehen unterschei<strong>de</strong>n, die Männchen<br />

sein sollten, die sich sexuell anpreisen, und die Weibchen, die<br />

farblos sind. Der mo<strong>de</strong>rne westliche Mensch stellt in dieser<br />

Hinsicht zweifellos eine Ausnahme dar. Natürlich gibt es auch<br />

Männer, die sich auffallend, und Frauen, die sich langweilig<br />

klei<strong>de</strong>n, aber im Durchschnitt kann kein Zweifel daran bestehen,<br />

daß in unserer Gesellschaft das Gegenstück <strong>de</strong>s Pfauenschwanzes<br />

von <strong>de</strong>r Frau und nicht vom Mann zur Schau<br />

getragen wird. Frauen bemalen sich das Gesicht und kleben<br />

sich falsche Wimpern an. Von Son<strong>de</strong>rfällen, etwa Schauspielern,<br />

abgesehen, tun Männer das nicht. Frauen scheinen an<br />

ihrer persönlichen Erscheinung interessiert zu sein, und sie<br />

wer<strong>de</strong>n darin von ihren Magazinen und <strong>Zeit</strong>schriften bestärkt.<br />

Männermagazine beschäftigen sich <strong>wen</strong>iger mit <strong>de</strong>r sexuellen<br />

Attraktivität ihrer Leser, und ein Mann, <strong>de</strong>r seiner Kleidung<br />

und Erscheinung ungewöhnlich viel Be<strong>de</strong>utung beimißt, erregt


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 258<br />

leicht Verdacht, und zwar bei Männern wie bei Frauen. Wenn<br />

in einer Unterhaltung von einer Frau die Re<strong>de</strong> ist, so ist es<br />

ziemlich wahrscheinlich, daß ihre sexuelle Anziehungskraft<br />

o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>ren Fehlen an hervorragen<strong>de</strong>r Stelle erwähnt wer<strong>de</strong>n<br />

wird. Dies gilt unabhängig davon, ob <strong>de</strong>r Sprecher ein Mann<br />

o<strong>de</strong>r eine Frau ist. Wenn ein Mann beschrieben wird, so ist es<br />

sehr viel wahrscheinlicher, daß die benutzten Adjektive nichts<br />

mit Sex zu tun haben.<br />

Angesichts dieser Tatsachen müßte ein Biologe argwöhnen,<br />

daß er es mit einer Gesellschaft zu tun hat, in <strong>de</strong>r das weibliche<br />

Geschlecht um das männliche konkurriert und nicht<br />

umgekehrt. Im Falle <strong>de</strong>r Paradiesvögel kamen wir zu <strong>de</strong>m<br />

Schluß, daß die Weibchen unscheinbar sind, weil sie nicht um<br />

Männchen zu konkurrieren brauchen. Die Männchen an<strong>de</strong>rerseits<br />

sind farbenprächtig und auffallend, weil die Weibchen<br />

sehr begehrt sind und es sich leisten können, wählerisch zu<br />

sein. Dies hat wie<strong>de</strong>rum <strong>de</strong>n Grund, daß Eier eine seltenere<br />

Ressource darstellen als Spermien. Was ist mit <strong>de</strong>m mo<strong>de</strong>rnen<br />

westlichen Menschen geschehen? Ist <strong>de</strong>r Mann wirklich das<br />

umworbene Geschlecht gewor<strong>de</strong>n, das Geschlecht, das gefragt<br />

ist, das Geschlecht, das es sich leisten kann, wählerisch zu<br />

sein? Wenn ja, warum?


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 259<br />

10. Kratz mir meinen Rücken, dann reite ich auf <strong>de</strong>inem!<br />

Wir haben nun Betrachtungen über elterliche, sexuelle und<br />

aggressive Wechselbeziehungen zwischen Überlebensmaschinen<br />

angestellt, die <strong>de</strong>rselben Art angehören. Es gibt aber<br />

auch auffällige tierische Interaktionen, die sich offensichtlich<br />

keiner dieser Kategorien zuordnen lassen. Dazu gehört das im<br />

Tierreich weitverbreitete Zusammenleben in Gruppen. Vögel,<br />

Insekten und Fische bil<strong>de</strong>n Schwärme, Wale Schulen, in <strong>de</strong>r<br />

Ebene leben<strong>de</strong> Säugetiere leben in Her<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r jagen in<br />

Ru<strong>de</strong>ln. Diese Aggregationen bestehen gewöhnlich nur aus<br />

<strong>de</strong>n Angehörigen einer einzigen Art, aber es gibt Ausnahmen.<br />

Zebras bil<strong>de</strong>n häufig mit Gnus zusammen eine Her<strong>de</strong>, und<br />

zuweilen sieht man Vogelschwärme aus mehreren Arten.<br />

Die Vorteile, die ein egoistisches Individuum vermutlich<br />

<strong>de</strong>m Leben in einer Gruppe abgewinnen kann, sind sehr unterschiedlicher<br />

Art. Ich habe nicht vor, <strong>de</strong>n Katalog hier im einzelnen<br />

aufzulisten, son<strong>de</strong>rn will lediglich ein paar Vermutungen<br />

erwähnen. Dabei möchte ich auf die restlichen Beispiele<br />

anscheinend uneigennützigen Verhaltens zurückkommen, die<br />

ich im ersten Kapitel genannt habe und zu erklären versprach.<br />

Dies wird uns zu einer Betrachtung über die staatenbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />

Insekten führen, ohne die keine Darstellung tierischer<br />

Uneigennützigkeit vollständig wäre. Schließlich wer<strong>de</strong> ich in<br />

diesem ziemlich abwechslungsreichen Kapitel noch auf <strong>de</strong>n<br />

wichtigen Gedanken <strong>de</strong>s wechselseitigen Altruismus zu sprechen<br />

kommen, auf das Prinzip „Kratz mir meinen Rücken,<br />

dann kratze ich <strong>de</strong>inen“.<br />

Wenn Tiere in Gruppen zusammenleben, muß dies ihren<br />

Genen mehr Nutzen bringen, als es sie Investitionen kostet.<br />

Ein Ru<strong>de</strong>l Hyänen kann ein soviel größeres Beutetier fangen<br />

als eine einzelne Hyäne, daß es sich für je<strong>de</strong>s egoistische Individuum<br />

bezahlt macht, im Ru<strong>de</strong>l zu jagen, obwohl das be<strong>de</strong>utet,<br />

daß die Nahrung geteilt wer<strong>de</strong>n muß. Aus wahrscheinlich<br />

ähnlichen Grün<strong>de</strong>n arbeiten einige Spinnen bei <strong>de</strong>r Errichtung<br />

eines riesigen gemeinschaftlichen Netzes zusammen. Kaiser-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 260<br />

pinguine halten sich warm, in<strong>de</strong>m sie sich zusammendrängen.<br />

Je<strong>de</strong>r gewinnt dadurch, daß er <strong>de</strong>n Elementen eine kleinere<br />

Oberfläche aussetzt, als <strong>wen</strong>n er allein wäre. Ein Fisch,<br />

<strong>de</strong>r schräg hinter einem an<strong>de</strong>ren herschwimmt, gewinnt vielleicht<br />

einen hyd<strong>ro</strong>dynamischen Vorteil aus <strong>de</strong>r Turbulenz, die<br />

<strong>de</strong>r vor<strong>de</strong>re Fisch erzeugt. Dies könnte zum Teil erklären,<br />

warum Fische Schwärme bil<strong>de</strong>n. Radrennfahrer kennen einen<br />

ähnlichen Trick im Zusammenhang mit <strong>de</strong>r Luftturbulenz, und<br />

dies mag auch die Erklärung für die V-Formation fliegen<strong>de</strong>r<br />

Vögel sein. Wahrscheinlich gibt es einen Konkurrenzkampf um<br />

die Ablösung von <strong>de</strong>r unvorteilhaften Position an <strong>de</strong>r Spitze<br />

<strong>de</strong>s Schwarmes. Möglicherweise wechseln sich die Vögel nur<br />

wi<strong>de</strong>rwillig als Anführer ab – eine Form <strong>de</strong>s verzögerten wechselseitigen<br />

Altruismus, <strong>de</strong>r am En<strong>de</strong> dieses Kapitels zu erörtern<br />

sein wird.<br />

Viele <strong>de</strong>r mutmaßlichen Vorteile <strong>de</strong>s Gruppenlebens haben<br />

damit zu tun, daß die Tiere zu verhin<strong>de</strong>rn suchen, Räubern<br />

zum Opfer zu fallen. Eine elegante Formulierung einer <strong>de</strong>rartigen<br />

Theorie lieferte W. D. Hamilton in einem Aufsatz mit <strong>de</strong>m<br />

Titel Geometry for the Selfish Herd. Um keine Mißverständnisse<br />

aufkommen zu lassen, muß ich betonen, daß er mit „egoistischer<br />

Her<strong>de</strong>“ eine „Her<strong>de</strong> egoistischer Individuen“ meinte.<br />

Wie<strong>de</strong>r einmal beginnen wir mit einem einfachen „Mo<strong>de</strong>ll“,<br />

das zwar abstrakt ist, uns aber die reale Welt zu verstehen<br />

hilft. Nehmen wir an, eine Art wird von einem Räuber gejagt,<br />

<strong>de</strong>r immer dazu neigt, das am nächsten befindliche Beutetier<br />

anzugreifen. Vom Standpunkt <strong>de</strong>s Räubers aus betrachtet, ist<br />

dies eine vernünftige Strategie, da sie darauf abzielt, Kraft<br />

zu sparen. Vom Standpunkt <strong>de</strong>r Beute aus gesehen, hat sie<br />

eine interessante Konsequenz. Sie be<strong>de</strong>utet nämlich, daß je<strong>de</strong>s<br />

Beutetier fortwährend versuchen wird zu verhin<strong>de</strong>rn, <strong>de</strong>m<br />

Räuber am nächsten zu sein. Wenn das Beutetier <strong>de</strong>n Räuber<br />

von weitem ent<strong>de</strong>cken kann, wird es einfach davonlaufen. Aber<br />

auch <strong>wen</strong>n <strong>de</strong>r Räuber plötzlich ohne Warnung auftauchen<br />

kann, <strong>wen</strong>n er sich beispielsweise im hohen Gras auf die Lauer<br />

legt, kann je<strong>de</strong>s einzelne Beutetier etwas tun, um die Wahrscheinlichkeit,<br />

daß es <strong>de</strong>m Räuber am nächsten ist, zu mini-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 261<br />

mieren. Wir können uns je<strong>de</strong>s Beutetier als von einer „Gefahrenzone“<br />

umgeben vorstellen. Diese ist <strong>de</strong>finiert als diejenige<br />

Bo<strong>de</strong>nfläche, innerhalb <strong>de</strong>rer <strong>de</strong>r Abstand je<strong>de</strong>s beliebigen<br />

Punktes zu diesem Individuum kleiner ist als zu je<strong>de</strong>m<br />

an<strong>de</strong>ren Individuum. Wenn die Beutetiere beispielsweise in<br />

einer regelmäßigen geometrischen Formation dahermarschieren<br />

wür<strong>de</strong>n, so könnte die Gefahrenzone um je<strong>de</strong>s einzelne<br />

Tier ungefähr sechseckig sein (es sei <strong>de</strong>nn, das Tier befän<strong>de</strong><br />

sich am Rand). Wenn nun zufällig ein Räuber in <strong>de</strong>r Individuum<br />

A umgeben<strong>de</strong>n Gefahrenzone lauert, so ist es wahrscheinlich,<br />

daß Individuum A gefressen wird. Die Individuen<br />

am Ran<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Her<strong>de</strong> sind beson<strong>de</strong>rs ungeschützt, da ihre<br />

Gefahrenzone nicht ein relativ kleines Sechseck ist, son<strong>de</strong>rn<br />

eine weite Fläche auf <strong>de</strong>r offenen Seite einschließt.<br />

Nun wird ein vernünftiges Individuum selbstverständlich<br />

versuchen, seine Gefahrenzone so klein wie möglich zu halten.<br />

Insbeson<strong>de</strong>re wird es <strong>de</strong>n Rand <strong>de</strong>r Her<strong>de</strong> zu mei<strong>de</strong>n suchen.<br />

Wenn es sich am Rand wie<strong>de</strong>rfin<strong>de</strong>t, wird es sofort Schritte<br />

ergreifen, um sich zur Mitte hin zu begeben. Lei<strong>de</strong>r ist es<br />

nun einmal so, daß jemand am Rand sein muß, doch <strong>wen</strong>n es<br />

nach je<strong>de</strong>m einzelnen Tier ginge, so wäre es selbst nicht dieser<br />

Jemand! Es wird ein unaufhörliches Hineinwan<strong>de</strong>rn vom Rand<br />

einer Aggregation in ihre Mitte geben. War die Her<strong>de</strong> zuvor<br />

locker verstreut, so wird sie infolge <strong>de</strong>r Einwärtsbewegung<br />

bald dicht zusammengepfercht sein. Selbst <strong>wen</strong>n wir in unserem<br />

Mo<strong>de</strong>ll keinerlei Aggregationsneigung voraussetzen und<br />

die Beutetiere zu Beginn aufs Geratewohl zerstreut sind, wird<br />

<strong>de</strong>r eigennützige Drang je<strong>de</strong>s Individuums dahingehen, seine<br />

Gefahrenzone zu verkleinern, in<strong>de</strong>m es sich in eine Lücke<br />

zwischen an<strong>de</strong>ren Tieren zu plazieren sucht. Dies wird rasch<br />

zur Bildung von Aggregationen führen, die sich immer dichter<br />

zusammendrängen wer<strong>de</strong>n.<br />

Es liegt auf <strong>de</strong>r Hand, daß dieser Ten<strong>de</strong>nz zum Zusammendrängen<br />

im wirklichen Leben von entgegengesetzten Drücken<br />

eine Grenze gesetzt wird: An<strong>de</strong>rnfalls wür<strong>de</strong>n schließlich alle<br />

Individuen einen sich win<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Haufen bil<strong>de</strong>n! Nichts<strong>de</strong>sto<strong>wen</strong>iger<br />

ist das Mo<strong>de</strong>ll interessant, <strong>de</strong>nn es zeigt uns, daß sich


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 262<br />

die Aggregation sogar auf Grund sehr einfacher Annahmen<br />

voraussagen läßt. Es sind noch an<strong>de</strong>re, kompliziertere Mo<strong>de</strong>lle<br />

entwickelt wor<strong>de</strong>n. Die Tatsache, daß sie realistischer sind, tut<br />

<strong>de</strong>m Wert von Hamiltons einfacherem Mo<strong>de</strong>ll als Denkhilfe bei<br />

<strong>de</strong>r Betrachtung <strong>de</strong>r Tieraggregationen keinen Abbruch.<br />

Das Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>r „egoistischen Her<strong>de</strong>“ an sich läßt keinen<br />

Raum für kooperatives Verhalten. Hier gibt es keinen Altruismus<br />

lediglich egoistische Ausnutzung je<strong>de</strong>s Individuums durch<br />

je<strong>de</strong>s an<strong>de</strong>re. Im wirklichen Leben gibt es aber Fälle, in <strong>de</strong>nen<br />

einzelne Tiere wirksame Maßnahmen zu ergreifen scheinen,<br />

um die übrigen Gruppenmitglie<strong>de</strong>r vor Räubern zu schützen.<br />

Sofort fallen einem die Alarmrufe <strong>de</strong>r Vögel ein. Diese haben<br />

mit Sicherheit die Funktion von Alarmsignalen, insofern als<br />

sie die Individuen, die sie hören, zur sofortigen Flucht veranlassen.<br />

Es gibt keinerlei Hinweis darauf, daß <strong>de</strong>r Rufer „<strong>de</strong>n<br />

Angriff <strong>de</strong>s Räubers von seinen Kumpanen abzulenken versucht“.<br />

Er setzt sie einfach über die Anwesenheit <strong>de</strong>s Raubvogels<br />

in Kenntnis – warnt sie. Dennoch scheint <strong>de</strong>r Akt <strong>de</strong>s Warnens,<br />

zumin<strong>de</strong>st auf <strong>de</strong>n ersten Blick, uneigennützig zu sein,<br />

weil er <strong>de</strong>n Effekt hat, die Aufmerksamkeit <strong>de</strong>s Räubers auf<br />

<strong>de</strong>n Rufen<strong>de</strong>n zu lenken. Wir können dies indirekt aus einer<br />

Tatsache ableiten, die P. R. Marler festgestellt hat. Die physikalischen<br />

Merkmale <strong>de</strong>r Alarmrufe scheinen in i<strong>de</strong>aler Weise<br />

so beschaffen zu sein, daß <strong>de</strong>r Rufer schwer zu lokalisieren<br />

ist. Wür<strong>de</strong> man einen Akustiker beauftragen, ein Geräusch zu<br />

entwickeln, an das ein Räuber sich nur schwer heranpirschen<br />

kann, so wür<strong>de</strong> er etwas p<strong>ro</strong>duzieren, das <strong>de</strong>n tatsächlichen<br />

Alarmrufen vieler kleiner Singvögel sehr ähnlich wäre. Nun<br />

muß in <strong>de</strong>r Natur die natürliche Auslese die Gestaltung <strong>de</strong>r<br />

Rufe übernommen haben, und wir wissen, was das be<strong>de</strong>utet. Es<br />

be<strong>de</strong>utet, daß unzählige Vögel gestorben sind, weil ihre Alarmrufe<br />

nicht ganz perfekt waren. Also scheint das Ausstoßen <strong>de</strong>s<br />

Alarmrufes mit Gefahr verbun<strong>de</strong>n zu sein. Die Theorie <strong>de</strong>s<br />

egoistischen Gens muß einen überzeugen<strong>de</strong>n Vorteil für Warnrufe<br />

aufzeigen können, einen Vorteil, <strong>de</strong>r so g<strong>ro</strong>ß ist, daß er<br />

diese Gefahr aufwiegt.<br />

Tatsächlich ist das nicht sehr schwierig. Die Warnrufe <strong>de</strong>r


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 263<br />

Vögel sind <strong>de</strong>rart oft als ein für die Darwinsche Theorie p<strong>ro</strong>blematisches<br />

Phänomen hingestellt wor<strong>de</strong>n, daß es zu einer<br />

Art Sport gewor<strong>de</strong>n ist, sich Erklärungen für sie auszu<strong>de</strong>nken.<br />

Infolge<strong>de</strong>ssen haben wir heute so viele gute Erklärungen,<br />

daß man sich kaum noch daran erinnern kann, worum es bei<br />

<strong>de</strong>r ganzen Aufregung eigentlich ging. Wenn die Möglichkeit<br />

besteht, daß <strong>de</strong>r Schwarm einige enge Verwandte enthält, so<br />

leuchtet es ein, daß ein Gen für das Ausstoßen <strong>de</strong>s Alarmrufes<br />

im Genpool ge<strong>de</strong>ihen kann, weil es sich sehr wahrscheinlich<br />

im Körper einiger <strong>de</strong>r geretteten Individuen befin<strong>de</strong>t. Das gilt<br />

sogar dann, <strong>wen</strong>n <strong>de</strong>r Rufer seinen Altruismus teuer bezahlt,<br />

in<strong>de</strong>m er die Aufmerksamkeit <strong>de</strong>s Räubers auf sich selbst<br />

lenkt.<br />

Sollte jemand mit diesem auf <strong>de</strong>r Verwandtschaftsselektion<br />

aufbauen<strong>de</strong>n Gedanken nicht zufrie<strong>de</strong>n sein, so hat er eine<br />

ganze Reihe an<strong>de</strong>rer Theorien zur Auswahl. Es gibt zahlreiche<br />

Möglichkeiten, wie <strong>de</strong>r Warner aus <strong>de</strong>m Alarmieren<br />

seiner Kumpane einen egoistischen Nutzen ziehen könnte.<br />

Trivers weiß auf Anhieb fünf gute Thesen zu nennen, ich<br />

fin<strong>de</strong> jedoch die bei<strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n, von mir entwickelten noch<br />

überzeugen<strong>de</strong>r.<br />

Die erste nenne ich die cave-Theorie, aus <strong>de</strong>m Lateinischen<br />

für „nimm dich in acht“. Dieser Ausdruck wird in England<br />

heute noch von Schülern als Warnung beim Nahen von<br />

Autoritätspersonen benutzt. Die Theorie eignet sich für Vögel<br />

mit Tarnfarben, die sich, <strong>wen</strong>n Gefahr d<strong>ro</strong>ht, unbeweglich ins<br />

Unterholz ducken.<br />

Nehmen wir an, ein Schwarm solcher Vögel sei auf einem<br />

Feld bei <strong>de</strong>r Nahrungssuche. In einiger Entfernung fliegt ein<br />

Falke vorüber. Er hat <strong>de</strong>n Schwarm noch nicht gesehen und<br />

fliegt auch nicht unmittelbar auf ihn zu, aber es besteht die<br />

Gefahr, daß seine scharfen Augen ihn je<strong>de</strong>n Augenblick ent<strong>de</strong>cken<br />

und er dann auf ihn herunterstößt. Nehmen wir an,<br />

ein Mitglied dieses Schwarmes sieht <strong>de</strong>n Falken, die übrigen<br />

haben ihn aber noch nicht gesehen. Dieses eine scharfäugige<br />

Individuum könnte sofort erstarren und sich ins Gras ducken.<br />

Doch wür<strong>de</strong> ihm das <strong>wen</strong>ig nützen, weil seine Kumpane immer


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 264<br />

noch auffällig und lärmend herumspazierten. Je<strong>de</strong>r von ihnen<br />

könnte die Aufmerksamkeit <strong>de</strong>s Falken erregen, und dann<br />

wäre <strong>de</strong>r ganze Schwarm in Gefahr. Von einem rein egoistischen<br />

Standpunkt aus ist es für das Individuum, welches <strong>de</strong>n<br />

Falken zuerst erspäht, die beste Politik, seinen Kumpanen<br />

einen raschen Warnruf zuzuzischen, sie damit zum Schweigen<br />

zu bringen und so die Wahrscheinlichkeit zu verringern, daß<br />

sie <strong>de</strong>n Falken unbeabsichtigt in seine Nähe rufen.<br />

Die zweite Theorie, die ich erwähnen möchte, folgt <strong>de</strong>m<br />

Prinzip „Verlaß niemals Reih und Glied“ o<strong>de</strong>r „Tanz niemals<br />

aus <strong>de</strong>r Reihe“. Sie eignet sich für Vogelarten, die beim Herannahen<br />

eines Räubers im Schwarm davonfliegen, vielleicht auf<br />

einen Baum. Stellen wir uns wie<strong>de</strong>r vor, daß ein Individuum<br />

aus einem Schwarm fressen<strong>de</strong>r Vögel einen Räuber erspäht<br />

hat. Was soll es tun? Es könnte einfach selbst davonfliegen,<br />

ohne seine Gefährten zu warnen. Doch dann wäre es ein einzelner<br />

Vogel, nicht mehr Teil eines relativ anonymen Schwarmes,<br />

son<strong>de</strong>rn ein Außenseiter. Falken sind in <strong>de</strong>r Tat dafür<br />

bekannt, daß sie auf einzelne Tauben Jagd machen, aber<br />

selbst <strong>wen</strong>n dies nicht so wäre, gäbe es viele theoretische<br />

Grün<strong>de</strong> für die Ausnahme, daß Ausscheren aus Reih und<br />

Glied eine selbstmör<strong>de</strong>rische Taktik sein dürfte. Selbst <strong>wen</strong>n<br />

seine Gefährten ihm schließlich folgen, vergrößert das Individuum,<br />

das als erstes vom Bo<strong>de</strong>n auffliegt, vorübergehend seine<br />

Gefahrenzone. Gleichgültig, ob Hamiltons spezielle Theorie<br />

richtig o<strong>de</strong>r falsch ist, irgen<strong>de</strong>inen be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>n Vorteil muß<br />

das Leben im Schwarm bieten, sonst wür<strong>de</strong>n die Vögel sich<br />

nicht zusammentun. Welches auch immer jener Vorteil sein<br />

mag, das Individuum, das <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren voraus <strong>de</strong>n Schwarm<br />

verläßt, wird dieses Vorteils zumin<strong>de</strong>st zum Teil verlustig<br />

gehen. Wenn <strong>de</strong>r wachsame Vogel also nicht aus <strong>de</strong>r Reihe<br />

tanzen darf, was soll er dann tun? Vielleicht sollte er einfach<br />

weiterfressen, als ob nichts geschehen wäre, und sich auf <strong>de</strong>n<br />

Schutz verlassen, <strong>de</strong>n die Zugehörigkeit zum Schwarm ihm<br />

verleiht. Aber auch das ist mit einem schweren Risiko verbun<strong>de</strong>n.<br />

Er ist ja noch draußen im offenen Feld und so aufs höchste<br />

gefähr<strong>de</strong>t. Oben auf einem Baum wäre er viel sicherer. Die


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 265<br />

beste Politik besteht tatsächlich darin, auf einen Baum hinaufzufliegen,<br />

aber gleichzeitig sicherzustellen, daß alle an<strong>de</strong>ren<br />

dies auch tun. Auf diese Weise wird er nicht zu einem<br />

Außenseiter und braucht nicht auf die Vorteile zu verzichten,<br />

Mitglied im Schwarm zu sein, er gewinnt aber <strong>de</strong>nnoch <strong>de</strong>n<br />

Vorteil, in Deckung fliegen zu können. Wie<strong>de</strong>r sieht man, daß<br />

das Ausstoßen eines Warnrufes einen rein egoistischen Nutzen<br />

bringt. E. L. Charnov und J. R. Krebs haben eine ähnliche<br />

Theorie aufgestellt, in <strong>de</strong>r sie sogar so weit gehen, für das, was<br />

<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Ruf ausstoßen<strong>de</strong> Vogel mit <strong>de</strong>m restlichen Schwarm<br />

macht, das Wort „Manipulation“ zu benutzen. Damit sind wir<br />

meilenweit von einem reinen, selbstlosen Altruismus entfernt!<br />

Auf <strong>de</strong>n ersten Blick mag es so aussehen, als seien diese<br />

Theorien mit <strong>de</strong>r Feststellung unvereinbar, daß das <strong>de</strong>n Alarmruf<br />

ausstoßen<strong>de</strong> Individuum sich selbst in Gefahr bringt.<br />

Tatsächlich gibt es jedoch keinerlei Unvereinbarkeit. Der Vogel<br />

wür<strong>de</strong> sich, <strong>wen</strong>n er nicht riefe, noch größerer Gefahr aussetzen.<br />

Manche Vögel sind gestorben, weil sie Alarmrufe<br />

ausgestoßen haben, vor allem diejenigen, <strong>de</strong>ren Rufe leicht zu<br />

lokalisieren waren. An<strong>de</strong>re wie<strong>de</strong>rum sind gestorben, weil sie<br />

nicht gerufen haben. Die „Nimm dich in acht“-Theorie und<br />

die „Tanz niemals aus <strong>de</strong>r Reihe“-Theorie sind nur zwei unter<br />

vielen, die erklären warum.<br />

Wie steht es nun mit <strong>de</strong>r springen<strong>de</strong>n Thomsongazelle, die<br />

ich im ersten Kapitel erwähnt habe und <strong>de</strong>ren anscheinend<br />

selbstmör<strong>de</strong>rischer Altruismus Ardrey zu <strong>de</strong>r kategorischen<br />

Feststellung verleitete, er lasse sich nur mit Hilfe <strong>de</strong>r Gruppenselektion<br />

erklären? Hier hat die Theorie vom egoistischen<br />

Gen es mit einer größeren Herausfor<strong>de</strong>rung zu tun. Die Alarmrufe<br />

<strong>de</strong>r Vögel erfüllen ihren Zweck, aber sie sind ein<strong>de</strong>utig<br />

so strukturiert, daß sie möglichst unauffällig und vorsichtig<br />

wirken können. Nicht so die Prellsprünge <strong>de</strong>r Gazellen. Sie<br />

sind <strong>de</strong>rart auffällig, daß sie beinahe schon eine ausgesp<strong>ro</strong>chene<br />

P<strong>ro</strong>vokation darstellen. Es sieht so aus, als for<strong>de</strong>rten die<br />

Gazellen absichtlich die Aufmerksamkeit <strong>de</strong>s Räubers heraus,<br />

fast als wollten sie ihn reizen. Diese Beobachtung hat zu einer<br />

herrlich kühnen Theorie geführt, die in ihren Grundzügen auf


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 266<br />

N. Smythe zurückgeht, <strong>de</strong>ren Ausarbeitung bis zum logischen<br />

Schluß aber unverwechselbar die Handschrift von A. Zahavi<br />

trägt.<br />

Zahavis Theorie läßt sich folgen<strong>de</strong>rmaßen darstellen. Sie<br />

weicht von <strong>de</strong>r üblichen Vorstellung entschei<strong>de</strong>nd dadurch ab,<br />

daß ihr zufolge das „Prellen“ – weit davon entfernt, ein Signal<br />

für die an<strong>de</strong>ren Gazellen zu sein – sich in Wirklichkeit an <strong>de</strong>n<br />

Räuber richtet. Zwar wird es von <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Gazellen zur<br />

Kenntnis genommen und beeinflußt ihr Verhalten, doch das<br />

ist nebensächlich, <strong>de</strong>nn selektiert wur<strong>de</strong> es hauptsächlich als<br />

ein Signal für <strong>de</strong>n Räuber. In menschliche Sprache übersetzt,<br />

lautet es ungefähr: „Sieh, wie hoch ich springen kann! Ich<br />

bin offensichtlich eine so kräftige und gesun<strong>de</strong> Gazelle, daß<br />

du mich nicht fangen kannst; du tätest sehr viel klüger daran,<br />

<strong>wen</strong>n du meinen Nachbarn zu fangen versuchtest, <strong>de</strong>r nicht<br />

so hoch springt!“ Weniger anth<strong>ro</strong>pomorph ausgedrückt: Gene<br />

für hohes und auffälliges Springen wer<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>n Räubern<br />

wahrscheinlich nicht aufgefressen, weil diese sich eher Beute<br />

aussuchen, die leicht zu erlegen ist. Insbeson<strong>de</strong>re sind viele<br />

fleischfressen<strong>de</strong> Säugetiere dafür bekannt, daß sie sich alte und<br />

kranke Opfer aussuchen. Ein Individuum, das hoch springt,<br />

signalisiert auf übertriebene Art und Weise die Tatsache, daß<br />

es we<strong>de</strong>r alt noch krank ist. Nach dieser Theorie ist die Zurschaustellung<br />

weit davon entfernt, altruistisch zu sein. Wenn<br />

überhaupt, dann ist sie egoistisch, <strong>de</strong>nn ihre Absicht ist, <strong>de</strong>n<br />

Räuber davon zu überzeugen, daß er jemand an<strong>de</strong>res jagen<br />

soll. In gewisser Weise spielt sich zwischen <strong>de</strong>n möglichen Beutetieren<br />

ein Wettkampf darum ab, wer am höchsten springen<br />

kann, und <strong>de</strong>r Räuber entschei<strong>de</strong>t, wer <strong>de</strong>r Verlierer ist.<br />

Das an<strong>de</strong>re Beispiel, auf das ich zurückkommen wollte, ist<br />

<strong>de</strong>r Fall <strong>de</strong>r Kamikaze-Bienen, die Honigdiebe stechen, dabei<br />

aber fast mit Sicherheit Selbstmord begehen. Die Honigbiene<br />

ist nur eine Art <strong>de</strong>r staatenbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Insekten. Weitere Beispiele<br />

sind Wespen, Ameisen und Termiten o<strong>de</strong>r „weiße Ameisen“.<br />

Ich möchte die staatenbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Insekten im allgemeinen<br />

erörtern, nicht nur die selbstmör<strong>de</strong>rischen Bienen. Die<br />

G<strong>ro</strong>ßtaten <strong>de</strong>r sozialen Insekten sind legendär, vor allem ihre


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 267<br />

erstaunlichen Leistungen <strong>de</strong>r Zusammenarbeit und anscheinen<strong>de</strong>n<br />

Selbstlosigkeit. Die selbstmör<strong>de</strong>rischen Stechmissionen<br />

sind typisch für ihre Wun<strong>de</strong>rtaten <strong>de</strong>r Selbstverleugnung.<br />

Bei <strong>de</strong>n Honigameisen gibt es eine Arbeiterkaste mit g<strong>ro</strong>tesk<br />

angeschwollenen, mit Honig vollgestopften Hinterleibern,<br />

<strong>de</strong>ren einzige Lebensaufgabe darin besteht, wie aufgedunsene<br />

Glühbirnen bewegungslos von <strong>de</strong>r Decke herabzuhängen und<br />

sich von <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Arbeiterinnen als Nahrungsspeicher<br />

(sogenannte Honigtöpfe) benutzen zu lassen. In <strong>de</strong>r menschlichen<br />

Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s Wortes leben sie als Individuen gar nicht;<br />

ihre Individualität ist offenbar <strong>de</strong>m Wohlergehen <strong>de</strong>r Gemeinschaft<br />

geopfert wor<strong>de</strong>n. Eine Gesellschaft von Ameisen, Bienen<br />

o<strong>de</strong>r Termiten erzielt eine Art Individualität auf einer höheren<br />

Ebene. Die Nahrung wird in einem solchen Ausmaß untereinan<strong>de</strong>r<br />

geteilt, daß man von einem gemeinschaftlichen Magen<br />

sprechen könnte. Informationen wer<strong>de</strong>n mit Hilfe chemischer<br />

Signale und <strong>de</strong>s berühmten „Tanzes“ <strong>de</strong>r Bienen <strong>de</strong>rart effizient<br />

ausgetauscht, daß die Gemeinschaft sich nahezu so verhält,<br />

als wäre sie eine Einheit mit eigenem Nervensystem und eigenen<br />

Sinnesorganen. Eindringlinge wer<strong>de</strong>n erkannt und vernichtet,<br />

und zwar mit einer Selektivität, die <strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Immunsystems<br />

von Säugetieren vergleichbar ist. Die relativ hohe Temperatur<br />

im Innern eines Bienenstockes wird fast ebenso genau<br />

reguliert wie die eines menschlichen Körpers, obwohl eine einzelne<br />

Biene kein „warmblütiges“ Tier ist. Schließlich und vor<br />

allem erstreckt sich die Analogie auch auf die Fortpflanzung.<br />

Die Mehrheit <strong>de</strong>r Individuen in einem Insektenstaat sind sterile<br />

Arbeiter. Die „Keimbahn“ – die kontinuierliche Linie <strong>de</strong>r<br />

unsterblichen Gene – fließt durch die Körper einer kleinen Min<strong>de</strong>rheit<br />

sich fortpflanzen<strong>de</strong>r Individuen, <strong>de</strong>r Geschlechtstiere.<br />

Diese bil<strong>de</strong>n die Gegenstücke zu unseren eigenen Geschlechtszellen<br />

in unseren Ho<strong>de</strong>n und Eierstöcken. Die sterilen Arbeiter<br />

entsprechen unseren Leber-, Muskel- und Nervenzellen.<br />

Das Kamikaze-Verhalten und an<strong>de</strong>re Formen von<br />

Uneigennützigkeit und Zusammenarbeit <strong>de</strong>r Arbeiter sind<br />

nicht mehr erstaunlich, sobald wir be<strong>de</strong>nken, daß es sich<br />

um unfruchtbare Individuen han<strong>de</strong>lt. Normalerweise ist <strong>de</strong>r


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 268<br />

Körper eines Tieres so manipuliert, daß er das Überleben<br />

seiner Gene sichert, und zwar zum einen, in<strong>de</strong>m er Nachkommen<br />

erzeugt, und zum an<strong>de</strong>ren durch die Fürsorge für an<strong>de</strong>re,<br />

dieselben Gene besitzen<strong>de</strong> Individuen. Selbstmord um <strong>de</strong>r<br />

Sorge für an<strong>de</strong>re Individuen willen ist mit <strong>de</strong>r zukünftigen P<strong>ro</strong>duktion<br />

eigener Nachkommen unvereinbar. Daher ist tödliche<br />

Selbstaufopferung selten. Aber eine Bienenarbeiterin hat niemals<br />

eigene Nachkommen. Alle ihre Bemühungen richten sich<br />

darauf, <strong>de</strong>n Fortbestand ihrer Gene dadurch zu sichern, daß<br />

sie an<strong>de</strong>re Verwandte als ihre Nachkommen pflegt. Der Tod<br />

einer einzelnen sterilen Arbeiterin ist für <strong>de</strong>ren Gene nicht<br />

schlimmer als das Abfallen eines Blattes im Herbst für die<br />

Gene eines Baumes.<br />

Man gerät in Versuchung, mystisch zu wer<strong>de</strong>n, <strong>wen</strong>n man<br />

über staatenbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Insekten spricht, doch dazu besteht<br />

keinerlei Not<strong>wen</strong>digkeit. Es lohnt, sich etwas eingehen<strong>de</strong>r<br />

damit zu befassen, wie die Theorie <strong>de</strong>s egoistischen Gens<br />

sich mit ihnen auseinan<strong>de</strong>rsetzt, insbeson<strong>de</strong>re wie sie <strong>de</strong>n<br />

evolutionären Ursprung jenes außergewöhnlichen Phänomens<br />

<strong>de</strong>r Unfruchtbarkeit <strong>de</strong>r Arbeiterinnen erklärt, das so weitreichen<strong>de</strong><br />

Folgen zu haben scheint.<br />

Ein Insektenstaat ist eine riesige Familie, <strong>de</strong>ren Angehörige<br />

gewöhnlich alle von <strong>de</strong>rselben Mutter abstammen. Die Arbeiter,<br />

die sich selten o<strong>de</strong>r nie fortpflanzen, sind häufig in eine<br />

Reihe verschie<strong>de</strong>ner Kasten unterteilt, zu <strong>de</strong>nen kleine Arbeiter,<br />

g<strong>ro</strong>ße Arbeiter, Soldaten und hochspezialisierte Kasten wie<br />

die „Honigtöpfe“ gehören. Die fortpflanzungsfähigen Weibchen<br />

heißen Königinnen, die fruchtbaren Männchen wer<strong>de</strong>n teilweise<br />

als D<strong>ro</strong>hnen o<strong>de</strong>r Könige bezeichnet. In höher entwikkelten<br />

Insektenstaaten betätigen sich die Geschlechtstiere niemals<br />

mit etwas an<strong>de</strong>rem als <strong>de</strong>r P<strong>ro</strong>duktion von Nachwuchs,<br />

aber bei dieser einen Aufgabe leisten sie Außergewöhnliches.<br />

Was ihre Ernährung und ihren Schutz betrifft, verlassen sie<br />

sich auf die Arbeiter, und diese sind auch für die Brutpflege<br />

verantwortlich. Bei manchen Ameisen- und Termitenarten ist<br />

die Königin zu einer gigantischen Eierfabrik angeschwollen,<br />

überhaupt kaum noch als Insekt erkennbar, Hun<strong>de</strong>rte von


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 269<br />

Malen größer als ein Arbeiter und völlig unfähig, sich zu bewegen.<br />

Sie wird fortwährend von Arbeitern umsorgt, die sie pflegen,<br />

füttern und ihren unaufhörlichen Eiersegen in die gemeinschaftlichen<br />

Kin<strong>de</strong>rstuben transportieren. Wenn eine solche<br />

monströse Königin ihre Königinnenzelle jemals verlassen muß,<br />

so reitet sie mit g<strong>ro</strong>ßem Aufwand auf <strong>de</strong>m Rücken ganzer<br />

Schwad<strong>ro</strong>nen von sich mühsam fortschleppen<strong>de</strong>n Arbeitern.<br />

In Kapitel 7 habe ich die Unterscheidung zwischen Zeugen<br />

und Pflegen eingeführt. Ich sagte, daß sich normalerweise<br />

gemischte Strategien entwickeln wür<strong>de</strong>n, bei <strong>de</strong>nen Kin<strong>de</strong>rbekommen<br />

und Kin<strong>de</strong>rpflegen kombiniert sind. In Kapitel 5<br />

haben wir gesehen, daß es generell zwei Typen von gemischten<br />

evolutionär stabilen Strategien geben kann. Entwe<strong>de</strong>r verhält<br />

sich je<strong>de</strong>s Mitglied einer Population gemischt; auf diese Weise<br />

erreichen Individuen gewöhnlich eine vernünftige Mischung<br />

aus P<strong>ro</strong>duktion und Pflege ihrer Nachkommenschaft. O<strong>de</strong>r die<br />

Population ist in zwei verschie<strong>de</strong>ne Typen von Individuen aufgeteilt;<br />

so haben wir uns zunächst das Gleichgewicht zwischen<br />

Falken und Tauben vorgestellt. Nun ist es theoretisch durchaus<br />

möglich, daß ein evolutionär stabiles Gleichgewicht zwischen<br />

Zeugen und Pflegen auf die letztgenannte Art und Weise<br />

erreicht wird: Die Population könnte in kin<strong>de</strong>rzeugen<strong>de</strong> und<br />

pflegen<strong>de</strong> Individuen aufgeteilt sein. Ein solcher Zustand kann<br />

jedoch nur dann evolutionär stabil sein, <strong>wen</strong>n die Pfleger<br />

eng mit <strong>de</strong>n Gepflegten verwandt sind, und zwar min<strong>de</strong>stens<br />

ebenso eng, wie sie mit ihren eigenen Nachkommen verwandt<br />

wären, <strong>wen</strong>n sie welche hätten. Obwohl die Evolution theoretisch<br />

diese Richtung nehmen kann, scheint sie es nur bei <strong>de</strong>n<br />

staatenbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Insekten tatsächlich getan zu haben. 1<br />

Bei diesen Insekten sind die Individuen in zwei Hauptklassen<br />

aufgeteilt: in Zeugen<strong>de</strong> und Pflegen<strong>de</strong>. Die Zeugen<strong>de</strong>n sind<br />

die fortpflanzungsfähigen Männchen und Weibchen. Die Pflegen<strong>de</strong>n<br />

sind die Arbeiter – unfruchtbare Männchen und Weibchen<br />

bei <strong>de</strong>n Termiten, unfruchtbare Weibchen bei allen an<strong>de</strong>ren<br />

staatenbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Insekten. Bei<strong>de</strong> Klassen erfüllen ihre<br />

Aufgabe effizienter, weil sie nicht auch noch die an<strong>de</strong>re Aufgabe<br />

übernehmen müssen. Aber von wessen Standpunkt aus


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 270<br />

betrachtet effizient? Die Frage, die man <strong>de</strong>r Darwinschen<br />

Theorie entgegenschleu<strong>de</strong>rn wird, ist <strong>de</strong>r vertraute Aufschrei:<br />

„Was haben die Arbeiter davon?“<br />

Einige haben geantwortet: „Nichts!“ Ihrer Meinung nach<br />

richtet sich die Königin alles zu ihrem eigenen Vorteil ein,<br />

in<strong>de</strong>m sie die Arbeiterinnen durch chemische Mittel manipuliert<br />

und sie ihre wimmeln<strong>de</strong> Brut pflegen läßt. Dies ist eine<br />

Version <strong>de</strong>r Alexan<strong>de</strong>rschen Theorie <strong>de</strong>r „elterlichen Manipulation“,<br />

die wir in Kapitel 8 kennengelernt haben. Die entgegengesetzte<br />

Vorstellung lautet, daß die Arbeiterinnen die<br />

Geschlechtstiere „kultivieren“ o<strong>de</strong>r „bewirtschaften“, daß sie<br />

sie manipulieren, um ihre P<strong>ro</strong>duktivität bei <strong>de</strong>r Erzeugung von<br />

Kopien <strong>de</strong>r Arbeitergene zu erhöhen. Zwar sind die von <strong>de</strong>r<br />

Königin p<strong>ro</strong>duzierten Überlebensmaschinen keine Nachkommen<br />

<strong>de</strong>r Arbeiterinnen, aber sie sind <strong>de</strong>nnoch enge Verwandte.<br />

Es war Hamilton, <strong>de</strong>r zu <strong>de</strong>r brillanten Erkenntnis kam, daß<br />

– zumin<strong>de</strong>st bei <strong>de</strong>n Ameisen, Bienen und Wespen – die Arbeiterinnen<br />

tatsächlich näher mit <strong>de</strong>r Brut verwandt sein können<br />

als die Königin selbst!<br />

Dies verhalf ihm und später Trivers und Hare zu einem <strong>de</strong>r<br />

spektakulärsten Triumphe <strong>de</strong>r Theorie <strong>de</strong>s egoistischen Gens.<br />

Die Beweisführung ist die folgen<strong>de</strong>.<br />

Die sogenannten Hautflügler o<strong>de</strong>r Hymenopteren – zu dieser<br />

Insektengruppe gehören Ameisen, Bienen und Wespen – haben<br />

ein seltsames System <strong>de</strong>r Geschlechtsbestimmung. Die Termiten<br />

gehören zu einer an<strong>de</strong>ren Gruppe und besitzen diese<br />

Eigenart nicht. In einem typischen Hymenopterennest gibt es<br />

nur eine einzige reife Königin. Sie hat in ihrer Jugend einen<br />

Begattungsflug unternommen und die Spermien für <strong>de</strong>n Rest<br />

ihres langen Lebens gespeichert – für zehn Jahre o<strong>de</strong>r sogar<br />

noch mehr. Im Laufe <strong>de</strong>r Jahre verteilt sie die Samenflüssigkeit<br />

auf ihre Eier, die auf <strong>de</strong>m Weg durch die Eileiter besamt<br />

wer<strong>de</strong>n. Aber nicht alle Eier wer<strong>de</strong>n befruchtet. Die unbefruchteten<br />

entwickeln sich zu Männchen. Ein Männchen hat<br />

daher keinen Vater, und alle seine Zellen enthalten nur einen<br />

einzigen Satz von Ch<strong>ro</strong>mosomen (die es alle von seiner Mutter<br />

bekommen hat) statt eines doppelten Satzes (einen vom Vater


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 271<br />

und einen von <strong>de</strong>r Mutter), wie wir ihn haben. In unserem<br />

Bild aus Kapitel 3 ausgedrückt, heißt das: Ein männlicher<br />

Hautflügler besitzt in je<strong>de</strong>r seiner Zellen lediglich eine Kopie<br />

je<strong>de</strong>s „Ban<strong>de</strong>s“ statt <strong>de</strong>r üblichen zwei.<br />

Ein Hymenopterenweibchen dagegen ist insofern normal, als<br />

es einen Vater hat, und es besitzt in je<strong>de</strong>r seiner Körperzellen<br />

<strong>de</strong>n doppelten Ch<strong>ro</strong>mosomensatz. Ob sich ein Weibchen zu<br />

einer Arbeiterin o<strong>de</strong>r zu einer Königin entwickelt, hängt nicht<br />

von seinen Genen ab. Je<strong>de</strong>s Weibchen hat einen vollständigen<br />

Satz von Genen für die Entwicklung zur Königin und einen<br />

kompletten Satz für die Entwicklung zur Arbeiterin (o<strong>de</strong>r vielmehr<br />

Gensätze für die Erzeugung je<strong>de</strong>r spezialisierten Kaste<br />

von Arbeiterinnen, Soldaten und so weiter). Welcher Satz von<br />

Genen „eingeschaltet“ wird, hängt davon ab, wie das Weibchen<br />

aufgezogen wird, insbeson<strong>de</strong>re von <strong>de</strong>r Nahrung, die es erhält.<br />

In Wirklichkeit ist dies alles noch sehr viel komplizierter,<br />

aber im wesentlichen stimmt es so. Wir wissen nicht, warum<br />

sich dieses ungewöhnliche System <strong>de</strong>r sexuellen Fortpflanzung<br />

entwickelt hat. Zweifellos gab es gute Grün<strong>de</strong> dafür, aber vorerst<br />

müssen wir es einfach als eine son<strong>de</strong>rbare Erscheinung<br />

bei <strong>de</strong>n Hautflüglern hinnehmen. Aus welchem Grund auch<br />

immer sich diese Beson<strong>de</strong>rheit ursprünglich entwickelt haben<br />

mag, sie macht je<strong>de</strong>nfalls die sauberen Regeln zunichte, die<br />

wir in Kapitel 6 für die Berechnung <strong>de</strong>s Verwandtschaftsgra<strong>de</strong>s<br />

aufgestellt haben. Sie be<strong>de</strong>utet nämlich, daß sich die einzelnen<br />

Spermien eines Hymenopterenmännchens, etwa einer<br />

D<strong>ro</strong>hne, nicht wie bei uns voneinan<strong>de</strong>r unterschei<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn<br />

daß sie alle genau gleich sind. Eine D<strong>ro</strong>hne besitzt in je<strong>de</strong>r<br />

ihrer Körperzellen lediglich einen einzelnen Satz von Genen,<br />

keinen doppelten. In je<strong>de</strong>s Spermium muß daher <strong>de</strong>r gesamte<br />

Satz eingehen, nicht nur eine Auswahl von 50 P<strong>ro</strong>zent, und<br />

daher sind alle Spermien einer D<strong>ro</strong>hne i<strong>de</strong>ntisch. Versuchen<br />

wir nun, <strong>de</strong>n Verwandtschaftsgrad zwischen einer Mutter und<br />

ihrem Sohn zu berechnen. Wenn wir wissen, daß eine D<strong>ro</strong>hne<br />

ein Gen A besitzt, wie g<strong>ro</strong>ß ist dann die Wahrscheinlichkeit,<br />

daß ihre Mutter das Gen mit ihr teilt? Die Antwort muß lauten<br />

100 P<strong>ro</strong>zent, da die D<strong>ro</strong>hne keinen Vater hatte und alle ihre


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 272<br />

Gene von <strong>de</strong>r Mutter bekam. Nehmen wir jetzt aber an, wir<br />

wissen, daß eine Königin das Gen B besitzt. Die Möglichkeit,<br />

daß ihr Sohn das Gen mit ihr gemeinsam hat, ist nur 50 P<strong>ro</strong>zent,<br />

da er nur die Hälfte ihrer Gene besitzt. Das klingt wie ein<br />

Wi<strong>de</strong>rspruch, ist es aber nicht. Eine D<strong>ro</strong>hne bekommt alle ihre<br />

Gene von ihrer Mutter, aber eine Mutter gibt nur die Hälfte<br />

ihrer Gene an ihren Sohn weiter. Die Lösung für dieses scheinbare<br />

Paradoxon liegt in <strong>de</strong>r Tatsache, daß eine D<strong>ro</strong>hne lediglich<br />

die Hälfte <strong>de</strong>r üblichen Genzahl besitzt. Es hat keinen Sinn<br />

herumzurätseln, ob <strong>de</strong>r „richtige“ Verwandtschaftsin<strong>de</strong>x 1/2<br />

o<strong>de</strong>r eins ist. Dieser In<strong>de</strong>x ist nur ein vom Menschen gemachtes<br />

Maß, und <strong>wen</strong>n er in beson<strong>de</strong>ren Fällen zu Schwierigkeiten<br />

führt, so wer<strong>de</strong>n wir ihn wohl aufgeben und zu <strong>de</strong>n Quellen<br />

zurückgehen müssen. Vom Standpunkt eines Gens A im<br />

Körper einer Königin aus gesehen, ist die Wahrscheinlichkeit,<br />

daß es auch in einem Sohn enthalten ist, 1/2, gera<strong>de</strong>so wie<br />

bei einer Tochter. Eine Insektenkönigin ist daher – von ihrem<br />

Standpunkt aus betrachtet – genauso nah mit ihren Nachkommen<br />

bei<strong>de</strong>rlei Geschlechts verwandt wie bei uns Menschen<br />

eine Mutter mit ihren Kin<strong>de</strong>rn.<br />

Wirklich spannend wird es, <strong>wen</strong>n wir zum Verwandtschaftsgrad<br />

zwischen Schwestern kommen. Bei Hautflüglern haben<br />

leibliche Schwestern nicht nur <strong>de</strong>nselben Vater: Die bei<strong>de</strong>n<br />

Spermien, die sie gezeugt haben, waren darüber hinaus in<br />

je<strong>de</strong>m Gen i<strong>de</strong>ntisch. Die Schwestern entsprechen daher,<br />

soweit es ihre väterlichen Gene betrifft, eineiigen Zwillingen.<br />

Wenn ein Weibchen ein Gen A besitzt, so muß es dieses entwe<strong>de</strong>r<br />

von seinem Vater o<strong>de</strong>r von seiner Mutter bekommen<br />

haben. Wenn das Gen von seiner Mutter stammt, so besteht<br />

eine Chance von 50 P<strong>ro</strong>zent, daß seine Schwester es ebenfalls<br />

besitzt. Hat es das Gen aber von seinem Vater bekommen, so<br />

ist die Chance, daß die Schwester es teilt, 100 P<strong>ro</strong>zent. Daher<br />

ist <strong>de</strong>r Verwandtschaftsgrad zwischen leiblichen Schwestern<br />

bei <strong>de</strong>n Hautflüglern nicht 1/2, wie bei normalen Tieren mit<br />

geschlechtlicher Fortpflanzung, son<strong>de</strong>rn 3/4.<br />

Daraus folgt, daß bei <strong>de</strong>n Hymenopteren ein Weibchen<br />

mit seinen leiblichen Schwestern näher verwandt ist als mit


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 273<br />

seinen Nachkommen bei<strong>de</strong>rlei Geschlechts. 2 Wie Hamilton<br />

erkannte (obwohl er es nicht ganz genauso formulierte), könnte<br />

dieser Umstand sehr wohl ein Weibchen dazu prädisponieren,<br />

seine eigene Mutter als effiziente Schwestern p<strong>ro</strong>duzieren<strong>de</strong><br />

Maschine zu „betreiben“. Ein Gen für die stellvertreten<strong>de</strong> Herstellung<br />

von Schwestern repliziert sich schneller als ein Gen<br />

für die direkte Erzeugung von Nachkommen. Hieraus entwikkelte<br />

sich die Unfruchtbarkeit <strong>de</strong>r Arbeiterinnen. Es ist vermutlich<br />

kein Zufall, daß echte Tierstaaten mit Sterilität <strong>de</strong>r<br />

Arbeiterinnen sich bei <strong>de</strong>n Hymenopteren nicht <strong>wen</strong>iger als elf<br />

Mal unabhängig voneinan<strong>de</strong>r entwickelt haben und im gesamten<br />

übrigen Tierreich nur ein einziges Mal, nämlich bei <strong>de</strong>n<br />

Termiten.<br />

Das Ganze hat jedoch einen Haken. Wenn die Arbeiterinnen<br />

ihre Mutter erfolgreich als Schwestern p<strong>ro</strong>duzieren<strong>de</strong><br />

Maschine betreiben wollen, müssen sie auf irgen<strong>de</strong>ine Weise<br />

<strong>de</strong>ren natürliche Neigung, ihnen auch eine gleiche Zahl von<br />

kleinen Brü<strong>de</strong>rn zu schenken, eindämmen. Vom Standpunkt<br />

einer Arbeiterin aus gesehen, beträgt die Wahrscheinlichkeit,<br />

daß irgen<strong>de</strong>iner ihrer Brü<strong>de</strong>r ein spezielles Gen mit ihr teilt,<br />

nur 1/4. Wenn man daher <strong>de</strong>r Königin erlauben wür<strong>de</strong>, zu<br />

gleichen Teilen männliche und weibliche fortpflanzungsfähige<br />

Nachkommen zu erzeugen, so wür<strong>de</strong> die „Farm“, soweit es die<br />

Arbeiterinnen betrifft, keinen Gewinn erbringen. Sie wür<strong>de</strong>n<br />

die Vermehrung ihrer kostbaren Gene nicht maximieren.<br />

Trivers und Hare erkannten, daß die Arbeiterinnen versuchen<br />

müssen, das Geschlechterverhältnis zugunsten <strong>de</strong>r Weibchen<br />

zu beeinflussen. Sie nahmen die Fisherschen Berechnungen<br />

über die optimale Geschlechterverteilung (auf die<br />

wir im vorigen Kapitel einen Blick geworfen haben) und<br />

überarbeiteten sie für <strong>de</strong>n speziellen Fall <strong>de</strong>r Hymenopteren.<br />

Es stellte sich heraus, daß das optimale Investitionsverhältnis<br />

für eine Mutter wie üblich 1:1 beträgt. Das optimale Verhältnis<br />

für eine Schwester beträgt 3:1 zugunsten <strong>de</strong>r Schwestern<br />

beziehungsweise zum Nachteil <strong>de</strong>r Brü<strong>de</strong>r. Wenn ich ein<br />

Hautflüglerweibchen bin, so kann ich meine Gene am wirksamsten<br />

verbreiten, <strong>wen</strong>n ich darauf verzichte, mich selbst fortzu-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 274<br />

pflanzen, und statt <strong>de</strong>ssen meine Mutter veranlasse, mich mit<br />

fortpflanzungsfähigen Schwestern und Brü<strong>de</strong>rn im Verhältnis<br />

3:1 zu versorgen. Wenn ich aber eigene Nachkommen haben<br />

muß, so kann ich meinen Genen am meisten nützen, <strong>wen</strong>n ich<br />

Söhne und Töchter zu gleichen Teilen bekomme.<br />

Wie wir gesehen haben, ist <strong>de</strong>r Unterschied zwischen<br />

Königinnen und Arbeiterinnen nicht genetischer Natur. Soweit<br />

es seine Gene betrifft, könnte ein weiblicher Embryo sowohl<br />

dazu bestimmt sein, eine Arbeiterin zu wer<strong>de</strong>n, die sich ein<br />

Geschlechterverhältnis von 3:1, als auch eine Königin, die<br />

sich ein Verhältnis von 1:1 „wünscht“. Was be<strong>de</strong>utet dieses<br />

Wünschen also? Es be<strong>de</strong>utet, daß ein Gen, welches sich im<br />

Körper einer Königin befin<strong>de</strong>t, sich am besten vermehren kann,<br />

<strong>wen</strong>n jener Körper zu gleichen Teilen in fortpflanzungsfähige<br />

Söhne und Töchter investiert. Wenn das gleiche Gen sich aber<br />

im Körper einer Arbeiterin befin<strong>de</strong>t, so kann es sich am besten<br />

dadurch vermehren, daß es die Mutter jenes Körpers dazu<br />

bringt, mehr Töchter als Söhne zu haben. Es besteht hier kein<br />

wirklicher Wi<strong>de</strong>rspruch. Ein Gen muß die Machtmittel, die ihm<br />

zufällig zur Verfügung stehen, bestmöglich ausnutzen. Wenn es<br />

sich in <strong>de</strong>r Lage sieht, die Entwicklung eines Körpers zu beeinflussen,<br />

<strong>de</strong>r dazu bestimmt ist, eine Königin zu wer<strong>de</strong>n, so<br />

ist seine optimale Strategie zur erfolgreichen Nutzung dieser<br />

Kont<strong>ro</strong>llmöglichkeit eine Sache. Wenn es in <strong>de</strong>r Lage ist, darauf<br />

Einfluß auszuüben, auf welche Weise sich <strong>de</strong>r Körper einer<br />

Arbeiterin entwickelt, so ist die optimale Strategie zur Ausnutzung<br />

dieser Macht eine an<strong>de</strong>re Sache.<br />

Dies be<strong>de</strong>utet, daß es auf unserer „Farm“ einen Interessenkonflikt<br />

gibt. Die Königin „versucht“, gleichmäßig in männliche<br />

und weibliche Nachkommen zu investieren. Die Arbeiterinnen<br />

dagegen versuchen, das Verhältnis <strong>de</strong>r Geschlechtstiere so zu<br />

verschieben, daß auf je<strong>de</strong>s Männchen drei Weibchen entfallen.<br />

Wenn wir recht haben mit unserer Vorstellung von <strong>de</strong>n<br />

Arbeiterinnen als Farmern und <strong>de</strong>r Königin als ihrer Zuchtstute,<br />

so wer<strong>de</strong>n die Arbeiterinnen vermutlich das von ihnen<br />

„gewünschte“ Verhältnis 3:1 durchsetzen können. Wenn nicht,<br />

<strong>wen</strong>n die Königin also wirklich ihrem Namen Ehre macht und


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 275<br />

die Arbeiterinnen ihre Sklaven und gehorsamen Wächterinnen<br />

<strong>de</strong>r königlichen Kin<strong>de</strong>rstube sind, dann sollten wir erwarten,<br />

daß das von <strong>de</strong>r Königin „bevorzugte“ Verhältnis 1:1 sich<br />

durchsetzt. Wer gewinnt in diesem Spezialfall eines Krieges<br />

<strong>de</strong>r Generationen? Diese Frage läßt sich praktisch klären, und<br />

genau das haben Trivers und Hare in einer Untersuchung<br />

getan, bei <strong>de</strong>r sie eine beträchtliche Zahl von Ameisenarten<br />

benutzten.<br />

Das Geschlechterverhältnis, um das es hier geht, ist das<br />

Verhältnis von männlichen zu weiblichen Geschlechtstieren.<br />

Das sind die g<strong>ro</strong>ßen geflügelten Individuen, die in periodischen<br />

Ausbrüchen aus <strong>de</strong>n Ameisennestern herausströmen,<br />

um ihren Begattungsflug anzutreten, wonach die jungen<br />

Königinnen häufig neue Kolonien zu grün<strong>de</strong>n versuchen.<br />

Diese geflügelten Tiere muß man zählen, um einen Schätzwert<br />

für das Geschlechterverhältnis zu erhalten. Nun haben die<br />

männlichen und weiblichen fortpflanzungsfähigen Individuen<br />

bei vielen Arten eine sehr unterschiedliche Körpergröße. Das<br />

kompliziert die Dinge, da sich die Fisherschen Berechnungen<br />

<strong>de</strong>r optimalen Geschlechterverteilung, wie wir im vorigen Kapitel<br />

gesehen haben, genaugenommen nicht auf die Anzahl von<br />

Männchen und Weibchen, son<strong>de</strong>rn auf die in Männchen und<br />

Weibchen angelegte Investitionsmenge beziehen. Trivers und<br />

Hare berücksichtigten dies, in<strong>de</strong>m sie Männchen und Weibchen<br />

wogen. Sie griffen 20 Ameisenarten heraus und schätzten<br />

das Verhältnis <strong>de</strong>r Investitionen in fortpflanzungsfähige Weibchen<br />

zu <strong>de</strong>n Investitionen in Männchen. Das Ergebnis kam<br />

<strong>de</strong>m Quotienten von 3:1 überzeugend nahe, <strong>de</strong>r nach <strong>de</strong>r Theorie,<br />

daß die Arbeiterinnen ihren Willen durchzusetzen verstehen,<br />

zu erwarten war. 3<br />

Es sieht also so aus, als ob bei <strong>de</strong>n untersuchten Ameisen <strong>de</strong>r<br />

Interessenkonflikt von <strong>de</strong>n Arbeiterinnen „gewonnen“ wird.<br />

Dies ist nicht allzu überraschend, da die Arbeiterinnenkörper<br />

als Wächter <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>rstuben in <strong>de</strong>r Praxis mehr Macht<br />

haben als Königinnenkörper. Gene, die die Welt durch<br />

Königinnenkörper zu manipulieren suchen, wer<strong>de</strong>n von Genen<br />

ausmanövriert, die die Welt durch Arbeiterinnenkörper mani-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 276<br />

pulieren. Nun ist es interessant, sich nach beson<strong>de</strong>ren<br />

Umstän<strong>de</strong>n umzusehen, unter <strong>de</strong>nen man erwarten könnte,<br />

daß die Königinnen mehr praktische Macht als die Arbeiterinnen<br />

besitzen. Trivers und Hare erkannten, daß es genau so<br />

einen Umstand gibt, <strong>de</strong>r als entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Test für die Theorie<br />

dienen kann.<br />

Dieser Umstand ergibt sich aus <strong>de</strong>r Tatsache, daß einige<br />

Ameisenarten Sklaven halten. Die Arbeiterinnen einer solchen<br />

sklavenhalten<strong>de</strong>n Art leisten überhaupt keine gewöhnliche<br />

Arbeit, o<strong>de</strong>r sie tun sie ziemlich schlecht. Gut sind sie dagegen<br />

in <strong>de</strong>r Sklavenjagd. Richtige Kriege, in <strong>de</strong>nen g<strong>ro</strong>ße Armeen<br />

sich gegenseitig bis aufs Messer bekämpfen, gibt es, soviel man<br />

weiß, nur beim Menschen und bei <strong>de</strong>n staatenbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Insekten.<br />

Bei vielen Ameisenarten besitzt die spezialisierte Arbeiterkaste<br />

<strong>de</strong>r Soldaten fürchterliche für <strong>de</strong>n Kampf spezialisierte<br />

Mundwerkzeuge, und sie widmet ihre <strong>Zeit</strong> ausschließlich<br />

<strong>de</strong>m Kampf gegen an<strong>de</strong>re Ameisenarmeen. Sklavenjag<strong>de</strong>n sind<br />

lediglich eine spezielle Art kriegerischer Betätigung. Die Sklavenhalter<br />

überfallen ein Nest einer an<strong>de</strong>ren Ameisenart, versuchen<br />

die es verteidigen<strong>de</strong>n Arbeiter o<strong>de</strong>r Soldaten zu töten und<br />

tragen die noch nicht geschlüpfte Brut davon. Diese Jungen<br />

schlüpfen im Nest ihrer Entführer aus. Sie „merken“ nicht,<br />

daß sie Sklaven sind, und machen sich, ihren eingebauten Nervenp<strong>ro</strong>grammen<br />

folgend, an die Arbeit. Sie erledigen alle Aufgaben,<br />

die sie normalerweise in ihrem eigenen Nest verrichten<br />

wür<strong>de</strong>n. Die Arbeiter o<strong>de</strong>r Soldaten <strong>de</strong>r Sklavenhalter gehen<br />

auf neue Sklavenexpeditionen, während die Sklaven zu Hause<br />

bleiben und die tagtäglich in einem Ameisenstaat anfallen<strong>de</strong>n<br />

Arbeiten – Saubermachen, Auf-Futtersuche-Gehen und Brutpflege<br />

– erledigen.<br />

Die Sklaven leben natürlich in seliger Unkenntnis <strong>de</strong>r Tatsache,<br />

daß sie mit <strong>de</strong>r Königin und <strong>de</strong>r Brut, die sie hegen, nicht<br />

verwandt sind. Ohne es zu wissen, ziehen sie neue Aufgebote<br />

von Sklavenjägern g<strong>ro</strong>ß. Zweifellos begünstigt die natürliche<br />

Auslese, die auf die Gene <strong>de</strong>r Sklavenspezies wirkt, gegen<br />

die Sklaverei gerichtete Anpassungen. Doch sind diese offenbar<br />

nicht voll wirksam, <strong>de</strong>nn die Sklaverei ist eine weit ver-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 277<br />

breitete Erscheinung. Für unsere gegenwärtigen Betrachtungen<br />

interessant ist die folgen<strong>de</strong> Konsequenz <strong>de</strong>r Sklaverei:<br />

Die Königin einer sklavenhalten<strong>de</strong>n Art ist in <strong>de</strong>r Lage, das<br />

Geschlechterverhältnis in die von ihr „bevorzugte“ Richtung<br />

zu verschieben. Der Grund ist, daß ihre eigenen leiblichen<br />

Kin<strong>de</strong>r, die Sklavenhalter, nicht mehr die praktische Gewalt<br />

in <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>rstube innehaben. Diese Macht haben jetzt die<br />

Sklaven. Die Sklaven „glauben“, daß sie ihre eigenen Geschwister<br />

versorgen, und sie tun vermutlich alles, was in ihren<br />

eigenen Nestern geeignet wäre, das von ihnen gewünschte<br />

Verhältnis von 3:1 zugunsten <strong>de</strong>r Schwestern zu erzielen. Aber<br />

die Königin <strong>de</strong>r sklavenhalten<strong>de</strong>n Art kann diesmal wirksame<br />

Gegenmaßnahmen ergreifen; es gibt auf Seiten <strong>de</strong>r Sklaven<br />

keine Selektion, die dahingehend wirkt, diese Maßnahmen wirkungslos<br />

zu machen, da die Sklaven überhaupt nicht mit <strong>de</strong>r<br />

Brut verwandt sind.<br />

Nehmen wir zum Beispiel an, bei irgen<strong>de</strong>iner Ameisenart<br />

„versuchten“ die Königinnen, männliche Eier zu tarnen, in<strong>de</strong>m<br />

sie sie wie weibliche Eier riechen ließen. Die natürliche Auslese<br />

wird normalerweise je<strong>de</strong> Ten<strong>de</strong>nz <strong>de</strong>r Arbeiterinnen<br />

för<strong>de</strong>rn, die Tarnung zu „durchschauen“. Wir können uns<br />

einen evolutionären Krieg vorstellen, in <strong>de</strong>ssen Verlauf die<br />

Königinnen ständig „<strong>de</strong>n Co<strong>de</strong> än<strong>de</strong>rn“ und die Arbeiterinnen<br />

„<strong>de</strong>n Co<strong>de</strong> entschlüsseln“. Sieger in diesem Krieg wird <strong>de</strong>rjenige<br />

sein, <strong>de</strong>m es gelingt, über die Körper <strong>de</strong>r Geschlechtstiere<br />

einen größeren Teil seiner Gene an die nächste Generation<br />

weiterzugeben. Dies wer<strong>de</strong>n, wie wir gesehen haben,<br />

gewöhnlich die Arbeiterinnen sein. Wenn jedoch die Königin<br />

einer sklavenhalten<strong>de</strong>n Art <strong>de</strong>n Co<strong>de</strong> verän<strong>de</strong>rt, können die<br />

Arbeiterinnen <strong>de</strong>r Sklavenart keinerlei Fähigkeit entwickeln,<br />

ihn zu entschlüsseln. Denn je<strong>de</strong>s Gen für „das Entschlüsseln<br />

<strong>de</strong>s Co<strong>de</strong>s“, das in einer versklavten Arbeiterin vorhan<strong>de</strong>n<br />

sein mag, fehlt im Körper <strong>de</strong>r rep<strong>ro</strong>duktiven Individuen und<br />

wird daher nicht vererbt. Alle fortpflanzungsfähigen Individuen<br />

gehören <strong>de</strong>r sklavenhalten<strong>de</strong>n Art an und sind mit <strong>de</strong>r<br />

Königin, nicht aber mit <strong>de</strong>n Sklaven verwandt. Wenn die Gene<br />

<strong>de</strong>r Sklaven überhaupt <strong>de</strong>n Weg in irgendwelche Geschlecht-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 278<br />

stiere fin<strong>de</strong>n, dann in diejenigen, die in ihrem eigenen Nest heranwachsen,<br />

aus welchem sie geraubt wur<strong>de</strong>n. Wenn überhaupt,<br />

so sind die Sklavenarbeiter damit beschäftigt, <strong>de</strong>n falschen<br />

Co<strong>de</strong> zu entschlüsseln! Daher können die Königinnen einer<br />

sklavenhalten<strong>de</strong>n Art ihren Co<strong>de</strong> ungestraft än<strong>de</strong>rn, wie es<br />

ihnen gefällt; es besteht keinerlei Gefahr, daß Gene für seine<br />

Entschlüsselung an die nächste Generation vererbt wer<strong>de</strong>n.<br />

Das Fazit dieser komplizierten Argumentation ist, daß wir<br />

bei sklavenhalten<strong>de</strong>n Arten ein Verhältnis <strong>de</strong>r Investitionen<br />

in fortpflanzungsfähige Weibchen zu <strong>de</strong>n Investitionen in<br />

Männchen erwarten sollten, das näher bei 1:1 als bei 3:1 liegt.<br />

Dieses eine Mal bekommt die Königin ihren Willen. Genau<br />

dies haben Trivers und Hare herausgefun<strong>de</strong>n; allerdings untersuchten<br />

sie lediglich zwei sklavenhalten<strong>de</strong> Arten.<br />

Ich muß betonen, daß ich das Ganze i<strong>de</strong>alisiert dargestellt<br />

habe. Das wirkliche Leben ist nicht so sauber und or<strong>de</strong>ntlich.<br />

Beispielsweise scheint die am besten bekannte Art <strong>de</strong>r staatenbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />

Insekten, die Honigbiene, ganz und gar das „Falsche“<br />

zu tun. Die Investition in D<strong>ro</strong>hnen ist viel größer als die<br />

in Königinnen – etwas, das keinen Sinn zu ergeben scheint,<br />

we<strong>de</strong>r vom Standpunkt <strong>de</strong>r Arbeiterinnen noch vom Standpunkt<br />

<strong>de</strong>r Mutter, das heißt <strong>de</strong>r Königin, aus gesehen. Hamilton<br />

hat eine mögliche Lösung für dieses Rätsel geliefert. Er<br />

weist darauf hin, daß eine Bienenkönigin, <strong>wen</strong>n sie <strong>de</strong>n Stock<br />

verläßt, ein g<strong>ro</strong>ßes Gefolge von Arbeiterinnen mitnimmt, die<br />

ihr bei <strong>de</strong>r Gründung eines neuen Staates helfen. Diese Arbeiterinnen<br />

sind für <strong>de</strong>n elterlichen Stock verloren, und die<br />

Kosten ihrer Erzeugung müssen zu <strong>de</strong>n Rep<strong>ro</strong>duktionskosten<br />

hinzugezählt wer<strong>de</strong>n: Für je<strong>de</strong> Königin, die ausschwärmt,<br />

müssen viele zusätzliche Arbeiterinnen p<strong>ro</strong>duziert wer<strong>de</strong>n. Die<br />

Investition in diese Arbeiterinnen muß als Teil <strong>de</strong>r Investition<br />

in fortpflanzungsfähige Weibchen angesehen wer<strong>de</strong>n. Diese<br />

zusätzlichen Arbeiterinnen sollten bei <strong>de</strong>r Berechnung <strong>de</strong>r<br />

Geschlechterverteilung mit gegen die Männchen aufgewogen<br />

wer<strong>de</strong>n. So war dies am En<strong>de</strong> doch keine ernsthafte Schwierigkeit<br />

für unsere Theorie. Ein sehr viel schwererer Schlag<br />

für unsere elegante Theorie ist die Tatsache, daß sich bei eini-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 279<br />

gen Arten die junge Königin auf ihrem Hochzeitsflug nicht mit<br />

einem, son<strong>de</strong>rn mit mehreren Männchen paart. Das be<strong>de</strong>utet,<br />

daß <strong>de</strong>r durchschnittliche Verwandtschaftsgrad ihrer Töchter<br />

untereinan<strong>de</strong>r <strong>wen</strong>iger als 3/4 beträgt und in extremen Fällen<br />

sogar bis auf 1/4 absinken kann. Es ist verlockend, <strong>wen</strong>n<br />

auch wahrscheinlich nicht sehr logisch, dies als einen klugen<br />

Schachzug <strong>de</strong>r Königin gegen die Arbeiterinnen anzusehen!<br />

Man könnte übrigens meinen, daß dies die Arbeiterinnen auf<br />

<strong>de</strong>n Gedanken bringen müßte, eine Königin auf ihrem Hochzeitsflug<br />

als „Anstandsdamen“ zu begleiten, um sie davon abzuhalten,<br />

sich mehr als einmal zu paaren. Doch wür<strong>de</strong> dies keineswegs<br />

<strong>de</strong>n Genen <strong>de</strong>r Arbeiterinnen selbst zugute kommen<br />

– lediglich <strong>de</strong>n Genen <strong>de</strong>r nächsten Arbeitergeneration. Unter<br />

<strong>de</strong>n Arbeiterinnen als einer Klasse gibt es keinen Gewerkschaftsgeist.<br />

Das einzige, wofür je<strong>de</strong> einzelne von ihnen „sich<br />

interessiert“, sind ihre eigenen Gene. Eine Arbeiterin hätte<br />

vielleicht gerne die „Anstandsdame“ ihrer eigenen Mutter<br />

gespielt, doch dazu fehlte ihr die Gelegenheit, weil sie zu jener<br />

<strong>Zeit</strong> noch nicht gezeugt war. Eine junge Königin auf ihrem<br />

Hochzeitsflug ist die Schwester <strong>de</strong>r gegenwärtigen Generation<br />

von Arbeiterinnen, nicht die Mutter. Diese sind daher auf<br />

ihrer Seite und nicht auf <strong>de</strong>r Seite <strong>de</strong>r nächsten Generation<br />

von Arbeiterinnen, die lediglich ihre Nichten sind. Jetzt dreht<br />

sich mir <strong>de</strong>r Kopf, und es wird höchste <strong>Zeit</strong>, dieses Thema<br />

abzuschließen.<br />

Ich habe für das, was die Arbeiterinnen <strong>de</strong>r Hymenopteren<br />

mit ihren Müttern tun, das Bild <strong>de</strong>s Kultivierens o<strong>de</strong>r Bewirtschaftens<br />

einer Farm gebraucht. Die Farm ist eine Genfarm.<br />

Die Arbeiterinnen benutzen ihre Mutter als eine effizientere<br />

P<strong>ro</strong>duzentin von Kopien ihrer Gene, als sie selbst es wären.<br />

Die Gene verlassen die Fertigungsstraße in Verpackungen, die<br />

<strong>de</strong>n Namen fortpflanzungsfähige Individuen tragen. Man kann<br />

aber noch in einem ganz an<strong>de</strong>ren Sinne sagen, daß die sozialen<br />

Insekten Farmarbeit leisten, und darf dies nicht mit unserer<br />

obigen Analogie <strong>de</strong>r Farmarbeit verwechseln. Staatenbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong><br />

Insekten haben – ebenso wie <strong>de</strong>r Mensch sehr viel später –<br />

ent<strong>de</strong>ckt, daß seßhafter Anbau von Nahrungsmitteln effekti-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 280<br />

ver sein kann als Jagen und Sammeln. Zum Beispiel kultivieren<br />

mehrere Ameisenarten in <strong>de</strong>r Neuen Welt sowie – ganz<br />

unabhängig davon – afrikanische Termiten „Pilzgärten“. Am<br />

bekanntesten sind die sogenannten Blattschnei<strong>de</strong>rameisen in<br />

Südamerika. Sie sind ungeheuer erfolgreich. Man hat einzelne<br />

Kolonien mit mehr als zwei Millionen Individuen gefun<strong>de</strong>n.<br />

Ihre Nester bestehen aus enorm ausge<strong>de</strong>hnten unterirdischen<br />

Anlagen von Gängen und Höhlen, die drei o<strong>de</strong>r mehr Meter<br />

in die Tiefe reichen und zu <strong>de</strong>ren Herstellung nicht <strong>wen</strong>iger<br />

als vierzig Tonnen Bo<strong>de</strong>n an die Oberfläche transportiert<br />

wer<strong>de</strong>n mußten. Die unterirdischen Kammern beherbergen<br />

die Pilzgärten. Die Ameisen übertragen eine bestimmte Pilzart<br />

in spezielle Kompostbeete, zu <strong>de</strong>ren Vorbereitung sie Blätter<br />

in kleine Stückchen zerkauen. Statt unmittelbar auf die Suche<br />

nach ihrer eigenen Nahrung zu gehen, suchen die Arbeiterinnen<br />

nach Blättern, um daraus Kompost zu machen. Der<br />

„Appetit“ einer Kolonie von Blattschnei<strong>de</strong>rameisen auf Blätter<br />

ist gewaltig. Dies macht sie zu einem erheblichen Schädling für<br />

die Wirtschaft, aber die Blätter sind nicht ihre eigene Nahrung,<br />

son<strong>de</strong>rn die ihrer Pilze. Schließlich ernten und verzehren die<br />

Ameisen die Pilze und füttern ihre Brut damit. Die Pilze sind<br />

beim Aufspalten <strong>de</strong>s Blattmaterials leistungsfähiger, als es <strong>de</strong>r<br />

Magen <strong>de</strong>r Ameisen wäre, daher p<strong>ro</strong>fitieren die Ameisen von<br />

dieser Einrichtung. Und obwohl die Pilze geerntet wer<strong>de</strong>n,<br />

ist es möglich, daß sie ebenfalls davon p<strong>ro</strong>fitieren: Die Ameisen<br />

verbreiten die Pilze nämlich wirkungsvoller, als diese mit<br />

ihrem Mechanismus <strong>de</strong>r Sporenausstreuung selbst dazu in <strong>de</strong>r<br />

Lage sind. Außer<strong>de</strong>m „jäten“ die Ameisen die Pilzgärten, das<br />

heißt, sie halten sie von an<strong>de</strong>ren Pilzarten frei. Da dadurch<br />

die Konkurrenz beseitigt wird, könnte dies <strong>de</strong>n von <strong>de</strong>n Ameisen<br />

gezogenen Pilzen nützen. Man könnte sagen, daß eine<br />

Art wechselseitiger Altruismus zwischen Ameisen und Pilzen<br />

besteht. Es ist bemerkenswert, daß sich bei Termiten, die nicht<br />

im geringsten mit ihnen verwandt sind, ein sehr ähnliches<br />

System <strong>de</strong>s „Pilzanbaus“ entwickelt hat.<br />

Ameisen kultivieren nicht nur Pflanzen, sie haben auch ihre<br />

eigenen Haustiere. Blattläuse sind hochspezialisierte Pflanzen-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 281<br />

sauger. Ihre Leistungsfähigkeit beim Heraussaugen <strong>de</strong>s Saftes<br />

aus <strong>de</strong>n Leitungsbahnen <strong>de</strong>r Pflanzen ist recht g<strong>ro</strong>ß. Wenn sie<br />

anschließend <strong>de</strong>n Saft verdauen, schei<strong>de</strong>n sie eine Flüssigkeit<br />

aus, <strong>de</strong>r lediglich ein Teil ihres Nährwertes entzogen wor<strong>de</strong>n<br />

ist. An ihrem Hinteren<strong>de</strong> son<strong>de</strong>rn sie ständig Tröpfchen von<br />

zuckerreichem „Honigtau“ ab; manche schei<strong>de</strong>n p<strong>ro</strong> Stun<strong>de</strong><br />

mehr davon aus, als sie selbst wiegen. Der Honigtau regnet normalerweise<br />

auf <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n herunter – es ist sehr gut möglich,<br />

daß es sich bei <strong>de</strong>r als „Manna“ bezeichneten göttlichen Speise<br />

<strong>de</strong>s Alten Testaments um Honigtau gehan<strong>de</strong>lt hat. Aber es gibt<br />

mehrere Ameisenarten, die ihn auffangen, sobald er die Blattlaus<br />

verläßt. Die Ameisen „melken“ die Blattläuse, in<strong>de</strong>m sie<br />

mit ihren Fühlern und Beinen über <strong>de</strong>ren Hinterleib streichen.<br />

Die Blattläuse reagieren darauf; in einigen Fällen halten sie<br />

offensichtlich ihre Tröpfchen so lange zurück, bis eine Ameise<br />

sie berührt, o<strong>de</strong>r sie halten sogar ein Tröpfchen fest, <strong>wen</strong>n<br />

eine Ameise noch nicht bereit ist, es entgegenzunehmen. Es<br />

ist darauf hingewiesen wor<strong>de</strong>n, daß einige Blattläuse, um die<br />

Ameisen besser anzulocken, einen Hinterleib entwickelt haben,<br />

<strong>de</strong>r wie das Gesicht einer Ameise aussieht und sich auch so<br />

anfühlt. Was die Blattläuse aus <strong>de</strong>r Beziehung zu gewinnen<br />

haben, ist anscheinend Schutz vor ihren natürlichen Fein<strong>de</strong>n.<br />

Wie unser Milchvieh führen sie ein geschütztes Leben, und<br />

Blattlausarten, die häufig von Ameisen kultiviert wer<strong>de</strong>n,<br />

haben ihre üblichen Verteidigungsmechanismen eingebüßt. In<br />

einigen Fällen pflegen die Ameisen die Blattlauseier in ihren<br />

eigenen unterirdischen Nestern, füttern die jungen Blattläuse<br />

und tragen sie schließlich, <strong>wen</strong>n sie erwachsen sind, vorsichtig<br />

auf die geschützten Wei<strong>de</strong>flächen hinaus.<br />

Eine Beziehung zum gegenseitigen Nutzen zwischen<br />

Angehörigen verschie<strong>de</strong>ner Arten wird als Mutualismus o<strong>de</strong>r<br />

Symbiose bezeichnet. Angehörige verschie<strong>de</strong>ner Arten haben<br />

einan<strong>de</strong>r häufig viel zu bieten, da sie unterschiedliche „Fertigkeiten“<br />

in die Partnerschaft einbringen können. Eine <strong>de</strong>rartige<br />

grundlegen<strong>de</strong> Asymmetrie kann zu evolutionär stabilen<br />

Strategien gegenseitiger Zusammenarbeit führen. Blattläuse<br />

haben die richtige Art von Mundwerkzeugen, um Pflanzensaft


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 282<br />

zu saugen, aber zum Saugen geeignete Mundwerkzeuge sind<br />

nicht gut für die Selbstverteidigung. Ameisen wie<strong>de</strong>rum sind<br />

nicht beson<strong>de</strong>rs gut darin, Saft aus Pflanzen herauszusaugen,<br />

aber sie verstehen sich aufs Kämpfen.<br />

Ameisengene für das Halten und Schützen von Blattläusen<br />

sind in Ameisengenpools begünstigt wor<strong>de</strong>n. Umgekehrt sind<br />

in Blattlausgenpools Gene für die Zusammenarbeit mit Ameisen<br />

geför<strong>de</strong>rt wor<strong>de</strong>n.<br />

Symbiotische Beziehungen zum gegenseitigen Nutzen sind<br />

unter Tieren und Pflanzen weit verbreitet. Eine Flechte scheint,<br />

oberflächlich betrachtet, eine einzelne Pflanze wie je<strong>de</strong> an<strong>de</strong>re<br />

zu sein. In Wirklichkeit ist sie jedoch eine enge symbiotische<br />

Verbindung zwischen einem Pilz und einer Alge. Keiner <strong>de</strong>r<br />

Partner könnte ohne <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren leben. Wäre ihre Verbindung<br />

noch ein kleines bißchen enger, so wären wir nicht mehr<br />

in <strong>de</strong>r Lage festzustellen, daß eine Flechte überhaupt ein Doppelorganismus<br />

ist. Vielleicht gibt es dann noch an<strong>de</strong>re aus zwei<br />

o<strong>de</strong>r mehr Partnern zusammengesetzte Organismen, die wir<br />

nicht als solche erkennen? Sind eventuell sogar wir selbst ein<br />

zusammengesetzter Organismus?<br />

In je<strong>de</strong>r einzelnen unserer Zellen gibt es zahlreiche winzige<br />

Körper, die Mitochondrien heißen. Die Mitochondrien sind<br />

chemische Fabriken; sie liefern uns <strong>de</strong>n größten Teil <strong>de</strong>r Energie,<br />

die wir verbrauchen. Wenn wir unsere Mitochondrien<br />

verlören, wären wir innerhalb von Sekun<strong>de</strong>n tot. Vor kurzem<br />

wur<strong>de</strong> glaubhaft die Ansicht vertreten, daß die Mitochondrien<br />

ihrem Ursprung nach symbiotische Bakterien sind, die sich<br />

bereits in einem sehr frühen Stadium <strong>de</strong>r Evolution mit unserem<br />

Zelltyp zusammengetan haben. Ähnliche Vermutungen<br />

sind in bezug auf an<strong>de</strong>re kleine Körper im Innern unserer<br />

Zellen geäußert wor<strong>de</strong>n. Dies ist einer jener revolutionären<br />

Gedanken, bei <strong>de</strong>nen man <strong>Zeit</strong> braucht, um sich an sie zu<br />

gewöhnen; aber es ist ein Gedanke, für <strong>de</strong>n die <strong>Zeit</strong> reif ist. Ich<br />

vermute, wir wer<strong>de</strong>n schließlich auch noch die radikalere I<strong>de</strong>e<br />

akzeptieren, daß je<strong>de</strong>s einzelne unserer Gene eine symbiotische<br />

Einheit ist. Wir sind gigantische Kolonien symbiotischer<br />

Gene. Man kann nicht eigentlich von „Beweisen“ für diese Vor-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 283<br />

stellung sprechen, aber sie ist – wie ich in <strong>de</strong>n vorangehen<strong>de</strong>n<br />

Kapiteln stellenweise anzu<strong>de</strong>uten versucht habe – tatsächlich<br />

unseren Vorstellungen von <strong>de</strong>r Wirkungsweise <strong>de</strong>r Gene bei<br />

Arten mit sexueller Fortpflanzung inhärent. Die an<strong>de</strong>re Seite<br />

<strong>de</strong>r Medaille ist, daß Viren Gene sein können, die von „Kolonien“,<br />

wie wir selbst eine sind, losgeb<strong>ro</strong>chen sind. Viren bestehen<br />

aus reiner DNA (o<strong>de</strong>r einem verwandten sich selbst replizieren<strong>de</strong>n<br />

Molekül), die von einer P<strong>ro</strong>teinhülle umgeben ist.<br />

Sie sind alle Parasiten. Es liegt nahe, daß sie sich aus „rebellieren<strong>de</strong>n“<br />

Genen entwickelt haben, die <strong>de</strong>m Körper entschlüpft<br />

sind und nun statt mit <strong>de</strong>n gebräuchlichen Vehikeln – <strong>de</strong>n<br />

Spermien und Eiern – unmittelbar durch die Luft von Körper<br />

zu Körper reisen. Wenn dies zutrifft, könnten wir uns ebensogut<br />

als eine Kolonie von Viren ansehen! Einige von ihnen<br />

arbeiten in Symbiose zusammen und bewegen sich in Samenund<br />

Eizellen von Körper zu Körper fort. Das sind die konventionellen<br />

„Gene“. An<strong>de</strong>re leben als Parasiten und reisen<br />

mit je<strong>de</strong>m verfügbaren Verkehrsmittel. Wenn die parasitäre<br />

DNA sich in Eiern und Spermien fortbewegt, dann bil<strong>de</strong>t<br />

sie vielleicht <strong>de</strong>n in Kapitel 3 erwähnten „paradoxen“ DNA-<br />

Überschuß. Bewegt sie sich durch die Luft o<strong>de</strong>r auf an<strong>de</strong>ren<br />

direkten Wegen fort, so heißt sie „Virus“ im üblichen Sinne.<br />

Doch dies sind Spekulationen für die Zukunft. Im Augenblick<br />

beschäftigen wir uns mit <strong>de</strong>r Symbiose auf <strong>de</strong>r höheren<br />

Ebene <strong>de</strong>r Beziehungen zwischen vielzelligen Organismen und<br />

nicht im Innern dieser Organismen. Das Wort Symbiose wird<br />

gewöhnlich für Verbindungen zwischen Angehörigen verschie<strong>de</strong>ner<br />

Arten gebraucht. Doch nach<strong>de</strong>m wir in diesem Buch die<br />

Vorstellung von <strong>de</strong>r Evolution „zum Wohle <strong>de</strong>r Art“ vermie<strong>de</strong>n<br />

haben, scheint es keinen logischen Grund zu geben, warum wir<br />

Verbindungen zwischen Angehörigen verschie<strong>de</strong>ner Arten und<br />

zwischen Angehörigen <strong>de</strong>rselben Art als getrennte Erscheinungen<br />

betrachten sollten. Im allgemeinen wer<strong>de</strong>n sich Verbindungen<br />

zum wechselseitigen Nutzen dann entwickeln, <strong>wen</strong>n<br />

je<strong>de</strong>r Partner mehr gewinnen kann, als er investiert. Dies<br />

gilt unabhängig davon, ob wir von Angehörigen <strong>de</strong>sselben<br />

Hyänenru<strong>de</strong>ls o<strong>de</strong>r von ganz verschie<strong>de</strong>nen Geschöpfen wie


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 284<br />

Ameisen und Blattläusen o<strong>de</strong>r Bienen und Blumen sprechen.<br />

In <strong>de</strong>r Praxis ist es möglicherweise schwierig, zwischen Fällen<br />

von echtem – in bei<strong>de</strong>n Richtungen wirksamem – wechselseitigem<br />

Nutzen und Fällen einseitiger Ausbeutung zu unterschei<strong>de</strong>n.<br />

Die Evolution symbiotischer Verbindungen ist theoretisch<br />

leicht vorstellbar, <strong>wen</strong>n die Vorteile gleichzeitig gegeben und<br />

entgegengenommen wer<strong>de</strong>n, wie im Falle <strong>de</strong>r Partner, die eine<br />

Flechte bil<strong>de</strong>n. P<strong>ro</strong>bleme entstehen jedoch da, wo zwischen<br />

<strong>de</strong>m Leisten eines Gefallens und seiner Erwi<strong>de</strong>rung ein zeitlicher<br />

Abstand liegt. Schließlich könnte <strong>de</strong>rjenige, <strong>de</strong>m zuerst<br />

ein Gefallen getan wird, in Versuchung geraten, zu betrügen<br />

und die Gegenleistung zu verweigern, <strong>wen</strong>n er an <strong>de</strong>r Reihe<br />

ist. Die Lösung dieses P<strong>ro</strong>blems ist interessant und verdient es,<br />

ausführlich erörtert zu wer<strong>de</strong>n. Ich kann dies am besten mit<br />

Hilfe eines hypothetischen Beispiels tun.<br />

Nehmen wir an, eine Vogelart wird von einer beson<strong>de</strong>rs<br />

unangenehmen Zeckensorte befallen, die eine gefährliche<br />

Krankheit überträgt. Es ist sehr wichtig, daß diese Zecken so<br />

bald wie möglich entfernt wer<strong>de</strong>n. Gewöhnlich kann ein Vogel<br />

sich diese Parasiten beim Gefie<strong>de</strong>rputzen selbst herausziehen.<br />

Es gibt jedoch eine Stelle – oben auf <strong>de</strong>m Kopf –, die er mit<br />

seinem Schnabel nicht erreichen kann. Die Lösung <strong>de</strong>s P<strong>ro</strong>blems<br />

fällt je<strong>de</strong>m Menschen sofort ein. Ein Individuum mag<br />

nicht in <strong>de</strong>r Lage sein, selbst an seinen Kopf heranzureichen,<br />

aber nichts ist leichter, als daß ein Freund das für es tut. Später,<br />

<strong>wen</strong>n <strong>de</strong>r Freund selbst von Parasiten geplagt wird, kann die<br />

gute Tat vergolten wer<strong>de</strong>n. Gegenseitige Hautpflege ist in <strong>de</strong>r<br />

Tat bei Vögeln wie auch Säugetieren sehr verbreitet.<br />

Dies ergibt intuitiv sofort einen Sinn. Je<strong>de</strong>s zu vorausschauen<strong>de</strong>m<br />

Denken fähige Geschöpf kann sich vorstellen,<br />

daß es vernünftig ist, Vereinbarungen zum gegenseitigen<br />

Rückenkratzen einzugehen. Aber wir haben gelernt, vorsichtig<br />

zu sein mit <strong>de</strong>m, was intuitiv vernünftig erscheint. Das Gen<br />

besitzt keine Voraussicht. Kann die Theorie <strong>de</strong>s egoistischen<br />

Gens eine Erklärung liefern für gegenseitiges Rückenkratzen<br />

o<strong>de</strong>r „Altruismus auf Gegenseitigkeit“ in Fällen, in <strong>de</strong>nen zwi-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 285<br />

schen <strong>de</strong>r guten Tat und <strong>de</strong>ren Vergeltung eine Verzögerung<br />

eintritt? Williams erörterte das P<strong>ro</strong>blem kurz in seinem 1966<br />

erschienenen Buch, auf das ich bereits hingewiesen habe. Er<br />

kam – wie schon Darwin – zu <strong>de</strong>m Schluß, daß wechselseitiger<br />

Altruismus sich bei Arten entwickeln kann, die in <strong>de</strong>r Lage<br />

sind, einan<strong>de</strong>r individuell zu erkennen. Trivers beschäftigte<br />

sich in seinem 1971 veröffentlichten Buch weiter mit <strong>de</strong>r Frage.<br />

Als er an <strong>de</strong>m Buch arbeitete, war Maynard Smiths Begriff<br />

<strong>de</strong>r evolutionär stabilen Strategie noch nicht geprägt. Hätte<br />

es ihn schon gegeben, so hätte Trivers meiner Meinung nach<br />

Gebrauch davon gemacht, <strong>de</strong>nn dieser Begriff bietet eine<br />

natürliche Möglichkeit, seine Gedanken auszudrücken. Trivers’<br />

Hinweis auf das „Gefangenendilemma“ – ein beliebtes<br />

Rätsel in <strong>de</strong>r Spieltheorie – zeigt, daß er bereits in <strong>de</strong>nselben<br />

Bahnen dachte.<br />

Nehmen wir an, B hat einen Parasiten oben auf <strong>de</strong>m Kopf.<br />

A entfernt diesen Parasiten. Später kommt <strong>de</strong>r <strong>Zeit</strong>punkt, an<br />

<strong>de</strong>m A einen Parasiten auf <strong>de</strong>m Kopf hat. Natürlich sucht<br />

er B auf, damit dieser ihm seine gute Tat vergelten kann. B<br />

aber rümpft lediglich die Nase und stolziert davon. B ist ein<br />

Betrüger, ein Individuum, das zwar <strong>de</strong>n Vorteil annimmt, <strong>de</strong>n<br />

die Selbstlosigkeit an<strong>de</strong>rer Individuen ihm bringt, das aber<br />

eine gute Tat nicht o<strong>de</strong>r nur unbefriedigend vergilt. Betrüger<br />

schnei<strong>de</strong>n besser ab als unkritische Altruisten, <strong>de</strong>nn sie bekommen<br />

die Vorteile, ohne <strong>de</strong>n Preis zu zahlen. Zwar erscheint<br />

<strong>de</strong>r Preis – einem an<strong>de</strong>ren Individuum <strong>de</strong>n Kopf zu säubern –<br />

gering im Vergleich zu <strong>de</strong>m Nutzen, einen gefährlichen Parasiten<br />

entfernt zu bekommen, aber er ist <strong>de</strong>nnoch nicht zu<br />

vernachlässigen. Er be<strong>de</strong>utet die Verausgabung einer gewissen<br />

Menge wertvoller Energie und <strong>Zeit</strong>.<br />

Lassen wir die Population aus Individuen bestehen, die sich<br />

jeweils eine von zwei Strategien zu eigen machen. Wie bei<br />

Maynard Smiths Analysen sprechen wir auch hier nicht von<br />

bewußten Strategien, son<strong>de</strong>rn von unbewußten, gengesteuerten<br />

Verhaltensp<strong>ro</strong>grammen. Nennen wir die bei<strong>de</strong>n Strategien<br />

„Betrüger“ und „Bet<strong>ro</strong>gener“. Die Bet<strong>ro</strong>genen säubern<br />

unterschiedslos je<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r es nötig hat. Die Betrüger nehmen


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 286<br />

von <strong>de</strong>n Bet<strong>ro</strong>genen Uneigennutz an, säubern aber selbst niemals<br />

jemand an<strong>de</strong>ren, nicht einmal jeman<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r zuvor sie<br />

gesäubert hat. Wie im Beispiel <strong>de</strong>r Falken und Tauben teilen wir<br />

willkürlich Prämienpunkte zu. Dabei kommt es nicht auf die<br />

genauen Werte an, solange <strong>de</strong>r Nutzen <strong>de</strong>s Gesäubertwer<strong>de</strong>ns<br />

die Kosten <strong>de</strong>s Säuberns überwiegt. Treten viele Parasiten<br />

auf, so kann je<strong>de</strong>r einzelne Bet<strong>ro</strong>gene in einer Population<br />

von Bet<strong>ro</strong>genen damit rechnen, daß er ungefähr ebensooft<br />

gesäubert wird, wie er selbst säubert. Die Durchschnittsprämie<br />

für einen Bet<strong>ro</strong>genen unter Bet<strong>ro</strong>genen ist daher positiv. Sie<br />

schnei<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Tat alle sehr gut ab, und das Wort Bet<strong>ro</strong>gener<br />

scheint unangebracht. Aber nehmen wir jetzt an, es trete<br />

ein Betrüger in <strong>de</strong>r Population auf. Da er <strong>de</strong>r einzige Betrüger<br />

ist, kann er damit rechnen, daß er von allen an<strong>de</strong>ren gesäubert<br />

wird; er selbst zahlt aber nichts zurück. Seine durchschnittliche<br />

Prämie liegt höher als <strong>de</strong>r Durchschnitt für einen Bet<strong>ro</strong>genen.<br />

Daher wer<strong>de</strong>n sich Betrügergene in <strong>de</strong>r Population auszubreiten<br />

beginnen. Bet<strong>ro</strong>genengene wer<strong>de</strong>n bald ausge<strong>ro</strong>ttet<br />

sein. Das liegt daran, daß die Betrüger immer besser abschnei<strong>de</strong>n<br />

als die Bet<strong>ro</strong>genen, unabhängig von ihrem Anteil an <strong>de</strong>r<br />

Gesamtpopulation. Betrachten wir beispielsweise <strong>de</strong>n Fall, daß<br />

die Population zu je 50 P<strong>ro</strong>zent aus Bet<strong>ro</strong>genen und Betrügern<br />

besteht. Die durchschnittliche Prämie wird sowohl für Bet<strong>ro</strong>gene<br />

als auch für Betrüger geringer sein als für ein Individuum<br />

in einer Population aus 100 P<strong>ro</strong>zent Bet<strong>ro</strong>genen. Aber<br />

die Betrüger wer<strong>de</strong>n immer noch besser abschnei<strong>de</strong>n als die<br />

Bet<strong>ro</strong>genen, da sie alle Vorteile – welche auch immer – erhalten<br />

und nichts vergelten. Wenn <strong>de</strong>r Anteil <strong>de</strong>r Betrüger 90 P<strong>ro</strong>zent<br />

erreicht, wird die durchschnittliche Prämie für alle Individuen<br />

sehr niedrig: Viele aus bei<strong>de</strong>n Kategorien mögen inzwischen<br />

an <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>n Zecken übertragenen Infektion erkrankt<br />

sein und im Sterben liegen. Aber immer noch schnei<strong>de</strong>n die<br />

Betrüger besser ab als die Bet<strong>ro</strong>genen. Selbst <strong>wen</strong>n die Population<br />

schließlich auszusterben d<strong>ro</strong>ht, wer<strong>de</strong>n die Bet<strong>ro</strong>genen zu<br />

keinem <strong>Zeit</strong>punkt besser abschnei<strong>de</strong>n als die Betrüger. Solange<br />

wir also nur diese bei<strong>de</strong>n Strategien in Betracht ziehen, kann<br />

nichts die Aus<strong>ro</strong>ttung <strong>de</strong>r Bet<strong>ro</strong>genen und sehr wahrschein-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 287<br />

lich sogar <strong>de</strong>n Untergang <strong>de</strong>r gesamten Population aufhalten.<br />

Nehmen wir jetzt aber an, es gäbe noch eine dritte Strategie,<br />

die wir <strong>de</strong>n „Nachtragen<strong>de</strong>n“ nennen. Nachtragen<strong>de</strong> säubern<br />

Frem<strong>de</strong> und Individuen, von <strong>de</strong>nen sie zuvor gesäubert wor<strong>de</strong>n<br />

sind. Wenn jedoch ein Individuum sie betrügt, so vergessen<br />

sie <strong>de</strong>n Vorfall nicht und ärgern sich: In Zukunft weigern<br />

sie sich, dieses Individuum zu säubern. In einer Population<br />

aus Nachtragen<strong>de</strong>n und Bet<strong>ro</strong>genen kann man unmöglich<br />

feststellen, wer was ist. Bei<strong>de</strong> Typen verhalten sich je<strong>de</strong>m<br />

gegenüber altruistisch, und bei<strong>de</strong> verdienen die gleiche hohe<br />

Durchschnittsprämie. In einer weitgehend aus Betrügern<br />

bestehen<strong>de</strong>n Population wäre ein einziger Nachtragen<strong>de</strong>r nicht<br />

sehr erfolgreich. Er wür<strong>de</strong> sehr viel Energie darauf ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>n,<br />

die Mehrzahl <strong>de</strong>r Individuen, die er trifft, zu säubern – <strong>de</strong>nn<br />

es wür<strong>de</strong> eine Weile dauern, bis er über sie alle verärgert ist.<br />

An<strong>de</strong>rerseits wür<strong>de</strong> niemand ihm als Gegenleistung die Parasiten<br />

entfernen. Wenn die Nachtragen<strong>de</strong>n im Verhältnis zu<br />

<strong>de</strong>n Betrügern selten sind, wird das Gen für Nachtragen aussterben.<br />

Ist es <strong>de</strong>n Nachtragen<strong>de</strong>n aber erst einmal gelungen,<br />

ihre Zahl bis auf einen kritischen Anteil an <strong>de</strong>r Population zu<br />

vergrößern, dann wird ihre Chance, auf ihresgleichen zu treffen,<br />

so g<strong>ro</strong>ß, daß die mit <strong>de</strong>r Hautpflege von Betrügern<br />

vergeu<strong>de</strong>te Anstrengung ausgeglichen wird. Ist dieser kritische<br />

P<strong>ro</strong>zentsatz erreicht, so beginnen sie durchschnittlich höhere<br />

Prämien zu kassieren als die Betrüger, und diese wer<strong>de</strong>n sich<br />

mit zunehmen<strong>de</strong>r Geschwindigkeit <strong>de</strong>m Aussterben nähern.<br />

Kurz bevor die Betrüger verschwun<strong>de</strong>n sind, wird ihr Rückgang<br />

langsamer, und als eine Min<strong>de</strong>rheit können sie ziemlich lange<br />

überleben. Das liegt daran, daß für je<strong>de</strong>n einzelnen seltenen<br />

Betrüger die Wahrscheinlichkeit, zweimal auf <strong>de</strong>nselben Nachtragen<strong>de</strong>n<br />

zu treffen, nur klein ist: Daher wird in <strong>de</strong>r Population<br />

<strong>de</strong>r Anteil <strong>de</strong>r Individuen, die gegen einen bestimmten<br />

Betrüger einen G<strong>ro</strong>ll hegen, klein sein.<br />

Ich habe das Schicksal dieser Strategien so dargestellt, als<br />

ob intuitiv kein Zweifel daran bestehen könne, was geschehen<br />

wür<strong>de</strong>. In Wirklichkeit ist dies keineswegs <strong>de</strong>rart offensichtlich,<br />

und ich habe die Abläufe sicherheitshalber im Computer simu-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 288<br />

liert, um zu überprüfen, ob die Intuition richtig war. Es stellt<br />

sich heraus, daß Nachtragen<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Tat eine evolutionär<br />

stabile Strategie gegenüber Betrügern und Bet<strong>ro</strong>genen ist in<br />

<strong>de</strong>m Sinne, daß in eine weitgehend aus Nachtragen<strong>de</strong>n bestehen<strong>de</strong><br />

Population we<strong>de</strong>r Betrüger noch Bet<strong>ro</strong>gene eindringen<br />

wer<strong>de</strong>n. Doch Betrüger ist ebenfalls eine ESS, weil es keinem<br />

Nachtragen<strong>de</strong>n und auch keinem Bet<strong>ro</strong>genen gelingen wird,<br />

in eine überwiegend aus Betrügern bestehen<strong>de</strong> Population<br />

einzuwan<strong>de</strong>rn. Eine Population könnte je<strong>de</strong> dieser bei<strong>de</strong>n<br />

evolutionär stabilen Strategien dauerhaft verfolgen; langfristig<br />

gesehen könnte sie sogar zwischen ihnen wechseln. Je nach <strong>de</strong>n<br />

genauen Prämienwerten – die <strong>de</strong>r Simulation zugrun<strong>de</strong> gelegten<br />

Annahmen waren natürlich völlig willkürlich – wird jeweils<br />

einer <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n stabilen Zustän<strong>de</strong> eine größere „Attraktionszone“<br />

besitzen und mit größerer Wahrscheinlichkeit eintreten.<br />

Man beachte übrigens, daß eine Population von Betrügern<br />

zwar möglicherweise mit größerer Wahrscheinlichkeit ausstirbt<br />

als eine Population von Nachtragen<strong>de</strong>n, daß dies aber keineswegs<br />

ihren Status als ESS beeinträchtigt. Wenn eine Population<br />

bei einer ESS anlangt, die sie <strong>de</strong>m Untergang weiht, dann<br />

geht sie eben unter, da ist nichts zu machen. 4<br />

Es ist recht amüsant, eine Computersimulation zu verfolgen,<br />

die von einer starken Mehrheit von Bet<strong>ro</strong>genen, einer<br />

gera<strong>de</strong> oberhalb <strong>de</strong>r kritischen Grenze liegen<strong>de</strong>n Min<strong>de</strong>rheit<br />

von Nachtragen<strong>de</strong>n und einer ungefähr gleich g<strong>ro</strong>ßen Min<strong>de</strong>rheit<br />

von Betrügern ausgeht. Zunächst kommt es zu einem<br />

dramatischen Einbruch in <strong>de</strong>r Population <strong>de</strong>r Bet<strong>ro</strong>genen,<br />

und zwar als Folge <strong>de</strong>r rücksichtslosen Ausbeutung durch<br />

die Betrüger. Die Betrüger erfreuen sich eines stürmischen<br />

Bevölkerungswachstums und erreichen ihren Höhepunkt<br />

gera<strong>de</strong> in <strong>de</strong>m Moment, in <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r letzte Bet<strong>ro</strong>gene stirbt.<br />

Aber die Betrüger haben noch mit <strong>de</strong>n Nachtragen<strong>de</strong>n zu rechnen.<br />

Während <strong>de</strong>s steilen Nie<strong>de</strong>rgangs <strong>de</strong>r Bet<strong>ro</strong>genen hat die<br />

Zahl <strong>de</strong>r Nachtragen<strong>de</strong>n unter <strong>de</strong>m Angriff <strong>de</strong>r sich prächtig<br />

entwickeln<strong>de</strong>n Betrüger langsam abgenommen, aber sie sind<br />

gera<strong>de</strong> noch in <strong>de</strong>r Lage, ihre Stellung zu behaupten. Nach<strong>de</strong>m<br />

<strong>de</strong>r letzte Bet<strong>ro</strong>gene dahingegangen ist und die Betrüger


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 289<br />

mit ihrer egoistischen Ausbeutung nicht mehr so leicht ungestraft<br />

davonkommen, beginnen die Nachtragen<strong>de</strong>n langsam<br />

auf Kosten <strong>de</strong>r Betrüger zuzunehmen. Ihr Bevölkerungsanstieg<br />

gewinnt beständig an Schwung. Er wird immer steiler; die<br />

Betrügerbevölkerung stürzt fast bis zur Aus<strong>ro</strong>ttung ab und<br />

fängt sich dann, weil sie die Vorzüge <strong>de</strong>r Seltenheit genießt, die<br />

vor allem darin bestehen, daß <strong>de</strong>r einzelne Betrüger vom Zorn<br />

<strong>de</strong>r Nachtragen<strong>de</strong>n relativ frei ist. Langsam und unerbittlich<br />

jedoch gehen die Betrüger <strong>de</strong>m Untergang entgegen, und die<br />

Nachtragen<strong>de</strong>n bleiben als alleinige Sieger zurück. Paradoxerweise<br />

be<strong>de</strong>utet die Anwesenheit <strong>de</strong>r Bet<strong>ro</strong>genen tatsächlich zu<br />

Beginn <strong>de</strong>r Entwicklung eine Gefahr für die Nachtragen<strong>de</strong>n,<br />

da sie für <strong>de</strong>n vorübergehen<strong>de</strong>n Aufschwung <strong>de</strong>r Betrüger verantwortlich<br />

sind.<br />

Nebenbei gesagt ist mein hypothetisches Beispiel von <strong>de</strong>n<br />

Gefahren <strong>de</strong>s Nichtgesäubertwer<strong>de</strong>ns recht glaubhaft. Isoliert<br />

gehaltene Mäuse neigen dazu, unangenehme Entzündungen<br />

an <strong>de</strong>n Stellen <strong>de</strong>s Kopfes zu entwickeln, die sie nicht erreichen<br />

können. Bei einer Untersuchung zeigte sich, daß Mäuse,<br />

die in Gruppen gehalten wur<strong>de</strong>n, nicht auf diese Weise litten,<br />

da sie sich gegenseitig die Köpfe leckten. Es wäre interessant,<br />

die Theorie <strong>de</strong>s Altruismus auf Gegenseitigkeit experimentell<br />

zu testen, und es sieht so aus, als seien Mäuse die geeigneten<br />

Objekte dafür.<br />

Trivers behan<strong>de</strong>lt die bemerkenswerte Symbiose <strong>de</strong>r Putzerfische.<br />

Von etwa 50 Arten, zu <strong>de</strong>nen kleine Fische und Garnelen<br />

gehören, weiß man, daß sie sich von Parasiten ernähren, die sie<br />

vom Körper größerer Fische an<strong>de</strong>rer Arten ablesen. Die g<strong>ro</strong>ßen<br />

Fische p<strong>ro</strong>fitieren offensichtlich von <strong>de</strong>r Säuberungsaktion,<br />

und die „Putzer“ bekommen eine gute Mahlzeit. Die Beziehung<br />

ist symbiotischer Natur. In vielen Fällen öffnen die g<strong>ro</strong>ßen<br />

Fische ihr Maul und lassen die Putzer gera<strong>de</strong>wegs hineinschwimmen,<br />

wo sie ihnen in <strong>de</strong>n Zähnen herumstochern, um<br />

dann durch die Kiemen wie<strong>de</strong>r hinauszuschwimmen, die sie<br />

ebenfalls saubermachen. Man könnte erwarten, daß ein g<strong>ro</strong>ßer<br />

Fisch so listig ist, daß er abwartet, bis er gründlich gesäubert<br />

wor<strong>de</strong>n ist, und dann <strong>de</strong>n Putzer verschlingt. Doch statt <strong>de</strong>ssen


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 290<br />

läßt er gewöhnlich <strong>de</strong>n Putzer ungeschoren davonschwimmen.<br />

Das ist ein Meisterstück augenscheinlicher Selbstlosigkeit,<br />

<strong>de</strong>nn in vielen Fällen ist <strong>de</strong>r Putzer genauso g<strong>ro</strong>ß wie die<br />

übliche Beute <strong>de</strong>s Fisches.<br />

Putzerfische haben beson<strong>de</strong>re Streifenmuster und führen<br />

spezielle Tänze auf, die sie als Putzer erkenntlich machen. Die<br />

g<strong>ro</strong>ßen Fische sehen gewöhnlich davon ab, kleine Fische zu<br />

verzehren, die die richtige Art von Streifen besitzen und sich<br />

ihnen mit <strong>de</strong>r richtigen Art von Tanz nähern. Vielmehr verharren<br />

sie in einem tranceähnlichen Zustand und gestatten <strong>de</strong>m<br />

Putzer freien Zugang zu ihrem Äußeren und Inneren. Wie die<br />

egoistischen Gene nun einmal sind, ist es nicht weiter verwun<strong>de</strong>rlich,<br />

daß rücksichtslose, ausbeuterische Betrüger sich<br />

dies zunutze gemacht haben. Es gibt kleine Fischarten, die<br />

ganz genauso aussehen wie Putzer und dieselbe Art von Tanz<br />

vollführen, um sich gefahrlos einem g<strong>ro</strong>ßen Fisch nähern zu<br />

können. Wenn dieser aber in seine erwartungsvolle Trance<br />

verfallen ist, beißt <strong>de</strong>r Betrüger, statt einen Parasiten zu entfernen,<br />

ein Stück aus <strong>de</strong>r Flosse <strong>de</strong>s g<strong>ro</strong>ßen Fisches heraus<br />

und tritt einen hastigen Rückzug an. Ungeachtet <strong>de</strong>r Betrüger<br />

ist die Beziehung zwischen Fischputzern und ihren Klienten<br />

jedoch meistens freundschaftlich und beständig. Der Beruf <strong>de</strong>r<br />

Putzer spielt im täglichen Leben <strong>de</strong>r Korallenriffgemeinschaft<br />

eine wichtige Rolle. Je<strong>de</strong>r Putzer hat sein eigenes Territorium,<br />

und man hat g<strong>ro</strong>ße Fische beobachtet, die wie Kun<strong>de</strong>n vor<br />

einem Friseurla<strong>de</strong>n Schlange stan<strong>de</strong>n, um bedient zu wer<strong>de</strong>n.<br />

Wahrscheinlich ist es diese Ortstreue, die in diesem Fall die<br />

Evolution von verzögertem Altruismus auf Gegenseitigkeit<br />

möglich macht. Der Nutzen, <strong>de</strong>n ein g<strong>ro</strong>ßer Fisch davon hat,<br />

daß er wie<strong>de</strong>rholt zu <strong>de</strong>mselben „Friseurla<strong>de</strong>n“ zurückkommen<br />

kann, statt immer wie<strong>de</strong>r nach einem neuen suchen zu müssen,<br />

muß die Kosten aufwiegen, die <strong>de</strong>r Verzicht auf das Verspeisen<br />

<strong>de</strong>s Putzers be<strong>de</strong>utet. Da Putzerfische klein sind, ist das nicht<br />

schwer einzusehen. Die Existenz betrügerischer Nachahmer<br />

<strong>de</strong>r Putzerfische bringt wahrscheinlich indirekt die aufrichtigen<br />

Putzer in Gefahr, da sie einen geringfügigen Druck<br />

auf g<strong>ro</strong>ße Fische ausübt, gestreifte, einen Tanz aufführen<strong>de</strong>


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 291<br />

Fischchen zu verzehren. Ortstreue seitens <strong>de</strong>r echten Putzer<br />

ermöglicht es <strong>de</strong>n Kun<strong>de</strong>n, sie zu fin<strong>de</strong>n und Betrüger zu<br />

mei<strong>de</strong>n.<br />

Beim Menschen sind langes Erinnerungsvermögen und die<br />

Fähigkeit, Individuen zu erkennen, gut entwickelt. Dies berechtigt<br />

uns zu <strong>de</strong>r Vermutung, daß <strong>de</strong>r gegenseitige Altruismus<br />

bei <strong>de</strong>r Entwicklung <strong>de</strong>s Menschen eine be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong> Rolle<br />

gespielt hat. Trivers hält es sogar für möglich, daß viele<br />

<strong>de</strong>r für unsere Art charakteristischen Empfindungen – Neid,<br />

Schuldgefühle, Dankbarkeit, Sympathie und so weiter – von <strong>de</strong>r<br />

natürlichen Auslese geformt wor<strong>de</strong>n sind, damit <strong>de</strong>r Mensch<br />

besser betrügen, Betrügereien ent<strong>de</strong>cken sowie vermei<strong>de</strong>n<br />

kann, für einen Betrüger gehalten zu wer<strong>de</strong>n. Von beson<strong>de</strong>rem<br />

Interesse sind die „raffinierten Betrüger“, bei <strong>de</strong>nen es so<br />

aussieht, als revanchierten sie sich, die aber durchweg etwas<br />

<strong>wen</strong>iger zurückzahlen, als sie erhalten. Es ist sogar möglich,<br />

daß sich das vergrößerte Gehirn <strong>de</strong>s Menschen und seine Veranlagung<br />

für mathematisches Denken als ein Mechanismus<br />

immer ausgefalleneren Betrügens und immer scharfsinnigeren<br />

Erkennens von Betrug bei an<strong>de</strong>ren herausgebil<strong>de</strong>t hat.<br />

Geld ist ein formales Symbol für <strong>de</strong>n verzögerten gegenseitigen<br />

Altruismus.<br />

Den faszinieren<strong>de</strong>n Spekulationen, welche <strong>de</strong>r Gedanke <strong>de</strong>s<br />

wechselseitigen Altruismus heraufbeschwört, <strong>wen</strong>n wir ihn auf<br />

unsere eigene Spezies an<strong>wen</strong><strong>de</strong>n, sind keine Grenzen gesetzt.<br />

Doch so verlockend es auch ist, bei solchen Gedankenspielereien<br />

bin ich nicht besser als je<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re auch, und ich<br />

überlasse es <strong>de</strong>m Leser, sich selbst damit zu amüsieren.


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 292<br />

11. Meme, die neuen Replikatoren<br />

Bisher habe ich nicht viel über <strong>de</strong>n Menschen im beson<strong>de</strong>ren<br />

gesagt, obwohl ich ihn an<strong>de</strong>rerseits auch nicht bewußt ausgeschlossen<br />

habe. Wenn ich <strong>de</strong>n Ausdruck „Überlebensmaschine“<br />

benutzt habe, so zum Teil <strong>de</strong>shalb, weil das Wort „Tier“ die<br />

Pflanzen und in <strong>de</strong>n Augen einiger auch <strong>de</strong>n Menschen ausgeklammert<br />

hätte. Die Argumente, die ich vorgebracht habe,<br />

müßten auf <strong>de</strong>n ersten Blick gesehen auf je<strong>de</strong>s durch Evolution<br />

entstan<strong>de</strong>ne Wesen zutreffen. Wenn eine Art ausgenommen<br />

wer<strong>de</strong>n soll, so muß es dafür gute Grün<strong>de</strong> geben. Gibt<br />

es gute Grün<strong>de</strong> für die Vermutung, daß unsere eigene Spezies<br />

einzigartig ist? Ich glaube, die Antwort lautet ja.<br />

Ein G<strong>ro</strong>ßteil <strong>de</strong>ssen, was am Menschen ungewöhnlich ist,<br />

läßt sich in einem einzigen Wort zusammenfassen: „Kultur“.<br />

Ich ver<strong>wen</strong><strong>de</strong> das Wort nicht in seinem snobistischen Sinne,<br />

son<strong>de</strong>rn so, wie ein Wissenschaftler es benutzt. Die kulturelle<br />

Überlieferung ist <strong>de</strong>r genetischen Vererbung insofern ähnlich,<br />

als sie zwar im wesentlichen konservativ ist, aber <strong>de</strong>nnoch eine<br />

Form von Evolution hervorrufen kann. Der englische Dichter<br />

Geoffrey Chaucer könnte mit einem Englän<strong>de</strong>r von heute keine<br />

Unterhaltung führen, obwohl die bei<strong>de</strong>n durch eine ununterb<strong>ro</strong>chene<br />

Kette von etwa 20 Generationen miteinan<strong>de</strong>r verbun<strong>de</strong>n<br />

sind, von <strong>de</strong>nen je<strong>de</strong> sich mit ihren unmittelbaren Nachbarn<br />

in <strong>de</strong>r Generationenfolge wie Vater und Sohn unterhalten<br />

konnte. In <strong>de</strong>r Sprache scheint es eine nichtgenetische „Evolution“<br />

zu geben, und diese verläuft um ein Vielfaches schneller<br />

als die genetische Evolution.<br />

Kulturelle Vererbung gibt es nicht nur beim Menschen. Das<br />

beste nicht auf Menschen bezogene Beispiel, das ich kenne,<br />

hat kürzlich P. F. Jenkins beschrieben. Es ist <strong>de</strong>r Gesang eines<br />

Vogels, <strong>de</strong>s Neuseeland-Lappenstares, <strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>n Inseln vor<br />

<strong>de</strong>r neuseeländischen Küste lebt. Auf <strong>de</strong>r Insel, auf <strong>de</strong>r Jenkins<br />

arbeitete, gab es im ganzen ein Repertoire von etwa neun verschie<strong>de</strong>nen<br />

Melodien. Je<strong>de</strong>s Männchen beherrschte nur eine<br />

o<strong>de</strong>r ein paar dieser Melodien. Die Männchen ließen sich in


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 293<br />

Dialektgruppen einteilen. Zum Beispiel sang eine Gruppe von<br />

acht Männchen mit benachbarten Revieren ein spezielles Lied,<br />

das Jenkins die CC-Melodie nannte. An<strong>de</strong>re Dialektgruppen<br />

sangen davon abweichen<strong>de</strong> Melodien. Zuweilen hatten die<br />

Angehörigen einer Dialektgruppe mehr als einen charakteristischen<br />

Gesang gemeinsam. Durch Vergleichen <strong>de</strong>r Melodien<br />

von Vätern und Söhnen zeigte Jenkins, daß die Gesangsmuster<br />

nicht genetisch ererbt waren. Wahrscheinlich übernahm<br />

je<strong>de</strong>s junge Männchen durch Nachahmung Gesänge von seinen<br />

Reviernachbarn, auf eine ähnliche Weise, wie dies auch bei <strong>de</strong>r<br />

menschlichen Sprache geschieht. Fast während <strong>de</strong>r gesamten<br />

<strong>Zeit</strong>, die Jenkins dort verbrachte, gab es auf <strong>de</strong>r Insel eine<br />

feststehen<strong>de</strong> Zahl von Melodien, eine Art „Melodiepool“, aus<br />

<strong>de</strong>m je<strong>de</strong>s junge Männchen sein eigenes kleines Repertoire<br />

schöpfte. Hin und wie<strong>de</strong>r hatte Jenkins das Glück, die „Erfindung“<br />

eines neuen Gesangs mitzuerleben, <strong>de</strong>r durch einen<br />

Fehler bei <strong>de</strong>r Nachahmung einer alten Melodie entstand. Er<br />

schreibt: „Wie gezeigt wur<strong>de</strong>, entstehen neue Gesangsformen<br />

auf verschie<strong>de</strong>ne Weise durch Verän<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Tonhöhe, Wie<strong>de</strong>rholung<br />

eines Tones, Auslassung von Tönen und Verknüpfung<br />

von Teilen an<strong>de</strong>rer bestehen<strong>de</strong>r Lie<strong>de</strong>r ... Das Auftreten einer<br />

neuen Form war ein plötzliches Ereignis, und das P<strong>ro</strong>dukt blieb<br />

für eine Reihe von Jahren ziemlich unverän<strong>de</strong>rt. Außer<strong>de</strong>m<br />

wur<strong>de</strong> in einer Reihe von Fällen die Variante in ihrer neuen<br />

Gestalt an junge Sänger weitergegeben, so daß sich eine<br />

erkennbar kohärente Gruppe von Individuen mit ähnlichem<br />

Gesang entwickelte.“ Jenkins bezeichnet die Entstehung neuer<br />

Melodien als „kulturelle Mutation“.<br />

Der Gesang <strong>de</strong>r Neuseeland-Lappenstare entwickelt sich in<br />

<strong>de</strong>r Tat auf nichtgenetische Weise. Es gibt noch an<strong>de</strong>re Beispiele<br />

kultureller Evolution bei Vögeln und Affen, doch sie sind<br />

lediglich interessante Kuriositäten. Unsere eigene Art ist es, die<br />

wirklich zeigt, was die kulturelle Evolution zu leisten vermag.<br />

Die Sprache ist nur ein Beispiel unter vielen. Klei<strong>de</strong>rmo<strong>de</strong><br />

und Ernährungsgewohnheiten, Zeremonien und Brauchtum,<br />

Kunst und Architektur, Ingenieurwesen und Technologie – sie<br />

alle entwickeln sich im Verlauf <strong>de</strong>r geschichtlichen <strong>Zeit</strong> auf


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 294<br />

eine Art und Weise, die wie gewaltig beschleunigte genetische<br />

Evolution aussieht, in Wirklichkeit jedoch nichts mit genetischer<br />

Evolution zu tun hat. Doch wie bei <strong>de</strong>r genetischen Evolution<br />

kann Verän<strong>de</strong>rung auch hier Fortschritt be<strong>de</strong>uten. In<br />

gewissem Sinne ist die mo<strong>de</strong>rne Wissenschaft <strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Altertums<br />

überlegen. Unser Verständnis <strong>de</strong>s Universums verän<strong>de</strong>rt<br />

sich im Laufe <strong>de</strong>r Jahrhun<strong>de</strong>rte nicht nur, es verbessert sich.<br />

Zugegeben, die gegenwärtige stürmische Entwicklung reicht<br />

nicht weiter als bis zur Renaissance zurück; davor lag eine<br />

düstere Perio<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Stagnation, in <strong>de</strong>r die eu<strong>ro</strong>päische wissenschaftliche<br />

Kultur auf <strong>de</strong>m von <strong>de</strong>n Griechen erreichten<br />

Niveau eingef<strong>ro</strong>ren war. Aber auch die genetische Evolution<br />

kann, wie wir in Kapitel 5 gesehen haben, die Gestalt einer<br />

Reihe plötzlicher Sprünge von einem stabilen Niveau zu einem<br />

an<strong>de</strong>ren annehmen.<br />

Die Ähnlichkeit zwischen kultureller und genetischer Evolution<br />

ist häufig hervorgehoben wor<strong>de</strong>n, gelegentlich in Rahmen<br />

gänzlich unnötiger mystischer Gedankenverbindungen. Die<br />

Ähnlichkeit zwischen wissenschaftlichem Fortschritt und genetischer<br />

Evolution durch natürliche Auslese hat insbeson<strong>de</strong>re<br />

Sir Karl Popper erläutert. Ich möchte sogar noch weitergehen,<br />

und zwar in Richtungen, die auch von an<strong>de</strong>ren erforscht<br />

wer<strong>de</strong>n, beispielsweise von <strong>de</strong>m Genetiker L. L. Cavalli-Sforza,<br />

<strong>de</strong>m Anth<strong>ro</strong>pologen F. T. Cloak und <strong>de</strong>m Ethologen J. M.<br />

Cullen.<br />

Als enthusiastischen Anhänger <strong>de</strong>r Darwinschen Lehre<br />

befriedigen mich die Erklärungen nicht, die meine begeisterten<br />

Mit-Darwinisten für das Verhalten <strong>de</strong>r Menschen vorgebracht<br />

haben. Sie haben in verschie<strong>de</strong>nen Attributen <strong>de</strong>r menschlichen<br />

Zivilisation „biologische Vorteile“ ausfindig zu machen<br />

versucht. Beispielsweise verstehen sie die Stammesreligionen<br />

als einen Mechanismus zur Festigung <strong>de</strong>r Gruppeni<strong>de</strong>ntität –<br />

nützlich für eine im Ru<strong>de</strong>l jagen<strong>de</strong> Spezies, bei <strong>de</strong>r je<strong>de</strong>s Individuum<br />

beim Erlegen g<strong>ro</strong>ßer und schneller Beutetiere auf die<br />

Zusammenarbeit mit an<strong>de</strong>ren angewiesen ist. Häufig gehen<br />

solche Theorien aus einer Vorstellung <strong>de</strong>r Evolution hervor,<br />

die stillschweigend auf <strong>de</strong>r Gruppenselektion beruht, aber


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 295<br />

sie lassen sich auch im Sinne <strong>de</strong>r orthodoxen Genselektion<br />

umformulieren. Es ist gut möglich, daß <strong>de</strong>r Mensch während<br />

eines G<strong>ro</strong>ßteiles <strong>de</strong>r letzten Jahrmillionen in kleinen Verwandtschaftsgruppen<br />

gelebt hat. Es mag sein, daß die Einwirkung<br />

<strong>de</strong>r Verwandtschaftsselektion sowie <strong>de</strong>r Selektion zugunsten<br />

<strong>de</strong>s gegenseitigen Altruismus auf die menschlichen Gene viele<br />

unserer grundlegen<strong>de</strong>n psychischen Merkmale und Neigungen<br />

hervorgebracht hat. Diese Vorstellungen an sich sind plausibel,<br />

aber meiner Meinung nach sind sie auch nicht im entferntesten<br />

<strong>de</strong>r gewaltigen Herausfor<strong>de</strong>rung gewachsen, eine<br />

Erklärung für die Kultur, die kulturelle Entwicklung und die<br />

ungeheuren Unterschie<strong>de</strong> zwischen <strong>de</strong>n menschlichen Kulturen<br />

überall auf <strong>de</strong>r Welt zu liefern, von <strong>de</strong>m krassen Egoismus<br />

<strong>de</strong>r Ik in Uganda, wie er von Colin Turnbull beschrieben<br />

wor<strong>de</strong>n ist, bis hin zu <strong>de</strong>r sanften Uneigennützigkeit von Margaret<br />

Meads Arapesh-Indianern. Ich glaube, wir müssen neu<br />

beginnen und ganz an <strong>de</strong>n Anfang zurückgehen. Die folgen<strong>de</strong><br />

Aussage mag überraschen, da sie vom Autor <strong>de</strong>r vorigen Kapitel<br />

kommt: Ich behaupte, daß wir uns, um die Evolution <strong>de</strong>s<br />

mo<strong>de</strong>rnen Menschen verstehen zu können, zunächst davon<br />

freimachen müssen, das Gen als die einzige Grundlage unserer<br />

Vorstellung von Evolution anzusehen. Ich bin ein begeisterter<br />

Darwinist, aber ich glaube, <strong>de</strong>r Darwinismus ist eine zu gewaltige<br />

Theorie, als daß man ihn auf <strong>de</strong>n engen Rahmen <strong>de</strong>s Gens<br />

beschränken könnte. Ich wer<strong>de</strong> das Gen als ein Analogon in<br />

meine These einbeziehen, nicht mehr.<br />

Was ist im Grun<strong>de</strong> so Beson<strong>de</strong>res an <strong>de</strong>n Genen? Die Antwort<br />

lautet: die Tatsache, daß sie Replikatoren sind. Von <strong>de</strong>n<br />

Gesetzen <strong>de</strong>r Physik nimmt man an, daß sie im gesamten<br />

bekannten Universum gelten. Gibt es irgendwelche Grundsätze<br />

<strong>de</strong>r Biologie, bei <strong>de</strong>nen die Wahrscheinlichkeit besteht, daß sie<br />

eine ähnlich universelle Gültigkeit besitzen? Wenn Ast<strong>ro</strong>nauten<br />

auf <strong>de</strong>r Suche nach Leben zu fernen Planeten reisen, so<br />

können sie erwarten, Lebewesen vorzufin<strong>de</strong>n, die zu fremd<br />

und zu unirdisch sind, als daß wir sie uns vorstellen könnten.<br />

Aber gibt es nicht irgend etwas, das für alles Leben gelten<br />

muß, wo immer es auch gefun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n mag und was auch


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 296<br />

immer seine chemischen Grundbausteine sein mögen? Wenn<br />

Lebensformen bestehen, <strong>de</strong>ren chemische Struktur auf Silikon<br />

aufbaut und nicht auf Kohlenstoff, o<strong>de</strong>r auf Ammoniak<br />

und nicht auf Wasser, <strong>wen</strong>n Geschöpfe ent<strong>de</strong>ckt wer<strong>de</strong>n, die<br />

bei minus 100 Grad Celsius zu To<strong>de</strong> sie<strong>de</strong>n, <strong>wen</strong>n eine Form<br />

von Leben gefun<strong>de</strong>n wird, die überhaupt nicht auf Chemie<br />

beruht, son<strong>de</strong>rn auf elekt<strong>ro</strong>nischen Schwingkreisen, wird es<br />

dann immer noch irgen<strong>de</strong>in allgemeines Prinzip geben, das<br />

auf alles Leben zutrifft? Es ist offensichtlich, daß ich das<br />

nicht wissen kann, doch <strong>wen</strong>n ich mich für etwas entschei<strong>de</strong>n<br />

müßte, dann gibt es ein Grundprinzip, auf das ich setzen<br />

wür<strong>de</strong>. Nämlich auf das Gesetz, daß alles Leben sich durch <strong>de</strong>n<br />

unterschiedlichen Überlebenserfolg sich replizieren<strong>de</strong>r Einheiten<br />

entwickelt. 1 Das Gen, das Stückchen DNA, ist zufällig<br />

die Replikationseinheit, die auf unserem eigenen Planeten<br />

überwiegt. Es mag an<strong>de</strong>re geben. Wenn es an<strong>de</strong>re gibt, so<br />

wer<strong>de</strong>n sie – vorausgesetzt bestimmte zusätzliche Bedingungen<br />

sind erfüllt – fast unweigerlich zur Grundlage für einen<br />

evolutionären P<strong>ro</strong>zeß wer<strong>de</strong>n.<br />

Doch müssen wir uns in frem<strong>de</strong> Welten begeben, um an<strong>de</strong>re<br />

Replikatortypen und an<strong>de</strong>re, daraus resultieren<strong>de</strong> Arten von<br />

Evolution zu fin<strong>de</strong>n? Ich meine, daß auf diesem unserem Planeten<br />

kürzlich eine neue Art von Replikator aufgetreten ist.<br />

Zwar ist er noch jung, treibt noch unbeholfen in seiner Ursuppe<br />

herum, aber er ruft bereits evolutionären Wan<strong>de</strong>l hervor, und<br />

zwar mit einer Geschwindigkeit, die das gute alte Gen weit in<br />

<strong>de</strong>n Schatten stellt.<br />

Das neue Urmeer ist die „Suppe“ <strong>de</strong>r menschlichen Kultur.<br />

Wir brauchen einen Namen für <strong>de</strong>n neuen Replikator, ein Substantiv,<br />

das die Assoziation einer Einheit <strong>de</strong>r kulturellen Vererbung<br />

vermittelt, o<strong>de</strong>r eine Einheit <strong>de</strong>r Imitation. Von einer entsprechen<strong>de</strong>n<br />

griechischen Wurzel ließe sich das Wort „Mimem“<br />

ableiten, aber ich suche ein einsilbiges Wort, das ein <strong>wen</strong>ig wie<br />

„Gen“ klingt. Ich hoffe, meine klassisch gebil<strong>de</strong>ten Freun<strong>de</strong><br />

wer<strong>de</strong>n mir verzeihen, <strong>wen</strong>n ich Mimem zu Mem verkürze. 2<br />

Sollte es irgend jeman<strong>de</strong>m ein T<strong>ro</strong>st sein, so könnte er sich<br />

wahlweise vorstellen, daß es mit <strong>de</strong>m lateinischen memoria


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 297<br />

o<strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>m französischen Wort même verwandt ist.<br />

Beispiele für Meme sind Melodien, Gedanken, Schlagworte,<br />

Klei<strong>de</strong>rmo<strong>de</strong>n, die Art, Töpfe zu machen o<strong>de</strong>r Bögen zu bauen.<br />

So wie Gene sich im Genpool vermehren, in<strong>de</strong>m sie sich mit<br />

Hilfe von Spermien o<strong>de</strong>r Eizellen von Körper zu Körper fortbewegen,<br />

verbreiten sich Meme im Mempool, in<strong>de</strong>m sie von<br />

Gehirn zu Gehirn überspringen, vermittelt durch einen P<strong>ro</strong>zeß,<br />

<strong>de</strong>n man im weitesten Sinne als Imitation bezeichnen kann.<br />

Wenn ein Wissenschaftler einen guten Gedanken hört o<strong>de</strong>r<br />

liest, so gibt er ihn an seine Kollegen und Stu<strong>de</strong>nten weiter.<br />

Er erwähnt ihn in seinen Veröffentlichungen und Vorlesungen.<br />

Fin<strong>de</strong>t <strong>de</strong>r Gedanke neue Anhänger, so kann man sagen, daß er<br />

sich vermehrt, in<strong>de</strong>m er sich von einem Gehirn zum an<strong>de</strong>ren<br />

ausbreitet. Wie mein Kollege N. K. Humphrey einen früheren<br />

Entwurf dieses Kapitels treffend zusammenfaßte, sollten „<br />

...Meme ... als lebendige Strukturen verstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n, nicht<br />

nur im übertragenen, son<strong>de</strong>rn im technischen Sinne. 3 Wenn<br />

jemand ein fruchtbares Mem in meinen Geist einpflanzt, so<br />

setzt er mir im wahrsten Sinne <strong>de</strong>s Wortes einen Parasiten ins<br />

Gehirn und macht es auf genau die gleiche Weise zu einem<br />

Vehikel für die Verbreitung <strong>de</strong>s Mems, wie ein Virus dies mit<br />

<strong>de</strong>m genetischen Mechanismus einer Wirtszelle tut ... Und<br />

dies ist nicht einfach nur eine Re<strong>de</strong>weise – das Mem etwa<br />

für ›<strong>de</strong>n Glauben an das Leben nach <strong>de</strong>m Tod‹ ist tatsächlich<br />

viele Millionen Male physikalisch verwirklicht, nämlich als eine<br />

bestimmte Struktur in <strong>de</strong>n Nervensystemen von Menschen<br />

überall auf <strong>de</strong>r Welt.“<br />

Betrachten wir die I<strong>de</strong>e „Gott“. Wir wissen nicht, wie sie<br />

im Mempool entstan<strong>de</strong>n ist. Wahrscheinlich wur<strong>de</strong> sie viele Male<br />

durch voneinan<strong>de</strong>r unabhängige „Mutationen“ geboren. Auf<br />

je<strong>de</strong>n Fall ist sie wirklich sehr alt. Wie repliziert sie sich? Durch<br />

das gesp<strong>ro</strong>chene und geschriebene Wort, unterstützt von g<strong>ro</strong>ßer<br />

Musik und g<strong>ro</strong>ßer Kunst. Warum hat sie einen <strong>de</strong>rart hohen<br />

Überlebenswert? Denken wir daran, daß „Überlebenswert“<br />

hier nicht Wert für ein Gen im Genpool be<strong>de</strong>utet, son<strong>de</strong>rn Wert<br />

für ein Mem in einem Mempool. Die Frage heißt eigentlich:<br />

Was ist an <strong>de</strong>r Vorstellung von einem Gott so Beson<strong>de</strong>res, das


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 298<br />

ihr in <strong>de</strong>r kulturellen Umwelt ihre Beständigkeit und Wirksamkeit<br />

verleiht? Der Überlebenswert <strong>de</strong>s Gott-Mems im Mempool<br />

ergibt sich aus seiner g<strong>ro</strong>ßen psychologischen Anziehungskraft.<br />

Es liefert eine auf <strong>de</strong>n ersten Blick einleuchten<strong>de</strong> Antwort<br />

auf unergründliche und beunruhigen<strong>de</strong> Fragen über das<br />

Dasein. Es legt <strong>de</strong>n Gedanken nahe, daß Ungerechtigkeiten auf<br />

dieser Welt vielleicht in <strong>de</strong>r nächsten ausgeglichen wer<strong>de</strong>n. Die<br />

Arme <strong>de</strong>s ewigen Gottes geben uns in unserer Unzulänglichkeit<br />

einen Halt, <strong>de</strong>r – wie die Placebo-Pille <strong>de</strong>s Arztes – dadurch<br />

nicht <strong>wen</strong>iger wirksam wird, daß er nur in <strong>de</strong>r Vorstellung<br />

besteht. Dies sind einige <strong>de</strong>r Grün<strong>de</strong>, warum die I<strong>de</strong>e „Gott“ so<br />

bereitwillig von aufeinan<strong>de</strong>rfolgen<strong>de</strong>n Generationen individueller<br />

Gehirne kopiert wird. Gott existiert, und sei es auch nur<br />

in <strong>de</strong>r Gestalt eines Mems, das in <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r menschlichen<br />

Kultur geschaffenen Umwelt einen hohen Überlebenswert<br />

o<strong>de</strong>r eine hohe Ansteckungsfähigkeit besitzt.<br />

Einige meiner Kollegen haben mir zu verstehen gegeben,<br />

daß diese Darstellung <strong>de</strong>s Überlebenswertes <strong>de</strong>s Gott-Mems<br />

gera<strong>de</strong> das voraussetzt, was sie zu beweisen versucht. Letzten<br />

En<strong>de</strong>s wollen sie immer wie<strong>de</strong>r auf die „biologischen Vorteile“<br />

hinaus. Es reicht ihnen nicht, <strong>wen</strong>n ich sage, daß die I<strong>de</strong>e von<br />

<strong>de</strong>r Existenz eines Gottes „g<strong>ro</strong>ße psychologische Anziehungskraft“<br />

besitzt. Sie wollen wissen, warum das so ist. Psychologische<br />

Anziehungskraft be<strong>de</strong>utet Anziehungskraft für Gehirne,<br />

und Gehirne wer<strong>de</strong>n durch die natürliche Auslese von Genen<br />

im Genpool geformt. Sie wollen herausfin<strong>de</strong>n, auf welche Art<br />

und Weise <strong>de</strong>r Besitz eines <strong>de</strong>rartigen Gehirns das Überleben<br />

von Genen för<strong>de</strong>rt.<br />

Ich kann diese Haltung sehr gut verstehen, und ich selbst<br />

zweifle nicht daran, daß <strong>de</strong>r Besitz eines Gehirns wie <strong>de</strong>s unsrigen<br />

genetische Vorteile bringt. Nichts<strong>de</strong>sto<strong>wen</strong>iger glaube<br />

ich, daß diese Kollegen, <strong>wen</strong>n sie die Fundamente ihrer eigenen<br />

Thesen sorgfältig untersuchen, feststellen wer<strong>de</strong>n, daß<br />

sie genausooft wie ich Dinge voraussetzen, die sie zu beweisen<br />

suchen. Der Versuch, biologische Phänomene mit Vorteilen<br />

für die Gene zu erklären, ist im wesentlichen <strong>de</strong>shalb eine<br />

gute Taktik, weil Gene Replikatoren sind. Sobald die Ursuppe


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 299<br />

die Voraussetzungen geschaffen hatte, unter <strong>de</strong>nen Moleküle<br />

Kopien ihrer selbst anfertigen konnten, übernahmen die Replikatoren<br />

selbst die Regie. Mehr als drei Milliar<strong>de</strong>n Jahre lang war<br />

die DNA <strong>de</strong>r einzige erwähnenswerte Replikator auf <strong>de</strong>r Welt.<br />

Aber diese Monopolstellung hat sie nicht zwangsläufig für alle<br />

<strong>Zeit</strong>en inne. Wann immer sich Bedingungen entwickeln, unter<br />

<strong>de</strong>nen eine neue Art von Replikator Kopien von sich machen<br />

kann, wer<strong>de</strong>n die neuen Replikatoren höchstwahrscheinlich<br />

die Gelegenheit ergreifen und eine neue, eigene Art von Evolution<br />

in Gang setzen. Setzt diese neue Evolution erst einmal ein,<br />

so braucht sie <strong>de</strong>r alten keineswegs untergeordnet zu sein. Die<br />

alte genselektierte Evolution hat dadurch, daß sie das Gehirn<br />

erzeugte, die „Ursuppe“ geliefert, in <strong>de</strong>r die ersten Meme entstan<strong>de</strong>n.<br />

Sobald die sich selbst kopieren<strong>de</strong>n Meme erst einmal<br />

entstan<strong>de</strong>n waren, setzte ihre eigene, viel schnellere Art von<br />

Evolution ein. Wir Biologen haben uns <strong>de</strong>n Gedanken <strong>de</strong>r<br />

genetischen Evolution <strong>de</strong>rart gründlich angeeignet, daß wir<br />

gewöhnlich vergessen, daß es sich dabei nur um eine von<br />

vielen möglichen Arten <strong>de</strong>r Evolution han<strong>de</strong>lt.<br />

Wenn Meme sich replizieren, tun sie dies durch Imitation<br />

im weitesten Sinne <strong>de</strong>s Wortes. Aber so wie nicht alle Gene,<br />

die sich vermehren können, dies erfolgreich tun, gibt es auch<br />

bei <strong>de</strong>n Memen einige, die im Mempool erfolgreicher sind<br />

als an<strong>de</strong>re. Dies entspricht <strong>de</strong>r natürlichen Auslese. Ich habe<br />

beson<strong>de</strong>re Beispiele von Eigenschaften angeführt, die bei<br />

Memen zu einem hohen Überlebenswert beitragen. Aber im<br />

g<strong>ro</strong>ßen und ganzen müssen es dieselben Eigenschaften sein,<br />

wie wir sie für die Replikatoren von Kapitel 2 erörtert haben:<br />

Langlebigkeit, Fruchtbarkeit und Wie<strong>de</strong>rgabetreue. Die Langlebigkeit<br />

einer einzelnen Kopie eines Mems ist wahrscheinlich<br />

relativ unwichtig, ebenso wie die einer einzelnen Kopie eines<br />

Gens. Die Kopie einer bekannten Melodie, zum Beispiel von<br />

Auld Lang Syne, die in meinem Gehirn existiert, wird nur<br />

bis zum En<strong>de</strong> meines Lebens bestehen. 4 Die Kopie <strong>de</strong>rselben<br />

Melodie, die in einem Lie<strong>de</strong>rbuch gedruckt ist, wird wahrscheinlich<br />

nicht von sehr viel längerer Dauer sein. Aber ich<br />

möchte annehmen, daß es noch in Jahrhun<strong>de</strong>rten Kopien


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 300<br />

dieser Melodie auf Papier und in <strong>de</strong>n Köpfen <strong>de</strong>r Leute geben<br />

wird. Wie bei <strong>de</strong>n Genen ist die Fruchtbarkeit <strong>de</strong>r einzelnen<br />

Kopien viel wichtiger als ihre Langlebigkeit. Wenn es sich bei<br />

<strong>de</strong>m Mem um eine wissenschaftliche I<strong>de</strong>e han<strong>de</strong>lt, wird <strong>de</strong>ren<br />

Verbreitung davon abhängen, wie annehmbar sie für die Individuen<br />

<strong>de</strong>r Wissenschaftlerpopulation ist; ein g<strong>ro</strong>bes Maß ihres<br />

Überlebenswertes könnte man erhalten, <strong>wen</strong>n man zählte,<br />

wie oft sie in aufeinan<strong>de</strong>rfolgen<strong>de</strong>n Jahren in wissenschaftlichen<br />

<strong>Zeit</strong>schriften erwähnt wird. 5 Wenn das Mem eine beliebte<br />

Melodie ist, so läßt sich seine Verbreitung im Mempool anhand<br />

<strong>de</strong>r Zahl von Menschen schätzen, die man diese Melodie auf<br />

<strong>de</strong>r Straße pfeifen hört. Ist es eine Damenschuhmo<strong>de</strong>, so kann<br />

<strong>de</strong>r Memforscher <strong>de</strong>r Population die Verkaufsstatistiken <strong>de</strong>r<br />

Schuhgeschäfte benutzen. Einige Meme sind – wie einige Gene<br />

– eine kurze <strong>Zeit</strong> lang überaus erfolgreich und verbreiten<br />

sich rasch, aber sie halten sich nicht lange im Mempool. Schlager<br />

und Pfennigabsätze sind Beispiele dafür. An<strong>de</strong>re, wie die<br />

religiösen Gesetze <strong>de</strong>r Ju<strong>de</strong>n, können sich jahrtausen<strong>de</strong>lang<br />

weiter fortsetzen, gewöhnlich wegen <strong>de</strong>r g<strong>ro</strong>ßen potentiellen<br />

Beständigkeit schriftlicher Aufzeichnungen.<br />

Dies bringt mich zu <strong>de</strong>r dritten allgemeinen Eigenschaft<br />

erfolgreicher Replikatoren: <strong>de</strong>r Kopiergenauigkeit. Hier befin<strong>de</strong><br />

ich mich, wie ich zugeben muß, auf schwanken<strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n. Auf<br />

<strong>de</strong>n ersten Blick sieht es so aus, als seien Meme überhaupt<br />

keine Replikatoren mit hoher Wie<strong>de</strong>rgabetreue. Je<strong>de</strong>smal,<br />

<strong>wen</strong>n ein Wissenschaftler einen Gedanken hört und ihn an<br />

jemand an<strong>de</strong>rs weitergibt, wird er ihn wahrscheinlich ein<br />

<strong>wen</strong>ig verän<strong>de</strong>rn. Ich habe kein Geheimnis daraus gemacht,<br />

wie sehr dieses Buch <strong>de</strong>n Gedanken von R. L. Trivers verpflichtet<br />

ist. Doch ich habe Trivers’ Vorstellungen nicht mit<br />

seinen eigenen Worten wie<strong>de</strong>rgegeben. Ich habe sie für meine<br />

eigenen Zwecke umgeformt, habe einen an<strong>de</strong>ren Schwerpunkt<br />

gesetzt, sie mit meinen eigenen und an<strong>de</strong>rer Leute Gedanken<br />

vermischt. Die Meme wur<strong>de</strong>n <strong>de</strong>m Leser in verän<strong>de</strong>rter Gestalt<br />

weitergegeben. Das sieht <strong>de</strong>r partikelweisen Alles-o<strong>de</strong>r-nichts-<br />

Natur <strong>de</strong>r Genvererbung nicht im geringsten ähnlich. Es<br />

scheint vielmehr, als sei die Mem-Übermittlung ständiger


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 301<br />

Mutation und Mischung unterworfen. Es ist aber möglich,<br />

daß dieser Anschein <strong>de</strong>r Nicht-Partikelhaftigkeit trügt und die<br />

Übereinstimmung mit <strong>de</strong>n Genen doch nicht am En<strong>de</strong> ist.<br />

Schließlich erweckt die Vererbung vieler genetischer Merkmale,<br />

beispielsweise <strong>de</strong>r Größe o<strong>de</strong>r Hautfarbe eines Menschen,<br />

auch nicht <strong>de</strong>n Eindruck, als sei sie das Werk unteilbarer<br />

und unvermischbarer Gene. Wenn ein schwarzer und ein<br />

weißer Mensch Kin<strong>de</strong>r bekommen, so sind diese nicht entwe<strong>de</strong>r<br />

schwarz o<strong>de</strong>r weiß, son<strong>de</strong>rn haben eine zwischen diesen<br />

Extremen liegen<strong>de</strong> Mischfarbe. Das be<strong>de</strong>utet nicht, daß die<br />

beteiligten Gene nicht einzelne Partikel sind. Vielmehr sind<br />

einfach so viele von ihnen für die Hautfarbe verantwortlich,<br />

und je<strong>de</strong>s erzielt eine <strong>de</strong>rart kleine Wirkung, daß es scheint, als<br />

mischten sie sich. Bisher habe ich von Memen gesp<strong>ro</strong>chen, als<br />

sei es offensichtlich, woraus ein einzelnes Mem besteht. Aber<br />

das ist natürlich alles an<strong>de</strong>re als offensichtlich. Ich habe gesagt,<br />

eine Melodie ist ein Mem; aber wie steht es mit einer Symphonie:<br />

Wie viele Meme stellt eine Symphonie dar? Ist je<strong>de</strong>r Satz<br />

ein Mem, je<strong>de</strong> erkennbare Phrase, je<strong>de</strong>r Takt, je<strong>de</strong>r Akkord<br />

o<strong>de</strong>r was sonst?<br />

Ich <strong>wen</strong><strong>de</strong> <strong>de</strong>n gleichen sprachlichen Kunstgriff wie im dritten<br />

Kapitel an. Dort teilte ich <strong>de</strong>n „Genkomplex“ in g<strong>ro</strong>ße<br />

und kleine genetische Einheiten und Untereinheiten ein. Das<br />

„Gen“ wur<strong>de</strong> nicht auf eine starre Alles-o<strong>de</strong>r-nichts-Weise <strong>de</strong>finiert,<br />

son<strong>de</strong>rn als eine zweckmäßige Einheit, ein Ch<strong>ro</strong>mosomenabschnitt<br />

mit gera<strong>de</strong> ausreichend g<strong>ro</strong>ßer Kopiergenauigkeit,<br />

um als eine lebensfähige Einheit <strong>de</strong>r natürlichen Auslese<br />

zu dienen. Wenn eine einzelne Phrase aus Beethovens neunter<br />

Symphonie charakteristisch und einprägsam genug ist, um<br />

aus <strong>de</strong>m Zusammenhang <strong>de</strong>r Symphonie herausgelöst und von<br />

einem empörend geschmacklosen eu<strong>ro</strong>päischen Rundfunksen<strong>de</strong>r<br />

als Pausenzeichen ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>t zu wer<strong>de</strong>n, dann verdient<br />

sie in diesem Umfang <strong>de</strong>n Namen Mem. Nebenbei gesagt hat<br />

meine Fähigkeit, die Originalsymphonie zu genießen, erheblich<br />

darunter gelitten.<br />

Ebenso meinen wir mit <strong>de</strong>r Aussage, daß alle Biologen heutzutage<br />

die Darwinsche Theorie für richtig halten, nicht, daß im


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 302<br />

Gehirn je<strong>de</strong>s Biologen eine genaue Kopie <strong>de</strong>r Worte Darwins<br />

eingraviert ist. Je<strong>de</strong>s Individuum interpretiert Darwins I<strong>de</strong>en<br />

auf seine eigene Art. Es kennt sie wahrscheinlich auch nicht<br />

aus Darwins eigenen Schriften, son<strong>de</strong>rn aus <strong>de</strong>nen mo<strong>de</strong>rnerer<br />

Autoren. Viel von <strong>de</strong>m, was Darwin sagte, ist im Detail<br />

falsch. Wür<strong>de</strong> Darwin dieses Buch lesen, so wür<strong>de</strong> er seine<br />

eigene Theorie kaum darin wie<strong>de</strong>rerkennen, <strong>wen</strong>n ich auch<br />

hoffe, daß ihm die Art, wie ich sie dargestellt habe, gefallen<br />

wür<strong>de</strong>. Doch t<strong>ro</strong>tz alle<strong>de</strong>m ist im Kopf je<strong>de</strong>s Individuums, das<br />

die Theorie versteht, etwas Bestimmtes – das Wesen <strong>de</strong>s Darwinismus<br />

– vorhan<strong>de</strong>n. Wenn dies nicht so wäre, dann wäre<br />

fast je<strong>de</strong> Feststellung, daß zwei Menschen sich über etwas einig<br />

sind, be<strong>de</strong>utungslos. Man könnte ein „Gedanken-Mem“ vielleicht<br />

als eine von einem Gehirn auf ein an<strong>de</strong>res übertragbare<br />

Einheit <strong>de</strong>finieren. Das Mem <strong>de</strong>r Darwinschen Theorie ist<br />

daher jene wesentliche Grundlage <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>e, die allen Gehirnen,<br />

welche die Theorie verstehen, gemeinsam ist. Die Unterschie<strong>de</strong><br />

in <strong>de</strong>r Art, wie wir Menschen die Theorie darstellen,<br />

sind dann <strong>de</strong>finitionsgemäß nicht Teil <strong>de</strong>s Mems. Wenn man<br />

Darwins Theorie <strong>de</strong>rart in Bestandteile zerlegen kann, daß<br />

einige Leute die Komponente A für richtig halten, aber nicht<br />

die Komponente B, während an<strong>de</strong>re viel von B, aber nichts von<br />

A halten, dann sollten A und B als getrennte Meme angesehen<br />

wer<strong>de</strong>n. Wenn fast je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r A für richtig hält, auch mit<br />

B einverstan<strong>de</strong>n ist – <strong>wen</strong>n die Meme eng „gekoppelt“ sind,<br />

um <strong>de</strong>n Ausdruck aus <strong>de</strong>r Genetik zu benutzen –, dann ist es<br />

zweckmäßig, sie als ein einziges Mem zusammenzufassen.<br />

Verfolgen wir die Analogie zwischen Memen und Genen noch<br />

etwas weiter. In diesem Buch habe ich stets betont, daß wir<br />

uns die Gene nicht als bewußte, zielbewußte Handlungsträger<br />

vorstellen dürfen. Die blin<strong>de</strong> natürliche Selektion führt jedoch<br />

dazu, daß sie sich mehr o<strong>de</strong>r <strong>wen</strong>iger so verhalten, als ob sie<br />

eine Absicht verfolgten, und es war bequem, die Gene <strong>de</strong>r<br />

Kürze halber in <strong>de</strong>r Sprache <strong>de</strong>r Absicht zu beschreiben. Wenn<br />

wir beispielsweise sagen: „Die Gene versuchen, ihre Zahl in<br />

zukünftigen Genpools zu vergrößern“, so meinen wir damit in<br />

Wirklichkeit: „Gene, die sich so verhalten, daß sie ihre Zahl


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 303<br />

in zukünftigen Genpools vergrößern, wer<strong>de</strong>n schließlich diejenigen<br />

sein, <strong>de</strong>ren Wirkungen wir auf <strong>de</strong>r Welt feststellen.“ So<br />

wie es sich als brauchbar erwiesen hat, daß wir uns die Gene<br />

als aktive Handlungsträger vorstellten, die zielbewußt auf ihr<br />

eigenes Überleben hinarbeiten, könnte es vielleicht nützlich<br />

sein, sich die Meme ebenfalls so vorzustellen. In keinem <strong>de</strong>r<br />

bei<strong>de</strong>n Fälle brauchen wir dabei geheimnisvoll zu wer<strong>de</strong>n.<br />

In bei<strong>de</strong>n Fällen dient die Vorstellung <strong>de</strong>r Absicht lediglich<br />

<strong>de</strong>r Veranschaulichung, aber wir haben bereits gesehen, wie<br />

nützlich dieses Bild im Fall <strong>de</strong>r Gene gewesen ist. Wir haben<br />

Bezeichnungen wie „eigennützig“ und „rücksichtslos“ auf die<br />

Gene angewandt und waren uns dabei völlig im klaren darüber,<br />

daß es sich lediglich um eine Sprachfigur han<strong>de</strong>lt. Können<br />

wir, in genau <strong>de</strong>m gleichen Sinne, nach eigennützigen o<strong>de</strong>r<br />

rücksichtslosen Memen Ausschau halten?<br />

Hier stellt sich nun ein P<strong>ro</strong>blem, das die Natur <strong>de</strong>r Konkurrenz<br />

betrifft. Wo es geschlechtliche Fortpflanzung gibt, konkurriert<br />

je<strong>de</strong>s Gen vor allem mit seinen eigenen Allelen – Rivalen<br />

für dieselbe Stelle auf <strong>de</strong>m Ch<strong>ro</strong>mosom. Bei <strong>de</strong>n Memen<br />

scheint es nichts <strong>de</strong>n Ch<strong>ro</strong>mosomen Entsprechen<strong>de</strong>s zu geben<br />

und nichts, was <strong>de</strong>n Allelen entspricht. Ich nehme an, in<br />

einem banalen Sinne kann man bei vielen Gedanken von ihren<br />

„Gegensätzen“ sprechen. Doch im g<strong>ro</strong>ßen und ganzen gleichen<br />

die Meme eher <strong>de</strong>n frühen sich replizieren<strong>de</strong>n Molekülen, die<br />

frei und ungeordnet in <strong>de</strong>r Ursuppe trieben, als <strong>de</strong>n mo<strong>de</strong>rnen<br />

Genen in ihren or<strong>de</strong>ntlichen, paarweise vorhan<strong>de</strong>nen<br />

Ch<strong>ro</strong>mosomenregimentern. In welchem Sinne also konkurrieren<br />

die Meme miteinan<strong>de</strong>r? Sollen wir annehmen, daß sie<br />

„eigennützig“ o<strong>de</strong>r daß sie „rücksichtslos“ sind, <strong>wen</strong>n sie keine<br />

Allele haben? Tatsächlich können wir dies erwarten, <strong>de</strong>nn in<br />

gewissem Sinne müssen Meme sich auf eine Art Konkurrenz<br />

miteinan<strong>de</strong>r einlassen.<br />

Je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r einmal einen G<strong>ro</strong>ßrechner benutzt hat, weiß,<br />

wie kostbar Rechenzeit und Speicherkapazität sind. In vielen<br />

g<strong>ro</strong>ßen Rechenzentren muß man dafür tatsächlich Geld bezahlen,<br />

o<strong>de</strong>r man bekommt eine Laufzeit zugeteilt, die in Sekun<strong>de</strong>n<br />

gemessen wird, und einen Anteil an <strong>de</strong>r Speicherkapazität,


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 304<br />

<strong>de</strong>r in „Worten“ gemessen wird. Die Computer, in <strong>de</strong>nen die<br />

Meme leben, sind die Gehirne <strong>de</strong>r Menschen. 6 Bei diesen ist<br />

die <strong>Zeit</strong> möglicherweise ein wichtigerer begrenzen<strong>de</strong>r Faktor<br />

als <strong>de</strong>r Speicherplatz, und sie ist Gegenstand heftiger Konkurrenz.<br />

Das menschliche Gehirn und <strong>de</strong>r Körper, <strong>de</strong>n es steuert,<br />

können nicht mehr als eins o<strong>de</strong>r einige <strong>wen</strong>ige Dinge gleichzeitig<br />

tun. Wenn ein Mem die Aufmerksamkeit eines menschlichen<br />

Gehirns in Anspruch nehmen will, so muß es dies auf<br />

Kosten „rivalisieren<strong>de</strong>r“ Meme tun. An<strong>de</strong>re Güter, um die<br />

Meme konkurrieren, sind Sen<strong>de</strong>zeiten in Rundfunk und Fernsehen,<br />

Raum auf Anschlagtafeln und in <strong>Zeit</strong>ungsspalten sowie<br />

Platz in Bücherregalen.<br />

Was die Gene betrifft, so haben wir in Kapitel 3 gesehen,<br />

daß im Genpool koadaptierte Genkomplexe entstehen können.<br />

Eine für die Mimikry bei Schmetterlingen verantwortliche<br />

g<strong>ro</strong>ße Gruppe von Genen ist auf <strong>de</strong>mselben Ch<strong>ro</strong>mosom fest<br />

miteinan<strong>de</strong>r gekoppelt, <strong>de</strong>rart fest, daß man sie wie ein einziges<br />

Gen behan<strong>de</strong>ln kann. In Kapitel 5 haben wir <strong>de</strong>n komplizierten<br />

Gedanken <strong>de</strong>s evolutionär stabilen Gensatzes kennengelernt.<br />

Jeweils zusammenpassen<strong>de</strong> Zähne, Klauen, Eingewei<strong>de</strong><br />

und Sinnesorgane bil<strong>de</strong>ten sich in Fleischfresser-<br />

Genpools heraus, während gleichzeitig ein an<strong>de</strong>rer stabiler<br />

Satz von Merkmalen aus Pflanzenfresser-Genpools hervorging.<br />

Geschieht in Mempools irgend etwas Vergleichbares? Ist<br />

das Gott-Mem zum Beispiel mit an<strong>de</strong>ren speziellen Memen<br />

verknüpft wor<strong>de</strong>n, und för<strong>de</strong>rt diese Verbindung das Überleben<br />

je<strong>de</strong>s <strong>de</strong>r beteiligten Meine? Vielleicht können wir eine organisierte<br />

Kirche mit ihrer Architektur, ihren Ritualen und Gesetzen,<br />

ihrer Musik und Kunst sowie ihrer geschriebenen Tradition<br />

als einen koadaptierten stabilen Satz sich gegenseitig<br />

stützen<strong>de</strong>r Meme betrachten.<br />

Greifen wir ein spezielles Beispiel heraus: Ein Aspekt <strong>de</strong>r<br />

Lehre, <strong>de</strong>r auf sehr wirkungsvolle Weise religiösen Gehorsam<br />

erzwungen hat, ist die D<strong>ro</strong>hung mit <strong>de</strong>m Fegefeuer. Viele<br />

Kin<strong>de</strong>r und selbst manche Erwachsene glauben, daß sie nach<br />

<strong>de</strong>m To<strong>de</strong> gräßliche Qualen erlei<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n, <strong>wen</strong>n sie die priesterlichen<br />

Vorschriften nicht befolgen. Diese ausgesp<strong>ro</strong>chen


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 305<br />

üble Überredungstechnik hat während <strong>de</strong>s Mittelalters viel<br />

seelisches Leid hervorgerufen und tut das sogar heute noch.<br />

Aber sie ist äußerst wirksam. Fast scheint es, als sei sie von<br />

einer in tiefenpsychologischen Unterweisungstechniken ausgebil<strong>de</strong>ten<br />

macchiavellischen Priesterschaft mit Bedacht ersonnen<br />

wor<strong>de</strong>n. Doch ich bezweifle, daß die Priester <strong>de</strong>rart schlau<br />

waren. Sehr viel wahrscheinlicher ist es, daß Meme – unbewußt<br />

– ihr Überleben selbst sichergestellt haben, und zwar mit Hilfe<br />

<strong>de</strong>rselben Pseudo-Skrupellosigkeit, die auch erfolgreiche Gene<br />

an <strong>de</strong>n Tag legen. Die Vorstellung <strong>de</strong>s Fegefeuers setzt sich<br />

wegen ihrer tiefgreifen<strong>de</strong>n psychologischen Wirkung ganz einfach<br />

von allein endlos weiter fort. Sie ist mit <strong>de</strong>m Gott-Mem<br />

verknüpft, weil bei<strong>de</strong> Meme sich gegenseitig verstärken und<br />

das eine jeweils zum Überleben <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren im Mempool<br />

beiträgt.<br />

Ein weiteres Glied <strong>de</strong>s zur Religion gehörigen Memkomplexes<br />

heißt Glaube. Dieser be<strong>de</strong>utet blin<strong>de</strong>s Vertrauen – Vertrauen<br />

ohne Beweise und sogar <strong>de</strong>n Beweisen zum T<strong>ro</strong>tz.<br />

Die Geschichte vom ungläubigen Thomas wird nicht erzählt,<br />

damit wir Thomas bewun<strong>de</strong>rn, son<strong>de</strong>rn damit wir im Gegensatz<br />

dazu die an<strong>de</strong>ren Apostel bewun<strong>de</strong>rn. Thomas verlangte<br />

Beweise. Nichts ist für bestimmte Arten von Memen tödlicher<br />

als die Neigung, nach Beweisen zu suchen. Die an<strong>de</strong>ren Apostel,<br />

<strong>de</strong>ren Glaube so stark war, daß sie keine Beweise brauchten,<br />

wer<strong>de</strong>n uns als nachahmenswert hingestellt. Das Mem für<br />

blin<strong>de</strong>n Glauben sichert sich seinen Fortbestand selbst durch<br />

das einfache, unbewußte, wirksame Mittel, daß es das rationale<br />

Nachforschen mißbilligt.<br />

Mit blin<strong>de</strong>m Glauben läßt sich alles rechtfertigen. 7 Wenn<br />

jemand an einen an<strong>de</strong>ren Gott glaubt o<strong>de</strong>r <strong>wen</strong>n er auch nur<br />

ein an<strong>de</strong>res Ritual benutzt, um <strong>de</strong>nselben Gott zu verehren,<br />

kann <strong>de</strong>r blin<strong>de</strong> Glaube ve<strong>ro</strong>rdnen, daß er sterben muß – am<br />

Kreuz, auf <strong>de</strong>m Scheiterhaufen, aufgespießt auf <strong>de</strong>m Schwert<br />

eines Kreuzritters, erschossen auf einer Straße in Beirut o<strong>de</strong>r<br />

in die Luft gesprengt in einem Wirtshaus in Belfast. Meme<br />

für blin<strong>de</strong>n Glauben haben ihre eigenen skrupellosen Metho<strong>de</strong>n,<br />

sich auszubreiten. Das gilt für patriotische und politische


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 306<br />

Überzeugungen genauso wie für religiöse. Meme und Gene<br />

mögen sich häufig gegenseitig verstärken, gelegentlich geraten<br />

sie aber auch in Gegensatz zueinan<strong>de</strong>r. Beispielsweise ist <strong>de</strong>r<br />

Brauch <strong>de</strong>s Zölibats vermutlich nicht genetischen Ursprungs.<br />

Ein Gen für Ehelosigkeit wäre im Genpool zum Scheitern verurteilt,<br />

außer unter sehr speziellen Umstän<strong>de</strong>n, wie wir sie<br />

zum Beispiel bei <strong>de</strong>n staatenbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Insekten fin<strong>de</strong>n. Dennoch<br />

kann ein Mem für das Zölibat im Mempool erfolgreich<br />

sein. Nehmen wir beispielsweise an, <strong>de</strong>r Erfolg eines Mems<br />

hänge entschei<strong>de</strong>nd davon ab, wieviel <strong>Zeit</strong> ein Mensch darauf<br />

ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>t, es aktiv an an<strong>de</strong>re Menschen weiterzugeben. Je<strong>de</strong>r<br />

Augenblick, <strong>de</strong>r auf an<strong>de</strong>re Dinge ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>t wird als auf die<br />

Bemühung, das Mem zu übermitteln, kann vom Standpunkt<br />

<strong>de</strong>s Mems aus als versch<strong>wen</strong><strong>de</strong>te <strong>Zeit</strong> betrachtet wer<strong>de</strong>n. Das<br />

Mem für das Zölibat wird von Priestern an Jugendliche weitergegeben,<br />

die noch nicht entschie<strong>de</strong>n haben, was sie mit<br />

ihrem Leben anfangen wollen. Das Medium <strong>de</strong>r Übermittlung<br />

ist menschlicher Einfluß <strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nsten Art, das gesp<strong>ro</strong>chene<br />

und geschriebene Wort, das persönliche Beispiel und so<br />

weiter. Nehmen wir an, die Ehe vermin<strong>de</strong>re die Kraft eines<br />

Priesters, seine Gemein<strong>de</strong> zu beeinflussen – zum Beispiel,<br />

weil sie einen g<strong>ro</strong>ßen Teil seiner <strong>Zeit</strong> und Aufmerksamkeit in<br />

Anspruch nimmt. Dies ist in <strong>de</strong>r Tat offiziell als ein Grund dafür<br />

vorgebracht wor<strong>de</strong>n, daß <strong>de</strong>n Priestern das Zölibat aufgezwungen<br />

wird. Wäre dies tatsächlich <strong>de</strong>r Fall, dann wür<strong>de</strong> daraus<br />

folgen, daß das Mem für die Ehelosigkeit einen größeren<br />

Überlebenswert hat als das Mem für die Ehe. Natürlich wür<strong>de</strong><br />

auf ein Gen für Ehelosigkeit genau das Gegenteil zutreffen.<br />

Wenn ein Priester eine Überlebensmaschine für Meme ist,<br />

so ist das Zölibat eine Eigenschaft, die in ihn einzupflanzen<br />

nützlich ist. Das Zölibat ist nur ein unbe<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>r Bestandteil<br />

in einem g<strong>ro</strong>ßen Komplex sich gegenseitig verstärken<strong>de</strong>r<br />

religiöser Meme.<br />

Ich vermute, daß sich koadaptierte Memkomplexe auf dieselbe<br />

Weise herausbil<strong>de</strong>n wie koadaptierte Genkomplexe. Die<br />

Selektion begünstigt Meme, die ihre kulturelle Umwelt zu<br />

ihrem eigenen Nutzen ausbeuten. Diese kulturelle Umwelt


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 307<br />

besteht aus an<strong>de</strong>ren Memen, die ebenfalls selektiert wer<strong>de</strong>n.<br />

Der Mempool nimmt daher die charakteristischen Merkmale<br />

eines evolutionär stabilen Satzes an, in <strong>de</strong>n einzudringen<br />

neuen Memen schwerfällt.<br />

Was ich bisher über Meme gesagt habe, war ein <strong>wen</strong>ig negativ,<br />

aber sie haben auch ihre erfreuliche Seite. Wenn wir einmal<br />

sterben, so können wir zwei Dinge hinterlassen: Gene und<br />

Meme. Wir sind als Genmaschinen konstruiert, dazu geschaffen,<br />

unsere Gene zu vererben. Aber dieser Aspekt von uns<br />

wird in drei Generationen vergessen sein. Mein Kind, sogar<br />

mein Enkel noch mag mir ähnlich sein, vielleicht in <strong>de</strong>n<br />

Gesichtszügen, in einer musikalischen Begabung o<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r<br />

Haarfarbe. Aber mit je<strong>de</strong>r Generation, die vorbeigeht, wird<br />

<strong>de</strong>r Beitrag meiner Gene halbiert. Es dauert nicht lange, und<br />

er ist so klein gewor<strong>de</strong>n, daß man ihn vernachlässigen kann.<br />

Unsere Gene mögen unsterblich sein, aber die Sammlung von<br />

Genen, die je<strong>de</strong>r einzelne von uns darstellt, muß zwangsläufig<br />

auseinan<strong>de</strong>rbröckeln. Königin Elisabeth von England ist ein<br />

direkter Nachfahre von Wilhelm <strong>de</strong>m E<strong>ro</strong>berer. Doch es ist<br />

ziemlich wahrscheinlich, daß sie nicht ein einziges <strong>de</strong>r Gene<br />

<strong>de</strong>s alten Königs in sich trägt. Wir sollten Unsterblichkeit nicht<br />

in <strong>de</strong>r Fortpflanzung suchen.<br />

Doch <strong>wen</strong>n ich einen Beitrag zur Kultur <strong>de</strong>r Welt leiste,<br />

<strong>wen</strong>n ich einen guten Gedanken habe, eine Melodie komponiere,<br />

eine Zündkerze erfin<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r ein Gedicht schreibe, so<br />

kann dieser Beitrag noch lange, nach<strong>de</strong>m meine Gene sich im<br />

gemeinsamen Genpool aufgelöst haben, unversehrt weiterleben.<br />

Von Sokrates mögen heute, wie G.C. Williams bemerkt<br />

hat, vielleicht noch ein o<strong>de</strong>r zwei Gene auf <strong>de</strong>r Welt leben o<strong>de</strong>r<br />

auch nicht, aber <strong>wen</strong> interessiert das schon? Die Memkomplexe<br />

von Sokrates, Leonardo da Vinci, Kopernikus und Marconi<br />

sind immer noch ungeschwächt.<br />

So spekulativ meine Mem-Theorie auch sein mag, einen<br />

ernstzunehmen<strong>de</strong>n Punkt gibt es, <strong>de</strong>n ich noch einmal unterstreichen<br />

möchte: Wenn wir die Evolution kultureller Merkmale<br />

und ihren Überlebenswert betrachten, so müssen wir uns<br />

darüber im klaren sein, über wessen Überleben wir sprechen.


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 308<br />

Die Biologen sind, wie wir gesehen haben, daran gewöhnt,<br />

nach Vorteilen auf <strong>de</strong>r Ebene <strong>de</strong>s Gens (o<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>r Ebene <strong>de</strong>s<br />

Individuums, <strong>de</strong>r Gruppe o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Art, je nach Geschmack) zu<br />

suchen. Was wir bisher nicht in Betracht gezogen haben, ist,<br />

daß ein kulturelles Merkmal sich einfach <strong>de</strong>shalb so entwickelt<br />

haben mag, wie es sich entwickelt hat, weil es für sich selbst von<br />

Nutzen ist.<br />

Wir brauchen nicht nach herkömmlichen biologischen<br />

Überlebenswerten von Merkmalen wie Religion, Musik und<br />

rituellem Tanz zu forschen, obwohl diese ebenfalls vorhan<strong>de</strong>n<br />

sein mögen. Nach<strong>de</strong>m die Gene einmal ihre Überlebensmaschinen<br />

mit einem Gehirn ausgestattet haben, das zu rascher<br />

Imitation fähig ist, wer<strong>de</strong>n die Meme automatisch das Ru<strong>de</strong>r<br />

übernehmen. Wir brauchen <strong>de</strong>r Imitation nicht einmal einen<br />

genetischen Vorteil zuzuschreiben, obwohl dies mit Sicherheit<br />

eine Hilfe wäre. Es ist nichts weiter nötig, als daß das Gehirn<br />

zur Imitation fähig ist: Dann wer<strong>de</strong>n sich Meme herausbil<strong>de</strong>n,<br />

die diese Fähigkeit bis zum äußersten ausnutzen.<br />

Ich schließe jetzt das Thema <strong>de</strong>r neuen Replikatoren ab und<br />

möchte am En<strong>de</strong> dieses Kapitels einer gewissen Hoffnung Ausdruck<br />

verleihen. Ein Merkmal <strong>de</strong>s Menschen, das einzigartig<br />

ist und sich memisch entwickelt haben mag o<strong>de</strong>r auch nicht,<br />

ist seine Fähigkeit zu vorausschauen<strong>de</strong>m Denken. Egoistische<br />

Gene (und, <strong>wen</strong>n <strong>de</strong>r Leser die Spekulation dieses Kapitels<br />

gestattet, auch Meme) besitzen keine Voraussicht. Sie sind<br />

blin<strong>de</strong> Replikatoren ohne Bewußtsein. Die Tatsache, daß sie<br />

sich replizieren, hat in Kombination mit bestimmten an<strong>de</strong>ren<br />

Umstän<strong>de</strong>n wohl o<strong>de</strong>r übel zur Folge, daß sie dazu neigen,<br />

Eigenschaften herauszubil<strong>de</strong>n, die im speziellen Sinne dieses<br />

Buches egoistisch genannt wer<strong>de</strong>n können. Von einem einfachen<br />

Replikator, ob Gen o<strong>de</strong>r Mem, kann man nicht erwarten,<br />

daß er auf kurzfristig erreichbare egoistische Vorteile verzichtet,<br />

selbst <strong>wen</strong>n sich dies auf lange Sicht tatsächlich auszahlen<br />

wür<strong>de</strong>. Wir haben dies in <strong>de</strong>m Kapitel über die Aggression<br />

gesehen. Auch <strong>wen</strong>n eine „Verschwörung <strong>de</strong>r Tauben“ für je<strong>de</strong>s<br />

einzelne Individuum besser wäre als die evolutionär stabile<br />

Strategie, kann die natürliche Selektion nicht an<strong>de</strong>rs, als die


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 309<br />

ESS zu begünstigen. Es ist möglich, daß <strong>de</strong>r Mensch über<br />

eine weitere einzigartige Eigenschaft verfügt: die Fähigkeit zu<br />

echtem, uneigennützigem, aufrichtigem Altruismus. Ich hoffe<br />

es, aber ich wer<strong>de</strong> we<strong>de</strong>r dafür noch dagegen argumentieren,<br />

und ebenso<strong>wen</strong>ig wer<strong>de</strong> ich über die mögliche memische Evolution<br />

<strong>de</strong>s Altruismus spekulieren. Entschei<strong>de</strong>nd ist für mich<br />

folgen<strong>de</strong>s: Selbst <strong>wen</strong>n wir die Schattenseite betrachten und<br />

davon ausgehen, daß <strong>de</strong>r einzelne Mensch im Grun<strong>de</strong> egoistisch<br />

ist, könnte uns das vorausschauen<strong>de</strong> Denken – unsere<br />

Fähigkeit, die Zukunft in unserer Vorstellung zu simulieren<br />

– vor <strong>de</strong>n schlimmsten egoistischen Exzessen <strong>de</strong>r blin<strong>de</strong>n<br />

Replikatoren bewahren. Wir besitzen zumin<strong>de</strong>st das geistige<br />

Rüstzeug, um <strong>wen</strong>iger unsere kurzfristigen als vielmehr unsere<br />

langfristigen egoistischen Interessen zu för<strong>de</strong>rn. Wir sind in<br />

<strong>de</strong>r Lage, die langfristigen Vorteile <strong>de</strong>r Beteiligung an einer<br />

„Verschwörung <strong>de</strong>r Tauben“ zu erkennen, und wir können uns<br />

zusammensetzen und Mittel und Wege diskutieren, wie die<br />

Verschwörung zum Funktionieren gebracht wer<strong>de</strong>n kann. Wir<br />

haben die Macht, <strong>de</strong>n egoistischen Genen unserer Geburt und,<br />

<strong>wen</strong>n nötig, auch <strong>de</strong>n egoistischen Memen unserer Erziehung<br />

zu t<strong>ro</strong>tzen. Wir können sogar erörtern, auf welche Weise sich<br />

bewußt ein reiner, selbstloser Altruismus kultivieren und pflegen<br />

läßt – etwas, für das es in <strong>de</strong>r Natur keinen Raum gibt,<br />

etwas, das es in <strong>de</strong>r gesamten Geschichte <strong>de</strong>r Welt nie zuvor<br />

gegeben hat. Wir sind als Genmaschinen gebaut und wer<strong>de</strong>n<br />

als Memmaschinen erzogen, aber wir haben die Macht, uns<br />

unseren Schöpfern entgegenzustellen. Als einzige Lebewesen<br />

auf <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> können wir uns gegen die Tyrannei <strong>de</strong>r egoistischen<br />

Replikatoren auflehnen. 8


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 310<br />

12. Nette Kerle kommen zuerst ans Ziel<br />

Nette Kerle gehen als letzte durchs Ziel. Dieser Satz scheint<br />

aus <strong>de</strong>r Welt <strong>de</strong>s Sports zu kommen, <strong>wen</strong>ngleich einige wichtige<br />

Leute behaupten, er sei zuvor bereits in einem an<strong>de</strong>ren<br />

Zusammenhang ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>t wor<strong>de</strong>n. Der amerikanische Biologe<br />

Garrett Hardin benutzte ihn, um die Kernaussage <strong>de</strong>r<br />

Soziobiologie beziehungsweise <strong>de</strong>r Theorie vom „egoistischen<br />

Gen“ zu umschreiben. Wie passend <strong>de</strong>r Satz ist, läßt sich leicht<br />

erkennen. Wenn wir die landläufige Be<strong>de</strong>utung von „netter<br />

Kerl“ in ihr darwinistisches Äquivalent übersetzen, so ist ein<br />

netter Kerl ein Individuum, das auf seine Kosten an<strong>de</strong>ren Mitglie<strong>de</strong>rn<br />

seiner Art hilft, ihre Gene an die nächste Generation<br />

weiterzugeben. Somit scheinen nette Kerle dazu verdammt<br />

zu sein, zahlenmäßig abzunehmen: Das Nettsein stirbt einen<br />

darwinistischen Tod. Doch gibt es noch eine an<strong>de</strong>re, fachgebun<strong>de</strong>ne<br />

Auslegung <strong>de</strong>s landläufigen Wortes „nett“. Legen wir<br />

diese zweite Definition zugrun<strong>de</strong>, die von <strong>de</strong>r umgangssprachlichen<br />

Be<strong>de</strong>utung nicht allzuweit entfernt ist, so können nette<br />

Kerle tatsächlich zuerst durchs Ziel gehen. Diese optimistischere<br />

Perspektive ist das Thema dieses Kapitels.<br />

Erinnern wir uns an die „Nachtragen<strong>de</strong>n“ aus Kapitel 10.<br />

Das waren Vögel, die einan<strong>de</strong>r in scheinbar altruistischer Weise<br />

halfen, sich aber weigerten, solchen Individuen zu helfen,<br />

die zuvor ihnen ihre Hilfe verweigert hatten. Die Nachtragen<strong>de</strong>n<br />

wur<strong>de</strong>n schließlich in <strong>de</strong>r Population vorherrschend,<br />

<strong>de</strong>nn sie gaben mehr Gene an zukünftige Generationen weiter<br />

als die „Bet<strong>ro</strong>genen“ (die allen an<strong>de</strong>ren ohne Unterschied<br />

halfen und ausgebeutet wur<strong>de</strong>n) und auch die „Betrüger“<br />

(die rücksichtslos je<strong>de</strong>n auszubeuten versuchten und sich<br />

schließlich untereinan<strong>de</strong>r bet<strong>ro</strong>gen). Die Geschichte <strong>de</strong>r Nachtragen<strong>de</strong>n<br />

illustriert ein wichtiges allgemeines Prinzip, das<br />

Robert Trivers als „wechselseitigen Altruismus“ bezeichnete.<br />

Wie wir am Beispiel <strong>de</strong>s Putzerfisches (Kapitel 10) gesehen<br />

haben, gibt es gegenseitigen Altruismus nicht nur unter Artgenossen.<br />

Er ist in allen Beziehungen im Spiel, die wir als


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 311<br />

symbiotisch bezeichnen – zum Beispiel bei <strong>de</strong>n Ameisen, die<br />

ihre „Blattlausher<strong>de</strong>n“ melken. Seit <strong>de</strong>r <strong>Zeit</strong>, in <strong>de</strong>r Kapitel 10<br />

geschrieben wur<strong>de</strong>, hat <strong>de</strong>r amerikanische Politologe Robert<br />

Axel<strong>ro</strong>d (zum Teil in Zusammenarbeit mit W. D. Hamilton,<br />

<strong>de</strong>ssen Namen wir auf so vielen Seiten dieses Buches wie<strong>de</strong>rfin<strong>de</strong>n)<br />

die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s rezip<strong>ro</strong>ken Altruismus in aufregen<strong>de</strong> neue<br />

Richtungen weiterentwickelt. Es war Axel<strong>ro</strong>d, <strong>de</strong>r die fachgebun<strong>de</strong>ne<br />

Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s Wortes „nett“ geprägt hat, auf die ich<br />

im ersten Absatz dieses Kapitels hingewiesen habe.<br />

Wie viele an<strong>de</strong>re Politologen, Ökonomen, Mathematiker<br />

und Psychologen auch war Axel<strong>ro</strong>d von einem einfachen<br />

Glücksspiel fasziniert, das <strong>de</strong>n Namen „Gefangenendilemma“<br />

trägt. Es ist so einfach, daß manche intelligente Leute es<br />

völlig mißverstehen, weil sie mehr dahinter vermuten! Aber<br />

seine Einfachheit täuscht. Ganze Bibliotheksregale sind <strong>de</strong>n<br />

Verzweigungen dieses aufregen<strong>de</strong>n Spiels gewidmet. Viele<br />

einflußreiche Leute sind <strong>de</strong>r Ansicht, es sei <strong>de</strong>r Schlüssel<br />

zur strategischen Verteidigungsplanung und wir sollten uns<br />

eingehend mit ihm befassen, um einen Dritten Weltkrieg zu<br />

verhin<strong>de</strong>rn. Als Biologe bin ich wie Axel<strong>ro</strong>d und Hamilton<br />

<strong>de</strong>r Meinung, daß viele wildleben<strong>de</strong> Tiere und Pflanzen in<br />

unaufhörliche „Gefangenendilemma-Spiele“ verwickelt sind,<br />

die in evolutionär be<strong>de</strong>utsamen <strong>Zeit</strong>räumen ausgetragen<br />

wer<strong>de</strong>n.<br />

In seiner Originalfassung, <strong>de</strong>r menschlichen Version, geht<br />

das Spiel folgen<strong>de</strong>rmaßen vor sich: Es gibt eine „Bank“, die<br />

<strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Spielern Gewinne zuweist und auszahlt. Nehmen<br />

wir an, ich spiele gegen einen Leser (obwohl, wie wir sehen<br />

wer<strong>de</strong>n, wir gera<strong>de</strong> nicht „gegeneinan<strong>de</strong>r“ spielen müssen).<br />

Wir haben je<strong>de</strong>r nur zwei Karten in <strong>de</strong>r Hand, von <strong>de</strong>nen die<br />

eine die Aufschrift Zusammenarbeiten trägt und die an<strong>de</strong>re<br />

die Aufschrift Zusammenarbeit verweigern. Das Spiel besteht<br />

darin, daß je<strong>de</strong>r von uns eine dieser bei<strong>de</strong>n Karten zieht und<br />

ver<strong>de</strong>ckt auf <strong>de</strong>n Tisch legt. Ver<strong>de</strong>ckt, damit keiner von uns<br />

durch <strong>de</strong>n Zug <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren beeinflußt wer<strong>de</strong>n kann; es ist, als<br />

zögen wir die Karten gleichzeitig. Nun warten wir voller Spannung<br />

darauf, daß die Bank die Karten auf<strong>de</strong>ckt. Die Spannung


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 312<br />

ergibt sich daraus, daß Gewinn o<strong>de</strong>r Verlust für <strong>de</strong>n einzelnen<br />

nicht nur von <strong>de</strong>r Karte abhängt, die er selbst ausgespielt hat<br />

(und kennt), son<strong>de</strong>rn auch von <strong>de</strong>r Karte <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren Spielers<br />

(die er nicht kennt, solange die Bank sie nicht auf<strong>de</strong>ckt).<br />

Bei 2x2 Karten sind vier Resultate möglich, die wie folgt<br />

belohnt beziehungsweise bestraft wer<strong>de</strong>n (zu Ehren <strong>de</strong>s nordamerikanischen<br />

Ursprungs <strong>de</strong>s Spiels wird um „Dollar“<br />

gespielt):<br />

Ergebnis I: Wir haben bei<strong>de</strong> die Karte Zusammenarbeiten<br />

gespielt. Die Bank zahlt je<strong>de</strong>m von uns 300 Dollar. Diese ansehnliche<br />

Summe heißt „Belohnung für bei<strong>de</strong>rseitige Zusammenarbeit“.<br />

Ergebnis II: Wir haben bei<strong>de</strong> Zusammenarbeit verweigern<br />

gespielt. Die Bank belegt je<strong>de</strong>n von uns mit einer Strafe von<br />

zehn Dollar, <strong>de</strong>r „Bestrafung für bei<strong>de</strong>rseitiges Verweigern“.<br />

Ergebnis III: Der Leser hat Zusammenarbeiten gespielt, ich<br />

dagegen Zusammenarbeit verweigern. Die Bank zahlt mir 500<br />

Dollar (<strong>de</strong>n „Anreiz zum Verweigern“) und erhebt vom Leser<br />

(<strong>de</strong>m Bet<strong>ro</strong>genen) ein Bußgeld von 100 Dollar.<br />

Ergebnis IV: Der Leser hat Zusammenarbeit verweigern gespielt<br />

und ich Zusammenarbeiten. Die Bank zahlt <strong>de</strong>m Leser die<br />

Summe <strong>de</strong>s „Anreizes“ in Höhe von 500 Dollar aus und belegt<br />

mich, <strong>de</strong>n Bet<strong>ro</strong>genen, mit einem Bußgeld von 100 Dollar.<br />

Die Situationen III und IV sind offensichtlich Spiegelbil<strong>de</strong>r:<br />

Einem Spieler ergeht es auße<strong>ro</strong>r<strong>de</strong>ntlich gut und <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren<br />

sehr schlecht. In <strong>de</strong>n Situationen I und II schnei<strong>de</strong>n bei<strong>de</strong><br />

Spieler jeweils gleich gut ab, doch geht es in Situation I bei<strong>de</strong>n<br />

besser als in II. Die genauen Geldbeträge spielen keine Rolle.<br />

Es ist noch nicht einmal wichtig, wie viele von ihnen positive<br />

Beträge sind (Auszahlungen) und wie viele negative (Strafen)<br />

o<strong>de</strong>r ob es überhaupt Strafen gibt. Worauf es ankommt, damit<br />

sich das Spiel als ein echtes „Gefangenendilemma“ qualifi-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 313<br />

1 Gefangenendilemma: mögliche Resultate für mich<br />

ziert, ist die Rangordnung: Der „Anreiz“ zum Verweigern <strong>de</strong>r<br />

Zusammenarbeit muß größer sein als die „Belohnung“ für<br />

bei<strong>de</strong>rseitige Zusammenarbeit, die ihrerseits besser sein muß<br />

als die „Bestrafung“ für bei<strong>de</strong>rseitiges Verweigern; diese wie<strong>de</strong>rum<br />

muß <strong>wen</strong>iger negativ sein als das „Resultat für <strong>de</strong>n<br />

Bet<strong>ro</strong>genen“. (Strenggenommen gibt es noch eine weitere Voraussetzung<br />

dafür, daß das Spiel als echtes Gefangenendilemma<br />

funktioniert: Der Mittelwert aus „Anreiz“ und „Resultat für<br />

<strong>de</strong>n Bet<strong>ro</strong>genen“ darf nicht größer sein als die „Belohnung“.<br />

Auf <strong>de</strong>n Grund für diese zusätzliche Bedingung wer<strong>de</strong>n wir<br />

später zu sprechen kommen.) Die vier Resultate sind in <strong>de</strong>r<br />

Auszahlungsmatrix in Abbildung 1 zusammengefaßt.<br />

Warum aber nun „Dilemma“? Um dies zu verstehen,<br />

betrachte man die Auszahlungsmatrix und stelle sich vor,<br />

welche Gedanken mir während <strong>de</strong>s Spiels durch <strong>de</strong>n Kopf<br />

gehen. Ich weiß, daß <strong>de</strong>r Leser nur zwei Karten ausspielen<br />

kann, Zusammenarbeiten und Zusammenarbeit verweigern.


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 314<br />

Sehen wir sie uns <strong>de</strong>r Reihe nach an. Wenn <strong>de</strong>r Leser Zusammenarbeit<br />

verweigern ausgespielt hat (das heißt, wir müssen<br />

uns die rechte Seite <strong>de</strong>r Abbildung ansehen), dann ist die beste<br />

Karte, die ich hätte ausspielen können, ebenfalls Zusammenarbeit<br />

verweigern. Zwar wäre mir die Strafe für bei<strong>de</strong>rseitiges<br />

Verweigern <strong>de</strong>r Zusammenarbeit auferlegt wor<strong>de</strong>n, doch hätte<br />

ich zusammengearbeitet, so wäre ich mit <strong>de</strong>m Bußgeld <strong>de</strong>s<br />

Bet<strong>ro</strong>genen belegt wor<strong>de</strong>n, was noch schlechter ist. Stellen wir<br />

uns nun die an<strong>de</strong>re Möglichkeit vor, die <strong>de</strong>r Leser hatte: Er<br />

hätte die Karte Zusammenarbeiten spielen können (sehen wir<br />

uns die linke Seite <strong>de</strong>r Abbildung an). Erneut wäre es für mich<br />

am besten gewesen, Zusammenarbeit verweigern zu spielen.<br />

Hätte ich zusammengearbeitet, so hätten wir bei<strong>de</strong> die recht<br />

hohe Belohnung von 300 Dollar erhalten, hätte ich mich aber<br />

geweigert, so hätte ich sogar noch mehr bekommen, nämlich<br />

500 Dollar. Die Schlußfolgerung ist: Gleichgültig, welche Karte<br />

<strong>de</strong>r Leser ausspielt, meine beste Strategie ist „Immer Zusammenarbeit<br />

verweigern“.<br />

So habe ich mich nun mit unangreifbarer Logik zu <strong>de</strong>m<br />

Ergebnis durchgearbeitet, daß ich, gleichgültig, was <strong>de</strong>r Gegenspieler<br />

tut, immer die Zusammenarbeit verweigern muß. Und<br />

<strong>de</strong>r Leser wird, mit nicht <strong>wen</strong>iger unfehlbarer Logik, zu<br />

ganz genau <strong>de</strong>m gleichen Schluß kommen. Wenn also zwei<br />

vernünftige Spieler aufeinan<strong>de</strong>rtreffen, wer<strong>de</strong>n sie bei<strong>de</strong> verweigern,<br />

und bei<strong>de</strong> wer<strong>de</strong>n dafür entwe<strong>de</strong>r eine Strafe o<strong>de</strong>r<br />

eine geringe Auszahlung erhalten. Doch je<strong>de</strong>r von ihnen weiß<br />

ganz genau, daß bei<strong>de</strong>, hätten sie nur die Karte Zusammenarbeiten<br />

ausgespielt, <strong>de</strong>n relativ hohen Preis (in unserem Beispiel<br />

300 Dollar) für gegenseitige Zusammenarbeit erhalten hätten.<br />

Genau aus diesem Grund wird das Spiel als Dilemma bezeichnet,<br />

<strong>de</strong>shalb scheint es so entnervend paradox, und <strong>de</strong>shalb<br />

wur<strong>de</strong> sogar vorgeschlagen, es gesetzlich zu verbieten.<br />

„Gefangener“ kommt von einem bestimmten imaginären<br />

Beispiel. In diesem Fall geht es nicht um Geldbeträge, son<strong>de</strong>rn<br />

um Gefängnisstrafen. Zwei Männer – nennen wir sie Peterson<br />

und Moriarty – sitzen unter <strong>de</strong>m Verdacht im Gefängnis,<br />

gemeinsam ein Verbrechen begangen zu haben. In getrennten


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 315<br />

Zellen untergebracht, wird je<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Gefangenen aufgefor<strong>de</strong>rt,<br />

seinen Kollegen zu verraten (Zusammenarbeit verweigern)<br />

und als K<strong>ro</strong>nzeuge gegen ihn aufzutreten. Was dabei<br />

herauskommt, hängt davon ab, was bei<strong>de</strong> Gefangene tun,<br />

und keiner von bei<strong>de</strong>n weiß, was <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re getan hat.<br />

Wenn Peterson Moriarty die alleinige Schuld zuschiebt und<br />

Moriarty die Geschichte plausibel erscheinen läßt, in<strong>de</strong>m er<br />

schweigt (<strong>wen</strong>n er also mit seinem früheren und, wie sich<br />

zeigt, verräterischen Freund zusammenarbeitet), erhält Moriarty<br />

eine lange Gefängnisstrafe, wohingegen Peterson ungestraft<br />

davonkommt, weil er <strong>de</strong>m „Anreiz“, die Zusammenarbeit<br />

zu verweigern, erlegen ist. Wenn je<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren<br />

verrät, wer<strong>de</strong>n bei<strong>de</strong> wegen <strong>de</strong>s Verbrechens verurteilt, erhalten<br />

jedoch einen gewissen Bonus dafür, daß sie ausgesagt<br />

haben, und bekommen eine etwas geringere, <strong>wen</strong>n auch immer<br />

noch erhebliche Strafe, die „Bestrafung für bei<strong>de</strong>rseitiges Verweigern“<br />

<strong>de</strong>r Zusammenarbeit. Wenn bei<strong>de</strong> zusammenarbeiten<br />

(miteinan<strong>de</strong>r, nicht mit <strong>de</strong>r Justiz) und sich weigern auszusagen,<br />

gibt es nicht genügend Beweismaterial, um einen<br />

von ihnen <strong>de</strong>s Hauptverbrechens zu überführen, und bei<strong>de</strong><br />

erhalten eine mil<strong>de</strong> Strafe für ein geringeres Verbrechen, die<br />

„Belohnung für bei<strong>de</strong>rseitige Zusammenarbeit“. Zwar mag es<br />

son<strong>de</strong>rbar erscheinen, eine Gefängnisstrafe als „Belohnung“<br />

zu bezeichnen, doch wür<strong>de</strong>n die bei<strong>de</strong>n Männer es gewiß so<br />

nennen, <strong>wen</strong>n die Alternative eine längere Verbannung hinter<br />

Gitter wäre. Obwohl die „Auszahlungen“ nicht in Dollar, son<strong>de</strong>rn<br />

in Gefängnisstrafen erfolgen, bleiben die wesentlichen<br />

Merkmale <strong>de</strong>s Spiels offensichtlich erhalten (man betrachte die<br />

Rangordnung <strong>de</strong>r Erwünschtheit <strong>de</strong>r vier Ergebnisse). Wenn<br />

wir uns vorstellen, wir wären an Stelle <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Gefangenen,<br />

und davon ausgehen, daß bei<strong>de</strong> von vernünftigem Eigeninteresse<br />

getrieben und sich <strong>de</strong>ssen bewußt sind, daß sie<br />

nicht miteinan<strong>de</strong>r re<strong>de</strong>n und eine Absprache treffen können,<br />

so kommen wir zu <strong>de</strong>m Schluß, daß keiner von bei<strong>de</strong>n eine<br />

an<strong>de</strong>re Wahl hat, als <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren zu verraten, und daß bei<strong>de</strong><br />

sich und <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren dadurch eine schwere Strafe einhan<strong>de</strong>ln.


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 316<br />

Gibt es einen Ausweg aus diesem Dilemma? Bei<strong>de</strong> Spieler<br />

wissen, daß, was auch immer ihr Gegenspieler tut, für sie selbst<br />

Zusammenarbeit verweigern die beste Entscheidung ist; aber<br />

bei<strong>de</strong> wissen ebenfalls, daß je<strong>de</strong>r von ihnen besser abschnei<strong>de</strong>n<br />

könnte, <strong>wen</strong>n sie nur bei<strong>de</strong> zusammenarbeiten wür<strong>de</strong>n.<br />

Wenn nur ... <strong>wen</strong>n nur ... <strong>wen</strong>n es nur einen Weg gäbe, zu einer<br />

Absprache zu kommen, <strong>wen</strong>n es nur irgen<strong>de</strong>ine Möglichkeit<br />

gäbe, sich zu vergewissern, daß man <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren trauen kann<br />

und dieser nicht <strong>de</strong>n egoistischen Jackpot wählt; <strong>wen</strong>n es nur<br />

irgen<strong>de</strong>inen Weg gäbe, die Absprache zu überwachen.<br />

In <strong>de</strong>m einfachen Gefangenendilemma-Spiel gibt es keine<br />

Möglichkeit, Vertrauen sicherzustellen. Wenn nicht min<strong>de</strong>stens<br />

einer <strong>de</strong>r Spieler ein halber Heiliger ist, <strong>de</strong>r zu gut für diese<br />

Welt ist und bet<strong>ro</strong>gen wird, muß das Spiel mit gegenseitigem<br />

Verrat en<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r das so paradox schlechte Resultat für bei<strong>de</strong><br />

Spieler nach sich zieht. Aber es gibt noch eine an<strong>de</strong>re Version<br />

<strong>de</strong>s Spiels. Sie heißt „Wie<strong>de</strong>rholtes Gefangenendilemma“. Das<br />

wie<strong>de</strong>rholte Spiel ist komplizierter, und in seiner Kompliziertheit<br />

liegt Hoffnung.<br />

Das wie<strong>de</strong>rholte Spiel ist nichts an<strong>de</strong>res als das gewöhnliche<br />

Spiel, das eine unbestimmte Anzahl von Malen mit <strong>de</strong>nselben<br />

Spielern durchgespielt wird. Wie<strong>de</strong>r stehen <strong>de</strong>r Leser und ich<br />

uns gegenüber, die Bank zwischen uns. Wie<strong>de</strong>r hat je<strong>de</strong>r von<br />

uns nur zwei Karten, die eine mit <strong>de</strong>r Aufschrift Zusammenarbeiten<br />

und die an<strong>de</strong>re mit <strong>de</strong>r Aufschrift Zusammenarbeit verweigern.<br />

Wie<strong>de</strong>r machen wir bei<strong>de</strong> unseren Zug, in<strong>de</strong>m wir eine<br />

<strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Karten ausspielen, und die Bank zahlt o<strong>de</strong>r belegt<br />

uns mit Strafen, entsprechend <strong>de</strong>n oben genannten Regeln.<br />

Aber diesmal ist das Spiel damit nicht zu En<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn wir<br />

nehmen unsere Karten auf und bereiten uns auf eine weitere<br />

Run<strong>de</strong> vor. Die aufeinan<strong>de</strong>rfolgen<strong>de</strong>n Run<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Spiels geben<br />

uns Gelegenheit, Vertrauen o<strong>de</strong>r Mißtrauen aufzubauen, uns<br />

zu revanchieren o<strong>de</strong>r zu beschwichtigen, zu vergeben o<strong>de</strong>r<br />

uns zu rächen. Das Wichtige bei einem Spiel von unbestimmter<br />

Dauer ist, daß wir bei<strong>de</strong> gewinnen können, und zwar auf<br />

Kosten <strong>de</strong>r Bank und nicht auf Kosten <strong>de</strong>s jeweiligen Mitspielers.


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 317<br />

Nach zehn Spielrun<strong>de</strong>n könnte ich theoretisch bis zu<br />

5000 Dollar gewonnen haben, aber nur, <strong>wen</strong>n <strong>de</strong>r Leser<br />

auße<strong>ro</strong>r<strong>de</strong>ntlich dumm (o<strong>de</strong>r zu gut für diese Welt) war und<br />

je<strong>de</strong>s Mal Zusammenarbeiten gespielt hat, obwohl ich ihn<br />

durchgehend verraten habe. In einem realistischeren Szenario<br />

kann je<strong>de</strong>r von uns leicht 3000 Dollar von <strong>de</strong>r Bank erhalten,<br />

<strong>wen</strong>n wir bei<strong>de</strong> in allen zehn Spielrun<strong>de</strong>n die Karte Zusammenarbeiten<br />

spielen. Dazu brauchen wir nicht unbedingt Heilige<br />

zu sein, <strong>de</strong>nn wir können bei<strong>de</strong> an <strong>de</strong>n bisherigen Zügen<br />

<strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren erkennen, daß dieser Vertrauen verdient. Wir<br />

können in <strong>de</strong>r Tat unser Verhalten gegenseitig kont<strong>ro</strong>llieren.<br />

Eine an<strong>de</strong>re Situation, die mit recht g<strong>ro</strong>ßer Wahrscheinlichkeit<br />

eintreten wird, ist, daß keiner von uns <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren traut:<br />

Wir können bei<strong>de</strong> alle zehn Spielrun<strong>de</strong>n hindurch Zusammenarbeit<br />

verweigern spielen, und die Bank gewinnt je<strong>de</strong>m von uns<br />

100 Dollar an Strafen ab. Am wahrscheinlichsten jedoch ist es,<br />

daß wir einan<strong>de</strong>r teilweise trauen und je<strong>de</strong>r eine gemischte<br />

Reihenfolge von Zusammenarbeiten und Zusammenarbeit verweigern<br />

spielt, wobei je<strong>de</strong>r das Spiel mit einem irgendwo in <strong>de</strong>r<br />

Mitte liegen<strong>de</strong>n Geldbetrag been<strong>de</strong>t.<br />

Die Vögel in Kapitel 10, die sich gegenseitig die Zecken aus<br />

<strong>de</strong>m Gefie<strong>de</strong>r entfernten, spielten ein „Wie<strong>de</strong>rholtes-Gefangenendilemma-Spiel“.<br />

Wieso das? Es ist wichtig für einen Vogel,<br />

so erinnern wir uns, sich von seinen Zecken zu befreien, aber<br />

er kommt nicht an die Zecken auf seinem Kopf heran und<br />

braucht einen Gefährten, <strong>de</strong>r ihm hilft. Es scheint nur gerecht,<br />

daß er diesem Gefährten später umgekehrt <strong>de</strong>nselben Gefallen<br />

erweist. Aber dieser Gefallen kostet ihn <strong>Zeit</strong> und Energie,<br />

<strong>wen</strong>n auch nicht sehr viel. Wenn es einem Vogel gelingt zu<br />

betrügen, das heißt, <strong>wen</strong>n er seine eigenen Zecken entfernt<br />

bekommt, sich aber dann weigert, <strong>de</strong>n Gefallen zu erwi<strong>de</strong>rn,<br />

so hat er <strong>de</strong>n vollen Gewinn, ohne die Kosten zu bezahlen.<br />

Ordnen wir die Resultate in <strong>de</strong>r richtigen Reihenfolge an, so<br />

stellen wir fest, daß wir es in <strong>de</strong>r Tat mit einem echten Gefangenendilemma<br />

zu tun haben. Wenn bei<strong>de</strong> zusammenarbeiten<br />

(sich also gegenseitig die Zecken ablesen), ist das Ergebnis<br />

recht gut, aber es besteht immer noch eine gewisse Versu-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 318<br />

2 Das Zecken-Entfernungsspiel <strong>de</strong>r Vögel: mögliche Resultate für mich<br />

chung, besser wegzukommen, in<strong>de</strong>m man sich weigert, die<br />

Kosten <strong>de</strong>s Erwi<strong>de</strong>rns auf sich zu nehmen. Wenn bei<strong>de</strong> die<br />

Zusammenarbeit verweigern (sich weigern, Zecken zu entfernen),<br />

ist das Resultat ziemlich schlecht, aber nicht so schlecht,<br />

als <strong>wen</strong>n man sich anstrengt, die Zecken von jemand an<strong>de</strong>rem<br />

abzupicken und selbst von Zecken befallen bleibt. Abbildung 2<br />

zeigt die Auszahlungsmatrix.<br />

Aber dies ist nur ein einziges Beispiel. Je länger wir darüber<br />

nach<strong>de</strong>nken, <strong>de</strong>sto klarer wird uns, daß das Leben durchsetzt<br />

ist mit „Wie<strong>de</strong>rholtes-Gefangenendilemma-Spielen“, und zwar<br />

nicht nur das Leben <strong>de</strong>s Menschen, son<strong>de</strong>rn auch das von<br />

Tieren und Pflanzen. Das Leben von Pflanzen? Ja, warum<br />

<strong>de</strong>nn nicht? Erinnern wir uns daran, daß wir nicht von<br />

bewußten Strategien sprechen (obgleich wir dies gelegentlich<br />

tun könnten), son<strong>de</strong>rn von Strategien im Sinne von Maynard


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 319<br />

Smith, Strategien <strong>de</strong>r Art, die von Genen vorp<strong>ro</strong>grammiert<br />

wer<strong>de</strong>n könnten. Weiter unten wer<strong>de</strong>n wir Pflanzen, verschie<strong>de</strong>ne<br />

Tiere und sogar Bakterien kennenlernen, die alle das<br />

Wie<strong>de</strong>rholte Gefangenendilemma spielen. Inzwischen wollen<br />

wir uns etwas ausführlicher damit beschäftigen, was an <strong>de</strong>r<br />

Wie<strong>de</strong>rholung so wichtig ist.<br />

An<strong>de</strong>rs als das einfache Spiel, das insofern keine allzu<br />

g<strong>ro</strong>ßen Überraschungen bietet, als Zusammenarbeit verweigern<br />

die einzige rationale Strategie ist, bietet die Version mit<br />

Wie<strong>de</strong>rholungen eine Fülle an strategischem Spielraum. Bei<br />

<strong>de</strong>m einfachen Spiel existieren lediglich zwei mögliche Strategien,<br />

Zusammenarbeiten und Zusammenarbeit verweigern. Die<br />

Wie<strong>de</strong>rholung jedoch erlaubt eine Menge an <strong>de</strong>nkbaren Strategien,<br />

und es ist keineswegs offenkundig, welche die beste ist.<br />

Eine Strategie unter tausen<strong>de</strong>n zum Beispiel lautet: „Arbeite<br />

meistens zusammen, aber bei willkürlichen zehn P<strong>ro</strong>zent <strong>de</strong>r<br />

Run<strong>de</strong>n verweigere die Zusammenarbeit.“ Möglich sind auch<br />

Strategien, bei <strong>de</strong>nen das Verhalten vom bisherigen Verlauf<br />

<strong>de</strong>s Spiels abhängig ist. Mein „Nachtragen<strong>de</strong>r“ ist ein Beispiel<br />

dafür; er hat ein gutes Gedächtnis für Gesichter, und obwohl er<br />

im Grun<strong>de</strong> zusammenarbeitet, verweigert er die Zusammenarbeit,<br />

<strong>wen</strong>n <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Spieler jemals zuvor nicht zusammengearbeitet<br />

hat. Bei an<strong>de</strong>ren Strategien könnte zum Beispiel leichter<br />

vergeben wer<strong>de</strong>n, o<strong>de</strong>r die Spieler könnten ein kürzeres<br />

Gedächtnis haben.<br />

Offensichtlich sind <strong>de</strong>n Möglichkeiten im wie<strong>de</strong>rholten Spiel<br />

nur durch unsere Kreativität Grenzen gesetzt. Können wir feststellen,<br />

welche Strategie die beste ist? Dies war die Aufgabe,<br />

die Axel<strong>ro</strong>d sich selbst stellte. Er hatte <strong>de</strong>n amüsanten Gedanken,<br />

einen Wettbewerb durchzuführen, und gab eine Anzeige<br />

auf, mit <strong>de</strong>r er Experten in <strong>de</strong>r Spieltheorie auffor<strong>de</strong>rte, Strategien<br />

einzusen<strong>de</strong>n. In diesem Zusammenhang sind Strategien<br />

vorp<strong>ro</strong>grammierte Handlungsanweisungen, daher war es<br />

angebracht, daß die Bewerber ihre Beiträge in Computersprache<br />

einsandten. Es wur<strong>de</strong>n 14 Strategien eingereicht. Um<br />

auf eine run<strong>de</strong> Zahl zu kommen, fügte Axel<strong>ro</strong>d selbst eine<br />

fünfzehnte hinzu, die er „Willkür“ nannte und die schlicht


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 320<br />

3 Axel<strong>ro</strong>ds Computerturnier: mögliche Resultate für mich<br />

darin bestand, völlig beliebig zwischen Zusammenarbeiten und<br />

Zusammenarbeit verweigern abzuwechseln. Diese „Nicht-Strategie“<br />

diente als eine Art Nullinie: Wenn eine Strategie nicht<br />

besser abschnei<strong>de</strong>n kann als „Willkür“, muß sie schon ziemlich<br />

schlecht sein.<br />

Axel<strong>ro</strong>d übersetzte alle 15 Strategien in eine gemeinsame<br />

P<strong>ro</strong>grammiersprache und ließ sie in einem leistungsstarken<br />

Computer gegeneinan<strong>de</strong>r antreten. Je<strong>de</strong> Strategie spielte gegen<br />

je<strong>de</strong> an<strong>de</strong>re Strategie (einschließlich einer Kopie ihrer selbst)<br />

das Wie<strong>de</strong>rholte Gefangenendilemma. Bei 15 Strategien waren<br />

dies 15 x 15 o<strong>de</strong>r 225 einzelne Spiele, die in <strong>de</strong>m Computer<br />

gleichzeitig abliefen. Nach<strong>de</strong>m je<strong>de</strong>s Paar 200 Züge <strong>de</strong>s Spiels<br />

durchgeführt hatte, wur<strong>de</strong>n die Gewinne addiert und <strong>de</strong>r<br />

Gewinner <strong>de</strong>s Wettstreits verkün<strong>de</strong>t. Wir sind nicht daran<br />

interessiert, welche Strategie gegen welchen spezifischen


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 321<br />

Gegner gewann. Es kommt vielmehr darauf an, welche Strategie<br />

am meisten „Geld“ anhäufte, <strong>wen</strong>n man alle 15 Kämpfe<br />

zusammenzählte. „Geld“ be<strong>de</strong>utet nichts an<strong>de</strong>res als „Punkte“,<br />

die nach folgen<strong>de</strong>m Schema verteilt wur<strong>de</strong>n: bei<strong>de</strong>rseitige<br />

Zusammenarbeit – drei Punkte; Anreiz zum Verweigern <strong>de</strong>r<br />

Zusammenarbeit – fünf Punkte; Strafe für bei<strong>de</strong>rseitiges Verweigern<br />

<strong>de</strong>r Zusammenarbeit – ein Punkt (was in unserem<br />

früheren Spiel einer leichten Strafe entspricht); Resultat für<br />

<strong>de</strong>n Bet<strong>ro</strong>genen – null Punkte (entspricht in unserem früheren<br />

Spiel einer schweren Strafe).<br />

Die höchste Punktzahl, die eine Strategie erreichen konnte,<br />

war 15000 (für je<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r 15 Gegner 200 Run<strong>de</strong>n zu fünf Punkten<br />

p<strong>ro</strong> Run<strong>de</strong>). Die niedrigste mögliche Punktzahl war null.<br />

Es erübrigt sich, darauf hinzuweisen, daß keiner dieser bei<strong>de</strong>n<br />

Extremwerte erreicht wur<strong>de</strong>. Der maximale Gewinn, <strong>de</strong>n eine<br />

Strategie realistischerweise durchschnittlich in je<strong>de</strong>r ihrer 15<br />

Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen erhoffen darf, kann nicht weit über 600<br />

Punkten liegen. Das ist die Punktzahl, die je<strong>de</strong>r von zwei Spielern<br />

erhalten wür<strong>de</strong>, <strong>wen</strong>n sie bei<strong>de</strong> durchweg zusammenarbeiten<br />

und so je drei Punkte für je<strong>de</strong> <strong>de</strong>r 200 Run<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s<br />

Spiels gewinnen wür<strong>de</strong>n. Wür<strong>de</strong> einer von ihnen <strong>de</strong>r Versuchung<br />

unterliegen, nicht zusammenzuarbeiten, so wür<strong>de</strong> er<br />

wegen <strong>de</strong>r Vergeltungszüge <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren Spielers am En<strong>de</strong><br />

wahrscheinlich <strong>wen</strong>iger als 600 Punkte aufzuweisen haben (bei<br />

<strong>de</strong>r Mehrzahl <strong>de</strong>r eingereichten Strategien war irgen<strong>de</strong>ine Art<br />

von Vergeltungsverhalten eingebaut). Wir können die Zahl 600<br />

als Vergleichsniveau benutzen und alle Ergebnisse in P<strong>ro</strong>zent<br />

dieses Grundwertes angeben. Theoretisch ist es möglich, auf<br />

dieser Skala bis zu 166 P<strong>ro</strong>zent (1000 Punkte) zu erzielen, aber<br />

in <strong>de</strong>r Praxis erlangte kein Mittelwert einer Strategie mehr als<br />

600 Punkte.<br />

Erinnern wir uns daran, daß die „Spieler“ in <strong>de</strong>m Wettbewerb<br />

nicht Menschen waren, son<strong>de</strong>rn Computerp<strong>ro</strong>gramme,<br />

das heißt vorp<strong>ro</strong>grammierte Strategien. Die Menschen, die sie<br />

erdacht hatten, spielten dieselbe Rolle wie Gene, die Körper<br />

vorp<strong>ro</strong>grammieren (<strong>de</strong>nken wir an das Computerschachspiel<br />

in Kapitel 4 und <strong>de</strong>n And<strong>ro</strong>meda-Computer). Wir können uns


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 322<br />

die Strategien als „Miniatur-Bevollmächtigte“ ihrer Autoren<br />

vorstellen. Tatsächlich hätte ein Autor mehr als eine Strategie<br />

einsen<strong>de</strong>n können (obwohl es Betrug gewesen wäre – und<br />

Axel<strong>ro</strong>d es vermutlich nicht erlaubt hätte –, <strong>wen</strong>n ein Autor<br />

<strong>de</strong>n Wettbewerb mit Strategien „vollgestopft“ hätte, von <strong>de</strong>nen<br />

eine von <strong>de</strong>r aufopfern<strong>de</strong>n Kooperation <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren p<strong>ro</strong>fitiert<br />

hätte).<br />

Einige <strong>de</strong>r eingereichten Strategien waren genial, <strong>wen</strong>n<br />

auch natürlich weit <strong>wen</strong>iger genial als ihre Autoren. Bemerkenswerterweise<br />

war die siegreiche Strategie die einfachste<br />

und, oberflächlich betrachtet, am <strong>wen</strong>igsten geniale von allen.<br />

Sie hieß „Wie du mir, so ich dir“ und wur<strong>de</strong> von P<strong>ro</strong>fessor<br />

Anatol Rapoport eingereicht, einem renommierten Psychologen<br />

und Spieltheoretiker aus To<strong>ro</strong>nto. „Wie du mir, so ich dir“<br />

beginnt mit Zusammenarbeiten beim ersten Zug und kopiert<br />

von da an lediglich <strong>de</strong>n vorhergehen<strong>de</strong>n Zug <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren Spielers.<br />

Wie könnte ein Spiel mit <strong>de</strong>r Strategie „Wie du mir, so ich<br />

dir“ ablaufen? Wie immer hängt es vom an<strong>de</strong>ren Spieler ab,<br />

was geschieht. Nehmen wir zunächst an, dieser <strong>wen</strong><strong>de</strong>t die<br />

gleiche Strategie an (erinnern wir uns, daß je<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Strategien<br />

nicht nur gegen die an<strong>de</strong>ren 14 Strategien spielte, son<strong>de</strong>rn<br />

auch gegen eine Kopie ihrer selbst). Bei<strong>de</strong> Wie-du-mir-so-ichdir-Strategen<br />

beginnen mit Zusammenarbeit. Beim nächsten<br />

Zug kopiert je<strong>de</strong>r Spieler <strong>de</strong>n vorherigen Zug <strong>de</strong>s Gegenspielers,<br />

<strong>de</strong>r Zusammenarbeiten hieß. Bei<strong>de</strong> fahren bis zum En<strong>de</strong><br />

<strong>de</strong>s Spiels mit Zusammenarbeiten fort, und bei<strong>de</strong> been<strong>de</strong>n das<br />

Spiel mit 600 Punkten, <strong>de</strong>n vollen 100 P<strong>ro</strong>zent <strong>de</strong>s Vergleichsniveaus.<br />

Nehmen wir nun an, „Wie du mir, so ich dir“ spielt gegen<br />

eine Strategie namens „Naiver P<strong>ro</strong>bierer“. Diese Strategie gab<br />

es in Axel<strong>ro</strong>ds Wettbewerb in Wirklichkeit nicht, aber sie ist<br />

<strong>de</strong>nnoch lehrreich. Sie ist im wesentlichen i<strong>de</strong>ntisch mit „Wie<br />

du mir, so ich dir“, außer daß sie von <strong>Zeit</strong> zu <strong>Zeit</strong>, sagen wir in<br />

einem beliebigen Zug in je<strong>de</strong>r Gruppe von zehn Zügen, völlig<br />

grundlos die Zusammenarbeit verweigert und die hohe Punktzahl<br />

<strong>de</strong>s Anreizes beansprucht. Bis zu <strong>de</strong>m <strong>Zeit</strong>punkt, an <strong>de</strong>m


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 323<br />

„Naiver P<strong>ro</strong>bierer“ <strong>de</strong>n ersten verräterischen Zug ausp<strong>ro</strong>biert,<br />

könnten die bei<strong>de</strong>n Spieler genausogut zwei Wie-du-mir-soich-dir-Strategen<br />

sein. Es scheint, als nähme eine lange und<br />

für bei<strong>de</strong> Seiten p<strong>ro</strong>fitable Abfolge von Zusammenarbeit ihren<br />

Lauf, mit einer beruhigen<strong>de</strong>n Punktzahl von 100 P<strong>ro</strong>zent <strong>de</strong>s<br />

Vergleichsniveaus für je<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Spieler. Aber plötzlich<br />

und ohne Vorwarnung, beispielsweise beim achten Zug, verweigert<br />

„Naiver P<strong>ro</strong>bierer“ die Zusammenarbeit. „Wie du mir,<br />

so ich dir“ hat bei diesem Zug natürlich Zusammenarbeiten<br />

gespielt und muß somit das Resultat <strong>de</strong>s Bet<strong>ro</strong>genen (null<br />

Punkte) einstecken. Der Naive P<strong>ro</strong>bierer scheint gut abgeschnitten<br />

zu haben, da er durch diesen Zug fünf Punkte erhalten<br />

hat. Doch beim nächsten Zug übt <strong>de</strong>r Wie-du-mir-so-ichdir-Stratege<br />

„Vergeltung“. Er spielt Zusammenarbeit verweigern<br />

und folgt dabei lediglich <strong>de</strong>r Regel, <strong>de</strong>n vorhergehen<strong>de</strong>n<br />

Zug seines Gegenspielers zu imitieren. Inzwischen hat <strong>de</strong>r<br />

Naive P<strong>ro</strong>bierer, blindlings <strong>de</strong>r auch seiner Strategie eingebauten<br />

Kopierregel folgend, <strong>de</strong>n Zug Zusammenarbeiten seines<br />

Gegenspielers wie<strong>de</strong>rholt. Somit ist nun er es, <strong>de</strong>r als Bet<strong>ro</strong>gener<br />

null Punkte bekommt, wohingegen <strong>de</strong>rjenige, <strong>de</strong>r „Wie du<br />

mir, so ich dir“ gespielt hat, die hohe Punktzahl von fünf erhält.<br />

Beim nächsten Zug ist es nun am Naiven P<strong>ro</strong>bierer, sich für<br />

<strong>de</strong>n Verrat von „Wie du mir, so ich dir“ zu rächen“ – ziemlich<br />

zu unrecht, möchte man glauben. Und so geht es mit alternieren<strong>de</strong>n<br />

Zügen weiter. Dabei erhalten bei<strong>de</strong> Spieler im Durchschnitt<br />

2,5 Punkte p<strong>ro</strong> Zug (<strong>de</strong>n Mittelwert von fünf und null).<br />

Das ist <strong>wen</strong>iger als die regelmäßigen drei Punkte p<strong>ro</strong> Zug,<br />

die bei<strong>de</strong> Spieler anhäufen können, <strong>wen</strong>n sie miteinan<strong>de</strong>r<br />

kooperieren (nebenbei gesagt ist dies auch <strong>de</strong>r Grund für<br />

die „zusätzliche Bedingung“, die zuvor unerklärt blieb). Das<br />

heißt also, <strong>wen</strong>n ein Naiver P<strong>ro</strong>bierer gegen einen Wie-dumir-so-ich-dir-Strategen<br />

spielt, so ergeht es bei<strong>de</strong>n schlechter,<br />

als <strong>wen</strong>n zwei Wie-du-mir-so-ich-dir-Strategen gegeneinan<strong>de</strong>r<br />

spielen. Und <strong>wen</strong>n ein Naiver P<strong>ro</strong>bierer gegen einen an<strong>de</strong>ren<br />

Naiven P<strong>ro</strong>bierer spielt, so schnei<strong>de</strong>n bei<strong>de</strong> gewöhnlich noch<br />

schlechter ab, da das Verweigern <strong>de</strong>r Zusammenarbeit im allgemeinen<br />

schon früher beginnt.


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 324<br />

Stellen wir uns nun eine an<strong>de</strong>re Strategie vor, die wir<br />

„Reumütiger P<strong>ro</strong>bierer“ nennen. Der Reumütige P<strong>ro</strong>bierer ist<br />

wie <strong>de</strong>r Naive P<strong>ro</strong>bierer, mit <strong>de</strong>r Ausnahme, daß er aktive<br />

Schritte unternimmt, um aus <strong>de</strong>m Kreis <strong>de</strong>r alternieren<strong>de</strong>n<br />

Gegenschläge auszubrechen. Zu diesem Zweck benötigt er ein<br />

geringfügig längeres „Gedächtnis“ als <strong>de</strong>r Wie-du-mir-so-ichdir-Stratege<br />

und <strong>de</strong>r Naive P<strong>ro</strong>bierer. Der Reumütige P<strong>ro</strong>bierer<br />

erinnert sich, ob er eben spontan die Zusammenarbeit verweigert<br />

hat und ob das Resultat sofortige Vergeltung war. Wenn<br />

ja, so erlaubt er seinem Gegenspieler „reumütig einen freien<br />

Gegenschlag“, ohne Vergeltung zu üben. Das be<strong>de</strong>utet, Sequenzen<br />

wechselseitiger Vergeltung wer<strong>de</strong>n im Ansatz gestoppt.<br />

Wenn wir nun in Gedanken ein Spiel zwischen „Reumütiger<br />

P<strong>ro</strong>bierer“ und „Wie du mir, so ich dir“ durchspielen, stellen<br />

wir fest, daß Serien möglicher gegenseitiger Vergeltungszüge<br />

p<strong>ro</strong>mpt unterdrückt wer<strong>de</strong>n. Der größte Teil <strong>de</strong>s Spiels<br />

verläuft in gegenseitiger Zusammenarbeit, und bei<strong>de</strong> Spieler<br />

erfreuen sich <strong>de</strong>r daraus resultieren<strong>de</strong>n g<strong>ro</strong>ßzügigen Punktzahl.<br />

„Reumütiger P<strong>ro</strong>bierer“ schnei<strong>de</strong>t gegen „Wie du mir, so<br />

ich dir“ besser ab als „Naiver P<strong>ro</strong>bierer“, <strong>wen</strong>n auch nicht so<br />

gut wie „Wie du mir, so ich dir“ gegen sich selbst.<br />

Einige <strong>de</strong>r Strategien, die an Axel<strong>ro</strong>ds Turnier teilnahmen,<br />

waren sehr viel komplizierter als „Reumütiger P<strong>ro</strong>bierer“ o<strong>de</strong>r<br />

„Naiver P<strong>ro</strong>bierer“, aber auch sie erzielten im Durchschnitt<br />

<strong>wen</strong>iger Punkte als die einfache Strategie „Wie du mir, so<br />

ich dir“. Tatsächlich war umgekehrt die komplizierteste Strategie<br />

am <strong>wen</strong>igsten erfolgreich (sieht man von „Willkür“ ab).<br />

Sie wur<strong>de</strong> als „Name nicht angegeben“ eingeschrieben – ein<br />

Anreiz zu anregen<strong>de</strong>n Spekulationen: War <strong>de</strong>r Urheber irgen<strong>de</strong>ine<br />

graue Eminenz im Pentagon? Der Chef <strong>de</strong>r CIA? Henry<br />

Kissinger? Axel<strong>ro</strong>d selbst? Wir wer<strong>de</strong>n es wohl nie erfahren.<br />

Es ist nicht allzu interessant, die einzelnen Strategien bis<br />

in je<strong>de</strong>s Detail zu untersuchen. Dieses Buch han<strong>de</strong>lt nicht von<br />

<strong>de</strong>r Genialität von Computerp<strong>ro</strong>grammierern. Viel interessanter<br />

ist es, Strategien nach bestimmten Kategorien zu klassifizieren<br />

und <strong>de</strong>n Erfolg <strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nen Gruppen zu untersuchen.<br />

Die wichtigste Kategorie, die Axel<strong>ro</strong>d erkennt, ist „nett“.


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 325<br />

Eine nette Strategie ist <strong>de</strong>finiert als eine Strategie, die niemals<br />

als erste die Zusammenarbeit verweigert. Ein Beispiel<br />

dafür ist „Wie du mir, so ich dir“. Diese Strategie kann die<br />

Zusammenarbeit verweigern, tut dies aber nur als Vergeltungsschlag.<br />

Sowohl „Naiver P<strong>ro</strong>bierer“ als auch „Reumütiger P<strong>ro</strong>bierer“<br />

sind „gemeine“ Strategien, <strong>de</strong>nn gelegentlich, <strong>wen</strong>n<br />

auch selten, verweigern sie die Zusammenarbeit, ohne dazu<br />

p<strong>ro</strong>voziert wor<strong>de</strong>n zu sein. Von <strong>de</strong>n 15 an <strong>de</strong>m Turnier beteiligten<br />

Strategien waren acht nett. Bemerkenswerterweise waren<br />

die acht erfolgreichsten Strategien eben diese acht netten Strategien,<br />

hinter <strong>de</strong>nen mit Abstand die sieben gemeinen Strategien<br />

folgten. „Wie du mir, so ich dir“ erzielte einen Durchschnitt<br />

von 504,5 Punkten, das sind 84 P<strong>ro</strong>zent unseres Grundwertes<br />

von 600 Punkten, ein gutes Ergebnis. Die an<strong>de</strong>ren netten Strategien<br />

errangen nur geringfügig <strong>wen</strong>iger Punkte, mit Werten,<br />

die von 83,4 P<strong>ro</strong>zent bis hinunter zu 78,6 P<strong>ro</strong>zent reichten.<br />

Zwischen dieser Punktzahl und <strong>de</strong>n 66,8 P<strong>ro</strong>zent, die von<br />

„Graaskamp“, <strong>de</strong>r erfolgreichsten aller gemeinen Strategien,<br />

erreicht wur<strong>de</strong>n, besteht eine breite Kluft. Es scheint ziemlich<br />

überzeugend, daß nette Kerle in diesem Spiel gut abschnei<strong>de</strong>n.<br />

Ein an<strong>de</strong>res landläufiges Wort, das Axel<strong>ro</strong>d in spezieller<br />

Be<strong>de</strong>utung ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>t, ist „verzeihend“. Eine Strategie ist verzeihend,<br />

<strong>wen</strong>n sie zwar Vergeltung üben könnte, aber ein<br />

kurzes Gedächtnis besitzt. Sie ist schnell bereit, über alte<br />

Missetaten hinwegzusehen. „Wie du mir, so ich dir“ ist eine<br />

verzeihen<strong>de</strong> Strategie. Zwar klopft sie jeman<strong>de</strong>m, <strong>de</strong>r die<br />

Zusammenarbeit verweigert, unverzüglich auf die Finger, doch<br />

anschließend läßt sie Vergangenes ruhen. Der Nachtragen<strong>de</strong><br />

aus Kapitel 10 ist alles an<strong>de</strong>re als verzeihend. Seine Erinnerung<br />

bleibt das ganze Spiel über bestehen. Niemals vergißt er<br />

seinen Ärger über einen Spieler, <strong>de</strong>r ihm irgendwann einmal<br />

die Zusammenarbeit verweigert hat, und sei es auch nur ein<br />

einziges Mal gewesen. Eine Strategie, die formal gesehen<br />

<strong>de</strong>m Nachtragen<strong>de</strong>n entspricht, wur<strong>de</strong> in Axel<strong>ro</strong>ds Turnier<br />

unter <strong>de</strong>m Namen „Friedman“ eingetragen, und sie schnitt<br />

nicht beson<strong>de</strong>rs gut ab. Von allen netten Strategien (man


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 326<br />

beachte, daß die Strategie zwar völlig unversöhnlich, aber<br />

<strong>de</strong>finitionsgemäß „nett“ ist) schnitt Nachtragen<strong>de</strong>r/Friedman<br />

am zweitschlechtesten ab. Nicht verzeihen<strong>de</strong> Strategien erzielen<br />

<strong>de</strong>shalb keine sehr guten Ergebnisse, weil sie nicht in <strong>de</strong>r<br />

Lage sind, aus <strong>de</strong>m Kreislauf gegenseitiger Vergeltung auszubrechen,<br />

selbst <strong>wen</strong>n ihr Gegenspieler „Reue“ zeigt.<br />

Es ist möglich, sogar noch verzeihen<strong>de</strong>r zu sein als „Wie<br />

du mir, so ich dir“. Die Strategie „Wie du zweimal mir, so ich<br />

dir“ gestattet <strong>de</strong>m Gegner zwei Verweigerungen hintereinan<strong>de</strong>r,<br />

bevor sie zurückschlägt. Dies mag übertrieben duldsam<br />

erscheinen, doch Axel<strong>ro</strong>d kam zu <strong>de</strong>r Überzeugung, daß<br />

diese Strategie das Turnier gewonnen hätte, hätte sie nur<br />

jemand eingereicht. Der Grund: „Wie du zweimal mir, so ich<br />

dir“ ist hervorragend darin, Sequenzen von gegenseitigen<br />

Vergeltungszügen zu vermei<strong>de</strong>n.<br />

Wir haben also zwei charakteristische Merkmale von siegreichen<br />

Strategien i<strong>de</strong>ntifiziert: Nettsein und Versöhnlichkeit.<br />

Diese nahezu utopisch klingen<strong>de</strong> Schlußfolgerung – daß<br />

Nettsein und Versöhnlichkeit sich auszahlen – war eine<br />

Überraschung für viele <strong>de</strong>r Experten, die versucht hatten,<br />

beson<strong>de</strong>rs schlau zu sein, in<strong>de</strong>m sie Strategien vorschlugen, die<br />

auf subtile Art gemein waren, während selbst die Autoren netter<br />

Strategien es nicht gewagt hatten, eine <strong>de</strong>rart versöhnliche<br />

Strategie wie „Wie du zweimal mir, so ich dir“ vorzuschlagen.<br />

Axel<strong>ro</strong>d kündigte ein zweites Turnier an. Er erhielt 62 Antworten<br />

und fügte wie<strong>de</strong>r die Strategie „Willkür“ hinzu. Diesmal<br />

war die Anzahl <strong>de</strong>r Züge p<strong>ro</strong> Spiel nicht auf 200 festgelegt,<br />

son<strong>de</strong>rn blieb offen, und zwar aus einem guten Grund,<br />

auf <strong>de</strong>n ich später noch zu sprechen kommen wer<strong>de</strong>. Wir<br />

können die Bewertung immer noch in P<strong>ro</strong>zent <strong>de</strong>s Vergleichsniveaus,<br />

das heißt <strong>de</strong>r Bewertung für „Immer zusammenarbeiten“,<br />

ausdrücken, auch <strong>wen</strong>n dieser Grundwert nun kompliziertere<br />

Berechnungen erfor<strong>de</strong>rt und nicht länger bei 600<br />

Punkten festgemacht ist.<br />

Alle am zweiten Wettbewerb teilnehmen<strong>de</strong>n P<strong>ro</strong>grammierer<br />

waren über die Resultate <strong>de</strong>s ersten Turniers unterrichtet<br />

wor<strong>de</strong>n, ebenso wie über Axel<strong>ro</strong>ds Analyse <strong>de</strong>r Grün<strong>de</strong>, wes-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 327<br />

halb „Wie du mir, so ich dir“ und an<strong>de</strong>re nette und verzeihen<strong>de</strong><br />

Strategien so gut abgeschnitten hatten. Es war nur<br />

natürlich zu erwarten, daß die Teilnehmer diese Hintergrundinformation<br />

in <strong>de</strong>r einen o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Weise berücksichtigen<br />

wür<strong>de</strong>n. Tatsächlich bil<strong>de</strong>ten sie zwei Lager mit verschie<strong>de</strong>nen<br />

Denkweisen. Die einen schlossen, daß Nettigkeit und<br />

Versöhnlichkeit offensichtlich gewinnbringen<strong>de</strong> Qualitäten<br />

seien, und reichten <strong>de</strong>mentsprechend nette, verzeihen<strong>de</strong> Strategien<br />

ein. John Maynard Smith ging so weit, die auße<strong>ro</strong>r<strong>de</strong>ntlich<br />

versöhnliche Strategie „Wie du zweimal mir, so ich dir“ vorzuschlagen.<br />

Die an<strong>de</strong>re Denkschule ging davon aus, daß eine<br />

Reihe ihrer Kollegen nach Lektüre von Axel<strong>ro</strong>ds Analyse nunmehr<br />

nette, versöhnliche Strategien einreichen wür<strong>de</strong>n. Sie<br />

erarbeiteten daher gemeine Strategien, mit <strong>de</strong>nen sie diese<br />

voraussichtlichen Einfaltspinsel auszubeuten suchten.<br />

Aber wie<strong>de</strong>r einmal zahlte sich Gemeinheit nicht aus. Erneut<br />

war die von Anatol Rapoport eingereichte Strategie „Wie du<br />

mir, so ich dir“ siegreich, sie erreichte massive 96 P<strong>ro</strong>zent <strong>de</strong>s<br />

Vergleichsniveaus. Auch diesmal erging es <strong>de</strong>n netten Strategien<br />

generell besser als <strong>de</strong>n gemeinen. Von <strong>de</strong>n 15 Spitzenstrategien<br />

waren alle bis auf eine nett, und die 15 Schlußlichter<br />

waren mit einer Ausnahme sämtlich gemeine Strategien. Aber<br />

obwohl die e<strong>de</strong>lmütige Strategie „Wie du zweimal mir, so ich<br />

dir“ das erste Turnier gewonnen hätte, <strong>wen</strong>n sie daran teilgenommen<br />

hätte, war sie im zweiten Wettbewerb nicht siegreich.<br />

Denn nun schloß das Feld subtilere gemeine Strategien<br />

ein, die in <strong>de</strong>r Lage waren, solche absoluten Einfaltspinsel<br />

rücksichtslos auszubeuten.<br />

Damit sind wir auf eine wichtige Tatsache gestoßen: Bei<br />

solchen Turnieren hängt <strong>de</strong>r Erfolg einer Strategie davon ab,<br />

welche an<strong>de</strong>ren Strategien am Wettbewerb teilnehmen. Nur<br />

auf diese Weise läßt sich erklären, warum „Wie du zweimal mir,<br />

so ich dir“ im zweiten Turnier ziemlich weit hinten rangierte,<br />

während dieselbe Strategie im ersten Wettbewerb gewonnen<br />

hätte. Aber wie ich schon sagte, befaßt sich dieses Buch nicht<br />

mit <strong>de</strong>r Genialität von Computerp<strong>ro</strong>grammierern. Gibt es eine<br />

objektive Metho<strong>de</strong>, mit <strong>de</strong>r wir beurteilen können, welches,


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 328<br />

in einem allgemeineren und <strong>wen</strong>iger willkürlichen Sinne, die<br />

wirklich beste Strategie ist? Wer die vorigen Kapitel gelesen<br />

hat, wird bereits darauf vorbereitet sein, die Antwort in <strong>de</strong>r<br />

Theorie <strong>de</strong>r evolutionär stabilen Strategien zu suchen.<br />

Ich gehörte zu <strong>de</strong>n Personen, <strong>de</strong>nen Axel<strong>ro</strong>d seine ersten<br />

Resultate zukommen ließ mit <strong>de</strong>r Einladung, mich mit einer<br />

Strategie an <strong>de</strong>m zweiten Turnier zu beteiligen. Ich tat dies<br />

nicht, machte aber einen an<strong>de</strong>ren Vorschlag. Axel<strong>ro</strong>d hatte<br />

bereits im Sinne <strong>de</strong>r evolutionär stabilen Strategien (ESS) zu<br />

<strong>de</strong>nken begonnen, aber ich hielt diese Ten<strong>de</strong>nz für so be<strong>de</strong>utsam,<br />

daß ich ihm schriftlich vorschlug, sich mit W. D. Hamilton<br />

in Verbindung zu setzen, <strong>de</strong>r damals, ohne daß Axel<strong>ro</strong>d<br />

davon wußte, in einer an<strong>de</strong>ren Abteilung <strong>de</strong>rselben Institution,<br />

<strong>de</strong>r Michigan-Universität, arbeitete. Axel<strong>ro</strong>d nahm<br />

tatsächlich sofort Kontakt mit Hamilton auf, und das Resultat<br />

ihrer anschließen<strong>de</strong>n Zusammenarbeit war ein brillanter Beitrag,<br />

<strong>de</strong>n sie 1981 gemeinsam in <strong>de</strong>r <strong>Zeit</strong>schrift Science<br />

veröffentlichten. Der Beitrag gewann <strong>de</strong>n Newcomb-Cleveland-Preis<br />

<strong>de</strong>r American Association for the Advancement of<br />

Science. Abgesehen davon, daß Axel<strong>ro</strong>d und Hamilton einige<br />

herrlich ausgefallene Beispiele <strong>de</strong>s „Wie<strong>de</strong>rholten Gefangenendilemmas“<br />

aus <strong>de</strong>r Biologie erörterten, zollten sie <strong>de</strong>r ESS-<br />

These die meiner Ansicht nach verdiente Anerkennung.<br />

Vergleichen wir die ESS-Metho<strong>de</strong> mit <strong>de</strong>m Je<strong>de</strong>r-gegenje<strong>de</strong>n-System,<br />

das Axel<strong>ro</strong>d bei seinen bei<strong>de</strong>n Turnieren<br />

benutzte. Dieses System kennen wir aus <strong>de</strong>r Fußballiga. Je<strong>de</strong><br />

Strategie wur<strong>de</strong> gleich oft gegen je<strong>de</strong> an<strong>de</strong>re Strategie ausgespielt.<br />

Das En<strong>de</strong>rgebnis einer Strategie war die Summe <strong>de</strong>r<br />

Punkte, die sie gegen alle an<strong>de</strong>ren Strategien gewann. Um<br />

in einem solchen Je<strong>de</strong>r-gegen-je<strong>de</strong>n-Wettkampf erfolgreich zu<br />

sein, muß eine Strategie daher gut gegen alle an<strong>de</strong>ren Strategien<br />

abschnei<strong>de</strong>n, die zufällig mitspielen. Axel<strong>ro</strong>ds Bezeichnung<br />

für eine Strategie, die sich erfolgreich gegen eine Vielzahl<br />

an<strong>de</strong>rer Strategien durchsetzt, ist „<strong>ro</strong>bust“. „Wie du mir,<br />

so ich dir“ erwies sich als <strong>ro</strong>buste Strategie. Aber wie die<br />

Gruppe <strong>de</strong>r eingereichten Strategien zusammengesetzt ist,<br />

hängt vom Zufall ab. Das war <strong>de</strong>r Punkt, <strong>de</strong>r uns weiter oben


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 329<br />

Sorgen gemacht hat. Es ergab sich einfach so, daß bei Axel<strong>ro</strong>ds<br />

ursprünglichem Wettbewerb die Hälfte <strong>de</strong>r Teilnehmer<br />

nett war. In diesem Klima war „Wie du mir, so ich dir“ <strong>de</strong>r<br />

Gewinner, und in diesem Umfeld hätte „Wie du zweimal mir,<br />

so ich dir“ gewonnen, <strong>wen</strong>n es mitgespielt hätte. Aber nehmen<br />

wir an, es hätte sich zufällig so ergeben, daß fast alle Mitspieler<br />

gemein gewesen wären. Das hätte leicht geschehen<br />

können. Schließlich waren sechs <strong>de</strong>r 14 eingereichten Strategien<br />

gemein. Wären dreizehn von ihnen gemein gewesen, so<br />

hätte „Wie du mir, so ich dir“ nicht gewonnen. Es hätte nicht<br />

das richtige „Klima“ dafür geherrscht. Nicht nur <strong>de</strong>r gewonnene<br />

Geldbetrag, son<strong>de</strong>rn auch die Rangordnung <strong>de</strong>s Erfolgs<br />

unter Strategien hängt davon ab, welche Strategien zufällig<br />

zu <strong>de</strong>m Wettbewerb eingereicht wur<strong>de</strong>n; es hängt, mit an<strong>de</strong>ren<br />

Worten, von etwas so Willkürlichem wie <strong>de</strong>r menschlichen<br />

Laune ab. Wie können wir diese Willkür reduzieren? Durch<br />

„ESS-Denken“.<br />

Wie wir uns aus vorangegangenen Kapiteln erinnern, ist ein<br />

wichtiges Merkmal einer evolutionär stabilen Strategie, daß<br />

sie auch dann noch gut abschnei<strong>de</strong>t, <strong>wen</strong>n sie in <strong>de</strong>r Population<br />

bereits zahlreich ist. Wür<strong>de</strong>n wir zum Beispiel „Wie du mir,<br />

so ich dir“ als ESS bezeichnen, so wür<strong>de</strong> dies be<strong>de</strong>uten, daß<br />

„Wie du mir, so ich dir“ in einem von Wie-du-mir-so-ich-dir-<br />

Strategen beherrschten Umfeld erfolgreich wäre. Man könnte<br />

dies als eine beson<strong>de</strong>re Art von „Robustheit“ betrachten. Als<br />

Evolutionsbiologen sind wir versucht, es als die einzige Art von<br />

Robustheit anzusehen, auf die es ankommt.<br />

Warum kommt es so sehr darauf an? Weil Gewinne in <strong>de</strong>r<br />

Welt <strong>de</strong>s Darwinismus nicht als Geld ausgezahlt wer<strong>de</strong>n; sie<br />

wer<strong>de</strong>n in Form von Nachkommen ausgezahlt. Für einen Darwinisten<br />

ist eine Strategie erfolgreich, <strong>wen</strong>n sie in <strong>de</strong>r Population<br />

von Strategien zahlreich gewor<strong>de</strong>n ist. Damit eine Strategie<br />

erfolgreich bleibt, muß sie beson<strong>de</strong>rs gut abschnei<strong>de</strong>n,<br />

<strong>wen</strong>n sie zahlreich vertreten ist, das heißt in einem Klima, das<br />

von Kopien ihrer selbst beherrscht ist.<br />

Auf <strong>de</strong>r Suche nach einer ESS spielte Axel<strong>ro</strong>d tatsächlich<br />

eine dritte Run<strong>de</strong> seines Turniers durch, so wie die natürliche


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 330<br />

Auslese dies getan haben könnte. Er bezeichnete sie allerdings<br />

nicht als dritte Run<strong>de</strong>, da er keine neuen Teilnehmer<br />

auffor<strong>de</strong>rte, son<strong>de</strong>rn dieselben 63 Strategien benutzte wie bei<br />

<strong>de</strong>r zweiten Run<strong>de</strong>. Doch meiner Meinung nach ist es angebracht,<br />

sie als dritte Run<strong>de</strong> zu behan<strong>de</strong>ln, <strong>de</strong>nn ich glaube,<br />

sie unterschei<strong>de</strong>t sich grundsätzlicher von <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Je<strong>de</strong>rgegen-je<strong>de</strong>n-Wettbewerben,<br />

als diese sich voneinan<strong>de</strong>r unterschei<strong>de</strong>n.<br />

Axel<strong>ro</strong>d nahm die 63 Strategien und speiste sie wie<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n<br />

Computer ein, um die „erste Generation“ einer evolutionären<br />

Sequenz zu erzeugen. In <strong>de</strong>r „ersten Generation“ bestand das<br />

„Klima“ daher aus gleich häufigen Strategien. Am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r<br />

ersten Generation wur<strong>de</strong>n je<strong>de</strong>r Strategie Gewinne ausgezahlt,<br />

und zwar nicht in Form von „Geld“ o<strong>de</strong>r „Punkten“, son<strong>de</strong>rn<br />

in Form von Nachkommen, die mit ihren (ungeschlechtlichen)<br />

Eltern i<strong>de</strong>ntisch waren. Einige Strategien wur<strong>de</strong>n von Generation<br />

zu Generation seltener und starben schließlich aus.<br />

An<strong>de</strong>re wur<strong>de</strong>n häufiger. In <strong>de</strong>m Maße, wie <strong>de</strong>r zahlenmäßige<br />

Anteil <strong>de</strong>r Strategien sich verän<strong>de</strong>rte, än<strong>de</strong>rte sich auch das<br />

„Klima“, in <strong>de</strong>m die weiteren Züge <strong>de</strong>s Spiels stattfan<strong>de</strong>n.<br />

Schließlich, nach ungefähr 1000 Generationen, än<strong>de</strong>rten<br />

sich die Anteile nicht mehr, es gab also auch keine weiteren<br />

Verän<strong>de</strong>rungen im Klima. Ein stabiler Zustand war erreicht.<br />

Vorher waren die Geschicke <strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nen Strategien<br />

abwechselnd günstig und ungünstig gewesen, genauso wie<br />

in meiner Computersimulation <strong>de</strong>r Betrüger, Bet<strong>ro</strong>genen und<br />

Nachtragen<strong>de</strong>n. Einige <strong>de</strong>r Strategien steuerten von Anfang an<br />

auf das Aussterben zu, und die meisten waren nach 200 Generationen<br />

ausgestorben. Von <strong>de</strong>n gemeinen Strategien nahm<br />

die eine o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re anfänglich an Häufigkeit zu, aber ihr<br />

Ge<strong>de</strong>ihen war, wie das <strong>de</strong>r Betrüger in meiner Simulation,<br />

nur von kurzer Dauer. Die einzige gemeine Strategie, die<br />

Generation 200 überlebte, hieß „Harrington“. Ihr Wohlergehen<br />

stieg während <strong>de</strong>r ersten ungefähr 150 Generationen steil<br />

an. Danach ging es mit ihr recht allmählich bergab, und etwa<br />

bei Generation 1000 starb sie aus. „Harrington“ war es aus<br />

<strong>de</strong>mselben Grund eine <strong>Zeit</strong>lang gut ergangen wie meinem


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 331<br />

ursprünglichen Betrüger. Die Strategie beutete T<strong>ro</strong>ttel wie<br />

„Wie du zweimal mir, so ich dir“ (zu verzeihend) aus, solange<br />

es diese gab. Dann, als die T<strong>ro</strong>ttel ausge<strong>ro</strong>ttet waren, folgte die<br />

Strategie „Harrington“ ihnen nach, da sie keine leichte Beute<br />

mehr hatte. Das Feld war frei für „nette“, aber „p<strong>ro</strong>vozierbare“<br />

Strategien wie „Wie du mir, so ich dir“.<br />

In <strong>de</strong>r Tat ging „Wie du mir, so ich dir“ aus fünf von sechs<br />

Durchläufen <strong>de</strong>r dritten Run<strong>de</strong> als Sieger hervor, wie sie es<br />

auch in <strong>de</strong>r ersten und zweiten Run<strong>de</strong> getan hatte. Fünf an<strong>de</strong>re<br />

nette, aber p<strong>ro</strong>vozierbare Strategien waren letzten En<strong>de</strong>s fast<br />

genauso erfolgreich (genauso häufig in <strong>de</strong>r Population) wie<br />

„Wie du mir, so ich dir“; eine von ihnen gewann sogar <strong>de</strong>n sechsten<br />

Durchlauf. Sobald alle gemeinen Strategien ausgestorben<br />

waren, war es ganz und gar nicht mehr möglich, irgen<strong>de</strong>ine <strong>de</strong>r<br />

netten Strategien von „Wie du mir, so ich dir“ o<strong>de</strong>r voneinan<strong>de</strong>r<br />

zu unterschei<strong>de</strong>n, da sie alle, nett wie sie waren, Zusammenarbeiten<br />

spielten.<br />

Eine Konsequenz aus dieser Ununterscheidbarkeit ist, daß<br />

„Wie du mir, so ich dir“ zwar wie eine ESS aussieht, aber<br />

strenggenommen keine echte ESS ist. Erinnern wir uns, daß<br />

eine Strategie, um eine ESS zu sein, nicht von einer seltenen,<br />

mutierten Strategie unterwan<strong>de</strong>rbar sein darf, <strong>wen</strong>n sie weit<br />

verbreitet ist. Nun kann „Wie du mir, so ich dir“ zwar von<br />

keiner gemeinen Strategie unterwan<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n, doch bei<br />

einer an<strong>de</strong>ren netten Strategie liegen die Dinge an<strong>de</strong>rs. Wie wir<br />

gera<strong>de</strong> gesehen haben, sehen nette Strategien in einer Population<br />

solcher Strategien alle genau gleich aus und verhalten sich<br />

alle gleich: Sie spielen alle ständig Zusammenarbeiten. Daher<br />

kann je<strong>de</strong> an<strong>de</strong>re nette Strategie, etwa die uneingeschränkt<br />

e<strong>de</strong>lmütige Strategie „Immer zusammenarbeiten“, auch <strong>wen</strong>n<br />

sie zugegebenermaßen keinen positiven Selektionsvorteil<br />

gegenüber „Wie du mir, so ich dir“ besitzt, in die Population<br />

hineindriften, ohne bemerkt zu wer<strong>de</strong>n. Somit ist „Wie du mir,<br />

so ich dir“ keine echte ESS.<br />

Nun könnte man meinen, daß wir, da die Welt ja genauso nett<br />

bleibt, „Wie du mir, so ich dir“ ebensogut als ESS betrachten<br />

könnten. Doch sehen wir uns an, was als nächstes geschieht. Im


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 332<br />

Gegensatz zu „Wie du mir, so ich dir“ ist „Immer Zusammenarbeiten“<br />

nicht gegen die Invasion gemeiner Strategien wie<br />

„Immer Zusammenarbeit verweigern“ stabil. Diese ist gegen<br />

„Immer zusammenarbeiten“ erfolgreich, weil sie bei je<strong>de</strong>m<br />

Zug <strong>de</strong>n hohen Gewinn <strong>de</strong>s Anreizes erhält. Daher wer<strong>de</strong>n<br />

gemeine Strategien wie „Immer Zusammenarbeit verweigern“<br />

in die Population eindringen und die Anzahl allzu netter Strategien<br />

wie „Immer zusammenarbeiten“ niedrig halten.<br />

Aber obgleich „Wie du mir, so ich dir“ strenggenommen<br />

keine echte ESS ist, ist es wahrscheinlich richtig, eine gewisse<br />

Mischung von hauptsächlich netten, aber Vergeltung üben<strong>de</strong>n<br />

„Wie du mir, so ich dir“-ähnlichen Strategien in <strong>de</strong>r Praxis<br />

so zu behan<strong>de</strong>ln, als entspräche sie in etwa einer ESS. Eine<br />

solche Mischung könnte ein geringes Quantum Gemeinheit<br />

enthalten. In einer <strong>de</strong>r interessanteren Nachfolgearbeiten zu<br />

Axel<strong>ro</strong>ds Arbeit warfen Robert Boyd und Jeffrey Lorberbaum<br />

einen Blick auf eine Mischung aus „Wie du zweimal mir, so ich<br />

dir“ und einer Strategie namens „Argwöhnisches Wie-du-mirso-ich-dir“.<br />

Letztere ist <strong>de</strong>finitionsgemäß eine gemeine Strategie,<br />

aber sie ist nicht sehr gemein. Nach <strong>de</strong>m ersten Zug<br />

verhält sie sich genauso wie „Wie du mir, so ich dir“ selbst, aber<br />

– und dies ist es, was sie zu einer gemeinen Strategie macht –<br />

beim allerersten Zug <strong>de</strong>s Spiels verweigert sie die Zusammenarbeit.<br />

In einem völlig von „Wie du mir, so ich dir“ beherrschten<br />

Klima ge<strong>de</strong>iht „Argwöhnisches Wie-du-mir-so-ich-dir“ nicht,<br />

da ihre anfängliche Verweigerung <strong>de</strong>r Zusammenarbeit eine<br />

ununterb<strong>ro</strong>chene Serie wechselseitiger Gegenschläge auslöst.<br />

Stößt sie jedoch an<strong>de</strong>rerseits auf einen Spieler, <strong>de</strong>r die Strategie<br />

„Wie du zweimal mir, so ich dir“ an<strong>wen</strong><strong>de</strong>t, so unterdrückt<br />

<strong>de</strong>ssen größere Vergebungsbereitschaft die Vergeltung im<br />

Keim. Bei<strong>de</strong> Spieler been<strong>de</strong>n das Spiel min<strong>de</strong>stens mit <strong>de</strong>r<br />

Punktzahl <strong>de</strong>s Vergleichsniveaus (alle arbeiten immer zusammen),<br />

und die Strategie „Argwöhnisches Wie-du-mir-so-ichdir“<br />

gewinnt einen Bonus für ihre anfängliche Zusammenarbeitsverweigerung.<br />

Boyd und Lorberbaum zeigten, daß es,<br />

evolutionär ausgedrückt, einer Mischung von „Wie du zweimal<br />

mir, so ich dir“ und „Argwöhnisches Wie-du-mir-so-ich-dir“


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 333<br />

möglich ist, in eine Population von „Wie du mir, so ich dir“ einzudringen,<br />

wobei je<strong>de</strong>r von bei<strong>de</strong>n jeweils in <strong>de</strong>r Gegenwart<br />

<strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren gut ge<strong>de</strong>iht. Diese Kombination ist fast mit Sicherheit<br />

nicht die einzige, <strong>de</strong>r auf diese Weise eine Invasion gelänge.<br />

Wahrscheinlich gibt es eine ganze Reihe von Mischungen aus<br />

nur <strong>wen</strong>ig gemeinen mit netten und sehr versöhnlichen Strategien,<br />

die zusammen zur Invasion fähig sind. Man könnte versucht<br />

sein, hier Ähnlichkeiten mit vertrauten Aspekten <strong>de</strong>s<br />

menschlichen Lebens zu ent<strong>de</strong>cken.<br />

Axel<strong>ro</strong>d erkannte, daß „Wie du mir, so ich dir“ strenggenommen<br />

keine ESS ist, und prägte für sie daher <strong>de</strong>n Ausdruck<br />

„kollektiv stabile Strategie“. Wie auch im Falle echter<br />

evolutionär stabiler Strategien ist es möglich, daß mehr als<br />

eine Strategie zur selben <strong>Zeit</strong> kollektiv stabil ist. Und wie<strong>de</strong>r<br />

ist es eine Frage <strong>de</strong>s Zufalls, welche Strategie schließlich eine<br />

Population beherrscht. „Immer Zusammenarbeit verweigern“<br />

ist ebenso stabil wie „Wie du mir, so ich dir“. In einer bereits<br />

von „Immer Zusammenarbeit verweigern“ beherrschten Population<br />

ist keine an<strong>de</strong>re Strategie erfolgreicher. Wir können<br />

das System als bistabil behan<strong>de</strong>ln: In einem <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n stabilen<br />

Zustän<strong>de</strong> dominiert „Immer Zusammenarbeit verweigern“,<br />

in <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren „Wie du mir, so ich dir“ (o<strong>de</strong>r irgen<strong>de</strong>ine<br />

Mischung von überwiegend netten, Vergeltung üben<strong>de</strong>n Strategien).<br />

Derjenige stabile Zustand, <strong>de</strong>r zuerst in <strong>de</strong>r Population<br />

herrscht, gleich welcher es ist, wird gewöhnlich bestehen bleiben.<br />

Aber was be<strong>de</strong>utet „dominieren“ quantitativ ausgedrückt?<br />

Wie häufig muß „Wie du mir, so ich dir“ sein, damit diese Strategie<br />

besser abschnei<strong>de</strong>t als „Immer Zusammenarbeit verweigern“?<br />

Das hängt davon ab, welche Gewinne im einzelnen<br />

<strong>de</strong>r Bankier sich in diesem speziellen Spiel auszuzahlen bereit<br />

erklärt hat. Allgemein können wir nur sagen, daß es eine kritische<br />

Frequenz gibt, eine Art Bergkamm. Auf <strong>de</strong>r einen Seite<br />

<strong>de</strong>s Grates ist die kritische Frequenz von „Wie du mir, so ich<br />

dir“ überschritten, und die natürliche Auslese sorgt für eine<br />

stetige Zunahme dieser Strategie. Auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite<br />

<strong>de</strong>s Grates ist die kritische Frequenz für „Immer Zusammen-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 334<br />

arbeit verweigern“ überschritten, und die natürliche Auslese<br />

för<strong>de</strong>rt „Immer Zusammenarbeit verweigern“ immer stärker.<br />

Wir sind einem Äquivalent dieses Grates, wie <strong>de</strong>r Leser sich<br />

erinnern wird, bereits in <strong>de</strong>r Geschichte <strong>de</strong>r Nachtragen<strong>de</strong>n<br />

und Betrüger in Kapitel 10 begegnet.<br />

Es ist daher offensichtlich wichtig, auf welcher Seite <strong>de</strong>s<br />

Grates die Entwicklung einer Population zufällig beginnt. Und<br />

wir müssen wissen, auf welche Weise es dazu kommen könnte,<br />

daß eine Population von einer Seite <strong>de</strong>s Grates auf die an<strong>de</strong>re<br />

gelangt. Nehmen wir an, wir beginnen mit einer Population,<br />

die sich bereits auf <strong>de</strong>r Seite von „Immer Zusammenarbeit verweigern“<br />

befin<strong>de</strong>t. Die <strong>wen</strong>igen Individuen, die „Wie du mir,<br />

so ich dir“ spielen, treffen einan<strong>de</strong>r nicht oft genug, um sich<br />

gegenseitig von Nutzen zu sein. Somit drängt die natürliche<br />

Auslese die Population immer noch weiter in Richtung <strong>de</strong>s<br />

Extrems von „Immer Zusammenarbeit verweigern“. Wenn es<br />

<strong>de</strong>r Population nur eben gelingen wür<strong>de</strong>, durch zufällige Drift<br />

auf die an<strong>de</strong>re Seite <strong>de</strong>s Grates zu gelangen, so könnte sie <strong>de</strong>n<br />

Abhang zur „Wie du mir, so ich dir“-Seite hinabgleiten, und es<br />

ginge allen viel besser, und zwar auf Kosten <strong>de</strong>r Bank (o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r<br />

Natur). Doch natürlich haben Populationen we<strong>de</strong>r einen Gruppenwillen<br />

noch eine Gruppenabsicht o<strong>de</strong>r ein Gruppenziel. Sie<br />

können sich nicht bemühen, über <strong>de</strong>n Grat hinwegzuspringen,<br />

son<strong>de</strong>rn wer<strong>de</strong>n ihn nur dann überqueren, <strong>wen</strong>n die ungerichteten<br />

Kräfte <strong>de</strong>r Natur sie zufällig hinüberführen.<br />

Wie könnte es dazu kommen? Eine Möglichkeit, die Antwort<br />

auszudrücken, ist: „Durch Zufall.“ Aber „Zufall“ ist lediglich<br />

ein Wort, das unserer Unkenntnis Ausdruck gibt. Es be<strong>de</strong>utet<br />

„durch ein bisher unbekanntes o<strong>de</strong>r nicht spezifiziertes Mittel<br />

bedingt“. Wir sind in <strong>de</strong>r Lage, eine etwas bessere Antwort zu<br />

geben. Wir können uns vorzustellen versuchen, mit welchen<br />

praktischen Metho<strong>de</strong>n es einer Min<strong>de</strong>rheit von Individuen mit<br />

<strong>de</strong>r Strategie „Wie du mir, so ich dir“ gelingen könnte, ihre Zahl<br />

auf <strong>de</strong>n kritischen Wert zu erhöhen. Dies läuft auf die Frage<br />

hinaus, welche Möglichkeiten es für Individuen gibt, die „Wie<br />

du mir, so ich dir“ spielen, sich in ausreichend g<strong>ro</strong>ßer Zahl<br />

zusammenzufin<strong>de</strong>n, damit sie alle auf Kosten <strong>de</strong>r Bank p<strong>ro</strong>fi-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 335<br />

tieren können. Dieser Gedankengang scheint vielversprechend<br />

zu sein, ist jedoch ziemlich vage. Auf welche Weise genau<br />

könnte es dazu kommen, daß einan<strong>de</strong>r ähnliche Individuen<br />

sich lokal zusammenballen? In <strong>de</strong>r Natur zweifellos durch<br />

genetische Verwandtschaft. Die Angehörigen <strong>de</strong>r meisten Tierarten<br />

leben wahrscheinlich eher in <strong>de</strong>r Nähe ihrer Schwestern,<br />

Brü<strong>de</strong>r und Vettern als in <strong>de</strong>r Nähe irgendwelcher an<strong>de</strong>ren<br />

beliebigen Populationsmitglie<strong>de</strong>r. Dies ist nicht unbedingt <strong>de</strong>shalb<br />

<strong>de</strong>r Fall, weil sie es so wollen. Es ergibt sich automatisch<br />

aus <strong>de</strong>r „Viskosität“ in <strong>de</strong>r Population. Viskosität be<strong>de</strong>utet je<strong>de</strong><br />

Ten<strong>de</strong>nz von Individuen, in <strong>de</strong>r Nähe <strong>de</strong>s Ortes zu bleiben, an<br />

<strong>de</strong>m sie geboren wur<strong>de</strong>n. Beispielsweise war es während eines<br />

G<strong>ro</strong>ßteils <strong>de</strong>r Geschichte und in <strong>de</strong>n meisten Teilen <strong>de</strong>r Welt so<br />

(<strong>wen</strong>n auch zufällig gera<strong>de</strong> nicht in unserer mo<strong>de</strong>rnen Welt),<br />

daß sich einzelne Menschen selten mehr als ein paar Kilometer<br />

von ihrem Geburtsort entfernten. Als Folge davon entstehen<br />

gewöhnlich örtlich begrenzte Ansammlungen genetisch<br />

verwandter Individuen. Ich erinnere mich, wie ich einmal eine<br />

entlegene Insel vor <strong>de</strong>r Westküste von Irland besuchte und<br />

über die Tatsache verblüfft war, daß fast alle Bewohner dieser<br />

Insel enorm g<strong>ro</strong>ße, abstehen<strong>de</strong> Ohren hatten. Das konnte kaum<br />

eine Anpassung an das örtliche Klima sein (gewöhnlich herrschen<br />

starke von <strong>de</strong>r Küste kommen<strong>de</strong> Win<strong>de</strong>). Der Grund für<br />

dieses Phänomen war vielmehr, daß die meisten Inselbewohner<br />

eng miteinan<strong>de</strong>r verwandt waren.<br />

Genetische Verwandte haben gewöhnlich nicht nur ähnliche<br />

Gesichtszüge, son<strong>de</strong>rn gleichen sich auch in allen möglichen<br />

an<strong>de</strong>ren Beziehungen. Beispielsweise wer<strong>de</strong>n sie einan<strong>de</strong>r<br />

gewöhnlich in bezug auf die genetische Neigung ähneln, die<br />

Strategie „Wie du mir, so ich dir“ anzu<strong>wen</strong><strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r nicht.<br />

Daher kann „Wie du mir, so ich dir“ selbst in einer Population,<br />

in <strong>de</strong>r sie insgesamt selten ist, in lokal begrenzten Bereichen<br />

verbreitet sein. Dort können Individuen, die diese Strategie<br />

an<strong>wen</strong><strong>de</strong>n, oft genug aufeinan<strong>de</strong>rtreffen, um von <strong>de</strong>r gegenseitigen<br />

Zusammenarbeit zu p<strong>ro</strong>fitieren, auch <strong>wen</strong>n Berechnungen,<br />

bei <strong>de</strong>nen nur die globale Häufigkeit in <strong>de</strong>r Gesamtpopulation<br />

in Betracht gezogen wird, anzeigen, daß sie unterhalb


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 336<br />

<strong>de</strong>r kritischen Frequenz liegen. „Wie du mir, so ich dir“ spielen<strong>de</strong><br />

Individuen, die in traulichen kleinen lokalen Enklaven<br />

miteinan<strong>de</strong>r zusammenarbeiten, können so prächtig ge<strong>de</strong>ihen,<br />

daß sich aus kleinen Gruppen größere Ansammlungen entwickeln.<br />

Wenn diese g<strong>ro</strong>ß genug wer<strong>de</strong>n, können sie sich auf<br />

Gebiete aus<strong>de</strong>hnen, in <strong>de</strong>nen bis dahin Individuen mit <strong>de</strong>r<br />

Strategie „Immer Zusammenarbeit verweigern“ dominierten.<br />

Es wäre verkehrt, bei diesen lokalen Enklaven an meine irische<br />

Insel zu <strong>de</strong>nken, <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>ren Bewohner sind räumlich isoliert.<br />

Stellen wir uns statt <strong>de</strong>ssen eine g<strong>ro</strong>ße Population vor,<br />

in <strong>de</strong>r nicht viel Bewegung herrscht, so daß die Individuen<br />

dieser Gruppe ihren nächsten Nachbarn gewöhnlich ähnlicher<br />

sind als <strong>de</strong>n etwas weiter entfernten Nachbarn, selbst <strong>wen</strong>n<br />

überall in <strong>de</strong>m gesamten Gebiet ein permanentes Vermischen<br />

von Genen stattfin<strong>de</strong>t.<br />

Kehren wir zu unserem Grat zurück: „Wie du mir, so ich<br />

dir“ könnte ihn also überwin<strong>de</strong>n. Dazu ist weiter nichts nötig<br />

als eine kleine lokale Ansammlung einan<strong>de</strong>r ähnlicher Individuen,<br />

eine Ansammlung <strong>de</strong>r Art, wie sie in natürlichen Populationen<br />

gewöhnlich von selbst entstehen. Die Strategie „Wie<br />

du mir, so ich dir“ besitzt eine eingebaute Begabung dafür,<br />

<strong>de</strong>n Grat hinüber zu ihrer eigenen Seite zu überqueren, selbst<br />

dann, <strong>wen</strong>n sie selten ist. Es ist, als führe ein Geheimgang<br />

unter <strong>de</strong>m Grat hindurch. Doch dieser Geheimgang enthält ein<br />

Einwegventil: Es besteht eine Asymmetrie. An<strong>de</strong>rs als „Wie<br />

du mir, so ich dir“ kann „Immer Zusammenarbeit verweigern“,<br />

obwohl sie eine echte ESS ist, lokale Zusammenballungen<br />

nicht dazu benutzen, <strong>de</strong>n Grat zu überwin<strong>de</strong>n. Ganz im<br />

Gegenteil. Wenn sie lokal gehäuft auftreten, sind Individuen<br />

mit <strong>de</strong>r Strategie „Immer Zusammenarbeit verweigern“ weit<br />

davon entfernt zu ge<strong>de</strong>ihen: Sie schnei<strong>de</strong>n vielmehr beson<strong>de</strong>rs<br />

schlecht ab. Statt einan<strong>de</strong>r ohne viel Aufhebens auf Kosten<br />

<strong>de</strong>r Bank zu helfen, richten sie sich gegenseitig zugrun<strong>de</strong>. Das<br />

heißt, an<strong>de</strong>rs als „Wie du mir, so ich dir“ erhält „Immer Zusammenarbeit<br />

verweigern“ keinerlei Hilfe in <strong>de</strong>r Population.<br />

Das heißt, „Wie du mir, so ich dir“ kann zwar nur mit einigen<br />

Zweifeln als ESS angesehen wer<strong>de</strong>n, besitzt aber eine Art


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 337<br />

Stabilität höherer Ordnung. Was könnte das be<strong>de</strong>uten? Gewiß,<br />

stabil ist stabil. Aber hier betrachten wir die Dinge langfristig.<br />

Während einer langen <strong>Zeit</strong>spanne wi<strong>de</strong>rsteht „Immer Zusammenarbeit<br />

verweigern“ <strong>de</strong>r Invasion. Doch <strong>wen</strong>n wir lange<br />

genug warten, vielleicht Tausen<strong>de</strong> von Jahren, wird „Wie du<br />

mir, so ich dir“ schließlich häufig genug wer<strong>de</strong>n, um <strong>de</strong>n<br />

Grat zu überwin<strong>de</strong>n, und es wird zu einer Wendung in <strong>de</strong>r<br />

Population kommen. Die umgekehrte Entwicklung ist nicht<br />

möglich. Da „Immer Zusammenarbeit verweigern“ nicht von<br />

Zusammenballungen p<strong>ro</strong>fitieren kann, erfreut sie sich dieser<br />

Stabilität höherer Ordnung nicht.<br />

Wie wir gesehen haben, ist die Strategie „Wie du mir, so ich<br />

dir“ „nett“, was be<strong>de</strong>utet, daß sie niemals als erste die Zusammenarbeit<br />

verweigert, und „verzeihend“, was be<strong>de</strong>utet, daß<br />

ihr Gedächtnis für vergangene Missetaten kurz ist. Ich führe<br />

jetzt einen weiteren von Axel<strong>ro</strong>d in einem speziellen Sinne ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>ten<br />

Ausdruck ein. „Wie du mir, so ich dir“ ist außer<strong>de</strong>m<br />

„nicht neidisch“. Neidisch sein be<strong>de</strong>utet hier, daß ein Spieler<br />

danach trachtet, mehr Geld zu gewinnen als sein Gegner,<br />

statt eine bestimmte Summe vom Geld <strong>de</strong>r Bank haben zu<br />

wollen. Nicht neidisch sein be<strong>de</strong>utet, daß ein Spieler völlig<br />

damit zufrie<strong>de</strong>n ist, <strong>wen</strong>n <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Spieler genausoviel Geld<br />

gewinnt wie er selbst, solange bei<strong>de</strong> auf diese Weise mehr von<br />

<strong>de</strong>r Bank erhalten. In <strong>de</strong>r Tat „gewinnt“ „Wie du mir, so ich dir“<br />

niemals ein Spiel. Wenn wir darüber nach<strong>de</strong>nken, erkennen<br />

wir, daß diese Strategie in keinem Spiel eine höhere Punktzahl<br />

als ihr „Gegner“ erlangen kann, da sie niemals die Zusammenarbeit<br />

verweigert, es sei <strong>de</strong>nn als Gegenschlag. Im besten Fall<br />

kann sie ein Unentschie<strong>de</strong>n erreichen. Bei diesem Unentschie<strong>de</strong>n<br />

erzielen aber bei<strong>de</strong> Seiten gewöhnlich hohe Punktzahlen.<br />

Wo es um „Wie du mir, so ich dir“ und an<strong>de</strong>re nette Strategien<br />

geht, ist schon das Wort „Gegner“ unangebracht. Doch <strong>wen</strong>n<br />

Psychologen echte Menschen das Wie<strong>de</strong>rholte Gefangenendilemma<br />

spielen lassen, verfallen lei<strong>de</strong>r fast alle Spieler <strong>de</strong>m<br />

Neid und erzielen daher in bezug auf Geld relativ niedrige<br />

Gewinne. Es sieht so aus, als wollten viele Menschen, vielleicht<br />

ohne auch nur darüber nachzu<strong>de</strong>nken, eher <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Spie-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 338<br />

ler zugrun<strong>de</strong> richten, als mit ihm zusammenarbeiten, um die<br />

Bank zu schädigen. Axel<strong>ro</strong>ds Untersuchungen haben gezeigt,<br />

welch ein Fehler dies ist.<br />

Es ist nur bei bestimmten Arten von Spielen ein Fehler.<br />

Spieltheoretiker unterteilen alle Spiele in „Nullsummenspiele“<br />

und „Nichtnullsummenspiele“. Bei einem Nullsummenspiel<br />

ist ein Gewinn für <strong>de</strong>n einen Spieler ein Verlust für <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren.<br />

Schach beispielsweise ist ein Nullsummenspiel, <strong>de</strong>nn das<br />

Ziel je<strong>de</strong>s Spielers ist, zu gewinnen, und das be<strong>de</strong>utet, er<br />

muß dafür sorgen, daß <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Spieler verliert. Das Gefangenendilemma<br />

jedoch ist ein Nichtnullsummenspiel. Es gibt<br />

eine Bank, die Geld auszahlt, und die bei<strong>de</strong>n Spieler können<br />

sehr wohl Arm in Arm lachend <strong>de</strong>n ganzen Weg bis zur Bank<br />

gehen.<br />

Dieser Ausdruck, daß sie lachend <strong>de</strong>n ganzen Weg bis zur<br />

Bank gehen, erinnert mich an eine g<strong>ro</strong>ßartige Zeile bei Shakespeare:<br />

Das erste, was wir tun: laßt uns alle Rechtsanwälte töten.<br />

Heinrich VI., II. Akt<br />

Zivilp<strong>ro</strong>zesse sind „Streitfälle“, in <strong>de</strong>nen es häufig einen breiten<br />

Spielraum für Zusammenarbeit gibt. Was wie eine Nullsummen-Konf<strong>ro</strong>ntation<br />

aussieht, kann mit ein <strong>wen</strong>ig gutem<br />

Willen in ein für alle Seiten vorteilhaftes Nichtnullsummenspiel<br />

umgewan<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n. Betrachten wir <strong>de</strong>n Fall von Ehescheidungen.<br />

Eine gute Ehe ist offensichtlich ein Nichtnullsummenspiel,<br />

das voll von gegenseitiger Zusammenarbeit ist.<br />

Aber selbst <strong>wen</strong>n eine Ehe zerbricht, wäre es für das Paar<br />

aus zahlreichen Grün<strong>de</strong>n von Vorteil, weiterhin zusammenzuarbeiten<br />

und auch seine Scheidung als Nichtnullsummenspiel<br />

zu behan<strong>de</strong>ln. Als ob das Wohlergehen <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r nicht Grund<br />

genug wäre, reißen die Honorare von zwei Rechtsanwälten<br />

auch noch ein häßliches Loch in die Familienfinanzen. So<br />

wird ein vernünftiges und zivilisiertes Ehepaar offensichtlich<br />

zunächst zusammen einen Rechtsanwalt konsultieren, o<strong>de</strong>r<br />

etwa nicht?


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 339<br />

Nun, in Wahrheit ist es nicht so. Zumin<strong>de</strong>st in England<br />

und bis vor kurzem auch in allen fünfzig Staaten <strong>de</strong>r USA<br />

erlaubt ihnen das Gesetz nicht, sich so zu verhalten, o<strong>de</strong>r<br />

genauer gesagt – und be<strong>de</strong>utsamer – erlaubt <strong>de</strong>r Berufsko<strong>de</strong>x<br />

<strong>de</strong>r Rechtsanwälte es ihnen nicht. Rechtsanwälte dürfen nur<br />

einen Ehepartner als Klienten annehmen. Der an<strong>de</strong>re wird<br />

abgewiesen und erhält entwe<strong>de</strong>r überhaupt keinen rechtlichen<br />

Beistand o<strong>de</strong>r ist gezwungen, einen zweiten Rechtsanwalt aufzusuchen.<br />

Und dann geht <strong>de</strong>r Spaß los. In getrennten Bü<strong>ro</strong>s,<br />

aber unisono beginnen die bei<strong>de</strong>n Rechtsanwälte unverzüglich,<br />

von „uns“ und „ihnen“ zu sprechen. „Uns“, verstehen wir das<br />

recht, be<strong>de</strong>utet nicht ich und meine Frau; es be<strong>de</strong>utet ich und<br />

mein Rechtsanwalt gegen meine Frau und ihren Rechtsanwalt.<br />

Wenn <strong>de</strong>r Fall vor Gericht kommt, wird er in <strong>de</strong>r Tat als<br />

„Schmidt gegen Schmidt“ aufgerufen! Es wird davon ausgegangen,<br />

daß es ein kont<strong>ro</strong>verser Fall ist, gleichgültig, ob die Ehepartner<br />

feindliche Gefühle gegeneinan<strong>de</strong>r hegen o<strong>de</strong>r nicht, und<br />

gleichgültig, ob sie eigens vereinbart haben, vernünftigerweise<br />

freundschaftlich miteinan<strong>de</strong>r umzugehen. Und wer hat einen<br />

Vorteil davon, daß <strong>de</strong>r Fall als eine „Ich gewinne, du verlierst“-<br />

Rauferei behan<strong>de</strong>lt wird? Vermutlich nur die Rechtsanwälte.<br />

Das glücklose Ehepaar ist in ein Nullsummenspiel<br />

hineingedrängt wor<strong>de</strong>n. Für die Rechtsanwälte jedoch ist <strong>de</strong>r<br />

Fall Schmidt gegen Schmidt ein nettes, fettes Nichtnullsummenspiel,<br />

bei <strong>de</strong>m die Schmidts die Belohnungen zahlen und<br />

sie selbst das gemeinsame Konto ihrer bei<strong>de</strong>n Klienten in<br />

sorgfältig kodierter Zusammenarbeit plün<strong>de</strong>rn. Beispielsweise<br />

machen sie Vorschläge, die, wie sie bei<strong>de</strong> wissen, von <strong>de</strong>r<br />

jeweils an<strong>de</strong>ren Seite nicht akzeptiert wer<strong>de</strong>n. Dies p<strong>ro</strong>voziert<br />

einen Gegenvorschlag, von <strong>de</strong>m sie ebenfalls bei<strong>de</strong> wissen, daß<br />

er nicht akzeptabel ist. Und so geht es weiter. Je<strong>de</strong>r Brief, je<strong>de</strong>r<br />

Telefonanruf, <strong>de</strong>r zwischen <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n zusammenarbeiten<strong>de</strong>n<br />

„Gegnern“ ausgetauscht wird, erhöht die Rechnung um einen<br />

weiteren Batzen. Mit einigem Glück läßt sich dieses Vorgehen<br />

monate- o<strong>de</strong>r sogar jahrelang hinziehen, und entsprechend<br />

steigen die Kosten. Die bei<strong>de</strong>n Rechtsanwälte setzen sich nicht<br />

etwa zusammen, um sich dies alles einfallen zu lassen. Im


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 340<br />

Gegenteil, i<strong>ro</strong>nischerweise ist gera<strong>de</strong> die Tatsache, daß sie<br />

so peinlich getrennt sind, das Hauptinstrument ihrer Zusammenarbeit<br />

auf Kosten <strong>de</strong>r Klienten. Möglicherweise sind die<br />

Rechtsanwälte sich gar nicht <strong>de</strong>ssen bewußt, was sie tun. Wie<br />

die Vampire, mit <strong>de</strong>nen wir uns gleich befassen wer<strong>de</strong>n, spielen<br />

sie lediglich nach perfekt ritualisierten Regeln. Das System<br />

funktioniert ohne je<strong>de</strong> bewußte Aufsicht o<strong>de</strong>r Organisation. Es<br />

ist völlig darauf angelegt, uns in Nullsummenspiele hineinzuzwingen.<br />

Nullsummenspiele für die Klienten, aber ausgesp<strong>ro</strong>chene<br />

Nichtnullsummenspiele für die Rechtsanwälte.<br />

Was sollen wir tun? Shakespeares Lösung verursacht eine<br />

Menge Schlamassel. Es wäre sauberer, für eine Gesetzesän<strong>de</strong>rung<br />

zu sorgen. Aber die meisten Parlamentarier<br />

kommen aus <strong>de</strong>n juristischen Berufen und haben eine<br />

Nullsummenmentalität. Man kann sich kaum eine feindlichere<br />

Atmosphäre vorstellen als das englische Unterhaus. (Vor<br />

Gericht wird in <strong>de</strong>r Debatte <strong>wen</strong>igstens <strong>de</strong>r Anstand gewahrt.<br />

Das fällt auch nicht schwer, da „mein gelehrter Freund und<br />

ich“ <strong>de</strong>n ganzen Weg zur Bank sehr schön zusammenarbeiten.)<br />

Vielleicht sollte man wohlmeinen<strong>de</strong>n Gesetzgebern und wirklich<br />

reumütigen Juristen ein <strong>wen</strong>ig Spieltheorie beibringen.<br />

Es ist nur gerecht, <strong>wen</strong>n wir hinzufügen, daß einige Juristen<br />

genau die umgekehrte Rolle spielen, in<strong>de</strong>m sie ihre Klienten,<br />

die auf einen Nullsummenkampf aus sind, davon überzeugen,<br />

daß eine außergerichtliche Nichtnullsummenregelung für sie<br />

günstiger wäre.<br />

Wie sieht es mit an<strong>de</strong>ren Spielen im menschlichen Leben<br />

aus? Welches sind Nullsummen- und welches Nichtnullsummenspiele?<br />

Und – <strong>de</strong>nn das ist nicht dasselbe – welche Aspekte<br />

<strong>de</strong>s Lebens verstehen wir als Nullsummen- o<strong>de</strong>r Nichtnullsummenspiele?<br />

Welche Aspekte <strong>de</strong>s Lebens för<strong>de</strong>rn „Neid“<br />

und welche die Zusammenarbeit gegen eine „Bank“? Denken<br />

wir beispielsweise an Lohnverhandlungen und Lohngefälle.<br />

Wer<strong>de</strong>n wir, <strong>wen</strong>n wir unsere Lohnerhöhungen aushan<strong>de</strong>ln,<br />

von „Neid“ getrieben, o<strong>de</strong>r arbeiten wir zusammen, um unser<br />

Realeinkommen zu maximieren? Glauben wir – im wirklichen<br />

Leben ebenso wie in psychologischen Experimenten –, daß wir


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 341<br />

ein Nullsummenspiel spielen, <strong>wen</strong>n dies tatsächlich nicht <strong>de</strong>r<br />

Fall ist? Ich stelle diese schwierigen Fragen einfach nur. Sie zu<br />

beantworten, wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>n Rahmen dieses Buches sprengen.<br />

Fußball ist ein Nullsummenspiel. Wenigstens ist es das normalerweise;<br />

gelegentlich kann es aber zu einem Nichtnullsummenspiel<br />

wer<strong>de</strong>n. Dies geschah 1977 in <strong>de</strong>r englischen<br />

Fußballiga. Die Mannschaften in <strong>de</strong>r Fußballiga wer<strong>de</strong>n in vier<br />

Divisionen aufgeteilt. Die Vereine spielen gegen an<strong>de</strong>re Vereine<br />

in ihrer eigenen Division und sammeln während <strong>de</strong>r ganzen<br />

Saison Punkte für Siege und unentschie<strong>de</strong>ne Spiele. In <strong>de</strong>r<br />

Ersten Division zu sein bringt Prestige und ist außer<strong>de</strong>m für<br />

einen Verein lukrativ, <strong>de</strong>nn es garantiert g<strong>ro</strong>ße Zuschauermengen.<br />

Am En<strong>de</strong> je<strong>de</strong>r Spielzeit steigen die untersten drei Vereine<br />

<strong>de</strong>r Ersten Division für die nächste Saison in die Zweite Division<br />

ab. Absteigen scheint als schreckliches Schicksal angesehen<br />

zu wer<strong>de</strong>n, und um es zu vermei<strong>de</strong>n, sind g<strong>ro</strong>ße Anstrengungen<br />

gerechtfertigt.<br />

Der 18. Mai 1977 war <strong>de</strong>r letzte Tag <strong>de</strong>r Fußballsaison jenes<br />

Jahres. Zwei <strong>de</strong>r drei Absteiger aus <strong>de</strong>r Ersten Division waren<br />

bereits ermittelt, aber um <strong>de</strong>n dritten Abstieg wur<strong>de</strong> noch<br />

gekämpft. Es wür<strong>de</strong> zweifellos einer <strong>de</strong>r drei Vereine Sun<strong>de</strong>rland,<br />

Bristol o<strong>de</strong>r Coventry sein. Diese Vereine hatten also an<br />

jenem Samstag allen Grund, sich anzustrengen. Sun<strong>de</strong>rland<br />

spielte gegen einen vierten Verein (über <strong>de</strong>ssen Verbleib in <strong>de</strong>r<br />

Ersten Division kein Zweifel bestand). Und es ergab sich, daß<br />

Bristol und Coventry gegeneinan<strong>de</strong>r spielten. Man wußte, daß,<br />

<strong>wen</strong>n Sun<strong>de</strong>rland das Spiel verlor, Bristol und Coventry lediglich<br />

ein Unentschie<strong>de</strong>n benötigten, um in <strong>de</strong>r Ersten Division<br />

zu bleiben. Sollte Sun<strong>de</strong>rland jedoch gewinnen, so wäre, je<br />

nach <strong>de</strong>m Ergebnis <strong>de</strong>s Spieles zwischen Bristol und Coventry,<br />

einer <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Absteiger. Die bei<strong>de</strong>n entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />

Spiele fan<strong>de</strong>n theoretisch gleichzeitig statt. In Wirklichkeit<br />

jedoch begann das Spiel Bristol-Coventry zufällig mit fünf<br />

Minuten Verspätung. Aus diesem Grun<strong>de</strong> wur<strong>de</strong> das Ergebnis<br />

von Sun<strong>de</strong>rlands Spiel vor En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Begegnung Bristol-Coventry<br />

bekannt. Und das ist <strong>de</strong>r Clou dieser ganzen komplizierten<br />

Geschichte.


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 342<br />

Während <strong>de</strong>r größten <strong>Zeit</strong> <strong>de</strong>s Spiels zwischen Bristol und<br />

Coventry war die Begegnung, um einen zeitgenössischen Sportbericht<br />

zu zitieren, „schnell und häufig wütend“, ein erregen<strong>de</strong>r<br />

(<strong>wen</strong>n man so etwas mag) Schlag-auf-Schlag-Kampf. Einige<br />

glänzen<strong>de</strong> Torschüsse von bei<strong>de</strong>n Seiten hatten dafür gesorgt,<br />

daß das Spiel in <strong>de</strong>r 80. Minute zwei zu zwei stand. Dann<br />

drang, zwei Minuten vor Spielen<strong>de</strong>, die Nachricht vom an<strong>de</strong>ren<br />

Spielfeld durch, daß Sun<strong>de</strong>rland verloren hatte. Unverzüglich<br />

sorgte <strong>de</strong>r Mannschaftskapitän von Coventry dafür, daß die<br />

Nachricht auf <strong>de</strong>m riesigen elekt<strong>ro</strong>nischen Standanzeiger an<br />

einem En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Spielfel<strong>de</strong>s aufflammte. Offensichtlich waren<br />

alle 22 Spieler <strong>de</strong>s Lesens mächtig, und sie begriffen alle,<br />

daß sie sich nun nicht mehr anzustrengen brauchten. Ein<br />

Unentschie<strong>de</strong>n war alles, was je<strong>de</strong> <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Mannschaften<br />

brauchte, um vor <strong>de</strong>m Abstieg sicher zu sein. Sich anzustrengen,<br />

um Tore zu erzielen, wäre nun sogar eine ein<strong>de</strong>utig<br />

schlechte Taktik gewesen, <strong>de</strong>nn es hätte Spieler von <strong>de</strong>r Verteidigung<br />

abgezogen und dadurch das Risiko erhöht, tatsächlich<br />

zu verlieren – und schließlich doch noch abzusteigen. Bei<strong>de</strong><br />

Seiten waren eifrig darauf bedacht, ein Unentschie<strong>de</strong>n sicherzustellen.<br />

Um dieselben Sportnachrichten zu zitieren: „Fans,<br />

die Sekun<strong>de</strong>n zuvor, als Don Gillies in <strong>de</strong>r 80. Minute ein Ausgleichstor<br />

für Bristol schoß, wüten<strong>de</strong> Gegner gewesen waren,<br />

taten sich plötzlich zu gemeinsamer Feier zusammen. Schiedsrichter<br />

Ron Challis schaute hilflos zu, wie die Spieler <strong>de</strong>n<br />

Ball herumschubsten und dabei <strong>de</strong>n Spieler, <strong>de</strong>r am Ball war,<br />

<strong>wen</strong>ig o<strong>de</strong>r gar nicht herausfor<strong>de</strong>rten.“ Was zuvor ein Nullsummenspiel<br />

gewesen war, war wegen einer Nachricht aus <strong>de</strong>r<br />

Außenwelt plötzlich zu einem Nichtnullsummenspiel gewor<strong>de</strong>n.<br />

Es ist, als sei plötzlich durch Zauberkraft von außen<br />

eine „Bank“ erschienen, die es bei<strong>de</strong>n, Bristol wie Coventry,<br />

möglich machte, von <strong>de</strong>m gleichen Resultat zu p<strong>ro</strong>fitieren –<br />

einem Unentschie<strong>de</strong>n.<br />

Zuschauerspiele wie Fußball sind normalerweise Nullsummenspiele,<br />

und das aus gutem Grund. Es ist für eine Menschenmenge<br />

weitaus erregen<strong>de</strong>r, Spieler zu beobachten, die<br />

verbissen gegeneinan<strong>de</strong>r kämpfen, als solche, die sich in aller


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 343<br />

Freundschaft gegenseitig gewähren lassen. Aber das wirkliche<br />

Leben, sowohl das menschliche als auch das <strong>de</strong>r Tiere und<br />

Pflanzen, fin<strong>de</strong>t nicht für Zuschauer statt. Viele Situationen im<br />

wirklichen Leben entsprechen in <strong>de</strong>r Tat Nichtnullsummenspielen.<br />

Die Natur spielt häufig die Rolle <strong>de</strong>r „Bank“, daher<br />

kann ein Individuum vom Erfolg <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren p<strong>ro</strong>fitieren und<br />

umgekehrt. Man braucht keine Rivalen zugrun<strong>de</strong> zu richten,<br />

um selbst erfolgreich zu sein. Ohne von <strong>de</strong>n grundlegen<strong>de</strong>n<br />

Gesetzen <strong>de</strong>s egoistischen Gens abzugehen, erkennen wir, wie<br />

Zusammenarbeit und wechselseitige Hilfe selbst in einer im<br />

wesentlichen egoistischen Welt blühen und ge<strong>de</strong>ihen können.<br />

Nun ist <strong>de</strong>utlich, auf welche Weise (in Axel<strong>ro</strong>ds Sinne) nette<br />

Kerle als erste ans Ziel gelangen können.<br />

Aber dies alles funktioniert nicht, solange das Spiel nicht<br />

wie<strong>de</strong>rholt wird. Die Spieler müssen wissen (o<strong>de</strong>r „wissen“), daß<br />

das gegenwärtig stattfin<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Spiel nicht das letzte zwischen<br />

ihnen ist. In Axel<strong>ro</strong>ds eindringlicher Sprache ausgedrückt,<br />

heißt das: Der „Schatten <strong>de</strong>r Zukunft“ muß lang sein. Aber wie<br />

lang? Er kann nicht unendlich lang sein. Theoretisch gesehen<br />

kommt es nicht darauf an, wie lang das Spiel ist; wichtig ist, daß<br />

keiner <strong>de</strong>r Spieler wissen sollte, wann es en<strong>de</strong>t. Nehmen wir<br />

an, <strong>de</strong>r Leser und ich spielten gegeneinan<strong>de</strong>r, und nehmen wir<br />

weiter an, wir wüßten bei<strong>de</strong>, daß das Spiel genau 100 Run<strong>de</strong>n<br />

dauern soll. Nun ist uns bei<strong>de</strong>n klar, daß die 100. Run<strong>de</strong>, da sie<br />

die letzte ist, einem einfachen einmaligen Gefangenendilemma<br />

entspricht. Daher ist in <strong>de</strong>r 100. Run<strong>de</strong> die einzig vernünftige<br />

Strategie für je<strong>de</strong>n von uns bei<strong>de</strong>n Zusammenarbeit verweigern,<br />

und wir können bei<strong>de</strong> davon ausgehen, daß <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re<br />

Spieler zu <strong>de</strong>mselben Ergebnis kommen und entschlossen sein<br />

wird, in <strong>de</strong>r letzten Run<strong>de</strong> die Zusammenarbeit zu verweigern.<br />

Die letzte Run<strong>de</strong> kann daher als vorhersehbar abgeschrieben<br />

wer<strong>de</strong>n. Nun aber wird die 99. Run<strong>de</strong> gleichbe<strong>de</strong>utend mit<br />

einem einzigen Spiel, und die einzig vernünftige Wahl für je<strong>de</strong>n<br />

Spieler in diesem vorletzten Spiel ist ebenfalls Zusammenarbeit<br />

verweigern. Die 98. Run<strong>de</strong> unterliegt <strong>de</strong>mselben Gedankengang<br />

– und so weiter. Zwei strikt vernünftige Spieler, von<br />

<strong>de</strong>nen je<strong>de</strong>r davon ausgeht, daß <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re sich ebenfalls strikt


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 344<br />

rational verhält, können nichts an<strong>de</strong>res tun, als die Zusammenarbeit<br />

zu verweigern, solange sie bei<strong>de</strong> wissen, wie viele<br />

Run<strong>de</strong>n das Spiel haben wird. Aus diesem Grund gehen Spieltheoretiker,<br />

<strong>wen</strong>n sie über das Wie<strong>de</strong>rholte Gefangenendilemma<br />

sprechen, immer von <strong>de</strong>r Annahme aus, daß das En<strong>de</strong><br />

<strong>de</strong>s Spiels unvorhersagbar o<strong>de</strong>r nur <strong>de</strong>r Bank bekannt ist.<br />

Selbst <strong>wen</strong>n die genaue Anzahl <strong>de</strong>r Run<strong>de</strong>n eines Spiels<br />

nicht mit Sicherheit bekannt ist, ist es im wirklichen Leben<br />

oft möglich, statistisch abzuschätzen, wie lange das Spiel wahrscheinlich<br />

noch dauern wird. Diese Einschätzung kann zu<br />

einem wichtigen Teil <strong>de</strong>r Strategie wer<strong>de</strong>n. Wenn ich bemerke,<br />

daß <strong>de</strong>r Bankier unruhig wird und auf seine Uhr sieht, ist<br />

die Vermutung berechtigt, daß das Spiel gleich zu En<strong>de</strong> sein<br />

wird, und ich kann daher versucht sein, die Zusammenarbeit<br />

zu verweigern. Wenn ich <strong>de</strong>n Verdacht habe, daß <strong>de</strong>r Leser<br />

die Nervosität <strong>de</strong>s Bankiers ebenfalls bemerkt hat, so fürchte<br />

ich möglicherweise, daß er ebenfalls daran <strong>de</strong>nkt, die Zusammenarbeit<br />

zu verweigern. Ich wer<strong>de</strong> wahrscheinlich ängstlich<br />

darum bemüht sein, als erster die Zusammenarbeit zu verweigern.<br />

Beson<strong>de</strong>rs, da ich die Befürchtung hege, daß <strong>de</strong>r Leser<br />

befürchtet, daß ich ...<br />

Die einfache Unterscheidung <strong>de</strong>s Mathematikers zwischen<br />

<strong>de</strong>m „Einmaligen“ und <strong>de</strong>m „Wie<strong>de</strong>rholten Gefangenendilemmaspiel“<br />

ist zu einfach. Man kann davon ausgehen, daß je<strong>de</strong>r<br />

Spieler sich so verhält, als besäße er eine ständig aktualisierte<br />

Vorstellung davon, wie lange das Spiel wahrscheinlich noch<br />

weitergeht. Je länger <strong>de</strong>r von ihm geschätzte <strong>Zeit</strong>raum, <strong>de</strong>sto<br />

mehr wird sein Spiel <strong>de</strong>n Erwartungen <strong>de</strong>s Mathematikers<br />

hinsichtlich <strong>de</strong>s echten wie<strong>de</strong>rholten Spiels entsprechen, mit<br />

an<strong>de</strong>ren Worten: Um so netter, verständnisvoller, <strong>wen</strong>iger<br />

neidisch wird er sein. Je kürzer er die restliche Spieldauer<br />

einschätzt, <strong>de</strong>sto stärker wird er geneigt sein, entsprechend<br />

<strong>de</strong>n Erwartungen <strong>de</strong>s Mathematikers für das einmalige Spiel<br />

zu han<strong>de</strong>ln: Um so gemeiner und <strong>wen</strong>iger verzeihend wird er<br />

sein.<br />

Um die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s Schattens <strong>de</strong>r Zukunft zu illustrieren,<br />

führt Axel<strong>ro</strong>d ein bewegen<strong>de</strong>s Beispiel an. Es hat mit


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 345<br />

einem bemerkenswerten Phänomen zu tun, das während <strong>de</strong>s<br />

Ersten Weltkrieges entstand, <strong>de</strong>m System „Leben und leben<br />

lassen“. Seine Quelle sind die Forschungen <strong>de</strong>s Historikers und<br />

Soziologen Tony Ashworth. Es ist recht bekannt, daß sich zu<br />

Weihnachten britische und <strong>de</strong>utsche Soldaten für kurze <strong>Zeit</strong><br />

verbrü<strong>de</strong>rten und im Niemandsland zusammen tranken. Weniger<br />

gut bekannt, aber in meinen Augen interessanter ist die<br />

Tatsache, daß ab 1914 <strong>wen</strong>igstens zwei Jahre lang überall entlang<br />

<strong>de</strong>r F<strong>ro</strong>ntlinien inoffizielle und unausgesp<strong>ro</strong>chene Nichtangriffspakte<br />

gediehen, ein System, in <strong>de</strong>m „Leben und leben<br />

lassen“ galt. Es wird berichtet, daß ein höherer britischer Offizier,<br />

<strong>de</strong>r die Schützengräben inspizierte, verblüfft darüber war,<br />

<strong>de</strong>utsche Soldaten zu beobachten, die in Schußweite hinter<br />

ihren eigenen Linien herumspazierten. „Unsere Leute schienen<br />

davon keine Notiz davon zu nehmen. Ich beschloß im<br />

stillen, diesen Zustand zu been<strong>de</strong>n, sobald wir übernommen<br />

hatten; solche Dinge sollten nicht erlaubt sein. Diese Leute<br />

wußten ganz offensichtlich nicht, daß ein Krieg im Gange war.<br />

Bei<strong>de</strong> Seiten glaubten anscheinend an die Politik „Leben und<br />

leben lassen.“<br />

Die Spieltheorie und das „Gefangenendilemma“ waren in<br />

jenen Tagen noch nicht erfun<strong>de</strong>n, aber im Rückblick können<br />

wir uns diese Vorgänge ohne weiteres erklären, und Axel<strong>ro</strong>d<br />

liefert eine faszinieren<strong>de</strong> Analyse. In <strong>de</strong>m Schützengrabenkrieg<br />

jener <strong>Zeit</strong> war <strong>de</strong>r Schatten <strong>de</strong>r Zukunft bei je<strong>de</strong>m Zug<br />

lang. Das heißt, je<strong>de</strong> im Schützengraben sitzen<strong>de</strong> Gruppe<br />

von britischen Soldaten konnte davon ausgehen, daß sie sich<br />

monatelang <strong>de</strong>rselben eingegrabenen Gruppe von Deutschen<br />

gegenübersehen wür<strong>de</strong>. Darüber hinaus wußten die einfachen<br />

Soldaten niemals, wann – <strong>wen</strong>n überhaupt – sie verlegt<br />

wer<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>n; Heeresbefehle erscheinen ihren Empfängern<br />

seit jeher willkürlich, launenhaft und unverständlich. Der<br />

Schatten <strong>de</strong>r Zukunft war damals lang und unbestimmt genug,<br />

um eine Zusammenarbeit nach <strong>de</strong>m Prinzip „Wie du mir, so<br />

ich dir“ zu för<strong>de</strong>rn. Vorausgesetzt natürlich, daß die Situation<br />

einem Gefangenendilemma entsprach. Erinnern wir uns, daß,<br />

damit sich ein Spiel als ein echtes Gefangenendilemma qualifi-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 346<br />

ziert, die Belohnungen einer beson<strong>de</strong>ren Rangordnung folgen<br />

müssen. Bei<strong>de</strong> Seiten müssen gegenseitige Zusammenarbeit<br />

<strong>de</strong>r wechselseitigen Verweigerung <strong>de</strong>r Zusammenarbeit vorziehen.<br />

Die Zusammenarbeit verweigern, während die an<strong>de</strong>re<br />

Seite zusammenarbeitet, ist sogar noch besser, falls es gelingt.<br />

Zusammenarbeiten, während die an<strong>de</strong>re Seite die Zusammenarbeit<br />

verweigert, ist am schlimmsten. Bei<strong>de</strong>rseitige Verweigerung<br />

<strong>de</strong>r Zusammenarbeit ist das, was <strong>de</strong>r Generalstab gern<br />

sehen wür<strong>de</strong>. Die Generäle wollen ihre Jungs begeistert Deutsche<br />

(o<strong>de</strong>r Englän<strong>de</strong>r) abknallen sehen, wann immer sich die<br />

Gelegenheit dazu bietet.<br />

Bei<strong>de</strong>rseitige Zusammenarbeit war vom Standpunkt <strong>de</strong>r<br />

Generäle aus unerwünscht, half es ihnen doch nicht, <strong>de</strong>n Krieg<br />

zu gewinnen. In <strong>de</strong>n Augen <strong>de</strong>r einzelnen Soldaten bei<strong>de</strong>r<br />

Seiten war sie dagegen auße<strong>ro</strong>r<strong>de</strong>ntlich wünschenswert. Sie<br />

wollten nicht erschossen wer<strong>de</strong>n. Zugegebenermaßen – und<br />

dies hat mit <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Auszahlungsbedingungen zu tun, die<br />

erfor<strong>de</strong>rlich sind, damit eine Situation ein echtes Gefangenendilemma<br />

ist – waren sie sich wahrscheinlich mit <strong>de</strong>n Generälen<br />

darin einig, daß sie <strong>de</strong>n Krieg lieber gewinnen als verlieren<br />

wollten. Aber das ist nicht die Wahl, <strong>de</strong>r sich ein einzelner<br />

Soldat gegenübersieht. Es ist unwahrscheinlich, daß <strong>de</strong>r Ausgang<br />

<strong>de</strong>s Krieges wesentlich davon beeinflußt wird, was er<br />

als einzelne Person tut. Gegenseitige Zusammenarbeit mit <strong>de</strong>n<br />

konkreten feindlichen Soldaten, die einem auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren<br />

Seite <strong>de</strong>s Niemandslan<strong>de</strong>s gegenüberstehen, beeinflußt jedoch<br />

höchst entschei<strong>de</strong>nd das eigene Schicksal und ist bei weitem<br />

<strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>rseitigen Verweigerung <strong>de</strong>r Zusammenarbeit vorzuziehen,<br />

auch <strong>wen</strong>n man diese aus Grün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Patriotismus<br />

o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Disziplin vielleicht vorziehen wür<strong>de</strong>, <strong>wen</strong>n man damit<br />

davonkäme. Die damalige Situation scheint ein echtes Gefangenendilemma<br />

gewesen zu sein. Es war zu erwarten, daß so<br />

etwas wie „Wie du mir, so ich dir“ entstehen wür<strong>de</strong>, und es entstand<br />

wirklich.<br />

Die örtlich stabile Strategie war nicht unbedingt an je<strong>de</strong>m<br />

F<strong>ro</strong>ntabschnitt „Wie du mir, so ich dir“ selbst. „Wie du mir,<br />

so ich dir“ gehört zu einer Familie von netten, Vergeltung


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 347<br />

üben<strong>de</strong>n, aber verzeihen<strong>de</strong>n Strategien, die alle zwar nicht<br />

stabil im hier gebrauchten Sinne sind, aber doch zumin<strong>de</strong>st<br />

schwer zu unterwan<strong>de</strong>rn, <strong>wen</strong>n sie sich erst einmal entwickelt<br />

haben. Wie wir einem zeitgenössischen Bericht entnehmen,<br />

entstand zum Beispiel an einer Stelle <strong>de</strong>r F<strong>ro</strong>nt eine Strategie<br />

<strong>de</strong>s „Wie du dreimal mir, so ich dir“.<br />

Wir gehen nachts vor die Gräben hinaus ... Die <strong>de</strong>ut<br />

schen Arbeitstrupps sind ebenfalls draußen, <strong>de</strong>shalb<br />

verstieße es gegen die Etikette, jetzt zu schießen. Wirklich<br />

ekelhaft sind die Gewehrgranaten ... Sie können<br />

bis zu acht o<strong>de</strong>r neun Mann töten, <strong>wen</strong>n sie in einen<br />

Schützengraben fallen ... Aber wir benutzen unsere nie,<br />

solange die Deutschen nicht beson<strong>de</strong>rs laut wer<strong>de</strong>n, da<br />

bei ihrem Vergeltungsystem für je<strong>de</strong> einzelne unserer<br />

Granaten drei von ihnen zurückkommen.<br />

Es ist für je<strong>de</strong> Strategie <strong>de</strong>r Familie „Wie du mir, so ich dir“<br />

wichtig, daß die Spieler für das Verweigern von Zusammenarbeit<br />

bestraft wer<strong>de</strong>n. Die D<strong>ro</strong>hung <strong>de</strong>r Vergeltung muß immer<br />

präsent sein. Zurschaustellungen <strong>de</strong>r Vergeltungskapazität<br />

waren ein bemerkenswerter Zug <strong>de</strong>s Systems „Leben und<br />

leben lassen“. Meisterschützen auf bei<strong>de</strong>n Seiten pflegten ihre<br />

tödliche Virtuosität zu zeigen, in<strong>de</strong>m sie nicht auf feindliche<br />

Soldaten, son<strong>de</strong>rn auf leblose Ziele in <strong>de</strong>ren Nähe schossen,<br />

eine Technik, die auch in Wildwestfilmen verwandt wird (wie<br />

das Ausschießen von Kerzenflammen). Allem Anschein nach<br />

ist niemals eine befriedigen<strong>de</strong> Antwort auf die Frage gegeben<br />

wor<strong>de</strong>n, warum die bei<strong>de</strong>n ersten funktionsfähigen Atombomben<br />

– gegen <strong>de</strong>n ausdrücklichen Willen <strong>de</strong>r führen<strong>de</strong>n<br />

Physiker, die für ihre Entwicklung verantwortlich waren –<br />

dazu benutzt wur<strong>de</strong>n, zwei Städte zu zerstören, statt sie zu<br />

einer Demonstration zu ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>n, die <strong>de</strong>m spektakulären<br />

Ausschießen von Kerzen entspricht. Eine wichtige Eigenschaft<br />

von Strategien, die „Wie du mir, so ich dir“ ähnlich sind, ist,<br />

daß sie vergeben können. Dies trägt, wie wir gesehen haben,<br />

dazu bei zu dämpfen, was an<strong>de</strong>rnfalls zu langen und Scha<strong>de</strong>n


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 348<br />

anrichten<strong>de</strong>n Serien gegenseitiger Vergeltungsschläge wer<strong>de</strong>n<br />

könnte. Die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s Eindämmens von Vergeltung<br />

kommt in <strong>de</strong>m folgen<strong>de</strong>n Bericht eines britischen (als ob nicht<br />

<strong>de</strong>r erste Satz jegliche Zweifel in dieser Hinsicht beseitigen<br />

wür<strong>de</strong>) Offiziers dramatisch zum Ausdruck:<br />

Ich war zum Tee bei Kompanie A, als wir eine Menge<br />

Geschrei hörten und <strong>de</strong>r Sache nachgingen. Wir fan<strong>de</strong>n<br />

unsere Männer und die Deutschen auf ihren jeweiligen<br />

Brustwehren stehend. Plötzlich erreichte uns eine Salve,<br />

richtete aber keinen Scha<strong>de</strong>n an. Natürlich gingen bei<strong>de</strong><br />

Seiten in Deckung, und unsere Männer begannen auf<br />

die Deutschen zu fluchen, als urplötzlich ein mutiger<br />

Deutscher auf seine Brustwehr stieg und ausrief: „Es tut<br />

uns sehr leid; wir hoffen, es ist niemand verletzt wor<strong>de</strong>n.<br />

Es ist nicht unsere Schuld, es ist diese verdammte<br />

preußische Artillerie.“<br />

Wie Axel<strong>ro</strong>d kommentiert, geht diese Entschuldigung „weit<br />

über eine bloße zweckdienliche Anstrengung, Vergeltung zu<br />

vermei<strong>de</strong>n, hinaus. Sie spiegelt moralisches Bedauern darüber<br />

wi<strong>de</strong>r, daß eine Vertrauenssituation verletzt wor<strong>de</strong>n ist, und<br />

sie zeigt Besorgnis, daß jemand verletzt wor<strong>de</strong>n sein könnte.“<br />

Gewiß ein bewun<strong>de</strong>rnswerter und sehr mutiger Deutscher.<br />

Axel<strong>ro</strong>d betont außer<strong>de</strong>m die Be<strong>de</strong>utung von Vorhersagbarkeit<br />

und Ritual für die Erhaltung eines stabilen Musters<br />

gegenseitigen Vertrauens. Ein schönes Beispiel dafür ist die<br />

„Abendkanone“, die die britische Artillerie in einem bestimmten<br />

F<strong>ro</strong>ntabschnitt mit uhrwerkartiger Regelmäßigkeit abfeuerte.<br />

Mit <strong>de</strong>n Worten eines <strong>de</strong>utschen Soldaten:<br />

Um sieben kam er – so pünktlich, daß man seine Uhr<br />

danach stellen konnte ... Er hatte immer dasselbe Ziel,<br />

seine Schußweite war genau, niemals wich er seitlich ab,<br />

ging über das Ziel hinaus o<strong>de</strong>r war nicht weit genug ...<br />

Es gab sogar einige neugierige Kerle, die kurz vor sieben<br />

... hinausk<strong>ro</strong>chen, um ihn explodieren zu sehen.


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 349<br />

Die <strong>de</strong>utsche Artillerie tat genau das gleiche, wie <strong>de</strong>r folgen<strong>de</strong><br />

Bericht <strong>de</strong>r britischen Seite zeigt:<br />

So regelmäßig waren sie [die Deutschen] in ihrer Wahl<br />

<strong>de</strong>r Ziele, <strong>de</strong>m <strong>Zeit</strong>punkt <strong>de</strong>r Schüsse und <strong>de</strong>r Anzahl<br />

von Run<strong>de</strong>n, die gefeuert wur<strong>de</strong>n, daß ... Oberst Jones<br />

... auf die Minute genau wußte, wo das nächste Geschoß<br />

einschlagen wür<strong>de</strong>. Seine Berechnungen waren sehr,<br />

exakt, und er war in <strong>de</strong>r Lage, Risiken einzugehen,<br />

die nicht eingeweihten Stabsoffizieren sehr g<strong>ro</strong>ß erschienen,<br />

wußte er doch, daß die Schießerei aufhören wür<strong>de</strong>,<br />

bevor er <strong>de</strong>n unter Feuer genommenen Platz erreichte.<br />

Axel<strong>ro</strong>d bemerkt, daß <strong>de</strong>rartige „Rituale nichtssagen<strong>de</strong>n und<br />

<strong>ro</strong>utinemäßigen Feuerns eine doppelte Botschaft aussandten.<br />

Dem Oberkommando vermittelten sie <strong>de</strong>n Eindruck von<br />

Aggression, <strong>de</strong>m Feind aber die Botschaft von Frie<strong>de</strong>n.“<br />

Das System „Leben und Leben lassen“ hätte am grünen<br />

Tisch verbal ausgehan<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n können, vereinbart von<br />

Strategen, die über Bewußtsein verfügten. In <strong>de</strong>r Tat war dies<br />

jedoch nicht <strong>de</strong>r Fall. Es entstand aus einer Reihe lokaler<br />

Konventionen, dadurch, daß Menschen auf das Verhalten an<strong>de</strong>rer<br />

reagierten; <strong>de</strong>n einzelnen Soldaten war dieser P<strong>ro</strong>zeß<br />

wahrscheinlich kaum bewußt. Das braucht uns nicht zu erstaunen.<br />

Die Strategien in Axel<strong>ro</strong>ds Computer waren <strong>de</strong>finitiv<br />

unbewußt. Es war ihr Verhalten, das sie als nett o<strong>de</strong>r gemein,<br />

als verzeihend o<strong>de</strong>r nachtragend neidisch o<strong>de</strong>r nicht neidisch<br />

<strong>de</strong>finierte. Die P<strong>ro</strong>grammierer, die sie entwarfen, können je<strong>de</strong><br />

dieser Eigenschaften besessen haben, aber das ist irrelevant.<br />

Eine nette, verzeihen<strong>de</strong>, nicht neidische Strategie könnte<br />

leicht von einem sehr unangenehmen Menschen p<strong>ro</strong>grammiert<br />

wer<strong>de</strong>n – und umgekehrt. Die Nettigkeit einer Strategie<br />

erkennt man an ihrem Verhalten, nicht an ihren Motiven (<strong>de</strong>nn<br />

sie hat keine) und auch nicht an <strong>de</strong>r Persönlichkeit ihres Verfassers<br />

(<strong>de</strong>r zu <strong>de</strong>m <strong>Zeit</strong>punkt, an <strong>de</strong>m das P<strong>ro</strong>gramm im Computer<br />

läuft, in <strong>de</strong>n Hintergrund getreten ist). Ein Computerp<strong>ro</strong>gramm<br />

kann sich strategisch verhalten, ohne sich seiner Stra-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 350<br />

tegie o<strong>de</strong>r überhaupt irgen<strong>de</strong>ines Dinges bewußt zu sein. Wir<br />

sind natürlich mit <strong>de</strong>r Vorstellung unbewußt agieren<strong>de</strong>r Strategen<br />

völlig vertraut, o<strong>de</strong>r zumin<strong>de</strong>st solcher Strategen, <strong>de</strong>ren<br />

Bewußtsein, falls sie es haben, irrelevant ist. Dieses Buch ist<br />

voll von Strategen, <strong>de</strong>nen ein Bewußtsein fehlt. Axel<strong>ro</strong>ds P<strong>ro</strong>gramme<br />

sind ein hervorragen<strong>de</strong>s Mo<strong>de</strong>ll für die Art und Weise,<br />

wie wir uns in <strong>de</strong>n vorangegangenen Kapiteln mit Tieren und<br />

Pflanzen, ja in <strong>de</strong>r Tat mit Genen befaßt haben. Es liegt daher<br />

nahe zu fragen, ob seine optimistischen Schlußfolgerungen –<br />

über <strong>de</strong>n Erfolg von nichtneidischer, verzeihen<strong>de</strong>r Nettigkeit<br />

– auch auf das Reich <strong>de</strong>r Natur zutreffen. Die Antwort ist: Ja,<br />

natürlich tun sie das. Not<strong>wen</strong>dige Voraussetzungen dafür sind<br />

lediglich, daß die Natur gelegentlich „Gefangenendilemma-<br />

Spiele“ ansetzt, daß <strong>de</strong>r Schatten <strong>de</strong>r Zukunft lang ist und<br />

daß die Spiele Nichtnullsummenspiele sind. Diese Bedingungen<br />

wer<strong>de</strong>n mit Sicherheit überall im Reich <strong>de</strong>s Lebendigen<br />

erfüllt.<br />

Niemand wür<strong>de</strong> jemals behaupten, eine Bakterie sei ein<br />

bewußt han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>r Stratege, und doch spielen bakterielle Parasiten<br />

mit ihren Wirten wahrscheinlich unaufhörliche „Gefangenendilemma-Spiele“.<br />

Es gibt keinen Grund, ihre Strategien<br />

nicht mit Axel<strong>ro</strong>dschen Adjektiven – verzeihend, nicht neidisch<br />

und so weiter – zu belegen. Axel<strong>ro</strong>d und Hamilton weisen<br />

darauf hin, daß bei einer Person, die verletzt ist, normalerweise<br />

harmlose o<strong>de</strong>r nützliche Bakterien „gemein“ wer<strong>de</strong>n<br />

und sogar eine tödliche Sepsis verursachen können. Ein Arzt<br />

könnte sagen, die „natürliche Wi<strong>de</strong>rstandskraft“ <strong>de</strong>r Person<br />

sei durch die Verletzung geschwächt. Aber vielleicht hängt <strong>de</strong>r<br />

wirkliche Grund mit einem Gefangenendilemma zusammen.<br />

Haben die Bakterien vielleicht etwas zu gewinnen, halten sich<br />

jedoch gewöhnlich zurück? Im Spiel zwischen Mensch und<br />

Bakterie ist <strong>de</strong>r „Schatten <strong>de</strong>r Zukunft“ normalerweise lang,<br />

da bei einem typischen Menschen damit zu rechnen ist,<br />

daß er von je<strong>de</strong>m beliebigen Startpunkt an noch jahrelang<br />

lebt. Ein Schwerverletzter dagegen bietet seinen bakteriellen<br />

Gästen möglicherweise einen potentiell viel kürzeren Schatten.<br />

Dementsprechend beginnt <strong>de</strong>r „Anreiz zum Verweigern“ <strong>de</strong>r


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 351<br />

Zusammenarbeit als attraktiver zu erscheinen als die „Belohnung<br />

für bei<strong>de</strong>rseitige Zusammenarbeit“. Es ist überflüssig zu<br />

sagen, daß niemand behauptet, die Bakterien wür<strong>de</strong>n all dies<br />

in ihren häßlichen kleinen Köpfen erfin<strong>de</strong>n! Der Einfluß <strong>de</strong>r<br />

Selektion auf Generationen von Bakterien hat ihnen vermutlich<br />

eine unbewußte Daumenregel eingebaut, die auf rein biochemische<br />

Weise funktioniert.<br />

Nach Ansicht von Axel<strong>ro</strong>d und Hamilton können Pflanzen<br />

sogar Vergeltung üben, natürlich wie<strong>de</strong>r unbewußt. Zwischen<br />

Feigenbäumen und bestimmten Gallwespen besteht eine enge<br />

kooperative Beziehung. Die Feige, die wir essen, ist nicht wirklich<br />

eine Frucht. Sie hat ein winziges Loch am En<strong>de</strong>, und <strong>wen</strong>n<br />

wir in dieses Loch hineinkriechen (wir müßten zu diesem<br />

Zweck so klein sein wie die Gallwespen, und sie sind winzig<br />

– zum Glück so winzig, daß wir sie nicht bemerken, <strong>wen</strong>n<br />

wir eine Feige essen), so fin<strong>de</strong>n wir Hun<strong>de</strong>rte von winzigen<br />

Blüten, die die Wän<strong>de</strong> überziehen. Die Feige ist ein dunkles<br />

Gewächshaus für Blüten, eine Bestäubungskammer. Und die<br />

Bestäubung kann nur durch Gallwespen erfolgen. Der Baum<br />

hat also einen Vorteil davon, daß er die Wespen beherbergt.<br />

Aber was haben die Wespen davon? Sie legen ihre Eier in<br />

einige <strong>de</strong>r winzigen Blüten, die dann von <strong>de</strong>n Larven gefressen<br />

wer<strong>de</strong>n, und bestäuben an<strong>de</strong>re Blüten innerhalb <strong>de</strong>rselben<br />

Feige. Die Zusammenarbeit verweigern wür<strong>de</strong> für eine Wespe<br />

be<strong>de</strong>uten, daß sie ihre Eier in zu viele Blüten in einer Feige legt<br />

und zu <strong>wen</strong>ige von ihnen bestäubt. Aber wie könnte ein Feigenbaum<br />

„Vergeltung üben“? Glauben wir Axel<strong>ro</strong>d und Hamilton,<br />

„so zeigt es sich in vielen Fällen, daß, <strong>wen</strong>n eine Wespe<br />

in eine junge Feige hineinkriecht und nicht ausreichend viele<br />

Blüten bestäubt, son<strong>de</strong>rn statt <strong>de</strong>ssen in fast alle Blüten Eier<br />

legt, <strong>de</strong>r Baum die sich entwickeln<strong>de</strong> Feige in einem frühen<br />

Stadium absterben läßt. Dann stirbt die gesamte Nachkommenschaft<br />

<strong>de</strong>r Wespe.“<br />

Ein seltsames Beispiel von einem offensichtlich nach <strong>de</strong>m<br />

Prinzip „Wie du mir, so ich dir“ funktionieren<strong>de</strong>n Arrangement<br />

in <strong>de</strong>r Natur wur<strong>de</strong> von Eric Fischer an einem hermaph<strong>ro</strong>ditischen<br />

Fisch ent<strong>de</strong>ckt, <strong>de</strong>m Seebarsch. An<strong>de</strong>rs als bei uns


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 352<br />

Menschen wird das Geschlecht dieser Fische nicht bei <strong>de</strong>r<br />

Befruchtung durch ihre Ch<strong>ro</strong>mosomen bestimmt. Statt <strong>de</strong>ssen<br />

ist je<strong>de</strong>s Individuum in <strong>de</strong>r Lage, sowohl weibliche als auch<br />

männliche Funktionen auszuüben. Bei je<strong>de</strong>r einzelnen Laichepiso<strong>de</strong><br />

stoßen Seebarsche entwe<strong>de</strong>r Eier o<strong>de</strong>r Spermien aus.<br />

Sie bil<strong>de</strong>n monogame Paare, und in je<strong>de</strong>m Paar spielen die<br />

Gatten abwechselnd die Rolle <strong>de</strong>s Männchens und <strong>de</strong>s Weibchens.<br />

Nun können wir annehmen, daß je<strong>de</strong>r Fisch, <strong>wen</strong>n er<br />

ungeschoren davonkäme, es „vorziehen“ wür<strong>de</strong>, die ganze <strong>Zeit</strong><br />

hindurch die männliche Rolle zu spielen, <strong>de</strong>nn diese ist billiger.<br />

An<strong>de</strong>rs ausgedrückt, ein Individuum, das seinen Partner<br />

dazu bringen könnte, die meiste <strong>Zeit</strong> die weibliche Rolle zu<br />

spielen, wür<strong>de</strong> alle Vorteile „ihrer“ Investitionen in Eier gewinnen,<br />

während „er“ Ressourcen übrigbehielte, die er auf an<strong>de</strong>re<br />

Dinge ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>n könnte, zum Beispiel auf die Paarung mit<br />

an<strong>de</strong>ren Individuen.<br />

Tatsächlich beobachtete Fischer, daß die Barsche sich mit<br />

recht strenger Regelmäßigkeit abwechseln. Genau das ist zu<br />

erwarten, falls sie „Wie du mir, so ich dir“ spielen. Und es<br />

wäre einleuchtend, <strong>wen</strong>n sie dies täten, <strong>de</strong>nn das Spiel scheint<br />

wirklich ein echtes Gefangenendilemma zu sein, <strong>wen</strong>n auch<br />

ein etwas kompliziertes. Die Karte Zusammenarbeiten spielen<br />

be<strong>de</strong>utet, die weibliche Rolle zu übernehmen, <strong>wen</strong>n ich damit<br />

an <strong>de</strong>r Reihe bin. Der Versuch, statt <strong>de</strong>ssen die Rolle <strong>de</strong>s<br />

Männchens zu spielen, entspricht <strong>de</strong>m Ausspielen <strong>de</strong>r Karte<br />

Zusammenarbeit verweigern. Verweigern ist anfällig gegen Vergeltung:<br />

Der Partner kann sich weigern, die Rolle <strong>de</strong>s Weibchens<br />

zu übernehmen, <strong>wen</strong>n „sie“ („er“) das nächste Mal an<br />

<strong>de</strong>r Reihe ist, o<strong>de</strong>r „sie“ kann einfach die ganze Beziehung<br />

aufkündigen. Fischer beobachtete in <strong>de</strong>r Tat, daß Paare mit<br />

ungleicher Verteilung <strong>de</strong>r Geschlechter<strong>ro</strong>llen leichter auseinan<strong>de</strong>rbrachen.<br />

Soziologen und Psychologen stellen gelegentlich die Frage,<br />

warum Menschen (in Län<strong>de</strong>rn wie England, wo sie dafür nicht<br />

bezahlt wer<strong>de</strong>n) Blut spen<strong>de</strong>n. Ich kann nicht glauben, daß<br />

die Antwort in Gegenseitigkeit o<strong>de</strong>r verstecktem Egoismus zu<br />

suchen ist, je<strong>de</strong>nfalls nicht im einfachen Sinne. Regelmäßige


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 353<br />

Blutspen<strong>de</strong>r genießen keineswegs bevorzugte Behandlung,<br />

<strong>wen</strong>n sie selbst einmal eine Transfusion brauchen. Sie erhalten<br />

nicht einmal kleine gol<strong>de</strong>ne Ansteckna<strong>de</strong>ln. Mag sein, daß<br />

ich naiv bin, aber ich fühle mich versucht, Blutspen<strong>de</strong>n als<br />

einen echten Fall von reinem, uneigennützigem Altruismus<br />

anzusehen. Wie auch immer es sich beim Menschen verhält,<br />

das Abgeben von Blut bei Vampiren – einer Fle<strong>de</strong>rmausart –<br />

scheint gut in das Mo<strong>de</strong>ll von Axel<strong>ro</strong>d zu passen. Dies zeigen<br />

uns die Untersuchungen von G.S.Wilkinson.<br />

Bekanntlich ernähren sich Vampire nachts von Blut. Es ist<br />

nicht leicht für sie, eine Mahlzeit zu bekommen, aber <strong>wen</strong>n<br />

sie erfolgreich sind, ist es mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit<br />

eine g<strong>ro</strong>ße Mahlzeit. Wenn <strong>de</strong>r Morgen kommt, haben einige<br />

Individuen kein Glück gehabt und kehren mit völlig leerem<br />

Magen zurück, wohingegen jene Tiere, <strong>de</strong>nen es gelungen ist,<br />

ein Opfer zu fin<strong>de</strong>n, mit aller Wahrscheinlichkeit ein Übermaß<br />

an Blut aufgenommen haben. In einer <strong>de</strong>r nächsten Nächte<br />

mögen die Rollen vertauscht sein. Daher sieht dies wie ein vielversprechen<strong>de</strong>r<br />

Fall für ein <strong>wen</strong>ig gegenseitigen Altruismus<br />

aus. Wilkinson fand heraus, daß Individuen, die in <strong>de</strong>r Nacht<br />

Glück hatten, tatsächlich gelegentlich ihren <strong>wen</strong>iger erfolgreichen<br />

Kamera<strong>de</strong>n Blut abgaben, das sie wie<strong>de</strong>r auswürgten. Bei<br />

77 von 110 <strong>de</strong>rartigen Fällen, die Wilkinson beobachtete, han<strong>de</strong>lte<br />

es sich um die leicht verständliche Fütterung von Jungtieren<br />

durch ihre Mütter, und in vielen an<strong>de</strong>ren Fällen waren<br />

die Beteiligten ebenfalls genetische Verwandte. Es blieben<br />

jedoch einige Fälle übrig, bei <strong>de</strong>nen Spen<strong>de</strong>r und Empfänger<br />

nicht verwandt waren, die Erklärung, daß „Blut dicker ist<br />

als Wasser“, also nicht mit <strong>de</strong>n Tatsachen übereinstimmte.<br />

Auffällig oft waren die Individuen Tiere, die an ihrem Schlafplatz<br />

häufig aufeinan<strong>de</strong>rtrafen – sie hatten reichlich Gelegenheit<br />

zur wie<strong>de</strong>rholten Interaktion, wie es für ein Wie<strong>de</strong>rholtes<br />

Gefangenendilemma erfor<strong>de</strong>rlich ist. Aber wur<strong>de</strong>n die übrigen<br />

Bedingungen für ein Gefangenendilemma erfüllt? Wenn ja,<br />

sollten wir Resultate entsprechend <strong>de</strong>r Matrix in Abbildung 4<br />

erwarten.


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 354<br />

4 Abgeben von Blut bei Vampiren: mögliche Resultate für mich<br />

Stimmt die Vampirökonomie wirklich mit dieser Tabelle<br />

überein? Wilkinson untersuchte, mit welcher Geschwindigkeit<br />

hungern<strong>de</strong> Vampire Gewicht verlieren. Davon ausgehend<br />

berechnete er die <strong>Zeit</strong>, die es dauern wür<strong>de</strong>, bis ein satt getrunkener<br />

Vampir Hungers stirbt, die <strong>Zeit</strong>, die ein hungriger Vampir<br />

ohne Nahrung überlebt, und alle dazwischenliegen<strong>de</strong>n Werte.<br />

Dadurch wur<strong>de</strong> es ihm möglich, Blut in die Währung von Stun<strong>de</strong>n<br />

verlängerten Lebens umzurechnen. Er fand heraus – was<br />

nicht wirklich überraschend ist –, daß die Austauschrate davon<br />

abhängt, wie verhungert ein Vampir ist. Eine gegebene Menge<br />

Blut verlängert das Leben eines sehr hungrigen Vampirs um<br />

mehr Stun<strong>de</strong>n als das eines <strong>wen</strong>iger hungrigen Artgenossen.<br />

Mit an<strong>de</strong>ren Worten, die Abgabe von Blut erhöht zwar die Wahrscheinlichkeit,<br />

daß <strong>de</strong>r Spen<strong>de</strong>r stirbt, doch ist diese Erhöhung


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 355<br />

klein im Vergleich zu <strong>de</strong>m Anstieg <strong>de</strong>r Überlebenschancen <strong>de</strong>s<br />

Empfängers. Ökonomisch gesehen scheint es also plausibel,<br />

daß die Vampirökonomie <strong>de</strong>n Regeln eines Gefangenendilemmas<br />

entspricht. Das Blut, das die Spen<strong>de</strong>rin (soziale Gruppen<br />

bei Vampiren sind Weibchengruppen) abgibt, ist für sie <strong>wen</strong>iger<br />

kostbar als für die Empfängerin. In glücklosen Nächten wür<strong>de</strong><br />

sie selbst wirklich erheblich von einer Blutgabe p<strong>ro</strong>fitieren.<br />

In erfolgreichen Nächten jedoch hätte sie einen geringfügigen<br />

Vorteil vom Verweigern <strong>de</strong>r Zusammenarbeit, also <strong>de</strong>r Weigerung,<br />

Blut abzugeben – solange sie damit davonkäme. „Damit<br />

davonkommen“ be<strong>de</strong>utet natürlich nur dann etwas, <strong>wen</strong>n die<br />

Vampire irgen<strong>de</strong>ine Strategie <strong>de</strong>r Art „Wie du mir, so ich dir“<br />

an<strong>wen</strong><strong>de</strong>n. Sind also die übrigen Voraussetzungen für die Evolution<br />

eines wechselseitigen „Wie du mir, so ich dir“ erfüllt?<br />

Insbeson<strong>de</strong>re, können diese Fle<strong>de</strong>rmäuse einan<strong>de</strong>r individuell<br />

erkennen? Wilkinson führte ein Experiment mit Vampiren<br />

in Gefangenschaft durch, mit <strong>de</strong>m er bewies, daß sie dazu<br />

in <strong>de</strong>r Lage sind. Er sperrte jeweils einen Vampir eine Nacht<br />

lang an<strong>de</strong>rswo ein und ließ ihn hungern, während alle an<strong>de</strong>ren<br />

gut gefüttert wur<strong>de</strong>n. Der arme ausgehungerte Vampir wur<strong>de</strong><br />

dann zum Schlafplatz zurückgebracht, und Wilkinson beobachtete,<br />

ob ein an<strong>de</strong>rer ihm Nahrung gab, und <strong>wen</strong>n ja, wer.<br />

Das Experiment wur<strong>de</strong> viele Male wie<strong>de</strong>rholt, wobei die Vampire<br />

reihum das ausgehungerte Opfer spielten. Der entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong><br />

Punkt war, daß diese Population von gefangenen Vampiren<br />

sich aus zwei Gruppen zusammensetzte, die aus viele Kilometer<br />

voneinan<strong>de</strong>r entfernten Höhlen stammten. Wenn Vampire<br />

in <strong>de</strong>r Lage sind, ihre Freun<strong>de</strong> zu erkennen, hätte sich<br />

erweisen sollen, daß die im Experiment ausgehungerten Tiere<br />

nur von Individuen aus ihrer eigenen ursprünglichen Höhle<br />

gefüttert wur<strong>de</strong>n.<br />

Ziemlich genau dies geschah auch. Dreizehn Fütterungen<br />

wur<strong>de</strong>n beobachtet. In zwölf dieser dreizehn Fälle war <strong>de</strong>r<br />

Blut abgeben<strong>de</strong> Vampir ein „alter Freund“ <strong>de</strong>s ausgehungerten<br />

Opfers, <strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>rselben Höhle stammte; in nur einem<br />

Fall wur<strong>de</strong> das ausgehungerte Tier von einem aus <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren<br />

Höhle stammen<strong>de</strong>n „neuen Freund“ gefüttert. Natürlich


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 356<br />

könnte dies Zufall sein, aber wir können die Chance dagegen<br />

ausrechnen. Sie beläuft sich auf <strong>wen</strong>iger als eins zu 500. Wir<br />

können also mit ziemlicher Sicherheit zu <strong>de</strong>m Schluß kommen,<br />

daß die Vampire in <strong>de</strong>r Tat bevorzugt alte Freun<strong>de</strong> fütterten.<br />

Vampire sind ein bevorzugter Gegenstand von Mythen. Für<br />

die Anhänger viktorianischer Gruselliteratur sind sie dunkle<br />

Kräfte, die nachts Schrecken verbreiten, weil sie Lebenssäfte<br />

aussaugen und unschuldiges Leben opfern, nur um ihren Durst<br />

zu stillen. Kombinieren wir dies mit jenem an<strong>de</strong>ren viktorianischen<br />

Mythos, „Natur, Zähne und Klauen blutig<strong>ro</strong>t“, sind<br />

Vampire dann nicht die Inkarnation tiefsitzen<strong>de</strong>r Ängste vor<br />

<strong>de</strong>r Welt <strong>de</strong>r egoistischen Gene? Was mich betrifft, so stehe<br />

ich allen Mythen skeptisch gegenüber. Auf <strong>de</strong>r Suche nach <strong>de</strong>r<br />

Wahrheit müssen wir je<strong>de</strong>n Fall einzeln untersuchen. Was die<br />

Darwinsche Lehre uns gibt, sind nicht <strong>de</strong>taillierte Erwartungen<br />

über bestimmte Organismen. Sie verhilft uns zu etwas,<br />

das subtiler und wertvoller ist: zum Verständnis <strong>de</strong>s Prinzips.<br />

Wenn wir aber Mythen brauchen, so könnte uns das Verhalten<br />

<strong>de</strong>r Vampire eine ganz an<strong>de</strong>re Moralgeschichte lehren. Für<br />

diese Fle<strong>de</strong>rmäuse ist nicht nur Blut dicker als Wasser. Sie<br />

erheben sich über Verwandtschaftsban<strong>de</strong> und bil<strong>de</strong>n ihre eigenen<br />

dauerhaften Bindungen loyaler Blutsbru<strong>de</strong>rschaft. Vampire<br />

könnten die Vorhut eines beruhigen<strong>de</strong>n neuen Mythos<br />

bil<strong>de</strong>n, eines Mythos <strong>de</strong>s Teilens, <strong>de</strong>r gegenseitigen Zusammenarbeit.<br />

Sie könnten <strong>de</strong>n wohltuen<strong>de</strong>n Gedanken verkün<strong>de</strong>n,<br />

daß – selbst mit egoistischen Genen am Ru<strong>de</strong>r – nette Kerle als<br />

erste ans Ziel gelangen können.


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 357<br />

13. Die g<strong>ro</strong>ße Reichweite <strong>de</strong>s Gens<br />

Ein beunruhigen<strong>de</strong>r Konflikt stört die Theorie <strong>de</strong>s egoistischen<br />

Gens genau in ihrem Kern. Es ist <strong>de</strong>r Zwiespalt darüber, was<br />

das fundamentale Agens, die treiben<strong>de</strong> Kraft, <strong>de</strong>s Lebens ist<br />

– das Gen o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r individuelle Körper. Auf <strong>de</strong>r einen Seite<br />

haben wir das verlocken<strong>de</strong> Bild unabhängiger DNA-Replikatoren:<br />

Wie Gemsen springen sie frei und ungehin<strong>de</strong>rt durch<br />

die Generationen, lediglich zeitweilig zusammen in Wegwerf-<br />

Überlebensmaschinen eingeschlossen, unsterbliche Spiralen,<br />

die sich von einer endlosen Kette von Sterblichen befreien,<br />

während sie vorwärtsdrängen und sich Bahn brechen in Richtung<br />

auf ihre separaten Ewigkeiten. Auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite<br />

sehen wir die einzelnen Körper, und je<strong>de</strong>r von ihnen ist offensichtlich<br />

eine kohärente, ein Ganzes darstellen<strong>de</strong>, unendlich<br />

komplizierte Maschine mit <strong>de</strong>utlich erkennbarer Einheit <strong>de</strong>r<br />

Absicht. Ein Körper sieht nicht aus wie das P<strong>ro</strong>dukt einer losen<br />

und zeitlich begrenzten Fö<strong>de</strong>ration von kriegführen<strong>de</strong>n Agenzien,<br />

die kaum <strong>Zeit</strong> haben, Kontakt miteinan<strong>de</strong>r aufzunehmen,<br />

bevor sie sich in einem Spermium o<strong>de</strong>r Ei auf die nächste<br />

Etappe <strong>de</strong>r g<strong>ro</strong>ßen Zerstreuung <strong>de</strong>r Gene begeben. Er hat ein<br />

Gehirn, das eine Genossenschaft von Gliedmaßen und Sinnesorganen<br />

koordiniert, um ein Ziel zu erreichen. Der Körper<br />

sieht wie ein eindrucksvolles selbständiges Agens aus, und er<br />

verhält sich auch so.<br />

In einigen Kapiteln dieses Buches haben wir uns in <strong>de</strong>r Tat<br />

<strong>de</strong>n Einzelorganismus als Agens vorgestellt, das danach strebt,<br />

bei <strong>de</strong>r Weitergabe seiner Gene möglichst erfolgreich zu sein.<br />

Wir nahmen an, daß Tiere komplizierte ökonomische „Berechnungen“<br />

über die genetischen Vorteile verschie<strong>de</strong>ner Handlungsweisen<br />

anstellen. Doch in an<strong>de</strong>ren Kapiteln wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r<br />

Grundgedanke vom Standpunkt <strong>de</strong>r Gene aus dargestellt.<br />

Wenn man das Leben nicht aus <strong>de</strong>m Blickwinkel <strong>de</strong>s Gens<br />

betrachtet, fin<strong>de</strong>t man keinen Grund, aus <strong>de</strong>m ein Organismus<br />

an seinem Fortpflanzungserfolg und <strong>de</strong>m seiner Verwandten<br />

„interessiert sein“ sollte, statt sich zum Beispiel um seine


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 358<br />

eigene Langlebigkeit zu kümmern. Wie sollen wir dieses Paradoxon<br />

<strong>de</strong>r zwei Betrachtungsweisen <strong>de</strong>s Lebens lösen? Mein<br />

eigener Versuch einer Lösung ist in meinem Buch The Exten<strong>de</strong>d<br />

Phenotype erklärt, das, mehr als alles an<strong>de</strong>re, was ich in<br />

meinem Berufsleben erreicht habe, meinen Stolz und meine<br />

Freu<strong>de</strong> darstellt. Dieses Kapitel ist ein knapper Auszug von ein<br />

paar Themen in jenem Buch, doch tatsächlich wäre es mir fast<br />

lieber, <strong>wen</strong>n <strong>de</strong>r Leser jetzt hier zu lesen aufhörte und sich<br />

statt <strong>de</strong>ssen The Exten<strong>de</strong>d Phenotype vornähme!<br />

Bei vernünftiger Betrachtung <strong>de</strong>r Angelegenheit wirkt die<br />

natürliche Selektion nicht direkt auf Gene ein. Die DNA ist<br />

in P<strong>ro</strong>teine eingesponnen, in Membranen eingewickelt, von<br />

<strong>de</strong>r Welt abgeschirmt und für die natürliche Auslese unsichtbar.<br />

Wenn die Auslese versuchen wür<strong>de</strong>, DNA-Moleküle direkt<br />

auszuwählen, so wür<strong>de</strong> sie kaum ein Kriterium fin<strong>de</strong>n, an <strong>de</strong>m<br />

sie sich dabei orientieren könnte. Alle Gene sehen gleich aus,<br />

gera<strong>de</strong>so wie alle Tonbän<strong>de</strong>r gleich aussehen. Die wichtigen<br />

Unterschie<strong>de</strong> zwischen Genen zeigen sich nur in ihren Auswirkungen.<br />

Dabei han<strong>de</strong>lt es sich gewöhnlich um Auswirkungen<br />

auf die Vorgänge <strong>de</strong>r Embryonalentwicklung und somit auf<br />

Körperform und Verhalten. Erfolgreiche Gene sind solche, die<br />

in <strong>de</strong>r von allen an<strong>de</strong>ren Genen in einem gemeinsamen Embryo<br />

beeinflußten Umgebung einen günstigen Einfluß auf diesen<br />

Embryo haben. Günstig be<strong>de</strong>utet, sie machen es wahrscheinlich,<br />

daß sich <strong>de</strong>r Embryo zu einem erfolgreichen Erwachsenen<br />

entwickelt, zu einem Erwachsenen, <strong>de</strong>r sich aller Wahrscheinlichkeit<br />

nach fortpflanzt und eben diese Gene an zukünftige<br />

Generationen weitergibt. Die körperlichen Manifestationen<br />

eines Gens, das heißt die Auswirkungen, die ein Gen im Gegensatz<br />

zu seinen Allelen über die Entwicklung auf <strong>de</strong>n Körper<br />

hat, bezeichnet man als Phänotyp. Der phänotypische Effekt<br />

eines bestimmten Gens könnte etwa die grüne Augenfarbe<br />

sein. In Wirklichkeit haben die meisten Gene mehr als einen<br />

phänotypischen Effekt; so könnte es beispielsweise ein Gen für<br />

grüne Augen und lockiges Haar geben. Die natürliche Auslese<br />

begünstigt einige Gene gegenüber an<strong>de</strong>ren, nicht wegen <strong>de</strong>r<br />

Natur <strong>de</strong>r Gene selbst, son<strong>de</strong>rn wegen ihrer Effekte – ihrer


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 359<br />

phänotypischen Auswirkungen. Darwinisten ziehen es bisher<br />

gewöhnlich vor, über Gene zu sprechen, <strong>de</strong>ren phänotypische<br />

Effekte das Überleben o<strong>de</strong>r die Fortpflanzung ganzer Körper<br />

för<strong>de</strong>rn o<strong>de</strong>r beeinträchtigen. Mit <strong>de</strong>n Vorteilen für das Gen<br />

selbst befassen sie sich in <strong>de</strong>r Regel nicht. Das ist einer<br />

<strong>de</strong>r Grün<strong>de</strong> dafür, daß das Paradoxon im Kern <strong>de</strong>r Theorie<br />

gewöhnlich nicht <strong>de</strong>utlich wird. Beispielsweise kann ein Gen<br />

dadurch erfolgreich sein, daß es die Laufgeschwindigkeit<br />

eines Räubers verbessert. Der gesamte Körper <strong>de</strong>s Räubers,<br />

einschließlich aller seiner Gene, ist erfolgreicher, weil er schneller<br />

läuft. Seine Geschwindigkeit hilft ihm zu überleben, so daß<br />

er Kin<strong>de</strong>r haben kann, und <strong>de</strong>shalb wer<strong>de</strong>n mehr Kopien aller<br />

seiner Gene, einschließlich <strong>de</strong>s Gens für schnelles Laufen, an<br />

die nächste Generation weitergegeben. Hier verschwin<strong>de</strong>t das<br />

Paradoxon passen<strong>de</strong>rweise, <strong>de</strong>nn was für ein Gen gut ist, ist<br />

gut für alle.<br />

Doch was geschieht, <strong>wen</strong>n ein Gen einen phänotypischen<br />

Effekt hat, <strong>de</strong>r für es selbst vorteilhaft, für die restlichen Gene<br />

in <strong>de</strong>m Körper aber schädlich ist? Das ist keine Phantasterei.<br />

Solche Fälle sind bekannt, zum Beispiel das faszinieren<strong>de</strong><br />

Phänomen namens meiotic drive. Wie wir uns erinnern, ist die<br />

Meiose die beson<strong>de</strong>re Art <strong>de</strong>r Zellteilung, bei <strong>de</strong>r die Ch<strong>ro</strong>mosomenzahl<br />

halbiert wird und Samen- und Eizellen entstehen.<br />

Die gewöhnliche Meiose ist eine absolut gerechte Lotterie.<br />

Von je<strong>de</strong>m Paar von Allelen kann nur eines das glückliche sein,<br />

das in ein gegebenes Spermium o<strong>de</strong>r Ei hineingelangt. Aber<br />

die Wahrscheinlichkeit ist für je<strong>de</strong>s <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Allele absolut<br />

gleich, und <strong>wen</strong>n wir eine g<strong>ro</strong>ße Menge Spermien (o<strong>de</strong>r Eier)<br />

betrachten, so stellt sich heraus, daß durchschnittlich die Hälfte<br />

von ihnen das eine Allel und die an<strong>de</strong>re Hälfte das an<strong>de</strong>re Allel<br />

enthält. Die Meiose ist gerecht wie das Werfen einer Münze.<br />

Doch selbst dieser Inbegriff einer Zufallsentscheidung ist ein<br />

physikalischer Vorgang, <strong>de</strong>r von einer Vielzahl von Umstän<strong>de</strong>n<br />

beeinflußt wird – etwa vom Wind und von <strong>de</strong>r genauen Kraft,<br />

mit <strong>de</strong>r die Münze geworfen wird. Die Meiose ist ebenfalls ein<br />

physikalischer Vorgang, und sie kann von Genen beeinflußt<br />

wer<strong>de</strong>n. Was, <strong>wen</strong>n durch Mutation ein Gen entstün<strong>de</strong>, das


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 360<br />

zufällig keine Auswirkung auf etwas so Offensichtliches wie<br />

Augenfarbe o<strong>de</strong>r Haarstruktur hätte, son<strong>de</strong>rn auf die Meiose<br />

selbst? Nehmen wir an, das mutierte Gen wür<strong>de</strong> die Meiose<br />

<strong>de</strong>rart beeinflussen, daß es selbst mit größerer Wahrscheinlichkeit<br />

in das Ei gelangte als sein Allel. Es gibt solche Gene,<br />

und sie heißen Segregationsverzerrer. Sie sind von diabolischer<br />

Einfachheit. Wenn durch Mutation ein Segregationsverzerrer<br />

entsteht, wird er sich auf Kosten seines Allels unaufhaltsam<br />

in <strong>de</strong>r ganzen Population ausbreiten. Das ist es, was man<br />

als meiotic drive bezeichnet. Der Segregationsverzerrer wird<br />

die Population sogar dann durchdringen, <strong>wen</strong>n seine Auswirkungen<br />

auf das Wohlergehen <strong>de</strong>s Körpers und aller an<strong>de</strong>ren<br />

Gene in <strong>de</strong>m Körper katast<strong>ro</strong>phal sind.<br />

In diesem Buch haben wir unsere Aufmerksamkeit stets<br />

auf die Möglichkeit gerichtet, daß einzelne Organismen subtile<br />

Wege fin<strong>de</strong>n, ihre sozialen Gefährten zu „betrügen“. Hier nun<br />

re<strong>de</strong>n wir von einzelnen Genen, die die an<strong>de</strong>ren Gene im selben<br />

Körper betrügen. Der Genetiker James C<strong>ro</strong>w hat sie „Gene, die<br />

das System schlagen“ genannt. Einer <strong>de</strong>r bekanntesten Segregationsverzerrer<br />

ist das sogenannte t-Gen bei Mäusen. Wenn<br />

eine Maus zwei t-Allele besitzt, stirbt sie entwe<strong>de</strong>r früh, o<strong>de</strong>r<br />

sie ist steril. Man sagt daher, t sei im homozygoten Zustand<br />

„letal“. Männliche Mäuse mit nur einem t-Allel sind normale,<br />

gesun<strong>de</strong> Tiere – außer in einer bemerkenswerten Hinsicht.<br />

Wenn wir die Spermien einer solchen männlichen Maus untersuchen,<br />

stellen wir fest, daß bis zu 95 P<strong>ro</strong>zent von ihnen das<br />

t-Allel enthalten und nur 5 P<strong>ro</strong>zent das normale Allel. Dies<br />

ist ganz offensichtlich eine g<strong>ro</strong>be Abweichung von <strong>de</strong>m zu<br />

erwarten<strong>de</strong>n Verhältnis 1:1. Wann immer in einer wildleben<strong>de</strong>n<br />

Population durch Mutation ein t-Allel entsteht, breitet es<br />

sich unverzüglich wie eine Feuersbrunst aus. Wie sollte es auch<br />

an<strong>de</strong>rs, wo es doch in <strong>de</strong>r meiotischen Lotterie einen solch<br />

gewaltigen ungerechten Vorteil besitzt? Es breitet sich <strong>de</strong>rart<br />

rasch aus, daß ziemlich bald eine g<strong>ro</strong>ße Zahl von Individuen in<br />

<strong>de</strong>r Population das t-Gen in doppelter Ausfertigung (das heißt<br />

von bei<strong>de</strong>n Eltern) erben. Diese Individuen sterben o<strong>de</strong>r sind<br />

steril, und binnen kurzem wird die ganze Population wahr-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 361<br />

scheinlich aussterben. Es gibt einige Hinweise darauf, daß<br />

wildleben<strong>de</strong> Mäusepopulationen in <strong>de</strong>r Vergangenheit durch<br />

Epi<strong>de</strong>mien von t-Genen ausge<strong>ro</strong>ttet wur<strong>de</strong>n.<br />

Nicht alle Segregationsverzerrer haben <strong>de</strong>rart <strong>de</strong>struktive<br />

Nebenwirkungen wie t. Doch die Mehrzahl von ihnen hat min<strong>de</strong>stens<br />

einige negative Auswirkungen. (Fast alle genetischen<br />

Nebenwirkungen sind ungünstig, und eine neue Mutation breitet<br />

sich normalerweise nur dann aus, <strong>wen</strong>n ihre negativen Auswirkungen<br />

durch positive Effekte aufgewogen wer<strong>de</strong>n. Wenn<br />

sowohl die guten als auch die schlechten Auswirkungen <strong>de</strong>n<br />

ganzen Körper betreffen, ist ein positiver Nettoeffekt für <strong>de</strong>n<br />

Körper möglich. Wenn aber die Auswirkungen auf <strong>de</strong>n Körper<br />

negativ sind und es nur <strong>de</strong>m Gen besser geht, ist <strong>de</strong>r Nettoeffekt<br />

vom Standpunkt <strong>de</strong>s Körpers aus durchweg schlecht.)<br />

T<strong>ro</strong>tz seiner schädlichen Nebeneffekte wird ein durch Mutation<br />

entstan<strong>de</strong>ner Segregationsverzerrer sich gewöhnlich in<br />

<strong>de</strong>r ganzen Population ausbreiten. Die natürliche Auslese<br />

(die schließlich auf <strong>de</strong>r Ebene <strong>de</strong>r Gene wirksam ist) för<strong>de</strong>rt<br />

<strong>de</strong>n Segregationsverzerrer, obwohl seine Auswirkungen auf<br />

<strong>de</strong>r Ebene <strong>de</strong>s einzelnen Organismus wahrscheinlich schlimm<br />

sind.<br />

Zwar gibt es Segregationsverzerrer, doch sind sie nicht allzu<br />

häufig. Wir könnten nun fragen, warum sie nicht weit verbreitet<br />

sind, mit an<strong>de</strong>ren Worten, warum <strong>de</strong>r Meiosevorgang normalerweise<br />

gerecht ist – so unparteiisch wie das Werfen einer<br />

Münze. Wir wer<strong>de</strong>n feststellen, daß die Antwort sich von selbst<br />

ergibt, sobald wir einmal verstan<strong>de</strong>n haben, warum Organismen<br />

überhaupt existieren.<br />

Der Einzelorganismus ist etwas, <strong>de</strong>ssen Existenz die Mehrheit<br />

<strong>de</strong>r Biologen als selbstverständlich voraussetzt, wahrscheinlich,<br />

weil seine Teile <strong>de</strong>rart einig und als Ganzes dieselbe<br />

Absicht verfolgen. Fragen über das Leben sind in <strong>de</strong>r Regel<br />

Fragen über Organismen. Biologen fragen, warum Organismen<br />

dies tun und warum sie das tun. Häufig fragen sie, warum<br />

Organismen Gemeinschaften bil<strong>de</strong>n. Sie fragen nicht – obwohl<br />

sie das tun sollten –, warum leben<strong>de</strong> Materie sich überhaupt<br />

zu Organismen organisiert. Warum ist das Meer kein urzeitli-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 362<br />

ches Schlachtfeld freier und unabhängiger Replikatoren mehr?<br />

Warum haben sich die Replikatoren zusammenge<strong>ro</strong>ttet, um<br />

gemeinsam schwerfällige Roboter zu bauen und in ihnen zu<br />

wohnen, und warum sind jene Roboter – individuelle Körper,<br />

Sie und ich – so g<strong>ro</strong>ß und so kompliziert?<br />

Es fällt vielen Biologen sogar schwer einzusehen, daß sich<br />

hier überhaupt eine Frage stellt. Es ist ihnen einfach zur zweiten<br />

Natur gewor<strong>de</strong>n, ihre Fragen auf <strong>de</strong>r Ebene <strong>de</strong>s individuellen<br />

Organismus zu stellen. Einige Biologen gehen so weit, die<br />

DNA als einen Mechanismus anzusehen, <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>n Organismen<br />

dazu benutzt wird, sich fortzupflanzen, gera<strong>de</strong>so wie ein<br />

Auge eine Vorrichtung ist, die ein Körper zum Sehen benutzt!<br />

Wer dieses Buch gelesen hat, wird erkennen, daß diese Einstellung<br />

ein schwerwiegen<strong>de</strong>r Irrtum ist. Sie stellt die Wahrheit<br />

krachend auf <strong>de</strong>n Kopf. Er wird auch erkennen, daß die alternative<br />

Haltung, nämlich die Sicht <strong>de</strong>s Lebens entsprechend<br />

<strong>de</strong>r Theorie <strong>de</strong>s egoistischen Gens, ihr eigenes schwieriges<br />

P<strong>ro</strong>blem mit sich bringt. Dieses P<strong>ro</strong>blem – fast das umgekehrte<br />

– ist die Frage, warum überhaupt Einzelorganismen existieren,<br />

beson<strong>de</strong>rs in so g<strong>ro</strong>ßer und auf kohärente Weise zweckmäßiger<br />

Form, einer Form, die die Biologen dazu verführt, die Wahrheit<br />

auf <strong>de</strong>n Kopf zu stellen. Um unser P<strong>ro</strong>blem zu lösen, müssen<br />

wir zuerst unseren Geist von alten Ansichten befreien, die<br />

stillschweigend <strong>de</strong>n Einzelorganismus als selbstverständlich<br />

voraussetzen; an<strong>de</strong>rnfalls gehen wir von falschen Grundlagen<br />

aus.<br />

Das Mittel, mit <strong>de</strong>m wir in unserem Kopf aufräumen, ist die<br />

Vorstellung, die ich <strong>de</strong>n erweiterten Phänotyp nenne. Wen<strong>de</strong>n<br />

wir uns nun diesem Gedanken und seinen Implikationen zu.<br />

Unter phänotypischen Wirkungen eines Gens versteht man<br />

gewöhnlich alle Auswirkungen, die es auf <strong>de</strong>n Körper hat,<br />

in <strong>de</strong>m es sitzt. Dies ist die traditionelle Definition. Aber wir<br />

wer<strong>de</strong>n jetzt sehen, daß wir uns unter <strong>de</strong>n phänotypischen<br />

Effekten eines Gens alle Auswirkungen vorstellen müssen, die<br />

es auf die Welt hat. Es mag sich herausstellen, daß die Auswirkungen<br />

eines bestimmten Gens in <strong>de</strong>r Tat auf die aufeinan<strong>de</strong>rfolgen<strong>de</strong>n<br />

Körper beschränkt sind, in <strong>de</strong>nen das Gen sitzt.


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 363<br />

Dieser im Einzelfall gegebene Umstand sollte jedoch nicht Teil<br />

unserer Definition sein. Denken wir bei all<strong>de</strong>m daran, daß die<br />

phänotypischen Effekte eines Gens die Werkzeuge sind, mit<br />

<strong>de</strong>nen es sich selbst in die nächste Generation hinüberhievt.<br />

Ich füge als einzigen neuen Gedanken hinzu, daß die Werkzeuge<br />

über die Grenzen <strong>de</strong>s Körpers hinausreichen können.<br />

Was könnte es in <strong>de</strong>r Praxis be<strong>de</strong>uten, <strong>wen</strong>n wir davon sprechen,<br />

daß ein Gen einen erweiterten phänotypischen Effekt auf<br />

die Welt außerhalb <strong>de</strong>s Körpers hat, in <strong>de</strong>m es sitzt? Beispiele,<br />

die uns sofort einfallen, sind Artefakte wie Biberdämme, Vogelnester<br />

und die Gehäuse <strong>de</strong>r Köcherfliegen.<br />

Köcherfliegen sind recht unauffällige, schmutzigbraune<br />

Insekten, die die meisten von uns gar nicht bemerken, <strong>wen</strong>n<br />

sie ziemlich unbeholfen über Flüssen fliegen. Bevor sie zu<br />

flugfähigen Insekten wer<strong>de</strong>n, leben sie längere <strong>Zeit</strong> als Larven,<br />

die auf <strong>de</strong>m Gewässergrund herumlaufen. Das Leben <strong>de</strong>r<br />

Köcherfliegenlarven ist recht gut erforscht. Sie gehören zu <strong>de</strong>n<br />

bemerkenswertesten Geschöpfen <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>. Aus selbstp<strong>ro</strong>duziertem<br />

Zement und Materialien, die sie am Gewässergrund<br />

fin<strong>de</strong>n, bauen sie sich mit viel Geschick röhrenförmige Gehäuse.<br />

Solch ein sogenannter Köcher ist ein bewegliches Heim, das<br />

die Larve mit sich herumträgt, wie das Haus einer Schnecke<br />

o<strong>de</strong>r eines Einsiedlerkrebses, nur daß die Köcherfliegenlarve<br />

es selbst baut, statt daß es auf ihr wächst o<strong>de</strong>r sie es fin<strong>de</strong>t.<br />

Einige Köcherfliegenarten ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>n Holzstückchen als Baumaterial,<br />

an<strong>de</strong>re Teile von abgestorbenen Blättern, wie<strong>de</strong>r<br />

an<strong>de</strong>re kleine Schneckenhäuser. Aber die vielleicht eindrucksvollsten<br />

Köcher sind die aus kleinen Steinchen. Die Larve<br />

wählt die Steinchen sorgfältig aus und verschmäht die, die<br />

für das jeweilige Loch in <strong>de</strong>r Wand zu g<strong>ro</strong>ß o<strong>de</strong>r zu klein<br />

sind; sie dreht und <strong>wen</strong><strong>de</strong>t sogar je<strong>de</strong>n Stein, bis er am besten<br />

eingepaßt ist.<br />

Warum imponiert uns dies so? Wenn wir uns zu objektivem<br />

Denken zwingen wür<strong>de</strong>n, wären wir von <strong>de</strong>r Architektur <strong>de</strong>s<br />

Auges o<strong>de</strong>r Ellenbogengelenks <strong>de</strong>r Köcherfliege gewiß stärker<br />

beeindruckt als von <strong>de</strong>r vergleichsweise beschei<strong>de</strong>nen Architektur<br />

ihres Steinhauses. Schließlich sind sowohl Auge als


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 364<br />

auch Ellenbogengelenk weitaus komplizierter und „besser entworfen“<br />

als das Gehäuse. Doch unlogischerweise beeindruckt<br />

uns dieses mehr – vielleicht weil Auge und Ellenbogengelenk<br />

sich auf dieselbe Weise entwickeln wie unsere eigenen Augen<br />

und Ellenbogen und wir uns diesen im Innern unserer Mütter<br />

stattfin<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n P<strong>ro</strong>zeß nicht als Verdienst anrechnen können.<br />

Nach<strong>de</strong>m ich schon so weit vom Thema abgewichen bin,<br />

kann ich <strong>de</strong>r Versuchung nicht wi<strong>de</strong>rstehen, noch ein <strong>wen</strong>ig<br />

weiterzugehen. Sosehr uns das Gehäuse <strong>de</strong>r Köcherfliegenlarve<br />

auch imponieren mag, sind wir davon paradoxerweise doch<br />

<strong>wen</strong>iger beeindruckt, als wir es von gleichwertigen Leistungen<br />

an<strong>de</strong>rer Tiere wären, die uns selbst näherstehen. Stellen<br />

wir uns nur vor, welch balkenartige Schlagzeilen es gäbe,<br />

<strong>wen</strong>n ein Meeresbiologe eine Delphinart ent<strong>de</strong>cken wür<strong>de</strong>, die<br />

g<strong>ro</strong>ße, kompliziert vermaschte Fischernetze mit einem Durchmesser<br />

von zwanzig Delphinlängen webt! Doch ein Spinnennetz<br />

halten wir für etwas Selbstverständliches, es ist für uns<br />

eher ein Ärgernis im Haus als eines <strong>de</strong>r Wun<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Welt. Und<br />

stellen wir uns nur <strong>de</strong>n Wirbel vor, <strong>wen</strong>n Jane Goodall vom<br />

Gombest<strong>ro</strong>m zurückkehrte mit Fotografien von wil<strong>de</strong>n Schimpansen,<br />

die ihre eigenen Häuser bauen, mit or<strong>de</strong>ntlichem Dach<br />

und gut isoliert, aus sorgfältig ausgewählten Steinen sauber<br />

zusammengesetzt und mit Mörtel befestigt! Doch die Larven<br />

von Köcherfliegen, die genau dies tun, gewinnen uns nur<br />

vorübergehen<strong>de</strong>s Interesse ab. Es wird manchmal gesagt, als<br />

wollte man dieses Messen mit zweierlei Maß verteidigen, daß<br />

Spinnen und Köcherfliegen ihre Meisterleistungen <strong>de</strong>r Architektur<br />

durch „Instinkt“ erzielen. Na und? In gewisser Weise<br />

macht sie das nur um so eindrucksvoller.<br />

Kehren wir zum eigentlichen Thema zurück. Das Gehäuse<br />

<strong>de</strong>r Köcherfliegenlarve, daran kann niemand zweifeln, ist eine<br />

Anpassung, die durch natürliche Selektion entstan<strong>de</strong>n ist.<br />

Es muß von <strong>de</strong>r Auslese auf ziemlich genau dieselbe Weise<br />

geför<strong>de</strong>rt wor<strong>de</strong>n sein wie beispielsweise <strong>de</strong>r harte Panzer<br />

von Hummern. Der Köcher ist eine schützen<strong>de</strong> Hülle für <strong>de</strong>n<br />

Körper. Als solche ist er für <strong>de</strong>n ganzen Organismus und alle<br />

seine Gene von Vorteil. Aber nun haben wir uns gera<strong>de</strong> klarge-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 365<br />

macht, daß Vorteile für <strong>de</strong>n Organismus nur Nebeneffekte <strong>de</strong>r<br />

natürlichen Auslese sind. Entschei<strong>de</strong>nd sind die Vorteile für<br />

jene Gene, die <strong>de</strong>r Schale ihre schützen<strong>de</strong>n Eigenschaften verleihen.<br />

Im Fall <strong>de</strong>s Hummers ist dies die alte Geschichte. Der<br />

Panzer <strong>de</strong>s Hummers ist offensichtlich ein Teil seines Körpers.<br />

Wie sieht es nun aber mit <strong>de</strong>m Gehäuse <strong>de</strong>r Köcherfliege aus?<br />

Die natürliche Auslese begünstigte bei <strong>de</strong>n Vorfahren <strong>de</strong>r<br />

Köcherfliegen jene Gene, die ihre Besitzer dazu veranlaßten,<br />

brauchbare Gehäuse zu bauen. Die Gene wirkten auf das<br />

Verhalten, vermutlich in<strong>de</strong>m sie die Embryonalentwicklung<br />

<strong>de</strong>s Nervensystems beeinflußten. Für einen mit Köcherfliegen<br />

befaßten Genetiker wäre jedoch nur <strong>de</strong>r Effekt <strong>de</strong>r Gene auf die<br />

Form und an<strong>de</strong>re Eigenschaften <strong>de</strong>r Gehäuse tatsächlich sichtbar.<br />

Der Genetiker sollte in genau <strong>de</strong>mselben Sinne Gene „für“<br />

die Gehäuseform fin<strong>de</strong>n können, wie es Gene für, sagen wir<br />

einmal, die Beinform gibt. Zugegebenermaßen hat sich bisher<br />

niemand mit <strong>de</strong>m genetischen Hintergrund <strong>de</strong>s Gehäusebaus<br />

bei Köcherfliegen beschäftigt. Für solche Untersuchungen<br />

brauchte man sorgfältig geführte Abstammungsregister von<br />

in Gefangenschaft gezüchteten Köcherfliegen, und die Zucht<br />

dieser Insekten ist schwierig. Aber man braucht nicht Genetik<br />

studiert zu haben, um sicher zu sein, daß es Gene gibt o<strong>de</strong>r<br />

zumin<strong>de</strong>st gab, die die Form <strong>de</strong>r Köcher beeinflußt haben. Wir<br />

brauchen lediglich einen guten Grund, um zu glauben, daß die<br />

Gehäuse von Köcherfliegen eine evolutionäre Anpassung sind.<br />

Wenn das so ist, muß es Gene gegeben haben, die die Variation<br />

<strong>de</strong>r Gehäuse verursachten, <strong>de</strong>nn die Auslese kann keine<br />

Anpassungen p<strong>ro</strong>duzieren, solange es keine erblichen Unterschie<strong>de</strong><br />

gibt, zwischen <strong>de</strong>nen sie auswählen kann.<br />

Daher ist es vernünftig – obwohl es Genetiker geben mag,<br />

die dies für eine son<strong>de</strong>rbare I<strong>de</strong>e halten –, <strong>wen</strong>n wir von Genen<br />

„für“ Steinform, Steingröße, Steinhärte und so weiter sprechen.<br />

Je<strong>de</strong>r Genetiker, <strong>de</strong>r etwas gegen diese Sprache einzu<strong>wen</strong><strong>de</strong>n<br />

hat, muß, <strong>wen</strong>n er konsequent sein will, auch dagegen<br />

sein, von Genen für Augenfarbe, Genen für die „runzelige“<br />

Form von Erbsen und so weiter zu sprechen. Ein Grund,<br />

aus <strong>de</strong>m die I<strong>de</strong>e im Falle von Steinchen son<strong>de</strong>rbar erscheinen


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 366<br />

könnte, ist die Tatsache, daß Steine kein lebendiges Material<br />

sind. Außer<strong>de</strong>m scheint <strong>de</strong>r Einfluß von Genen auf Steineigenschaften<br />

beson<strong>de</strong>rs indirekt zu sein. Ein Genetiker mag ein<strong>wen</strong><strong>de</strong>n,<br />

direkten Einfluß nähmen die Gene auf das Nervensystem,<br />

das für das Verhalten bei <strong>de</strong>r Auswahl <strong>de</strong>r Steinchen<br />

verantwortlich ist, nicht auf die Steinchen selbst. Doch ich for<strong>de</strong>re<br />

einen solchen Genetiker auf, sich genau anzusehen, was<br />

es überhaupt be<strong>de</strong>uten kann, <strong>wen</strong>n wir davon sprechen, daß<br />

Gene einen Einfluß auf ein Nervensystem ausüben. Das einzige,<br />

was Gene wirklich direkt beeinflussen können, ist die<br />

P<strong>ro</strong>teinsynthese. Der Einfluß eines Gens auf ein Nervensystem<br />

ist wie <strong>de</strong>r auf die Farbe eines Auges o<strong>de</strong>r die Form<br />

einer Erbse immer indirekt. Das Gen bestimmt eine P<strong>ro</strong>teinsequenz,<br />

die X beeinflußt, das Y beeinflußt, das Z beeinflußt, welches<br />

schließlich die Form <strong>de</strong>s Samenkorns o<strong>de</strong>r die zelluläre<br />

Vernetzung <strong>de</strong>s Nervensystems beeinflußt. Das Gehäuse <strong>de</strong>r<br />

Köcherfliegenlarve ist lediglich eine weitere Aus<strong>de</strong>hnung<br />

dieser Art von Sequenz. Die Steinhärte ist ein erweiterter<br />

phänotypischer Effekt <strong>de</strong>r Köcherfliegengene. Wenn es gerechtfertigt<br />

ist, davon zu sprechen, daß ein Gen auf die Form einer<br />

Erbse o<strong>de</strong>r das Nervensystem eines Tieres einwirkt (alle Genetiker<br />

sind dieser Meinung), dann muß es auch gerechtfertigt<br />

sein, von einem Gen zu sprechen, das die Härte <strong>de</strong>r Steinchen<br />

im Gehäuse einer Köcherfliegenlarve beeinflußt. Das ist ein<br />

verblüffen<strong>de</strong>r Gedanke, nicht wahr? Doch die Beweisführung<br />

ist zwingend.<br />

Wir sind nun bereit für <strong>de</strong>n nächsten Schritt in unserem<br />

Gedankengang: Gene in einem Organismus können erweiterte<br />

phänotypische Effekte auf <strong>de</strong>n Körper eines an<strong>de</strong>ren<br />

Organismus haben. Die Gehäuse von Köcherfliegenlarven<br />

halfen uns bei unserem ersten Schritt, beim nächsten wer<strong>de</strong>n<br />

uns Schneckenhäuser helfen. Das Schneckenhaus spielt für<br />

die Schnecke dieselbe Rolle wie das Gehäuse für eine<br />

Köcherfliegenlarve. Es wird von speziellen Zellen <strong>de</strong>r Schnecke<br />

abgeschie<strong>de</strong>n, daher wäre ein traditioneller Genetiker damit<br />

einverstan<strong>de</strong>n, von Genen „für“ Eigenschaften wie etwa die<br />

Schalendicke zu sprechen. Man hat aber festgestellt, daß


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 367<br />

Schnecken, die von bestimmten Saugwürmern parasitiert sind,<br />

beson<strong>de</strong>rs dicke Schalen haben. Was kann diese Verdickung<br />

be<strong>de</strong>uten? Hätten von <strong>de</strong>m Parasiten befallene Schnecken<br />

ungewöhnlich dünne Schalen, so könnten wir dies p<strong>ro</strong>blemlos<br />

als Folge einer geschwächten Konstitution erklären. Doch eine<br />

dickere Schale? Ein kräftigeres Haus schützt die Schnecke vermutlich<br />

besser. Es sieht so aus, als wür<strong>de</strong>n die Parasiten ihrem<br />

Wirt helfen, in<strong>de</strong>m sie sein Haus verbessern. Aber tun sie das<br />

wirklich?<br />

Wir müssen sorgfältiger nach<strong>de</strong>nken. Wenn eine dickere<br />

Schale für die Schnecke wirklich besser ist, warum hat sie sie<br />

dann nicht in je<strong>de</strong>m Fall? Die Antwort liegt wahrscheinlich in<br />

<strong>de</strong>r Ökonomie. Die P<strong>ro</strong>duktion <strong>de</strong>r Schale ist für die Schnecke<br />

mit hohen Kosten verbun<strong>de</strong>n. Sie erfor<strong>de</strong>rt Energie sowie Kalzium<br />

und an<strong>de</strong>re Substanzen, die aus mühselig erworbener<br />

Nahrung gewonnen wer<strong>de</strong>n müssen. Alle diese Mittel könnten,<br />

<strong>wen</strong>n sie nicht auf die Schalenbildung verwandt wür<strong>de</strong>n, für<br />

etwas an<strong>de</strong>res ausgegeben wer<strong>de</strong>n, etwa für die P<strong>ro</strong>duktion<br />

von mehr Nachkommen. Eine Schnecke, die eine Fülle von<br />

Ressourcen auf die Herstellung einer extradicken Schale ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>t,<br />

hat sich damit Sicherheit für ihren eigenen Körper<br />

erkauft. Aber zu welchen Kosten? Sie mag länger leben, aber<br />

sie wird sich <strong>wen</strong>iger erfolgreich rep<strong>ro</strong>duzieren, und vielleicht<br />

wird es ihr nicht gelingen, ihre Gene weiterzugeben. Unter <strong>de</strong>n<br />

Genen, die nicht weitergegeben wer<strong>de</strong>n, wer<strong>de</strong>n auch die für<br />

ein extrastarkes Haus sein. Mit an<strong>de</strong>ren Worten, ein Schnekkenhaus<br />

kann nicht nur zu dünnwandig sein (was leichter einzusehen<br />

ist), son<strong>de</strong>rn auch zu dickwandig. Wenn also ein Saugwurm<br />

eine Schnecke dazu bringt, ein beson<strong>de</strong>rs stabiles Haus<br />

zu sezernieren, so tut er <strong>de</strong>r Schnecke keinen Gefallen, es sei<br />

<strong>de</strong>nn, er trägt die ökonomischen Kosten <strong>de</strong>r dickeren Wand.<br />

Und wir können ohne g<strong>ro</strong>ßes Risiko wetten, daß er nicht so<br />

g<strong>ro</strong>ßzügig ist. Der Saugwurm übt irgen<strong>de</strong>inen versteckten chemischen<br />

Einfluß auf die Schnecke aus, <strong>de</strong>r diese zwingt, auf<br />

ihre eigene „bevorzugte“ Schalendicke zu verzichten. Dies mag<br />

das Leben <strong>de</strong>r Schnecke verlängern. Aber es hilft ihren Genen<br />

nicht weiter.


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 368<br />

Was hat <strong>de</strong>r Saugwurm davon? Warum tut er das? Ich vermute<br />

folgen<strong>de</strong>s: Unter sonst gleichen Voraussetzungen haben<br />

sowohl Schneckengene als auch Saugwurmgene einen Vorteil<br />

vom Überleben <strong>de</strong>s Schneckenkörpers. Aber Überleben ist<br />

nicht dasselbe wie Rep<strong>ro</strong>duktion, und es ist wahrscheinlich,<br />

daß es einen Komp<strong>ro</strong>miß gibt. Während Schneckengene von<br />

<strong>de</strong>r Fortpflanzung <strong>de</strong>r Schnecke p<strong>ro</strong>fitieren, tun Saugwurmgene<br />

dies nicht. Ein Saugwurm kann nicht erwarten, daß seine<br />

Gene in <strong>de</strong>n Nachkommen seines gegenwärtigen Wirts beherbergt<br />

sein wer<strong>de</strong>n. Natürlich wäre es möglich, aber ebenso<br />

möglich wäre es für die Gene aller seiner Saugwurmrivalen.<br />

Wenn die Langlebigkeit <strong>de</strong>r Schnecke tatsächlich mit einem<br />

geringeren Fortpflanzungserfolg erkauft wer<strong>de</strong>n muß, sind die<br />

Saugwurmgene „glücklich“, die Schnecke diese Kosten zahlen<br />

zu lassen, da sie keinerlei Interesse daran haben, daß die<br />

Schnecke sich fortpflanzt. Die Schneckengene sind ganz und<br />

gar nicht glücklich, diese Kosten tragen zu müssen, da langfristig<br />

ihre Zukunft davon abhängt, daß die Schnecke sich fortpflanzt.<br />

Daher mutmaße ich, daß die Saugwurmgene einen<br />

Einfluß auf die schalenbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Zellen <strong>de</strong>r Schnecke ausüben,<br />

und zwar einen Einfluß, <strong>de</strong>r ihnen selbst Vorteile bringt, die<br />

Schneckengene aber teuer zu stehen kommt. Diese Theorie<br />

läßt sich testen, was bisher allerdings noch nicht geschehen<br />

ist.<br />

Wir sind jetzt in <strong>de</strong>r Lage, das am Beispiel <strong>de</strong>r Köcherfliegen<br />

Gelernte zu verallgemeinern. Wenn meine Annahme über<br />

die Saugwurmgene richtig ist, dürfen wir behaupten, daß<br />

Schneckenkörper in genau <strong>de</strong>mselben Sinne von Saugwurmgenen<br />

beeinflußt wer<strong>de</strong>n wie von Schneckengenen. Es ist, als<br />

reichten die Gene aus ihren „eigenen“ Körpern heraus und<br />

manipulierten die Außenwelt. Wie im Falle <strong>de</strong>r Köcherfliegen<br />

ist diese Sprache für Genetiker möglicherweise beunruhigend.<br />

Sie sind daran gewöhnt, daß die Wirkungen eines Gens auf <strong>de</strong>n<br />

Körper begrenzt sind, in <strong>de</strong>m es sitzt. Aber wie<strong>de</strong>rum wie im<br />

Fall <strong>de</strong>r Köcherfliegen zeigt ein genauerer Blick darauf, was<br />

Genetiker überhaupt mit <strong>de</strong>n „Effekten“ eines Gens meinen,<br />

daß eine solche Beunruhigung fehl am Platze ist. Wir brauchen


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 369<br />

lediglich zu akzeptieren, daß die Verän<strong>de</strong>rung in <strong>de</strong>r Schnecke<br />

eine Anpassung <strong>de</strong>s Saugwurms ist. Wenn sie das ist, muß sie<br />

durch die natürliche Selektion von Saugwurmgenen entstan<strong>de</strong>n<br />

sein. Wir haben gezeigt, daß die phänotypischen Auswirkungen<br />

eines Gens sich nicht nur auf unbelebte Objekte wie<br />

Steine, son<strong>de</strong>rn auch auf „an<strong>de</strong>re“ lebendige Körper aus<strong>de</strong>hnen<br />

können.<br />

Die Geschichte <strong>de</strong>r Schnecken und Saugwürmer ist erst<br />

<strong>de</strong>r Anfang. Man kennt seit langem Parasiten aller Typen, die<br />

faszinierend tückische Einflüsse auf ihre Wirte ausüben. Eine<br />

mik<strong>ro</strong>skopisch kleine P<strong>ro</strong>tozoenart namens Nosema, die die<br />

Larven von Mehlkäfern parasitiert, hat „ent<strong>de</strong>ckt“, wie sie<br />

eine chemische Verbindung herstellen kann, die für die Käfer<br />

sehr wichtig ist. Wie bei an<strong>de</strong>ren Insekten gibt es auch bei<br />

diesen Käfern ein Hormon, das als Juvenilhormon bezeichnet<br />

wird und dafür sorgt, daß Larven Larven bleiben. Die normale<br />

Umwandlung von <strong>de</strong>r Larve in <strong>de</strong>n erwachsenen Käfer wird<br />

dadurch ausgelöst, daß die Larve aufhört, das Juvenilhormon<br />

zu p<strong>ro</strong>duzieren. Dem Parasiten Nosema ist es gelungen, dieses<br />

Hormon (genaugenommen eine sehr ähnliche Verbindung) zu<br />

synthetisieren. Millionen von Nosema bemühen sich zusammen<br />

um die Massenp<strong>ro</strong>duktion dieses Juvenilhormons im<br />

Körper <strong>de</strong>r Käferlarve und verhin<strong>de</strong>rn damit, daß die Larve<br />

sich in einen Käfer verwan<strong>de</strong>lt. Statt <strong>de</strong>ssen wächst sie weiter<br />

und wird schließlich zu einer Riesenlarve mit <strong>de</strong>m doppelten<br />

Gewicht eines normalen erwachsenen Käfers. Das ist für die<br />

Fortpflanzung von Käfergenen von keinerlei Nutzen, aber<br />

ein Füllhorn für <strong>de</strong>n Parasiten Nosema. Der Riesenwuchs<br />

<strong>de</strong>r Käferlarven ist ein erweiterter phänotypischer Effekt <strong>de</strong>r<br />

P<strong>ro</strong>tozoengene.<br />

Und nun eine Fallgeschichte, die noch stärker an unbewußte<br />

Ängste rührt als die <strong>de</strong>r Peter-Pan-Käfer: Kastration durch<br />

einen Parasiten! Krabben wer<strong>de</strong>n von einem Geschöpf namens<br />

Sacculina parasitiert. Der Wurzelkrebs Sacculina ist ein Verwandter<br />

<strong>de</strong>r Seepocken, obwohl man, <strong>wen</strong>n man ihn sieht,<br />

meinen könnte, er sei eine parasitäre Pflanze. Er treibt ein<br />

kunstvolles Wurzelsystem tief in das Gewebe <strong>de</strong>r unglücklichen


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 370<br />

Krabbe und saugt seine Nahrung aus <strong>de</strong>ren Körper. Wahrscheinlich<br />

ist es kein Zufall, daß zu <strong>de</strong>n ersten Organen, die <strong>de</strong>r<br />

Wurzelkrebs angreift, die Ho<strong>de</strong>n beziehungsweise Eierstöcke<br />

<strong>de</strong>r Krabbe gehören; er verschont zunächst die Organe, die<br />

die Krabbe zum Überleben braucht – im Gegensatz zu <strong>de</strong>nen,<br />

die zur Fortpflanzung nötig sind. Die Krabbe wird <strong>de</strong> facto von<br />

<strong>de</strong>m Parasiten kastriert. Wie ein Mastochse lenkt die kastrierte<br />

Krabbe Energie und Mittel von <strong>de</strong>r Rep<strong>ro</strong>duktion fort und in<br />

ihren eigenen Körper hinein – eine reiche Ernte für <strong>de</strong>n Parasiten<br />

auf Kosten <strong>de</strong>r Fortpflanzung <strong>de</strong>r Krabbe. Es ist ziemlich<br />

genau dieselbe Geschichte, wie ich sie für Nosema beim<br />

Mehlkäfer und für <strong>de</strong>n Saugwurm bei <strong>de</strong>r Schnecke vorgeschlagen<br />

habe. Wenn wir annehmen, daß in allen drei Fällen<br />

die Verän<strong>de</strong>rungen im Wirt evolutionäre Anpassungen zum<br />

Vorteil <strong>de</strong>s Parasiten sind, so müssen diese als erweiterte<br />

phänotypische Effekte von Parasitengenen angesehen wer<strong>de</strong>n.<br />

Das heißt also, Gene reichen aus ihrem „eigenen“ Körper<br />

heraus, um Phänotypen in an<strong>de</strong>ren Körpern zu beeinflussen.<br />

Die Interessen von Parasiten- und Wirtsgenen können<br />

durchaus weitgehend übereinstimmen. Der Theorie <strong>de</strong>r egoistischen<br />

Gene folgend, können wir uns bei<strong>de</strong>, Saugwurmgene<br />

und Schneckengene, als „Parasiten“ im Schneckenkörper vorstellen.<br />

Bei<strong>de</strong> haben einen Vorteil davon, von <strong>de</strong>mselben<br />

schützen<strong>de</strong>n Haus umgeben zu sein, auch <strong>wen</strong>n sie in bezug<br />

auf die „bevorzugte“ Wandstärke unterschiedlicher Meinung<br />

sind. Diese Divergenz ergibt sich im wesentlichen aus <strong>de</strong>r<br />

Tatsache, daß die Art und Weise, wie sie <strong>de</strong>n Körper dieser<br />

Schnecke verlassen und in <strong>de</strong>n nächsten gelangen, verschie<strong>de</strong>n<br />

ist. Schneckengene verlassen <strong>de</strong>n Schneckenkörper in<br />

Schneckenspermien und -eiern. Die Saugwurmgene nehmen<br />

einen ganz an<strong>de</strong>ren Weg. Auf die furchtbar komplizierten Einzelheiten<br />

möchte ich hier nicht eingehen; entschei<strong>de</strong>nd ist, daß<br />

sie <strong>de</strong>n Körper <strong>de</strong>r Schnecke nicht in <strong>de</strong>ren Spermien o<strong>de</strong>r<br />

Eiern verlassen.<br />

Ich schlage vor, daß dies die wichtigste Frage in bezug auf<br />

je<strong>de</strong>n Parasiten sein sollte: Wer<strong>de</strong>n seine Gene über dieselben<br />

Vehikel an zukünftige Generationen weitergegeben wie die


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 371<br />

Gene <strong>de</strong>s Wirtes? Wenn dies nicht <strong>de</strong>r Fall ist, so wür<strong>de</strong> ich<br />

erwarten, daß sie <strong>de</strong>m Wirt auf die eine o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Weise<br />

Scha<strong>de</strong>n zufügen. Doch <strong>wen</strong>n es <strong>de</strong>r Fall ist, so wird <strong>de</strong>r Parasit<br />

alles in seiner Macht Stehen<strong>de</strong> tun, um <strong>de</strong>m Wirt nicht nur<br />

beim Überleben, son<strong>de</strong>rn auch bei <strong>de</strong>r Fortpflanzung zu helfen.<br />

Im Laufe <strong>de</strong>r Evolution wird er aufhören ein Parasit zu sein,<br />

wird mit <strong>de</strong>m Wirt zusammenarbeiten, und möglicherweise<br />

verschmilzt er schließlich mit <strong>de</strong>m Gewebe <strong>de</strong>s Wirtes und<br />

ist überhaupt nicht mehr als Parasit zu erkennen. Vielleicht<br />

sind, wie ich in Kapitel 10 ange<strong>de</strong>utet habe, unsere Zellen<br />

das Ergebnis einer <strong>de</strong>rartigen Entwicklung, und wir sind alle<br />

Relikte parasitärer Verschmelzungen in <strong>de</strong>r Urzeit.<br />

Sehen wir uns an, was geschehen kann, <strong>wen</strong>n Parasitenund<br />

Wirtsgene tatsächlich einen gemeinsamen Ausgang aus<br />

<strong>de</strong>m Wirtskörper haben. Der Parasit <strong>de</strong>s Borkenkäfers Xyleborus<br />

ferrugineus ist ein Bakterium, das nicht nur im Körper <strong>de</strong>s<br />

Wirtes lebt, son<strong>de</strong>rn auch <strong>de</strong>ssen Eier als Transportmittel zu<br />

einem neuen Wirt benutzt. Die Gene solcher Parasiten p<strong>ro</strong>fitieren<br />

daher von fast <strong>de</strong>nselben zukünftigen Umstän<strong>de</strong>n wie die<br />

Gene ihres Wirtes. Man kann erwarten, daß die bei<strong>de</strong>n Gruppen<br />

von Genen „an einem Strick ziehen“, und zwar aus genau<br />

<strong>de</strong>nselben Grün<strong>de</strong>n, aus <strong>de</strong>nen die Gene eines Individuums<br />

dies normalerweise tun. Es spielt keine Rolle, daß einige von<br />

ihnen zufällig „Käfergene“ und die an<strong>de</strong>ren „Bakteriengene“<br />

sind. Bei<strong>de</strong> Gruppen von Genen sind am Überleben <strong>de</strong>s Käfers<br />

und an <strong>de</strong>r Verbreitung von Käfereiern „interessiert“, <strong>de</strong>nn<br />

sie „verstehen“ Käfereier als ihren Fahrschein in die Zukunft.<br />

Somit teilen die Gene <strong>de</strong>r Bakterien das Schicksal <strong>de</strong>r Wirtsgene,<br />

und nach meiner Interpretation ist zu erwarten, daß<br />

die Bakterien in allen Aspekten <strong>de</strong>s Lebens mit ihren Käfern<br />

zusammenarbeiten.<br />

Es zeigt sich, daß „zusammenarbeiten“ mil<strong>de</strong> ausgedrückt<br />

ist. Der Dienst, <strong>de</strong>n sie <strong>de</strong>n Käfern leisten, könnte kaum intimer<br />

sein. Diese Käfer sind haplodiploid, wie Bienen und Ameisen<br />

(siehe Kapitel 10). Wenn ein Ei von einem Männchen<br />

befruchtet wird, entwickelt es sich immer zu einem Weibchen.<br />

Ein unbefruchtetes Ei entwickelt sich zu einem Männchen. Mit


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 372<br />

an<strong>de</strong>ren Worten, die männlichen Käfer haben keinen Vater.<br />

Die Eier, aus <strong>de</strong>nen sie entstehen, entwickeln sich spontan,<br />

ohne daß ein Spermium in sie eingedrungen ist. Doch an<strong>de</strong>rs<br />

als bei Bienen und Ameisen muß bei <strong>de</strong>n Borkenkäfern irgend<br />

etwas in die Eier eindringen. Diese Aufgabe übernehmen die<br />

Bakterien, die so die Entwicklung <strong>de</strong>r unbefruchteten Eier<br />

zu männlichen Käfern in Gang setzen. Diese Bakterien sind<br />

natürlich genau die Art von Parasiten, die, wie ich argumentiert<br />

habe, aufhören sollten parasitär zu sein und mutualistisch<br />

wer<strong>de</strong>n sollten, gera<strong>de</strong> weil sie zusammen mit <strong>de</strong>n „eigenen“<br />

Genen <strong>de</strong>s Wirtes in <strong>de</strong>ssen Eiern weitergegeben wer<strong>de</strong>n. Letzten<br />

En<strong>de</strong>s wer<strong>de</strong>n ihre „eigenen“ Körper wahrscheinlich verschwin<strong>de</strong>n,<br />

in<strong>de</strong>m sie völlig mit <strong>de</strong>m Körper <strong>de</strong>s „Wirtes“ verschmelzen.<br />

Ein aufschlußreiches Spektrum fin<strong>de</strong>t man heute noch unter<br />

<strong>de</strong>n Hydra-Arten. Hydren sind Süßwasserpolypen: kleine, festsitzen<strong>de</strong>,<br />

tentakeltragen<strong>de</strong> Tiere, die Seeanemonen ähneln.<br />

In ihrem Gewebe leben häufig parasitieren<strong>de</strong> Algen. Bei <strong>de</strong>n<br />

Arten Hydra vulgaris und Hydra attenuata sind die Algen echte<br />

Parasiten, die die Hydren krank machen. Das Gewebe von<br />

Chlo<strong>ro</strong>hydra viridissima dagegen enthält stets Algen, und diese<br />

leisten einen nützlichen Beitrag zum Wohlergehen <strong>de</strong>s Polypen,<br />

in<strong>de</strong>m sie ihn mit Sauerstoff versorgen. Und nun wird es<br />

interessant: Genau wie wir erwartet hätten, wer<strong>de</strong>n die Algen<br />

bei Chlo<strong>ro</strong>hydra mittels <strong>de</strong>r Hydraeier auf die nächste Generation<br />

übertragen. Bei <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren bei<strong>de</strong>n Arten ist das nicht<br />

<strong>de</strong>r Fall. Die Gene <strong>de</strong>r Algen und die von Chlo<strong>ro</strong>hydra haben<br />

ein gemeinsames Interesse: alles in ihrer Macht Stehen<strong>de</strong> zu<br />

tun, um die P<strong>ro</strong>duktion von Hydraeiern zu steigern. Die Gene<br />

<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren bei<strong>de</strong>n Hydraarten jedoch sind nicht „einer Meinung“<br />

mit <strong>de</strong>n Genen ihrer Algen. Je<strong>de</strong>nfalls nicht in <strong>de</strong>mselben<br />

Ausmaß. Zwar mögen bei<strong>de</strong> Gruppen von Genen ein Interesse<br />

am Überleben von Hydrakörpern haben. Aber nur die<br />

Hydragene sind an <strong>de</strong>r Fortpflanzung <strong>de</strong>r Hydren interessiert.<br />

So lungern die Algen als schwächen<strong>de</strong> Parasiten herum, statt<br />

sich in Richtung auf eine vorteilhafte Kooperation zu entwikkeln.<br />

Der entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Punkt ist, wie schon gesagt, daß ein


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 373<br />

Parasit, <strong>de</strong>ssen Gene <strong>de</strong>mselben Schicksal entgegengehen wie<br />

die Gene seines Wirtes, alle Interessen dieses Wirtes teilt und<br />

schließlich aufhören wird, parasitär zu han<strong>de</strong>ln.<br />

Schicksal ist in diesem Fall gleichbe<strong>de</strong>utend mit zukünftigen<br />

Generationen. Die Gene von Chlo<strong>ro</strong>hydra und die Gene <strong>de</strong>r<br />

Algen, Käfergene und Bakteriengene können nur über die Eier<br />

<strong>de</strong>s Wirtes in die Zukunft gelangen. Daher wird sich bei allen<br />

„Berechnungen“, die Parasitengene über ihre optimale Taktik<br />

in je<strong>de</strong>r beliebigen Abteilung <strong>de</strong>s Lebens anstellen, genau<br />

o<strong>de</strong>r fast genau dieselbe Taktik als optimal erweisen wie bei<br />

ähnlichen „Berechnungen“ <strong>de</strong>r Wirtsgene. Im Fall <strong>de</strong>r Schnekken<br />

und <strong>de</strong>r sie parasitieren<strong>de</strong>n Saugwürmer kamen wir zu<br />

<strong>de</strong>m Schluß, daß sie unterschiedliche Schalendicken bevorzugen.<br />

Im Fall <strong>de</strong>s Borkenkäfers Xyleborus ferrugineus und<br />

seiner Bakterien wer<strong>de</strong>n Wirt und Parasit einer Meinung sein,<br />

was die bevorzugte Flügellänge und je<strong>de</strong>s an<strong>de</strong>re Merkmal<br />

<strong>de</strong>s Käferkörpers betrifft. Wir können dies voraussagen, ohne<br />

irgend etwas Genaueres darüber zu wissen, wozu die Käfer<br />

ihre Flügel o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Körperteile benutzen. Es folgt einfach<br />

aus unserer Überlegung, daß sowohl die Käfergene als auch die<br />

Bakteriengene alles in ihrer Macht Stehen<strong>de</strong> tun wer<strong>de</strong>n, um<br />

dieselben zukünftigen Ereignisse zu bewerkstelligen – Ereignisse,<br />

die für die Verbreitung von Käfereiern vorteilhaft sind.<br />

Wir können diese Argumentation zu ihrem logischen Schluß<br />

führen und sie auf normale, „eigene“ Gene an<strong>wen</strong><strong>de</strong>n. Unsere<br />

eigenen Gene arbeiten nicht zusammen, weil sie unsere Gene<br />

sind, son<strong>de</strong>rn weil sie <strong>de</strong>nselben Ausgang in die Zukunft – Spermium<br />

o<strong>de</strong>r Ei – haben. Wenn irgendwelche Gene eines Organismus,<br />

beispielsweise <strong>de</strong>s menschlichen, einen Weg fin<strong>de</strong>n<br />

könnten, sich auszubreiten, <strong>de</strong>r nicht über die herkömmliche<br />

Spermium- o<strong>de</strong>r Ei-Route führte, so wür<strong>de</strong>n sie ihn einschlagen<br />

und <strong>wen</strong>iger kooperationsbereit sein. Der Grund ist, daß<br />

sie dann von einem an<strong>de</strong>ren Satz zukünftiger Resultate p<strong>ro</strong>fitieren<br />

könnten als die übrigen Gene im Körper. Wir haben<br />

bereits Gene kennengelernt, die die Meiose zu ihrem eigenen<br />

Vorteil beeinflussen. Vielleicht gibt es auch Gene, die ganz aus<br />

<strong>de</strong>n „richtigen Kanälen“ – über Spermium o<strong>de</strong>r Ei – ausgeb<strong>ro</strong>-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 374<br />

chen sind und sich <strong>de</strong>n Weg über eine Neben<strong>ro</strong>ute gebahnt<br />

haben.<br />

Es gibt DNA-Fragmente, die nicht in Ch<strong>ro</strong>mosomen eingeschlossen<br />

sind, son<strong>de</strong>rn frei im flüssigen Zellinhalt herumschwimmen<br />

und sich dort vermehren, beson<strong>de</strong>rs in Bakterienzellen.<br />

Sie sind unter verschie<strong>de</strong>nen Namen bekannt, etwa als<br />

Vi<strong>ro</strong>i<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r Plasmi<strong>de</strong>. Ein Plasmid ist sogar noch kleiner als<br />

ein Virus, und es besteht gewöhnlich nur aus ein paar Genen.<br />

Einige Plasmi<strong>de</strong> sind in <strong>de</strong>r Lage, sich nahtlos in ein Ch<strong>ro</strong>mosom<br />

zu integrieren. Die Verbindungsstelle ist so glatt, daß man<br />

die Naht nicht sehen kann; das Plasmid ist von je<strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren<br />

Teil <strong>de</strong>s Ch<strong>ro</strong>mosoms nicht mehr zu unterschei<strong>de</strong>n. Dieselben<br />

Plasmi<strong>de</strong> können auch wie<strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>m Ch<strong>ro</strong>mosom aussteigen.<br />

Diese Fähigkeit <strong>de</strong>r DNA, sich herauszuschnei<strong>de</strong>n und<br />

einzufügen, im Handumdrehen in Ch<strong>ro</strong>mosomen hinein- und<br />

aus ihnen herauszuspringen, gehört zu <strong>de</strong>n beson<strong>de</strong>rs aufregen<strong>de</strong>n<br />

unter <strong>de</strong>n Tatsachen, die seit Erscheinen <strong>de</strong>r ersten<br />

Auflage dieses Buches ent<strong>de</strong>ckt wor<strong>de</strong>n sind. In <strong>de</strong>r Tat lassen<br />

sich die neuen Erkenntnisse über Plasmi<strong>de</strong> als eindrucksvolle<br />

unterstützen<strong>de</strong> Beweise für die Mutmaßungen ansehen, die<br />

ich in Kapitel 10 anstellte und die, als ich sie damals nie<strong>de</strong>rschrieb,<br />

ein <strong>wen</strong>ig weit hergeholt erschienen. Unter einer<br />

Reihe von Gesichtspunkten kommt es nicht wirklich darauf an,<br />

ob diese Fragmente als eindringen<strong>de</strong> Parasiten o<strong>de</strong>r ausbrechen<strong>de</strong><br />

Rebellen entstan<strong>de</strong>n. Ihr voraussichtliches Verhalten<br />

ist dasselbe. Befassen wir uns etwas näher mit einem ausbrechen<strong>de</strong>n<br />

Fragment, um <strong>de</strong>utlich zu machen, was ich meine.<br />

Stellen wir uns ein rebellieren<strong>de</strong>s Stück menschlicher DNA<br />

vor, das in <strong>de</strong>r Lage ist, sich aus seinem Ch<strong>ro</strong>mosom hinauszuschnei<strong>de</strong>n,<br />

das frei in <strong>de</strong>r Zelle treibt, sich vielleicht vermehrt,<br />

bis viele Kopien von ihm existieren, und sich dann in ein an<strong>de</strong>res<br />

Ch<strong>ro</strong>mosom integriert. Welche unorthodoxen alternativen<br />

Wege in die Zukunft könnte ein solcher rebellieren<strong>de</strong>r Replikator<br />

ausbeuten ? Wir verlieren fortwährend Zellen unserer<br />

Haut! Ein G<strong>ro</strong>ßteil <strong>de</strong>s Staubs in unseren Wohnungen besteht<br />

aus unseren abgestoßenen Zellen. Wir atmen wahrscheinlich<br />

auch ständig Zellen an<strong>de</strong>rer Menschen ein. Wenn wir mit


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 375<br />

<strong>de</strong>m Fingernagel über die Innenseite unseres Mun<strong>de</strong>s fahren,<br />

bleiben Hun<strong>de</strong>rte von leben<strong>de</strong>n Zellen daran hängen. Küsse<br />

und Zärtlichkeiten von Lieben<strong>de</strong>n dürften g<strong>ro</strong>ße Mengen von<br />

Zellen in bei<strong>de</strong> Richtungen transportieren. Ein Stück rebellieren<strong>de</strong>r<br />

DNA könnte je<strong>de</strong> dieser Zellen als Mitfahrgelegenheit<br />

benutzen. Falls Gene eine Ritze ent<strong>de</strong>cken sollten, die ihnen<br />

Zugang zu einem unorthodoxen Weg in einen an<strong>de</strong>ren Körper<br />

verschafft (neben o<strong>de</strong>r anstelle <strong>de</strong>r normalen Route über Spermien<br />

beziehungsweise Eizellen), so müssen wir erwarten, daß<br />

die natürliche Auslese ihren Opportunismus för<strong>de</strong>rn und verbessern<br />

wür<strong>de</strong>. Was ihre genauen Metho<strong>de</strong>n anbelangt, so gibt<br />

es keinen Grund, warum diese auf irgen<strong>de</strong>ine Weise an<strong>de</strong>rs<br />

sein sollten als die Erfindungen von Viren, die vor <strong>de</strong>m Hintergrund<br />

<strong>de</strong>r Theorie vom egoistischen Gen und erweiterten<br />

Phänotyp nur allzu vorhersagbar sind.<br />

Wenn wir Schnupfen o<strong>de</strong>r Husten haben, betrachten wir<br />

die Symptome gewöhnlich als ärgerliche Nebenp<strong>ro</strong>dukte <strong>de</strong>r<br />

Virentätigkeit. In einigen Fällen scheint es jedoch wahrscheinlicher,<br />

daß sie von <strong>de</strong>m Virus absichtlich hervorgerufen wer<strong>de</strong>n,<br />

um ihm bei seiner Reise von einem Wirt zum an<strong>de</strong>ren helfen.<br />

Nicht zufrie<strong>de</strong>n damit, einfach in die Atmosphäre hinausgeatmet<br />

zu wer<strong>de</strong>n, bringt das Virus uns zum Niesen o<strong>de</strong>r<br />

explosionsartigen Husten. Das Tollwutvirus wird im Speichel<br />

übertragen, <strong>wen</strong>n ein Tier das an<strong>de</strong>re beißt. Bei Hun<strong>de</strong>n<br />

äußert sich die Krankheit unter an<strong>de</strong>rem darin, daß normalerweise<br />

friedliche und freundliche Tiere zu wüten<strong>de</strong>n Beißern<br />

mit Schaum vor <strong>de</strong>m Maul wer<strong>de</strong>n. Normale Hun<strong>de</strong> entfernen<br />

sich meist nicht weiter als etwa einen Kilometer von ihrem<br />

Wohnort; tollwutinfizierte Tiere wer<strong>de</strong>n verhängnisvollerweise<br />

zu ruhelosen Wan<strong>de</strong>rern und verbreiten das Virus in weitem<br />

Umkreis. Es wur<strong>de</strong> sogar <strong>de</strong>r Gedanke geäußert, daß das<br />

bekannte Symptom <strong>de</strong>r Wasserscheu <strong>de</strong>n Hund dazu veranlaßt,<br />

<strong>de</strong>n nassen Schaum von <strong>de</strong>r Schnauze zu schütteln – und<br />

damit das Virus. Mir sind keine Beweise dafür bekannt, daß<br />

sexuell übertragbare Krankheiten <strong>de</strong>n Geschlechtstrieb beim<br />

Menschen verstärken, doch ich vermute, es wäre <strong>de</strong>r Mühe<br />

wert, sich näher mit dieser Frage zu befassen. Mit Sicherheit


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 376<br />

soll zumin<strong>de</strong>st ein angebliches Aph<strong>ro</strong>sidiakum, die Spanische<br />

Fliege, dadurch wirken, daß es einen Juckreiz erzeugt ... Und<br />

<strong>wen</strong>n Viren Husten o<strong>de</strong>r Niesen hervorrufen können, warum<br />

dann nicht auch einen Juckreiz?<br />

Worauf ich bei diesem Vergleich von rebellieren<strong>de</strong>r menschlicher<br />

DNA mit einfallen<strong>de</strong>n parasitären Viren hinauswill, ist,<br />

daß zwischen bei<strong>de</strong>n kein wirklich be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>r Unterschied<br />

besteht. Ja, es ist in <strong>de</strong>r Tat gut möglich, daß Viren als Ansammlungen<br />

von ausgeb<strong>ro</strong>chenen Genen entstan<strong>de</strong>n sind. Wenn wir<br />

überhaupt eine Unterscheidung treffen wollen, so sollte es<br />

die sein zwischen Genen, die auf <strong>de</strong>m orthodoxen Wege, also<br />

in Spermien o<strong>de</strong>r Eizellen, von einem Körper zum an<strong>de</strong>ren<br />

gelangen, und Genen, die ungewöhnliche „Nebenwege“ einschlagen.<br />

Zu bei<strong>de</strong>n Gruppen können sowohl Gene gehören,<br />

die als „körpereigene“ ch<strong>ro</strong>mosomale Gene entstan<strong>de</strong>n sind,<br />

als auch Gene, die ursprünglich körperfrem<strong>de</strong>, eindringen<strong>de</strong><br />

Parasiten waren. O<strong>de</strong>r vielleicht, wie ich in Kapitel 10 spekuliert<br />

habe, sollten alle „eigenen“ ch<strong>ro</strong>mosomalen Gene als<br />

wechselseitig parasitär angesehen wer<strong>de</strong>n. Der entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong><br />

Unterschied zwischen meinen bei<strong>de</strong>n Klassen von Genen liegt<br />

in <strong>de</strong>n unterschiedlichen Umstän<strong>de</strong>n, von <strong>de</strong>nen sie wahrscheinlich<br />

in <strong>de</strong>r Zukunft p<strong>ro</strong>fitieren wer<strong>de</strong>n. Ein Gen <strong>de</strong>s<br />

Erkältungsvirus und ein ausgeb<strong>ro</strong>chenes menschliches ch<strong>ro</strong>mosomales<br />

Gen stimmen miteinan<strong>de</strong>r darin überein, daß sie<br />

ihren Wirt zum Niesen bringen „wollen“. Ein orthodoxes ch<strong>ro</strong>mosomales<br />

Gen und ein sexuell übertragbares Virus sind sich<br />

in <strong>de</strong>m Wunsch einig, daß ihr Wirt kopuliert. Es ist ein faszinieren<strong>de</strong>r<br />

Gedanke, daß bei<strong>de</strong> darauf aus sein könnten, daß<br />

<strong>de</strong>r Wirt sexuell attraktiv ist. Außer<strong>de</strong>m wären sich ein ch<strong>ro</strong>mosomales<br />

Gen und ein Virus, das im Ei <strong>de</strong>s Wirtes übertragen<br />

wird, in <strong>de</strong>m Wunsch einig, daß <strong>de</strong>r Wirt nicht nur in seiner<br />

Brautwerbung, son<strong>de</strong>rn auch in je<strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren Aspekt seines<br />

Lebens erfolgreich ist, bis hin zu <strong>de</strong>m Punkt, daß er ein<br />

zuverlässiger, hingebungsvoller Vater und sogar G<strong>ro</strong>ßvater ist.<br />

Die Köcherfliegenlarve lebt in ihrem Gehäuse, und die Parasiten,<br />

von <strong>de</strong>nen ich bisher gesp<strong>ro</strong>chen habe, leben in ihren<br />

Wirten. Die Gene befin<strong>de</strong>n sich somit physisch in <strong>de</strong>r Nähe


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 377<br />

ihrer erweiterten phänotypischen Effekte, so nahe, wie Gene<br />

gewöhnlich ihren herkömmlichen Phänotypen sind. Doch Gene<br />

können auch auf Entfernung wirken; erweiterte Phänotypen<br />

können sehr ausge<strong>de</strong>hnt sein. Einer <strong>de</strong>r längsten, die mir<br />

einfallen, überspannt einen See. Wie das Spinnennetz o<strong>de</strong>r<br />

das Gehäuse <strong>de</strong>r Köcherfliege gehört <strong>de</strong>r Biberdamm zu <strong>de</strong>n<br />

wahren Wun<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Welt. Es ist nicht völlig klar, was sein<br />

evolutionärer Zweck ist, aber er hat mit Sicherheit einen, da<br />

die Biber soviel <strong>Zeit</strong> und Energie auf seinen Bau ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>n.<br />

Der See, <strong>de</strong>n er erzeugt, dient wahrscheinlich <strong>de</strong>m Schutz <strong>de</strong>s<br />

Biberbaus gegen Räuber. Er bil<strong>de</strong>t außer<strong>de</strong>m einen bequemen<br />

Wasserweg zum Reisen und zum Transport von Ästen.<br />

Die Biber <strong>wen</strong><strong>de</strong>n diese Technik aus <strong>de</strong>mselben Grund an,<br />

aus <strong>de</strong>m kanadische Holzgesellschaften Flüsse benutzen und<br />

die Kohlenhändler <strong>de</strong>s 18. Jahrhun<strong>de</strong>rts Kanäle befuhren. Was<br />

auch immer sein Nutzen ist, ein Bibersee ist ein auffallen<strong>de</strong>r<br />

und charakteristischer Landschaftsbestandteil. Er gehört zum<br />

Phänotyp <strong>de</strong>s Bibers, nicht <strong>wen</strong>iger als <strong>de</strong>ssen Zähne o<strong>de</strong>r<br />

Schwanz, und er hat sich im Laufe <strong>de</strong>r Evolution unter <strong>de</strong>m<br />

Einfluß <strong>de</strong>r natürlichen Auslese entwickelt. Die Wahl muß<br />

dabei zwischen guten Seen und <strong>wen</strong>iger guten Seen get<strong>ro</strong>ffen<br />

wor<strong>de</strong>n sein. Die Auslese begünstigte Bibergene, die gute Seen<br />

zum Transport von Bäumen erzeugten, genau wie sie Gene<br />

för<strong>de</strong>rte, die für gute Zähne zum Fällen von Bäumen sorgten.<br />

Biberseen sind erweiterte phänotypische Effekte von Bibergenen,<br />

und sie können sich über mehrere hun<strong>de</strong>rt Meter erstrekken.<br />

In <strong>de</strong>r Tat eine g<strong>ro</strong>ße Reichweite!<br />

Auch Parasiten brauchen nicht im Innern ihrer Wirte zu<br />

leben; ihre Gene können über eine Entfernung hinweg in<br />

Wirten zum Ausdruck kommen. Kuckucksnestlinge leben nicht<br />

im Innern von Rotkehlchen o<strong>de</strong>r Rohrsängern; sie saugen nicht<br />

ihr Blut o<strong>de</strong>r verschlingen ihr Gewebe, und doch zögern wir<br />

nicht im min<strong>de</strong>sten, sie als Parasiten zu bezeichnen. Kuckucksadaptationen<br />

zum Manipulieren <strong>de</strong>s Verhaltens <strong>de</strong>r Pflegeeltern<br />

können als erweiterter phänotypischer Effekt <strong>de</strong>r Kukkucksgene<br />

angesehen wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r auf Entfernung wirksam<br />

wird.


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 378<br />

Es ist leicht, Mitgefühl mit Pflegeeltern zu haben, die<br />

von <strong>de</strong>m Kuckuck so getäuscht wer<strong>de</strong>n, daß sie seine Eier<br />

ausbrüten. Auch menschliche Eiersammler haben sich von<br />

<strong>de</strong>r ungeheuren Ähnlichkeit von Kuckuckseiern mit <strong>de</strong>n Eiern<br />

etwa von Wiesenpiepern o<strong>de</strong>r Rohrsängern (verschie<strong>de</strong>ne<br />

Rassen von Kuckucksweibchen spezialisieren sich auf verschie<strong>de</strong>ne<br />

Wirtsarten) täuschen lassen. Schwerer zu verstehen<br />

ist das Verhalten, das Pflegeeltern später <strong>de</strong>n jungen Kuckukken<br />

gegenüber an <strong>de</strong>n Tag legen, die fast flügge sind. Der Kukkuck<br />

ist gewöhnlich viel größer, mitunter sogar auf g<strong>ro</strong>teske<br />

Weise größer als seine „Eltern“. Vor mir liegt die Fotografie<br />

einer ausgewachsenen Heckenbraunelle, die im Verhältnis zu<br />

ihrem monströsen Pflegekind so klein ist, daß sie sich zum<br />

Füttern auf <strong>de</strong>ssen Rücken nie<strong>de</strong>rlassen muß. Hier empfin<strong>de</strong>n<br />

wir <strong>wen</strong>iger Sympathie für <strong>de</strong>n Wirt. Wir wun<strong>de</strong>rn uns über<br />

seine Dummheit, seine Leichtgläubigkeit. Je<strong>de</strong>r Dummkopf<br />

sollte doch wohl in <strong>de</strong>r Lage sein zu merken, daß mit einem<br />

solchen Kind etwas nicht stimmt.<br />

Ich meine, junge Kuckucke müssen eine ganze Menge mehr<br />

tun als nur ihre Wirte „täuschen“, mehr als nur vorgeben,<br />

etwas zu sein, das sie nicht sind. Sie scheinen auf ziemlich<br />

dieselbe Weise auf das Nervensystem <strong>de</strong>s Wirtes einzuwirken<br />

wie eine süchtig machen<strong>de</strong> D<strong>ro</strong>ge. Dies ist nicht so schwer<br />

nachzufühlen, selbst für jene nicht, die keine Erfahrung mit<br />

abhängig machen<strong>de</strong>n D<strong>ro</strong>gen haben. Ein Mann kann von einer<br />

gedruckten Fotografie <strong>de</strong>s Körpers einer Frau bis zur Erektion<br />

erregt wer<strong>de</strong>n. Er wird nicht „getäuscht“, nicht glauben<br />

gemacht, das Muster <strong>de</strong>r Druckfarbe sei tatsächlich eine Frau.<br />

Er weiß, daß er nur Farbe auf Papier sieht, doch sein Nervensystem<br />

reagiert darauf genauso, wie es auf eine wirkliche<br />

Frau reagieren wür<strong>de</strong>. Wir können sehr wohl die Reize eines<br />

bestimmten Angehörigen <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren Geschlechts unwi<strong>de</strong>rstehlich<br />

fin<strong>de</strong>n, obwohl das sichere Urteil unseres besseren Ich<br />

uns sagt, daß eine Liaison mit jener Person langfristig in nieman<strong>de</strong>s<br />

Interesse liegt. Das gleiche kann auf die unwi<strong>de</strong>rstehliche<br />

Anziehungskraft ungesun<strong>de</strong>r Nahrungsmittel zutreffen.<br />

Die Heckenbraunelle besitzt wahrscheinlich keine bewußte


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 379<br />

Kenntnis ihrer langfristig besten Interessen, <strong>de</strong>shalb ist es sogar<br />

noch leichter zu verstehen, daß ihr Nervensystem bestimmte<br />

Arten von Stimulation unwi<strong>de</strong>rstehlich fin<strong>de</strong>n kann.<br />

So lockend ist <strong>de</strong>r aufgesperrte Schnabel eines Jungkukkucks<br />

mit seinem <strong>ro</strong>ten Rachen, daß Ornithologen nicht selten<br />

Vögel beobachten, die Nahrung in <strong>de</strong>n Schnabel eines Kukkucks<br />

fallen lassen, <strong>de</strong>r in einem frem<strong>de</strong>n Nest sitzt! Es kann<br />

vorkommen, daß ein Vogel, <strong>de</strong>r mit Nahrung für seine eigenen<br />

Jungen nach Hause fliegt, plötzlich aus <strong>de</strong>m Augenwinkel<br />

<strong>de</strong>n <strong>ro</strong>ten Superrachen eines jungen Kuckucks im Nest eines<br />

Vogels einer völlig an<strong>de</strong>ren Art sieht. Er wird zu <strong>de</strong>m frem<strong>de</strong>n<br />

Nest umgelenkt, wo er die Nahrung, die für seine eigenen<br />

Jungen bestimmt war, in <strong>de</strong>n Schnabel <strong>de</strong>s Kuckucks fallen<br />

läßt. Die „Unwi<strong>de</strong>rstehlichkeitstheorie“ stimmt mit <strong>de</strong>n Ansichten<br />

früher <strong>de</strong>utscher Ornithologen überein, die von Pflegeeltern<br />

sagten, sie verhielten sich wie „Süchtige“, und die die<br />

Kuckucksnestlinge als <strong>de</strong>ren „Laster“ bezeichneten. Ehrlicherweise<br />

sollte man hinzufügen, daß diese Art <strong>de</strong>r Sprache bei<br />

einigen mo<strong>de</strong>rnen Experimentatoren auf recht geringe Sympathie<br />

stößt. Zweifellos wird es jedoch sehr viel leichter, die<br />

eben beschriebenen Beobachtungen zu erklären, <strong>wen</strong>n wir <strong>de</strong>n<br />

offenen Schnabel <strong>de</strong>s Kuckucks tatsächlich als einen machtvollen<br />

d<strong>ro</strong>genähnlichen Superstimulus ansehen. Es wird leichter,<br />

Sympathie mit <strong>de</strong>m Verhalten <strong>de</strong>s winzigen Altvogels zu empfin<strong>de</strong>n,<br />

<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m Rücken seines monströsen Kin<strong>de</strong>s steht. Er<br />

ist nicht dumm. Sein Nervensystem wird getäuscht, und zwar<br />

so unwi<strong>de</strong>rstehlich, als sei er ein hilfloser D<strong>ro</strong>genabhängiger<br />

o<strong>de</strong>r als sei <strong>de</strong>r Kuckuck ein Wissenschaftler, <strong>de</strong>r Elekt<strong>ro</strong><strong>de</strong>n in<br />

sein Gehirn stöpselt.<br />

Doch selbst <strong>wen</strong>n wir jetzt eine größere persönliche Sympathie<br />

für die manipulierten Pflegeeltern empfin<strong>de</strong>n, können wir<br />

immer noch fragen, warum die natürliche Auslese es <strong>de</strong>m Kukkuck<br />

erlaubt, sich ungestraft so zu verhalten. Warum haben die<br />

Nervensysteme <strong>de</strong>r Wirte keine Resistenz gegen die D<strong>ro</strong>ge <strong>de</strong>s<br />

<strong>ro</strong>ten Rachens entwickelt? Vielleicht hat die Selektion noch<br />

keine <strong>Zeit</strong> gehabt, ihre Arbeit zu tun. Vielleicht parasitieren<br />

die Kuckucke ihre gegenwärtigen Wirte erst seit einigen hun-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 380<br />

<strong>de</strong>rt Jahren und wer<strong>de</strong>n in ein paar Jahrhun<strong>de</strong>rten gezwungen<br />

sein, sie wie<strong>de</strong>r aufzugeben und sich an<strong>de</strong>re Arten als Opfer zu<br />

suchen. Es gibt einige Hinweise, die diese Theorie stützen. Ich<br />

kann mich jedoch <strong>de</strong>s Gefühls nicht erwehren, daß hier noch<br />

mehr im Spiel sein muß.<br />

Im evolutionären „Wettrüsten“ zwischen <strong>de</strong>n Kuckucken<br />

und allen ihren Wirtsarten besteht eine Art eingebaute Ungerechtigkeit,<br />

die sich aus <strong>de</strong>n ungleichen Kosten für Versagen<br />

ergibt. Je<strong>de</strong>r Kuckucksnestling stammt von einer langen Reihe<br />

von Kuckucksnestlingen ab, von <strong>de</strong>nen je<strong>de</strong>r einzelne seine<br />

Pflegeeltern erfolgreich manipuliert haben muß. Je<strong>de</strong>r Jungkuckuck,<br />

<strong>de</strong>r, <strong>wen</strong>n auch nur vorübergehend, die Kont<strong>ro</strong>lle<br />

über seinen Wirt verlor, ist als Folge <strong>de</strong>ssen gestorben. Die einzelnen<br />

Pflegeeltern dagegen stammen von einer langen Reihe<br />

von Vorfahren ab, von <strong>de</strong>nen viele niemals in ihrem Leben auf<br />

einen Kuckuck get<strong>ro</strong>ffen sind. Und selbst jene, die wirklich<br />

einmal einen Kuckuck in ihrem Nest vorfan<strong>de</strong>n, konnten <strong>de</strong>r<br />

Verlockung, ihn zu pflegen, erliegen und <strong>de</strong>nnoch weiterleben,<br />

um in <strong>de</strong>r nächsten Paarungszeit eine an<strong>de</strong>re Brut aufzuziehen.<br />

Der entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Punkt ist, daß die Kosten für Versagen<br />

eine Asymmetrie aufweisen. Gene für das Versagen, <strong>de</strong>r<br />

Versklavung durch Kuckucke zu wi<strong>de</strong>rstehen, können von Rotkehlchen<br />

und Heckenbraunellen leicht über die Generationen<br />

hinweg weitergegeben wer<strong>de</strong>n. Gene für das Versagen, Pflegeeltern<br />

zu versklaven, können nicht über Generationen von<br />

Kuckucken weitergereicht wer<strong>de</strong>n. Das ist es, was ich mit „eingebauter<br />

Ungerechtigkeit“ und „Asymmetrie in <strong>de</strong>n Kosten<br />

für Versagen“ gemeint habe. Das Prinzip wird in einer von<br />

Äsops Fabeln zusammengefaßt: „Das Kaninchen läuft schneller<br />

als <strong>de</strong>r Fuchs, <strong>de</strong>nn das Kaninchen läuft um sein Leben,<br />

während <strong>de</strong>r Fuchs nur um seine Mahlzeit läuft.“ Mein Kollege<br />

John Krebs und ich haben dies das „Leben/Mahlzeit-Prinzip“<br />

getauft.<br />

Wegen <strong>de</strong>s Leben/Mahlzeit-Prinzips ist es möglich, daß sich<br />

Tiere, die von einem an<strong>de</strong>ren Tier manipuliert wer<strong>de</strong>n, gelegentlich<br />

auf eine Weise verhalten, die für sie selbst nicht von<br />

Vorteil ist. Tatsächlich han<strong>de</strong>ln sie in gewissem Sinne sehr wohl


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 381<br />

zu ihrem eigenen Besten: Die ganze Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s Leben/<br />

Mahlzeit-Prinzips liegt darin, daß die Tiere sich theoretisch<br />

gegen die Manipulation wehren könnten, daß es jedoch zu<br />

teuer wäre, dies zu tun. Vielleicht brauchte man, um <strong>de</strong>r Manipulation<br />

durch einen Kuckuck zu wi<strong>de</strong>rstehen, größere Augen<br />

o<strong>de</strong>r ein größeres Gehirn, was allgemeine Kosten mit sich<br />

bringen wür<strong>de</strong>. Rivalen mit einer genetischen Ten<strong>de</strong>nz, <strong>de</strong>r<br />

Manipulation zu wi<strong>de</strong>rstehen, wären wegen <strong>de</strong>r ökonomischen<br />

Kosten <strong>de</strong>s Wi<strong>de</strong>rstands <strong>wen</strong>iger erfolgreich bei <strong>de</strong>r Weitergabe<br />

ihrer Gene.<br />

Aber wir sind wie<strong>de</strong>r einmal rückfällig gewor<strong>de</strong>n und<br />

betrachten das Leben vom Standpunkt <strong>de</strong>s Einzelorganismus<br />

und nicht von <strong>de</strong>m seiner Gene. Als wir über Saugwürmer<br />

und Schnecken sprachen, gewöhnten wir uns an die Vorstellung,<br />

daß die Gene eines Parasiten auf genau dieselbe Weise<br />

phänotypische Auswirkungen auf <strong>de</strong>n Körper <strong>de</strong>s Wirtes haben<br />

könnten, wie die Gene irgen<strong>de</strong>ines Tieres phänotypische Auswirkungen<br />

auf <strong>de</strong>ssen „eigenen“ Körper haben. Wir zeigten,<br />

daß schon die I<strong>de</strong>e eines „eigenen“ Körpers falsch ist. In gewissem<br />

Sinne sind alle Gene in einem Körper „parasitär“, ob wir<br />

sie nun als „körpereigene“ Gene bezeichnen wollen o<strong>de</strong>r nicht.<br />

Die Kuckucke dienten in unseren Überlegungen als Beispiel<br />

für Parasiten, die nicht im Körper ihrer Wirte leben. Sie manipulieren<br />

ihre Wirte auf ziemlich genau dieselbe Weise wie im<br />

Wirt leben<strong>de</strong> Parasiten, und die Manipulation kann, wie wir<br />

gesehen haben, so stark und unwi<strong>de</strong>rstehlich sein wie eine<br />

D<strong>ro</strong>ge o<strong>de</strong>r ein Hormon. Wie im Fall <strong>de</strong>r im Körper leben<strong>de</strong>n<br />

Parasiten sollten wir nun die ganze Angelegenheit im Sinne<br />

von Genen und erweiterten Phänotypen neu formulieren.<br />

Im evolutionären Wettrüsten zwischen Kuckucken und<br />

Wirten nahmen Fortschritte auf bei<strong>de</strong>n Seiten die Form genetischer<br />

Mutationen an, die entstan<strong>de</strong>n und von <strong>de</strong>r natürlichen<br />

Auslese geför<strong>de</strong>rt wur<strong>de</strong>n. Was auch immer das Geheimnis<br />

<strong>de</strong>s aufgesperrten Kuckucksschnabels ist, <strong>de</strong>r wie eine D<strong>ro</strong>ge<br />

auf das Nervensystem <strong>de</strong>s Wirtes wirkt, es muß als genetische<br />

Mutation entstan<strong>de</strong>n sein. Diese Mutation wirkte über ihren<br />

Effekt auf, sagen wir, Farbe und Form <strong>de</strong>s Kuckucksrachens.


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 382<br />

Aber selbst dies war nicht ihr unmittelbarer Effekt. Unmittelbar<br />

wirkte sie auf unsichtbare chemische Abläufe im Innern<br />

von Zellen. Der Effekt, <strong>de</strong>n Gene auf Farbe und Form <strong>de</strong>s<br />

Rachens haben, ist selbst indirekt. Und nun <strong>de</strong>r entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong><br />

Punkt: Nur ein <strong>wen</strong>ig indirekter ist <strong>de</strong>r Effekt <strong>de</strong>rselben Kukkucksgene<br />

auf das Verhalten <strong>de</strong>s betörten Wirtes. In genau<br />

<strong>de</strong>mselben Sinne, wie wir davon sprechen können, daß Kukkucksgene<br />

(phänotypische) Auswirkungen auf Farbe und Form<br />

<strong>de</strong>s Kuckucksrachens haben, können wir auch davon sprechen,<br />

daß Kuckucksgene (erweiterte phänotypische) Wirkungen auf<br />

das Wirtsverhalten haben. Parasitengene können nicht nur<br />

dann Auswirkungen auf Wirtskörper haben, <strong>wen</strong>n <strong>de</strong>r Parasit<br />

im Innern <strong>de</strong>s Wirtes lebt, wo er ihn unmittelbar durch chemische<br />

Mittel manipulieren kann, son<strong>de</strong>rn auch dann, <strong>wen</strong>n <strong>de</strong>r<br />

Parasit völlig vom Wirt getrennt ist und ihn aus <strong>de</strong>r Entfernung<br />

manipuliert. In <strong>de</strong>r Tat können, wie wir gleich sehen wer<strong>de</strong>n,<br />

sogar chemische Einflüsse außerhalb <strong>de</strong>s Körpers wirksam<br />

sein.<br />

Kuckucke sind bemerkenswerte und lehrreiche Geschöpfe.<br />

Aber nahezu je<strong>de</strong>s Wun<strong>de</strong>r bei <strong>de</strong>n Wirbeltieren kann von <strong>de</strong>n<br />

Insekten übert<strong>ro</strong>ffen wer<strong>de</strong>n. Sie haben <strong>de</strong>n Vorteil, daß es einfach<br />

so viele von ihnen gibt; mein Kollege Robert May hat sehr<br />

passend bemerkt: „Es ist eine gute Näherung zu sagen, daß<br />

alle Tierarten Insekten sind.“ Die „Kuckucke“ bei <strong>de</strong>n Insekten<br />

lassen sich unmöglich aufzählen; sie sind zu zahlreich, und<br />

ihre Verhaltensweise ist sehr oft neu erfun<strong>de</strong>n wor<strong>de</strong>n. Einige<br />

Beispiele, mit <strong>de</strong>nen wir uns befassen wer<strong>de</strong>n, gehen weit über<br />

das bekannte Kuckucksverhalten hinaus und erfüllen die wil<strong>de</strong>sten<br />

Phantasien, die mein Buch The Exten<strong>de</strong>d Phenotype<br />

geweckt haben mag.<br />

Ein echter Kuckuck legt sein Ei und verschwin<strong>de</strong>t. Einige<br />

„Kuckucksweibchen“ bei <strong>de</strong>n Ameisen machen auf dramatischere<br />

Weise auf sich aufmerksam. Ich nenne nicht oft lateinische<br />

Namen, aber Bothriomyrmex regicidus und B. <strong>de</strong>capitans<br />

sind wirklich bemerkenswert. Diese bei<strong>de</strong>n Arten leben als<br />

Parasiten an<strong>de</strong>rer Ameisenarten. Bei allen Ameisen wer<strong>de</strong>n<br />

die Jungen natürlich normalerweise nicht von ihren Eltern,


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 383<br />

son<strong>de</strong>rn von Arbeiterinnen gefüttert. Somit sind es die Arbeiterinnen,<br />

die je<strong>de</strong>r Möchtegern-Kuckuck betrügen o<strong>de</strong>r manipulieren<br />

muß. Ein nützlicher erster Schritt ist es, sich <strong>de</strong>r echten<br />

Königin <strong>de</strong>r Arbeiterinnen zu entledigen, da diese darauf p<strong>ro</strong>grammiert<br />

ist, ständig konkurrieren<strong>de</strong> Brut zu erzeugen. Bei<br />

diesen bei<strong>de</strong>n Arten schleicht sich die Parasitenkönigin ganz<br />

allein in das Nest einer an<strong>de</strong>ren Ameisenart. Sie sucht sich<br />

die Wirtskönigin heraus und läßt sich von ihr herumtragen,<br />

während sie still und leise, um Edward Wilsons gewandtmakabres<br />

Un<strong>de</strong>rstatement zu zitieren, „<strong>de</strong>n einzigen Akt vollbringt,<br />

für <strong>de</strong>n sie so einzigartig spezialisiert ist: Sie schnei<strong>de</strong>t<br />

langsam <strong>de</strong>n Kopf ihres Opfers ab“. Die Mör<strong>de</strong>rin wird dann<br />

von <strong>de</strong>n verwaisten Arbeiterinnen adoptiert, und diese pflegen<br />

nun ihre Eier und Larven, ohne Verdacht zu schöpfen. Einige<br />

Nachkommen wer<strong>de</strong>n selbst zu Arbeiterinnen aufgezogen, die<br />

allmählich die ursprüngliche Art im Nest ersetzen. An<strong>de</strong>re<br />

wer<strong>de</strong>n zu Königinnen, die ausfliegen, um neue Wei<strong>de</strong>grün<strong>de</strong><br />

und noch nicht abgetrennte königliche Häupter zu suchen.<br />

Aber Köpfe absägen ist eine nicht ganz leichte Arbeit. Parasiten<br />

sind nicht daran gewöhnt, sich anzustrengen, <strong>wen</strong>n sie<br />

gute Beziehungen erzwingen können. Die Figur, die mir in Wilsons<br />

Buch The Insect Societies am liebsten ist, ist Monomorium<br />

santschii. Diese Art hat im Verlauf <strong>de</strong>r Evolution ihre Arbeiterinnenkaste<br />

gänzlich verloren. Die Arbeiterinnen <strong>de</strong>r Wirtsart<br />

erledigen alle Arbeiten für ihre Parasiten und erfüllen sogar die<br />

schrecklichste aller Aufgaben. Auf Befehl <strong>de</strong>r Invasorenkönigin<br />

ermor<strong>de</strong>n sie tatsächlich ihre eigene Mutter. Die Usurpatorin<br />

braucht nicht einmal ihre eigenen Kiefer zu gebrauchen. Auf<br />

welche Weise sie das Verhalten <strong>de</strong>r Wirtsart kont<strong>ro</strong>lliert, ist ein<br />

Rätsel; vermutlich ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>t sie eine Chemikalie, <strong>de</strong>nn die<br />

Nervensysteme <strong>de</strong>r Ameisen sprechen generell stark auf chemische<br />

Reize an. Wenn ihre Waffe tatsächlich eine Chemikalie<br />

ist, dann ist diese heimtückischer als je<strong>de</strong> D<strong>ro</strong>ge, die die<br />

Wissenschaft kennt. Denn überlegen wir nur, was sie vollbringt.<br />

Sie überflutet das Gehirn <strong>de</strong>r Arbeiterin, ergreift die<br />

Zügel ihrer Muskeln, drängt sie, tief verwurzelte Pflichten zu<br />

vernachlässigen, und <strong>wen</strong><strong>de</strong>t sie gegen ihre eigene Mutter.


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 384<br />

Für Ameisen ist Muttermord eine Tat von beson<strong>de</strong>rem genetischem<br />

Irrsinn, und furchtbar muß die D<strong>ro</strong>ge sein, die sie dazu<br />

treibt. In <strong>de</strong>r Welt <strong>de</strong>s erweiterten Phänotyps frage man nicht<br />

danach, wie das Verhalten eines Tieres seinen Genen zum Vorteil<br />

gereicht; man frage statt <strong>de</strong>ssen, wessen Genen es zum Vorteil<br />

gereicht.<br />

Es ist kaum überraschend, daß Ameisen von Parasiten ausgebeutet<br />

wer<strong>de</strong>n, nicht nur von an<strong>de</strong>ren Ameisen, son<strong>de</strong>rn auch<br />

von einer erstaunlichen Menagerie spezialisierter „Mitläufer“.<br />

Arbeiterameisen transportieren einen reichen Nahrungsst<strong>ro</strong>m<br />

aus einem ausge<strong>de</strong>hnten Sammelgebiet in eine zentrale Vorratskammer,<br />

die ein lohnen<strong>de</strong>s Ziel für Schnorrer darstellt.<br />

Ameisen sind außer<strong>de</strong>m gute Schutzpolizisten: Sie sind gut<br />

bewaffnet und zahlreich. Die Blattläuse aus Kapitel 10 zahlten,<br />

wie wir sahen, mit Nektar, um p<strong>ro</strong>fessionelle Leibwächter<br />

zu mieten. Mehrere Schmetterlingsarten verbringen ihr Raupenstadium<br />

in einem Ameisennest. Einige sind nichts als<br />

Plün<strong>de</strong>rer. An<strong>de</strong>re bieten <strong>de</strong>n Ameisen eine Belohnung dafür,<br />

daß diese sie beschützen. Häufig st<strong>ro</strong>tzen sie buchstäblich von<br />

Mechanismen zur Manipulation ihrer Beschützer. Die Raupe<br />

eines Schmetterlings namens Thisbe irenea besitzt ein lauterzeugen<strong>de</strong>s<br />

Organ im Kopf, mit <strong>de</strong>m sie Ameisen herbeiruft,<br />

sowie ein Paar teleskopartige Röhren an ihrem Hinterteil, aus<br />

<strong>de</strong>nen verführerischer Nektar ausgeschie<strong>de</strong>n wird. Auf ihren<br />

Schultern steht ein weiteres Paar Röhren, die einen noch subtileren<br />

Zauber verbreiten. Ihr Sekret scheint keine Nahrung zu<br />

sein, son<strong>de</strong>rn ein flüchtiger Zaubertrank, <strong>de</strong>r einen dramatischen<br />

Einfluß auf das Verhalten <strong>de</strong>r Ameisen hat. Eine Ameise,<br />

die unter diesen Einfluß gerät, springt glatt in die Luft. Ihre<br />

Kiefer öffnen sich weit, und sie wird aggressiv – bei weitem<br />

begieriger als gewöhnlich, je<strong>de</strong>s sich bewegen<strong>de</strong> Objekt anzugreifen,<br />

es zu beißen und mit Ameisensäure zu bespritzen. Nur<br />

die Raupe nicht, die für <strong>de</strong>n Rausch <strong>de</strong>r Ameise verantwortlich<br />

ist! Darüber hinaus gerät eine Ameise unter <strong>de</strong>r Kont<strong>ro</strong>lle<br />

einer rauschmittelverströmen<strong>de</strong>n Raupe schließlich in einen<br />

Zustand, <strong>de</strong>n man „Bindung“ nennt, in <strong>de</strong>m sie für einen<br />

<strong>Zeit</strong>raum von vielen Tagen von ihrer Raupe unzertrennlich


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 385<br />

wird. Wie eine Blattlaus beschäftigt die Raupe dann Ameisen<br />

als Leibwächter, aber sie geht noch einen Schritt weiter.<br />

Während die Blattläuse sich auf die normale Aggressivität <strong>de</strong>r<br />

Ameisen gegen Räuber verlassen, gibt die Raupe ihnen eine<br />

die Aggressivität steigern<strong>de</strong> D<strong>ro</strong>ge ein, und sie scheint ihnen<br />

außer<strong>de</strong>m noch eine süchtig machen<strong>de</strong> Substanz mit zu verabreichen.<br />

Ich habe extreme Beispiele ausgewählt. Doch von Tieren<br />

und Pflanzen, die an<strong>de</strong>re Tiere und Pflanzen ihrer eigenen<br />

Art o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rer Arten auf etwas maßvollere Weise manipulieren,<br />

wimmelt es in <strong>de</strong>r Natur nur so. In allen Fällen, in <strong>de</strong>nen<br />

die natürliche Auslese Gene für Manipulation geför<strong>de</strong>rt hat,<br />

ist es berechtigt, davon zu sprechen, daß diese Gene (erweiterte<br />

phänotypische) Effekte auf <strong>de</strong>n Körper <strong>de</strong>r manipulierten<br />

Organismen haben. Es kommt nicht darauf an, in welchem<br />

Körper ein Gen sitzt. Das Ziel seiner Manipulation kann <strong>de</strong>rselbe<br />

Körper sein o<strong>de</strong>r ein an<strong>de</strong>rer. Die natürliche Auslese<br />

för<strong>de</strong>rt jene Gene, die die Welt manipulieren, um ihre eigene<br />

Fortpflanzung zu garantieren. Dies führt zu <strong>de</strong>r These, die<br />

ich das Zentrale Theorem <strong>de</strong>s erweiterten Phänotyps genannt<br />

habe: Das Verhalten eines Tieres tendiert dahin, das Überleben<br />

von Genen „für“ ein spezielles Verhalten zu maximieren, unabhängig<br />

davon, ob jene Gene zufällig im Körper eben dieses Tieres<br />

sitzen o<strong>de</strong>r nicht. Ich habe dies im Zusammenhang mit <strong>de</strong>m<br />

Verhalten von Tieren geschrieben, aber das Theorem könnte<br />

natürlich auch auf Farbe, Größe, Form und alles an<strong>de</strong>re zutreffen.<br />

Es ist endlich an <strong>de</strong>r <strong>Zeit</strong>, zu <strong>de</strong>m P<strong>ro</strong>blem zurückzukehren,<br />

mit <strong>de</strong>m wir begonnen haben: <strong>de</strong>m Konflikt zwischen einzelnem<br />

Organismus und Gen als rivalisieren<strong>de</strong>n Kandidaten für<br />

die zentrale Rolle in <strong>de</strong>r natürlichen Auslese. In früheren Kapiteln<br />

ging ich von <strong>de</strong>r Annahme aus, es gebe kein P<strong>ro</strong>blem,<br />

weil die Rep<strong>ro</strong>duktion <strong>de</strong>s Individuums gleichbe<strong>de</strong>utend mit<br />

<strong>de</strong>m Überleben <strong>de</strong>r Gene sei. Ich setzte voraus, daß man entwe<strong>de</strong>r<br />

sagen kann „Der Organismus arbeitet darauf hin, alle<br />

seine Gene weiterzugeben“ o<strong>de</strong>r „Die Gene arbeiten daraufhin,<br />

Organismen aufeinan<strong>de</strong>rfolgen<strong>de</strong>r Generationen zu zwingen,


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 386<br />

sie weiterzugeben.“ Es schien mir, als seien dies zwei gleichwertige<br />

Arten, dasselbe zu sagen, und welche Form man wählt,<br />

sei lediglich eine Frage <strong>de</strong>s Geschmacks. Aber irgendwie blieb<br />

<strong>de</strong>r Konflikt bestehen.<br />

Eine Metho<strong>de</strong>, diese ganze Angelegenheit zu entwirren,<br />

besteht darin, daß man die Ausdrücke „Replikator“ und „Vehikel“<br />

benutzt. Die Grun<strong>de</strong>inheiten <strong>de</strong>r natürlichen Auslese, die<br />

grundlegen<strong>de</strong>n Agenzien, die überleben o<strong>de</strong>r nicht überleben,<br />

die Ahnenreihen i<strong>de</strong>ntischer Kopien mit gelegentlich auftreten<strong>de</strong>n<br />

Zufallsmutationen bil<strong>de</strong>n, heißen Replikatoren. DNA-<br />

Moleküle sind Replikatoren. Aus Grün<strong>de</strong>n, auf die wir noch<br />

zu sprechen kommen wer<strong>de</strong>n, tun sie sich im allgemeinen in<br />

g<strong>ro</strong>ßen gemeinsamen Überlebensmaschinen o<strong>de</strong>r „Vehikeln“<br />

zusammen. Die Vehikel, die wir am besten kennen, sind individuelle<br />

Körper wie unsere eigenen. Ein Körper ist somit<br />

kein Replikator; er ist ein Vehikel. Ich muß dies betonen, da<br />

dieser Punkt mißverstan<strong>de</strong>n wor<strong>de</strong>n ist. Vehikel machen keine<br />

Kopien von sich selbst; sie arbeiten, um ihre Replikatoren zu<br />

vermehren. Replikatoren verhalten sich nicht, sie nehmen die<br />

Welt nicht wahr, fangen keine Beute und laufen auch nicht vor<br />

Räubern davon; sie konstruieren Vehikel, die alle diese Dinge<br />

tun. Für viele Zwecke ist es für die Biologen sinnvoll, ihre Aufmerksamkeit<br />

auf die Ebene <strong>de</strong>s Vehikels zu konzentrieren, für<br />

an<strong>de</strong>re Zwecke ist eine Betrachtung auf <strong>de</strong>r Ebene <strong>de</strong>s Replikators<br />

angebracht. Gen und Einzelorganismus sind keine Rivalen<br />

um dieselbe Star<strong>ro</strong>lle im Darwinschen Drama. Sie spielen<br />

unterschiedliche, sich ergänzen<strong>de</strong> und in vielen Beziehungen<br />

gleich wichtige Rollen – die Rolle <strong>de</strong>s Replikators und die Rolle<br />

<strong>de</strong>s Vehikels.<br />

Die Replikator/Vehikel-Terminologie ist auf mehrerlei Art<br />

hilfreich. Zum Beispiel legt sie eine lästige Kont<strong>ro</strong>verse über die<br />

Ebene bei, auf <strong>de</strong>r die natürliche Auslese agiert. Oberflächlich<br />

betrachtet mag es logisch erscheinen, auf einer Art Skala <strong>de</strong>r<br />

Selektionsniveaus die „Individualselektion“ auf halbem Wege<br />

zwischen <strong>de</strong>r Genselektion, die ich in Kapitel 3 verfochten<br />

habe, und <strong>de</strong>r in Kapitel 7 kritisierten „Gruppenselektion“<br />

anzusie<strong>de</strong>ln. Die „Individualselektion“ scheint vage ein Mit-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 387<br />

telding zwischen zwei Extremen zu sein, und viele Biologen<br />

und Philosophen haben sich dazu verführen lassen, diesen einfachen<br />

Weg einzuschlagen und sie als solches zu behan<strong>de</strong>ln.<br />

Wie wir nun erkennen können, ist diese Sichtweise falsch. Der<br />

Organismus und die Gruppe von Organismen sind zwar echte<br />

Rivalen um die Vehikel<strong>ro</strong>lle in <strong>de</strong>r Geschichte, doch kommt<br />

keiner von ihnen auch nur als Kandidat für die Rolle <strong>de</strong>s Replikators<br />

in Frage. Die Kont<strong>ro</strong>verse zwischen „Individualselektion“<br />

und „Gruppenselektion“ ist eine echte Kont<strong>ro</strong>verse zwischen<br />

alternativen Vehikeln. Die Kont<strong>ro</strong>verse zwischen Individualselektion<br />

und Genselektion ist überhaupt keine Kont<strong>ro</strong>verse,<br />

<strong>de</strong>nn Gen und Organismus sind Kandidaten für unterschiedliche,<br />

sogar komplementäre Rollen in <strong>de</strong>r Geschichte:<br />

Replikator und Vehikel.<br />

Die Rivalität um die Vehikel<strong>ro</strong>lle zwischen <strong>de</strong>m Einzelorganismus<br />

und <strong>de</strong>r Gruppe von Organismen, die eine echte<br />

Rivalität ist, kann beigelegt wer<strong>de</strong>n. Das Ergebnis ist in meinen<br />

Augen entschie<strong>de</strong>n ein Sieg für <strong>de</strong>n Einzelorganismus. Die<br />

Gruppe ist als Einheit zu ungenau. Ein Ru<strong>de</strong>l von Hirschen,<br />

Lö<strong>wen</strong> o<strong>de</strong>r Wölfen besitzt einen rudimentären Zusammenhalt<br />

und eine gewisse Einheit <strong>de</strong>r Absicht. Doch dies ist jämmerlich<br />

im Vergleich zum Zusammenhalt und zur Einheit <strong>de</strong>r Absicht,<br />

die <strong>de</strong>r Körper eines einzelnen Lö<strong>wen</strong>, Wolfes o<strong>de</strong>r Hirsches<br />

aufweist. Daß dies zutrifft, ist inzwischen weithin akzeptiert,<br />

aber warum trifft es zu? Erweiterte Phänotypen und Parasiten<br />

können uns auch hier weiterhelfen.<br />

Wenn die zusammenarbeiten<strong>de</strong>n Gene eines Parasiten gegen<br />

die Interessen <strong>de</strong>r (ebenfalls zusammenarbeiten<strong>de</strong>n) Gene <strong>de</strong>s<br />

Wirtes wirken, liegt <strong>de</strong>r Grund dafür, wie wir gesehen haben,<br />

in <strong>de</strong>r Tatsache, daß die bei<strong>de</strong>n Gruppen von Genen das<br />

gemeinsame Vehikel, <strong>de</strong>n Körper <strong>de</strong>s Wirtes, auf unterschiedliche<br />

Weise verlassen. Schneckengene verlassen das gemeinsame<br />

Vehikel auf <strong>de</strong>m Weg über Schneckenspermien und -eier.<br />

Da <strong>de</strong>r Einsatz aller Schneckengene in je<strong>de</strong>m Spermium und<br />

je<strong>de</strong>m Ei gleich ist, da sie alle an <strong>de</strong>r unparteiischen Meiose<br />

teilnehmen, arbeiten alle für das gemeinsame Wohl zusammen<br />

und machen daher <strong>de</strong>n Schneckenkörper gewöhnlich zu einem


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 388<br />

einheitlichen, zweckmäßigen Vehikel. Der wirkliche Grund,<br />

warum ein Saugwurm von seinem Wirt erkennbar getrennt ist,<br />

<strong>de</strong>r Grund, warum er seine Absichten und seine I<strong>de</strong>ntität nicht<br />

mit <strong>de</strong>n Absichten und <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntität <strong>de</strong>s Wirtes verschmelzen<br />

läßt, ist, daß die Saugwurmgene nicht dieselbe Metho<strong>de</strong> benutzen,<br />

um das gemeinsame Vehikel zu verlassen wie die Schnekkengene,<br />

und daß sie nicht an <strong>de</strong>r meiotischen Lotterie <strong>de</strong>r<br />

Schnecke beteiligt sind – sie haben ihre eigene Lotterie.<br />

Daher bleiben, in diesem Maße und nur in diesem Maße,<br />

die bei<strong>de</strong>n Vehikel getrennt als eine Schnecke und ein erkennbar<br />

eigenständiger Saugwurm in ihrem Innern. Wür<strong>de</strong>n Saugwurmgene<br />

in Schneckeneiern und -spermien weitergegeben,<br />

so wür<strong>de</strong> die Evolution die bei<strong>de</strong>n Körper zu einem Fleisch<br />

wer<strong>de</strong>n lassen. Möglicherweise wären wir nicht einmal in <strong>de</strong>r<br />

Lage zu erkennen, daß es einmal zwei Vehikel waren.<br />

„Einzelorganismen“ wie wir selbst sind das En<strong>de</strong>rgebnis<br />

vieler solcher Verschmelzungen. Die Gruppe von Organismen<br />

– <strong>de</strong>r Vogelschwarm o<strong>de</strong>r das Wolfsru<strong>de</strong>l – verschmilzt genau<br />

<strong>de</strong>shalb nicht zu einem einzigen Vehikel, weil die Gene im<br />

Schwarm o<strong>de</strong>r im Ru<strong>de</strong>l keine gemeinsame Metho<strong>de</strong> haben,<br />

das gegenwärtige Vehikel zu verlassen. Zwar können aus einem<br />

Ru<strong>de</strong>l Tochterru<strong>de</strong>l hervorgehen. Aber die Gene <strong>de</strong>s Elternru<strong>de</strong>ls<br />

gehen nicht in einem einzigen Behältnis, an <strong>de</strong>m alle<br />

einen gleichen Anteil haben, an das Tochterru<strong>de</strong>l über. Die<br />

Gene in einem Wolfsru<strong>de</strong>l p<strong>ro</strong>fitieren nicht alle in gleicher Weise<br />

von <strong>de</strong>mselben Satz zukünftiger Ereignisse. Ein Gen kann sein<br />

zukünftiges Wohlergehen för<strong>de</strong>rn, in<strong>de</strong>m es seinen eigenen<br />

Wolf auf Kosten <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren einzelnen Wölfe begünstigt. Ein<br />

einzelner Wolf ist daher ein Vehikel, das dieser Bezeichnung<br />

würdig ist. Ein Wolfsru<strong>de</strong>l ist es nicht. Genetisch gesehen ist<br />

<strong>de</strong>r Grund dafür, daß mit Ausnahme <strong>de</strong>r Geschlechtszellen alle<br />

Zellen im Körper eines Wolfes dieselben Gene besitzen, und<br />

was die Geschlechtszellen betrifft, so haben alle Gene die gleiche<br />

Chance, in je<strong>de</strong>r von ihnen vertreten zu sein. Die Zellen in<br />

einem Ru<strong>de</strong>l Wölfe jedoch besitzen nicht dieselben Gene, und<br />

ebenso<strong>wen</strong>ig haben sie dieselbe Chance, in <strong>de</strong>n Zellen von sich<br />

abspalten<strong>de</strong>n Unterru<strong>de</strong>ln enthalten zu sein. Sie haben alles


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 389<br />

zu gewinnen, <strong>wen</strong>n sie gegen Rivalen in an<strong>de</strong>ren Wolfskörpern<br />

kämpfen (allerdings wird die Tatsache, daß ein Wolfsru<strong>de</strong>l<br />

wahrscheinlich eine Verwandtschaftsgruppe ist, <strong>de</strong>n Kampf<br />

mil<strong>de</strong>rn).<br />

Die wesentliche Eigenschaft, die eine Einheit braucht, <strong>wen</strong>n<br />

sie ein effizientes Genvehikel wer<strong>de</strong>n soll, ist folgen<strong>de</strong>: Sie muß<br />

für alle Gene, die in ihr sitzen, einen unparteiischen Ausgangskanal<br />

in die Zukunft haben. Dies trifft auf einen einzelnen Wolf<br />

zu. Der Kanal ist <strong>de</strong>r dünne St<strong>ro</strong>m von Spermien o<strong>de</strong>r Eizellen,<br />

<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Wolf durch Meiose herstellt. Auf ein Ru<strong>de</strong>l Wölfe trifft<br />

es nicht zu. Durch die egoistische För<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Individuums,<br />

in <strong>de</strong>m sie sitzen, können Gene sich auf Kosten <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren<br />

Gene im Wolfsru<strong>de</strong>l Vorteile verschaffen. Ein schwärmen<strong>de</strong>s<br />

Bienenvolk scheint sich wie ein Wolfsru<strong>de</strong>l durch Abspaltung<br />

einer Gruppe fortzupflanzen. Wenn wir jedoch genauer hinsehen,<br />

stellen wir fest, daß es, soweit die Gene bet<strong>ro</strong>ffen sind,<br />

ein weitgehend gemeinsames Schicksal hat. Die Zukunft <strong>de</strong>r<br />

Gene in <strong>de</strong>m Schwarm ist, zumin<strong>de</strong>st zu einem g<strong>ro</strong>ßen Teil,<br />

in <strong>de</strong>n Ovarien einer einzigen Königin angesie<strong>de</strong>lt. Genau <strong>de</strong>shalb<br />

sieht die Bienenkolonie wie ein wirklich integriertes einziges<br />

Vehikel aus und verhält sich auch so – wir drücken hier die<br />

Botschaft früherer Kapitel lediglich auf an<strong>de</strong>re Art und Weise<br />

aus.<br />

Überall fin<strong>de</strong>n wir, daß das Leben in <strong>de</strong>r Tat in getrennte,<br />

individuell zielbewußte Vehikel wie Wölfe und Bienenschwärme<br />

gebün<strong>de</strong>lt ist. Aber die Doktrin <strong>de</strong>s erweiterten Phänotyps hat<br />

uns gelehrt, daß dies nicht so hätte sein müssen. Im wesentlichen<br />

ist die einzige Erwartung, die wir aus unserer Theorie<br />

ableiten dürfen, daß es ein Schlachtfeld von Replikatoren gibt,<br />

die sich drängen, sich gegenseitig überlisten und bekämpfen,<br />

um sich eine Zukunft im genetischen Jenseits zu sichern. Die<br />

Waffen in <strong>de</strong>m Kampf sind phänotypische Effekte, anfangs<br />

direkte chemische Effekte im Innern von Zellen, schließlich<br />

aber „Fe<strong>de</strong>rn und Fänge“ und sogar Effekte über noch weitere<br />

Entfernungen hinweg. Unleugbar sind diese phänotypischen<br />

Wirkungen tatsächlich g<strong>ro</strong>ßenteils zu separaten Vehikeln<br />

zusammengebün<strong>de</strong>lt, wobei die Gene je<strong>de</strong>s dieser Vehikel von


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 390<br />

<strong>de</strong>r Aussicht auf einen gemeinsamen Engpaß in Form von<br />

Spermien und Eiern, durch <strong>de</strong>n sie in die Zukunft geschleust<br />

wer<strong>de</strong>n, diszipliniert und geordnet sind. Doch dies ist keine<br />

Tatsache, die als selbstverständlich zugrun<strong>de</strong> gelegt wer<strong>de</strong>n<br />

darf. Es ist eine Tatsache, die für sich genommen zu hinterfragen<br />

ist und unsere Neugier beschäftigen muß. Warum taten<br />

sich Gene in g<strong>ro</strong>ßen Vehikeln zusammen, von <strong>de</strong>nen je<strong>de</strong>s eine<br />

einzige genetische Ausgangstür besitzt? Warum entschie<strong>de</strong>n<br />

sich Gene dafür, sich zusammenzu<strong>ro</strong>tten und g<strong>ro</strong>ße Körper<br />

herzustellen, in <strong>de</strong>nen sie leben können? In meinem Buch The<br />

Exten<strong>de</strong>d Phenotype mache ich <strong>de</strong>n Versuch, eine Antwort auf<br />

dieses schwierige P<strong>ro</strong>blem herauszuarbeiten. An dieser Stelle<br />

kann ich lediglich einen Teil jener Antwort skizzieren – allerdings<br />

kann ich sie nun, wie man nach sieben Jahren erwarten<br />

darf, auch ein <strong>wen</strong>ig weiterführen.<br />

Ich wer<strong>de</strong> die Frage in drei Teile unterteilen. Warum <strong>ro</strong>tteten<br />

sich Gene in Zellen zusammen? Aus welchem Grund<br />

begannen Zellen, gemeinsam vielzellige Körper aufzubauen?<br />

Und warum nahmen die Körper das an, was ich als „Engpaß-<br />

Lebenszyklus“ bezeichnen wer<strong>de</strong>?<br />

Zunächst also, warum <strong>ro</strong>tteten sich die Gene in Zellen<br />

zusammen? Warum gaben diese alten Replikatoren die sorglose<br />

Freiheit <strong>de</strong>r Ursuppe auf und fingen an, in riesigen Kolonien<br />

zu schwärmen? Warum arbeiten sie zusammen? Wir<br />

können einen Teil <strong>de</strong>r Antwort erkennen, <strong>wen</strong>n wir uns ansehen,<br />

wie mo<strong>de</strong>rne DNA-Moleküle in <strong>de</strong>n chemischen Fabriken,<br />

die leben<strong>de</strong> Zellen darstellen, zusammenarbeiten. DNA-<br />

Moleküle p<strong>ro</strong>duzieren P<strong>ro</strong>teine. P<strong>ro</strong>teine arbeiten als Enzyme,<br />

das sind Katalysatoren für spezifische chemische Reaktionen.<br />

Häufig reicht eine einzelne chemische Reaktion nicht zur Synthese<br />

eines brauchbaren Endp<strong>ro</strong>dukts. In einer menschlichen<br />

pharmazeutischen Fabrik erfor<strong>de</strong>rt die Synthese einer brauchbaren<br />

Chemikalie eine Fertigungsstraße. Die Ausgangschemikalie<br />

läßt sich nicht unmittelbar in das gewünschte Endp<strong>ro</strong>dukt<br />

umwan<strong>de</strong>ln. Es ist erfor<strong>de</strong>rlich, eine Reihe von Zwischenp<strong>ro</strong>dukten<br />

in strikter Reihenfolge zu synthetisieren. Die<br />

Forschungsabteilung einer chemischen Fabrik investiert einen


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 391<br />

G<strong>ro</strong>ßteil ihres Scharfsinns in die Entwicklung praktikabler<br />

Synthesewege zwischen Anfangschemikalien und gewünschten<br />

Endp<strong>ro</strong>dukten. In gleicher Weise sind einzelne Enzyme in<br />

<strong>de</strong>r leben<strong>de</strong>n Zelle gewöhnlich nicht allein in <strong>de</strong>r Lage, aus<br />

einer gegebenen Anfangschemikalie ein nützliches Endp<strong>ro</strong>dukt<br />

zu synthetisieren. Es bedarf einer ganzen Gruppe von<br />

Enzymen: Eines katalysiert die Umwandlung <strong>de</strong>s Rohmaterials<br />

in das erste Zwischenp<strong>ro</strong>dukt, ein an<strong>de</strong>res die Umwandlung<br />

<strong>de</strong>s ersten Zwischenp<strong>ro</strong>dukts in das zweite und so weiter.<br />

Je<strong>de</strong>s dieser Enzyme wird von einem Gen hergestellt. Wenn<br />

für einen spezifischen Syntheseweg eine Sequenz von sechs<br />

Enzymen erfor<strong>de</strong>rlich ist, so müssen alle sechs dazugehörigen<br />

Gene vorhan<strong>de</strong>n sein. Nun ist es recht wahrscheinlich, daß es<br />

zwei alternative Synthesewege für dasselbe Endp<strong>ro</strong>dukt gibt,<br />

an <strong>de</strong>nen jeweils sechs verschie<strong>de</strong>ne Enzyme beteiligt sind,<br />

und daß keine dazwischenliegen<strong>de</strong> Möglichkeit existiert. Entsprechen<strong>de</strong>s<br />

kennen wir aus chemischen Fabriken. Welcher<br />

Weg gewählt wird, kann ein historischer Zufall sein, o<strong>de</strong>r aber<br />

es ist eine Frage <strong>de</strong>r bewußten Planung durch die Chemiker.<br />

In <strong>de</strong>r chemischen Fabrik <strong>de</strong>r Natur ist die Wahl natürlich niemals<br />

bewußt. Statt <strong>de</strong>ssen erfolgt sie durch die natürliche Auslese.<br />

Aber wie kann die natürliche Auslese verhin<strong>de</strong>rn, daß<br />

die bei<strong>de</strong>n Synthesewege vermischt wer<strong>de</strong>n, und dafür sorgen,<br />

daß zusammenarbeiten<strong>de</strong> Gruppen kompatibler Gene entstehen?<br />

Auf ziemlich genau dieselbe Art und Weise, wie ich sie in<br />

meinem Beispiel <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen und englischen Ru<strong>de</strong>rer (Kapitel<br />

5) vorschlug. Wichtig ist, daß ein Gen für einen Schritt auf<br />

Weg 1 in <strong>de</strong>r Anwesenheit von Genen für an<strong>de</strong>re Schritte auf<br />

Weg 1 ge<strong>de</strong>iht, aber nicht in Gegenwart von Genen für Weg 2.<br />

Wenn die Population zufällig von Genen für Pfad i beherrscht<br />

wird, so wird die Auslese an<strong>de</strong>re Gene für Pfad 1 för<strong>de</strong>rn und<br />

Gene für Pfad 2 benachteiligen. Umgekehrt gilt das gleiche.<br />

So verlockend es auch sein mag, es ist absolut falsch, davon<br />

zu sprechen, daß die Gene für die sechs Enzyme von Weg 2<br />

„als Gruppe“ selektiert wer<strong>de</strong>n. Je<strong>de</strong>s wird als einzelnes egoistisches<br />

Gen selektiert, aber es ge<strong>de</strong>iht nur in Gegenwart <strong>de</strong>r<br />

richtigen Garnitur an<strong>de</strong>rer Gene.


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 392<br />

Heutzutage fin<strong>de</strong>t diese Zusammenarbeit zwischen Genen<br />

im Innern von Zellen statt. Begonnen haben muß sie als<br />

rudimentäre Kooperation zwischen sich selbst kopieren<strong>de</strong>n<br />

Molekülen in <strong>de</strong>r Ursuppe (o<strong>de</strong>r was auch immer das Urmedium<br />

war). Zellwän<strong>de</strong> entstan<strong>de</strong>n vielleicht als Vorrichtung,<br />

um brauchbare Chemikalien zusammenzuhalten und am Entweichen<br />

zu hin<strong>de</strong>rn. Viele <strong>de</strong>r chemischen Reaktionen in <strong>de</strong>r<br />

Zelle laufen in <strong>de</strong>r Tat an Membranen ab; eine Membran funktioniert<br />

wie eine Kombination von Fließband und Reagenzglasgestell.<br />

Aber die Kooperation zwischen Genen blieb nicht<br />

auf die Zellbiochemie beschränkt. Zellen taten sich zusammen<br />

(o<strong>de</strong>r versäumten es, sich nach <strong>de</strong>r Zellteilung zu trennen), um<br />

vielzellige Körper zu bil<strong>de</strong>n.<br />

Dies bringt uns zu <strong>de</strong>r zweiten meiner drei Fragen: Warum<br />

<strong>ro</strong>tteten die Zellen sich zusammen, wozu die schwerfälligen<br />

Roboter? Auch hier geht es um Kooperation. Aber <strong>de</strong>r Bereich,<br />

in <strong>de</strong>m wir uns bewegen, hat sich von <strong>de</strong>r Welt <strong>de</strong>r Moleküle zu<br />

einem größeren Maßstab hin verschoben. Vielzellige Körper<br />

sind zu g<strong>ro</strong>ß für das Mik<strong>ro</strong>skop. Sie können sogar zu Elefanten<br />

o<strong>de</strong>r Walen wer<strong>de</strong>n. G<strong>ro</strong>ß zu sein ist nicht not<strong>wen</strong>digerweise<br />

etwas Gutes: Die meisten Organismen sind Bakterien,<br />

und sehr <strong>wen</strong>ige sind Elefanten. Aber <strong>wen</strong>n die <strong>de</strong>n kleinen<br />

Organismen offenstehen<strong>de</strong>n Metho<strong>de</strong>n, sich seinen Lebensunterhalt<br />

zu verdienen, bereits alle vergeben sind, gibt es immer<br />

noch Möglichkeiten, die für größere Organismen geeignet sind.<br />

G<strong>ro</strong>ße Organismen können beispielsweise kleinere fressen,<br />

und sie können verhin<strong>de</strong>rn, von ihnen gefressen zu wer<strong>de</strong>n.<br />

Die Vorteile eines Klubs von Zellen hören nicht bei <strong>de</strong>r<br />

Größe auf. Die Zellen in <strong>de</strong>m Klub können sich spezialisieren,<br />

wodurch je<strong>de</strong> von ihnen bei <strong>de</strong>r Erfüllung ihrer beson<strong>de</strong>ren<br />

Aufgabe leistungsfähiger wird. Spezialisierte Zellen dienen<br />

an<strong>de</strong>ren Klubmitglie<strong>de</strong>rn, und sie selbst p<strong>ro</strong>fitieren ebenfalls<br />

von <strong>de</strong>r Effizienz an<strong>de</strong>rer Spezialisten. In einem Verband<br />

vieler Zellen können einige sich als Sensoren spezialisieren,<br />

die Beute ent<strong>de</strong>cken, an<strong>de</strong>re als Nerven, die die Botschaft weitergeben,<br />

wie<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re als Nesselzellen, um das Opfer zu<br />

lähmen, als Muskelzellen zum Bewegen von Tentakeln und


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 393<br />

Einfangen <strong>de</strong>r Beute, als sezernieren<strong>de</strong> und resorbieren<strong>de</strong><br />

Zellen, um die Beute zu zersetzen und die Säfte aufzunehmen.<br />

Wir dürfen nicht vergessen, daß, zumin<strong>de</strong>st in mo<strong>de</strong>rnen<br />

Körpern wie unseren eigenen, die Zellen Klone sind. Alle<br />

enthalten dieselben Gene, auch <strong>wen</strong>n in <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen<br />

spezialisierten Zellen verschie<strong>de</strong>ne Gene aktiviert wer<strong>de</strong>n. Die<br />

Gene in je<strong>de</strong>m Zelltyp begünstigen direkt ihre eigenen Kopien<br />

in <strong>de</strong>r Min<strong>de</strong>rheit <strong>de</strong>r Zellen, die auf die Fortpflanzung spezialisiert<br />

sind, <strong>de</strong>n Zellen <strong>de</strong>r unsterblichen Keimbahn.<br />

Nun zu <strong>de</strong>r dritten Frage. Warum beteiligen sich Körper an<br />

einem Lebenszyklus „mit Engpaß“?<br />

Zunächst muß ich erklären, was ich mit „Engpaß“ meine.<br />

Gleichgültig wie viele Zellen es im Körper eines Elefanten<br />

geben mag, <strong>de</strong>r Elefant begann sein Leben als eine einzelne<br />

Zelle, ein befruchtetes Ei. Das befruchtete Ei ist ein Engpaß,<br />

<strong>de</strong>r sich während <strong>de</strong>r Embryonalentwicklung zu <strong>de</strong>n Trillionen<br />

von Zellen eines ausgewachsenen Elefanten ausweitet.<br />

Und gleichgültig wie viele Zellen in wie vielen unterschiedlichen<br />

Spezialisierungen zusammenarbeiten, um die unvorstellbar<br />

komplizierte Aufgabe zu erfüllen, die Lebensfunktionen<br />

eines ausgewachsenen Elefanten aufrechtzuerhalten, die<br />

Anstrengungen all jener Zellen laufen letztlich wie<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>mselben<br />

Endziel zusammen, einzelne Zellen – Spermien o<strong>de</strong>r<br />

Eier – zu p<strong>ro</strong>duzieren. Der Elefant nimmt nicht nur seinen<br />

Anfang in einer einzigen Zelle, einem befruchteten Ei. Sein<br />

Endziel, also sein Zweck, ist die P<strong>ro</strong>duktion einzelner Zellen,<br />

befruchteter Eier <strong>de</strong>r nächsten Generation. Der Lebenszyklus<br />

<strong>de</strong>s g<strong>ro</strong>ßen und bulligen Elefanten beginnt und en<strong>de</strong>t in einem<br />

Engpaß. Dieses Passieren eines Engpasses ist charakteristisch<br />

für die Lebenszyklen aller vielzelligen Tiere und <strong>de</strong>r meisten<br />

Pflanzen. Warum? Was ist seine Be<strong>de</strong>utung? Wir können diese<br />

Frage nicht beantworten, ohne uns darüber Gedanken zu<br />

machen, wie das Leben ohne diese Tatsache aussähe.<br />

Stellen wir uns zwei hypothetische Arten von Meeresalgen<br />

vor, die wir Engpaßtang und Wucheralgen nennen wollen. Die<br />

Wucheralgen wachsen als eine Reihe wuchern<strong>de</strong>r, amorpher<br />

Zweige im Meer. Hin und wie<strong>de</strong>r brechen Zweige ab und trei-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 394<br />

ben davon. Diese Brüche können an je<strong>de</strong>r Stelle <strong>de</strong>r Pflanze<br />

vorkommen, und die Fragmente können g<strong>ro</strong>ß o<strong>de</strong>r klein sein.<br />

Wie Stecklinge in einem Garten sind sie in <strong>de</strong>r Lage, gera<strong>de</strong>so<br />

wie die ursprüngliche Pflanze zu wachsen. Das Abwerfen von<br />

Teilen ist die Fortpflanzungsmetho<strong>de</strong> dieser Spezies. Wie <strong>de</strong>r<br />

Leser bemerken wird, unterschei<strong>de</strong>t sie sich nicht wirklich von<br />

<strong>de</strong>r Art und Weise, in <strong>de</strong>r diese Pflanze wächst, mit <strong>de</strong>r Ausnahme,<br />

daß die wachsen<strong>de</strong>n Teile sich physisch voneinan<strong>de</strong>r<br />

trennen.<br />

Engpaßtang sieht genauso aus und wächst auf die gleiche<br />

wuchern<strong>de</strong> Weise. Doch es gibt einen entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Unterschied.<br />

Er vermehrt sich, in<strong>de</strong>m er einzellige Sporen freisetzt,<br />

die im Meer davontreiben und zu neuen Pflanzen heranwachsen.<br />

Die Sporen sind Zellen <strong>de</strong>r Pflanze wie alle an<strong>de</strong>ren.<br />

Wie bei <strong>de</strong>n Wucheralgen gibt es auch beim Engpaßtang<br />

keine geschlechtliche Fortpflanzung. Die Zellen einer Pflanze<br />

gehören <strong>de</strong>mselben Klon an wie die Zellen ihrer Elternpflanze.<br />

Der einzige Unterschied zwischen <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Arten ist, daß<br />

die Wucheralge sich vermehrt, in<strong>de</strong>m sie g<strong>ro</strong>ße Stücke von sich<br />

selbst abstößt, die jeweils aus einer unbestimmten Zahl von<br />

Zellen bestehen, wohingegen Engpaßtang zur Fortpflanzung<br />

Stücke seiner selbst abstößt, die immer aus einzelnen Zellen<br />

bestehen.<br />

Wenn wir uns diese bei<strong>de</strong>n Arten von Pflanzen vorstellen,<br />

legen wir <strong>de</strong>n Finger auf <strong>de</strong>n entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Unterschied<br />

zwischen Lebenszyklen mit und ohne Engpaß. Engpaßtang<br />

pflanzt sich fort, in<strong>de</strong>m er sich in je<strong>de</strong>r Generation durch<br />

einen einzelligen Engpaß zwängt. Wucheralgen wachsen einfach<br />

und brechen in zwei Stücke auseinan<strong>de</strong>r. Man kann kaum<br />

sagen, daß diese Art genau <strong>de</strong>finierte Generationen besitzt o<strong>de</strong>r<br />

daß sie überhaupt aus getrennten „Organismen“ besteht. Wie<br />

sieht es mit Engpaßtang aus? Ich wer<strong>de</strong> es gleich ausführlich<br />

erklären, aber wir ahnen schon, wie die Antwort aussehen<br />

wird. Wirkt Engpaßtang nicht bereits mehr wie eine Art, bei<br />

<strong>de</strong>r man von Einzelorganismen sprechen kann?<br />

Wucheralgen rep<strong>ro</strong>duzieren sich, wie wir gesehen haben,<br />

auf dieselbe Weise, wie sie auch wachsen. Genaugenommen


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 395<br />

ist „rep<strong>ro</strong>duzieren“ kaum das richtige Wort. Bei Engpaßtang<br />

dagegen existiert eine <strong>de</strong>utliche Trennung zwischen Wachstum<br />

und Rep<strong>ro</strong>duktion. Wir sind jetzt vielleicht <strong>de</strong>m Unterschied<br />

auf die Spur gekommen, aber was nun? Was be<strong>de</strong>utet das?<br />

Warum ist es wichtig? Ich habe lange <strong>Zeit</strong> darüber nachgedacht,<br />

und ich glaube, ich weiß die Antwort. (Nebenbei gesagt<br />

war es schwieriger, überhaupt herauszufin<strong>de</strong>n, daß es eine<br />

Frage gab, als auf die Antwort zu kommen!) Ich kann die Antwort<br />

in drei Teile zerlegen, von <strong>de</strong>nen die ersten bei<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>r<br />

Beziehung zwischen Evolution und Embryonalentwicklung zu<br />

tun haben.<br />

Denken wir zuerst über das P<strong>ro</strong>blem nach, auf welche Weise<br />

aus einem einfacheren Organ durch Evolution ein kompliziertes<br />

Organ entsteht. Wir brauchen dafür nicht bei <strong>de</strong>n Pflanzen<br />

zu bleiben, und für diese Phase <strong>de</strong>r Argumentation könnte<br />

es sogar besser sein, auf die Tiere überzusch<strong>wen</strong>ken, <strong>de</strong>nn<br />

sie haben mehr offensichtlich komplizierte Organe. Wie<strong>de</strong>r ist<br />

es nicht nötig, an sexuelle Vermehrung zu <strong>de</strong>nken; die Unterscheidung<br />

zwischen geschlechtlicher und ungeschlechtlicher<br />

Fortpflanzung ist hier nur irreführend. Wir können uns vorstellen,<br />

daß unsere Tiere sich vermehren, in<strong>de</strong>m sie asexuelle<br />

Sporen aussen<strong>de</strong>n, einzelne Zellen, die, sieht man von Mutationen<br />

ab, untereinan<strong>de</strong>r sowie mit allen an<strong>de</strong>ren Zellen <strong>de</strong>s<br />

Körpers genetisch i<strong>de</strong>ntisch sind.<br />

Die komplizierten Organe eines höher entwickelten Tieres,<br />

etwa eines Menschen o<strong>de</strong>r einer Assel, haben sich Schritt<br />

für Schritt durch Evolution aus einfacheren Organen <strong>de</strong>r Vorfahren<br />

dieses Tieres entwickelt. Aber die Organe <strong>de</strong>r Vorfahren<br />

„verwan<strong>de</strong>lten“ sich nicht buchstäblich in die Organe<br />

<strong>de</strong>r Nachkommen, wie Schwerter, die zu Pflugscharen umgeschmie<strong>de</strong>t<br />

wer<strong>de</strong>n. Nicht nur taten sie dies nicht: Worauf ich<br />

hinauswill, ist, daß sie es in <strong>de</strong>n meisten Fällen auch gar<br />

nicht konnten. Durch unmittelbare Transformation <strong>de</strong>r Art<br />

„Schwerter zu Pflugscharen“ kann nur ein begrenzter Grad an<br />

Verän<strong>de</strong>rung erzielt wer<strong>de</strong>n. Wirklich radikale Verän<strong>de</strong>rungen<br />

sind nur durch ein „Zurückgehen ans Zeichenbrett“ zu erreichen,<br />

bei <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r vorherige Entwurf verworfen wird und man


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 396<br />

neu anfängt. Wenn Ingenieure ans Zeichenbrett zurückkehren<br />

und einen neuen Entwurf schaffen, verwerfen sie nicht unbedingt<br />

die I<strong>de</strong>en <strong>de</strong>s alten Entwurfs. Aber sie versuchen auch<br />

nicht, das reale alte Objekt in ein neues umzuformen. Das alte<br />

Objekt ist vom Konzept her zu sehr durch die Geschichte seiner<br />

Entwicklung geprägt. Vielleicht läßt sich ja aus einem Schwert<br />

eine Pflugschar schmie<strong>de</strong>n, aber man versuche einmal, eine<br />

P<strong>ro</strong>pellermaschine in einen Düsenmotor „umzuschmie<strong>de</strong>n“!<br />

Das geht nicht. Man muß die P<strong>ro</strong>pellermaschine ausrangieren<br />

und an <strong>de</strong>n Zeichentisch zurückkehren.<br />

Lebewesen sind natürlich niemals am Zeichentisch entworfen<br />

wor<strong>de</strong>n. Aber sie gehen auf Neuanfänge zurück. Sie beginnen<br />

in je<strong>de</strong>r Generation von vorn. Je<strong>de</strong>r Organismus beginnt<br />

als einzelne Zelle und wächst neu. Er erbt die I<strong>de</strong>en <strong>de</strong>s Entwurfs<br />

seiner Ahnen in Form <strong>de</strong>s DNA-P<strong>ro</strong>gramms, aber nicht<br />

die physischen Organe seiner Vorfahren. Er erbt nicht das Herz<br />

seines Elters und formt daraus ein neues (und möglicherweise<br />

verbessertes) Herz. Er beginnt völlig neu, als einzelne Zelle,<br />

und läßt ein neues Herz wachsen, wobei er dasselbe Entwurfsp<strong>ro</strong>gramm<br />

benutzt wie sein Elter für <strong>de</strong>ssen Herz, <strong>de</strong>m nun<br />

Verbesserungen hinzugefügt wer<strong>de</strong>n können. Wir sehen, auf<br />

welche Schlußfolgerung ich abziele. Ein wichtiges Merkmal<br />

eines Lebenszyklus mit „Engpaß“ ist, daß er etwas möglich<br />

macht, das gleichbe<strong>de</strong>utend ist mit einem Zurückkehren ans<br />

Zeichenbrett.<br />

Ein Engpaß im Lebenszyklus hat eine zweite Konsequenz,<br />

die damit im Zusammenhang steht. Er liefert einen „Kalen<strong>de</strong>r“,<br />

<strong>de</strong>r dazu benutzt wer<strong>de</strong>n kann, die Vorgänge <strong>de</strong>r Embryonalentwicklung<br />

zu regulieren. Bei einem Lebenszyklus mit<br />

Engpaß marschiert je<strong>de</strong> neue Generation durch ungefähr dieselbe<br />

Abfolge von Ereignissen. Der Organismus beginnt als<br />

eine einzelne Zelle. Er wächst durch Zellteilung. Und er rep<strong>ro</strong>duziert<br />

sich, in<strong>de</strong>m er Tochterzellen aussen<strong>de</strong>t. Vermutlich<br />

stirbt er irgendwann, aber das ist <strong>wen</strong>iger wichtig, als es uns<br />

Sterblichen vorkommt; soweit es diese Erörterung betrifft, ist<br />

das En<strong>de</strong> eines Zyklus erreicht, <strong>wen</strong>n <strong>de</strong>r gegenwärtige Organismus<br />

sich rep<strong>ro</strong>duziert und <strong>de</strong>r Zyklus einer neuen Gene-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 397<br />

ration beginnt. Obgleich sich <strong>de</strong>r Organismus theoretisch zu<br />

je<strong>de</strong>m beliebigen <strong>Zeit</strong>punkt seines Lebens vermehren könnte,<br />

erwarten wir, daß irgendwann einmal ein optimaler <strong>Zeit</strong>punkt<br />

zur Rep<strong>ro</strong>duktion eintreten sollte. Organismen, die Sporen<br />

aussen<strong>de</strong>n, <strong>wen</strong>n sie zu jung o<strong>de</strong>r zu alt sind, haben am En<strong>de</strong><br />

gewöhnlich <strong>wen</strong>iger Nachkommen als Rivalen, die sich erst zu<br />

voller Stärke entwickeln und dann auf <strong>de</strong>m Höhepunkt ihres<br />

Lebens eine gewaltige Zahl an Sporen abstoßen.<br />

Unser Gedankengang bewegt sich auf die Vorstellung von<br />

einem stereotypen, regelmäßig wie<strong>de</strong>rholten Lebenszyklus<br />

zu. Je<strong>de</strong> Generation beginnt nicht nur mit einem einzelligen<br />

Engpaß, sie hat auch eine Wachstumsphase – „Kindheit“ – von<br />

ziemlich feststehen<strong>de</strong>r Dauer. Diese Stereotypie <strong>de</strong>r Wachstumsphase<br />

macht es möglich, daß bestimmte Dinge zu bestimmten<br />

<strong>Zeit</strong>en während <strong>de</strong>r Embryonalentwicklung geschehen, als<br />

seien sie von einem streng eingehaltenen Kalen<strong>de</strong>r geregelt.<br />

Die Zellteilungen während <strong>de</strong>r Entwicklung erfolgen in – je<br />

nach Art <strong>de</strong>s Organismus mehr o<strong>de</strong>r <strong>wen</strong>iger – strenger Reihenfolge,<br />

einer Reihenfolge, die bei je<strong>de</strong>r Wie<strong>de</strong>rholung <strong>de</strong>s<br />

Lebenszyklus wie<strong>de</strong>r auftritt. Je<strong>de</strong> Zelle hat ihren eigenen<br />

Platz und ihren eigenen Entstehungstermin in <strong>de</strong>r Abfolge <strong>de</strong>r<br />

Zellteilungen. Nebenbei gesagt ist dieser Ablauf bei manchen<br />

Organismen so genau festgelegt, daß die Embryologen je<strong>de</strong>r<br />

Zelle einen Namen geben können und daß man einer bestimmten<br />

Zelle in einem Individuum ein genaues Gegenstück in<br />

einem an<strong>de</strong>ren Individuum zuordnen kann.<br />

Auf diese Weise stellt <strong>de</strong>r stereotypisierte Wachstumszyklus<br />

eine Uhr o<strong>de</strong>r einen Kalen<strong>de</strong>r dar, mit <strong>de</strong>ssen Hilfe Ereignisse in<br />

<strong>de</strong>r Embryonalentwicklung ausgelöst wer<strong>de</strong>n können. Denken<br />

wir daran, wie bereitwillig wir Menschen die Zyklen <strong>de</strong>r<br />

täglichen Erd<strong>ro</strong>tation und <strong>de</strong>n jährlichen Umlauf <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> um<br />

die Sonne dazu benutzen, unserem Leben Struktur und Ordnung<br />

zu geben. Auf dieselbe Weise wer<strong>de</strong>n – es scheint fast<br />

unvermeidlich – die von einem Engpaß-Lebenszyklus erzwungenen<br />

endlos wie<strong>de</strong>rholten Wachstumsrhythmen dazu benutzt,<br />

die Embryonalentwicklung zu ordnen und zu strukturieren.<br />

Spezifische Gene können zu bestimmten <strong>Zeit</strong>en an- und abge-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 398<br />

schaltet wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Engpaß/Wachstumszyklus-Kalen<strong>de</strong>r<br />

garantiert, daß es so etwas wie eine bestimmte <strong>Zeit</strong> gibt. Solche<br />

gut angepaßten Regulationen <strong>de</strong>r Genaktivität sind eine not<strong>wen</strong>dige<br />

Voraussetzung für die Evolution von embryonalen<br />

Entwicklungsp<strong>ro</strong>grammen, die komplexe Gewebe und Organe<br />

zu fertigen in <strong>de</strong>r Lage sind. So komplizierte, präzise arbeiten<strong>de</strong><br />

Organe wie ein Adlerauge o<strong>de</strong>r ein Schwalbenflügel<br />

könnten unmöglich entstehen, <strong>wen</strong>n es nicht uhrwerkartige<br />

Regeln dafür gäbe, wann mit <strong>de</strong>m Bau welches Teiles zu beginnen<br />

ist.<br />

Die dritte Konsequenz einer Engpaß-Lebensgeschichte<br />

ist genetischer Natur. Auch hier hilft uns das Beispiel<br />

von Engpaßtang und Wucheralgen. Nehmen wir <strong>de</strong>r Einfachheit<br />

halber wie<strong>de</strong>r an, daß bei<strong>de</strong> Arten sich ungeschlechtlich<br />

fortpflanzen, und überlegen wir, wie sie sich durch Evolution<br />

entwickeln könnten. Die Evolution benötigt genetische<br />

Verän<strong>de</strong>rungen, Mutationen. Mutationen können während<br />

je<strong>de</strong>r Zellteilung eintreten. Bei <strong>de</strong>n Wucheralgen sind die<br />

Abstammungslinien <strong>de</strong>r Zellen breit gefächert, genau das<br />

Gegenteil von engpaßartig. Je<strong>de</strong>r Zweig, <strong>de</strong>r abbricht und<br />

davontreibt, ist vielzellig. Es ist daher gut möglich, daß zwei<br />

Zellen einer Tochterpflanze entferntere Verwandte sind, als<br />

je<strong>de</strong> von ihnen mit bestimmten Zellen <strong>de</strong>r Elternpflanze verwandt<br />

ist. (Mit „Verwandten“ meine ich tatsächlich Vettern,<br />

Enkel und so weiter. Zellen haben ein<strong>de</strong>utige Abstammungslinien,<br />

und diese Linien verzweigen sich, so daß Bezeichnungen<br />

wie Vetter zweiten Gra<strong>de</strong>s auf die Zellen in einem Körper angewandt<br />

wer<strong>de</strong>n können, ohne daß man dafür um Entschuldigung<br />

bitten müßte.) In diesem Punkt besteht ein krasser Unterschied<br />

zwischen Engpaßtang und Wucheralgen. Bei ersterem<br />

stammen alle Zellen einer Tochterpflanze von einer einzigen<br />

Sporenzelle ab, so daß alle Zellen <strong>de</strong>r Pflanze näher miteinan<strong>de</strong>r<br />

verwandt sind als mit irgen<strong>de</strong>iner an<strong>de</strong>ren Zelle einer<br />

an<strong>de</strong>ren Pflanze.<br />

Dieser Unterschied zwischen <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Arten hat wichtige<br />

genetische Folgen. Stellen wir uns das Schicksal eines<br />

eben mutierten Gens vor, zuerst bei Wucheralgen, dann bei


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 399<br />

Engpaßtang. Bei <strong>de</strong>n Wucheralgen kann die Mutation in<br />

je<strong>de</strong>r beliebigen Zelle entstehen, in je<strong>de</strong>m beliebigen Zweig<br />

<strong>de</strong>r Pflanze. Da Tochterpflanzen durch Knospung p<strong>ro</strong>duziert<br />

wer<strong>de</strong>n, an ihrer Entstehung also viele Mutterzellen beteiligt<br />

sind, ist es möglich, daß lineare Nachkommen <strong>de</strong>r mutierten<br />

Zelle Tochterpflanzen und Enkelinnenpflanzen mit nichtmutierten<br />

Zellen teilen, die relativ entfernte Vettern von ihnen<br />

sind. Beim Engpaßtang an<strong>de</strong>rerseits ist <strong>de</strong>r jüngste gemeinsame<br />

Vorfahre aller Zellen einer Pflanze nicht älter als die<br />

Spore, die <strong>de</strong>n engpaßartigen Ursprung <strong>de</strong>r Pflanze bil<strong>de</strong>te.<br />

Wenn jene Spore das mutierte Gen enthielt, wer<strong>de</strong>n alle Zellen<br />

<strong>de</strong>r neuen Pflanze es enthalten. Enthielt die Spore das mutierte<br />

Gen nicht, so enthalten sie es ebenfalls nicht. Die Zellen einer<br />

Pflanze sind beim Engpaßtang genetisch gesehen einheitlicher<br />

als bei <strong>de</strong>n Wucheralgen (sieht man von gelegentlichen<br />

Rückmutationen ab). Was <strong>de</strong>n Engpaßtang betrifft, so ist<br />

die einzelne Pflanze eine Einheit mit genetischer I<strong>de</strong>ntität<br />

und verdient es, als Individuum bezeichnet zu wer<strong>de</strong>n. Bei<br />

<strong>de</strong>n Wucheralgen besitzen die Pflanzen geringere genetische<br />

I<strong>de</strong>ntität und haben <strong>wen</strong>iger Anrecht auf die Bezeichnung<br />

„Individuum“ als ihre Gegenstücke beim Engpaßtang.<br />

Dies ist nicht einfach nur eine Frage <strong>de</strong>r Terminologie.<br />

Wenn Mutationen auftreten, so haben nicht alle Zellen einer<br />

Wucheralge dieselben genetischen Interessen. Ein Gen in einer<br />

Wucheralgenzelle p<strong>ro</strong>fitiert davon, die Fortpflanzung seiner<br />

Zelle zu begünstigen. Es p<strong>ro</strong>fitiert nicht not<strong>wen</strong>digerweise<br />

davon, daß es die Fortpflanzung seiner beson<strong>de</strong>ren „individuellen“<br />

Pflanze för<strong>de</strong>rt. Infolge von Mutationen ist es unwahrscheinlich,<br />

daß die Zellen einer Pflanze genetisch i<strong>de</strong>ntisch<br />

sind, daher wer<strong>de</strong>n sie bei <strong>de</strong>r Herstellung von Organen<br />

und neuen Pflanzen nicht ernsthaft zusammenarbeiten. Die<br />

natürliche Auslese wird eher unter Zellen als unter „Pflanzen“<br />

auswählen. Bei Engpaßtang dagegen besitzen alle Zellen einer<br />

Pflanze wahrscheinlich dieselben Gene, <strong>de</strong>nn nur gera<strong>de</strong> erst<br />

entstan<strong>de</strong>ne Mutationen könnten dies än<strong>de</strong>rn. Daher wer<strong>de</strong>n<br />

sie bereitwillig beim Bau effizienter Überlebensmaschinen<br />

mitarbeiten. Die Zellen verschie<strong>de</strong>ner Pflanzen haben mit


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 400<br />

größerer Wahrscheinlichkeit verschie<strong>de</strong>ne Gene. Schließlich<br />

lassen sich Zellen, die durch unterschiedliche Engpässe hindurchgegangen<br />

sind, anhand aller mit Ausnahme <strong>de</strong>r jüngsten<br />

Mutationen – und das heißt anhand <strong>de</strong>r Mehrheit <strong>de</strong>r Mutationen<br />

– voneinan<strong>de</strong>r unterschei<strong>de</strong>n. Die Selektion wird daher<br />

über rivalisieren<strong>de</strong> Pflanzen richten, nicht über rivalisieren<strong>de</strong><br />

Zellen wie bei <strong>de</strong>n Wucheralgen. Wir können daher die Evolution<br />

von Organismen und Mechanismen erwarten, die <strong>de</strong>r<br />

gesamten Pflanze dienen.<br />

Nebenbei gesagt – nur für Leser mit beruflichem Interesse<br />

– besteht hier eine Analogie zur Diskussion über Gruppenselektion.<br />

Wir können uns einen Einzelorganismus als eine<br />

„Gruppe“ von Zellen vorstellen. Vorausgesetzt es fin<strong>de</strong>t sich<br />

ein Mittel, die Variation zwischen Gruppen relativ zur Variation<br />

innerhalb von Gruppen zu steigern, so kann eine Form<br />

<strong>de</strong>r Gruppenselektion zum Tragen kommen. Die Fortpflanzungsmetho<strong>de</strong><br />

von Engpaßtang hat genau diesen Effekt, die<br />

von Wucheralgen <strong>de</strong>n umgekehrten. Es gibt auch an<strong>de</strong>re<br />

Ähnlichkeiten, die aufschlußreich sein mögen, auf die ich aber<br />

nicht näher eingehen möchte, zwischen „<strong>de</strong>r Passage durch<br />

<strong>de</strong>n Engpaß“ und <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren bei<strong>de</strong>n I<strong>de</strong>en, von <strong>de</strong>nen in<br />

diesem Kapitel hauptsächlich die Re<strong>de</strong> war. Das war erstens<br />

die Vorstellung, daß Parasiten in <strong>de</strong>m Maße mit ihren Wirten<br />

zusammenarbeiten wer<strong>de</strong>n, wie ihre Gene in <strong>de</strong>nselben Fortpflanzungszellen<br />

wie die Wirtsgene in die nächste Generation<br />

hinüberreisen, sich also durch <strong>de</strong>nselben Engpaß zwängen.<br />

Und zweitens <strong>de</strong>r Gedanke, daß die Zellen eines sich geschlechtlich<br />

fortpflanzen<strong>de</strong>n Körpers nur <strong>de</strong>shalb zusammenarbeiten,<br />

weil die Meiose absolut gerecht ist.<br />

Fassen wir zusammen: Wir haben drei Grün<strong>de</strong> kennengelernt,<br />

warum eine Lebensgeschichte, die durch einen Engpaß<br />

geht, gewöhnlich die Evolution <strong>de</strong>s Organismus als abgeschlossenes<br />

und einheitliches Vehikel för<strong>de</strong>rt. Wir können die drei<br />

folgen<strong>de</strong>rmaßen betiteln: „Zurück ans Zeichenbrett“, „Zyklus<br />

mit or<strong>de</strong>ntlichem <strong>Zeit</strong>plan“ und „Zelleinheitlichkeit“. Was war<br />

zuerst da, <strong>de</strong>r Engpaß <strong>de</strong>s Lebenszyklus o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r in sich<br />

geschlossene Organismus? Ich möchte annehmen, daß sie sich


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 401<br />

gemeinsam entwickelt haben. Ja, ich habe <strong>de</strong>n Verdacht, die<br />

wesentliche Eigenschaft, die einen Einzelorganismus <strong>de</strong>finiert,<br />

ist, daß er mit einem einzelligen Engpaß beginnt und auch<br />

en<strong>de</strong>t. Wenn Lebenszyklen Engpässe bekommen, scheint es,<br />

daß leben<strong>de</strong> Materie zwangsläufig in getrennte, einheitliche<br />

Organismen eingeschlossen wird. Und je mehr diese leben<strong>de</strong><br />

Materie in getrennte Überlebensmaschinen gepackt wird, um<br />

so mehr wer<strong>de</strong>n die Zellen dieser Überlebensmaschinen ihre<br />

Anstrengungen auf jene beson<strong>de</strong>re Klasse von Zellen konzentrieren,<br />

die dazu bestimmt ist, ihre gemeinsamen Gene<br />

durch <strong>de</strong>n Engpaß in die nächste Generation hineinzuschleusen.<br />

Die bei<strong>de</strong>n Phänomene, Lebenszyklen mit Engpässen und<br />

getrennte Organismen, gehen Hand in Hand. In <strong>de</strong>m Maße,<br />

wie je<strong>de</strong>s <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n sich fortentwickelt, stärkt es das jeweils<br />

an<strong>de</strong>re. Die bei<strong>de</strong>n verstärken sich gegenseitig, wie die Gefühle<br />

einer Frau und eines Mannes im Verlauf einer Liebesaffäre.<br />

The Exten<strong>de</strong>d Phenotype ist ein langes Buch, und sein Inhalt<br />

läßt sich nicht leicht in ein einziges Kapitel hineinzwängen. Ich<br />

war gezwungen, mich hier eines kon<strong>de</strong>nsierten, eher intuitiven,<br />

ja sogar impressionistischen Stils zu bedienen. Ich hoffe,<br />

es ist mir <strong>de</strong>nnoch gelungen, eine Vorstellung von seinem<br />

Thema zu vermitteln.<br />

Lassen Sie mich mit einem kurzen Manifest en<strong>de</strong>n, mit<br />

einer Zusammenfassung <strong>de</strong>r gesamten Sicht <strong>de</strong>s Lebens aus<br />

<strong>de</strong>m Blickwinkel <strong>de</strong>s egoistischen Gens beziehungsweise <strong>de</strong>s<br />

erweiterten Phänotyps. Es ist eine Sicht, so behaupte ich, die<br />

auf Lebewesen überall im Universum zutrifft. Die grundlegen<strong>de</strong><br />

Einheit, <strong>de</strong>r Hauptmotor allen Lebens, ist <strong>de</strong>r Replikator.<br />

Replikatoren sind alles im Universum, wovon Kopien<br />

gemacht wer<strong>de</strong>n. Replikatoren entstehen ursprünglich durch<br />

Zufall, durch das zufällige Zusammenprallen kleinerer Partikel.<br />

Ist ein Replikator einmal entstan<strong>de</strong>n, so ist er in <strong>de</strong>r<br />

Lage, einen unbegrenzt g<strong>ro</strong>ßen Satz von Kopien seiner selbst<br />

zu erzeugen. Kein Kopiervorgang ist jedoch perfekt, und die<br />

Population von Replikatoren wird schließlich Varietäten enthalten,<br />

die voneinan<strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>n sind. Bei einigen dieser<br />

Varietäten erweist es sich, daß sie die Fähigkeit <strong>de</strong>r Selbstre-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 402<br />

plikation verloren haben, und ihresgleichen hört auf zu existieren,<br />

<strong>wen</strong>n sie selbst zu existieren aufhören. An<strong>de</strong>re können<br />

sich zwar noch selbst kopieren, aber <strong>wen</strong>iger effizient. Doch<br />

wie<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Varietäten gelangen zufällig in <strong>de</strong>n Besitz neuer<br />

Tricks: Sie erweisen sich als sogar noch bessere Selbstkopierer<br />

als ihre Vorgänger und <strong>Zeit</strong>genossen. Ihre Nachkommen sind<br />

es, die die Population beherrschen wer<strong>de</strong>n. Im Laufe <strong>de</strong>r <strong>Zeit</strong><br />

füllt sich die Welt mit <strong>de</strong>n mächtigsten und erfindungsreichsten<br />

Replikatoren.<br />

Schritt für Schritt wer<strong>de</strong>n immer ausgefeiltere Arten erfun<strong>de</strong>n,<br />

ein guter Replikator zu sein. Replikatoren überleben nicht<br />

nur mittels ihrer eigenen, ihnen innewohnen<strong>de</strong>n Eigenschaften,<br />

son<strong>de</strong>rn kraft <strong>de</strong>r Wirkungen, die sie auf die Welt haben.<br />

Diese Wirkungen können ziemlich indirekt sein. Es ist weiter<br />

nichts not<strong>wen</strong>dig, als daß die Wirkungen, auf welchen Umwegen<br />

und wie indirekt auch immer, schließlich rückkoppeln und<br />

<strong>de</strong>n Erfolg, mit <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Replikator sich selbst kopiert, beeinflussen.<br />

Welchen Erfolg ein Replikator in <strong>de</strong>r Welt hat, wird davon<br />

abhängen, welche Art von Welt es ist, das heißt, von <strong>de</strong>n bereits<br />

bestehen<strong>de</strong>n Bedingungen. Zu <strong>de</strong>n wichtigsten dieser Bedingungen<br />

gehören an<strong>de</strong>re Replikatoren und <strong>de</strong>ren Wirkungen.<br />

Wie die englischen und <strong>de</strong>utschen Ru<strong>de</strong>rer wer<strong>de</strong>n Replikatoren,<br />

die sich gegenseitig positiv beeinflussen, schließlich in<br />

<strong>de</strong>r Gegenwart <strong>de</strong>s jeweils an<strong>de</strong>ren vorherrschend sein. An<br />

irgen<strong>de</strong>inem Punkt in <strong>de</strong>r Evolution <strong>de</strong>s Lebens auf unserer<br />

Er<strong>de</strong> wur<strong>de</strong> dieses Zusammen<strong>ro</strong>tten untereinan<strong>de</strong>r kompatibler<br />

Replikatoren durch die Schaffung getrennter Vehikel –<br />

Zellen und später vielzelliger Körper – formalisiert. Vehikel,<br />

die einen Engpaß-Lebenszyklus entwickelten, gediehen und<br />

wur<strong>de</strong>n noch abgeschlossener und vehikelähnlicher.<br />

Dieses Hineinpacken von leben<strong>de</strong>r Materie in getrennte<br />

Vehikel wur<strong>de</strong> zu einem <strong>de</strong>rart ins Auge fallen<strong>de</strong>n und vorherrschen<strong>de</strong>n<br />

Phänomen, daß die Biologen, als sie auf <strong>de</strong>r Bühne<br />

erschienen und Fragen über das Leben zu stellen begannen,<br />

hauptsächlich Fragen über Vehikel – Einzelorganismen – stellten.<br />

Der Einzelorganismus kam im Bewußtsein <strong>de</strong>r Biologen


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 403<br />

zuerst, wohingegen die Replikatoren – heute als Gene bekannt<br />

– als Teil <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>n Einzelorganismen benutzten Maschinerie<br />

betrachtet wur<strong>de</strong>n. Es erfor<strong>de</strong>rt eine bewußte geistige Anstrengung,<br />

die Biologie vom Kopf wie<strong>de</strong>r auf die Beine zu stellen<br />

und uns die Stellung <strong>de</strong>r Replikatoren ins Gedächtnis zu rufen:<br />

Sie waren zuerst da, und ihnen kommt größere Be<strong>de</strong>utung zu.<br />

Wir brauchen nur daran zu <strong>de</strong>nken, daß sogar heute nicht<br />

alle phänotypischen Effekte eines Gens in <strong>de</strong>n individuellen<br />

Körper eingebun<strong>de</strong>n sind, in <strong>de</strong>m dieses Gen sitzt. Zweifellos<br />

wirkt das Gen vom Prinzip her und auch in Wirklichkeit über<br />

<strong>de</strong>n individuellen Körper hinaus und manipuliert Objekte in<br />

<strong>de</strong>r Außenwelt, von <strong>de</strong>nen einige unbelebte Dinge, an<strong>de</strong>re<br />

Lebewesen sind und die sich zum Teil in weiter Entfernung<br />

befin<strong>de</strong>n. Mit nur ein <strong>wen</strong>ig Vorstellungskraft können wir das<br />

Gen im Zentrum eines strahlenförmigen Netzes erweiterter<br />

phänotypischer Macht sitzen sehen.<br />

Und fast je<strong>de</strong>s Objekt in <strong>de</strong>r Welt ist das Zentrum eines<br />

Netzes aus konvergieren<strong>de</strong>n Einflüssen vieler Gene, die in<br />

vielen Organismen sitzen. Die g<strong>ro</strong>ße Reichweite <strong>de</strong>s Gens<br />

hat keine erkennbaren Grenzen. Die ganze Welt ist kreuz<br />

und quer von Kausalitätspfeilen durchzogen, die Gene und<br />

phänotypische Effekte über g<strong>ro</strong>ße und kleine Entfernungen<br />

miteinan<strong>de</strong>r verbin<strong>de</strong>n.<br />

Es ist eine zusätzliche Tatsache, zu wichtig in <strong>de</strong>r Praxis, um<br />

nebensächlich, aber in <strong>de</strong>r Theorie nicht not<strong>wen</strong>dig genug, um<br />

unvermeidlich genannt zu wer<strong>de</strong>n, daß diese Kausalitätspfeile<br />

gebün<strong>de</strong>lt wor<strong>de</strong>n sind. Replikatoren sind nicht mehr frei<br />

im Meer verteilt; sie sind in riesige Kolonien – einzelne<br />

Körper – hineingepackt. Und phänotypische Wirkungen, statt<br />

gleichmäßig in <strong>de</strong>r ganzen Welt verteilt zu sein, sind in vielen<br />

Fällen in eben diesen Körpern erstarrt. Aber <strong>de</strong>r einzelne<br />

Körper, <strong>de</strong>r uns auf unserem Planeten so vertraut ist, brauchte<br />

nicht zu existieren. Die einzige Einheit, die existieren muß,<br />

damit irgendwo im Universum Leben entsteht, ist <strong>de</strong>r unsterbliche<br />

Replikator.


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 404<br />

Nachbemerkungen<br />

Die folgen<strong>de</strong>n Anmerkungen beziehen sich auf die Kapitel 1 bis<br />

11 (<strong>de</strong>n Text <strong>de</strong>r ersten Auflage). Sie kommentieren Textstellen,<br />

die dort mit hochgestellten Ziffern gekennzeichnet sind.<br />

1. Warum gibt es Menschen?<br />

1 Einige Leute, sogar solche, die nicht religiös sind, haben<br />

an diesem Zitat aus Simpson Anstoß genommen. Ich gebe<br />

zu, <strong>wen</strong>n man es zum ersten Mal liest, klingt es schrecklich<br />

philisterhaft, taktlos und intolerant, ein bißchen wie Henry<br />

Fords „Geschichte ist mehr o<strong>de</strong>r <strong>wen</strong>iger Humbug“. Doch von<br />

religiösen Antworten einmal abgesehen (sie sind mir bekannt,<br />

sparen Sie die Briefmarke) – können wir auch nur eine einzige<br />

Antwort nennen, die vor Darwin auf Fragen wie „Was ist <strong>de</strong>r<br />

Mensch?“, „Hat das Leben einen Sinn?“, „Wozu sind wir da?“<br />

gegeben wur<strong>de</strong> und die, sieht man von ihrem (beträchtlichen)<br />

historischen Interesse ab, heute nicht völlig wertlos ist? Aussagen<br />

können ganz einfach falsch sein, und das trifft, vor 1859,<br />

auf alle Antworten auf jene Fragen zu.<br />

2 Gelegentlich mißverstehen Kritiker Das egoistische Gen insofern,<br />

als sie meinen, es befürworte <strong>de</strong>n Egoismus als ein Prinzip,<br />

nach <strong>de</strong>m wir leben sollten! An<strong>de</strong>re glauben – vielleicht,<br />

weil sie nur <strong>de</strong>n Titel <strong>de</strong>s Buches gelesen haben o<strong>de</strong>r nicht über<br />

die ersten bei<strong>de</strong>n Seiten hinausgekommen sind –, ich verträte<br />

die Ansicht, Egoismus und an<strong>de</strong>re häßliche Verhaltensweisen<br />

seien ein unentrinnbarer Teil unserer Natur, gleichgültig, ob<br />

wir das nun schön fin<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r nicht. In diesen Fehler kann<br />

man leicht verfallen, <strong>wen</strong>n man meint (wie viele Leute es<br />

unerklärlicherweise tun), daß „genetisch <strong>de</strong>terminiert“ gleichbe<strong>de</strong>utend<br />

ist mit schicksalhaft und unabän<strong>de</strong>rlich. De facto<br />

„<strong>de</strong>terminieren“ Gene das Verhalten lediglich im statistischen<br />

Sinne (siehe auch Kapitel 3). Ein guter Vergleich ist die<br />

bekannte Bauernregel „Der Morgen grau, <strong>de</strong>r Abend <strong>ro</strong>t, ist


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 405<br />

ein gutes Wetterbot“. Statistisch gesehen mag es eine Tatsache<br />

sein, daß Abend<strong>ro</strong>t schönes Wetter für <strong>de</strong>n nächsten<br />

Tag ankündigt, aber wir wür<strong>de</strong>n keine hohe Wette darauf<br />

abschließen. Wie wir genau wissen, wird das Wetter auf sehr<br />

komplexe Weise von vielen verschie<strong>de</strong>nen Faktoren beeinflußt.<br />

Je<strong>de</strong> Wettervoraussage kann falsch sein. Es han<strong>de</strong>lt sich lediglich<br />

um eine statistische Vorhersage. In unseren Augen hat<br />

Abend<strong>ro</strong>t nicht zwangsläufig schönes Wetter am nächsten<br />

Tag zur Folge, und ebenso<strong>wen</strong>ig sollten wir davon ausgehen,<br />

daß Gene unwi<strong>de</strong>rruflich irgend etwas <strong>de</strong>terminieren. Es gibt<br />

keinen Grund anzunehmen, daß <strong>de</strong>r Einfluß von Genen nicht<br />

leicht von an<strong>de</strong>ren Einflüssen in sein Gegenteil verkehrt<br />

wer<strong>de</strong>n könnte. Wer eine ausführliche Erörterung <strong>de</strong>s „genetischen<br />

Determinismus“ sucht und erfahren möchte, warum<br />

Mißverständnisse entstan<strong>de</strong>n sind, lese in Kapitel 2 meines<br />

Buches The Exten<strong>de</strong>d Phenotype und in meinem Aufsatz Sociobiology:<br />

The New Storm in a Teacup nach. Man hat mir sogar<br />

vorgeworfen, ich behaupte, die Menschen seien im Grun<strong>de</strong> alle<br />

Chicagoer Gangster! Doch natürlich wollte ich mit diesem Vergleich<br />

hauptsächlich auf folgen<strong>de</strong>s hinaus:<br />

Wenn wir wissen, in welcher Art von Welt ein Mann<br />

Erfolg hatte, so sagt uns dies etwas über <strong>de</strong>n Mann.<br />

Das hatte nichts mit <strong>de</strong>n beson<strong>de</strong>ren Eigenschaften von<br />

Chicagoer Gangstern zu tun. Ich hätte genausogut das<br />

Beispiel eines Mannes benutzen können, <strong>de</strong>r in die<br />

Spitze <strong>de</strong>r Kirche von England aufgestiegen o<strong>de</strong>r in<br />

das Athenaeum gewählt wor<strong>de</strong>n ist. In je<strong>de</strong>m Fall ging<br />

es bei meinem Vergleich nicht um Menschen, son<strong>de</strong>rn<br />

um Gene.<br />

Ich habe dieses und an<strong>de</strong>re Mißverständnisse, die daraus entstehen,<br />

daß man meine Aussagen allzu wörtlich nimmt, in<br />

meinem Aufsatz In Defence of Selfish Genes erörtert, aus <strong>de</strong>m<br />

auch das obige Zitat entnommen ist.<br />

Ich muß hinzufügen, daß meine gelegentlichen politischen<br />

Nebenbemerkungen in diesem Kapitel die erneute Lektüre


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 406<br />

im Jahre 1989 für mich reichlich unangenehm machen. „Wie<br />

viele Male mag dies [die Not<strong>wen</strong>digkeit, ihre egoistische Gier<br />

zurückzuhalten, um die Zerstörung <strong>de</strong>r gesamten Gruppe<br />

zu verhin<strong>de</strong>rn] in <strong>de</strong>n letzten Jahren <strong>de</strong>r britischen<br />

Arbeiterbevölkerung gesagt wor<strong>de</strong>n sein?“ (Seite 34), das<br />

klingt, als wäre ich ein Konservativer.<br />

1975, als ich diesen Satz schrieb, kämpfte eine sozialistische<br />

Regierung, die zu wählen ich mitgeholfen hatte, verzweifelt<br />

gegen eine Inflation von 23 P<strong>ro</strong>zent und machte sich ganz<br />

offensichtlich Sorgen wegen <strong>de</strong>r hohen Lohnfor<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r<br />

Arbeiterschaft. Meine Bemerkung könnte aus einer Re<strong>de</strong> je<strong>de</strong>s<br />

beliebigen Labour-Ministers jener <strong>Zeit</strong> entnommen sein. Heutzutage,<br />

da in England eine Regierung <strong>de</strong>r neuen Rechten<br />

herrscht, die Bösartigkeit und Egoismus zur I<strong>de</strong>ologie erhoben<br />

hat, rufen meine Worte Assoziationen hervor, die sie gemein<br />

scheinen lassen, was ich zutiefst bedauere. Nicht, daß ich<br />

zurücknehmen wollte, was ich damals gesagt habe. Egoistische<br />

Kurzsichtigkeit hat immer und überall noch die von mir<br />

genannten unerwünschten Konsequenzen. Aber <strong>wen</strong>n man<br />

heute nach Beispielen für egoistische Kurzsichtigkeit in England<br />

suchen wollte, wür<strong>de</strong> man nicht zuerst auf die Arbeiterklasse<br />

schauen. Davon abgesehen ist es wahrscheinlich am ratsamsten,<br />

eine wissenschaftliche Arbeit überhaupt nicht mit<br />

politischen Bemerkungen zu belasten, ist es doch bemerkenswert,<br />

wie schnell diese überholt sind. Die Schriften, die politisch<br />

<strong>de</strong>nken<strong>de</strong> Wissenschaftler – beispielsweise J. B. S. Haidane<br />

und Lancelot Hogben – in <strong>de</strong>n dreißiger Jahren unseres<br />

Jahrhun<strong>de</strong>rts verfaßten, sind heute durch ihre anach<strong>ro</strong>nistischen<br />

Spitzen entschei<strong>de</strong>nd beeinträchtigt.<br />

3 Ich habe von diesem son<strong>de</strong>rbaren Zusammenhang bei<br />

männlichen Insekten zum ersten Mal während einer Forschungsvorlesung<br />

gehört, die ein Kollege über Köcherfliegen<br />

hielt. Er versuchte, Köcherfliegen in Gefangenschaft zu<br />

züchten, konnte sie aber t<strong>ro</strong>tz aller Anstrengungen nicht dazu<br />

bewegen, sich zu paaren. Darauf knurrte <strong>de</strong>r Entomologiep<strong>ro</strong>fessor<br />

aus <strong>de</strong>r vor<strong>de</strong>rsten Reihe: „Haben Sie niemals versucht,


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 407<br />

ihre Köpfe abzuschnei<strong>de</strong>n?“, als habe <strong>de</strong>r Kollege eine ganz<br />

und gar offensichtliche Möglichkeit übersehen.<br />

4 Seit <strong>de</strong>r Nie<strong>de</strong>rschrift meines Manifests <strong>de</strong>r Genselektion<br />

habe ich reiflich darüber nachgedacht, ob es nicht doch auch<br />

eine Art Selektion auf höherer Ebene geben kann, die gelegentlich<br />

während <strong>de</strong>s langen Weges <strong>de</strong>r Evolution wirksam ist. Ich<br />

beeile mich hinzuzufügen, daß ich mit „auf höherer Ebene“<br />

nichts meine, das irgendwie mit „Gruppenselektion“ zu tun<br />

hat. Ich spreche von etwas, das sehr viel subtiler und auch<br />

sehr viel interessanter ist. Inzwischen glaube ich, daß nicht nur<br />

einige Individuen im Überleben besser sind als an<strong>de</strong>re; vielleicht<br />

sind auch ganze Klassen von Organismen an<strong>de</strong>ren in <strong>de</strong>r<br />

Fähigkeit zur evolutionären Entwicklung überlegen. Natürlich<br />

ist dieses Sich-Entwickeln, über das wir hier re<strong>de</strong>n, immer<br />

noch die alte Evolution, die über die Selektion von Genen<br />

zustan<strong>de</strong> kommt. Mutationen wer<strong>de</strong>n immer noch geför<strong>de</strong>rt,<br />

weil sie das Überleben und <strong>de</strong>n Fortpflanzungserfolg von Individuen<br />

beeinflussen. Aber eine wichtige neue Mutation im<br />

Entwicklungsp<strong>ro</strong>gramm eines Embryos kann außer<strong>de</strong>m die<br />

Schleusen für eine Auffächerung <strong>de</strong>r Evolution während <strong>de</strong>r<br />

nächsten Jahrmillionen öffnen. Es ist möglich, daß es eine<br />

Art Selektion auf höherer Ebene gibt, nämlich für Entwicklungsp<strong>ro</strong>gramme,<br />

die für Evolution geeignet sind – eine Selektion<br />

zugunsten <strong>de</strong>r Evolutionsfähigkeit. Diese Art <strong>de</strong>r Selektion<br />

kann sogar kumulativ und daher p<strong>ro</strong>gressiv sein, auf eine<br />

Weise, in <strong>de</strong>r Gruppenselektion dies nicht ist. Diese Gedanken<br />

sind in meinem Aufsatz The Evolution of Evolvability genauer<br />

dargestellt. Inspiriert wur<strong>de</strong> ich dazu weitgehend durch das<br />

Herumspielen mit <strong>de</strong>m Computerp<strong>ro</strong>gramm Der blin<strong>de</strong> Uhrmacher,<br />

das Aspekte <strong>de</strong>r Evolution simuliert.<br />

2. Die Replikatoren<br />

1 Es gibt zahlreiche Theorien über <strong>de</strong>n Ursprung <strong>de</strong>s Lebens.<br />

Statt mich durch alle hindurchzuarbeiten, habe ich im vorliegen<strong>de</strong>n<br />

Buch nur eine davon ausgewählt, um <strong>de</strong>n Grund-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 408<br />

gedanken zu illustrieren. Ich möchte jedoch nicht <strong>de</strong>n Eindruck<br />

erwecken, als sei diese <strong>de</strong>r einzige ernstzunehmen<strong>de</strong><br />

o<strong>de</strong>r sogar <strong>de</strong>r beste Kandidat gewesen. Tatsächlich habe ich<br />

in Der blin<strong>de</strong> Uhrmacher bewußt eine an<strong>de</strong>re Theorie zu <strong>de</strong>mselben<br />

Zweck ausgesucht, nämlich A. G. Cairn-Smiths Tontheorie.<br />

In keinem <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Bücher habe ich mich auf die<br />

jeweils gewählte spezielle Hypothese festgelegt. Sollte ich ein<br />

weiteres Buch schreiben, wer<strong>de</strong> ich wahrscheinlich die Gelegenheit<br />

nutzen und noch einen an<strong>de</strong>ren Gesichtspunkt darzulegen<br />

versuchen: <strong>de</strong>n <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen mathematischen Chemikers<br />

Manfred Eigen und seiner Kollegen. Was ich meinen<br />

Lesern immer verständlich zu machen versuche, sind grundlegen<strong>de</strong><br />

Eigenschaften, die je<strong>de</strong> gute Theorie über <strong>de</strong>n Ursprung<br />

<strong>de</strong>s Lebens auf je<strong>de</strong>m Planeten aufweisen muß, vor allem die<br />

I<strong>de</strong>e von sich selbst vermehren<strong>de</strong>n genetischen Einheiten.<br />

2 Mehrere erschreckte Briefschreiber haben <strong>de</strong>n Übersetzungsfehler<br />

von „junger Frau“ in „Jungfrau“ in <strong>de</strong>r biblischen P<strong>ro</strong>phezeiung<br />

in Frage gestellt und eine Antwort von mir verlangt.<br />

Religiöse Empfindlichkeiten zu verletzen ist heutzutage eine<br />

gefährliche Angelegenheit, daher komme ich dieser Auffor<strong>de</strong>rung<br />

lieber nach. Tatsächlich ist es mir ein Vergnügen, <strong>de</strong>nn<br />

Wissenschaftler haben nicht oft die Gelegenheit, je<strong>de</strong> Menge<br />

Bibliotheksstaub einzuatmen, um in einer wirklich aka<strong>de</strong>mischen<br />

Fußnote zu schwelgen. Die Frage ist in <strong>de</strong>r Tat <strong>de</strong>n<br />

Gelehrten, die sich mit <strong>de</strong>r Bibel befassen, wohl bekannt und<br />

wird von ihnen nicht in Zweifel gezogen. Das hebräische Wort<br />

bei Jesaja ist almah, was ohne je<strong>de</strong>n Zweifel „junge Frau“<br />

be<strong>de</strong>utet, ohne im geringsten Jungfräulichkeit zu implizieren.<br />

Wäre es beabsichtigt gewesen, „Jungfrau“ zu sagen, hätte statt<br />

<strong>de</strong>ssen das Wort bethulah benutzt wer<strong>de</strong>n können (das doppel<strong>de</strong>utige<br />

englische Wort „mai<strong>de</strong>n“ zeigt, wie leicht es ist,<br />

zwischen <strong>de</strong>n zwei Be<strong>de</strong>utungen ins Schlittern zu kommen).<br />

Die „Mutation“ erfolgte, als die vorchristliche griechische<br />

Übersetzung, bekannt als Septuaginta, almah mit parthénos<br />

wie<strong>de</strong>rgab, was in <strong>de</strong>r Tat gewöhnlich Jungfrau be<strong>de</strong>utet.<br />

Matthäus (natürlich nicht <strong>de</strong>r Apostel und <strong>Zeit</strong>genosse Jesu,


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 409<br />

son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Evangelist, <strong>de</strong>r viel später schrieb) zitierte Jesaja<br />

in einem Text, <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r Version <strong>de</strong>r Septuaginta abgeleitet<br />

zu sein scheint (abgesehen von zweien sind alle fünfzehn griechischen<br />

Wörter i<strong>de</strong>ntisch), als er schrieb, „Dies alles jedoch ist<br />

geschehen, damit erfüllt wür<strong>de</strong>, was vom Herrn durch <strong>de</strong>n P<strong>ro</strong>pheten<br />

gesp<strong>ro</strong>chen wor<strong>de</strong>n ist, welcher sagt: Siehe, die Jungfrau<br />

wird schwanger wer<strong>de</strong>n und einen Sohn gebären, und<br />

man wird ihm <strong>de</strong>n Namen Immanuel geben“ (offizielle <strong>de</strong>utsche<br />

Übersetzung). Unter christlichen Gelehrten ist die Auffassung<br />

weit verbreitet, daß die jungfräuliche Geburt Jesu<br />

eine spätere Einfügung ist, die vermutlich von griechisch sprechen<strong>de</strong>n<br />

Gelehrten vorgenommen wur<strong>de</strong>, damit die (falsch<br />

übersetzte) P<strong>ro</strong>phezeiung als erfüllt erschien. In mo<strong>de</strong>rnen<br />

Bibelübersetzungen wie etwa <strong>de</strong>r New English Bible steht<br />

bei Jesaja korrekt „junge Frau“. Ebenso korrekt bleibt bei<br />

Matthäus „Jungfrau“ stehen, da dort <strong>de</strong>ssen griechischer Text<br />

übersetzt ist.<br />

3 Diese Stelle (einer <strong>de</strong>r seltenen – nun gut, relativ seltenen<br />

– Fälle, in <strong>de</strong>nen ich geschwelgt habe) ist wie<strong>de</strong>r und wie<strong>de</strong>r<br />

f<strong>ro</strong>hlockend als Beweis für meinen fanatischen „genetischen<br />

Determinismus“ zitiert wor<strong>de</strong>n. Die Ursache <strong>de</strong>s P<strong>ro</strong>blems liegt<br />

zum Teil in <strong>de</strong>n volkstümlichen, aber falschen Assoziationen,<br />

die das Wort „Roboter“ hervorruft. Wir befin<strong>de</strong>n uns im gol<strong>de</strong>nen<br />

<strong>Zeit</strong>alter <strong>de</strong>r Elekt<strong>ro</strong>nik, und Roboter sind schon lange<br />

keine starren, unwan<strong>de</strong>lbaren T<strong>ro</strong>ttel mehr, son<strong>de</strong>rn fähig zu<br />

lernen, zu <strong>de</strong>nken und kreativ zu sein. I<strong>ro</strong>nischerweise waren<br />

sogar schon im Jahre 1920, als Karel Čapek das Wort prägte,<br />

„Roboter“ mechanische Wesen, die letzten En<strong>de</strong>s menschlicher<br />

Gefühle fähig waren und sich beispielsweise verliebten.<br />

Wer glaubt, Roboter seien <strong>de</strong>finitionsgemäß stärker „<strong>de</strong>terministisch“<br />

als menschliche Wesen, bringt einiges durcheinan<strong>de</strong>r<br />

(es sei <strong>de</strong>nn, er ist religiös, in welchem Fall er durchweg die<br />

Ansicht vertreten kann, daß wir Menschen die göttliche Gabe<br />

<strong>de</strong>s freien Willens besitzen, die bloßen Maschinen verwehrt<br />

ist). Wenn <strong>de</strong>r Leser, wie die Mehrzahl <strong>de</strong>r Kritiker meines<br />

Satzes von <strong>de</strong>n „schwerfälligen Robotern“, nicht religiös ist,


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 410<br />

stelle er sich <strong>de</strong>r folgen<strong>de</strong>n Frage: Was in aller Wert glauben wir<br />

<strong>de</strong>nn zu sein, <strong>wen</strong>n nicht Roboter, <strong>wen</strong>n auch überaus komplizierte?<br />

Ich habe dies alles in meinem Buch The Exten<strong>de</strong>d Phenotype<br />

erörtert (Seite 15-17).<br />

Der Irrtum ist durch eine an<strong>de</strong>re eindrucksvolle „Mutation“<br />

noch gefestigt wor<strong>de</strong>n. Gera<strong>de</strong>so, wie es theologisch not<strong>wen</strong>dig<br />

schien, daß Jesus von einer Jungfrau geboren wor<strong>de</strong>n sei,<br />

scheint es dämonologisch erfor<strong>de</strong>rlich, daß je<strong>de</strong>r echte Vertreter<br />

<strong>de</strong>s „genetischen Determinismus“ davon überzeugt sein<br />

muß, daß die Gene sämtliche Aspekte unseres Verhaltens „kont<strong>ro</strong>llieren“.<br />

Am En<strong>de</strong> von Kapitel 2 schrieb ich über die genetischen<br />

Replikatoren: „sie schufen uns, Körper und Geist“. Dies<br />

ist wie<strong>de</strong>rholt als „[sie] kont<strong>ro</strong>llieren uns, Körper und Geist“<br />

(meine Hervorhebung) fehlzitiert wor<strong>de</strong>n (etwa in Die Gene<br />

sind es nicht von Rose, Kamin und Lewontin und zuvor in einer<br />

wissenschaftlichen Veröffentlichung Lewontins). Im Zusammenhang<br />

meines Kapitels ist es, glaube ich, offensichtlich,<br />

was ich mit „schufen“ meinte, nämlich etwas ganz an<strong>de</strong>res als<br />

„kont<strong>ro</strong>llieren“. Es ist für je<strong>de</strong>rmann offensichtlich, daß in <strong>de</strong>r<br />

Tat die Gene ihre Geschöpfe nicht in <strong>de</strong>m strengen Sinne kont<strong>ro</strong>llieren,<br />

<strong>de</strong>r als „Determinismus“ kritisiert wird. Wir t<strong>ro</strong>tzen<br />

ihnen mühelos (nun gut, ziemlich mühelos), wann immer wir<br />

Empfängnisverhütung betreiben.<br />

3. Die unsterblichen Spiralen<br />

1 Hier, wie auch auf <strong>de</strong>n letzten Seiten von Kapitel 5, ist meine<br />

Antwort an diejenigen, die mir genetischen „Atomismus“ vorwerfen.<br />

Strenggenommen nehme ich etwas vorweg, statt, zu<br />

antworten, <strong>de</strong>nn meine Antwort geht <strong>de</strong>r Kritik voraus! Es tut<br />

mir leid, daß ich mich selbst so ausführlich zitieren muß, aber<br />

es scheint beunruhigend leicht zu sein, die hierfür be<strong>de</strong>utsamen<br />

Absätze zu übersehen! S. J. Gould zum Beispiel schrieb<br />

im Kapitel „Altruistische Gruppen und egoistische Gene“ (in<br />

Der Daumen <strong>de</strong>s Panda):


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 411<br />

Es gibt kein Gen „für“ so unzwei<strong>de</strong>utige Teile <strong>de</strong>r Morphologie<br />

wie die linke Kniescheibe o<strong>de</strong>r einen Fingernagel.<br />

Körper können nicht in Teile atomisiert wer<strong>de</strong>n,<br />

von <strong>de</strong>nen je einer durch ein einzelnes Gen aufgebaut<br />

wird. Hun<strong>de</strong>rte von Genen tragen zum Aufbau <strong>de</strong>r meisten<br />

Körperteile bei ...<br />

Gould schrieb dies in einer Kritik über Das egoistische Gen.<br />

Gehen wir zurück zum Haupttext, um zu sehen, was ich wirklich<br />

geschrieben habe:<br />

Die P<strong>ro</strong>duktion eines Körpers ist ein <strong>de</strong>rart verwickeltes<br />

kooperatives Unterfangen, daß es fast unmöglich ist, die<br />

Beiträge <strong>de</strong>r einzelnen Gene auseinan<strong>de</strong>rzuhalten. Ein<br />

Gen hat gewöhnlich viele verschie<strong>de</strong>ne Auswirkungen<br />

auf ganz verschie<strong>de</strong>ne Teile <strong>de</strong>s Körpers. Je<strong>de</strong>r Teil <strong>de</strong>s<br />

Körpers wird von zahlreichen Genen beeinflußt, und<br />

<strong>de</strong>r Effekt je<strong>de</strong>s einzelnen Gens ist von <strong>de</strong>r Interaktion<br />

mit vielen an<strong>de</strong>ren Genen abhängig.<br />

Und weiter (Seite 75):<br />

So unabhängig und frei die Gene auf ihrer Reise<br />

durch die Generationen auch sein mögen, bei <strong>de</strong>r Steuerung<br />

<strong>de</strong>r Embryonalentwicklung han<strong>de</strong>ln sie sehr <strong>wen</strong>ig<br />

frei und unabhängig. Zwischen <strong>de</strong>n Genen untereinan<strong>de</strong>r<br />

wie auch zwischen <strong>de</strong>n Genen und ihrer äußeren<br />

Umwelt fin<strong>de</strong>t auf unentwirrbar komplizierte Weise<br />

eine Zusammenarbeit und wechselseitige Beeinflussung<br />

statt. Ausdrücke wie „Gene für lange Beine“ o<strong>de</strong>r „Gene<br />

für uneigennütziges Verhalten“ sind bequeme Sprachfiguren,<br />

aber es ist wichtig, daß wir verstehen, was sie<br />

be<strong>de</strong>uten. Es gibt kein Gen, das für sich allein ein Bein<br />

baut, gleichgültig ob lang o<strong>de</strong>r kurz. Die Fabrikation<br />

eines Beines ist ein Unternehmen, das die Zusammenarbeit<br />

zahlreicher Gene erfor<strong>de</strong>rt. Auch die äußere<br />

Umwelt ist daran beteiligt: Letzten En<strong>de</strong>s wer<strong>de</strong>n Beine


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 412<br />

eigentlich aus Nahrung gemacht! Aber es kann sehr<br />

wohl ein einzelnes Gen geben, das unter sonst gleichen<br />

Bedingungen gewöhnlich dafür sorgt, daß Beine länger<br />

wer<strong>de</strong>n, als sie unter <strong>de</strong>m Einfluß seines Allels wer<strong>de</strong>n<br />

wür<strong>de</strong>n.<br />

Ich erläuterte diese Aussage in meinem darauffolgen<strong>de</strong>n Absatz<br />

noch durch einen Vergleich mit <strong>de</strong>n Auswirkungen von<br />

Düngemittel auf das Wachstum von Weizen. Es sieht fast so aus,<br />

als sei Gould im voraus <strong>de</strong>rart sicher, ich müsse ein naiver Vertreter<br />

<strong>de</strong>s Atomismus sein, daß er die langen Absätze übersah,<br />

in <strong>de</strong>nen ich genau die gleiche wechselseitige Beeinflussung<br />

<strong>de</strong>r Gene vertrat, auf <strong>de</strong>r er später bestehen sollte. Gould sagt<br />

weiter:<br />

Dawkins wird sich an<strong>de</strong>rer Metaphern bedienen müssen:<br />

... daß Gene sich versammeln, Bündnisse schließen, einan<strong>de</strong>r<br />

Achtung zollen, einem Pakt beitreten und eine<br />

mögliche Umwelt auskundschaften.<br />

In meinem Ru<strong>de</strong>rbeispiel hatte ich bereits genau das getan,<br />

was Gould später empfahl. Schauen wir uns die Ru<strong>de</strong>rpassage<br />

auch <strong>de</strong>shalb an, um zu sehen, warum Gould, obwohl wir in<br />

so vielem übereinstimmen, unrecht hat, <strong>wen</strong>n er behauptet,<br />

die natürliche Auslese „akzeptiert o<strong>de</strong>r verwirft ganze Organismen,<br />

weil eine bestimmte Ausstattung einiger Körperteile,<br />

welche auf komplexe Art aufeinan<strong>de</strong>r einwirken, bestimmte<br />

Vorteile mit sich bringt“. Die richtige Erklärung für die „Bereitschaft<br />

zur Zusammenarbeit“ unter Genen ist folgen<strong>de</strong>:<br />

Gene wer<strong>de</strong>n selektiert, nicht weil sie für sich genommen<br />

„gut“ sind, son<strong>de</strong>rn weil sie vor <strong>de</strong>m Hintergrund<br />

<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Gene im Genpool gut arbeiten. Ein gutes<br />

Gen muß sich mit <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Genen, mit <strong>de</strong>nen es sich<br />

in eine lange Reihe aufeinan<strong>de</strong>rfolgen<strong>de</strong>r Körper zu<br />

teilen hat, vertragen und diese ergänzen.


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 413<br />

Eine ausführlichere Antwort auf die Kritik, ich verträte einen<br />

genetischen Atomismus, habe ich in meinem Buch The Exten<strong>de</strong>d<br />

Phenotype gegeben, beson<strong>de</strong>rs auf <strong>de</strong>n Seiten 116-117 und<br />

239-247.<br />

2 Williams’ genaue Worte, in Adaptation and Natural Selection,<br />

sind:<br />

Ich ver<strong>wen</strong><strong>de</strong> <strong>de</strong>n Ausdruck Gen in <strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung von<br />

„das, was sich mit erheblicher Häufigkeit trennt und<br />

wie<strong>de</strong>r neu zusammenfügt“ .... Ein Gen könnte <strong>de</strong>finiert<br />

wer<strong>de</strong>n als je<strong>de</strong> beliebige Erbinformation, für die es<br />

einen günstigen o<strong>de</strong>r ungünstigen Selektionseinfluß<br />

gibt, <strong>de</strong>r mehrere o<strong>de</strong>r viele Male so stark ist wie die<br />

Rate <strong>de</strong>r endogenen Verän<strong>de</strong>rung.<br />

Williams’ Buch ist inzwischen in weiten Kreisen, und zu Recht,<br />

als Klassiker anerkannt, von „Soziobiologen“ und Kritikern <strong>de</strong>r<br />

Soziobiologie gleichermaßen respektiert. Ich <strong>de</strong>nke, es ist <strong>de</strong>utlich,<br />

daß Williams sich nie als jemand verstan<strong>de</strong>n hat, <strong>de</strong>r mit<br />

seiner „genetischen Selektion“ eine neue o<strong>de</strong>r revolutionäre<br />

I<strong>de</strong>e vertritt, und das gleiche trifft auf mich im Jahre 1976<br />

zu. Wir waren bei<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Überzeugung, wir täten nichts an<strong>de</strong>res,<br />

als einfach ein grundlegen<strong>de</strong>s Prinzip von Fisher, Haidane<br />

und Wright, <strong>de</strong>n Grün<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>s „Neo-Darwinismus“ in <strong>de</strong>n<br />

dreißiger Jahren dieses Jahrhun<strong>de</strong>rts, erneut zu bekräftigen.<br />

Dennoch – vielleicht wegen unserer komp<strong>ro</strong>mißlosen Sprache<br />

– nehmen einige Leute, unter ihnen Sewall Wright selbst, offensichtlich<br />

Anstoß an unserer Ansicht, daß das Gen die Einheit<br />

<strong>de</strong>r Selektion ist. Ihr Hauptgrund ist, daß die natürliche Auslese<br />

es mit Organismen zu tun hat, nicht mit <strong>de</strong>n Genen in<br />

<strong>de</strong>ren Innerem. Meine Antwort auf Ansichten, wie Wright<br />

sie vertritt, fin<strong>de</strong>t sich in meinem Buch The Exten<strong>de</strong>d Phenotype,<br />

beson<strong>de</strong>rs auf <strong>de</strong>n Seiten 238-247. Williams’ jüngste<br />

Überlegungen zur Frage <strong>de</strong>s Gens als Selektionseinheit, die er<br />

in seiner Publikation Defense of Reductionism in Evolutionary<br />

Biology zum Ausdruck bringt, sind so scharfsinnig wie immer.


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 414<br />

Einige Philosophen, etwa D.L. Hull, K. Sterelny und P. Kitcher<br />

sowie M. Hampe und S. R. Morgan, haben ebenfalls in jüngster<br />

<strong>Zeit</strong> nützliche Beiträge zur Klärung <strong>de</strong>r Frage <strong>de</strong>r „Selektionseinheiten“<br />

geleistet. Bedauerlicherweise haben an<strong>de</strong>re Philosophen<br />

in dieser Frage Verwirrung gestiftet.<br />

3 In Anlehnung an Williams legte ich in meiner Begründung<br />

dafür, daß <strong>de</strong>r einzelne Organismus in <strong>de</strong>r natürlichen Auslese<br />

nicht die Rolle <strong>de</strong>s Replikators spielen kann, g<strong>ro</strong>ßes Gewicht<br />

auf die Fragmentierungseffekte <strong>de</strong>r Meiose. Ich sehe jetzt, daß<br />

dies nur die eine Hälfte <strong>de</strong>r Geschichte ist. Die an<strong>de</strong>re Hälfte<br />

ist in The Exten<strong>de</strong>d Phenotype (Seite 97-99) sowie in meiner<br />

Veröffentlichung Replicators and Vehicles erklärt. Wenn die<br />

Fragmentierungseffekte <strong>de</strong>r Meiose alles wären, wäre ein sich<br />

ungeschlechtlich rep<strong>ro</strong>duzieren<strong>de</strong>r Organismus wie eine weibliche<br />

Stabheuschrecke ein echter Replikator, eine Art Riesengen.<br />

Wenn eine Stabheuschrecke jedoch verän<strong>de</strong>rt wird – zum<br />

Beispiel ein Bein verliert –, so wird die Verän<strong>de</strong>rung nicht an<br />

zukünftige Generationen weitergegeben. Nur Gene reisen von<br />

Generation zu Generation, ganz gleichgültig, ob es sich um<br />

geschlechtliche o<strong>de</strong>r ungeschlechtliche Fortpflanzung han<strong>de</strong>lt.<br />

Gene sind daher echte Replikatoren. Im Fall einer sich ungeschlechtlich<br />

vermehren<strong>de</strong>n Stabheuschrecke ist das gesamte<br />

Genom (die Gesamtheit ihrer Gene) ein Replikator. Aber das<br />

Insekt selbst ist kein Replikator. Der Körper einer Stabheuschrecke<br />

wird nicht als Abbild eines Körpers <strong>de</strong>r vorherigen<br />

Generation geformt. In je<strong>de</strong>r Generation entwickelt sich <strong>de</strong>r<br />

Körper unter <strong>de</strong>r Anleitung seines Genoms neu aus einem Ei,<br />

und dieses Genom ist in <strong>de</strong>r Tat ein Abbild <strong>de</strong>s Genoms <strong>de</strong>r<br />

vorherigen Generation.<br />

Alle gedruckten Exemplare dieses Buches wer<strong>de</strong>n völlig<br />

gleich sein. Sie sind Kopien, aber keine Replikatoren. Sie sind<br />

Kopien nicht <strong>de</strong>swegen, weil sie sich untereinan<strong>de</strong>r kopiert<br />

hätten, son<strong>de</strong>rn weil sie alle von <strong>de</strong>nselben Druckplatten<br />

kopiert wor<strong>de</strong>n sind. Sie bil<strong>de</strong>n keine Ahnenreihe von Kopien,<br />

bei <strong>de</strong>r einige Bücher die Vorfahren <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren sind. Eine<br />

solche Ahnenreihe wür<strong>de</strong> bestehen, <strong>wen</strong>n wir eine Seite eines


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 415<br />

Buches fotokopieren wür<strong>de</strong>n, dann die Kopie kopieren und<br />

danach eine Kopie <strong>de</strong>r Kopie <strong>de</strong>r Kopie anfertigen wür<strong>de</strong>n und<br />

so weiter. Bei einer solchen Aufeinan<strong>de</strong>rfolge von Seiten gäbe<br />

es tatsächlich eine Beziehung zwischen Vor- und Nachfahre.<br />

Und je<strong>de</strong>r Fehler, <strong>de</strong>r an irgen<strong>de</strong>iner Stelle in dieser Reihe auftauchte,<br />

wäre ebenso bei <strong>de</strong>n Nachfahren vorzufin<strong>de</strong>n, nicht<br />

aber bei <strong>de</strong>n Vorfahren. Eine Reihe, die in dieser Weise von<br />

Vorfahre zu Nachfahre verläuft, besitzt das Potential zur Evolution.<br />

Oberflächlich betrachtet scheinen aufeinan<strong>de</strong>rfolgen<strong>de</strong> Generationen<br />

von Stabheuschreckenkörpern eine Reihe von<br />

Kopien darzustellen. Wenn wir aber im Experiment ein Individuum<br />

in dieser Reihe verän<strong>de</strong>rn (beispielsweise in<strong>de</strong>m wir<br />

ihm ein Bein entfernen), wird die Verän<strong>de</strong>rung nicht an seine<br />

Nachkommen weitergegeben. Verän<strong>de</strong>rn wir dagegen experimentell<br />

ein Glied in einer Abfolge von Genomen (zum Beispiel<br />

durch Röntgenbestrahlung), so wird die Verän<strong>de</strong>rung an die<br />

Folgegenerationen weitergegeben. Dies ist, eher als <strong>de</strong>r fragmentieren<strong>de</strong><br />

Effekt <strong>de</strong>r Meiose, <strong>de</strong>r Hauptgrund für die Feststellung,<br />

daß <strong>de</strong>r einzelne Organismus nicht die „Einheit <strong>de</strong>r<br />

Selektion“, also kein echter Replikator ist – eine <strong>de</strong>r wichtigsten<br />

Konsequenzen <strong>de</strong>r allgemein akzeptierten Tatsache, daß<br />

die Lamarcksche „Vererbungstheorie“ falsch ist.<br />

4 Ich bin dafür gescholten wor<strong>de</strong>n (natürlich we<strong>de</strong>r von Williams<br />

selbst noch auch nur mit seinem Wissen), daß ich diese<br />

Theorie <strong>de</strong>s Alterns P. B. Medawar zuschreibe und nicht G.<br />

C. Williams. Tatsächlich kennen viele Biologen, vor allem<br />

in Amerika, diese Theorie hauptsächlich aus Williams’ 1957<br />

veröffentlichter Arbeit Pleiot<strong>ro</strong>py, Natural Selection and the<br />

Evolution of Senescence. Außer<strong>de</strong>m trifft es zu, daß Williams<br />

die Theorie über Medawars Behandlung hinaus weiter ausarbeitete.<br />

Dennoch war es meiner Vorstellung nach Medawar, <strong>de</strong>r<br />

in seinem 1952 veröffentlichten Buch An Unsolved P<strong>ro</strong>blem in<br />

Biology wie auch 1957 in The Uniqueness of the Individual <strong>de</strong>n<br />

wesentlichen Kern <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>e nie<strong>de</strong>rlegte. Ich sollte hinzufügen,<br />

daß ich Williams’ Weiterentwicklung <strong>de</strong>r Theorie sehr hilfreich


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 416<br />

fin<strong>de</strong>, da sie einen not<strong>wen</strong>digen Schritt in <strong>de</strong>r Beweisführung<br />

<strong>de</strong>utlich macht (die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r „Pleiot<strong>ro</strong>pie“ o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r multiplen<br />

Geneffekte), <strong>de</strong>r von Medawar nicht ausdrücklich hervorgehoben<br />

wur<strong>de</strong>. W. D. Hamilton hat inzwischen in seinem<br />

Beitrag The Moulding of Senescence by Natural Selection diese<br />

Art von Theorie sogar noch weiterentwickelt. Übrigens habe<br />

ich viele interessante Zuschriften von Ärzten erhalten, doch<br />

soweit ich mich erinnere, kommentierte keiner von ihnen<br />

meine Spekulationen darüber, daß man Gene über das Alter<br />

<strong>de</strong>s Körpers, in <strong>de</strong>m sie sich befin<strong>de</strong>n, „täuschen“ könnte. Ich<br />

halte die I<strong>de</strong>e immer noch nicht für ein<strong>de</strong>utig töricht, und<br />

<strong>wen</strong>n sie richtig wäre, wäre dies nicht medizinisch gesehen<br />

ziemlich wichtig?<br />

5 Die Frage, wozu Sex gut ist, ist immer noch genauso quälend<br />

wie eh und je, t<strong>ro</strong>tz einiger Bücher, die zum Nach<strong>de</strong>nken<br />

anregen, darunter die von M. T. Ghiselin, G. C. Williams, J.<br />

Maynard Smith und G. Bell sowie ein von R. Michod und<br />

B. Levin herausgegebener Band. Die für mich aufregendste<br />

neue I<strong>de</strong>e ist W. D. Hamiltons Parasitentheorie. Jeremy Cherfas<br />

und John Gribbin erklären sie in The Redundant Male in<br />

allgemeinverständlicher Sprache.<br />

6 Mein Vorschlag, daß es sich bei überschüssiger, unübersetzter<br />

DNA um einen selbstsüchtigen Parasiten han<strong>de</strong>ln könnte, ist<br />

unter <strong>de</strong>m Schlagwort „egoistische DNA“ von <strong>de</strong>n Molekularbiologen<br />

aufgenommen und weiterentwickelt wor<strong>de</strong>n (siehe<br />

Veröffentlichungen von Orgel und Crick sowie Doolittle und<br />

Sapienza). J.S. Gould hat in Hen’s Teeth and Horse’s Toes<br />

(in <strong>de</strong>utscher Sprache erschienen unter <strong>de</strong>m Titel Wie das<br />

Zebra zu seinen Streifen kam) die (meiner Ansicht nach!) p<strong>ro</strong>vozieren<strong>de</strong><br />

Behauptung aufgestellt, t<strong>ro</strong>tz <strong>de</strong>r geschichtlichen<br />

Ursprünge <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r egoistischen DNA könnten „die Theorie<br />

<strong>de</strong>r egoistischen Gene und die <strong>de</strong>r egoistischen DNA in<br />

<strong>de</strong>n Erklärungsstrukturen, aus <strong>de</strong>nen sie sich nähren, kaum<br />

unterschiedlicher sein“. Ich fin<strong>de</strong> seinen Gedankengang falsch,<br />

aber interessant, was nebenbei gesagt genau das ist, was Gould


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 417<br />

gewöhnlich von meinen Überlegungen hält, wie er mir freundlicherweise<br />

erzählt hat. Nach einer Einleitung über „Reduktionismus“<br />

und „Hierarchie“ (die ich, wie üblich, we<strong>de</strong>r falsch<br />

noch interessant fin<strong>de</strong>) sagt er weiter:<br />

Dawkins’ egoistische Gene nehmen an Häufigkeit zu,<br />

weil sie Auswirkungen auf Körper haben, die diesen bei<br />

ihrem Kampf ums Überleben helfen. Egoistische DNA<br />

nimmt aus genau <strong>de</strong>m entgegengesetzten Grund an<br />

Häufigkeit zu – weil sie keinen Effekt auf Körper hat ...<br />

Ich sehe, welche Unterscheidung Gould vornimmt, doch kann<br />

ich sie nicht als wesentlich ansehen. Im Gegenteil, ich verstehe<br />

egoistische DNA immer noch als einen Son<strong>de</strong>rfall in <strong>de</strong>r<br />

ganzen Theorie <strong>de</strong>r egoistischen Gene, und genauso ist die<br />

Vorstellung von <strong>de</strong>r egoistischen DNA ursprünglich entstan<strong>de</strong>n.<br />

(Diese Vorstellung, daß die egoistische DNA ein Spezialfall<br />

ist, wird in Kapitel 10 vielleicht noch <strong>de</strong>utlicher als in Kapitel<br />

3, <strong>de</strong>n Doolittle und Sapienza sowie Orgel und Crick zitieren.<br />

Doolittle und Sapienza ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>n in ihrem Titel übrigens <strong>de</strong>n<br />

Ausdruck „egoistische Gene“ statt „egoistische DNA“.) Lassen<br />

Sie mich Gould mit folgen<strong>de</strong>m Vergleich antworten. Gene, die<br />

Wespen ihre gelben und schwarzen Streifen verleihen, nehmen<br />

an Häufigkeit zu, <strong>de</strong>nn dieses („warnen<strong>de</strong>“) Farbmuster übt<br />

eine stark stimulieren<strong>de</strong> Wirkung auf das Gehirn an<strong>de</strong>rer Tiere<br />

aus. Gene, die Tigern ihre gelben und schwarzen Streifen verleihen,<br />

nehmen „aus genau <strong>de</strong>m entgegengesetzten Grund“<br />

an Häufigkeit zu – weil im I<strong>de</strong>alfall dieses (Tarn-)Farbmuster<br />

überhaupt keine stimulieren<strong>de</strong> Wirkung auf an<strong>de</strong>re Tiergehirne<br />

ausübt. Es gibt hier tatsächlich einen Unterschied, <strong>de</strong>r<br />

(auf einer an<strong>de</strong>ren hierarchischen Ebene!) Goulds Unterscheidung<br />

stark ähnelt, aber es ist ein subtiler Unterschied im<br />

Detail. Wir wer<strong>de</strong>n kaum behaupten wollen, die zwei Fälle<br />

könnten „in <strong>de</strong>n Erklärungsstrukturen, aus <strong>de</strong>nen sie sich<br />

nähren, kaum unterschiedlicher sein“. Orgel und Crick treffen<br />

mit ihrem Vergleich von egoistischer DNA und Kuckuckseiern<br />

<strong>de</strong>n Nagel auf <strong>de</strong>n Kopf: Schließlich schaffen es Kuckuckseier


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 418<br />

gera<strong>de</strong> dadurch, <strong>de</strong>r Ent<strong>de</strong>ckung zu entgehen, daß sie ganz<br />

genauso aussehen wie die Eier <strong>de</strong>s Nestbesitzers.<br />

Nebenbei gesagt wird in <strong>de</strong>r letzten Auflage <strong>de</strong>s Oxford<br />

English Dictionary eine neue Be<strong>de</strong>utung von „egoistisch“<br />

aufgeführt, und zwar: „von einem Gen o<strong>de</strong>r genetischem Material:<br />

neigt dazu, beibehalten zu wer<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r sich zu verbreiten,<br />

obwohl es keine Auswirkung auf <strong>de</strong>n Phänotyp hat“.<br />

Dies ist eine bewun<strong>de</strong>rnswert knappe Definition <strong>de</strong>r „egoistischen<br />

DNA“, und das zweite zur Ver<strong>de</strong>utlichung angefügte<br />

Zitat betrifft in <strong>de</strong>r Tat die egoistische DNA. Meiner Meinung<br />

nach ist jedoch die abschließen<strong>de</strong> Formulierung „obwohl es<br />

keine Auswirkung auf <strong>de</strong>n Phänotyp hat“ nicht sehr glücklich<br />

gewählt. Egoistische Gene müssen sich nicht unbedingt auf <strong>de</strong>n<br />

Phänotyp auswirken, viele von ihnen tun es aber. Es stün<strong>de</strong><br />

<strong>de</strong>n Lexikographen frei zu behaupten, daß es ihre Absicht<br />

war, die Be<strong>de</strong>utung auf „egoistische DNA“ zu beschränken,<br />

die in <strong>de</strong>r Tat keine phänotypischen Effekte hat. Aber ihr<br />

erstes erläutern<strong>de</strong>s Zitat, das aus meinem Buch Das egoistische<br />

Gen stammt, schließt egoistische Gene ein, die sehr wohl<br />

phänotypische Auswirkungen haben. Doch liegt es mir fern<br />

herumzunörgeln, <strong>wen</strong>n mir die Ehre wi<strong>de</strong>rfährt, im Oxford<br />

English Dictionary zitiert zu wer<strong>de</strong>n!<br />

Eine ausführlichere Erörterung <strong>de</strong>r egoistischen DNA fin<strong>de</strong>t<br />

sich in meinem Buch The Exten<strong>de</strong>d Phenotype (Seite 156-164).<br />

4. Die Genmaschine<br />

1 Eine Behauptung wie diese beunruhigt Kritiker, die sie<br />

wortwörtlich nehmen. Sie haben natürlich recht damit, daß<br />

sich das Gehirn in vielerlei Hinsicht von einem Computer<br />

unterschei<strong>de</strong>t. Seine innere Arbeitsweise zum Beispiel ist<br />

nun einmal völlig an<strong>de</strong>rs als die <strong>de</strong>r speziellen Art von Computern,<br />

die unsere Technik entwickelt hat. Dies schmälert<br />

jedoch keineswegs <strong>de</strong>n Wahrheitsgehalt meiner Feststellung,<br />

Gehirn und Computer seien in ihrer Funktion vergleichbar.<br />

Funktionsmäßig spielt das Gehirn exakt die Rolle eines


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 419<br />

An-Bord-Computers – Datenverarbeitung, Mustererkennung,<br />

Kurz- und Langzeit-Datenspeicherung, Koordinierung <strong>de</strong>r<br />

Operationen und so weiter.<br />

Da wir schon bei <strong>de</strong>n Computern sind: Meine Bemerkungen<br />

über sie sind erfreulich – o<strong>de</strong>r erschreckend, das hängt von<br />

<strong>de</strong>r Einstellung ab – überholt. Ich schrieb, daß „man lediglich<br />

ein paar hun<strong>de</strong>rt Transistoren in einen Schä<strong>de</strong>l hineinpacken<br />

könnte“. Heutzutage sind Transistoren in integrierten Schaltkreisen<br />

zusammengefaßt. Die Zahl <strong>de</strong>r Transistoräquivalente,<br />

die man heute in einen Schä<strong>de</strong>l packen könnte, muß wohl<br />

Milliar<strong>de</strong>n erreichen. Ich sagte außer<strong>de</strong>m, daß die Computer<br />

beim Schachspielen das Niveau eines guten Amateurs erreicht<br />

hätten. Heute sind Computerp<strong>ro</strong>gramme in billigen Heimcomputern,<br />

die mit Ausnahme sehr guter Schachspieler je<strong>de</strong>n<br />

Gegner schlagen, etwas Alltägliches, und die besten Schachp<strong>ro</strong>gramme<br />

<strong>de</strong>r Welt stellen heute eine ernstzunehmen<strong>de</strong> Herausfor<strong>de</strong>rung<br />

für die G<strong>ro</strong>ßmeister dar. Der Schachkorrespon<strong>de</strong>nt<br />

Raymond Keene <strong>de</strong>s Spectator schrieb beispielsweise in<br />

<strong>de</strong>r Ausgabe vom 7. Oktober 1988:<br />

Es ist immer noch so etwas wie eine Sensation, <strong>wen</strong>n<br />

ein amtieren<strong>de</strong>r Schachmeister von einem Computer<br />

eschlagen wird, aber vielleicht nicht mehr sehr lange.<br />

Das bisher gefährlichste Metallungeheuer, das das<br />

menschliche Gehirn herausfor<strong>de</strong>rt, trägt <strong>de</strong>n son<strong>de</strong>rbaren<br />

Namen „Deep Thought“ (DT), zweifellos zu Ehren<br />

von Douglas Adams. Deep Thoughts letzte Leistung<br />

war es, seine menschlichen Gegner bei <strong>de</strong>r US-Open-<br />

Championship, die im August in Boston stattfand, zu<br />

ter<strong>ro</strong>risieren. Ich habe DTs allgemeine Leistungsbewertung<br />

noch nicht zur Hand, die <strong>de</strong>n entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Test<br />

seiner Leistungsfähigkeit bei einem offenen Wettkampf<br />

im Schweizer System darstellen wird, aber ich habe<br />

einen bemerkenswert eindrucksvollen Sieg über <strong>de</strong>n s<br />

tarken kanadischen Spieler Igor Ivanov gesehen, einen<br />

Mann, <strong>de</strong>r einmal Karpov besiegt hat! Geben Sie acht,<br />

dies mag die Zukunft <strong>de</strong>s Schachspiels sein.


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 420<br />

Es folgt eine Beschreibung <strong>de</strong>r aufeinan<strong>de</strong>rfolgen<strong>de</strong>n Spielzüge.<br />

Auf Deep Thoughts Zug 22 reagiert Keenes so:<br />

Ein wun<strong>de</strong>rbarer Zug ... Seine Absicht ist, die Dame ins<br />

Zentrum zu bringen ... und dieser Plan führt erstaunlich<br />

rasch zum Erfolg ... Das überraschen<strong>de</strong> Resultat ...<br />

Der schwarze Damenflügel ist nun durch das Vordringen<br />

<strong>de</strong>r Dame total zerstört.<br />

Ivanovs Gegenzug wird folgen<strong>de</strong>rmaßen beschrieben:<br />

Ein verzweifelter Zug, <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Computer verächtlich<br />

beiseite fegt ... die tiefste Demütigung. DT verzichtet<br />

darauf, die Dame zuückzugewinnen, steuert statt <strong>de</strong>ssen<br />

auf ein blitzartiges Schachmatt hin ... Schwarz gibt auf.<br />

Deep Thought ist nicht nur einer <strong>de</strong>r weltbesten Schachspieler.<br />

Beinahe noch verblüffen<strong>de</strong>r fin<strong>de</strong> ich, daß <strong>de</strong>r Kommentator<br />

sich bemüßigt fühlt, eine Sprache zu ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>n, die menschliche<br />

Gedanken und Gefühle impliziert: Deep Thought „fegt<br />

verächtlich“ Ivanovs „verzweifelten Zug beiseite“. DT wird<br />

als „aggressiv“ beschrieben. Keene spricht davon, daß Ivanov<br />

auf ein bestimmtes Resultat „hofft“, aber seine Sprache zeigt,<br />

daß er einen Ausdruck wie „Hoffnung“ genauso gern im<br />

Zusammenhang mit Deep Thought benutzen wür<strong>de</strong>. Was mich<br />

persönlich betrifft, so freue ich mich schon auf <strong>de</strong>n Moment,<br />

in <strong>de</strong>m ein Computerp<strong>ro</strong>gramm die Schachweltmeisterschaft<br />

gewinnt. Die Menschheit braucht eine Lektion in Sachen<br />

Demut.<br />

2 A für And<strong>ro</strong>meda und <strong>de</strong>r Nachfolgeband And<strong>ro</strong>meda Breakth<strong>ro</strong>ugh<br />

wi<strong>de</strong>rsprechen einan<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Frage, ob die<br />

außerirdische Zivilisation aus <strong>de</strong>m And<strong>ro</strong>medanebel, einer<br />

ungeheuer weit entfernten Galaxie, kommt o<strong>de</strong>r von einem<br />

näheren Stern im Sternbild And<strong>ro</strong>meda, wie ich sagte. Im<br />

ersten Roman liegt <strong>de</strong>r Planet 200 Lichtjahre entfernt, mitten<br />

in unserer eigenen Galaxie. Im zweiten Roman jedoch wer<strong>de</strong>n


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 421<br />

dieselben Außerirdischen im And<strong>ro</strong>medanebel angesie<strong>de</strong>lt, <strong>de</strong>r<br />

etwa zwei Millionen Lichtjahre entfernt ist. Die Leser können<br />

mein „200“ durch „zwei Millionen“ ersetzen, <strong>wen</strong>n es ihnen<br />

Spaß macht. Die Relevanz <strong>de</strong>r Geschichte für meine Zwecke<br />

wird dadurch nicht beeinträchtigt.<br />

Fred Hoyle, <strong>de</strong>r Hauptautor dieser bei<strong>de</strong>n Romane, ist ein<br />

berühmter Ast<strong>ro</strong>nom und außer<strong>de</strong>m Autor <strong>de</strong>r Science-fiction-<br />

Geschichte, die ich mit Abstand am liebsten lese, The Black<br />

Cloud. Die g<strong>ro</strong>ßartige wissenschaftliche Kenntnis, die in seinen<br />

Romanen zum Ausdruck kommt, steht in krassem Gegensatz<br />

zu <strong>de</strong>r Flut von Büchern, die er in <strong>de</strong>n letzten Jahren zusammen<br />

mit C. Wickramasinghe geschrieben hat. Ihre falsche Darstellung<br />

<strong>de</strong>s Darwinismus (als eine Theorie <strong>de</strong>s puren Zufalls)<br />

und ihre giftigen Angriffe auf Darwin selbst helfen ihren ansonsten<br />

interessanten (<strong>wen</strong>n auch <strong>wen</strong>ig plausiblen) Spekulationen<br />

über <strong>de</strong>n interstellaren Ursprung <strong>de</strong>s Lebens in keiner<br />

Weise weiter. Die Verleger sollten ihre falsche Vorstellung korrigieren,<br />

daß ein Wissenschaftler, <strong>de</strong>r sich auf einem Gebiet<br />

auszeichnet, dadurch automatisch auch eine Autorität auf<br />

einem an<strong>de</strong>ren Gebiet ist. Und solange diese falsche Vorstellung<br />

besteht, sollten renommierte Wissenschaftler <strong>de</strong>r Versuchung<br />

wi<strong>de</strong>rstehen, sie zu mißbrauchen.<br />

3 Diese Art, über die Strategie eines Tieres, einer Pflanze o<strong>de</strong>r<br />

sogar eines Gens zu re<strong>de</strong>n, als ob sie bewußt herauszufin<strong>de</strong>n<br />

suchten, wie sie ihren Erfolg am besten steigern können –<br />

<strong>wen</strong>n wir uns also zum Beispiel „die Männchen als Spieler<br />

mit hohem Einsatz und hohem Risiko und die Weibchen als<br />

vorsichtige Kapitalanleger“ vorstellen –, ist unter forschen<strong>de</strong>n<br />

Biologen alltäglich gewor<strong>de</strong>n. Es ist eine Sprache, die aus<br />

Grün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Bequemlichkeit benutzt wird und die harmlos ist,<br />

solange sie nicht zufällig <strong>de</strong>nen zu Ohren kommt, die nicht mit<br />

<strong>de</strong>n nötigen Kenntnissen ausgerüstet sind, um sie zu verstehen.<br />

O<strong>de</strong>r <strong>de</strong>nen, die über zu viele Kenntnisse verfügen und<br />

sie <strong>de</strong>shalb mißverstehen? Nur so kann ich mir zum Beispiel<br />

einen kritischen Artikel über Das egoistische Gen erklären, <strong>de</strong>r<br />

von jeman<strong>de</strong>m namens Mary Midgley in <strong>de</strong>r <strong>Zeit</strong>schrift Phi-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 422<br />

losophy veröffentlicht wur<strong>de</strong> und <strong>de</strong>ssen erster Satz typisch<br />

für <strong>de</strong>n ganzen Artikel ist: „Gene können nicht egoistisch o<strong>de</strong>r<br />

altruistisch sein, ebenso<strong>wen</strong>ig wie Atome eifersüchtig, Elefanten<br />

abstrakt o<strong>de</strong>r Kekse teleologisch sein können.“<br />

Mein eigener Beitrag In Defence of Selfish Genes, <strong>de</strong>r in<br />

einem darauffolgen<strong>de</strong>n Heft <strong>de</strong>r gleichen <strong>Zeit</strong>schrift erschien,<br />

ist eine ausführliche Antwort auf diesen nebenbei gesagt sehr<br />

unmäßigen und bösartigen Artikel. Es scheint, daß einige<br />

Leute, die durch ihre Bildung mit <strong>de</strong>n Werkzeugen <strong>de</strong>r Philosophie<br />

überausgestattet sind, <strong>de</strong>r Versuchung nicht wi<strong>de</strong>rstehen<br />

können, mit ihrem gelehrten Apparat dort herumzustochern,<br />

wo er zu nichts nütze ist. Das erinnert mich an P. B.<br />

Medawars Bemerkung über die Faszination <strong>de</strong>r „Philosophie-<br />

Romane“ für „eine g<strong>ro</strong>ße Zahl von Leuten, häufig mit gut entwickeltem<br />

literarischem und wissenschaftlichem Geschmack,<br />

<strong>de</strong>ren Bildung weit über ihre Fähigkeit <strong>de</strong>s analytischen Denkens<br />

hinausgeht“.<br />

4 Die I<strong>de</strong>e, daß Gehirne Welten simulieren, wird in meiner Gifford-Vorlesung<br />

<strong>de</strong>s Jahres 1988 Worlds in Mic<strong>ro</strong>cosm erörtert.<br />

Ich bin mir immer noch nicht darüber im klaren, ob diese I<strong>de</strong>e<br />

uns bei <strong>de</strong>r Lösung <strong>de</strong>s schwierigen P<strong>ro</strong>blems <strong>de</strong>s Bewußtseins<br />

eine g<strong>ro</strong>ße Hilfe ist, aber ich gestehe, es hat mich gefreut, daß<br />

sie die Aufmerksamkeit von Sir Karl Popper in seiner Darwin-<br />

Vorlesung gefun<strong>de</strong>n hat. Der Philosoph Daniel Dennett schlug<br />

eine Theorie <strong>de</strong>s Bewußtseins vor, die das Bild <strong>de</strong>r Computersimulation<br />

noch weiterführt. Um seine Theorie zu begreifen,<br />

müssen wir zwei technische Begriffe aus <strong>de</strong>r Welt <strong>de</strong>r Computer<br />

verstehen: die I<strong>de</strong>e einer virtuellen Maschine und die<br />

Unterscheidung zwischen sequentiellen P<strong>ro</strong>zessoren und Parallelp<strong>ro</strong>zessoren.<br />

Zunächst muß ich diese Begriffe erklären.<br />

Ein Computer ist eine reale Maschine, Hardware in einem<br />

Kasten. Aber sobald er eingeschaltet ist, läuft irgen<strong>de</strong>in P<strong>ro</strong>gramm,<br />

das ihn wie eine an<strong>de</strong>re Maschine erscheinen läßt,<br />

eine virtuelle Maschine. Das gilt seit langem für alle Computer,<br />

aber die mo<strong>de</strong>rnen „benutzerfreundlichen“ Computer führen<br />

es uns ganz beson<strong>de</strong>rs lebhaft vor Augen. Zu <strong>de</strong>m <strong>Zeit</strong>punkt,


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 423<br />

zu <strong>de</strong>m ich dies schreibe, ist <strong>de</strong>r Apple Macintosh nach weitverbreiteter<br />

Meinung <strong>de</strong>r Marktführer in bezug auf Benutzerfreundlichkeit.<br />

Sein Erfolg beruht auf fest eingebauten Dienstp<strong>ro</strong>grammen,<br />

die die reale Hardware-Maschine – <strong>de</strong>ren Mechanismen,<br />

wie bei je<strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren Computer auch, wi<strong>de</strong>rwärtig<br />

kompliziert und mit <strong>de</strong>r menschlichen Intuition nicht sehr<br />

gut vereinbar sind – wie eine an<strong>de</strong>re Art von Maschine aussehen<br />

lassen: eine virtuelle Maschine, die speziell dafür entworfen<br />

wur<strong>de</strong>, mit Gehirn und Hand <strong>de</strong>s Menschen zusammenzuarbeiten.<br />

Die unter <strong>de</strong>n Namen Macintosh-Benutzer-Interface<br />

bekannte virtuelle Maschine ist <strong>de</strong>utlich erkennbar eine<br />

Maschine. Sie hat Knöpfe zum Drücken und Schieberegler<br />

wie eine HiFi-Anlage. Aber sie ist eine virtuelle Maschine. Die<br />

Knöpfe und Regler sind nicht aus Metall o<strong>de</strong>r Plastik. Sie<br />

sind Bil<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m Bildschirm, und man drückt o<strong>de</strong>r betätigt<br />

sie, in<strong>de</strong>m man einen virtuellen Finger über <strong>de</strong>n Bildschirm<br />

bewegt. Wir Menschen haben das Gefühl, die Maschine zu<br />

beherrschen, <strong>de</strong>nn wir sind daran gewöhnt, mit <strong>de</strong>m Finger<br />

Dinge zu bewegen. Fünfundzwanzig Jahre lang habe ich ausgiebig<br />

eine g<strong>ro</strong>ße Vielfalt von Digitalcomputern p<strong>ro</strong>grammiert<br />

und benutzt und kann bezeugen, daß das Benutzen <strong>de</strong>s Macintosh-Computers<br />

(o<strong>de</strong>r seiner Nachahmer) eine qualitativ ganz<br />

an<strong>de</strong>re Erfahrung ist als das Benutzen je<strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren älteren<br />

Computertyps. Er vermittelt ein Gefühl <strong>de</strong>r Mühelosigkeit, <strong>de</strong>s<br />

Natürlichen, beinahe so, als wäre die virtuelle Maschine eine<br />

Verlängerung unseres Körpers. In bemerkenswertem Maße<br />

erlaubt uns die virtuelle Maschine, unserer Intuition zu folgen,<br />

statt uns am Handbuch zu orientieren.<br />

Ich <strong>wen</strong><strong>de</strong> mich nun <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Hintergrundi<strong>de</strong>e zu, die<br />

wir aus <strong>de</strong>r Computerwissenschaft einführen müssen, <strong>de</strong>r<br />

I<strong>de</strong>e von sequentiellen P<strong>ro</strong>zessoren und Parallelp<strong>ro</strong>zessoren.<br />

Die heutigen Digitalcomputer arbeiten fast ausschließlich mit<br />

sequentiellen P<strong>ro</strong>zessoren. Sie besitzen eine zentrale Arithmetikeinheit,<br />

einen einzigen elekt<strong>ro</strong>nischen Engpaß, durch <strong>de</strong>n<br />

alle Daten bei <strong>de</strong>r Verarbeitung durchgeschleust wer<strong>de</strong>n. Sie<br />

sind in <strong>de</strong>r Lage, die Illusion zu schaffen, daß sie viele Dinge<br />

gleichzeitig tun, weil sie so schnell sind. Ein sequentieller Com-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 424<br />

puter ist wie ein Schachmeister, <strong>de</strong>r „simultan“ gegen zwanzig<br />

Gegner spielt, während er in Wirklichkeit von einem zum<br />

an<strong>de</strong>ren geht. An<strong>de</strong>rs als <strong>de</strong>r Schachmeister geht <strong>de</strong>r Computer<br />

so rasch und geräuschlos von einer Aufgabe zur an<strong>de</strong>ren<br />

über, daß er je<strong>de</strong>m Menschen, <strong>de</strong>r ihn benutzt, die Illusion<br />

vermittelt, er genieße die ausschließliche Aufmerksamkeit <strong>de</strong>s<br />

Computers. Tatsächlich jedoch <strong>wen</strong><strong>de</strong>t <strong>de</strong>r Computer seine<br />

Aufmerksamkeit einem Benutzer nach <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren zu.<br />

In jüngster <strong>Zeit</strong> haben die Ingenieure, als Teil <strong>de</strong>r Bestrebungen<br />

um immer schwin<strong>de</strong>lerregen<strong>de</strong>re Arbeitsgeschwindigkeiten,<br />

tatsächlich parallel verarbeiten<strong>de</strong> Maschinen geschaffen.<br />

Eine davon ist <strong>de</strong>r Edinburgher Supercomputer. Ich hatte<br />

vor kurzem das Privileg, ihn zu besichtigen. Er besteht aus<br />

einer parallelen Anordnung von einigen Hun<strong>de</strong>rten von „Transputern“,<br />

von <strong>de</strong>nen je<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Leistung einem heutigen<br />

Desktop-Computer entspricht. Der Supercomputer funktioniert<br />

folgen<strong>de</strong>rmaßen: Er nimmt das P<strong>ro</strong>blem, das ihm gestellt<br />

wor<strong>de</strong>n ist, unterteilt es in kleinere Aufgaben, die unabhängig<br />

voneinan<strong>de</strong>r angegangen wer<strong>de</strong>n können, und gibt diese Aufgaben<br />

an Gruppen von Transputern weiter. Die Transputer<br />

empfangen das Subp<strong>ro</strong>blem, lösen es, übergeben die Antwort<br />

und mel<strong>de</strong>n ihre Bereitschaft für eine neue Aufgabe. Inzwischen<br />

stellen an<strong>de</strong>re Transputergruppen ihre Lösungen zur<br />

Verfügung, so daß <strong>de</strong>r ganze Supercomputer um mehrere<br />

Größenordnungen schneller zu <strong>de</strong>r endgültigen Antwort<br />

gelangt, als ein normaler sequentieller Computer dies könnte.<br />

Ich sagte, ein gewöhnlicher sequentieller Computer kann<br />

die Illusion schaffen, ein Parallelp<strong>ro</strong>zessor zu sein, in<strong>de</strong>m er<br />

seine „Aufmerksamkeit“ ausreichend rasch nach <strong>de</strong>m Rotationsprinzip<br />

einer Anzahl von Aufgaben zu<strong>wen</strong><strong>de</strong>t. Wir könnten<br />

sagen, daß die sequentielle Hardware durch einen virtuellen<br />

Parallelp<strong>ro</strong>zessor über<strong>de</strong>ckt wird. Dennets Vorstellung ist, daß<br />

das menschliche Gehirn genau das Umgekehrte getan hat.<br />

Die Hardware <strong>de</strong>s Gehirns ist im wesentlichen parallel, wie<br />

die <strong>de</strong>r Edinburgher Maschine. Und sie arbeitet mit Software,<br />

die darauf ausgelegt ist, eine Illusion von sequentieller Datenverarbeitung<br />

zu schaffen: eine sequentiell arbeiten<strong>de</strong> virtuelle


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 425<br />

Maschine, die Huckepack auf paralleler Computerarchitektur<br />

reitet. Nach Dennets Ansicht ist das hervorstechen<strong>de</strong> Merkmal<br />

beim subjektiven Erleben <strong>de</strong>s Denkens das sequentielle<br />

„Eins nach <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren“, <strong>de</strong>r Joycesche „Bewußtseinsst<strong>ro</strong>m“.<br />

Seiner Auffassung nach fehlt <strong>de</strong>r Mehrzahl <strong>de</strong>r Tiere dieses<br />

sequentielle Erleben, und sie benutzen ihr Gehirn unmittelbar<br />

in seinem ursprünglichen Parallelverarbeitungsmodus.<br />

Ohne je<strong>de</strong>n Zweifel benutzt auch das menschliche Gehirn<br />

seine parallele Architektur unmittelbar, und zwar für viele <strong>de</strong>r<br />

Routineaufgaben, die damit zu tun haben, eine komplizierte<br />

Überlebensmaschine am Laufen zu halten. Aber zusätzlich<br />

entwickelte es im Laufe <strong>de</strong>r Evolution eine software-virtuelle<br />

Maschine, um einen sequentiellen P<strong>ro</strong>zessor zu simulieren.<br />

Der Verstand mit seinem sequentiellen Bewußtseinsst<strong>ro</strong>m ist<br />

eine virtuelle Maschine, eine „benutzerfreundliche“ Art, das<br />

Gehirn zu erleben, gera<strong>de</strong>so wie das „Macintosh-Benutzer-<br />

Interface“ eine benutzerfreundliche Art ist, <strong>de</strong>n physischen<br />

Computer im Innern seines grauen Gehäuses zu erleben.<br />

Es ist nicht ohne weiteres klar, warum wir Menschen<br />

eine sequentielle virtuelle Maschine benötigten, wo doch<br />

an<strong>de</strong>re Arten mit ihren schlichten parallelen Maschinen völlig<br />

glücklich zu sein scheinen. Möglicherweise ist etwas grundlegend<br />

Sequentielles an <strong>de</strong>n schwierigeren unter <strong>de</strong>n Aufgaben,<br />

die ein wildleben<strong>de</strong>r Mensch zu erledigen hat, o<strong>de</strong>r vielleicht<br />

hat Dennett unrecht, <strong>wen</strong>n er uns heraushebt. Er glaubt<br />

außer<strong>de</strong>m, daß die Entwicklung <strong>de</strong>r sequentiellen Software<br />

weitgehend ein kulturelles Phänomen gewesen ist, und wie<strong>de</strong>r<br />

ist mir nicht klar, warum dies beson<strong>de</strong>rs wahrscheinlich sein<br />

sollte. Aber ich sollte auch hinzufügen, daß Dennetts Arbeit<br />

zu <strong>de</strong>m <strong>Zeit</strong>punkt, an <strong>de</strong>m ich dies nie<strong>de</strong>rschreibe, noch<br />

unveröffentlicht ist und meine Darstellung sich auf meine Erinnerung<br />

an seine 1988 in London gehaltene Jacobsen-Vorlesung<br />

stützt. Ich rate <strong>de</strong>m Leser, sich Dennetts eigenen Bericht<br />

anzusehen, sobald er erscheint, statt sich auf meine zweifellos<br />

unvollständige und impressionistische – möglicherweise sogar<br />

ausgeschmückte – Darstellung zu verlassen. Der Psychologe<br />

Nicholas Humphrey hat ebenfalls eine verlocken<strong>de</strong> Hypothese


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 426<br />

darüber entwickelt, wie die Evolution <strong>de</strong>r Simulationsfähigkeit<br />

zur Entstehung von Bewußtsein geführt hat. In seinem Buch<br />

The Inner Eye vertritt Humphrey überzeugend die Ansicht,<br />

daß in hohem Gra<strong>de</strong> sozial leben<strong>de</strong> Tiere, wie wir Menschen<br />

und die Schimpansen, sich zu psychologischen Experten entwickeln<br />

müssen. Das Gehirn muß mit vielen Aspekten <strong>de</strong>r Welt<br />

jonglieren und sie simulieren. Aber die meisten Aspekte <strong>de</strong>r<br />

Welt sind im Vergleich zum Gehirn selbst recht einfach. Ein<br />

sozial leben<strong>de</strong>s Tier lebt in einer Welt voller an<strong>de</strong>rer Tiere,<br />

einer Welt potentieller Geschlechtspartner, Rivalen, Gefährten<br />

und Fein<strong>de</strong>. Um in einer solchen Welt zu überleben und<br />

zu ge<strong>de</strong>ihen, muß man relativ gut vorhersagen können, was<br />

diese an<strong>de</strong>ren Individuen als nächstes tun wer<strong>de</strong>n. P<strong>ro</strong>gnosen<br />

darüber, was in <strong>de</strong>r unbelebten Welt geschehen wird, sind<br />

ein Kin<strong>de</strong>rspiel im Vergleich zu Vorhersagen über zukünftige<br />

Ereignisse in <strong>de</strong>r sozialen Welt. Wissenschaftlich arbeiten<strong>de</strong><br />

Psychologen sind tatsächlich nicht sehr gut darin, menschliches<br />

Verhalten vorherzusagen. Dagegen können soziale Gefährten,<br />

die sich an winzigen Bewegungen <strong>de</strong>r Gesichtsmuskeln und<br />

an<strong>de</strong>ren subtilen Zeichen orientieren, häufig erstaunlich gut<br />

Gedanken lesen und Verhalten in Sekun<strong>de</strong>nschnelle erraten.<br />

Humphrey glaubt, daß sich diese „natürliche psychologische“<br />

Fertigkeit bei sozial leben<strong>de</strong>n Tieren zu einem hohen Niveau<br />

entwickelt hat, beinahe wie ein zusätzliches Auge o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>res<br />

kompliziertes Organ. Das „innere Auge“ ist das durch Evolution<br />

entstan<strong>de</strong>ne Organ zur Wahrnehmung sozialer und psychologischer<br />

Vorgänge, gera<strong>de</strong> so wie das äußere Auge das<br />

Sehorgan ist.<br />

Soweit scheint mir Humphreys Gedankengang überzeugend.<br />

Er argumentiert weiter, daß das innere Auge mittels Selbstbeobachtung<br />

funktioniert. Je<strong>de</strong>s Tier sieht nach innen auf seine<br />

eigenen Gefühle und Emotionen, um die Gefühle und Emotionen<br />

von an<strong>de</strong>ren zu verstehen. Das psychologische Organ funktioniert<br />

mittels Int<strong>ro</strong>spektion. Ich bin nicht völlig überzeugt<br />

davon, daß uns dies hilft, Bewußtsein zu verstehen, aber Humphrey<br />

schreibt elegant, und sein Buch verleitet zur Zustimmung.


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 427<br />

5 Manchmal erregen sich die Leute schrecklich über Gene<br />

„für“ Altruismus o<strong>de</strong>r für ein an<strong>de</strong>res scheinbar kompliziertes<br />

Verhalten. Sie meinen (zu Unrecht), daß das Verhalten in seiner<br />

ganzen Komplexität in irgen<strong>de</strong>inem Sinne im Innern <strong>de</strong>s Gens<br />

enthalten sein muß. Wie kann es ein einzelnes Gen für Altruismus<br />

geben, fragen sie, <strong>wen</strong>n ein Gen nichts an<strong>de</strong>res tut,<br />

als eine P<strong>ro</strong>teinkette zu codieren? Aber <strong>wen</strong>n wir von einem<br />

Gen „für“ etwas sprechen, so meinen wir immer nur, daß eine<br />

Verän<strong>de</strong>rung in <strong>de</strong>m Gen eine Verän<strong>de</strong>rung in diesem Etwas<br />

hervorruft. Ein einzelner genetischer Unterschied verursacht –<br />

durch die Verän<strong>de</strong>rung irgen<strong>de</strong>iner Einzelheit <strong>de</strong>r Moleküle in<br />

<strong>de</strong>n Zellen – einen Unterschied in <strong>de</strong>n bereits komplexen P<strong>ro</strong>zessen<br />

im Embryo und damit beispielsweise im Verhalten.<br />

So wird ein mutantes Gen „für“ brü<strong>de</strong>rlichen Altruismus bei<br />

Vögeln nicht allein für ein völlig neues kompliziertes Verhaltensmuster<br />

verantwortlich sein. Statt <strong>de</strong>ssen wird es irgen<strong>de</strong>in<br />

bereits bestehen<strong>de</strong>s und wahrscheinlich bereits kompliziertes<br />

Verhaltensmuster än<strong>de</strong>rn. Der wahrscheinlichste Vorgänger<br />

ist in diesem Fall das Verhalten <strong>de</strong>r Eltern. Vögel verfügen<br />

selbstverständlich über <strong>de</strong>n komplizierten Nervenapparat, <strong>de</strong>r<br />

nötig ist, um ihre Nachkommenschaft zu ernähren und zu versorgen.<br />

Dieser seinerseits ist, von seinen Vorläufern ausgehend,<br />

während vieler Generationen durch langsame, schrittweise<br />

Evolution aufgebaut wor<strong>de</strong>n. (Übrigens, Skeptiker in bezug<br />

auf Gene für geschwisterliche Fürsorge sind häufig inkonsequent:<br />

Warum sind sie nicht gera<strong>de</strong>so skeptisch in bezug auf<br />

Gene für die gleichermaßen komplizierte elterliche Fürsorge?)<br />

Das zuvor bereits bestehen<strong>de</strong> Verhaltensmuster – in diesem<br />

Fall elterliche Fürsorge – wird vermutlich durch eine geeignete<br />

Daumenregel vermittelt wie etwa „Füttere alle piepsen<strong>de</strong>n,<br />

<strong>de</strong>n Schnabel aufreißen<strong>de</strong>n Dinge in <strong>de</strong>inem Nest“. Das<br />

Gen „für das Füttern von jüngeren Brü<strong>de</strong>rn und Schwestern“<br />

könnte dann dadurch funktionieren, daß es das Alter herabsetzt,<br />

in <strong>de</strong>m diese Daumenregel im Laufe <strong>de</strong>r Entwicklung<br />

reif wird. Ein Nestling, <strong>de</strong>r das brü<strong>de</strong>rliche Gen als eine neue<br />

Mutation trägt, wird einfach seine „elterliche“ Daumenregel<br />

ein <strong>wen</strong>ig früher als ein normaler Vogel aktivieren. Er wird


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 428<br />

die piepsen<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>n Schnabel aufsperren<strong>de</strong>n Dinge im Nest<br />

seiner Eltern – seine jüngeren Brü<strong>de</strong>r und Schwestern – so<br />

behan<strong>de</strong>ln, als wären sie die piepsen<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>n Schnabel aufsperren<strong>de</strong>n<br />

Dinge in seinem eigenen Nest – seine Jungen. Weit<br />

davon entfernt, eine brandneue, komplizierte Verhaltensinnovation<br />

zu sein, wür<strong>de</strong> „brü<strong>de</strong>rliches Verhalten“ zunächst als eine<br />

leichte Variante im <strong>Zeit</strong>punkt <strong>de</strong>r Entwicklung bereits bestehen<strong>de</strong>n<br />

Verhaltens auftreten. Wie so oft entstehen auch hier<br />

irrige Ansichten, <strong>wen</strong>n wir die grundlegen<strong>de</strong> Allmählichkeit<br />

<strong>de</strong>r Evolution vergessen, die Tatsache, daß die anpassen<strong>de</strong><br />

Evolution mittels kleiner, schrittweiser Verän<strong>de</strong>rungen bereits<br />

bestehen<strong>de</strong>r Strukturen o<strong>de</strong>r Verhaltensweisen vor sich geht.<br />

6 Wenn es in <strong>de</strong>r ersten Auflage Fußnoten gegeben hätte, so<br />

hätte eine von ihnen <strong>de</strong>r Erklärung gedient – wie Rothenbuhler<br />

selbst dies mit peinlicher Genauigkeit tat –, daß die Bienenresultate<br />

nicht ganz so ein<strong>de</strong>utig und sauber waren. Unter<br />

<strong>de</strong>n vielen Kolonien, die <strong>de</strong>r Theorie zufolge kein hygienisches<br />

Verhalten hätten zeigen sollen, war eine, die dies <strong>de</strong>nnoch tat.<br />

Rothenbuhlers eigene Worte dazu: „Wir können dieses Resultat<br />

nicht unbeachtet lassen, so gern wir es auch täten, aber<br />

wir grün<strong>de</strong>n die genetische Hypothese auf die übrigen Daten.“<br />

Eine Mutation in <strong>de</strong>r anormalen Kolonie ist eine mögliche<br />

Erklärung, obwohl sie nicht sehr wahrscheinlich ist.<br />

7 Heute bin ich mit dieser Behandlung <strong>de</strong>r tierischen Kommunikation<br />

nicht mehr zufrie<strong>de</strong>n. John Krebs und ich vertraten<br />

in zwei Artikeln die Ansicht, daß die Mehrzahl <strong>de</strong>r tierischen<br />

Signale wohl als we<strong>de</strong>r informativ noch <strong>de</strong>r Täuschung dienend,<br />

son<strong>de</strong>rn vielmehr als manipulierend anzusehen sind. Ein<br />

Signal ist für ein Tier ein Mittel, um sich <strong>de</strong>r Muskelkraft eines<br />

an<strong>de</strong>ren Tieres zu bedienen. Der Gesang einer Nachtigall ist<br />

keine Information, noch nicht einmal täuschen<strong>de</strong> Information.<br />

Er ist überzeugen<strong>de</strong>, hypnotisieren<strong>de</strong>, fesseln<strong>de</strong> Rhetorik. Die<br />

logische Schlußfolgerung aus Behauptungen wie diesen wird<br />

in meinem Buch The Exten<strong>de</strong>d Phenotype gezogen, von <strong>de</strong>m<br />

ich einen Teil in Kapitel 13 zusammengefaßt habe. Krebs und


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 429<br />

ich argumentieren, daß Signale durch Evolution aus einem<br />

Wechselspiel von Aktivitäten hervorgehen, die wir Gedankenlesen<br />

und Manipulation nennen. Auf verblüffend an<strong>de</strong>re<br />

Art geht Amotz Zahavi an das Thema Tiersignale heran. In<br />

einer Anmerkung zu Kapitel 9 erörtere ich Zahavis Ansichten<br />

bei weitem wohlwollen<strong>de</strong>r als in <strong>de</strong>r ersten Auflage dieses<br />

Buches.<br />

5. Aggression: Die egoistische Maschine<br />

und die Stabilität<br />

1 Heutzutage drücke ich die Grundi<strong>de</strong>e einer ESS gern auf<br />

die folgen<strong>de</strong>, knappere Weise aus. Eine ESS ist eine Strategie,<br />

die gegen Kopien ihrer selbst gut abschnei<strong>de</strong>t. Das Grundprinzip<br />

ist folgen<strong>de</strong>s: Eine Strategie ist erfolgreich, <strong>wen</strong>n sie in <strong>de</strong>r<br />

Population vorherrschend ist. Daher wird sie gewöhnlich auf<br />

Kopien ihrer selbst treffen. Also wird sie nur dann erfolgreich<br />

bleiben, <strong>wen</strong>n sie gegen Kopien ihrer selbst gut abschnei<strong>de</strong>t.<br />

Diese Definition ist nicht so mathematisch präzise wie die<br />

von Maynard Smith, und sie kann seine Definition nicht ersetzen,<br />

<strong>de</strong>nn sie ist tatsächlich unvollständig. Aber sie hat <strong>de</strong>n<br />

ein<strong>de</strong>utigen Vorteil, die Grundi<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r ESS intuitiv in sich<br />

einzuschließen.<br />

Das Denken im Sinne <strong>de</strong>r ESS ist heutzutage unter Biologen<br />

weiter verbreitet als zu <strong>de</strong>r <strong>Zeit</strong>, als ich dieses Kapitel<br />

schrieb. Maynard Smith selbst hat in seinem Buch Evolution<br />

and the Theory of Games die Entwicklungen bis zum Jahre<br />

1982 zusammengefaßt. Geoffrey Parker, ein an<strong>de</strong>rer Wissenschaftler,<br />

<strong>de</strong>r führen<strong>de</strong> Beiträge auf diesem Gebiet geleistet<br />

hat, veröffentlichte einen etwas aktuelleren Bericht. Robert<br />

Axel<strong>ro</strong>d ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>t die ESS-Theorie in seinem Buch Die Evolution<br />

<strong>de</strong>r Kooperation, aber ich wer<strong>de</strong> es an dieser Stelle<br />

nicht erörtern, da eins <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n neuen Kapitel dieser Auflage,<br />

„Nette Kerle kommen zuerst ans Ziel“, weitgehend <strong>de</strong>r<br />

Erklärung von Axel<strong>ro</strong>ds Arbeit gewidmet ist. Ich selbst habe<br />

mich seit Erscheinen <strong>de</strong>r ersten Auflage dieses Buches in einem


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 430<br />

Artikel mit <strong>de</strong>m Titel Good Strategy or Evolutionarily Stable<br />

Strategy? und in <strong>de</strong>n weiter unten erörterten, gemeinsam mit<br />

an<strong>de</strong>ren Autoren veröffentlichten Beiträgen über Grabwespen<br />

mit <strong>de</strong>r Frage <strong>de</strong>r ESS-Theorie auseinan<strong>de</strong>rgesetzt.<br />

2 Diese Feststellung war lei<strong>de</strong>r falsch. Die Originalveröffentlichung<br />

von Maynard Smith und Price enthielt einen Irrtum,<br />

und ich wie<strong>de</strong>rholte ihn in diesem Kapitel, ja, ich verschlimmerte<br />

ihn noch, in<strong>de</strong>m ich die recht törichte Behauptung aufstellte,<br />

daß „p<strong>ro</strong>bierfreudiger Vergelter“ „beinahe“ eine ESS<br />

ist (<strong>wen</strong>n eine Strategie beinahe eine ESS ist, dann ist sie eben<br />

keine ESS und wird unterwan<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n). „Vergelter“ sieht<br />

oberflächlich wie eine ESS aus, da es in einer Population von<br />

Vergeltern keine an<strong>de</strong>re Strategie gibt, die besser abschnei<strong>de</strong>t.<br />

Doch „Taube“ schnei<strong>de</strong>t gleich gut ab, da sie vom Verhalten<br />

her in einer Population von Vergeltern nicht von einem Vergelter<br />

zu unterschei<strong>de</strong>n ist. Taube kann daher in die Population<br />

hineindriften. Das P<strong>ro</strong>blem liegt in <strong>de</strong>r Frage, was als nächstes<br />

geschieht. J. S. Gale und Ehrwür<strong>de</strong>n L. J. Eaves spielten eine<br />

dynamische Computersimulation durch, in <strong>de</strong>r sie eine Population<br />

von Mo<strong>de</strong>lltieren eine lange Reihe von Generationen <strong>de</strong>r<br />

Evolution durchlaufen ließen. Sie zeigten, daß die echte ESS<br />

in diesem Spiel eine stabile Mischung aus „Falken“ und „Angebern“<br />

ist. Dies ist nicht <strong>de</strong>r einzige Irrtum in <strong>de</strong>r frühen ESS-<br />

Literatur, <strong>de</strong>r durch dynamische Behandlung dieser Art ent<strong>de</strong>ckt<br />

wor<strong>de</strong>n ist. Ein an<strong>de</strong>res schönes Beispiel ist ein Fehler,<br />

<strong>de</strong>r mir selbst unterlaufen ist und auf <strong>de</strong>n ich in meinen Anmerkungen<br />

zu Kapitel 9 näher eingehen wer<strong>de</strong>.<br />

3 Inzwischen gibt es gute Feldmessungen von Kosten und<br />

Nutzen in <strong>de</strong>r Natur, die in beson<strong>de</strong>re ESS-Mo<strong>de</strong>lle eingegeben<br />

wor<strong>de</strong>n sind. Eines <strong>de</strong>r besten Beispiele liefert eine nordamerikanische<br />

Grabwespenart, Sphex ichneumoneus. Grabwespen<br />

sind nicht die vertrauten sozial leben<strong>de</strong>n Wespen unserer<br />

herbstlichen Marmela<strong>de</strong>ntöpfe, die unfruchtbare Weibchen<br />

sind und für eine Kolonie arbeiten. Je<strong>de</strong> weibliche Grabwespe<br />

ist ihr eigener Herr, und sie widmet ihr Leben <strong>de</strong>r Aufgabe,


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 431<br />

einer ihrer Larven nach <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Schutz und Nahrung<br />

zur Verfügung zu stellen. Im typischen Fall beginnt ein Weibchen<br />

damit, daß es ein langes Bohrloch in die Er<strong>de</strong> gräbt, auf<br />

<strong>de</strong>ssen Grund sich eine ausgehöhlte Kammer befin<strong>de</strong>t. Sodann<br />

geht die Wespe auf Beutejagd. Wenn sie ein Beutetier, etwa<br />

eine Laubheuschrecke, gefun<strong>de</strong>n hat, sticht sie es, um es zu<br />

lähmen, und zerrt es in ihr Erdloch. Sobald sie vier o<strong>de</strong>r fünf<br />

Heuschrecken zusammengetragen hat, legt sie ein Ei oben auf<br />

<strong>de</strong>n Haufen und versiegelt <strong>de</strong>n Gang. Aus <strong>de</strong>m Ei schlüpft<br />

eine Larve, die sich von <strong>de</strong>n Heuschrecken ernährt. Die Beute<br />

wird übrigens <strong>de</strong>shalb gelähmt und nicht getötet, weil sie dann<br />

nicht verwest, son<strong>de</strong>rn lebendig und daher frisch gefressen<br />

wer<strong>de</strong>n kann. Diese makabre Gewohnheit bei <strong>de</strong>n verwandten<br />

Schlupfwespen (Ichneumoni<strong>de</strong>n) veranlaßte Darwin zur<br />

Nie<strong>de</strong>rschrift <strong>de</strong>s Satzes: „Ich kann beim besten Willen nicht<br />

glauben, daß ein wohlwollen<strong>de</strong>r und allmächtiger Gott willentlich<br />

die Ichneumonidae geschaffen hätte, auf daß sie im<br />

Innern lebendiger Raupenkörper fressen ...“ Er hätte genausogut<br />

das Beispiel eines französischen Meisterkochs anführen<br />

können, <strong>de</strong>r Hummer lebend ins kochen<strong>de</strong> Wasser wirft, um<br />

<strong>de</strong>n Geschmack zu bewahren. Kehren wir zur weiblichen Grabwespe<br />

zurück: Sie führt ein einsames Leben, sieht man davon<br />

ab, daß mehrere Weibchen unabhängig voneinan<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>mselben<br />

Gebiet arbeiten und daß sie gelegentlich die Höhlen<br />

ihrer Artgenossinnen besetzen, statt sich die Mühe zu machen,<br />

ein neues Erdloch zu graben.<br />

Dr. Jane B<strong>ro</strong>ckmann ist so etwas wie eine Jane Goodall <strong>de</strong>r<br />

Wespen. Sie kam aus Amerika, um in Oxford mit mir zusammenzuarbeiten,<br />

und brachte ihre umfangreichen Unterlagen<br />

über praktisch alle Ereignisse im Leben von zwei vollständigen<br />

Populationen individuell i<strong>de</strong>ntifizierter weiblicher Wespen mit.<br />

Diese Unterlagen waren so vollständig, daß sich <strong>Zeit</strong>budgets<br />

für die einzelnen Wespen aufstellen ließen. <strong>Zeit</strong> ist ein Wirtschaftsgut:<br />

Je mehr davon auf einen Teil <strong>de</strong>s Lebens verwandt<br />

wird, <strong>de</strong>sto <strong>wen</strong>iger steht für an<strong>de</strong>re Teile zur Verfügung. Alan<br />

Grafen gesellte sich zu uns und lehrte uns korrektes Denken<br />

in <strong>de</strong>n Kategorien <strong>Zeit</strong>kosten und Fortpflanzungsnutzen. Wir


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 432<br />

fan<strong>de</strong>n Indizien für eine echte gemischte ESS in einem Spiel,<br />

das zwischen weiblichen Wespen in einer Population in New<br />

Hampshire ausgetragen wur<strong>de</strong>. Allerdings gelang es uns nicht,<br />

solche Hinweise in einer an<strong>de</strong>ren Population in Michigan zu<br />

fin<strong>de</strong>n. Kurz zusammengefaßt graben die Wespen <strong>de</strong>r Population<br />

in New Hampshire entwe<strong>de</strong>r ihr eigenes Nest, o<strong>de</strong>r<br />

sie beziehen ein Nest, das eine an<strong>de</strong>re Wespe gegraben hat.<br />

Nach unserer Interpretation können Wespen einen Vorteil<br />

daraus ziehen, in ein frem<strong>de</strong>s Nest einzudringen, <strong>de</strong>nn einige<br />

Erdlöcher wer<strong>de</strong>n von ihren Erbauerinnen verlassen und<br />

können wie<strong>de</strong>r benutzt wer<strong>de</strong>n. Es zahlt sich nicht aus, eine<br />

Höhle zu beziehen, die besetzt ist, doch ein Eindringling<br />

hat keine Möglichkeit festzustellen, welche Höhlen besetzt<br />

und welche verlassen sind. Eine Wespe, die ein frem<strong>de</strong>s Erdloch<br />

bezieht, geht das Risiko ein, daß sie es tagelang mit<br />

einer an<strong>de</strong>ren Bewohnerin teilt und irgendwann nach Hause<br />

zurückkommt, nur um herauszufin<strong>de</strong>n, daß das Nest versiegelt<br />

wor<strong>de</strong>n ist und alle ihre Anstrengungen umsonst waren – die<br />

an<strong>de</strong>re Wespe hat ihr Ei gelegt und wird die Vorteile ernten.<br />

Wenn in einer Population zu viele Wespen frem<strong>de</strong> Erdlöcher<br />

besetzen, wer<strong>de</strong>n leerstehen<strong>de</strong> Höhlen rar, die Chance <strong>de</strong>r<br />

Doppelbesetzung steigt, und es zahlt sich daher aus zu<br />

graben. Wenn dagegen viele Wespen selbst graben, för<strong>de</strong>rt die<br />

g<strong>ro</strong>ße Menge verfügbarer Höhlen das Eindringen in frem<strong>de</strong><br />

Erdlöcher. Es gibt eine kritische Häufigkeit <strong>de</strong>s Besetzens in<br />

<strong>de</strong>r Population, bei <strong>de</strong>r Graben und Besetzen gleichen Nutzen<br />

bringen. Liegt die gegenwärtige Häufigkeit unterhalb <strong>de</strong>r kritischen<br />

Frequenz, so för<strong>de</strong>rt die natürliche Auslese das Besetzen,<br />

<strong>de</strong>nn es besteht ein g<strong>ro</strong>ßes Angebot an verlassenen Höhlen.<br />

Ist umgekehrt die aktuelle Häufigkeit höher als <strong>de</strong>r kritische<br />

Wert, dann herrscht ein Mangel an verfügbaren Höhlen,<br />

und die natürliche Auslese för<strong>de</strong>rt das Graben. Auf diese Weise<br />

wird ein Gleichgewicht in <strong>de</strong>r Population aufrechterhalten. Das<br />

<strong>de</strong>taillierte quantitative Datenmaterial läßt darauf schließen,<br />

daß es sich hier um eine echte gemischte ESS han<strong>de</strong>lt, bei <strong>de</strong>r<br />

für je<strong>de</strong> einzelne Wespe eine Wahrscheinlichkeit besteht, eine<br />

Höhle zu graben o<strong>de</strong>r zu besetzen, statt daß die Population


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 433<br />

eine Mischung aus graben<strong>de</strong>n und besetzen<strong>de</strong>n Spezialisten<br />

ist.<br />

4 Eine sogar noch ein<strong>de</strong>utigere Demonstration <strong>de</strong>s Phänomens<br />

„Ansässiger gewinnt immer“ als Tinbergen liefern N. B. Davies’<br />

Studien über Pararge aegeria, einen Augenfalter. Tinbergens<br />

Arbeit stammt aus einer <strong>Zeit</strong>, als die ESS-Theorie noch nicht<br />

erfun<strong>de</strong>n war, und meine Interpretation in <strong>de</strong>r ersten Auflage<br />

dieses Buches erfolgte im nachhinein. Davies dagegen konzipierte<br />

seine Schmetterlingsstudien im Lichte <strong>de</strong>r ESS-Theorie.<br />

Er bemerkte, daß einzelne männliche Schmetterlinge in<br />

Wytham Wood, in <strong>de</strong>r Nähe von Oxford, Flecken von Sonnenlicht<br />

verteidigten. Die Weibchen wer<strong>de</strong>n von solchen Flekken<br />

mit Sonnenlicht angezogen, somit war ein sonniger Fleck<br />

eine wertvolle Ressource, etwas, um das es sich zu kämpfen<br />

lohnte. Es gab mehr Männchen als sonnige Flecken, und<br />

die überzähligen Männchen warteten im Blätterdach auf ihre<br />

Chance. Davies fing Männchen ein und ließ sie eins nach <strong>de</strong>m<br />

an<strong>de</strong>ren wie<strong>de</strong>r fliegen, um zu zeigen, daß stets dasjenige<br />

<strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Individuen, das als erstes freigelassen wur<strong>de</strong> und<br />

auf <strong>de</strong>m Sonnenflecken ankam, von bei<strong>de</strong>n als <strong>de</strong>r „Besitzer“<br />

angesehen wur<strong>de</strong>. Welches Männchen auch immer als zweiter<br />

auf <strong>de</strong>m Sonnenflecken anlangte, wur<strong>de</strong> als „Eindringling“<br />

behan<strong>de</strong>lt. Der Eindringling gab sich ohne Ausnahme immer<br />

sofort geschlagen und überließ <strong>de</strong>m Besitzer die alleinige Herrschaft.<br />

In einem letzten Experiment gelang es Davies, bei<strong>de</strong><br />

Schmetterlinge so zu „täuschen“, daß je<strong>de</strong>r „dachte“, er sei <strong>de</strong>r<br />

Ansässige und <strong>de</strong>r jeweils an<strong>de</strong>re <strong>de</strong>r Eindringling. Nur unter<br />

diesen Bedingungen brach ein wirklich ernsthafter, langandauern<strong>de</strong>r<br />

Kampf aus. Übrigens, in all <strong>de</strong>n Fällen, in <strong>de</strong>nen ich<br />

<strong>de</strong>r Einfachheit halber die Dinge so dargestellt habe, als habe<br />

es nur ein einziges Schmetterlingspaar gegeben, han<strong>de</strong>lte es<br />

sich natürlich in Wirklichkeit um eine statistische Auswahl von<br />

Paaren.<br />

5 Ein an<strong>de</strong>rer Fall, <strong>de</strong>r möglicherweise eine paradoxe ESS darstellt,<br />

ist in einem Brief eines Herrn James Dawson an


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 434<br />

die <strong>Zeit</strong>ung The Times (London, 7. Dezember 1977) festgehalten:<br />

„Während einer Reihe von Jahren habe ich beobachtet,<br />

daß eine Möwe, die einen günstigen Platz auf einer Fahnenstange<br />

errungen hat, ausnahmslos einer an<strong>de</strong>ren Möwe Platz<br />

macht, die sich auf <strong>de</strong>r Stange nie<strong>de</strong>rlassen möchte, und dies<br />

unabhängig von <strong>de</strong>r Größe <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Vögel.“<br />

Das überzeugendste Beispiel einer paradoxen Strategie, das<br />

ich kenne, betrifft Hausschweine in einer Skinner-Box. Die<br />

Strategie ist in <strong>de</strong>mselben Sinne stabil, wie eine ESS dies ist,<br />

aber man sollte sie eher „entwicklungsmäßig stabile Strategie“<br />

nennen, <strong>de</strong>nn sie entsteht während <strong>de</strong>r Lebenszeit <strong>de</strong>r betreffen<strong>de</strong>n<br />

Tiere und nicht in evolutionärer <strong>Zeit</strong>. Eine Skinner-Box<br />

ist ein Apparat, in <strong>de</strong>m ein Tier lernt, sich selbst mit Futter zu<br />

versorgen, in<strong>de</strong>m es einen Hebel drückt, woraufhin die Nahrung<br />

automatisch durch eine Schütte in <strong>de</strong>n Käfig fällt. Experimentell<br />

arbeiten<strong>de</strong> Psychologen sind es gewohnt, Tauben<br />

o<strong>de</strong>r Mäuse in kleine Skinnerkäfige zu setzen, wo diese bald<br />

lernen, empfindliche kleine Hebel zu drücken, um mit Nahrung<br />

belohnt zu wer<strong>de</strong>n. Schweine können dasselbe in einer<br />

größeren Skinner-Box mit einem sehr <strong>de</strong>rben Rüsselhebel<br />

lernen. (Vor vielen Jahren sah ich einen wissenschaftlichen<br />

Film darüber, und ich erinnere mich, daß ich mich vor Lachen<br />

kaum halten konnte.) B. A. Baldwin und G. B. Meese trainierten<br />

Schweine in einem Skinner-Stall, aber mit einer zusätzlichen<br />

Schwierigkeit. Der Rüsselhebel befand sich an einem En<strong>de</strong><br />

<strong>de</strong>s Stalls, <strong>de</strong>r Nahrungsspen<strong>de</strong>r am an<strong>de</strong>ren. So mußte das<br />

Schwein also <strong>de</strong>n Hebel drücken, dann zum an<strong>de</strong>ren En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s<br />

Stalls spurten, um die Nahrung zu erhalten, wie<strong>de</strong>r zu <strong>de</strong>m<br />

Hebel zurückrennen und so weiter. So weit, so gut, aber Baldwin<br />

und Meese setzten Paare von Schweinen in <strong>de</strong>n Apparat.<br />

Nun wur<strong>de</strong> es für eins <strong>de</strong>r Schweine möglich, das an<strong>de</strong>re<br />

auszubeuten. Der „Sklave“ raste hin und her und drückte <strong>de</strong>n<br />

Hebel, <strong>de</strong>r „Herr“ saß neben <strong>de</strong>r Nahrungsschütte und fraß.<br />

Die an <strong>de</strong>m Experiment teilnehmen<strong>de</strong>n Paare von Schweinen<br />

gelangten tatsächlich zu einem stabilen Muster <strong>de</strong>r Art Herr/<br />

Sklave, bei <strong>de</strong>m das eine arbeitete und rannte und das an<strong>de</strong>re<br />

einen G<strong>ro</strong>ßteil <strong>de</strong>s Fressens übernahm.


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 435<br />

Nun zu <strong>de</strong>m Paradox. Es stellte sich heraus, daß die Etikettierungen<br />

„Herr“ und „Sklave“ völlig auf <strong>de</strong>n Kopf gestellt<br />

waren. Wann immer sich ein Paar von Schweinen bei einem stabilen<br />

Muster einpen<strong>de</strong>lte, spielte schließlich dasjenige Schwein<br />

die Rolle <strong>de</strong>s „Herren“ o<strong>de</strong>r „Ausbeuters“, das ansonsten in<br />

je<strong>de</strong>r Hinsicht untergeordnet war. Der sogenannte „Sklave“,<br />

<strong>de</strong>r alle Arbeit leistete, war das Schwein, das gewöhnlich dominierte.<br />

Je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r die Schweine kannte, hätte vorausgesagt, daß<br />

umgekehrt das dominieren<strong>de</strong> Schwein <strong>de</strong>r Herr sein wür<strong>de</strong>,<br />

<strong>de</strong>r meistens fraß, während das untergeordnete Schwein <strong>de</strong>r<br />

hart arbeiten<strong>de</strong> und kaum fressen<strong>de</strong> Sklave wäre.<br />

Wie es zu dieser paradoxen Umkehrung kommen konnte, ist<br />

nicht schwer zu verstehen, sobald wir anfangen, im Sinne stabiler<br />

Strategien zu <strong>de</strong>nken. Wir müssen das Prinzip lediglich<br />

von evolutionär be<strong>de</strong>utsamen <strong>Zeit</strong>räumen auf die <strong>Zeit</strong>spanne<br />

übertragen, in <strong>de</strong>r sich die Beziehungen zwischen zwei einzelnen<br />

Geschöpfen entwickeln. Die Strategie „Wenn dominierend,<br />

sitze am Futtert<strong>ro</strong>g; <strong>wen</strong>n untergeordnet, bediene <strong>de</strong>n<br />

Hebel“ klingt vernünftig, wäre aber nicht stabil. Das untergeordnete<br />

Schwein wür<strong>de</strong>, nach<strong>de</strong>m es <strong>de</strong>n Hebel gedrückt hat,<br />

hinübergerannt kommen, nur um zu sehen, wie das dominieren<strong>de</strong><br />

Schwein mit seinen Vor<strong>de</strong>rfüßen fest im T<strong>ro</strong>g steht und<br />

unmöglich weggedrängt wer<strong>de</strong>n kann. Es wür<strong>de</strong> bald aufgeben,<br />

<strong>de</strong>n Hebel zu drücken, <strong>de</strong>nn diese Handlung wür<strong>de</strong> niemals<br />

belohnt wer<strong>de</strong>n. Stellen wir uns nun jedoch die umgekehrte<br />

Strategie vor: „Wenn dominierend, bediene <strong>de</strong>n Hebel;<br />

<strong>wen</strong>n untergeordnet, sitze am Futtert<strong>ro</strong>g.“ Dies wäre stabil,<br />

obgleich es das paradoxe Resultat hat, daß das untergeordnete<br />

Schwein <strong>de</strong>n G<strong>ro</strong>ßteil <strong>de</strong>s Futters bekommt. Es ist nichts<br />

weiter erfor<strong>de</strong>rlich, als daß etwas Futter für das dominieren<strong>de</strong><br />

Schwein übriggeblieben ist, <strong>wen</strong>n es vom an<strong>de</strong>ren En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s<br />

Stalls angerannt kommt. Sobald es ankommt, hat es keine<br />

Schwierigkeiten, das untergeordnete Schwein aus <strong>de</strong>m T<strong>ro</strong>g<br />

hinauszuwerfen. Solange ein Krümel übriggeblieben ist, mit<br />

<strong>de</strong>m es belohnt wird, wird seine Gewohnheit, <strong>de</strong>n Hebel<br />

zu bewegen und dabei unwissentlich das untergeordnete<br />

Schwein mit Futter vollzustopfen, bestehen bleiben. Und die


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 436<br />

Gewohnheit <strong>de</strong>s untergeordneten Schweins, sich faul am T<strong>ro</strong>g<br />

zurückzulegen, wird ebenfalls belohnt. Somit wird die ganze<br />

Strategie „Wenn dominierend, verhalte dich wie ein ›Sklave‹;<br />

<strong>wen</strong>n untergeordnet, benimm dich wie ein ›Herr‹“ belohnt und<br />

ist daher stabil.<br />

6 Ted Burk, seinerzeit mein graduierter Stu<strong>de</strong>nt, fand weitere<br />

Beweise für <strong>de</strong>rartige Pseudo-Dominanzhierarchien bei Grillen.<br />

Er zeigte auch, daß ein Grillenmännchen mit größerer<br />

Wahrscheinlichkeit Weibchen <strong>de</strong>n Hof macht, <strong>wen</strong>n es vor<br />

kurzem einen Kampf gegen ein an<strong>de</strong>res Männchen gewonnen<br />

hat. Man sollte dies <strong>de</strong>n „Herzog-von-Marlbo<strong>ro</strong>ugh-Effekt“<br />

nennen, nach <strong>de</strong>r folgen<strong>de</strong>n Tagebucheintragung <strong>de</strong>r ersten<br />

Herzogin von Marlbo<strong>ro</strong>ugh: „Seine Gna<strong>de</strong>n kam heute aus <strong>de</strong>m<br />

Krieg zurück und ergötzte mich zweimal in seinen Stulpenstiefeln.“<br />

Zu einem an<strong>de</strong>ren möglichen Namen könnte das folgen<strong>de</strong><br />

Zitat aus <strong>de</strong>r <strong>Zeit</strong>schrift New Scientist über Verän<strong>de</strong>rungen in<br />

<strong>de</strong>r Konzentration <strong>de</strong>s männlichen Hormons Testoste<strong>ro</strong>n anregen:<br />

„Der Hormonspiegel verdoppelte sich bei Tennisspielern<br />

während <strong>de</strong>r 24 Stun<strong>de</strong>n vor einem g<strong>ro</strong>ßen Match. Danach<br />

blieb er bei Siegern hoch, bei Verlierern dagegen sank er ab.“<br />

7 Dieser Satz geht ein bißchen zu weit. Wahrscheinlich habe<br />

ich nur zu stark auf die damals übliche Vernachlässigung <strong>de</strong>r<br />

ESS-I<strong>de</strong>e in <strong>de</strong>r zeitgenössischen biologischen Literatur, vor<br />

allem in Amerika, reagiert. In E.O. Wilsons g<strong>ro</strong>ßem Werk Sociobiology<br />

beispielsweise kommt <strong>de</strong>r Ausdruck kein einziges Mal<br />

vor. Heute wird er nicht mehr übergangen, und ich kann jetzt<br />

einen ausgewogeneren und <strong>wen</strong>iger missionarischen Standpunkt<br />

einnehmen. Man braucht nicht wirklich die ESS-Sprache<br />

zu benutzen, <strong>wen</strong>n man klar genug <strong>de</strong>nkt. Aber sie ist<br />

eine g<strong>ro</strong>ße Hilfe, <strong>wen</strong>n man klar <strong>de</strong>nken will, beson<strong>de</strong>rs in<br />

jenen Fällen – die in <strong>de</strong>r Praxis überwiegen –, in <strong>de</strong>nen es an<br />

<strong>de</strong>taillierten genetischen Kenntnissen fehlt. Man hört gelegentlich,<br />

die ESS-Mo<strong>de</strong>lle setzten das Vorliegen ungeschlechtlicher<br />

Fortpflanzung voraus. Aber diese Behauptung ist irreführend,<br />

sofern eine ausdrückliche Voraussetzung <strong>de</strong>r ungeschlechtli-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 437<br />

chen – im Gegensatz zur geschlechtlichen – Fortpflanzung<br />

gemeint ist. Die Wahrheit ist eher, daß ESS-Mo<strong>de</strong>lle es nicht<br />

erfor<strong>de</strong>rn, sich in bezug auf die Einzelheiten <strong>de</strong>s genetischen<br />

Systems festzulegen. Statt <strong>de</strong>ssen wird darin unterstellt, daß<br />

Gleiches in irgen<strong>de</strong>inem vagen Sinne Gleiches erzeugt. Für<br />

viele Zwecke ist diese Annahme angemessen. Ja, ihr vager<br />

Charakter kann sogar ein Vorteil sein, da er die Gedanken<br />

auf das Wesentliche konzentriert und von Einzelheiten, etwa<br />

<strong>de</strong>r genetischen Dominanz, ablenkt, die in spezifischen Fällen<br />

gewöhnlich unbekannt sind. Am nützlichsten ist ESS-Denken<br />

in einer negativen Rolle; es hilft uns, theoretische Fehler zu vermei<strong>de</strong>n,<br />

zu <strong>de</strong>nen wir an<strong>de</strong>rnfalls verleitet wer<strong>de</strong>n könnten.<br />

8 Dieser Absatz ist eine akzeptable Zusammenfassung einer<br />

Möglichkeit, die heute wohlbekannte Theorie <strong>de</strong>s unterb<strong>ro</strong>chenen<br />

Gleichgewichts darzustellen. Ich schäme mich zuzugeben,<br />

daß mir, als ich meine Mutmaßung nie<strong>de</strong>rschrieb, wie damals<br />

vielen an<strong>de</strong>ren Biologen in England jene Theorie völlig unbekannt<br />

war, obgleich sie bereits drei Jahre zuvor veröffentlicht<br />

wor<strong>de</strong>n war. Seither bin ich, zum Beispiel in meinem Buch<br />

Der blin<strong>de</strong> Uhrmacher, etwas ärgerlich gewor<strong>de</strong>n – vielleicht zu<br />

ärgerlich – über die Art und Weise, wie die Theorie <strong>de</strong>s unterb<strong>ro</strong>chenen<br />

Gleichgewichts überbewertet wor<strong>de</strong>n ist. Wenn dies<br />

jeman<strong>de</strong>s Gefühle verletzt hat, so bedauere ich das. Er mag<br />

erfreut feststellen, daß zumin<strong>de</strong>st im Jahre 1976 mein Herz für<br />

die richtige Sache schlug.<br />

6. Genverwandtschaft<br />

1 Hamiltons Veröffentlichungen aus <strong>de</strong>m Jahre 1964 wer<strong>de</strong>n<br />

heute nicht mehr übergangen. Die Geschichte ihrer Mißachtung<br />

und anschließen<strong>de</strong>n Anerkennung bil<strong>de</strong>t selbst einen Gegenstand<br />

für eine interessante quantitative Untersuchung, eine<br />

Fallstudie über die Einglie<strong>de</strong>rung eines „Mems“ in <strong>de</strong>n Mempool.<br />

Ich zeichne die Fortschritte dieses Mems in <strong>de</strong>n Nachbemerkungen<br />

zu Kapitel 11 nach.


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 438<br />

2 Die Annahme, daß wir über ein Gen sprechen, das in <strong>de</strong>r<br />

Population insgesamt selten ist, war ein Trick, um die Messung<br />

<strong>de</strong>s Verwandtschaftsgra<strong>de</strong>s leichter erklären zu können.<br />

Eine <strong>de</strong>r wichtigsten Leistungen Hamiltons lag gera<strong>de</strong> darin<br />

zu zeigen, daß seine Schlußfolgerungen ungeachtet <strong>de</strong>ssen eintreten,<br />

ob das betreffen<strong>de</strong> Gen selten o<strong>de</strong>r weit verbreitet ist.<br />

Es zeigt sich, daß dieser Aspekt <strong>de</strong>r Theorie für viele schwer zu<br />

verstehen ist.<br />

Das P<strong>ro</strong>blem <strong>de</strong>r Messung von Verwandtschaftsgra<strong>de</strong>n<br />

bringt viele von uns auf die folgen<strong>de</strong> Weise ins Stolpern. Zwei<br />

beliebige Artgenossen, ob sie <strong>de</strong>rselben Familie angehören<br />

o<strong>de</strong>r nicht, haben gewöhnlich mehr als 90 P<strong>ro</strong>zent ihrer Gene<br />

gemeinsam. Was meinen wir dann, <strong>wen</strong>n wir davon sprechen,<br />

daß <strong>de</strong>r Verwandtschaftsgrad unter Brü<strong>de</strong>rn 1/2 beträgt o<strong>de</strong>r<br />

unter Vettern ersten Gra<strong>de</strong>s 1/8? Die Antwort lautet, daß<br />

Geschwister über die 90 P<strong>ro</strong>zent hinaus (o<strong>de</strong>r wieviel P<strong>ro</strong>zent<br />

es auch immer sind), die alle Individuen in je<strong>de</strong>m Fall teilen,<br />

noch die Hälfte ihrer Gene gemeinsam haben. Es gibt eine<br />

Art Grundverwandtschaft zwischen allen Angehörigen einer<br />

Art, in geringerem Ausmaß sogar zwischen Angehörigen verschie<strong>de</strong>ner<br />

Arten. Altruismus ist unter Individuen zu erwarten,<br />

<strong>de</strong>ren Verwandtschaft enger als die jeweilige Grundverwandtschaft<br />

ist.<br />

In <strong>de</strong>r ersten Auflage umging ich das P<strong>ro</strong>blem, in<strong>de</strong>m ich<br />

<strong>de</strong>n Trick benutzte, über seltene Gene zu sprechen. Dies ist<br />

soweit korrekt, reicht aber nicht aus. Hamilton selbst spricht<br />

von Genen, die „durch Abstammung i<strong>de</strong>ntisch“ sind, doch dies<br />

bringt Schwierigkeiten eigener Art mit sich, wie Alan Grafen<br />

gezeigt hat. An<strong>de</strong>re Wissenschaftler gaben in ihren Schriften<br />

nicht einmal zu, daß hier ein P<strong>ro</strong>blem besteht, und sprachen<br />

einfach von absoluten P<strong>ro</strong>zentsätzen gemeinsamer Gene, was<br />

entschie<strong>de</strong>n und unzweifelhaft ein Fehler ist. Derart gedankenloses<br />

Gere<strong>de</strong> hat in <strong>de</strong>r Tat zu ernsthaften Mißverständnissen<br />

geführt. Beispielsweise argumentierte ein bekannter Anth<strong>ro</strong>pologe<br />

im Verlauf einer 1978 veröffentlichten bitterbösen<br />

Attacke auf die „Soziobiologie“, <strong>wen</strong>n wir Verwandtschaftsselektion<br />

ernst nähmen, müßten wir erwarten, daß alle Men-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 439<br />

schen altruistisch zueinan<strong>de</strong>r sind, da alle Menschen mehr als<br />

99 P<strong>ro</strong>zent ihrer Gene gemeinsam haben. Ich habe in meiner<br />

Veröffentlichung Twelve Misun<strong>de</strong>rstandings of Kin Selection<br />

eine kurze Antwort auf diesen Irrtum gegeben (er entspricht<br />

Mißverständnis Nummer 5). Die an<strong>de</strong>ren elf Mißverständnisse<br />

sind ebenfalls einen Blick wert.<br />

Alan Grafen liefert in seinem Aufsatz Geometric View of Relatedness<br />

die möglicherweise <strong>de</strong>finitive Lösung für das P<strong>ro</strong>blem<br />

<strong>de</strong>r Messung <strong>de</strong>s Verwandtschaftsgra<strong>de</strong>s, die ich hier nicht darzulegen<br />

versuchen wer<strong>de</strong>. Und in einer an<strong>de</strong>ren Arbeit, Natural<br />

Selection, Kin Selection and G<strong>ro</strong>up Selection, klärt Grafen ein<br />

an<strong>de</strong>res weit verbreitetes und wichtiges P<strong>ro</strong>blem, nämlich die<br />

häufig falsche An<strong>wen</strong>dung von Hamiltons Begriff <strong>de</strong>r inclusive<br />

fitness. Er zeigt uns außer<strong>de</strong>m, wie man Kosten und Nutzen für<br />

genetische Verwandte richtig beziehungsweise falsch berechnet.<br />

3 Von <strong>de</strong>r Gürteltierf<strong>ro</strong>nt ist nichts Neues zu berichten, doch<br />

über eine an<strong>de</strong>re Gruppe von „klonbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n“ Tieren, die<br />

Blattläuse, hat man aufsehenerregen<strong>de</strong> neue Fakten herausgefun<strong>de</strong>n.<br />

Es ist seit langem bekannt, daß manche Blattläuse sich<br />

sowohl ungeschlechtlich als auch geschlechtlich fortpflanzen.<br />

Wenn wir zahlreiche Blattläuse auf einer Pflanze sehen, so sind<br />

sie mit relativ g<strong>ro</strong>ßer Wahrscheinlichkeit alle Angehörige eines<br />

i<strong>de</strong>ntischen weiblichen Klons, wohingegen jene auf <strong>de</strong>r danebenstehen<strong>de</strong>n<br />

Pflanze zu einem an<strong>de</strong>ren Klon gehören. Theoretisch<br />

sind diese Bedingungen i<strong>de</strong>al für die Evolution von verwandtschaftsselektiertem<br />

Altruismus. Doch war kein Fall von<br />

Altruismus bei Blattläusen bekannt, bevor Shigeyuki Aoki im<br />

Jahre 1977 bei einer japanischen Blattlausart sterile „Soldaten“<br />

ent<strong>de</strong>ckte – nur ein <strong>wen</strong>ig zu spät, um in die erste Auflage<br />

dieses Buches Eingang zu fin<strong>de</strong>n. Seither hat Aoki das<br />

Phänomen in einer Reihe an<strong>de</strong>rer Arten vorgefun<strong>de</strong>n, und er<br />

besitzt gutes Beweismaterial dafür, daß es <strong>wen</strong>igstens viermal<br />

in unterschiedlichen Blattlausgruppen unabhängig voneinan<strong>de</strong>r<br />

entstan<strong>de</strong>n ist.


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 440<br />

Kurz zusammengefaßt berichtet Aoki das Folgen<strong>de</strong>. Die „Soldaten“<br />

bei Blattläusen sind eine Kaste mit beson<strong>de</strong>ren anatomischen<br />

Merkmalen, gera<strong>de</strong>so wie die Kasten herkömmlicher<br />

sozialer Insekten, etwa <strong>de</strong>r Ameisen. Sie sind Larven, die nicht<br />

vollständig zu Erwachsenen heranreifen, und sie sind daher<br />

steril. We<strong>de</strong>r sehen sie so aus, noch benehmen sie sich wie<br />

die Larven, die ihre Altersgenossen, aber keine Soldaten sind,<br />

obwohl sie mit diesen genetisch i<strong>de</strong>ntisch sind. Soldaten sind<br />

größer als Nichtsoldaten, sie haben beson<strong>de</strong>rs g<strong>ro</strong>ße Vor<strong>de</strong>rbeine,<br />

die sie skorpionähnlich aussehen lassen, und scharfe,<br />

nach vorn gerichtete Fortsätze am Kopf. Sie benutzen diese<br />

Waffen, um eventuelle Räuber zu bekämpfen und zu töten.<br />

Dabei lassen sie häufig ihr Leben, aber selbst <strong>wen</strong>n sie nicht<br />

sterben, kann man sie als genetisch „altruistisch“ bezeichnen,<br />

weil sie steril sind.<br />

Was geschieht hier, <strong>wen</strong>n man es im Hinblick auf <strong>de</strong>n Egoismus<br />

<strong>de</strong>r Gene betrachtet? Aoki erwähnt nicht, was genau<br />

bestimmt, welche Individuen zu sterilen Soldaten wer<strong>de</strong>n und<br />

welche zu normalen fortpflanzungsfähigen Erwachsenen, aber<br />

wir können mit Gewißheit sagen, daß es ein umweltbedingter<br />

Unterschied sein muß, kein genetischer – schließlich sind die<br />

sterilen Soldaten und die normalen Blattläuse auf einer Pflanze<br />

genetisch i<strong>de</strong>ntisch. Doch es muß Gene für die Fähigkeit<br />

geben, von <strong>de</strong>r Umwelt auf einen <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Entwicklungspfa<strong>de</strong><br />

geschaltet zu wer<strong>de</strong>n. Warum hat die natürliche Auslese<br />

diese Gene geför<strong>de</strong>rt, obwohl einige von ihnen in <strong>de</strong>n Körpern<br />

von sterilen Soldaten en<strong>de</strong>n und daher nicht weitergegeben<br />

wer<strong>de</strong>n?<br />

Weil dank <strong>de</strong>r Soldaten Kopien eben dieser Gene in<br />

<strong>de</strong>n Körpern <strong>de</strong>r sich fortpflanzen<strong>de</strong>n Nichtsoldaten gerettet<br />

wor<strong>de</strong>n sind! Das Grundprinzip ist genau dasselbe wie bei<br />

allen sozialen Insekten (siehe Kapitel 10), mit <strong>de</strong>m Unterschied,<br />

daß bei an<strong>de</strong>ren Gruppen, etwa Ameisen o<strong>de</strong>r Termiten, die<br />

Gene in <strong>de</strong>n sterilen „Altruisten“ lediglich eine statistische<br />

Chance haben, Kopien ihrer selbst in nichtsterilen Individuen<br />

zu helfen. Die altruistischen Gene bei Blattläusen erfreuen sich<br />

nicht einer statistischen Wahrscheinlichkeit, son<strong>de</strong>rn haben


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 441<br />

Gewißheit, da Blattlaussoldaten <strong>de</strong>m gleichen Klon angehören<br />

wie ihre sich vermehren<strong>de</strong>n Schwestern, <strong>de</strong>nen sie einen Vorteil<br />

bringen. In mancher Hinsicht veranschaulichen Aokis<br />

Blattläuse im wirklichen Leben überzeugend die Macht von<br />

Hamiltons I<strong>de</strong>en.<br />

Sollten die Blattläuse also in <strong>de</strong>n exklusiven Klub <strong>de</strong>r echten<br />

sozialen Insekten aufgenommen wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r traditionsgemäß<br />

die Bastion von Ameisen, Bienen, Wespen und Termiten ist?<br />

Konservative Entomologen könnten aus mehreren Grün<strong>de</strong>n<br />

gegen sie stimmen. Sie haben zum Beispiel keine langlebige<br />

Königin. Außer<strong>de</strong>m sind die Blattläuse als echter Klon nicht<br />

„sozialer“ als die Zellen in unserem Körper. Es ist ein einziges<br />

Tier, das an <strong>de</strong>r Pflanze saugt. Sein Körper ist ganz einfach<br />

zufällig in einzelne Blattläuse unterteilt, von <strong>de</strong>nen einige eine<br />

spezialisierte Verteidiger<strong>ro</strong>lle spielen, gera<strong>de</strong>so wie die weißen<br />

Blutkörperchen im menschlichen Körper. „Echte“ staatenbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong><br />

Insekten, so lautet das Argument, arbeiten zusammen,<br />

obwohl sie nicht Teil <strong>de</strong>sselben Organismus sind, wohingegen<br />

Aokis Blattläuse kooperieren, gera<strong>de</strong> weil sie zu <strong>de</strong>mselben<br />

„Organismus“ gehören. Ich kann mich über diese semantische<br />

Frage nicht ereifern. Mir scheint, solange wir verstehen, was<br />

bei Ameisen, Blattläusen und menschlichen Zellen vor sich<br />

geht, sollten wir die Freiheit haben, sie nach Belieben sozial<br />

zu nennen o<strong>de</strong>r nicht. Was meine eigene Wortwahl betrifft,<br />

so habe ich Grün<strong>de</strong> dafür, Aokis Blattläuse als sozial leben<strong>de</strong><br />

Organismen und nicht als Teile eines einzigen Organismus zu<br />

bezeichnen. Es gibt grundlegen<strong>de</strong> Eigenschaften eines Organismus,<br />

die eine einzelne Blattlaus besitzt, ein Blattlausklon<br />

aber nicht. Ausführlich behan<strong>de</strong>lt wird dieser Gedankengang<br />

in meinem Buch The Exten<strong>de</strong>d Phenotype, und zwar in <strong>de</strong>m<br />

Kapitel Rediscovering the Organism, sowie in Kapitel 13 <strong>de</strong>s<br />

vorliegen<strong>de</strong>n Buches.<br />

4 Die Verwirrung über <strong>de</strong>n Unterschied zwischen Gruppenselektion<br />

und Familienselektion ist nicht verschwun<strong>de</strong>n. Sie<br />

mag sogar noch zugenommen haben. Ich stehe mit Nachdruck<br />

zu meinen Bemerkungen, habe allerdings selbst durch<br />

eine gedankenlose Wortwahl – die ich nun korrigieren möchte


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 442<br />

– in <strong>de</strong>r ersten Auflage dieses Buches ein Mißverständnis<br />

heraufbeschworen. Ich sagte dort (dies ist eine <strong>de</strong>r <strong>wen</strong>igen<br />

Än<strong>de</strong>rungen, die ich im Text <strong>de</strong>r Neuauflage vorgenommen<br />

habe): „Wir erwarten einfach, daß Vettern zweiten Gra<strong>de</strong>s<br />

gewöhnlich 1/16 <strong>de</strong>s Altruismus zu spüren bekommen wie<br />

Kin<strong>de</strong>r o<strong>de</strong>r sehr nahe Verwandte.“ Wie S. Altmann aufgezeigt<br />

hat, ist dies ganz offensichtlich falsch. Es ist falsch aus einem<br />

Grund, <strong>de</strong>r meine damalige Argumentation nicht berührt.<br />

Wenn ein altruistisches Tier einen Kuchen hat, <strong>de</strong>n es seinen<br />

Verwandten geben will, besteht nicht <strong>de</strong>r geringste Grund,<br />

je<strong>de</strong>m Verwandten eine Scheibe zu geben, wobei die Größe<br />

<strong>de</strong>r Scheiben von <strong>de</strong>r Nähe <strong>de</strong>r Verwandtschaft bestimmt ist.<br />

In <strong>de</strong>r Tat wäre dies absurd, da alle Angehörigen <strong>de</strong>r Art, von<br />

an<strong>de</strong>ren Arten ganz zu schweigen, zumin<strong>de</strong>st entfernte Verwandte<br />

sind, von <strong>de</strong>nen daher je<strong>de</strong>r eine sorgfältig abgemessene<br />

Krume verlangen könnte! Im Gegenteil, <strong>wen</strong>n es in <strong>de</strong>r<br />

Nachbarschaft einen nahen Verwandten gibt, so besteht kein<br />

Grund, einem entfernten Verwandten überhaupt irgen<strong>de</strong>inen<br />

Teil <strong>de</strong>s Kuchens zukommen zu lassen. Abhängig von an<strong>de</strong>ren<br />

Komplikationen, wie <strong>de</strong>m Gesetz vom abnehmen<strong>de</strong>n Ertrag,<br />

sollte <strong>de</strong>r ganze Kuchen <strong>de</strong>m nächsten verfügbaren Verwandten<br />

zukommen. Was ich hatte sagen wollen, war natürlich: „Wir<br />

erwarten einfach, daß die Wahrscheinlichkeit, Altruismus zu<br />

erfahren, für Vettern zweiten Gra<strong>de</strong>s 1/16 so g<strong>ro</strong>ß ist wie für<br />

Kin<strong>de</strong>r o<strong>de</strong>r Geschwister“, und so steht es in dieser Auflage.<br />

5 Ich gab <strong>de</strong>r Hoffnung Ausdruck, daß E. O. Wilson in zukünftigen<br />

Veröffentlichungen seine Definition von Familienselektion<br />

in <strong>de</strong>m Sinne än<strong>de</strong>rn möge, daß sie auch Nachkommen<br />

zu <strong>de</strong>n „Verwandten“ zählt. Ich freue mich, daß in Wilsons<br />

Buch On Human Nature das Anstoß erregen<strong>de</strong> „außer Nachkommen“<br />

tatsächlich nicht mehr vorkommt – ich nehme keinerlei<br />

Verdienst daran für mich in Anspruch! Wilson fährt fort:<br />

„Obwohl Verwandtschaft so <strong>de</strong>finiert ist, daß sie Nachkommen<br />

einschließt, wird <strong>de</strong>r Ausdruck Familienselektion gewöhnlich<br />

nur dann ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>t, <strong>wen</strong>n min<strong>de</strong>stens einige an<strong>de</strong>re Verwandte,<br />

beispielsweise Brü<strong>de</strong>r, Schwestern o<strong>de</strong>r Eltern, eben-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 443<br />

falls bet<strong>ro</strong>ffen sind.“ Dies ist bedauerlicherweise eine korrekte<br />

Feststellung über <strong>de</strong>n gewöhnlichen Gebrauch seitens <strong>de</strong>r Biologen<br />

und spiegelt lediglich die Tatsache wi<strong>de</strong>r, daß vielen Biologen<br />

immer noch ein tieferes Verständnis <strong>de</strong>ssen fehlt, worum<br />

es bei Familienselektion überhaupt geht. Sie glauben immer<br />

noch, daß Familienselektion etwas Beson<strong>de</strong>res ist, das über<br />

<strong>de</strong>r gewöhnlichen „Individualselektion“ steht. Sie ist es nicht.<br />

Familienselektion folgt aus <strong>de</strong>n grundlegen<strong>de</strong>n Annahmen <strong>de</strong>s<br />

Neodarwinismus, wie die Nacht auf <strong>de</strong>n Tag folgt.<br />

6 Der Trugschluß, daß die Theorie <strong>de</strong>r Familienselektion unrealistische<br />

Rechenleistungen von Tieren verlangt, wird ohne<br />

Abschwächung von aufeinan<strong>de</strong>rfolgen<strong>de</strong>n Generationen von<br />

Stu<strong>de</strong>nten wie<strong>de</strong>r zum Leben erweckt. Und nicht nur von<br />

unteren Semestern. Das Buch The Use and Abuse of Biology<br />

<strong>de</strong>s renommierten Sozialanth<strong>ro</strong>pologen Marshall Sahlins wäre<br />

nicht weiter erwähnenswert, <strong>wen</strong>n es nicht als „vernichten<strong>de</strong>r<br />

Angriff“ auf die „Soziobiologie“ bejubelt wor<strong>de</strong>n wäre. Das folgen<strong>de</strong><br />

Zitat, im Zusammenhang mit <strong>de</strong>r Frage, ob Familienselektion<br />

beim Menschen funktionieren könnte, ist fast zu schön,<br />

um wahr zu sein:<br />

Im Vorübergehen muß bemerkt wer<strong>de</strong>n, daß die erkenntnistheoretischen<br />

P<strong>ro</strong>bleme, die sich aus <strong>de</strong>m Mangel<br />

an linguistischen Hilfsmitteln zur Berechnung <strong>de</strong>r Verwandtschaftskoeffizienten<br />

r ergeben, einen schweren<br />

Mangel in <strong>de</strong>r Theorie <strong>de</strong>r Familienselektion darstellen.<br />

Brüche kommen in <strong>de</strong>n Sprachen <strong>de</strong>r Welt sehr selten<br />

vor. Es gibt sie im Indogermanischen und in <strong>de</strong>n archaischen<br />

Zivilisationen <strong>de</strong>s Nahen und <strong>de</strong>s Fernen Ostens,<br />

aber sie fehlen im allgemeinen unter <strong>de</strong>n sogenannten<br />

primitiven Völkern. Jäger und Sammler verfügen<br />

gewöhnlich nicht über Zahlensysteme, die über eins,<br />

zwei und drei hinausgehen. Ich verzichte auf Kommentare<br />

zu <strong>de</strong>m sogar noch größeren P<strong>ro</strong>blem, wie Tiere<br />

herausfin<strong>de</strong>n sollen, daß r [ego, Vettern ersten Gra<strong>de</strong>s]<br />

= 1/8.


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 444<br />

Ich zitiere obige äußerst aufschlußreiche Passage nicht zum<br />

ersten Mal und kann auch meine ziemlich ungnädige Antwort<br />

darauf aus Twelve Misun<strong>de</strong>rstandings of Kin Selection zitieren:<br />

Es ist scha<strong>de</strong>, daß Sahlins <strong>de</strong>r Versuchung erlag, „auf<br />

Kommentare zu <strong>de</strong>m ... P<strong>ro</strong>blem, wie Tiere [r] herausfin<strong>de</strong>n<br />

sollen“, zu verzichten. Gera<strong>de</strong> die Absurdität an<br />

<strong>de</strong>r I<strong>de</strong>e, die er lächerlich zu machen versuchte, hätte<br />

geistige Alarmglocken anschlagen sollen. Ein Schnekkenhaus<br />

ist eine vollkommene logarithmische Spirale,<br />

aber wo bewahrt die Schnecke ihre Logarithmentafeln<br />

auf; ja, wie liest sie diese überhaupt, wo doch <strong>de</strong>r Linse<br />

in ihrem Auge das „linguistische Hilfsmittel“ fehlt, um<br />

<strong>de</strong>n Brechungskoeffizienten m zu berechnen? Wie<br />

„fin<strong>de</strong>n“ grüne Pflanzen die Formel <strong>de</strong>s Chlo<strong>ro</strong>phylls<br />

„heraus“?<br />

Wenn wir über Anatomie, Physiologie o<strong>de</strong>r fast je<strong>de</strong>n Aspekt<br />

<strong>de</strong>r Biologie – nicht nur das Verhalten – genauso dächten wie<br />

Sahlins, so wür<strong>de</strong>n wir exakt auf sein nicht existentes P<strong>ro</strong>blem<br />

stoßen. Die Embryonalentwicklung je<strong>de</strong>s Teiles eines<br />

Tier- o<strong>de</strong>r Pflanzenkörpers erfor<strong>de</strong>rt zu ihrer vollständigen<br />

Beschreibung komplizierte Mathematik, aber dies be<strong>de</strong>utet<br />

nicht, daß das Tier o<strong>de</strong>r die Pflanze selbst ein schlauer Mathematiker<br />

sein muß! Sehr hohe Bäume haben gewöhnlich gewaltige<br />

Stützwurzeln, die wie Flügel aus <strong>de</strong>m Fuß ihrer Stämme<br />

herausragen. Bei je<strong>de</strong>r Art nimmt die relative Größe dieser<br />

Stützen mit <strong>de</strong>r Höhe <strong>de</strong>s Baumes zu. Es ist weithin akzeptiert,<br />

daß Form und Größe <strong>de</strong>r Stützwurzeln <strong>de</strong>m ökonomischen<br />

Optimum zum Aufrechthalten <strong>de</strong>s Baumes nahekommen,<br />

obgleich ein Ingenieur recht komplizierte Berechnungen anstellen<br />

müßte, <strong>wen</strong>n er dies beweisen sollte. Es wür<strong>de</strong> we<strong>de</strong>r Sahlins<br />

noch irgend jemand an<strong>de</strong>rem jemals einfallen, die Theorie,<br />

<strong>de</strong>r die Stützwurzeln Genüge tun, einfach mit <strong>de</strong>m Argument<br />

anzuzweifeln, <strong>de</strong>n Bäumen fehlten die mathematischen Kenntnisse,<br />

um die nötigen Berechnungen durchzuführen. Warum<br />

stellt sich dieses P<strong>ro</strong>blem dann im speziellen Fall <strong>de</strong>s durch


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 445<br />

Familienselektion bestimmten Verhaltens? Der Grund kann<br />

nicht sein, daß es sich um Verhalten han<strong>de</strong>lt und nicht um<br />

Anatomie, <strong>de</strong>nn es gibt eine Fülle an<strong>de</strong>rer Beispiele von Verhalten<br />

(ich meine nicht durch Familienselektion bestimmtes<br />

Verhalten), die Sahlins freudig akzeptieren wür<strong>de</strong>, ohne seinen<br />

„erkenntnistheoretischen“ Einwand vorzubringen; <strong>de</strong>nken wir<br />

etwa an meine eigene Illustration <strong>de</strong>r komplizierten Berechnungen,<br />

die wir in einem gewissen Sinne alle vornehmen<br />

müssen, <strong>wen</strong>n wir einen Ball fangen. Man kommt nicht umhin<br />

zu fragen: Gibt es Sozialwissenschaftler, die mit <strong>de</strong>r Theorie <strong>de</strong>r<br />

natürlichen Auslese im allgemeinen einverstan<strong>de</strong>n sind, aber<br />

aus Grün<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>ren Wurzeln möglicherweise in <strong>de</strong>r Geschichte<br />

ihres Fachgebiets liegen, die aber mit <strong>de</strong>r Sache nichts zu tun<br />

haben, verzweifelt etwas – irgend etwas – zu fin<strong>de</strong>n suchen, das<br />

speziell an <strong>de</strong>r Theorie <strong>de</strong>r Familienselektion falsch ist?<br />

7 Die gesamte Thematik <strong>de</strong>s Erkennens von Verwandten hat<br />

seit <strong>de</strong>r <strong>Zeit</strong>, in <strong>de</strong>r ich dieses Buches schrieb, einen g<strong>ro</strong>ßen<br />

Aufschwung genommen. Tiere, wir Menschen eingeschlossen,<br />

scheinen bemerkenswert gut in <strong>de</strong>r Lage zu sein, Verwandte<br />

von Nicht-Verwandten zu unterschei<strong>de</strong>n, häufig anhand ihres<br />

Geruchs. Ein vor kurzem erschienenes Buch, Kin Recognition<br />

in Animals, liefert eine Zusammenfassung <strong>de</strong>s gegenwärtigen<br />

Wissensstan<strong>de</strong>s. Das Kapitel über Menschen von Pamela Wells<br />

zeigt, daß die obige Feststellung („Wir wissen, wer unsere Verwandten<br />

sind, weil man es uns sagt“) <strong>de</strong>r Ergänzung bedarf: Es<br />

gibt zumin<strong>de</strong>st sekundäre Indizien dafür, daß wir in <strong>de</strong>r Lage<br />

sind, uns verschie<strong>de</strong>ner nonverbaler Anhaltspunkte zu bedienen,<br />

einschließlich <strong>de</strong>s Schweißgeruchs unserer Verwandten.<br />

Das ganze Thema ist für mich in <strong>de</strong>m Zitat<br />

all good kumrads you can tell by their altruistic smell<br />

e. e. cummings<br />

zusammengefaßt, mit <strong>de</strong>m Pamela Wells beginnt: Alle guten<br />

Kamera<strong>de</strong>n kann man an ihrem altruistischen Geruch erkennen.


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 446<br />

Es mag neben <strong>de</strong>m Altruismus noch an<strong>de</strong>re Grün<strong>de</strong> dafür<br />

geben, daß Verwandte einan<strong>de</strong>r erkennen sollten. Ein solcher<br />

Grund könnte sein, daß sie das Gleichgewicht zwischen <strong>de</strong>r<br />

Fortpflanzung außerhalb und innerhalb <strong>de</strong>r Verwandtschaft<br />

wahren wollen, wie wir in <strong>de</strong>r nächsten Nachbemerkung sehen<br />

wer<strong>de</strong>n.<br />

8 Ein letales Gen ist ein Gen, das seinen Träger tötet. Ein<br />

rezessives letales Gen übt, wie je<strong>de</strong>s an<strong>de</strong>re rezessive Gen,<br />

seinen Einfluß nur dann aus, <strong>wen</strong>n es doppelt auftritt. Rezessive<br />

letale Gene halten sich im Genpool, da die meisten Individuen<br />

sie lediglich in einer Kopie besitzen und daher niemals<br />

ihren Einfluß spüren. Je<strong>de</strong>s einzelne letale Gen ist selten, <strong>de</strong>nn<br />

<strong>wen</strong>n es sich jemals weiter verbreitet, trifft es auf Kopien seiner<br />

selbst und tötet seine Träger.<br />

Doch möglicherweise gibt es zahlreiche verschie<strong>de</strong>ne letale<br />

Gene, so daß wir alle von ihnen durchsetzt sind. Die Schätzwerte<br />

darüber, wie viele solcher Gene im menschlichen Genpool<br />

lauern, variieren. In einigen Büchern wird die durchschnittliche<br />

Zahl letaler Gene p<strong>ro</strong> Person mit nicht <strong>wen</strong>iger als zwei<br />

angegeben. Wenn irgen<strong>de</strong>in beliebiger Mann mit irgen<strong>de</strong>iner<br />

beliebigen Frau Kin<strong>de</strong>r zeugt, so ist es wahrscheinlich, daß<br />

seine letalen Gene nicht genau ihren letalen Genen entsprechen<br />

und ihre Kin<strong>de</strong>r keinen Scha<strong>de</strong>n nehmen. Wenn aber ein<br />

Bru<strong>de</strong>r mit seiner Schwester ein Kind zeugt o<strong>de</strong>r ein Vater<br />

mit seiner Tochter, so liegen die Dinge auf unheilvolle Weise<br />

an<strong>de</strong>rs. Selbst <strong>wen</strong>n meine rezessiven letalen Gene wie auch<br />

die meiner Schwester in <strong>de</strong>r Gesamtpopulation äußerst selten<br />

sind, besteht eine beunruhigend g<strong>ro</strong>ße Wahrscheinlichkeit, daß<br />

ihre und meine i<strong>de</strong>ntisch sind. Rein rechnerisch wird für je<strong>de</strong>s<br />

rezessive letale Gen, das ich besitze, eines von acht Kin<strong>de</strong>rn,<br />

die ich mit meiner Schwester zeuge, tot geboren wer<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r<br />

jung sterben. Genetisch gesehen ist Sterben im Jugendalter<br />

übrigens noch „letaler“ als tot geboren wer<strong>de</strong>n: Ein totgeborenes<br />

Kind kostet seine Eltern <strong>wen</strong>iger lebenswichtige <strong>Zeit</strong> und<br />

Energie. Wie auch immer wir es betrachten, Inzucht mit nahen<br />

Verwandten ist nicht nur ein <strong>wen</strong>ig schädlich. Sie ist potenti-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 447<br />

ell katast<strong>ro</strong>phal. Möglicherweise gibt es in <strong>de</strong>r Natur keinen<br />

stärkeren Selektionsdruck als <strong>de</strong>n zugunsten <strong>de</strong>s aktiven Vermei<strong>de</strong>ns<br />

von Inzucht.<br />

Die Anth<strong>ro</strong>pologen, die Einwän<strong>de</strong> gegen die darwinistische<br />

Erklärung <strong>de</strong>r Inzuchtvermeidung erheben, sind sich vielleicht<br />

nicht darüber im klaren, wie stark das Beweismaterial ist,<br />

gegen das sie antreten. Ihre Gegenargumente sind gelegentlich<br />

so schwach, daß sie wie ein verzweifeltes Vorbringen von<br />

Nebenmaterial erscheinen. Sie lauten zum Beispiel häufig:<br />

„Wenn die natürliche Selektion uns wirklich eine instinktive<br />

Abneigung gegen Inzucht eingebaut hätte, brauchten wir diese<br />

nicht zu verbieten. Das Tabu besteht nur, weil die Menschen<br />

inzestuöse Wünsche haben. Daher kann die Ablehnung <strong>de</strong>s<br />

Inzests keine „biologische“ Funktion haben, sie muß rein<br />

„sozial“ sein.“ Dieser Einwand ist mehr o<strong>de</strong>r <strong>wen</strong>iger so, als<br />

wollte man sagen: „Autos brauchen kein Zündschloß, <strong>de</strong>nn sie<br />

haben Schlösser an <strong>de</strong>n Türen. Daher können Zündschlösser<br />

keine Vorrichtungen gegen Diebstahl sein; sie müssen irgen<strong>de</strong>ine<br />

rein rituelle Be<strong>de</strong>utung haben!“ Anth<strong>ro</strong>pologen betonen<br />

auch gern, daß verschie<strong>de</strong>ne Kulturen verschie<strong>de</strong>ne Tabus, ja<br />

sogar verschie<strong>de</strong>ne Definitionen <strong>de</strong>r Verwandtschaft haben. Sie<br />

scheinen zu glauben, auch dies unterminiere die Bemühungen,<br />

die Inzestvermeidung darwinistisch zu erklären. Aber man<br />

könnte genausogut sagen, <strong>de</strong>r Sexualtrieb könne keine Anpassung<br />

im Darwinschen Sinne sein, weil verschie<strong>de</strong>ne Kulturen<br />

bei <strong>de</strong>r Kopulation unterschiedliche Positionen bevorzugen. Es<br />

erscheint mir höchst plausibel, daß das Vermei<strong>de</strong>n von Inzucht<br />

beim Menschen, nicht <strong>wen</strong>iger als bei an<strong>de</strong>ren Tieren, die Konsequenz<br />

einer starken natürlichen Auslese ist.<br />

Nicht nur die Paarung mit <strong>de</strong>nen, die uns genetisch zu nahe<br />

stehen, ist ungünstig. Auch die Vereinigung von Partnern sehr<br />

unterschiedlicher Herkunft kann – wegen eventueller genetischer<br />

Unverträglichkeit – Nachteile mit sich bringen. Wo genau<br />

<strong>de</strong>r i<strong>de</strong>ale Mittelweg liegt, ist nicht leicht vorherzusagen. Sollte<br />

man sich mit einem Vetter ersten Gra<strong>de</strong>s paaren? Mit einem<br />

Vetter zweiten o<strong>de</strong>r dritten Gra<strong>de</strong>s? Patrick Bateson hat versucht,<br />

Japanwachteln zu fragen, wo ihre Präferenzen liegen. In


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 448<br />

einer Versuchsanordnung namens Amsterdam-Apparat konnten<br />

die Vögel unter Angehörigen <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren Geschlechts<br />

wählen, die hinter Miniaturschaufenstern ausgestellt waren.<br />

Sie zogen Vettern ersten Gra<strong>de</strong>s sowohl Geschwistern als auch<br />

nicht verwandten Vögeln vor. Weitere Experimente ließen<br />

darauf schließen, daß junge Wachteln sich die Merkmale ihrer<br />

Nestgefährten einprägen und in ihrem späteren Leben dazu<br />

neigen, Geschlechtspartner zu wählen, die diesen ähnlich, aber<br />

nicht zu ähnlich sind.<br />

Die Wachteln scheinen Inzucht also dadurch zu vermei<strong>de</strong>n,<br />

daß sie diejenigen, mit <strong>de</strong>nen sie aufgewachsen sind, von sich<br />

aus nicht begehren. An<strong>de</strong>re Tiere befolgen statt <strong>de</strong>ssen soziale<br />

Gesetze, von <strong>de</strong>r Gruppe durchgesetzte Regeln, die <strong>de</strong>r<br />

Verteilung <strong>de</strong>r Art im Lebensraum dienen. Heranwachsen<strong>de</strong><br />

männliche Lö<strong>wen</strong> zum Beispiel wer<strong>de</strong>n aus <strong>de</strong>m elterlichen<br />

Ru<strong>de</strong>l vertrieben, wo ihre weiblichen Verwandten bleiben und<br />

sie in Versuchung führen wür<strong>de</strong>n. Sie pflanzen sich nur fort,<br />

<strong>wen</strong>n es ihnen gelingt, die Herrschaft über ein an<strong>de</strong>res Ru<strong>de</strong>l<br />

zu e<strong>ro</strong>bern. In Schimpansen- und Gorillagesellschaften sind es<br />

gewöhnlich die jungen Weibchen, die sich entfernen, um Partner<br />

in an<strong>de</strong>ren Gruppen zu suchen. Bei<strong>de</strong> Mechanismen <strong>de</strong>r<br />

Ausbreitung, ebenso wie das System <strong>de</strong>r Wachteln, fin<strong>de</strong>t man<br />

auch in Kulturen unserer eigenen Art.<br />

9 Dies trifft wahrscheinlich auf die meisten Vogelarten zu. Dennoch<br />

sollten wir nicht erstaunt sein, <strong>wen</strong>n wir herausfin<strong>de</strong>n,<br />

daß einige Vögel in <strong>de</strong>n Nestern ihrer eigenen Art als Parasiten<br />

auftreten. Und in <strong>de</strong>r Tat wird dieses Phänomen bei immer<br />

mehr Arten ent<strong>de</strong>ckt, vor allem seit man neue molekularbiologische<br />

Techniken benutzt, um festzustellen, wer mit wem verwandt<br />

ist. Die Theorie <strong>de</strong>s Genegoismus könnte sogar erwarten<br />

lassen, daß innerartlicher Brutparasitismus noch verbreiteter<br />

ist, als wir bis heute wissen.<br />

10 Das Gewicht, das Bertram auf die Familienselektion als<br />

Hauptmotor für die Zusammenarbeit unter Lö<strong>wen</strong> legt, ist von<br />

C. Packer und A. Pusey in Frage gestellt wor<strong>de</strong>n. Sie behaup-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 449<br />

ten, daß in vielen Ru<strong>de</strong>ln die bei<strong>de</strong>n Lö<strong>wen</strong>männchen nicht<br />

miteinan<strong>de</strong>r verwandt sind. Packer und Pusey vertreten die<br />

These, wechselseitiger Altruismus sei als Erklärung für die<br />

Zusammenarbeit unter Lö<strong>wen</strong> min<strong>de</strong>stens ebenso wahrscheinlich<br />

wie die Familienselektion. Wahrscheinlich haben bei<strong>de</strong><br />

Seiten recht. In Kapitel 12 betone ich, daß Han<strong>de</strong>ln auf Gegenseitigkeit<br />

(„Wie du mir, so ich dir“) nur dann durch Evolution<br />

entstehen kann, <strong>wen</strong>n anfänglich eine kritische Min<strong>de</strong>stzahl<br />

von Individuen mit entsprechen<strong>de</strong>m Verhalten vorhan<strong>de</strong>n ist.<br />

Dadurch wird eine vernünftige Chance sichergestellt, daß ein<br />

möglicher Partner ein „Erwi<strong>de</strong>rer“ ist. In diesem Zusammenhang<br />

mag Verwandtschaft eine entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Rolle spielen.<br />

Verwandte sind einan<strong>de</strong>r von Natur aus ähnlich, so daß die kritische<br />

Häufigkeit innerhalb einer Familie gegeben sein kann,<br />

selbst <strong>wen</strong>n sie in <strong>de</strong>r Population als Ganzes nicht erreicht wird.<br />

Vielleicht begann die Zusammenarbeit unter Lö<strong>wen</strong> durch die<br />

Familieneffekte, wie Bertram sie anführt, und dies schuf die<br />

erfor<strong>de</strong>rlichen Voraussetzungen zur selektiven Begünstigung<br />

<strong>de</strong>r Rezip<strong>ro</strong>zität. Die Auseinan<strong>de</strong>rsetzung in bezug auf die<br />

Lö<strong>wen</strong> kann nur anhand von Fakten beigelegt wer<strong>de</strong>n, und<br />

Fakten sagen uns stets nur etwas über <strong>de</strong>n speziellen Fall,<br />

nicht über die allgemeine theoretische Behauptung.<br />

11 Es ist jetzt weithin verstan<strong>de</strong>n, daß ein eineiiger Zwilling<br />

theoretisch ebenso wertvoll für mich ist, wie ich es selbst bin<br />

– solange <strong>de</strong>r Zwilling wirklich garantiert eineiig ist. Nicht so<br />

weithin verstan<strong>de</strong>n ist die Tatsache, daß das gleiche auch auf<br />

eine garantiert monogame Mutter zutrifft. Wenn ein Individuum<br />

mit Sicherheit weiß, daß seine Mutter weiterhin – und<br />

ausschließlich – die Kin<strong>de</strong>r seines Vaters gebären wird, so ist<br />

die Mutter für dieses Individuum genetisch ebenso wertvoll<br />

wie ein eineiiger Zwilling o<strong>de</strong>r wie das Individuum selbst. Stellen<br />

wir uns vor, jemand sei eine Nachkommen p<strong>ro</strong>duzieren<strong>de</strong><br />

Maschine. Dann ist seine monogame Mutter eine Maschine,<br />

die leibliche Geschwister p<strong>ro</strong>duziert, und Vollgeschwister sind<br />

genetisch ebenso wertvoll wie eigene Nachkommen. Natürlich<br />

lassen wir hier alle möglichen praktischen Überlegungen außer


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 450<br />

acht. Beispielsweise ist die Mutter eines Individuums älter<br />

als dieses Individuum, obgleich die Frage, ob dies sie für die<br />

zukünftige Rep<strong>ro</strong>duktion besser o<strong>de</strong>r schlechter geeignet sein<br />

läßt als das Individuum selbst, von <strong>de</strong>n beson<strong>de</strong>ren Umstän<strong>de</strong>n<br />

abhängt – eine allgemeingültige Regel gibt es dafür nicht.<br />

Die obige Argumentation geht von <strong>de</strong>r Annahme aus, daß<br />

die Mutter <strong>de</strong>s Individuums mit absoluter Sicherheit weiterhin<br />

Kin<strong>de</strong>r seines Vaters, aber keine Kin<strong>de</strong>r von an<strong>de</strong>ren<br />

männlichen Partnern erzeugt. Das Ausmaß, in <strong>de</strong>m man sich<br />

darauf verlassen kann, ist von <strong>de</strong>m Paarungssystem <strong>de</strong>r Art<br />

abhängig. Wenn das Individuum einer Art angehört, in <strong>de</strong>r<br />

P<strong>ro</strong>miskuität die Regel ist, kann es nicht damit rechnen, daß<br />

die Nachkommen seiner Mutter seine Vollgeschwister sind.<br />

Sogar unter i<strong>de</strong>alen monogamen Verhältnissen gibt es einen<br />

scheinbar unwi<strong>de</strong>rlegbaren Grund dafür, daß es für das Individuum<br />

<strong>wen</strong>iger sicher ist, auf seine Mutter zu setzen als auf sich<br />

selbst: Sein Vater kann sterben. Wenn <strong>de</strong>r Vater <strong>de</strong>s Individuums<br />

tot ist, kann es von seiner Mutter beim besten Willen kaum<br />

erwarten, daß sie weiterhin <strong>de</strong>ssen Kin<strong>de</strong>r zur Welt bringt,<br />

o<strong>de</strong>r etwa doch?<br />

Nun, tatsächlich kann es das doch. Die Umstän<strong>de</strong>, unter<br />

<strong>de</strong>nen dies möglich ist, sind aus offensichtlichen Grün<strong>de</strong>n von<br />

g<strong>ro</strong>ßem Interesse für die Theorie <strong>de</strong>r Familienselektion. Als<br />

Säugetiere sind wir an die Vorstellung gewöhnt, daß die Geburt<br />

nach einem feststehen<strong>de</strong>n und relativ kurzen <strong>Zeit</strong>intervall auf<br />

die Kopulation folgt. Bei uns Menschen kann ein Mann nur<br />

dann posthum <strong>de</strong>r Vater eines Kin<strong>de</strong>s wer<strong>de</strong>n, <strong>wen</strong>n er nicht<br />

länger als neun Monate tot ist (es sei <strong>de</strong>nn, seine Spermien<br />

wur<strong>de</strong>n in einer Samenbank tiefgef<strong>ro</strong>ren). Es gibt jedoch mehrere<br />

Insektengruppen, bei <strong>de</strong>nen das Weibchen Sperma im<br />

Innern seines Körpers aufbewahrt, das für sein ganzes Leben<br />

reicht und das es im Laufe <strong>de</strong>r Jahre auf seine Eier verteilt, um<br />

sie zu besamen, oft lange nach <strong>de</strong>m Tod seines Partners. Ein<br />

Individuum einer Art, die diese Eigenart besitzt, kann potentiell<br />

wirklich sehr sicher sein, daß es – genetisch gesehen – weiterhin<br />

auf seine Mutter setzen kann. Eine weibliche Ameise<br />

paart sich nur auf einem einzigen Hochzeitsflug zu Beginn


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 451<br />

ihres Erwachsenenlebens. Dann verliert sie ihre Flügel und<br />

paart sich nie wie<strong>de</strong>r. Zugegeben, bei vielen Ameisenarten<br />

kopuliert das Weibchen auf seinem Hochzeitsflug mit mehreren<br />

Männchen. Wenn das Individuum aber einer jener Arten<br />

angehört, <strong>de</strong>ren Weibchen stets monogam sind, so kann es in<br />

genetischer Hinsicht min<strong>de</strong>stens ebenso sicher auf seine Mutter<br />

setzen wie auf sich selbst. Der entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Unterschied zwischen<br />

einer jungen Ameise und einem jungen Säugetier ist,<br />

daß es für die Ameise keine Be<strong>de</strong>utung hat, ob ihr Vater tot<br />

ist o<strong>de</strong>r nicht. (Höchstwahrscheinlich ist er tatsächlich tot!) Sie<br />

kann ziemlich sicher sein, daß das Sperma ihres Vaters diesen<br />

überlebt und daß ihre Mutter weiterhin Vollgeschwister von<br />

ihr selbst p<strong>ro</strong>duzieren kann.<br />

Wenn wir an <strong>de</strong>n evolutionären Ursprüngen von Geschwisterfürsorge<br />

und Phänomenen wie <strong>de</strong>n Insektensoldaten interessiert<br />

sind, sollten wir also mit beson<strong>de</strong>rer Aufmerksamkeit<br />

jene Arten betrachten, <strong>de</strong>ren Weibchen ihr Leben lang Sperma<br />

speichern. Im Fall von Ameisen, Bienen und Wespen besteht,<br />

wie in Kapitel 10 erörtert wird, eine genetische Beson<strong>de</strong>rheit –<br />

Haplodiploidie –, die diese Arten möglicherweise prädisponiert<br />

hat, eine ausgeprägte soziale Organisation zu entwickeln.<br />

Ich behaupte aber, daß die Haplodiploidie nicht <strong>de</strong>r einzige<br />

prädisponieren<strong>de</strong> Faktor ist. Die Eigenart <strong>de</strong>s lebenslangen<br />

Spermaspeicherns ist möglicherweise min<strong>de</strong>stens ebenso wichtig<br />

gewesen. Durch sie kann eine Mutter unter i<strong>de</strong>alen Bedingungen<br />

genetisch ebenso wertvoll und ebenso <strong>de</strong>r „altruistischen“<br />

Hilfe wert sein wie ein eineiiger Zwilling.<br />

12 Diese Bemerkung läßt mich heute vor Scham erröten. Wie<br />

ich inzwischen weiß, haben die Sozialanth<strong>ro</strong>pologen nicht nur<br />

etwas über <strong>de</strong>n „Onkel-Effekt“ zu sagen: Viele von ihnen haben<br />

seit Jahren über kaum etwas an<strong>de</strong>res gesp<strong>ro</strong>chen! Der Effekt,<br />

<strong>de</strong>n ich „vorhersagte“, ist in zahlreichen Kulturen eine empirisch<br />

belegte Tatsache, die <strong>de</strong>n Anth<strong>ro</strong>pologen seit Jahrzehnten<br />

gut bekannt ist. Als ich die spezifische These vortrug, daß<br />

„in einer Gesellschaft mit einem hohen Grad an mütterlicher<br />

Untreue Onkel mütterlicherseits selbstloser sein [sollten] als


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 452<br />

›Väter‹, da sie mehr Veranlassung zu <strong>de</strong>r Überzeugung haben,<br />

mit <strong>de</strong>m Kind verwandt zu sein“, übersah ich außer<strong>de</strong>m lei<strong>de</strong>r<br />

die Tatsache, daß Richard Alexan<strong>de</strong>r bereits <strong>de</strong>nselben Vorschlag<br />

gemacht hatte (in späteren Nachdrucken <strong>de</strong>r ersten<br />

Auflage dieses Buches wird darauf in einer Fußnote hingewiesen).<br />

Die Hypothese wur<strong>de</strong> von Alexan<strong>de</strong>r selbst und an<strong>de</strong>ren<br />

getestet, wobei man quantitative Ergebnisse aus <strong>de</strong>r anth<strong>ro</strong>pologischen<br />

Literatur verwandte – mit positivem Resultat.<br />

7. Familienplanung<br />

1 Wynne-Edwards wird im allgemeinen freundlicher behan<strong>de</strong>lt,<br />

als es bei aka<strong>de</strong>mischen Häretikern oft <strong>de</strong>r Fall ist. Zwar<br />

hatte er ohne je<strong>de</strong>n Zweifel unrecht, doch hält man ihm weithin<br />

zugute (obwohl meiner persönlichen Meinung nach an diesem<br />

Punkt ziemlich übertrieben wird), daß er die Leute dadurch zu<br />

einem schärferen Nach<strong>de</strong>nken über die Selektion gezwungen<br />

hat. Er selbst brachte 1978 einen g<strong>ro</strong>ßmütigen Wi<strong>de</strong>rruf vor, als<br />

er schrieb:<br />

Gegenwärtig herrscht unter <strong>de</strong>n theoretischen Biologen<br />

allgemeiner Konsens darüber, daß keine glaubwürdigen<br />

Mo<strong>de</strong>lle aufgestellt wer<strong>de</strong>n können, wie <strong>de</strong>r<br />

langsame Marsch <strong>de</strong>r Gruppenauslese die viel raschere<br />

Verbreitung von egoistischen Genen, die Gewinne an<br />

individueller Fitneß bringen, überholen könnte. Ich<br />

akzeptiere daher ihre Ansicht.<br />

So g<strong>ro</strong>ßmütig das Über<strong>de</strong>nken seiner Theorie auch gewesen<br />

sein mag, er hat es lei<strong>de</strong>r nochmals überdacht: Sein jüngstes<br />

Buch wi<strong>de</strong>rruft <strong>de</strong>n Wi<strong>de</strong>rruf.<br />

Die Gruppenselektion, wie wir alle sie seit langem verstehen,<br />

ist unter Biologen heute sogar noch stärker in Ungna<strong>de</strong><br />

gefallen als zu <strong>de</strong>r <strong>Zeit</strong>, als meine erste Auflage veröffentlicht<br />

wur<strong>de</strong>. Allerdings könnte ich <strong>de</strong>m Leser verzeihen, <strong>wen</strong>n er<br />

das Gegenteil vermutet: Es ist – beson<strong>de</strong>rs in Amerika – eine


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 453<br />

Generation herangewachsen, die mit <strong>de</strong>m Wort „Gruppenselektion“<br />

wie mit Konfetti um sich wirft. Sie streut es über<br />

alle möglichen Arten von Fällen aus, die zuvor ein<strong>de</strong>utig und<br />

p<strong>ro</strong>blemlos als etwas an<strong>de</strong>res aufgefaßt wur<strong>de</strong>n (und von uns<br />

an<strong>de</strong>ren immer noch so aufgefaßt wer<strong>de</strong>n), etwa als Familienselektion.<br />

Ich nehme an, es ist zwecklos, über solche semantischen<br />

Parvenus allzu ärgerlich zu wer<strong>de</strong>n. Nichts<strong>de</strong>sto<strong>wen</strong>iger:<br />

Die ganze Frage <strong>de</strong>r Gruppenselektion war vor einem<br />

Jahrzehnt von John Maynard Smith und an<strong>de</strong>ren sehr zufrie<strong>de</strong>nstellend<br />

beigelegt wor<strong>de</strong>n, und es ist irritierend festzustellen,<br />

daß wir jetzt in zwei Generationen und auch in zwei Nationen<br />

aufgespalten sind, die nur durch eine gemeinsame Sprache<br />

getrennt sind. Es ist beson<strong>de</strong>rs unglücklich, daß Philosophen,<br />

die jetzt verspätet das Feld betreten, gleich zu Beginn von<br />

dieser jüngsten Laune <strong>de</strong>r Terminologie verwirrt wer<strong>de</strong>n. Ich<br />

empfehle Alan Grafens Essay Natural Selection, Kin Selection<br />

and G<strong>ro</strong>up Selection als ein gedanklich klares und, wie ich hoffe,<br />

nunmehr <strong>de</strong>finitives Ausräumen <strong>de</strong>s Neo-Gruppenselektionsp<strong>ro</strong>blems.<br />

8. Der Krieg <strong>de</strong>r Generationen<br />

1 Robert Trivers, <strong>de</strong>ssen Veröffentlichungen in <strong>de</strong>n frühen<br />

siebziger Jahren zu meinen wichtigsten Inspirationen beim<br />

Verfassen <strong>de</strong>r ersten Auflage dieses Buches gehörten und von<br />

<strong>de</strong>ssen Gedanken vor allem Kapitel 8 geprägt ist, hat endlich<br />

sein eigenes Buch, Social Evolution, geschrieben. Ich empfehle<br />

es nicht nur um seines Inhalts willen, son<strong>de</strong>rn auch wegen<br />

seines Stils: gedanklich klar, wissenschaftlich korrekt, aber mit<br />

gera<strong>de</strong> genug Anth<strong>ro</strong>pomorphismen, um Wichtigtuer auf <strong>de</strong>n<br />

Arm zu nehmen, und gewürzt mit persönlichen, autobiographischen<br />

Nebenbemerkungen. Ich kann nicht umhin, eine dieser<br />

letzteren zu zitieren – sie ist einfach zu charakteristisch. Trivers<br />

beschreibt seine Erregung beim Beobachten <strong>de</strong>r Beziehung<br />

zwischen zwei rivalisieren<strong>de</strong>n Pavianmännchen in Kenia:<br />

„Es gab noch einen an<strong>de</strong>ren Grund für meine Aufregung, und<br />

das war eine unbewußte I<strong>de</strong>ntifikation mit Arthur. Arthur war


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 454<br />

ein g<strong>ro</strong>ßartiger Bursche in <strong>de</strong>r Blüte seiner Jahre ...“ Trivers’<br />

neues Kapitel über <strong>de</strong>n Konflikt zwischen Eltern und ihren<br />

Jungen bringt das Thema auf <strong>de</strong>n neuesten Stand. Viel ist<br />

seiner Arbeit aus <strong>de</strong>m Jahre 1974 nicht hinzuzufügen, abgesehen<br />

von einigen neuen faktischen Beispielen. Die Theorie hat<br />

<strong>de</strong>n Test <strong>de</strong>r <strong>Zeit</strong> bestan<strong>de</strong>n. Mehr ins Detail gehen<strong>de</strong> mathematische<br />

und genetische Mo<strong>de</strong>lle haben bestätigt, daß Trivers’<br />

größtenteils verbale Beweisführung in <strong>de</strong>r Tat aus <strong>de</strong>r<br />

gegenwärtig akzeptierten Darwinschen Theorie folgt.<br />

2 Alexan<strong>de</strong>r hat, in seinem 1980 veröffentlichten Buch Darwinism<br />

and Human Affairs (Seite 39), g<strong>ro</strong>ßzügig zugegeben,<br />

daß er unrecht hatte, als er behauptete, <strong>de</strong>r Sieg <strong>de</strong>r Eltern in<br />

<strong>de</strong>m Konflikt zwischen Eltern und ihren Jungen folge unausweichlich<br />

aus grundlegen<strong>de</strong>n darwinistischen Annahmen. Es<br />

kommt mir jetzt so vor, als könne seine These, daß die Eltern<br />

im Kampf <strong>de</strong>r Generationen einen asymmetrischen Vorteil<br />

gegenüber ihren Jungen genießen, durch ein Argument an<strong>de</strong>rer<br />

Art gestützt wer<strong>de</strong>n, mit <strong>de</strong>m mich Eric Charnov bekannt<br />

machte.<br />

Charnov schrieb über staatenbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Insekten und die<br />

Ursprünge unfruchtbarer Kasten, aber sein Argument hat<br />

eine allgemeinere Gültigkeit, und ich wer<strong>de</strong> es in allgemeiner<br />

Form ausdrücken. Stellen wir uns ein junges Weibchen einer<br />

monogamen Art – nicht not<strong>wen</strong>digerweise ein Insekt – auf<br />

<strong>de</strong>r Schwelle zum Erwachsenenleben vor. Es steht vor <strong>de</strong>m<br />

Dilemma, ob es das Nest verlassen und versuchen soll, sich auf<br />

sich allein gestellt zu rep<strong>ro</strong>duzieren, o<strong>de</strong>r ob es im elterlichen<br />

Nest bleiben und bei <strong>de</strong>r Aufzucht seiner jüngeren Brü<strong>de</strong>r und<br />

Schwestern mithelfen soll. Auf Grund <strong>de</strong>r Fortpflanzungsgewohnheiten<br />

seiner Art kann es darauf vertrauen, daß seine<br />

Mutter ihm noch für eine lange <strong>Zeit</strong> weiterhin Brü<strong>de</strong>r und<br />

Schwestern schenken wird. Nach Hamiltons Logik sind diese<br />

Geschwister für das Weibchen genetisch ebenso „wertvoll“,<br />

wie seine eigenen Nachkommen dies wären. Soweit es um<br />

<strong>de</strong>n genetischen Verwandtschaftsgrad geht, sind die bei<strong>de</strong>n<br />

Handlungsmöglichkeiten für das junge Weibchen gleich; ob es


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 455<br />

geht o<strong>de</strong>r bleibt, macht für es selbst keinen Unterschied. Aber<br />

für seine Eltern ist es alles an<strong>de</strong>re als gleichgültig, was es tut.<br />

Vom Standpunkt seiner alten Mutter aus gesehen, geht es um<br />

die Entscheidung zwischen Enkeln und Kin<strong>de</strong>rn. Neue Kin<strong>de</strong>r<br />

sind, genetisch gesehen, doppelt so wertvoll wie neue Enkel.<br />

Wenn wir im Zusammenhang mit <strong>de</strong>r Frage, ob die Nachkommen<br />

das Nest verlassen o<strong>de</strong>r bleiben und im Nest mithelfen,<br />

von einem Konflikt zwischen Eltern und Nachkommen sprechen,<br />

han<strong>de</strong>lt es sich nach Charnovs Ansicht um einen Konflikt,<br />

<strong>de</strong>n die Eltern leicht für sich entschei<strong>de</strong>n können, und<br />

zwar aus <strong>de</strong>m sehr guten Grund, daß nur sie ihn überhaupt als<br />

Konflikt sehen!<br />

Es ist ein bißchen wie ein Wettlauf zwischen zwei Athleten,<br />

bei <strong>de</strong>m man <strong>de</strong>m einen 1000 Mark für <strong>de</strong>n Fall seines Sieges<br />

versp<strong>ro</strong>chen hat, seinem Gegner hingegen die gleiche Summe<br />

unabhängig davon, ob er gewinnt o<strong>de</strong>r verliert. In einem solchen<br />

Fall wür<strong>de</strong> man erwarten, daß <strong>de</strong>r erste Läufer sich mehr<br />

anstrengt und daß er, <strong>wen</strong>n die zwei sonst gleich gut sind, wahrscheinlich<br />

gewinnen wird. Tatsächlich ist Charnovs Argument<br />

stärker, als dieser Vergleich erkennen läßt, weil die Kosten <strong>de</strong>s<br />

Schnellaufens nicht so hoch sind, daß sie viele Leute abschrekken,<br />

ob sie nun eine finanzielle Belohnung dafür erhalten o<strong>de</strong>r<br />

nicht. Solche olympischen I<strong>de</strong>ale sind ein zu g<strong>ro</strong>ßer Luxus für<br />

die darwinistischen Spiele: Anstrengung in eine Richtung wird<br />

immer in Form von verlorener Anstrengung in eine an<strong>de</strong>re<br />

Richtung bezahlt. Es ist so, als ob die Wahrscheinlichkeit,<br />

zukünftige Rennen zu gewinnen, infolge von Erschöpfung um<br />

so weiter abnimmt, je mehr Anstrengung man in irgen<strong>de</strong>in<br />

beliebiges Wettrennen steckt.<br />

Die Bedingungen wer<strong>de</strong>n von Art zu Art verschie<strong>de</strong>n sein,<br />

so daß wir nicht immer die Resultate darwinistischer Spiele<br />

vorhersagen können. Wenn wir aber nur die Nähe <strong>de</strong>r genetischen<br />

Verwandtschaft in Betracht ziehen und ein monogames<br />

Begattungssystem zugrun<strong>de</strong> legen (bei <strong>de</strong>m die Tochter<br />

sicher sein kann, daß ihre Geschwister Vollgeschwister sind),<br />

können wir erwarten, daß eine alte Mutter ihre junge erwachsene<br />

Tochter mit Erfolg dazu bringen kann, zu bleiben und


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 456<br />

mitzuhelfen. Die Mutter hat alles zu gewinnen, während die<br />

Tochter keinen Anreiz haben wird, <strong>de</strong>n Überzeugungskünsten<br />

ihrer Mutter zu wi<strong>de</strong>rstehen, weil sie genetisch <strong>de</strong>n möglichen<br />

Alternativen gegenüber indifferent ist.<br />

Wie<strong>de</strong>r einmal ist es wichtig zu betonen, daß dies ein „Unter<br />

sonst gleichen Voraussetzungen“-Argument ist. Obwohl die<br />

übrigen Voraussetzungen gewöhnlich nicht gleich sein wer<strong>de</strong>n,<br />

könnte Charnovs Beweisführung für Alexan<strong>de</strong>r o<strong>de</strong>r jemand<br />

an<strong>de</strong>ren nützlich sein, <strong>de</strong>r eine Theorie <strong>de</strong>r elterlichen Manipulation<br />

vertritt. Auf je<strong>de</strong>n Fall sind Alexan<strong>de</strong>rs praktische<br />

Argumente zugunsten eines zu erwarten<strong>de</strong>n elterlichen Sieges<br />

– Eltern sind größer, stärker und so weiter – stichhaltig.<br />

9. Der Krieg <strong>de</strong>r Geschlechter<br />

1 Wie so oft verbirgt auch dieser Eingangssatz ein implizites<br />

„unter sonst gleichen Voraussetzungen“. Selbstverständlich<br />

haben Partner eine ganze Menge zu gewinnen, <strong>wen</strong>n sie zusammenarbeiten.<br />

Dies wird das ganze Kapitel hindurch immer<br />

wie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>utlich. Denn schließlich ist es wahrscheinlich, daß<br />

Gatten miteinan<strong>de</strong>r ein Nichtnullsummenspiel spielen, das<br />

heißt ein Spiel, bei <strong>de</strong>m bei<strong>de</strong> ihre Gewinne durch Zusammenarbeit<br />

vergrößern können und nicht <strong>de</strong>r Gewinn <strong>de</strong>s einen<br />

zwangsläufig <strong>de</strong>r Verlust <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren ist. (Ich wer<strong>de</strong> diesen<br />

Gedanken in Kapitel 12 erklären.) Dies ist eine <strong>de</strong>r Stellen im<br />

Buch, an <strong>de</strong>nen mein Ton zu weit in Richtung <strong>de</strong>r zynischen,<br />

egoistischen Sichtweise <strong>de</strong>s Lebens ausgeschlagen ist. Zu jener<br />

<strong>Zeit</strong> schien das not<strong>wen</strong>dig, da die damals vorherrschen<strong>de</strong> Sicht<br />

<strong>de</strong>r Paarbildung im Tierreich allzuweit in die entgegengesetzte<br />

Richtung ging. Nahezu überall ging man völlig unkritisch davon<br />

aus, daß Partner unverän<strong>de</strong>rlich miteinan<strong>de</strong>r kooperieren. Die<br />

Möglichkeit <strong>de</strong>r Ausbeutung wur<strong>de</strong> nicht einmal in Betracht<br />

gezogen. In diesem historischen Zusammenhang ist <strong>de</strong>r offensichtliche<br />

Zynismus meines Eingangssatzes verständlich, doch<br />

heute wür<strong>de</strong> ich einen mil<strong>de</strong>ren Ton anschlagen. In ähnlicher<br />

Weise erscheinen mir heute meine Bemerkungen über die


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 457<br />

menschlichen Geschlechter<strong>ro</strong>llen naiv in ihrer Ausdrucksweise.<br />

Zwei Bücher, die sich ausführlicher mit <strong>de</strong>r Evolution<br />

<strong>de</strong>r menschlichen Geschlechtsunterschie<strong>de</strong> befassen, sind Sex,<br />

Evolution and Behavior von Martin Daly und Margo Wilson<br />

sowie Donald Symons’ The Evolution of Human Sexuality.<br />

2 Es scheint heute irreführend, <strong>de</strong>n Größenunterschied zwischen<br />

Spermien und Eizellen als Grundlage <strong>de</strong>r Geschlechter<strong>ro</strong>llen<br />

zu betonen. Selbst <strong>wen</strong>n ein einzelnes Spermium<br />

klein und billig ist, ist es alles an<strong>de</strong>re als billig, Millionen von<br />

Spermien zu p<strong>ro</strong>duzieren und gegen all die Konkurrenz in<br />

ein Weibchen hineinzupraktizieren. Heute ziehe ich es vor, die<br />

grundlegen<strong>de</strong> Asymmetrie zwischen Männchen und Weibchen<br />

folgen<strong>de</strong>rmaßen zu erklären: Nehmen wir an, wir beginnen<br />

mit zwei Geschlechtern, die keine <strong>de</strong>r beson<strong>de</strong>ren Attribute<br />

von Männchen und Weibchen besitzen. Geben wir ihnen die<br />

neutralen Namen A und B. Wir brauchen lediglich festzulegen,<br />

daß alle Paarungen zwischen A und B vor sich gehen müssen.<br />

Nun sieht sich je<strong>de</strong>s Tier, ob A o<strong>de</strong>r B, <strong>de</strong>r Not<strong>wen</strong>digkeit eines<br />

Komp<strong>ro</strong>misses gegenüber. <strong>Zeit</strong> und Anstrengung, die auf <strong>de</strong>n<br />

Kampf mit Rivalen verwandt wer<strong>de</strong>n, können nicht zum Aufziehen<br />

existieren<strong>de</strong>r Nachkommen genutzt wer<strong>de</strong>n und umgekehrt.<br />

Man kann erwarten, daß je<strong>de</strong>s Tier seine Anstrengung<br />

in einem konstanten Verhältnis auf diese bei<strong>de</strong>n rivalisieren<strong>de</strong>n<br />

Ziele verteilt. Nun ist es aber möglich, und das ist <strong>de</strong>r<br />

Punkt, auf <strong>de</strong>n ich hinauswill, daß sich das Geschlecht A bei<br />

einem an<strong>de</strong>ren Gleichgewicht einspielt als B, und <strong>wen</strong>n sie<br />

dies tun, wird sich wahrscheinlich ein immer größer wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r<br />

Unterschied zwischen ihnen einstellen.<br />

Um dies nachzuvollziehen, nehmen wir an, daß die bei<strong>de</strong>n<br />

Geschlechter A und B sich von Anfang an darin unterschei<strong>de</strong>n,<br />

ob sie ihren Erfolg stärker durch Investition in Kin<strong>de</strong>r o<strong>de</strong>r<br />

durch Investition in Kämpfe beeinflussen können. (Ich wer<strong>de</strong><br />

<strong>de</strong>n Ausdruck „kämpfen“ für alle Sorten direkter Konkurrenz<br />

innerhalb <strong>de</strong>sselben Geschlechts benutzen.) Anfänglich kann<br />

<strong>de</strong>r Unterschied zwischen <strong>de</strong>n Geschlechtern sehr gering sein,<br />

<strong>de</strong>nn ich will ja gera<strong>de</strong> beweisen, daß er eine inhärente Ten-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 458<br />

<strong>de</strong>nz besitzt, immer größer zu wer<strong>de</strong>n. Nehmen wir an, bei<br />

Geschlecht A ist zu Anfang das Kämpfen entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r für<br />

<strong>de</strong>n Fortpflanzungserfolg als elterliche Fürsorge; bei B dagegen<br />

trägt zu Beginn die elterliche Fürsorge ein <strong>wen</strong>ig mehr als<br />

das Kämpfen zur Variation <strong>de</strong>s Fortpflanzungserfolgs bei. Dies<br />

be<strong>de</strong>utet zum Beispiel, daß die Angehörigen <strong>de</strong>s Geschlechts<br />

A zwar selbstverständlich von <strong>de</strong>r elterlichen Fürsorge p<strong>ro</strong>fitieren,<br />

<strong>de</strong>r Unterschied zwischen einem erfolgreich und einem<br />

nicht erfolgreich pflegen<strong>de</strong>n Elternteil bei ihnen jedoch kleiner<br />

ist als <strong>de</strong>r zwischen einem erfolgreichen und einem nicht<br />

erfolgreichen Kämpfer. Beim Geschlecht B trifft genau das<br />

Gegenteil zu. Bei gegebenem Aufwand kann A also durch<br />

Kämpfen einen Gewinn erzielen, wohingegen B mit größerer<br />

Wahrscheinlichkeit p<strong>ro</strong>fitiert, <strong>wen</strong>n er seine Anstrengungen<br />

zu Lasten <strong>de</strong>s Kämpfens verstärkt auf die elterliche Fürsorge<br />

lenkt.<br />

In je<strong>de</strong>r Generation wird daher das Geschlecht A ein bißchen<br />

mehr kämpfen als in <strong>de</strong>r vorhergehen<strong>de</strong>n, und das Geschlecht<br />

B wird ein bißchen <strong>wen</strong>iger kämpfen und ein <strong>wen</strong>ig mehr<br />

Fürsorge üben. Nun wird <strong>de</strong>r Unterschied zwischen <strong>de</strong>m<br />

besten und <strong>de</strong>m schlechtesten A, was das Kämpfen betrifft,<br />

sogar noch größer und <strong>de</strong>r Unterschied zwischen <strong>de</strong>m besten<br />

und <strong>de</strong>m schlechtesten A in bezug auf Elternfürsorge sogar<br />

noch geringer sein. Daher hat ein A sogar noch mehr dadurch<br />

zu gewinnen, daß er seine Kräfte auf das Kämpfen richtet,<br />

und sogar noch <strong>wen</strong>iger dadurch, daß er seine Anstrengungen<br />

in die Fürsorge steckt. Genau das Umgekehrte wird im<br />

Verlauf <strong>de</strong>r Generationen auf das Geschlecht B zutreffen. Die<br />

Schlüsselüberlegung dabei ist, daß ein geringer anfänglicher<br />

Unterschied zwischen <strong>de</strong>n Geschlechtern sich von allein<br />

vergrößert: Die Auslese kann bei einer leichten Differenz<br />

beginnen und sie größer und größer wer<strong>de</strong>n lassen, bis die<br />

Angehörigen <strong>de</strong>s Geschlechts A das wer<strong>de</strong>n, was wir heute<br />

Männchen nennen, und die Individuen mit <strong>de</strong>m Geschlecht B<br />

das, was wir heute als Weibchen bezeichnen. Die anfängliche<br />

Differenz kann so klein sein, daß sie durch Zufall entstehen<br />

kann. Schließlich ist es sehr unwahrscheinlich, daß die Start-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 459<br />

bedingungen <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Geschlechter genau i<strong>de</strong>ntisch sind.<br />

Wie <strong>de</strong>r Leser bemerken wird, ähnelt dies <strong>de</strong>r von Parker,<br />

Baker und Smith entwickelten Theorie über die frühe Aufteilung<br />

<strong>de</strong>r ursprünglichen Gameten in Spermien und Eizellen,<br />

die ich in Kapitel 9 erörtert habe. Das gera<strong>de</strong> ausgeführte<br />

Argument ist aber allgemeinerer Art. Die Trennung in Samenund<br />

Eizellen ist nur ein Aspekt einer grundlegen<strong>de</strong>ren Trennung<br />

<strong>de</strong>r Geschlechter<strong>ro</strong>llen. Statt sie als primär zu behan<strong>de</strong>ln<br />

und alle charakteristischen Attribute von Männchen und<br />

Weibchen auf sie zurückzuführen, kennen wir nun eine Argumentation,<br />

die die Aufteilung in Spermien und Eizellen sowie<br />

an<strong>de</strong>re Aspekte alle auf dieselbe Weise erklärt. Wir brauchen<br />

lediglich vorauszusetzen, daß es zwei Geschlechter gibt, die<br />

sich miteinan<strong>de</strong>r paaren; weitere Informationen über diese<br />

Geschlechter sind nicht not<strong>wen</strong>dig. Von dieser Min<strong>de</strong>stannahme<br />

ausgehend, erwarten wir positiv, daß sich die bei<strong>de</strong>n<br />

Geschlechter, so gleich sie einan<strong>de</strong>r zu Beginn auch sein<br />

mögen, in zwei Geschlechter auseinan<strong>de</strong>rentwickeln wer<strong>de</strong>n,<br />

die sich auf entgegengesetzte und einan<strong>de</strong>r komplementäre<br />

Fortpflanzungstechniken spezialisieren. Die Trennung in Spermien<br />

und Eizellen ist ein Symptom dieser allgemeineren Aufteilung,<br />

nicht ihre Ursache.<br />

3 Diese I<strong>de</strong>e, zu versuchen, eine evolutionär stabile Mischung<br />

von Strategien innerhalb eines Geschlechts zu fin<strong>de</strong>n, die<br />

durch eine evolutionär stabile Mischung von Strategien in<br />

<strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren Geschlecht ausgeglichen wird, ist inzwischen<br />

von Maynard Smith selbst weiter vorangetrieben wor<strong>de</strong>n und,<br />

unabhängig davon, aber in eine ähnliche Richtung weisend,<br />

auch von Alan Grafen und Richard Sibly. Der Beitrag von<br />

Grafen und Sibly ist technisch weiter fortgeschritten, <strong>de</strong>r von<br />

Maynard Smith dagegen ist leichter mit Worten zu erklären.<br />

Kurz zusammengefaßt, beginnt er mit <strong>de</strong>r Annahme von zwei<br />

Strategien – Behüten und Verlassen –, die von je<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n<br />

Geschlechter angewandt wer<strong>de</strong>n können. Wie in meinem<br />

Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>r Strategien „sprö<strong>de</strong>/leichtfertig“ und „treu/ flatterhaft“<br />

ist von Interesse, welche Kombinationen männlicher


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 460<br />

Strategien gegen welche Kombinationen weiblicher Strategien<br />

stabil sind. Die Antwort hängt von unseren Annahmen über die<br />

ökonomischen Lebensbedingungen <strong>de</strong>r Spezies ab. Interessanterweise<br />

jedoch erhalten wir, sosehr wir die ökonomischen Voraussetzungen<br />

auch variieren, niemals ein vollständiges Kontinuum<br />

quantitativ variieren<strong>de</strong>r stabiler Resultate. Das Mo<strong>de</strong>ll<br />

neigt dazu, sich bei einem von nicht mehr als vier stabilen<br />

Resultaten einzuspielen. Diese vier Resultate wer<strong>de</strong>n nach<br />

Tierarten benannt, die beispielhaft für sie sind. Es gibt die Ente<br />

(Männchen verläßt, Weibchen behütet), <strong>de</strong>n Stichling (Weibchen<br />

verläßt, Männchen behütet), die Fruchtfliege (bei<strong>de</strong> verlassen)<br />

und <strong>de</strong>n Gibbon (bei<strong>de</strong> behüten).<br />

Und nun etwas noch Interessanteres. Wie wir aus Kapitel<br />

5 wissen, können ESS-Mo<strong>de</strong>lle sich bei je<strong>de</strong>m von zwei alternativen<br />

Resultaten einspielen, die bei<strong>de</strong> gleich stabil sind.<br />

Das gleiche gilt für dieses Mo<strong>de</strong>ll von Maynard Smith. Beson<strong>de</strong>rs<br />

interessant daran ist, daß bestimmte Paare dieser Ergebnisse<br />

im Gegensatz zu an<strong>de</strong>ren Ergebnispaaren unter <strong>de</strong>nselben<br />

ökonomischen Umstän<strong>de</strong>n stabil sind. Beispielsweise<br />

sind unter einer Reihe von Umstän<strong>de</strong>n sowohl Ente als auch<br />

Stichling stabil. Welches <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n tatsächlich eintritt, hängt<br />

vom Zufall ab o<strong>de</strong>r, genauer gesagt, von Zufallsereignissen <strong>de</strong>r<br />

Evolutionsgeschichte – von Anfangsbedingungen. Unter einer<br />

an<strong>de</strong>ren Reihe von Umstän<strong>de</strong>n sind Gibbon und Fruchtfliege<br />

bei<strong>de</strong> stabil. Wie<strong>de</strong>rum bestimmt <strong>de</strong>r historische Zufall, welches<br />

<strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Mo<strong>de</strong>lle bei einer gegebenen Tierart eintritt.<br />

Aber es gibt keine Umstän<strong>de</strong>, unter <strong>de</strong>nen sowohl Gibbon als<br />

auch Ente stabil sind, und ebenso keine Umstän<strong>de</strong>, unter <strong>de</strong>nen<br />

Ente und Fruchtfliege stabil sind. Diese Analyse von Kombinationen<br />

zusammenpassen<strong>de</strong>r und nicht zusammenpassen<strong>de</strong>r<br />

evolutionär stabiler Strategien hat interessante Konsequenzen<br />

für unsere Rekonstruktionen <strong>de</strong>r Evolutionsgeschichte. Beispielsweise<br />

veranlaßt sie uns zu <strong>de</strong>r Erwartung, daß gewisse<br />

Sorten von Übergängen zwischen Paarungssystemen in <strong>de</strong>r<br />

Evolutionsgeschichte wahrscheinlich, an<strong>de</strong>re dagegen unwahrscheinlich<br />

sein wer<strong>de</strong>n. Maynard Smith befaßt sich mit diesen<br />

historischen Vernetzungen in einem kurzen Überblick über die


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 461<br />

verschie<strong>de</strong>nen Paarungsmuster im Tierreich, und er schließt<br />

mit <strong>de</strong>r <strong>de</strong>nkwürdigen rhetorischen Frage: „Warum haben<br />

männliche Säugetiere keine Milch?“<br />

4 Ich bedaure sagen zu müssen, daß diese Feststellung falsch<br />

ist. Sie ist jedoch auf interessante Weise falsch, <strong>de</strong>shalb habe<br />

ich <strong>de</strong>n Fehler stehengelassen und wer<strong>de</strong> mir nun einige <strong>Zeit</strong><br />

nehmen, um ihn aufzuzeigen. Es han<strong>de</strong>lt sich um einen Fehler<br />

<strong>de</strong>rselben Art, wie ihn Gale und Eaves in <strong>de</strong>m Originalbeitrag<br />

von Maynard Smith und Price ent<strong>de</strong>ckt haben (siehe Seite<br />

448, Anmerkung 2). Zwei mathematisch arbeiten<strong>de</strong> Biologen in<br />

Österreich, P. Schuster und K. Sigmund, machten auf meinen<br />

Fehler aufmerksam.<br />

Ich hatte die Verhältniszahlen von treuen Männchen zu<br />

Schürzenjägern und von sprö<strong>de</strong>n zu leichtfertigen Weibchen<br />

korrekt ausgerechnet, bei <strong>de</strong>nen die bei<strong>de</strong>n Sorten von<br />

Männchen beziehungsweise Weibchen gleich erfolgreich waren.<br />

Bei diesen Werten besteht in <strong>de</strong>r Tat ein Gleichgewicht, doch<br />

habe ich versäumt nachzuprüfen, ob es auch ein stabiles Gleichgewicht<br />

ist. Es hätte eine Situation sein können, die einer unsicheren<br />

Gratwan<strong>de</strong>rung glich und nicht einem sicheren Tal.<br />

Um eine Situation auf ihre Stabilität zu überprüfen, müssen<br />

wir feststellen, was geschehen wür<strong>de</strong>, <strong>wen</strong>n wir das Gleichgewicht<br />

leicht stören. (Wenn wir einen Ball von einem Grat<br />

hinunterstoßen, verlieren wir ihn; <strong>wen</strong>n wir ihn von <strong>de</strong>r Mitte<br />

eines Tales wegstoßen, kommt er zurückge<strong>ro</strong>llt.) In meinem<br />

speziellen Zahlenbeispiel war das Gleichgewichtsverhältnis für<br />

Männchen 5/8 treu und 3/8 Schürzenjäger.<br />

Was geschieht nun, <strong>wen</strong>n durch Zufall das Verhältnis von<br />

Schürzenjägern in <strong>de</strong>r Population auf einen Wert ansteigt, <strong>de</strong>r<br />

geringfügig über <strong>de</strong>m <strong>de</strong>s Gleichgewichts liegt? Damit sich<br />

das Gleichgewicht als stabil und sich-selbst-korrigierend qualifiziert,<br />

sollten die Schürzenjäger unverzüglich anfangen, ein<br />

<strong>wen</strong>ig schlechter abzuschnei<strong>de</strong>n. Unglücklicherweise geschieht<br />

dies nicht, wie Schuster und Sigmund zeigten. Im Gegenteil,<br />

<strong>de</strong>n Schürzenjägern beginnt es besserzugehen! Weit entfernt<br />

davon, selbststabilisierend zu sein, wird ihre Häufigkeit in


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 462<br />

<strong>de</strong>r Population zunehmend größer. Sie steigt an – nicht unbegrenzt,<br />

son<strong>de</strong>rn nur bis zu einem gewissen Punkt. Wenn wir<br />

eine dynamische Computersimulation <strong>de</strong>s Mo<strong>de</strong>lls vornehmen,<br />

wie ich dies inzwischen getan habe, so erhalten wir einen<br />

sich endlos wie<strong>de</strong>rholen<strong>de</strong>n Zyklus. I<strong>ro</strong>nischerweise ist dies<br />

genau <strong>de</strong>r Zyklus, <strong>de</strong>n ich hypothetisch beschrieben habe, aber<br />

damals glaubte ich, er sei lediglich ein gutes Hilfsmittel zur<br />

Erklärung <strong>de</strong>s Prinzips, gera<strong>de</strong>so wie das Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>r Falken<br />

und Tauben. In Anlehnung an die Falken und Tauben nahm<br />

ich an – was völlig falsch war –, daß <strong>de</strong>r Zyklus nur hypothetischer<br />

Art sei und daß das System sich in Wirklichkeit bei einem<br />

stabilen Gleichgewicht einpen<strong>de</strong>ln wür<strong>de</strong>. Schusters und Sigmunds<br />

Startschuß habe ich nichts hinzuzufügen:<br />

Kurz gesagt können wir also zwei Schlußfolgerungen<br />

ziehen:<br />

(a) daß <strong>de</strong>r Kampf <strong>de</strong>r Geschlechter vieles gemein hat<br />

mit Raub; und<br />

(b) daß das Verhalten von Lieben<strong>de</strong>n sich wan<strong>de</strong>lt wie<br />

<strong>de</strong>r Mond und unvorhersagbar ist wie das Wetter.<br />

Natürlich brauchte man keine Differentialgleichungen,<br />

um dies schon früher zu bemerken.<br />

5 Die Hypothese, die Tamsin Carlisle noch als Stu<strong>de</strong>ntin über<br />

Fische aufstellte, ist inzwischen von Mark Ridley getestet<br />

wor<strong>de</strong>n, und zwar anhand von Vergleichen, die dieser im Verlauf<br />

einer erschöpfen<strong>de</strong>n Betrachtung <strong>de</strong>r väterlichen Fürsorge<br />

im ganzen Tierreich angestellt hat. Seine Veröffentlichung ist<br />

ein erstaunlicher Kraftakt, <strong>de</strong>r, wie Carlisles Hypothese selbst,<br />

ebenfalls als ein Referat begann, das er während seines Studiums<br />

für mich schrieb. Bedauerlicherweise wur<strong>de</strong> Carlisles<br />

Hypothese durch Ridleys Arbeit nicht bestätigt.<br />

6 R. A. Fishers in extremer Kürze dargestellte Theorie eines<br />

unaufhaltsamen P<strong>ro</strong>zesses <strong>de</strong>r geschlechtlichen Auslese ist<br />

nunmehr mathematisch von R. Lan<strong>de</strong> und an<strong>de</strong>ren ausgearbeitet<br />

wor<strong>de</strong>n. Sie ist zu einem schwierigen Thema gewor<strong>de</strong>n,<br />

aber man kann sie auch mit nichtmathematischen Ausdrücken


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 463<br />

erklären, sofern man über ausreichend Raum dafür verfügt.<br />

Doch bedarf es dazu eines ganzen Kapitels, und ich habe ihr<br />

in meinem Buch Der blin<strong>de</strong> Uhrmacher eines (Kapitel 8) gewidmet,<br />

<strong>de</strong>shalb wer<strong>de</strong> ich hier nichts mehr darüber sagen.<br />

Statt <strong>de</strong>ssen wer<strong>de</strong> ich mich mit einem P<strong>ro</strong>blem befassen,<br />

das im Zusammenhang mit <strong>de</strong>r geschlechtlichen Auslese steht<br />

und das ich in keinem meiner Bücher jemals ausreichend hervorgehoben<br />

habe. Wie bleibt die erfor<strong>de</strong>rliche Variabilität erhalten?<br />

Die natürliche Selektion kann nur dann funktionieren,<br />

<strong>wen</strong>n es einen reichlichen Vorrat an genetischer Variabilität<br />

gibt, auf die sie einwirken kann. Sollte ich beispielsweise versuchen,<br />

Kaninchen mit immer längeren Ohren zu züchten,<br />

so wer<strong>de</strong> ich zu Beginn Erfolg damit haben. Das durchschnittliche<br />

Kaninchen in einer wildleben<strong>de</strong>n Population wird<br />

mittelg<strong>ro</strong>ße Ohren haben (nach Kaninchen-Maßstab; nach<br />

unseren menschlichen Maßstäben wer<strong>de</strong>n die Ohren natürlich<br />

sehr lang sein). Ein paar Kaninchen wer<strong>de</strong>n Ohren haben,<br />

die kürzer als <strong>de</strong>r Durchschnitt sind, und ein paar an<strong>de</strong>re<br />

überdurchschnittlich lange. Wenn wir lediglich die mit <strong>de</strong>n<br />

längsten Ohren zur Zucht heranziehen, wird es uns gelingen,<br />

<strong>de</strong>n Durchschnitt in <strong>de</strong>n nachfolgen<strong>de</strong>n Generationen zu<br />

vergrößern – eine <strong>Zeit</strong>lang. Wenn wir jedoch in unserer Zucht<br />

immer weiter die Individuen einsetzen, die die längsten Ohren<br />

haben, so wird ein <strong>Zeit</strong>punkt kommen, an <strong>de</strong>m die erfor<strong>de</strong>rliche<br />

Variabilität nicht mehr verfügbar ist. Sie wer<strong>de</strong>n alle die<br />

„längsten“ Ohren haben, und die Evolution wird zum Stillstand<br />

kommen. Bei <strong>de</strong>r normalen Evolution ist so etwas kein<br />

P<strong>ro</strong>blem, da die Umwelt in <strong>de</strong>r Regel nicht durchgehend und<br />

unwan<strong>de</strong>lbar Druck in nur eine Richtung ausübt. Die „beste“<br />

Länge für je<strong>de</strong>s Teil eines Tieres ist normalerweise nicht „ein<br />

bißchen länger als <strong>de</strong>r gegenwärtige Durchschnitt, gleichgültig<br />

welches dieser gegenwärtige Durchschnitt sein mag“. Die beste<br />

Länge ist mit größerer Wahrscheinlichkeit ein bestimmtes<br />

Maß, etwa drei Zentimeter. Aber die geschlechtliche Auslese<br />

kann tatsächlich die peinliche Eigenschaft haben, ein immer<br />

weiter fortschreiten<strong>de</strong>s „Optimum“ zu forcieren. Die Mo<strong>de</strong> bei<br />

<strong>de</strong>n Weibchen könnte in <strong>de</strong>r Tat wünschen, daß die Ohren


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 464<br />

<strong>de</strong>r Männchen immer länger wer<strong>de</strong>n, gleichgültig, wie lang die<br />

Ohren <strong>de</strong>r gegenwärtigen Population bereits sein mögen. So<br />

könnte die Variabilität ernstlich in Gefahr geraten verlorenzugehen.<br />

Und doch scheint die sexuelle Auslese funktioniert zu<br />

haben; es gibt in <strong>de</strong>r Tat absurd übertriebenen männlichen<br />

Schmuck. Wir scheinen es hier mit einem Paradox zu tun<br />

zu haben, das wir als das Paradox <strong>de</strong>r verschwin<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />

Variabilität bezeichnen können.<br />

Lan<strong>de</strong>s Lösung für das Paradox ist die Mutation. Er glaubt,<br />

daß es immer genug Mutationen geben wird, um einer anhalten<strong>de</strong>n<br />

Selektion als Treibstoff zu dienen. Man hatte dies zuvor<br />

bezweifelt, weil man stets im Sinne jeweils nur eines einzelnen<br />

Gens gedacht hatte: Die Mutationsrate an je<strong>de</strong>m einzelnen<br />

Genlocus ist zu gering, um das Paradox <strong>de</strong>r verschwin<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />

Variabilität zu lösen. Lan<strong>de</strong> erinnerte uns daran, daß<br />

„Schwänze“ und an<strong>de</strong>re Dinge, auf die die geschlechtliche<br />

Auslese einwirkt, von einer g<strong>ro</strong>ßen Zahl verschie<strong>de</strong>ner Gene<br />

– „Polygenen“ – beeinflußt sind, <strong>de</strong>ren geringe Effekte sich<br />

summieren. Außer<strong>de</strong>m wird sich <strong>de</strong>r Satz relevanter Polygene<br />

mit <strong>de</strong>m Fortschreiten <strong>de</strong>r Evolution verän<strong>de</strong>rn: Neue Gene<br />

wer<strong>de</strong>n hinzukommen, die die Variabilität <strong>de</strong>r „Schwanzlänge“<br />

beeinflussen, alte wer<strong>de</strong>n verlorengehen. Mutationen können<br />

je<strong>de</strong>n dieser g<strong>ro</strong>ßen und sich verschieben<strong>de</strong>n Sätze von<br />

Genen verän<strong>de</strong>rn, so daß das Paradox <strong>de</strong>r verschwin<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />

Variabilität selbst verschwin<strong>de</strong>t.<br />

W. D. Hamiltons Antwort auf das Paradox sieht an<strong>de</strong>rs aus.<br />

Er beantwortet es auf dieselbe Weise, wie er heute auf die meisten<br />

Fragen antwortet: „Parasiten“. Denken wir wie<strong>de</strong>r an die<br />

Kaninchen. Die beste Länge für Kaninchenohren ist vermutlich<br />

von verschie<strong>de</strong>nen akustischen Faktoren abhängig. Es gibt<br />

keinen Grund anzunehmen, daß diese Faktoren sich im Verlauf<br />

<strong>de</strong>r Generationen anhaltend und in gleichbleiben<strong>de</strong>r Richtung<br />

verän<strong>de</strong>rn. Die beste Länge für Kaninchenohren mag nicht<br />

absolut konstant sein, aber die Auslese wird sie kaum so weit<br />

in irgen<strong>de</strong>ine spezielle Richtung drängen, daß sie von <strong>de</strong>r im<br />

gegenwärtigen Genpool vorhan<strong>de</strong>nen Variabilität nicht mehr<br />

ohne weiteres abge<strong>de</strong>ckt wird. Also kein Paradox <strong>de</strong>r ver-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 465<br />

schwin<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Variabilität. Doch schauen wir uns nun die Art<br />

stark fluktuieren<strong>de</strong>r Umwelt an, wie Parasiten sie schaffen. In<br />

einer Welt voller Parasiten besteht eine starke Auslese zugunsten<br />

<strong>de</strong>r Wi<strong>de</strong>rstandsfähigkeit gegen diese. Die natürliche Auslese<br />

wird jeweils die Kaninchen begünstigen, die am <strong>wen</strong>igsten<br />

anfällig für die zufällig in ihrer Umwelt vorhan<strong>de</strong>nen Parasiten<br />

sind. Der entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Punkt ist, daß es nicht immer dieselben<br />

Parasiten sein wer<strong>de</strong>n. Seuchen kommen und gehen.<br />

Heute mag es die Myxomatose sein, im nächsten Jahr eine<br />

Krankheit, die bei <strong>de</strong>n Kaninchen <strong>de</strong>r Pest entspricht, im<br />

Jahr darauf Kaninchen-Aids und so weiter. Dann, vielleicht<br />

nach einem Zehnjahreszyklus, ist es erneut die Myxomatose,<br />

und <strong>de</strong>r Kreis beginnt von neuem. O<strong>de</strong>r das Myxomatosevirus<br />

selbst mag sich so entwickeln, daß es alle <strong>de</strong>nkbaren Gegenanpassungen<br />

<strong>de</strong>r Kaninchen überwin<strong>de</strong>t. Hamilton stellt sich<br />

Zyklen von Gegenanpassungen und Gegen-Gegenanpassungen<br />

vor, die sich endlos fortsetzen und ständig für neue, völlig<br />

verän<strong>de</strong>rte Definitionen <strong>de</strong>s „besten“ Kaninchens sorgen.<br />

Das Fazit all dieser Überlegungen ist, daß ein wichtiger<br />

Unterschied zwischen <strong>de</strong>n Anpassungen zugunsten <strong>de</strong>r Resistenz<br />

gegen Krankheiten und Anpassungen an die physische<br />

Umwelt besteht.<br />

Während es eine relativ feststehen<strong>de</strong> „beste“ Länge für<br />

ein Kaninchenbein geben könnte, gibt es kein unverän<strong>de</strong>rlich<br />

„bestes“ Kaninchen, soweit es die Resistenz gegen Krankheiten<br />

betrifft. Mit <strong>de</strong>m Wechsel <strong>de</strong>r jeweils gefährlichsten Krankheit<br />

wechselt auch das „beste“ Kaninchen. Sind Parasiten<br />

die einzige selektive Kraft, die auf diese Weise funktioniert?<br />

Wie beeinflussen beispielsweise Räuber ihre Beute und umgekehrt?<br />

Hamilton stimmt mit uns darin überein, daß sie im<br />

wesentlichen wie Parasiten aufeinan<strong>de</strong>r wirken. Doch ihre<br />

Evolution verläuft nicht so schnell wie die vieler Parasiten.<br />

Und Parasiten bringen mit größerer Wahrscheinlichkeit als<br />

Räuber o<strong>de</strong>r Beute <strong>de</strong>taillierte Gen-für-Gen-Gegenanpassungen<br />

hervor.<br />

Hamilton macht die zyklischen Herausfor<strong>de</strong>rungen durch<br />

die Parasiten zur Grundlage einer alles in allem viel grandiose-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 466<br />

ren Theorie, seiner Theorie darüber, warum es überhaupt Sex<br />

gibt. Doch an dieser Stelle geht es uns um seine Lösung <strong>de</strong>s<br />

Paradoxons <strong>de</strong>r verschwin<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Variabilität bei geschlechtlicher<br />

Auslese: Er sucht die Ursache bei <strong>de</strong>n Parasiten. Er glaubt,<br />

daß erbliche Krankheitsresistenz das wichtigste Kriterium ist,<br />

anhand <strong>de</strong>ssen die Weibchen Männchen auswählen. Krankheiten<br />

sind ein so schwerwiegen<strong>de</strong>s Übel, daß die Weibchen<br />

von je<strong>de</strong>r eventuellen Fähigkeit, eine Krankheit bei potentiellen<br />

Partnern zu erkennen, einen g<strong>ro</strong>ßen Gewinn haben. Ein<br />

Weibchen, das sich wie ein guter Diagnostiker verhält und das<br />

gesün<strong>de</strong>ste Männchen als Partner auswählt, wird gewöhnlich<br />

gesun<strong>de</strong> Gene für seine Kin<strong>de</strong>r gewinnen. Da nun die Definition<br />

<strong>de</strong>s „besten Kaninchens“ sich ständig verän<strong>de</strong>rt, wird es<br />

immer etwas Wichtiges geben, zwischen <strong>de</strong>m die Weibchen<br />

zu wählen haben, <strong>wen</strong>n sie die Männchen durchmustern. Es<br />

wird immer „gute“ und „schlechte“ Männchen geben. Sie<br />

wer<strong>de</strong>n nicht alle nach Generationen <strong>de</strong>r Auslese zu „guten<br />

Männchen“ gewor<strong>de</strong>n sein, <strong>de</strong>nn inzwischen wer<strong>de</strong>n die Parasiten<br />

und damit auch die Definition eines „guten“ Kaninchens<br />

sich verän<strong>de</strong>rt haben. Gene für die Resistenz gegen einen<br />

Stamm <strong>de</strong>s Myxomatosevirus wer<strong>de</strong>n gegen <strong>de</strong>n nächsten<br />

Stamm, <strong>de</strong>r durch Mutation die Szene betritt, nicht viel nützen.<br />

Und dieser Zyklus <strong>de</strong>r Krankheitsevolution schreitet unbegrenzt<br />

fort. Der Druck durch die Parasiten läßt niemals nach,<br />

und so können auch die Weibchen in ihrer unbarmherzigen<br />

Suche nach gesun<strong>de</strong>n Männchen nicht nachgeben.<br />

Wie wer<strong>de</strong>n die Männchen darauf reagieren, von Weibchen,<br />

die wie Ärzte han<strong>de</strong>ln, untersucht zu wer<strong>de</strong>n? Kommt es<br />

zur Begünstigung von Genen für das Vorspiegeln von guter<br />

Gesundheit? Zu Beginn vielleicht, aber dann wird die Auslese<br />

auf die Weibchen einwirken und ihre diagnostischen Fertigkeiten<br />

verschärfen, so daß sie die Vortäuscher von <strong>de</strong>n wirklich<br />

Gesun<strong>de</strong>n unterschei<strong>de</strong>n können. Am En<strong>de</strong>, so glaubt<br />

Hamilton, wer<strong>de</strong>n die Weibchen <strong>de</strong>rart gute Ärzte sein, daß die<br />

Männchen gezwungen sein wer<strong>de</strong>n, <strong>wen</strong>n sie sich überhaupt<br />

anpreisen, dies ehrlich zu tun. Wenn irgen<strong>de</strong>ine sexuelle<br />

Reklame bei Männchen übertrieben wird, so wird dies daran


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 467<br />

liegen, daß sie ein echtes Anzeichen für Gesundheit ist. Die<br />

Evolution bei <strong>de</strong>n Männchen wird dahin gehen, es für die<br />

Weibchen leicht erkennbar zu machen, daß sie gesund sind<br />

– <strong>wen</strong>n dies <strong>de</strong>r Fall ist. Wirklich gesun<strong>de</strong> Männchen wer<strong>de</strong>n<br />

nur zu gern auf diese Tatsache aufmerksam machen. Kranke<br />

Männchen natürlich nicht, aber was können sie tun? Wenn sie<br />

nicht <strong>wen</strong>igstens versuchen, ein Gesundheitszeugnis vorzuweisen,<br />

wer<strong>de</strong>n die Weibchen die schlimmsten Schlußfolgerungen<br />

ziehen. Nebenbei gesagt wäre all dieses Gere<strong>de</strong> von Ärzten<br />

irreführend, <strong>wen</strong>n es <strong>de</strong>n Gedanken nahelegen wür<strong>de</strong>, daß die<br />

Weibchen daran interessiert sind, die Männchen zu heilen. Ihr<br />

einziges Interesse ist die Diagnose, und es ist kein altruistisches<br />

Interesse. Und ich nehme an, es ist nicht mehr erfor<strong>de</strong>rlich,<br />

mich für im übertragenen Sinne gebrauchte Ausdrücke wie<br />

„Ehrlichkeit“ und „Schlußfolgerungen ziehen“ zu entschuldigen.<br />

Um zur Reklame zurückzukehren: Es ist, als ob die Männchen<br />

von <strong>de</strong>n Weibchen gezwungen wer<strong>de</strong>n, Fieberthermometer<br />

zu entwickeln, die ständig aus ihrem Mund herausschauen<br />

und für die Weibchen gut leserlich sind. Worin könnten diese<br />

„Thermometer“ bestehen? Nun, <strong>de</strong>nken wir zum Beispiel an<br />

<strong>de</strong>n spektakulär langen Schwanz eines männlichen Paradiesvogels.<br />

Wir haben bereits Fishers elegante Erklärung für diesen<br />

auffälligen Schmuck kennengelernt. Hamiltons Erklärung ist<br />

im Ganzen realistischer. Ein weitverbreitetes Krankheitssymptom<br />

bei Vögeln ist Durchfall. Wenn ein Vogel einen langen<br />

Schwanz hat, wird dieser durch Durchfall wahrscheinlich verschmutzt.<br />

Wenn ein Vogel die Tatsache verschleiern will, daß<br />

er an Durchfall lei<strong>de</strong>t, so kann er dies am besten tun, in<strong>de</strong>m er<br />

es vermei<strong>de</strong>t, einen langen Schwanz zu haben. Entsprechend<br />

kann ein Vogel, <strong>de</strong>r darauf aufmerksam machen will, daß er<br />

nicht unter Durchfall lei<strong>de</strong>t, dies am besten mit Hilfe eines<br />

sehr langen Schwanzes tun. Dadurch wird die Tatsache, daß<br />

sein Schwanz sauber ist, um so augenfälliger. Wenn <strong>de</strong>r Vogel<br />

überhaupt kaum einen Schwanz hat, können die Weibchen<br />

nicht sehen, ob er sauber ist o<strong>de</strong>r nicht, und vermuten das<br />

Schlimmste. Hamilton wür<strong>de</strong> sich nicht auf diese spezielle


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 468<br />

Erklärung für die Schwänze <strong>de</strong>r Paradiesvögel festlegen wollen,<br />

aber es ist ein gutes Beispiel für die Art Erklärung, die er<br />

bevorzugt.<br />

Ich habe das Bild von Weibchen benutzt, die wie diagnostizieren<strong>de</strong><br />

Ärzte han<strong>de</strong>ln, und von Männchen, die ihnen ihre<br />

Aufgabe erleichtern, in<strong>de</strong>m sie überall „Thermometer“ zur<br />

Schau stellen. Der Gedanke an an<strong>de</strong>re diagnostische Hilfsmittel<br />

<strong>de</strong>s Arztes, wie Blutdruckmesser und Stethoskop, brachte<br />

mich auf eine Reihe von Spekulationen über die sexuelle Auslese<br />

beim Menschen. Ich wer<strong>de</strong> sie kurz darstellen, obgleich ich<br />

zugebe, daß ich sie <strong>wen</strong>iger plausibel als unterhaltsam fin<strong>de</strong>.<br />

Zuerst eine Theorie darüber, warum bei <strong>de</strong>n Menschen <strong>de</strong>r<br />

Penisknochen verlorengegangen ist. Ein erigierter Penis kann<br />

so hart und steif sein, daß viele Leute im Spaß ihren Zweifeln<br />

darüber Ausdruck geben, ob nicht ein Knochen darin sei.<br />

Viele Säugetiere besitzen tatsächlich einen versteifen<strong>de</strong>n Knochen,<br />

das Baculum o<strong>de</strong>r Os penis, um die Erektion zu<br />

stützen. Darüber hinaus ist er bei unseren Verwandten, <strong>de</strong>n<br />

Menschenaffen, weit verbreitet; sogar unser engster Vetter,<br />

<strong>de</strong>r Schimpanse, hat einen solchen Knochen, <strong>wen</strong>ngleich<br />

zugegebenermaßen einen sehr winzigen, <strong>de</strong>r möglicherweise<br />

auf <strong>de</strong>m evolutionären Rückzug ist. Es scheint bei <strong>de</strong>n Menschenaffen<br />

eine Ten<strong>de</strong>nz gegeben zu haben, <strong>de</strong>n Penisknochen<br />

zu reduzieren; unsere Art, ebenso wie eine Reihe von Affenarten,<br />

hat ihn völlig verloren. Somit sind wir <strong>de</strong>n Knochen los,<br />

<strong>de</strong>r es unseren Ahnen vermutlich leicht gemacht hat, einen<br />

schön steifen Penis zu haben. Statt <strong>de</strong>ssen verlassen wir uns<br />

völlig auf ein hydraulisches Pumpsystem, das doch unbestreitbar<br />

eine teure und umständliche Lösung zu sein scheint. Und<br />

es ist nur zu bekannt, daß die Erektion versagen kann – bedauerlich,<br />

um das Min<strong>de</strong>ste zu sagen, für <strong>de</strong>n genetischen Erfolg<br />

eines Männchens in <strong>de</strong>r freien Wildbahn. Womit kann <strong>de</strong>m<br />

ganz offensichtlich abgeholfen wer<strong>de</strong>n? Mit einem Knochen im<br />

Penis natürlich. Warum verhilft uns die Evolution dann nicht<br />

zu einem? Dieses Mal <strong>wen</strong>igstens können die Biologen <strong>de</strong>r Briga<strong>de</strong><br />

<strong>de</strong>r „genetischen Beschränkungen“ sich nicht mit einem<br />

„Oh, die erfor<strong>de</strong>rliche Variation konnte einfach nicht entste-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 469<br />

hen“ aus <strong>de</strong>r Affäre ziehen. Denn bis vor kurzem besaßen<br />

unsere Vorfahren ja gera<strong>de</strong> einen solchen Knochen, und wir<br />

haben in Wirklichkeit alle nur <strong>de</strong>nkbaren Anstrengungen<br />

unternommen, um ihn loszuwer<strong>de</strong>n! Warum?<br />

Die Erektion beim Menschen erfolgt ausschließlich durch<br />

Blutdruck. Es ist lei<strong>de</strong>r nicht sehr plausibel vorzuschlagen, daß<br />

die Härte <strong>de</strong>r Erektion das Äquivalent zum Blutdruckmesser<br />

eines Arztes ist, das vom weiblichen Geschlecht dazu benutzt<br />

wird, die Gesundheit <strong>de</strong>s männlichen Partners zu untersuchen.<br />

Aber wir sind nicht an das Bild <strong>de</strong>s Blutdruckmessers gebun<strong>de</strong>n.<br />

Wenn, aus welchem Grund auch immer, ein Versagen <strong>de</strong>r<br />

Erektion eine zuverlässige Frühwarnung für bestimmte Arten<br />

von Krankheiten ist, seien es physische o<strong>de</strong>r psychische, so<br />

kann eine Version <strong>de</strong>r Theorie zutreffen. Die Frauen benötigen<br />

lediglich ein verläßliches Werkzeug für die Diagnose. Die Ärzte<br />

benutzen bei Routineuntersuchungen keinen Erektionstest –<br />

sie ziehen es vor, uns zu bitten, die Zunge herauszustrecken.<br />

Aber Erektionsversagen ist ein bekanntes frühes Warnzeichen<br />

für Diabetes und gewisse neu<strong>ro</strong>logische Erkrankungen. Weit<br />

häufiger ist es das Resultat psychischer Faktoren – Depressionen,<br />

Angstzustän<strong>de</strong>, Streß, Überarbeitung, Vertrauensverlust<br />

und so weiter. (In <strong>de</strong>r Natur mögen vielleicht unten in <strong>de</strong>r<br />

Hackordnung angesie<strong>de</strong>lte Männchen auf diese Weise bet<strong>ro</strong>ffen<br />

sein. Einige Affen benutzen <strong>de</strong>n aufgerichteten Penis als<br />

D<strong>ro</strong>hsignal.) Es ist nicht un<strong>de</strong>nkbar, daß die Frauen, <strong>wen</strong>n die<br />

natürliche Auslese ihre diagnostischen Fertigkeiten verfeinert<br />

hat, alle möglichen Hinweise auf die Gesundheit und psychische<br />

Belastbarkeit eines Mannes aus <strong>de</strong>m Tonus und <strong>de</strong>r Haltung<br />

seines Penis ablesen können. Aber ein Knochen könnte<br />

dies zunichte machen! Je<strong>de</strong>r kann einen Knochen in seinem<br />

Penis wachsen lassen; man braucht dazu nicht beson<strong>de</strong>rs<br />

gesund o<strong>de</strong>r wi<strong>de</strong>rstandsfähig zu sein. Daher hat <strong>de</strong>r Selektionsdruck<br />

seitens <strong>de</strong>r Frauen die Männer gezwungen, das<br />

Os penis zu verlieren, weil dann nur wirklich gesun<strong>de</strong> und<br />

starke Männer einen wirklich steifen Penis präsentieren und<br />

die Frauen ungehin<strong>de</strong>rt eine Diagnose vornehmen konnten. An<br />

diesem Punkt wird möglicherweise Wi<strong>de</strong>rspruch laut. Woher,


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 470<br />

so könnte man fragen, hätten die Weibchen, die die Auslese<br />

durchsetzten, wohl wissen sollen, ob die Steifheit, die sie<br />

fühlten, Knochen war o<strong>de</strong>r hydraulischer Druck? Schließlich<br />

bemerkte ich eingangs, daß sich eine Erektion beim Menschen<br />

wie ein Knochen anfühlen kann. Doch ich habe meine Zweifel<br />

daran, ob die Frauen wirklich so leicht zu täuschen waren.<br />

Sie unterlagen ebenfalls <strong>de</strong>r Selektion, die in ihrem Fall nicht<br />

dahinging, einen Knochen zu verlieren, son<strong>de</strong>rn Urteilskraft<br />

zu gewinnen. Und man vergesse nicht, daß die Frau auch mit<br />

<strong>de</strong>mselben Penis zu tun hat, <strong>wen</strong>n er nicht erigiert ist, und <strong>de</strong>r<br />

Gegensatz ist enorm auffallend. Knochen können sich nicht<br />

auflösen (aber zugegebenermaßen eingezogen wer<strong>de</strong>n). Vielleicht<br />

ist es das beeindrucken<strong>de</strong> Doppelleben <strong>de</strong>s Penis, das<br />

die Glaubwürdigkeit <strong>de</strong>s hydraulischen Anpreisens garantiert.<br />

Nun zum „Stethoskop“. Betrachten wir ein an<strong>de</strong>res bekanntes<br />

Schlafzimmerp<strong>ro</strong>blem, das Schnarchen. Heutzutage ist es<br />

vielleicht nur eine Unannehmlichkeit <strong>de</strong>s Zusammenlebens.<br />

Früher einmal konnte es über Leben und Tod entschei<strong>de</strong>n.<br />

In <strong>de</strong>r Stille einer ruhigen Nacht kann Schnarchen bemerkenswert<br />

laut sein. Es könnte von weit und breit Räuber zu<br />

<strong>de</strong>m Schnarcher und <strong>de</strong>r Gruppe, in <strong>de</strong>r er liegt, heranrufen.<br />

Warum aber schnarchen dann so viele Menschen? Stellen wir<br />

uns eine schlafen<strong>de</strong> Hor<strong>de</strong> unserer Vorfahren in irgen<strong>de</strong>iner<br />

Höhle <strong>de</strong>s Pleistozän vor. Die Männer schnarchen in verschie<strong>de</strong>nen<br />

Tönen, die Frauen liegen wach und haben nichts an<strong>de</strong>res<br />

zu tun als zuzuhören (ich nehme an, es ist wahr, daß Männer<br />

mehr schnarchen). Liefern die Männer <strong>de</strong>n Frauen absichtlich<br />

angezeigte und verstärkte stethoskopische Informationen?<br />

Könnte die genaue Qualität und das Timbre <strong>de</strong>s Schnarchens<br />

eine Diagnose über <strong>de</strong>n Zustand <strong>de</strong>r Atemwege erlauben? Ich<br />

möchte nicht behaupten, daß man nur schnarcht, <strong>wen</strong>n man<br />

krank ist. Eher schon, daß das Schnarchen wie die konstante<br />

Trägerfrequenz eines Radiosen<strong>de</strong>rs ist: ein klares Signal, das<br />

in diagnostisch brauchbarer Weise von <strong>de</strong>m Zustand moduliert<br />

wird, in <strong>de</strong>m sich Nase und Kehle befin<strong>de</strong>n. Der Gedanke,<br />

daß Frauen <strong>de</strong>n klaren T<strong>ro</strong>mpetenton sauberer B<strong>ro</strong>nchien<br />

einem von Viren kün<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Schnorcheln vorziehen, ist gut


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 471<br />

und schön, aber ich gestehe, daß es mir schwerfällt, mir<br />

vorzustellen, daß Frauen überhaupt positiv auf einen Schnarcher<br />

reagieren. Doch die persönliche Intuition ist bekanntlich<br />

unzuverlässig. Vielleicht wür<strong>de</strong> dies zumin<strong>de</strong>st ein Forschungsp<strong>ro</strong>jekt<br />

für eine an Schlaflosigkeit lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Ärztin abgeben.<br />

Diese könnte sich übrigens in einer guten Ausgangsposition<br />

befin<strong>de</strong>n, um die an<strong>de</strong>re Theorie ebenfalls zu testen.<br />

Der Leser sollte diese bei<strong>de</strong>n Spekulationen nicht allzu ernst<br />

nehmen. Sie haben ihren Zweck erfüllt, <strong>wen</strong>n sie das Prinzip<br />

<strong>de</strong>r Hamiltonschen Theorie darüber, wie die Frauen gesun<strong>de</strong><br />

Männer auszuwählen versuchen, zweifelsfrei erklärt haben.<br />

Vielleicht das Interessanteste an ihnen ist, daß sie die Verbindung<br />

zwischen Hamiltons Parasitentheorie und Amotz Zahavis<br />

Theorie <strong>de</strong>s „Handikaps“ aufzeigen. Wenn <strong>de</strong>r Leser <strong>de</strong>r<br />

Logik meiner Hypothese über <strong>de</strong>n Penis folgt, sind die Männer<br />

durch <strong>de</strong>n Verlust <strong>de</strong>s Knochens gehandikapt, und das Handikap<br />

besteht nicht zufällig. Die hydraulische Anpreisung funktioniert<br />

gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>shalb, weil die Erektion manchmal versagt.<br />

Lesern, die mit <strong>de</strong>m Darwinismus vertraut sind, wird diese<br />

Implikation eines „Handikaps“ gewiß aufgefallen sein, und<br />

sie hat möglicherweise einen schweren Verdacht bei ihnen<br />

ausgelöst. Ich bitte sie, ihr Urteil noch bis nach <strong>de</strong>r Lektüre <strong>de</strong>r<br />

nächsten Anmerkung zurückzuhalten, die sich mit einer neuen<br />

Betrachtungsweise <strong>de</strong>s Handikap-Prinzips befaßt.<br />

7 In <strong>de</strong>r ersten Auflage schrieb ich: „Ich halte nicht sehr viel<br />

von dieser Theorie, obwohl ich in meiner Skepsis nicht mehr<br />

ganz so sicher bin, wie ich dies war, als ich sie zum ersten<br />

Mal hörte.“ Ich bin f<strong>ro</strong>h, daß ich jenes „obwohl“ hinzugefügt<br />

habe, <strong>de</strong>nn Zahavis Theorie scheint heute weit glaubwürdiger<br />

zu sein als damals. Mehrere geachtete Theoretiker haben neuerdings<br />

begonnen, sie ernst zu nehmen. Am meisten beunruhigt<br />

mich, daß zu ihnen mein Kollege Alan Grafen gehört, <strong>de</strong>r,<br />

wie bereits irgendwo gedruckt steht, „die höchst ärgerliche<br />

Gewohnheit hat, immer recht zu haben“. Er übertrug Zahavis<br />

in Worten ausgedrückte I<strong>de</strong>en in ein mathematisches Mo<strong>de</strong>ll


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 472<br />

und behauptet, es funktioniere. Außer<strong>de</strong>m sei sein Mo<strong>de</strong>ll im<br />

Gegensatz zu <strong>de</strong>n Spielereien an<strong>de</strong>rer kein verrücktes, esoterisches<br />

Zerrbild von Zahavis Theorie, son<strong>de</strong>rn eine unmittelbare<br />

mathematische Übersetzung. Ich wer<strong>de</strong> Grafens ursprüngliche<br />

ESS-Version seines Mo<strong>de</strong>lls erörtern, obgleich er selbst jetzt<br />

an einer rein genetischen Version arbeitet, die in verschie<strong>de</strong>ner<br />

Hinsicht über das ESS-Mo<strong>de</strong>ll hinausreichen wird.<br />

Dies be<strong>de</strong>utet nicht, daß das ESS-Mo<strong>de</strong>ll falsch ist. Es ist<br />

eine gute Annäherung. Tatsächlich sind alle ESS-Mo<strong>de</strong>lle,<br />

einschließlich <strong>de</strong>rjenigen in diesem Buch, in <strong>de</strong>mselben Sinne<br />

Annäherungen.<br />

Das Handikap-Prinzip ist prinzipiell auf alle Situationen<br />

an<strong>wen</strong>dbar, in <strong>de</strong>nen Individuen die Qualität an<strong>de</strong>rer Individuen<br />

zu beurteilen versuchen, aber wir wer<strong>de</strong>n uns darauf<br />

beschränken, von Männchen zu sprechen, die sich Weibchen<br />

anpreisen. Dies um <strong>de</strong>r Klarheit willen; es ist einer jener Fälle,<br />

in <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Sexismus von P<strong>ro</strong>nomen wirklich nützlich ist.<br />

Grafen bemerkt, daß es min<strong>de</strong>stens vier Möglichkeiten gibt,<br />

das Handikap-Prinzip aufzufassen. Es sind dies: das Qualifizieren<strong>de</strong><br />

Handikap (je<strong>de</strong>s Männchen, das t<strong>ro</strong>tz seines Handikaps<br />

überlebt hat, muß ansonsten ziemlich gut sein, daher wählen<br />

Weibchen es aus); das Enthüllen<strong>de</strong> Handikap (Männchen vollbringen<br />

eine beschwerliche Aufgabe, um ihre sonst verborgenen<br />

Fähigkeiten aufzuzeigen); das Bedingte Handikap (nur<br />

hervorragen<strong>de</strong> Männchen entwickeln überhaupt ein Handikap);<br />

und schließlich Grafens bevorzugte Interpretation, die er<br />

das Strategisch gewählte Handikap nennt (Männchen haben<br />

Informationen über ihre eigene Qualität, die <strong>de</strong>n Weibchen verborgen<br />

sind, und sie „entschei<strong>de</strong>n“ auf <strong>de</strong>r Grundlage dieser<br />

Informationen, ob sie ein Handikap entwickeln o<strong>de</strong>r nicht<br />

und wie g<strong>ro</strong>ß es sein sollte). Grafens Interpretation <strong>de</strong>s Strategisch<br />

gewählten Handikaps eignet sich zur ESS-Analyse. Es<br />

besteht keine vorherige Annahme, daß die Mittel, mit <strong>de</strong>nen<br />

die Männchen für sich werben, teuer sein o<strong>de</strong>r ein Handikap<br />

bil<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n. Ganz im Gegenteil, die Männchen können je<strong>de</strong><br />

Art von Reklame entwickeln, ehrlich o<strong>de</strong>r unehrlich, teuer<br />

o<strong>de</strong>r billig. Aber Grafen zeigt, daß ein Handikap-System, <strong>wen</strong>n


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 473<br />

man ihm diese Startfreiheit erlaubt, sich wahrscheinlich als<br />

evolutionär stabil herausstellt. Er geht dabei von vier Annahmen<br />

aus:<br />

1. Die Männchen unterschei<strong>de</strong>n sich qualitativ. Qualität ist<br />

keine vage Eigenschaft, auf die man auf snobistische, gedankenlose<br />

Weise stolz sein kann, etwa <strong>de</strong>r Besuch einer bestimmten<br />

Universität o<strong>de</strong>r die Zugehörigkeit zu einer Bru<strong>de</strong>rschaft.<br />

(Ich erhielt einmal einen Brief von einem Leser, <strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>m<br />

Satz schloß: „Ich hoffe, Sie halten dies nicht für ar<strong>ro</strong>gant,<br />

aber schließlich bin ich Balliol-Schüler“.) Für Grafen be<strong>de</strong>utet<br />

Qualität, daß es so etwas wie gute Männchen und<br />

schlechte Männchen gibt in <strong>de</strong>m Sinne, daß Weibchen genetisch<br />

davon p<strong>ro</strong>fitieren, <strong>wen</strong>n sie sich mit guten Männchen<br />

paaren und schlechte vermei<strong>de</strong>n. Qualität be<strong>de</strong>utet Dinge wie<br />

Muskelstärke, Laufgeschwindigkeit, die Fähigkeit, Beute zu<br />

fin<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r gute Nester zu bauen. Wir sprechen nicht über <strong>de</strong>n<br />

tatsächlichen Fortpflanzungserfolg eines Männchens, da dieser<br />

davon beeinflußt wird, ob es von <strong>de</strong>n Weibchen ausgewählt<br />

wird o<strong>de</strong>r nicht. Wür<strong>de</strong>n wir zu diesem <strong>Zeit</strong>punkt darüber<br />

sprechen, so wür<strong>de</strong> dies be<strong>de</strong>uten, daß wir <strong>de</strong>n fraglichen<br />

Punkt von vornherein als bewiesen ansehen, während das<br />

Mo<strong>de</strong>ll ihn bestätigen kann o<strong>de</strong>r nicht.<br />

2. Die Weibchen können die Qualität <strong>de</strong>r Männchen nicht<br />

direkt erkennen, son<strong>de</strong>rn müssen sich an <strong>de</strong>ren Reklame orientieren.<br />

Zu diesem <strong>Zeit</strong>punkt machen wir keine Annahme<br />

darüber, ob die Reklame ehrlich ist. Ehrlichkeit ist etwas, das<br />

aus <strong>de</strong>m Mo<strong>de</strong>ll hervorgehen kann o<strong>de</strong>r nicht; wie<strong>de</strong>rum ist<br />

dies <strong>de</strong>r Zweck <strong>de</strong>s Mo<strong>de</strong>lls. Ein Männchen könnte zum Beispiel<br />

gepolsterte Schultern entwickeln, um Größe und Stärke<br />

vorzuspiegeln. Es ist Aufgabe <strong>de</strong>s Mo<strong>de</strong>lls, uns zu zeigen, ob<br />

ein solches vorgespiegeltes Signal evolutionär stabil ist, o<strong>de</strong>r<br />

ob die natürliche Auslese anständige und ehrliche Reklame<br />

zum Standard erhebt.<br />

3. An<strong>de</strong>rs als die Weibchen, von <strong>de</strong>nen sie in Augenschein<br />

genommen wer<strong>de</strong>n, „kennen“ die Männchen in gewissem


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 474<br />

Sinne ihre eigene Qualität; und sie <strong>wen</strong><strong>de</strong>n eine „Reklamestrategie“<br />

an, eine Metho<strong>de</strong>, für sich zu werben, die von ihrer<br />

Qualität abhängig ist. Wie üblich meine ich mit „kennen“<br />

kein bewußtes Kennen. Aber wir gehen davon aus, daß die<br />

Männchen Gene besitzen, die, abhängig von <strong>de</strong>r eigenen<br />

Qualität <strong>de</strong>s Männchens, angeschaltet wer<strong>de</strong>n (und privilegierter<br />

Zugang zu dieser Information ist keine unvernünftige<br />

Annahme; die Gene eines Männchens sind schließlich in die<br />

Biochemie seines Körpers eingebun<strong>de</strong>n und haben damit eine<br />

weit bessere Ausgangsposition, um auf seine Qualität zu reagieren,<br />

als die Gene <strong>de</strong>r Weibchen). Verschie<strong>de</strong>ne Männchen<br />

<strong>wen</strong><strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>ne Regeln an. Beispielsweise folgt ein<br />

Männchen <strong>de</strong>r Regel „Zeige einen Schwanz, <strong>de</strong>ssen Größe<br />

p<strong>ro</strong>portional zu <strong>de</strong>iner wahren Qualität ist“; ein an<strong>de</strong>res folgt<br />

möglicherweise <strong>de</strong>r entgegengesetzten Regel. Dies gibt <strong>de</strong>r<br />

natürlichen Auslese die Möglichkeit, die Regeln zu steuern,<br />

in<strong>de</strong>m sie zwischen <strong>de</strong>n Männchen auswählt, die genetisch<br />

p<strong>ro</strong>grammiert sind, unterschiedliche Regeln anzu<strong>wen</strong><strong>de</strong>n. Das<br />

Ausmaß <strong>de</strong>r Reklame muß nicht direkt p<strong>ro</strong>portional zur wirklichen<br />

Qualität sein; ja, ein Männchen könnte <strong>de</strong>r umgekehrten<br />

Regel <strong>de</strong>n Vorzug geben. Es ist weiter nichts nötig, als<br />

daß die Männchen p<strong>ro</strong>grammiert sind, bei <strong>de</strong>r „Betrachtung“<br />

ihrer wahren Qualität und <strong>de</strong>r darauf basieren<strong>de</strong>n „Entscheidung“<br />

für das Ausmaß <strong>de</strong>r Reklame – etwa die Größe <strong>de</strong>s<br />

Schwanzes o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Geweihs – nach irgen<strong>de</strong>iner Regel vorzugehen.<br />

Welche <strong>de</strong>r möglichen Regeln schließlich evolutionär<br />

stabil sein wer<strong>de</strong>n, ist abermals etwas, das das Mo<strong>de</strong>ll herauszufin<strong>de</strong>n<br />

bemüht ist.<br />

4. Die Weibchen besitzen parallel dazu die Freiheit, ihre eigenen<br />

Regeln zu entwickeln. In ihrem Fall geht es bei <strong>de</strong>n Regeln<br />

darum, die Männchen auf <strong>de</strong>r Basis <strong>de</strong>r Überzeugungskraft<br />

ihrer Reklame auszuwählen (erinnern wir uns, daß die Weibchen,<br />

o<strong>de</strong>r vielmehr ihre Gene, nicht über die privilegierte<br />

Kenntnis <strong>de</strong>r wirklichen Qualität verfügen, wie die Männchen<br />

sie haben). Beispielsweise mag ein Weibchen die Regel<br />

zugrun<strong>de</strong> legen: „Glaube <strong>de</strong>n Männchen hun<strong>de</strong>rtp<strong>ro</strong>zentig.“<br />

Ein an<strong>de</strong>res Weibchen dagegen könnte die Regel an<strong>wen</strong><strong>de</strong>n:


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 475<br />

„Ignoriere die Reklame <strong>de</strong>r Männchen hun<strong>de</strong>rtp<strong>ro</strong>zentig.“ Und<br />

wie<strong>de</strong>rum ein an<strong>de</strong>res die Regel: „Nimm das Gegenteil von<br />

<strong>de</strong>m an, was die Reklame sagt.“<br />

Wir stellen uns also Männchen vor, bei <strong>de</strong>nen die Regeln für die<br />

Beziehung zwischen eigener Qualität und Umfang <strong>de</strong>r Reklame<br />

variieren, und Weibchen mit verschie<strong>de</strong>nen Regeln für die<br />

Wahl <strong>de</strong>s Partners in Abhängigkeit vom Ausmaß <strong>de</strong>r Reklame.<br />

In bei<strong>de</strong>n Fällen verän<strong>de</strong>rn sich die Regeln fortwährend und<br />

unter genetischem Einfluß. Bis zu diesem Punkt in unserer<br />

Erörterung können die Männchen die Beziehung zwischen<br />

Qualität und Reklame nach je<strong>de</strong>r beliebigen Regel wählen;<br />

das gleiche gilt bei <strong>de</strong>n Weibchen für <strong>de</strong>n Zusammenhang zwischen<br />

Ausmaß <strong>de</strong>r männlichen Reklame und Wahl <strong>de</strong>s Partners.<br />

Aus <strong>de</strong>m Spektrum möglicher Regeln von Männchen und<br />

Weibchen suchen wir ein evolutionär stabiles Paar von Regeln.<br />

Dies ist ein <strong>wen</strong>ig wie das Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>r „treuen/flatterhaften“ und<br />

„sprö<strong>de</strong>n/leichtfertigen“ Individuen, und zwar insofern, als wir<br />

nach einer evolutionär stabilen männlichen Regel und einer<br />

evolutionär stabilen weiblichen Regel suchen. Dabei be<strong>de</strong>utet<br />

Stabilität wechselseitige Stabilität, also daß beim gleichzeitigen<br />

Wirken zweier Regeln bei<strong>de</strong> stabil sind. Wenn wir ein<br />

<strong>de</strong>rart stabiles Paar von Regeln fin<strong>de</strong>n können, so können wir<br />

sie untersuchen, um herauszufin<strong>de</strong>n, wie das Leben in einer<br />

Gesellschaft sein wür<strong>de</strong>, in <strong>de</strong>r die Geschlechter nach diesen<br />

Regeln spielen, und vor allem, ob es eine Welt mit Zahavischen<br />

Handikaps wäre. Grafen stellte sich die Aufgabe, ein solches<br />

wechselseitig stabiles Paar von Regeln zu fin<strong>de</strong>n. Wollte ich eine<br />

solche Aufgabe durchführen, so wür<strong>de</strong> ich mich vermutlich<br />

durch eine mühsame Computersimulation hindurchquälen.<br />

Ich wür<strong>de</strong> eine Auswahl an Männchen in <strong>de</strong>n Computer einspeisen,<br />

die eigene Qualität und Reklame nach unterschiedlichen<br />

Regeln zueinan<strong>de</strong>r in Beziehung setzen, sowie eine Auswahl<br />

an Weibchen, die sich bei <strong>de</strong>r Wahl ihrer Geschlechtspartner<br />

nach unterschiedlichen Regeln am Werbeaufwand <strong>de</strong>r<br />

Männchen orientieren. Dann wür<strong>de</strong> ich die Männchen und<br />

Weibchen im Computer herumlaufen lassen, sie wür<strong>de</strong>n aufein-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 476<br />

an<strong>de</strong>rtreffen, sich paaren, <strong>wen</strong>n das Wahlkriterium <strong>de</strong>s Weibchens<br />

erfüllt ist, und dann ihre männlichen und weiblichen<br />

Regeln an ihre Söhne und Töchter weitergeben. Und natürlich<br />

wür<strong>de</strong>n Individuen als Resultat ihrer ererbten „Qualität“<br />

überleben o<strong>de</strong>r nicht überleben. Im Verlauf <strong>de</strong>r Generationen<br />

wür<strong>de</strong>n die sich wan<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n Geschicke je<strong>de</strong>r einzelnen<br />

männlichen und je<strong>de</strong>r einzelnen weiblichen Regel als<br />

Verän<strong>de</strong>rungen in <strong>de</strong>ren Häufigkeit in <strong>de</strong>r Population erkennbar<br />

sein. Von <strong>Zeit</strong> zu <strong>Zeit</strong> wür<strong>de</strong> ich in <strong>de</strong>n Computer<br />

hineinsehen, um festzustellen, ob sich irgen<strong>de</strong>ine stabile<br />

Mischung herauskristallisiert. Diese Metho<strong>de</strong> wür<strong>de</strong> im Prinzip<br />

funktionieren, doch in <strong>de</strong>r Praxis trifft sie auf Schwierigkeiten.<br />

Glücklicherweise können Mathematiker zu <strong>de</strong>rselben<br />

Schlußfolgerung gelangen, wie eine Simulation sie liefern<br />

wür<strong>de</strong>, in<strong>de</strong>m sie eine Reihe von Gleichungen aufstellen und<br />

lösen. Grafen hat das getan. Ich wer<strong>de</strong> seinen mathematischen<br />

Gedankengang hier nicht wie<strong>de</strong>rholen und auch seine weiteren<br />

Annahmen nicht im einzelnen erklären. Statt <strong>de</strong>ssen<br />

komme ich unmittelbar zum Ergebnis. Er fand in <strong>de</strong>r Tat ein<br />

evolutionär stabiles Paar von Regeln.<br />

Nun zu <strong>de</strong>r g<strong>ro</strong>ßen Frage. Stellt Grafens ESS die Art von Welt<br />

dar, die Zahavi als eine Welt <strong>de</strong>r Handikaps und Ehrlichkeit<br />

erkennen wür<strong>de</strong>? Die Antwort lautet ja. Grafen fand heraus,<br />

daß es in <strong>de</strong>r Tat eine evolutionär stabile Welt geben kann, die<br />

die folgen<strong>de</strong>n, Zahavis Theorie entsprechen<strong>de</strong>n Eigenschaften<br />

in sich vereint:<br />

1. Obwohl sie die freie strategische Wahl <strong>de</strong>s Reklameaufwands<br />

haben, entschei<strong>de</strong>n sich die Männchen für ein Niveau, das ihre<br />

wahre Qualität korrekt wie<strong>de</strong>rgibt, selbst <strong>wen</strong>n das be<strong>de</strong>utet<br />

zu zeigen, daß diese gering ist. Mit an<strong>de</strong>ren Worten, bei ESS<br />

sind die Männchen ehrlich.<br />

2. Obwohl sie die freie strategische Wahl <strong>de</strong>r Reaktion auf die<br />

Reklame <strong>de</strong>r Männchen haben, entschei<strong>de</strong>n sich die Weibchen<br />

schließlich für die Strategie „Glaube <strong>de</strong>n Männchen“. Bei ESS<br />

zeigen die Weibchen gerechtfertigterweise „Vertrauen“.<br />

3. Reklame ist teuer. Mit an<strong>de</strong>ren Worten, <strong>wen</strong>n wir auf irgen<strong>de</strong>ine<br />

Weise die Effekte von Qualität und Anziehungskraft igno-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 477<br />

rieren könnten, ginge es einem Männchen besser, <strong>wen</strong>n es<br />

keine Reklame machte (und dabei Energie sparte o<strong>de</strong>r <strong>wen</strong>iger<br />

auffällig für einen Räuber wäre). Nicht nur ist Reklame<br />

teuer; ein Reklamesystem wird gera<strong>de</strong> wegen seiner Kosten<br />

ausgewählt. Es wird gewählt, weil es <strong>de</strong>n Effekt hat, <strong>de</strong>n Erfolg<br />

<strong>de</strong>s Reklametreiben<strong>de</strong>n zu verringern – unter sonst gleichen<br />

Umstän<strong>de</strong>n.<br />

4. Reklame ist für schlechtere Männchen teurer. Derselbe<br />

Reklameaufwand erhöht das Risiko für ein schwächliches<br />

Männchen mehr als für ein starkes Männchen. Für Männchen<br />

von niedriger Qualität be<strong>de</strong>utet teure Reklame ein größeres<br />

Risiko als für Männchen von hoher Qualität.<br />

Diese Eigenschaften, beson<strong>de</strong>rs die von Punkt 3, entsprechen<br />

hun<strong>de</strong>rtp<strong>ro</strong>zentig Zahavis Theorie. Grafens Demonstration,<br />

daß sie unter glaubwürdigen Bedingungen evolutionär stabil<br />

sind, wirkt sehr überzeugend. Aber das gleiche gilt für Zahavis<br />

Kritiker, die die erste Auflage dieses Buches beeinflußten<br />

und die zu <strong>de</strong>m Schluß kamen, daß Zahavis I<strong>de</strong>en in <strong>de</strong>r Evolution<br />

nicht funktionieren könnten. Wir sollten uns nicht mit<br />

Grafens Schlußfolgerungen zufrie<strong>de</strong>ngeben, solange wir nicht<br />

sicher sind zu verstehen, wo – <strong>wen</strong>n überhaupt – jene früheren<br />

Kritiker Fehler gemacht haben. Von welcher Annahme gingen<br />

sie aus, die sie zu einem an<strong>de</strong>ren Schluß führte? Ein Teil <strong>de</strong>r<br />

Antwort scheint darin zu liegen, daß sie ihren hypothetischen<br />

Tieren nicht die Wahl aus einem kontinuierlichen Spektrum<br />

von Strategien erlaubten. Dies be<strong>de</strong>utete häufig, daß sie Zahavis<br />

verbale I<strong>de</strong>en in <strong>de</strong>r einen o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren <strong>de</strong>r ersten drei<br />

von Grafen angeführten Arten <strong>de</strong>r Interpretation verstan<strong>de</strong>n<br />

– als das Qualifizieren<strong>de</strong> Handikap, das Enthüllen<strong>de</strong> Handikap<br />

o<strong>de</strong>r das Bedingte Handikap. Sie zogen keine Version<br />

<strong>de</strong>r vierten Interpretation, <strong>de</strong>s Strategisch gewählten Handikaps,<br />

in Betracht. Das Resultat war entwe<strong>de</strong>r, daß es ihnen<br />

überhaupt nicht gelang, das Handikap-Prinzip zum Funktionieren<br />

zu bringen, o<strong>de</strong>r daß es zwar funktionierte, aber nur unter<br />

speziellen, mathematisch abstrakten Bedingungen, die nicht<br />

die volle Zahavische paradoxe Qualität besaßen. Außer<strong>de</strong>m


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 478<br />

ist es ein wesentlicher Zug <strong>de</strong>s Handikap-Prinzips mit Strategisch<br />

gewähltem Handikap, daß bei ESS sowohl hochqualifizierte<br />

als auch gering qualifizierte Individuen dieselbe Strategie<br />

spielen, nämlich „Mache ehrliche Reklame“. Bei älteren<br />

Mo<strong>de</strong>llen setzte man voraus, daß hochqualifizierte Männchen<br />

an<strong>de</strong>re Strategien an<strong>wen</strong><strong>de</strong>n als Männchen von niedriger<br />

Qualität und somit eine an<strong>de</strong>re Reklame entwickeln. Dagegen<br />

geht Grafen davon aus, daß bei ESS die Unterschie<strong>de</strong> zwischen<br />

<strong>de</strong>n hohe und niedrige Qualität signalisieren<strong>de</strong>n Individuen<br />

<strong>de</strong>shalb entstehen, weil sie alle dieselbe Strategie benutzen<br />

– ihre unterschiedliche Reklame ergibt sich, weil ihre unterschiedliche<br />

Qualität durch die Signalisierungsregel wahrheitsgetreu<br />

kundgetan wird.<br />

Wir haben immer zugegeben, daß Signale in <strong>de</strong>r Tat Handikaps<br />

sein können. Wir haben immer verstan<strong>de</strong>n, daß durch<br />

die Evolution extreme Handikaps entstehen können, insbeson<strong>de</strong>re<br />

als Konsequenz <strong>de</strong>r geschlechtlichen Auslese, t<strong>ro</strong>tz <strong>de</strong>r<br />

Tatsache, daß sie Handikaps sind. Der Teil von Zahavis Theorie,<br />

<strong>de</strong>m wir uns alle wi<strong>de</strong>rsetzt haben, war <strong>de</strong>r Gedanke, daß<br />

Signale von <strong>de</strong>r Auslese gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>shalb begünstigt wer<strong>de</strong>n<br />

könnten, weil sie Handikaps für die Signalisieren<strong>de</strong>n sind. Daß<br />

dies zutrifft, hat Alan Grafen allem Anschein nach bewiesen.<br />

Wenn Grafen recht hat – und ich glaube, das ist <strong>de</strong>r Fall<br />

–, so ist dieses Resultat von erheblicher Be<strong>de</strong>utung für das<br />

gesamte Studium <strong>de</strong>r Tiersignale. Es könnte sogar eine radikale<br />

Verän<strong>de</strong>rung unserer ganzen Betrachtungsweise <strong>de</strong>r Evolution<br />

<strong>de</strong>s Verhaltens erfor<strong>de</strong>rlich machen, eine radikale Verän<strong>de</strong>rung<br />

auch unserer Haltung zu vielen <strong>de</strong>r in diesem Buch erörterten<br />

Fragen. Geschlechtliche Reklame ist lediglich eine Art <strong>de</strong>r<br />

Reklame. Wenn die Zahavi-Grafen-Theorie zutrifft, so wird sie<br />

die Vorstellungen <strong>de</strong>r Biologen über die Beziehungen zwischen<br />

Rivalen <strong>de</strong>sselben Geschlechts, zwischen Eltern und Jungen<br />

sowie zwischen Fein<strong>de</strong>n unterschiedlicher Arten völlig auf <strong>de</strong>n<br />

Kopf stellen. Ich halte diese Aussicht für ziemlich beunruhigend,<br />

<strong>de</strong>nn sie be<strong>de</strong>utet, daß Theorien von fast unbegrenzter<br />

Verrücktheit nicht mehr beiseite geschoben wer<strong>de</strong>n können,<br />

nur weil sie <strong>de</strong>m gesun<strong>de</strong>n Menschenverstand wi<strong>de</strong>rsprechen.


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 479<br />

Wenn wir beobachten, wie ein Tier etwas wirklich Törichtes<br />

tut, etwa auf <strong>de</strong>m Kopf steht, statt vor einem Lö<strong>wen</strong> davonzulaufen,<br />

so ist es möglich, daß es dies tut, um einem Weibchen<br />

zu imponieren. Vielleicht gibt es sogar vor <strong>de</strong>m Lö<strong>wen</strong> an: „Ich<br />

bin ein Tier von solch hoher Qualität, daß du <strong>de</strong>ine <strong>Zeit</strong> vergeu<strong>de</strong>n<br />

wür<strong>de</strong>st, <strong>wen</strong>n du versuchen solltest, mich zu fangen“.<br />

Aber so verrückt etwas in meinen Augen auch sein mag,<br />

die natürliche Auslese mag an<strong>de</strong>re Vorstellungen darüber<br />

haben. Ein Tier wird im Angesicht eines geifern<strong>de</strong>n Ru<strong>de</strong>ls von<br />

Räubern Rückwärtssaltos schlagen, <strong>wen</strong>n das damit verbun<strong>de</strong>ne<br />

Risiko die Reklame stärker steigert, als es <strong>de</strong>n Anpreisen<strong>de</strong>n<br />

in Gefahr bringt. Es ist gera<strong>de</strong> ihre Gefährlichkeit, die<br />

die Geste so imposant macht. Natürlich wird die natürliche<br />

Auslese nicht unbegrenzte Gefahr för<strong>de</strong>rn. Sobald <strong>de</strong>r Exhibitionismus<br />

ein<strong>de</strong>utig tollkühn wird, wird er bestraft wer<strong>de</strong>n.<br />

Eine riskante o<strong>de</strong>r teure Leistung mag uns verrückt erscheinen.<br />

Aber unsere Meinung ist nicht gefragt. Nur die natürliche<br />

Auslese hat das Recht zu urteilen.<br />

10. Kratz mir meinen Rücken, dann reite ich auf <strong>de</strong>inem!<br />

1 Zumin<strong>de</strong>st dachten wir das damals. Aber wir hatten unsere<br />

Rechnung ohne die Nacktmulle gemacht. Nacktmulle sind<br />

eine Spezies haarloser, fast blin<strong>de</strong>r kleiner Nagetiere, die in<br />

g<strong>ro</strong>ßen unterirdischen Kolonien in <strong>de</strong>n T<strong>ro</strong>ckengebieten von<br />

Kenia, Somalia und Äthiopien leben. Sie scheinen echte „soziale<br />

Insekten“ <strong>de</strong>r Säugetierwelt zu sein. Die bahnbrechen<strong>de</strong>n<br />

Untersuchungen, die Jennifer Jarvis von <strong>de</strong>r Universität Kapstadt<br />

an in Gefangenschaft leben<strong>de</strong>n Kolonien durchführte,<br />

sind jetzt durch die Feldstudien von Robert Brett in Kenia<br />

ergänzt wor<strong>de</strong>n; weitere Untersuchungen an in Gefangenschaft<br />

leben<strong>de</strong>n Kolonien wer<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n USA von Richard Alexan<strong>de</strong>r<br />

und Paul Sherman durchgeführt. Diese vier Forscher<br />

haben ein gemeinsames Buch versp<strong>ro</strong>chen, <strong>de</strong>m zumin<strong>de</strong>st ich<br />

mit g<strong>ro</strong>ßem Interesse entgegensehe. Die vorliegen<strong>de</strong> Darstellung<br />

beruht auf <strong>de</strong>r Lektüre <strong>de</strong>r <strong>wen</strong>igen bereits erschiene-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 480<br />

nen Publikationen und <strong>de</strong>m, was ich in <strong>de</strong>n Forschungsvorlesungen<br />

von Paul Sherman und Robert Brett gehört habe.<br />

Außer<strong>de</strong>m hatte ich das Privileg, von <strong>de</strong>m damaligen Kurator<br />

<strong>de</strong>r Säugetierabteilung <strong>de</strong>s Londoner Zoos, Brian Bertram, die<br />

dortige Nacktmullekolonie gezeigt zu bekommen.<br />

Nacktmulle leben in weitverzweigten unterirdischen Gangsystemen.<br />

Typische Kolonien zählen 70 o<strong>de</strong>r 80 Tiere, die Zahl<br />

<strong>de</strong>r Individuen kann aber bis auf mehrere hun<strong>de</strong>rt ansteigen.<br />

Das Gangnetz, das von einer Kolonie besetzt wird, kann<br />

eine Gesamtlänge von drei bis mehr als vier Kilometern<br />

haben, und eine Kolonie kann jährlich drei o<strong>de</strong>r vier Tonnen<br />

Er<strong>de</strong> ausgraben. Das Tunnelgraben ist eine gemeinschaftliche<br />

Tätigkeit. Ein Arbeiter bil<strong>de</strong>t die Spitze und gräbt mit seinen<br />

Zähnen vorwärts; dabei schiebt er die Er<strong>de</strong> durch ein leben<strong>de</strong>s<br />

Fließband, eine b<strong>ro</strong><strong>de</strong>ln<strong>de</strong>, scharren<strong>de</strong> Kette aus einem halben<br />

Dutzend kleiner <strong>ro</strong>sa Tiere, nach hinten. Von <strong>Zeit</strong> zu <strong>Zeit</strong> wird<br />

er von einem <strong>de</strong>r weiter hinten Arbeiten<strong>de</strong>n abgelöst.<br />

Nur ein einziges Weibchen in <strong>de</strong>r Kolonie pflanzt sich fort,<br />

und zwar über eine <strong>Zeit</strong>spanne von mehreren Jahren. Jarvis<br />

<strong>wen</strong><strong>de</strong>t, meiner Meinung nach zu recht, die Terminologie für<br />

staatenbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Insekten an und nennt dieses Weibchen die<br />

Königin. Die Königin paart sich mit nicht mehr als zwei o<strong>de</strong>r<br />

drei Männchen. Alle an<strong>de</strong>ren Individuen bei<strong>de</strong>rlei Geschlechts<br />

pflanzen sich nicht fort, wie die Arbeiter bei Insekten. Und<br />

<strong>wen</strong>n man die Königin entfernt, wer<strong>de</strong>n, wie bei vielen sozialen<br />

Insekten, mehrere zuvor sterile Weibchen fruchtbar und<br />

kämpfen miteinan<strong>de</strong>r um die Position <strong>de</strong>r Königin.<br />

Die sterilen Individuen wer<strong>de</strong>n „Arbeiter“ genannt, und<br />

wie<strong>de</strong>rum ist dies gerechtfertigt. Es gibt Arbeiter bei<strong>de</strong>rlei<br />

Geschlechts wie bei <strong>de</strong>n Termiten (während man bei Ameisen,<br />

Bienen und Wespen nur Arbeiterinnen fin<strong>de</strong>t). Die Aufgaben<br />

eines Arbeiters bei <strong>de</strong>n Nacktmullen hängen von seiner<br />

Körpergröße ab. Die kleinsten, die Jarvis „Vielarbeiter“ nennt,<br />

graben und transportieren Er<strong>de</strong>, füttern die Jungen und<br />

nehmen vermutlich <strong>de</strong>r Königin alles ab, damit diese sich<br />

auf das Gebären konzentrieren kann. Sie hat größere Würfe,<br />

als dies für Säugetiere ihrer Größe normal ist; auch dies


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 481<br />

erinnert an die Königinnen staatenbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Insekten. Die<br />

größten unter <strong>de</strong>n nicht fortpflanzungsfähigen Individuen<br />

scheinen außer schlafen und fressen <strong>wen</strong>ig zu tun, während<br />

die mittelg<strong>ro</strong>ßen sich auf dazwischenliegen<strong>de</strong> Weise verhalten:<br />

Es besteht ein Kontinuum wie bei <strong>de</strong>n Bienen anstelle getrennter<br />

Kasten wie bei vielen Ameisen.<br />

Ursprünglich nannte Jarvis die größten nicht fortpflanzungsfähigen<br />

Individuen Nichtarbeiter. Aber konnte es wirklich<br />

sein, daß sie nichts tun? Inzwischen haben sowohl Laborals<br />

auch Feldbeobachtungen einige Hinweise darauf geliefert,<br />

daß sie Soldaten sind, die die Kolonie verteidigen, <strong>wen</strong>n sie<br />

bed<strong>ro</strong>ht wird; die wichtigsten Räuber sind Schlangen. Es<br />

besteht auch die Möglichkeit, daß sie wie die „Honigtöpfe“<br />

<strong>de</strong>r Honigameisen als „Nahrungsbehälter“ fungieren. Nacktmulle<br />

sind „homokop<strong>ro</strong>phag“, was eine höfliche Ausdrucksweise<br />

dafür ist, daß sie gegenseitig ihre Exkremente fressen<br />

(nicht ausschließlich, das wür<strong>de</strong> mit <strong>de</strong>n Gesetzen <strong>de</strong>s Universums<br />

in Kollision geraten). Vielleicht spielen die g<strong>ro</strong>ßen Individuen<br />

eine wertvolle Rolle, in<strong>de</strong>m sie ihre Exkremente in ihrem<br />

Körper speichern, <strong>wen</strong>n es Nahrung in Fülle gibt, so daß sie als<br />

Notspeisekammer dienen können – eine Art verstopfte Verpflegungseinheit.<br />

Das für mich verblüffendste Merkmal <strong>de</strong>r Nacktmulle ist,<br />

daß sie, obwohl sie in so vielerlei Hinsicht <strong>de</strong>n staatenbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />

Insekten ähneln, keine Kaste zu haben scheinen, die <strong>de</strong>n<br />

jungen geflügelten Geschlechtstieren <strong>de</strong>r Ameisen und Termiten<br />

entspricht. Natürlich gibt es bei ihnen fortpflanzungsfähige<br />

Individuen, aber diese beginnen ihre Karriere nicht damit,<br />

daß sie davonfliegen und ihre Gene in neuen Gebieten verbreiten.<br />

Soweit wir wissen, wachsen Nacktmullkolonien einfach<br />

an <strong>de</strong>n Rän<strong>de</strong>rn, in<strong>de</strong>m die Tiere das unterirdische Gangsystem<br />

vergrößern. Anscheinend gehen aus ihnen keine Individuen<br />

hervor, die ausschwärmen und an<strong>de</strong>rswo neue Kolonien<br />

grün<strong>de</strong>n. Dies ist für meine darwinistische Intuition so<br />

überraschend, daß es mich zu Spekulationen verleitet. Ich vermute,<br />

wir wer<strong>de</strong>n eines Tages eine Ausbreitungsphase ent<strong>de</strong>kken,<br />

die aus irgen<strong>de</strong>inem Grun<strong>de</strong> bisher übersehen wor<strong>de</strong>n


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 482<br />

ist. Es wäre übertrieben zu hoffen, daß <strong>de</strong>n fortziehen<strong>de</strong>n<br />

Individuen wortwörtlich Flügel wachsen! Aber sie könnten<br />

auf verschie<strong>de</strong>nerlei Art für das Leben an <strong>de</strong>r Erdoberfläche<br />

und nicht unter <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> ausgerüstet sein, beispielsweise<br />

könnten sie ein Haarkleid haben. Nacktmulle regulieren ihre<br />

Körpertemperatur nicht auf dieselbe Weise, wie normale<br />

Säugetiere dies tun; sie sind mehr wie „kaltblütige“ Reptilien.<br />

Möglicherweise kont<strong>ro</strong>llieren sie die Temperatur gemeinschaftlich<br />

– eine weitere Ähnlichkeit zu Termiten und Bienen.<br />

O<strong>de</strong>r nutzen sie vielleicht die konstante Temperatur aus, die<br />

bekanntlich eine typische Eigenschaft je<strong>de</strong>s guten Kellers darstellt?<br />

Auf alle Fälle könnten meine hypothetischen davonziehen<strong>de</strong>n<br />

Individuen, an<strong>de</strong>rs als die unterirdisch arbeiten<strong>de</strong>n,<br />

traditionelle „Warmblüter“ sein. Ist es vorstellbar, daß<br />

ein bereits bekanntes behaartes Säugetier, das bisher als eine<br />

völlig verschie<strong>de</strong>ne Art klassifiziert wor<strong>de</strong>n ist, sich als die verlorene<br />

Kaste <strong>de</strong>r Nacktmulle erweist?<br />

Schließlich gibt es entsprechen<strong>de</strong> Präze<strong>de</strong>nzfälle. Wan<strong>de</strong>rheuschrecken<br />

zum Beispiel leben normalerweise so einsam,<br />

versteckt und zurückgezogen, wie das für ihre Verwandten, die<br />

Heupfer<strong>de</strong>, typisch ist. Aber unter gewissen Bedingungen kann<br />

sich ihre Lebensweise radikal – und katast<strong>ro</strong>phal – än<strong>de</strong>rn.<br />

Sie verlieren ihre Tarnfarbe und wer<strong>de</strong>n lebhaft gestreift. Man<br />

könnte dies beinahe als Warnung auffassen. Unbegrün<strong>de</strong>t<br />

wäre eine solche Warnung je<strong>de</strong>nfalls nicht, <strong>de</strong>nn das Verhalten<br />

<strong>de</strong>r Tiere än<strong>de</strong>rt sich ebenfalls. Sie geben ihr Einsiedlerdasein<br />

auf und schließen sich zu Ban<strong>de</strong>n zusammen, und zwar<br />

mit bed<strong>ro</strong>hlichem Resultat. Von <strong>de</strong>n legendären biblischen<br />

Heuschreckenplagen bis zum heutigen Tag ist kein Tier als<br />

Zerstörer menschlichen Wohlstands <strong>de</strong>rart gefürchtet wor<strong>de</strong>n.<br />

Wan<strong>de</strong>rheuschrecken bil<strong>de</strong>n Schwärme von Millionenstärke<br />

– Mähdrescher, die Dutzen<strong>de</strong> von Kilometern breite Pfa<strong>de</strong><br />

dreschen, manchmal Hun<strong>de</strong>rte von Kilometern p<strong>ro</strong> Tag<br />

zurücklegen, täglich 2000 Tonnen Getrei<strong>de</strong> verschlingen und<br />

eine Welle von Hunger und Zerstörung hinter sich zurücklassen.<br />

Und nun kommen wir zu <strong>de</strong>r möglichen Analogie mit Nacktmullen.<br />

Der Unterschied zwischen einem einzelgängerischen


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 483<br />

Individuum und seiner schwarmbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Inkarnation ist<br />

nicht größer als <strong>de</strong>r zwischen zwei Ameisenkasten. Außer<strong>de</strong>m<br />

galten, gera<strong>de</strong> wie wir für die „verlorene Kaste“ <strong>de</strong>r Nacktmulle<br />

postuliert hatten, Solitär- und Schwarmform <strong>de</strong>r Wan<strong>de</strong>rheuschrecken<br />

bis 1921 als verschie<strong>de</strong>ne Arten.<br />

Aber lei<strong>de</strong>r erscheint es nicht allzu wahrscheinlich, daß<br />

sich die Säugetierexperten bis zum heutigen Tag <strong>de</strong>rart haben<br />

täuschen lassen. Übrigens sollte ich erwähnen, daß gelegentlich<br />

gewöhnliche, unverän<strong>de</strong>rte Nacktmulle an <strong>de</strong>r Oberfläche gesehen<br />

wer<strong>de</strong>n, und vielleicht reisen sie weiter, als man allgemein<br />

annimmt. Aber bevor wir die Spekulationen über „verwan<strong>de</strong>lte<br />

Geschlechtstiere“ ganz aufgeben, läßt uns <strong>de</strong>r Vergleich<br />

mit <strong>de</strong>n Wan<strong>de</strong>rheuschrecken an eine weitere Möglichkeit<br />

<strong>de</strong>nken. Vielleicht bringen Nacktmulle ja tatsächlich verwan<strong>de</strong>lte<br />

Geschlechtstiere hervor, allerdings nur unter bestimmten<br />

Bedingungen – und diese sind in <strong>de</strong>n letzten Jahrzehnten nicht<br />

eingetreten. In Afrika und im Nahen Osten sind Heuschreckenplagen<br />

immer noch eine Bed<strong>ro</strong>hung, genauso wie in biblischen<br />

<strong>Zeit</strong>en. Aber in Nordamerika liegen die Dinge an<strong>de</strong>rs. Auch<br />

dort gibt es einige Wan<strong>de</strong>rheuschreckenarten. Dennoch sind,<br />

anscheinend weil die Bedingungen nicht die richtigen waren,<br />

in diesem Jahrhun<strong>de</strong>rt in Nordamerika keine Heuschreckenplagen<br />

aufgetreten. (Allerdings tauchen Zika<strong>de</strong>n, eine gänzlich<br />

an<strong>de</strong>re Sorte von Schadinsekten, immer noch plötzlich und<br />

mit schöner Regelmäßigkeit in g<strong>ro</strong>ßen Schwärmen auf und<br />

wer<strong>de</strong>n verwirren<strong>de</strong>rweise in <strong>de</strong>r amerikanischen Umgangssprache<br />

als „Wan<strong>de</strong>rheuschrecken“ bezeichnet.) Nichts<strong>de</strong>sto<strong>wen</strong>iger<br />

wäre es nicht beson<strong>de</strong>rs überraschend, <strong>wen</strong>n heute<br />

in Amerika eine echte Wan<strong>de</strong>rheuschreckenplage aufträte:<br />

Der Vulkan ist nicht erloschen, er schläft lediglich. Doch es<br />

wäre eine Überraschung – eine schlimme –, <strong>wen</strong>n wir keine<br />

schriftlich überlieferten historischen Zeugnisse und Informationen<br />

aus an<strong>de</strong>ren Teilen <strong>de</strong>r Welt besäßen, <strong>de</strong>nn dann<br />

wären die Tiere in <strong>de</strong>n Augen aller nichts als gewöhnliche,<br />

einzelgängerische, harmlose Grashüpfer. Was wäre, <strong>wen</strong>n die<br />

Nacktmulle wie die amerikanischen Wan<strong>de</strong>rheuschrecken sind,<br />

darauf vorbereitet, eine an<strong>de</strong>re, sich ausbreiten<strong>de</strong> Kaste her-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 484<br />

vorzubringen, aber nur unter Bedingungen, die aus irgen<strong>de</strong>inem<br />

Grun<strong>de</strong> in diesem Jahrhun<strong>de</strong>rt nicht eingetreten sind? Im<br />

19. Jahrhun<strong>de</strong>rt könnte Ostafrika von herumschwärmen<strong>de</strong>n<br />

Plagen behaarter Nacktmulle heimgesucht wor<strong>de</strong>n sein, die<br />

wie Lemminge an <strong>de</strong>r Oberfläche wan<strong>de</strong>rten, ohne daß<br />

Berichte darüber bis heute erhalten geblieben wären. O<strong>de</strong>r<br />

sind sie vielleicht doch in <strong>de</strong>n Legen<strong>de</strong>n und Sagen von<br />

Eingeborenenstämmmen festgehalten?<br />

2 Die bemerkenswerte Genialität von Hamiltons Hypothese<br />

<strong>de</strong>r „3/4-Verwandtschaft“, die er für <strong>de</strong>n beson<strong>de</strong>ren Fall <strong>de</strong>r<br />

Hautflügler aufstellte, hat sich paradoxerweise als ein Hin<strong>de</strong>rnis<br />

für die Glaubwürdigkeit seiner allgemeineren und grundlegen<strong>de</strong>n<br />

Theorie erwiesen. Die Geschichte von <strong>de</strong>r haplodiploi<strong>de</strong>n<br />

3/4-Verwandtschaft ist gera<strong>de</strong> noch unkompliziert genug,<br />

um für je<strong>de</strong>rmann mit ein <strong>wen</strong>ig Anstrengung verständlich<br />

zu sein, aber auch schon so schwierig, daß man stolz darauf<br />

ist, sie verstan<strong>de</strong>n zu haben, und begierig, sie an<strong>de</strong>ren<br />

weiterzuerzählen. Sie ist ein gutes „Mem“. Wenn man Hamiltons<br />

Theorie nicht durch die Lektüre seiner Publikationen,<br />

son<strong>de</strong>rn durch eine Unterhaltung im Café o<strong>de</strong>r Gasthaus kennenlernt,<br />

so hört man mit sehr g<strong>ro</strong>ßer Wahrscheinlichkeit von<br />

nichts an<strong>de</strong>rem als von <strong>de</strong>r Haplodiploidie. Heutzutage ist<br />

je<strong>de</strong>s Lehrbuch <strong>de</strong>r Biologie, gleichgültig wie kurz es sich mit<br />

<strong>de</strong>r Verwandtschaftsselektion befaßt, beinahe gezwungen, <strong>de</strong>r<br />

„3/4-Verwandtschaft“ einen Absatz zu widmen. Ein Kollege, <strong>de</strong>r<br />

heute als Kapazität für das Sozialverhalten g<strong>ro</strong>ßer Säugetiere<br />

gilt, hat mir gestan<strong>de</strong>n, daß er jahrelang geglaubt hat, Hamiltons<br />

Theorie <strong>de</strong>r Verwandtschaftsselektion sei die Hypothese<br />

<strong>de</strong>r 3/4-Verwandtschaft und nicht mehr! All dies hat folgen<strong>de</strong><br />

Konsequenz: Sollten neu ent<strong>de</strong>ckte Fakten uns einmal veranlassen,<br />

die Be<strong>de</strong>utung dieser einen Hypothese anzuzweifeln,<br />

so könnte dies leicht als Beweis gegen die gesamte Theorie<br />

<strong>de</strong>r Verwandtschaftsauslese angesehen wer<strong>de</strong>n. Es ist so, als<br />

schriebe ein g<strong>ro</strong>ßer Komponist eine lange und höchst originelle<br />

Symphonie, in <strong>de</strong>r eine beson<strong>de</strong>re Melodie, die kurz in<br />

<strong>de</strong>r Mitte auftaucht, so unmittelbar mitreißend ist, daß sie zum


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 485<br />

Gassenhauer wird. Man i<strong>de</strong>ntifiziert daraufhin die ganze Symphonie<br />

mit dieser einen Melodie, und <strong>wen</strong>n diese dann irgendwann<br />

einmal ihren Zauber verliert, glauben die Leute, daß sie<br />

die ganze Symphonie nicht mehr mögen.<br />

Nehmen wir zum Beispiel einen ansonsten brauchbaren<br />

Artikel von Linda Gamlin über Nacktmulle, <strong>de</strong>r kürzlich in <strong>de</strong>r<br />

<strong>Zeit</strong>schrift New Scientist veröffentlicht wur<strong>de</strong>. Er ist ernstlich<br />

durch die Anspielung beeinträchtigt, daß Nacktmulle und Termiten<br />

in gewisser Hinsicht eine Schwierigkeit für Hamiltons<br />

These darstellen, einfach weil sie nicht haplodiploid sind! Es<br />

fällt schwer zu glauben, daß die Autorin Hamiltons klassisches<br />

Paar von Veröffentlichungen jemals auch nur gesehen<br />

hat, <strong>de</strong>nn dort nimmt die Haplodiploidie von <strong>de</strong>n fünfzig<br />

Seiten nicht mehr als vier in Anspruch. Sie muß sich auf<br />

Sekundärquellen verlassen haben – nicht auf Das egoistische<br />

Gen, hoffe ich.<br />

Ein weiteres aufschlußreiches Beispiel betrifft die Blattlaussoldaten,<br />

die ich in <strong>de</strong>n Anmerkungen zu Kapitel 6 beschrieben<br />

habe. Wie dort erklärt ist, sollte man, da Blattläuse Klone eineiiger<br />

Mehrlinge bil<strong>de</strong>n, bei ihnen mit g<strong>ro</strong>ßer Sicherheit altruistische<br />

Selbstaufopferung erwarten. Hamilton wur<strong>de</strong> dieser<br />

Zusammenhang im Jahre 1964 klar, und er machte sich nicht<br />

geringe Mühe, die peinliche Tatsache zu erklären, daß – soweit<br />

damals bekannt war – Tierklone keinerlei beson<strong>de</strong>re Ten<strong>de</strong>nz<br />

zu altruistischem Verhalten zeigten. Als man die Blattlaussoldaten<br />

ent<strong>de</strong>ckte, hätte diese Ent<strong>de</strong>ckung kaum perfekter mit<br />

Hamiltons Theorie im Einklang stehen können. Doch i<strong>ro</strong>nischerweise<br />

behan<strong>de</strong>lt <strong>de</strong>r Originalbeitrag, <strong>de</strong>r jene Ent<strong>de</strong>ckung<br />

verkün<strong>de</strong>t, die Blattlaussoldaten, als stellten sie eine Schwierigkeit<br />

für Hamiltons Theorie dar, da Blattläuse nicht haplodiploid<br />

sind!<br />

Bei <strong>de</strong>n Termiten – die ebenfalls häufig als eine Schwierigkeit<br />

für Hamiltons Theorie angesehen wer<strong>de</strong>n – setzt sich<br />

die I<strong>ro</strong>nie fort, <strong>de</strong>nn Hamilton selbst entwickelte im Jahre<br />

1972 eine <strong>de</strong>r genialsten Theorien darüber, warum diese Tiere<br />

zum sozialen Leben übergingen, eine Theorie, die man als<br />

intelligente Analogie zur Haplodiploidie-Hypothese ansehen


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 486<br />

kann. Diese sogenannte Theorie <strong>de</strong>r zyklischen Inzucht wird<br />

gewöhnlich S. Bartz zugeschrieben, <strong>de</strong>r sie sieben Jahre nach<br />

Hamiltons Originalveröffentlichung entwickelte. Typischerweise<br />

vergaß Hamilton selbst, daß ihm die „Bartzsche Theorie“<br />

zuerst eingefallen war, und ich mußte ihm erst seinen eigenen<br />

Beitrag unter die Nase halten, damit er es endlich glaubte!<br />

Doch lassen wir die Frage <strong>de</strong>r Priorität beiseite; die Theorie<br />

selbst ist so interessant, daß ich bedaure, sie nicht in <strong>de</strong>r ersten<br />

Auflage erörtert zu haben. Ich wer<strong>de</strong> diese Unterlassung jetzt<br />

korrigieren.<br />

Ich sagte, die Theorie sei eine kluge Analogie zur Haplodiploidie-Hypothese.<br />

Damit meinte ich folgen<strong>de</strong>s. Vom Standpunkt<br />

<strong>de</strong>r sozialen Evolution her gesehen ist das wesentliche<br />

Merkmal haplodiploi<strong>de</strong>r Tiere, daß ein Individuum seinen<br />

leiblichen Geschwistern genetisch näher sein kann als seinen<br />

Nachkommen. Hierdurch wird es prädisponiert, im elterlichen<br />

Nest zu bleiben und Geschwister g<strong>ro</strong>ßzuziehen, statt<br />

das Nest zu verlassen, um eigene Nachkommen in die Welt<br />

zu setzen und aufzuziehen. Hamilton suchte einen Grund,<br />

warum auch bei <strong>de</strong>n Termiten die leiblichen Geschwister einan<strong>de</strong>r<br />

genetisch näher sein könnten als Eltern ihren Jungen.<br />

Den Schlüssel liefert die Inzucht. Wenn Tiere sich mit ihren<br />

Geschwistern paaren, wer<strong>de</strong>n ihre daraus entstehen<strong>de</strong>n Nachkommen<br />

genetisch einheitlicher. Weiße Mäuse je<strong>de</strong>r beliebigen<br />

Laborrasse sind genetisch nahezu mit eineiigen Zwillingen<br />

gleichzusetzen. Der Grund ist, daß sie aus einer langen<br />

Reihe von Bru<strong>de</strong>r-Schwester-Paarungen hervorgegangen sind.<br />

Ihre Genome wer<strong>de</strong>n hochgradig homozygot, um <strong>de</strong>n Fachausdruck<br />

zu benutzen: Die bei<strong>de</strong>n Allele an nahezu je<strong>de</strong>m Genlocus<br />

sind i<strong>de</strong>ntisch, und sie stimmen auch mit <strong>de</strong>n Genen <strong>de</strong>sselben<br />

Locus in allen an<strong>de</strong>ren Individuen <strong>de</strong>r Rasse überein.<br />

In <strong>de</strong>r Natur treffen wir nicht oft auf lange Reihen inzestuöser<br />

Paarungen, aber es gibt eine be<strong>de</strong>utsame Ausnahme – die Termiten!<br />

Ein typisches Termitennest wird von einem König und einer<br />

Königin gegrün<strong>de</strong>t, die sich dann ausschließlich miteinan<strong>de</strong>r<br />

paaren, bis einer von ihnen stirbt. Seinen o<strong>de</strong>r ihren Platz


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 487<br />

nimmt dann einer ihrer Nachkommen ein, <strong>de</strong>r sich inzestuös<br />

mit <strong>de</strong>m überleben<strong>de</strong>n Elternteil paart. Wenn bei<strong>de</strong> Teile <strong>de</strong>s<br />

ursprünglichen Königspaares sterben, wer<strong>de</strong>n sie von einem<br />

inzestuösen Bru<strong>de</strong>r-Schwester-Paar ersetzt und so weiter.<br />

Eine reife Kolonie hat wahrscheinlich mehrere Könige und<br />

Königinnen verloren, und die Nachkommenschaft, die nach<br />

einigen Jahren aufgezogen wird, ist wahrscheinlich sehr stark<br />

durch Inzucht erzeugt, ebenso wie Labormäuse. Im Verlauf<br />

<strong>de</strong>r Jahre wer<strong>de</strong>n die Geschlechtstiere in einem Termitennest<br />

immer wie<strong>de</strong>r durch ihre Nachkommen o<strong>de</strong>r Geschwister<br />

ersetzt, und die durchschnittliche Homozygotie sowie <strong>de</strong>r mittlere<br />

Verwandtschaftskoeffizient nehmen immer weiter zu. Doch<br />

dies ist erst <strong>de</strong>r erste Schritt in Hamiltons Beweisführung.<br />

Jetzt folgt <strong>de</strong>r geniale Teil.<br />

Das Endp<strong>ro</strong>dukt je<strong>de</strong>s Insektenstaates sind neue Geschlechtstiere,<br />

die aus <strong>de</strong>r elterlichen Kolonie ausfliegen, sich paaren<br />

und eine neue Kolonie grün<strong>de</strong>n. Dabei besteht eine gute<br />

Chance, daß die Paarungen <strong>de</strong>r neuen jungen Könige und<br />

Königinnen nicht inzestuös sind. Es sieht in <strong>de</strong>r Tat so aus, als<br />

gäbe es beson<strong>de</strong>re Synch<strong>ro</strong>nisierungsmechanismen, die dafür<br />

sorgen, daß alle Termitennester in einer Region am selben<br />

Tag geflügelte Geschlechtstiere p<strong>ro</strong>duzieren, vermutlich, um<br />

die Paarung nicht näher verwandter Individuen zu för<strong>de</strong>rn.<br />

Betrachten wir also die genetischen Konsequenzen einer Paarung<br />

zwischen einem jungen König aus Kolonie A und einer<br />

jungen Königin aus Kolonie B. Bei<strong>de</strong> sind in hohem Maße<br />

durch Inzucht entstan<strong>de</strong>n und insofern Labormäusen vergleichbar.<br />

Da sie aber die P<strong>ro</strong>dukte verschie<strong>de</strong>ner, voneinan<strong>de</strong>r<br />

unabhängiger P<strong>ro</strong>gramme inzestuöser Fortpflanzung sind,<br />

wer<strong>de</strong>n sie auch genetisch voneinan<strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>n sein. Sie<br />

sind wie durch Inzucht erzeugte weiße Mäuse, die unterschiedlichen<br />

Laborrassen angehören. Wenn sie sich paaren,<br />

wer<strong>de</strong>n ihre Nachkommen hochgradig hete<strong>ro</strong>zygot, aber einheitlich<br />

hete<strong>ro</strong>zygot sein. Hochgradig hete<strong>ro</strong>zygot be<strong>de</strong>utet,<br />

daß an vielen Genloci zwei voneinan<strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>ne Allele<br />

sitzen. Einheitlich hete<strong>ro</strong>zygot be<strong>de</strong>utet, daß fast alle Nachkommen<br />

in genau <strong>de</strong>rselben Weise hete<strong>ro</strong>zygot sein wer<strong>de</strong>n.


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 488<br />

Sie wer<strong>de</strong>n genetisch nahezu i<strong>de</strong>ntisch mit ihren Geschwistern<br />

sein, aber gleichzeitig hochgradig hete<strong>ro</strong>zygot.<br />

Betrachten wir nun die Verhältnisse einige <strong>Zeit</strong> später. Die<br />

neue Kolonie mit ihrem Grün<strong>de</strong>rpaar ist gewachsen. Sie ist von<br />

einer g<strong>ro</strong>ßen Anzahl i<strong>de</strong>ntischer hete<strong>ro</strong>zygoter junger Termiten<br />

bevölkert. Stellen wir uns vor, was geschehen wird, <strong>wen</strong>n<br />

das Grün<strong>de</strong>rpaar beziehungsweise ein Teil dieses Paares stirbt.<br />

Der alte Inzuchtzyklus wird wie<strong>de</strong>r beginnen, mit bemerkenswerten<br />

Folgen. In <strong>de</strong>r ersten inzestuös erzeugten Generation<br />

wird die genetische Variabilität gegenüber <strong>de</strong>r vorhergegangenen<br />

Generation dramatisch erhöht sein. Es ist gleichgültig, ob<br />

wir uns eine Bru<strong>de</strong>r-Schwester-, eine Vater-Tochter- o<strong>de</strong>r eine<br />

Mutter-Sohn-Paarung vorstellen. Das Prinzip ist in allen Fällen<br />

dasselbe, aber es ist am einfachsten, eine Bru<strong>de</strong>r-Schwester-<br />

Paarung zu betrachten. Wenn Bru<strong>de</strong>r und Schwester in i<strong>de</strong>ntischer<br />

Weise hete<strong>ro</strong>zygot sind, wer<strong>de</strong>n ihre Nachkommen ein<br />

höchst variabler Mischmasch genetischer Rekombinationen<br />

sein. Dies ergibt sich aus elementarer Men<strong>de</strong>lscher Genetik<br />

und gilt im Prinzip für alle Tiere und Pflanzen, nicht nur für<br />

Termiten. Nimmt man einheitlich hete<strong>ro</strong>zygote Individuen und<br />

kreuzt sie entwe<strong>de</strong>r miteinan<strong>de</strong>r o<strong>de</strong>r mit einer <strong>de</strong>r homozygoten<br />

Elternrassen, so bricht – genetisch gesp<strong>ro</strong>chen – die Hölle<br />

los. Der Grund dafür läßt sich in je<strong>de</strong>m einführen<strong>de</strong>n Lehrbuch<br />

<strong>de</strong>r Genetik nachlesen, und ich wer<strong>de</strong> ihn nicht genauer<br />

erklären. Die für unsere Betrachtungen wichtige Konsequenz<br />

ist, daß während dieser Entwicklungsphase einer Termitenkolonie<br />

ein Individuum typischerweise seinen Geschwistern<br />

genetisch näher ist als seinen möglichen Nachkommen. Und<br />

dies ist, wie wir im Fall <strong>de</strong>r haplodiploi<strong>de</strong>n Hymenopteren<br />

sahen, eine wahrscheinliche Voraussetzung für die Evolution<br />

altruistisch steriler Arbeiterkasten.<br />

Aber selbst <strong>wen</strong>n es keinen beson<strong>de</strong>ren Grund zu <strong>de</strong>r<br />

Annahme gibt, daß die Individuen einer Population ihren<br />

Geschwistern näher stehen als ihren Nachkommen, gibt es<br />

häufig genug gute Grün<strong>de</strong> anzunehmen, daß sie ihnen genauso<br />

nahestehen. Die einzige Voraussetzung, die dazu erfüllt sein<br />

muß, ist ein gewisser Grad an Monogamie. In gewisser Weise


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 489<br />

ist es von Hamiltons Standpunkt aus eher überraschend, daß<br />

es nicht mehr Arten gibt, bei <strong>de</strong>nen sterile Arbeiter ihre<br />

jüngeren Brü<strong>de</strong>r und Schwestern aufziehen. Tatsächlich weit<br />

verbreitet ist dagegen, wie sich immer mehr herausstellt, eine<br />

Art verwässerter Version <strong>de</strong>s Phänomens <strong>de</strong>r sterilen Arbeiter,<br />

die als „im Nest helfen“ bekannt ist. Bei vielen Vogel- und<br />

Säugetierarten bleiben junge Erwachsene während einer o<strong>de</strong>r<br />

zwei Fortpflanzungsperio<strong>de</strong>n bei ihren Eltern und helfen bei<br />

<strong>de</strong>r Aufzucht ihrer jüngeren Brü<strong>de</strong>r und Schwestern, bevor sie<br />

ausziehen, um eigene Familien zu grün<strong>de</strong>n. Kopien von Genen<br />

für diese Handlungsweise wer<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n Körpern <strong>de</strong>r Brü<strong>de</strong>r<br />

und Schwestern weitergegeben. Wenn wir davon ausgehen,<br />

daß die Nutznießer Vollgeschwister und keine Halbgeschwister<br />

sind, so bringt je<strong>de</strong>s in einen Bru<strong>de</strong>r o<strong>de</strong>r eine Schwester<br />

investierte Gramm Nahrung genetisch gesp<strong>ro</strong>chen genau <strong>de</strong>nselben<br />

Gewinn, als <strong>wen</strong>n es in ein Kind investiert wor<strong>de</strong>n<br />

wäre. Doch dies trifft nur unter sonst gleichen Voraussetzungen<br />

zu. Wir müssen uns die Ungleichheiten ansehen, <strong>wen</strong>n wir<br />

erklären wollen, warum das Helfen im Nest bei einigen Arten<br />

vorkommt und bei an<strong>de</strong>ren nicht.<br />

Denken wir zum Beispiel an eine Vogelart, die in hohlen<br />

Bäumen nistet. Diese Bäume sind wertvoll, <strong>de</strong>nn es gibt<br />

nur ein begrenztes Angebot von ihnen. Wenn ich ein junger<br />

Erwachsener bin, <strong>de</strong>ssen Eltern noch leben, so besitzen diese<br />

wahrscheinlich einen <strong>de</strong>r <strong>wen</strong>igen verfügbaren hohlen Bäume<br />

(<strong>wen</strong>igstens müssen sie noch vor kurzem einen besessen haben,<br />

sonst gäbe es mich nicht). Ich lebe also wahrscheinlich in<br />

einem hohlen Baum, <strong>de</strong>r ein blühen<strong>de</strong>s, gut funktionieren<strong>de</strong>s<br />

Unternehmen ist, und die neuen kleinen Bewohner dieser p<strong>ro</strong>duktiven<br />

Bruthöhle sind meine Vollgeschwister, die mir genetisch<br />

so nahe sind, wie meine eigenen Nachkommen es wären.<br />

Wenn ich gehe und mich allein durchzuschlagen versuche, so<br />

sind die Chancen, daß ich einen hohlen Baum besetzen kann,<br />

gering. Selbst <strong>wen</strong>n es mir gelingt, sind die Jungen, die ich<br />

aufziehe, mir genetisch nicht näher als Brü<strong>de</strong>r und Schwestern.<br />

Eine gegebene Menge an Anstrengungen, in <strong>de</strong>n hohlen<br />

Baum meiner Eltern investiert, ist mehr wert als dieselbe


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 490<br />

Menge an Anstrengungen, die ich in <strong>de</strong>n Versuch investiere,<br />

mich selbständig zu machen. Solche Bedingungen könnten<br />

also Geschwisterfürsorge – „im Nest helfen“ – för<strong>de</strong>rn.<br />

T<strong>ro</strong>tz<strong>de</strong>m müssen auch weiterhin einige Individuen – o<strong>de</strong>r<br />

alle Individuen für eine gewisse <strong>Zeit</strong> – hinausgehen und neue<br />

hohle Bäume suchen o<strong>de</strong>r was immer <strong>de</strong>m in ihrer Spezies<br />

entspricht. Um die Terminologie <strong>de</strong>s „Kin<strong>de</strong>rzeugens und Kin<strong>de</strong>rpflegens“<br />

aus Kapitel 7 zu benutzen: Irgend jemand muß<br />

die P<strong>ro</strong>duktion von Nachkommen übernehmen, sonst gäbe es<br />

keine Jungen, die man pflegen könnte! Das Wichtige hier ist<br />

nicht, daß „sonst die Art ausstirbt“. Vielmehr wer<strong>de</strong>n in je<strong>de</strong>r<br />

Population, die von Genen für reines Pflegen beherrscht ist,<br />

Gene für Kin<strong>de</strong>rerzeugen einen Vorteil haben. Bei staatenbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />

Insekten wird die Erzeuger<strong>ro</strong>lle von <strong>de</strong>n Königinnen<br />

und Männchen ausgefüllt. Sie sind es, die in die Welt hinausgehen<br />

und nach neuen „hohlen Bäumen“ suchen, und das ist <strong>de</strong>r<br />

Grund, weshalb sie Flügel haben, selbst bei <strong>de</strong>n Ameisen, <strong>de</strong>ren<br />

Arbeiter flügellos sind. Diese Kasten <strong>de</strong>r fortpflanzungsfähigen<br />

Individuen sind für ihre gesamte Lebenszeit spezialisiert. Bei<br />

Vögeln und Säugetieren, die am Nest helfen, ist es an<strong>de</strong>rs. Je<strong>de</strong>s<br />

Individuum verbringt einen Teil seines Lebens (gewöhnlich<br />

die erste Fortpflanzungsperio<strong>de</strong>, die es als ausgewachsenes<br />

Tier erlebt, mitunter auch die ersten bei<strong>de</strong>n) als „Arbeiter“,<br />

<strong>de</strong>r dabei hilft, jüngere Brü<strong>de</strong>r und Schwestern g<strong>ro</strong>ßzuziehen,<br />

während er für <strong>de</strong>n verbleiben<strong>de</strong>n Teil seines Lebens darauf<br />

hinstrebt, „Geschlechtstier“ zu sein.<br />

Wie sieht es mit <strong>de</strong>n Nacktmullen aus <strong>de</strong>r vorigen Anmerkung<br />

aus? Sie sind ein perfektes Beispiel für das Prinzip <strong>de</strong>s<br />

„gutgehen<strong>de</strong>n Unternehmens“ o<strong>de</strong>r „hohlen Baumes“, obwohl<br />

ihr gutgehen<strong>de</strong>s Unternehmen nicht wortwörtlich einen hohlen<br />

Baum betrifft. Der Schlüssel zu ihrer Geschichte ist wahrscheinlich<br />

die ungleichmäßige Verteilung ihrer Nahrung im<br />

Savannenbo<strong>de</strong>n. Sie ernähren sich hauptsächlich von unterirdischen<br />

Wurzelknollen. Diese Knollen können sehr g<strong>ro</strong>ß<br />

sein und sehr tief liegen. Eine einzige Knolle einer solchen<br />

Spezies kann mehr wiegen als 1000 Nacktmulle und, <strong>wen</strong>n<br />

sie einmal gefun<strong>de</strong>n ist, die Kolonie monate- o<strong>de</strong>r sogar jah-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 491<br />

relang ernähren. Das P<strong>ro</strong>blem besteht darin, die Knollen zu<br />

fin<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nn sie sind unregelmäßig und sporadisch über die<br />

ganze Savanne verstreut. Die Nahrung <strong>de</strong>r Nacktmulle ist also<br />

schwer zu fin<strong>de</strong>n, aber aller Mühe wert, <strong>wen</strong>n sie erst einmal<br />

gefun<strong>de</strong>n ist. Robert Brett hat ausgerechnet, daß ein einzelner<br />

Nacktmull, <strong>de</strong>r allein arbeitet, so lange suchen müßte, um<br />

eine einzige Knolle zu fin<strong>de</strong>n, daß er seine Zähne beim Graben<br />

restlos abnutzen wür<strong>de</strong>. Eine g<strong>ro</strong>ße Kolonie, mit ihren kilometerlangen,<br />

eifrig pat<strong>ro</strong>ullierten Gängen, ist ein ergiebiges Knollenbergwerk.<br />

Je<strong>de</strong>m Individuum geht es ökonomisch besser,<br />

<strong>wen</strong>n es Teil einer Gemeinschaft von Bergleuten ist.<br />

Ein ausge<strong>de</strong>hntes Gangsystem, mit Dutzen<strong>de</strong>n von kooperieren<strong>de</strong>n<br />

Arbeitern bemannt, ist also ebenso ein funktionieren<strong>de</strong>r<br />

Betrieb wie unser hypothetischer „hohler Baum“, nur<br />

in noch stärkerem Maße! Vorausgesetzt, daß wir erstens in<br />

einem blühen<strong>de</strong>n kommunalen Labyrinth leben und daß zweitens<br />

unsere Mutter darin immer noch leibliche Brü<strong>de</strong>r und<br />

Schwestern erzeugt, wird <strong>de</strong>r Anreiz, zu gehen und eine<br />

eigene Familie zu grün<strong>de</strong>n, in <strong>de</strong>r Tat sehr klein. Selbst <strong>wen</strong>n<br />

einige <strong>de</strong>r Jungtiere nur Halbgeschwister sind, kann das Argument<br />

<strong>de</strong>s „gut funktionieren<strong>de</strong>n Unternehmens“ noch mächtig<br />

genug sein, um junge Erwachsene zu Hause zurückzuhalten.<br />

3 Richard Alexan<strong>de</strong>r und Paul Sherman schrieben einen Beitrag,<br />

in <strong>de</strong>m sie die Metho<strong>de</strong>n und Schlußfolgerungen von Trivers<br />

und Hare kritisierten. Zwar stimmten sie ihnen zu, daß<br />

zugunsten <strong>de</strong>r Weibchen beeinflußte Geschlechterverhältnisse<br />

bei sozialen Insekten normal sind, zogen aber die Behauptung<br />

in Zweifel, daß diese <strong>de</strong>m Verhältnis drei zu eins sehr nahekommen.<br />

Sie zogen eine an<strong>de</strong>re Erklärung für die Geschlechterverteilung<br />

zugunsten <strong>de</strong>r Weibchen vor, die wie die von Trivers<br />

und Hare ursprünglich von Hamilton stammt. Ich fin<strong>de</strong><br />

Alexan<strong>de</strong>rs und Shermans Beweisführung recht überzeugend,<br />

bekenne mich aber zu <strong>de</strong>m instinktiven Gefühl, daß ein <strong>de</strong>rart<br />

schönes Stück Arbeit wie das von Trivers und Hare nicht ganz<br />

falsch sein kann. Alan Grafen machte mich in bezug auf meine<br />

Darstellung <strong>de</strong>r Geschlechterverhältnisse bei Hautflüglern in


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 492<br />

<strong>de</strong>r ersten Auflage dieses Buches auf ein an<strong>de</strong>res und eher<br />

besorgniserregen<strong>de</strong>s P<strong>ro</strong>blem aufmerksam. Ich habe seine<br />

Überlegung in meinem Buch The Exten<strong>de</strong>d Phenotype (Seite<br />

75-76) erklärt. Hier ist ein kurzer Auszug:<br />

Für die potentielle Arbeiterin ist es bei je<strong>de</strong>m beliebigen<br />

vorstellbaren Geschlechterverhältnis in <strong>de</strong>r Population<br />

gleichgültig, ob sie Geschwister o<strong>de</strong>r Nachkommen aufzieht.<br />

Nehmen wir daher an, das Geschlechterverhältnis<br />

sei zugunsten <strong>de</strong>r Weibchen beeinflußt, nehmen wir s<br />

ogar an, es entspräche <strong>de</strong>m von Trivers und Hare vor<br />

ausgesagten drei zu eins. Da die Arbeiterin mit ihrer<br />

Schwester näher verwandt ist als mit ihrem Bru<strong>de</strong>r<br />

o<strong>de</strong>r ihren Nachkommen bei<strong>de</strong>rlei Geschlechts, könnte<br />

man meinen, sie ziehe bei einem solchen, zugunsten<br />

<strong>de</strong>r Weibchen beeinflußten Geschlechterverhältnis „lieber“<br />

Geschwister statt Nachkommen g<strong>ro</strong>ß: Gewinnt sie<br />

nicht vor allem wertvolle Schwestern (plus nur einige<br />

relativ wertlose Brü<strong>de</strong>r), <strong>wen</strong>n sie sich zugunsten <strong>de</strong>r<br />

Geschwister entschei<strong>de</strong>t? Doch dieser Gedankengang<br />

läßt <strong>de</strong>n infolge ihrer Seltenheit relativ hohen Fortpflanzungswert<br />

<strong>de</strong>r Männchen in einer <strong>de</strong>rartigen Population<br />

außer acht. Die Arbeiterin ist möglicherweise nicht<br />

mit je<strong>de</strong>m ihrer Brü<strong>de</strong>r eng verwandt, aber <strong>wen</strong>n<br />

Männchen in <strong>de</strong>r Population insgesamt selten sind, ist<br />

die Wahrscheinlichkeit entsprechend hoch, daß je<strong>de</strong>r<br />

einzelne jener Brü<strong>de</strong>r zum Ahnherrn zukünftiger Generationen<br />

wird.<br />

4 Der bereits verstorbene bekannte Philosoph J. L. Mackie<br />

hat die Aufmerksamkeit auf eine interessante Konsequenz<br />

<strong>de</strong>r Tatsache gelenkt, daß Populationen meiner „Betrüger“<br />

und „Nachtragen<strong>de</strong>n“ gleichzeitig stabil sein können. Es mag<br />

„nichts zu machen“ sein, <strong>wen</strong>n eine Population bei einer ESS<br />

anlangt, die sie <strong>de</strong>m Untergang weiht; Mackie stellt zusätzlich<br />

fest, daß einige Sorten von ESS Populationen mit größerer


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 493<br />

Wahrscheinlichkeit <strong>de</strong>m Untergang weihen als an<strong>de</strong>re. In<br />

diesem speziellen Beispiel sind sowohl Betrüger als auch Nachtragen<strong>de</strong>r<br />

evolutionär stabil: Eine Population kann sich beim<br />

Betrüger-Gleichgewicht o<strong>de</strong>r beim Nachtragen<strong>de</strong>n-Gleichgewicht<br />

einpen<strong>de</strong>ln. Mackie behauptet, daß Populationen, bei<br />

<strong>de</strong>nen sich zufällig das Betrüger-Gleichgewicht einstellt, mit<br />

größerer Wahrscheinlichkeit anschließend aussterben wer<strong>de</strong>n.<br />

Es kann daher eine Art Selektion auf höherer Ebene, auf <strong>de</strong>r<br />

Ebene „zwischen evolutionär stabilen Strategien“, zugunsten<br />

<strong>de</strong>s wechselseitigen Altruismus geben. Dies läßt sich zu einem<br />

Argument zugunsten einer Art von Gruppenselektion weiterentwickeln,<br />

die, an<strong>de</strong>rs als die meisten Theorien <strong>de</strong>r Gruppenselektion,<br />

tatsächlich funktionieren kann. Ich habe <strong>de</strong>n<br />

Gedankengang in meinem Aufsatz In Defence of Selfish Genes<br />

genauer erklärt.<br />

11. Meme, die neuen Replikatoren<br />

1 Meine These, es wür<strong>de</strong> sich erweisen, daß sich alles Leben<br />

überall im Universum entsprechend <strong>de</strong>r Darwinschen Evolutionstheorie<br />

entwickelt hat, ist jetzt in meinem Aufsatz Universal<br />

Darwinism und im letzten Kapitel meines Buches Der blin<strong>de</strong><br />

Uhrmacher ausführlicher erklärt und begrün<strong>de</strong>t wor<strong>de</strong>n. Ich<br />

zeige, daß alle jemals vorgeschlagenen Alternativen zum Darwinismus<br />

im Prinzip nicht in <strong>de</strong>r Lage sind, die organisierte<br />

Komplexität <strong>de</strong>s Lebens zu erklären. Die Beweisführung ist<br />

allgemeiner Art, das heißt, sie beruht nicht auf <strong>de</strong>n spezifischen<br />

Eigenschaften <strong>de</strong>s Lebens, wie wir es kennen. Als solche<br />

ist sie von Wissenschaftlern kritisiert wor<strong>de</strong>n, die phantasielos<br />

genug sind zu meinen, die Sklavenarbeit über einem heißen<br />

Reagenzglas (o<strong>de</strong>r in kalten schlammigen Stiefeln) sei die einzige<br />

Metho<strong>de</strong>, mit <strong>de</strong>r man in <strong>de</strong>r Wissenschaft Ent<strong>de</strong>ckungen<br />

machen könne. Einer <strong>de</strong>r Kritiker beschwerte sich, meine<br />

Argumentation sei „philosophisch“, als ob dies ausreichte, um<br />

sie zu verwerfen. Philosophisch o<strong>de</strong>r nicht, Tatsache ist, daß


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 494<br />

we<strong>de</strong>r dieser Kritiker noch irgend jemand sonst auch nur <strong>de</strong>n<br />

geringsten Mangel an <strong>de</strong>m gefun<strong>de</strong>n hat, was ich sagte. Und<br />

„Im-Prinzip“-Argumentationen wie die meine können, ganz<br />

abgesehen davon, daß sie keineswegs für die reale Welt irrelevant<br />

sind, gewichtiger sein als Beweisführungen, die auf konkreten,<br />

spezifischen Forschungsergebnissen beruhen. Wenn<br />

meine Überlegungen richtig sind, so sagen sie uns etwas Wichtiges<br />

über das Leben überall im Universum. Labor- und Feldforschung<br />

können nur Aussagen über die Art von Leben liefern,<br />

die wir hier vorfin<strong>de</strong>n.<br />

2 Das Wort Mem scheint sich als ein gutes Mem zu erweisen.<br />

Es wird jetzt in ziemlich weiten Kreisen benutzt und wur<strong>de</strong><br />

1988 in die offizielle Liste von Wörtern aufgenommen, die<br />

für zukünftige Auflagen <strong>de</strong>r Oxford English Dictionaries in<br />

Betracht gezogen wer<strong>de</strong>n. Um so dringen<strong>de</strong>r möchte ich<br />

wie<strong>de</strong>rholen, daß meine Vorstellungen über die menschliche<br />

Kultur äußerst beschei<strong>de</strong>n waren. Meine wirklichen Ambitionen<br />

– und diese sind zugegebenermaßen g<strong>ro</strong>ß – gehen in eine<br />

gänzlich an<strong>de</strong>re Richtung. Ich möchte behaupten, daß Einheiten,<br />

die sich mit einer gewissen Fehlerquote selbst kopieren,<br />

nahezu unbegrenzte Macht haben, sobald sie irgendwo im<br />

Universum entstan<strong>de</strong>n sind. Solche Einheiten wer<strong>de</strong>n nämlich<br />

einer natürlichen Selektion unterliegen, <strong>de</strong>ren kumulatives<br />

Ergebnis nach ausreichend vielen Generationen Systeme von<br />

g<strong>ro</strong>ßer Komplexität sind. Ich glaube, daß sich Replikatoren<br />

unter <strong>de</strong>n richtigen Bedingungen automatisch zusammentun,<br />

um Systeme o<strong>de</strong>r Maschinen zu schaffen, von <strong>de</strong>nen sie herumgetragen<br />

wer<strong>de</strong>n und die ihre fortgesetzte Replikation<br />

begünstigen. Die ersten zehn Kapitel <strong>de</strong>s vorliegen<strong>de</strong>n Buches<br />

befassen sich ausschließlich mit einer Art von Replikator, <strong>de</strong>m<br />

Gen. Durch die Erörterung <strong>de</strong>r Meme im letzten Kapitel <strong>de</strong>r<br />

ersten Auflage versuchte ich, meine Argumentation auf Replikatoren<br />

im allgemeinen auszu<strong>de</strong>hnen und zu zeigen, daß Gene<br />

nicht die einzigen Angehörigen jener wichtigen Klasse sind.<br />

Ich bin mir nicht sicher, ob die Umwelt <strong>de</strong>r menschlichen


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 495<br />

Kultur tatsächlich das besitzt, was not<strong>wen</strong>dig ist, um eine Evolution<br />

im Darwinschen Sinne in Gang zu setzen. Diese Frage<br />

ist jedoch für mein Anliegen nebensächlich. Mit Kapitel 11<br />

habe ich erreicht, was ich wollte, <strong>wen</strong>n <strong>de</strong>r Leser das Buch<br />

mit <strong>de</strong>m Gefühl zuklappt, daß DNA-Moleküle nicht die einzigen<br />

Einheiten sind, an <strong>de</strong>nen eine Evolution angreifen<br />

kann. Meine Absicht war es, das Gen auf seine richtige Be<strong>de</strong>utung<br />

zurückzustutzen, und nicht, eine g<strong>ro</strong>ßartige Theorie <strong>de</strong>r<br />

menschlichen Kultur zu entwerfen.<br />

3 Die DNA ist ein sich selbst kopieren<strong>de</strong>s Stück Hardware.<br />

Je<strong>de</strong>s Stück hat eine spezifische Struktur, die sich von <strong>de</strong>r rivalisieren<strong>de</strong>r<br />

DNA-Stücke unterschei<strong>de</strong>t. Wenn Meme in Gehirnen<br />

<strong>de</strong>n Genen vergleichbar sind, so müssen sie sich selbst<br />

kopieren<strong>de</strong> Gehirnstrukturen sein, konkrete Muster neu<strong>ro</strong>naler<br />

Vernetzung, die sich in einem Gehirn nach <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren<br />

ausbil<strong>de</strong>n. Ich habe mich niemals sehr wohl dabei gefühlt, dies<br />

laut zu erklären, <strong>de</strong>nn wir wissen sehr viel <strong>wen</strong>iger über das<br />

Gehirn als über Gene und drücken uns daher not<strong>wen</strong>digerweise<br />

vage darüber aus, was eine solche Gehirnstruktur wirklich<br />

sein könnte. Daher war ich erleichtert, als ich vor kurzem<br />

eine sehr interessante Veröffentlichung von Juan Delius von<br />

<strong>de</strong>r Universität Konstanz erhielt. Im Gegensatz zu mir braucht<br />

Delius sich nicht unwohl zu fühlen, <strong>de</strong>nn er ist ein hervorragen<strong>de</strong>r<br />

Gehirnforscher, wohingegen ich überhaupt kein Gehirnspezialist<br />

bin. Ich bin daher begeistert darüber, daß er so mutig<br />

ist, diesen Punkt zu ver<strong>de</strong>utlichen, in<strong>de</strong>m er tatsächlich ein<br />

<strong>de</strong>tailliertes Bild davon veröffentlicht, wie die neu<strong>ro</strong>nale Hardware<br />

eines Mems aussehen könnte. Zu <strong>de</strong>n sonstigen interessanten<br />

Dingen, die er tut, gehört die Erforschung – und dabei<br />

geht er sehr viel tiefer, als ich es tat – <strong>de</strong>r Vergleichbarkeit<br />

von Memen mit Parasiten, genauer gesagt mit <strong>de</strong>m Spektrum,<br />

auf <strong>de</strong>m bösartige Parasiten das eine Extrem darstellen und<br />

wohltuen<strong>de</strong> „Symbionten“ das an<strong>de</strong>re. Ich bin von diesem<br />

Thema beson<strong>de</strong>rs angetan, weil ich selbst an <strong>de</strong>n „erweiterten<br />

phänotypischen“ Effekten parasitärer Gene auf das Wirtsverhalten<br />

interessiert bin (siehe Kapitel 13 dieses Buches und


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 496<br />

beson<strong>de</strong>rs Kapitel 12 meines Buches The Exten<strong>de</strong>d Phenotype).<br />

Nebenbei gesagt betont Delius <strong>de</strong>n Unterschied zwischen<br />

Memen und ihren („phänotypischen“) Effekten. Außer<strong>de</strong>m<br />

weist er nochmals auf die Be<strong>de</strong>utung von koadaptierten Memkomplexen<br />

hin, in <strong>de</strong>nen die Meme entsprechend ihrer wechselseitigen<br />

Kompatibilität selektiert wer<strong>de</strong>n.<br />

4 Mit <strong>de</strong>m schottischen Volkslied Auld Lang Syne (Die gute alte<br />

<strong>Zeit</strong>) habe ich unabsichtlich ein beson<strong>de</strong>rs brauchbares Beispiel<br />

gewählt. Es wird nämlich fast überall mit einem Fehler,<br />

einer Mutation, wie<strong>de</strong>rgegeben. Als Refrain hört man heute<br />

so gut wie immer „for the sake of auld lang syne“, während<br />

<strong>de</strong>r Text von Burns ursprünglich lautet „for auld lang syne“.<br />

Ein membewußter Darwinist stellt sich unverzüglich die Frage<br />

nach <strong>de</strong>m „Überlebenswert“ <strong>de</strong>r eingefügten Phrase „the sake<br />

of“ (um ... willen). Denken wir daran, daß wir nicht nach einer<br />

Art und Weise suchen, wie die Menschen besser überlebt haben<br />

mögen, in<strong>de</strong>m sie das Lied in verän<strong>de</strong>rter Form sangen. Wir<br />

möchten herausfin<strong>de</strong>n, auf welche Art die Än<strong>de</strong>rung selbst gut<br />

abgeschnitten hat, was ihr Überleben im Mempool betrifft.<br />

Je<strong>de</strong>r lernt das Lied in seiner Kindheit, nicht in<strong>de</strong>m er <strong>de</strong>n<br />

Text von Burns liest, son<strong>de</strong>rn weil er hört, wie es am Silvesterabend<br />

gesungen wird. Vor langer <strong>Zeit</strong> sangen alle vermutlich<br />

die richtigen Worte. „For the sake of“ muß als eine seltene<br />

Mutation entstan<strong>de</strong>n sein. Unsere Frage lautet: Warum hat die<br />

anfänglich seltene Mutation sich so hartnäckig ausgebreitet,<br />

daß sie heute im Mempool zur Norm gewor<strong>de</strong>n ist?<br />

Ich glaube, wir brauchen nicht lange nach <strong>de</strong>r Antwort zu<br />

suchen. Der Zischlaut s ist bekanntlich beson<strong>de</strong>rs durchdringend.<br />

Kirchenchöre wer<strong>de</strong>n darauf gedrillt, das stimmlose s<br />

so leicht wie möglich auszusprechen, damit nicht die ganze<br />

Kirche vom Zischen wi<strong>de</strong>rhallt. Von einem leise sprechen<strong>de</strong>n<br />

Priester am Altar einer g<strong>ro</strong>ßen Kathedrale hört man hinten im<br />

Kirchenschiff manchmal nur ein sporadisches Zischen – die<br />

S-Laute. Der an<strong>de</strong>re Konsonant in sake, das k, ist fast ebenso<br />

durchdringend. Stellen wir uns vor, daß neunzehn Leute korrekt<br />

„for auld lang syne“ singen, während eine einzige Person


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 497<br />

irgendwo im Raum das falsche „for the sake of auld lang syne“<br />

einfließen läßt. Ein Kind, das das Lied zum ersten Mal hört,<br />

möchte allzu gern mitsingen, weiß aber die Worte nicht genau.<br />

Obwohl fast alle „for auld lang syne“ singen, erzwingen das<br />

Zischen <strong>de</strong>s s und <strong>de</strong>r schnei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Laut <strong>de</strong>s k sich <strong>de</strong>n Weg in<br />

das Ohr <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s, und <strong>wen</strong>n es wie<strong>de</strong>r <strong>Zeit</strong> für <strong>de</strong>n Refrain<br />

ist, singt es auch „for the sake of auld lang syne“. Das mutante<br />

Mem hat ein weiteres Vehikel e<strong>ro</strong>rbert. Wenn an<strong>de</strong>re Kin<strong>de</strong>r<br />

in <strong>de</strong>r Nähe sind o<strong>de</strong>r Erwachsene, die sich <strong>de</strong>s Textes nicht<br />

sicher sind, wer<strong>de</strong>n sie mit größerer Wahrscheinlichkeit auf<br />

die mutierte Form umsteigen, <strong>wen</strong>n <strong>de</strong>r Refrain wie<strong>de</strong>r an <strong>de</strong>r<br />

Reihe ist. Es ist nicht so, daß sie die mutierte Form „vorziehen“.<br />

Sie wissen die Worte wirklich nicht und möchten sie<br />

tatsächlich gern lernen. Selbst <strong>wen</strong>n die, die es besser wissen,<br />

indigniert, so laut sie können, „for auld lang syne“ bellen (was<br />

ich übrigens tue!), haben die richtigen Worte zufällig keine auffallen<strong>de</strong>n<br />

Konsonanten, und die mutierte Form ist bei weitem<br />

leichter zu hören, selbst <strong>wen</strong>n sie leise und schüchtern gesungen<br />

wird.<br />

Ein ähnlicher Fall ist das patriotische Lied Rule Britannia.<br />

Die korrekte zweite Zeile <strong>de</strong>s Refrains lautet „Britannia, rule<br />

the waves“ (Britannien, herrsche über die Wellen). Sie wird<br />

häufig, <strong>wen</strong>n auch nicht überall als „Britannia rules the waves“<br />

(Britannien herrscht über die Wellen) gesungen. Hier erhält das<br />

hartnäckig zischen<strong>de</strong> s <strong>de</strong>s Mems Hilfe von einem zusätzlichen<br />

Faktor. Die Be<strong>de</strong>utung, die <strong>de</strong>r Dichter James Thompson<br />

im Sinne hatte, war vermutlich die Befehlsform (Britannien,<br />

geh hin und herrsche über die Wellen) o<strong>de</strong>r möglicherweise<br />

<strong>de</strong>r Konjunktiv (möge Britannien über die Wellen herrschen).<br />

Aber es ist oberflächlich gesehen leichter, <strong>de</strong>n Satz als Indikativ<br />

mißzuverstehen (Britannien herrscht in <strong>de</strong>r Tat über<br />

die Wellen). Dieses mutante Mem besitzt also zwei einzelne<br />

Überlebenswerte mehr als die ursprüngliche Form, an <strong>de</strong>ren<br />

Stelle es getreten ist: Sein Klang ist auffallen<strong>de</strong>r, und es ist<br />

leichter zu verstehen.<br />

Der entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Test für eine Hypothese sollte experimenteller<br />

Art sein. Es müßte möglich sein, das zischen<strong>de</strong> Mem


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 498<br />

bewußt mit einer sehr niedrigen Häufigkeit in <strong>de</strong>n Mempool<br />

einzugeben und dann zu beobachten, wie es sich auf Grund<br />

seines Überlebenswertes ausbreitet. Was geschähe, <strong>wen</strong>n ein<br />

paar von uns anfangen wür<strong>de</strong>n zu singen „God saves our gracious<br />

Queen“ statt „God save our gracious Queen“?<br />

5 Ich wäre sehr ärgerlich, <strong>wen</strong>n jemand dies in <strong>de</strong>m Sinne auffassen<br />

wollte, daß „Eingängigkeit“ das einzige Kriterium für<br />

das Akzeptieren einer wissenschaftlichen I<strong>de</strong>e ist. Schließlich<br />

sind einige wissenschaftliche I<strong>de</strong>en <strong>de</strong> facto richtig und an<strong>de</strong>re<br />

falsch! Ob sie richtig o<strong>de</strong>r falsch sind, läßt sich überprüfen,<br />

und ihre Logik läßt sich zerlegen. Sie sind nicht wie Popsongs,<br />

religiöse Sekten o<strong>de</strong>r Punkfrisuren. Dennoch gibt es sowohl<br />

eine Soziologie als auch eine Logik <strong>de</strong>r Wissenschaft. Einige<br />

schlechte wissenschaftliche I<strong>de</strong>en können sich ungeheuer verbreiten,<br />

zumin<strong>de</strong>st für eine Weile. Und einige gute I<strong>de</strong>en bleiben<br />

jahrelang unbeachtet, bevor sie schließlich die Vorstellungskraft<br />

<strong>de</strong>r Wissenschaftler e<strong>ro</strong>bern und kolonisieren.<br />

Als hervorragen<strong>de</strong>s Beispiel dieses Unbeachtetbleibens, <strong>de</strong>m<br />

eine um sich greifen<strong>de</strong> Verbreitung folgt, können wir eine <strong>de</strong>r<br />

Haupti<strong>de</strong>en dieses Buches anführen, nämlich Hamiltons Theorie<br />

<strong>de</strong>r Familien- o<strong>de</strong>r Verwandtschaftsselektion. Da ich sie für<br />

ein geeignetes Objekt hielt, habe ich an ihr die I<strong>de</strong>e ausp<strong>ro</strong>biert,<br />

die Verbreitung eines Mems dadurch zu messen, daß<br />

man zählt, wie viele Male es in <strong>Zeit</strong>schriften erwähnt wird.<br />

In <strong>de</strong>r ersten Auflage bemerkte ich: „Seine bei<strong>de</strong>n Aufsätze<br />

aus <strong>de</strong>m Jahre 1964 gehören zu <strong>de</strong>n be<strong>de</strong>utendsten Beiträgen<br />

zur Sozialethologie, die jemals geschrieben wor<strong>de</strong>n sind,<br />

und ich habe nie verstehen können, warum sie von <strong>de</strong>n Ethologen<br />

so <strong>wen</strong>ig beachtet wor<strong>de</strong>n sind. (Sein Name erscheint<br />

nicht einmal im In<strong>de</strong>x zweier g<strong>ro</strong>ßer Ethologielehrbücher, die<br />

bei<strong>de</strong> 1970 veröffentlicht wur<strong>de</strong>n.) Glücklicherweise gibt es in<br />

jüngster <strong>Zeit</strong> Anzeichen für ein Wie<strong>de</strong>raufleben <strong>de</strong>s Interesses<br />

an seinen I<strong>de</strong>en.“ Ich schrieb dies im Jahre 1976. Verfolgen wir<br />

nun <strong>de</strong>n Verlauf <strong>de</strong>s Wie<strong>de</strong>rauflebens dieses Mems im darauffolgen<strong>de</strong>n<br />

Jahrzehnt.


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 499<br />

Der Science Citation In<strong>de</strong>x ist eine recht son<strong>de</strong>rbare Publikation,<br />

in <strong>de</strong>r man erstens je<strong>de</strong> veröffentlichte Arbeit nachschlagen<br />

kann und in <strong>de</strong>r zweitens für je<strong>de</strong>s Jahr tabellenartig<br />

aufgeführt wird, wie viele Male sie in späteren Arbeiten<br />

zitiert wur<strong>de</strong>. Dieser In<strong>de</strong>x ist als Hilfe bei <strong>de</strong>r Suche nach Literatur<br />

über ein gegebenes Thema gedacht. Die Ernennungskommissionen<br />

<strong>de</strong>r Universitäten haben es sich zur Gewohnheit<br />

gemacht, diesen In<strong>de</strong>x als einen g<strong>ro</strong>ben, aber leicht verfügbaren<br />

(zu g<strong>ro</strong>ben und zu leicht verfügbaren) Maßstab anzulegen,<br />

<strong>wen</strong>n es darum geht, die wissenschaftlichen Leistungen von<br />

Stellenbewerbern zu vergleichen. Wenn wir zählen, wie viele<br />

Male Hamiltons Arbeiten ab 1964 in je<strong>de</strong>m Jahr zitiert wur<strong>de</strong>n,<br />

so können wir das Vordringen seiner Vorstellungen in das<br />

Bewußtsein <strong>de</strong>r Biologen ungefähr verfolgen (Abbildung 5).<br />

Es ist sehr <strong>de</strong>utlich, daß seine I<strong>de</strong>en zu Beginn nicht beachtet<br />

wur<strong>de</strong>n. Dann, während <strong>de</strong>r siebziger Jahre, scheint das Interesse<br />

an <strong>de</strong>r Verwandtschaftsselektion dramatisch angestiegen<br />

zu sein. Wenn es irgen<strong>de</strong>inen spezifischen Punkt gibt, an<br />

<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Aufwärtstrend beginnt, dann scheint er zwischen<br />

1973 und 1974 zu liegen. Die Aufwärtsbewegung gewinnt<br />

dann an Geschwindigkeit bis zu einem Höhepunkt im Jahre<br />

1981. Danach schwankt die Anzahl <strong>de</strong>r Zitierungen p<strong>ro</strong> Jahr<br />

unregelmäßig um einen hohen Wert.<br />

Es ist ein memischer Mythos entstan<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>mzufolge <strong>de</strong>r<br />

Anstoß für die Zunahme <strong>de</strong>s Interesses an <strong>de</strong>r Verwandtschaftsselektion<br />

ausschließlich von Büchern kam, die zwischen<br />

1975 und 1976 veröffentlicht wur<strong>de</strong>n. Die graphische Darstellung<br />

(Abbildung 5), in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Anstieg im Jahre 1974 beginnt,<br />

scheint diese I<strong>de</strong>e zu wi<strong>de</strong>rlegen. Im Gegenteil, man könnte<br />

mit <strong>de</strong>n Fakten eine ganz an<strong>de</strong>re Hypothese stützen, nämlich,<br />

daß wir es mit einer jener I<strong>de</strong>en zu tun haben, die „in <strong>de</strong>r Luft<br />

lagen“, „für die die <strong>Zeit</strong> reif war“. Unter diesem Blickwinkel<br />

wür<strong>de</strong>n jene Bücher aus <strong>de</strong>r Mitte <strong>de</strong>r siebziger Jahre eher<br />

vom Aufspringen auf einen fahren<strong>de</strong>n Zug als vom Ingangsetzen<br />

einer Bewegung zeugen.<br />

Vielleicht haben wir es in Wirklichkeit mit einer längerfristigen,<br />

langsam an<strong>ro</strong>llen<strong>de</strong>n und sich exponentiell beschleunigen-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 500<br />

<strong>de</strong>n Bewegung zu tun, die viel früher begann. Eine Möglichkeit,<br />

diese einfache Hypothese <strong>de</strong>r exponentiellen Beschleunigung<br />

zu testen, besteht darin, die Zitate kumulativ auf einer logarithmischen<br />

Skala einzutragen. Je<strong>de</strong>n Wachstumsp<strong>ro</strong>zeß, <strong>de</strong>ssen<br />

Wachstumsrate p<strong>ro</strong>portional zur bereits erreichten Größe ist,<br />

5 Jährliche Zitierungen von Hamilton !964) im Science Citation In<strong>de</strong>x<br />

nennt man exponentielles Wachstum. Ein typisches Beispiel<br />

für einen exponentiellen P<strong>ro</strong>zeß ist eine Epi<strong>de</strong>mie: Je<strong>de</strong>s infizierte<br />

Individuum gibt das Virus über seinen Atem an mehrere<br />

Personen weiter, von <strong>de</strong>nen je<strong>de</strong> wie<strong>de</strong>rum dieselbe Anzahl<br />

von Leuten infiziert, so daß die Zahl <strong>de</strong>r Opfer mit ständig<br />

wachsen<strong>de</strong>r Geschwindigkeit zunimmt. Charakteristisch für<br />

eine exponentielle Kurve ist, daß sie zu einer Gera<strong>de</strong>n wird,<br />

<strong>wen</strong>n man sie auf einer logarithmischen Skala einträgt. Bei<br />

einer solchen logarithmischen Darstellung ist es nicht erfor<strong>de</strong>rlich,<br />

aber bequem und üblich, die Werte kumulativ einzuzeichnen.<br />

Wenn die Verbreitung von Hamiltons Mem wirklich<br />

wie eine um sich greifen<strong>de</strong> Epi<strong>de</strong>mie vor sich ging, so sollten


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 501<br />

6 Logarithmus <strong>de</strong>r Zitierungshäufigkeit von Hamilton (1964)<br />

die Punkte bei einer kumulativen logarithmischen Darstellung<br />

eine Gera<strong>de</strong> bil<strong>de</strong>n. Tun sie das?<br />

Die in Abbildung 6 dargestellte Linie ist diejenige Gera<strong>de</strong>,<br />

die statistisch gesehen <strong>de</strong>r Punkteschar am besten angepaßt<br />

ist. Der scheinbare plötzliche Anstieg zwischen 1966 und 1967<br />

sollte wahrscheinlich als ein durch <strong>wen</strong>ige Daten p<strong>ro</strong>vozierter<br />

unzuverlässiger Effekt, <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r logarithmischen Darstellung<br />

gewöhnlich übertrieben wird, ignoriert wer<strong>de</strong>n. Danach<br />

ist die Graphik keine schlechte Annäherung an eine einzige<br />

Gera<strong>de</strong>, obwohl sich auch geringfügige Überlagerungsmuster<br />

feststellen lassen. Wenn meine exponentielle Interpretation<br />

akzeptiert wird, dann haben wir es hier mit einer einzigen<br />

langsam brennen<strong>de</strong>n Explosion <strong>de</strong>s Interesses zu tun, die von<br />

1967 bis in die späten achtziger Jahre gleichmäßig anhält. Die<br />

einzelnen Bücher und Beiträge sollten sowohl als Symptome<br />

als auch als Ursachen dieses langfristigen Trends angesehen<br />

wer<strong>de</strong>n. Man glaube übrigens nicht, daß dieses Wachstumsmuster<br />

irgendwie trivial ist in <strong>de</strong>m Sinne, daß es unvermeidlich


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 502<br />

7 Logarithmus <strong>de</strong>r kumlativen Zitierungshäufigkeit von drei Arbeiten, die<br />

nicht von Hamilton stammen, im Vergleich zur „theoretischen“Kurve für<br />

Hamilton (Einzelheiten sind im Text erklärt)<br />

wäre. Natürlich wür<strong>de</strong> je<strong>de</strong> kumulative Kurve ansteigen, selbst<br />

<strong>wen</strong>n die Anzahl <strong>de</strong>r Zitierungen p<strong>ro</strong> Jahr konstant wäre. Auf<br />

<strong>de</strong>r logarithmischen Skala wür<strong>de</strong> sie jedoch mit einer stetig<br />

langsamer wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Rate ansteigen: Sie wür<strong>de</strong> abflauen. Die<br />

fette Linie oben in Abbildung 7 zeigt die theoretische Kurve,<br />

die wir erhalten wür<strong>de</strong>n, <strong>wen</strong>n die Anzahl <strong>de</strong>r Zitierungen<br />

in je<strong>de</strong>m Jahr gleich wäre (gleich <strong>de</strong>r mittleren Rate <strong>de</strong>r<br />

Hamilton-Zitierungen, die bei etwa 37 p<strong>ro</strong> Jahr liegt). Diese<br />

abflauen<strong>de</strong> Kurve ist direkt mit <strong>de</strong>r beobachteten Gera<strong>de</strong>n<br />

in Abbildung 6 vergleichbar, die eine exponentielle Zuwachsrate<br />

anzeigt. Wir haben es tatsächlich mit einem Fall stetigen<br />

Ansteigens zu tun, nicht mit einer gleichbleiben<strong>de</strong>n Rate von<br />

Zitierungen.


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 503<br />

Zweitens könnte man versucht sein zu glauben, das exponentielle<br />

Anwachsen sei, <strong>wen</strong>n schon nicht unvermeidlich, so<br />

doch auf triviale Weise zu erwarten. Steigt nicht die gesamte<br />

Rate <strong>de</strong>r Veröffentlichung wissenschaftlicher Beiträge selbst<br />

exponentiell an und damit die Gelegenheit, an<strong>de</strong>re Arbeiten zu<br />

zitieren? Vielleicht nimmt auch die Größe <strong>de</strong>r wissenschaftlichen<br />

Gemeinschaft exponentiell zu. Wenn wir zeigen wollen,<br />

daß an <strong>de</strong>m Hamiltonschen Mem etwas Beson<strong>de</strong>res ist, so<br />

erstellen wir am einfachsten dieselbe Art von Graphik für<br />

einige an<strong>de</strong>re Arbeiten. In Abbildung 7 sind außer<strong>de</strong>m die<br />

kumulativen Zitierungshäufigkeiten dreier an<strong>de</strong>rer Arbeiten<br />

logarithmisch aufgetragen (die nebenbei gesagt ebenfalls einen<br />

starken Einfluß auf die erste Auflage dieses Buches hatten). Es<br />

han<strong>de</strong>lt sich um Williams’ Buch Adaptation and Natural Selection<br />

aus <strong>de</strong>m Jahre 1966, Trivers’ 1971 erschienenen Beitrag<br />

über wechselseitigen Altruismus und die Veröffentlichung von<br />

Maynard Smith und Price aus <strong>de</strong>m Jahre 1973, mit <strong>de</strong>r sie die<br />

I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r ESS einführten. Für alle drei Arbeiten ergeben<br />

sich Kurven, die während <strong>de</strong>r gesamten <strong>Zeit</strong>spanne ein<strong>de</strong>utig<br />

nicht exponentiell sind. Die jährlichen Zitierungsraten dieser<br />

Arbeiten sind jedoch ebenfalls alles an<strong>de</strong>re als konstant, und<br />

zeitweise mögen sie sogar exponentiell zugenommen haben.<br />

Die Williams-Kurve beispielsweise ist auf <strong>de</strong>r logarithmischen<br />

Skala ab etwa 1970 annähernd eine Gera<strong>de</strong>, was <strong>de</strong>n Gedanken<br />

nahelegt, daß damals eine Phase einsetzte, in <strong>de</strong>r Williams’<br />

Einfluß zunahm.<br />

Ich habe darauf aufmerksam gemacht, daß <strong>de</strong>r Einfluß<br />

bestimmter Bücher bei <strong>de</strong>r Verbreitung <strong>de</strong>s Hamilton-Mems<br />

geringer war als gemeinhin angenommen. Nichts<strong>de</strong>sto<strong>wen</strong>iger<br />

gibt es ein anscheinend vielsagen<strong>de</strong>s Postskriptum zu diesem<br />

kleinen Stück Memanalyse. Wie im Fall von Auld Lang Syne<br />

und Rule Britannia stoßen wir auf einen aufschlußreichen<br />

mutanten Fehler. Der korrekte Titel von Hamiltons bei<strong>de</strong>n<br />

Arbeiten im Jahre 1964 lautete The Genetical Evolution of Social<br />

Behaviour. In <strong>de</strong>r zweiten Hälfte <strong>de</strong>r siebziger Jahre wur<strong>de</strong>n in<br />

einer Vielzahl von Veröffentlichungen, darunter auch Sociobiology<br />

und die erste Auflage <strong>de</strong>s vorliegen<strong>de</strong>n Buches, Hamiltons


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 504<br />

Arbeiten irrtümlich als The Genetical Theory of Social Behaviour<br />

zitiert. Jon Seger und Paul Harvey suchten nach <strong>de</strong>r<br />

Stelle, an <strong>de</strong>r dieses mutante Mem zum ersten Mal aufgetreten<br />

war, weil sie dachten, es könnte ihnen, fast wie eine radioaktive<br />

Markierung, als Anhaltspunkt dienen, um <strong>de</strong>n Weg wissenschaftlichen<br />

Einflusses nachzuvollziehen. Sie verfolgten es<br />

zurück auf E.O. Wilsons einflußreiches Buch Sociobiology, das<br />

1975 veröffentlicht wur<strong>de</strong>, und fan<strong>de</strong>n sogar einige indirekte<br />

Hinweise auf diese mutmaßliche Herkunft.<br />

So sehr ich auch Wilsons Glanzleistung bewun<strong>de</strong>re – ich<br />

wünschte, die Leute läsen mehr in diesem Buch und <strong>wen</strong>iger<br />

darüber –, haben sich mir immer die Haare gesträubt angesichts<br />

<strong>de</strong>r gänzlich falschen Annahme, mein Buch sei von<br />

seinem beeinflußt wor<strong>de</strong>n. Da mein Buch jedoch ebenfalls das<br />

mutante Zitat – die „radioaktive Markierung“ – enthielt, sah es<br />

erschrecken<strong>de</strong>rweise so aus, als hätte zumin<strong>de</strong>st ein Mem die<br />

Reise von Wilson zu mir unternommen! Dies wäre nicht allzu<br />

erstaunlich gewesen, da das Buch Sociobiology gera<strong>de</strong> zu <strong>de</strong>m<br />

<strong>Zeit</strong>punkt in England ankam, als ich The Selfish Gene fertigstellte,<br />

das heißt genau zu <strong>de</strong>r <strong>Zeit</strong>, als ich an meiner Bibliographie<br />

arbeitete. Wilsons umfangreiche Bibliographie hätte<br />

mir wie ein Geschenk <strong>de</strong>s Himmels vorkommen können, das<br />

lange Stun<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Bibliothek ersparte. Mein Kummer verwan<strong>de</strong>lte<br />

sich daher in F<strong>ro</strong>hlocken, als mir zufällig ein alter<br />

Matrizenabzug einer Bibliographie in die Hän<strong>de</strong> fiel, die ich<br />

1970 in einer Vorlesung in Oxford ausgegeben hatte. Mit<br />

g<strong>ro</strong>ßen Buchstaben stand es da: „The Genetical Theory of Social<br />

Behaviour“, ganze fünf Jahre vor <strong>de</strong>r Veröffentlichung von<br />

Wilsons Buch. Wilson kann unmöglich meine Bibliographie<br />

aus <strong>de</strong>m Jahre 1970 gesehen haben. Es bestand kein Zweifel<br />

daran: Wilson und ich hatten unabhängig voneinan<strong>de</strong>r dasselbe<br />

mutante Mem eingeführt! Wie konnte es zu einer <strong>de</strong>rartigen<br />

Koinzi<strong>de</strong>nz kommen? Wie<strong>de</strong>r einmal, wie im Fall von<br />

Auld Lang Syne, ist es nicht schwer, eine plausible Erklärung<br />

zu fin<strong>de</strong>n. R. A. Fishers bekanntestes Buch heißt The Genetical<br />

Theory of Natural Selection. Der Titel ist in <strong>de</strong>r Welt <strong>de</strong>r Evolutionsbiologen<br />

<strong>de</strong>rart geläufig gewor<strong>de</strong>n, daß es schwer für uns


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 505<br />

ist, die ersten bei<strong>de</strong>n Wörter zu hören, ohne automatisch das<br />

dritte hinzuzufügen. Ich vermute, daß sowohl Wilson als auch<br />

ich genau das getan haben. Dies ist ein glückliches En<strong>de</strong> für<br />

alle Beteiligten, da es nieman<strong>de</strong>m etwas ausmacht zuzugeben,<br />

von Fisher beeinflußt wor<strong>de</strong>n zu sein!<br />

6 Es war offensichtlich voraussehbar, daß vom Menschen hergestellte<br />

elekt<strong>ro</strong>nische Computer ebenfalls irgendwann <strong>de</strong>n<br />

Wirt für sich selbst kopieren<strong>de</strong> Informationsmuster – Meme<br />

– abgeben wür<strong>de</strong>n. Computer sind in zunehmen<strong>de</strong>m Maße<br />

in komplizierte Netze gemeinsamer Information eingebun<strong>de</strong>n.<br />

Viele von ihnen stehen im elekt<strong>ro</strong>nischen Briefverkehr und<br />

sind wortwörtlich miteinan<strong>de</strong>r verdrahtet. An<strong>de</strong>re teilen Informationen,<br />

<strong>wen</strong>n ihre Besitzer Disketten austauschen. Damit<br />

ist eine Umwelt entstan<strong>de</strong>n, in <strong>de</strong>r sich selbst kopieren<strong>de</strong> P<strong>ro</strong>gramme<br />

hervorragend ge<strong>de</strong>ihen und sich verbreiten können.<br />

Als ich an <strong>de</strong>r ersten Auflage dieses Buches schrieb, war ich<br />

naiv genug anzunehmen, daß ein unerwünschtes Computer-<br />

Mem durch einen spontanen Fehler beim Kopieren eines lizenzierten<br />

P<strong>ro</strong>gramms entstehen müsse, und hielt dies für ein<br />

unwahrscheinliches Ereignis. In <strong>de</strong>r Tat, jene <strong>Zeit</strong> war eine<br />

<strong>Zeit</strong> <strong>de</strong>r Unschuld. Heutzutage sind Epi<strong>de</strong>mien von „Viren“<br />

und „Würmern“, die von böswilligen P<strong>ro</strong>grammierern absichtlich<br />

losgelassen wer<strong>de</strong>n, bekannte Risiken für Computerbenutzer<br />

in <strong>de</strong>r ganzen Welt. Mein eigener Computer ist, soweit<br />

ich weiß, im vergangenen Jahr während zweier verschie<strong>de</strong>ner<br />

Virusepi<strong>de</strong>mien infiziert wor<strong>de</strong>n, und das ist für Leute, die<br />

viel mit <strong>de</strong>m Computer arbeiten, eine ziemlich typische Erfahrung.<br />

Ich wer<strong>de</strong> keinen Virus* beim Namen nennen, um nicht<br />

seinem nie<strong>de</strong>rträchtigen kleinen Schöpfer eine nie<strong>de</strong>rträchtige<br />

kleine Genugtuung zu verschaffen. Ich sage „nie<strong>de</strong>rträchtig“,<br />

<strong>de</strong>nn das Verhalten eines solchen Menschen scheint mir mora-<br />

* In Medizin und Biologie wird im allgemeinen <strong>de</strong>r sächliche Artikel ver<strong>wen</strong><strong>de</strong>t<br />

(„das Virus“), im Computerbereich hat sich hingegen die Bezeichnung<br />

„<strong>de</strong>r Virus“ durchgesetzt.


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 506<br />

lisch gesehen nicht an<strong>de</strong>rs als das eines Technikers in einem<br />

mik<strong>ro</strong>biologischen Labor, <strong>de</strong>r absichtlich das Trinkwasser infiziert<br />

und Epi<strong>de</strong>mien sät, nur um sich über die Leute zu<br />

amüsieren, die krank wer<strong>de</strong>n. Ich sage „klein“, <strong>de</strong>nn diese<br />

Leute sind geistig klein. Es ist nichts Schlaues daran, einen<br />

Computervirus zu erfin<strong>de</strong>n. Je<strong>de</strong>r halbwegs kompetente P<strong>ro</strong>grammierer<br />

könnte das tun, und die Welt ist heute voll von<br />

halbwegs kompetenten Computerp<strong>ro</strong>grammierern. Ich bin<br />

selbst einer. Und ich wer<strong>de</strong> mir nicht einmal die Mühe machen,<br />

zu erklären, wie Computerviren funktionieren. Es ist nur zu<br />

offensichtlich.<br />

Weniger einfach ist es herauszufin<strong>de</strong>n, wie man sie<br />

bekämpfen kann. Lei<strong>de</strong>r mußten einige sehr erfahrene P<strong>ro</strong>grammierer<br />

ihre wertvolle <strong>Zeit</strong> darauf versch<strong>wen</strong><strong>de</strong>n, P<strong>ro</strong>gramme<br />

zum Ent<strong>de</strong>cken von Viren, Immunisierungsp<strong>ro</strong>gramme<br />

und so weiter zu schreiben (nebenbei gesagt ist die<br />

Ähnlichkeit mit <strong>de</strong>r medizinischen Impfung erstaunlich g<strong>ro</strong>ß,<br />

bis hin zur Eingabe einer „geschwächten Abart“ <strong>de</strong>s Virus). Es<br />

besteht die Gefahr, daß sich ein Wettrüsten entwickeln wird,<br />

bei <strong>de</strong>m je<strong>de</strong>r Fortschritt in <strong>de</strong>r Virenvorbeugung von Gegen-<br />

Fortschritten bei neuen Virusp<strong>ro</strong>grammen ausgeglichen wird.<br />

Bisher wer<strong>de</strong>n die meisten Anti-Virus-P<strong>ro</strong>gramme von Altruisten<br />

geschrieben und gratis zur Verfügung gestellt. Doch ich<br />

sehe das Heranwachsen einer ganzen neuen Berufsklasse – die<br />

sich gera<strong>de</strong>so wie in je<strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren Beruf in lukrative Spezialisierungen<br />

aufteilt – voraus: Software-Ärzte auf Hausbesuch<br />

mit schwarzen Taschen voller diagnostischer und heilen<strong>de</strong>r<br />

Disketten. Ich ver<strong>wen</strong><strong>de</strong> die Bezeichnung „Ärzte“, aber wirkliche<br />

Ärzte lösen natürliche P<strong>ro</strong>bleme, die nicht absichtlich von<br />

menschlicher Bösartigkeit hervorgerufen wur<strong>de</strong>n. Meine Software-Ärzte<br />

dagegen wer<strong>de</strong>n, wie Rechtsanwälte, menschengemachte<br />

P<strong>ro</strong>bleme lösen, die überhaupt niemals hätten existieren<br />

sollen. Soweit die Viruserzeuger irgen<strong>de</strong>in i<strong>de</strong>ntifizierbares<br />

Motiv haben, fühlen sie sich vermutlich vage anarchistisch.<br />

An sie richte ich meinen Appell: Wollen Sie wirklich einem<br />

neuen hochbezahlten Beruf <strong>de</strong>n Weg bereiten? Wenn nicht,<br />

hören Sie auf, mit dummen Memen zu spielen, und stellen


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 507<br />

Sie Ihre beschei<strong>de</strong>nen P<strong>ro</strong>grammiertalente in <strong>de</strong>n Dienst einer<br />

besseren Sache.<br />

7 Ich habe, wie vorauszusehen war, eine Flut von Briefen von<br />

Opfern <strong>de</strong>s Glaubens erhalten, die gegen meine Kritik am<br />

Glauben p<strong>ro</strong>testieren. Der Glaube ist ein <strong>de</strong>rart erfolgreicher<br />

Gehirnwäscher in eigener Sache, daß es schwer ist, seinen Griff<br />

zu lockern. Bei Kin<strong>de</strong>rn wirkt die Gehirnwäsche beson<strong>de</strong>rs<br />

gut. Doch was ist Glaube eigentlich? Er ist ein Gemütszustand,<br />

<strong>de</strong>r Menschen dazu bringt, etwas zu glauben – es kommt nicht<br />

darauf an, was –, das durch keinerlei Beweise gestützt wird.<br />

Gäbe es gute Beweise dafür, so wäre <strong>de</strong>r Glaube überflüssig,<br />

<strong>de</strong>nn auf Grund dieser Beweise müßten wir es ohnehin glauben.<br />

Deshalb ist die so oft nachgeplapperte Behauptung,<br />

daß „die Evolution selbst eine Frage <strong>de</strong>s Glaubens ist“, so<br />

töricht. Menschen glauben nicht an die Evolution, weil sie aus<br />

einer Laune heraus daran glauben wollen, son<strong>de</strong>rn wegen <strong>de</strong>r<br />

überwältigen<strong>de</strong>n und je<strong>de</strong>rmann zugänglichen Beweise.<br />

Ich sagte, „es kommt nicht darauf an, was“ die Glauben<strong>de</strong>n<br />

glauben, was <strong>de</strong>n Gedanken nahelegt, daß die Leute total<br />

unsinnige, willkürliche Dinge glauben, wie <strong>de</strong>r elektrische<br />

Mönch in Douglas Adams’ ergötzlichem Buch Dirk Gently’s<br />

Holistische Detektei. Dieser war einzig und allein zu <strong>de</strong>m<br />

Zweck gebaut, das Glauben für uns zu erledigen, und er war<br />

sehr erfolgreich darin. An <strong>de</strong>m Tag, an <strong>de</strong>m wir ihm begegnen,<br />

glaubt er unerschütterlich und allen Gegenbeweisen zum<br />

T<strong>ro</strong>tz, daß alles auf <strong>de</strong>r Welt <strong>ro</strong>sa ist. Ich habe nicht vor, jeman<strong>de</strong>m<br />

zu beweisen, daß die Dinge, an die er glaubt, Unsinn sein<br />

müssen. Sie können es sein o<strong>de</strong>r auch nicht. Entschei<strong>de</strong>nd ist,<br />

daß es keine Möglichkeit gibt festzustellen, ob sie es sind, und<br />

ebenso<strong>wen</strong>ig eine Metho<strong>de</strong>, mit <strong>de</strong>ren Hilfe man einen Glaubensartikel<br />

einem an<strong>de</strong>ren vorziehen könnte, <strong>de</strong>nn Beweise<br />

wer<strong>de</strong>n ausdrücklich gemie<strong>de</strong>n. Vielmehr wird die Tatsache,<br />

daß wahrer Glaube keiner Beweise bedarf, als <strong>de</strong>ssen größter<br />

Vorzug aufgezeigt; darum ging es mir, als ich die Geschichte<br />

vom ungläubigen Thomas erzählte, <strong>de</strong>m einzigen <strong>de</strong>r zwölf<br />

Apostel, <strong>de</strong>r wirklich bewun<strong>de</strong>rnswert war.


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 508<br />

Glaube kann keine Berge versetzen (auch <strong>wen</strong>n Generationen<br />

von Kin<strong>de</strong>rn feierlich das Gegenteil erzählt wird und<br />

sie es glauben). Aber er ist in <strong>de</strong>r Lage, Menschen zu <strong>de</strong>rart<br />

gefährlichem Wahnsinn zu treiben, daß er sich in meinen<br />

Augen als eine Art Geisteskrankheit qualifiziert. Es gibt Leute,<br />

die so stark an etwas – was auch immer es sein mag – glauben,<br />

daß sie in extremen Fällen bereit sind, dafür zu töten o<strong>de</strong>r<br />

zu sterben, ohne die Not<strong>wen</strong>digkeit einer weiteren Rechtfertigung.<br />

Keith Henson hat <strong>de</strong>n Namen „Memoid“ geprägt für<br />

„Opfer, die so sehr von einem Mem besessen sind, daß ihr eigenes<br />

Überleben unwichtig wird. Man sieht eine Menge solcher<br />

Leute in <strong>de</strong>n Abendnachrichten aus Orten wie Belfast o<strong>de</strong>r<br />

Beirut.“ Glaube ist mächtig genug, um Menschen gegen alle<br />

Bitten um Gna<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r Vergebung, gegen alle Appelle an<br />

ihre Menschlichkeit immun zu machen. Er macht sie sogar<br />

immun gegen Angst, <strong>wen</strong>n sie ehrlich daran glauben, daß ein<br />

Märtyrertod sie direkt in <strong>de</strong>n Himmel schickt. Was für eine<br />

Waffe! Religiöser Glaube verdient ein eigenes Kapitel in <strong>de</strong>n<br />

Annalen <strong>de</strong>r Kriegstechnologie, auf gleicher Stufe mit <strong>de</strong>m<br />

Langbogen, <strong>de</strong>m Schlacht<strong>ro</strong>ß, <strong>de</strong>m Panzer und <strong>de</strong>r Wasserstoffbombe.<br />

8 Der optimistische Ton meines Schlußsatzes hat bei Kritikern,<br />

die meinen, er stehe im Gegensatz zum Rest <strong>de</strong>s Buches,<br />

Skepsis geweckt. In einigen Fällen kommt die Kritik von<br />

doktrinären Soziobiologen, die eifersüchtig die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s<br />

genetischen Einflusses schützen. In an<strong>de</strong>ren Fällen kommt<br />

sie aus einer gera<strong>de</strong>zu paradox entgegengesetzten Ecke, von<br />

Hohepriestern <strong>de</strong>r Linken, die eifersüchtig eine ihnen liebe<br />

dämonische Ikone schützen! Rose, Kamin und Lewontin frönen<br />

in Die Gene sind es nicht einem privaten Popanz namens<br />

„Reduktionismus“, und sie nehmen außer<strong>de</strong>m an, daß alle<br />

wirklich guten Reduktionisten „Deterministen“ sind, vorzugsweise<br />

„genetische Deterministen“.<br />

Das Gehirn ist für Reduktionisten ein umschriebenes<br />

biologisches Objekt, <strong>de</strong>ssen Eigenschaften die beobacht-


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 509<br />

baren Verhaltensweisen o<strong>de</strong>r die aus diesem Verhalten<br />

zu erschließen<strong>de</strong>n gedanklichen o<strong>de</strong>r intentionalen<br />

Zustän<strong>de</strong> hervorbringen ... Diese Position stimmt vollkommen<br />

– o<strong>de</strong>r sollte es eigentlich tun – mit <strong>de</strong>n von<br />

Wilson o<strong>de</strong>r Dawkins vorgetragenen Prinzipien <strong>de</strong>r<br />

Soziobiologie überein. Wür<strong>de</strong>n die bei<strong>de</strong>n Autoren diese<br />

Position tatsächlich übernehmen, müßten sie das Dilemma<br />

bewältigen, daß sie einerseits weite Bereiche –<br />

gera<strong>de</strong> auch für sie als Liberale – unerfreulichen menschlichen<br />

Verhaltens (Gehässigkeit, Indoktrination und so<br />

weiter) als angeboren behaupten und an<strong>de</strong>rerseits sich<br />

in liberal-ethischen Skrupeln verstricken, <strong>wen</strong>n es um<br />

die Feststellung <strong>de</strong>r Verantwortlichkeit für kriminelle<br />

Handlungen geht – da diese doch wie alle an<strong>de</strong>ren<br />

Handlungen biologisch <strong>de</strong>terminiert sind. Um dieses<br />

P<strong>ro</strong>blem zu umgehen, reklamieren Wilson und Dawkins<br />

einen freien Willen, <strong>de</strong>r uns befähigt, <strong>wen</strong>n wir nur<br />

wollen, gegen das Diktat unserer Gene anzugehen<br />

.... Im wesentlichen be<strong>de</strong>utet dies eine Rückkehr zum<br />

uneingeschränkten Kartesianismus und einem dualistischen<br />

<strong>de</strong>us ex machina.<br />

Ich glaube, daß Rose und seine Kollegen uns anklagen, uns<br />

nicht für eines <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Dinge entschei<strong>de</strong>n zu können. Entwe<strong>de</strong>r<br />

müssen wir „genetische Deterministen“ sein, o<strong>de</strong>r wir<br />

glauben an <strong>de</strong>n „freien Willen“; wir können nicht bei<strong>de</strong>s haben.<br />

Aber – und hier, nehme ich an, spreche ich genauso für P<strong>ro</strong>fessor<br />

Wilson wie für mich selbst – wir sind nur in <strong>de</strong>n Augen<br />

von Rose und seinen Kollegen „genetische Deterministen“. Sie<br />

verstehen nicht (so scheint es, obwohl es schwer zu glauben<br />

ist), daß es sehr wohl möglich ist, <strong>de</strong>r Ansicht zu sein, daß<br />

Gene einen statistischen Einfluß auf menschliches Verhalten<br />

ausüben, und gleichzeitig zu glauben, daß dieser Einfluß durch<br />

an<strong>de</strong>re Einflüsse verän<strong>de</strong>rt, außer Kraft gesetzt o<strong>de</strong>r umgekehrt<br />

wer<strong>de</strong>n kann. Gene müssen einen statistischen Einfluß<br />

auf je<strong>de</strong>s Verhaltensmuster ausüben, das sich durch natürliche<br />

Auslese entwickelt. Vermutlich sind Rose und seine Kollegen


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 510<br />

mit mir darin einig, daß das sexuelle Verlangen beim Menschen<br />

mittels <strong>de</strong>r natürlichen Auslese entstan<strong>de</strong>n ist, auf dieselbe<br />

Weise, wie alles an<strong>de</strong>re entsteht, das die Evolution hervorbringt.<br />

Sie müssen daher damit übereinstimmen, daß Gene das<br />

sexuelle Begehren beeinflußt haben – in <strong>de</strong>mselben Sinne, in<br />

<strong>de</strong>m Gene auch alles an<strong>de</strong>re beeinflussen. Doch sie haben vermutlich<br />

keine Schwierigkeiten damit, ihre sexuellen Wünsche<br />

zu kont<strong>ro</strong>llieren, <strong>wen</strong>n dies gesellschaftlich erfor<strong>de</strong>rlich ist.<br />

Was ist dualistisch daran? Offensichtlich gar nichts. Und ebenso<strong>wen</strong>ig<br />

dualistisch ist es, <strong>wen</strong>n ich zur Rebellion gegen „die<br />

Tyrannei <strong>de</strong>r egoistischen Replikatoren“ aufrufe. Wir, das heißt<br />

unser Gehirn, sind ausreichend getrennt und unabhängig von<br />

unseren Genen, um gegen sie rebellieren zu können. Wie ich<br />

bereits sagte, tun wir dies immer dann im kleinen, <strong>wen</strong>n wir<br />

Empfängnisverhütung betreiben. Nichts spricht dagegen, uns<br />

auch im g<strong>ro</strong>ßen gegen unsere Gene aufzulehnen.


Richard Dawkins: Das egoistische Gen 511<br />

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zusätzlich aufgenommen.


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