passagen
p a s s a g e s
Inhaltsverzeichnis
Dirk Wittenborn 02 «Papa, wer ist die Schweiz?»
Eine Fahrt nach Leukerbad
Jürg Halter 08 Ein amerikanischer Traum
Gedicht für Marc Smith
Ines Anselmi 09 «Wer Glück hat, der findet hier Gold»
Der Schweizer Migrationsforscher Leo Schelbert auf
Spurensuche in den USA
Sacha Verna im Gespräch mit der 15 Zürich – Manhattan – Long Island
Schweizer Künstlerin Garance Mit Garance am Strand
Jean Willi 20 «Nehmen Sie Ihre verfluchte Hand weg»
Die Filme der Gebrüder Dubini zu Thomas Pynchon,
Jean Seberg und Hedy Lamarr
Alfred Defago 25 Die verschwisterten Republiken
Was denken Amerikaner über die Schweiz?
Milena Moser 31 Hollywood-Swissness à la carte
Ein fiktives Gespräch mit Renée Zellweger
Sam Burckhardt 34 CHicago Blues
Saxophonklänge über dem Michigan See
Hubertus Adam 39 If you go to San Francisco
Schweizer Architekten in den USA
Peter Haffner 43 New Glarus – Tellspielfieber im Wilden Westen
Eine Reise in die äusserste Heimat
MaryLou Carroll 50 Hohe Einsätze in Las Vegas
Der unermüdliche Unternehmer Peter Buol
Bart Plantenga 52 Wenn die Cowboys jodeln
Ein Kulturaustausch der besondern Art
Dorothee Vögeli 58 Die Frau mit der Friedenspfeife
Naomi Pfenningers Indianer-Festivals
Fotografie
Blickwechsel USA – CH
Geri Stocker
41
Die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia fördert Kunst und Kultur in der Schweiz, sie setzt sich für den kulturellen Austausch im Inland
sowie mit dem Ausland ein. Mit ihrer Tätigkeit unterstützt sie eine kulturell vielseitige, zeitgenössische und offene Schweiz.
Das Pro-Helvetia-Kulturmagazin Passagen/Passages erscheint dreimal pro Jahr in deutscher, französischer und englischer Sprache.
Zu beziehen über die schweizerischen Auslandvertretungen, das Centre culturel suisse, 32, rue des Francs-Bourgeois, 75003 Paris (nur für
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E-mail: alangenbacher @pro-helvetia.ch. In der Schweiz ist Passagen für sFr. 12.50 (Einzelnummer) oder im Jahresabonnement für sFr. 35.–
erhältlich. (http://www.pro-helvetia.ch).
1
«Papa, wer ist die Schweiz?» Eine Fahrt nach Leukerbad
Dirk Wittenborn «Wer ist die Schweiz?» Mit dieser metaphysischen
Frage überraschte mich meine Tochter Lilo, die in
zwei Monaten ihren dritten Geburtstag feiern sollte.
Es war 7.43 Uhr morgens am Freitag, dem 1. Juli
2004, und wir hatten noch zwölf Minuten, um unseren
Zug zu erwischen. Vor uns lag eine 500-Kilometer-Reise
von Marseille in die Walliser Alpen,
wo ich Gast des 9. Internationalen Literaturfestivals
in Leukerbad war. Das akuteste der zahlreichen
Probleme, mit denen wir uns an diesem Morgen
herumschlugen, war die Tatsache, dass ich
mich hoffnungslos verfahren hatte. Mein Französisch
war so holprig, dass ich jedes Mal, wenn ich
anhielt, um nach dem Weg zu fragen, nicht zum
Bahnhof, sondern zu einem Kriegsdenkmal geschickt
oder mit einem wütenden Wortschwall
zur imperialistischen Invasion des Iraks durch
mein Heimatland überschüttet wurde.
Nachdem ich mich einmal mehr für einen Präsidenten
entschuldigt hatte, den ich – wie die meisten
Amerikaner – nicht gewählt habe, erklärte ich
meiner Tochter: «Die Schweiz ist ein Ort, Liebling,
kein Mensch.» Ich bemühte mich um einen munteren,
sorglosen Ton, doch in Wahrheit machte ich
mir einige Sorgen – nicht nur darum, ob wir den
Zug verpassen würden.
An diesem Punkt meiner Geschichte muss ich
kurz etwas zurückblenden. Die Wochen vor diesem
Freitag im Juli war ich auf einer Lesereise, zu
der ich meine Frau und meine Tochter mitgenommen
hatte – obwohl mich jeder, von meinem
Therapeuten bis zu den Leuten von meinem Verlag,
gewarnt hatte, dass das ‹ziemlich stressig›
werden könnte. Zudem sei es ‹Wahnsinn›, ein
knapp dreijähriges Kind ausgerechnet auf dieser
Reise, auf der wir mit Auto, Zug und Flugzeug von
Hotel zu Hotel hetzten, ans Töpfchen gewöhnen
2
zu wollen. Leider sollten sie damit nicht ganz Unrecht
haben. Meine Frau Kirsten hatte sich eine
heftige Stirnhöhlenentzündung eingefangen und
dagegen eine ganze Palette gälischer Antibiotika
geschluckt, die sie so komatös machten, dass ich
mich langsam fragte, ob sie die Medikamente
wirklich in der Apotheke und nicht bei einem
Drogendealer auf der Strasse gekauft hatte. Aber
die echte Pièce de Résistance auf unserem abenteuerlichen
Trip durch Europa war eine andere: In
meine Tochter gingen zwar Unmengen von Käse
und Leberpastete hinein, kamen aber seit sechs
Tagen nicht mehr heraus. Es war nicht bloss eine
kleine Verstopfung; sie war aufgebläht wie ein
Ballon kurz vor dem Zerplatzen.
«Hört das Bauchweh in der Schweiz auf?»
«Alles wird gut, wenn wir in der Schweiz sind, ich verspreche
es.» Das Schlimmste an der ganzen Sache
war, dass wir Lilo mit unseren ohnehin zum Scheitern
verurteilten Versuchen, sie unterwegs ans
Töpfchen zu gewöhnen, so viel Angst vor einem
Missgeschick gemacht hatten, dass sie kurzerhand
beschloss, überhaupt nicht mehr auf die
Toilette zu gehen.
«Wird es Pinky in der Schweiz gefallen?» Pinky war
ein Stoffelefant, den meine Tochter überallhin
mitnahm und der, man ahnt es, pink war.
«Pinky wird die Schweiz lieben, mein Schatz.» Dank
der Stirnhöhle meiner Frau und des Magens meiner
Tochter hatten wir in den vergangenen drei
Nächten höchstens sechs Stunden geschlafen.
Wir waren alle übermüdet und völlig erschöpft,
und ich sass seit sechs Uhr morgens am Steuer.
Die gute Nachricht war, dass wir den Zug noch
erwischten. Die schlechte: Halb Frankreich reiste
an diesem 1. Juli in die Ferien. In unserem Zug
herrschte ein grösseres Gedränge als in einer Dose
Ölsardinen. Schliesslich fanden wir drei freie
Plätze. Ich dachte, das sei das vorläufige Ende
meiner Probleme und ich könnte endlich ein wenig
schlafen. Doch schon beim nächsten Halt war
es mit der Ruhe vorbei: Drei durchgedrehte Wintersportler
stürmten das Abteil und wollten uns
von unseren Sitzen vertreiben. Wir riefen den
Schaffner zu Hilfe, doch vergeblich: Da ich den
Rat des Leukerbader Literaturfestivals ignoriert
und keine Platzreservation gemacht hatte, wurden
wir zu Reisenden dritter Klasse degradiert.
Bei jedem Stopp des Zugs in Frankreich wurden
unsere Sitze von Zugestiegenen beansprucht, so
dass wir immer wieder mit Sack und Pack – drei
Koffer, ein paar Taschen und ein Kinderwagen
samt Kind – das Abteil wechseln mussten. Zugegeben,
ich war selbst schuld, aber wieso betitelten
mich die anderen Passagiere deswegen ständig
als ‹Ente›? Als ich herausfand, dass sie nicht
‹canard›, sondern ‹connard› sagten und dass das
etwas ganz anderes bedeutete, war ich dann
doch leicht beleidigt. Meine Frau schniefte, die
Kleine weinte, und ich flüchtete mich in Gedanken
daran, wie ich mir die Schweiz in meiner
Kindheit vorgestellt hatte.
Wie für die meisten in den Fünfzigerjahren geborenen
Amerikaner war die Schweiz auch für mich
als Junge gleichbedeutend mit dem Kakaopulver
Swiss Miss und roten Messern mit unzähligen
Klingen. Später zeigten mir die Spielfilme über
den Zweiten Weltkrieg, die ich als Jugendlicher
heiss liebte, die Schweiz als Ort der Zuflucht und
Sicherheit. Zwar wurde immer kurz vor der Grenze
noch jemand erschossen, aber für jene, die
durchkamen, war die Schweiz das Paradies.
Und wir? Ob wir es wohl dorthin schaffen würden?
Meine Frau und ich waren uns da gar nicht mehr
so sicher. Ein Dutzend Platzwechsel in einem
schwankenden Zug, ebenso viele erfolglose Toilettenbesuche
mit unserer Tochter, aus einem Ghettoblaster
dröhnte Britney Spears, und jedes Mal,
wenn Lilo fragte: «Sind wir jetzt in der Schweiz?»,
mussten wir sie enttäuschen – allmählich war
uns allen dreien zum Heulen zumute. Irgendwann
fanden wir gar keinen Sitzplatz mehr und
mussten im Gang neben den Toiletten stehen.
Meine Frau und ich, beide vor Schlafmangel kaum
noch zurechnungsfähig, versuchten unsere Tochter
und uns selbst aufzumuntern, indem wir von
all den schönen Dingen sprachen, die uns in der
Schweiz erwarten würden.
«Lilo, weisst du, wer in der Schweiz wohnt?»
«Mein Bauch tut weh.»
«Heidi.» Während das Heidi meiner Kindheit
schwarzweiss war und von Shirley Temple verkörpert
wurde, kannte meine Tochter, wie auch meine
Frau, Johanna Spyris Heldin aus den japanischen
Zeichentrickfilmen.
«Ich habe Hunger.»
«Das kann doch gar nicht sein.» Snacks sind nicht
gerade das beste Mittel gegen Verstopfung.
In einem verzweifelten Versuch, Lilo vom Gedanken
an Essen abzulenken, begann meine Frau, die
aus Deutschland stammt, zu singen: «Heidi, Heidi,
deine Welt sind die Berge.» Die Leute starrten uns
an, aber das kümmerte mich nicht. Bei der zweiten
Zeile stimmte ich mit ein: «Heidi, Heidi, denn
dort oben bist du zu Haus …»
Nachdem wir endlich die Schweizer Grenze erreicht
hatten, wurde unsere Reise noch qualvoller,
weil sich uns durch das Fenster verwischte,
impressionistische Bilder herrlicher Verheissungen
boten: Obstbäume, schneebedeckte Berge, saubere
Toiletten. Doch drinnen, in diesem elenden,
3
Zofingen/Aargau, Schweiz
Bernstadt/Kentucky, USA
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überfüllten Zug, mussten wir weiterhin dauernd
den Platz wechseln. Meine Beine schmerzten,
und vom ständigen Herumtragen der Koffer hatte
ich Blasen an den Händen. Als wir im Bahnhof
von Genf einfuhren, konnte ich mich kaum noch
zurückhalten: Ich musste endlich hinaus, hinaus
in die Schweiz!
Ich hatte meiner Familie hoch und heilig versprochen,
dass wir am Bahnhof ein Auto mieten würden,
die Strapazen damit vorbei seien und unser
Aufenthalt in der Schweiz von da an nur noch
traumhaft sein würde. Mein Plan hatte nur einen
winzigen Fehler: Im Genfer Bahnhof gibt es keinen
Autoverleih. Bevor meine Frau einen Scheidungsanwalt
anrufen konnte, liess ich mein Gepäck fallen,
rannte aus dem Bahnhof und machte mich
auf die Suche nach einem fahrbaren Untersatz.
Es klingt vielleicht seltsam, aber nach wenigen
Metern hatte ich alles, was mit der Schweiz zu tun
hat, ins Herz geschlossen. Wenn ich in Frankreich
jemanden nach dem Weg gefragt hatte, musste
ich froh sein, wenn er grunzte und mit dem Finger
in die ungefähre Richtung zeigte. In Genf hingegen
nahm sich ein älterer Herr sogar die Zeit,
mir eine kleine Karte aufzuzeichnen. Ich mietete
ein Auto, holte Frau und Tochter ab und fuhr los.
Wir waren zwar heilfroh, dass wir ab jetzt unsere
Sitzplätze auf sicher hatten, aber von unserer bisherigen
Reise noch zu traumatisiert, um die ersten
dreissig Kilometer Schweiz geniessen zu können.
Es war seltsam und surreal, aber erst der
Halt an einer Autobahnraststätte machte uns bewusst,
dass wir im Paradies angekommen waren.
In Amerika sind sogar die Busbahnhöfe noch eine
Spur komfortabler und angenehmer als die Truck
Stops an den Highways. Im Gegensatz dazu fühlten
wir müden Reisenden uns in dieser Schweizer
Raststätte wie Könige. Es gab Krüge mit frisch gepresstem
Orangen-, Melonen- und Ananassaft auf
Eis, Ahorn-Walnuss-Eiscreme von Mövenpick und
draussen einen grossen Teich – oder eher einen
kleinen See – mit Enten, die meine Tochter füttern
konnte. Und mit Windsurfern, die uns daran erinnerten,
dass das Leben ein einziger Urlaub ist.
Als meine Tochter zum hundertsten Mal fragte:
«Sind wir endlich da?», war die Antwort immer
noch «Nein». Aber es fühlte sich an wie ein «Ja».
Die nächsten hundert Kilometer ging es zwar stetig
bergauf, aber uns kam es vor, als wären wir
entlang einer Küste unterwegs. Wir fuhren durch
endlose grüne Täler und unterhielten uns darüber,
dass wir tatsächlich dem gleichen Weg folgten
wie einst Hannibal mit seinen Elefanten –
womit auch für Pinky auf dieser Reise etwas dabei
war. Wir rollten die Fenster herunter, sogen
die frische Luft und den Geruch der Föhren des
Pfynwalds ein, bewunderten den durch die Höhe
enzianblau gefärbten Himmel und hatten das Gefühl,
das Ziel unserer Reise schon vor der Ankunft
erreicht zu haben.
Wie bereits erwähnt, bin ich sehr gut darin, mich
zu verfahren. Aber unseren Zielort zu verfehlen
war sogar für mich unmöglich. Leukerbad ist das
hinterste – und meiner Meinung nach auch das
gemütlichste – Dorf im Dalatal. Wenn die Strasse
nicht mehr weitergeht, bist du da.
Ich wusste nichts über das Literaturfestival Leukerbad.
Alles, was mir mein Kontaktmann bei Dumont
sagen wollte, war: «Da musst du unbedingt
hin.» Als ich in die Einfahrt des Hotels Lindner
einbog, wo das Festival für uns Zimmer reserviert
hatte, ahnte ich, was er gemeint hatte. Das Hotel
hatte nicht nur vier Sterne, sondern auch ein
eigenes Thermalbad. Wenige Minuten nach unserer
Ankunft lagen meine Frau, meine Tochter und
ich in einem riesigen, dampfenden Pool, der noch
heute aus denselben Thermalquellen gespiesen
wird, die schon die Römer vor zweitausend Jahren
für ihre Bäder nutzten. Das für seine Heilkraft berühmte
Wasser wirkte auch bei uns Wunder:
Nach einer halben Stunde ging meine Tochter
freiwillig und alleine auf die Toilette und kam
nach wenigen Minuten sichtlich erleichtert wieder
hinaus.
Doch dies sollte nur die erste einer ganzen Reihe
von angenehmen Überraschungen sein, die uns
das Literaturfestival Leukerbad an diesem Wochenende
bereiten würde. Als wir ins Bett gingen,
war Leukerbad ein Dorf von nett gekleideten, bodenständigen
und naturverbundenen Schweizern.
Doch als wir am nächsten Morgen aufstanden
und zum Festivalstart auf dem Dorfplatz gingen,
war Leukerbad von einer kultivierten Armee von
Bücherfreunden aus Europa und Übersee erobert
worden. Alle waren vornehm blass und trugen
Schwarz, die Einheitsfarbe der Bohemiens – wenn
die Stimmung nicht so fröhlich gewesen wäre,
hätte man meinen können, man sei auf einer Beerdigung.
Der Zeremonienmeister dieses vielfältigen Kulturcocktails
war Ricco Bilger, der jungenhafte Gründer
und Leiter des Festivals. Er erwies sich als
eine dieser seltenen Erscheinungen in der Kulturszene:
ein unprätentiöser Schöngeist, ein Intellektueller,
der mit beiden Beinen fest auf dem Boden
steht. Fünf Minuten nach unserem Kennenlernen
hatte er mir bereits Autoren aus der Ukraine, Polen,
Ungarn und Deutschland vorgestellt und mich
zu einer Mitternachtslesung mit Champagner auf
dem Gemmipass eingeladen.
Für einen Schriftsteller sind alle Literaturfestivals
und insbesondere jenes von Leukerbad eine wunderbare
Sache, weil man sich für einige Tage auf
einem Planeten aufhält, dessen Bewohner Bücher
nicht nur lesen, sondern lieben. In Leukerbad liessen
wir den Alltag mit seinen langweiligen Gesprächen
über Termine, Steuern, Einkaufen, das Wetter
oder, wenn es ganz schlimm kommt, das Fernsehen
hinter uns. Stattdessen unterhielt man sich
im Café über unbekannte Dichter, deren Werke
bald ins Deutsche, Französische oder Englische
übertragen werden sollen, frühe Flirts mit französischer
manieristischer Prosa oder die Abkehr vom
Postmodernismus. Schriftsteller sitzen die meiste
Zeit allein an ihrem Schreibtisch. Im Gegensatz
dazu herrschte in Leukerbad ein Geist der Kameradschaft
und des gemeinsamen Feierns, der einem
das Gefühl gab, nicht nur gewürdigt zu werden,
sondern auch nicht mehr allein zu sein. Es
mag vielleicht seltsam klingen, aber ich besuchte
auch Lesungen in Sprachen, von denen ich kein
Wort verstand, nur um fasziniert dem Klang der
Stimme des Autors zu lauschen.
Für die erste Lesung aus meinem Roman Unter
Wilden hätte ich mir keinen komfortableren Ort
vorstellen können als die Bar des Fünf-Sterne-Hotels
des Dorfs. Als ich erfuhr, dass James Baldwin
in den Fünfzigerjahren hier in Begleitung abgestiegen
war, weil er sich nach einem Zusammenbruch
von den Thermalquellen Leukerbads Linderung
erhoffte, wusste ich, dass ich hier richtig
war. Ich weiss nicht, ob es an der filterlosen Zigarette,
dem Glas Wein aus der Region, der Höhe
oder an James Baldwins Geist lag, aber als ich mit
der Lesung anfing, tat ich etwas, was ich bis dahin
noch nie in meinem Leben bei einer solchen
Veranstaltung getan hatte. Ich war so entspannt,
dass meine Augen und meine Gedanken meiner
Stimme vorauseilen konnten. Während ich laut
vorlas, glitt gleichzeitig mein Blick bereits über
die nächsten Passagen. Als wäre das an sich nicht
schon seltsam genug, entdeckte ich einige Stellen,
an denen ich, wenn ich Unter Wilden ein zweites
Mal geschrieben hätte, kleine Änderungen vorgenommen
hätte. Plötzlich, und ohne darüber nachzudenken,
begann ich zu improvisieren; hier ein
anderes Adjektiv, da eine zusätzliche Dialogzeile
… Niemandem fiel etwas auf, nicht einmal meiner
Frau. Offenbar fühlte ich mich in Leukerbad
besonders frei und inspiriert. Auch bei meiner Lesung
am Nachmittag darauf hielt ich mich nicht
strikt an meinen Text.
Am letzten Abend des Festivals, nach dem Abschlussbankett,
nahm uns Ricco, der in Leukerbad
aufgewachsen ist, mit in eine kleine Bar in einer
Seitengasse, wo sich die Einheimischen das Finale
der Fussball-Europameisterschaft ansahen. Videospiele,
Pizza, laute Musik: Unmalerischer konnte
Leukerbad kaum sein. Doch sogar hier war der
Geist des Festivals noch zu spüren. Dichter, Schriftsteller,
Kellner und Zimmermädchen spendierten
sich gegenseitig Getränke. Das Schönste war, dass
alle Zuschauer beide Mannschaften anzufeuern
schienen. Für mich war damit die Frage meiner
Tochter beantwortet: «Wer ist die Schweiz?» Das ist
die Schweiz. ¬
Aus dem Englischen von Reto Gustin
Dirk Wittenborn ist Drehbuchautor und Schriftsteller. Seine
Bücher wurden in über einem Dutzend Ländern veröffentlicht.
Er schrieb das Drehbuch und ist ausführender Produzent bei
der Verfilmung seines letzten Romans Unter Wilden mit Diane
Lane und Donald Sutherland in den Hauptrollen. Im Verlauf
seiner Karriere, die er als Sketcheschreiber für die US-Fernsehshow
Saturday Night Live begann, verfasste er auch Artikel und
Essays für verschiedene Publikationen, so unter anderem für
den London Observer, den Independent, Vogue, W, Blackbook, die
Frankfurter Allgemeine Zeitung und Die Zeit. Für seinen HBO-Dokumentarfilm
Born Rich wurde Wittenborn für einen Emmy nominiert.
Zurzeit arbeitet er an einem einstündigen TV-Drama
für Touchstone. Im Frühling 2006 erschien bei Dumont sein
neuer Roman Bongo Europa: Memoiren eines zwölfjährigen Sexbesessenen.
Dirk Wittenborn lebt in New York.
7
Ein
amerikanischer
Traum
8
Jürg Halter
Für Marc Smith
Aus dem Chicago River steigt
ein roter Ballon
zieht ein lachendes Kind aus dem Wasser
an einem Hochhaus
spiegelt es sich
empor in den grauen Himmel über der Stadt
Der Wolkenvorhang öffnet sich einen Spalt breit
das Kind mit dem Ballon
taucht in den blauen Himmel ein
im geklärten Blick eines
tagträumenden Passanten
schliesst sich der Vorhang wieder
In einer Wellenwiege
trägt der Fluss einen waisen Schuh
leise aus der windigen Stadt
Jürg Halter wurde 1980 in Bern geboren. Studium an der dortigen Hochschule der Künste. Heute lebt und arbeitet er als Dichter und Rapper (als Rapper unter dem Namen Kutti
MC) in Bern. Zahlreiche Auftritte an wichtigen internationalen Literaturfestivals in Europa, Afrika und den USA. Im August 2003 wurde Halter von Marc ‹Slampapi› Smith,
dem legendären Erfinder des Poetry Slams, als Gast und Vertreter der europäischen Spoken-Word-Szene zum American National Poetry Slam nach Chicago eingeladen. Als Kutti
MC holte sich Halter in der Kategorie American National Hip Hop Slam den Titel des American National Hip Hop Slam Champions 2003. 2004 trat Halter in Stuttgart zum letzten
Mal bei einem Poetry Slam auf. Zuletzt erschienen sind der vielbeachtete Gedichtband Ich habe die Welt berührt (Ammann Verlag, 2005) von Jürg Halter und das furiose Hip-Hop-
Album Jugend & Kultur (Musikvertrieb/MUVE) von Kutti MC. Links: www.art-21.ch/halter, www.kuttimc.com
«Wer Glück hat, der findet hier Gold»
Der Schweizer Migrationsforscher Leo Schelbert auf Spurensuche in den USA
Ines Anselmi
Leo Schelbert
Foto: Ines Anselmi
Kaum einer ist auf dem Spezialgebiet der schweizerischen Migrationsgeschichte so bewandert wie er. Der promo-
vierte Historiker Leo Schelbert, selbst eine Spezies der Gattung Auswanderer, wurde 1971 an die University of Illi-
nois nach Chicago berufen. Was ihn dort beschäftigte und was ihn bis heute umtreibt, verrät dieses Porträt ❙
Das Vertraute hinter sich lassen, ins Unbekannte
aufbrechen – die Verheissungen der terra incognita
beflügeln seit jeher die Phantasie des westlichen
Menschen. Doch kein Ereignis hat den Pioniergeist
der Europäer so angestachelt wie die
‹Entdeckung› Amerikas. Legionen von Auswanderern,
darunter nicht wenige aus der Schweiz, sind
dem Ruf von Freiheit, Abenteuer und unbegrenzten
Möglichkeiten gefolgt. Wie gelangten sie in
die Neue Welt? Wie wurden sie dort aufgenommen?
Wie sah ihr Alltag aus? Welche Freuden
und Nöte haben sie erlebt?
Anschaulicher als historische Abhandlungen und
die Zahlen der Statistiken schildern Briefe, Tagebücher
und andere Aufzeichnungen, was Schweizer
Auswanderer in Amerika vor hundert, zwei- oder
dreihundert Jahren bewegte. Mit wissenschaftlicher
Akribie und dem Spürsinn eines Goldgräbers
hat Leo Schelbert in Archiven dies- und jenseits
des Atlantiks verborgene Schätze geortet,
Hunderte mehr oder weniger ungelenk geschriebene
Manuskripte entziffert, die interessantesten
ausgewählt, transkribiert, kommentiert und in
verschiedensten Publikationen der Leserschaft
zugänglich gemacht. Damit eröffnet sich der Migrationsforschung
ein Territorium, das zuvor weitgehend
brach lag.
Monatelange Fahrt über den Atlantik: Wie langwierig
und strapaziös die Reise über den Atlantik
früher war und wie viele Passagiere dabei an Typhus,
Pocken, Cholera oder einem andern ‹Schiffs-
Fieber› verstarben, können wir uns heute kaum
mehr vorstellen. Allein die Anreise – bis die Auswanderungswilligen
nach Liverpool, Le Havre,
Nieuwediep oder eine andere Hafenstadt am Atlantik
gelangten – war mit vielen Wartezeiten,
Zollschranken und anderen zeitraubenden Hindernissen
verbunden, ganz zu schweigen von der
Mühsal der Überfahrt per Segelschiff.
Joggi Thommen, Conestoga Pennsylvania 1736: «Wir
haben fast alle Kranckheiten müssen ausstehen auf dem
Meer. Es geht sehr unlustig zu in Essen und Trincken.
Und die Schiffleuth halten nicht, wass sie versprochen.
Man muss sich selbs versehen mit Brot, Wein, Mähl,
dürrem Zeug und Zuckher. (...) Ich darff Niemand rathen
zu kommen, wegen denen vielen Anstössen auf der
Rayss».*
Die Fortschritte der Technik ermöglichten im 19.
Jahrhundert zunehmend schnelleres und bequemeres
Reisen. 1864 fuhren Reisende mit der Eisenbahn
in 40 Stunden von Basel nach Le Havre, früher
brauchten sie für dieselbe Strecke 20 – 25
Tage. Die ersten Dampfschiffe über den Atlantik
kamen zwar schon um 1820 herum zum Einsatz,
aber erst eine auf den Personentransport spezialisierte
Bauweise führte nach 1870 dazu, dass Ozeandampfer
die Segelschiffe mehr und mehr verdrängten.
1880 betrug die mittlere Reisedauer nur
noch 8 Tage, 1900 nur noch 5 – 6 Tage. Nicht nur
die Fahrzeit verkürzte sich, auch Hygiene und
Verpflegung wurden besser, die Schlaf- und Essquartiere
geräumiger, das Leben an Bord ganz allgemein
immer angenehmer, zumindest für Passagiere
der 1. und 2. Klasse. Zwischendeckpassagiere
mussten sich noch bis zur Jahrhundertwende
mit überfüllten, stickigen und dunklen Räumen
begnügen.
9
10
Vinzenz Godt, Philadelphia 1807: «So sauber die Reisenden
im Sterage sind, so rükt gewöhnlich aus den Schiffunten
eine zahlreiche Besatzung Läuse auf sie hervor;
gegen diese hat sich folgendes Hausmittel wunderthätig
wirksam gezeigt, nemlich Quecksilber so viel möglich in
einem Glas mörschele (zerstampfen), mit Schweinfett
zerriben, und den ganzen leib wöchentlich damit gesalbet.
Um vor der Ausschiffung die Kleider aus dem Fundament
zu reinigen, brauchen die Schiffsleute Urin, und es zeigt
sich, dass dies die kräftigste Lauge ist, womit alles Ungeziefer
und alle Flecken vertrieben werden.»*
Nachrichten, die der Aktualität hinterher hinken:
Ein Brief aus Amerika brauchte nicht selten ein
Jahr, bis er beim Empfänger in der Schweiz anlangte,
und umgekehrt. Zwischen dem Versand
eines Briefes aus Amerika in die Schweiz und
dem Erhalt einer Antwort aus der Heimat konnten
bis zu zwei Jahre vergehen. Wer aufgrund einer
hoffnungsvollen Nachricht in die Neue Welt
reiste, traf vielleicht ganz andere als die im Brief
geschilderten Umstände an. Hie und da griffen
die Behörden ein. So ermächtigte der Berner Stadtrat
um 1752 die Polizei, Briefe aus Pennsylvanien
zu öffnen und abzuschreiben, bevor man sie den
Empfängern zustellte. Darin enthaltene schlechte
Nachrichten wurden vereinzelt im Kalender abgedruckt,
zur Abschreckung auswanderungswilliger
Leute.
Aus einem nicht namentlich gezeichneten Brief aus
Pennsylvanien, abgedruckt im Hinckenden Bott 1753:
«Auch ist dieses Land nicht so gut wie die Neuländer
(Werber) gesagt haben. Was gut ist, ist schon bewohnet,
und im übrigen alles theuer im Preiss: denn man gibt
einem eben so wenig etwas umsonst als in der Schweitz.
Wer in seinem Heymath nichts nutz ist, wird hier in
Pensylvanien noch schlimmer; es hat aber Gute und Böse
unter uns»**
Die Berichte, die Schweizer aus Amerika nach
Hause schrieben, klingen zuweilen wie Szenen aus
einem Krimi.
Auguste Lenz, Spring Texas, 1877: «13. Mai. Unsere Negerin
ist gerade hereingekommen, völlig ausser sich und o
blass, wie ihre dunkle Hautfarbe es zulässt. Sie war im
yard (Lager), um Holz zu holen.»
«Oh Meister, bitte kommt, habt ihr die Hunde gesehen?»
«Nein, was gibt es wieder Neues?»
«Oh Meister, seht Euch nur die arme Fine an!»
«Ich laufe zum yard und finde unsere beiden Hunde leblos
hingestreckt; sie sind vergiftet.»**
Europa auf Expansionskurs: Die Geschichte der
schweizerischen Auswanderung nach Amerika
ist für den aus der Innerschweiz stammenden,
1959 nach USA emigrierten Historiker Leo Schelbert
ein Musterbeispiel dessen, was er als europäische
Expansion bezeichnet. Was immer in Europa
oder durch Europäer in der Welt passierte, immer
seien auch Schweizer involviert gewesen. Die um
1488 geglückte Umschiffung Afrikas, die damit
verbundene Erschliessung Asiens auf dem Seeweg,
vor allem aber die Entdeckung eines den Europäern
unbekannten Doppelkontinentes jenseits
des Atlantiks ab 1492 löste einen gigantischen Expansionsprozess
aus. Gegen 70 Millionen Menschen
europäischer Herkunft strömten in die neuen
Kontinente. Westeuropa – um 1450 noch ein
Zipfel Eurasiens – reichte um 1900 in alle Teile der
Welt. Ein unerhört kreativer, aber auch ein unerhört
zerstörerischer Prozess, ruft Leo Schelbert
den Preis dieser Invasion in Erinnerung, die Dezimierung
einheimischer Völker durch Waffengewalt
und eingeschleppte Krankheiten.
Bis 1790 sollen sich etwa 25000 Schweizer an der
nordamerikanischen Ostküste angesiedelt haben,
nochmals soviele sind zwischen 1790 und 1860
eingewandert. Auch in den grossen Städten liessen
sich Schweizer nieder. Im Jahre 1890 zählte
man 6355 Schweizer in New York City, 2262 in
Chicago und 1696 in San Francisco. Um 1920 herum
erreichte die schweizerische Präsenz mit
376000 Personen – davon 257000 in Amerika geborene
Kinder – ihren zahlenmässigen Höhepunkt.
Klischee des armen Einwanderers: Dass nur arme
Leute aus der Schweiz nach Amerika ausgewandert
seien, ist laut Schelbert ein weitverbreitetes
Klischee, das nicht den Tatsachen entspricht. Die
Einwanderungswelt schliesse alle ein, Reiche und
Arme, Mächtige und Machtlose, solche, die fliehen
mussten, und solche, die Karriere machten.
Zu letzteren zählt er etwa den Ingenieur Othmar
Ammann aus Feuerthalen, Kanton Zürich. Er hat
in New York nicht nur die fünf Brücken gebaut,
sondern gleichzeitig ein neues Verkehrskonzept
für das Auto entwickelt und so das Stadtbild entscheidend
geprägt.
Vielfältige und je nach Ort ganz unterschiedliche
Gründe konnten zur Auswanderung führen. So
steht etwa die sprunghafte Zunahme der Auswanderung
aus dem Glarnerland nach 1840 in direktem
Zusammenhang mit der Industrialisierung.
Maschinengewebte Textilien aus England
überschwemmten damals den europäischen Markt
und führten zum Zusammenbruch der in dieser
Region verbreiteten Handweberei. Dass Glarner
Auswanderer im Jahre 1845 die ganze Strecke von
ihrem Tal aus über Linthkanal, Zürichsee, Limmat,
Rhein, Nordsee und Atlantik bis nach Baltimore
in Nordamerika auf dem Wasserweg zurückgelegt
haben, ist aus heutiger Sicht erstaunlich.
Nicht alle Einwanderer suchten in den USA eine
neue Heimat. Etwa ein Drittel bis die Hälfte von
ihnen kehrte wieder ins Herkunftsland zurück.
Viele kamen in der Hoffnung auf lukrative Arbeit
und schnellen Gewinn, der eine sorgenfreie Zukunft
in der Heimat ermöglichen sollte. Wer sich
im Solddienst verdingte, genoss wenig Ansehen.
Schweizer Bote, 4. März 1824: «Es sind Anwerbungen
in ausländischen Kriegsdienst viel schädlicher, als Auswanderungen
von Familien ... Die wenigsten bringen kaum
ihr Leben heim. (...) Und die, die zurückkehren, was bringen
sie? Meistens Armuth, lahme Glieder, Faulheit, Taugenichtssereien.
So eine alte Kriegsgurgel hat das Arbeiten
verlernt.»*
Vier unterschiedliche Wanderungstypen: Leo
Schelbert unterscheidet zwischen Wanderungen
in militärischer, beruflicher oder religiöser Mission
sowie den Siedlungswanderungen. Schweizer
seien in allen vier Kategorien anzutreffen.
Dutzende von Offizieren und ein starkes Kontingent
Soldaten aus der Schweiz dienten zum Beispiel
im Royal American Regiment, das 1756 zum
Schutz der nordamerikanischen Kolonien gebildet
worden war. Es verteidigte die von England besetzten
Territorien gegen die Truppen Frankreichs
und Spaniens, gegen die Einheimischen und gegen
aufständische weisse Kolonisten. Einer der bekanntesten
Offiziere dieses Regiments war der aus
Rolle im Waadtland stammende Henri Bouquet
(1714-1765). Sogar George Washington – 1789 zum
ersten Präsidenten der USA ernannt – habe unter
ihm dienen müssen, schmunzelt Leo Schelbert.
Unter Bouquets Führung gelang ein entscheidender
Sieg über die indianischen Truppen, der den
Kolonisten den Weg über die Appalachen in die
fruchtbaren Ebenen des Ohio-Flusses öffnete.
Andere Schweizer schlugen sich mit den verschiedensten
Beschäftigungen durch. Sie stellten Werkzeuge
her, arbeiteten als Schuster, Schreiner, Gastwirte,
wuschen Gold in kalifornischen Flüssen,
arbeiteten in den Kupferminen des Nordens, waren
als Handelsagenten unterwegs. Wieder andere
kamen nach Amerika, um der Verfolgung zu entgehen,
die bestimmte religiöse Gruppierungen im
Heimatland bedrohte, oder um in missionarischer
Absicht Glaubensgemeinschaften zu gründen.
Pater Martin Marti, St. Meinrad Indiana 1861: «Es
machte sich von selbst, dass neue Einwanderer sowohl
als auch schon länger in Amerika’s Städten ansässige
Katholiken einem Punkte sich zuwandten, wo durch einen
religiösen Orden ihnen und ihren Nachkommen ihr theuerstes
Besitzthum gesichert erschien. In kurzer Zeit daher
stieg der Preis hiesiger Ländereien um ein Bedeutendes ...
und der allgemeine Wohlstand hob sich in einer Weise,
dass die ganze Strecke unseres Missionsbezirkes als ein
der katholischen Kirche gänzlich und für immer erobertes
Gebiet angesehen werden muss.»**
Siedler für die Indianer am gefährlichsten: Für
die Ausdehnung der europäischen Herrschaft
nach Amerika die effektivste, für die einheimischen
Völker aber schädlichste Kategorie von Migranten
waren laut Leo Schelbert die Siedler. Im
Gegensatz zu den Franzosen, die in Nordamerika
vor allem Handelsinteressen verfolgten, strebten
die Briten ein Siedlungsimperium an.
Aus einer Bittschrift der Berner von Graffenried und
Michel 1709 an die englische Königin: «Wir erbieten uns,
dieses Land im Lauf der Zeit durch die Mühe und den
Fleiss unserer guten Arbeiter in solchem Ausmasse zu
verbessern, dass die Krone einen erheblichen Nutzen aus
ihm wird ziehen können, während gegenwärtig nichts
von ihm gewonnen wird.»*
Eine kleine Elite hatte Zehntausende Quadratmeilen
Land erworben. Doch Land wird erst wertvoll,
wenn es besiedelt ist. Also verpachteten oder verkauften
die Grossgrundbesitzer Land parzellenweise
an Siedler weiter. Der Anspruch der Weissen
auf Land als Privateigentum läuft dem indianischem
Verständnis von Land, auf dem der Mensch
nur ein Nutzungsrecht geniesst, diametral entgegen.
‹Indian troubles› nannten die Siedler die
Scharmützel, die sie durch die Vertreibung der Einheimischen
selber hervorriefen.
Kaspar Köpfli, New Switzerland Illinois 1831: «Damit
aber künftig die Pflanzer nicht mehr an ihren Feldarbeiten
gestört werden, sind letzten Herbst viele Compagnien
Freiwilliger auf ein Jahr geworben worden, um die Grenzen
gegen das wilde Gesindel (Indianer) zu beschützen.»*
Der Aufbau der amerikanischen Nation werde immer
als einziger grosser Triumph dargestellt. Als
Leo Schelbert in New York City amerikanische Geschichte
studierte, war das nicht anders. Die Indianer
seien im dicken Lehrbuch, das er durcharbeiten
musste, auf knapp eineinhalb Seiten
abgehandelt worden. Die Kehrseite des Aufbaus,
der Genozid an den einheimischen Völkern, werde
ignoriert. Vor der Ankunft der Europäer sollen
etwa acht, nach anderen Quellen sogar zwölf Millionen
Menschen in Amerika gelebt haben. Um
1890 zählte die indianische Bevölkerung noch
ganze 220000 Menschen, darunter viele Mischlinge.
Von 1971 bis 1999 lehrte Leo Schelbert – 1979 zum
Professor ernannt – an der University of Illinois in
Chicago Einwanderungsgeschichte. Die Einwanderer
aus der Schweiz seien für die amerikanische
11
Lyss/Bern, Schweiz
Bern/Kansas, USA
14
Geschichte und auch für seine Lehrtätigkeit von
marginaler Bedeutung gewesen. Sie dienten und
dienen dem Forscher aber immer wieder als Testfeld,
um seine Thesen zu überprüfen.
Wanderungsgeschichte aus neuer Perspektive:
Während über dreissig Jahren unterrichtete er
College- und vor allem Graduate-Studierende. «Da
konnte ich ein Gegenmodell lehren», staunt er heute
noch über die Freiheit, die man ihm als Ausländer
zugestand. Nach diesem Modell sind in die
amerikanische Geschichte ab 1600 drei grundverschiedene
Gruppen gleichwertig einzubauen: die
indianische Welt, die Welt der europäischen Invasoren
und die afrikanische Welt, die als Sklaven
nach Amerika deportierten Afrikanerinnen und
Afrikaner.
Guillaume Merle d’Aubigné, Charleston South Carolina
1816: «Das einzige was mich abstösst ist die Sklaverei,
die hier allgemein betrieben wird. (...) Sie werden auf
Tischen ausgestellt, wo jeder sie untersuchen kann & sie
werden an den Meistbietenden verkauft, oft zusammen
mit Pferden – Ochsen & anderm Vieh.»**
Später kam noch die asiatische Welt hinzu, die
vielen Tausend Chinesen, die als billige Arbeitskräfte
für den Bau der Eisenbahnen und ähnliche
Projekte in die USA geholt wurden. «Wir müssen
die Geschichte neu reflektieren», ist Leo Schelbert
überzeugt, «und die Perspektive aller Betroffenen einbeziehen.»
Statt von Auswanderungsgeschichte redet er lieber
von Wanderungsgeschichte. Einwanderung,
Auswanderung und interne Wanderung begreift
er als zusammenhängende Phänomene. Auch im
Hinblick auf sein Herkunftsland. Neben der 5.
Schweiz – den Ausgewanderten – habe es auch die
6. Schweiz schon immer gegeben, sagt er. Neu sei
nur, dass die Einwanderer heute anderen Kulturkreisen
und Religionen entstammten als früher.
Zwischen 1850 und 1914, einer Phase besonders intensiver
Emigration, seien schätzungsweise 410000
Personen aus der Schweiz ausgewandert. Im gleichen
Zeitraum sollen 409000 Personen in die
Schweiz eingewandert sein.
Seit 1999 ist Leo Schelbert emeritierter Professor.
Doch die Arbeit geht dem 77jährigen nicht aus.
Zur Zeit schreibt er an den letzten Seiten des Historical
Dictionnary of Switzerland, der ein Gesamtbild
der Schweiz vermitteln soll und demnächst
bei Scarecrow Press erscheint. Für dieses Lexikon
verfasste er 26 mehrseitige Kantonsskizzen, etwa
zweihundert Einträge zu wichtigen Institutionen
und historischen Ereignissen sowie rund hundert
Kurzporträts von Schweizer Persönlichkeiten, von
der wissenschaftlichen Zeichnerin und Insekten-
forscherin Maria Sybilla Merian bis zu dem in Genf
lebenden Philosophen und Islamwissenschaftler
Tarik Ramadan. ¬
Leo Schelbert, geboren 1929 in Kaltbrunn in der Schweiz, kam
1959 nach Amerika, studierte in New York City und promovierte
1966 an der Columbia University in amerikanischer Geschichte.
Von 1963 bis 1969 folgte ein Lehrauftrag an der Rutgers University
in Newark, New Jersey. 1970–1971 Rückkehr in die Schweiz,
Forschungsauftrag zur Schweizer Auswanderungsgeschichte.
1971–1999 Lehrstuhl für Einwanderungsgeschichte an der University
of Illinois in Chicago. Er ist Autor und Herausgeber von
zahlreichen Büchern und Texten. Leo Schelbert erhielt den diesjährigen
Auslandschweizer-Preis der FDP International.
Die Zitate in diesem Artikel sind folgenden Werken entnommen:
* Leo Schelbert: Einführung in die schweizerische Auswanderungsgeschichte
der Neuzeit, Verlag Leemann, Zürich 1976
** Leo Schelbert und Hedwig Rappolt (Hrsg.): Alles ist ganz anders
hier – Auswandererschicksale in Briefen aus zwei Jahrhunderten,
Walter-Verlag Olten, 1977
Die Ethnologin Ines Anselmi arbeitet als Projektleiterin bei
Pro Helvetia. Sie koordiniert das Swiss Roots-Kulturprogramm,
das 2006 in verschiedenen Städten der USA durchgeführt
wird.
Zürich – Manhattan – Long Island Mit Garance am Strand
Sacha Verna im Gespräch mit der
Schweizer Künstlerin Garance
Garance
Foto: Werner Gadlinger
Die Schweizer Künstlerin Garance lebt und arbeitet seit zwanzig Jahren in den Vereinigten Staaten. Ein Gespräch
über Ratten in Manhattan, Geld auf der Strasse und Schweizer Schokolade ❙
Garance lebt mit ihrem Mann, dem Häuserbauer
Vadoo Werthmüller, einem Hund und drei Papageien
in New Suffolk, Long Island. Ihr Haus liegt
nur wenige Schritte vom Strand entfernt. Der ehemalige
Supermarkt, den Garance und ihr Mann
eigenhändig umgebaut haben, besteht aus hellen,
luftigen Räumen. Es gibt Gästebetten, die fast
immer belegt sind, und eine riesige Küche, aus
der regelmässig umfangreiche Tischgesellschaften
verköstigt werden. Die vielen Fenster von Garances
grosszügigem Studio gehen direkt auf einen
Garten hinaus, der im Sommer so üppig sein
muss wie ein Dschungel. Garance, die ihr Alter
vornehm verschweigt, ist in Zürich geboren und
aufgewachsen. Die ausgebildete Schauspielerin
zeigt ihre Bilder, Arbeiten auf Papier und ihre Objekte
seit Anfang der siebziger Jahre regelmässig
in Ausstellungen, sowohl in Galerien und Institutionen
in Europa und Amerika.
Sacha Verna: Weshalb sind Sie 1985 nach New York
gezogen?
Garance: Ich lebte in Zürich und war gerade von
einem Aufenthalt in Paris zurückgekommen, als
ich den Bescheid erhielt, ich hätte das Stipendium
für ein halbes Jahr im Loft der Stadt Zürich
in New York gewonnen. Die Freude war natürlich
riesig. Aber mir machte die Sache auch ein bisschen
Angst. Ich war vorher noch nie so weit weg
gewesen. Das erzählte ich einem Freund von mir,
einem Sammler, und der lud mich und meinen
damaligen Freund Vadoo daraufhin ein, mit dem
Schiff nach New York zu fahren.
Um sich der fremden Stadt langsam anzunähern?
Genau. Die Überfahrt auf der Queen Elizabeth dauerte
fünfeinhalb Tage, einen gewaltigen Sturm in-
klusiv. Das war gerade Zeit genug, sich alles auf
dem Schiff anzuschauen. Ich bin ja sonst kein
Kreuzfahrtstyp. Das Einlaufen in den Hafen von
New York war spektakulär. Wir sind hoch oben
auf der Reling gestanden und hatten die Freiheitsstatue
und das World Trade Center praktisch
vor unserer Nase. Aber als wir uns auf dem festen
Boden befanden, merkten wir schon, wie gigantisch
die Häuser sind.
Wurden Sie abgeholt?
Nein, wir kannten keinen Menschen in New York.
Wir hatten die Adresse des Ateliers und weiter
nichts. Nicht einmal einen Schlüssel. Wir fanden
das Loft am West Broadway und klingelten halt
überall. Im Parterre befand sich eine Weinhandlung,
deren Besitzer uns schliesslich einen Schlüssel
gab und sagte, wir sollten es mal im fünften
Stock versuchen. Mit dem Lift fuhren wir hinauf,
probierten den Schlüssel, die Tür ging auf, und
wir waren drin. Toll.
Was waren Ihre ersten Eindrücke von New York?
Leider ist man ja beeinflusst von all dem, was einem
bereits über New York erzählt worden ist. Die
einen sagen, es sei die beste Stadt der Welt. Die
anderen sagen, es sei die gefährlichste Stadt der
Welt und man müsse ungeheuer aufpassen. Deshalb
haben wir am Anfang wie Tiere unser Revier
immer ein bisschen vergrössert. Zuerst sind wir
zur Houston Street vorgedrungen, dann nach Little
Italy, Chinatown. Wir entdeckten Bars und Restaurants,
lernten Leute kennen und erlebten New
York als absolut unaggressive Stadt.
Wie muss man sich das Soho von damals vorstellen?
Es war ein Quartier voller junger Leute mit guten
15
Zürich/Zürich, Schweiz
Homewood/Illinois, USA
18
Ideen. Man wagte die verrücktesten Dinge, und
manchmal funktionierten sie, manchmal nicht.
Es gab viele Clubs, grosse und kleine, man war
immer unterwegs bis morgens um vier. Wir waren
dabei, als Andy Warhol und Miles Davis eine
Modeschau für einen japanischen Designer veranstalteten.
Es herrschte eine enorme Energie.
Die Kunstszene in der Schweiz, die Sie verlassen und
in der Sie sich bereits einen Namen gemacht hatten,
war relativ klein und übersichtlich. Kam das grosse
wilde New York da nicht als Schock?
Im Gegenteil. Ich mag Herausforderungen. In der
Schweiz wird man träge, man kommt in einen
Trott hinein. Man hat seine Galerie, seine Sammler,
seine Ausstellungen. Dass mich in New York
niemand kannte, fand ich deshalb super. Ich suchte
und fand auch gleich eine Galerie. Es lief von
Anfang an hervorragend für mich. Ich konnte
neue Beziehungen knüpfen und verkaufte sowohl
an Leute, die mich aus der Schweiz besuchen
kamen, als auch an all jene, die ich hier
kennenlernte. Eines darf man natürlich nicht vergessen:
Es waren die achtziger Jahre. Das Geld lag
auf der Strasse. Den meisten Leuten ging es gut,
vor allem in den Städten. Man kaufte und kaufte
und kaufte.
Beschlossen Sie deshalb, in New York zu bleiben?
Wir hatten unsere Retourtickets bereits kurz nach
unserer Ankunft auf dem West Broadway dem
Wind übergeben – in der Hoffnung, es möge sie
jemand finden, der sich die Schweiz anschauen
möchte. Wir hatten nicht die Absicht, hier zu bleiben,
aber wir wussten, dass wir nicht schon nach
einem halben Jahr wieder in die Schweiz zurückkehren
wollten.
Suchten Sie den Kontakt zu anderen Schweizer Künstlern
hier in New York?
Wer frisch ankommt, will das gar nicht. Man zieht
schliesslich nicht auf der Suche nach Schweizer
Gesellschaft nach New York. Dabei bemüht sich
das Schweizer Konsulat doch so sehr um einen,
wenn man das wünscht. Früher tat es das jedenfalls.
Mindestens vier Mal im Jahr veranstaltete
es grosse Essen, zu welchen es Schweizer
Geschäftsleute und Künstler einlud. Manchmal
entwickelten sich daraus gute Kontakte. Der Botschafter
besuchte einen übrigens auch regelmässig
im Studio.
War es für Sie als Künstlerin in New York je von besonderem
Vorteil oder Nachteil, Schweizerin zu sein?
Weder noch. Hier leben mindestens siebenundzwanzig
Nationen nebeneinander und miteinander
– das lehrt einen Toleranz.
Hat es je die Art beeinflusst, wie man Ihnen begegnet
ist?
Nein. Die meisten Leute sagen sowieso: Ah, Sweden!
Die anderen denken an chocolate und cheese,
und was ist dagegen schon einzuwenden. Die
Tatsache, dass ich in der Schweiz geboren wurde,
hat mit mir als Person und mit meiner Arbeit ja
nicht viel zu tun. Ich habe mich immer von Menschen
inspirieren lassen, sicher nicht von den
Bergen. Nationalitäten und Grenzen spielen für
mich keine Rolle.
Was bewog Sie 1995 dazu, von Manhattan nach Long
Island zu ziehen?
Ich hatte genug. Wir wohnten in verschiedenen
Lofts, grossen Lofts, die wenigstens eine Zeitlang
noch bezahlbar waren. Das letzte war in Chinatown,
einem Viertel, das ich eigentlich mag. Aber
es ist voller Ratten. Als mir eine Nachbarin erzählte,
eine riesige Ratte hätte ihre Katze angegriffen,
sagte ich zu Vadoo: Das war’s. Die Mieten
gehen sowieso immer weiter hinauf, ich will aufs
Land. Ich kannte diese Gegend hier, weil ich die
Sommer häufig bei Freunden in den Hamptons
verbrachte hatte. Das Haus, in dem wir heute leben,
fanden wir eher durch Zufall. Es war ein
leerstehender Supermarkt. Der Umbau dauerte
drei Jahre. Zwei Jahre davon legte ich eine künstlerische
Pause ein.
Was, ausser der Umgebung, war nach der Pause anders?
Ich habe angefangen, dreidimensional zu arbeiten.
Sachen aus Papier und Figuren. Die Lust dazu
kam vermutlich mit dem Hausbauen. Dann der
Garten. Gärtnern ist wie malen. Ich habe hier aus
dem Nichts ein Paradies gezaubert – Bananenbäume,
Hunderte von Lilien. Ich betrachte den
Garten als Teil meiner Arbeit.
Inwiefern veränderte sich Ihre Beziehung zur Schweiz
dadurch, dass Sie in den USA blieben?
Ich habe nach wie vor auch Ausstellungen in der
Schweiz und im übrigen Europa, ungefähr alle
zwei Jahre. Auch andere Projekte – Bühnenbilder
in Wien zum Beispiel. Eines der Highlights der
letzten Jahre war für mich die Einladung für eine
Ausstellung im Museum of Modern Art in Salvador
die Bahia – ein grandioses Erlebnis. Dadurch
lernte ich Brasilien kennen, ein Land, das mich
unglaublich fasziniert hat. Als wir noch in Manhattan
lebten, verkaufte ich natürlich die meisten
Sachen dort. Aber ich habe meine Sammler und
Kunden in Europa nie verloren. Es scheint sogar
ganz gut zu sein, wenn man sich ein bisschen rar
macht. Meine letzte Ausstellung in Zürich bei der
Galerie Esther Hufschmied war jedenfalls praktisch
ausverkauft.
Wie sieht Ihr Kontakt zur gegenwärtigen Kunstszene
in New York aus?
Gegenwärtig? Ich bin ja auch gegenwärtig!
Ja, aber es gibt die Galerien in Chelsea, es gibt Auktionen,
die Staub aufwirbeln, es gibt Stars und Sternchen.
Inwieweit nehmen Sie an diesem Kunstbetrieb
teil?
Eigentlich gar nicht. Die Galerien in Chelsea stellen
heutzutage ja meistens Installationskunst und
Videos aus. Und die Museen zeigen das gleiche.
Ich sehe mir diese Dinge ganz gerne an. Aber für
mich als Künstlerin haben diese Arbeiten keinen
Reiz. Ich mache meine Sachen weiter, ohne mich
von dem Hipe ablenken zu lassen. Ich probiere,
so ehrlich wie möglich zu sein und meine Arbeit
nicht von irgendwelchen Trends abhängig zu machen.
Meine Arbeit bin ich und nicht, was gerade
in ist.
Können Sie davon leben?
In Manhattan konnte ich sehr gut davon leben.
Hier draussen ist alles ein bisschen anders. Das
Geld, mit dem wir die Rechnungen bezahlen, verdient
jetzt mein Mann. Aber ich werde immer
wieder für Ausstellungen in der Umgebung angefragt.
Ich bekomme auch Aufträge aus New York.
Letzten Sommer habe ich ein Bühnenbild für eine
Produktion von Shakespeare in the Park gemacht.
Ausserdem gebe ich Workshops in Monoprinting.
In den USA hat ja fast jeder neben der Kunst
noch einen Brotjob.
Unterscheiden sich die USA in dieser Hinsicht von der
Schweiz?
Nein. Wenn man heute jung ist, lernt man schon
in der Schule, wie man sich verkaufen kann. Wer
als Künstlerin oder Künstler Karriere machen
will, geht an die Kunstgewerbeschule oder an
eine Kunstakademie in Deutschland, und dort
wird das Künstlerdasein gelehrt wie jedes andere
Business. Das ist in Europa genau gleich wie hier
in Amerika. Die Jungen, Erfolgreichen wissen genau,
was sie wollen und wie sie es kriegen können.
Alle übrigen brauchen einen Job oder haben
einen Mann, der sie unterstützt.
Haben Sie in all den Jahren, die Sie jetzt schon hier sind,
je daran gedacht, in die Schweiz zurückzukehren?
Nein. Die kenne ich ja. Ich war lange genug dort.
Aber es ist nicht etwa so, dass ich die Schweiz
nicht mehr mag. Ich besuche sehr gerne meine
Freunde dort und liebe die gute Schokolade. Ich
schätze die Schweiz sogar mehr, je länger ich weg
bin. Nur bin ich halt auch froh, wenn ich wieder
gehen und hierher zurückkommen kann. Wenn
ich Heimweh habe, dann nach Italien oder nach
Frankreich. Und sollte ich wirklich noch einmal
auswandern, dann nach Südamerika. Brasilien
oder Mexico.
Besteht denn die Chance, dass Sie nochmals auswandern?
Warum nicht? Solange ich irgendwo ein Atelier
habe, ist es mir wohl. Wo, ist mir egal. Ich möchte
einfach nicht in den Norden. Dort ist es mir zu
kalt. Ich brauche Sonne und Wärme. ¬
Sacha Verna lebt und arbeitet als Kulturjournalistin in New York.
Website Garance: www.garancestudio.com
19
«Nehmen Sie Ihre verfluchte Hand weg»
Die Filme der Gebrüder Dubini zu Thomas Pynchon, Jean Seberg und Hedy Lamarr
Jean Willi Die Brüder Fosco und Donatello Dubini sind schon seit einiger Zeit mit ihrer Filmkamera unterwegs. Vielfach auf
Fosco und Donatello Dubini
Foto: F&D Dubini
20
Spurensuche in Amerika, durch die Tiefen seiner Manien und Mythen. Der Schriftsteller Jean Willi hat sich auf ihre
Fährte gesetzt. Und entdeckt in ihren Arbeiten den an Thomas Pynchons Romanwerk geschulten Blick. Film ab ❙
A journey into the mind of P.: New York. Eine
Strasse. Ein Baumstamm, angeschnitten. Die graue
Kleidung eines Mannes, der sich von rechts nach
links bewegt, eine rote Basketballmütze. Die Figur
geht aus dem Bild, der Baumstamm verschwindet,
das Grau der Strasse wird breiter. Parkierte
Autos. Fahlgelb die unterbrochene Mittellinie der
Strasse. Jetzt ein Lichteinfall. Die Kamera holt die
Figur für den Bruchteil einer Sekunde zurück. Ein
blasses Gesicht, ein vor Schreck geöffneter Mund,
opalisierende Brillengläser. Dann ist der Spuk vorbei.
«Er wusste, wenn er sich vor der Welt versteckt, könnte
jemand versuchen, ihn zu finden», erklärt Richard
Lane, Webmaster und Cutter bei NBC.
Vierzig Jahre dauert die Suche, bis James Bone,
Korrespondent der London Times in New York,
Thomas Pynchon ausfindig macht und ein Foto
des grossen Unsichtbaren schiesst. Bone hat die
Kamera seiner Frau eingesteckt und gewartet. «Es
war ein sonniger Tag in der Upper West Side», erzählt
er. «Plötzlich war da dieser Sechzigjährige. Gross, eckig,
fast pantomimenhaft. Die Arme ruderten wie Windmühlen.»
Bone sieht diese Begegnung als das Ende einer
langen Geschichte, Höhepunkt eines Spiels, das
Jahre dauert: Die Jagd auf Pynchons Foto und dessen
Versuch, es zu verhindern. Bone will die einzigartige
Möglichkeit nicht verpassen, Pynchon
zu Wort kommen zu lassen. Er steckt die Kamera
ein und hält ihm die Hand hin, wie man es, meint
er, am Ende eines Fussballspiels täte. «Nehmen Sie
Ihre verfluchte Hand weg», sagt der Mann. «Ich mag
Leute nicht, die mich fotografieren.»
Das unscharfe Foto zeigt einen älteren Mann, die
Kapuze des Parkas hochgeschlagen. Neben ihm ein
Junge, dessen Hand er hält. Jules Siegel, ein früherer
Freund Pynchons aus der gemeinsamen Studienzeit
in Ithaca, der 1977 das kollektive Schweigen
bricht und im Playboy einen Artikel über den
Autor veröffentlicht, äussert Zweifel, dass es sich
bei dem Abgebildeten um Pynchon handelt. Richard
Lane ist sich hingegen sicher. Vor allem, als
er das Bild mit den Filmaufnahmen vergleicht, die
einem CNN-Team gelingen, nachdem James Bone
es vorgemacht und das Tabu gebrochen hat.
Lanes eingehende Sichtung dieses von der CNN
hergestellten Films ist Teil eines anderen Films,
der Film im Film die Kulmination eines von Fosco
und Donatello Dubini gedrehten: Thomas Pynchon
– A journey into the mind of P. Der Titel des Films
geht auf einen am 12. Juni 1966 im New York Times
Magazin veröffentlichten Artikel über die Rassenunruhen
in Watts zurück: A Journey into the Mind
of Watts.
Die Schweizer Filmautoren Fosco und Donatello
Dubini, 1954/1955 geboren, entstammen einer italienisch
sprechenden Familie aus dem Tessin und
gehen in Zürich und in Schwyz zur Schule. Sie sind
Teil einer Generation, die stark durch die deutsche
und die amerikanische Kultur geprägt wird.
Es sind vor allem amerikanische Filme, die sie sehen,
sie lesen amerikanische Autoren, hören Musik,
englischer oder amerikanischer Herkunft. «Unsere
Eltern sprachen noch kein Englisch», sagt Fosco
Dubini, «während wir uns über diese Sprache definierten.»
Das Triviale in Verbindungen mit elitären Kunstformen,
die Vermischung von Realität und kreativem
Prozess, das Einbeziehen der Massenmedien,
der Werbung, die Pop-Art schlechthin sind
Anstösse, die von den Brüdern früh aufgefangen
werden. Dabei hat die amerikanische Kultur einen
zentralen Stellenwert in ihrem Leben und
zunehmend auch in ihrem Schaffen, was anhand
ihrer Filme, von denen ein Drittel amerikanische
Themen aufgreift, zum Ausdruck kommt.
Ihre Auseinandersetzung mit Pynchon hat – abgesehen
davon, dass Tyrone Slothrop, die Hauptfigur
in Pynchons Roman Gravity’s Rainbow (Die
Enden der Parabel, dt. 1981), sich darin auch in Zürich
herumtreibt, im Niederdorf wohnt, die Kronenhalle
und das Odeon aufsucht und im Café Sträggeli «auf
einer Bratwurst und einer Rinde Brot herumkaut» –
eine längere Vorgeschichte. Sie beginnt Ende der
Siebzigerjahre, als sie bei Recherchen zu einem
Film über den Nato-Doppelbeschluss (Blindgänger)
Pynchons 1973 erschienen Roman genauer unter
die Lupe nehmen und das Buch, im wörtlichen
Sinn, von hinten nach vorne lesen. Der Nato-
Doppelbeschluss sieht die Stationierung von mobilen
amerikanischen Mittelstreckenraketen in
Europa vor, um damit das nukleare Gleichgewicht
des Schreckens durch Nachrüstung wiederherzustellen.
Slothrop durchstreift – neben Genf und Zürich –
vor allem das zerbombte Deutschland auf der Suche
nach der sagenhaften V2-Rakete (Vergeltungswaffe
2), die gegen Ende des Krieges in der
unterirdischen Raketenfabrik «Mittelwerk» fabriziert
wird. Hunderte seltsamer Gestalten bevölkern
den Roman, tauchen auf, verschwinden,
tauchen unerwartet wieder auf – oder auch nicht.
Sie heissen Rippenstoss, Achtfaden, Ochsenaugen
und Sanktwolke, Oberst Enzian und sein
Halbbruder Vaslav Tschitscherine, die Gebrüder
van der Groov – es würde nicht erstaunen, die
Dubini Brothers darunter zu finden.
«Jeder Sonderling auf dieser Welt ist auf meiner Wellenlänge»,
sagt Pynchon.
Pychons geheimnisvolle Anonymität bewirkt, dass
Personen, die sich mit ihm und seinen Büchern
auseinandersetzen, zu Protagonisten einer Story
werden, bei der Pynchon aus dem Dunkeln heraus
die Fäden zu ziehen scheint. Da er nicht antwortet,
wird alles, was über ihn gesagt wird, Teil
einer Mega-Story, die sich aus den Pynchon-Themen
wie Paranoia, Geheimorganisationen, Kabbala,
pawlowscher Konditionierung, Verschwörungstheorien
und dem Zauberer von Oz zusammensetzt
und Namen wie Orwell, Rilke, Joyce und
die Simpsons mit ins Spiel bringt. Eine über die
Buchseiten weit hinausreichende Geschichte, in
der Fiktion und Realität nicht mehr zu unterscheiden
sind.
«Donatello glaubt, Pynchon gesehen zu haben, als wir in
New York drehten», erzählt Fosco. «Man dreht sich um,
blickt Passanten nach, verfolgt Gerüchte, die einen Delikatessenladen
betreffen, in dem Pynchon einkaufen soll,
wartet dort. War er das, der gerade um die Ecke bog?»
Verfolgungswahn kann beim Paranoiker zu Erfahrungen
führen, die Koinzidenzen genannt wer-
21
22
den. Es handelt sich um Zufälle, die Zusammenhänge
schaffen oder als solche sichtbar machen.
Im September 1963 reisen Thomas Pynchon und
Lee Harvey Oswald nach Mexiko City. Pynchon
kommt von der Hochzeitsfeier seines Freundes
Richard Fariña mit Mimi Baez, die am 24. August
im Hause von Joan Baez in Portola Valley stattfindet.
Er fährt nach Hause, Oswald zu einem Treffen
mit dem kubanischen Geheimdienst G-2 in der
kubanischen Botschaft, wo er laut Wilfried Huismann
(Rendezvous mit dem Tod) den Auftrag erhält,
John F. Kennedy zu erschiessen. Sitzen Pynchon
und Oswald im gleichen Bus?
«Ist das eines der Geheimnisse?» fragt Richard Lane.
«Haben sie sich unterhalten?»
Mitte der Sechzigerjahre wohnt Pynchon in Al
Porto in Manhattan Beach, einer Kleinstadt am
Pazifik in der Nähe von Los Angeles. Chrissie Wexler,
die frühere Frau von Jules Siegel, die damals
ein Verhältnis mit Pynchon hat, erinnert sich: «Im
Sommer ist er morgens hier an den Strand gegangen
und zwei, drei Stunden geblieben. Das Verrückte ist,
dass seine Haut trotzdem weiss blieb. Wir haben am
Strand gesessen und über den Vietnamkrieg gesprochen.»
Jean Seberg – American Actress: «Ein seltsamer
Zufall will es», erzählt Fosco Dubini, «dass sich zur
selben Zeit zwei andere Protagonisten aus Filmen von
uns in dieser Gegend aufhalten: Jean Seberg und Hedy
Lamarr.»
Jean Seberg – American Actress, von Donatello und
Fosco Dubini, Deutschland/Schweiz, 1995, schildert
die Tragödie eines Lebens, in dem Fiktion
und Wirklichkeit nicht mehr unterschieden werden.
Die Schauspielerin wird am 8. September
1979 in einem weissen Renault 5 von der Pariser
Gendarmerie gefunden, vollgepumpt mit Nebutal
und Alkohol, 7,94 Promille, tot. Nach der Obduktion
steht fest, dass sie Tabletten geschluckt und
Whisky getrunken hat:
«Dieser selbstgebraute Todescocktail vergiftete sie», erklärt
der Arzt. Zehn Tage vorher verlässt Jean Seberg
nachts ihre Wohnung und bleibt verschwunden.
Im Wagen werden keine leeren Flaschen gefunden.
Es gibt Vermutungen, der Alkohol könnte
injiziert worden sein. Romain Gary, ihr ehemaliger
Ehemann, beschuldigt das FBI, an ihrem Tod
mitschuldig zu sein. Anderen Stimmen zufolge
hätten Agenten des französischen Geheimdienstes
sie wegen Kontakten zum algerischen Widerstand
getötet. Die perfekte Ingredienz zur Legendenbildung,
basierend auf einer Verschwörungstheorie,
die derart naheliegend ist, dass Pynchon
sie vermutlich als Fiktion abtäte.
Tatsache ist, dass das FBI 1970 eine Schmutzkampagne
gegen die Schauspielerin einleitet und mit
Hilfe von Newsweek das Gerücht verbreitet, sie
sei von einem Anführer der Black Panther Party
schwanger. Jean Seberg erleidet einen Nervenzusammenbruch
und verliert ihr Kind, das sie am
Tag seiner Beerdigung in einem gläsernen Sarg
der Öffentlichkeit vorführt: Es ist weiss. Seit die
Schauspielerin schwarzen Bürgerrechtsaktivisten
Asyl gewährt, gilt sie als Staatsfeindin. Ihr Telefon
wird abgehört, sie wird Tag und Nacht beschattet,
eine 300 Seiten starke Akte mit dem Codenamen
Arisa wird erstellt. Alles Gründe, die eine Verschwörung
nicht unbedingt als paranoides Hirngespinst
und das Untertauchen eines Autors, der
sich in seinen Büchern mit totalitären Systemen
und deren Vorgehensweisen auseinandersetzt,
als Vorsichtsmassnahme sinnvoll erscheinen lassen.
Hedy Lamarr – The Secret of a Hollywoodstar,von
Donatello und Fosco Dubini und Barbara Obermaier
(Deutschland/Schweiz/Kanada, 2006) zeichnet
das Porträt einer Schauspielerin, die als erste
Nackte der Filmgeschichte berühmt wird und als
«schönste Frau des Jahrhunderts» auf eine kometenhafte
Karriere in Hollywood zurückblickt, bis sie
einsam und vergessen stirbt. 1914 in Wien als
Tochter eines Bankiers geboren, heiratet sie mit
19 Jahren den Industriellen Fritz Mandl, ein Jude,
der mit den Nazis Geschäfte macht und ihr das
Filmen kurzerhand verbietet. Vier Jahre nach der
Eheschliessung verlässt sie Mandl und flieht nach
Paris, nachdem sie ihn und seine französische
Zofe, die ihr nachspionieren soll, mit Drogen ausser
Gefecht setzt. Louis B. Mayer entdeckt sie und
ändert ihren Namen (Hedwig Eva Maria Kiesler)
in Hedy Lamarr um, eine Hommage an die 1926
an einer Überdosis Drogen gestorbene Filmdiva:
Barbara La Marr.
Im Sommer 1940 macht sie in Hollywood die Bekanntschaft
ihres Nachbarn: George Antheil, dessen
Konzerte nicht selten in Saalschlachten enden.
Antheil, der in Paris in den Kreisen um Satie,
Cocteau, Joyce und Picasso verkehrt und der sich
selbst als «bad boy of music» bezeichnet, soll ihr
Fragen zu den Themen Drüsen und Brustvergrösserung
beantworten. Ein von ihm verfasstes Buch
mit dem Titel Every man his own detective: a study
of glandular endocrinology weckt ihr Interesse und
wird zum Anlass für diese Begegnung. Im Laufe
des Gesprächs kommt man auf den Krieg und verschiedene
Waffensysteme zu sprechen. Hedy Lamarr
erwähnt, dass sie mit dem Gedanken spiele,
MGM zu verlassen und nach Washington, D.C., zu
ziehen, wo sie einem Erfinderrat beitreten will.
Diese Begegnung und die daran anschliessende
Zusammenarbeit zwischen den beiden führt innerhalb
kurzer Zeit zu einer erstaunlichen Erfin-
Little Switzerland/North Carolina, USA Arlesheim/Basel-Land, Schweiz
24
dung, einer Funksteuerung für Torpedos, bei der
das Steuerungssignal über mehrere Frequenzen
verteilt und dadurch vor feindlichen Störungen
sicher ist. Eine Erfindung, die Technologien wie
Mobiltelefon und Satellitenkommunikation vorwegnimmt.
1962 kommt das System während der
Kubablockade zum Einsatz.
Hedy Lamarr spielt in über 30 Filmen, darunter
Tortilla Flat, Algiers, White Cargo; ihr erfolgreichster:
Cecil B. DeMilles Samson und Delilah, ihr letzter:
Instant Karma. Die Hauptrolle in Casablanca
lehnt sie ab.
«Als ‹Weisse Fracht› wird Hedy Lamarr im Film wie
im Leben ein von Hollywood geschaffenes Vehikel von
Wünschen, Träumen und erotischen Projektionen. Sie
vermischt beständig Fiktion, Realität, ihre Rollen und
ihr Leben als dauernde Irreführung», erklärt Barbara
Obermaier, Mitregisseurin beim Lamarr-Film.
Koinzidenzen und Synchronizität: Und genau dieses
Vermischen von Fiktion und Realität treibt
Pynchon auf die Spitze, das Vertauschen von Rollen,
die Irreführung der Öffentlichkeit. Die Collagetechnik,
die der Autor in seinen Büchern anwendet,
das Zusammentragen von Bezügen, die
dadurch als solche erkannt werden und entstehen,
die Art, den Dingen auf die Spur zu kommen,
die hinter dem Sichtbaren lauern, bestimmt
auch die Arbeitsweise der Schweizer Dubini Brothers.
Dadurch werden ihre Filme zu selbstständigen
Werken, die stets eine weiterführende, das
Thema transzendierende und keine kommentierende
Funktion haben.
Allen drei Protagonisten ihrer Filme gemeinsam
ist etwas, was jeden Freund von Koinzidenzen
stutzen lässt, weil er dahinter das von John C. Lilly
beschriebene CCCC oder Cosmic Coincidence Controll
Center vermutet. Scheinbar zufällig taucht bei
jedem der hier angeführten Protagonisten eine
Farbe auf, die in Wirklichkeit keine Farbe, sondern
die Summe aller Farben ist: Weiss. Chrissie
Wexler erinnert sich und findet es verrückt, dass
Pynchons Haut, trotz täglichem Strandbesuch,
weiss bleibt. Jean Seberg sieht sich bei der Beerdigung
ihres totgeborenen Kindes gezwungen, den
traurigen Beweis antreten zu müssen, dass ihr
Kind weiss ist. Hedy Lamarrs Beitrag zu dieser
Synchronizität – wie C. G. Jung das Phänomen
auch bezeichnet –, liegt in ihrer Rolle als Tondelayo
in Weisse Fracht. Als Synchronizität bezeichnet
der Schweizer Tiefenpsychologe C. G. Jung Ereignisse,
die nicht über eine Kausalbeziehung
verknüpft sind, aber vom Beobachter als sinnvoll
verbunden erlebt werden. Deshalb darf es auch
nicht erstaunen, dass Pynchons nächster Roman
sich angeblich mit der russischen Mathematikerin
Sofia Vasilyevna Kovalevsakaya beschäftigt,
mit nichtlinearer Dynamik in kondensierter Materie
und dem Weiss-Tabor-Carnevale-Algorithmus.
Vielleicht auch ein weiteres Filmthema für die
Dubini Brothers? ¬
Fosco Dubini, 1954 in Zürich geboren, begann 1975 sein Studium
der Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften an der Universität
Köln. Bis 1979 war er Mitglied des Filmkollektivs Zürich und
danach Gründungsmitglied des Kölner Filmhauses sowie des
Filmbüros NW. Seit 1991 unterrichtet er an der ESAV (École Supérieure
d’Art Visuel) in Genf und arbeitet als Autor, Regisseur,
Editor und Produzent in Köln und Genf. 1995 entstand – in Zusammenarbeit
mit seinem Bruder Donatello – der Dokumentarfilm
American Actress über Jean Seberg, 2001 folgte mit
A Journey Into The Mind Of P. ein dokumentarisches Porträt des
Schriftstellers Thomas Pynchon. Für den deutsch-schweizerischen
Spielfilm Die Reise nach Kafiristan begaben sich Dubini und
seine Crew auf eine beschwerliche Reise durch verschiedene
Wüstenschauplätze in Jordanien. Fosco Dubinis jüngstes Filmprojekt
ist der Dokumentarfilm Hedy Lamarr – Secrets of a Hollywood
Star.
Donatello Dubini, geboren 1955 in Zürich. Studierte von 1975-
1977 an der Filmakademie in Wien. Bis 1979 Mitglied des Filmkollektivs
Zürich. 1979 Studium der Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft
an der Universität Köln. Gründungsmitglied des
Kölner Filmhauses. Mitglied der Filmemacher- und Verleihinitiative
Der Andere Blick, mit Nico Hofmann, Christian Wagner,
Werner Penzel und Nicolas Humbert. Förderpreis des Landes
NRW 1987, Bayerischer Filmpreis 1990. Lebt in Köln.
Filmografie (Auswahl)
2005 Hedy Lamarr – Secrets of a Hollywood Star
Deutschland/Schweiz/Kanada, Dokumentarfilm, 85min.,
Real Fiction
2001 The Journey to Kafiristan (cast: Jeanette Hain, Nina Petri)
Deutschland/Schweiz/Niederlande, feature, 100 min.,
www.diereisenachkafiristan.de
Int. Film Festival Locarno «Piazza Grande», Filmfest Hamburg,
Montréal
2001 Thomas Pynchon – A Journey into the mind of P.
Dokumentarfilm, 90 min., Real Fiction, Int. sales: Media Luna
1995 Jean Seberg – American Actress
Dokumentarfilm, 82 min., Real Fiction / Der andere Blick
Jean Willi, 1945 geboren, lebt auf Ibiza. 1989 erscheint die Erzählung
Der Tag von Santa Inés. 1994 schreibt er zusammen mit
Martin Suter das Drehbuch zu drei Folgen der Fernsehserie Die
Direktorin. Zwischen 1993 und 1996 gibt er vier Bände mit Texten
von Werner Helwig heraus. 1999 erscheint Sweet Home im Ricco
Bilger Verlag, 2005 im gleichen Verlag der Roman matar.
Die verschwisterten Republiken
Was denken Amerikaner über die Schweiz?
Alfred Defago
Das Interesse Amerikas an Europa sinkt. Doch Gemeinsamkeiten – auch im Falle der Schweiz – bleiben bestehen.
Entstehen auch neue? Alfred Defago auf der Suche nach einer transatlantischen Balance ❙
Der Lapsus: Es war am 14. Mai 1997. Pünktlich
um 14.30 fuhr eine schwarze Stretch-Limousine
des US-Aussenministeriums samt Polizeieskorte
mit Blaulicht vor der Residenz des Schweizer Botschafters
in Washington vor. Meine Frau und ich
sollten zur offiziellen Übergabe des Beglaubigungsschreibens
an Präsident Clinton im Weissen
Haus abgeholt werden. Alles hatte das amerikanische
Protokoll detailliert vorbereitet, der Ablauf
war auf die Minute genau geplant. Nach dem protokollarisch
vorgesehenen ‹Small Talk› mit zwei
Vertretern des Staatsdepartements in unserer Residenz
war die Abfahrt auf 14.45 festgesetzt. Doch
als wir auf die Limousine zugingen, passierte es:
«Ich glaube, da stimmt was nicht», flüsterte mir meine
Frau zu und zeigte mit den Augen diskret auf
die Kühlerhaube der langezogenen Limousine des
State Department. Und in der Tat: Da prangte sie,
die Nationalflagge mit dem weissen Kreuz im rotem
Feld. Doch leider war es nicht die schweizerische,
sondern unverkennbar die dänische Flagge,
der Danebrog, den die Amerikaner hier aufgepflanzt
hatten. Als wir unsere Beobachtung dem
mitfahrenden amerikanischen Protokollbeamten
mitteilten, setzte es zuerst ein betretenes Schweigen
ab. Dann ein verzweifeltes «Oh my god!» sowie
ein nervöses Telefongespräch mit dem Protokolldienst
des Staatsdepartements. Wir fuhren
schliesslich ab, mit der dänischen Flagge. Doch sie
wurde eine Meile vor dem Weissen Haus durch
eine schweizerische ersetzt, die ein Polizeifahrzeug
eilends aus dem Aussenministerium herbeigeschafft
hatte. Als wir endlich an der Ehrengarde
vorbei beim Portal des Weissen Hauses
vorfuhren, war es das Schweizerkreuz im roten
Feld, das im Wind munter und gut sichtbar flatterte.
Ich habe diese Episode wohlweislich erst einige
Jahre nach dem Vorfall zu erzählen begonnen. Im
Mai 1997, als die Wogen über die Rolle der Schweiz
im 2. Weltkrieg bei uns hochgingen, wäre ein solcher
Lapsus in der Schweiz zum explosiven Politikum
geworden. Dies umso mehr, als die Vorfahrt
vor dem Weissen Haus von einem Team des
Schweizer Fernsehens für die Tagesschau gefilmt
wurde.
Schweizer, denen ich diese kleine Geschichte später
erzählt habe, reagierten meist mit Kopfschütteln.
Der Vorfall erschien ihnen ‹typisch amerikanisch›,
d.h. als ein klares Indiz für amerikanische
Arroganz, Ignoranz und letztlich das Fehlen jeglicher
Sensibilität gegenüber der Aussenwelt. Wie
kann man nur die dänische mit der schweizerischen
Flagge verwechseln? Doch damit nicht genug.
Gleich mehrere Male habe ich mit meinem
schwedischen Amtskollegen in Washington Briefe
ausgetauscht, die von amerikanischen Absendern,
darunter auch Senatoren und Kongressabgeordneten,
offensichtlich an den ‹falschen› der beiden
Botschafter gesandt worden waren.
Ein klares Schweiz-Bild gibt es in den USA nicht:
Wer über das amerikanisch-schweizerische Verhältnis
schreiben oder reden soll, tut gut daran,
sich dieser Episoden zu erinnern. Zwar gibt es
sie, die Schweiz-Kenner in der Neuen Welt. In der
Wirtschaft, der Politik und selbstverständlich an
den vielen erstklassigen Universitäten des Landes.
Da kann man denn in der Tat nur staunen, wenn
etwa an der University of Wisconsin-Madison regelmässig
Vorlesungen über Frauenliteratur in
der Westschweiz des 20. Jahrhunderts oder – an
gleich mehreren Top-Instituten – Seminare über
das politische Konsens-System in der schweizeri-
25
Gstaad/Bern, Schweiz
New Bern/North Carolina, USA
28
schen Politik gehalten werden. Doch die Mehrheit
der Amerikaner weiss nur wenig über die Schweiz.
Allerdings: Die Schweiz ist hier für einmal kein
Sonderfall. Genau so vage bleiben die Vorstellungen
über Dänemark, Schweden, die Slowakei oder
Holland. Wer nicht gerade in Schweizer Vereinen
oder bei Schweiz-Spezialisten in Wirtschaft, Politik
oder Kultur herumhört, wird Mühe haben,
über die üblichen Klischees von den hohen Bergen,
klaren Seen, friedlich weidenden Kühen,
Käse, Schokolade, Uhren oder Banken hinaus fündig
zu werden.
Kürzlich habe ich gelesen, dass das amerikanische
Interesse an der Schweiz und anderen europäischen
Ländern wieder steigen könnte. Ich habe
meine Zweifel. Das hat zunächst mit der Tatsache
zu tun, dass die meisten Amerikaner zwar in
der einen oder anderen Form Einwanderer waren
oder sind, aber dennoch Einwanderer, die ihre
alte Heimat verlassen und eine neue gefunden haben.
Manche von ihnen sind zwar stolz, Schweizer-Amerikaner,
Italo-Amerikaner oder Irisch-
Amerikaner zu sein. Aber letztlich sind sie eben
doch in erster Linie Amerikaner. Irisch-Amerikaner
oder Abkömmlinge von Einwanderern aus Sizilien
mögen – in oft verklärender Weise – sich für
ihre alte Heimat in Cork oder Palermo begeistern.
Aber es ist nicht anzunehmen, dass sie sich speziell
auch noch für die Schweiz interessieren. Warum
sollten sie auch?
Vom Atlantik zum Pazifik: Dazu kommt, dass die
USA, noch immer das Einwanderungsland par
excellence, seit Mitte der sechziger Jahre eine
massive Einwanderungswelle aus Lateinamerika,
der Karibik sowie aus Süd- und Ostasien erleben.
Die Einwanderung aus Europa, zumindest aus
Westeuropa, ist in den letzten Jahrzehnten dagegen
so gut wie verebbt. Das hat, ja muss Konsequenzen
für das amerikanische Interesse an Europa
(und damit auch der Schweiz) haben. Dass sich
die Millionen von neu zugezogenen Mexikanern,
Indern, Chinesen oder Vietnamesen als neugebakkene
Amerikaner besonders für Europa interessieren,
ist nicht anzunehmen. Und so wenden
sich die USA – langsam aber sicher – Lateinamerika
und Asien zu. Auch wenn es viele Europäer
und gerade Schweizer nicht so recht wahr
haben wollen: Die USA sind heute – mehr denn je
– weit mehr als nur ein kultureller Wurmfortsatz
Europas, mehr als ein blosser Vorposten der
westlich-atlantischen Zivilisation. Im Gegensatz
zu Europa, das mit der Immigration schon immer
seine Mühe hatte, integriert Amerika trotz aller
Schwierigkeiten nicht-europäische Einwanderer
in grosser Zahl. Und verändert sich als Land mit
ihnen, ethnisch, gesellschaftlich und kulturell.
Gleichzeitig verlagert sich sein Schwerpunkt vom
Atlantik zum Pazifik.
Dennoch: Europa und die USA teilen noch immer
ein bemerkenswertes Mass an kulturellen und intellektuellen
Gemeinsamkeiten und Werten. Europa
hat diesbezüglich durchaus einen erheblichen
Einfluss auf das politische und kulturelle Denken
der Vereinigten Staaten gehabt. Einen Einfluss,
der bis auf den heutigen Tag deutlich nachwirkt.
Hier kommt auch die kleine Schweiz ins Spiel,
und zwar sehr prominent. Schweizerisches politisches
Denken und schweizerische politische Praxis
haben auf die Entwicklung der amerikanischen
Demokratie einen beträchtlichen Einfluss gehabt.
Sie sind auch heute noch im politischen Alltag
deutlich zu spüren. Es gehört zur Ironie der Geschichte,
dass dieser wirklich bedeutende schweizerische
Beitrag zur amerikanischen Geschichte
in der Schweiz weniger bekannt ist als in den
USA selbst.
Die Schwester-Republiken: Im späten 18. und bis
weit ins 19. Jahrhundert hinein war die kleine
Schweiz im fernen Europa so etwas wie ein Vorbild
für die junge amerikanische Republik. Kein
Wunder, dass der Blick der Amerikaner gerade
auf die Schweiz fiel. Die Alte Eidgenossenschaft
war einer der wenigen republikanischen Staaten
in einem Meer von mehr oder weniger straff organisierten
Monarchien. Schon sehr bald begann
man sowohl in der Schweiz wie auch den USA
von einer engen Partnerschaft zu sprechen. Das
Wort von den ‹Sister Republics›, den zwei Schwesterrepubliken,
machte die Runde. Als es in den
USA 1787 um die Niederschrift der ersten republikanischen
Verfassung ging, diskutierte man das
schweizerische Vorbild geradezu leidenschaftlich.
Sollte man sich als lose Konföderation konstituieren,
wie das damals die Alte Eidgenossenschaft
war? Oder sollte man nicht vielmehr etwas grundsätzlich
Neues wagen? Man entschied sich für einen
föderalistisch aufgebauten Staat, der aber
dennoch – anders als das schwache Tagsatzungssystem
der dreizehnköpfigen Eidgenossenschaft
– eine relativ starke Zentralgewalt aufwies.
Etwas mehr als ein halbes Jahrhundert später waren
es die Schweizer, die von der ‹Sister Republic›
jenseits des Atlantiks in Sachen Verfassung lernen
wollten. Die liberal-radikalen Gründungsväter
der neuen Schweiz von 1848 suchten nicht lange
nach möglichen Vorbildern für ihre Bundesverfassung.
Für sie kam da – beinahe zwangsläufig –
nur eine Verfassung in Frage: die amerikanische.
Kein Wunder, denn auch 1848 war eine Republik,
die sich auf die Herrschaft des Volkes berief, immer
noch eine geradezu exotische Ausnahme. In
starker Anlehnung an das amerikanische Vorbild
wurde in der Schweiz ein föderaler Staat mit einem
Zweikammer-System geschaffen. Der Nationalrat,
die Volksvertretung, wurde dem US-Repräsentantenhaus
nachgebildet, der Ständerat, die
Vertretung der Kantone, war in mancher Hinsicht
eine Kopie des amerikanischen Senats. Diese und
viele andere Bestimmungen in der Bundesverfassung
von 1848 veranlassten den Neuenburger
Staatsrechtler Jean-François Aubert zur leicht maliziösen
Bemerkung, man könne hier beinahe von
einem Plagiatsfall sprechen.
Neben offensichtlichen Ähnlichkeiten gibt es aber
auch bezeichnende Unterschiede. Zwar kennt
auch die Bundesverfassung von 1848 die grundsätzliche
Trennung der drei Staatsgewalten (Legislative,
Exekutive und Judikative). Doch während
sie im legislativen Bereich das amerikanische
Zweikammersystem weitgehend übernimmt, ändert
sie das amerikanische Vorbild in Bezug auf
die Exekutive in auffälliger Weise ab. Ruft die
US-Verfassung geradezu nach einem starken Präsidenten
mit Führungsqualitäten, verteilt die
schweizerische Verfassung dessen Machtfülle typischerweise
auf ein Gremium von sieben Bundesräten.
Zwar kennt auch die Bundesverfassung einen
Präsidenten, doch bis auf den heutigen Tag
sind dessen Kompetenzen weitgehend zeremonieller
Natur. Und die Tatsache, dass er überdies
nur jeweils ein Jahr im Amt bleiben darf, ist ein
weiterer Hinweis, dass die politisch, sprachlich
und kulturell vielgliedrige Schweiz – anders als
die USA – eben keine starken ‹Leaders› will.
Initiative und Referendum: Doch die wechselseitigen
Beeinflussungen der beiden Polit-Systeme
war 1848 noch nicht zu Ende. Hatten die radikalen
Gründungsväter der neuen Schweiz ihre geistigen
Anleihen weitgehend in den USA getätigt,
sind es gegen Ende des 19. Jahrhunderts wiederum
die Amerikaner, welche schweizerisches Verfassungsrecht
in die USA exportieren. Die typisch
schweizerischen direkt-demokratischen Einrichtungen
von Initiative und Referendum sind es,
die sie plötzlich faszinieren. In den späten achtziger
und neunziger Jahren erscheinen in den USA
unzählige Bücher und noch mehr Zeitungsartikel
über das Initiativ- und Referendumsrecht der Eidgenossenschaft
im fernen Europa. Initiative und
Referendum werden plötzlich als Allheilmittel gegen
politische Machenschaften und die grassierende
Korruption in verschiedenen Bundesstaaten
gesehen. Das Volk muss – wie in der Schweiz –
den Politikern auf die Finger klopfen können, war
der Schlachtruf der amerikanischen Populisten.
Der Erfolg blieb nicht aus. Zwischen 1890 und
1912 führen 18 Bundesstaaten das Initiativ- und/
oder Referendumsrecht ein.
Heute sind es bereits 26 US-Staaten, die diese
Einrichtung kennen. Und die Bewegung für direkte
Volksrechte scheint in den letzten Jahren noch
mehr Schwung entwickelt zu haben. So kommt
es, dass heute von Kalifornien bis Florida Jahr für
Jahr Millionen von Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern
nach schweizerischer Manier zu jeweils
Dutzenden von Sachgeschäften zur Urne gerufen
werden. Nicht selten werden dabei umstrittene
Entscheide der Staatsparlamente rückgängig gemacht
oder gegen den Willen des Gouverneurs
neue Bestimmungen in die jeweilige Staatsverfassung
aufgenommen. Die Einführung des Initiativ-
und Referendumrechts in mehr als der Hälfte
aller US-Bundesstaaten ist ohne die Schweiz nicht
denkbar. Anhänger wie Gegner dieser – nicht unumstrittenen
– Institution verweisen in ihren Debatten
nicht selten ausdrücklich auf das schweizerische
Vorbild. Das ist immerhin etwas. Die
leidige Frage aber, was die Amerikaner über uns
denken, welches Bild sie von uns haben, sollten
wir ruhen lassen. Sie bringt nichts, genausowenig
wie im Falle von Dänemark, Schweden, Slowakei
oder ...(Reihe beliebig fortsetzbar). ¬
Alfred Defago, Dr. phil., lehrt seit 2001 internationale Beziehungen
an der University of Wisconsin-Madison. Zuvor war er
Schweizerischer Generalkonsul in New York und Botschafter
der Schweiz in Washington, DC. In den achtziger und neunziger
Jahren war Alfred Defago Chefredaktor von Radio DRS und
Direktor des Bundesamts für Kultur.
29
Chicago/Illinois, USA
Hollywood-Swissness à la carte
Ein fiktives Gespräch mit Renée Zellweger
Milena Moser Natürlich hätte ‹Passagen› den Leserinnen und Lesern an dieser Stelle gerne ein Exklusivinterview mit der ‹Holly-
woodschweizerin› Renée Zellweger beschert. Doch das Filmgeschäft hat seine eigenen Gesetze und, was Inter-
views mit Stars betrifft, Hürden, die kaum zu überwinden sind. Das musste auch die in San Francisco lebende
Schweizer Schriftstellerin Milena Moser erfahren. Ihr Gespräch mit Renée Zellweger fand trotzdem statt – in der ei-
genen Phantasie. Exklusiv! ❙
Muttenz/Basel-Land, Schweiz
31
32
Beim Bauernspeck: «Ich liebe die Schweiz», sagt sie.
«Der Schweiz verdanke ich alles.» «M-hm.» Ich nicke.
«Weiter?»
Gewissenhaft listet sie die typisch schweizerischen
Eigenschaften auf, die ihr das Leben einfacher
gemacht haben, ja denen sie eigentlich, wenn
sie es sich genau überlegt, ihren Erfolg verdankt.
Pünktlichkeit, Sauberkeit, sie zählt sie an den Fingern
ab, ihre Hände sind schneeweiss, als hätte
sie ihr Leben lang Abwaschhandschuhe getragen,
auch das eine Schweizer Sitte wie aus dem Bilderbuch.
«Loyalität», fährt sie fort, «Verlässlichkeit, absolute
Verlässlichkeit.»
Während sie spricht, hat sie den Käse in kleine
Stücke geschnitten, jetzt schiebt sie mir die Bauernplatte
zu. «Bedienen Sie sich doch», sagt sie höflich,
«griiffed nume zue!»
Mit einem Lächeln quittiere ich den gelungenen
berndeutschen Akzent. Gelesen habe ich zwar,
dass ihr Vater aus dem Sanktgallischen stammt,
aber ich will nicht kleinlich sein. Renée tut, was
sie kann, vor allem, wenn man den Jetlag berücksichtigt.
Ich nehme mir eine Essiggurke, ein Stück Käse,
Renée kaut am Bauernspeck. Sie nickt ernsthaft,
studiert den ihr unbekannten Geschmack, die Beschaffenheit
jedes Bissens. Wir sitzen draussen
an einem der rotlackierten Metalltische, vor uns
die Wiese, der Spielplatz, die Kühe. Vögel zwitschern,
Bienen summen, Sonnenstrahlen wärmen.
Andere Gäste schauen zu uns herüber, aber
sie sagen nichts, wenn sie Renée erkannt haben,
lassen sie es sich nicht anmerken. Sie beugt sich
vor: «Sehen Sie, das liebe ich an der Schweiz!»
«Ich weiss», sage ich, «ich habe selber mal Udo Jürgens
in der Migros gesehen, am Stadelhoferplatz. Er
kaufte Rasierschaum und Klopapier und stand vor der
Kasse an wie alle anderen.»
«Udo Jürgens? Migros?»
Renée legt ihr Winzgesicht in neue Falten, andere
Falten, die Verwirrung ausdrücken. Bückt sich unter
den Tisch, sie zieht den Reissverschluss ihres
brandneuen Rucksackes auf und holt ein Notizbuch
hervor. Das Büchlein (wie auch der Rucksack,
der Bleistift und die Schiebermütze auf ihrem
blonden Kinderhaar) ist rot und mit weissen
Schweizerkreuzen bedruckt. Niemand kann Renée
vorwerfen, sie nähme ihre Rolle nicht ernst.
Ein Profi. Das sagt jeder. Der ist nichts zu viel. Der
Renée Zellweger.
«Migros», sie sie schaut auf, ihr Blick ist ernst.
«Wie buchstabiert man das?»
Ich diktiere es ihr. Sie schaut auf, ihr Blick ist ernst.
«Und Udo Jürgens? Ein berühmter Schweizer?»
«Ja, ziemlich.»
Sie seufzt.
«Ich habe noch so viel zu lernen, nicht?»
«Sie machen Ihre Sache gut», sageich,«sehr gut sogar!»
und winke nach einem Halbeli.
«Halbeli», wiederholt Renée. «Haa-ubeli?»
Ich nicke. Sehr gut.
Das Komitee: Es hatte nicht lange gebraucht, um
sich zu entscheiden. Die Frau, die die Schweiz verkörpern
würde (auf Briefmarken und Münzen und
offiziellen Briefköpfen, auf Konferenzen und Weltausstellungen
und vielleicht sogar als Wachsfigur)
sollte modern sein, aber doch durch und
durch schweizerisch. Hübsch, aber nicht überwältigend
schön, bescheiden, aber nicht arm, allerdings
auch nicht wirklich reich, zurückhaltend,
aber nicht schwach, jemand, der sich selbst genügt.
So jemand. Sollte die Schweiz verkörpern.
Jemand wie Renée Zellweger eben. Genau.
«Renée Zellweger», sagte jemand, «aber die lebt doch
in Amerika.»
«Nicht nur das, sie ist in Amerika geboren. Gilt das
überhaupt?»
«Ich bitte Sie!» Ein Mitglied des Kommittees stand
auf, ein nicht mehr ganz junger Herr in einem
grauen Anzug, der lange geschlafen hatte, mindestens
zwanzig Jahre lang, aber etwas an dieser
Idee, die Schweiz zu verkörpern, hatte ihn aufgeweckt.
«Mit einem Namen wie Zellweger? Gibt es einen
schweizerischen Namen? Einen Namen, wohlgemerkt,
den sie jederzeit hätte ablegen können. Aber hat sie das
getan? Nein, das hat sie nicht. Im Gegenteil, sie hat
diesen schweizerischsten aller Namen weltberühmt gemacht.»
«Ja, aber wie man ihn ausspricht», flüsterte jemand.
«Ist es nicht gerade die Loyalität zum schwer auszusprechenden
Namen, die ihre Swissness beweist – und
bitte sehr, geehrtes Kommittee, allein die Tatsache, dass
wir für Swissness keinen schweizerdeutschen Ausdruck
finden können, spricht für eine Amerika-Schweizerin
als Verkörperung des Konzeptes, nicht wahr?»
Der Mann redete sich in Feuer. Seine rechte Hand
verkrampfte sich in der Jackentasche, sie wollte
sich zur Faust ballen und hochschiessen und dazu
würde er «Zällwäger forever!» schreien. Statt dessen
sagte er: «Swiss Roots, übrigens, sehr geehrte Damen
und Herren, auch ein englischer Ausdruck.»
Andere Mitglieder des Kommittees vermuteten
nicht zu Unrecht, dass dieser Herr so vehement
einsprach, weil er sich selber an der Seite der zierlichen
Renée sah, wie er sie in die Swissness einführte,
wie er ihr über Berge und Wasserfälle half,
galant, aber nicht aufdringlich, verlässlich und
stark. Sie hatten seinem Feuer nichts entgegenzusetzen.
Als nächstes stellte sich die Frage, wie man die
verkörperte Schweiz in diesem grossen Land Amerika
finden sollte, geschweige denn einfangen
und zurückbringen? Der graue Anzug hätte sich
nur zu gerne angeboten, aber die Angst, zu versagen,
sich lächerlich zu machen, war am Ende stärker
(eine typisch schweizerische Angst übrigens).
Und da trat ich vor, «Damen und Herren vom Kommittee
zur Verkörperung der Schweiz», sagte ich, «ich
lebe zufällig auch in Amerika, ich bringe Ihnen die Zellweger.
Tot oder lebendig!»
Damit meinte ich natürlich nicht Renée, sondern
mich, es wurde langsam Zeit, dass ich auch mal
ein Opfer für mein Land brachte, so etwas lernt
man in Amerika, Hand auf’s Herz und Switzerland
forever.
Dornbusch und Laufband: Um bis zu Renée vorzudringen,
musste ich wie ein Märchenprinz vorgehen,
eine Rolle, die mir bis dahin vollkommen
unbekannt war. Ich hatte es mein Leben lang
eher mit dem Dornröschen gehalten, gebt mir
Kabelfernseher und Fingerfutter, und ich halte es
gut hundert Jahre lang alleine aus. Doch jetzt
hatte ich eine Aufgabe, eine Aufgabe, die mir
wichtig war, ich würde meinem Heimatland zu
einem Symbol verhelfen, ich, ich allein konnte
das möglich machen. Das musste das Kommittee
auch einsehen, nachdem alle Anfragen auf offiziellem
Wege gescheitert waren, an den drei Reihen
von Dornenbüschen abgeprallt, die Renée
umgaben. Persönliche Assistenten, Presseberater,
Manager, Businessmanager, Agenten, Bodyguards,
Trainer und ein Friseur. Und das war nur der innerste
Kreis. Um diesen zu durchbrechen, brauchte
ich Wochen. Wochen voller Lügen und Tricks.
Ich musste schmeicheln, bestechen, mehr lügen,
schleichen, klettern und eine Kreditkarte als
Schlüssel benutzen, was nicht so einfach ist, wie
es im Fernsehen aussieht. Einmal stellte ich sogar
dem Chauffeur ein Bein. Als ich endlich vor Renée
Zellweger stand, rannte sie auf einem Laufband,
winzig, kindlich, durchgeschwitzt, «nur noch zehn
Meilen» sagte sie, das sind über sechzehn Kilometer.
«Hop on», sagte sie, und es blieb mir nichts anderes
übrig, als auf das Laufband neben ihrem zu klettern
und langsame Schrittbewegungen zu machen.
«Renée», sagte ich, «die Schweiz braucht Sie.»
«Die Schweiz? Welche Schweiz?»
«Ihr Vaterland, Renée!» Ich sagte Vaterland, weil das
in ihrem Fall sogar stimmte, ihr Vater aus der
Schweiz, die Mutter aus Norwegen, deshalb wäre
Renée die letzte, die diesen weitverbreiteten Fehler
machen sollte, doch sie machte ihn:
«Oh, sure», sagte sie,«ich war letztes Jahr in Stockholm,
Mitternachtssonne, super!»
«Nicht Schweden, René, die Schweiz! Wo Ihr Vater herkommt.
Wo die Leute Namen haben wie Zellweger.
Diese Schweiz meine ich.»
«Ihr Laufband ist ja gar nicht an!» Sie langte zu mir
hinüber, ohne ihr Tempo zu drosseln. «Hier, Honey.»
Drückte den roten Knopf, und das Band setzte
sich in Bewegung, und bald wusste ich nicht mehr,
warum ich hier war und wer der verschwommene
rosa Fleck neben mir war. Als nächstes fand
ich mich auf dem Fussboden wieder, vom Band
geschleudert, das Zitronengesichtchen über mir
schwebend, besorgt verzogen.
Renée Zellweger ist ein ‹people pleaser›, das hatte
ich vorbereitend gelesen. Das heisst, dass sie gerne
das sagt, was man von ihr hören will. Deshalb
braucht sie all die hundertjährigen Dornbüsche
um sich herum. Das konnte ich zwar nachfühlen,
noch so gut, aber in diesem Moment war ich skrupellos.
Vielleicht durch den Sturz.
«Sie müssen mit mir mitkommen», sagte ich. «In die
Schweiz. Renée, wenn Sie nicht mit mir mitkommen,
bin ich verloren, das ganze Land wird mich auslachen
und mit Kartoffeln bewerfen!»
«Kartoffeln?» Die schmalen Augen wurden weit.
Eigentlich hatte ich Tomaten sagen wollen, die
Kartoffeln waren mir so herausgerutscht. «Ich habe
seit Jahren keine Kartoffeln gegessen!»
Damit war aber noch nicht alles gewonnen, Renée
hatte noch nie einen Koffer gepackt, ein Flugticket
gekauft oder sich in die Touristenklasse gesetzt.
Doch sie war tapfer.
«Es ist eine Rolle», sagte sie. «Und ich bin Schauspielerin.
Whatever it takes! Möchten Sie, dass ich ein
paar Kilo zunehme für die Schweiz? Das kann ich. Ganz
leicht.»
Ganz in Rot und Weiss: Und hier sitzen wir nun
in der Schweizer Sonne, vor einer Gartenbeiz
mit einem Namen wie Alpenblick oder vielleicht
Blüemlisalp, Renée ganz in Rot und Weiss, alles
am Flughafen gekauft, der auch einen englischen
Namen trägt. Die Kellnerin bringt das Halbeli,
schenkt uns nach. Renée seufzt. «Ich weiss nicht,
wann ich das letzte Mal so glücklich gewesen bin»,
sagt sie. «Nein, nicht glücklich: zufrieden. Ist das a
swiss thing?»
«Ganz genau. Sie lernen schnell.»
«Das muss ich mir merken: genau diesen Moment. Damit
kann ich arbeiten.» Sie schliesst die Augen, lehnt
sich zurück. Den Hügel hinauf, durch die kniehohen
Wiesenblumen kommt ein grauer Anzug auf
uns zu. ¬
Milena Moser wurde 1963 in Zürich geboren. Ihr erstes Buch,
Gebrochene Herzen erschien 1990 im von Freunden eigens gegründeten
Krösus Verlag. Ihre bekanntesten Bücher sind Die Putzfraueninsel,
Blondinenträume und Schlampenyoga. Seit 1998 lebt sie
mit ihrem Mann, dem Fotografen Thomas Kern, und ihren Söhnen
Lino (18) und Cyril (11) in San Francisco.
33
CHicago Blues Saxophonklänge über dem Michigan See
Sam Burckhardt Der Basler Sam Burckhardt lebt seit 1982 in Chicago. Er arbeitet dort als Musiker und Komponist. Meist spielt er
Sam Burckhardt
Foto: Eileen Ryan
34
Jazz, manchmal Blues, aber auch frei improvisierte Musik. Sam ist mehrere Male im Jahr in Europa auf Tournee.
Wie er Musiker wurde und nach Chicago kam? Folgendermassen ❙
Blockflöte, Schlagzeug, Saxophon: Geboren wurde
ich am 7. Juli 1957 in Sursee, als letztes von vier
Kindern. Aufgewachsen bin ich in Basel, wo ich
die Primarschule und das Gymnasium besuchte.
Musik spielte schon immer eine Rolle in meinem
Leben. Meine Mutter sorgte dafür, dass wir mit
sechs Jahren in die Solfège kamen, wo ich bei Beatrice
Ganz im Blockflötenunterricht die Rudimente
der Musik lernte. Zur selben Zeit trat ich in eine
Knabenkantorei ein, die jeweils am Samstagnachmittag
Probe hatte und oft am Sonntag in einer
Kirche sang. Mit etwa sieben Jahren begann ich
auf Wunsch meiner Mutter mit dem Geigenspiel.
Ich hatte an der Musik Akademie in Basel Unterricht.
Die wöchentlichen Lektionen entwickelten
sich bald zur Qual, da ich oft zu hören bekam, ich
übe nicht genügend und daher wenig Fortschritte
mache. Mit zehn Jahren wechselte ich über zum
Schlagzeug – ein grosser Schritt. Ich durfte bei
Chester Gill, der aus Barbados stammte, Unterricht
nehmen. Ich erinnere mich noch genau an
meine erste Stunde. Ich trabte bei ihm mit einem
Paar Trommelschlegel unter dem Arm an. Er erklärte
mir den Aufbau des Schlagzeugs und lehrte
mich einen einfachen Rhythmus. Nach dreiviertel
Stunden ertönte seine Hausglocke, und ich wollte
mich verabschieden, er aber hiess mich wieder
Platz nehmen. Der nächste Schüler war ein Posaunist.
Chester setzte sich ans Klavier, sagte dem
Posaunisten, welches Stück wir spielen würden,
und sagte mir, ich solle den vorher geübten Rhyth-
mus spielen. Er zählte das Stück an – eins, zwei
drei, vier –, und schon legten wir los. Nach einer
Stunde bereits Musik zu machen, nicht einfach
Noten zu spielen, war eine neue und umwerfende
Erfahrung für mich. Mit etwa sechzehn Jahren
wechselte ich aufs Saxophon über. Folgende Gründe
bewogen mich dazu: Das Saxophon war ein Melodieinstrument,
vergleichbar mit der menschlichen
Stimme; es war wesentlich leichter zu
transportieren als ein Schlagzeug; und ich konnte
in die Band meines Bruders eintreten, die bereits
einen Schlagzeuger hatte. Spielen, musizieren,
gemeinsam – in einer Gruppe von Leuten –, das
war es, was mich an der Musik reizte.
Sunnyland Slim: Er hiess mit bürgerlichem Namen
Albert Luandrew und kam am 5. September
1907 in Vance, Mississippi, zur Welt. Er war fünfzig
Jahre älter als ich. Sein Grossvater, der Anfang
der 1860er Jahre in Kentucky noch als Sklave zur
Welt kam, zog nach Mississippi. Dort kaufte er
ein Stück Land. Er fällte die Bäume darauf und
verarbeitete sie zu Eisenbahnschwellen, die er an
die aufkommenden Bahnlinien verkaufte. Es gibt
ein Foto vom circa zwölfjährigen Sunnyland, auf
dem er mit seinen Grosseltern, seinem Vater und
seiner Stiefmutter und zwei Cousinen auf den Stufen
zur Veranda des Hauses seines Grossvaters
sitzt. Er trägt ein weisses Hemd, eine Krawatte, ein
Jackett, Hosen, Kniestrümpfe, hohe Schuhe und
übers Knie gelegt eine Kappe. Hinter dem Glasfen-
ster der Eingangstüre hängt ein Spitzenvorhang.
Nicht das Bild, das man sich von einer schwarzen
Familie in Mississippi kurz nach dem ersten Weltkrieg
machen würde. So war denn auch der Grossvater
für Sunnyland eine überragende Figur, die
er sehr verehrte. Trotzdem lief er schon als Junge
von zu Hause weg. Seine Mutter starb, als er acht
Jahre alt war. Seine Stiefmutter mochte ihn nicht
leiden und schikanierte ihn mit immer neuen Aufgaben.
Mit etwa fünfzehn Jahren hatte er seinen
ersten Job als Musiker. Er spielte in einem Kino
Pausenmusik, während die Filmrollen gewechselt
wurden. Den Namen Sunnyland erhielt er, weil er
ein Lied über den ‹Mean Old Sunnyland Train›
schrieb, eine Bahnlinie, auf der innerhalb einer
Woche eine schwarze und eine weisse Familie
überfahren wurden. Mit seiner über zwei Meter
grossen Figur, seinen langen Armen und den grossen
Händen mit den langen Fingern kam das
‹Slim› von selbst dazu. Nach Chicago kam er Ende
der vierziger Jahre und entwickelte sich im Laufe
der Zeit zum Patriarchen der Chicago Bluesmusiker.
Abends im Club: Ich lernte Sunnyland am 22. April
1975 in Grenzach bei Basel kennen. Ich hatte von
meinem Bruder erfahren, dass er dort spielen
würde. Am Abend im Club sah ich Sunnyland an
der Bar sitzen. Als er sich nach 20 Uhr immer
noch nicht an den Flügel setzte, ging ich zu ihm
und begann ein Gespräch. Er erklärte mir, dass er
enttäuscht sei über die wenigen Zuhörer und
dass er langsam Heimweh nach Chicago habe, wo
er normalerweise mit einer Band auftrete. Ich erzählte
ihm, dass ich zwei Jahre zuvor Gelegenheit
gehabt habe, Eddie Boyd am Schlagzeug zu begleiten.
Darauf erzählte er mir eine lange Geschichte
von Eddie Boyd und wie sie zusammen auf dem
Highway 61 nach Norden gekommen seien. «Eddie
Boyd, that’s my partner», rief er aus und erblickte
dabei ein Schlagzeug im Raum. «Come’on boy, let’s
get busy», bedeutete er mir und liess mich das
Schlagzeug aufbauen. Wir spielten an diesem
Abend und am nächsten, und ich war in einer
Welt, von der ich schon lange geträumt hatte: die
Welt der Musik. Sie hatte ihre Gesetze, und es
schien von grosser Bedeutung, sich selbst einzubringen,
Regeln zu hinterfragen, neu anzusetzen,
die Ohren aufzumachen, um auf Unerwartetes
reagieren zu können. Es war aber auch eine Welt,
in der man nicht alleine war, sondern mit anderen
zusammen etwas kreierte, dessen Resultat die
Summe der Einzelteile oft überstieg.
Wo bleibt die Gage? Der Same, der an diesen beiden
Abenden in meinem Herzen gepflanzt wurde,
keimte erst sieben Jahre später, als ich am 20.
Juli 1982 in Chicago ankam mit meinem Saxophon
in der Hand und einem Rucksack mit den
notwendigsten Kleidern auf dem Rücken. In den
sieben Jahren dazwischen hatte ich das Gymnasium
mit der Matur abgeschlossen, das Studium
der Ethnologie begonnen, fast ein Jahr in Burundi
als Teil meines Studiums verbracht, 1981 zwei
Monate in Chicago bei Sunnyland verweilt und mit
seiner Band gespielt. Nun war ich bereit in diese
Band einzusteigen. Neben Fred Grady am Schlagzeug,
der vor kurzem gestorben ist, spielten Steve
Freund, Guitarre, und Bob Stroger, Bass, in seiner
Band. Mit ihnen verbindet mich eine Freundschaft,
die bis auf den heutigen Tag andauert und
uns ab und zu Gelegenheit bietet, wieder zusammen
zu spielen. Wir traten jeden Sonntag in einem
Club namens B.L.U.E.S. auf. Als Jüngster in der
Band musste ich erst meine eigene Stimme und
die notwendige Selbstsicherheit finden, um neben
den anderen, vor allem Sunnyland, dem alten
Meister, zu bestehen. Ich hatte es unterlassen,
mit ihm über Bezahlung zu sprechen, nicht nur,
weil ich unentgeltlich bei ihm wohnen durfte, sondern
auch, weil ich dachte, er als ‹Meister› würde
das Thema schon anschneiden. Als ich nach geraumer
Zeit noch immer nicht bezahlt wurde,
machte ich Richard Wilson, meinem Partner, gegenüber
eine Bemerkung. Er meinte nur, dass ich
Sunnyland darauf ansprechen müsse. Meinen Einwand,
dass doch Sunnyland als dem Älteren und
Meister diese Aufgabe zustehe und es frech wäre,
ihn zu fragen, verwarf er. Ich nahm also all meinen
Mut zusammen und ging zu Sunnyland. Umständlich
erklärte ich ihm, dass ich mir eine andere
Band suchen müsste, wenn ich nicht bezahlt
würde, da ich ja auch Geld verdienen müsse. Sunnyland
sagte nicht viel, nickte, nahm den Telefonhörer
in die Hand und wählte die Nummer des
Clubbesitzers. Noch am selben Sonntag, am Ende
des Auftritts, gab mir Sunnyland seinen berühmten
Handschlag und bedankte sich. In meiner
Hand befanden sich danach $ 60, wie bei den anderen
Bandmitgliedern.
On the road: Schon nach kurzer Zeit vertraute mir
Sunnyland sein Auto an. Er fuhr gern und viel und
eigentlich überall hin, wo man mit einem Auto
hinkommt. Normalerweise gab er mir nach einem
Auftritt die Autoschlüssel in die Hand. Er besass
damals einen alten Chevrolet Stationwagon,
ein grosses Auto. Jedesmal gab er mir minutiöse
Instruktionen, in welche Fahrbahn ich mich begeben,
wann ich die Blinker anstellen und wo ich
durchfahren solle. Am Anfang war ich froh über
die präzisen Angaben, aber mit der Zeit hätte ich
die Strecke blind fahren können. Eines Abends, als
mir seine Anweisungen besonders auf den Nerv
35
Arlesheim/Basel-Land, Schweiz
Bernstadt/Kentucky, USA
38
gingen, erwiderte ich ihm etwas unwirsch, dass
es im Auto nur ein Steuerrad gebe, welches ich ja
in den Händen habe, und falls er gerne fahren
möchte, könne ich gleich anhalten, um mit ihm
den Platz zu wechseln. Ansonsten aber wisse ich
genau, wie ich nach Hause zu fahren hätte. Mit
dem endete unsere Unterhaltung, und als ich ihm,
als wir an unserem Wohnort angelangt waren, etwas
scheu ein «Good Night» zurief, antwortete er
mir mit einem unverständlichen Murmeln. Ich
schlief in dieser Nacht schlecht. Immer wieder
warf ich mir vor, mich falsch verhalten zu haben.
Als nach langer Zeit der Morgen graute, hörte ich
wie Sunnnyland seine Cousine, die gleich über uns
wohnte, anrief, und ihr voll Stolz erklärte: «That
Sam, I’m tellin’ you, he can really drive.»
Beide Geschichten veranschaulichen meine Erwartungshaltung,
die darauf basierte, dass der
Ältere zum Jüngeren, der Meister zum Lehrling
schaut und ihm mitteilt, wann die nächste Ebene
erreicht ist. Erfahren habe ich dabei aber auch,
dass ich für meine Interessen eintreten muss und
ich der Einzige bin, der das tun kann. Es geht nicht
darum, ob das eine System besser ist als das andere,
sondern darum, Unterschiede zu erkennen
und dementsprechend zu handeln. Es scheint mir,
dass man in der Schweiz (und vielleicht allgemein
im deutschen Sprachraum) oft fragt: «Darf
man das? Ist das erlaubt?» während man hier in
Amerika handelt, im Vertrauen, dass alles erlaubt
ist, was nicht ausdrücklich verboten ist – ein subtiler
und wesentlicher Unterschied.
Die richtige Sprache finden: Wie viele Europäer
war ich zu Beginn meiner Zeit in Amerika der irrigen
Auffassung, dass Englisch eine einfache Sprache
sei. Ich hatte in der Schule British English,
wie es die Amerikaner nennen würden, gelernt
und daneben meinen Wortschatz mit Vokabeln
aus der Blueswelt aufgestockt. So war denn mein
Englisch eine recht wilde Mischung aus Oxford
und Mississippi. Mein Partner Richard hat mich
zum Glück von Anfang an korrigiert und so in
meinem ‹Englischen Garten› für die nötige Hege
und Pflege gesorgt. Auch meine Tätigkeit als Übersetzer
und Dolmetscher hat mir immer wieder
die Tücken dieser Sprache gezeigt. Englisch, als
Mischsprache aus germanischen Elementen (Angelsächsisch)
und dem romanischen Element
(Normannisch), hat einen riesigen Wortschatz mit
vielen spezifischen Ausdrücken. Wenn im Deutschen
und Französischen Vokabeln in etwa bedeutungsgleich
sind, hat im Englischen das jeweilige
sinnverwandte Wort oft eine beschränktere Bedeutung.
So ist im Englischen veal (le veau) nur
noch das geschlachtete Produkt eines calf (das
Kalb).
Aber Sprachkenntnisse allein reichen nicht aus.
Ohne kulturellen Hintergrund kommt man der
amerikanischen Seele nicht auf die Schliche. In
der Schweiz aufgewachsen und dort zur Schule
gegangen, fehlte mir ein wichtiger Teil der amerikanischen
Adoleszenz, Grades und High Schools
und was sonst alles in dieser Zeit an amerikanischen
Werten weitergegeben wird. Auch die Welt
des Sports, vor allem Baseball und Football, haben
in der ‹American Imagination› einen grossen
Stellenwert. Geschichte und Politik kommen
noch dazu. Und, vielleicht als wichtigster Teil, das
grosse Geschenk der USA an die Welt: ‹Popular
Culture›. Wie wir sie doch zu kennen glauben,
diese amerikanische Kultur, aus dem Kino, dem
Fernsehen, der Musik. Und doch entgeht sie uns
ohne tiefere Landes- und Sprachkenntnisse leicht.
Auf der Oberfläche verstehen wir sie, aber bei
den Erwartungshaltungen, die die einzelnen Worte,
Sätze oder Bilder in uns auslösen, merken wir,
wie unsere eigenen Erwartungen von anderen Erfahrungen
durchdrungen sind. ¬
Der Basler ‹Auswanderer› Sam Burckhardt lebt seit 1982 mit
seinem Partner Richard Wilson, einem Rechtsanwalt, in Chicago.
Er arbeitet dort als Musiker und Komponist. Sam Burckhardt
hat schon etliche Schallplatten und CDs aufgenommen und arbeitet
zur Zeit an seiner neusten Produktion.
«If you go to San Francisco» Schweizer Architekten in den USA
Hubertus Adam Immer wieder sind seit dem 19. Jahrhundert einzelne Architekten oder Konstrukteure aus der Schweiz in den Ver-
Zeichnung Längsschnitt des
de Young Museums in San
Francisco.
© Herzog & de Meuron, Basel
einigten Staaten mit wichtigen Werken hervorgetreten. Zuletzt Herzog & de Meuron mit dem unlängst eröffneten
de Young Museum in San Francisco. Der Architekturkritiker Hubertus Adam stellt uns seine Auswahl von Schweizer
Bauten in den USA vor ❙
George Washington Bridge: Als ‹grand old man›
der Schweizer Architektur in Amerika müsste man
wohl zunächst den bei Schaffhausen geborenen
Konstrukteur Othmar Ammann (1879-1965) nennen.
Er wollte nach einem an der ETH Zürich absolvierten
Bauingenieurstudium in der Weite der
Neuen Welt eigentlich nur einige Berufserfahrung
sammeln. Doch Ammann blieb in New York, eröffnete
1923 sein eigenes Büro und wurde 1925
Chef der Port Authority, der Behörde, welche für
die Hudson und East River querenden Infrastrukturverbindungen
verantwortlich ist. Die George
Washington Bridge, die Manhattan auf Höhe der
179. Strasse mit New Jersey verbindet, gilt als
Ammnans Meisterwerk: 1931 eingeweiht, besass
sie mit 1067 Metern die doppelte Spannweite der
bis dahin längsten Hängebrücke der Welt. Mit der
Verrazzano Narrows Bridge und ihrer Spannweite
von 1298 Metern gelang dem Ingenieur wenige
Monate vor seinem Tod ein neuerlicher Rekord.
Ein Dutzend Brücken konnte Ammann im Grossraum
New York realisieren – seine eleganten, das
Wasser überspannenden Konstruktionen prägen
das Bild der Metropole bis heute.
Philadelphia Saving Fund Society: Auch die eigentliche
architektonische Moderne in den Zwanziger-
und Dreissigerjahren wurde in den USA
weitgehend durch europäische Einwanderer bestimmt.
Rudolph Schindler, Richard Neutra und
der Schweizer William Lescaze (1896-1969) gelten
als die Pioniere. In Onex bei Genf geboren und an
der ETH Zürich diplomiert, wanderte der junge
Lescaze 1920 in die Vereinigten Staaten aus. Nach
einigen kleinen Bauaufträgen, die er mit seinem
1923 in New York gegründeten Büro ausgeführt
hatte, gelang ihm und seinem Partner George
Howe mit dem vor wenigen Jahren restaurierten
und zu einem Hotel umgewandelten Gebäude der
Philadelphia Saving Fund Society der Durchbruch.
39
40
Mit einem elegant geschwungenen Sockelgeschoss
und dem T-förmig darüber aufragenden
Doppelturm, der sich in Erschliessungszonen und
Bürobereiche differenzierte, antizipierten die Architekten
Hochhauslösungen der Fünfziger- und
Sechzigerjahre; als eines der wenigen amerikanischen
Beispiele war das PSFS Building auch 1932
in der legendären, von Philip Johnson und Henry
Russell Hitchcock kuratierten International-Style-
Ausstellung im MoMA New York vertreten. Aber
auch mit anderen Bauten errang Lescaze Erfolge
und setzte besonders in Bereich des Schulbaus
Massstäbe.
Columbia University New York: In heutiger Zeit
ist es für ausländische Architekten schwer, in den
USA Fuss zu fassen. Grosse Architekturfirmen beherrschen
den Bausektor; für ambitionierte Architekten
bieten sich lediglich Nischen. Das sind
einerseits die Architekturfakultäten der Universitäten,
zum anderen kulturelle Bauaufgaben, bei denen
seitens der Auftraggeber auf eine anspruchsvolle
und spektakuläre Architektur Wert gelegt
wird.
Bernard Tschumi prägte als Dekan zwischen 1988
und 2003 die Architekturfakultät der Columbia
University in New York; unter seiner Leitung avancierte
Columbia weltweit zu einer der angesehensten
und gleichwohl eigenwilligsten Ausbildungsstätten
für Architekten. Tschumi selbst, 1944 in
Lausanne geboren und an der ETH Zürich ausgebildet,
zählt zu den theoretisch profilierten Architekten
der Gegenwart und machte die ‹Graduate
School of Architecture, Planning and Preservation›
während seiner langjährigen Tätigkeit zu einem
Zentrum des internationalen Architekturdiskurses.
Bewusst bezog die Schule eine Gegenposition
zu einer praxisorientierten, klassisch-akademischen
Ausbildung und optierte im starken Masse
für den Umgang mit neuen Medien als Entwurfswerkzeugen.
Protagonisten des digitalen Entwerfens
wie Hani Rashid, Sulan Kolatan und William
MacDonald wirken seit Jahren als Professoren an
der Columbia, aber auch die ältere Generation –
darunter Steven Holl und Peter Eisenman.
Tschumi ist mit seinem Büro in Paris und New York
ansässig und war zunächst theoretisch tätig, bevor
er mit dem Konzept und den Folies des Parc de
la Villette in Paris das Schlüsselwerk des architektonischen
Dekonstruktivismus schuf. Inzwischen
konnte er auch ein Gebäude auf dem Campus der
Columbia University errichten, weitere Bauten in
den Vereinigten Staaten sind in Planung.
San Francisco Museum of Modern Art:OhneZweifel,
auch Tschumi zählt inzwischen zu der erfolgreichen
und international zu Wettbewerben ein-
geladenen Stararchitekten. Nur wenige in der
Schweiz tätige Büros können diesen Status für
sich beanspruchen. Zu nennen sind Mario Botta,
der in downtown San Francisco das SF MoMA
(San Francisco Museum of Modern Art) realisieren
konnte, und der mit einem Zweigbüro in Zürich
tätige Santiago Calatrava, von dem die 2002
eingeweihte Erweiterung des Milwaukee Art Museum
stammt. Gigon/Guyer unterlagen im Wettbewerb
um das Nelson Atkins Art Museum in Kansas
City der Konkurrenz von Steven Holl, Peter
Zumthor wurde von dem ehemaligen Clubbesitzer
und heutigen Hotelunternehmer Ian Schrager, der
vor allem durch seine Kooperation mit Philippe
Starck bekannt geworden ist, um einen Hotelentwurf
ersucht, lehnte aber ab, da er nicht die nötigen
Spielräume sah. Ein Turmhotel mit Multiplexkino,
das Herzog & de Meuron gemeinsam mit
Rem Koolhaas am Astor Place in Manhattan ebenfalls
für Schrager bauen wollten, scheiterte an
den wirtschaftlichen Folgen der Anschläge vom
11. September 2001.
Walker Art Center Minneapolis: Mehr Erfolg hatten
die Basler Architekten mit ihren Museumsprojekten
in den USA. 1999 wurden sie von Kathy
Halbreich, der Direktorin des Walker Art Center
in Minneapolis, um Konzepte für die Erweiterung
der renommierten Institution für zeitgenössische
Kunst gebeten. Das Walker besitzt nicht nur eine
der bedeutendsten Sammlungen von Kunstwerken
der Gegenwart, sondern ist überdies bekannt
für seine Grenzüberschreitungen Richtung Performance
und neuen Medien. Die Aufgabe bestand
darin, den Ursprungsbau von Edward Larrabee
Barnes aus dem Jahr 1971 um weitere Museumsräume,
einen Theatersaal mit knapp 400 Plätzen
sowie weiteren Funktionsbereichen wie Restaurant,
Foyer und Shop zu erweitern. Über eine zur
Stadtseite hin verglaste Passage verbanden Herzog
& de Meuron Barnes’ Ziegelsteinbau mit einem
Volumen von ähnlichen Proportionen, das
mit gitterartig perforierten und geknickt-verformten
Aluminiumpaneelen verkleidet ist. In dem
verzogenen Würfel, der als landmark zur angrenzenden
achtspurigen Strasse hin in Erscheinung
tritt, befinden sich Restaurant und Theater, während
die neuen Wechselausstellungssäle im Sokkel
zum Altbau hin untergebracht sind.
De Young Museum San Francisco: Die Erweiterung
des Walker Art Center war im Frühjahr 2005
fertiggestellt, im Herbst folgte die Eröffnung des
ebenfalls von Herzog & de Meuron entworfenen de
Young Museum im Golden Gate Park in San Francisco,
eines mit 202 Millionen Dollar rein privat
finanzierten Projekts. Herzog & de Meuron orga-
New Bern/North Carolina, USA Basel/Basel-Stadt, Schweiz
42
nisierten das Raumprogramm in drei parallelen
Streifen, die wie bei einer Ziehharmonika leicht
auseinandergezogen, aber weiterhin miteinander
verbunden sind. Bleibt das Äussere auch von der
orthogonalen Grundrissgeometrie bestimmt, so
entstehen als Keile, Schlitze, Kerben oder Höfe
ausgebildete Zwischenräume. Diese reagieren als
negative mit den positiven Formen der umschlossenen
Räume und führen dazu, dass sich die klar
definierten Raumfolgen der Galerien stellenweise
völlig auflösen. Durch verglaste Ausschnitte dringt
der Park gleichsam in das Volumen ein. Auch für
die Aussenhaut wählten die Architekten ein organisches
Material: Kupfer. Das gesamte, konstruktiv
als Stahlskelettbau errichtete Gebäude ist mit
Kupferplatten verkleidet, die durch Perforationen
und Prägungen modifiziert wurden. Kreisförmige
Perforationen mit vier verschiedenen Lochdurchmessern
zum einen, nach innen und nach aussen
gewölbte Prägungen zum anderen überlagern
sich in verschiedenen Rastern. Die Fassade übernimmt
diverse Funktionen: Sie schützt als Filter
vor Sonnenlicht, sie ermöglicht Ausblicke, aber
natürlich ist sie auch dekorativ und lässt die
Aussenhaut des Gebäudes lebendig werden. Hier
erscheint sie transparent, dort eher opak. Und sie
lässt das Museum trotz seiner Dimensionen wie
ein Gartenpavillon wirken, wie ein Gewächshaus
für die Kunst. Als vertikale Dominante und optisches
Gegengewicht zu dem fulminanten Dachüberstand
im Westen fungiert ein 30 Meter hoher,
tordierter Turm an der Nordostecke des Gebäudes,
der die formale und visuelle Verknüpfung
von Park und Stadt gewährleistet. Im Inneren arbeiteten
die Architekten mit zwei unterschiedlichen
Präsentationsstrategien. Die historische
amerikanische Kunst ist in eher traditionell in-
spirierten Räumen mit moderatem Zuschnitt untergebracht.
Die künstlich belichteten ethnographischen
Sammlungen finden sich dagegen in
fliessenden Raumbereichen und sind durch leuchtende
raumhohe Vitrinen gegliedert, die mit ihrer
Einfassung aus Eukalyptusholz wie grosse Rahmen
wirken. Bedingt durch das architektonische
Konzept, gibt es verschiedene Übergänge zwischen
den Raumbereichen, die aber jegliche Hierarchisierung
vermeiden. Gezielt wurde hier ein
Nebeneinander gesucht, das zuweilen auch zum
Miteinander werden kann – San Francisco versteht
sich bekanntlich selbst als eine Stadt, in welcher
das Zusammenleben heterogener Kulturen besser
gelingt als in anderen Städten der Vereinigten
Staaten. Herzog & de Meuron haben dafür ein
komplexes, vielschichtiges und intelligentes Museum
geschaffen, das sich spektakulär und sensibel
zugleich zeigt.
Die Erfolgsserie der Basler in den USA dauert an:
Im Herbst 2005 erhielten sie den Auftrag, das Parrish
Art Museum auf Long Island zu erweitern. ¬
Hubertus Adam, geboren 1965 in Hannover, studierte Kunstgeschichte,
Archäologie und Philosophie. Er war als Redakteur der
Bauwelt in Berlin und ist seit 1998 als Redaktor der Architektur-
Fachzeitschrift archithese in Zürich tätig. Darüber hinaus arbeitet
er als Architekturkritiker für diverse Fachzeitschriften des In- und
Auslandes und Tageszeitungen, vor allem für die Neue Zürcher
Zeitung. Hubertus Adam veröffentliche zahlreiche Aufsätze und
Bücher zur Baugeschichte des 20. Jahrhunderts und zur zeitgenössischen
Architektur.
New Glarus – Tellspielfieber im Wilden Westen
Eine Reise in die äusserste Heimat
Peter Haffner
Rund 400000 Schweizer sind im Laufe der Zeit nach Amerika ausgewandert. Dabei sind unzählige Ortschaften mit
Schweizer Namen gegründet worden. Der in Kalifornien sesshafte Journalist Peter Haffner hat für ‹Passagen› einen
dieser Orte besucht – und zu unserer Beruhigung festgestellt: In New Glarus, Wisconsin, pflegen nicht nur die Nach-
fahren der einstigen Immigranten aus der Schweiz bis heute heimisches Brauchtum ❙
Auf der Suche nach erschwinglichem Land: New
Glarus, rund zweieinhalb Autostunden nordwestlich
von Chicago gelegen, ist ein Bergdorf, wie es
schweizerischer nicht sein könnte. Sonnengebräunte
Chalets, geschmückt mit Wappen, Sinnsprüchen
und Blumentrögen, sitzen auf sanftgeschwungenen
Hügeln und schnuppern den Geruch
von Fondue, der aus heimeligen Gasthöfen
dringt.
Nur kleine Unstimmigkeiten verraten, dass wir
hier nicht in der Schweizer Alpenwelt sind, sondern
im Mittleren Westen der USA, im Green
County im Süden von Wisconsin. Die Strassen
sind rechtwinklig im Gitter angelegt wie überall
in Amerika, die Glocken der Reformierten Kirche
bleiben bis auf Samstagabend stumm, und nicht
zuletzt die Überfülle an Folklore signalisiert, dass
New Glarus am ‹Little Sugar River› ein Ort in der
Fremde ist: Viele der 2111 Einwohner sind Nachfahren
der Schweizer Immigranten, die 1845 die
Reise über den Atlantik angetreten hatten.
In Glarus, ihrer Heimat, hatten sie keine Zukunft
mehr für sich gesehen. Die für ihre Textildrucke
und Baumwollgewebe berühmte Heimindustrie
war nach 1840 innert weniger Jahre zusammengebrochen;
die neuen Fabriken am Taleingang
43
Switzerland/South Carolina, USA Basel/Basel-Stadt, Schweiz
waren für Bewohner des Hintertals nur schwer
erreichbar. Missernten trugen zur Krise bei.
Insgesamt rund 400000 Schweizer sind im Laufe
der Zeit in die Neue Welt aufgebrochen, die Mehrzahl
im 19. Jahrhundert. ‹Taufgesinnte›, Schweizer
Anabaptisten genannt, suchten nach erschwinglichem
Land, Mormonen ein neues Zion in Utah.
Bauern und Kaufleute rechneten mit Expansionsmöglichkeiten,
Handwerker hofften, der Fabrikarbeit
zu entrinnen, und manche waren ganz einfach
vom Fernweh gepackt. In der Wahlheimat
fanden sie sich meist rasch zurecht; die Schweiz
als direkte Demokratie und die USA als zwar nur
repräsentative Republik waren sich doch recht
ähnlich. Als Westeuropäer hatten die Schweizer
auch nicht unter rassischer und ethnischer Diskriminierung
zu leiden wie andere Immigranten.
New Helvetias: Theobald von Erlach (1541-1565)
gilt als der erste Schweizer, der seinen Fuss auf
amerikanischen Boden setzte; er stand in französischen
Diensten, spätere Auswanderer folgten
meist den britischen Kolonialisten. Der Berner
Aristokrat Christoph von Graffenried gründete
1710 die Siedlung New Berne in North Carolina,
und bald schossen zahlreiche Ortschaften mit
Schweizer Namen aus dem Boden – von Tell City,
Indiana, bis zu Grütli, Tennessee. Das 1804 gegründete
Vevay, Indiana, geht auf Jean Jacques
Dufour zurück, der den Weinbau in Amerika einführte;
Immigranten aus der italienischen Schweiz
begannen um die Jahrhundertwende mit der Winzerei
in Kalifornien. Schweizer Familien bewässerten
die Wüsten des Imperial Valley im Süden
des Staates und legten den Grundstein für die intensive
Landwirtschaft, die heute halb Amerika
mit Früchten und Gemüsen versorgt. Selbst die
Hauptstadt Kaliforniens ist eine Schweizer Gründung:
Johann August Sutter, wegen eines Konkurses
aus der Schweiz geflohen, hatte da Ländereien
erworben und 1839 die Kolonie ‹New Helvetia› errichtet.
Als zehn Jahre später Gold entdeckt und
er von gierigen Glücksrittern überrannt wurde,
gründete sein Sohn die Siedlung Sacramento.
Schweizer wissen das naturgemäss besser als
Amerikaner. Wie auch, dass es der Welschschweizer
Radrennfahrer und Mechaniker Louis Chevrolet
war, der 1900 als 22jähriger nach Amerika auswanderte
und elf Jahre später die Autofirma startete,
die seinen Namen trug – ein Schweizer Markenzeichen
made in USA.
Swiss Center of North America: Im Unterschied zu
anderen Einwanderergruppen haben die Schweizer
kein Zentrum, das ihre Geschichte dokumentiert.
Das soll sich ändern; 1999 ist New Glarus
zum Standort des Swiss Center of North America er-
koren worden. Kommt genug Geld zusammen,
wird das ein Neubau werden; ein langes horizontales
Quader, dessen kühle Architektur schweizerische
Nüchternheit ausstrahlt. Kaye Gmur, die
Administratorin, wagt noch nicht so recht darauf
zu hoffen – vielleicht wird man sich mit dem Umbau
des alten Spitals zufrieden geben müssen,
wo sie jetzt ihr Büro hat. Bisher sind drei Millionen
Dollar zusammengekommen, teils staatliche Gelder
aus den USA und der Schweiz, teils Firmenspenden
aus beiden Ländern. Kein Museum soll
es werden, sondern ein Ort des kulturellen Austausches,
der historischen Forschung und der geschäftlichen
Beziehungspflege, betont Kaye. Das
geplante Zentrum soll auch die Website von Swiss
Roots betreuen, über die Amerika-Schweizer ihre
Abstammung erforschen und Kontakte knüpfen
können.
Ab in den Wilden Westen: Die Gründungsgeschichte
von New Glarus ist insofern ein Sonderfall,
als die Emigration von politisch führenden Persönlichkeiten
organisiert wurde. In Sorge um die
wirtschaftlich Bedrängten bildeten sie ein ‹Auswanderungs-Comité›,
namens dessen zwei Emissäre,
der Appellationsrichter Niklaus Dürst und
der Schmied Fridolin Streiff, nach Amerika geschickt
wurden mit dem Auftrag, im ‹Wilden Westen›
Land für Siedler zu kaufen. Am 8. März 1845
brachen die beiden auf. Es dauerte eine Weile, bis
sie fündig wurden. Fruchtbaren Boden für Getreide
und Viehwirtschaft gab es wohl, doch Wälder für
Nutzholz waren rar, und ohne Holz konnte man
nicht bauen. Am 17. Juli tätigten sie den Kauf der
480 Hektar Land des künftigen New Glarus.
Im ‹Historical Village› des Dorfes steht eines der
kleinen Holzhäuser, ein Original der Gründerjahre,
das von den bescheidenen Verhältnissen zeugt,
in denen die Pioniere lebten. Mitte August 1845 waren
135 von ihnen, dreissig Familien insgesamt,
am Bestimmungsort eingetroffen.
Nur fünf Familien blieben. Einige zogen weg, andere
verkauften ihre Landrechte, einzelne starben.
Der Deutsche Wilhelm Streissguth, der als
erster Pfarrer amtete, legte in einem Brief vom
2. September 1850 den Glarner Kirchenbehörden
Rechenschaft ab über den Zustand seiner Gemeinde.
Streissguth, angereist per Bahn, Schiff
und Postkutsche «mit ächt amerikanischer Schnelligkeit
und Unsicherheit sowohl für das Leben, als das Gepäck
der Reisenden», war vorgewarnt, in der Schweizerkolonie
stünde nicht alles zum besten. Streitereien
und Familienfehden waren ausgebrochen,
die Freiheit war zur Zügellosigkeit geworden.
Frisch in der Wildnis angekommen, hätten manche
den Kopf verloren, schreibt Streissguth, und
den Eltern sei die Kontrolle ihrer Kinder entglit-
45
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ten. Einige Mädchen hätten im Alter von vierzehn,
fünfzehn Jahren geheiratet, und der Arzt,
ein gewisser Dr. Blumer, lebe gar in Sünde mit einer
Minderjährigen. Trotz all dem war der Pfarrer
zuversichtlich, seine Schäfchen auf den rechten
Weg zurückführen zu können.
Was ihm auch gelang. Einmal etabliert, zog die
Kolonie weitere Schweizer an. 1910 eröffnete die
Pet Milk Farm; bald der Hauptarbeitgeber der Region,
der Hunderte von Arbeitskräften auch aus
der Schweiz rekrutierte. Margaret Duerst, eine
reizende 86jährige Dame, ist die Tochter eines
Schweizer Bauern, der 1915 nach New Glarus emigrierte.
Als er genug Erspartes hatte, kaufte er einen
Hof, wo sie als drittes von sechs Kindern aufwuchs.
Zu Hause wurde Schweizerdeutsch gesprochen,
doch in Margarets eigenem Haushalt – auch
sie heiratete einen Schweizer – war dann Englisch
die Regel.
Die Rösti bleibt auf dem Tisch: Von der Heimat
bewahrte man die Sitten und Gebräuche; die Rösti,
die auf den Tisch kam, die Spiele, die man
spielte. Und die Tatsache, dass man, wie Margaret
sagt, «sehr konservativ» war: Nichts durfte weggeworfen,
der Teller musste leergegessen werden.
An die Wegwerfmentalität der Amerikaner wollten
sich die Schweizer nicht gewöhnen; bis heute, in
die fünfte Generation, hat sich die helvetische Tugend
der Sparsamkeit erhalten.
Dass in der Gegend einmal Hunderte von Bauernhöfen
standen, bezeugen verfallene Scheunen,
durch die der Wind pfeift. Jetzt sind es nurmehr
achtzehn Betriebe, die das Erbe der von Schweizern
begründeten Milch- und Käsewirtschaft weiterführen.
Die Voegeli Farm, die 1854 die Milch für
die erste Käserei in New Glarus lieferte, hat sich
durch alle Zeitwirren gehalten – ihre Schweizer
Braunkühe-Zucht geniesst Weltruf.
Doch wer die Nase dafür hatte, konnte noch sein
Glück machen, als es mit der Landwirtschaft bereits
bergab ging. Hans Lenzlinger, gebürtiger St.
Galler, Sohn einer Hotelierfamilie, Koch und Skilehrer,
ist so etwas wie der Dorfkönig von New
Glarus geworden. Das stattliche New Glarus Hotel
im Zentrum, 1853 erbaut, ist in seinem Besitz wie
das Chalet Landhaus Inn, ein ausladender Bau
am Dorfrand – beides Marksteine rustikaler Architektur,
wo Heerscharen von Touristen logieren,
die ‹Americas Little Switzerland› besuchen.
Abenteuerlust hatte Lenzlinger 1969 nach New
Glarus gebracht, einem Ort weit genug von der
Schweiz entfernt und doch der Heimat so nahe,
dass er von seinen Erfahrungen im Fremdenverkehr
profitieren konnte. Lenzlinger, ein Mann von
jovialer Professionalität, hat seine Geschäftspartner
zu Freunden gemacht und seine Freunde zu
Geschäftspartnern; kein Verein und kein Vorstand,
der mit ihm nicht irgendwie verbunden wäre. Honorarkonsul
der Auslandschweizer, pflegt Lenzlinger
die Kontakte zu Behörden und Politikern
dies- und jenseits des Atlantiks so unkompliziert
wie die zur Stammkundschaft, für die er immer
wieder in der Küche steht. In die Schweiz zurückzukehren
könnte er sich nicht vorstellen; hier ist
doch alles ein bisschen offener für einen, der seine
Chancen zu packen weiss.
Tellspielfieber: Nun, da die Zuwanderung aufgehört
hat und Schweizer der Visaschwierigkeiten
wegen lieber nach Kanada emigrieren, braucht es
fremdes Blut, soll Schweizer Folklore wie Ländlermusik,
Jodeln und Fahnenschwingen überleben.
In den alljährlichen Wilhelm-Tell-Festspielen,
die rund hundert Laiendarsteller auf Trab halten,
stehen denn auch mehr und mehr Amerikanerinnen
und Amerikaner auf der Bühne; einmal vom
Festspielfieber gepackt, würden sie aus reiner
Lust an der Exotik zu eifrigen Wahlschweizern,
versichern einem die Abstammungsechten augenzwinkernd.
Deborah Krauss Smith, Dirigentin der Monroe
Swiss Singers und des Männerchors New Glarus,
fürchtet Nachwuchsprobleme: Es sind Leute in
den Vierzigern, die die Lücken in den Chören füllen
– eine Generation, die noch ihre Wurzeln
sucht, nach der aber eine kommt, die damit wenig
anzufangen weiss. Das Repertoire ist schweizerisch,
und Lieder wie ‹Alpufzug›, ‹Vo Luzärn uf
Weggis zue› und ‹Min Vatter isch en Appezeller›
werden im Originaldialekt gesungen. Doch man
singt nicht alle Strophen, da man soviel Unverständlichkeit
dem amerikanischen Publikum nicht
zumuten kann. Deborah hat Deutsch in der Schule
gelernt; ihre Grossmutter, eine Aargauerin, die
1921 als 18jährige aus reiner ‹Wanderlust› emigrierte
und Kindermädchen war, hatte so rasch
wie möglich Amerikanerin werden und ihr Schweizertum
ablegen wollen. Was allerdings nicht soweit
ging, dass sie nicht Glarner Kalberwurst oder
Berner Bretzeli aufgetischt hätte.
Umgekehrt ist es bei Elda Schiesser. Als Amerikanerin
geboren, möchte sie nichts so sehr wie
Schweizerin sein, wie auch ihre Tochter Linda, die
sich richtig zu Hause fühlt, wenn sie im Glarnerland
in den Ferien ist. Auf die Frage, was in ihrem
Haushalt spezifisch schweizerisch sei, rufen beide
wie aus einem Munde: «Alles!» Sagt man ihnen,
dass sie in ihrer herzlichen Mitteilsamkeit einen
doch eher waschechte Amerikanerinnen dünken,
sind sie fast ein bisschen pikiert. Ihr Haus in New
Glarus ist ein kleines Museum; Trachtenpuppen,
Antiken und Dokumente erinnern an die geliebte
Wunschheimat.
Scherenschnitte: Elda, der man die 88 Jahre nicht
ansieht, ist eine gefeierte Scherenschnitte-Künstlerin.
Auf das Hobby, das zur Berufung wurde, war
sie gekommen, als sie im Schweizer Heimatwerk
in Zürich auf ein Büchlein über diese Volkskunst
stiess. Die Technik brachte sie sich selber bei. Ihr
Ruhm drang bis ins Weisse Haus nach Washington,
wo sie 2002 den präsidialen Weihnachtsbaum
mit einem ihrer Werke schmücken durfte. Das
hat den Ruf der ‹cut-up-girls›, wie Elda und Linda
geheissen werden, unter den Amerikanern im
Dorf tüchtig gefördert. Zumal Elda nun nicht nur
Schweizer Heuwagen in ihrer Motivsammlung
hat, sondern auch eine veritable Harley Davidson.
Mit Genugtuung durfte sie überdies feststellen,
dass im Glarnerland Scherenschnitte wieder populär
wurden, nachdem sie bereits ein Jahrzehnt
damit im Geschäft war. Vielleicht werden dereinst
die Schweizer von den Amerikanern lernen,
was Volkskunst ist – wie die Indianer Nordamerikas,
denen weisse Anthropologen die Sitten und
Gebräuche ihrer Ahnen beibrachten.
Wer noch in der Schweiz aufgewachsen ist, erlebt
die Unterschiede zwischen den Kulturen hautnah.
Der Urner Toni war Austauschstudent der ETH an
der University of Wisconsin in Madison, wanderte
1981 ein und begann als diplomierter Agronom
zu bauern. Seine Frau Esther, gebürtige Thunerin,
verbrachte im Rahmen des Landjugend-Austausches
1983 ein Amerikajahr. Die beiden heirateten,
führten einen Hof, gingen konkurs, bauten einen
neuen auf und managten schliesslich Hans Lenzlingers
Landhaus Chalet Inn. Heute ist Toni Finanzberater,
und Esther arbeitet bei Roberts, einem
Laden, der Schweizerprodukte verkauft. Trotz
der Rückschläge, die sie einstecken mussten, sehen
die beiden ihr Amerika-Abenteuer positiv –
in der Schweiz wäre es ihnen kaum möglich gewesen,
so viel Verschiedenes auszuprobieren. Sie
beide möchten jedenfalls nicht zurück, wohl aber
die Tochter, die sich während ihrer Schweiz-Ferien
von einer grossen Verwandtschaft aufgenommen
fand; von Onkeln, Tanten und Cousinen, die
sie in Amerika nicht hat.
Wer emigriert, mag mehr gewinnen, als er verliert
– doch der Gewinn ist nicht garantiert, während
der Verlust gewiss ist. Seine Schweizer Erfahrungen
kann man mit amerikanischen Freunden
nicht teilen, seine amerikanischen nicht mit
Schweizern. Das ist das Paradox der Horizonterweiterung,
die das Leben in zwei Welten bringt.
Yodeling Cheesemaker: Dass der Lebenslauf in
Amerika weniger vorgespurt ist als in der Schweiz,
hat auch Ernst Jäggi erfahren, der 1955 als Meisterknecht
aus dem bernischen Innertkirchen nach
New Glarus zog, um Bauer zu werden. Als Ernst
mit 24 in Amerika ankam, hatte er hundert Dollar
in der Tasche und konnte kaum ein Wort Englisch.
Drei Jahre arbeitete er sieben Tage die Woche
in einer Käserei, ohne einen einzigen freien Tag.
Dann ging er zurück in die Schweiz, fand eine
Frau, kaufte Land in New Glarus, spekulierte ein
bisschen an der Börse, tourte als ‹yodeling cheesemaker›
für ein schönes Werbehonorar durch die
USA, bevor er das Chalet Landhaus Inn für fünfzehn
Jahre managte. Heute ist Ernst 75, putzmunter
trotz der Prognose eines Arztes, der ihn seinerzeit
eines Herzfehlers wegen dienstuntauglich
erklärt hatte und meinte, er werde nicht lange leben.
In den Tell-Spielen gibt ‹Ernie› seit neustem
den Attinghausen: «Das ist der, der stirbt!», sagt er
und lacht.
Nun führt Ernst eine Autowaschanlage in New
Glarus und mokiert sich eine bisschen über seine
Brüder in der Schweiz, die nach ihrer Pensionierung
die Hände in den Schoss gelegt hätten. Nein,
wäre er daheim geblieben, hätte er es nie so weit
gebracht, meint er. Eigenes Haus, keine Schulden,
Zeit für sein Maler-Hobby, und vier Hektar Wald,
wo er nach Lust und Laune wüten kann.
Und immer wieder neue Überraschungen: Eben
hat seine Tochter Annemarie, eine Coiffeuse, geheiratet
– einen Bergbauern im schweizerischen
Gstaad, wo sie jetzt lebt. ¬
Peter Haffner, 1953 in Zürich geboren, ist Reporter für Das Magazin
des Tages-Anzeigers und Kulturkorrespondent des Blattes in
den USA. Er lebt in Kalifornien. Seine jüngste Buchpublikation
Grenzfälle. Zwischen Polen und Deutschen erschien als Band 213 der
von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen Anderen
Bibliothek.
47
Engelberg/Arkansas, USA
Arlesheim/Basel-Land, Schweiz
Hohe Einsätze in Las Vegas Der unermüdliche Unternehmer Peter Buol
MaryLou Carroll Peter Buol, Sohn schweizerischer Auswanderer aus dem Graubünden, brachte es in Las Vegas zu Ansehen und
Peter Buol
Foto: UNLV Special Collections
50
hohen Ehren. Nicht als Künstler oder Spieler, sondern als spielfreudiger Unternehmer mit pragmatischem Einschlag
und politischem Stehvermögen. Die amerikanische Historikerin MaryLou Carroll hat seine Karriere bis zum letzten
Einsatz recherchiert. Rien ne va plus! ❙
Der Gründungsbürgermeister von Las Vegas: Als
Peter Buol am 1. Juni 1911 sein Amt antrat, hatte
er 100000 Dollar an Lotteriegewinnen verschwendet
und in der neu organisierten Stadt Las Vegas
den Bergbau, das Versicherungsgeschäft, den Liegenschaftshandel
und die Wüstenlandwirtschaft
gefördert. Buol wurde mit einem Mehr von zehn
Stimmen zum Gründungsbürgermeister von Las
Vegas, Nevada, gewählt. Dieses Amt hatte er während
zwei Jahren inne, danach wirkte er 1913-14
als Abgeordneter in der Staatsversammlung und
1915-18 im Staatssenat von Nevada. Buols öffentliches
Wirken gründete auf seinem Willen, das
Wirtschaftswachstum und die Investitionstätigkeit
im Südosten Nevadas anzukurbeln. Seine siebenjährige
Amtstätigkeit lässt darauf schliessen,
dass seine wirklichen Ambitionen ausserhalb der
Politik lagen; er war weder ein eifriger Kampagnenführer
noch ein beflissener Legislator. Tatsächlich
erweisen die Aufzeichnungen Buol als
durch häufige Abwesenheit glänzenden Entscheidungsträger,
der gerne Legislatursitzungen versäumte,
um Bergwerke vor Ort zu besichtigen und
geschäftliche Opportunitäten aufzuspüren. Buol
förderte das lokale Geschäftsleben von Las Vegas
energisch, warb um die Gunst ausländischer Investoren
(aus Schottland) und setzte sein eigenes
kleines Vermögen aufs Spiel, um einen raschen
Wirtschaftsaufschwung zu bewirken. Buol wurde
nie müde, diese Ziele zu verfolgen. Sein Leben
lang erlitt er immer wieder finanzielle Verluste,
und als er starb, hinterliess er keine bedeutenden
Sach- und Vermögenswerte. Auch wenn er als Gesetzgeber
kaum geschichtliche Spuren hinterlassen
hat, so fallen seine Zähigkeit, sein Optimismus,
sein Gespür für Geschäftschancen (in den
Augen der Amerikaner ein hervorstechendes nationales
Merkmal) und sein unerschütterlicher
Pioniergeist schwer ins Gewicht, wenn wir die
Prosperität des heutigen Las Vegas würdigen, wo
Risikofreudigkeit und Zukunftsglauben vor fast
allen anderen Attributen rangieren. Ausserdem
verstand er es, den Zugriff der Las Vegas Land &
Water Company, einer Filiale der San Pedro, Los
Angeles and Salt Lake Railroad, auf die Land- und
Wasserrechte zu lockern, als sich die städtische
Organisation und wirtschaftliche Entwicklung von
Las Vegas im Anfangsstadium befanden. Peter
Buol favorisierte ein antimonopolistisches Modell
in der frühen Stadtplanung von Las Vegas und widerspiegelte
typische US-amerikanische Annahmen,
Erwartungen und Einschränkungen bezüglich
Expansion und Geschäftsgelegenheiten.
Per Postkutsche in die Wüstenstadt: Peter Buol
wurde am 1. Oktober 1873 als Sohn schweizerischer
Einwanderer in Chicago geboren, fast auf
den Tag genau zwei Jahre nach der verheerenden
Feuersbrunst in dieser Stadt. Der Brand, der am
Abend des 8. Oktober 1871 begonnen hatte, frass
eine 5 km breite Schneise durch die Stadt und
tobte ungehindert weiter bis in die Morgenstunden
des 10. Oktober 1871. 300 Menschen kamen
dabei ums Leben, und mindestens 100000 verloren
ihre – einfache oder luxuriöse – Unterkunft.
Als Peter Buol zwei Jahre später geboren wurde,
war der Wiederaufbau von Chicago schon auf bestem
Wege und versprach das Ausmass der Zerstörung
mehr als wettzumachen.
In einem Chicagoer Adressbuch von 1877 ist ein
Frank Buol mit den Vermerken «schweizerischer
Abstammung, wohnhaft an der 145 Wells Street, Beruf:
Koch» aufgeführt. Peter Buols Eltern – Frank Buol
und Peters Mutter, deren Name nicht belegt ist –
kamen im Jahr 1869 in die Vereinigten Staaten.
Als einer von fünf Söhnen ging Peter bei seinem
Vater, der Küchenchef war, in die Lehre und verdiente
schon früh seinen Lebensunterhalt, indem
er im Gastronomiebetrieb seines Vaters mitarbeitete.
Seine Schulbildung beendete er nach acht
Jahren; danach arbeitete Buol für seinen Vater, indem
er zunächst als Koch tätig war, dann für ver-
schiedene Eisenbahnlinien Mahlzeiten zubereitete
und servierte und schliesslich die Essenszubereitung
und den Service für Erstklassgäste auf der
Santa Fe-Eisenbahnlinie beaufsichtigte. Laut einer
Quelle führte Buol um 1900 einen grossen Gastronomiebetrieb
in Chicago, wo er täglich 5000
Kunden bediente! Nach zehn oder mehr Jahren als
Service-Chef auf Eisenbahnlinien quer durch den
Kontinent zog Buol nach Kalifornien und liess
sich schliesslich in Nevada nieder. Er kam um
1904 (mit 31 Jahren) per Postkutsche in der Wüstenstadt
Las Vegas an und begann nach verwertbaren
Ressourcen zu forschen – als eine solche
erwies sich auch sein Talent, hoch risikoreiche Unternehmungen
bei gewinnorientierten potentiellen
Investoren und Konsumenten zu vermarkten.
Besiedlung oder Okkupation?: Las Vegas, spanisch
‹Wiesen›, bot den Reisenden des 19. Jahrhunderts
inmitten einer Wüstenlandschaft eine erfrischende
Fülle von artesischen Brunnen an und erfreute
sich besonderer Beliebtheit bei spanischen Reisenden,
die nach Mexiko unterwegs waren. Im Jahr
1855 errichteten mormonische Missionare auch
eine Missionsstation und eine Militärfestung und
versuchten in der später als Las Vegas bekannten
Landschaft ortsfeste Landwirtschaft zu betreiben.
Die Mormonen gaben ihr Vorhaben nach zwei Jahren
auf, aber die Festung blieb bestehen und ist
heute die älteste historische Stätte in Las Vegas.
Spanier und Mormonen der Region litten unter
den Raubzügen der Süd-Paiute-Indianer, die im
heutigen Las Vegas einen Minderheitenstatus innehaben,
aber weitgehende Autonomie geniessen.
Ein Gebiet mit einer Fläche von ungefähr 720 Hektar
wurde im späten 19. Jahrhundert an William
Clark, Senator von Montana, verkauft, der das
Land im Jahr 1905 parzellenweise für den Bau der
Verbindung der Union Pacific Railroad zwischen
Salt Lake City, Utah und Los Angeles versteigerte.
Den ‹Verkäufen› von Land zwecks Besitznahme
und Expansion durch die (christlichen) Weissen
standen in den USA des 19. Jahrhunderts die Landverluste,
-verkäufe oder -diebstähle der indianischen
Gemeinschaften, Stämme und Kulturen
gegenüber. Gegen Ende des Jahrhunderts wurden
Wüstenregionen wie Las Vegas, die früher als ungeeignet
für die Nutzung durch Weisse erachtet
worden waren, zunehmend von Weissen besiedelt,
die der Eisenbahn, dem Bergbau, der Landwirtschaft,
der Holzindustrie und anderen expandierenden
Industriezweigen der USA nachfolgten
oder als christliche Missionare tätig waren. Die
Zunahme der weissen Okkupation (Immigranten
und Einheimische) lief parallel zur Entvölkerung
der Indianergebiete. Dies erklärt auch, warum es
hier so viele Festungen und Militärdenkmäler gibt.
Wasserquellen und Honigmelonen: Bald nach
seiner Ankunft in Las Vegas um 1904 erkannte
Peter Buol die grosse Bedeutung unterirdischer
Quellen und Grundwasserleiter für die Entwicklung
der Stadt. Gegen Ende 1905 hatte Buol das
Vegas Artesian Water Syndicate gegründet, das
Brunnen bohren sollte, um Wasser für die Landwirtschaft
zu beschaffen. Wie ein Zeitzeuge aus
Nevada im Jahr 1913 berichtet, pflanzte Buol
gleich nach seiner Ankunft einen 6 Hektar grossen
Pfirsichgarten an. Laut einer anderen Quelle
baute Buol ein Jahr später auch 16 Hektar Honigmelonen
an. Die landwirtschaftliche Produktion
versprach jedoch keine befriedigende Rendite,
dies trotz der zahlreichen artesischen Brunnen,
welche Buol geschickt lokalisierte und bohrte.
Der Wüstenboden im Mohave war zu alkalisch,
um hohe Ernterträge von Feldfrüchten abzuwerfen.
Trotzdem setzte Buol seinen Versuch mit
dem Anbau von Nahrungsmitteln fort und verschickte
seine Erzeugnisse per Eisenbahn. Im
Jahr 1913 besuchte Buol Schottland, um Investoren
für den Wohnbau in Las Vegas zu finden. Er
steuerte Land- und Wasserrechte bei, und die Investoren
verpflichteten sich zur Zahlung von
100000 Dollar. Obwohl die Finanzierung schliesslich
scheiterte und nur 20000 Dollar bezahlt wurden,
kam es doch zum Bau des Wohnviertels, das
den Namen ‹Scotch 80’s› erhielt. Heute ist es eine
exklusive Vorstadt von Las Vegas.
Peter Buol verdiente als Bürgermeister von Las
Vegas 15 Dollar im Monat. Zusammen mit seiner
Gattin Lorena Patterson von Booneville, Missouri,
und seiner Adoptivtochter Dorothy führte er in
Las Vegas während rund zwanzig Jahren ein ruhiges
Familienleben in angenehmen Verhältnissen.
1925 zog er nach Kalifornien. 1937 erlitt er einen
Schlaganfall, 1939 verstarb er in Kalifornien.
Peter Buols Lebensspanne war nach modernen
Massstäben gemessen nicht sehr lang. In den 66
Jahren, die ihm vergönnt waren, kultivierte er
eine nonchalante Gleichgültigkeit gegenüber
dem Risiko, einen unerschütterlichen Optimismus,
einen genialen Sinn für Marketing, ein
gutes Gefühl für den richtigen Zeitpunkt und politisches
Gespür. Seine Geburtsstadt Chicago und
die Stadt, in der er seine politische Tätigkeit begann,
Las Vegas, waren bei ihrer Gründung just
auf solche Qualitäten und Charaktere angewiesen.
¬
Aus dem Englischen von Ernst Grell
MaryLou Carroll lebt in Chicago, Illinois, wo sie am Columbia
College Chicago Amerikanische Geschichte lehrt.
51
Wenn die Cowboys jodeln Ein Kulturaustausch der besondern Art
Bart Plantenga Woher kommt und wohin führt das Jodeln? Der Mann, der über diese brennende Frage ein ebenso dickes wie
«Gemeinsames Merkmal aller
Jodelformen ist die Lauterkeit
und Ehrlichkeit der Aussage.
Im Jodel gibt es keine Ironien,
keine Sarkasmen, keine Lügen.»
(Tiny Bill Cody)
52
unterhaltsames Buch verfasst hat, gibt Antworten. In einer Abkürzung rund um die Welt und mit Echos aus allen
Himmelsrichtungen ❙
« …als ich von einer hohen Alpenweide zur Seite her
den grell jauchzenden Reigenruf eines Sennen vernahm,
den er über das weite Thal hinüber sandte; bald antwortete
ihm von dort her durch das ungeheure Schweigen
der gleiche übermüthige Hirtenruf: hier mischte sich
nun das Echo der ragenden Felswände hinein; im Wettkampfe
ertönte lustig das ernst schweigsame Thal…
so spricht die Klage der Thiere, der Lüfte, das Wuthgeheul
der Orkane zu dem sinnenden Manne, über den
nun jener traumartige Zustand kommt, in welchem er
durch das Gehör wahrnimmt (…), dass sein innerstes
Wesen alles jenes Wahrgenommenen Eines ist… »
(Richard Wagner*)
Viehhüter in CH und USA: Der Eidgenössische Jodlerverband
würde Wagner zustimmen. Für ihn ist
Jodeln ein organisches, urschweizerisches, mystisches
Rudiment, das im identitätstiftenden
Nationalismus der romantischen Epoche im vorletzten
Jahrhundert wurzelt.
Schweizer Älpler und amerikanische Cowboys weisen
mehr Ähnlichkeiten auf, als man gemeinhin
vermuten würde. Beide verkörpern bestimmte
kulturelle Mythen, die mit dem Typ des rauen
Burschen assoziiert sind. Beide sind Viehhüter, und
das Leben als Viehhüter ist alles andere als einfach.
Es erfordert Fähigkeiten im Umgang mit den
Tieren, zu denen der Gebrauch bestimmter Herdenrufe
und oft auch das Jodeln gehören. Schweizer
Jodel und Cowboy-Jodel sind einander ähnlich
und doch verschieden. «Beide Stile besitzen die bemerkenswerte
Eigenschaft, dass sie einen seelenbefreienden
Fluss der Noten auslöse», sagt Eastside Dave
Kline, ein Pennsylvania-Schweizer Jodler, der inspirierende
Alpenklänge zum sogenannten ‹Mountain
Folk› verarbeitet. «Ich bin mit schweizerischen
und anderen Jodelklängen aufgewachsen, die mich auf
eine ganz bestimmte, magische Art und Weise inspiriert
haben.»
Die nach dem offiziellen Muster des eidgenössischen
Verbandes gestrickten Jodelgesänge funk-
tionierten die urtümlichen, in freier Landschaft
gesungenen ‹Naturjodel› (freie, spielerische Improvisationen)
in eine stark strukturierte Kammermusik
um. Diese meidet gerne den hellen ‹Iiihhh›-Klang
zu Gunsten des sonor gedehnten,
nostalgischen ‹Uoohhh›, das durch den vorangehenden
Gleitvokal machtvoll lanciert wird. Was
aber nicht heisst, dass Schweizer Jodel nicht auch
zu frenetischen, atemberaubenden Tempi eskalieren
können. Schliesslich ist Jodeln auch Lappalie,
Farce, Ornament und Berufsoption in einem
und erklingt heute in den flachsten Ebenen und
den betriebigsten Städten der Welt.
Mit der Stimme auf die Welt reagieren: Das
Schweizer Jodeln ist ein grosser topografischer Dialog
zwischen Mensch und Umwelt, der zu tiefreichenden
Verbindungen mit dem Gegenüber ‹dort
draussen› inspiriert. Ironischerweise ein grosser
Klang in einem kleinen Land. Die Jodel der Cowboys
dagegen wecken das Gefühl der Intimität,
von etwas Kleinem in einem weiten Land. Ihr charakteristischer
‹eee›-Sound verleiht ihnen gleichzeitig
etwas Unheimliches und etwas Fröhliches.
Jimmie Rodgers näselnde Jodel klingen wie beiläufige
Messerstiche oder Hupsignale einsamer Züge.
Tommy Johnsons Blues-Jodel klingen wie Windstösse,
die pfeifend durch ein Einschussloch in
der Seele fahren.
Tiny Bill Cody, der kanadische Vaudeville-Cowboy,
sieht das Cowboy-Jodeln als «etwas eher Intimes, Verwundbares,
Absichtsloses – ein persönliches Manifest
der reinen Freude oder Melancholie des Augenblicks.»
Mike Johnson, der schwarze jodelnde Truckfahrer,
der Countrysound und Schweizerstil vermischt,
sagt: «Mein erster Einfluss war Johnny Weissmüllers
Tarzanschrei. Später wurde ich inspiriert durch das
Schweizer Jodeln, wie es Elton Britt und andere pflegten,
die über den einfacheren, stimmbänderschonenden
Jodelstil eines Jimmie Rodgers hinaus gelangen wollten.
Der Cowboystil gibt mir ein entspanntes, warmes Ge-
fühl, während der Schweizer Stil bei mir eher Rückenschauer
und Blutwallungen hervorruft.» Cody gibt
ihm recht: «Der Schweizer Jodel ist viel energischer,
plakativer. Der Sänger steht leidenschaftlich für eine
Sache ein (Liebe, Politik, Natur) und ist vollkommen
überzeugt, dass dies mitgeteilt werden muss.»
Janet McBride, die texanische Grande Dame des
Cowgirl-Jodelns, sagt: «Der Schweizer Jodel basiert
stärker auf harmonischen Begleitstimmen, deren Zusammenwirken
die schönsten Jodelklänge ergibt, die
man sich nur denken kann.» Der Tschecho-Texaner
Randy Erwin, Meister in vielen Jodelstilen, bemerkt:
«Der Blues-Jodel ist gewissermassen der Hauptgang,
und die schnellen Schweizersachen sind das Dessert,
das auf einer langen Tradition beruht und relativ stark
reglementiert ist. Der Cowboyxstil ist ein Bastard, der
sich umtun kann, ganz wie es ihm beliebt, weil niemand
weiss, woher er eigentlich stammt. Wenn ich meine
Jodel singe, höre ich Afrikaner, Iren, Blues, Hawaiigitarren,
Hillbilly und Burschen in Lederhosen, die sich
auf die Kniee klatschen.»
Kommunikative Magie: Somit ist alles, was Sie
jemals über das Jodeln gehört haben, falsch. Unsere
Kultur hat uns darauf konditioniert, das Jodeln
als etwas Marginales, Ärgerliches wahrzunehmen
– als Symptom dafür, dass unsere Kultur mit
schwerwiegenden Mängeln behaftet ist. In Wirklichkeit
ist das Jodeln aber eine hochwirksame
Kommunikationsform. Dieser Umstand wird satirisch
verarbeitet in Tim Burtons Film Mars Attacks:
die Helme der anrückenden Marsbewohner zerspringen,
ihre knolligen Köpfe zerplatzen, so dass
ihre grünliche Hirnmasse hoch aufspritzt, wenn
sie den theatralisch übersteigerten Jodel des Sängers
Slim Whitman hören. In Disneys Home on the
Range, erfährt der Schurke Alameda Slim, dass
sein Jodeln nicht nur Rindvieh, sondern auch Menschen
hypnotisiert. Er hofft, diese Gabe zur Beeinflussung
der Massen verwenden zu können,
damit er zum Präsidenten gewählt wird. In George
und Ira Gershwins Musical Strike Up The Band
(1927), einer bissigen Antikriegssatire, wird das
Jodeln als Geheimwaffe eingesetzt, um die Schweizer
Armee aus ihrem Versteck hervorzulocken
und damit einen lächerlichen Krieg zu beenden.
Jodeln als entwaffnendes Stimmexercitium!
Das mag weit hergeholt erscheinen, ist es aber keineswegs.
In seiner 1936 erschienenen Abhandlung
Magic & Technique in Alpine Music beschrieb Manfred
Bukofzer die magischen Kräfte verschiedener
Alpenklänge in Verbindung mit bestimmten
mystischen Worten. Der Kuhreihen war mystisch,
weil er den Kuhhirten an seine Herde band und
böse Geister und Krankheiten verscheuchte. Quellen
aus dem 17. Jahrhundert beschreiben, wie
heimwehkranke Schweizer Söldner desertierten,
Amok liefen oder sogar starben, wenn sie bestimmte
Alpengesänge hörten. Es wurde ein Gesetz
erlassen, das das hysterieerregende Jodeln in
Gegenwart von Schweizer Soldaten untersagte.
Tatsächlich beeinflusst der für das Jodeln charakteristische
Oktavsprung das Nervensystem anders
als gewöhnlicher Gesang.
Was ist nun eigentlich ein Jodel? Begrüssung?
Warnung? Freudiger Ausbruch? Frommes Geheul?
Aufmunterungsruf eines Hirten an die mit dem
üppigsten Euter ausgestattete Kuh der Herde?
Oder eine nervenstrapazierende ‹Variation über
Eselslaute›, wie Walter Scott im Jahr 1830 befand?
Wahrscheinlich all dies zusammen.
Der Jodel unterscheidet sich von anderen Gesangspraktiken
durch seine Betonung des abrupten Luftstosses,
der entsteht, wenn die Stimme vom tieferen
Register der Bruststimme zur hohen Kopfstimme
(Falsett) überwechselt und umgekehrt.
Ohne Kehlkopfhüpfen kein Jodel. Ein echter Juutz
ist wortlos und stellt keine eigentliche ‹Musik›
dar, sondern ein akustisches Signal, das meist
von Hirten verwendet wird, um sich untereinander
und mit ihren Herden zu verständigen. Ed
Sanders von der Gruppe ‹The Fugs› nennt es «einen
hausgemachten Morsecode für Bergbewohner.»
Jodeln ist geografisch allgegenwärtig und kommt
in jeder musikalischen Sparte vom Jazz bis zur
Oper, vom Hip-Hop bis zum Techno vor, obwohl es
immer noch meist mit der Welt der Alpen assoziiert
wird.
Das Jodeln kommt in Amerika auf: Wohl eines der
umstrittensten Themen meiner Nachforschungen
ist die Frage, wann und wie das Jodeln nach
Amerika importiert wurde. Die gängige, herkömmliche
Ansicht ist die, dass dies nicht vor 1815, also
200 Jahre nach den ersten Einwanderungen von
Europäern, geschah. Das heisst, dass die amerikanischen
Ureinwohner wohl damals bereits jodelten.
Ihre Gesänge enthalten oft ‹stimmliche
Pulsationen, Falsett, Nasaltöne.› Es gibt Anhaltspunkte
dafür, dass westafrikanische Sklaven ihre
Jodel via die afrikanische ‹Sklavenküste›, u.a. aus
den von den jodelnden Pygmäen bewohnten Gegenden,
mitbrachten. Der Landschaftsarchitekt
Frederick Olmstead hörte in den 1850er Jahren in
South Carolina ein seltsames ‹Negerjodeln›, das
er als «langen, lauten musikalischen Ruf» beschrieb,
der sich «abwechselnd hob und senkte und dann in das
Falsett übersprang», Klänge, wie sie bei den formlosen
Rufen der schwarzen Landarbeiter üblich
waren. Laut Harold Courlander waren diese zweckgebundenen
Rufe, die «afrikanische Vokaltechniken
wie Jodel und echeoartige Falsetti verwendeten», eine
Art Soulmusik der Erntefelder. Einige dieser Skla-
53
Muothatal/Schwyz, Schweiz
Sugarcreek/Ohio, USA
56
vengesänge gehen auf beschwörende Pygmäenjodel
zurück, die eng mit dem Wald als wichtigem
Hort von Mysterien und Lebensgrundlage
verbunden sind. Jazzsänger Leon Thomas glaubte,
Pygmäen sängen durch seine einzigartige Stimme,
deren anthropologische ‹Verbalenergie› immer
eine Steigerung erfuhr, wenn er seinen Pygmäen-
Jodel-Scatgesang ertönen liess.
Auch echte Cowboys – Schwarze, Weisse, Mexikaner
– jodelten wahrscheinlich, obschon keiner von
ihnen das Jodeln zum Beruf machte. Die Cowgirljodlerin
Liz Masterson aus Colorado meint dazu:
«Es scheint durchaus logisch, dass Kuhhirten diese hohen
Töne verwendeten, wenn sie durch ihre Herde ritten.
Wenn die Tiere ihr dumpf dröhnendes ‹Muuuuh›
ausstossen und plötzlich einer ‹Uiiih› dazwischen schreit,
kann er sicher sein, dass sein heller Ruf die ganze Herde
übertönt. Noch heute höre ich, wenn ich hin und wieder
auf Ranches zu Besuch bin, diese schrill-schrägen
Rufe. Und man kann effektiv einen Jodel darin hören,
wenn diese Leute ihr ‹Uiii-ipp tschiii-ipp tschiii-ipp› erschallen
lassen.»
Wilf ‹Montana Slim› Carter, Sohn eines Schweizer
Baptistenpredigers, verkörperte – authentisch und
popmusikalisch stilisiert – den Geist des freiheitsliebenden,
auf Güterzügen herumstreunenden
‹Yodeling Cowboys› mit seinem alpenländisch beeinflussten
Western-Jodel.
Frühe Schweizer Einwanderer: Nach Meinung des
mennonitischen Archivars Leonard Gross gelangte
der Jodel mit den ersten Schweizer Einwanderern
nach Nordamerika. Er erklärt: «Meine Frau – sie
ist Schweizerin, und ihr Vater, der als mennonitischer
Prediger in Twann lebte, war ein guter Jodler –, meine
Frau sagt, das Jodeln gehe auf eine sehr alte Überlieferung
der Schweizer Mennoniten-Brüder zurück. Es ist
naheliegend, dass Schweizer Brüder, die direkt von der
Schweiz nach Nordamerika auswanderten, ein paar
Jodler mitnahmen.»
Deutsche Mennoniten und Amische gehörten zu
den ersten Immigranten in den 1670er Jahren.
Diese Kriegsflüchtlinge und religiös Verfolgten
kamen vom Pfälzergebiet über Rotterdam nach
Pennsylvania. Sie sprachen Schweizer Dialekte
und sangen alte Arbeitslieder, von denen einige
Jodelelemente enthielten. Die Jodlerin Betty Naftzinger,
die als Tochter eines Schweizer Farmers
bei Kutztown, Pennsylvania, geboren wurde, erinnert
sich, dass sie in den 1940er Jahren beim Pflügen
der Felder das Jodeln erlernte.
Einige Schweizer Immigranten siedelten sich im
18. Jahrhundert in South Carolina, Maryland und
Pennsylvania an. Andere zogen nach Westen (1820-
1900) und gründeten in Texas und Indiana deutsche
und schweizerische Einwanderergemeinden.
Amische aus dem Bernbiet und dem Emmental
gründeten im ländlichen Indiana die Gemeinden
Berne und Geneva. Hier bewahrten sie ihre folkloristischen
Bräuche, u.a. auch ihren alemannischen
Dialekt und das Jodeln, eine akzeptable,
nichtkommerzielle Form der Unterhaltung, die
den sozialen Zusammenhalt stärkte. Und Milchmädchen
brachten ihren Kühen Jodelständchen
dar.
Einwanderer aus dem Kanton Glarus liessen sich
in Wisconsin nieder, wo sie in den 1840er Jahren
die Städte New Glarus und Monroe gründeten.
Um 1900 zählte Wisconsin 8000 Schweizer Einwanderer.
Der Appenzeller Jodler Louis Alder
emigirierte nach Monroe und gründete dort das
Monroe Yodel Quartet (1921). Die Moser Brothers,
eine Schweizer Jodlerfamilie, absolvierten eine
Nordamerika-Tournee und liessen sich danach
in Wisconsin nieder; im Jahr 1933 traten sie im
Schweizer Pavillon an der Chicago Worlds Fair
auf. Rudy Burkhalter wuchs in Basel auf, wo er
das Handharmonikaspiel und das Jodeln erlernte.
Er wurde ein renommierter Komponist in Wisconsin
und schrieb in den 1950er Jahren Jodellieder
wie ‹Will You Teach Me How To Yodel› für Walt
Disney TV-Produktionen. Die Jodelgruppe Edelweiss
Stars aus New Glarus gab zwischen 1950
und 1996 in ihrer Region Konzerte. Betti Vetterli
(Schweizerin der dritten Generation) und Martha
Bernet (1927 in Leissigen geboren) waren ein populäres
Jodelduo, das bei seinen Konzertauftritten
Reklame für in Winsconsin hergestellte Milchprodukte
machte.
Als Urheberin der Jodelpartien in Walt Disneys
Film von 1937 Snow White & the Seven Dwarfs
zeichnete die ‹Swiss Family Fraunfelder.› Der Jodler,
Lehrer und Musiker Reynard Fraunfelder brachte
seine Familie vom aargauischen Wildegg nach
Kalifornien und später nach Wisconsin. Er war
Mitkomponist zahlreicher Jodelstücke in Disney-
Produktionen und gab seine Jodelkunst an seine
Kinder weiter. Sein Sohn Rheiny jodelte den Part
von Dopey in den ‹Silly Songs.›
Echos der Tradition: Als ich im Jahr 2005 in der
Mennonite Historical Society forschte und am
Goshen College Vorlesungen hielt, entdeckte ich
aus den 1970er Jahren stammende Tonaufnahmen
von informellen Gemeindetreffen mit Jodelmusik,
einige vor Ort gemachte Aufnahmen von
Alan Lomax und ein Liederbuch mit Schweizer
und Pop/Country-Jodelsongs. In der Zeit, da ich
meine Vorlesungen hielt, trugen mehrere Mennoniten
aus der Umgebung Jodelimprovisationen
vor.
Helvetia, ein Dorf in den Appalachen in West Virginia,
wurde 1869 von Schweizern besiedelt. Seine
Bewohner bewahren die Schweizer Volkskultur,
indem sie Schweizerdeutsch sprechen, Handharmonika
spielen und jodeln. Die Familie des Jodlers/Käsers
Bruce Betler wanderte in den 1870er
Jahren vom Berner Oberland und vom Kanton Aargau
ein. Er kommentiert: «Die Helvetians wachsen
mit Schweizer Volksliedern auf. Und manche von diesen
enthalten Jodel.»
Eine Welle von Jodelmusik kam in den 1820er Jahren
nach Nordamerika mit professionellen Sängerfamilien
aus dem Tirol und der Schweiz, die ersten
Popstars der Welt, die für Publika von heimwehkranken
Immigranten musizierten. Ableger
der erfolgreichen Österreicher Jodlerfamilie Rainer
sorgten dafür, dass das Jodeln um die Jahrhundertmitte
zur ganz grossen Mode avancierte. Die
Hutchinson Familie (‹New Hampshire Rainers›)
machte das Jodeln so populär, dass sogar Operndiven
Lieder im ‹mountain style› in ihr Repertoire
aufnahmen. Vaudeville-Theater und Schallplattenindustrie
gaben dem Jodeln weiteren Auftrieb.
Die ‹Bärtschi Yodel-Band›, der Schweizer Tenor
Arnold Inauen, Jacob Jost und der schweizerisch-amerikanische
Männerchor nahmen zwischen
1900 und 1927 erfolgreiche Jodelplatten
auf. Der schweizerisch-amerikanische Jodler Fred
Zimmerman nahm 1925 den Song ‹I Miss My
Swiss› mit dem berühmten Orchester von Paul
Whiteman auf.
Richtig berühmt wurde das Jodeln aber erst durch
Jimmie Rodgers, Amerikas erstem Country-Superstar,
der eine fruchtbare Synthese verschiedener
amerikanischer Musikstile – Hillbilly, Jazz, Blues,
Hawaiimusik, Cowboy und Einwanderersongs –
vornahm. Er machte das Jodeln absolut trendig
und schuf dadurch eine kommerzielle Notwendigkeit.
Manche behaupten, sein Jodeln sei von
im Schweizer Stil jodelnden Sängern beeinflusst
worden, die er in Vaudeville-Zeltshows gehört
hatte.
Mythos und Musik: Wir verwechseln oft die mythische
Schweiz mit der geografisch und ethnomusikalisch
gesehen ‹richtigen› Schweiz. Wahrnehmung
erzeugt Wirklichkeit. McBride erinnert
sich: «Einer der ersten Jodelsongs, die ich lernte, war
‹Chime Bells› [vom irisch-irokesischen ‹Swiss Style›-
Jodler Elton Britt]. Sie wissen ja, wie der geht. ‹Out
on a mountain so happy and free›. Diese ‹mountains›
waren in meiner Phantasie natürlich die Schweizer Alpen.»
Der beliebte Jodelsong ‹She Taught Me To
Yodel› stellt wie viele andere Popsongs (‹Yodel
Polka,› ‹Swiss Maid›) das Leben in der Schweiz auf
eine unterhaltsame, leicht konsumierbare Art und
Weise dar. «I went across to Switzerland / Where all
the Yodelers be / To try to learn to yodel / With my
yodel-oh-ee-dee / I climbed a big high mountain / On a
clear and sunny day / And met a yodelin’ gal / Up in a
little Swiss chalet / She taught me to yodel.» Unterdessen
kam ‹Jodelkönig› Peter Hinnen, der jodelnde
Schweizer Popstar, und kehrte die Richtung
der Beeinflussung um, indem er Anleihen beim
Cowboyjodeln machte, mit dem er aufgewachsen
war und von dem er sich für Jodelhits wie ‹Auf
meiner Ranch bin ich König› (‹El Rancho Grande›
1934) inspirieren liess.
Kurz gefasst: Siedler aus den Alpenregionen stiessen
mit ihren Trecks ins Landesinnere vor und
trafen dort andere Einwanderer. Der flottierende
Schweizer und Afrikaner Jodel vermischte sich in
den Appalachen mit britisch-irischen Volksballaden
und später im Westen mit mexikanischen
Songs und Musiziergut anderer europäischer Einwanderer,
um sich schliesslich alle möglichen
Spielarten der Popularmusik wie Blues, Hillbilly,
Rockabilly etc. anzuverwandeln.
Die Vermischung von im entfernten Sinne schweizerischen
Elementen mit vage cowboyartigen
Merkmalen zu echt spannenden experimentellen
Produktionen zeugt vom ungebrochenen Siegeszug,
den das Jodeln im Bereich der zeitgenössischen
Musik angetreten hat – vom Widerhall der
Berge bis zu den elektronisch erzeugten Echoeffekten
im Aufnahmestudio. ¬
Aus dem Englischen von Ernst Grell
Bart Plantenga hat in den vergangenen zwanzig Jahren eigene
Radiosendungen in New York (WFMU - ‹Wreck This Mess›), Paris
(Radio Libertaire) und Amsterdam (Radio Patapoe) produziert.
Als Belletristikautor hat er Beer Mystic, Spermatagonia: The Isle of
Man und Paris Sex Tête veröffentlicht. Sein Buch YODEL-AY-EE-
OOOO: The Secret History of Yodeling Around the World ist die erste
global ausgerichtete Abhandlung über diese geheimnisvolle
Gesangsart. Zur Zeit arbeitet er am zweiten Band, Yodel in Hi-Fi,
einer Jodel-Musikzusammenstellung für Rough Guide, einem
3-CD Set für Music & Words sowie einem Dokumentarfilm über
das Jodeln. Er lebt heute in Amsterdam.
* Richard Wagner, Beethoven (1870), Sämtliche Schriften und Dichtungen,
Bd. 9, S. 74 (zitiert nach Richard Wagner, Werke, Schriften
und Briefe, ed. Sven Friedrich, Berlin: Directmedia 2004)
57
Die Frau mit der Friedenspfeife Naomi Pfenningers Indianer-Festivals
Dorothee Vögeli Wer in der Schweiz die indianische Kultur hautnah erleben möchte, kann dies tun. An sogenannten Indianer-Fe-
Naomi Pfenninger
Foto: Walter Maissen
58
stivals. Organisiert werden solche Festivals von Naomi Pfenninger. Was möchte die Amerikanerin mit indiani-
schen Wurzeln mit dieser Form der Kulturvermittlung erreichen? Dorothee Vögeli hat die Schweizer ‹Squaw› be-
sucht ❙
‹Native American›: Naomi Pfenninger gehört zur
Bevölkerungsgruppe der ‹Native Americans›. Für
die zierliche Frau mit dem langen Haar und den
schmalen, dunklen Augen hat der entsprechende
Ausweis vor allem eine symbolische Bedeutung:
Im Vergleich zu ihren im Reservat der Onondaga
lebenden Stammesgenossen war Naomi Pfenninger
schon immer privilegiert. Aufgewachsen ist
sie im weissen Amerika, als Tochter eines Indianers
und einer eingewanderten Irin. Sie heiratete
dort einen Schweizer, der als Austauschstudent
in ihrem Elternhaus wohnte, und folgte diesem
ins Limmattal. Hier zog sie zwei Töchter gross,
daneben arbeitete sie als Sekretärin in amerikanischen
Grossfirmen. Doch je älter Naomi Pfenninger
wird, um so stärker beschäftigen sie ihre indianischen
Wurzeln. Vor zehn Jahren hat sie mit
ihrem Lebenspartner begonnen, in der Schweiz
Indianer-Festivals zu organisieren. Ziel ist es, der
Bevölkerung die indianische Kultur näher zu bringen.
«Wir wollen zeigen, dass es diese Kultur noch gibt
und gleichzeitig die Winnetou-Mystifizierungen relativieren»,
sagt sie.
Das Konstrukt ‹Indianer› ist ein moderner Mythos.
Es waren die Eroberer und Siedler, aber auch die
frühen Touristen und Fotografen wie Edward S.
Curtis (1868 – 1952), die mit ihrem nostalgischen
Blick auf die untergehende Kultur der nordamerikanischen
Ureinwohner dieses Konstrukt genährt
haben. Nach wie vor gelten Federschmuck und Tipi
als Prototypen der indianischen Kultur. Dabei wurde
und wird immer noch übersehen, dass die Indianer
in verschiedene Volksgruppen mit sehr unterschiedlichen
Sprachen und Bräuchen aufgesplittert
sind. Einen Einblick in diese Vielfalt möchte Naomi
Pfenninger der Schweizer Bevölkerung geben.
Denn: «Die originäre indianische Kultur lebt in den
Reservaten weiter.» Dort beobachtet sie, wie die Bewohner
– auch dank der vom Staat geförderten
Autonomie – wieder Stolz auf ihre verschüttete,
von den Europäern vereinnahmte Vergangenheit
entwickeln und ihren eigenen Zugang zu ihren
kulturellen Wurzeln zu finden versuchen. Indianische
Tänze, indianische Musik und natürlich das
indianische Kunsthandwerk werden nicht zuletzt
auch aus ökonomischen Gründen wieder gepflegt.
Dass dabei manche Klischees weitergetragen werden,
ist ihr bewusst. Doch auch das sei Teil der lebendigen
indianischen Kultur.
Erdverbundenheit: Ihr wichtigster Besitz ist eine
kleine Dose, gefüllt mit Erde aus der Heimat. Als
die damals 20jährige ihr Dorf und ihre Familie
verliess, gab ihr der Vater dieses symbolische Geschenk
in die Fremde mit. Die Erdverbundenheit
ihres Vaters, die gleichzeitig Ausdruck des indianischen
Lebensgefühls sei, präge auch sie, sagt
die Amerikanerin, die ein hervorragendes Schweizerdeutsch
mit amerikanischem Akzent spricht.
Ihr Vater – Buchhalter von Beruf – hat seine leiblichen
Eltern nie kennengelernt. Im Zuge der damals
üblichen Assimilation der Indianer wurde er
als Säugling von Weissen adoptiert. Die Frage
nach seinen wahren Wurzeln sei nie ein Thema
gewesen, erinnert sich Naomi Pfenninger. Auch
sie hat ihre Abstammung nie sonderlich beschäftigt,
wollte sie doch als Jugendliche möglichst so
sein wie alle anderen. Schon als Kind haben sie
jedoch die indianischen Volksfeste (Powwow) im
Reservat des Onondaga-Stamms fasziniert, das in
der Nähe ihres Heimatdorfs im US-Bundesstaat
New York liegt und das sie mit ihrer Familie regelmässig
besucht hat. Der prachtvolle Federschmuck,
die leuchtenden Farben der Kleidung,
der Rhythmus der Trommeln und das oft tagelang
dauernde Geschichtenerzählen gehören zu
ihren eindrücklichsten Kindheitserinnerungen.
Heute möchte sie mehr über die indianischen
Traditionen wissen. Weil dieses Wissen nicht über
schriftliche Quellen, sondern in Form von erzählten
Geschichten, Bräuchen und Zeremonien weitergegeben
wurde, lässt es sich laut Naomi Pfenninger
intellektuell nicht erschliessen. Gerade
deshalb sei die indianische Kultur zweifellos anfällig
für Esoterik. Gleichzeitig fasziniert die Halbindianerin
die Möglichkeit des individuellen Zugangs.
Die sinnlich-archaische Symbolik der indianischen
Kultur kann sie problemlos mit dem
christlichen Glauben verknüpfen. Sie ist deshalb
ein aktives Mitglied der christlich-amerikanischen
Kirche geblieben. «Ob ich nun Gott oder Grosser Geist
sage, ist nicht so wichtig. Doch soll man dankbar sein
für das, was man hat.»
Im Reservat: Ihre Informationen über die indianischen
Ausdrucksformen holt die Wahlschweizerin
direkt vor Ort, bei ihren Freunden in den Reservaten,
die sie regelmässig besucht. «Mich schrecken
die Armut und das soziale Elend nicht ab – im Gegen-
Winterthur/Zürich, Schweiz Chicago/Illinois, USA
60
teil: Die Einfachheit ist für mich ebenso Ausdruck von
Spiritualität. Natürlich ist es auch für Indianer schön,
sechs gleiche Tassen zu haben. Wegen ihres symbolischen
Werts ist aber die Pfeife des Onkels oder die Feder
des Vaters an der sonst kahlen Wand viel wichtiger.»
Während ihren Besuchen in den Reservaten ist ihr
zudem klar geworden, dass die Pflege der Traditionen
die grassierende Depression und den damit
verbundenen Alkoholismus etwas eindämmen
kann, stärkt doch das Sich Besinnen auf die gemeinsamen
Wurzeln das Zusammengehörigkeitsgefühl.
Das Erlernen der traditionellen Tänze und
Handwerkskunst hole viele indirekt aus dem Teufelskreis
heraus, ist sie überzeugt. Auch darum engagiert
sie indianische Musiker, Tänzer und Kunsthandwerker
für die Festivals in der Schweiz.
Im Vordergrund der folkloristischen Darbietungen,
zu denen das Erzählen von Geschichten gehört,
steht nicht nur der Wunsch, eine amerikanische
Minderheit ins Licht zu rücken und gleichzeitig
punktuell Perspektiven zu geben. Genauso soll der
kulturelle Austausch gepflegt werden. Weil die Indianer
während ihrer Tourneen durch die Schweiz
bei Gastfamilien wohnen, wird dieses Ziel auf der
privaten Ebene erreicht. Aus den Begegnungen
entstehen immer wieder Freundschaften, ja sogar
Lebensbeziehungen. Doch auch mit den in
der Regel sehr interessierten Festivalbesuchern
ergeben sich Kontakte. Manche irritiert der Glitzer
und Glimmer, den die heutigen Indianer gerne
einsetzen. Doch sind für Naomi Pfenninger eben
gerade auch kitschige Elemente Ausdruck «einer
lebendigen Kultur, die nicht im 18. Jahrhundert stehengeblieben
ist».
Die positiven Aspekte zeigen: Ganz bewusst wird
an den Indianer-Festivals das Kapitel der Domestizierung
und Verfolgung der amerikanischen Ureinwohner
ausgeblendet. Ab und zu wird dies von
den Zuschauern kritisiert. «Ich sage jeweils, dass
unsere Festivals nicht der Ort sind, um dieses Thema
eingehend zu beleuchten. Man muss zudem bedenken,
dass viele Völker auf der Welt unter Ungerechtigkeiten
ebenso gelitten haben wie die Indianer. Konzentriert
man sich auf die traurigen Episoden innerhalb einer
langen Geschichte, wird die Gegenwart blockiert.» Sie
kenne genug Landsleute, die die Vergangenheit
nicht verarbeiten könnten. «Aber wir müssen
weitergehen, indem wir die viel weiter zurückliegenden
positiven Aspekte unserer Kultur pflegen.» Dazu
gehörten die aktuellen Programme zum Erwerb
der indianischen Sprachen, die in den Reservaten
initiiert worden sind.
Immer wieder erhält sie Anfragen von Schweizern,
die vertiefte Bekanntschaften mit ‹richtigen›
Indianern suchen. Diese Sehnsucht nach Ursprünglichkeit
in einem reichen hochentwickelten
Land wie der Schweiz erstaunt sie nicht. Weshalb
aber das Interesse an archaischen Kulturen in der
Schweiz viel grösser als in den umliegenden Ländern
ist, kann sie nicht erklären. Tatsache sei auf
alle Fälle, dass es nirgendwo so viel Literatur über
die Indianer gebe wie in der Schweiz. Auch den
von Naomi Pfenninger engagierten Indianern, für
die sie während ihres Aufenthalts Ausflüge auf
den Titlis oder nach Zermatt organisiert, fällt die
hiesige grosse Sympathie für die indianische Kultur
und die oft herzliche Kontaktaufnahme auf.
In diesem Zusammenhang erwähnt Naomi Pfenninger
eine Episode, die für sie unvergesslich ist:
An einem Indianer-Festival in den Bergen gesellte
sich ein Alphornbläser zufälligerweise dazu. Er
übergab sein Instrument den Indianern und probierte
deren Flöten aus. Solche spontanen Formen
des kulturellen Austausches seien einfach wunderbar.
Zu Hause, wo das Herz schlägt: Auch sie hat die
Schweiz anfangs als fremdartig empfunden. Als
junge Frau kam ihr das Limmattal wie ein einziges
Dorf ohne Land vor. Mit der Zeit merkte sie
aber, «dass es auch hier Natur gibt, wenn man sie
sucht». Nur im Herbst hat sie manchmal Heimweh
– nach dem Indian Summer mit seinen unbeschreiblich
leuchtenden Farben. ‹The American
way of life› hat ihre Kindheit geprägt. Entsprechend
schwierig war es für sie, sich in der Schweiz
einzuleben. Einkaufszentren, Fast-Food und Parkhäuser
gab es in den sechziger Jahren noch nicht.
Wenn sie im Dorfladen einkaufen musste, wurde
sie nervös: Da sie Selbstbedienungsläden gewohnt
war, wusste sie nicht, wieviel ein Kilo Rüben ist
und wie man ‹carrots› auf Schweizerdeutsch sagt.
Die Amerikanisierung der Schweiz im Lauf der
letzten Jahrzehnte bedauert sie: «Das Spezielle, die
Eigenart ist verlorengegangen.»
«Home is where the heart is», sagt sie. Und weil ihr
Herz bei ihren Töchtern in der Schweiz ist, sie
sich aber genauso mit ihrem Heimatdorf und ihren
Freunden in den Reservaten verbunden fühlt,
hat sie eigentlich drei Heimaten. So geht sie nach
Hause, wenn sie in die USA reist, und kommt
heim, wenn sie wieder in die Schweiz zurückkehrt.
Sie könnte sich vorstellen, einmal für längere
Zeit in einem Reservat zu leben. Denn gerne
würde sie sich Zeit nehmen für Zeremonien, die
sie bis jetzt noch nie gesehen hat. Doch bald wird
sie Grossmutter. Deshalb wird ihre Heimat in
nächster Zeit vor allem die Schweiz sein. ¬
Dorothee Vögeli, geboren 1960 in Zürich, Studium der Philosophie
mit Promotion, seit fünf Jahren bei der Neuen Zürcher Zeitung als
Redaktorin im Ressort Zürich tätig, Schwerpunktthemen Ausländer/Soziales.