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Das Alzheimer-Jahrhundert - Demenzservice-cofone.de

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sie leicht in Stress. Sie wer<strong>de</strong>n abhängigvon <strong>de</strong>m sie umgeben<strong>de</strong>n Milieu.Insofern kann das Erleben einerDemenz für Patienten und Pflegen<strong>de</strong>zum Horror wer<strong>de</strong>n. Dementenpflegeist <strong>de</strong>shalb eine sehr anspruchsvolleAufgabe, die Fachkompetenzerfor<strong>de</strong>rt, aber auch die Bereitschaft, sichauf diese innerlich chaotische Welteinzulassen – ohne Angst.Wohlbefin<strong>de</strong>n auchohne OrientierungIntuitiv haben manche Pflegen<strong>de</strong>im Alltag gemerkt, dass Dementedurchaus Potenziale haben, diedurch Stimulation aktiviert wer<strong>de</strong>n können,dass relative Normalität möglichist, lässt man sich ernsthaft auf die Welt<strong>de</strong>s <strong>de</strong>menten Menschen ein. StändigesKorrigieren <strong>de</strong>s Verhaltens führtzu nichts. Überlässt man die Dementensich selbst, so versinken sie immermehr in Apathie o<strong>de</strong>r Verwirrung.Neigt sich <strong>de</strong>r Betreuer jedoch wirklich<strong>de</strong>m Dementen zu, erkennt er Teile<strong>de</strong>r Persönlichkeit und Biographie in <strong>de</strong>rVerwirrtheit, geht er darauf ein,nimmt er ihn ernst, spricht er darüber,regt er kreativ diese ErinnerungsundErfahrungsreste an, dann ist Beziehungsehr wohl möglich. DementeMenschen verfügen in <strong>de</strong>r Begegnungmitunter über eine frappieren<strong>de</strong>emotionale Intelligenz. Wer<strong>de</strong>n sie angemessenunterstützt, können siedurchaus entspannt und humorvoll <strong>de</strong>nAlltag erleben. Sie bieten uns häufig,sofern sie richtig verstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n,eine gefühlsbetonte Nähe und Echtheit,die wir in an<strong>de</strong>ren Beziehungen oftvermissen, und können ihre Lebenserfahrungund Altersweisheit vermitteln.In <strong>de</strong>r Zukunft muss vielleicht eingängiges Sprichwort abgeän<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n:»Kin<strong>de</strong>r und Demente sagen dieWahrheit«.Demenz nicht als unabän<strong>de</strong>rlichesSchicksal o<strong>de</strong>r unaufhaltsameKrankheit, son<strong>de</strong>rn als Behin<strong>de</strong>rung zusehen, so lautet die Botschaft <strong>de</strong>r»New culture of <strong>de</strong>mentia care«. IndividuellesWohlbefin<strong>de</strong>n ist möglich –auch mit einer Demenz! Wir alle, unsereBeziehungen und das Milieu, daswir für die Betroffenen schaffen, sindumfassend positiv beeinflussbar. <strong>Das</strong><strong>de</strong>fizitorientierte, medizinisch-naturwissenschaftlicheVerständnis <strong>de</strong>r Demenzist <strong>de</strong>shalb kritisch zu hinterfragen.Es gibt nämlich Studien zufolgeMenschen, die kaum neuropathologischeVerän<strong>de</strong>rungen hatten, aber zu Lebzeiten<strong>de</strong>ment waren. Umgekehrt gibtes Menschen, die nicht <strong>de</strong>mentwaren, obwohl sie post mortem <strong>de</strong>utlicheorganische Verän<strong>de</strong>rungen imGehirn zeigten. Zweifellos spielen dieseorganischen Verän<strong>de</strong>rungen eineRolle. Sie verleiten aber dazu, <strong>de</strong>n Menschennicht ganzheitlich zu sehen.Demenz lässt sich dagegen auch psychosomatischverstehen. <strong>Alzheimer</strong> erscheintdann als seelische Erkrankung,als regressive Antwort <strong>de</strong>r Seeleangesichts <strong>de</strong>s Alters und seiner Herausfor<strong>de</strong>rungen.Hufeland, <strong>de</strong>r LeibarztGoethes, hat im Zeitalter von Anti-Agingimmer noch Recht mit seinemSatz: »<strong>Das</strong> Alter ist nichts für Feiglinge«.Machen wir uns nichts vor. Manchealte Menschen heute, und manche vonuns in <strong>de</strong>r Zukunft, schaffen esnicht, ihre seelische Integrität im Alteraufrecht zu erhalten. Tatsächlichwird häufig davon berichtet, dass einevorhan<strong>de</strong>ne Depression häufig fließendin eine Demenz übergeht. Auchwird nicht selten von großen Verlusten,wie etwa <strong>de</strong>m Tod <strong>de</strong>s Partnersim Vorfeld <strong>de</strong>r Krankheit berichtet.Diese psychosoziale Sicht aufdie Demenz führt zu einem revolutionäran<strong>de</strong>ren Umgang mit <strong>de</strong>n Betroffenen.Sie sind nicht mehr nur Objekteeiner schicksalhaften Erkrankung un<strong>de</strong>iner rein versorgen<strong>de</strong>n Pflege, son<strong>de</strong>rnsie sind geachtete Subjekte, <strong>de</strong>nenwir eine individuelle, beziehungsorientierteBetreuung ermöglichen, in<strong>de</strong>mwir eine relative Lebensqualität<strong>de</strong>r Dementen zum Maßstab <strong>de</strong>r Pflegemachen. Hier sind ähnlich ermutigen<strong>de</strong>Entwicklungen möglich wie imBehin<strong>de</strong>rtenbereich in <strong>de</strong>n letztenJahrzehnten.Mietvertrag –mit DemenzAlso wächst das Retten<strong>de</strong>auch, um Friedrich Höl<strong>de</strong>rlin zu zitieren.Tatsächlich vollzieht sich, wenn auchlangsam, in <strong>de</strong>n letzten Jahren, ein Paradigmenwechsel:eine Dementenpflege,die sich selbstbewusst ein relativesWohlbefin<strong>de</strong>n für die betroffenenMenschen zum Ziel setzt. In <strong>de</strong>r pflegerischenPraxis wird Demenz unaufgeregtals ein seelisches Phänomen verstan<strong>de</strong>nund die gewonnenen Fachkenntnissein Pflege und Milieutherapiewer<strong>de</strong>n kreativ umgesetzt.In Zukunft kann es nichtmehr nur die starre Alternative Familieo<strong>de</strong>r Heim geben. Wir braucheneinen flexiblen Pflegemix. In einzelnenBeispielen gelingt es bereits heuteneue Wege zu gehen, um familiäre Pflege,ehrenamtliches Engagement undprofessionelle Pflege sinnvoller miteinan<strong>de</strong>rzu verknüpfen. Dem entsprechenspezialisierte Tagesbetreuungen undWohngemeinschaften als mo<strong>de</strong>rne Lernortefür <strong>de</strong>mente Menschen und<strong>de</strong>ren Pflegen<strong>de</strong>. Hier sind <strong>de</strong>mente MenschenMieter, nicht »Heimbewohner«.Solche Einrichtungen sind vor allem imBerliner Raum in größerer Zahl entstan<strong>de</strong>n(www.freun<strong>de</strong>-alter-menschen.<strong>de</strong>).Hier kann eine kleinräumige, an <strong>de</strong>n Bedürfnissen<strong>de</strong>r Dementen orientiertePflege und Betreuung erreicht wer<strong>de</strong>n,die keine großen Unterschie<strong>de</strong> zueinem normalen Alltag mehr aufweist.Autonomie und Wür<strong>de</strong> bleiben gewahrt.Im ambulanten Bereich entstehenneue Vernetzungsstrukturen, beispielsweise<strong>de</strong>r gerontopsychiatrischeVerbund in Schwaben. Zeitgemäße Vernetzungentsteht auch über dasInternet, wo sich Portale zur umfassen<strong>de</strong>nUnterstützung von Pflegen<strong>de</strong>nentwickeln (www.alz-heimerforum.<strong>de</strong>).Ebenso erweist sich die viel gescholtenestationäre Pflege nicht als völligtherapieresistent. Die neue Auffassungvon Pflege verän<strong>de</strong>rt auch dasHeim: Aus <strong>de</strong>r »totalen Institution«mit ihrem anonymen Charakter wird einlebenswerter Raum, in <strong>de</strong>m Beziehungenentstehen können, wenn Mitarbeitergeschult und psychosozialorientierte Tagesstrukturen etabliert wer<strong>de</strong>n.Ganze Heime spezialisierensich auf das Thema Demenz. I<strong>de</strong>alerweisewird auch schon diesen neuen Vorstellungenentsprechend gebaut, wie beispielsweisein Stuttgart mit <strong>de</strong>m Gradmann-Haus.In Zeiten <strong>de</strong>r Globalisierungkommen auch exotische Angeboteauf uns zu: So kann in Thailand inzwischenein <strong>de</strong>menzgerechter Urlaubo<strong>de</strong>r Daueraufenthalt gebucht wer<strong>de</strong>n.Beruhigend ist: Wir wisseninzwischen, wie man individuell einrelatives Wohlbefin<strong>de</strong>n schaffen kannfür Menschen mit einer Demenz.Offen ist: Wollen wir uns das leisten?Schaffen wir eine flexiblere undindividuellere Gesundheitsversorgung?Die große Gruppe <strong>de</strong>r <strong>de</strong>mentenMenschen wird in <strong>de</strong>n nächsten Jahrzehnten<strong>de</strong>r Prüfstein sein, ob uns<strong>de</strong>r Umbau <strong>de</strong>s Sozialstaates gelingt.Marcello Cofone ist alsDipl. Psychogerontologe, Dozent undSupervisor auf das Thema Demenzspezialisiert.

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