<strong>Raimond</strong> <strong>Reiter</strong>Abb. 3: Der ObjektkünsterGunter Demnig 2009 vor <strong>der</strong>Gedenkstätte „<strong>Opfer</strong> <strong>der</strong> <strong>NS</strong>-<strong>Psychiatrie</strong>“ in Lüneburg miteinem „Stolperstein“ für ein<strong>Opfer</strong> <strong>der</strong> „Kin<strong>der</strong>fachabteilung“.(Foto: <strong>Raimond</strong><strong>Reiter</strong>, 2009)Nun ist die Frage, ob je<strong>der</strong> Patient, <strong>der</strong> im Zweiten Weltkrieg in einer Anstalt gestorbenist, als <strong>Opfer</strong> <strong>der</strong> <strong>NS</strong>-<strong>Psychiatrie</strong> bezeichnet werden kann, mit einem klaren„Nein“ zu beantworten. Auch in dieser Zeit, wie auch im Ersten Weltkrieg, starbenPatienten ohne konkrete Tötungsmaßnahmen von Ärzten o<strong>der</strong> dem sonstigen Personal.Der Todeszeitpunkt alleine führt nicht zum Status als <strong>Opfer</strong> des Nationalsozialismus.Komplizierter wird es, wenn wir fragen, ob die Verstorbenen <strong>Opfer</strong> <strong>der</strong> <strong>Psychiatrie</strong>im Nationalsozialismus geworden sind, gleichwohl nicht <strong>Opfer</strong> <strong>der</strong> <strong>NS</strong>-<strong>Psychiatrie</strong> im Sinne einer organisierten Tötungsaktion.Im genannten Falle <strong>der</strong> Anfrage <strong>aus</strong> Bremen war die Antwort, dass die Patientin allerWahrscheinlichkeit nach in Lüneburg nicht <strong>Opfer</strong> einer Patiententötung geworden ist.Dies kann <strong>aus</strong> mehreren Gründen angenommen werden: Die Landes-Heil- und PflegeanstaltLüneburg war we<strong>der</strong> eine <strong>der</strong> reichsweiten „T4-Anstalten“ noch eine Anstalt, dieals Tötungsanstalt im Rahmen <strong>der</strong> „wilden Euthanasie“ bekannt geworden ist. InNie<strong>der</strong>sachsen waren dies vielmehr Oldenburg/Wehnen und Königslutter. Außerdem hates <strong>aus</strong> Lüneburg im Frühjahr 1941 mehrere „planwirtschaftliche Verlegungen“ zuTötungsanstalten gegeben. Die Anstalt hätte sich also auf diesem Wege <strong>der</strong> Patientinsozusagen entledigen können. Allerdings ist nicht <strong>aus</strong>zuschließen, dass sie <strong>Opfer</strong> einermöglicherweise gewollten Unterversorgung wurde, was sich aber kaum nachweisen lässt.Wie in an<strong>der</strong>en Bereichen auch wurde in <strong>der</strong> <strong>Psychiatrie</strong> die Versorgung für Insassensystematisch verschlechtert, eine Entwicklung, die sich in ihren Ursprüngen auf dasso genannte „Notprogramm für die Gesundheitsfürsorge“ des Reichsinnenministeriums<strong>aus</strong> dem Jahre 1931 zurückführen lässt. Dort war eine so genannte „planwirtschaftlicheZusammenarbeit <strong>der</strong> Krankenanstalten“ vorgesehen. Die Notwendigkeitdazu wurde dramatisch so begründet:Der Ernst <strong>der</strong> Wirtschaftslage und die zwingende Notwendigkeit, die Ausgabenweitgehend herabzusetzen, bringt es mit sich, daß lei<strong>der</strong> auch auf dem Gebiete desGesundheitswesens erhebliche Einschränkungen unvermeidlich sind. 66 HStAH Hann. 122a Nr. 3014.162
<strong>Opfer</strong> <strong>der</strong> <strong>NS</strong>-<strong>Psychiatrie</strong> <strong>aus</strong> OsnabrückAb 1933 wurden <strong>der</strong>artige Maßnahmen verschärft, erneut mit Beginn des ZweitenWeltkrieges. Damit wurden Bedingungen geschaffen, die nicht unmittelbar und direktzum Tode von Patienten führten, also sich insofern auch nicht ursächlich auf den Todeinzelner Patienten beziehen lassen. Gleichwohl ist leicht belegbar, dass die Schlechterstellungsystematisch gewollt und geplant war, also Bedingungen <strong>der</strong> Anstaltspflege inKauf genommen o<strong>der</strong> auch direkt gewollt waren, die das Ableben von Anstaltsinsassenbeschleunigten. Ein auffälliges Beispiel dafür ist in Norddeutschland die Heil- undPflegeanstalt Oldenburg/Wehnen gewesen.Für die 71.000 <strong>Opfer</strong> <strong>der</strong> T4-Aktion ist <strong>der</strong> Nachweis <strong>der</strong> Tötungsabsicht in <strong>der</strong> Regelsicher zu treffen, obwohl es auch dort Überlebende gegeben hat. Deutlich schwierigerwird es bei <strong>der</strong> „Kin<strong>der</strong>-Aktion“, die in über 30 beson<strong>der</strong>en Einrichtungen in Deutschlanddurchgeführt wurde. Die Tötungsmaßnahmen beruhten üblicherweise auf so genannten„Behandlungsermächtigungen“, die vom Reichs<strong>aus</strong>schuss in Berlin erteiltwurden, wenn ein Kind als „lebensunwert“ angesehen wurde. Die Entscheidung zurDurchführung lag aber bei den Verantwortlichen vor Ort, einen Tötungsbefehl hat es<strong>aus</strong> Berlin nicht gegeben. Allerdings wurden „Behandlungsermächtigungen“ kurz vorKriegsende in <strong>der</strong> Regel vernichtet. Wären sie in den Krankenakten <strong>der</strong> <strong>Opfer</strong> o<strong>der</strong>an<strong>der</strong>en Akten überliefert, würde dies, zusammen mit dem Tode des jeweiligen Kindes,eine sehr hohe Sicherheit ergeben, dass es getötet worden ist.Die dazugehörigen „Kin<strong>der</strong>fachabteilungen“ waren in gewisser Weise ein definierterHandlungsraum für Tötungen. Derartige Einrichtungen bieten insofern einen überschaubarenUntersuchungsraum, ab 1945 für die Strafermittlungen und auch für dieForschung. Schwieriger liegt <strong>der</strong> Fall bei <strong>der</strong> Durchführung <strong>der</strong> „wilden Euthanasie“,die spätestens nach dem Ende <strong>der</strong> „T4-Aktion“ im Spätsommer 1941 begann. Hier istim Einzelfall noch nicht einmal gesichert, welche Anstalten diese Tötungsaktionendurchgeführt haben. Ist eine Anstalt sicher als Tötungsstätte einzustufen, so ist in <strong>der</strong>Regel unklar, wer von den dort gestorbenen Patienten vorsätzlich getötet wurde, wennes keine Aussagen dazu gibt.Mehr noch: Es ist zu fragen, welche Tötungsmethoden angewandt wurden, also woranman die Tötungsabsicht <strong>der</strong> Geheimaktionen und <strong>der</strong> Ärzte erkennen kann. Bekanntgeworden sind als Tötungsmethoden in Anstalten im Zweiten Weltkrieg: Tötung durchGas (typisch für „T4-Anstalten“), Tötung durch Überdosierung bestimmter Medikamentewie Morphium und Luminal (typisch für „Kin<strong>der</strong>fachabteilungen“), <strong>der</strong> Entzugvon lebenswichtigen Medikamenten und schließlich Nahrungsentzug. Auch bei Verlegungstransportenmit alten o<strong>der</strong> siechen Patienten kann <strong>der</strong> Verdacht geäußert werden,dass sie durchgeführt wurden, um das Sterben zu beför<strong>der</strong>n. In <strong>der</strong> Regel wurden dieseMethoden in Deutschland nicht in den Patientenakten eingetragen. Es handelte sich umGeheimaktionen. Derartige Tötungsmethoden waren auch nach dem damals gültigenReichsstrafgesetzbuch strafbar.Eine sichere Ausgangslage haben Rechtsprechung und historische Forschung dort, woTäter im Rahmen <strong>der</strong> Strafverfolgung ihre Tötungen zugegeben haben. Aber auchdurch diese Einlassungen lassen sich nicht alle <strong>Opfer</strong> identifizieren. Nur in Einzelfällenerinnerten sich Täter nach 1945 an bestimmte <strong>Opfer</strong>, die dann aktenkundig geworden163