Ernest Mandel
Zur Verteidigung
der sozialistischen
Planwirtschaft
Eine Kritik der Theorie des
„Marktwirtschaftlichen Sozialismus“
1
Inhaltsverzeichnis
Vorwort der Redaktion: Markt und Sozialismus
Eine Debatte um Plan und Markt ........................... 5
Über Ernest Mandel ................................................................... 6
Ernest Mandel:
Zur Verteidigung der sozialistischen
Planwirtschft - Eine Kritik der Theorie des “Markwirtschaftlichen
Sozialismus” ...................... 7
Einleitung..................................................................................... 7
I. Die objektive Vergesellschaftung der Arbeit ........................ 8
Planung ......................................................................................... 10
Die Debatte ................................................................................... 12
Einwände ...................................................................................... 14
II. Mangel und Überfluß ........................................................... 17
Noves Fehlschlüsse ...................................................................... 18
III. Die Rangordnung der Bedürfnisse .................................... 21
Verbraucherverhalten.................................................................. 24
Tyrannei über die Bedürfnisse? ................................................. 27
Formen und Folgen ...................................................................... 28
IV. Tyrannei über Produzenten ................................................ 30
V. Objektive informelle Kooperation ....................................... 33
Ein Einwand .................................................................................. 34
VI. Innovation und Motivation ................................................. 36
VII. Organisierte Selbstverwaltung ........................................ 38
Die Überlegenheit der Selbstverwaltung ................................ 41
Der Aufbau des Sozialismus ...................................................... 45
VIII. Gemischte Wirtschaft ist doppeltes Elend ..................... 46
Ein falsches Dilemma .................................................................. 49
3
Alec Nove:
Antwort auf Ernest Mandel .................................... 54
Tertium datur? (Gibt es eine dritte Lösung?) ......................... 57
Ernest Mandel:
Antwort auf die Kritik Noves .................................. 62
Marktwirtschaft und Wirtschaftsschwankungen ................... 63
Die Grenzen der „Marktregulierung“ ..................................... 65
Gesellschaftliche Prioritäten und begrenzte Res-sourcen ... 68
Geld, Bedarfsdeckung und gesellschaftliche Prioritäten .... 72
Es gibt eine dritte Lösung! ....................................................... 77
Über die menschliche Freiheit ................................................. 78
Anmerkungen .............................................................. 80
4
Vorwort der Redaktion
Markt und Sozialismus: Eine Debatte um
Plan und Markt
Im Jahre 1985 veröffentlichte Alec Nove, Professor an der Universität Glasgow,
sein Buch The Economics of Feasible Socialism („Die Wirtschaft des machbaren
Sozialismus“, Allen & Unwin, London). Wie er im Vorwort selbst erklärt, ist Nove
der Sohn eines nach der Revolution von der bolschewistischen Regierung inhaftierten
Menschewiken und in der Emigration in einem reformistischen Milieu aufgewachsen.
Während eines Vierteljahrhunderts hat er die Probleme der Sowjetunion
studiert, und sein Buch ist weitgehend das Ergebnis dieser Studien. Ein großer Teil
dieses Buches analysiert eben auch die Probleme und Widersprüche der bürokratisierten
Übergangsgesellschaft der Sowjetunion, während sich ein anderer Teil mit
„Reformmodellen“ befaßt, d. h. mit den Erfahrungen von Ungarn, Jugoslawien,
Polen und China. Der letzte Teil skizziert die wesentlichen Züge dessen, was Nove
den „realisierbaren Sozialismus“ nennt, den er sowohl dem „real existierenden Sozialismus“
als auch dem von Marx konzipierten Sozialismus, den Nove für utopisch
hält, gegenüberstellt. Noves Entwurf greift in der Tat im großen und ganzen die
früheren Vorstellungen der sozialdemokratischen Parteien aus der Zeit auf, ehe diese
jeglichen noch so geringen ernsthaften reformistischen Anspruch auf dem Altar
politischer Selbstbeschränkung geopfert hatten. Wie der hier leicht gekürzt veröffentlichte
Artikel beweist, verwirft Nove jede Möglichkeit des Aufbaus eines anderen
Wirtschaftssystems als das der Marktwirtschaft, und er akzeptiert politisch die
Wertvorstellungen und Mechanismen der bürgerlichen Demokratie.
Noves Buch hat ein beachtliches Echo gefunden und zahlreiche Diskussionen ausgelöst.
Die von ihm angesprochene Problematik ist kürzlich infolge des von der
sowjetischen Bürokratie unter Gorbatschow eingeschlagenen Reformkurses wieder
ins Blickfeld geraten. Wir bestreiten nicht, daß dabei echte Probleme angesprochen
werden. Aber eine Klärung tut not. Man kann und man muß in der Arbeiterbewegung
diskutieren, in welchem Maße und in welchen Formen der Markt in einer
Phase des Übergangs ersetzt werden soll. Es sei daran erinnert, daß Trotzki in seiner
Auseinandersetzung mit der Konzeption und der Praxis der Stalinschen Industrialisierung
und Kollektivierung selbst im gegebenen Rahmen eine Ausweitung
des Marktes ins Auge gefaßt hatte. Aber das hat nichts zu tun mit der Herangehensweise
jener, die wie Nove über die historische Überlegenheit und Unersetzlichkeit
der Marktwirtschaft theoretisieren. Nove und alle, die seine Auffassung teilen, umgehen
das wesentliche Problem, nämlich die Frage welche Klasse die Macht ausübt.
Wir veröffentlichen hier eine Kritik von Ernest Mandel an dem Buch von Nove. Die
englische Fassung dieser Kritik war zuvor in Nr. 150 von New Left Review, London
erschienen, in Nr. 161 erschien eine Antwort von Nove, und in Nr. 169 eine erneute
5
Erwiderung von Ernest Mandel. Die Übersetzung von Mandels Kritik erschien auf
deutsch zuerst in der Nr. 200 (Februar 1988) der Zeitschrift Inprekorr; Noves Antwort
und Mandels Erwiderung in der Nr. 209 (November 1988) der Inprekorr.
Über Ernest Mandel
Ernest Mandel, angesehener marxistischer Ökonom und eines der bekanntesten
Leitungsmitglieder der IV. Internationale. Geboren 1923 in Frankfurt a. M. Seine
Jugend verlebe er in Antwerpen und schloß sich mit siebzehn Jahren der belgischen
Organisation der IV. Internationale an. Wegen seiner Aktivitäten im antifaschistischen
Widerstand wurde er mehrmals verhaftet und saß von 1944 bis April 1945 in
verschiedenen Konzentrationslagern. Seit 1946 gehört er den Leitungsorganen der
IV. Internationale an. Nach dem Krieg arbeitete er als Journalist für verschiedene
Tages- und Wochenzeitungen, von 1954 bis 1963 als Wirtschaftswissenschaftler für
den belgischen Gewerkschaftsdachverband FGTB. Seit 1971 lehrt er als Dozent an
der Freien Universität Brüssel, wo er seit 1982 einen Lehrstuhl für Politische Wissenschaften
hat. 1972 wurde er vom Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin
für eine ordentliche Professur vorgeschlagen; der West-Berliner Senat lehnte die
Berufung aus politischen Gründen ab; die Bundesregierung unter Willy Brandt erteilte
ein Einreiseverbot, das erst 1978 wieder aufgehoben wurde. Anfang November
1989 besuchte er auf Einladung der Humboldt-Universität zum ersten Mal die
DDR. Ernest Mandel starb im Jahr 1995.
Veröffentlichungen auf deutsch (eine Auswahl):
Einführung in die marxistische Wirtschaftstheorie,
Frankfurt a. M. 1967
Marxistische Wirtschaftstheorie,
2 Bände, Frankfurt a. M. 1972
Der Spätkapitalismus,
Frankfurt a. M. 1972
Entstehung und Entwicklung der ökonomischen Lehre von Karl Marx (1843-1983),
Reinbek b. Hamburg 1982
Über die Bürokratie,
Frankfurt a. M. 1976
Revolutionäre Strategien im 20. Jahrhundert,
Wien 1978
6
Kritik des Eurokommunismus,
Westberlin 1978
Einführung in den Marxismus,
Frankfurt a. M. 1982
Leo Trotzki. Eine Einführung in sein Denken,
Westberlin 1981
Revolutionärer Marxismus heute
Frankfurt a. M. 1982
Die Langen Wellen im Kapitalismus,
Frankfurt a. M. 1983
Karl Marx—Die Aktualität seines Werks,
Frankfurt a. M. 1984
Börsenkrach und Krise
Frankfurt a. M. 1988
Das Gorbatschow Experiment
Frankfurt a. M. 1989
Ernest Mandel:
Zur Verteidigung der sozialistischen
Planwirtschft - Eine Kritik der Theorie
des “Markwirtschaftlichen Sozialismus”
Einleitung
In seinem Buch The Economics of Feasible Socialism (Die Ökonomie des
machbaren Sozialismus) kritisiert Alec Nove die Methoden marxistischer Wirtschaftswissenschaftler
als für den Aufbau des Sozialismus irreführend und
belanglos; er verwirft das Ziel der marxistischen Politik—ein Sozialismus ohne
Warenproduktion—als nicht realisierbar. Um ernsthaft auf seine Einwände zu
antworten, muß man die gleiche Herangehensweise anwenden, die Marx in
7
seiner Untersuchung über die Entstehung des Kapitalismus angewandt hat.
D.h. man darf nicht von einem letztlich zu erreichenden Ideal oder einem normativen
Ziel ausgehen, sondern muß von den Elementen der neuen Gesellschaft
ausgehen, die bereits im Schoße der alten heranwachsen, von den
Bewegungsgesetzen und inneren Widersprüchen der kapitalistischen Produktionsweise
und der bestehenden bürgerlichen Gesellschaft.
Was war der grundlegende historische Trend der kapitalistischen Entwicklung
seit der Industriellen Revolution? Eine wachsende objektive Vergesellschaftung
der Arbeit. Alle miteinander verknüpften Bewegungsgesetze der kapitalistischen
Produktionsweise: die ständige Suche nach höherer Intensität und Produktivität
der Arbeit; die unaufhörliche Jagd nach neuen Märkten; der Druck,
arbeitssparende neue Technologien einzuführen; die immer stärkere Konzentration
und Zentralisation des Kapitals; das Wachstum der organischen Zusammensetzung
des Kapitals; der tendenzielle Fall der Profitrate- das Ausbrechen
periodischer Krisen der Überproduktion und Überakkumulation; der unerbittliche
Trend zur Internationalisierung des Kapitals—all das zusammen
mündet letztlich in dem einen Ergebnis: der wachsenden objektiven Vergesellschaftung
der Arbeit.
I. Die objektive Vergesellschaftung der Arbeit
Was bedeutet sie? In erster Linie bedeutet sie eine wachsende gegenseitige
Interdependenz von beidem: der Arbeitsprozesse und der Auswahl und Produktion
der Güter, die wir verbrauchen. Solch eine Interdependenz galt im
14.Jahrhundert bezogen auf den durchschnittlichen Einwohner eines europäischen
oder asiatischen Landes vielleicht für einige hundert Menschen. Heute
gilt sie buchstäblich für Millionen von Menschen. Aber objektive Vergesellschaftung
der Arbeit bezeichnet noch etwas viel Weitergehendes. Sie bedeutet
eine dramatische Ausweitung der geplanten Organisation der Arbeit. Unter
den Bedingungen der Industrialisierung herrscht innerhalb der Fabrik nicht der
Markt, sondern die Planung. Je größer die Fabrik, desto größer das Ausmaß,
der Umfang einer solchen Planung. Mit dem Beginn des Monopolkapitalismus
dehnt sich die Planung von der Fabrik auf die Firma aus, d.h. auf Institutionen,
die eine Vielzahl von Betrieben umfassen. Mit der Entwicklung multinationaler
Konzerne heutzutage ist die Planung international geworden; juristisch gesprochen
bezieht sie sich oft auf eine Mehrzahl von Firmen.
Die Folge dieses jahrhundertelangen Prozesses war eine radikale Verringerung
der über den Markt vermittelten Arbeit im Spätkapitalismus zugun-
8
sten unmittelbar zugewiesener Arbeit. Die hauptsächliche Ursache für diesen
Niedergang der Vermittlung von Arbeit über den Markt liegt nicht in den
wachsenden Eingriffen der öffentlichen Hand in die Wirtschaft oder in der
Entstehung des Wohlfahrtsstaates oder in den Errungenschaften des Klassenkampfs—obwohl
dies alles zu diesem Ergebnis beigetragen hat. Die Hauptursache
liegt in der inneren Logik des Kapitalismus selbst und in seiner besonderen
Dynamik von Akkumulation und Wettbewerb. Natürlich kann unmittelbar,
direkt zugeteilte Arbeit begleitet sein von Finanzbuchhaltung; das ist in den
bürokratisch geplanten Wirtschaftssystemen der UdSSR, Chinas oder Osteuropas.
der Fall. Das aber bedeutet keineswegs Zuteilung über den Markt.
Wenn die Ersatzteile für Lastwagen bei General Motors im Betrieb X, die
Karosserien für die Fahrzeuge im Betrieb Y hergestellt werden und die Montage
im Betrieb Z durchgeführt wird, dann bedeutet die Tatsache, daß die
Computerausdrucke, die den Transport der Ersatzteile begleiten und bis ins
Kleinste gehende Kostenberechnungen enthalten, keineswegs, daß der Betrieb
X Ersatzteile an den Betrieb Y „verkauft“. Verkauf beinhaltet einen Wechsel
des Eigentümers und zugleich eine tatsächliche Aufsplitterung der Entscheidungsgewalt,
die eine wirkliche Autonomie der Eigentums— und der finanziellen
Interessen widerspiegelt. Nicht der Markt, sondern das geplante Ziel der
Lastwagenproduktion bestimmt die Anzahl der herzustellenden Karosserien.
Die Karosseriebau-Werkstatt kann nicht „bankrott“ gehen, weil sie „zu viele“
Einheiten an die Montage-Werkstatt geliefert hat.
Natürlich herrscht nach wie vor eine kapitalistische Marktwirtschaft in dem
Sinne, daß alle diese Vorgänge typischerweise auf das Stadium der
Zwischenverarbeitung von Waren beschränkt sind—d.h. der Waren, bevor sie
den Endkunden erreichen. (Wir sagen hier Kunde statt Verbraucher, weil der
Kunde auch eine andere Fabrik sein kann, die Maschinen, oder der Staat, der
Waffen kauft). Aber ihre Wirkungsweise beruht mehr und mehr auf Mechanismen,
die nicht vom Markt ausgehen, und zwar nicht nur auf dem Gebiet der
Produktion, sondern auch auf dem der Zirkulation. Die Tatsache, daß die ökonomische
Vergesellschaftung der Arbeit unter der Herrschaft des Kapitals begleitet
wird von und verflochten ist mit zunehmend politischen Formen der
Arbeitszuteilung, die nicht dem Markt entspringen, macht die Widersprüche
im ganzen Prozeß nur noch explosiver.
9
Planung
Wir haben das Wort „Planung“ gebraucht. Aber der Begriff selber muß bestimmt
werden. Planung ist nicht gleichzusetzen mit „perfekter“ Zuteilung von
Ressourcen, auch nicht mit „wissenschaftlicher“ Zuteilung, nicht einmal mit
„humaner“ Zuteilung. Planung bedeutet schlicht „direkte“ Zuteilung, ex ante
(im vorhinein). Als solche ist sie das Gegenteil von Zuteilung über den Markt,
die ex post (im nachhinein) stattfindet. Dies sind die beiden grundsätzlichen
Arten der Zuteilung von Ressourcen; sie unterscheiden sich wesentlich voneinander,
obwohl sie gelegentlich in prekären und hybriden Übergangsformen, die
sich nicht automatisch selbst reproduzieren, kombiniert auftreten können. Sie
folgen jedoch einer von Grund auf verschiedenen inneren Logik. Sie setzen
verschiedene Bewegungsgesetze in Gang. Sie schaffen andere Motivationen
unter den Produzenten und Organisatoren der Produktion, und sie schlagen
sich in unterschiedlichen gesellschaftlichen Werten nieder.
Beide Arten der Arbeitszuteilung hat es im breitesten Umfang im Verlauf der
Menschheitsgeschichte gegeben. Beide sind also durchaus „machbar“. Beide
sind auf die verschiedenste Art und mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen
angewandt worden. Es gibt „despotische“ Planung und „demokratische“ Planung
(wer letzteres leugnet, hat sich niemals mit einem Bantudorf in der vorkolonialen
Zeit befaßt). Es gibt eine Planung, die auf Routine, Gewohnheit,
Tradition, Magie, Religion und Unwissenheit beruht und den Regeln von Regenmachern,
Schamanen, Fakiren und Analphabeten aller Art gehorcht. Schlimmer
noch: es gibt eine Planung, die von Generälen bestimmt wird; denn jede
Armee beruht auf einer Zuteilung von Ressourcen a priori. Es gibt auch eine
Planung, die auf halb rationale Weise von Technokraten organisiert wird, oder
auf höchster Ebene von wissenschaftlicher Intelligenz, von Arbeitern und uneigennützigen
Spezialisten. Doch was auch immer die Form der Planung sein
mag, sie bedeutet stets Zuteilung von Ressourcen a priori (einschließlich der
Arbeitskräfte), durch die vorsätzliche Entscheidung irgendeines gesellschaftlichen
Organs. Im Gegensatz dazu steht die Zuteilung von Ressourcen über
objektive Marktgesetze, die a posteriori vorher zersplitterten Entscheidungen,
die getrennt voneinander oder autonom von privaten Körperschaften getroffen
wurden, entgegenwirken oder diese korrigieren.
So gesehen hat es Marktwirtschaften im Sinne einer Zuteilung von Ressourcen
ex post historisch in den unterschiedlichsten Formen gegeben. Im Prinzip kann
es Marktwirtschaft mit „perfekt“ freiem Wettbewerb geben, obwohl dies in der
10
Praxis kaum jemals verwirklicht worden ist. Es kann Marktwirtschaften geben,
die durch die Vorherrschaft mächtiger Monopole in eine Schieflage geraten,
weil diese weite Bereiche der wirtschaftlichen Aktivität kontrollieren und
über lange Zeiträume damit die Preise festlegen. Freie Märkte können mit brutalen
Formen der Selbstherrschaft und des Despotismus einhergehen, wie dies
unter dem Absolutismus im 18.Jahrhundert der Fall war, oder unter dem Zarismus
im 19. Jahrhundert, ganz zu schweigen von den verschiedensten Formen
der Militärdiktatur oder der faschistischen Diktaturen im 20.Jahrhundert.
Sie können aber auch mit fortgeschrittenen Formen parlamentarischer Demokratie
kombiniert sein, wie das in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts der
Fall war — wenn auch in weniger als zwanzig von den einhundertfünfzig Ländern,
die die kapitalistische Welt ausmachen.
Marktwirtschaften können das Elend breiter Massen verschärfen, indem sie
ihren Lebensstandard absolut senken, wie dies in den meisten Ländern des
Westens den größten Teil des 18. und des 19. Jahrhunderts hindurch der Fall
war, in Osteuropa bis ins 20. Jahrhundert hinein, und wie es heute noch für
mindestens die Hälfte, wenn nicht mehr, der Einwohner der südlichen Hemisphäre
zutrifft. Sie können auch, unter anderen Umständen, zu einer erheblichen
Steigerung des durchschnittlichen Lebensstandards der Bevölkerung führen,
wie dies im Westen in den dreißig Jahren der Fall war, die dem Ersten
Weltkrieg vorangingen, und in dem viertel Jahrhundert, das auf den Zweiten
Weltkrieg folgte. Aber in all diesen gegensätzlichen Fällen ist es immer das
Marktprinzip, das herrscht, d.h. eine Zuteilung der Ressourcen a posteriori,
bestimmt durch den Verkauf und den Gewinn (im Kapitalismus: Profit).
Historisch betrachtet erreichte die Marktwirtschaft den Höhepunkt ihrer Verbreitung
in der Zeit des Übergangs von der kleinen Warenproduktion zur Anfangsphase
des Kapitalismus mit relativ kleinen Betrieben, in der laissez-faire-Welt
der Mine des 19.Jahrhunderts. Danach gerieten rein marktwirtschaftliche Grundsätze
der Zuteilung zunehmend mit den Erfordernissen einer rational geplanten
Produktion innerhalb der großen Fabrik und des Großunternehmens in Konflikt.
Engels formulierte diesen Widerspruch in einer berühmten Passage des
Anti-Dühring eindrucksvoll so: „Je mehr die neue Produktionsweise auf allen
entscheidenden Produktionsfeldern und in allen entscheidenden ökonomischen
Ländern zur Herrschaft kam und damit die Einzelproduktion bis auf unbedeutende
Reste verdrängte, desto greller mußte auch an den Tag treten die Unverträglichkeit
von gesellschaftlicher Produktion und kapitalistischer Aneignung....
11
Dieser Widerspruch zwischen vergesellschafteter Produktion und kapitalistischer
Aneignung stellt sich jetzt so dar, daß die gesellschaftliche Organisation
der Produktion innerhalb der Fabrik sich zu dem Punkt entwickelt hat, wo sie
unverträglich geworden ist mit der neben und über ihr bestehenden Anarchie
der Produktion in der Gesellschaft. „ 1 Wir haben selber im Spätkapitalismus
das Argument angeführt, daß man aus diesem grundlegenden Widerspruch ein
allgemeineres Bewegungsgesetz der bürgerlichen Gesellschaft insgesamt (des
gesellschaftlichen Überbaus wie auch der Basis) ableiten könne, und zwar den
Widerspruch zwischen den gleichzeitigen Tendenzen zu Teilrationalität und zu
globaler Irrationalität im Kapitalismus.
Die beiden verschiedenen Systeme der Zuteilung von Ressourcen stehen in
struktureller Beziehung—sie sind sogar weitgehend identisch—mit zwei entgegengesetzten
Arten der Anpassung der Produktion an die Bedürfnisse. Denn
jede menschliche Gesellschaft ist letztendlich auf Verbrauch ausgerichtet, da
es ohne den Verbrauch der Produzenten, also der Reproduktion ihrer Arbeitskraft,
keine Produktion, keine Arbeit oder menschliches Überleben überhaupt
geben könnte. Nun gibt es aber grundlegend nur zwei Wege, die laufende Produktion
den Bedürfnissen anzupassen. Entweder nimmt man diese Bedürfnisse
als etwas von vornherein gegebenes an, als ex ante von welcher gesellschaftlichen
Körperschaft auch immer gesetzt, so daß die Produktion so organisiert
wird, daß diese Bedürfnisse befriedigt werden. Oder aber sie gelten als unbekannt
oder jedenfalls als ungewiß, so daß der Markt gezwungen ist, sie ex post
durch die Ausgaben für die „effektive Nachfrage“ zu enthüllen.
Die Debatte
Nach dem Zweiten Weltkrieg vertrat die herkömmliche bourgeoise Auffassung
die Meinung, die Nachfrage selbst sei in der Epoche der antizyklischen
Wirtschafts- und Wohlfahrtspolitik in gewissem Maße durch Gestaltung und
Intervention der öffentlichen Hand beeinflußbar. Aber im vergangenen Jahrzehnt
hat es gegen keynesianische Ideen und Techniken in der kapitalistischen
Welt eine scharfe Reaktion gegeben und eine zügellose Rehabilitierung des
Marktes und der Warenproduktion als zivilisatorische Werte an sich. Dieser
Wandel beeinflußte auch weitgehend die Linke. Heute besteht die Gefahr, daß
das gesamte sozialistische Gedankengebäude, das älter ist als Marx, dem er
aber wissenschaftlichen und systematischen Ausdruck verliehen hat, das eine
Kritik der Warenproduktion und des Marktes an sich darstellt und eine gründliche
historische Entmystifizierung der theoretischen Annahmen von Hobbes,
12
Locke und Smith, unterschiedlos über Bord geworfen wird. Denn es sind nicht
nur konservative Akademiker oder Politiker, sondern immer mehr Sozialisten,
vor allem auch zahlreiche linke Sozialdemokraten und Eurokommunisten, die
jetzt in ihrem gesellschaftlichen Denken bürgerliche Axiome wiederentdecken
und wieder aufnehmen, obwohl sie keinerlei wissenschaftlichen oder empirischen
Gehalt haben: sie sind schlicht Gegenstand blinden Glaubens oder Aberglaubens.
Der logische und weitverbreitete Schluß, der aus diesem Meinungsumschwung
gezogen wird, ist der Unglaube auch nur an die Möglichkeit bewußter
Planung und die Übernahme, wenn nicht gar Kultivierung, der Marktideologie,
die sich direkt gegen die Sache des Sozialismus richtet. Bei den
aktuellen Diskussionen geht es in Wirklichkeit nicht um die kurzfristige Frage,
wie weit man in der Zeit unmittelbar nach einer antikapitalistischen Revolution
gezwungen ist, auf Warenaustausch zurückzugreifen, sondern ob es sich
überhaupt lohnt, für das langfristige Ziel des Sozialismus, die klassenlose
Gesellschaft, die aufzubauen man vielleicht hundert Jahre braucht, einzutreten,
und warum dies Ziel verwirklicht werden soll. Das war es, worum es jener
langen Reihe von Denkern ging, die von Babeuf und SaintSimon bis zu Engels
und Rosa Luxemburg reicht und auch für uns heute die zentrale Frage bleibt,
wenn wir Alec Noves „Ökonomie des machbaren Sozialismus“ lesen.
Das bringt mich in eine Schwierigkeit, in die jeder gerät, der versucht, auf Alec
Nove und andere Verfechter des „marktwirtschaftlichen Sozialismus“ einzugehen.
Sie möchten die ernsthaften Funktionsmängel der Übergangswirtschaften
in der Sowjetunion, Osteuropa und China analysieren und korrigieren, was an
sich eine legitime und notwendige Aufgabe ist. Wir glauben nicht, daß diese
Gesellschaften in irgendeiner Hinsicht sozialistisch sind. Noch glauben wir,
daß der Sozialismus, wie Marx ihn definiert hat, in diesen Ländern kurz vor
seiner Verwirklichung steht. In keinem dieser Länder ist die radikale Abschaffung
der noch bestehenden Marktverhältnisse im Augenblick wünschenswert
oder praktikabel. Aber die ganze Stoßrichtung von Noves Buch geht dahin zu
argumentieren, daß „marxistischer Sozialismus“, wie er klassisch definiert
wurde, nirgendwo auf der Tagesordnung steht und von Anfang an eine utopische
Vorstellung war. Mit anderen Worten: Noves Argumente beziehen sich
nicht nur auf die Übergangsperiode mit ihren besonderen wirtschaftlichen Problemen,
sondern auf den Charakter, die Natur des Sozialismus selbst. Beweise,
die aus der Erfahrung der Sowjetunion abgeleitet werden, auf der die ganze
historische Last der Rückständigkeit, Kriegszerstörung und bürokratischer
Mißwirtschaft lag, werden angeführt, um den klassischen Argumenten gegen
13
sozialistische Planung als solche Gewicht zu verleihen. Muß man aber nicht
fragen, ob die besonderen Probleme in den Wirtschaften sowjetischen Typs
nicht teilweise auf die unreifen Bedingungen für eine Verallgemeinerung der
Vergesellschaftung zurückzuführen sind? Ich glaube sogar, daß man beweisen
kann: es gibt objektive Tendenzen in den fortgeschrittensten Ländern, die darauf
hinweisen, daß es dort die materiellen, technischen und menschlichen Ressourcen
gibt, die für eine Planung notwendig sind; und in diesen fortgeschrittenen
Gesellschaften zeigt sich auch, wie hoch die Kosten sind, die dafür gezahlt
werden. daß es dort keine Planung gibt.
Ganz sicher muß sich doch jedes realistische Programm, das mit der Massenarbeitslosigkeit,
mit der Überausbeutung weiblicher Arbeitskräfte oder ethnisher
Minderheiten, mit der gewaltigen ökologischen Verantwortungslosigkeit der
Konzerne und Regierungen fertig werden. will, auf völlig neue gesellschaftliche
Prioritäten stützen, die mit Hilfe wirklicher Vergesellschaftung und
demokratischer Planung festgelegt werden müssen. Marx selbst hat die Warenproduktion
(„Marktwirtschaft“) im Sozialismus nicht nur aus Gründen der
wirtschaftlichen Effizienz verworfen, oder aus blindem Glauben in das Proletariat.
Es wäre absolut falsch, das gewaltige Gebäude an sozialistischer Tradition,
das in seinen Schriften gipfelt, einfach deswegen beiseite schiebcn zu
wollen, weil sein Werk auch fälschlicherweise von den sowjetischen Verfechtern
der bürokratischen Zentralisierung in Anspruch genommen wird, die sich
auf Marx berufen. Dies zu tun, wäre ebenso falsch wie die Verwerfung des
Grundsatzes der Menschenrechte, nur weil auch reaktionäre Kapitalisten sich
darauf berufen.
Einwände
Versuchen wir nun, auf einige der zentralen Einwände einzugehen, die Alec
Nove gegen das erhebt, was er für die klassische marxistische Auffassung von
sozialistischer Planung hält. Ausgehend von seiner unbestrittenen Kenntnis
der Sowjetwirtschaft lautet sein Argument, in der Sowjetunion würden wahrscheinlich
zwölf Millionen verschiedene Güter produziert. Nur der Markt könne
deshalb die Funktion ausüben, diese nach rationalen Kriterien zuzuteilen,
weil die Zahl der zu treffenden Entscheidungen sonst einfach zu groß sei, als
daß sie von irgendeiner Form der demokratischen Assoziation der Produzenten
getroffen werden könnten 2 .
14
Was fangen wir mit diesem Argument an? Zunächst sei ein Mißverständnis
geklärt. Die Zahlen, die Nove angibt, umfassen eine gewaltige Anzahl von
Zwischenprodukten und Ersatzteilen, ebenso wie besondere Sorten von Ausrüstungsgütern,
mit denen der normale Bürger niemals etwas zu tun hat und
die er nie konsumiert. Die Zahlen umfassen auch außerordentlich viele Varianten
des gleichen Verbrauchsgutes. In den westlichen Gesellschaften reichen
diese von zehn verschiedenen Arten von Reinigungsmitteln bis hin zu dreißig
Sorten von Brot usw. Gewöhnlich werden die Menschen wohl nur eine oder
zwei Sorten konsumieren, aber nicht alle. Sich dies klarzumachen ist wichtig,
um die Schwierigkeiten zu definieren, vor denen Nove steht. Denn in Wirklichkeit
ist es nicht so, daß der Markt in den fortgeschrittenen kapitalistischen
Ländern Millionen von Waren „verteilt“ — seien es Verbrauchs— oder Produktionsgüter.
Im alleräußersten Fall dürften private Verbraucher in ihrem ganzen
Leben wohl nur einige tausend verschiedene Waren kaufen (und selbst dies
dürfte für viele von ihnen eine übertrieben hohe Schätzung sein). Sie haben gar
keine Zeit, „Millionen“ verschiedener Waren zu konsumieren oder auf „Marktsignale“
zu reagieren, wenn sie diese Güter „auswählen“. Die von liberalen
Wirtschaftswissenschaftlern und seinerzeit von Stalin gehegte Vorstellung, es
gebe einen „unbegrenzten Bedarf an Verbrauch“, dessen Befriedigung eine
„unbegrenzte Anzahl von Gütern“ notwendig mache, ist schlicht dumm. Man
kann keine unbegrenzte Anzahl von Gütern in einer begrenzten Zeit verbrauchen,
und unglücklicherweise ist unser Verweilen auf dieser Erde absolut begrenzt!
Die Lage ändert sich nicht wesentlich, wenn man auch die Produktionsgüter
(einschließlich der Zwischenprodukte) mitberücksichtigt. Die Masse der
Zwischenprodukte wird, wie bereits bemerkt, überhaupt nicht über den Markt
zugeteilt. Sie wird auf Bestellung gefertigt. Das ist offensichtlich. Weniger
beachtet wird aber, daß dies heute auch auf die meisten größeren Maschinen
zutrifft. Man geht doch nicht in den Supermarkt, um dort hydroelektrische
Turbinen für eine Talsperre zu kaufen; diese werden unter Angabe sehr genauer,
bis ins kleinste Detail gehender Präzisierungen bestellt. Sogar wenn das
durch eine öffentliche Ausschreibung geschieht, ist es doch nicht das gleiche
wie die „Zuteilung über den Markt“. Die verschiedenen Kostenvoranschläge
bedeuten doch nicht, daß tatsächlich verschiedene Produkte hergestellt werden,
unter denen man eine Auswahl treffen kann. Sie führen doch dazu, daß
nur ein Produkt wirklich hergestellt wird, das dann automatisch gebraucht
wird. Das gleich Verfahren kann natürlich auch angewandt werden, ohne daß
15
ein Marktmechanismus dazwischentritt. Statt miteinander konkurrierende Angebote
zu vergleichen, könnte man die unterschiedlichen Produktionskosten in
den verschiedenen Produktionseinheiten berechnen und dem billigsten Lieferanten
den Zuschlag geben, vorausgesetzt. daß sowohl die gewünschte Qualität
als auch die technischen Details eingehalten werden.
So gelangen wir zu einer ziemlich verblüffenden Schlußfolgerung. Bereits heute
wird in den fortgeschrittensten kapitalistischen Ländern die Masse der Verbrauchs—wie
auch der Produktionsgüter keineswegs als Reaktion auf „Marktsignale“
produziert, die sich von Jahr zu Jahr, oder gar von Monat zu Monat
änderten. Die Masse der heutigen Produktion richtet sich nach Verbrauchsmustern,
die sich eingependelt haben und nach im vorhinein festgelegten
Produktionstechniken, die weitgehend, wenn nicht gar vollständig vom Markt
unabhängig sind. Wie ist es dazu gekommen? Es ist genau das Ergebnis der
objektiv zunehmenden Vergesellschaftung der Arbeit.
Warum soll denn die Zuteilung der Ressourcen, die für die Produktion dieser
Güter benötigt werden und die im großen und ganzen im voraus bekannt sind,
nicht durch die assoziierten Produzenten mit Hilfe moderner Computer erfolgen
können, die durchaus mit den „Millionen von Gleichungen“ fertig werden
können, die Nove so entmutigend findet? Sicher ist richtig, daß Verbrauchsgewohnheiten
sich ändern. Ein langfristiger Wandel in der Technologie kann
zu einer radikalen Änderung in der Zusammensetzung der Verbrauchsgüter
führen und zur Veränderung der Art und Weise ihrer Herstellung. Vor einem
Jahrhundert gehörten Pferdewagen mit allem Zubehör zu den Standard-Produktionsgütern.
Heute sind Autos an ihre Stelle getreten, mit den entsprechenden
Folgen (Benzin, Autobahnen, Ersatzteile, usw.) Vor einem Jahrhundert
wurde für den Häuserbau kaum Zement, Stahl oder Glas und überhaupt
kein Aluminium verwandt. Heute spielen Holz und Ziegel beim Bau der
meisten Wohnungen eine viel geringere Rolle.
Aber Veränderungen dieser Art erfolgen in breitem Umfang nur langfristig.
Außerdem wird der Anstoß dazu niemals vom Markt oder vom Verbraucher
gegeben. Er geht von Neuerern aus und von mit ihnen verbundenen Produktionseinheiten.
Es gab nicht zehntausend Verbraucher, die händeringend herumgelaufen
wären und gerufen hätten: „Lieber Henry Ford, gib uns Autos! Liebe
Freunde vom Apple Konzern, versorgt uns doch bitte mit Personalcomputern!“
Es gab Geschäftszweige (erfinderische, in der Tat!—Marx hat auf den Druck
16
zu steter technologischer Veränderung und Innovation, der durch die innerkapitalistische
Konkurrenz und den Klassenkampf zwischen Kapital und Arbeit
hervorgerufen wird, über ein halbes Jahrhundert vor Schumpeter hingewiesen),
die neue Produkte für den Konsum lancierten, um so die notwendige
Nachfrage zu schaffen, die es erlaubt, daß sie möglichst viele von ihren Waren
verkaufen.
II. Mangel und Überfluß
Die Kompliziertheit der „Zuteilung“ in einer fortgeschrittenen industriellen Wirtschaft,
wie sie Nove darstellt, ist also weitgehend ein Scheinproblem. Niemand
wird leugnen, daß eine demokratische sozialistische Planung auf praktische
Schwierigkeiten stößt, von denen wir heute schon einige voraussehen können,
andere noch nicht. Es gibt aber keinen Grund anzunehmen, daß es technisch
unmöglich sei, sie zu überwinden, wie Nove es darstellt. Seine Kritik der
marxistischen Auffassung vom Sozialismus beschränkt sich jedoch nicht auf
die Methoden, die diese für den Aufbau einer klassenlosen Gesellschaft vorschlägt,
sondern richtet sich gegen das Ziel des Sozialismus selbst. Denn der
Überfluß, der nach der Marxschen Vorstellung vom Kommunismus die Vorbedingung
für diesen ist, ist, wie Nove behauptet, völlig utopisch. Hierzu sagt er:
„Überfluß sei definiert als das, was nötig ist, um Bedürfnisse zum Null-Tarif
zu befriedigen, so daß kein vernünftiger Mensch unzufrieden bleibt oder von
irgend etwas mehr verlangt (zumindest von dem, was reproduzierbar ist). Diese
Vorstellung spielt in der Marxschen Vision vom Sozialismus/Kommunismus
eine entscheidende Rolle. Überfluß beseitigt den Konflikt über die Zuteilung
von Ressourcen, da es ja der Definition nach für jeden genug gibt, so daß es
keine einander ausschließenden Entscheidungen gibt.... Darum gibt es auch
für die verschiedenen Menschen oder Gruppen keinen Grund, miteinander zu
konkurrieren, für sich selbst in Besitz zu nehmen, was für alle frei verfügbar
ist. Laßt mich als Beispiel die Wasserversorgung in schottischen Städten anführen.
Natürlich gibt es sie nicht umsonst; sie verursacht Kosten. Arbeit muß
verausgabt werden für den Bau von Wasserreservoirs und Rohren zur Reinhaltung
des Wassers, für Reparaturen, Instandhaltung usw. Es gibt jedoch sehr
viel Wasser. Es ist nicht nötig, den Verbrauch des Wassers durch „Rationierung
über den Preis“ zu regeln, denn es ist für alle Zwecke in ausreichender
Menge vorhanden. Es wird nicht in irgendeiner Hinsicht „vermarktet“, noch
auch wird die Versorgung durch irgendein „Wertgesetz“ oder das Kriterium
des Profits bestimmt. Es gibt keine Konkurrenz um das Wasser, keinen Konflikt....
Wären andere Güter ebenso leicht und frei erhältlich wie das Wasser in
17
Schonland, dann könnte sich ein neues menschliches Verhalten entwickeln: die
Gewinnsucht würde absterben; Besitzrechte und Verbrechen, die Eigentumsdelikte
sind, würden ebenso verschwinden.“ 3
Noves Fehlschlüsse
Es gibt in dieser Schlüsselpassage eine ganze Reihe von Ungereimtheiten. Nove
beginnt damit, daß er uns sagt, „Überfluß“ bedeute fehlender Konflikt über die
Zuteilung von Ressourcen. Damit aber reduziert er stillschweigend die „Zuteilung
von Ressourcen“ auf die Bedürfnisse der Konsumenten, denn natürlich
würde es keinen „Überfluß an Wasser“ in Schonland geben, wenn dort fünfzig
Kraftwerke errichtet würden. In anderen Worten, Nove geht von der stillschweigenden
Annahme aus, daß der „Überfluß“ bestimmt wird durch die aktuellen
lokalen Bedürfnisse der Verbraucher und nur durch sie, während alles andere
gleich bleibt. Anders ausgedrückt: er hält die augenblicklichen
Verbrauchergewohnheiten (und Produktionsmuster) für gegeben und stabil. Aber
er legt diese Annahme nicht offen. Würde er es tun, würde er damit selber seine
ursprüngliche Behauptung widerlegen, Überfluß sei unmöglich und Marxscher
Sozialismus darum nicht machbar.
Es gibt noch einen weiteren Widerspruch in seiner Argumentation. Einerseits
vermerkt Alec Nove, daß um den „Überfluß an Wasser“ für die Einwohner
Schonlands bereitzustellen, Arbeit für Rohre, Reservoirs, Unterhalt usw. verausgabt
werden muß. Nun ist aber Arbeit „relativ knapp“. Die gleiche Arbeitskraft,
die in Wasserrohre und Reservoirs investiert wird, könnte auch für
eine ganze Reihe von Alternativen aufgewendet werden: z.B. für den Bau von
Golfplätzen, Kraftwerken oder sogar Raketen. Dennoch kann auf geheimnisvolle
Weise, trotz des im allgemeinen unvermeidlichen „Konflikts über die
Zuteilung von Ressourcen“ Wasser in Schottland zum Null-Tarif verteilt werden
und offenbar entsteht kein Konflikt über die Zuteilung der Arbeit, die dazu
notwendig ist. Die Verbindung, die Nove ebenso wie unzählige andere Ökonomen,
ganz zu schweigen von Soziologen und menschenfeindlichen Philosophen,
zwischen allgemeiner Knappheit und spezifischen Verhaltensmustern herstellt,
ist also nicht bewiesen, das ist das mindeste, was man sagen kann. Denn sein
eigenes Beispiel beweist, daß Menschen sich in Bezug auf bestimmte Güter,
unter besonderen Umständen, durchaus auf nicht gewinnsüchtige Weise verhalten
können, vorausgesetzt, es sind eine Anzahl von Bedingungen erfüllt.
18
Welches sind diese Bedingungen? Warum ist die „Rationierung über den Preis“
beim Verbrauch von Wasser durch die schottischen Bürger nicht nötig? Überraschenderweise
erwähnt Alec Nove nicht den offensichtlichen wirtschaftlichen
Grund dafür, obwohl es marxistischen und liberalen Wirtschaftswissenschaftlern
nicht schwer fallen würde, hierin übereinzustimmen. Derselbe Grund
erklärt auch, warum das gleiche nicht zuträfe, wenn die Anzahl von Kraftwerken
in dieser Gegend vervielfacht würde. Die „Rationierung über den Preis“
ist deshalb nicht nötig weil die Veränderung der Nachfrage nach Wasser für
den privaten Durchschnittsverbraucher gegen Null geht. Wahrscheinlich gibt
es infolge der Belieferung mit Wasser zum Null-Tarif sogar eine leichte „Verschwendung“.
Aber die Verschwendung fällt weniger ins Gewicht als es eine
„Festsetzung der Kosten“ dieses Verbrauchsgutes wäre (durch Installation von
Wasseruhren, die Einstellung und Kontrolle von Personal, die Ausstellung von
Rechnungen usw.). Unter diesen Bedingungen macht es sich schlicht nicht bezahlt,
für Wasser einen Preis zu fordern. Die voraussehbare feste (tendenziell
sinkende) Nachfrage ist das empirisch bestimmende Schlüsselelement. Alles
andere ergibt sich daraus.
Wenn aber ein Überfluß an Wasser trotz fortbestehender Knappheit an Ressourcen
insgesamt vorstellbar ist, warum kann dann das gleiche nicht auch für
andere Güter und Dienstleistungen unter ähnlichen Umständen gelten? Ist es
wirklich möglich, daß schottisches Wasser das einzige Gut ist, für das die
Veränderung der Nachfrage gegen Null geht? An dieser Stelle bewahrheitet
sich die Marxsche „Vision vom Sozialismus/Kommunismus“. Denn mit fortschreitendem
gesellschaftlichen Reichtum, dem Wachstum der Produktivkräfte
und der Entfaltung von nachkapitalistischen Einrichtungen kann die Anzahl
von Waren und Dienstleistungen, für die bislang eine Inelastizität der Nachfrage
gilt, die aber dann umsonst verteilt werden könnten, allmählich zunehmen.
Wenn sagen wir bis zu 60 oder 75 % aller Verbrauchsgüter und Dienstleistungen
auf diese Weise zugeteilt werden, wird das steigende Anwachsen der kostenlosen
Versorgung die „menschlichen Verhältnisse“ dramatisch verändern.
In Noves Schlußfolgerungen hat sich auch eine andere petitio prinicipii (logischer
Beweisfehler) eingeschlichen. Er scheint anzunehmen, daß „Eigentumsrechte“
die unvermeidliche Folge von „Knappheit“ sind. Damit Knappheit solche
Rechte aber überhaupt hervorbringt, muß es doch erst besondere gesellschaftliche
Einrichtungen geben, die die private Aneignung von Produktionsmitteln
und die Trennung der Produzenten vom freien Zugang zu ihnen ebenso
19
wie zu den natürlichen Grundlagen ihres Lebensunterhalts (Land, Wasser, Luft)
ermöglichen, erleichtern, aufrechterhalten, verteidigen. Diese wiederum hängen
mit der Herausbildung bestimmter Gesellschaftsklassen zusammen, die
besondere Interessen verteidigen im Gegensatz zu anderen Gesellschaftsklassen,
die andere Interessen verteidigen. „Knappheit“ war in einem traditionellen
Bantu-Dorf durchaus eine Realität. Dennoch führte sie Jahrtausende hindurch
nicht zu „Eigentumsrechten“ an Land. Würden die Menschen in Schottland
(oder Großbritannien, oder Europa oder in einem Sozialistischen Weltenbund)
beschließen, potentiellen Investoren in hydroelektrische Energie keine Eigentumsrechte
einzuräumen, dann könnte kein ökonomisches Gesetz auf geheimnisvolle
Weise das Wasser, das sich im öffentlichen Besitz befindet, einfach
infolge von Knappheit in Privatbesitz verwandeln. Sie müßten vielleicht die
„Kosten tragen“ für teurere Energie (d.h. für einen größeren Einsatz von verfügbarem
Material und menschlichen Ressourcen zur Erzeugung von Energie),
weil sie es vorziehen, den Verbraucher im Überfluß mit sauberem, kostenlosen
Wasser zu versorgen. Das aber wäre ihre Entscheidung und ihr Recht,
als Verbraucher und als Bürger.
Aus dem gleichen Grund ist es nicht weniger falsch, aus der Knappheit eine
allgemeine „menschliche Gewinnsucht“ abzuleiten. Eher gibt es eine Neigung
zur Gewinnsucht; diese hat ihren Grund jedoch nicht so sehr in der Knappheit
an Gütern im allgemeinen, oder sogar in der Knappheit an bestimmten Gütern,
sondern in der relativen Intensität bestimmter Bedürfnisse. Ein Rolls-Royce ist
ein sehr schönes Auto. Es gehört auch zu den knappen Gütern. Viele Autofahrer
(und gewiß auch die meisten Autoliebhaber) würden liebend gern einen
Rolls Royce besitzen. Aber die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung schlägt
sich nicht darum, einen .Rolls Royce zu ergattern. Es zahlt sich nicht aus,
jeden Pfennig zu sparen, um um jedem Preis einen „knappen Rolls“ zu bekommen.
Die Bevölkerung verspürt keinen mächtigen „Trieb“, um in den Besitz
dieses Wagens zu gelangen. Sie ist nicht neurotisch frustriert, wenn sie weiß,
daß sie niemals einen bekommen wird. So kann also der „Besitztrieb“, die
„Gewinnsucht“ absterben, lange ehe die „Knappheit überhaupt“ verschwunden
ist —genauso wie er bei den Menschen in Schottland hinsichtlich des
Wassers abgestorben ist. Es genügt, daß die stärksten Bedürfnisse befriedigt
werden, oder daß der Hunger der Verbraucher auf diesem Gebiet
gesättigt wird. Das ist die grundlegende Annahme, auf der Marx seine Vision
vom Sozialismus aufgebaut hat. Sie ist absolut realistisch und vorstellbar.
20
III. Die Rangordnung der Bedürfnisse
Als Antwort auf Noves Kritik am marxistischen Erbe haben wir den Begriff
der „relativen Intensität der Bedürfnisse“ eingeführt. Dieser Begriff enthält
eine Reihe von Implikationen für die Diskussion um die sozialistische Planung,
die wir nun behandeln wollen. Im Westen findet die veränderliche Intensität
der Bedürfnisse der Verbraucher heute ihren Ausdruck in ihrem unterschiedlichen
Verhalten Gütern und Dienstleistungen gegenüber, die einen Preis
haben, auch wenn sie kein „Preisschild“ tragen. Das muß nicht indirekt in
Geld gemessen werden. Die Bedürfnisse können empirisch festgestellt werden,
z.B. indem man die Veränderungen der physischen Verbrauchergewohnheiten
untersucht, wenn das Einkommen plötzlich sinkt (wie es für erhebliche Teile
der Bevölkerung während der jetzigen Depression der Fall war). Bestimmte
verbreitete Muster werden dann deutlich erkennbar. Denn einige Ausgaben
werden früher als andere gekürzt. Bestimmte Sorten von Gütern innerhalb einer
größeren Kategorie von Verbrauchsgütern werden eingeschränkt, während
andere zunehmen (z.B. wird mehr Schweinefleisch und weniger mageres Rindfleisch
verbraucht). Die Ausgaben für die Gesundheit sind gleichbleibender
als die für Toilettenartikel. Das sind keine willkürlichen Vorlieben. Einer der
wichtigsten Erkenntnisfort schritte, die im Kapitalismus erzielt wurden—in
gewissem Sinn ist das ein Kompliment für das Kapital—ist, daß es heute wegen
des gestiegenen Lebensstandards zuerst der Mittelklassen, dann breiter
Bevölkerungsschichten eine große Anzahl an empirischen statistischen Daten
über die Verbrauchergewohnheiten gibt, die - in zahlreichen Ländern einander
auffallend ähnlich sind. Sie legen eine objektive Rangfolge für hunderte Millionen
Menschen über mehrere Jahrzehnte bloß. Jede ernsthafte Untersuchung
der menschlichen Bedürfnisse muß von diesen Tatsachen ausgehen.
Aus dieser Untersuchung ergibt sich ein Muster, das der preußische Statistiker
Engel bereits vor 150 Jahren festgestellt hat. Wenn mit dem Wachstum der
Wirtschaft die Bedürfnisse mannigfaltiger werden, kann man unter ihnen eine
bestimmte Rangfolge festmachen. Es gibt Grundbedürfnisse, zweitrangige
Bedürfnisse; es gibt auch Luxus- oder marginale Bedürfnisse. In einer groben
Einteilung—und hier lassen wir uns gern von empirischen Daten, nicht aber
von metaphysischen Spekulationen korrigieren— würden wir in die erste Kategorie
einreihen: die Grundnahrungsmittel und Getränke, Kleidung, Wohnung
und den dazugehörigen Standardkomfort (Heizung, Elektrizität, fließendes
Wasser, sanitäre Anlagen, Möbel); Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen;
garantierter Transport vom und zum Arbeitsplatz; und ein Mindestmaß an
21
Erholzeit und Muße, die erforderlich sind, um die Arbeitskraft bei einem gegebenen
Ausmaß an Arbeitstempo und Streß zu reproduzieren. Das sind die Bedürfnisse,
die nach Marx befriedigt werden müssen, wenn ein durchschnittlicher
Lohn—und Gehaltsempfänger bei einem gegebenen Maß an Leistung seine
Arbeit fortsetzen soll. Man kann sie in ein physiologisches Minimum und eine
historisch-moralische Komponente unterteilen. Sie variieren je nach Raum und
Zeit. Sie verändern sich nicht nur mit der Veränderung der durchschnittlichen
Arbeitsproduktivität. Sie verändern sich auch mit den großen Verschiebungen,
die im Kräfteverhältnis zwischen den Gesellschaftsklassen eintreten. Aber zu
jedem gegebenen Zeitpunkt, in jedem gegebenen Land sind dies objektive Daten,
die auch deutlich im Bewußtsein der großen Mehrheit der Bevölkerung
präsent sind. All das kann nicht wirklich verändert werden (auch nicht durch
das Wirken der „Marktkräfte“), ohne gewaltige Störungen im gesellschaftlichen
und wirtschaftlichen Gefüge insgesamt hervorzurufen.
In die zweite Kategorie von Gütern und Dienstleistungen würden wir die meisten
der anspruchsvollen Speisen. Getränke, Kleidungsstücke und Haushaltsgeräte
(außer den besonders ausgefallenen) einreihen, die verfeinerteren .,kulturellen’’
und für die „Muße’’ bestimmten Güter und Dienstleistungen sowie
die Privatautos (im Unterschied zum öffentlichen Transportwesen). Alle anderen
Verbrauchsgüter und Dienstleistungen würden wir in die dritte Kategorie
der Luxus-Ausgaben einordnen. Sicher ist es schwierig, eine genaue Grenze
zwischen diesen drei Kategorien von Bedürfnissen zu ziehen. Die erste kann
man am leichtesten abstecken. Der allmähliche Übergang der Bedürfnisse von
der zweiten in die erste Kategorie (einschließlich der Güter und Dienstleistungen,
die diese Bedürfnisse befriedigen) ist eine Folge des wirtschaftlichen Wachstums
und des sozialen Fortschritts (insbesondere auf Grund des proletarischen
Klassenkampfs). Bezahlter Urlaub für alle ist erst seit kurzem eine Errungenschaft
der Arbeiterklasse; sie datiert von der großen Welle von Betriebsbesetzungen
der Jahre 1936-37 (in Frankreich) und deren Nachwirkungen in der
industrialisierten Welt. Die Unterscheidung zwischen der dritten und der zweiten
Kategorie ergibt sich eher aus sozio-kulturellen Präferenzen, als daß sie ein
Massenphänomen widerspiegelte.
Bei all diesen Unterscheidungen ist das allgemeine Muster doch ziemlich deutlich.
Die Rangordnung der menschlichen Bedürfnisse ist offensichtlich durch
beides bestimmt: durch physiologische und durch gesellschaftlich-historische
Momente. Diese sind weder willkürlich noch subjektiv. Man kann dieses Mu-
22
ster auf allen Kontinenten unter den verschiedensten Umständen antreffen,
wenngleich nicht synchron, wegen der ungleichen und kombinierten Entwicklung
des wirtschaftlichen Wachstums und des sozialen Fortschritts. Die Rangordnung
der Bedürfnisse ist nicht das Ergebnis irgendeines Diktats, weder der
Marktkräfte, noch einer despotischen Bürokratie oder aufgeklärter Experten.
Sie findet ihren Ausdruck im spontanen oder halbspontanen Verbraucherverhalten
selbst. Der einzige „Despotismus“, den es gibt, ist der der „großen
Mehrheit“. „Exzentrische“ Minderheiten, die in absoluten Zahlen meist gar
nicht so klein sind, passen in dieses allgemeine Muster nicht hinein: Abstinenzler
versus Konsumenten alkoholischer Getränke; Raucher versus Nichtraucher;
Vegetarier versus Fleischesser; Menschen, die sich weigern, fernzusehen oder
keine Zeitungen oder Bücher lesen können oder wollen; andere, die es ablehnen,
einen Arzt aufzusuchen oder sich prinzipiell weigern, ins Krankenhaus zu
gehen. Dennoch—angesichts der Tatsache, daß es um sehr viele Menschen
geht, Hunderte von Millionen,—werden diese Ausnahmen durch das Gesetz
der großen Zahl aufgewogen, und über Zeit und Raum hinweg zeichnet sich
ein Muster ab, das eine bestimmte Rangordnung von Bedürfnissen unter der
überwiegenden Mehrheit der Verbraucher ergibt.
Diese Rangordnung hat noch einen weiteren, sogar bedeutenderen Aspekt. Nicht
nur tendiert die Veränderung der Nachfrage gegen Null; rücken Güter, die ganz
oben auf der Prioritätenliste stehen, mit jedem Schub wirtschaftlichen Wachstums
Stufe um Stufe in der Rangordnung nach unten. Dies geschieht auch mit
ganzen Kategorien von Bedürfnissen. Der pro Kopf-Verbrauch an
Grundnahrungsmitteln (Brot, Kartoffeln, Reis, usw.) in den reichsten Industriestaaten
ist heute im Sinken begriffen, und zwar sowohl dem absoluten
Volumen nach wie auch ihrem Anteil an den nationalen Geldausgaben nach.
Das gleiche gilt für den Verbrauch von einheimischen Früchten und Gemüsen
und—zumindest dem Geldwert nach —für den Verbrauch an Unterwäsche
und Strümpfen sowie an der Grundausstattung mit Möbeln. Die Statistik zeigt
auch, daß trotz der zunehmenden Differenzierung der Geschmäcker und der
Produkte (viele Arten von Brot und Kuchen, eine viel größere Auswahl an
Nahrungsmitteln und Kleidern allgemein) der Gesamtverbrauch an Nahrungsmitteln,
Kleidung und Schuhen tendenziell einen Sättigungsgrad erreicht hat
und beginnt, sich rückläufig zu entwickeln, wenn man ihn in Kalorien, Quadratmetern
Stoff und Paar Schuhen mißt.
23
Verbraucherverhalten
Diese Tatsachen widerlegen den bürgerlichen und stalinistischen Glauben an
das grenzenlose Wachstum der Bedürfnisse des Durchschnitts der Menschen.
Nichts ist weiter von der Wahrheit entfernt, wenn man das am gegenwärtigen
Konsumverhalten mißt. Im Westen kann man eine Tendenz zur Sättigung der
Grundbedürfnisse feststellen, nicht nur, weil die Intensität des Wunschs nach
Befriedigung der Bedürfnisse abnimmt, wenn eine gewisse Schwelle einmal
überschritten ist, sondern auch weil sich die Motivation ändert. Rationales
Verbraucherverhalten tritt allmählich mehr und mehr an die Stelle des angeblich
instinktiven Wunsches, immer mehr zu konsumieren. Was hier als „rational“
bezeichnet wird, wird nicht diktiert, vorgeschrieben (sollte es auch nicht!),
weder durch Marktkräfte, noch durch bürokratische Planung oder allwissende
Experten. Es entwickelt sich infolge einer größeren Reife der Verbraucher selbst,
wenn die Prioritäten der Menschen sich verändern und sie sich ihrer eigenen
Interessen bewußter werden.
Der Verbrauch von Nahrungsmitteln liefert für diesen Prozeß ein schlagendes
Beispiel. Seit undenklichen Zeiten wandelt die Menschheit am Rand von Hunger
und Hungertod. Sogar im 20.Jahrhundert ist das erzwungenermaßen die
Lage der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung auf unserem Planeten. Unter
solchen Umständen ist es nur natürlich, daß Menschen nach Essen gieren.
Fünf Jahre akuten Lebensmittelmangels im kontinentale Europa während des
Zweiten Weltkriegs genügten, eine wirkliche Explosion der Völlerei zu entfesseln,
als so etwas wie ein „unbegrenzter Verbrauch“ von Nahrungsmitteln nach
1945 wieder möglich geworden war (in einigen Ländern Europas begann diese
Phase erst sehr viel später). Aber wie lang hat dieses Zechgelage gedauert?
Weniger als zwanzig Jahre nachdem Nahrungsmittel wieder in Fülle vorhanden
waren - nur eine Generation lang! - und schon begannen sich die Prioritäten
drastisch zu verschieben. Es wurde zur Regel, weniger und nicht etwa
mehr zu essen. Gesundheit wurde wichtiger als satt sein. Diese Veränderungen
verdankten sich nicht der „Auferlegung“ eines neuen Verbraucherverhaltens
durch Ärzte oder die „Gesundheitsindustrie“ Es war der Instinkt zur Selbsterhaltung
der dazu führte. Lange bevor es eine „Gesundheitsindustrie“ gab, konnte
man schon ähnliche Veränderungen im Verbraucherverhalten der Reichen beobachten,
die „für sich den Sozialismus bereit verwirklicht“ hatten. Zwischen
den beleibten englischen und französischen Angehörigen der herrschenden
Klassen anno domini 1850 und den schlanken amerikanischen Millionären ein
Jahrhundert später hat es einen ganz schöne gastronomische Umwälzung gegeben.
Heute finden gewöhnliche Bürger im Westen mehr Genuß an abwechs-
24
lungsreicheren Mahlzeiten. Für sie ist die Kochkunst sogar zum Zeitvertreib
geworden. Dennoch neigen sie dazu, ihre absolute Aufnahme an Kalorien zu
senken, um zwanzig Jahre länger zu leben, statt vor der Zeit an übermäßigem
Eßgenuß und Arterienverkalkung zu sterben.
Die Verbrauchergewohnheiten der Kranken oder an einer Krankheit leidenden
Menschen zeigen ein ähnliches Muster. Daß sich niemand gern seine Gliedmaßen
hintereinander wegoperieren läßt, nur weil dies nichts kostet, liegt auf der
Hand. Aber der scharfe Anstieg im Verbrauch von Medikamenten nach dem
Krieg — ebenso wie die Zunahme an Zahnprothesen und Brillen nach der
Einführung eines Nationalen Gesundheitsdienstes in Großbritannien — war
nicht hauptsächlich Ausdruck der passiven Unterwerfung unter den Reklamedruck
der pharmazeutischen Industrie, sondern vor allem Ausdruck angestauter
unbefriedigter Grundbedürfnisse. Wenn dieser Stau einmal verschwindet
und ein gewisser Grad der Sättigung erreicht ist, wird jede sorgfältige und
gründliche Aufklärungskampagne, die die schädlichen Auswirkungen des ungezügelten
Verbrauchs von Medikamenten aufzeigt, Wirkung haben. Der Konsum
von Medikamenten wird sich auf einem bestimmten Niveau einpendeln
und sogar zurückgehen (bei begüterten Schichten der Gesellschaft kann man
diesen Verlauf bereits feststellen). Es ist wirklich nicht übertrieben optimistisch,
wenn man feststellt, daß die systematische Aufklärung der Öffentlichkeit
über die Schädlichkeit des Rauchens zu einem deutlichen Rückgang des
Zigarettenverbrauchs geführt hat, trotz aller Bemühungen der Tabakindustrie,
das Gegenteil zu erreichen.
Aus diesen Überlegungen lassen sich zwei Schlußfolgerungen ziehen. Erstens:
Da „Knappheit“ mehr und mehr für immer weniger lebenswichtige Güter gilt,
wird es durchaus möglich sein, die Rolle des Geldes in der Wirtschaft insgesamt
zurückzudrängen, weil Waren und Dienstleistungen, die kostenlos zur
Verfügung gestellt werden, zahlreicher sein werden als solche, die man kaufen
muß. Die Annahme, daß Verbraucher ihre Bedürfnisse nur indirekt artikulieren
können, indem sie ihr Geld für verschiedene Güter und Dienstleistungen
ausgeben, ist absurd. Warum sollten Menschen den Umweg über das Geld
nehmen, um festzustellen, was sie brauchen? In Wirklichkeit ist es doch genau
umgekehrt. Sie möchten eine bestimmte Menge an Nahrungsmitteln, Kleidern
oder Freizeitangeboten haben, wobei sie für bestimmte Sachen eine besondere
Vorliebe haben, und dann sagen sie sich: „Ich habe soundsoviel Geld, um meine
Bedürfnisse zu befriedigen. Das bedeutet, daß ich mir nicht alles leisten
25
kann und darum muß ich eine Auswahl treffen.“ Es ist doch nicht so, daß sie;
erst das Geld haben, damit herumlaufen und sagen: „Weil ich soviel Bargeld
der Tasche habe und die Fensterauslagen der Läden vor mir sehe, weiß ich
jetzt, daß ich Hunger habe.“ Der einfachste und auch demokratischste Weg,
die materiellen Ressourcen mit den gesellschaftlichen Bedürfnissen in Einklang
zu bringen, ist nicht, das Medium Geld dazwischenzuschalten, sondern herauszufinden,
welche Bedürfnisse die Menschen haben, indem man sie danach
fragt.
Zweitens: Natürlich bestehen die fortgeschrittenen kapitalistischen Länder heute,
die morgen alle zusammen ein sozialistisches Gemeinwesen bilden könnten,
aus Millionen verschiedener Menschen je mit ihren eigenen individuellen Vorlieben
und Neigungen. In der Phase des Übergangs zum Sozialismus würde
jegliche uniforme Standardisierung von Produkten, wie sie im Kapitalismus
eingeführt wurde, nach und nach abnehmen. Ab einem gewissen Grad der
Bedürfnisbefriedigung bzw. der Sättigung gibt es natürlich einen Wechsel vom
passiven zum aktiven Konsum und zu einer stärkeren Individualisierung der
Bedürfnisse, was mehr Kreativität erfordert, sie zu befriedigen. Im großen und
ganzen würden neue Bedürfnisse wahrscheinlich in zwei Kategorien einzuteilen
sein: die Bedürfnisse, die von risikofreudigen und phantasievollen Minderheiten
geweckt werden, die darauf erpicht sind, mit neuen Produkten und Dienstleistungen
zu experimentieren. Doch die Massenproduktion neuer Güter würde
sich nicht automatisch nach diesen neuen Erfindungen richten. Sie wäre
Resultat der bewußten Entscheidung der Mehrheit. Zwanzig Prozent der Bevölkerung
hätten nicht das Recht, allen Bürgern neue Güter als „Allgemeingut“
aufzuzwingen, obwohl sie ihren eigenen Arbeitseinsatz erhöhen könnten,
um sicherzugehen, daß diese neuen Güter hergestellt werden. Auf der anderen
Seite kann es auch Fälle geben, wo die Mehrheit sich: für eine Reihe von neuen
Gütern und Dienstleistungen entscheidet und der allgemeine Wirtschaftsplan
von Grund; geändert werden muß, um ihn den neuen Bedürfnissen anzupassen.
In der Geschichte des Kapitalismus im 20. Jahrhundert hat es solch große
Umwälzungen Verbrauchergewohnheiten relativ selten gegeben. Drei größere
stechen hervor: das Auto, die elektrischen Haushaltsgeräte und Plastikwaren.
Sie haben das Leben von hunderten Millionen Menschen radikal verändert. Im
Sozialismus würden solche Umwälzungen auf Massenebene nicht rücksichtslos
und anarchisch erfolgen, sondern rational und human, und zum erstenmal
auf Verlangen und unter der Kontrolle der Betroffenen selbst.
26
Damit würde die objektive Grundlage für das Absterben der Warenproduktion
und der Geldwirtschaft geschaffen. Zugleich könnte sich die Intensität
gesellschaftlicher Konflikte vermindern, vorausgesetzt, es gibt Institutionen,
die die Erfüllung der Grundbedürfnisse aller zu einer Gewohnheit, Selbstverständlichkeit,
alltäglichen Erfahrung machen. Dadurch würde die subjektive
Basis für das Absterben der Geld—und Warenwirtschaft geschaffen. Denn der
soziale Kampf ist furchtbar bitter und heftig, wenn es um Nahrungsmittel, um
Land, um die grundlegenden Arbeitsbedingungen, die elementaren Grundsätze
der Erziehung und der Gesundheit, um grundlegende Menschenrechte und Freiheiten
geht. Es gibt allerdings kein Beispiel dafür, daß Millionäre sich tagtäglich
gegenseitig umgebracht hätten, um den Zugang zu den Stränden der Bahamas
nur für sich allein zu haben, oder daß Weltkriege ausgebrochen wären um
Bilder alter Meister oder gar um den Zugang zur Chicagoer Börse (so schmerzlich
es auch immer sein mag, wenn man das nicht hat und es haben möchte). Es
können sogar gelegentliche politische Intrigen, massenhafte Korruption oder
sogar Mord eingesetzt werden, um Konflikte über die Zuteilung „knapper Ressourcen“
zu lösen. Aber solchen Streit kann man nicht vergleichen mit den
Schrecken der irischen Hungersnot, der großen Depression oder des indischen
Kastensystems. Würden Konflikte, die durch Hungersnot, Arbeitslosigkeit und
Diskriminierung hervorgerufen werden, verschwinden, dann hätten wir eine
andere Welt, mit anderen Verhaltensweisen und einer anderen Geisteshaltung.
Wenn der „Besitztrieb“ sich auf Luxusgüter beschränkt und der Konkurrenzkampf
sich um kubanische Zigarren dreht, dann hat das eine grundsätzlich
andere Qualität als heutzutage. Es steht außer Zweifel, daß eine solche Welt
für 99% der Erdbewohner eine bessere Welt wäre.
Tyrannei über die Bedürfnisse?
Dennoch wird es einige geben, die diese Schlußfolgerungen ablehnen. Denn
sobald wir den Begriff „Rangordnung der menschlichen Bedürfnisse“ gebrauchen,
was bedeutet, daß einige von ihnen einen höheren Stellenwert besitzen
als andere, kommt ein schrecklicher Verdacht auf— insbesondere aufgrund
der bürokratisch zentralisierten, d.h. bürokratisch gelenkten und miserabel
geleiteten Wirtschaftssysteme unserer Tage. Mit welchem Recht, im Namen
welcher Autorität und mit welch unmenschlichen Ergebnissen können solche
„Prioritäten“ den Menschen aufgezwungen werden? Ist das nicht ein „Weg in
die Sklaverei“?
27
Das ist ein Argument, das Sozialisten, die sich für die menschliche Emanzipation,
d.h. die Freiheit, mehr engagieren als die Verfechter jeder anderen Philosophie
oder politischen Theorie, sehr ernst nehmen müssen. Es ist wichtig,
damit sorgfältig und gewissenhaft umzugehen. In einer von Nove empfohlenen
Veröffentlichung, „Diktatur über die Bedürfnisse“, klagt Ferenc Feher die
Herrscher in der UdSSR, China und Osteuropa rundheraus an, sie praktizierten
eine absolute Tyrannei über die Bedürfnisse der jeweiligen Bevölkerung.
Der Standpunkt, den er vertritt, hat durchaus etwas für sich. Er ist aber auch
einseitig, denn er enthält einen wichtigen eigenen Widerspruch. Die Quelle
dieses Widerspruchs liegt in einer Auffassung, die in den Werken nicht nur von
Ferenc Feher und Agnes Heller, sondern auch von Ota Sik, Branko Horvath,
Wlodimierz Brus und vielen anderen Verteidigern einer „sozialistischen Marktwirtschaft“
4 immer wiederkehrt. Es ist kein Zufall, daß der gleiche Begriff
auch in den Schriften der theoretisch anspruchsvolleren und intellektuell konsequenten
Neo-Liberalen zu finden ist, so etwa bei von Mises, Hayek oder
Friedman. Der Begriff, um den es geht, ist der der „gesellschaftlich anerkannten
Bedürfnisse“. Für alle diese Theoretiker, was immer auch ihre sonstigen,
größeren Differenzen sein mögen, bildet die Knappheit der Ressourcen die
Grundlage, auf der die Wirtschaftstheorie -jede Wirtschaftstheorie - zu
fußen hat. Knappheit von Ressourcen bedeutet jedoch automatisch, daß nicht
alle individuellen Bedürfnisse befriedigt werden können. Das ist die stillschweigende
Voraussetzung, die sich hinter der Formel „gesellschaftlich anerkannte
Bedürfnisse“ versteckt: die individuellen Bedürfnisse werden nicht automatisch
von der Gesellschaft anerkannt. Das gilt für die Marktwirtschaft ebenso
wie für die Planwirtschaft. Die Tyrannei ist also unvermeidlich. Die einzige
Frage ist, welche spezifische Form sie annimmt und welche gesellschaftspolitischen
Folgen daraus jeweils entstehen.
Formen und Folgen
Für Liberale und Verfechter der „sozialistischen Marktwirtschaft“ scheint es
in gleicher Weise offensichtlich, daß der Despotismus des Marktes—die „Rationierung
über den Geldbeutel“-für das Individuum weniger schmerzlich und für
die persönliche Freiheit weniger schädlich ist als der Despotismus des Plans—
oder schlicht die Rationierung. Das erscheint durchaus überzeugend, wenn
man besondere Extreme auf der nördlichen Halbkugel—z.B. die Rationierung
über Einkommensunterschiede im Wohlfahrtsstaat Schweden mit der Rationierung
über den Gosplan im Rußland unter Stalin vergleicht. Aber solche
Extreme sind historisch eher die Ausnahme denn die Regel. Nimmt man jedoch
28
den historischen Durchschnitt der kapitalistischen Rationierung über Marktbeziehungen
und Einkommensunterschiede, der sich durch große Massenarmut
und extreme Ungleichheit der Einkommen auszeichnet (das ist der Durchschnitt
der gesamten kapitalistischen Welt in den letzten 150 bis 200 Jahren), dann
sieht die Schlußfolgerung ganz anders aus.
Je weniger die Grundbedürfnisse über die Einkommensverteilung befriedigt
werden, desto gleichgültiger werden den Menschen auch die besonderen Formen,
die dieser Mangel an Befriedigung annimmt. Nachrichtenagenturen berichteten
kürzlich, ein katholischer Priester in Santiago habe festgestellt, nach
der letzten Abwertung des chilenischen Peso hätten die Armen in der Stadt
(das sind mehr als 50% d r Einwohner der Hauptstadt) nicht einmal mehr Brot
von ihrem Geld kaufen können. Milton Friedman und die Chicago Boys hätten
Schwierigkeiten, sie davon zu überzeugen, daß sie „freier“ sind als Bürger der
DDR, die nicht unter dem Mangel an den wichtigsten Lebensmitteln leiden,
gleich welche Tyrannei auch immer über ihre anderen, weniger grundlegenden
Bedürfnisse ausgeübt werden mag. Das heutige Afrika liefert ein anderes Beispiel
für die Bestätigung dieser Wahrheit. Wenn der Sahel von Hungersnot
verwüstet wird, wer würde dann die Verteilung von Nahrungsmitteln an Verhungernde
durch physische Rationierung als „diktatorische Zuteilung“ verurteilen,
weil sie sie zu „Sklaven“ machte, während es sie „freier“ machte, wenn
die Nahrungsmittel an sie verkauft würden? Wenn in Bangladesch eine schwere
Epidemie ausbricht, wird dann die direkte Verteilung von Medikamenten im
Vergleich zum Verkauf von Medikamenten über den Markt als schädlich empfunden?
In Wirklichkeit ist es sehr viel billiger und vernünftiger, Grundbedürfnisse
nicht über den indirekten Weg der Zuteilung über den Markt und den
Geldbeutel zu befriedigen, und statt dessen über die direkte Verteilung, oder
Umverteilung, aller vorhandenen Lebensmittel.
Geld— und Marktverhältnisse erweisen sich hingegen als vorteilhafte Instrumente,
um eine größere Verbraucherfreiheit in dem Maße zu ermöglichen, wie
die Grundbedürfnisse bereits befriedigt sind. Denn Verbraucherfreiheit bedeutet
Auswahlmöglichkeit für den Verbraucher, und wenn es um wirklich grundlegende
Bedürfnisse geht, hat der Verbraucher eben keine Wahl. Im allgemeinen
„wählt“ man nicht zwischen Grundschule und einem zweiten Fernseher,
zwischen Gesundheitsversorgung und einem Perserteppich. Geld ist als Instrument
der Verbraucherfreiheit nur wirkungsvoll, wenn man zwischen relativ
überflüssigen Dingen zu entscheiden hat, wenn es einen hohen Grad an Ein-
29
kommensgleichheit gibt. Als Mittel, um die Grundrichtung der Zuteilung gesellschaftlicher
Mittel zu bestimmen, ist Geld sowohl ungerecht als auch unwirksam
Wenn eine Gesellschaft demokratisch entscheidet, bei der Zuteilung der Ressourcen
der Befriedigung der Grundbedürfnisse Priorität einzuräumen, verringert
sie automatisch dadurch die verfügbaren Mittel für die Befriedigung zweitrangiger
Luxusbedürfnisse. In diesem Sinn wird man einer „Diktatur über die
Bedürfnisse“ nicht entkommen, solange wie unbefriedigte Bedürfnisse nicht
eine völlig randständige Erscheinung geworden sind. Aber gerade hier offenbaren
sich die politischen Vorzüge des Sozialismus. Denn man muß sich fragen,
ob es gerecht ist, die Grundbedürfnisse von Millionen den zweitrangigen
Bedürfnissen von Zehntausenden zu opfern! Diese Frage wird nicht gestellt,
um die Frustration der gehobeneren Bedürfnisse zu predigen, die mit der Entwicklung
der Industriellen Revolution entstanden sind. Das Ziel des Sozialismus
ist die allmähliche Befriedigung von immer mehr Bedürfnissen, nicht allein
die Beschränkung auf die grundlegenden Bedürfnisse. Marx war niemals
ein Anwalt von Asketentum und Sparpolitik. Im Gegenteil, die Auffassung
von einer vollentwickelten Persönlichkeit, die seiner Vision des Kommunismus
zugrundeliegt, geht von einer großen Mannigfaltigkeit menschlicher Bedürfnisse
und ihrer Befriedigung aus, nicht von einer Verengung unserer Bedürfnisse
auf lebensnotwendige Nahrungsmittel und auf Wohnraum. Das Absterben
der Markt—und Geldverhältnisse, das Marx vorausgesagt hat, bedeutet
eine allmähliche Ausweitung des Prinzips der Zuweisung von Mitteln zur Befriedigung
dieser Bedürfnisse ex ante auf eine stetig wachsende Zahl von Gütern
und Dienstleistungen, in einer größeren, nicht geringeren Mannigfaltigkeit,
als sie heute unter dem Kapitalismus existiert.
IV. Tyrannei über Produzenten
Bis hierher sind wir Alec Nove und anderen Kritikern des Marxschen Sozialismus
gefolgt und haben die Probleme des Konsums in den Mittelpunkt gestellt.
Aber das ist natürlich recht einseitig. Denn die Durchschnittsbürger eines industriell
fortgeschrittenen Landes sind nicht nur und sogar nicht einmal vorwiegend
Verbraucher; das gilt für den größten Teil der Erwachsenen. Sie sind
immer noch vor allem Produzenten. Sie verbringen immer noch neun bis zehn
Stunden pro Tag, fünf Tage in der Woche damit, zu arbeiten und zur Arbeit
30
und wieder nach Hause zu fahren. Wenn die meisten Menschen acht Stunden
schlafen, dann bleiben alles in allem sechs Stunden für Konsum, Ruhezeit,
Erholung, Sexualleben und gesellschaftliche Beziehungen.
An dieser Stelle ergibt sich ein zweifacher Zwang, mit dem sich die Verfechter
der „Konsumfreiheit“ schwer tun. Denn je mehr man die Zahl der zu befriedigenden
Bedürfnisse einer gegebenen Bevölkerung steigert, desto größer ist die
Arbeitsbelastung, die man dem Produzenten bei einem gegebenen Niveau der
Technologie und der Arbeitsorganisation abverlangt. Wenn Entscheidungen
hinsichtlich der Arbeitsbelastung nicht bewußt und demokratisch von den Produzenten
selbst getroffen werden, dann werden sie ihnen aufgezwungen: entweder
durch unmenschliche Arbeitsgesetze wie unter Stalin oder durch die
unbarmherzigen Gesetze des Arbeitsmarktes mit seinen Millionen Erwerbslosen,
die es heute gibt. Sicherlich muß sich ein Anwalt einer gerechteren, humaneren
Gesellschaft von dieser Tyrannei über die Produzenten ebenso abgestoßen
fühlen wie von der Tyrannei über die Verbraucher. Denn das System der
„Belohnung und Bestrafung“, das den Markt beherrscht und von den Linken
heutzutage so naiv gepriesen wird, ist nichts anderes als die kaum verhüllte
Tyrannei über die Zeit und die Leistungen des Produzenten und damit über
sein ganzes Leben.
Dieses System von „Belohnung und Bestrafung“ bezieht sich nicht nur auf
höhere bzw. niedrigere Einkommen, auf „bessere“ bzw. „schlechtere“ Arbeitsplätze.
Es bezieht sich auch auf periodische Entlassungen, auf das Elend der
Arbeitslosigkeit (einschließlich des demoralisierenden Gefühls, ein nutzloses
Mitglied der Gesellschaft zu sein), auf die Beschleunigung des Arbeitstempos,
die Unterwerfung unter das Diktat der Stoppuhr und des Fließbands, die Autorität
und Disziplin von Produktionsgruppen, auf nervöse und physische
Gesundheitsschäden, Geräuschbelästigungen, Entfremdung von jeglicher Kenntnis
über den Produktionsprozeß als Ganzes, auf die Verwandlung der Menschen
in Anhängsel von Maschinen und Computern. Warum sollte es natürlich
sein. daß Millionen Menschen sich einem solchen Zwang unterwerfen, nur
damit 50 oder gar nur 20% der Mitbürger zehn Prozent mehr „Konsumbefriedigung“
haben? Aber genau dazu zwingt sie die Marktwirtschaft,
wenn sie nicht hilflos oder unfähig werden wollen, für ihre Familie und sich
selbst zu sorgen. Ist das wert, den Preis der völligen Entfremdung im Produktionsprozeß
zu zahlen? Das geringste, das sich dazu sagen läßt, ist, daß das
noch lang nicht bewiesen ist. Wäre es nicht besser, auf den Betamax, den
31
Zweitwagen (vielleicht sogar den Erstwagen, wenn angemessene öffentliche
Verkehrsmittel zur Verfügung stehen), auf das elektrische Fleischmesser zu
verzichten und dafür zehn Stunden pro Woche weniger zu arbeiten, mit bedeutend
weniger Streß—wenn dadurch die Befriedigung der Grundbedürfnisse
nicht gefährdet wird? Wer weiß, wie die Produzenten entscheiden würden, wenn
sie wirklich die freie Wahl hätten, d.h. wenn die Alternative nicht lautete:
Einschränkung der Befriedigung der Grundbedürfnisse oder katastrophale
Zunahme der Existenzverunsicherung?
In einer Marktwirtschaft, d.h. in jeder auf den Markt orientierten Wirtschaft,
wie „gemischt“ sie auch immer sein mag, einschließlich der „sozialistischen
Marktwirtschaft“ — können die Produzenten diese Entscheidung nicht nach
freiem Ermessen treffen. Sie wird hinter ihrem Rücken gefällt, entweder weil
die Unternehmer an ihrer Stelle entscheiden, oder weil es „objektive Gesetze“
gibt, auf die sie keinen Einfluß haben. Doch diese Tyrannei ist keineswegs
schicksalhaft. Der vermeintliche Kaiser ist tatsächlich ohne Kleider. Es gibt
keinen zwingenden Grund, der die Produzenten in einer freien Gesellschaft
daran hindern könnte zu sagen: „Wir sind eine Million Menschen. Wenn wir
zwanzig Stunden in der Woche arbeiten und dabei zwanzig Millionen Stunden
damit zubringen, eine gegebene Ausrüstung zu gebrauchen bei einer gegebenen
Arbeitsorganisation, dann sind wir in der Lage, beim jetzigen Stand und
für die absehbare Zukunft die Menge X an Grundbedürfnissen zu befriedigen,
nicht mehr und nicht weniger! Wir können versuchen, durch Rationalisierung
unserer Technik und unserer Arbeitsorganisation diese Arbeitslast in den nächsten
zwanzig Jahren auf sechzehn Stunden wöchentlich zu reduzieren. Das hat
für uns absolute Priorität. Es gibt zwar noch weitere Bedürfnisse zu befriedigen,
aber wir sind nicht bereit, z.Zt. fünf Stunden wöchentlich, und in zwanzig
Jahren vier Stunden wöchentlich zusätzlich für die Befriedigung dieser zusätzlichen
Bedürfnisse zu arbeiten. Somit legen wir heute eine gesetzliche Wochenarbeitszeit
von fünfundzwanzig Stunden und eine wöchentliche Tarifarbeitszeit
von zwanzig Stunden fest, die innerhalb der nächsten Jahre schrittweise
eingeführt wird, auch wenn dies bedeutet, daß dann einige Bedürfnisse unberücksichtigt
bleiben.“ Durch welchen Grundsatz der „Fairneß“, der „Gerechtigkeit“,
der „Demokratie“ oder der „Menschlichkeit“ kann den Produzenten
das souveräne Recht verwehrt werden, darüber zu befinden, wieviel Zeit und
Mühe sie der Befriedigung von Konsumwünschen opfern sollen?
32
V. Objektive informelle Kooperation
Nove befaßt sich nicht direkt mit dieser Frage. Aber er wird sicher erwidern,
daß sein Buch eine unausgesprochene Antwort auf diese Frage enthält. In „Die
Ökonomie des machbaren Sozialismus“ argumentiert er, obwohl der Markt
Nachteile habe, sei die einzige Alternative dazu— im Sinne einer geschlossenen,
wirtschaftlich organisierenden Kraft—eine mächtige zentralisierte Bürokratie.
Das ist ein Leitmotiv seines Buches. Aber es ist ein dogmatisches Vorurteil,
das bislang unbewiesen geblieben ist. Tatsächlich kann empirisch nachgewiesen
werden, daß diese Behauptung sich gerade heute in 0st und West
zunehmend als unwahr herausstellt, noch bevor eine dem Marxismus adäquate
Form von Sozialismus verwirklicht worden ist. Nove hat übersehen, daß weder
der Markt noch zentralisierte bürokratische Planer den zunehmenden Widerspruch
zwischen der objektiven Vergesellschaftung der Arbeit und der fortbestehenden
Zersplitterung der Entscheidungsgewalt in den Griff bekommen. Was
törichte und irrationale Systeme am Zusammenbruch hindert, ist die Tatsache,
daß dieser Widerspruch in Wirklichkeit täglich millionenfach durch Akte der
objektiven informellen Kooperation umgangen wird.
Was meinen wir damit? Um zu verstehen, worum es hier geht, muß man einen
wichtigen Unterschied machen. Geldbeziehungen sind nicht einfach identisch
mit Marktbeziehungen; sie können quasi— oder pseudo—Marktbeziehungen
sein. In solchen Fällen verbirgt sich hinter derselben monetären Form ein ganz
unterschiedlicher Inhalt. Eine Marktwirtschaft wird von Preisschwankungen
geleitet. Die „Wirtschaftsagenten“, gleich ob Verbraucher oder Firmen, reagieren
auf Signale des Marktes. Wenn es keine solche Reaktion gibt, dann ist
es schwierig zu beweisen, daß das Signal ökonomisch relevant war (es sei
denn, es handelt sich um ein Axiom, das keines Beweises bedarf, d.h. ein verhülltes
Dogma). Aber was sagen uns diesbezüglich die Untersuchungen über
das heutige Verbraucherverhalten und über den Konsum der Arbeiterklasse in
den fortgeschrittenen Ländern? Sie zeigen, daß die große Mehrzahl der laufend
produzierten Güter im Laden oder beim Versandhandel gekauft werden,
unabhängig von den Schwankungen der Preise. Es ist nicht übertrieben zu
sagen, daß dieses Verhalten auf mindestens 80% des Konsums der
Durchschnittsverbraucher zutrifft.
Keine gewöhnliche Preisfluktuation wird den normalen Kunden veranlassen,
plötzlich seinen Bäcker, Lebensmittelhändler, den Bus, die U-Bahn, seinen
Friseur, Supermarkt oder Kurzwarenhändler zu wechseln, geschweige die Schule
33
der Kinder oder das Krankenhaus. Der gewöhnliche Käufer läuft nicht von
einem Obsthändler zum anderen, um herauszufinden, wo das Pfund Äpfel fünf
Pfennige billiger ist. Seine Zeit (und vielfach auch seine Gewohnheit, sein
Wunsch, mit ihm bekannten Verkäufern oder anderen Kunden zu plaudern) ist
ihm mehr wert als diese geringen Preisdifferenzen. Nur wenn wirtschaftliche
Katastrophen eintreten (z.B. die Ölpreise um 300% steigen oder das Einkommen
infolge Arbeitslosigkeit um 30% sinkt) ist es üblich, daß sich das
Verbraucherverhalten ändert und auf die Marktsignale reagiert; aber selbst
dann betrifft dies bei weitem nicht alle Güter und Dienstleistungen. Das beweist,
daß marktunabhängiges Verhalten in vielen Bereichen des täglichen
Wirtschaftens die Überhand über marktorientierte Reaktionen gewonnen hat.
Sogar in Arbeitervierteln wird mit Argwohn reagiert, wenn Äpfel plötzlich
billiger angeboten werden („geringere Qualität?“, „ein Reklametrick?“); von
diesen Früchten werden weniger, nicht mehr verkauft als von den etwas teureren.
Eine relativ bescheidene Preiserhöhung bei Pauschalreisen, um sagen wir
10%, kann die Ausgaben für den Urlaub eher fördern als drosseln, solange
Einkommen und Beschäftigung unverändert bleiben.
Wirtschaftliche Beziehungen dieser Art sind weder typisch für eine wirkliche
Marktwirtschaft noch für eine bürokratisch zentralisierte Planwirtschaft. Sie
sind einfach elementare Formen spontaner Kooperation. Sie können oft über
Jahre, wenn nicht Jahrzehnte relativ stabil bleiben. Natürlich sind sie veränderbar,
je nach dem Belieben des Individuums oder des Haushalts; das geschieht
oft, aber ohne daß von außen ein Zwang ausgeübt wird, der solche
Veränderungen diktierte, oder daß dies große wirtschaftliche Konsequenzen
hätte. Das gleiche gilt für viele Lieferungen von Firma zu Firma. Die emsige
Suche unter einer Vielzahl von Lieferanten nach dem, der die Materialrechnung
um 5% verbilligt, rentiert sich für eine große Firma nicht, wenn ihr Lieferant
erfahrungsgemäß angemessene Lieferfristen und eine ordentliche Qualität der
Ware garantiert; kleine Preisunterschiede werden dadurch mehr als ausgeglichen.
In dieser Art und Weise werden heute die meisten Geschäfte in den kapitalistischen
und in den sog. „sozialistischen“ Ländern abgewickelt.
Ein Einwand
Nun mag man einwenden: diese Millionen Akte freiwilliger Kooperation, die
weder von Marktsignalen, noch von bürokratischen Direktiven gesteuert werden,
werden dennoch ermöglicht und gestützt durch die mächtigen Kräfte der
wirtschaftlichen Zentralisierung, sei es der Markt oder die Planung. Routine-
34
mäßiges Zusammenwirken reguliert nur relativ kleine dezentrale Handlungen,
aber nicht solche von hohem Zentralisationsgrad. Dieser Einwand enthält ein
Stück Wahrheit. Es ist jedoch geringer, als es auf den ersten Blick aussehen
mag. Seine Aussagekraft beruht auf dem Gegensatz zwischen sagen wir einerseits
Millionen Kunden, die gewöhnlich in einen kleinen Laden oder Supermarkt
gehen, um dort ihre Kondensmilch zu kaufen, ohne mit Adleraugen auf
geringfügige Preisänderungen zu achten, die sie veranlassen könnten, die Milch
in einem anderen Laden billiger zu kaufen; und andererseits der Firma Nestle
oder Carnation, die durch die Kräfte des Marktes gezwungen sind, tatsächlich
mit Adleraugen über die Produktionskosten und Gewinne bei der Herstellung
der Kondensmilch zu achten, bei Strafe des Bankrotts. Hat hier nicht der Markt
gerade die beiden Giganten gezwungen zu fusionieren, oder war es nicht der
Markt?
Nun, Nestle hat ein eigenes Vertriebsnetz mit tausenden von Einzelhandelsgeschäften,
das völlig durchrationalisiert ist. Der Ausstoß an Dosenmilch wird
hochgradig automatisiert und standardisiert sein. Der Markt greift kaum in
ökonomisch relevanter Weise in diesen Ablauf ein, da Nestle als Monopolunternehmen
die Preise auf der Basis der durchschnittlichen Produktionskosten
plus einer vorher festgelegten Gewinnmarge diktieren kann. Die Leute brauchen
in jedem Fall Milch und sie konsumieren sie in mehr oder weniger feststehenden
Mengen, sodaß die einzige wirtschaftlich bedeutsame Frage die ist, wie
hoch der Teil des Nationaleinkommens (oder der nationalen Ausgaben) ist, der
für Milch ausgegeben wird, und welcher Anteil an produktiven Ressourcen für
die Produktion und Verteilung von Milch unter optimalen Bedingungen der
Ernährung und Hygiene zur Verfügung steht. Angesichts der bereits gegebenen
hochentwickelten Technik sind alle anderen Schwankungen belanglos.
Ein noch eindrucksvolleres Beispiel liefert die Energiewirtschaft. Ein nationales
Energienetz - z.B. das internationale Energienetz der EG incl. einiger Anrainerstaaten
- funktioniert reibungslos auch ohne Markt und ohne zentrale Bürokratie.
Die geringen Schwankungen im Bedarf an elektrischer Energie können
anhand von Statistiken ganz genau ausgeglichen werden. Die Höchstlast zu
bestimmten Zeiten des Jahres ist im voraus bekannt. Ausreichende Reserven
gegen die Gefahr eines plötzlichen Zusammenbruchs des Netzes oder eines
sprunghaft ansteigenden Bedarfs können bereit gehalten werden. Das Ergebnis
ist, daß für eine dauerhafte Versorgung von Millionen von Abnehmern mit
Strom weder Marktkräfte noch eine aufgeblähte Bürokratie benötigt werden.
35
Sie kann weitgehend von Computern anhand der verfügbaren Daten errechnet
werden 5 . Die „Preisgestaltung“ dieser Ware wird zunehmend irrational (zumindest
für private Verbraucher und mittlere Unternehmen, während die wenigen
industriellen Großverbraucher von Elektrizität ohne weiteres mehr zahlen
könnten). Wenn sie abgeschafft würde, könnten bis 90% der in der Energiewirtschaft
tätigen Bürokraten in 0st und West entlassen werden.
Solche Fälle können nicht für alle Güter und Dienstleistungen in jeder Branche,
Industrie oder in jedem Bereich der Gesellschaft verallgemeinert werden.
Einige Probleme der Zentralisierung sind derart, daß Entscheidungsgremien
tatsächlich nicht durch Routine ersetzbar sind. Die grobe Aufteilung der
wirtschaftlichen Ressourcen (auf nationaler und internationaler Ebene) zwischen
den verschiedenen Tätigkeitsfeldern und Bereichen der Gesellschaft muß
bewußt durch eine entsprechende Instanz erfolgen. Aber gerade der Trend zu
einer zunehmend umfangreichen de facto-Kooperation zwischen einfachen
Leuten, die sich parallel zur objektiven Vergesellschaftung der Arbeit entwikkelt
hat, zeigt, daß es zwischen der Scylla der blinden Marktkräfte und der
Charybdis einer überzentralisierten Bürokratie einen Ausweg gibt: die demokratisch
zentralisierte, organisierte Selbstverwaltung auf der Grundlage
bewußter und freier Kooperation.
VI. Innovation und Motivation
Führt diese „dritte Lösung“ nicht zur Idealisierung von Routine und Gewohnheit
und damit zur wirtschaftlichen Stagnation? Gewiß nicht im Bereich der
Produktion, wo das Interesse der Produzenten für die Minderung ihrer Arbeitslast
und die Verbesserung der menschlichen Umwelt einen inneren Antrieb
zur Kostensenkung darstellt. Vielleicht würde die Nachfrage nach neuen
Konsumgütern sinken. Eine Änderung der Warenströme wäre an sich kein großes
Unglück, denn auch die reichsten Verbraucher haben früher glücklich gelebt
ohne elektronische Spiele und Autotelefon. Nur Misanthropen können den
relativen Fortschritt und das Heil der Menschheit daran messen, daß die Bürger
eine wachsende Menge zunehmend nutzloser Dinge konsumieren. Eine
sozialistische Demokratie wird einen Zuwachs an Zivilisation bringen, nicht
einfach mehr Konsum, d.h. ein Mehr an sinnvollen menschlichen Aktivitäten
und Beziehungen: in der Erziehung der Kinder und der Massenbildung, der
Fürsorge für die Kranken und Behinderten, der kreativen Arbeit, der Pflege
von Kunst und Wissenschaft, der Erfahrung der Liebe, der Erforschung der
Erde und des Universums. Wäre eine Gesellschaft, die dem Kampf gegen Krebs
36
und Herzkrankheiten höchste Priorität einräumt. die sich mehr um das Studium
der Entwicklung des Charakters und der Intelligenz der Kinder kümmert,
die sich um das Verständnis und den Abbau von Neurosen und Psychosen
bemüht, langweilig und reizlos verglichen mit der angeblich freudvollen, dynamischen
Welt, in der wir heute leben? Ist die Freiheit, bei geistiger und körperlicher
Gesundheit länger zu leben, weniger wichtig als die Freiheit, einen zweiten
Fernseher zu kaufen?
Das Fehlen der Konkurrenz bedeutet nicht notwendig einen Mangel an Innovationen
im Produktionsprozeß. In der bisherigen Geschichte wurden die meisten
entscheidenden Entdeckungen und Erfindungen ganz ohne kommerziellen
Anstoß gemacht. Es gab noch keinen Profit, als das Feuer zum erstenmal konserviert
wurde. Landwirtschaft und Metallurgie wurden nicht durch den Markt
entwickelt. Der Buchdruck wurde nicht erfunden, um damit Gewinn zu machen.
Die meisten großen Fortschritte in der Medizin - von Jenner bis Pasteur,
von Koch bis Fleming - wurden nicht von der Hoffnung auf eine finanzielle
Belohnung angeregt. 6 Der Elektromotor wurde im Labor einer Universität und
nicht eines Unternehmens entwickelt. Sogar der Computer, geschweige die
Raumfahrt, waren ursprünglich für öffentliche (wenngleich militärische) Nutzung
gedacht, nicht für die Bereicherung privater Anteilseigner. Es gibt nicht
den geringsten Grund anzunehmen, daß das Absterben der Marktbeziehungen
und finanzieller Belohnung zum Verschwinden von technischen Neuerungen
führen würde. Denn deren Impulse liegen viel tiefer als der gewinnsüchtige
Wettbewerb: nämlich in der natürlichen Neigung der einfachen Produzenten,
Arbeit zu sparen, und in der ungezwungenen wissenschaftlichen Neugier der
Menschen.
Ebensowenig ist die weitverbreitete Meinung begründet, daß soziale Gleichheit
ein Hindernis für wirtschaftliche Effizienz sei. Im israelischen Kibbuz läßt
sich ohne weiteres der Nachweis für das Gegenteil finden; dort wächst heute
eine dritte Generation von Menschen in einer Umgebung auf, die sowohl in der
Produktion wie auch im Verbrauch grundsätzlich keine Geldbeziehungen kennt.
Natürlich ist der Kibbuz keine sozialistische Gemeinschaft. Im Gegenteil, er
ist ein militärisches Siedlerdorf, das als kolonialistischer Keil gegen das palästinensische
Volk gedient hat, mit all den damit verbundenen Spannungen und
Korruption. Außerdem ist der Kibbuz in eine kapitalistische Wirtschaft eingebettet,
die ihn subventioniert und nach außen zunehmend verflicht mit Lohnund
Kapitalbeziehungen. Aber gerade wegen dieser ungünstigen äußeren Be-
37
dingungen ist es umso bemerkenswerter, daß die Abschaffung von Geld- und
Marktbeziehungen allein schon zu vielen sozio-ökonomischen Ergebnissen im
Kibbuz geführt hat, die Marx und Engels vorausgesagt haben. Trotz des völligen
Verschwindens finanzieller Belohnung und Bestrafung produzieren die
Menschen im Kibbuz normal, und in Wirklichkeit leisten sie im Durchschnitt
mehr als die umliegende Marktwirtschaft. Es gibt keine neue „nicht-monetäre“
Form der ökonomischen Ungleichheit, Privilegien, Ausbeutung oder Unterdrückung.
Gewalt und Verbrechen sind fast völlig verschwunden. Es gibt keine
Gefängnisse oder „Umerziehungslager“. Der durchschnittliche Zustand der
Gesundheit, Kultur und des Wohlstands ist viel besser als in der restlichen
israelischen Gesellschaft. Es besteht unbegrenzte politische und kulturelle Freiheit.
All das wird nicht nur von Anhängern des Kibbuz-Systems bestätigt,
sondern auch von sehr kritischen Beobachtern wie dem Psychoanalytiker Bruno
Bettelheim, dem Liberalen Dieter Zimmer oder dem Soziologen Melford
Sipro 7 . Natürlich gibt es viele Konflikte zwischen den Generationen und Geschlechtern,
das zum einen. Der Kibbuz ist keine erfüllte Utopie. Individualistische
Neigungen und individuelles Verhalten sind infolge der sozio-ökonomischen
Gleichheit durchaus nicht verschwunden Warum sollten sie? Das
non plus ultra in der Entwicklung einer klassenlosen Gesellschaft ist nicht die
Gleichheit der Individuen, sondern die größtmögliche Entfaltung der größtmöglichen
Anzahl von Individuen. Das Ziel des Sozialismus ist nicht so sehr
die Sozialisierung des Menschen, sondern die Vermenschlichung der Gesellschaft
- die umfassendste Entwicklung der einmaligen Persönlichkeit eines jeden
Individuums.
VII. Organisierte Selbstverwaltung
Die Motivation — zur Wirtschaftlichkeit, Kooperation und Innovation— ist
also für die sozialistische Demokratie kein unlösbares Problem. Größere
Schwierigkeit bereitet die Institutionalisierung der Volkssouveränität als solche.
Wie kann ein Maximum an Konsumbefriedigung mit einem Minimum an
Arbeitsbelastung der Produzenten verbunden werden? Alec Nove verweist
zurecht auf diesen Widerspruch, den kein ernsthafter Marxist leugnen wird.
Aber diesen Widerspruch zur Kenntnis nehmen—daß man nicht unendlich Güter
und Dienstleistungen bereitstellen kann, wenn die wöchentliche Arbeitszeit sich
gegen 1 oder 0 Stunden bewegt, es sei denn mithilfe einer noch in der fernen
Zukunft liegenden „totalen“ Automatisierung - bedeutet nicht, daß man die
Befriedigung der Konsumwünsche aller Menschen nicht beträchtlich steigern
kann, bei gleichzeitiger spürbarer Verminderung der Arbeitslast und -entfrem-
38
dung für die unmittelbaren Produzenten. Ein System organisierter Selbstverwaltung
könnte dieses Ziel weitgehend erreichen. Seine grundlegenden Mechanismen
und Institutionen würden folgendermaßen funktionieren:
Regelmäßig - sagen wir der Einfachheit halber einmal jährlich - tagende Kongresse
nationaler (und sobald wie möglich internationaler) Arbeiter- und Volksräte
würden anhand vorliegender Alternativen, die zuvor anläßlich der Wahlen
zu diesen Kongressen von allen Bürgern diskutiert wurden, die grobe Verteilung
des Nationalprodukts festlegen. Die Entscheidungen, d.h. die wichtigsten
voraussehbaren Folgen jeder Option würden deutlich herausgearbeitet: die damit
verbundene durchschnittliche Arbeitsbelastung (die Länge der Wochenarbeitszeit);
die vorrangigen Bedürfnisse, die mittels einer gesicherten Zuteilung
der Ressourcen (ihrer „freien“ Verteilung) zu befriedigen sind; der Umfang
der für das „Wachstum“ bereitzustellenden Mittel (ein Reservefond +
dem Konsum der zuwachsenden Bevölkerung + den Nettoinvestitionen infolge
der technologischen Entscheidungen, die ebenfalls deutlich herausgearbeitet
werden müssen); der Umfang der für die „nicht wesentlichen“ Güter und Dienstleistungen
bereitzustellenden Ressourcen, die über den Markt verteilt würden.
Der globale Rahmen des Wirtschaftsplans wird dabei durch eine bewußte
Auswahl von einer Mehrheit der Betroffenen abgesteckt.
Ausgehend von den so getroffenen Entscheidungen würde dann der allgemeine
Plan erstellt, wobei man sich der input-output-Tabellen und der Materialaufstellungen
bedienen kann, die für jeden Produktionszweig (Industriesektoren, Transportwesen,
Landwirtschaft und Distribution) und für das gesellschaftliche Leben
(Erziehung, Gesundheit, Nachrichtenwesen, Verteidigung, falls noch erforderlich,
usw.) die zur Verfügung stehenden Ressourcen angeben. Der nationale
und internationale Kongreß würde diesen allgemeinen Rahmen nicht überschreiten
und würde keine besonderen Festlegungen für die einzelnen Branchen oder
Produktionseinheiten oder Regionen treffen.
Die Selbstverwaltungsorgane - z.B. Arbeiterräte und Kongresse in der Schuh-
, Lebensmittel-, Elektro- und Stahlindustrie oder Energiewirtschaft - würden
dann den aus diesem allgemeinen Plan sich ergebenden Arbeitsanfall auf die
vorhandenen Produktionseinheiten verteilen und/oder die zusätzlich zu schaffenden
Produktionseinheiten für die nächste Periode planen, wenn die Verwirklichung
der Produktionsziele bei dem gegebenen Arbeitseinsatz dies erforderlich
macht. Sie würden den technologischen Durchschnittsstandard für die
39
Produktion der Güter herausfinden, also die durchschnittliche Arbeitsproduktivität
oder durchschnittlichen ;,Produktionskosten“ (und damit schrittweise
auf der Grundlage des bestehenden Wissens an das technische Optimum herankommen).
Sie würden jedoch die Einheiten mit der niedrigsten Produktivität
solange nicht schließen, wie der gesamte Ausstoß in den anderen Einheiten
nicht die Gesamtmenge der Bedürfnisse deckt, und solange nicht neue Arbeitsplätze
für die Produzenten unter für sie zufriedenstellenden Bedingungen
garantiert sind.
In den Einheiten, die Produktionsmittel herstellen, würde die Produktionspalette
weitgehend von den technischen Vorgaben bestimmt, die sich aus den vorangegangenen
Entscheidungen ergeben haben. In den Fabriken, die Konsumgüter
herstellen, würde der Produktionsumfang durch vorhergehende Beratung zwischen
Arbeiterräten und den von der Masse der Bürger demokratisch gewählten
Verbraucherversammlungen ermittelt. Ihnen würden verschiedene Modelle
vorgelegt, z.B. verschiedene Schuhmodelle, die von den Verbrauchern begutachtet,
kritisiert und durch andere ersetzt werden könnten. Ausstellungsräume
und öffentliche Anschlagtafeln wären die Hauptinstrumente für solche
Verbrauchertests. Es könnte eine Art „Referendum“ stattfinden, indem ein
Verbraucher, der Anspruch auf sechs Paar Schuhe im Jahr hat, sechs Modelle
auf einer Liste ankreuzt, die einhundert oder zweihundert Wahlmöglichkeiten
aufweist. Das Modellangebot würde vom Ausgang dieses Referendums bestimmt
und zusätzlich ein Mechanismus eingebaut, der die Produktion im Nachhinein
der Verbraucherkritik aussetzt. Verglichen mit dem Marktmechanismus
hat dieses System den großen Vorteil, daß der Verbraucher einen viel größeren
Einfluß auf das Produktionsangebot hat und daß Überproduktion vermieden
wird. Der Ausgleich zwischen den Verbraucherwünschen und der Produktion
erfolgt vor der Produktion, nicht nach dem Verkauf, wobei zusätzlich eine
gesellschaftliche Reserve produziert würde, die als Nachfragepuffer auf Lager
genommen wird und deren Größenordnung nach einigen Jahren empirisch (statistisch)
optimal bestimmt werden kann. Die Arbeiterräte in den Betrieben wären
dann frei, diese Branchenentscheidungen nach ihrem Belieben auf die Ebene
ihrer Produktionseinheiten zu übertragen und die Produktion und den Arbeitsprozeß
so zu organisieren, daß sie dabei die für sie größtmögliche Arbeitszeitökonomie
realisieren können. Wenn sie das Produktionsziel in 20 Stunden pro
Woche statt 30 Stunden erreichen, können sie sich nach Überprüfung der Qua-
40
lität der von ihnen hergestellten Güter eine entsprechende Herabsetzung der
Arbeitszeit leisten, ohne daß der gesellschaftliche Verbrauch eingeschränkt
werden muß.
Die Überlegenheit der Selbstverwaltung
Alec Nove vermerkt an einer Stelle: „In keiner Gesellschaft ist es möglich, daß
eine gewählte Versammlung mit 115 zu 73 Stimmen darüber entscheidet, wem
10t Leder zuzuteilen sind, oder ob weitere 100t Schwefelsäure hergestellt werden
sollen.“ 8 unserem Modell der organisierten Selbstverwaltung hätte keine
Versammlung zwei derartige Entscheidungen zur gleichen Zeit zu treffen; und
keine „zentrale“ Versammlung oder Planungsgruppe sähe sich vor solche
Entscheidungen gestellt. Aber aus welchem Grund sollte ein Kongreß von
Arbeiterräten der Lederindustrie nicht mehrheitlich (oder nach vorheriger Diskussion
einstimmig) über die Zuteilung von Leder entscheiden können (ob die
Entscheidung über so kleine Mengen, wie sie in dem Beispiel angeführt sind,
dem Fabrikrat überlassen bleiben sollte, ist eine andere Frage), nachdem das
Verbraucherziel für Ledererzeugnisse zuvor von anderen Organen festgelegt
wurde? Warum könnte er nicht die Gesamtmenge von sagen wir 50.000 t jährlich
produziertem Leder auf mehrere Betriebe verteilen (wie es heute ein Leder
verarbeitender Konzern auch tut), indem er jeder Produktionseinheit ihre „Kunden“
zuweist (d.h. die Endverbraucher der geforderten Mengen an Leder)?
Wären die Delegierten eines solchen Kongresses in der Tat nicht besser in der
Lage, eine solche Zuteilung vorzunehmen als irgendein Technokrat oder Computer,
weil sie ihre Branche besser kennen und eine Menge von Imponderabilien
berücksichtigen können, die kein Markt und keine zentrale Stelle in ihre
Kalkulation einbeziehen kann, bestenfalls durch Zufall?
Tatsächlich geschehen bei der Zuteilung der Ressourcen ständig riesige „Fehler“,
die eine aufgeschlossene Arbeiterversammlung niemals machen würde.
Kapitalistische Planer haben die Baukosten des Itaipu-Staudamms in Brasilien
mit fünf Milliarden Dollar veranschlagt. Nach dem heutigen Stand kostet er
achtzehn Mrd. Dollar, und der Staudamm ist noch nicht fertig. Der
Landwirtschaftsmaschinenkonzern John Deere mußte trotz der scharfen Konkurrenz
neue Produkte mehrmals neu zeichnen, wegen der immer wieder auftretenden
Diskrepanz zwischen den fachlichen Kenntnissen und Interessen der
Konstrukteure und den in der Produktion tätigen Ingenieuren. In der gegenwärtigen
Rezession hat die bayrische Automobilfirma BMW plötzlich entdeckt,
41
daß man die Lagerbestände von einem elf-Tage-Ausstoß auf einen fünf-Tage-
Ausstoß reduzieren konnte, d.h. mehr als 50%. Solche Beispiele ließen sich
nach Belieben vermehren.
Nationale Selbstverwaltungsorgane können darüberhinaus die Leitung der
öffentlichen Dienste übernehmen: Wohnung, Erziehung, Gesundheit,
Nachrichtenwesen, Transport und Distribution. Auch hier würden die betroffenen
Bürger Räte wählen, die zu konsultieren wären, bevor endgültige Beschlüsse
gefaßt werden. Regionale und lokale Organe würden die zugeteilten
Ressourcen ausgeben und zwar unter Entfaltung wiederum eines Maximums
an freier Initiative, um den besten Gebrauch davon zu machen, einerseits im
Interesse der Befriedigung der Verbraucherwünsche, andererseits der Verringerung
der Arbeitsbelastung der Produzenten. Ein solches System würde die Marxsche
Vorstellung vom Absterben des Staates mit konkretem Inhalt füllen. Dadurch
würde es möglich, daß mit einem Schlag mindestens die Hälfte der heute
amtierenden Minister durch Selbstverwaltungsorgane ersetzt würden. Die Folge
wäre außerdem eine radikale Verminderung der Zahl der Beamten, einschließlich
derer in den Planungsbehörden. Das würde zugleich bedeuten, daß
buchstäblich Millionen von Menschen nicht nur „konsultiert“ werden, sondern
tatsächlich an den Entscheidungen und an der direkten Leitung von Wirtschaft
und Gesellschaft mitwirken. Die gesellschaftliche Arbeitsteilung zwischen denen,
die verwalten, und denen, die verwaltet werden—zwischen Bossen und
Untergebenen— würde anfangen zu verschwinden.
Die Verwaltung würde nicht mehr auf der „zentralen Ebene“ monopolisiert
und das Selbstmanagement bliebe nicht auf die betriebliche Ebene beschränkt.
Beide würden sich auf der zentralen und auf der lokalen Ebene miteinander
vermischen. Die meisten an der Entscheidungsfindung beteiligten Bürger würden
diese Tätigkeit nicht als Beruf ausüben und dabei ihre ganze Zeit auf
Versammlungen oder auf Reisen zu diesen verbringen. Da die anstehenden
Entscheidungen ihr Wohlergehen und ihre Arbeitsbedingungen direkt betreffen,
kann man annehmen, daß sie ihre Verantwortung nicht formal oder indifferent
wahrnehmen würden, sondern daß sie sich ihrer Aufgabe ernsthaft
widmeten. Die Herabsetzung der Arbeitszeit und das Informations- und
Kommunikationspotential der Computer würde die wichtigste materielle Grundlage
für eine erfolgreiche Streuung der Macht liefern 9 .
42
Wie müßte das zusätzliche Geldeinkommen der produzierenden und verteilenden
Einheiten über ihren garantierten Anteil an freien Gütern und Dienstleistungen
hinaus kalkuliert werden? Es könnte einem Index der Qualitätskontrolle
und der Zufriedenstellung der Verbraucher folgen, der einen Koeffizienten
für Arbeitsstreß enthält ( besonders in Bergwerken und an anderen Arbeitsplätzen,
wo schwere Arbeit verrichtet wird, die eine höhere Entlohnung
erfordert). Für Zwischenprodukte wäre die pünktliche Lieferung ein Bestandteil
dieses Index. Der Vorteil eines solchen Systems läge darin, daß es keine
eingebauten Hindernisse für einen ehrlichen Informationsfluß über die Ressourcen
und Kapazitäten der Produktions— und Distributionseinheiten enthielte,
da die die Selbstverwaltung ausübenden Arbeiter kein Interesse daran
haben, die Fakten zu verschleiern. Nove macht einen starken Einwand gegen
die Vorstellung geltend, ein ehrlicher Informationsfluß könne selbstverständlich
sein. Aber er übersieht, daß die Hauptursache für die Verwendung falscher
Daten in Gesellschaften wie der Sowjetunion die materiellen Interessen
der Fabrikdirektoren sind, die auf einen bestimmten materiellen Produktionsausstoß
festgelegt sind. Man kann die Folgen nicht vermeiden, wenn man die
Ursachen nicht unterbindet. Hinzu kommt natürlich noch, daß ein computerisierter
Informationsfluß, der den Güterstrom begleitet, auf lange Sicht zur Eingabe
korrekter Daten für eine demokratisch zentralisierte Planung zwingt.
Wie könnte solch ein System im Weltmaßstab aussehen? Zunächst muß man
betonen, daß demokratische Selbstverwaltung nicht bedeutet, daß jeder über
alles entscheidet. Nimmt man das an, ist die Schlußfolgerung offensichtlich:
Sozialismus ist nicht möglich. Denn Milliarden Menschen können in ihrer Lebenszeit
nicht einmal einen Bruchteil der alle Menschen betreffenden Angelegenheiten
in ihrem Sinne regeln. Das ist aber auch nicht nötig. Einige Entscheidungen
können am besten auf der Ebene von Abteilungen getroffen werden,
andere auf der des Betriebs, wieder andere auf der der Stadtteile, Ortschaften,
Regionen, Kontinente und wieder andere schließlich weltweit. In der
Auseinandersetzung mit Nove dreht sich unsere Diskussion bisher hauptsächlich
um die nationale Ebene. Welche Entscheidungen könnten und sollten aber
im weltweiten Maßstab getroffen werden? Hier bieten sich sofort vier Entscheidungsfelder
an. Das erste umfaßt sämtliche Entscheidungen, die eine globale
Umverteilung der menschlichen und materiellen Ressourcen bedeuten, zur
schleunigen Beseitigung der sozialen und kulturellen Mißstände, die die Ursache
für Unterentwicklung, Hunger, Kindersterblichkeit, Krankheit und
Analphabetismus in der Dritten Welt sind.
43
Das zweite wäre die Festlegung der Prioritäten für die Zuteilung wirklich knapper
natürlicher Ressourcen, solcher Ressourcen, die absolut zu versiegen drohen
und die keine Minderheit der Menschheit das Recht hat, den kommenden
Generationen zu rauben: hierüber kann nur die Gesamtheit der heute lebenden
Weltbevölkerung von rechts wegen entscheiden.
Das dritte betrifft alles, was die natürliche Umwelt und das Klima auf dem
Planeten als ganzes beeinträchtigt.: all jene Prozesse, die die Meere verschmutzen
oder umkippen lassen können, die Polargebiete und die Atmosphäre gefährden
oder das ökologische Gleichgewicht in solchen, für die gesamte Welt wichtigen
Regionen zerstören wie die Amazonaswälder. Schließlich müßte natürlich ein
universelles Verbot der Herstellung von Massenvernichtungswaffen, toxischen
Drogen u.ä. erlassen werden.
Aus diesen globalen Bestimmungen ergeben sich Zwänge für die Zuteilung der
kontinentalen und nationalen Ressourcen, die dann noch verfügbar bleiben für
die Planung und Erfüllung der Bedürfnisse; diese wiederum muß jeder Kontinent
und jedes Land selbst festlegen. So wären z.B. nach der Festlegung der
Tonnen Stahl, die jeweils für Amerika, Europa oder Asien zur Verfügung stehen,
die Produzenten und Konsumenten auf diesen Kontinenten frei, die jeweiligen
Kontingente nach ihren eigenen Beschlüssen weiter aufzuteilen. Würden
sie trotz aller Argumente über Umwelt— und andere Schäden an der Priorität
für Privatautos festhalten wollen, die weiterhin ihre Städte verpesten würden,
müßten sie hierzu berechtigt sein. Änderungen im eingefleischten Verbraucherverhalten
vollziehen sich im allgemeinen nur langsam. Kaum jemand
wird glauben, daß die Arbeiter in den USA am Tag nach der sozialistischen
Revolution ihre Vorliebe für das Privatauto aufgeben werden. Das Ansinnen,
Menschen zu zwingen, ihr Verbraucherverhalten zu ändern, ist weitaus schlimmer,
als einige Jahrzehnte lang den Smog in Los Angeles zu ertragen. Die
Emanzipation der Arbeiterklasse, die allen gegenteiligen Ansichten zum Trotz
zum erstenmal in der Geschichte der Menschheit die absolute Mehrheit der
Weltbevölkerung ausmacht, kann nur durch die Arbeiter selbst erreicht werden,
und zwar so, wie sie sind: nicht Menschen aus einer anderen Welt, sondern
Menschen mit ihren Schwächen, wie wir sie alle haben.
44
Der Aufbau des Sozialismus
Solch ein Komplex bewußter Zuteilung von Ressourcen, demokratisch zentralisierter
Planung und Selbstverwaltung wäre viel wirkungsvoller als eine (monopolkapitalistische)
Marktwirtschaft oder eine (bürokratisch zentralisierte)
Befehlswirtschaft. Denn es gäbe dann einen machtvollen, eingebauten Mechanismus
der Selbstkorrektur von Fehlentscheidungen, den es in den beiden heute
vorhandenen Alternativen nicht gibt. Wir glauben nicht, daß „die Mehrheit
immer recht hat“, ebensowenig wie wir glauben, daß der Führer, der Papst
oder die Partei immer recht haben. Fehler macht jeder. Das gilt auch für die
Mehrheit der Bürger, der Produzenten und ebenso für die Mehrheit der Verbraucher.
Aber es wird einen grundlegenden Unterschied zwischen ihnen und
früheren Mehrheiten geben. In jedem System mit ungleicher Machtverteilung—
gleich ob diese auf wirtschaftlicher Ungleichheit, politischem Monopol oder
einer Kombination von beiden beruht —bezahlen die, die falsche Entscheidungen
über die Zuteilung von Ressourcen treffen, selten den Preis für die Folgen
ihrer Fehlentscheidung; niemals zahlen sie den höchsten Preis.
Wenn Vorstandsmitglieder einer großen Monopolgesellschaft über eine wichtige
Investition entscheiden, die sich einige Jahre später nicht auszahlt, werden
sie nicht selbst zu Empfängern von Arbeitslosenunterstützung und ihre Wohngebiete
verfallen nicht. Aber die Arbeiter, die sie entlassen haben und deren
Wohngebiete erleiden genau dieses Schicksal, obwohl sie an der Entscheidung
völlig unschuldig sind. Genauso müssen weder die Mitglieder des Präsidiums
der KPdSU, noch des Ministerrats noch die Verantwortlichen für den Gosplan
auf den Genuß von Fleisch verzichten, wenn sie eine Fehlentscheidung in der
Landwirtschaftspolitik treffen, während Millionen Menschen jahrelang an
mangelhafter Ernährung leiden und ganze Gebiete verseucht oder zerstört werden
können. Im Gegensatz hierzu werden die Masse der Produzenten und Konsumenten,
wenn sie eine Fehlentscheidung bezüglich der Zuteilung der Ressourcen
getroffen haben, die ersten sein, die für ihren Irrtum zu bezahlen haben.
Vorausgesetzt es gibt eine wirkliche politische Demokratie, eine wirkliche
kulturelle Wahl— und Informationsmöglichkeit, ist schwerlich anzunehmen,
daß sie lieber ihre Wälder dahinsiechen, ihren Verbrauch an Fleisch sinken,
ihren Wohnraum zerfallen, ihre Krankenhäuser ohne ausreichendes Personal
lassen, als die falsche Zuteilung von Mitteln rasch zu korrigieren.
Das System, das wir beschrieben haben, wäre noch nicht der „reine Sozialismus“,
den Marx und Engels sich vorgestellt haben. Es wäre immer noch eine
45
Übergangsgesellschaft zum Sozialismus — obwohl sie tatsächlich und definitiv
auf dem Weg zum Sozialismus wäre und nicht auf dem in eine unbekannte
Zukunft oder zurück zum Kapitalismus. Denn es würde immer noch ein Bereich
bestehen bleiben, der vom Geld und vom Markt beherrscht wird. Private
und genossenschaftliche Unternehmen würden in der Kleinproduktion weiterbestehen
(Landwirtschaft, Handwerk, Dienstleistungen, usw.). Privates Unternehmertum
wäre nicht verboten. Da alle Bürger ein gesichertes Mindestniveau
an Verbrauch hätten, gäbe es keine wirtschaftliche Notwendigkeit, die eigene
Arbeitskraft an diese Unternehmer zu verkaufen; Arbeitsverträge mit ihnen
wären also wirklich freiwillig. Die „Arbeit auf eigene Rechnung“ könnte zunehmen,
wenn Bürger eine Ausstattung an Heimwerkzeugen bekommen, die es
ihnen ermöglicht, Dinge für ihren eigenen Bedarf oder den ihrer Familien, ihrer
Freunde und Nachbarn herzustellen, und zwar in ihrer Freizeit. Autos, die
alle gleich aussehen, machen die Städte häßlich. Sie könnten anders aussehen,
wenn die Autobesitzer schöpferische Maler würden und ihre Phantasie darauf
verwendeten, ihre Autokarosserien entsprechend zu gestalten. Der Bereich praktischer
„do-it-yourself“-Initiativen würde sich erheblich ausweiten.
VIII. Gemischte Wirtschaft ist doppeltes Elend
Alec Nove hat ein Modell eines machbaren Sozialismus vorgeschlagen, das
sich aus fünf Segmenten zusammensetzt: eine Kombination von staatlichen,
vergesellschafteten, genossenschaftlichen, kleinen privaten und individuellen
Unternehmen 10 . Auf den ersten Blick mag der Unterschied zwischen diesem
Schema und dem Modell, das wir gerade skizziert haben, relativ geringfügig
erscheinen. Doch obwohl sich die Modelle in einigen Punkten überschneiden,
weichen sie in drei Punkten wesentlich voneinander ab.
Der erste betrifft den Charakter der vorherrschenden Produktions—bzw. Distributionsweise.
Für Nove bedeutet individuelle Kostenberechnung auch individuelle
Rentabilität der Einheiten. D.h. die Einkommen der jeweiligen Gruppen
oder Personen sollen abhängen von der rechnerischen Differenz zwischen den
Kosten von Input und Output (in Geld oder Wert ausgedrückt). Mit anderen
Worten: diese Einheiten sind unabhängige Firmen. Damit sind wir nicht einverstanden.
Unserer Ansicht nach bedeutet das, das Einkommen der Gruppen
oder Personen an den „Profit“ zu binden, und damit mächtige Impulse wirtschaftlicher
Irrationalität fortbestehen zu lassen, die sich gesellschaftlich verheerend
auswirken können, da zahlreiche Entscheidungen in Abhängigkeit von
besonderen, partiellen Interessen getroffen werden. Aus dem gleichen Grund
46
glauben wir nicht, daß Übereinkünfte zwischen Produzenten und Konsumenten
auf Belohnung oder Bestrafung mit Geld beruhen sollten. Anders ausgedrückt:
wirkliche Marktverhältnisse, also Warenaustausch, der in Geldform abgewickelt
wird, sollte im wesentlichen begrenzt sein auf die Beziehungen zwischen dem
privaten bzw. genossenschaftlichen Bereich einerseits und dem individuellen
Verbraucher bzw. dem vergesellschafteten Bereich andererseits. Das würde
bedeuten. daß in den fortgeschrittenen Industrieländern solche Marktbeziehungen
nur ein untergeordnetes Gewicht hätten im Verhältnis zum gesamten
Ausstoß und Verbrauch. Die Dynamik des Übergangs würde sich in
Richtung auf das Absterben der Warenproduktion bewegen, nicht in Richtung
auf ihre Ausweitung.
Zweitens macht Alec Nove einen Unterschied zwischen dem zentralisierten
.,staatlichen Sektor“, wo der Umfang des Einsatzes der Technik und ihre
Kompliziertheit seiner Meinung nach eine Selbstverwaltung der Produzenten
unmöglich machen, und einem „vergesellschafteten Sektor“ von Unternehmen
mit einer weniger aufwendigen Produktion, wo eine solche Selbstverwaltung
eingeführt werden könnte. Er scheint auch anzunehmen, daß Einkommensunterschiede
in beiden Sektoren unerläßlich wären; möglicherweise gelte das
auch für den genossenschaftlichen Bereich. So schreibt er: „Einkommensunterschiede
(eine Art Arbeitsmarkt) sind die einzig bekannte Alternative
zur Lenkung der Arbeit durch Befehle. Es ist wichtig, hier eine geistige Konfusion
zu vermeiden: manche mögen einwenden, daß es innerhalb einer Kommune
oder eines Kibbuz völlige Gleichheit oder auch Rotation der Arbeit geben
kann ... Das kann man aber nicht auf die ganze Gesellschaft übertragen, zum
Teil deshalb, weil dies nur bei kleinen Einheiten möglich ist, wo die Anzahl der
Menschen beschränkt ist, sie sich untereinander kennen und täglich treffen
können; und zum Teil deshalb, weil solche Kommunen nur Enthusiasten anziehen,
die eine solche Lebensform mögen.“ 11
Dies Argument entspricht scheinbar dem gesunden Menschenverstand, in Wirklichkeit
beruht es auf einer Reihe von unbewiesenen Dogmen und Vorurteilen.
Es stimmt nicht, daß es nur die Wahl gibt zwischen einer despotischen „Leitung
der Arbeit“ und einem Arbeitsmarkt. Kooperativ verteilte Arbeit ist eine
echte Alternative. Noch auch ist es richtig, daß sich sehr große Einheiten nicht
ohne Einkommensunterschiede verwalten lassen. Im 19. und im frühen 20.
Jahrhundert wurden Gewerkschaften und Kirchen, die zehn— und hunderttausende
Mitglieder umfaßten, oft von Menschen geleitet, die keine ernsthaften
47
materiellen Privilegien dafür erhielten. Das trifft auch auf große wissenschaftliche
Organisationen zu, darauf weist Alec Nove selbst hin, ganz zu schweigen
von den großen Produktionsgenossenschaften. Nove weist zu Recht an anderer
Stelle darauf hin, daß nur wenige Professoren lieber Müllmänner wären, auch
wenn sie hierfür besser bezahlt würden. Das steht aber doch eher im Widerspruch
zu seiner allgemeinen Annahme. Es ist ein Argument dafür, unangenehme,
schmutzige oder Schwerarbeit, nicht Verwaltungstätigkeit oder Facharbeit
besser zu entlohnen, vorausgesetzt, die Gesellschaft bezahlt für den Einsatz
der Qualifikation.
Aber der vielleicht bedeutendste Fehler in Noves Argumentation liegt woanders.
Er liegt in dem Gegensatz, den er zwischen „der kleinen Anzahl von
Menschen“ und der „Großorganisation“ annimmt. Denn es gibt nicht so etwas
wie eine unstrukturierte, also atomisierte Großorganisation. Eine moderne
Fabrik oder Bank, ein Hospital oder eine Hochschule sind sicher nichts dergleichen.
Alle Einrichtungen dieser Art beruhen in Wirklichkeit auf kleinen
Einheiten, die objektiv gesellschaftlich zusammenarbeiten: Arbeitsteams, Büros,
Abteilungen, Klassen usw. Warum sollte es undenkbar sein, daß sich diese
kleinen Einheiten selbst verwalten? Daß sie Delegierte wählen (auch solche die
rotieren), die dann größere Einheiten verwalten, die ihrerseits das Ganze verwalten?
Die Voraussetzungen für demokratische Selbstverwaltung findet man
in den Bedingungen, unter denen die heutigen Keimzellen bestehender undemokratischer
Institutionen funktionieren: d.h. in den Arbeitsbeziehungen einer
kleinen Anzahl von Leuten, die einander kennen, sich täglich treffen und einander
brauchen, anders ausgedrückt: die ihre Arbeit ohne gegenseitige Zusammenarbeit
überhaupt nicht verrichten können. Darum glauben wir im Gegensatz
zu Alec Nove, daß der Wirkungsbereich der Selbstverwaltung grundsätzlich
eher ein universeller als ein sektorieller ist, und daß der Anreiz durch Geld
und materielle Privilegien nicht unverzichtbar, sondern eher hinderlich ist für
eine demokratische Ausübung administrativer Aufgaben.
Der dritte grundlegende Unterschied zwischen Noves Modell und dem unsrigen
betrifft die Rolle des Wettbewerbs. Nove ist sich der destruktiven und
korrumpierenden Auswirkungen des Konkurrenzkampfs im heutigen Kapitalismus
bewußt. Er möchte dennoch den Geldanreiz im Sozialismus aufrechterhalten.
Er argumentiert, man müsse zwischen „gutartigen“ und „unerwünschten“
Formen des Wettbewerbs unterscheiden
48
12 . Aber die Beispiele, die er anführt,
um diesen Unterschied zu verdeutlichen, beweisen in Wirklichkeit, welch
geringe Bedeutung er im wirtschaftlichen Leben hat. Es ist offensichtlich, daß
der „Wettbewerb“ um einen Sitz im schottischen Nationalorchester, um den
Sieg auf der Olympia-Bahn oder sogar um die Wahl in den Arbeiterrat eines
„vergesellschafteten Dupont-Konzerns“ mit dem Wettbewerb um den Verkauf
von Erdöl, Stahl, Schwermaschinen, Flugzeugen oder Raketen auf dem Markt
sehr wenig zu tun hat. Die erste Art von „Wettbewerb“ hat unseres Wissens
nach noch nie Millionen Menschen Elend gebracht (sie hat sehr viel persönliches
Leid gebracht—der Marxsche Sozialismus hat allerdings nie von sich
behauptet, er könne alles individuelle Leid aufheben). Die zweite Art von Wettbewerb
hingegen hat nicht nur immer wieder Massenerwerbslosigkeit und sinkenden
Lebensstandard hervorgerufen, wenn nicht gar völlige Armut, sondern
auch Kriege, die Millionen Tote kosteten.
Ein falsches Dilemma
Nove wird jedoch unfreiwillig spitzfindig, weil er der konventionellen Sicht
des Marktes verhaftet bleibt. Die Kombination von „Markt“ und „Sozialismus“
in seinem Denken verwickelt ihn unvermeidlich in verwirrende Widersprüche.
Nove wirft wiederholt Marxisten eine utopische Vision des Sozialismus
vor. Er sieht jedoch nicht, daß die von ihm benannten Voraussetzungen:
eine höhere Stufe an freiwillig von Individuen übernommener, sozialer Verantwortung
und zugleich gesellschaftliche Rahmenbedingungen, die von Wettbewerb,
Geldentlohnung und materiellem Gewinn geprägt sind, in höchstem Maße
utopisch sind. Sie erinnern abgemildert an die naive (oder zynische) Behauptung
der sowjetischen Bürokratie, daß die UdSSR den „neuen Menschen“ schaffen
kann unter Aufrechterhaltung gewaltiger Unterschiede im Einkommen und
im Machteinfluß und bei fortbestehendem allgemeinem Streit um materielle
Vorteile. Nove treibt es in seine Widersprüche, weil er Gefangener eines falschen
Dilemmas ist. Die Logik seines Irrtums wird in folgender Passage deutlich:
„Nehmen wir an, es gäbe sechzehn oder mehr Unternehmen (vergesellschaftete
und genossenschaftliche), die das gleiche Produkt oder die gleiche Dienstleistung
herstellen. Das mag ein Wolltuch, Zahnpasta, ein Kugellager, Urlaubshotels
oder sonst etwas sein. Ihre Aktivität als Produzenten beruht auf
Verhandlungen mit den Konsumenten. Letztere können wählen, von wem sie
die Güter und Dienstleistungen anfordern. Alle können von ihrem Zulieferer,
den sie wählen, die Güter erhalten, die für die Produktion nötig sind. Sie haben
ein inhärentes Interesse daran, ihre Kunden zufriedenzustellen ... Wir können
hoffen, daß die Motivation zum Wettbewerb nicht in erster Linie darin liegt,
49
mehr Geld zu verdienen.... Aber wir können nicht annehmen, daß die Masse
der Bevölkerung nur um des Erfolgs willen handelt, und daß es keines materiellen
Anreizes oder materieller Abschreckung bedarf. „ 13
Mit dem ersten Teil der Argumentation stimmen wir völlig überein. Wir würden
noch einschränkend hinzufügen, daß es für die meisten anspruchsvollen
oder größeren Ausrüstungsgüter keine sechzehn Lieferanten geben wird. Aber
der zweite Teil folgt keineswegs logisch aus dem ersten. Er stellt eine Art
Zusatz oder Nachtrag dar, steht aber mit dem ersten Teil in keinem Zusammenhang
und entbehrt auch der Begründung. Nove tut so, als könnten Menschen
entweder nur völlig uneigennützig handeln oder infolge eines finanziellen
Anreizes. Diese Wahlmöglichkeit ist jedoch nicht erschöpfend. Warum soll es
nicht Anreize oder Abschreckungen geben, die nicht auf Geld beruhen und
keinen Marktcharakter tragen? Die alltägliche Erfahrung lehrt uns, daß diese
sogar im Kapitalismus Bedeutung haben. Wenn über 99% der Autofahrer die
Verkehrsampeln beachten, so doch nicht in erster Linie deshalb, weil sie der
Geldstrafe entgehen wollen, die bei Übertretung dieses Gebots droht, sondern
weil sie länger leben wollen. Dieser gesunde Selbsterhaltungstrieb ist durchaus
verwandt mit einem anderen menschlichen Impuls: dem Wunsch, unangenehme,
mechanische, langweilige und unschöpferische Arbeit zu reduzieren, -
Arbeit, die nur vollbracht wird, um Verbrauchsgüter und Dienstleistungen zu
beschaffen und die verlorene Lebenszeit bedeutet. Es gibt immer einen potentiellen
Anreiz, die Arbeitsbelastung zu verringern, indem man die Arbeit besser
organisiert - das ist ein sehr mächtiger Anreiz. Vor allem aber und darüberhinaus
scheint Nove vergessen zu haben, daß auch eine „gesellschaftliche Dividende“
einen Anreiz darstellen kann. Warum sollte eine zusätzliche Menge
an kostenlos zugeteilten Gütern und Dienstleistungen nicht an die jährliche
wirtschaftliche Gesamtleistung geknüpft werden und dies durch eine öffentliche
Debatte und Telekommunikation publik gemacht werden? Wäre es nicht
für alle Produzenten und Distributoren von Gütern ein Anreiz, die Quantität
zu steigern, die Qualität der Leistungen zu verbessern und ihre Arbeitsorganisation
zu rationalisieren, wenn eine bestimmte Steigerung des Güterausstoßes
und der Dienstleistungen, die tatsächlich produziert und verbraucht werden,
z.B. verbunden würde mit einer zusätzlichen Verlängerung des bezahlten Urlaubs
und kostenloser Reisen für alle (wenn dies von der Mehrheit gewünscht
wird)? Nachdem Nove auf diese Weise einen künstlichen Gegensatz zwischen
subjektiven Motivationen geschaffen hat, der ihn zwingt, den finanziellen Anreiz
zu verteidigen, läßt er die objektiv irrationalen Folgen außer acht, die sich
50
aus der Kombination einer verbreiteten Marktwirtschaft mit einem Sektor kostenloser
Güter und Dienstleistungen bei gesellschaftlichem Eigentum ergeben.
Denn natürlich ist es so, wenn der Profit der grundlegende Mechanismus
für die Zuteilung der Ressourcen bleibt, dann gibt es keinen Grund, warum die
sich daraus ergebenden negativen Folgen, die im Kapitalismus so deutlich auftreten,
nicht wieder auftauchen sollten. Es ist bezeichnend, daß Nove, wenn er
auf die Risiken der Zuflucht zum finanziellen Anreiz aufmerksam macht, nur
sehr geringfügige Beispiele dafür anführt, nicht die gewaltige Vergeudung, zu
der die Produktion für den Profit führt: Überkapazitäten, Überproduktion,
Arbeitslosigkeit, Vernichtung von Ausrüstungsgütern und Produkten. All diese
typischen Erscheinungsformen beeinträchtigen Produzenten und Konsumenten
zugleich viel ernstlicher als die angeblich überzogenen Kosten, die durch
das Fehlen der „Disziplin von Gewinn und Verlust“ entstehen. Diese Lehre
erfährt man nicht nur tagtäglich unter dem Kapitalismus. Man erfährt sie auch
schmerzlich in den nachkapitalistischen Gesellschaften. Die praktische Erfahrung
auch dort - vor allem in Jugoslawien und Polen, aber andere Beispiele
werden noch folgen - beweist, daß Versuche, die Verzerrungen und die Unwirksamkeit
der bürokratisch zentralisierten Planung durch verstärkte Zuflucht
zu Marktmechanismen auszugleichen, nach einigen Anfangserfolgen nur zu
einer wachsenden Kombination der Übel der Bürokratie mit denen des Marktes
führen, wobei sie sich gegenseitig verstärken, nicht etwa abschwächen.
Dies wird auch für China gelten, obwohl China für die Befürworter eines „marktwirtschaftlichen
Sozialismus“ das günstigste Beispiel darstellt, denn je rückständiger
ein Land, desto unerläßlicher bleiben Marktmechanismen, vor allem in
der Landwirtschaft. Es gibt keinen Zweifel, daß die Überwindung der katastrophalen
Fehler des „Großen Sprungs nach vorn“ —ein völlig irrationaler
und mystischer Begriff für den Versuch der sofortigen Einführung des Kommunismus
— auf dem Land in China zu beträchtlichen Fortschritten geführt
hat. Die Produktion und Produktivität sind in die Höhe geschnellt, auf dem
Land wird jetzt ein wachsender Überschuß erzeugt. Das war das Ergebnis der
Freisetzung gewaltiger produktiver Energien der chinesischen Bauernschaft,
die wahrscheinlich fähigste Bauernschaft der Welt, mit einer zweitausend Jahre
alten Tradition im intensiven Landbau, die in vielen Teilen Westeuropas,
ganz zu schweigen von Osteuropa, nicht ihresgleichen hat. Aber der wachsende
Überschuß an Getreide wird zu einem wachsenden Überschuß an landwirtschaftlichen
Arbeitskräften führen, da weniger Menschen mehr Nahrungsmittel
erzeugen. Was wird mit dieser zusätzlichen Bevölkerung in fünfzehn,
51
zwanzig oder dreißig Jahren sein? Bleibt sie dem Markt überlassen, führt das
zu einem gewaltigen Anstieg der Arbeitslosigkeit in China—ein Problem, das
in den Großstädten bereits empfindlich spürbar geworden ist. Nur eine geplante
Industrialisierung kann diese überschüssige Bevölkerung auf dem Land absorbieren
und nur eine demokratisch, nicht bürokratisch geplante Industrialisierung
kann dies fertigbringen, ohne daß es zu solchen Erschütterungen auf
dem Land kommt, wie sie die Zwangskollektivierung in der Sowjetunion darstellte,
die wiederum selber ein panische Reaktion auf die Ausweitung der
Marktverhältnisse in der Sowjetunion war.
In seiner Zusammenfassung aller negativen wirtschaftlichen Konsequenzen aus
dem Markt bietet Nove eine positive, politisch rationale Erklärung dafür: daß
der Markt die Entscheidungsgewalt streut und damit zu einem Bollwerk gegen
die Tyrannei wird. Das ist natürlich die traditionelle liberale Rechtfertigung
des Marktes. Aber auch in sozialistischem Gewand ist diese Auffassung nicht
weniger falsch. Das wird daran deutlich, daß Nove zugleich erhebliche
Einkommensunterschiede für Verwalter akzeptiert. Wenn Verwalter aus ihrer
Stellung materielle Vorteile genießen, werden sie unvermeidlich versuchen, diese
in einen dauerhaften Besitztitel umzuwandeln, d.h. sich an sie zu klammern
samt allem wirtschaftlich irrationalen und politisch repressiven Verhalten, das
damit verbunden ist. Die Macht neigt zum Monopol. Die Streuung von Macht,
für die Nove eintritt, kann nur verwirklicht werden, wenn ihre Ausübung
von Privilegien getrennt wird. Das ist kein Glaubenssatz, sondern eine empirische
Tatsache, die sich aus der gesamten schriftlich überlieferten Geschichte
der Menschheit ergibt. Wenn Macht und Privileg zusammenfallen, dann ist die
Konsequenz daraus die Entfernung von der Demokratie und die Tendenz zum
Monopol der Information und des Wissens und der Kontrolle durch eine Minderheit.
Nove möchte einen demokratischen Sozialismus. Wenn er aber für
Geld als Form der Entlohnung von administrativen Leistungen eintritt, dann
ist es kein Zufall, daß er schließlich mit der Notwendigkeit eines starken Staates
aufhört 14 . Trotz aller Schärfe seiner Kritik am „real existierenden Sozialismus“
gelangt er auf diesem Weg zu zwei Schlußfolgerungen, die sehr viel
näher an die Realität der bürokratischen sowjetischen Ordnung herankommen,
als an den marxistischen Sozialismus. Es ist bezeichnend, daß Nove Solidarnosc
mit ganz ähnlichen Argumenten wie die polnische Bürokratie dafür kritisiert,
daß sie sich geweigert hat, Einschränkungen im Lebensstandard der polnischen
Arbeiter zuzustimmen 15 . Dabei vergißt er, daß die Verantwortung für den Zerfall
der Wirtschaft nicht bei den Forderungen der Arbeiter und ihren Streikak-
52
tionen liegt, sondern beim ganzen System der bürokratischen Mißwirtschaft
vor und nach l980 16 . In ähnlicher Weise berücksichtigt er nicht den unauflösbaren
Widerspruch zwischen der Arbeiterselbstverwaltung und dem „Marktsozialismus“,
der heute in Jugoslawien zu explosiven Situationen führt. Wenn
„objektive wirtschaftliche Gesetze“, die hinter dem Rücken der Produzenten
wirken—und das ist das, was Wertgesetz wirklich bedeutet— letztendlich über
Produktion und Beschäftigung entscheiden, dann können die Arbeiter weder in
ihrem Betrieb, noch in ihrem Wohnbezirk noch auf nationaler Ebene bestimmen,
was zu geschehen hat.
Gibt es denn keine Alternative? Das Leitmotiv des vorliegenden Artikels lautet
eben, daß es glücklicherweise einen Ausweg gibt: die demokratische und zentralisierte
Selbstverwaltung, die geplante ,Selbstherrschaft“ der assoziierten Produzenten.
Souveränität des Volkes hängt nicht davon ab, daß man eine
prästabilisierte oder perfekte Harmonie zwischen dem allgemeinen und den
besonderen Interessen in der Gesellschaft voraussetzt. Sie geht im Gegenteil
davon aus, daß es unvermeidlich Interessenskonflikte gibt zwischen Produzenten
und Konsumenten, technisch mehr oder weniger fortgeschrittenen Produktionseinheiten,
gesellschaftlich aktiveren und weniger aktiven Menschen, wirtschaftlich
und kulturell mehr oder weniger entwickelten Gebieten. Demokratische
Selbstverwaltung bedeutet eben ein System eingebauter Sicherungen,
die verhindern, daß diese Widersprüche jegliche Art rationaler Planung
und gesellschaftlicher Kooperation untergraben und so erneut Klassenkampf
und mörderische Gewalt auslösen. „Marktsozialismus“ hingegen ist
weder eine Lösung gegen die Übel des sog. freien Marktes noch gegen die
bürokratische Karikatur des freien Sozialismus. Gemischte Wirtschaft bedeutet
nur gemischtes Elend. Die reale Wirtschaft eines machbaren und wünschenswerten
Sozialismus wäre eine Alternative zu beidem. Im Gegensatz zu Alec
Noves erklärtem Glauben gibt es ein Drittes.
Unsere Debatte dreht sich letztlich um ein Problem, das das zentrale Problem
der Menschheitsgeschichte ist: ob und unter welchen Bedingungen die Menschheit
die Möglichkeit hat, ihr eigenes Geschick zu lenken oder ob Selbstemanzipation
und Selbstbestimmung für alle ein ewig unerfüllter Traum bleiben
wird. Wenn es den Gesellschaftswissenschaften und der gesellschaftlichen
Praxis nicht gelingt, eine Kontrolle über die gesellschaftlichen Prozesse zu
erlangen ähnlich der, die die Naturwissenschaften bisher über die Natur errungen
haben, dann drohen auch die Fortschritte in den Naturwissenschaften ge-
53
gen uns zurückzuschlagen. In der uralten Debatte zwischen der Kraft der Vernunft
und der Last des Schicksals—letzten Endes ein Wettstreit zwischen Wissen
und Aberglauben—stellen die „Marktkräfte“ nichts anderes dar als das
blinde Schicksal, durchsichtig verkleidet als Teil-”Rationalität“. Ist die menschliche
Erkenntnis der Gesetze ihrer eigenen Entwicklung wirklich eine Frucht,
deren Genuß verboten sein sollte?
Alec Nove:
Antwort auf Ernest Mandel
Ich bin Ernest Mandel für seine ernsthafte Kritik meiner Ideen über den
.,Marktsozialismus“ dankbar. Zufällig habe ich am selben Tag einen Text erhalten.
der einen Angriff auf meine Auffassungen seitens der Neuen Rechten
darstellt: Socialism. The Grand lllusion von Crozier und Selden. Die Autoren
bedauern, wie Mandel, die Vermengung von Plan und Markt, aber natürlich
von einem entgegengesetzten Standpunkt. Ich sage dies mit der Absicht, deutlich
zu machen, daß ich kein Anhänger des Laisser-faire bin und daß ich mir
völlig der Unzulänglichkeiten und Grenzen des Marktes bewußt bin. Eine minimale
Rolle des Staates und die grenzenlose Suche nach privatem Profit sichern
nicht den Wohlstand der Gesellschaft, und tatsächlich müssen diejenigen, die
derartige Konzepte verteidigen, die wirklichen Ideen von Adam Smith verfälschen,
während sie sich auf seinen Namen berufen.
Mandel leugnet nicht, daß sich der Warenaustausch unmittelbar nach einer
antikapitalistischen Revolution als notwendig erweisen kann und daß in dieser
Phase Plan und Markt in „hybriden Übergangsformen“ koexistieren können.
Für ihn, wie auch für Marx, scheint der Übergang zum Sozialismus somit
durch ein graduelles Verschwinden des Marktes gekennzeichnet zu sein. Darin
liegt unsere Meinungsverschiedenheit. Möglicherweise hat sie ihren Ursprung
in einem definitorischen Mißverständnis von seiner Seite. Er hat völlig Recht,
wenn er behauptet, daß in der Epoche des “Spätkapitalismus” gigantische
Gesellschaften existieren, mit verschiedenen Abstufungen vertikaler Integration,
innerhalb derer die „direkte“ hierarchische „Zuteilung“ den Markt ersetzt.
Ich habe dieses Problem selber in meinem Buch The Economics of Feasible
Socialism behandelt und dabei betont, daß zur gleichen Zeit Tausende und
Abertausende kleiner und mittlerer Unternehmen fortbestehen. Wir müssen von
der Auffassung ausgehen, daß die Ökonomie der Staffelung—auf dem Gebiet
der Technologie, der Informatik und der Organisation — zahlreiche Varianten
54
kennt und dasselbe sich sehr wahrscheinlich auch im Rahmen des Sozialismus,
den man sich in realistischer Weise vorstellen kann, fortsetzen wird. Deshalb
erscheint es uns korrekt, mehrere Kategorien von Produzenten in Betracht
zu ziehen. Aber Mandel irrt sich, wenn er die Trennungslinie zwischen Plan
und Markt, zwischen ex ante und ex post zieht. Selbstverständlich wird eine
große Zahl von Gütern vor der Bestellung produziert! Und sicherlich ist die
Trennlinie zwischen Plan und Markt nicht gleich der Trennlinie zwischen
Konfektionsware und auf Bestellung gefertigter Kleidung! Mandel sagt, daß
nicht der Markt, sondern das geplante Ziel der Produktion von Lkws die Anzahl
der Teile bestimmt, die hergestellt werden müssen. Jedes Lehrbuch erklärt
uns jedoch, daß die Nachfrage nach Einzelteilen (oder anderen Bestandteilen)
von der Nachfrage nach Lkws auf dem Markt abhängt. Offensichtlich ist eine
Planung im voraus, d.h. eine Vorwegnahme ex ante, die Regel in einer kapitalistischen
Marktwirtschaft, die auf Marktanalysen oder vorher ausgehandelten
Verträgen basiert. Auch in einer sozialistischen Wirtschaft kann man sich vorstellen,
daß Schiffe und die technische Einrichtung in den Elektrizitätswerken
auf Bestellung hergestellt werden und daß andererseits Schuhe, Hemden und
Gemüse in Hinblick auf eine angenommene Nachfrage der Konsumenten produziert
werden, wobei sich diese Annahmen als falsch erweisen können und
eine Überprüfung ex post erfordern werden. Natürlich existieren der Markt
und die Warenproduktion, wenn Güter für den Markt, für den Tausch und
nicht für den Gebrauch produziert werden, und dies ist unabhängig vom Grad
der vertikalen Integration im Produktionsprozeß des einen oder anderen Produkts.
Mandel fragt: ist es zulässig, Beweise anzuführen, die aus der sowjetischen
Erfahrung abgeleitet sind? Gewiß haben einige spezielle russische oder sowjetische
Faktoren—die Rückständigkeit, die „schlechte bürokratische Herrschaft“
—eine Rolle gespielt. Aber es sind Lehren aus den Erfahrungen zu ziehen, die
(z.B.) den Grad, das Ausmaß und die Komplexität der Konflikte zwischen den
Sonderinteressen und den Allgemeininteressen betreffen, die Indikatoren der
Planerfüllung, die Investitionskriterien, die Preise vom theoretischen wie vom
praktischen Gesichtspunkt aus, die Arbeitsanreize, die Ungleichgewichte in
der Landwirtschaft, der Einfluß der Verbraucherwünsche auf die Pläne und
den Produktionsausstoß, die Rolle der regionalen Politik usw. Während die
sowjetische Bilanz bei der Behandlung dieser und auch anderer Probleme (ein-
55
schließlich der Umweltverschmutzung) viel zu wünschen übrig läßt, wäre es
absurd, die sowjetische Erfahrung zu ignorieren, weil man sich im voraus entschlossen
hat, sie als „nichtsozialistisch“ zu bezeichnen.
Wenn es heute in der Sowjetunion mehrere Typen und Varianten von Gütern
und Dienstleistungen gibt, die von Hunderttausenden von Unternehmen (aus
den Bereichen Industrie, Bau, Landwirtschaft, Transport usw.) hergestellt und
geliefert werden, und wenn die bloße Komplexität einer Planung ohne Markt
sowohl die Bürokratie als auch die Ineffizienz hervorruft, so ist es tatsächlich
nicht sehr sachdienlich, an die „Demokratie“ als Heilmittel zu appellieren. Das
Recht verschiedener gesellschaftlicher Schichten, sich in pressure groups zu
organisieren, so wünschenswert es an sich auch ist, kann die Aufgabe der Planung
nur noch mehr komplizieren. Mandel erklärt uns, daß die meisten Menschen
in Wirklichkeit ihre Wahl nicht zwischen Millionen von Gütern und Dienstleistungen
treffen und daß die Ansprüche der Leute dieselben bleiben und weitgehend
voraussehbar sind. Sicher, eine totale Unvorhersehbarkeit würde das
Leben in jeder Gesellschaft unmöglich machen! Aber man muß sich folgende
Frage stellen: warum gibt es in der Sowjetunion (und im Westen) Millionen
von Produkten? Das Problem besteht darin, daß, während Mandel und ich
selbst nicht zwischen Tausenden von Schuhen und Tausenden von Urlaubsorten
wählen, diese Tausende von Schuhen und Urlaubsorte tatsächlich für andere
zur Auswahl da sind. Sobald die Wirtschaft über die Ebene der Subsistenz
hinausgeht, wünschen die Leute eine vielfältigere Ernährung (um einen Gedanken
von Mandel selbst aufzugreifen), und gleiches gilt hinsichtlich der Schuhe
und des Urlaubs usw. Je größer die Vielfalt der Outputs (Produkte) ist,
umso größer ist die Vielfalt der Inputs (der Produktionsmittel) und umso schwieriger
sind die Aufgaben der zentralen Planer. Mandel fragt: warum der zentralen
Planer? Warum mein Beharren auf die Staffelung im allgemeinen? Wissen
wir nicht, daß sich das Ganze aus mehreren Teilen zusammensetzt, denen die
Entscheidung zukommt? In dieser Frage glaube ich, daß Mandel und diejenigen,
die so wie er denken, an einer besonderen Art der Blindheit leiden. Ich
werde es im folgenden erläutern.
Zunächst gibt es in einer modernen industriellen Wirtschaft mit ihren vielfältigen
Verflechtungen eine Logik der Zentralisierung der Planung auf der Grundlage
einer bewußten Einschätzung der Bedürfnisse der „assoziierten Produzenten“.
Die Entscheidungen, die sich hinsichtlich der Produktion und der
Zuteilung ergeben, müssen (mit welchen Mitteln auch immer) die von der „Ge-
56
sellschaft“ oder ihren Repräsentanten festgelegten Prioritäten widerspiegeln.
Sind die Entscheidungen einmal getroffen, so müssen sie durchgeführt werden,
was den Einsatz von in zahlreichen Regionen eines Landes oder außerhalb des
Landes produzierten Ressourcen beinhaltet. Wenn man nicht von der Hypothese
ausgeht, daß der „Überfluß“ bereits existiert und das Problem der alternativen
Wahl sich somit nicht stellt, muß ein Organismus existieren, der die
Ressourcen zuteilt und sich dabei zwischen alternativen Einsätzen der Ressourcen
entscheidet. Ja, es ist der Markt, der dies tut, und er tut es in einer
unvollkommenen Weise. Aber die Existenz zahlloser horizontaler, frei ausgehandelter
vertraglicher Verbindungen befreit das Zentrum von einer andernfalls
untragbaren Last, und es ist somit nicht erstaunlich, daß in diesem Sinne seitens
der Gorbatschow am nächsten stehenden sowjetischen Reformer Vorschläge
gemacht werden.
Tertium datur? (Gibt es eine dritte Lösung?)
Mandel kritisiert mich, weil ich nur zwei Alternativen in Betracht ziehe, die
administrative Zuteilung und den Markt (Kauf und Verkauf). Er besteht darauf:
tertium datur. Er unterstreicht auch, daß der Mensch sowohl Konsument
als auch Produzent mit der freien Auswahl in beiden Fällen ist. Sicher, aber
man muß sich der Implikationen bewußt sein. Es gibt bereits jetzt Tätigkeiten,
die aufgrund ihrer eigenen Natur nicht dezentralisiert werden können, z.B. das
Elektrizitäts- und das Eisenbahnnetz. Die „Selbstverwaltung“ auf lokaler Ebene
(ein Elektrizitätswerk, der Abschnitt einer Eisenbahnlinie) muß aus
augenscheinlichen Gründen rigoros begrenzt werden. Die Frage der Kenntnis,
ob es einen Anstieg der Nachfrage nach Elektrizität oder Transport gibt und ob
es nötig ist, entsprechende Entscheidungen zu ergreifen, muß einer viel höheren
hierarchischen Ebene unterbreitet werden sowohl heute als auch in einer
möglichen sozialistischen Gesellschaft. Das ist der Grund, warum ich diese
Sektoren als Sektoren behandele, die zentral geplant werden müssen. Dennoch
glaube ich, daß im wesentlichen die Wirtschaft in einer Weise dezentralisiert
werden muß, daß die Leute sowohl als Verbraucher als auch als Konsumenten
soweit wie möglich frei sind. Es ist erstaunlich, daß laut Mandel „der einfachste
und auch demokratischste Weg, die materiellen Ressourcen mit den
gesellschaftlichen Bedürfnissen in Einklang zu bringen, nicht ist, das Medium
Geld dazwischenzuschalten, sondern herauszufinden, welche Bedürfnisse die
Menschen haben, indem man sie danach fragt.“ Die Schwierigkeiten sind jedoch
ziemlich offenkundig. Wie kann man durch dieses Mittel die relative Intensität
der Bedürfnisse der Leute, die, wenn auch unvollkommen, durch die
57
Absicht zu bezahlen enthüllt wird, herausfinden? Wie wird man mit dem vorhersehbaren
Resultat umgehen, nach dem die Wünsche in ihrer Gesamtheit in
Gefahr geraten, die zu ihrer Befriedigung nötigen Mittel zu übersteigen? Welche
Lösung wird man den Bürgern anbieten, die der Meinung sind, daß ihre
Bedürfnisse nicht befriedigt werden? Und welche Machtmittel werden den Planern
erlauben, die Anwendung ihrer Entscheidungen sicherzustellen? Es ist
keine Antwort zu sagen, daß manche dringende Bedürfnisse klare Prioritäten
darstellen: Nahrungsmittel für Hungernde und Medikamente für Kranke müssen
gegenüber Luxusgegenständen Vorrang haben. Absolut einverstanden. Aber
die Welt ist ein wenig komplizierter. Wie Mandel selbst erklärt hat, haben wir
gerne eine vielfältigere Nahrung.
(...) Betrachten wir die Logik eines dezentralisierten Entscheidungsmechanismus
näher, unabhängig von der Tatsache, ob die Entscheidung dem Konsumenten,
dem Produzenten, einer Gemeinde oder einem besonderen lokalen Planungsbüro
zukommt. Sie haben alle eines gemeinsam, eine Anforderung: sie benötigen
eine gewisse Anzahl von Inputs. Einige, z.B. Wasser oder elektrische
Energie, können zentral in leicht voraussehbaren Mengen geliefert werden.
Andere, Tausende und Abertausende von Inputs, müssen von einer Unmenge
anderer Unternehmen produziert und geliefert werden. Diese können sie nur
unter der Bedingung liefern, daß sie die erforderlichen Produktionsmittel erhalten
und über eine Kontrolle der Güter und Dienstleistungen, die sie produzieren
werden, in einer Weise verfügen, die es ihnen ermöglicht zu liefern, was
der Kunde wirklich verlangt. In diesem Zusammenhang können wir die, an
sich wichtige, Frage der Bedingungen, unter denen die Entscheidungen tatsächlich
getroffen werden, den Grad der Selbstverwaltung oder der Beteiligung
im Rahmen der Produktionseinheit, beiseite lassen. Der wesentliche Punkt
ist, ob es sich um eine dezentralisierte Entscheidung handelt, die Inputs benötigt,
um verwirklicht zu werden. Wie werden sie in Mandels Welt erlangt? Wie
kann man die enormen Schwierigkeiten, die entstehen, nicht begreifen, wenn
man in Rechnung stellt, daß jede Entscheidung zahlreiche verschiedene Inputs
impliziert, die von einer gewissen Anzahl verschiedener Unternehmen geliefert
werden, von denen jedes seinerseits verschiedene Inputs benötigt? Der Gebrauch
von Computern kann die Berechnungen beschleunigen und helfen, ein
materielles Gleichgewicht zu erreichen. Aber es sind menschliche Wesen und
nicht Computer die über die Prioritäten und in bezug auf neue Vorschläge und
Innovationen entscheiden werden. (...)
58
Sicher, der Mensch ist sowohl Konsument als auch Produzent. Deshalb habe
ich mich in meinem Buch mit dem Konzept der „Präferenzen der Produzenten“
beschäftigt. Ja, es ist möglich, daß die Leute es vorziehen mehr Freizeit zu
haben, wenn die menschliche Neigung, Dinge zu erlangen, nicht mehr seitens
der kommerziellen Öffentlichkeit angereizt wird. (...) Mandel setzt voraus, daß
selbst die begrenzte Existenz von Marktbeziehungen zu einer Reihe von unerwünschten
Folgen führt. Ich will gerne zugeben, daß diese Gefahr existiert,
genauso wie eine nicht auf dem Markt basierende Zuteilung eine bürokratische
Deformation hervorrufen kann. In der Tat ist mein Argument, daß sie dies
nicht nur kann, sondern daß sie sie hervorrufen muß. Wie ich in meinem Buch
zu zeigen versucht habe, stellen so unterschiedliche Marxisten wie Charles
Bettelheim und Isaak Rubin übereinstimmend fest, daß die „Warenproduktion“
eng mit der Autonomie, dem getrennten Charakter der Produktionseinheiten
verbunden ist. Umso mehr der Plan vorgibt, alles zu umfassen umso weniger
ist es möglich, hinsichtlich der Inputs, der Outputs und der Partner auf der
Ebene des Produktionsbetriebes zu wählen und dies gilt unabhängig vom Grad
der Demokratie bei der Wahl der Versammlung, die über den Plan entscheidet.
Jeder Bürger oder jede Gruppe von Bürgern, die es wünscht, auf eigenes Risiko
ein Produkt oder eine Dienstleistung anzubieten, die sie für notwendig hält
muß grundsätzlich die Freiheit haben, in Besitz der dazu erforderlichen materiellen
Mittel zu gelangen und im Falle des Erfolgs einen Gewinn (Profit) zu
erzielen. Das ist ein integraler Teil von Rechten und Freiheiten als Produzent,
Rechte, die verletzt werden würden, wenn man einer „sozialistischen Polizei“
befehlen würde, sie daran zu hindern. Wenn diese Güter und Dienstleistungen
vom öffentlichen Sektor in zufriedenstellender Weise bereitgestellt würden,
bestünde keine Möglichkeit, Profit daraus zu ziehen. Ich habe festgestellt, daß
in der Sowjetunion die Bauern ihre Butter nicht auf dem Markt anbieten, wenn
es genug davon zum offiziellen Preis in den staatlichen Läden gibt. (...)
Mandel erklärt richtigerweise, daß viele Erfindungen zum Wohle der Menschheit
ohne den Anreiz durch Marktbeziehungen oder monetäre Entschädigungen
gemacht worden sind, und ich bin damit einverstanden, daß Pasteur und
Fleming von den edelsten Beweggründen angetrieben wurden. Auf viel niedrigerer
Ebene führen weder Mandel noch ich diese Debatte mit dem Ziel, Geld
zu verdienen. Jedoch erfordert die Anwendung von Entdeckungen im großen
Maßstab und selbst die Produktion von New Left Review den Kauf und den
Gebrauch materieller Mittel, Produktionsmittel, die einen alternativen Gebrauch
zulassen. Mandel berührt niemals wirklich die Frage wie die Produktionsmit-
59
tel produziert oder bereitgestellt werden können. Sicherlich kann man sich eine
Versammlung von Delegierten vorstellen, die z.B. über die Verwendung von
Leder diskutiert. Aber selbst ganz einfache Produkte erfordern eine ganze Reihe
von oft sehr speziellen Elementen; wie könnte garantiert werden, daß eine
Delegiertenversammlung, die über Tausende solcher Elemente zu befinden hat,
ohne eine hierarchische Autoritätspyramide einen zusammenhängenden Input/
Output des Ganzen gewährleistet—es sei denn, diese Einzelteile können gekauft
werden, und die ganze Pyramide wird überflüssig? Leider, tertium non
datur!
Wir brauchen nicht über die Bedeutung der Sektoren zu sprechen, wo das
Kriterium des Profits nicht angewandt werden darf: das Gesundheitswesen,
die Erziehung, die öffentlichen Bauten, die Post, der öffentliche Transport in
den Städten, der Schutz der Umwelt, die Versorgung mit Wasser, die Beleuchtung
und Reinigung von Straßen, die Parkanlagen usw. sind nicht dazu da (und
sollten auch nicht dazu da sein), um damit Geld zu verdienen. Jedoch auch zu
diesem Thema müssen wir feststellen, daß die öffentlichen Behörden über die
notwendigen materiellen Mittel verfügen müssen um ihre demokratischen Entscheidungen
umsetzen zu können. Wenn nicht, wie es in der Sowjetunion der
Fall ist, entscheidet ein lokaler Sowjet über den Bau oder die Reparatur einer
Schule, aber er findet nicht das erforderliche Baumaterial, da das Angebot
begrenzt und von einer entfernten Behörde rationiert ist. (...)
Irrtümer können in jedem System begangen werden. Darüber sind Mandel und
ich einer Meinung. Ich bin auch damit einverstanden, daß ein ungeregelter
Markt Zusammenbrüche großen Ausmaßes und eine große Arbeitslosigkeit
hervorrufen kann, die zwar ruinöse Mittel sind, es aber erlauben, sich über
begangene Irrtümer klar zu werden. Ich polemisiere deshalb u.a. mit den
Ideologen der Chicagoer Schule und all jenen, die an der Krankheit der Privatisierung
leiden. Aber es ist völlig phantastisch zu glauben, wie es Mandel tut,
daß eine reale Demokratie garantiert, daß die Mehrheit sich für notwendige
Korrekturen ausspricht. Dies setzt voraus, daß die erforderliche Handlungsweise
klar ist. In einer zentralisierten Wirtschaft ist es äußerst schwierig zu
wissen, wer oder was für diese oder jene Funktionsstörung verantwortlich ist,
und die Korrekturen (bei Abwesenheit eines Überflusses) implizieren normalerweise
einen Transfer der Ressourcen von einer Zuteilung zu einer anderen.
Ohne Zweifel teilt Mandel die Illusion Bucharins, nach der die „assoziierten
Produzenten“ klar verstehen werden, was auf der Basis der von den „nüchter-
60
nen Daten der Statistik“ gelieferten Indikatoren getan werden muß. In Wirklichkeit
ist es ein Rezept, das die Politisierung der konfliktgeladenen Nachfrage
hinsichtlich der Ressourcen riskiert. Mandel jedoch setzt dem die Zerstörung
entgegen, die er voraussieht, wenn „unabhängige Gesellschaften“ ihre
Entscheidungen in bezug auf „zersplitterte spezifische Interessen“ treffen. Wenn
die Interessen spezifisch sind—normalerweise sind sie es—und wenn die Leute
auf der Grundlage eines notwendigerweise begrenzten und partiellen Verständnisses
handeln, was ihnen als das Beste erscheint, werden daraus auf
jeden Fall Widersprüche resultieren, und die Alternative zur Unabhängigkeit
ist die Abhängigkeit, die hierarchische Unterordnung. Meiner Meinung nach
ist dies in einem gewissen Grade unvermeidlich, aber ich sehe die Mittel, die
Auswirkungen einer solchen Situation auf ein Mindestmaß zu begrenzen, in
einer Autonomie in Zusammenhang mit dem Markt.
Mandel liebt die Konkurrenz nicht, die jedoch, wie ich des öfteren betont habe,
eine unvermeidliche Folge der Wahlmöglichkeit für den Verbraucher ist. Die
New Left Review konkurriert mit anderen Zeitschriften, um Leser zu gewinnen.
Ein Restaurant, ein Theater, diejenigen, die Hemden produzieren oder
elektronische Bestandteile, brauchen Kunden, und diese müssen das Recht
haben, sich bei anderen zu versorgen, wenn sie nicht zufrieden sind. Mandel
wartet ungeduldig auf die Abschaffung monetärer Anreize. Auch ich ziehe
erhabenere Formen der Motivation wie Engagement, Fairneß, den Stolz auf
eine gute Arbeitsleistung, das Gefühl, der Gemeinschaft zu dienen, vor. Ich
teile mit ihm die Verachtung der Yuppie-Mentalität. Aber die Verfügbarkeit
über die Kaufkraft ist und bleibt wahrscheinlich einer der wichtigsten Anreize,
wenn nicht gar der einzige. Das Geld liefert auch eine unersetzliche Maßeinheit,
um das Verhältnis zwischen den Kosten und dem Resultat sowie die Intensität
der Bedürfnisse zu messen. Warum ist es „utopisch“, sich eine Kombination
aus dem „Wunsch nach materiellem Gewinn“ und einer „freiwillig akzeptierten
sozialen Verantwortung“ vorzustellen? Was mich betrifft, so fühle
ich mich durch beides motiviert! Warum sollte ein fähiger und gewissenhafter
Chirurg nicht sein Bestes tun, um seine Patienten zu versorgen, ohne zunächst
zu fragen, wieviel sie ihm zahlen werden, während er gleichzeitig den Wunsch
hat, mit seiner Familie Ferien auf Madeira zu verbringen? Mandel spricht von
einer „sozialen Dividende“, die für das gesamte Gemeinwesen zunimmt, wenn
gut gearbeitet wird. Dies kann für ein kleines Gemeinwesen zutreffen, in dem
jede(r) jede(n) kennt. In einem Land mit hundert Millionen Einwohnern gibt es
61
das Problem der Trittbrettfahrer; es gibt keine sichtbare Verbindung zwischen
der Anstrengung und dem Resultat, und die Wirkung des Anreizes verflüchtigt
sich.
Mandel glaubt, daß selbst ein begrenztes Vertrauen auf den Markt unerbittlich
zu „Überkapazitäten, Überproduktion und Erwerbslosigkeit“ führt. Doch dies
ist nicht notwendigerweise der Fall, wenn der Staat seine Möglichkeiten zur
Planung bewußt einsetzt, um diese Gefahren zu vermeiden. Ich leugne nicht,
daß diese Gefahren existieren. Und ich sehe auch nicht, warum „monetäre
Zuwendungen für Manager“ zu „permanentem Festhalten an Posten und repressiven
Verhalten“ fuhren sollten, insbesondere wenn die Manager gegenüber
der Arbeitskraft verantwortlich sind (die bereit sein könnte, für einen guten
Manager einen Extrabetrag zu zahlen!). In der UdSSR hat man betont, daß die
relative Unterbezahlung von Managern es erschwert hat, Leute davon zu überzeugen,
diese Tätigkeit anzunehmen. Mein Argument besteht darin, daß nur
Belohnungen und Lohndifferenzierungen (ob nun für Manager, Mechaniker,
Müllkutscher oder Professoren) die gewünschte Anstrengung hervorbringen,
nicht mehr und nicht weniger. Letztlich ist die „Selbstherrschaft der assoziierten
Produzenten“ im Rahmen eines großen Landes, und erst recht in der ganzen
Welt, für mich eine Losung und kein praktisches Programm. In dieser
ziemlich wesentlichen Frage haben wir weiter Meinungsverschiedenheiten. (...)
Ernest Mandel:
Antwort auf die Kritik Noves
Wir müssen Professor Nove dafür dankbar sein, daß er die Debatte auf das
Wesentliche beschränkt hat, daß er Abschweifungen und zweitrangige Fragen
vermieden hat. Unsere Diskussion betrifft nicht die am besten geeignete Strategie
zur Sicherung eines schnellen wirtschaftlichen Wachstums und einer zunehmenden
sozialen Gleichheit in relativ wenig entwickelten Ländern. Sie befaßt
sich auch nicht mit dem immer schlechteren Funktionieren der in der Sowjetunion
und in den anderen osteuropäischen Staaten bürokratisch geleiteten
Volkswirtschaften, nicht mit den nächsten Schritten dieser Länder nach vorne
oder den unmittelbar zu ergreifenden Maßnahmen, um den Kapitalismus in
den industrialisierten Ländern zu überholen, oder gar der Entdeckung eines
allgemeinen Gesetzes, das den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus
regelt.
62
Unsere Diskussion befaßt sich mit zwei Fragen: ist es möglich, den Sozialismus,
so wie ihn Marx konzipiert hat, d.h. als eine von freien und assoziierten
Produzenten geführte Gesellschaft, in der die Warenproduktion (Marktwirtschaft),
die sozialen Klassen und der Staat verschwunden sind, zu verwirklichen;
ist er als notwendige Voraussetzung für die Befreiung und Entwicklung
der meisten Menschen wünschenswert? Meine Antwort auf diese zwei Fragen
ist ein kategorisches „Ja“. Professor Nove antwortet auf die erste Frage mit
einem kategorischen „Nein“ und mit einem eher zögernden „Nein“ auf die
zweite.
Das bedeutet nicht, daß die oben erwähnten Probleme für die Diskussion über
das relative Gewicht, das man den Marktmechanismen jetzt sowohl im Osten
als auch im Westen beimessen muß, nicht von Belang sind. Es ist durchaus
möglich, daß sich die überzeugten .Verfechter des „Marxschen Sozialismus“,
der als eine Gesellschaft ohne Warenproduktion gedacht ist, zugunsten einer
Ausweitung und nicht einer Einschränkung der Marktmechanismen in der nachkapitalistischen
Gesellschaft aussprechen, wie es Trotzki zu Beginn der dreißiger
Jahre getan hat. Wir werden noch darauf zurück kommen. Aber das ist eine
Frage, die sich ganz und gar von der Frage unterscheidet, ob eine Gesellschaft
ohne Warenproduktion möglich und wünschenswert ist. Wenn wir nicht zuerst
auf diese Frage antworten, d.h. auf das Problem des Endziels der sozialistischen
Bestrebungen, werden wir uns in der Lage des Herzogs von Richelieu wiederfinden,
der zwar nicht wußte, wohin er zu gehen im Begriff war, der sich aber
dennoch entschlossen hatte, dorthin zu gehen.
Marktwirtschaft und Wirtschaftsschwankungen
Professor Nove beginnt mit einer Erklärung über die Lehren aus der sowjetischen
Erfahrung. Er schreibt: „Mandel fragt: ist es zulässig, Beweise anzuführen,
die aus der sowjetischen Erfahrung abgeleitet sind? Gewiß haben einige
spezielle russische oder sowjetische Faktoren — die Rückständigkeit, die
‘schlechte bürokratische Herrschaft’ — eine Rolle gespielt. Aber es sind Lehren
aus den Erfahrungen zu ziehen, die (z.B.) den Grad, das Ausmaß und die
Komplexität der Konflikte zwischen den Sonderinteressen und den Allgemeininteressen
betreffen, die Indikatoren der Planerfüllung, die Investitionskriterien,
die Preise vom theoretischen wie vom praktischen Gesichtspunkt aus,
die Arbeitsanreize, die Ungleichgewichte in der Landwirtschaft, der Einfluß
der Verbraucherwünsche auf die Pläne und den Produktionsausstoß, die Rolle
63
der regionalen Politik usw. Während die sowjetische Bilanz bei der Behandlung
dieser und auch anderer Probleme (einschließlich der Umweltverschmutzung)
viel zu wünschen übrig läßt, wäre es absurd, die sowjetische
Erfahrung zu ignorieren, weil man sich im voraus entschlossen hat. sie als
‘nichtsozialistisch’ zu bezeichnen 17 .
Niemand kann behaupten, daß man die sowjetische Erfahrung „ignorieren“
müsse, weil sie offensichtlich nicht sozialistisch ist, d.h. weil die Entwicklung
nicht zu einer klassenlosen Gesellschaft geführt hat. 18 Im Gegenteil, man muß
sie in der Tat aufs sorgfältigste studieren, sei es auch nur, um sich zu bemühen,
die vielfältigen Fallgruben zu vermeiden, in die die schlechte bürokratische
Lenkung die sowjetische Wirtschaft und Gesellschaft stürzte.
Unsere Meinungsverschiedenheiten mit Nove zu diesem Thema betreffen besonders
die Tatsache, daß die meisten Lehren, die er aus der sowjetischen Erfahrung
ziehen will, im Rahmen der relativen Rückständigkeit, der Isolierung
und der bürokratischen Führung der Sowjetunion anzusiedeln sind. Das Problem
ist, festzustellen, inwieweit sich die Mängel der sowjetischen Wirtschaft
aus den „Prinzipien der zentralistischen Planung“ als solche ergeben und in
welchem Maße sie vielmehr das Ergebnis der Rückständigkeit und der bürokratischen
Gewaltherrschaft sind, die unter reiferen Bedingungen vermieden werden
können.
Ein Beispiel: inwieweit sind die berühmten Schlangen das Produkt der angeblich
durch irgendwelche Formen der „zentralistischen Planung“ verursachten
relativen Knappheit, oder bis zu welchem Grad sind sie vielmehr durch Fehlinvestitionen
hervorgerufen, die die Warenverteilung und die Landwirtschaft
im Vergleich zur Industrie, besonders zur Schwerindustrie, systematisch benachteiligt
haben. Ein solches Mißverhältnis ist wirtschaftlich unrationell. Es
ist aber keineswegs die automatische Folge jeder zentralen Planung. Sie ist im
Gegenteil der Beweis einer falschen bürokratischen, ungleichgewichtigen, unzusammenhängenden
und „planlosen“ Leitung, die zur Verschwendung führt,
d.h. einer fehlenden oder unzureichenden Planung. Sie kann in einem System
der demokratisch geplanten Arbeiterselbstverwaltung verhindert werden, also
einer zentralisierten Planung in industriell fortgeschritteneren Ländern und auf
internationaler Ebene.
64
All das hat nichts zu tun mit einer Weigerung, den konkreten Erfahrungen
Rechnung zu tragen und ihnen einen „sozialistischen“ Dogmatismus (der gewiß
nicht marxistisch ist!) entgegenzuhalten. Im Gegenteil. Aber um mögliche
Verhaltensmuster in einer sozialistischen Welt entwerfen zu können, muß man
auch die beachtliche Menge statistischer Daten über das Verhalten von Verbrauchern
und Produzenten in den am meisten entwickelten Ländern berücksichtigen
und nicht nur die der Sowjetunion im Auge haben. Wir glauben,
daß man die Dinge umgekehrt betrachten muß. In der Diskussion über den
„realisierbaren“ Sozialismus sind es die Fanatiker der „ewigen“ Überlegenheit
der Marktwirtschaft, die einen hartnäckigen Dogmatismus an den Tag legen,
indem sie zunehmend unwichtigere Erscheinungen (sei es aus der Vergangenheit
oder den rückständigeren Ökonomien) dem entgegenhalten, was in der
Wirtschaft der am weitesten fortgeschrittenen Länder im Laufe der letzten vierzig
bis fünfzig Jahre geschehen ist. Das hat übrigens einen weiteren Bumerangeffekt
für Noves Thesen.
Nach ihm kann „ein ungeregelter Markt Zusammenbrüche großen Ausmaßes
und eine große Arbeitslosigkeit hervorrufen, die zwar ruinöse Mittel sind, es
aber erlauben, sich über begangene Irrtümer klar zu werden. Ich polemisiere
deshalb u.a. mit den Ideologen von Chicago und all jenen, die an der Krankheit
der Privatisierung leiden.“ (Von mir hervorgehoben.) Aber warum vergißt Nove
die mehr als zweihundert Jahre alten Versuche, die Märkte zu „regeln“, Versuche,
die alle die periodischen Krisen und die periodische Massenarbeitslosigkeit
nicht verhindern konnten? Warum versteckt er sich hinter der apologetischen
Formel, nach der „ein ungeregelter Markt dies und jenes hervorrufen kann
usw.“, während wir dieses Phänomen in allen Marktwirtschaften der westlichen
Länder gekannt haben, und zwar in mindestens 21 Zyklen seit 1825 und
es jetzt zum 22. Mal erleben? Ist es also logisch, Lehren aus 60 Jahren „realer“
Planwirtschaft in der Sowjetunion zu ziehen, und sich zu weigern, Lehren aus
160 Jahren internationaler „realer“ Marktwirtschaft in den westlichen Ländern
zu ziehen?
Die Grenzen der „Marktregulierung“
Die Tatsache, daß keine Marktwirtschaft periodische Katastrophen und massive
Zusammenbrüche verhindern konnte (Zerstörung und Entwertung von
Kapital und Anlagegütern), sowie die massive Arbeitslosigkeit, die periodische
65
Senkung des Lebensstandards und eine wiederholte moralische Verelendung
von Millionen von Menschen sind kein Zufall. Sie ergeben sich aus der ureigenen
Natur dieses Wirtschaftssystems.
Die Produktion für den Markt ist eine Produktion für unbekannte Verbraucher,
von unbekannten Mengen und mit unbekannten Ergebnissen (Verkaufspreis
und Profit). Nove ist der Meinung, daß dies nicht die Ursache für die
Differenz zwischen einer Zuteilung ex ante (von vornherein geplant, d.Übers.)
sämtlicher vorhandener gesellschaftlicher Ressourcen für die anerkannten gesellschaftlichen
Bedürfnisse oder deren Befriedigung ex post (im nachhinein
über den Markt, d.Übers.) ist. Unserer Auffassung nach handelt es sich hier
zumindest um eine seltsame Schlußfolgerung. Es ist doch gerade die Eigenheit
des Marktes, daß weder die Produktionseinheiten noch die Verbrauchseinheiten
die jeweiligen Entscheidungen im voraus kennen. Aber kennt das Werk, das
Achsen für eine Automobilfabrik herstellt, nicht im voraus die Anzahl der von
der Fabrik benötigten Achsen?
Wenn Adam Smith und andere Klassiker erklären, daß „die unsichtbare Hand“
des Marktes es ermögliche, ein Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage
herzustellen, gehen sie davon aus, daß dies im nachhinein, a posteriori,
geschieht. Wenn die frei festgesetzten Preise für die „wirtschaftlich wirksamen
Kräfte“ keine Signale sind, die sie veranlassen, ihr Verhalten zu ändern, worin
läge dann ihr Nutzen in den Augen der Verfechter der Marktwirtschaft? Aber
eine Änderung des Verhaltens impliziert die Notwendigkeit, vorausgegangene
Entscheidungen zu korrigieren, und somit auch eine grundlegende Ungewißheit
der a priori getroffenen Entscheidungen.
Nove betont, daß das Endprodukt einer Automobilfabrik vor allem eine Ware
ist, die auf dem Markt verkauft werden muß, wobei es ungewiß ist, ob sie
verkauft werden kann. Das ist vollkommen richtig. Aber weit davon entfernt,
unsere Argumentation zu widerlegen, bekräftigt sie diese Tatsache hinsichtlich
der Differenz zwischen der Zuteilung der Ressourcen a priori und der Zuteilung
der Ressourcen a posteriori oder, wenn man will, einer direkt bestimmten
Zuteilung und einer Zuteilung im nachhinein über den Markt.
Wenn der Absatz von Autos von 2 Millionen auf 1,5 Millionen zurückgeht,
erzwingt der Markt eine Umverteilung der Ressourcen. Aber der Markt kann
nicht die Produktion von einer Million Achsen oder von sieben Millionen Rä-
66
dern für eine Million Autos erzwingen. Innerhalb eines Unternehmens bestimmt
der technische Faktor und nicht der Markt. Die Bereitstellung der Ressourcen
ergibt sich automatisch und zwingend aus der Entscheidung, eine bestimmte
Anzahl von Fahrzeugen herzustellen. Sie schwankt weder als Funktion der
Verkaufsstatistiken der einzelnen Abteilungen noch als Funktion der „Profite“.
Und innerhalb der Privatwirtschaft insgesamt ergibt sich die Bereitstellung der
Mittel a priori aus den beabsichtigten gesellschaftlichen Prioritäten.
Es ist die mit der Marktwirtschaft untrennbar verbundene Ungewißheit, aus
der sich die wirtschaftlichen Zyklen unvermeidlich ergeben. Man kann nicht
die Produktion drosseln oder neue, Arbeit sparende revolutionierende Produktionstechniken
19 einführen, ohne Arbeitslosigkeit hervorzurufen. Man kann
nicht plötzlich einen beträchtlichen Preissturz (oder einen Sturz der Profitmarge
oder der Profitrate) provozieren, ohne daß Zusammenbrüche erfolgen.
Alle diese aus der Ungewißheit des Marktes unvermeidlich resultierenden Übel
werden durch das Privateigentum und die Konkurrenz zusätzlich verschlimmert.
Das macht die „Exzesse“ und die Irrtümer der Revision von Investitionsentscheidungen
unausweichlich, die ihrerseits wiederum das Ausmaß der
Schwankungen vergrößern.
Kein Unternehmen kann es sich leisten, zum Zweck der Sicherung des „Allgemeinwohls“
oder der maximalen „sozialen Dividende“ zu handeln. Unter dem
Zwang der Konkurrenz müssen alle Unternehmen die Investitionen erhöhen,
so lange die Dinge gut laufen (d.h. wenn der Markt und die Gewinne expandieren),
und sie halten sie zurück, wenn eine Krise ausbricht, ohne sich um die
globalen Auswirkungen zu kümmern, die dieses Verhalten auf die Gesamtwirtschaft
hat. So bewegt man sich periodisch zwischen übertriebenen (Vollbeschäftigung
oder beinahe Vollbeschäftigung) und unzureichenden Investitionen
(mit massiver Erwerbslosigkeit).
Eine „Marktregulierung“, d.h. eine Intervention des öffentlichen Sektors, kann
diese Schwankungen nur in zwei möglichen Fällen neutralisieren. Im ersten
Fall korrigiert diese Intervention die Schwankungen, nachdem sie stattgefunden
haben. Sie werden also nicht vermieden, sondern sie sind nur geringer
geworden, als sie ohne das Eingreifen des Staates gewesen wären. Außerdem
ist die Korrektur nur wirksam, wenn die öffentlichen Investitionen einen großen
und wachsenden Teil der Gesamtinvestitionen ausmachen und der öffentliche
67
Sektor weitgehend gegen die Rückwirkungen des ökonomischen Zyklus abgeschirmt
ist, wenn er also, mit anderen Worten, nicht mehr im wesentlichen vom
Markt bestimmt wird.
Im zweiten Fall verhindert die Intervention solche Übel wie die Arbeitslosigkeit
durch eine Steigerung der privaten Investitionen. Aber abgesehen von den
perversen Folgen, die ein solches Verhalten auf die Gesamtwirtschaft hätte, ist
es unmöglich, genau (und beizeiten!) vorauszusehen, wann die privaten
Investitionen zurückgehen—eben aufgrund ihres ungewissen Charakters.
Deshalb ist eine wirksame „Marktregulierung“ einfach unmöglich; die theoretische
Analyse bestätigt die geschichtliche Erfahrung. Eine Marktwirtschaft
auf einem bedeutenden Niveau halten und zugleich massive Erwerbslosigkeit
und zahlreiche Zusammenbrüche verhindern wollen, heißt zu wollen, was miteinander
unvereinbar ist. Man kann keine Marktwirtschaft haben, ohne daß
sich die Logik des Marktes durchsetzt. Und diese Logik schließt unvermeidlich
wirtschaftliche Schwankungen ein.
Die Schlußfolgerung ergibt sich von selbst: der „Marktsozialismus“ ist ein
Mythos, der weder heute existiert noch in Zukunft Wirklichkeit werden kann.
In dem Maße, wie der Markt noch ein bedeutendes Gewicht hat, gibt es noch
keinen Sozialismus. Und in dem Maße, wie es Sozialismus gibt, sterben die
Warenverhältnisse ab.
Gesellschaftliche Prioritäten und
begrenzte Ressourcen
Das ist umso mehr wahr, als die globalen Ressourcen immer begrenzt sind.
Jede Nutzung dieser Ressourcen durch den öffentlichen Sektor oder zur direkten
Befriedigung von Bedürfnissen außerhalb des Marktes reduziert automatisch
ihren Einsatz zur Produktion für den Markt.
Nun hat aber Nove selbst erklärt, daß das „Gesundheitswesen, die Erziehung,
die öffentlichen Bauten, die Post, der öffentliche Transport in den Städten, der
Schutz der Umwelt, die Versorgung mit Wasser, die Straßenbeleuchtung und
reinigung, die Parkanlagen usw. nicht dazu da sind (und auch nicht da sein
sollten), um Geld zu verdienen.“ Wenn man die Dienstleistungen auf dem Gebiet
der Kultur und der Information hinzufügt, dazu die Ernährung und not-
68
wendige Kleidung, dann hat man 70 bis 80% der zivilen Ausgaben in den
meisten industrialisierten Ländern beisammen. Somit bleibt nur noch ein begrenzter
Teil der Ressourcen zur Verfügung des Marktes übrig.
Wir sind fest davon überzeugt, daß aus sozial und psychologisch äußerst wichtigen
Gründen die Hauptnahrungsmittel, Kleidung, eine für jeden passende
Wohnung und die kulturellen Güter in der Liste der Güter und Dienstleistungen
enthalten sein müssen, deren Verteilung zur Befriedigung der Bedürfnisse
in Form von Gebrauchswerten vorgesehen sein sollte, d.h. ohne an Geld-Markt-
Beziehungen gebunden zu sein.
Jahrtausendelang hat die Menschheit unter der ständigen Bedrohung durch
Hunger, Krankheit, Epidemien, Naturkatastrophen und eines jähen verheerenden
Niedergangs des Ausmaßes der Befriedigung ihrer Bedürfnisse gelebt. Es
gibt nur zwei grundverschiedene wirtschaftliche Mechanismen, die auf lange
Sicht die ökonomische Sicherheit garantieren können: entweder das Anhäufen
großer Geldsummen (Vermögen) durch individuelle Anstrengung oder eine
soziale Organisation, die jedem Individuum automatisch die Befriedigung seiner
wesentlichen Bedürfnisse unabhängig von seiner Stellung oder von seinen
persönlichen Anstrengungen sichert.
Der erstgenannte Mechanismus fördert ein soziales Verhalten (auch gesellschaftliche
Wertvorstellungen und, wenn man will, eine soziale Ethik), das auf
Konkurrenz, Egoismus, Aggressivität, wachsender Entfremdung, kurz: auf dem
Gesetz des Dschungels beruht. Das gilt nicht nur für die kapitalistische Gesellschaft,
doch, wenn dies zutrifft, besonders für diese. Es gilt aber ebenso für die
vorkapitalistische kleine Warenproduktion, und es gilt unbestreitbar für die
partielle nachkapitalistische Warenproduktion, wie es die Entwicklung in der
UdSSR, in Osteuropa und in China beweist. 20
Das kann solange unvermeidlich sein, wie die materiellen Verhältnisse ein radikales
Absterben der Ware-Geld-Beziehungen nicht erlauben. Aber es ist unbestreitbar
ein soziales Übel, das Millionen und Abermillionen von Menschen
ernsthafte physische, geistige und moralische Entbehrungen auferlegt. Das führt
auch zu einer zunehmenden Desorganisation und birgt tödliche globale Gefahren.
Wenn die vier apokalyptischen Reiter — die atomare Vernichtung, die
Zerstörung der Ökosysteme und der Biosphäre, der Hunger in der Dritten Welt,
die massive Verarmung der Opfer der „dualen Gesellschaft“ in den Industrie-
69
ländern — uns immer mehr bedrohen, so kann die Menschheit das derzeitige
oder ein ähnliches Ausmaß an Konkurrenz- und Aggressionsverhalten nicht
mehr hinnehmen. Eine gesellschaftliche Organisation, die ein entgegengesetztes
sittliches Verhalten fördern, nämlich Kooperation, Solidarität und universell
angewandte moralische Normen (an erster Stelle die vollständige Abrüstung),
ist zu einer unerläßlichen Bedingung für das physische Überleben der Menschheit
geworden. Ein kooperatives Verhalten—d.h. Sozialismus—oder Tod, so
lautet heute die Wahl, vor der die Menschheit steht. Es ist die schlimmste aller
Utopien, wenn man glaubt, daß weltweit ein kooperatives Verhalten ohne materielle
Sicherheit und ohne Befriedigung der elementaren Bedürfnisse aller
Menschen systematisch gefördert werden kann. Die Annahme, die ausreichende
Güterversorgung durch individuelle Habsucht oder durch allgemeinen Wettbewerb
auf allen Gebieten erreichen und zugleich die Kooperation, die Solidarität
und die Beachtung universeller moralischer Normen anregen zu können,
bedeutet ebenfalls, an den Weihnachtsmann zu glauben.
Dasselbe Argument zugunsten gesellschaftlich relevanter und gegen die vom
Markt erzwungenen Prioritäten läßt sich auf die von Nove beschworenen Initiativen
privater Produzenten anwenden: „Jeder Bürger oder jede Gruppe von
Bürgern, die es wünscht, auf eigenes Risiko ein Produkt oder eine Dienstleistung
anzubieten, die sie für notwendig hält, muß grundsätzlich die Freiheit
haben, in Besitz der dazu erforderlichen Mittel zu gelangen und im Falle des
Erfolgs einen Gewinn (Profit) zu erzielen. Das ist ein integraler Teil von Rechten
und Freiheiten als Produzent, Rechte, die verletzt werden würden, wenn
man einer „sozialistischen Polizei“ befehlen würde, sie daran zu hindern. Wenn
diese Güter und Dienstleistungen vom öffentlichen Sektor in zufriedenstellender
Weise bereitgestellt würden, bestünde keine Möglichkeit, Profit daraus zu
ziehen.“
Es ist erstaunlich, daß Nove, der sich am liberalen Credo berauscht, nach
zweihundert Jahren der sozialistischen Kritik der Lohnarbeit nicht die offensichtliche
Verbindung zwischen den verschiedenen Mechanismen erfaßt, die es
dem „freien Unternehmen“ erlauben, in befriedigender Weise für einige, d.h.
für eine kleiner werdende Minderheit zu funktionieren. 21 Lassen wir die Fälle
der landwirtschaftlichen Eigenbedarfswirtschaft oder der handwerklichen Arbeit
auf kleiner Stufenleiter, die mit der Entwicklung der modernen Technologie
nur einen bescheidenen Platz einnehmen können, beiseite. Die kleine individuelle
und kooperative Produktion zu kreativen, wissenschaftlichen, ästheti-
70
schen, spielerischen oder ökologischen Zwecken ist per definitionem keine
Tätigkeit um des Profits willen. Solche Aktivitäten werden in einer sozialistischen
Gesellschaft gefördert werden. Sobald erst die elementaren Bedürfnisse
aller befriedigt sind, werden solche Aktivitäten wahrscheinlich einen immer
größeren Teil der den Menschen zur Verfügung stehenden Zeit und der materiellen
Ressourcen in Anspruch nehmen. Allein deshalb werden sie die für die
private Produktion für den Markt und den Profit zur Verfügung stehenden
Ressourcen verringern und bedeutungslos machen.
Die wirkliche Geschichte der Entstehung des „freien kapitalistischen Unternehmens’’
mit hochwertiger Technologie und Lohnarbeit bedeutet nicht, daß
immer mehr Leute die für diesen Zweck notwendigen materiellen Mittel erhalten.
Im Gegenteil: immer mehr Menschen werden der für die Produktion auf
eigene Rechnung „notwendigen Mittel“ beraubt (vor allem werden sie vom
freien Zugriff auf ein Stück Land abgeschnitten) Das „freie Unternehmen“ mit
Lohnarbeit im Interesse einer kleinen Minderheit ist durch die Zerstörung des
„freien Unternehmens’’ ohne Lohnarbeit im Interesse der breiten Massen entstanden.
Ehe wirtschaftliche Mechanismen—die Gesetze der Aneignung der
Produkte und die der kapitalistischen Produktionsweise eigene Verteilung der
Einkommen—die normale Reproduktion der massenhaften Lohnarbeit sicherten,
wurde diese durch Gewalt, Krieg, Eroberungen, Plünderung, Raub, Piraterie
und allgemeine Unterdrückung erzwungen. Die Ersetzung der direkten
physischen Gewalt durch ökonomischen Zwang ändert nichts an der ungerechten
Natur des Prozesses, umso mehr als der ökonomische Zwang ohne ständig
wiederkehrende physische Unterdrückung nicht funktionieren kann.
Was gestern wahr gewesen ist, wird auch morgen wahr sein. In einer sozialistischen
Gemeinschaft wird keine Wiedereinführung eines wirklichen Arbeitsmarktes
möglich sein, ohne gegen die Masse der Produzenten wirtschaftlichen
und politischen Zwang auszuüben. Insofern diese Produzenten ein garantiertes
durchschnittliches, angemessenes Konsumniveau haben werden - d.h. die Befriedigung
ihrer Grundbedürfnisse und einen wachsenden kulturellen Komfort
-, wird es weder Ressourcen noch Anreize geben, um die „notwendigen materiellen
Mittel“ für „freie kapitalistische, Lohnarbeit ausnutzende Unternehmer“
bereitzustellen, die sich von individuellen, mit eigenen Händen arbeitenden
Unternehmern klar unterscheiden .
71
Um ein solches Regime zu sichern, bedarf es keiner „sozialistischen Polizei“.
In einer sozialistischen Gemeinschaft wird das ganze System der Institutionen
und der gesellschaftlichen Wertvorstellungen die Menschen zweifellos dahingehend
beeinflussen, daß sie das Streben nach individueller Bereicherung ablehnen.
Aber die stärkste Garantie hierfür wird von der wirklichen Macht der
auf allen Ebenen der Produktion frei assoziierten Produzenten ausgehen, die
die Produktion von Produktionsmitteln selbst bestimmen, und von ihrer Entscheidung,
jedem einen anständigen minimalen Lebensstandard zu sichern. Die
kapitalistischen Kandidaten müßten Löhne bieten, die wesentlich höher sind
als das den Arbeitern garantierte Jahreseinkommen. Es wird nicht sehr viel
Angebot oder Nachfrage hierfür geben. Nur durch die Zerstörung dieser „Freiheit
der Bedürfnisbefriedigung“ der großen Mehrheit könnten einige Unternehmer
eine ausreichende Anzahl von Lohnarbeitern finden.
Wäre das ein „Despotismus der Mehrheit“? Man kann es nennen, wie man
will. Vom Standpunkt der Minderheit kann man jedes mehrheitliche Regime
„despotisch“ nennen. Aber die den Anwärtern auf kapitalistisches Unternehmertum
auferlegten „Beschränkungen“ sind bescheiden, zumindest im Vergleich
zu den Entbehrungen, die der Kapitalismus der Menschheit aufzwingt.
Auch ihnen wird ein durchschnittliches Niveau der Lebenshaltung garantiert
werden. Sie müssen nur auf einigen zusätzlichen Luxus verzichten. Auch sie
werden über immer mehr freie Zeit verfügen, die sie für individuelle oder kollektive
Aktivitäten, einschließlich individueller oder kollektiv-individueller
Betätigung, nutzen können. Da die alternative Despotie der Lohnarbeit mit
ihrer infernalischen und zerstörerischen Logik dem größten Teil der Welt viel
schlimmere Entbehrungen auferlegt, ist der „Despotismus der Mehrheit“ das
kleinere Übel im Bemühen, eine perfekte Gesellschaft aufzubauen.
Geld, Bedarfsdeckung und gesellschaftliche Prioritäten
Professor Nove bekräftigt wiederholt, daß die Marktverhältnisse nur bei sozialen
Dienstleistungen und bei einigen gleichartigen Gütern wie Wasser oder
elektrische Energie ausgeschaltet werden können. Er geht nicht auf unser Argument
ein, daß die Marktverhältnisse auch bei all jenen Gütern verschwinden
können, deren Nachfrageelastizität gegen Null tendieren oder gar negativ ist.
Die Tatsache, daß es Dutzende von Brotsorten gibt oder Hunderte von Strumpfmodellen
hindert niemand daran, den globalen Verbrauch dieser Güter nach
72
den vorhandenen statistischen Angaben vorauszuschätzen. Wenn ihre Produktion
nicht mehr nach den Prinzipien des Profits organisiert ist, sondern auf der
Grundlage der Wahl und der Vorbestellungen der Verbraucher— überdies bei
öffentlich diskutierter Qualitätskontrolle—, wird das zu einer weitgehenden
Befriedigung der Käuferwünsche und zu einer größeren Vielfalt von Produkten
führen als bei der Marktwirtschaft. Wir könnten hierzu zahlreiche Beispiele
anführen; wir beschränken uns darauf, nur einige aufzuzählen.
Zunächst einmal sind im Marktsystem die Verteilungskosten zu Lasten der
Verbraucher wesentlich höher, weil die verschiedenen Zwischenhändler ihre
Gewinne einheimsen und die Kosten einer oft irreführenden, manipulativen
und frustrierenden Werbung auch auf den Verbraucher zurückfallen. Kürzlich
hat der Verband der belgischen Hotels, Restaurants und Bars (HORECA) zugegeben,
daß der echte Preis für eine Tasse Kaffee, die 35 belgische Francs
kostet, nur sage und schreibe 50 Centimes beträgt! Laut der französischen
Monatsschrift Science et vie economique (März 1988) bringt ein Kilo grüne
Bohnen, das dem Verbraucher für 25 Francs verkauft wird, den Produzenten
nur 2,5 Francs, und 12,7 Francs gehen an den Zwischenhandel, von den Transportkosten
abgesehen. Eine Reduzierung der Verteilungskosten auf die materiell
nötigen Ausgaben und das Verbrauchereinkommen der in diesem Bereich
Beschäftigten würde es ermöglichen, die Verteilungsstellen wesentlich zu vermehren,
so daß die Verbraucher diese leichter erreichen könnten. Außerdem
würden die ermittelten Bedürfnisse der Verbraucher besser zufriedengestellt
werden, weil die Vielfalt des Angebots größer wäre als im auf Profit ausgerichteten
System, und dies auch noch zu geringeren Kosten für die Allgemeinheit.
Ein zweiter Punkt ist, daß im Profitsystem die Gewinnspanne - und nicht die
durchschnittlichen Kosten - darüber entscheidet, ob ein Produkt hergestellt
wird oder nicht. Unvorsichtiger Weise greift Nove das Problem der Publikation
von New Left Review auf, d.h. der Pressefreiheit, die „den Kauf und den
Gebrauch materieller Mittel erfordert, Produktionsmittel, die einen alternativen
Gebrauch zulassen“. Aber wenn der Staat heute bestimmen kann, 6% seiner
Mittel für die Produktion und Unterhaltung von Waffen bereitzustellen,
wenn in Noves „Marktsozialismus“ das Gemeinwesen bestimmt, x oder y Prozent
der materiellen Mittel für Erziehung, Gesundheitswesen, Transport oder
öffentlich geförderte Wohnungen und anderes zu bewilligen, warum soll man
es dann dem Markt überlassen, die für eine freie und vielfältige Presse erforderli-
73
chen Mittel bereitzustellen? Warum kann die Gemeinschaft nicht von vornherein
festlegen, daß 0,5 oder 1,5% der zur Verfügung stehenden Mittel eingesetzt
werden, um genügend Druckereien, Drucker, Papier usw. zu haben, so daß
jede Gruppe von Konsumenten die Tages- und Wochenzeitungen oder
Monatsschriften seiner Wahl beziehen kann, um sogar mit geringeren Auflagen
eine größere Vielfalt der Presse (Pluralismus) zu erreichen, als sie heute
gegeben ist?
Die Alternative hierzu ist gerade eine Beschränkung der Pressefreiheit durch
zentralisierte Kontrolle, sei es durch das Großkapital, sei es durch den Staat
oder durch beide. Vor etwa zwei Jahren ist der mit dem Marktsystem verbundene
Widersinn in einer für die Pressefreiheit in Frankreich besorgniserregende
Weise demonstriert worden. Ein Rückgang von knapp 5% des Absatzes
einer großen Zeitung wie Le Monde hat gedroht, mehr als ein Million Leser um
die von ihnen bevorzugte tägliche Lektüre zu bringen. Ist dies wirklich die
beste Art und Weise, die Wahl des Konsumenten und die Vielfalt der Presse
sicherzustellen?
Ein drittes Beispiel. Bei einer auf Profit ausgerichteten Produktion sind monopolistische
oder oligopolistische Gesellschaften daran interessiert, ein Produkt
durch ein anderes zu ersetzen, unabhängig von den Wünschen der Verbraucher,
wenn das zweite Produkt einen höheren Gewinn verspricht, selbst wenn
das erstere noch rentabel ist. Auf diese Weise kann den Verbrauchern eine von
ihnen gewünschte Ware allein dadurch vorenthalten werden, daß sie nicht mehr
hergestellt wird. Das fängt bereits an, bei den herkömmlichen Langspielplatten
zu geschehen, die den Compact Discs geopfert werden.
Es stimmt also nicht, daß in einer reichen Gesellschaft der Markt eine größere
Souveränität der Verbraucher garantiert, sobald die elementaren Bedürfnisse
befriedigt sind. Genau das Gegenteil ist richtig.
Es ist bezeichnend, daß sowohl Nove als auch andere Verfechter des „Marktsozialismus“
kein Wort über die unvermeidliche Tendenz der Konkurrenz auf
dem Markt verlieren, die darauf abzielt, den schwächeren Konkurrenten zu
verdrängen, d.h. die Tendenz zur Bildung von Monopolen, was wiederum dazu
führt, noch größere Monopole zu bilden (heute vorwiegend Multis). Dieser
Prozeß der Konzentration und Zentralisation des Kapitals hat die Entwicklung
74
der Marktwirtschaft stets begleitet—bereits vor dem Entstehen des industriellen
Kapitalismus, d.h. seit mindestens 400 Jahren. Kann man diese praktische
Erfahrung einer „echten Marktwirtschaft“ einfach ignorieren? 22
Nove wiederholt, daß „das Geld auch eine unersetzliche Maßeinheit liefen, um
... die Intensität der Bedürfnisse zu messen“. Aber selbst vom individuellen,
mikroökonomischen Standpunkt aus ist diese Behauptung zumindest zweifelhaft.
Ob jemand ein zusätzliches Einkommen lieber für einen teureren Urlaub aufwenden
als für ein Klavier für seine Kinder, hängt von mehreren Faktoren ab,
wobei die Gestehungskosten der verschiedenen Güter eine entscheidende Rolle
spielen. In dieser Beziehung ist die Werttheorie durchaus zutreffend. Die Tatsache,
daß man für Bücher weniger Geld aufwendet als für ein Klavier, beweist
nicht, daß der Wunsch nach einem Klavier mehr oder weniger stark ist
als das Verlangen nach Büchern; sie beweist nur, daß die Kosten für die Herstellung
eines Klaviers viel höher sind.
Wenn Noves Behauptung schon auf mikroökonomischen Ebene zweifelhaft
ist, dann ist sie aus makroökonomischer Sicht vollkommen falsch. Solange die
Kaufkraft - die globale Nachfrage - ungleich verteilt ist, richtet sich die Produktion
nicht nach dem stärksten Bedarf, sondern nach jenen Bereichen, wo
mehr Geld vorhanden ist und wo man schneller Profit machen kann. Niemand
wird ernsthaft behaupten, daß der Bedarf an Zweitwohnungen dringender sei
als der Bedarf derer, die keine Wohnung haben. Dennoch werden Zweit- und
Luxuswohnungen in großer Zahl gebaut, während es selbst in den reichsten
Ländern noch Millionen von Menschen ohne Wohnung gibt, vom Rest der
Welt ganz zu schweigen. Und was soll man zum Nahrungsmittelbedarf der
Armen in der Dritten Welt im Vergleich zur Intensität des Bedürfnisses nach
einem zweiten Fernsehgerät oder einem Personal Computer bei den reichen
Mittelklassen der westlichen Länder sagen? Aber die Mechanismen des Marktes
sorgen dafür, daß viel mehr Mittel eingesetzt werden, um den letztgenannten
Bedarf zu decken.
Wenn obige Behauptung vom makroökonomischen Standpunkt aus falsch ist,
dann ist sie vom makrosozialen Standpunkt aus erst recht falsch; denn hier
müssen alle gesellschaftlichen vom Markt auferlegte Kosten für eine bestimmte
Wahl und deren Folgen zusammengezählt werden, wenn es verschiedene
gleichzeitig vorhandene Bedürfnisse gibt, d.h. hier wird das Problem der ge-
75
sellschaftlichen Prioritäten berührt. Geld ist hierfür keine rationelle Maßeinheit,
es sei denn, man akzeptiert die letztlich inhumane Logik der Analyse von
„Kosten/Geldgewinn“, indem man den „Wert“ von Leben und Tod Tausender
Menschen aufgrund der „Kapitalisierung“ ihrer zukünftigen „Einkommen“
berechnet (einschließlich derer von Kindern, von denen noch gar nicht bekannt
ist, welchen Beruf sie ergreifen und was sie verdienen werden).
Das in dieser Hinsicht katastrophalste Beispiel ist das der Privatautos. Die
Benutzung eines Privatwagens als Transportmittel zwischen Wohnung und
Arbeitsplatz sowie zwischen Wohnung und Einkaufszentren 23 stellt eine monströse
Vergeudung dar, umso mehr als die Plätze im Wagen meist nicht alle
besetzt sind. Das Ergebnis dieses Verhaltens ist eine dauernde Verstopfung der
Straßen und eine Zunahme der Luftverschmutzung in den Städten, ganz abgesehen
von den kriegsähnlichen Massakern, die von verantwortungslosen Fahrern
verschuldet werden. 24
Wäre es nicht besser, den städtischen Verkehr derart zu organisieren, daß sich
die Verkehrsteilnehmer kostenlos in kleinen Bussen mit hoher Verkehrsfrequenz
oder, noch besser, mit elektrisch angetriebenen Bussen fortbewegen? Warum
soll es nicht möglich sein, 2 bis 3 % der zur Verfügung stehenden gesellschaftlichen
Ressourcen für Gratistransporte einzusetzen? Wenn das geschähe, wer
würde dann noch Privatautos kaufen und Geld für Benzin ausgeben? Es bedürfte
keiner „Polizei“, um solche Käufe zu „verbieten“.
Selbst wenn dies von ernsten Ungleichgewichten zwischen der Produktion von
Omnibussen und Pkws begleitet wäre und die öffentlichen Unternehmen vom
makroökonomischen Standpunkt aus weniger effizient arbeiten würden als heute
die privaten Automobilfabriken —eine Hypothese, die unserer Meinung nach
noch zu beweisen wäre—, würde eine derartige radikale Reduzierung des verrückten
Rennens, das nur zu Paralyse durch Luftverschmutzung führt, riesige
materielle Ressourcen ersparen und viele Menschenleben retten. Die Befriedigung
der Verbraucherwünsche wäre gesichert. Das Geld würde eine genau
umgekehrte Rolle spielen als die, die man ihm zuschreibt, d.h. es würde abschrecken
anstatt anzureizen .
Noch einmal: mit welchem Recht könnte ein tyrannischer Verfechter des
„Marktsozialismus“ einer Gemeinschaft verbieten, sich mehrheitlich für ein
öffentliches, kostenloses, komfortables und sicheres Transportsystem zu ent-
76
scheiden, das weitgehend dezentral organisiert wäre und in jedem Fall viel
weniger Bürokraten erfordern würde als die riesigen privaten Monopole der
Automobilindustrie —falls es überhaupt einer bürokratischen Struktur bedarf?
Es gibt eine dritte Lösung!
Nove leugnet, daß es eine brauchbare und wünschenswerte Alternative sowohl
zur bürokratischen Zentralisierung als auch zum „Marktsozialismus“ gibt. Er
verwirft eine dritte Möglichkeit, weil nach seiner Auffassung eine Bereitstellung
der zentralisierten Ressourcen (vor allem für die Produktionsmittel) in
einer modernen Wirtschaft unvermeidlich ist. Er schreibt: „Aber selbst ganz
einfache Produkte erfordern eine ganze Reihe von oft sehr speziellen Elementen;
wie könnte garantiert werden, daß eine Delegiertenversammlung, die über
Tausende solcher Elemente zu befinden hat, ohne eine hierarchische Autoritätspyramide
einen zusammenhängenden Input/Output des Ganzen gewährleistet—
es sei denn, diese Einzelteile könnten gekauft werden, und die ganze Pyramide
wird überflüssig? Leider, tertium non datur!“
Das ist eine Rückkehr zum Ausgangspunkt, als ob die vorangegangene Diskussion
überhaupt nicht stattgefunden hätte. Zunächst führt der Markt nicht
notwendiger Weise zu einer „lnput/Output-Kohärenz“. Überschüssige Produktionskapazität
und Mangel existieren periodisch nebeneinander und rufen
laufend Boom und Börsenkrach hervor. Die der seit zweihundert Jahren „real
existierenden Marktwirtschaft“ eigenen wirtschaftlichen Schwankungen liefern
den Beweis für eine gigantische „lnput/Output-lnkohärenz
Zweitens werden die meisten dieser Elemente (die großen Produktionsmittel)
nicht in bezug auf die Preisschwankungen geliefert. Der „Kauf“ ist nichts als
eine Formsache, er beeinflußt in keiner Weise die verschiedenen Auswahlmöglichkeiten.
Die Dinge werden auf Bestellung produziert, und zwar in der Regel
ohne Konkurrenz auf dem Preissektor, und sie hängen von vertraglichen technischen
Abreden und von zuvor festgelegten gesellschaftlichen Prioritäten 25
ab. Streitigkeiten gibt es nur bei gravierenden Mängeln (schlechte Qualität,
Nichteinhaltung von Lieferfristen, empfindliche Preiserhöhungen). In 99% der
Fälle ist das nicht die Frage von plötzlichen „Signalen“ des Marktes.
Drittens ist eine zentrale Bereitstellung der Mittel—die angesichts der Beschränktheit
der Ressourcen und der Notwendigkeit, Prioritäten zu setzen, tatsächlich
unverzichtbar ist— keineswegs identisch mit einer „detaillierten“
77
Zuteilung, wie sie als Funktion von Preisbewegungen, d.h. des Marktes, erfolgt.
Nove geht nicht auf unser Argument ein, demzufolge eine „elastische“
Selbstverwaltung absolut möglich ist. Ein nationaler (oder internationaler)
Delegiertenkongreß wird nur demokratisch darüber entscheiden müssen, welcher
Anteil von Mitteln aus dem Nationaleinkommen für jede der, sagen wir,
zwanzig Schlüsselsektoren zur Verfügung gestellt werden muß. Dabei wird er
seine Wahl zwischen den verschiedenen zusammenhängenden „Input/
Output-Varianten „ treffen müssen. Die detaillierte Planung je Branche, z.B.
der Stahl- oder Lederindustrie, wird den Delegiertenkongressen dieser Industrien
überlassen (wo auch die Verbraucher vertreten sind). Noch mehr ins
Detail gehende Entscheidungen werden von Delegiertenräten auf regionaler,
lokaler oder betrieblicher Ebene getroffen. Alternative Möglichkeiten im Hinblick
auf begrenzte Ressourcen werden dabei keineswegs ignorieren. Sie werden
auf den verschiedenen Ebenen demokratisch diskutiert werden.
Ein solches institutionelles System bringt keine hierarchischen Strukturen hervor.
Es sichert im Gegenteil die Souveränität der Produzenten-Verbraucher,
d.h. die Selbstbestimmung und Freiheit im echten Sinne des Wortes sowohl
hinsichtlich der Tyrannei blinder Marktkräfte als auch arroganter Bürokraten.
Man soll uns doch sagen, warum das nicht funktionieren kann. Würde das eine
übermäßige Politisierung hervorrufen? Vielleicht. Aber eine Politisierung in
einer freien Gesellschaft mit politischem Pluralismus, freiem Zugang zu den
Medien und öffentlich kontrolliertem Nachrichtenwesen wäre unbestreitbar ein
geringeres Übel als die riesige, durch die jetzige Erwerbslosigkeit oder die
schlechte bürokratische Leitung bedingte Vergeudung. 26
Über die menschliche Freiheit
Wir kommen jetzt auf den Kern der Auseinandersetzung zurück. Wir sind der
Meinung, daß die Diskussion das Maximum der möglichen wirtschaftlichen
Effizienz nicht wesentlich berührt (ist diese Effizienz überhaupt meßbar, wenn
es keine Definition gibt, die genauer ist als die im allgemeinen von den Ökonomen
gegebenen?). Die Diskussion dreht sich um das Höchstmaß an möglicher
menschlicher Freiheit oder um die Befreiung von den dem Individuum von
außen auferlegten Zwängen wirtschaftlicher, politischer oder soziokultureller
An. Es ist eine Diskussion über die als Ziel der menschlichen Existenz verstandene
Selbstbestimmung .
78
Es versteht sich von selbst, daß, wenn die elementaren menschlichen Bedürfnisse
aller Menschen nicht befriedigt sind, es keine Freiheit und keine Selbstbestimmung
geben kann. Die wirtschaftliche Effizienz als Mittel zur Sicherung
der Bedürfnisbefriedigung aller ohne Unterschied und ohne Diskriminierung
erhält in diesem konzeptionellen Rahmen ihren Sinn. Aber als dauerndes
Ziel menschlicher Anstrengung jenseits jeder anderen Erwägung oder Motivation
wird sie irrational und schlägt ins Gegenteil um.
Die Auseinandersetzung berührt somit eine präzise Frage: soll die maximale
wirtschaftliche Effizienz, sobald die Grundbedürfnisse befriedigt sind, weiterhin
souverän und ohne Rücksicht auf die individuellen und gesellschaftlichen
Kosten herrschen oder muß sie anderen Zielen untergeordnet werden wie etwa
der radikalen Herabsetzung der Arbeitszeit (der Arbeitszeit während des ganzen
Erwachsenenalters), dem radikalen Abbau der gesellschaftlichen Arbeitsteilung
zwischen Verwaltern und Verwalteten, der automatischen Freisetzung
von Zeit für freie schöpferische Tätigkeit, dem Schutz der Umwelt, dem Kampf
gegen körperliche und seelische Krankheit usw.?
All jene, die behaupten, daß das utopisch sei, beharren in Wirklichkeit darauf,
daß die Menschheit verurteilt ist, der Tyrannei der „objektiven ökonomischen
Gesetze“ und der sozialen Ungleichheit in welchem Zusammenhang auch immer
unterworfen zu sein. Nicht genug damit meinen sie, daß die Ablehnung
dieser Zwänge zu einem unannehmbar hohen Niveau der Bedürfnisbefriedigung
führen muß
Hier haben wir eine neue Version des Aberglaubens von der Erbsünde. Dieses
Vorurteil entstammt dem Mythos vom Homo oeconomicus, ein Mythos, der
nur ein Versuch ist, den konkurrierenden Bourgeois (Groß- und Kleinbürger)
als typisches Verhaltensmuster der menschlichen Existenz außerhalb von Zeit
und Raum darzustellen, der in Wirklichkeit nur eine relativ späte Erscheinung
in der menschlichen Geschichte ist
Der Marxsche Sozialismus, wie ihn Professor Nove und ich selbst ihn interpretieren,
bedeutet im wesentlichen die Emanzipation der frei assoziierten Produzenten
vom Zwang, die materiellen und menschlichen Ressourcen nach „ewigen
ökonomischen Gesetzen“ nutzen zu müssen. Es handelt sich um eine Gesellschaft,
in der die Produzenten-Konsumenten frei darüber entscheiden, welche
Gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Prioritäten sie setzen. Wenn sie
79
auf ein zweites Fernsehgerät verzichten wollen, um mehr Freizeit zu haben
oder weniger hart zu arbeiten, werden sie ohne Einschränkung das Recht haben,
dies zu tun. Niemand wird sie zwingen, der einen oder der anderen Sache
Vorrang einzuräumen, weder Experten noch weise Philosophen, auch keine
charismatischen Führer oder Parteien. Die ganze Geschichte hat gezeigt, daß
all diese Leute weit davon entfernt sind, allwissend zu sein. Die Produzenten
werden die Freiheit haben müssen, gemäß ihrem Wissen und Gewissen zu entscheiden.
Wenn wir von sozialistischer Planung sprechen, so meinen wir genau
dies.
Anmerkungen
1 MEW, Bd.20, Dietz-Verlag Berlin 1962, S.252 und 258
2 The Economics of Feasible Socialism, London 1983, S.33. Ich werde mich in
diesem Artikel auf die wichtigsten kritischen Einwände von Nove gegen die marxistische
Vorstellung vom Sozialismus konzentrieren und nicht so sehr auf seine Meinungsverschiedenheiten
mit der marxistischen Wirtschaftstheorie im allgemeinen.
Letztere werde ich in meinem in Erscheinung begriffenen Buch Marxist Theoretical
Legacy - -Restatting the Case for Socialism at the End of the Twentieth Century,
London, Verso 1987, behandeln.
3 The Economics of Feasible Soaalism, S. 15-16
4 s.u.a. Wlodimierz Brus, The Market Socialist Economy, London 1972; Branko
Horvath, The Political Economy of Socialism, London 1976; R.Sezucky, Marxism,
Socialism and Freedom, London 1979; Ferenc Feher und Agnes Heller, Dictatorship
over Needs, London 1984.
5 Zum Einsatz von Computern für ein vollautomatisiertes Managementsystem in
der UdSSR s. Martin Cave, Computers and Economic Planning, Cambridge 1980,
S. 153-67
6 Cesar Milstein, Nobelpreisträger für Medizin im Jahr 1984, hatte sich geweigert,
für seine Entdeckung, die bis 1990 einen milliardenschweren Markt erschlossen
hätte, ein Patent zu erwirken. “,Ein Patent hätte bedeutet, alles geheim zu halten,
während wir uns Gedanken über die Anwendungsmöglichkeiten machten—eine
schändliche Beleidigung der Wissenschaft. Patente sind intellektueller Schwindel.“
Sunday Times vom 23.10.1984
80
7 s.u.a. Bruno Bettelheim, The Children of Dream, New York 1969, Rabin-Beit
Hallahmi, Twenty Years Later, New York 1982, Gunar Heinsohn (ed.), Das Kibbutz-
Modell, Frankfurt 1982, Dieter Zimmer, Die Form des neuen Menschen, in Zeitfragen,
vom 12.10.1984
8 The Economics of Feasible Socialism, S.77
9 Ein intensives Forschungsprojekt unter Prof. Dörner, einem deutschen Konservativen,
hat experimentell nachgewiesen daß einfache Menschen mit Hilfe des Computers
viele komplexe Probleme der sozio-ökonomischen Planung einer mittelgroßen
Stadt lösen können. Sie brauchten dazu keine überdurchschnittliche Intelligenz
oder fortgeschrittene Kenntnisse. Der Schlüssel zu dieser ihrer Befähigung war das
Gefühl, daß sie wirklich Kontrolle ausüben, die Überzeugung, daß sie über echte
Entscheidungsgewalt verfügen, s. Dörner (hrsg), Lohausen. Vom Umgang mit Unbestimmtheit
und Komplexität, Bern, Stuttgart, Wien 1983
10 The Economics of Feasible Socialism, S.200-201
11 a.a.O. S.215
12 a.a.O. S.204-205
13 a.a.O. S.204
14 a.a.O. S.229
15 a.a.O. S.178
16 Andreas Hössli hat eine bemerkenswerte Analyse und Kritik über die Mißwirtschaft
der polnischen Bürokratie verfaßt, Die planlose Wirtschaft. Man kann hoffen,
daß dieses Buch, das bald in deutsch herauskommt, rasch ins Englische übersetzt
wird.
17 Alle Bezüge auf Alec Nove betreffen seinen Artikel, der in Nr.161 von New Left
Review (Januar/Februar 1987) erschienen und in der vorliegenden Ausgabe von
Inprekorr leicht gekürzt abgedruckt ist.
81
18 Die Frage, ob man sich an die klassische marxistische und sogar vormarxistische
Definition hält, nach der der Sozialismus eine klassenlose Gesellschaft ohne
Warenproduktion ist, oder ob man eine eingeschränktere Definition akzeptieren,
die den Sozialismus mit dem Verschwinden des Privateigentums an den Produktionsmitteln
gleichsetzt, wurde in unserem Artikel „Warenproduktion und Bürokratie
bei Marx und Engels“ behandelt (siehe: E. Mandel, Karl Marx - die Aktualität
seines Werkes, Frankfurt 1984, S. 137-138).
19 Das schließt fast immer auf mittlere und auf lange Sicht eine substanzielle Erhöhung
der Menge der Produkte ein, die zu einem Durchschnittsprofit verkauft werden
müssen. Daher rührt der Doppelcharakter jeder Krisentheorie, die nicht nur die
Produktion von Werten, sondern auch die Realisierung von Profit, nicht nur die
Dynamik und die Struktur des Wertes (die Quantität an Arbeit, die in ihnen steckt),
sondern auch die durch die Dynamik der Produktion und ihre Klassenstruktur verursachte
Geldnachfrage (die Kaufkraft) wie auch die proportionalen (oder disproportionalen)
Beziehungen zwischen ihnen analysieren muß.
20 Die Sunday Times vom 28.Februar 1988 meldete, daß man laut einer Erklärung
eines hohen Repräsentanten der VR China 1987 5200 Mädchenhändler abgeurteilt
habe, 150% mehr als 1986, und diese Zahl sei nur ein Bruchteil aller vorhandenen
Mädchenhändler. Wir haben hier also einen Fall von Mädchenhandel im „Marktsozialismus“
mit steigender Tendenz! Muß man sich darüber wundern, wenn die
Verkäufer junger, aus rückständigen Gebieten stammender Frauen 5000 Yuan für
jedes Mädchen erzielen können, während der durchschnittliche Monatslohn 20 Yuan
beträgt? Ist es realistisch anzunehmen, daß ein solches Verhalten verschwinden wird,
solange private Habsucht und individueller Aufstieg durch Geld noch vorherrschend
sind?
21 Denken wir daran, daß in den USA, in Großbritannien und in Schweden die
unabhängigen Produzenten und Unternehmer weniger als 10% der aktiven Bevölkerung
ausmachen und weniger als 15 % in mehreren anderen Ländern.
22 Die Fälle häufen sich, daß Monopolfirmen Waren verkaufen, die gesellschaftliche
Bedürfnisse befriedigen sollen, womit ein verbreiteter Mythos widerlegt wird.
Ihr Eindringen in diesen Bereich und ihre potentielle Dynamik sind alarmierend. In
der New York Review of Books vom März 1988 erklärt Professor M.F. Perutz, daß es
im Jahre 1964 in den USA 20 Firmen gab, die Impfstoffe herstellten. 1984 war ihre
Zahl auf fünf gefallen. Dieser Rückgang vollzog sich, obwohl der Fortschritt auf
dem Gebiet der Molekularbiologie es ermöglicht, Impfstoffe gegen Malaria, Hepatitis
B, Cholera und andere in der Welt verbreitete Krankheiten herzustellen und eine
verzweifelte Suche nach einem Impfstoff gegen AIDS im Gange ist. Ihre monopol-
82
artige Stellung hat den noch verbliebenen Firmen erlaubt, unter verschiedenem
Vorwand die Preise für den Impfstoff gegen Diphterie, Tetanus und Keuchhusten
von 16 Cents auf 10 Dollar zu erhöhen.
23 Vom Standpunkt der Freizeit sind die Privatwagen ein Mittel der Autonomie
(Freiheit). Aber dieses Bedürfnis könnte mit nichtprivaten Fahrzeugen befriedigt
werden, indem man sie jenen zur Verfügung stellt, die sie wirklich benutzen, wenn
sie sie brauchen. Das hätte allerdings eine makroökonomisch spürbare Reduzierung
der für diesen Zweck bereitzustellenden Mittel zur Folge.
24 Eine umfassende und ausgezeichnete Kritik der Benutzung von Privatfahrzeugen
findet sich in dem Buch von Winfried Wolf Eisenbahn und Autowahn (Hamburg:
Rasch & Röhring,1987), das es verdient, in andere Sprachen übersetzt zu werden.
25 Die im Gang befindlichen Vorbereitungen zur Schaffung des „freien gemeinsamen
Marktes“ von zwölf westeuropäischen Ländern machen deutlich, wie sich die
gesellschaftlichen Prioritäten im Kapitalismus durchsetzen und bis zu welchem Punkt
der Gedanke einer vom Markt gesteuerten Wirtschaft unrealisierbar und somit falsch
ist. Diese Vorbereitungen betreffen u.a. die Festlegung von 300 „internen Marktdirektiven“,
die das tägliche Leben und den Handel von 350 Millionen Menschen
regeln sollen und solch unterschiedliche Gebiete umfassen wie Veterinärkontrollen,
Kosmetika, Pestizide, Hebekräne, Wasserqualität, die Tiefe der Reifenprofile, das
Gewicht der Kraftwagen, die Sicherheit von Spielzeug, Lebensversicherungen,
Asbestvergiftung, mobile Telefone, Geräuschpegel von Rasenmähern, Sicherheitsvorschriften,
Ausbildungsqualifikationen usw.
26 Der ehemalige Vizepräsident von Procter & Gumble, M. Eberle, hat gesagt: „In
einer Fabrik der gewerblichen Wirtschaft stehen den Leuten, die die Maschinen
bedienen, plötzlich Informationen zur Verfügung, die nicht mehr nur für diejenigen
reserviert sind, die in der Hierarchie zwei oder drei Ebenen höher stehen. Die Kontrolleure
haben keine Vorstellung von der Macht dieser Informationen, bevor sie
den Arbeitern zur Verfügung stehen. Dann aber wird ihr Widerstand gewaltig sein.“
(international Herald Tribune, 15.Februar 1988.) Hier haben wir eine Bestätigung
der Tatsache, daß das Zeitalter der Großrechenanlagen, d.h. die dritte technologische
Revolution, die Arbeiterselbstverwaltung in hohem Maße begünstigt.
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