Inhalt AUFSÄTZE ENTSCHEIDUNGSBESPRECHUNGEN ... - ZIS
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<strong>Inhalt</strong>AUFSÄTZEInternationales StrafrechtVerfasst der EuGH die Union?EuGH v. 16.6.2005 – C-105/03 (Pupino), EuGH v. 13.9.2005 –C-176/03 (Nichtigerklärung des Rahmenbeschlusses überden Schutz der Umwelt durch das Strafrecht) und die FolgenVon Privatdozent Dr. Peter Rackow, Göttingen 526StrafprozessrechtLügendetektor ante portasZu möglichen Auswirkungen neurowissenschaftlicherErkenntnisse auf den StrafprozessVon Privatdozent Dr. Stephan Stübinger, Frankfurt a.M./Mainz 538StrafrechtDie Urkundenfälschung und die Straflosigkeit der„schriftlichen Lüge“Ein Erklärungsversuch aus historischer Sicht bis zumReichsstrafgesetzbuch von 1871Von Rechtsanwalt Dr. Matthias Brockhaus, Düsseldorf 556StrafvollzugsrechtDie normative Kraft des KontrafaktischenVerfassungsrechtliches und Kriminologisches zumbaden-württembergischen JugendstrafvollzugsgesetzVon cand. iur. Annkatrin Wegemund, Freiburg i. Br.,Wiss. Mitarbeiter Jan Dehne-Niemann, Heidelberg/Freiburg i. Br. 565<strong>ENTSCHEIDUNGSBESPRECHUNGEN</strong>StrafprozessrechtBGH, Beschl. v. 18.9.2008 – 4 StR 185/08(Zur Überprüfung der Strafzumessung im Revisionsverfahren)(Wiss. Mitarbeiter Jan Dehne-Niemann, Heidelberg/Freiburg i.Br.) 583BUCHREZENSIONENStrafrechtEberhard Kempf/Gabriele Jansen/Egon Müller (Hrsg.),Festschrift für Christian Richter II, Verstehen undWiderstehen, 2006(Prof. Dr. Klaus Laubenthal, Würzburg) 587
Verfasst der EuGH die Union?EuGH v. 16.6.2005 – C-105/03 (Pupino), EuGH v. 13.9.2005 – C-176/03 (Nichtigerklärung desRahmenbeschlusses über den Schutz der Umwelt durch das Strafrecht) und die FolgenVon Privatdozent Dr. Peter Rackow, Göttingen*I. EinleitungHierzulande wurde der Vertrag über eine Verfassung fürEuropa 1 im Mai 2005 vom Bundestag und vom Bundesratangenommen und im Frühjahr 2005 hatten auch Österreich,Belgien, Griechenland, Ungarn, Italien und Spanien zugestimmt.Die Ernüchterung kam aber kurz darauf durch Volksabstimmungenin Frankreich und in den Niederlanden. Unterdem Eindruck der gescheiterten Referenden wurde der weitereRatifizierungsprozess ausgesetzt 2 und es ist seitdem langeZeit still gewesen um das europäische Verfassungsprojekt.2007 schien dann eine erfolgreiche Wiederbelebung seinerGrundanliegen gelungen zu sein; dies allerdings unter bewusstemVerzicht auf Verfassungssymbolik und -rhetorik imGewande einer bloßen Vertragsreform 3 . Freilich haben sichmit dem gescheiterten irischen Referendum über die Reformim Juni 2008 neue Komplikationen ergeben. 4 Wie auch immerder Europäische Einigungsprozess nun weiter verlaufenwird, erging jedenfalls Mitte Juni 2005 wenige Tage nach derVolksabstimmung über die EU-Verfassung in den Niederlandendie Pupino-Entscheidung des EuGH 5 und knapp dreiMonate später folgte die Nichtigerklärung des Rahmenbeschlussesüber den Schutz der Umwelt durch das Strafrecht 6 .Beide Urteile sind von erheblicher Bedeutung für die Strafrechtsanwendungbzw. für die Strafgesetzgebung in den Mitgliedstaatenund sie haben daher zu Recht das Interesse deseuropastrafrechtlichen Schrifttums auf sich gezogen. DesWeiteren sind beide Entscheidungen verdächtig, Elementedes gescheiterten Verfassungsvertrages mit Strafrechtsbezugsozusagen auf kaltem Wege umgesetzt zu haben. So meint* Aktualisierte und ergänzte Fassung der Probevorlesung desVerf. im Habilitationsverfahren an der Juristischen Fakultätder Georg-August-Universität Göttingen am 27.6.2007; derVortragsstil wurde im Wesentlichen beibehalten.1 CIG 87/2/04.2 Nämlich durch den Brüsseler Gipfel vom 16./17.6.2005,vgl. Ambos/Rackow, Jura 2006, 505 (512) mit Fn. 112.3 „Vertrag von Lissabon und zur Änderung des Vertrags überdie Europäische Union und des Vertrags zur Gründung derEuropäischen Gemeinschaft, unterzeichnet in Lissabon am13.12.2007“, ABl. C 306. Zum Änderungsvertrag instruktivAmbos, Internationales Strafrecht, 2. Aufl. 2008, § 9 Rn. 23-32; Richter, EuZW 2007, 631; Rosenau, <strong>ZIS</strong> 2008, 9 (16).4Es bestätigte sich die Richtigkeit einer skeptischen Grundhaltung.In diesem Sinne hatte Rosenau, <strong>ZIS</strong> 2008, 9 (11 f.)bereits Anfang 2008 darauf hingewiesen, dass der Änderungsvertragja nun in den 27 Mitgliedsstaaten ratifiziertwerden muss, was „keinesfalls gesichert“ sei.5 EuGH NJW 2005, 2839, Urt. v. 16.6.2005 – C-105/03 (Pupino).6 EuGH NVwZ 2005, 1289, Urt. v. 13.9.2005 – C-176/03(Nichtigerklärung des Rahmenbeschlusses über den Schutzder Umwelt durch das Strafrecht).etwa Hefendehl, der EuGH nehme unberechtigterweise durch„Auslegungsakrobatik den Zustand des Verfassungsvertragsvorweg […]“ 7 .II. Der Europäische Status quoEinem solchen Verdacht nachzugehen macht zunächst einenBlick auf den europäischen Status quo erforderlich, genauer:einen solchen auf den Status quo ante Pupino, denn beziehtman die Rechtsprechung des EuGH mit ein, so mag sichmanches in einem anderen Licht darstellen. Hält man sichdagegen an die vertraglichen Rahmenbedingungen, so bietetsich dem Betrachter eine bekannte und komplizierte Strukturdar, deren Grundlage und Erklärung in dem fortdauerndenNebeneinander des Vertrags zur Gründung der EuropäischenGemeinschaft 8 und des Vertrags über die Europäische Union 9liegt. Seit letzterem bildet die Europäische Union eine Dachorganisation,welche die Europäischen Gemeinschaften, nämlicherstens die ehemalige EWG, die heutige EG also, undzweitens die EAG als „ersten Pfeiler“ 10 sowie die GemeinsameAußen- und Sicherheitspolitik und die polizeiliche undjustizielle Zusammenarbeit in Strafsachen als „zweiten unddritten Pfeiler“ überspannt 11 . Dieses Gefüge wird bisweilenals „Drei-Säulen-Modell“ bezeichnet und gern in der Formeines griechischen Tempels dargestellt. 12 Kennzeichnend fürdessen erste Säule ist dabei, dass (nur) in ihrem Rahmensupranationales Handeln stattfindet. Die Europäische Gemeinschaftkann also kraft übertragener Hoheitsrechte gegebenenfallsauch einmal gegen den Willen des einzelnen Mitgliedstaatshandeln. 13 Intergouvernementale Wurzeln weisendagegen die zweite und die dritte Säule auf, 14 in deren Rah-7 Hefendehl, <strong>ZIS</strong> 2006, 161 (165) in Bezug auf die Rs. C-176/03;ähnl. Kritik übt Satzger, KritV 2008, 17 (24). Vgl. auch Pohl,<strong>ZIS</strong> 2006, 213 (220 f.) m.w.N. („Verfassungsvertrag durchRichterspruch“); v. Unger, NVwZ 2006, 46 (48) spricht imHinblick auf die Pupino-Entscheidung von einer „Vergemeinschaftungder PJZS“ durch den EuGH.8 BGBl. 1957 II, S. 766, in der Fassung des Vertrags über dieEuropäische Union vom 7.2.1992, geändert durch den Beitrittsvertragvom 24.6.1994, den Amsterdamer und den Vertragvon Nizza (Fn. 9).9 BGBl. 1992 II, S. 1253, geändert durch den Beitrittsvertragvom 24.6.1994, BGBl. 1994 II, S. 2022, i.d.F. des Beschl. v.1.1.1995, ABl. EG L 1, 1, ber. ABl. 1997 L 179, 12, geändertdurch den Amsterdamer Vertrag vom 2.10.1997, BGBl. 1998II, S. 387, berichtigt BGBl. 1999 II, S. 416, geändert durchden Vertrag von Nizza vom 26.2.2001, BGBl. 2001 II,S. 1667 f.10 Hecker, Europäisches Strafrecht, 2. Aufl. 2007, § 4 Rn. 2.11 Vgl. Art. 1 Abs. 3 S. 1 EUV.12 Vgl. Ambos/Rackow, Jura 2006, 505 (506) m.w.N.13 Vgl. nur Oppermann, Europarecht, 3. Aufl. 2005, § 6 Rn. 8.14 Vgl. Ambos/Rackow, Jura 2006, 505 (506) m.w.N._____________________________________________________________________________________526<strong>ZIS</strong> 11/2008
Verfasst der EuGH die Union?_____________________________________________________________________________________men früher die gesamte Zusammenarbeit in den BereichenJustiz und Inneres (ZBJI) angesiedelt war, bis dann 1997durch den Vertrag von Amsterdam diverse Elemente zwischenstaatlicherZusammenarbeit auf diesem Feld aus derdritten in die erste Säule überführt wurden; so beispielsweisedie Visa-, Asyl- und Einwanderungspolitik. 15 Die polizeilichjustizielleZusammenarbeit in Strafsachen verblieb dagegenim dritten Pfeiler. 16 Sie wurde also (bislang) gerade nichtvergemeinschaftet und betrifft etwa die Förderung der „Zusammenarbeitdurch Europol“, 17 jedoch auch die Harmonisierungdes Strafrechts der Mitgliedstaaten im Wege der Rahmenbeschlussfassung.Durch derartige Instrumente werdenden Mitgliedstaaten im Bereich der Strafgesetzgebung Vorgabengemacht, bei deren Umsetzung sie lediglich in der„Wahl der Form und der Mittel“ frei sind. 18 Dass der EU-Vertrag ausdrücklich klarstellt (Art. 34 Abs. 2 lit. b S. 2EUV), dass derartige Rahmenbeschlüsse „nicht unmittelbarwirksam“ sind, leuchtet ein, wenn man sich vor Augen führt,dass die Mitgliedstaaten eine Vergemeinschaftung der PJZS(bislang) nicht wollten und darüber hinaus einer Übertragungder EuGH-Rechtsprechung zur vertikalen Drittwirkung vonRichtlinien auf die Rahmenbeschlüsse der dritten Säule einmassiver Riegel vorgeschoben werden sollte. 19 Die PJZS soll– nach dem bisherigen Willen der Mitgliedstaaten – Formenzwischenstaatlicher Kooperation verhaftet bleiben und diesezeichnet sich eben dadurch aus, dass dasjenige, worauf sichdie Staaten untereinander verständigen, anschließend innerstaatlichumgesetzt werden muss.Innerhalb der vergemeinschafteten ersten Säule kommtdagegen supranationale Rechtssetzung in Betracht. Allerdingsgeschieht dies auf der Grundlage des Prinzips der begrenztenEinzelermächtigung, 20 was bedeutet, dass stets eineausdrückliche oder jedenfalls im Wege der Auslegung hinreichendsicher zu gewinnende Ermächtigungsgrundlage in denGründungsverträgen erforderlich ist, sollen Regelungen mitunmittelbarer Geltung in den Mitgliedstaaten geschaffenwerden 21 . Für den sensiblen Bereich des Strafrechts fehltnach herrschender – freilich nicht ganz unbestrittener – Auffassungbis dato eine derartige Kompetenzgrundlage, 22 sodass innerhalb der ersten Säule nicht originär Strafrecht gesetztwerden kann, wohingegen man auch schon vor der Entscheidungdes EuGH über den Rahmenbeschluss über denSchutz der Umwelt durch das Strafrecht (überwiegend) davon15 Herdegen, Europarecht, 10. Aufl. 2008, § 4 Rn. 23; Hecker(Fn. 10), § 5 Rn. 69.16 Vgl. Ambos/Rackow, Jura 2006, 505 (506) m.w.N.17 Vgl. Art. 30 EUV; Ambos (Fn. 3), § 12 Rn. 19.18 Vgl. Ambos (Fn. 3), § 12 Rn. 6. Ein Beispiel bildet derRahmenbeschluss des Rates vom 13.6.2002 zur Bekämpfungdes Terrorismus (ABl L 164, 3 vom 22.6.2002; umgesetztdurch Gesetz vom 22.12.2003 [BGBl. 2003 I, S. 2836]).19 Vgl. Hillgruber, JZ 2005, 841 (842); Tinkl, StV 2006, 36(37); Pechstein/Koenig, Die Europäische Union, 3. Aufl.2000, Rn. 243 f.20 Ambos (Fn. 3), § 11 Rn. 1; Hecker (Fn. 10), § 4 Rn. 54.21 Hecker (Fn. 10), § 4 Rn. 54; Ambos (Fn. 3), § 11 Rn. 1.22 Vgl. nur Ambos (Fn. 3), § 11 Rn. 10 m.w.N.ausgegangen ist, dass der EG-Vertrag der Gemeinschaft dieMöglichkeit bietet, das Strafrecht der Mitgliedstaaten dadurchzu harmonisieren, dass diesen durch Richtlinien gewisseVorgaben gemacht werden. 23 Unsicher sind dann freilichdie Voraussetzungen derartiger Strafrechtsharmonisierung,denn eine Vorschrift, die gerade die Strafrechtsharmonisierungdurch Richtlinien regelt, findet sich hier nicht, währendder EU-Vertrag die Harmonisierung des Strafrechts ausdrücklichthematisiert. Und es wird auch darum gestritten,wie präzise strafrechtsbezogene Richtlinienvorgaben seindürfen. 24 Die grundlegende Bedeutung dieser Streitfragenliegt auf der Hand: Denn je weiter die gemeinschaftsrechtlichenAnweisungskompetenzen nach regelbaren Sachbereichenund nach möglicher Anweisungsdichte reichen, destomehr nähert man das Instrument gemeinschaftsrechtlicherStrafrechtsharmonisierung eben doch originärer Strafgesetzgebungan. 25 Nicht überraschend ist es vor diesem Hintergrund,dass die Mitgliedstaaten sich auch schon vor demStreit um die Harmonisierung des Umwelt(straf)rechts imHinblick „auf ihre nationale Souveränität Richtlinienvorschläge[n]mit kriminalstrafrechtlichen Anweisungen“ entgegengestemmthaben. 26 Solche Widerstände reflektieren ebensowie der Verbleib der bisher nun einmal nicht vergemeinschaftetenPJZS außerhalb des vergemeinschafteten Bereichs,dass das Strafrecht nach wie vor als mit nationalstaatlicherSouveränität in besonderer Weise verbunden wahrgenommenwird. 27Gleichwohl darf der skizzierte Gegensatz zwischen dervergemeinschafteten ersten und der (hier besonders interessierenden)dritten Säule auch nicht zu schroff gezeichnetwerden, denn erstens findet die PJZS – anders als die sozusagenklassische intergouvernementale Zusammenarbeit – ineinem durch den Unionsvertrag abgesteckten festen Rahmenstatt, 28 die erste und dritte Säule haben gewissermaßen eingemeinsames Dach. Und vergleicht man die bereits erwähntengemeinschaftsrechtlichen Richtlinien mit den Rahmenbeschlüssender PJZS, so zeigen sich zweitens Ähnlichkeiten,mit denen der EuGH in seinem Pupino-Urteil, wie noch zuzeigen sein wird, dann auch in entscheidender Weise argumentiert.Das Instrument des Rahmenbeschlusses ist demjenigender Richtlinie strukturell in der Tat angenähert, jedochstellt eine Annäherung noch keine Identität her, sie bedeutetkeinen Gleichlauf und schon gar keine Gleichschaltung. Undganz im Gegenteil liegt vor dem Hintergrund des fortbeste-23 Ambos (Fn. 3), § 11 Rn. 30 ff.; Hecker (Fn. 10), § 8 Rn. 36m.w.N.24 Z.T. geht man insoweit davon aus, dass die Gemeinschaftden Mitgliedsstaaten genaue Vorgaben zu tatbestandlichenVoraussetzungen und Rechtsfolgen machen könne, vielfachwird dies aber als zu weitgehend angesehen. Vgl. dazu dieNachw. bei Ambos (Fn. 3), § 11 Rn. 32.25 Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts, 2001, S. 452;Sautner, in: östBMJ (Hrsg.), 34. Ottensteiner Fortbildungsseminaraus Strafrecht und Kriminologie, 2006, S. 79 (83).26 Hecker (Fn. 10), § 8 Rn. 25.27 Vgl. Ambos (Fn. 3), § 11 Rn. 10 m.w.N.28 Art. 29 ff. EUV._____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com527
Peter Rackow_____________________________________________________________________________________henden Nebeneinanders von EGV und EUV der Gedankenahe, dass jeder weiteren Heranführung der Rahmenbeschlüsseder PJZS an die gemeinschaftsrechtlichen Richtlinienzwangsläufige Grenzen gesetzt sind, soweit man nichteine grundlegende Veränderung der Strukturen herbeiführt, indenen diese Instrumente verwurzelt sind. Ebendiese Überlegungfindet sich dann auch in der Entscheidung des BVerfGzum ersten Europäischen Haftbefehlsgesetz wieder, in welcherdas BVerfG die PJZS als eindeutig intergouvernementaleinordnet, die Unterschiede zwischen Richtlinien und Rahmenbeschlüssenbetont und herausstreicht, dass „der Rahmenbeschlussaußerhalb der supranationalen Entscheidungsstrukturdes Gemeinschaftsrechts“ steht. 29 Für sein intergouvernementalesVerständnis von der Struktur der dritten Säuleist das BVerfG scharf angegriffen worden. Dem höchstendeutschen Gericht seien „Rechtsformen zwischen bloßemVölkerrecht und supranationalem Recht […] anscheinendundenkbar“. 30 Freilich legt derartige Kritik die (Gegen-)Fragenahe, wie die dritte Säule aktuell genau beschaffen ist, wennsie denn in einem Schattenreich zwischen Vergemeinschaftungund klassischer Intergouvernementalität emporragt.Ohne diesbezüglich operable Aussagen muss nämlich dieWirkweise und Durchschlagskraft der in dieser Struktur verwurzeltenInstrumente zwangsläufig unsicher bleiben. 31III. Die Anliegen des Verfassungsvertrages (und des Vertragsvon Lissabon)Eine tatsächlich grundlegende Veränderung derjenigen Strukturen,in denen zum gegenwärtigen Zeitpunkt Richtlinien undRahmenbeschlüsse verankert sind, hätte nun gerade der Verfassungsvertragbringen sollen, denn ein zentrales Anliegendes Verfassungsprojekts bestand bekanntlich darin, die Säulenarchitekturzu überwinden. Hierfür sollte die Europäische29 BVerfG NJW 2006, 2291.30 So Wolf, KJ 2005, 350 (352).31 Wenn bspw. Suhr, in: Callies/Ruffert/ders. (Hrsg.), EUV/EGV,Kommentar, 3. Aufl. 2007, Art. 34 EUV Rn. 19 argumentiert,die PJZS sei „nicht mehr nur in den Kategorien des herkömmlichenVölkerrechts zu fassen“, so ist mit dieser Aussagewenig gewonnen und es wird die Beantwortung der Folgefragezum Entscheidenden, was dies – hier: in Bezug auf dieWirkweise von Rahmenbeschlüssen – genau bedeuten soll.Wer wie v. Ooyen (Die Staatstheorie des Bundesverfassungsgerichtsund Europa, 2006, S. 52 ff. [56] und passim) demBundesverfassungsgericht Europafeindlichkeit vorwirft, solltevor dem Hintergrund dieser bestehenden Unsicherheitennicht die zweifelhafte europäische Kriminalpolitik als Preisgesollter Europafreundlichkeit übersehen und jedenfalls frappiertdie Bereitwilligkeit, mit der Grundrechtsbeschränkungenim Gefühl normativer Unfreiheit (MdB Ströbele imBVerfG-Verfahren zum EuHbG I, wiedergegeben bei Schorkopf[Hrsg.], Der Europäische Haftbefehl vor dem Bundesverfassungsgericht,2006, S. 247) hingenommen werden,wenn sie nur keinen nationalen, sondern irgendeinen internationalen,insbesondere europäischen Entstehungshintergrundhaben.Union neu begründet werden, 32 sie sollte an die Stelle derGemeinschaften treten, 33 und sie wäre „als solche insgesamtmit Rechtspersönlichkeit ausgestattet“ gewesen 34 . Zu denPolitikbereichen des neuen supranationalen Unionsrahmenshätte dann auch der „Raum der Freiheit, der Sicherheit unddes Rechts“ gehört, 35 seine Bestandteile wären unter anderemdie justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen 36 und die polizeilicheZusammenarbeit gewesen 37 . Mit anderen Worten:der Verfassungsvertrag sollte die zwischenstaatliche PJZSvergemeinschaften 38 und ebendiese Vision hat auch der Reformvertragnicht aus dem Blick verloren. 39 Mit ihrer Umsetzungwäre in unmissverständlicher Weise Klarheit geschaffen,die PJZS wäre aus ihrem verwunschenen Schattenreichausgezogen und eine „Vereinheitlichung der Instrumente undVerfahren“ 40 eine logische Konsequenz der Überwindung derSäulenarchitektur, welche der Verfassungsvertrag dann auchvorsah: Es sollten nämlich Europäische Rahmengesetze,welche in ihrer Wirkungsweise den Richtlinien des Gemeinschaftsrechtsentsprochen hätten, 41 (auch) innerhalb des„Raums der Freiheit der Sicherheit und des Rechts“ zur Verfügungstehen. 42Was des Weiteren die Frage einer europäischen Strafrechtssetzungskompetenzanbelangt, so wäre durch den Verfassungsvertragein altes Anliegen der Kommission verwirklichtworden und die Europäische Union hätte eine bereichsspezifischeErmächtigungsgrundlage für die Schaffung EuropäischenStrafrechts zur Bekämpfung von „Betrügereien undsonstige[n] gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtete[n]rechtswidrige[n] Handlungen“ erhalten. 43 Gleichsamim Schatten dieser bereichsspezifischen Kompetenz, dienunmehr nach Art eines Wiedergängers im Vertrag von Lissabonauftaucht, 44 sollte durch Art. III-271 Abs. 1 VerfV dieMöglichkeit geschaffen werden, für so bezeichnete „Kriminalitätsbereiche“wie etwa denjenigen des „Terrorismus“ oderfür den Bereich der „organisierte[n] Kriminalität“ durchEuropäische Rahmengesetze den Mitgliedstaaten „Mindestvorschriftenzur Festlegung von Straftaten und Strafen“ vorzugeben.Und schließlich hätten Europäische Rahmengesetzeimmer schon dann erlassen werden können, wenn „sich die32 Art. I-1 VerfV.33 Art. IV-438 Abs. 1 VerfV; Herdegen (Fn. 15), § 6 Rn. 14.34 Art. I-7 VerfV.35 Art. I-42 VerfV.36 Art. III-270 ff. VerfV.37 Art. III-275 ff. VerfV.38 Vgl. etwa Ambos (Fn. 3), § 9 Rn. 9; Oppermann (Fn. 13).39 Vgl. Art. 2 Abs. 67 f. des Vertrags von Lissabon (ABl.2007 C 306, S. 63 ff.).40 Böse, in: Schwarze (Hrsg.), Der Verfassungsentwurf deseuropäischen Konvents, 2004, S. 151.41 Cremer, EuGRZ 2004, 577 (579).42 Vedder/v.Heintschel-Heinegg, Europäischer Verfassungsvertrag,Kommentar, 2007, Art. I-42 Rn. 2.43 Art. III-415 VerfV; Ambos (Fn. 3), § 11 Rn. 13 m.w.N.44Vgl. Art. 2 Nr. 276 lit. b des Vertrags von Lissabon (ABl.C 306, S. 127); dazu Rosenau, <strong>ZIS</strong> 2008, 9 (16): „Paukenschlag“;Satzger, KritV 2008, 16 (25)._____________________________________________________________________________________528<strong>ZIS</strong> 11/2008
Verfasst der EuGH die Union?_____________________________________________________________________________________Angleichung der strafrechtlichen Rechtsvorschriften derMitgliedstaaten als unerlässlich [erweist], für die wirksameDurchführung der Politik der Union auf einem Gebiet, aufdem Harmonisierungsmaßnahmen erfolgt sind“ (Art. III-271Abs. 2 VerfV). Der Lissaboner Vertrag will (auch) hieran imGrunde festhalten – allerdings unter Aufgabe des Begriffs desEuropäischen Gesetzes bzw. Rahmengesetzes. 45 Ob man abernun von Europäischen Rahmengesetzen oder doch lieberwieder von Richtlinien spricht, ändert nichts an der Sachproblematikweit reichender Harmonisierungskompetenzen inBezug auf das Strafrecht.Ein Kritiker der Europäisierung des Strafrechts hatte inBezug auf die Befugnis zu strafrechtlicher Rahmengesetzgebungvon einem gut verborgenen „Sprengsatz“ im Verfassungsentwurfgesprochen, der letztlich „die Gleichschaltungdes Strafrechts mit jeder anderen Materie“ gebracht hätte, 46während ein ausgewiesener Befürworter das Strafrecht lediglich„in der europäischen Normalität angekommen“ gesehenhat 47 . Welcher dieser beiden diametralen Sichtweisen manauch zuneigen mag – jedenfalls hat die Vergemeinschaftungder PJZS bislang nicht stattgefunden, es ist bislang nicht zuder angestrebten Vereinheitlichung der Handlungsformengekommen. Und auch eine Schaffung neuer strafrechtsrelevanterErmächtigungsvorschriften ist (noch) nicht erfolgt.Denn das Verfassungsprojekt, das trotz aller Bemühungenseiner Betreiber nie in der erforderlichen Weise die Menschenin Europa erreichen konnte, ist nicht realisiert wordenund auch nach dem leidlich erfolgreichen Brüsseler Gipfel imJuni und dem Vertragsschluss von Lissabon im Dezemberdes Jahres 2007 bleibt die weitere Entwicklung abzuwartenund nach dem irischen Referendum über die Vertragsreformim Juni 2008 Skepsis angebracht. 48IV. Der EuGH tritt auf den PlanUmso bemerkenswerter erscheint vor diesem Hintergrund,dass der EuGH die soeben angesprochenen Anliegen desVerfassungsprojekts bereits insoweit aufgegriffen hat, als erin der Pupino-Entscheidung eine unionsrechtliche Pflicht zurrahmenbeschlusskonformen Auslegung angenommen unddurch die Entscheidung zum Rahmenbeschluss über denSchutz der Umwelt durch das Strafrecht eine erhebliche Stärkungder strafrechtlichen Harmonisierungskompetenz derersten zu Lasten der dritten Säule herbeigeführt hat, und es ist45 Art. 69b Abs. 2 des Vertrags von Lissabon (ABl. C 306, S. 65)entspricht Art. III-271 VerfV; Rosenau, <strong>ZIS</strong> 2008, 9 (16);vgl. auch Richter, EuZW 2007, 631 (632 f.). Neu ist jedochein „Mechanismus“, der es den Mitgliedsstaaten ggf. ermöglichensoll, sich an Rechtsakten der PJZS fallweise nicht zubeteiligen. Vgl. zum Ganzen auch die Schlussfolgerungen desVorsitzes der Tagung des Europäischen Rates in Brüssel(21./22.6.2007), 11177/07 CONCL2 vom 23.6.2007 (Anlage 1),S. 16 und 29.46 Hefendehl, <strong>ZIS</strong> 2006, 161 (165) = ders., in: Joerden/Szwarc(Hrsg.), Die Europäisierung des Strafrechts in Deutschlandund Polen, 2007, S. 52.47 Böse (Fn. 40), S. 151 (151).48 Vgl. oben bei Fn. 3 f.daher geboten, diese beiden Entscheidungen, die im Zentrumdes europastrafrechtlichen Diskurses der letzten Jahre stehen,nunmehr etwas näher zu betrachten.1. EuGH v. 16.6.2005 – C-105/03 (Pupino)Die Rechtssache Pupino betraf (nur) auf den ersten Blicklediglich die spezielle Frage der Auslegung des Rahmenbeschlussesdes Rates über die Stellung des Opfers im Strafverfahren.49 Ihr zugrunde lag ein italienisches Strafverfahrengegen die Kindergärtnerin Maria Pupino, der vorgeworfenwurde, an den ihr anvertrauten Kindern zahlreiche Deliktedes „Missbrauchs disziplinarischer Mittel“ nach Art. 571 desCodice Penale begangen zu haben. In diesem Verfahren nunhatte die Staatsanwaltschaft beantragt, acht Kinder ausschließlichaußerhalb der Hauptverhandlung zu vernehmen.Ein solches Procedere hätte Ausnahmecharakter, denn nachitalienischem Strafprozessrecht sind Zeugen in der Hauptverhandlungzu hören. Abgewichen werden kann hiervon zwarbei Zeugen, die unter 16 Jahren alt sind; jedoch ist die Erhebungdes Zeugenbeweises außerhalb der Hauptverhandlungim dieser vorgelagerten Beweissicherungsverfahren für Fällevorgesehen, in denen der Tatvorwurf Sexualdelikte bzw.Straftaten mit sexuellem Hintergrund betrifft. 50 Da nun aberim Fall der Kindergärtnerin offensichtlich keine derartigenDelikte im Raum standen, widersprach die Verteidigung demAntrag und der florentinische Ermittlungsrichter legte denFall dem EuGH zur Vorabentscheidung vor. Dieser entschied,dass die Vorgaben des Rahmenbeschlusses über dieStellung des Opfers im Strafverfahren so auszulegen sind,„dass das nationale Gericht die Möglichkeit haben muss,Kleinkindern, [die nach ihren Angaben Opfer von Misshandlungengeworden sind], zu erlauben, […] außerhalb der öffentlichenHauptverhandlung und vor deren Durchführung“auszusagen. 51 Weiter heißt es in der Pupino-Entscheidung:„Das nationale Gericht muss sämtliche Vorschriften desnationalen Rechts berücksichtigen und ihre Auslegung soweitwie möglich an Wortlaut und Zweck des genannten Rahmenbeschlussesausrichten.“Der EuGH sieht also eine Pflicht der innerstaatlichenStellen – hier des italienischen Strafgerichts – zur rahmenbeschlusskonformenAuslegung des nationalen Rechts. 52 ZurBegründung argumentiert der EuGH in erster Linie erstaunlichformal mit der bereits eingangs erwähnten Ähnlichkeitder Richtlinien der ersten und der Rahmenbeschlüsse derdritten Säule. Der „Wortlaut des Art. 34 Abs. 2 lit. b EU [sei]sehr eng an den Wortlaut des Art. 249 Abs. 3 EG angelehnt“53 . Und weiter liest man in der ursprünglichen deutschenÜbersetzung des in italienischer Sprache abgefasstenUrteils, dass dies „für die nationalen Behörden und insbesondereauch die nationalen Gerichte eine Verpflichtung zu ge-49 ABlEG Nr. L 82 vom 22.3.2001, S. 1.50 Art. 392 CCP. Vgl. zum italienischen Recht und zum Verfahrenvor dem Tribunale Firenze v. Unger, NVwZ 2006, 46(47); Lorenzmeier, <strong>ZIS</strong> 2006, 576 (578).51 LS 1 u. 2: NJW 2005, 2839.52 Dazu Herrmann, EuZW 2005, 436 (438).53 EuGH NJW 2005, 2839 (2840)._____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com529
Peter Rackow_____________________________________________________________________________________meinschaftsrechtskonformer Auslegung des nationalenRechts zur Folge [habe]“ 54 .Diese später korrigierte Formulierung 55 mutet an wie eineFreud’sche Fehlleistung, liest sie sich doch wie eine gleichsamunterbewusste verbale Vorwegnahme des Verfassungsvertrages,der ja die Überwindung der Unterscheidung zwischenGemeinschafts- und Unionsrecht bringen sollte. 56 Wiedem auch sei findet der EuGH für seinen Schritt hin zu einerobligatorischen Auslegung des nationalen Rechts anhand derVorgaben (nicht umgesetzter) Rahmenbeschlüsse keine überzeugendeBegründung. Der Hinweis auf den Wortlaut bleibtnämlich zwangsläufig an der Oberfläche, muss man doch dieRichtlinie im Kontext des Gemeinschaftsrechts sehen undden Rahmenbeschluss im eben weniger integrationsdichtenZusammenhang des Unionsrechts. 57 Richtlinien sind im Gemeinschaftsrechtzum einen und Rahmenbeschlüsse im Uni-54 EuGH NJW 2005, 2839 (2840), Rn. 33 f. = EuZW 2005,433 (435), Rn. 33 f. In der italienischen Originalfassung heißtes: „un obbligo di interpretazione conforme del diritto nazionale“und der englische Wortlaut der entsprechenden Passagelautet: „an obligation to interpret national law in conformity“.55 Nach Auskunft des EuGH-Informationsdienstes ist diezunächst über die Webseite des EuGH zugänglich gemachtedeutsche Version des Urteils im Oktober 2005 aufgrund„hausinterner Anregungen“ nachträglich geändert worden. Inder amtlichen Sammlung (16.6.2005, Strafverfahren gegenMaria Pupino, Rs. C-105/03, Sammlung 2005-6[B] I-5289 [I-5326]) und (nunmehr) auch auf der Webseite(), findet sich an entsprechenderStelle jeweils der Begriff der „rahmenbeschlusskonformenAuslegung“. Vgl. auch Lorenzmeier, <strong>ZIS</strong> 2006, 576 (578 mitFn. 33).56 Dies nur umso mehr, wenn man die Wortwahl der ursprünglichendeutschen Fassung des Urteils im Kontext derim Folgenden näher zu betrachtenden Sachaussagen derPupino-Entscheidung würdigt. Die ursprüngliche deutscheÜbersetzung hatte nämlich durchaus einiges für sich, lässtdoch die italienische Originalfassung in der entscheidendenPassage eine klare Aussage zu Grund (und Grenzen) dergeforderten Auslegung des italienischen Prozessrechts imHinblick auf den Rahmenbeschluss vermissen. Die Formulierung„un obbligo di interpretazione conforme del diritto nazionale“sagt nämlich genau genommen nur aus, dass nachAnsicht des EuGH das italienische Recht im Hinblick auf dieVorgaben des nicht umgesetzten Rahmenbeschlusses ausgelegtwerden muss. Nach welchen Grundsätzen dies letztlichgeschehen soll, weshalb und in welchen Grenzen, sprichtdagegen die ursprüngliche deutsche Sprachversion offen aus:Grund und Grenze rahmenbeschlusskonformer Auslegungsollen letztlich in der Übertragung der gemeinschaftsrechtskonformenAuslegung auf die dritte Säule zu finden sein.57 Dass (noch) irgend ein struktureller Unterschied zwischendem vergemeinschafteten Bereich der ersten Säule und derdritten Säule besteht, wird man – trotz aller Unsicherheitenund Verunklarungen (vgl. oben Fn. 29) – bis dato zugrundelegen dürfen.onsrecht zum anderen verwurzelt 58 und die richtlinienkonformeAuslegung bildet aus diesem Grund einen Unterfall dergemeinschaftsrechtskonformen Auslegung 59 , welche sichnicht zuletzt (auch) vor dem Hintergrund des Anwendungsvorrangsvollzieht, 60 zumal nach der Rechtsprechung desEuGH nicht fristgerecht umgesetzte Richtlinien, die inhaltlichhinreichend bestimmt sind, vertikale Drittwirkung im Verhältnisdes Einzelnen gegenüber dem Staat entfalten können61 . Konsequenterweise hat der EuGH daher im Fall Auerentschieden, dass ein Österreicher, der in Frankreich ohneApprobation als Tierarzt tätig war, sich nicht wegen unbefugterAusübung der Tiermedizin strafbar gemacht hat. Dasfranzösische Gericht habe nämlich – so der EuGH – das nationaleRecht unangewendet lassen müssen, weil eine durchFrankreich nicht fristgerecht umgesetzte EG-Richtlinie vorsah,dass tierärztliche Diplome gegenseitig anzuerkennensind. 62 Wenn nun die richtlinienkonforme Auslegung auchauf das Loyalitätsgebot und auf die Umsetzungsverpflichtungzurückgeführt wird, 63 so droht doch – wie der Fall Auer inaller Deutlichkeit zeigt – gegebenenfalls der Anwendungsvorrangund verleiht der Auslegung in Konformität mit demGemeinschaftsrechts, in deren Rahmen eben auch die richtlinienkonformeAuslegung verankert ist, eine charakteristischdringliche Note 64 . Für den Bereich der ersten Säule lässt sichdaher davon sprechen, dass es der Anwendungsvorrang ist,der die Mitgliedstaaten zu gemeinschaftsrechtskonformerAuslegung letztendlich zwingt. 65Bedenkt man diesen Hintergrund, so bringt der EuGHdurch die Parallelisierung der mit unumgesetzten Richtlinienund Rahmenbeschlüssen verbundenen Auslegungspflichtenletztgenannte Instrumente in einen Zusammenhang mit unmittelbarerWirkung und Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts,66 obwohl Art. 34 Abs. 2 lit. b Satz 2 EUV –wie erwähnt – für Rahmenbeschlüsse der dritten Säule jedeunmittelbare Wirkung in aller Deutlichkeit ausschließt, wassich bestens in Einklang bringen lässt mit einer Deutungdieser Handlungsform als noch immer in einer letztlich maßgebendenWeise völkerrechtlich-intergouvernemental durchwirkt.Art. 34 Abs. 2 lit. b Satz 2 EUV, der Verselbständigungstendenzender europäischen Gerichtsbarkeit verhindernsoll, 67 würdigt der EuGH freilich mit keiner Silbe, was nur58 Hillgruber, JZ 2005, 841 (842); Tinkl, StV 2006, 36 (39).59 Vgl. Hecker (Fn. 10), § 10 Rn. 2; Tinkl, StV 2006, 36 (39).60 Deutlich insbesondere Dannecker, JZ 1996, 869 (871 ff.);ders., Jura 1998, 79 (84); Ambos (Fn. 3), § 11 Rn. 42 jeweilsmit Nachweisen zur einschl. EuGH-Rspr.61 Herdegen (Fn. 15), § 9 Rn. 45.62 Zum Fall Auer Ambos (Fn. 3), § 11 Rn. 13a u. 38 f.; Dannecker,Jura 1998, 79 (84).63 Vgl. Hecker (Fn. 10), § 10 Rn. 6 m.w.N.64 Ambos (Fn. 17), § 11 Rn. 42.65 Überzeugend Ambos (Fn. 17), § 11 Rn. 42.66 Kritisch mit Recht Ambos (Fn. 3), § 12 Rn. 4a; vgl. desWeiteren etwa Tinkl, <strong>ZIS</strong> 2007, 419 (420); dies., StV 2006,36 (38) und Hufeld, JuS 2005, 865 (867 f.).67 Vgl. oben bei Fn. 19. Wenn dagegen Egger, EuZW 2005,652 (653) dem EuGH in Bezug auf das Pupino-Urteil mit_____________________________________________________________________________________530<strong>ZIS</strong> 11/2008
Verfasst der EuGH die Union?_____________________________________________________________________________________umso mehr befremdet, zumal das Gericht ja im Übrigen demWortlaut des Art. 34 EUV offensichtlich eine zentrale Bedeutungbeimisst. 68 Stattdessen folgt in der Urteilsbegründungeine Passage, in der ausgeführt wird, dass es „[un]abhängigvon dem durch den Vertrag von Amsterdam angestrebtenIntegrationsgrad […] völlig verständlich [sei], dass die Verfasserdes Vertrags über die Europäische Union es für angebrachthielten, im Rahmen von Titel VI dieses Vertrags denRückgriff auf Rechtsinstrumente mit analogen Wirkungenwie im EG-Vertrag vorzusehen, um einen wirksamen Beitragzur Verfolgung der Ziele der Union zu leisten“ 69 .Ebenso wenig wie der Ausschluss der unmittelbaren Wirkungvon Rahmenbeschlüssen soll also der Umstand, dass diePJZS durch den Amsterdamer Vertrag von 1997 gerade nichtin die erste Säule überführt worden ist, einer durch den EuGHangenommenen Verpflichtung zur rahmenbeschlusskonformenAuslegung (entsprechend der bekannten richtlinienkonformenAusbildung) entgegenstehen. Der EuGH scheint andieser Stelle den Standpunkt einzunehmen, dass Reichweiteund Wirkweise einer bestimmten Handlungsform des EU-Vertrages – von Rahmenbeschlüssen der dritten Säule nämlich– gar nicht entscheidend vom „Integrationsgrad“ (derUnion) abhängen. Man kann dies nun zwar so deuten, dassder EuGH daher auch gar keine „Annäherung des Rechtscharaktersder EU an den supranationalen Charakter der EG“betreiben wollte. 70 Indes lässt man sich dann darauf ein, ander Unterscheidbarkeit der ersten und der dritten Säule imBegrifflichen festzuhalten und sie gleichzeitig in der Sachezu relativieren. Und zwar nachhaltig. Dies gilt selbst dann,wenn man berücksichtigt, dass die PJZS über gleichsamklassische Formen intergouvernementaler Kooperation hinausgeht,71 denn trotz aller Unsicherheiten konnte man dochbis Pupino davon ausgehen, dass erstens Strukturunterschiedezwischen erstem und drittem Unionspfeiler (noch) existierenund dass diese zweitens nicht gänzlich bedeutungslos sind fürdie jeweiligen Handlungsformen. Bestünden keine Strukturunterschiedezwischen den Säulen oder wären diese – wie derEuGH anzunehmen scheint – für die Wirkweise der jeweiligenHandlungsformen irrelevant, so müsste man sich dochdem Hinweis beispringt, dass unmittelbare Wirkung undKonformauslegung strikt zu unterscheiden seien, so bleibtdieses Argument formal und ignoriert die Dynamik derEuGH-Rechtsprechung, die bisweilen die Grenze richtlinienkonformerAuslegung nach der unmittelbaren Anwendunghin dehnt (so mit Recht v. Unger, NVwZ 2006, 46 [47];Tinkl, StV 2006, 36 [38 f.] m.w.N.). Ähnlich verhält es sich,wenn Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht,2. Aufl. 2008, § 8 Rn. 118 f. einerseits herausstellt, dass derEuGH in Pupino dem Rahmenbeschluss keine unmittelbareWirkung zugeschrieben habe, um dann andererseits auf dieSchwierigkeit hinzuweisen, in praxi tatsächlich bei geradeeben noch zulässiger Konformauslegung Halt zu machen.68 Mit Recht kritisch Hillgruber, JZ 2005, 841 (842); v. Unger,NVwZ 2006, 46 (47); Tinkl, StV 2007, 36 (38).69 EuGH NJW 2005, 2839 (2841), Rn. 36.70 So Fetzer/Groß, EuZW 2005, 550 (551).71 Ambos (Fn. 3), § 12 Rn. 3 f.schon an dieser Stelle fragen, welchen Sinn, welche Bedeutungder Verfassungsvertrag mit seinen zentralen Anliegender Überwindung der Säulenstruktur der Europäischen Unionund der Vereinheitlichung ihrer Handlungsformen eigentlichhatte (und der Änderungsvertrag nun hat). 72 Vor dem Hintergrundder überraschenden Sichtweise, dass die Integrationsdichteder dritten Säule für die Wirkweise der in ihr verwurzeltenHandlungsformen gar nicht maßgeblich sei, schält sichder rein teleologische Begründungskern heraus, der die Pupino-Entscheidungzusammenhalten soll: 73 „Rechtsinstrumentemit analogen Wirkungen wie im EG-Vertrag“ – [so heißt esunverstellt] – bedeuteten „einen wirksamen Beitrag zur Verfolgungder Ziele der Union“ 74 .Dies nun ist gewiss richtig, jedoch könnte man mit derselbenLogik auch erklären, dass die Schaffung eines so bezeichnetenRaums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechtsnach Art. 29 Abs. 1 EUV ein zentrales Anliegen der Unionbildet und dass die analoge Anwendung der Handlungsformder EG-Verordnung im Rahmen der PJZS einen besonderswirksamen Beitrag zur Verfolgung dieses Ziels darstellenwürde. Sowenig aber wie ein derartiger allein auf die Optimierungder Durchschlagskraft bestimmter Handlungsformenangelegter Ansatz überzeugen könnte, will es einleuchten,wenn der EuGH im Folgenden argumentiert, dass seine Zuständigkeitfür Vorabentscheidungen „ihrer praktischenWirksamkeit im Wesentlichen beraubt [wäre], wenn die Einzelnennicht berechtigt wären, sich auf Rahmenbeschlüsse zuberufen, um vor den Gerichten der Mitgliedstaaten eine gemeinschaftsrechtskonformeAuslegung des nationalen Rechtszu erreichen“ 75 .Erneut tritt in dieser Passage die problematische Nähe dervom EuGH gefundenen rahmenbeschlusskonformen Auslegungdes nationalen Rechts und unmittelbarer Wirkung überdeutlichhervor, sollen sich doch gerade „die Einzelnen“ auf„Rahmenbeschlüsse […] berufen“ können. 76 Diese Wendungerinnert stark an die EuGH-Rechtsprechung zur unmittelbarenWirkung nicht umgesetzter Richtlinien und es klingtkaum überhörbar ein Postulat (oder jedenfalls das Desiderat)der „Direktwirkung“ von Rahmenbeschlüssen an. 77 Jedoch isteine solche Direktwirkung für Rahmenbeschlüsse an sichausdrücklich ausgeschlossen 78 und hinzu kommt, dass für das72 Vgl. Weißer, <strong>ZIS</strong> 2006, 562 (568).73 Zutreffend v. Unger, NVwZ 2006, 46 (47) („vor allemteleologische Gründe“).74 EuGH NJW 2005, 2839 (2841), Rn. 36.75 EuGH NJW 2005, 2839 (2841), Rn. 38.76 Vgl. Hillgruber, JZ 2005, 841 (842) und Gärditz/Gusy, GA2006, 225 (228), die mit Recht darauf hinweisen, dass eineMöglichkeit der einzelnen Bürger, sich „auf Rahmenbeschlüssezu berufen, […] über eine ausschließlich zwischenstaatlicheWirkung weit hinaus [geht]“.77 Mit Recht Weißer, <strong>ZIS</strong> 2006, 562 (571); vgl. auch Tinkl,StV 2006, 36 (38 ff.).78 Vgl. hier nur Pechstein/Koenig (Fn. 19), Rn. 243, die aus§ 34 Abs. 2 lit. b EUV mit großer Plausibilität ableiten, dass„ein Rahmenbeschluß keine subjektiven Rechte Einzelnerbegründen“ kann._____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com531
Peter Rackow_____________________________________________________________________________________Vorabentscheidungsverfahren durchaus auch dann ein Anwendungsbereichverbleibt, wenn man dem EuGH nichtfolgt: Fragen der „Gültigkeit und [der] Auslegung der Rahmenbeschlüsse“79 können nämlich auch dann auftauchen,wenn sich für ein nationales Gericht in Bezug auf einen bestimmtenRahmenbeschluss – etwa in Bezug auf denjenigenüber die Stellung des Opfers im Strafverfahren – Zweifeldaran einstellen, ob sich eine bestimmte Anwendung desnationalen Rechts als völkerrechtskonform darstellen würde.80 Das „Zuständigkeitsargument“ des EuGH zwingt daherebenso wenig wie der Hinweis auf den ähnlichen Wortlautder Vorschriften des Art. 249 Abs. 3 EGV und des Art. 34Abs. 2 lit. b EUV zur Annahme einer unionsrechtlichenPflicht zu rahmenbeschlusskonformer Auslegung.Schließlich bringt der EuGH die „Unionstreuepflicht“ 81 inStellung: Die „Union [könnte] ihre Aufgabe kaum erfüllen,wenn der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit […] nichtauch im Rahmen der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeitin Strafsachen“ gelten würde; hieraus lasse sichschließen, dass rahmenbeschlusskonform auszulegen sei. 82Aber auch dies überzeugt nicht, denn der Hinweis auf dieUnionstreue droht letztlich darauf hinaus zu laufen, aus einermodalen Verpflichtung eine ganz bestimmte inhaltlichePflicht abzuleiten. Der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeitbetrifft die Frage, auf welche Weise bestimmte Pflichtenwahrzunehmen sind: loyal nämlich. Die Aussage, dass man –wem gegenüber auch immer – seine Pflichten redlich erfüllenmuss, setzt das Bestehen bestimmter Pflichten voraus, ermöglichtaber keinen Schluss auf den <strong>Inhalt</strong> dieser Pflichten;sie mögen sehr weit reichen – oder auch nicht. 83 Wenn also(auch) im Rahmen der PJZS die bestehenden Pflichten durchdie Mitgliedstaaten loyal erfüllt werden müssen, so folgthieraus nicht, dass zu diesen Pflichten auch die rahmenbeschlusskonformeAuslegung zählt. Dies mag so sein – odereben auch nicht.Die praktische Bedeutung der Pupino-Entscheidung istnicht zu unterschätzen und es ist deshalb aus anwaltlicherSicht mit Recht darauf hingewiesen worden, dass „Verteidigergut beraten [seien], zukünftig die Vielzahl der im Bereichder [PJZS] ergangenen Rahmenbeschlüsse […] einer Prüfungdaraufhin zu unterziehen, ob sich Auswirkungen auf dieVerteidigung ihrer Mandanten ergeben“ 84 . Diese mittelbareKonsequenz des Pupino-Urteils beruht darauf, dass derEuGH durch die Erfindung einer unionsrechtlichen Pflichtder nationalen Behörden zur rahmenbeschlusskonformenAuslegung des nationalen Rechts diese Instrumente erheblich79 Vgl. Art. 35 Abs. 1 EUV.80 Hillgruber, JZ 2005, 841 (842); Weißer, <strong>ZIS</strong> 2006, 562(571); Ambos (Fn. 3), § 12 Rn. 4a.81 Dazu Hecker (Fn. 10), § 10 Rn. 86 und Weißer, <strong>ZIS</strong> 2006,562 (568 f.).82 EuGH NJW 2005, 2839 (2841), Rn. 42.83 Überzeugend Heger, JZ 2005, 841 (843).84 So Wehnert, NJW 2005, 3760 (3762); vgl. auch Tinkl, StV2007, 36 (36 f.).aufgewertet hat. 85 Unabhängig davon, ob man deshalb in derPupino-Entscheidung einen Fall der „Vergemeinschaftung“von Unionsrecht „qua Richterrecht“ erblickt, 86 ob man in ihr– letztlich nur in der Diktion – ein wenig zurückhaltendereine „Neujustierung des Verhältnisses von Unions- und Gemeinschaftsrecht“(durch ein Gericht) sieht 87 oder ob mansich tatsächlich auf die so unschuldig daherkommende wie inder Sache erstaunliche Sichtweise des EuGH einlassen mag,dass seine Aussagen zur Wirkweise und Reichweite vonRahmenbeschlüssen gar nichts mit der Integrationsdichte derUnion zu tun haben, 88 wird man wohl erstens resümierenkönnen, dass der EuGH sehr kurze Zeit nach der Volksabstimmungin den Niederlanden die Handlungsformen dergemeinschaftsrechtlichen Richtlinie und des Rahmenbeschlussesder dritten Säule – jedenfalls was die mit diesenverbundenen Auslegungspflichten anbelangt – praktischgleichgeschaltet hat, ohne für diesen Schritt eine Begründungzu finden, die kritischer Nachprüfung standhält. 89 Zweitensweckt der teleologische Begründungskern der Pupino-Entscheidung Besorgnis, der sich letzten Endes darauf zuspitzenlässt, dass die Gleichschaltung der Rahmenbeschlüsseder PJZS mit den Richtlinien des Gemeinschaftsrechts „einenwirksamen Beitrag zur Verfolgung der Ziele der Union“bedeutet, 90 denn es erscheint nur allzu gut vorstellbar, dasssich diese Argumentationsfigur bei passender Gelegenheitnoch für weitere Schritte fruchtbar machen lässt, um demEinigungsprozess notfalls auf die Sprünge zu helfen, wenndieser wieder einmal ins Stocken gerät: eine Richtung scheintsich jedenfalls abzuzeichnen: Hin zur unmittelbaren Wirkungund Hin zum Vorrang des Unionsrechts. 912. EuGH v. 13.9.2005 – C-176/03 (Nichtigerklärung desRahmenbeschlusses über den Schutz der Umwelt durch dasStrafrecht)Während sich die Pupino-Entscheidung nach alldem nur aufden ersten Blick auf die spezielle Frage der Auslegung eines85 Diesen Befund vermag der Hinweis auf die doch ohnehinim Raum stehende völkerrechtsfreundliche Auslegung (vgl.insbesondere Adam, EuZW 2005, 558 [560]) nicht zu relativieren.Dass die völkerrechtsfreundliche Auslegung geradenicht mit dem unionsrechtlichen Imperativ rahmenbeschlusskonformerAuslegung i.S.d. Pupino-Entscheidung zusammenfällt,zeigt sich exemplarisch in dem Sondervotum vonGerhardt, der der Entscheidung des BVerfG zum ersten EuropäischenHaftbefehlsgesetz unter ausdrücklicher Bezugnahmeauf Pupino eine Verkennung unionsrechtlicher Pflichtenvorwirft (NJW 2005, 2289 [2303]). Vgl. weiter Ambos(Fn. 3), § 12 Rn. 69 m.w.N.; Lorenzmeier, <strong>ZIS</strong> 2006, 576(579).86 Hillgruber, JZ 2005, 841 (844).87 Adam, EuZW 2005, 558 (560).88 Fetzer/Groß, EuZW 2005, 550 (551).89 Umfassende Literaturnachweise auch zum kritischen ausländischenSchrifttum liefert Ambos (Fn. 3), § 12 Rn. 4a.90 EuGH NJW 2005, 2839 (2841), Rn. 36.91 Adam, EuZW 2005, 558 (561); Herrmann, EuZW 2005,437 (438)._____________________________________________________________________________________532<strong>ZIS</strong> 11/2008
Verfasst der EuGH die Union?_____________________________________________________________________________________bestimmten Rahmenbeschlusses beschränkt, tatsächlich jedochdie Grundfesten der bestehenden Europäischen Strukturenberührt, zeigt bereits die Vorgeschichte der Nichtigerklärungdes Rahmenbeschlusses über den Schutz der Umweltdurch das Strafrecht deutlich, dass es um Grundsätzlichesging. Der Entscheidung zugrunde lagen nämlich ein Vorschlagder Kommission für eine „Richtlinie des EuropäischenParlaments und des Rates über den Schutz der Umwelt“ ausdem Jahre 2001 92 und ein hiermit konkurrierender Rahmenbeschlussdes Rates über den „Schutz der Umwelt durch dasStrafrecht“ aus dem Jahre 2003 93 , welche inhaltlich vieleÜbereinstimmungen aufwiesen. So sahen beide Instrumentebeispielsweise ausdrücklich vor, dass die Mitgliedstaaten dieAus- und Einfuhr von Abfällen unter Strafe stellen, beideInstrumente verlangten, dass die Teilnahme an den unterStrafe zu stellenden Handlungen gegen die Umwelt ihrerseitsstrafbar ist. Und beide Instrumente forderten ausdrücklichFreiheitsstrafen für schwerwiegende Fälle. Gleichwohl wurdeder Kommissionsvorschlag im Rat abgelehnt, welcher dannseinerseits seinen Rahmenbeschluss verabschiedete. Hiermitließ es nun aber die Kommission nicht bewenden und erhobNichtigkeitsklage gegen den Rahmenbeschluss des Rates. 94Im Folgenden sprangen Dänemark, Deutschland, Finnland,Frankreich, Griechenland, Großbritannien und Nordirland,Irland, die Niederlande, Portugal, Schweden und Spaniendem Rat als Streithelfer bei. 95 Dass sich all diese Staatenhinter den Rat stellten, überrascht nicht allzu sehr, weil derRat dasjenige Organ ist, durch welches die Regierungen derMitgliedsstaaten ihre Interessen auf der europäischen Bühneeinbringen und umsetzen. 96 Das Erfordernis der Einstimmigkeitder Beschlussfassung im Rat über Rahmenbeschlüsse derdritten Säule reflektiert die Souveränität der Mitgliedstaaten.Dagegen lässt sich in der Kommission, die mit diversen Exekutivbefugnissenausgestattet ist, der eigentliche supranationaleAkteur auf der europäischen Bühne erkennen. 97 Gewissging es Rat und Kommission um den Schutz der Umwelt,nicht zuletzt stellte sich aber auch die Frage der Machtverteilungzwischen dem vergemeinschafteten Brüsseler Zentrumund der intergouvernementalen Peripherie. Das abstrakteProblem der Machtverteilung zwischen Kommission und Rathatte sich nämlich verdichtet auf die konkrete Fragestellung,ob die Anweisung an die Mitgliedstaaten, beispielsweisesolche Strafgesetze gegebenenfalls neu zu schaffen, dieschwerwiegende Fälle der Aus- und Einfuhr von Abfällen mitFreiheitsentzug ahnden, aus der vergemeinschafteten erstenSäule ergehen kann bzw. muss oder ob eine solche Anwei-92 KOM (2001) 139 endg., ABl. C 180E vom 26.6.2001, S. 238 ff.93 Rb 2003/80/JI des Rates vom 27.1.2003, ABl. L 29 vom5.2.2003, S. 55 ff.94 Hierzu instruktiv Heger, JZ 2006, 310 (311).95 Vgl. zur Verfahrensgeschichte EuGH NVwZ 2005, 1289(1289).96 Ambos/Rackow, Jura 2006, 505 (506 f.).97 Ambos/Rackow, Jura 2006, 505 (509).sung allenfalls auf zwischenstaatlicher Basis formuliert werdendarf. 98Zur Beantwortung der damit im Raum stehenden (Macht-)Fragesetzt der EuGH an den Vorschriften der Art. 47 und 29Abs. 1 EUV an. Von deren gemeinsamer Aussage ausgehend,dass der EUV die Befugnisse des EGV unangetastet lässt,ergibt sich für ihn die Folgeüberlegung, ob der Rahmenbeschlussin Form einer Richtlinie hätte erlassen werden können.Unter dieser Voraussetzung sei nämlich ein Vorgeheninnerhalb der dritten Säule gesperrt. 99 Unbestritten ist dieseDeutung der genannten Vorschriften zwar nicht, 100 dochgelangt der EuGH auf ihrer Grundlage zu der weiteren Frage,ob sich eine Ermächtigungsgrundlage finden lässt, um denMitgliedstaaten im Wege einer Richtlinie Vorgaben für denSchutz der Umwelt (durch strafrechtliche Mittel) zu machen.Die für eine solche Richtlinie erforderliche Einzelermächtigungfindet der EuGH i.E. in Art. 175 EGV. 101 Die EG hättedie konkreten Vorgaben der Art. 1 bis 7 des Rahmenbeschlussesalso in Form einer Richtlinie erlassen können, 102somit hätte ein Vorgehen innerhalb der dritten Säule nichterfolgen dürfen 103 und der Rahmenbeschluss war schlussendlichfür nichtig zu erklären. 104 Begründet wird dies damit,dass der „Umweltschutz eines der wesentlichen Ziele der98Dass es im Interesse der Kommission lag, eine Lösungzugunsten der ersten Säule herbeizuführen, liegt auf derHand, bedenkt man, dass im Rahmen dieser erstens keineEinstimmigkeit erforderlich ist und säumige Mitgliedsstaatenggf. mit dem Vertragsverletzungsverfahren (Art. 226 EGV)zur Umsetzung von (ggf. auch gegen ihren Willen zustandegekommenen) Richtlinien gezwungen werden können (Rosenau,<strong>ZIS</strong> 2008, 9 [13]; vgl. zum Einstimmigkeitserfordernisauch Douma, EurUP 2005, 250 [250]).99 EuGH NVwZ 2005, 1289 (1290), Rn. 38 f.100 Der Wortlaut von Art. 29 EUV („Unbeschadet der Befugnisse“)und Art. 47 EUV („lässt […] unberührt“) erscheintähnlich vage wie derjenige des berüchtigten Art. 280 Abs. 4S. 2 EGV und die Annahme eines politischen Wahlrechtszwischen einem Vorgehen innerhalb der ersten und einemsolchen innerhalb der dritten Säule jedenfalls vertretbar. Indiesem Sinne Vogel, GA 2003, 314 (321 mit Fn. 30); Heger,JZ 2006, 310 (312); Rosenau, <strong>ZIS</strong> 2008, 9 (13 f.); Pohl, <strong>ZIS</strong>2006, 213 (217) m.w.N. deutet Art. 47 EUV in erster Linieals Abweichung vom Lex-Posterior-Grundsatz.101 EuGH NVwZ 2005, 1289 (1290 f.), bei Rn. 40, 51, 53.102 EuGH NVwZ 2005, 1289 (1291) bei Rn. 51 (Hervorhebungim Folgenden durch den Verf.): „Aus dem Vorstehendenergibt sich, dass der Hauptzweck der Art. 1 bis 7 desRahmenbeschlusses im Schutz der Umwelt besteht und dassdiese Vorschriften wirksam auf der Grundlage des Art. 175EG hätten erlassen werden können.“ Vgl. insoweit auchFromm, ZUR 2008, 301 (302); Sugmann/Stubbs/Jager, KritV2008, 57 (61); anders Eisele, JZ 2008, 251 (253) demzufolgeder EuGH „keine eindeutige Aussage darüber [getroffen hat],ob die in Art. 5 Rahmenbeschluss vorgesehenen Sanktionenauch in der Richtlinie hätten geregelt werden dürfen“.103 EuGH NVwZ 2005, 1289 (1291), bei Rn. 53.104 EuGH NVwZ 2005, 1289 (1291), bei Rn. 55._____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com533
Peter Rackow_____________________________________________________________________________________Gemeinschaft“ darstellt. Die Art. 174 bis 176 EGV bildeten„grundsätzlich den Rahmen […], in dem die gemeinschaftlicheUmweltpolitik durchzuführen ist“ 105 . Diese Aussage istfür sich gewiss richtig, doch ist mit einem derart allgemeinenHinweis kaum überzeugend darzutun, dass sich innerhalb desaufgezeigten Rahmens die Einzelermächtigung (gerade fürStrafrechtsharmonisierung) findet 106 und man könnte dahererwarten, dass der EuGH im Weiteren die Regelungen derArt. 174, 175 und 176 EGV einer sehr genauen Betrachtungunterzieht, dass er ihre Eigenarten herausarbeitet, die sie vonanderen Regelungen des EGV unterscheiden und Art. 175EGV eine „zumindest im Wege der Auslegung (hinreichendsicher) zu gewinnende Ermächtigungsgrundlage“ 107 für Strafrechtsharmonisierungsein lässt. Eine solche Erwartung wirdenttäuscht. Der EuGH betrachtet nämlich weniger die spezifischeStruktur der genannten Vorschriften, sondern er stelltfest, dass der Rahmenbeschluss nach Titel, Begründungserwägungenund <strong>Inhalt</strong> „das Ziel des Umweltschutzes verfolgt“108 . Hergestellt ist damit nicht weniger aber auch nichtmehr als eine (recht „lose“ 109 ) Verbindung zwischen dem Zieldes angefochtenen Rahmenbeschlusses und einem Politikbereichder ersten Säule: Hier wie da geht es um das Anliegendes Umweltschutzes.Dass der angefochtene Rahmenbeschluss sich diesbezüglichdes Mittels der Strafrechtsharmonisierung bedient, stehtfür den EuGH nicht der Annahme entgegen, er hätte in Formeiner Richtlinie der ersten Säule ergehen können. Zwar falledas „Strafrecht ebenso wie das Strafprozessrecht […] nicht indie Zuständigkeit der Gemeinschaft“. Jedoch könne dies „denGemeinschaftsgesetzgeber […] nicht daran hindern, Maßnahmenin Bezug auf das Strafrecht der Mitgliedstaaten zuergreifen, die seiner Meinung nach erforderlich sind, um dievolle Wirksamkeit der von ihm zum Schutz der Umwelterlassenen Rechtsnormen zu gewährleisten, wenn die Anwendungwirksamer, verhältnismäßiger und abschreckenderSanktionen durch die zuständigen nationalen Behörden einezur Bekämpfung schwerer Beeinträchtigungen der Umweltunerlässliche Maßnahme darstellt“ 110 .Man muss es betonen: der Gemeinschaftsgesetzgeber sollalso nicht nur befugt sein, „wirksam[e], verhältnismäßig[e]und abschreckend[e] Sanktionen“ einzufordern, er soll die„Kompetenz zur Strafrechtsanweisung“ haben 111 .An das Argument, dass der Umweltschutz zu den Politikender Gemeinschaft gehört und der Rahmenbeschluss zumSchutz der Umwelt durch das Strafrecht „das Ziel des Umweltschutzes“verfolgt, schließen sich nur noch zwei Erwägungenan: Erstens der knappe Hinweis darauf, dass denMitgliedstaaten immerhin die „Wahl der anwendbaren straf-105 EuGH NVwZ 2005, 1289 (1290), bei Rn. 43.106 Wuermeling, BayVBl. 2006, 368 (369) merkt zu Recht an,dass der EuGH das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigungin sehr „flexibler“ Weise deute.107 Ambos (Fn. 3), § 11 Rn. 1 m.w.N.108 EuGH NVwZ 2005, 1289 (1291), bei Rn. 43 ff., 46 f.109 Kritisch Braum, wistra 2006, 121 (123).110 EuGH NVwZ 2005, 1289 (1291).111 Kritisch Heger, JZ 2006, 310 (312).rechtlichen Sanktionen“ bleibt 112 , womit jedoch letztlich nurder Wirkmechanismus der Strafrechtsharmonisierung beschriebenwird, jedoch keine diesbezügliche Kompetenzplausibel begründet werden kann. Zweitens die Überlegung,dass die Art. 135 S. 2 und 280 Abs. 4 S. 2 EGV, welche fürdas Zollwesen und für die Bekämpfung des Betrugs „dieAnwendung des Strafrechts und des Strafverfolgungsrechts[…] den Mitgliedstaaten vorbehalten“, der Annahme einerstrafrechtlichen Anweisungskompetenz der Gemeinschaftnicht entgegenstehen, da sie nicht den Bereich der Umweltpolitikbetreffen. 113 Indes lässt sich das positive Vorhandenseineiner Anweisungskompetenz für Umweltstrafrecht innerhalbder ersten Säule schwerlich im Wege eines Umkehrschlussesdadurch begründen, dass man nachweist, dass bestimmteVorschriften, die ganz andere Sachbereiche betreffen,ihr jedenfalls nicht entgegenstehen. 114Die Entscheidung über die Nichtigerklärung des Rahmenbeschlussesüber den Schutz der Umwelt durch das Strafrechthat z.T. sehr deutliche Kritik erfahren: „Das dürre […]Urteil erschöpf[e] sich weitgehend in Feststellungen. EineAuseinandersetzung mit Gegenargumenten finde […] allenfallsin Ansätzen statt“ 115 . Der EuGH lasse „jegliche Formeiner Begründung für die Bejahung der strafrechtlichenKompetenz“ vermissen. 116 Unabhängig von der Schärfe, mitder die Kritik am EuGH bisweilen vorgetragen wird, scheintdiese jedenfalls in zweierlei Hinsicht berechtigt zu sein: Erstensstellt es sich in der Tat so dar, dass die Anforderungen,die der EuGH an eine gemeinschaftsrechtliche Anweisungskompetenz(norm)anlegt, denkbar voraussetzungsarm sind.Denn der EuGH nimmt zwar für die Begründung einer Anweisungskompetenzfür den Bereich des Umweltstrafrechtseine bestimmte Vorschrift in Bezug – diejenige des Art. 175EGV nämlich, er befasst sich mit dieser jedoch nicht genauer.112 EuGH NVwZ 2005, 1289 (1291), Rn. 49. Es mag nunsein, dass der EuGH – wie Wuermeling, BayVBl. 2006, 368(369) meint – durch diesen Hinweis belegen wollte, dass dasPrinzip der begrenzten Einzelermächtigung nicht verletztwerde. Dass sich der EuGH in seiner Argumentation a.a.O.auf solche Instrumente beschränkt habe, bei denen „den Mitgliedsstaatenein weiter Umsetzungsspielraum belassen wird“(so Diehm, wistra 2006, 366 [368]), widerlegt allerdings diegenauere Betrachtung des fraglichen Rahmenbeschlusses, dernach Ansicht des EuGH in Form einer Richtlinie hätte erlassenwerden können und müssen. Der angegriffene Rahmenbeschlussmachte den Mitgliedsstaaten nämlich recht genaueVorgaben zu den zu schaffenden Umweltdelikten (Hefendehl,<strong>ZIS</strong> 2006, 161 [165]; Wegener/Greenawalt, <strong>ZIS</strong> 2006, 585[585]; Klötzer, wistra 2007, 1 [7]; Ambos [Fn. 3], § 11 Rn. 32a).113 EuGH NVwZ 2005, 1289 (1291).114 Vgl. Heger, JZ 2006, 310 (312); Pohl, <strong>ZIS</strong> 2006, 213 (218 f.);a.A. Böse, GA 2006, 211 (214 f.).115 Wegener/Greenawalt, ZUR 2005, 585 (587); Hefendehl,<strong>ZIS</strong> 2006, 161 (164) (Entscheidung „enttäuscht nicht nurvom Ergebnis, sondern auch von der Begründung her aufganzer Linie“); zustimmend dagegen Böse, GA 2006, 211(212 ff.); Fromm, <strong>ZIS</strong> 2007, 26 (28).116 Satzger, KritV 2008, 17 (24)._____________________________________________________________________________________534<strong>ZIS</strong> 11/2008
Verfasst der EuGH die Union?_____________________________________________________________________________________Bei Lichte betrachtet hängt seine Argumentation an keinerStelle zwingend von bestimmten Besonderheiten des Art. 175EGV ab und sie lässt sich daher auf andere Politikbereicheübertragen, 117 denen sich die Gemeinschaft widmet und bzgl.derer „der Gemeinschaftsgesetzgeber“ 118 strafrechtliche Regelungenfür erforderlich hält. Der EuGH nimmt verbalArt. 175 EGV im Sinne einer Spezialermächtigung für Strafrechtsharmonisierungin Anspruch, begründet in der Sachedie Anweisungskompetenz der Gemeinschaft für das Umweltstrafrechtaber als „Annex [der] Sachkompetenz“ 119 . Inden Raum gestellt ist damit letztlich eine umfassende Kompetenzder Gemeinschaft zur strafrechtlichen „Rahmengesetzgebung“durch Richtlinien und man fragt sich, was dieseAusweitung der Zugriffsmöglichkeiten der Gemeinschaft aufdas Strafrecht inspiriert haben mag, wenn es nicht der Verfassungsvertraggewesen ist, der – wie erwähnt – vorsehensollte, dass Europäische Rahmengesetze erlassen werdenkönnen, 120 wenn „[…] sich die Angleichung der strafrechtlichenRechtsvorschriften der Mitgliedstaaten als unerlässlichfür die wirksame Durchführung der Politik der Union aufeinem Gebiet, auf dem Harmonisierungsmaßnahmen erfolgtsind [erweist][…]“.Unabhängig davon, ob nun die erwähnte Regelung dochnoch in Form einer ausdrücklichen Richtlinienkompetenz ineinem reformierten und umbenannten EGV auftauchenwird, 121 ist Strafrechtsharmonisierung schon jetzt überall dortdenkbar, wo sich eine gemeinschaftsrechtliche Richtlinie alsMittel zum Zweck einer Gemeinschaftspolitik ausweisenlässt. Von seiner einmal eingeschlagenen Linie ist der EuGHnämlich weder in seinem Fluggastdatenurteil 122 noch wesentlichin seiner Entscheidung über die Nichtigkeit des Rahmenbeschlusseszur strafrechtlichen Bekämpfung der Verschmutzungdurch Schiffe 123 abgerückt. Im erstgenannten Urteilverneint er allein für die konkret zu entscheidende Fallgestaltungein Annexverhältnis ohne dabei aber Strafrechtsharmonisierungauf der sachlichen Basis von Annexkompetenzenals solche in Frage zu stellen, 124 während die Passage in derzweitgenannten Entscheidung nicht überbewertet werdensollte, wonach die „Bestimmung von Art und Maß der anzuwendendenstrafrechtlichen Sanktionen“ nicht der Gemeinschaftzukomme 125 . Denn hieraus wird man eine Beschränkungder Gemeinschaftsvorgaben auf das „Ob“ strafrechtlicherSanktionen nicht herausdeuten dürfen. 126 Eine derartigeEinschränkung zugrunde gelegt, hätte der EuGH die Nichtigerklärungdes Rahmenbeschlusses zum Schutz der Umweltdurch das Strafrecht nicht damit begründen können, dassdessen Regelungen in die Form einer gemeinschaftsrechtlichenRichtlinie hätten gegossen werden können (und müssen).127 Es wäre nun aber hochgradig erklärungsbedürftig,hätte der EuGH nur gut zwei Jahre nach seinem Urteil in derRechtssache C-176/03 plötzlich einen Standpunkt eingenommen,von dem aus sich die Begründung, mit der er denRahmenbeschluss zum Schutz der Umwelt für nichtig erklärthatte, als schlicht unrichtig darstellt. 128 Nicht weniger, aber(wohl) auch nicht mehr, soll der Gemeinschaft also verwehrtsein, als die Setzung konkreter Vorgaben zu Art und Maß zuschaffender strafrechtlicher Sanktionen. 129Bemerkenswerterweise hat die durch den EuGH herbeigeführteAufweichung des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung130 im Bereich des Umweltstrafrechts nur begrenzteAuswirkungen nach sich gezogen. Nach den Weichenstellungendes EuGH ist ein einheitliches Vorgeheninnerhalb der dritten Säule gesperrt 131 und ein neuer Richtlinienvorschlagder Kommission vom 9.2.2007 war in seinerursprünglichen (weitreichenden) Form nicht von Erfolg gekrönt.132 Es ist vor diesem Hintergrund im Hinblick auf das117 Vgl. Perron, in: Hettinger u.a. (Hrsg.), Festschrift fürWilfried Küper zum 70. Geburtstag, 2007, S. 429 (429);Hefendehl, <strong>ZIS</strong> 2006, 161 (165); Schünemann, StV 2006, 361(362 u. 364); Fromm, <strong>ZIS</strong> 2007, 26 (27); umfassende Nachweisezum ausländischen Schrifttum liefert Ambos (Fn. 3),§ 11 Rn. 30a. Vgl. schließlich insbesondere die neue EntscheidungEuGH JZ 2008, 248 (251), Urt. v. 23.10.2007 – C-440/05 (Nichtigerklärung des Rahmenbeschlusses zur Verstärkungdes strafrechtlichen Rahmens zur Bekämpfung derVerschmutzung durch Schiffe), Rn. 55 ff., in der der EuGHden Bereich der gemeinsamen Verkehrspolitik (neben derUmweltpolitik) mit heran zieht, um eine strafrechtliche Harmonisierungskompetenzder Gemeinschaft zu begründen.118 EuGH NVwZ 2005, 1289 (1291), bei Rn. 48.119 Überz. Pohl, <strong>ZIS</strong> 2006, 213 (216); mit Recht kritisch auchHefendehl, <strong>ZIS</strong> 2006, 161 (165) („vage Allianz von Spezialermächtigungund implied-powers-Lehre“); Wegener/Greenawalt,ZUR 2005, 585 (587).120 Vgl. erneut Art. III-271 Abs. 2 VerfV.121 Vgl. Art. 69b Abs. 2 des Lissaboner Vertrages, ABl. C306, S. 65; oben Fn. 45.122 EuGH EuZW 2006, 403, Urt. v. 30.5.2006 – C-317,318/04 (Parlament u.a./Rat und Kommission u.a.).123 EuGH JZ 2008, 248, Urt. v. 23.10.2007 – C-440/05.124 EuGH EuZW 2006, 403 (404 f.), Rn. 57; vgl. hierzu Ambos(Fn. 3), § 10 Rn. 30b; a.A. insoweit Zöller, GA 2007, 393(409).125 EuGH JZ 2008, 248 (251), Rn. 70.126 So aber Satzger, KritV 2008, 23 (Hervorhebung durch denVerf.): „Sie [die Gemeinschaft] darf demnach weder Art nochMaß der strafrechtlichen Sanktionen selbst festlegen.“127 Vgl. oben bei Fn. 102.128 Der Rahmenbeschluss zum Schutz der Umwelt beschränktesich nämlich durchaus nicht auf Vorgaben zum „Ob“ strafrechtlicherRegelungen (vgl. insoweit Hefendehl, <strong>ZIS</strong> 2006,161 [165] und Wegener/Greenawalt, <strong>ZIS</strong> 2006, 585 [585]),sah er doch in Art. 5 Abs. 1 Freiheitsstrafen vor (ABl. L 29vom 5.2.2003, S. 56).129 Ambos (Fn. 3), § 10 Rn. 32; Fromm, <strong>ZIS</strong> 2008, 168 (175);Sugmann Stubbs/Jager, KritV 2008, 57 (68).130 Wuermeling, BayVBl. 2006, 368 (369); Kaiafa-Gbandi,<strong>ZIS</strong> 2006, 521 (524); Kubiciel, NStZ 2007, 136 (137).131 Vgl. Heger, JZ 2006, 310 (311); Pohl, <strong>ZIS</strong> 2006, 213(217).132 Der Richtlinienvorschlag sollte in seiner ursprünglichenFassung (KOM [2007] 51 endg.) den Mitgliedsstaaten engeVorgaben zum Maß der vorzusehenden Freiheitsstrafen machen(vgl. Art. 5 Nr. 3: „Freiheitsstrafe von mindestens zwei_____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com535
Peter Rackow_____________________________________________________________________________________Anliegen einer Harmonisierung des Umweltstrafrechts in denMitgliedstaaten bereits von einem Pyrrhussieg der Kommissiondie Rede gewesen. 133 Betrachtet man die Entscheidungdes EuGH zum Rahmenbeschluss über den Schutz der Umweltdurch das Strafrecht aber weniger unter dem Gesichtspunktdes Umweltschutzes und fragt stattdessen stärker nachihren grundsätzlichen Konsequenzen für die Machtverhältnisseinnerhalb der Europäischen Tempelarchitektur, so scheintmir die Kommission doch mehr als nur einen Scheinsiegerrungen zu haben. 134 Denn man sollte nicht verkennen, dasssich in anderen Bereichen als demjenigen des Umwelt(straf)rechtseher die erforderlichen Mehrheiten für eingemeinschaftsrechtliches Vorgehen zusammenfinden können.135 So lässt sich denken, dass die Gemeinschaft selbstdann, wenn die nunmehr ins Auge gefasste Vertragsreformdoch nicht zustande kommen sollte, etwa im Bereich desVerkehrs, der Verbraucher- oder der Sozialpolitik die Notwendigkeitentdeckt, ihre gemeinschaftsrechtlichen Vorgabenmittels mitgliedstaatlichen Strafrechts weiter abzusichern undper Richtlinienanweisung entsprechende Vorgaben macht.Charakteristischerweise werden nun die Gemeinschaftszieleauf dem Weg über diverse Etappenziele angesteuert, bzgl.derer sich gemeinschaftsrechtliche Regelungen schaffenlassen. Es stehen daher jedenfalls eine große Zahl von gemeinschaftsrechtlichenVerhaltensnormen als Anknüpfungspunktegemeinschaftsrechtlicher Vorgaben an den nationalenStrafgesetzgeber zur Verfügung. 136 Führt man sich nun weiterden relativen Detailreichtum des Rahmenbeschlusses zumSchutz der Umwelt durch das Strafrecht 137 vor Augen, dernach Ansicht des EuGH in Form einer Richtlinie hätte ergehenmüssen, so wird deutlich, in welchem Maße der EuGHdurch seine Entscheidung die erste Säule gestärkt hat. Diesmuss grundsätzliche Bedenken wecken, denn auch wenn mandie Begrenzungen des Subsidiaritätsprinzips und des Verundbis zu fünf Jahren“), so dass jedenfalls der Rechtsfolgenteilmit Blick auf das EuGH-Urt. v. 23.10.2007 (oben beiFn. 125) nur hätte intergouvernmental umgesetzt werdenkönnen. Näher Fromm, ZUR 2008, 301 (306 f.); ders., <strong>ZIS</strong>2008, 168 (176 f.); Eisele, JZ 2008, 251 (253 f.). Eine konsolidierteTextfassung bescheidet sich nunmehr mit der Vorgabe,wirksamer, angemessener und abschreckender strafrechtlicherSanktionen, Legislative Entschließung des EuropäischenParlaments vom 21.5.2008 zu dem Vorschlag für eineRichtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates überden strafrechtlichen Schutz der Umwelt (KOM [2007] 51 –C6-0063/2007 – 2007/0022 [COD]). Dieser Vorschlag istjüngst umgesetzt worden (ABl. L 328 vom 6.12.2008, S. 28ff.).133 Formulierung im Vortext der Anmerkung von Heger, JZ2006, 310.134Vgl. schon deren Mitteilung an EP und Rat vom24.11.2005, KOM (2005) 583 endg., S. 2; hierzu Ambos (Fn. 3),§ 11 Rn. 32a; Satzger (Fn. 67), § 8 Rn. 46.135 So auch Pohl, <strong>ZIS</strong> 2006, 213 (220).136 Kubiciel, NStZ 2007, 136 (138).137 Zutreffend Hefendehl, <strong>ZIS</strong> 2006, 161 (165).hältnismäßigkeitsgrundsatzes in Rechnung stellt, 138 drohtunter dem Einfluss eines instrumentellen Verständnisses vomStrafrecht als bloßem „Mittel zur Erreichung von Gemeinschaftszielen“139 – wie es in der Entscheidung hervortritt –eher aus dem Blick zu geraten, dass der legitimierende Kerndes Strafrechts auch im Fall gemeinschaftsrechtlich veranlassterStrafgesetzgebung stets nur der Schutz von Rechtsgüternsein kann.V. FazitDie Entscheidungen des EuGH in der Rechtssache Pupinound zum Rahmenbeschluss über den Schutz der Umweltdurch das Strafrecht weisen kaum übersehbare Gemeinsamkeitenauf und sind im Schrifttum mit Recht vielfach kritischbewertet worden. Die betrachteten Entscheidungen zeichnensich im Allgemeinen durch einen teleologischen Begründungskernaus und führen je für sich auf ihrem Feld eine(weitere) Relativierung der Säulenstruktur der EuropäischenUnion herbei. Dies führt dazu, dass das gewandelte Gesichtder Union beginnt, supranationale Züge zu tragen, und sichdie Union von ihren intergouvernementalen Wurzeln immerweiter entfernt. Im Besonderen zeichnen sich die betrachtetenEntscheidungen dadurch aus, dass sie spezifische Anliegendes Verfassungsvertrags aufgegriffen haben, nachdem diesergescheitert und bevor der Änderungsvertrag aufgelegt war. InPupino ist es die Gleichschaltung der Rahmenbeschlüsse derPJZS mit den Richtlinien der ersten Säule, die der EuGHdadurch vornimmt, dass er die Grundsätze der gemeinschaftsrechtskonformenAuslegung auf die dritte Säule überträgt; inder Entscheidung zum Umweltschutz schafft er de facto eineumfassende Anweisungskompetenz der Gemeinschaft zurHarmonisierung des Strafrechts der Mitgliedstaaten als Annexder jeweiligen Sachregelungsbefugnis. Der Verdacht,dass die betrachteten Entscheidungen dabei Elemente desVerfassungsprojekts umsetzen sollten, ließ sich nicht ausräumen.Denn auch bei näherer Betrachtung erscheinen dieEntscheidungen auf der Grundlage eines unveränderten Gefügesder Union doch als sehr überraschend, während sie sichdagegen bestens in die Europäische Architektur einpassen,welche der Verfassungsvertrag geschaffen hätte (und derÄnderungsvertrag erst noch bringen soll). Man muss nunkeine sonderlich europaskeptische Grundhaltung mitbringen,um dies bedenklich zu finden. Ganz im Gegenteil fragt sichnämlich, ob der EuGH dem Europäischen Gedanken nichteinen Bärendienst leistet. Denn welche überzeugende Antwortwollte man den Menschen in Europa auf die Frage geben,welche Bedeutung, welchen tieferen Wert das Verfassungsprojekt,das ihnen mit nicht unerheblichem Pathos nahegebracht worden ist, denn eigentlich hatte, wenn sich nachdem Scheitern der Verfassung zeigt, dass jedenfalls nichtunwesentliche Elemente des Verfassungsvertrages auch ganz138 Art. 5 Abs. 2 und 3 EGV. Dazu Hecker (Fn. 10), § 8 Rn. 63 ff.;skeptisch Kubiciel, NStZ 2007, 136 (138 f.).139Zutreffend Kubiciel, NStZ 2007, 136 (137); Ambos(Fn. 3), § 11 Rn. 30a; vgl. auch Satzger (Fn. 67), § 8 Rn. 42:„allein auf ,effet utile’-Erwägungen fußendes Urteil“ undRn. 46: „Durchsetzungsmechanismus“._____________________________________________________________________________________536<strong>ZIS</strong> 11/2008
Verfasst der EuGH die Union?_____________________________________________________________________________________ohne Fahnen, ohne Kapellen und ohne Festtagsreden in LuxemburgerGerichtssälen verwirklicht werden können undnicht einmal eine profane Vertragsreform abgewartet werdenmuss? Der unangenehme Eindruck einer eigentümlichenBeliebigkeit der Vorgehensweisen gestaltungsfreudiger undbisweilen recht machtbewusst wirkender Akteure auf dereuropäischen Bühne steht im Raum._____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com537
Lügendetektor ante portasZu möglichen Auswirkungen neurowissenschaftlicher Erkenntnisse auf den StrafprozessVon Privatdozent Dr. Stephan Stübinger, Frankfurt a.M./MainzI. Einleitung„Indem die Technik unsere Hoffnungen, Sehnsüchte, Wünschezu befriedigen scheint, verwandelt sie diese in verfluchte,lästige Bedürfnisse.“ 1Keine andere Disziplin erfreut sich gegenwärtig einer sogroßen Aufmerksamkeit innerhalb der internationalen Wissenschaftsgemeinschaftwie die sog. Hirnforschung, derenAusläufer in beinahe sämtliche Fachrichtungen ausgreifenund zahlreiche Fächer in „Neuro“-Wissenschaften verwandeln;ohne dieses Anhängsel scheint kaum noch eine Forschungsrichtungauskommen zu können. Neben der Diskussionüber die Willensfreiheit haben es vor allem die neurowissenschaftlichenUntersuchungen zur vermeintlichen Unterscheidbarkeitvon falschen und wahren Aussagen in dieSchlagzeilen diverser Fachzeitschriften, Wissenschaftsjournaleund der Feuilletons angesehener Zeitungen geschafft.Mit Hilfe bildgebender Verfahren soll es möglich werden, die„Wahrheit über die Lüge“ sichtbar werden zu lassen. 2 Diemodernen Apparaturen sollen die Funktion eines Lügendetektorsvon dem herkömmlichen Polygraphen übernehmen.Aufsehen erregte unlängst etwa die Meldung im Onlineportaldes Deutschen Ärzteblattes, wonach in einem Feldversucham internationalen Flughafen in München ein Prototypeines neuen Lügendetektors auf der Basis eines funktionellenMagnetresonanztomographen getestet werden solle, um terrorverdächtigeFluggäste auf eventuell vorhandene kriminelleAbsichten hin überprüfen zu können. Entwarnung konntefreilich ein Blick auf das Datum der Veröffentlichung dieserNachricht geben: es war an einem 1. April. 3Den Ärzte-Spaß beiseite; dahinter steckt die auch fürStrafrechtler ernstzunehmende Bemühung, mit Hilfe neuerErkenntnisse der Hirnforschung ein altes Problem lösen zukönnen, was inzwischen wohl von nicht wenigen immerhinfür möglich gehalten wird. Ehe diese neurowissenschaftlichenMethoden vorgestellt und die eventuelle Relevanz dieserneuen Erkenntnisse für das Strafverfahren geklärt werdenkann (IV. ), soll in einem ersten Abschnitt eine allgemeineAbklärung der Differenzierung zwischen Wahrheit und Lügeerfolgen, in der jener reaktivierte Anreiz zur Lügendetektionverständlich gemacht werden soll; dabei wird insbesondereauf einen wichtigen Unterschied hingewiesen, der für dasVerständnis der verschiedenen Formen einer Suche nachWahrheit und der Wahrnehmung einer Lüge relevant ist (II.).Im Anschluss daran wird kurz die erstaunlich lange Geschichteder bisherigen Bemühungen, unwahren Behauptungenauf die Schliche zu kommen, referiert; dabei wird insbesonderedie Stellungnahme des Bundesgerichtshofs in Betrachtgezogen (III.).1 Tschopp, in: Deutsche Aphorismen, Auswahl von Hindermann/Heinser,1997, S. 402.2 Siehe etwa den Forschungsbericht von Gamer, Gehirn &Geist 7-8/2008, 32.3 Vgl. dazu Schleim/Walter, Nervenheilkunde 26 (2007), 509.II. Über Wahrheit und Lüge im (nicht nur) strafrechtlichenSinneIn einer vereinfachten (Be-)Deutung meint das Wort Erkenntnisnicht viel mehr, als die unberührte Einheit der Welt durchUnterscheidungen zu verletzen bzw. in eine erkennbare Formzu bringen, wodurch zuallererst Ordnung ins Chaos kommt.Ohne diese Differenzierungsarbeit ließe sich nichts über „dieWelt“ sagen, denn sie ist wie sie ist, solange nicht in ihr unterschiedenund etwas Bestimmtes bezeichnet wird. Dabeikann zunächst von der Frage abgesehen werden, von wem dieUnterscheidungen getroffen werden. Gerade die gesellschaftlichenZusammenhänge werden in Gegensätzen gedacht:entweder wird etwas als richtig oder falsch, recht oder unrecht,gut oder böse, wahr oder unwahr bezeichnet, um nureinige der geläufigen Differenzierungen zu nennen, mit denendie Zustände oder Verhaltensweisen der Sozialwelt eingeteiltund beschrieben werden. Mit diesen Bezeichnungenwerden Handlungs- oder Zustandsbeschreibungen auf eineNormordnung bezogen. In diesem Unterscheidungsgebrauchwird Juristen eine besondere Leistung zugetraut; sie haben esmit Recht zu tun, das von Unrecht unterschieden werden soll.Eine zentrale Aufgabe übernehmen dabei die Gerichte. Sieallein sind dafür zuständig, verbindlich Recht zu sprechen,d.h. für einen konkreten Einzelfall zu sagen, was Recht undwas Unrecht ist. Alle anderen können in der Sache mitredenund sich dabei sogar „im Recht“ wähnen, haben aber letztlichdoch nichts Rechtskräftiges zu sagen. Die Konkretisierungversteht sich als Anwendung geltender Gesetze auf einenrealen Sachverhalt. Dafür wird meist vorausgesetzt, dassdurch ein gerichtliches Verfahren zunächst „die Wahrheit“(über das zu beurteilende Geschehen) gesucht werden muss,die für eine juristische Entscheidungsfindung für erforderlichgehalten wird. Nach verbreitetem Verständnis setzt ein Urteilüber die Rechtmäßigkeit eines Verhaltens zuallererst dieErmittlung dessen voraus, was tatsächlich – d.h. „in Wahrheit“– geschehen ist. Nur der wahre Sachverhalt soll einerjuristischen Beurteilung unterzogen werden. Rechtsfindungbedingt daher eine vorherige Wahrheitssuche. Trotz seinerperformativen Struktur enthält doch jedes rechtliche Urteilein konstatives Moment, das eine Tatsache erst zu einerRechtsfrage werden lässt. Die Anwendung eines Gesetzesführt nur dann zum Recht, wenn es dabei um die Subsumtiondes wahren Sachverhaltes geht; andernfalls lassen sich lediglichabstrakte normative Bewertungen problematisieren, aberkeine rechtlichen Lösungen für reale Probleme finden. JuridischesEntscheiden wird deshalb einer als objektiv beanspruchtenErkenntnis zugeordnet. Erst der Anspruch auf einesolche Objektivität des ermittelten Sachverhalts lässt dannauch das Anwenden des Gesetzes in Form eines Syllogismuszu einer im Prinzip für alle nachvollziehbaren Rechtsfindungwerden. Die Kombination normativer und kognitiver Entscheidungsmomente,d.h. eines syllogistischen Schlussverfahrensmit einer objektivierbaren Tatsachenkenntnis, trennt_____________________________________________________________________________________538<strong>ZIS</strong> 11/2008
Lügendetektor ante portas_____________________________________________________________________________________die Rechtsfindung als Form praktischer Erkenntnis von willkürlicherDezision.Die Vorstellung von einer im angedeuteten Sinne notwendigenBeziehung zwischen Recht und Wahrheit prägt vorallem das Idealbild eines Kriminalprozesses, denn eine erfolgreicheSuche nach den wahren Tatsachen wird als einesder Hauptziele eines Strafverfahrens gesetzt. Die Strafe alsschärfste Form staatlicher Reaktion fordert die Annahme,dass sie den „Richtigen“, d.h. den wahren Schuldigen trifft.Die Wahrheitssuche wird vom Gesetz verordnet. Ein Gerichthat laut § 244 Abs. 2 StPO die Beweisaufnahme „zur Erforschungder Wahrheit“ durchzuführen. Nun ist dies freilicheine schwierige, manche meinen gar eine schier unmöglicheAufgabe, und die Frage, wie sie (auf-) gelöst werden kann,beschäftigt die strafrechtliche Literatur seit vielen Jahrzehnten.4 Strafprozessuale Wahrheitsermittlung ist nämlich nichtnur einer Menge normativer Beschränkungen unterworfen,die sich vor allem aus dem Grundsatz einer fairen Verfahrensführungergeben, sondern auch erheblichen erkenntnistheoretischenZweifeln ausgesetzt. Um die letztgenannteProblematik zu umlaufen, kann man versuchen, die Suchenicht direkt bei der Wahrheit zu beginnen, sondern zunächstalles möglicherweise Unwahre auszuschließen. Die Schwierigkeit,Wahres von Unwahrem zu unterscheiden, scheint sichdeutlich zu vermindern, wenn es gelingen sollte, zunächst diebewusst irreführenden Aussagen aus dem Erkenntnisprozessherauszufiltern. Die Sicht auf den wahren Sachverhalt wirdnämlich vor allem durch mögliche Lügen der Beteiligtenverstellt. Daher erscheint der Wunsch allzu verständlich,unwahre Behauptungen gleichsam sichtbar werden zu lassen.Eine Lüge wird dabei nicht selten als eine besondereForm der Unwahrheit zum Gegenstück der Wahrheit erklärt.Diese Unterscheidung ist aber zumindest unpräzise, dennWahrheit und Lüge stehen einander nicht auf allen Bedeutungsebenenals genaue Entsprechungen gegenüber. DerLüge bleibt nämlich der Charakter einer Substantivierungeines Tätigkeitswortes eingeschrieben; sie lässt sich nichtunabhängig von einem als Lügen bezeichneten Tun denken.Die Lüge setzt einen Lügner voraus. Sie kann dabei nichteinmal einen eigenständigen Gehalt beanspruchen, denn ihr<strong>Inhalt</strong> bleibt auf etwas anderes – die Wahrheit – bezogen, diebewusst verändert dargestellt wird; sie kann immer nur alsManipulation des Wahren aufgefasst werden. Eine Lüge wirdeinem Lügner als dessen kommunikative Handlung zugerechnetund dabei kann bei ihm die Kenntnis der wahrenBegebenheiten unterstellt werden. Nicht jede objektive Verfehlungder Wahrheit ist schon gleich eine Lüge; dazu kommtes vielmehr erst, wenn eine Behauptung zudem noch mit derUnwahrhaftigkeit des Sprechers belastet ist.Demgegenüber beschreibt der Begriff der Wahrheit keineVerhaltensweise, sondern eine Beziehungsweise. Die Be-4 Zu den hier und im Folgenden nur angedeuteten Problemenund Streitigkeiten rund um den Wahrheitsbegriff und dessenvielfältiger Beziehung zum Strafverfahrensrecht siehe ausführlichStübinger, Das „idealisierte“ Strafrecht, 2008, S. 391 ff.(bes. 509 ff. m.z.N.) zu den einzelnen Fragestellungen, diesich um dieses Thema ranken.zeichnung von etwas als wahr gilt – jedenfalls im Alltagsverständnis,das philosophisch in der sog. KorrespondenztheorieAusdruck findet – als eine Eigenschaft, die einer Relationzwischen Erkenntnis und Wirklichkeit zugeschrieben wird.Wahrheit bildet dabei zugleich den Gegenstand einer Aussage.Darf das von ihr wiedergegebene Verhältnis als zutreffendbestimmt gelten, so kann eine entsprechende Behauptungals wahr bezeichnet werden. Wenn das Erkennen diewirklichen Begebenheiten trifft, so hat sich das Wahre herausgestellt.Zwar lässt sich in diesem Kontext ebenso voneinem Erkenntnis-Akt reden, doch bleibt das Erkennen vondem üblichen Verständnis von Agieren deutlich unterschieden.Hier findet keine gewöhnliche Handlungszurechnung zueinem Subjekt statt, für die es etwa auf die Interessen, Motive,Absichten eines Akteurs ankommen müsste. Eine Zuschreibungwahren Wissens muss von diesen subjektivenMomenten abstrahieren, um von der Objektivierbarkeit derErkenntnis ausgehen zu können. Das Wahre soll von jedemgleichermaßen erkannt werden können und deshalb dürfen anihm keine individuellen Faktoren hängen, die neben dem<strong>Inhalt</strong> einer Aussage auch noch Beachtung finden müssten.Im Gegensatz zur Lüge, die einer bewusst abweichendenDarstellung einer Aussageperson zugeschrieben wird unddeshalb stets Züge des Individuellen aufweisen muss, gehtdie Erforschung der Wahrheit nicht auf die Suche nach einerArt „Urheber“, der für den <strong>Inhalt</strong> einer Behauptung in einerähnlichen Weise „verantwortlich“ ist, wie ein Lügner fürseine unwahre Aussage. Wahrheit ist daher „in der Welt“, dieprinzipiell für alle gleichermaßen zugänglich sein soll, währendeine Lüge nur als Äußerung eines Einzelnen gilt, dersich gerade durch das Lügen von der objektiven Allgemeinheitabsondert. Auch in der Art der normativen Beurteilungvariieren die Wertungen über wahre und erlogene Behauptungen:eine Lüge wird als normwidrige Handlung getadelt,während beim Sagen der Wahrheit allenfalls die innere Haltung,d.h. die Wahrhaftigkeit des Sprechers gelobt werdenkann.Gerade auf dieser unterschiedlichen Zurechnungsweiseruht die Hoffnung, es sei womöglich leichter, eine Lüge zuentdecken als die Wahrheit zu erforschen, denn es scheinteinfacher, eine individuelle Absonderung vom Wahren undObjektiven auszumachen als dieses selbst zu bestimmen.Wenn sich das Lügen als eine Tätigkeit beschreiben lässt,dann transportiert es nicht nur einen semantischen Gehalt,sondern hat zugleich eine physische Komponente, die andiesem Vorgang notwendig beteiligt ist. Deshalb ist nicht nurder <strong>Inhalt</strong> einer Lüge in Relation zur Wahrheit zu deuten,sondern eben auch die begleitenden Körperreaktionen erkennbar.Im Vergleich dazu gelangt das Wahre gleichsamunberührt in das öffentliche Forum der Interpretationswelt.Bei der Beurteilung darüber, ob etwas wahr ist, braucht nichtauf körperliche Veränderungen geachtet zu werden; nichtetwa, weil eine entsprechende Beschreibung nicht möglichwäre, sondern weil sie zur eigentlichen Erkenntnis nichtsbeizutragen hat. Im Gegensatz zu einer wahren Aussage, diesich in einer gewissen kommunikativen Reinheit präsentierenkann, hafte dagegen jeder unwahren Äußerung ein physischwahrnehmbarer Beigeschmack an. Lügen ist gewissermaßen_____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com539
Stephan Stübinger_____________________________________________________________________________________eine schweißtreibende Angelegenheit, da sie eine eigentümlicheLeistung darstellt, die sich immer auch körperlich auswirkt.Daher gelte es, die geheimen Botschaften, die derKörper als äußerliches Beiwerk in den Vorgang des Lügenseinschmuggelt, zu dechiffrieren. Bei einer Lüge verrate diePhysis, was die Psyche des Lügners eigentlich verbergenmöchte. Der Körper darf dann geradezu als Spediteur bewusstverborgener Mitteilungen gelten, die sich durch genaueBeobachtung zu Informationen ihrer unwahren <strong>Inhalt</strong>e entschlüsselnlassen. So geben ausgerechnet unwillkürlicheReaktionen des Körpers die Willkür des Lügners preis.III. Auf der Suche nach geeigneten Möglichkeiten, Lügenzu entdecken: Was bisher geschah …1. Lügendetektion als Sache allgemeiner MenschenkenntnisDie Vorstellung, ungewünschte Lügen mögen äußerlich erkennbarwerden, wird nicht erst seit Ende des 19. Jahrhundertsin der berühmten Geschichte von der allzu menschlichenHolzpuppe Pinocchio (1883) formuliert, deren Nase beijeder Lüge für alle sichtbar anwächst, so dass ihr die Unwahrheitgleichsam ins Gesicht geschrieben steht. Ein wenigerauffälliger Effekt der Äußerung unwahrer Behauptungenwird jedenfalls schon früh vermutet. Das Verräterische derscheinbar unvermeidlichen physiologischen Begleiterscheinungen,die beim Lügen beobachtet werden können, will mansich gerade in juristischen Angelegenheiten gerne zu Nutzemachen. Für diese Aufgabe der Dechiffrierung verschlüsselterKörperbotschaften haben sich im Laufe der Jahrhundertenicht nur diverse (wissenschaftliche) Disziplinen für zuständigerklärt. Manche meinen sogar, das Bemühen um eineMöglichkeit der Lügendetektion sei ebenso alt wie das Lügenselbst und dies sei offenbar eine anthropologische Konstante:wo es Menschen gibt, da wird gelogen, wobei die Fähigkeit,andere zu täuschen keineswegs bei allen gleich ausgeprägt zusein scheint. 5 Schon frühe Kulturen sollen nach Möglichkeitengesucht haben, unwahren Behauptungen auf die Spur zukommen. In hinduistischen Normordnungen aus der Zeit um900 bis 600 v.Chr. lassen sich offenbar Beschreibungen finden,nach denen man sich bereits zu dieser Zeit darum bemühthat, durch Beobachtung des Aussageverhaltens möglicheTäuschungsversuche zu entdecken. Die alten Griechenhaben sogar schon versucht, durch Fühlen des Pulses wahrheitswidrigeBehauptungen aufzuspüren. 6 Im Übrigen zeugtdann vor allem die Geschichte der Gottesurteile von denmittelalterlichen Bemühungen die Wahrheit dadurch auf dieProbe zu stellen, dass die Lügen Verdächtiger mit Hilfe bestimmterMethoden offenbar werden sollen; hier sollte aller-5 Auch dazu gibt es Studien: z.B. Johnson, Personality andIndividual Differences 38 (2005), 1847.6 Zu diesen und weiteren historischen Beispielen siehe etwaTrovillo, Journal of Criminal Law and Criminology 29(1939), 848 m.N.; vgl. auch Inbau, Journal of Criminal Lawand Criminology 24 (1934), 1141 Fn. 3, der ebenfalls einigerecht skurril anmutende Methoden für eine angebliche Lügendetektionzu nennen weiß; weitere Beispiele nennt auchSchleim, Gedankenlesen, 2008, S. 22.dings die Unwahrheit nicht unmittelbar und ausschließlich anden physiologischen Veränderungen abgelesen werden, vielmehrwurde die Offenbarung der Wahrheit oder einer Lügeeiner allwissenden Macht zugetraut, die aktiv – quasi alsübernatürlicher Zeuge – in das Prozedere eingreife, indem sieTipps für die zutreffende Entscheidung gibt. 7Von diesen transzendenten Hinweisen einmal abgesehen,sollten es freilich primär die körpereigenen Anzeichen einesVerdächtigen bleiben, die das Verräterische beim Lügen zumVorschein bringen. Der Inquistionsprozess institutionalisiertedann weitere Vorkehrungen, mit deren Hilfe es möglich werdensollte, der Unwahrheit verdächtige Behauptungen zuenttarnen. Wenn beispielsweise ein Verdächtiger die ihmvorgeworfene Tat beharrlich leugnete, dann sollte er u.a.dadurch „zum Geständnisse der Wahrheit gebracht werden“,dass „andere ihm dieselbe ins Gesicht sagen“, denn bei einersolchen „Gegeneinanderstellung“ bzw. „Confrontation“ könne„es leicht geschehen“, dass sich der Verdächtige „durchäußerliche Handelungen, als Bestürzung, Zittern, Veränderungder Stimme, und selbst durch die Farbe des Gesichts,u.d.g. solches sich verrathe“. 8 Entsprechende Wahrnehmungenwurden protokolliert und im weiteren Prozessverlaufverwertet. 9 Das Institut der Konfrontation ist für bestimmteKonstellationen sogar bis in den heutigen Strafprozess erhaltengeblieben; 10 allerdings ist es nur noch in der Form einerBeweisanregung im engeren Sinne anerkannt und wird kaumnoch offen mit der Funktion in Verbindung gebracht, durchBeobachtung der Reaktionen des Beschuldigten verlässlicheSchlüsse auf die Wahrheit oder Wahrhaftigkeit von Aussagenzu erhalten; allenfalls offene Widersprüche sollen auf dieseWeise aufgezeigt werden können. Vergleichbare Erwartun-7 Vgl. auch hierzu die Darstellung der verschiedenen Formenvon Trovillo (Fn. 6), 850, sowie Fisher, Yale Law Journal107 (1997), 585 m.w.N.; s.a. Stoller/Wolpe, American Journalof Law & Medicine 33 (2007), 359.8 Engelhard, Versuch eines allgemeinen peinlichen Rechtesaus den Grundsätzen der Weltweisheit, und besonderst desRechtes der Natur hergeleitet, 1756, S. 642. Zu diesem Mittelder „Confrontation“ und den verschiedenen Konstellationenihres Einsatzes s.a. Koch, Anfangsgründe des peinlichenRechts, 1790, S. 550 ff.; v. Quistorp, Grundsätze des deutschenPeinlichen Rechts, Zweyter Theil, 5. Aufl. 1794,S. 301 ff.; Kleinschrod, Abhandlungen aus dem peinlichenRechte und peinlichen Processe, Erster Theil, 1797, S. 119 ff.;Tittmann, Handbuch der Strafrechtswissenschaft und derStrafgesetzkunde, Bd. 3, 2. Aufl. 1824, S. 414 ff.; Henke,Handbuch des Criminalrechts und der Criminalpolitik, VierterTheil, 1838, S. 697 ff. jeweils m.w.N.9 I.d.S. hält Kühne Apparaturen, die als Lügendetektion fungierensollen, für „eine technische Verfeinerung der Gebärdenprotokolledes Inquisitionsprozesses“: Strafprozessrecht,7. Aufl. 2007, Rn. 901.10 Vgl. Scheffler, in: Heghmanns/ders. (Hrsg.), Handbuchzum Strafverfahren, 2008, Kap. VII Rn. 451 ff.; Eisenberg,Beweisrecht der StPO, 6. Aufl. 2008, Rn. 1188 ff.; Meyer-Goßner, Strafprozessordnung, Kommentar, 51. Aufl. 2008,§ 58 Rn. 7 ff._____________________________________________________________________________________540<strong>ZIS</strong> 11/2008
Lügendetektor ante portas_____________________________________________________________________________________gen deuten sich allerdings an, wenn es um die Möglichkeiteines (formfreien) Vorhalts geht, denn insoweit sollen nämlichdie (ausdrücklichen und wohl auch unbewussten) Reaktionendes Befragten zur Urteilsgrundlage gemacht werden. 11Dabei wird es im Übrigen wohl allgemein zu den geradezuselbstverständlichen Komponenten einer Urteilsbildung gezählt,dass auch unwillkürliche Artikulationsformen, die imRahmen einer Aussage wahrgenommen werden können, indie Beweiswürdigung einbezogen werden. 12 Auch aus diesemGrund wird das Sehvermögen zu den unabdingbaren Voraussetzungenfür die Ausübung des Richteramts gezählt unddementsprechend nach h.M. die Mitwirkung eines blindenRichters an einer tatrichterlichen Hauptverhandlung – nichtnur zum Augenscheinsbeweis – für unzulässig gehalten. 13Justitia selbst wird zwar stets mit verbundenen Augen dargestellt,ihre irdischen Diener dürfen hingegen nicht blind sein,denn sie sollen nicht nur hören können, was jemand sagt,sondern ihn dabei auch sehen.Zur Unterstützung der allgemein – und damit auch beiRichtern – unterstellten Fähigkeit, zumindest ganz offensichtlicheAnzeichen zu erkennen, die auf die Unwahrheit vonBehauptungen hindeuten mögen, wird aber der Rückgriff aufprofessionelle Aussageanalysen eingeräumt. 14 So können dieGerichte vor allem psychologische Sachverständige beauftragen,die das Aussageverhalten (von Zeugen) mit Hilfe ausgefeilterKriterienkataloge untersuchen und dabei eine Auswertungim Hinblick darauf vornehmen sollen, inwieweit diegetätigten Äußerungen glaubhaft sind. Dies geschieht vornehmlichzur Begutachtung von Kinder-Zeugen in Verfahren,in denen es um den Verdacht eines sexuellen Missbrauchsgeht. 15Ähnlich lässt sich das Selbstverständnis des USamerikanischenJury-Systems beschreiben, nach dem dieJuroren geradezu als Lügendetektoren fungieren, da ihre aufallgemeiner Menschenkenntnis beruhende Beobachtungsgabefür die Wahrheitssuche und damit für die Rechtsfindung ganzentscheidend sei. 16 In der Entscheidung United States v.Scheffer hat der Supreme Court dies selbst – unter Berufung11 Siehe dazu die kritischen Bemerkungen von Beulke, Strafprozessrecht,10. Aufl. 2008, Rn. 421.12 I.d.S. etwa BGHSt 5, 332 (335 f.); 44, 308 (316); siehedazu auch Prittwitz, MDR 1982, 892; Matz, ZaöRV 59(1999), 1109; Hamm, NJW 1999, 922.13 Vgl. Meyer-Goßner (Fn. 10), § 338 Rn. 11 m.N. – auch zurGegenmeinung.14Dazu Schoreit, StV 2004, 284; Eisenberg (Fn. 10),Rn. 1426 ff. (1463 ff.) m.w.N.15 Siehe hierzu die internationale Vergleichsstudie von Vrij,Psychology, Public Policy and Law 11 (2005), 3, in der allerdingseine erstaunliche hohe Irrtumsrate (ca. 30 %) diagnostiziertwird (34).16 Dazu Fisher (Fn. 7), 577; Keckler, Hastings Law Journal57 (2006), 509; Simmons, University of Cincinnati Law Review74 (2006), 1013; Minzner, Cardozo Law Review 29(2008), 2557 m.z.N. vor allem aus der Rechtsprechung, diedieses Verständnis dokumentieren, aber auch zur Kritik, diehierin eine Überschätzung wittert.auf gleichlautende Äußerungen anderer US-Gerichte – aufdie Formel gebracht: „A fundamental premise of our criminaltrial system is that `the jury is the lie detector´“ (523 U.S.303, 313 (1998)). Nicht zuletzt dieses Vertrauen in die Urteilskraftder Laien-Juroren hat immer wieder das Misstrauenin die Zulassung neuer Beweismittel geschürt, mit denen dieGerichtsverfahren auf zunehmende technische Unterstützungoder Expertenwissen umgestellt werden sollten.2. Technisierung der Lügendetektion: der PolygraphInsofern geht es dabei freilich immer nur um persönlicheBeobachtungen und sinnliche Wahrnehmungen, die gleichsamvon Angesicht zu Angesicht gemacht werden. Den darausresultierenden Einschätzungen und Bewertungen derpersönlichen Glaubwürdigkeit von Beschuldigten oder Zeugenbzw. der Glaubhaftigkeit ihrer Einlassungen und Aussagenhaftet stets der Makel des rein Subjektiven an, dessensich wohl stets alle Beteiligten bewusst sind, 17 selbst wenneinigen Menschen eine ähnlich mysteriöse Fähigkeit zurTäuschungswahrnehmung nachgesagt wird wie jenen, die mitWünschelruten Wasseradern o.ä. aufspüren können. 18 DieVorstellung, durch genaue Beobachtung auffälliger Verhaltensweisendie Täuschungsabsichten anderer entlarven zukönnen, scheint dabei auf kulturübergreifende Stereotypezurückzugreifen, 19 die jedoch alles andere als zureichendeGarantien für eine erfolgreiche Lügendetektion versprechen.Um den subjektiven Unsicherheitsfaktor möglichst minimierenzu können, bemüht man sich um weniger irrtumsanfälligeMöglichkeiten, eventuelle Lügen im Rahmen eines Strafverfahrensaufspüren zu können. 20 Objektivität verheißt dabeistets das Aufkommen neuer Techniken, mit denen wissenschaftlicheZuverlässigkeit verbunden wird. Durch die Entwicklungdiverser Apparaturen, die einen technisch raffiniertenZugang zu jenen physiologischen Zustandsveränderungen,die sich während des Lügens einstellen mögen, versprechen,erhält diese Geschichte der Lügendetektion einen ganz17 Zur (Un-)Zuverlässigkeit der allgemeinen Fähigkeit, Täuschungenoder Lügen anderer zu erkennen, sowie zurSchwierigkeit dies irgendwie zu messen: vgl. die Untersuchungvon Bond Jr./De Paulo, Personality and Social PsychologyReview 10 (2006), 214 m.w.N.; s.a. Vrij/Mann,Applied Cognitive Psychology 15 (2001), 187 (197 ff.); Ben-Shakhar/Elaad, Journal of Applied Psychology 88 (2003),131; Persaud, New Scientist Vol. 187/Iss. 2510 (2005), 28;Minzner (Fn. 16), 2567.18 Kritisch zu Untersuchungen zu den sog. „Lie DetectionWizards“: Bond Jr./Uysal, Law and Human Behavior 31(2007), 109.19 Siehe dazu den Bericht einer internationalen Forschergruppevon insgesamt 90 vornehmlich Psychologen, die sich „TheGlobal Deception Research Team“ nennt, in: Journal ofCross-Cultural Psychology 37 (2006), 60.20 Zu dieser Motivation, die in den ersten Jahrzehnten des 20.Jahrhunderts gerade in den USA die Experimentierfreudigkeitauf dem Gebiet der Lügendetektion forciert hat, siehez.B. McCormick, California Law Review 15 (1927), 484;Inbau (Fn. 6), 1140._____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com541
Stephan Stübinger_____________________________________________________________________________________neuen Schub. 21 Richter mag man täuschen können, Maschinennicht – jedenfalls dann, wenn sie wunschgemäß funktionieren.Als bekannteste dieser Vorrichtungen kann sicherlichder sog. „Polygraph“ genannt werden, der in der heute nochgängigen Form in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundertsentwickelt worden ist. Die ersten Vorrichtungen, die diesenNamen trugen, verfolgten dabei noch rein medizinische Zweckeund dienten der Aufzeichnung der Herz-Kreislauf-Tätigkeit, ohne dass damit eine Verbindung mit einer vermeintlichenEntdeckung von Lügen verbunden worden wäre.22 Mit einem Polygraphen, der in der bis heute gängigstenKonstruktionsweise wohl zuerst auf die von Leonarde Keelerentwickelte Vorrichtung zurückgeht, 23 wird jenes Gerät bezeichnet,mit dem zeitgleich verschiedene Köperreaktioneneines daran angeschlossenen Menschen gemessen werden,namentlich die Atembewegung von Brust und Bauch, dieHerzfrequenz sowie die elektrische Leitfähigkeit der Haut,während ihm bestimmte Fragen gestellt werden, die er zubeantworten hat. 24 Damit wurde die Messung diverser Parameterin einem einzigen Apparat kombiniert, die zuvor nur inverschiedenen Tests und unabhängig voneinander durchgeführtwerden konnten. 25 Dadurch sollen solche Veränderungenmess- und sichtbar gemacht werden, die sich der Beobachtungdurch das bloße Auge entziehen. In den beidengängigsten Methoden wird der Proband entweder zu einemHandlungszusammenhang befragt, von dem vermutet wird,dass nur derjenige ihn detailliert kennen kann, der aktiv – alsTäter – daran beteiligt gewesen ist (Tatwissentest) oder eswird direkt nach der Begehung einer Tat gefragt, wobei begleitenddazu noch weitere Fragen gestellt werden (Kontrollfragentest).26 Dabei geht es jeweils darum, von einem Normalzustandabweichende Reaktionen festzustellen. Aus einersignifikanten Abweichung wird dann auf den Versuch einerbewussten Irreführung geschlossen; denn durch Lügen werdeder physiologischen Zustand des Körpers spürbar verändert,während bei korrekten Antworten nur unauffällige Ausschlägegemessen werden können.Obwohl einige Befürworter dieser Methode mit sehr hohenTrefferquoten von z.T. mehr als 90% aufwarten, um dieVertrauenswürdigkeit dieses Testverfahrens zu belegen, 27 istdie Aussagekraft von Untersuchungen der Glaubhaftigkeitmit Hilfe eines Polygraphen stets von großer Skepsis begleitetworden. Trotz dieser prinzipiellen Unsicherheit ist dessenEinsatz doch erstaunlich weit verbreitet. In den 1980er Jahrenwurde in den USA das polygraphische Verfahren vor allem inder Arbeitswelt genutzt. So haben zahlreiche Unternehmenbeispielsweise bei Einstellungstests auf diese Weise dieGlaubwürdigkeit der Bewerber zu testen versucht, oder auchsonst die Gewissenhaftigkeit ihrer Mitarbeiter auf die Probegestellt, bis dieses Vorgehen 1988 durch den „EmployeePolygraphy Protection Act“ gesetzlich untersagt worden ist. 28Allerdings sind von diesem Verbot Regierungsstellen undSicherheitsfirmen ausgenommen worden, die dies nutzen undvon Polygraphen regen Gebrauch machen. In einem dissentingvote zu der oben genannten Entscheidung des SupremeCourt zitiert Richter Stevens aus den Jahresberichten des21 Vgl. die interessante Darstellung der technischen Entwicklungenbei Trovillo (Fn. 6), 854; ders., Journal of CriminalLaw and Criminology 30 (1939), 104 m.w.N. und Abbildungendiverser Gerätschaften.22 Die wohl erste Beschreibung eines Geräts mit dem Namen„The Ink Polygraph“ findet sich in einem kurzen Aufsatz vonMackenzie, British Medical Journal 1 (1908), 1411; dazuInbau, Journal of Criminal Law, Criminology, and PoliceScience 43 (1953), 679, mit einem Wiederabdruck diesesAufsatzes.23 Vgl. die Beschreibung bei Keeler, American Journal ofPolice Science 1 (1930), 38; s.a. Inbau (Fn. 6), 1142.24 Zur Funktionsweise eines Polygraphen und den durchausvariierenden Parametern, die damit konkret gemessen werdenkönnen siehe z.B. Schüssler, Polygraphie im deutschen Strafverfahren,2002, S. 22 ff.; Frister, ZStW 106 (1994), 304;Wilson, Computer Law Review and Technology Journal X(2006), 358.25 Zu einzelnen Testverfahren, die vor Erfindung des eigentlichenPolygraphen praktiziert und diesen verbunden wurdensiehe Marston, Journal of the American Institute of CriminalLaw and Criminology 11 (1921), 551; McCormick (Fn. 20),485; s.a. Schleim (Fn. 6), S. 22. Präziser – wenn auch ungleichkomplizierter – müsste das Gerät eigentlich „pneumocardio-sphygmo-galvanograph“heißen: vgl. Keeler, Journalof Criminal Law and Criminology 25 (1934), 157, der sichübrigens gegen die Bezeichnung „lie detector“ verwahrt hat(153).26 Zu verschiedenen Tests siehe Honts/Perry, Law and HumanBehavior 16 (1992), 358; Berning, MschrKrim 76(1993), 242; Rill/Vossel, NStZ 1998, 481; Kargl/Kirsch, JuS2000, 538; Fabian/Stadler, Kriminalistik 2000, 609; Rill,Forensische Pschophysiologie, Dissertation, Mainz 2001,S. 14 ff.; Gödert, Forensische Glaubhaftigkeitsbeurteilung,Dissertation, Mainz 2002, S. 42 ff.; Ben-Shakhar/Elaad(Fn. 17), 131; Schüssler, JR 2003, 188; Rill u.a., MschrKrim86 (2003), 165; Gronau u.a., Journal of Applied Psychology90 (2005), 147; Gamer u.a., International Journal of Psychophysiology60 (2006), 76; Simmons (Fn. 16), 1037; Gameru.a., International Journal of Psychophysiology 69(2008), 61; Schleim (Fn. 6), S. 26.27 Siehe hierzu die kritische Darstellungen bei Honts/Perry(Fn. 26), 360; Rill/Vossel, NStZ 1998, 483; Gödert (Fn. 26),S. 53 (64); Ben-Shakhar/Elaad (Fn. 17), 132; Schleim (Fn. 6),S. 29 jeweils m.N., s.a. die tabellarischen Übersichten beiSchüssler (Fn. 24), S. 107, S. 113, S. 118, S. 120; H. Offe/S. Offe,MschrKrim 87 (2004), 92; sowie den Abschlussbericht einerArbeitsgruppe der British Psychological Society (BPS), Areview of the current scientific status and fields of applicationof Polygraphic Deception Detection, 2004, S. 15 f., in demeine ganze Reihe von entsprechenden Untersuchungsergebnissenmit einer teilweise deutlich geringeren Erfolgsquotepräsentiert wird.28 Dazu Greely/Illes, American Journal of Law & Medicine33 (2007), 406; Schleim, Gehirn & Geist 7-8/2008, 43; ders.(Fn. 6), S. 32._____________________________________________________________________________________542<strong>ZIS</strong> 11/2008
Lügendetektor ante portas_____________________________________________________________________________________Verteidigungsministeriums, 29 aus denen sich ergebe, dass inder Zeit zwischen 1981 und 1997 über 400000 polygraphischeUntersuchungen durchgeführt worden seien (523 U.S.303, 323 f. n. 7). Nach einigen Schätzungen werden in denUSA jährlich ca. 40000 solcher Tests von privaten Unternehmenoder behördlichen Stellen durchgeführt. 30 Zuletztwurden Polygraphen u.a. vom US-Militär im Kampf gegenden Terrorismus auch im Auslandseinsatz als Instrument fürVerhöre von Verdächtigen verwendet. 31Besonders problematisch ist der Einsatz von Polygraphenauf dem Gebiet des Strafrechts. Die Verwendungsmöglichkeitenwerden international sehr verschieden gehandhabt.Während in vielen europäischen Ländern der Einsatz einesLügendetektors im Strafverfahren meist generell untersagtist, 32 kann z.B. in Japan seit einem Grundsatzurteil aus demJahr 1968 der Tatwissentest als Methode der gerichtlichenBeweiserhebung zugelassen werden, wenn bestimmte Kriterienbei der Durchführung des Verfahrens eingehalten wordensind. Dabei obliegt es den einzelnen Gerichten jeweilsselbst, ob sie ein solches Beweismittel in einem Prozess anerkennenwollen. 33 In den USA galt der Einsatz eines Lügendetektorsmehrere Jahrzehnte lang an Strafgerichten als unzulässig,obwohl die Verwendung eines Polygraphen von einigenBezirksgerichten zugelassen wurde. 34 Zur Begründungder ablehnenden Haltung berief man sich interessanterweisemeist auf einen Präzedenzfall, der in einer Zeit entschiedenworden ist, als die eigentlichen Polygraphen noch gar nichtanwendungsreif waren. In der in diesem Zusammenhangberühmt gewordenen Entscheidung Frye v. United States ausdem Jahr 1923 ging es vielmehr um die Zulassung einesmaßgeblich von William M. Marston 35 entwickeltem Testver-29 Das US-amerikanische Department of Defence unterhältein eigenes Polygraph Institute, das u.a. die Ausbildung unddas Training der Tester organisiert: vgl. Happel, Review ofPolicy Research 22 (2005), 676.30 Zu diesen Schätzungen siehe etwa Baskin u.a., AmericanJournal of Law & Medicine 33 (2007), 265 m.N.31 Vgl. Marks, American Journal of Law & Medicine 33(2007), 485 m.N. in Fn. 19.32 Vgl. die Vergleichsstudie von Matz, ZaöRV 59 (1999),1107, die – neben der Rechtslage in Deutschland (dazu sogleichunter 3.) – vor allem die Situation in Österreich, derSchweiz, Großbritannien und Frankreich darstellt (1114 ff.).Zulässig ist der Einsatz eines Polygraphen hingegen in Polen:vgl. Jaworski, Kriminalistik 2000, S. 23.33 Siehe dazu Yamamura/Miyata, Forensic Science International44 (1990), 257; Rill, MschrKrim 86 (2003), 173 m.N.34 Von der erstmaligen Zulassung des „Keeler Polygraph“ alsBeweismittel am Circuit Court of Columbia County im Jahr1935 berichtet Inbau, Journal of Criminal Law and Criminology26 (1935), 262.35 Neben diesem Testverfahren ist Marston später auch nochdurch seine Erfindung der Comic-Figur „Wonder Woman“bekannt geworden, zu deren Ausstattung ein „magischesLasso“ zählte, das die damit Eingefangenen dazu bringenkonnte, nur noch die Wahrheit zu sagen. Der von ihm konstruierteLügendetektor konnte freilich keine vergleichbarenfahrens, mit dessen Hilfe lediglich der systolische Blutdruckwertgemessen werden konnte, aus dem jedoch ebenfallsauf mögliche Täuschungsmanöver geschlossen werdensollte. 36 Der zuständige Court of Appeals of the District ofColumbia hatte damals die Einführung eines solchen Beweismittelsabgelehnt, mit Hilfe dessen ein Beschuldigterseine Unschuld beweisen wollte. Zur Begründung hat es eineallgemeine Regel für die Zulassung von wissenschaftlichenBeweismitteln formuliert, wonach nur solche Methoden undExperimente zugelassen werden sollen, die in den einschlägigenFachkreisen bereits generell akzeptiert sind (293 F. 1013D.C. Cir. 1923). 37 Dieses Kriterium einer „general acceptance“wurde in der Folgezeit von nahezu allen US-Gerichtenfür Lügendetektoren als nicht erfüllt gesehen. 38 Unter Berufungauf diese Entscheidung haben auch die meisten Gerichtein Australien dem Polygraphentest die Zulassung verweigert.39Diese Haltung hielt in den USA nahezu fünf Dekaden,ehe in den 1970er und 80er Jahren einige US-Gerichte dazuübergingen, dieses strikte Zulassungsverbot zu überdenken.Grund dafür sei eine im Vergleich zu den Anfangszeitendeutlich gestiegene Zuverlässigkeit polygraphischer Untersuchungen,denn „polygraphy has emerged from twilight zoneinto an established field of science and technology“ (UnitedStates v. Zeiger 350 F.Supp 685, 688 (D.D.C.), rev’d , 474F.2d 128 (D.C. Cir. 1972). Daher sollte der Einsatz einesPolygraphen unter bestimmten Umständen zulässig sein,vornehmlich zur Infragestellung oder Bestätigung von Zeugenaussagen.Das Kriterium der generellen – innerwissenschaftlichen– Akzeptanz, das infolge der Frye-Entscheidungüber die Zulassung bestimmter Beweismittel vor Gerichtentscheiden sollte, ist dann jedoch 1993 vor allem durch dasSupreme-Court-Urteil Daubert v. Merrell Dow Pharmaceuticalrevidiert worden (509 U.S. 579 (1993). Bewertungsmaßstabkönne nun nicht mehr der alte Präzedenzfall, sondern dieErfolge vorweisen: vgl. dazu Fienberg/Stern, StatisticalScience 20 (2005), 250; zu der auch im Übrigen schillerndenPersönlichkeit Marstons s.a. Schleim (Fn. 6), S. 22 ff.36 Zu diesem Testverfahren Marston (Fn. 25), 552, der sogarauf eine in verschiedenen Experimenten erprobte 100%-Genauigkeit dieser Methode verweist. Vgl. dazu auch Larson,Journal of the American Institute of Criminal Law andCriminology 12 (1921), 390; McCormick (Fn. 20), 488; Keeler(Fn. 23), 38.37 Ausführlich und kritisch zu dieser Entscheidung und ihrenKonsequenzen für die US-Rechtsprechung: Giannelli, ColumbiaLaw Review 80 (1980), 1197 m.z.N.; Bush, VanderbiltLaw Review 59 (2006), 543; s.a. den anonym erschienenenArtikel in Harvard Law Review 108 (1995), 1486.38 Vgl. die Überblicke über die Rechtsprechung von Lyons,Rhode Island Bar Journal 97 (1997), 5; Bush (Fn. 37), 546;Wilson (Fn. 24), 366; Simmons (Fn. 16), 1039 m.w.N.; kritischzu dieser Interpretationslinie z.B.: Thompson, AmericanJournal of Law & Medicine 33 (2007), 342, der dies für eineMissdeutung dieses Urteils hält.39 Dazu Andrewartha, Psychiatry, Psychology, and Law 15(2008), 88 m.N. in Fn. 112 ff._____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com543
Stephan Stübinger_____________________________________________________________________________________im Jahr 1975 erlassenen „Federal Rules of Evidence“ (bes.deren Nr. 702) sein, die zuvor bereits von anderen Bundesgerichtengegen die herkömmliche Rechtsprechung in Stellunggebracht worden ist. 40 Danach sollen die Gerichte für jedenEinzelfall selbst entscheiden können, welche Ergebnisseexternen Sachverstandes sie in die Beweiserhebung aufnehmenmöchten und welche nicht; zu diesem Zweck müssen siesich jeweils eigenständig ein Bild von der Zuverlässigkeit desjeweils vorgetragenen Expertenwissens machen. Dabei seistets zu beachten, ob die einzubringende Technik in Fachkreisenverbreitet, wissenschaftlich überprüft und hinreichendzuverlässig ist (a.a.O. bes. S. 587 ff., 597 f.); eine generelleAkzeptanz ist hingegen nicht mehr zwingend erforderlich undin wissenschaftlichen Methodenstreits wohl auch kaum zuerreichen. Obwohl sich dieses Urteil nicht direkt auf denPolygrapheneinsatz bezieht, haben in der Folgezeit einigeUS-Gerichte die neuen Grundsätze dieser Entscheidung auchauf dieses Feld übertragen und die Verwendung eines Lügendetektortestsin das Ermessen der Tatgerichte gestellt, wobeidas Einvernehmen zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigungmeist vorauszusetzen sei. 41Allerdings hat der US-Supreme Court in der bereits erwähntenEntscheidung United States v. Scheffer eine Regelungder „Military Rule of Evidence“ (Nr. 707) für verfassungsmäßigerklärt, nach der ein Einsatz von Polygraphen fürden militärischen Bereich ausgeschlossen werde. Dabei beruftsich das höchste Gericht nicht zuletzt auf die noch immerumstrittene Einschätzung über die Zuverlässigkeit dieserMethode: „there is simply no consensus that polygraph evidenceis reliable. To this day, the scientific community remainsextremely polarized about the reliability of polygraphtechniques“ (a.a.O. S. 309). Daher sei die damalige Entscheidungdes Präsidenten aus dem Jahr 1991, mit der angegebenenBeweisregel den Einsatz dieser Technik für Militärgerichtsverfahrenzu untersagen, weder willkürlich noch unverhältnismäßigund daher mit der Verfassung der VereinigtenStaaten vereinbar. Allerdings wird in dieser Entscheidungauch darauf hingewiesen, dass sich daraus aber keine Notwendigkeitergibt, die Unzulässigkeit eines Lügendetektorteststatsächlich zu regeln. Vielmehr sollen entsprechendeRegelungen durchaus möglich sein, die einen Polygrapheneinsatzvor Gericht erlauben. Immerhin hat der BundesstaatNew Mexico von einer solchen Möglichkeit einerganz ausdrücklichen Zulassung Gebrauch gemacht (a.a.O.,S. 311 f.), und auch der dortige Supreme Court hat 2004 ineiner sehr ausführlich begründeten Entscheidung einen Poly-40 Vgl. Giannelli (Fn. 37), 1228; Honts/Perry (Fn. 26), 362jeweils m.w.N.41 Siehe die Nachweise bei Wilson (Fn. 24), 370; Simmons(Fn. 16), 1042 Fn. 157 f.; Bellin, Temple Law Review 80(2007), 103; s.a. Myers u.a., Law and Human Behavior 30(2006), 509 (518 ff.), die zudem darauf hinweisen, dass sichaus Untersuchungen ergebe, dass Jury-Mitglieder der Beweiskraftvon polygraphischen Untersuchungen durchauskein blindes Vertrauen entgegenbringen und daher keineswegsunkritisch als Beleg für die Schuld bzw. Unschuld vonAngeklagten ansehen.graphentest als Beweismittel für zulässig erklärt (Lee v. Martinez96 P. 3d 291 (N.M. 2004). 423. Der Polygraph vor dem BundesgerichtshofIm Vergleich zu der soeben skizzierten US-amerikanischenDiskussion wirkt die deutsche Debatte zu diesem Themadoch recht überschaubar. Die Problematik der Anwendungeines vermeintlichen Lügendetektors wurde hierzulandezunächst nach dem Zweiten Weltkrieg gleichsam als US-Import aktuell, als das in seiner Besatzungszone zuständigeamerikanische Berufungsgericht in Deutschland darüber zuentscheiden hatte, ob in einem Strafprozess gegen einen(amerikanischen) Angeklagten eine polygraphische Untersuchungzugelassen werden sollte, was das Gericht jedochablehnte. 43 Die meisten Autoren, die sich in dieser Zeit zudieser Thematik äußerten, sprachen sich ebenfalls gegen dieVerwendung dieser Technologie aus. 44 Gleichwohl fandensich auch einige frühe Befürworter dieses Verfahrens. 45 Diesefrühe Diskussion in den Jahren um 1950 sollte jedoch einrasches Ende nehmen. Das vorläufige Schlusswort in dieserAngelegenheit hat der Bundesgerichtshof gesprochen. DieStrafsenate des BGH haben sich seit ihrem Bestehen allerdingsnur zweimal ausführlich 46 mit der Frage einer möglichenZulassung eines Lügendetektortests als Beweismittel imStrafverfahren beschäftigen müssen. Auf den ersten Blicksind beide im Ergebnis darin übereingekommen, dass einesolche Methode im deutschen Strafprozess unzulässig ist.Allerdings variieren die dafür angegebenen Begründungennicht unerheblich.42 Eingehend zum Supreme Court Urteil United States v.Scheffer und einigen Nachfolgeentscheidungen sowie zurRechtslage in New Mexico: Bush (Fn. 37), 549 (552 ff.).43 Vgl. die Mitteilung von Arndt, DRZ 1951, 133 m.N.44 In diesem Sinne etwa Radbruch, in: Festschrift für WilhelmSauer zum 70. Geburtstag, 1949, S. 123; Würtenberger,JZ 1951, 772; Metz, NJW 1951, 752; s.a. Nowakowski, JuristischeBlätter 1949, 5, der sich hier auf ein von Seelig entwickeltesVerfahren zur „Registrierung unwillkürlicher Ausdrucksbewegungen“bezieht. Seelig hatte schon in den 20erJahren entsprechende Tests durchgeführt: vgl. seinen Berichtim Archiv für Kriminologie 77 (1925), S. 187. Die „praktischeBedeutung“ dieser Verfahren schätzte Seelig freilich als„sehr gering“ ein, wobei er „rechtliche Bedenken gegen dieseMethode“ für „nicht berechtigt“ hielt: Lehrbuch der Kriminologie,2. Aufl. 1951, S. 242.45 So etwa Less, DRZ 1950, 322.46 Der Beschluss des 3. Strafsenats des BGH NJW 1999, 662geht eher beiläufig auf die Problematik ein, indem er dieAblehnung eines Beweisantrags auf Vernehmung einesSachverständigen für rechtmäßig erachtet hat, der bei demAngeklagten eine polygraphische Untersuchung vorgenommenhatte._____________________________________________________________________________________544<strong>ZIS</strong> 11/2008
Lügendetektor ante portas_____________________________________________________________________________________a) BGHSt 5, 332Der Bundesgerichtshof hat sich erstmals im Jahre 1954 mitder Frage befassen müssen, ob die Ergebnisse einer polygraphischenUntersuchung als Beweismittel in das Strafverfahreneingeführt werden dürfen. In der in BGHSt 5, 332 veröffentlichtenEntscheidung hat der 1. Strafsenat unzweideutigklargestellt, dass eine solche Einführung unzulässig ist. Fürdieses Zulassungsverbot beruft sich der BGH primär aufgrundlegende Verfahrensprinzipien, die der Verwendung derPolygraphentechnik entgegenstehe. Dabei hat sich das Gerichtsichtlich bemüht, sich nicht allzu sehr in die schon zudieser Zeit diskutierte Problematik der tatsächlichen Funktionstüchtigkeitdieser Geräte einzumischen. Selbst wenn eswie gewünscht funktionieren sollte, d.h. zuverlässige Analysenbezüglich des Wahrheitsgehaltes von Aussagen ermögliche,sei die Verwendung eines Lügendetektors nicht zu gestatten.Die Zulässigkeit von Beweismethoden sei nämlichkeine technische, sondern eine normative Frage, die exklusivvor dem Hintergrund höchster Verfassungsgrundsätze beantwortetwerden müsse. Gegen einen Polygrapheneinsatz sprechenach Ansicht des BGH in erster Linie die durch Art. 1Abs. 1 GG begründete „Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“,die Würde des Menschen „zu achten und zu schützen“.Diese Pflicht finde zudem noch in § 136a StPO eine prozessrechtlicheKonkretisierung, durch die speziell die Freiheiteines Beschuldigten zur Bildung eines Willens und dessenÄußerung gewährleistet werde. Gerade wenn man die denPolygraphen nachgesagte Eignung zur Lügendetektion „wohlentgegen dem Stande der Wissenschaft, für eine gesicherteErkenntnis“ halten sollte, so ergebe sich, dass dann ein „solcherEinblick in die Seele des Beschuldigten und ihre unbewußtenRegungen (…) die Freiheit der Willensentschließungund –betätigung (§ 136a StPO)“ verletze (a.a.O., S. 335). 47Der Verweis auf die Regelung des § 136a StPO soll dabeizugleich sicherstellen, dass selbst ein Einverständnis desBeschuldigten an einem entsprechenden Verstoß nichts ändernwürde. Ebenso wenig wie eine Einwilligung in eine indieser Norm ausdrücklich erwähnte Zwangsmaßnahme könnteauch eine Zustimmung zu einem Lügendetektortest nichtsan dem entwürdigenden Charakter einer solchen Maßnahmeund damit an der strafprozessualen Unzulässigkeit ändern.Der Verzicht auf eine Nutzung eventuell erreichbarer Beweismöglichkeitenmag zwar in gewisser Hinsicht mit demGrundsatz der Aufklärung des wahren Sachverhalt in Kollisiongeraten, denn der BGH bekräftigt auch in dieser Entscheidungnoch einmal ausdrücklich, dass die „Erforschung derWahrheit, die Hauptpflicht des Gerichts im Strafverfahren“sei. Gleichwohl hat diese gerichtliche Aufklärungsarbeit„ausschließlich auf (…) justizförmige Weise stattzufinden“,denn nicht alles technisch Mögliche ist auch rechtlich möglich.Die besagte Justizförmigkeit hat sich vor allem an denerwähnten Grundsätzen des Grundgesetzes und der Strafprozessordnungauszurichten, denn allein diese Prinzipien legen47 Ebenso zuvor schon Würtenberger, JZ 1951, 773; Metz,NJW 1951, 752; a.A. aber Erbs, NJW 1951, 387, der keineBeeinträchtigung der Willensentschließung und Willensbetätigungzu erkennen vermag.die Grenzen zulässigen Staatshandeln fest. Zu den für dasRecht wesentlichen Verhaltensregeln gehört nach Ansicht desBGH nicht zuletzt, dass ein Beschuldigter stets als Subjektund nicht als bloßer „Gegenstand des Strafverfahrens“ behandeltwerden dürfe (333 f.). Letzteres sei hingegen immerdann der Fall, wenn mit Hilfe maschineller Vorrichtungeneine „Erforschung des Unbewußten des Beschuldigten“ angestrebtwerde. Soweit nämlich durch den Einsatz eines Polygraphen„bezweckt“ werde, „vom Beschuldigten mehr undandere „Aussagen“ als beim üblichen Verhör zu erlangen“,könne der Betreffende seine Äußerungen nicht mehr kontrollierenund eben dies beeinträchtige seine Willensbildungsund-äußerungsfreiheit (336/335). Der Staat habe nämlichstets darauf zu achten, dass ein Beschuldigter in jeder Phasedes Verfahrens die bewusste Kontrolle über seine Aussagefreiheitbehält, selbst wenn er sich bereit erklärt, auf sie zuverzichten. Daher müsse der Zugang zu unwillkürlichenArtikulationsformen, die der Körper zu einer strafrechtsrelevantenDeutung freigibt, verschlossen bleiben.Die Entscheidung BGHSt 5, 332 sollte lange Zeit wie einfestes Bollwerk wirken, dass den offenbar ohnehin nur spärlichunternommenen Versuchen, ein polygraphisches Untersuchungsergebnisdoch noch in einen Strafprozess einzubringen,widerstehen sollte. Die in Rechtsprechung und Literaturherrschende Meinung folgte jedenfalls einige Jahrzehnte dennormativen Vorgaben des Bundesgerichtshofes. 48 Dabei sahsie sich freilich stets den kritischen Anfragen einiger Psychologenausgesetzt, die auf eine Revision dieser strikten Haltunggegenüber dem Einsatz von Polygraphen drängten. 49Allerdings ist die direkte Anbindung des Polygraphenverbotsan den grundgesetzlichen Höchstwert der unantastbarenMenschenwürde vom Bundesverfassungsgericht ein weniggelockert worden. Der Vorprüfungsausschuss des 2. Senatshat in einem Beschluss vom 18.08.1981 die Annahme einerVerfassungsbeschwerde mangels Erfolgsaussicht abgelehnt,die darauf zielte, die Durchführung und Verwertung einesLügendetektortests zu ermöglichen. In der knappen Begründungberuft sich das Gericht nicht mehr auf eine unmittelbareWürdemissachtung; vielmehr sieht es in einem solchen Vorgeheneinen unangemessenen Eingriff in das allgemeine„Persönlichkeitsrecht des Betroffenen“ gem. Art. 2 Abs. 1i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG. In einer maschinell bewirkten„Durchleuchtung der Person“ werde „die Aussage als derenureigenste Leistung entwertet“ und der derart Getestete „zueinem bloßen Anhängsel eines Apparates“ gemacht (NStZ1981, 446). 50 Im Übrigen wird in diesem Beschluss auf diemangelnde Zuverlässigkeit der eingesetzten Technik hingewiesen,die einen zu großen Rest an Zweifeln übrig lasse.Das Aufweichen der von BGHSt 5, 332 normativ formuliertenAblehnung möglicher Polygrapheneinsätze hat dann aber48 Zum Meinungsstand bis Mitte/Ende der 1970er Jahre:Peters, ZStW 87 (1975), 663; Schwabe, NJW 1979, 577jeweils m.N.49 Siehe vor allem Undeutsch, ZStW 87 (1975), 650; ders.,Kriminalistik 1977, S. 193; ders., MschrKrim 62 (1979), 228m.w.N.50 Insofern zustimmend Achenbach, NStZ 1984, 350 (351)._____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com545
Stephan Stübinger_____________________________________________________________________________________doch wieder die Hoffnung einiger Befürworter dieser Technikaufkeimen lassen. Dieser Beschluss hat jedenfalls dieStellungnahmen einiger Autoren provoziert, die sich für dieZulassung von Lügendetektortests ausgesprochen haben,soweit sich ein Beschuldigter freiwillig einer solchen Prozedurunterziehen möchte, um damit seine Unschuld zu beweisen.51 Im Vergleich zur unverfügbaren Menschenwürdegarantiebeinhalte das allgemeine Persönlichkeitsrecht nämlichdie Dispositionsfreiheit des Rechtsgutsinhabers und gestattesomit einen Verzicht im Wege der Einwilligung in dessenBeeinträchtigung, soweit man bei der Wahrnehmung derwomöglich letzten Chance, den Verdacht gegen sich mitdiesem Mittel zu entkräften, überhaupt von einer solchensprechen könne.b) BGHSt 44, 308Gleichwohl ist es auch in der Folgezeit insgesamt bei derablehnenden Haltung insbesondere der Rechtsprechung geblieben,die sich nicht zuletzt unter Berufung auf die Bewertungender frühen BGH-Entscheidung weiterhin geweigerthat, einen Polygraphentest als Entlastungsmittel zuzulassen.Auch das Bundesverfassungsgericht hat eine auf Zulassungeiner polygraphischen Untersuchung gerichtete Verfassungsbeschwerde1998 abermals nicht zur Entscheidung angenommen.52 Schließlich musste sich im selben Jahr wiederumder 1. Strafsenat des BGH nochmals mit dieser Thematikbefassen. In der für die Rechtsprechung beinahe ungewohntgründlichen Behandlung dieser Problematik setzt sich das inBGHSt 44, 308 veröffentlichte Urteil mit der gesamten juristischenDiskussion auseinander und beschäftigt sich überdiesmit den Erkenntnissen der mit der Lügendetektion betrautenWissenschaften, die es in Form von Expertengutachten eingeholthat. Zunächst bemüht sich das Gericht die grundlegendennormativen Bedenken seiner Vorgänger zu entschärfen.Anders als die damaligen Kollegen vermögen die BGH-Richter in dem „Einsatz polygraphischer Untersuchungsverfahren“nunmehr „keinen Verstoß gegen die Menschenwürdedes Beschuldigten (Art. 1 Abs. 1 GG) und gegen dessen Freiheitder Willensentschließung und –betätigung (§ 136aStPO)“ zu erkennen. Insbesondere die Rede von einem möglichen„`Einblick in die Seele des Beschuldigte´“ (a.a.O.,S. 315), der in der älteren Entscheidung (BGHSt 5, 332, 335)befürchtet worden ist, scheint nicht mehr in den Wortschaftam Ende des 20. Jahrhunderts zu passen. Eine derart pathetischeFormulierung sei auch der Sache nach nicht angemessen,da ein Polygraph dazu ohnehin nicht in der Lage sei.Schließlich geht es bei entsprechenden Untersuchungen eherum die Sichtbarmachung seelenloser Körperreaktionen, dieeiner wissenschaftlichen Analyse unterworfen werden müssen.Dadurch hat der BGH den bis dahin gültigen Hauptein-51 Vgl. Amelung, NStZ 1982, 38; Schwabe, NJW 1982, 367;ähnlich ders., NJW 1979, 576; Schünemann, Kriminalistik1990, S. 131 (150, 152); differenzierend Prittwitz, MDR1982, 886; Achenbach, NStZ 1984, 350.52 BVerfG NJW 1998, 1938.wand gegen diese Technik aus dem Weg geräumt. 53 Insbesonderesieht der 1. Senat die „Subjektstellung“ des an einsolches Messinstrument angeschlossenen Beschuldigtengewahrt; dieser Anschluss an eine Maschine mache „ihnnicht zum `Objekt in einem apparativen Vorgang´“ (317). 54Gleichwohl soll es auch nach Ansicht dieser BGH-Entscheidung im Endeffekt bei einem grundsätzlichen Ausschlusseiner prozessualen Verwendung eines Lügendetektortestsbleiben. Nach dem fast restlosen Ausräumen der bisherigennormativen Bedenken bleibt zur Begründung dann nurnoch die Konzentration auf die Tauglichkeit einer solchenErkenntnismethode. Der BGH befindet daher nicht alleinüber die Reichweite des geltenden Rechts, d.h. inwieweit diegrundrechtlichen und strafprozessualen Prinzipien durch einsolches Vorgehen betroffen sind, sondern richtet zugleichauch über den Wissensstand der mit der Lügendetektionbefassten Disziplinen. Der innerwissenschaftliche Streit zwischenPsychologen bzw. Physiologen wird von den Juristengleichsam mitentschieden. In dieser Hinsicht kommt dasGericht nun zu dem Ergebnis, dass „sich die polygraphischeUntersuchungsmethoden […] als völlig ungeeignete Beweismittel(§ 244 Abs. 3 S. 2 4. Alt. StPO)“ erweisen (319). 55Die technischen Fähigkeiten dieser Geräte reichen für denBGH jedenfalls bis dahin nicht aus, um von ihrer Beweiseignungausgehen zu können. Zur Begründung verweist derBGH dabei weniger auf die maschinellen Unzulänglichkeitendieser Vorrichtungen als vielmehr auf die dabei verwendetenFrageformen und die daraus ableitbaren Diagnosechancen.Dabei wird zwischen den beiden geläufigen Testmethodendifferenziert: Mit knappen Bemerkungen wird die Eignungdes Tatwissenverfahrens vom BGH in Zweifel gezogen. Das„Funktionieren“ dieser Untersuchungsmethode setzte nämlich„zwingend voraus, daß vor dessen Durchführung demBeschuldigten als Antwort vorgeschlagene Tatdetails nichtbekannt geworden sind“; dies könne jedoch zumindest „zumZeitpunkt der Hauptverhandlung“ – z.B. wegen einer durchdie Strafverteidigung ermöglichten Akteneinsicht – nichtmehr garantiert werden, so dass eine „Verwendung des Tatwissenverfahrens“in diesem Verfahrensstadium „nach all-53 Insoweit zustimmend Hamm, NJW 1999, 922; Amelung,JR 1999, 383; Kühne (Fn. 9), Rn. 901; Gleß, in: Erb u.a.(Hrsg.), Löwe/Rosenberg, Die Strafprozeßordnung und dasGerichtsverfassungsgesetz, 26. Aufl. 2007, § 136a Rn. 64;Jahn, in: Heghmanns/Scheffler (Fn. 10), Kap. II Rn. 308 f.Kritik an der völligen Aufgabe der bisherigen Position äußerthingegen Eisenberg (Fn. 10), Rn. 696 ff.; an der Rechtsauffassungder früheren BGH-Entscheidung festhalten möchtenoffenbar auch Ranft, Strafprozeßrecht, 3. Aufl. 2005, Rn. 331 f.;Beulke (Fn. 11), Rn. 141; wohl auch Hellmann, Strafprozessrecht,2. Aufl. 2006, Rn. 474, der „beide Einwände gegen denEinsatz des Polygraphen, also verfassungsrechtliche Unzulässigkeitund Ungeeignetheit“ für zutreffend erklärt.54 Die vom BGH zitierte Formulierung hatte Achenbach,NStZ 1984, 351 benutzt.55 Ebenso Haller/Conzen, Das Strafverfahren, 4. Aufl. 2006,Rn. 459; Jäger, GA 2008, 492._____________________________________________________________________________________546<strong>ZIS</strong> 11/2008
Lügendetektor ante portas_____________________________________________________________________________________gemeiner Ansicht“ ausscheiden müsse (327 f.). 56 Den Umkehrschluss,dass ein solcher Test eventuell im Ermittlungsverfahrendurchgeführt werden könnte, hat das Gericht offenbarbewusst nicht ausdrücklich zu ziehen gewagt. 57Das Kontrollfragenverfahren, dem die BGH-Richter dengrößten Teil ihrer Aufmerksamkeit schenken, sei als Beweismittelallein schon deshalb „ungeeignet, weil es sichnicht um eine in den maßgebenden Fachkreisen allgemeinund zweifelsfrei als richtig und zuverlässig eingestufte Methodehandelt“ (319). Sämtliche Versuche, die Zuverlässigkeitdieser Methode zu belegen, seien bislang gescheitert undwohl auch in Zukunft zum Scheitern verurteilt. 58 Dies geltezumindest bis „eindeutige Zusammenhänge zwischen bestimmtenkognitiven und emotionalen Zuständen und hierfürspezifischen Reaktionsmustern im vegetativen Nervensystemzu erkennen“ seien, wovon jedoch bislang keine Rede seinkönne (316). 59 Die Juristen am Bundesgerichtshof lassen sichdamit auf die technische Seite dieser Methoden ein, indem sieunter Berufung auf fachinterne Skeptiker ihre fachfremdenZweifel entgegenhalten. Damit betritt der BGH einen Begründungsgang,der jener oben für die US-amerikanischeDiskussion skizzierten Argumentation ähnelt, denn nunmehrsoll es offenbar vornehmlich auf die allgemeine Akzeptanzeiner Methode innerhalb der relevanten Fachkreise ankommen.Nur wenn dieses Kriterium einer innerdisziplinärenEinigkeit erfüllt wäre, könnte die Zulassung eines bestimmtenTestverfahrens erwogen werden. Die Erfüllung dieserVoraussetzung kann sich das Gericht indes wohl nicht vorstellen.Zumindest im Ergebnis ist das Urteil in der strafrechtlichenLiteratur meist auf Zustimmung gestoßen. Die Verbannungdes Polygraphen aus dem Gerichtssaal gilt vielen damitals gesichert. So meint etwa Gerhard Fezer kürzlich: „Für56 Zustimmend Kargl/Kirsch, JuS 2000, 538; Schoreit, StV2004, 285.57 Diese Konsequenz wird aber von anderen angedeutet:Matz, ZaöRV 59 (1999), 1119; Fabian/Stadler, Kriminalistik2000, 611 f.; Schüssler (Fn. 24), S. 168 ff.; ders., JR 2003,191; Rill, MschrKrim 86 (2003), 167 (177). Skeptisch dagegenHamm, NJW 1999, 923; Artkämper, NJ 1999, 154; Amelung,JR 1999, 384. Eine Einsatzmöglichkeit im Ermittlungsverfahrenhatte zuvor schon Schünemann in Erwägung gezogen(Fn. 51), S. 150.58 Ausführliche Kritik am Kontrollfragentest wurde in den1990er Jahren u.a. von Furedy geübt: vgl. dessen Aufsätze imInternational Journal of Psychophysiology 15 (1993), 263; 21(1996), 97; 22 (1996), 53; wiederum kritisch dazu Honts u.a.,im selben Journal 20 (1995), 199; zu dieser Auseinandersetzungsiehe auch Rosenfeld, The Journal of Credibility Assessmentand Witness Psychology 1 (1997), 4, jeweilsm.w.N.59 Kritisch zu dieser Argumentationsführung z.B. Scheffler(Fn. 10), Kap. VII Rn. 906 m.w.N. Für eine Rehabilitierungdes Kontrollfragentests, der auch Vergleichsfragentest genanntwird, treten inzwischen u.a. ein: Fabian/Stadler, Kriminalistik2000, 609 ff.; H. Offe/S. Offe (Fn. 27), 86 m.w.N.das Strafrecht ist das Thema für längere Zeit erledigt“. 60 DerBegründung des 1. Strafsenats haben sich inzwischen auchdie zivilrechtlichen Kollegen am Bundesgerichtshof angeschlossenund die Einbringung der Ergebnisse einer polygraphischenUntersuchung in Zivilverfahren ebenfalls als völligungeeignetes Beweismittel bezeichnet. 61IV. Der Hirnforscher als Lügendetektiv?Ob die in BGHSt 44, 308 für eine eventuelle Zulassung einesLügendetektortests als Beweismittel aufgestellten Hürdenannähernd so lange halten werden, wie die von BGHSt 5, 332zu diesem Zweck errichteten Barrieren, bleibt allerdingsabzuwarten. Die Streichung der normativen Argumente, diein der früheren Entscheidung gegen eine Verwendung derPolygraphentechnik eingewendet worden sind, führt dazu,dass man sich nun auf die rein technischen Einwände gegendie Möglichkeit eines Lügendetektors verlassen muss. Zudemwird die juristische Entscheidung über den Einsatz einesBeweismittels von der Binnensicht der mit der Durchführungbetrauten Disziplinen abhängig gemacht. Dies mag tatsächlichausreichen, die herkömmliche polygraphische Untersuchungsmethodevon deutschen Gerichtssälen fernzuhalten.Fraglich ist, wie sich der Diskussionsverlauf entwickelnkönnte, wenn neue Apparaturen entwickelt werden sollten,die mehr Erfolg bei der Entlarvung von Lügen oder Täuschungsmanövernwährend einer Vernehmung versprechen.Glaubt man den eingangs erwähnten Verheißungen einigerNeurowissenschaftler, so könnten ganz neue Formen vonLügendetektoren schon bald wieder an den Toren der Gerichtshöfeanklopfen.Bislang hat sich die Diskussion über die Hirnforschunghierzulande allerdings vornehmlich durch die Arbeit an dem„Ewigkeitsproblem unserer Wissenschaft“ 62 innerhalb derGeschichte der Strafrechtswissenschaft zu verewigen versucht.Es ist nämlich primär die Frage nach der Willensfreiheitund ihrer Bedeutung für die strafrechtliche Zurechnungvon Schuld, auf die sich die Auseinandersetzung mit denNeurowissenschaften derzeit zu konzentrieren scheint. 63 Somancher Protagonist dieser Forschungsrichtung schickt sichan, für eine grundlegende Reformulierung strafrechtlicherGrundbegriffe sorgen zu wollen. Im Meer der zu diesemallgemeinen Grundlagenthema von Freiheit, Schuld undStrafe veröffentlichten Texte drohen die weitaus speziellerenReformvorhaben, denen sich so etliche Neurowissenschaftlerverschrieben haben, unterzugehen. Jenseits der abstraktenBegriffsarbeit am herkömmlichen Konzept des Schuldstrafrechtsbemühen sich Hirnforscher beispielsweise darum, dasPhänomen devianten Verhaltens konkreter in Verbindung miteiner Klärung abnormer Strukturen im Gehirn oder den speziellnach Hirnverletzungen ablaufenden Prozessen bringenzu können. Dabei sind sie bestrebt, neue Befunde über dieFähigkeit zur Unrechtseinsicht zu erhalten, die u.a. Auskunft60 Fezer, JZ 2007, 666; ähnlich Artkämper, NJ 1999, 154;Kühne (Fn. 9), Rn. 901; Meyer-Goßner (Fn. 10), § 136a Rn. 24.61 BGH NJW 2003, 2527.62 Welzel, ZStW 66 (1954), 505.63 Siehe hierzu ausführlich Stübinger (Fn. 4), S. 341. m.z.N._____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com547
Stephan Stübinger_____________________________________________________________________________________über die Schuldfähigkeit ergeben könnten. 64 Dies soll in denUSA u.a. Auswirkungen auf die Verhängung der Todesstrafezeitigen. 65 Daneben kümmern sich einige um die Erforschungaggressiver oder gewalttätiger Verhaltensweisen, deren Ursachein neuronalen Funktionsstörungen vermutet wird. 66 Hiervonverspricht man sich nicht zuletzt neue Einsichten aufdem Gebiet der Jugendkriminalität. 67 Aber nicht allein dasHandeln möglicher Delinquenten wird zum Untersuchungsobjektder Hirnforscher, sondern auch das Urteilsvermögender Rechtsanwender. Auf diese Weise soll es möglich werden,die richterliche Entscheidungsfindung besser erklärenund eventuell prognostizieren zu können. 681. Neue Techniken als Antwort auf alte FragenDen womöglich größten Nutzen der neurowissenschaftlichenForschung für das Recht verspricht man sich jedoch durch dieEntwicklung von Verfahren zur Entlarvung von Lügnern. 69 Inden letzten Jahren wurden verschiedene Geräte konstruiertund immer mehr verfeinert, mit denen computergenerierteBilder vom Ablauf der neuronalen Prozesse im Gehirn erzeugtwerden können. 70 Die anfangs eher als „HighTech-Kristallkugeln“ 71 belächelten Apparaturen tragen so bedeutungsschwereNamen wie funktioneller Magnetresonanztomograph(fMRT) oder Positronenemissionstomograph (PET)und geben Einblick in die Anatomie bzw. Neurochemie derdamit untersuchten Hirnmasse, indem deren Stoffwechsel,Durchblutung und elektromagnetische Aktivität beobachtetwird. 72 Schicht für Schicht werden Daten über physiologische64 Vgl. Sapolsky, Philosophical Transaction of the RoyalSociety London – Biological Sciences 359 (2004), 1787(1790 ff.); Redding, American University Law Review 56(2006), 51; Mobbs u.a., PloS Biology 5/4 (2007), e 103 (693 ff.);Baskin u.a. (Fn. 30), 250; Piefke/Markowitsch, in: Grün u.a.(Hrsg.), Entmoralisierung des Rechts, 2008, S. 96 ff.65 Vgl. Sasso, Cardozo Law Review 29 (2007), 766; Barth,American Journal of Law & Medicine 33 (2007), 501.66 Siehe den Überblick von Bufkin/Luttrell, Trauma, Violence& Abuse 6 (2005), 176 m.N. zu insgesamt 17 Studien.67 Dazu Saunders, Utah Law Review No. 2/2005, 695.68 Vgl. Mobbs u.a. (Fn. 64), e 103 (696); s.a. Rosen, in: YourBrain and Yourself, ed. Haseltine Foundation, 2007, S. 28.69 Zur entsprechenden Erwartungshaltung siehe z.B. Garland/Glimcher,Current Opinion in Neurobiology 16 (2006),132; Garland/Frankel, Law and Contemporary Problems 69(2006), 108; Rosen (Fn. 68), 33 m.w.N.70 Zur Funktionsweise dieser Apparate siehe z.B. die anschaulicheDarstellung von Terbartz van Elst, Die Zeit Nr. 34v. 16.8.2007, S. 30; vgl. auch O’Shea, Das Gehirn, 2008, 39;Schleim (Fn. 6), S. 39.71 Vgl. dazu Kulynych, Stanford Law Review 49 (1997), 1249(1269 m.N.).72 Zu diesen und weiteren, z.T. auch in Kombination mitanderen Geräten wie z.B. einem herkömmlichen Electroencephalographen(EEG) oder Magnetencephalographen(MEG) eingesetzten Vorrichtungen s.a. Kulynych (Fn. 71),1255; Tancredi/Brodie, American Journal of Law & Medicine33 (2007), 271.Zustandsveränderungen des Gehirns zusammengetragen undvon einem Computer bis zu einer bildschirmfähigen Darstellungverrechnet. Dadurch soll gleichsam scheibchenweise dieWahrheit über die Lüge zum Erscheinen gebracht werden.Wenn es gelingen sollte, die beim Prozess des Lügens besondersaktiven Hirnregionen kenntlich zu machen, dann hätteman die Chance, neuronale Korrelate dieser Verhaltensweiseausfindig zu machen. Die jeweils besonders aktivierten Hirnpartienwerden auf dem Bildschirm farbig hervorgehoben,um die Sichtbarkeit der ablaufenden Prozesse aufzubereitenund optisch besser verfolgen zu können. Die Grundvorstellungvieler Hirnforscher bildet nämlich die Idee, letztlich eineZuordnung sämtlicher Handlungs- und Denkoperationen zueiner bestimmbaren Hirnregion vornehmen zu können, umdann gleichsam die entsprechenden neurophysiologischenVorgänge aufzeigen zu können, ohne auf explizite Äußerungenangewiesen zu sein. Ein solches Vorhaben stellt geradebzgl. einer Entdeckung von Lügen und Täuschungen einebesondere Herausforderung dar, denn hier gilt es, die unbewusstenVorgänge im Gehirn entgegen eventuell bewusstanders lautender Behauptungen des Betreffenden bloßzustellen.Dabei wird z.T. vermutet, dass die Normwidrigkeit vorallem ein Resultat abnormer Gehirnstrukturen sein könnte;die Feststellung anatomischer und physiologischer Abnormalitätgilt insoweit beinahe als eine mögliche Entsprechung fürdie Normativität der Bewertung trügerischer Verhaltensweisen.Einige Untersuchungen behaupten in dieser Hinsichtbereits, zumindest bei pathologischen Lügnern gewisse strukturelleVeränderungen bestimmter Hirnregionen festgestelltzu haben, die für die entsprechende Verhaltensauffälligkeitverantwortlich sei. 73 Aber nicht allein die Vorgänge im Gehirnder lügenden Personen wird getestet; es gibt vielmehrauch Untersuchungen über die neuronalen Abläufe bei jenen,die beurteilen sollen, ob sie getäuscht werden oder ob ihnendie Wahrheit gesagt wird; so möchte man herauskriegen,welche Hirnregionen für die Entdeckung von Täuschungsversuchenzuständig sind, d.h. quasi wo der Lügendetektor imMenschen steckt. 74Die bildgebenden Verfahren erzeugen dabei eine enormeSuggestivkraft und leisten offenbar eine im Vergleich zu reinschriftlichen Darstellungsweisen gesteigerte Überzeugungsarbeitin puncto Vertrauenswürdigkeit in die neurowissenschaftlichenForschungsdienste. 75 Inzwischen sind mit denverschiedenen computertomographischen Vorrichtungenreichlich Tests vorgenommen worden, 76 deren Erklärungs-73 Vgl. die Studie von Yang u.a., British Journal of Psychiatry187 (2005), 320.74 Vgl. Grèzes u.a., The Journal of Neuroscience 24 (2004),5500; Grèzes u.a., NeuroImage 20 (2006), 601.75 Siehe dazu die Untersuchung von McCabe/Castel, Cognition107 (2008), 343; sowie Skolnick Weisberg u.a., Journalof Cognitive Neuroscience 20 (2008), 470; vgl. auch L. StephensKhoshbin/S. Khoshbin, American Journal of Law &Medicine 33 (2007), 182 m.w.N..76 Zu diversen Versuchsanordnungen siehe Spence, NeuroReport12/No. 13 (2001), 2849; Langleben, NeuroImage 15(2002), 727; Lee, Human Brain Mapping 15 (2002), 157;_____________________________________________________________________________________548<strong>ZIS</strong> 11/2008
Lügendetektor ante portas_____________________________________________________________________________________wert jedoch unterschiedlich eingeschätzt wird. Problematischist vor allem, dass es meist um simulierte Lügenszenarienunter Laborbedingungen geht und nur selten realitätsnaheKonstellationen hergestellt werden können, in denen dieVersuchspersonen nicht zur Lüge angehalten werden, sondernes gerade nicht schon vorher feststeht, wann gelogenund wann die Wahrheit gesagt wird. 77 Neben den tomographischenVersuchen gibt es noch weitere Verfahren,wie z.B. dasjenige, das auf der Nutzung eines EEG basiertund den vielsagenden Namen „brain fingerprinting“ trägt. 78Mit dieser sog. Mermer-Methode 79 werden während deselektroencephalograpischen Messverfahrens speziell sog.P300-Hirnstromwellen gemessen und markiert, die durchbestimmte Reize stimuliert werden. Diese spezielle Komponentesoll stets dann wahrnehmbar sein, wenn die Versuchspersonan ihr bekannte Erscheinungen erinnert wird, denn nurin diesem Fall könne ca. 300 Millisekunden nach dem Stimulusein entsprechender Spannungsausschlag verzeichnet werden.Diese besonderen Erregungsmuster sollen daher darüberAuskunft geben können, ob die jeweils reizauslösende Information,die vornehmlich durch Vorzeigen von Bildern gegebenwird, aber auch durch Wortassoziationen erzeugt werdenkann, für den Betreffenden neu ist oder nicht, selbst wenn dieVersuchsperson eine ausdrückliche Äußerung darüber unterdrückenmöchte. 80Ganis, Cerebral Cortex 13 (2003), 830; Spence, Journal ofthe Royal Society of Medicine 97 (2004), 8; Kozel, BehavioralNeuroscience 118 (2004), 852; Tancredi, in: Garland(Ed.), Neuroscience and the Law, 2004, S. 103; Kozel, Journalof Neuropsychiatry and Clinical Neuroscience 16 (2004),295; Happel (Fn. 29), 672; Kozel, Biological Psychiatry 58(2005), 605; Nunez u.a., NeuroImage 25 (2005), 267; Langlebenu.a., Human Brain Mapping 26 (2005), 262; Davatzikosu.a., NeuroImage 28 (2005), 663; Langleben, The Journal ofPsychiatry & Law 34 (2006), 351; Mohamed u.a., Radiology238 (2006), 679; Spence u.a., NeuroImage 40 (2008), 1411;Abe u.a., Cerebral Cortex (March 2008); s.a. die Überblickevon Hughes u.a., Current Psychiatry Reviews 1 (2005), 274;Keckler (Fn. 16), 509; Pardo, American Journal of CriminalLaw 33 (2006), 306; Gamer u.a., Human Brain Mapping 28(2007), 1287; Greely/Illes (Fn. 28), 394 mit kritischer Würdigungauf S. 402 ff.77 Vgl. die methodenkritischen Erwägungen von Sip u.a.,Trends in Cognitive Science 12/2 (2008), 48.78 Dazu Illes, Cerebrum 6 (2004), 73; Knight, Nature 428(2004), 692; Tancredi (Fn. 76), 105; Brenner, ÖffentlicheSicherheit 9-10/2005, 37; Metzinger, Gehirn & Geist 3/2006,38; Garland/Glimcher (Fn. 69), 132; Schleim (Fn. 6), S. 34 ff.79 Hinter diesem Kürzel verbirgt sich die ausführlichere Bezeichnungdieses Verfahrens: „Memory and Encoding RelatedMultifaceted Electroencephalographic Response“.80 Siehe zu dieser Methode Farwell/Smith, Journal of ForensicSciences 46 (2001), 1, die in fünf von 6 Testreihen voneiner Trefferquote von 99,9 % sprechen, gegenüber 90% indem übrigen Testlauf; s.a. die Kritik an diesem Verfahrenvon Rosenfeld, The Scientific Review of Mental Health Practice4 (2005), 20.Die Hoffnung auf eine mögliche Entdeckung der Hirnaktivitätwährend des Lügens wird von der Vorstellung begleitet,dass bei wahrhaftigen Aussagen andere Hirnregionenaktiv sind als beim Lügen. 81 Die unterschiedliche Aktivierungvon Nervenzellen im Gehirn deutet dann darauf hin, obder Untersuchte gerade lügt oder an die Wahrheit bzw. andas, was er für wahr hält, denkt. Dass diese Versprechungentatsächlich sehr ernst genommen werden, lässt sich wohlnicht zuletzt an der Spendierfreudigkeit der US-Geheimdienste ablesen, die sicher nicht ohne eine entsprechendeGewinnerwartung Geld investieren, um diese Forschungzu fördern. 82 Manche scheinen sich hiervon insbesondereim Kampf gegen den Terrorismus einen technischenErsatz für traditionelle Verhörmethoden wie Folter und andereinhumane Vernehmungstechniken zu versprechen undwittern dementsprechend sogar eine Art Humanisierungsschub.83 Ein weiteres Indiz für die Ernsthaftigkeit der Forschungsbestrebungendürfte die Förderung durch die Wirtschaftsein, die ihr ökonomisches Interesse an den Gerätenbekundet hat. Die besagten Techniken werden inzwischenbereits kommerziell vermarktet. In den USA konkurrierenzwei Unternehmen – die Cephos Corporation und No LieMRI, Inc. – auf dem Markt der neuen Möglichkeiten computertomographischerLügendetektion; 84 sie treten damit inKonkurrenz zu den herkömmlichen Polygraphentestern undden schon seit einigen Jahren praktizierenden Brain FingerprintingLaboratories, die die erwähnte Mermer-Methodeanpreisen 85 und sich auch für eine Zusammenarbeit mit denGeheimdiensten andienen möchten, die allerdings trotz einigerTests in der 1990er Jahren sehr reserviert auf dieses Angebotreagiert haben. 86Die Betreiber der letztgenannten Verfahrensweise meinensogar, einen erstaunlichen Erfolg vor einem USamerikanischenGericht für sich verbuchen zu können. Nichtzuletzt der Einsatz dieser Methode habe im Jahr 2000 einStrafgericht im Bundesstaat Iowa dazu bewegt, das Urteil81 Zu dieser Prämisse vgl. etwa Spence u.a. (Fn. 76), 2849.82 Vgl. den Hinweis bei Olson, Science 307 (2005), 1548(1549); s.a. Tancredi, Hardwire Behavior, 2005, 121. Thompson,Cornell Law Review 90 (2005), 1602; s.a. Happel(Fn. 29), 676, dem das finanzielle Engagement der öffentlichenHand noch zu dürftig bemessen erscheint. Vgl. auch denReport des US-General Accounting Office (GAO-02-22),Investigative Techniques 2001, 4.83 Vgl. Thompson (Fn. 82), 1608, zusammenfassend: 1636 f.;vorsichtiger nunmehr ders. (Fn. 38), 341; kritisch dazu Marks(Fn. 31), 486.84 Dazu Pearson, Nature 441 (2006), 918; Kittay, BrooklynLaw Review 72 (2007), 1352 m.N.; Greely/Illes (Fn. 28),390; Schleim/Walter, in: Fuchs u.a. (Hrsg.), Subjektivität undGehirn, 2007, S. 162 m.N. in Fn. 1 auf S. 177.85 Siehe dazu Farah, nature neuroscience 5 (2002), 1127;Happel (Fn. 29), 677; Wolpe, The American Journal of Bioethics5/2 (2005), 41 (44).86 Vgl. den Report des GAO (Fn. 82), S. 8 f. sowie die dortabgedruckten Stellungnahmen des U.S. Secret Service unddes FBI (20 ff.); s.a. Foster, IEEE Spectrum (June 2003), 36._____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com549
Stephan Stübinger_____________________________________________________________________________________gegen einen seit Ende der 1970er Jahre wegen Mordes inHaft sitzenden Gefangenen aufzuheben, da eine entsprechendeUntersuchung zu dem Ergebnis geführt habe, dass bei derPräsentation von Informationen, die der Täter hätte wissenmüssen, das Gehirn des vermeintlichen Mörders keine dementsprechendzu vermutende Reizreaktion gezeigt habe. 87Andere Gerichte haben jedoch entsprechende Beweisführungenmit Hilfe des brain fingerprinting inzwischen abgelehnt,da dessen wissenschaftliche Aussagekraft noch nicht abschließendgeklärt sei. 88 Auch sonst sind die Gerichte in denUSA durchaus zurückhaltend, wenn es darum geht, die neuenTechniken als Beweismittel in Strafprozessen zuzulassen. 89Die Sorge um die durch derartige Untersuchungsmethodeneventuell leicht zu beeinflussende Jury, die sich womöglichallzu sehr durch die Aura der Wissenschaftlichkeit und derÜberzeugungskraft der bunten Computerbilder beeindruckenlässt, soll aber immerhin die Vertreter der Staatsanwaltschaftin puncto Zugeständnisse innerhalb des plea bargaining geschmeidigermachen; so genüge es mitunter, dass ein Verteidigerdie Durchführung eines neurowissenschaftlichen Testsan Zeugen oder des Beschuldigten beantrage, um ein stärkeresEntgegenkommen zu bewirken.2. Re-Normativierung der Disskussiona) Wiederentdeckte Bedenken gegen die NeurotechnologieIn den USA ist die Debatte um die mögliche Bedeutung derneurowissenschaftlichen Versprechungen bzgl. der neuenGeneration von Lügendetektoren seit einiger Zeit voll entbrannt.Die Diskussion bleibt dabei meist an die bisherige Artder Auseinandersetzung um den Einsatz von Polygraphenangelehnt, indem vor allem an die oben skizzierte Frage nachden angemessenen Zulassungskriterien für wissenschaftlicheBeweismittel im Strafverfahren erinnert wird, um auch dieneurowissenschaftlichen Experimente in diesen Kontexteinordnen zu können. 90 Dementsprechend stützen viele Auto-87 Harrington, Terry J. v. State of Iowa, Nov. 14-15, 2000.Vgl. dazu die ausführlich und kritische Darstellung von Rosenfeld(Fn. 80), 21 (28 f.); s.a. Greely/Illes (Fn. 28), 387.m.N., die darauf aufmerksam machen, das das in dieser Sacheletztlich entscheidende Urteil des Iowa Supreme Court von2003, das zur Freilassung Harrington geführt habe, sich nichtmehr auf die Methode des brain fingerprinting eingelassenhat, sondern aus anderen Gründen zur Aufhebung der einstigenVerurteilung gekommen sei; vgl. auch die Darstellung desCommitee on Science and Law, in: The Record of the Associationof the Bar of the City of New York 60 (2005), 414,sowie Schleim (Fn. 6), S. 34.88 Siehe hierzu Pettit, American Journal of Law & Medicine33 (2007), 338 m.N.89 Zu einigen Beispielsfällen – jenseits der Lügendetektion –siehe etwa L. Stephens Khoshbin/S. Khoshbin (Fn. 75), 184;Pettit (Fn. 88), 334 m.w.N.90 Vgl. Kulynych (Fn. 71), 1260; Greely, in: Garland (Ed.),Neuroscience and the Law, 2004, S. 128; ders., in: Illes (Ed.),Neuroethics, 2005, S. 250 ff.; Greely/Illes (Fn. 28), 411;ren ihre Kritik an den neuen Techniken auch weiterhin primärauf die anhaltende Unzuverlässigkeit in Hinblick auf dieBeweiskraft der fraglichen Testverfahren; ihnen bleibt dieHoffnung, dass auch diesem technischen Fortschritt letztlichkein Erfolg beschieden sein werde. Derzeit ist es noch offen,ob eine eindeutige Zuweisung bestimmter Sprachakte zulokalisierbaren Hirnregionen jemals möglich sein wird, dennnoch weiß niemand genau, welche Nervenzellen für das Lügenund welche für das Sagen der Wahrheit zuständig sind.Insofern kann man sich u.a. auf die Skepsis zahlreicherHirnforscher berufen, die sich von der fälschlich inszeniertenEuphorie distanzieren und freimütig zugeben, dass es ungewissist und wohl auch bleiben wird, ob die neurowissenschaftlichenErkenntnisse jemals ausreichen werden, um einhinreichendes Wissensfundament bzgl. der für Wahrheit oderLüge zuständigen Gehirnregionen haben zu können und deshalbvon einem Einsatz vor Gericht abraten. 91 In diesemSinne gesteht z.B. der französische Neurobiologe Jean-PierreChangeux mit Nachdruck und Ausrufezeichen – wenn aucheher beiläufig – ein: „we are still far from a coherent theoryof the neural bases of lying!“. 92 Ähnlich heißt es in einemGemeinschaftsaufsatz, zu dessen Autoren immerhin auchDaniel D. Langleben zählt, der einer der Vorreiter auf diesemForschungsgebiet ist und dessen Methode als Testverfahrenfür eines der oben genannten Unternehmen verwendet wird 93 :„Though promising, it remains unknown whether those earlyresearch findings will ever lead to a better lie detection methodology“.94 Schließlich hat zuletzt auch der mit den verschiedenenTestmethoden vertraute Psychologe MatthiasGamer seine Zweifel daran geäußert, „ob die aufwändigeErfassung der Hirnaktivität wirklich zu genaueren Diagnosenführt als die Erhebung klassischer polygraphischer Variablen(...) In naher Zukunft vermögen beide Methoden weder lügenspezifischeReaktionen aufzudecken noch mit 100-prozentiger Sicherheit einen Schuldigen zu identifizieren“. 95Bemerkenswert ist allerdings, dass in der internationalenDebatte über den angemessenen Umgang mit der Hirnforschungauf diesem Gebiet längst nicht mehr allein um denGrad ihrer wissenschaftlichen Anerkennungsfähigkeit gestrittenwird, sondern zunehmend auch die normativen Problemedieser Techniken in den Blickpunkt treten. Das Unbehagenan der Vorstellung von einer zunehmend maschinell geordertenBeweisaufnahme wird durch mehr als nur durch denHappel (Fn. 29), 667; Kittay (Fn. 84), 1351; Pettit (Fn. 88),323; Bellin (Fn. 41), 103.91 So ganz ausdrücklich Appelbaum, Psychiatric Services 58(2007), 460 (462); s.a. Schleim (Fn. 6), S. 142 ff.; Spence,Legal and Criminological Psychology 13 (2008), 11.92 Changeux, The Physiology of Truth, 2004, 132.93 Vgl. die in Fn. 76 genannten Arbeiten seiner Forschungsgruppe;zur Verbindung von Langlebens Forschungsprojektzu No Lie MRI, Inc. siehe Greely/J. Illes (Fn. 28), 390; dasKonkurrenzprodukt der Cephos Corporation arbeitet hingegenauf der Basis der Arbeiten von Kozel; s.a. Kittay (Fn. 84),1358 Fn. 47; Schleim (Fn. 6), S. 110 ff.94 Wolpe u.a. (Fn. 85), 47.95 Gamer, Gehirn & Geist 7-8/2008, 37._____________________________________________________________________________________550<strong>ZIS</strong> 11/2008
Lügendetektor ante portas_____________________________________________________________________________________Verdacht technischer Unzulänglichkeiten genährt. DieseForm der argumentativen Auseinandersetzung hatte in derherkömmlichen Debatte eher ein Schattendasein geführt.Normative Grundsatzbedenken gegen die Vorstellung einertechnischen Überwachung von Aussagen von Zeugen oderBeschuldigten durch irgendeine Form von Lügendetektorensind in der US-amerikanischen Diskussion um den Polygrapheneinsatzfrüher nämlich nur gelegentlich in Erwägunggezogen worden. 96 In diesem Sinne ist vor allem ein Statementvon Justice Linde bemerkenswert, der in seiner concurringopinion zu einer Gerichtsentscheidung aus dem Jahr1987 (State v. Lyon ) notiert hat, er wolle einem Polygraphentestselbst bei hundertprozentiger Treffgenauigkeit dieZulassung vor Gericht verweigern, da hiervon jedenfalls„`fundamental tenets about human personhood´“ betroffenseien und zu befürchten sei „that the use of the polygraph hadthe potential to dehumanize parties and witnesses, treatingthem or as `electrochemical systems to be certified as truthfulor mendacious by a machine´“. 97Die Beachtlichkeit solcher Einwände konnte mit gutemGewissen ignoriert werden, solange man von einer letztlichunüberwindlichen technischen Untauglichkeit der verfügbarenLügendetektoren klassischer Bauart ausgehen konnte.Wenn aber Technologien in Aussicht gestellt werden, denenman zumindest für die Zukunft mehr zutraut als den bisherigenPolygraphen, stellt sich die Frage, ob die möglicherweiserealisierbare Hoffnung auf eine zuverlässige Lügendetektionüberhaupt erwünscht ist oder nicht vielleicht gegen wichtigePrinzipien verstoßen könnte. Im Zuge der sich aufdrängendenNeurotechnologie werden in letzter Zeit dementsprechendvermehrt sämtliche ethische, kulturelle, politische und verfassungsrechtlicheEinwände gleichsam prophylaktisch gesammelt,um gegen einen voreilig angestrebten Einzug der neuenLügendetektoren in die Gerichtssäle gewappnet zu sein. 98Dazu zählt i.w.S. auch die Befürchtung, eine durchgehendeTechnisierung des Strafprozesses greife allzu sehr in dasHoheitsgebiet der Jury ein, deren ur-eigene Aufgabe eine Artkollektiv sichergestellte Wahrheitsfindung sei. Die drohende96 Vgl. Kaganiec, Nothwestern University Law Review 51(1956), 446 (gekürzte Fassung in: Journal of Criminal Law,Criminology, and Police Science 47 [1957], 570); Silving,Harvard Law Review 69 (1956), 683 (688 ff.), die sich beideauch auf die Entscheidung BGHSt 5, 332 beziehen; s.a. Nemeth,Forensic Science International 21 (1983), 108 m.w.N.Kritisch zu dieser Argumentation: Simon, Science, Technology& Human Values 8/No. 3 (1983), 7.97 Zitiert nach Thompson (Fn. 38), 356 m.N.98 Vgl. z.B. Sententia, The Journal of Cognitive LibertiesVol. 2/No. 3 (2001), 31; Farah (Fn. 85), 1126; dies./Wolpe,Hastings Center Report (May-June 2004), 38; Dery, AmericanJournal of Criminal Law 31 (2004), 218; Illes, TheAmerican Journal of Bioethics 5/2 (2005), 5 (9 ff.); Happel(Fn. 29), 681 ff.; Pardo (Fn. 76), 321; Fuchs, Current Opinionin Psychiatry 19 (2006), 600 (601); Stoller/Wolpe (Fn. 7),364; Arrigo, American Journal of Law & Medicine 33(2007), 464; Wachbroit, The American Journal of Bioethics8/1 (2008), 3; s.a. den Report der BPS (Fn. 27), S. 27 f.Übernahme durch apparate-dominiertes Expertenwissenrühre damit an der Statik des Selbstverständnisses des USamerikanischenRechtssystems. Zudem werden bedenklichweitgehende Eingriffe in die Privatsphäre der Betreffendenbefürchtet, die vor jedwedem Eingriff zu schützen sei; dieVorgänge im Kopf eines Menschen zählen zu einer absolutenTabuzone, in die nicht eingedrungen werden dürfe. Außerdemwird eine kognitive Freiheit geltend gemacht, die durchdie Möglichkeit einer maschinellen Fremdbeobachtung beeinträchtigtwerden könne. Die mentalen Freiräume seienebenso schützenswert wie die äußeren Handlungsfreiheiten.Zur organisierten Geltendmachung solcher Argumentationenhaben sich beispielsweise Juristen und Wissenschaftler ineinem „Center of Cognitive Liberty and Ethics“ zusammengetan,99 um u.a. das Schutzbedürfnis der Gedankenfreiheitvor denkbarer Institutionalisierung neuer Technologien des„Gedankenlesens“ nachhaltig zu problematisieren.b) Zurück zu alten Argumentationen?Ob sich eine vergleichbare Wende in der Diskussionsführunghierzulande ebenfalls einstellt, ist derzeit nicht absehbar. InDeutschland sind die neuen Forschungsleistungen der Neurowissenschafteni.R.d. Lügendetektor-Problematik – imstrafverfahrensrechtlichen Umfeld – bislang kaum wahrgenommenworden. 100 Nur vereinzelt wird die Erwartung offenausgesprochen, dass „die Möglichkeiten der funktionellenBildgebung vermutlich in naher Zukunft nicht mehr ignoriertwerden können“. 101 Sollte man mit der neueren BGH-Rechtsprechung diesen neurowissenschaftlichen Neuerungenausschließlich auf eine technokratische Sprechweise begegnenwollen, um ihre Tauglichkeit testen zu können, so solltendie Richter schon einmal damit beginnen, einen neuen Wortschatzanzusparen, mit dem sie sich das Vokabular aneignen,das zur Erfassung der Anatomie des Gehirns notwendig ist,denn in einschlägigen Texten trifft man auf Sätze wie diesen,in dem es um die genaue Bezeichnung „zweier Hirnregionen“geht: „das so genannte fusiforme Gesichtsareal (FFA) imventralen okzipito-temporalen Kortex sowie ein weiter vorneund innen im kollateralen Sulkus gelegenes kortikales Areal,das als parahippocampale Platzregion (PPA) bezeichnetwird“. 102 Wer – mit solchen Kartierungsanweisungen ausgestattet– sich auf den Weg zu einem angemessenen Verständnisder Reichweite neurowissenschaftlicher Erklärungenmacht, droht sich allzu leicht in fremdem Begriffsdschungelzu verirren. Auf dieser Ebene dürfte es ungleich schwieriger99 Zur Selbstdarstellung und Aufgabenbeschreibung dieserOrganisation siehe die Informationen auf deren Homepagehttp://www.cognitiveliberty.org, auf der sich auch eine Listeeiniger führender Mitglieder befindet.100 Eine Ausnahme bildet Beck, JR 2006, 146; Andeutungenfinden sich bei Scheffler (Fn. 10), Rn. 908 f.101 So etwa Markowitsch, Kriminalistik 2006, 623, der sogardarauf verweist, er selbst habe als Gutachter „in einem Gerichtsverfahren,bei dem es um Mord und Mordversuch ging,zur Untermauerung der Glaubwürdigkeit einer Zeugin dasfMRT-Verfahren angewendet“.102 Schleim/Walter (Fn. 84), S. 163._____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com551
Stephan Stübinger_____________________________________________________________________________________werden, allein die Untauglichkeit der Apparate als Grund fürdie anhaltende Ablehnung der neuen Technologien anzuführen.Zunächst ist den allgemeinen Verlockungen zu begegnen,die seit langem von der Vorstellung einer zunehmendenTechnisierung des Strafverfahrens ausgeht, in dem die Unsicherheitmenschlicher Entscheidungskraft eine immer geringereRolle spielen soll. Die Versuchung, sich auch und geradeauf dem Gebiet des Strafprozessrechts auf rein technologischeUrteilsmechanismen zu verlassen, die jene Unberechenbarkeitrichterlicher Beurteilungsfähigkeiten dermaleinstablösen möge, sind keineswegs neu. In diesem Sinne hatteeinst der ehemalige Präsident des Bundeskriminalamtes,Horst Herold, seiner Phantasie freien Lauf gelassen und voneinem zukünftigen Strafprozess geträumt, der „frei ist vonZeugen und Sachverständigen. Der sich ausschließlich gründetauf den wissenschaftlich nachprüfbaren, messbaren Sachbeweis.Nach meiner Theorie wäre, so schrecklich das klingt,auch der Richter entbehrlich“. 103 Ganz ähnlich klingen auchdie Äußerungen des bekannten Gedächtnisforschers HansMarkowitsch, der sich vorstellen kann, „dass man das Gerichteigentlich nicht mehr braucht“, 104 wenn es gelinge, ein Urteilganz in die Hände von Gutachtern und deren wissenschaftlichenExpertisen zu geben. Aber auch einige Anwälte witternhinter den neurowissenschaftlichen Verheißungen bereitsneue Verteidigungsstrategien. So hat etwa die Präsidentin derRechtsanwaltskammer Berlin, Margarete von Galen, in ihremGrußwort zur 15. Max-Alsberg-Tagung, die sich mit denAuswirkungen der Hirnforschung auf das Strafrecht befassthat, ihre Kollegen dazu aufgefordert hat, sie sollten sich „alsStrafverteidiger und Strafverteidigerinnen im Alltag nichtscheuen den Antrag zu stellen, dass der Mandant in denScanner gelegt und Tests unterzogen wird. Es wird höchsteZeit, dass die Erkenntnismöglichkeiten der bildgebendenVerfahren in unsere Strafverfahren Einzug halten“. 105In dieser Hinsicht scheinen die neurowissenschaftlichenTechniken ganz besondere Begehrlichkeiten zu wecken, unterdenen die Hoffnung auf neue Methoden der Lügendetektionnur einen Spezialfall darstellen. Auch wenn es derzeit nichtdanach aussieht, dass sich die phantasievollen Hoffnungender Befürworter der neuen Techniken in absehbarer Zeitrealisieren lassen, so sollte man doch die Frage stellen: Waswäre, wenn …? Einige Interpreten der neueren BGH-Rechtsprechung sehen in der Argumentation des 1. Strafsenatesselbst schon eine normative Rückversicherung für denFall abgeschlossen, in dem irgendwann einmal ein tauglichesInstrument zur Lügenentlarvung erfunden werden sollte. DieRichter hätten bei ihrem Verzicht, in einer polygraphischenUntersuchung eine Würdemissachtung zu erkennen, die Untauglichkeiteiner solchen Methode nämlich zur Prämissegemacht, d.h. in einem solchen Verfahren sei kein Verstoß103 Zitiert nach Preuß, KJ 14 (1981), 125.104 Vgl. das Zitat bei Schleim (Fn. 6), S. 143.105 V. Galen, in: Hillenkamp (Hrsg.), Neue Hirnforschung –Neues Strafrecht?, 2006, S. 32 f.; differenzierter und wenigerpointiert klingt ihr Beitrag, in: Barton (Hrsg.), „[…] weil erfür die Allgemeinheit gefährlich ist!“, 2006, S. 365 ff.gegen Art. 1 Abs. 1 GG zu sehen, gerade weil ein Polygraphohnehin nicht in der Lage sei, einen Einblick in das Inneredes Menschen zu gewähren. Solange von der bloßen Untauglichkeitder Mittel auszugehen sei, brauche man sich über dieVerfassungsmäßigkeit solcher Tests keine Gedanken zu machen.Ohne ein Können muss kein Sollen bemüht werden,denn wenn nicht einmal die faktische Funktionsfähigkeitsolcher Geräte erwartet werden könne, sei eine normativeErwartung gar nicht erforderlich. Sollten indes in Zukunfttatsächlich geeignete Methoden zur Verfügung stehen, dieeine realistische Möglichkeit einer Lügendetektion eröffnenkönnten, so müssten die normativen Gründe gegen ein solchesVorgehen wieder aus ihrem Dornröschenschlaf wachgeküsstwerden, denn dann sei schließlich ein entwürdigenderBlick in die höchstpersönliche Gedankenwelt eröffnet. 106Ob dem BGH eine solch raffiniert eingefädelte Begründungslistzugetraut werden darf, durch die das Argumenteines Würdeverstoßes nur scheinbar ausgeräumt wird, währendes nur unter der Voraussetzung fehlender Eignung verstecktwurde, um es bei Bedarf wieder hervorholen zu können,erscheint aber zumindest nicht zwingend. Denkbar istjedenfalls auch, dass nicht erst unter der Bedingung anhaltenderUntauglichkeit des Mittels auf die Erhebung verfassungsrechtlicherBedenken verzichtet werden sollte, sondern diebis dahin geltend gemachten normativen Gründe ganz grundsätzlichfallen gelassen worden sind. 107 Daher bleibt geradeim Hinblick auf die heraufziehende Herausforderung durchdie Hirnforschung zu überlegen, ob die Reichweite der Argumentationeiner möglichen Würdeverletzung hinreichendausgelotet worden ist. Dazu müssen die Unterschiede zwischenden herkömmlichen polygraphischen Versuchen, dieLüge einer daran angeschlossenen Testperson zu entlarven,und den neurowissenschaftlichen Erkenntnisweisen deutlichermarkiert werden, denn dabei geht es nur auf den erstenBlick um rein technische Verfeinerungen. Bei näherem Hinsehenändert sich im Kontrast zu den bisherigen Verfahrender Erklärungswert, der mit den neuen Untersuchungsmethodenerstrebt wird. Dies könnte Auswirkungen auf die normativeBeurteilung haben:c) Neurowissenschaftliche Erklärungen und das Verständnisder ProzesssubjektivitätDie Hirnforschung macht aus einer Lüge ein neuronales Geschehen;sie stößt auf neurophysiologische Realitäten, dienaturwissenschaftlich erklärt werden müssen, aber kaummehr normativ verstanden werden können, 108 denn mit einer106 Explizit i.d.S. Kühne (Fn. 9), Rn. 901; in Andeutungenauch Matz, ZaöRV 59 (1999), 1117; Schleim, Nervenheilkunde26 (2007), 814; Schneider, Gehirn & Geist 7-8/2008,39.107 So etwa Amelung, JR 1999, 382 (385), der es gerade fürbegrüßenswert hält, dass der BGH „den Weg nicht verbaut“,der zur Anerkennung von technisch erfolgreichen „Formeneines Lügendetektortests“ führen könnte.108 Die in der Philosophie fest verankerte Unterscheidungzwischen Erklären und Verstehen (vgl. die geradezu klassischeDarstellung von v. Wright, Erklären und Verstehen,_____________________________________________________________________________________552<strong>ZIS</strong> 11/2008
Lügendetektor ante portas_____________________________________________________________________________________solchen Erklärung als naturhaftem Vorgang im Kopf einesMenschen wird die Möglichkeit, denselben Vorgang zugleichals negativ bewertete Handlungszurechnung verständlich zumachen, erschwert. Die computertomographisch erzeugtenBilder sollen nämlich nicht etwa bloß unwillkürliche Ausdrucksweisenwillkürlicher Täuschungen offenlegen, sonderndie neuronalen Korrelate wenn nicht sogar die entsprechendenKausalfaktoren aufzeigen. Gesucht werden nicht diephysischen Nebenprodukte, sondern die wahren Produzentender Lüge, die dann jedoch in normativer Hinsicht nicht fürein Fehlverhalten haftbar gemacht werden sollen. Der eigentlicheSinn einer Lüge-Zurechnung verliert sich im neuronalenNetzwerk der Hirnmasse. Die Hirnregionen und die in ihnenablaufenden Prozesse werden daher nicht – wie das Rot- oderBleichwerden eines Lügners bzw. die polygraphisch aufgezeichnetenParameter (Puls, Blutdruck, Atmungsaktivität) –als bloße Begleiter einer normwidrigen Handlung begriffen,die für jene Normwidrigkeit verräterisch werden und denLügner sichtlich blamieren; die in den Experimenten mit denneurowissenschaftlichen Gerätschaften aufzudeckenden Abläufeim Gehirn stehen als Entsprechungen für das Verhaltenselbst, das auf diese Weise in den Erklärungsbereich derNaturwissenschaften überführt werden soll. Die Hirnforschungversucht ihrem eigenen Selbstverständnis nach, dieletztlich entscheidenden Vorgänge im Innern eines Menschenzu entdecken, die geschehen, wenn außen von einer Lüge dieRede ist. Die neurowissenschaftliche Forschung zielt deshalbnicht mehr auf die schlichten Begleiterscheinungen, die amRande bewusster Täuschungsmanöver gelegentlich wahrgenommenwerden können, deren Suche richtet sich vielmehrauf unbewusste Strukturen und Prozesse im Gehirn, die jenemBewusstsein zu Grunde liegen und es determinieren. 109Zu den Basisunterstellungen der Hirnforschung zählt nämlichdie These: das Unbewusste dominiert das Bewusste und Intentionale.Neurowissenschaftler suchen demnach keine Lügen,sie finden Naturereignisse, die im Kopf stattfinden. Dasspezifisch personale Moment des Handlungsverstehens wirdin solchen Untersuchungen gleichsam wegerklärt.Die neurophysiologischen Untersuchungsmöglichkeitenblicken daher tatsächlich nicht in die „Seele“ einer Rechtsperson,sondern gleichsam durch sie hindurch bzw. an ihrvorbei auf etwas, was nur naturhaft in ihr stattfindet. So wirddann aber eine Aussageperson nur als bloßes Beweis-Mittel1974, S. 16 ff. und passim; s.a. Hausmann, Erklären undVerstehen, 1991, zusammenfassend S. 226 ff.), mit der sichu.a. die unterschiedlichen Vorgehensweisen von Natur- undGeisteswissenschaften darstellen lässt, ist in den letzten Jahrenzunehmend zum Gegenstand psychologischer Studiengeworden, die nicht zuletzt die jeweils damit verbundeneErwartungshaltung klären wollen. Darin spielt insbesondereder Stellenwert von Kausalbeziehungen eine Rolle, derenAufweis für bestimmte Klassen von Erklärungen erwartetwird: vgl. etwa Lombrozo, Trends in Cognitive Science 10(2006), 464; dies./Carey, Cognition 99 (2006), 167; Keil,Annual Review of Psychology 57 (2006), 227.109 I.d.S. auch Ganis u.a. (Fn. 76), 830; Thompson (Fn. 82),1609; Arrigo (Fn. 98), 452 m. Fn. 31.benutzt; sie muss ihren Körper, d.h. speziell ihr Gehirn alsUntersuchungsobjekt zur Verfügung stellen, um die unbewusstenVorgänge im Innern ihres Kopfes für die neurowissenschaftlichenErklärungen freizugeben. Zumindest insoweites sich um Beschuldigte handelt, widerspricht diese Formeiner Instrumentalisierung ihrer Rolle als Prozesssubjekt, dieselbst eine vorübergehende Suspendierung dieses Status‘nicht gestattet. Dabei geht es – anders als dies sonst bei anderenkörperlichen Untersuchungen der Fall sein mag – nichtum Diagnosen über Vorgänge am oder im Körper eines Menschen,die auch sonst als rein physische Begebenheit wahrgenommenwerden und insbesondere auch in der individuellenSelbstwahrnehmung gleichsam nur am eigenen Leib erfahrenwerden können, ohne notwendiger Teil des geistigen Selbstbewusstseinoder der personalen Identität zu sein. Eine DNA-Spur oder eine Blutprobe ist kein konstitutiver Bestandteildes menschlichen Selbstverständnisses. Der Blick unter dieSchädeldecke soll jedoch die mentalen Zustände einer Personin neurowissenschaftliche Erklärungsmuster übersetzen, indenen dann freilich nicht mehr viel von dem übrig bleibt, wasdie Beziehung zwischen Staat und Bürger als Rechtsverhältnisbegründet, das jedoch gerade in Strafverfahren relevantist. Gemeint ist die unbedingte Anerkennung der Subjektqualitätder Prozessbeteiligten, die schon dadurch beeinträchtigtwerden kann, dass die Preisgabe einzelner Hirnprozesse unddie damit einhergehende Freigabe zur Interpretation keinerKontrolle durch den Betreffenden mehr unterliegt. Dadurchdroht das Beweisverfahren in diesem Punkt zu einem entsubjektiviertenUntersuchungsprozedere zu werden; einMensch, der in einem „Hirnscanner“ liegt, müsste, wenn auchnur für einen Moment, darauf verzichten, als selbstbewussteund gerade in seinem Aussageverhalten selbstbestimmteRechtsperson anerkannt zu werden, um stattdessen als Auskunftsquelleausgeschöpft werden zu können. Anders als imRahmen medizinisch indizierter Untersuchungen dient einstrafrechtlich verwertbarer Einsatz eines Tomographen nurder Gewinnung unbewusster Mitteilungen, die zu fremdverwaltetenInformationen über eine Person verarbeitet werdensollen.Nun sind freilich jene Stichworte gefallen, die auf die alteFrage hinweisen, ob durch die neuen bildgebenden Verfahrender Hirnforschung eventuell ein grundrechtsrelevanter Eingriffin die Würde des Menschen zu befürchten ist, insoweiter nämlich nur als ein Mittel zum Zweck staatlicher Ermittlungeneingesetzt werden könnte. Die Befürchtung, einenMenschen zum bloßen Objekt des Staates zu machen, bildetden Kern der üblichen Sprachformel, die nach ständigerRechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Diskussionum den Schutzbereich von Art. 1 Abs. 1 GG auslöst. 110Da sich eine Anwendung neurowissenschaftlicher Untersuchungsmethodenallerdings sowohl aus faktischen als auchaus rechtlichen Gründen ohnehin nur als freiwillige Bereitstellungdenken lässt, kann das Problem auf die Frage zugespitztwerden, ob die Freiwilligkeit, sich auf ein solches Testverfahreneinzulassen, eine eventuelle Missachtung der Wür-110 Vgl. etwa BVerfGE 27, 1 (6); 45, 187 (228); 96, 375(399); 115, 118 (153)._____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com553
Stephan Stübinger_____________________________________________________________________________________de geradezu ausschließt, denn in einer solchen Konstellationinstrumentalisiert ja nicht der Staat einen Menschen, sonderndieser stelle sich selbst als Beweismittel zur Verfügung; ohneseine Mitwirkungsbereitschaft seien entsprechende Test nichtdurchführbar. Dieses Argument wurde vielfach bereits füreine mögliche Zulassung eines Polygraphentests angeführt,der zu Gunsten und auf ausdrückliches Betreiben eines Beschuldigtendurchgeführt werden könnte, um die womöglichletzte Entlastungsmöglichkeit wahrzunehmen. 111 Zur Begründungkann diese Ansicht durchaus auf die Intuition verweisen,Achtung und Schutz der Würde sei gegen den ausdrücklichenWillen des Grundrechtsträgers nur schwer vorstellbar.Im Übrigen zeigt sich in dem Bemühen, den Würdeschutznicht mehr auf einverständliche Handlungsweisen zuerstrecken, ein nachvollziehbarer Reflex vieler Verfassungsinterpreten,die ausufernde Inanspruchnahme der Dignitätsrhetorikwieder ein Stück weit einzudämmen. 112 Insoweitist nämlich schon seit längerer Zeit eine gewisse Übersättigungan solchen „würde-“haltigen Begründungsmusternspürbar. In der Tat kann leicht zugegeben werden, dass in derKonstellation, in der ein Beschuldigter von sich aus, dieDurchführung eines Lügendetektortests wünscht, es nicht dasunmittelbare staatliche Handeln ist, das ihn zum bloßen Objektdegradiert.Allerdings sind damit die Möglichkeiten denkbarer Würdeverletzungenkeineswegs ausgeschöpft. Es kommen nämlichauch mittelbare Formen einer Missachtung der Menschenwürdein Betracht. Dazu kann es beispielsweise kommen,wenn es der Staat innerhalb eines Strafverfahrens durchdie Anerkennung bestimmter Vorgehensweisen zulässt, dasssich eine Rechtsperson selbst zu einem Mittel zum Zweckerniedrigt. Zur philosophischen Grundlegung der Menschenwürde,die in wesentlicher Formulierung auf die PhilosophieImmanuel Kants zurückgeführt werden kann, 113 zählt nämlichauch das Gebot, sich nicht selbst zum reinen Objekt zu machen.In der einschlägigen Formulierung des praktischenImperativs, die für die Auslegung des Art. 1 Abs. 1 GG durchdas Bundesverfassungsgericht Pate gestanden hat, 114 wirdnämlich auch die jeweils handelnde Person selbst einbezogen.115 Dies ist freilich in seiner direkten Adressierung nicht111 So etwa Schwabe, NJW 1979, 578; Amelung, NStZ 1982,38; Prittwitz, MDR 1982, 894; s.a. die weiteren Nachweisebei Gleß (Fn. 53), § 136a Rn. 64 Fn. 282.112 Zur inflationären Berufung auf vermeintliche Würdeverletzungen,die den Wert dieser Argumentation gemindert hat,siehe Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar,Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Art. 1 Abs. 1 Rn. 45 ff. mit Beispielen.113 Zur Bedeutung der Kantischen Philosophie für das moderneVerständnis von Menschenwürde vgl. etwa Bielefeldt,Philosophie der Menschenrechte, 1998, S. 45 ff.; Wetz, DieWürde der Menschen ist antastbar, 1998, S. 38 ff.; Tiedemann,Rechtstheorie 36 (2005), 129.114 Vgl. dazu etwa Luf, in: Zaczyk u.a. (Hrsg.), Festschrift fürE.A. Wolff, 1998, S. 307 ff.; Dreier (Fn. 112), Rn. 11 ff.115 Kant, in: v. Weischedel (Hrsg.), Grundlegung zur Metaphysikder Sitten, BA 66 f., Werkausgabe, Bd. 7, S. 61:„Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person,als eine Rechtspflicht formulierbar, sondern (nur) als moralischerImperativ gedacht, d.h. das Recht kann keine Persondazu verpflichten, sich in diesem Sinne immer nur als Selbstzweckbehandeln zu lassen; darauf muss vielmehr jeder selbstachten. Daraus folgt jedoch nicht, dass dies nicht auch indirekteKonsequenzen für das Recht haben kann. StaatlichesHandeln muss nämlich so organisiert sein, dass den Bürgernjederzeit eine Orientierung an ethischen Grundsätzen ermöglichtwird. In dieser Hinsicht darf dann aber der Staat insbesondereauf dem Gebiet des Strafprozessrechts keine Verfahreninstitutionalisieren oder deren Ergebnisse anerkennen,durch die sich eine Rechtsperson ihrerseits unter Missachtungder eigenen Würde als Mittel benutzen lassen möchte.Andernfalls würde durch staatliche Anerkennung ein Anreizfür ein entwürdigendes Verhalten gesetzt.Dies scheint auch der Grundgedanke hinter der Regelungdes § 136a Abs. 3 StPO zu sein, der das durch die Absätze 1und 2 ausgesprochene Verbot bestimmter Vernehmungsmethoden„ohne Rücksicht auf die Einwilligung des Beschuldigten“gelten lässt. Wenn etwa jemand seine Wahrheitsliebedadurch unter Beweis stellen möchte, dass er einer dort genanntenZwangsmaßnahme zustimmt, weil er sich hiervoneine höheren Grad an Glaubwürdigkeit verspricht, dann ist esden Gerichten und sonstigen Strafverfolgungsbehörden durchdiese Regelung untersagt, ein solches Vorgehen anzuerkennenoder zu verwerten. Fraglich ist, ob diese Grundsätze auchauf die hier in Rede stehende Problematik anwendbar sind.Zwar mag durch eine freiwillig veranlasste Anwendung neurowissenschaftlicherTechniken keine den in § 136a StPOvergleichbare Beeinträchtigung der WillensentschließungsundWillensbetätigungsfreiheit vorliegen; allerdings ist zubeachten, dass dadurch gerade die willkürliche Steuerung desAussageverhaltens insgesamt umlaufen werden soll, umeinen unmittelbaren Einblick in die unwillkürlichen undunbewussten Vorgänge im Gehirn zu ermöglichen. Wennaber jede zwanghafte oder listige Einwirkung auf einen Aussagewilligenuntersagt ist, dann sollte doch wohl die Umgehungder willentlichen Kontrolle nach den aufgezeigtenRechtsgrundsätzen ebenfalls verboten sein, selbst wenn derBetreffende selbst auf sie verzichten möchte. Dass in diesemZusammenhang der grundrechtstangierende Charakter einersolchen Maßnahme vielfach nicht wahrgenommen wird,könnte u.a. auch daran liegen, dass es sich im Unterschied zuden meisten in § 136a StPO genannten Methoden bei deneinzusetzenden Verfahrensweisen um schmerzfreie Eingriffehandeln mag. Gleichwohl ist dadurch allein noch nicht derVerdacht einer entwürdigenden Handlungsweise entkräftet.Eine Missachtung der Menschenwürde beginnt nämlich nichterst oberhalb der Schmerzgrenze. 116als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich alsZweck, niemals bloß als Mittel brauchest“.116 Dass bei der Beurteilung einer Missachtung der Menschenwürdein letzter Zeit vermehrt auf die physischen Momenteeiner Handlung geachtet wird, hat sich zuletzt imRahmen der Diskussion um die rechtliche Anerkennung einersog. Rettungsfolter gezeigt, in der einige Autoren ebenfallsmit den nur geringfügigen und zeitlich begrenzten körperli-_____________________________________________________________________________________554<strong>ZIS</strong> 11/2008
Lügendetektor ante portas_____________________________________________________________________________________Die für den Strafprozess grundlegende Bedeutung einerununterbrochenen Willenskontrolle sämtlicher Einlassungsformendurch die Aussageperson lässt sich abschließendvielleicht durch folgenden Vergleich verdeutlichen: Ähnlichwie die Ausübung des demokratischen Wahlrechts keinenVerzicht auf die Wahrung des Wahlgeheimnisses duldet, daeine offene Stimmabgabe zur Ungültigkeit führt, so gestattetauch die Wahrnehmung strafprozessualer Teilhaberechtekeine Offenlegung unwillkürlicher Denkvorgänge. Die notwendigeGeheimhaltung wirkt in beiden Fällen konstitutivfür die Gewährleistung der jeweiligen Rechtsposition – alsBürger bzw. als Prozesssubjekt.Und die Moral von der Geschicht´: Der Lügendetektorsteht in neuer Form tatsächlich ante portas und dort sollte erauch bleiben.chen Auswirkungen argumentiert haben: ausführlich undkritisch dazu Stübinger, in: Institut für Kriminalwissenschaftenund Rechtsphilosophie Frankfurt a.M. (Hrsg.), Jenseitsdes rechtsstaatlichen Strafrechts, 2007, S. 277 ff. (297 ff.)m.N._____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com555
Die Urkundenfälschung und die Straflosigkeit der „schriftlichen Lüge“Ein Erklärungsversuch aus historischer Sicht bis zum Reichsstrafgesetzbuch von 1871Von Rechtsanwalt Dr. Matthias Brockhaus, Düsseldorf*I. EinleitungDie Einordnung der Urkundenstraftaten in die §§ 267 ff.StGB steht am Abschluss einer langen und kompliziertenEntwicklung. Nicht zu Unrecht kommt Binding 1904 zu demUrteil, „kein Tatbestand bereitet der Wissenschaft für dieErfassung seines Wesens und der Praxis für die Handhabungdes Begriffs annähernd die gleichen Schwierigkeiten“. 1 DieProblematik ist darin begründet, dass es erst im 19. Jahrhundertgelungen ist, die Urkundendelikte dogmatisch vom Betrugzu unterscheiden.Noch heute zeigt sich die einstmals enge Verknüpfungmit den Vermögensdelikten in der Eingliederung der§§ 267 ff. StGB im Anschluss an die Betrugsvorschriften. 2Die Schwierigkeit einer dogmatischen Erfassung der Urkundendelikteist insbesondere eine Folgeerscheinung derRezeption des römischen bzw. mittelalterlich-oberitalienischenStrafrechts. 3 Aufgrund der unklaren Abgrenzung und Vermengungder Urkundendelikte mit dem Betrug ist eine dogmatischeDifferenzierung zwischen strafrechtlichem Echt- undWahrheitsschutz lange nicht getroffen worden. Die Unterscheidungfindet sich, zumindest in Bezug auf öffentlicheUrkunden, erstmals im preußischen Strafgesetzbuch von1851. Aus den Vorarbeiten zu diesem Gesetzbuch und vereinzeltenKommentaren wird aber auch deutlich, dass die„schriftliche Lüge“ (d.h. die unrichtige Beurkundung einerrechtlich erheblichen Tatsache 4 ) bei Privaturkunden als nicht(mehr) strafwürdig angesehen wird und zugleich die systematischeVerflechtung zum Betrug als obsolet gelten kann.Die Darstellung will im historischen Kontext bis zumReichsstrafgesetzbuch 1871, mit dem die systematische Verselbstständigungder Urkundendelikte seinen Abschluss findet,die Frage beantworten, worin der tiefere Grund dafürbesteht, dass bei Privaturkunden nicht die <strong>Inhalt</strong>swahrheit,sondern nur die Ausstellerauthentizität strafrechtlich geschütztist. Ein rechtsvergleichender Blick lehrt, dass dieseDifferenzierung nicht zwingend ist. So ist die Falschbeurkundung,d.h. die Herstellung einer echten, aber unwahrenUrkunde in der Schweiz grundsätzlich strafbar. 5 Begründet* Der Verf. ist Rechtsanwalt in der Kanzlei VBB Rechtsanwältein Düsseldorf.1 Binding, Lehrbuch des Gemeinen Deutschen Strafrechts,Besonderer Teil, Bd. 2, 2. Aufl. 1904, S. 169 Fn. 2.2 Geerds, in: Sieverts/Schneider (Hrsg.), Handwörterbuch derKriminologie, Bd. 4, 1979, S. 205 (208).3 Maurach, Deutsches Strafrecht, Besonderer Teil, 1953,S. 369; Maurach/Schröder/Maiwald, Strafrecht, BesondererTeil, Bd. 2, 9. Aufl. 2005, § 64 Abs. 1 Rn. 3; Tröndle, in:Jescheck/Ruß/Willms (Hrsg.), Strafgesetzbuch, 10. Aufl.1988, Bd. 6, vor § 267 Rn. 7, der zugleich auf die Bedeutungder germanischen Volksrechte hinweist.4 Samson, JuS 1970, 369 (374).5 Vgl. z.B. Art. 251 des schweizerischen StGB. Danach istderjenige strafbar, der „in der Absicht, jemanden am Vermöwirddies in der schweizerischen Literatur mit der erhöhtenGlaubwürdigkeit der schriftlichen Lüge im Vergleich zu dermündlichen Lüge. 6Im Gegensatz hierzu erkennt die ganz herrschende Auffassungin Deutschland das geschützte Rechtsgut der Urkundendeliktein der „Sicherheit und Zuverlässigkeit des Rechtsverkehrs“.7 Hieraus resultiert die Straflosigkeit der „schriftlichenLüge“, die in der Literatur zumeist ohne nähere Begründunganerkannt wird. 8 Einen speziellen Wahrheitsschutzverbürgt das deutsche Recht lediglich für öffentliche Urkunden(§§ 271, 348 StGB).Der folgende geschichtliche Überblick über die historischeEntwicklung zeigt, dass die Entwicklung der Urkundendelikteinsbesondere von der Rezeption des römischen Rechtsbeeinflusst worden ist (hierzu unter II. 2.) Aber auch das altedeutsche Recht pönalisiert das Fälschen (öffentlicher) Urkunden,ohne zwischen Urkundenfälschung und Falschbeurkundungzu differenzieren (II. 1.). 9II. Die dogmenhistorische Entwicklung der Urkundenfälschung1. Das alte deutsche Recht vor der RezeptionMan kann, was die öffentlichen Urkunden angeht, das Mittelalterals die hohe Zeit der Fälschungen bezeichnen. Privaturkundenwerden nur in Ausnahmefällen geschützt, derSchwerpunkt des strafrechtlichen Schutzes liegt in der Beweissicherungdurch öffentliche Urkunden, die Könige vorallem zum Nachweis der von ihnen verliehenen oder bestätigtenRechte ausstellen ließen. 10gen oder an andern Rechten zu schädigen oder sich odereinem andern einen unrechtmässigen Vorteil zu verschaffen,eine Urkunde fälscht oder verfälscht, die echte Unterschriftoder das echte Handzeichen eines andern zur Herstellungeiner unechten Urkunde benützt oder eine rechtlich erheblicheTatsache unrichtig beurkundet oder beurkunden lässt“.6 Niggli/Riklin, Skript Strafrecht, Besonderer Teil, 10. Aufl.2007/2008, § 12 S. 221 ff.; kritisch hierzu Stratenwerth,Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 2, 4. Aufl.1995, S. 126 ff.7 Vgl. nur Gribbohm, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Hrsg.),Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, 11. Aufl. 2001, vor§ 267 Rn. 6.8 Vgl. Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar,55. Aufl. 2008, § 267 Rn. 18a; Gribbohm (Fn. 7), Rn. 9;Gössel/Dölling, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 1, 2. Aufl.2004, § 52 Rn. 14 m.w.N.; Samson, JuS 1970, 369 (374).9 Tröndle (Fn. 3), vor § 267 Rn. 10.10 Vgl. Schneidmüller, in: Erler/Kaufmann (Hrsg.), Handwörterbuchzur Deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 5, 1998,Sp. 582 (Urkundenfälschung im Mittelalter) m.w.N._____________________________________________________________________________________556<strong>ZIS</strong> 11/2008
Die Urkundenfälschung und die Straflosigkeit der „schriftlichen Lüge“_____________________________________________________________________________________a) Die Urkundendelikte zur Zeit der VolksrechteDie Urkundenverbrechen spielen in der „germanischen Frühzeit“eine nur untergeordnete Rolle. 11 Schriftliche Aufzeichnungenfehlen bis zum Ende der Völkerwanderung fast vollständig12 und treten gegenüber den Gemarkungsverbrechen(jetzt noch: § 274 Abs. 1 Nr. 3 StGB) und Münzdeliktenzurück. 13 Die Volksrechte 14 enthalten entsprechend lediglichvereinzelt entsprechende Strafbestimmungen. 15Bestimmungen über Urkunden (d.h. der Fälschung bzw.Verfälschung von öffentlichen Königsurkunden) finden sichim Recht der Westgoten (Leges Visigothorum). 16 Die umschriebenenTathandlungen erfassen die Herstellung unechterund unwahrer Urkunden; die Unterscheidung zwischen Urkundenfälschungund Falschbeurkundung ist nicht existent. 17Nach Ansicht von Lorenz dürfte dem Wahrheitsschutz (d.h.der Verleihung von privilegierten Königsrechten) sogar diepraktisch größere Bedeutung zuzumessen sein. 18Eine Abgrenzung und systematische Differenzierung zumBetrug ist nicht erkennbar, das Betrugsmerkmal des Vermögensschadenswird in sämtliche Fälschungsformen implementiert.19b) Das Delikt des „Falsch“ im späten MittelalterAb dem 12. Jahrhundert wird die Strafrechtsentwicklungdurch die Rechtsbücher 20 und Stadtrechte 21 bestimmt. DieBedeutung der Urkundendelikte bleibt gleichwohl weiterhinrelativ gering. Das mittelalterliche Recht hält weitgehend anden Deliktsformen der Volksrechte fest. 22 Allgemeine Be-11 Kausch, Die Entwicklung des Falsum von der Carolina biszur Partikulargesetzgebung der Aufklärung, 1971, S. 34.12 Stehling, Die Urkundenfälschung, 1973, S. 102 f.; Geerds(Fn. 2), S. 207.13 Maurach (Fn. 3), S. 369; Kausch (Fn. 11), S. 36; Cramer/Heine,in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar,26. Aufl. 2006, Vorbem. zu den §§ 267 ff. Rn. 1.14 Allg. zum Begriff der Volksrechte vgl. z.B. Wesel, Geschichtedes Rechts, 3. Aufl. 2006, Rn. 178; Kaufmann, in:Erler/ders. (Fn. 10), Sp. 1004 (Volksrecht, Volksrechte).15 So auch Elben, Zur Lehre von der Waarenfälschung hauptsächlichin geschichtlicher Hinsicht, 1881, S. 7.16 Vgl. dazu Schröder/Künßberg, Lehrbuch der DeutschenRechtsgeschichte, 7. Aufl. 1932, S. 252 ff.17 Geerds (Fn. 2), S. 207; Lorenz, Die Falschbeurkundung,1976, S. 40; Kausch (Fn. 11), S. 36; His, Geschichte desdeutschen Strafrechts bis zu Karolina, 1928, S. 167; Kellermann,Die Beweisbestimmung als Begriffsmerkmal der Urkunde,1937, S. 12.18 Lorenz (Fn. 17), S. 40; so auch Geerds (Fn. 2), S. 207.19 Hupe, in: Erler/Kaufmann (Fn. 10), Sp. 1059 ff., 1063(Fälschungsdelikte).20 Zum Begriff der Rechtsbücher vgl. Conrad, DeutscheRechtsgeschichte, Bd. 1, 2. Aufl. 1962, S. 351 ff.21 Zur Bedeutung der Stadtrechte für das Strafrecht im Mittelalterallg: Rüping/Jerouscheck, Grundriss der Strafrechtsgeschichte,4. Aufl. 2002, Rn. 52 ff.22 Stehling (Fn. 12), S. 105; Lorenz (Fn. 17), S. 42 Fn. 29.stimmungen zur Urkundenfälschung sind selten. Wenn siesich nachweisen lassen, dann treten sie unter dem Sammelbegriffdes „Falsch“ auf. 23Der Sachsenspiegel als eines der wichtigsten Rechtsbücherseiner Zeit lässt die Urkundendelikte unerwähnt. 24Als Begründung hierfür lässt sich anführen, dass derüberwiegende Teil der Bevölkerung zu dieser Zeit wederschreiben noch lesen kann. 25Auch der Schwabenspiegel (1274/1275) reduziert den Täterkreisentsprechend auf „Laienschreiber und pfäfflicheSchreiber“. 26 Die in Art. 369 Abs. 1 des Schwabenspiegelsaufgeführten Fälschungsbeispiele belegen, dass der Begriffdes „Fälschens“ sowohl das Herstellen unwahrer als auchunechter Urkunden umfasst. 27Auch in den Stadtrechten werden Urkundenfälschung undFalschbeurkundung vermengt. 28 Nach Ansicht von Stehlinglässt sich aus den Quellen ableiten, dass die Herstellung unwahrerUrkunden die praktisch größere Bedeutung hat. 29Die Tatsache, dass diese Delikte öffentlichen Charakterhaben und den Straftaten gegen die Allgemeinheit zuzuordnensind, offenbart sich in den angedrohten Leibes- und Lebensstrafen.30 In der Regel werden Urkundenverbrechen seitdem Ende des 14. Jahrhunderts mit der Todesstrafe geahndet.312. Die Grundlagen der RezeptionMaßgeblich für die dogmatisch historische Entwicklung derUrkundendelikte ist der „monstre-Begriff“ 32 des „falsum“ desrömischen Rechts, welchen Erb als „historischen Vorläuferder Urkundendelikte“ bezeichnet. 3323 Elben (Fn. 15), S. 10; Schilling, Der strafrechtliche Schutzdes Augenscheinbeweises, 1965, S. 39.24 Stehling (Fn. 12), S. 103 Fn. 16.25 Geerds (Fn. 2), S. 207; Stehling (Fn. 12), S. 105.26 Schwabenspiegel, Art. 369 Abs. 1: „Swelh schriber einleige ist, der valsche hantveste oder valsche brieve schribet,wirt er dez beweret selbe dritte, daz er wol wiste, daz ezvalsch was, daz er da schreip, da sol man im die hant umbeabsiahen.“27 Lorenz (Fn. 17), S. 44.28 Geerds (Fn. 2), S. 207; vgl. dazu auch His (Fn. 17), S. 168.29 Stehling (Fn. 12), S. 106.30 Lorenz (Fn. 17), S. 44; Kausch (Fn. 11), S. 40 (42); vgl.auch His, Das Strafrecht des Mittelalters, 2. Teil, Die einzelnenVerbrechen, 1935, S. 272.31 His (Fn. 30), S. 277 (283); Stehling (Fn. 12), S. 106 m.w.N.32 Der Begriff geht zurück auf Geerds, ZStW 74 (1962), 245(251).33 Erb, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentarzum Strafgesetzbuch, 2006, Bd. 4, Vorbem. §§ 267 ff. Rn. 1._____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com557
Matthias Brockhaus_____________________________________________________________________________________a) Die crimina falsi im römischen (Straf-)RechtFälschungen von Urkunden spielen in der hoch entwickeltenVerwaltungs- und Rechtskultur des römischen Rechts einewichtige Rolle. 34In den Jahren 82-79 v. Chr. wird von Sulla die lex Corneliatestamentaria nummaria (auch lex Cornelia de falsis) erlassen.Dieses Gesetz pönalisiert neben der Münzfälschungund der Falschaussage auch eine Reihe von fest umrissenenstrafwürdigen Manipulationen an „öffentlichen“ Testamenten.35 Als Tathandlungen werden neben dem „Fälschen“ und„Verfälschen“ von Testamenten auch das „Verbergen“, „Unterdrücken“,„Entwenden“, „Vernichten“, „unbefugte Öffnen“und „Verlesen“ genannt. 36 Die Strafbestimmungen derlex Cornelia gegen die Testamentsfälschung bezwecken vorrangigeinen privaten Vermögensschutz, um den Anspruchdes Erben, das Testat des Erblassers in unverfälschter Formzu empfangen, zu sichern. 37Die Fortentwicklung des Rechts- und Geschäftsverkehrsführt in der Kaiserzeit zu einer erheblichen Ausweitung derKasuistik der Fälschungstatbestände (falsa), der strafrechtlicheSchutz wird sukzessive auf private und öffentliche Urkunden(z.B. auf behördliche Erlasse 38 ) erweitert. 39Als gemeinsames Kriterium der crimina falsi ist festzuhalten,dass die Vorteilserlangung keine tatbestandliche Voraussetzungist, der Tatbestand vielmehr mit der bloßen Täuschungvollendet ist. 40Unter den „Fälschungstatbestand“ werden weitere Tatbestände(quasi-falsa) subsumiert, wie die Rechtsbeugung, dieRichterbestechung, der Prozessbetrug, die Verfolgung Unschuldiger,die Annahme eines falschen Namens, die Kindesunterschiebung,die Amtsanmaßung sowie die Fälschung vonMaßen und Gewichten dazu. Zusammenfassend lässt sichfesthalten, dass die crimina falsi somit insgesamt die folgendensechs selbstständigen Verbrechensgruppen umfassen: 41(1) Testaments-, Urkunden- und Grenzfälschung, (2) MünzundMetallfälschung; (3) Maß- und Gewichtsfälschung;(4) Delikte gegen die Rechtspflege; (5) Täuschungsdelikte;(6) Betrugsfälle und betrugsähnliche Handlungen.Die römisch-rechtlichen crimina falsi knüpfen damit nichtan ein bestimmtes Rechtsgut an, sondern umfassen systemlosEinzelbestimmungen, die einen inneren Zusammenhang undeine Unterscheidung nach Tatobjekt und Schutzrichtung nichterkennen lassen. 42 Eine materielle Begriffsbestimmung einesallgemeinen Fälschungs- und Betrugsbegriffs lässt sich ausden crimina falsi nicht ableiten. 43 Die Unschärfe des Begriffesführt dazu, dass er sich nicht nur auf „Fälschungen imengeren Sinne“, d.h. auf Angriffe gegen die Echtheit vonTestamenten und Münzen bezieht, sondern auch auf „Fälschungenim weiteren Sinne“, also auf Angriffe auf die inhaltlicheRichtigkeit von Urkunden. 44 Ein generelles Rechtauf Wahrheit wird von der römischen Rechtsordnung indesnicht geschützt. 45Der Grund für diese Konturlosigkeit des Oberbegriffs desfalsum ist nach Kienapfel nicht in einem schwach ausgeprägtenUnterscheidungsvermögen der Römer zu sehen, sondernFolge einer pragmatisch-prozessualen Denkweise.„Dem pragmatisch-nüchternen Verstand der römischenJuristen waren theoretische Dispute über ein wissenschaftlichesSystem der Fälschungsdelikte von Natur aus ungewohntund lästig.“ 46Nach Mommsen handelt es sich bei dem römischen falsum-Begriffum eine prozessuale Kategorie für unterschiedlicheSondertatbestände, deren Zweck es war, die Fälschungsdelikteim Quästionenverfahren 47 verfolgen zu können. 48 Allenfallslassen sich die Rechtsbrüche als ein Verstoß gegendie publica fides (Angriff auf öffentliche Treue und Glauben)begreifen. 49Umgekehrt findet sich aber auch schon bei Paulus eineprofunde Begriffsbestimmung der Urkundenfälschung, wonachdie strafrechtlich geschützte Echtheits- und Bestandsgarantieder Urkunde von der schriftlichen Lüge zu trennensei. 5034 Stehling (Fn. 12), S. 107.35 Schilling (Fn. 23), S. 37; Heinemann, Das Crimen falsi inder altitalienischen Doktrin, 1904, S. 5.36 Kienapfel, Urkunden im Strafrecht, 1967, S. 29; Mommsen,Römisches Strafrecht, 1899/1955, S. 671.37 Kausch (Fn. 11), S. 6; Lorenz (Fn. 17), S. 46, der aber auchdarauf hinweist, dass daneben der Schutzzweck der Sicherungdes Testaments als Rechtsinstitut der Allgemeinheit einewichtige Rolle gespielt haben dürfte; a.A. Stehling (Fn. 12),S. 108, der die crimina falsi schon zu dieser Zeit allein dencrimina publica zuordnen will.38 P. Merkel, Die Urkunde im deutschen Strafrecht, 1902,S. 6 ff.39 Mommsen (Fn. 36), S. 672 m.w.N.; Rein, Das Criminalrechtder Römer von Romulus bis Justinianus, 1844, S. 783 ff.;Tröndle (Fn. 3), vor § 267 Rn. 8; Ortloff, Lüge, Fälschung,Betrug, 1962, S. 91; Binding (Fn. 1), S. 171.40 Mommsen (Fn. 36), S. 672 Fn. 741 Hupe, Falsum, fraus und stellionatus im römischen undgermanischen Recht bis zur Rezeption, 1967, S. 30.42 Erb (Fn. 33), Vorbem. §§ 267 ff. Rn. 1.43 A. Merkel, Kriminalistische Abhandlungen, Bd. 2: DieLehre vom strafbaren Betruge, 1867, S. 14; Kellermann(Fn. 17), S. 10.44 Tröndle (Fn. 3), vor § 267 Rn. 8.45 Hupe (Fn. 41), S. 31; Stehling (Fn. 12), S. 109.46 Kienapfel (Fn. 36), S. 29 m.w.N.47 Zum Begriff des Quästionenverfahren und der Herausbildungeines öffentlichen Strafverfahrens gegen Ende der römischenRepublik vgl. Wesel (Fn. 14), Rn. 133.48 Mommsen (Fn. 36), S. 667 a.E.; ihm folgend: Kuttner, Diejuristische Natur der falschen Beweisaussage, 1931, S. 9;Dahm, in: Grünhut/Schmidt (Hrsg.), Beiträge zur Geschichteder deutschen Strafrechtspflege, 1931, S. 502; Schilling (Fn. 23),S. 37; Tröndle (Fn. 3), vor § 267 Rn. 8; Kellermann (Fn. 17),S. 10; a.A. Lorenz (Fn. 17), S. 46, der das gemeinsameMerkmal allein in der Täuschung erkennen will.49 Elben (Fn. 15), S. 3; Kellermann (Fn. 17), S. 10; Rein (Fn. 39),S. 774 ff.50 Vgl. dazu Kienapfel (Fn. 36), S. 31; Hupe (Fn. 41), S. 21._____________________________________________________________________________________558<strong>ZIS</strong> 11/2008
Die Urkundenfälschung und die Straflosigkeit der „schriftlichen Lüge“_____________________________________________________________________________________b) Die Doktrin des crimen falsum der mittelalterlichoberitalienischenDoktrinIn der gemeinrechtlichen Fälschungslehre bemühen sich die(Post-)Glossatoren 51 , die dem römischen falsum systemloszugeordneten Einzelbestimmungen der lex Cornelia nachgemeinsamen abstrakten Merkmalen zusammenzufassen. 52Aus den römischen Einzelbestimmungen der crimina falsiwird das crimen falsum. 53 Zum kennzeichnenden gemeinsamenMerkmal der römischen crimina falsi wird – basierendauf einen Ausspruch des Paulus 54 – die „Entstellung derWahrheit“ (immutatio veritatis) herausgestellt, die als allgemeinesKennzeichen des abstrakten Fälschungsbegriffs angesehenwird. 55Als weitere gemeinsame Merkmale gelten der dolus unddie „Schädigung eines anderen“ (praeiudicium alterius). 56Das crimen falsi der Glossatoren lässt sich damit als einer aufTäuschung gerichteten Wahrheitsentstellung, die zur Irreführunggeeignet ist, bezeichnen. 57Eine dogmatische Unterscheidung zwischen unwahren undunechten Urkunden wird als Folge des falsum-Begriffs nichtgetroffen. 58Grundsätzlich gelten Fälschungen, wie schon im klassischenrömischen Recht, als schwere Verbrechen und werdendeshalb als crimen publicum geahndet. 593. Der gemeinrechtliche Fälschungsbegriff nach der RezeptionIm 16. Jahrhundert beginnt die Epoche des gemeinen Rechts,d.h. die Herausbildung einer in Deutschland entstehendenRechtswissenschaft und der damit verbundenen Rezeptiondes mittelalterlich-oberitalienischen Rechts. 60Vor dem Hintergrund, dass auch im 16. Jahrhundert derüberwiegende Teil der Bevölkerung weder schreiben nochlesen kann, spielen Urkundenvergehen in der Praxis weiterhinkaum eine Rolle. Bei den Tätern handelt es sich im Regelfallum kirchliche Würdenträger oder Mitglieder staatlicheroder städtischer Kanzleien, die unwahre Urkunden herstellen.61 In Bezug auf die Gesetzgebung führt die allmählicheÜbernahme des von den oberitalienischen Glossatoren51 Vgl. hierzu Wesel (Fn. 14), Rn. 216.52 Kausch (Fn. 11), S. 30; Hupe (Fn. 41), S. 133.53 Hupe (Fn. 19), Sp. 1064.54 „Falsum est, quidquid in veritate non est, sed pro veroadseveratur“; zit. nach Hupe (Fn. 41), S. 31 (133).55 Dahm (Fn. 48), S. 502; Schilling (Fn. 23), S. 37.56 Praeiudicium alterius ist jeder materielle Nachteil, einschließlichder bloßen Vermögensgefährdung. Vgl. hierzuHupe (Fn. 41), S. 146 ff.57 Schilling (Fn. 23), S. 38; Ortloff (Fn. 39), S. 105 ff.58 Vgl hierzu Lorenz (Fn. 17), S. 49 Fn. 81 f.59 Stehling (Fn. 12), S. 111.60 Zum Begriff der Rezeption (des römischen Rechts) vgl.Wesel (Fn. 14), Rn. 239 (247).61 Geerds (Fn. 2), S. 207; Stehling (Fn. 12), S. 111 f. (117 f.);Lorenz (Fn. 17), S. 49 f.weiterentwickelten römischen falsum zu einer dogmatischenVermengung der Urkundendelikte mit dem Betrug. 62a) Art. 112 der KarolinaBemerkenswert ist, dass die Constitutio Criminalis Carolina(CCC) aus dem Jahr 1532 den unscharfen falsum-Begriffnicht übernimmt, sondern der Fälschung von Siegeln undUrkunden die Stellung eines selbstständigen Deliktes einräumt.Die Karolina folgt im Aufbau der Urkundendelikte derdeutschrechtlichen Tradition mit ihren kasuistischen, demSprachgebrauch entnommenen Regelungen, indem sie einzelneunter den falsum-Begriff fallende Tatbestände aneinanderreiht, sie aber als selbstständige Delikte behandelt. 63In Art. 112 CCC findet sich eine strafrechtliche Regelungzur Urkundenfälschung als einen einzelnen Fälschungsfall. 64Die Vorschrift lautet wie folgt: „Item welche falsch siegel,brieff, instrument, vrbar, renth oder zinßbücher, oder registermachen, die sollen an leib oder leben, nach dem die felschungvil oder wenig boßhaftig vnd schedlich geschicht,nach radt der rechtuerstendigen, oder sunst als zu ende dserordnung vermeldet, peinlich gestrafft werden“.Anders als noch im Schwabenspiegel kann nach der Karolinajeder Täter einer Urkundenfälschung sein.Es wäre verfehlt, aus der Vorschrift ableiten zu wollen,dass nur das Herstellen einer unechten Urkunde bzw. dasVerfälschen einer echten Urkunde i.S.d uns geläufigen § 267Abs. 1 StGB mit Strafe bedroht ist. Die Terminologie desGesetzes ist weitgehend der Umgangsprache entnommen. Sounterfällt dem strafrechtlichen Schutz des Art. 112 CCCneben dem Verfälschen einer bereits bestehenden Urkundeauch die inhaltlich unrichtige Urkunde. Eine systematischeTrennung zwischen unwahren und unechten Urkunden istArt. 112 CCC fremd. 65Die Schutzrichtung des Delikts bezieht sich vorrangig aufdie Herstellung inhaltlich unwahrer Urkunden (i.S.d. heutigen§§ 271, 348 StGB). 66Die Eigenständigkeit der Urkundendelikte gegenüber demBetrug wird gleichwohl dadurch unterstrichen, dass, andersals im mittelalterlich-italienischen Recht, der Eintritt desSchadens für die Vollendung des Delikts nicht konstitutiv ist.Dafür spricht, dass in Art. 112 CCC durch die Bestimmungder Höhe des Schadens auf einen vermögensrechtlichen Gesichtspunktlediglich im Rahmen der Strafzumessung hingewiesenwird. 6762 Maurach/Schroeder/Maiwald (Rn. 3), § 64 Rn. 3; nochdeutlicher in Maurach (Fn. 3), S. 369.63 Geerds (Fn. 2), S. 207; Kausch (Fn. 11), S. 49 (60); Maurach(Fn. 3), S. 369.64 Die Art. 111 ff. CCC beinhalten im Gegensatz zum oberitalienischenfalsum-Begriff nicht alle denkbaren Fälschungsarten,sondern nur fünf der bekanntesten Tatbestände, u.a. dieUrkundenfälschung (Art. 112 CCC). Erklärungsansätze hierfürfinden sich bei Kausch (Fn. 11), S. 61.65 Lorenz (Fn. 17), S. 51.66 Binding (Fn. 1), S. 173.67 Kausch (Fn. 11), S. 62._____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com559
Matthias Brockhaus_____________________________________________________________________________________b) Die RezeptionsgesetzgebungDie deutschrechtliche Konstruktion der Urkundenverbrechen,die Kienapfel als „System der autonomen Sonderverbrechen“68 bezeichnet, kann sich aufgrund der zunehmendenkriminologischen Bedeutung des Betruges gleichwohl nichtdurchsetzen. 69 Die Karolina bietet hiergegen keinen ausreichendenSchutz. 70Anstatt die zunehmende Betrugskriminalität durch spezifischeNormen zu bekämpfen, wird Art. 112 CCC durch denschwammigen falsum-Begriff erweitert. Art. 112 CCC erwiessich dabei als besonders anfällig, da sich das gemeinsameTatbestandsmerkmal, die Täuschung, leicht auch auf dieManipulation von Urkunden beziehen lässt. 71Besonders augenscheinlich kommt es im PreußischenLandrecht von 1620 und ihm folgend in den revidierten Fassungenaus den Jahren 1685 und 1721 zur Verschmelzungvon „Fälschen“ und schädigendem „Täuschen“, indem das„Fälschen“ dadurch gekennzeichnet wird, dass der Täter eineSache verfälscht und dadurch betrügt. 72 Die Täuschung wirdso zu einem begriffsnotwendigen Teil des Fälschens. 73c) LehrmeinungenAuch wenn im Bereich der Urkundendelikte eine Rezeptiondes falsum-Begriffs in der CCC selbst nicht erfolgt, stütztsich die mit dem 16. Jahrhundert beginnende deutsche Strafrechtswissenschaftauf das Gedankengut der mittelalterlichitalienischenJuristen. Ebenso wie die Sondertatbestände derlex Cornelia in der italienischen Theorie nur als Sondertatbeständeeines allgemeinen, und zwar des oberitalienischenPrinzips verstanden werden, überträgt die gemeinrechtlicheDoktrin diesen Gedanken auf die Karolina, um sie „wissenschaftlichhoffähig [...] zu machen“. 74 So wird auch Art. 112CCC dogmatisch nur als „benannte“ Falsa, als „Ausflusseines allgemeinen Rechtsprinzips“ oder als exemplifizierterSpezialfall der Gesamtheit der „unbenannten Falsa“ verstanden,welche die allgemeine Strafbarkeit des allgemeinenDelikts nicht ausschließen, sondern im Gegenteil geradebestätigen sollen. 75Besonders deutlich wird dies bei Carpzov, der die falsum-Doktrin in seinem 1635 erschienenen Werk Practicae NovaeImperialis Saxonicae Rerum Criminalium aufgreift. Zwarunternimmt auch er zunächst eine Einteilung des falsum inmehrere Kategorien der Fälschung, deren Kasuistik im Wesentlichenan der lex Cornelia und der Carolina orientiert ist.Gleichwohl bleibt die Täuschung über die Wahrheit, diegeeignet ist, einen Vermögensschaden hervorzurufen, Be-68 Kienapfel (Fn. 36), S. 35.69 Kienapfel (Fn. 36), S. 33 f.70 Kienapfel (Fn. 36), S. 34; Stehling (Fn. 12), S. 114.71 Kienapfel (Fn. 36), S. 34 f.; Stehling (Fn. 12), S. 114.72 Vgl. hierzu näher Kienapfel (Fn. 36), S. 36.73 Kienapfel (Fn. 36), S. 46.74 Kienapfel (Fn. 36), S. 35 Fn. 70 unter Bezugnahme aufweitere Lit.75 Schaffstein, ZStW 52 (1932), 781 (795); Tröndle (Fn. 3),vor § 267 Rn. 10; Kienapfel (Fn. 36), S. 35 m.w.N.griffsmerkmal aller unter den falsum-Oberbegriff zusammengefasstenDelikte. Das Urkundendelikt wird lediglich als einSondertatbestand des falsum angesehen, für dessen Vollendungein Vermögensschaden zu verlangen ist. 76 Bemerkenswertist darüber hinaus, dass Carpzov die Fälschung öffentlicherUrkunden strafschärfend bewerteten will, ohne jedocheine dogmatische Unterscheidung zwischen privaten undöffentlichen Urkunden vorzunehmen. 774. Der Beginn der modernen UrkundendogmatikUnter dem Einfluss der Aufklärung und der Naturrechtslehresetzt in der Mitte des 18. Jahrhunderts die Periode des spätengemeinen Rechts ein, die von einer zunehmenden Systematisierungder Strafrechtswissenschaft geprägt ist. 78a) Die Auflösung des „falsum-Begriff“ in der DoktrinDie Strafrechtswissenschaft des 18. Jahrhunderts übernimmtzunächst die in der Doktrin des frühen gemeinen Rechtsherausgearbeiteten Thesen zum falsum-Begriff. 79 Erst zuBeginn des 19. Jahrhunderts sind Bestrebungen im Gang,dem bisher sehr weit interpretierten Tatbestand des falsumschärfere Konturen zu geben und sich von der Suche nacheinem übergeordneten Fälschungsbegriff zu lösen. So versuchtKleinschrod den Tatbestand des falsum zu konkretisieren,in dem er auf die Gefährdung der Allgemeinheit alsgemeinsames Kriterium und nicht auf die Verletzung desIndividualvermögens abstellen will. 80Die weitere Entwicklung gestaltet sich wie folgt:aa) Die Lehre vom „formalen Verbrechen“Zunächst begreift Grolman die Fälschungsdelikte als formelleStraftaten, ohne jedoch ein bestimmtes Angriffsobjekt zucharakterisieren. 81 Von der Fälschung wird jedes deliktischeVerhalten umfasst, welches mittels einer Entstellung derWahrheit (immutatio veritatis) verwirklicht wird. Der formelleCharakter dieser Begriffsbildung manifestiert sich darin,dass anstatt der „Schädigung eines anderen“ (praeiudiciumalterius) die Rechtsverletzung an sich neben die immutatioveritatis tritt. 8276 Carpzov, Practicae Novae Imperialis Saxonicae RerumCriminalium, Pars II , quaestia 93, Nr. 14 f. (de falsi crimine),in: Bibliothek des deutschen Strafrechts: Alte Meister, Bd. 4(1635/1996).77 Carpzov (Fn. 76), quaestia 93, Nr. 67 ff.78 Lorenz (Fn. 17), S. 57.79 Quistorp, Grundsätze des deutschen Peinlichen Recht,1794, §§ 401 ff., in: Bibliothek des deutschen Strafrechts:Alte Meister, Bd. 21 (1794/1996).80 Kleinschrod, Archiv des Criminalrechts 2 (1799), 113(117).81Grolman, Grundsätze der Criminalrechts-Wissenschaft,4. Aufl. 1825 (im Nachdruck 1996), §§ 288 ff.; Feuerbach,Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichenRechts, 10. Aufl. 1828, § 410; Abegg, Lehrbuch der Strafrechts-Wissenschaft,1836, S. 288.82 Schilling (Fn. 23), S. 40._____________________________________________________________________________________560<strong>ZIS</strong> 11/2008
Die Urkundenfälschung und die Straflosigkeit der „schriftlichen Lüge“_____________________________________________________________________________________Daher definiert Grolman die Fälschung als „jede, eineRechtsverletzung bewirkende Täuschung Anderer“. 83 DieRechtsverletzung kann dabei sowohl in der Beeinträchtigungrechtlich geschützter Güter wie Leben, Freiheit und Gesundheitliegen, als auch in der Verletzung sog. „Zwangsrechte“(verwiesen wird dabei auf die Anmaßung von Standes- undRangzeichen, die einen Eingriff in das Verleihungsrecht desStaates darstellen). 84Innerhalb des aufgezeigten Fälschungsbegriffs wird in derLiteratur das Fälschungsdelikt im engeren Sinne hervorgehoben.Es wird durch eine besondere Tathandlung gekennzeichnet,nämlich der Wahrheitsentstellung durch eine Veränderungder Sache, d.h. die Urkundenverfälschung. Dieunechte Herstellung wird dem Betrug i.e.S. zugerechnet. 85Der selbstständige Unrechtsgehalt der Urkundsdelikte alsBeweisverbrechen tritt auf diese Weise noch nicht hervor. 86bb) Die Verletzung des Rechts als Wahrheit als RechtsgutDie weitere Entwicklung ist dadurch gekennzeichnet, dassdie Konzentrierung auf das Täuschungsmerkmal abnimmtund sich der Blick auf den Taterfolg richtet. 87 So versuchtCucumus den durch die Art der Begehungsweise zusammengefasstenFälschungsdelikten eine materielle Basis zu geben,indem er als Schutzobjekt ein materielles „Recht auf Wahrheit“konstruiert, welches er aus den römischen Quellen derfalsa bzw. quasi-falsa ableitet. 88Dagegen wendet Klien ein, dass es einen allgemeinen Anspruch,von einem Dritten die Wahrheit zu erfahren, nichtgibt. Die durch „Täuschung bewirkte Rechtsverletzung“ kannseiner Auffassung nach nur in der Beeinträchtigung anderergeschützter Rechtspositionen liegen. Nach diesem Verständniskann die Lüge lediglich Angriffsmittel zur Fälschungsein, die erst mit einer eingetretenen Beschädigung wie Freiheit,Leben und Ehre vollendet ist. 89 Eine allgemeine Wahrheitspflichtist nach Klien nur in Ausnahmefällen wie der„gemeinschädlichen Lüge“ denkbar, bei der sich die Wahrheitsentstellungan die Allgemeinheit richte. 90Schließlich gelingt es Bauer, die Trennung von Fälschungund Betrug herauszuarbeiten. 91 Der Strafgrund bestehe beider Fälschung „in der aus einer Verletzung des Rechts aufWahrheit, entspringenden Gefahr einer schädlichen Täu-83 Grolman (Fn. 81), § 288 (konkret S. 303).84 Grolman (Fn. 81), § 289 f.; vgl. hierzu auch Schilling(Fn. 23), S. 40 f.85 Feuerbach (Fn. 81), § 415; Abegg (Fn. 81), S. 288.86 Tröndle (Fn. 3), vor § 267 Rn. 11.87 Geerds, ZStW 74 (1962), 245 (250).88 Cucumus, Neues Archiv des Criminalrechts 10 (1828), 513(526 ff.).89 Klien, Neues Archiv des Criminalrechts 1 (1817), 124 (144 ff.,148 ff.); vgl. hierzu auch Schilling (Fn. 23), S. 42; Binding(Fn. 1), S. 124: „Schon Klien hatte dieses ungeheuerlicheRecht (auf Wahrheit) in seinem Dasein negiert [...].“90 Klien (Fn. 89), S. 218 (229 f.); zusammenfassend: Schilling(Fn. 23), S. 42.91 Bauer, Lehrbuch des Strafrechtes, 2. Aufl. 1833 (Neudruck1996), §§ 269 ff.schung“. Die Strafwürdigkeit des Betruges sieht Bauer „inder durch wirkliche Täuschung verursachten Beschädigung“. 92Die Fälschung soll sich nur gegen denjenigen richten, demein Recht auf Wahrheit zustehe. Die Vollendung der Fälschungtrete schon mit dem Abschluss der täuschenden Handlungselbst ein. 93Die Lehre von der Verletzung des Rechts auf Wahrheit erweistsich insoweit als verdienstvoll, als sie den „falsum-Begriff“ auflöst und dazu beiträgt, die Verschmelzung vonFälschung und Betrug aufzulösen. 94Im Ergebnis kann der Versuch, die Urkundenfälschungals Angriff auf das jedem Bürger zustehende Recht aufWahrheit zu sehen, jedoch als gescheitert angesehen werden.Neben den erörterten Schwächen der begrifflichen Unbestimmtheiteines Rechts auf Wahrheit kann die Lehre nichtplausibel erklären, warum bei Privaturkunden nur die Herstellungunechter und nicht auch unwahrer Urkunden unterStrafe gestellt wird. 95cc) Die Lehre der publica fidesRosshirt hingegen bestimmt das Rechtsgut der Urkundenfälschungmit der Lehre der publica fides (Lehre der öffentlichenTreue und des öffentlichen Glaubens im Verkehr). Nachseiner Auffassung ist als gemeinsames Merkmal der römischenfalsa und der quasi falsa sowie der gemeinrechtlichenFälschungslehre die „Entweihung“, d.h. der Missbrauch öffentlichgarantierten Vertrauens“ zu erkennen. 96 Folgerichtigsieht er die Fälschung von Privaturkunden nur als „polizeilich“strafbar an. Dies sei jedoch unproblematisch, da dieFälschung „überwiegend Gegenstände des öffentlichenRechts“ betreffe. 97 Die Bestimmung des Rechtsguts der Urkundenfälschungwird damit zum Schutz des Vertrauens aufeine bestimmte Beglaubigungsform. 98Die Schwachpunkte dieser Lehre werden bei Puppe zutreffenddargelegt. Puppe weist darauf hin, dass „in einemsäkularen Staat, der keine religiös begründeten Beschwörungsformelnmehr anerkennt, der Missbrauch einer besondersvertrauenswürdigen Form zur Täuschung nur dann gegenüberanderen Formen der Täuschung qualifiziert sein(kann), wenn die Rechtsordnung selbst diese Form mit einerbesonderen Wahrheitspflicht ausgestattet hat“, was für diePrivaturkunden jedoch nicht zutrifft. 99 Darüber hinaus ist dieLehre nicht geeignet, eine plausible Erklärung dafür zu liefern,warum sich das öffentliche Vertrauen bei Urkunden nurauf die Echtheit und nicht auf deren Wahrheit beziehen92 Bauer (Fn. 91), § 272 (konkret S. 391 f.).93 Bauer (Fn. 91), §§ 272, 275 (insbes. S. 399 f.).94 Schilling (Fn. 23), S. 47.95 Samson, JuS 1970, 369 a.E.; vgl. auch Schilling (Fn. 23), S. 47.96 Rosshirt, Geschichte und System des deutschen Strafrechts,Dritter Theil, 1839, §§ 146, 148 (S. 13 f.).97 Rosshirt (Fn. 96), § 148 (S. 14); vgl. auch Schilling (Fn. 23),S. 49 ff. m.w.N.98 Puppe, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), NomosKommentar, Strafgesetzbuch, 2. Aufl. 2005, Bd. 2, § 267 Rn. 3.99 Puppe (Fn. 98), § 267 Rn. 3._____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com561
Matthias Brockhaus_____________________________________________________________________________________soll. 100 Für eine Einbeziehung des Wahrheitsschutzes beiPrivatkurkunden könnte jedoch, wie das schweizerischeStrafrecht zeigt, sprechen, dass der Rechtsverkehr auf dieWahrhaftigkeit der Beweismittel ebenso angewiesen ist wieauf deren Echtheit.b) Die deutsche PartikulargesetzgebungDie soeben aufgezeigte dogmengeschichtliche Entwicklungder Urkundendelikte spiegelt sich in den Partikularrechtendes späten 18. bzw. 19. Jahrhunderts wider.Im Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staatenvon 1794 (ALR) werden „Verfälschungen“ als qualifizierterBetrug geregelt. 101In der gemeinsamen Kategorisierung der Urkundendelikte(§§ 1380 ff.) manifestiert sich indes bereits ihre Verselbstständigung.102 Pönalisiert ist das Verfertigen falscher oderdas Verfälschen richtiger schriftlicher Urkunden (§ 1380)sowie das Verfälschen oder Nachmachen gerichtlicher oderanderer öffentlicher Urkunden (§§ 1384 ff.). Hieraus erschließtsich, dass eine dogmatische Differenzierung zwischenunechten und unwahren Urkunden nicht getroffenworden ist. 103 In subjektiver Hinsicht setzt § 1380 ALR voraus,dass der Täter die Fälschung in Ausübung eines Betrugesbegangen hat.Auch in den Strafgesetzbüchern für Hessen (1841), Nassau(1849), Thüringen (1852) und Sachsen (1855) wird dieFälschung von öffentlichen und privaten Urkunden als einqualifizierter Betrugsversuch behandelt, der eine VorteilsoderSchädigungsabsicht voraussetzt. 104 Eine Differenzierungzwischen Echt- und Wahrheitsschutz besteht nicht. 105Das Strafgesetzbuch für Bayern aus dem Jahre 1813 hingegensieht eine systematische Trennung zwischen den öffentlichenUrkunden („Verbrechen wider öffentliche Treueund Glauben“) und den Privaturkunden als qualifizierterBetrug zum Nachteil fremden Eigentums vor. Die systematischeTrennung in private und öffentliche Urkunden wird auchin den Strafgesetzbüchern von Württemberg (1839), fürBraunschweig (1840) und für Hannover (1840) übernommen.106c) Das preußische Strafgesetzbuch von 1851Ein Meilenstein für die heutige Entwicklung zum selbstständigenCharakter der Urkundendelikte stellt das Preußische100 Samson, Urkunde und Beweiszeichen, 1968, S. 104; ders.,JuS 1970, 369 a.E.; Binding (Fn. 1), S. 126: „[...] bedeutetpublica fides, gefaßt als allgemeines Vertrauen, Vertrauen aufWahrheit oder auf Echtheit? Die Theorie schweigt sich darüberwolweislich aus [...].“101 Stehling (Fn. 12), S. 121.102 Stehling (Fn. 12), S. 121.103 Stehling (Fn. 12), S. 121; Lorenz (Fn. 17), S. 61.104 Vgl. näher hierzu Stehling (Fn. 12), S. 122; Schilling (Fn. 23),S. 55.105 Lorenz (Fn. 17), S. 62 f.106 Vgl. hierzu näher Lorenz (Fn. 17), S. 62; Stehling (Fn. 12),S. 122; Schilling (Fn. 23), S. 55.Strafgesetzbuch aus dem Jahre 1851 dar. 107 Mit dem preußischenStrafgesetzbuch gelingt die systematische Trennungder Urkundendelikte mit dem Betrug.Gegen den Einfluss von Savigny, der 1845 bei den Beratungender Strafrechtsreform die Urkundenverbrechen als die„schlagendsten Fälle des Betruges“ bezeichnet hatte 108 , wirdder Gedanke verworfen, die „Fälschung“ der „Täuschung“ zuunterstellen. Vielmehr setzt sich die Erkenntnis durch, dassdurch die Beschränkung des Betruges auf die durch Täuschungbewirkte Vermögensschädigung und der Aufgabeeines allgemeinen Fälschungsdelikts die Bedeutung der einzelnenFälle „weniger in der Art der Verübung als in demGegenstande des Verbrechens zu suchen ist“. 109Die Urkundenfälschung wird in den §§ 247 ff. entsprechendals selbstständige Deliktsgruppe behandelt. § 247 Abs. 1Preuß. StGB lautet: „Wer in der Absicht, sich oder AnderenGewinn zu verschaffen oder Anderen Schaden zuzufügen,eine Urkunde verfälscht oder fälschlich anfertigt, und vonderselben zum Zwecke der Täuschung Gebrauch macht,begeht eine Urkundenfälschung. Unter Urkunde ist jedeSchrift zu verstehen, welche zum Beweise von Verträgen,Verfügungen, Verpflichtungen, Befreiungen oder überhaupt vonRechten oder Rechtsverhältnissen von Erheblichkeit ist“.Auch wenn die Formulierung „fälschlich anfertigt“ dahingehendverstanden werden könnte, dass auch die Herstellungeiner unwahren Urkunde umfasst wird, 110 beweist dieExistenz einer Vorschrift zur Falschbeurkundung (§§ 252,323 Preuß. StGB), dass die zwischen Echt- und Wahrheitsschutzdifferenziert wird. 111Die Ausführungen von Goltdammer in den Materialienzum Preußischen Strafgesetzbuch belegen, dass die systematischeTrennung vom Betrug und die Herausbildung eineseigenständigen Urkundendelikts weniger dogmatisch begründet,sondern vielmehr von praktischen Überlegungen bestimmtist: „Man ist [...] in keinem der Stadien von einerbesonderen Erwägung über den spezifischen Unterschiedzwischen dem Betruge und der Fälschung ausgegangen; nurnach und nach hat der Tatbestand der letzteren aus rein praktischenRücksichten andere und wesentlich abweichendeErfordernisse erhalten, und auch diese Rücksichten nur sindes gewesen, welche endlich die Verweisung aller übrigenFälle der Fälschung und Verfälschung zum Betruge veranlaßthaben“. 112Goltdammer konstatiert weiter, dass „die intellektuelleFälschung von Privaturkunden [...] nur unter den Betrug107 Zur wechselhaften Entstehungsgeschichte vgl. Schilling(Fn. 23), S. 57 ff.108 Goltdammer, Die Materialien zum Straf-Gesetzbuche fürdie Preußischen Staaten, Theil II, 1852, S. 540.109 Beseler, Kommentar über das Strafgesetzbuch für diePreußischen Staaten, 1851, S. 472.110 Stehling (Fn. 12), S. 123.111 Stehling (Fn. 12), S. 124.112 Goltdammer (Fn. 108), S. 564._____________________________________________________________________________________562<strong>ZIS</strong> 11/2008
Die Urkundenfälschung und die Straflosigkeit der „schriftlichen Lüge“_____________________________________________________________________________________[fällt]“, die „schriftliche Lüge“ bei Privaturkunden mithin alsstraflos anzusehen ist. 113Ferner findet sich die Bemerkung, dass eine „unschädlicheLüge“, eine „Unmoralität“ nicht strafwürdig sei. 114Die Differenzierung zwischen Wahrheits- und Echtheitsschutzgeht, neben den erwähnten „praktischen Überlegungen“,maßgeblich auf den französischen Code pénal aus demJahr 1810 zurück, der explizit zwischen der Herstellung unechter(faux matériel) und unwahrer (faux intellectuel) unterscheidet.115Auch in der spärlichen Kommentarliteratur finden sichentsprechende Ausführungen. So sieht Beseler in Anlehnungan die französische Doktrin die „materielle Fälschung“ (unechterUrkunden) im Gegensatz zur „intellektuellen Fälschung“dadurch gekennzeichnet, dass „eine Veränderung andem Äußeren der Urkunde vorgenommen wird“. 116Gleichwohl vollzieht sich der Wandel nicht ohne Kompromisse.So zeigen sich in der Gliederung immer noch Auswirkungendes falsum, denn das Gesetz behandelt Betrug,Untreue, Urkundenstraftaten, Bankrott und strafbaren Eigennutzin unmittelbarer aufeinanderfolgenden Titeln. Überdieszeigt sich im dem Erfordernis der Vorteils- und Schädigungsabsichtdie Verflechtung von Betrug und Urkundenfälschung.117d) § 267 StGB a.F. (1871) und die Behandlung der „strafrechtlichenLüge“Die Systematik der Urkundenverbrechen im Reichsstrafgesetzbuchvon 1871 ist bewusst an das preußische Strafgesetzbuchangelehnt. 118 Die Urkundendelikte werden – systemfremd119 – unter der Überschrift „Urkundenfälschung“ zusammengefasst.Nach Ansicht von Stehling ist die verfehltesystematische Einordnung der Urkundendelikte auf einNachwirken des gemeinrechtlichen Fälschungsbegriffs zurückzuführen.120Um die Verselbstständigung gegenüber dem Betrug weiterzu unterstreichen, wird in subjektiver Hinsicht die bisherigeSchädigungsabsicht in eine „rechtswidrige Absicht“ umgewandelt.121 Das für den Betrug typische Tatbestandsmerkmalder Vorteils- und Schädigungsabsicht wirkt, anders alsim Preußischen Strafgesetzbuch, nicht mehr strafbegründend,sondern wird in § 268 StGB a.F. als lediglich strafschärfendberücksichtigt.113 Goltdammer (Fn. 108), S. 574 f.; Oppenhoff, PreußischesStrafgesetzbuch, 1874, Nr. 28 zu § 334.114 Goltdammer (Fn. 108), S. 579 zur Falschbeurkundung.115 Näher hierzu Lorenz (Fn. 17), S. 58 f. Fn. 152. Vgl. auchdie breite Auseinandersetzung Beselers mit dem französischenCode pénal 1810 und der französischen Jurisprudenz inseinen Kommentierungen, näher Beseler (Fn. 109), S. 475 ff.116 Beseler (Fn. 109), S. 480.117 Vgl. hierzu auch Tröndle (Fn. 3), vor § 267 Rn. 12.118 Stehling (Fn. 12), S. 124.119 Stehling (Fn. 12), S. 124.120 Stehling (Fn. 12), S. 125.121 Tröndle (Fn. 3), vor § 267 Rn. 12.Auf die Differenzierung von öffentlichen und Privaturkundenwird in § 267 StGB a.F. im Gegensatz zu dem preußischenVorbild verzichtet.Dass sich § 267 StGB a.F. ausdrücklich nur auf den Echtheitsschutzvon Privaturkunden beziehen soll, wird aus demWortlaut nicht deutlich. Gleichwohl hat sich bereits die Erkenntnisdurchgesetzt, dass der Wahrheitsschutz, d.h. die„schriftliche Lüge“ grundsätzlich nicht zu pönalisieren ist.Dafür spricht schon das Festhalten an den die <strong>Inhalt</strong>swahrheitschützenden Vorschriften der mittelbaren Falschbeurkundungund der Falschbeurkundung im Amt.Die Begründung für die nunmehr erkannte Straflosigkeitder „schriftlichen Lüge“ bleibt ebenso dürftig wie zur Gesetzgebungdes Preußischen Strafgesetzbuchs 1851. Wie dieMotive zum Strafgesetzbuch von 1871 zeigen, steht die systematischeAbgrenzung zum Betrug im Vordergrund. Einedogmatische Begründung für den Ausschluss der <strong>Inhalt</strong>swahrheitaus dem Schutzgut des § 267 StGB a.F. klingt dennochin den folgenden Sätzen durch, in denen auf die „Wichtigkeitder Urkunde“ und des „urkundlichen Beweises“ abgestelltwird und die „einfache Unwahrheit“ allein mit demBetrug in Verbindung gebracht wird: „Ferner lag kein Grundvor, die Urkundenfälschung, wie mehrseitig verlangt worden(ist), lediglich als einen ausgezeichneten Fall des Betruges zubehandeln und daher sie nur, wenn sie in der Absicht aufeinen rechtswidrigen Vermögensvortheil begangen wird, mitden schweren Strafen der Urkundenfälschung zu bedrohen.Vielmehr liegt bereits in der Fälschung einer Urkunde überhauptdie Herstellung eines gefährlichen Mittels zur TäuschungAnderer und in der Anwendung desselben eine in derRegel schwerere Verschuldung, als in der einfachen Unwahrheit,wie sie in dem Thatbestande des Betruges sich darstellt.Dazu kommt, daß das öffentliche Interesse bei der Urkundenfälschung,auch wenn sie nur eine Privaturkunde betrifft, beider Wichtigkeit der Urkunde und des urkundlichen Beweisesviel lebhafter betheiligt ist, als bei den einfachen Täuschungenund Betrügereien. Der Entwurf hat daher die Absicht desThäters in dem Thatbestande der Urkundenfälschung auf die‚rechtswidrige Absicht‘ beschränkt und die gewinnsüchtigeAbsicht nur als einen besonderen Straferhöhungsgrund behandelt“.122Eine Erklärung dafür, warum der Schutz der Privaturkundeauf die Richtigkeit der Ausstellerangabe beschränkt ist,findet sich bei A. Merkel, einem Vertreter der publica-fides-Lehre. Er trägt im Wesentlichen zwei Argumente für dieStraflosigkeit der „schriftlichen Lüge“ vor.Zum einen sieht A. Merkel in der „schriftlichen Lüge“keinen größeren Strafgehalt als in einer straflosen „mündlichenLüge“, die er nach Ablehnung eines generellen Rechtsauf Wahrheit im Rechtsverkehr als straflos ansieht.122 Motive zu dem Entwurfe eines Strafgesetzbuches für denNorddeutschen Bund, zitiert bei Höinghaus, Das neue Strafgesetzbuchfür den Norddeutschen Bund, 4. Aufl. 1870, zuden §§ 267 ff._____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com563
Matthias Brockhaus_____________________________________________________________________________________Weiter klingt der „Gedanke der Selbstverantwortung potentiellerOpfer für den Schutz ihrer Rechtsgüter an“ 123 ; dieRichtigkeitskontrolle bleibt der Initiative des Teilnehmersüberlassen: „Die an Sachen objektivierte Lüge repräsentirt anund für sich keine größere Gefahr für allgemeine und individuelleInteressen, wie die bloß gesprochene Lüge. Ist mandoch im Verkehre im Allgemeinen nicht mehr auf täuschendeWorte wie auf Simulationen und Dissimulationen an derWaare selbst gefasst! Das Warnende: ‚wer die Augen nichtaufthut, muß den Beutel aufthun‘ bezieht sich offenbar aufdas letztere nicht minder wie auf das erstere“. 124Ein strafrechtlicher Schutz gegen schriftliche Lügen istmithin nur ausnahmsweise denkbar. 125Gleichwohl bleiben auch dann offene Fragen bestehen,wenn man mit der heute herrschenden Auffassung dasSchutzgut in der Sicherheit und Zuverlässigkeit der Rechtsverkehrsbzw. des Beweisverkehrs sieht. So weist Puppezutreffend darauf hin, dass bei Ablehnung eines generellenRechts auf Wahrheit auch die „Reinheit des Beweises“ nichtschutzwürdig sein kann, da „der Beweis [...] nur das Mittel[ist], die Wahrheit festzustellen und ihr zur Anerkennung zuverhelfen.“ 128 Insoweit bedarf es weiterer Präzisierung.III. SchlussbemerkungDurch den dogmatisch nicht fassbaren „falsum-Begriff“ blockiert,gelingt erst im Preußischen Strafgesetzbuch von 1851die Herausarbeitung einer systematischen und dogmatischenEigenständigkeit der Urkundendelikte mit einer Differenzierungzwischen Echt- und Wahrheitsschutz. DogmatischeBegründungsansätze für die Straflosigkeit der „schriftlichenLüge“ bei Privaturkunden finden sich bis zum Reichsstrafgesetzbuchvon 1871 indes kaum. Die wenigen Ausführungender noch der publica-fides-Lehre verhafteten Literatur in denKommentierungen und Materialien zum Preußischen StGBzeigen, dass vor allem der französische Code pénal 1810 mitseiner Differenzierung zwischen Wahrheits- und Echtheitsschutzals Vorbild gedient hat und aus praktischen Erwägungenzunächst ohne weitere eigene dogmatische Aufarbeitungübernommen worden ist.Im historischen Kontext lässt sich gleichwohl erkennen,dass bereits vor 1871 erkannt worden ist, dass es ein generellesRecht auf Wahrheit, welches nicht bestimmbar ist, nichtgeben kann. Lehnt man ein solches ab, kann auch in einerRechtsordnung, die weitestgehend auf Formerfordernisseverzichtet, eine schriftliche Lüge, die keinen höheren Strafgehaltals eine mündliche Lüge hat, bei Privaturkunden nichtstrafbar sein.Darüber hinaus wird betont, dass die Richtigkeitskontrolledem potentiellen Opfer überlassen bleiben muss.Im modernen Schrifttum kann im Anschluss an Binding,der die Beweismitteleigenschaft der Tatobjekte bzw. denAngriff auf den Beweis (deutlich nach 1871) selbst zumAusgangspunkt seiner Fälschungslehre macht 126 , die Frageder strafrechtlichen Behandlung der „schriftlichen Lüge“ beiPrivaturkunden als abgeschlossen angesehen werden. Mehrals eine reine Feststellung der Straflosigkeit findet sich in dengängigen Lehrbüchern und der Kommentarliteratur kaum. 127123 Dieser Begriff findet sich bei: Arzt, in: ders./Weber, Strafrecht,Besonderer Teil, 2000, § 30 Rn. 1.124 A. Merkel (Fn. 43), S. 17 f.125 Arzt (Fn. 123), § 30 Rn. 1.126 Binding (Fn. 1), S. 114 f.; vgl. hierzu auch Schilling (Fn. 23),S. 66.127 Siehe bereits Fn. 8, aber mit Erläuterungen z.B. bei. Arzt(Fn. 123), § 30 Rn. 3.128 Puppe (Fn. 98), § 267 Rn. 4 a.E._____________________________________________________________________________________564<strong>ZIS</strong> 11/2008
Die normative Kraft des KontrafaktischenVerfassungsrechtliches und Kriminologisches zum baden-württembergischen JugendstrafvollzugsgesetzVon cand. iur. Annkatrin Wegemund, Freiburg i. Br., Wiss. Mitarbeiter Jan Dehne-Niemann, Heidelberg/Freiburgi. Br.„Bei der Herstellung von Würsten und Gesetzen soll manbesser nicht zuschauen.“ (Otto von Bismarck)Das Bundesverfassungsgericht hat mit Urteil vom31.5.2006 ein formelles Gesetz als Grundlage des Jugendstrafvollzugesfür erforderlich befunden. Aufgrund der besonderenSituation junger Gefangener, die nicht mit dem Erwachsenenstrafvollzugvergleichbar ist, erklärte es den Jugendstrafvollzugin der bestehenden Form in Ermangelungeiner gesetzlichen Grundlage für verfassungswidrig und setztedem Bundesgesetzgeber eine Regelungsfrist bis zum31.12.2007. Infolge der Änderung der Gesetzgebungskompetenzfür den Strafvollzug durch die Föderalismusreform standendie Landesgesetzgeber in der Pflicht. Als eines der erstenBundesländer ist Baden-Württemberg mit dem Inkrafttretendes JStVollzG-BW bereits am 31.08.2007 seiner Regelungsverpflichtungnachgekommen. Der Beitrag überprüft Reizpunktedes baden-württembergischen JStVollzG am Maßstabder Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts sowie anhandkriminologischer Erkenntnisse, auf deren Beachtung dasBundesverfassungsgericht die Länder verpflichtet hat.I. EinleitungNachdem der Jugendstrafvollzug lange Zeit nur bruchstückhaftin einzelnen Vorschriften des JGG und des StVollzG(§§ 91, 92, 115 JGG, §§ 176, 178 StVollzG) sowie durchbundeseinheitliche Verwaltungsvorschriften für den Jugendstrafvollzug(VVJuG) geregelt war, setzte das Bundesverfassungsgericht1 neue Maßstäbe und forderte ein formelles Gesetzfür den Jugendstrafvollzug. Daraufhin erarbeiteten dienach der Föderalismusreform hierfür zuständigen Länderzahlreiche Entwürfe. Das erste Jugendstrafvollzugsgesetz tratam 31.08.2007 in Baden-Württemberg in Kraft (im Folgenden:JStVollzG-BW). Sowohl sein <strong>Inhalt</strong> als auch seine Begründungsind von dem Spannungsverhältnis zwischen haus-1 BVerfGE 116, 69. – Der „gesetzlose“ Zustand des Jugendstrafvollzugswurde schon vor der Entscheidung des BVerfGin der Literatur ganz überwiegend für verfassungswidriggehalten, vgl. nur Wölfl, in: Pollähne/Bamman/Feest (Hrsg.),Wege aus der Gesetzlosigkeit, 2004, S. 77; Bamman, ibid., S. 101.Zur Vorgeschichte, in der sich das BVerfG mehrfach mitRichtervorlagen nach Art. 100 Abs. 1 GG zu befassen hatte,vgl. aus erster Hand den Bericht des „Vorlagerichters“ Knöner,in: Pollähne/Bamman/Feest, a.a.O., S. 109. Dazu, dasssich mangels Planwidrigkeit der Regelungslücke eine analogeAnwendung des StVollzG verbietet, H.-J. Albrecht, RdJB2003, 352 (358) sowie BVerfGE 116, 69 (83: „Planwidrig istallenfalls, dass sie [scil. die bestehende Regelungslücke,A.W./J.D.-N.] trotz zahlreicher Anläufe […] bis heute nichtgeschlossen wurde.“).haltsmäßigen Machbarkeitsüberlegungen und den verfassungsgerichtlichenAnforderungen an einen verfassungskonformenJugendstrafvollzug in besonderem Maße geprägt. ImFolgenden wird der Frage nachgegangen, inwieweit das LandBaden-Württemberg das Urteil des Bundesverfassungsgerichtszum Anlass genommen hat, die verfassungsrechtlichgebotene Rechtsstellung der jungen Gefangenen gesetzlichfestzuschreiben. Besonders berücksichtigen musste der baden-württembergischeGesetzgeber internationale Standards,die als sog. soft law zwar keine formelle Bindungswirkunghaben, 2 die aber nach dem Bundesverfassungsgericht insofernvon Bedeutung sind, als einem Verstoß gegen sie Indizfunktionfür die Verfassungswidrigkeit der nationalen Regelunghaben kann. 3II. Die gewählte Regelungsform: Eigenständigkeit desJStVollzG-BWFür die Umsetzung der verfassungsgerichtlichen Vorgabenund Schaffung einer gesetzlichen Grundlage des Jugendstrafvollzugsstanden den nach der Föderalismusreform in diePflicht genommenen Ländern zwei Alternativen zur Verfügung:Die Schaffung eines selbstständigen Jugendstrafvollzugsgesetzes– diesen Weg hat Baden-Württemberg eingeschlagen– oder die Implementierung besonderer Regelungenfür Jugendliche in den Strafvollzugsgesetzen der Länder.Fachverbände befürworten ein eigenständiges Gesetz, da diesden Besonderheiten des Jugendstrafrechts und -vollzugsbesser gerecht wird, die Eigenständigkeit des Jugendstrafvollzugsdurch eine Regelung mehrerer Vollzugsarten ineinem Gesetz unterlaufen wird 4 und weil die mit der Einbeziehungin die Strafvollzugsgesetze der Länder notwendigverbundene komplizierte Verweisungstechnik das Normverständnis– vor allem für die Insassen – erheblich erschwert. 5Dies entspricht auch den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts,das die Besonderheiten der Situation junger Strafgefangenergegenüber Erwachsenen im Urteil vom 31.05.2006mehrfach betont hat. 6 Auch Art. 40 Abs. 3 der UN-2 Dünkel, NKrimPol 2006, 112 (114). Einen Überblick überdiese internationalen Standards gibt Feest, in: Pollähne/Bamman/ders.(Fn. 1), S. 45.3 BVerfGE 116, 69 (90).4 DVJJ, DBH, BAG Soziale Arbeit im Justizvollzug, ADB,Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe 1/2007,94; B.-D. Meier, RdJB 2007, 141 (143); Resolution des 31.Strafverteidigertages zum Jugendstrafvollzug, 2007, Nr. 1 unterhttp://www.dvjj.de/download.php?id=628 (Stand: 20.2.2008).5 Eisenberg, NStZ 2008, 250 (251). Besonders negativ fällt indiesem Zusammenhang die extrem unübersichtliche VerweisungstechnikBayerns in Art. 121 ff. BayStVollzG auf.6 BVerfGE 116, 69 (85 ff.)._____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com565
Annkatrin Wegemund/Jan Dehne-Niemann_____________________________________________________________________________________Kinderrechtskonvention (UN-KRK) sieht vor, dass besondereGesetze für Kinder (nach Art. 1 UN-KRK Personen bis zum18. Lebensjahr) erlassen werden sollen. Vor diesem Hintergrundist es begrüßenswert, dass das JStVollzG-BW als eigenes,nahezu vollständig auf Verweise in andere Gesetze verzichtendesGesetz verabschiedet wurde. Eine solche Umsetzunghat Symbolkraft, trägt zu Verständnis und Lesbarkeitdes Gesetzes bei und gewährleistet die erforderliche Transparenzfür Gefangene und Vollzugsbeamte. Insoweit ist diebaden-württembergische Umsetzungsweise zu befürworten.III. Fundamentalia: Kriminalpräventive Aufgabe undErziehungsauftrag (§§ 2, 21 JStVollzG-BW), Behandlungs-und Erziehungsgrundsätze (§ 22 JStVollzG-BW)1. Kriminalpräventive Aufgabe und Erziehungsauftrag, §§ 2,21 JStVollzG-BW§ 2 S. 1 JStVollzG-BW definiert die kriminalpräventive Aufgabedes Vollzugs sehr allgemein als Schutz der Allgemeinheitvor Straftaten junger Menschen. In § 21 JStVollzG-BWist demgegenüber (in Anlehnung an § 1 SGB VIII: Recht aufFörderung und Erziehung) der „Erziehungsauftrag“ geregelt.Danach „sollen die jungen Gefangenen dazu erzogen werden,in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen“.Dies wirft die Frage auf, in welchem Verhältnis diekriminalpräventive Aufgabe des Vollzugs zum Erziehungsauftragsteht. Diese Frage ist von eminenter praktischer Bedeutung,weil die Tatbestandsmerkmale (jugend-)strafvollzugsrechtlicher Normen stets im Lichte ihrer allgemeinenZielbestimmungen auszulegen sind. 7a) Der Begriff der kriminalpräventiven Aufgabe und seinVerhältnis zum ErziehungsauftragDie schillernde Vokabel „kriminalpräventive Aufgabe“ istnicht aus sich selbst heraus verständlich. Es fällt auf, dassBaden-Württemberg in Abweichung von § 2 StVollzG undanders als andere Bundesländer darauf verzichtet hat, bei dergesetzlichen Definition der Aufgaben des Jugendstrafvollzugsden Begriff „Vollzugsziel“ zu verwenden: In der Vokabel„kriminalpolitische Aufgabe“ kann eine allgemein gehaltenegesetzliche Zweckumschreibung des Jugendstrafvollzugsliegen, ihm kann aber auch darüber hinaus der Charaktereines echten Vollzugszieles innewohnen; denkbar ist schließlichgar, dass es sich dabei nur um eine bloße Beschreibungder tatsächlichen Wirkungen des Vollzugs handelt. 8In der Entwurfsbegründung heißt es zu § 2 JStVollzG-BW: Die Aufgabe des Jugendstrafvollzugs „beinhaltet nicht7 Vgl. B.-D. Meier, RdJB 2007, 141 (144); insoweit zutr.auch Arloth, Strafvollzugsgesetz, 2. Aufl. 2008, § 2 StVollzGRn. 4.8 Neue Richtervereinigung, Landesverband Baden-Württembergund Fachgruppe Strafrecht, 2007, Anmerkung zumEntwurf des Justizministeriums Baden-Württemberg für einJugendstrafvollzugsgesetz, S. 8 f. unter:http://nrv-net.de/main.php?id=151&vo_id=343&lv_id=1 (Stand20.2.2008).nur die Reduzierung der Ursachen kriminellen Verhaltensdurch Vorbeugestrategien (primäre Prävention) und Abschreckungpotenzieller Straftäter (sekundäre Prävention), sondernauch die Rückfalleindämmung im Umgang mit MehrfachundIntensivtätern durch Wiedereingliederung und/oder sichereVerwahrung (tertiäre Prävention)“. 9 Der Sinn dieserAussage wird verdunkelt durch die Verwendung des BegriffsPrimärprävention. Nach gängiger Terminologie richten sichunter die Primärprävention zu fassende Maßnahmen an dieAllgemeinheit 10 und beinhalten insbesondere die positiveGeneralprävention, also die Bekräftigung der Normgeltungund des Vertrauens der Bevölkerung in die Normgeltung. 11Bildung und Erziehung, die den jungen Gefangenen zuteilwerden sollen, zählen gerade nicht zur Primärprävention,denn als wichtige Voraussetzungen für eine erfolgreicheWiedereingliederung sind sie im Bereich der Tertiärpräventionanzusiedeln, die in § 2 S. 2 JStVollzG-BW genannt ist undderen Anwendungsbereich – anders als der der Primärprävention– in zeitlicher Hinsicht erst ab der Verurteilung wegeneiner Straftat eröffnet ist. 12 Diese Zuordnung folgt auch ausder Ausrichtung der Primärprävention auf die Allgemeinheitund nicht auf einen umgrenzten Kreis wiedereingliederungsbedürftigerGefangener. Folglich kann der Gesetzgeber mitPrimärprävention nur die positive Generalprävention gemeinthaben. 13 Festzuhalten ist also, dass über § 2 S. 1 JStVollzG-BW die Generalprävention in den Jugendstrafvollzug Einzughalten soll, und zwar sowohl in der negativen Form der Abschreckungals auch in der positiven Form der Normgeltungsverdeutlichung.Was der baden-württembergische Gesetzgeberterminologisch neutral als „KriminalpolitischeAufgabe“ umschrieben hat, ist in Wahrheit also die Formulierungeines echten Vollzugszieles, welchem gesetzgeberseitseine generalpräventive Natur beigemessen wird.Nach alter Rechtslage durften positiv- und negativgeneralpräventiveAspekte im Jugendstrafvollzug keine Berücksichtigungfinden, 14 denn gemäß § 91 JGG a.F. war esdas Ziel des Jugendstrafvollzugs, den Jugendlichen zu erziehen,„künftig einen rechtschaffenen und verantwortungsbewusstenLebenswandel zu führen“. Generalpräventive Aspektewurden gerade nicht genannt, alleiniges Vollzugsziel warvielmehr die Erziehung, die damit eine auf Jugendliche undHeranwachsende gemünzte Form der Resozialisierung darstellt.Dass im Jugendstrafvollzug nach bisheriger Rechtslagedie Berücksichtigung generalpräventiver Gesichtspunkteunstatthaft war, zeigt ferner ein auf einen Vergleich mit dem9 Landtag-BW-Drs. 14/1240, S. 59.10 Schwind, Kriminologie, 17. Aufl. 2007, § 1 Rn. 41 f.11 Eisenberg, Kriminologie, 6. Aufl. 2005, § 41 Rn. 2; Laubenthal,Strafvollzug, 4. Aufl. 2006, Rn. 181.12 Vgl. Schwind (Fn. 10), § 1 Rn. 41.13 So auch die Deutung der Neuen Richtervereinigung, LandesverbandBaden-Württemberg und Fachgruppe Strafrecht(Fn. 8), S. 9.14 OLG Stuttgart Die Justiz 87, 76 (77); Eisenberg, Jugendgerichtsgesetz,12. Auflage 2007, § 91 Rn. 27; Schöch in: Meier/Rössner/ders.(Hrsg.), Jugendstrafrecht, 2. Aufl. 2007, § 14Rn. 29._____________________________________________________________________________________566<strong>ZIS</strong> 11/2008
Die normative Kraft des Kontrafaktischen_____________________________________________________________________________________den Erwachsenenvollzug regelnden § 2 StVollzG gestütztesargumentum a fortiori: Auch in § 2 StVollzG ist nach herrschenderAnsicht die Generalprävention als allgemeinerStrafzweck nicht erwähnt und damit im Vollzug nicht berücksichtigungsfähig;15 trotz entsprechender Gesetzesinitiativenhat man sich am Ende der 80er Jahre bewusst gegen eineEinbeziehung der Generalprävention in den Strafvollzugentschieden. 16 Vergegenwärtigt man sich, dass der Erziehungsgedankeim Jugendstrafrecht von noch größerer Bedeutungist als der Resozialisierungsgedanke im Erwachsenenstrafrecht,17 so bestand ein Verbot der Berücksichtung sowohlpositiver als auch negativer generalpräventiver Zwecke– a fortiori – erst recht für den Jugendstrafvollzug in seinerbisherigen Form. 18Hielt die herrschende Ansicht nach bisheriger Rechtslagedie Abschreckung für einen im Strafvollzug nicht berücksichtigungsfähigenZweck, so ist die auf die negative Generalpräventionabstellende Erwähnung der Abschreckung jungerStraftäter in der Entwurfsbegründung folglich Ausdruck einesdurch die Föderalismusreform bedingten legislativen Paradigmenwechsels.Ob unter die Regelungsmaterie des Strafvollzugs,die nunmehr in die Zuständigkeit der Länder fallensoll, auch die Vollzugsziele fallen, ob also auch die Kompetenzzur Regelung der Vollzugsziele an die Länder übertragenwurde und ob infolgedessen Baden-Württemberg generalpräventiveAspekte in den Jugendstrafvollzug einbeziehendurfte, ist im Streit. So kann man sich auf den Standpunktstellen, der Bundesgesetzgeber müsse regeln, welche Strafzweckemit der Androhung, Verhängung und dem Vollzugder Jugendstrafe verfolgt werden, weil Strafzwecke „fundamentalerGegenstand des materiellen Rechts“ seien. 19 Demgegenübergingen sowohl der Bund als auch das Land Baden-Württemberg in ihren Gesetzesbegründungen davon aus, dassmit der Kompetenz zur Regelung des Strafvollzugs auch dieRegelung der Vollzugsziele an die Länder übergegangenist. 20 Aus diesem Grund wurde die bundesrechtliche Normdes § 91 JGG a.F. durch Änderung des JGG gestrichen; eineRegelung über die Ziele des Jugendstrafvollzugs fehlt somitim neuen JGG. § 91 JGG a.F. kann damit (ganz unabhängigvom Kompetenzstreit) keine Sperrwirkung mehr hinsichtlicheiner abweichenden Länderregelung entfalten. Auf den erstenBlick spricht dieser self restraint des Jugendstrafrechts für15 Das entspricht der herrschenden Meinung, vgl. etwa Callies/Müller-Dietz,Strafvollzugsgesetz, 10. Aufl. 2005, § 2Rn. 8; Laubenthal (Fn. 11), Rn. 178, es ist aber nicht unstreitig.Für die Zulässigkeit der Berücksichtigung generalpräventiverGesichtspunkte im Strafvollzug (etwa bei Vollzugslockerungen)Arloth, GA 1988, 403 (421 ff.).16 Vgl. die ausführliche Darstellung bei Callies/Müller-Dietz(Fn. 15), § 2 Rn. 25 f.17 Vgl. BVerfGE 116, 69 (85 f.).18 Böhm, in: Schwind/Kube/Kühne (Hrsg.), Festschrift fürHans Joachim Schneider zum 70. Geburtstag, 1998, S. 1011(1017 f.).19 Goerdeler/Pollähne, ZJJ 2006, 250 (253); Walter, KrimJ2008, 21 (24).20 BT-Drs. 552/07 v. 10.8.2007, S. 10.eine Kompetenz der Länder, die Vollzugsziele in eigenerRegie festzulegen (womit freilich nicht gesagt ist, dass dieseauch inhaltlich den Vorgaben des BVerfG genügen – dazusogleich unter c). Bei dieser Sichtweise bestünden wenigerBedenken gegen die – allerdings sehr nach Sicherungs- undVerwahrungsvollzug klingende – Formulierung „Schutz derAllgemeinheit vor Straftaten junger Menschen“. Die Zielsetzungdes Jugendstrafvollzugs wäre dann als doppelspurig zubezeichnen: Allgemeinheitsschutz aus § 2 JStVollzG-BWund Erziehungsauftrag nach § 21 JStVollzG-BW stündennebeneinander; den Anforderungen des BVerfG, dass derSchutz der Allgemeinheit nicht neben, sondern gerade undallein durch die Behandlung bzw. Erziehung erreicht werdensoll, 21 ließe sich bei entsprechender Auslegung des § 2JStVollzG-BW Genüge tun.b) Der Einfluss des § 2 JGG n.F.Allerdings enthält die materiell-jugendstrafrechtliche Regelungdes § 2 JGG n.F. Zielvorgaben, die sich auch auf denJugendstrafvollzug auswirken. Nach dieser bundesrechtlichenNorm soll die Anwendung des Jugendstrafrechts „vor allemerneuten Straftaten eines Jugendlichen oder Heranwachsendenentgegenwirken“. Die Rechtsfolgen sind nach dem Gesetzeswortlautvorrangig am Erziehungsgedanken auszurichten.In der Gesetzesbegründung hat der Gesetzgeber klargestellt,dass eine Bestrafung nicht die Verfolgung negativgeneralpräventiverZwecke im Abschreckungssinne zumeigenständigen Ziel haben darf. Weiter betont der Gesetzgeberin der Begründung, dass eine „intendierte Auswirkungauf andere“ kein Maßstab für eine jugendstrafrechtlicheSanktion sein darf. 22 Daher hat auch die Verfolgung positivgeneralpräventiverZwecke – sei es in der Form einer angeblichempirisch messbaren Stärkung des Vertrauens in dieNormgeltung und der Rechtstreue als solcher, 23 sei es in derempiriefreien Variante der eo-ipso-Bestätigung der Normgeltung24 – im materiellen Jugendstrafrecht außen vor zu blei-21 Verkannt von Arloth, GA 2008, 129 (130); ders. (Fn. 7),Art. 2 BayStVollzG, § 2 HmbStVollzG, § 5 NJVollzG, derdie Meinung vertritt, Sicherungsinteressen seien „am besten“durch Resozialisierung bzw. Erziehung zu erreichen. Aberauf die empirische Fassbarkeit und Belegbarkeit im Sinneeines „besser oder schlechter“ kommt es nicht an, sondernallein auf die normativen Vorgaben des BVerfG, nachdemSicherheitsstreben und Resozialisierung (nur) insofern keineGegensätze sind, als letztere allein durch erstere angestrebtewerden dürfen, vgl. BVerfGE 116, 69 (86): „Zwischen demIntegrationsziel des Vollzugs und dem Anliegen, die Allgemeinheitvor weiteren Straftaten zu schützen, besteht insoweit(scil. insoweit als es notwendig ist, den Vollzug amResozialisierungsziel auszurichten, A.W./J.D.-N.) kein Gegensatz.“22 BT-Drs. 552/07 v. 10.8.2007, S. 14.23 Vgl. dazu Dölling, ZStW 102 (1990), 1 (8 f., 14 ff.).24 In letzterem Sinne noch Jakobs, ZStW 107 (1995), 843(844 f.): „Nicht empirisch fassbar ist insbesondere die Bestätigungder Identität […]; denn sie ist nicht Folge des Verfahrens,sondern seine Bedeutung.“ Vgl. aber nun (wieder) Ja-_____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com567
Annkatrin Wegemund/Jan Dehne-Niemann_____________________________________________________________________________________ben. Für den Vollzug der Jugendstrafe lässt sich danach folgern:Wenn bei der jugendstrafrechtlichen Entscheidung überdas „Ob“ einer Maßnahme die Berücksichtigung generalpräventiverGesichtspunkte unzulässig ist, so gilt dies zwangsläufigauch für das „Wie“, die Durchführung der Bestrafungund damit für den Jugendstrafvollzug. 25 Das muss erst rechtfür den Jugendstrafvollzug gelten – der Vollzug einer Strafedarf selbstverständlich nicht den Zweck ihrer Verhängungkonterkarieren. 26Damit ist freilich nicht gemeint, dass der Vollzug der Jugendstrafefaktisch überhaupt keine (negativ-)generalpräventiveWirkung zeitigen darf; wenn und soweit der Jugendstraferealiter eine empirisch messbare Wirkung (etwa in den Bereichender Abschreckung oder Normverdeutlichung) zukommt,so darf – jedenfalls im Bereich der Jugenddelinquenz – dieseWirkung aber nur reflexhafte Folge des Vollzugs der Strafeals solcher, nicht aber speziell des Vollzugs sein und schongar nicht als Ziel des Vollzugs ausgewiesen werden. Mitanderen Worten: Dass bestraft wird, darf als Reflex abschreckendeoder norminternalisierende Wirkung zeitigen (es darfaber nicht im Sinne eines Vollzugszieles angestrebt werden);dann liegt es in der Natur der Sache, dass es abschreckendoder norminternalisierend wirkt, dass die Strafe vollstrecktwird. Nicht aber dürfen bei der Entscheidung über die Artund Weise, wie die Strafe vollzogen wird, generalpräventiveGesichtspunkte Berücksichtigung finden.Zu den auf der Unstatthaftigkeit alles Generalpräventivenberuhenden straf(vollzugs)theoretischen Bedenken gegen dieFassung des § 2 S. 1 JStVollzG-BW kommt im Verhältnisder §§ 2 JStVollzG-BW, 2 JGG der Vorrang der bundesgesetzlichengegenüber einer landesrechtlichen Norm hinzu(Art. 31 GG). 27 Schon aus föderalen Gründen darf somit derlandesrechtlich geregelte Jugendstrafvollzug (die Art undWeise der Bestrafung) nicht das bundesrechtliche materielleJugendstrafrecht (das „Ob“ der Bestrafung) unterlaufen.Systematik und Teleologie des Jugendstrafrechts erfordern eskobs, Staatliche Strafe: Bedeutung und Zweck, 2004, S. 29,wo zwischen Zweck der Strafe und ihrer Bedeutung unterschiedenwird.25 Insbesondere wenn man bedenkt, dass trotz grundsätzlicherZulässigkeit generalpräventiver Erwägungen bei der Verhängungeiner Strafe im allgemeinen Strafrecht eine Berücksichtigungder Generalprävention im Erwachsenenstrafvollzugausgeschlossen ist, was en detail immer noch umstritten ist.Die Debatte entzündet sich etwa daran, ob Aspekte der Generalpräventionbei der Entscheidung über Vollzugslockerungenzu berücksichtigen sind, vgl. oben Fn. 15.26 Vgl. Seebode, in: Hettinger u.a. (Hrsg.), Festschrift fürWinfried Küper zum 70. Geburtstag, 2007, S. 577 (580 ff.,592 ff.), der dies für den Erwachsenenstrafvollzug aus Art. 74Abs. 1 Nr. 1 StGB n.F. und aus dem Blankettcharakter desmateriell-strafrechtlichen Begriffs der Freiheitsstrafe folgert.Diesen Blankettcharakter hat auch die Jugendstrafe, vgl. dazunoch unten im Text sub IX.27 Vgl. Sonnen, in: Diemer/Schoreit/ders. (Hrsg.), Jugendgerichtsgesetzmit Strafvollzugsgesetzen, 5. Aufl. 2008, § 2JStVollzG Rn. 3.also, generalpräventiven Erwägungen beim Vollzug der Jugendstrafe– die, um es zu wiederholen, ein Institut ausschließlichspezialpräventiver Natur ist – eine Absage zuerteilen. Im Gegenteil wird nur der in § 21 JStVollzG-BWgenannte Erziehungsauftrag als inhaltliche Ausgestaltung derModalitäten der Strafvollstreckung dem Zweck des Jugendstrafrechtsgerecht. Die Fassung des § 2 S. 1 JStVollzG-BWbegegnet daher schwerwiegenden verfassungsrechtlichenBedenken.c) Die Vorgaben des BundesverfassungsgerichtsZu diesen – eher formalen – Überlegungen kommt entscheidenddie den Gesetzgeber bindende „materielle“ Ausgestaltungsvorgabe(§ 31 BVerfGG) des Bundesverfassungsgerichtshinzu, dass wegen der Würde des Menschen (Art. 1GG) und der Verhältnismäßigkeit staatlichen Strafens vonVerfassungs wegen die Resozialisierung alleiniges Vollzugszielzu sein hat. Nach Ansicht der Verfassungsrichter spieltdie soziale Integration im Jugendstrafvollzug eine noch größereRolle als im Erwachsenenvollzug, da der Staat durchden Entzug der Freiheit des Jugendlichen und den damitverbundenen Eingriff in seine Entwicklungsphase eine besondereVerantwortung für seine zukünftige Entwicklungträgt. 28Die Regelungsweise des JStVollzG-BW lässt erheblicheZweifel an der Umsetzung dieser Vorgaben. Der Stellenwert,den der Gesetzgeber der Integration zumisst, lässt sich an derAufzählung in § 2 S. 2 JStVollzG-BW erkennen, wonach derJugendstrafvollzug „einen Beitrag für die innere Sicherheit inBaden-Württemberg, für den Rechtsfrieden im Land und fürdie Eingliederung junger Menschen in Staat und Gesellschaft“leistet. In § 2 S. 2 JStVollzG-BW sowie im obigenZitat aus der Begründung nimmt, nachdem dem Vollzugbereits zwei unzulässige Aufgaben zugewiesen wurden (Vorbeugungund Abschreckung), das Ziel der sozialen Integrationerst die dritte und letzte Stelle ein; zudem wird es direktgekoppelt mit dem Gedanken der Verwahrung und diesemhintangestellt. Ein Blick auf die Gesetzessystematik verstärktden Eindruck, dass der Sicherung und Verwahrung der Vorrangeingeräumt werden soll: Die kriminalpräventive Aufgabeist ganz zu Beginn des Gesetzes (§ 2 S. 1 JStVollzG-BW)definiert worden, der Erziehungsauftrag folgt weitaus später(§ 21 JStVollzG-BW) – eine Entscheidung mit Symbolcharakter.Damit kommt der Gesetzgeber den Forderungen derÖffentlichkeit nach mehr Sicherung nach, denn das Vollzugszielbestimmt die gesamte Ausgestaltung des Vollzugesund wirkt sich namentlich auf die Entscheidung über Vollzuglockerungenstark aus, die im Falle eines Vorrangs derSicherung nur noch gewährt werden dürften, wenn eine Begehungvon Straftaten ganz oder mit weit überwiegenderWahrscheinlichkeit ausgeschlossen wäre. 29 Die Beteuerung28 BVerfGE 116, 69 (85 f.). In BVerfGE 98, 169 (200) hatdas BVerfG den Resozialisierungsanspruch noch auf dasallgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1Abs. 1 GG gestützt, vgl. auch Köhne, JR 2007, 494 (495).29 Laubenthal (Fn. 11), Rn. 177; B.-D. Meier, RdJB 2007,_____________________________________________________________________________________146.568<strong>ZIS</strong> 11/2008
Die normative Kraft des Kontrafaktischen_____________________________________________________________________________________des Landesgesetzgebers, man wolle eine Rangfolge vermeiden,um der Entstehung von Streitfragen wie bei § 2StVollzG vorzubeugen, 30 richtet sich angesichts dieses Regelungssystems31 und der im gleichen Atemzuge getätigtenAussage, dass § 21 JStVollzG-BW eine Ergänzung zu § 2JStVollzG-BW darstelle 32 , selbst.Diese nicht nur symbolische, den Ansprüchen eines in derÖffentlichkeit grassierenden gesunden RechtsempfindensRechnung tragende Grundsatzentscheidung 33 des badenwürttembergischenGesetzgebers lässt völlig außer Acht, dassStrafgefangene, sei es im Jugend- oder im Erwachsenenstrafvollzug,nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtsvon Verfassungs wegen einen echten Anspruch aufResozialisierung haben (und nicht lediglich ein ohnehin nurschwierig kategorisierbares „Interesse“). Daher darf das Zielhöherer Sicherheit der Gesellschaft vor jugendlichen Straftätern– allenfalls, nämlich wenn man den verfassungsrechtlichverbürgten Resozialisierungsanspruch überhaupt für durchein konkurrierendes Vollzugsziel einschränkbar hält – nurdann einem legislativen „Zielkonflikt“ ausgesetzt werden,wenn ein solches Bedürfnis nach mehr Sicherung überhauptbesteht. Empirisch lässt sich ein solches (objektives, d.h.nicht bloß empfundenes) Sicherheitserfordernis nicht validieren– für eine signifikante Zunahme der Jugendkriminalität,zumal in dem den Vollzug der Jugendstrafe betreffendenBereich, gibt es keinen Beleg. Die danach übrig bleibendebloße Beruhigung der Öffentlichkeit auf dem Rücken derjungen Gefangenen ist kein solches, im Wege der praktischen30 Vgl. dazu Laubenthal (Fn. 11), Rn. 173 ff.31 Dass der Schutz der Allgemeinheit dem Vollzugsziel vorangestelltwurde (ebenso in Art. 121 BayStVollzG und § 2Abs. 1 Hamburgisches StVollzG), hält Eisenberg, NStZ2008, 250 (251) mit Recht für „mit der verfassungsrechtlichbegründeten Bedeutung des Vollzugsziels nicht vereinbar“.32 Landtag-BW-Drs. 14/1240, S. 60.33 Vgl. Tolzmann, in: Pollähne/Bamman/Feest (Fn. 1), S. 95(97), die die in der Öffentlichkeit bestehende „Ablehnunggegenüber dem (Jugend)Vollzug und dem ihm anvertrautenKlientel“ thematisiert. – Die Bedürfnisse der Öffentlichkeitbemüht auch das sogenannte „Plädoyer für die Abschaffungdes Jugendstrafrechts“ (im Sinne einer Ersetzung durch einmodifiziertes Erwachsenenstrafrecht) bei Kusch, NStZ 2006,65, der (zum Erziehungsgedanken im materiellen Jugendstrafrecht)behauptet, es gehe „in Wahrheit gar nicht umErziehung, sondern um möglichste Schonung“ (a.a.O., 66)und ferner dafür hält, die Öffentlichkeit solle „die ausgesprocheneStrafe und ihr Zustandekommen als solche wahrnehmenkönnen“ (a.a.O., 67); ein einheitliches Gerichts- undSanktionensystem biete „eine viel bessere Chance, dass dieinteressierte Öffentlichkeit und der Täter die staatliche Reaktionauf eine begangene Straftat als „Strafe“ wahrnehmen“(a.a.O., 69). Gegen Kusch eingehend und mit Recht Ostendorf,NStZ 2008, 320, der die völker- und verfassungsrechtliche(a.a.O., 321 ff.) sowie entwicklungspsychologische, kriminologischeund pönologische Unverzichtbarkeit des materiellenJugendstrafrechts (a.a.O., 323 f.) aufzeigt.Konkordanz mit der Resozialisierung in Ausgleich zu bringendesZiel.d) KonsequenzenWas tun, um § 2 JStVollzG-BW dem damit an sich zu verhängendenVerdikt der Verfassungswidrigkeit zu entziehen?Zu denken ist an die beliebte Praxis, an sich eindeutige Normen„verfassungskonform“ auszulegen. Dafür böte es sichan, den Begriff „Schutz der Allgemeinheit“ als Schutz derAllgemeinheit gerade und nur durch Erziehung als Mittel derResozialisierung auszulegen, schließlich hat auch dasBVerfG in aller Deutlichkeit ausgesprochen, dass Allgemeinheitsschutzund Erziehung keine Gegensätze sein müssen,versteht man die Erziehung als Form des Schutzes der Allgemeinheit34 – gäbe es da nicht das der GewaltenteilungRechnung tragende Hindernis, das auch die verfassungskonformeAuslegung dem Gesetzgeber kein von diesem nichtgewolltes (Auslegungs-)Ergebnis oktroyieren darf. Der baden-württembergischeGesetzgeber hat sich bewusst für eine(zumindest auch) sicherungs- und verwahrungsfixierte Vollzugsprogrammierungentschieden; er muss sich daran messenlassen, und das Verfassungsrecht, gegebenenfalls auch dasBundesverfassungsgericht, muss ihn daran messen. Selbstwenn man also zugunsten des Gesetzgebers nicht von einerSuprematie des Sicherungs- und Verwahrungsgedankens aus§ 2 JStVollzG-BW ausgehen wollte, 35 deutet doch alles aufeine Gleichstellung von Integration und Sicherung hin, wassowohl gegen die verfassungsgerichtlichen Vorgaben alsauch gegen die von den Fachverbänden geforderte Klarheitder Regelung zugunsten der Resozialisierung 36 verstößt.Auch eine Interpretation des § 2 S. 1 JStVollzG-BW als bloßeBeschreibung der tatsächlichen Wirkungen des Strafvollzugsunterliefe angesichts der Aussage des Gesetzgebers,dass § 21 JStVollzG-BW (lediglich) eine Ergänzungsfunktionzu § 2 JStVollzG-BW zukommt (was die Nachrangigkeit desErziehungsauftrags erhellt), den legislatorischen Willen. Eherals der das Vollzugsziel definierende § 2 S. 1 JStVollzG-BWließe sich schon § 2 S. 2 JStVollzG-BW als beschreibendeNorm verstehen. Es ist daher in Umsetzung der Vorgaben desBundesverfassungsgerichts erforderlich, § 2 JStVollzG-BWzu streichen und § 21 JStVollzG-BW den Rang zu gewähren,der dem Vollzugsziel der sozialen Integration von Grundgesetzeswegen zukommt.34 BVerfGE 116, 69 (86). Vorbildlich in diesem Sinne dieUmsetzung der verfassungsgerichtlichen Vorgaben durch § 2S. 2 JStVollzG Rheinland-Pfalz („Hierdurch wird auch derSchutz der Bürgerinnen und Bürger vor Straftaten jungerMenschen als kriminalpräventive Aufgabe des Jugendstrafvollzugserfüllt.“).35 So jedoch Dünkel/Pörksen, NKrimPol 2007, 55 (56); Ostendorf,ZRP 2008, 14 (15).36 Mindeststandards von DVJJ, DBH, BAG Soziale Arbeit imJustizvollzug, ADB (Fn. 4), 94; Resolution des 31. Strafverteidigertageszum Jugendstrafvollzug (Fn. 4), Nr. 2._____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com569
Annkatrin Wegemund/Jan Dehne-Niemann_____________________________________________________________________________________2. Behandlungs- und Erziehungsgrundsätze, § 22 JStVollzG-BWa) GrundsätzlichesDem Erziehungsauftrag aus § 21 JStVollzG-BW folgen in§ 22 JStVollzG-BW die Behandlungs- und Erziehungsgrundsätze.Positiv zu bemerken ist, dass die Achtung der Menschen-und Grundrechte und das Verbot der unmenschlichenoder erniedrigenden Behandlung (Art. 3 EMRK) in § 22Abs. 1 JStVollzG-BW normiert wurden. Begrüßenswert istweiterhin, dass Baden-Württemberg als einziges Bundeslanddas vom Bundesverfassungsgericht geforderte Recht aufSchutz vor Übergriffen in § 22 Abs. 4 JStVollzG-BW ausdrücklichgesetzlich festgeschrieben hat.b) Übernahme der Erziehungsgrundsätze aus Art. 12 Abs. 1LV-BW in § 22 Abs. 2 JStVollzG-BW§ 22 Abs. 2 JStVollzG-BW führt die Erziehungsgrundsätzeauf, die aus Art.12 Abs. 1 der baden-württembergischenLandesverfassung von 1953 unverändert übernommen wurden.Darin heißt es u.a: „Die jungen Gefangenen sind in derEhrfurcht vor Gott, im Geiste der christlichen Nächstenliebe,[...], in der Liebe zu Volk und Heimat, [...] zu erziehen“. DerGesetzgeber hat damit die im Jugendstrafvollzug zu leistendeErziehung als christlich geprägte vorgegeben, denn wegendes Zusammenhanges mit der sich anschließenden christlichenNächstenliebe ist unter „Ehrfurcht vor Gott“ die Ehrfurchtvor dem christlichen Gott zu verstehen. 37 Die Erziehungim Jugendstrafvollzug soll nach der Vorstellung desGesetzgebers also christlich-patriotisch sein. Diese Erziehungsvorgabenstoßen unter mehreren Gesichtspunkten aufBedenken: Zunächst ist die Vermittlung von „Liebe zumdeutschen Volk und zur deutschen Heimat“ bei einem Anteilvon etwa 50 % der Gefangenen mit Migrationshintergrund 38mit gewissem Konfliktpotential behaftet, beachtet man zudemdie Nichtgewährung von deutschen Bürgerrechten fürausländische Gefangene. 39 Der Glaube, mit Deutschtümeleiausländische jugendliche Strafgefangene auf den rechtenWeg führen oder zwingen zu können, ist mit dem Adjektiv„kontrafaktisch“ wohlwollend umschrieben. Davon einmalabgesehen stellt die Verwendung der Wendung „Volk undHeimat“ wegen seiner nationalsozialistischen Provenienzzumindest eine gesetzgeberische Ungeschicklichkeit und„sprachliche Entgleisung“ 40 dar. Wegen dieser Taktlosigkeitist § 22 Abs. 2 JStVollzG-BW denn auch mit herbem Spottüberschüttet und als Ausdruck einer „Provinzposse“ „wild-37 Ebenso Braun, Kommentar zur Verfassung des LandesBaden-Württemberg, 1984, Art. 12 Rn. 16.38 Dünkel/Pörksen, NKrimPol 2007, 55; vgl. auch Walter,NKrimPol 2003, 13, nach dem im Jahr 2000 ca. 55 % derZugänge der JVA Adelsheim junge Aussiedler oder Nichtdeutschegewesen sind.39 Ostendorf, ZRP 2008, 15.40 Dünkel/Pörksen, NKrimPol 2007, 55.gewordener Ministerialbeamter“ bzw. der „Hüter der deutschenLeitkultur“ 41 verhöhnt worden.Zum anderen berühren die Vorgaben mit christlichem Bezugin § 22 Abs. 2 JStVollzG-BW die Glaubensfreiheit ausArt. 4 GG und die damit verbundene Neutralitätspflicht desStaates 42 (Art. 4 Abs. 1, 3 Abs. 3, 33 Abs. 1, 140 GG i.V.m.Art. 136 Abs. 1, Abs. 4, 137 Abs. 1 WRV), welche den Staat(zumindest) dazu verpflichtet, in Glaubensfragen neutral zubleiben und sich nicht mit einer bestimmten Religionsgemeinschaftzu identifizieren. 43 Eben eine solche religiöseParteinahme fällt dem baden-württembergischen Gesetzgebermit der in § 22 Abs. 2 JStVollzG-BW gewählten Formulierungaber zur Last: Art. 4 Abs. 1 GG garantiert die Freiheit,keinem bestimmten Glauben anzugehören und sich religiösenÄußerungen entziehen zu können (negative Religionsfreiheit).44 Dies sichert den Menschen davor, dem Einfluss einesbestimmten Glaubens in einer vom Staat geschaffenen Lageunterworfen zu sein, ohne ausweichen zu können. 45 Die Inhaftierungstellt für den Gefangenen eine Situation dar, in derer sich der nach den Vorgaben des § 22 Abs. 2 JStVollzG-BW christlich auszugestaltenden Erziehung nicht entziehenkann – gerade die Erziehung ist ja Aufgabe des Jugendstrafvollzugs.Den Behandlungsangeboten, die ihm gestellt werdenund die am christlichen Menschenbild orientiert sind,kann der junge Gefangene nicht ausweichen, ohne auf einewirksame Resozialisierung – auf die er als Strafgefangenerim Allgemeinen und als jugendlicher Gefangener im Besondereneinen Rechtsanspruch hat – verzichten zu müssen.Besondere Brisanz hat diese Situation, weil § 23 Abs. 1JStVollzG-BW eine vergleichsweise unbestimmt gehalteneMitwirkungspflicht des Gefangenen „an den Maßnahmen zurErfüllung des Erziehungsauftrages“ normiert. Ein Verstoßgegen diese Mitwirkungspflicht kann zu Disziplinarmaßnahmenführen (§§ 95 ff. JStVollzG-BW). Der Jugendliche stehtalso vor der Wahl, bei Nichtmitwirkung mit Disziplinarmaßnahmenrechnen zu müssen oder aber unter Verzicht aufseine negative Religionsfreiheit mitzuwirken – nach dengemäß dem Kruzifixurteil des Bundesverfassungsgericht 46geltenden Maßstäben ist dies sub specie Art. 4 Abs. 1 GG einuntragbarer gesetzlicher Zustand.Zwar ist es in Baden-Württemberg (insbesondere imSchulrecht) mehr oder minder gute Tradition, mit einer ge-41 So die verbal überzogene, aber sachlich berechtigte Kritikvon Dünkel/Pörksen, NKrimPol 2007, 55; vgl. auch B.-D.Meier, RdJB 2007, 141 (147): Die Norm wirke „in ihremüberzogenen Pathos lebensfremd und lächerlich“.42 Eisenberg, NStZ 2008, 251 (mit Fn. 9), der darauf verweist,dass selbige verfassungsrechtliche Bedenken (eingeschränkt)auch für § 3 Abs. 1 S. 3 JStVollzG Sachsen („Ehrfurchtvor allem Lebendigen“, „Nächstenliebe“, „sittlichesund politisches Verantwortungsbewusstsein“) Geltung beanspruchen.43 BVerfGE 93, 1 (16 f.).44 Morlok, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Bd. 1,Art. 1-19, 2. Aufl. 2004, Art. 4 Rn. 64.45 BVerfGE 93, 1 (16).46 BVerfGE 93, 1._____________________________________________________________________________________570<strong>ZIS</strong> 11/2008
Die normative Kraft des Kontrafaktischen_____________________________________________________________________________________wissen Privilegierung christlicher Erziehungs- und Bildungsinhaltezu arbeiten; so widerspricht nach § 38 Abs. 2 S. 3SchulG-BW die „Wahrnehmung des Erziehungsauftrags nachArtikel 12 Absatz 1, Artikel 15 Absatz 1 und Artikel 16 Absatz1 der Verfassung des Landes Baden-Württemberg unddie entsprechende Darstellung christlicher und abendländischerBildungs- und Kulturwerte oder Traditionen [...] nichtdem Verhaltensgebot nach Satz 1“ (scil. dem Neutralitätsgebotder Lehrkräfte in staatlichen Schulen). Allerdings muss,wer mit einer Parallele zum Schulrecht argumentieren möchte,auch die verfassungskonforme Reduktion solcher privilegierenderVorschriften durch die Rechtsprechung mitmachen.Jene bekannte Praxis, Normen mit überstarker religiöserSchlagseite „verfassungskonform“ einen konsensfähigenNorminhalt unterzuschieben und die Normen dadurch vordem Verdikt der Verfassungswidrigkeit zu bewahren, führtdazu, dass bei verfassungskonformer Auslegung der entsprechendenschulrechtlichen Normen die in ihnen zum Ausdruckkommende „Bejahung des Christentums“ sich nur „auf dieAnerkennung eines prägenden Kultur- und Bildungsfaktors,wie er sich in der abendländischen Geschichte herausgebildethat, jedoch nicht auf Glaubenswahrheiten“ beziehen darf,anderenfalls die betreffenden Bestimmungen verfassungswidrigwären. 47 Eine wertende Auswahl zwischen den konkurrierendenReligionen (im Jugendstrafvollzug vornehmlich demIslam und dem Christentum) im Sinne einer Bevorzugungsteht dem Staat nicht zu, auch wenn die Mehrheit der jungenGefangenen in baden-württembergischen Jugendstrafanstaltenchristlichen Glaubenshintergrundes sein dürften. 48 Bedurftees in der Schulkreuz-Entscheidung des BVerfG nocheines argumentativen Rückgriffs auf Art. 7 Abs. 3, Abs. 5GG, die staatliche Weltanschauungs- und Bekenntnisschulengestatten, Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach vorsehenund „darüber hinaus Raum für aktive Betätigung derGlaubensüberzeugung“ lassen, 49 so enthält das Grundgesetzfür den Jugendstrafvollzug keine solche Vorschriften. Schondie Nichtexistenz einer entsprechenden, den Jugendstrafvollzugbetreffenden originär grundgesetzlichen Norm weist aufdie Verfassungswidrigkeit des § 22 Abs. 2 JStVollzG-BWhin.Steht eine Auslegung der Vorschrift streng nach demWortlaut folglich im Widerspruch zum GG, so stellt sichauch hier die Frage nach einer den Anforderungen desGrundgesetzes genügenden Auslegungsweise. Isoliert manden Sinn und Zweck der christlich-patriarchalisch anmutendenVorschrift von ihrem verunglückten Wortlaut, so ergibtsich scheinbar ein anderes Bild. Ausweislich der Gesetzesbe-47 BVerfGE 41, 65 (78, 82), kursive Hervorhebung von denVerf.48 Vgl. Huster, Die ethische Neutralität des Staates – eineliberale Interpretation der Verfassung, 2002, S. 173 ff., derfür die ähnlich gelagerte Problematik des Kreuzes in derSchule klarstellt, dass sich eine Rechtfertigung der Bevorzugungeiner Glaubensrichtung nicht mit der positiven Religionsfreiheitbegründen lässt.49 BVerfGE 93, 1 (22) unter fälschlichem Verweis aufBVerfGE 41, 29 (49); 52, 223 (240 f.).gründung wollte der baden-württembergische Gesetzgebereine gewisse Wertestruktur vermitteln und dem Verfassungsgeberder LV gegenüber nicht durch Veränderung des Textesrespektlos erscheinen. 50 Diesem Ansatz ist zuzugeben, dassdie christliche Nächstenliebe Werte beinhaltet, die als Gemeingutgelten und sich auch im GG wiederfinden, nämlichu.a. Achtung vor dem Leben und der Umwelt, Toleranz gegenüberMitmenschen sowie ein Mindestmaß an sozialerSolidarität. Diesen Wertekatalog können auch Andersgläubigeund humanistisch orientierte Atheisten unterschreiben;nennen sie diese Werte nicht ihr eigen, so können sie sichangesichts der durch die Grundrechte statuierten objektivenWerteordnung und des in diesem Lichte zu verstehendenErziehungsauftrages nicht darauf berufen, von jeglicher Erziehungfrei zu bleiben. Folglich sind gegen die edukativeVermittlung von Werten, die auch essentialia des Christentumssind, als solche von Verfassungs wegen keine Einwändezu erheben. 51 Zweifelhaft ist aber, ob eine solche (verfassungskonforme)Auslegung statthaft ist. Denn anders als imSchulrecht ist in § 22 Abs. 2 JStVollzG von „Ehrfurcht vorGott“ und von „der christlichen Nächstenliebe“, ohne jedenZweifel zentrale Themen des christlichen Glaubens und damitGlaubensinhalte, die Rede. Die Entkleidung des § 22Abs. 2 JStVollzG-BW von seinem Wortlaut und die Reduktionder „Ehrfurcht vor Gott“ sowie der „christlichen Nächstenliebe“auf die „Anerkennung eines prägenden Kultur- undBildungsfaktors, wie er sich in der abendländischen Geschichteherausgebildet hat“ 52 führt dazu, dass das gesetzgeberseitsbewusst gewählt Christliche auf einen Residualbestandbeschränkt wird, der die Charakterisierung des Jugendstrafvollzugsals „christlich“ kaum rechtfertigt.Hätte der Gesetzgeber eine solche Auslegung gewollt, sowäre es wesentlich weniger konfliktträchtig gewesen, eineweltanschaulich neutrale Formulierung zu wählen, schon umsich nicht dem Vorwurf der Inkonsequenz auszusetzen, einerseitsden Gefangenen unter maßgeblicher Berufung aufchristliche Werte erziehen zu wollen, andererseits aber unterBerufung auf das Neutralitätsgebot das Tragen des Kopftuchsin den Schulen Baden-Württembergs – gleichfalls Erziehungsanstaltenim besten Sinne des Wortes – zu verbieten. 53Um § 22 Abs. 2 JStVollzG-BW angesichts dieses Selbstwi-50 Landtag-BW-Drs. 14/1240, S. 73.51 So wohl auch Sonnen (Fn. 27), § 3 JStVollzG Rn. 5, derdie in der Gesetzesformulierung zum Ausdruck kommendeHilflosigkeit im Umgang mit der Wertevermittlung im starkpluralistischen Strafvollzug betont. Ohne Realitätsbezughingegen Wulf, in: Dölling (Hrsg.), Wohin entwickelt sichder Strafvollzug?, S. 65 (80 f.): „Wichtiger und auch einzukunftsträchtiger Programmsatz“, durch den „die Praxis desJugendstrafvollzuges aufgefordert“ werde, „zur Werterziehungder jungen Gefangenen beizutragen“.52 BVerfGE 41, 65 (78).53 So auch DBH, Fachverband für Soziale Arbeit, Strafrechtund Kriminalpolitik (2007), Stellungnahme zu den gegenwärtigvorliegenden Gesetzesentwürfen der Länder zur Regelungdes Strafvollzugs, abrufbar unter:http://www.dvjj.de/download.php?id=576 (Stand 20.2.2008), S. 6._____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com571
Annkatrin Wegemund/Jan Dehne-Niemann_____________________________________________________________________________________derspruchs verfassungsrechtlich zu retten, müsste man dieVorschrift also schon verfassungskonform dahin auslegenkönnen, dass lediglich diejenigen <strong>Inhalt</strong>e der christlichenNächstenliebe im Strafvollzug zu berücksichtigen sind, diesich auch im GG finden lassen. Allerdings würde dies zueiner Dopplung der Erziehungsgrundsätze führen, denn in§ 22 Abs. 2 JStVollzG-BW ist zusätzlich die freiheitlichdemokratische Gesinnung aufgeführt, die bereits die Achtungder im GG enthaltenen Grundrechte beinhaltet. 54 Ist eineverfassungskonforme Auslegung nur insoweit möglich, alssie nicht gegen den klar erkennbaren Willen des Gesetzgebersverstößt 55 und nicht mit einem anderen Auslegungsgrundsatz– hier dem der systematischen Interpretation –kollidiert, so steht einer verfassungskonforme Auslegungdamit die Gesetzessystematik entgegen – eine Dopplung vonErziehungsgrundsätzen innerhalb eines Satzes kann der Gesetzgebersystematisch nicht gewollt haben. Auch lässt sichdie Norm nicht im Sinne einer Reduktion der „christlichenNächstenliebe“ auf allgemein anerkannte gesellschaftlicheWerte interpretieren, denn das scheitert an der Unbestimmtheitdieses Begriffes, dessen Konkretisierung in einer pluralistischenGesellschaft nahezu unmöglich ist. Zudem stehtauch hier der Wille des Gesetzgebers entgegen, der bewussteinen Bezug zum Christentum herstellen wollte.Nach alledem ist § 22 Abs. 2 JStVollzG-BW verfassungskonformerAuslegung nicht zugänglich. Wegen Verstoßesgegen Art. 4 GG und das Neutralitätsgebot des Staates istdie Norm verfassungswidrig. Auch für die Erziehung imJugendstrafvollzug beansprucht somit die Formulierung BökenfördesGeltung, der freiheitliche Staat lebe von weltanschaulichenVoraussetzungen im Bewusstsein seiner Bürger,die er aber selbst nicht garantieren könne, ohne seine Freiheitlichkeitaufzugeben, 56 weshalb der weltanschaulichethischeBedarf der politischen Ordnung nicht dazu berechtigt,die staatliche Neutralität insbesondere im Bereich derReligion 57 in Frage zu stellen. 58 Auch wenn kaum zu erwartenist, dass die Norm des § 22 Abs. 2 JStVollzG-BW selbsteinmal auf den Prüfstand der Verfassungsrichter gerät –schließlich werden aus ihr selbst kaum jemals unmittelbarRechtsfolgen hergeleitet werden –, so darf sie dennoch nichtbei der Interpretation anderer Normen (insbesondere desMitwirkungsgebotes) berücksichtigt werden, ohne dasssachwidrige, weil grundgesetzwidrige Gesichtspunkte eingestelltwürden.c) Zur Auslegung des ErziehungsbegriffsEiner verfassungskonformen Korrektur im Wege der Normauslegungbedarf in diesem Zusammenhang auch der Begriffdes Erziehungsauftrages (§ 21 JStVollzG-BW). Erziehung54 Vgl. BVerfGE 2, 1 (12 f.).55 BVerfGE 95, 64 (93).56 Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang derSäkularisation, in: ders. (Hrsg.), Recht, Staat, Freiheit, 1991,S. 112 f.57 Böckenförde, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, 1970,S. 226 f. (256 f.).58 Sog. Böckenförde-Paradoxon, vgl. Huster (Fn. 48), S. 200 ff.kann einerseits Förderung des Jugendlichen zu einem straffreienLeben bedeuten, andererseits einen über das Ziel desstraffreien Lebens hinausgehenden Zwang zur Konformitätbeinhalten. Ein im letzteren Sinne verstandener, bevormundender,gleichsam „klassischer“ Erziehungsbegriff unterlägedem Einwand, nicht dem Grundsatz größtmöglicher Selbstbeschränkungstaatlicher Eingriffe zu genügen, indem derMensch zur „inneren Umkehr“ gezwungen wird und einangepasstes Leben führen muss. 59 Mithin ist der Erziehungsbegriffeinschränkend dahin zu interpretieren, dass unterErziehung ausschließlich eine Förderung des Jugendlichenverstanden wird, die nicht wie die Erziehung an den Defizitendes Jugendlichen ansetzt, sondern an seinen Entwicklungsfähigkeiten.60 Resozialisierung von Jugendlichen ist allein überein Angebot zur Förderung bestehender Stärken, nicht aberdurch eine zwangsweise auszuübende Erziehung alter Schulezu erreichen. Angesichts der psychischen Normalbefindlichkeiteines Jugendstrafgefangenen kann von einer therapeutischerreichbaren Defizitstruktur auch überhaupt nicht ausgegangenwerden: Üblicherweise ist bei jugendlichen Strafgefangenendie Ablehnung, sich an erziehenden Vollzugsmaßnahmenzu beteiligen, selbstschützender Natur; sie dientder Erhaltung einer psychischen Reststabilität. Auf Defiziten„herumzureiten“, wirkt sich somit als zusätzliche psychischeBelastung aus, die leicht kontraproduktiv wirken kann. Dementspricht es, dass es empirische Anhaltspunkte gibt, nachdenen die Legalbewährung bei Mitwirkungsverweigerernnicht schlechter ausfällt als bei solchen Jugendstrafgefangenen,die an Vollzugsmaßnahmen teilnahmen. 61 Mit diesenFakten hätte sich der Gesetzgeber zumindest einmal auseinandersetzenmüssen, hat doch das BVerfG die besondereBedeutung kriminologischer Erkenntnisse für die Ausgestaltungdes Jugendstrafvollzugs betont. Auch hier geht das59 Eckpunktepapier des DVJJ-Vorstands, ZJJ 2004, 209;Walter, ZJJ 2006, 236 (239). Dem entspricht es, dass etlicheandere Bundesländer auf die Verwendung des Terminus„Erziehung“ verzichtet haben.60 Ostendorf, ZRP 2008, 15. – Vgl. auch den pädagogischsystemtheoretischenAnsatz Rehbeins, in: Sieber (Hrsg.),Festschrift für Klaus Tiedemann, 2008, S. 1607 (1611 f.), derdarauf verweist, dass das Vollzugsziel der „Verhinderungvon weiterer Entsozialisierung mit dem Ergebnis fortgesetzterKriminalisierung“ durch den Erziehungsprozess nur erreichtwerden kann, wenn der junge Gefangene „die Legitimitätder Rechtshandlung […] als pädagogische Zuwendungerfahren“ könne. Dazu ist erforderlich, dass der GefangeneErziehung „nicht nur als Ordnung, sondern als Gerechtigkeitund Fairness“ erfährt. – Schon Schüler-Springorum, in : Herren(Hrsg.), Festschrift für Würtenberger, 1977, S. 425 (434 f.)hat davor gewarnt, den Begriff „Erziehung“ als Generalklauselfür behandlungsorientierte Eingriffe zu verwenden unddafür plädiert, bestimmte „erziehungsfeste Rechtspositionen“zu schaffen, in deren Bereich „Interessen, die [...] zur Beschneidungvon Positionen des Gefangenen führen, sozusagena limine außer Diskussion stehen.“61 Vgl. die Nachweise bei Eisenberg, MSchrKrim 2004, 353(355 f., dort Fn. 13)._____________________________________________________________________________________572<strong>ZIS</strong> 11/2008
Die normative Kraft des Kontrafaktischen_____________________________________________________________________________________JStVollzG-BW klar an der Vollzugsrealität vorbei, und zwarnicht nur an der Realität des Vollzugs, sondern auch undgerade an der Realität derer, die im Vollzug stecken. Das den§§ 21, 22 JStVollzG-BW zugrunde liegende ideologischmotivierte, pseudoreligiös-altväterliche Erziehungsverständnisist kontrafaktisch.Überdies: Die Vermeidung einer Defizitorientierung beider „Erziehung“ – besser wären die Begriffe „Behandlung“oder „Angebotsförderung“ gewesen – ist verfassungsrechtlichangesichts eines Anteils von 90 % der Heranwachsenden unddamit Volljährigen im Jugendstrafvollzug der einzig gangbareWeg, da bei volljährigen Gefangenen nach dem Wegfalldes elterlichen Erziehungsrechts auch nicht mehr der subsidiärestaatliche Erziehungsauftrag besteht, der einen Eingriff indas Selbstbestimmungsrecht junger Gefangener zuließe. 62Insbesondere für diese Gruppe von Jugendsträflingen kannalso „Erziehung“ nur als eine dem allgemeinen Resozialisierungszielnahestehende Förderung bestehender Entwicklungsmöglichkeitenverstanden werden. Die Maxime „Zuerstnach dem suchen, was dieser Mensch (scil. der Gefangene)an Wertvollem in sich trägt“ (Camus) gilt aber auch für sonstige,also nichtheranwachsende Jugendsträflinge. Dem hiervertretenen Standpunkt entspricht es, dass auch der Entwurfdes Bundesjustizministeriums 2006 den Begriff der Förderungverwendete 63 und dass auch in einigen Jugendstrafvollzugsgesetzenanderer Bundesländer expressis verbis vonFörderung (nicht von Erziehung) die Rede ist. Ein Erziehungskonzeptim Jugendstrafvollzug, wie es § 22 Abs. 2JStVollzG-BW vor Augen hat, das über das Ziel des Lebensohne Straftaten hinausgeht, ist daher abzulehnen – auch ohneGottesehrfurcht ist ein Leben ohne Straftaten möglich –,sodass eine gänzliche Streichung des § 22 Abs. 2 JStVollzG-BW zu befürworten ist.IV. Die Mitwirkungspflicht junger Gefangener (§ 23Abs. 1 JStVollzG-BW)Nach § 23 Abs. 1 JStVollzG-BW sind die Gefangenen „berechtigtund verpflichtet, an den Maßnahmen zur Erfüllungdes Erziehungsauftrages mitzuwirken“. 64 Damit kommt dieVorschrift zunächst den Forderungen der Fachverbände nacheiner Statuierung von Mitwirkungsrechten des Gefangenen 65nach und genügt Art. 12 UN-KRK, der eine Beteiligung vonKindern in allen sie betreffenden Angelegenheiten fordert.Die Norm setzt aber auch bewusst eine Mitwirkungspflichtder jungen Gefangenen fest, bei deren NichteinhaltungDisziplinarmaßnahmen (§§ 95 ff. JStVollzG-BW) verhängtwerden können. Zu dieser Pflicht zählen ausweislich derEntwurfsbegründung ausdrücklich auch die Duldung derFreiheitsentziehung und die Anwendung von Disziplinarmaßnahmenbei Flucht und Fluchtversuchen. 66 Jedenfalls,wenn man zutreffenderweise davon ausgeht, dass der Fluchtversuchbei Erwachsenen nicht als Pflichtverletzung sanktioniertwerden darf, 67 liegt in der Fluchtahndung eine unangebrachteSchlechterstellung junger Gefangener; hinzu zumallgemeinen Rechtssatz, dass niemand zur Mitwirkung an dereigenen Bestrafung gezwungen werden darf und dass deshalban den Versuch, sich der Bestrafung zu entziehen, keinenachteiligen Folgen geknüpft werden dürfen, tritt hier derjugendspezifische und -typische Freiheitsdrang als Ursacheder oftmals gänzlich unüberlegten Flucht, dessen Disziplinierungim Hinblick auf die Aufrechterhaltung der Anstaltsordnungerstens unnötig und zweitens wenig erfolgversprechendsein dürfte.Auch ganz unabhängig vom Spezialfall der Flucht kenntdas Erwachsenenstrafvollzugsrecht keine allgemeine Mitwirkungspflichtbei der Resozialisierung, sondern nur Mitwirkungspflichtenin dem durch das Strafvollzugsrecht in Einzelbestimmungengezogenen Rahmen. Die damit bestehendeSchlechterstellung Jugendlicher gegenüber Erwachsenen 68 istauch im Strafvollzug höchst problematisch – die Rechte Jugendlicherdürfen nach ganz überwiegender Meinung nichtunter Berufung auf Erziehungsgesichtspunkte stärker eingeschränktwerden als die Erwachsener. 69 Und selbst wenn mannun im Jugendstrafvollzugsrecht ein höchst eigenständigesund ganz bewusst vom Erwachsenenstrafvollzug abgesetztesRegelungssystem sehen und deshalb „die dort getroffenenWertentscheidungen […] systemrelativ […] legitimieren“möchte, mit anderen Worten: den Jugendlichen bzw. Heranwachsendenim Jugendstrafvollzug „nicht besser und auchnicht schlechter, sondern schlicht anders“ behandelt sehenwill, 70 so hätte der Gesetzgeber des Landes Baden-Württemberg sich jedenfalls mit der Sinnhaftigkeit einersolchen Pflicht zur Mitwirkung auseinandersetzen müssen.Nimmt man die soziale Lage und die Vergangenheit derinhaftierten Jugendlichen in den Blick, so erweist sich auchdie Etablierung einer Verpflichtung, an der eigenen Erziehungmitzuwirken, als kontrafaktisch. Die meisten jungenGefangenen haben eine kriminelle Karriere hinter sich, bereitsetliche gescheiterte Erziehungsversuche erlebt und –auch wenn man die ohnehin jugendtypische Oppositionshal-62 Ostendorf, ZRP 2008, 15.63 § 3 des Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung des Jugendstrafvollzugs(GJVollz) des BJM, Stand 7.6.2006.64 Eine solche allgemeine Mitwirkungspflicht enthalten beinahealle Landesgesetze, vgl. § 4 S. 1 JStVollzGe Berlin,Brandenburg, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz,Sachsen-Anhalt, Saarland, Sachsen, Thüringen;§ 5 S. 1 JStVollzG Schleswig-Holstein, § 4 Abs. 1 JStVollzGNRW, § 114 Abs. 2 StVollzG Niedersachsen, Art. 123 Abs. 2Bayerisches StVollzG, § 4 Abs. 1 JStVollzG Hessen, § 5Abs. 2 VollzG Hamburg.65 Eckpunktepapier des DVJJ-Vorstands (Fn. 59), 211.66 Landtag-BW-Drs. 14/1240, S. 76.67 Vgl. Laubenthal (Fn. 11), Rn. 730.68 Dünkel/Pörksen, NKrimPol 2007, 64; Sonnen, Stellungnahmezum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Regelungdes Jugendvollzugs (unter 2.3.), abrufbar unterhttp://www.dvjj.de/artikel.php?artikel=436 (Stand 20.2.2008).69 Zum Verbot der Schlechterstellung Jugendlicher gegenüberErwachsenen s. Eisenberg (Fn. 14), § 45 Rn. 9; ders.,MSchrKrim 2004, 356; Tierel, Vergleichende Studie zurNormierung des Jugendstrafvollzugs, 2008, S. 167.70 Vgl. allgemein Geisler, NStZ 2002, 452; explizit zumJugendstrafvollzugsrecht nun Arloth, GA 2008, 129 (137)._____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com573
Annkatrin Wegemund/Jan Dehne-Niemann_____________________________________________________________________________________tung gegenüber Erziehern außer Betracht lässt – jedenfallsdurch ihre Vergangenheit eine „chronifizierte Abwehrhaltunggegen erzieherische Einflussnahme“ entwickelt. Daher kanngerade bei jugendlichen Strafgefangenen nicht davon ausgegangenwerden, dass sie zur Mitwirkung an der Erreichungdes Vollzugsziels willens und in der Lage sind. 71 Auch hierist wieder daran zu erinnern, dass die vielen jungen Strafgefangeneneigene ablehnende Haltung zum Vollzug der Erhaltungeines Mindestmaßes an psychischer Stabilität dient, denzu beseitigen weder in puncto Legalbewährung bessere Ergebnissezeitigt 72 noch mitmenschlich vertretbar wäre.Dem hat jüngst Arloth entgegenhalten, dass eine erzwungeneMitwirkung jedenfalls dann nicht kontraproduktiv wirke,wenn „dem jungen Gefangenen […] unmissverständlichklar gemacht“ werde, „dass das Gesetz ein bloßes Absitzender Jugendstrafe nicht duldet“. Es werde „von den jungenGefangenen erwartet, dass sie sich auf die Erziehungsmaßnahmeneinlassen“; eine Mitwirkungspflicht bleibe „in derpraktischen Wirkung bedeutungslos, wenn nicht an einenVerstoß Sanktionen geknüpft sind.“ 73 Aber erstens geht Arlothselbst davon aus, dass die Verletzung der Mitwirkungspflichtallein keine Disziplinarmaßnahmen nach sich ziehenwird, jedoch ein Verstoß gegen die Mitwirkungspflicht ein„wesentliches Entscheidungskriterium für Lockerungen,Urlaub und vorzeitige Entlassung“ darstelle. 74 Das zeigt, dasses weniger um eine (ohnehin kontrafaktische) Erzwingungder Mitwirkung geht, sondern vielmehr um die Berücksichtigungvon generalpräventiven Gesichtspunkten bei einzelnenVollzugsentscheidungen. Überdies wird mit Arloths Argumentationvorausgesetzt, was belegt werden müsste, nämlich,dass die Auferlegung einer Mitwirkungspflicht zu einer nennenswertenVerbesserung etwa der Legalbewährung bei jungenGefangenen führt, sich also auf die Erziehung zu einemstraflosen Leben in Freiheit positiv auswirkt. Dafür, dass sicheine Mitwirkung am Vollzug in puncto Legalbewährungsignifikant auswirkt, gibt es jedoch nicht den leisesten empirischenHinweis. Die Verdeutlichung der Mitwirkungspflichtmittels einer gesetzlichen Normierung, die dem Gefangenenseine Mitwirkungsverpflichtung „unmissverständlich klar“mache, ist funktionslos, wenn sie bloß um ihrer selbst willenbesteht.Mit der Normierung der Mitwirkungspflicht hat sich derbaden-württembergische Gesetzgeber demgegenüber jenenStimmen angeschlossen, die eine Förderung des Gefangenennur bei einer entsprechenden Mitwirkungsverpflichtung für71 Tierel, Vergleichende Studie zur Normierung des Jugendstrafvollzugs,2008, S. 168 f.; auch Eisenberg, NStZ 2008,250 (252) hält eine „erzwungene Mitwirkung an der eigenenErziehung“ für „kontraproduktiv“.72 Eisenberg, MSchrKrim 2004, 353 (355 f. m.w.N. inFn. 13); ders., NStZ 2008, 250 (252 f.); Hood et al., BritishJournal of Criminology 42 (2002), 383 (386 f.).73 Arloth, GA 2008, 129 (137).74 Arloth, GA 2008, 129 (137).realisierbar halten. 75 Eine solche sanktionierbare Mitwirkungspflichtist allerdings nach Ansicht der Fachverbände„inhaltlich zu unbestimmt, praktisch nicht handhabbar undnicht willkürfest“. 76 Dies und die beschriebene Kontrafaktizitätdes Mitwirkungsgedankens lassen besorgen, dass mit der– sicherlich gesetzgeberseits gut gemeinten – allgemeinenMitwirkungspflicht in praxi eine generalklauselartige 77 Normenfalleaufgebaut worden ist, die über die Sanktionsbewehrung(§§ 95 ff. JStVollzG) in der Vollzugsrealität nur nochals Universalbegründung für jegliche negative Entscheidungzu Lasten des Angeklagten herhalten muss.Jenseits dieser mehr faktischen Erwägungen bestehenauch verfassungsrechtliche Bedenken gegen eine allgemeinePflicht an der Mitwirkung beim Streben nach der Erreichungdes Vollzugsziels: Es muss berücksichtigt werden, dass dieseVerpflichtung der Mitwirkung an der eigenen Bestrafunggleichkommt, denn das Jugendstrafrecht hat den Zweck,erneuten Straftaten durch den Einsatz erzieherischer Mittelentgegenzuwirken (§ 2 JGG n.F.). Die Verpflichtung einesjungen Gefangenen, an eben diesen erzieherischen Maßnahmenim Vollzug mitzuwirken, kollidiert mit der Menschenwürdegarantieaus Art. 1 Abs. 1 GG, denn diese beinhaltetauch, dass ein Gefangener ein Urteil innerlich ablehnt, weiles objektiv falsch ist oder auch einfach deshalb, weil man esals ungerecht empfindet. 78 Dass genau so die psychischeBefindlichkeit junger Strafgefangener liegt, belegen empirisch-kriminologischeBefunde: Ganz überwiegend bestehtdie Haltung der jungen Strafgefangenen zum Strafvollzug indem Bestreben, „dass die Tatsache des Eingewiesenseins diehöchstpersönliche Wirklichkeit nicht berühren möge“. Jene„Dissonanz zwischen dem […] Bewusstsein, selbst Täter […]zu sein und dem Wunsch nach einem davon befreiten Selbstverständnis“79 dient – und hier führt die Argumentation wie-75 Deutscher Richterbund (2007), Eckpunkte des Deutschen Richterbundesfür Jugendstrafvollzugsgesetze der Länder (unter 5.),abrufbar unter:http://www.dvjj.de/artikel.php?artikel=741 (Stand 20.2.2008).76 Mindeststandards von DVJJ, DBH, BAG Soziale Arbeit imJustizvollzug, ADB (Fn. 4), 95; Resolution des 31. Strafverteidigertageszum Jugendstrafvollzug (Fn. 4), Nr. 3.77 Vgl. nochmals schon Schüler-Springorum (Fn. 60), S. 425(434 f.), der vor der generalklauselartigen Verwendung desBegriffs „Erziehung“ warnt; die seinerzeit perhorreszierteSuprematie des Erziehungsgedankens hat der badenwürttembergischeLandesgesetzgeber mit der Verpflichtungzur Mitwirkung an der Erziehung aus § 23 Abs. 1 JStVollzG-BW auf die Spitze getrieben.78 Ostendorf, ZRP 2008, 16. – Zum Gerechtigkeitspostulat imJugendstrafvollzug aus pädagogisch-systemtheoretischer Sichtvgl. Rehbein (Fn. 60), S. 1607 (1611 f.).79 Eisenberg, MschrKrim 2004, 353 (358). – Das lässt sichübrigens auch gegen die Opferbezogenheit des Jugendstrafvollzugsaus § 22 Abs. 5 JStVollzG-BW einwenden. EineAuseinandersetzung mit den „dem Opfer zugefügten Tatfolgen“,die Voraussetzung für „geeignete Maßnahmen zumAusgleich“ (Wulf [Fn. 51], S. 81) mit dem Tatopfer wäre,könnte die zumeist sowieso fragile psychische Stabilität zum_____________________________________________________________________________________574<strong>ZIS</strong> 11/2008
Die normative Kraft des Kontrafaktischen_____________________________________________________________________________________der in die Jugendkriminologie – der Aufrechterhaltung einerpsychischen Reststabilität, die der Jugendstrafvollzug schonaus Förderungsgründen besser nicht antasten sollte und dieaufrechtzuerhalten der Staat angesichts Art. 1 Abs. 1 GGverpflichtet ist.Gänzlich unvertretbar ist die allgemeine Mitwirkungspflichtaus § 23 Abs. 1 JStVollzG-BW schließlich schondeshalb, weil – nie und deshalb auch im Jugendstrafvollzugnicht auszuschließende – Fehlurteile schon aus Gründen der„materiellen Gerechtigkeit“, aber auch psychologisch rein garkeinen Anlass bieten, das Vollzugsziel zu verfolgen. Auchwenn über die Häufigkeit von Fehlurteilen im Jugendstrafvollzug,soweit ersichtlich, keine Befunde existieren, geht esviel zu weit, Mitwirkung bei der Durchführung des Vollzugeseiner Strafe, die – objektiv, nicht „lediglich subjektiv“ empfunden– falsch ist, zu verlangen. Mit Recht hat daher Eisenbergdie Einführung einer allgemeinen Mitwirkungspflichtim Jugendstrafvollzug als „kontrafaktisch“ bezeichnet. 80Hatte der Gesetzgeber des (Erwachsenen-)StVollzG sichnoch seinerzeit bewusst gegen die Normierung einer allgemeinenMitwirkungspflicht ausgesprochen, um „oberflächlicheAnpassungsstrategien“ zu vermeiden, die eine Resozialisierunggefährden können 81 und um die Subjektstellung desGefangenen zu sichern, so läuft es nun dieser Subjektstellungzuwider, den Gefangenen qua Mitwirkungspflicht zum Objektstaatlicher Anstrengungen zu degradieren. 82 Dass, wiemanche demgegenüber zur Verteidigung der Mitwirkungspflichtmeinen, durch die Auferlegung einer Generalpflichtdie Subjektstellung des jungen Strafgefangenen gestärktwerden soll 83 , ist grundrechtstheoretisch nicht begründbar:Die Auferlegung jedenfalls einer allgemeinen Mitwirkungspflichtim Strafvollzug betrifft den jungen Gefangenen imstatus negativus, weshalb die Pflichtauferlegung sich nichtzugleich als Realisierung des status positivus darstellen kann– nicht einmal als Stärkung des Resozialisierungsanspruchs,weil die Generalpflicht dafür viel zu ungenau formuliert ist. 84Einsturz bringen. Ohnehin ist es keine neue Erkenntnis, dassdie Einbeziehung vollzugsfremder Gesichtspunkte (wie auchSchuld- und Sühneverarbeitung, vgl. Böhm [Fn. 18], S. 1017mit Fn. 19) in die Angebotsförderung das Klima des Strafvollzugesvergiften können und deshalb in puncto Erziehungkontraproduktiv wirken können, vgl. nochmals Eisenberg,MschrKrim 2004, 353 (358); ohne Begründung anders fürden Erwachsenenstrafvollzug, nämlich für eine Einbeziehungder Opferperspektive in die Behandlung Arloth (Fn. 7), § 2Rn. 7.80 Eisenberg, MschrKrim 2004, 353 (355 f.).81 Calliess/Müller-Dietz (Fn. 15), § 4 Rn. 4; Feest/Lesting, in:Feest (Hrsg.), Kommentar zum Strafvollzugsgesetz, 5. Aufl.2006, § 4 Rn. 5.82 Günter Tondorf/Babette Tondorf, ZJJ 2006, 241 (245);Walter, NKrimPol 2007, 17.83 Das meint Schwirzer, Jugendstrafvollzug für das 21. Jahrhundert,2007, S. 69.84 Zur Unterscheidung von Abwehrstatus und sozialem Integrationsstatusvon Strafgefangenen vgl. Würtenberger, NJW 1969,1747 (1748 f.), der auch darauf hinweist, dass „die individuel-Zudem wird der Anspruch des Jugendlichen auf Förderungim Strafvollzug in eine Obliegenheit zur Selbstresozialisierungverwandelt, indem bei misslungener Resozialisierungdie Verantwortlichkeit dafür nicht der Anstalt, sondern demJugendlichen selbst zugeschrieben wird. 85 Mit der nach demBVerfG zuvörderst dem Staat auferlegten besonderen Verantwortungfür die Entwicklung des Jugendlichen ist dieseZuschreibung nicht zu vereinbaren.Eine sanktionierbare Verpflichtung des Gefangenen zurMitwirkung ist daher verfassungswidrig – das Wort „verpflichtet“in § 23 Abs. 1 JStVollzG-BW muss gestrichenwerden. Vielmehr muss der Vollzug auf die stetige Motivationder Gefangenen zur Inanspruchnahme der Behandlungsangeboteund auf ein Belohnungssystem setzen. 86 Ein solchesBelohnungssystem wurde durch § 22 Abs. 7 JStVollzG-BWbereits bedacht, eine zusätzliche Motivations- und Förderungsaufgabedes Vollzugspersonals sollte jedoch durch denZusatz „Die Mitwirkungsbereitschaft ist zu wecken und zufördern“ im Rahmen des § 23 JStVollzG-BW normiert werden.87V. Unterbringung1. Offener Vollzug und freie Formen des Vollzugs, §§ 5, 27JStVollzG-BWBaden-Württemberg nimmt durch die Zulassung des Vollzugsin freien Formen in §§ 5, 27 Abs. 1 JStVollzG-BWBezug auf die positiven Erfahrungen, die mit dem ProjektChance e.V. gemacht worden sind, 88 das mit dieser Alternativezum klassischen Vollzug eine Wiedereingliederung durchErlernen sozialer Kompetenzen fördert. Die dafür erforderlicheEignung (§ 27 Abs. 1 JStVollzG-BW) setzt auch dieUnterbringung im offenen Vollzug voraus, jedoch ist zusätzlichdazu noch das Kriterium der Erfüllung der MitwirkungsleFreiheitssphäre des Gefangenen“ keinesfalls „gegenübersozialen Anforderungen an ihn schlechthin aufgeopfert werdendürfte“; für ein Umschlagen des Grundrechts auf Freiheitvon Besserungsbemühungen (das durch den strafrechtlichenEingriffstatbestand suspendiert sei) in einen Anspruch resozialisierendeHilfe Schüler-Springorum (Fn. 60), S. 425 (434Fn. 27), der zu Recht darauf hinweist, dass das Problem diesesAnspruchs darin besteht, dass zu seiner Erfüllung dieProduktion neuer Eingriffstatbestände erforderlich ist.85 Walter, NKrimPol 2005, 18; ders., KrimJ 2008, 21 (27). –Die besondere staatliche Verantwortung für den jugendlichenStrafgefangenen ist auch der Grund dafür, dass § 23 Abs. 1JStVollzG entgegen der Meinung der hessischen FDP-Landtagsfraktion nicht als Mitwirkungsobliegenheit begriffenwerden kann, deren Verletzung zum Verlust eines Anspruchsauf bestimmte Behandlungsmaßnahmen führen würde, vgl.Sonnen (Fn. 27), § 4 JStVollzG Rn. 2.86 So auch Eckpunktepapier des DVJJ-Vorstands (Fn. 59),211.87 Eine ganz ähnliche Formulierung findet sich in § 4 Abs. 2Hessisches JStVollzG.88 Vgl. Dünkel/Pörksen, NKrimPol 2007, 58._____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com575
Annkatrin Wegemund/Jan Dehne-Niemann_____________________________________________________________________________________pflicht zu prüfen, § 27 Abs. 2 JStVollzG-BW. 89 Die Verlegungin den offenen Vollzug von einer Mitwirkung des Gefangenenan seiner Erziehung abhängig zu machen, berücksichtigtallerdings nicht, dass die Eignung für den offenenVollzug nicht notwendig in Zusammenhang mit der Bereitschaftzur Mitwirkung an der Erfüllung des Erziehungsauftragesstehen muss. 90 So kann auch bei einem Gefangenen,der das Urteil – aus welchen Gründen auch immer – für sichablehnt, der offene Vollzug positive Effekte (Rückfallminimierung,Entgegenwirkung von Prisonisierungseffekten)entfalten. 91 Eine Verlegung in den offenen Vollzug darf dahernicht vom Kriterium der Mitwirkungsbereitschaft abhängiggemacht werden, zumal dies nicht den Anforderungen desBundesverfassungsgerichts, die Kontakte zur Außenweltbesonders zu fördern, 92 entspricht und bereits oben (IV.) dieVerfassungswidrigkeit der Mitwirkungspflicht festgestelltwurde. Die Formulierung „wenn er seine Mitwirkungspflichterfüllt“ ist daher zu streichen. Eine Orientierung am Missbrauchsrisikowie im Erwachsenen-Strafvollzug (vgl. § 10Abs. 1 StVollzG) ist ausreichend, darüber hinausgehendeKriterien nicht mit dem Verbot der Schlechterstellung Jugendlicherzu vereinbaren. Auch hier zeigt sich, dass Baden-Württemberg entgegen der Forderung des BVerfG kriminologischgesicherte Erkenntnisse zugunsten eines ideologischmotivierten Kontrafaktizitätsvollzugs außenvorgelassen hat.Die Regelung über den offenen und geschlossenen Vollzug(§ 27 JStVollzG-BW) lässt nicht erkennen, welche Unterbringungdie Regelform ist. Ein Regel-Ausnahme-Verhältnis ist aus Sicht des Gesetzgebers auch nicht erforderlich,die Unterbringung orientiert sich an der Erfüllung derVoraussetzungen für den offenen bzw. geschlossenen Vollzug.93 Von federführender Stelle aus dem badenwürttembergischenJustizministerium heißt es, es sei die„umstrittene Frage, was denn nun Regelstrafvollzug sein soll,[...] bereits im Ansatz falsch“. Es gehe „darum, wer für welcheUnterbringungsform geeignet ist.“ 94 Aber erstens nenntdas Gesetz keine Kriterien, welche für die Eignung für dieUnterbringung im offenen Vollzug maßgeblich sind bzw.welche Kriterien die Eignung ausschließen. Die darin liegendeUnbestimmtheit des unbestimmten Rechtsbegriffs „Eignung“(§ 27 Abs. 1 JStVollzG-BW) möchte dem Vollzugsdienstdie Definition des Eignungsbegriffs überlassen, anstattin einem extrem grundrechtssensiblen Bereich (Art. 2 Abs. 2GG, Artt. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG) die wesentlichen Entscheidungenselbst zu treffen. Es kommt zweitens erschwerendhinzu, dass § 27 Abs. 1 JStVollzG-BW als Rechtsfolge einungebundenes Ermessen anordnet und für den Fall der Erfüllungder Erziehungsmitwirkungspflicht eine Soll-Bestim-89 Die Mitwirkungsbereitschaft als Voraussetzung des offenenVollzuges enthält auch § 11 Abs. 4 Nr. 1 HamburgischesStrafvollzugsgesetz.90 Eisenberg, NStZ 2008, 250 (254).91 Dünkel/Pörksen, NKrimPol 2007, 58.92 BVerfGE 116, 69 (87 f.).93 Landtag-BW-Drs. 14/1240, S. 62.94 Wulf (Fn. 51), S. 73.mung trifft. 95 Welche Aspekte aber neben der Eignung imgrundrechtsrelevanten Bereich des Resozialisierungsanspruchsnoch bei der Ausübung des (intendierten) Ermessensberücksichtigungsfähig bzw. -pflichtig sind, ist nicht ersichtlich.96 Ist der junge Gefangene für den offenen Vollzug geeignet– nach welchen Kriterien auch immer –, so gibt ihmArt. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG einen Anspruchauf entsprechende Unterbringung und nicht lediglich aufAusübung eines Ermessens nicht näher umschriebenen <strong>Inhalt</strong>es.Für eine Regelfallunterbringung im offenen Vollzug mitder Konsequenz, dass Zweifelsfälle zugunsten des offenenVollzugs zu lösen sind, sprechen auch Erkenntnisse der Vollzugsforschung:Aufgrund seiner großen Bedeutung für Resozialisierungund Verhinderung von Prisonisierungseffektenist eine generelle Vorrangstellung des offenen Vollzuges zufordern 97 . Mit der Statuierung von Ermessensnormen – zumalim Zusammenspiel mit dem unbestimmten Rechtsbegriff derEignung – hat der baden-württembergische Gesetzgeberdemgegenüber versucht, die Gesetzesbindung der Vollzugsbehördenzu lockern und ihnen die Gelegenheit gegeben, aufden Jugendstrafvollzug „den Daumen drauf“ zu halten. Mitder verfassungsrechtlichen und -gerichtlichen Vorgabe desResozialisierungsziels ist eine solche Vollzugsausgestaltungnicht zu vereinbaren.2. Wohngruppen, § 33 JStVollzG-BW§ 33 JStVollzG-BW regelt in Übereinstimmung mit Bundesverfassungsgerichtund Fachverbänden 98 die Unterbringungin Wohngruppen als Regelform. Ein Ausschluss ist bei Gefangenenvorgesehen, die „nicht gruppenfähig sind“. Positivist, dass die Wohngruppe als soziales Lernfeld begriffenwird, in dem auch „gewaltfreie Konfliktlösungen“ erlerntwerden sollen, was in Anbetracht der oft gewaltbelastetenVergangenheit der Gefangenen sinnvoll ist. Auch die Trennungvon Jugendlichen und Heranwachsenden, wie sie in § 4JStVollzG-BW angelegt ist, und die Bildung der Wohngruppennach dem „individuellen Entwicklungsstand und Erziehungsbedarf“in § 33 Abs. 1 JStVollzG-BW erfüllen dieVorgabe des Bundesverfassungsgerichts nach einer Differenzierung.Allerdings wurde keine Wohngruppengröße festgelegt,um flexibel zu bleiben, wenn neue Erkenntnisse eineandere Größe vorzugswürdiger erscheinen lassen. 99 Eine95 Ähnlich Art. 140 Abs. 1 BayStVollzG, § 21 Abs. 1 StVollzGHamburg.96 Angesichts der Unzulässigkeit generalpräventiver Erwägungenbei der Ausgestaltung des Jugendstrafvollzuges könneninsbesondere Abschreckungs- und Normgeltungsverdeutlichungsgesichtspunktekeine Berücksichtigung bei der Ermessensausübungüber die Vollzugsform finden.97 Mindeststandards von DVJJ, DBH, BAG Soziale Arbeit imJustizvollzug, ADB (Fn. 4), 95.98 BVerfGE 116, 69 (88); Mindeststandards von DVJJ, DBH,BAG Soziale Arbeit im Justizvollzug, DAB (Fn. 4), 95; KatholischeBundesarbeitsgemeinschaft Straffälligenhilfe imDeutschen Caritasverband, 2007, S. 2.99 Wulf (Fn. 51), S. 70 f._____________________________________________________________________________________576<strong>ZIS</strong> 11/2008
Die normative Kraft des Kontrafaktischen_____________________________________________________________________________________Belegungshöchstgrenze hätte indes normiert werden sollen,um den sozialen Bezugsrahmen, den die Wohngruppe vermittelnsoll, nicht unter den Vorbehalt finanzieller Machbarkeitserwägungender Haushaltspolitik zu stellen. Ebensosollte eine Präzisierung des unbestimmten Begriffs der Gruppenfähigkeiterfolgen, da ein Ausschluss aus der Wohngruppefür den Gefangenen eine sehr einschneidende Maßnahmedarstellt. 1003. Einzel- und GemeinschaftsunterbringungDie Gefangenen werden gemäß § 33 Abs. 4 JStVollzG-BWwährend der Ruhezeit einzeln untergebracht. Eine Ausnahmeist möglich, wenn alle Gefangenen zustimmen und keinschädlicher Einfluss zu befürchten ist. Dies entspricht denallgemeinen Forderungen nach einer Regelung, die denSchutz der jungen Gefangenen vor Übergriffen garantiert 101und Nr. 18. 5 EPR (2006).§ 7 Abs. 2 JStVollzG-BW normiert die Größe der Hafträumebeim Bau neuer Anstalten: Einzelhafträume sind auf 9qm, Gemeinschafträume auf mindestens 7 qm pro Gefangenerzu bemessen. Die Einhaltung gewisser Grundflächen warbereits in der Rechtsprechung angemahnt worden, die zulässigeMindestgröße eines Haftraumes selbst allerdings unterschiedlichbeurteilt worden. 102 Zudem legt § 7 Abs. 2JStVollzG-BW fest, dass beim Bau neuer Jugendstrafanstaltenim geschlossenen Vollzug eine Einzelunterbringung derGefangenen zur Ruhezeit vorgesehen werden soll. Um denSchutz vor Übergriffen sicherzustellen, den das Bundesverfassungsgerichtgefordert und der Gesetzgeber ausdrücklichin § 22 Abs. 4 JStVollzG-BW normiert hat, sollte diese Sollineine Muss-Vorschrift abgeändert werden.Positiv ist die Normierung von Mindeststandards für einenGemeinschaftshaftraum in § 9 Abs. 3 JStVollzG-BW. Sodarf dieser nur dann als Haftraum genutzt werden, wenn erüber eine „baulich abgetrennte und entlüftete Sanitäreinrichtung(WC) verfügt“. Damit und mit der Festlegung angemessenerGrundflächen trägt der Gesetzgeber der Menschenwürde(Art. 1 GG) und dem Verbot menschenunwürdiger Behandlung(Art. 3 EMRK) sowie Nr. 34 VN-Regeln Rechnung,die es erfordern, dass eine Privatsphäre des Einzelnengewährleistet bleibt.Für die bereits bestehenden Anstalten setzt § 9JStVollzG-BW die Belegungsfähigkeit mit mindestens 4,5qm pro Gefangenem bei Doppelbelegung eines Gemeinschaftshaftraumesund mit mindestens 6 qm bei einer höherenBelegung fest. Diese Quadratmeterzahlen sind ausgesprochengering bemessen, erfüllen aber zumindest nach dem OLGKarlsruhe noch die Voraussetzung einer menschenwürdigenUnterbringung – sofern ein abgetrenntes WC besteht. 103 Geradedieses Erfordernis eines abgetrennten Sanitärbereichs alsder Mindestvoraussetzung für eine menschenwürdige Unterbringungkann jedoch in § 10 Abs. 2 JStVollzG-BW durchschriftliche Zustimmung aller Gefangenen abbedungen werden.Diese Regelung ist sehr problematisch: Gibt ein Gefangenerseine Zustimmung nicht, so droht ihm eventuell eineVerlegung in eine andere Anstalt, was für ihn eine schwereBelastung darstellen und ihn dazu veranlassen mag, die Zustimmungzu erteilen, obwohl er nicht einverstanden ist. 104Eine Unterbringung trotz fehlender Abtrennung der Toilettedarf aufgrund dieser Bedenken generell nicht möglich sein.Den baden-württembergischen Gesetzgeber, der § 10 Abs. 2JStVollzG-BW damit begründete, dass man auf Dauer nichtauf eine solche Unterbringung verzichten können wird, 105sollte man an Nr. 4 EPR (2006) erinnern, wonach „Mittelknappheit“keine Rechtfertigung für menschenrechtswidrigeVollzugsbedingungen sein kann. Eine sofortige Änderung derGesetzeslage ist angezeigt.VI. Schule, Ausbildung und Arbeit, §§ 60 ff. JStVollzG-BW, Vollzugslockerungen und Entlassungsvorbereitung1. §§ 60 ff. JStVollzG-BW regeln die Erziehung im Leistungsbereich.Dieser lässt das Gesetz eine herausragendeBedeutung zukommen, denn es normiert einen Anspruch aufSchule, Ausbildung und Arbeit, § 60 Abs. 1 JStVollzG-BW,während das JStVollzG-BW im Übrigen hauptsächlich mitSoll- und Ermessensregeln arbeitet, denen nach allgemeinenRegeln nur ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidungkorrespondiert. Indem in der Reihenfolge der Absätzedes § 60 JStVollzG-BW zum Ausdruck kommt, dass beigleicher Geeignetheit der Maßnahmen 106 die schulische undberufliche Ausbildung vor der Arbeit den Vorrang hat, entsprichtdie Vorschrift den Forderungen der Fachverbände.Noch weitergehend hätte jedoch auch dann der Ausbildungder Vorrang eingeräumt werden sollen, wenn der Gefangenesich dafür weniger eignet als für Arbeitstätigkeit, da eineabsolvierte Ausbildung die Chance auf einen Arbeitsplatz beider späteren Wiedereingliederung vergrößert. Dies entsprächeauch der vom BVerfG betonten besonderen Bedeutungder Förderung der Jugendlichen in Form von sozialem Lernenund der Ausbildung von Kenntnissen und Fähigkeiten inHinblick auf eine berufliche Integration; nur dadurch kannder Staat seiner besonderen Verantwortung für die Entwicklungder jungen Gefangenen gerecht werden. 107Positiv ist die in § 32 Abs. 3 JStVollzG-BW vorgeseheneund vom Bundesverfassungsgericht geforderte Möglichkeit,eine begonnene Ausbildung oder Behandlung nach Vollzugsendefortzusetzen. Ebenso ist die Normierung des sozialenTrainings und von Sprachkursen in § 63 JStVollzG-BW zubegrüßen, für die wie für Ausbildung und Schule in § 65JStVollzG-BW eine Ausbildungsbeihilfe vorgesehen ist, diein der Höhe der Bezahlung der arbeitenden Gefangenen entspricht.2. Der Terminus der „vollzugsöffnenden Maßnahmen“ in§ 29 JStVollzG-BW vereint sowohl Vollzugslockerungen als100 Ebenso Eisenberg (Fn. 14), § 91 Rn. 82.101 BVerfGE 116, 69 (88); Resolution des 31. Strafverteidigertageszum Jugendstrafvollzug (Fn. 4), Nr. 5.102 Vgl. OLG Frankfurt NStZ-RR 2005, 155 (156).103 OLG Karlsruhe NStZ-RR 2005, 224.104 Neue Richtervereinigung, Landesverband Baden-Württembergund Fachgruppe Strafrecht (Fn. 8), S. 6.105 Landtag-BW-Drs. 14/1240, S. 65.106 Landtag-BW-Drs. 14/1240, S. 98.107 BVerfGE 116, 69 (86)._____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com577
Annkatrin Wegemund/Jan Dehne-Niemann_____________________________________________________________________________________auch Urlaub (§§ 11, 13 StVollzG), was der besseren Verständlichkeitdienen soll. 108 Die Gewährung von vollzugsöffnendenMaßnahmen hängt wie in § 11 StVollzG davon ab, obder Gefangene geeignet ist, d.h. ob verantwortet werdenkann, zu erproben, dass der Gefangene die Maßnahme nichtmissbraucht. Anders als im StVollzG wird aber zusätzlichnoch eine ausreichend gefestigte Persönlichkeit verlangt unddie Gewährung nicht von einer Zustimmung des Gefangenenabhängig gemacht. Diese fördert jedoch die Selbstverantwortungdes Gefangenen und damit die Wiedereingliederung 109und sollte daher Voraussetzung sein.Zur näheren Bestimmung der Geeignetheit des Gefangenensollen nach Ansicht des Gesetzgebers die von der Rechtsprechungentwickelten Kriterien zu § 10 StVollzG entsprechendangewandt werden. Dabei hat der Gefangene keinenAnspruch auf Lockerungen („Vollzugsöffenende Maßnahmenkönnen gewährt werden“, § 29 JStVollzG-BW), sondernnur auf ermessensfehlerfreie Entscheidung. Zu den Kriterien,die in die Ermessensausübung einfließen dürfen, soll auch dieBereitschaft und Fähigkeit zur Mitarbeit zählen, 110 was bedeutet,dass das Kriterium, ob junge Gefangene ihre Mitwirkungspflichtenerfüllen, auch hier berücksichtigt wird. 111 Die(zumal disziplinarrechtlich ahndbare) Pflicht zur Mitwirkungwurde bereits oben als verfassungswidrig entlarvt. Auch hierdarf sie als Ermessenskriterium keine Berücksichtigung finden,da sonst eine indirekte Disziplinierung möglich wäre,die das von Verfassungs wegen insbesondere im Jugendstrafvollzuganzumahnende Verbot einer Mitwirkungspflichtunterläuft. 112VII. Sicherheit und Ordnung: Disziplinierung, §§ 95 ff.JStVollzG-BW und Einzelhaft, §§ 82, 96 JStVollzG-BW1. Gemäß § 95 Abs.1 JStVollzG-BW dürfen bei Pflichtverletzungendes Gefangenen Maßnahmen angeordnet werden,die geeignet sind, „ihm sein Fehlverhalten bewusst zu machen“.Dazu sind in erster Linie die von den Fachverbändengeforderten erzieherischen Maßnahmen 113 vorgesehen, die ineinem erzieherischen Gespräch, der Konfliktschlichtung, aberauch in der Erteilung von Auflagen und Weisungen und derBeschränkung der Freizeitgestaltung liegen können. Reichendiese Maßnahmen nicht aus, sind subsidiär Disziplinarmaßnahmenmöglich, § 95 Abs. 2 JStVollzG-BW. Die zulässigenDisziplinarmaßnahmen sind in § 96 JStVollzG-BW abschließendaufgezählt. Der geforderte Vorrang der erzieherischenMaßnahmen entspricht der Auffassung des BVerfG, dassbezüglich der Sanktionierung von Pflichtverstößen aufgrundder schwierigen Übergangsphase, in der sich der junge Gefangenebefindet und die mit Spannungen und Anpassungsschwierigkeiteneinhergeht, ein besonderer Regelungsbedarfbesteht. 114108 Landtag-BW-Drs. 14/1240, S. 82.109 Eisenberg (Fn. 14), § 91 Rn. 67.110 Callies/Müller-Dietz (Fn. 15), § 10 Rn. 6.111 Landtag-BW-Drs. 14/1240, S. 83.112 Ebenso Feest/Lesting (Fn. 81), § 10 Rn. 13.113 Eckpunktepapier des DVJJ-Vorstands (Fn. 59), 212.114 BVerfGE 116, 69 (87).Als Voraussetzung für eine erzieherische Maßnahme odereine Disziplinarmaßnahme nennt § 95 JStVollzG-BW lediglicheine schuldhafte Pflichtverletzung. Aus rechtsstaatlichenGründen hätte jedoch ein Katalog der Pflichtverstöße, die zuDisziplinarmaßnahmen führen, normiert werden sollen, umden Gefangenen zu verdeutlichen, welche Verhaltensweisenein Disziplinarverfahren nach sich ziehen können, und ihneneine Ausrichtung ihres Verhaltens daran zu ermöglichen. 115Dies fordert auch Nr. 57. 2 EPR (2006). Die bereits kritisiertegenerelle Mitwirkungspflicht der jungen badenwürttembergischenStrafgefangenen ist also theoretisch mitden Mitteln des Disziplinarrechts durchsetzbar. In den disziplinarrechtlichenNormen laufen also alle bisherigen Kritiksträngeinsofern zusammen und kulminieren die verfassungsrechtlichenBedenken, als Verfassungswidriges mit den Mittelndes sehr allgemein gehaltenen Disziplinarrechts erzwungenwerden kann. So kann nach der Konzeption desJStVollzG-BW der Staat (theoretisch) von jedem Gefangenennicht nur verlangen, an seiner eigenen christlich zu prägendenErziehung (§ 22 Abs. 2 JStVollzG) mitzumachen, sonderndieses Verlangen gegebenenfalls auch zwangsweise durchsetzen;auch kann etwa der Vorrang der Arbeit vor der Ausbildungdurch Disziplinarmaßnahmen erzwungen werden.Keine Berücksichtigung hat im JStVollzG-BW auch derVorschlag gefunden, erzieherische Maßnahmen auf ein erzieherischesGespräch 116 zu beschränken. Vielmehr sind Maßnahmenwie die Beschränkung der Freizeitgestaltung möglich,die sich auch im Katalog der Disziplinarmaßnahmenwiederfinden (§ 96 Abs. 1 Nr. 3 JStVollzG-BW). Dies lässtbesorgen, dass unter dem Deckmantel der Erziehung dasErfordernis hinreichender Bestimmtheit des Disziplinarrechtsunterlaufen wird; zugleich zeigt sich, dass es dem badenwürttembergischenLandesgesetzgeber bei der Ausgestaltungdes Jugendstrafvollzugs weniger um ein angebotsförderndesErziehungs- als vielmehr um ein ordnungsfixiertes Verwahrungskonzeptging.2. Die Einzelhaft ist ebenso wie in Nr. 80, 87 VVJug sowohlals Besondere Sicherungsmaßnahme in § 82 als auch alsDisziplinarmaßnahme in § 96 Abs. 1 Nr. 7 JStVollzG-BWvorgesehen. Dabei fällt auf, dass die Zustimmung der Aufsichtsbehördebereits bei wesentlich kürzerer Einzelhaft (eineWoche im Jahr, § 82 Abs. 2 JStVollzG-BW) eingeholt werdenmuss als im Erwachsenenvollzug (3 Monate im Jahr,§ 89 Abs. 2 StVollzG). Damit finden die Besonderheiten derjungen Gefangenen Berücksichtigung, die sich in einem anderenZeitempfinden und einer stärkeren Strafempfindlichkeitäußern. 117Allerdings verbietet Nr. 67 VN-Regeln die isolierendeEinzelhaft bei Jugendlichen, da sie eine Beeinträchtigung derkörperlichen und geistigen Gesundheit darstellen kann, weshalbmanche Fachverbände für eine Abschaffung plädie-115 Vgl. Walter, Zentralblatt für Jugendrecht 11/2004, 397(403).116 Vgl. Mindeststandards von DVJJ, DBH, BAG SozialeArbeit im Justizvollzug, ADB (Fn. 4), 96.117 Landtag-BW-Drs. 14/1240, S. 110._____________________________________________________________________________________578<strong>ZIS</strong> 11/2008
Die normative Kraft des Kontrafaktischen_____________________________________________________________________________________ren. 118 Zudem trägt die Isolationswirkung der Einzelhaft beiJugendlichen nicht zum Resozialisierungsziel bei, da sieRückzugstendenzen verschärft und Aggressionen gegen dasVollzugspersonal und gegen die eigene Persönlichkeit erzeugt.119 Somit ist der Arrest kriminologisch und auch pädagogischkontraindiziert, da eine Auseinandersetzung mit dereigenen Pflichtverletzung nicht in Isolation erfolgen kann.Daher sollte die Anordnung von Einzelhaft nicht möglichsein.Selbst wenn man Einzelhaft für erforderlich hält (etwa umden Eindruck zu vermeiden, schwere Verfehlungen würdennicht bestraft – nebenbei: einmal mehr eine unzulässige generalpräventiveErwägung), 120 so ist zumindest eine zeitlicheBeschränkung der Höchstdauer zu fordern, sowie dass keinevöllige Isolation stattfinden darf (vgl. Art. 67 VN-Regelnsowie Nr. 35 CTP-Standards). Auch die Entwurfsbegründungdes niemals realisierten JStVollzG des Bundes ging davonaus, dass der junge Gefangene in Einzelhaft weiter betreutwerden muss. Eine Normierung des besonderen Betreuungsbedarfs,aber auch der Gewährleistung eines Minimums anKontakt wie beim Hofgang oder durch erweiterte Besuchsregelungen,hätte jedoch stattfinden müssen, um den Gefangenenvor Isolation zu schützen und insofern verbindliche Standardszu gewährleisten.Als Disziplinarmaßnahme ist auch eine „Beschränkungdes Verkehrs mit Personen außerhalb der Anstalt auf dringendeFälle bis zu 3 Wochen“ vorgesehen, § 96 Abs. 1 Nr. 6JStVollzG-BW. Dies verstößt gegen die Standards des CTP,Nr. 67 VN-Regeln und läuft der Betonung der Bedeutungfamiliärer Kontakte durch das BVerfG zuwider. § 96 Abs. 1Nr. 6 JStVollzG-BW ist daher zu streichen.VIII. RechtsschutzDer bislang im Jugendstrafvollzug geltende Rechtsweg über§ 23 EGGVG zu den Oberlandesgerichten wurde vomBVerfG und von den Fachverbänden im Hinblick auf dasRecht auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) fürnicht ausreichend gehalten. 121 Dieser Rechtsweg ist durch dieSchriftlichkeit eines Verfahrens vor dem OLG geprägt. Geradejunge Gefangene haben aber Schwierigkeiten, sich schriftlichauszudrücken und sind im Umgang mit Gerichten unsicher.Zudem ist das OLG oft weit vom Anstaltsort entfernt.Deshalb regeln die §§ 101 ff. JStVollzG-BW den Rechtsschutznun auf andere Weise. Der Regelungskomplex ent-118 Katholische Bundesarbeitsgemeinschaft Straffälligenhilfeim Deutschen Caritasverband, 2007, Eckpunkte für den Jugendstrafvollzug,S. 4, abrufbar unter:http://www.dvjj.de/download.php?id=557 (Stand 20.2.2008);Resolution des 31. Strafverteidigertages zum Jugendstrafvollzug(Fn. 4), Nr. 6.119 Rehbein, Jugendstrafvollzugsgesetz; Entwurf, Anmerkungzu § 52, abrufbar unter:http://www.dvjj.de/download.php?id=487 (Stand 20.2.2008).120 Landtag-BW-Drs. 14/1240, S. 110.121 BVerfGE 116, 69 (88); Mindeststandards von DVJJ,DBH, BAG Soziale Arbeit im Justizvollzug, ADB (Fn. 4),96.spricht weitgehend dem der §§ 108 ff. StVollzG, weist jedochauch einige Besonderheiten auf. So ist in § 102 Abs. 3JStVollzG-BW die Zuständigkeit des ortsnahen Vollstreckungsleitersgeregelt, und die gerichtliche Entscheidungwird in mündlicher Verhandlung oder nach mündlicher Anhörungdes Gefangenen in der Anstalt herbeigeführt (§ 107JStVollzG-BW), was das Bundesverfassungsgericht als jugendgerechtangesehen hat. 122 Von der Auferlegung vonKosten kann nach § 111 Abs. 3 JStVollzG-BW abgesehenwerden. Damit setzen die Regelungen prinzipiell die Anforderungenan einen den Besonderheiten des jungen Gefangenenentsprechenden Rechtsschutz um.Aus kriminologischer Sicht ist die Zuständigkeit desVollstreckungsleiters auch für Entscheidungen im Strafvollzugkritisiert und die Schaffung einer Zuständigkeit der Jugendkammerfavorisiert worden, weil ein Jugendrichter, derden jungen Gefangenen bereits zu Jugendstrafe verurteilt hat,als Vollstreckungsleiter bei der Entscheidung über die Vollstreckungsmaßnahmevoreingenommen erscheinen und damitdie Besorgnis der Befangenheit erwecken könnte. 123 Aberdieses Bedenken erscheint jedenfalls im erziehungsorientiertenJugendstrafvollzug übervorsichtig. Es ist kaum anzunehmenund entbehrt auch einer empirischen Grundlage, dass einjunger Gefangener, der erstmals mit einer mit mehreren Personenbesetzten Kammer konfrontiert wird, die Unsicherheitvor Gericht ablegen können wird. Die Zuständigkeit einereinzelnen, dem Inhaftierten bekannten Person als Ansprechpartnerliegt demgegenüber näher und trägt den vom Bundesverfassungsgerichtangenommen Schwierigkeiten jungerGefangener im Umgang mit Gerichten Rechnung. Für eineZuständigkeit des Jugendrichters als Vollstreckungsleiterspricht überdies sein besonderes Erfahrungswissen, welcheseine zügige und in höherem Maße fundierte Entscheidunggarantiert. 124 Die legislative Entscheidung für eine Zuständigkeitdes Vollstreckungsleiters ist jedenfalls inhaltlichfolglich nicht zu beanstanden, sondern im Gegenteil zu begrüßen.Probleme ergeben sich aber in Hinblick auf die Gesetzgebungskompetenzfür das gerichtliche Verfahren. Auch nachder Föderalismusreform hat der Bund hierfür die konkurrierendeGesetzgebungskompetenz behalten, Art. 74 Abs. 1Nr. 1 GG. Zum System des gerichtlichen Rechtsschutzesgehört prinzipiell auch das gerichtliche Verfahren gegenStrafvollzugsentscheidungen. Der Landesgesetzgeber Baden-Württembergs erachtete sich hingegen selbst für zuständig,da ihm jetzt die Kompetenz zur Regelung des Strafvollzugszukommt, und leitet eine Regelungsbefugnis kraft Sachzusammenhangauch für das dies betreffende gerichtliche Verfahrenher. 125 Eine Länderkompetenz kraft Sachzusammenhangist grundsätzlich ebenso möglich wie eine entsprechendeBundeskompetenz, 126 jedoch sind daran hohe Anforderun-122 BVerfGE 116, 69 (89).123 Vgl. Ostendorf, ZRP 2008, 14.124 Günter Tondorf/Babette Tondorf, ZJJ 2006, 241 (247).125 Wulf, Forum Strafvollzug 2007, 58 (61).126 Degenhart, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar,3. Aufl. 2003, Art. 70 Rn. 37._____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com579
Annkatrin Wegemund/Jan Dehne-Niemann_____________________________________________________________________________________gen zu stellen. 127 Voraussetzung ist, dass die Materie, diedem Landesgesetzgeber zugewiesen ist, nicht sinnvoll geregeltwerden kann, ohne dass der an sich dem Bundesgesetzgebervorbehaltene Bereich mitgeregelt wird. 128 Die Regelungdes Jugendstrafvollzugs ohne den Bereich des Rechtsschutzesist jedoch möglich und kann sinnvoll durchgeführtwerden. Zudem erleichtert eine bundeseinheitliche Regelungdem Gefangenen die Geltendmachung seiner Rechte, bspw.bei einer Verlegung in ein anderes Bundesland. Daher ist eineLänderkompetenz kraft Sachzusammenhang abzulehnen.Vor dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts herrschteUnklarheit darüber, ob der Bund durch § 23 EGGVG geradevon seiner Kompetenz zur Regelung des gerichtlichen Verfahrensim Jugendstrafvollzug Gebrauch gemacht hat und§ 23 EGGVG eine Sperrwirkung für den Landesgesetzgebererzeugt. 129 Durch das Urteil vom 31.5.2006 hat das Bundesverfassungsgerichtdie alleinige Möglichkeit des Rechtswegsüber § 23 EGGVG bei jungen Gefangenen für verfassungswidrigerklärt. Daher ergibt sich laut Landesgesetzgeber seineZuständigkeit auch bei konkurrierender Gesetzgebung aufgrunddes Fehlens einer ausreichenden bundesgesetzlichenRegelung. 130 Diese Argumentationsweise trifft zwar grundsätzlichzu, allerdings hat der Bundesgesetzgeber in einemReferentenentwurf zum JGG-Änderungsgesetz vom 13.4.2007die §§ 109 ff StVollzG weitgehend für anwendbar erklärt unddie Jugendkammer für zuständig erachtet. 131 Diese Änderungensind am 1.1.2008 ins JGG übernommen worden: § 92JGG regelt den Rechtsweg in oben dargestellter Weise neu.Die Regelungen des JStVollzG-BW sind somit seit Änderungdes JGG nichtig (Art. 31, 72 Abs. 1GG ), 132 da der Bund vonseiner Gesetzgebungskompetenz abschließend Gebrauchgemacht hat. <strong>Inhalt</strong>lich sind die überkommenen Regelungendes JStVollzG-BW denen des § 92 JGG (Zuständigkeit derJugendkammer) vorzuziehen; immerhin ist die Kammer gemäߧ 92 Abs. 1 S. 1 JGG mit einem (1) Richter besetzt, sodass die obigen Bedenken hinsichtlich der abschreckendeWirkung auf den jungen Gefangenen, der sich einer ganzenKammer gegenübersieht, nicht verfangen; aufgrund der größerenSachnähe des Vollstreckungsleiters wäre es gleichwohlvorzuziehen gewesen, den Jugendrichter bundesrechtlich in§ 92 JGG n.F. für zuständig zu erklären. Nur am Rande seikritisiert, dass die Norm des § 92 Abs. 4 S. 3 JGG, nach dem„der Richter die Sache der Jugendkammer“ vorlegt, wenn„die Sache besondere Schwierigkeiten rechtlicher Art“ auf-127 Degenhart, Staatsrecht, Bd. 1, Staatsorganisationsrecht, 23. Aufl.2007, Rn. 170.128Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die BundesrepublikDeutschland, Kommentar, 9. Auflage 2007, Art. 70 Rn. 9, 17.129 Eisenberg (Fn. 14), § 91 Rn. 145.130 Landtag-BW-Drs. 14/1240, S. 111.131 DVJJ, Gesetz zur Änderung des Jugendgerichtsgesetzes(JGGÄndG), Stellungnahme zum Referentenentwurf desBMJ vom 13.4.2007 (unter 6.), abrufbar unter:http://www.dvjj.de/artikel.php?artikel=886 (Stand 1.3.2008).132 Arloth, GA 2008, 129 (141); ders. (Fn. 7), § 109 Rn. 1ahält die §§ 102 ff. JStVollzG-BW – rechtstechnisch ungenau– für „gegenstandslos“.weist oder ihr „grundsätzliche Bedeutung“ zukommt, unterdem Aspekt des gesetzlichen Richters aus Art. 101 Abs. 1S. 2 GG höchst problematisch ist: Das aus Art. 101 Abs. 1S. 2 GG folgende Gebot manipulationsfreier Richterzuweisung133 verlangt, dass die betreffende Sache Richter in punctoZuständigkeit gleichsam „blindlings“ erreicht. 134 Demgegenüberführt die Verwendung der unbestimmten Rechtsbegriffe„besondere Schwierigkeiten rechtlicher Art“ oder „grundsätzlicheBedeutung“ – unabhängig davon, ob ihre Handhabunggerichtlich voll überprüfbar ist oder nicht – dazu, dass überdie Zuständigkeit für den Antrag auf gerichtliche Entscheidungnicht der Geschäftsverteilungsplan als abstraktgenerellesRegelwerk entscheidet, sondern derjenige Kammerrichter,der mit der Sache befasst ist. Dem Recht auf dengesetzlichen, d.h. gesetzlich bestimmten Richter genügt einsolchermaßen richterlich bestimmter Richter nicht. 135IX. FazitDas JStVollzG-BW ist bedauerlicherweise durchsetzt mitRegelungen, die mit dem GG nicht in Einklang stehen. Zwarsind einige Lichtblicke zu erkennen, etwa fällt bei der Regelungdes Vollzugs in freien Formen positiv auf, dass derGesetzgeber sich an den Erfolgen des Projekts Chance e.V.orientiert hat, und ebenso ist die Regelung der Wohngruppenals Regelvollzugsform zu begrüßen. Auch das Bemühen,altersgerechten und damit effektiven Rechtsschutz zu ermöglichen,ist zu würdigen. Abzuwarten bleibt allerdings, ob diepositiv herauszuhebenden Normierungen des Schutzes desGefangenen vor Übergriffen sowie des Verbotes unmenschlicherund erniedrigender Behandlung Gefängnisrealität werdenoder ein frommer Wunsch des Gesetzgebers bleiben.133 Vgl. Sowada, Der gesetzliche Richter im Strafverfahren,2002, S. 198.134 BGHSt 7, 23 (24).135 Diese Sichtweise ist freilich sehr umstritten; vielenortswird davon ausgegangen, dass Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG dierichterliche Zuständigkeitsbestimmung nicht verbiete, vgl.etwa BVerfGE 25, 346; Degenhardt, in: Isensee/Kirchhof(Hrsg.), Bd. 3, 1988, § 75 Rn. 20; Jarass/Pieroth (Fn. 128),Art. 101 Rn. 7; Burghart, in: Leibholz/Rinck/Hesselberger(Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Bd. 3, 32. Lieferung, Stand:November 1997, Art. 101 Rn. 116 f. Wie im Text hingegenBettermann, AöR 94 (1969), 263 (291 ff., 301, 303 ff.); Maunz,in: ders./Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Stand: August 1971,Bd. 6, Art. 101 Rn. 35; Sowada (Fn. 133), S. 199 f. (763 f.);Dehne-Niemann, <strong>ZIS</strong> 2008, 239 (242 f.) – Die Problematikstellt sich ähnlich bei der durch das Anklageverhalten derStaatsanwaltschaft präsumierten, gerichtlich überprüfbarenZuständigkeit der Strafgerichte nach §§ 2 f., 7 ff. StPO, §§ 24Abs. 1 Nr. 3, 26 Abs. 1 S. 1, 74a Abs. 2 GVG, vgl. Arnold,<strong>ZIS</strong> 2008, 92 sowie speziell zur beweglichen örtlichen Zuständigkeitnach § 7 Abs. 1 StPO Rotsch, <strong>ZIS</strong> 2006, 17 (22ff., 28: „verfassungswidrig“) sowie bei der durch das Revisionsgerichtbestimmten Zuständigkeit des iudex tertius nach§ 354 Abs. 2 StPO bzw. bei dem nach § 354 Abs. 1a S. 1 StPObestehenden Durchentscheidungsermessen, vgl. Dehne-Niemann, <strong>ZIS</strong> 2008, 239._____________________________________________________________________________________580<strong>ZIS</strong> 11/2008
Die normative Kraft des Kontrafaktischen_____________________________________________________________________________________Negativ sind demgegenüber insbesondere die programmsatzartigenRegelungen zur „kriminalpräventivenAufgabe“ und die Erziehungsgrundsätze zu bewerten, die inder geltenden Form nicht mit dem Grundgesetz zu vereinbarensind und anhand derer sich die wahre, ideologischpaternalistischeNatur des dem baden-württembergischenGesetzgeber vorschwebenden Jugendstrafvollzugsmodellsoffenbart. Auch die Pflicht des Gefangenen zur Mitwirkungund die widrigenfalls bestehende Möglichkeit der Versagungvon vollzugsöffnenden Maßnahmen sind verfassungsrechtlichnicht haltbar und aus kriminologischer Sicht von kontrafaktischemWunschdenken getragen. Die gesetzlich im Zustimmungsfalleeröffnete Möglichkeit einer Gemeinschaftsunterbringungtrotz fehlender Abtrennung des Sanitärbereichsist mindestens bedenklich, der Bereich der Sicherheit undOrdnung wurde kaum an jugendspezifische Besonderheitenangepasst, Vorschläge der Fachverbände und internationaleStandards wurden kaum berücksichtigt.Negativ fällt weiter auf, dass nur in wenigen Fällen einklagbareRechte der Gefangenen bestehen. Baden-Württemberg hat hauptsächlich mit Soll- und Ermessensregelungengearbeitet. Den Grund dafür gibt der badenwürttembergischeGesetzgeber offen zu: Der Jugendstrafvollzugsoll haushaltsverträglich sein, deshalb wird auf einklagbareRechte verzichtet. 136 Außerdem wollte man „keine Ansprüchlichkeitender jungen Gefangenen“ 137 erzeugen; eineabwertende Wortwahl, die auf die Ansicht des Gesetzgebershindeutet, nach den (bindenden, vgl. § 31 BVerfGG) Vorgabendes BVerfG stünden den jungen Gefangenen zu vieleAusgestaltungsansprüche an den Vollzug zu, die ihnen bessernicht zustehen sollten. Die Normierung des Rechts auf Bildung,Arbeit und soziales Training wurde laut Gesetzgeberauch deshalb als Anspruch ausgestaltet, weil man es als „eherunwahrscheinlich [einschätzt], dass ein junger Gefangenerdieses Recht einklagt“ 138 und man daher keine Haushaltsüberlastungbefürchtet. Das zeigt, wie begründet die Sorgeist, nach der Föderalismusreform werde der Haushaltslagegegenüber der Vollzugsqualität höhere Aufmerksamkeiteingeräumt. Bei der Ausgestaltung eines den tiefsten Eingriffin die Freiheitsrechte des Bürgers darstellenden Zustandessind Haushaltsfragen zweitrangig, einklagbare Rechte einesGefangenen in einem Rechtsstaat hingegen unverzichtbar.Zwar hat Baden-Württemberg sich nicht am vielfach perhorreszierten„Wettlauf der Schäbigkeit“ im Jugendstrafvollzugbeteiligt, die Ausgestaltung des Jugendstrafvollzugs in einerden Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts verfassungsrechtlichund kriminologisch genügenden Weise trotzhaushaltsmäßiger Mittelknappheit ist Baden-Württembergjedoch insgesamt nicht gelungen. Zu deutlich schimmert136 Landtag-BW-Drs. 14/1240, S. 1.137 Landtag-BW-Drs. 14/1240, S. 96; Wulf (Fn. 51), S. 70.138 Landtag-BW-Drs. 14/1240, S. 96; vgl. auch Wulf (Fn. 51),S. 70: Die Normierung erfolgte, „um die herausragende Bedeutungdes Leistungsbereichs für die Integration zu unterstreichen.“Aber zur Steigerung des Integrationswillensjunger Gefangener dürfte diese versteckte Symbolik wohlkaum beitragen.allerorten die Präponderanz eines ideologiegeprägten Verwahrungsvollzugsdurch, wo eigentlich ein vernunftorientierter,auf Angebotsförderung ausgerichteter Vollzug stehensollte. Auch wenn die Föderalismusreform eine pluralistischeVollzugsausgestaltung ermöglicht hat, heißt das nicht, dassdie daraus resultierende Vielfalt per se akzeptabel ist; einegesellschaftliche Existenzberechtigung hat im Gegenteil nurein vernünftiger Pluralismus, ein Pluralismus der Vernunft imRawlsschen Sinne. In einem danach zu fordernden vernunftorientiertenföderalen Pluralismus des Jugendstrafvollzugshaben unvernünftige Konzepte keinen Platz. 139 Die badenwürttembergischeVariante eines Verwahrungsvollzugs folgtnach den gewonnenen Erkenntnissen einem solchen unvernünftigenKonzept, weil ihr <strong>Inhalt</strong> nicht rational, sondernallenfalls emotional begründbar ist, weil sich in ihr Reaktionenauf irreale Ängste widerspiegeln (Sicherung der Bevölkerungvor Straftaten, Vollzugsöffnung nur bei Mitwirkung desjungen Gefangenen an seiner eigenen Erziehung), weil mitihr anerzogene Strafbedürfnisse weiter Bevölkerungsteileausgelebt werden, weil ihr weltanschauliches Bevormundungs-und Repressionsgedankengut zugrunde liegt (Erziehungim Geiste der christlichen Nächstenliebe, Disziplinierungvon Erziehungsverweigerern) oder weil mit der „Ansprachevon Primitivreaktionen politische Macht“ gesichertoder erobert werden soll. 140Überhaupt dürfte eine Zersplitterung der jugendstrafvollzugsrechtlichenGesetzgebungskompetenzen angesichts zumTeil erheblicher Unterschiede in puncto Vollzugsziel, vollzugsöffnendenMaßnahmen etc. mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbarsein: Junge Gefangene werden nach bundesrechtlichgeregelten Strafnormen und unter Einhaltung eines bundesrechtlichgeregelten Verfahrens verurteilt. Dass sie bei derVollstreckung, genauer: im Hinblick auf deren Ausgestaltung,den Vollzug, zum Teil extrem unterschiedlichenRechtsregimes unterworfen sein sollen, entbehrt eines sachlichenGrundes 141 ; ein solcher geht aus den Materialien desGesetzes zur Änderung des Grundgesetzes vom 28.8.2006 142auch nicht hervor. Gegen die Gleichheitswidrigkeit des Jugendstrafvollzugslässt sich auch nicht die Kompetenzverteilungdes GG nach der Föderalismusreform ins Feld führen,welche die Unterschiedlichkeit der Vollzugsausgestaltung139 Ostendorf, NStZ 2006, 320 (326) zum Vernunftgedankenim materiellen Jugendstrafrecht unter Verweis auf Rawls,Gerechtigkeit als Fairness, 2001, S. 24.140 Ähnlich Ostendorf, NStZ 2006, 320 (326) gegen die Forderungder Abschaffung von essentialia des materiellen Jugendstrafrechts.141 Vgl. Frommel, NKrimPol 2006, 80 (für die Kompetenzverlagerunggebe es „kein einziges fachliches Argument“);s. auch Schwind, Süddeutsche Zeitung v. 28.6.2006: Eine„irrationale Rechtspolitik“ habe den „Strafvollzug als Spielballin der Föderalismusreform benutzt“. Diese Formulierungengelten selbstredend auch für den Jugendstrafvollzug.142 BGBl. 2006 I, S. 2034 (v. 31.8.2006). Auch der Entwurf(BT-Drs. 16/813) nennt nur allgemeine Gründe, aber keinefachspezifischen._____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com581
Annkatrin Wegemund/Jan Dehne-Niemann_____________________________________________________________________________________angeblich rechtfertigt. 143 Von den Anforderungen des materiellenGleichheitssatzes kann sich der Grundgesetzgebernicht einfach dadurch suspendieren, dass er die Gesetzgebungskompetenzenändert – der rein formelle Gesichtspunktdes Gesetzgebungszuständigkeit taugt als sachlicher Unterscheidungsgrundschon deshalb nicht, weil die im JGG geregelteSanktion der Jugendstrafe Blankettcharakter hat 144 unddie implizite „Verweisung“ auf die Vollzugsregeln der Länderdie Strafandrohung als sub specie Art. 103 Abs. 2 GG zuunbestimmt erscheinen lässt. Das mit der Jugendstrafe verhängteStrafübel ist nämlich nicht alleine definiert durch ihreVerhängung und ihre Dauer (Statusentscheidung), sondernauch über die nähere Ausgestaltung der Jugendstrafe, alsoden Vollzug der Jugendstrafe. Zwischen Straftat und Rechtsfolge,genauer: Verurteilung und Vollzug, besteht nicht nureine Konditional- und Temporalbeziehung, sondern auch eineProportionalbeziehung. Art. 103 Abs. 2 GG verlangt aberüber die gesetzliche Bestimmtheit der Strafbarkeit hinausauch die gesetzliche Bestimmtheit der Strafe selbst. 145 DiesemVerfassungspostulat läuft eine Verweisung auf die Definitionder Durchsetzung der Jugendstrafe durch andereNormgeber (die Länder) zuwider. Wo dem Richter angesichtsvieler verschiedener Vollzugs- und Resozialisierungskonzepteder Länder von vorneherein die Zumessungsfaktoren unklarsind, 146 dort setzt man die im Urteil auszusprechendenStatusentscheidungen über das „Ob“ und das „Wieviel“ derJugendstrafe der Gefahr aus zu werden, was v. Liszt der Zumessungder Erwachsenenfreiheitsstrafe einst attestierte: „einGriff ins Dunkle“. 147 Folglich kann eine etwaige landesrechtlicheBestimmtheit die nach Art. 103 Abs. 2 GG für dasStGB und das JGG erforderliche bundesgesetzliche Bestimmtheitnicht ersetzen. Da die grundgesetzliche Kompetenzausgestaltungim Hinblick auf den (Jugend-)Strafvollzugihrerseits den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG nichtgenügt, stellt sie auch keinen die Unterschiede im (Jugend-)Strafvollzugrechtfertigenden sachlichen Grund i.S.d. Art. 3 Abs. 1GG dar. Mangels eines sachlichen Grundes ist die Unterschiedlichkeitder Vollzugsausgestaltung in den Gesetzen derLänder somit mit dem Verdikt der Gleichheitswidrigkeit zuversehen.Ist danach die durch die Föderalismusreform geschaffeneGesetzgebungszuständigkeit der Länder sub specie Art. 3Abs. 1, 103 Abs. 2 GG grundgesetzwidrig, so ergibt sich dasParadoxon verfassungswidrigen formellen Verfassungsrechts.Ohne dass dieses an dieser Stelle gelöst werden könnte, stehtjedenfalls fest, dass die Regelung des Jugendstrafvollzugesnicht nur auf einfachgesetzlicher Ebene des JStVollzG-BW,sondern auch auf kompetenzverteilender grundgesetzlicherEbene dringend korrekturbedürftig ist.143 So Arloth, GA 2008, 129 (130); wie hier – Gleichheitswidrigkeit– Köhne, JR 2007, 494.144 So für die Freiheitsstrafe nach dem StGB bei ErwachsenenSeebode (Fn. 26), S. 580.145 Seebode (Fn. 26), S. 580 ff. (588 ff.).146 Dass eigentlich „aus Erfahrungen, Erfolgen und Misserfolgendes Vollzuges die richterlichen Zumessungskriterienzu entwickeln seien“ und deshalb die Zumessung einer Prognoseüber das mit dem Vollzug zu bewirkende Strafübellogisch nachgeordnet sein müsste, betont Schüler-Springorum (Fn. 60), S. 425 (432: „traditionsreiches Postulat“,dort m.w.N. in Fn. 26).147 V. Liszt, Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Bd. 1,1905, S. 290 ff., S. 393 (zitiert nach Seebode [Fn. 26], S. 591,dort Fn. 100)._____________________________________________________________________________________582<strong>ZIS</strong> 11/2008
BGH, Beschl. v. 18.9.2008 – 4 StR 185/08Dehne-Niemann_____________________________________________________________________________________U r t e i l s a n m e r k u n gZur Überprüfung der Strafzumessung im RevisionsverfahrenAuch nach einer gemäß § 154 Abs. 2 StPO erfolgten Teileinstellungdes Verfahren durch das Revisionsgerichtkann dieses die tatrichterlich verhängte Gesamtstrafe mitder Erwägung aufrechterhalten, dass der Gesamtstrafenausspruchauf dem Wegfall der von der Teileinstellungbetroffenen Einzelstrafen nicht beruhe (§ 337 Abs. 1StPO), weil eingestellte Taten bei der Gesamtstrafenbildungberücksichtigt werden dürfen (Leitsatz des Verf.).BGH, Beschl. v. 18.9.2008 – 4 StR 185/08Aus den Gründen:Das Landgericht hat den Angeklagten des sexuellen Missbrauchsvon Kindern in 19 Fällen, davon in einem Fall alsVersuch und in drei Fällen in Tateinheit mit sexueller Nötigung,zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren undneun Monaten verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagtemit seiner Revision, mit der er das Verfahren beanstandetund die Verletzung sachlichen Rechts rügt. DasRechtsmittel führt zu einer Teileinstellung des Verfahrensgemäß § 154 Abs. 2 StPO; im Übrigen erweist es sich alsunbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.1. Der Senat stellt auf Antrag des Generalbundesanwaltsdas Verfahren aus verfahrensökonomischen Gründen ein,soweit der Angeklagte wegen der Taten zum Nachteil seinerEnkelin Larissa (Fälle III. 2. b der Urteilsfeststellungen)verurteilt worden ist. Insoweit ist nach den bisher getroffenenFeststellungen nicht hinreichend belegt, dass die dem Kindabgenötigten Küsse bereits die Erheblichkeitsschwelle imSinne des § 184f Nr. 1 StGB erreicht haben. Da im Übrigendie Sache abschlussreif ist, erscheint dem Senat die Beschränkungangezeigt.2. Die Einstellung des Verfahrens in den Fällen III. 2. bder Urteilsgründe führt zur Änderung des Schuldspruchs. ImÜbrigen hat die Überprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigungkeinen durchgreifenden Rechtsfehler zumNachteil des Angeklagten ergeben. (...)3. Ungeachtet des durch die Teileinstellung des Verfahrensbedingten Wegfalls der drei Einzelstrafen von jeweilszehn Monaten Freiheitsstrafe hat der GesamtstrafenausspruchBestand. Denn der Senat kann angesichts der Höhe und derSumme der verbleibenden 15 Einzelstrafen und der maßvollenErhöhung der Einsatzstrafe von einem Jahr und neunMonaten Freiheitsstrafe ausschließen, dass das Landgerichtohne die in den von der Einstellung betroffenen drei Fällenverhängten Einzelstrafen auf eine noch niedrigere Gesamtstrafeerkannt hätte. Insoweit kann [...] nicht unberücksichtigtbleiben, dass der Angeklagte in den Fällen zum Nachteilseiner Enkelin Larissa nach den Feststellungen jedenfalls denTatbestand der Nötigung erfüllt hat (vgl. BGH StV 2006,416, 417, 418). Bei dieser Sachlage kommt es deshalb nichtmehr darauf an, dass der Senat die Gesamtstrafe auch unterZugrundelegung des geänderten Schuldspruchs für angemessenim Sinne des § 354 Abs. 1a S. 1 StPO erachtet.Anmerkung:Der 4. Strafsenat des BGH hat den Strafausspruch mit derBegründung aufrechterhalten, es sei auszuschließen, dass sichder durch die Teileinstellung und die entsprechende Schuldspruchberichtigungbedingte Wegfall der Verurteilung desAngeklagten wegen vierer Taten zu Lasten seiner Enkelin aufden Strafausspruch dahin auswirke, dass zugunsten des Angeklagtenzu einer niedrigeren als der von der Vorinstanzverhängten Gesamtstrafe zu erkennen sei. In der Sache hatder Senat damit, ohne es ausdrücklich zu sagen, den erforderlichenBeruhenszusammenhang zwischen dem Mangel desvorinstanzlichen Urteils und dem Strafausspruch verneint; erist also der Auffassung, dass sich der Rechtsfehler nicht ineiner Weise auf den Strafausspruch ausgewirkt hat, die dieRevision begründen würde. Sedes materiae dieser Vorgehensweiseist § 337 Abs. 1 StPO. Nur „hilfsweise“ hat derSenat auf die Entscheidungsregel des § 354 Abs. 1a S. 1StPO Bezug genommen, deren Voraussetzungen er – rechtsfehlerhafterWeise – für gleichfalls gegeben erachtet. Subspecie Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG bestehen durchgreifendeBedenken sowohl gegen die praktizierte Aufrechterhaltungdes Strafausspruchs mangels Beruhenszusammenhangs imAllgemeinen als auch gegen die Vorgehensweise des Senatsin Anbetracht der Besonderheiten des vorliegenden Falls(Teileinstellung nach § 154 Abs. 2 StPO etc.).1. a) Die Problematik der vom Senat gewählten Vorgehensweisebesteht darin, dass die StPO – jedenfalls im Bereichder Strafzumessung – von einer „prozessualen ArbeitsundVerantwortungsteilung“ zwischen Tat- und Revisionsgerichtausgeht. 1 Dabei ist, wie der BGH gebetsmühlenartigbetont, „die Strafzumessung Sache des Tatrichters“. 2 Nachder herrschenden „Spielraumtheorie“ handelt es sich bei derStrafzumessung um eine Ermessensentscheidung, d.h. innerhalbeines durch die Tatschuld vorgegebenen Rahmens undunter Berücksichtigung zulässiger präventiver Zwecke existierenmehrere gleichermaßen als rechtmäßig denkbare Strafaussprüche,zwischen denen der Tatrichter nach seinem Ermessenwählen kann. 3 Deshalb ist das Revisionsgerichtgrundsätzlich auf eine „Vertretbarkeitskontrolle“ des Strafmaßesbeschränkt und darf nur überprüfen, ob sich das Tatgerichtin jenem imaginären Rahmen bewegt hat, innerhalbdessen jede Entscheidung richtig ist. Eigene Strafzumessungserwägungensind dem Revisionsgericht im Grundsatzschon deshalb versagt, weil es nicht aus eigener Kompetenz_____________________________________________________________________________________1Vgl. Meyer-Goßner, Strafprozessordnung, Kommentar,51. Aufl. 2008, vor § 333 Rn. 2 f.; eingehend Sowada, Dergesetzliche Richter im Strafverfahren, 2002, S. 766: „normativeVerantwortungsteilung“.2 Vgl. BGHSt 34, 345 (349); nun auch BGH 5 StR 180/08,S. 5 Rn. 10.3 Zur Spielraumtheorie ausführlich z.B. Streng, StrafrechtlicheSanktionen, 2. Aufl. 2002, Rn. 480 ff.; Hanack, in: Rieß(Hrsg.), Löwe/Rosenberg, Die Strafprozeßordnung und dasGerichtsverfassungsgesetz, 25. Aufl. 1998, § 337 Rn. 190 f.Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com583
BGH, Beschl. v. 18.9.2008 – 4 StR 185/08Dehne-Niemann_____________________________________________________________________________________und Verantwortung gewährleisten kann, dass ihm ein vollständiger,insbesondere rechtsfehlerfrei festgestellter Strafzumessungssachverhaltzur Verfügung steht. Aus ebendiesemGrund hat das BVerfG die Norm des § 354 Abs. 1a S. 1StPO, welche dem Revisionsgericht eine eigene Strafzumessungskompetenzzuerkannte, für dem Wortlaut nach verfassungswidrigbefunden; 4 für die Beweiserhebung und -würdigung (als Grundlage und Voraussetzung jedes Strafzumessungsakts)ist nun einmal nur das Tatgericht gesetzlicherRichter i.S.d. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG. 5 Die Verfassungsrichterhaben die Norm daher nur mit dem Instrument der verfassungskonformenAuslegung vor der Nichtigerklärung bewahrenkönnen. 6 Der Sache nach hat der Senat im vorliegendentschiedenen Sachverhalt aber, ohne es zu sagen, § 354Abs. 1a S. 1 StPO angewendet, freilich ohne dass die vomBVerfG geforderte Voraussetzung eines perfekt erforschtenStrafzumessungssachverhalts vorliegt.b) Die in diesem Zusammenhang perhorreszierte vermehrterevisionsrichterliche Anwendung des § 337 StPO 7 hatsich nun in dem vorliegenden Fall realisiert. Dass in der Verneinungdes Beruhens kein echter Lösungsweg liegt, weil dieProbleme mit dem Beruhenszusammenhangs über § 337StPO gerade zu dem „an sich“ verfassungswidrigen Lösungsversuchüber § 354 Abs. 1a StPO geführt haben, 8 ist ebensorichtig wie die Bemerkung, dass in der Wahl des Umwegesüber § 337 Abs. 1 StPO eine fragwürdige Brüskierung desBVerfG liegt, 9 aber strafzumessungsdogmatisch nicht präzisegenug. Entscheidend ist, dass die Revisionsgerichte auch beider Verneinung des Beruhenszusammenhangs nicht ohneeinen eigenen Akt der Strafzumessung auskommen: 10 Kannnach § 354 Abs. 1a S. 1 StPO das Revisionsgericht denRechtsfolgenausspruch aufrechterhalten, wenn die von demTatgericht verhängte Strafe „angemessen“ ist, so unterscheidetsich von der hierin liegenden eigenen (wenngleich nurbestätigenden) Strafzumessungskompetenz der Revisionsge-4 BVerfG StV 2007, 393 = NJW 2007, 2977 = JR 2008, 73m. Anm. Peglau.5 Vgl. Foth, NStZ 1992, 444 (446); Wagner, ZStW 106(1994), 294.6 Ausführliche ablehnende Besprechungen der Entscheidungbei Dehne-Niemann, <strong>ZIS</strong> 2008, 239 sowie bei Gaede, GA2008, 292, die § 354 Abs. 1a StPO für verfassungswidrighalten.7 Gaede, HRRS 2007, 292 (293).8 So Gaede, HRRS 2007, 292 (293).9 Gaede, GA 2008, 394 (412).10 So Theune, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Hrsg.), Strafgesetzbuch,Leipziger Kommentar, 12. Aufl. 2007, § 46 Rn. 343:Über die Entscheidung des fiktiven iudex tertius könne dasRevisionsgericht nur Vermutungen anstellen, so dass es fürdie Beruhensfrage letztlich darauf ankommt, „wie der Tatrichternach Ansicht des Revisionsgerichts […] ohne denFehler hätte entscheiden sollen“ (kursive Hervorhebung imOriginal). Damit wird unter dem Deckmantel der Beruhensprüfungein eigener wertender Akt der Strafzumessung vorgenommen.Vgl. auch Hamm, StV 2008, 205 (206).richtsbarkeit 11 die bisherige Gesetzeslage, nach der das Revisionsgerichtnur unter Aufrechterhaltung des Strafausspruchsdurcherkennen konnte, wenn auszuschließen war, dass einfiktiver iudex tertius ohne den Zumessungsfehler zu einemanderen Ergebnis gelangt würde (dann beruhte das Urteilnicht auf dem Strafzumessungsfehler, § 337 Abs. 1 StPO),nur geringfügig. Anstelle der bloßen Kausalitätsprüfung nach§ 337 Abs. 1 StPO soll, so heißt es, das Revisionsgerichtnunmehr eine Ergebnisprüfung vornehmen können. 12 Um beider Kausalitätsprüfung nach § 337 Abs. 1 StPO festzustellen,welche Strafe ein fiktiver iudex tertius verhängen würde,muss das Revisionsgericht aber diese Strafe als fiktive Vergleichsgrößeprognostizieren. Weicht diese Prognose zumVorteil des Revisionsführers von der durch den iudex a quoverhängten ab, so beruht das Urteil auf dem Zumessungsfehler,andernfalls fehlt es am Beruhenszusammenhang. DerUnterschied zwischen der bisherigen Verfahrensweise nach§ 337 StPO und der vom BVerfG „zurechtgestutzten“ nach§ 354 Abs. 1a S. 1 StPO besteht also allein darin, dass Unsicherheitendes Revisionsgerichts über die Straferwartunghinsichtlich der Zumessung durch den iudex tertius nun keineRolle mehr spielen – das Revisionsgericht kann die Strafe jaselbst festsetzen. Freilich ist es – mindestens terminologisch– unpräzise, die vor Einführung des § 354 Abs. 1a S. 1 StPOpraktizierte Beruhensmethode als „Kausalitätsprüfung“ zubezeichnen, denn dabei wird nicht der Strafzumessungsfehlerhinweg-, sondern das Ergebnis einer neuen Hauptverhandlung(im Sinne einer Reserveursache) hinzugedacht. Es kannalso nur darum gehen, ob eine von einem neuen Tatrichter zuverhängende Strafe auf einer Aufhebung des ursprünglichenUrteils beruhen könnte. 13Weil das Revisionsgericht die von einem fiktiven iudextertius zu erwartende Strafe als fiktive Vergleichsgröße prognostizierenmuss, um entscheiden zu können, ob sich dieStrafe noch als gerechter Schuldausgleich (etc.) darstellt, umalso überhaupt eine Aussage über den Beruhenszusammenhangtätigen zu können, trifft es bei der Entscheidung über11 Anderer Ansicht, soweit ersichtlich, nur OLG Celle NStZ2005, 163 (164) sowie Knauer/Wolf, NJW 2004, 2936, wonachin § 354 Abs. 1a S. 1 StPO die bisherige Beruhenspraxisin Gesetzesform gegossen worden sei. Das ist unzutreffend:§ 354 Abs. 1a S. 1 StPO ermöglicht dem Revisionsgerichteinen eigenen (wenngleich nur bestätigenden) Akt der Strafzumessung.Denn um festzustellen, dass die fehlerhafte tatrichterlicheStrafe – aus anderen Gründen – „angemessen“ist, muss das Revisionsgericht eigene Strafzumessungserwägungenanstellen dürfen; nur wenn sämtliche aus dem Urteilhervorgehende Strafzumessungsaspekte selbst bewertet werden,lässt sich beurteilen, ob die Strafe im Ergebnis angemessenist.12 Eisenberg/Haeseler, StraFo 2005, 222 (223). Ausführlichzur Rechtslage vor der Änderung des § 354 StPO Steinmetz,Sachentscheidungskompetenzen des Revisionsgerichts inStrafsachen, 1997, S. 223 ff., S. 231 ff., S. 324 f.13 Vgl. Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar,55. Aufl. 2008, § 46 Rn. 118 f._____________________________________________________________________________________584<strong>ZIS</strong> 11/2008
BGH, Beschl. v. 18.9.2008 – 4 StR 185/08Dehne-Niemann_____________________________________________________________________________________das Beruhen nolens volens eine eigene Strafzumessungsentscheidung,welche es dann dem Vergleich mit der vom iudexa quo verhängten Strafe zugrunde legt – und trifft damit genaudie Entscheidung, die das BVerfG zu § 354 Abs. 1a StPOan hohe Voraussetzungen geknüpft hat, weil es nach derKompetenzordnung der StPO dazu „im Prinzip“ nicht berufenist. Für das Vorliegen der vom BVerfG gestellten hohenAnforderungen hat der Senat im vorliegenden Fall aber nichtsmitgeteilt; angesichts der Lückenhaftigkeit der tatrichterlichenFeststellungen, jedenfalls aber der tatrichterlichen Darlegungenhat er gleichwohl unter impliziter Zugrundelegungeiner fiktiven Vergleichsstrafe durchentschieden.Beinhaltet somit jede strafzumessungsrechtlichen Beruhensentscheidungnotwendig eine Entscheidung über die ausSicht des Revisionsgerichts i.S.d. § 354 Abs. 1a S. 1 StPO„angemessene“ Strafe, 14 bedeutet das, dass ein Revisionsgericht,welches nach der gesetzgeberischen Ausgestaltung derStPO nicht nur selbst keine Strafe zumessen darf, sondern esauch schon institutionell nicht kann, einen Strafausspruch niemit der Begründung aufrechterhalten kann, der fehlerhafteSchuldspruch habe sich nicht auf das Ergebnis ausgewirkt.Erwägen ließe sich allenfalls, mit Hanack 15 und Theune 16 fürdie Beruhensfrage nicht auf die fiktive Entscheidung desiudex tertius, sondern auf die fiktive zumessungsfehlerfreieEntscheidung des iudex a quo abzustellen. Damit wird eineDurchentscheidungskompetenz auf der Basis mangelndenBeruhens (§ 337 Abs. 1 StPO) aber noch zweifelhafter alsohnehin schon. Denn gemäß § 267 Abs. 3 S. 1 StPO hat derTatrichter ja nur bestimmende Strafzumessungsaspekte mitzuteilen,und warum ohne einen fehlerhaften Strafzumessungsaspektauf eine identische Rechtsfolge erkannt wordenwäre, obwohl der iudex a quo sie für maßgeblich gehaltenhat, ist nicht begründbar.c) Danach ist folgender Schluss zu ziehen: Auch bei derDurchentscheidung mangels Beruhens nach § 337 Abs. 1StPO überschreitet das Revisionsgericht die ihm von derStPO zum Schutze des Revisionsführers auferlegten Kompetenzen.17 Indem sich also der Senat die Zumessung einerfiktiven Vergleichsgrößenstrafe angemaßt hat, ohne mitzuteilen,auf welcher Grundlage er dies getan hat (ForensischeErfahrung? Dezisionistische Loslösung von den engen rechtlichenBindungen der Strafzumessung?), und indem er aufdieser Grundlage das Beruhen des Strafausspruchs auf demfehlerhaften Schuldspruch verneint hat, ist ihm ein Verstoßgegen das Recht auf den gesetzlichen Richter gemäß Art. 101Abs. 1 S. 2 GG unterlaufen. Das gilt auch, wenn man mitdem BVerfG einen Verstoß gegen die Kompetenzordnungder StPO sub specie Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG nur dann fürrelevant hält, wenn er sich als objektiv willkürlich darstellt,denn dass das Tatgericht bei einer Verurteilung wegen insgesamt19 Fällen alle drei gegen eine von drei Geschädigten14 Hierhin tendierend auch Paster/Sättele, NStZ 2007, 609(615 f.); Berenbrink, GA 2008, 625 (633 f.).15 Hanack (Fn. 3), § 337 Rn. 266.16 Theune (Fn. 10), § 46 Rn. 343.17 Angedeutet von Hamm, StV 2008, 205 (206 f.); Berenbrink,GA 2008, 625 (633 f.).gerichteten Taten des sexuellen Missbrauchs von Kindern fürjedenfalls in toto strafzumessungsrelevant gehalten hat, istmehr als naheliegend. 18 Der Senat hätte also schon aus diesemGrund ein Beruhen des Strafausspruchs auf dem rechtsfehlerhaftenStrafausspruch bejahen und nach § 354 Abs. 2StPO unter Zurückverweisung aufheben müssen.2. Selbst wenn man im Grundsatz eine Aufrechterhaltungdes Strafausspruchs via § 337 Abs. 1 StPO – und sei es nurkraft consuetudo – für zulässig erachtet, hat der 4. Strafsenatim vorliegend entschiedenen Sachverhalt den Bogen derKompetenzanmaßung überspannt. Dass es in der Sache nichtum eine gleichsam konsensuale Vertretbarkeitskontrolle ging,sondern der Senat eine eigene Strafzumessungsentscheidungim Sinne eines dezisionistischen „Auf-den-Punkt-Kommens“19 gefällt hat, zeigen die Äußerungen unter 3. derGründe. Dass „der Angeklagte nach den Feststellungen jedenfallsden Tatbestand der Nötigung erfüllt hat“, ist trotz derEinstellung jener Taten nach § 154 Abs. 2 StPO ein Umstand,der – da der Senat den Sachverhalt für insoweit (scil. als eseine Strafbarkeit wegen Nötigung anbelangt) als geklärt erachtet– nach ständiger Rechtsprechung bei der tatrichterlichenStrafzumessung hinsichtlich anderer, nicht ausgeschiedenerTaten berücksichtigt werden darf; 20 das gilt aber nichtfür die Strafzumessungsentscheidung des Revisionsgerichts,denn vollinhaltlich geklärt im Sinne eines perfekten Strafzumessungssachverhalts,wie ihn das BVerfG fordert, war derdem Angeklagten vorgeworfene Sachverhalt eben geradenicht. Schon dass das Tatgericht hinsichtlich der vom Senateingestellten Taten nicht von der Verfolgung abgesehen hat,zeigt zur Genüge, dass er ihnen – anders als der BGH – mehrals nur unerhebliche Bedeutung beigemessen hat, der Senatalso seine Einschätzung von der Bedeutung der Taten an dieStelle der Einschätzung der dazu berufenen Tatsacheninstanzgesetzt hat. Ob die vom BGH beschworene „maßvolle Erhöhungder Einsatzstrafe“ sowie die „Höhe und die Summe derverbleibenden 15 Einzelstrafen“ hinreichenden Grund bietet,die Gesamtsstrafe unter Berücksichtigung der Teileinstellungauch ergebnismäßig neu zu bilden oder nicht, ist als Frage derGesamtstrafenbildung Teil der dem Tatgericht vorbehaltenenStrafzumessung. 21 Daher hat darüber auch wiederum derTatrichter zu befinden, denn ob das Landgericht die drei18 Vgl. zum Vorstehenden BVerfG 2 BvR 1704/01, HRRS2004 Nr. 163, Leitsätze 1 bis 3 (zur Überschreitung des § 354Abs. 1 StPO); ausführlich zum Willkürkriterium Sowada(Fn. 1), S. 221 ff.; Roth, Das Recht auf den gesetzlichenRichter, 2000, S. 208 ff., S. 212 ff. – Scheffler, NStZ 1997,29 (30) hält eine aufrechterhaltende Revisionsentscheidungfür eine „eklatante Ungerechtigkeit“.19 Streng, JZ 2007, 154 (155 f.).20 Nachweise bei Fischer (Fn. 13), § 46 Rn. 41; Meyer-Goßner (Fn. 1), § 154a Rn. 2; Eser, in: Schönke/Schröder,Strafgesetzbuch, Kommentar, 27. Aufl. 2006, § 46 Rn. 33.21 Vgl. auch Hanack (Fn. 3), § 337 Rn. 266, der mit Gribbohm,NJW 1980, 1440 (1441) von einem der „Ermessens“-kompetenz des Tatgerichts korrespondierenden Anspruch desAngeklagten auf Ausübung des Ermessens durch das Tatgerichtausgeht._____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com585
BGH, Beschl. v. 18.9.2008 – 4 StR 185/08Dehne-Niemann_____________________________________________________________________________________eingestellten Taten für relevant gehalten hat (und ggf. für wiegewichtig), konnte der Senat nicht wissen; der Tatrichter warnach § 267 Abs. 3 S. 1 StPO ja nur zur Mitteilung der seineStrafzumessung bestimmenden Gesichtspunkte angehalten.Immerhin bedeutet die Aufrechterhaltung der Gesamtstrafeunter Berichtigung des Schuldspruchs ja eine proportionaleSchwerergewichtigung der verbliebenen Taten – eine unterdem Gesichtspunkt des Verbots der reformatio in peius(§ 358 Abs. 2 StPO) nicht unproblematische Konsequenz dervom Senat praktizierten Vorgehensweise.3. Besonders eklatant mutet es schließlich an, dass derSenat in glatter Verkennung der Vorgaben des BVerfG dieAufrechterhaltung des Strafausspruchs „hilfsweise“ auf § 354Abs. 1a S. 1 StPO gestützt hat. Dessen Voraussetzungenliegen nämlich gerade nicht vor. Das BVerfG hat in seinemBeschluss vom 14.6.2007 22 die äußerste Grenze der Durchentscheidungnach § 354 Abs. 1a S. 1 StPO dort verlaufenlassen, wo nicht nur die Berichtigung eines Strafzumessungsfehlers,sondern auch eine gleichzeitige Schuldspruchkorrekturin Rede stehen. Überschreite das Revisionsgericht dieseGrenze der – analogieunfähigen – Norm des § 354 Abs. 1aS. 1 StPO, so verstoße es gegen Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG. Umgenau eine solche Situation handelt es sich vorliegend. Nach§ 354 Abs. 1a S. 1 StPO hätte der Senat also nicht durchentscheidendürfen. Dass damit die primäre Vorgehensweisenach § 337 Abs. 1 StPO nicht eben überzeugender wird, liegtauf der Hand.Nach alledem entpuppt sich die obiter geäußerte rechtsfehlerhafteBezugnahme auf § 354 Abs. 1a S. 1 StPO somitnicht als flankierende Bekräftigung der Aufrechterhaltung derStrafzumessung, sondern als verräterische Enthüllung derwahren Absichten des Senats: Das Verfahren mittels eineseigenen dezisionistischen Strafzumessungsaktes zu einemEnde zu bringen. Für eine solches, in Zeiten knapper Ressourcenimmerhin nachvollziehbares Bestreben 23 kann derSenat nicht einmal den Gesichtspunkt der auch von der Revisionsgerichtsbarkeitzu gewährleistenden Einzelfallgerechtigkeitin Anspruch nehmen − materielle Einzelfallgerechtigkeitverwirklicht sich wegen der ihm zur Verfügung stehendenhöheren Erkenntnismöglichkeiten weitaus eher vor dem Tatrichterals vor dem Revisionsgericht. 24 Nicht nur in punctoVerfahrensgerechtigkeit, sondern auch materiell betrachtethat der BGH im vorliegenden Fall kein glückliches Händchenbewiesen.Wiss. Mitarbeiter Jan Dehne-Niemann, Heidelberg/Freiburgi. Br.22 BVerfG StV 2007, 393, Rn. 112 ff., 116 ff.23 Zweifelnd an der Beschleunigungstauglichkeit auf empirischerGrundlage Schwarz, Die eigene Sachentscheidung desBGH in Strafsachen, 2002, S. 45.24 Gribbohm, NJW 1980, 1440 (1441); vgl. auch Dehne-Niemann, <strong>ZIS</strong> 2008, 239 (245 f.) zur Relativität von Gerechtigkeitsvorstellungenim Einzelfall sowie zur „Prozessökonomie“._____________________________________________________________________________________586<strong>ZIS</strong> 11/2008
Eberhard Kempf/Gabriele Jansen/Egon Müller , Festschrift für Christian Richter IILaubenthal_____________________________________________________________________________________R e z e n s i o n e nEberhard Kempf/Gabriele Jansen/Egon Müller (Hrsg.),Festschrift für Christian Richter II, Verstehen und Widerstehen,Nomos Verlag, Baden-Baden 2006, 596 S., € 118.-Wer mit strafrechtlichen Angelegenheiten befasst ist, der hatzumindest schon einmal seinen Namen gehört oder in seinenVeröffentlichungen gelesen – Rechtsanwalt Christian RichterII aus Köln. Und wer ihm persönlich begegnet ist, bei demhat er einen bleibenden Eindruck hinterlassen. ChristianRichter feierte im Jahr 2006 seinen 65. Geburtstag. 50 Autorinnenund Autoren ehrten ihn, im Anschluss an eine einleitendeWürdigung durch die Herausgeber, mit insgesamt48 Beiträgen in der vorliegenden, 596 Seiten umfassendenFestschrift. Der Tätigkeit des Jubilars als Strafverteidigerentsprechend umfassen die bearbeiteten Themen das materielleStrafrecht, das Strafprozessrecht sowie die Kriminologieund schließen zudem etliche rechtstatsächliche Aspekteder täglichen Praxis eines Rechtsanwalts ein. Darüber hinausweisen einige der Ausführungen internationalen sowie zumTeil einen gewissen historischen Bezug auf. Zu Lasten derÜbersichtlichkeit unterbleibt leider eine Gliederung der Themenin Abschnitte (materielles Strafrecht, Strafverfahrensrecht,Kriminologie usw.). Stattdessen folgen die Abhandlungengeordnet nach ihren Autoren – überwiegend selbstihres Zeichens Angehörige der Anwaltszunft, aber ebenso derForschung und Lehre Verschriebene – in alphabethischerReihenfolge.Dem Bereich des materiellen Strafrechts zuzuordnen sindetwa Ausführungen zur möglichen Verwirklichung des Tatbestandsder Kursmanipulation nach dem WpHG durch Unterlassen,indem ein Täter bspw. kursrelevante Tatsachenverschweigt. Dargestellt werden ferner Problematiken imZusammenhang mit der gesetzlichen Abfindung von Aktionärsminoritätenoder der Bedeutung der menschlichen Willensfreiheitfür die Frage eines schuldhaften Handelns. Einweiterer Beitrag befasst sich mit § 266 StGB und ist dabeiinsbesondere dem Irrtum über die Pflicht zur Wahrnehmungfremder Vermögensinteressen gewidmet. Eingegangen wirdin diesem Kontext auf die im sog. Mannesmann-Prozess zurSprache gekommenen Gesichtspunkte.Dem Strafverfahrensrecht zuordenbar sind Themen wiedie Eröffnung des Hauptverfahrens durch die Strafkammer,die Belehrung von Zeugen über Auskunftsverweigerungsrechteoder die Besorgnis einer Befangenheit der Personeines Richters gegenüber der Verteidigung. Ferner findensich Darlegungen zur freien Beweiswürdigung durch dieGerichte. Darüber hinaus beschäftigt sich ein Autor eingehendmit der Bindungswirkung strafgerichtlicher Urteile imbehördlichen und im gerichtlichen Disziplinarverfahren. Eineweitere dem Strafprozessrecht zuordenbare Materie bildet dasGeständnis des Angeklagten im Strafverfahren. Beleuchtetwird außerdem die Tätigkeit von Kriminologen als Sachverständigen.Zudem befassen sich Beiträge mit richterlichenVerwertungs- und Verwendungsverboten im Steuerstrafrecht,dem Recht auf Akteneinsicht bei inhaltlich zusammenhängenden,formal aber abgetrennten Verfahren sowie der audiovisuellenVernehmung. Weiterhin findet sich ein Aufsatz,der dem Rechtsschutz von Zeugen und Betroffenen in derPraxis parlamentarischer Untersuchungsausschüsse gewidmetist. Hierbei wird zunächst deren gesetzliche Stellung beleuchtet,bevor konfligierende Positionen und Interessen betrachtetund Lösungsansätze diskutiert werden. Daneben enthält dieFestschrift grundlegende Ausführungen, insbesondere zu denAuswirkungen der Strafe als Sanktion auf das materielle undformelle Strafrecht.Zahlreiche in der Festschrift enthaltene Darlegungen lassensich als „Praxisreporte“ einordnen. Es finden sich darunterAusführungen zur rechtspolitischen Arbeit des DeutschenAnwaltvereins, zur Reaktion der Medien auf (teilweise) spektakuläreStrafverfahren oder zum Anforderungsprofil einesStrafverteidigers in Wirtschaftsstrafverfahren. Ein Aufsatzbefasst sich mit der Verantwortung des Verteidigers, wobeiim Wesentlichen beispielhaft aus einem konkreten Verfahrenberichtet ist. Zudem beleuchtet ein Autor die Rolle des Strafverteidigers,indem er ein im Jahr 1998 vom OLG Köln erlassenesStrafurteil einer kritischen Würdigung unterzieht. Einigeder Beiträge schließen aufgrund ihrer thematischen Vorgaben– sie befassen sich ausschließlich mit der Person desJubilars und seiner Tätigkeit als Rechtsanwalt – eine Einordnungin die genannten Kategorien aus. So finden sich in demWerk Ausführungen zu Christian Richter als „Kommunikatorund Stratege“ oder zu „Rechtsanwalt Richter als Vorbild“.Insgesamt betrachtet werden die Darlegungen der vorliegendenFestschrift ihrem Ziel und Zwecke, einer Ehrung desJubilars, vollumfänglich gerecht. Die Mischung mit einigeneher unwissenschaftlichen Aufsätzen und Erfahrungsberichtenaus der praktischen Tätigkeit ihrer Autoren sowie derBefassung mit Christian Richter selbst, macht die Festgabezu einer Art Spiegelbild des Jubilars. Sie weist einen besonderenZuschnitt auf ihn auf, sein Betätigungsfeld als Strafverteidigerebenso wie sein Wirken für die Anwaltschaft allgemein.Es konnte daher auf diese Weise gelingen, einen Jubilarzu ehren, der – wie es das Vorwort der Herausgeber formuliert– „der Stratege, der Schachspieler“ unter den Strafverteidigernist.Prof. Dr. Klaus Laubenthal, Würzburg_____________________________________________________________________________________Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com587