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Immer noch der Zeit voraus - Universität Bremen

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Pädagogik-Kooperative e.V.<br />

Reihe Mo<strong>der</strong>ne Schule<br />

Jochen Hering und Walter Hövel (Hrsg.)<br />

<strong>Immer</strong> <strong>noch</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong> <strong>voraus</strong><br />

Kindheit, Schule und Gesellschaft<br />

aus dem Blickwinkel <strong>der</strong><br />

Freinetpädagogik<br />

mit Originaltexten von Célestin Freinet<br />

Copyright ©1996 by Pädagogik-Kooperative e.V.<br />

Freinet Kooperative e.V., Sielwall 45, 28203 <strong>Bremen</strong>, Germany<br />

1


Freinet-Pädagogik, ein alter<br />

Zopf?<br />

Dass <strong>der</strong> „Zopf“ zwar schon alt, aber eben doch etwas anrüchig ist, zeigt<br />

die erst kürzliche Entscheidung des französischen Postministers, keine<br />

Briefgedenkmarke zum hun<strong>der</strong>tjährigen Geburtstag dieses Erziehers<br />

herauszugeben. Das ist eigentlich zwar belanglos, zeigt aber, dass die<br />

Gaullisten doch immerhin <strong>noch</strong> Schwierigkeiten haben, die politische<br />

Herkunft eines C. Freinet zu verdauen: Er war immerhin Mitglied <strong>der</strong><br />

anarcho-syndikalistischen Lehrergewerkschaft „Fö<strong>der</strong>ation Unitaire de<br />

L‘Enseignement“ (Um genau zu sein: Er gehörte <strong>der</strong> kommunistischen<br />

Min<strong>der</strong>heit dieser Gewerkschaft an), aus <strong>der</strong> sich auch die ersten Kollegen des<br />

Vereins <strong>der</strong> „Schuldrucker“ rekrutierten.<br />

(aus einem Papier Gerald Schlemmingers,<br />

<strong>Universität</strong> Paris: lOO-jähriges Jubiläum des<br />

Pädagogen C. Freinet)<br />

2


Inhalt Seite<br />

Vorwort 6<br />

Freinetpädagogik: Eine eigen-sinnige Pädagogik<br />

von Jochen Hering und Walter Hövel<br />

Der Sturzbach 11<br />

von C. Freinet<br />

Den Wind von vorn 13<br />

Zur Aktualität <strong>der</strong> Freinet-Pädagogik<br />

von Jochen Hering<br />

Mo<strong>der</strong>ne Aufzucht o<strong>der</strong> Konzentrationslager 29<br />

von C. Freinet<br />

Sollen die Menschen verhältnismäßig werden 29<br />

o<strong>der</strong> die Verhältnisse menschlich?<br />

von Johannes Beck<br />

Lassen Sie unnütze Soldatenarbeit 42<br />

von C. Freinet<br />

„Sachen machen, davon haben wir gelernt“ 44<br />

Erinnerungen von Jean-Loup Ringot,<br />

bearbeitet von Jochen Hering<br />

Nicht für alle das Gleiche 48<br />

von C. Freinet<br />

Die Lernaufgabe als Grundverhältnis und 50<br />

Grundkategorie <strong>der</strong> Pädagogik und ihre<br />

revolutionäre Entwicklung durch Freinet<br />

von Horst Hensel<br />

Die Grammatik auf vier Seiten 57<br />

von C. Freinet<br />

3


Das Schule zum Lebensraum wird... 58<br />

von Eberhard Dettinger<br />

Schluss mit den Schulbüchern 66<br />

von C. Freinet<br />

Von Kullersystemen, freien Texten und dem Lob des 67<br />

Fehlers. Freinetbewegte Wege im Mathematikunterricht<br />

von Angela Glänzel-Zlabinger<br />

Der Beruf prägt 82<br />

von C. Freinet<br />

Müde von den Kirschen. Das Dilemma <strong>der</strong> Korrektur 82<br />

von Christian Schreger<br />

Verlasst die Übungsräume 90<br />

von C. Freinet<br />

Wer die Schule verän<strong>der</strong>n will, muss die angehenden Lehrerinnen und Lehrer gewinnen. 91<br />

Freinet-Pädagogik an <strong>der</strong> Hochschule<br />

von Ursula Carle<br />

Wir sind Lehrlinge 102<br />

von C. Freinet<br />

Lernen erleben, um lehren zu können - Lernwerkstätten und Freinet-Pädagogik 103<br />

von Angela Bolland<br />

Die „Schwätzer“ 120<br />

von C. Freinet<br />

Freinetpädagogik und Erziehungswissenschaft - 121<br />

ein gestörtes Verhältnis?<br />

von Herbert Hagstedt<br />

4


„Scolatismus“ 131<br />

von C. Freinet<br />

... wenn man falsch anfängt, dann wird die Sprache 132<br />

nicht genug entwickelt<br />

Ein Interview mit Paul Le Bohec,<br />

zusammengestellt von J. Hering und W. Hövel<br />

Vom Pferd, das keinen Durst hat 137<br />

von C. Freinet<br />

Arbeit und Spiel 140<br />

von Celestin Freinet<br />

Den Machtkampf vermeiden 158<br />

von C. Freinet<br />

Nachwort: Die alte und die neue Schule 161<br />

Rede zur Einweihung einer Grundschule<br />

von Walter Hövel<br />

Adler steigen keine Treppen 166<br />

von C. Freinet<br />

Kin<strong>der</strong>reservate 167<br />

von C. Freinet<br />

Quellenverzeichnis 169<br />

Bildnachweis 169<br />

Autorenverzeichnis 169<br />

5


Vorwort<br />

Freinet-Pädagogik: Eine eigensinnige Pädagogik<br />

Von Jochen Hering und Walter Hövel<br />

Ursprünglich gab es zwei Gedanken, die zur Entstehung dieses Buches führten. Zum einen waren die<br />

„Pädagogischen Texte“ von Célestin Freinet, die Heiner Boehncke und Christoph Hennig 1980 in <strong>der</strong><br />

deutschen Übersetzung herausbrachten, vergriffen.1)<br />

Angesichts <strong>der</strong> Tatsache, dass nur wenige Texte Freinets bisher ins Deutsche übersetzt wurden selbst<br />

in Frankreich ist die Quellenlage desolat 2) sollten gerade diese Texte nicht verloren gehen. Zum an<strong>der</strong>en<br />

jährt sich Freinets Geburtstag im Jahr 1996 zum lOO-sten Mal.<br />

Geplant wurde also eine kleine Festschrift mit einem Reprint <strong>der</strong> „Pädagogischen Texte“ 3). Einige<br />

zusätzliche Beiträge sollten die Aktualität dieser Texte würdigen, die <strong>noch</strong> Jahrzehnte nach ihrer ersten<br />

Veröffentlichung 4) erfrischend lebendig und radikal sind.<br />

Es ist schwer, sich <strong>der</strong> Einfachheit und Eindringlichkeit solcher Texte zu entziehen. „Die Pädagogischen<br />

Texte stellen meine erste Berührung mit Freinet dar“, schreibt die Wiener Lehrerin Christine Wie<strong>der</strong>mann,<br />

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sein philosophisches und pädagogisches Weltbild zum Ausdruck. In Metaphern seiner ländlichen<br />

Umgebung lassen sich die Vorstellungen von einer organischen Arbeit in <strong>der</strong> Schule ablesen.“5)<br />

Es sind bildhaft eindringliche Geschichten und Texte, in denen Célestin Freinet seit den 20er Jahren<br />

dieses Jahrhun<strong>der</strong>ts eine „Pädagogik <strong>der</strong> Arbeit“ formuliert, die er gemeinsam mit seiner Frau Elise<br />

lebte und entwickelte 6), und die bis heute nachhaltig die Auffassung und Organisation von Lernen in<br />

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6


Elise und Célestin Freinet in ihrer Schule in Vence, ca. 1954<br />

Freinet will keine hochtrabenden wissenschaftlichen Texte verfassen. Er legt seine „pedagogie de<br />

bon sens“ 7) in bildhaft eindringlicher Form einem Schäfer in den Mund, <strong>der</strong> die Menschen und ihre<br />

Verhältnisse <strong>noch</strong> „natürlich“ sieht. Ein Blickwinkel, <strong>der</strong> bei <strong>der</strong> Betrachtung unserer heutigen Welt<br />

eher an Sympathie und Dringlichkeit gewonnen hat. Diese Texte sind in ihrer Bildhaftigkeit aufrüttelnd,<br />

mutmachend und anregen<strong>der</strong> als jene Flut von Aufsätzen und Berichten, mit denen uns pädagogische<br />

<strong>Zeit</strong>schriften, Rea<strong>der</strong> und Empfehlungen tagtäglich überschwemmen. Je<strong>der</strong> dieser Texte enthält auch<br />

heute <strong>noch</strong> genügend „Sprengkraft“, als Einführungstext zu einer Konferenz o<strong>der</strong> Fortbildung die bestehenden<br />

pädagogischen Verhältnisse in Frage zu stellen.<br />

Wo Freinet for<strong>der</strong>te „Schluss mit den Schulbüchern!“, stattdessen gemeinsam mit den Kin<strong>der</strong>n die Welt<br />

erkundete und eine eigene von Kin<strong>der</strong>n gemachte Bibliothek aufbaute 8), da bestimmen immer <strong>noch</strong><br />

Schulbücher und Frontalunterricht weite Teile schulischen Alltags. Und Schulbuchverlage erheben die<br />

„Beschränkung“ kindlicher Lebensenergie zum Programm, wo es Elise und Célestin Freinet darum<br />

ging, diese zu entfalten. Ein Zitat aus <strong>der</strong> Ankündigung zum Mathematikbuch „Welt <strong>der</strong> Zahl“, das auf<br />

den Punkt bringt, was Freinet-Pädagogik nicht ist:<br />

„Wenn‘s aber darum geht, kindliche Neugier und überschüssige Energien in die richtigen Bahnen zu<br />

lenken, dann treten wir auf den Plan. Mit konzeptionsstarker Didaktik gegen anhaltende Tagträume und<br />

schwindende Konzentration. Wir entwickeln lebendige Unterrichtsgestaltung, die kleine Quälgeister<br />

fröhlich und damit friedlich stimmt“ 9)<br />

Wer einmal vom Geist <strong>der</strong> „Pädagogischen Texte“ erfasst ist, kann solche „Ankündigungen“ nicht mehr<br />

in die Tat umsetzen, kann Kin<strong>der</strong> nicht auf „formbares Schülermaterial“ reduzieren, son<strong>der</strong>n wird sich<br />

7


egleitet von einer einfachen und klaren Sprache10) auf den Weg machen, Schule und Kin<strong>der</strong> neu zu<br />

entdecken und zu erfahren.<br />

Freinets „Pädagogische Texte“ basieren auf <strong>der</strong> Kritik unserer gesellschaftlichen Verhältnisse. Es sind<br />

keine theoretischen Schriften. Und sie stellen keine abstrakten For<strong>der</strong>ungen auf, die die Verän<strong>der</strong>ung<br />

von Schule und Unterricht auf morgen verschieben. Sie for<strong>der</strong>n zur sofortigen Umsetzung einer „menschenwürdigen“<br />

Pädagogik auf, die die Kin<strong>der</strong> und ihr Zusammenleben in den Mittelpunkt stellt.<br />

Die Beiträge <strong>der</strong> Autorinnen, die die Texte Freinets in diesem Band begleiten, sind in diesem Geist<br />

geschrieben. Sie zeugen von <strong>der</strong> Eigen- und Weiterentwicklung <strong>der</strong> Freinet-Pädagogik. Sie haben<br />

Eigen-Sinn. Mit den Texten Freinets fügen sie sich reissverschlussartig zu einem aktuellen Blick auf die<br />

Freinet-Pädagogik zusammen.<br />

Mit Johannes Beck kommt einer <strong>der</strong> Grün<strong>der</strong> <strong>der</strong> „Pädagogik-Kooperativen“ zu Wort. Er beschreibt,<br />

wie Bildung heute wahnhaft wie in einem Produktionsprozess organisiert wird und for<strong>der</strong>t eine zeitgemäße<br />

pädagogische Praxis, die den Lernenden eine (Lern-)Umgebung bietet, „in <strong>der</strong> sie vielfältige<br />

Fähigkeiten durch Teilnahme bilden und in <strong>der</strong> sie ihre Realität begreifend gestalten können“.<br />

Der Aufsatz von Jochen Hering zeigt, wie die Pädagogik Freinets Kin<strong>der</strong>n heute entgegen <strong>der</strong> gesellschaftlichen<br />

Tendenz eine Schule bieten könnte, in <strong>der</strong> sie sich in <strong>der</strong> Arbeit mit allen Sinnen erfahren,<br />

Selbstbewusstsein im freien Ausdruck, Eigen-Sinn und Fantasie entfalten können.<br />

Christian Schreger ist es gelungen, das Menschenrecht <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> auf ihren Text und ihre Sprache<br />

in eine Geschichte über den Rotstift und die Korrektur zu kleiden. Und Horst Hensel skizziert eine<br />

Phänomenologie <strong>der</strong> Erziehung, beschreibt die „Lernaufgabe“ als grundlegendes Element des pädagogischen<br />

Prozesses un^ Freinets historische Leistung als die revolutionäre Neubestimmung dieser<br />

„Lernaufgabe“.<br />

Die Freinet-Pädagogik hat eine eigene Form <strong>der</strong> wissenschaftlichen Arbeit entwickelt. Die „Erfahrungen<br />

<strong>der</strong> erzieherischen Praxis“ werden nicht dokumentiert und evaluiert, um sie zu „reiner Theorie“ o<strong>der</strong><br />

„didaktischen Konzepten“ gerinnen zu lassen. Die eigene Arbeit und ihre Ergebnisse in <strong>der</strong> eigenen<br />

Erfahrung empirisch verankert werden auf „Freinet-Treffen“, Fortbildungen o<strong>der</strong> in <strong>Zeit</strong>schriften11) vorgestellt,<br />

in eine gemeinsame Diskussion eingebracht, die dann idealerweise sogleich wie<strong>der</strong> die prak-<br />

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zieherischer Praxis ihnen am meisten nutzen. Die Befreiung <strong>der</strong> Volksschule erfolgt zuallererst durch<br />

das wohlüberlegte und kraftvolle Handeln <strong>der</strong> Volksschullehrer selbst“.12)<br />

In dieser Tradition stehen vor allem die Aufsätze von Angela Glänzel und Ulla Carle. Beide<br />

Autorinnen beschreiben ihren Weg, den sie mit Hilfe <strong>der</strong> Freinet-Pädagogik gegangen sind, ob nun<br />

im Mathematikunterricht <strong>der</strong> staatlichen Grundschule o<strong>der</strong> in <strong>der</strong> „beängstigenden Irrealität“ <strong>der</strong> universitären<br />

Lehrerausbildung. Sie sind Beispiele dafür, dass die Freinet-Pädagogik sich auch heute<br />

<strong>noch</strong> in klassischen Bereichen selbst weiterentwickelt und gleichzeitig zur Weiterentwicklung dieser<br />

8


Bereiche beiträgt. Basisarbeit ist auch die Arbeit <strong>der</strong> relativ jungen pädagogischen Bewegung <strong>der</strong><br />

Lernwerkstätten. „Open education“, „community education“ o<strong>der</strong> „science-discovery-learning“ waren<br />

Schlagworte, unter denen diese ursprünglich aus dem angloamerikanischen Raum stammende Idee<br />

einer „Fortbildung von unten“ sich in <strong>der</strong> Gründung zahlreicher „Pädagogischer Werkstätten“ Bahn<br />

brach. Angela Bolland beschreibt in Bil<strong>der</strong>n und Beispielen die Begegnung von Lernwerkstattarbeit und<br />

Freinet-Pädagogik.<br />

Mit Jean-Loup Ringot kommt ein Schüler einer Freinet-Klasse zu Wort. Seine Erinnerungen „Sachen machen,<br />

davon haben wir gelernt“ zeigen, wie individuell und eigen-sinnig pädagogische Grundgedanken<br />

umgesetzt werden können.<br />

Eigen-Sinnigkeit zeigt sich auch im Interview mit Paul Le Bohec, Weggefährte Célestin und vor allem<br />

Elise Freinets seit den 40er Jahren. Sein Hauptinteresse gilt <strong>der</strong> „inneren Welt“ <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> und dem<br />

freien, kreativen Ausdruck.<br />

Eberhard Dettinger würdigt in seinem Aufsatz das „Ursymbol“ <strong>der</strong> Freinetbewegung, die Druckerei,<br />

stellt sie in den Mittelpunkt einer Schule, die für Kin<strong>der</strong> zum „Lebensraum“ werden soll.<br />

Herbert Hagstedt geht dem „gestörten Verhältnis“ zwischen Freinet-Pädagogik und<br />

Erziehungswissenschaften nach 13) und beschreibt dabei ein Stück Lebensweg Célestin Freinets.<br />

Und Walter Hövel setzt sich in seinem Nachwort mit den For<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> deutschen Industrie<br />

zur Gestaltung <strong>der</strong> Zukunft auseinan<strong>der</strong>. Seine Rede, die er als Schulleiter vor Eltern, Schülern,<br />

Gemeindepolitikern, Handwerkern, Schulaufsichtsbeamten gehalten hat, for<strong>der</strong>t alle an Schule<br />

Beteiligten auf, nicht auf Anweisungen von oben und nicht auf morgen zu warten, son<strong>der</strong>n „von unten“<br />

zu beginnen und „das Neue ins Alte zu setzen“.<br />

Célestin Freinet war immer an den Handwerkern interessiert, an denen, die tagtäglich mit Kin<strong>der</strong>n,<br />

Jugendlichen, Studenten arbeiten und diese Arbeit so gut als möglich tun wollen. Für die Schwätzer,<br />

die ihre scheinbare Überlegenheit einzig aus <strong>der</strong> Geschicklichkeit ziehen, „mit Wörtern umzugehen<br />

und Systeme nach einem Wirrwar von Regeln und Theorien zu ordnen“, was sie dann anspruchsvoll<br />

„Logik und Philosophie“ nennen14), für die Schwätzer hatte er nichts übrig.<br />

Wir haben uns bei <strong>der</strong> Herausgabe dieses Buches von diesem Gedanken leiten lassen, um ein Buch<br />

für die vielen Handwerkerinnen und Handwerker <strong>der</strong> Pädagogik zu machen.<br />

Wir wünschen uns, dass durch dieses Buch etwas von <strong>der</strong> Kraft und Lebendigkeit dieser eigensinnigen<br />

Pädagogik bei den Leserinnen und Lesern ankommt.<br />

9


1) Célestin Freinet, Pädagogische Texte. Mit Beispielen aus <strong>der</strong> praktischen Arbeit nach Freinet, hrsg. von Heiner Boehncke und Christoph Hennig,<br />

Hamburg 1980.<br />

2) Vgl. dazu den Aufsatz von Herbert Hagstedt in diesem Band.<br />

3) Wir danken an dieser Stelle den Herausgebern und dem Rowohlt-Verlag für ihre freundliche Genehmigung, Texte Freinets aus ihrem Band bei <strong>der</strong><br />

Pädagogik-Kooperative wie<strong>der</strong> herausbringen zu können.<br />

4) Die „Pädagogischen Texte“ erschienen in den Fünfziger Jahren in Frankreich als Artikelserie im L‘Éducateur, <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>schrift <strong>der</strong> französischen<br />

Freinetbewegung. 1959 erschien eine Zusammenfassung dieser Texte unter dem Titel „Les dits de Mathieu. Une pedagogie mo<strong>der</strong>ne de bon sense“<br />

(„Was Mathieu gesagt hat. Eine mo<strong>der</strong>ne Pädagogik des gesunden Menschenverstandes“) in <strong>der</strong> Edition Delachaux et Niestle in <strong>der</strong> Schweiz. (Quelle:<br />

Ingrid Dietrich, Handbuch <strong>der</strong> Freinet-Pädagogik, Weinheim 1995)<br />

5) Christine Wie<strong>der</strong>mann, Berührungstexte. Eine Lesung mit Bil<strong>der</strong>n und Musik, Wien o.J. Grundlage <strong>der</strong> Lesung sind ausgewählte Teile <strong>der</strong> pädagogischen<br />

Texte Freinets, die von Musik und Dia-Bil<strong>der</strong>n begleitet werden. Ausleihe für Fortbildungen über die Pädagogik-Kooperative möglich.<br />

6) „Der Name „Freinet-Pädagogik“ berücksichtigt... (nicht) den Lebenspartner, hier Elise Freinet, die entscheidend zu einigen pädagogischen<br />

Begriffsbildungen beigetragen hat, insbeson<strong>der</strong>e was den Bereich <strong>der</strong> künstlerischen Tätigkeit des Kindes angeht. Außerdem brachte sie eine ausgeprägte<br />

politische Sozialisation in die Beziehung mit ein. Sie war schon vor <strong>der</strong> Eheschließung aktives Mitglied <strong>der</strong> kommunistischen Partei Frankreichs<br />

(P.C.F.)... Sie hat wohl auch dazu beigetragen, dass C. Freinet <strong>der</strong> Partei beitrat.“ Zitiert aus einem Papier Gerald Schlemmingers, <strong>Universität</strong> Paris,<br />

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7) Der Begriff „gesun<strong>der</strong> Menschenverstand“ hat in <strong>der</strong> deutschen Sprache und deutschen Geschichte einen negativen Beiklang. Wir haben deshalb im<br />

Text den französischen Begriff stehen lassen.<br />

8) Diese Idee einer Arbeitsbücherei von Kin<strong>der</strong>n für Kin<strong>der</strong> hat die Pädagogik-Kooperative <strong>Bremen</strong> mit <strong>der</strong> Reihe „Projekte-Hefte“ aufgenommen und<br />

weitergeführt.<br />

9) aus: Die Grundschulzeitschrift, Heft 91, Jan. 96, S. 58<br />

10) „Der mit Verstand Suchende ist immer <strong>der</strong>jenige, welcher <strong>der</strong> Einfachheit und dem Leben nachgeht.“ (C. Freinet, zit. nach Elise Freinet, Erziehung<br />

ohne Zwang, Stuttgart 1981, S. 30)<br />

11) Vgl. hierzu zum Beispiel die <strong>Zeit</strong>ung „Fragen und Versuche“ <strong>der</strong> Pädagogik-Kooperative <strong>Bremen</strong>, die „Mitteilungshefte“ <strong>der</strong> „Freinet Lehrerinnen Eltern<br />

Kooperative“ (F.L.E.K.), Wien o<strong>der</strong> den „Schuldrucker“, die <strong>Zeit</strong>schrift des „Arbeitskreises <strong>der</strong> Schuldrucker“, Stuttgart.<br />

12) Freinet, Pädagogische Texte, a.a.O. S. 118<br />

13) Dieses „gestörte Verhältnis“ ist etwas an<strong>der</strong>es als die „Theoriefeindlichkeit“ von Teilen <strong>der</strong> deutschen Lehrerschaft in <strong>der</strong> Folge <strong>der</strong> 68er Jahre, die<br />

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und die Bedürfnisse des Kindes gründet (Vgl. dazu z.B. den Text „Scolatismus“ in diesem Band), bedeutet das nicht, „dass wir die Forschungen <strong>der</strong><br />

Philosophen, Psychologen und Pädagogen gering schätzen, die in einer an<strong>der</strong>en sozialen Umgebung für den Fortschritt in <strong>der</strong> Erziehung arbeiten“.<br />

(Freinet, Pädagogische Texte, a.a.O. S. 118f.)<br />

14) Vgl. den Text „Die Schwätzer“ in diesem Band.<br />

10


C. Freinet<br />

Der Sturzbach<br />

Neulich blätterte ich in einem Buch, in dem auf einem mittelalterlichen Stich spielende Kin<strong>der</strong> abgebildet<br />

waren. Und siehe da! Ich erkannte in diesen Spielen die aufregenden Spiele meiner Kindheit zu<br />

Anfang des Jahrhun<strong>der</strong>ts wie<strong>der</strong>! Und ich bin sicher, dass nichts an ihnen fehlte, die Abzählreime nicht,<br />

auch nicht die Zauberformeln und die rituellen Befehle, die dazugehören. Diese Dauerhaftigkeit muss<br />

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beschreiben will.<br />

Ich möchte einige Bemerkungen machen, ohne damit den Anspruch zu erheben, für alles eine Erklärung<br />

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Aber vielleicht helfen sie zu verstehen, welchen alltäglichen Verirrungen diejenigen unterliegen, die<br />

Erzieher o<strong>der</strong> nicht das Spiel ausbeuten, so wie sie die Trägheit, die fehlgeleitete o<strong>der</strong> die krankhafte<br />

Sucht nach Abenteuern ausbeuten.<br />

Ich denke sehr gern an die Spiele meiner Kindheit zurück und eine kleine Rührung kann ich nicht unterdrücken,<br />

wenn ich sehe, wie sie heute auf dem Dorfplatz gespielt und allen perfektionierten Spielen<br />

aus Büchern vorgezogen werden.<br />

Ich sprach einmal mit einem Ihrer Vorgänger, <strong>der</strong> mir sagte: „Das Spiel ist eine Vorbereitung auf das<br />

Leben, eine Art unbewusstes Lernen.“ Das scheint mir etwas an den Haaren herbeigezogen. Eine solche<br />

Erklärung entspricht <strong>der</strong> Besessenheit <strong>der</strong> Menschen, für alle unsere Handlungen einenguten o<strong>der</strong><br />

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sich ausdrücken, leben. Man könnte auch genauso gut sagen:<br />

Das Kind isst, um groß zu werden..., um sich dem Leben gegenüber zu stärken..., und es schläft, um<br />

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Begründungsversuche. Das Kind spielt mehr als <strong>der</strong> Erwachsene, weil es in sich eine Lebenenergie<br />

spürt, die das ganze Spektrum <strong>der</strong> Verhaltensmöglichkeiten ausprobieren will: es schreit lieber, anstatt<br />

zu sprechen, es rennt fortwährend, statt zu gehen, dann schläft es schlagartig ein, den Suppenlöffel<br />

<strong>noch</strong> im Mund und nichts kann es bis zum nächsten Morgen aufwecken. Was ihm die Menschen<br />

und die Umgebung zu tun erlauben, lastet seine lebendige Energie nicht ganz aus, es sucht weitere<br />

Beschäftigungen, die es weil es sich nicht alles selbst ausdenken kann von den Erwachsenen übernimmt<br />

und dabei nach seinen Maßstäben verän<strong>der</strong>t.<br />

Wenn wir von <strong>der</strong> Arbeit zurückkommen, sind wir müde; unser Körper und unser Sinn wollen nur <strong>noch</strong><br />

ausruhen. Wir setzen uns ruhig vors Feuer und schauen <strong>der</strong> knisternden Kohle zu, lauschen dem weichen<br />

Singen des Kessels und sagen dann und wann zu denen, die genauso müde und ruhig sind wie<br />

wir, ein paar bekannte Worte, die nicht anstrengen... Wir haben ganz bestimmt keine Lust zu spielen.<br />

Der junge Mensch ist weniger schnell erschöpft als wir, aber doch schon ein bisschen gesetzt. Abends<br />

geht er raus, um auf den Treppenstufen mit den Dorfmädchen zu plau<strong>der</strong>n..., das entspricht seinem<br />

11


Alter, das stimmt...<br />

Das Kind ist wie ein starker Motor, <strong>der</strong> auf Hochtouren läuft, bis er nicht mehr kann. <strong>Immer</strong> <strong>noch</strong> spürt<br />

es in sich lebendige Energie, und es kann nicht so wie wir damit umgehen: sich hinsetzen und zuhören,<br />

wie die <strong>Zeit</strong> vergeht. Es läuft wie<strong>der</strong> nach draußen, um zu spielen, und man muss es mehrmals rufen,<br />

um es seiner neuen Aktivität zu entreissen ... Es kommt heim: Schluss! Es schläft sofort ein ... eine<br />

natürliche Reaktion ...<br />

Und wenn Sie ein Kind sehen, das abends brav bei seinen Eltern sitzt, während man im Halbdunkel<br />

das Geschrei <strong>der</strong> Teufelsbanden auf dem Platz hört, können Sie sicher sein: Das ist ein krankes Kind.<br />

Wenn es sich immer so verhält, ist es ein unnormales Kind, verbraucht, ohne Leben, gealtert vor dem<br />

Alter; es erträgt nur einen eingeschränkten Erlebnisspielraum; das Laufen, das Schreien, die Schläge,<br />

die Spannung ermüden und belästigen es. Es ist keineswegs ein braves Idealkind, wie manche meinen;<br />

ein vergreistes Kind ist es, seit seiner Geburt auf dem absteigenden Ast des Lebens.<br />

Ich freue mich immer, wenn meine Kin<strong>der</strong> spielen, dass zeigt mir, dass ihr Blut kräftig zirkuliert und sie<br />

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<strong>Immer</strong> über das Maß hinausschießen, das ist das Beson<strong>der</strong>e am Kind wie beim Sturzbach: manchmal<br />

ganz ausgetrocknet, dann wie<strong>der</strong> überschäumend und heftig. Wenn es ruhig und maßvoll ist, gleicht<br />

es dem Fluss und nicht mehr dem Bach.<br />

12


„Den Wind von vorn“<br />

Den Wind von vorn - Zur Aktualität <strong>der</strong> Freinet-Pädagogik<br />

Von Jochen Hering<br />

Der vorliegende Text wurde als Abschlussvortrag im Rahmen eines Freinet-Seminars gehalten. ^) Um<br />

die Stimmung <strong>der</strong> Zuhörerinnen zu Beginn des Vertrags teilen zu können, empfehle ich dem Leser, <strong>der</strong><br />

Leserin, sich zunächst „The End“ von den Doors und danach „Albatros“ von Fleetwood Mac anzuhören.<br />

Einleitende Worte:<br />

Ich habe gestern Abend gemerkt, dass sowohl die Erwartungen an Vorträge als auch das Niveau<br />

von Vorträgen hier relativ hoch sind 2). Und dass außerdem erwartet wird, dass Vorträge immer etwas<br />

ganz lebenspraktisches haben, also auf Fragen eingehen sollten wie z.B. „Sollten Ehepaare sich<br />

Freunde halten?“ Gleichzeitig sollen Vorträge so die Erwartungshaltung <strong>der</strong> Zuhörerinnen hier wohl<br />

13


auch mit einem gewissen Unterhaltungswert einhergehen, weil es immer etwas Schlimmes ist, an<strong>der</strong>e<br />

zu langweilen. Ich habe mich also bemüht, meinen Vortrag entsprechend anzulegen und einen<br />

gewissen Unterhaltungswert im Auge zu behalten. Außerdem möchte ich vermeiden, dass jemand<br />

während des Vortrags hinausgeht3) und habe deshalb mehrere Einleitungen gemacht, um möglichst<br />

alle Anwesenden von Beginn an anzusprechen und einzubeziehen.<br />

Einleitung l: Für Systematiker<br />

Diese erste Einleitung ist für die Systematiker unter uns, die ich an dieser Stelle auch bitten mochte<br />

mitzuschreiben. „Ich heiß den Wind mich aufwärts tragen“, heißt das Motto dieses Treffens. Schön und<br />

gut. Aber <strong>der</strong> Wind kann einem auch ins Gesicht blasen. Und so ist auch <strong>der</strong> Titel meines Vertrags zu<br />

verstehen: „Den Wind von vorn!“ Und darum wird es heute gehen, d.h. also um Unangenehmes. Denn<br />

es ist ja nicht angenehm, wenn einem <strong>der</strong> Wind von vorn ins Gesicht bläst.<br />

Um diesen unangenehmen Wind geht es aber erst im zweiten Teil meines Vertrags. Zunächst soll es im<br />

ersten Teil darum gehen, wie eigentlich alles anfangen sollte o<strong>der</strong>, mit an<strong>der</strong>en Worten: Was das Leben<br />

für Kin<strong>der</strong> zu Beginn bereithalten sollte. Das habe ich in vier Aspekte geglie<strong>der</strong>t:<br />

1. Der Umgang mit unseren Sinnen;<br />

2. Selbst-Erfahrung, Selbst-Bewusstsein und Arbeit;<br />

3. Einheitstannenbäume o<strong>der</strong> Innere Bil<strong>der</strong>;<br />

4. Das Schöne ist immer so, dass es auch eine Trauer hat.<br />

Im zweiten Teil wird es dann, unter den selben Aspekten, um Kindheit heute gehen, vor allem um das,<br />

was Kin<strong>der</strong>n vorenthalten wird. Im dritten Teil geht es um Schule und Erziehung bzw., wie es <strong>der</strong> Titel<br />

des Vertrags ja schon sagt, um die Aktualität <strong>der</strong> Freinet-Pädagogik.<br />

Einleitung 2: Für Sozialisten<br />

Marketingkapitalismus statt Produktionskapitalismus<br />

Am 3. August 1992 berichtete die Westdeutsche Allgemeine <strong>Zeit</strong>ung über das Ergebnis einer Umfrage,<br />

die bei den 50 größten Banken und Konzernen in Deutschland durchgeführt worden war. Danach bemängelten<br />

die Unternehmen mangelhafte Kenntnisse <strong>der</strong> Berufsanfänger im Lesen, Schreiben und<br />

Rechnen, sie bemängelten mangelhafte Konzentrationsfähigkeit und ein schlechtes Sozialverhalten.<br />

4) Dazu schreibt <strong>der</strong> Lehrer Horst Hensel in seinem Buch „Die neuen Kin<strong>der</strong> und die Erosion <strong>der</strong> alten<br />

Schule“:<br />

„Wie sehr aber die positiven Erwartungen und die negativen Erfahrungen zusammenhängen, ja, sich<br />

bedingen, wird schlagartig erhellt, wenn man bedenkt, dass die Unternehmen seitens <strong>der</strong> Produktion<br />

diejenigen Verhaltensweisen <strong>der</strong> Arbeitskräfte kritisieren, die sie seitens des Marktes benötigen und<br />

somit selbst provozieren. Auf dem Markt sind die Individuen als Konsumenten gefragt, also als persönlichkeitsreduzierte<br />

Individuen: Je weniger sie in <strong>der</strong> Lage sind, die Befriedigung von Bedürfnissen<br />

aufzuschieben, je egoistischer, hedonistischer sie sind, je weniger gebildet, desto besser funktionieren<br />

14


sie im Konsumtionszusammenhang. Je weniger sie kritische und literarische Texte lesen, und je mehr<br />

Fernsehen und Werbefernsehen sie sehen, desto besser taugen sie als Konsumenten.“ 5) Was ihnen<br />

aber dadurch verloren geht, ist ein Lebenssinn, <strong>der</strong> über den bloßen Warenkonsum, über das bloße<br />

„Ex und Hopp“ hinausgeht. Ein solches Leben ist aber letztlich unerträglich. Es verliert sich rastlos im<br />

Kreislauf von „immer neu“ und „immer mehr“, ohne sich auf die Dauer im Innern über die Leere des<br />

eigenen Lebens hinwegtäuschen zu können. Das macht in <strong>der</strong> Tendenz destruktiv, sich selbst o<strong>der</strong><br />

än<strong>der</strong>n gegenüber. „So wie das reale Ergebnis <strong>der</strong> Warenherrschaft <strong>der</strong> Müll ist, ist das reale Ergebnis<br />

<strong>der</strong> Warenideologie eine Persönlichkeit, die sich als Abfall fühlt und sich entsprechend verhält.“ 6)<br />

Einleitung 3: Für Kinogänger<br />

In guten Filmen - das weiß je<strong>der</strong> Kinogänger - werden wir an das erinnert, was wir eigentlich wissen,<br />

wir hatten es nur grad vergessen. So verlassen wir das Kino und ähnlich ist es mit Büchern, die wir<br />

als innere Filme ablaufen lassen können ein Stückchen aufrechter und gebessert. Für den Moment<br />

jedenfalls.<br />

Genau das möchte ich versuchen. Ich möchte euch nichts Neues erzählen, son<strong>der</strong>n an das erinnern,<br />

was ihr schon wisst und vielleicht nur gerade vergessen habt. Und das werde ich auch weniger mit eigenen<br />

Gedanken machen, son<strong>der</strong>n ich habe die Bücher, die ich in <strong>der</strong> letzten <strong>Zeit</strong> gelesen und hierher<br />

mitgebracht habe, für diesen Zweck ausgeplün<strong>der</strong>t.<br />

Ich werde euch also erinnern. Célestin Freinet bezeichnet seine Fähigkeit, sich zu erinnern, als sein<br />

vielleicht einziges, zumindest aber wichtigstes pädagogisches Talent, das wie er schreibt vielleicht darin<br />

besteht, „dass ich eine so gute Erinnerung an meine jungen Jahre bewahrt habe. Ich fühle und verstehe<br />

als Kind die Kin<strong>der</strong>, die ich erziehe. Die Probleme, die sich stellen, und die für die Erwachsenen ein<br />

so großes Rätsel sind, stelle ich mir auch selbst. Und ich erinnere mich an die <strong>Zeit</strong>, als ich acht Jahre<br />

alt war, und so lege ich als Erwachsener und gleichzeitig als Kind über alle Systeme und Methoden<br />

hinweg, unter denen ich so sehr litt, Irrtümer einer Wissenschaft offen, die ihren Ursprung vergaß und<br />

verkannte.“ 7)<br />

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sollte.<br />

I. Teil: Wie alles anfangen sollte<br />

1.1 Die Entfaltung <strong>der</strong> Sinne<br />

Stellen wir uns folgendes vor 8) je<strong>der</strong> hat es schon in dieser o<strong>der</strong> jener Form erlebt:<br />

Wir bewegen uns mehrere Kilometer über die glatte, ebene Fahrbahn einer Autostraße. Nichts liegt<br />

im Wege. Das Licht ist hell und ungetrübt. Haben wir die Strecke hinter uns gebracht, fühlen wir uns<br />

ermattet und wie „gerä<strong>der</strong>t“. Die risikolose Gleichförmigkeit hat uns angeödet.<br />

Wan<strong>der</strong>n wir die gleiche Strecke nebenan durch den Wald. Der Pfad ist schmal, holprig, gewunden.<br />

Man muss aufpassen, um nicht über Wurzeln zu stolpern. Zweige können einem ins Gesicht peitschen.<br />

15


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Es duftet, man atmet tief. Insekten sind abzuwehren. Plätschern kündet einen Bach an. Auf einer sch-<br />

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Man muss vorsichtig sein und überall umherschauen. Es knackt, man muss horchen, ob nicht ein Ast<br />

herunterfällt. Kurz: Der Weg steckt voller kleiner zu bestehen<strong>der</strong> Abenteuer und Wagnisse, die mich<br />

voll mit allen Glie<strong>der</strong>n und Sinnen in Anspruch nehmen. Am Ende des Weges ist man rundherum erholt<br />

und erfrischt und dankbar, diesen Weg gegangen zu sein,<br />

Was war es, was die glatte Bahn so anstrengend machte? Was hatte es mit dem Waldweg auf sich,<br />

dass er uns erneuerte? Die Antwort ist mit <strong>der</strong> Frage gegeben. Der Waldweg nahm uns allseitig in<br />

Anspruch. Die glatte Bahn for<strong>der</strong>te uns nichts an<strong>der</strong>es ab, als gegen die verödende Wirkung <strong>der</strong> Nicht-<br />

Inanspruchnahme durch Hin<strong>der</strong>nisse anzukämpfen. Wir mussten die Bahn hinter uns bringen in dauerndem<br />

Wi<strong>der</strong>spruch mit uns selbst.<br />

So ist es. Was uns erschöpft, ist die Nicht-Inanspruchnahme <strong>der</strong> Möglichkeiten unserer Organe, ist ihre<br />

Ausschaltung, Unterdrückung, ist <strong>der</strong> „Negative Stress“ - viel schlimmer, weil <strong>noch</strong> viel allgemeiner und<br />

<strong>noch</strong> viel weniger durchschaut als <strong>der</strong> aktuelle Stress.<br />

Was aufbaut, ist Entfaltung. Entfaltung durch Auseinan<strong>der</strong>setzung mit einer mich im Ganzen herausfor<strong>der</strong>nden<br />

Welt. Ist das Bestehen <strong>der</strong> Welt. Unsere Organe, unsere Sinne, entfalten sich nur, wenn<br />

sie in Anspruch genommen werden. Dies ist gleichsam die Energie, die das Organ zu seiner Existenz<br />

braucht.<br />

1.2 Entfaltung des Selbst-Bewusstseins<br />

Tätigsein als Selbst-Erfahrung<br />

Kin<strong>der</strong> sind begierig, sich selbst zu erfahren, indem sie ihren eigenen Organismus erfahren. Schon <strong>der</strong><br />

Säugling lutscht an Händen und Füßen. Hugo Kükelhaus, aus dessen Schriften ich die Textpassage<br />

oben über den Waldweg zusammengestellt habe, schreibt über Selbst-Bewusstsein und Selbst-<br />

Erfahrung:<br />

„Wenn ein Kind eine Reihe Bauklötze aufeinan<strong>der</strong>stellt, um einen Turm zu bauen, werden die letzten<br />

Bewegungen immer behutsamer: Denn eine unvorsichtige Bewegung und das ganze Gebäude fällt<br />

zusammen. Diese Behutsamkeit, die das Kind aufbringen muss, um den Turm möglichst hoch zu bekommen,<br />

ist eine Erprobung <strong>der</strong> Schwerkraft, die von <strong>der</strong> Erde aus auf die einzelnen Würfel einwirkt.<br />

Das Kind muss also balancieren. Und dieses Balancieren wird um so anspruchsvoller, je höher das<br />

Kind kommt. Mit an<strong>der</strong>en Worten: Indem das Kind den Turm aufbaut, baut es sich selbst auf, denn<br />

dieser Turm entsteht ja nur aus <strong>der</strong> Behutsamkeit seiner Bewegung... Das Lernen vollzieht sich als ein<br />

Sich-selbst-Lernen am gegenständlich An<strong>der</strong>en.“ 9) Mit an<strong>der</strong>en Worten: Ohne eine Welt, an <strong>der</strong> ich<br />

mich ausprobieren und abarbeiten kann, erfahre ich nicht, wer ich bin o<strong>der</strong> wer ich sein könnte.<br />

16


Selbst-Bewusstsein durch Arbeit<br />

„Man hat im Spiel die Kraft <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung, <strong>der</strong> Anpassung und <strong>der</strong> Befreiung übersehen<br />

und nur <strong>noch</strong> das euphorische Vergnügen, das dabei zu beobachten ist, bemerkt.<br />

Und auf diese Lust, auf dieses Vergnügen, haben die Pädagogen ihre Theorien aufgebaut. Fast<br />

könnte man es so formulieren: Diese mo<strong>der</strong>ne Pädagogik... baut in Wirklichkeit gar nicht auf dem<br />

Spiel auf, son<strong>der</strong>n nur auf dem Vergnügen. Und das ist etwas ganz an<strong>der</strong>es.“ C. Freinet 10)<br />

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und Schwierigkeiten überwinden und schließlich ein Ergebnis erzielen. Indem wir arbeiten, erleben<br />

wir ein Gefühl <strong>der</strong> Befriedigung (dem ein Gefühl von „Macht“ gegenüber den Dingen zugrunde<br />

liegt), wir erfahren Anerkennung für das, was wir geleistet haben, und wir erfahren uns selbst mit<br />

unseren Fähigkeiten, Geschicklichkeiten, gestalterischen Ideen, unserer körperlichen Kraft, unserem<br />

Durchhaltevermögen usw.<br />

Wer in seine Kindheit zurückblickt, wird leicht solche Erfahrungen und die damit verbundenen Gefühle<br />

erinnern. Das erste Blatt Papier voll mit Wasserfarben, <strong>der</strong> erste Schneemann, das erste Spiegelei o<strong>der</strong><br />

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unabhängig von <strong>der</strong> Lehrerin ausgedacht und aufgeführt.<br />

Und in einer Welt, die für Kin<strong>der</strong> und Jugendliche (außer als allgegenwärtiges Konsumgut) kaum <strong>noch</strong><br />

vorgesehen ist, bildet „Arbeit mit Spielcharakter“ („travail-jeu“ heißt es bei Freinet) das konstitutive<br />

Element für die Organisation erster „Arbeitserfahrung“ im oben beschriebenen Sinn. Kin<strong>der</strong> erleben,<br />

wie sehr Arbeit beglücken kann, erleben, dass wirklich freie Arbeit, z.B. das Malen eines Bildes, das<br />

Basteln eines Geschenks für den Freund, zugleich intensivste Anstrengung ist. Ohne die Möglichkeiten<br />

„spielerischer Arbeit“ bleibt Kin<strong>der</strong>n diese Erfahrung verschlossen.<br />

Für Célestin Freinets Denken ist <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> „Arbeit mit Spielcharakter“ („travail-jeu“) entscheidend.<br />

Spiel und Arbeit sind für ihn keine gegensätzlichen Begriffe. Zunächst einmal hat die Arbeit organische<br />

Priorität. Das Auf-die-Welt-Kommen ist instinktiv mit existenzsicherndem Handeln (sprich: Arbeit)<br />

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Aktivitäten wie<strong>der</strong>, in denen sich die Kin<strong>der</strong> <strong>der</strong> „Arbeit mit Spielcharakter“ hingeben:<br />

„Zur Selbsterhaltung gehört die Notwendigkeit, sich zu ernähren. Daher kommen die Bewegungen<br />

und Verhaltensweisen des Kletterers, des Sammlers, des Jägers, des Fischers und des Viehzüchters:<br />

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und des Seils... <strong>der</strong> instinktive Unterschlupf, in dem manchmal auch Magisches liegt, die Suche nach<br />

Höhlen und Verstecken, eingezäunten geschlossenen Bauten, Brücken...“ 11)<br />

Der kindlichen „Arbeit mit Spielcharakter“ liegt also dasselbe Bedürfnis zugrunde, das die Erwachsenen<br />

zur Arbeit bewegt (womit Freinet selbstverständlich nicht die aufgezwungene, entfremdete, ausschließlich<br />

zur Reproduktion <strong>der</strong> eigenen Arbeitskraft notwendige Arbeit gemeint hat):<br />

„Es gibt beim Kind von Natur aus keinen Spieltrieb. Es gibt nur das Bedürfnis nach Arbeit, d.h. die or-<br />

17


ganische Notwendigkeit, das Lebenspotential für eine Aktivität zu benutzen, die gleichzeitig individuell<br />

und sozial ist und ein fest umrissenes Ziel hat, das den kindlichen Möglichkeiten angepasst ist und<br />

eine große Spanne von Reaktionen wie Ermüdung Erholung; Erregung Ruhe; Emotion Beruhigung;<br />

Angst Sicherheit; Risiko Sieg umfasst. Zudem muss diese Arbeit einem beson<strong>der</strong>s für dieses Alter<br />

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sich selbst zu übertreffen, die an<strong>der</strong>en zu übertreffen, große und kleine Siege zu erringen, etwas o<strong>der</strong><br />

jemanden zu beherrschen .“ 12)<br />

Die spielerischen Aktivitäten <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> so Freinet sind ganz sicher Arbeit, kindliche Arbeit, <strong>der</strong>en Ziel<br />

wir nicht immer begreifen. „Funktionales Spiel“ 13) nennt Freinet diese Arbeit auch, Spiel, das indirekt<br />

eine Art Vorbereitung aufs Leben darstellt. „Für das Kind ist diese Arbeit als Spiel eine Art explosiver<br />

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len, die ihn belebt und über sich selbst hinauswachsen lässt.“ 14)<br />

„Spiele an sich“, in die Schule hineingeholt für eine „Schule, die Spaß macht“ und in Abgrenzung<br />

zur langweilig-traurigen Kasernenschule, werden den tiefsitzenden Bedürfnissen <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> nicht gerecht.<br />

„Wenn sie sich von diesem Unterschied überzeugen wollen... geben sie ihren Kin<strong>der</strong>n eines dieser augenscheinlich<br />

fesselnden Spiele, die <strong>der</strong> Markt den Familien aufdrängt. Dann beginnen sie neben den<br />

spielenden Kin<strong>der</strong>n zu schreinern, zu sägen, zu nageln... Sobald <strong>der</strong> Reiz des Neuen vergangen ist,<br />

werden sie sehen, wie die Kin<strong>der</strong> das Spiel sein lassen und sich den Tätigkeiten zuwenden, die ihre archaischen<br />

Bedürfnisse befriedigen... Unglücklich sind die Kin<strong>der</strong>, die sie nie kennen gelernt haben und<br />

die von den Spielen und <strong>der</strong> Erziehung <strong>der</strong> ‚Schule, die Spaß macht‘ so völlig deformiert wurden, dass<br />

sie manchmal sogar ihre eigenen lebenswichtigen instinktiven Bedürfnisse vergessen konnten.“ 15)<br />

1.3 Einheitstannenbäume und innere Bil<strong>der</strong> o<strong>der</strong> Warum Gute-Nacht-Geschichten?<br />

Innere Bil<strong>der</strong> und die Gestaltung <strong>der</strong> Welt<br />

Die folgende Geschichte ist zusammengestellt aus dem Buch „Warum Huckleberry Finn nicht süchtig<br />

wurde*“‘, geschrieben von dem Psychiater Eckhard Schiffer:<br />

„Karsten war ein schwieriges Kind, wild, ungeduldig und aggressiv. Das war nicht weiter verwun<strong>der</strong>lich,<br />

denn die Ehe <strong>der</strong> Eltern war sehr spannungsgeladen. Beson<strong>der</strong>s vom Vater wurde Karsten mit<br />

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<strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>-Abenteuerclub o<strong>der</strong> eine ähnliche Einrichtung -, bei dem Karsten dann abgegeben wurde.<br />

Als ich einmal zufällig Karsten betreute, zeigte er mir mit aggressiver Lust den Kassettenrecor<strong>der</strong>, den<br />

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uns beide freuten.<br />

Ich war zunächst allerdings einigermaßen ratlos, wie ich den wild in seinem Bett hopsenden Karsten in<br />

einer angemessenen <strong>Zeit</strong> wohl „zur Ruhe“ bekommen könnte.<br />

Als ich ihm jedoch eine Gute-Nacht-Geschichte versprach, in <strong>der</strong> auch er selbst vorkäme, merkte er<br />

18


sehr interessiert auf und hörte dann bis zum Schluss gespannt zu. Es war eine Geschichte, die ich<br />

früher auch schon meinen eigenen Kin<strong>der</strong>n erzählt und die ich nun auf Karstens Verhältnisse hin etwas<br />

abgewandelt hatte.<br />

Kennst du die Geschichte vom Nussknacker Kracks, als <strong>der</strong> mit seinem Eisbrecher im Eismeer steckenblieb<br />

und Kuckuck Karl und Karsten ihn wie<strong>der</strong> befreien mussten?<br />

Nein, <strong>noch</strong> nicht? Gut.<br />

Also, Kracks musste mit seinem Eisbrecher mal wie<strong>der</strong> zum Nordpol. Da ist es immer ganz kalt, und<br />

viel Eis gibt es dort.<br />

Damit die grossen Schiffe dort nicht steckenbleiben, muss er denen durch das Eis den Weg freimachen.<br />

Wie so ein Eisbrecher funktioniert, das weißt du? Ja, das ist auch ganz einfach. Der hat einen ganz<br />

starken Motor, eine ganz starke Schraube, und die schiebt den Eisbrecher gegen das Eis o<strong>der</strong> auf das<br />

Eis, und weil <strong>der</strong> Eisbrecher so schwer ist, zerbricht dann das Eis.<br />

Aber in dem Winter war es nun sehr kalt und, du glaubst es nicht, das Eis wurde immer dicker und<br />

dicker, und schließlich blieb Kracks mit seinem Eisbrecher selbst im Eis stecken. Das war eine schöne<br />

Bescherung. Kracks klappte mit seinem grossen Maul und sagte, so etwas wäre ihm ja <strong>noch</strong> nie<br />

passiert. Er ließ die Motoren auf vollen Touren laufen, aber nichts half, es ging we<strong>der</strong> vor <strong>noch</strong> zurück.<br />

Und je länger er im Eis steckenblieb, desto dicker wurde das Eis. Ja, und dann wurde es allmählich<br />

bedrohlich für die Leute auf dem Eisbrecher.<br />

Erst hatten sie es sich <strong>noch</strong> gemütlich gemacht, die Heizung ordentlich angestellt und gefeiert und gesungen,<br />

aber allmählich ging dann doch das Öl auf dem Schiff zu Ende, schließlich auch die Vorräte.<br />

Das Eis wurde dicker von Tag zu Tag, kein warmer Wind, kein Sturm, nichts. Da sagte dann Kracks,<br />

es hilft alles nichts, wir müssen um Hilfe funken. Aber <strong>der</strong> Funker meinte, was sollen wir denn machen,<br />

wir sind doch selber Eisbrecher, und wenn wir hier nicht durchkommen, dann kommt auch kein an<strong>der</strong>er<br />

durch. Ja, meinte Kracks, das stimmt wohl, aber wir funken einfach mal meinen Freund, den Kuckuck<br />

Karl aus <strong>der</strong> Kuckucksuhr an: Karl hat einen Freund, <strong>der</strong> heißt Karsten. Das ist ein ganz doller Kerl,<br />

den beiden wird schon etwas einfallen‘<br />

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Eismeer, Karsten auf einem Drachen, den Kuckuck Karl hinter sich herzieht. Und Karsten hat etwas<br />

wichtiges mitgenommen, nämlich sein Brennglas/Vergrößerungsglas:<br />

„Was so ein Brennglas ist, weißt du ja. Damit kann man die Sonnenstrahlen auf einen Punkt bündeln<br />

und <strong>der</strong> ist dann ganz heiß. Wenn du das mal auf <strong>der</strong> Hand machst, dann merkst du das. Man kann<br />

damit sogar Papier zum Brennen kriegen. Das kennst du ja schon.<br />

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um den Eisbrecher herum wegzuschmelzen. Das ging schon ganz gut, dauerte aber doch eine Weile,<br />

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19


gab Riesenrisse und zum Schluss zersprang das Eis mit einem Riesenknall in große Eisschollen. Dann<br />

hörte man <strong>noch</strong> ein lautes Kichern und Lachen.<br />

Was war wohl geschehen? Du wirst es kaum raten. Karsten hatte mit seinem Brennglasstrahl so ein<br />

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<strong>der</strong> lachte und lachte und peng, war das ganze Eis um den Eisbrecher herum weggekracht.“ 1^)<br />

Was macht die Gute-Nacht-Geschichte mit Karsten?<br />

„Das Entscheidende daran ist schreibt Eckhard Schiffer -, dass er selbst in <strong>der</strong> Phantasie etwas bewegt<br />

und nicht nur Eindrücke passiv aufnimmt, erleidet, d.h. seine innere Welt aktiv selbst gestalten kann.<br />

Und indem er über seine eigenen inneren Bil<strong>der</strong> im Reich <strong>der</strong> Phantasie verfügen, sozusagen seine<br />

Verfügungsmacht spüren kann, wird die äußere Welt um ihn herum, in <strong>der</strong> er zu viele fremde Eindrücke<br />

einfach erleiden muss und nicht gestalten kann, weniger bedrohlich und einschränkend.<br />

Er kann das „Sichern-müssen“, das Kontrollieren, indem er wach bleibt, aufgeben, weil die Welt weniger<br />

bedrohlich wird. Er kann sich „zur Ruhe begeben“ und einschlafen wenn auch <strong>noch</strong> das kleine<br />

Licht anbleiben muss.<br />

Über die Gute-Nacht-Geschichte, in <strong>der</strong> die eigene äußere Welt auftaucht, kann diese mit ihren<br />

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seren Land. Der Weg von dort zurück in die äußere Wirklichkeit erfolgt dann wie<strong>der</strong> über das Erzählen.<br />

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kehrt.“ 17)<br />

Die Welt <strong>der</strong> Geschichten (und damit ist vor allem auch die Welt des „freien Ausdrucks“ gemeint, ein wesentlicher<br />

Teil <strong>der</strong> Freinet-Pädagogik, darauf werde ich im nächsten Teil kommen), die Welt des freien<br />

Ausdrucks (seien es Geschichten, Theaterszenen, Bil<strong>der</strong>) bringt einen inneren Reichtum. Geschichten<br />

sind auf den äußeren materiellen Reichtum nicht angewiesen, wodurch eben dieser Reichtum in Frage<br />

gestellt wird. Auch darin zeigt sich ein aufsässiges Moment im Erzählen.<br />

Freie Texte, <strong>der</strong> Gebrauch <strong>der</strong> eigenen Fantasie, das lenkt vom Einkaufen ab, macht Lust auf das<br />

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ben, führt uns zu uns selbst und zu einer Welt, die wir gestalten können. Und es schadet, wie gesagt,<br />

dem Bruttosozialprodukt!<br />

1.4 „Das Schöne ist immer so, dass es auch eine Trauer hat“<br />

(Hermann Hesse, Knulp)<br />

Kin<strong>der</strong> unterscheiden sich von Erwachsenen unter an<strong>der</strong>em dadurch, dass sie erst in eine Geschichte<br />

hineinwachsen. Was sie jetzt, im Umgang mit Eltern, Freunden, Lehrerinnen und Lehrern erleben, das<br />

sind ihre zukünftigen Erinnerungen, aus denen sich einmal ihre Lebensgeschichte zusammensetzen<br />

wird. So entsteht Vergangenheit und wenn Erinnerungen tatsächlich unser späteres Leben mit prägen<br />

Tag für Tag ein Stück mehr Zukunft bei den Kin<strong>der</strong>n.<br />

Lebensgeschichten haben wir an<strong>der</strong>s als einen Anzug o<strong>der</strong> ein Haus. Wir können sie nicht wechseln,<br />

20


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problematisch. Aber wir erleben auch Trauriges, das wir am liebsten rasch wie<strong>der</strong> vergessen würden.<br />

Wir tun Dinge, für die wir uns im Nachhinein schämen, so sehr schämen, dass uns die Erinnerung daran<br />

bis in unsere Träume verfolgt. Erinnerungen können uns regelrecht im Nacken sitzen.<br />

Das lässt sich überhaupt nicht verhin<strong>der</strong>n. Genauso ist das eben, können wir nur kurz und bündig zugeben.<br />

Der Wunsch, Kin<strong>der</strong>n Trauriges und Unangenehmes zu ersparen, ist verständlich, macht aber<br />

keinen Sinn. Wie sollen wir verhin<strong>der</strong>n, dass ein Kuscheltier verloren geht o<strong>der</strong> ein Taschenmesser,<br />

eine Freundschaft zerbricht, die geliebte Lehrerin umzieht, das Meerschweinchen stirbt, Eltern, wir<br />

selbst auch, keine <strong>Zeit</strong> haben o<strong>der</strong> sich nicht die nötige <strong>Zeit</strong> nehmen?<br />

Verdrängen, <strong>der</strong> gewaltsame Versuch zu vergessen, ist keine Lösung. Je mehr wir Dinge, die uns<br />

auf <strong>der</strong> Seele liegen, im Nacken sitzen und im Kopf herumgehen, beiseiteschieben, desto machtvoller<br />

besetzen sie unsere Gedanken und Gefühle. Wir müssen statt dessen lernen, auch mit solchen<br />

Erinnerungen umzugehen, damit wir von Erinnerungen, die uns ängstigen, traurig o<strong>der</strong> mutlos machen,<br />

nicht blockiert und überwältigt werden.<br />

Dazu brauchen Kin<strong>der</strong> Raum, Freiraum sich auszudrücken, die Möglichkeit, einen inneren Dialog zu<br />

führen. In ihrem Buch „Patricks Zeichnungen“ haben Paul le Bohec und Michele Le Guillou die freien<br />

Zeichnungen des lO-jährigen Patrick, die dieser im <strong>Zeit</strong>raum von etwa einem Schuljahr gemacht hat,<br />

zusammengestellt. Sie haben darauf verzichtet, die Bil<strong>der</strong> dieses Kindes zu interpretieren und zu analysieren.<br />

Sie beschränken sich statt dessen darauf, gemeinsam mit den Leserinnen die Zeichnungen<br />

zu betrachten und vorsichtig zu kommentieren. Dabei wird eine „innere Entwicklung“ des Kindes sichtbar.<br />

Im freien Zeichnen befreit sich Patrick von ihn bedrängenden Erinnerungen.<br />

„Je<strong>der</strong> schlägt sich mit Phantasmen herum“ schreibt Le Guillou in ihren Schlussbemerkungen „weil<br />

je<strong>der</strong> traumatisierende Erfahrungen gemacht hat.“ 18) Und sie schlägt vor, den Kin<strong>der</strong>n in <strong>der</strong> Schule<br />

den Raum zu geben, sich frei auszudrücken, zu malen o<strong>der</strong> zu schreiben, weil, „wenn man den freien<br />

Ausdruck zu einem bestimmten <strong>Zeit</strong>punkt <strong>der</strong> schulischen Laufbahn eben nicht abtöten würde, wie<br />

das heute geschieht, wenn die Lehrer selbst freier wären, ...dann jedes Kind seine eigenen Mittel und<br />

�������������������������������������������������<br />

2. Teil: Kindliche Lebenswelt heute<br />

Vorbemerkung<br />

Der zweite Abschnitt meines Vertrags folgt ein Zugeständnis an die Systematiker im Aufbau dem ersten<br />

Teil, was vielleicht auch das Zuhören und Mitdenken erleichtert. Es soll zu Beginn dieses Teils wie<strong>der</strong><br />

um unsere Sinne gehen, genauer gesagt um ,,Das Schwinden <strong>der</strong> Sinne“. Ich werde das mit Blick<br />

auf die <strong>Zeit</strong> nur kurz andeuten, weil es um Dinge geht, die wir alle wissen. Es geht im zweiten Abschnitt<br />

<strong>noch</strong>mal um Arbeit, unter dem Stichwort ,,Arbeitslos von klein auf“. Danach geht es im dritten Teil um<br />

Bil<strong>der</strong> und die Gestaltung <strong>der</strong> Welt, dieser Teil trägt den Titel „Einheitstannen, das Geplapper und <strong>der</strong><br />

Verlust des inneren Dialogs“. Zusammenfassen möchte ich das alles unter dem Stichwort „Die neuen<br />

21


Kin<strong>der</strong>“, angelehnt an das schon genannte und zitierte Buch von Horst Hensel „Die neuen Kin<strong>der</strong> und<br />

die Erosion <strong>der</strong> alten Schule“.<br />

2.1 Das Schwinden <strong>der</strong> Sinne<br />

Bewegung ist die Grundlage unserer geistigen Entwicklung. Be-greifen kommt von greifen. Der kleine<br />

Mensch, gerade auf <strong>der</strong> Welt, dreht bald die Augen, wendet den Kopf und verfolgt Stimmen und<br />

Geräusche, greift und begreift. Voller Neugier, mit Ausdauer und Freude wird die Umwelt erobert, ertastet,<br />

erklettert, erschmeckt.<br />

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(und vor ihrer eigenen über die im Mutterleib). Sie lernen darüber, dass sie ihre Flasche anfassen, und<br />

spüren, wie das ist, dass sie das greifen. O<strong>der</strong> darüber, dass sie aus dem Bett fallen, lernen sie, dass<br />

das hoch ist. O<strong>der</strong> darüber, dass sie was anfassen, lernen sie, dass das heiß ist. In <strong>der</strong> Bewegung, im<br />

Greifen, steckt das Be-greifen!<br />

Und in diesen Bewegungen wacht das Gehirn auf. Seine Nervenzellen nehmen die Eindrücke und<br />

Anregungen aus <strong>der</strong> Umgebung auf, setzen sie in zielgerichtete Bewegungen um. So macht <strong>der</strong> kleine<br />

Mensch Erfahrungen. Im Kontext von Sprache erwirbt er Fertigkeiten und Wissen.<br />

Was aber, wenn einschränkende Lebensverhältnisse und Verhaltensweisen von Erwachsenen dieses<br />

Lernen mit allen Sinnen behin<strong>der</strong>n? Man könnte sehr viel dazu sagen, man kann es aber auch in einem<br />

Slogan <strong>der</strong> Bremer „Fahrrad-Bewegung“ zusammenfassen: „Kin<strong>der</strong>, kommt rein, damit die Autos<br />

draußen spielen können.“<br />

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die Autogesellschaft sagen, das ist ein Kern dieser Geschichte und betrifft uns alle als Autofahrer, die<br />

wir auch sind. Also: Die Straße ist in <strong>der</strong> Autogesellschaft als Lebens- und Bewegungsraum verloren<br />

gegangen. Die Gefährdung liegt auf <strong>der</strong> Hand, Kin<strong>der</strong> kommen an die Hand. Dazu die Verführung zur<br />

Bewegungslosigkeit durch die Welt des Fernsehens oft schon im Kleinkindalter:<br />

Bewegungsloses Starren auf bewegte Bil<strong>der</strong>.<br />

Laufställe in den Wohnungen bieten Neugier und Entdeckerfreude Einhalt. Laufen und Hüpfen verbieten<br />

sich in hellhörigen Neubauwohnungen von selbst. Und mit angeblichen Lernhilfen wie <strong>der</strong> Laufhilfe<br />

werden schon im Kleinkindalter wichtige Schritte in <strong>der</strong> Bewegungsentwicklung, in diesem Fall eine<br />

ausreichend lange Krabbelphase, künstlich abgeschnitten. Klettern, Baumhäuser bauen, ja wo denn?<br />

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entzogen, geeignet, sich mit allen Sinnen auszuprobieren?<br />

22


2.2 Arbeitslos von klein auf<br />

In einer Welt, an <strong>der</strong> ich mich ausprobieren und abarbeiten kann, erfahre ich, wer ich bin o<strong>der</strong> wer ich<br />

sein könnte. In <strong>der</strong> Arbeit erfahren wir uns selbst mit unseren Fähigkeiten, Geschicklichkeiten, gestalterischen<br />

Ideen, unserer körperlichen Kraft, unserem Durchhaltevermögen usw.<br />

Was haben Kin<strong>der</strong> heute statt dessen? Viele, wenn nicht die meisten, ein Leben aus 2. Hand. Leben<br />

wird in unserer Gesellschaft industriell, technisch, kommerziell, sozial immer mehr und immer mehr<br />

zur Fertigware in Werbepackung. Und diese Waren schieben sich uns immer dichter vor die Nase. Wir<br />

nehmen die Fertigware „Leben“ und nehmen uns damit das Leben.<br />

Arbeit bei Kin<strong>der</strong>n, spielerische Arbeit, so Freinet, ist indirekt eine Art Vorbereitung aufs Leben. Und<br />

insofern ist diese Arbeitslosigkeit von klein auf natürlich eine Vorbereitung auf das spätere Leben<br />

als selbst-bewusstloser Konsument, <strong>der</strong> bewusst-los zur Fertigware greift, weil er die Freude <strong>der</strong><br />

Eigentätigkeit, des schöpferischen Tuns, <strong>der</strong> Herstellung von Dingen, nicht mehr kennen gelernt<br />

und erfahren hat. So verlieren, nebenbei gesagt, durch das Verschwinden <strong>der</strong> sichtbaren Arbeit, die<br />

Dinge auch ihre Geschichte, und Milch ist nur <strong>noch</strong> die „weiße Flüssigkeit aus <strong>der</strong> Kühltheke des<br />

Supermarktes“, Spaghettis wachsen möglicherweise an Bäumen.<br />

2.3 Die Einheitstanne, das Geplapper und <strong>der</strong> Verlust des inneren Dialogs<br />

Wer kennt das nicht! Tochter o<strong>der</strong> Sohn kommen aus Kin<strong>der</strong>garten o<strong>der</strong> Grundschule nach Hause und<br />

sind verstimmt. Was ist geschehen? Sie o<strong>der</strong> er hat eine gelbe Tanne gemalt o<strong>der</strong> einen roten Hund<br />

o<strong>der</strong> ein Haus ohne Dach, und das war keine richtige Tanne, kein richtiger Hund, kein richtiges Haus,<br />

das hat jedenfalls die Lehrerin o<strong>der</strong> die Kin<strong>der</strong>gärtnerin gesagt.<br />

Überall werden heute Einheitsschneemänner, Einheitstannenbäume und Einheitsdrachen gefor<strong>der</strong>t!<br />

Der eigene Entwurf hat keine Chancen. Dabei enthalten eigene, selbstgestaltete Bil<strong>der</strong> soviel von <strong>der</strong><br />

eigenen Person. Und sie enthalten den Entwurf einer Wirklichkeit, wie das Kind sie denkt. Durch den<br />

Einheitstannenbaum wird es in diesen seinen eigenen Entwürfen und Gestaltungen blockiert.<br />

Ein Buch lesen heißt, sich Bil<strong>der</strong> machen, innere Welten entfalten, heißt, die Fähigkeit produktiver<br />

Ausdruckskraft (sprich: „Fantasie“) zu schulen. Alleine im Zimmer zu sitzen, o<strong>der</strong> im Garten, das animiert<br />

dazu, sich die Welt aus Kopfkissen, Stühlen, einer Decke und einem Besenstiel neu zusammenzusetzen.<br />

In <strong>der</strong> Sonne auf dem Rücken liegend in den Himmel zu starren, den Tag am Zaun zum<br />

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Blick neu für das, worauf es ankommt.<br />

Aber Räume zum Lesen, zum Dösen o<strong>der</strong> Höhlen bauen, das sind seltene Ökotope, die nur <strong>noch</strong> in<br />

privilegierten Kindheiten vorkommen.<br />

Ansonsten dominiert das Muster <strong>der</strong> Einkaufspassage:<br />

Reize von allen Seiten, ein ohrenbetäuben<strong>der</strong> Lärm, Lichteffekte, ununterbrochene Versprechungen,<br />

we<strong>der</strong> <strong>Zeit</strong> <strong>noch</strong> Gelegenheit, nachzudenken o<strong>der</strong> gar seinen Gedanken nachzuhängen.<br />

Welche Bil<strong>der</strong>welten sollen da <strong>noch</strong> Platz haben neben den kommerziell verordneten, die schon mor-<br />

23


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schon längst per Frühstücksfernsehen und Kin<strong>der</strong>reklame seit 6 Uhr in <strong>der</strong> Frühe da sind.<br />

<strong>Zeit</strong>vertreib ist eines <strong>der</strong> unsere Epoche charakterisierenden Worte, und wo die <strong>Zeit</strong> vertrieben wird, ist<br />

für den inneren Dialog kein Raum mehr.<br />

Ebenso ist es mit <strong>der</strong> Trauerarbeit, mit dem Sachverhalt, dass das Schöne immer auch eine Trauer hat.<br />

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erlittenen Beschädigungen unbenannt und Unbegriffen, ungestaltete Phantasmen, die uns im Inneren<br />

besetzen und unfrei machen.<br />

2.4 Zusammenfassung: Die neuen Kin<strong>der</strong><br />

Als im September 1993 unter dem Titel „Die neuen Kin<strong>der</strong> und die Erosion <strong>der</strong> alten Schule“ die pädagogische<br />

Streitschrift Horst Hensels erschien, führte das im bundesdeutschen <strong>Zeit</strong>ungs-Blätterwald<br />

zu einem deutlichen Rauschen und sorgte auch in <strong>der</strong> Kultusbürokratie und bei den Schulbehörden für<br />

Unruhe.<br />

Es ist nicht unbedingt neu, was <strong>der</strong> Kamener Gesamtschullehrer Horst Hensel da auf knapp 100 Seiten<br />

skizziert, aber er hat knapp und pointiert zusammengefasst, worum es jetzt und in den folgenden<br />

Jahren im Schulgeschäft gehen wird. Ich zitiere aus dem Kapitel „Die neuen Kin<strong>der</strong>“:<br />

Kin<strong>der</strong> heute, so Hensel, sind „seltener und weniger bereit und fähig..., zu arbeiten, d.h. sich auf eine<br />

Tätigkeitsform einzulassen, die sich <strong>der</strong> spontanen Bewältigung sperrt, die also <strong>Zeit</strong> und Kraft kostet<br />

und Aufmerksamkeit verlangt, (sie sind) seltener und weniger bereit und fähig..., sich sozial zu verhalten,<br />

also Regeln des Zusammenlebens einzuhalten, sich in einen an<strong>der</strong>en Menschen hineinzuverset-<br />

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In <strong>der</strong> Regel geht es darum, sich selbst aggressiv durchzusetzen... Sowohl Eltern als auch Kin<strong>der</strong> begreifen<br />

immer seltener, dass Lernen eine Tätigkeit ist, und dass jede Tätigkeit Mühe kostet und mit <strong>der</strong><br />

Verausgabung von Arbeitskraft einhergehen muss. Die Einstellung gewinnt Raum, Lernerfolge müssten<br />

sich allein durch Anwesenheit von Kin<strong>der</strong>n im Unterricht von selbst ergeben... Eine große Anzahl<br />

<strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> verhält sich so, als sei ihr Zentralnervensystem an das Vorabendprogramm des Fernsehens<br />

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nen sich nicht konzentrieren, bedürfen <strong>der</strong> immer neuen Reize... können nicht mit sich allein sein,<br />

behalten nichts, strengen sich nicht an kurz: das Konstante ihrer Persönlichkeit ist die Flüchtigkeit...<br />

Die skizzierten Phänomene zeigen sich natürlich nicht nur im Unterricht, son<strong>der</strong>n auch bei schulischen<br />

Veranstaltungen wie Fahrten und Herbergsaufenthalten. Bei letzterem wird beson<strong>der</strong>s deutlich, dass<br />

die meisten Kin<strong>der</strong> nichts mit sich und an<strong>der</strong>en anzufangen wissen und ständig <strong>der</strong> Animation bedürfen,<br />

um nicht über Langeweile zu klagen und destruktiv zu werden. Auffällig ist auch die geringe körperliche<br />

Belastungsfähigkeit. Rasche körperliche Erschöpfung und körperliches Unwohlsein, begleitet<br />

�������������������������������������������������������������<br />

24


„Das ‚neue Kind‘ „ so Hensel weiter auf <strong>der</strong> Eingangsstufe <strong>der</strong> Sekundärschule lässt sich in plakativer<br />

Verallgemeinerung wie folgt beschreiben:<br />

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Geschwister und lebt bei <strong>der</strong> Mutter. Familienerziehung hat es nie erfahren. Es erinnert sich daran,<br />

dass Familie Streit, auch männliche Gewalt und Alkoholmissbrauch bedeutet. <strong>Zeit</strong>weise lebt es bei den<br />

Großeltern. Geld ist knapp. Die Mutter kümmert sich nicht um ihr Kind. Es lebt neben ihr her und hört<br />

nicht auf sie. Täglich sieht es viele Stunden fern. Der Konsum von Sex-Filmen und auch pornographischen<br />

Filmen ist ihm nicht fremd. Sein Frauen-Bild wenn es ein Junge ist -, seine Vorstellungen von<br />

Sexualität und Liebe bilden sich bei RTL plus. Horror- und Action Filme sind seine tägliche Zerstreuung.<br />

Das Kind bleibt abends lange auf und ist morgens müde. Nicht selten kommt es zu spät zur Schule. Nicht<br />

selten hat es nicht gefrühstückt, hat es keine Pausenbrote mit. Die Hausaufgaben hat es nicht o<strong>der</strong> nur<br />

zum Teil gemacht. Lernergebnisse, die durch Memorieren erfolgen und zu sichern sind, sind ihm nicht<br />

abzuverlangen. In <strong>der</strong> Regel fehlt ihm Schulmaterial, wie Papier, Stifte usw., zumindest ist dies nur<br />

zum Teil vorhanden und schadhaft. Allerdings hat es oft Zerstreuungsspiele dabei (Garne-Boys u.a.).<br />

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nach dem Unterricht. Es gibt kein Thema und keine Unterrichtsmethode, die ihn Unterricht interessant<br />

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Regeln des Umgangs ein. Wenn die Schule zu einer Veranstaltung einlädt, vergessen Kind und Mutter<br />

die Rückmeldung. Zahlungen erfolgen verspätet und nach zahlreichen Mahnungen. Im allgemeinen<br />

ist es nicht bereit, eine Anweisung zu akzeptieren; die Lehrkräfte müssen ihm ein und dasselbe mehrmals<br />

nacheinan<strong>der</strong> sagen, ehe es dies wahrnimmt was <strong>noch</strong> nicht bedeutet, dass es Anweisungen<br />

befolgt. Gelegentlich entscheidet es, nicht mehr mitzuarbeiten, packt seine Tasche eine Viertelstunde<br />

vor Unterrichtsende und sagt: Ich habe keine Lust mehr. Es sehnt sich nach Anerkennung und hat gar<br />

nicht vor, faul zu sein o<strong>der</strong> sich asozial zu verhalten; es ist nur so, dass es nicht an<strong>der</strong>s kann, dass es<br />

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muss Spaß machen und leicht sein. Es prügelt sich, wenn es im Ausleben seiner Individualität behin-<br />

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Schrift ist kaum zu entziffern. Später will es viel Geld verdienen.<br />

Dieser Typ Kind scheint in verschiedenen Schattierungen und Abstufungen nach und nach <strong>der</strong> ‚Haupttyp‘<br />

zu werden, was zu <strong>der</strong> Schlussfolgerung führt, dass entwe<strong>der</strong> die Mehrzahl o<strong>der</strong> eine dominierende<br />

Min<strong>der</strong>heit <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> <strong>der</strong> Eingangsstufe we<strong>der</strong> sozial erzogen <strong>noch</strong> in bezug auf die Sekundärschule<br />

I schulreif sind.<br />

Damit ist die Schule vor die Aufgabe gestellt, sich die Voraussetzungen zu ihrer Arbeit erzogene und<br />

schulfähige Kin<strong>der</strong> selbst erst zu schaffen, da Familie und Gesellschaft dies nicht mehr leisten.“ 21)<br />

25


3. Teil: Kindheit heute und Freinet-Pädagogik<br />

Vorbemerkung<br />

„Der mit Verstand Suchende ist immer <strong>der</strong>jenige, welcher <strong>der</strong> Einfachheit und dem Leben nachgeht.“<br />

C. Freinet 22)<br />

Ich fasse das bisherige <strong>noch</strong> einmal zusammen. Im ersten Teil ging es um die Frage, wie das Leben<br />

von Kin<strong>der</strong>n eigentlich anfangen sollte, was Kin<strong>der</strong> brauchen, um sich mit ihren Möglichkeiten zu entfalten.<br />

Es ging um die Entfaltung <strong>der</strong> Sinne, um Selbst-Bewusstsein und Erfahrung durch Arbeit, um<br />

innere Bil<strong>der</strong> und den notwendigen Umgang mit Traurigem. Im zweiten Teil habe ich versucht, ein Bild,<br />

sicherlich ein plakatives Bild, über Kindheit heute zu malen, also darüber, dass wir als Lehrer „den<br />

Wind von vom“ bekommen, dass die Verhältnisse so sind, dass Kin<strong>der</strong> immer weniger so aufwachsen,<br />

wie sie aufwachsen sollten.<br />

Daran kann Schule zunächst und unmittelbar nichts än<strong>der</strong>n. Diese Kin<strong>der</strong> kommen in die Schule, zu<br />

uns, wir müssen mit ihnen leben und arbeiten. Die Frage ist allerdings: wie? Und ich glaube, in <strong>der</strong><br />

Antwort liegt die Aktualität <strong>der</strong> pädagogischen Vorstellungen und Methoden des Franzosen Célestin<br />

Freinet. Seine Pädagogik ist für mich diejenige, die, wenn vielleicht keine Lösungen (denn gegenüber<br />

dem alltäglichen Wahnsinn sind die Möglichkeiten auch <strong>der</strong> besten Schule begrenzt), so aber doch<br />

sinnvolle Antworten auf die hier skizzierten gesellschaftlichen und pädagogischen Probleme enthält.<br />

3.1 Die Arbeitsschule<br />

Zunächst: Freinet-Pädagogik ist Arbeitspädagogik. „Die Arbeit schreibt Célestin Freinet wird das<br />

Prinzip, <strong>der</strong> Motor und die Philosophie <strong>der</strong> volkstümlichen Pädagogik sein. Durch Selbsttätigkeit wird<br />

aller Bildungserwerb erzielt.“ 23)<br />

Freinet sucht die Arbeitsmittel, Techniken und Unterrichtsideen, die die praktische Umsetzung dieser<br />

Idee ermöglichen. Die Exkursion, <strong>der</strong> freie Text, die Schuldruckerei, die Arbeitsbibliothek und<br />

die Korrespondenz gehören dazu. Hinzu kommt die Arbeit in den Ateliers, dem Kernbereich <strong>der</strong><br />

Arbeitsschule. Hermann Lietz, dessen Schule in Hamburg-Altona Freinet 1923 besucht, for<strong>der</strong>t:<br />

„Nicht Kenntnisse, Wissen, Gelehrsamkeit, son<strong>der</strong>n Charakterbildung; nicht alleinige Ausbildung des<br />

Verstandes und des Gedächtnisses, son<strong>der</strong>n Entwicklung aller... Kräfte, Sinne, Organe, Glie<strong>der</strong>... zu<br />

einer möglichst harmonischen Persönlichkeit... Warum behandelt man ihn (den Schüler) so, als wenn<br />

er nur Kopf wäre, nur Gehirn hätte, aber keine Hände und Arme, Beine, Augen, Ohren und vor allem<br />

kein Herz? Er sehnt sich ja nach Handarbeit, nach Spiel, nach Anschauung, nach Kunstausübung...“<br />

24) Freinet übernimmt diese Gedanken in dem Satz: „Wache Köpfe und geschickte Hände sind besser<br />

als mit Wissensstoff vollgestopfte Hirne.“ 25)<br />

Um das zu verwirklichen, soll <strong>der</strong> schulische Unterricht so gestaltet werden, dass das Kind eigene<br />

Erfahrungen machen kann, dass es ausprobieren und experimentieren kann. Darin liegt <strong>der</strong> Sinn <strong>der</strong><br />

Arbeitsecken, <strong>der</strong> Ateliers. Aufgabe <strong>der</strong> Lehrerin, des Lehrers ist es jetzt vor allem, die Organisation <strong>der</strong><br />

26


Arbeit in <strong>der</strong> Klasse anzuleiten, die Klasse für Arbeiten „außerhalb“ zu öffnen (sei es die Aufführung eines<br />

�����������������������������������������������������������<br />

Materialien für die Arbeiten <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> bereit zu haben, ihnen Arbeitstechniken zu vermitteln. Es geht<br />

darum, gemeinsam mit den Kin<strong>der</strong>n eine geeignete Lernumgebung zu schaffen. Die „vorbereitete<br />

Umgebung“ ist ein sehr anschaulicher, von Maria Montessori geprägter Begriff dafür. 26) In den Ateliers<br />

werden die normalen Tätigkeiten <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> (o<strong>der</strong> mit an<strong>der</strong>en Worten:<br />

Ihre elementaren Bedürfnisse), sich bewegen, tasten, fühlen, beobachten, experimentieren, in die<br />

Schularbeit einbezogen. „Wirklich wichtig schreibt Freinet ist nicht das Wissen, sind nicht einmal die<br />

Entdeckungen, wichtig ist das Forschen. Der Geist ist nicht eine Scheune, die matt füllt, son<strong>der</strong>n eine<br />

Flamme, die man nährt.“ 27)<br />

3.2 Der freie Ausdruck und die Entwicklung von Eigen-Sinn<br />

Freinet-Pädagogik geht damit um, dass das Schöne auch eine Trauer hat. Im freien Ausdruck können<br />

Kin<strong>der</strong> sich befreien.<br />

Wir können nicht verhin<strong>der</strong>n, dass Kin<strong>der</strong> Unangenehmes, Verletzendes, Einschränkendes erleben.<br />

Und wir müssen stattdessen lernen, Kin<strong>der</strong>n zu helfen, mit solchen Erinnerungen fertig zu werden,<br />

damit sie von ihnen nicht blockiert und überrollt werden. Ich möchte <strong>noch</strong> einmal an das Buch von Paul<br />

Le Bohec „Patricks Zeichnungen“ erinnern, in dem er beschreibt, wie ein Junge sich im freien Malen<br />

(und Schreiben) von bedrängenden Erinnerungen befreit. „Wenn die Lehrer selbst (nur) freier wären“<br />

so Le Bohec „und den Kin<strong>der</strong>n den notwendigen Raum geben und lassen würden, dann könnte „jedes<br />

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Das ist sicherlich ein hoher Anspruch. Ich sage es etwas bescheidener. Ich möchte Kin<strong>der</strong>n den Raum<br />

geben, sich an Geschichten zu erinnern, Geschichten zu erzählen o<strong>der</strong> aufzuschreiben, Bil<strong>der</strong> zu malen,<br />

im freien Schreiben und Gestalten auf Entdeckungsreise in die eigene Geschichte zu gehen. Sie<br />

können dabei lernen, das Angenehme und Schöne, das ihnen begegnet, zu geniessen, Kraft daraus<br />

zu schöpfen. Und sie haben, wenn sie selbst es möchten, die Gelegenheit, sich auch für Trauriges und<br />

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damit den ersten Schritt, Belastungen und Blockaden aufzulösen und sich mit ihnen zu versöhnen.<br />

Denn wie unsere an<strong>der</strong>en Sinne muss auch das Erinnerungsvermögen unser Sinn für Geschichten<br />

aus <strong>der</strong> Vergangenheit entfaltet werden.<br />

Und wir können in den freien Texten spielerisch, schöpferisch und kritisch mit <strong>der</strong> Wirklichkeit umgehen,<br />

sie neu zusammensetzen, verän<strong>der</strong>n, die Fantasie als „besseres Land“ kennen lernen, im Erzählen<br />

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lich Teile einer inneren Welt, die als eigener Ausdruck und Wunsch <strong>der</strong> äußeren Welt entgegengestellt<br />

werden kann.<br />

27


„Die immer wie<strong>der</strong>kehrende Gestaltung des eigenen Ausdrucks“ schreibt <strong>der</strong> Psychotherapeut Eckhard<br />

����������������������������������������������������������<br />

unverschämten Eigen-Sinnes“ 29)<br />

Sich bei <strong>der</strong> Arbeit mit allen Sinnen erfahren, in <strong>der</strong> Erfahrung <strong>der</strong> eigenen Möglichkeiten selbst-bewusst<br />

���������������������������������������������������������������<br />

die Wirklichkeit in <strong>der</strong> Fantasie und mit Fantasie auseinan<strong>der</strong>nehmen und neu zusammensetzen können,<br />

je mehr solche Räume und Freiräume aus Kindheiten verschwinden, nur <strong>noch</strong> als Nischen, als<br />

Ökotope, für einige wenige überleben, je mehr Fantasie und Eigen-Sinn <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> überrollt werden,<br />

um so deutlicher wird die Aktualität <strong>der</strong> Freinet-Pädagogik hervortreten.<br />

1) Abschlussvortrag zum österreichischen Freinet-Treffen mit dem Motto „Ich heiß den Wind mich aufwärts tragen“, St. Georgen am Längsee/Kärnten,<br />

April 1995. Um dem Text nichts von seiner Lebendigkeit zu nehmen, habe ich mich entschlossen, ihn in <strong>der</strong> Vortragsform zu belassen.<br />

2) Da <strong>der</strong> Vortrag zu weiten Teilen erst im Verlauf <strong>der</strong> Tagung entstand, konnte er Bezug auf die Tagungs-Erreignisse nehmen. Es geht hier um eine<br />

Kabarett-Nummer von Rudi Schwarzenberger, die sich am Vorabend (Präsentation <strong>der</strong> Arbeitsgruppenergebnisse und Abschlussfest) satirisch mit dem<br />

eher wissenschaftlich-trockenen Einstiegsvortrag auseinan<strong>der</strong>setzte.<br />

3) So geschehen beim Einstiegsvortrag,<br />

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5) Ebd. S. 21f.<br />

6) Ebd. S. 32.<br />

7) C. Freinet, zit. nach: Elise Freinet, Erziehung ohne Zwang. Der Weg Célestin Freinets, Stuttgart 1981, S. 25.<br />

8) Die folgenden Gedanken sind Aufsätzen und Büchern von Hugo Kükelhaus entnommen. Für beson<strong>der</strong>s lesenswert halte ich den Band „Organismus<br />

und Technik Gegen die Zerstörung <strong>der</strong> menschlichen Wahrnehmung“, als Taschenbuch neu erschienen.<br />

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10) Célestin Freinet, Pädagogische Texte, Mit Beispielen aus <strong>der</strong> praktischen Arbeit nach Freinet, hrsg. von Heiner Boehncke/Christoph Hennig,<br />

Hamburg 1980, S. 80. Das Kapitel „Arbeit und Spiel“ aus diesem Buch ist im vorliegenden Band auf den Seiten 247-278 neu abgedruckt worden.<br />

11) Ebd., S. 92; vgl. S. 270 in diesem Band.<br />

12) C. Freinet, zit. nach E. Freinet, Erziehung ohne Zwang, a.a.O., S.115.<br />

13) Ebd. S. 115.<br />

14) Ebd. S. 116.<br />

15) C. Freinet, Pädagogische Texte, a.a.O., S. 96ff. Vgl. in diesem Band Seite 277.<br />

16) Eckhard Schiffer, Warum Huckleberry Finn nicht süchtig wurde. Anstiftung gegen Sucht und Selbstzerstörung bei Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen, Weinheim,<br />

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17) Ebd. S. 66.<br />

18) Paul Le Bohec/Michele Le Guillou, Patricks Zeichnungen, Pädagogik-Kooperative e.V., <strong>Bremen</strong> 1993, S. 159.<br />

19) Ebd. S. 158<br />

20) Horst Hensel, Die neuen Kin<strong>der</strong>..., a.a.O., S. 15ff.<br />

21) Horst Hensel, Die neuen Kin<strong>der</strong>..., a.a.O., S. 18ff. Die „neuen Kin<strong>der</strong>“ wären allerdings auch nicht denkbar ohne die „neuen Erwachsenen“. Vgl. dazu<br />

den Beitrag von Johannes Beck in diesem Band.<br />

22) Zit. nach E. Freinet, Erziehung ohne Zwang, a.a.O., S. 30.<br />

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24) Ebd. S. 154.<br />

25) Ebd.<br />

26) Vgl. Friedrich Gerve, Freiarbeit, Lichtenau 1992, S. 24f.<br />

27) Zit. nach Klaus Zehrfeld, Freinet in <strong>der</strong> Praxis, Weinheim 1977, S.67.<br />

28) Paul Le Bohec/Michele Le Guillou, Patricks Zeichnungen, a.a.O., S. 159.<br />

29) E. Schiffer, Warum Huckleberry Finn nicht süchtig wurde, a.a.O., S. 35.<br />

28


C. Freinet<br />

Mo<strong>der</strong>ne Aufzucht o<strong>der</strong> Konzentrationslager<br />

„Sehen Sie“, erklärte uns <strong>der</strong> Eigentümer <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Hühnerfarm, „hier ist für alles vorgesorgt, alles<br />

ist hier methodisch und wissenschaftlich. Unsere Zuchtfarm ist ja eigentlich ein bisschen wie eine<br />

Schule. Sie ist aufgeteilt in Klassen: diese zerzausten Küken hier, die frisch aus dem Ei im Brutkasten<br />

geschlüpft kommen, sind in diesem ersten geheizten und überheizten Raum.<br />

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uns beson<strong>der</strong>s um die Ernährung, die jedem Alter angepasst wird und die wissenschaftlich ausgearbeitet<br />

ist - mit Vitaminen, die 1000 Francs pro Gramm kosten!<br />

In einer Rekordzeit werden die Hühnchen dick und fett. Hören Sie die Tiere in diesen letzten Räumen! Das<br />

zetert und kreischt wie Kin<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Pause auf einem Schulhof, <strong>der</strong> zu klein ist für ihr Herumtollen.“<br />

„Und wenn eins mal abhaut?“ fragt ein Kind, ganz bedrückt von dieser Konzentrationslager-für-Hühner-<br />

Atmosphäre.<br />

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sich selbst Nahrung suchen. Sie können nicht an<strong>der</strong>s als hier bleiben, ihre Körner fressen und auf das<br />

Schlachtermesser warten....“<br />

Dahinten, in <strong>der</strong> Nähe <strong>der</strong> Hühnerfarm, schnattern und gackern friedlich die Hühner und Hähne in<br />

Freiheit und spazieren unter den Olivenbäumen. Weiter unten, am Rande des Pinienwaldes, ruft ein<br />

Rebhuhn seine Jungen, um sie, bevor es dunkelt, in Sicherheit zu bringen.<br />

Ich ziehe keine Schlussfolgerungen. Aber ich glaube, dass es lei<strong>der</strong> Gottes immer <strong>noch</strong> Schulen gibt,<br />

die ordentlich und wissenschaftlich den mo<strong>der</strong>nen Grundsätzen <strong>der</strong> Hühnerzucht entsprechend ausgerichtet<br />

sind, und dass die Kin<strong>der</strong>, die aus ihnen herauskommen, ihrerseits im Leben we<strong>der</strong> laufen<br />

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das Schlachtermesser.<br />

Bildung, Wahn und Soziale Ökologie<br />

Sollen die Menschen verhältnismäßig werden o<strong>der</strong> die Verhältnisse menschlich ?<br />

von Johannes Beck<br />

„Das Leben zwingt den Menschen zu allerlei freiwilligen Handlungen.“<br />

(Lee, Krakau)<br />

Im sehr berechtigten Streit <strong>der</strong> „Ökologiebewegung“ für die Wie<strong>der</strong>gewinnung einer halbwegs normalen<br />

Um- o<strong>der</strong> Mitwelt könnte es sein, dass die Streiter sich und ihre Kin<strong>der</strong> vergessen haben.<br />

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Pilz- und Krebsgeschwüren erscheinen die ganz gegenwärtigen Problemchen von Sophie und Klaus,<br />

Maike und Marie geradezu lächerlich. Für eine Bewegung taugen sie offenbar nicht.<br />

29


Ich vermute, dass die umgekehrte Reihenfolge <strong>der</strong> Bedeutung einen Sinn hätte, wenn sie praktisch als<br />

Bildungsfrage begriffen werden könnte. Ein weltweit radikalisierter Kapitalismus hat schließlich nicht<br />

zuerst die Natur, son<strong>der</strong>n uns selbst und unsere Kin<strong>der</strong> in arge Bedrängnis und auch allzu oft um den<br />

Verstand gebracht.<br />

Könnte Bildung im Leben unserer Kin<strong>der</strong> und dann <strong>der</strong>en Kin<strong>der</strong> etwas än<strong>der</strong>n? Und wenn, können wir<br />

zu ihr mehr als „bessere“ Schulprogramme beitragen? Gibt es eine soziale Ökologie, die <strong>der</strong> Bildung<br />

nachfolgen<strong>der</strong> Generationen gerecht werden könnte? Und gibt es eine Bildung, die <strong>der</strong> Entstehung<br />

�������������������������������������������������������������<br />

Zerstörung? Ich denke schon; sonst würde ich an dieser Stelle meinen Text abbrechen.*<br />

Ausgehend von <strong>der</strong> hier vorgelegten thesenartigen Textfassung habe ich meine Vorstellungen in improvisierter<br />

Form in sehr unterschiedlichen Kreisen und im Rundfunk vorgetragen. Die anschließenden<br />

Gespräche o<strong>der</strong> Stellungnahmen ermutigen mich, den Text an dieser Stelle zur Diskussion zu stellen.<br />

In diesem Buch zur Freinet-Pädagogik steht er in einem beson<strong>der</strong>en Kontext. Darin möchte ich an politische<br />

Zusammenhänge erinnern. In ihnen hätte Reformpädagogik ihre Bedeutungen und Möglichkeiten<br />

immer neu zu formulieren. Sollte sie sich wie hier auf C. Freinet berufen, bliebe ihr gar keine an<strong>der</strong>e<br />

Wahl.<br />

Als Heiner Boehncke und ich 1975/76 die erste Pädagogik-Kooperative im Bremer Körnerwall mit<br />

gründeten und dann in den „Jahrbüchern für Lehrer“ (rororo 1976-82), in Filmen (wie „Den Kin<strong>der</strong>n das<br />

Wort geben“, W. Jung und B. Lindemann) o<strong>der</strong> mit den Rowohlt Taschenbüchern „politische Erziehung“<br />

einer reformpädagogischen Bewegung publizistisch auf die Sprünge helfen wollten, konnten wir nicht<br />

ahnen, was dabei herauskommen würde. Sicher haben wir damals im Nachklapp zu 1968 unsere politischen<br />

Hoffnungen überzogen formuliert. Die solidarische Kritik von Konrad Wünsche, das Beharren<br />

des ersten Freinet-Publizisten Hans Jörg (Schuldrucker) auf Freinet-Techniken und die drängenden<br />

Schulpraxisfragen <strong>der</strong> kooperierenden Lehrerinnen und Lehrer betonten die pragmatische Seite <strong>der</strong><br />

Freinet-Pädagogik. Eine kleine pädagogische Bewegung bahnte sich eben ihre eigenen Wege. Die<br />

folgende „didaktische Wende“ <strong>der</strong> erfreulich schnell wachsenden Pädagogik-Kooperativen zur Freinet-<br />

Pädagogik mussten wir als praktische Kritik akzeptieren.<br />

1982 stellten wir die Jahrbücher für Lehrer ein, weil wir glaubten, die Konzeption einer mo<strong>der</strong>nen<br />

Reformpädagogik sei formuliert, politische Problematisierungen nicht mehr gefragt, und <strong>der</strong> Rest sei<br />

behauptete Angelegenheit <strong>der</strong> Praktiker. Die Lektüre <strong>der</strong> Freinet-<strong>Zeit</strong>ung „Fragen und Versuche“ schien<br />

unserer etwas resignativen Einschätzung Recht zu geben. Doch da waren und sind auch weitergehende<br />

Gedanken nicht nur zwischen den Zeilen zu lesen. Sie halten an <strong>der</strong> Einsicht fest, dass pädagogisches<br />

Handeln immer zugleich politische Praxis ist und niemals neutral sein kann, auch wenn die<br />

Akteure nichts davon wissen (wollen). Wie heißt es doch bei den Schülern von Barbiana sinngemäß:<br />

„Zwei Faschisten und achtundzwanzig Unpolitische macht dreißig Faschisten...“<br />

Was mich betrifft, so habe ich in <strong>der</strong> Zwischenzeit versucht, die verschiedensten reformpädagogischen<br />

Ansätze im gesellschaftlichen Kontext kritisch zusammenzudenken. Aus <strong>der</strong> Freinet-, Montessori-,<br />

30


Steiner-, Tolstoj-, Ferrer-, Blonski-, Gaudig-, Gansberg-, Freire-, Summerhill-. Heutig-, Barbiana-,<br />

Reggio-, Gestalt- und so weiter Pädagogik lässt sich lernen, wie man unter konkreten Bedingungen, in<br />

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gogisch seligmachende Sekte kreiert, ist zumindest phantasieloser als sein Religionsstifter.<br />

Heute ist das gesamte Repertoire <strong>der</strong> Reformpädagogiken wie ein Steinbruch zu begreifen. Aus ihm<br />

lassen sich die Mosaiksteine gewinnen, die zu einer eigenen Praxis zusammengestellt werden können.<br />

Diese aber hätte sich mehr denn je von ihrer Fixierung auf Schulpraxis zu lösen und auf die relevanten<br />

Orte des Lernens in einer erweiterten Bildungslandschaft zu beziehen.<br />

Bildung o<strong>der</strong> Moralerziehung?<br />

Wer von Bildung sprechen will, muss auch vom Generationsverhältnis reden, also von Differenz, in <strong>der</strong><br />

sie zuallererst geschieht.<br />

<strong>Immer</strong>, wenn eine mo<strong>der</strong>ne Gesellschaft in die Krise gerät, in <strong>der</strong> die Jungen als störende Seismographen<br />

von links, rechts, oben o<strong>der</strong> unten auftreten, gilt Erziehung als Ursache, ertönt <strong>der</strong> Ruf nach einer an<strong>der</strong>en<br />

Erziehung. Sie soll ausbügeln, was die Gesellschaft an Nonsens auch bei den Jungen hervorbringt<br />

o<strong>der</strong> gar den „neuen Menschen“ für irgendein Paradies produzieren. Nach 1918, 1938, 1948, 1968<br />

und jetzt wie<strong>der</strong> mit <strong>der</strong> komischen Eliteö<strong>der</strong> „Werteerziehung“ <strong>der</strong> übermütigen Erzieher gab und gibt<br />

es solche Schöpfungsversuche mit ganz unterschiedlichen Motiven und Zielen. Gemeinsam ist ihnen,<br />

dass sie die Leute än<strong>der</strong>n wollen, um letztlich die unlauteren Verhältnisse vor ihnen zu schützen. Die<br />

Menschen sollen verhältnismäßig werden und nicht die Verhältnisse den Menschen gemäß.<br />

Darin liegt <strong>der</strong> Bildungswahn politpädagogischer Dompteure aller ideologischer Coleur. Ihre Ansicht<br />

vom erziehungsbedürftigen, formbaren Menschen stößt sich hart mit <strong>der</strong> vorherrschenden Hoffnung<br />

auf einen erfreulichen Selbstlauf kapitalistischer Entwicklung, in <strong>der</strong> sich alles schon irgendwie regeln<br />

würde, wenn nur die Menschen nicht o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>s wären. Doch nichts regelt sich irgendwie in<br />

sitten- und tugendhafter Weise von selbst. Die Menschen verhalten sich eben nicht <strong>der</strong> auferlegten<br />

Moralerziehung gemäß; sie tun, was ihnen die unmoralischen Verhältnisse beigebracht haben und<br />

nehmen sich doch die Freiheit, es an<strong>der</strong>s zu machen. Was dabei herauskommt, ist in Ex-Jugoslawien<br />

nicht das gleiche wie in <strong>der</strong> Ex-DDR o<strong>der</strong> in <strong>der</strong> alten und neuen Bundesrepublik. Vierzig Jahre DDR<br />

ein Staat als Einheitsschule: sollte man diesen grausamen pädagogischen Modellversuch mit seiner<br />

strammen Werteerziehung nicht endlich pädagogisch auswerten?<br />

Wahrscheinlich haben wir hier wie dort mehr durch die Umstände unseres Lebens gelernt, was wir<br />

jetzt tun, und weniger durch die Ermahnungen professioneller Erzieher , die immer nur „unser Bestes“<br />

wollten.<br />

Im Wi<strong>der</strong>spruch zwischen moralischem Anspruch und gesellschaftlicher Realität musste auch die<br />

Bildungsreform <strong>der</strong> frühen Siebziger Jahre stecken bleiben. Von „Bildung“ war in <strong>der</strong> Folge auch<br />

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ten Verwaltungsroutine zurück und sicherte fortan nicht einmal ihre Bestände. Weil sie die kleinen<br />

31


Fehler vermeiden wollte, machte sie die grossen. Die Bildungseinrichtungen verkamen abermals<br />

zu Sortieranlagen und Lernfabriken und Verwahranstalten, Die gültigen „Lernziele“ ihres heimlichen<br />

Lehrplans hiessen und heißen: Gleichgültig werden, sich anpassen, sowie: irgendwie zurecht- und<br />

durchkommen. Manche erreichen diese Ziele, viele nicht mehr, an<strong>der</strong>e verweigern sich.<br />

‚<br />

Versäumte Lektion o<strong>der</strong>: Was haben die Kin<strong>der</strong> auf <strong>der</strong> Straße verloren?<br />

Die Beantwortung <strong>der</strong> wichtigsten Frage aber wurde in den letzten Jahrzehnten schlichtweg verpasst:<br />

Können und sollen die nachwachsenden Generationen in einer Welt leben, die immer mehr zur fertigprogrammierten,<br />

virtuellen und unbewohnbaren Welt wird, in <strong>der</strong> Spiel- und Gestaltungsräume für<br />

Kin<strong>der</strong> und Jugendliche so selten werden wie Biotope? Was also haben die Kin<strong>der</strong> auf <strong>der</strong> Straße<br />

verloren? Geht es wirklich nicht um mehr, als um „Bildung zur Sicherung eines Wirtschaftsstandortes“?<br />

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- aber gebildet?<br />

Könnte so etwas wi<strong>der</strong>borstiges wie Bildung einen Beitrag zur Sicherung <strong>der</strong> laufenden Geschäfte<br />

bieten?<br />

Erst heute, da die Resultate <strong>der</strong> politisch und pädagogisch versäumten Lektionen offenkundig geworden<br />

sind, Gleichgültigkeit, Orientierungs- und Motivationsverluste, Konkurrenz- und Deklassierungsängste,<br />

�������������������������������������������������������������<br />

ist wie<strong>der</strong> von einem „Bildungsnotstand“ die Rede.<br />

Dieser Begriff aber führt in die Irre, sofern er die Aufmerksamkeit lediglich auf die anachronistisch<br />

gewordenen „Lernvollzugsanstalten“, auf die Hoch- und Tiefschulen richtet o<strong>der</strong> ihnen gar<br />

alle Verantwortung zuschiebt. An Schulen und <strong>Universität</strong>en so scheint es hat es sich ausgebildet.<br />

Diese Einrichtungen sind Teil des Phänomens Bildungskrise, nicht dessen Ursache. Der Name des<br />

Phänomens lautet nicht „Bildungsnotstand“, son<strong>der</strong>n Bildungswahn: Die total und totalitär gewordene<br />

Pädagogisierung sämtlicher Lebensverhältnisse einerseits und <strong>der</strong> pädagogische Kin<strong>der</strong>glaube an<strong>der</strong>erseits,<br />

man könne mit Moralerziehung ausbügeln, was die Ökonomie beseitigt hat nämlich genau<br />

diese Moral. Die Erziehungsund Bildungsinstitutionen spielen in diesem pädagogischen Drama nur<br />

<strong>noch</strong> eine Nebenrolle mit abnehmen<strong>der</strong> Bedeutung. Viel wichtiger ist, was in dem heimlichen Lehrplan<br />

<strong>der</strong> Zivilisation o<strong>der</strong> ihrer Ökonomie an „lehrreichen“ Tatbeständen und Wi<strong>der</strong>sprüchen eingezeichnet<br />

ist und auf die Menschen wirkt.<br />

Die aufklärerische Hoffnung auf Freiheit, die mit <strong>der</strong> Bildung des aufwachsenden Menschen einst verbunden<br />

war, ist damit viel radikaler in Frage gestellt als jede Kulturkritik dies je getan hätte; und zwar<br />

nicht durch irgendein totalitäres Regime, son<strong>der</strong>n durch die selbstgeschaffenen Dinge und Zwänge, also<br />

die wirklichen Verhältnisse. Die gemachten Dinge, die Waren vor allem, mit ihren Sachzwängen wären<br />

also zu den wichtigsten Lehrern <strong>der</strong> Gegenwart geworden. In sie sind die persönlichen Lehrer verding-<br />

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und unglaubliche Reaktionen „als ihre Politik glaubwürdig darstellen“ wollen z.B. in Wahlkämpfen.<br />

Die allgemeine Verunsicherung in einer riskanten, unübersichtlichen, waren und erlebnisversprechenden<br />

und so weiter Gesellschaft ist in all ihren Etagen eine Bedingung des alltäglichen pädagogischen<br />

Furors, also Angriffs. Sie macht aus Bürgern Dauerlehrlinge, die keine eigenwillige Identität mehr ausbilden<br />

können und <strong>der</strong>en Meister in Gestalt gemachter Dinge eine eigentümliche pädagogische Sprache<br />

sprechen. Diese Sprache hat eine Bildungsmacht entfaltet, die die Erfahrungsund Erkenntnisfähigkeit<br />

<strong>der</strong> Menschen verkümmern lässt. Entmündigende Expertokratie, die allgemeine Automobilmachung<br />

mit ihren Kommandolehren, die Sitzübungen vor den Bildschirmen um nur einige Phänomene anzu-<br />

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unmöglich o<strong>der</strong> zum Privileg von Außenseitern gemacht.<br />

Vor diesem Hintergrund nenne ich den nächsten Abschnitt: Entmündigende Belehrung.<br />

Entmündigende Belehrung<br />

Weil sich die Dinge wandeln was sie immer, wenn auch gemächlicher getan haben-, weil das Wissen<br />

explodiert - was es nie tun wird -, weil die Menschen so orientierungsbedürftig geworden sind was eine<br />

Unterstellung ist -, sei weitere permanente Schulung nötig. Sie wird von pädagogischen Animateuren<br />

aus den Reklame-, Ratgeber- und Belehrungsbranchen reklamiert und besorgt. Sie behaupten zu wissen,<br />

wo es langgeht.<br />

Die lebenslange und Erkenntnis <strong>der</strong> Welt man lernt ja nie aus wird zum lebenslänglichen Lernprozess<br />

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Informationsgesellschaft stellt sich als entmündigende Belehrungsgesellschaft heraus. Sie produziert<br />

belehrungsbedürftige Sitzenbleiber des Fortschritts als Dauerlehrlinge.<br />

Als Tendenz kann ich dabei weniger das beklagte „Verschwinden <strong>der</strong> Kindheit“ (Postman) erkennen,<br />

als vielmehr die regressive Verkindlichung, also Infantilisierung <strong>der</strong> Erwachsenen. Diese Tendenz lässt<br />

sich in vielen Phänomenen ausmachen; beispielsweise im radikalen Verfall des Wertes <strong>der</strong> Erfahrung<br />

<strong>der</strong> Alten, ein Wert, dessen Halbwertzeit inzwischen auf fünf Jahre veranschlagt wird, im unerbittlichen<br />

Jugendkult <strong>der</strong> so genannten Erwachsenen, in <strong>der</strong> späten o<strong>der</strong> ausfallenden Selbständigkeit vieler <strong>der</strong><br />

Jungen genauso, wie in <strong>der</strong> viel zu frühen Aussetzung an<strong>der</strong>er in die raue Wirklichkeit, <strong>der</strong> sie <strong>noch</strong><br />

nicht gewachsen sein können, in <strong>der</strong> sehnsüchtigen Abhängigkeit fast aller von <strong>der</strong> Mutterbrust des<br />

Marktes und in den aufgeregten Versuchen <strong>der</strong> meisten Jungen (bloß nicht) erwachsen zu werden.<br />

Sie zeigt sich auch in <strong>der</strong> Ausweitung von Beratungs-, Lehrgangs-, Vermittlungs-, Informationsund<br />

Therapieangeboten. Die Nachfrage scheint inzwischen zu existieren, sonst könnten es die Anbieter<br />

nicht. Das verweist auf eine wirkliche Notlage <strong>der</strong> Ratsuchenden. Ich frage mich aber, ob sie nicht auch<br />

durch das Angebot <strong>der</strong> unabweisbaren Helfer beför<strong>der</strong>t worden sein könnte. Mir scheint, die gutgemeinte<br />

„Hilfe zur Selbsthilfe“ dürfte zuerst den Helfern selbst geholfen haben. Zumindest aber sind die<br />

Helfer zu Entsorgern einer gesellschaftlichen Umwelt geworden, in <strong>der</strong> die Probleme eigentlich gelöst<br />

33


werden müssten, die auf dem ratgebenden Markt nur individualisiert und zum alsbaldigen Verbrauch<br />

behandelt werden können.<br />

Die Grenzen zwischen Therapie, Pädagogik und Gebrauchsanweisung haben sich in <strong>der</strong> infantilen<br />

Belehrungsgesellschaft verwischt. Dafür mag es viele Gründe geben. Ich will einem nachgehen, <strong>der</strong><br />

in den Bildungsinstitutionen beson<strong>der</strong>s wirksam ist. Er hört auf den Namen: Misstrauen. Die aufdringlichen<br />

Belehrer gehen offensichtlich davon aus, dass die einzelnen Menschen nicht selbst klug, fähig<br />

und weise werden wollen o<strong>der</strong> können, dass sie nicht neugierig genug sind, die Welt und sich in<br />

Erfahrung zu bringen. Also enthalten sie ihnen die Mittel eigener Bildung vor, erklären sie zu bildungsbedürftigen<br />

Halbfabrikanten und sich zu Vollen<strong>der</strong>n <strong>der</strong> unvollkommenen Schöpfung.<br />

„Ich fürchte, unsere allzu sorgfältige Erziehung liefert uns Zwergobst“ (Lichtenberg)<br />

Der Bildungswahn von Lernprozessplanern besteht in dem Glauben, man könne die Bildung an<strong>der</strong>er<br />

planmäßig und geschlossen wie in einem Produktionsprozess organisieren, bis hin zur Überprüfung<br />

und Kontrolle ihres Erfolges. Sie trauen sich alles und den generativen Nachfolgern nichts zu. Dabei<br />

beweist jede Zensur, je<strong>der</strong> Durchfall, den sie in ihren Schulen organisieren, nichts an<strong>der</strong>es als eine<br />

pädagogische Unfähigkeit zum kritischen Dialog mit ihren Schülern. Mich verwun<strong>der</strong>t es nicht, dass<br />

diese angesichts <strong>der</strong> Verweigerung von Zuwendung und vertrauensvoller Distanz rabiat werden und<br />

sich selbst verweigern. O<strong>der</strong>, sie schließen sich in Jugendbanden zusammen, die ihnen jenseits aller<br />

Ideologie wenigstens die Nestwärme und Gefühlssicherheit bieten, die ihnen die kalte Waren-<br />

Belehrungsgesellschaft verweigert.<br />

Ich halte die überorganisierten Lernprozesse mit Zensuren und allen Schikanen für eine staatliche<br />

und wissenschaftlich verklärte Misstrauenserklärung gegenüber <strong>der</strong> nachfolgenden Generation. Ihre<br />

Verfechter verstecken sich oftmals hinter Institutionen. Sie scheinen Angst zu haben, dass die Jungen<br />

nicht so werden, wie sie selbst schließlich geworden sind. Die Sorge ist begründet und lässt sich curricular<br />

auch nicht wegplanen. Die Wurzeln stecken tiefer, als Pädagogik graben sollte. Diese hätte von<br />

einer Einsicht auszugehen, die in <strong>der</strong> grossen Literatur ausgedrückt ist: Kin<strong>der</strong> müssen an<strong>der</strong>s werden<br />

können als ihre Eltern, wenn sie nicht verrückt werden sollen.<br />

Mit dem Glücksversprechen erfolgreicher Schul- und Weiterbildung werden die Prozeduren <strong>der</strong><br />

Lernprozesse den jungen Menschen gegenüber <strong>noch</strong> immer gerechtfertigt:<br />

„Je<strong>der</strong> ist seines Glückes Schmied. Du wirst schon sehen, wofür das gut ist. Was Hänschen nicht lernt,<br />

lernt Hans nimmermehr“. Angesichts <strong>der</strong> wirklichen Aussichten auf das, was man Leben nennt, klingen<br />

solche Begründungen nur dürftig. „Was Hans uns lehrt, nützt Häuschen nimmermehr“, sagen die<br />

Jungen und lernen in ihrem beschädigten Leben. Das ist nicht nur zu ihrem Besten, denn vieles von<br />

dem, was wichtig wäre, kommt darin nicht mehr vor. Das aber hätten wir, ihre Eltern, Freunde, Lehrer<br />

und Lehrerinnen, ihnen beizubringen.<br />

ln den Schulen und Hochschulen soll <strong>noch</strong> immer für ein Leben gelernt werden, das viel zu oft nur<br />

versprochen wird. Diese Tatsache macht die alte Frage Schleiermachers von 1826 aktuell: Ob es denn<br />

34


moralisch zu rechtfertigen sei, den Augenblick im Leben eines jungen Menschen <strong>der</strong> Zukunft zu opfern<br />

vor allem dann, wenn das damit verbundene Versprechen <strong>voraus</strong>sichtlich unerfüllt bleiben wird? Er<br />

wollte das <strong>Zeit</strong>opfer für die Zukunft im gelebten Moment <strong>der</strong> Gegenwart aufgehoben wissen. Im zweckfreien<br />

Spiel können Anstrengung und Entspannung, Ernst und Lust, Freundschaft und Feindschaft,<br />

Inhalt und Form, Lernen, Üben und Können, Satz und Gegensatz in gemeinsamer Tätigkeit versammelt<br />

werden. Darin sah Schleiermacher, ähnlich wie Schiller, eine Möglichkeit <strong>der</strong> Bildung in Freiheit.<br />

Schul-Aufgabe?<br />

Vor dem weiten Horizont <strong>der</strong> Bildung hat sich die mo<strong>der</strong>ne Belehrungsgesellschaft als verkehrte Welt<br />

gezeigt, die durchschaut und verän<strong>der</strong>t werden kann. In ihr wirken die mo<strong>der</strong>nen Dinge und Umstände<br />

als mächtige, auch zweideutige Lehrer: Sie predigen öffentlich Wein und kochen ihn heimlich mit<br />

Wasser. Sie verkünden Freiheit im Abenteuer des Konsums und lehren Abhängigkeit im Glauben an<br />

seine und die eigene Allmacht gerade auch dort, wo ihre Segnungen nicht hinreichen. Sie beschränken<br />

die Freiheit des Lernens und des Lehrens auf die „richtigen, sachgerechten“ Interpretationen und<br />

Handlungen zur Fortschreibung des Bestehenden. Ein Heer von Ratgebern den Chefpädagogen <strong>der</strong><br />

Gegenwart, versorgt uns Dauerlehrlinge mit Rezepten zu jedem Problemchen und mit idiotischen<br />

Gebrauchsanweisungen zu jedem Verbrauch. Ein Ergebnis dieses pädagogischen Furors ist dies: Wir<br />

Wollen alles und können nichts!<br />

35


Die Macht <strong>der</strong> Dinge<br />

Die schöne, neue Belehrungsgesellschaft frustriert ihren Nachwuchs durch die systematische<br />

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virtuelle Wirklichkeiten, die bis zur Simulation <strong>der</strong> Simulation gesteigert werden. In dem Masse, wie die<br />

Menschen sich diesen programmierten Scheinwelten hingeben und auf sie angewiesen sind, werden<br />

sie zu Dienern einer Maschinerie, die sie zu bedienen scheint. In diesem Sinne kann von Realitätsverlust<br />

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gemacht worden sind.<br />

36


Nur zwischen leibhaftig und geistig sich zugewandten Personen sowie im eigenmächtigen Gebrauch<br />

<strong>der</strong> Dinge und einer werkzeughaften Technik könnte Bildung, die diesen Namen verdient, geschehen.<br />

Der Glaube, gegen die enteignende Macht <strong>der</strong> neuen Dinge erziehen zu können und ihrer entfremdenden<br />

Produktion und Konsumtion gleichzeitig dienstbar zu sein, hat sich als mo<strong>der</strong>ner pädagogischer<br />

Bildungswahn herausgestellt. In ihm wird die gängige Vorstellung von Produktion, Tausch und<br />

Verbrauch auf die Herstellung „des Menschen“ zur Verwertung als „Humankapital“ übertragen. Dies<br />

geschieht bei gleichzeitiger Leugnung <strong>der</strong> destruktiven Wirkungen verdinglichter Betriebsamkeit, zu<br />

<strong>der</strong>en Aufrechterhaltung erzogen werden soll. Diese Wirkungen aber sind mächtiger als jede ideologi-<br />

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<strong>Immer</strong>hin werden die Beschädigungen, die vor allem den Kin<strong>der</strong>n auch durch die Schulen angetan<br />

werden, inzwischen als bedrohlich angesehen; und sei es nur, weil sie den ungestörten Fortgang <strong>der</strong><br />

Geschäfte behin<strong>der</strong>n könnten. Ging es bisher darum, die Menschen durch Erziehung und Schulung<br />

zu brauchbaren Staatsbürgern, Produzenten und Konsumenten zu machen, geht es jetzt auch <strong>noch</strong><br />

um die pädagogische Begrenzung <strong>der</strong> verheerenden Schäden, die durch eben diese Produktions- und<br />

Konsumtionsweise in und zwischen den Menschen angerichtet worden sind. Insofern ist dieser mo<strong>der</strong>ne<br />

Bildungswahn im Sinne des Wortes Re-Aktion: Er reagiert erstens auf die Verän<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> gesellschaftlichen<br />

Verhältnisse mit moralischen Wertmaßstäbe und will doch die Menschen den entwertenden<br />

Umständen anpassen, nicht die Umstände dem menschlichen Maß. Er richtet zweitens seine<br />

For<strong>der</strong>ungen vornehmlich an die „bewährten Erziehungsinstitutionen“ Familie und Schule, ohne <strong>der</strong>en<br />

produzierte Ohnmacht gegenüber <strong>der</strong> Erziehungsmacht von warenhaften Dingen und Umständen zu<br />

erkennen o<strong>der</strong> realistisch einzuschätzen. Familie und Schule sollen den destruktiven pädagogischen<br />

Wirkungen <strong>der</strong> Erziehung durch die Umstände entgegenwirken und gleichzeitig den gesellschaftlichen<br />

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len können, auch weil sie ein Teil des Problems sind, das sie lösen sollen.<br />

In dem Masse, wie die bisherigen Aufgaben <strong>der</strong> Bildungsinstitutionen zunehmend in <strong>der</strong> Waren-Markt-<br />

Gesellschaft ungelöst aufgelöst werden, wird die Frage nach den zukünftigen Orten, den Wegen und<br />

den Mitteln <strong>der</strong> Bildung von ihrer Fixierung auf die Schulen entbunden. In gewisser Weise geschieht<br />

das bereits, indem den Schulen immer deutlicher therapeutisch-kompensatorische Aufgaben einer<br />

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Markt und den Betrieben übernommen wird - tritt hinter den „Erziehungsauftrag“ zurück. Die Schulen<br />

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Sorge um den Nachwuchs zu entsorgen. Es mag sein, dass es zu dieser trostlosen Perspektive, die<br />

ich hier nicht weiter ausmalen will, gegenwärtig keine akzeptierte Alternative gibt.<br />

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weil ihnen die Richtung missfällt, und an<strong>der</strong>erseits die Rebellion <strong>der</strong>er, die nicht mitlaufen können, weil<br />

ihnen die Fortbewegungsmittel verweigert bleiben. Dieser Aufstand <strong>der</strong> Sitzenbleiber des Fortschritts<br />

trägt dessen barbarische Züge offen zur Schau, die sonst so vornehm verhüllt sind. Die begründete<br />

37


Angst vor <strong>der</strong> Barbarei scheint viele ehemalige Kritiker <strong>der</strong> herrschenden Zustände in den ersehnten<br />

Konsens mit ihren Apologeten zu treiben. Das führt dazu, dass nur <strong>noch</strong> die Symptome <strong>der</strong> Krise untersucht<br />

werden, weil die Kritiker mit den Ursachen ihren Frieden geschlossen haben. Die Paralysierung<br />

<strong>der</strong> Kritik mit Konsens <strong>der</strong> Privilegierten erschwert auch die Suche nach ökonomischen kulturellen<br />

Alternativen für die Bildung in einem besseren Leben nicht nur im falschen.<br />

Unter dem Aspekt <strong>der</strong> Bildung erscheinen mir die Verwüstungen, die ein weltweit radikalisierter<br />

Kapitalismus zwischen den Generationen und gegenüber Kin<strong>der</strong>n angerichtet hat, so gravierend wie<br />

unter ökologischen Aspekten die Zerstörungen, die sein Wachstumsfuror <strong>der</strong> Natur angetan hat. Wi<strong>der</strong><br />

die Naturzerstörung haben kritische Forscher und vor allem Bürgerbewegungen zumindest einen Stein<br />

ins Rollen gebracht. Er hat selbst multinationale Konzerne in einen gewissen Legitimationszwang und<br />

zu einigen „umweltfreundlichen“ Produktionen gebracht. Im Bereich von Erziehung und Bildung hat am<br />

Ende des „Jahrhun<strong>der</strong>t des Kindes“ <strong>noch</strong> keine Bürgerbewegung den Stein <strong>der</strong> Weisen bewegt Nur<br />

<strong>der</strong> Lehrer Sysiphos rollt ihn immer <strong>noch</strong> auf einen Bildungsgipfel, von dem er jedes mal donnernd ins<br />

Tal zurückfällt.<br />

So wenig wie die Naturzerstörung durch Ökologiestationen, Ethikkommissionen o<strong>der</strong> einige weniger<br />

schädliche Produkte aufgehalten werden kann, so wenig kann die Zerstörung in und zwischen den<br />

Menschen durch Sozialstationen o<strong>der</strong> Moralcurricula verhin<strong>der</strong>t o<strong>der</strong> gar behoben werden.<br />

Umdenken<br />

In Bildungsfragen ist ein Umdenken notwendig. Dieses hätte sich kritisch gegen die radikale Vermarktung,<br />

Entfremdung, Gettoisierung und Monopolisierung von Erziehung und Bildung unter <strong>der</strong> Regie von<br />

Dienstleistungsund Marktexperten zu wenden. Positiv hätte es darauf zu bestehen, dass die Kin<strong>der</strong><br />

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durch Teilnahme bilden und in <strong>der</strong> sie ihre Realität begreifend gestalten können.<br />

Wenn meine These stimmt, dass die Dinge und Umstände zu den wichtigsten und mächtigsten Lehrern<br />

geworden sind, gegen <strong>der</strong>en Lehren keine moralische Belehrung ankommen kann, dann bestünde eine<br />

Bildungsreform, die diesen Namen verdient, in dem Versuch, die Umstände freundlicher einzurichten.<br />

Es wäre dafür zu sorgen, dass auch die Lehren <strong>der</strong> Umstände menschenwürdig sein können; dass<br />

wir unsere Kin<strong>der</strong> nicht vor ihnen schützen müssen; dass sie im alltäglichen Umgang mit den Dingen,<br />

Werkzeugen, <strong>der</strong> Natur, den Menschen und ihrer Kultur etwas Gescheites lernen können, dass sie ihre<br />

Fähigkeiten bilden in dem sie teilnehmen, gerade auch an den Ereignissen, die nicht eigens für sie<br />

hergerichtet worden sind.<br />

Viele <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Dinge, vom Computer bis zum Telefon, vom Automobil bis zum Fahrrad, von <strong>der</strong><br />

Datenbank bis zur Bibliothek und so weiter, könnten durchaus einer eigensinnigen Bildung dienlich<br />

sein, wenn sie als Werkzeuge zum sinnvollen Gebrauch dienen könnten und nicht als Waren zum<br />

sinnlosen Verbrauch, zum Bereichern und Herrschen missbraucht würden.<br />

Mehr als diese alte Weisheit habe ich dem mo<strong>der</strong>nen Bildungswahn, <strong>der</strong> die Menschen än<strong>der</strong>n will, um<br />

38


die unmenschlichen Zustände vor ihnen zu schützen, nicht entgegenzusetzen. Ich habe auch keinen<br />

Plan vorzuweisen, dessen Umsetzung das Tor ins pädagogische Paradies eröffnen könnte. Ich glaube<br />

nicht einmal, dass so ein Plan erfunden werden sollte. Das notwendige Umdenken geschieht in <strong>der</strong><br />

Kritik des pädagogischen Angriffs <strong>der</strong> verdinglichten Umstände und Belehrungen auf die besseren<br />

Möglichkeiten <strong>der</strong> Bildung. Praktisch geschieht es in den vielfältigen Versuchen, ein anregungsreiches,<br />

vertrauensvolles Aufwachsen <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> dort zu ermöglichen, wo sie leben. Ob aus dieser Praxis<br />

eine pädagogische Bewegung entstehen kann, die das Aufwachsen <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> in einer gefährdeten<br />

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deten Natur, bleibt so problematisch <strong>der</strong> Vergleich auch ist zu wünschen übrig.<br />

Kurz: Die gegenwärtige Krise, auch die <strong>der</strong> Bildung, wird nicht dadurch gelöst, dass man die Menschen<br />

den unmenschlichen Bedingungen effektiver anpasst.<br />

Soweit ich weiß, lernen alle Menschen dann am besten, wenn sie tun, was sie gerne tun, was sie wich-<br />

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lernen wollen. Wenn sie nicht durch pädagogische Bevormundung abgestumpft, in ihrem Verhalten<br />

gestört o<strong>der</strong> in ihrem Lernen behin<strong>der</strong>t worden sind, haben sie eigene Fragen, suchen ihre Antworten<br />

und wollen lernen. Man darf ihnen nur die Mittel, die Werkzeuge ihrer Bildung, nicht vorenthalten und<br />

<strong>der</strong>en Wege durch gängelnde Lehrgänge und verdummende Bescheidwisserei versperren. Bildung ist<br />

also „machbar“ von denen, die sich bilden. Dabei können sie unterstützt o<strong>der</strong> behin<strong>der</strong>t werden. Die<br />

beste Unterstützung wäre, wie gesagt, ein gutes Leben, in welchem vielfältige Tätigkeiten erwünscht,<br />

Teilnahmemöglichkeiten gegeben sowie die erfor<strong>der</strong>lichen Werkzeuge und Mittel allen zugänglich<br />

sind.<br />

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bessere Leben und kann an jedem Ort auch in den Schulen versucht werden. Es ist nicht egal, was<br />

die Leute dort machen, auch wenn vieles davon den Wirkungen des heimlichen Lehrplans zum Opfer<br />

fällt. <strong>Immer</strong>hin verbringen die Kin<strong>der</strong> und Jugendlichen, aber auch die Lehrerinnen und Lehrer wichtige<br />

Stunden und Jahre an diesen Orten. Die sind ihnen zeitlebens geschuldet, wenn sie nur <strong>der</strong> Zensur<br />

o<strong>der</strong> einer angeblichen Zukunft geopfert werden.<br />

Leute, die behaupten, dass man in den Schulen für das Leben lerne und auf es nur vorbereitet werde,<br />

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kaum zu formulieren. Das gilt selbstverständlich auch für die hohen Schulen. Wenn ich hier kaum zwischen<br />

Hoch- und Tiefschulen unterscheide, dann liegt das hinsichtlich <strong>der</strong> Bildung daran, dass beide<br />

Etagen dem gleichen heimlichen Lehrplan unterworfen sind, seit auch die Hochschulen auf das Niveau<br />

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dem Wi<strong>der</strong>spruch zu verdanken, <strong>der</strong> aus ihren Inhalten nicht getilgt werden kann. Sie ist auch jenen<br />

Lehrerinnen und Lehrern zu verdanken, die nicht nur als Advokaten des Bestehenden funktionieren,<br />

son<strong>der</strong>n die Freiheit, Eigenart und Selbstzuständigkeit <strong>der</strong> Lernenden respektieren wie auch ihre eigene.<br />

Da ich auch an einem solchen „Vorbereitungsort“ tätig bin, versuche ich mit den Studierenden an<br />

39


Aufgaben und Fragen zu arbeiten, die ihnen und mir gegenwärtig wichtig sind. Die Fähigkeiten, die wir<br />

dabei erwerben, dürften in Zukunft wichtiger sein als die Resultate eines verschulten Schein-Studiums.<br />

Ob wir zu diesem Zweck eine reisende Hochschule, eine Pädagogik-Kooperative, eine <strong>Zeit</strong>ung, einen<br />

Verlag, ein Atelier, ein Theater <strong>der</strong> Versammlung, eine Sommer- o<strong>der</strong> Mansarden-<strong>Universität</strong> betreiben,<br />

ist zweitrangig. Erstrangig ist, dass wir die Fragen und Themen unserer eigenen Bildung selbst<br />

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Eigensinnige Bildung ist möglich im phantasievollen, auch schwejkschen Umgang mit den bürokratischen<br />

Zwängen und den hochtrabenden pädagogischen Ansprüchen <strong>der</strong> Institutionen. Pädagogische<br />

Phantasie kann helfen, die notwendigen „Freiräume“ zu entwerfen, um sie vom entfremdeten Treiben<br />

kleinkarierter Bevormundung zu entsetzen. Die Öffnung <strong>der</strong> Schule in ihre Umgebung wird an einigen<br />

Orten schon probiert. Wo aber die Stadtkultur so sehr verkommen ist, wie beispielsweise in den<br />

Trabantenstädten, kann auch die „Offene Schule“ zu einem langweiligen Programm werden wenn es<br />

nicht gelingt, den Kin<strong>der</strong>n das Wort zu geben, diese beschäftigte Öffentlichkeit kulturell anzureichern<br />

und gerade in einem solchen Bezirk die Schule zu einer Art „Polis“ zu machen (H. v. Hentig), die <strong>der</strong><br />

urbanen Steppe eine bessere Möglichkeit und Praxis zufügt o<strong>der</strong> entgegenstellt.<br />

Eigene Initiativen, die den Ort unserer Handlungen beleben und nicht nur als einmalige Projekte Furore<br />

machen, sind sinnvoll und machbar. Da hat die alte und neue Reform-Pädagogik trotz ihrer beschränkten<br />

Theorien einiges Kunstvolles zu bieten. Viele brauchbare Ideen und ausprobierte Beispiele sind<br />

längst publiziert und kritisiert. Sie zeigen, was im Rahmen <strong>der</strong> Schulen möglich ist und schon über ihn<br />

hinausweisen kann.<br />

Wer in <strong>der</strong> heutigen Bildungsarbeit etwas verbessern will, muss keiner <strong>der</strong> reformpädagogischen<br />

Glaubensrichtungen beitreten, die genau zu wissen meinen, was eine gute Schule ist. Aber er kann<br />

selbst von dort <strong>noch</strong> nützliche Anregungen bekommen, die weiter-, neu- o<strong>der</strong> umgedacht werden können.<br />

Was dann praktisch getan werden kann, ist vor Ort, im Rahmen <strong>der</strong> konkreten „historischen<br />

Möglichkeiten“ (P. Freire), von den Beteiligten zu entscheiden, keinesfalls aber von wem auch immer<br />

zu verordnen.<br />

Was nun die Zukunft <strong>der</strong> Schule betrifft, so denke ich, dass sie unter dem Aspekt <strong>der</strong> Bildung nur<br />

<strong>noch</strong> <strong>der</strong> Rede wert sein wird, wenn diese Institution sehr gründlich in Frage gestellt sowie in ih-<br />

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Prinzipien neu gestaltet werden kann. Wie eine wünschenswerte Alternative zu den bestehenden und<br />

drohenden Belehrungsmodellen aussehen könnte, ist nicht mehr Thema dieses Vortrages. Sie kann<br />

auch nicht allein, in Einsamkeit und Freiheit ausgetüftelt werden. Doch gibt es in <strong>der</strong> Geschichte anregende<br />

oft unterbrochene Bildungswege, die in einer neuen pädagogischen Landkarte eingezeichnet<br />

wären. Und es gibt seit dreißig Jahren bedeutende Ansätze für eine neue Bildungsdiskussion, die über<br />

die Restauration <strong>der</strong> alten Schule und ihrer Mythen auf Bildungsgipfeln hinausreicht (Freire, Barbiana,<br />

Illich, Heydorn, Bourdieu, von Heutig, Holt, de Bois-Reymond usw.). Vor allem aber ist die Krise <strong>der</strong><br />

Bildung und „ihrer“ Institutionen nicht mehr nur ein Hobbythema pädagogischer Nörgler o<strong>der</strong> hochge-<br />

40


schätzter Dichter, son<strong>der</strong>n eine Frage, auf die immer mehr Menschen bessere Antworten suchen und<br />

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Vermarktung <strong>der</strong> Bildung als Ware bieten als auch zur Restauration <strong>der</strong> hinfälligen Staatsmonopolschulen<br />

o<strong>der</strong> Privatschulen. Ich stelle mir anregungsreiche Orte vor, an denen die Mittel <strong>der</strong> Bildung allen zur<br />

Verfügung stehen, die sie nutzen wollen; an denen gemeinsame Werke entstehen können, die für die<br />

Beteiligten sinnvoller sind als Zensuren; an denen schnell und sicher das notwendige Handwerkszeug<br />

erworben werden kann; an denen kompetente Frauen und Männer mit den Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen<br />

an <strong>der</strong> Lösung ihrer Fragen arbeiten, anstatt ihnen ständig die Schule und den Stoff zum Problem zu<br />

machen.<br />

Das wären Orte, <strong>der</strong>en Bewohner auf vielfältige Weise in <strong>der</strong> Öffentlichkeit wirkten, statt diese von<br />

ihrem Nachwuchs zu „entsorgen“. Vor allem aber hätten es Orte zu sein, an denen unsere Kin<strong>der</strong> erwünscht<br />

wären, an denen ihnen Vertrauen und nicht Misstrauen entgegengebracht würde, an denen<br />

sie spielend lernen, also leben könnten, ohne ihre Lebenszeit irgendwelchen fremden Zwecken opfern<br />

zu müssen.<br />

Skole bedeutete in <strong>der</strong> Antike „Ort <strong>der</strong> Muße“, wo man auch lernen konnte, etwas Zweckmäßiges nicht<br />

zu tun. Wer wollte, könnte eingeladen sein.<br />

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Unterlassens hilfreich zur Seite zu stellen. Dazu täte Bildung gut.<br />

* Die folgenden Überlegungen sind in zwei Büchern ausführlicher entfaltet worden:<br />

J. Beck u. H. Wellershoff, Sinnes-Wandel. Die Sinne und die Dinge im Unterricht, Ffm. 1989/93 und<br />

J. Beck, Der Bildungswahn, Reinbek 1994.<br />

41


C. Freinet<br />

Lassen Sie unnütze Soldatenarbeit<br />

Sie kennen die Geschichte die nicht übertrieben ist vom Arbeitskommando, das fünf Männer und ein<br />

Gefreiter übernehmen müssen. Sie haben die Aufgabe, einen störenden Haufen Kies in die an<strong>der</strong>e<br />

Ecke des Hofes zu beför<strong>der</strong>n.<br />

Irgendwie muss die Sache ja in Gang kommen. Dies geschieht nicht allzu schnell, denn so hinreißend<br />

ist die Aufgabe nicht. Nach einer Viertelstunde ist die Gruppe so weit, dass das Werk beginnen kann,<br />

wenn man in diesem Zusammenhang von „Gruppe“ und „Werk“ reden kann: ein Soldat fasst die Griffe<br />

des Schubkarrens; wenn er müde wird, setzt er sich darauf. Ein Zweiter achtet auf das Rad, er setzt<br />

sich auch auf den Karren, um das Gleichgewicht zu halten. Und die Leute mit <strong>der</strong> Schaufel in <strong>der</strong> Hand?<br />

Sie achten auf den Feldwebel, und wenn er herschaut, dann schwingen sie, hopp! Eine Schaufel voll<br />

Kies... „Steht da auf,“ sagt ein schlauer Rekrut, „ich schaffe ja allein mehr als fünf Gruppen zusammen!“<br />

„Darum geht es doch nicht,“ sagen die Erfahrenen. „Wir sind nicht in Zivil, und du wirst nicht<br />

nach Stücklohn bezahlt. Du wirst nur allen auf die Nerven gehen: den Kameraden, die keine Lust zu<br />

arbeiten haben, dem Gefreiten, <strong>der</strong> uns bis zum Essen hier beaufsichtigen soll und dem Feldwebel, <strong>der</strong><br />

dir, wenn du fertig bist, ganz im Ernst sagen wird:<br />

Tangen Sie von vom an ... Bringen Sie den Haufen wie<strong>der</strong> da hin, wo er war!‘ Zu Hause bei dir machst<br />

du doppelt so schnell. Hier, das ist Soldatenarbeit. Hier gibt‘s we<strong>der</strong> Ziel <strong>noch</strong> Zweck. Das wird gemacht,<br />

um die Soldaten zu ärgern und den Steuerzahler glauben zu machen, dass in <strong>der</strong> Kaserne viele<br />

und spezialisierte Arbeitskräfte gebraucht werden.“<br />

Warum ist es oft lei<strong>der</strong> so, dass die Arbeit in <strong>der</strong> Schule an diese „Soldatenarbeit erinnert? Haben wir<br />

nicht sinnlos die Kieshaufen, von denen die Lehrbücher voll sind, von einer Stelle an die an<strong>der</strong>e gebracht?<br />

Haben wir nicht diese Übungen gemacht, die einzig und allein die Funktion haben, die Hefte<br />

mit Tinte zu tränken und diszipliniert! Die hoffnungslosen Stunden zu füllen, die nichts bewegt und<br />

nichts nährt? Haben wir sie nicht gehört, diese schicksalhafte Auffor<strong>der</strong>ung: „Noch einmal von vorne!“<br />

Die Soldaten und die Lie<strong>der</strong>macher lachen aus vollem Herzen über solche Kiestransporte, über das<br />

„Kartoffelschälkommando“, den Krawattenknoten und den richtigen Sitz des Käppis. Die Vorgesetzten<br />

glauben vielleicht im Ernst, dass hierin die bestimmenden Faktoren liegen, die den Soldaten auf die<br />

Funktion als Kämpfer vorbereiten.<br />

Es ist <strong>noch</strong> niemand auf die Idee gekommen, die hoffnungslosen Übungen <strong>der</strong> Schule, die rote Tinte in<br />

den Heften und diesen eintönigen und langsamen Rhythmus, <strong>der</strong> eine Klasse diszipliniert und ordentlich<br />

im physischen und intellektuellen Gleichschritt marschieren lässt, zu besingen. Um eine solche<br />

Ordnung und eine solche Disziplin aufrechtzuerhalten, muss die Schule den zu schnellen o<strong>der</strong> zu bewussten<br />

Kin<strong>der</strong>n den Kampf ansagen, denen, die zu schnell mit den Aufgaben fertig sind, die man sie<br />

anständigerweise nicht <strong>noch</strong> einmal machen lassen kann. Es gibt ein Gesetz des schulischen Milieus.<br />

Wer versucht, ihm zuwi<strong>der</strong>zuhandeln, greift das ganze Gebäude an. Sie müssen dieses Risiko einge-<br />

42


hen. Prüfen Sie aufrichtig jede Aktivität, die Sie für Ihre Klasse vorgesehen haben. Machen Sie Jagd<br />

auf die „Soldatenarbeit“, und wenn es sich vorübergehend nicht vermeiden lässt, vergessen sie nicht,<br />

dass es nur Soldatenarbeit ohne Ziel und Ergebnis ist.<br />

Preschen Sie <strong>voraus</strong>! Begeistern Sie ihre Kin<strong>der</strong> so, dass sie immer schneller und immer weiter wollen.<br />

Es genügt, wenn Sie genügend Aktivitäten vorsehen und glücklicherweise gibt es davon sehr viele die<br />

das Bedürfnis nach Kreativität und Selbstverwirklichung nähren.<br />

Der Feind ist die Soldatenarbeit!*<br />

Schule in Vence. Kin<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Küche mit Elise Freinet, 1935/36<br />

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„Sachen machen, davon haben wir gelernt“<br />

Erinnerungen von Jean-Loup Ringst bearbeitet von Jochen Hering*)<br />

Vorbemerkung<br />

Jean-Loup Ringot, Jahrgang 1951, heute promovierter Meeresgeologe, Geograph, Reiseleiter,<br />

Museumspädagoge, <strong>der</strong> u.a. Schul- und Jugendprojekte zum Thema „Steinzeit“ leitet, hat als Kind<br />

2 Jahre lang (in den Klassen 5 und 6) eine Freinet-Klasse besucht. Aufgewachsen in einem Ort 12<br />

Kilometer von Paris, sah zunächst alles nach einer negativen Schulkarriere aus.<br />

Auf dem Weg zur Kin<strong>der</strong>deponie<br />

Meine Schulerfahrung ist ein Roman für sich. Zunächst bin ich wie alle Kin<strong>der</strong> in Frankreich in den<br />

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für jedes Kind einen Platz. Anschließend ging ich zur Grundschule. Ich hatte mit meinen Augen große<br />

Probleme. Und das hat sich auch motorisch ausgewirkt. Und die Lehrerin hat gesehen: Mensch,<br />

das arme Kind, das kann nicht mal richtig drei Striche schön sauber nacheinan<strong>der</strong> machen! Ach, das<br />

Kind kann man vergessen! Das wird nie richtig schreiben können! Das schicken wir, wie sagt man in<br />

Deutschland, in eine Son<strong>der</strong>schule, eine Son<strong>der</strong>klasse. Aber das ist überhaupt nicht vergleichbar mit<br />

dem, was in Deutschland als Son<strong>der</strong>schule bezeichnet wird, mit ausgebildeten Lehrern usw. Das war<br />

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entlassen wurden. Das war mehr eine Kin<strong>der</strong>deponie.<br />

Der kann was<br />

Meine Mutter hat das auf mich zukommen sehen. Sie hat geschimpft. Sie hat gesagt: „So geht das<br />

nicht! Er hat zwar Probleme, aber <strong>der</strong> ist nicht doof und <strong>der</strong> kann was!“ Und sie hat mich ganz einfach<br />

von dieser Schule genommen.<br />

Dann war ich eine <strong>Zeit</strong>lang auf einer Montessori-Schule. Aber die war weit weg und ein Internat. Das<br />

war nicht zufriedenstellend, weil ich auch in ärztlicher Behandlung war und Augengymnastik machen<br />

musste.<br />

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man beweisen konnte, dass man sie selber zu Hause unterrichtete. Also blieb ich eine <strong>Zeit</strong>lang zuhause<br />

und wurde von meinem Vater, <strong>der</strong> wegen einer längeren Krankheit nicht arbeiten konnte, unterrichtet.<br />

Die erste Schulklasse habe ich also normal gemacht. Und das war eine Katastrophe. Und nachher bin<br />

ich, in <strong>der</strong> zweiten und dritten Klasse, in dieser Montessori-Schule gewesen. Das vierte Jahr war ich<br />

hauptsächlich zu Hause.<br />

Dann sind wir umgezogen. Und ein paar Kilometer entfernt gab es, in einer „stinknormalen“ Schule,<br />

eine Freinet-Klasse. Und da habe ich meine Freinet-Erfahrung gehabt. Ich war zwei Jahre da, in <strong>der</strong><br />

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fünften und sechsten Klasse.<br />

Meine Eltern haben sich gesagt, das ist eine Klasse, wo nicht blind auf die direkte unmittelbare Leistung<br />

gepocht wird, son<strong>der</strong>n wo es mehr um die Gesamtentwicklung geht. Meine Mutter war, glaube ich, <strong>der</strong><br />

�������������������������������������������������������������<br />

Er hat sie machen lassen, er war einverstanden. Es war meine Mutter, die hauptsächlich die Kraft dazu<br />

hatte, die für mich gekämpft hat.<br />

In <strong>der</strong> Freinet-Klassen<br />

Und dann war ich in dieser Freinet-Klasse, innerhalb einer normalen Schule, aber getrennt von den<br />

an<strong>der</strong>en Klassen. Wir hatten einen Trakt für uns. Und wir hatten einen separaten Schulhof.<br />

In <strong>der</strong> Klasse gab es die verschiedenen Altersklassen, von den ganz Kleinen, die Lesen lernten.<br />

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bar ist mit dem Hauptschulabschluss hier. Alle acht Klassen wurden in dieser Freinet-Klasse gemeinsam<br />

unterrichtet. Das war nur in dieser Klasse so, an <strong>der</strong> restlichen Schule nicht.<br />

Wie viel waren wir, vierzehn vielleicht, fünfzehn, mehr nicht. Und es kamen Mädchen in diese Klasse,<br />

das war auch eine Beson<strong>der</strong>heit, es gab Mädchen! Zwar nie sehr viele, aber es gab Mädchen! Üblich<br />

war in Frankreich zu dieser <strong>Zeit</strong>, also 1961, die Trennung von Jungen und Mädchen.<br />

Der Klassenraum sah eigentlich aus wie ein normaler französischer Klassenraum, vielleicht ein bisschen<br />

größer. Vorn war die große Tafel, vom war auch <strong>der</strong> Lehrer mit seinem Büro. Aber da saß er nicht,<br />

er saß rechts an <strong>der</strong> Seite. Im zweiten Teil <strong>der</strong> Klasse, hinten, da war die Druckerpresse, da waren die<br />

ganzen Buchstaben, Druckmaterialien und auch die ganzen Sachen für Handarbeiten.<br />

Es gab Arbeiten für die Kleineren, Arbeiten nur für die Größeren. Und es gab Sachen, die wir zusammen<br />

gemacht haben. Morgens gab es zunächst einmal den „text libre“, den freien Text. D. h., man<br />

hat sich etwas überlegt und einen Text geschrieben und vorgelesen und ausgewählt, welcher Text<br />

gedruckt werden sollte. Und dann haben wir diese Texte gedruckt. Und wer wollte, konnte auch eine<br />

Illustration zu diesem Text machen, einen Linolschnitt zum Beispiel o<strong>der</strong> ein Bild auf <strong>der</strong> Matritze, also<br />

an dieser Spiritusdruckmaschine. An diese Vorgänge kann ich mich gut erinnern.<br />

Irgendwo in Mittelfrankreich, glaube ich, hatten wir eine Partnerklasse. Und von da kam regelmäßig ein<br />

ganzes Briefpaket. Je<strong>der</strong> hatte einen Briefpartner, einen Brieffreund o<strong>der</strong> eine Brieffreundin. Aber es<br />

kamen auch gedruckte Hefte mit textes libres. Die haben uns ihre geschickt, wir haben ihnen unsere<br />

geschickt. Es gab zwei Ebenen bei dieser Korrespondenz, den Austausch von Klasse zu Klasse und<br />

auch eine private Ebene, von Kind zu Kind.<br />

Einmal pro Woche gingen wir nach draußen, zum Beispiel in den Wald. O<strong>der</strong> wir sind ein paarmal in<br />

Paris gewesen, um uns etwas anzugucken, und dann mussten wir entscheiden, wohin wir gehen wollten.<br />

Solche Entscheidungen sind in <strong>der</strong> Klassenversammlung gefasst worden. Wir haben da besprochen,<br />

was wir machen wollten.<br />

In <strong>der</strong> Klasse waren Arbeiten zu erledigen, die Buchstaben in <strong>der</strong> Druckecke mal wie<strong>der</strong> richtig aufräu-<br />

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men und säubern, Zeichenpapier verteilen, Matrizen ausgeben, so etwas. Dafür gab es Dienste. Und<br />

für Dienste gab es Bezahlung. Wir hatten eigenes Geld, selbst gedruckt. Und damit konnten wir Sachen<br />

in <strong>der</strong> Klasse kaufen. Der Lehrer hat etwas gemacht, was eigentlich jeden Briefmarkenfan schreien<br />

lassen würde. Er hatte eine schöne Briefmarkensammlung geerbt, aber selbst wohl kein Interesse für<br />

Briefe und Briefmarken. Mit unserem klasseninternen Geld konnten wir Briefmarken bei ihm kaufen. Es<br />

gab sehr, sehr wertvolle Sachen dabei, aber das war ihm egal. Der hat die dann verkauft.<br />

Und wir hatten natürlich eine kleine Klassenkasse, davon mussten wir uns die Druckfarbe kaufen, das<br />

Papier kaufen und so weiter. Und Matheunterricht war <strong>der</strong> Haushalt unserer klasseninternen Kasse.<br />

Natürlich hatten wir zwischendrin auch normalen Mathematikunterricht. Addition, Subtraktion und so<br />

etwas, das haben wir mit kleinen Kärtchen aus Rechenkarteien geübt. Aber hauptsächlich hat unser<br />

Lehrer die Kunst beherrscht, den Unterricht mit einem praktischen Problem zu verknüpfen. Was machen<br />

wir mit unserem Geld? Was bleibt in <strong>der</strong> Kasse übrig? Und wie verteilen wir die Sache? Und so<br />

weiter. Das gab‘s nicht, irgendwo Matheaufgaben zu machen, nur zu machen, son<strong>der</strong>n: wir hatten ein<br />

Problem. Wir haben soviel Geld in <strong>der</strong> Kasse. Wir müssen Papier kaufen und das und das und das.<br />

Dafür hat man natürlich Mathe gebraucht, und so haben wir Mathe gemacht.<br />

Zurück ins „Staats-Schul-Leben“<br />

Der einzige Nachteil dieser Freinet-Klasse war <strong>der</strong> Schulweg. Die Schule lag in einem Pariser Vorort,<br />

und wir wohnten etwa 12 Kilometer von Paris entfernt. Das war schwierig. Ich musste jeden Tag mit<br />

dem Bus hinfahren. Deshalb sollte ich nach zwei Jahren wie<strong>der</strong> zu einer normalen Schule gehen, einmal,<br />

weil es viel näher war und dann, weil <strong>der</strong> Freinet-Unterricht mir geholfen hatte, meine Probleme<br />

in den Griff zu bekommen.<br />

Zu <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong> sind wir aber auch umgezogen, in einen an<strong>der</strong>en Stadtteil, ein Neubaugebiet, und es gab<br />

die ersten Wochen keine Schule da. Wir wurden eine <strong>Zeit</strong>lang mit einem Bus in eine benachbarte<br />

Schule gefahren. Ich war also ein paar Monate in einer wirklich total normalen Schule. Und ich weiß,<br />

dass meine Mutter mich gefragt hat:<br />

„Na, wie ist das jetzt mit <strong>der</strong> Schule?“ Ein bisschen natürlich aus <strong>der</strong> Angst, dass ich mich, nach dieser<br />

grossen Freiheit, nicht mehr an etwas an<strong>der</strong>es gewöhnen könnte. Und da habe ich etwas gesagt, ich<br />

könnte mich schämen, dass ich das gesagt habe, ich habe gesagt: „Ich glaube, diese Schule ist besser,<br />

weil, jetzt geht das ernst aus.“ Und das war eine ernste Schule, da musste man ernsthaft arbeiten.<br />

Ich hatte überhaupt nicht begriffen, dass ich in dieser Freinet-Klasse soviel mitgekriegt hatte, ohne es<br />

zu merken. Und dann diese normale, ich würde auch sagen ziemlich repressive Schule, da hatte ich<br />

den Eindruck:<br />

„Das ist richtig Schule!“ Für mich war das alles neu. Ich hatte das nie gehabt. Und ich hab mir gesagt:<br />

„Mensch, das läuft, das ist Schule.“ Und in dem Moment hat es mir gefallen. Ich hatte den Eindruck:<br />

„Ich bin da, etwas zu lernen und ich will etwas lernen.“<br />

Allerdings hat dieses Gefühl nicht lange gedauert. Denn ein paar Monate später wurde in unserem<br />

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Stadtteil eine neue Schule eröffnet, auch eine ganz normale Schule, grad um die Ecke. Und meine<br />

Mutter hatte erfahren, dass es in dieser Schule einen jungen Lehrer gab, <strong>der</strong> machte keinen so versteiften<br />

Unterricht, <strong>der</strong> war sehr offen. Und dieser Lehrer war ebenfalls an Freinet-Pädagogik interessiert,<br />

war zum Beispiel sehr dafür, dass die Kin<strong>der</strong> auch nach draußen gehen und draußen lernen.<br />

Bei diesem Monsieur Gallon, <strong>der</strong> so nett war und so interessant und so aktiv, da habe ich erst wie<strong>der</strong><br />

gemerkt, wie schlecht diese Schule davor war, die ich erst so ernstgenommen hatte.<br />

Im Rückblick<br />

Was ich gelernt habe in zwei Jahren Freinet-Unterricht? Na gut, ich habe auch schreiben gelernt und<br />

lesen und rechnen. Das ist klar. Diesen Grundstoff habe ich gelernt. Aber mir ist heute etwas ganz<br />

an<strong>der</strong>es wichtig. Ich könnte sagen, ich habe gelernt das klingt natürlich sehr, sehr gehoben, ich habe<br />

gelernt, dass man in Freiheit etwas lernen kann. Ich habe gelernt, dass man Freiheit mit Verantwortung<br />

haben kann. Dass Freiheit und Verantwortung keine Wi<strong>der</strong>sprüche sind. Im Gegenteil! Natürlich, das<br />

ist, wie ich es jetzt sehe.<br />

Das war unsere Klasse. Wir hatten richtig ein Wir-Gefühl dabei. Wir waren eine Einheit. Und es lag in<br />

unserem Interesse, dass das gut lief: dass die <strong>Zeit</strong>ung richtig gedruckt wurde und rechtzeitig gedruckt<br />

wurde und und und.<br />

Es gab keine Strafe o<strong>der</strong> so was. Man konnte sagen:<br />

„Okay, das mach ich nicht! Ich habe keinen Bock!“ Wir hätten diese Freiheit gehabt. Aber wir haben<br />

unsere Freiheit nicht ausgenutzt, um die Dinge nicht zu tun.<br />

Das war, was man Jahre später, achtundsechzig, die „autonome Disziplin“ genannt hat.<br />

Und das ist etwas, was jetzt in den Schulen fehlt. Die Schüler haben kein Gefühl von Verantwortung<br />

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kaputt usw. Dieser Vandalismus, das wäre uns nie in den Kopf gekommen. Nicht, weil wir Angst vor<br />

Strafe gehabt hätten, aber das war unsere Klasse, das gehörte uns. Man hatte keinen Grund, etwas<br />

kaputt zu machen. Gut, natürlich hatten wir ab und zu keinen Bock, keine Lust zu arbeiten, was zu<br />

tun. Ich habe nicht immer die ganzen Kärtchen mit den vorgefertigten Aufgaben gemacht. Aber es gab<br />

dieses Gefühl, man kann lernen. Eigentlich war da nicht mal <strong>der</strong> Eindruck, dass wir gelernt haben. Wir<br />

haben da gelebt. Da gelebt und Sachen gemacht dabei. Und Sachen machen, davon haben wir gelernt.<br />

Lernen war natürlich das Ziel, aber das war eingepackt in das Zusammenleben in <strong>der</strong> Klasse.<br />

*) Dieser „Erinnerungsgeschichte“ liegt ein Interview mit Jean Loup Ringot vom 30.5.1995 in Hambergen zugrunde. Der Text wurde aus Teilen dieses<br />

Interviews neu zusammengestellt.<br />

47


C. Freinet<br />

Nicht für alle das Gleiche zur gleichen <strong>Zeit</strong><br />

Das Wort Wassereimer wird im folgenden Text gebraucht als Anspielung auf ein Bild aus einer Passage<br />

des „Essai de Psychologie sensible“ (Bd. II, S.131 ff): Worte sind Wassereimer, mit denen man Wasser<br />

aus dem Fluss des Lebens schöpft. Die traditionelle Schule hält die Kin<strong>der</strong> von diesem Fluss fern<br />

und zwingt sie, sich ausschließlich mit Wassereimern, ihren Aufschriften, Eigenarten, Beziehungen,<br />

Strukturen zu beschäftigen. Der Fluss, das Leben, wird über den Worten vergessen.<br />

In den alten Schulen mussten alle Kin<strong>der</strong> sich zur selben <strong>Zeit</strong> mit denselben Aufgaben beschäftigen, im<br />

selben, angeblich von <strong>der</strong> Wissenschaft vorgegebenen Rhythmus arbeiten, dieselben fälschlicherweise<br />

standardisierten Materialien benutzen und mit demselben dürftigen Werkzeug arbeiten. Genauso gut<br />

könnte eine zentralistische Regierung eines Tages verlangen, dass sämtliche Ortschaften Frankreichs<br />

gleichzeitig anfangen, Häuser aus Ziegelsteinen o<strong>der</strong> aus Stahlbeton zu bauen. Dabei muss doch berücksichtigt<br />

werden, dass dem einen Ort Holz zur Verfügung steht, während Sand und Kies erst von<br />

weit her angeschafft werden müssten, und dass in einer an<strong>der</strong>en Gegend vielleicht <strong>der</strong> majestätisch<br />

ewige Stein vorhanden ist.<br />

Wir gehen von dem Prinzip <strong>der</strong> Vielseitigkeit und <strong>der</strong> Anpassung aus, das allem Leben eigen ist: wir<br />

richten in unserer mo<strong>der</strong>nen Schule den Begriff „neue“ Schule möchten wir vermeiden, weil er uns zu<br />

prätentiös und außerdem ungenau erscheint Werkstätten für die Holz-, die Stein-, die Ziegel- und die<br />

Stahlbetonverarbeitung ein. Wir statten sie mit dem am besten geeigneten Werkzeug aus, damit jedes<br />

Material mit größtmöglicher Schnelligkeit und Sicherheit beim Bau verwendet werden kann. Wir sind<br />

da, um die Verwendung <strong>der</strong> Materialien und den Gebrauch <strong>der</strong> Werkzeuge zu erklären. Wir rufen nach<br />

Bedarf bestimmte Spezialisten zu Hilfe. Wir zeigen Modelle. Dann arbeiten wir alle zusammen, je<strong>der</strong><br />

gemäß seinen Veranlagungen und Möglichkeiten. Und einer baut sein Haus aus Holz, <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e aus<br />

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arbeiten. Das Kind vergleicht seine eigene mit den an<strong>der</strong>en Konstruktionen;<br />

Es macht tastende Versuche, ehe es sich für eine Arbeitsweise entscheidet. Der Nachbar bittet es<br />

um Hilfe, o<strong>der</strong> das Kind bleibt einen Moment stehen und schaut ihm bei <strong>der</strong> Arbeit zu. So wird es sein<br />

Gebäude am schnellsten, am stabilsten und am sichersten aufbauen. Und <strong>der</strong>, dem die Holzkonstruktion<br />

gelungen ist, ist genauso stolz und zufrieden und setzt genauso viel Vertrauen in sein Ergebnis und in<br />

seine Fähigkeit wie <strong>der</strong>, <strong>der</strong> eine kühne Konstruktion aus Stahlbeton wagt. Das Ganze mündet in die<br />

erwünschte Harmonie.<br />

Das eine Kind fühlt sich beson<strong>der</strong>s stark zu den Naturwissenschaften hingezogen. Versetzen wir es<br />

also in sein Element. Stellen wir es mitten ins Museum und lassen wir es seine Forschung selbst<br />

planen und organisieren. Ein an<strong>der</strong>es begeistert sich für Geographie: es betreut unsere reichhaltige<br />

Kartei. Ein drittes zeigt Begabung im Rechnen: wir helfen ihm, seine Techniken zu vervollkommnen.<br />

Die einen wie die an<strong>der</strong>en werden auf diese Weise die richtigen Wege zu den Gipfeln entdecken. Sie<br />

48


werden Meister sein. Sie werden ihr Leben beherrschen. Sie werden in die zweite und dritte Etage<br />

gelangen, ihre Füße aber werden in <strong>der</strong> Komplexität <strong>der</strong> lebendigen Welt, <strong>der</strong> Natur und <strong>der</strong> Arbeit fest<br />

verankert sein.<br />

Wir stellen nicht die Aufgaben, wir übertragen sie nur in Klartext. Dabei bemühen wir uns nach Kräften, bei<br />

dem für das Verständnis notwendigen Prozess des Zerglie<strong>der</strong>ns, Ordnens und Wie<strong>der</strong>zusammensetzens<br />

die Einzelelemente nicht zu verfälschen. Sie sind dann immer <strong>noch</strong> das, was sie sein sollen: komplex,<br />

konkret, praktisch, subjektiv. Diese echten Aufgaben hat die Schule bis heute eigensinnig ausgeklammert<br />

und ersetzt durch Karikaturen von Aufgaben, mit scheinbar leichten, dafür aber leblosen, aus dem<br />

Zusammenhang gerissenen, von Saft und Leben beraubten Lösungen.<br />

Wir dagegen nehmen die Lösungen echter Aufgaben in Angriff und wenn wir nicht immer zu ei-<br />

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Selbstzufriedenheit <strong>der</strong> vertrockneten Schulmeister inmitten ihrer Kollektion von Wassereimern vor.<br />

Freinet und seine Schüler, 1924 in Bar-sur-Loup<br />

49


Die Lernaufgabe als Grundverhältnis und Grundkategorie <strong>der</strong> Pädagogik<br />

und ihre revolutionäre Entwicklung durch Freinet<br />

Von Horst Hensel<br />

In diesem Jahr 1996 gedenken wir des hun<strong>der</strong>tsten Geburtstages Célestin Freinets. Ich halte ihn<br />

für einen <strong>der</strong> bedeutendsten Pädagogen unserer <strong>Zeit</strong>. Zur Begründung dieses Werturteils könnte auf<br />

manche seiner Leistungen hingewiesen werden ich möchte mich aber auf den für mich wesentlichsten<br />

Aspekt seiner Arbeit beschränken, nämlich auf seinen Beitrag zur Entwicklung <strong>der</strong> Lernaufgabe.<br />

Hierbei geht es darum, dass Freinet in seiner praktischen Arbeit die Lernaufgabe als Grundverhältnis<br />

und Grundkategorie <strong>der</strong> Pädagogik erfasste und sie unterrichtlich auf eine Weise entwickelte, die m.<br />

E. nur als revolutionär interpretiert werden kann. Dass dies so ist, habe ich erst begriffen, als ich für<br />

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auf einen Schubladentext Zurückgriff, in dem ich mich viele Jahre zuvor mit <strong>der</strong> Frage beschäftigt<br />

hatte, was denn in Theorie und Praxis das erste Element <strong>der</strong> Pädagogik sei, also das genetisch erste<br />

und zugleich logisch einfachste Phänomen des pädagogischen Prozesses. Meine Antwort war: die<br />

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praktisch ausgeführt hat. So konnte ich meine eigenen Überlegungen mit einer bedeutenden Praxis<br />

verknüpfen.<br />

Allerdings mühe ich mich um dies erste Element <strong>der</strong> Pädagogik nicht deshalb, weil ich mich wissenschaftstheoretisch<br />

zu tummeln wünsche, son<strong>der</strong>n weil ich mich tagtäglich praktisch zu tummeln<br />

genötigt sehe: Um mich als Praktiker sowohl analysefähig als auch handlungsfähig zu halten, bedarf<br />

ich aufschließen<strong>der</strong>, operabler, weitreichen<strong>der</strong> und zugleich einfacher Begriffe und des operierens mit<br />

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schen Verhältnissen. Mein Erkenntnisinteresse ist also ganz praktisch und alltäglich, und so will ich<br />

im folgenden auch vorgehen, um das „erste Element <strong>der</strong> Pädagogik“ und Freinets Beitrag zu dessen<br />

Entwicklung zu erörtern. Es mag sein, dass sowohl die Freinet-Philologie als auch die hochschulische<br />

Pädagogik diese Zuordnung und diesen Zugang für unstatthaft und willkürlich halten werden, aber ich<br />

setze dagegen, dass man einerseits dem Freinetschen Werk wohl kaum mit philologischen Methoden<br />

gerecht werden kann, son<strong>der</strong>n eher mit Einsicht in pädagogische Praxis, und dass man an<strong>der</strong>erseits<br />

gerade in <strong>der</strong> hochschulischen Pädagogik dazu neigt, den Wald <strong>der</strong> pädagogischen Wirklichkeit zu<br />

meiden und sich stattdessen mit <strong>der</strong> Betrachtung einzelner und beson<strong>der</strong>er Bäume zu begnügen auf<br />

diese Weise also ein so alltägliches und massenhaftes Phänomen wie die Lernaufgabe gar nicht in<br />

den Blick bekommt. Die Frage ist also nicht, ob Freinet sich in Bezug auf Lernaufgaben genau so<br />

ausgedrückt hat wie ich, und ebenso wenig, ob meine Überlegungen sich in eins <strong>der</strong> hochschulischen<br />

Systemkonstrukte einfügen lassen, son<strong>der</strong>n ob mein Theorem <strong>der</strong> Lernaufgabe praxistauglich ist, und<br />

ob Freinets Praxis mit meinem Theorem besser begriffen werden kann.<br />

50


Was sind Lernaufgaben?<br />

Sie sind Auffor<strong>der</strong>ungen zu geistigen und körperlichen Handlungen, die zur Fähigkeitsentwicklung des<br />

handelnden Subjekts beitragen. Als Auffor<strong>der</strong>ungen zu solchen Handlungen sind Lernaufgaben un<br />

Grunde Imperativisch gemeint, auch dann, wenn sie selbstgestellte sind, und gleichgültig darum, wie<br />

sie im einzelnen formuliert werden. Genau gesehen, sind Lernaufgaben dienende Imperative, denn sie<br />

wollen das adressierte Subjekt und dessen Fähigkeiten för<strong>der</strong>n und entwickeln nicht die Adressanten<br />

und schon gar nicht das Objekt des Lernens. Sie wollen beispielsweise die sprachlichen Fähigkeiten<br />

eines Kindes entwickeln, nicht die <strong>der</strong> Lehrkraft und schon gar nicht die Sprache selbst. Mit <strong>der</strong> Einheit<br />

von Imperativ und Dienst ist ein die Lernaufgabe bestimmen<strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>spruch benannt, <strong>der</strong> letztlich<br />

auf dem Wi<strong>der</strong>spruch zwischen individuellem Bedürfnis und gesellschaftlicher Anfor<strong>der</strong>ung beruht.<br />

Diejenigen Lernaufgaben sind die besten, bei denen <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>spruch zwischen Kind und Aufgabe<br />

sehr klein geworden ist. Sowohl Erfüllung als auch Misslingen des Lernprozesses sind deshalb nicht<br />

nur in den Bedingungen des Lernens o<strong>der</strong> den Stärken o<strong>der</strong> Schwächen einer Lehrkraft angelegt,<br />

son<strong>der</strong>n auch schon in <strong>der</strong> Lernaufgabe selbst sie ist ein wi<strong>der</strong>sprüchliches Phänomen, das Übles<br />

bewirken kann, wenngleich es gut gemeint ist. Dies Gute erfüllt sich in <strong>der</strong> Zukunft des Kindes, wenn<br />

seine Fähigkeiten und seine Persönlichkeit höher entwickelt sind, als in <strong>der</strong>jenigen Gegenwart, von<br />

<strong>der</strong> die Lernaufgabe ausgehen muss. So unterliegt jede Lernaufgabe auch dem Wi<strong>der</strong>spruch zwischen<br />

Gegenwart und Zukunft. Lernaufgaben haben also nicht bloß mit Handlungen, son<strong>der</strong>n mit<br />

Handlungen in <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong> und mit gegenwartsfernen Zielen zu tun. Sie enthalten <strong>Zeit</strong>pläne. Dies alles<br />

macht sie zu komplexen Gebilden o<strong>der</strong>, um im Bild zu bleiben: Unser erstes Element <strong>der</strong> Pädagogik<br />

besteht aus Atomen mit Kern und Hülle, und diese wie<strong>der</strong>um ...<br />

Wenn man sich dem Phänomen Lernaufgabe so nähert, wie gerade begonnen, drängt sich die Frage<br />

auf, ob Lernaufgaben nicht so etwas wie ein Ur-Ei <strong>der</strong> Pädagogik sind, denn alle Probleme, Phänomene,<br />

alles Scheitern und alle Erfolge des pädagogischen Prozesses scheinen sich schon an ihnen aufweisen<br />

zu lassen. Auch wenn die obige Skizze keine erschöpfende Phänomenologie <strong>der</strong> Lernaufgabe hat<br />

sein können, darf doch vermutet werden, dass an <strong>der</strong> Lernaufgabe mehr ist, als gemeinhin angenommen<br />

wird.<br />

Theorie und Praxis im pädagogischen Prozess Primat <strong>der</strong> Praxis<br />

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we<strong>der</strong> isolierende Theorien sind, die den Zusammenhang des realen Prozesses ausblenden dem sich<br />

die Praktiker allerdings stellen müssen -, o<strong>der</strong> dass sie additive Theorien sind, welche die berühmten<br />

einzelnen Aspekte <strong>der</strong> Pädagogik den so genannten Nachbarwissenschaften entnehmen und zu einer<br />

pädagogisch gemeinten Summe zusammenfassen. Sie verkennen als Theorien des Einzelnen<br />

entwe<strong>der</strong> den wirklichen Zusammenhang aller ihrer Momente in <strong>der</strong> Praxis, o<strong>der</strong> sie belegen pädagogische<br />

Phänomene mit psychologischen, soziologischen und an<strong>der</strong>en Begriffen. Dies, also ihre<br />

51


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tümliche Normativität zur Folge. Ihre Formulierer erscheinen als Gesetzgeber, die am Maßstab ihrer<br />

Setzungen die Praxis immer als negative Abweichung vom Richtigen erscheinen lassen. Deshalb sind<br />

sie in Verwaltung und Politik so beliebt. Administration und Wissenschaft schließen sich zusammen,<br />

��������������������������������������������������������������<br />

Es ist möglich, dass <strong>der</strong> Zustand <strong>der</strong> Theorien pädagogischer Prozesse einem bestimmten historischen<br />

Stand <strong>der</strong> Sozialwissenschaften entspricht, wonach gegenwärtig <strong>der</strong>art komplexe Praxen o<strong>der</strong><br />

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gebildet o<strong>der</strong> modelliert werden können. Allerdings ist es auch so, dass Erziehungswissenschaft als<br />

Berufstätigkeit die Lehrenden dazu verführt, recht aparte Theoretiker zu werden. Zwar wagen sich die<br />

wenigsten an eine Gesamttheorie, aber viele doch an Teiltheorien, die dann unterschwellig als pars-prototo<br />

Theorien weite Geltung beanspruchen. Wie an<strong>der</strong>s als aus <strong>der</strong> Konkurrenz des Hochschulgewerbes<br />

heraus wäre sonst zu erklären, dass es beispielsweise von <strong>der</strong> „bildungstheoretischen Didaktik“ bis zur<br />

„kommunikationstheoretischen Didaktik“ Dutzende Spielarten solcher Teiltheorien gibt, die allesamt<br />

auch etwas Richtiges aussagen das haben Teiltheorien so an sich. Der Praxis können sie nicht standhalten.<br />

So bleibt die Praxis theoriearm, und die Theorie praxisfern.<br />

Bevor es aber pädagogische Theorie gegeben hat, hat es erfolgreiche pädagogische Praxis gegeben.<br />

Das kann auch nicht an<strong>der</strong>s sein. Pädagogik ist eine <strong>der</strong> unabdingbaren historischen Reaktionen auf<br />

die Notwendigkeit gesellschaftlicher Reproduktion. So gesehen ist pädagogische Tätigkeit eine bestimmte<br />

Art und Form von Reproduktionstätigkeit. Sie muss geleistet werden, auch wenn sie <strong>noch</strong> nicht<br />

zur Gänze durchschaut und begriffen werden kann. Das hat Pädagogik beispielsweise gemein mit <strong>der</strong><br />

wirtschaftlichen Tätigkeit. Auch diese geschieht mehr o<strong>der</strong> weniger erfolgreich, ohne ganz durchschaut<br />

zu sein.<br />

Gesellschaftliche Reproduktion geschieht durch Wechselwirkungen <strong>der</strong> Subjekte, Kräfte, Institutionen<br />

usw. Pädagogische Praxis wird somit durch solche Wechselwirkungen konstituiert, ist durch Interaktion<br />

charakterisiert. Es zeigt sich also, dass <strong>der</strong> pädagogische Prozess durch Verhältnisse begründet<br />

wird und somit nicht erkannt werden kann, wenn man ihn verdinglicht begreift, also einzelne seiner<br />

Prozessmomente verabsolutiert. Einen pädagogischen Prozess ohne Adressaten gibt es nicht, aber<br />

auch keinen ohne Lehrpersonal, und auch keinen ohne Ziele usw. und deshalb keinen, in dem nicht das<br />

Verhältnis zwischen den Phänomenen sein Wesen erst konstituiert. Die Begriffe, mit denen <strong>der</strong> pädagogische<br />

Prozess belegt werden kann, müssen Verhältnisbegriffe sein, sie müssen Zusammenhänge<br />

ausdrücken erst dann treffen sie die Sache, verhelfen zur Analyse und machen handlungsfähig.<br />

52


Die Lernaufgabe als Grundverhältnis und Grundkategorie <strong>der</strong> Pädagogik<br />

Im folgenden geht es natürlich nicht um eine Theorie des pädagogischen Prozesses, aber sehr wohl<br />

um einen Baustein dazu, nämlich um dasjenige Element <strong>der</strong> Pädagogik, aus dem sich in Praxis und<br />

Theorie die an<strong>der</strong>en entfalten. Dies Element wäre im Lichte des oben Erörterten als Verhältnis zu fassen,<br />

nicht als „Ding“. Es geht also seitens <strong>der</strong> Praxis um die Frage nach dem fundamentalen pädagogischen<br />

Verhältnis, das dann seitens <strong>der</strong> Theorie als fundamentale Kategorie zu formulieren wäre.<br />

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ten sei. Aber von welchem Kind aus? Offensichtlich vom lernenden! Das erste Element <strong>der</strong> Pädagogik<br />

wäre also das lernende Kind, nicht das Kind an sich, das kranke und zu heilende Kind, das seinen<br />

Geburtstag feiernde Kind usw. Aber gibt es das bloß abstrakt lernende Kind? Muss es nicht vielmehr<br />

einen Inhalt lernen? Und lernt das Kind nicht um des für wichtig gehaltenen Inhaltes wegen? Also ließe<br />

sich doch vom Kind abstrahieren und <strong>der</strong> Lerngegenstand zum Element erheben. Aber gibt es ihn<br />

außerhalb von Lerntätigkeit? Und gibt es diese wie<strong>der</strong>um ohne Kind? Und wo bleibt das Lernziel, auf<br />

das hin die Lerntätigkeit sich orientiert?<br />

Wir haben jetzt schon die Auswahl zwischen „Kind“, „Lernen“, „Lerntätigkeit“, „Lerninhalt“ und „Lernziel“,<br />

wenn wir den einfachsten und grundlegendsten Erscheinungen <strong>der</strong> Pädagogik auf die Spur kommen<br />

wollen. Dabei kreisen wir immer <strong>noch</strong> um eine ganz bestimmte Altersstufe, nämlich um die <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong><br />

und Jugendlichen, blenden das Lernen <strong>der</strong> Erwachsenen aus o<strong>der</strong> gehört <strong>der</strong> Erwachsene nicht in den<br />

pädagogischen Prozess, wenn er beispielsweise eine Fremdsprache o<strong>der</strong> das Auto fahren erlernt?<br />

Natürlich doch! Pädagogik somit lediglich auf Kin<strong>der</strong> zu beziehen und vom Kind aus zu begründen ist<br />

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verwechselt wird.<br />

Somit ist vielleicht die Blickrichtung falsch, und wir müssen vom Wi<strong>der</strong>part des einen Inhalt lernenden<br />

Kindes o<strong>der</strong> Erwachsenen ausgehen, dem Lehrpersonal, o<strong>der</strong> gar <strong>der</strong> Organisation des Lernens,<br />

letztlich den entsprechenden Institutionen? Aber eine Lehrerin o<strong>der</strong> ein Lehrer existieren doch nur<br />

um des Lernens eines an<strong>der</strong>en willen. Von ihnen aus kann doch Pädagogik nicht begründet werden.<br />

Aber vielleicht aus dem Lerngeschehen heraus, dem Unterricht? Denn in ihm spielt sich doch alles ab,<br />

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dem, was „Element“ genannt werden könnte! Außerdem wäre mit „Unterricht“ jede an<strong>der</strong>e Form des<br />

bewussten Lernens und sich Entwickelns ausgeschlossen, etwa die Unterweisung durch Eltern o<strong>der</strong><br />

das Selbstlernen des Erwachsenen. Bleibt die Schule als erstes Element <strong>der</strong> Pädagogik: Ist sie <strong>der</strong><br />

Schlüssel zum Verständnis des Pädagogischen? Diese Frage stellen heißt, sich sofort die Komplexität<br />

dieser Institution und ihren Bezug auf bloß eine bestimmte Altersklasse ins Bewusstsein rufen:<br />

„Schule“ kann somit nicht das erste Element des pädagogischen Prozesses sein.<br />

Ein Frage- und Antwortspiel wie das gerade geübte könnte nun endlos fortgesetzt werden. Wahrscheinlich<br />

käme man immer wie<strong>der</strong> zum Ausgangspunkt zurück, drehte sich also im Kreis. Betrachtet man das<br />

Spiel genauer, fällt auf, das einzelne „Dinge“ wie „Kind“ o<strong>der</strong> „Lehrerin/Lehrer“ verstummen, wenn man<br />

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an sie die Frage nach dem ersten Element des pädagogischen Prozesses stellt. Erst wenn man sie<br />

ins Verhältnis setzt, beginnen sie zu antworten. Setzt man nun Kind mit einem menschlichen Wesen<br />

gleich, das lernt, und „Lehrerin/Lehrer“ mit einem menschlichen Wesen, das lehrt, und bezieht beide<br />

zum Zwecke des Lernen/Lehrens aufeinan<strong>der</strong>, so haben wir zwar schon ein Verhältnis, aber immer<br />

<strong>noch</strong> ein leeres, und dazu ein personales, wodurch gewisse Lernformen ausgeschlossen werden. Es<br />

muss also mit Inhalt gefüllt werden und auch ohne personalen Austausch existieren können. Dieser<br />

Inhalt ist aber nicht <strong>der</strong> Lerngegenstand, son<strong>der</strong>n die Lernaufgabe und diese wie<strong>der</strong>um bedarf nicht<br />

immer des personalen Austausches.<br />

Nehme ich die „Lernaufgabe“ als das Grundverhältnis <strong>der</strong> Pädagogik, so lässt sich sowohl phylogenetisch<br />

als auch ontogenetisch kein pädagogisches Verhältnis denken, das vor <strong>der</strong> Lernaufgabe einsetzen<br />

kann, und logisch keines, das weiter reduziert werden könnte. Genetisch und logisch kann ich<br />

pädagogisch nicht hinter die Lernaufgabe zurück.<br />

Natürlich ist nicht jedes Lernen in einem pädagogischen Prozess verortet, son<strong>der</strong>n nur das durch eine<br />

Lernaufgabe vermittelte, welche auf die Leontjewsche „Zone <strong>der</strong> nächsten Entwicklung“ zielt. Lernen<br />

kann ich auch im lebensprozessualen Reiz-Reaktions-Verhältnis. Die Lernaufgabe setzt Bewusstheit<br />

und Planung <strong>voraus</strong>, seitens des Adressanten, und Zustimmung und Aktivität seitens des Adressaten.<br />

Somit ist durch „Lernaufgabe“ ein Abgrenzungskriterium gegeben: Der pädagogische Prozess beginnt<br />

erst mit <strong>der</strong> Lernaufgabe wobei jedoch diese dann auch ein Reiz-Reaktions-Verhältnis umgreifen<br />

kann.<br />

Die Operation mit <strong>der</strong> Kategorie Lernaufgabe ermöglicht mir eine tiefere Analyse pädagogischer<br />

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Handlungen, auf welche es ja letztlich ankommt, denn, wie gesagt, Pädagogik lebt vom Primat <strong>der</strong><br />

Praxis und nicht vom reinen Erkenntnisinteresse. Vermittels <strong>der</strong> Lernaufgabe sind Subjekt und Objekt ins<br />

Verhältnis gesetzt, Individuum und Gesellschaft, Kind und Lehrerin/Lehrer, Situation und Perspektive,<br />

Ausgangslage und Ziel, das Element mit dem System, denn eine Lernaufgabe „an sich“ gibt es nicht:<br />

Jede ist konkret. Und alle sind komplex und in sich wi<strong>der</strong>sprüchlich. Dabei kann ihr Niveau höchst unterschiedlich<br />

sein. Sie können auch falsch gestellt werden. Zu glauben, Unterricht ließe sich als Kette<br />

von Lernaufgaben darstellen, wäre genau so ein Irrtum wie <strong>der</strong>, <strong>der</strong> pädagogische Prozess ließe sich<br />

auf Lernaufgaben reduzieren. Ich rede also keiner ‚Verabsolutierung <strong>der</strong> Lernaufgabe das Wort <strong>noch</strong><br />

<strong>der</strong> Reduzierung des pädagogischen Prozesses auf sie. Darüberhinaus sei daran erinnert, dass die<br />

Lernaufgabe zwar das einfachste pädagogische Verhältnis darstellt, aber natürlich nicht als „unteilbares“<br />

Element unserer Tätigkeit begriffen werden kann, son<strong>der</strong>n beispielsweise Bestimmungen wie Ziel,<br />

Ausgangslage und <strong>Zeit</strong>plan unterliegt, also als etwas Zusammengesetztes existiert.<br />

Dass die Lernaufgabe das erste Element des pädagogischen Prozesses ist, belegt auch die alltägliche<br />

Praxis:<br />

Woran sind erfahrene Lehrkräfte unterrichtlich interessiert? An didaktischen Theorien und an <strong>der</strong>en<br />

schulischer Entfaltung? Nein, sie sind an Handlungsvorschlägen für sich und an Lernaufgaben für<br />

54


die Kin<strong>der</strong> interessiert: Lehrhandlung und Lernaufgabe darauf läuft es in <strong>der</strong> Praxis hinaus, und zu<br />

recht, denn hierauf gründet sie, und daran wird sie gemessen. Dies wird beson<strong>der</strong>s deutlich in <strong>der</strong><br />

„Extremsituation Vertretungsunterricht“. Da lautet die Frage: „Welche Aufgaben liegen vor?“ Das fragen<br />

die Lehrkräfte nicht aus Faulheit, son<strong>der</strong>n weil sie in dieser Situation des unvorbereiteten Unterrichts<br />

reduzieren müssen auf das Grundverhältnis <strong>der</strong> Pädagogik und das genetisch wie logisch Einfachste.<br />

Tiefer kann man nicht gehen, sonst hört Pädagogik auf, aber mit Lernaufgaben in <strong>der</strong> Hand lässt sich<br />

schon recht hoch steigen. In diesem Sinne könnte man formulieren: Sage mir, welche Lernaufgabe du<br />

stellst, und ich sage dir, was du pädagogisch wert bist.<br />

Freinets revolutionäre Entwicklung <strong>der</strong> Lernaufgabe<br />

Diese Frage hat Freinet seinerzeit auf revolutionäre Weise beantwortet. Er organisierte seinen<br />

Unterricht von <strong>der</strong> Lernaufgabe her und orientierte die Kin<strong>der</strong> auf größere Selbsttätigkeit als damals<br />

üblich, indem er die Lernaufgaben so formulierte, dass sie weitgehend lehrerunabhängig erfüllt werden<br />

konnten. Schließlich legte er auch in großem Umfang die Arbeitszeitplanung und Arbeitskontrolle in die<br />

Hände <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>. Dadurch wurden u.a. <strong>der</strong> Frontalunterricht als Hauptform des Unterrichts und <strong>der</strong><br />

Klassenverband als einzige Lerngruppe aufgelöst und auf diejenigen Funktionen beschränkt, die sie<br />

erfüllen können und die ihnen eigentümlich sind.<br />

Nun will ich nicht so argumentieren, als ob durch Freinet die Lernaufgabe erfunden worden wäre es gab<br />

sie schon immer -, und ich will auch nicht behaupten, dass es nicht schon immer zahlreiche Lehrerinnen<br />

und Lehrer in vielen Schulen in aller Welt gegeben hätte und gibt, welche die Lernaufgabe als das begriffen<br />

haben, was sie ist, nein, es geht hier darum, dass Freinet die Lernaufgabe als Grundverhältnis<br />

und Grundkategorie <strong>der</strong> Pädagogik sowohl systematisch als auch systemisch weit über das damalige<br />

Niveau hinaus entwickelt hat, so weit, dass eine historisch höhere Qualität von Lernaufgabe und<br />

Unterricht möglich wurde mit internationaler schulreformerischer Wirkung.<br />

Freinets Absicht war es also nicht, ideelle Ziele zu setzen und zu erreichen, son<strong>der</strong>n mit Einsicht in<br />

den ontogenetischen Status von Kin<strong>der</strong>n durch Arbeitsmittel und Organisation des Umgangs mit diesen<br />

Mitteln, die Kin<strong>der</strong> selbständig arbeiten zu lassen. Dies können sie durch „tastende Versuche“<br />

tun. Somit erwerben sie die jeweilige Kultur durch eine Art genetischen Lehrgangs, indem sie ontogenetisch<br />

die Phylogenese rekapitulieren. Dabei war Arbeit Freinets Schlüsselwort. Er wandte sich<br />

gegen die „Spielschule“. Anstatt auf „pädagogische Liebe“ setzte er auf „pädagogische Technik“, d.h.,<br />

er verwarf nicht die Liebe <strong>der</strong> Eltern zu ihren Kin<strong>der</strong>n, son<strong>der</strong>n die gefühligen Täuschungsmanöver von<br />

Lehrkräften, die vorgeben, alle Kin<strong>der</strong> lieben zu können, was auch darauf hinausläuft, sich ein gutes<br />

Gefühl zu verschaffen, selbst wenn man scheitert.<br />

Freinet versuchte, die Wi<strong>der</strong>sprüche zwischen <strong>der</strong> Selbstbewegung <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> und den schu-<br />

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Unterrichtsarrangement stellte und subjektives Bedürfnis und gesellschaftliches Erfor<strong>der</strong>nis vermittels<br />

seiner Lernaufgaben gleichermaßen zu ihrem Recht kommen ließ. Insgesamt versuchte er eine<br />

55


Antwort auf die Frage zu geben, inwiefern Unterricht und Erziehung eine Bedingung für die subjektive<br />

menschliche Entwicklung sind und inwiefern nicht. Insofern sie es sind, war er ein anspruchsvoller<br />

Schulmeister, insofern sie es nicht sind, ließ er sie sein.<br />

Um dies an einem Beispiel zu erhellen, will ich einen Blick auf den „Freien Text“ werfen. Gesellschaftlich ist<br />

es notwendig, dass Kin<strong>der</strong> lernen, sich schriftsprachlich auf vielfältige Weise auszudrücken. Und Kin<strong>der</strong> wie<strong>der</strong>um<br />

haben durchaus selber das Bedürfnis, sich auszudrücken auch schriftsprachlich. Dies Bedürfnis führt<br />

„eigentlich“ zu einer Selbstbewegung, also zu tastenden Versuchen kann aber auch zu einer Fremdbewegtheit<br />

geführt werden, somit zu festgelegten Ergebnissen. Diese Alternativen vor Augen fand Freinet es besser, dass<br />

Kin<strong>der</strong> sich im Medium des Textes selbst ausdrücken, anstatt durch Nachahmung und im einzelnen angeleitet.<br />

Indem Freinet den Freien Text entwickelte, verband er das Ausdrucksbedürfnis <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> mit <strong>der</strong> Anfor<strong>der</strong>ung<br />

<strong>der</strong> Gesellschaft an sie. Die Irrtümer, „Fehler“ usw., die sich hierbei einstellen müssen, sind Wi<strong>der</strong>sprüche,<br />

die Kin<strong>der</strong> produktiv machen können, anstatt sie resignativ zu stimmen. Auch die vielfältigen Materialien wie<br />

Versuchskarteien, Nachschlagekarteien, Lernprogramme usw., die Arbeitsateliers und die Wochenarbeitspläne<br />

sowie die gesamte Methodik <strong>der</strong> Selbständigkeit bedingen einen Unterricht, <strong>der</strong> zur Entwicklung <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong><br />

wirklich notwendig ist. Was nicht notwendig ist, gab Freinet auf, etwa die Allgegenwart und Allzuständigkeit des<br />

Lehrers im Unterrichtsprozess,<br />

Wie dies alles im einzelnen aussieht, kann seinen Schriften entnommen werden, bzw. <strong>der</strong> „Freinet-Pädagogik“ insgesamt<br />

die allerdings als Bewegung von Freinet-Schülerinnen und -Schülern gelegentlich etwas Unhistorisches,<br />

also Sektenhaftes aufweist. Aber auch Freinet muss historisch und lokal verstanden werden, vor dem Hintergrund<br />

<strong>der</strong> oft sehr repressiven Pädagogik nicht nur in Frankreich zu Beginn des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts. Man bedenke beispielsweise,<br />

dass eine seiner vielen For<strong>der</strong>ungen <strong>noch</strong> war, die Kathe<strong>der</strong> abzuschaffen! Schulpolitisch war<br />

Freinet, wenn ich es richtig sehe, ein Verfechter des Dritten Wegs: Er war gegen die exklusive, die Inselschule,<br />

mit welcher <strong>der</strong> Massenschule samt ihren Schwächen aus dem Weg gegangen werden kann aber eben auch<br />

gegen die Resignation an <strong>der</strong> Massenschule, wo man „ja doch nichts“ rechtes zustande bringen könne, nein,<br />

Freinet war durchaus dafür, inmitten schlechter Realität für <strong>der</strong>en Umwandlung zu arbeiten. Er war kein Idealist<br />

<strong>der</strong> Pädagogik, son<strong>der</strong>n ein materialistischer Techniker <strong>der</strong> Pädagogik.<br />

Die historische und lokale Einordnung Freinets schmälert seine Leistung nicht, son<strong>der</strong>n macht sie glaubwürdiger.<br />

Und auch, dass er als Praktiker stärker denn als Theoretiker wirkte, belegt wie<strong>der</strong> einmal, dass es in <strong>der</strong><br />

Pädagogik hauptsächlich auf die Praxis ankommt, weniger auf die Theorie. Wenn er den Wert eines Unterrichts<br />

betonte, <strong>der</strong> aus den Lebenszusammenhängen <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> heraus entsteht, aus dem lokalen Milieu, so ging<br />

er von sozusagen naturwüchsigen Milieus aus, die heute nicht mehr gegeben sind. Auch sein „proletarischer<br />

Klassen-Standpunkt“, den er freilich ohne Enge einnahm, ist zur <strong>Zeit</strong> weniger interessant. Und die Psychologie<br />

hat sich über Pawlow hinausentwickelt. Schließlich mutet seltsam an, wenn ein einziges, damals nicht unwichtiges<br />

Moment seiner materialistischen Schulpädagogik, nämlich die Druckwerkstatt, heute von manchen seiner<br />

Anhänger verabsolutiert wird. Man sollte ihm weniger an den Lippen hängen, als vielmehr seinen Weg gehen.<br />

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München 1995<br />

56


C. Freinet<br />

Die Grammatik auf vier Seiten<br />

Es ist kein Spiel; wir haben mit niemandem darum gewettet, den Inhalt aller französischen<br />

Grammatiklehrbücher auf vier vielleicht sind es sogar nur drei Seiten zusammenfassen zu können.<br />

Unser Vorhaben hat eine beträchtliche pädagogische Reichweite: denn es zielt darauf ab, den praktischen<br />

Sprachunterricht dank neuer Techniken, die wir in unseren Klassen eingeführt haben, wirklich<br />

zu vereinfachen. Ich für meine Person bin kein Grammatiker, weit davon entfernt! Ich gestehe sogar:<br />

als ich nach dem Krieg halb genesen eine Vorbereitungsklasse übernahm, stellte ich mit einiger<br />

Überraschung fest, dass ich fast alle Grammatikregeln vergessen hatte. Ich konnte bei den <strong>Zeit</strong>en<br />

gerade <strong>noch</strong> einige einfache Formen unterscheiden: Indikativ, Präsens, Imperfekt, Futur, Konditional.<br />

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frage mich das beim Schreiben dieser Zeilen immer <strong>noch</strong> und die Reihe „bijou, caillou, chou...“ (die alle<br />

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mir nur mit Mühe wie<strong>der</strong> ein. Ganz zu schweigen von <strong>der</strong> Menge von Pronomen, Adjektiven, Adverbien,<br />

Präpositionen etc...., die ich korrekt zu gebrauchen wusste, ohne sie genau unterscheiden zu können.<br />

Und den<strong>noch</strong> hatte ich gerade ein kleines Buch geschrieben, dem es nicht an Gefühlsbewegung fehlte<br />

und auch nicht - ich wusste das - an einer recht lebendigen Ausdrucksweise. Das Büchlein handelte<br />

vor <strong>der</strong> Verteidigung unserer Rechte denn wir glaubten damals <strong>noch</strong> Rechte zu besitzen, während unsere<br />

Vorgesetzten, seien sie nun hierarchiegläubig o<strong>der</strong> nicht, Sich heute große Mühe geben, uns täglich<br />

zu beweisen, dass dieses Wort mit <strong>der</strong> aktuellen... demokratischen Entwicklung völlig seinen Sinn<br />

verloren hat. Ich habe mich über meine Unkenntnis nicht aufgeregt. Schließlich konnte ich akzeptabel<br />

schreiben: und ich fühlte genau, dass dies das Wesentliche war, dass <strong>der</strong> ganze Rest, all diese gram-<br />

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18. Lebensjahr Lehrer und Lehrbücher den Kopf damit vollgestopft hatten, ohne grossen Schaden die<br />

heiligen Regeln <strong>der</strong> Grammatik vergessen konnte, dann heißt das doch, sie waren, so wie man sie mir<br />

beigebracht hatte, we<strong>der</strong> lebendig <strong>noch</strong> unentbehrlich. Die überkommene Form des Sprachunterrichts<br />

ist also ohne Bezug zu den Bedürfnissen <strong>der</strong> Schüler, die in ihrem Leben etwas an<strong>der</strong>es zu tun haben<br />

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se Lehrbuchgrammatik <strong>noch</strong> einmal zu lernen. Und ich beeile mich, hier, bevor es zu spät ist, das zusammenzufassen,<br />

was ich für ausreichend und nützlich für unsere Volksschule halte. Denn wir können<br />

schnell Opfer professioneller Deformationen werden:<br />

Wir begegnen jedes Jahr den gleichen Prinzipien, den gleichen Regeln mit ihren Ausnahmen wie<strong>der</strong><br />

und sie werden so sehr ein Bestandteil unseres Berufs und unseres Lebens, dass wir unsere Schüler<br />

nicht mehr verstehen. Wir verstehen dann nicht mehr, dass Menschen, die nicht von Berufs wegen<br />

ständig diese Dinge wie<strong>der</strong>käuen, mit großer Zwanglosigkeit sich um <strong>der</strong>en fragwürdigen Wert gar<br />

nicht kümmern.<br />

57


Dass Schule zum Lebensraum wird<br />

Wie eine Schuldruckerei in <strong>der</strong> Grundschule dazu beiträgt<br />

Von Eberhard Dettinger<br />

Unterricht erleben<br />

Im Klassenzimmer hat eine kleine Hospitationsgruppe Platz genommen.<br />

Schon vor Unterrichtsbeginn betreten die Kin<strong>der</strong> nach und nach den Raum, gehen an ihren Platz<br />

und beginnen mit <strong>der</strong> von ihnen am Vortag in Aussicht genommenen Arbeit. Dann und wann ist ein<br />

Arbeitsmittel aus dem Regal notwendig, vielleicht gilt es aber auch, zunächst <strong>der</strong> Lehrerin im Flüsterton<br />

eine ganz wichtige Information zu geben o<strong>der</strong> eine solche abzuholen. Ohne viel Aufhebens ziehen<br />

zwei Mädchen Schürzen an und „verschwinden“ in <strong>der</strong> Druckecke, um dort mit großer Sorgfalt einen<br />

bereits in <strong>der</strong> Presse vorbereiteten Text zu drucken.<br />

Kurze <strong>Zeit</strong> darauf versammelt sich die Klasse im Sitzkreis, um den neuen Tag gemeinsam zu beginnen,<br />

miteinan<strong>der</strong> den weiteren Arbeitsablauf des Vormittags zu überlegen, im offenen Gespräch von<br />

aufgetretenen Schwierigkeiten zu berichten und die Freude über Erfolge zum Ausdruck zu bringen. Die<br />

beiden Druckerinnen können ihren fertiggestellten Text an die Klasse verteilen. Anschließend berinden<br />

die Schüler gemeinsam darüber, wer heute die Möglichkeit zum Setzen und Drucken erhalten soll.<br />

Mit einem vereinbarten Plan, klaren Aufgabenstellungen und im Wissen um die zu erwartenden<br />

Ergebnisse vollzieht sich <strong>der</strong> Start in den Schulvormittag.<br />

Nach Beendigung <strong>der</strong> Hospitation ist es den Besuchern anzusehen: Sie sind zufrieden, ja glücklich<br />

über das Gesehene und Erlebte. „Da sollte sich an meinem Unterricht <strong>noch</strong> einiges än<strong>der</strong>n...“, so die<br />

Einsicht, die man meint, von ihren Gesichtern ablesen zu können.<br />

Im anschließenden Gespräch erläutert die gastgebende Lehrerin überzeugend ihre pädagogischen<br />

Vorstellungen. Deutlich bringt sie zum Ausdruck, dass es ihr Bestreben ist, den äußeren Rahmen und<br />

Verlauf des Unterrichtsvormittages für die Kin<strong>der</strong> ihrer Klasse zu einem „Lebensraum“ zu gestalten, in<br />

den Lernen in seinen vielfältigen Ausprägungen eingebettet ist.<br />

Nachdenken: Schule als Lebensraum<br />

Ohne Zweifel konnten die Besucher aus ihren Beobachtungen während des Schulvormittages bereits<br />

Elemente einer lebensnäheren Unterrichtsgestaltung ableiten:<br />

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Schüler zu übernehmen.<br />

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Gemeinschaft sowie des sozialen Miteinan<strong>der</strong>s in <strong>der</strong> Klasse.<br />

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58


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Ohne Mühe, so meint die Lehrerin, liessen sich <strong>noch</strong> weitere Gesichtspunkte aus dem Verlauf des<br />

Vormittags erkennen. Zusammenfassend können diese sicher so benannt werden: Die Kin<strong>der</strong> in <strong>der</strong><br />

„Lebensraum-Schule“ werden gefor<strong>der</strong>t und erhalten vor allem auch die Möglichkeit dazu in möglichst<br />

vielen Bereichen ihre Lernprozesse eigenständig und damit selbstverantwortlich aktiv zu gestalten. Dies<br />

betrifft in gleicher Weise das selbständige Erwerben und Vertiefen von Wissen, wie auch das Aneignen<br />

von Fähigkeiten und Fertigkeiten. Wir wollen z.B. lernen, mit an<strong>der</strong>en Kin<strong>der</strong>n zusammenzuarbeiten,<br />

Vereinbarungen zu treffen, die eigene Meinung in Gespräche einzubringen und zu vertreten.<br />

Den Blick allein auf die Kin<strong>der</strong> zu richten, wäre aber zu einseitig. Lebensraum gestalten bedarf bestimmter<br />

Voraussetzungen, aus denen eine verän<strong>der</strong>te Lernatmosphäre überhaupt erst erwachsen<br />

kann.<br />

Den Bildungsplan aus Baden-Württemberg 1) beschreibt sie kurz so:<br />

„Damit die Schule zum Lebensraum für das Kind wird, muss sie ihm als gestaltetes Zusammenleben,<br />

als gestaltbarer Raum und als gestaltbare <strong>Zeit</strong> erfahrbar werden.“<br />

Der herkömmliche Frontalunterricht bietet den Kin<strong>der</strong>n nur ganz eingeschränkt die Möglichkeit, aktiv<br />

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die Schüler ihr Zusammenarbeiten und Zusammenleben (Absprachen im morgendlichen Sitzkreis), ihren<br />

Klassenraum (Gerne hätten wir ein weiteres Regal neben <strong>der</strong> Druckerei, weil...) und ihre <strong>Zeit</strong> (Wie<br />

lange dürfen wir uns für die anstehende Aufgabe <strong>Zeit</strong> nehmen?).<br />

Ein letzter Gesichtspunkt soll <strong>noch</strong> erwähnt werden:<br />

Über den Bereich ihres Hauses hinaus muss Schule die Brücke schlagen zu ihrer Umwelt. Lernen<br />

sinnvoller zu machen, bedingt auch, dass das Arbeiten in <strong>der</strong> Schule einen Bezug zum täglichen Leben<br />

hat bzw. die Einheit von Lernen und Leben in unterschiedlichen Aspekten erfahrbar wird. Beispiele für<br />

die Verwirklichung können sein:<br />

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Fachleuten). Lehrerinnen, Lehrern, Schulen, denen es gelingt, Lernen als Auftrag für Schülerinnen<br />

und Schüler in einem Lebensraum zu verankern, schaffen die Voraussetzung dafür, dass lebensnah<br />

und eigenständig vielfältige Erfahrungen gesammelt, Wissensinhalte erworben sowie Erkenntnisse<br />

gewonnen werden können.<br />

Mit großem persönlichen Einsatz und mit <strong>der</strong> festen Überzeugung, auf dem richtigen Weg zu sein, ist<br />

unsere gastgebende Lehrerin bereits wichtige Schritte gegangen. Die Hospitationsgruppe konnte sich<br />

davon überzeugen. Und trotzdem bleibt die Frage: Ist das alles die wohlgemeinte Idee einer Lehrerin,<br />

die eigenwillig ihren Weg verfolgt und <strong>der</strong>en Klassenzimmer deshalb zum überlaufenen Hospitationsort<br />

wird?<br />

59


Ein junger Lehrer zieht die Konsequenz<br />

Es liegt nun bereits über 70 Jahre zurück, dass ein junger Lehrer in den französischen Seealpen im<br />

kleinen Dorf Bar-sur-Loup seinen Dienst antrat. Entschlossen machte er sich daran, den herkömmlichen<br />

Unterricht und die Schule zu verän<strong>der</strong>n. Er wollte als Lehrer seinen Schülern nicht zumuten, was<br />

ihm als aufgewecktem Jungen selbst wi<strong>der</strong>fahren war. Das weitgehend lebensfremde, nicht kindgemäße<br />

Lernen im Klassenzimmer und das Lernen außerhalb des Schulhauses in <strong>der</strong> Begleitung seines<br />

Vaters o<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Dorfgemeinschaft, empfand er einst als krassen Gegensatz, dem er nun nach besten<br />

Kräften entgegenwirken will.<br />

Sein pädagogisches Bestreben sollte von dem Grundsatz bestimmt sein „Par la vie pour la vie par le<br />

travail“. (Durch das Leben für das Leben durch die Arbeit)<br />

Bei dem „jungen Lehrer“, von dem hier die Rede ist, handelt es sich um den französischen Pädagogen<br />

Célestin Freinet. Ihm war es also wichtig, auch zu beachten, was außerhalb des Schulhauses geschieht<br />

und gleichzeitig <strong>der</strong> praktischen Betätigung im Unterricht einen wichtigen Stellenwert einzuräumen.<br />

Arbeitspädagogik in einem Schulsystem, das sonst nur den Unterricht vom Kathe<strong>der</strong> herab kannte?<br />

Die Umgestaltung des Klassenzimmers wurde zur zwingenden Notwendigkeit. Die Schülerbänke<br />

rückten näher zusammen, um „Ateliers de travail“‘ (Arbeitsecken) Platz zu machen. In unterschiedlichen<br />

Bereichen erhielten die Kin<strong>der</strong> damit Gelegenheit, beim Lernen Denken und Tun, Tun und<br />

Denken tatsächlich miteinan<strong>der</strong> in Verbindung zu bringen, indem ihnen z.B. eine naturwissenschaftliche<br />

Arbeitsecke zur Verfügung gestellt wurde. Im Atelier für die Wissensvermittlung konnten sie auf<br />

Karteikarten, Bücher sowie Dokumente zurückgreifen,<br />

Als ein völlig neues Arbeitsmittel brachte Freinet die Druckerei ins Klassenzimmer (Freinet nennt man<br />

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wesentliche Stellung in seinem Unterricht ein. War dieses Atelier doch bestens dazu geeignet, einen<br />

wesentlichen Beitrag zur Verwirklichung seiner pädagogischen Zielsetzungen zu leisten. Als wenige<br />

Gesichtspunkte hierfür seien genannt:<br />

60


Ich habe einen Ausritt gemacht.<br />

„Geschichten vom Wochenende“, Druck aus einer l. Klasse<br />

Den Aussagen <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> durch die gedruckte Form Gewicht zu verleihen.<br />

Zu erreichen, dass sich die Kin<strong>der</strong> intensiv mit Texten beschäftigen.<br />

Einen Austausch von Schülertexten (Klassenkorrespondenz) zu ermöglichen. Die Schule an die<br />

Öffentlichkeit treten zu lassen. Vielfältige praktische und soziale Fähigkeiten und Fertigkeiten einzuüben.<br />

Die französische Lernschule bisheriger Prägung zu überwinden, bedeutete für Freinet aber gleichzeitig<br />

auch, lass die unterrichtliche Arbeitsplanung weitgehend durch die Schüler vorgenommen wurde; dass<br />

er ihnen die Möglichkeit des „freien Ausdruckes“ (Befreiung des kindlichen Denkens) einräumte; dass<br />

die Kin<strong>der</strong> nicht nur Arbeit in Eigenverantwortung übertragen erhielten, son<strong>der</strong>n auch entscheidend in<br />

die Leistungsbeurteilung einbezogen wurden.<br />

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Schule als Lebensraum eine Notwendigkeit heute?<br />

Während also so manche Kollegin und mancher Kollege ebenso wie unsere gastgebende Lehrerin auf<br />

dem Wege sind, aus Klassenzimmer und Unterricht für die Kin<strong>der</strong> sin lebensnahes Lernfeld werden zu<br />

lassen, erheben sich vereinzelt auch fragende Stimmen.<br />

Kann und soll Schule wirklich, indem sie diesen Weg geht, den ursprünglichen Erziehungsauftrag <strong>der</strong><br />

Eltern in so ausgeprägter Weise (mit) übernehmen?<br />

Wohl keiner <strong>der</strong> Skeptiker gegenüber <strong>der</strong> Lebensraum-Schule wird die Auswirkungen einer durch un-<br />

61


sere Gesellschaft verän<strong>der</strong>ten Kindheit leugnen können. Deshalb steht fest: Auch Schule will sie erfolgreich<br />

sein hat von diesen Verän<strong>der</strong>ungen auszugehen. Eine bereits sehr umfangreiche Literatur stellt<br />

den Wandel in den gesellschaftlichen Gegebenheiten bezogen auf die Kindheit dar. Einige wenige<br />

Stichwörter an dieser Stelle sollen also ausreichen: Erleben aus zweiter Hand, soziale Vereinzelung,<br />

verschiedenartige häusliche Situationen, unterschiedliche Lern<strong>voraus</strong>setzungen und Lernerfahrungen,<br />

Konsumhaltung.<br />

Eine Schule, die sich solchen Verän<strong>der</strong>ungen stellt, muss in ihrer Arbeit die Lebensbedingungen berücksichtigen,<br />

die die Schüler vor und während <strong>der</strong> Schulzeit prägen. Sie muss die Kin<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Weise<br />

ansprechen, wie sie für eine positive Weiterentwicklung gewonnen werden können, damit sie ihnen<br />

das vermitteln kann, was sie heute und später beherrschen müssen.<br />

Die Überlegung, ob Schule Aufgaben an<strong>der</strong>er Institutionen übernehmen soll, wird somit durch die<br />

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Der Weg <strong>der</strong> Schule wird stets ein Abwägen sein müssen, wie weit sie sich den „mo<strong>der</strong>nen“<br />

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geben. Mehr Verantwortlichkeit, mehr Entscheidungsfähigkeit, das werden aber gewiss einmal wichtige<br />

For<strong>der</strong>ungen an unsere jetzigen Schulkin<strong>der</strong> sein.<br />

Wo aber könnte all das intensiver eingeübt werden, als in einer Schule, die gleichzeitig Lebensraum<br />

ist? Sie muss also auf diesem Weg bleiben, will sie <strong>der</strong> Herausfor<strong>der</strong>ung heutiger Kindheit gerecht<br />

werden. Schule als Lebensraum wird zur aktuellen Notwendigkeit!<br />

Die Schuldruckerei eine zentrale Station im Klassenzimmer<br />

Da steht sie bereits an <strong>der</strong> Rückwand des Klassenzimmers die Schuldruckerei. Setzkästen mit Lettern,<br />

Farbtuben und Walzen sind aus vielen Schulräumen mit „gestalteter Lernumgebung“ kaum <strong>noch</strong> wegzudenken.<br />

Im morgendlichen Gesprächskreis, von dem anfangs erzählt wurde, haben die beiden Mädchen die<br />

von ihnen gedruckten Texte verteilt. Freude bei den Beschenkten, Stolz bei den Gebern prägen diesen<br />

Augenblick. Das Arbeiten in <strong>der</strong> Schuldruckerei und die geschaffenen Druckwerke nehmen ihren Platz<br />

im Schulalltag ein.<br />

Gerne und begeistert berichten deshalb die Kin<strong>der</strong> über ihre Tätigkeit in und über ihre Erfahrung mit <strong>der</strong><br />

Schuldruckerei, denn für sie ist dieses Arbeitsmittel zu reinem wichtigen Bestandteil ihres Unterrichts<br />

geworden:<br />

„Als Frau Schweizer unsere Klasse übernahm, stellte sie uns allen zunächst die Schuldruckerei vor.<br />

Danach zeigte sie einer kleinen Gruppe den Umgang mit den Lettern, den Setzrähmchen und <strong>der</strong><br />

Druckpresse. Diese Kin<strong>der</strong> waren in den nächsten Tagen die Lehrmeister. Nach und nach lernten wir<br />

alle voneinan<strong>der</strong> wie man setzt und druckt.<br />

Im Kunstunterricht durften wir uns aus Milchtüten und Furnier Druckstöcke anfertigen. Zu unseren<br />

Texten stellen wir jetzt immer wie<strong>der</strong> solche Bilde her und drucken diese mit <strong>der</strong> Presse.<br />

62


Nun waren wir soweit, dass wir im Morgenkreis darüber sprechen und entscheiden konnten, was<br />

wir drucken wollen. Auswählen müssen wir deshalb, weil das Setzen und Drucken schon seine <strong>Zeit</strong><br />

braucht. Es fällt uns aber nicht immer leicht, zwischen den Texten, die vorgelesen werden o<strong>der</strong> auch<br />

an<strong>der</strong>en Ideen, die wir mit <strong>der</strong> Druckerei gerne verwirklichen möchten, zu entscheiden.<br />

Nachdem wir beschlossen haben, wer seinen Text drucken darf, geht es an den Setzkasten. Natürlich<br />

darf man sich auch ein zweites Kind dazuholen. Wenn wir die Lettern aus dem Setzkasten nehmen<br />

und in den Setzrahmen stellen, müssen wir ganz schön aufpassen, dass alles richtig wird, denn ein<br />

gedruckter Text darf keine Fehler enthalten!<br />

Am nächsten Tag wird dann gedruckt. Dazu braucht man immer drei Kin<strong>der</strong> und Schürzen, dass die<br />

Klei<strong>der</strong> nicht schmutzig werden. Wenn <strong>der</strong> Text und vielleicht auch <strong>der</strong> Druckstock für ein Bild in die<br />

Presse eingespannt sind, kann es losgehen. Einer walzt mit <strong>der</strong> gewünschten Farbe ein. Das zweite<br />

Kind legt mit sauberen Fingern einen Bogen weißes Papier auf. Nun kann <strong>der</strong> dritte die Druckwalze<br />

über das Papier rollen. Das Kind mit den sauberen Fingern darf vorsichtig das bedruckte Blatt abheben.<br />

Jetzt wird es spannend: Wie sieht <strong>der</strong> Druck wohl aus? Sind <strong>noch</strong> Fehler im Text? Müssen wir<br />

sonst <strong>noch</strong> etwas verän<strong>der</strong>n?<br />

Ist alles in Ordnung, dann fertigt die Druckergruppe für alle Kin<strong>der</strong> und Frau Schweizer jeweils ein Blatt<br />

und <strong>noch</strong> einige dazu. Weil sie sauber und ohne Fingerabdrücke sein sollen, müssen wir uns anstrengen<br />

und auch Ausdauer beweisen.<br />

Wenn die gewünschte Zahl gedruckt ist, heißt es, die Lettern wie<strong>der</strong> zu reinigen und in die entsprechenden<br />

Fächer des Setzkastens zurückzulegen. Erst danach kann ein neuer Text gesetzt werden.<br />

Manchmal wollen wir auch ein kleines Heft zusammenstellen. Dann sammelt Frau Schweizer die einzelnen<br />

Seiten. Beim Zusammentragen und Heften ist es wichtig, dass wir die Reihenfolge ja nicht<br />

verwechseln.<br />

Jetzt sind wir glücklich, dass unser Werk gelungen ist. Unsere Lehrerin und unsere Eltern freuen sich<br />

mit uns.“<br />

Was kann einer Lehrerin Schöneres geschehen, als ihre Schüler mit soviel Einsatzfreude und<br />

Begeisterung einem Angebot <strong>der</strong> Schule nachgehen zu sehen? Darüber hinaus ist die Arbeit mit <strong>der</strong><br />

Druckerei mit <strong>der</strong> Verwirklichung zahlreicher pädagogischer Anliegen verbunden. Danach befragt, wie<br />

dieses Arbeitsmittel ihr Bestreben unterstützt, den Schülern Klassenzimmer und Unterricht zu einem<br />

Lebensraum werden zu lassen, würde unsere Lehrerin sicher folgende Argumente benennen:<br />

Schuldruckerei motiviert und aktiviert<br />

��<br />

Gelingendes und Gelungenes sind Anlass zu Freude und neuen Taten. Die Schuldruckerei bietet<br />

ein breites Feld unterschiedlicher, aber gleichgewichtiger Aufgabenbereiche, für die sich die Kin<strong>der</strong><br />

entscheiden und durch die sie mit ihren persönlichen Fähigkeiten Erfolgserlebnisse erreichen können.<br />

63


�� Schuldruckerei teilt Verantwortung zu Selbständiges, eigenverantwortliches Arbeiten während<br />

sich vielleicht die übrige Klasse mit an<strong>der</strong>en Aufgaben beschäftigt ist eine wesentliche<br />

Voraussetzung. Einbezogen ist die Notwendigkeit, in dieser Situation immer wie<strong>der</strong> eigenständig<br />

Entscheidungen treffen zu müssen.<br />

�� Schuldruckerei stärkt das Selbstbewusstsein<br />

Im freien Text schreiben zu dürfen, was mich beschäftigt, wirkt befreiend. Diese Aussagen setzen,<br />

drucken und sie somit einer „Öffentlichkeit“ zugänglich machen zu können, stärkt das<br />

Selbstbewusstsein.<br />

�� Schuldruckerei gibt dem Schreiben Sinn<br />

������������������������������������������������������������<br />

Drucken wird ein Leserkreis angesprochen, <strong>der</strong> interessiert, zustimmend o<strong>der</strong> kritisch zur Kenntnis<br />

nimmt. Als ein Dokument erhält <strong>der</strong> Text Bedeutung.<br />

�� Schuldruckerei för<strong>der</strong>t Gemeinschaft Von <strong>der</strong> Entscheidung, welcher Text gedruckt werden<br />

soll bis zum fertigen Gemeinschaftswerk steht in zahlreichen Stationen das „Wir“ das<br />

Zusammenwirken, die Rücksichtnahme, die persönliche Leistung nach besten Kräften für alle im<br />

Mittelpunkt.<br />

��Schuldruckerei<br />

schlägt die Brücke „nach draußen“<br />

Die Eltern, eine Partnerklasse, für die Kin<strong>der</strong> wichtige Personen erhalten, was in <strong>der</strong><br />

Schuldruckerei entsteht. Schule schlägt in einer natürlichen Weise die Brücke über den eigenen<br />

Bereich hinaus.<br />

�� Schuldruckerei for<strong>der</strong>t Leistung<br />

Leistungen, die über die Schuldruckerei gefor<strong>der</strong>t werden, betreffen ganz unterschiedliche<br />

Bereiche. Aspekte wie selbständiges, sauberes Arbeiten, fehlerfreies Schreiben, Ausdauer,<br />

Zuverlässigkeit, Kooperationsfähigkeit sind Grundlage für das Gelingen eines Druckerzeugnisses.<br />

Damit haben sich die Kin<strong>der</strong> auch auf Gebieten zu bewähren, die normalerweise durch den<br />

Unterricht nicht in diesem Masse zur Geltung kommen und deshalb eine wertvolle Ergänzung darstellen.<br />

In <strong>der</strong> „Lebensraum-Schule“ wird das Klassenzimmer zu einem Raum, in dem Schüler Situationen<br />

�����������������������������������������������������������<br />

Sache her gefor<strong>der</strong>t) lebensnahe Fähigkeiten und Fertigkeiten erwerben und eine För<strong>der</strong>ung ihrer<br />

Gesamtpersönlichkeit erfahren können.<br />

Beobachtet man mit <strong>der</strong> Schuldruckerei arbeitende Kin<strong>der</strong> begeistert vom Umgang mit Lettern<br />

und Druckerpresse so ist Freude und Ernsthaftigkeit des Bemühens auf ihren Gesichtern abzulesen.<br />

Kann es aber einen fruchtbareren Boden geben, die pädagogischen „Pluspunkte“ <strong>der</strong><br />

Schuldruckerei gedeihen zu lassen, zu ernten und von den Kin<strong>der</strong>n selbst in das Geschehen eines<br />

Schulvormittages einbringen zu lassen, <strong>der</strong> dadurch ein großes Stück mehr zum lebendigen<br />

Lebensraum wird?<br />

64


Ausblick:<br />

Zum Schluss soll Célestin Freinet <strong>noch</strong>mals zu Wort kommen:<br />

„Um sich zu bilden, genügt es nicht, dass das Kind jeden Stoff in sich hineinfrisst, den man ihm mehr<br />

o<strong>der</strong> weniger spannend serviert: es muss selbst handeln, selbst schöpferisch sein. Und es muss vor<br />

allem in einer angemessenen Umgebung leben können,... Leben, so intensiv wie möglich zu leben,<br />

liegt nicht darin letztlich das Ziel all unserer Anstrengungen? Und die Fähigkeit zum Leben so gut wie<br />

es nur irgend geht zu entwickeln, sollte das nicht die Aufgabe <strong>der</strong> Schule sein?“ 2)<br />

Schule als Lebensraum das muss das Ziel sein!. Eine Schuldruckerei kann ihren Beitrag dazu leisten»<br />

1) Ministerium für Kultus und Sport Baden-Württemberg: „Bildungsplan für die Grundschule“, S.ll, 1994<br />

2) C. Freinet: „Pädagogische Texte“, hrsg. von H. Boehncke und Ch. Hennig, Hamburg 1980, S. 25.<br />

Kin<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Druckecke<br />

65


C. Freinet<br />

Schluss mit den Schulbüchern!<br />

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auch das manchmal sehr schlecht. Manche vergrößern sogar <strong>noch</strong> die Stofffülle dieser Lehrpläne, ich<br />

weiß nicht, aufgrund welchen Irrsinns, und stopfen den Unterricht voll bis zum äußersten. Ganz selten<br />

jedoch sind Schulbücher für die Kin<strong>der</strong> gemacht. Sie behaupten, die Arbeit des Lehrers zu erleichtern<br />

und zu ordnen, sie rühmen sich, Schritt für Schritt vorzugehen, im Rhythmus... <strong>der</strong> Lehrpläne. Der<br />

Schüler wird ihnen schon folgen, wenn er kann. Um ihn geht es hier aber gar nicht.<br />

Schulbücher dienen also de facto in erster Linie <strong>der</strong> Unterwerfung des Kindes unter den Erwachsenen<br />

und, <strong>noch</strong> genauer, unter die gesellschaftliche Klasse, die durch Lehrpläne und Finanzen das<br />

Unterrichtswesen beherrscht.<br />

Sicherlich gibt es einige wohlmeinende Pädagogen, die sich im Gegensatz dazu auf die Bedürfnisse<br />

und Wünsche des Kindes beziehen und zu einer weniger orthodoxen Auffassung des Unterrichts gelangen.<br />

Die grossen Verlage jedenfalls denken nicht daran, sich mit ihnen zu belasten, und nur die<br />

�����������������������������������������������������������<br />

Selbst wenn die Schulbücher gut wären, wäre es am besten, sie so wenig wie möglich zu benutzen.<br />

Denn das Schulbuch vor allem wenn es schon in den ersten Klassen benutzt wird trägt dazu bei, die<br />

blinde Anbetung des gedruckten Wortes zu verbreiten.<br />

Das Buch ist dann eine Welt für sich, fast etwas Göttliches, dessen Behauptungen man kaum <strong>noch</strong> in<br />

Präge stellt. „Es steht doch im Buch...“, heißt es dann, wogegen es doch gerade wünschenswert wäre<br />

zu lehren, dass im Buch auch nur Gedanken stehen, die dem Irrtum unterliegen können und denen<br />

man wi<strong>der</strong>sprechen kann, wie man auch jemandem wi<strong>der</strong>spricht, <strong>der</strong> redet.<br />

So töten die Schulbücher jede Kritikfähigkeit; und wahrscheinlich verdanken wir ihnen diese Generationen<br />

von Halbgebildeten, die jedes einzelne Wort glauben, das in <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>ung steht. Wenn das stimmen sollte,<br />

dann ist <strong>der</strong> Krieg gegen die Schulbücher wirklich notwendig.<br />

Aber die Schulbücher unterwerfen auch die Lehrer. Sie gewöhnen sie daran, das immer gleiche Wissen<br />

auf immer gleiche Art weiterzugeben, ohne sich darum zu kümmern, ob das Kind es aufnehmen kann.<br />

Die schädliche Routine bemächtigt sich des Erziehers.<br />

Was bedeuten schon die Interessen <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>, wenn doch auf hun<strong>der</strong>t Seiten alles erstrebenswerte<br />

Wissen in einen Text gepresst ruht, <strong>der</strong> Stoff, <strong>der</strong> genügt, um die Examen zu bestehen!<br />

Es ist unbedingt notwendig, dass die Lehrer sich von dieser mechanischen Vermittlung freimachen, um<br />

sich <strong>der</strong> Erziehung des Kindes zu widmen.<br />

66


Von Kullersystemen, freien Texten und dem Lob des Fehlers<br />

Freinetbewegte Wege im Mathematikunterricht von Angela Glänzel-Zlabinger<br />

Schulszenen<br />

Szene l:<br />

Die Lehrerin steht vor ihrer l. Klasse und zeichnet 10 Kuller an die Tafel.<br />

.... dann streicht sie 3 davon durch und sagt und schreibt: 10 3 = 7. Danach rechnen die Kin<strong>der</strong> auf<br />

einem liebevoll gestalteten Arbeitsbogen mit bunten Kullern genau solche Minusaufgaben aus und<br />

geben den Bogen <strong>der</strong> Lehrerin, die mit roter Tinte die Fehler anstreicht und ein lachendes o<strong>der</strong> weinendes<br />

Gesicht darunter stempelt.<br />

Szene 2:<br />

Einige Kin<strong>der</strong> haben ihre eigenen Texte vorgelesen und schließlich einen davon ausgewählt. Die<br />

Lehrerin schreibt den Text des Kindes an die Tafel:<br />

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Jetzt nehmen die Kin<strong>der</strong> vor <strong>der</strong> Tafel Platz, lesen nach einem festgelegten Ritual Satz um Satz laut<br />

vor und melden sich, wenn sie einen Fehler entdecken o<strong>der</strong> Verbesserungsvorschläge haben. Ein Kind<br />

steht vorne an <strong>der</strong> Tafel und verbessert... Die Lehrerin greift nur gelegentlich ein. Dann bearbeiten die<br />

Kin<strong>der</strong> verschiedene Karteikarten mit Selbstkontrolle, während die Autorin des Textes die berichtigte<br />

Form von <strong>der</strong> Tafel in das Klassentagebuch abschreibt.<br />

Szene 3:<br />

Eine Teilungsgruppe <strong>der</strong> 3d hat sich vor <strong>der</strong> Tafel in einen Halbkreis gesetzt und betrachtet das Bild<br />

und die Gleichung von Patrick, das die Lehrerin aus Patricks Heft auf einen Bogen Papier übertragen<br />

hat.<br />

Die Präsidentin des Tages übergibt Patrick das Wort, <strong>der</strong> die Kin<strong>der</strong>, die sich melden, aufruft. Die<br />

Lehrerin schreibt Protokoll:<br />

Nuray: „Aber 3 + l ist doch 4.“ Hakan: „Ich sehe da 3 Fische und einen Hai!“<br />

67


In jenem Oktober 1966, als Freinet gestorben ist, habe ich die „Reifeprüfung“ abgelegt.<br />

Damals hatte we<strong>der</strong> ich <strong>noch</strong> irgendeiner meiner Lehrer etwas von Freinet gehört.<br />

Reif fühlte ich mich im Oktober ‚66 nicht, nur mit viel Wissen beladen, mit dem ich nichts anfangen<br />

konnte, und <strong>der</strong> vagen Vorstellung im Kopf, dass ich als Lehrerin alles ganz an<strong>der</strong>s machen würde.<br />

Im Studium erfuhr ich dann, dass die schmerzlichen Erfahrungen meiner Schulzeit vielerlei wissenschaftliche<br />

Namen hatten und zum System Schule dazugehörten, „systemimmanent“ waren.<br />

Vereinzelt musste ich da auch selbst bestimmt lernen, was ich aber nicht konnte! Ansonsten gab es<br />

auch hier Kullersysteme und ganz neu etwas zum Anfassen für Die Kin<strong>der</strong>: rote, dicke, raue Kreise.<br />

„Spielerische Mathematik“ mit kleinen, grünen, ebenfalls rauen Dreiecken statt Päckchenrechnen, das<br />

war Fortschritt, das begeisterte mich.<br />

Von Freinet war allerdings auch hier nichts zu hören und zu lesen.<br />

Dann endlich eigener selbstverantwortlicher Unterricht!<br />

<strong>Immer</strong>hin, Päckchenrechnen war out. Ich stürzte mich genauso wie die Kin<strong>der</strong> auf die bunten Formen<br />

im rechteckigen Karton, hielt den Eltern Vorträge über die Bedeutung <strong>der</strong> Mathematik im beson<strong>der</strong>en<br />

und den handelnden Umgang damit im speziellen, sortierte den Inhalt des Kartons nach klein und grün,<br />

und rot und glatt wobei die Kin<strong>der</strong> <strong>noch</strong> meine Begeisterung teilten -, sortierte die Klassengemeinschaft<br />

nach Kin<strong>der</strong>n mit Brille und ohne Brille was weniger Begeisterung hervorrief und ließ auf dem Fußboden<br />

Schlangen bilden, die sich von Plättchen zu Plättchen durch jeweils ein Merkmal unterschieden was<br />

dazu führte, dass Kin<strong>der</strong> ausprobierten, ob die grossen runden o<strong>der</strong> die kleinen runden schneller rollten.<br />

Von diesem <strong>Zeit</strong>punkt an versuchte ich mich „Wesentlicherem“ als <strong>der</strong> Mathematik zuzuwenden und<br />

bei meiner Rektorin Geld für ein bisschen Werkzeug und ein paar Stempelkästen locker zu machen.<br />

Just da hörte ich von einem Franzosen, <strong>der</strong> seinen Schülern gleich eine ganze Druckerei und ein<br />

Schmiede- und Schreineratelier zur Verfügung stellte.<br />

Genau, eine Druckerei, das wäre etwas für meine Schüler! Doch die Rektorin war nicht umzustimmen,<br />

Stempelkästen ja, Druckerei nein! War Freinet nicht dieser Kommunist?<br />

Ich lernte schnell .... nicht mehr Freinet-Pädagogik zu sagen, wenn ich etwas trollte, son<strong>der</strong>n „binnendifferenzierter<br />

Unterricht“.<br />

5 Jahre später ich hatte inzwischen längst eine Druckerei in meiner Klasse stehen und einige<br />

Freinettreffen im wie<strong>der</strong> gestärkten Rücken reiste ich mit einer Freinet-Freundin nach Frankreich, um<br />

Freinet-Pädagogik im Original zu erleben. Im Unterricht einer „educatrice Freinet militante“ (bezeichnet<br />

in Frankreich eine engagierte Freinetlehrerin) wurden wir dann, neben vielen an<strong>der</strong>en Eindrücken,<br />

Zeugen von Szene 2.<br />

68


Für mich stand damals diese Szene für den Unterricht in den Klassen Freinets, Freinet-Pädagogik<br />

eben: Kin<strong>der</strong> schreiben selbst Texte, Klassenkameraden helfen bei <strong>der</strong> Korrektur... Kin<strong>der</strong> arbeiten<br />

��������������������������������������������������������� -<br />

den muss. Kin<strong>der</strong> versammeln sich im Klassenrat, Kin<strong>der</strong> korrespondieren mit an<strong>der</strong>en Klassen...<br />

Jetzt, weitere 14 Jahre später (ich hatte mich inzwischen selbst an das Schreiben freier Texte gewagt<br />

und bei vielen Kin<strong>der</strong> auch den eigenen den Weg des freien Schreibens verfolgt), bin ich wie<strong>der</strong> beim<br />

Mathematikunterricht gelandet, <strong>der</strong> mich diesmal nicht durch bunte Einlagen (wie rote, raue Dreiecke)<br />

son<strong>der</strong>n durch eine neue Haltung fasziniert.<br />

Wege entstehen beim Gehen<br />

Die Geschichte des Mathematikunterrichts in <strong>der</strong> Freinet-Bewegung<br />

Im nächsten Oktober, wenn wir den 100. Geburtstag Freinets feiern, werde ich 50!<br />

Angesichts <strong>der</strong> Kongruenz und <strong>der</strong> runden Bedeutsamkeit <strong>der</strong> Daten, stellen sich mir einige Fragen<br />

fast von selbst.<br />

Sind nach 50 Jahren rasanter Entwicklung um uns herum die pädagogischen Ideen Célestin und Elise<br />

Freinets <strong>noch</strong> zeitgemäß?<br />

Was hat sich in diesem halben Jahrhun<strong>der</strong>t in <strong>der</strong> Freinet-Pädagogik bewegt? O<strong>der</strong> ging es eher darum,<br />

Freinets Erbe zu verteidigen und festzuhalten?<br />

O<strong>der</strong> um es auf <strong>der</strong> Ebene meiner drei symbolischen Szenen zu sagen:<br />

Besteht <strong>der</strong> Fortschritt darin, dass statt <strong>der</strong> Karteikarten mit Selbstkontrolle, die Freinet eingesetzt hatte,<br />

die Schüler jetzt auch in Mathematik die Rechenfehler ihrer Mitschüler gemeinsam korrigieren?<br />

50 Jahre vor meiner <strong>Zeit</strong>, so stelle ich mir vor, sagt Freinet zu Szene l (auch wenn diese erst mehrere<br />

Jahrzehnte später stattfand):<br />

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das <strong>der</strong> Lehrer sein eigenes Selbstwertgefühl bindet: denn <strong>der</strong> Erzieher glaubt zu versagen, wenn er<br />

nicht diese falsche Wissenschaftlichkeit an den Anfang jedes Wissens, das <strong>der</strong> Schüler beherrschen<br />

soll, stellt.“ 1)<br />

Er glaubt zu versagen, wenn er <strong>der</strong> Natur seiner Schüler folgt, statt sie durch seine Autorität zu ersetzen.<br />

Ein Leidtragen<strong>der</strong> <strong>der</strong> realen Szene l, nämlich Ralf Fingerhut, drückt das in dem Buch „Ich war behin-<br />

69


��������������������������������������������������������������<br />

„Ich weiß nur, dass ich zuerst mit Zahlen gehandelt habe. Und dann kam das Kullersystem. Und das<br />

war <strong>der</strong> Zusammenbruch. Ich versuchte es besser zu verstehen, aber ich weiß heute davon nichts<br />

mehr wirklich nichts mehr. Ich suchte nach dem Kern. Sie (die Lehrerin) hat gleich halbiert und dann<br />

hat sie das Lernen für sich einkassiert. Wir haben nichts gelernt damit lernen wir nichts.“ 2)<br />

���������������������������������������������������������������<br />

Statt langer Erklärungen stellte er den Kin<strong>der</strong>n mit selbstgefertigten Karteien die üblichen<br />

Rechenverfahren als ein fertiges Haus zur Verfügung, das sich <strong>der</strong> Schüler seinem eigenen Tempo<br />

und Können entsprechend selbst erarbeiten konnte.<br />

Er for<strong>der</strong>te außerdem, das greifbare Leben <strong>der</strong> Schüler, ihre Umwelterfahrungen, in den Mittelpunkt<br />

des Rechenunterrichts zu stellen, for<strong>der</strong>te einen Rechenunterricht, <strong>der</strong> den Kin<strong>der</strong>n Platz für eigene<br />

Entdeckungen gibt (Tâtonnement éxperimental).<br />

Im Grunde hielt er aber mit seinen Karteien an einer systematischen Erarbeitung <strong>der</strong> Rechenverfahren<br />

fest.<br />

Den<strong>noch</strong> haben Célestin und Elise Freinet einen Weg gewiesen, <strong>der</strong> mich auch nach 25 Jahren des<br />

Lehrerinnen seins immer <strong>noch</strong> in Spannung hält.<br />

Für diesen Wegweiser sind meiner Meinung nach zwei Ideen <strong>der</strong> Freinets hauptverantwortlich, die ich<br />

ungeachtet <strong>der</strong> bekannten Tatsache, dass die ganze Pädagogik mehr ist als die Summe ihrer Teile,<br />

hier herausgreife:<br />

Idee l:<br />

Indem die Schule das Bedürfnis des Menschen unterdrückt, unaufhörlich „emporzusteigen und zu<br />

wachsen“, hat sie sich <strong>der</strong> stärksten menschlichen Antriebskraft beraubt.<br />

Freinet hat versucht, diese <strong>der</strong> Schule und dem schulischen Lernen verlorengegangene Kraft wie-<br />

���������������������������������������������������������������<br />

erkannte diese Kraft anhand seiner Erfahrungen und Beobachtungen im Spannungsbogen zwischen<br />

zwei Polen:<br />

Da ist einerseits das Bedürfnis, nützlich zu sein in <strong>der</strong> Gemeinschaft: „Ich bewun<strong>der</strong>te mein Werk:<br />

dank meiner Arbeit würde das Gras schneller trocknen... Die an<strong>der</strong>en Kin<strong>der</strong> hätten ruhig kommen<br />

können, um mich zu irgendeinem Spiel zu holen. Nichts in <strong>der</strong> Welt hätte mich dazu gebracht, eine<br />

Beschäftigung aufzugeben, die in meinen Kräften stand und <strong>der</strong>en Sinn und Zweck ich vollkommen<br />

einsah.“ 3)<br />

Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite haben Freinet und seine Frau Raum geschaffen für ein an<strong>der</strong>es existenzielles<br />

Bedürfnis des Menschen: das Bedürfnis, sich auszudrücken. Ein Bedürfnis, das bei den Kin<strong>der</strong>n <strong>noch</strong><br />

beson<strong>der</strong>s lebendig ist und wenn man die passende Umgebung schafft und Raum gibt, statt den Strom<br />

zu dämmen sich in vielfachen Formen Bahn bricht: In Gesang und Bewegung, in Worten und mit dem<br />

Pinsel, im Theaterspiel, in <strong>der</strong> Musik und vielerlei an<strong>der</strong>en Gestalten.<br />

70


Freinet erkannte den freien Ausdruck als authentisches Zeugnis <strong>der</strong> kindlichen Persönlichkeit. Er<br />

schätzte ihn als künstlerischen Ausdruck wert, er erkannte seine Bedeutung für das Selbstwertgefühl<br />

und die Anerkennung in <strong>der</strong> Gruppe.<br />

Er nahm die von <strong>der</strong> Klasse ausgewählten Texte (obwohl er selbst oft eine an<strong>der</strong>e Wahl getroffen hätte)<br />

als Hinweis auf ein sachliches o<strong>der</strong> emotionales Interesse, dem er ebenfalls Raum gab.<br />

Er wusste um die Bedeutung des freien Ausdrucks für das Lernen im jeweiligen Bereich:<br />

„Jede Zeichnung mit ihren Fehlern und Möglichkeiten ist eine Stufe in <strong>der</strong> Lernentwicklung.“ 4)<br />

Freinet will deshalb auch nicht die Formen kindlichen Ausdrucks verbessern, we<strong>der</strong> im schulischen<br />

Sinn <strong>noch</strong> in irgendeinem an<strong>der</strong>en. Es genügt, das Bedürfnis nach Entwicklung und Leben zu erhalten.<br />

In seinen Schriften kann man verfolgen, dass er dem freien Ausdruck immer breiteren Raum einräumt.<br />

Ich kann nur vermuten, dass es ihm ging wie mir und vielen an<strong>der</strong>en, die den freien Ausdruck zugelassen<br />

haben: Der freie Ausdruck entwickelt eine solche Kraft (<strong>voraus</strong>gesetzt man bremst ihn nicht durch<br />

sinnloses Herumkorrigieren und Beurteilen und einseitige Ansprüche) und offenbart soviel über das<br />

einzelne Kind, dass man ihn als Lehrer immer mehr schätzen und lieben lernt.<br />

Idee 2:<br />

Freinet hatte erkannt, dass die Verän<strong>der</strong>ung des Unterrichts und des Schullebens von unten kommen<br />

musste, dass Schulen und Lernen darin sich nicht durch Verfassung theoretischer Bildungskonzeptionen,<br />

die von oben diktiert werden, än<strong>der</strong>n lassen. Und, da er ja gerade „die Dynamik als das oberste Gebot<br />

<strong>der</strong> Pädagogik ansah“ 5), hat Freinet nicht nur eine Pädagogik, son<strong>der</strong>n auch eine Lehrerbewegung<br />

begründet.<br />

Die Weiterentwicklung an <strong>der</strong> Basis, im Dialog mit den Kin<strong>der</strong>n, im Dialog mit <strong>der</strong> Entwicklung allgemein,<br />

im ständigen Austausch mit den Kolleginnen, nur so kann sich eine Pädagogik entwickeln, die<br />

wirklich vom Kind ausgeht und auf die Zukunft dieses Kindes ausgerichtet ist.<br />

„Was wir Freinet-Pädagogik nennen, ist kein festgefügtes, abgeschlossenes Konzept. Es ist im Grunde<br />

nicht die Pädagogik des Célestin Freinet, son<strong>der</strong>n ausgehend von den Gedanken und Erfahrungen<br />

Freinets, eine sich immer weiterentwickelnde breitgefächerte Pädagogik, die von einer Lehrerbewegung<br />

getragen wird“6)<br />

Die <strong>Zeit</strong>genossen und Mitstreiter Freinets haben in ihren Klassen zunächst die von Freinet angefangene<br />

Arbeit mit Rechenkarteien fortgesetzt und weiterentwickelt. So konnte jedes Kind zumindest seinem<br />

eigenen Tempo und seinen Fähigkeiten entsprechend das vom Lehrer mit <strong>der</strong> Karteikarte vorgegebene<br />

System nachvollziehen.<br />

Gleichzeitig entwickelten sie gemeinsam das „caicul vivant“, das mit seinen damaligen Inhalten (dem<br />

Kalen<strong>der</strong>, dem Einkaufen, <strong>der</strong> Körpergröße <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> usw.) ebenfalls inzwischen in den traditionellen<br />

Unterricht Einzug gehalten hat.<br />

Aber die Freinetbewegten blieben nicht dabei stehen. Sie nahmen die Ideen als solche, und entwickel-<br />

71


ten sie in ihrer täglichen Arbeit mit den Kin<strong>der</strong>n und den an<strong>der</strong>en Mitstreitern weiter: zum Beispiel die<br />

„pistes de recherches“, wie sie in <strong>der</strong> heutigen französischen Freinetbewegung z.B. Bernard Monthubert<br />

vertritt:<br />

Er entwickelt mit den Kin<strong>der</strong>n gemeinsam aus den von ihnen mitgebrachten Problemstellungen<br />

Mathematik. Die Probleme werden vorgetragen und mit einigen wesentlichen Stichpunkten auf einem<br />

grossen Blatt (d.h. es wird später nicht weggewischt) skizziert. Die Kin<strong>der</strong> haben Gelegenheit, dieses<br />

Problem auf ihre ganz persönliche Weise zu interpretieren, ihre eigenen Fragen zu stellen und individuelle<br />

Lösungswege anzureissen. Im Gegensatz zum schulischen Sachrechnen muss nicht eine ganz<br />

bestimmte Frage beantwortet, o<strong>der</strong> womöglich <strong>noch</strong> wie es manche Rechenbücher vorsehen -, selbst<br />

gerunden und präzise formuliert werden (nach dem Prinzip:<br />

du darfst tun, was ich will). Bernard Monthubert lässt viele Interpretationen zu und öffnet damit auch<br />

den Blickwinkel des Problemstellers.<br />

Celine erzählt: „Mein Vater hat mir gestern 20 Sticker mitgebracht. Manche davon hatte ich schon.<br />

Meine Freundin Viviane hat viel weniger Sticker als ich. Ich habe ihr alle meine doppelten geschenkt.<br />

Jetzt hat sie mehr als ich.“ Die an<strong>der</strong>en Kin<strong>der</strong> Fragen nach:<br />

„Wie viel hast du jetzt? Und wie viel Viviane?“<br />

„Wie viel waren doppelt?“ usw.<br />

Jedes Kind kann seinem eigenen Gedanken, seiner eigenen „piste“ nachgehen, z.B.:<br />

„Du Celine, wenn du alle behalten hättest, dann hättest du jetzt...“<br />

Paul Le Bohec und <strong>der</strong> freie Ausdruck im Mathematikunterricht<br />

Was beide Ideen zusammen in Bewegung gesetzt haben, bewegt sich <strong>noch</strong> heute, am Beispiel <strong>der</strong><br />

Mathematik ist es deutlich zu erkennen:<br />

Freinet hatte mit <strong>der</strong> Einführung des freien Ausdruckes Raum geschaffen für die Kopernikanische<br />

Weitsicht in <strong>der</strong> Pädagogik. Freinet kämpfte dafür, dass die Kin<strong>der</strong> so malen, schreiben, Theater spielen<br />

durften wie sie das konnten. In seinen Schriften suchte er vehement diesen Raum zu verteidigen,<br />

was zeigt, dass das Vertrauen in die Entwicklungskraft des Kindes damals in <strong>der</strong> pädagogischen Welt<br />

gleich Null war.<br />

Vor dem Hintergrund dieser seitenlangen Verteidigungen kann man auch verstehen, dass zumindest<br />

die <strong>Zeit</strong>genossen von Freinet und seiner unmittelbaren Nachfolger sehr oft <strong>noch</strong> als Lehrer kräftig an<br />

<strong>der</strong> Überarbeitung dieser freien Texte beteiligt waren, das heißt, dass das Vertrauen in die Kraft des<br />

Kindes sich bei den Lehrern erst <strong>noch</strong> entwickeln musste.<br />

Was Freinet über die Zeichnungen <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> sagte („Jede Zeichnung mit ihren Fehlern und<br />

Möglichkeiten ist eine Stufe in <strong>der</strong> Lernentwicklung“, vgl. Anm. 5), wurde erst viel später auch im muttersprachlichen<br />

Bereich zum Bestandteil des Lese- und Schreibverständnisses, zumindest unter den<br />

deutschen Freinetpädagogen: Selbst Rechtschreibfehler sind eine Stufe <strong>der</strong> Schreibentwicklung, die<br />

man nicht auf Biegen und Brechen korrigieren muss.<br />

72


Doch damals haben die Franzosen den Stein ins Rollen gebracht. Einer <strong>der</strong>jenigen, die die Tragweite des<br />

freien Ausdrucks nicht nur erkannt, son<strong>der</strong>n auch öffentlich gemacht haben, ist Paul Le Bohec. Er und<br />

seine Frau Jeannette kannten Célestin und Elise Freinet und standen mit ihnen in Briefkontakt. In ihrem<br />

Austausch ging es auch um den freien Ausdruck, den Jeannette und Paul in ihren Klassen über viele Jahre<br />

intensiv erfahren hatten, im Malen und Zeichnen, im Schreiben und in <strong>der</strong> Musik wie im Rollenspiel:<br />

„Viele von uns haben auch Erfahrungen mit Kin<strong>der</strong>n, die nichts aufnehmen, weil sie nichts aufnehmen<br />

können. Eines dieser Kin<strong>der</strong> in meinen Klassen wurde zu einem grossen Mathematiker, als es ein wichtiges<br />

emotionales Problem ausgedrückt hatte. Wenn wir Mathematiker, Physiker, Naturwissenschaftler<br />

haben wollen, müssen die Kin<strong>der</strong> die Möglichkeit haben, es zu werden, dazu haben wir den schöpferischen<br />

Ausdruck. Ich erinnere mich an diesen Jean-Paul, <strong>der</strong> einen grossen Sprung beim Lesen geschafft<br />

hat, nachdem er als Klassenclown anerkannt wurde. Ein an<strong>der</strong>er machte Fortschritte in Rechtschreibung,<br />

nachdem er sein psychisches Problem ausgedrückt hatte. Dies alles wissen wir. Und es ist wesentlich. Wir<br />

sollten nicht vergessen, dass wir über die Möglichkeit verfügen, das psychische Gleichgewicht wie<strong>der</strong>zu-<br />

����������������������������������������������������������������<br />

Paul le Bohec war es schließlich, <strong>der</strong> sich fragte, warum in <strong>der</strong> Mathematik nicht auch funktionieren sollte,<br />

was sich sonst so gut bewährt hatte und Lehrern und Kin<strong>der</strong>n gleichermaßen Freude machte. Und so<br />

übertrug er den freien Ausdruck auf die Mathematik.8)<br />

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schützten Raum bietet. Und wie Freinet setzte er auf das Bedürfnis <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>, sich zu entfalten und zu<br />

wachsen und damit auf die Bereitschaft jeden Kindes, sein Wissen, ist es erstmal als solches gewürdigt<br />

und akzeptiert, weiter zu differenzieren und aufmerksam zu werden für die Ideen <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en.<br />

Le Bohec gab den Kin<strong>der</strong>n wie beim freien Zeichen o<strong>der</strong> Schreiben kleine Blocks, auf die sie nach Belieben<br />

������������������������������������������������������������<br />

dann in <strong>der</strong> Gruppe besprochen wurden. Dabei galt die Regel, dass <strong>der</strong> jeweilige Autor erst zum Schluss<br />

gehört wird.<br />

An<strong>der</strong>s als Freinet wählte Le Bohec die Texte selbst aus nach dem Prinzip, jedes Kind muss regelmäßig<br />

einen mathematischen Text vorstellen dürfen.<br />

In Le Bohecs Haltung gegenüber den mathematischen Kreationen <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> ist Freinets Arbeit mit dem<br />

freien Ausdruck deutlich wie<strong>der</strong>zuerkennen. Neben <strong>der</strong> gegenseitigen Achtung, dem Respekt des Lehrers<br />

vor <strong>der</strong> Schöpfung des Kindes, taucht <strong>noch</strong> etwas auf, das Freinet sehr wichtig war: Man kann die Texte<br />

als Hinweise verstehen für das, was das Kind „gerade in Arbeit hat“, und dem Raum geben.<br />

Genau das tat Paul le Bohec, indem er den Kin<strong>der</strong>n Gelegenheit gab, über ihre Kreationen gemeinsam<br />

zu sprechen (da wurde nicht nur Mathematisches besprochen, da wurde nicht nur gesprochen, son<strong>der</strong>n<br />

auch gelacht) und daraus Mathematik zu entwickeln.<br />

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<strong>noch</strong> so banal zu sein von Bedeutung ist. Auch <strong>der</strong> Gesprächsbeitrag von jedem Kind , auch von einem<br />

„Störer“ o<strong>der</strong> von einem „Clown“, ist wichtig für die Gruppe und die Entwicklung <strong>der</strong> Mathematik.<br />

73


���������������������������<br />

Bereits vor 30 Jahren (1966) erschienen die ersten Artikel von Paul Le Bohec im „Educateur“, <strong>der</strong> französischen<br />

Freinetzeitung. Damals kam gleichzeitig eine Reform von oben, nämlich die <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen<br />

Mathematik, eine Reform die wenig an <strong>der</strong> Basis bewegte, aber eine kleine Revolution in Mathematik<br />

unmöglich machte, obwohl Le Bohec die For<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Reform (Mathematik statt Rechenunterricht)<br />

längst verwirklicht hatte. Aber das rebellische Kind wurde mit dem Badewasser Mengenlehre ausgeschüttet.<br />

So dauerte es <strong>noch</strong> einige Jahre bis Le Bohec einen neuen Anlauf für seine kleine Revolution<br />

����������������������������������������������������������<br />

Die Palastrevolution des freien Ausdrucks wird im Mathematikunterricht beson<strong>der</strong>s deutlich:<br />

Während wir im musischen Bereich uns einfach freuen können, an den „niedlichen“ Formen kindlichen<br />

Ausdrucks, im muttersprachlichen Bereich wohlwollend über unbeholfene Sätze lächeln können, sind<br />

wir in Mathematik mehr gefor<strong>der</strong>t, das kindliche Denken zu verstehen, uns wirklich auf die Ebene <strong>der</strong><br />

Kin<strong>der</strong> „herab“ zulassen. Und wir erkennen als Lehrer, wie schwierig es manchmal ist, den Gedanken<br />

eines an<strong>der</strong>en zu folgen, was wir aber im Unterricht täglich von den Kin<strong>der</strong>n verlangen.<br />

74


Le Bohec ist zwar davon überzeugt, dass wir diese Leistung nicht je<strong>der</strong>zeit selbst vollbringen müssen,<br />

weit viel von dieser Arbeit uns durch die Gruppe abgenommen wird, den<strong>noch</strong> müssen wir aufmerksam<br />

bleiben und die Mathematik erkennen, die manchmal verkleidet daherkommt. Der freie Ausdruck in<br />

Mathematik, und was sich daraus entwickelt, zeigt uns beson<strong>der</strong>s deutlich, was von uns gefor<strong>der</strong>t ist:<br />

die Bereitschaft zu verstehen, die in dem Vertrauen begründet liegt, dass die Kin<strong>der</strong> uns Wichtiges zu<br />

sagen haben, egal wie es daherkommt und unabhängig davon, ob wir Lehrer ihnen die Welt schon<br />

erklärt laben.<br />

In diesem Licht können wir uns jetzt auch <strong>der</strong> Fortsetzung von Szene 3 und Beispielen aus meinem<br />

Mathematikunterricht widmen:<br />

Vom Lob des Fehlers im Mathematikunterricht<br />

Nachdem Nuray und einige an<strong>der</strong>e Kin<strong>der</strong> ihr Unbehagen mit <strong>der</strong> Gleichung 3+1=2 geäußert hatten,<br />

erkannten an<strong>der</strong>e Kin<strong>der</strong> mit Hilfe Patricks Zeichnung, was er damit ausdrücken wollte:<br />

„3 Fische sind da, da kommt ein Hai dazu (3+1) und schwupp sind es nur <strong>noch</strong> 2 Fische.“<br />

Eine heftige Diskussion brach aus, in <strong>der</strong>en Verlauf mir deutlich wurde, dass mindestens ein Drittel <strong>der</strong><br />

Kin<strong>der</strong> Patricks Schreibweise sofort akzeptierte und einmal zugelassen vehement verteidigte.<br />

3+1=2 entsprach ihrer mathematischen Schreibweise <strong>der</strong> Fischverschlingung.<br />

An<strong>der</strong>e Kin<strong>der</strong> erkannten, dass <strong>der</strong> Hai ja auch ein Fisch ist und somit eine sprachliche „Unklarheit“ in<br />

dem Problem „drinsteckte“, die ihr Pendant in <strong>der</strong> Mathematik hat: Ist <strong>der</strong> Hai Element <strong>der</strong> Menge <strong>der</strong><br />

Fische? Ich hatte Mühe mitzuschreiben und konnte nur einen kleinen Teil festhalten. Beson<strong>der</strong>s am<br />

Schluss ging es <strong>noch</strong>mals heftig darum, ob <strong>der</strong> Hai ein Fisch ist, und ob Fische sich denn gegenseitig<br />

fressen....<br />

In den nächsten Tagen tauchten vielfache Gleichungen in den Heften <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> auf, die zeigten, wie<br />

die einzelnen das Problem für sich weiterverarbeiteten.<br />

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verunsichert bei meinen Versuchen, zumindest für mich die immer komplizierteren Geschichten <strong>der</strong><br />

Kin<strong>der</strong> und die Schulmathematik in Übereinstimmung zu bringen.<br />

Gleichzeitig faszinierte mich, wie die Kin<strong>der</strong>, ausgehend von Patricks Geschichte, versuchten, ihre<br />

eigenen Geschichten in Mathematik zu fassen. Die Abstraktionsleistung wurde dabei von den Kin<strong>der</strong>n<br />

immer wie<strong>der</strong> und immer wie<strong>der</strong> neu vollzogen, an den Geschichten <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en und manchmal<br />

schmerzlich an <strong>der</strong> eigenen (siehe Protokolle). Dabei wurden neue Fehler gemacht und daraus wie<strong>der</strong><br />

neue Inhalte erarbeitet, zum Beispiel die negativen Zahlen. Es wurde mit <strong>der</strong> Gleichungsschreibweise<br />

gerungen, und zumindest ich erkannte, dass die übliche Schreibweise in Gleichungsform oft eher hin<strong>der</strong>lich<br />

ist.<br />

75


Verkürztes Protokoll zu Patricks Rechengeschichte<br />

Wie kann es denn sein, 3 + l ist doch 4, nicht 2?<br />

Ich glaube Patrick meint minus und nicht plus.<br />

Einen hat <strong>der</strong> Hai gefressen und fressen bedeutet minus.<br />

Aber Patrick hat doch gemeint: es waren 3 Fische.<br />

Da kam ein Hai (also +1) und schwupp, waren nur <strong>noch</strong> 2 Fische da.<br />

Ja, das ist so plus und minus zusammengemischt, irgendwie...<br />

Ich glaube, es müsste heißen, 3+1=4-2=2.<br />

O<strong>der</strong> 3 Fische und l Hai = 4 Fische, aber <strong>der</strong> Hai ist kein Fisch.<br />

�����������������������<br />

Nein, ein Säugetier.<br />

Wenn <strong>der</strong> Hai kein Fisch ist, muss es heißen 3-3=0<br />

O<strong>der</strong>, wenn er nur einen aufgefressen hat: 3-1=2 wenn <strong>der</strong> Hai ein Fisch ist,<br />

muss es heißen: 3+1=4<br />

Auszug aus dem Protokoll vom 14.12.95<br />

Ich will <strong>noch</strong> die Geschichte erzählen, die ich mir zu <strong>der</strong> Gleichung ausgedacht habe: Es waren<br />

einmal 8 Schmetterlinge. Ein König, <strong>der</strong> Schmetterlinge sammelt, hat einen Diener geschickt, dass<br />

er Schmetterlinge tötet für ihn. Der Diener hat also 5 getötet Da sind nur <strong>noch</strong> 3 übriggeblieben.<br />

In <strong>der</strong> Gleichung ist von <strong>der</strong> ganzen schönen Geschichte von Svea ja nur ganz wenig drin. Der<br />

König und sein Diener kommen da ja auch nicht vor.<br />

Nur die Schmetterlinge -<br />

�����������������������������������������������<br />

Wer sich auf <strong>der</strong>artige Faszination und Verunsicherung ebenfalls probeweise einlassen will, dem schla-<br />

������������������������������������������������������������<br />

Lehrer und einmal als Forscher.<br />

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�����������������������������������������������������������<br />

zunächst aus seinem Unterricht verbannt hat.)<br />

Der „Fehler“ von Patrick wurde also in diesem Gespräch nicht einfach korrigiert, we<strong>der</strong> durch die<br />

Lehrerin <strong>noch</strong> durch die Mitschüler. Er wurde zur Initialzündung eines langen Gesprächs in schriftlicher<br />

und mündlicher Form.<br />

In diesen Gesprächen wurden nicht nur Voraussetzungen für mathematisches Denken geschaffen<br />

76


(z.B. Abstraktionsfähigkeit) o<strong>der</strong> neue Inhalte erarbeitet, son<strong>der</strong>n auch die soziale Dimension des<br />

Lernens erhielt den Platz, <strong>der</strong> ihr in Mathematik gebührt. Hans Werner Heymann schreibt in seiner<br />

Habilitationsschrift „Allgemeinbildung und Mathematik“:<br />

„Die allgemeinbildende Qualität des Mathematikunterrichts ist nicht nur vom Stoff abhängig, son<strong>der</strong>n von<br />

<strong>der</strong> Art wie im Unterricht mit dem Stoff und miteinan<strong>der</strong> umgegangen wird, kurz von <strong>der</strong> Unterrichtskultur.<br />

Es ist eine Unterrichtskultur zu entwickeln, in <strong>der</strong> Raum ist für die subjektiven Sichtweisen <strong>der</strong> Schüler,<br />

für Umwege, produktive Fehler, alternative Deutungen, Ideenaustausch, spielerischen Umgang mit<br />

Mathematik, Fragen nach Sinn und Bedeutung und Raum für eigenverantwortliches Tun.“ 9)<br />

Ich bin ausgegangen von 3 Schul-Szenen. In je<strong>der</strong> von ihnen sind 3 Aspekte des Lernens angedeutet:<br />

die Wissensvermittlung, <strong>der</strong> Umgang mit Fehlern und die Bedeutung <strong>der</strong> Gruppe.<br />

Vergleichen wir jetzt die reale Szene 3, wie sie mit Hilfe meiner Protokolle vorstellbar ist, mit <strong>der</strong> realen<br />

Szene l, die je<strong>der</strong> von uns zur Genüge kennt, so haben sich bei allen drei Aspekten die Haltungen grundlegend<br />

geän<strong>der</strong>t. Der Lehrer stülpt nicht mehr das Wissen über, son<strong>der</strong>n hilft dem Kind, es wachsen zu<br />

lassen. Fehler sind keine Verfehlungen, die zu Verurteilungen führen, son<strong>der</strong>n kreative Elemente, die<br />

in <strong>der</strong> Entwicklung dazugehören und sie för<strong>der</strong>n. Die Gruppe ist nicht Objekt <strong>der</strong><br />

77


Auszug aus dem Gespräch vom 10.1.96<br />

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Katzen essen ja manchmal Vögel, das weiß ich von meiner Freundin, die eine Katze hat, vielleicht<br />

��������������������������������������������������������������<br />

O<strong>der</strong> die Katze hat die Eulen getötet und zu ihren Jungen geschleppt.<br />

O<strong>der</strong> die Katze hat die Eulen verjagt.<br />

Das ist wie<strong>der</strong> so ein Beispiel, wo man ganz viele Geschichten dazu erzählen kann, aber in <strong>der</strong><br />

Mathematik sind die nicht wichtig.<br />

Man kann da eine Katze hinmalen und in den Bauch minus 5 Eulen schreiben, dann stimmt die<br />

Gleichung.<br />

Belehrung und Quelle von Störungen, son<strong>der</strong>n schöpft aus ihrem Reichtum und entwickelt gemeinsam.<br />

Eigentlich hatte ich vor, an dieser Stelle zu den genannten drei Aspekten neben Heymann <strong>noch</strong><br />

weitere kompetente Menschen anzuführen, die aus ihrer Sicht die Anfor<strong>der</strong>ungen an den heutigen<br />

Mathematikunterricht beschreiben. So z.B. den Wissenschaftsjournalisten Reinhard Kahl mit seinen beeindruckenden<br />

Einschätzungen über die verän<strong>der</strong>ten Anfor<strong>der</strong>ungen in Wirtschaft und Gesellschaft.<br />

Ich hatte einige schöne Zitate gesammelt, z. B.:<br />

„Die Schule in <strong>der</strong> keine Fehler gemacht werden dürfen, verhin<strong>der</strong>t Mathematiker und klont Buchhalter“<br />

10) o<strong>der</strong>:<br />

„In <strong>der</strong> Gruppe kann <strong>der</strong> Fehlversuch des einen die Idee des an<strong>der</strong>en zünden. In <strong>der</strong> Gruppe darf man<br />

schwach sein, ohne den Hohn und die Vernichtung des an<strong>der</strong>en zu provozieren. Drei können zusammen<br />

etwas Hervorragendes produzieren, was je<strong>der</strong> einzelne von ihnen nie zustande gebracht hätte“<br />

11)<br />

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������������������������������������������������������������ -<br />

sagt hatte.<br />

78


Das Protokoll dieses Kreises soll meine 4. symbolische Szene sein.<br />

������ ������������������ ������������ ��������� ��������� ������������<br />

Und hinten kommt 45 statt 41 raus.<br />

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Mathematiker, <strong>der</strong> heißt Gauß und <strong>der</strong> hat die Zahlen bis 100 zusammenrechnen wollen, so wie<br />

Isa die Zahlen bis 9 und <strong>der</strong> Mathematiker hat dann einen Trick rausgefunden!<br />

Alle Zahlen von l bis 100 zusammen, das gibt vielleicht 199 .... ach nein doch nicht!<br />

�����������������������������������������������������������<br />

Ich weiß, wie man das ganz leicht machen könnte: l + 9 = 10, 8+2=10, 7 + 3 = 10 und immer so<br />

weiter 6+4 <strong>noch</strong> und dann bleibt 5 übrig. Das sind 40 + 5 = 45.<br />

Oh das geht ja ganz leicht!<br />

Ganz schnell!<br />

So mach ich das bis 100!<br />

Ich mach das bis 1000!<br />

L.: Ja <strong>der</strong> Gauß hat das auch so gemacht bis 100! Stimmt das? Und wir haben das auch herausgefunden?<br />

Da müssen wir Isabell danke sagen, dass sie das erfunden hat, auch mit den Fehlern, denn so<br />

haben wir das rausgefunden!<br />

Diese Szene steht für den Blick in die Zukunft, für den Weg, <strong>der</strong> weiterwachsen wird, in dem wir ihn<br />

gemeinsam mit den Kin<strong>der</strong>n, im ständigen Dialog mit ihnen, mit allen Abkürzungen, Irr- und Umwegen<br />

gehen.<br />

79


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Freinet de l‘École Mo<strong>der</strong>ne“, Pa<strong>der</strong>born 1981, S.28<br />

������������������������������������������������������������������������������������������<br />

(Pseudonym von Christel Manske), Weinheim 1991, S. 17, entnommen.<br />

3) C. Freinet, Pädagogische Texte, hrsg. von H. Boehncke und Chr. Hennig/ Reinbeck bei Hamburg 1980, S.84<br />

4) C. Freinet, La methode naturelle, Bd. 2 l‘apprentissage du dessin, Delachaux et Niestle, Neuchätal (Schweiz) 1968, S. 87.<br />

5) C. Freinet, Die mo<strong>der</strong>ne französische Schule. Übersetzt und besorgt von Hans Jörg, Pa<strong>der</strong>born 1979, S.ll<br />

6) „Freinet-Pädagogik - Die Praktiker haben das Wort“, in: Hellmich, Achim/Teigeler, Peter: Montessori-, Freinet-, Waldorfpädagogik, Weinheim 1992, S.<br />

154<br />

7) aus einem unveröffentlichten Brief von Paul Le Bohec.<br />

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9) Hans Werner Heymann, Allgemeinbildung und Mathematik, <strong>noch</strong> unveröffentlichte Habilitationsschrift, Bielefeld 1995, erscheint vorraus. Frühjahr 1996<br />

im Beitz-Verlag.<br />

10) Reinhard Kahl, Expeditionen zu Übergängen von <strong>der</strong> belehrten zur lernenden Gesellschaft, in: Pädagogik Nr. 12/1993, S. 44 ff.<br />

11) Ebd.<br />

80


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81


C. Freinet<br />

Der Beruf prägt<br />

„Der Beruf prägt einen“, brummelte <strong>der</strong> alte Schäfer und entfernte die Zweige vom Schaft seines<br />

Stabes. „Schau, da unten am Ausgang des Dorfes, <strong>der</strong> da auf <strong>der</strong> grauen Linie des Weges leichtfüßig<br />

dahingeht, das ist <strong>der</strong> Schuster. Und <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e da, vor dem Schuppen, das ist <strong>der</strong> Gastwirt“.<br />

Ein Schäfer geht nicht wie ein Schuster und denkt nicht wie ein Gastwirt. Das ist wie bei den Schafen,<br />

die ihren Weg markieren, indem sie ihn wie<strong>der</strong> und wie<strong>der</strong> gehen. Die täglichen Handlungen, die Luft,<br />

die wir atmen, das Licht o<strong>der</strong> die Kälte, die uns prägen, die Anstrengung des Rückens, des Kopfes<br />

o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Arme, das sind so viele Linien, die sich in die Beson<strong>der</strong>heit unserer Haltung hineinschreiben.<br />

Derjenige, <strong>der</strong> bei <strong>der</strong> aufgehenden Sonne so singen kann, dass die Echos dröhnen, hat nicht<br />

den Blick des Arbeiters, <strong>der</strong>, wie festgeschmiedet, an seinem Arbeitsplatz mit gesenktem Kopf die<br />

eintönigen Schläge seines Hammers zählt. Und ihr Lehrer seid mehr als an<strong>der</strong>e durch die formellen<br />

Anfor<strong>der</strong>ungen eures Berufes geprägt. Jede Aufgabe, die ihr korrigiert, je<strong>der</strong> Strich mit roter Tinte,<br />

jede Lektion, die ihr wie<strong>der</strong>holt, je<strong>der</strong> Schlag mit dem Lineal auf den Tisch, jede großzügig verteilte<br />

Strafe gräbt in euch ihre unauslöschliche Spur. Verlasst die Kanzel und nehmt das Werkzeug. Richtet<br />

die Setzrahmen her und bereitet den Druck vor, begeistert euch an jedem Erfolg; seid alles zugleich,<br />

Arbeiter, Gärtner, Techniker, Spielleiter und Dichter, lernt wie<strong>der</strong> zu lachen, zu leben und zu fühlen. Ihr<br />

werdet neue Menschen sein. Am Glanz <strong>der</strong> Augen misst man das Maß <strong>der</strong> Freiheit und die Tiefe <strong>der</strong><br />

Kultur bei einem guten Arbeiter, <strong>der</strong> es verdient, als guter Erzieher gekennzeichnet zu werden.“<br />

Müde von den Kirschen *<br />

von Christian Schreger<br />

Caput.I.<br />

correctio, onis, f. (corrigo) l. Verbesserung occ. Zweckzuweisung 2. (rhet.) Berichtigung<br />

Die Kin<strong>der</strong> haben uns etwas zu sagen.<br />

Unsere Aufgabe ist es zu versuchen, Kin<strong>der</strong> und ihre Sprache zu verstehen nicht umgekehrt. Niemand<br />

kann ernsthaft dem Kind die Verantwortung zuschieben, wenn ein Erwachsener es nicht versteht.<br />

Auch die burschikosesten Lehrerinnen, die ihre kleinen Dummerln ja eh lieb haben und soweit es ihre<br />

Geduld erlaubt auch brabbeln lassen, sind schnell entlarvt, wenn man einmal einen kurzen Blick in die<br />

Kulissen ihrer Pädagogischen Theater riskiert. Lei<strong>der</strong> sind die, die das am meisten tun, auch zugleich<br />

die Opfer <strong>der</strong> fröhlichen, blitzgrünen Krokodile und des süßen knüppelbewehrten Kasperls, <strong>der</strong> über<br />

dem faden Lesebuch schaukelnd behauptet, wie gescheit alle sein werden, wenn sie diese lustigen<br />

Seiten erst einmal gelesen hätten. Hinters Licht führen kann man den leicht, <strong>der</strong> neugierig auf jedes<br />

Licht zuläuft.<br />

82


Die Sicht <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> verbessert unseren eigenen Blick. Dieser Verbesserung sich zu stellen, bedarf es<br />

����������������������������������������������������������<br />

bei <strong>der</strong> Hand sind, wie sie langweilig werden.<br />

Lassen wir uns auf die Anmaßung <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>sprache ein Kin<strong>der</strong> nehmen ein an<strong>der</strong>es Maß. Mit keinen<br />

Mitteln lässt es sich beweisen, dass ein unübliches Maß nicht genauso gut ist, wie die geltenden<br />

���������������������������������������������������������������<br />

Der Lehrer korrigiert. Der Lehrer weiß, wie es richtig ist. Der Lehrer hat recht, wenn er das Kind verbes-<br />

��������������������������������������������������������������<br />

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sollte, wenn es könnte, wie er wollte.<br />

Es zeugt zumindest vom Verlust jeglicher Neugier und Phantasie, wenn einem zu den meisten<br />

����������������������������������������������������������� -<br />

tigt wird; was damit berichtet wird, ist wesentlich klarer zu erkennen: Du hast schlecht gearbeitet. Du<br />

hast dich nicht bemüht. Du bist nicht, wie ich will.<br />

Caput.II.<br />

corrector, oris, m. (corrigo) Verbesserter: legum L; occ. Splitterrichter, Hofmeister<br />

Aber <strong>der</strong> Rotstift erzählt <strong>noch</strong> viel mehr. Er erzählt davon, dass nur einer recht haben kann. Er behauptet,<br />

dass es für alles genaue Regeln gibt und dass sich je<strong>der</strong> ins gleiche Maß zu zwängen hat.<br />

Er macht sich auch lustig darüber, dass manche diese Regeln nicht kennen: Das sind die Dummen.<br />

Der Rotstift ist ehrgeizig: Ihm, dem Verbesserer, entgeht nichts, was die Glätte <strong>der</strong> Normformen überragt.<br />

In allen Winkeln sucht er die Fehler, fährt in sie hinein wie <strong>der</strong> Hund in die Schar Hühner.<br />

Der Rotstift for<strong>der</strong>t auf: Werde so wie ich, dann hast auch Du recht: Die recht haben, das sind die<br />

Guten.<br />

Kin<strong>der</strong> lieben Rotstifte. Ihnen wohnt die Illusion <strong>der</strong> Macht inne: „Du sollst nicht mit Rot unterstreichen,<br />

das ist meine Farbe!“ Der Lehrer entscheidet als Richter über gut und schlecht, und <strong>der</strong> Rotstift ist sein<br />

Hofmeister.<br />

83


Doch in Wahrheit entscheidet <strong>der</strong> Lehrer nur selten selbst, meist plappert er nur nach:<br />

Was im Lehrbuch steht, was die Lehrplankommission verordnet hat, was <strong>der</strong> Inspektor wünscht. Damit<br />

steht er im Gegensatz zu den Kin<strong>der</strong>n, die kreativ mit <strong>der</strong> Sprache arbeiten, die ständig die sprachliche<br />

��������������������������������������������������������������<br />

Ihre Sprache ist ein Abenteuer, sie forschen darin und damit.<br />

Dieses Abenteuer interessiert den Richter und seinen Rotstift wenig: Er hat besseres zu tun, er verbessert.<br />

�������������������������������������������������������������<br />

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����������������������������������������������������������������<br />

wir da hin?<br />

Wer weiß!<br />

Jedenfalls kommen wir dorthin, wo das Kind in einer Situation, in <strong>der</strong> es am meisten <strong>der</strong> Hilfe und auch<br />

<strong>der</strong> Erklärungen bedürfte, vor einer feinen roten Linie sitzt die ihm aus dem Heft entgegengrinst.<br />

Das klingt alles sehr dramatisch.<br />

Ist es auch.<br />

Caput.III.<br />

cor-rigo 3. rexi, rectus (rego) l. gerade richten: ceras glätten V, cursum än<strong>der</strong>n L. met. 2. berichtigen,<br />

bessern, verbessern: delicata gutmachen S, moram cursu wie<strong>der</strong> einbringen 0. 3. zurechtweisen: ipsa<br />

re corrigi eines Besseren belehrt werden S.<br />

Sprache und Schrift, beson<strong>der</strong>s <strong>der</strong> Erwachsenen, sind das abstrakte Ende einer langen Kette von<br />

�����������������������������������������������������������<br />

und Erfahrungen in einer Form, die allgemeiner und unpersönlicher als <strong>der</strong> Freie Ausdruck bleibt. Ihr<br />

Ziel ist, von allen benutzbar zu sein.<br />

Diese allgemeine Schulsprache ist damit schon ihrem Wesen nach eine völlig an<strong>der</strong>e als die direkte<br />

und ungeglättete Sprache <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>.<br />

Ihre Unangepasstheit macht die Kin<strong>der</strong>sprache mühsam und aufwendig. Sie nennt Dinge beim Namen<br />

o<strong>der</strong> benennt sie einfach, wenn sie keinen Namen dafür kennt. Sie senkt den Blick nicht scheinheilig,<br />

weil sie <strong>der</strong> Neugier folgt. Sie schafft sich hier und jetzt, was sie gerade benötigt, und nimmt keine<br />

Rücksicht auf Traditionen ihrer Intensität, verbietet sich jede Korrektur. Sie ist wahrhaftig, archaisch<br />

und anarchistisch.<br />

Dadurch erregt sie Anstoß.<br />

An<strong>der</strong>s die normierte Schulsprache:<br />

Der Ekel angesichts <strong>der</strong> blutenden Kadaver in den Schlachthäusern, die an den Fleischerhaken die<br />

FließbandStraßen zur Zerlegung entlang stottern, kommt erst gar nicht auf beim Griff ins Kühlregal<br />

84


nach <strong>der</strong> cellophanverpackten, mit Ablaufdatum versehenen Styropor-Fleischtasse voller appetitlicher<br />

„Holzfäller-Steaks“.<br />

Je abstrakter und künstlicher Wirklichkeit dargestellt wird, desto leichter lässt sie sich ertragen, desto<br />

leichter lässt sich‘s distanziert bleiben.<br />

Die Schulsprache existiert erst durch und in ihrem überprüfbaren Reglement.<br />

Die Schulsprache lässt sich nicht mit dem Leben ein, sie steht wie ein Filter zwischen Welt und Kind.<br />

Durch lässt sie nur, was sich ihrer Maschengröße, ihrer Syntax und Grammatik anzupassen vermag.<br />

Der Rest bleibt ausgesperrt.<br />

Es ist wichtig, das festzuhalten: Wir haben es mit zwei gänzlich verschiedenen Sprachen zu tun.<br />

Wer diesen Unterschied nicht anerkennt, <strong>der</strong> legt <strong>der</strong> Sprache <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> falsches Maß an, und macht<br />

damit die Korrektur zum Instrument ihrer Diskriminierung und Unterdrückung:<br />

Der Lehrer korrigiert:<br />

Er richtet gerade, was erst im Stadium des Entdecktwerdens ist, er än<strong>der</strong>t, was <strong>noch</strong> zu unklar ist, um<br />

bereits Form (be)halten zu können, er for<strong>der</strong>t ein, wo anbieten am Platz wäre. Dabei geht etwas verloren,<br />

bevor es <strong>noch</strong> sichtbar und wesenhaft geworden ist.<br />

Die Sprache des Korrigierers aber wird zum Mittel <strong>der</strong> Macht, <strong>der</strong> man sich am besten und eindeutigsten<br />

dadurch entzieht, indem man stumm bleibt o<strong>der</strong> verstummt.<br />

Das Kind irritiert:<br />

Seine Sprache wählt sich provokant ihre eigene Ordnung. Diese Herausfor<strong>der</strong>ung bleibt nicht unerwi<strong>der</strong>t:<br />

Die Sprache <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> bleibt unerhört. Die Sprache <strong>der</strong> Lehrer belehrt sie eines Besseren.<br />

Caput.IV.<br />

rego 3. rexi, rectus l. richten, lenken^ leiten: naves velis, davum das Steuer 0, vestigiasslo V; met<br />

������������������������������������������������������<br />

regieren, beherrschen, verwalten, führen: rem p., cohortes kommandieren T; abs. Obsequium regentis<br />

gegen den Regenten T.<br />

Die Schulklassen sind voll von stummen Kin<strong>der</strong>n.<br />

„Wenn alles schläft und einer spricht, so nennt man dieses Unterricht.“<br />

Würden wirklich alle schlafen, es wäre nicht so schlimm.<br />

Tatsächlich aber lernen die meisten ziemlich wi<strong>der</strong>standslos das ihnen wie<strong>der</strong> und nie<strong>der</strong> eingetrichterte<br />

ABC <strong>der</strong> Selbstaufgabe:<br />

A wie anpassen, B wie brav sein, C wie gehorchen.<br />

Gutmachen wird dem Unterdrücken gleichgesetzt, und zwar dem Unterdrücken <strong>der</strong> Unmittelbarkeit,<br />

dem Unterdrücken <strong>der</strong> Lust, dem Unterdrücken <strong>der</strong> Freude zu sprechen, sich in <strong>der</strong> eigenen und ei-<br />

85


gentümlichen Weise auszudrücken, dem an<strong>der</strong>en auch in <strong>der</strong> Sprache zu begegnen.<br />

Die Schulsprache sprechen heißt, den Weg des geringsten Wi<strong>der</strong>standes gehen.<br />

Die eigene Sprache sprechen dürfen heißt, auch den an<strong>der</strong>en die seine sprechen lassen. Wenn je<strong>der</strong><br />

seine Sprache behalten darf, schließt niemand den An<strong>der</strong>ssprachigen aus, im Gegenteil: Er wird zur<br />

Bereicherung.<br />

Lei<strong>der</strong> sind die Schulen voll von Kin<strong>der</strong>n, die ihre eigene Sprache an <strong>der</strong> Klassentüre abgeben müssen,<br />

um nicht ausgegrenzt zu werden. Um nicht ständig zurechtgewiesen zu werden, verstümmeln sie<br />

ihre Ausdrucksfähigkeiten.<br />

Sie ziehen die Grenze lieber in sich selbst.<br />

Der Lehrer richtet, er lenkt und leitet:<br />

Der Lehrer hält das Steuer fest in <strong>der</strong> Hand. Der Lehrer, <strong>der</strong> das Steuer fest in <strong>der</strong> Hand hält, ist ein<br />

guter Lehrer.<br />

Der gute Lehrer beherrscht, verwaltet,, und führt, er regiert über die Eigenheit des Kindes, dessen<br />

Neigungen er in die rechten Bahnen weist:<br />

Das zurechtgewiesene Kind ist ein gutes Kind. Das ungebändigte Kind war immer schon verdächtig:<br />

Excursio<br />

Wir heben folgende Fälle hervor:<br />

Neigung zum Weinen,<br />

" zum Erschrecken,<br />

„ zum sich Fürchten,<br />

„ zu schnellem Aufbrausen,<br />

„ zum Zorn,<br />

„ zum Jähzorn,<br />

„ zum raschen Zuschlagen,<br />

„ zu hastigem Betragen,<br />

„ zum Lachen und zur Ausgelassenheit<br />

„ zur Grausamkeit,<br />

„ zu Phantasmen,<br />

„ zu Illusionen,<br />

„ zu Hallucinationen,<br />

„ zu witzigen und drolligen Einfällen,<br />

„ zur Zerstreutheit,<br />

„ zum Täuschen und Hintergehen,<br />

„ zur Einsamkeit, zu verstecktem Wesen, zum Verschweigen, Verhehlen,<br />

„ zum Kritisieren,<br />

„ zum Verleumden und Verdächtigen An<strong>der</strong>er,<br />

86


„ zum Neidischsein,<br />

„ zum Necken,<br />

„ zu dummen Streichen,<br />

„ zum Anfassen frem<strong>der</strong> Gegenstände, mit ihnen sich zu befassen, sie zu untersuchen, zu<br />

Versuchen und zu Spielereien zu benutzen, u.s.w.<br />

Positive Benennungen hierher gehöriger Fehler sind:<br />

Naseweisheit.<br />

Närrisches Betragen.<br />

Naschen.<br />

Neugierde.<br />

Zitat aus: Adoll ‚ma Strümpell (1853 1925): Die Kindheit als Krankheit, 18%<br />

Caput.V.<br />

kor-rekt; -este ; kor-rek-ter-wei-se;Kor-rekt-heit, die;<br />

-; Kor-rek-tion, die; -, -en (veraltet für [Verbesserung; Regelung); kor-rek-tiv (veraltet für bessernd;<br />

zurechtweisend);<br />

Kor-rek-tiv, das; -s, -e [...v] (Besserungs-, Ausgleichsmittel);<br />

Korrek-tor, <strong>der</strong>; -s, ...oren (Berichtiger von Manuskripten od. Druckauszügen); Ko-rekto-rat, das; -(e(s,<br />

-e (Abteilung <strong>der</strong> Korrektoren); Kor-rek-to-rin; Kor-rek-tur, die; -, -en (Berichtigung (des Schriftsatzes<br />

;Verbesserung)�� Kor-rek-tur-ab-zug, ...bo-gen, ...fah-ne, ...le-sen (das; -s), ...vor-schrif-ten (Plur.),<br />

...zei-chen<br />

Die Korrektur darf keine Technik des Herrschens und Beherrschens sein, im Gegenteil: Sie muss dienen<br />

und sich unterordnen. Denn Korrektur ist nicht einfach <strong>der</strong> kleine chirurgische Eingriff in die Anatomie<br />

von Wort und Text, sie macht nicht halt vor den einzelnen fehlerhaft geschriebenen Buchstaben. Sie<br />

greift in den Sinn ein und verän<strong>der</strong>t ihn.<br />

Die Kin<strong>der</strong>sprache kann nicht ohne Schaden korrigiert werden. Ihre Lebendigkeit würde starren Regeln<br />

zum Opfer fallen, das Tasten und Suchen <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> nach Ausdrucksmöglichkeiten, ihre Wortspiele<br />

und Neuinterpretationen von Begriffen hätten darin keinen Raum.<br />

Kin<strong>der</strong> lernen nicht durch Korrektur, sie lernen durch das Beispiel.<br />

Die Schulsprache kann daher nur als erste Fremdsprache erlernt werden.<br />

Sie hat feste Regeln und Gesetze, sie ist somit korrigierbar.<br />

Diese Schulsprache maßt sich an, mehr Sinn und Wert zu haben als die Kin<strong>der</strong>sprache und redet damit<br />

einer Geisteshaltung das Wort, die mit autoritärem Gepolter den einzelnen nur als kleines Rädchen<br />

in einer riesigen Maschinerie akzeptieren kann, das möglichst klaglos und wi<strong>der</strong>standsfrei den zugeteilten<br />

Dienst tut.<br />

87


Sie maßt sich damit eine Position an, die ihr nicht zusteht.<br />

Soll die Schulsprache und mit ihr die Korrektur Wert haben, muss sie etwas einbringen in die Eigensprache<br />

<strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>, etwas, das vorher <strong>noch</strong> nicht vorhanden war: Sie muss also Ergänzung sein.<br />

Sie hat dann Sinn, wenn sie etwas wie<strong>der</strong>(ein)bringt, das zuvor verloren o<strong>der</strong> verschüttet war:<br />

Verständlichkeit, Klarheit, Genauigkeit.<br />

Sie kann nur unterstützen, und zwar Vorhandenes.<br />

Doch meist wird das, was vorhanden ist, im Korrekturverfahren geopfert: Was hätte ein gewissenhaft<br />

nach schulischen Erwägungen korrigieren<strong>der</strong> Lehrer wohl aus folgendem Text gemacht:<br />

Es war einmal ein kleiner Baum, <strong>der</strong> Baum hieß Michi. Der Baum war sehr<br />

müde von den Kirschen.<br />

Kin<strong>der</strong> wollen lernen.<br />

Sie wollen wissen, ob das, was sie geschrieben haben, richtig ist.<br />

Sie haben Spaß am Rhythmus <strong>der</strong> reglementierten Sprache, sie betrachten die Symmetrie und die<br />

korrekte, stereotype Wie<strong>der</strong>holung <strong>der</strong> neuen Schriftzeichen als geometrisches Spiel.<br />

Sie bessern bereitwillig nach, was ihnen nicht gelungen ist.<br />

Die Kin<strong>der</strong> <strong>der</strong> l. Klassen wissen, dass ihre Striche nicht so perfekt gerade sind wie die im Schreiblehrbuch.<br />

Die Kin<strong>der</strong> <strong>der</strong> 4. Klassen wissen, dass sie weniger Stoff beherrschen als <strong>der</strong> mit seinen wissenschaftlichen<br />

Kenntnissen prahlende Lehrer.<br />

Es ist daher nicht notwendig, ihnen diese Tatsachen dauernd vorzuhalten.<br />

Sie betrachten die Schulsprache als zusätzliches Angebot, dessen Anwendung in ganz bestimmten<br />

Bereichen liegt.<br />

Korrektur kann nur eine Neuinterpretation des Originals sein, die ihm bestenfalls gleichwertig ist. Sie<br />

muss mehr im Sinne von Mit-herrschen als von Vor-herrschen gesehen werden.<br />

In <strong>der</strong> Erwachsenenwelt vereinfacht Korrektur durch ihre Normierung den Prozess <strong>der</strong> Verständigung,<br />

sie reduziert aber auch die Vielfalt des Ausdrucks und führt zu sprachlicher Verarmung.<br />

Für die Kin<strong>der</strong> hat eine solche Normierung keine Bedeutung, sie brauchen sie nicht.<br />

Die Sprache <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> geht auf Entdeckungsreise Und probiert vieles aus.<br />

Die Sprache <strong>der</strong> Schule ist belehrend und for<strong>der</strong>t ein.<br />

Opfer <strong>der</strong> Korrektur werden beide. Korrigieren<strong>der</strong> und Korrigierter: Beide müssen sich beugen, wenn<br />

auch auf <strong>der</strong> jeweils an<strong>der</strong>en Seite des Klassenzimmers.<br />

88


Conclusio<br />

Lasst die Rotstifte liegen!<br />

Erzählt den Kin<strong>der</strong>n, was Ihr m ihren Geschichten gelesen und entdeckt habt und fragt nach, ob sie es<br />

auch so gemeint hatten nicht nur <strong>der</strong> Unterricht muss differenziert und individuell sein!<br />

Gebt ihnen Raum und <strong>Zeit</strong> zum Erzählen, zum Schreiben und Herumprobieren mit den Wörtern. Greift<br />

erst dann helfend ein, wenn sie Euch darum bitten.<br />

Verbessert, indem Ihr die Geschichten neu schreibt! Redet Euch nicht aus auf die viele Arbeit die <strong>Zeit</strong>,<br />

in <strong>der</strong> Euer Rotstift sonst die Texte entstellt, ist verlorene <strong>Zeit</strong>!<br />

Seid geduldig und habt keine Angst, die Kin<strong>der</strong> würden nichts lernen:<br />

Sie lernen nur nicht, sich von Anfang an selbst zu verstümmeln.<br />

Zitate:<br />

Der kleine Stowasser, Wien 1971<br />

DUDEN, Die deutsche Rechtschreibung, 199t<br />

DAS ORGAN, Heft l/9l<br />

Diesen Artikel möchte ich Anna Tomicek widmen, <strong>der</strong> Erinnerung an sie, <strong>der</strong> Inspiration durch sie und ihrem Beispiel, dem <strong>der</strong> Tod nichts anhaben kann,<br />

Anna lebte vom 2. Juli 1946 bis zum 15. Jänner 1994. „Keiner, <strong>der</strong> nicht von ihr gelernt hätte.“<br />

* Dieser Artikel wurde zuerst abgedruckt in:<br />

„im Ernst“, <strong>Zeit</strong>schrift <strong>der</strong> Bieler Freinetpädagogen, Österreich, Heft 1/94<br />

Arbeit im Steinbruch Im Hafen<br />

89


C. Freinet<br />

Verlasst die Übungsräume!<br />

Seien wir ehrlich: wenn man es den Pädagogen überlassen würde, den Kin<strong>der</strong>n das Fahrrad fahren<br />

beizubringen, gäbe es nicht viele Radfahrer.<br />

Bevor man auf ein Fahrrad steigt, muss man es doch kennen, das ist doch grundlegend, man muss die<br />

Teile, aus denen es zusammengesetzt ist, einzeln, von oben bis unten, betrachten und mit Erfolg viele<br />

Versuche mit den mechanischen Grundlagen <strong>der</strong> Übersetzung und mit dem Gleichgewicht absolviert<br />

haben.<br />

Danach - aber nur danach! - würde dem Kind erlaubt, auf das Fahrrad zu steigen. Oh, keine Angst vor<br />

Übereilung, ganz ruhig. Man würde es doch nicht ganz unbedacht auf einer schwierigen Straße loslassen,<br />

wo es möglicherweise die Passanten gefährdet. Die Pädagogen hätten selbstverständlich gute<br />

Übungsfahrrä<strong>der</strong> entwickelt, die auf einem Stativ befestigt sind, ins Leere drehen, und auf denen die<br />

Kin<strong>der</strong> ohne Risiko leinen können, sich auf dem Sattel zu halten und in die Pedale zu treten.<br />

Aber sicher, erst wenn <strong>der</strong> Schüler fehlerfrei auf das Fahrrad steigen könnte, dürfte er sich frei dessen<br />

Mechanik aussetzen. Glücklicherweise machen die Kin<strong>der</strong> solchen allzu klugen und allzu methodischen<br />

Vorhaben <strong>der</strong> Pädagogen von vornherein einen Strich durch die Rechnung. In einer Scheune<br />

entdecken sie einen alten Bock ohne Reifen und Bremse, und heimlich lernen sie im Nu aufsteigen,<br />

so wie im übrigen alle Kin<strong>der</strong> lernen: ohne irgendwelche Kenntnis von Regeln o<strong>der</strong> Grundsätzen grapschen<br />

sie sich die<br />

Maschine, steuern auf den Abhang zu und ... landen im Straßengraben. Hartnäckig fangen sie von<br />

vorne an und in einer Rekordzeit können sie Fahrrad fahren. Übung macht den Rest.<br />

Später dann, wenn sie besser fahren wollen, wenn sie einen Reifen reparieren, eine Speiche richten,<br />

die Kette wie<strong>der</strong> an ihren Platz setzen müssen, dann werden sie durch Freunde, Bücher o<strong>der</strong> Lehrer<br />

lernen, was ihr ihnen vergeblich einzutrichtern versucht habt.<br />

Am Anfang je<strong>der</strong> Eroberung steht nicht das abstrakte Wissen das kommt normalerweise in dem Masse,<br />

wie es im Leben gebraucht wird son<strong>der</strong>n die Erfahrung, die Übung und die Arbeit.<br />

Verlasst zu diesem Jahresanfang die Übungsräume:<br />

steigt auf die Fahrrä<strong>der</strong>!<br />

90


Wer die Schule verän<strong>der</strong>n will, muss die angehenden Lehrerinnen und<br />

Lehrer gewinnen<br />

Freinet-Pädagogik an <strong>der</strong> Hochschule<br />

von Ursula Carle<br />

Die Freinetbewegung erschließt sich <strong>der</strong>zeit ein neues Arbeitsfeld, die universitäre Lehrerbildung. Zwar<br />

gab es auch bisher schon insbeson<strong>der</strong>e im Zusammenhang mit Lernwerkstätten Kontakte und punktuelle<br />

Zusammenarbeit zwischen Freinetpädagoginnen und -Pädagogen an Schulen und Hochschulen,<br />

aber <strong>noch</strong> keinen Rahmen, innerhalb dessen solche Verbindungen weiter ausgebaut werden könnten.<br />

Einen solchen „Rahmen“ zur Verfügung zu stellen, Verbindungen untereinan<strong>der</strong> stärker zu verkoppeln,<br />

ist das Ziel einer Initiativgruppe, die sich 1994 gegründet hat. Im September 1995 fand dann<br />

in Schwerte das erste gut besuchte Freinet-Hochschultreffen statt, auf dem hochschuldidaktische<br />

Erfahrungen ausgetauscht wurden. Weitere jährliche Treffen und eine regelmäßige Zusammenarbeit<br />

sind geplant.<br />

Die Idee hatte verschiedene Wurzeln. Sicherlich war die stärkste die Not <strong>der</strong>jenigen, die nach jahrelanger,<br />

mittlerweile akzeptierter freinetpädagogischer Praxis in <strong>der</strong> Schule nun an <strong>der</strong> <strong>Universität</strong><br />

zu lehren begannen. Mit Studierendenmassen konfrontiert, in viel zu engen Räumen untergebracht<br />

und ohne jegliche Materialausstattung waren sie beauftragt, Pädagogik für das Lehramtstudium anzubieten.<br />

Um unter diesen Bedingungen des Hochschulalltags das eigene pädagogische Selbstbild<br />

zu retten, mussten neue Ideen entwickelt werden, die sich trotz Massenbetrieb an emanzipatorischen<br />

Zielen orientieren, wie sie von Freinet 1950 dem Kongress von Nancy vorgelegt und 1968 als Charta<br />

�����������������������������������������<br />

Freinet-Pädagogik in <strong>der</strong> Schule zwischenzeitlich (lediglich) Synonym für mehr Kindorientierung und<br />

vor allem durch Freiarbeit und Druckerei bekannt steht im Vorlesungsverzeichnis <strong>der</strong> <strong>Universität</strong>en,<br />

wenn überhaupt, dann vor allem als Stichwort für die Analyse von Freinetliteratur. Eine Verbindung<br />

von Wissen über Freinet-Pädagogik mit freinetpädagogisch orientierter Hochschulpraxis passt vor<strong>der</strong>gründig<br />

nicht in die universitäre Lehrerbildung. Darüber kann auch <strong>der</strong> Blick auf die wenigen an<br />

Hochschulen vorhandenen Lernwerkstätten kaum hinwegtäuschen.<br />

Aus dieser Not entwickelten sich über die Grenzen <strong>der</strong> eigenen Institution hinaus erste Kooperationen,<br />

um die neuen Möglichkeiten in <strong>der</strong> Lehrerbildung zu diskutieren und sie damit einer bewussten<br />

Verbesserung zugänglich zu machen. Es entstand ein Austausch über Erfahrungen mit neuen<br />

Seminarformen in den vorhandenen universitären Strukturen und darüber, wie diese Strukturen verän<strong>der</strong>t<br />

werden können. Durch Kooperation mit Lehrerinnen und Lehrern aus <strong>der</strong> Freinetbewegung wurde<br />

zugleich versucht, neue pädagogische Entwicklungen für das Studium an <strong>der</strong> Hochschule nutzbar zu<br />

machen. Auch meine Arbeit ist im Kontext dieses Austauschs mutiger geworden.<br />

In diesem Artikel werde ich aus <strong>der</strong> freinetpädagogischen Diskussion um die Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> univer-<br />

91


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daktische Versuche beschreiben. Für solche Verän<strong>der</strong>ungen gibt es Vorbil<strong>der</strong>, beispielsweise in <strong>der</strong><br />

Arbeit <strong>der</strong> Lernwerkstätten, im Projektstudium <strong>der</strong> wie<strong>der</strong> eingestellten einphasigen Lehrerausbildung<br />

an den <strong>Universität</strong>en Oldenburg und Osnabrück o<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Aktionsforschung rund um die Öffnung des<br />

Unterrichts.<br />

In <strong>der</strong> Praxis wurden die hochschuldidaktischen Verän<strong>der</strong>ungen allerdings nicht wie die Reihenfolge<br />

<strong>der</strong> Darstellung in diesem Artikel suggerieren mag unmittelbar aus theoretischen Zusammenhängen<br />

abgeleitet. Eine solche Deduktion von praktischen Verfahrensweisen aus theoretischen Vorgaben ist<br />

ohnehin logisch nicht möglich. Die einzelnen Pädagoginnen und Pädagogen in <strong>der</strong> Initiativgruppe kamen<br />

induktiv auf <strong>der</strong> Basis ihrer praktischen freinetpädagogischen Vorerfahrungen zu methodischen<br />

Verän<strong>der</strong>ungen ihrer universitären Lehre.<br />

„Am Anfang je<strong>der</strong> Eroberung“, schreibt Freinet, „steht nicht das abstrakte Wissen das kommt normalerweise<br />

in dem Masse, wie es im Leben gebraucht wird son<strong>der</strong>n die Erfahrung...“ 2). Ganz in diesem<br />

Sinne war es unsere Absicht, „die Schulräume“ zu verlassen, uns dem Leben draußen, den Kin<strong>der</strong>n,<br />

zuzuwenden, Erfahrungen zu machen, die uns helfen, unsere praktischen wie theoretischen Kenntnisse<br />

und Fähigkeiten zu entwickeln. Schließlich zeichnet sich Freinet-Pädagogik dadurch aus, dass sie ein<br />

dynamisches, erfahrungsbasiertes Konzept präsentiert und somit permanent an <strong>der</strong> Erweiterung pädagogischer<br />

Handlungsmöglichkeiten in <strong>der</strong> sich verän<strong>der</strong>nden Welt arbeitet.<br />

Dieser Artikel soll ein kleiner Beitrag dazu sein. Er beschreibt im ersten Teil die guten Gründe für eine<br />

Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Hochschulpraxis, stellt im zweiten Teil Beispiele vor und versucht im dritten Teil aus<br />

beidem die zugrundeliegenden Prinzipien herauszuholen.<br />

Warum sich nur sinnvolles Studium lohnt<br />

„Wir sind keine Theoretiker, son<strong>der</strong>n Praktiker, Praktiker, die gleich den Handwerkern an ihrer Werkbank<br />

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nen, sich Handbewegungen ausdenken, Verfahrensweisen ausprobieren, die sie dann später syste-<br />

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len.“‘ 3)<br />

Dieses Zitat Freinets kann leicht missverstanden werden. So, aus dem Zusammenhang gerissen, wäre<br />

es heute Wasser auf die Mühlen <strong>der</strong>jenigen, die für eine Verlagerung <strong>der</strong> Lehrerausbildung an die<br />

Fachhochschulen plädieren. Wogegen Freinet sich mit dem Begriff des „Theoretikers“ wendet, ist ein<br />

von Erfahrungen und tätiger Praxis losgelöstes Theoretisieren, ist eine abstrakte „Wissensvermittlung“,<br />

die vor allem <strong>der</strong> Selektion und damit <strong>der</strong> Reproduktion sozialer Unterschiede dient. 4)<br />

Erfahrungsorientiertes Lernen und die damit zusammenhängenden Verfahrensweisen zur entwickelnden<br />

Erforschung <strong>der</strong> eigenen Arbeit haben Lehramtsstudierende während ihrer eigenen Schulzeit in<br />

<strong>der</strong> Regel nicht kennen gelernt. Sie sind ihnen so fremd wie seinerzeit den französischen Lehrkräften,<br />

denen Freinet seine Arbeitsweise erklären wollte. 5)<br />

92


Wenn mich Studierende in meinen Seminaren beispielsweise fragen: Was wird denn im Freinet-<br />

Unterricht aus den Lehrplänen- und Prüfungen? Und was ist denn, wenn ein Kind auf Mathematik<br />

einfach keine Lust hat? Lernt es dann keine Mathematik? Wie sieht es mit <strong>der</strong> Disziplin in diesem<br />

Unterricht aus? Und welche Autorität hat denn <strong>der</strong> Lehrer <strong>noch</strong>? Dann stellen sie, ohne es zu wissen,<br />

die gleichen Fragen, die schon Freinet vor 50 Jahren gestellt wurden.<br />

Woher sollten die angehenden Lehrerinnen und Lehrer auch an<strong>der</strong>e Fragen nehmen? Ihre Erfahrung<br />

basiert auf einem selektionsgeprägten Schulsystem und ihre Skepsis ist mit dem Studium reformpädagogischer<br />

Schriften alleine nicht zu überwinden, weil sie nicht daran glauben, dass etwas davon in<br />

dem von ihnen als Schülerinnen und Schüler und später auch im Schulpraktikum erlebten Schulsystem<br />

ungestraft umgesetzt werden kann. Damit verlieren reformpädagogische Inhalte für die Studierenden<br />

an praktisch-persönlicher Relevanz und bleiben abstraktes Buchwissen. Es sei denn, sie haben zugleich<br />

die Gelegenheit, ihre Erfahrungen mit Lernen und Unterricht zu erweitern und zu erleben, dass<br />

sie selber im vorhandenen Schulsystem gegen alle Wi<strong>der</strong>stände etwas verän<strong>der</strong>n können. Erst, wenn<br />

ihnen Verän<strong>der</strong>ung realisierbar erscheint, lohnt es sich, Wi<strong>der</strong>sprüche aufzugreifen und Fragen zu stellen,<br />

um sich eine eigene Position im Dickicht <strong>der</strong> Bildungsund Erziehungstheorien aufzubauen. Dann<br />

wird es bedeutsam, sich mit <strong>der</strong> Entwicklung von Kin<strong>der</strong>n, mit ihren Lebensbedingungen und mit ihren<br />

Interessen auseinan<strong>der</strong>zusetzen, um sich für ihre Rechte einsetzen zu können.<br />

Im Allgemeinen Schulpraktikum an ganz „normalen“ Schulklassen erkennen die Studierenden demgegenüber<br />

meistens nur wie<strong>der</strong>, was ihnen bereits aus <strong>der</strong> eigenen Schulzeit vertraut ist: Abarbeiten<br />

von Buch- o<strong>der</strong> Lehrplananfor<strong>der</strong>ungen auf <strong>der</strong> einen Seite und dompteurhaftes Meistern von<br />

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Stumpfsinn wehren, auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite. Daraus leiten sie zweierlei ab: Erstens muss eine Lehrkraft<br />

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fügen; und zweitens benötigt sie allerlei kommunikative Techniken, um Störungen des Stundenverlaufs<br />

zu stoppen und Streithähne auseinan<strong>der</strong>zubringen. Ihr Studieninteresse bleibt auf <strong>der</strong> Ebene des<br />

Erwerbs von Techniken stecken. Nur in seltenen Fällen entwickelt sich darüber hinaus, daneben o<strong>der</strong><br />

trotz dieser reaktiven Praxiserfahrung, ein Interesse an <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung mit Bildungstheorien.<br />

Die werden für die Prüfung als abfragbares, jonglierfähiges Wissen gelernt, bleiben ansonsten so<br />

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zitiert, um sich ihrer Mächtigkeit zu bedienen o<strong>der</strong> mit denen man spielt, Zug um Zug mit ihnen fährt,<br />

um die eigene argumentative Beweglichkeit zu demonstrieren.<br />

Der Wunsch <strong>der</strong> Studierenden nach mehr Praxisbezug bleibt ohne eigene praktische Erfahrung von<br />

Verän<strong>der</strong>barkeit des Althergebrachten auf den Erwerb von Bewältigungstechniken beschränkt. Erst mit<br />

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neue Qualitäten. Wo Neues entwickelt wird, ist die Diskussion <strong>der</strong> Orientierung, <strong>der</strong> Leitlinie, des ganz<br />

weit entfernten Bildungsziels notwendig. Dann muss ich wissen, wofür meine Arbeit sinnvoll ist, denn kein<br />

Buch und kein Lehrplan nimmt mir diese persönliche Auseinan<strong>der</strong>setzung ab. Und ich muss Strategien<br />

93


entwickeln, die über eine Unterrichtsstunde hinausreichen, mich mit Prinzipien, mit Wegenetzen und<br />

�����������������������������������������������������������<br />

ihren unterschiedlichen Lebensbedingungen und Interessen kennenzulernen und ernstzunehmen, ihre<br />

Entwicklung zu beobachten und Produkte <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> als Ausdruck ihrer Arbeit unter den jeweils gegebenen<br />

Bedingungen zu erkennen.<br />

Auf dieser Basis werden Theorien über Bildung, über kindliche Entwicklung, über Didaktik und Methodik<br />

als Erklärungsmodelle, als Orientierungspunkte und als strategische Landkarten für die Ausbildung<br />

pädagogischer Kompetenz bedeutungsvoll, aber zugleich auch kritisierbar, wenn sie den eigenen<br />

Entdeckungen wi<strong>der</strong>sprechen. Pädagogische Theorien verlieren ihre mythische Qualität und gewinnen<br />

Ernstcharakter für die Herausbildung <strong>der</strong> eigenen subjektiven Theorien, mit denen es vielleicht möglich<br />

wird, das Referendariat kritisch zu überstehen. Denn dort kennzeichnet guten Unterricht lei<strong>der</strong> immer<br />

<strong>noch</strong> die möglichst getreue Abarbeitung einer Vorausplanung für den Schulrat verbunden mit gravierenden<br />

Einschränkungen für die Lernenden.6) So beginnt auch heute die zweite Ausbildungsphase<br />

allzu oft mit dem Hinweis: „Nun vergessen Sie erstmal alles, was Sie auf <strong>der</strong> <strong>Universität</strong> gelernt haben“.<br />

Damit wird zwar vor<strong>der</strong>gründig auch die Praxisferne des Studiums verurteilt, <strong>der</strong> Spruch verachtet jedoch<br />

bei näherer Betrachtung vor allem im Studium gewonnenen Verän<strong>der</strong>ungswillen.<br />

Freinet praktisch im Studium - 2 Beispiele<br />

Wenn also Schulpraktiker und sogar Kultusminister o<strong>der</strong> Hochschulrektoren mehr Praxisbezug<br />

im Studium for<strong>der</strong>n, dann ist damit <strong>noch</strong> nicht gesagt, wie denn dieser Praxisbezug konkret aussehen<br />

kann. Die einen denken an eine stärkere Anpassung <strong>der</strong> universitären Lehre an die heutige<br />

schulische Praxis und wähnen sich damit beson<strong>der</strong>s realitätsnah. Die an<strong>der</strong>en wünschen sich unter<br />

dem Deckmäntelchen von Evaluation und Strukturverän<strong>der</strong>ung vor allem Sparmaßnahmen. Es<br />

bleibt meistens bei <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung nach mehr Praxisbezug im Lehramtsstudium von einigen wenigen<br />

Modellversuchen (z.B. in Bielefeld und Siegen) einmal abgesehen. Auch <strong>der</strong> von mir beschriebene<br />

Zusammenhang im Sinne von Verän<strong>der</strong>ungslernen bliebe ohne Umsetzungsbeispiele abstrakt und<br />

für an<strong>der</strong>e wenig zugänglich. Deshalb werde ich im folgenden Kapitel zwei Versuche beschreiben,<br />

die in meinen Seminaren in Zusammenarbeit mit Lehrerinnen und Lehrern durchgeführt wurden. Sie<br />

stellen nur eine sehr beschränkte Auswahl dessen dar, was heute unter Freinetpädagoginnen und<br />

-Pädagogen an Hochschulen diskutiert wird. In <strong>der</strong> Diskussion sind außerdem die Erfahrungen <strong>der</strong><br />

Lernwerkstattbewegung aber auch die von Birgitt Brand entwickelten Leittexte zur Freinet-Pädagogik.<br />

7)<br />

Studienprojekte<br />

Als Beispiel für Studienprojekte möchte ich die Arbeit von Studentinnen in meinen Erstunterrichtsseminaren<br />

vorstellen. An <strong>der</strong> <strong>Universität</strong> Osnabrück müssen Studierende für das Lehramt an Grund- und<br />

Hauptschulen mit dem Schwerpunkt Grundschule insgesamt vier Erstunterrichtsseminare belegen.<br />

94


Dadurch sollen sie befähigt werden, später Erstklässler angemessen zu unterrichten. Viele Studierende<br />

in diesen Seminaren haben keinen Kontakt zu sechsbis siebenjährigen Kin<strong>der</strong>n. Aufgrund <strong>der</strong> geringen<br />

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vertraut. An<strong>der</strong>e haben sich schon intensiv mit <strong>der</strong> Altersgruppe beschäftigt, haben eigene Kin<strong>der</strong> in<br />

diesem Alter o<strong>der</strong> unterrichten nebenbei in einer Schule o<strong>der</strong> einer privaten Nachhilfeeinrichtung. Die<br />

Voraussetzungen <strong>der</strong> Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind also sehr heterogen. Die Gruppengröße<br />

�������������������������������������������������������������<br />

Eine Möglichkeit hierzu biete ich durch die Mitarbeit in einem Projekt an. Innerhalb eines Seminars gibt<br />

es dann mehrere unterschiedliche Projektangebote, die von kooperierenden Lehrerinnen und Lehrern<br />

mitgestaltet werden. Die einzelnen Projektgruppen stellen sich immer wie<strong>der</strong> ihre Arbeiten gegenseitig<br />

vor. Theoretische Fragestellungen ergeben sich unmittelbar aus den Projekten und werden dann aufgearbeitet.<br />

Korrespondenz zwischen Studierenden und einer zweiten Klasse<br />

Beim Bundestreffen <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Pädagogik Kooperative e.V. zusammengeschlossenen Freinetlehrerinnen<br />

und -Lehrer im Dezember 1994 verabredeten Bernhard Sdun, Schulleiter <strong>der</strong> Grundschule Artlenburg<br />

(bei Lüneburg) und damals Klassenlehrer einer ersten Klasse, und ich, dass wir eine Korrespondenz zwischen<br />

Schülerinnen und Schülern und den Studierenden eines Erstunterrichtsseminars anregen wollten.<br />

Als mögliches Projektziel fassten wir einen gegenseitigen Besuch ins Auge. Auf meine Ankündigung im<br />

kommentierten Vorlesungsverzeichnis hin fand sich im Rahmen eines größeren Seminars zum Thema<br />

projektorientierter Erstunterricht für dieses Projekt eine Gruppe von elf Studentinnen.<br />

Wie kann man mit Zweitklässlern eine Klassenkorrespondenz eröffnen?<br />

Die schwierigste Aufgabe stellte sich ganz zu Beginn des Projekts. Ich gab den Studentinnen die<br />

Adresse <strong>der</strong> Klasse, erzählte ihnen davon, wie Bernhard Sdun als Freinet-Lehrer unterrichtet, und überließ<br />

ihnen alles weitere. Während die Gruppe arbeitete, widmete ich mich <strong>der</strong> Vorbereitung einer theoretischen<br />

Einheit zu <strong>der</strong> Frage, was die Freinet-Pädagogik bislang an Vorstellungen zum Erstunterricht<br />

erarbeitet hat und stand, wenn nötig, für Probleme beratend zur Verfügung.<br />

Schon in dieser ersten Veranstaltung ergaben sich ganz zentrale Fragen. Wie kann man Kin<strong>der</strong>, die<br />

gerade ins zweite Schuljahr gekommen sind, schriftlich ansprechen? Was können sie schon lesen?<br />

Welche Inhalte interessieren sie? Wie komplex dürfen Aussagen sein, damit die Kin<strong>der</strong> sie verstehen<br />

können? Das Ergebnis war ein sehr vorsichtiger Brief, in dem jede Studentin sich mit ihrem Namen,<br />

einem Bild und ihren Hobbies <strong>der</strong> Partnerklasse vorstellte. Die Gruppe benannte eine Sprecherin, die<br />

als Briefadresse fungieren sollte, und richtete eine Telefonkette ein, um sich gegenseitig schnell über<br />

eine Antwort <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> informieren zu können.<br />

Alle waren gespannt und freuten sich, als nach knapp zwei Wochen die Antwort kam. Jedes Kind hatte<br />

sich eine Studentin ausgewählt und ihr einen persönlichen Brief geschrieben o<strong>der</strong> gemalt. Mit man-<br />

95


chen Briefen hatten wir große Entzifferungsschwierigkeiten. Diese Kin<strong>der</strong> hatten lediglich lautähnlich<br />

geschrieben, an<strong>der</strong>e schon lautgetreu und manche hatten bereits damit begonnen, Rechtschreibregeln<br />

anzuwenden. Da die Kin<strong>der</strong> nach Reichen 8) unterrichtet wurden, lag nahe, sich dessen Konzept näher<br />

anzuschauen. Die drei Phasen fanden wir dort wie<strong>der</strong> und konnten sie mit dem Phasenmodell von<br />

Günther vergleichen, das Sassenroth anschaulich beschreibt. 9)<br />

Die Briefe zeigten nicht nur bezüglich <strong>der</strong> Schrift, wie unterschiedlich das Entwicklungsniveau <strong>der</strong><br />

einzelnen Kin<strong>der</strong> war. Auch inhaltlich gingen die Texte weit auseinan<strong>der</strong>. Von Bernhard Sdun erfuhren<br />

wir, dass die Kin<strong>der</strong> zuerst nicht viel mit dem Brief <strong>der</strong> Studentinnen anzufangen wussten. Ihnen<br />

war zwar klar, dass <strong>der</strong> Brief einer Antwort bedurfte, aber was man da schreiben könnte, musste<br />

mit manchen Kin<strong>der</strong>n erst besprochen werden. Schließlich verwendeten einige ihre Tagebücher, um<br />

daraus etwas zu entnehmen. Während ein Mädchen sehr plastisch über seine Gesteinssammlung<br />

berichtete und darüber, dass es regelmäßig mit seinen Eltern Messen für wertvolle Steine besuche,<br />

stellten an<strong>der</strong>e lediglich in zwei Sätzen ihren Hund vor. Wie<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e bezogen sich auf den Brief einer<br />

Klassenkameradin o<strong>der</strong> schrieben über gemeinsame Spiele, so dass wir schon erste Freundschaften<br />

<strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> erkennen konnten. Später entdeckten wir bei Howard Gardner die Aussage, dass Kin<strong>der</strong><br />

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diese Unterschiede dann erleben.10)<br />

Nun beantwortete jede Studentin ihren Brief und versuchte, dem Kind Fragen zu stellen, anhand <strong>der</strong>er<br />

sie mehr über dessen Interessen und Lebensumfeld erfahren konnte. Die Studentinnen verabredeten<br />

einen bestimmten Tag, an dem sie die Briefe zur Post bringen wollten, damit diese einigermaßen<br />

gleichzeitig in Artlenburg ankamen. Lei<strong>der</strong> passierte eine Panne, so dass ein Kind seinen Brief erst<br />

nach einer Woche erhielt, was ihm sehr viel Geduld abfor<strong>der</strong>te. Den<strong>noch</strong> antwortete die Klasse wie<strong>der</strong>.<br />

Diesmal enthielten die Briefe schon viel mehr Informationen, beispielsweise über die eigene Familie.<br />

Es beginnen inhaltliche Auseinan<strong>der</strong>setzungen<br />

Die Studierenden hatten sich zwischenzeitlich auf <strong>der</strong> Karte darüber informiert, wo Artlenburg liegt. Sie<br />

wollten nun von den Kin<strong>der</strong>n mehr über diesen Ort wissen und äußerten in ihrer Antwort die Vermutung,<br />

dass Artlenburg ein kleines Dorf sei. Dieser Behauptung wi<strong>der</strong>sprachen die Schülerinnen und Schüler<br />

in ihren Antworten auf das schärfste. Ihr Ort sei nicht klein, was man daran sehen könne, dass es dort<br />

zwei Bäcker gäbe. Daraufhin fühlten sich die Studierenden herausgefor<strong>der</strong>t, mehr über Osnabrück zu<br />

schreiben und holten entsprechende Informationen bei <strong>der</strong> Stadtverwaltung, <strong>der</strong> Bäckerinnung und<br />

����������������������������������������������������������<br />

ihnen unmissverständlich klar machen sollten, dass Osnabrück gegenüber Artlenburg riesengroß ist.<br />

Verpackt in eine auch optisch riesige Stadtcollage präsentierten sie ihre Briefe mit den entsprechenden<br />

Zahlen und mit einer Einladung versehen: 150.000 Einwohner, fünf Schwimmbä<strong>der</strong>, Zoo, Schloss... .<br />

Bernhard Sdun berichtete mir, dass die Kin<strong>der</strong> sehr gut begriffen haben, dass Osnabrück eine große<br />

Stadt sein muss. Hauptbeweis waren die fünf Schwimmbä<strong>der</strong>! Aber auch die große Einwohnerzahl<br />

96


eeindruckte sie sehr. Sie hatten offenbar eine Art emotionale Vorstellung davon, dass es sich um<br />

etwas ganz Riesiges handeln müsse. Im nächsten Brief luden einige Schülerinnen und Schüler ihre<br />

Briefpartnerinnen nach Artlenburg ein. Die Auseinan<strong>der</strong>setzung über den Wohnort zeigte auch, dass<br />

die siebenjährigen Kin<strong>der</strong> sich <strong>noch</strong> nicht vorzustellen vermochten, was Erwachsene an ihrem Ort interessiert.<br />

So hatten die Studentinnen erwartet, etwas über die Einwohnerzahl, die Lage und Struktur<br />

des Ortes, zumindest etwas über die Elbe, an <strong>der</strong> Artlenburg liegt, zu erfahren. Für die Kin<strong>der</strong> waren<br />

allenfalls die Geschäfte für ihren Bericht von Bedeutung. Mit ganz beson<strong>der</strong>er Spannung erwarten sie<br />

nun, was die Kin<strong>der</strong> ihnen bei einer Ortsbesichtigung zeigen werden.<br />

Analyse <strong>der</strong> Videos über die Arbeit <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong><br />

Bernhard Sdun hatte den Empfang <strong>der</strong> Briefe und die Versuche <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>, diese zu lesen und zu beant-<br />

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zeigte <strong>der</strong> Film sehr genau, welche Teile nur sehr gute Leser entziffern konnten. Die Studentinnen hatten<br />

überwiegend in lateinischer Ausgangsschrift geschrieben o<strong>der</strong> in sehr runden und undifferenzierten<br />

Druckbuchstaben. Die Kin<strong>der</strong> kannten bis dahin aber nur Druckschrift und konnten Texte nur dann<br />

lesen, wenn markante Teile <strong>der</strong> Buchstabengestalt deutlich ausgeprägt waren. Auch dazu bekamen<br />

wir bei Sassenroth nähere Erklärungen. Zugleich bot die von den Studierenden unbewusst eingebaute<br />

Schwierigkeit für die Klasse einen neuen Lernanlass. Sie wollten nun auch die Erwachsenenschrift<br />

lernen.<br />

Vorbereitungen für gegenseitige Besuche<br />

Die Einladung <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> führte dazu, dass sich die Sprecherin <strong>der</strong> Gruppe an den Klassenlehrer<br />

wandte und Näheres nachfragte. Dieser bestätigte, dass es bereits einen Elternabend gegeben habe,<br />

auf dem alle Eltern sich bereit erklärt hätten, die studentischen Briefpartnerinnen ihrer Kin<strong>der</strong> bei einem<br />

Besuch zu beherbergen. Umgekehrt waren sie auch bereit, die Kin<strong>der</strong> nach Osnabrück fahren zu<br />

lassen. Die Klasse hatte bereits konkrete Wünsche für diese Fahrt. Sie wollten das Schloss sehen und<br />

in eines <strong>der</strong> Schwimmbä<strong>der</strong> gehen. Auch die Studierenden wünschten sich etwas für ihren Besuch in<br />

Artlenburg. Sie wollten gerne, dass die Kin<strong>der</strong> ihnen das Drucken in ihrer Druckerei beibringen sollten.<br />

Die Kin<strong>der</strong> hatten den Studentinnen nämlich eine selbstgedruckte Klassenzeitung zu Weihnachten<br />

geschickt. Außerdem wollten die Studentinnen ihren Besuch in Artlenburg dazu nutzen, um mit den<br />

Schülerinnen und Schülern <strong>der</strong>en Besuch in Osnabrück zu besprechen. Doch damit kamen neue<br />

Fragen auf: Wo kann man mit einer Klasse preiswert übernachten? Schließlich waren die Studentinnen<br />

kostenfrei in den Familien eingeladen. Was passiert, wenn die Kin<strong>der</strong> nachts plötzlich Heimweh bekommen?<br />

Welche Sachverhalte in Osnabrück könnten einer zweiten Klasse einen Eindruck davon vermitteln,<br />

was Osnabrück ist? Was können wir den Kin<strong>der</strong>n damit an Programm zur Auswahl anbieten?<br />

Wie präsentieren wir ihnen diese Auswahl bei unserem Besuch in Artlenburg? Wie organisieren wir<br />

Wege in Osnabrück? Wo kann die Klasse preiswert essen? Was halten Achtjährige an Belastung über<br />

97


einen ganzen Tag hinweg aus? Wo gibt es in Osnabrück freie Bewegungsmöglichkeiten für die Kin<strong>der</strong>?<br />

Wie treffen wir Verabredungen? Haben die Kin<strong>der</strong> bereits eine so gute <strong>Zeit</strong>vorstellung, dass man mit<br />

ihnen das Programm für zwei Tage vorplanen kann? Kennen sie überhaupt schon die Uhrzeit? Kann<br />

man mit ihnen bereits die Kosten des Vorhabens berechnen? Welche Zugverbindung ist für die Klasse<br />

preislich und zeitlich günstig und zugleich für ein mögliches Programm geeignet?<br />

Das Projekt ist zum <strong>Zeit</strong>punkt des Artikelschreibens <strong>noch</strong> nicht abgeschlossen. Wer mehr darüber und<br />

über den weiteren Fortgang lesen will, kann das in einer <strong>der</strong> nächsten „Fragen und Versuche“, 11)<br />

Eignet sich das Projekt für eine universitäre Lehrerbildung?<br />

Bereits zum jetzigen <strong>Zeit</strong>punkt ist klar: Ein solches Projekt bietet genügend Anlässe für die Studierenden,<br />

in <strong>der</strong> Theorie Erklärungen für Beobachtetes und Hinweise zur Beantwortung ihrer Fragen zu suchen.<br />

Es for<strong>der</strong>t zu wissenschaftlichem Arbeiten geradezu heraus, wenn das für die praktische Arbeit grundlegende<br />

Wissen fehlt. An vielen Stellen wurde beispielsweise deutlich, dass sehr viel fundiertes Wissen<br />

über die Entwicklung von Kin<strong>der</strong>n nötig ist, um sie angemessen för<strong>der</strong>n zu können. Entscheidend für das<br />

Lernen in einem Projekt ist aber, dass die Arbeit <strong>der</strong> Studierenden nicht im Erschließen wissenschaftlicher<br />

Texte steckenbleibt. Hatten sie doch Gelegenheit, ihre Vorstellungen von <strong>der</strong> Zusammenarbeit<br />

mit Kin<strong>der</strong>n zu formulieren und in einer realen Situation empirisch zu überprüfen. Dabei wendeten sie<br />

gemeinsam mit dem Klassenlehrer Methoden <strong>der</strong> Aktionsforschung an.12)<br />

Bewusstmachung von Lernprozessen durch Tagebücher<br />

Die Idee, mit Studierenden genau dieselben Methoden zu praktizieren, wie sie auch in Freinetklassen<br />

üblich sind, führte zu verschiedenen Seminaren, in denen Tagebücher eingesetzt wurden. Ich selbst<br />

kam durch Anregungen von Walter Hövel auf die Idee, denn er arbeitete bereits in seinen Seminaren<br />

an <strong>der</strong> <strong>Universität</strong> zu Köln mit dieser Methode.<br />

Tagebücher eignen sich dazu, Ideen, Erlebnisse und Erkenntnisse festzuhalten. Während des<br />

Schreibens dienen sie <strong>der</strong> Bewusstmachung des eigenen Lernprozesses, später machen sie einen<br />

längeren Lernweg mit all seinen Umwegen nachvollziehbar. Sie stellen dadurch eine Art Buchführung<br />

dar über das, was geschehen ist, allerdings nicht im Sinne von für die Öffentlichkeit zurechtgetrimmten<br />

Aussagen, son<strong>der</strong>n als Prozessprotokoll, das <strong>der</strong> eigenen Weiterentwicklung dient. Will ich nun als<br />

Hochschullehrerin diese Tagebücher lesen, um mein eigenes Angebot an die Studierenden verbessern<br />

zu können, dann muss ich bereits eine hohe Vertrauenswürdigkeit geniessen. Das kann im regulären<br />

Studienbetrieb nicht <strong>voraus</strong>gesetzt werden. Aus diesem Grunde ist es notwendig, auch überarbeitete<br />

Fassungen zuzulassen. Als wichtig hat sich erwiesen, dass die gelesenen Tagebücher anschließend<br />

besprochen werden, denn die Studierenden haben viele Fragen, die im Einzelgespräch o<strong>der</strong> in kleinen<br />

Gruppen erörtert werden müssen.<br />

Tagebücher zum Aufbau „selbstgesteuerter Disziplin“<br />

Célestin Freinet hat festgestellt, dass selbstgesteuerte Disziplin durch eine entsprechende<br />

98


Arbeitsorganisation in <strong>der</strong> Klasse weitgehend erreicht werden kann. „Dann brauchen wir nur <strong>noch</strong><br />

die wenigen Missverständnisse zu bedauern, die durch krankhafte Störungen des Gleichgewichtes<br />

jener Kin<strong>der</strong> verursacht werden, die normalerweise mehr frische Luft, eine gesun<strong>der</strong>e Ernährung und<br />

����������������������������������������������������������� -<br />

gesteuerter Disziplin im Erstunterricht bot ich einer Gruppe von Studierenden die Möglichkeit, in sehr<br />

unterschiedlichen Schulklassen und Schularten einmal wöchentlich ein ganzes Semester lang zu hospitieren<br />

und mitzuarbeiten. In verschiedenen Grundschulklassen, in einer Klasse <strong>der</strong> Son<strong>der</strong>schule<br />

für Lernbehin<strong>der</strong>te und in einer Klasse <strong>der</strong> Schule für Verhaltensgestörte waren jeweils zwei bis drei<br />

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Wahl, ob sie ihr Augenmerk auf die Arbeit <strong>der</strong> ganzen Klasse o<strong>der</strong> auf die Arbeit einzelner Kin<strong>der</strong> lenken<br />

wollten. Das Tagebuch konnte entwe<strong>der</strong> im Original o<strong>der</strong> in einer überarbeiteten Fassung abgegeben<br />

werden. Verbindlich für den Leistungsnachweis war außerdem <strong>noch</strong> eine anschließende persönliche<br />

Nachbesprechung. Darüber hinaus hatten die Hospitantinnen die Aufgabe, ihre Erfahrungen kritisch<br />

��������������������������������������������������������������<br />

gefüllt war, einzubringen. Zum Ende des Semesters fand dann <strong>noch</strong> ein gemeinsames Treffen <strong>der</strong><br />

ganzen Projektgruppe mit ihren Lehrerinnen und Lehrern statt.<br />

Die Tagebücher waren sehr unterschiedlich: Einige enthielten eher an <strong>der</strong> Tiefenstruktur des Geschehens<br />

orientierte Beschreibungen sehr persönlicher Eindrücke und waren teils mit Bil<strong>der</strong>n und an<strong>der</strong>en<br />

��������������������������������������������������������������� -<br />

mentierten sogar damit, die Beobachtung durch <strong>Zeit</strong>takte und Beobachtungskriterien zu objektivieren.<br />

Die meisten Tagebücher wurden im Original abgegeben, nur wenige neu geschrieben.<br />

Das Ergebnis waren auf <strong>der</strong> einen Seite eindrucksvolle Zeugnisse darüber, wodurch im Unterricht<br />

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Kin<strong>der</strong> nicht annehmen konnten und über sehr viel Missachtung. Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite gab es auch<br />

Tagebuchberichte über Beziehungen, die Studierende zu einzelnen Kin<strong>der</strong>n entwickelt hatten, Berichte<br />

über Situationen, in denen Studierende Anwälte eines Kindes wurden und mehr Verständnis erreichten.<br />

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so radikal ihre Meinung gesagt, dass diese damit nicht umgehen konnte. Aus einer Grundschulklasse<br />

und aus <strong>der</strong> Schule für Lernbehin<strong>der</strong>te wurde von Projektarbeit berichtet, welche die Klassen in selbstdisziplinierte<br />

Arbeitsgruppen verwandelte. Die Hospitantinnen an <strong>der</strong> Schule für Verhaltensgestörte<br />

hingegen beschrieben das Verhalten <strong>der</strong> Schülerinnen und Schüler dort als sehr undurchschaubar,<br />

jeden Moment scheinbar grundlos vom Positiven ins Negative umschlagend. Arbeit sei nur für sehr<br />

kurze <strong>Zeit</strong> ungestört möglich, selbst wenn sich alle sehr für eine Aufgabe interessierten. Hier empfan-<br />

������������������������������������������������������������<br />

und Zuneigung erfuhren.<br />

Interessant war, dass in den Tagebüchern teilweise die im Seminar referierte und diskutierte päda-<br />

99


gogische Literatur zum Thema 14) verarbeitet war. Sie wurde immer mal wie<strong>der</strong> zur Erklärung von<br />

Phänomenen herangezogen. Die Verbindung von Theorie und Praxis stellte sich auch im Seminar<br />

selbst ein, wenn die Studierenden aus den Perspektiven <strong>der</strong> unterschiedlichen Schulklassen ihre<br />

Beobachtungen (und Parteinahmen für die Schülerinnen und Schüler) in die Diskussion brachten.<br />

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hohe Grad an Emotionalisierung durch diese Aufgabe ins Auge. Die Studierenden waren durchweg<br />

für die Probleme <strong>der</strong> Schülerinnen und Schüler in einem traditionellen Unterricht hochgradig sensibilisiert.<br />

Teilweise waren sie erbost über die Ignoranz <strong>der</strong> Lehrkraft gegenüber Impulsen <strong>der</strong> Schülerinnen<br />

und Schüler für sinnvolle Arbeiten. Durch die Aufgabe, auch eigene alternative pädagogische Ideen<br />

aufzuschreiben, kamen sie auf Lösungen, die stärker an den Interessen <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> orientiert waren.<br />

Sie konnten diese zwar nicht umsetzen, fragten die kooperierenden Lehrkräfte aber, warum diese<br />

denn ihren Unterricht nicht än<strong>der</strong>ten, um durch interessantere und selbstbestimmtere Arbeit unnötige<br />

������������������������������������������������������������<br />

Unterrichtsgestaltung neu zu durchdenken.<br />

Nicht nur auf die Methode, auf die Inhalte kommt es an<br />

Die vorgestellten Beispiele zeigen, wie Studierende für eine kindgerechte Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Schule<br />

zu gewinnen sind. Es wäre jedoch fatal zu glauben, dies gelänge auch bereits durch verän<strong>der</strong>te<br />

Lehrmethoden (z.B. durch das Drucken) alleine. Entscheidend für den Erfolg ist ein für die Studierenden<br />

persönlich bedeutsamer und gesellschaftlich relevanter Inhalt:<br />

��Eine<br />

eindeutige Orientierung an emanzipatorischen Bildungszielen<br />

��Koppelung<br />

von Arbeit in <strong>der</strong> Schule mit erklärendem und orientierendem Theorieangebot<br />

���������������������������������������������������������������<br />

��Diskussion<br />

von unterschiedlichen Vorstellungen zur kindlichen Entwicklung und damit zum Lernen<br />

didaktische Schlussfolgerungen<br />

��Zulassen<br />

und Diskutieren von Wi<strong>der</strong>sprüchen im Schulsystem<br />

��Kennen<br />

lernen von Möglichkeiten, Wi<strong>der</strong>sprüche zur Erweiterung <strong>der</strong> eigenen pädagogischen<br />

Handlungsmöglichkeiten zu nutzen<br />

��Kennen<br />

lernen unterschiedlicher kindgerechter Unterrichtsmethoden<br />

��Im<br />

Idealfall Zusammenarbeit mit Schülerinnen und Schülern an einem gemeinsamen Produkt<br />

��Kindorientierte<br />

Auseinan<strong>der</strong>setzung mit Lehrerinnen. und Lehrern über <strong>der</strong>en Unterricht<br />

��Gedankliche<br />

Vorwegnahme und möglichst auch Erprobung einer partiellen Erneuerung <strong>der</strong> Schule<br />

im Interesse <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong><br />

��Kennen<br />

lernen, Erproben und Übertragen von konkreten Verän<strong>der</strong>ungsstrategien im Seminar<br />

selbst<br />

��Erwerb<br />

von realistischen Vorstellungen über die eigene Arbeitstätigkeit und wie man diese selbst<br />

100


weiterentwickeln kann<br />

��Hoher<br />

Gestaltungsfreiraum und Selbstorganisationsgrad bei den Studierenden<br />

��Wenn<br />

das Seminar außerdem die explizite Auseinan<strong>der</strong>setzung mit freinetpädagogischen Texten<br />

einschließt, umso besser.<br />

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aber sie bringen auch mehr sichtbare Erfolge und bieten genügend eigenen Entwicklungsspielraum für<br />

die Lehrenden. In <strong>der</strong> engen Kooperation zwischen Hochschullehrerin und Grundschullehrkräften ermöglichen<br />

kritische Rückmeldungen von beiden Seiten Entwicklungsimpulse. In schwierigen Situationen<br />

kann die jeweils an<strong>der</strong>e, gerade institutionsfremde Person leicht Rückenstärkung geben, wenn vorab<br />

die gemeinsame freinetpädagogische Zielsetzung als Basis geklärt ist. Freinetpädagoginnen und<br />

-Pädagogen aus <strong>der</strong> Schulpraxis, die an die Hochschule wechseln, können auf diese Weise ihre professionelle<br />

Identität wahren und um den Aspekt breiterer Wissenschaftlichkeit erweitern.<br />

Den<strong>noch</strong> ist die Umgestaltung einzelner Seminare, ja die Einrichtung einzelner Lernwerkstätten, längst<br />

nicht ausreichend, um die Mehrzahl <strong>der</strong> Studierenden für eine Erneuerung <strong>der</strong> Schule zu gewinnen. Es<br />

gibt zu wenige Lehrende an den <strong>Universität</strong>en mit <strong>der</strong> Bereitschaft, Angebote zu entwickeln, die komplex<br />

genug angelegt sind, um für Studierende bedeutsame Handlungsmöglichkeiten und zugleich theore-<br />

��������������������������������������������������������������<br />

im Hochschulbetrieb ist es deshalb aus freinetpädagogischer Perspektive dringend notwendig, sich<br />

offensiver einzumischen. Es wäre fatal, würden die freiwerdenden Lehrstühle mit Personen besetzt,<br />

die keine Erneuerung bringen. Die Initiativgruppe hat einen Anfang gemacht. Zum Schluss ist <strong>der</strong><br />

Hinweis angebracht, dass gerade engagierte Lehrerinnen und Lehrer aufgefor<strong>der</strong>t sind, die formalen<br />

Voraussetzungen für einen Wechsel in die Hochschule zu erwerben. Das alljährliche Hochschultreffen<br />

kann für Interessierte ein geeignetes Forum bieten.<br />

Literatur und Anmerkungen<br />

1) Roland Laun, Freinet 50 Jahre danach. Dokumente und Berichte aus drei französischen Grundschulklassen. Beispiele einer produktiven Pädagogik,<br />

���������������������������������<br />

2) Célestin Freinet, Pädagogische Texte, hrsg. von Heiner Boehncke und Christoph Hennig, Hamburg 1980, S. 22.<br />

������������������������������������������������������������������������������������������������<br />

S. 74.<br />

4) Vgl. dazu Ingrid Dietrich, Politische Ziele <strong>der</strong> Freinet-Pädagogik. Weinheim 1982.<br />

5) Vgl. dazu Célestin Freinet/1946, a.a.O., S. 73.<br />

6) Vgl. dazu Ursula Carle, Mein Lehrplan sind die Kin<strong>der</strong>. Analyse <strong>der</strong> Planungstätigkeit von Lehrerinnen und Lehrern an För<strong>der</strong>schulen, Weinheim 1995,<br />

S. 125f.<br />

7) Vgl. dazu Birgitt Brand, Leittexte zur Freinet-Pädagogik, 1994 (bislang unveröffentlichtes Manuskript)<br />

8) Jürgen Reichen und Mitarbeiterinnen), Lesen durch Schreiben, allgemeindidaktische und organisatorische Empfehlungen. Heft 2. Zürich 1988.<br />

9) Vgl. dazu Martin Sassenroth, Schriftspracherwerb: Entwicklungsverlauf, Diagnostik und För<strong>der</strong>ung, Bern 1991.<br />

10) Howard Gardner, Der ungeschulte Kopf, Stuttgart 1991.<br />

11) „Fragen und Versuche“ ist die regelmäßig erscheinende <strong>Zeit</strong>schrift <strong>der</strong> Pädagogik Kooperative e.V., <strong>Bremen</strong>.<br />

12) Dies geschieht zunehmend auch im Schulalltag <strong>der</strong> Lehrerinnen und Lehrer. Vgl. Friebertshäuser, Barbara und Annedore Prengel, (Hrsg.): Handbuch<br />

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13) Célestin Freinet, 1946, a.a.O., S. 100.<br />

14) Beispielsweise Rupert Vierlinger, Das Schulkreuz <strong>der</strong> Lehrer. Disziplinstörungen und Unterricht, Wien 1990.<br />

101


C. Freinet<br />

Wir sind Lehrlinge<br />

Wir sind Lehrlinge, die manchmal vorgeben, Meister zu sein, und die vor sich selbst gerne ihre<br />

Unzulänglichkeiten und Schwächen verstecken.<br />

Aber wie denn! Haben wir nicht lange studiert und sind wir denn nicht wie die Mechaniker und Maurer<br />

mit einem Zeugnis versehen, das unsere professionellen Fähigkeiten bestätigt? Haben die langjährigen<br />

Praxiserfahrungen uns nicht diese Sicherheit in <strong>der</strong> Diagnostik und diese Entscheidungsfähigkeit<br />

vermittelt, die alte, in ihrem Beruf erfahrene Arbeiter auszeichnet?<br />

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ist, als die genialsten Mechanismen, die Spezialisten erfunden haben. Denn auch unsere Professoren<br />

<strong>der</strong> Psychologie und Pädagogik bleiben ihrerseits <strong>noch</strong> Lehrlinge. Sie sind <strong>noch</strong> nicht zu den wirklichen<br />

Geheimnissen einer Wissenschaft vorgedrungen, die sie überfor<strong>der</strong>t. Auch sie tasten wie wir, mit ebenso<br />

begrenztem Erfolg, wenn sie mit den wirklichen Problemen des Lebens, ihren eigenen schwierigen<br />

Kin<strong>der</strong>n nämlich, konfrontiert sind; wenn sie den Zurückgebliebenen und Verhaltensgestörten in einer<br />

heterogenen Klasse, die man führen und lenken muss, ausgesetzt sind.<br />

Wir bewun<strong>der</strong>n die fähigen Köpfe, die mit <strong>der</strong> Mathematik jonglieren und sich daran versuchen, vernünftige<br />

Roboter mit einem ersten Ansatz von Intelligenz zu konstruieren.<br />

Wir warten aber <strong>noch</strong> auf den, <strong>der</strong> den Menschen ganz genau zu erforschen wüsste und <strong>der</strong> uns meisterlich<br />

all die Wege zeigte, die unsere arme psychologische Wissenschaft erst langsam entdeckt.<br />

Wir sind alle Lehrlinge. Wir sind alle <strong>noch</strong> in <strong>der</strong> Periode des Tastens, und wir haben die Bresche <strong>noch</strong><br />

nicht gefunden, durch die wir triumphierend in die bis dahin verbotenen Domänen einbrechen könnten.<br />

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Unkenntnis.<br />

Manchmal wird befürchtet, die Erde sei bald zu klein für den Hunger <strong>der</strong> Forscher, die <strong>der</strong> Ruf des<br />

Abenteuers und des Unbekannten lockt.<br />

Aber wir haben <strong>noch</strong> den Menschen zu erforschen und zu erobern. Die Praktiker, die Leute vom Fach<br />

sind aufgerufen, zu dieser Eroberung wie bei allen Entdeckungen den ersten Schritt zu tun, den vielleicht,<br />

<strong>der</strong> in einer Art Kettenreaktion ein unendliches Bedürfnis danach auslöst, den Menschen und<br />

das Kind, den Menschen von morgen, zu entdecken.<br />

102


Lernen erleben, um lehren zu können<br />

Lernwerkstätten und Freinet-Pädagogik<br />

von Angela Bolland<br />

Als ich auf dem Internationalen Freinet-Treffen 1991 in Vila Vicosa, Portugal meine Plakate über die<br />

Arbeit <strong>der</strong> Lernwerkstätten in Wuppertal ausstellte, erntete ich von den Anwesenden skeptische bis<br />

fragende Blicke: Lernwerkstatt, was ist denn das? Und was suchst Du eigentlich hier?<br />

Dass Lernwerkstätten etwas mit <strong>der</strong> Freinet-Bewegung zu tun haben, stand für mich außer Zweifel,<br />

waren doch beide Wuppertaler Lernwerkstätten auf Initiative einer Freinet-Gruppe gegründet worden.<br />

Auch auf den jährlichen Bundestreffen <strong>der</strong> Lernwerkstätten traf ich Freinet-Lehrerinnen, die in<br />

Lernwerkstätten arbeiten.<br />

Aber ich irrte mich, als ich dachte, die beiden „Reformbewegungen“ müssten sich doch kennen und<br />

gegenseitig schätzen.<br />

.... Die Spuren verwischen, die Bewegungen (verkaufen nebeneinan<strong>der</strong> her (im Sande?). Warum überhaupt<br />

auf Spurensuche gehen?<br />

.... wenn es we<strong>der</strong> ‚Lernwerkerinnen‘ <strong>noch</strong> die Freinet-PädagogInnen für wichtig halten?<br />

Je länger ich aktiv zur <strong>Zeit</strong> forschend in Lernwerkstätten arbeite, um so wichtiger wird es mir, die existierenden<br />

Verbindungen zwischen Freinet- und Lernwerkstätten-Bewegung und die in eine gemeinsame<br />

Richtung zielenden Reformideen wie<strong>der</strong> sichtbar zu machen; für die Praxis, und den heutigen<br />

Erziehungswissenschaften zum Trotz, die die Freinet-Pädagogik gern unter den Tisch fallen lassen,<br />

wenn es um Reformpädagogik geht.<br />

I. Ein-Blick eines Freinet-Lehrers:<br />

A.B.: „Inwieweit spielt das, was Freinet-Pädagogik ausmacht, Deiner Meinung nach hinein in die<br />

Lernwerkstätten-Bewegung?“<br />

Auf diese Frage hat <strong>der</strong> Freinet-Lehrer Florian Soll geantwortet, den ich auf dem Bundestreffen <strong>der</strong><br />

Lernwerkstätten im September 1995 zum Verhältnis von Freinet- und Lernwerkstatt-Bewegung interviewt<br />

habe. z)<br />

F. S.: „Ich bin <strong>der</strong> Ansicht, dass viele Wurzeln <strong>der</strong> Lernwerkstatt-Bewegung in <strong>der</strong> Freinet-Bewegung<br />

liegen, und viele <strong>der</strong> in den Lernwerkstätten Engagierten sind ja auch Freinet-Pädagogen...<br />

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Lernwerkstättenbewegung weiß ich nicht so viel... Ich kann mich eher äußern zu <strong>der</strong> ideologischen,<br />

pädagogischen Verwandtschaft, die es da gibt:<br />

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vor<strong>der</strong>gründigen Geschichten: Unsere <strong>Zeit</strong>ung heißt ‚Fragen und Versuche‘. 1) So könnte auch eine<br />

<strong>Zeit</strong>ung <strong>der</strong> Lernwerkstätten heißen.<br />

Das Konzept, das mit dem Wort Lernwerkstatt verknüpft wird, so vage es auch sein mag, vermag viele<br />

103


Menschen anzuziehen, weil es eben so wenig eingrenzbar ist. Der Begriff allein ist sehr weit interpretationsfähig.<br />

... Das ist im Grunde genommen bei <strong>der</strong> Freinet-Pädagogik nicht an<strong>der</strong>s, aber wenn<br />

Du in <strong>der</strong> Bewegung auftauchst, dann wirst Du mit dem ideologischen Bezug konfrontiert werden, mit<br />

<strong>der</strong> Tradition, mit den sozialen Trägern. Freinet ist zwar auch interpretationsfähig, bietet aber einen<br />

engeren Rahmen für mögliche Interpretationen. Du kannst sagen: ‚Schau mal in die Originaltexte von<br />

Freinet!‘ Da gibt es eine eindeutige Quelle..“‘<br />

Lernwerkstätten mit Freinet-Bezug 3)<br />

Altenmelle: Freinet-Grundschul-Treffen zum Entdeckenden Lernen in <strong>der</strong> „Mobilen Lernwerkstatt“<br />

von Barbara Daiber seit 1986<br />

Berlin: Pädagogische Werkstatt Kreuzberg u.a. Mitarbeit von Jenny Wienecke-Kranz, Freinet-<br />

Lehrerin<br />

<strong>Bremen</strong>: Mitarbeit <strong>der</strong> „Pädagogik-Kooperative“ bei den Bundestreffen <strong>der</strong> Lernwerkstätten durch<br />

Gesa Dirks, Annette Munter, Beate Schmilz<br />

Detmold: 1995 Neueröffnung einer Freinet-Lernwerkstatt durch die Freinet-Lehrerin Hilde<br />

Bohnert<br />

Hamburg: Lernwerkstatt-Fortbildungen von den Freinet-Lehrerinnen Lotte Busch, Gudrun Maaser,<br />

Uli Brosch, die Entdeckendes Lernen und Freinet-Pädagogik miteinan<strong>der</strong> verknüpfen.<br />

Herten: Lernwerkstatt als Regionalstelle <strong>der</strong> „Freinet-Kooperative Revier“<br />

Kassel: Aufbau einer Forschungsstelle zur Freinet-Pädagogik durch Herbert Hagstedt, Freinet-<br />

Pädagoge und Leiter <strong>der</strong> Grundschulwerkstatt an <strong>der</strong> <strong>Universität</strong> Kassel<br />

Köln: „Freinet-Lernwerkstatt“ <strong>der</strong> Freinet-Cooperative, Klaus Hoff<br />

Pa<strong>der</strong>born: Betreuung <strong>der</strong> Uni-Lernwerkstatt durch Florian Soll, Freinet-Pädagoge<br />

Rotenburg: „Mobile Lernwerkstatt“ von Gisela Tamm, Freinet-Lehrerin<br />

Saarbrücken: Leitung <strong>der</strong> Lernwerkstatt durch Albert Bier, Freinet-Lehrer<br />

Süddeutschland:������������������������������������������������������<br />

Wuppertal: Gründung <strong>der</strong> Grundschul- und <strong>der</strong> Uni-Lernwerkstatt durch die Initiative <strong>der</strong> Freinet-<br />

LehrerInnen Ulrike Bomheim, Monika Böhnheio, Michael Hefendehl, Ewald Schlimbach<br />

u.a.<br />

II. Schaufenster Lernwerkstatt<br />

Einblick in die ‚Offene Tür‘ <strong>der</strong> Grundschulwerkstatt an <strong>der</strong> <strong>Universität</strong> Kassel:<br />

Montag Nachmittag, 14 Uhr: Zwei Lehrerinnen aus Fulda haben sich nach Schulschluss auf den Weg<br />

gemacht. Ziel ist die Grundschulwerkstatt Kassel; Absicht, hier neue Anregungen für den Unterricht<br />

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begrüßt von <strong>der</strong> Sekretärin Frau König, mit Kaffee und Keksen versorgt und eingeladen, sich in Ruhe<br />

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104


Die Werkstatt ist ein atmosphärisch angenehmer, heller und großer Raum in dem neuen, architektonisch<br />

mit Winkeln und Ecken angelegten Gebäude <strong>der</strong> <strong>Universität</strong>.<br />

Der erste Eindruck ist überwältigend, denn es gibt eine Fülle an Materialideen, die hier gesammelt<br />

sind, liebevoll geordnet in Regalen und an Wänden präsentiert.<br />

Vom Eingang aus fällt <strong>der</strong> Blick auf einen Kreis aus hölzernen Trapeztischchen und Kin<strong>der</strong>stühlen.<br />

Die Stühle für Erwachsene sind ebenfalls im Kreis aufgestellt. Im linken Teil des Raumes erkennen die<br />

beiden Gruppenarbeitstische und Werkarbeitsplätze. Dies scheint also ein Lernort für Erwachsene und<br />

Kin<strong>der</strong> zu sein, aber mit einem Klassenraum hat er wenig gemeinsam.<br />

Der ebenerdige Raum hat Außentüren, einen Arbeitsbereich im Freien und ist durch Regale in verschiedene<br />

Funktionsbereiche unterteilt, die unterschiedliche Arbeitsformen ermöglichen: Die Druckerei-<br />

Ecke ist mit Werktischen ausgestattet, die ein Arbeiten mit Farben, Klebern, Holz usw. erlauben. Hier<br />

darf gekleckst werden.<br />

Obwohl es ansonsten ruhig ist, gehört es zum guten Ton einer ‚Offenen Tür‘ in Kassel, dass die<br />

Besucherinnen die ausgestellten Instrumente in <strong>der</strong> Musikecke, in <strong>der</strong> Werkstatt entstandene, aber auch<br />

afrikanische und asiatische Rhythmus bzw. Schlaginstrumente zum Klingen bringen. Die ‚Steeldrum‘<br />

mit Pentatonik und <strong>der</strong> ‚Rainmaker‘, den eine dritte Klasse letzte Woche in <strong>der</strong> Grundschulwerkstatt<br />

gebaut hat, sind beliebte Attraktionen.<br />

Die beiden Lehrerinnen rätseln, wie die Kin<strong>der</strong> den Rainmaker hergestellt haben. Sie vermuten, dass<br />

Sand o<strong>der</strong> Reis im Innern des Rainmakers ist. Doch wie entsteht das regenähnliche Geräusch?<br />

Langsam wird ihnen klar, welche Schätze hier gesammelt sind, und dass sie einer genauen Betrachtung<br />

bedürfen.<br />

An den Wänden <strong>der</strong> Werkstatt hängt eine Wan<strong>der</strong>ausstellung von Kin<strong>der</strong>-Kunstwerken zum Thema<br />

‚Meine Traum-Schule‘ , die mit geschnitzten Pappvorlagen nach vereinfachtem Offset-Druckprinzip<br />

hergestellt worden sind. Eine Lehrerin <strong>der</strong> Reinhardswaldschule in Kassel, die schon öfter hier zu Gast<br />

war, fragt Herbert Hagstedt, den Leiter <strong>der</strong> Werkstatt, wie dieses Druckverfahren funktioniert. Die zwei<br />

neuen Lehrerinnen stellen sich interessiert dazu. Sie erfahren, dass die Kollegin aus Kassel wie sie<br />

selbst auch eine vierte Klasse unterrichtet und nach neuen Anregungen Ausschau hält.<br />

In <strong>der</strong> Druckerei-Ecke arbeitet Tina, eine studentische Mitarbeiterin <strong>der</strong> Werkstatt, die gerade ein Plakat<br />

für die Ankündigung <strong>der</strong> Erstsemesterfeier in <strong>der</strong> Grundschulwerkstatt fertigstellt.<br />

In <strong>der</strong> Werk-Ecke schauen überdimensionale Masken von den Wänden herab. Sind die wirklich selbst<br />

gebaut?<br />

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‚Dosendiktate‘ und mit Bil<strong>der</strong>n beklebte ‚Satzfächer‘, die sie ausprobieren. Sie entdecken ein Mini-<br />

Buch mit <strong>der</strong> Aufschrift ‚Klasse l a‘: Worte, einfache Sätze, mit bunten Bil<strong>der</strong>n, von Kin<strong>der</strong>n geschrieben,<br />

gesetzt, gedruckt und zu diesem Buch gebunden, erstaunlich für eine erste Klasse?<br />

Würden wir die Arbeitsformen <strong>der</strong> Grundschulwerkstatt Kassel aus einer Woche nebeneinan<strong>der</strong> in verschiedene<br />

Schaufenster stellen, so würden vielleicht im nächsten Schaufenster Lehramtsstudentinnen<br />

105


zu sehen sein, die teilweise im Freien zum Thema ‚Naturphänomene‘ arbeiten, im nächsten Fenster<br />

eine Lehrerinnenfortbildung, auf <strong>der</strong> freie Texte verfasst und gedruckt werden, danach Kin<strong>der</strong> einer<br />

ersten Klasse, die unter Leitung von Studentinnen ihre ersten mathematischen Selbstportraits ‚schreiben‘.<br />

Ein an<strong>der</strong>es Fenster zeigt eine Gruppe, die sich zum Workshop ‚Fühlbil<strong>der</strong>‘ getroffen hat, weitere<br />

eine einzelne Studentin, die mit einem Grundschulkind aus dem ‚Schülerhilfe-Projekt‘ Schminken und<br />

Verkleiden spielt o<strong>der</strong> zwei Studentinnen, die den ‚Milchtütendruck‘ für ihre Unterrichtsstunde vorbereiten.<br />

Die Schaufenster an<strong>der</strong>er Lernwerkstätten wären in manchem ähnlich, sähen teilweise aber auch ganz<br />

an<strong>der</strong>s aus.<br />

Die Grundschulwerkstatt in Kassel gehört zu den Lernorten, bei denen die Verbindung zur Freinet-<br />

Pädagogik durch die Druckerei und an<strong>der</strong>e praktische Ateliers, Materialien und Ideen für den „freien<br />

Ausdruck“, von Kin<strong>der</strong>n verfasste Schulbücher und Projektehefte schon im Raum sichtbar wird.<br />

III. Konzept-Bausteine <strong>der</strong> Lernwerkstattarbeit<br />

Die konzeptionelle Basis meiner Arbeit mit Studentinnen und Lehrerinnen in Lernwerkstätten möchte<br />

ich anhand von fünf ‚Bausteinen‘ umreissen, die sich aus sieben Jahren praktischer Erfahrungen<br />

herauskristallisiert haben. In <strong>der</strong> Gegenüberstellung dieser Bausteine mit Grundideen <strong>der</strong> Freinet-<br />

Pädagogik sollen Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede deutlich werden.<br />

1. Baustein: Konfrontatives Materialangebot<br />

O<strong>der</strong>: Wie über Material die Köpfe in Bewegung geraten!<br />

Florian Soll: „Die Nähe, die enge Verwandtschaft liegt z.B. in <strong>der</strong> Arbeit in Ateliers ... darin, dass Célestin<br />

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zu Lernwerkstätten, die Material bereitstellen, die Funktionsecken einrichten, Archive usw....“<br />

Besucherinnen schätzen die Lernwerkstätten aufgrund <strong>der</strong> darin angesammelten Fülle von Material<br />

und Unterrichtsideen. Atmosphärisch ansprechende, anregungsreich gestaltete Lernlandschaften laden<br />

zum Betrachten und Stöbern ein. Über die Präsentation von an<strong>der</strong>sartigem, ungewöhnlichem<br />

Unterrichtsmaterial wird so manche Lehrerin mit einer nicht in ihr Konzept passenden Lehrhaltung<br />

konfrontiert. Hinter <strong>der</strong> Materialidee steckt eine implizite Herausfor<strong>der</strong>ung zum Überdenken <strong>der</strong> eigenen<br />

Praxis.<br />

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... zum Beispiel Lehrerinnenfortbildung:<br />

In <strong>der</strong> Grundschulwerkstatt <strong>der</strong> <strong>Universität</strong> Kassel sind eintägige Lehrerinnenfortbildungen, teilweise<br />

106


von ganzen Kollegien üblich:<br />

Eine Lehrerinnengruppe arbeitet zu einem selbstgewählten Thema, zum Beispiel „Neue Ideen für den<br />

Mathematikunterricht“. Dazu steht als Angebot in <strong>der</strong> mathematischen Ecke eine Kiste mit Knöpfen,<br />

Holzbausteine, Messgeräte, ein ‚Zahlenzerlegungskasten‘ ein ‚Mathe-Karussell‘, ein ‚Kopfrechen-<br />

Kasten‘ u.v.a.<br />

Der Kopfrechen-Kasten, bestehend aus leeren Eiernoppen, dem Innenleben von Pralinenschachteln<br />

usw. wird betrachtet und ausprobiert: Eine Lehrerin, welche die Kopfrechenaufgabe für alle stellt, zieht<br />

eine <strong>der</strong> leeren Schachteln aus dem Kopfrechen-Kasten heraus. Die an<strong>der</strong>en müssen per ‚Kopfrechnen‘<br />

ermitteln, wieviele leere Elemente die Schachtel hat.<br />

KOPF-RECHNEN AUF ANSCHAULICHE ART<br />

Die Materialidee� ������������ ����� ���� ��� ������������ ����� �����<br />

Aufwand beim Herstellen des Materials gibt.<br />

Dass <strong>der</strong> Kopfrechenkasten je nach Abstraktionsvermögen den Kin<strong>der</strong>n unterschiedliche Rechenwege<br />

von Addition bis Multiplikation ermöglicht und darüber auch die kindliche Entdeckung <strong>der</strong> Verkürzung<br />

des Rechenwegs offenlässt, wird erst im folgenden Gespräch deutlich. Die Tatsache, dass Kin<strong>der</strong> sich<br />

gegenseitig Aufgaben stellen und auch ihre Lösung prüfen können, ermöglicht <strong>der</strong> Lehrerin, in den<br />

Hintergrund zu treten und dem Lernen <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> zuzuschauen. Dies verlangt aber einen an<strong>der</strong>en<br />

Umgang mit <strong>der</strong> traditionell geprägten Lehr-Rolle. Wenn die Lehrerinnen nicht nur die Materialidee imitieren,<br />

kann dies ein Anstoß sein, um den Kin<strong>der</strong>n individuelle, selbstgestaltete, aber auch kooperative<br />

Lernwege zu eröffnen.<br />

107


2. Baustein: Konfrontative Lernorte - Nicht für alle das Gleiche zur gleichen <strong>Zeit</strong><br />

O<strong>der</strong>: Über die Notwendigkeit, sich selbst für Neues zu öffnen um ‚Offenen Unterricht‘ machen zu<br />

können.<br />

... zum Beispiel ein Seminar mit Lehramtsstudierenden:<br />

Ein Blockseminar in <strong>der</strong> Lernwerkstatt Uni Wuppertal zum Thema ‚Arbeitstechniken <strong>der</strong> Freinet-<br />

Pädagogik‘ (‚Methode naturelle‘. Freie Arbeit und Freier Ausdruck, Korrespondenz etc.): Die<br />

Studierenden teilen sich in Gruppen auf. Nach dem Selbstlernprinzip werden in einem Atelier freie<br />

Texte und <strong>Zeit</strong>ungen gedruckt, in einem an<strong>der</strong>en Bücher gebunden usw.<br />

Die Arbeitsweisen in <strong>der</strong> Lernwerkstatt fallen aus <strong>der</strong> klassischen Vortragssituation in Seminaren und dem<br />

theoretisch geprägten Uni-Alltag heraus: Die praktischen Erfahrungen werden zum Ausgangspunkt für<br />

Fragen, Diskussionen um Unterrichtsformen und für die Aneignung theoretischen Hintergrundwissens.<br />

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uns alle eine neue Lernerfahrung in Uni-Zusammenhängen.<br />

In <strong>der</strong> räumlichen Einrichtung <strong>der</strong> Lernwerkstätten werden Freinets Grundgedanken von alternativer<br />

Klassenraumgestaltung plastisch nachvollziehbar: Arbeitskarteien, die Bibliothek mit den zum Teil<br />

selbstverfassten Büchern und Berichten, Arbeitsecken für naturwissenschaftliche Experimente, die<br />

Arbeitspläne und beson<strong>der</strong>s die Schuldruckerei mittlerweile oft ergänzt vom Computer gehören zum<br />

Inventar <strong>der</strong> meisten Werkstätten.<br />

Der Ort Lernwerkstatt mit seiner Fülle von Ateliers zeigt, wie ein an<strong>der</strong>s gestalteter Lernort aussehen<br />

kann, ist eine Sammelstelle didaktischer Reformideen und lässt diese gegenständlich sichtbar werden.<br />

Und in <strong>der</strong> konkreten Arbeit wird den Besucherinnen deutlich, wie sehr sie selbst sich in die unterschiedlichsten<br />

Tätigkeiten verwickeln, auf einmal ihren Neigungen nachgehen, hinterher trotzdem interessiert<br />

bei <strong>der</strong> Vorstellung <strong>der</strong> jeweiligen Arbeitsergebnisse zuhören. In Lernwerkstätten können<br />

„institutionell ignorierte und diskriminierte Lernformen, wie unsystematisches, zeitvergessendes,<br />

��������������������������������������������<br />

Wenn auch Kin<strong>der</strong> so lernen, wenn sie in den unterschiedlichsten Ateliers im Klassenraum selbsttätig<br />

arbeiten, sich bei <strong>der</strong> Lösung einer Aufgabe allmählich vorwärts tasten, dann zu ihrem Ergebnis kommen<br />

und dies den an<strong>der</strong>en aus <strong>der</strong> Klasse vorstellen können, bedeutet das eine radikale Wandlung im<br />

Lernalltag <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> und in <strong>der</strong> Auffassung <strong>der</strong> Lehr-Rolle: Aufgabe <strong>der</strong> Lehrerin ist es jetzt vor allem,<br />

durch die Bereitstellung angemessener Arbeitsmaterialien und Techniken eine geeignete Lernumgebung<br />

zu schaffen. Der Son<strong>der</strong>schullehrer und Freinet-Pädagoge Dieter Hartmann beschreibt in seinem Buch<br />

‚Wann machen wir freie Arbeit‘ seine Motive für die Arbeit in Ateliers bzw. Arbeitsecken so:<br />

„Ausgangspunkt meiner Überlegungen, beson<strong>der</strong>e Arbeitsecken einzurichten und auszustatten, ist<br />

meine Ansicht, dass nicht alle Schüler zur gleichen <strong>Zeit</strong> einen ganz bestimmten Stoff aufzunehmen<br />

bereit sind.“ 5)<br />

108


In Hartmanns Klasse sind an Arbeitsecken vorhanden:<br />

Die Druckecke, die Buchbindeecke, eine Schreibmaschine, eine Spielesammlung, die Marmorierecke,<br />

eine Arbeitsecke mit einem Webrahmen, ein Papierschöpfrahmen mit Wanne und ein Fotolabor.<br />

In den Ateliers werden die normalen Tätigkeiten <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> (o<strong>der</strong> mit an<strong>der</strong>en Worten: ihre elementaren<br />

Bedürfnisse), sich bewegen, tasten, fühlen, beobachten, experimentieren, in die Schularbeit einbezogen.<br />

„Wirklich wichtig“ schreibt Freinet „ist nicht das Wissen, sind nicht einmal die Entdeckungen, wichtig ist<br />

das Forschen. Der Geist ist nicht eine Scheune, die man füllt, son<strong>der</strong>n eine Flamme, die man nährt.“<br />

6)<br />

Lernwerkstätten sind Orte außerhalb, tragen nicht das Etikett ‚Schule‘, präsentieren sich offen im doppelten<br />

Wortsinn als ‚Spiel-Räume‘, laden ein zum Experimentieren und Ausprobieren.<br />

In diesem „Spiel-Raum“ können Lehrerinnen die Erfahrung eines an<strong>der</strong>en Lernens zunächst einmal<br />

für sich machen. Lernen in Lernwerkstätten bedeutet für mich, „sich wie<strong>der</strong> selbstforschend auf eine<br />

Sache einzulassen, persönlich bedeutsamen Fragen nachzugehen, das Staunen wie<strong>der</strong> zu lernen.“<br />

7)<br />

Der Grundgedanke, Lehrende auf dieselbe Art und Weise lernen zu lassen, in <strong>der</strong> sie auch mit Kin<strong>der</strong>n<br />

arbeiten wollen, bestimmt sowohl die Arbeit in Lernwerkstätten als auch in Freinet-Gruppen. 8) Um diese<br />

Idee lebendig zu vermitteln, reicht kein Offene-Tür-Besuch; es bedarf dazu <strong>der</strong> aktiven, intensiven<br />

Mitarbeit in mehreren Seminaren o<strong>der</strong> Workshops. Über die Erfahrung wird vermittelt, dass „Lernen<br />

eine eigenständige und sinnbringende Leistung des Lernenden ist“ 9).<br />

Je<strong>der</strong> Lehrende steht dabei an einem an<strong>der</strong>en Punkt von berufsbezogener Selbsterfahrung, von<br />

Öffnungsund Verän<strong>der</strong>ungsbereitschaft und muss die je eigenen (ersten) Schritte zu <strong>der</strong>en Umsetzung<br />

im Schulalltag selbstgetreu entwickeln.<br />

... zum Beispiel Werkstatt-Seminare an <strong>der</strong> <strong>Universität</strong> Wuppertal:<br />

Den Ausgangspunkt für theoretische Seminarbestandteile bildet eine praktische Arbeitsphase zum<br />

‚Entdeckenden Lernen‘: Die Studierenden suchen gemeinsam ein Thema, diesmal „Die Vier Elemente‘.<br />

Der Workshop zum Entdeckenden Lernen beinhaltet:<br />

��ein<br />

Brainstorming im Plenum zum Einstieg in das Thema<br />

��das<br />

Suchen und Finden von individuell bedeutsamen Fragen<br />

��die<br />

Bildung von Gruppen für die Freiarbeitsphase<br />

��ein<br />

Gruppen-Schreibgespräch über die eigenen Fragen<br />

��die<br />

selbstorganisierte Freiarbeit in Gruppen<br />

��die<br />

Dokumentation <strong>der</strong> eigenen Lernspuren im Lernjournal<br />

��die<br />

Präsentation <strong>der</strong> Lernschritte, Erfahrungen und Ergebnisse im Plenum.<br />

109


Alle haben ihren Zugang zum gemeinsamen Thema gesucht und gefunden:<br />

Während einige sich dem Thema naturwissenschaftlich mit Reagenzgläsern, Bunsenbrennern und<br />

Laborutensilien näherten, hatten an<strong>der</strong>e freie Texte und Haikus geschrieben, Fotos von Feuer, Erde,<br />

Luft und Wasser gesammelt bzw. gemalt.<br />

Zwei Studentinnen haben mit Blick auf die Frage nach dem Verhältnis <strong>der</strong> vier Elemente zueinan<strong>der</strong><br />

mit einem „lebenden Mini-Biotop“ unter einer Käseglocke experimentiert, wie<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e einen<br />

Sinneskasten zum Erleben <strong>der</strong> vier Elemente gebaut, Eine hat in <strong>der</strong> Bibliothek über Alchemie gelesen<br />

und kann historische Informationen beisteuern.<br />

Bei <strong>der</strong> Präsentation wird den Studentinnen das Spektrum an Annäherungen und Umsetzungsmöglichkeiten<br />

deutlich. Die gebündelte Energie des Gelernten, vorgetragen von den „Wie<strong>der</strong>entdeckerinnen“ selbst,<br />

wird fast automatisch zum Ausgangspunkt für didaktische Verlegungen: Können wir mit Kin<strong>der</strong>n auf<br />

diese Art und Weise Unterricht machen? Wenn ja, wie?<br />

������������ ��������� ��������������������<br />

O<strong>der</strong>: wer lehrt, sollte Freude am Selbstlernen haben!<br />

��������������������������������������������������������<br />

Eine Arbeitsvereinbarung in meinen Lernwerkstatt3eminaren besteht darin, dass die Studierenden bereit<br />

sind, sich selbst beim Lernen über die Schulter zu schauen und ihren eigenen Lernprozess zum<br />

Beispiel anhand von Fragen bewusst mitzuverfolgen: Wie lerne ich selbst (am besten)? Was habe ich<br />

heute dazugelernt? Was bedeutet Lernen in <strong>der</strong> Lernwerkstatt für mich? Dazu werden Lernjournale<br />

angelegt und gestaltet, in denen wichtige Gedanken, Geistesblitze und Ideen gesammelt werden.<br />

Eine Studentin schreibt nach ihren ersten Versuchen, freie Texte zu verfassen:<br />

„Es ist immer wie<strong>der</strong> erstaunlich, wie viel Energie ich aufbringen kann, wenn ich das Gefühl habe, dass<br />

�����������������������������������������������������<br />

und erholsam.“<br />

�������������������������������������������������������������<br />

„Lernen unter an<strong>der</strong>en Gesichtspunkten! Miteinan<strong>der</strong> nicht gegeneinan<strong>der</strong>, Interesse an <strong>der</strong> Sache,<br />

Motivation !!! Einan<strong>der</strong> besser kennen lernen als in an<strong>der</strong>en Seminaren, toll auch die vielen Ideen,<br />

z. B. das Vorstellen mit Wollknäuel, die Wichtigkeit eines körperlichen und geistigen Ausgleichs,<br />

Entspannung, Kreativität! Gespanntsein auf das, was mich heute hier erwartet, Erfolgserlebnis nach<br />

einem vollendeten Arbeitsgang, neue Möglichkeiten für mich und meine spätere Klasse. Am Schluss<br />

<strong>der</strong> Frust: warum kann Uni nicht immer so sein? Dann könnte ich viel mehr mitnehmen!“<br />

110


Der Weg zur Verän<strong>der</strong>ung unseres Unterrichts führt durch uns selbst hindurch. Erst die Erfahrung macht<br />

fassbar, was sich hinter Worthülsen wie ‚Lernen mit- und voneinan<strong>der</strong>‘ o<strong>der</strong> dem ‚Fächerübergreifenden<br />

Prinzip‘ verbirgt. Den früheren Schulerfahrungen können alternative Lernerfahrungen gegenübergestellt<br />

werden, die über den eigenen Lern-Horizont hinausgehen und seine Begrenztheit bewusstma-<br />

�����������������������������������������������������������<br />

Aufbrechen gän-<br />

giger Lernwege und Lehr-Rollenklischees, hin zu verän<strong>der</strong>ten Handlungsweisen im Unterricht mit den<br />

Kin<strong>der</strong>n.<br />

Und wer ‚offene‘ Lernprozesse und ‚Entdeckendes Lernen‘ zunächst bei sich selbst erlebt und an sich<br />

������������������������������������������������������������<br />

von <strong>Zeit</strong>, nicht gedrängt zu werden u.a.), sich auf einmal in <strong>der</strong> ungewohnten Rolle des ‚Ratsuchenden‘<br />

�������������������������������������������������������������<br />

Blick.<br />

Roland Laun benennt eines <strong>der</strong> wesentlichen Elemente <strong>der</strong> Freinet-Pädagogik ‚Entdeckendes Lernen,<br />

Selbsttätigkeit und kooperatives Arbeiten“ und beschreibt es für die Freinet-Klasse folgen<strong>der</strong>maßen:<br />

„Eigeninitiative beim Lernen und kooperatives Arbeiten wird in <strong>der</strong> Freinet-Klasse durch einen Unterricht<br />

möglich, <strong>der</strong> von den Erfahrungen ausgeht, die die Kin<strong>der</strong> in die Klasse hineintragen und dort als<br />

Fragen, Versuche, Vorträge, als selbstverfasste Texte o<strong>der</strong> als Nachforschungen in Büchern und<br />

Informationsheften weiter bearbeiten. Direkte sinnliche Eindrücke aus dem Milieu, in dem die Kin<strong>der</strong><br />

aufwachsen, sind Angelpunkt des Lernens.“ 10)<br />

Um solche Lernprozesse bei Kin<strong>der</strong>n zulassen, för<strong>der</strong>n und unterstützen zu können, sind Lehrer-Lern-<br />

���������������������������������������������������������������� -<br />

tierenden Ebene eine wichtige Voraussetzung: Daran anknüpfend werden Selbsterforschungen <strong>der</strong><br />

Lehrerinnen in ihrem alltäglichen Handeln möglich.<br />

���� ��������� �������� ���������������� ����Selbsterforschung ���� �������des �����<br />

Alltagshandelns von Lehrerinnen, wie sie als Baustein <strong>der</strong> Lernwerkstattarbeit beschrieben werden<br />

kann, ist in den letzten Jahren in <strong>der</strong> Freinet-Bewegung vernachlässigt worden.<br />

Florian Soll: „Die Arbeit in Ateliers o<strong>der</strong> <strong>der</strong> freie Ausdruck... dabei kann ruhig auch „Dreck“ entstehen.<br />

Aber das gestattet dem Individuum erst mal, etwas herauszulassen, ohne dass es direkt mit Lernen zu<br />

tun haben muss.<br />

Das ‚Expressive‘ (die Expression, <strong>der</strong> freie Ausdruck, A.B.) kommt zum Zuge und das ist sehr gut, ...<br />

aber dieses Gucken nach Gesetzmäßigkeiten, nach Zusammenhängen, nach Ursachen ist (in <strong>der</strong><br />

Freinet-Bewegung, A.B.) nicht sehr beliebt. ... Es kommt bei den Freinet-PädagogInnen stärker auf die<br />

gemeinschaftliche Aktion und den Spaß bei <strong>der</strong> Sache an.“<br />

Freinet selbst hatte mehr im Blick. Die von ihm gegründete französische Lehrerinnenbewegung, die<br />

Kooperative, sollte „eine gigantische pädagogische Arbeitsgilde“ werden, die schrittweise an die experimentelle<br />

Überprüfung <strong>der</strong> eigenen pädagogischen Arbeit herangeht und ihre Erfahrungen darüber<br />

austauscht. Die Kooperative sollte „die alten Teile, die sich als kostbar erweisen, festigen und überall<br />

111


dort schöpferisch tätig (sein) und Aufbauarbeit leisten, wo es notwendig ist“.<br />

„Man hat uns gelehrt“, schreibt Freinet 1945 in <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>schrift L‘Éducateur, „unsere ganzen pädagogischen<br />

Anstrengungen auf einem falschen intellektuellen Prozess aufzubauen, <strong>der</strong> Bankrott gemacht<br />

hat. Der neue Lehrer muss heute aus an<strong>der</strong>en Quellen... schöpfen. ‚Und die Lösungen?‘, werden sie<br />

entgegnen. Wir würden unserer wissenschaftlichen Methode nicht gerecht, wenn wir behaupten, ihnen<br />

�����������������������������������������������������������<br />

<strong>der</strong> wissenschaftlichen Methode erprobt haben, indem wir in <strong>der</strong> Erfahrung und durch die Erfahrung<br />

selbst die Methoden und das Material ausgesiebt haben, die sich als unzulänglich erwiesen. Wir haben<br />

Fährten freigelegt, <strong>der</strong>en Erforschung ernsthaft betrieben wird und auf die sie sich von jetzt an mit dem<br />

Wissen um einen tröstenden Prozentsatz an Erfolg und Wirksamkeit begeben können.“ 12)<br />

Das Selbstverständnis <strong>der</strong> Lernwerkstättenbewegung, Zentren des gemeinsamen Lernens und<br />

Austausches zu sein, deckt sich mit Freinets Vorstellungen einer ‚Bewegung‘, die sich empirisch, sprich<br />

erfahrungsorientiert, auf den Weg zur ‚École Mo<strong>der</strong>ne‘ macht:<br />

���������������������������������������������������<br />

Wir passen die existierenden Techniken so gut an unsere Arbeit an, wie wir können. Unser Wunsch<br />

���� ��� ����� ������������� ���� ���������� ���� �������� �������� -<br />

so Arbeitstechniken auszubauen, die es uns erlauben, die kreativen Fähigkeiten <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> für die<br />

Erziehung am besten zu nutzen.“ 13)<br />

Die Lernwerkstätten-Bewegung hat diesen ursprünglichen Gedanken <strong>der</strong> Freinet-Bewegung wie<strong>der</strong>belebt<br />

und anfassbar vor Augen gestellt.<br />

4. Baustein: Voneinan<strong>der</strong> lernen und Selbstorganisation<br />

O<strong>der</strong>: Lernen zwischen Konsum und Selbst-Verantwortung<br />

... zum Beispiel Aufbauarbeit einer Studentinnen-Initiative: Die Gründung <strong>der</strong> Grundschulwerkstatt<br />

an <strong>der</strong> <strong>Universität</strong> <strong>Bremen</strong> geschah auf Initiative einer Gruppe Studieren<strong>der</strong>, die Kritik an <strong>der</strong><br />

Hochschulausbildung übten und ihr Studium selbst in die Hand nehmen wollten. Einige Studentinnen<br />

arbeiteten in <strong>der</strong> Lernwerkstatt „Büffelstübchen“ 14) und schlugen den Aufbau einer Uni-Lernwerkstatt<br />

für die Grundschullehrerinnenausbildung vor.<br />

Sie besetzten einen <strong>der</strong> Räume, beantragten mit Hilfe von Prof. Dr. Hans Brügelmann die Finanzierung<br />

über einen Modellversuch und erarbeiteten ein inhaltliches Konzept.<br />

��������������������������������������������������������������<br />

in denen miteinan<strong>der</strong> und voneinan<strong>der</strong> gelernt wird, als Alternative zum professorengeleiteten Seminar.<br />

Der Kreis <strong>der</strong> Tutorinnen erweitert sich, das Angebotsspektrum (<strong>der</strong>zeit neu: Gitarrenkurs) verän<strong>der</strong>t<br />

sich je nach Interessenlage <strong>der</strong> Primarstufenstudentinnen.<br />

Die Arbeit <strong>der</strong> Grundschulwerkstatt ist im Fachbereich anerkannt und jetzt wie<strong>der</strong> über eine neue<br />

Hochschullehrerin und ihre Mitarbeiterinnen fest in den Studienbetrieb eingebunden.<br />

112


... zum Beispiel Freinet-Gruppe in <strong>der</strong> Lernwerkstatt Wuppertal:<br />

Alle 14 Tage trifft sich eine Gruppe von Freinet-Lehrerinnen in <strong>der</strong> Lernwerkstatt Grundschule<br />

Wilkhausstraße, um zu einem aktuellen Thema zu arbeiten. Die Zusammensetzung <strong>der</strong> Gruppe ist<br />

relativ stabil, sie existiert schon seit mehreren Jahren als berufsbegleitendes Forum. Hier soll u.a. <strong>Zeit</strong><br />

sein für den Austausch über alltägliche Schwierigkeiten. Momentanes Thema: Gewalt. An diesem Tag<br />

ist ein befreundeter Freinet-Lehrer zu Besuch, <strong>der</strong> mit <strong>der</strong> Gruppe Boal‘sches Theater spielt. Die anschließende<br />

Diskussion kreist um die Frage, wie diese Theaterform beim Thema Gewalt in die Arbeit<br />

mit Kin<strong>der</strong>n einbezogen werden kann.<br />

Über die jährlichen bundesweiten Fortbildungen <strong>der</strong> Freinetbewegung 15) schreibt Ingrid Dietrich,<br />

langjährige Freinetpädagogin an deutschen Hochschulen 16):<br />

„Gibt es denn so was: Selbstorganisierte, sowohl spontane als auch strukturierte, von den<br />

Teilnehmerinnen getragene, lustbetonte Lehrerfortbildung? Ja... bei den Freinis! Organisationsprinzip:<br />

Ich biete an...<br />

��Ich<br />

verfüge über eine kreative Fähigkeit und möchte sie an<strong>der</strong>en weitergeben.<br />

��Ich<br />

habe ein Problem (didaktisch, methodisch, etc.) und möchte es mit interessierten, sachkundigen<br />

Kolleginnen durchdiskutieren.<br />

��Ich<br />

möchte selbst eine neue ... künstlerische o<strong>der</strong> handwerkliche Technik erproben. Zusammen<br />

mit an<strong>der</strong>en.<br />

��Daneben<br />

existieren in durchaus ‚traditioneller‘ Seminarform:<br />

��Fach-<br />

und schulformbezogene Gruppen (z.B. Lesen durch Schreiben, Rechnen in <strong>der</strong><br />

Son<strong>der</strong>schule etc.)<br />

��Selbsterfahrungs-,<br />

Sport-, Meditationsgruppen, Tangotanzen, Chorsingen etc.<br />

Hier kann jede(r) etwas tun, was Spaß macht, zusammen mit an<strong>der</strong>en... . Jede(r) trägt die Verantwortung<br />

für das, was er, sie anbietet. Es wird allenfalls koordiniert, nichts kontrolliert. Alle sind sehr sensibel<br />

gegenüber Führungsansprüchen, die abgelehnt werden...“ 17)<br />

Dieses ‚freinet‘sche‘ Prinzip <strong>der</strong> Selbstbildung, die ‚Autodidactine‘ charakteristisch für die selbstorganisierten<br />

Fortbildungen <strong>der</strong> Freinet-Bewegung entspricht <strong>der</strong> Lernwerkstattidee des Lernens mit- und<br />

voneinan<strong>der</strong>.<br />

Allerdings wird <strong>noch</strong> in zu wenigen Lernwerkstätten in solchen Formen selbstorganisierten Lernens<br />

������������������������������������������������������������<br />

sicherlich ausbaufähig, wenn die Leitung in Lernwerkstätten dafür Raum lässt.<br />

In den meisten Lernwerkstätten hat sich dagegen eine Arbeitsform durchgesetzt, die als eine von vielen<br />

Arbeitsweisen sicherlich ihre Berechtigung hat: Eine Gruppe Lehrerinnen möchte beispielsweise innerhalb<br />

weniger Stunden anschaulich und mit <strong>der</strong> Möglichkeit, praktisch zu arbeiten, über ein Thema,<br />

z.B. „Projektarbeit in <strong>der</strong> Grundschule“ o<strong>der</strong> „Die Arbeit mit <strong>der</strong> Druckerei“ informiert werden. In diesem<br />

113


Fall bietet es sich an, innerhalb eines festen Rahmens (z.B. eigene Texte schreiben, eine knappe,<br />

grundlegende Einführung ins Drucken, drucken <strong>der</strong> eigenen Texte, Schlussdiskussion: Die Druckerei<br />

in <strong>der</strong> Schule) zu arbeiten.<br />

Wenn aber ‚angeleitete‘ Arbeitsformen in Lernwerkstätten zu stark im Vor<strong>der</strong>grund stehen o<strong>der</strong> gar ausschließlich<br />

werden, bleibt die Selbsterfahrung mit offenen, selbstorganisierten und selbstverantwortlichen<br />

Lernprozessen auf <strong>der</strong> Strecke. Gerade dies sind aber Erfahrungen, die Lehrende brauchen, um<br />

selbstorganisierte Arbeitsweisen unter Kin<strong>der</strong>n im Unterricht einführen und för<strong>der</strong>n zu können.<br />

SELBSTORGANISIERTES ARBEITEN MITEINANDER<br />

Roland Laun beschreibt dies in seinem Buch „Freinet 50 Jahre danach“ mit Blick auf die Kin<strong>der</strong> folgen<strong>der</strong>maßen:<br />

„Dies erscheint mir <strong>der</strong> Kern von Freinets Pädagogik:<br />

den Kin<strong>der</strong>n Werkstatt-Techniken und institutionelle Techniken zu vermitteln, mit denen sie selbstorganisiert<br />

arbeiten. (...) Die institutionellen Techniken: eine Klassenordnung wird geschaffen, nach <strong>der</strong>en<br />

�������������������������������������������������������������� -<br />

se Körperschaften planen die Lern- und Produktionsarbeit <strong>der</strong> Klasse und regulieren <strong>der</strong>en soziales<br />

Leben, sie sind die Instrumente <strong>der</strong> Selbstorganisation.“ 18)<br />

Es ist daher nicht sinnvoll, aus Lernwerkstätten reine Service-Stationen zu machen, wo für jedes<br />

Anliegen schnell ein Angebot aus <strong>der</strong> Tasche gezaubert wird. Es käme darauf an, auch Prozesse des<br />

Voneinan<strong>der</strong>lernens unter den Teilnehmenden zu ermöglichen. Damit entsteht ein Rahmen, eine „vorbereitete<br />

Umgebung“ (Montessori), innerhalb <strong>der</strong>er die Teilnehmenden aber die Verantwortung für ihr<br />

Lernen selbst übernehmen müssen.<br />

Für Leiterinnen bedeutet dies: wer neue Lehr- und Lernformen vermitteln will, kommt nicht umhin, sie<br />

in <strong>der</strong> eigenen Seminarpraxis o<strong>der</strong> Fortbildung zu praktizieren.<br />

114


5. Baustein: Kommunikationsund Kooperationsformen entwickeln und erleben<br />

O<strong>der</strong>: Wi<strong>der</strong> die alltägliche Ellbogenmentalität!<br />

... zum Beispiel regionale Kooperation in Kassel:<br />

In <strong>der</strong> Grundschulwerkstatt in Kassel arbeiten Personengruppen miteinan<strong>der</strong>, die üblicherweise selten<br />

Kontakt haben:<br />

��Lehrerinnen<br />

von verschiedenen Schulen aus <strong>der</strong> Region, die sich hier austauschen<br />

��Lehrerinnen<br />

eines Kollegiums, die fächerübergreifend zu einem Thema arbeiten<br />

��Lehrerinnen<br />

aus verschiedenen Schulstufen, die altersgemischtes Arbeiten thematisieren<br />

��Eltern,<br />

die einen ‚praktischen‘ Elternabend mit Lehrerinnen und dem Rektor in <strong>der</strong><br />

Grundschulwerkstatt durchführen<br />

��Studierende,<br />

die im Schülerhilfe-Projekt ausgewählte Grundschulkin<strong>der</strong> betreuen<br />

��Studierende,<br />

die an einer Fortbildung teilnehmen<br />

��Professorinnen,<br />

die an einer Lehrerinnenfortbildung teilnehmen<br />

��Studentische<br />

Mitarbeiterinnen <strong>der</strong> Werkstatt, die eine Klasse während ihres eintägigen Besuchs<br />

betreuen.<br />

�������������������������������������������������������������� -<br />

nen, macht es notwendig, mit Techniken zu arbeiten, die den Erfahrungsaustausch untereinan<strong>der</strong> und<br />

offenes Arbeiten miteinan<strong>der</strong> in Gang setzen. Hier deckt sich die Lernwerkstattarbeit mit den kooperativen<br />

Techniken <strong>der</strong> Freinet-Pädagogik: ‚Schreibgespräche‘ ermöglichen tiefgehende Gespräche aller<br />

mit allen, die Wandzeitung mit ihren Rubriken „Ich lobe Ich kritisiere Ich schlage vor“ macht Prozesse<br />

in <strong>der</strong> Gruppe sichtbar und öffentlich. Die praktische Arbeit in Ateliers, die Zusammenarbeit wie selbst-<br />

������������� ���������� ������� ������ ����� �����������������<br />

Grenzen hinweg.<br />

Die seltener angewandte, freinet‘sche Arbeit im ‚Klassenrat hilft, die Selbstverwaltung einer Arbeitsgruppe<br />

(und wenn es nur an einem einzigen Tag ist!) zu institutionalisieren.<br />

115


Von schulischen Zusammenhängen befreit, erleben Lehrerinnen und Studierende die Vorzüge eines<br />

Miteinan<strong>der</strong>arbeitens; denn <strong>der</strong> Alltag von Lehrerinnen und Studierenden ist ja immer <strong>noch</strong> von isolierter<br />

Einzelarbeit und Konkurrenzverhalten geprägt. ... zum Beispiel Schulprojekte mit Studentinnen:<br />

An Projektunterricht interessierte Lehrerinnen aus dem Bergischen Land treffen sich mit<br />

Lehramtsstudentinnen zum Schulprojekte-Seminar in <strong>der</strong> Lernwerkstatt Wuppertal.<br />

Die Lehrerinnen beschreiben geplante Projekte, für die sie sich Hilfe von den Studentinnen erwarten.<br />

Die Studierenden ordnen sich in Teams den jeweiligen Klassenlehrerinnen zu, arbeiten in den Klassen<br />

mit. Die Lernwerkstatt dient als Ort <strong>der</strong> Verständigung, Vorbereitung, Nachbereitung.<br />

��� ������ �������� ����� ���� �������� ������������ ���� ���������<br />

Drehbuch schreiben, Rollen verteilen, Bühnenbil<strong>der</strong> malen, Masken und Kostüme erstellen, Musik<br />

machen, proben das sind die zu bewältigenden Aufgaben, bei denen das StudentInnen-Team eine<br />

wertvolle Stütze ist. Die Erstaufführung wird ein voller Erfolg, woraufhin die Klasse „auf Tournee“ geht,<br />

die Studentinnen natürlich mit ihnen.<br />

STUDENTINNEN UND GRUNDSCHULKINDER IN DER LERNWERKSTATT WUPPERTAL<br />

In solchen Formen <strong>der</strong> Kooperation bekommen Studierende die Möglichkeiten konkreten<br />

Unterrichtssituationen zu lernen, sich selbst in <strong>der</strong> Praxis zu erproben, sich untereinan<strong>der</strong> auszutauschen.<br />

Die Lehrerinnen bekommen zum einen praktische Hilfe, zum an<strong>der</strong>en den „fremden Blick“ von<br />

außerhalb, <strong>der</strong> oft schon als Anstoß ausreicht, eingefahrene Wege zu verlassen und Neues auszuprobieren.<br />

Diese Formen projektgebundener „Doppelbesetzung“ stellten eine Bereicherung für die Lehrenden,<br />

die Studierenden und vor allem für die Kin<strong>der</strong> dar. Einige <strong>der</strong> Kontakte zwischen Studentinnen und den<br />

Klassen wurden über die Schulprojekte hinaus bis zum Ende des Schuljahres aufrechterhalten.<br />

Lernwerkstätten haben beste Bedingungen, um Freinets Korrespondenzgedanken in die Tat umzusetzen.<br />

Der Austausch unter Studierenden des Lehramts an verschiedenen Hochschulen kann über die<br />

116


Kontakte <strong>der</strong> Uni-Lernwerkstätten leicht aufgenommen werden. Studierende aus Kassel beispielsweise<br />

haben Briefkontakt mit einem Seminar <strong>der</strong> Lernwerkstatt an <strong>der</strong> <strong>Universität</strong> Pa<strong>der</strong>born.<br />

Ein Netzwerk <strong>der</strong> Lernwerkstätten in Deutschland ermöglicht inzwischen eine gezielt interessengeleitete<br />

Kontaktaufnahme und gegenseitige Unterstützung. Beziehungen zu Lernwerkstätten in Österreich,<br />

<strong>der</strong> Schweiz und den USA sind vorhanden, können aber <strong>noch</strong> ausgebaut werden.<br />

Für Lehrerinnen, die an <strong>der</strong> Reform ihres eigenen Unterrichts arbeiten, dadurch doppelt konkurrenzwürdig<br />

erscheinen und sich dem eigenen Kollegium gegenüber rechtfertigen müssen, stellt ein<br />

Zusammenhalt unter Gleichgesinnten einen wichtigen stabilisierenden Faktor dar. Aber wo lassen sich<br />

������������������������������������������������������������ -<br />

fen besprochen werden können, bei denen man sich die notwendige teilnehmende Unterstützung bei<br />

Innovationen und für die Auseinan<strong>der</strong>setzungen holen kann?<br />

Schonräume für wirklichen Austausch und Solidarität unter Schulreformerinnen zu schaffen, ist eine<br />

wesentliche Aufgabe, die Lernwerkstätten in <strong>der</strong> Schulreformlandschaft zukommt.<br />

IV. Lernwerkstätten und Freinet-Pädagogik abschließende Thesen;<br />

��Die räumliche Einrichtung von Lernwerkstätten entspricht dem Ateliergedanken Freinets und ermöglicht<br />

einen aktiven und erfahrungsorientierten Umgang mit innovativen didaktischen Ideen.<br />

��Das Selbstbildungsprinzip�������������������������������������������� -<br />

deckenden Lernen, in <strong>der</strong> Entwicklung und anschließenden Erprobung eigenen Materials und in<br />

selbstorganisierten Fortbildungsgruppen einen geeigneten Rahmen zur Umsetzung.<br />

��Die<br />

Erforschung des eigenen Unterrichts, das experimentelle Verhältnis zur eigenen Praxis<br />

(„tastendes Versuchen“) und die Arbeit an einer zukunftsorientierten LehrerInnenfortbildung<br />

in Lernwerkstätten entspricht Freinets Bild einer empirischen und damit wissenschaftlichen<br />

Pädagogik.<br />

��Lernwerkstätten bieten die Möglichkeit, zu regionalen Treffpunkten für Reformerinnen zu werden.<br />

Ein solches „Netzwerk“ kommt dem Freinet‘schen Kooperationsund Korrespondenzgedanken entgegen<br />

So verstanden sind Lernwerkstätten:<br />

��Erprobungsstätten, an denen Lehrerinnen das _ Lernen wie<strong>der</strong> lernen, um individuelle Lernwege<br />

von Schülerinnen wertschätzen und begleiten zu können. Sie sind keine Selbstbedienungsläden<br />

für Materialien zum offenen Unterricht, mit <strong>der</strong>en Hilfe <strong>der</strong> Frontalunterricht modelliert und angereichert<br />

wird;<br />

��Lern-Räume, in denen es auf Lern(um-)wege, auf die �����������������������<br />

nicht auf ein<br />

En<strong>der</strong>gebnis in Produktform ankommt;<br />

117


�� Aktive Sammlungsstätten��������������������������������������������<br />

-<br />

tischen Einkaufszentren, die, stets mit neuen Ideen aufgefüllt, zur Selbstbedienung einladen;<br />

��Lernräume, die Eigentätigkeit und Selbstorganisation <strong>der</strong> Besucherinnen for<strong>der</strong>n und för<strong>der</strong>n, und<br />

nicht Servicestationen, die reinem Materialkonsum Vorschub leisten.<br />

��Ausstellungsplätze für Schülerarbeiten und Seminarergebnisse, für selbsterstelltes, selbsterprobtes<br />

o<strong>der</strong> bewusst ausgewähltes Unterrichtsmaterial, aber keine Werbestudios für<br />

Schulbuchverlage;<br />

��Orte, wo selbstorganisiertes Lernen miteinan<strong>der</strong> und voneinan<strong>der</strong> sich auch im Angebotscharakter<br />

<strong>der</strong> Seminare wi<strong>der</strong>spiegelt, eher in Ausnahmefällen Seminarräume für Fortbildungen mit<br />

Referentinnen mit Expertenstatus.<br />

��Foren für die Unterstützung und gegenseitige Stärkung von Reformkräften, aber keine<br />

Missionskreise, die die große Masse <strong>der</strong> Lehrenden von <strong>der</strong> Notwendigkeit einer Unterrichtsreform<br />

überzeugen wollen;<br />

�� Öffentliche und offene Kooperationsstätten, um den Kontakt zwischen Schule und Hochschule,<br />

zwischen Ausbildung und Fortbildung, zwischen Praxis und Theorie zu för<strong>der</strong>n, keine abgeschlossenen<br />

„Inseln <strong>der</strong> Schulreform“.<br />

Freinet-LehrerInnen, die ihren Unterricht freinetpädagogisch gestalten, aber nur <strong>noch</strong> selten einen<br />

Blick über ihren Alltag hinaus tun, können durch Lernwerkstätten zum Austausch mit an<strong>der</strong>en<br />

Reformpädagoginnen, auch denen an<strong>der</strong>er reformpädagogischer Richtungen, angeregt werden.<br />

Lernwerkstätten bieten ihnen die Möglichkeit, ihre Arbeit öffentlich darzustellen ein wichtiger Aspekt für<br />

diejenigen unter den Freinet-LehrerInnen, die ihre Arbeit zu wenig in die pädagogische Diskussion um<br />

die Schulreform einbringen.<br />

Die verbindliche Orientierung an einer Weltanschauung, einem Menschenbild, einer Pädagogik und ihrem<br />

Begrün<strong>der</strong>, wie sie die Freinet-Bewegung als Basis besitzt, existiert innerhalb <strong>der</strong> Lernwerkstätten-<br />

Bewegung nicht. Durch die Zusammenarbeit mit Freinet-PädagogInnen sind „Lernwerkerinnen“ aufgefor<strong>der</strong>t,<br />

die Diskussion um eigene politische und pädagogische Konzepte aufzunehmen.<br />

Die Zusammenarbeit <strong>der</strong> verschiedensten Reformkräfte in Lernwerkstätten könnte dazu beitragen,<br />

dass reformpädagogische Konzepte lebendig weiterentwickelt und offene Unterrichtsformen, wie die<br />

Arbeit mit „freien Texten“, <strong>der</strong> „freie Ausdruck“ o<strong>der</strong> die berühmte „Freiarbeit“ wie<strong>der</strong> in ihrer ursprünglichen<br />

Qualität sichtbar werden, statt zum scheinreformerischen Einheitsbrei zu verkümmern.<br />

118


1) Hierzu vgl. auch Angela Bolland in: Karin Ernst/Hartmut Wedekind (Hrsg.): Lernwerkstätten in <strong>der</strong> Bundesrepublik Deutschland und Österreich Eine<br />

Dokumentation, Arbeitskreis Grundschule, Band 91, Frankfurt/Main 1993<br />

2) „Fragen und Versuche“ ist die <strong>Zeit</strong>schrift <strong>der</strong> Pädagogik Kooperative e.V., des bundesweiten Zusammenschlusses deutscher Freinetpädagoginnen.<br />

������������������������������������������������������������<br />

4) Herbert Hagstedt: Lernwerkstätten und Grundschulforschung;<br />

Vortrag anlässlich <strong>der</strong> Grundschulforschungstagung in Kassel, unv. Ms, 1994, S.11<br />

5) Dieter Hartmann: Wann machen wir freie Arbeit, <strong>Bremen</strong> 1985, S. 14<br />

6) Zit. nach Klaus Zehrfeld: Freinet in <strong>der</strong> Praxis; Weinheim 1977, S. 67.<br />

7) Vgl. Herbert Hagstedt: in: Die Grundschulzeitschrift, Son<strong>der</strong>heft:<br />

Lernwerkstätten als Experimentierfel<strong>der</strong> für verän<strong>der</strong>te Lemformen. 1989, S, 39<br />

8) Hierzu siehe auch: Angela Glänzel (für die Freinet-Gruppe Berlin): Was ist Freinet-Pädagogik? Ausschnitte aus einem Vortrag in <strong>der</strong> TU-Berlin; in<br />

Fragen und Versuche, Heft 59, März 1992, S. 9-11<br />

9) Karin Ernst; Wie lernt man Offenen Unterricht? Erfahrungen aus <strong>der</strong> Lernwerkstatt an <strong>der</strong> TU Berlin; in: Päd. extra & Demokratische Erziehung, Heft<br />

7, 8/1990, S. 46-48<br />

10) Roland Laun: Freinet 50 Jahre danach; Dokumente und Berichte aus drei französischen Grundschulklassen; Beispiele einer produktiven Pädagogik,<br />

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11) C. Freinet, zit. nach Elise Freinet: Erziehung ohne Zwang, Stuttgart 1981, S. 154<br />

12) Ebd. S. 153f<br />

13)Ebd.S. 75<br />

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Nachmittagsangebote für Grundschulkin<strong>der</strong> statt, die ihnen einen spielerischen Zugang zum schulischen Lernstoff ermöglichen.<br />

15) Gemeint ist hier die Pädagogik Kooperative e.V. <strong>Bremen</strong> mit etwa 700 Mitglie<strong>der</strong>n.<br />

16) Ingrid Dietrich: Handbuch Freinet-Pädagogik. Eine praxisbezogene Einführung, Weinheim 1995<br />

17) Ingrid Dietrich: Eindrücke vom Weihnachtstreffen, in: Son<strong>der</strong>heft „Fragen und Versuche“ <strong>der</strong> Pädagogik Kooperative e.V., <strong>Bremen</strong> 1996, S. 11<br />

18) Roland Laun, 1983, a.a.O., S. 51.<br />

119


C. Freinet<br />

Die „Schwätzer“<br />

In unseren Dörfern gibt es die „Schwätzer“ und die „Schaffer“, die Redner und die Arbeiter.<br />

Der Arbeiter arbeitet zunächst. Während seiner Arbeit und durch sie überlegt, lernt, urteilt, fühlt er und<br />

liebt er.<br />

Der „Schwätzer“ redet zunächst. Die Überlegenheit, die <strong>der</strong> Arbeiter aus seiner Findigkeit und Zähigkeit<br />

gewinnt, zieht er, <strong>der</strong> „Schwätzer“, vorgeblich aus seiner Geschicklichkeit, mit Wörtern umzugehen und<br />

Systeme nach einem Wirrwarr von Regeln und Theorien zu ordnen, <strong>der</strong>en Hohepriester er ist. Das<br />

nennt er dann anspruchsvoll „Logik“ und „Philosophie“.<br />

Sie lernen Fahrrad fahren wie alle Fahrrad fahren lernen. Die „Schwätzer“ werden Sie über Ihren Irrtum<br />

aufklären: vorher muss man doch nicht wahr die Regeln des Gleichgewichts und die Anfor<strong>der</strong>ungen<br />

<strong>der</strong> Mechanik kennen!<br />

Die Schwätzer können aber gar nicht Fahrrad fahren!<br />

Wenn sie es wagten, würden sie Ihnen beweisen, dass Sie Unrecht haben. Ihr Baby so unwissenschaftlich<br />

daherreden zu lassen, und sie würden Sie den lieben langen Tag mit den unwi<strong>der</strong>legbaren<br />

Gesetzen <strong>der</strong> richtigen Sprache traktieren.<br />

Aber Ihre Kin<strong>der</strong> wären stumm!<br />

Eben jene Schwätzer haben uns eingeredet, es sei notwendig, das Erlernen des schriftlichen Ausdrucks<br />

mit dem methodischen Studium <strong>der</strong> Grammatik anzufangen und Schritt für Schritt vorzugehen: vom<br />

Wort zum Satz, vom Satz zum Abschnitt und dann zum vollständigen Text.<br />

Sie kennen die Grammatik, aber die Gabe, fesselnd und lebendig zu schreiben, haben sie verloren.<br />

Mit einer Schamlosigkeit, die höchstens <strong>noch</strong> von unserer Leichtgläubigkeit übertroffen wird, sprechen<br />

sie auch zu uns über die Vorzüge <strong>der</strong> Landarbeit und die bukolischen Reize <strong>der</strong> Arbeit auf den Fel<strong>der</strong>n.<br />

Denn ihre Rolle ist es nicht zu arbeiten, son<strong>der</strong>n zu reden. Vor einem mucksmäuschenstillen Saal erklären<br />

sie mit Wissenschaft und Logik, wie man auf dem Land zu arbeiten hätte und was uns die frisch<br />

aufgeworfenen Erdschollen sagen o<strong>der</strong> die Trauerweiden, die im Herbst goldene Tränen aus ihren<br />

bewegten Blättern weinten.<br />

Sie aber können gar nicht arbeiten!<br />

Meinem Lehrling auf dem Land habe ich nichts zu sagen, außer wenigen wichtigen Worten, die im geeigneten<br />

<strong>Zeit</strong>punkt ihm praktische Ratschläge o<strong>der</strong> Handgriffe vermitteln o<strong>der</strong> auch sehr persönliche<br />

Gefühle, die sich über eine Bewegung, einen Blick o<strong>der</strong> Schweigen vermitteln.<br />

Aber dieser Philosophie <strong>der</strong> Weisen, die <strong>der</strong> Gipfel <strong>der</strong> Wissenschaft, <strong>der</strong> Logik und <strong>der</strong> Arbeit sein soll,<br />

wird er mit einem Achselzucken begegnen.<br />

Und er kann arbeiten!<br />

120


Freinet-Pädagogik und Erziehungswissenschaft ein gestörtes Verhältnis?<br />

von Herbert Hagstedt<br />

Die Selbstermahnung und Selbsterinnerung <strong>der</strong> Hochschulpädagogen, den Diskurs über Freinets<br />

Werk verstärkt zu führen (Preuss-Lausitz 1982), bedarf keines feierlichen Anlasses.<br />

Die Erziehungswissenschaft hat <strong>noch</strong> genug zu tun mit ihren elementaren affektiven<br />

Sicherheitsbedürfnissen. Horst Rumpf hat die „Rituale <strong>der</strong> Angstabwehr“ an <strong>der</strong> Hochschule treffend<br />

beschrieben (Rumpf 1983). Die Freinet-Pädagogik rüttelt mit ihren Innovationsimpulsen an den<br />

Stützpfeilern „bewährter“ hochschuldidaktischer Traditionen.<br />

In diesem Beitrag geht es mir um die Frage nach dem „gestörten Verhältnis“ zwischen Freinet-Pädagogik<br />

und Erziehungswissenschaft.<br />

In einer ersten Annäherung werde ich bei Freinet selbst nachfragen, wie er sein Verhältnis zur<br />

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beim frühen Freinet, <strong>der</strong> schon bei seinen ersten Auftritten in <strong>der</strong> Öffentlichkeit sein Konzept zur<br />

Diskussion stellt und verwandte reformpädagogische Ansätze als Ideenbörse nutzt;<br />

beim späten Freinet, <strong>der</strong> von Selbstzweifeln geplagt, zwischen massiver Wissenschaftskritik und<br />

Verehrung des Göttlichen <strong>der</strong> Wissenschaft hin und her schwankt.<br />

In einer weiteren Annäherung werde ich bei meiner Disziplin anklopfen und nachfragen, warum sie sich<br />

nicht wirklich mit <strong>der</strong> Freinet-Pädagogik auseinan<strong>der</strong>setzt:<br />

Welches sind die Gründe dafür, dass sich die Erziehungswissenschaft zwar heute verstärkt mit Fragen<br />

<strong>der</strong> reformpädagogischen Historiographie befasst, aber die Freinet-Pädagogik dabei Außen vor<br />

lasst?<br />

Im Dialog mit <strong>der</strong> zeitgenössischen Reformpädagogik: Der junge Freinet<br />

So stellt man sich eine Bil<strong>der</strong>buch-Karriere vor: ein Junglehrer, gerade erst im Schuldienst, „mit <strong>der</strong><br />

Erfahrung, die <strong>der</strong> eines Menschen vergleichbar ist, <strong>der</strong> sich ins Wasser stürzt, ohne schwimmen zu<br />

können“ (Elise Freinet 1981, S. 17). Bei seinen ersten Lehrversuchen muss er „vom Punkt Null“ ausgehen.<br />

Außerdem, so Elise, „wird er sich seiner geringen Kenntnisse in Bezug auf die Funktion des<br />

Lehrers bewusst: Es handelt sich um die Unwissenheit eines Anfängers, <strong>der</strong> sich in den schwierigen<br />

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Und doch drängt es diesen jungen Lehrer, seine <strong>noch</strong> frischen Erfahrungen sofort weiterzugeben wohlgemerkt:<br />

nicht etwa nur an die Kollegin <strong>der</strong> Nachbarschule. Er nimmt an internationalen pädagogischen<br />

Kongressen teil und besucht Versuchsund Reformschulen in ganz Europa.<br />

Schon ab 1926 berichten italienische, französische und deutsche Fachzeitschriften über die Neuerungen<br />

des jungen Lehrers.<br />

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nimmt er nicht nur als französischer Delegierter teil, son<strong>der</strong>n tritt schon als Referent auf. Sein Thema:<br />

121


„Die Disziplin unter den Schülern“ (Freinet 1928). Der erste Text Freinets, <strong>der</strong> in deutscher Sprache die<br />

Erziehungswissenschaft erreicht. Ich habe versucht, <strong>noch</strong> etwas mehr über diesen öffentlichen Auftritt<br />

Freinets in Deutschland zu erfahren. Neben an<strong>der</strong>en Quellenstudien habe ich auch die Kongressberichte<br />

durchgesehen, die um diese <strong>Zeit</strong> in <strong>der</strong> „Neuen Erziehung“, dem Organ des Bundes <strong>der</strong> Entschiedenen<br />

Schulreformer, veröffentlicht wurden. Dabei stieß ich im 10. Band <strong>der</strong> „Neuen Erziehung“ von 1928 auf<br />

einen kleinen Korrespondentenbericht. Es war die Überschrift, die mich stutzen ließ: „Schulen, die ihre<br />

Lehrbücher selbst anfertigen“. Unter diesem Titel berichtet Peter Engel, ein Wormser Studienrat, neben<br />

Neuigkeiten aus Italien auch über einen verrückten Versuch eines scheinbar verrückten französischen<br />

Landlehrers. Das Motto des Korrespondenten: was es nicht so alles gibt! Schonend werden die Leser<br />

vorbereitet: „Mannigfaltig sind die Wege, die von Erziehern aller Län<strong>der</strong> beschritten werden, um den<br />

Schulunterricht aus seiner bisherigen Starrheit zu einem lebendigen, freudenspendenden Geschenk<br />

an die Kin<strong>der</strong> zu gestalten. Und auf solchen Wegen kommt man dann dazu, alle Gebiete des täglich um<br />

die Kin<strong>der</strong> brausenden Lebens zu behandeln, und so zu behandeln, dass immer höchstes Interesse<br />

<strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> vorhanden ist und damit beste Erfolge verheißt. In diesem Sinne arbeitend ist Célestin<br />

Freinet, ein Pionier <strong>der</strong> neuen Schule in einem französischen Landort, Bar-surLoup, auch dazu übergegangen,<br />

die Buchdruckerkunst durch seine Kin<strong>der</strong> ausüben zu lassen und hat damit ganz prächtige<br />

Erfolge erzielt“ (Engel 1928, S. 556). Die Überraschung in diesem Bericht ist nun die Passage, in <strong>der</strong><br />

<strong>der</strong> Korrespondent den Pionier selbst zu Wort kommen lässt. Weil diese schöne Erzählung zu den frühesten<br />

Selbstdarstellungen Freinets gehören dürfte und m.W. 68 Jahre lang von <strong>der</strong> Freinet-Rezeption<br />

nicht entdeckt worden ist, möchte ich sie hier im Wortlaut wie<strong>der</strong>geben:<br />

„Die psychologischen und pädagogischen Fundamente meines Versuchs waren die Tatsache, dass<br />

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ausfor<strong>der</strong>te. So unendlich schwierig oft nur unter Anwendung äußersten Zwanges und Prügel es ist,<br />

die Kin<strong>der</strong> für irgendein festgelegtes Unterrichtsthema zu interessieren, so überraschend schnell und<br />

leicht kann man ihnen Kenntnisse über eine Sache beibringen, <strong>der</strong> sie gerade beson<strong>der</strong>e Anteilnahme<br />

entgegenbringen und <strong>der</strong>en Erörterung sie selbst dringend wünschen.<br />

An einem Tage ist eine Fle<strong>der</strong>maus in den Hof gefallen. Die Kin<strong>der</strong> sind voller Aufregung über dieses<br />

Ereignis. Soll man sie künstlich zwingen, ihr Interesse etwas an<strong>der</strong>em zuzuwenden? Nein, es ist<br />

durchaus notwendig, über die Fle<strong>der</strong>mäuse zu sprechen.<br />

In <strong>der</strong> vergangenen Nacht war ein schweres Gewitter nie<strong>der</strong>gegangen. Die Kin<strong>der</strong> lauschten erschreckt<br />

dem rollenden Donner und hatten ihre Köpfchen unter die Bettdecke gesteckt, um die grellen Blitze<br />

nicht zu sehen. Als sie am nächsten Morgen zur Schule kommen, sind sie <strong>noch</strong> ganz im Bann des vergangenen<br />

Naturereignisses. Wir nützen die Gelegenheit und sprechen über Gewittererscheinungen.<br />

Um diesen lebendigen Unterrichtsstunden eine beson<strong>der</strong>e krönende Note zu geben, entschieden wir<br />

uns, eine kleinere Druckerei anzuschaffen, um die Ergebnisse unserer Aussprachen zu drucken und<br />

so nach und nach ein Lehrbuch zu schaffen, wie wir es uns wünschten.<br />

Trotz aller bösen Prophezeihungen, getragen von <strong>der</strong> Begeisterung <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>, wurde das Projekt<br />

122


Wirklichkeit, und heute nach drei Jahren darf man mit Stolz sagen, dass dies ungemein zur Hebung<br />

<strong>der</strong> Anteilnahme <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> am Unterricht beigetragen hat.<br />

Und so wird das gerade im Mittelpunkt des kindlichen Interesses stehende Thema behandelt und<br />

dann die Essenz <strong>der</strong> Aussprache in einem kleinen Aufsatz zusammengefasst. Dieser nun wird von<br />

zwei, drei Kin<strong>der</strong>n gesetzt, was nicht länger als 20 Minuten dauert, währenddem die übrigen sich mit<br />

an<strong>der</strong>en Arbeiten befassen. Nach dem Satz werden auf einer einfach Handpresse eine größere Anzahl<br />

Abzüge angefertigt, von denen je<strong>der</strong> Schüler einen erhalt, um ihn in seinem „Lebensbuch“ einzuheften.<br />

Auch die kranken Kin<strong>der</strong> bekommen diese gedruckten Unterrichtsergebnisse durch ihre Kameraden<br />

ins Haus getragen, und so sind auch sie immer mit dem Leben ihrer Klasse vertraut.<br />

Freilich lag die Gefahr nahe, dass man aus einer gewissen Beschränktheit des Unterrichtshorizontes<br />

heraus doch <strong>noch</strong> zu den unwillkommenen Lehrbüchern hätte greifen müssen. Da kam uns die erfreuliche<br />

Tatsache zu Hilfe, dass auch an<strong>der</strong>e, selbst ausländische Schulen, angeregt durch die günstigen<br />

Ergebnisse unseres Versuchs unser Beispiel nachahmten und mit uns einen regen Austausch <strong>der</strong><br />

gedruckten Unterrichtsextrakte begannen.<br />

Jeden Morgen um 10 Uhr, wenn <strong>der</strong> Postbote die Berichte <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Schulen bringt, stürzen sich<br />

die Kin<strong>der</strong> mit Feuereifer darauf und verfolgen mit lebhafter Anteilnahme die Arbeiten <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Ferne<br />

wohnenden Kameraden.<br />

Und so ist das einst verspottete Experiment „Buchdruckerkunst in <strong>der</strong> Schule“ zu einem schönen pädagogischen<br />

Erfolg geworden!“<br />

Nähere Auskünfte an Erzieher erteilt gern Célestin Freinet, Bar-sur-Loup (Alpes-Maritimes), Frankreich,<br />

in den Sprachen Französisch und Esperanto.<br />

(Aus Neue Erziehung, Bd. 10,1928/ S. 556 f.).<br />

Der junge Freinet, dafür liessen sich <strong>noch</strong> weitere Beispiele anführen, ist außerordentlich daran interessiert,<br />

seine Ideen in die aktuelle erziehungswissenschaftliche Diskussion zu bringen. Er sucht den<br />

Dialog mit führenden zeitgenössischen Reformpädagogen <strong>der</strong> „Ecole Active“ und <strong>der</strong> „Ecole Nouvelle“,<br />

mit internationalen Größen wie Adolphe Fernere, Ovide Decroly und Roger Cousinet.<br />

An<strong>der</strong>erseits interessiert er sich auch für die frühen libertären Schulversuche, die dem reformpädagogischen<br />

Mainstream vorangegangen sind: für Paul Robin und seine Ecole de Cempuis, für Sebastian<br />

Faures „Bienenkorb“, für Francisco Ferrer und seine Ecole Mo<strong>der</strong>ne. Zu Beginn <strong>der</strong> 30er Jahre studiert<br />

er die amerikanischen Konzeptionen:<br />

Winnetka-Plan, Dalton-Plan und Deweys Entwurf einer Laboratory-School. Und in <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />

mit den verschiedensten reformpädagogischen Ansätzen differenziert sich Freinets eigene Konzeption<br />

immer weiter aus.<br />

Als Reformpädagoge <strong>der</strong> zweiten Generation hat Freinet den Vorteil, sich aus <strong>der</strong> Palette <strong>der</strong> schon<br />

erfolgreichen Konzeptionen und Schulmodelle jene Elemente heraussuchen zu können, die in seine eigenen<br />

didaktischen und schulorganisatorischen Vorstellungen passen. Um Originalität und den Aufbau<br />

eines eigenen Begriffsapparates bemüht er sich dabei kaum. Vielmehr leiht er sich sein Vokabular bei<br />

123


<strong>der</strong> internationalen Reformpädagogik aus libertäre Ansätze inclusive. Das folgende Glossar vermittelt<br />

einen Eindruck von <strong>der</strong> Weite <strong>der</strong> ideengeschichtlichen Bezüge:<br />

Das geborgte Vokabular<br />

Begriffe Freinets Ideengeschichtliche Bezüge<br />

„Écöle Mo<strong>der</strong>ne“ Boletin de la Escuela Mo<strong>der</strong>aa, Barcelona 1909<br />

Francisco Ferrer: L‘École Mo<strong>der</strong>ne, Paris 1911<br />

„Ateliers“ Gabriel Giroud: „Cempuis“ Paris 1900<br />

Sebastian Faure: „La Ruche“, Paris 1911<br />

„Expression libre“ Ovide Decroly: La psychologie du dessin, Brüssel 1912<br />

„Dessin libre“ Cizek-Kästner: „Creations d‘art spontanees chez l‘enfant,<br />

Pour l‘Ere nouvelle, Son<strong>der</strong>heft Nr. 8, Okt. 1923<br />

<strong>der</strong>s.: Das freie Zeichnen, Wien 1925<br />

„Promenades scolaires“ Berthold Otto: „Unsere ersten Spaziergänge“. In: Der<br />

Hauslehrer l (1901) 47<br />

„Classes promenades“ <strong>der</strong>s.: „Spaziergänge und Gespräche“. In: Der Hauslehrer,<br />

l (190l)/100/116<br />

„Texte libre“ Fritz Gansberg: „Der freie Aufsatz“ Seine Grundlagen und<br />

seine Möglichkeiten, Berlin 1914<br />

„Livre de vie“ „Fichier documentaire“ Adolphe Fernere: L‘École active, Neuchatel 1920<br />

„Travail libre“ Roger Cousinet: La methode de travail libre par groupes<br />

pour les enfants de neuf ä douze ans. Garches 1925<br />

Elise Freinet bestätigt später das Bemühen ihres Mannes in den Anfangsjahren: „Er hat sich den Honig<br />

dort geholt, wo er am besten ist“. Mit dieser kompilatorischen Strategie stellt sich schon bald <strong>der</strong> Erfolg<br />

ein. Hans Jörg, <strong>der</strong> schon in den 60er Jahren mit ersten Übersetzungen auf diesen Reformpädagogen<br />

aufmerksam machte, stellt fest, dass Freinet alle For<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Ecole Nouvelle auch zu seinen eigenen<br />

macht und zumindest versucht, die wichtigsten Anliegen dieser Bewegung in die Tat umzusetzen.<br />

Seine Landschul-Konzeption zählt zu den Vorzeige-Stücken in <strong>der</strong> Reformdiskussion <strong>der</strong> frühen 30er<br />

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Ecole Nouvelle in Nizza statt, unweit von Saint Paul. Was liegt für viele Besucher des Weltkongresses<br />

näher als ein Besuch in Freinets Schule. Und doch markiert dieser Höhepunkt zugleich auch einen<br />

Wendepunkt in <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> reformorientierten Erziehungswissenschaft.<br />

124


In Distanz zur internationalen Erziehungswissenschaft: Der ältere Freinet<br />

Schon zu Beginn <strong>der</strong> 30er Jahre gibt es Anzeichen dafür, dass Freinet zu einigen Reformpädagogen<br />

auf Distanz geht. Er hat inzwischen selbst längst „seine“ Bewegung <strong>der</strong> Ecole Mo<strong>der</strong>ne gegründet, die<br />

schon bald 1500 Mitglie<strong>der</strong> zählt. Die Kontakte zur Internationalen Liga <strong>der</strong> neuen Erziehung, <strong>der</strong> auch<br />

die führenden deutschen Reformpädagogen angehören, werden zwar über persönliche Beziehungen<br />

aufrecht erhalten, doch immer deutlicher wird, dass Freinet seinen eigenen Weg gehen will.<br />

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anführt ist indes nicht nachvollziehbar. Jörg nennt zwei Schwachsteilen, die <strong>der</strong> Grund gewesen sein<br />

sollen, sich von <strong>der</strong> Ecole Nouvelle abzuwenden:<br />

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erfor<strong>der</strong>n<br />

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(Jörg 1965, S. 165 f.)<br />

Als ob Freinet-Schulen ganz ohne Arbeitsmittel, Ateliers und engagierte Lehrer auskommen!<br />

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Nouvelle liegt nicht in <strong>der</strong> unterschiedlichen Interpretation solcher For<strong>der</strong>ungen. Er ist vielmehr zu<br />

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viele an<strong>der</strong>e Reformpädagogen: vgl Wyneken-Geheeb, Parkhurst-Montessori u.a.).<br />

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Dewey und Decroly:<br />

„Der Begriff <strong>der</strong> ‚Ecole Active‘...., <strong>der</strong>en eifrigster Begrün<strong>der</strong> A. Fernere war, befriedigt uns nicht mehr<br />

völlig ... selbst bei weitgehendster Deutung sagt er nichts über den Umschwung in <strong>der</strong> Orientierung <strong>der</strong><br />

Schule aus, den wir empfehlen ... (Elise Freinet 1981, S. 71).<br />

„In Decrolys Lehre gibt es genug lebendige allgemeine Prinzipien, so dass wir über die technischen<br />

Fehler hinwegsehen können o<strong>der</strong> sie gar bekämpfen müssen .. (Freinet 1938).<br />

„Wir müssen den Gedanken J. Deweys gegenüber große Vorbehalte machen ...“ (Freinet 1930).<br />

In ähnlicher Weise polemisiert Freinet gegen an<strong>der</strong>e Reformpädagogen, an <strong>der</strong>en Konzeption er zuvor<br />

den Rahm abgeschöpft hat. So schafft sich <strong>der</strong> älter werdende Freinet immer mehr Gegner unter den<br />

ehemaligen Mitreformern. Er, <strong>der</strong> Lehrer des Volkes, blickt neidisch auf die pädagogischen Gelehrten,<br />

die praxisfernen Theoretiker, die Vertreter <strong>der</strong> <strong>Universität</strong>: „Sie können <strong>der</strong> Funktion und den Problemen<br />

<strong>der</strong> Erziehung eine wissenschaftliche Breite geben, was zumindest dem Anschein nach ihre pädagogischen<br />

Innovationen rechtfertigt, sie absegnet und ihren Ruf festigt“. Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite weist Elise<br />

darauf hin, dass die Schulpraxis bei Decroly, Montessori, Binet o<strong>der</strong> Dewey nur mittels zwischengeschalteter<br />

Lehrpersonen funktioniert. Die Gelehrten unterrichten nicht selbst, das unterscheidet sie<br />

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125


Herde und widmet sich völlig seiner erzieherischen Berufung... . Er ist kein <strong>Universität</strong>sgelehrter, er hat<br />

aber wirkliche tiefe und grundlegende Erfahrung gesammelt, nämlich die des Schäfers, des Arbeiters,<br />

die in ihm wie mit unauslöschbarer Tinte auf Pergament geschrieben ist. Das lässt die Bücherschreiber<br />

lächeln und ruft Mitleid bei ihnen hervor.“ (Elise Freinet, 1981, S. 85).<br />

Je älter <strong>der</strong> Schäfer wird, desto öfter legt er sich mit <strong>der</strong> Wissenschaft an. „Ich ehre die Wissenschaft,<br />

weil sie eine Art <strong>der</strong> Wahrheit ist, die den Fortbestand des Göttlichen in sich trägt. Aber lei<strong>der</strong> laufen<br />

wir hier einem Ideal von nicht fassbarer Klarheit hinterher. Wir müssten immer von <strong>der</strong> menschlichen<br />

Wissenschaft sprechen, um damit ihre Fehlbarkeit und relative Ohnmacht zum Ausdruck zu<br />

bringen“ (Freinet zitiert bei Elise Freinet, 1981, S. 156). Für Freinet wäre es notwendig, „dass die<br />

Wissenschaftler ihr mea culpa ablegten und dass sie selbst die schweren Irrtümer entlarvten, die dazu<br />

führten, dass im Namen <strong>der</strong> Wissenschaft unwissenschaftliche Praktiken gedeckt wurden und immer<br />

<strong>noch</strong> gedeckt werden, und dass sie das unermüdliche und ehrliche Experimentieren wie<strong>der</strong> zu Ehren<br />

kommen liessen, ebenso wie die beständige uneigennützige Forschung (Freinet 1854, zitiert bei Elise<br />

Freinet, 1981, S. 158).<br />

Bei dieser Art von Wissenschaftskritik wun<strong>der</strong>t man sich dann, dass <strong>der</strong> alte Freinet überhaupt <strong>noch</strong><br />

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de Vie“, wo er sich direkt an die Akademiker wendet, um sich ihrer Kritik zu stellen. „Er bot so das<br />

komplexe Werk einer Psychopädagogik“, so Elise Freinet, „zur Untersuchung und Beurteilung durch<br />

Erziehungswissenschaftler an, um das Aufspüren innerer Wi<strong>der</strong>sprüche zu ermöglichen.“<br />

Im ersten Heft <strong>der</strong> neuen <strong>Zeit</strong>schrift schreibt Freinet:<br />

„Unsere langjährige gemeinsame Arbeit gibt uns die auf Erfahrung gegründete Sicherheit <strong>der</strong> unbestreitbaren<br />

Überlegenheit unserer Pädagogik. Aber es wäre für uns und für diejenigen, die sich<br />

uns eines Tages anschließen werden ebenso gut ... wenn sie unsere Quellen ... prüfen und entdecken<br />

könnten und wenn sie unseren Elan, unsere Hoffnungen rechtfertigen und etwaige Irrtümer<br />

o<strong>der</strong> Unzulänglichkeiten korrigieren könnten ... . Deshalb appellieren wir ... an die Professoren aller<br />

Ausbildungsinstitutionen, an die Schulräte, an die Direktoren <strong>der</strong> Lehrerbildungsanstalten, an die<br />

Psychologen und die Psychiater, vorurteilslos mit uns das Phänomen Ecole Mo<strong>der</strong>ne, so wie wir es<br />

ihnen vorstellen, vom wissenschaftlichen Standpunkt aus zu betrachten. Wir werden ihnen selbst un-<br />

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Zweifel mitteilen, aber wir bieten ihnen auch und vor allem ein weites Feld <strong>der</strong> Forschung an. Denn<br />

letzten Endes ist nicht die Theorie für uns ausschlaggebend, son<strong>der</strong>n ihre Umsetzung in die Praxis.“<br />

(Freinet 1959, zit. bei Elise Freinet 1981, S. 13f.).<br />

Muss die Erziehungswissenschaft ihn nicht doch ernst nehmen, den alten Schäfer?<br />

Zwischen Ignoranz und Avance im Wissenschafts“ betrieb: Freinet-Pädagogik heute<br />

Seit Ende <strong>der</strong> 80er Jahre, verstärkt <strong>noch</strong> zu Beginn <strong>der</strong> 90er Jahre, sind eine Vielzahl von neuen historiographischen<br />

Arbeiten über die Reformpädagogik erschienen. In den erziehungswissenschaftlichen<br />

126


<strong>Zeit</strong>schriften gab es wie<strong>der</strong>holt Schwerpunkthefte zu speziellen Problemen <strong>der</strong> Reformpädagogik.<br />

Die in dieser <strong>Zeit</strong> erschienenen Monographien und Kongressbände spiegeln ein neu entfachtes<br />

Eigeninteresse <strong>der</strong> Erziehungswissenschaft an reformpädagogischen Konzeptionen wi<strong>der</strong>, das genährt<br />

wurde durch die verän<strong>der</strong>te politische Lage nach ‚89 und die unmittelbar aufbrechende Reformeuphorie<br />

im Bildungsbereich. Viele Erziehungswissenschaftler wurden zu Vortragsreihen in neue Bundeslän<strong>der</strong><br />

eingeladen, um über alternative Schulmodelle und reformpädagogische Strömungen zu referieren. Eine<br />

für manche, um differenziert-kritische Analysen bemühte Erziehungswissenschaftler delikat-paradoxe<br />

Situation: Kann man in solcher Aufbruchstimmung über die „theoretische Trivialität“ und Inhomogenität<br />

<strong>der</strong> Reformpädagogik referieren und ihr eine mangelnde praktische Originalität absprechen? Sollte<br />

man die „Monumentalisierung <strong>der</strong> Reformpädagogik zur epochalen Welterziehungsbewegung“ beklagen<br />

o<strong>der</strong> die Gelegenheit nutzen, die Reformpädagogik als „Krisenbearbeitungsmuster im Prozess <strong>der</strong><br />

Mo<strong>der</strong>nisierung“ zu rehabilitieren? (Ullrich 1990, Oelkers 1989).<br />

Schlichter gefragt: Sollte man sich angesichts <strong>der</strong> günstigen Winde ein eigenes leichtes reformpädagogisches<br />

Mäntelchen umhängen o<strong>der</strong> sich eher wärmer anziehen Lind den „reformpädagogischen<br />

Altschnee“ wegzuschieben versuchen?<br />

Als erziehungswissenschaftlicher Schneeschieber versucht sich <strong>der</strong> Würzburger Pädagoge Winfried<br />

Böhm. „Nicht die blanke Tatsache <strong>der</strong> Schulkritik und nicht die krude For<strong>der</strong>ung nach an<strong>der</strong>en Schulen<br />

lässt erstaunen, son<strong>der</strong>n vielmehr das merkwürdige Phänomen, dass die in unseren Tagen geübte<br />

Kritik an <strong>der</strong> Schule und die als bessere Gegenbil<strong>der</strong> promulgierten Alternativen auf fatale Weise an<br />

Argumentation und Schulmodelle erinnern, die vor rund hun<strong>der</strong>t Jahren entstanden sind und in den<br />

meisten Fällen sogar Schnee besser sollte man sagen:<br />

Gletschereis aus dem vergangenen Jahrhun<strong>der</strong>t darstellen“. (Böhm 1994, S. 14).<br />

Böhm hat, zusammen mit Kollegen, ein für die Herausgeber ungewöhnlich erfolgreiches Büchlein<br />

vorgelegt, in dem er sich darüber entrüstet, dass die Erziehungsmethoden von Reformpädagogen<br />

wie C. Freinet sich einer augenblicklichen Verbreitung erfreuen, „von <strong>der</strong> ihre Schöpfer zeitlebens<br />

nur träumen konnten‘7 (Böhm u.a. 1994). Auf <strong>der</strong> Titelseite des Buches „Schnee vom vergangenen<br />

Jahrhun<strong>der</strong>t Neue Aspekte <strong>der</strong> Reformpädagogik“ prangt ein Portrait von Célestin Freinet eingerahmt<br />

von Ludwig Gurlitt und Friedrich Wilhelm Förster. Ansonsten aber, man mag es kaum glauben, kommt<br />

Freinet o<strong>der</strong> die Bewegung <strong>der</strong> Ecole Mo<strong>der</strong>ne in dem ganzen Buch überhaupt nicht vor. Bitter be-<br />

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Schulreform umsieht und nach den Bannerträgern alternativer Schulmodelle fragt, <strong>der</strong> wird auf Leute<br />

wie ... Célestin Freinet und an<strong>der</strong>e verwiesen ... . Die so genannte Reformpädagogische Bewegung<br />

des ausgehenden 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts“, so konstatiert Böhm, „hat einen unerwarteten konjunkturellen<br />

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gegangen“ (Böhm 1994, S. 15). Prophetisch spricht er den Nicht-Reformern Hoffnung und Trost zu:<br />

„Währten die aufklärerischen und die gegenaufklärerisch-romantizistischen Perioden früher länger,<br />

so lösen sich die pädagogischen Moden heute in so rascher Folge ab, dass man angesichts des <strong>der</strong>-<br />

127


zeitigen Booms reformpädagogischer Modelle <strong>der</strong>en Verwerfung in naher Zukunft mit an Sicherheit<br />

grenzen<strong>der</strong> Wahrscheinlichkeit <strong>voraus</strong>sagen kann“ (Böhm 1994, S. 25 f.).<br />

Diese Nebel-Voraussage steht in diametralem Gegensatz zu den Perspektiven, die von jenen<br />

Erziehungswissenschaftlern aufgeworfen wurden, die sich tatsächlich mit <strong>der</strong> Freinet-Pädagogik auseinan<strong>der</strong>gesetzt<br />

haben. Ingrid Dietrich betont zu Recht, dass Freinet-Pädagogik heute auch losgelöst<br />

von ihrem historischen Entstehungszusammenhang und <strong>der</strong> Person ihres Grün<strong>der</strong>s praktiziert werden<br />

kann und auch praktiziert wird:<br />

„Freinet-Pädagogik ist in den letzten Jahren von einem ‚Geheimtip für Insi<strong>der</strong>‘ zu einer <strong>der</strong> meist diskutierten<br />

reformpädagogischen Konzeptionen avanciert“ (Dietrich 1995, S.9). Sie sieht kein Indiz für<br />

Verstaubtheit und Lebensferne dieser Konzeption, son<strong>der</strong>n unterstreicht die erstaunliche Aktualität und<br />

Lebendigkeit. Jörg Ramseger beschreibt die Pädagogik <strong>der</strong> Freinet-Lehrer als eine <strong>der</strong> wenigen neueren<br />

Reformprogramme, die die Mitwirkung <strong>der</strong> Lernenden an <strong>der</strong> Konstitution <strong>der</strong> Unterrichtsgegenstände<br />

zu realisieren versucht: „Mit Hilfe des entdeckenden Lernens als in <strong>der</strong> Freinet-Pädagogik vorrangig<br />

verwendeter Unterrichtsform betreibt sie die Erweiterung von Erfahrung als ‚Einwurzelung‘ neuer<br />

Erkenntnis in den gegebenen Erfahrungshorizont des einzelnen Kindes“ (Ramseger 1991, S. 146). Oskar<br />

Negt hat auf die originelle materialistische Bedeutung des Arbeitsbegriffs bei Freinet hingewiesen, <strong>der</strong><br />

zum organisierenden Zentrum seiner Pädagogik wird, z.B. durch die Einrichtung von Arbeitsateliers mit<br />

Werkstattcharakter. Negt spricht in diesem Zusammenhang von einer „Verräumlichung des Lernens“<br />

(Negt 1983).<br />

Ulf Preuss-Lausitz hat die etablierte Erziehungswissenschaft aufgefor<strong>der</strong>t, den Diskurs über Freinets<br />

Werk verstärkt aufzunehmen. Er sieht in diesem Werk einen basisdemokratischen, ökologischen<br />

Ansatz. Doch seine Frage bleibt: Warum hat es trotz einer Vielzahl von Ansätzen eine wirkliche inhaltliche<br />

Auseinan<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> Freinet-Pädagogik auch im Sinne einer Streitkultur bisher nicht<br />

gegeben? Warum ist <strong>der</strong> eingefor<strong>der</strong>te Diskurs nie richtig aufgenommen worden?<br />

Ich will hier abschliessend drei mögliche Erklärungsversuche machen:<br />

1. Die Erziehungswissenschaft orientiert sich, in ihren Lehrmeinungen, in ihren Forschungsfragen, in<br />

ihren Referenzsystemen wie an<strong>der</strong>e wissenschaftliche Disziplinen auch <strong>noch</strong> immer sehr stark an <strong>der</strong><br />

anglo-amerikanischen Diskussion. We<strong>der</strong> in den USA <strong>noch</strong> in England hat es eine Freinet-Rezeption<br />

gegeben. Das war auch kaum möglich. Bis 1990 wurde kein einziges Werk Freinets in die englische<br />

Sprache übersetzt““. Es gibt portugiesische, spanische, italienische, polnische Übersetzungen. Aber<br />

Hans Jörgs These von <strong>der</strong> „weltweiten Bewegung“ (Jörg 1965, S. 243) stimmt eben nicht ganz. Es fällt<br />

schwer, schlüssig zu erklären, warum <strong>der</strong> anglo-amerikanische Bereich ausgeklammert wurde. Freinet<br />

selbst ist sicher nicht ganz schuldlos, wenn er in seinem Hauptwerk die mo<strong>der</strong>ne Schule ohne Not als<br />

französische Schule bezeichnet (Freinet 1946). Was interessiert uns die romanische Pädagogik?<br />

2. In <strong>der</strong> erziehungswissenschaftlichen Diskussion spielen grundschulpädagogische Fragen nur eine<br />

128


marginale Rolle. Das hängt historisch auch damit zusammen, dass die Grundschulpädagogik an<br />

<strong>Universität</strong>en früher gar nicht vertreten war. Die Freinet-Pädagogik wurde aber lange <strong>Zeit</strong> primär als eine<br />

�������������������������������������������������������������<br />

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Morgenkreises usw. Die Fortschreibung und Adaptation <strong>der</strong> Arbeitstechniken und auch <strong>der</strong> Institutionen<br />

für die Sekundarstufe steht <strong>noch</strong> in den Anfängen.<br />

3. Die Quellen- und Archivlage ist katastrophal. Wer heute ein erziehungswissenschaftliches<br />

Forschungsvorhaben durchführen will, muss sich erst einmal selbst mühsam ein Archiv aufbauen.<br />

Ingrid Dietrich spricht von einer desolaten Literaturlage. Noch nicht einmal in französischer<br />

Sprache gibt es eine Gesamtausgabe seiner Schriften. Eine zweibändige Werkauswahl ist gerade<br />

erschienen (Freinet 1994, Bd. l und 2), aber vor allem die vielen in <strong>Zeit</strong>schriften verstreuten Artikel<br />

(„Gelegenheitsschriften“) sind <strong>noch</strong> nicht systematisch zusammengestellt (Barre 1996). Nicht einmal<br />

die Hauptwerke Freinets sind bis heute in die deutsche Sprache übersetzt worden. Diese Quellenlage<br />

und die Übersetzungsnotwendigkeiten mögen auch manchen Erziehungswissenschaftler davon abgehalten<br />

haben, sich intensiver mit Freinets Werk auseinan<strong>der</strong>zusetzen.<br />

Die Folgen des nicht geführten Piskurses sind schwerwiegend: In <strong>der</strong> Regel gibt es an den Hochschulen<br />

����������������������������������������������������������<br />

marginale Rolle in <strong>der</strong> Lehrerausbildung. Das wird auch bestätigt in einer Umfrage von Hochschullehrern.<br />

Die Antworten bestätigen <strong>noch</strong> einmal das Dilemma <strong>der</strong> Lehrerausbildung, ein Hin und Her von Distanz<br />

und Avance, das Ingrid Dietrich so kennzeichnet: In Deutschland genießt zwar die Freinet-Pädagogik<br />

an den Hochschulen freundliche Beachtung als eine reformpädagogische Konzeption unter an<strong>der</strong>en,<br />

über die man unter den verschiedensten Aspekten dozieren und auch Examensarbeiten schreiben lassen<br />

kann. „In dieser Form „abgehandelt“ kann jedoch die Freinet-Pädgogik ihren erneuernden Impuls<br />

für eine verän<strong>der</strong>te Schulpraxis nicht entfalten. Der Weg... führt nur über die eigene Praxis und über<br />

die kontinuierliche Mitarbeit in einer Freinet-Gruppe ... Hier können die Wi<strong>der</strong>sprüche zwischen den<br />

Prinzipien und Forschungen <strong>der</strong> Freinet-Pädagogik und den engen Grenzen <strong>der</strong> Institution Schule thematisiert...werden“<br />

(Dietrich 1995, S. 25).<br />

��Am<br />

‚Departement de francaise7 <strong>der</strong> <strong>Universität</strong> Toronto in Kanada, einer Schnittstelle <strong>der</strong> englischen<br />

und französischen Sprache, wurden drei Übersetzungen, davon zwei in einem USamerikanischen<br />

Verlag, herausgegeben:<br />

��C.<br />

Freinet, The wisdom of Matthew, an essay in contemporary French educational theory, translated<br />

by John Sivell, Lewiston USA, 1990<br />

�������������������������������������������������������������<br />

Freinet, Toronto, Canada, 1990<br />

��C.<br />

Freinet, Education through work, translated by John Sivell Lewiston USA, 1993<br />

129


Literatur<br />

Michel Barre: Célestin Freinet un éducateur pour notre temps. PEMF Mouans-Sartoux 1995<br />

Winfried Böhm: Das Unbehagen an <strong>der</strong> Schule und <strong>der</strong> Ruf nach Alternativen. In: M. Götz (Hrsg.): Leitlinien <strong>der</strong> Grundschularbeit, Langenau-Ulm 1994<br />

Winfried Böhm u.a. (Hrsg.): Schnee vom vergangenen Jahrhun<strong>der</strong>t. Neue Aspekte <strong>der</strong> Reformpädagogik,<br />

Würzburg 1994<br />

Roger Cousinet: La méthode de travail libre par groupes, 1925<br />

Ovide Decroly: La Fonction de globalisation et l‘enseignement, 1929<br />

Ingrid Dietrich (Hrsg.): Handbuch Freinet-Pädagogik,<br />

��������������������������������������������������������������������������������������<br />

Elise Freinet, 198l, S. 12 ff)<br />

Célestin Freinet: Die Disziplin unter den Schülern. In: Internationale <strong>der</strong> Bildungsarbeiter (Hrsg.): Proletarische<br />

Pädagogik, Leipzig 1928<br />

���������������������������������������������������������������<br />

Seuil, Lonrai 1994<br />

Célestin Freinet: Die Druckerei in <strong>der</strong> Schule, Beiträge 5,<br />

Schuldruckzentrum Ludwigsburg 1995<br />

Célestin Freinet: L‘Education du Travail, Gap 1949<br />

Célestin Freinet: L‘Ecole Mo<strong>der</strong>ne Francaise, Gap 1946<br />

Elise Freinet: Erziehung ohne Zwang, Stuttgart 1981<br />

Hans Jörg: Célestin Freinet, die Bewegung „Mo<strong>der</strong>ne Schule“<br />

und das französische Schulwesen heute. In: Célestin<br />

Freinet 1965, S. 143 ff.<br />

Oskar Negt: Alternativen in <strong>der</strong> Diskussion (darin bes. Kap.<br />

3.2. Die Arbeitsschule Freinets), Fernuniversität, Hagen 1983<br />

Jürgen Oelkers: Reformpädagogik. Eine kritische Dogmengeschichte,<br />

Weinheim/Basel 1989<br />

Ulf Preuss-Lausitz: Célestin Freinet das Wort geben! In: paed<br />

extra, Nr. 7/8/1982 Jörg Ramseger: Was heißt „durch Unterricht erziehen“?,<br />

Weinheim/Basel 1991<br />

Horst Rumpf: Rituale <strong>der</strong> Angstabwehr.<br />

Über den antididaktischen Affekt am Beispiel <strong>der</strong> Hochschule. In: Neue Sammlung, H. l, 1983<br />

Heiner Ullrich: Die Reformpädagogik. Mo<strong>der</strong>nisierung <strong>der</strong><br />

Erziehung o<strong>der</strong> Weg aus <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne? In: Z.f.Päd., 36<br />

(1990), Nr. 6, S. 893-918<br />

130


C. Freinet<br />

,,Scolatismus“<br />

Noch vor kurzem rühmte sich die Medizin <strong>der</strong> methodischen Behandlung, die sie in Kliniken und<br />

Krankenhäusern Neugeborenen und Kleinkin<strong>der</strong>n angedeihen ließ: regelmäßiger Tagesablauf, genau<br />

bemessene und dosierte Nahrung, vollkommene Keimfreiheit <strong>der</strong> leeren Zimmer, wo, fern von <strong>der</strong><br />

Mutter, die Kin<strong>der</strong>aufzucht“ ihre größtmögliche Perfektion erreicht zu haben schien. Diese Kin<strong>der</strong> jedoch<br />

entwickelten sich nicht normal. Etwas schien zu fehlen im medizinischen Zählwerk. Dieses Etwas<br />

war die affektive Anwesenheit <strong>der</strong> Mutter, die Stimme <strong>der</strong> Welt außerhalb, die ersten Sonnenstrahlen,<br />

<strong>der</strong> Zauber <strong>der</strong> Tiere und <strong>der</strong> Blumen.<br />

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Die pädagogischen Wissenschaft will mit <strong>der</strong>selben abgemessenen Genauigkeit die intellektuelle<br />

Nahrungszufuhr für die Kin<strong>der</strong> regeln. Sie isoliert sie dazu in einer beson<strong>der</strong>en Umgebung, <strong>der</strong> Schule:<br />

Ruhe, neutrale Kälte <strong>der</strong> Lektionen und <strong>der</strong> Aufgaben, systematische Unterdrückung aller Kontakte mit<br />

dem Leben, dem draußen o<strong>der</strong> dem <strong>der</strong> Familie, Ruhe, Sauberkeit, Ordnung, Mechanik.<br />

Die Mangelerscheinungen sind nicht zu leugnen:<br />

Schlecht verdaute Nahrung, Wi<strong>der</strong>wille vor intellektueller Ernährung, <strong>der</strong> bis zur totalen Verweigerung<br />

gehen kann, Verkrüppelung des Individuums, Lebensuntüchtigkeit, Feindseligkeit gegenüber <strong>der</strong> falschen<br />

Kultur <strong>der</strong> Schule.<br />

Diese Mangelerscheinungen nenne ich „Scolatismus“. Der Begriff des „Hospitalismus“ war seinerzeit<br />

eine wissenschaftliche Blasphemie, bevor er als Realität anerkannt wurde. Heute sorgt man sich um<br />

wirksame Heilmittel.<br />

Der Begriff des „Scolatismus“ wird eine pädagogische Blasphemie sein, die wir dort, wo erzogen wird,<br />

einführen, dort, wo wir schon viele an<strong>der</strong>e neue Begriffe eingeführt haben.<br />

Er soll für einen Moment die Ordnung und falsche Methodik <strong>der</strong> Schule stören, so, wie <strong>der</strong> Kampf gegen<br />

den „Hospitalismus“ die kalte Logik <strong>der</strong> Kliniken gestört hat.<br />

Und <strong>der</strong> Augenschein wird uns recht geben.<br />

Wir werden experimentell zeigen, wie man diese Mangelerscheinung diagnostizieren kann, die jetzt einen<br />

Namen hat: „Scolatismus“. Wir werden sie wissenschaftlich beschreiben, damit Eltern und Erzieher<br />

sich daran gewöhnen, diese neue Krankheit bei ihren Kin<strong>der</strong>n aufzuspüren, diese Krankheit, gegen die<br />

wir alle zusammen Heilmittel suchen.<br />

131


...wenn man falsch anfängt, dann wird die Sprache nicht genug entwickelt...<br />

Paul Le Bohec<br />

Über die Pädagogik von Elise und Célestin Freinet Eine Collage aus einem Interview (Juli 1995) von<br />

Jochen Hering und Walter Hövel<br />

Paul Le Bohec, geb. 28.7.1921, engagiert in <strong>der</strong> französischen und internationalen Freinetbewegung,<br />

war 30 Jahre lang Grundschullehrer in <strong>der</strong> Bretagne. Le Bohec bezeichnet sich selbst als „instituteur<br />

chercheur“, d.h. als Grundschullehrer, <strong>der</strong> Forschungen zur Praxis selbst in die Hand nimmt. Seit 1970<br />

Dozent für Sozialpädagogik in Reimes und in <strong>der</strong> Erwachsenenbildung tätig. Sein Forschungsinteresse<br />

gilt natürlichen und kreativen Lernprozessen in den verschiedensten Bereichen.<br />

Wie das angefangen hat? 1942 ich war 21 Jahre alt las ich einen Artikel über die freien Texte. Das hat<br />

mich interessiert. Und ich habe es direkt in <strong>der</strong> Schule ausprobiert. Dann, das muss 1945 gewesen<br />

sein, habe ich in einem Artikel von Freinet gelesen, dass er mit den Praktikern zusammenarbeiten<br />

wolle, dass ihn die Hierarchie nicht interessiere, nur die Arbeiter. 1) Aufgrund dieser Sätze hab ich ihm<br />

sofort geschrieben, und 1948 habe ich ihn getroffen.<br />

Paul Le Bohec 1994<br />

Bis zu seinem Tod habe ich mit ihm zusammengearbeitet...<br />

In meiner Klasse habe ich alle Freinet-Techniken ausprobiert. Nach einem Jahr hatte ich eine<br />

Schülerzeitschrift, die Druckerei, die Korrespondenz und eine kooperative Organisation des<br />

Klassenlebens.<br />

132


Später, um ein Experiment zu machen, habe ich das alles wie<strong>der</strong> weggelassen. Was fehlte uns, mir<br />

und den Kin<strong>der</strong>n? Nichts! Im Gegenteil! Wir sind in <strong>der</strong> Arbeit weitergekommen.<br />

Freinet hat dazu gesagt: „Ich versteh ja, dass du das tun kannst, aber du bist ein außergewöhnlicher<br />

Lehrer, und als Beispiel für an<strong>der</strong>e ist das gefährlich. An<strong>der</strong>e können es nicht so machen, wie du es<br />

machst. An<strong>der</strong>e brauchen die Techniken.“<br />

Ich denke, die Freinet-Pädagogik hat vier wesentliche Aspekte. Es gibt (l) den kreativen Ausdruck,<br />

(2) die Kommunikation (die Schülerzeitung, die Korrespondenz), (3) die Klassengemeinschaft<br />

(Klassenkooperative) und (4) die Erkundung <strong>der</strong> Umwelt.<br />

Beim freien Ausdruck geht es dem Kind um sich selbst (von sich zu sich), bei <strong>der</strong> Kommunikation um<br />

den Dialog (von sich zu den an<strong>der</strong>en), bei <strong>der</strong> Klassenkooperative um das Miteinan<strong>der</strong> (von sich mit<br />

den an<strong>der</strong>en) und bei <strong>der</strong> Erkundung <strong>der</strong> Umwelt um die Außenwelt (von sich zum „Außer-sich“).<br />

Je<strong>der</strong> Lehrer entscheidet sich für einen Schwerpunkt, <strong>der</strong> seinen Neigungen und Interessen entspricht.<br />

Mir ist zum Beispiel die Korrespondenz mit einer an<strong>der</strong>en Klasse nie richtig gelungen. Ich kann das<br />

nicht gut, so eine Regelmäßigkeit über einen langen <strong>Zeit</strong>raum aufrechtzuerhalten. Das Weglassen <strong>der</strong><br />

Korrespondenz war für mich wie eine Befreiung.<br />

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Umwelt zu erkunden. Später begann ich mich mehr und mehr für die „innere Welt“ des Kindes zu interessieren.<br />

Und für mich wurde <strong>der</strong> eigene Ausdruck, <strong>der</strong> kreative Ausdruck, das Wichtigste. Ich wurde<br />

zum Repräsentant dieser Richtung...<br />

Das hat mich auch mehr mit Elise als mit Célestin Freinet verbunden. Elise hat innerhalb <strong>der</strong> entstehen-<br />

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auch verteidigt. Dass wir in dieser Richtung weitergekommen sind, haben wir Elise zu verdanken.<br />

Als ich begann, die „natürliche Methode“ in Mathematik zu unterrichten2), hat Elise zu mir gesagt: „In<br />

diesem Punkt ist Freinet gegen dich. Aber ich bin an deiner Seite.“ Ich bin mehr ein Sohn von Elise als<br />

von Célestin Freinet.<br />

Freinet hat das Lernen sehr am Alltag orientiert, seine Mathematik zum Beispiel hat er aus dem<br />

Kaufmannsladen geholt. Ich habe meine Vorstellungen von Mathematik aus dem Spiel, <strong>der</strong> Fantasie<br />

und den Strukturen entwickelt. 3)<br />

Freinet war ja <strong>der</strong> Sohn eines Bauern und Elise war die Tochter eines Lehrers. Sie war eine Künstlerin.<br />

Freinet war pragmatischer, und weil die beiden so gegensätzlich waren, konnte diese Gemeinschaft<br />

existieren. Die beiden hatten eine dialogische Beziehung, sie ergänzten sich, sie standen aber auch<br />

in Opposition. Und weil es diese Aspekte gab, wuchs Freinet-Pädagogik weiter, komplementär und<br />

kontradiktionär.<br />

Elise hat nicht viel geschrieben. Aber ohne Elise gäbe es diese Freinet-Pädagogik, die wir heute kennen,<br />

nicht.<br />

Das, was Freinet sehr am Herzen lag, die Klassenkooperative, <strong>der</strong> politische Aspekt, das stand in <strong>der</strong><br />

französischen Freinetbewegung von Beginn an im Vor<strong>der</strong>grund. Ich habe da eine etwas abweichende<br />

133


Vorstellung. Vom sechsten bis neunten Lebensjahr geht es um die Beherrschung <strong>der</strong> Sprache. Erst<br />

nach dem neunten Lebensjahr geht es eigentlich um Politik, Kooperation und Selbstverwaltung und<br />

und und. Mit <strong>der</strong> Kooperation in <strong>der</strong> Klasse sollte man nicht zu früh anfangen. Dafür haben wir <strong>Zeit</strong>. Wir<br />

haben von neun bis neunzig dafür <strong>Zeit</strong>. Um die Sprache zu entwickeln, haben wir aber nur diese drei<br />

Jahre von sechs bis neun <strong>Zeit</strong>. Es gibt einen privilegierten <strong>Zeit</strong>ablauf. Und um die Sprache wirklich zu<br />

lehren, muss man sehr sehr sehr viel <strong>Zeit</strong> aufwenden. Es wäre wichtig, am Anfang die Sprache zu entwickeln,<br />

und nach dem neunten Lebensjahr zu beginnen, die an<strong>der</strong>en Dinge wichtig werden zu lassen.<br />

Und wenn wir falsch anfangen, dann wird die Sprache nicht genug entwickelt. Aber das ist natürlich<br />

mein Gesichtspunkt. Den französischen Lehrern ist es sehr wichtig, den politischen Aspekt zu lehren.<br />

Sie haben jede Woche den Klassenrat, <strong>der</strong> bei ihnen von Anfang an im Mittelpunkt steht. 4)<br />

Welche Sprache sprechen die Kin<strong>der</strong> da? Sie sprechen die Sprache <strong>der</strong> Organisation. Und dabei werden<br />

die an<strong>der</strong>en Dimensionen <strong>der</strong> Sprache nicht genug entwickelt.<br />

Wenn man sich zu früh mit <strong>der</strong> Organisation <strong>der</strong> Klasse und diesen Dingen beschäftigt, dann hat<br />

man eine technische Sprache. Nur diese funktionelle Sprache wird dann geför<strong>der</strong>t. Die an<strong>der</strong>en<br />

Dimensionen <strong>der</strong> Sprache, die wissenschaftliche Sprache (die sagt, wie die objektive Welt ist), <strong>der</strong><br />

subjektive Ausdruck (Was gefällt mir? Und warum?), die Welt <strong>der</strong> Kommunikation, <strong>der</strong> Verständigung,<br />

die Dimension <strong>der</strong> Überzeugung durch Sprache (Rhetorik), werden dann darüber vernachlässigt. Die<br />

Sprache <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> bleibt zu gebrauchsmäßig.<br />

Ich sage, dass die Sprache das Wichtigste ist. Die Kin<strong>der</strong> haben das Recht, sich auszudrücken. Sie<br />

haben das Recht auf das Wort, sie formulieren ihre Worte. Das braucht am Anfang <strong>Zeit</strong>, und das kann<br />

man nicht auf morgen verschieben. Von sechs Stunden Unterricht waren fünf Stunden bei mir für den<br />

freien Ausdruck.<br />

Damit fängt bei mir alles an, das ist bei mir zu Beginn das Politische, <strong>der</strong> kreative Ausdruck, im Gesang<br />

und in <strong>der</strong> Mathematik, in <strong>der</strong> Arbeit mit dem Körper und <strong>der</strong> Bewegung und in <strong>der</strong> Arbeit mit freien<br />

�������������������������������������������������������������<br />

nie zuvor, dass die Kin<strong>der</strong> sich frei ausdrücken können.<br />

Die Gesellschaft macht sie im Inneren so unruhig. Es gibt den Verkehr, Fernsehen, Radio und außerdem<br />

die familiären Schwierigkeiten. Die Kin<strong>der</strong> leiden in den Familien unter den Trennungen und<br />

Scheidungen. Sie brauchen Liebe. Es ist wichtig, ihnen zuzuhören. Es ist wichtig, dass die Umgebung<br />

erkennt, dass sie da sind, dass mit ihnen gesprochen wird.<br />

Was kriegen sie stattdessen? Die neuen Medien als Kommunikationspartner.<br />

Dann werde ich gefragt: Warum sollen die Kin<strong>der</strong> mit sechs o<strong>der</strong> sieben Jahren <strong>noch</strong> nicht an den<br />

Computer für die Korrespondenz? Es schadet ihnen doch nicht? Wenn sie in <strong>der</strong> Klasse miteinan<strong>der</strong><br />

arbeiten und miteinan<strong>der</strong> reden, wenn diese Ebene funktioniert, dann kann das doch nur bereichern,<br />

����������������������������������������������������������<br />

aus Hamburg.<br />

Also, ich kann mir das schon vorstellen. Aber ich habe keine Klassen mehr, und ich kann keine persön-<br />

134


lichen Erfahrungen in die Diskussion bringen. Ich möchte aber <strong>noch</strong> einmal betonen: die ersten Jahre<br />

sind dafür da, dass die Kin<strong>der</strong> miteinan<strong>der</strong> kommunizieren und auf ihre Art kooperieren.<br />

Wenn ich jetzt Lehrer wäre, hätte ich einen Computer in meiner Klasse. Aber er würde nicht sehr viel<br />

helfen, weil man ihn als Kommunikationsmittel nicht brauchen würde. Es ist für die Gruppe nicht notwendig,<br />

dass sie weiß, was in Finnland o<strong>der</strong> Holland passiert. Computer ist immer ein Ersatz.<br />

Die Maschine ist eine Krücke zwischen einem Individuum und dem an<strong>der</strong>en. Die direkte Kommunikation,<br />

das ist wichtig. Die Kin<strong>der</strong> sind allein, abgetrennt von <strong>der</strong> Welt, sie sind abgetrennt von ihren Großeltern,<br />

von ihren Cousinen, selbst von ihren Eltern sind sie getrennt. Und da stellt man nun eine Maschine<br />

hin, damit sie mit an<strong>der</strong>en korrespondieren. Das ist vielleicht besser als nichts, aber es ist eben nicht<br />

die persönliche Kommunikation. Ich habe dreißig Jahre lang die Erfahrung gemacht, dass durch die<br />

direkte Begegnung Intensität entsteht.<br />

Also, einen Computer o<strong>der</strong> ein Fax-Gerät in <strong>der</strong> Klasse? Ja, aber nicht vor neun Jahren. Bis dahin ist<br />

alles, was die Kin<strong>der</strong> bewegt, ganz nah bei ihnen. Und an dieser unmittelbaren Umgebung sind die<br />

Kin<strong>der</strong> interessiert, und sie hören dir zu, und sie haben Ideen, und sie helfen dir, und sie unterrichten<br />

dich den Lehrer, du lernst ihre Welt kennen. Die Gruppe in diesem Alter braucht keinen Computer. Sie<br />

ist für sich selbst reich genug.<br />

Das Problem ist allerdings, dass die meisten Kin<strong>der</strong> keine Chance mehr haben, Kin<strong>der</strong> zu sein. Und<br />

deshalb ist es wichtig, dass die Lehrerinnen wie<strong>der</strong> zu Kin<strong>der</strong>n werden. Nein, nein, nicht so, wie das<br />

vielleicht klingt.<br />

Die Lehrerinnen sollen nicht wie<strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> werden, son<strong>der</strong>n sie sollen die Freuden <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> „neu“<br />

lernen, zu spielen, zu singen, mit Dingen zu arbeiten.<br />

Freinet behauptet, dass es einen Elan des Lebens gibt 5), dass das Kind von sich aus eine unglaubliche<br />

Fähigkeit und eine unglaubliche Kraft hat, sich zu entwickeln. Aber die Umstände <strong>der</strong> heutigen<br />

Welt behin<strong>der</strong>n es permanent. Es gibt viele Traumata für Kin<strong>der</strong>.<br />

Jedes Kind kommt zunächst in das Chaos einer ihm fremden Welt. Es muss lernen, darin zu überleben.<br />

Dazu muss es Strukturen entwickeln und Werkzeuge, um irgendwie zurechtzukommen. Die Kunst<br />

des Lehrers ist es, diesem Kind Strukturen zu vermitteln, ihm Werkzeuge an die Hand zu geben und<br />

����������������������������������������������������<br />

Nehmen wir zum Beispiel die Sprache. Im Kind entsteht, wenn es freie Texte schreibt, diese unglaubliche<br />

Kraft und Entfaltung und <strong>der</strong> Wunsch sich auszudrücken. Und gleichzeitig bemerkt es aber auch<br />

die Beschränkung durch die Sprache. Also entwickelt das Kind seine eigene Sprache und interessiert<br />

sich überhaupt <strong>noch</strong> nicht für die Grammatik. Und erst im Laufe <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong> kommen die Strukturen <strong>der</strong><br />

Grammatik, die es dann annimmt und zu seiner Sprache macht.<br />

Also, das Kind benutzt die Formen <strong>der</strong> Sprache, die Strukturen <strong>der</strong> Sprache, ohne es zu wissen. Aber<br />

da es ein Mensch ist, stellt es sich Fragen. Und es stellt Fragen über die Strukturen <strong>der</strong> Sprache.<br />

Und schließlich beherrscht es die Sprache. Also, das Kind drückt sich erst aus, fragt dann nach den<br />

Strukturen, und im Laufe <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong> beherrscht es diese Strukturen, die es erst beeinträchtigt haben, als<br />

135


seine eigenen. Lehrer und Lehrerinnen sind auf Fortbildungen sehr an den Freinettechniken interessiert.<br />

Ich habe den Eindruck, dass zwar viele Lehrer mit den Techniken arbeiten, aber nicht unbedingt<br />

mit den Kin<strong>der</strong>n. Und dazu muss man mehr als bisher die Theorie studieren, man muss sie in seine<br />

Seele aufnehmen, und man muss wissen, warum man die Dinge so macht, wie man sie macht.<br />

Ein weiterer großer Fehler, ein großes Missverständnis, ist <strong>der</strong> Unterricht, <strong>der</strong> nur die Entwicklung<br />

des Individuums sieht. Die Bedeutung <strong>der</strong> Gruppe wird übersehen. Wissenschaftlich zu denken,<br />

Hypothesen aufzustellen, Kritik zu üben, Voraussetzungen zu hinterfragen, Positionen gegeneinan<strong>der</strong>zustellen,<br />

das lernt man in <strong>der</strong> Gruppe. 6) Aber es gibt sehr wenige, die in diesem Sinne arbeiten.<br />

Viele Freinetlehrerinnen haben immer <strong>noch</strong> nicht die Wichtigkeit <strong>der</strong> Gruppe und des Austausches<br />

untereinan<strong>der</strong> verstanden.<br />

Und beim Austausch spielt <strong>noch</strong> etwas an<strong>der</strong>es eine wesentliche Rolle. Heute sind Klassen mit mehreren<br />

Alterstufen die Ausnahme, aber früher war dies in Frankreich üblich. Die Frau hatte die Klasse<br />

von sechs bis neun Jahren, die Männer die oft auch <strong>noch</strong> die Ehemänner waren die Klasse von neun<br />

bis vierzehn Jahren. Das ist eine ganz an<strong>der</strong>e Schule. Die Demokratie in <strong>der</strong> Klasse wird im Laufe <strong>der</strong><br />

�������������������������������������������������������������<br />

Es gibt Eltern, die sind gegen jahrgangsübergreifenden Unterricht, weil das auch größere Klassen<br />

bedeuten könnte. Sie wollen lieber kleinere Klassen haben. Sie fürchten, dass man sich nicht genug<br />

um ihre Kin<strong>der</strong> in dem Sinne kümmert, dass <strong>der</strong> Stoff zu kurz kommt. Im Grunde genommen passiert<br />

genau das Gegenteil. Wenn man 25 Kin<strong>der</strong> hat, die alle lesen lernen, so kommen da viele zu kurz.<br />

Wenn aber 25 in verschiedenem Alter sind, so hilft die Erfahrung und Selbständigkeit <strong>der</strong> Größeren<br />

beim Lernen aller gewaltig. Dass so viel mehr gelernt wird, ist <strong>noch</strong> nicht in die Köpfe <strong>der</strong> Franzosen<br />

zu kriegen. Es hat eine Untersuchung durch das Ministerium gegeben, und die besten Ergebnisse<br />

hatten die Kurse, die mit fünf Altersgruppen zusammen waren. Und die Kurse, in denen zwei o<strong>der</strong> drei<br />

Altersgruppen zusammen waren, waren besser als die aus nur einer Altersgruppe.<br />

������ ���� ������ ������������ ���� ���� ���� ������ ����� ��� ����<br />

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Alterstufen in Schulfamilien, die es in unserer alten französischen Dorfschule immer gab. Hier hat die<br />

Freinetpädagogin angefangen.<br />

Literatur und Anmerkungen<br />

1) Freinet selbst und seine heutigen französischen Anhängerinnen bezeichnen sich gerne als „travalleurs de l‘École Mo<strong>der</strong>ne“. Sie verstehen sich als<br />

Arbeiterinnen im Klassenzimmer. Vgl. hierzu Ingrid Dietrich/Walter Hövel, Freinet-Pädagogik und Fremdsprachenunterricht, in: Ingrid Dietrich (Hrsg),<br />

Handbuch Freinet-Pädagogik, Weinheim 1995, S. 218.<br />

2) Vgl. hierzu den Aufsatz von Angela Glänzel-Zlabinger in diesem Band.<br />

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����������������������������������������������������������������������������������������������<br />

Hamburg 1976.<br />

5) Vgl. hierzu zum Beispiel das Kapitel „Die Entstehung des freien Textes“ in Elise Freinet, Erziehung ohne Zwang, Stuttgart 1981, S. 20ff.<br />

6) Vgl. Le Bohec, a.a.O., z.B. S. 51-60 und S. 63rf.<br />

136


C. Freinet<br />

Vom Pferd, das keinen Durst hat<br />

Freinet mit <strong>der</strong> schwedischen Kollegin Asta Häkanson 1950 in Nancy<br />

Der junge Städter wollte sich auf dem Bauernhof, <strong>der</strong> ihn beherbergte, nützlich machen.<br />

„Bevor ich das Pferd aufs Feld führet so sagte er sich, „werde ich es trinken lassen. Das ist gewonnene<br />

<strong>Zeit</strong>. Den Tag über werden wir Ruhe haben‘‘<br />

Aber, was denn... Bestimmt jetzt etwa das Pferd? Wie bitte? Es weigert sich, in die Nähe <strong>der</strong> Tränke zu<br />

gehen und hat nur Augen für das nahe Kleefeld!<br />

„Seit wann bestimmen hier denn die Tiere! Du kommst jetzt trinken, sag ich dir!“...<br />

Und das frischgebacke Landkind zieht am Zügel, geht nach hinten und gibt dem Pferd ein paar kurze<br />

Schläge. Endlich!... Das Tier bewegt sich... es ist schon an <strong>der</strong> Tränke... Vielleicht hat es Angst... „Ob<br />

ich es streicheln soll?... Du siehst doch, das Wasser ist frisch! Bitte! Mach mal deine Nüstern nass...<br />

Wie!... Du trinkst nicht?... Na dann!“<br />

Und <strong>der</strong> Mann stößt mit Gewalt die Nüstern des Pferdes ins Wasser <strong>der</strong> Tränke.<br />

„Jetzt trinkst du aber!“<br />

Das Tier schnaubt und atmet, aber es trinkt nicht. Der erfahrene Bauer kommt dazu. Ironisch sagt er:<br />

137


„Ach, du glaubst, dass man so ein Pferd rühren kann? Weißt du, es ist nicht so dumm wie ein Mensch...<br />

Es hat keinen Durst!... Du könntest es umbringen, aber trinken wird es nicht. Es wird vielleicht so tun<br />

als ob, aber das Wasser, das es schluckt, wird es dir wie<strong>der</strong> ausspucken... Verlorene Liebesmüh, mein<br />

Lieber!“<br />

„Was kann man da machen?“<br />

„Man merkt, dass du kein Bauer bist! Du hast nicht verstanden, dass das Pferd zu dieser frühen<br />

Morgenstunde keinen Durst, aber große Lust auf guten frischen Klee hat. Danach hat es Durst, und<br />

du wirst sehen, wie es zur Tränke galoppiert. Es wartet nicht, bis du ihm die Erlaubnis gibst. Ich rate<br />

dir sogar, dich nicht zu sehr mit ihm anzulegen... Und wenn es trinkt, kannst du wie du willst am Zügel<br />

ziehen!“ So täuscht man sich immer, wenn man sich anmaßt, die Ordnung <strong>der</strong> Dinge zu än<strong>der</strong>n und<br />

jemanden zum Trinken zwingen zu wollen, <strong>der</strong> keinen Durst hat... Erzieher, ihr seid am Scheideweg.<br />

Verrennt euch nicht in den Irrtum einer „Pädagogik-des-Pferdes-das-nichttrinken-will“, son<strong>der</strong>n geht<br />

kühn und weise auf eine Pädagogik zu, die die „Pädagogik-des-Pferdes-das-indas-Kleefeld-und-zur-<br />

Tränke-läuft“ nennen könnte.<br />

Das Pferd hat keinen Durst: Dann wechselt doch das Wasser in <strong>der</strong> Tränke!<br />

In <strong>der</strong> Geschichte vom Pferd, das keinen Durst hat, haben wir ein Kapitel vergessen. In dem Moment,<br />

als <strong>der</strong> frischgebackene Bauer die Schnauze des Pferdes-das-keinen-Durst-hat ins Wasser tauchte,<br />

und brr! <strong>der</strong> wi<strong>der</strong>spenstige Atem des Tiers das Wasser in Kaskaden rund um den Brunnen versprühte,<br />

erschien ein Mann, <strong>der</strong> mit Nachdruck verkündete: „Aber so wechseln Sie doch den Inhalt <strong>der</strong><br />

Tränke!“<br />

Was man sofort tat, denn auf Befehl von oben musste man das Pferd-das-keinen-Durst-hat tränken.<br />

Umsonst. Das Pferd hatte keinen Durst, we<strong>der</strong> auf trübes <strong>noch</strong> auf klares Wasser. Es...hatte...keinen...<br />

Durst! Und es zeigte das auch, es riss nämlich die Zügel aus den Händen des jungen Mannes und lief<br />

schnell in das Kleefeld.<br />

Das bedeutet: das wesentliche Problem unserer Erziehung besteht keineswegs im „Inhalt“ (wie man<br />

uns heute glauben machen möchte), son<strong>der</strong>n wir müssen unser Hauptaugenmerk darauf richten, unseren<br />

Kin<strong>der</strong>n Durst zu machen. Ist deshalb die Qualität des Inhalts unwesentlich? Sie ist nur für die<br />

Schüler unwesentlich, die man in <strong>der</strong> alten Schule dazu abgerichtet hat, ohne Durst egal welche Brühe<br />

zu trinken. Wir haben die unseren daran gewöhnt, zunächst jedem Getränk zu misstrauen, es zuerst<br />

auszuprobieren und zu klären, was es ist; sie sollen sich ein eigenes Urteil bilden und überall eine<br />

Wahrheit for<strong>der</strong>n, die eben nicht in Worten liegt, son<strong>der</strong>n im Wissen um das richtige Verhältnis zwischen<br />

Fakten, Personen und Ereignissen.<br />

Wir wollen keine Menschen heranziehen, die passiv einen Inhalt sei er nun richtig o<strong>der</strong> nicht akzeptieren,<br />

son<strong>der</strong>n Bürger, die später erfolgreich und mutig ihr Leben in die Hand nehmen, und die verlan-<br />

������������������������������������������������������������<br />

138


Dem Kind Durst machen<br />

Haben Sie schon einmal diese Gluckenmütter gesehen, wenn sie ihr Kind füttern, sie warten, mit dem<br />

Löffel in <strong>der</strong> Hand, dass das Opfer den <strong>noch</strong> vollen Mund ein bisschen öffnet, um die nächste Portion<br />

Brei hineinzustopfen... <strong>noch</strong> einen für Papa!... und einen fürs Kätzchen!...<br />

Schließlich läuft es über. Das Kind spuckt seinen Brei wie<strong>der</strong> aus, damit es wenigstens keine<br />

Verdauungsstörungen bekommt. Bringen Sie dieses Kind in eine lebendige Umgebung, zu <strong>der</strong> möglichst<br />

eine Gemeinschaft von Menschen gehört, wo es die Möglichkeit hat, sich den Aktivitäten hinzugeben,<br />

die in seiner Natur liegen. Es wird zu den Mahlzeiten o<strong>der</strong> vorher mit großem Hunger erscheinen.<br />

Das Ernährungsproblem än<strong>der</strong>t seinen Sinn und seinen Gehalt. Sie müssen nicht mehr einen zunächst<br />

abgelehnten Brei mehr o<strong>der</strong> weniger trickreich einrühren, son<strong>der</strong>n nur <strong>noch</strong> genügend wertvolle<br />

Nahrungsmittel bereitstellen. Der Vorgang des Schluckens und Verdauens ist nicht mehr ihr Problem.<br />

Kann man das Pferd, das keinen Durst hat, gar nicht tränken? Aber wenn es sich übersatt gefressen<br />

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dann können Sie am Zügel ziehen,. schreien o<strong>der</strong> schlagen... das Pferd wird trinken, bis es keinen<br />

Durst mehr hat, und dann zufrieden wegtrotten.<br />

Es sei denn, <strong>der</strong> Zwang, den Sie ausgeübt, und die Schläge, die Sie ihm versetzt haben, damit es an<br />

diesem Brunnen trinkt, haben eine Art physiologischen Ekel vor dem Brunnen ausgelöst, und das Pferd<br />

weigert sich von nun an, das Wasser zu trinken, das Sie ihm anbieten, und zieht es vor, an<strong>der</strong>swo, aber<br />

frei, die Pfütze zu suchen, die seinen Durst löscht.<br />

Wenn Ihr Kind keinen Wissensdurst hat, keinerlei Appetit verspürt auf die Arbeit, die Sie ihm anbieten,<br />

dann wäre es auch vergeblich, ihm die Ohren vollzudröhnen mit <strong>noch</strong> so beredten Beweisführungen.<br />

Sie würden wie mit einem Tauben reden. Sie könnten schmeicheln, streicheln, alles versprechen o<strong>der</strong><br />

schlagen, das Pferd hat keinen Durst. Und: nehmen Sie sich in acht! Mit Ihrer Hartnäckigkeit o<strong>der</strong> Ihrer<br />

brutalen Autorität riskieren Sie es, bei Ihren Schülern eine Art physischen Ekels <strong>der</strong> intellektuellen<br />

Nahrung gegenüber hervorzurufen und damit verschließen Sie ein für allemal die königlichen Wege,<br />

die zu den fruchtbaren Tiefen des Seins führen.<br />

Machen Sie durstig, auf welchen Umwegen auch immer. Stellen Sie Kreisläufe her. Entlocken Sie<br />

dem Kind den inneren Wunsch nach <strong>der</strong> ersehnten Nahrung. Dann werden sich die Augen beleben,<br />

die Mün<strong>der</strong> öffnen, die Muskeln bewegen. Verlangen entsteht und nicht Langeweile o<strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>willen.<br />

Lernfortschritte ergeben sich von nun an ohne unnormales Einschreiten Ihrerseits in einem Rhythmus,<br />

<strong>der</strong> nichts mehr mit dem herkömmlichen Vorgehen <strong>der</strong> Schule gemein hat.<br />

Jede Methode, die vorhat, das Pferd, das keinen Durst hat, zu tränken, ist bedauerlich. Jede Methode,<br />

die den Appetit auf Wissen anregt und das starke Bedürfnis nach Arbeit verstärkt, ist gut.<br />

139


Arbeit und Spiel<br />

von Célestin Freinet<br />

Elise (vorne links) und Célestin Freinet (Mitte), ca.1934<br />

1. Die menschliche Arbeit<br />

Hier sind wir wirklich in unserem Element“, fuhr Mathieu fort. „Noch eine Handvoll Kirschen; das gibt<br />

Ihnen Kraft für die Rückkehr, und mir ein bisschen Spucke, um weiterzureden. Meine Arbeit ist fast<br />

getan; ich kann mir den Luxus leisten zu philosophieren.“<br />

Wie ich schon sagte, glaube ich nicht, dass ein ausschließliches Spielbedürfnis für die Kindheit charakteristisch<br />

ist. Besser gesagt, <strong>der</strong> Begriff Spiel ist missverständlich. Ich will Ihnen ohne grossen<br />

Anspruch übrigens meine Vorstellungen umreissen.<br />

Weil man junge Katzen und Hunde zuerst fressen, dann lange spielen und dann schlafen sieht, schließt<br />

man darauf, dass auch <strong>der</strong> junge Mensch neben dem Essen und dem Schlafen den größten Teil seines<br />

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lich falschen Ausgangspunkt vorgibt.<br />

Es gibt ein sozusagen „funktionelles“ Spiel, das im Sinne <strong>der</strong> individuellen und sozialen Bedürfnisse<br />

des Kindes (wie des erwachsenen Menschen) ausgeführt wird. Es hat seine Wurzeln in den archai-<br />

140


schen Tiefen <strong>der</strong> menschlichen Entstehungsgeschichte und ist, wenn auch vielleicht nur indirekt, Relikt<br />

einer tiefverwurzelten Vorbereitung auf das Leben, eine Erziehung, die sich geheimnisvoll vollzieht,<br />

instinktiv, die nicht analytisch-vernünftig im Sinne einer schulischen Dogmatik funktioniert, son<strong>der</strong>n<br />

<strong>der</strong>en Geist, Logik und Ablauf <strong>der</strong> beson<strong>der</strong>en Natur des Kindes zu entsprechen scheint.<br />

Dies dem jungen Tier und dem jungen Menschen wesentliche Spiel ist eigentlich Arbeit, aber<br />

Kin<strong>der</strong>arbeit, <strong>der</strong>en Ziel wir nicht immer begreifen und die wir nicht als Arbeit anerkennen, weil sie<br />

�����������������������������������������������������������<br />

Auf das Kind wirkt diese Arbeit mit Spielcharakter (Im Französischen „travail-jeu“. Der deutsche Begriff<br />

„Arbeit mit Spielcharakter“ wurde von Hans Jörg geprägt.) wie eine Explosion und eine Befreiung, wie<br />

man das heute manchmal <strong>noch</strong> bei jemandem spürt, <strong>der</strong> sich ganz einer Aufgabe hingibt, die ihn anregt<br />

und begeistert.<br />

Wie ich weiß, hat man zur Erklärung des Spiels alle Arten von Systemen konstruiert, die sich wie die<br />

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lich untersucht, ohne den Kern <strong>der</strong> Frage zu treffen. Dieser nämlich liegt, motiviert von <strong>der</strong> archaischen<br />

Vergangenheit und gesteuert von den unbewussten Signalen <strong>der</strong> Zukunft, im dynamischen Prozess,<br />

den das Kind durchmacht.<br />

In diesen bestimmt gewissenhaft durchgeführten Studien hat man meines Erachtens das Wichtigste<br />

eben auch Geheimnisvolle vergessen, und es sich mit einer verzerrten Konzeption <strong>der</strong> Arbeit mit<br />

Spielcharakter leicht gemacht. Man hat im Spiel die Kraft <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung, <strong>der</strong> Anpassung<br />

und <strong>der</strong> Befreiung übersehen und nur <strong>noch</strong> das euphorische Vergnügen, das dabei zu beobachten ist,<br />

bemerkt.<br />

Und auf diese Lust, auf dieses Vergnügen haben die Pädagogen ihre Theorien aufgebaut. Fast könnte<br />

man es so formulieren: Diese mo<strong>der</strong>ne Pädagogik, von <strong>der</strong> Sie mir erzählt haben, baut in Wirklichkeit<br />

gar nicht auf dem Spiel auf, son<strong>der</strong>n nur auf dem Vergnügen. Und das ist etwas ganz an<strong>der</strong>es.<br />

Ursprünglich ist das Spiel des Kindes schöpferisch und dynamisch. Das Vergnügen, das dabei ent-<br />

�����������������������������������������������������������<br />

Sexualität. Wie ein Beben durchschüttelt es den Menschen und gibt ihm eine größere Erlebnisbreite,<br />

es macht ihm seine Möglichkeiten und seine Stärke bewusst, die ihm erlauben, sich an <strong>der</strong> Umwelt zu<br />

messen. Hiermit meine ich nicht die jüngst erfundenen Spiele, <strong>der</strong>en Schöpfer in dem Sinne pervers<br />

�������������������������������������������������������������<br />

haben. Sie verformen seine Neigungen und Wünsche so, dass sie für ihre Interessen ausbeutbar werden.<br />

Vielleicht verstehen sie die Unterscheidung nicht genau, die ich treffen möchte. Sie ist aber für jede<br />

vernünftige Untersuchung dieser Frage nach dem Spiel unerlässlich. Sie sind <strong>noch</strong> jung, aber Sie<br />

sind auf dem Lande aufgewachsen, haben Sie gesagt. Also wissen Sie vielleicht, dass unter allen<br />

Volksbräuchen die Spiele am stärksten <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong> getrotzt haben; ich würde sogar sagen, sie sind die einzigen<br />

Bräuche, die sich ohne bemerkenswerte Verän<strong>der</strong>ungen wie durch ein Wun<strong>der</strong> die Jahrhun<strong>der</strong>te<br />

141


über gehalten haben.<br />

Neulich blätterte ich in einem Buch, in dem auf einem mittelalterlichen Stich spielende Kin<strong>der</strong> abgebildet<br />

waren. Und siehe da! Ich erkannte in diesen Spielen die aufregenden Spiele meiner Kindheit zu<br />

Anfang des Jahrhun<strong>der</strong>ts wie<strong>der</strong>! Und ich bin sicher, dass nichts an ihnen fehlte, die Abzählreime nicht,<br />

auch nicht die Zauberformeln und die rituellen Befehle, die dazugehören. Diese Dauerhaftigkeit muss<br />

�����������������������������������������������������������<br />

beschreiben will.<br />

Ich möchte einige Bemerkungen machen, ohne damit den Anspruch zu erheben, für alles eine Erklärung<br />

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Aber vielleicht helfen sie zu verstehen, welchen alltäglichen Verirrungen diejenigen unterliegen, die<br />

Erzieher o<strong>der</strong> nicht das Spiel ausbeuten, so wie sie die Trägheit, die fehlgeleitete o<strong>der</strong> die krankhafte<br />

Sucht nach Abenteuern ausbeuten.<br />

Ich denke sehr gern an die Spiele meiner Kindheit zurück und eine kleine Rührung kann ich nicht unterdrücken,<br />

wenn ich sehe, wie sie heute auf dem Dorfplatz gespielt und allen perfektionierten Spielen<br />

aus Büchern vorgezogen werden.<br />

Ich sprach einmal mit einem Ihrer Vorgänger, <strong>der</strong> mir sagte: „Das Spiel ist eine Vorbereitung auf das<br />

Leben, eine Art unbewusstes Lernen.“ Das scheint mir etwas an den Haaren herbeigezogen. Eine<br />

solche Erklärung entspricht <strong>der</strong> Besessenheit <strong>der</strong> Menschen, für alle unsere Handlungen einen guten<br />

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ken, sich ausdrücken, leben. Man könnte auch genauso gut sagen:<br />

das Kind isst, um groß zu werden. . ., um sich dem Leben gegenüber zu stärken..., und es schläft, um<br />

����������������������������������������������������������������<br />

Begründungsversuche. Das Kind spielt mehr als <strong>der</strong> Erwachsene, weil es in sich eine Lebensenergie<br />

spürt, die das ganze Spektrum <strong>der</strong> Verhaltensmöglichkeiten ausprobieren will: es schreit lieber, anstatt<br />

zu sprechen, es rennt fortwährend, statt zu gehen, dann schläft es schlagartig ein, den Suppenlöffel<br />

<strong>noch</strong> im Mund und nichts kann es bis zum nächsten Morgen aufwecken. Was ihm die Menschen<br />

und die Umgebung zu tun erlauben, lastet seine lebendige Energie nicht ganz aus, es sucht weitere<br />

Beschäftigungen, die es weil es sich nicht alles selbst ausdenken kann von den Erwachsenen übernimmt<br />

und dabei nach seinen Maßstäben verän<strong>der</strong>t.<br />

Wenn wir von <strong>der</strong> Arbeit zurückkommen, sind wir müde; unser Körper und unser Sinn wollen nur <strong>noch</strong><br />

ausruhen. Wir setzen uns ruhig vors Feuer und schauen <strong>der</strong> knisternden Kohle zu, lauschen dem weichen<br />

Singen des Kessels und sagen dann und wann zu denen, die genauso müde und ruhig sind wie<br />

wir, ein paar bekannte Worte, die nicht anstrengen... Wir haben ganz bestimmt keine Lust zu spielen.<br />

Der junge Mensch ist weniger schnell erschöpft als wir, aber doch schon ein bisschen gesetzt. Abends<br />

geht er raus, um auf den Treppenstufen mit den Dorfmädchen zu plau<strong>der</strong>n... das entspricht seinem<br />

Alter, das stimmt...<br />

Das Kind ist wie ein starker Motor, <strong>der</strong> auf Hochtouren läuft, bis er nicht mehr kann. <strong>Immer</strong> <strong>noch</strong> spürt<br />

142


es in sich lebendige Energie, und es kann nicht so wie wir damit umgehen: sich hinsetzen und zuhören,<br />

wie die <strong>Zeit</strong> vergeht. Es läuft wie<strong>der</strong> nach draußen, um zu spielen, und man muss es mehrmals rufen,<br />

um es seiner neuen Aktivität zu entreissen... Es kommt heim:<br />

Schluss! Es schläft sofort ein... eine natürliche Reaktion...<br />

Und wenn Sie ein Kind sehen, das abends brav bei seinen Eltern sitzt, während man im Halbdunkel<br />

das Geschrei <strong>der</strong> Teufelsbanden auf dem Platz hört, können Sie sicher sein: Das ist ein krankes Kind.<br />

Wenn es sich immer so verhält, ist es ein unnormales Kind, verbraucht, ohne Leben, gealtert vor dem<br />

Alter; es erträgt nur einen eingeschränkten Erlebnisspielraum; das Laufen, das Schreien, die Schläge,<br />

die Spannung ermüden und belästigen es. Es ist keineswegs ein braves Idealkind, wie manche meinen;<br />

ein vergreistes Kind ist es, seit seiner Geburt auf dem absteigenden Ast des Lebens.<br />

Ich freue mich immer, wenn meine Kin<strong>der</strong> spielen, das zeigt mir, dass ihr Blut kräftig zirkuliert und sie<br />

������������������������������������������������������<br />

<strong>Immer</strong> über das Maß hinausschießen, das ist das Beson<strong>der</strong>e am Kind wie beim Sturzbach: manchmal<br />

ganz ausgetrocknet, dann wie<strong>der</strong> überschäumend und heftig. Wenn es ruhig und maßvoll ist, gleicht<br />

es dem Fluss und nicht mehr dem Bach.<br />

Was ich Ihnen hier sage, hilft Ihnen vielleicht, das Verbindende und die Unterschiede zu verstehen, die<br />

wir zwischen den beiden fundamentalen Elementen des aktiven Handelns <strong>der</strong> ARBEIT und dem SPIEL<br />

feststellen können.<br />

Wenn meine Theorie stimmt lei<strong>der</strong> muss man sich auf diesem Gebiet mit Theorien zufrieden geben<br />

-, wenn das Spiel nur Ventil für überschüssige Energie ist, könnte man es als Ersatz ansehen, als<br />

Korrektiv und Ergänzung <strong>der</strong> Arbeit und formulieren: „DAS KIND SPIELT, WENN DIE ARBEIT SEINE<br />

ENERGIE NICHT GANZ AUFBRAUCHEN KONNTE!“<br />

„Dann wäre das Spiel, das gemeinhin als Erholung angesehen wird. Ihrer Meinung nach eine beson-<br />

�������������������������������������������������������������<br />

auszutoben. Aber woher kommt es dann, dass alle Menschen in jedem Alter so begierig sind zu spielen,<br />

oft genug auf Kosten <strong>der</strong> Arbeit? Das geht so weit, dass wir uns in Schule und Gesellschaft gegen<br />

die Spielsucht wie gegen einen Feind wehren müssen, den wir versuchen, für uns zu gewinnen und in<br />

unsere Dienste zu stellen/‘<br />

„Jetzt sehen Sie die Dinge vom Standpunkt des Erwachsenen, vom Standpunkt einer Gesellschaft, die<br />

sich nie um die Wünsche und Bedürfnisse des Kindes gekümmert hat. <strong>Immer</strong> war sie nur beherrscht<br />

von <strong>der</strong> Sorge, das Kind frühzeitig an ihre Bedürfnisse anzupassen.<br />

Wir wollen versuchen, mit etwas mehr gesundem Menschenverstand an die Sache heranzugehen und<br />

uns dabei aufrichtig und mit gutem Willen in die Situation des Kindes einfühlen. Nicht, damit das Kind<br />

nun <strong>der</strong> neue Götze sei, vor dem sich die Erwachsenen und die Gesellschaft neigen sollen, son<strong>der</strong>n<br />

nur, um die Dinge so zu sehen, wie sie sind und nicht, wie wir sie uns vorstellen o<strong>der</strong> wünschen.<br />

Genau hinzusehen ist immer <strong>der</strong> erste Schritt. Erinnern wir uns an unsere Jugend. Gab es nicht<br />

Arbeiten, die uns stärker gefesselt haben als Spiele und die wir auch nicht für die allerverführerischste<br />

143


Zerstreuung aufgegeben hätten ?<br />

Die Riesenfreude über den Schnee im Winter. Morgens beim Aufwachen bewegte uns ein härteres<br />

Licht als sonst dazu, die geheimnisvolle Stille einer wie in Watte verpackten Atmosphäre zu geniessen:<br />

die Schritte klangen gedämpft; das Wasser des Brunnens schien still und die Glocke <strong>der</strong> Schule klang<br />

matt wie gesprungenes Eisen.<br />

�������������������������������������������������������������<br />

Jedenfalls wollte ich mit keinem tauschen. Es war kalt und schneite fortwährend, was die Arbeit langsam<br />

und schwierig machte, aber ich legte grossen Wert darauf, sie zügig zu beenden.<br />

Erfolgreich<br />

144


Im Winter ging ich oft mit meinem Vater los, um Mauern wie<strong>der</strong> aufzubauen. Das ist eine mühsame<br />

Arbeit: <strong>der</strong> Boden ist feucht und klebt an den Schuhsohlen; die Steine sind eiskalt wir hatten auch Angst,<br />

sie hochzuheben, wegen <strong>der</strong> Skorpione, die daruntersitzen. Aber wir sahen auch, wie unser Werk systematisch<br />

größer wurde; wir freuten uns im <strong>voraus</strong> auf seinen späteren Nutzen... Die Vorübergehenden<br />

riefen: „Sieh mal da, was für eine hübsche Mauer!“<br />

Und weiter geht‘s, wir bauen. Die <strong>Zeit</strong> vergeht und die Arbeit wird bis zum Sonnenuntergang nur durch<br />

das Mittagessen unterbrochen. Dazu setzt man sich an den Fuß <strong>der</strong> Mauer, in den Schatten eines<br />

alten Weinstocks. Ein würzig riechendes Feuer wird entfacht und eine Blutwurst darauf gegrillt. Dann<br />

begibt man sich wie<strong>der</strong> an die Arbeit.<br />

Oh je, wenn mein Vater (wie lei<strong>der</strong> so viele verständnislose Eltern) die gute Rolle nämlich die Mauer<br />

hochzuziehen für sich allein gepachtet und mich nur als Handlanger benutzt hätte! „Gib mir den Stein<br />

da!“... und „Reich mir mal das Stück dort !... Hol die Schaufel!... Wo ist denn schon wie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Hammer<br />

hin?“... Also, dann wäre ich schnell müde geworden, um das verpasste Murmelspiel wäre es mir leid<br />

gewesen, mit gutem Grund hätte mich eine Mauer, die nicht mein Werk ist, nicht interessiert, und ich<br />

hätte mich schließlich damit zufrieden gegeben, zwischen den Steinen nach Schnecken zu suchen,<br />

die ich am Abend mit nach Hause gebracht hätte, um sie im Holzkohlenfeuer mit einer Prise Salz zu<br />

rösten. Wäre mir eine Befriedigung durch Arbeit verwehrt geblieben, hätte ich eine Ablenkung suchen<br />

müssen und das Spiel hätte sich angeboten.<br />

Aber mein Vater hatte eine dunkle Ahnung vom richtigen Vorgehen. Er ließ mich neben sich arbeiten,<br />

„wie ein Mann“ sagte er, mit den gleichen Schwierigkeiten, gleicher Verantwortung, aber auch gleicher<br />

Befriedigung. Er überließ mir ein Stück Mauer, das ich, so gut ich konnte, hochzog. Wahrscheinlich<br />

gelang mir das nur recht unvollkommen, denn es ist schwieriger, als man denkt, eine Mauer zu bauen:<br />

manchmal buchtet sie nach vorne aus, dann wie<strong>der</strong> nach hinten; sie wird allzu krumm; ein Stein,<br />

den man mit viel Mühe gesetzt hat, kippt doch, fällt und droht einem vielleicht die Füße zu zerschmettern;<br />

man klemmt sich die Finger zwischen den Steinen, und die Fingernägel werden sofort ganz<br />

schwarz. Oh nein, so eine Arbeit ist kein reines Vergnügen! Aber wie stolz ist man darauf, zu schuften<br />

wie ein Arbeiter, zu wissen, dass die fertige Mauer Tage und Jahre stehen wird, ein Symbol unserer<br />

Kraft! „Schau, was ich ganz allein gemacht habe!“ wird man später im Vorübergehen den neidischen<br />

Freunden sagen können.<br />

Und abends geht man auch heim „wie ein Mann7, die Jacke über <strong>der</strong> Schulter, befriedigt wie nach gutem<br />

Essen und Trinken. Man isst wie ein Mann, mit den Bewegungen eines Mannes. Und dann merkt<br />

man, dass man den ganzen Tag nicht daran gedacht hat, zu spielen... Könnten doch nur alle Tage mit<br />

solch faszinierenden Arbeiten ausgefüllt sein!<br />

Wenn die Heuernte kam, war es meine Arbeit im Alter von fünf o<strong>der</strong> sechs Jahren das gemähte Gras<br />

so zu verteilen, dass es trocknen konnte. In diesen Tagen hätte auch das allerneueste Spiel mich nicht<br />

im Ort gehalten. Mein Vater mähte schon seit Tagesanbruch. Ich kam mit <strong>der</strong> Sonne und brachte das<br />

Essen. Kaum war <strong>der</strong> Tau auf den Grashaufen etwas getrocknet, machte ich mich ans Werk. Ich war<br />

145


klein, ich musste mich nicht son<strong>der</strong>lich bücken, damit meine Arme wie zwei mechanische Schaufeln<br />

das feuchte Gras nach rechts und links verteilen konnten, das Gras, das nach Erde und feuchtem Laub<br />

roch, und in dem verzweifelt die ungeschickten Grillen zappelten, die sich, vom Pfeifen <strong>der</strong> Sense erschreckt,<br />

in den unentwirrbaren Grashaufen immer mehr verhed<strong>der</strong>ten.<br />

Eine Ruhepause hatte ich nur, wenn ich die Sense einholte. Dann konnte ich mich hinsetzen und Atem<br />

holen, bis mein Vater das Ende seiner Reihe erreicht hatte. Ich bewun<strong>der</strong>te mein Werk: dank meiner<br />

Arbeit würde das Gras schneller trocknen... Die Leute, die am Weg vorübergingen, sagten verwun<strong>der</strong>t:<br />

„Der Dreikäsehoch da hat diese ganze Arbeit gemacht?“<br />

Die an<strong>der</strong>en Kin<strong>der</strong> hätten ruhig kommen können, um mich zu irgendeinem Spiel zu holen! Nichts auf<br />

<strong>der</strong> Welt hätte mich dazu gebracht, eine Beschäftigung aufzugeben, die in meinen Kräften stand und<br />

<strong>der</strong>en Sinn und Zweck ich vollkommen einsah.<br />

Hier und am Beispiel des Mauerbaus werden die Gefühle und Bedürfnisse deutlich, denen wir Rechnung<br />

����������������������������������������������������������<br />

sichtbares Ziel, leicht messbare Fortschritte, relative Eigenständigkeit in <strong>der</strong> Ausführung, Klarheit <strong>der</strong><br />

Anfor<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Erwachsenen, Befriedigung des Selbstgefühls und Anerkennung durch die an<strong>der</strong>en!<br />

(...)<br />

��������������������������������������������������������������<br />

eine Gesamtheit von Gefühlen, eine anregende Atmosphäre, die in Ihnen Ihre lebendigsten, kühnsten<br />

und großherzigsten Seiten aktiviert. Das hat nichts mit dem Genuss o<strong>der</strong> Vergnügen an einem guten<br />

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die Befriedigung, seine Rolle als Mensch würdig ausgefüllt und eine Arbeit gemacht zu haben, die anerkannt<br />

wird, die einem selbst und an<strong>der</strong>en nützt, die eingebettet ist in die Handlungen <strong>der</strong> Erwachsenen<br />

und die sich als großer Sieg über sich selbst und die Natur äußerst. Was tun angesichts einer solchen<br />

Befriedigung die Mühen, die Erschöpfung und selbst die Schmerzen zur Sache! Sie machen den Sieg<br />

nur kostbarer.<br />

Nach solchen Tagen, wie gesagt, verspürte ich kein Bedürfnis zu spielen. Ich war zufrieden und müde.<br />

Das Spiel erschien mir nicht als Erholung. Zwar waren meine Muskeln müde, aber mein Geist war<br />

ausgefüllt und ruhig.<br />

Stimmen meine Beobachtungen, so folgt daraus, dass die Psychologen einen grossen Fehler begehen,<br />

wenn sie das Spiel für eine natürliche und notwendige Erholung nach <strong>der</strong> Arbeit halten.“<br />

„Das ist aber doch richtig, auch für die Erwachsenen... Wir brauchen doch Zerstreuung \..../‘<br />

„Das stimmt nur für die, glauben Sie mir, die eine Arbeit erledigen, <strong>der</strong> eben jene „funktionellen“<br />

Eigenschaften fehlen, für die ich Ihnen Beispiele gegeben habe.<br />

(...)<br />

Die meisten negativen Auswirkungen sind nicht Folge <strong>der</strong> Arbeit selbst, son<strong>der</strong>n Folge des Elends,<br />

�����������������������������������������������������������<br />

146


und Kin<strong>der</strong>, denen man das wohlverdiente Brot raubt und die daran körperlich und seelisch leiden.<br />

��������������������������������������������������������������<br />

Möglichkeit, bis zum Schluss wenigstens ein Minimum an Würde zu bewahren, an Vertrauen in seine<br />

Stärke und in seine soziale Nützlichkeit, ohne die das Leben nicht lobenswert wäre.<br />

Die Bauern auf dem Land erscheinen Ihnen müde, verbraucht und zerlumpt; das stimmt. Die baufälligen<br />

Häuser, unsere Wohnungen, erregen Ihr Mitleid und Sie fragen sich vielleicht nicht ohne Grund,<br />

wie menschliche Wesen das aushallen können. Aber gehen Sie einmal mit diesen Menschen aufs<br />

Feld, so wie mit mir heute. Sie werden sehen, wie sie sich verwandeln. Vielleicht geben sie wirklich ihr<br />

�����������������������������������������������������������<br />

sie ihre Pfeife anzünden, bevor sie wie<strong>der</strong> an die Arbeit gehen, nachdem sie ein Stück Brot gegessen<br />

und aus <strong>der</strong> Flasche einige Schluck sauren Weins getrunken haben... Das ist es eben: wenn sie diese<br />

Arbeit nicht hätten, mit <strong>der</strong> Befriedigung und <strong>der</strong> Würde, nützlich zu sein, die sie ihnen vermittelt, könnten<br />

unsere Bauern ihre schlechten Lebensbedingungen nicht ertragen.“<br />

„Und was ist mit den Arbeitern?“<br />

„Glauben Sie nicht, dass es trotz <strong>der</strong> unmenschlichen Härte ihres Berufs mehr gibt als Sie denken, die<br />

ihre Arbeit lieben? Und die sie nicht nur lieben wegen <strong>der</strong> Vorteile, die sie für sie und ihre Familien bringt<br />

o<strong>der</strong> wegen <strong>der</strong> Freizeit, die sie ihnen lässt, son<strong>der</strong>n wegen <strong>der</strong> tiefen Befriedigung, die sie daraus<br />

ziehen. Ich habe gehört, wie Dreher mit Wärme von <strong>der</strong> Zauberkraft reden, die unter ihren intelligenten<br />

Händen das Metall formt; ich habe Arbeiter gesehen, die mit sehr verständlichem Stolz Maschinen<br />

bedienen, die Bücher und <strong>Zeit</strong>ungen setzen, drucken, legen und falten; ich kenne die Leidenschaft<br />

des Mechanikers für sein Auto, das ein Teil von ihm ist, dessen Leiden und Schwächen er teilt, dessen<br />

Stärke die Frucht und die Verlängerung seiner eigenen Stärke ist.<br />

Und wenn wirklich unter bestimmten Umständen <strong>der</strong> menschliche Sinn für die Arbeit in sein Gegenteil<br />

verkehrt wurde, ist das ein Grund, mit den Kin<strong>der</strong>n auf einem Weg zu gehen, auf dem wir nur niedrigen<br />

������������������������������������������������������������<br />

später in <strong>der</strong> Arbeit, die die Gesellschaft von ihm verlangt, auch nur ein Stückchen jener tiefen inneren<br />

Befriedigung erreichen kann, die lebensnotwendig ist. Wenn wir aber vermuten, dass sich morgen,<br />

wenn es erwachsen ist, unser Kind nicht ausreichend ernähren kann und manchmal seinem Körper<br />

die ihm zustehende Erholung verweigern muss, so darf das doch nicht heißen, das junge Wesen<br />

schon jetzt zu seinem Schaden an Erschöpfung und Unterernährung zu gewöhnen? Das kommt vor,<br />

sagen Sie. Aber die Gesellschaft ist nicht gerade stolz darauf. Im Gegenteil, selbst in <strong>der</strong> allgemeinen<br />

Verwirrung heute erkennt sie sehr wohl die menschliche Notwendigkeit an, sich beson<strong>der</strong>s um die<br />

Entwicklung <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> zu kümmern, damit sie trotz allem gesund und stark werden und ihre spätere<br />

Aufgabe als erwachsene Menschen erfüllen können.<br />

Wenn wir also annehmen, dass die Freude an <strong>der</strong> Arbeit wesentlich zum Leben gehört, mehr als das<br />

Spiel; wenn wir glauben, dass es möglich ist, dem Kind Aktivitäten anzubieten, die es im Innersten interessieren,<br />

die es ganz ergreifen und in Bewegung bringen, dann müssen wir uns in dieser Richtung<br />

147


engagieren.“<br />

„Sie glauben wirklich an eine solche Überlegenheit <strong>der</strong> Arbeit! Aber sehen Sie denn nicht, wie unsere<br />

Kin<strong>der</strong> spielen?“<br />

„Sie spielen, ich habe es Ihnen doch schon gesagt, wenn sie nicht arbeiten können. Ich verstehe dabei<br />

unter Arbeit ausschließlich die Tätigkeit, die so eng mit dem Menschen verbunden ist, dass sie eine<br />

Funktion von ihm wird und ihre Ausübung allein ihm schon ein Gefühl von Befriedigung gibt, auch wenn<br />

sie von Erschöpfung und Leiden begleitet ist. Wie Sie ja wissen, sind Erschöpfung und Leiden nicht<br />

unbedingt unerbittliche Feinde des Glücks; manchmal sind sie sogar seine Vorbedingung.<br />

Meinen Sie, die junge Katze würde mit dem Korken, <strong>der</strong> an einem Stuhl hängt o<strong>der</strong> mit dem vom Winde<br />

bewegten Blatt spielen, wenn sie immer eine Maus vor <strong>der</strong> Nase hätte, die geschickt davonläuft, sich<br />

versteckt und herumhüpft? Freilich, in Ermangelung einer Maus übt sie ihre jungen Muskeln auch an<br />

Korken und ähnlichem in <strong>der</strong> Richtung, die in ihrer Natur liegt.<br />

Genauso gebraucht das Kind, wenn es nicht wirklich arbeiten kann, seine Lebenskraft für Aktivitäten,<br />

denen seine frische und unverbrauchte Phantasie den Anschein und die Qualität von Arbeit verleiht,<br />

die es eigentlich zu tun begehrt/“ Wie geht diese Übertragung vor sich?<br />

Die Katze imitiert in ihren Spielen die Bewegungen <strong>der</strong> Mäusejagd; es geht ihr nicht ums Vergnügen,<br />

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keinen Zweck ihres Handelns, sie können nur nachahmen. Genauso ahmt das Kind die Aktivitäten<br />

<strong>der</strong> Erwachsenen nach. Es imitiert sozusagen <strong>der</strong>en Zweckbestimmtheit. Es greift den Inhalt <strong>der</strong><br />

Erwachsenenarbeit auf und passt dann die Regeln <strong>der</strong> Ausführung seinen Möglichkeiten an. Es<br />

versucht, in seiner kleinen Umgebung die Aufgabe zu erfüllen, die es im grossen gesellschaftlichen<br />

Rahmen nicht gut erledigen kann. Jetzt wird <strong>der</strong> Zusammenhang deutlich, warum wir im Spiel we-<br />

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Arbeit nicht im Spaß und auch nicht in <strong>der</strong> Freude zu suchen. Das ist nur ein wertloser Ableger <strong>der</strong><br />

herkömmlichen Auffassung vom Spiel. Die Spiele <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>, jedenfalls die von alters her überkom-<br />

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schwermütig; sie sind nicht immer von großem Gelächter begleitet, aber oft von heftigen Gefühlen, von<br />

Schmerzen, sogar Schlägen; von einer extremen Anspannung, einen Sieg zu erringen.<br />

Vor allem sind sie, wie die Arbeit, Befriedigung des Bedürfnisses nach Leben und Aktivität, dem<br />

Barometer <strong>der</strong> uns eigenen Kraft und Stärke.<br />

Das, was ich sage, ist vielleicht nicht genau genug. Psychologisch könnte man es so formulieren: Es<br />

gibt beim Kind kein natürliches Spielbedürfnis; es gibt nur ein Arbeitsbedürfnis, d. h., die organische<br />

Notwendigkeit, die Lebenskraft für eine sowohl individuelle als auch soziale Aktivität zu nutzen und<br />

zwar auf ein deutliches Ziel hin, im Rahmen <strong>der</strong> kindlichen Möglichkeiten. Die Bandbreite möglicher<br />

������������������������������������������������������������<br />

148


Beruhigung, Angst Sicherheit, Risiko Sieg. Vor allem muss eine solche Arbeit eine gerade für dieses<br />

Alter sehr wichtige psychische Neigung befriedigen: das Gefühl für die eigene Stärke, den dauerhaften<br />

Wunsch, sich und an<strong>der</strong>e zu übertreffen, den kleinen o<strong>der</strong> grossen Sieg zu erringen, etwas o<strong>der</strong><br />

jemanden zu bezwingen.<br />

Wie ich die Frage auch drehe und wende, das Wesentliche unserer Überlegungen scheint mir folgendes<br />

zu sein: je nachdem, welche Auffassung Sie von diesen beiden Elementen: <strong>der</strong> Arbeit und<br />

dem Spiel haben, verhalten Sie sich in Ihren Reaktionen dem Kind gegenüber unterschiedlich: das<br />

hat Auswirkungen auf die Auswahl <strong>der</strong> Bücher in Ihrer Klasse, auf Ihr Unterrichtsmaterial und auf Ihre<br />

Erziehungsmethode.‘“<br />

„Sie haben diesen Willen zur Macht, dieses Gefühl für die eigene Stärke, nicht als erster entdeckt. Ein<br />

großer deutscher Philosoph hat diesen Gedanken zur Grundlage seines intellektuellen und sozialen<br />

Systems gemacht, aber die Erfahrungen mit seiner Entdeckung waren eher entmutigend.“<br />

„Ich weiß nicht, was dieser Philosoph gesagt hat, <strong>noch</strong>, welche Interpretation seine Theorien erfahren<br />

haben. Es geht nur darum, ob meine Überlegungen richtig sind und ob die Theorie, die auch ich vertrete,<br />

hieb- und stichfest ist.<br />

(...)<br />

Bestimmte Aktivitäten sind charakteristisch für den kleinen Menschen, so wie die Mäusejagd charakteristisch<br />

für die junge Katze ist. Solche Aktivitäten befriedigen unsere stärksten natürlichen Bedürfnisse:<br />

Erkenntnis; innere Einheit mit <strong>der</strong> Natur; Anpassung an die physischen und psychischen<br />

Möglichkeiten;<br />

Gefühl <strong>der</strong> eigenen Stärke, <strong>der</strong> Kreativität und <strong>der</strong> Überlegenheit; unmittelbar spürbarer technischer<br />

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<strong>der</strong>n um einen funktionellen Prozess: Die Befriedigung dieser Bedürfnisse ist ein unglaublich heilsamer<br />

Genuss, produziert ein Wohlsein, ein Gefühl von Erfülltsein im gleichen Ausmasse wie die normale<br />

Befriedigung unserer an<strong>der</strong>en funktionellen Bedürfnisse auch. Und diese Befriedigung genügt sich<br />

selbst. In diesem Sinne sind solche Aktivitäten auch Spiel, dessen allgemeine Kennzeichen sie besitzen,<br />

das sie aber gleichzeitig entthronen und ersetzen.<br />

Wenn wir also dahin kämen als Idealvorstellung immer für die Möglichkeit <strong>der</strong> normalen Befriedigung<br />

dieser funktionellen Bedürfnisse zu sorgen...“<br />

„...Würden die Kin<strong>der</strong> nicht mehr spielen?... Das ist doch einfach ein Unding, eine Absurdität!“<br />

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zu. Hier sind wir am Ursprung <strong>der</strong> willkürlichen, von egoistischen Interessen bestimmten Trennung<br />

von Arbeit und Spiel... Ich weiß, normalerweise nimmt man an, dass Arbeit d. h. Zwang, Mühe und<br />

Schmerzen nach ihrem Gegensatz, <strong>der</strong> Entspannung verlange, so wie <strong>der</strong> Leidende hartnäckig auf<br />

die Rückkehr des Wohlergehens als einzigem Lichtblick hofft, so wie auf Erschöpfung eine Ruhepause<br />

folgen muss. Aber was ist denn so absurd, wenn es Leiden gibt, die uns wertvoller sind als die Freude,<br />

149


Mühsal, das wir <strong>der</strong> Ruhe vorziehen; und Arbeit, die uns ausfüllt, weil sie die Elemente des Spiels in<br />

sich trägt?<br />

Wenn wir <strong>der</strong> menschlichen Natur einen grossen Schritt näher kommen wollen, dann müssen wir<br />

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SPIELCHARAKTER nennen, um zu zeigen, dass sie Arbeit und Spiel zugleich ist und den mannigfachen<br />

Anfor<strong>der</strong>ungen entspricht, die uns in <strong>der</strong> Regel das eine ertragen und das an<strong>der</strong>e herbeisehnen<br />

lassen. Das zu verwirklichen, kann nicht unmöglich sein, denn unter bestimmten Bedingungen<br />

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SPIELCHARAKTER zu verallgemeinern und ihre Vorteile auch auf die Schule auszudehnen.<br />

Diese Überlegungen und Beispiele sind wichtiger, als Sie glauben.<br />

Man ist überzeugt davon, dass Arbeit und Spiel radikale und unvereinbare Gegensätze seien. Man<br />

glaubt, dass die Arbeit, die man normalerweise nur in ihrer tyrannischen Form kennt, nichts für Kin<strong>der</strong><br />

sei. Daher verlangt man von ihnen keinerlei soziale Aktivität und drängt sie so mehr und mehr auf die<br />

Ebene des Spiels ab, die ihnen angeblich angemessen sei. Zweifellos breitet sich diese Vorstellung<br />

immer mehr aus; immer weniger werden die Kin<strong>der</strong> zur Arbeit herangezogen, immer mehr Bedeutung<br />

und Aufmerksamkeit gesteht man dem Spiel zu. Die Schule hat in diesem Bereich sich nicht darauf beschränkt,<br />

dieser Tendenz nur zu folgen; sie trägt dazu bei, sie zu rechtfertigen, indem sie die Trennung<br />

von Arbeit und Spiel wi<strong>der</strong>spruchslos hinnimmt. Ihre Psychologen und Pädagogen haben sich in den<br />

letzten Jahren alles mögliche einfallen lassen, um die beson<strong>der</strong>e Stärke des Spieltriebs zu beweisen,<br />

auf Kosten einer Auffassung von Arbeit, <strong>der</strong>en heimelige Wärme sie niemals erfahren haben. Das Spiel<br />

ist schändlicherweise an die Stelle <strong>der</strong> Arbeit getreten, und manchmal wird nicht gezögert, Praktiken<br />

anzuwenden, die niedrigste Instinkte ansprechen... Wenn man erst einmal im falschen Gleis fährt, ist<br />

es schwierig, seinen Gefahren zu entgehen...“<br />

„Trotzdem, Spiel und Spiel kann doch zweierlei sein.“<br />

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sind oft schwer zu bestimmen. Besser ist es, am Anfang <strong>der</strong> Reise aufzupassen....<br />

Bei unserer Auffassung von Arbeit und Spiel gibt es eine vorrangige Frage: Wenn akzeptiert wird was<br />

ich zu beweisen versucht habe -, dass die Arbeit die wesentliche natürliche Funktion ist, die ohne<br />

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erscheint das Spiel nur <strong>noch</strong> als zusätzliche und weniger wichtige Aktivität, es verdient nicht, so in den<br />

Vor<strong>der</strong>grund des Erziehungsprozesses geschoben zu werden.<br />

Wenn man aber im Gegenteil glaubt, das Spiel sei das Wesentliche; wenn man davon ausgeht, dass<br />

die Arbeit für das Kind unnatürlich sei, dann allerdings wird man dem Spiel eine neue Bedeutung zumessen,<br />

bis dahin, es für den Motor des Lebens zu halten.<br />

Für mich gibt es keinen Zweifel. Und wenn die Wahrheit endlich deutlich wird, dann werden wir das<br />

Spiel auf seinen Platz verweisen ich habe Ihnen vorhin gesagt, wo <strong>der</strong> ist. Wir werden die Arbeit hervorheben<br />

und die natürliche Reihenfolge wie<strong>der</strong> herstellen, die sie an die Spitze unserer Beschäftigungen,<br />

150


ins Zentrum unseres Schicksals stellt.<br />

Die Unkenntnis dieser Reihenfolge, die heute vollzogene Trennung von Spiel und Arbeit hat eine<br />

Reichweite für die Menschen, <strong>der</strong>en tragische Bedeutung man kaum ermessen kann. Diese Unkenntnis<br />

und diese Trennung stehen am Anfang <strong>der</strong> katastrophalen Entwertung <strong>der</strong> menschlichen Arbeit und wir<br />

müssen die für je<strong>der</strong>mann sichtbaren Folgen tragen. Wenn die Arbeit nur <strong>noch</strong> Mühsal, wenn sie kein<br />

Teil von uns ist, wenn das Spiel <strong>der</strong> neue trügerische, aber vielversprechende Gott wird, dann ist es<br />

normal, dass man <strong>der</strong> Arbeit zu entrinnen versucht o<strong>der</strong> dass man sie, wenn es nicht an<strong>der</strong>s geht, passiv,<br />

wie ein notwendiges Übel erträgt und das auch nur deshalb, weil sie die Befriedigung bestimmter<br />

neuer Genüsse erlaubt. Meinen Standpunkt als Bauer habe ich Ihnen schon mitgeteilt:<br />

an dem Tag, da <strong>der</strong> Landarbeiter seine Arbeit nicht mehr liebt, an dem er sie nur <strong>noch</strong> erledigt, um an<strong>der</strong>e,<br />

nebensächliche Bedürfnisse zu erfüllen, an diesem Tag wird die Erde nicht mehr unsere Mutter,<br />

son<strong>der</strong>n nur <strong>noch</strong> unsere Stiefmutter sein.“<br />

2. Spiele mit Arbeitscharakter („jeux-travaux“)<br />

„Ich bewun<strong>der</strong>e die Beweiskraft Ihrer Argumentation, Mathieu. Ich würde den Vorrang <strong>der</strong> Arbeit verstehen,<br />

zugeben, dass das Spiel nur eine nebensächliche Funktion des Ausgleichs hat, aber da bleibt<br />

dieser Einwand: woher kommt es, dass alle Kin<strong>der</strong> überall und immer so leidenschaftlich gern spielen?“<br />

„Weil lei<strong>der</strong> überall und immer die Kin<strong>der</strong> für Eindringlinge in eine Welt gehalten werden, die nicht für<br />

sie gemacht, die also auch nicht in ihrem Maß ist und die sich nicht in ihrem Rhythmus bewegt. Sie<br />

sind dann wie die Katzen, die in Wohnungen isoliert von <strong>der</strong> Außenwelt aufwachsen, wo sie niemals<br />

eine Maus o<strong>der</strong> einen Vogel sehen, auch keine Schmetterlinge o<strong>der</strong> Insekten. Ihre junge Energie will<br />

aber wirksam werden, die Muskeln müssen sich spannen, die Krallen wollen spielen, denn das liegt<br />

in ihrer Natur wie Schlafen und Fressen. Es kommt also zu einer teilweisen Anpassung an die neutrale<br />

und künstliche Umgebung. Sie verwenden ihre Energie im Spiel mit Korken, im Zerbeißen von<br />

Le<strong>der</strong>sohlen, im Verfolgen eines Wollfadens, <strong>der</strong> wie etwas Lebendiges schwebt und gleitet. Suchen<br />

Sie nach dem Zweck dieses Übungsspiels <strong>der</strong> natürliche Zweck fehlt: es wäre die Maus, auf die dies<br />

Kätzchen lauert, die endlich aus ihrem Loch kommt, die gefangen wird, indem die Krallen in ihren warmen<br />

Körper schlagen. Auch wenn dieses Ziel fehlt, befriedigt es die Katze sehr, wenn sie ihre Muskeln<br />

und Krallen spielen lassen und die instinktiven Gesten ausführen kann, die in ihrer Katzennatur liegen.<br />

Genauso ist es mit dem Kind: wenn das Leben um es herum, die gesellschaftlichen Erfor<strong>der</strong>nisse, die<br />

Gleichgültigkeit und <strong>der</strong> Egoismus <strong>der</strong> Erwachsenen ihm nicht gestatten, sich ganz dieser ihm wesentlichen<br />

Arbeit mit Spielcharakter hinzugeben, dann bleibt ihm trotzdem <strong>noch</strong> diese gebieterisch for<strong>der</strong>nde<br />

Energie. Sie kann einen Augenblick zurückgehalten werden und wir werden sehen, was dann mit ihr<br />

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(...)<br />

151


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Wir sagen: diese Spiele haben kein Ziel. Sie haben aber unbewusst dasselbe Ziel wie die Arbeit. Das<br />

Katzenkind, das mit einem raschelnden Blatt spielt, macht die notwendigen Bewegungen mit solchem<br />

Ernst und solcher Hingabe, als wäre dieses Blatt eine echte Maus. Das Menschenkind, das <strong>noch</strong> seinen<br />

Instinkten gemäß lebt, führt seine Bewegungen mit demselben Ernst aus, den es bei einer seinen<br />

Bedürfnissen entsprechenden Arbeit hätte; nur ist ihm diese Verwandtschaft nicht bewusst. Die Illusion<br />

ist vollständig, und nur wir wären in <strong>der</strong> Lage, sie in ihre Teile zu zerlegen. Eine Art zweites Leben<br />

entsteht im Bereich <strong>der</strong> Einbildungskraft und <strong>der</strong> Träume; ihre möglichen Beziehungen zur bewussten<br />

Aktivität und sozialen Nützlichkeit haben wir angedeutet.<br />

Sehen Sie sich genau an, wie Kin<strong>der</strong> spielen: man sieht, dass sie in ihrer Arbeit völlig bei <strong>der</strong> Sache<br />

sind, in einer an<strong>der</strong>en Welt versunken, in <strong>der</strong> sie schließlich ihren Bedürfnissen und ihrem Rhythmus<br />

entsprechend leben ... Greifen die Erwachsenen ein, ist <strong>der</strong> Zauber gebrochen.<br />

Scheint es Ihnen nicht so, dass wir in diese Frage ein bisschen Licht gebracht haben? Wir müssen<br />

unsere Überlegungen <strong>noch</strong> überprüfen und sehen, ob die Verbindung ARBEIT SPIEL gerechtfertigt ist,<br />

wenn wir sie auf verschiedene bekannte Spiele anwenden. Wir werden sehen, ob wir für das, was uns<br />

betrifft, daraus einiges lernen können.<br />

(...)<br />

Wir müssen sehen, ob unsere Auffassung vom Spiel mit Arbeitscharakter einen Rahmen abgibt, in den<br />

wir ohne intellektuelle Tricks die Spiele <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> integrieren können.<br />

Welche Spiele sind das?<br />

Ich kann hier keine komplette Liste aufstellen. Ich sage hier nur meine Meinung, zunächst aufgrund<br />

meiner Erinnerungen und dann auch aufgrund meiner Beobachtungen.<br />

Als erstes müsste man sich fragen, welches die wesentlichen Triebe sind, die das Kind befriedigen will.<br />

Weil wir wissen, dass die kleine Katze später Mäuse fangen wird, kennen wir im Voraus die Spiele, die<br />

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täuschen uns nicht. Vielleicht kommen wir mit diesem Ansatz auch beim Menschen weiter.<br />

Meines Erachtens werden die Kin<strong>der</strong> zu ihren Spielen mit Arbeitscharakter durch dieselben Bedürfnisse<br />

und Neigungen motiviert wie die Erwachsenen zu ihrer Arbeit. Ich spreche nicht von <strong>der</strong> aufgezwungenen,<br />

son<strong>der</strong>n von <strong>der</strong> menschlichen Arbeit, die wir Bauern zum Beispiel machen.<br />

Alle diese Bedürfnisse kann man in einem zentralen Bedürfnis zusammenfassen, das freilich immer<br />

mehr vielfältige und differenzierte Zweige hervorgebracht hat. Ihr Charakter ist immer weniger zu erkennen,<br />

je weiter sie sich vom Stamm entfernen und je schwieriger sich in <strong>der</strong> Folge dessen, was wir<br />

Zivilisation nennen, die Beziehungen zwischen Einzelnen und dann zwischen Gruppen gestalten. Es<br />

geht um das Bedürfnis, das Leben zu erhalten, es so stark wie möglich zu machen und es weiterzugeben<br />

also den Selbsterhaltungstrieb des Individuums und <strong>der</strong> Gattung.<br />

Zur Selbsterhaltung gehört die Notwendigkeit, sich zu ernähren. Daher kommen die Bewegungen<br />

und Verhaltensweisen des Kletterers, des Sammlers, des Jägers, des Fischers und des Viehzüchters:<br />

152


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und des Seils, die Bewegungen und Verhaltensweisen des Einzelnen, <strong>der</strong> sich gegen die Tiere verteidigen<br />

muss: <strong>der</strong> instinktive Unterschlupf, in dem manchmal auch Magisches liegt, die Suche nach<br />

Höhlen und Verstecken, eingezäunten geschlossenen Bauten, Brücken; schließlich <strong>der</strong> Kampf gegen<br />

die Personen, die die Nahrung rauben wollen o<strong>der</strong> die man angreifen muss, um ihnen die Nahrung zu<br />

rauben.<br />

Das Bedürfnis, im Leben so stark wie möglich zu sein, führt zum Zusammenschluss sozialer Gruppen,<br />

die wie zusammengeschweißt sind und zusammenhalten, um zu kämpfen, sich zu verteidigen, anzugreifen<br />

und um kollektiv fortzubestehen, auch um kollektiv auf die dauernden, oft geheimnisvollen<br />

Bedrohungen durch die Elemente zu reagieren.<br />

Das Bedürfnis, das Leben weiterzugeben und die Gattung fortzusetzen, ist <strong>der</strong> Ursprung des starken<br />

Mutterinstinkts und <strong>der</strong> diffusen Instinkte <strong>der</strong> Vaterschaft, des Lebens und <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong><br />

Familie.<br />

Das ist das Muster, nach dem das vom Erwachsenen zurückgewiesene Kind gezwungenermaßen<br />

und instinktiv eine Welt für sich aufbaut, die besser als die <strong>der</strong> Erwachsenen seinen Möglichkeiten<br />

und Bedürfnissen entspricht. Und wenn Sie sich darüber wundem, dass im <strong>Zeit</strong>alter des Autos und<br />

des Flugzeugs das Kind hartnäckig immer <strong>noch</strong> normales Verstecken spielt, dann sage ich Ihnen: das<br />

Kind wird zunächst von den Maschinen wie übrigens von allem Neuen stark angezogen, hat aber die<br />

mo<strong>der</strong>nen Naturwissenschaften <strong>noch</strong> nicht in die Reihe seiner funktionellen Bedürfnisse aufgenommen.<br />

Es kehrt notwendigerweise zu den Aktivitätsformen zurück, die in seiner Natur liegen, die in seine<br />

Muskeln, seinen Instinkt, sein Verhalten und Denken eingeprägt sind. Die menschliche Natur ist wie<br />

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jedes Jahr ein bisschen ebener; im Laufe langer <strong>Zeit</strong> erhalten die Fel<strong>der</strong> von <strong>der</strong> Natur ihr charakteris-<br />

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die Vergangenheit in uns fort, trotz allen Fortschritts. Wir brauchen nicht erstaunt zu sein, dass sie auch<br />

im Kind so machtvoll weiterlebt.<br />

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ihrer Tiefe und ihren unbewussten Triebkräften in Wirklichkeit nur mehr o<strong>der</strong> weniger verspätete<br />

Erinnerungen an die Arbeit sind und all <strong>der</strong>en Merkmale haben. Wir nennen diese Spiele SPIELE MIT<br />

ARBEITSCHARAKTER.<br />

Spiele mit Arbeitscharakter befriedigen primäre Bedürfnisse des Einzelnen; sie befreien und kanalisieren<br />

die physische Energie und die psychische Kraft, die wirksam werden wollen. Sie haben ein<br />

unbewusstes Ziel: das Leben so vollständig wie möglich abzusichern, es zu verteidigen und weiter-<br />

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Kennzeichnend für sie ist keineswegs die Freude, son<strong>der</strong>n Anstrengung und Arbeit, begleitet von<br />

Erschöpfung, Befürchtungen, Angst, Überraschungen, Entdeckungen und wertvoller Erfahrung. Von<br />

153


ihrem Ursprung her sind sie meistens gemeinsames Handeln; sie bringen vor allem die angeborene<br />

Intensität des Bedürfnisses nach Stärke, von dem wir gesprochen haben, zum Ausdruck.<br />

In einer Welt, die we<strong>der</strong> für die Jugend vorgesehen <strong>noch</strong> auf sie vorbereitet ist, stellt das Spiel mit<br />

Arbeitscharakter das konstitutive Element für die Organisation von Erfahrungen in <strong>der</strong> kindlichen Welt<br />

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des Augenblicks.<br />

Später, wenn wir von den Möglichkeiten <strong>der</strong> Entwicklung von Spielen reden, werden wir sehen, wie<br />

schwierig dieses perfekte Gleichgewicht <strong>der</strong> Spiele mit Arbeitscharakter zu erreichen ist, weil man<br />

immer nur auf den Begriff des Spiels achtet, ohne zu bedenken, wie innig er mit dem <strong>der</strong> Arbeit verbunden<br />

ist.<br />

Trotz all Ihres Einfallreichtums kehrt das Kind sobald wie möglich zu seinen Lieblingsspielen zurück,<br />

die ganz einfach und offensichtlich unmo<strong>der</strong>n sind, und <strong>der</strong>en verblüffende Überlegenheit Sie vergeb-<br />

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mo<strong>der</strong>nsten und offensichtlich perfektesten Vergnügungen genießt. Sobald er aber in sein Dorf zurück-<br />

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Boulespiel, eine Farandole o<strong>der</strong> das alte Wettspiel an Winterabenden.“<br />

„Ihre Beobachtungen halte ich für sehr zutreffend! Ich habe mir selbst auch schon oft die Frage gestellt:<br />

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ist als das an<strong>der</strong>e und das unserer Meinung nach äußerst interessant für Kin<strong>der</strong> ist, dass in einer solchen<br />

<strong>Zeit</strong> die Kin<strong>der</strong> auf diese Neuheiten so leicht verzichten? Wie kommt es, dass sie, sobald sie frei<br />

wählen können, sich eben jenen Spielen widmen, die uns früher begeistert haben, als <strong>noch</strong> nicht dieser<br />

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so kläglich in ihrem Bemühen um neue Spiele und sind unfähig, den überlegenen Reiz <strong>der</strong> alten zu<br />

erreichen?<br />

Welches sind, Ihrer Meinung nach, die wichtigen Spiele, die den vielleicht richtigen, auf alle Fälle suggestiven<br />

Namen Spiele mit Arbeitscharakter verdienen?“<br />

„Dazu müssen wir nur die Liste mit den von alters her notwendigen Bewegungen und Verhaltensweisen<br />

zu Rate ziehen. Sie dienen <strong>der</strong> Befriedigung <strong>der</strong> wichtigen Bedürfnisse, die die Bewahrung des Lebens<br />

und .seine möglichst kraftvolle Entwicklung sowie seine Weitergabe beinhalten. Trotz einer notwendig<br />

langsamen Entwicklung, die manchmal den ursprünglichen Sinn <strong>der</strong> Spiele verzerrt, werden Sie se-<br />

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154


3. Arbeit und Spiel im Unterricht<br />

Wie man weiß, halten wir uns nicht allzu oft bei <strong>der</strong> theoretischen Rechtfertigung unserer Techniken<br />

auf. Das geschieht mit Absicht.<br />

Das subtile und scheinbar sehr logische Theoretisieren ist in unseren Augen wertlos, wenn ihm die<br />

Fakten wi<strong>der</strong>sprechen und die Beobachtungen entgegenstehen, die die Erzieher jeden Tag mit ihrem<br />

einfachen gesunden Menschenverstand machen.<br />

Wir überlassen an<strong>der</strong>en die grossen philosophischen Spekulationen, selbst wenn man unsere ganz<br />

experimentelle Haltung, die sich <strong>der</strong> Erklärung und <strong>der</strong> dialektischen Rechtfertigung verweigert, für<br />

übertrieben einfach halten sollte.<br />

Die Pädagogen, die hartnäckig in ihren alten Praktiken verharren, können sich, um ihre Unbeweglichkeit<br />

zu maskieren, auf veraltete Theorien berufen. Wir beurteilen die Praxis im Lichte <strong>der</strong> Erfahrungen.<br />

Unsere Sache ist allerdings, auch wenn sie beachtliche Fortschritte gemacht hat, <strong>noch</strong> lange nicht<br />

gewonnen. Sie wird es so lange nicht sein, als die Masse <strong>der</strong> Erzieher und Beamten <strong>der</strong> Schulaufsicht<br />

die Prinzipien dieser neuen Erziehung nicht durch die eigene Erfahrung begriffen hat.<br />

Nun sind aber gerade diese wesentlichen Prinzipien in <strong>der</strong> Presse und folglich auch an<strong>der</strong>swo<br />

Gegenstand hartnäckiger Kritik, gegen die wir uns wie<strong>der</strong> einmal wehren müssen.<br />

Der Leitfaden unserer täglichen Praxis ist die große Frage nach dem Interesse und <strong>der</strong> Arbeit.<br />

Man hat festgestellt und stellt es jeden Tag neu fest dass Kin<strong>der</strong> wie Erwachsene sich einer Tätigkeit,<br />

die sie nicht interessiert, d.h., die nicht starken persönlichen Bedürfnissen entspricht, nur halbherzig<br />

widmen. Ebenso ist die Aufmerksamkeit, die den verschiedenen schulischen Arbeiten zugewandt wird,<br />

direkt proportional zu <strong>der</strong> Größe des Interesses, das sie auslösen. Finden Sie also den Weg zur Seele<br />

und zum Leben des Kindes: Sie werden merken, dass Ihr Bemühen sich hun<strong>der</strong>tprozentig auszahlt.<br />

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Aktivität, die manchmal einen unheilbaren Verbalismus befriedigt, aber von <strong>der</strong> nichts o<strong>der</strong> nur ganz<br />

wenig bleibt...<br />

Das große psychologische Problem ist nach wie vor unbestreitbar dies: Mit welcher Arbeitsorganisation,<br />

mit welchen Techniken kann die Schule die Kin<strong>der</strong> am ehesten erreichen, um am nachhaltigsten zu<br />

wirken?<br />

Das ist <strong>der</strong> zentrale Punkt und die richtungweisende Linie unserer Überlegungen.<br />

Wir versuchen gar nicht mehr, diese pädagogische Notwendigkeit, die sich mit Händen greifen lässt,<br />

zu rechtfertigen. Wir bitten nur unsere Leser, an ihre Jugend zu denken und genau so aufrichtig ihre<br />

augenblickliche Tätigkeit als Erwachsene zu überprüfen. Sie werden feststellen, dass für Handlungen<br />

und Taten, die im Leben wirklich zählen, immer dieses tiefe, fast physiologische Interesse, diese<br />

Notwendigkeit, mit dem eigenen Tun eins zu sein, den Beweggrund bildet.<br />

Auf uns lastet aber auch die Vergangenheit und das Unverständnis <strong>der</strong>jenigen, die geforscht und gesucht<br />

haben, bevor sich das helle Licht <strong>der</strong> Erkenntnis ausbreitete.<br />

Wir erinnern uns: als Reaktion auf die traurig langweilige Schule predigte die neue Erziehung zunächst<br />

155


die „Schule, die Spaß macht“. Das Kind, dem die traditionelle Pädagogik alles eigene Leben gründlich<br />

ausgetrieben hatte, suchte man zunächst bei seinem Spaß am Spiel zu packen.<br />

Und dann bekämpfte man diese neue Erziehung <strong>der</strong> „Schule, die Spaß macht“ wie<strong>der</strong> mit dem triumphierend<br />

geäußerten Argument, sie beruhe ja einzig und allem auf dem Spiel.<br />

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liegt. Auch wir verwerfen diese Techniken (sie stellten eine Durchgangsphase dar), die darin bestanden,<br />

die Aufmerksamkeit des Kindes durch Hanswurstereien zu erregen. Aber wir können es uns mit<br />

dieser Missbilligung leicht machen, weil wir mit Sicherheit wissen, dass das Spiel keineswegs <strong>der</strong><br />

stärkste und wirkungsvollste dynamische Instinkt des Kindes ist. Jedenfalls nicht das Spiel, wie man<br />

������������������������������������������������������������<br />

Gewiss gibt es ein Gebiet, wo das Spiel <strong>der</strong> Arbeit merkwürdig verwandt o<strong>der</strong> sogar mit ihr identisch ist. Und<br />

dahin muss man gelangen, will man pädagogische Techniken wirklich gründlich verankern: Wenn das Kind<br />

setzt o<strong>der</strong> druckt, darin arbeitet und spielt es gleichzeitig; so sehr, dass die kleinen Druckkästen, die es in<br />

den Läden zu kaufen gibt, oft „Spiel“ genannt werden. Spielt o<strong>der</strong> arbeitet das Kind, wenn es Linolschnitte<br />

herstellt, Dokumente einsortiert o<strong>der</strong> spontan einen Klassenrat vorbereitet? Seine Aktivität ähnelt <strong>der</strong> eines<br />

Kätzchens, das mit einem Knäuel spielt, mit einem Ernst, <strong>der</strong> es manchmal richtig wütend werden lässt denn<br />

das Spiel bereitet es darauf vor, morgen seine Beute zu fangen.<br />

Wenn das Wort Spiel nicht so abgedroschen wäre, könnten wir alle diese Aktivitäten Spiele mit Arbeitscharakter<br />

nennen, um festzuhalten, dass sie unseren tiefsitzenden Bedürfnissen vollkommen entsprechen, die<br />

Spielbedürfnisse mit eingeschlossen. Deshalb werden unsere Techniken so geschätzt und darum behalten<br />

sie ihre Attraktivität und ihre Wirksamkeit.<br />

Sammeln Sie in Ihrer Klasse einmal alle pädagogischen und kommerziellen Spiele, die in <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong> <strong>der</strong><br />

„Schule, die Spaß macht“ erfunden und verbreitet wurden. Und fügen Sie dann unsere Techniken hinzu,<br />

bieten Sie dem Kind wichtige, sozial motivierte Tätigkeiten, die seinen wesentlichen Bedürfnissen entgegenkommen<br />

und die Druckerei, die Arbeitshefte und <strong>der</strong> Klassenrat gehören auch dazu und Sie werden sehen,<br />

dass das Interesse sich schnell vom nutzlosen und demoralisierenden Spiel abwendet zugunsten unserer<br />

dauerhaft interessanten Spiele mit Arbeitscharakter.<br />

Wenn Sie sich von diesem Unterschied überzeugen wollen, aber <strong>noch</strong> nicht die Druckerei, die den schlagendsten<br />

Beweis liefern würde, zur Verfügung haben, sehen Sie sich einfach einmal um: geben Sie Ihren<br />

Kin<strong>der</strong>n eines dieser augenscheinlich fesselnden Spiele, die <strong>der</strong> Markt den Familien aufdrängt. Dann beginnen<br />

Sie neben den spielenden Kin<strong>der</strong>n zu schreinern, zu sägen, zu nageln... Sobald <strong>der</strong> Reiz des Neuen<br />

vergangen ist, werden Sie sehen, wie die Kin<strong>der</strong> das Spiel sein lassen und sich den Tätigkeiten zuwenden,<br />

������������������������������������������������������������<br />

Unglücklich sind die Kin<strong>der</strong>, die sie nie kennen gelernt haben und die von den Spielen und <strong>der</strong> Erziehung<br />

<strong>der</strong> „Schule, die Spaß macht“ so völlig deformiert wurden, dass sie manchmal sogar ihre eigenen lebenswichtigen<br />

instinktiven Bedürfnissen vergessen konnten.<br />

Sie werden jetzt den wesentlichen Unterschied verstehen, den ich zwischen unserer lebendigen Schule<br />

156


und <strong>der</strong> „Schule, die Spaß macht“ hervorheben wollte zwischen wichtigen Aktivitäten, die wesentlichen<br />

Bedürfnissen des Kindes das Spiel inbegriffen entsprechen, und dem vulgären, von <strong>der</strong> Zivilisation deformierten<br />

und in seiner niedrigsten Form vom Markt aufgedrängten Spiel. Es ist unnötig, <strong>noch</strong> zu betonen,<br />

dass wir vollkommen einig sind mit jenen Kritikern, die im Unterricht <strong>der</strong> „Schule, die Spaß macht“ eine<br />

Schwachstelle unserer Epoche sehen, die eine totale Verweichlichung <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> und ihre Ohnmacht bewirkt<br />

vor den Ereignissen, die mehr als je Entscheidungsfähigkeit und Heroismus verlangen.<br />

157


C. Freinet<br />

Den Machtkampf vermeiden*<br />

Freie Aktivität<br />

Zunächst einmal muss dem Wort „Disziplin“ ein neuer Sinn gegeben werden. Besser wäre <strong>noch</strong>,<br />

dieses Wort in seiner herkömmlichen Bedeutung verschwände ganz aus unserem pädagogischen<br />

Vokabular.<br />

Das Kind, dem man Aktivitäten anbietet, die seinen physischen und psychischen Bedürfnissen ent-<br />

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allein o<strong>der</strong> in Kooperation mit an<strong>der</strong>en auch einer anstrengenden Arbeit nachzugehen. Zwar müssen<br />

wir auch dann, wenn die Schüler ihren Bedürfnissen und Interessen gemäß arbeiten, manchmal eingreifen,<br />

um die Arbeit und die Aktivität unserer Gruppe zu organisieren. Aber die normalen schulischen<br />

Disziplinierungsprobleme gibt es bei uns nicht woher auch?<br />

Die Erfahrungen mit <strong>der</strong> Druckerei in unseren Klassen lassen uns ahnen, was in dieser Richtung alles<br />

erreicht werden könnte.<br />

Die traditionelle Disziplin erfor<strong>der</strong>t die strikte Kontrolle aller „Aufgaben“. Wir dagegen/konnten unsere<br />

Schüler in unserem Unterricht dazu bringen, sich mehr Texte auszudenken und zu schreiben, als die<br />

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ausgeklügeltes System, wie man die Aufmerksamkeit <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> während <strong>der</strong> Lektüre erregt. Unsere<br />

Schüler aber lesen mit großem Ernst und mit Neugier die Bücher ihrer Korrespondenten.<br />

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wo doch alles an<strong>der</strong>e im Lichte <strong>der</strong> schulischen und sozialen Notwendigkeiten erscheint und sich von<br />

dort aus von selbst erschließt!<br />

Wo nicht die freie Aktivität zum Grundprinzip jeglicher Organisation <strong>der</strong> Klasse gemacht wird, da bedarf<br />

es einer beson<strong>der</strong>en Disziplin. Sie hat die Funktion, das Kind zu etwas zu zwingen, was es nicht tun will<br />

und gleichzeitig das zu unterdrücken, was es gerne täte. Und es ist falsch zu glauben, diese Disziplin<br />

könnte jemals liberal gehandhabt werden, um eine freiwillige Unterordnung zu erreichen. Auch wenn<br />

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eine Disziplin, die ein aufeinan<strong>der</strong> bezogenes Handeln <strong>der</strong> Erzieher und <strong>der</strong> zu Erziehenden unmöglich<br />

macht.<br />

Uns stellt sich das Disziplinproblem so: das Kind, das an einer Aktivität teilhat, die es fesselt, „diszipliniert“<br />

sich automatisch selbst. Was uns zu tun bleibt:<br />

wir müssen unseren Schülern jede sinnvolle Aktivität erlauben, die ihren persönlichen Interessen entgegenkommt<br />

und wir müssen aufmerksam die Technik dieser Aktivität untersuchen. Diese Technik nämlich<br />

erfor<strong>der</strong>t eine Selbst-Disziplin, die motiviert ist durch das angestrebte Ziel. Das einzige Kriterium<br />

unserer Disziplin heißt also nicht: sind die Kin<strong>der</strong> brav, gehorsam und ruhig, son<strong>der</strong>n: arbeiten sie mit<br />

Begeisterung und Schwung?<br />

158


Diese freie Entfaltung von Aktivität ist allerdings nur möglich unter bestimmten günstigen organisatorischen<br />

und materiellen Bedingungen. In zu grossen Klassen und allzu engen Räumen können die<br />

neuen Arbeitstechniken auf keinen Fall angewandt werden. Die Volks-Schulen sind lei<strong>der</strong>, so wie sie<br />

konzipiert und verwirklicht wurden Schulen des Sitzens:<br />

Schulen, in denen je<strong>der</strong> seinen Sitzplatz hat, die Schüler aber nicht in Gruppen frei herumgehen können,<br />

ohne Lärm zu machen und Gefahren für die ganze Klasse heraufzubeschwören. Deshalb haben<br />

wir den „schulischen Materialismus“ zur Grundlage unserer For<strong>der</strong>ungen für die Volks-Schulen gemacht.<br />

Ein weiterer Umstand, <strong>der</strong> fast immer die Einhaltung einer strengen Disziplin erfor<strong>der</strong>t, ist die dem<br />

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����������������������������������������������������������� -<br />

len Geschichtsunterricht. Solange die^Examen nicht grundsätzlich verän<strong>der</strong>t werden, wird die Schule<br />

weiterhin daran leiden, leere Worte unterrichten zu müssen, anstatt das Denken <strong>der</strong> Schüler zu formen<br />

und zu för<strong>der</strong>n.<br />

Organisiert begeisternde Arbeiten<br />

Die schulische Erziehung ist immer ein Machtkampf gewesen.<br />

Man sagt, dass Polizisten in jedem, <strong>der</strong> vorbeikommt, einen potentiellen Straftäter sehen. Die Lehrer<br />

sehen als erstes im Kind den Feind, <strong>der</strong> sie beherrschen wird, wenn sie ihn nicht beherrschen.<br />

Und da wir nun einmal alle von diesem Machtkampf geprägt sind, halten wir ihn für natürlich und unvermeidlich.<br />

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Züchtigungen verbieten, unendlich viele Spielarten von Bestrafungspraktiken legitimieren, von denen<br />

man zumindest behaupten kann, dass sie unser Ansehen nicht heben und dass wir nicht stolz auf sie<br />

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die lei<strong>der</strong> immer mehr zunehmen. Wir stellen nur die Frage: Ist <strong>der</strong> Machtkampf in <strong>der</strong> Erziehung eine<br />

sinnvolle o<strong>der</strong> auch nur akzeptable Lösung? O<strong>der</strong> ist er bedauerlich, also so bald wie möglich durch<br />

etwas an<strong>der</strong>es zu ersetzen ? ...<br />

Und durch welche Art von Disziplin ist er zu ersetzen?<br />

Zunächst sollten Sie wissen, dass Sie, wenn Sie sich auf den Machtkampf mit den Kin<strong>der</strong>n einlassen,<br />

von vornherein verloren haben. Sie werden das Gesicht wahren und Ruhe und Gehorsam erhalten,<br />

aber unter <strong>der</strong> Bedingung, dass Sie permanent auf <strong>der</strong> Hut sein müssen vor langen Nasen<br />

und gestellten Beinen. Im Grunde haben Sie keinerlei konstruktive Arbeit geleistet, weil Sie bestenfalls<br />

eine Haltung von Passivität und Servilität, gepaart mit Heuchelei und Hinterlist erzeugt haben.<br />

Glücklicherweise entwischt das Kind dieser Haltung mit Hilfe seiner überströmenden Lebensfreude<br />

und seiner Geschicklichkeit, Hin<strong>der</strong>nisse zu überwinden, die sich ihm in den Weg stellen. Ich übertreibe<br />

nicht. Sie brauchen nur alle so wie ich ehrlich und aufrichtig aus Ihrer Erinnerung an die Schulzeit,<br />

159


die Sie erlitten haben, zu schöpfen. Und Sie waren doch <strong>noch</strong> die Besten <strong>der</strong> Klasse!<br />

Nein, <strong>der</strong> Machtkampf ist ein Schuss nach hinten. Und <strong>der</strong> Erzieher ist zu bedauern, <strong>der</strong> ihm die vierzig<br />

Jahre seiner Laufbahn konfrontiert ist<br />

Wir sehen glücklicherweise eine Lösung: die kooperative Arbeitsdisziplin.<br />

Haben Sie schon bemerkt, wie brav und leicht zu ertragen Ihre Kin<strong>der</strong> zu Hause o<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Schule<br />

sind, wenn sie sich ganz mit einer Sache beschäftigen, die sie fesselt? Das Disziplinproblem stellt sich<br />

nicht mehr: es genügt, eine begeisternde Arbeit zu organisieren.<br />

Sehen Sie doch, wie die Kin<strong>der</strong> ihre <strong>Zeit</strong>ungstexte setzen o<strong>der</strong> drucken, ihre Klassenräume schmücken,<br />

töpfern, ihren Arbeitsplan festsetzen, Foto o<strong>der</strong> Elektromontagen herstellen. Sie merken dann, wie und<br />

wie sehr <strong>der</strong> Begriff Disziplin seinen Sinn verän<strong>der</strong>t. Vielleicht gibt es immer <strong>noch</strong> große Unordnung,<br />

zuviel Lärm, kleine Streitereien. Das hat alles technische Ursachen, <strong>der</strong> Apparat funktioniert nicht, o<strong>der</strong><br />

man hat zuviel Druckerschwärze eingefüllt, dieses o<strong>der</strong> jenes Teil fehlt.<br />

Noch öfter fehlen uns die wir schlecht auf unsere neue Rolle als technische Helfer vorbereitet sind<br />

Arbeitsbögen o<strong>der</strong> Gebrauchsanweisungen. Wir nehmen an <strong>der</strong> gelegentlichen Unordnung in den<br />

Arbeitsecken teil, die <strong>noch</strong> nicht genügend organisiert sind, Aber die Erfolge, auf die wir stolz sind,<br />

beweisen uns, dass in unseren Klassen <strong>der</strong> Machtkampf seitdem überholt ist. Wir kommen langsam<br />

zu einer demokratischen Disziplin, die das Kind darauf vorbereitet, eine demokratische Gesellschaft<br />

aufzubauen. Sie wird das sein, was es daraus macht.<br />

* In dem Band „Célestin Freinet, Pädagogische Texte“, hrsg. von Boehncke/Hennig, lautet die Überschrift: „Disziplin: Den Machtkampf vermeiden“<br />

160


Nachwort<br />

Die alte und die neue Schule<br />

Rede zur Einweihung einer neuen Grundschule<br />

Diese Rede wurde 1996 in einer ländlichen Gemeinde vor Handwerkern, Eltern, Schulleitern, einem<br />

�������������������������������������������������������������<br />

Politikern aus Ausschüssen, dem Rat und des Kreistages gehalten.<br />

Der Name Freinet kommt in dieser Rede nicht vor. Die Mehrzahl <strong>der</strong> Zuhörerinnen hätte mit diesem<br />

Namen nichts verbunden. Der Redner ist zudem <strong>der</strong> Meinung, dass es nicht darum geht, Freinetschulen<br />

zu gründen 1). Es geht vielmehr darum, „mo<strong>der</strong>ne Schulen“ einzurichten, die eine „Pädagogik für die<br />

Kin<strong>der</strong> des Volkes“ (Freinet) machen.<br />

Es gibt Menschen, die denken, dass die Schule von früher besser war, als die von heute. Nehmen wir<br />

einmal an, dass diese Menschen mit <strong>der</strong> Schule von heute unzufrieden sind und die Schule von morgen<br />

fürchten.<br />

Nehmen wir einmal an, dass diese Menschen wirklich recht haben. Aber warum sollten sie recht ha-<br />

161


en? Die Antwort mag paradox klingen: Die Schule von früher, die sie im Kopf haben, hat es nämlich<br />

nie gegeben o<strong>der</strong> besser: es gibt sie nur in ihren Köpfen.<br />

Es gibt sie nur in <strong>der</strong> Erinnerung <strong>der</strong> Menschen. Und die Erinnerung <strong>der</strong> Menschen konserviert, was<br />

positiv war bzw. positiv erinnert wird.<br />

Dieses Positive möchten sie „wie<strong>der</strong>haben“, wenn sie sich die Schule von morgen vorstellen. Das aus ihren<br />

Erinnerungen geformte Bild einer „guten alten Schule“ ist <strong>der</strong> „Zukunftsentwurf“ dieser Menschen.<br />

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macht das Bild <strong>der</strong> guten alten Schule aus? Das Wichtigste beim Lernen ist <strong>der</strong> Erfolg. Je<strong>der</strong> von uns<br />

hat unbestritten eine Menge gelernt. Wir erinnern uns positiv an unseren eigenen Lernerfolg. Da die<br />

Schule als Ort des Lernens gilt, machen wir sie für diese Leistung verantwortlich.<br />

Schule kann also <strong>der</strong> Ort sein, wo wirklich etwas gelernt wird!<br />

Schule kann <strong>der</strong> Ort sein, wo ich meine eigene Leistungsfähigkeit erfahren kann.<br />

Schule kann also einen erfahrbaren Sinn haben.<br />

Die nächste Frage ist, was wir gelernt haben. Dies ist in unserer Erinnerung immer das Lesen, Schreiben,<br />

Rechnen und ein Grundwissen über die Welt.<br />

Dann folgen in unserer Erinnerung <strong>noch</strong> viele kleine Dinge, die für den Einzelnen zu großer, wenn auch<br />

individuell verschiedener Bedeutung wurden.<br />

Schule kann also <strong>der</strong> Ort sein, wo etwas für das Leben Relevantes gelernt wird. Die Schule kann das<br />

Tor zur Welt sein. Schule kann <strong>der</strong> Ort sein, wo nicht nur für heute, son<strong>der</strong>n auch für die Zukunft gelernt<br />

wird. Ein Gedanke, auf den ich später zurückkommen werde.<br />

Ein weiterer Teil unserer Erinnerungen ist, wer uns etwas gelehrt hat. Hier erinnern wir uns zwar an<br />

dunkle Gestalten und gewalttätige Menschen, aber wir verarbeiten sie eher in Anekdoten. Unsere<br />

Erinnerung behält auch hier lieber die positiven Erlebnisse <strong>der</strong> Vergangenheit.<br />

Dies ist die Lehrerin o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Lehrer, <strong>der</strong> uns achtete und dem wir Respekt zollten. Dieser Lehrer hatte<br />

�������������������������������������������������������������<br />

lustig sein, aber auch den Ernst des Lebens vor Augen führen. Kurz, sie o<strong>der</strong> er ist ein Mensch, <strong>der</strong> als<br />

Vorbild Werte, Liebe, aber auch Grenzen vermittelte und lebte.<br />

Schule kann also Lehrer haben, die als „ganzer Mensch“ ihren Beruf professionell ausüben.<br />

Wie<strong>der</strong>um folgt die Frage, die sich unsere Erinnerung stellen mag: Wie vermittelte dieser Mensch das<br />

Lernen, wie gestaltete sie o<strong>der</strong> er das Schulleben? Wir erinnern uns am liebsten an die, die uns eine<br />

Aufgabe gaben, die wir gerne erfüllten, ob es früher das Versorgen des Ofens war, o<strong>der</strong> eine Rolle<br />

in einem Theaterstück o<strong>der</strong> einfach ein Extraarbeitsblatt, dessen Bearbeitung sie uns zutrauten. Wir<br />

erinnern uns an jene, die im Unterricht erzählen konnten, an Lehrer, die etwas zu erzählen hatten, so<br />

dass die Wangen beim Zuhören glühten. Wir erinnern uns an Unterrichtsgänge, an Orte, die uns faszinierten.<br />

Wir erinnern uns an Literatur, die uns betroffen machte, an Experimente, die uns in ihren Bann<br />

zogen. Kurz, eine Schule durfte auch früher keine Stoffvermittlungsfabrik sein. Schule kann ein Ort des<br />

Lebens sein. Sie kann lebendig sein.<br />

162


Gut erinnern wir uns an Situationen des Zusammenhalts in <strong>der</strong> Klasse, an Freunde, an Situationen des<br />

gemeinsamen Erlebens, an das Helfen beim Lernen o<strong>der</strong> des Lernens von Solidarität mit Schwächeren.<br />

Wir erinnern uns gut an eine erziehende Schule, die Respekt vor den Menschen, ihrer Arbeit und ihren<br />

��������������������������������������������������������<br />

Wir erinnern uns an Gemäuer, Fenster, Einrichtungsdinge. Bäume auf dem Schulhof, die Charakter<br />

����������������������������������������������������������<br />

Manch einer von Ihnen könnte sicherlich <strong>noch</strong> an<strong>der</strong>e gute Erinnerungen aufzählen, die Ihr Bild von<br />

<strong>der</strong> guten Schule von früher ergeben.<br />

Doch warum habe ich dieses Bild einer Schule gemalt, dieses durch positive Erinnerungen entstandene<br />

Bild von <strong>der</strong> Schule, die es nie gegeben hat? Man könnte dieses Bild als Nostalgie, politischen<br />

Traum, gar als Flucht vor den Problemen <strong>der</strong> Gegenwart und Zukunft denunzieren. Lohnen<strong>der</strong> aber<br />

ist es, zu überlegen, welche Bedürfnisse und Wünsche sich hinter dieser „Rückwärtsbewegung“ verbergen.<br />

Innerhalb einer beschleunigten Gegenwart, die wenig <strong>Zeit</strong> für Rücksichten o<strong>der</strong> das Erhalten<br />

lässt, die Zukunft als ungewiss, unsicher, ja sogar bedrohlich erscheinen lässt, ist <strong>der</strong> Rückgriff auf<br />

Bewährtes und als positiv Erlebtes verständlich.<br />

Ich denke, diese Grundzüge von Schule, dieses Althergebrachte, muss auch heute <strong>noch</strong> seine Gültigkeit<br />

in <strong>der</strong> Schule haben. Auf einer solchen Grundlage kann die Schule von heute mit ihren Richtlinien und<br />

Lehrplänen und dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit und Professionalität gedeihen. Diese Schule<br />

von heute, die Schule in „Harmonie“ 2), muss sich aber auch mit <strong>der</strong> Zukunft auseinan<strong>der</strong>setzen, einer<br />

Zukunft, in die die Kin<strong>der</strong>, die diese Schule besuchen und besuchen werden, bereits hineingeboren<br />

sind. Die Kin<strong>der</strong> selbst sind bereits Zukunft. Sie leben sie bereits in unserer Gegenwart, in unseren<br />

Schulen. Durch die Kin<strong>der</strong> existiert die Zukunft bereits in <strong>der</strong> Gegenwart unserer Schulen.<br />

Doch was ist dieses Neue, das die Schule von heute lehren soll, ohne die Zukunft zu kennen? Ich werde<br />

hier nicht versuchen, diese Frage zu beantworten. Ich würde mich sicherlich übernehmen. Ich kann<br />

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in allen deutschen Tageszeitungen eine Großanzeige <strong>der</strong> Deutschen Bank 3). Hier kam Dr. Wolfgang<br />

Reitzle zu Wort, Vorstandsmitglied <strong>der</strong> BMW AG München. Seine Rede zum Thema „Arbeit <strong>der</strong> Zukunft<br />

- Zukunft <strong>der</strong> Arbeit“ beschreibt die Sicht <strong>der</strong> deutschen Banken und Großindustrie zur Frage <strong>der</strong><br />

Gestaltung <strong>der</strong> Zukunft. Ich zitiere Herrn Reitzle nicht, weil ich gerne BMW fahren würde, o<strong>der</strong> gerne<br />

ein Konto bei <strong>der</strong> Deutschen Bank hätte. Ich zitiere ihn auch nicht, weil ich denke, die Industrie solle<br />

bestimmen, wie unsere Zukunft o<strong>der</strong> unsere Schulen aussehen sollten.<br />

Eine Schule <strong>der</strong> Zukunft kann und muss viel von Wirtschaftsunternehmen <strong>der</strong> Gegenwart lernen. Aber<br />

sie darf Kin<strong>der</strong> nicht zu willigen und unkritischen Konsumenten und Arbeitskräften erziehen. Schule<br />

muss die Kin<strong>der</strong> befähigen, ihre Verhältnisse selbst zu machen 4). Ich zitiere Herrn Reitzle, weil hier<br />

ein ernstzunehmen<strong>der</strong> Teil unserer Gesellschaft etwas sagt, was uns Mut geben sollte, über das Neue,<br />

das heute für die Zukunft getan werden kann, nachzudenken.<br />

Die Anzeige <strong>der</strong> Deutschen Bank beginnt mit <strong>der</strong> Überschrift: „Die Zukunft verlangt Phantasie und<br />

163


Kreativität statt Hierarchie.“ Ja, Reitzle, die Deutsche Bank, die deutsche Industrie wollen in den<br />

Betrieben die Hierarchie abbauen. Aber was hat das mit Schule zu tun? Hierzu zitiere ich Herrn Reitzle:<br />

„Der wichtigste Inhalt von Führung ist nicht mehr die Vergabe von Aufgaben und ihre Kontrolle, also die<br />

klassische Machtausübung, son<strong>der</strong>n die Organisation selbstgesteuerter Prozesse.“<br />

Wie die Betriebe, so haben auch die Schulen gearbeitet:<br />

Der Lehrer als Unterrichtsführen<strong>der</strong> gibt die Aufgaben vor und kontrolliert sie. Von diesem Teil alter<br />

Schule, dem Druckmachen, damit Leistung erbracht wird, werden wir uns verabschieden müssen.<br />

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und gebildet sind. Ich zitiere hierzu Herrn Reitzle: „Neues Denken hin zu mehr Selbstorganisation und<br />

Eigenverantwortlichkeit muss intensiv von allen Seiten und nach allen Seiten kommuniziert und vor<br />

allem vorgelebt werden.... Im Zentrum steht <strong>der</strong> Mensch.“ Reitzle nennt dabei folgende Stichworte:<br />

��Selbststeuerung<br />

��Konzentration<br />

auf Prozesse und Mitarbeiter statt auf Strukturen<br />

��Freiräume<br />

schaffen für Initiative<br />

��Selbstorganisation<br />

��offene<br />

Kommunikation<br />

��ganzheitliches<br />

Denken<br />

��mehr<br />

Eigenverantwortung statt Machtausübung<br />

�� Entscheidungskompetenzen nach unten verlagern<br />

��Ermöglichung<br />

von Teamkompetenzen<br />

��Kreativität<br />

��Verantwortungsbewusstsein<br />

��Schnelligkeit<br />

bei <strong>der</strong> Formulierung neuer Ideen und Konzepte<br />

„Statt Hierarchie“, so fährt Reitzle fort, „wird <strong>der</strong> Geist, die Phantasie, die Kreativität und die<br />

Leistungsbereitschaft jedes einzelnen gefor<strong>der</strong>t, mobilisiert und eingesetzt.“ Auf Schule übersetzt<br />

heißen diese Stichworte!<br />

��Freies<br />

Arbeiten<br />

��Arbeiten<br />

in Projekten<br />

��Selbstorganisation<br />

��offene<br />

Kommunikation in <strong>der</strong> Klassenversammlung<br />

��ganzheitliches<br />

Lernen<br />

��Freie<br />

Texte schreiben<br />

��Forschen<br />

und Experimentieren, Tasten und Versuchen<br />

��Musik-Tanz-Bewegung,<br />

Freier Ausdruck<br />

��Training<br />

des Geistes und <strong>der</strong> Wahrnehmung<br />

��Arbeit<br />

in Stationen, Ateliers und Werkstätten und eben Selbststeuerungsprozesse anstatt<br />

Fibelprogramme o<strong>der</strong> gleich-schrittiges Lernen<br />

164


Wir haben an dieser Schule nach einem halben Jahr Arbeit viele dieser Dinge bereits ins Alte, Solide,<br />

was Schule immer zu einer guten Schule gemacht hat, eingebettet. So lernen unsere ersten Schuljahre,<br />

wie unsere Eltern Ihnen sicherlich berichten, nicht mehr mit einer Fibel, Buchstabe für Buchstabe das<br />

Schreiben und Lesen in mühsamer Arbeit, son<strong>der</strong>n in einem selbstgesteuerten Prozess. D.h. wir führen<br />

sie in lehrbegleitende Prozesse, wo sie ihr Lernen selbst steuern müssen. Weit über die Hälfte <strong>der</strong><br />

Kin<strong>der</strong> <strong>der</strong> ersten Schuljahre kann nach einem halben Jahr lesen, nicht einzelne geübte Wörter, son<strong>der</strong>n<br />

jeden beliebigen Text und sie verstehen sie auch, soweit er verständlich ist.<br />

Diese Art des Lernens mag für viele Menschen ungewohnt sein. Doch den pädagogischen<br />

Wissenschaftlern und engagierten Praktikern, sprich Lehrerinnen und Lehrern, stehen die selben<br />

Erkenntnisse zur Verfügung wie Herrn Reitzle. Und die Umsetzung neuer Erkenntnisse ist in einer<br />

Pädagogik möglich, die nicht herumexperimentiert o<strong>der</strong> einen Laissez-faire-Stil propagiert, son<strong>der</strong>n<br />

diese neuen Erkenntnisse mit dem positiven Alten verbindet.<br />

So wenig, wie in <strong>der</strong> Wirtschaft o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Medizin werden alle diese Neuerungen auf einen Schlag<br />

eingeführt. Wer dies versuchen würde, müsste scheitern. Das Alte, das funktioniert, muss dringend<br />

erhalten und verstärkt werden. Das Neue muss Stück für Stück zunächst gedacht und dann eingeführt<br />

werden.<br />

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Weg in die Zukunft <strong>der</strong> Schule auch von Finanzministern, Schulaufsicht, öffentlicher Meinung und<br />

kommunalen Trägern mitsamt ihren Kämmerern mitgetragen werden muss.<br />

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nur mit Mut, Phantasie, Kreativität und <strong>der</strong> Leistungsbereitschaft <strong>der</strong> Betroffenen selbst verwirklicht<br />

werden kann, wie es Herr Reitzle von BMW for<strong>der</strong>t.<br />

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instrumentalisiert werden, son<strong>der</strong>n den Kin<strong>der</strong>n gehören, damit sie ihre eigene Welt von morgen gestalten<br />

können.<br />

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Vorstellungen, son<strong>der</strong>n nach ihrem Konzept.<br />

Wünschen wir den Kin<strong>der</strong>n dieser Schule eine gute alte Schule, eine erfolgreiche, lehrreiche und erlebnisreiche<br />

Gegenwart und eine Zukunft, die sie in ihrer eigenen Schule schon kennen gelernt und<br />

begonnen haben zu leben.<br />

1) vergleiche hierzu: Walter Hövel, „Eine Schule nach Freinet organisieren?“ In: Pädagogik, Februar 1993<br />

2) „Harmonie“ heißt <strong>der</strong> Ortsteil, in dem die Schule liegt und laut Ratsbeschluss die Schule selbst.<br />

3) Hier aus: Kölner Stadt-Anzeiger, November 1994, S. 22-24<br />

4) vergleiche hierzu den Aufsatz von Johannes Beck in diesem Buch.<br />

165


C. Freinet<br />

Adler steigen keine Treppen<br />

Vom methodischen Treppensteigen<br />

Der Pädagoge hatte seine Methoden aufs genaueste ausgearbeitet; er hatte so sagte er ganz wissenschaftlich<br />

die Treppe gebaut, die zu den verschiedenen Etagen des Wissens führt; mit vielen Versuchen<br />

hatte er die Höhe <strong>der</strong> Stufen ermittelt, um sie <strong>der</strong> normalen Leistungsfähigkeit kindlicher Beine anzu-<br />

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Gelän<strong>der</strong> konnten die Anfänger sich festhalten.<br />

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sonnen und erbaut worden war, son<strong>der</strong>n auf die Kin<strong>der</strong>, die kein Gefühl für seine Fürsorge zu haben<br />

schienen.<br />

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zu beobachten, wie Stufe um Stufe emporgeschritten wurde, an den Absätzen ausgeruht und sich an<br />

dem Gelän<strong>der</strong> festgehalten wurde, da lief alles ganz normal ab. Aber kaum war er für einen Augenblick<br />

nicht da: sofort herrschten Chaos und Katastrophe! Nur diejenigen, die von <strong>der</strong> Schule schon genügend<br />

autoritär geprägt waren, stiegen methodisch Stufe um Stufe, sich am Gelän<strong>der</strong> festhaltend, auf<br />

dem Absatz verschnaufend, weiter die Treppe hoch wie Schäferhunde, die ihr Leben lang darauf dressiert<br />

wurden, passiv ihrem Herrn zu gehorchen, und die es aufgegeben haben, ihrem Hun<strong>der</strong>hythmus<br />

zu folgen, <strong>der</strong> durch Dickichte bricht und Pfade überschreitet.<br />

Die Kin<strong>der</strong>horde besann sich auf ihre Instinkte und fand ihre Bedürfnisse wie<strong>der</strong>: eines bezwang die<br />

Treppe genial auf allen Vieren; ein an<strong>der</strong>es nahm mit Schwung zwei Stufen auf einmal und ließ die<br />

Absätze aus; es gab sogar welche, die versuchten, rückwärts die Treppe hinaufzusteigen und die es<br />

darin wirklich zu einer gewissen Meisterschaft brachten. Die meisten aber fanden und das ist ein nicht<br />

zu fassendes Paradoxon dass die Treppe ihnen zu wenig Abenteuer und Reize bot. Sie rasten um das<br />

Haus, kletterten die Regenrinne hoch, stiegen über die Balustraden und erreichten das Dach in einer<br />

Rekordzeit, besser und schneller als über die so genannte methodische Treppe, einmal oben angelangt,<br />

rutschten sie das Treppengelän<strong>der</strong> runter... um den abenteuerlichen Aufstieg <strong>noch</strong> einmal zu wagen.<br />

Der Pädagoge macht Jagd auf die Personen, die sich weigern, die von ihm für normal gehaltenen<br />

Wege zu benutzen. Hat er sich wohl einmal gefragt, ob nicht zufällig seine Wissenschaft von <strong>der</strong> Treppe<br />

eine falsche Wissenschaft sein könnte, und ob es nicht schnellere und zuträglichere Wege gäbe, auf<br />

denen auch gehüpft und gesprungen werden könnte, ob es nicht, nach dem Bild Victor Hugos, eine<br />

Pädagogik für Adler geben könnte, die keine Treppen steigen, um nach oben zu kommen?<br />

166


C. Freinet<br />

Kin<strong>der</strong>reservate*<br />

Bei <strong>der</strong> Planung großer Industriestädte wird man eines Tages sowieso die Bedürfnisse des Menschen<br />

im Kampf mit <strong>der</strong> pausenlos wachsenden Macht <strong>der</strong> Maschine berücksichtigen müssen, und darum<br />

wollen wir bei <strong>der</strong> Planung neuer Städte for<strong>der</strong>n, dass ein „Kin<strong>der</strong>reservat“ konzipiert und verwirklicht<br />

wird; es sollte eine Art großer wildwachsen<strong>der</strong> Park sein, <strong>der</strong> die wesentlichen Lebenselemente, die<br />

wir erwähnt haben, enthält: einen Fluss, Sand, nach Möglichkeit einen Hügel mit Felsen und Höhlen,<br />

Bäume aber echte Bäume -, eine richtige Waldecke, wilde Tiere, die weglaufen, wenn man sich ihnen<br />

nähert, und die man zu fangen versucht, Nester und Vögel und auch die von Wissenschaft und menschlicher<br />

Erfahrung domestizierte Natur sollte vertreten sein, die gezähmte Natur mit ihren Wiesen, ihrem<br />

Getreide, dessen wechselnde Farben den ewigen Rhythmus <strong>der</strong> Jahreszeiten markieren, mit Gemüse,<br />

Blumen, Haustieren, mit Bauernhöfen; das Ganze sollte harmonisch um ein Kin<strong>der</strong>zentrum angeord-<br />

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Umgebung zu arm für die Anfor<strong>der</strong>ungen ihrer Entwicklung und Bildung ist.<br />

Und man sollte nicht voreilig von Utopie sprechen;<br />

eine Verwirklichung liegt angesichts <strong>der</strong> erfor<strong>der</strong>lichen pädagogischen Bedingungen und technischen<br />

Mittel nicht ferner als die Einrichtung des Kin<strong>der</strong>gartens am Ende des letzten Jahrhun<strong>der</strong>ts, dessen<br />

großzügige Idee zuerst von Frau Montessori realisiert wurde.<br />

Allerdings und das ist klar sind wir in einer neuen Etappe. Frau Montessori hat ganz richtig erkannt,<br />

dass Kin<strong>der</strong> vor allem ihre tastenden Erfahrungen machen müssen. Allerdings und dies akzeptieren wir<br />

�����������������������������������������������������������<br />

von Gegenständen bereit, mit denen das Kind seine tastende Versuche anstellen kann und soll. Die<br />

Sammlung ist relativ vielseitig; sie ist einfallsreich. Ich gebe sogar zu, dass dieses Lehrmaterial die von<br />

<strong>der</strong> Zivilisation in den Vor<strong>der</strong>grund gerückten Gesten wahrscheinlich unmittelbarer vorbereitet, als <strong>der</strong><br />

Reichtum unserer Reservate: schnüren, knüpfen, den Tisch decken, Gegenstände, Bil<strong>der</strong> o<strong>der</strong> geometrische<br />

Formen messen und vergleichen. Diesen Beitrag einer pädagogischen Periode, die wir heute<br />

für überholt halten, unterschätzen und vernachlässigen wir nicht: das Lehrmaterial soll seinen mehr<br />

o<strong>der</strong> weniger verbesserten Platz in den im Zentrum des Reservats bereitgestellten Räumen haben;<br />

wenn die klimatischen o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Bedingungen die tastenden Versuche im Reservat nicht erlauben,<br />

können die Kin<strong>der</strong> darauf zurückgreifen, wann immer sie wollen. Aber wir haben Besseres und mehr:<br />

die Kin<strong>der</strong> können von morgens bis abends allein o<strong>der</strong> in geschickter Begleitung nach Herzenslust<br />

tasten und experimentieren: sie können im Schlamm eines Grabens versinken und von allein wie<strong>der</strong><br />

herauskommen; sie können über eine Mauer springen, in den Felsen herumkraxeln, auf einen Baum<br />

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können sich in Hütten und Höhlen einrichten, die ihnen zugleich schaurig und sicher vorkommen. Alles<br />

167


wäre einbezogen: die Gliedmassen würden geübt, <strong>der</strong> Körper bliebe behende, die Gesten wären ihrer<br />

natürlichen Zielsetzung gemäß geschickt und harmonisch; ausgehend von einer realen Umgebung<br />

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aneignen, von denen das ganze spätere Leben bestimmt wäre.<br />

Das Kind könnte sich vom ersten bis zum fünften Lebensjahr in diesen Reservaten aufhalten. Es würde<br />

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gewisser familiärer o<strong>der</strong> sozialer Barrieren kompensieren würden und ihm bei seinem instinktiven<br />

Aufschwung zur Kraft und zum Leben helfen könnten.<br />

* Dieser Text ist dem Aufsatz „Arbeit und Spiel“ entnommen. In: Boehncke/Henning: Célestin Freinet. Pädagogische Texte<br />

Quellennachweis <strong>der</strong> Texte Célestin Freinets<br />

Kin<strong>der</strong>reservate* aus: Célestin Freinet, Essai de psychologie sensible I, Neuchätel 1968.<br />

Nicht für alle das Gleiche, aus: Célestin Freinet, Essai de psychologie sensible II, Neuchätel 1971.<br />

Der Sturzbach* aus: Célestin Freinet, I/Education du travail, Neuchätel 1967.<br />

Mo<strong>der</strong>ne Aufzucht o<strong>der</strong> Konzentrationslager / Lassen Sie unnütze Soldatenarbeit/ Der Beruf prägt / Verlasst die Übungsräume / Wir sind Lehrlinge / Die<br />

„Schwätzer“ / „Scolatismus“ / Vom Pferd, das keinen Durst hat /Adler steigen keine Treppen<br />

Alle Texte aus:<br />

Célestin Freinet, Les dits de Mathieu, Neuchätel 1967.<br />

Die Grammatik auf vier Seiten / Schluss mit den Schulbüchern / Den Machtkampf vermeiden: Freie Aktivität* , und: Organisiert begeisternde Arbeiten*,<br />

aus: Elise Freinet, Naissance d‘une pedagogie populaire, Paris 1972.<br />

Arbeit und Spiel: Die menschliche Arbeit / Spiele mit Arbeitscharakter, aus: Célestin Freinet, I/Education du travail, Neuchätel 1967.<br />

Arbeit und Spiel im Unterricht, aus:<br />

Elise Freinet, Naissance d‘une pedagogie populaire, Paris 1972.<br />

Zitiert wurden diese Texte nach:<br />

Célestin Freinet, Pädagogische Texte, hrsg. von Heiner Boehncke und Christoph Hennig, Hamburg 1980. Übersetzt wurden die Texte von Beate Siegler<br />

und Katrin Swoboda.<br />

* Die Titel bzw. Untertitel zu diesen Textabschnitten Freinets sind keine Originaltitel, son<strong>der</strong>n stammen von den Herausgebern.<br />

168


Bildnachweis<br />

Titelbild: Briefmarke 100 Jahre Freinet, eine Collage von Walter<br />

Hövel, 1996<br />

Seite 7: Elise und Célestin Freinet in ihrer Schule in Vence, ca. 1954. Quelle: CEL (Cooperative L‘Enseignement La‘ic), <strong>der</strong> ursprüngliche Name <strong>der</strong><br />

Freinet-Bewegung vor dem 2. Weltkrieg in Frankreich; danach <strong>der</strong> Name für das Verlagshaus <strong>der</strong> Freinetbewegung, 1986 aufgelöst.<br />

Seite 12; „Den Wind von vom“, Collage von Walter Hövel (auf <strong>der</strong> Grundlage von „Automobile Race, Wales 1924“, Fotograf unbekannt).<br />

Seite 35: „Die Macht <strong>der</strong> Dinge“, aus: Weiter wohnen wie gewohnt? Hrsg. vom Deutschen Werkbund e.V., Darmstadt Juli 1979. Auch abgedruckt in:<br />

„Vorhang auf Gedichte“, Pädagogik-Kooperative, <strong>Bremen</strong><br />

Seite 42: In <strong>der</strong> Schule in Vence: Kin<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Küche mit Elise Freinet, 1935/36. Quelle: Michel Barre: Célestin Freinet, un educateur pour notre temps,<br />

Mouans-Sartoux 1995.<br />

Seite 48: Freinet und seine Schüler, 1924 in Bar-sur-Loup. Quelle: Lehrer und Schüler verän<strong>der</strong>n die Schule, zusammengestellt und kommentiert von<br />

Martin Zülch, PädagogikKooperative, <strong>Bremen</strong><br />

Seite 61: „Ich habe einen Ausritt gemacht“. Geschichten vom Wochenende, Druck aus einer l. Klasse <strong>der</strong> Albert-Einstein-Schule, Geislingen.<br />

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Seite 74:���������������������������������������������������<br />

Seite 81:���������������������������������������������������������������������������������������<br />

Seite 89: „Arbeit im Steinbruch“ aus: Vom Steinbruch zum Badesee, Projekte-Heft Nr. 12, Pädagogik-Kooperative, <strong>Bremen</strong>. „Im Hafen“ aus: Projekte-Heft<br />

Nr. 10, Pädagogik-Kooperative, <strong>Bremen</strong>.<br />

Seite 107-116: Alle Fotos: Angela Bolland<br />

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Seite 137: Freinet mit <strong>der</strong> schwedischen Kollegin Asta Häkanson 1950 in Nancy, aus: Krut, Nr. 69 Soina (Schweden) 1993.<br />

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Vence.<br />

Seite 144: „Erfolgreich“, aus: Projekte-Heft Nr. 12, PädagogikKooperative, <strong>Bremen</strong>.<br />

Seite 161: C. Freinet, aus: Lehrer und Schüler verän<strong>der</strong>n die Schule, a.a.O.<br />

Autorenverzeichnis<br />

Johannes Beck,<br />

geb. 1938, arbeitet als Professor für allgemeine Pädagogik an <strong>der</strong> <strong>Universität</strong> <strong>Bremen</strong>. Zuvor Schreiner und Volksschullehrer.<br />

1975/76 Mitbegrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> Bremer Pädagogik-Kooperative. Zahlreiche bildungstheoretische, schulkritische und praxisorientierte<br />

Publikationen, zuletzt „Der Bildungswahn“(rororo aktuell 1994); zur Freinet-Pädagogik s. Reihe „politische<br />

Erziehung“ und „Jahrbücher für Lehrer“ (beides rororo, seit 1975).<br />

Angela Bolland,<br />

geb. 1961, Diplompädagogin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an <strong>der</strong> <strong>Universität</strong> <strong>Bremen</strong>, Arbeitsschwerpunkt<br />

Grundschulpädagogik, seit 1989 Mitarbeit und Forschung in den Lernwerkstätten in Wuppertal, Kassel und <strong>Bremen</strong>.<br />

Dr. Ursula Carle,<br />

Dipl. Pädagogin, seit 1994 Akad. Rätin für Schulpädagogik an <strong>der</strong> <strong>Universität</strong> Osnabrück. Davor acht Jahre lang Grund-,<br />

Haupt- und Son<strong>der</strong>schullehrerin, außerdem mehrjährige Tätigkeit in <strong>der</strong> empirischen Sozialforschung. Seit 1983 freinetpädagogisch<br />

orientiert.<br />

Eberhard Dettinger,<br />

geb. 1937, Ausbildung zum Grund- und Hauptschullehrer, 1959 bis 1977 als Lehrer, Konrektor und Rektor im Schuldienst,<br />

1977 Wechsel in die Schulaufsicht, Schulamtsdirektor beim Staatlichen Schulamt Göppingen.<br />

Gründungsmitglied des Arbeitskreises Schuldruckerei (1963), seit 1989 Vorsitzen<strong>der</strong>, bis 1990 Herausgeber des<br />

Mitteilungsblattes „<strong>der</strong> Schuldrucker“.<br />

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Angela Glänzel-Zlabinger,<br />

geb. 1946, 2 Kin<strong>der</strong>, seit 1971 Lehrerin an Berliner Grundschulen. Seit 1979 Mitglied <strong>der</strong> Pädagogik-Kooperative. Intensive<br />

Mitarbeit u.a. durch Seminar- und Workshopangebote mit den Schwerpunkten: Strukturen und Rituale im Unterricht,<br />

Erstlesen, Entdeckendes Lernen, Freier Ausdruck, Zugänge zur Mathematik.<br />

Herbert Hagstedt,<br />

geb. 1946, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Erziehungswissenschaft/Humanwissenschaften <strong>der</strong><br />

Gesamthochschule Kassel. Leiter <strong>der</strong> Grundschulwerkstatt <strong>der</strong> GhK. Mitherausgeber <strong>der</strong> Grundschulzeitschrift. 1975<br />

auf die Freinet-Bewegung aufmerksam geworden. 1990 „Letzter Brief an Célestin“ (Fragen und Versuche Nr. 52). 1996<br />

Aufbau einer Forschungsstelle für Freinet-Pädagogik an <strong>der</strong> <strong>Universität</strong> Kassel.<br />

Horst Hensel,<br />

geb. 1947 im Ruhrgebiet. Arbeiter, Abendschule, Studium, Gesamtschullehrer. Zwischenzeitlich Hochschulassistent und<br />

Promotion zum Dr. päd. sowie Gastdozent an <strong>der</strong> Autorenhochschule in Leipzig. Zahlreiche Veröffentlichungen zur<br />

Pädagogik wie auch Romane, Gedichtbände, Stücke, Hörspiele und Opernlibretti. Jüngstes pädagogisches Buch: „Die<br />

autonome öffentliche Schule. Das Modell des neuen Schulsystems“ (1995).<br />

Jochen Hering<br />

geb. 1951, seit 1974 als Lehrer an Schule und Hochschule tätig. Seit 1982 Mitarbeit in <strong>der</strong> „PädagogikKooperative“,<br />

1984 Promotion zum Dr. päd.; Publikationen zu Schule und Unterricht, Autor von Kin<strong>der</strong>sendungen und pädagogischen<br />

Beiträgen für den Rundfunk, z. Zt. mit Begeisterung Lehrer an einer Bremer Grundschule.<br />

Walter Hövel<br />

geb. 1949, seit 1973 als Pädagoge in den Klassen eins bis zwölf und in <strong>der</strong> Lehrerinnenbildung tätig. Seit 1982 aktiv in <strong>der</strong><br />

deutschen und internationalen Freinet-Bewegung, päd. Publikationen (Schwerpunkt u.a. „Selbstorganisiertes Lernen“),<br />

z, Zt. Leiter einer Grundschule.<br />

Christian Schreger<br />

geb. 1960 in Wels, Oberösterreich. 2 Jahre Studium <strong>der</strong> Anglistik in Wien, dann Ausbildung zum Volksschullehrer.<br />

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als Musiker tätig. Seit 1988 in <strong>der</strong> Wiener Freinet-Gruppe aktiv, u.a. Mitarbeit in <strong>der</strong> Lehrerfortbildung, Gründungsmitglied<br />

<strong>der</strong> „Bieler Freinetpädagogischen Gesellschaft“.<br />

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-<br />

zeichnete, mit zahlreichen historischen und aktuellen Verweisen versehene und erst jüngst erschienene Darstellung von<br />

Ingrid Dietrich: „Wer war Célestin Freinet“, in: Ingrid Dietrich (Hrsg.), Handbuch Freinet-Pädagogik. Eine praxisbezogene<br />

Einführung, Weinheim 1995.<br />

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