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passagen - Pro Helvetia

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<strong>passagen</strong><br />

p a s s a g e s<br />

Inhaltsverzeichnis<br />

Dirk Wittenborn 02 «Papa, wer ist die Schweiz?»<br />

Eine Fahrt nach Leukerbad<br />

Jürg Halter 08 Ein amerikanischer Traum<br />

Gedicht für Marc Smith<br />

Ines Anselmi 09 «Wer Glück hat, der findet hier Gold»<br />

Der Schweizer Migrationsforscher Leo Schelbert auf<br />

Spurensuche in den USA<br />

Sacha Verna im Gespräch mit der 15 Zürich – Manhattan – Long Island<br />

Schweizer Künstlerin Garance Mit Garance am Strand<br />

Jean Willi 20 «Nehmen Sie Ihre verfluchte Hand weg»<br />

Die Filme der Gebrüder Dubini zu Thomas Pynchon,<br />

Jean Seberg und Hedy Lamarr<br />

Alfred Defago 25 Die verschwisterten Republiken<br />

Was denken Amerikaner über die Schweiz?<br />

Milena Moser 31 Hollywood-Swissness à la carte<br />

Ein fiktives Gespräch mit Renée Zellweger<br />

Sam Burckhardt 34 CHicago Blues<br />

Saxophonklänge über dem Michigan See<br />

Hubertus Adam 39 If you go to San Francisco<br />

Schweizer Architekten in den USA<br />

Peter Haffner 43 New Glarus – Tellspielfieber im Wilden Westen<br />

Eine Reise in die äusserste Heimat<br />

MaryLou Carroll 50 Hohe Einsätze in Las Vegas<br />

Der unermüdliche Unternehmer Peter Buol<br />

Bart Plantenga 52 Wenn die Cowboys jodeln<br />

Ein Kulturaustausch der besondern Art<br />

Dorothee Vögeli 58 Die Frau mit der Friedenspfeife<br />

Naomi Pfenningers Indianer-Festivals<br />

Fotografie<br />

Blickwechsel USA – CH<br />

Geri Stocker<br />

41<br />

Die Schweizer Kulturstiftung <strong>Pro</strong> <strong>Helvetia</strong> fördert Kunst und Kultur in der Schweiz, sie setzt sich für den kulturellen Austausch im Inland<br />

sowie mit dem Ausland ein. Mit ihrer Tätigkeit unterstützt sie eine kulturell vielseitige, zeitgenössische und offene Schweiz.<br />

Das <strong>Pro</strong>-<strong>Helvetia</strong>-Kulturmagazin Passagen/Passages erscheint dreimal pro Jahr in deutscher, französischer und englischer Sprache.<br />

Zu beziehen über die schweizerischen Auslandvertretungen, das Centre culturel suisse, 32, rue des Francs-Bourgeois, 75003 Paris (nur für<br />

Frankreich), oder direkt beim Herausgeber: <strong>Pro</strong> <strong>Helvetia</strong>, Kommunikation, Postfach, CH-8024 Zürich, Tel. + 41 44 267 71 71, Fax + 41 44 267 71 06,<br />

E-mail: alangenbacher @pro-helvetia.ch. In der Schweiz ist Passagen für sFr. 12.50 (Einzelnummer) oder im Jahresabonnement für sFr. 35.–<br />

erhältlich. (http://www.pro-helvetia.ch).<br />

1


«Papa, wer ist die Schweiz?» Eine Fahrt nach Leukerbad<br />

Dirk Wittenborn «Wer ist die Schweiz?» Mit dieser metaphysischen<br />

Frage überraschte mich meine Tochter Lilo, die in<br />

zwei Monaten ihren dritten Geburtstag feiern sollte.<br />

Es war 7.43 Uhr morgens am Freitag, dem 1. Juli<br />

2004, und wir hatten noch zwölf Minuten, um unseren<br />

Zug zu erwischen. Vor uns lag eine 500-Kilometer-Reise<br />

von Marseille in die Walliser Alpen,<br />

wo ich Gast des 9. Internationalen Literaturfestivals<br />

in Leukerbad war. Das akuteste der zahlreichen<br />

<strong>Pro</strong>bleme, mit denen wir uns an diesem Morgen<br />

herumschlugen, war die Tatsache, dass ich<br />

mich hoffnungslos verfahren hatte. Mein Französisch<br />

war so holprig, dass ich jedes Mal, wenn ich<br />

anhielt, um nach dem Weg zu fragen, nicht zum<br />

Bahnhof, sondern zu einem Kriegsdenkmal geschickt<br />

oder mit einem wütenden Wortschwall<br />

zur imperialistischen Invasion des Iraks durch<br />

mein Heimatland überschüttet wurde.<br />

Nachdem ich mich einmal mehr für einen Präsidenten<br />

entschuldigt hatte, den ich – wie die meisten<br />

Amerikaner – nicht gewählt habe, erklärte ich<br />

meiner Tochter: «Die Schweiz ist ein Ort, Liebling,<br />

kein Mensch.» Ich bemühte mich um einen munteren,<br />

sorglosen Ton, doch in Wahrheit machte ich<br />

mir einige Sorgen – nicht nur darum, ob wir den<br />

Zug verpassen würden.<br />

An diesem Punkt meiner Geschichte muss ich<br />

kurz etwas zurückblenden. Die Wochen vor diesem<br />

Freitag im Juli war ich auf einer Lesereise, zu<br />

der ich meine Frau und meine Tochter mitgenommen<br />

hatte – obwohl mich jeder, von meinem<br />

Therapeuten bis zu den Leuten von meinem Verlag,<br />

gewarnt hatte, dass das ‹ziemlich stressig›<br />

werden könnte. Zudem sei es ‹Wahnsinn›, ein<br />

knapp dreijähriges Kind ausgerechnet auf dieser<br />

Reise, auf der wir mit Auto, Zug und Flugzeug von<br />

Hotel zu Hotel hetzten, ans Töpfchen gewöhnen<br />

2<br />

zu wollen. Leider sollten sie damit nicht ganz Unrecht<br />

haben. Meine Frau Kirsten hatte sich eine<br />

heftige Stirnhöhlenentzündung eingefangen und<br />

dagegen eine ganze Palette gälischer Antibiotika<br />

geschluckt, die sie so komatös machten, dass ich<br />

mich langsam fragte, ob sie die Medikamente<br />

wirklich in der Apotheke und nicht bei einem<br />

Drogendealer auf der Strasse gekauft hatte. Aber<br />

die echte Pièce de Résistance auf unserem abenteuerlichen<br />

Trip durch Europa war eine andere: In<br />

meine Tochter gingen zwar Unmengen von Käse<br />

und Leberpastete hinein, kamen aber seit sechs<br />

Tagen nicht mehr heraus. Es war nicht bloss eine<br />

kleine Verstopfung; sie war aufgebläht wie ein<br />

Ballon kurz vor dem Zerplatzen.<br />

«Hört das Bauchweh in der Schweiz auf?»<br />

«Alles wird gut, wenn wir in der Schweiz sind, ich verspreche<br />

es.» Das Schlimmste an der ganzen Sache<br />

war, dass wir Lilo mit unseren ohnehin zum Scheitern<br />

verurteilten Versuchen, sie unterwegs ans<br />

Töpfchen zu gewöhnen, so viel Angst vor einem<br />

Missgeschick gemacht hatten, dass sie kurzerhand<br />

beschloss, überhaupt nicht mehr auf die<br />

Toilette zu gehen.<br />

«Wird es Pinky in der Schweiz gefallen?» Pinky war<br />

ein Stoffelefant, den meine Tochter überallhin<br />

mitnahm und der, man ahnt es, pink war.<br />

«Pinky wird die Schweiz lieben, mein Schatz.» Dank<br />

der Stirnhöhle meiner Frau und des Magens meiner<br />

Tochter hatten wir in den vergangenen drei<br />

Nächten höchstens sechs Stunden geschlafen.<br />

Wir waren alle übermüdet und völlig erschöpft,<br />

und ich sass seit sechs Uhr morgens am Steuer.<br />

Die gute Nachricht war, dass wir den Zug noch<br />

erwischten. Die schlechte: Halb Frankreich reiste<br />

an diesem 1. Juli in die Ferien. In unserem Zug<br />

herrschte ein grösseres Gedränge als in einer Dose


Ölsardinen. Schliesslich fanden wir drei freie<br />

Plätze. Ich dachte, das sei das vorläufige Ende<br />

meiner <strong>Pro</strong>bleme und ich könnte endlich ein wenig<br />

schlafen. Doch schon beim nächsten Halt war<br />

es mit der Ruhe vorbei: Drei durchgedrehte Wintersportler<br />

stürmten das Abteil und wollten uns<br />

von unseren Sitzen vertreiben. Wir riefen den<br />

Schaffner zu Hilfe, doch vergeblich: Da ich den<br />

Rat des Leukerbader Literaturfestivals ignoriert<br />

und keine Platzreservation gemacht hatte, wurden<br />

wir zu Reisenden dritter Klasse degradiert.<br />

Bei jedem Stopp des Zugs in Frankreich wurden<br />

unsere Sitze von Zugestiegenen beansprucht, so<br />

dass wir immer wieder mit Sack und Pack – drei<br />

Koffer, ein paar Taschen und ein Kinderwagen<br />

samt Kind – das Abteil wechseln mussten. Zugegeben,<br />

ich war selbst schuld, aber wieso betitelten<br />

mich die anderen Passagiere deswegen ständig<br />

als ‹Ente›? Als ich herausfand, dass sie nicht<br />

‹canard›, sondern ‹connard› sagten und dass das<br />

etwas ganz anderes bedeutete, war ich dann<br />

doch leicht beleidigt. Meine Frau schniefte, die<br />

Kleine weinte, und ich flüchtete mich in Gedanken<br />

daran, wie ich mir die Schweiz in meiner<br />

Kindheit vorgestellt hatte.<br />

Wie für die meisten in den Fünfzigerjahren geborenen<br />

Amerikaner war die Schweiz auch für mich<br />

als Junge gleichbedeutend mit dem Kakaopulver<br />

Swiss Miss und roten Messern mit unzähligen<br />

Klingen. Später zeigten mir die Spielfilme über<br />

den Zweiten Weltkrieg, die ich als Jugendlicher<br />

heiss liebte, die Schweiz als Ort der Zuflucht und<br />

Sicherheit. Zwar wurde immer kurz vor der Grenze<br />

noch jemand erschossen, aber für jene, die<br />

durchkamen, war die Schweiz das Paradies.<br />

Und wir? Ob wir es wohl dorthin schaffen würden?<br />

Meine Frau und ich waren uns da gar nicht mehr<br />

so sicher. Ein Dutzend Platzwechsel in einem<br />

schwankenden Zug, ebenso viele erfolglose Toilettenbesuche<br />

mit unserer Tochter, aus einem Ghettoblaster<br />

dröhnte Britney Spears, und jedes Mal,<br />

wenn Lilo fragte: «Sind wir jetzt in der Schweiz?»,<br />

mussten wir sie enttäuschen – allmählich war<br />

uns allen dreien zum Heulen zumute. Irgendwann<br />

fanden wir gar keinen Sitzplatz mehr und<br />

mussten im Gang neben den Toiletten stehen.<br />

Meine Frau und ich, beide vor Schlafmangel kaum<br />

noch zurechnungsfähig, versuchten unsere Tochter<br />

und uns selbst aufzumuntern, indem wir von<br />

all den schönen Dingen sprachen, die uns in der<br />

Schweiz erwarten würden.<br />

«Lilo, weisst du, wer in der Schweiz wohnt?»<br />

«Mein Bauch tut weh.»<br />

«Heidi.» Während das Heidi meiner Kindheit<br />

schwarzweiss war und von Shirley Temple verkörpert<br />

wurde, kannte meine Tochter, wie auch meine<br />

Frau, Johanna Spyris Heldin aus den japanischen<br />

Zeichentrickfilmen.<br />

«Ich habe Hunger.»<br />

«Das kann doch gar nicht sein.» Snacks sind nicht<br />

gerade das beste Mittel gegen Verstopfung.<br />

In einem verzweifelten Versuch, Lilo vom Gedanken<br />

an Essen abzulenken, begann meine Frau, die<br />

aus Deutschland stammt, zu singen: «Heidi, Heidi,<br />

deine Welt sind die Berge.» Die Leute starrten uns<br />

an, aber das kümmerte mich nicht. Bei der zweiten<br />

Zeile stimmte ich mit ein: «Heidi, Heidi, denn<br />

dort oben bist du zu Haus …»<br />

Nachdem wir endlich die Schweizer Grenze erreicht<br />

hatten, wurde unsere Reise noch qualvoller,<br />

weil sich uns durch das Fenster verwischte,<br />

impressionistische Bilder herrlicher Verheissungen<br />

boten: Obstbäume, schneebedeckte Berge, saubere<br />

Toiletten. Doch drinnen, in diesem elenden,<br />

3


Zofingen/Aargau, Schweiz


Bernstadt/Kentucky, USA


6<br />

überfüllten Zug, mussten wir weiterhin dauernd<br />

den Platz wechseln. Meine Beine schmerzten,<br />

und vom ständigen Herumtragen der Koffer hatte<br />

ich Blasen an den Händen. Als wir im Bahnhof<br />

von Genf einfuhren, konnte ich mich kaum noch<br />

zurückhalten: Ich musste endlich hinaus, hinaus<br />

in die Schweiz!<br />

Ich hatte meiner Familie hoch und heilig versprochen,<br />

dass wir am Bahnhof ein Auto mieten würden,<br />

die Strapazen damit vorbei seien und unser<br />

Aufenthalt in der Schweiz von da an nur noch<br />

traumhaft sein würde. Mein Plan hatte nur einen<br />

winzigen Fehler: Im Genfer Bahnhof gibt es keinen<br />

Autoverleih. Bevor meine Frau einen Scheidungsanwalt<br />

anrufen konnte, liess ich mein Gepäck fallen,<br />

rannte aus dem Bahnhof und machte mich<br />

auf die Suche nach einem fahrbaren Untersatz.<br />

Es klingt vielleicht seltsam, aber nach wenigen<br />

Metern hatte ich alles, was mit der Schweiz zu tun<br />

hat, ins Herz geschlossen. Wenn ich in Frankreich<br />

jemanden nach dem Weg gefragt hatte, musste<br />

ich froh sein, wenn er grunzte und mit dem Finger<br />

in die ungefähre Richtung zeigte. In Genf hingegen<br />

nahm sich ein älterer Herr sogar die Zeit,<br />

mir eine kleine Karte aufzuzeichnen. Ich mietete<br />

ein Auto, holte Frau und Tochter ab und fuhr los.<br />

Wir waren zwar heilfroh, dass wir ab jetzt unsere<br />

Sitzplätze auf sicher hatten, aber von unserer bisherigen<br />

Reise noch zu traumatisiert, um die ersten<br />

dreissig Kilometer Schweiz geniessen zu können.<br />

Es war seltsam und surreal, aber erst der<br />

Halt an einer Autobahnraststätte machte uns bewusst,<br />

dass wir im Paradies angekommen waren.<br />

In Amerika sind sogar die Busbahnhöfe noch eine<br />

Spur komfortabler und angenehmer als die Truck<br />

Stops an den Highways. Im Gegensatz dazu fühlten<br />

wir müden Reisenden uns in dieser Schweizer<br />

Raststätte wie Könige. Es gab Krüge mit frisch gepresstem<br />

Orangen-, Melonen- und Ananassaft auf<br />

Eis, Ahorn-Walnuss-Eiscreme von Mövenpick und<br />

draussen einen grossen Teich – oder eher einen<br />

kleinen See – mit Enten, die meine Tochter füttern<br />

konnte. Und mit Windsurfern, die uns daran erinnerten,<br />

dass das Leben ein einziger Urlaub ist.<br />

Als meine Tochter zum hundertsten Mal fragte:<br />

«Sind wir endlich da?», war die Antwort immer<br />

noch «Nein». Aber es fühlte sich an wie ein «Ja».<br />

Die nächsten hundert Kilometer ging es zwar stetig<br />

bergauf, aber uns kam es vor, als wären wir<br />

entlang einer Küste unterwegs. Wir fuhren durch<br />

endlose grüne Täler und unterhielten uns darüber,<br />

dass wir tatsächlich dem gleichen Weg folgten<br />

wie einst Hannibal mit seinen Elefanten –<br />

womit auch für Pinky auf dieser Reise etwas dabei<br />

war. Wir rollten die Fenster herunter, sogen<br />

die frische Luft und den Geruch der Föhren des<br />

Pfynwalds ein, bewunderten den durch die Höhe<br />

enzianblau gefärbten Himmel und hatten das Gefühl,<br />

das Ziel unserer Reise schon vor der Ankunft<br />

erreicht zu haben.<br />

Wie bereits erwähnt, bin ich sehr gut darin, mich<br />

zu verfahren. Aber unseren Zielort zu verfehlen<br />

war sogar für mich unmöglich. Leukerbad ist das<br />

hinterste – und meiner Meinung nach auch das<br />

gemütlichste – Dorf im Dalatal. Wenn die Strasse<br />

nicht mehr weitergeht, bist du da.<br />

Ich wusste nichts über das Literaturfestival Leukerbad.<br />

Alles, was mir mein Kontaktmann bei Dumont<br />

sagen wollte, war: «Da musst du unbedingt<br />

hin.» Als ich in die Einfahrt des Hotels Lindner<br />

einbog, wo das Festival für uns Zimmer reserviert<br />

hatte, ahnte ich, was er gemeint hatte. Das Hotel<br />

hatte nicht nur vier Sterne, sondern auch ein<br />

eigenes Thermalbad. Wenige Minuten nach unserer<br />

Ankunft lagen meine Frau, meine Tochter und<br />

ich in einem riesigen, dampfenden Pool, der noch<br />

heute aus denselben Thermalquellen gespiesen<br />

wird, die schon die Römer vor zweitausend Jahren<br />

für ihre Bäder nutzten. Das für seine Heilkraft berühmte<br />

Wasser wirkte auch bei uns Wunder:<br />

Nach einer halben Stunde ging meine Tochter<br />

freiwillig und alleine auf die Toilette und kam<br />

nach wenigen Minuten sichtlich erleichtert wieder<br />

hinaus.<br />

Doch dies sollte nur die erste einer ganzen Reihe<br />

von angenehmen Überraschungen sein, die uns<br />

das Literaturfestival Leukerbad an diesem Wochenende<br />

bereiten würde. Als wir ins Bett gingen,<br />

war Leukerbad ein Dorf von nett gekleideten, bodenständigen<br />

und naturverbundenen Schweizern.<br />

Doch als wir am nächsten Morgen aufstanden<br />

und zum Festivalstart auf dem Dorfplatz gingen,<br />

war Leukerbad von einer kultivierten Armee von<br />

Bücherfreunden aus Europa und Übersee erobert<br />

worden. Alle waren vornehm blass und trugen<br />

Schwarz, die Einheitsfarbe der Bohemiens – wenn<br />

die Stimmung nicht so fröhlich gewesen wäre,<br />

hätte man meinen können, man sei auf einer Beerdigung.<br />

Der Zeremonienmeister dieses vielfältigen Kulturcocktails<br />

war Ricco Bilger, der jungenhafte Gründer<br />

und Leiter des Festivals. Er erwies sich als<br />

eine dieser seltenen Erscheinungen in der Kulturszene:<br />

ein unprätentiöser Schöngeist, ein Intellektueller,<br />

der mit beiden Beinen fest auf dem Boden<br />

steht. Fünf Minuten nach unserem Kennenlernen<br />

hatte er mir bereits Autoren aus der Ukraine, Polen,<br />

Ungarn und Deutschland vorgestellt und mich<br />

zu einer Mitternachtslesung mit Champagner auf<br />

dem Gemmipass eingeladen.<br />

Für einen Schriftsteller sind alle Literaturfestivals<br />

und insbesondere jenes von Leukerbad eine wunderbare<br />

Sache, weil man sich für einige Tage auf<br />

einem Planeten aufhält, dessen Bewohner Bücher


nicht nur lesen, sondern lieben. In Leukerbad liessen<br />

wir den Alltag mit seinen langweiligen Gesprächen<br />

über Termine, Steuern, Einkaufen, das Wetter<br />

oder, wenn es ganz schlimm kommt, das Fernsehen<br />

hinter uns. Stattdessen unterhielt man sich<br />

im Café über unbekannte Dichter, deren Werke<br />

bald ins Deutsche, Französische oder Englische<br />

übertragen werden sollen, frühe Flirts mit französischer<br />

manieristischer <strong>Pro</strong>sa oder die Abkehr vom<br />

Postmodernismus. Schriftsteller sitzen die meiste<br />

Zeit allein an ihrem Schreibtisch. Im Gegensatz<br />

dazu herrschte in Leukerbad ein Geist der Kameradschaft<br />

und des gemeinsamen Feierns, der einem<br />

das Gefühl gab, nicht nur gewürdigt zu werden,<br />

sondern auch nicht mehr allein zu sein. Es<br />

mag vielleicht seltsam klingen, aber ich besuchte<br />

auch Lesungen in Sprachen, von denen ich kein<br />

Wort verstand, nur um fasziniert dem Klang der<br />

Stimme des Autors zu lauschen.<br />

Für die erste Lesung aus meinem Roman Unter<br />

Wilden hätte ich mir keinen komfortableren Ort<br />

vorstellen können als die Bar des Fünf-Sterne-Hotels<br />

des Dorfs. Als ich erfuhr, dass James Baldwin<br />

in den Fünfzigerjahren hier in Begleitung abgestiegen<br />

war, weil er sich nach einem Zusammenbruch<br />

von den Thermalquellen Leukerbads Linderung<br />

erhoffte, wusste ich, dass ich hier richtig<br />

war. Ich weiss nicht, ob es an der filterlosen Zigarette,<br />

dem Glas Wein aus der Region, der Höhe<br />

oder an James Baldwins Geist lag, aber als ich mit<br />

der Lesung anfing, tat ich etwas, was ich bis dahin<br />

noch nie in meinem Leben bei einer solchen<br />

Veranstaltung getan hatte. Ich war so entspannt,<br />

dass meine Augen und meine Gedanken meiner<br />

Stimme vorauseilen konnten. Während ich laut<br />

vorlas, glitt gleichzeitig mein Blick bereits über<br />

die nächsten Passagen. Als wäre das an sich nicht<br />

schon seltsam genug, entdeckte ich einige Stellen,<br />

an denen ich, wenn ich Unter Wilden ein zweites<br />

Mal geschrieben hätte, kleine Änderungen vorgenommen<br />

hätte. Plötzlich, und ohne darüber nachzudenken,<br />

begann ich zu improvisieren; hier ein<br />

anderes Adjektiv, da eine zusätzliche Dialogzeile<br />

… Niemandem fiel etwas auf, nicht einmal meiner<br />

Frau. Offenbar fühlte ich mich in Leukerbad<br />

besonders frei und inspiriert. Auch bei meiner Lesung<br />

am Nachmittag darauf hielt ich mich nicht<br />

strikt an meinen Text.<br />

Am letzten Abend des Festivals, nach dem Abschlussbankett,<br />

nahm uns Ricco, der in Leukerbad<br />

aufgewachsen ist, mit in eine kleine Bar in einer<br />

Seitengasse, wo sich die Einheimischen das Finale<br />

der Fussball-Europameisterschaft ansahen. Videospiele,<br />

Pizza, laute Musik: Unmalerischer konnte<br />

Leukerbad kaum sein. Doch sogar hier war der<br />

Geist des Festivals noch zu spüren. Dichter, Schriftsteller,<br />

Kellner und Zimmermädchen spendierten<br />

sich gegenseitig Getränke. Das Schönste war, dass<br />

alle Zuschauer beide Mannschaften anzufeuern<br />

schienen. Für mich war damit die Frage meiner<br />

Tochter beantwortet: «Wer ist die Schweiz?» Das ist<br />

die Schweiz. ¬<br />

Aus dem Englischen von Reto Gustin<br />

Dirk Wittenborn ist Drehbuchautor und Schriftsteller. Seine<br />

Bücher wurden in über einem Dutzend Ländern veröffentlicht.<br />

Er schrieb das Drehbuch und ist ausführender <strong>Pro</strong>duzent bei<br />

der Verfilmung seines letzten Romans Unter Wilden mit Diane<br />

Lane und Donald Sutherland in den Hauptrollen. Im Verlauf<br />

seiner Karriere, die er als Sketcheschreiber für die US-Fernsehshow<br />

Saturday Night Live begann, verfasste er auch Artikel und<br />

Essays für verschiedene Publikationen, so unter anderem für<br />

den London Observer, den Independent, Vogue, W, Blackbook, die<br />

Frankfurter Allgemeine Zeitung und Die Zeit. Für seinen HBO-Dokumentarfilm<br />

Born Rich wurde Wittenborn für einen Emmy nominiert.<br />

Zurzeit arbeitet er an einem einstündigen TV-Drama<br />

für Touchstone. Im Frühling 2006 erschien bei Dumont sein<br />

neuer Roman Bongo Europa: Memoiren eines zwölfjährigen Sexbesessenen.<br />

Dirk Wittenborn lebt in New York.<br />

7


Ein<br />

amerikanischer<br />

Traum<br />

8<br />

Jürg Halter<br />

Für Marc Smith<br />

Aus dem Chicago River steigt<br />

ein roter Ballon<br />

zieht ein lachendes Kind aus dem Wasser<br />

an einem Hochhaus<br />

spiegelt es sich<br />

empor in den grauen Himmel über der Stadt<br />

Der Wolkenvorhang öffnet sich einen Spalt breit<br />

das Kind mit dem Ballon<br />

taucht in den blauen Himmel ein<br />

im geklärten Blick eines<br />

tagträumenden Passanten<br />

schliesst sich der Vorhang wieder<br />

In einer Wellenwiege<br />

trägt der Fluss einen waisen Schuh<br />

leise aus der windigen Stadt<br />

Jürg Halter wurde 1980 in Bern geboren. Studium an der dortigen Hochschule der Künste. Heute lebt und arbeitet er als Dichter und Rapper (als Rapper unter dem Namen Kutti<br />

MC) in Bern. Zahlreiche Auftritte an wichtigen internationalen Literaturfestivals in Europa, Afrika und den USA. Im August 2003 wurde Halter von Marc ‹Slampapi› Smith,<br />

dem legendären Erfinder des Poetry Slams, als Gast und Vertreter der europäischen Spoken-Word-Szene zum American National Poetry Slam nach Chicago eingeladen. Als Kutti<br />

MC holte sich Halter in der Kategorie American National Hip Hop Slam den Titel des American National Hip Hop Slam Champions 2003. 2004 trat Halter in Stuttgart zum letzten<br />

Mal bei einem Poetry Slam auf. Zuletzt erschienen sind der vielbeachtete Gedichtband Ich habe die Welt berührt (Ammann Verlag, 2005) von Jürg Halter und das furiose Hip-Hop-<br />

Album Jugend & Kultur (Musikvertrieb/MUVE) von Kutti MC. Links: www.art-21.ch/halter, www.kuttimc.com


«Wer Glück hat, der findet hier Gold»<br />

Der Schweizer Migrationsforscher Leo Schelbert auf Spurensuche in den USA<br />

Ines Anselmi<br />

Leo Schelbert<br />

Foto: Ines Anselmi<br />

Kaum einer ist auf dem Spezialgebiet der schweizerischen Migrationsgeschichte so bewandert wie er. Der promo-<br />

vierte Historiker Leo Schelbert, selbst eine Spezies der Gattung Auswanderer, wurde 1971 an die University of Illi-<br />

nois nach Chicago berufen. Was ihn dort beschäftigte und was ihn bis heute umtreibt, verrät dieses Porträt ❙<br />

Das Vertraute hinter sich lassen, ins Unbekannte<br />

aufbrechen – die Verheissungen der terra incognita<br />

beflügeln seit jeher die Phantasie des westlichen<br />

Menschen. Doch kein Ereignis hat den Pioniergeist<br />

der Europäer so angestachelt wie die<br />

‹Entdeckung› Amerikas. Legionen von Auswanderern,<br />

darunter nicht wenige aus der Schweiz, sind<br />

dem Ruf von Freiheit, Abenteuer und unbegrenzten<br />

Möglichkeiten gefolgt. Wie gelangten sie in<br />

die Neue Welt? Wie wurden sie dort aufgenommen?<br />

Wie sah ihr Alltag aus? Welche Freuden<br />

und Nöte haben sie erlebt?<br />

Anschaulicher als historische Abhandlungen und<br />

die Zahlen der Statistiken schildern Briefe, Tagebücher<br />

und andere Aufzeichnungen, was Schweizer<br />

Auswanderer in Amerika vor hundert, zwei- oder<br />

dreihundert Jahren bewegte. Mit wissenschaftlicher<br />

Akribie und dem Spürsinn eines Goldgräbers<br />

hat Leo Schelbert in Archiven dies- und jenseits<br />

des Atlantiks verborgene Schätze geortet,<br />

Hunderte mehr oder weniger ungelenk geschriebene<br />

Manuskripte entziffert, die interessantesten<br />

ausgewählt, transkribiert, kommentiert und in<br />

verschiedensten Publikationen der Leserschaft<br />

zugänglich gemacht. Damit eröffnet sich der Migrationsforschung<br />

ein Territorium, das zuvor weitgehend<br />

brach lag.<br />

Monatelange Fahrt über den Atlantik: Wie langwierig<br />

und strapaziös die Reise über den Atlantik<br />

früher war und wie viele Passagiere dabei an Typhus,<br />

Pocken, Cholera oder einem andern ‹Schiffs-<br />

Fieber› verstarben, können wir uns heute kaum<br />

mehr vorstellen. Allein die Anreise – bis die Auswanderungswilligen<br />

nach Liverpool, Le Havre,<br />

Nieuwediep oder eine andere Hafenstadt am Atlantik<br />

gelangten – war mit vielen Wartezeiten,<br />

Zollschranken und anderen zeitraubenden Hindernissen<br />

verbunden, ganz zu schweigen von der<br />

Mühsal der Überfahrt per Segelschiff.<br />

Joggi Thommen, Conestoga Pennsylvania 1736: «Wir<br />

haben fast alle Kranckheiten müssen ausstehen auf dem<br />

Meer. Es geht sehr unlustig zu in Essen und Trincken.<br />

Und die Schiffleuth halten nicht, wass sie versprochen.<br />

Man muss sich selbs versehen mit Brot, Wein, Mähl,<br />

dürrem Zeug und Zuckher. (...) Ich darff Niemand rathen<br />

zu kommen, wegen denen vielen Anstössen auf der<br />

Rayss».*<br />

Die Fortschritte der Technik ermöglichten im 19.<br />

Jahrhundert zunehmend schnelleres und bequemeres<br />

Reisen. 1864 fuhren Reisende mit der Eisenbahn<br />

in 40 Stunden von Basel nach Le Havre, früher<br />

brauchten sie für dieselbe Strecke 20 – 25<br />

Tage. Die ersten Dampfschiffe über den Atlantik<br />

kamen zwar schon um 1820 herum zum Einsatz,<br />

aber erst eine auf den Personentransport spezialisierte<br />

Bauweise führte nach 1870 dazu, dass Ozeandampfer<br />

die Segelschiffe mehr und mehr verdrängten.<br />

1880 betrug die mittlere Reisedauer nur<br />

noch 8 Tage, 1900 nur noch 5 – 6 Tage. Nicht nur<br />

die Fahrzeit verkürzte sich, auch Hygiene und<br />

Verpflegung wurden besser, die Schlaf- und Essquartiere<br />

geräumiger, das Leben an Bord ganz allgemein<br />

immer angenehmer, zumindest für Passagiere<br />

der 1. und 2. Klasse. Zwischendeckpassagiere<br />

mussten sich noch bis zur Jahrhundertwende<br />

mit überfüllten, stickigen und dunklen Räumen<br />

begnügen.<br />

9


10<br />

Vinzenz Godt, Philadelphia 1807: «So sauber die Reisenden<br />

im Sterage sind, so rükt gewöhnlich aus den Schiffunten<br />

eine zahlreiche Besatzung Läuse auf sie hervor;<br />

gegen diese hat sich folgendes Hausmittel wunderthätig<br />

wirksam gezeigt, nemlich Quecksilber so viel möglich in<br />

einem Glas mörschele (zerstampfen), mit Schweinfett<br />

zerriben, und den ganzen leib wöchentlich damit gesalbet.<br />

Um vor der Ausschiffung die Kleider aus dem Fundament<br />

zu reinigen, brauchen die Schiffsleute Urin, und es zeigt<br />

sich, dass dies die kräftigste Lauge ist, womit alles Ungeziefer<br />

und alle Flecken vertrieben werden.»*<br />

Nachrichten, die der Aktualität hinterher hinken:<br />

Ein Brief aus Amerika brauchte nicht selten ein<br />

Jahr, bis er beim Empfänger in der Schweiz anlangte,<br />

und umgekehrt. Zwischen dem Versand<br />

eines Briefes aus Amerika in die Schweiz und<br />

dem Erhalt einer Antwort aus der Heimat konnten<br />

bis zu zwei Jahre vergehen. Wer aufgrund einer<br />

hoffnungsvollen Nachricht in die Neue Welt<br />

reiste, traf vielleicht ganz andere als die im Brief<br />

geschilderten Umstände an. Hie und da griffen<br />

die Behörden ein. So ermächtigte der Berner Stadtrat<br />

um 1752 die Polizei, Briefe aus Pennsylvanien<br />

zu öffnen und abzuschreiben, bevor man sie den<br />

Empfängern zustellte. Darin enthaltene schlechte<br />

Nachrichten wurden vereinzelt im Kalender abgedruckt,<br />

zur Abschreckung auswanderungswilliger<br />

Leute.<br />

Aus einem nicht namentlich gezeichneten Brief aus<br />

Pennsylvanien, abgedruckt im Hinckenden Bott 1753:<br />

«Auch ist dieses Land nicht so gut wie die Neuländer<br />

(Werber) gesagt haben. Was gut ist, ist schon bewohnet,<br />

und im übrigen alles theuer im Preiss: denn man gibt<br />

einem eben so wenig etwas umsonst als in der Schweitz.<br />

Wer in seinem Heymath nichts nutz ist, wird hier in<br />

Pensylvanien noch schlimmer; es hat aber Gute und Böse<br />

unter uns»**<br />

Die Berichte, die Schweizer aus Amerika nach<br />

Hause schrieben, klingen zuweilen wie Szenen aus<br />

einem Krimi.<br />

Auguste Lenz, Spring Texas, 1877: «13. Mai. Unsere Negerin<br />

ist gerade hereingekommen, völlig ausser sich und o<br />

blass, wie ihre dunkle Hautfarbe es zulässt. Sie war im<br />

yard (Lager), um Holz zu holen.»<br />

«Oh Meister, bitte kommt, habt ihr die Hunde gesehen?»<br />

«Nein, was gibt es wieder Neues?»<br />

«Oh Meister, seht Euch nur die arme Fine an!»<br />

«Ich laufe zum yard und finde unsere beiden Hunde leblos<br />

hingestreckt; sie sind vergiftet.»**<br />

Europa auf Expansionskurs: Die Geschichte der<br />

schweizerischen Auswanderung nach Amerika<br />

ist für den aus der Innerschweiz stammenden,<br />

1959 nach USA emigrierten Historiker Leo Schelbert<br />

ein Musterbeispiel dessen, was er als europäische<br />

Expansion bezeichnet. Was immer in Europa<br />

oder durch Europäer in der Welt passierte, immer<br />

seien auch Schweizer involviert gewesen. Die um<br />

1488 geglückte Umschiffung Afrikas, die damit<br />

verbundene Erschliessung Asiens auf dem Seeweg,<br />

vor allem aber die Entdeckung eines den Europäern<br />

unbekannten Doppelkontinentes jenseits<br />

des Atlantiks ab 1492 löste einen gigantischen Expansionsprozess<br />

aus. Gegen 70 Millionen Menschen<br />

europäischer Herkunft strömten in die neuen<br />

Kontinente. Westeuropa – um 1450 noch ein<br />

Zipfel Eurasiens – reichte um 1900 in alle Teile der<br />

Welt. Ein unerhört kreativer, aber auch ein unerhört<br />

zerstörerischer <strong>Pro</strong>zess, ruft Leo Schelbert<br />

den Preis dieser Invasion in Erinnerung, die Dezimierung<br />

einheimischer Völker durch Waffengewalt<br />

und eingeschleppte Krankheiten.<br />

Bis 1790 sollen sich etwa 25000 Schweizer an der<br />

nordamerikanischen Ostküste angesiedelt haben,<br />

nochmals soviele sind zwischen 1790 und 1860<br />

eingewandert. Auch in den grossen Städten liessen<br />

sich Schweizer nieder. Im Jahre 1890 zählte<br />

man 6355 Schweizer in New York City, 2262 in<br />

Chicago und 1696 in San Francisco. Um 1920 herum<br />

erreichte die schweizerische Präsenz mit<br />

376000 Personen – davon 257000 in Amerika geborene<br />

Kinder – ihren zahlenmässigen Höhepunkt.<br />

Klischee des armen Einwanderers: Dass nur arme<br />

Leute aus der Schweiz nach Amerika ausgewandert<br />

seien, ist laut Schelbert ein weitverbreitetes<br />

Klischee, das nicht den Tatsachen entspricht. Die<br />

Einwanderungswelt schliesse alle ein, Reiche und<br />

Arme, Mächtige und Machtlose, solche, die fliehen<br />

mussten, und solche, die Karriere machten.<br />

Zu letzteren zählt er etwa den Ingenieur Othmar<br />

Ammann aus Feuerthalen, Kanton Zürich. Er hat<br />

in New York nicht nur die fünf Brücken gebaut,<br />

sondern gleichzeitig ein neues Verkehrskonzept<br />

für das Auto entwickelt und so das Stadtbild entscheidend<br />

geprägt.<br />

Vielfältige und je nach Ort ganz unterschiedliche<br />

Gründe konnten zur Auswanderung führen. So<br />

steht etwa die sprunghafte Zunahme der Auswanderung<br />

aus dem Glarnerland nach 1840 in direktem<br />

Zusammenhang mit der Industrialisierung.<br />

Maschinengewebte Textilien aus England<br />

überschwemmten damals den europäischen Markt<br />

und führten zum Zusammenbruch der in dieser<br />

Region verbreiteten Handweberei. Dass Glarner<br />

Auswanderer im Jahre 1845 die ganze Strecke von<br />

ihrem Tal aus über Linthkanal, Zürichsee, Limmat,<br />

Rhein, Nordsee und Atlantik bis nach Baltimore<br />

in Nordamerika auf dem Wasserweg zurückgelegt<br />

haben, ist aus heutiger Sicht erstaunlich.


Nicht alle Einwanderer suchten in den USA eine<br />

neue Heimat. Etwa ein Drittel bis die Hälfte von<br />

ihnen kehrte wieder ins Herkunftsland zurück.<br />

Viele kamen in der Hoffnung auf lukrative Arbeit<br />

und schnellen Gewinn, der eine sorgenfreie Zukunft<br />

in der Heimat ermöglichen sollte. Wer sich<br />

im Solddienst verdingte, genoss wenig Ansehen.<br />

Schweizer Bote, 4. März 1824: «Es sind Anwerbungen<br />

in ausländischen Kriegsdienst viel schädlicher, als Auswanderungen<br />

von Familien ... Die wenigsten bringen kaum<br />

ihr Leben heim. (...) Und die, die zurückkehren, was bringen<br />

sie? Meistens Armuth, lahme Glieder, Faulheit, Taugenichtssereien.<br />

So eine alte Kriegsgurgel hat das Arbeiten<br />

verlernt.»*<br />

Vier unterschiedliche Wanderungstypen: Leo<br />

Schelbert unterscheidet zwischen Wanderungen<br />

in militärischer, beruflicher oder religiöser Mission<br />

sowie den Siedlungswanderungen. Schweizer<br />

seien in allen vier Kategorien anzutreffen.<br />

Dutzende von Offizieren und ein starkes Kontingent<br />

Soldaten aus der Schweiz dienten zum Beispiel<br />

im Royal American Regiment, das 1756 zum<br />

Schutz der nordamerikanischen Kolonien gebildet<br />

worden war. Es verteidigte die von England besetzten<br />

Territorien gegen die Truppen Frankreichs<br />

und Spaniens, gegen die Einheimischen und gegen<br />

aufständische weisse Kolonisten. Einer der bekanntesten<br />

Offiziere dieses Regiments war der aus<br />

Rolle im Waadtland stammende Henri Bouquet<br />

(1714-1765). Sogar George Washington – 1789 zum<br />

ersten Präsidenten der USA ernannt – habe unter<br />

ihm dienen müssen, schmunzelt Leo Schelbert.<br />

Unter Bouquets Führung gelang ein entscheidender<br />

Sieg über die indianischen Truppen, der den<br />

Kolonisten den Weg über die Appalachen in die<br />

fruchtbaren Ebenen des Ohio-Flusses öffnete.<br />

Andere Schweizer schlugen sich mit den verschiedensten<br />

Beschäftigungen durch. Sie stellten Werkzeuge<br />

her, arbeiteten als Schuster, Schreiner, Gastwirte,<br />

wuschen Gold in kalifornischen Flüssen,<br />

arbeiteten in den Kupferminen des Nordens, waren<br />

als Handelsagenten unterwegs. Wieder andere<br />

kamen nach Amerika, um der Verfolgung zu entgehen,<br />

die bestimmte religiöse Gruppierungen im<br />

Heimatland bedrohte, oder um in missionarischer<br />

Absicht Glaubensgemeinschaften zu gründen.<br />

Pater Martin Marti, St. Meinrad Indiana 1861: «Es<br />

machte sich von selbst, dass neue Einwanderer sowohl<br />

als auch schon länger in Amerika’s Städten ansässige<br />

Katholiken einem Punkte sich zuwandten, wo durch einen<br />

religiösen Orden ihnen und ihren Nachkommen ihr theuerstes<br />

Besitzthum gesichert erschien. In kurzer Zeit daher<br />

stieg der Preis hiesiger Ländereien um ein Bedeutendes ...<br />

und der allgemeine Wohlstand hob sich in einer Weise,<br />

dass die ganze Strecke unseres Missionsbezirkes als ein<br />

der katholischen Kirche gänzlich und für immer erobertes<br />

Gebiet angesehen werden muss.»**<br />

Siedler für die Indianer am gefährlichsten: Für<br />

die Ausdehnung der europäischen Herrschaft<br />

nach Amerika die effektivste, für die einheimischen<br />

Völker aber schädlichste Kategorie von Migranten<br />

waren laut Leo Schelbert die Siedler. Im<br />

Gegensatz zu den Franzosen, die in Nordamerika<br />

vor allem Handelsinteressen verfolgten, strebten<br />

die Briten ein Siedlungsimperium an.<br />

Aus einer Bittschrift der Berner von Graffenried und<br />

Michel 1709 an die englische Königin: «Wir erbieten uns,<br />

dieses Land im Lauf der Zeit durch die Mühe und den<br />

Fleiss unserer guten Arbeiter in solchem Ausmasse zu<br />

verbessern, dass die Krone einen erheblichen Nutzen aus<br />

ihm wird ziehen können, während gegenwärtig nichts<br />

von ihm gewonnen wird.»*<br />

Eine kleine Elite hatte Zehntausende Quadratmeilen<br />

Land erworben. Doch Land wird erst wertvoll,<br />

wenn es besiedelt ist. Also verpachteten oder verkauften<br />

die Grossgrundbesitzer Land parzellenweise<br />

an Siedler weiter. Der Anspruch der Weissen<br />

auf Land als Privateigentum läuft dem indianischem<br />

Verständnis von Land, auf dem der Mensch<br />

nur ein Nutzungsrecht geniesst, diametral entgegen.<br />

‹Indian troubles› nannten die Siedler die<br />

Scharmützel, die sie durch die Vertreibung der Einheimischen<br />

selber hervorriefen.<br />

Kaspar Köpfli, New Switzerland Illinois 1831: «Damit<br />

aber künftig die Pflanzer nicht mehr an ihren Feldarbeiten<br />

gestört werden, sind letzten Herbst viele Compagnien<br />

Freiwilliger auf ein Jahr geworben worden, um die Grenzen<br />

gegen das wilde Gesindel (Indianer) zu beschützen.»*<br />

Der Aufbau der amerikanischen Nation werde immer<br />

als einziger grosser Triumph dargestellt. Als<br />

Leo Schelbert in New York City amerikanische Geschichte<br />

studierte, war das nicht anders. Die Indianer<br />

seien im dicken Lehrbuch, das er durcharbeiten<br />

musste, auf knapp eineinhalb Seiten<br />

abgehandelt worden. Die Kehrseite des Aufbaus,<br />

der Genozid an den einheimischen Völkern, werde<br />

ignoriert. Vor der Ankunft der Europäer sollen<br />

etwa acht, nach anderen Quellen sogar zwölf Millionen<br />

Menschen in Amerika gelebt haben. Um<br />

1890 zählte die indianische Bevölkerung noch<br />

ganze 220000 Menschen, darunter viele Mischlinge.<br />

Von 1971 bis 1999 lehrte Leo Schelbert – 1979 zum<br />

<strong>Pro</strong>fessor ernannt – an der University of Illinois in<br />

Chicago Einwanderungsgeschichte. Die Einwanderer<br />

aus der Schweiz seien für die amerikanische<br />

11


Lyss/Bern, Schweiz


Bern/Kansas, USA


14<br />

Geschichte und auch für seine Lehrtätigkeit von<br />

marginaler Bedeutung gewesen. Sie dienten und<br />

dienen dem Forscher aber immer wieder als Testfeld,<br />

um seine Thesen zu überprüfen.<br />

Wanderungsgeschichte aus neuer Perspektive:<br />

Während über dreissig Jahren unterrichtete er<br />

College- und vor allem Graduate-Studierende. «Da<br />

konnte ich ein Gegenmodell lehren», staunt er heute<br />

noch über die Freiheit, die man ihm als Ausländer<br />

zugestand. Nach diesem Modell sind in die<br />

amerikanische Geschichte ab 1600 drei grundverschiedene<br />

Gruppen gleichwertig einzubauen: die<br />

indianische Welt, die Welt der europäischen Invasoren<br />

und die afrikanische Welt, die als Sklaven<br />

nach Amerika deportierten Afrikanerinnen und<br />

Afrikaner.<br />

Guillaume Merle d’Aubigné, Charleston South Carolina<br />

1816: «Das einzige was mich abstösst ist die Sklaverei,<br />

die hier allgemein betrieben wird. (...) Sie werden auf<br />

Tischen ausgestellt, wo jeder sie untersuchen kann & sie<br />

werden an den Meistbietenden verkauft, oft zusammen<br />

mit Pferden – Ochsen & anderm Vieh.»**<br />

Später kam noch die asiatische Welt hinzu, die<br />

vielen Tausend Chinesen, die als billige Arbeitskräfte<br />

für den Bau der Eisenbahnen und ähnliche<br />

<strong>Pro</strong>jekte in die USA geholt wurden. «Wir müssen<br />

die Geschichte neu reflektieren», ist Leo Schelbert<br />

überzeugt, «und die Perspektive aller Betroffenen einbeziehen.»<br />

Statt von Auswanderungsgeschichte redet er lieber<br />

von Wanderungsgeschichte. Einwanderung,<br />

Auswanderung und interne Wanderung begreift<br />

er als zusammenhängende Phänomene. Auch im<br />

Hinblick auf sein Herkunftsland. Neben der 5.<br />

Schweiz – den Ausgewanderten – habe es auch die<br />

6. Schweiz schon immer gegeben, sagt er. Neu sei<br />

nur, dass die Einwanderer heute anderen Kulturkreisen<br />

und Religionen entstammten als früher.<br />

Zwischen 1850 und 1914, einer Phase besonders intensiver<br />

Emigration, seien schätzungsweise 410000<br />

Personen aus der Schweiz ausgewandert. Im gleichen<br />

Zeitraum sollen 409000 Personen in die<br />

Schweiz eingewandert sein.<br />

Seit 1999 ist Leo Schelbert emeritierter <strong>Pro</strong>fessor.<br />

Doch die Arbeit geht dem 77jährigen nicht aus.<br />

Zur Zeit schreibt er an den letzten Seiten des Historical<br />

Dictionnary of Switzerland, der ein Gesamtbild<br />

der Schweiz vermitteln soll und demnächst<br />

bei Scarecrow Press erscheint. Für dieses Lexikon<br />

verfasste er 26 mehrseitige Kantonsskizzen, etwa<br />

zweihundert Einträge zu wichtigen Institutionen<br />

und historischen Ereignissen sowie rund hundert<br />

Kurzporträts von Schweizer Persönlichkeiten, von<br />

der wissenschaftlichen Zeichnerin und Insekten-<br />

forscherin Maria Sybilla Merian bis zu dem in Genf<br />

lebenden Philosophen und Islamwissenschaftler<br />

Tarik Ramadan. ¬<br />

Leo Schelbert, geboren 1929 in Kaltbrunn in der Schweiz, kam<br />

1959 nach Amerika, studierte in New York City und promovierte<br />

1966 an der Columbia University in amerikanischer Geschichte.<br />

Von 1963 bis 1969 folgte ein Lehrauftrag an der Rutgers University<br />

in Newark, New Jersey. 1970–1971 Rückkehr in die Schweiz,<br />

Forschungsauftrag zur Schweizer Auswanderungsgeschichte.<br />

1971–1999 Lehrstuhl für Einwanderungsgeschichte an der University<br />

of Illinois in Chicago. Er ist Autor und Herausgeber von<br />

zahlreichen Büchern und Texten. Leo Schelbert erhielt den diesjährigen<br />

Auslandschweizer-Preis der FDP International.<br />

Die Zitate in diesem Artikel sind folgenden Werken entnommen:<br />

* Leo Schelbert: Einführung in die schweizerische Auswanderungsgeschichte<br />

der Neuzeit, Verlag Leemann, Zürich 1976<br />

** Leo Schelbert und Hedwig Rappolt (Hrsg.): Alles ist ganz anders<br />

hier – Auswandererschicksale in Briefen aus zwei Jahrhunderten,<br />

Walter-Verlag Olten, 1977<br />

Die Ethnologin Ines Anselmi arbeitet als <strong>Pro</strong>jektleiterin bei<br />

<strong>Pro</strong> <strong>Helvetia</strong>. Sie koordiniert das Swiss Roots-Kulturprogramm,<br />

das 2006 in verschiedenen Städten der USA durchgeführt<br />

wird.


Zürich – Manhattan – Long Island Mit Garance am Strand<br />

Sacha Verna im Gespräch mit der<br />

Schweizer Künstlerin Garance<br />

Garance<br />

Foto: Werner Gadlinger<br />

Die Schweizer Künstlerin Garance lebt und arbeitet seit zwanzig Jahren in den Vereinigten Staaten. Ein Gespräch<br />

über Ratten in Manhattan, Geld auf der Strasse und Schweizer Schokolade ❙<br />

Garance lebt mit ihrem Mann, dem Häuserbauer<br />

Vadoo Werthmüller, einem Hund und drei Papageien<br />

in New Suffolk, Long Island. Ihr Haus liegt<br />

nur wenige Schritte vom Strand entfernt. Der ehemalige<br />

Supermarkt, den Garance und ihr Mann<br />

eigenhändig umgebaut haben, besteht aus hellen,<br />

luftigen Räumen. Es gibt Gästebetten, die fast<br />

immer belegt sind, und eine riesige Küche, aus<br />

der regelmässig umfangreiche Tischgesellschaften<br />

verköstigt werden. Die vielen Fenster von Garances<br />

grosszügigem Studio gehen direkt auf einen<br />

Garten hinaus, der im Sommer so üppig sein<br />

muss wie ein Dschungel. Garance, die ihr Alter<br />

vornehm verschweigt, ist in Zürich geboren und<br />

aufgewachsen. Die ausgebildete Schauspielerin<br />

zeigt ihre Bilder, Arbeiten auf Papier und ihre Objekte<br />

seit Anfang der siebziger Jahre regelmässig<br />

in Ausstellungen, sowohl in Galerien und Institutionen<br />

in Europa und Amerika.<br />

Sacha Verna: Weshalb sind Sie 1985 nach New York<br />

gezogen?<br />

Garance: Ich lebte in Zürich und war gerade von<br />

einem Aufenthalt in Paris zurückgekommen, als<br />

ich den Bescheid erhielt, ich hätte das Stipendium<br />

für ein halbes Jahr im Loft der Stadt Zürich<br />

in New York gewonnen. Die Freude war natürlich<br />

riesig. Aber mir machte die Sache auch ein bisschen<br />

Angst. Ich war vorher noch nie so weit weg<br />

gewesen. Das erzählte ich einem Freund von mir,<br />

einem Sammler, und der lud mich und meinen<br />

damaligen Freund Vadoo daraufhin ein, mit dem<br />

Schiff nach New York zu fahren.<br />

Um sich der fremden Stadt langsam anzunähern?<br />

Genau. Die Überfahrt auf der Queen Elizabeth dauerte<br />

fünfeinhalb Tage, einen gewaltigen Sturm in-<br />

klusiv. Das war gerade Zeit genug, sich alles auf<br />

dem Schiff anzuschauen. Ich bin ja sonst kein<br />

Kreuzfahrtstyp. Das Einlaufen in den Hafen von<br />

New York war spektakulär. Wir sind hoch oben<br />

auf der Reling gestanden und hatten die Freiheitsstatue<br />

und das World Trade Center praktisch<br />

vor unserer Nase. Aber als wir uns auf dem festen<br />

Boden befanden, merkten wir schon, wie gigantisch<br />

die Häuser sind.<br />

Wurden Sie abgeholt?<br />

Nein, wir kannten keinen Menschen in New York.<br />

Wir hatten die Adresse des Ateliers und weiter<br />

nichts. Nicht einmal einen Schlüssel. Wir fanden<br />

das Loft am West Broadway und klingelten halt<br />

überall. Im Parterre befand sich eine Weinhandlung,<br />

deren Besitzer uns schliesslich einen Schlüssel<br />

gab und sagte, wir sollten es mal im fünften<br />

Stock versuchen. Mit dem Lift fuhren wir hinauf,<br />

probierten den Schlüssel, die Tür ging auf, und<br />

wir waren drin. Toll.<br />

Was waren Ihre ersten Eindrücke von New York?<br />

Leider ist man ja beeinflusst von all dem, was einem<br />

bereits über New York erzählt worden ist. Die<br />

einen sagen, es sei die beste Stadt der Welt. Die<br />

anderen sagen, es sei die gefährlichste Stadt der<br />

Welt und man müsse ungeheuer aufpassen. Deshalb<br />

haben wir am Anfang wie Tiere unser Revier<br />

immer ein bisschen vergrössert. Zuerst sind wir<br />

zur Houston Street vorgedrungen, dann nach Little<br />

Italy, Chinatown. Wir entdeckten Bars und Restaurants,<br />

lernten Leute kennen und erlebten New<br />

York als absolut unaggressive Stadt.<br />

Wie muss man sich das Soho von damals vorstellen?<br />

Es war ein Quartier voller junger Leute mit guten<br />

15


Zürich/Zürich, Schweiz


Homewood/Illinois, USA


18<br />

Ideen. Man wagte die verrücktesten Dinge, und<br />

manchmal funktionierten sie, manchmal nicht.<br />

Es gab viele Clubs, grosse und kleine, man war<br />

immer unterwegs bis morgens um vier. Wir waren<br />

dabei, als Andy Warhol und Miles Davis eine<br />

Modeschau für einen japanischen Designer veranstalteten.<br />

Es herrschte eine enorme Energie.<br />

Die Kunstszene in der Schweiz, die Sie verlassen und<br />

in der Sie sich bereits einen Namen gemacht hatten,<br />

war relativ klein und übersichtlich. Kam das grosse<br />

wilde New York da nicht als Schock?<br />

Im Gegenteil. Ich mag Herausforderungen. In der<br />

Schweiz wird man träge, man kommt in einen<br />

Trott hinein. Man hat seine Galerie, seine Sammler,<br />

seine Ausstellungen. Dass mich in New York<br />

niemand kannte, fand ich deshalb super. Ich suchte<br />

und fand auch gleich eine Galerie. Es lief von<br />

Anfang an hervorragend für mich. Ich konnte<br />

neue Beziehungen knüpfen und verkaufte sowohl<br />

an Leute, die mich aus der Schweiz besuchen<br />

kamen, als auch an all jene, die ich hier<br />

kennenlernte. Eines darf man natürlich nicht vergessen:<br />

Es waren die achtziger Jahre. Das Geld lag<br />

auf der Strasse. Den meisten Leuten ging es gut,<br />

vor allem in den Städten. Man kaufte und kaufte<br />

und kaufte.<br />

Beschlossen Sie deshalb, in New York zu bleiben?<br />

Wir hatten unsere Retourtickets bereits kurz nach<br />

unserer Ankunft auf dem West Broadway dem<br />

Wind übergeben – in der Hoffnung, es möge sie<br />

jemand finden, der sich die Schweiz anschauen<br />

möchte. Wir hatten nicht die Absicht, hier zu bleiben,<br />

aber wir wussten, dass wir nicht schon nach<br />

einem halben Jahr wieder in die Schweiz zurückkehren<br />

wollten.<br />

Suchten Sie den Kontakt zu anderen Schweizer Künstlern<br />

hier in New York?<br />

Wer frisch ankommt, will das gar nicht. Man zieht<br />

schliesslich nicht auf der Suche nach Schweizer<br />

Gesellschaft nach New York. Dabei bemüht sich<br />

das Schweizer Konsulat doch so sehr um einen,<br />

wenn man das wünscht. Früher tat es das jedenfalls.<br />

Mindestens vier Mal im Jahr veranstaltete<br />

es grosse Essen, zu welchen es Schweizer<br />

Geschäftsleute und Künstler einlud. Manchmal<br />

entwickelten sich daraus gute Kontakte. Der Botschafter<br />

besuchte einen übrigens auch regelmässig<br />

im Studio.<br />

War es für Sie als Künstlerin in New York je von besonderem<br />

Vorteil oder Nachteil, Schweizerin zu sein?<br />

Weder noch. Hier leben mindestens siebenundzwanzig<br />

Nationen nebeneinander und miteinander<br />

– das lehrt einen Toleranz.<br />

Hat es je die Art beeinflusst, wie man Ihnen begegnet<br />

ist?<br />

Nein. Die meisten Leute sagen sowieso: Ah, Sweden!<br />

Die anderen denken an chocolate und cheese,<br />

und was ist dagegen schon einzuwenden. Die<br />

Tatsache, dass ich in der Schweiz geboren wurde,<br />

hat mit mir als Person und mit meiner Arbeit ja<br />

nicht viel zu tun. Ich habe mich immer von Menschen<br />

inspirieren lassen, sicher nicht von den<br />

Bergen. Nationalitäten und Grenzen spielen für<br />

mich keine Rolle.<br />

Was bewog Sie 1995 dazu, von Manhattan nach Long<br />

Island zu ziehen?<br />

Ich hatte genug. Wir wohnten in verschiedenen<br />

Lofts, grossen Lofts, die wenigstens eine Zeitlang<br />

noch bezahlbar waren. Das letzte war in Chinatown,<br />

einem Viertel, das ich eigentlich mag. Aber<br />

es ist voller Ratten. Als mir eine Nachbarin erzählte,<br />

eine riesige Ratte hätte ihre Katze angegriffen,<br />

sagte ich zu Vadoo: Das war’s. Die Mieten<br />

gehen sowieso immer weiter hinauf, ich will aufs<br />

Land. Ich kannte diese Gegend hier, weil ich die<br />

Sommer häufig bei Freunden in den Hamptons<br />

verbrachte hatte. Das Haus, in dem wir heute leben,<br />

fanden wir eher durch Zufall. Es war ein<br />

leerstehender Supermarkt. Der Umbau dauerte<br />

drei Jahre. Zwei Jahre davon legte ich eine künstlerische<br />

Pause ein.<br />

Was, ausser der Umgebung, war nach der Pause anders?<br />

Ich habe angefangen, dreidimensional zu arbeiten.<br />

Sachen aus Papier und Figuren. Die Lust dazu<br />

kam vermutlich mit dem Hausbauen. Dann der<br />

Garten. Gärtnern ist wie malen. Ich habe hier aus<br />

dem Nichts ein Paradies gezaubert – Bananenbäume,<br />

Hunderte von Lilien. Ich betrachte den<br />

Garten als Teil meiner Arbeit.<br />

Inwiefern veränderte sich Ihre Beziehung zur Schweiz<br />

dadurch, dass Sie in den USA blieben?<br />

Ich habe nach wie vor auch Ausstellungen in der<br />

Schweiz und im übrigen Europa, ungefähr alle<br />

zwei Jahre. Auch andere <strong>Pro</strong>jekte – Bühnenbilder<br />

in Wien zum Beispiel. Eines der Highlights der<br />

letzten Jahre war für mich die Einladung für eine<br />

Ausstellung im Museum of Modern Art in Salvador<br />

die Bahia – ein grandioses Erlebnis. Dadurch<br />

lernte ich Brasilien kennen, ein Land, das mich<br />

unglaublich fasziniert hat. Als wir noch in Manhattan<br />

lebten, verkaufte ich natürlich die meisten<br />

Sachen dort. Aber ich habe meine Sammler und<br />

Kunden in Europa nie verloren. Es scheint sogar<br />

ganz gut zu sein, wenn man sich ein bisschen rar<br />

macht. Meine letzte Ausstellung in Zürich bei der<br />

Galerie Esther Hufschmied war jedenfalls praktisch<br />

ausverkauft.


Wie sieht Ihr Kontakt zur gegenwärtigen Kunstszene<br />

in New York aus?<br />

Gegenwärtig? Ich bin ja auch gegenwärtig!<br />

Ja, aber es gibt die Galerien in Chelsea, es gibt Auktionen,<br />

die Staub aufwirbeln, es gibt Stars und Sternchen.<br />

Inwieweit nehmen Sie an diesem Kunstbetrieb<br />

teil?<br />

Eigentlich gar nicht. Die Galerien in Chelsea stellen<br />

heutzutage ja meistens Installationskunst und<br />

Videos aus. Und die Museen zeigen das gleiche.<br />

Ich sehe mir diese Dinge ganz gerne an. Aber für<br />

mich als Künstlerin haben diese Arbeiten keinen<br />

Reiz. Ich mache meine Sachen weiter, ohne mich<br />

von dem Hipe ablenken zu lassen. Ich probiere,<br />

so ehrlich wie möglich zu sein und meine Arbeit<br />

nicht von irgendwelchen Trends abhängig zu machen.<br />

Meine Arbeit bin ich und nicht, was gerade<br />

in ist.<br />

Können Sie davon leben?<br />

In Manhattan konnte ich sehr gut davon leben.<br />

Hier draussen ist alles ein bisschen anders. Das<br />

Geld, mit dem wir die Rechnungen bezahlen, verdient<br />

jetzt mein Mann. Aber ich werde immer<br />

wieder für Ausstellungen in der Umgebung angefragt.<br />

Ich bekomme auch Aufträge aus New York.<br />

Letzten Sommer habe ich ein Bühnenbild für eine<br />

<strong>Pro</strong>duktion von Shakespeare in the Park gemacht.<br />

Ausserdem gebe ich Workshops in Monoprinting.<br />

In den USA hat ja fast jeder neben der Kunst<br />

noch einen Brotjob.<br />

Unterscheiden sich die USA in dieser Hinsicht von der<br />

Schweiz?<br />

Nein. Wenn man heute jung ist, lernt man schon<br />

in der Schule, wie man sich verkaufen kann. Wer<br />

als Künstlerin oder Künstler Karriere machen<br />

will, geht an die Kunstgewerbeschule oder an<br />

eine Kunstakademie in Deutschland, und dort<br />

wird das Künstlerdasein gelehrt wie jedes andere<br />

Business. Das ist in Europa genau gleich wie hier<br />

in Amerika. Die Jungen, Erfolgreichen wissen genau,<br />

was sie wollen und wie sie es kriegen können.<br />

Alle übrigen brauchen einen Job oder haben<br />

einen Mann, der sie unterstützt.<br />

Haben Sie in all den Jahren, die Sie jetzt schon hier sind,<br />

je daran gedacht, in die Schweiz zurückzukehren?<br />

Nein. Die kenne ich ja. Ich war lange genug dort.<br />

Aber es ist nicht etwa so, dass ich die Schweiz<br />

nicht mehr mag. Ich besuche sehr gerne meine<br />

Freunde dort und liebe die gute Schokolade. Ich<br />

schätze die Schweiz sogar mehr, je länger ich weg<br />

bin. Nur bin ich halt auch froh, wenn ich wieder<br />

gehen und hierher zurückkommen kann. Wenn<br />

ich Heimweh habe, dann nach Italien oder nach<br />

Frankreich. Und sollte ich wirklich noch einmal<br />

auswandern, dann nach Südamerika. Brasilien<br />

oder Mexico.<br />

Besteht denn die Chance, dass Sie nochmals auswandern?<br />

Warum nicht? Solange ich irgendwo ein Atelier<br />

habe, ist es mir wohl. Wo, ist mir egal. Ich möchte<br />

einfach nicht in den Norden. Dort ist es mir zu<br />

kalt. Ich brauche Sonne und Wärme. ¬<br />

Sacha Verna lebt und arbeitet als Kulturjournalistin in New York.<br />

Website Garance: www.garancestudio.com<br />

19


«Nehmen Sie Ihre verfluchte Hand weg»<br />

Die Filme der Gebrüder Dubini zu Thomas Pynchon, Jean Seberg und Hedy Lamarr<br />

Jean Willi Die Brüder Fosco und Donatello Dubini sind schon seit einiger Zeit mit ihrer Filmkamera unterwegs. Vielfach auf<br />

Fosco und Donatello Dubini<br />

Foto: F&D Dubini<br />

20<br />

Spurensuche in Amerika, durch die Tiefen seiner Manien und Mythen. Der Schriftsteller Jean Willi hat sich auf ihre<br />

Fährte gesetzt. Und entdeckt in ihren Arbeiten den an Thomas Pynchons Romanwerk geschulten Blick. Film ab ❙<br />

A journey into the mind of P.: New York. Eine<br />

Strasse. Ein Baumstamm, angeschnitten. Die graue<br />

Kleidung eines Mannes, der sich von rechts nach<br />

links bewegt, eine rote Basketballmütze. Die Figur<br />

geht aus dem Bild, der Baumstamm verschwindet,<br />

das Grau der Strasse wird breiter. Parkierte<br />

Autos. Fahlgelb die unterbrochene Mittellinie der<br />

Strasse. Jetzt ein Lichteinfall. Die Kamera holt die<br />

Figur für den Bruchteil einer Sekunde zurück. Ein<br />

blasses Gesicht, ein vor Schreck geöffneter Mund,<br />

opalisierende Brillengläser. Dann ist der Spuk vorbei.<br />

«Er wusste, wenn er sich vor der Welt versteckt, könnte<br />

jemand versuchen, ihn zu finden», erklärt Richard<br />

Lane, Webmaster und Cutter bei NBC.<br />

Vierzig Jahre dauert die Suche, bis James Bone,<br />

Korrespondent der London Times in New York,<br />

Thomas Pynchon ausfindig macht und ein Foto<br />

des grossen Unsichtbaren schiesst. Bone hat die<br />

Kamera seiner Frau eingesteckt und gewartet. «Es<br />

war ein sonniger Tag in der Upper West Side», erzählt<br />

er. «Plötzlich war da dieser Sechzigjährige. Gross, eckig,<br />

fast pantomimenhaft. Die Arme ruderten wie Windmühlen.»<br />

Bone sieht diese Begegnung als das Ende einer<br />

langen Geschichte, Höhepunkt eines Spiels, das<br />

Jahre dauert: Die Jagd auf Pynchons Foto und dessen<br />

Versuch, es zu verhindern. Bone will die einzigartige<br />

Möglichkeit nicht verpassen, Pynchon<br />

zu Wort kommen zu lassen. Er steckt die Kamera<br />

ein und hält ihm die Hand hin, wie man es, meint<br />

er, am Ende eines Fussballspiels täte. «Nehmen Sie<br />

Ihre verfluchte Hand weg», sagt der Mann. «Ich mag<br />

Leute nicht, die mich fotografieren.»<br />

Das unscharfe Foto zeigt einen älteren Mann, die<br />

Kapuze des Parkas hochgeschlagen. Neben ihm ein<br />

Junge, dessen Hand er hält. Jules Siegel, ein früherer<br />

Freund Pynchons aus der gemeinsamen Studienzeit<br />

in Ithaca, der 1977 das kollektive Schweigen<br />

bricht und im Playboy einen Artikel über den<br />

Autor veröffentlicht, äussert Zweifel, dass es sich<br />

bei dem Abgebildeten um Pynchon handelt. Richard<br />

Lane ist sich hingegen sicher. Vor allem, als<br />

er das Bild mit den Filmaufnahmen vergleicht, die<br />

einem CNN-Team gelingen, nachdem James Bone<br />

es vorgemacht und das Tabu gebrochen hat.<br />

Lanes eingehende Sichtung dieses von der CNN<br />

hergestellten Films ist Teil eines anderen Films,<br />

der Film im Film die Kulmination eines von Fosco<br />

und Donatello Dubini gedrehten: Thomas Pynchon<br />

– A journey into the mind of P. Der Titel des Films<br />

geht auf einen am 12. Juni 1966 im New York Times<br />

Magazin veröffentlichten Artikel über die Rassenunruhen<br />

in Watts zurück: A Journey into the Mind<br />

of Watts.<br />

Die Schweizer Filmautoren Fosco und Donatello<br />

Dubini, 1954/1955 geboren, entstammen einer italienisch<br />

sprechenden Familie aus dem Tessin und


gehen in Zürich und in Schwyz zur Schule. Sie sind<br />

Teil einer Generation, die stark durch die deutsche<br />

und die amerikanische Kultur geprägt wird.<br />

Es sind vor allem amerikanische Filme, die sie sehen,<br />

sie lesen amerikanische Autoren, hören Musik,<br />

englischer oder amerikanischer Herkunft. «Unsere<br />

Eltern sprachen noch kein Englisch», sagt Fosco<br />

Dubini, «während wir uns über diese Sprache definierten.»<br />

Das Triviale in Verbindungen mit elitären Kunstformen,<br />

die Vermischung von Realität und kreativem<br />

<strong>Pro</strong>zess, das Einbeziehen der Massenmedien,<br />

der Werbung, die Pop-Art schlechthin sind<br />

Anstösse, die von den Brüdern früh aufgefangen<br />

werden. Dabei hat die amerikanische Kultur einen<br />

zentralen Stellenwert in ihrem Leben und<br />

zunehmend auch in ihrem Schaffen, was anhand<br />

ihrer Filme, von denen ein Drittel amerikanische<br />

Themen aufgreift, zum Ausdruck kommt.<br />

Ihre Auseinandersetzung mit Pynchon hat – abgesehen<br />

davon, dass Tyrone Slothrop, die Hauptfigur<br />

in Pynchons Roman Gravity’s Rainbow (Die<br />

Enden der Parabel, dt. 1981), sich darin auch in Zürich<br />

herumtreibt, im Niederdorf wohnt, die Kronenhalle<br />

und das Odeon aufsucht und im Café Sträggeli «auf<br />

einer Bratwurst und einer Rinde Brot herumkaut» –<br />

eine längere Vorgeschichte. Sie beginnt Ende der<br />

Siebzigerjahre, als sie bei Recherchen zu einem<br />

Film über den Nato-Doppelbeschluss (Blindgänger)<br />

Pynchons 1973 erschienen Roman genauer unter<br />

die Lupe nehmen und das Buch, im wörtlichen<br />

Sinn, von hinten nach vorne lesen. Der Nato-<br />

Doppelbeschluss sieht die Stationierung von mobilen<br />

amerikanischen Mittelstreckenraketen in<br />

Europa vor, um damit das nukleare Gleichgewicht<br />

des Schreckens durch Nachrüstung wiederherzustellen.<br />

Slothrop durchstreift – neben Genf und Zürich –<br />

vor allem das zerbombte Deutschland auf der Suche<br />

nach der sagenhaften V2-Rakete (Vergeltungswaffe<br />

2), die gegen Ende des Krieges in der<br />

unterirdischen Raketenfabrik «Mittelwerk» fabriziert<br />

wird. Hunderte seltsamer Gestalten bevölkern<br />

den Roman, tauchen auf, verschwinden,<br />

tauchen unerwartet wieder auf – oder auch nicht.<br />

Sie heissen Rippenstoss, Achtfaden, Ochsenaugen<br />

und Sanktwolke, Oberst Enzian und sein<br />

Halbbruder Vaslav Tschitscherine, die Gebrüder<br />

van der Groov – es würde nicht erstaunen, die<br />

Dubini Brothers darunter zu finden.<br />

«Jeder Sonderling auf dieser Welt ist auf meiner Wellenlänge»,<br />

sagt Pynchon.<br />

Pychons geheimnisvolle Anonymität bewirkt, dass<br />

Personen, die sich mit ihm und seinen Büchern<br />

auseinandersetzen, zu <strong>Pro</strong>tagonisten einer Story<br />

werden, bei der Pynchon aus dem Dunkeln heraus<br />

die Fäden zu ziehen scheint. Da er nicht antwortet,<br />

wird alles, was über ihn gesagt wird, Teil<br />

einer Mega-Story, die sich aus den Pynchon-Themen<br />

wie Paranoia, Geheimorganisationen, Kabbala,<br />

pawlowscher Konditionierung, Verschwörungstheorien<br />

und dem Zauberer von Oz zusammensetzt<br />

und Namen wie Orwell, Rilke, Joyce und<br />

die Simpsons mit ins Spiel bringt. Eine über die<br />

Buchseiten weit hinausreichende Geschichte, in<br />

der Fiktion und Realität nicht mehr zu unterscheiden<br />

sind.<br />

«Donatello glaubt, Pynchon gesehen zu haben, als wir in<br />

New York drehten», erzählt Fosco. «Man dreht sich um,<br />

blickt Passanten nach, verfolgt Gerüchte, die einen Delikatessenladen<br />

betreffen, in dem Pynchon einkaufen soll,<br />

wartet dort. War er das, der gerade um die Ecke bog?»<br />

Verfolgungswahn kann beim Paranoiker zu Erfahrungen<br />

führen, die Koinzidenzen genannt wer-<br />

21


22<br />

den. Es handelt sich um Zufälle, die Zusammenhänge<br />

schaffen oder als solche sichtbar machen.<br />

Im September 1963 reisen Thomas Pynchon und<br />

Lee Harvey Oswald nach Mexiko City. Pynchon<br />

kommt von der Hochzeitsfeier seines Freundes<br />

Richard Fariña mit Mimi Baez, die am 24. August<br />

im Hause von Joan Baez in Portola Valley stattfindet.<br />

Er fährt nach Hause, Oswald zu einem Treffen<br />

mit dem kubanischen Geheimdienst G-2 in der<br />

kubanischen Botschaft, wo er laut Wilfried Huismann<br />

(Rendezvous mit dem Tod) den Auftrag erhält,<br />

John F. Kennedy zu erschiessen. Sitzen Pynchon<br />

und Oswald im gleichen Bus?<br />

«Ist das eines der Geheimnisse?» fragt Richard Lane.<br />

«Haben sie sich unterhalten?»<br />

Mitte der Sechzigerjahre wohnt Pynchon in Al<br />

Porto in Manhattan Beach, einer Kleinstadt am<br />

Pazifik in der Nähe von Los Angeles. Chrissie Wexler,<br />

die frühere Frau von Jules Siegel, die damals<br />

ein Verhältnis mit Pynchon hat, erinnert sich: «Im<br />

Sommer ist er morgens hier an den Strand gegangen<br />

und zwei, drei Stunden geblieben. Das Verrückte ist,<br />

dass seine Haut trotzdem weiss blieb. Wir haben am<br />

Strand gesessen und über den Vietnamkrieg gesprochen.»<br />

Jean Seberg – American Actress: «Ein seltsamer<br />

Zufall will es», erzählt Fosco Dubini, «dass sich zur<br />

selben Zeit zwei andere <strong>Pro</strong>tagonisten aus Filmen von<br />

uns in dieser Gegend aufhalten: Jean Seberg und Hedy<br />

Lamarr.»<br />

Jean Seberg – American Actress, von Donatello und<br />

Fosco Dubini, Deutschland/Schweiz, 1995, schildert<br />

die Tragödie eines Lebens, in dem Fiktion<br />

und Wirklichkeit nicht mehr unterschieden werden.<br />

Die Schauspielerin wird am 8. September<br />

1979 in einem weissen Renault 5 von der Pariser<br />

Gendarmerie gefunden, vollgepumpt mit Nebutal<br />

und Alkohol, 7,94 <strong>Pro</strong>mille, tot. Nach der Obduktion<br />

steht fest, dass sie Tabletten geschluckt und<br />

Whisky getrunken hat:<br />

«Dieser selbstgebraute Todescocktail vergiftete sie», erklärt<br />

der Arzt. Zehn Tage vorher verlässt Jean Seberg<br />

nachts ihre Wohnung und bleibt verschwunden.<br />

Im Wagen werden keine leeren Flaschen gefunden.<br />

Es gibt Vermutungen, der Alkohol könnte<br />

injiziert worden sein. Romain Gary, ihr ehemaliger<br />

Ehemann, beschuldigt das FBI, an ihrem Tod<br />

mitschuldig zu sein. Anderen Stimmen zufolge<br />

hätten Agenten des französischen Geheimdienstes<br />

sie wegen Kontakten zum algerischen Widerstand<br />

getötet. Die perfekte Ingredienz zur Legendenbildung,<br />

basierend auf einer Verschwörungstheorie,<br />

die derart naheliegend ist, dass Pynchon<br />

sie vermutlich als Fiktion abtäte.<br />

Tatsache ist, dass das FBI 1970 eine Schmutzkampagne<br />

gegen die Schauspielerin einleitet und mit<br />

Hilfe von Newsweek das Gerücht verbreitet, sie<br />

sei von einem Anführer der Black Panther Party<br />

schwanger. Jean Seberg erleidet einen Nervenzusammenbruch<br />

und verliert ihr Kind, das sie am<br />

Tag seiner Beerdigung in einem gläsernen Sarg<br />

der Öffentlichkeit vorführt: Es ist weiss. Seit die<br />

Schauspielerin schwarzen Bürgerrechtsaktivisten<br />

Asyl gewährt, gilt sie als Staatsfeindin. Ihr Telefon<br />

wird abgehört, sie wird Tag und Nacht beschattet,<br />

eine 300 Seiten starke Akte mit dem Codenamen<br />

Arisa wird erstellt. Alles Gründe, die eine Verschwörung<br />

nicht unbedingt als paranoides Hirngespinst<br />

und das Untertauchen eines Autors, der<br />

sich in seinen Büchern mit totalitären Systemen<br />

und deren Vorgehensweisen auseinandersetzt,<br />

als Vorsichtsmassnahme sinnvoll erscheinen lassen.<br />

Hedy Lamarr – The Secret of a Hollywoodstar,von<br />

Donatello und Fosco Dubini und Barbara Obermaier<br />

(Deutschland/Schweiz/Kanada, 2006) zeichnet<br />

das Porträt einer Schauspielerin, die als erste<br />

Nackte der Filmgeschichte berühmt wird und als<br />

«schönste Frau des Jahrhunderts» auf eine kometenhafte<br />

Karriere in Hollywood zurückblickt, bis sie<br />

einsam und vergessen stirbt. 1914 in Wien als<br />

Tochter eines Bankiers geboren, heiratet sie mit<br />

19 Jahren den Industriellen Fritz Mandl, ein Jude,<br />

der mit den Nazis Geschäfte macht und ihr das<br />

Filmen kurzerhand verbietet. Vier Jahre nach der<br />

Eheschliessung verlässt sie Mandl und flieht nach<br />

Paris, nachdem sie ihn und seine französische<br />

Zofe, die ihr nachspionieren soll, mit Drogen ausser<br />

Gefecht setzt. Louis B. Mayer entdeckt sie und<br />

ändert ihren Namen (Hedwig Eva Maria Kiesler)<br />

in Hedy Lamarr um, eine Hommage an die 1926<br />

an einer Überdosis Drogen gestorbene Filmdiva:<br />

Barbara La Marr.<br />

Im Sommer 1940 macht sie in Hollywood die Bekanntschaft<br />

ihres Nachbarn: George Antheil, dessen<br />

Konzerte nicht selten in Saalschlachten enden.<br />

Antheil, der in Paris in den Kreisen um Satie,<br />

Cocteau, Joyce und Picasso verkehrt und der sich<br />

selbst als «bad boy of music» bezeichnet, soll ihr<br />

Fragen zu den Themen Drüsen und Brustvergrösserung<br />

beantworten. Ein von ihm verfasstes Buch<br />

mit dem Titel Every man his own detective: a study<br />

of glandular endocrinology weckt ihr Interesse und<br />

wird zum Anlass für diese Begegnung. Im Laufe<br />

des Gesprächs kommt man auf den Krieg und verschiedene<br />

Waffensysteme zu sprechen. Hedy Lamarr<br />

erwähnt, dass sie mit dem Gedanken spiele,<br />

MGM zu verlassen und nach Washington, D.C., zu<br />

ziehen, wo sie einem Erfinderrat beitreten will.<br />

Diese Begegnung und die daran anschliessende<br />

Zusammenarbeit zwischen den beiden führt innerhalb<br />

kurzer Zeit zu einer erstaunlichen Erfin-


Little Switzerland/North Carolina, USA Arlesheim/Basel-Land, Schweiz


24<br />

dung, einer Funksteuerung für Torpedos, bei der<br />

das Steuerungssignal über mehrere Frequenzen<br />

verteilt und dadurch vor feindlichen Störungen<br />

sicher ist. Eine Erfindung, die Technologien wie<br />

Mobiltelefon und Satellitenkommunikation vorwegnimmt.<br />

1962 kommt das System während der<br />

Kubablockade zum Einsatz.<br />

Hedy Lamarr spielt in über 30 Filmen, darunter<br />

Tortilla Flat, Algiers, White Cargo; ihr erfolgreichster:<br />

Cecil B. DeMilles Samson und Delilah, ihr letzter:<br />

Instant Karma. Die Hauptrolle in Casablanca<br />

lehnt sie ab.<br />

«Als ‹Weisse Fracht› wird Hedy Lamarr im Film wie<br />

im Leben ein von Hollywood geschaffenes Vehikel von<br />

Wünschen, Träumen und erotischen <strong>Pro</strong>jektionen. Sie<br />

vermischt beständig Fiktion, Realität, ihre Rollen und<br />

ihr Leben als dauernde Irreführung», erklärt Barbara<br />

Obermaier, Mitregisseurin beim Lamarr-Film.<br />

Koinzidenzen und Synchronizität: Und genau dieses<br />

Vermischen von Fiktion und Realität treibt<br />

Pynchon auf die Spitze, das Vertauschen von Rollen,<br />

die Irreführung der Öffentlichkeit. Die Collagetechnik,<br />

die der Autor in seinen Büchern anwendet,<br />

das Zusammentragen von Bezügen, die<br />

dadurch als solche erkannt werden und entstehen,<br />

die Art, den Dingen auf die Spur zu kommen,<br />

die hinter dem Sichtbaren lauern, bestimmt<br />

auch die Arbeitsweise der Schweizer Dubini Brothers.<br />

Dadurch werden ihre Filme zu selbstständigen<br />

Werken, die stets eine weiterführende, das<br />

Thema transzendierende und keine kommentierende<br />

Funktion haben.<br />

Allen drei <strong>Pro</strong>tagonisten ihrer Filme gemeinsam<br />

ist etwas, was jeden Freund von Koinzidenzen<br />

stutzen lässt, weil er dahinter das von John C. Lilly<br />

beschriebene CCCC oder Cosmic Coincidence Controll<br />

Center vermutet. Scheinbar zufällig taucht bei<br />

jedem der hier angeführten <strong>Pro</strong>tagonisten eine<br />

Farbe auf, die in Wirklichkeit keine Farbe, sondern<br />

die Summe aller Farben ist: Weiss. Chrissie<br />

Wexler erinnert sich und findet es verrückt, dass<br />

Pynchons Haut, trotz täglichem Strandbesuch,<br />

weiss bleibt. Jean Seberg sieht sich bei der Beerdigung<br />

ihres totgeborenen Kindes gezwungen, den<br />

traurigen Beweis antreten zu müssen, dass ihr<br />

Kind weiss ist. Hedy Lamarrs Beitrag zu dieser<br />

Synchronizität – wie C. G. Jung das Phänomen<br />

auch bezeichnet –, liegt in ihrer Rolle als Tondelayo<br />

in Weisse Fracht. Als Synchronizität bezeichnet<br />

der Schweizer Tiefenpsychologe C. G. Jung Ereignisse,<br />

die nicht über eine Kausalbeziehung<br />

verknüpft sind, aber vom Beobachter als sinnvoll<br />

verbunden erlebt werden. Deshalb darf es auch<br />

nicht erstaunen, dass Pynchons nächster Roman<br />

sich angeblich mit der russischen Mathematikerin<br />

Sofia Vasilyevna Kovalevsakaya beschäftigt,<br />

mit nichtlinearer Dynamik in kondensierter Materie<br />

und dem Weiss-Tabor-Carnevale-Algorithmus.<br />

Vielleicht auch ein weiteres Filmthema für die<br />

Dubini Brothers? ¬<br />

Fosco Dubini, 1954 in Zürich geboren, begann 1975 sein Studium<br />

der Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften an der Universität<br />

Köln. Bis 1979 war er Mitglied des Filmkollektivs Zürich und<br />

danach Gründungsmitglied des Kölner Filmhauses sowie des<br />

Filmbüros NW. Seit 1991 unterrichtet er an der ESAV (École Supérieure<br />

d’Art Visuel) in Genf und arbeitet als Autor, Regisseur,<br />

Editor und <strong>Pro</strong>duzent in Köln und Genf. 1995 entstand – in Zusammenarbeit<br />

mit seinem Bruder Donatello – der Dokumentarfilm<br />

American Actress über Jean Seberg, 2001 folgte mit<br />

A Journey Into The Mind Of P. ein dokumentarisches Porträt des<br />

Schriftstellers Thomas Pynchon. Für den deutsch-schweizerischen<br />

Spielfilm Die Reise nach Kafiristan begaben sich Dubini und<br />

seine Crew auf eine beschwerliche Reise durch verschiedene<br />

Wüstenschauplätze in Jordanien. Fosco Dubinis jüngstes Filmprojekt<br />

ist der Dokumentarfilm Hedy Lamarr – Secrets of a Hollywood<br />

Star.<br />

Donatello Dubini, geboren 1955 in Zürich. Studierte von 1975-<br />

1977 an der Filmakademie in Wien. Bis 1979 Mitglied des Filmkollektivs<br />

Zürich. 1979 Studium der Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft<br />

an der Universität Köln. Gründungsmitglied des<br />

Kölner Filmhauses. Mitglied der Filmemacher- und Verleihinitiative<br />

Der Andere Blick, mit Nico Hofmann, Christian Wagner,<br />

Werner Penzel und Nicolas Humbert. Förderpreis des Landes<br />

NRW 1987, Bayerischer Filmpreis 1990. Lebt in Köln.<br />

Filmografie (Auswahl)<br />

2005 Hedy Lamarr – Secrets of a Hollywood Star<br />

Deutschland/Schweiz/Kanada, Dokumentarfilm, 85min.,<br />

Real Fiction<br />

2001 The Journey to Kafiristan (cast: Jeanette Hain, Nina Petri)<br />

Deutschland/Schweiz/Niederlande, feature, 100 min.,<br />

www.diereisenachkafiristan.de<br />

Int. Film Festival Locarno «Piazza Grande», Filmfest Hamburg,<br />

Montréal<br />

2001 Thomas Pynchon – A Journey into the mind of P.<br />

Dokumentarfilm, 90 min., Real Fiction, Int. sales: Media Luna<br />

1995 Jean Seberg – American Actress<br />

Dokumentarfilm, 82 min., Real Fiction / Der andere Blick<br />

Jean Willi, 1945 geboren, lebt auf Ibiza. 1989 erscheint die Erzählung<br />

Der Tag von Santa Inés. 1994 schreibt er zusammen mit<br />

Martin Suter das Drehbuch zu drei Folgen der Fernsehserie Die<br />

Direktorin. Zwischen 1993 und 1996 gibt er vier Bände mit Texten<br />

von Werner Helwig heraus. 1999 erscheint Sweet Home im Ricco<br />

Bilger Verlag, 2005 im gleichen Verlag der Roman matar.


Die verschwisterten Republiken<br />

Was denken Amerikaner über die Schweiz?<br />

Alfred Defago<br />

Das Interesse Amerikas an Europa sinkt. Doch Gemeinsamkeiten – auch im Falle der Schweiz – bleiben bestehen.<br />

Entstehen auch neue? Alfred Defago auf der Suche nach einer transatlantischen Balance ❙<br />

Der Lapsus: Es war am 14. Mai 1997. Pünktlich<br />

um 14.30 fuhr eine schwarze Stretch-Limousine<br />

des US-Aussenministeriums samt Polizeieskorte<br />

mit Blaulicht vor der Residenz des Schweizer Botschafters<br />

in Washington vor. Meine Frau und ich<br />

sollten zur offiziellen Übergabe des Beglaubigungsschreibens<br />

an Präsident Clinton im Weissen<br />

Haus abgeholt werden. Alles hatte das amerikanische<br />

<strong>Pro</strong>tokoll detailliert vorbereitet, der Ablauf<br />

war auf die Minute genau geplant. Nach dem protokollarisch<br />

vorgesehenen ‹Small Talk› mit zwei<br />

Vertretern des Staatsdepartements in unserer Residenz<br />

war die Abfahrt auf 14.45 festgesetzt. Doch<br />

als wir auf die Limousine zugingen, passierte es:<br />

«Ich glaube, da stimmt was nicht», flüsterte mir meine<br />

Frau zu und zeigte mit den Augen diskret auf<br />

die Kühlerhaube der langezogenen Limousine des<br />

State Department. Und in der Tat: Da prangte sie,<br />

die Nationalflagge mit dem weissen Kreuz im rotem<br />

Feld. Doch leider war es nicht die schweizerische,<br />

sondern unverkennbar die dänische Flagge,<br />

der Danebrog, den die Amerikaner hier aufgepflanzt<br />

hatten. Als wir unsere Beobachtung dem<br />

mitfahrenden amerikanischen <strong>Pro</strong>tokollbeamten<br />

mitteilten, setzte es zuerst ein betretenes Schweigen<br />

ab. Dann ein verzweifeltes «Oh my god!» sowie<br />

ein nervöses Telefongespräch mit dem <strong>Pro</strong>tokolldienst<br />

des Staatsdepartements. Wir fuhren<br />

schliesslich ab, mit der dänischen Flagge. Doch sie<br />

wurde eine Meile vor dem Weissen Haus durch<br />

eine schweizerische ersetzt, die ein Polizeifahrzeug<br />

eilends aus dem Aussenministerium herbeigeschafft<br />

hatte. Als wir endlich an der Ehrengarde<br />

vorbei beim Portal des Weissen Hauses<br />

vorfuhren, war es das Schweizerkreuz im roten<br />

Feld, das im Wind munter und gut sichtbar flatterte.<br />

Ich habe diese Episode wohlweislich erst einige<br />

Jahre nach dem Vorfall zu erzählen begonnen. Im<br />

Mai 1997, als die Wogen über die Rolle der Schweiz<br />

im 2. Weltkrieg bei uns hochgingen, wäre ein solcher<br />

Lapsus in der Schweiz zum explosiven Politikum<br />

geworden. Dies umso mehr, als die Vorfahrt<br />

vor dem Weissen Haus von einem Team des<br />

Schweizer Fernsehens für die Tagesschau gefilmt<br />

wurde.<br />

Schweizer, denen ich diese kleine Geschichte später<br />

erzählt habe, reagierten meist mit Kopfschütteln.<br />

Der Vorfall erschien ihnen ‹typisch amerikanisch›,<br />

d.h. als ein klares Indiz für amerikanische<br />

Arroganz, Ignoranz und letztlich das Fehlen jeglicher<br />

Sensibilität gegenüber der Aussenwelt. Wie<br />

kann man nur die dänische mit der schweizerischen<br />

Flagge verwechseln? Doch damit nicht genug.<br />

Gleich mehrere Male habe ich mit meinem<br />

schwedischen Amtskollegen in Washington Briefe<br />

ausgetauscht, die von amerikanischen Absendern,<br />

darunter auch Senatoren und Kongressabgeordneten,<br />

offensichtlich an den ‹falschen› der beiden<br />

Botschafter gesandt worden waren.<br />

Ein klares Schweiz-Bild gibt es in den USA nicht:<br />

Wer über das amerikanisch-schweizerische Verhältnis<br />

schreiben oder reden soll, tut gut daran,<br />

sich dieser Episoden zu erinnern. Zwar gibt es<br />

sie, die Schweiz-Kenner in der Neuen Welt. In der<br />

Wirtschaft, der Politik und selbstverständlich an<br />

den vielen erstklassigen Universitäten des Landes.<br />

Da kann man denn in der Tat nur staunen, wenn<br />

etwa an der University of Wisconsin-Madison regelmässig<br />

Vorlesungen über Frauenliteratur in<br />

der Westschweiz des 20. Jahrhunderts oder – an<br />

gleich mehreren Top-Instituten – Seminare über<br />

das politische Konsens-System in der schweizeri-<br />

25


Gstaad/Bern, Schweiz


New Bern/North Carolina, USA


28<br />

schen Politik gehalten werden. Doch die Mehrheit<br />

der Amerikaner weiss nur wenig über die Schweiz.<br />

Allerdings: Die Schweiz ist hier für einmal kein<br />

Sonderfall. Genau so vage bleiben die Vorstellungen<br />

über Dänemark, Schweden, die Slowakei oder<br />

Holland. Wer nicht gerade in Schweizer Vereinen<br />

oder bei Schweiz-Spezialisten in Wirtschaft, Politik<br />

oder Kultur herumhört, wird Mühe haben,<br />

über die üblichen Klischees von den hohen Bergen,<br />

klaren Seen, friedlich weidenden Kühen,<br />

Käse, Schokolade, Uhren oder Banken hinaus fündig<br />

zu werden.<br />

Kürzlich habe ich gelesen, dass das amerikanische<br />

Interesse an der Schweiz und anderen europäischen<br />

Ländern wieder steigen könnte. Ich habe<br />

meine Zweifel. Das hat zunächst mit der Tatsache<br />

zu tun, dass die meisten Amerikaner zwar in<br />

der einen oder anderen Form Einwanderer waren<br />

oder sind, aber dennoch Einwanderer, die ihre<br />

alte Heimat verlassen und eine neue gefunden haben.<br />

Manche von ihnen sind zwar stolz, Schweizer-Amerikaner,<br />

Italo-Amerikaner oder Irisch-<br />

Amerikaner zu sein. Aber letztlich sind sie eben<br />

doch in erster Linie Amerikaner. Irisch-Amerikaner<br />

oder Abkömmlinge von Einwanderern aus Sizilien<br />

mögen – in oft verklärender Weise – sich für<br />

ihre alte Heimat in Cork oder Palermo begeistern.<br />

Aber es ist nicht anzunehmen, dass sie sich speziell<br />

auch noch für die Schweiz interessieren. Warum<br />

sollten sie auch?<br />

Vom Atlantik zum Pazifik: Dazu kommt, dass die<br />

USA, noch immer das Einwanderungsland par<br />

excellence, seit Mitte der sechziger Jahre eine<br />

massive Einwanderungswelle aus Lateinamerika,<br />

der Karibik sowie aus Süd- und Ostasien erleben.<br />

Die Einwanderung aus Europa, zumindest aus<br />

Westeuropa, ist in den letzten Jahrzehnten dagegen<br />

so gut wie verebbt. Das hat, ja muss Konsequenzen<br />

für das amerikanische Interesse an Europa<br />

(und damit auch der Schweiz) haben. Dass sich<br />

die Millionen von neu zugezogenen Mexikanern,<br />

Indern, Chinesen oder Vietnamesen als neugebakkene<br />

Amerikaner besonders für Europa interessieren,<br />

ist nicht anzunehmen. Und so wenden<br />

sich die USA – langsam aber sicher – Lateinamerika<br />

und Asien zu. Auch wenn es viele Europäer<br />

und gerade Schweizer nicht so recht wahr<br />

haben wollen: Die USA sind heute – mehr denn je<br />

– weit mehr als nur ein kultureller Wurmfortsatz<br />

Europas, mehr als ein blosser Vorposten der<br />

westlich-atlantischen Zivilisation. Im Gegensatz<br />

zu Europa, das mit der Immigration schon immer<br />

seine Mühe hatte, integriert Amerika trotz aller<br />

Schwierigkeiten nicht-europäische Einwanderer<br />

in grosser Zahl. Und verändert sich als Land mit<br />

ihnen, ethnisch, gesellschaftlich und kulturell.<br />

Gleichzeitig verlagert sich sein Schwerpunkt vom<br />

Atlantik zum Pazifik.<br />

Dennoch: Europa und die USA teilen noch immer<br />

ein bemerkenswertes Mass an kulturellen und intellektuellen<br />

Gemeinsamkeiten und Werten. Europa<br />

hat diesbezüglich durchaus einen erheblichen<br />

Einfluss auf das politische und kulturelle Denken<br />

der Vereinigten Staaten gehabt. Einen Einfluss,<br />

der bis auf den heutigen Tag deutlich nachwirkt.<br />

Hier kommt auch die kleine Schweiz ins Spiel,<br />

und zwar sehr prominent. Schweizerisches politisches<br />

Denken und schweizerische politische Praxis<br />

haben auf die Entwicklung der amerikanischen<br />

Demokratie einen beträchtlichen Einfluss gehabt.<br />

Sie sind auch heute noch im politischen Alltag<br />

deutlich zu spüren. Es gehört zur Ironie der Geschichte,<br />

dass dieser wirklich bedeutende schweizerische<br />

Beitrag zur amerikanischen Geschichte<br />

in der Schweiz weniger bekannt ist als in den<br />

USA selbst.<br />

Die Schwester-Republiken: Im späten 18. und bis<br />

weit ins 19. Jahrhundert hinein war die kleine<br />

Schweiz im fernen Europa so etwas wie ein Vorbild<br />

für die junge amerikanische Republik. Kein<br />

Wunder, dass der Blick der Amerikaner gerade<br />

auf die Schweiz fiel. Die Alte Eidgenossenschaft<br />

war einer der wenigen republikanischen Staaten<br />

in einem Meer von mehr oder weniger straff organisierten<br />

Monarchien. Schon sehr bald begann<br />

man sowohl in der Schweiz wie auch den USA<br />

von einer engen Partnerschaft zu sprechen. Das<br />

Wort von den ‹Sister Republics›, den zwei Schwesterrepubliken,<br />

machte die Runde. Als es in den<br />

USA 1787 um die Niederschrift der ersten republikanischen<br />

Verfassung ging, diskutierte man das<br />

schweizerische Vorbild geradezu leidenschaftlich.<br />

Sollte man sich als lose Konföderation konstituieren,<br />

wie das damals die Alte Eidgenossenschaft<br />

war? Oder sollte man nicht vielmehr etwas grundsätzlich<br />

Neues wagen? Man entschied sich für einen<br />

föderalistisch aufgebauten Staat, der aber<br />

dennoch – anders als das schwache Tagsatzungssystem<br />

der dreizehnköpfigen Eidgenossenschaft<br />

– eine relativ starke Zentralgewalt aufwies.<br />

Etwas mehr als ein halbes Jahrhundert später waren<br />

es die Schweizer, die von der ‹Sister Republic›<br />

jenseits des Atlantiks in Sachen Verfassung lernen<br />

wollten. Die liberal-radikalen Gründungsväter<br />

der neuen Schweiz von 1848 suchten nicht lange<br />

nach möglichen Vorbildern für ihre Bundesverfassung.<br />

Für sie kam da – beinahe zwangsläufig –<br />

nur eine Verfassung in Frage: die amerikanische.<br />

Kein Wunder, denn auch 1848 war eine Republik,<br />

die sich auf die Herrschaft des Volkes berief, immer<br />

noch eine geradezu exotische Ausnahme. In<br />

starker Anlehnung an das amerikanische Vorbild


wurde in der Schweiz ein föderaler Staat mit einem<br />

Zweikammer-System geschaffen. Der Nationalrat,<br />

die Volksvertretung, wurde dem US-Repräsentantenhaus<br />

nachgebildet, der Ständerat, die<br />

Vertretung der Kantone, war in mancher Hinsicht<br />

eine Kopie des amerikanischen Senats. Diese und<br />

viele andere Bestimmungen in der Bundesverfassung<br />

von 1848 veranlassten den Neuenburger<br />

Staatsrechtler Jean-François Aubert zur leicht maliziösen<br />

Bemerkung, man könne hier beinahe von<br />

einem Plagiatsfall sprechen.<br />

Neben offensichtlichen Ähnlichkeiten gibt es aber<br />

auch bezeichnende Unterschiede. Zwar kennt<br />

auch die Bundesverfassung von 1848 die grundsätzliche<br />

Trennung der drei Staatsgewalten (Legislative,<br />

Exekutive und Judikative). Doch während<br />

sie im legislativen Bereich das amerikanische<br />

Zweikammersystem weitgehend übernimmt, ändert<br />

sie das amerikanische Vorbild in Bezug auf<br />

die Exekutive in auffälliger Weise ab. Ruft die<br />

US-Verfassung geradezu nach einem starken Präsidenten<br />

mit Führungsqualitäten, verteilt die<br />

schweizerische Verfassung dessen Machtfülle typischerweise<br />

auf ein Gremium von sieben Bundesräten.<br />

Zwar kennt auch die Bundesverfassung einen<br />

Präsidenten, doch bis auf den heutigen Tag<br />

sind dessen Kompetenzen weitgehend zeremonieller<br />

Natur. Und die Tatsache, dass er überdies<br />

nur jeweils ein Jahr im Amt bleiben darf, ist ein<br />

weiterer Hinweis, dass die politisch, sprachlich<br />

und kulturell vielgliedrige Schweiz – anders als<br />

die USA – eben keine starken ‹Leaders› will.<br />

Initiative und Referendum: Doch die wechselseitigen<br />

Beeinflussungen der beiden Polit-Systeme<br />

war 1848 noch nicht zu Ende. Hatten die radikalen<br />

Gründungsväter der neuen Schweiz ihre geistigen<br />

Anleihen weitgehend in den USA getätigt,<br />

sind es gegen Ende des 19. Jahrhunderts wiederum<br />

die Amerikaner, welche schweizerisches Verfassungsrecht<br />

in die USA exportieren. Die typisch<br />

schweizerischen direkt-demokratischen Einrichtungen<br />

von Initiative und Referendum sind es,<br />

die sie plötzlich faszinieren. In den späten achtziger<br />

und neunziger Jahren erscheinen in den USA<br />

unzählige Bücher und noch mehr Zeitungsartikel<br />

über das Initiativ- und Referendumsrecht der Eidgenossenschaft<br />

im fernen Europa. Initiative und<br />

Referendum werden plötzlich als Allheilmittel gegen<br />

politische Machenschaften und die grassierende<br />

Korruption in verschiedenen Bundesstaaten<br />

gesehen. Das Volk muss – wie in der Schweiz –<br />

den Politikern auf die Finger klopfen können, war<br />

der Schlachtruf der amerikanischen Populisten.<br />

Der Erfolg blieb nicht aus. Zwischen 1890 und<br />

1912 führen 18 Bundesstaaten das Initiativ- und/<br />

oder Referendumsrecht ein.<br />

Heute sind es bereits 26 US-Staaten, die diese<br />

Einrichtung kennen. Und die Bewegung für direkte<br />

Volksrechte scheint in den letzten Jahren noch<br />

mehr Schwung entwickelt zu haben. So kommt<br />

es, dass heute von Kalifornien bis Florida Jahr für<br />

Jahr Millionen von Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern<br />

nach schweizerischer Manier zu jeweils<br />

Dutzenden von Sachgeschäften zur Urne gerufen<br />

werden. Nicht selten werden dabei umstrittene<br />

Entscheide der Staatsparlamente rückgängig gemacht<br />

oder gegen den Willen des Gouverneurs<br />

neue Bestimmungen in die jeweilige Staatsverfassung<br />

aufgenommen. Die Einführung des Initiativ-<br />

und Referendumrechts in mehr als der Hälfte<br />

aller US-Bundesstaaten ist ohne die Schweiz nicht<br />

denkbar. Anhänger wie Gegner dieser – nicht unumstrittenen<br />

– Institution verweisen in ihren Debatten<br />

nicht selten ausdrücklich auf das schweizerische<br />

Vorbild. Das ist immerhin etwas. Die<br />

leidige Frage aber, was die Amerikaner über uns<br />

denken, welches Bild sie von uns haben, sollten<br />

wir ruhen lassen. Sie bringt nichts, genausowenig<br />

wie im Falle von Dänemark, Schweden, Slowakei<br />

oder ...(Reihe beliebig fortsetzbar). ¬<br />

Alfred Defago, Dr. phil., lehrt seit 2001 internationale Beziehungen<br />

an der University of Wisconsin-Madison. Zuvor war er<br />

Schweizerischer Generalkonsul in New York und Botschafter<br />

der Schweiz in Washington, DC. In den achtziger und neunziger<br />

Jahren war Alfred Defago Chefredaktor von Radio DRS und<br />

Direktor des Bundesamts für Kultur.<br />

29


Chicago/Illinois, USA


Hollywood-Swissness à la carte<br />

Ein fiktives Gespräch mit Renée Zellweger<br />

Milena Moser Natürlich hätte ‹Passagen› den Leserinnen und Lesern an dieser Stelle gerne ein Exklusivinterview mit der ‹Holly-<br />

woodschweizerin› Renée Zellweger beschert. Doch das Filmgeschäft hat seine eigenen Gesetze und, was Inter-<br />

views mit Stars betrifft, Hürden, die kaum zu überwinden sind. Das musste auch die in San Francisco lebende<br />

Schweizer Schriftstellerin Milena Moser erfahren. Ihr Gespräch mit Renée Zellweger fand trotzdem statt – in der ei-<br />

genen Phantasie. Exklusiv! ❙<br />

Muttenz/Basel-Land, Schweiz<br />

31


32<br />

Beim Bauernspeck: «Ich liebe die Schweiz», sagt sie.<br />

«Der Schweiz verdanke ich alles.» «M-hm.» Ich nicke.<br />

«Weiter?»<br />

Gewissenhaft listet sie die typisch schweizerischen<br />

Eigenschaften auf, die ihr das Leben einfacher<br />

gemacht haben, ja denen sie eigentlich, wenn<br />

sie es sich genau überlegt, ihren Erfolg verdankt.<br />

Pünktlichkeit, Sauberkeit, sie zählt sie an den Fingern<br />

ab, ihre Hände sind schneeweiss, als hätte<br />

sie ihr Leben lang Abwaschhandschuhe getragen,<br />

auch das eine Schweizer Sitte wie aus dem Bilderbuch.<br />

«Loyalität», fährt sie fort, «Verlässlichkeit, absolute<br />

Verlässlichkeit.»<br />

Während sie spricht, hat sie den Käse in kleine<br />

Stücke geschnitten, jetzt schiebt sie mir die Bauernplatte<br />

zu. «Bedienen Sie sich doch», sagt sie höflich,<br />

«griiffed nume zue!»<br />

Mit einem Lächeln quittiere ich den gelungenen<br />

berndeutschen Akzent. Gelesen habe ich zwar,<br />

dass ihr Vater aus dem Sanktgallischen stammt,<br />

aber ich will nicht kleinlich sein. Renée tut, was<br />

sie kann, vor allem, wenn man den Jetlag berücksichtigt.<br />

Ich nehme mir eine Essiggurke, ein Stück Käse,<br />

Renée kaut am Bauernspeck. Sie nickt ernsthaft,<br />

studiert den ihr unbekannten Geschmack, die Beschaffenheit<br />

jedes Bissens. Wir sitzen draussen<br />

an einem der rotlackierten Metalltische, vor uns<br />

die Wiese, der Spielplatz, die Kühe. Vögel zwitschern,<br />

Bienen summen, Sonnenstrahlen wärmen.<br />

Andere Gäste schauen zu uns herüber, aber<br />

sie sagen nichts, wenn sie Renée erkannt haben,<br />

lassen sie es sich nicht anmerken. Sie beugt sich<br />

vor: «Sehen Sie, das liebe ich an der Schweiz!»<br />

«Ich weiss», sage ich, «ich habe selber mal Udo Jürgens<br />

in der Migros gesehen, am Stadelhoferplatz. Er<br />

kaufte Rasierschaum und Klopapier und stand vor der<br />

Kasse an wie alle anderen.»<br />

«Udo Jürgens? Migros?»<br />

Renée legt ihr Winzgesicht in neue Falten, andere<br />

Falten, die Verwirrung ausdrücken. Bückt sich unter<br />

den Tisch, sie zieht den Reissverschluss ihres<br />

brandneuen Rucksackes auf und holt ein Notizbuch<br />

hervor. Das Büchlein (wie auch der Rucksack,<br />

der Bleistift und die Schiebermütze auf ihrem<br />

blonden Kinderhaar) ist rot und mit weissen<br />

Schweizerkreuzen bedruckt. Niemand kann Renée<br />

vorwerfen, sie nähme ihre Rolle nicht ernst.<br />

Ein <strong>Pro</strong>fi. Das sagt jeder. Der ist nichts zu viel. Der<br />

Renée Zellweger.<br />

«Migros», sie sie schaut auf, ihr Blick ist ernst.<br />

«Wie buchstabiert man das?»<br />

Ich diktiere es ihr. Sie schaut auf, ihr Blick ist ernst.<br />

«Und Udo Jürgens? Ein berühmter Schweizer?»<br />

«Ja, ziemlich.»<br />

Sie seufzt.<br />

«Ich habe noch so viel zu lernen, nicht?»<br />

«Sie machen Ihre Sache gut», sageich,«sehr gut sogar!»<br />

und winke nach einem Halbeli.<br />

«Halbeli», wiederholt Renée. «Haa-ubeli?»<br />

Ich nicke. Sehr gut.<br />

Das Komitee: Es hatte nicht lange gebraucht, um<br />

sich zu entscheiden. Die Frau, die die Schweiz verkörpern<br />

würde (auf Briefmarken und Münzen und<br />

offiziellen Briefköpfen, auf Konferenzen und Weltausstellungen<br />

und vielleicht sogar als Wachsfigur)<br />

sollte modern sein, aber doch durch und<br />

durch schweizerisch. Hübsch, aber nicht überwältigend<br />

schön, bescheiden, aber nicht arm, allerdings<br />

auch nicht wirklich reich, zurückhaltend,<br />

aber nicht schwach, jemand, der sich selbst genügt.<br />

So jemand. Sollte die Schweiz verkörpern.<br />

Jemand wie Renée Zellweger eben. Genau.<br />

«Renée Zellweger», sagte jemand, «aber die lebt doch<br />

in Amerika.»<br />

«Nicht nur das, sie ist in Amerika geboren. Gilt das<br />

überhaupt?»<br />

«Ich bitte Sie!» Ein Mitglied des Kommittees stand<br />

auf, ein nicht mehr ganz junger Herr in einem<br />

grauen Anzug, der lange geschlafen hatte, mindestens<br />

zwanzig Jahre lang, aber etwas an dieser<br />

Idee, die Schweiz zu verkörpern, hatte ihn aufgeweckt.<br />

«Mit einem Namen wie Zellweger? Gibt es einen<br />

schweizerischen Namen? Einen Namen, wohlgemerkt,<br />

den sie jederzeit hätte ablegen können. Aber hat sie das<br />

getan? Nein, das hat sie nicht. Im Gegenteil, sie hat<br />

diesen schweizerischsten aller Namen weltberühmt gemacht.»<br />

«Ja, aber wie man ihn ausspricht», flüsterte jemand.<br />

«Ist es nicht gerade die Loyalität zum schwer auszusprechenden<br />

Namen, die ihre Swissness beweist – und<br />

bitte sehr, geehrtes Kommittee, allein die Tatsache, dass<br />

wir für Swissness keinen schweizerdeutschen Ausdruck<br />

finden können, spricht für eine Amerika-Schweizerin<br />

als Verkörperung des Konzeptes, nicht wahr?»<br />

Der Mann redete sich in Feuer. Seine rechte Hand<br />

verkrampfte sich in der Jackentasche, sie wollte<br />

sich zur Faust ballen und hochschiessen und dazu<br />

würde er «Zällwäger forever!» schreien. Statt dessen<br />

sagte er: «Swiss Roots, übrigens, sehr geehrte Damen<br />

und Herren, auch ein englischer Ausdruck.»<br />

Andere Mitglieder des Kommittees vermuteten<br />

nicht zu Unrecht, dass dieser Herr so vehement<br />

einsprach, weil er sich selber an der Seite der zierlichen<br />

Renée sah, wie er sie in die Swissness einführte,<br />

wie er ihr über Berge und Wasserfälle half,<br />

galant, aber nicht aufdringlich, verlässlich und<br />

stark. Sie hatten seinem Feuer nichts entgegenzusetzen.<br />

Als nächstes stellte sich die Frage, wie man die<br />

verkörperte Schweiz in diesem grossen Land Amerika<br />

finden sollte, geschweige denn einfangen<br />

und zurückbringen? Der graue Anzug hätte sich


nur zu gerne angeboten, aber die Angst, zu versagen,<br />

sich lächerlich zu machen, war am Ende stärker<br />

(eine typisch schweizerische Angst übrigens).<br />

Und da trat ich vor, «Damen und Herren vom Kommittee<br />

zur Verkörperung der Schweiz», sagte ich, «ich<br />

lebe zufällig auch in Amerika, ich bringe Ihnen die Zellweger.<br />

Tot oder lebendig!»<br />

Damit meinte ich natürlich nicht Renée, sondern<br />

mich, es wurde langsam Zeit, dass ich auch mal<br />

ein Opfer für mein Land brachte, so etwas lernt<br />

man in Amerika, Hand auf’s Herz und Switzerland<br />

forever.<br />

Dornbusch und Laufband: Um bis zu Renée vorzudringen,<br />

musste ich wie ein Märchenprinz vorgehen,<br />

eine Rolle, die mir bis dahin vollkommen<br />

unbekannt war. Ich hatte es mein Leben lang<br />

eher mit dem Dornröschen gehalten, gebt mir<br />

Kabelfernseher und Fingerfutter, und ich halte es<br />

gut hundert Jahre lang alleine aus. Doch jetzt<br />

hatte ich eine Aufgabe, eine Aufgabe, die mir<br />

wichtig war, ich würde meinem Heimatland zu<br />

einem Symbol verhelfen, ich, ich allein konnte<br />

das möglich machen. Das musste das Kommittee<br />

auch einsehen, nachdem alle Anfragen auf offiziellem<br />

Wege gescheitert waren, an den drei Reihen<br />

von Dornenbüschen abgeprallt, die Renée<br />

umgaben. Persönliche Assistenten, Presseberater,<br />

Manager, Businessmanager, Agenten, Bodyguards,<br />

Trainer und ein Friseur. Und das war nur der innerste<br />

Kreis. Um diesen zu durchbrechen, brauchte<br />

ich Wochen. Wochen voller Lügen und Tricks.<br />

Ich musste schmeicheln, bestechen, mehr lügen,<br />

schleichen, klettern und eine Kreditkarte als<br />

Schlüssel benutzen, was nicht so einfach ist, wie<br />

es im Fernsehen aussieht. Einmal stellte ich sogar<br />

dem Chauffeur ein Bein. Als ich endlich vor Renée<br />

Zellweger stand, rannte sie auf einem Laufband,<br />

winzig, kindlich, durchgeschwitzt, «nur noch zehn<br />

Meilen» sagte sie, das sind über sechzehn Kilometer.<br />

«Hop on», sagte sie, und es blieb mir nichts anderes<br />

übrig, als auf das Laufband neben ihrem zu klettern<br />

und langsame Schrittbewegungen zu machen.<br />

«Renée», sagte ich, «die Schweiz braucht Sie.»<br />

«Die Schweiz? Welche Schweiz?»<br />

«Ihr Vaterland, Renée!» Ich sagte Vaterland, weil das<br />

in ihrem Fall sogar stimmte, ihr Vater aus der<br />

Schweiz, die Mutter aus Norwegen, deshalb wäre<br />

Renée die letzte, die diesen weitverbreiteten Fehler<br />

machen sollte, doch sie machte ihn:<br />

«Oh, sure», sagte sie,«ich war letztes Jahr in Stockholm,<br />

Mitternachtssonne, super!»<br />

«Nicht Schweden, René, die Schweiz! Wo Ihr Vater herkommt.<br />

Wo die Leute Namen haben wie Zellweger.<br />

Diese Schweiz meine ich.»<br />

«Ihr Laufband ist ja gar nicht an!» Sie langte zu mir<br />

hinüber, ohne ihr Tempo zu drosseln. «Hier, Honey.»<br />

Drückte den roten Knopf, und das Band setzte<br />

sich in Bewegung, und bald wusste ich nicht mehr,<br />

warum ich hier war und wer der verschwommene<br />

rosa Fleck neben mir war. Als nächstes fand<br />

ich mich auf dem Fussboden wieder, vom Band<br />

geschleudert, das Zitronengesichtchen über mir<br />

schwebend, besorgt verzogen.<br />

Renée Zellweger ist ein ‹people pleaser›, das hatte<br />

ich vorbereitend gelesen. Das heisst, dass sie gerne<br />

das sagt, was man von ihr hören will. Deshalb<br />

braucht sie all die hundertjährigen Dornbüsche<br />

um sich herum. Das konnte ich zwar nachfühlen,<br />

noch so gut, aber in diesem Moment war ich skrupellos.<br />

Vielleicht durch den Sturz.<br />

«Sie müssen mit mir mitkommen», sagte ich. «In die<br />

Schweiz. Renée, wenn Sie nicht mit mir mitkommen,<br />

bin ich verloren, das ganze Land wird mich auslachen<br />

und mit Kartoffeln bewerfen!»<br />

«Kartoffeln?» Die schmalen Augen wurden weit.<br />

Eigentlich hatte ich Tomaten sagen wollen, die<br />

Kartoffeln waren mir so herausgerutscht. «Ich habe<br />

seit Jahren keine Kartoffeln gegessen!»<br />

Damit war aber noch nicht alles gewonnen, Renée<br />

hatte noch nie einen Koffer gepackt, ein Flugticket<br />

gekauft oder sich in die Touristenklasse gesetzt.<br />

Doch sie war tapfer.<br />

«Es ist eine Rolle», sagte sie. «Und ich bin Schauspielerin.<br />

Whatever it takes! Möchten Sie, dass ich ein<br />

paar Kilo zunehme für die Schweiz? Das kann ich. Ganz<br />

leicht.»<br />

Ganz in Rot und Weiss: Und hier sitzen wir nun<br />

in der Schweizer Sonne, vor einer Gartenbeiz<br />

mit einem Namen wie Alpenblick oder vielleicht<br />

Blüemlisalp, Renée ganz in Rot und Weiss, alles<br />

am Flughafen gekauft, der auch einen englischen<br />

Namen trägt. Die Kellnerin bringt das Halbeli,<br />

schenkt uns nach. Renée seufzt. «Ich weiss nicht,<br />

wann ich das letzte Mal so glücklich gewesen bin»,<br />

sagt sie. «Nein, nicht glücklich: zufrieden. Ist das a<br />

swiss thing?»<br />

«Ganz genau. Sie lernen schnell.»<br />

«Das muss ich mir merken: genau diesen Moment. Damit<br />

kann ich arbeiten.» Sie schliesst die Augen, lehnt<br />

sich zurück. Den Hügel hinauf, durch die kniehohen<br />

Wiesenblumen kommt ein grauer Anzug auf<br />

uns zu. ¬<br />

Milena Moser wurde 1963 in Zürich geboren. Ihr erstes Buch,<br />

Gebrochene Herzen erschien 1990 im von Freunden eigens gegründeten<br />

Krösus Verlag. Ihre bekanntesten Bücher sind Die Putzfraueninsel,<br />

Blondinenträume und Schlampenyoga. Seit 1998 lebt sie<br />

mit ihrem Mann, dem Fotografen Thomas Kern, und ihren Söhnen<br />

Lino (18) und Cyril (11) in San Francisco.<br />

33


CHicago Blues Saxophonklänge über dem Michigan See<br />

Sam Burckhardt Der Basler Sam Burckhardt lebt seit 1982 in Chicago. Er arbeitet dort als Musiker und Komponist. Meist spielt er<br />

Sam Burckhardt<br />

Foto: Eileen Ryan<br />

34<br />

Jazz, manchmal Blues, aber auch frei improvisierte Musik. Sam ist mehrere Male im Jahr in Europa auf Tournee.<br />

Wie er Musiker wurde und nach Chicago kam? Folgendermassen ❙<br />

Blockflöte, Schlagzeug, Saxophon: Geboren wurde<br />

ich am 7. Juli 1957 in Sursee, als letztes von vier<br />

Kindern. Aufgewachsen bin ich in Basel, wo ich<br />

die Primarschule und das Gymnasium besuchte.<br />

Musik spielte schon immer eine Rolle in meinem<br />

Leben. Meine Mutter sorgte dafür, dass wir mit<br />

sechs Jahren in die Solfège kamen, wo ich bei Beatrice<br />

Ganz im Blockflötenunterricht die Rudimente<br />

der Musik lernte. Zur selben Zeit trat ich in eine<br />

Knabenkantorei ein, die jeweils am Samstagnachmittag<br />

<strong>Pro</strong>be hatte und oft am Sonntag in einer<br />

Kirche sang. Mit etwa sieben Jahren begann ich<br />

auf Wunsch meiner Mutter mit dem Geigenspiel.<br />

Ich hatte an der Musik Akademie in Basel Unterricht.<br />

Die wöchentlichen Lektionen entwickelten<br />

sich bald zur Qual, da ich oft zu hören bekam, ich<br />

übe nicht genügend und daher wenig Fortschritte<br />

mache. Mit zehn Jahren wechselte ich über zum<br />

Schlagzeug – ein grosser Schritt. Ich durfte bei<br />

Chester Gill, der aus Barbados stammte, Unterricht<br />

nehmen. Ich erinnere mich noch genau an<br />

meine erste Stunde. Ich trabte bei ihm mit einem<br />

Paar Trommelschlegel unter dem Arm an. Er erklärte<br />

mir den Aufbau des Schlagzeugs und lehrte<br />

mich einen einfachen Rhythmus. Nach dreiviertel<br />

Stunden ertönte seine Hausglocke, und ich wollte<br />

mich verabschieden, er aber hiess mich wieder<br />

Platz nehmen. Der nächste Schüler war ein Posaunist.<br />

Chester setzte sich ans Klavier, sagte dem<br />

Posaunisten, welches Stück wir spielen würden,<br />

und sagte mir, ich solle den vorher geübten Rhyth-<br />

mus spielen. Er zählte das Stück an – eins, zwei<br />

drei, vier –, und schon legten wir los. Nach einer<br />

Stunde bereits Musik zu machen, nicht einfach<br />

Noten zu spielen, war eine neue und umwerfende<br />

Erfahrung für mich. Mit etwa sechzehn Jahren<br />

wechselte ich aufs Saxophon über. Folgende Gründe<br />

bewogen mich dazu: Das Saxophon war ein Melodieinstrument,<br />

vergleichbar mit der menschlichen<br />

Stimme; es war wesentlich leichter zu<br />

transportieren als ein Schlagzeug; und ich konnte<br />

in die Band meines Bruders eintreten, die bereits<br />

einen Schlagzeuger hatte. Spielen, musizieren,<br />

gemeinsam – in einer Gruppe von Leuten –, das<br />

war es, was mich an der Musik reizte.<br />

Sunnyland Slim: Er hiess mit bürgerlichem Namen<br />

Albert Luandrew und kam am 5. September<br />

1907 in Vance, Mississippi, zur Welt. Er war fünfzig<br />

Jahre älter als ich. Sein Grossvater, der Anfang<br />

der 1860er Jahre in Kentucky noch als Sklave zur<br />

Welt kam, zog nach Mississippi. Dort kaufte er<br />

ein Stück Land. Er fällte die Bäume darauf und<br />

verarbeitete sie zu Eisenbahnschwellen, die er an<br />

die aufkommenden Bahnlinien verkaufte. Es gibt<br />

ein Foto vom circa zwölfjährigen Sunnyland, auf<br />

dem er mit seinen Grosseltern, seinem Vater und<br />

seiner Stiefmutter und zwei Cousinen auf den Stufen<br />

zur Veranda des Hauses seines Grossvaters<br />

sitzt. Er trägt ein weisses Hemd, eine Krawatte, ein<br />

Jackett, Hosen, Kniestrümpfe, hohe Schuhe und<br />

übers Knie gelegt eine Kappe. Hinter dem Glasfen-


ster der Eingangstüre hängt ein Spitzenvorhang.<br />

Nicht das Bild, das man sich von einer schwarzen<br />

Familie in Mississippi kurz nach dem ersten Weltkrieg<br />

machen würde. So war denn auch der Grossvater<br />

für Sunnyland eine überragende Figur, die<br />

er sehr verehrte. Trotzdem lief er schon als Junge<br />

von zu Hause weg. Seine Mutter starb, als er acht<br />

Jahre alt war. Seine Stiefmutter mochte ihn nicht<br />

leiden und schikanierte ihn mit immer neuen Aufgaben.<br />

Mit etwa fünfzehn Jahren hatte er seinen<br />

ersten Job als Musiker. Er spielte in einem Kino<br />

Pausenmusik, während die Filmrollen gewechselt<br />

wurden. Den Namen Sunnyland erhielt er, weil er<br />

ein Lied über den ‹Mean Old Sunnyland Train›<br />

schrieb, eine Bahnlinie, auf der innerhalb einer<br />

Woche eine schwarze und eine weisse Familie<br />

überfahren wurden. Mit seiner über zwei Meter<br />

grossen Figur, seinen langen Armen und den grossen<br />

Händen mit den langen Fingern kam das<br />

‹Slim› von selbst dazu. Nach Chicago kam er Ende<br />

der vierziger Jahre und entwickelte sich im Laufe<br />

der Zeit zum Patriarchen der Chicago Bluesmusiker.<br />

Abends im Club: Ich lernte Sunnyland am 22. April<br />

1975 in Grenzach bei Basel kennen. Ich hatte von<br />

meinem Bruder erfahren, dass er dort spielen<br />

würde. Am Abend im Club sah ich Sunnyland an<br />

der Bar sitzen. Als er sich nach 20 Uhr immer<br />

noch nicht an den Flügel setzte, ging ich zu ihm<br />

und begann ein Gespräch. Er erklärte mir, dass er<br />

enttäuscht sei über die wenigen Zuhörer und<br />

dass er langsam Heimweh nach Chicago habe, wo<br />

er normalerweise mit einer Band auftrete. Ich erzählte<br />

ihm, dass ich zwei Jahre zuvor Gelegenheit<br />

gehabt habe, Eddie Boyd am Schlagzeug zu begleiten.<br />

Darauf erzählte er mir eine lange Geschichte<br />

von Eddie Boyd und wie sie zusammen auf dem<br />

Highway 61 nach Norden gekommen seien. «Eddie<br />

Boyd, that’s my partner», rief er aus und erblickte<br />

dabei ein Schlagzeug im Raum. «Come’on boy, let’s<br />

get busy», bedeutete er mir und liess mich das<br />

Schlagzeug aufbauen. Wir spielten an diesem<br />

Abend und am nächsten, und ich war in einer<br />

Welt, von der ich schon lange geträumt hatte: die<br />

Welt der Musik. Sie hatte ihre Gesetze, und es<br />

schien von grosser Bedeutung, sich selbst einzubringen,<br />

Regeln zu hinterfragen, neu anzusetzen,<br />

die Ohren aufzumachen, um auf Unerwartetes<br />

reagieren zu können. Es war aber auch eine Welt,<br />

in der man nicht alleine war, sondern mit anderen<br />

zusammen etwas kreierte, dessen Resultat die<br />

Summe der Einzelteile oft überstieg.<br />

Wo bleibt die Gage? Der Same, der an diesen beiden<br />

Abenden in meinem Herzen gepflanzt wurde,<br />

keimte erst sieben Jahre später, als ich am 20.<br />

Juli 1982 in Chicago ankam mit meinem Saxophon<br />

in der Hand und einem Rucksack mit den<br />

notwendigsten Kleidern auf dem Rücken. In den<br />

sieben Jahren dazwischen hatte ich das Gymnasium<br />

mit der Matur abgeschlossen, das Studium<br />

der Ethnologie begonnen, fast ein Jahr in Burundi<br />

als Teil meines Studiums verbracht, 1981 zwei<br />

Monate in Chicago bei Sunnyland verweilt und mit<br />

seiner Band gespielt. Nun war ich bereit in diese<br />

Band einzusteigen. Neben Fred Grady am Schlagzeug,<br />

der vor kurzem gestorben ist, spielten Steve<br />

Freund, Guitarre, und Bob Stroger, Bass, in seiner<br />

Band. Mit ihnen verbindet mich eine Freundschaft,<br />

die bis auf den heutigen Tag andauert und<br />

uns ab und zu Gelegenheit bietet, wieder zusammen<br />

zu spielen. Wir traten jeden Sonntag in einem<br />

Club namens B.L.U.E.S. auf. Als Jüngster in der<br />

Band musste ich erst meine eigene Stimme und<br />

die notwendige Selbstsicherheit finden, um neben<br />

den anderen, vor allem Sunnyland, dem alten<br />

Meister, zu bestehen. Ich hatte es unterlassen,<br />

mit ihm über Bezahlung zu sprechen, nicht nur,<br />

weil ich unentgeltlich bei ihm wohnen durfte, sondern<br />

auch, weil ich dachte, er als ‹Meister› würde<br />

das Thema schon anschneiden. Als ich nach geraumer<br />

Zeit noch immer nicht bezahlt wurde,<br />

machte ich Richard Wilson, meinem Partner, gegenüber<br />

eine Bemerkung. Er meinte nur, dass ich<br />

Sunnyland darauf ansprechen müsse. Meinen Einwand,<br />

dass doch Sunnyland als dem Älteren und<br />

Meister diese Aufgabe zustehe und es frech wäre,<br />

ihn zu fragen, verwarf er. Ich nahm also all meinen<br />

Mut zusammen und ging zu Sunnyland. Umständlich<br />

erklärte ich ihm, dass ich mir eine andere<br />

Band suchen müsste, wenn ich nicht bezahlt<br />

würde, da ich ja auch Geld verdienen müsse. Sunnyland<br />

sagte nicht viel, nickte, nahm den Telefonhörer<br />

in die Hand und wählte die Nummer des<br />

Clubbesitzers. Noch am selben Sonntag, am Ende<br />

des Auftritts, gab mir Sunnyland seinen berühmten<br />

Handschlag und bedankte sich. In meiner<br />

Hand befanden sich danach $ 60, wie bei den anderen<br />

Bandmitgliedern.<br />

On the road: Schon nach kurzer Zeit vertraute mir<br />

Sunnyland sein Auto an. Er fuhr gern und viel und<br />

eigentlich überall hin, wo man mit einem Auto<br />

hinkommt. Normalerweise gab er mir nach einem<br />

Auftritt die Autoschlüssel in die Hand. Er besass<br />

damals einen alten Chevrolet Stationwagon,<br />

ein grosses Auto. Jedesmal gab er mir minutiöse<br />

Instruktionen, in welche Fahrbahn ich mich begeben,<br />

wann ich die Blinker anstellen und wo ich<br />

durchfahren solle. Am Anfang war ich froh über<br />

die präzisen Angaben, aber mit der Zeit hätte ich<br />

die Strecke blind fahren können. Eines Abends, als<br />

mir seine Anweisungen besonders auf den Nerv<br />

35


Arlesheim/Basel-Land, Schweiz


Bernstadt/Kentucky, USA


38<br />

gingen, erwiderte ich ihm etwas unwirsch, dass<br />

es im Auto nur ein Steuerrad gebe, welches ich ja<br />

in den Händen habe, und falls er gerne fahren<br />

möchte, könne ich gleich anhalten, um mit ihm<br />

den Platz zu wechseln. Ansonsten aber wisse ich<br />

genau, wie ich nach Hause zu fahren hätte. Mit<br />

dem endete unsere Unterhaltung, und als ich ihm,<br />

als wir an unserem Wohnort angelangt waren, etwas<br />

scheu ein «Good Night» zurief, antwortete er<br />

mir mit einem unverständlichen Murmeln. Ich<br />

schlief in dieser Nacht schlecht. Immer wieder<br />

warf ich mir vor, mich falsch verhalten zu haben.<br />

Als nach langer Zeit der Morgen graute, hörte ich<br />

wie Sunnnyland seine Cousine, die gleich über uns<br />

wohnte, anrief, und ihr voll Stolz erklärte: «That<br />

Sam, I’m tellin’ you, he can really drive.»<br />

Beide Geschichten veranschaulichen meine Erwartungshaltung,<br />

die darauf basierte, dass der<br />

Ältere zum Jüngeren, der Meister zum Lehrling<br />

schaut und ihm mitteilt, wann die nächste Ebene<br />

erreicht ist. Erfahren habe ich dabei aber auch,<br />

dass ich für meine Interessen eintreten muss und<br />

ich der Einzige bin, der das tun kann. Es geht nicht<br />

darum, ob das eine System besser ist als das andere,<br />

sondern darum, Unterschiede zu erkennen<br />

und dementsprechend zu handeln. Es scheint mir,<br />

dass man in der Schweiz (und vielleicht allgemein<br />

im deutschen Sprachraum) oft fragt: «Darf<br />

man das? Ist das erlaubt?» während man hier in<br />

Amerika handelt, im Vertrauen, dass alles erlaubt<br />

ist, was nicht ausdrücklich verboten ist – ein subtiler<br />

und wesentlicher Unterschied.<br />

Die richtige Sprache finden: Wie viele Europäer<br />

war ich zu Beginn meiner Zeit in Amerika der irrigen<br />

Auffassung, dass Englisch eine einfache Sprache<br />

sei. Ich hatte in der Schule British English,<br />

wie es die Amerikaner nennen würden, gelernt<br />

und daneben meinen Wortschatz mit Vokabeln<br />

aus der Blueswelt aufgestockt. So war denn mein<br />

Englisch eine recht wilde Mischung aus Oxford<br />

und Mississippi. Mein Partner Richard hat mich<br />

zum Glück von Anfang an korrigiert und so in<br />

meinem ‹Englischen Garten› für die nötige Hege<br />

und Pflege gesorgt. Auch meine Tätigkeit als Übersetzer<br />

und Dolmetscher hat mir immer wieder<br />

die Tücken dieser Sprache gezeigt. Englisch, als<br />

Mischsprache aus germanischen Elementen (Angelsächsisch)<br />

und dem romanischen Element<br />

(Normannisch), hat einen riesigen Wortschatz mit<br />

vielen spezifischen Ausdrücken. Wenn im Deutschen<br />

und Französischen Vokabeln in etwa bedeutungsgleich<br />

sind, hat im Englischen das jeweilige<br />

sinnverwandte Wort oft eine beschränktere Bedeutung.<br />

So ist im Englischen veal (le veau) nur<br />

noch das geschlachtete <strong>Pro</strong>dukt eines calf (das<br />

Kalb).<br />

Aber Sprachkenntnisse allein reichen nicht aus.<br />

Ohne kulturellen Hintergrund kommt man der<br />

amerikanischen Seele nicht auf die Schliche. In<br />

der Schweiz aufgewachsen und dort zur Schule<br />

gegangen, fehlte mir ein wichtiger Teil der amerikanischen<br />

Adoleszenz, Grades und High Schools<br />

und was sonst alles in dieser Zeit an amerikanischen<br />

Werten weitergegeben wird. Auch die Welt<br />

des Sports, vor allem Baseball und Football, haben<br />

in der ‹American Imagination› einen grossen<br />

Stellenwert. Geschichte und Politik kommen<br />

noch dazu. Und, vielleicht als wichtigster Teil, das<br />

grosse Geschenk der USA an die Welt: ‹Popular<br />

Culture›. Wie wir sie doch zu kennen glauben,<br />

diese amerikanische Kultur, aus dem Kino, dem<br />

Fernsehen, der Musik. Und doch entgeht sie uns<br />

ohne tiefere Landes- und Sprachkenntnisse leicht.<br />

Auf der Oberfläche verstehen wir sie, aber bei<br />

den Erwartungshaltungen, die die einzelnen Worte,<br />

Sätze oder Bilder in uns auslösen, merken wir,<br />

wie unsere eigenen Erwartungen von anderen Erfahrungen<br />

durchdrungen sind. ¬<br />

Der Basler ‹Auswanderer› Sam Burckhardt lebt seit 1982 mit<br />

seinem Partner Richard Wilson, einem Rechtsanwalt, in Chicago.<br />

Er arbeitet dort als Musiker und Komponist. Sam Burckhardt<br />

hat schon etliche Schallplatten und CDs aufgenommen und arbeitet<br />

zur Zeit an seiner neusten <strong>Pro</strong>duktion.


«If you go to San Francisco» Schweizer Architekten in den USA<br />

Hubertus Adam Immer wieder sind seit dem 19. Jahrhundert einzelne Architekten oder Konstrukteure aus der Schweiz in den Ver-<br />

Zeichnung Längsschnitt des<br />

de Young Museums in San<br />

Francisco.<br />

© Herzog & de Meuron, Basel<br />

einigten Staaten mit wichtigen Werken hervorgetreten. Zuletzt Herzog & de Meuron mit dem unlängst eröffneten<br />

de Young Museum in San Francisco. Der Architekturkritiker Hubertus Adam stellt uns seine Auswahl von Schweizer<br />

Bauten in den USA vor ❙<br />

George Washington Bridge: Als ‹grand old man›<br />

der Schweizer Architektur in Amerika müsste man<br />

wohl zunächst den bei Schaffhausen geborenen<br />

Konstrukteur Othmar Ammann (1879-1965) nennen.<br />

Er wollte nach einem an der ETH Zürich absolvierten<br />

Bauingenieurstudium in der Weite der<br />

Neuen Welt eigentlich nur einige Berufserfahrung<br />

sammeln. Doch Ammann blieb in New York, eröffnete<br />

1923 sein eigenes Büro und wurde 1925<br />

Chef der Port Authority, der Behörde, welche für<br />

die Hudson und East River querenden Infrastrukturverbindungen<br />

verantwortlich ist. Die George<br />

Washington Bridge, die Manhattan auf Höhe der<br />

179. Strasse mit New Jersey verbindet, gilt als<br />

Ammnans Meisterwerk: 1931 eingeweiht, besass<br />

sie mit 1067 Metern die doppelte Spannweite der<br />

bis dahin längsten Hängebrücke der Welt. Mit der<br />

Verrazzano Narrows Bridge und ihrer Spannweite<br />

von 1298 Metern gelang dem Ingenieur wenige<br />

Monate vor seinem Tod ein neuerlicher Rekord.<br />

Ein Dutzend Brücken konnte Ammann im Grossraum<br />

New York realisieren – seine eleganten, das<br />

Wasser überspannenden Konstruktionen prägen<br />

das Bild der Metropole bis heute.<br />

Philadelphia Saving Fund Society: Auch die eigentliche<br />

architektonische Moderne in den Zwanziger-<br />

und Dreissigerjahren wurde in den USA<br />

weitgehend durch europäische Einwanderer bestimmt.<br />

Rudolph Schindler, Richard Neutra und<br />

der Schweizer William Lescaze (1896-1969) gelten<br />

als die Pioniere. In Onex bei Genf geboren und an<br />

der ETH Zürich diplomiert, wanderte der junge<br />

Lescaze 1920 in die Vereinigten Staaten aus. Nach<br />

einigen kleinen Bauaufträgen, die er mit seinem<br />

1923 in New York gegründeten Büro ausgeführt<br />

hatte, gelang ihm und seinem Partner George<br />

Howe mit dem vor wenigen Jahren restaurierten<br />

und zu einem Hotel umgewandelten Gebäude der<br />

Philadelphia Saving Fund Society der Durchbruch.<br />

39


40<br />

Mit einem elegant geschwungenen Sockelgeschoss<br />

und dem T-förmig darüber aufragenden<br />

Doppelturm, der sich in Erschliessungszonen und<br />

Bürobereiche differenzierte, antizipierten die Architekten<br />

Hochhauslösungen der Fünfziger- und<br />

Sechzigerjahre; als eines der wenigen amerikanischen<br />

Beispiele war das PSFS Building auch 1932<br />

in der legendären, von Philip Johnson und Henry<br />

Russell Hitchcock kuratierten International-Style-<br />

Ausstellung im MoMA New York vertreten. Aber<br />

auch mit anderen Bauten errang Lescaze Erfolge<br />

und setzte besonders in Bereich des Schulbaus<br />

Massstäbe.<br />

Columbia University New York: In heutiger Zeit<br />

ist es für ausländische Architekten schwer, in den<br />

USA Fuss zu fassen. Grosse Architekturfirmen beherrschen<br />

den Bausektor; für ambitionierte Architekten<br />

bieten sich lediglich Nischen. Das sind<br />

einerseits die Architekturfakultäten der Universitäten,<br />

zum anderen kulturelle Bauaufgaben, bei denen<br />

seitens der Auftraggeber auf eine anspruchsvolle<br />

und spektakuläre Architektur Wert gelegt<br />

wird.<br />

Bernard Tschumi prägte als Dekan zwischen 1988<br />

und 2003 die Architekturfakultät der Columbia<br />

University in New York; unter seiner Leitung avancierte<br />

Columbia weltweit zu einer der angesehensten<br />

und gleichwohl eigenwilligsten Ausbildungsstätten<br />

für Architekten. Tschumi selbst, 1944 in<br />

Lausanne geboren und an der ETH Zürich ausgebildet,<br />

zählt zu den theoretisch profilierten Architekten<br />

der Gegenwart und machte die ‹Graduate<br />

School of Architecture, Planning and Preservation›<br />

während seiner langjährigen Tätigkeit zu einem<br />

Zentrum des internationalen Architekturdiskurses.<br />

Bewusst bezog die Schule eine Gegenposition<br />

zu einer praxisorientierten, klassisch-akademischen<br />

Ausbildung und optierte im starken Masse<br />

für den Umgang mit neuen Medien als Entwurfswerkzeugen.<br />

<strong>Pro</strong>tagonisten des digitalen Entwerfens<br />

wie Hani Rashid, Sulan Kolatan und William<br />

MacDonald wirken seit Jahren als <strong>Pro</strong>fessoren an<br />

der Columbia, aber auch die ältere Generation –<br />

darunter Steven Holl und Peter Eisenman.<br />

Tschumi ist mit seinem Büro in Paris und New York<br />

ansässig und war zunächst theoretisch tätig, bevor<br />

er mit dem Konzept und den Folies des Parc de<br />

la Villette in Paris das Schlüsselwerk des architektonischen<br />

Dekonstruktivismus schuf. Inzwischen<br />

konnte er auch ein Gebäude auf dem Campus der<br />

Columbia University errichten, weitere Bauten in<br />

den Vereinigten Staaten sind in Planung.<br />

San Francisco Museum of Modern Art:OhneZweifel,<br />

auch Tschumi zählt inzwischen zu der erfolgreichen<br />

und international zu Wettbewerben ein-<br />

geladenen Stararchitekten. Nur wenige in der<br />

Schweiz tätige Büros können diesen Status für<br />

sich beanspruchen. Zu nennen sind Mario Botta,<br />

der in downtown San Francisco das SF MoMA<br />

(San Francisco Museum of Modern Art) realisieren<br />

konnte, und der mit einem Zweigbüro in Zürich<br />

tätige Santiago Calatrava, von dem die 2002<br />

eingeweihte Erweiterung des Milwaukee Art Museum<br />

stammt. Gigon/Guyer unterlagen im Wettbewerb<br />

um das Nelson Atkins Art Museum in Kansas<br />

City der Konkurrenz von Steven Holl, Peter<br />

Zumthor wurde von dem ehemaligen Clubbesitzer<br />

und heutigen Hotelunternehmer Ian Schrager, der<br />

vor allem durch seine Kooperation mit Philippe<br />

Starck bekannt geworden ist, um einen Hotelentwurf<br />

ersucht, lehnte aber ab, da er nicht die nötigen<br />

Spielräume sah. Ein Turmhotel mit Multiplexkino,<br />

das Herzog & de Meuron gemeinsam mit<br />

Rem Koolhaas am Astor Place in Manhattan ebenfalls<br />

für Schrager bauen wollten, scheiterte an<br />

den wirtschaftlichen Folgen der Anschläge vom<br />

11. September 2001.<br />

Walker Art Center Minneapolis: Mehr Erfolg hatten<br />

die Basler Architekten mit ihren Museumsprojekten<br />

in den USA. 1999 wurden sie von Kathy<br />

Halbreich, der Direktorin des Walker Art Center<br />

in Minneapolis, um Konzepte für die Erweiterung<br />

der renommierten Institution für zeitgenössische<br />

Kunst gebeten. Das Walker besitzt nicht nur eine<br />

der bedeutendsten Sammlungen von Kunstwerken<br />

der Gegenwart, sondern ist überdies bekannt<br />

für seine Grenzüberschreitungen Richtung Performance<br />

und neuen Medien. Die Aufgabe bestand<br />

darin, den Ursprungsbau von Edward Larrabee<br />

Barnes aus dem Jahr 1971 um weitere Museumsräume,<br />

einen Theatersaal mit knapp 400 Plätzen<br />

sowie weiteren Funktionsbereichen wie Restaurant,<br />

Foyer und Shop zu erweitern. Über eine zur<br />

Stadtseite hin verglaste Passage verbanden Herzog<br />

& de Meuron Barnes’ Ziegelsteinbau mit einem<br />

Volumen von ähnlichen <strong>Pro</strong>portionen, das<br />

mit gitterartig perforierten und geknickt-verformten<br />

Aluminiumpaneelen verkleidet ist. In dem<br />

verzogenen Würfel, der als landmark zur angrenzenden<br />

achtspurigen Strasse hin in Erscheinung<br />

tritt, befinden sich Restaurant und Theater, während<br />

die neuen Wechselausstellungssäle im Sokkel<br />

zum Altbau hin untergebracht sind.<br />

De Young Museum San Francisco: Die Erweiterung<br />

des Walker Art Center war im Frühjahr 2005<br />

fertiggestellt, im Herbst folgte die Eröffnung des<br />

ebenfalls von Herzog & de Meuron entworfenen de<br />

Young Museum im Golden Gate Park in San Francisco,<br />

eines mit 202 Millionen Dollar rein privat<br />

finanzierten <strong>Pro</strong>jekts. Herzog & de Meuron orga-


New Bern/North Carolina, USA Basel/Basel-Stadt, Schweiz


42<br />

nisierten das Raumprogramm in drei parallelen<br />

Streifen, die wie bei einer Ziehharmonika leicht<br />

auseinandergezogen, aber weiterhin miteinander<br />

verbunden sind. Bleibt das Äussere auch von der<br />

orthogonalen Grundrissgeometrie bestimmt, so<br />

entstehen als Keile, Schlitze, Kerben oder Höfe<br />

ausgebildete Zwischenräume. Diese reagieren als<br />

negative mit den positiven Formen der umschlossenen<br />

Räume und führen dazu, dass sich die klar<br />

definierten Raumfolgen der Galerien stellenweise<br />

völlig auflösen. Durch verglaste Ausschnitte dringt<br />

der Park gleichsam in das Volumen ein. Auch für<br />

die Aussenhaut wählten die Architekten ein organisches<br />

Material: Kupfer. Das gesamte, konstruktiv<br />

als Stahlskelettbau errichtete Gebäude ist mit<br />

Kupferplatten verkleidet, die durch Perforationen<br />

und Prägungen modifiziert wurden. Kreisförmige<br />

Perforationen mit vier verschiedenen Lochdurchmessern<br />

zum einen, nach innen und nach aussen<br />

gewölbte Prägungen zum anderen überlagern<br />

sich in verschiedenen Rastern. Die Fassade übernimmt<br />

diverse Funktionen: Sie schützt als Filter<br />

vor Sonnenlicht, sie ermöglicht Ausblicke, aber<br />

natürlich ist sie auch dekorativ und lässt die<br />

Aussenhaut des Gebäudes lebendig werden. Hier<br />

erscheint sie transparent, dort eher opak. Und sie<br />

lässt das Museum trotz seiner Dimensionen wie<br />

ein Gartenpavillon wirken, wie ein Gewächshaus<br />

für die Kunst. Als vertikale Dominante und optisches<br />

Gegengewicht zu dem fulminanten Dachüberstand<br />

im Westen fungiert ein 30 Meter hoher,<br />

tordierter Turm an der Nordostecke des Gebäudes,<br />

der die formale und visuelle Verknüpfung<br />

von Park und Stadt gewährleistet. Im Inneren arbeiteten<br />

die Architekten mit zwei unterschiedlichen<br />

Präsentationsstrategien. Die historische<br />

amerikanische Kunst ist in eher traditionell in-<br />

spirierten Räumen mit moderatem Zuschnitt untergebracht.<br />

Die künstlich belichteten ethnographischen<br />

Sammlungen finden sich dagegen in<br />

fliessenden Raumbereichen und sind durch leuchtende<br />

raumhohe Vitrinen gegliedert, die mit ihrer<br />

Einfassung aus Eukalyptusholz wie grosse Rahmen<br />

wirken. Bedingt durch das architektonische<br />

Konzept, gibt es verschiedene Übergänge zwischen<br />

den Raumbereichen, die aber jegliche Hierarchisierung<br />

vermeiden. Gezielt wurde hier ein<br />

Nebeneinander gesucht, das zuweilen auch zum<br />

Miteinander werden kann – San Francisco versteht<br />

sich bekanntlich selbst als eine Stadt, in welcher<br />

das Zusammenleben heterogener Kulturen besser<br />

gelingt als in anderen Städten der Vereinigten<br />

Staaten. Herzog & de Meuron haben dafür ein<br />

komplexes, vielschichtiges und intelligentes Museum<br />

geschaffen, das sich spektakulär und sensibel<br />

zugleich zeigt.<br />

Die Erfolgsserie der Basler in den USA dauert an:<br />

Im Herbst 2005 erhielten sie den Auftrag, das Parrish<br />

Art Museum auf Long Island zu erweitern. ¬<br />

Hubertus Adam, geboren 1965 in Hannover, studierte Kunstgeschichte,<br />

Archäologie und Philosophie. Er war als Redakteur der<br />

Bauwelt in Berlin und ist seit 1998 als Redaktor der Architektur-<br />

Fachzeitschrift archithese in Zürich tätig. Darüber hinaus arbeitet<br />

er als Architekturkritiker für diverse Fachzeitschriften des In- und<br />

Auslandes und Tageszeitungen, vor allem für die Neue Zürcher<br />

Zeitung. Hubertus Adam veröffentliche zahlreiche Aufsätze und<br />

Bücher zur Baugeschichte des 20. Jahrhunderts und zur zeitgenössischen<br />

Architektur.


New Glarus – Tellspielfieber im Wilden Westen<br />

Eine Reise in die äusserste Heimat<br />

Peter Haffner<br />

Rund 400000 Schweizer sind im Laufe der Zeit nach Amerika ausgewandert. Dabei sind unzählige Ortschaften mit<br />

Schweizer Namen gegründet worden. Der in Kalifornien sesshafte Journalist Peter Haffner hat für ‹Passagen› einen<br />

dieser Orte besucht – und zu unserer Beruhigung festgestellt: In New Glarus, Wisconsin, pflegen nicht nur die Nach-<br />

fahren der einstigen Immigranten aus der Schweiz bis heute heimisches Brauchtum ❙<br />

Auf der Suche nach erschwinglichem Land: New<br />

Glarus, rund zweieinhalb Autostunden nordwestlich<br />

von Chicago gelegen, ist ein Bergdorf, wie es<br />

schweizerischer nicht sein könnte. Sonnengebräunte<br />

Chalets, geschmückt mit Wappen, Sinnsprüchen<br />

und Blumentrögen, sitzen auf sanftgeschwungenen<br />

Hügeln und schnuppern den Geruch<br />

von Fondue, der aus heimeligen Gasthöfen<br />

dringt.<br />

Nur kleine Unstimmigkeiten verraten, dass wir<br />

hier nicht in der Schweizer Alpenwelt sind, sondern<br />

im Mittleren Westen der USA, im Green<br />

County im Süden von Wisconsin. Die Strassen<br />

sind rechtwinklig im Gitter angelegt wie überall<br />

in Amerika, die Glocken der Reformierten Kirche<br />

bleiben bis auf Samstagabend stumm, und nicht<br />

zuletzt die Überfülle an Folklore signalisiert, dass<br />

New Glarus am ‹Little Sugar River› ein Ort in der<br />

Fremde ist: Viele der 2111 Einwohner sind Nachfahren<br />

der Schweizer Immigranten, die 1845 die<br />

Reise über den Atlantik angetreten hatten.<br />

In Glarus, ihrer Heimat, hatten sie keine Zukunft<br />

mehr für sich gesehen. Die für ihre Textildrucke<br />

und Baumwollgewebe berühmte Heimindustrie<br />

war nach 1840 innert weniger Jahre zusammengebrochen;<br />

die neuen Fabriken am Taleingang<br />

43


Switzerland/South Carolina, USA Basel/Basel-Stadt, Schweiz


waren für Bewohner des Hintertals nur schwer<br />

erreichbar. Missernten trugen zur Krise bei.<br />

Insgesamt rund 400000 Schweizer sind im Laufe<br />

der Zeit in die Neue Welt aufgebrochen, die Mehrzahl<br />

im 19. Jahrhundert. ‹Taufgesinnte›, Schweizer<br />

Anabaptisten genannt, suchten nach erschwinglichem<br />

Land, Mormonen ein neues Zion in Utah.<br />

Bauern und Kaufleute rechneten mit Expansionsmöglichkeiten,<br />

Handwerker hofften, der Fabrikarbeit<br />

zu entrinnen, und manche waren ganz einfach<br />

vom Fernweh gepackt. In der Wahlheimat<br />

fanden sie sich meist rasch zurecht; die Schweiz<br />

als direkte Demokratie und die USA als zwar nur<br />

repräsentative Republik waren sich doch recht<br />

ähnlich. Als Westeuropäer hatten die Schweizer<br />

auch nicht unter rassischer und ethnischer Diskriminierung<br />

zu leiden wie andere Immigranten.<br />

New <strong>Helvetia</strong>s: Theobald von Erlach (1541-1565)<br />

gilt als der erste Schweizer, der seinen Fuss auf<br />

amerikanischen Boden setzte; er stand in französischen<br />

Diensten, spätere Auswanderer folgten<br />

meist den britischen Kolonialisten. Der Berner<br />

Aristokrat Christoph von Graffenried gründete<br />

1710 die Siedlung New Berne in North Carolina,<br />

und bald schossen zahlreiche Ortschaften mit<br />

Schweizer Namen aus dem Boden – von Tell City,<br />

Indiana, bis zu Grütli, Tennessee. Das 1804 gegründete<br />

Vevay, Indiana, geht auf Jean Jacques<br />

Dufour zurück, der den Weinbau in Amerika einführte;<br />

Immigranten aus der italienischen Schweiz<br />

begannen um die Jahrhundertwende mit der Winzerei<br />

in Kalifornien. Schweizer Familien bewässerten<br />

die Wüsten des Imperial Valley im Süden<br />

des Staates und legten den Grundstein für die intensive<br />

Landwirtschaft, die heute halb Amerika<br />

mit Früchten und Gemüsen versorgt. Selbst die<br />

Hauptstadt Kaliforniens ist eine Schweizer Gründung:<br />

Johann August Sutter, wegen eines Konkurses<br />

aus der Schweiz geflohen, hatte da Ländereien<br />

erworben und 1839 die Kolonie ‹New <strong>Helvetia</strong>› errichtet.<br />

Als zehn Jahre später Gold entdeckt und<br />

er von gierigen Glücksrittern überrannt wurde,<br />

gründete sein Sohn die Siedlung Sacramento.<br />

Schweizer wissen das naturgemäss besser als<br />

Amerikaner. Wie auch, dass es der Welschschweizer<br />

Radrennfahrer und Mechaniker Louis Chevrolet<br />

war, der 1900 als 22jähriger nach Amerika auswanderte<br />

und elf Jahre später die Autofirma startete,<br />

die seinen Namen trug – ein Schweizer Markenzeichen<br />

made in USA.<br />

Swiss Center of North America: Im Unterschied zu<br />

anderen Einwanderergruppen haben die Schweizer<br />

kein Zentrum, das ihre Geschichte dokumentiert.<br />

Das soll sich ändern; 1999 ist New Glarus<br />

zum Standort des Swiss Center of North America er-<br />

koren worden. Kommt genug Geld zusammen,<br />

wird das ein Neubau werden; ein langes horizontales<br />

Quader, dessen kühle Architektur schweizerische<br />

Nüchternheit ausstrahlt. Kaye Gmur, die<br />

Administratorin, wagt noch nicht so recht darauf<br />

zu hoffen – vielleicht wird man sich mit dem Umbau<br />

des alten Spitals zufrieden geben müssen,<br />

wo sie jetzt ihr Büro hat. Bisher sind drei Millionen<br />

Dollar zusammengekommen, teils staatliche Gelder<br />

aus den USA und der Schweiz, teils Firmenspenden<br />

aus beiden Ländern. Kein Museum soll<br />

es werden, sondern ein Ort des kulturellen Austausches,<br />

der historischen Forschung und der geschäftlichen<br />

Beziehungspflege, betont Kaye. Das<br />

geplante Zentrum soll auch die Website von Swiss<br />

Roots betreuen, über die Amerika-Schweizer ihre<br />

Abstammung erforschen und Kontakte knüpfen<br />

können.<br />

Ab in den Wilden Westen: Die Gründungsgeschichte<br />

von New Glarus ist insofern ein Sonderfall,<br />

als die Emigration von politisch führenden Persönlichkeiten<br />

organisiert wurde. In Sorge um die<br />

wirtschaftlich Bedrängten bildeten sie ein ‹Auswanderungs-Comité›,<br />

namens dessen zwei Emissäre,<br />

der Appellationsrichter Niklaus Dürst und<br />

der Schmied Fridolin Streiff, nach Amerika geschickt<br />

wurden mit dem Auftrag, im ‹Wilden Westen›<br />

Land für Siedler zu kaufen. Am 8. März 1845<br />

brachen die beiden auf. Es dauerte eine Weile, bis<br />

sie fündig wurden. Fruchtbaren Boden für Getreide<br />

und Viehwirtschaft gab es wohl, doch Wälder für<br />

Nutzholz waren rar, und ohne Holz konnte man<br />

nicht bauen. Am 17. Juli tätigten sie den Kauf der<br />

480 Hektar Land des künftigen New Glarus.<br />

Im ‹Historical Village› des Dorfes steht eines der<br />

kleinen Holzhäuser, ein Original der Gründerjahre,<br />

das von den bescheidenen Verhältnissen zeugt,<br />

in denen die Pioniere lebten. Mitte August 1845 waren<br />

135 von ihnen, dreissig Familien insgesamt,<br />

am Bestimmungsort eingetroffen.<br />

Nur fünf Familien blieben. Einige zogen weg, andere<br />

verkauften ihre Landrechte, einzelne starben.<br />

Der Deutsche Wilhelm Streissguth, der als<br />

erster Pfarrer amtete, legte in einem Brief vom<br />

2. September 1850 den Glarner Kirchenbehörden<br />

Rechenschaft ab über den Zustand seiner Gemeinde.<br />

Streissguth, angereist per Bahn, Schiff<br />

und Postkutsche «mit ächt amerikanischer Schnelligkeit<br />

und Unsicherheit sowohl für das Leben, als das Gepäck<br />

der Reisenden», war vorgewarnt, in der Schweizerkolonie<br />

stünde nicht alles zum besten. Streitereien<br />

und Familienfehden waren ausgebrochen,<br />

die Freiheit war zur Zügellosigkeit geworden.<br />

Frisch in der Wildnis angekommen, hätten manche<br />

den Kopf verloren, schreibt Streissguth, und<br />

den Eltern sei die Kontrolle ihrer Kinder entglit-<br />

45


46<br />

ten. Einige Mädchen hätten im Alter von vierzehn,<br />

fünfzehn Jahren geheiratet, und der Arzt,<br />

ein gewisser Dr. Blumer, lebe gar in Sünde mit einer<br />

Minderjährigen. Trotz all dem war der Pfarrer<br />

zuversichtlich, seine Schäfchen auf den rechten<br />

Weg zurückführen zu können.<br />

Was ihm auch gelang. Einmal etabliert, zog die<br />

Kolonie weitere Schweizer an. 1910 eröffnete die<br />

Pet Milk Farm; bald der Hauptarbeitgeber der Region,<br />

der Hunderte von Arbeitskräften auch aus<br />

der Schweiz rekrutierte. Margaret Duerst, eine<br />

reizende 86jährige Dame, ist die Tochter eines<br />

Schweizer Bauern, der 1915 nach New Glarus emigrierte.<br />

Als er genug Erspartes hatte, kaufte er einen<br />

Hof, wo sie als drittes von sechs Kindern aufwuchs.<br />

Zu Hause wurde Schweizerdeutsch gesprochen,<br />

doch in Margarets eigenem Haushalt – auch<br />

sie heiratete einen Schweizer – war dann Englisch<br />

die Regel.<br />

Die Rösti bleibt auf dem Tisch: Von der Heimat<br />

bewahrte man die Sitten und Gebräuche; die Rösti,<br />

die auf den Tisch kam, die Spiele, die man<br />

spielte. Und die Tatsache, dass man, wie Margaret<br />

sagt, «sehr konservativ» war: Nichts durfte weggeworfen,<br />

der Teller musste leergegessen werden.<br />

An die Wegwerfmentalität der Amerikaner wollten<br />

sich die Schweizer nicht gewöhnen; bis heute, in<br />

die fünfte Generation, hat sich die helvetische Tugend<br />

der Sparsamkeit erhalten.<br />

Dass in der Gegend einmal Hunderte von Bauernhöfen<br />

standen, bezeugen verfallene Scheunen,<br />

durch die der Wind pfeift. Jetzt sind es nurmehr<br />

achtzehn Betriebe, die das Erbe der von Schweizern<br />

begründeten Milch- und Käsewirtschaft weiterführen.<br />

Die Voegeli Farm, die 1854 die Milch für<br />

die erste Käserei in New Glarus lieferte, hat sich<br />

durch alle Zeitwirren gehalten – ihre Schweizer<br />

Braunkühe-Zucht geniesst Weltruf.<br />

Doch wer die Nase dafür hatte, konnte noch sein<br />

Glück machen, als es mit der Landwirtschaft bereits<br />

bergab ging. Hans Lenzlinger, gebürtiger St.<br />

Galler, Sohn einer Hotelierfamilie, Koch und Skilehrer,<br />

ist so etwas wie der Dorfkönig von New<br />

Glarus geworden. Das stattliche New Glarus Hotel<br />

im Zentrum, 1853 erbaut, ist in seinem Besitz wie<br />

das Chalet Landhaus Inn, ein ausladender Bau<br />

am Dorfrand – beides Marksteine rustikaler Architektur,<br />

wo Heerscharen von Touristen logieren,<br />

die ‹Americas Little Switzerland› besuchen.<br />

Abenteuerlust hatte Lenzlinger 1969 nach New<br />

Glarus gebracht, einem Ort weit genug von der<br />

Schweiz entfernt und doch der Heimat so nahe,<br />

dass er von seinen Erfahrungen im Fremdenverkehr<br />

profitieren konnte. Lenzlinger, ein Mann von<br />

jovialer <strong>Pro</strong>fessionalität, hat seine Geschäftspartner<br />

zu Freunden gemacht und seine Freunde zu<br />

Geschäftspartnern; kein Verein und kein Vorstand,<br />

der mit ihm nicht irgendwie verbunden wäre. Honorarkonsul<br />

der Auslandschweizer, pflegt Lenzlinger<br />

die Kontakte zu Behörden und Politikern<br />

dies- und jenseits des Atlantiks so unkompliziert<br />

wie die zur Stammkundschaft, für die er immer<br />

wieder in der Küche steht. In die Schweiz zurückzukehren<br />

könnte er sich nicht vorstellen; hier ist<br />

doch alles ein bisschen offener für einen, der seine<br />

Chancen zu packen weiss.<br />

Tellspielfieber: Nun, da die Zuwanderung aufgehört<br />

hat und Schweizer der Visaschwierigkeiten<br />

wegen lieber nach Kanada emigrieren, braucht es<br />

fremdes Blut, soll Schweizer Folklore wie Ländlermusik,<br />

Jodeln und Fahnenschwingen überleben.<br />

In den alljährlichen Wilhelm-Tell-Festspielen,<br />

die rund hundert Laiendarsteller auf Trab halten,<br />

stehen denn auch mehr und mehr Amerikanerinnen<br />

und Amerikaner auf der Bühne; einmal vom<br />

Festspielfieber gepackt, würden sie aus reiner<br />

Lust an der Exotik zu eifrigen Wahlschweizern,<br />

versichern einem die Abstammungsechten augenzwinkernd.<br />

Deborah Krauss Smith, Dirigentin der Monroe<br />

Swiss Singers und des Männerchors New Glarus,<br />

fürchtet Nachwuchsprobleme: Es sind Leute in<br />

den Vierzigern, die die Lücken in den Chören füllen<br />

– eine Generation, die noch ihre Wurzeln<br />

sucht, nach der aber eine kommt, die damit wenig<br />

anzufangen weiss. Das Repertoire ist schweizerisch,<br />

und Lieder wie ‹Alpufzug›, ‹Vo Luzärn uf<br />

Weggis zue› und ‹Min Vatter isch en Appezeller›<br />

werden im Originaldialekt gesungen. Doch man<br />

singt nicht alle Strophen, da man soviel Unverständlichkeit<br />

dem amerikanischen Publikum nicht<br />

zumuten kann. Deborah hat Deutsch in der Schule<br />

gelernt; ihre Grossmutter, eine Aargauerin, die<br />

1921 als 18jährige aus reiner ‹Wanderlust› emigrierte<br />

und Kindermädchen war, hatte so rasch<br />

wie möglich Amerikanerin werden und ihr Schweizertum<br />

ablegen wollen. Was allerdings nicht soweit<br />

ging, dass sie nicht Glarner Kalberwurst oder<br />

Berner Bretzeli aufgetischt hätte.<br />

Umgekehrt ist es bei Elda Schiesser. Als Amerikanerin<br />

geboren, möchte sie nichts so sehr wie<br />

Schweizerin sein, wie auch ihre Tochter Linda, die<br />

sich richtig zu Hause fühlt, wenn sie im Glarnerland<br />

in den Ferien ist. Auf die Frage, was in ihrem<br />

Haushalt spezifisch schweizerisch sei, rufen beide<br />

wie aus einem Munde: «Alles!» Sagt man ihnen,<br />

dass sie in ihrer herzlichen Mitteilsamkeit einen<br />

doch eher waschechte Amerikanerinnen dünken,<br />

sind sie fast ein bisschen pikiert. Ihr Haus in New<br />

Glarus ist ein kleines Museum; Trachtenpuppen,<br />

Antiken und Dokumente erinnern an die geliebte<br />

Wunschheimat.


Scherenschnitte: Elda, der man die 88 Jahre nicht<br />

ansieht, ist eine gefeierte Scherenschnitte-Künstlerin.<br />

Auf das Hobby, das zur Berufung wurde, war<br />

sie gekommen, als sie im Schweizer Heimatwerk<br />

in Zürich auf ein Büchlein über diese Volkskunst<br />

stiess. Die Technik brachte sie sich selber bei. Ihr<br />

Ruhm drang bis ins Weisse Haus nach Washington,<br />

wo sie 2002 den präsidialen Weihnachtsbaum<br />

mit einem ihrer Werke schmücken durfte. Das<br />

hat den Ruf der ‹cut-up-girls›, wie Elda und Linda<br />

geheissen werden, unter den Amerikanern im<br />

Dorf tüchtig gefördert. Zumal Elda nun nicht nur<br />

Schweizer Heuwagen in ihrer Motivsammlung<br />

hat, sondern auch eine veritable Harley Davidson.<br />

Mit Genugtuung durfte sie überdies feststellen,<br />

dass im Glarnerland Scherenschnitte wieder populär<br />

wurden, nachdem sie bereits ein Jahrzehnt<br />

damit im Geschäft war. Vielleicht werden dereinst<br />

die Schweizer von den Amerikanern lernen,<br />

was Volkskunst ist – wie die Indianer Nordamerikas,<br />

denen weisse Anthropologen die Sitten und<br />

Gebräuche ihrer Ahnen beibrachten.<br />

Wer noch in der Schweiz aufgewachsen ist, erlebt<br />

die Unterschiede zwischen den Kulturen hautnah.<br />

Der Urner Toni war Austauschstudent der ETH an<br />

der University of Wisconsin in Madison, wanderte<br />

1981 ein und begann als diplomierter Agronom<br />

zu bauern. Seine Frau Esther, gebürtige Thunerin,<br />

verbrachte im Rahmen des Landjugend-Austausches<br />

1983 ein Amerikajahr. Die beiden heirateten,<br />

führten einen Hof, gingen konkurs, bauten einen<br />

neuen auf und managten schliesslich Hans Lenzlingers<br />

Landhaus Chalet Inn. Heute ist Toni Finanzberater,<br />

und Esther arbeitet bei Roberts, einem<br />

Laden, der Schweizerprodukte verkauft. Trotz<br />

der Rückschläge, die sie einstecken mussten, sehen<br />

die beiden ihr Amerika-Abenteuer positiv –<br />

in der Schweiz wäre es ihnen kaum möglich gewesen,<br />

so viel Verschiedenes auszuprobieren. Sie<br />

beide möchten jedenfalls nicht zurück, wohl aber<br />

die Tochter, die sich während ihrer Schweiz-Ferien<br />

von einer grossen Verwandtschaft aufgenommen<br />

fand; von Onkeln, Tanten und Cousinen, die<br />

sie in Amerika nicht hat.<br />

Wer emigriert, mag mehr gewinnen, als er verliert<br />

– doch der Gewinn ist nicht garantiert, während<br />

der Verlust gewiss ist. Seine Schweizer Erfahrungen<br />

kann man mit amerikanischen Freunden<br />

nicht teilen, seine amerikanischen nicht mit<br />

Schweizern. Das ist das Paradox der Horizonterweiterung,<br />

die das Leben in zwei Welten bringt.<br />

Yodeling Cheesemaker: Dass der Lebenslauf in<br />

Amerika weniger vorgespurt ist als in der Schweiz,<br />

hat auch Ernst Jäggi erfahren, der 1955 als Meisterknecht<br />

aus dem bernischen Innertkirchen nach<br />

New Glarus zog, um Bauer zu werden. Als Ernst<br />

mit 24 in Amerika ankam, hatte er hundert Dollar<br />

in der Tasche und konnte kaum ein Wort Englisch.<br />

Drei Jahre arbeitete er sieben Tage die Woche<br />

in einer Käserei, ohne einen einzigen freien Tag.<br />

Dann ging er zurück in die Schweiz, fand eine<br />

Frau, kaufte Land in New Glarus, spekulierte ein<br />

bisschen an der Börse, tourte als ‹yodeling cheesemaker›<br />

für ein schönes Werbehonorar durch die<br />

USA, bevor er das Chalet Landhaus Inn für fünfzehn<br />

Jahre managte. Heute ist Ernst 75, putzmunter<br />

trotz der <strong>Pro</strong>gnose eines Arztes, der ihn seinerzeit<br />

eines Herzfehlers wegen dienstuntauglich<br />

erklärt hatte und meinte, er werde nicht lange leben.<br />

In den Tell-Spielen gibt ‹Ernie› seit neustem<br />

den Attinghausen: «Das ist der, der stirbt!», sagt er<br />

und lacht.<br />

Nun führt Ernst eine Autowaschanlage in New<br />

Glarus und mokiert sich eine bisschen über seine<br />

Brüder in der Schweiz, die nach ihrer Pensionierung<br />

die Hände in den Schoss gelegt hätten. Nein,<br />

wäre er daheim geblieben, hätte er es nie so weit<br />

gebracht, meint er. Eigenes Haus, keine Schulden,<br />

Zeit für sein Maler-Hobby, und vier Hektar Wald,<br />

wo er nach Lust und Laune wüten kann.<br />

Und immer wieder neue Überraschungen: Eben<br />

hat seine Tochter Annemarie, eine Coiffeuse, geheiratet<br />

– einen Bergbauern im schweizerischen<br />

Gstaad, wo sie jetzt lebt. ¬<br />

Peter Haffner, 1953 in Zürich geboren, ist Reporter für Das Magazin<br />

des Tages-Anzeigers und Kulturkorrespondent des Blattes in<br />

den USA. Er lebt in Kalifornien. Seine jüngste Buchpublikation<br />

Grenzfälle. Zwischen Polen und Deutschen erschien als Band 213 der<br />

von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen Anderen<br />

Bibliothek.<br />

47


Engelberg/Arkansas, USA


Arlesheim/Basel-Land, Schweiz


Hohe Einsätze in Las Vegas Der unermüdliche Unternehmer Peter Buol<br />

MaryLou Carroll Peter Buol, Sohn schweizerischer Auswanderer aus dem Graubünden, brachte es in Las Vegas zu Ansehen und<br />

Peter Buol<br />

Foto: UNLV Special Collections<br />

50<br />

hohen Ehren. Nicht als Künstler oder Spieler, sondern als spielfreudiger Unternehmer mit pragmatischem Einschlag<br />

und politischem Stehvermögen. Die amerikanische Historikerin MaryLou Carroll hat seine Karriere bis zum letzten<br />

Einsatz recherchiert. Rien ne va plus! ❙<br />

Der Gründungsbürgermeister von Las Vegas: Als<br />

Peter Buol am 1. Juni 1911 sein Amt antrat, hatte<br />

er 100000 Dollar an Lotteriegewinnen verschwendet<br />

und in der neu organisierten Stadt Las Vegas<br />

den Bergbau, das Versicherungsgeschäft, den Liegenschaftshandel<br />

und die Wüstenlandwirtschaft<br />

gefördert. Buol wurde mit einem Mehr von zehn<br />

Stimmen zum Gründungsbürgermeister von Las<br />

Vegas, Nevada, gewählt. Dieses Amt hatte er während<br />

zwei Jahren inne, danach wirkte er 1913-14<br />

als Abgeordneter in der Staatsversammlung und<br />

1915-18 im Staatssenat von Nevada. Buols öffentliches<br />

Wirken gründete auf seinem Willen, das<br />

Wirtschaftswachstum und die Investitionstätigkeit<br />

im Südosten Nevadas anzukurbeln. Seine siebenjährige<br />

Amtstätigkeit lässt darauf schliessen,<br />

dass seine wirklichen Ambitionen ausserhalb der<br />

Politik lagen; er war weder ein eifriger Kampagnenführer<br />

noch ein beflissener Legislator. Tatsächlich<br />

erweisen die Aufzeichnungen Buol als<br />

durch häufige Abwesenheit glänzenden Entscheidungsträger,<br />

der gerne Legislatursitzungen versäumte,<br />

um Bergwerke vor Ort zu besichtigen und<br />

geschäftliche Opportunitäten aufzuspüren. Buol<br />

förderte das lokale Geschäftsleben von Las Vegas<br />

energisch, warb um die Gunst ausländischer Investoren<br />

(aus Schottland) und setzte sein eigenes<br />

kleines Vermögen aufs Spiel, um einen raschen<br />

Wirtschaftsaufschwung zu bewirken. Buol wurde<br />

nie müde, diese Ziele zu verfolgen. Sein Leben<br />

lang erlitt er immer wieder finanzielle Verluste,<br />

und als er starb, hinterliess er keine bedeutenden<br />

Sach- und Vermögenswerte. Auch wenn er als Gesetzgeber<br />

kaum geschichtliche Spuren hinterlassen<br />

hat, so fallen seine Zähigkeit, sein Optimismus,<br />

sein Gespür für Geschäftschancen (in den<br />

Augen der Amerikaner ein hervorstechendes nationales<br />

Merkmal) und sein unerschütterlicher<br />

Pioniergeist schwer ins Gewicht, wenn wir die<br />

<strong>Pro</strong>sperität des heutigen Las Vegas würdigen, wo<br />

Risikofreudigkeit und Zukunftsglauben vor fast<br />

allen anderen Attributen rangieren. Ausserdem<br />

verstand er es, den Zugriff der Las Vegas Land &<br />

Water Company, einer Filiale der San Pedro, Los<br />

Angeles and Salt Lake Railroad, auf die Land- und<br />

Wasserrechte zu lockern, als sich die städtische<br />

Organisation und wirtschaftliche Entwicklung von<br />

Las Vegas im Anfangsstadium befanden. Peter<br />

Buol favorisierte ein antimonopolistisches Modell<br />

in der frühen Stadtplanung von Las Vegas und widerspiegelte<br />

typische US-amerikanische Annahmen,<br />

Erwartungen und Einschränkungen bezüglich<br />

Expansion und Geschäftsgelegenheiten.<br />

Per Postkutsche in die Wüstenstadt: Peter Buol<br />

wurde am 1. Oktober 1873 als Sohn schweizerischer<br />

Einwanderer in Chicago geboren, fast auf<br />

den Tag genau zwei Jahre nach der verheerenden<br />

Feuersbrunst in dieser Stadt. Der Brand, der am<br />

Abend des 8. Oktober 1871 begonnen hatte, frass<br />

eine 5 km breite Schneise durch die Stadt und<br />

tobte ungehindert weiter bis in die Morgenstunden<br />

des 10. Oktober 1871. 300 Menschen kamen<br />

dabei ums Leben, und mindestens 100000 verloren<br />

ihre – einfache oder luxuriöse – Unterkunft.<br />

Als Peter Buol zwei Jahre später geboren wurde,<br />

war der Wiederaufbau von Chicago schon auf bestem<br />

Wege und versprach das Ausmass der Zerstörung<br />

mehr als wettzumachen.<br />

In einem Chicagoer Adressbuch von 1877 ist ein<br />

Frank Buol mit den Vermerken «schweizerischer<br />

Abstammung, wohnhaft an der 145 Wells Street, Beruf:<br />

Koch» aufgeführt. Peter Buols Eltern – Frank Buol<br />

und Peters Mutter, deren Name nicht belegt ist –<br />

kamen im Jahr 1869 in die Vereinigten Staaten.<br />

Als einer von fünf Söhnen ging Peter bei seinem<br />

Vater, der Küchenchef war, in die Lehre und verdiente<br />

schon früh seinen Lebensunterhalt, indem<br />

er im Gastronomiebetrieb seines Vaters mitarbeitete.<br />

Seine Schulbildung beendete er nach acht<br />

Jahren; danach arbeitete Buol für seinen Vater, indem<br />

er zunächst als Koch tätig war, dann für ver-


schiedene Eisenbahnlinien Mahlzeiten zubereitete<br />

und servierte und schliesslich die Essenszubereitung<br />

und den Service für Erstklassgäste auf der<br />

Santa Fe-Eisenbahnlinie beaufsichtigte. Laut einer<br />

Quelle führte Buol um 1900 einen grossen Gastronomiebetrieb<br />

in Chicago, wo er täglich 5000<br />

Kunden bediente! Nach zehn oder mehr Jahren als<br />

Service-Chef auf Eisenbahnlinien quer durch den<br />

Kontinent zog Buol nach Kalifornien und liess<br />

sich schliesslich in Nevada nieder. Er kam um<br />

1904 (mit 31 Jahren) per Postkutsche in der Wüstenstadt<br />

Las Vegas an und begann nach verwertbaren<br />

Ressourcen zu forschen – als eine solche<br />

erwies sich auch sein Talent, hoch risikoreiche Unternehmungen<br />

bei gewinnorientierten potentiellen<br />

Investoren und Konsumenten zu vermarkten.<br />

Besiedlung oder Okkupation?: Las Vegas, spanisch<br />

‹Wiesen›, bot den Reisenden des 19. Jahrhunderts<br />

inmitten einer Wüstenlandschaft eine erfrischende<br />

Fülle von artesischen Brunnen an und erfreute<br />

sich besonderer Beliebtheit bei spanischen Reisenden,<br />

die nach Mexiko unterwegs waren. Im Jahr<br />

1855 errichteten mormonische Missionare auch<br />

eine Missionsstation und eine Militärfestung und<br />

versuchten in der später als Las Vegas bekannten<br />

Landschaft ortsfeste Landwirtschaft zu betreiben.<br />

Die Mormonen gaben ihr Vorhaben nach zwei Jahren<br />

auf, aber die Festung blieb bestehen und ist<br />

heute die älteste historische Stätte in Las Vegas.<br />

Spanier und Mormonen der Region litten unter<br />

den Raubzügen der Süd-Paiute-Indianer, die im<br />

heutigen Las Vegas einen Minderheitenstatus innehaben,<br />

aber weitgehende Autonomie geniessen.<br />

Ein Gebiet mit einer Fläche von ungefähr 720 Hektar<br />

wurde im späten 19. Jahrhundert an William<br />

Clark, Senator von Montana, verkauft, der das<br />

Land im Jahr 1905 parzellenweise für den Bau der<br />

Verbindung der Union Pacific Railroad zwischen<br />

Salt Lake City, Utah und Los Angeles versteigerte.<br />

Den ‹Verkäufen› von Land zwecks Besitznahme<br />

und Expansion durch die (christlichen) Weissen<br />

standen in den USA des 19. Jahrhunderts die Landverluste,<br />

-verkäufe oder -diebstähle der indianischen<br />

Gemeinschaften, Stämme und Kulturen<br />

gegenüber. Gegen Ende des Jahrhunderts wurden<br />

Wüstenregionen wie Las Vegas, die früher als ungeeignet<br />

für die Nutzung durch Weisse erachtet<br />

worden waren, zunehmend von Weissen besiedelt,<br />

die der Eisenbahn, dem Bergbau, der Landwirtschaft,<br />

der Holzindustrie und anderen expandierenden<br />

Industriezweigen der USA nachfolgten<br />

oder als christliche Missionare tätig waren. Die<br />

Zunahme der weissen Okkupation (Immigranten<br />

und Einheimische) lief parallel zur Entvölkerung<br />

der Indianergebiete. Dies erklärt auch, warum es<br />

hier so viele Festungen und Militärdenkmäler gibt.<br />

Wasserquellen und Honigmelonen: Bald nach<br />

seiner Ankunft in Las Vegas um 1904 erkannte<br />

Peter Buol die grosse Bedeutung unterirdischer<br />

Quellen und Grundwasserleiter für die Entwicklung<br />

der Stadt. Gegen Ende 1905 hatte Buol das<br />

Vegas Artesian Water Syndicate gegründet, das<br />

Brunnen bohren sollte, um Wasser für die Landwirtschaft<br />

zu beschaffen. Wie ein Zeitzeuge aus<br />

Nevada im Jahr 1913 berichtet, pflanzte Buol<br />

gleich nach seiner Ankunft einen 6 Hektar grossen<br />

Pfirsichgarten an. Laut einer anderen Quelle<br />

baute Buol ein Jahr später auch 16 Hektar Honigmelonen<br />

an. Die landwirtschaftliche <strong>Pro</strong>duktion<br />

versprach jedoch keine befriedigende Rendite,<br />

dies trotz der zahlreichen artesischen Brunnen,<br />

welche Buol geschickt lokalisierte und bohrte.<br />

Der Wüstenboden im Mohave war zu alkalisch,<br />

um hohe Ernterträge von Feldfrüchten abzuwerfen.<br />

Trotzdem setzte Buol seinen Versuch mit<br />

dem Anbau von Nahrungsmitteln fort und verschickte<br />

seine Erzeugnisse per Eisenbahn. Im<br />

Jahr 1913 besuchte Buol Schottland, um Investoren<br />

für den Wohnbau in Las Vegas zu finden. Er<br />

steuerte Land- und Wasserrechte bei, und die Investoren<br />

verpflichteten sich zur Zahlung von<br />

100000 Dollar. Obwohl die Finanzierung schliesslich<br />

scheiterte und nur 20000 Dollar bezahlt wurden,<br />

kam es doch zum Bau des Wohnviertels, das<br />

den Namen ‹Scotch 80’s› erhielt. Heute ist es eine<br />

exklusive Vorstadt von Las Vegas.<br />

Peter Buol verdiente als Bürgermeister von Las<br />

Vegas 15 Dollar im Monat. Zusammen mit seiner<br />

Gattin Lorena Patterson von Booneville, Missouri,<br />

und seiner Adoptivtochter Dorothy führte er in<br />

Las Vegas während rund zwanzig Jahren ein ruhiges<br />

Familienleben in angenehmen Verhältnissen.<br />

1925 zog er nach Kalifornien. 1937 erlitt er einen<br />

Schlaganfall, 1939 verstarb er in Kalifornien.<br />

Peter Buols Lebensspanne war nach modernen<br />

Massstäben gemessen nicht sehr lang. In den 66<br />

Jahren, die ihm vergönnt waren, kultivierte er<br />

eine nonchalante Gleichgültigkeit gegenüber<br />

dem Risiko, einen unerschütterlichen Optimismus,<br />

einen genialen Sinn für Marketing, ein<br />

gutes Gefühl für den richtigen Zeitpunkt und politisches<br />

Gespür. Seine Geburtsstadt Chicago und<br />

die Stadt, in der er seine politische Tätigkeit begann,<br />

Las Vegas, waren bei ihrer Gründung just<br />

auf solche Qualitäten und Charaktere angewiesen.<br />

¬<br />

Aus dem Englischen von Ernst Grell<br />

MaryLou Carroll lebt in Chicago, Illinois, wo sie am Columbia<br />

College Chicago Amerikanische Geschichte lehrt.<br />

51


Wenn die Cowboys jodeln Ein Kulturaustausch der besondern Art<br />

Bart Plantenga Woher kommt und wohin führt das Jodeln? Der Mann, der über diese brennende Frage ein ebenso dickes wie<br />

«Gemeinsames Merkmal aller<br />

Jodelformen ist die Lauterkeit<br />

und Ehrlichkeit der Aussage.<br />

Im Jodel gibt es keine Ironien,<br />

keine Sarkasmen, keine Lügen.»<br />

(Tiny Bill Cody)<br />

52<br />

unterhaltsames Buch verfasst hat, gibt Antworten. In einer Abkürzung rund um die Welt und mit Echos aus allen<br />

Himmelsrichtungen ❙<br />

« …als ich von einer hohen Alpenweide zur Seite her<br />

den grell jauchzenden Reigenruf eines Sennen vernahm,<br />

den er über das weite Thal hinüber sandte; bald antwortete<br />

ihm von dort her durch das ungeheure Schweigen<br />

der gleiche übermüthige Hirtenruf: hier mischte sich<br />

nun das Echo der ragenden Felswände hinein; im Wettkampfe<br />

ertönte lustig das ernst schweigsame Thal…<br />

so spricht die Klage der Thiere, der Lüfte, das Wuthgeheul<br />

der Orkane zu dem sinnenden Manne, über den<br />

nun jener traumartige Zustand kommt, in welchem er<br />

durch das Gehör wahrnimmt (…), dass sein innerstes<br />

Wesen alles jenes Wahrgenommenen Eines ist… »<br />

(Richard Wagner*)<br />

Viehhüter in CH und USA: Der Eidgenössische Jodlerverband<br />

würde Wagner zustimmen. Für ihn ist<br />

Jodeln ein organisches, urschweizerisches, mystisches<br />

Rudiment, das im identitätstiftenden<br />

Nationalismus der romantischen Epoche im vorletzten<br />

Jahrhundert wurzelt.<br />

Schweizer Älpler und amerikanische Cowboys weisen<br />

mehr Ähnlichkeiten auf, als man gemeinhin<br />

vermuten würde. Beide verkörpern bestimmte<br />

kulturelle Mythen, die mit dem Typ des rauen<br />

Burschen assoziiert sind. Beide sind Viehhüter, und<br />

das Leben als Viehhüter ist alles andere als einfach.<br />

Es erfordert Fähigkeiten im Umgang mit den<br />

Tieren, zu denen der Gebrauch bestimmter Herdenrufe<br />

und oft auch das Jodeln gehören. Schweizer<br />

Jodel und Cowboy-Jodel sind einander ähnlich<br />

und doch verschieden. «Beide Stile besitzen die bemerkenswerte<br />

Eigenschaft, dass sie einen seelenbefreienden<br />

Fluss der Noten auslöse», sagt Eastside Dave<br />

Kline, ein Pennsylvania-Schweizer Jodler, der inspirierende<br />

Alpenklänge zum sogenannten ‹Mountain<br />

Folk› verarbeitet. «Ich bin mit schweizerischen<br />

und anderen Jodelklängen aufgewachsen, die mich auf<br />

eine ganz bestimmte, magische Art und Weise inspiriert<br />

haben.»<br />

Die nach dem offiziellen Muster des eidgenössischen<br />

Verbandes gestrickten Jodelgesänge funk-<br />

tionierten die urtümlichen, in freier Landschaft<br />

gesungenen ‹Naturjodel› (freie, spielerische Improvisationen)<br />

in eine stark strukturierte Kammermusik<br />

um. Diese meidet gerne den hellen ‹Iiihhh›-Klang<br />

zu Gunsten des sonor gedehnten,<br />

nostalgischen ‹Uoohhh›, das durch den vorangehenden<br />

Gleitvokal machtvoll lanciert wird. Was<br />

aber nicht heisst, dass Schweizer Jodel nicht auch<br />

zu frenetischen, atemberaubenden Tempi eskalieren<br />

können. Schliesslich ist Jodeln auch Lappalie,<br />

Farce, Ornament und Berufsoption in einem<br />

und erklingt heute in den flachsten Ebenen und<br />

den betriebigsten Städten der Welt.<br />

Mit der Stimme auf die Welt reagieren: Das<br />

Schweizer Jodeln ist ein grosser topografischer Dialog<br />

zwischen Mensch und Umwelt, der zu tiefreichenden<br />

Verbindungen mit dem Gegenüber ‹dort<br />

draussen› inspiriert. Ironischerweise ein grosser<br />

Klang in einem kleinen Land. Die Jodel der Cowboys<br />

dagegen wecken das Gefühl der Intimität,<br />

von etwas Kleinem in einem weiten Land. Ihr charakteristischer<br />

‹eee›-Sound verleiht ihnen gleichzeitig<br />

etwas Unheimliches und etwas Fröhliches.<br />

Jimmie Rodgers näselnde Jodel klingen wie beiläufige<br />

Messerstiche oder Hupsignale einsamer Züge.<br />

Tommy Johnsons Blues-Jodel klingen wie Windstösse,<br />

die pfeifend durch ein Einschussloch in<br />

der Seele fahren.<br />

Tiny Bill Cody, der kanadische Vaudeville-Cowboy,<br />

sieht das Cowboy-Jodeln als «etwas eher Intimes, Verwundbares,<br />

Absichtsloses – ein persönliches Manifest<br />

der reinen Freude oder Melancholie des Augenblicks.»<br />

Mike Johnson, der schwarze jodelnde Truckfahrer,<br />

der Countrysound und Schweizerstil vermischt,<br />

sagt: «Mein erster Einfluss war Johnny Weissmüllers<br />

Tarzanschrei. Später wurde ich inspiriert durch das<br />

Schweizer Jodeln, wie es Elton Britt und andere pflegten,<br />

die über den einfacheren, stimmbänderschonenden<br />

Jodelstil eines Jimmie Rodgers hinaus gelangen wollten.<br />

Der Cowboystil gibt mir ein entspanntes, warmes Ge-


fühl, während der Schweizer Stil bei mir eher Rückenschauer<br />

und Blutwallungen hervorruft.» Cody gibt<br />

ihm recht: «Der Schweizer Jodel ist viel energischer,<br />

plakativer. Der Sänger steht leidenschaftlich für eine<br />

Sache ein (Liebe, Politik, Natur) und ist vollkommen<br />

überzeugt, dass dies mitgeteilt werden muss.»<br />

Janet McBride, die texanische Grande Dame des<br />

Cowgirl-Jodelns, sagt: «Der Schweizer Jodel basiert<br />

stärker auf harmonischen Begleitstimmen, deren Zusammenwirken<br />

die schönsten Jodelklänge ergibt, die<br />

man sich nur denken kann.» Der Tschecho-Texaner<br />

Randy Erwin, Meister in vielen Jodelstilen, bemerkt:<br />

«Der Blues-Jodel ist gewissermassen der Hauptgang,<br />

und die schnellen Schweizersachen sind das Dessert,<br />

das auf einer langen Tradition beruht und relativ stark<br />

reglementiert ist. Der Cowboyxstil ist ein Bastard, der<br />

sich umtun kann, ganz wie es ihm beliebt, weil niemand<br />

weiss, woher er eigentlich stammt. Wenn ich meine<br />

Jodel singe, höre ich Afrikaner, Iren, Blues, Hawaiigitarren,<br />

Hillbilly und Burschen in Lederhosen, die sich<br />

auf die Kniee klatschen.»<br />

Kommunikative Magie: Somit ist alles, was Sie<br />

jemals über das Jodeln gehört haben, falsch. Unsere<br />

Kultur hat uns darauf konditioniert, das Jodeln<br />

als etwas Marginales, Ärgerliches wahrzunehmen<br />

– als Symptom dafür, dass unsere Kultur mit<br />

schwerwiegenden Mängeln behaftet ist. In Wirklichkeit<br />

ist das Jodeln aber eine hochwirksame<br />

Kommunikationsform. Dieser Umstand wird satirisch<br />

verarbeitet in Tim Burtons Film Mars Attacks:<br />

die Helme der anrückenden Marsbewohner zerspringen,<br />

ihre knolligen Köpfe zerplatzen, so dass<br />

ihre grünliche Hirnmasse hoch aufspritzt, wenn<br />

sie den theatralisch übersteigerten Jodel des Sängers<br />

Slim Whitman hören. In Disneys Home on the<br />

Range, erfährt der Schurke Alameda Slim, dass<br />

sein Jodeln nicht nur Rindvieh, sondern auch Menschen<br />

hypnotisiert. Er hofft, diese Gabe zur Beeinflussung<br />

der Massen verwenden zu können,<br />

damit er zum Präsidenten gewählt wird. In George<br />

und Ira Gershwins Musical Strike Up The Band<br />

(1927), einer bissigen Antikriegssatire, wird das<br />

Jodeln als Geheimwaffe eingesetzt, um die Schweizer<br />

Armee aus ihrem Versteck hervorzulocken<br />

und damit einen lächerlichen Krieg zu beenden.<br />

Jodeln als entwaffnendes Stimmexercitium!<br />

Das mag weit hergeholt erscheinen, ist es aber keineswegs.<br />

In seiner 1936 erschienenen Abhandlung<br />

Magic & Technique in Alpine Music beschrieb Manfred<br />

Bukofzer die magischen Kräfte verschiedener<br />

Alpenklänge in Verbindung mit bestimmten<br />

mystischen Worten. Der Kuhreihen war mystisch,<br />

weil er den Kuhhirten an seine Herde band und<br />

böse Geister und Krankheiten verscheuchte. Quellen<br />

aus dem 17. Jahrhundert beschreiben, wie<br />

heimwehkranke Schweizer Söldner desertierten,<br />

Amok liefen oder sogar starben, wenn sie bestimmte<br />

Alpengesänge hörten. Es wurde ein Gesetz<br />

erlassen, das das hysterieerregende Jodeln in<br />

Gegenwart von Schweizer Soldaten untersagte.<br />

Tatsächlich beeinflusst der für das Jodeln charakteristische<br />

Oktavsprung das Nervensystem anders<br />

als gewöhnlicher Gesang.<br />

Was ist nun eigentlich ein Jodel? Begrüssung?<br />

Warnung? Freudiger Ausbruch? Frommes Geheul?<br />

Aufmunterungsruf eines Hirten an die mit dem<br />

üppigsten Euter ausgestattete Kuh der Herde?<br />

Oder eine nervenstrapazierende ‹Variation über<br />

Eselslaute›, wie Walter Scott im Jahr 1830 befand?<br />

Wahrscheinlich all dies zusammen.<br />

Der Jodel unterscheidet sich von anderen Gesangspraktiken<br />

durch seine Betonung des abrupten Luftstosses,<br />

der entsteht, wenn die Stimme vom tieferen<br />

Register der Bruststimme zur hohen Kopfstimme<br />

(Falsett) überwechselt und umgekehrt.<br />

Ohne Kehlkopfhüpfen kein Jodel. Ein echter Juutz<br />

ist wortlos und stellt keine eigentliche ‹Musik›<br />

dar, sondern ein akustisches Signal, das meist<br />

von Hirten verwendet wird, um sich untereinander<br />

und mit ihren Herden zu verständigen. Ed<br />

Sanders von der Gruppe ‹The Fugs› nennt es «einen<br />

hausgemachten Morsecode für Bergbewohner.»<br />

Jodeln ist geografisch allgegenwärtig und kommt<br />

in jeder musikalischen Sparte vom Jazz bis zur<br />

Oper, vom Hip-Hop bis zum Techno vor, obwohl es<br />

immer noch meist mit der Welt der Alpen assoziiert<br />

wird.<br />

Das Jodeln kommt in Amerika auf: Wohl eines der<br />

umstrittensten Themen meiner Nachforschungen<br />

ist die Frage, wann und wie das Jodeln nach<br />

Amerika importiert wurde. Die gängige, herkömmliche<br />

Ansicht ist die, dass dies nicht vor 1815, also<br />

200 Jahre nach den ersten Einwanderungen von<br />

Europäern, geschah. Das heisst, dass die amerikanischen<br />

Ureinwohner wohl damals bereits jodelten.<br />

Ihre Gesänge enthalten oft ‹stimmliche<br />

Pulsationen, Falsett, Nasaltöne.› Es gibt Anhaltspunkte<br />

dafür, dass westafrikanische Sklaven ihre<br />

Jodel via die afrikanische ‹Sklavenküste›, u.a. aus<br />

den von den jodelnden Pygmäen bewohnten Gegenden,<br />

mitbrachten. Der Landschaftsarchitekt<br />

Frederick Olmstead hörte in den 1850er Jahren in<br />

South Carolina ein seltsames ‹Negerjodeln›, das<br />

er als «langen, lauten musikalischen Ruf» beschrieb,<br />

der sich «abwechselnd hob und senkte und dann in das<br />

Falsett übersprang», Klänge, wie sie bei den formlosen<br />

Rufen der schwarzen Landarbeiter üblich<br />

waren. Laut Harold Courlander waren diese zweckgebundenen<br />

Rufe, die «afrikanische Vokaltechniken<br />

wie Jodel und echeoartige Falsetti verwendeten», eine<br />

Art Soulmusik der Erntefelder. Einige dieser Skla-<br />

53


Muothatal/Schwyz, Schweiz


Sugarcreek/Ohio, USA


56<br />

vengesänge gehen auf beschwörende Pygmäenjodel<br />

zurück, die eng mit dem Wald als wichtigem<br />

Hort von Mysterien und Lebensgrundlage<br />

verbunden sind. Jazzsänger Leon Thomas glaubte,<br />

Pygmäen sängen durch seine einzigartige Stimme,<br />

deren anthropologische ‹Verbalenergie› immer<br />

eine Steigerung erfuhr, wenn er seinen Pygmäen-<br />

Jodel-Scatgesang ertönen liess.<br />

Auch echte Cowboys – Schwarze, Weisse, Mexikaner<br />

– jodelten wahrscheinlich, obschon keiner von<br />

ihnen das Jodeln zum Beruf machte. Die Cowgirljodlerin<br />

Liz Masterson aus Colorado meint dazu:<br />

«Es scheint durchaus logisch, dass Kuhhirten diese hohen<br />

Töne verwendeten, wenn sie durch ihre Herde ritten.<br />

Wenn die Tiere ihr dumpf dröhnendes ‹Muuuuh›<br />

ausstossen und plötzlich einer ‹Uiiih› dazwischen schreit,<br />

kann er sicher sein, dass sein heller Ruf die ganze Herde<br />

übertönt. Noch heute höre ich, wenn ich hin und wieder<br />

auf Ranches zu Besuch bin, diese schrill-schrägen<br />

Rufe. Und man kann effektiv einen Jodel darin hören,<br />

wenn diese Leute ihr ‹Uiii-ipp tschiii-ipp tschiii-ipp› erschallen<br />

lassen.»<br />

Wilf ‹Montana Slim› Carter, Sohn eines Schweizer<br />

Baptistenpredigers, verkörperte – authentisch und<br />

popmusikalisch stilisiert – den Geist des freiheitsliebenden,<br />

auf Güterzügen herumstreunenden<br />

‹Yodeling Cowboys› mit seinem alpenländisch beeinflussten<br />

Western-Jodel.<br />

Frühe Schweizer Einwanderer: Nach Meinung des<br />

mennonitischen Archivars Leonard Gross gelangte<br />

der Jodel mit den ersten Schweizer Einwanderern<br />

nach Nordamerika. Er erklärt: «Meine Frau – sie<br />

ist Schweizerin, und ihr Vater, der als mennonitischer<br />

Prediger in Twann lebte, war ein guter Jodler –, meine<br />

Frau sagt, das Jodeln gehe auf eine sehr alte Überlieferung<br />

der Schweizer Mennoniten-Brüder zurück. Es ist<br />

naheliegend, dass Schweizer Brüder, die direkt von der<br />

Schweiz nach Nordamerika auswanderten, ein paar<br />

Jodler mitnahmen.»<br />

Deutsche Mennoniten und Amische gehörten zu<br />

den ersten Immigranten in den 1670er Jahren.<br />

Diese Kriegsflüchtlinge und religiös Verfolgten<br />

kamen vom Pfälzergebiet über Rotterdam nach<br />

Pennsylvania. Sie sprachen Schweizer Dialekte<br />

und sangen alte Arbeitslieder, von denen einige<br />

Jodelelemente enthielten. Die Jodlerin Betty Naftzinger,<br />

die als Tochter eines Schweizer Farmers<br />

bei Kutztown, Pennsylvania, geboren wurde, erinnert<br />

sich, dass sie in den 1940er Jahren beim Pflügen<br />

der Felder das Jodeln erlernte.<br />

Einige Schweizer Immigranten siedelten sich im<br />

18. Jahrhundert in South Carolina, Maryland und<br />

Pennsylvania an. Andere zogen nach Westen (1820-<br />

1900) und gründeten in Texas und Indiana deutsche<br />

und schweizerische Einwanderergemeinden.<br />

Amische aus dem Bernbiet und dem Emmental<br />

gründeten im ländlichen Indiana die Gemeinden<br />

Berne und Geneva. Hier bewahrten sie ihre folkloristischen<br />

Bräuche, u.a. auch ihren alemannischen<br />

Dialekt und das Jodeln, eine akzeptable,<br />

nichtkommerzielle Form der Unterhaltung, die<br />

den sozialen Zusammenhalt stärkte. Und Milchmädchen<br />

brachten ihren Kühen Jodelständchen<br />

dar.<br />

Einwanderer aus dem Kanton Glarus liessen sich<br />

in Wisconsin nieder, wo sie in den 1840er Jahren<br />

die Städte New Glarus und Monroe gründeten.<br />

Um 1900 zählte Wisconsin 8000 Schweizer Einwanderer.<br />

Der Appenzeller Jodler Louis Alder<br />

emigirierte nach Monroe und gründete dort das<br />

Monroe Yodel Quartet (1921). Die Moser Brothers,<br />

eine Schweizer Jodlerfamilie, absolvierten eine<br />

Nordamerika-Tournee und liessen sich danach<br />

in Wisconsin nieder; im Jahr 1933 traten sie im<br />

Schweizer Pavillon an der Chicago Worlds Fair<br />

auf. Rudy Burkhalter wuchs in Basel auf, wo er<br />

das Handharmonikaspiel und das Jodeln erlernte.<br />

Er wurde ein renommierter Komponist in Wisconsin<br />

und schrieb in den 1950er Jahren Jodellieder<br />

wie ‹Will You Teach Me How To Yodel› für Walt<br />

Disney TV-<strong>Pro</strong>duktionen. Die Jodelgruppe Edelweiss<br />

Stars aus New Glarus gab zwischen 1950<br />

und 1996 in ihrer Region Konzerte. Betti Vetterli<br />

(Schweizerin der dritten Generation) und Martha<br />

Bernet (1927 in Leissigen geboren) waren ein populäres<br />

Jodelduo, das bei seinen Konzertauftritten<br />

Reklame für in Winsconsin hergestellte Milchprodukte<br />

machte.<br />

Als Urheberin der Jodelpartien in Walt Disneys<br />

Film von 1937 Snow White & the Seven Dwarfs<br />

zeichnete die ‹Swiss Family Fraunfelder.› Der Jodler,<br />

Lehrer und Musiker Reynard Fraunfelder brachte<br />

seine Familie vom aargauischen Wildegg nach<br />

Kalifornien und später nach Wisconsin. Er war<br />

Mitkomponist zahlreicher Jodelstücke in Disney-<br />

<strong>Pro</strong>duktionen und gab seine Jodelkunst an seine<br />

Kinder weiter. Sein Sohn Rheiny jodelte den Part<br />

von Dopey in den ‹Silly Songs.›<br />

Echos der Tradition: Als ich im Jahr 2005 in der<br />

Mennonite Historical Society forschte und am<br />

Goshen College Vorlesungen hielt, entdeckte ich<br />

aus den 1970er Jahren stammende Tonaufnahmen<br />

von informellen Gemeindetreffen mit Jodelmusik,<br />

einige vor Ort gemachte Aufnahmen von<br />

Alan Lomax und ein Liederbuch mit Schweizer<br />

und Pop/Country-Jodelsongs. In der Zeit, da ich<br />

meine Vorlesungen hielt, trugen mehrere Mennoniten<br />

aus der Umgebung Jodelimprovisationen<br />

vor.<br />

<strong>Helvetia</strong>, ein Dorf in den Appalachen in West Virginia,<br />

wurde 1869 von Schweizern besiedelt. Seine<br />

Bewohner bewahren die Schweizer Volkskultur,


indem sie Schweizerdeutsch sprechen, Handharmonika<br />

spielen und jodeln. Die Familie des Jodlers/Käsers<br />

Bruce Betler wanderte in den 1870er<br />

Jahren vom Berner Oberland und vom Kanton Aargau<br />

ein. Er kommentiert: «Die <strong>Helvetia</strong>ns wachsen<br />

mit Schweizer Volksliedern auf. Und manche von diesen<br />

enthalten Jodel.»<br />

Eine Welle von Jodelmusik kam in den 1820er Jahren<br />

nach Nordamerika mit professionellen Sängerfamilien<br />

aus dem Tirol und der Schweiz, die ersten<br />

Popstars der Welt, die für Publika von heimwehkranken<br />

Immigranten musizierten. Ableger<br />

der erfolgreichen Österreicher Jodlerfamilie Rainer<br />

sorgten dafür, dass das Jodeln um die Jahrhundertmitte<br />

zur ganz grossen Mode avancierte. Die<br />

Hutchinson Familie (‹New Hampshire Rainers›)<br />

machte das Jodeln so populär, dass sogar Operndiven<br />

Lieder im ‹mountain style› in ihr Repertoire<br />

aufnahmen. Vaudeville-Theater und Schallplattenindustrie<br />

gaben dem Jodeln weiteren Auftrieb.<br />

Die ‹Bärtschi Yodel-Band›, der Schweizer Tenor<br />

Arnold Inauen, Jacob Jost und der schweizerisch-amerikanische<br />

Männerchor nahmen zwischen<br />

1900 und 1927 erfolgreiche Jodelplatten<br />

auf. Der schweizerisch-amerikanische Jodler Fred<br />

Zimmerman nahm 1925 den Song ‹I Miss My<br />

Swiss› mit dem berühmten Orchester von Paul<br />

Whiteman auf.<br />

Richtig berühmt wurde das Jodeln aber erst durch<br />

Jimmie Rodgers, Amerikas erstem Country-Superstar,<br />

der eine fruchtbare Synthese verschiedener<br />

amerikanischer Musikstile – Hillbilly, Jazz, Blues,<br />

Hawaiimusik, Cowboy und Einwanderersongs –<br />

vornahm. Er machte das Jodeln absolut trendig<br />

und schuf dadurch eine kommerzielle Notwendigkeit.<br />

Manche behaupten, sein Jodeln sei von<br />

im Schweizer Stil jodelnden Sängern beeinflusst<br />

worden, die er in Vaudeville-Zeltshows gehört<br />

hatte.<br />

Mythos und Musik: Wir verwechseln oft die mythische<br />

Schweiz mit der geografisch und ethnomusikalisch<br />

gesehen ‹richtigen› Schweiz. Wahrnehmung<br />

erzeugt Wirklichkeit. McBride erinnert<br />

sich: «Einer der ersten Jodelsongs, die ich lernte, war<br />

‹Chime Bells› [vom irisch-irokesischen ‹Swiss Style›-<br />

Jodler Elton Britt]. Sie wissen ja, wie der geht. ‹Out<br />

on a mountain so happy and free›. Diese ‹mountains›<br />

waren in meiner Phantasie natürlich die Schweizer Alpen.»<br />

Der beliebte Jodelsong ‹She Taught Me To<br />

Yodel› stellt wie viele andere Popsongs (‹Yodel<br />

Polka,› ‹Swiss Maid›) das Leben in der Schweiz auf<br />

eine unterhaltsame, leicht konsumierbare Art und<br />

Weise dar. «I went across to Switzerland / Where all<br />

the Yodelers be / To try to learn to yodel / With my<br />

yodel-oh-ee-dee / I climbed a big high mountain / On a<br />

clear and sunny day / And met a yodelin’ gal / Up in a<br />

little Swiss chalet / She taught me to yodel.» Unterdessen<br />

kam ‹Jodelkönig› Peter Hinnen, der jodelnde<br />

Schweizer Popstar, und kehrte die Richtung<br />

der Beeinflussung um, indem er Anleihen beim<br />

Cowboyjodeln machte, mit dem er aufgewachsen<br />

war und von dem er sich für Jodelhits wie ‹Auf<br />

meiner Ranch bin ich König› (‹El Rancho Grande›<br />

1934) inspirieren liess.<br />

Kurz gefasst: Siedler aus den Alpenregionen stiessen<br />

mit ihren Trecks ins Landesinnere vor und<br />

trafen dort andere Einwanderer. Der flottierende<br />

Schweizer und Afrikaner Jodel vermischte sich in<br />

den Appalachen mit britisch-irischen Volksballaden<br />

und später im Westen mit mexikanischen<br />

Songs und Musiziergut anderer europäischer Einwanderer,<br />

um sich schliesslich alle möglichen<br />

Spielarten der Popularmusik wie Blues, Hillbilly,<br />

Rockabilly etc. anzuverwandeln.<br />

Die Vermischung von im entfernten Sinne schweizerischen<br />

Elementen mit vage cowboyartigen<br />

Merkmalen zu echt spannenden experimentellen<br />

<strong>Pro</strong>duktionen zeugt vom ungebrochenen Siegeszug,<br />

den das Jodeln im Bereich der zeitgenössischen<br />

Musik angetreten hat – vom Widerhall der<br />

Berge bis zu den elektronisch erzeugten Echoeffekten<br />

im Aufnahmestudio. ¬<br />

Aus dem Englischen von Ernst Grell<br />

Bart Plantenga hat in den vergangenen zwanzig Jahren eigene<br />

Radiosendungen in New York (WFMU - ‹Wreck This Mess›), Paris<br />

(Radio Libertaire) und Amsterdam (Radio Patapoe) produziert.<br />

Als Belletristikautor hat er Beer Mystic, Spermatagonia: The Isle of<br />

Man und Paris Sex Tête veröffentlicht. Sein Buch YODEL-AY-EE-<br />

OOOO: The Secret History of Yodeling Around the World ist die erste<br />

global ausgerichtete Abhandlung über diese geheimnisvolle<br />

Gesangsart. Zur Zeit arbeitet er am zweiten Band, Yodel in Hi-Fi,<br />

einer Jodel-Musikzusammenstellung für Rough Guide, einem<br />

3-CD Set für Music & Words sowie einem Dokumentarfilm über<br />

das Jodeln. Er lebt heute in Amsterdam.<br />

* Richard Wagner, Beethoven (1870), Sämtliche Schriften und Dichtungen,<br />

Bd. 9, S. 74 (zitiert nach Richard Wagner, Werke, Schriften<br />

und Briefe, ed. Sven Friedrich, Berlin: Directmedia 2004)<br />

57


Die Frau mit der Friedenspfeife Naomi Pfenningers Indianer-Festivals<br />

Dorothee Vögeli Wer in der Schweiz die indianische Kultur hautnah erleben möchte, kann dies tun. An sogenannten Indianer-Fe-<br />

Naomi Pfenninger<br />

Foto: Walter Maissen<br />

58<br />

stivals. Organisiert werden solche Festivals von Naomi Pfenninger. Was möchte die Amerikanerin mit indiani-<br />

schen Wurzeln mit dieser Form der Kulturvermittlung erreichen? Dorothee Vögeli hat die Schweizer ‹Squaw› be-<br />

sucht ❙<br />

‹Native American›: Naomi Pfenninger gehört zur<br />

Bevölkerungsgruppe der ‹Native Americans›. Für<br />

die zierliche Frau mit dem langen Haar und den<br />

schmalen, dunklen Augen hat der entsprechende<br />

Ausweis vor allem eine symbolische Bedeutung:<br />

Im Vergleich zu ihren im Reservat der Onondaga<br />

lebenden Stammesgenossen war Naomi Pfenninger<br />

schon immer privilegiert. Aufgewachsen ist<br />

sie im weissen Amerika, als Tochter eines Indianers<br />

und einer eingewanderten Irin. Sie heiratete<br />

dort einen Schweizer, der als Austauschstudent<br />

in ihrem Elternhaus wohnte, und folgte diesem<br />

ins Limmattal. Hier zog sie zwei Töchter gross,<br />

daneben arbeitete sie als Sekretärin in amerikanischen<br />

Grossfirmen. Doch je älter Naomi Pfenninger<br />

wird, um so stärker beschäftigen sie ihre indianischen<br />

Wurzeln. Vor zehn Jahren hat sie mit<br />

ihrem Lebenspartner begonnen, in der Schweiz<br />

Indianer-Festivals zu organisieren. Ziel ist es, der<br />

Bevölkerung die indianische Kultur näher zu bringen.<br />

«Wir wollen zeigen, dass es diese Kultur noch gibt<br />

und gleichzeitig die Winnetou-Mystifizierungen relativieren»,<br />

sagt sie.<br />

Das Konstrukt ‹Indianer› ist ein moderner Mythos.<br />

Es waren die Eroberer und Siedler, aber auch die<br />

frühen Touristen und Fotografen wie Edward S.<br />

Curtis (1868 – 1952), die mit ihrem nostalgischen<br />

Blick auf die untergehende Kultur der nordamerikanischen<br />

Ureinwohner dieses Konstrukt genährt<br />

haben. Nach wie vor gelten Federschmuck und Tipi<br />

als <strong>Pro</strong>totypen der indianischen Kultur. Dabei wurde<br />

und wird immer noch übersehen, dass die Indianer<br />

in verschiedene Volksgruppen mit sehr unterschiedlichen<br />

Sprachen und Bräuchen aufgesplittert<br />

sind. Einen Einblick in diese Vielfalt möchte Naomi<br />

Pfenninger der Schweizer Bevölkerung geben.<br />

Denn: «Die originäre indianische Kultur lebt in den<br />

Reservaten weiter.» Dort beobachtet sie, wie die Bewohner<br />

– auch dank der vom Staat geförderten<br />

Autonomie – wieder Stolz auf ihre verschüttete,<br />

von den Europäern vereinnahmte Vergangenheit<br />

entwickeln und ihren eigenen Zugang zu ihren<br />

kulturellen Wurzeln zu finden versuchen. Indianische<br />

Tänze, indianische Musik und natürlich das<br />

indianische Kunsthandwerk werden nicht zuletzt<br />

auch aus ökonomischen Gründen wieder gepflegt.<br />

Dass dabei manche Klischees weitergetragen werden,<br />

ist ihr bewusst. Doch auch das sei Teil der lebendigen<br />

indianischen Kultur.<br />

Erdverbundenheit: Ihr wichtigster Besitz ist eine<br />

kleine Dose, gefüllt mit Erde aus der Heimat. Als<br />

die damals 20jährige ihr Dorf und ihre Familie<br />

verliess, gab ihr der Vater dieses symbolische Geschenk<br />

in die Fremde mit. Die Erdverbundenheit<br />

ihres Vaters, die gleichzeitig Ausdruck des indianischen<br />

Lebensgefühls sei, präge auch sie, sagt<br />

die Amerikanerin, die ein hervorragendes Schweizerdeutsch<br />

mit amerikanischem Akzent spricht.<br />

Ihr Vater – Buchhalter von Beruf – hat seine leiblichen<br />

Eltern nie kennengelernt. Im Zuge der damals<br />

üblichen Assimilation der Indianer wurde er<br />

als Säugling von Weissen adoptiert. Die Frage<br />

nach seinen wahren Wurzeln sei nie ein Thema<br />

gewesen, erinnert sich Naomi Pfenninger. Auch<br />

sie hat ihre Abstammung nie sonderlich beschäftigt,<br />

wollte sie doch als Jugendliche möglichst so<br />

sein wie alle anderen. Schon als Kind haben sie<br />

jedoch die indianischen Volksfeste (Powwow) im<br />

Reservat des Onondaga-Stamms fasziniert, das in<br />

der Nähe ihres Heimatdorfs im US-Bundesstaat<br />

New York liegt und das sie mit ihrer Familie regelmässig<br />

besucht hat. Der prachtvolle Federschmuck,<br />

die leuchtenden Farben der Kleidung,<br />

der Rhythmus der Trommeln und das oft tagelang<br />

dauernde Geschichtenerzählen gehören zu<br />

ihren eindrücklichsten Kindheitserinnerungen.<br />

Heute möchte sie mehr über die indianischen<br />

Traditionen wissen. Weil dieses Wissen nicht über<br />

schriftliche Quellen, sondern in Form von erzählten<br />

Geschichten, Bräuchen und Zeremonien weitergegeben<br />

wurde, lässt es sich laut Naomi Pfenninger<br />

intellektuell nicht erschliessen. Gerade<br />

deshalb sei die indianische Kultur zweifellos anfällig<br />

für Esoterik. Gleichzeitig fasziniert die Halbindianerin<br />

die Möglichkeit des individuellen Zugangs.<br />

Die sinnlich-archaische Symbolik der indianischen<br />

Kultur kann sie problemlos mit dem<br />

christlichen Glauben verknüpfen. Sie ist deshalb<br />

ein aktives Mitglied der christlich-amerikanischen<br />

Kirche geblieben. «Ob ich nun Gott oder Grosser Geist<br />

sage, ist nicht so wichtig. Doch soll man dankbar sein<br />

für das, was man hat.»<br />

Im Reservat: Ihre Informationen über die indianischen<br />

Ausdrucksformen holt die Wahlschweizerin<br />

direkt vor Ort, bei ihren Freunden in den Reservaten,<br />

die sie regelmässig besucht. «Mich schrecken<br />

die Armut und das soziale Elend nicht ab – im Gegen-


Winterthur/Zürich, Schweiz Chicago/Illinois, USA


60<br />

teil: Die Einfachheit ist für mich ebenso Ausdruck von<br />

Spiritualität. Natürlich ist es auch für Indianer schön,<br />

sechs gleiche Tassen zu haben. Wegen ihres symbolischen<br />

Werts ist aber die Pfeife des Onkels oder die Feder<br />

des Vaters an der sonst kahlen Wand viel wichtiger.»<br />

Während ihren Besuchen in den Reservaten ist ihr<br />

zudem klar geworden, dass die Pflege der Traditionen<br />

die grassierende Depression und den damit<br />

verbundenen Alkoholismus etwas eindämmen<br />

kann, stärkt doch das Sich Besinnen auf die gemeinsamen<br />

Wurzeln das Zusammengehörigkeitsgefühl.<br />

Das Erlernen der traditionellen Tänze und<br />

Handwerkskunst hole viele indirekt aus dem Teufelskreis<br />

heraus, ist sie überzeugt. Auch darum engagiert<br />

sie indianische Musiker, Tänzer und Kunsthandwerker<br />

für die Festivals in der Schweiz.<br />

Im Vordergrund der folkloristischen Darbietungen,<br />

zu denen das Erzählen von Geschichten gehört,<br />

steht nicht nur der Wunsch, eine amerikanische<br />

Minderheit ins Licht zu rücken und gleichzeitig<br />

punktuell Perspektiven zu geben. Genauso soll der<br />

kulturelle Austausch gepflegt werden. Weil die Indianer<br />

während ihrer Tourneen durch die Schweiz<br />

bei Gastfamilien wohnen, wird dieses Ziel auf der<br />

privaten Ebene erreicht. Aus den Begegnungen<br />

entstehen immer wieder Freundschaften, ja sogar<br />

Lebensbeziehungen. Doch auch mit den in<br />

der Regel sehr interessierten Festivalbesuchern<br />

ergeben sich Kontakte. Manche irritiert der Glitzer<br />

und Glimmer, den die heutigen Indianer gerne<br />

einsetzen. Doch sind für Naomi Pfenninger eben<br />

gerade auch kitschige Elemente Ausdruck «einer<br />

lebendigen Kultur, die nicht im 18. Jahrhundert stehengeblieben<br />

ist».<br />

Die positiven Aspekte zeigen: Ganz bewusst wird<br />

an den Indianer-Festivals das Kapitel der Domestizierung<br />

und Verfolgung der amerikanischen Ureinwohner<br />

ausgeblendet. Ab und zu wird dies von<br />

den Zuschauern kritisiert. «Ich sage jeweils, dass<br />

unsere Festivals nicht der Ort sind, um dieses Thema<br />

eingehend zu beleuchten. Man muss zudem bedenken,<br />

dass viele Völker auf der Welt unter Ungerechtigkeiten<br />

ebenso gelitten haben wie die Indianer. Konzentriert<br />

man sich auf die traurigen Episoden innerhalb einer<br />

langen Geschichte, wird die Gegenwart blockiert.» Sie<br />

kenne genug Landsleute, die die Vergangenheit<br />

nicht verarbeiten könnten. «Aber wir müssen<br />

weitergehen, indem wir die viel weiter zurückliegenden<br />

positiven Aspekte unserer Kultur pflegen.» Dazu<br />

gehörten die aktuellen <strong>Pro</strong>gramme zum Erwerb<br />

der indianischen Sprachen, die in den Reservaten<br />

initiiert worden sind.<br />

Immer wieder erhält sie Anfragen von Schweizern,<br />

die vertiefte Bekanntschaften mit ‹richtigen›<br />

Indianern suchen. Diese Sehnsucht nach Ursprünglichkeit<br />

in einem reichen hochentwickelten<br />

Land wie der Schweiz erstaunt sie nicht. Weshalb<br />

aber das Interesse an archaischen Kulturen in der<br />

Schweiz viel grösser als in den umliegenden Ländern<br />

ist, kann sie nicht erklären. Tatsache sei auf<br />

alle Fälle, dass es nirgendwo so viel Literatur über<br />

die Indianer gebe wie in der Schweiz. Auch den<br />

von Naomi Pfenninger engagierten Indianern, für<br />

die sie während ihres Aufenthalts Ausflüge auf<br />

den Titlis oder nach Zermatt organisiert, fällt die<br />

hiesige grosse Sympathie für die indianische Kultur<br />

und die oft herzliche Kontaktaufnahme auf.<br />

In diesem Zusammenhang erwähnt Naomi Pfenninger<br />

eine Episode, die für sie unvergesslich ist:<br />

An einem Indianer-Festival in den Bergen gesellte<br />

sich ein Alphornbläser zufälligerweise dazu. Er<br />

übergab sein Instrument den Indianern und probierte<br />

deren Flöten aus. Solche spontanen Formen<br />

des kulturellen Austausches seien einfach wunderbar.<br />

Zu Hause, wo das Herz schlägt: Auch sie hat die<br />

Schweiz anfangs als fremdartig empfunden. Als<br />

junge Frau kam ihr das Limmattal wie ein einziges<br />

Dorf ohne Land vor. Mit der Zeit merkte sie<br />

aber, «dass es auch hier Natur gibt, wenn man sie<br />

sucht». Nur im Herbst hat sie manchmal Heimweh<br />

– nach dem Indian Summer mit seinen unbeschreiblich<br />

leuchtenden Farben. ‹The American<br />

way of life› hat ihre Kindheit geprägt. Entsprechend<br />

schwierig war es für sie, sich in der Schweiz<br />

einzuleben. Einkaufszentren, Fast-Food und Parkhäuser<br />

gab es in den sechziger Jahren noch nicht.<br />

Wenn sie im Dorfladen einkaufen musste, wurde<br />

sie nervös: Da sie Selbstbedienungsläden gewohnt<br />

war, wusste sie nicht, wieviel ein Kilo Rüben ist<br />

und wie man ‹carrots› auf Schweizerdeutsch sagt.<br />

Die Amerikanisierung der Schweiz im Lauf der<br />

letzten Jahrzehnte bedauert sie: «Das Spezielle, die<br />

Eigenart ist verlorengegangen.»<br />

«Home is where the heart is», sagt sie. Und weil ihr<br />

Herz bei ihren Töchtern in der Schweiz ist, sie<br />

sich aber genauso mit ihrem Heimatdorf und ihren<br />

Freunden in den Reservaten verbunden fühlt,<br />

hat sie eigentlich drei Heimaten. So geht sie nach<br />

Hause, wenn sie in die USA reist, und kommt<br />

heim, wenn sie wieder in die Schweiz zurückkehrt.<br />

Sie könnte sich vorstellen, einmal für längere<br />

Zeit in einem Reservat zu leben. Denn gerne<br />

würde sie sich Zeit nehmen für Zeremonien, die<br />

sie bis jetzt noch nie gesehen hat. Doch bald wird<br />

sie Grossmutter. Deshalb wird ihre Heimat in<br />

nächster Zeit vor allem die Schweiz sein. ¬<br />

Dorothee Vögeli, geboren 1960 in Zürich, Studium der Philosophie<br />

mit <strong>Pro</strong>motion, seit fünf Jahren bei der Neuen Zürcher Zeitung als<br />

Redaktorin im Ressort Zürich tätig, Schwerpunktthemen Ausländer/Soziales.

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