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<strong>passagen</strong><br />
p a s s a g e s<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
Dirk Wittenborn 02 «Papa, wer ist die Schweiz?»<br />
Eine Fahrt nach Leukerbad<br />
Jürg Halter 08 Ein amerikanischer Traum<br />
Gedicht für Marc Smith<br />
Ines Anselmi 09 «Wer Glück hat, der findet hier Gold»<br />
Der Schweizer Migrationsforscher Leo Schelbert auf<br />
Spurensuche in den USA<br />
Sacha Verna im Gespräch mit der 15 Zürich – Manhattan – Long Island<br />
Schweizer Künstlerin Garance Mit Garance am Strand<br />
Jean Willi 20 «Nehmen Sie Ihre verfluchte Hand weg»<br />
Die Filme der Gebrüder Dubini zu Thomas Pynchon,<br />
Jean Seberg und Hedy Lamarr<br />
Alfred Defago 25 Die verschwisterten Republiken<br />
Was denken Amerikaner über die Schweiz?<br />
Milena Moser 31 Hollywood-Swissness à la carte<br />
Ein fiktives Gespräch mit Renée Zellweger<br />
Sam Burckhardt 34 CHicago Blues<br />
Saxophonklänge über dem Michigan See<br />
Hubertus Adam 39 If you go to San Francisco<br />
Schweizer Architekten in den USA<br />
Peter Haffner 43 New Glarus – Tellspielfieber im Wilden Westen<br />
Eine Reise in die äusserste Heimat<br />
MaryLou Carroll 50 Hohe Einsätze in Las Vegas<br />
Der unermüdliche Unternehmer Peter Buol<br />
Bart Plantenga 52 Wenn die Cowboys jodeln<br />
Ein Kulturaustausch der besondern Art<br />
Dorothee Vögeli 58 Die Frau mit der Friedenspfeife<br />
Naomi Pfenningers Indianer-Festivals<br />
Fotografie<br />
Blickwechsel USA – CH<br />
Geri Stocker<br />
41<br />
Die Schweizer Kulturstiftung <strong>Pro</strong> <strong>Helvetia</strong> fördert Kunst und Kultur in der Schweiz, sie setzt sich für den kulturellen Austausch im Inland<br />
sowie mit dem Ausland ein. Mit ihrer Tätigkeit unterstützt sie eine kulturell vielseitige, zeitgenössische und offene Schweiz.<br />
Das <strong>Pro</strong>-<strong>Helvetia</strong>-Kulturmagazin Passagen/Passages erscheint dreimal pro Jahr in deutscher, französischer und englischer Sprache.<br />
Zu beziehen über die schweizerischen Auslandvertretungen, das Centre culturel suisse, 32, rue des Francs-Bourgeois, 75003 Paris (nur für<br />
Frankreich), oder direkt beim Herausgeber: <strong>Pro</strong> <strong>Helvetia</strong>, Kommunikation, Postfach, CH-8024 Zürich, Tel. + 41 44 267 71 71, Fax + 41 44 267 71 06,<br />
E-mail: alangenbacher @pro-helvetia.ch. In der Schweiz ist Passagen für sFr. 12.50 (Einzelnummer) oder im Jahresabonnement für sFr. 35.–<br />
erhältlich. (http://www.pro-helvetia.ch).<br />
1
«Papa, wer ist die Schweiz?» Eine Fahrt nach Leukerbad<br />
Dirk Wittenborn «Wer ist die Schweiz?» Mit dieser metaphysischen<br />
Frage überraschte mich meine Tochter Lilo, die in<br />
zwei Monaten ihren dritten Geburtstag feiern sollte.<br />
Es war 7.43 Uhr morgens am Freitag, dem 1. Juli<br />
2004, und wir hatten noch zwölf Minuten, um unseren<br />
Zug zu erwischen. Vor uns lag eine 500-Kilometer-Reise<br />
von Marseille in die Walliser Alpen,<br />
wo ich Gast des 9. Internationalen Literaturfestivals<br />
in Leukerbad war. Das akuteste der zahlreichen<br />
<strong>Pro</strong>bleme, mit denen wir uns an diesem Morgen<br />
herumschlugen, war die Tatsache, dass ich<br />
mich hoffnungslos verfahren hatte. Mein Französisch<br />
war so holprig, dass ich jedes Mal, wenn ich<br />
anhielt, um nach dem Weg zu fragen, nicht zum<br />
Bahnhof, sondern zu einem Kriegsdenkmal geschickt<br />
oder mit einem wütenden Wortschwall<br />
zur imperialistischen Invasion des Iraks durch<br />
mein Heimatland überschüttet wurde.<br />
Nachdem ich mich einmal mehr für einen Präsidenten<br />
entschuldigt hatte, den ich – wie die meisten<br />
Amerikaner – nicht gewählt habe, erklärte ich<br />
meiner Tochter: «Die Schweiz ist ein Ort, Liebling,<br />
kein Mensch.» Ich bemühte mich um einen munteren,<br />
sorglosen Ton, doch in Wahrheit machte ich<br />
mir einige Sorgen – nicht nur darum, ob wir den<br />
Zug verpassen würden.<br />
An diesem Punkt meiner Geschichte muss ich<br />
kurz etwas zurückblenden. Die Wochen vor diesem<br />
Freitag im Juli war ich auf einer Lesereise, zu<br />
der ich meine Frau und meine Tochter mitgenommen<br />
hatte – obwohl mich jeder, von meinem<br />
Therapeuten bis zu den Leuten von meinem Verlag,<br />
gewarnt hatte, dass das ‹ziemlich stressig›<br />
werden könnte. Zudem sei es ‹Wahnsinn›, ein<br />
knapp dreijähriges Kind ausgerechnet auf dieser<br />
Reise, auf der wir mit Auto, Zug und Flugzeug von<br />
Hotel zu Hotel hetzten, ans Töpfchen gewöhnen<br />
2<br />
zu wollen. Leider sollten sie damit nicht ganz Unrecht<br />
haben. Meine Frau Kirsten hatte sich eine<br />
heftige Stirnhöhlenentzündung eingefangen und<br />
dagegen eine ganze Palette gälischer Antibiotika<br />
geschluckt, die sie so komatös machten, dass ich<br />
mich langsam fragte, ob sie die Medikamente<br />
wirklich in der Apotheke und nicht bei einem<br />
Drogendealer auf der Strasse gekauft hatte. Aber<br />
die echte Pièce de Résistance auf unserem abenteuerlichen<br />
Trip durch Europa war eine andere: In<br />
meine Tochter gingen zwar Unmengen von Käse<br />
und Leberpastete hinein, kamen aber seit sechs<br />
Tagen nicht mehr heraus. Es war nicht bloss eine<br />
kleine Verstopfung; sie war aufgebläht wie ein<br />
Ballon kurz vor dem Zerplatzen.<br />
«Hört das Bauchweh in der Schweiz auf?»<br />
«Alles wird gut, wenn wir in der Schweiz sind, ich verspreche<br />
es.» Das Schlimmste an der ganzen Sache<br />
war, dass wir Lilo mit unseren ohnehin zum Scheitern<br />
verurteilten Versuchen, sie unterwegs ans<br />
Töpfchen zu gewöhnen, so viel Angst vor einem<br />
Missgeschick gemacht hatten, dass sie kurzerhand<br />
beschloss, überhaupt nicht mehr auf die<br />
Toilette zu gehen.<br />
«Wird es Pinky in der Schweiz gefallen?» Pinky war<br />
ein Stoffelefant, den meine Tochter überallhin<br />
mitnahm und der, man ahnt es, pink war.<br />
«Pinky wird die Schweiz lieben, mein Schatz.» Dank<br />
der Stirnhöhle meiner Frau und des Magens meiner<br />
Tochter hatten wir in den vergangenen drei<br />
Nächten höchstens sechs Stunden geschlafen.<br />
Wir waren alle übermüdet und völlig erschöpft,<br />
und ich sass seit sechs Uhr morgens am Steuer.<br />
Die gute Nachricht war, dass wir den Zug noch<br />
erwischten. Die schlechte: Halb Frankreich reiste<br />
an diesem 1. Juli in die Ferien. In unserem Zug<br />
herrschte ein grösseres Gedränge als in einer Dose
Ölsardinen. Schliesslich fanden wir drei freie<br />
Plätze. Ich dachte, das sei das vorläufige Ende<br />
meiner <strong>Pro</strong>bleme und ich könnte endlich ein wenig<br />
schlafen. Doch schon beim nächsten Halt war<br />
es mit der Ruhe vorbei: Drei durchgedrehte Wintersportler<br />
stürmten das Abteil und wollten uns<br />
von unseren Sitzen vertreiben. Wir riefen den<br />
Schaffner zu Hilfe, doch vergeblich: Da ich den<br />
Rat des Leukerbader Literaturfestivals ignoriert<br />
und keine Platzreservation gemacht hatte, wurden<br />
wir zu Reisenden dritter Klasse degradiert.<br />
Bei jedem Stopp des Zugs in Frankreich wurden<br />
unsere Sitze von Zugestiegenen beansprucht, so<br />
dass wir immer wieder mit Sack und Pack – drei<br />
Koffer, ein paar Taschen und ein Kinderwagen<br />
samt Kind – das Abteil wechseln mussten. Zugegeben,<br />
ich war selbst schuld, aber wieso betitelten<br />
mich die anderen Passagiere deswegen ständig<br />
als ‹Ente›? Als ich herausfand, dass sie nicht<br />
‹canard›, sondern ‹connard› sagten und dass das<br />
etwas ganz anderes bedeutete, war ich dann<br />
doch leicht beleidigt. Meine Frau schniefte, die<br />
Kleine weinte, und ich flüchtete mich in Gedanken<br />
daran, wie ich mir die Schweiz in meiner<br />
Kindheit vorgestellt hatte.<br />
Wie für die meisten in den Fünfzigerjahren geborenen<br />
Amerikaner war die Schweiz auch für mich<br />
als Junge gleichbedeutend mit dem Kakaopulver<br />
Swiss Miss und roten Messern mit unzähligen<br />
Klingen. Später zeigten mir die Spielfilme über<br />
den Zweiten Weltkrieg, die ich als Jugendlicher<br />
heiss liebte, die Schweiz als Ort der Zuflucht und<br />
Sicherheit. Zwar wurde immer kurz vor der Grenze<br />
noch jemand erschossen, aber für jene, die<br />
durchkamen, war die Schweiz das Paradies.<br />
Und wir? Ob wir es wohl dorthin schaffen würden?<br />
Meine Frau und ich waren uns da gar nicht mehr<br />
so sicher. Ein Dutzend Platzwechsel in einem<br />
schwankenden Zug, ebenso viele erfolglose Toilettenbesuche<br />
mit unserer Tochter, aus einem Ghettoblaster<br />
dröhnte Britney Spears, und jedes Mal,<br />
wenn Lilo fragte: «Sind wir jetzt in der Schweiz?»,<br />
mussten wir sie enttäuschen – allmählich war<br />
uns allen dreien zum Heulen zumute. Irgendwann<br />
fanden wir gar keinen Sitzplatz mehr und<br />
mussten im Gang neben den Toiletten stehen.<br />
Meine Frau und ich, beide vor Schlafmangel kaum<br />
noch zurechnungsfähig, versuchten unsere Tochter<br />
und uns selbst aufzumuntern, indem wir von<br />
all den schönen Dingen sprachen, die uns in der<br />
Schweiz erwarten würden.<br />
«Lilo, weisst du, wer in der Schweiz wohnt?»<br />
«Mein Bauch tut weh.»<br />
«Heidi.» Während das Heidi meiner Kindheit<br />
schwarzweiss war und von Shirley Temple verkörpert<br />
wurde, kannte meine Tochter, wie auch meine<br />
Frau, Johanna Spyris Heldin aus den japanischen<br />
Zeichentrickfilmen.<br />
«Ich habe Hunger.»<br />
«Das kann doch gar nicht sein.» Snacks sind nicht<br />
gerade das beste Mittel gegen Verstopfung.<br />
In einem verzweifelten Versuch, Lilo vom Gedanken<br />
an Essen abzulenken, begann meine Frau, die<br />
aus Deutschland stammt, zu singen: «Heidi, Heidi,<br />
deine Welt sind die Berge.» Die Leute starrten uns<br />
an, aber das kümmerte mich nicht. Bei der zweiten<br />
Zeile stimmte ich mit ein: «Heidi, Heidi, denn<br />
dort oben bist du zu Haus …»<br />
Nachdem wir endlich die Schweizer Grenze erreicht<br />
hatten, wurde unsere Reise noch qualvoller,<br />
weil sich uns durch das Fenster verwischte,<br />
impressionistische Bilder herrlicher Verheissungen<br />
boten: Obstbäume, schneebedeckte Berge, saubere<br />
Toiletten. Doch drinnen, in diesem elenden,<br />
3
Zofingen/Aargau, Schweiz
Bernstadt/Kentucky, USA
6<br />
überfüllten Zug, mussten wir weiterhin dauernd<br />
den Platz wechseln. Meine Beine schmerzten,<br />
und vom ständigen Herumtragen der Koffer hatte<br />
ich Blasen an den Händen. Als wir im Bahnhof<br />
von Genf einfuhren, konnte ich mich kaum noch<br />
zurückhalten: Ich musste endlich hinaus, hinaus<br />
in die Schweiz!<br />
Ich hatte meiner Familie hoch und heilig versprochen,<br />
dass wir am Bahnhof ein Auto mieten würden,<br />
die Strapazen damit vorbei seien und unser<br />
Aufenthalt in der Schweiz von da an nur noch<br />
traumhaft sein würde. Mein Plan hatte nur einen<br />
winzigen Fehler: Im Genfer Bahnhof gibt es keinen<br />
Autoverleih. Bevor meine Frau einen Scheidungsanwalt<br />
anrufen konnte, liess ich mein Gepäck fallen,<br />
rannte aus dem Bahnhof und machte mich<br />
auf die Suche nach einem fahrbaren Untersatz.<br />
Es klingt vielleicht seltsam, aber nach wenigen<br />
Metern hatte ich alles, was mit der Schweiz zu tun<br />
hat, ins Herz geschlossen. Wenn ich in Frankreich<br />
jemanden nach dem Weg gefragt hatte, musste<br />
ich froh sein, wenn er grunzte und mit dem Finger<br />
in die ungefähre Richtung zeigte. In Genf hingegen<br />
nahm sich ein älterer Herr sogar die Zeit,<br />
mir eine kleine Karte aufzuzeichnen. Ich mietete<br />
ein Auto, holte Frau und Tochter ab und fuhr los.<br />
Wir waren zwar heilfroh, dass wir ab jetzt unsere<br />
Sitzplätze auf sicher hatten, aber von unserer bisherigen<br />
Reise noch zu traumatisiert, um die ersten<br />
dreissig Kilometer Schweiz geniessen zu können.<br />
Es war seltsam und surreal, aber erst der<br />
Halt an einer Autobahnraststätte machte uns bewusst,<br />
dass wir im Paradies angekommen waren.<br />
In Amerika sind sogar die Busbahnhöfe noch eine<br />
Spur komfortabler und angenehmer als die Truck<br />
Stops an den Highways. Im Gegensatz dazu fühlten<br />
wir müden Reisenden uns in dieser Schweizer<br />
Raststätte wie Könige. Es gab Krüge mit frisch gepresstem<br />
Orangen-, Melonen- und Ananassaft auf<br />
Eis, Ahorn-Walnuss-Eiscreme von Mövenpick und<br />
draussen einen grossen Teich – oder eher einen<br />
kleinen See – mit Enten, die meine Tochter füttern<br />
konnte. Und mit Windsurfern, die uns daran erinnerten,<br />
dass das Leben ein einziger Urlaub ist.<br />
Als meine Tochter zum hundertsten Mal fragte:<br />
«Sind wir endlich da?», war die Antwort immer<br />
noch «Nein». Aber es fühlte sich an wie ein «Ja».<br />
Die nächsten hundert Kilometer ging es zwar stetig<br />
bergauf, aber uns kam es vor, als wären wir<br />
entlang einer Küste unterwegs. Wir fuhren durch<br />
endlose grüne Täler und unterhielten uns darüber,<br />
dass wir tatsächlich dem gleichen Weg folgten<br />
wie einst Hannibal mit seinen Elefanten –<br />
womit auch für Pinky auf dieser Reise etwas dabei<br />
war. Wir rollten die Fenster herunter, sogen<br />
die frische Luft und den Geruch der Föhren des<br />
Pfynwalds ein, bewunderten den durch die Höhe<br />
enzianblau gefärbten Himmel und hatten das Gefühl,<br />
das Ziel unserer Reise schon vor der Ankunft<br />
erreicht zu haben.<br />
Wie bereits erwähnt, bin ich sehr gut darin, mich<br />
zu verfahren. Aber unseren Zielort zu verfehlen<br />
war sogar für mich unmöglich. Leukerbad ist das<br />
hinterste – und meiner Meinung nach auch das<br />
gemütlichste – Dorf im Dalatal. Wenn die Strasse<br />
nicht mehr weitergeht, bist du da.<br />
Ich wusste nichts über das Literaturfestival Leukerbad.<br />
Alles, was mir mein Kontaktmann bei Dumont<br />
sagen wollte, war: «Da musst du unbedingt<br />
hin.» Als ich in die Einfahrt des Hotels Lindner<br />
einbog, wo das Festival für uns Zimmer reserviert<br />
hatte, ahnte ich, was er gemeint hatte. Das Hotel<br />
hatte nicht nur vier Sterne, sondern auch ein<br />
eigenes Thermalbad. Wenige Minuten nach unserer<br />
Ankunft lagen meine Frau, meine Tochter und<br />
ich in einem riesigen, dampfenden Pool, der noch<br />
heute aus denselben Thermalquellen gespiesen<br />
wird, die schon die Römer vor zweitausend Jahren<br />
für ihre Bäder nutzten. Das für seine Heilkraft berühmte<br />
Wasser wirkte auch bei uns Wunder:<br />
Nach einer halben Stunde ging meine Tochter<br />
freiwillig und alleine auf die Toilette und kam<br />
nach wenigen Minuten sichtlich erleichtert wieder<br />
hinaus.<br />
Doch dies sollte nur die erste einer ganzen Reihe<br />
von angenehmen Überraschungen sein, die uns<br />
das Literaturfestival Leukerbad an diesem Wochenende<br />
bereiten würde. Als wir ins Bett gingen,<br />
war Leukerbad ein Dorf von nett gekleideten, bodenständigen<br />
und naturverbundenen Schweizern.<br />
Doch als wir am nächsten Morgen aufstanden<br />
und zum Festivalstart auf dem Dorfplatz gingen,<br />
war Leukerbad von einer kultivierten Armee von<br />
Bücherfreunden aus Europa und Übersee erobert<br />
worden. Alle waren vornehm blass und trugen<br />
Schwarz, die Einheitsfarbe der Bohemiens – wenn<br />
die Stimmung nicht so fröhlich gewesen wäre,<br />
hätte man meinen können, man sei auf einer Beerdigung.<br />
Der Zeremonienmeister dieses vielfältigen Kulturcocktails<br />
war Ricco Bilger, der jungenhafte Gründer<br />
und Leiter des Festivals. Er erwies sich als<br />
eine dieser seltenen Erscheinungen in der Kulturszene:<br />
ein unprätentiöser Schöngeist, ein Intellektueller,<br />
der mit beiden Beinen fest auf dem Boden<br />
steht. Fünf Minuten nach unserem Kennenlernen<br />
hatte er mir bereits Autoren aus der Ukraine, Polen,<br />
Ungarn und Deutschland vorgestellt und mich<br />
zu einer Mitternachtslesung mit Champagner auf<br />
dem Gemmipass eingeladen.<br />
Für einen Schriftsteller sind alle Literaturfestivals<br />
und insbesondere jenes von Leukerbad eine wunderbare<br />
Sache, weil man sich für einige Tage auf<br />
einem Planeten aufhält, dessen Bewohner Bücher
nicht nur lesen, sondern lieben. In Leukerbad liessen<br />
wir den Alltag mit seinen langweiligen Gesprächen<br />
über Termine, Steuern, Einkaufen, das Wetter<br />
oder, wenn es ganz schlimm kommt, das Fernsehen<br />
hinter uns. Stattdessen unterhielt man sich<br />
im Café über unbekannte Dichter, deren Werke<br />
bald ins Deutsche, Französische oder Englische<br />
übertragen werden sollen, frühe Flirts mit französischer<br />
manieristischer <strong>Pro</strong>sa oder die Abkehr vom<br />
Postmodernismus. Schriftsteller sitzen die meiste<br />
Zeit allein an ihrem Schreibtisch. Im Gegensatz<br />
dazu herrschte in Leukerbad ein Geist der Kameradschaft<br />
und des gemeinsamen Feierns, der einem<br />
das Gefühl gab, nicht nur gewürdigt zu werden,<br />
sondern auch nicht mehr allein zu sein. Es<br />
mag vielleicht seltsam klingen, aber ich besuchte<br />
auch Lesungen in Sprachen, von denen ich kein<br />
Wort verstand, nur um fasziniert dem Klang der<br />
Stimme des Autors zu lauschen.<br />
Für die erste Lesung aus meinem Roman Unter<br />
Wilden hätte ich mir keinen komfortableren Ort<br />
vorstellen können als die Bar des Fünf-Sterne-Hotels<br />
des Dorfs. Als ich erfuhr, dass James Baldwin<br />
in den Fünfzigerjahren hier in Begleitung abgestiegen<br />
war, weil er sich nach einem Zusammenbruch<br />
von den Thermalquellen Leukerbads Linderung<br />
erhoffte, wusste ich, dass ich hier richtig<br />
war. Ich weiss nicht, ob es an der filterlosen Zigarette,<br />
dem Glas Wein aus der Region, der Höhe<br />
oder an James Baldwins Geist lag, aber als ich mit<br />
der Lesung anfing, tat ich etwas, was ich bis dahin<br />
noch nie in meinem Leben bei einer solchen<br />
Veranstaltung getan hatte. Ich war so entspannt,<br />
dass meine Augen und meine Gedanken meiner<br />
Stimme vorauseilen konnten. Während ich laut<br />
vorlas, glitt gleichzeitig mein Blick bereits über<br />
die nächsten Passagen. Als wäre das an sich nicht<br />
schon seltsam genug, entdeckte ich einige Stellen,<br />
an denen ich, wenn ich Unter Wilden ein zweites<br />
Mal geschrieben hätte, kleine Änderungen vorgenommen<br />
hätte. Plötzlich, und ohne darüber nachzudenken,<br />
begann ich zu improvisieren; hier ein<br />
anderes Adjektiv, da eine zusätzliche Dialogzeile<br />
… Niemandem fiel etwas auf, nicht einmal meiner<br />
Frau. Offenbar fühlte ich mich in Leukerbad<br />
besonders frei und inspiriert. Auch bei meiner Lesung<br />
am Nachmittag darauf hielt ich mich nicht<br />
strikt an meinen Text.<br />
Am letzten Abend des Festivals, nach dem Abschlussbankett,<br />
nahm uns Ricco, der in Leukerbad<br />
aufgewachsen ist, mit in eine kleine Bar in einer<br />
Seitengasse, wo sich die Einheimischen das Finale<br />
der Fussball-Europameisterschaft ansahen. Videospiele,<br />
Pizza, laute Musik: Unmalerischer konnte<br />
Leukerbad kaum sein. Doch sogar hier war der<br />
Geist des Festivals noch zu spüren. Dichter, Schriftsteller,<br />
Kellner und Zimmermädchen spendierten<br />
sich gegenseitig Getränke. Das Schönste war, dass<br />
alle Zuschauer beide Mannschaften anzufeuern<br />
schienen. Für mich war damit die Frage meiner<br />
Tochter beantwortet: «Wer ist die Schweiz?» Das ist<br />
die Schweiz. ¬<br />
Aus dem Englischen von Reto Gustin<br />
Dirk Wittenborn ist Drehbuchautor und Schriftsteller. Seine<br />
Bücher wurden in über einem Dutzend Ländern veröffentlicht.<br />
Er schrieb das Drehbuch und ist ausführender <strong>Pro</strong>duzent bei<br />
der Verfilmung seines letzten Romans Unter Wilden mit Diane<br />
Lane und Donald Sutherland in den Hauptrollen. Im Verlauf<br />
seiner Karriere, die er als Sketcheschreiber für die US-Fernsehshow<br />
Saturday Night Live begann, verfasste er auch Artikel und<br />
Essays für verschiedene Publikationen, so unter anderem für<br />
den London Observer, den Independent, Vogue, W, Blackbook, die<br />
Frankfurter Allgemeine Zeitung und Die Zeit. Für seinen HBO-Dokumentarfilm<br />
Born Rich wurde Wittenborn für einen Emmy nominiert.<br />
Zurzeit arbeitet er an einem einstündigen TV-Drama<br />
für Touchstone. Im Frühling 2006 erschien bei Dumont sein<br />
neuer Roman Bongo Europa: Memoiren eines zwölfjährigen Sexbesessenen.<br />
Dirk Wittenborn lebt in New York.<br />
7
Ein<br />
amerikanischer<br />
Traum<br />
8<br />
Jürg Halter<br />
Für Marc Smith<br />
Aus dem Chicago River steigt<br />
ein roter Ballon<br />
zieht ein lachendes Kind aus dem Wasser<br />
an einem Hochhaus<br />
spiegelt es sich<br />
empor in den grauen Himmel über der Stadt<br />
Der Wolkenvorhang öffnet sich einen Spalt breit<br />
das Kind mit dem Ballon<br />
taucht in den blauen Himmel ein<br />
im geklärten Blick eines<br />
tagträumenden Passanten<br />
schliesst sich der Vorhang wieder<br />
In einer Wellenwiege<br />
trägt der Fluss einen waisen Schuh<br />
leise aus der windigen Stadt<br />
Jürg Halter wurde 1980 in Bern geboren. Studium an der dortigen Hochschule der Künste. Heute lebt und arbeitet er als Dichter und Rapper (als Rapper unter dem Namen Kutti<br />
MC) in Bern. Zahlreiche Auftritte an wichtigen internationalen Literaturfestivals in Europa, Afrika und den USA. Im August 2003 wurde Halter von Marc ‹Slampapi› Smith,<br />
dem legendären Erfinder des Poetry Slams, als Gast und Vertreter der europäischen Spoken-Word-Szene zum American National Poetry Slam nach Chicago eingeladen. Als Kutti<br />
MC holte sich Halter in der Kategorie American National Hip Hop Slam den Titel des American National Hip Hop Slam Champions 2003. 2004 trat Halter in Stuttgart zum letzten<br />
Mal bei einem Poetry Slam auf. Zuletzt erschienen sind der vielbeachtete Gedichtband Ich habe die Welt berührt (Ammann Verlag, 2005) von Jürg Halter und das furiose Hip-Hop-<br />
Album Jugend & Kultur (Musikvertrieb/MUVE) von Kutti MC. Links: www.art-21.ch/halter, www.kuttimc.com
«Wer Glück hat, der findet hier Gold»<br />
Der Schweizer Migrationsforscher Leo Schelbert auf Spurensuche in den USA<br />
Ines Anselmi<br />
Leo Schelbert<br />
Foto: Ines Anselmi<br />
Kaum einer ist auf dem Spezialgebiet der schweizerischen Migrationsgeschichte so bewandert wie er. Der promo-<br />
vierte Historiker Leo Schelbert, selbst eine Spezies der Gattung Auswanderer, wurde 1971 an die University of Illi-<br />
nois nach Chicago berufen. Was ihn dort beschäftigte und was ihn bis heute umtreibt, verrät dieses Porträt ❙<br />
Das Vertraute hinter sich lassen, ins Unbekannte<br />
aufbrechen – die Verheissungen der terra incognita<br />
beflügeln seit jeher die Phantasie des westlichen<br />
Menschen. Doch kein Ereignis hat den Pioniergeist<br />
der Europäer so angestachelt wie die<br />
‹Entdeckung› Amerikas. Legionen von Auswanderern,<br />
darunter nicht wenige aus der Schweiz, sind<br />
dem Ruf von Freiheit, Abenteuer und unbegrenzten<br />
Möglichkeiten gefolgt. Wie gelangten sie in<br />
die Neue Welt? Wie wurden sie dort aufgenommen?<br />
Wie sah ihr Alltag aus? Welche Freuden<br />
und Nöte haben sie erlebt?<br />
Anschaulicher als historische Abhandlungen und<br />
die Zahlen der Statistiken schildern Briefe, Tagebücher<br />
und andere Aufzeichnungen, was Schweizer<br />
Auswanderer in Amerika vor hundert, zwei- oder<br />
dreihundert Jahren bewegte. Mit wissenschaftlicher<br />
Akribie und dem Spürsinn eines Goldgräbers<br />
hat Leo Schelbert in Archiven dies- und jenseits<br />
des Atlantiks verborgene Schätze geortet,<br />
Hunderte mehr oder weniger ungelenk geschriebene<br />
Manuskripte entziffert, die interessantesten<br />
ausgewählt, transkribiert, kommentiert und in<br />
verschiedensten Publikationen der Leserschaft<br />
zugänglich gemacht. Damit eröffnet sich der Migrationsforschung<br />
ein Territorium, das zuvor weitgehend<br />
brach lag.<br />
Monatelange Fahrt über den Atlantik: Wie langwierig<br />
und strapaziös die Reise über den Atlantik<br />
früher war und wie viele Passagiere dabei an Typhus,<br />
Pocken, Cholera oder einem andern ‹Schiffs-<br />
Fieber› verstarben, können wir uns heute kaum<br />
mehr vorstellen. Allein die Anreise – bis die Auswanderungswilligen<br />
nach Liverpool, Le Havre,<br />
Nieuwediep oder eine andere Hafenstadt am Atlantik<br />
gelangten – war mit vielen Wartezeiten,<br />
Zollschranken und anderen zeitraubenden Hindernissen<br />
verbunden, ganz zu schweigen von der<br />
Mühsal der Überfahrt per Segelschiff.<br />
Joggi Thommen, Conestoga Pennsylvania 1736: «Wir<br />
haben fast alle Kranckheiten müssen ausstehen auf dem<br />
Meer. Es geht sehr unlustig zu in Essen und Trincken.<br />
Und die Schiffleuth halten nicht, wass sie versprochen.<br />
Man muss sich selbs versehen mit Brot, Wein, Mähl,<br />
dürrem Zeug und Zuckher. (...) Ich darff Niemand rathen<br />
zu kommen, wegen denen vielen Anstössen auf der<br />
Rayss».*<br />
Die Fortschritte der Technik ermöglichten im 19.<br />
Jahrhundert zunehmend schnelleres und bequemeres<br />
Reisen. 1864 fuhren Reisende mit der Eisenbahn<br />
in 40 Stunden von Basel nach Le Havre, früher<br />
brauchten sie für dieselbe Strecke 20 – 25<br />
Tage. Die ersten Dampfschiffe über den Atlantik<br />
kamen zwar schon um 1820 herum zum Einsatz,<br />
aber erst eine auf den Personentransport spezialisierte<br />
Bauweise führte nach 1870 dazu, dass Ozeandampfer<br />
die Segelschiffe mehr und mehr verdrängten.<br />
1880 betrug die mittlere Reisedauer nur<br />
noch 8 Tage, 1900 nur noch 5 – 6 Tage. Nicht nur<br />
die Fahrzeit verkürzte sich, auch Hygiene und<br />
Verpflegung wurden besser, die Schlaf- und Essquartiere<br />
geräumiger, das Leben an Bord ganz allgemein<br />
immer angenehmer, zumindest für Passagiere<br />
der 1. und 2. Klasse. Zwischendeckpassagiere<br />
mussten sich noch bis zur Jahrhundertwende<br />
mit überfüllten, stickigen und dunklen Räumen<br />
begnügen.<br />
9
10<br />
Vinzenz Godt, Philadelphia 1807: «So sauber die Reisenden<br />
im Sterage sind, so rükt gewöhnlich aus den Schiffunten<br />
eine zahlreiche Besatzung Läuse auf sie hervor;<br />
gegen diese hat sich folgendes Hausmittel wunderthätig<br />
wirksam gezeigt, nemlich Quecksilber so viel möglich in<br />
einem Glas mörschele (zerstampfen), mit Schweinfett<br />
zerriben, und den ganzen leib wöchentlich damit gesalbet.<br />
Um vor der Ausschiffung die Kleider aus dem Fundament<br />
zu reinigen, brauchen die Schiffsleute Urin, und es zeigt<br />
sich, dass dies die kräftigste Lauge ist, womit alles Ungeziefer<br />
und alle Flecken vertrieben werden.»*<br />
Nachrichten, die der Aktualität hinterher hinken:<br />
Ein Brief aus Amerika brauchte nicht selten ein<br />
Jahr, bis er beim Empfänger in der Schweiz anlangte,<br />
und umgekehrt. Zwischen dem Versand<br />
eines Briefes aus Amerika in die Schweiz und<br />
dem Erhalt einer Antwort aus der Heimat konnten<br />
bis zu zwei Jahre vergehen. Wer aufgrund einer<br />
hoffnungsvollen Nachricht in die Neue Welt<br />
reiste, traf vielleicht ganz andere als die im Brief<br />
geschilderten Umstände an. Hie und da griffen<br />
die Behörden ein. So ermächtigte der Berner Stadtrat<br />
um 1752 die Polizei, Briefe aus Pennsylvanien<br />
zu öffnen und abzuschreiben, bevor man sie den<br />
Empfängern zustellte. Darin enthaltene schlechte<br />
Nachrichten wurden vereinzelt im Kalender abgedruckt,<br />
zur Abschreckung auswanderungswilliger<br />
Leute.<br />
Aus einem nicht namentlich gezeichneten Brief aus<br />
Pennsylvanien, abgedruckt im Hinckenden Bott 1753:<br />
«Auch ist dieses Land nicht so gut wie die Neuländer<br />
(Werber) gesagt haben. Was gut ist, ist schon bewohnet,<br />
und im übrigen alles theuer im Preiss: denn man gibt<br />
einem eben so wenig etwas umsonst als in der Schweitz.<br />
Wer in seinem Heymath nichts nutz ist, wird hier in<br />
Pensylvanien noch schlimmer; es hat aber Gute und Böse<br />
unter uns»**<br />
Die Berichte, die Schweizer aus Amerika nach<br />
Hause schrieben, klingen zuweilen wie Szenen aus<br />
einem Krimi.<br />
Auguste Lenz, Spring Texas, 1877: «13. Mai. Unsere Negerin<br />
ist gerade hereingekommen, völlig ausser sich und o<br />
blass, wie ihre dunkle Hautfarbe es zulässt. Sie war im<br />
yard (Lager), um Holz zu holen.»<br />
«Oh Meister, bitte kommt, habt ihr die Hunde gesehen?»<br />
«Nein, was gibt es wieder Neues?»<br />
«Oh Meister, seht Euch nur die arme Fine an!»<br />
«Ich laufe zum yard und finde unsere beiden Hunde leblos<br />
hingestreckt; sie sind vergiftet.»**<br />
Europa auf Expansionskurs: Die Geschichte der<br />
schweizerischen Auswanderung nach Amerika<br />
ist für den aus der Innerschweiz stammenden,<br />
1959 nach USA emigrierten Historiker Leo Schelbert<br />
ein Musterbeispiel dessen, was er als europäische<br />
Expansion bezeichnet. Was immer in Europa<br />
oder durch Europäer in der Welt passierte, immer<br />
seien auch Schweizer involviert gewesen. Die um<br />
1488 geglückte Umschiffung Afrikas, die damit<br />
verbundene Erschliessung Asiens auf dem Seeweg,<br />
vor allem aber die Entdeckung eines den Europäern<br />
unbekannten Doppelkontinentes jenseits<br />
des Atlantiks ab 1492 löste einen gigantischen Expansionsprozess<br />
aus. Gegen 70 Millionen Menschen<br />
europäischer Herkunft strömten in die neuen<br />
Kontinente. Westeuropa – um 1450 noch ein<br />
Zipfel Eurasiens – reichte um 1900 in alle Teile der<br />
Welt. Ein unerhört kreativer, aber auch ein unerhört<br />
zerstörerischer <strong>Pro</strong>zess, ruft Leo Schelbert<br />
den Preis dieser Invasion in Erinnerung, die Dezimierung<br />
einheimischer Völker durch Waffengewalt<br />
und eingeschleppte Krankheiten.<br />
Bis 1790 sollen sich etwa 25000 Schweizer an der<br />
nordamerikanischen Ostküste angesiedelt haben,<br />
nochmals soviele sind zwischen 1790 und 1860<br />
eingewandert. Auch in den grossen Städten liessen<br />
sich Schweizer nieder. Im Jahre 1890 zählte<br />
man 6355 Schweizer in New York City, 2262 in<br />
Chicago und 1696 in San Francisco. Um 1920 herum<br />
erreichte die schweizerische Präsenz mit<br />
376000 Personen – davon 257000 in Amerika geborene<br />
Kinder – ihren zahlenmässigen Höhepunkt.<br />
Klischee des armen Einwanderers: Dass nur arme<br />
Leute aus der Schweiz nach Amerika ausgewandert<br />
seien, ist laut Schelbert ein weitverbreitetes<br />
Klischee, das nicht den Tatsachen entspricht. Die<br />
Einwanderungswelt schliesse alle ein, Reiche und<br />
Arme, Mächtige und Machtlose, solche, die fliehen<br />
mussten, und solche, die Karriere machten.<br />
Zu letzteren zählt er etwa den Ingenieur Othmar<br />
Ammann aus Feuerthalen, Kanton Zürich. Er hat<br />
in New York nicht nur die fünf Brücken gebaut,<br />
sondern gleichzeitig ein neues Verkehrskonzept<br />
für das Auto entwickelt und so das Stadtbild entscheidend<br />
geprägt.<br />
Vielfältige und je nach Ort ganz unterschiedliche<br />
Gründe konnten zur Auswanderung führen. So<br />
steht etwa die sprunghafte Zunahme der Auswanderung<br />
aus dem Glarnerland nach 1840 in direktem<br />
Zusammenhang mit der Industrialisierung.<br />
Maschinengewebte Textilien aus England<br />
überschwemmten damals den europäischen Markt<br />
und führten zum Zusammenbruch der in dieser<br />
Region verbreiteten Handweberei. Dass Glarner<br />
Auswanderer im Jahre 1845 die ganze Strecke von<br />
ihrem Tal aus über Linthkanal, Zürichsee, Limmat,<br />
Rhein, Nordsee und Atlantik bis nach Baltimore<br />
in Nordamerika auf dem Wasserweg zurückgelegt<br />
haben, ist aus heutiger Sicht erstaunlich.
Nicht alle Einwanderer suchten in den USA eine<br />
neue Heimat. Etwa ein Drittel bis die Hälfte von<br />
ihnen kehrte wieder ins Herkunftsland zurück.<br />
Viele kamen in der Hoffnung auf lukrative Arbeit<br />
und schnellen Gewinn, der eine sorgenfreie Zukunft<br />
in der Heimat ermöglichen sollte. Wer sich<br />
im Solddienst verdingte, genoss wenig Ansehen.<br />
Schweizer Bote, 4. März 1824: «Es sind Anwerbungen<br />
in ausländischen Kriegsdienst viel schädlicher, als Auswanderungen<br />
von Familien ... Die wenigsten bringen kaum<br />
ihr Leben heim. (...) Und die, die zurückkehren, was bringen<br />
sie? Meistens Armuth, lahme Glieder, Faulheit, Taugenichtssereien.<br />
So eine alte Kriegsgurgel hat das Arbeiten<br />
verlernt.»*<br />
Vier unterschiedliche Wanderungstypen: Leo<br />
Schelbert unterscheidet zwischen Wanderungen<br />
in militärischer, beruflicher oder religiöser Mission<br />
sowie den Siedlungswanderungen. Schweizer<br />
seien in allen vier Kategorien anzutreffen.<br />
Dutzende von Offizieren und ein starkes Kontingent<br />
Soldaten aus der Schweiz dienten zum Beispiel<br />
im Royal American Regiment, das 1756 zum<br />
Schutz der nordamerikanischen Kolonien gebildet<br />
worden war. Es verteidigte die von England besetzten<br />
Territorien gegen die Truppen Frankreichs<br />
und Spaniens, gegen die Einheimischen und gegen<br />
aufständische weisse Kolonisten. Einer der bekanntesten<br />
Offiziere dieses Regiments war der aus<br />
Rolle im Waadtland stammende Henri Bouquet<br />
(1714-1765). Sogar George Washington – 1789 zum<br />
ersten Präsidenten der USA ernannt – habe unter<br />
ihm dienen müssen, schmunzelt Leo Schelbert.<br />
Unter Bouquets Führung gelang ein entscheidender<br />
Sieg über die indianischen Truppen, der den<br />
Kolonisten den Weg über die Appalachen in die<br />
fruchtbaren Ebenen des Ohio-Flusses öffnete.<br />
Andere Schweizer schlugen sich mit den verschiedensten<br />
Beschäftigungen durch. Sie stellten Werkzeuge<br />
her, arbeiteten als Schuster, Schreiner, Gastwirte,<br />
wuschen Gold in kalifornischen Flüssen,<br />
arbeiteten in den Kupferminen des Nordens, waren<br />
als Handelsagenten unterwegs. Wieder andere<br />
kamen nach Amerika, um der Verfolgung zu entgehen,<br />
die bestimmte religiöse Gruppierungen im<br />
Heimatland bedrohte, oder um in missionarischer<br />
Absicht Glaubensgemeinschaften zu gründen.<br />
Pater Martin Marti, St. Meinrad Indiana 1861: «Es<br />
machte sich von selbst, dass neue Einwanderer sowohl<br />
als auch schon länger in Amerika’s Städten ansässige<br />
Katholiken einem Punkte sich zuwandten, wo durch einen<br />
religiösen Orden ihnen und ihren Nachkommen ihr theuerstes<br />
Besitzthum gesichert erschien. In kurzer Zeit daher<br />
stieg der Preis hiesiger Ländereien um ein Bedeutendes ...<br />
und der allgemeine Wohlstand hob sich in einer Weise,<br />
dass die ganze Strecke unseres Missionsbezirkes als ein<br />
der katholischen Kirche gänzlich und für immer erobertes<br />
Gebiet angesehen werden muss.»**<br />
Siedler für die Indianer am gefährlichsten: Für<br />
die Ausdehnung der europäischen Herrschaft<br />
nach Amerika die effektivste, für die einheimischen<br />
Völker aber schädlichste Kategorie von Migranten<br />
waren laut Leo Schelbert die Siedler. Im<br />
Gegensatz zu den Franzosen, die in Nordamerika<br />
vor allem Handelsinteressen verfolgten, strebten<br />
die Briten ein Siedlungsimperium an.<br />
Aus einer Bittschrift der Berner von Graffenried und<br />
Michel 1709 an die englische Königin: «Wir erbieten uns,<br />
dieses Land im Lauf der Zeit durch die Mühe und den<br />
Fleiss unserer guten Arbeiter in solchem Ausmasse zu<br />
verbessern, dass die Krone einen erheblichen Nutzen aus<br />
ihm wird ziehen können, während gegenwärtig nichts<br />
von ihm gewonnen wird.»*<br />
Eine kleine Elite hatte Zehntausende Quadratmeilen<br />
Land erworben. Doch Land wird erst wertvoll,<br />
wenn es besiedelt ist. Also verpachteten oder verkauften<br />
die Grossgrundbesitzer Land parzellenweise<br />
an Siedler weiter. Der Anspruch der Weissen<br />
auf Land als Privateigentum läuft dem indianischem<br />
Verständnis von Land, auf dem der Mensch<br />
nur ein Nutzungsrecht geniesst, diametral entgegen.<br />
‹Indian troubles› nannten die Siedler die<br />
Scharmützel, die sie durch die Vertreibung der Einheimischen<br />
selber hervorriefen.<br />
Kaspar Köpfli, New Switzerland Illinois 1831: «Damit<br />
aber künftig die Pflanzer nicht mehr an ihren Feldarbeiten<br />
gestört werden, sind letzten Herbst viele Compagnien<br />
Freiwilliger auf ein Jahr geworben worden, um die Grenzen<br />
gegen das wilde Gesindel (Indianer) zu beschützen.»*<br />
Der Aufbau der amerikanischen Nation werde immer<br />
als einziger grosser Triumph dargestellt. Als<br />
Leo Schelbert in New York City amerikanische Geschichte<br />
studierte, war das nicht anders. Die Indianer<br />
seien im dicken Lehrbuch, das er durcharbeiten<br />
musste, auf knapp eineinhalb Seiten<br />
abgehandelt worden. Die Kehrseite des Aufbaus,<br />
der Genozid an den einheimischen Völkern, werde<br />
ignoriert. Vor der Ankunft der Europäer sollen<br />
etwa acht, nach anderen Quellen sogar zwölf Millionen<br />
Menschen in Amerika gelebt haben. Um<br />
1890 zählte die indianische Bevölkerung noch<br />
ganze 220000 Menschen, darunter viele Mischlinge.<br />
Von 1971 bis 1999 lehrte Leo Schelbert – 1979 zum<br />
<strong>Pro</strong>fessor ernannt – an der University of Illinois in<br />
Chicago Einwanderungsgeschichte. Die Einwanderer<br />
aus der Schweiz seien für die amerikanische<br />
11
Lyss/Bern, Schweiz
Bern/Kansas, USA
14<br />
Geschichte und auch für seine Lehrtätigkeit von<br />
marginaler Bedeutung gewesen. Sie dienten und<br />
dienen dem Forscher aber immer wieder als Testfeld,<br />
um seine Thesen zu überprüfen.<br />
Wanderungsgeschichte aus neuer Perspektive:<br />
Während über dreissig Jahren unterrichtete er<br />
College- und vor allem Graduate-Studierende. «Da<br />
konnte ich ein Gegenmodell lehren», staunt er heute<br />
noch über die Freiheit, die man ihm als Ausländer<br />
zugestand. Nach diesem Modell sind in die<br />
amerikanische Geschichte ab 1600 drei grundverschiedene<br />
Gruppen gleichwertig einzubauen: die<br />
indianische Welt, die Welt der europäischen Invasoren<br />
und die afrikanische Welt, die als Sklaven<br />
nach Amerika deportierten Afrikanerinnen und<br />
Afrikaner.<br />
Guillaume Merle d’Aubigné, Charleston South Carolina<br />
1816: «Das einzige was mich abstösst ist die Sklaverei,<br />
die hier allgemein betrieben wird. (...) Sie werden auf<br />
Tischen ausgestellt, wo jeder sie untersuchen kann & sie<br />
werden an den Meistbietenden verkauft, oft zusammen<br />
mit Pferden – Ochsen & anderm Vieh.»**<br />
Später kam noch die asiatische Welt hinzu, die<br />
vielen Tausend Chinesen, die als billige Arbeitskräfte<br />
für den Bau der Eisenbahnen und ähnliche<br />
<strong>Pro</strong>jekte in die USA geholt wurden. «Wir müssen<br />
die Geschichte neu reflektieren», ist Leo Schelbert<br />
überzeugt, «und die Perspektive aller Betroffenen einbeziehen.»<br />
Statt von Auswanderungsgeschichte redet er lieber<br />
von Wanderungsgeschichte. Einwanderung,<br />
Auswanderung und interne Wanderung begreift<br />
er als zusammenhängende Phänomene. Auch im<br />
Hinblick auf sein Herkunftsland. Neben der 5.<br />
Schweiz – den Ausgewanderten – habe es auch die<br />
6. Schweiz schon immer gegeben, sagt er. Neu sei<br />
nur, dass die Einwanderer heute anderen Kulturkreisen<br />
und Religionen entstammten als früher.<br />
Zwischen 1850 und 1914, einer Phase besonders intensiver<br />
Emigration, seien schätzungsweise 410000<br />
Personen aus der Schweiz ausgewandert. Im gleichen<br />
Zeitraum sollen 409000 Personen in die<br />
Schweiz eingewandert sein.<br />
Seit 1999 ist Leo Schelbert emeritierter <strong>Pro</strong>fessor.<br />
Doch die Arbeit geht dem 77jährigen nicht aus.<br />
Zur Zeit schreibt er an den letzten Seiten des Historical<br />
Dictionnary of Switzerland, der ein Gesamtbild<br />
der Schweiz vermitteln soll und demnächst<br />
bei Scarecrow Press erscheint. Für dieses Lexikon<br />
verfasste er 26 mehrseitige Kantonsskizzen, etwa<br />
zweihundert Einträge zu wichtigen Institutionen<br />
und historischen Ereignissen sowie rund hundert<br />
Kurzporträts von Schweizer Persönlichkeiten, von<br />
der wissenschaftlichen Zeichnerin und Insekten-<br />
forscherin Maria Sybilla Merian bis zu dem in Genf<br />
lebenden Philosophen und Islamwissenschaftler<br />
Tarik Ramadan. ¬<br />
Leo Schelbert, geboren 1929 in Kaltbrunn in der Schweiz, kam<br />
1959 nach Amerika, studierte in New York City und promovierte<br />
1966 an der Columbia University in amerikanischer Geschichte.<br />
Von 1963 bis 1969 folgte ein Lehrauftrag an der Rutgers University<br />
in Newark, New Jersey. 1970–1971 Rückkehr in die Schweiz,<br />
Forschungsauftrag zur Schweizer Auswanderungsgeschichte.<br />
1971–1999 Lehrstuhl für Einwanderungsgeschichte an der University<br />
of Illinois in Chicago. Er ist Autor und Herausgeber von<br />
zahlreichen Büchern und Texten. Leo Schelbert erhielt den diesjährigen<br />
Auslandschweizer-Preis der FDP International.<br />
Die Zitate in diesem Artikel sind folgenden Werken entnommen:<br />
* Leo Schelbert: Einführung in die schweizerische Auswanderungsgeschichte<br />
der Neuzeit, Verlag Leemann, Zürich 1976<br />
** Leo Schelbert und Hedwig Rappolt (Hrsg.): Alles ist ganz anders<br />
hier – Auswandererschicksale in Briefen aus zwei Jahrhunderten,<br />
Walter-Verlag Olten, 1977<br />
Die Ethnologin Ines Anselmi arbeitet als <strong>Pro</strong>jektleiterin bei<br />
<strong>Pro</strong> <strong>Helvetia</strong>. Sie koordiniert das Swiss Roots-Kulturprogramm,<br />
das 2006 in verschiedenen Städten der USA durchgeführt<br />
wird.
Zürich – Manhattan – Long Island Mit Garance am Strand<br />
Sacha Verna im Gespräch mit der<br />
Schweizer Künstlerin Garance<br />
Garance<br />
Foto: Werner Gadlinger<br />
Die Schweizer Künstlerin Garance lebt und arbeitet seit zwanzig Jahren in den Vereinigten Staaten. Ein Gespräch<br />
über Ratten in Manhattan, Geld auf der Strasse und Schweizer Schokolade ❙<br />
Garance lebt mit ihrem Mann, dem Häuserbauer<br />
Vadoo Werthmüller, einem Hund und drei Papageien<br />
in New Suffolk, Long Island. Ihr Haus liegt<br />
nur wenige Schritte vom Strand entfernt. Der ehemalige<br />
Supermarkt, den Garance und ihr Mann<br />
eigenhändig umgebaut haben, besteht aus hellen,<br />
luftigen Räumen. Es gibt Gästebetten, die fast<br />
immer belegt sind, und eine riesige Küche, aus<br />
der regelmässig umfangreiche Tischgesellschaften<br />
verköstigt werden. Die vielen Fenster von Garances<br />
grosszügigem Studio gehen direkt auf einen<br />
Garten hinaus, der im Sommer so üppig sein<br />
muss wie ein Dschungel. Garance, die ihr Alter<br />
vornehm verschweigt, ist in Zürich geboren und<br />
aufgewachsen. Die ausgebildete Schauspielerin<br />
zeigt ihre Bilder, Arbeiten auf Papier und ihre Objekte<br />
seit Anfang der siebziger Jahre regelmässig<br />
in Ausstellungen, sowohl in Galerien und Institutionen<br />
in Europa und Amerika.<br />
Sacha Verna: Weshalb sind Sie 1985 nach New York<br />
gezogen?<br />
Garance: Ich lebte in Zürich und war gerade von<br />
einem Aufenthalt in Paris zurückgekommen, als<br />
ich den Bescheid erhielt, ich hätte das Stipendium<br />
für ein halbes Jahr im Loft der Stadt Zürich<br />
in New York gewonnen. Die Freude war natürlich<br />
riesig. Aber mir machte die Sache auch ein bisschen<br />
Angst. Ich war vorher noch nie so weit weg<br />
gewesen. Das erzählte ich einem Freund von mir,<br />
einem Sammler, und der lud mich und meinen<br />
damaligen Freund Vadoo daraufhin ein, mit dem<br />
Schiff nach New York zu fahren.<br />
Um sich der fremden Stadt langsam anzunähern?<br />
Genau. Die Überfahrt auf der Queen Elizabeth dauerte<br />
fünfeinhalb Tage, einen gewaltigen Sturm in-<br />
klusiv. Das war gerade Zeit genug, sich alles auf<br />
dem Schiff anzuschauen. Ich bin ja sonst kein<br />
Kreuzfahrtstyp. Das Einlaufen in den Hafen von<br />
New York war spektakulär. Wir sind hoch oben<br />
auf der Reling gestanden und hatten die Freiheitsstatue<br />
und das World Trade Center praktisch<br />
vor unserer Nase. Aber als wir uns auf dem festen<br />
Boden befanden, merkten wir schon, wie gigantisch<br />
die Häuser sind.<br />
Wurden Sie abgeholt?<br />
Nein, wir kannten keinen Menschen in New York.<br />
Wir hatten die Adresse des Ateliers und weiter<br />
nichts. Nicht einmal einen Schlüssel. Wir fanden<br />
das Loft am West Broadway und klingelten halt<br />
überall. Im Parterre befand sich eine Weinhandlung,<br />
deren Besitzer uns schliesslich einen Schlüssel<br />
gab und sagte, wir sollten es mal im fünften<br />
Stock versuchen. Mit dem Lift fuhren wir hinauf,<br />
probierten den Schlüssel, die Tür ging auf, und<br />
wir waren drin. Toll.<br />
Was waren Ihre ersten Eindrücke von New York?<br />
Leider ist man ja beeinflusst von all dem, was einem<br />
bereits über New York erzählt worden ist. Die<br />
einen sagen, es sei die beste Stadt der Welt. Die<br />
anderen sagen, es sei die gefährlichste Stadt der<br />
Welt und man müsse ungeheuer aufpassen. Deshalb<br />
haben wir am Anfang wie Tiere unser Revier<br />
immer ein bisschen vergrössert. Zuerst sind wir<br />
zur Houston Street vorgedrungen, dann nach Little<br />
Italy, Chinatown. Wir entdeckten Bars und Restaurants,<br />
lernten Leute kennen und erlebten New<br />
York als absolut unaggressive Stadt.<br />
Wie muss man sich das Soho von damals vorstellen?<br />
Es war ein Quartier voller junger Leute mit guten<br />
15
Zürich/Zürich, Schweiz
Homewood/Illinois, USA
18<br />
Ideen. Man wagte die verrücktesten Dinge, und<br />
manchmal funktionierten sie, manchmal nicht.<br />
Es gab viele Clubs, grosse und kleine, man war<br />
immer unterwegs bis morgens um vier. Wir waren<br />
dabei, als Andy Warhol und Miles Davis eine<br />
Modeschau für einen japanischen Designer veranstalteten.<br />
Es herrschte eine enorme Energie.<br />
Die Kunstszene in der Schweiz, die Sie verlassen und<br />
in der Sie sich bereits einen Namen gemacht hatten,<br />
war relativ klein und übersichtlich. Kam das grosse<br />
wilde New York da nicht als Schock?<br />
Im Gegenteil. Ich mag Herausforderungen. In der<br />
Schweiz wird man träge, man kommt in einen<br />
Trott hinein. Man hat seine Galerie, seine Sammler,<br />
seine Ausstellungen. Dass mich in New York<br />
niemand kannte, fand ich deshalb super. Ich suchte<br />
und fand auch gleich eine Galerie. Es lief von<br />
Anfang an hervorragend für mich. Ich konnte<br />
neue Beziehungen knüpfen und verkaufte sowohl<br />
an Leute, die mich aus der Schweiz besuchen<br />
kamen, als auch an all jene, die ich hier<br />
kennenlernte. Eines darf man natürlich nicht vergessen:<br />
Es waren die achtziger Jahre. Das Geld lag<br />
auf der Strasse. Den meisten Leuten ging es gut,<br />
vor allem in den Städten. Man kaufte und kaufte<br />
und kaufte.<br />
Beschlossen Sie deshalb, in New York zu bleiben?<br />
Wir hatten unsere Retourtickets bereits kurz nach<br />
unserer Ankunft auf dem West Broadway dem<br />
Wind übergeben – in der Hoffnung, es möge sie<br />
jemand finden, der sich die Schweiz anschauen<br />
möchte. Wir hatten nicht die Absicht, hier zu bleiben,<br />
aber wir wussten, dass wir nicht schon nach<br />
einem halben Jahr wieder in die Schweiz zurückkehren<br />
wollten.<br />
Suchten Sie den Kontakt zu anderen Schweizer Künstlern<br />
hier in New York?<br />
Wer frisch ankommt, will das gar nicht. Man zieht<br />
schliesslich nicht auf der Suche nach Schweizer<br />
Gesellschaft nach New York. Dabei bemüht sich<br />
das Schweizer Konsulat doch so sehr um einen,<br />
wenn man das wünscht. Früher tat es das jedenfalls.<br />
Mindestens vier Mal im Jahr veranstaltete<br />
es grosse Essen, zu welchen es Schweizer<br />
Geschäftsleute und Künstler einlud. Manchmal<br />
entwickelten sich daraus gute Kontakte. Der Botschafter<br />
besuchte einen übrigens auch regelmässig<br />
im Studio.<br />
War es für Sie als Künstlerin in New York je von besonderem<br />
Vorteil oder Nachteil, Schweizerin zu sein?<br />
Weder noch. Hier leben mindestens siebenundzwanzig<br />
Nationen nebeneinander und miteinander<br />
– das lehrt einen Toleranz.<br />
Hat es je die Art beeinflusst, wie man Ihnen begegnet<br />
ist?<br />
Nein. Die meisten Leute sagen sowieso: Ah, Sweden!<br />
Die anderen denken an chocolate und cheese,<br />
und was ist dagegen schon einzuwenden. Die<br />
Tatsache, dass ich in der Schweiz geboren wurde,<br />
hat mit mir als Person und mit meiner Arbeit ja<br />
nicht viel zu tun. Ich habe mich immer von Menschen<br />
inspirieren lassen, sicher nicht von den<br />
Bergen. Nationalitäten und Grenzen spielen für<br />
mich keine Rolle.<br />
Was bewog Sie 1995 dazu, von Manhattan nach Long<br />
Island zu ziehen?<br />
Ich hatte genug. Wir wohnten in verschiedenen<br />
Lofts, grossen Lofts, die wenigstens eine Zeitlang<br />
noch bezahlbar waren. Das letzte war in Chinatown,<br />
einem Viertel, das ich eigentlich mag. Aber<br />
es ist voller Ratten. Als mir eine Nachbarin erzählte,<br />
eine riesige Ratte hätte ihre Katze angegriffen,<br />
sagte ich zu Vadoo: Das war’s. Die Mieten<br />
gehen sowieso immer weiter hinauf, ich will aufs<br />
Land. Ich kannte diese Gegend hier, weil ich die<br />
Sommer häufig bei Freunden in den Hamptons<br />
verbrachte hatte. Das Haus, in dem wir heute leben,<br />
fanden wir eher durch Zufall. Es war ein<br />
leerstehender Supermarkt. Der Umbau dauerte<br />
drei Jahre. Zwei Jahre davon legte ich eine künstlerische<br />
Pause ein.<br />
Was, ausser der Umgebung, war nach der Pause anders?<br />
Ich habe angefangen, dreidimensional zu arbeiten.<br />
Sachen aus Papier und Figuren. Die Lust dazu<br />
kam vermutlich mit dem Hausbauen. Dann der<br />
Garten. Gärtnern ist wie malen. Ich habe hier aus<br />
dem Nichts ein Paradies gezaubert – Bananenbäume,<br />
Hunderte von Lilien. Ich betrachte den<br />
Garten als Teil meiner Arbeit.<br />
Inwiefern veränderte sich Ihre Beziehung zur Schweiz<br />
dadurch, dass Sie in den USA blieben?<br />
Ich habe nach wie vor auch Ausstellungen in der<br />
Schweiz und im übrigen Europa, ungefähr alle<br />
zwei Jahre. Auch andere <strong>Pro</strong>jekte – Bühnenbilder<br />
in Wien zum Beispiel. Eines der Highlights der<br />
letzten Jahre war für mich die Einladung für eine<br />
Ausstellung im Museum of Modern Art in Salvador<br />
die Bahia – ein grandioses Erlebnis. Dadurch<br />
lernte ich Brasilien kennen, ein Land, das mich<br />
unglaublich fasziniert hat. Als wir noch in Manhattan<br />
lebten, verkaufte ich natürlich die meisten<br />
Sachen dort. Aber ich habe meine Sammler und<br />
Kunden in Europa nie verloren. Es scheint sogar<br />
ganz gut zu sein, wenn man sich ein bisschen rar<br />
macht. Meine letzte Ausstellung in Zürich bei der<br />
Galerie Esther Hufschmied war jedenfalls praktisch<br />
ausverkauft.
Wie sieht Ihr Kontakt zur gegenwärtigen Kunstszene<br />
in New York aus?<br />
Gegenwärtig? Ich bin ja auch gegenwärtig!<br />
Ja, aber es gibt die Galerien in Chelsea, es gibt Auktionen,<br />
die Staub aufwirbeln, es gibt Stars und Sternchen.<br />
Inwieweit nehmen Sie an diesem Kunstbetrieb<br />
teil?<br />
Eigentlich gar nicht. Die Galerien in Chelsea stellen<br />
heutzutage ja meistens Installationskunst und<br />
Videos aus. Und die Museen zeigen das gleiche.<br />
Ich sehe mir diese Dinge ganz gerne an. Aber für<br />
mich als Künstlerin haben diese Arbeiten keinen<br />
Reiz. Ich mache meine Sachen weiter, ohne mich<br />
von dem Hipe ablenken zu lassen. Ich probiere,<br />
so ehrlich wie möglich zu sein und meine Arbeit<br />
nicht von irgendwelchen Trends abhängig zu machen.<br />
Meine Arbeit bin ich und nicht, was gerade<br />
in ist.<br />
Können Sie davon leben?<br />
In Manhattan konnte ich sehr gut davon leben.<br />
Hier draussen ist alles ein bisschen anders. Das<br />
Geld, mit dem wir die Rechnungen bezahlen, verdient<br />
jetzt mein Mann. Aber ich werde immer<br />
wieder für Ausstellungen in der Umgebung angefragt.<br />
Ich bekomme auch Aufträge aus New York.<br />
Letzten Sommer habe ich ein Bühnenbild für eine<br />
<strong>Pro</strong>duktion von Shakespeare in the Park gemacht.<br />
Ausserdem gebe ich Workshops in Monoprinting.<br />
In den USA hat ja fast jeder neben der Kunst<br />
noch einen Brotjob.<br />
Unterscheiden sich die USA in dieser Hinsicht von der<br />
Schweiz?<br />
Nein. Wenn man heute jung ist, lernt man schon<br />
in der Schule, wie man sich verkaufen kann. Wer<br />
als Künstlerin oder Künstler Karriere machen<br />
will, geht an die Kunstgewerbeschule oder an<br />
eine Kunstakademie in Deutschland, und dort<br />
wird das Künstlerdasein gelehrt wie jedes andere<br />
Business. Das ist in Europa genau gleich wie hier<br />
in Amerika. Die Jungen, Erfolgreichen wissen genau,<br />
was sie wollen und wie sie es kriegen können.<br />
Alle übrigen brauchen einen Job oder haben<br />
einen Mann, der sie unterstützt.<br />
Haben Sie in all den Jahren, die Sie jetzt schon hier sind,<br />
je daran gedacht, in die Schweiz zurückzukehren?<br />
Nein. Die kenne ich ja. Ich war lange genug dort.<br />
Aber es ist nicht etwa so, dass ich die Schweiz<br />
nicht mehr mag. Ich besuche sehr gerne meine<br />
Freunde dort und liebe die gute Schokolade. Ich<br />
schätze die Schweiz sogar mehr, je länger ich weg<br />
bin. Nur bin ich halt auch froh, wenn ich wieder<br />
gehen und hierher zurückkommen kann. Wenn<br />
ich Heimweh habe, dann nach Italien oder nach<br />
Frankreich. Und sollte ich wirklich noch einmal<br />
auswandern, dann nach Südamerika. Brasilien<br />
oder Mexico.<br />
Besteht denn die Chance, dass Sie nochmals auswandern?<br />
Warum nicht? Solange ich irgendwo ein Atelier<br />
habe, ist es mir wohl. Wo, ist mir egal. Ich möchte<br />
einfach nicht in den Norden. Dort ist es mir zu<br />
kalt. Ich brauche Sonne und Wärme. ¬<br />
Sacha Verna lebt und arbeitet als Kulturjournalistin in New York.<br />
Website Garance: www.garancestudio.com<br />
19
«Nehmen Sie Ihre verfluchte Hand weg»<br />
Die Filme der Gebrüder Dubini zu Thomas Pynchon, Jean Seberg und Hedy Lamarr<br />
Jean Willi Die Brüder Fosco und Donatello Dubini sind schon seit einiger Zeit mit ihrer Filmkamera unterwegs. Vielfach auf<br />
Fosco und Donatello Dubini<br />
Foto: F&D Dubini<br />
20<br />
Spurensuche in Amerika, durch die Tiefen seiner Manien und Mythen. Der Schriftsteller Jean Willi hat sich auf ihre<br />
Fährte gesetzt. Und entdeckt in ihren Arbeiten den an Thomas Pynchons Romanwerk geschulten Blick. Film ab ❙<br />
A journey into the mind of P.: New York. Eine<br />
Strasse. Ein Baumstamm, angeschnitten. Die graue<br />
Kleidung eines Mannes, der sich von rechts nach<br />
links bewegt, eine rote Basketballmütze. Die Figur<br />
geht aus dem Bild, der Baumstamm verschwindet,<br />
das Grau der Strasse wird breiter. Parkierte<br />
Autos. Fahlgelb die unterbrochene Mittellinie der<br />
Strasse. Jetzt ein Lichteinfall. Die Kamera holt die<br />
Figur für den Bruchteil einer Sekunde zurück. Ein<br />
blasses Gesicht, ein vor Schreck geöffneter Mund,<br />
opalisierende Brillengläser. Dann ist der Spuk vorbei.<br />
«Er wusste, wenn er sich vor der Welt versteckt, könnte<br />
jemand versuchen, ihn zu finden», erklärt Richard<br />
Lane, Webmaster und Cutter bei NBC.<br />
Vierzig Jahre dauert die Suche, bis James Bone,<br />
Korrespondent der London Times in New York,<br />
Thomas Pynchon ausfindig macht und ein Foto<br />
des grossen Unsichtbaren schiesst. Bone hat die<br />
Kamera seiner Frau eingesteckt und gewartet. «Es<br />
war ein sonniger Tag in der Upper West Side», erzählt<br />
er. «Plötzlich war da dieser Sechzigjährige. Gross, eckig,<br />
fast pantomimenhaft. Die Arme ruderten wie Windmühlen.»<br />
Bone sieht diese Begegnung als das Ende einer<br />
langen Geschichte, Höhepunkt eines Spiels, das<br />
Jahre dauert: Die Jagd auf Pynchons Foto und dessen<br />
Versuch, es zu verhindern. Bone will die einzigartige<br />
Möglichkeit nicht verpassen, Pynchon<br />
zu Wort kommen zu lassen. Er steckt die Kamera<br />
ein und hält ihm die Hand hin, wie man es, meint<br />
er, am Ende eines Fussballspiels täte. «Nehmen Sie<br />
Ihre verfluchte Hand weg», sagt der Mann. «Ich mag<br />
Leute nicht, die mich fotografieren.»<br />
Das unscharfe Foto zeigt einen älteren Mann, die<br />
Kapuze des Parkas hochgeschlagen. Neben ihm ein<br />
Junge, dessen Hand er hält. Jules Siegel, ein früherer<br />
Freund Pynchons aus der gemeinsamen Studienzeit<br />
in Ithaca, der 1977 das kollektive Schweigen<br />
bricht und im Playboy einen Artikel über den<br />
Autor veröffentlicht, äussert Zweifel, dass es sich<br />
bei dem Abgebildeten um Pynchon handelt. Richard<br />
Lane ist sich hingegen sicher. Vor allem, als<br />
er das Bild mit den Filmaufnahmen vergleicht, die<br />
einem CNN-Team gelingen, nachdem James Bone<br />
es vorgemacht und das Tabu gebrochen hat.<br />
Lanes eingehende Sichtung dieses von der CNN<br />
hergestellten Films ist Teil eines anderen Films,<br />
der Film im Film die Kulmination eines von Fosco<br />
und Donatello Dubini gedrehten: Thomas Pynchon<br />
– A journey into the mind of P. Der Titel des Films<br />
geht auf einen am 12. Juni 1966 im New York Times<br />
Magazin veröffentlichten Artikel über die Rassenunruhen<br />
in Watts zurück: A Journey into the Mind<br />
of Watts.<br />
Die Schweizer Filmautoren Fosco und Donatello<br />
Dubini, 1954/1955 geboren, entstammen einer italienisch<br />
sprechenden Familie aus dem Tessin und
gehen in Zürich und in Schwyz zur Schule. Sie sind<br />
Teil einer Generation, die stark durch die deutsche<br />
und die amerikanische Kultur geprägt wird.<br />
Es sind vor allem amerikanische Filme, die sie sehen,<br />
sie lesen amerikanische Autoren, hören Musik,<br />
englischer oder amerikanischer Herkunft. «Unsere<br />
Eltern sprachen noch kein Englisch», sagt Fosco<br />
Dubini, «während wir uns über diese Sprache definierten.»<br />
Das Triviale in Verbindungen mit elitären Kunstformen,<br />
die Vermischung von Realität und kreativem<br />
<strong>Pro</strong>zess, das Einbeziehen der Massenmedien,<br />
der Werbung, die Pop-Art schlechthin sind<br />
Anstösse, die von den Brüdern früh aufgefangen<br />
werden. Dabei hat die amerikanische Kultur einen<br />
zentralen Stellenwert in ihrem Leben und<br />
zunehmend auch in ihrem Schaffen, was anhand<br />
ihrer Filme, von denen ein Drittel amerikanische<br />
Themen aufgreift, zum Ausdruck kommt.<br />
Ihre Auseinandersetzung mit Pynchon hat – abgesehen<br />
davon, dass Tyrone Slothrop, die Hauptfigur<br />
in Pynchons Roman Gravity’s Rainbow (Die<br />
Enden der Parabel, dt. 1981), sich darin auch in Zürich<br />
herumtreibt, im Niederdorf wohnt, die Kronenhalle<br />
und das Odeon aufsucht und im Café Sträggeli «auf<br />
einer Bratwurst und einer Rinde Brot herumkaut» –<br />
eine längere Vorgeschichte. Sie beginnt Ende der<br />
Siebzigerjahre, als sie bei Recherchen zu einem<br />
Film über den Nato-Doppelbeschluss (Blindgänger)<br />
Pynchons 1973 erschienen Roman genauer unter<br />
die Lupe nehmen und das Buch, im wörtlichen<br />
Sinn, von hinten nach vorne lesen. Der Nato-<br />
Doppelbeschluss sieht die Stationierung von mobilen<br />
amerikanischen Mittelstreckenraketen in<br />
Europa vor, um damit das nukleare Gleichgewicht<br />
des Schreckens durch Nachrüstung wiederherzustellen.<br />
Slothrop durchstreift – neben Genf und Zürich –<br />
vor allem das zerbombte Deutschland auf der Suche<br />
nach der sagenhaften V2-Rakete (Vergeltungswaffe<br />
2), die gegen Ende des Krieges in der<br />
unterirdischen Raketenfabrik «Mittelwerk» fabriziert<br />
wird. Hunderte seltsamer Gestalten bevölkern<br />
den Roman, tauchen auf, verschwinden,<br />
tauchen unerwartet wieder auf – oder auch nicht.<br />
Sie heissen Rippenstoss, Achtfaden, Ochsenaugen<br />
und Sanktwolke, Oberst Enzian und sein<br />
Halbbruder Vaslav Tschitscherine, die Gebrüder<br />
van der Groov – es würde nicht erstaunen, die<br />
Dubini Brothers darunter zu finden.<br />
«Jeder Sonderling auf dieser Welt ist auf meiner Wellenlänge»,<br />
sagt Pynchon.<br />
Pychons geheimnisvolle Anonymität bewirkt, dass<br />
Personen, die sich mit ihm und seinen Büchern<br />
auseinandersetzen, zu <strong>Pro</strong>tagonisten einer Story<br />
werden, bei der Pynchon aus dem Dunkeln heraus<br />
die Fäden zu ziehen scheint. Da er nicht antwortet,<br />
wird alles, was über ihn gesagt wird, Teil<br />
einer Mega-Story, die sich aus den Pynchon-Themen<br />
wie Paranoia, Geheimorganisationen, Kabbala,<br />
pawlowscher Konditionierung, Verschwörungstheorien<br />
und dem Zauberer von Oz zusammensetzt<br />
und Namen wie Orwell, Rilke, Joyce und<br />
die Simpsons mit ins Spiel bringt. Eine über die<br />
Buchseiten weit hinausreichende Geschichte, in<br />
der Fiktion und Realität nicht mehr zu unterscheiden<br />
sind.<br />
«Donatello glaubt, Pynchon gesehen zu haben, als wir in<br />
New York drehten», erzählt Fosco. «Man dreht sich um,<br />
blickt Passanten nach, verfolgt Gerüchte, die einen Delikatessenladen<br />
betreffen, in dem Pynchon einkaufen soll,<br />
wartet dort. War er das, der gerade um die Ecke bog?»<br />
Verfolgungswahn kann beim Paranoiker zu Erfahrungen<br />
führen, die Koinzidenzen genannt wer-<br />
21
22<br />
den. Es handelt sich um Zufälle, die Zusammenhänge<br />
schaffen oder als solche sichtbar machen.<br />
Im September 1963 reisen Thomas Pynchon und<br />
Lee Harvey Oswald nach Mexiko City. Pynchon<br />
kommt von der Hochzeitsfeier seines Freundes<br />
Richard Fariña mit Mimi Baez, die am 24. August<br />
im Hause von Joan Baez in Portola Valley stattfindet.<br />
Er fährt nach Hause, Oswald zu einem Treffen<br />
mit dem kubanischen Geheimdienst G-2 in der<br />
kubanischen Botschaft, wo er laut Wilfried Huismann<br />
(Rendezvous mit dem Tod) den Auftrag erhält,<br />
John F. Kennedy zu erschiessen. Sitzen Pynchon<br />
und Oswald im gleichen Bus?<br />
«Ist das eines der Geheimnisse?» fragt Richard Lane.<br />
«Haben sie sich unterhalten?»<br />
Mitte der Sechzigerjahre wohnt Pynchon in Al<br />
Porto in Manhattan Beach, einer Kleinstadt am<br />
Pazifik in der Nähe von Los Angeles. Chrissie Wexler,<br />
die frühere Frau von Jules Siegel, die damals<br />
ein Verhältnis mit Pynchon hat, erinnert sich: «Im<br />
Sommer ist er morgens hier an den Strand gegangen<br />
und zwei, drei Stunden geblieben. Das Verrückte ist,<br />
dass seine Haut trotzdem weiss blieb. Wir haben am<br />
Strand gesessen und über den Vietnamkrieg gesprochen.»<br />
Jean Seberg – American Actress: «Ein seltsamer<br />
Zufall will es», erzählt Fosco Dubini, «dass sich zur<br />
selben Zeit zwei andere <strong>Pro</strong>tagonisten aus Filmen von<br />
uns in dieser Gegend aufhalten: Jean Seberg und Hedy<br />
Lamarr.»<br />
Jean Seberg – American Actress, von Donatello und<br />
Fosco Dubini, Deutschland/Schweiz, 1995, schildert<br />
die Tragödie eines Lebens, in dem Fiktion<br />
und Wirklichkeit nicht mehr unterschieden werden.<br />
Die Schauspielerin wird am 8. September<br />
1979 in einem weissen Renault 5 von der Pariser<br />
Gendarmerie gefunden, vollgepumpt mit Nebutal<br />
und Alkohol, 7,94 <strong>Pro</strong>mille, tot. Nach der Obduktion<br />
steht fest, dass sie Tabletten geschluckt und<br />
Whisky getrunken hat:<br />
«Dieser selbstgebraute Todescocktail vergiftete sie», erklärt<br />
der Arzt. Zehn Tage vorher verlässt Jean Seberg<br />
nachts ihre Wohnung und bleibt verschwunden.<br />
Im Wagen werden keine leeren Flaschen gefunden.<br />
Es gibt Vermutungen, der Alkohol könnte<br />
injiziert worden sein. Romain Gary, ihr ehemaliger<br />
Ehemann, beschuldigt das FBI, an ihrem Tod<br />
mitschuldig zu sein. Anderen Stimmen zufolge<br />
hätten Agenten des französischen Geheimdienstes<br />
sie wegen Kontakten zum algerischen Widerstand<br />
getötet. Die perfekte Ingredienz zur Legendenbildung,<br />
basierend auf einer Verschwörungstheorie,<br />
die derart naheliegend ist, dass Pynchon<br />
sie vermutlich als Fiktion abtäte.<br />
Tatsache ist, dass das FBI 1970 eine Schmutzkampagne<br />
gegen die Schauspielerin einleitet und mit<br />
Hilfe von Newsweek das Gerücht verbreitet, sie<br />
sei von einem Anführer der Black Panther Party<br />
schwanger. Jean Seberg erleidet einen Nervenzusammenbruch<br />
und verliert ihr Kind, das sie am<br />
Tag seiner Beerdigung in einem gläsernen Sarg<br />
der Öffentlichkeit vorführt: Es ist weiss. Seit die<br />
Schauspielerin schwarzen Bürgerrechtsaktivisten<br />
Asyl gewährt, gilt sie als Staatsfeindin. Ihr Telefon<br />
wird abgehört, sie wird Tag und Nacht beschattet,<br />
eine 300 Seiten starke Akte mit dem Codenamen<br />
Arisa wird erstellt. Alles Gründe, die eine Verschwörung<br />
nicht unbedingt als paranoides Hirngespinst<br />
und das Untertauchen eines Autors, der<br />
sich in seinen Büchern mit totalitären Systemen<br />
und deren Vorgehensweisen auseinandersetzt,<br />
als Vorsichtsmassnahme sinnvoll erscheinen lassen.<br />
Hedy Lamarr – The Secret of a Hollywoodstar,von<br />
Donatello und Fosco Dubini und Barbara Obermaier<br />
(Deutschland/Schweiz/Kanada, 2006) zeichnet<br />
das Porträt einer Schauspielerin, die als erste<br />
Nackte der Filmgeschichte berühmt wird und als<br />
«schönste Frau des Jahrhunderts» auf eine kometenhafte<br />
Karriere in Hollywood zurückblickt, bis sie<br />
einsam und vergessen stirbt. 1914 in Wien als<br />
Tochter eines Bankiers geboren, heiratet sie mit<br />
19 Jahren den Industriellen Fritz Mandl, ein Jude,<br />
der mit den Nazis Geschäfte macht und ihr das<br />
Filmen kurzerhand verbietet. Vier Jahre nach der<br />
Eheschliessung verlässt sie Mandl und flieht nach<br />
Paris, nachdem sie ihn und seine französische<br />
Zofe, die ihr nachspionieren soll, mit Drogen ausser<br />
Gefecht setzt. Louis B. Mayer entdeckt sie und<br />
ändert ihren Namen (Hedwig Eva Maria Kiesler)<br />
in Hedy Lamarr um, eine Hommage an die 1926<br />
an einer Überdosis Drogen gestorbene Filmdiva:<br />
Barbara La Marr.<br />
Im Sommer 1940 macht sie in Hollywood die Bekanntschaft<br />
ihres Nachbarn: George Antheil, dessen<br />
Konzerte nicht selten in Saalschlachten enden.<br />
Antheil, der in Paris in den Kreisen um Satie,<br />
Cocteau, Joyce und Picasso verkehrt und der sich<br />
selbst als «bad boy of music» bezeichnet, soll ihr<br />
Fragen zu den Themen Drüsen und Brustvergrösserung<br />
beantworten. Ein von ihm verfasstes Buch<br />
mit dem Titel Every man his own detective: a study<br />
of glandular endocrinology weckt ihr Interesse und<br />
wird zum Anlass für diese Begegnung. Im Laufe<br />
des Gesprächs kommt man auf den Krieg und verschiedene<br />
Waffensysteme zu sprechen. Hedy Lamarr<br />
erwähnt, dass sie mit dem Gedanken spiele,<br />
MGM zu verlassen und nach Washington, D.C., zu<br />
ziehen, wo sie einem Erfinderrat beitreten will.<br />
Diese Begegnung und die daran anschliessende<br />
Zusammenarbeit zwischen den beiden führt innerhalb<br />
kurzer Zeit zu einer erstaunlichen Erfin-
Little Switzerland/North Carolina, USA Arlesheim/Basel-Land, Schweiz
24<br />
dung, einer Funksteuerung für Torpedos, bei der<br />
das Steuerungssignal über mehrere Frequenzen<br />
verteilt und dadurch vor feindlichen Störungen<br />
sicher ist. Eine Erfindung, die Technologien wie<br />
Mobiltelefon und Satellitenkommunikation vorwegnimmt.<br />
1962 kommt das System während der<br />
Kubablockade zum Einsatz.<br />
Hedy Lamarr spielt in über 30 Filmen, darunter<br />
Tortilla Flat, Algiers, White Cargo; ihr erfolgreichster:<br />
Cecil B. DeMilles Samson und Delilah, ihr letzter:<br />
Instant Karma. Die Hauptrolle in Casablanca<br />
lehnt sie ab.<br />
«Als ‹Weisse Fracht› wird Hedy Lamarr im Film wie<br />
im Leben ein von Hollywood geschaffenes Vehikel von<br />
Wünschen, Träumen und erotischen <strong>Pro</strong>jektionen. Sie<br />
vermischt beständig Fiktion, Realität, ihre Rollen und<br />
ihr Leben als dauernde Irreführung», erklärt Barbara<br />
Obermaier, Mitregisseurin beim Lamarr-Film.<br />
Koinzidenzen und Synchronizität: Und genau dieses<br />
Vermischen von Fiktion und Realität treibt<br />
Pynchon auf die Spitze, das Vertauschen von Rollen,<br />
die Irreführung der Öffentlichkeit. Die Collagetechnik,<br />
die der Autor in seinen Büchern anwendet,<br />
das Zusammentragen von Bezügen, die<br />
dadurch als solche erkannt werden und entstehen,<br />
die Art, den Dingen auf die Spur zu kommen,<br />
die hinter dem Sichtbaren lauern, bestimmt<br />
auch die Arbeitsweise der Schweizer Dubini Brothers.<br />
Dadurch werden ihre Filme zu selbstständigen<br />
Werken, die stets eine weiterführende, das<br />
Thema transzendierende und keine kommentierende<br />
Funktion haben.<br />
Allen drei <strong>Pro</strong>tagonisten ihrer Filme gemeinsam<br />
ist etwas, was jeden Freund von Koinzidenzen<br />
stutzen lässt, weil er dahinter das von John C. Lilly<br />
beschriebene CCCC oder Cosmic Coincidence Controll<br />
Center vermutet. Scheinbar zufällig taucht bei<br />
jedem der hier angeführten <strong>Pro</strong>tagonisten eine<br />
Farbe auf, die in Wirklichkeit keine Farbe, sondern<br />
die Summe aller Farben ist: Weiss. Chrissie<br />
Wexler erinnert sich und findet es verrückt, dass<br />
Pynchons Haut, trotz täglichem Strandbesuch,<br />
weiss bleibt. Jean Seberg sieht sich bei der Beerdigung<br />
ihres totgeborenen Kindes gezwungen, den<br />
traurigen Beweis antreten zu müssen, dass ihr<br />
Kind weiss ist. Hedy Lamarrs Beitrag zu dieser<br />
Synchronizität – wie C. G. Jung das Phänomen<br />
auch bezeichnet –, liegt in ihrer Rolle als Tondelayo<br />
in Weisse Fracht. Als Synchronizität bezeichnet<br />
der Schweizer Tiefenpsychologe C. G. Jung Ereignisse,<br />
die nicht über eine Kausalbeziehung<br />
verknüpft sind, aber vom Beobachter als sinnvoll<br />
verbunden erlebt werden. Deshalb darf es auch<br />
nicht erstaunen, dass Pynchons nächster Roman<br />
sich angeblich mit der russischen Mathematikerin<br />
Sofia Vasilyevna Kovalevsakaya beschäftigt,<br />
mit nichtlinearer Dynamik in kondensierter Materie<br />
und dem Weiss-Tabor-Carnevale-Algorithmus.<br />
Vielleicht auch ein weiteres Filmthema für die<br />
Dubini Brothers? ¬<br />
Fosco Dubini, 1954 in Zürich geboren, begann 1975 sein Studium<br />
der Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften an der Universität<br />
Köln. Bis 1979 war er Mitglied des Filmkollektivs Zürich und<br />
danach Gründungsmitglied des Kölner Filmhauses sowie des<br />
Filmbüros NW. Seit 1991 unterrichtet er an der ESAV (École Supérieure<br />
d’Art Visuel) in Genf und arbeitet als Autor, Regisseur,<br />
Editor und <strong>Pro</strong>duzent in Köln und Genf. 1995 entstand – in Zusammenarbeit<br />
mit seinem Bruder Donatello – der Dokumentarfilm<br />
American Actress über Jean Seberg, 2001 folgte mit<br />
A Journey Into The Mind Of P. ein dokumentarisches Porträt des<br />
Schriftstellers Thomas Pynchon. Für den deutsch-schweizerischen<br />
Spielfilm Die Reise nach Kafiristan begaben sich Dubini und<br />
seine Crew auf eine beschwerliche Reise durch verschiedene<br />
Wüstenschauplätze in Jordanien. Fosco Dubinis jüngstes Filmprojekt<br />
ist der Dokumentarfilm Hedy Lamarr – Secrets of a Hollywood<br />
Star.<br />
Donatello Dubini, geboren 1955 in Zürich. Studierte von 1975-<br />
1977 an der Filmakademie in Wien. Bis 1979 Mitglied des Filmkollektivs<br />
Zürich. 1979 Studium der Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft<br />
an der Universität Köln. Gründungsmitglied des<br />
Kölner Filmhauses. Mitglied der Filmemacher- und Verleihinitiative<br />
Der Andere Blick, mit Nico Hofmann, Christian Wagner,<br />
Werner Penzel und Nicolas Humbert. Förderpreis des Landes<br />
NRW 1987, Bayerischer Filmpreis 1990. Lebt in Köln.<br />
Filmografie (Auswahl)<br />
2005 Hedy Lamarr – Secrets of a Hollywood Star<br />
Deutschland/Schweiz/Kanada, Dokumentarfilm, 85min.,<br />
Real Fiction<br />
2001 The Journey to Kafiristan (cast: Jeanette Hain, Nina Petri)<br />
Deutschland/Schweiz/Niederlande, feature, 100 min.,<br />
www.diereisenachkafiristan.de<br />
Int. Film Festival Locarno «Piazza Grande», Filmfest Hamburg,<br />
Montréal<br />
2001 Thomas Pynchon – A Journey into the mind of P.<br />
Dokumentarfilm, 90 min., Real Fiction, Int. sales: Media Luna<br />
1995 Jean Seberg – American Actress<br />
Dokumentarfilm, 82 min., Real Fiction / Der andere Blick<br />
Jean Willi, 1945 geboren, lebt auf Ibiza. 1989 erscheint die Erzählung<br />
Der Tag von Santa Inés. 1994 schreibt er zusammen mit<br />
Martin Suter das Drehbuch zu drei Folgen der Fernsehserie Die<br />
Direktorin. Zwischen 1993 und 1996 gibt er vier Bände mit Texten<br />
von Werner Helwig heraus. 1999 erscheint Sweet Home im Ricco<br />
Bilger Verlag, 2005 im gleichen Verlag der Roman matar.
Die verschwisterten Republiken<br />
Was denken Amerikaner über die Schweiz?<br />
Alfred Defago<br />
Das Interesse Amerikas an Europa sinkt. Doch Gemeinsamkeiten – auch im Falle der Schweiz – bleiben bestehen.<br />
Entstehen auch neue? Alfred Defago auf der Suche nach einer transatlantischen Balance ❙<br />
Der Lapsus: Es war am 14. Mai 1997. Pünktlich<br />
um 14.30 fuhr eine schwarze Stretch-Limousine<br />
des US-Aussenministeriums samt Polizeieskorte<br />
mit Blaulicht vor der Residenz des Schweizer Botschafters<br />
in Washington vor. Meine Frau und ich<br />
sollten zur offiziellen Übergabe des Beglaubigungsschreibens<br />
an Präsident Clinton im Weissen<br />
Haus abgeholt werden. Alles hatte das amerikanische<br />
<strong>Pro</strong>tokoll detailliert vorbereitet, der Ablauf<br />
war auf die Minute genau geplant. Nach dem protokollarisch<br />
vorgesehenen ‹Small Talk› mit zwei<br />
Vertretern des Staatsdepartements in unserer Residenz<br />
war die Abfahrt auf 14.45 festgesetzt. Doch<br />
als wir auf die Limousine zugingen, passierte es:<br />
«Ich glaube, da stimmt was nicht», flüsterte mir meine<br />
Frau zu und zeigte mit den Augen diskret auf<br />
die Kühlerhaube der langezogenen Limousine des<br />
State Department. Und in der Tat: Da prangte sie,<br />
die Nationalflagge mit dem weissen Kreuz im rotem<br />
Feld. Doch leider war es nicht die schweizerische,<br />
sondern unverkennbar die dänische Flagge,<br />
der Danebrog, den die Amerikaner hier aufgepflanzt<br />
hatten. Als wir unsere Beobachtung dem<br />
mitfahrenden amerikanischen <strong>Pro</strong>tokollbeamten<br />
mitteilten, setzte es zuerst ein betretenes Schweigen<br />
ab. Dann ein verzweifeltes «Oh my god!» sowie<br />
ein nervöses Telefongespräch mit dem <strong>Pro</strong>tokolldienst<br />
des Staatsdepartements. Wir fuhren<br />
schliesslich ab, mit der dänischen Flagge. Doch sie<br />
wurde eine Meile vor dem Weissen Haus durch<br />
eine schweizerische ersetzt, die ein Polizeifahrzeug<br />
eilends aus dem Aussenministerium herbeigeschafft<br />
hatte. Als wir endlich an der Ehrengarde<br />
vorbei beim Portal des Weissen Hauses<br />
vorfuhren, war es das Schweizerkreuz im roten<br />
Feld, das im Wind munter und gut sichtbar flatterte.<br />
Ich habe diese Episode wohlweislich erst einige<br />
Jahre nach dem Vorfall zu erzählen begonnen. Im<br />
Mai 1997, als die Wogen über die Rolle der Schweiz<br />
im 2. Weltkrieg bei uns hochgingen, wäre ein solcher<br />
Lapsus in der Schweiz zum explosiven Politikum<br />
geworden. Dies umso mehr, als die Vorfahrt<br />
vor dem Weissen Haus von einem Team des<br />
Schweizer Fernsehens für die Tagesschau gefilmt<br />
wurde.<br />
Schweizer, denen ich diese kleine Geschichte später<br />
erzählt habe, reagierten meist mit Kopfschütteln.<br />
Der Vorfall erschien ihnen ‹typisch amerikanisch›,<br />
d.h. als ein klares Indiz für amerikanische<br />
Arroganz, Ignoranz und letztlich das Fehlen jeglicher<br />
Sensibilität gegenüber der Aussenwelt. Wie<br />
kann man nur die dänische mit der schweizerischen<br />
Flagge verwechseln? Doch damit nicht genug.<br />
Gleich mehrere Male habe ich mit meinem<br />
schwedischen Amtskollegen in Washington Briefe<br />
ausgetauscht, die von amerikanischen Absendern,<br />
darunter auch Senatoren und Kongressabgeordneten,<br />
offensichtlich an den ‹falschen› der beiden<br />
Botschafter gesandt worden waren.<br />
Ein klares Schweiz-Bild gibt es in den USA nicht:<br />
Wer über das amerikanisch-schweizerische Verhältnis<br />
schreiben oder reden soll, tut gut daran,<br />
sich dieser Episoden zu erinnern. Zwar gibt es<br />
sie, die Schweiz-Kenner in der Neuen Welt. In der<br />
Wirtschaft, der Politik und selbstverständlich an<br />
den vielen erstklassigen Universitäten des Landes.<br />
Da kann man denn in der Tat nur staunen, wenn<br />
etwa an der University of Wisconsin-Madison regelmässig<br />
Vorlesungen über Frauenliteratur in<br />
der Westschweiz des 20. Jahrhunderts oder – an<br />
gleich mehreren Top-Instituten – Seminare über<br />
das politische Konsens-System in der schweizeri-<br />
25
Gstaad/Bern, Schweiz
New Bern/North Carolina, USA
28<br />
schen Politik gehalten werden. Doch die Mehrheit<br />
der Amerikaner weiss nur wenig über die Schweiz.<br />
Allerdings: Die Schweiz ist hier für einmal kein<br />
Sonderfall. Genau so vage bleiben die Vorstellungen<br />
über Dänemark, Schweden, die Slowakei oder<br />
Holland. Wer nicht gerade in Schweizer Vereinen<br />
oder bei Schweiz-Spezialisten in Wirtschaft, Politik<br />
oder Kultur herumhört, wird Mühe haben,<br />
über die üblichen Klischees von den hohen Bergen,<br />
klaren Seen, friedlich weidenden Kühen,<br />
Käse, Schokolade, Uhren oder Banken hinaus fündig<br />
zu werden.<br />
Kürzlich habe ich gelesen, dass das amerikanische<br />
Interesse an der Schweiz und anderen europäischen<br />
Ländern wieder steigen könnte. Ich habe<br />
meine Zweifel. Das hat zunächst mit der Tatsache<br />
zu tun, dass die meisten Amerikaner zwar in<br />
der einen oder anderen Form Einwanderer waren<br />
oder sind, aber dennoch Einwanderer, die ihre<br />
alte Heimat verlassen und eine neue gefunden haben.<br />
Manche von ihnen sind zwar stolz, Schweizer-Amerikaner,<br />
Italo-Amerikaner oder Irisch-<br />
Amerikaner zu sein. Aber letztlich sind sie eben<br />
doch in erster Linie Amerikaner. Irisch-Amerikaner<br />
oder Abkömmlinge von Einwanderern aus Sizilien<br />
mögen – in oft verklärender Weise – sich für<br />
ihre alte Heimat in Cork oder Palermo begeistern.<br />
Aber es ist nicht anzunehmen, dass sie sich speziell<br />
auch noch für die Schweiz interessieren. Warum<br />
sollten sie auch?<br />
Vom Atlantik zum Pazifik: Dazu kommt, dass die<br />
USA, noch immer das Einwanderungsland par<br />
excellence, seit Mitte der sechziger Jahre eine<br />
massive Einwanderungswelle aus Lateinamerika,<br />
der Karibik sowie aus Süd- und Ostasien erleben.<br />
Die Einwanderung aus Europa, zumindest aus<br />
Westeuropa, ist in den letzten Jahrzehnten dagegen<br />
so gut wie verebbt. Das hat, ja muss Konsequenzen<br />
für das amerikanische Interesse an Europa<br />
(und damit auch der Schweiz) haben. Dass sich<br />
die Millionen von neu zugezogenen Mexikanern,<br />
Indern, Chinesen oder Vietnamesen als neugebakkene<br />
Amerikaner besonders für Europa interessieren,<br />
ist nicht anzunehmen. Und so wenden<br />
sich die USA – langsam aber sicher – Lateinamerika<br />
und Asien zu. Auch wenn es viele Europäer<br />
und gerade Schweizer nicht so recht wahr<br />
haben wollen: Die USA sind heute – mehr denn je<br />
– weit mehr als nur ein kultureller Wurmfortsatz<br />
Europas, mehr als ein blosser Vorposten der<br />
westlich-atlantischen Zivilisation. Im Gegensatz<br />
zu Europa, das mit der Immigration schon immer<br />
seine Mühe hatte, integriert Amerika trotz aller<br />
Schwierigkeiten nicht-europäische Einwanderer<br />
in grosser Zahl. Und verändert sich als Land mit<br />
ihnen, ethnisch, gesellschaftlich und kulturell.<br />
Gleichzeitig verlagert sich sein Schwerpunkt vom<br />
Atlantik zum Pazifik.<br />
Dennoch: Europa und die USA teilen noch immer<br />
ein bemerkenswertes Mass an kulturellen und intellektuellen<br />
Gemeinsamkeiten und Werten. Europa<br />
hat diesbezüglich durchaus einen erheblichen<br />
Einfluss auf das politische und kulturelle Denken<br />
der Vereinigten Staaten gehabt. Einen Einfluss,<br />
der bis auf den heutigen Tag deutlich nachwirkt.<br />
Hier kommt auch die kleine Schweiz ins Spiel,<br />
und zwar sehr prominent. Schweizerisches politisches<br />
Denken und schweizerische politische Praxis<br />
haben auf die Entwicklung der amerikanischen<br />
Demokratie einen beträchtlichen Einfluss gehabt.<br />
Sie sind auch heute noch im politischen Alltag<br />
deutlich zu spüren. Es gehört zur Ironie der Geschichte,<br />
dass dieser wirklich bedeutende schweizerische<br />
Beitrag zur amerikanischen Geschichte<br />
in der Schweiz weniger bekannt ist als in den<br />
USA selbst.<br />
Die Schwester-Republiken: Im späten 18. und bis<br />
weit ins 19. Jahrhundert hinein war die kleine<br />
Schweiz im fernen Europa so etwas wie ein Vorbild<br />
für die junge amerikanische Republik. Kein<br />
Wunder, dass der Blick der Amerikaner gerade<br />
auf die Schweiz fiel. Die Alte Eidgenossenschaft<br />
war einer der wenigen republikanischen Staaten<br />
in einem Meer von mehr oder weniger straff organisierten<br />
Monarchien. Schon sehr bald begann<br />
man sowohl in der Schweiz wie auch den USA<br />
von einer engen Partnerschaft zu sprechen. Das<br />
Wort von den ‹Sister Republics›, den zwei Schwesterrepubliken,<br />
machte die Runde. Als es in den<br />
USA 1787 um die Niederschrift der ersten republikanischen<br />
Verfassung ging, diskutierte man das<br />
schweizerische Vorbild geradezu leidenschaftlich.<br />
Sollte man sich als lose Konföderation konstituieren,<br />
wie das damals die Alte Eidgenossenschaft<br />
war? Oder sollte man nicht vielmehr etwas grundsätzlich<br />
Neues wagen? Man entschied sich für einen<br />
föderalistisch aufgebauten Staat, der aber<br />
dennoch – anders als das schwache Tagsatzungssystem<br />
der dreizehnköpfigen Eidgenossenschaft<br />
– eine relativ starke Zentralgewalt aufwies.<br />
Etwas mehr als ein halbes Jahrhundert später waren<br />
es die Schweizer, die von der ‹Sister Republic›<br />
jenseits des Atlantiks in Sachen Verfassung lernen<br />
wollten. Die liberal-radikalen Gründungsväter<br />
der neuen Schweiz von 1848 suchten nicht lange<br />
nach möglichen Vorbildern für ihre Bundesverfassung.<br />
Für sie kam da – beinahe zwangsläufig –<br />
nur eine Verfassung in Frage: die amerikanische.<br />
Kein Wunder, denn auch 1848 war eine Republik,<br />
die sich auf die Herrschaft des Volkes berief, immer<br />
noch eine geradezu exotische Ausnahme. In<br />
starker Anlehnung an das amerikanische Vorbild
wurde in der Schweiz ein föderaler Staat mit einem<br />
Zweikammer-System geschaffen. Der Nationalrat,<br />
die Volksvertretung, wurde dem US-Repräsentantenhaus<br />
nachgebildet, der Ständerat, die<br />
Vertretung der Kantone, war in mancher Hinsicht<br />
eine Kopie des amerikanischen Senats. Diese und<br />
viele andere Bestimmungen in der Bundesverfassung<br />
von 1848 veranlassten den Neuenburger<br />
Staatsrechtler Jean-François Aubert zur leicht maliziösen<br />
Bemerkung, man könne hier beinahe von<br />
einem Plagiatsfall sprechen.<br />
Neben offensichtlichen Ähnlichkeiten gibt es aber<br />
auch bezeichnende Unterschiede. Zwar kennt<br />
auch die Bundesverfassung von 1848 die grundsätzliche<br />
Trennung der drei Staatsgewalten (Legislative,<br />
Exekutive und Judikative). Doch während<br />
sie im legislativen Bereich das amerikanische<br />
Zweikammersystem weitgehend übernimmt, ändert<br />
sie das amerikanische Vorbild in Bezug auf<br />
die Exekutive in auffälliger Weise ab. Ruft die<br />
US-Verfassung geradezu nach einem starken Präsidenten<br />
mit Führungsqualitäten, verteilt die<br />
schweizerische Verfassung dessen Machtfülle typischerweise<br />
auf ein Gremium von sieben Bundesräten.<br />
Zwar kennt auch die Bundesverfassung einen<br />
Präsidenten, doch bis auf den heutigen Tag<br />
sind dessen Kompetenzen weitgehend zeremonieller<br />
Natur. Und die Tatsache, dass er überdies<br />
nur jeweils ein Jahr im Amt bleiben darf, ist ein<br />
weiterer Hinweis, dass die politisch, sprachlich<br />
und kulturell vielgliedrige Schweiz – anders als<br />
die USA – eben keine starken ‹Leaders› will.<br />
Initiative und Referendum: Doch die wechselseitigen<br />
Beeinflussungen der beiden Polit-Systeme<br />
war 1848 noch nicht zu Ende. Hatten die radikalen<br />
Gründungsväter der neuen Schweiz ihre geistigen<br />
Anleihen weitgehend in den USA getätigt,<br />
sind es gegen Ende des 19. Jahrhunderts wiederum<br />
die Amerikaner, welche schweizerisches Verfassungsrecht<br />
in die USA exportieren. Die typisch<br />
schweizerischen direkt-demokratischen Einrichtungen<br />
von Initiative und Referendum sind es,<br />
die sie plötzlich faszinieren. In den späten achtziger<br />
und neunziger Jahren erscheinen in den USA<br />
unzählige Bücher und noch mehr Zeitungsartikel<br />
über das Initiativ- und Referendumsrecht der Eidgenossenschaft<br />
im fernen Europa. Initiative und<br />
Referendum werden plötzlich als Allheilmittel gegen<br />
politische Machenschaften und die grassierende<br />
Korruption in verschiedenen Bundesstaaten<br />
gesehen. Das Volk muss – wie in der Schweiz –<br />
den Politikern auf die Finger klopfen können, war<br />
der Schlachtruf der amerikanischen Populisten.<br />
Der Erfolg blieb nicht aus. Zwischen 1890 und<br />
1912 führen 18 Bundesstaaten das Initiativ- und/<br />
oder Referendumsrecht ein.<br />
Heute sind es bereits 26 US-Staaten, die diese<br />
Einrichtung kennen. Und die Bewegung für direkte<br />
Volksrechte scheint in den letzten Jahren noch<br />
mehr Schwung entwickelt zu haben. So kommt<br />
es, dass heute von Kalifornien bis Florida Jahr für<br />
Jahr Millionen von Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern<br />
nach schweizerischer Manier zu jeweils<br />
Dutzenden von Sachgeschäften zur Urne gerufen<br />
werden. Nicht selten werden dabei umstrittene<br />
Entscheide der Staatsparlamente rückgängig gemacht<br />
oder gegen den Willen des Gouverneurs<br />
neue Bestimmungen in die jeweilige Staatsverfassung<br />
aufgenommen. Die Einführung des Initiativ-<br />
und Referendumrechts in mehr als der Hälfte<br />
aller US-Bundesstaaten ist ohne die Schweiz nicht<br />
denkbar. Anhänger wie Gegner dieser – nicht unumstrittenen<br />
– Institution verweisen in ihren Debatten<br />
nicht selten ausdrücklich auf das schweizerische<br />
Vorbild. Das ist immerhin etwas. Die<br />
leidige Frage aber, was die Amerikaner über uns<br />
denken, welches Bild sie von uns haben, sollten<br />
wir ruhen lassen. Sie bringt nichts, genausowenig<br />
wie im Falle von Dänemark, Schweden, Slowakei<br />
oder ...(Reihe beliebig fortsetzbar). ¬<br />
Alfred Defago, Dr. phil., lehrt seit 2001 internationale Beziehungen<br />
an der University of Wisconsin-Madison. Zuvor war er<br />
Schweizerischer Generalkonsul in New York und Botschafter<br />
der Schweiz in Washington, DC. In den achtziger und neunziger<br />
Jahren war Alfred Defago Chefredaktor von Radio DRS und<br />
Direktor des Bundesamts für Kultur.<br />
29
Chicago/Illinois, USA
Hollywood-Swissness à la carte<br />
Ein fiktives Gespräch mit Renée Zellweger<br />
Milena Moser Natürlich hätte ‹Passagen› den Leserinnen und Lesern an dieser Stelle gerne ein Exklusivinterview mit der ‹Holly-<br />
woodschweizerin› Renée Zellweger beschert. Doch das Filmgeschäft hat seine eigenen Gesetze und, was Inter-<br />
views mit Stars betrifft, Hürden, die kaum zu überwinden sind. Das musste auch die in San Francisco lebende<br />
Schweizer Schriftstellerin Milena Moser erfahren. Ihr Gespräch mit Renée Zellweger fand trotzdem statt – in der ei-<br />
genen Phantasie. Exklusiv! ❙<br />
Muttenz/Basel-Land, Schweiz<br />
31
32<br />
Beim Bauernspeck: «Ich liebe die Schweiz», sagt sie.<br />
«Der Schweiz verdanke ich alles.» «M-hm.» Ich nicke.<br />
«Weiter?»<br />
Gewissenhaft listet sie die typisch schweizerischen<br />
Eigenschaften auf, die ihr das Leben einfacher<br />
gemacht haben, ja denen sie eigentlich, wenn<br />
sie es sich genau überlegt, ihren Erfolg verdankt.<br />
Pünktlichkeit, Sauberkeit, sie zählt sie an den Fingern<br />
ab, ihre Hände sind schneeweiss, als hätte<br />
sie ihr Leben lang Abwaschhandschuhe getragen,<br />
auch das eine Schweizer Sitte wie aus dem Bilderbuch.<br />
«Loyalität», fährt sie fort, «Verlässlichkeit, absolute<br />
Verlässlichkeit.»<br />
Während sie spricht, hat sie den Käse in kleine<br />
Stücke geschnitten, jetzt schiebt sie mir die Bauernplatte<br />
zu. «Bedienen Sie sich doch», sagt sie höflich,<br />
«griiffed nume zue!»<br />
Mit einem Lächeln quittiere ich den gelungenen<br />
berndeutschen Akzent. Gelesen habe ich zwar,<br />
dass ihr Vater aus dem Sanktgallischen stammt,<br />
aber ich will nicht kleinlich sein. Renée tut, was<br />
sie kann, vor allem, wenn man den Jetlag berücksichtigt.<br />
Ich nehme mir eine Essiggurke, ein Stück Käse,<br />
Renée kaut am Bauernspeck. Sie nickt ernsthaft,<br />
studiert den ihr unbekannten Geschmack, die Beschaffenheit<br />
jedes Bissens. Wir sitzen draussen<br />
an einem der rotlackierten Metalltische, vor uns<br />
die Wiese, der Spielplatz, die Kühe. Vögel zwitschern,<br />
Bienen summen, Sonnenstrahlen wärmen.<br />
Andere Gäste schauen zu uns herüber, aber<br />
sie sagen nichts, wenn sie Renée erkannt haben,<br />
lassen sie es sich nicht anmerken. Sie beugt sich<br />
vor: «Sehen Sie, das liebe ich an der Schweiz!»<br />
«Ich weiss», sage ich, «ich habe selber mal Udo Jürgens<br />
in der Migros gesehen, am Stadelhoferplatz. Er<br />
kaufte Rasierschaum und Klopapier und stand vor der<br />
Kasse an wie alle anderen.»<br />
«Udo Jürgens? Migros?»<br />
Renée legt ihr Winzgesicht in neue Falten, andere<br />
Falten, die Verwirrung ausdrücken. Bückt sich unter<br />
den Tisch, sie zieht den Reissverschluss ihres<br />
brandneuen Rucksackes auf und holt ein Notizbuch<br />
hervor. Das Büchlein (wie auch der Rucksack,<br />
der Bleistift und die Schiebermütze auf ihrem<br />
blonden Kinderhaar) ist rot und mit weissen<br />
Schweizerkreuzen bedruckt. Niemand kann Renée<br />
vorwerfen, sie nähme ihre Rolle nicht ernst.<br />
Ein <strong>Pro</strong>fi. Das sagt jeder. Der ist nichts zu viel. Der<br />
Renée Zellweger.<br />
«Migros», sie sie schaut auf, ihr Blick ist ernst.<br />
«Wie buchstabiert man das?»<br />
Ich diktiere es ihr. Sie schaut auf, ihr Blick ist ernst.<br />
«Und Udo Jürgens? Ein berühmter Schweizer?»<br />
«Ja, ziemlich.»<br />
Sie seufzt.<br />
«Ich habe noch so viel zu lernen, nicht?»<br />
«Sie machen Ihre Sache gut», sageich,«sehr gut sogar!»<br />
und winke nach einem Halbeli.<br />
«Halbeli», wiederholt Renée. «Haa-ubeli?»<br />
Ich nicke. Sehr gut.<br />
Das Komitee: Es hatte nicht lange gebraucht, um<br />
sich zu entscheiden. Die Frau, die die Schweiz verkörpern<br />
würde (auf Briefmarken und Münzen und<br />
offiziellen Briefköpfen, auf Konferenzen und Weltausstellungen<br />
und vielleicht sogar als Wachsfigur)<br />
sollte modern sein, aber doch durch und<br />
durch schweizerisch. Hübsch, aber nicht überwältigend<br />
schön, bescheiden, aber nicht arm, allerdings<br />
auch nicht wirklich reich, zurückhaltend,<br />
aber nicht schwach, jemand, der sich selbst genügt.<br />
So jemand. Sollte die Schweiz verkörpern.<br />
Jemand wie Renée Zellweger eben. Genau.<br />
«Renée Zellweger», sagte jemand, «aber die lebt doch<br />
in Amerika.»<br />
«Nicht nur das, sie ist in Amerika geboren. Gilt das<br />
überhaupt?»<br />
«Ich bitte Sie!» Ein Mitglied des Kommittees stand<br />
auf, ein nicht mehr ganz junger Herr in einem<br />
grauen Anzug, der lange geschlafen hatte, mindestens<br />
zwanzig Jahre lang, aber etwas an dieser<br />
Idee, die Schweiz zu verkörpern, hatte ihn aufgeweckt.<br />
«Mit einem Namen wie Zellweger? Gibt es einen<br />
schweizerischen Namen? Einen Namen, wohlgemerkt,<br />
den sie jederzeit hätte ablegen können. Aber hat sie das<br />
getan? Nein, das hat sie nicht. Im Gegenteil, sie hat<br />
diesen schweizerischsten aller Namen weltberühmt gemacht.»<br />
«Ja, aber wie man ihn ausspricht», flüsterte jemand.<br />
«Ist es nicht gerade die Loyalität zum schwer auszusprechenden<br />
Namen, die ihre Swissness beweist – und<br />
bitte sehr, geehrtes Kommittee, allein die Tatsache, dass<br />
wir für Swissness keinen schweizerdeutschen Ausdruck<br />
finden können, spricht für eine Amerika-Schweizerin<br />
als Verkörperung des Konzeptes, nicht wahr?»<br />
Der Mann redete sich in Feuer. Seine rechte Hand<br />
verkrampfte sich in der Jackentasche, sie wollte<br />
sich zur Faust ballen und hochschiessen und dazu<br />
würde er «Zällwäger forever!» schreien. Statt dessen<br />
sagte er: «Swiss Roots, übrigens, sehr geehrte Damen<br />
und Herren, auch ein englischer Ausdruck.»<br />
Andere Mitglieder des Kommittees vermuteten<br />
nicht zu Unrecht, dass dieser Herr so vehement<br />
einsprach, weil er sich selber an der Seite der zierlichen<br />
Renée sah, wie er sie in die Swissness einführte,<br />
wie er ihr über Berge und Wasserfälle half,<br />
galant, aber nicht aufdringlich, verlässlich und<br />
stark. Sie hatten seinem Feuer nichts entgegenzusetzen.<br />
Als nächstes stellte sich die Frage, wie man die<br />
verkörperte Schweiz in diesem grossen Land Amerika<br />
finden sollte, geschweige denn einfangen<br />
und zurückbringen? Der graue Anzug hätte sich
nur zu gerne angeboten, aber die Angst, zu versagen,<br />
sich lächerlich zu machen, war am Ende stärker<br />
(eine typisch schweizerische Angst übrigens).<br />
Und da trat ich vor, «Damen und Herren vom Kommittee<br />
zur Verkörperung der Schweiz», sagte ich, «ich<br />
lebe zufällig auch in Amerika, ich bringe Ihnen die Zellweger.<br />
Tot oder lebendig!»<br />
Damit meinte ich natürlich nicht Renée, sondern<br />
mich, es wurde langsam Zeit, dass ich auch mal<br />
ein Opfer für mein Land brachte, so etwas lernt<br />
man in Amerika, Hand auf’s Herz und Switzerland<br />
forever.<br />
Dornbusch und Laufband: Um bis zu Renée vorzudringen,<br />
musste ich wie ein Märchenprinz vorgehen,<br />
eine Rolle, die mir bis dahin vollkommen<br />
unbekannt war. Ich hatte es mein Leben lang<br />
eher mit dem Dornröschen gehalten, gebt mir<br />
Kabelfernseher und Fingerfutter, und ich halte es<br />
gut hundert Jahre lang alleine aus. Doch jetzt<br />
hatte ich eine Aufgabe, eine Aufgabe, die mir<br />
wichtig war, ich würde meinem Heimatland zu<br />
einem Symbol verhelfen, ich, ich allein konnte<br />
das möglich machen. Das musste das Kommittee<br />
auch einsehen, nachdem alle Anfragen auf offiziellem<br />
Wege gescheitert waren, an den drei Reihen<br />
von Dornenbüschen abgeprallt, die Renée<br />
umgaben. Persönliche Assistenten, Presseberater,<br />
Manager, Businessmanager, Agenten, Bodyguards,<br />
Trainer und ein Friseur. Und das war nur der innerste<br />
Kreis. Um diesen zu durchbrechen, brauchte<br />
ich Wochen. Wochen voller Lügen und Tricks.<br />
Ich musste schmeicheln, bestechen, mehr lügen,<br />
schleichen, klettern und eine Kreditkarte als<br />
Schlüssel benutzen, was nicht so einfach ist, wie<br />
es im Fernsehen aussieht. Einmal stellte ich sogar<br />
dem Chauffeur ein Bein. Als ich endlich vor Renée<br />
Zellweger stand, rannte sie auf einem Laufband,<br />
winzig, kindlich, durchgeschwitzt, «nur noch zehn<br />
Meilen» sagte sie, das sind über sechzehn Kilometer.<br />
«Hop on», sagte sie, und es blieb mir nichts anderes<br />
übrig, als auf das Laufband neben ihrem zu klettern<br />
und langsame Schrittbewegungen zu machen.<br />
«Renée», sagte ich, «die Schweiz braucht Sie.»<br />
«Die Schweiz? Welche Schweiz?»<br />
«Ihr Vaterland, Renée!» Ich sagte Vaterland, weil das<br />
in ihrem Fall sogar stimmte, ihr Vater aus der<br />
Schweiz, die Mutter aus Norwegen, deshalb wäre<br />
Renée die letzte, die diesen weitverbreiteten Fehler<br />
machen sollte, doch sie machte ihn:<br />
«Oh, sure», sagte sie,«ich war letztes Jahr in Stockholm,<br />
Mitternachtssonne, super!»<br />
«Nicht Schweden, René, die Schweiz! Wo Ihr Vater herkommt.<br />
Wo die Leute Namen haben wie Zellweger.<br />
Diese Schweiz meine ich.»<br />
«Ihr Laufband ist ja gar nicht an!» Sie langte zu mir<br />
hinüber, ohne ihr Tempo zu drosseln. «Hier, Honey.»<br />
Drückte den roten Knopf, und das Band setzte<br />
sich in Bewegung, und bald wusste ich nicht mehr,<br />
warum ich hier war und wer der verschwommene<br />
rosa Fleck neben mir war. Als nächstes fand<br />
ich mich auf dem Fussboden wieder, vom Band<br />
geschleudert, das Zitronengesichtchen über mir<br />
schwebend, besorgt verzogen.<br />
Renée Zellweger ist ein ‹people pleaser›, das hatte<br />
ich vorbereitend gelesen. Das heisst, dass sie gerne<br />
das sagt, was man von ihr hören will. Deshalb<br />
braucht sie all die hundertjährigen Dornbüsche<br />
um sich herum. Das konnte ich zwar nachfühlen,<br />
noch so gut, aber in diesem Moment war ich skrupellos.<br />
Vielleicht durch den Sturz.<br />
«Sie müssen mit mir mitkommen», sagte ich. «In die<br />
Schweiz. Renée, wenn Sie nicht mit mir mitkommen,<br />
bin ich verloren, das ganze Land wird mich auslachen<br />
und mit Kartoffeln bewerfen!»<br />
«Kartoffeln?» Die schmalen Augen wurden weit.<br />
Eigentlich hatte ich Tomaten sagen wollen, die<br />
Kartoffeln waren mir so herausgerutscht. «Ich habe<br />
seit Jahren keine Kartoffeln gegessen!»<br />
Damit war aber noch nicht alles gewonnen, Renée<br />
hatte noch nie einen Koffer gepackt, ein Flugticket<br />
gekauft oder sich in die Touristenklasse gesetzt.<br />
Doch sie war tapfer.<br />
«Es ist eine Rolle», sagte sie. «Und ich bin Schauspielerin.<br />
Whatever it takes! Möchten Sie, dass ich ein<br />
paar Kilo zunehme für die Schweiz? Das kann ich. Ganz<br />
leicht.»<br />
Ganz in Rot und Weiss: Und hier sitzen wir nun<br />
in der Schweizer Sonne, vor einer Gartenbeiz<br />
mit einem Namen wie Alpenblick oder vielleicht<br />
Blüemlisalp, Renée ganz in Rot und Weiss, alles<br />
am Flughafen gekauft, der auch einen englischen<br />
Namen trägt. Die Kellnerin bringt das Halbeli,<br />
schenkt uns nach. Renée seufzt. «Ich weiss nicht,<br />
wann ich das letzte Mal so glücklich gewesen bin»,<br />
sagt sie. «Nein, nicht glücklich: zufrieden. Ist das a<br />
swiss thing?»<br />
«Ganz genau. Sie lernen schnell.»<br />
«Das muss ich mir merken: genau diesen Moment. Damit<br />
kann ich arbeiten.» Sie schliesst die Augen, lehnt<br />
sich zurück. Den Hügel hinauf, durch die kniehohen<br />
Wiesenblumen kommt ein grauer Anzug auf<br />
uns zu. ¬<br />
Milena Moser wurde 1963 in Zürich geboren. Ihr erstes Buch,<br />
Gebrochene Herzen erschien 1990 im von Freunden eigens gegründeten<br />
Krösus Verlag. Ihre bekanntesten Bücher sind Die Putzfraueninsel,<br />
Blondinenträume und Schlampenyoga. Seit 1998 lebt sie<br />
mit ihrem Mann, dem Fotografen Thomas Kern, und ihren Söhnen<br />
Lino (18) und Cyril (11) in San Francisco.<br />
33
CHicago Blues Saxophonklänge über dem Michigan See<br />
Sam Burckhardt Der Basler Sam Burckhardt lebt seit 1982 in Chicago. Er arbeitet dort als Musiker und Komponist. Meist spielt er<br />
Sam Burckhardt<br />
Foto: Eileen Ryan<br />
34<br />
Jazz, manchmal Blues, aber auch frei improvisierte Musik. Sam ist mehrere Male im Jahr in Europa auf Tournee.<br />
Wie er Musiker wurde und nach Chicago kam? Folgendermassen ❙<br />
Blockflöte, Schlagzeug, Saxophon: Geboren wurde<br />
ich am 7. Juli 1957 in Sursee, als letztes von vier<br />
Kindern. Aufgewachsen bin ich in Basel, wo ich<br />
die Primarschule und das Gymnasium besuchte.<br />
Musik spielte schon immer eine Rolle in meinem<br />
Leben. Meine Mutter sorgte dafür, dass wir mit<br />
sechs Jahren in die Solfège kamen, wo ich bei Beatrice<br />
Ganz im Blockflötenunterricht die Rudimente<br />
der Musik lernte. Zur selben Zeit trat ich in eine<br />
Knabenkantorei ein, die jeweils am Samstagnachmittag<br />
<strong>Pro</strong>be hatte und oft am Sonntag in einer<br />
Kirche sang. Mit etwa sieben Jahren begann ich<br />
auf Wunsch meiner Mutter mit dem Geigenspiel.<br />
Ich hatte an der Musik Akademie in Basel Unterricht.<br />
Die wöchentlichen Lektionen entwickelten<br />
sich bald zur Qual, da ich oft zu hören bekam, ich<br />
übe nicht genügend und daher wenig Fortschritte<br />
mache. Mit zehn Jahren wechselte ich über zum<br />
Schlagzeug – ein grosser Schritt. Ich durfte bei<br />
Chester Gill, der aus Barbados stammte, Unterricht<br />
nehmen. Ich erinnere mich noch genau an<br />
meine erste Stunde. Ich trabte bei ihm mit einem<br />
Paar Trommelschlegel unter dem Arm an. Er erklärte<br />
mir den Aufbau des Schlagzeugs und lehrte<br />
mich einen einfachen Rhythmus. Nach dreiviertel<br />
Stunden ertönte seine Hausglocke, und ich wollte<br />
mich verabschieden, er aber hiess mich wieder<br />
Platz nehmen. Der nächste Schüler war ein Posaunist.<br />
Chester setzte sich ans Klavier, sagte dem<br />
Posaunisten, welches Stück wir spielen würden,<br />
und sagte mir, ich solle den vorher geübten Rhyth-<br />
mus spielen. Er zählte das Stück an – eins, zwei<br />
drei, vier –, und schon legten wir los. Nach einer<br />
Stunde bereits Musik zu machen, nicht einfach<br />
Noten zu spielen, war eine neue und umwerfende<br />
Erfahrung für mich. Mit etwa sechzehn Jahren<br />
wechselte ich aufs Saxophon über. Folgende Gründe<br />
bewogen mich dazu: Das Saxophon war ein Melodieinstrument,<br />
vergleichbar mit der menschlichen<br />
Stimme; es war wesentlich leichter zu<br />
transportieren als ein Schlagzeug; und ich konnte<br />
in die Band meines Bruders eintreten, die bereits<br />
einen Schlagzeuger hatte. Spielen, musizieren,<br />
gemeinsam – in einer Gruppe von Leuten –, das<br />
war es, was mich an der Musik reizte.<br />
Sunnyland Slim: Er hiess mit bürgerlichem Namen<br />
Albert Luandrew und kam am 5. September<br />
1907 in Vance, Mississippi, zur Welt. Er war fünfzig<br />
Jahre älter als ich. Sein Grossvater, der Anfang<br />
der 1860er Jahre in Kentucky noch als Sklave zur<br />
Welt kam, zog nach Mississippi. Dort kaufte er<br />
ein Stück Land. Er fällte die Bäume darauf und<br />
verarbeitete sie zu Eisenbahnschwellen, die er an<br />
die aufkommenden Bahnlinien verkaufte. Es gibt<br />
ein Foto vom circa zwölfjährigen Sunnyland, auf<br />
dem er mit seinen Grosseltern, seinem Vater und<br />
seiner Stiefmutter und zwei Cousinen auf den Stufen<br />
zur Veranda des Hauses seines Grossvaters<br />
sitzt. Er trägt ein weisses Hemd, eine Krawatte, ein<br />
Jackett, Hosen, Kniestrümpfe, hohe Schuhe und<br />
übers Knie gelegt eine Kappe. Hinter dem Glasfen-
ster der Eingangstüre hängt ein Spitzenvorhang.<br />
Nicht das Bild, das man sich von einer schwarzen<br />
Familie in Mississippi kurz nach dem ersten Weltkrieg<br />
machen würde. So war denn auch der Grossvater<br />
für Sunnyland eine überragende Figur, die<br />
er sehr verehrte. Trotzdem lief er schon als Junge<br />
von zu Hause weg. Seine Mutter starb, als er acht<br />
Jahre alt war. Seine Stiefmutter mochte ihn nicht<br />
leiden und schikanierte ihn mit immer neuen Aufgaben.<br />
Mit etwa fünfzehn Jahren hatte er seinen<br />
ersten Job als Musiker. Er spielte in einem Kino<br />
Pausenmusik, während die Filmrollen gewechselt<br />
wurden. Den Namen Sunnyland erhielt er, weil er<br />
ein Lied über den ‹Mean Old Sunnyland Train›<br />
schrieb, eine Bahnlinie, auf der innerhalb einer<br />
Woche eine schwarze und eine weisse Familie<br />
überfahren wurden. Mit seiner über zwei Meter<br />
grossen Figur, seinen langen Armen und den grossen<br />
Händen mit den langen Fingern kam das<br />
‹Slim› von selbst dazu. Nach Chicago kam er Ende<br />
der vierziger Jahre und entwickelte sich im Laufe<br />
der Zeit zum Patriarchen der Chicago Bluesmusiker.<br />
Abends im Club: Ich lernte Sunnyland am 22. April<br />
1975 in Grenzach bei Basel kennen. Ich hatte von<br />
meinem Bruder erfahren, dass er dort spielen<br />
würde. Am Abend im Club sah ich Sunnyland an<br />
der Bar sitzen. Als er sich nach 20 Uhr immer<br />
noch nicht an den Flügel setzte, ging ich zu ihm<br />
und begann ein Gespräch. Er erklärte mir, dass er<br />
enttäuscht sei über die wenigen Zuhörer und<br />
dass er langsam Heimweh nach Chicago habe, wo<br />
er normalerweise mit einer Band auftrete. Ich erzählte<br />
ihm, dass ich zwei Jahre zuvor Gelegenheit<br />
gehabt habe, Eddie Boyd am Schlagzeug zu begleiten.<br />
Darauf erzählte er mir eine lange Geschichte<br />
von Eddie Boyd und wie sie zusammen auf dem<br />
Highway 61 nach Norden gekommen seien. «Eddie<br />
Boyd, that’s my partner», rief er aus und erblickte<br />
dabei ein Schlagzeug im Raum. «Come’on boy, let’s<br />
get busy», bedeutete er mir und liess mich das<br />
Schlagzeug aufbauen. Wir spielten an diesem<br />
Abend und am nächsten, und ich war in einer<br />
Welt, von der ich schon lange geträumt hatte: die<br />
Welt der Musik. Sie hatte ihre Gesetze, und es<br />
schien von grosser Bedeutung, sich selbst einzubringen,<br />
Regeln zu hinterfragen, neu anzusetzen,<br />
die Ohren aufzumachen, um auf Unerwartetes<br />
reagieren zu können. Es war aber auch eine Welt,<br />
in der man nicht alleine war, sondern mit anderen<br />
zusammen etwas kreierte, dessen Resultat die<br />
Summe der Einzelteile oft überstieg.<br />
Wo bleibt die Gage? Der Same, der an diesen beiden<br />
Abenden in meinem Herzen gepflanzt wurde,<br />
keimte erst sieben Jahre später, als ich am 20.<br />
Juli 1982 in Chicago ankam mit meinem Saxophon<br />
in der Hand und einem Rucksack mit den<br />
notwendigsten Kleidern auf dem Rücken. In den<br />
sieben Jahren dazwischen hatte ich das Gymnasium<br />
mit der Matur abgeschlossen, das Studium<br />
der Ethnologie begonnen, fast ein Jahr in Burundi<br />
als Teil meines Studiums verbracht, 1981 zwei<br />
Monate in Chicago bei Sunnyland verweilt und mit<br />
seiner Band gespielt. Nun war ich bereit in diese<br />
Band einzusteigen. Neben Fred Grady am Schlagzeug,<br />
der vor kurzem gestorben ist, spielten Steve<br />
Freund, Guitarre, und Bob Stroger, Bass, in seiner<br />
Band. Mit ihnen verbindet mich eine Freundschaft,<br />
die bis auf den heutigen Tag andauert und<br />
uns ab und zu Gelegenheit bietet, wieder zusammen<br />
zu spielen. Wir traten jeden Sonntag in einem<br />
Club namens B.L.U.E.S. auf. Als Jüngster in der<br />
Band musste ich erst meine eigene Stimme und<br />
die notwendige Selbstsicherheit finden, um neben<br />
den anderen, vor allem Sunnyland, dem alten<br />
Meister, zu bestehen. Ich hatte es unterlassen,<br />
mit ihm über Bezahlung zu sprechen, nicht nur,<br />
weil ich unentgeltlich bei ihm wohnen durfte, sondern<br />
auch, weil ich dachte, er als ‹Meister› würde<br />
das Thema schon anschneiden. Als ich nach geraumer<br />
Zeit noch immer nicht bezahlt wurde,<br />
machte ich Richard Wilson, meinem Partner, gegenüber<br />
eine Bemerkung. Er meinte nur, dass ich<br />
Sunnyland darauf ansprechen müsse. Meinen Einwand,<br />
dass doch Sunnyland als dem Älteren und<br />
Meister diese Aufgabe zustehe und es frech wäre,<br />
ihn zu fragen, verwarf er. Ich nahm also all meinen<br />
Mut zusammen und ging zu Sunnyland. Umständlich<br />
erklärte ich ihm, dass ich mir eine andere<br />
Band suchen müsste, wenn ich nicht bezahlt<br />
würde, da ich ja auch Geld verdienen müsse. Sunnyland<br />
sagte nicht viel, nickte, nahm den Telefonhörer<br />
in die Hand und wählte die Nummer des<br />
Clubbesitzers. Noch am selben Sonntag, am Ende<br />
des Auftritts, gab mir Sunnyland seinen berühmten<br />
Handschlag und bedankte sich. In meiner<br />
Hand befanden sich danach $ 60, wie bei den anderen<br />
Bandmitgliedern.<br />
On the road: Schon nach kurzer Zeit vertraute mir<br />
Sunnyland sein Auto an. Er fuhr gern und viel und<br />
eigentlich überall hin, wo man mit einem Auto<br />
hinkommt. Normalerweise gab er mir nach einem<br />
Auftritt die Autoschlüssel in die Hand. Er besass<br />
damals einen alten Chevrolet Stationwagon,<br />
ein grosses Auto. Jedesmal gab er mir minutiöse<br />
Instruktionen, in welche Fahrbahn ich mich begeben,<br />
wann ich die Blinker anstellen und wo ich<br />
durchfahren solle. Am Anfang war ich froh über<br />
die präzisen Angaben, aber mit der Zeit hätte ich<br />
die Strecke blind fahren können. Eines Abends, als<br />
mir seine Anweisungen besonders auf den Nerv<br />
35
Arlesheim/Basel-Land, Schweiz
Bernstadt/Kentucky, USA
38<br />
gingen, erwiderte ich ihm etwas unwirsch, dass<br />
es im Auto nur ein Steuerrad gebe, welches ich ja<br />
in den Händen habe, und falls er gerne fahren<br />
möchte, könne ich gleich anhalten, um mit ihm<br />
den Platz zu wechseln. Ansonsten aber wisse ich<br />
genau, wie ich nach Hause zu fahren hätte. Mit<br />
dem endete unsere Unterhaltung, und als ich ihm,<br />
als wir an unserem Wohnort angelangt waren, etwas<br />
scheu ein «Good Night» zurief, antwortete er<br />
mir mit einem unverständlichen Murmeln. Ich<br />
schlief in dieser Nacht schlecht. Immer wieder<br />
warf ich mir vor, mich falsch verhalten zu haben.<br />
Als nach langer Zeit der Morgen graute, hörte ich<br />
wie Sunnnyland seine Cousine, die gleich über uns<br />
wohnte, anrief, und ihr voll Stolz erklärte: «That<br />
Sam, I’m tellin’ you, he can really drive.»<br />
Beide Geschichten veranschaulichen meine Erwartungshaltung,<br />
die darauf basierte, dass der<br />
Ältere zum Jüngeren, der Meister zum Lehrling<br />
schaut und ihm mitteilt, wann die nächste Ebene<br />
erreicht ist. Erfahren habe ich dabei aber auch,<br />
dass ich für meine Interessen eintreten muss und<br />
ich der Einzige bin, der das tun kann. Es geht nicht<br />
darum, ob das eine System besser ist als das andere,<br />
sondern darum, Unterschiede zu erkennen<br />
und dementsprechend zu handeln. Es scheint mir,<br />
dass man in der Schweiz (und vielleicht allgemein<br />
im deutschen Sprachraum) oft fragt: «Darf<br />
man das? Ist das erlaubt?» während man hier in<br />
Amerika handelt, im Vertrauen, dass alles erlaubt<br />
ist, was nicht ausdrücklich verboten ist – ein subtiler<br />
und wesentlicher Unterschied.<br />
Die richtige Sprache finden: Wie viele Europäer<br />
war ich zu Beginn meiner Zeit in Amerika der irrigen<br />
Auffassung, dass Englisch eine einfache Sprache<br />
sei. Ich hatte in der Schule British English,<br />
wie es die Amerikaner nennen würden, gelernt<br />
und daneben meinen Wortschatz mit Vokabeln<br />
aus der Blueswelt aufgestockt. So war denn mein<br />
Englisch eine recht wilde Mischung aus Oxford<br />
und Mississippi. Mein Partner Richard hat mich<br />
zum Glück von Anfang an korrigiert und so in<br />
meinem ‹Englischen Garten› für die nötige Hege<br />
und Pflege gesorgt. Auch meine Tätigkeit als Übersetzer<br />
und Dolmetscher hat mir immer wieder<br />
die Tücken dieser Sprache gezeigt. Englisch, als<br />
Mischsprache aus germanischen Elementen (Angelsächsisch)<br />
und dem romanischen Element<br />
(Normannisch), hat einen riesigen Wortschatz mit<br />
vielen spezifischen Ausdrücken. Wenn im Deutschen<br />
und Französischen Vokabeln in etwa bedeutungsgleich<br />
sind, hat im Englischen das jeweilige<br />
sinnverwandte Wort oft eine beschränktere Bedeutung.<br />
So ist im Englischen veal (le veau) nur<br />
noch das geschlachtete <strong>Pro</strong>dukt eines calf (das<br />
Kalb).<br />
Aber Sprachkenntnisse allein reichen nicht aus.<br />
Ohne kulturellen Hintergrund kommt man der<br />
amerikanischen Seele nicht auf die Schliche. In<br />
der Schweiz aufgewachsen und dort zur Schule<br />
gegangen, fehlte mir ein wichtiger Teil der amerikanischen<br />
Adoleszenz, Grades und High Schools<br />
und was sonst alles in dieser Zeit an amerikanischen<br />
Werten weitergegeben wird. Auch die Welt<br />
des Sports, vor allem Baseball und Football, haben<br />
in der ‹American Imagination› einen grossen<br />
Stellenwert. Geschichte und Politik kommen<br />
noch dazu. Und, vielleicht als wichtigster Teil, das<br />
grosse Geschenk der USA an die Welt: ‹Popular<br />
Culture›. Wie wir sie doch zu kennen glauben,<br />
diese amerikanische Kultur, aus dem Kino, dem<br />
Fernsehen, der Musik. Und doch entgeht sie uns<br />
ohne tiefere Landes- und Sprachkenntnisse leicht.<br />
Auf der Oberfläche verstehen wir sie, aber bei<br />
den Erwartungshaltungen, die die einzelnen Worte,<br />
Sätze oder Bilder in uns auslösen, merken wir,<br />
wie unsere eigenen Erwartungen von anderen Erfahrungen<br />
durchdrungen sind. ¬<br />
Der Basler ‹Auswanderer› Sam Burckhardt lebt seit 1982 mit<br />
seinem Partner Richard Wilson, einem Rechtsanwalt, in Chicago.<br />
Er arbeitet dort als Musiker und Komponist. Sam Burckhardt<br />
hat schon etliche Schallplatten und CDs aufgenommen und arbeitet<br />
zur Zeit an seiner neusten <strong>Pro</strong>duktion.
«If you go to San Francisco» Schweizer Architekten in den USA<br />
Hubertus Adam Immer wieder sind seit dem 19. Jahrhundert einzelne Architekten oder Konstrukteure aus der Schweiz in den Ver-<br />
Zeichnung Längsschnitt des<br />
de Young Museums in San<br />
Francisco.<br />
© Herzog & de Meuron, Basel<br />
einigten Staaten mit wichtigen Werken hervorgetreten. Zuletzt Herzog & de Meuron mit dem unlängst eröffneten<br />
de Young Museum in San Francisco. Der Architekturkritiker Hubertus Adam stellt uns seine Auswahl von Schweizer<br />
Bauten in den USA vor ❙<br />
George Washington Bridge: Als ‹grand old man›<br />
der Schweizer Architektur in Amerika müsste man<br />
wohl zunächst den bei Schaffhausen geborenen<br />
Konstrukteur Othmar Ammann (1879-1965) nennen.<br />
Er wollte nach einem an der ETH Zürich absolvierten<br />
Bauingenieurstudium in der Weite der<br />
Neuen Welt eigentlich nur einige Berufserfahrung<br />
sammeln. Doch Ammann blieb in New York, eröffnete<br />
1923 sein eigenes Büro und wurde 1925<br />
Chef der Port Authority, der Behörde, welche für<br />
die Hudson und East River querenden Infrastrukturverbindungen<br />
verantwortlich ist. Die George<br />
Washington Bridge, die Manhattan auf Höhe der<br />
179. Strasse mit New Jersey verbindet, gilt als<br />
Ammnans Meisterwerk: 1931 eingeweiht, besass<br />
sie mit 1067 Metern die doppelte Spannweite der<br />
bis dahin längsten Hängebrücke der Welt. Mit der<br />
Verrazzano Narrows Bridge und ihrer Spannweite<br />
von 1298 Metern gelang dem Ingenieur wenige<br />
Monate vor seinem Tod ein neuerlicher Rekord.<br />
Ein Dutzend Brücken konnte Ammann im Grossraum<br />
New York realisieren – seine eleganten, das<br />
Wasser überspannenden Konstruktionen prägen<br />
das Bild der Metropole bis heute.<br />
Philadelphia Saving Fund Society: Auch die eigentliche<br />
architektonische Moderne in den Zwanziger-<br />
und Dreissigerjahren wurde in den USA<br />
weitgehend durch europäische Einwanderer bestimmt.<br />
Rudolph Schindler, Richard Neutra und<br />
der Schweizer William Lescaze (1896-1969) gelten<br />
als die Pioniere. In Onex bei Genf geboren und an<br />
der ETH Zürich diplomiert, wanderte der junge<br />
Lescaze 1920 in die Vereinigten Staaten aus. Nach<br />
einigen kleinen Bauaufträgen, die er mit seinem<br />
1923 in New York gegründeten Büro ausgeführt<br />
hatte, gelang ihm und seinem Partner George<br />
Howe mit dem vor wenigen Jahren restaurierten<br />
und zu einem Hotel umgewandelten Gebäude der<br />
Philadelphia Saving Fund Society der Durchbruch.<br />
39
40<br />
Mit einem elegant geschwungenen Sockelgeschoss<br />
und dem T-förmig darüber aufragenden<br />
Doppelturm, der sich in Erschliessungszonen und<br />
Bürobereiche differenzierte, antizipierten die Architekten<br />
Hochhauslösungen der Fünfziger- und<br />
Sechzigerjahre; als eines der wenigen amerikanischen<br />
Beispiele war das PSFS Building auch 1932<br />
in der legendären, von Philip Johnson und Henry<br />
Russell Hitchcock kuratierten International-Style-<br />
Ausstellung im MoMA New York vertreten. Aber<br />
auch mit anderen Bauten errang Lescaze Erfolge<br />
und setzte besonders in Bereich des Schulbaus<br />
Massstäbe.<br />
Columbia University New York: In heutiger Zeit<br />
ist es für ausländische Architekten schwer, in den<br />
USA Fuss zu fassen. Grosse Architekturfirmen beherrschen<br />
den Bausektor; für ambitionierte Architekten<br />
bieten sich lediglich Nischen. Das sind<br />
einerseits die Architekturfakultäten der Universitäten,<br />
zum anderen kulturelle Bauaufgaben, bei denen<br />
seitens der Auftraggeber auf eine anspruchsvolle<br />
und spektakuläre Architektur Wert gelegt<br />
wird.<br />
Bernard Tschumi prägte als Dekan zwischen 1988<br />
und 2003 die Architekturfakultät der Columbia<br />
University in New York; unter seiner Leitung avancierte<br />
Columbia weltweit zu einer der angesehensten<br />
und gleichwohl eigenwilligsten Ausbildungsstätten<br />
für Architekten. Tschumi selbst, 1944 in<br />
Lausanne geboren und an der ETH Zürich ausgebildet,<br />
zählt zu den theoretisch profilierten Architekten<br />
der Gegenwart und machte die ‹Graduate<br />
School of Architecture, Planning and Preservation›<br />
während seiner langjährigen Tätigkeit zu einem<br />
Zentrum des internationalen Architekturdiskurses.<br />
Bewusst bezog die Schule eine Gegenposition<br />
zu einer praxisorientierten, klassisch-akademischen<br />
Ausbildung und optierte im starken Masse<br />
für den Umgang mit neuen Medien als Entwurfswerkzeugen.<br />
<strong>Pro</strong>tagonisten des digitalen Entwerfens<br />
wie Hani Rashid, Sulan Kolatan und William<br />
MacDonald wirken seit Jahren als <strong>Pro</strong>fessoren an<br />
der Columbia, aber auch die ältere Generation –<br />
darunter Steven Holl und Peter Eisenman.<br />
Tschumi ist mit seinem Büro in Paris und New York<br />
ansässig und war zunächst theoretisch tätig, bevor<br />
er mit dem Konzept und den Folies des Parc de<br />
la Villette in Paris das Schlüsselwerk des architektonischen<br />
Dekonstruktivismus schuf. Inzwischen<br />
konnte er auch ein Gebäude auf dem Campus der<br />
Columbia University errichten, weitere Bauten in<br />
den Vereinigten Staaten sind in Planung.<br />
San Francisco Museum of Modern Art:OhneZweifel,<br />
auch Tschumi zählt inzwischen zu der erfolgreichen<br />
und international zu Wettbewerben ein-<br />
geladenen Stararchitekten. Nur wenige in der<br />
Schweiz tätige Büros können diesen Status für<br />
sich beanspruchen. Zu nennen sind Mario Botta,<br />
der in downtown San Francisco das SF MoMA<br />
(San Francisco Museum of Modern Art) realisieren<br />
konnte, und der mit einem Zweigbüro in Zürich<br />
tätige Santiago Calatrava, von dem die 2002<br />
eingeweihte Erweiterung des Milwaukee Art Museum<br />
stammt. Gigon/Guyer unterlagen im Wettbewerb<br />
um das Nelson Atkins Art Museum in Kansas<br />
City der Konkurrenz von Steven Holl, Peter<br />
Zumthor wurde von dem ehemaligen Clubbesitzer<br />
und heutigen Hotelunternehmer Ian Schrager, der<br />
vor allem durch seine Kooperation mit Philippe<br />
Starck bekannt geworden ist, um einen Hotelentwurf<br />
ersucht, lehnte aber ab, da er nicht die nötigen<br />
Spielräume sah. Ein Turmhotel mit Multiplexkino,<br />
das Herzog & de Meuron gemeinsam mit<br />
Rem Koolhaas am Astor Place in Manhattan ebenfalls<br />
für Schrager bauen wollten, scheiterte an<br />
den wirtschaftlichen Folgen der Anschläge vom<br />
11. September 2001.<br />
Walker Art Center Minneapolis: Mehr Erfolg hatten<br />
die Basler Architekten mit ihren Museumsprojekten<br />
in den USA. 1999 wurden sie von Kathy<br />
Halbreich, der Direktorin des Walker Art Center<br />
in Minneapolis, um Konzepte für die Erweiterung<br />
der renommierten Institution für zeitgenössische<br />
Kunst gebeten. Das Walker besitzt nicht nur eine<br />
der bedeutendsten Sammlungen von Kunstwerken<br />
der Gegenwart, sondern ist überdies bekannt<br />
für seine Grenzüberschreitungen Richtung Performance<br />
und neuen Medien. Die Aufgabe bestand<br />
darin, den Ursprungsbau von Edward Larrabee<br />
Barnes aus dem Jahr 1971 um weitere Museumsräume,<br />
einen Theatersaal mit knapp 400 Plätzen<br />
sowie weiteren Funktionsbereichen wie Restaurant,<br />
Foyer und Shop zu erweitern. Über eine zur<br />
Stadtseite hin verglaste Passage verbanden Herzog<br />
& de Meuron Barnes’ Ziegelsteinbau mit einem<br />
Volumen von ähnlichen <strong>Pro</strong>portionen, das<br />
mit gitterartig perforierten und geknickt-verformten<br />
Aluminiumpaneelen verkleidet ist. In dem<br />
verzogenen Würfel, der als landmark zur angrenzenden<br />
achtspurigen Strasse hin in Erscheinung<br />
tritt, befinden sich Restaurant und Theater, während<br />
die neuen Wechselausstellungssäle im Sokkel<br />
zum Altbau hin untergebracht sind.<br />
De Young Museum San Francisco: Die Erweiterung<br />
des Walker Art Center war im Frühjahr 2005<br />
fertiggestellt, im Herbst folgte die Eröffnung des<br />
ebenfalls von Herzog & de Meuron entworfenen de<br />
Young Museum im Golden Gate Park in San Francisco,<br />
eines mit 202 Millionen Dollar rein privat<br />
finanzierten <strong>Pro</strong>jekts. Herzog & de Meuron orga-
New Bern/North Carolina, USA Basel/Basel-Stadt, Schweiz
42<br />
nisierten das Raumprogramm in drei parallelen<br />
Streifen, die wie bei einer Ziehharmonika leicht<br />
auseinandergezogen, aber weiterhin miteinander<br />
verbunden sind. Bleibt das Äussere auch von der<br />
orthogonalen Grundrissgeometrie bestimmt, so<br />
entstehen als Keile, Schlitze, Kerben oder Höfe<br />
ausgebildete Zwischenräume. Diese reagieren als<br />
negative mit den positiven Formen der umschlossenen<br />
Räume und führen dazu, dass sich die klar<br />
definierten Raumfolgen der Galerien stellenweise<br />
völlig auflösen. Durch verglaste Ausschnitte dringt<br />
der Park gleichsam in das Volumen ein. Auch für<br />
die Aussenhaut wählten die Architekten ein organisches<br />
Material: Kupfer. Das gesamte, konstruktiv<br />
als Stahlskelettbau errichtete Gebäude ist mit<br />
Kupferplatten verkleidet, die durch Perforationen<br />
und Prägungen modifiziert wurden. Kreisförmige<br />
Perforationen mit vier verschiedenen Lochdurchmessern<br />
zum einen, nach innen und nach aussen<br />
gewölbte Prägungen zum anderen überlagern<br />
sich in verschiedenen Rastern. Die Fassade übernimmt<br />
diverse Funktionen: Sie schützt als Filter<br />
vor Sonnenlicht, sie ermöglicht Ausblicke, aber<br />
natürlich ist sie auch dekorativ und lässt die<br />
Aussenhaut des Gebäudes lebendig werden. Hier<br />
erscheint sie transparent, dort eher opak. Und sie<br />
lässt das Museum trotz seiner Dimensionen wie<br />
ein Gartenpavillon wirken, wie ein Gewächshaus<br />
für die Kunst. Als vertikale Dominante und optisches<br />
Gegengewicht zu dem fulminanten Dachüberstand<br />
im Westen fungiert ein 30 Meter hoher,<br />
tordierter Turm an der Nordostecke des Gebäudes,<br />
der die formale und visuelle Verknüpfung<br />
von Park und Stadt gewährleistet. Im Inneren arbeiteten<br />
die Architekten mit zwei unterschiedlichen<br />
Präsentationsstrategien. Die historische<br />
amerikanische Kunst ist in eher traditionell in-<br />
spirierten Räumen mit moderatem Zuschnitt untergebracht.<br />
Die künstlich belichteten ethnographischen<br />
Sammlungen finden sich dagegen in<br />
fliessenden Raumbereichen und sind durch leuchtende<br />
raumhohe Vitrinen gegliedert, die mit ihrer<br />
Einfassung aus Eukalyptusholz wie grosse Rahmen<br />
wirken. Bedingt durch das architektonische<br />
Konzept, gibt es verschiedene Übergänge zwischen<br />
den Raumbereichen, die aber jegliche Hierarchisierung<br />
vermeiden. Gezielt wurde hier ein<br />
Nebeneinander gesucht, das zuweilen auch zum<br />
Miteinander werden kann – San Francisco versteht<br />
sich bekanntlich selbst als eine Stadt, in welcher<br />
das Zusammenleben heterogener Kulturen besser<br />
gelingt als in anderen Städten der Vereinigten<br />
Staaten. Herzog & de Meuron haben dafür ein<br />
komplexes, vielschichtiges und intelligentes Museum<br />
geschaffen, das sich spektakulär und sensibel<br />
zugleich zeigt.<br />
Die Erfolgsserie der Basler in den USA dauert an:<br />
Im Herbst 2005 erhielten sie den Auftrag, das Parrish<br />
Art Museum auf Long Island zu erweitern. ¬<br />
Hubertus Adam, geboren 1965 in Hannover, studierte Kunstgeschichte,<br />
Archäologie und Philosophie. Er war als Redakteur der<br />
Bauwelt in Berlin und ist seit 1998 als Redaktor der Architektur-<br />
Fachzeitschrift archithese in Zürich tätig. Darüber hinaus arbeitet<br />
er als Architekturkritiker für diverse Fachzeitschriften des In- und<br />
Auslandes und Tageszeitungen, vor allem für die Neue Zürcher<br />
Zeitung. Hubertus Adam veröffentliche zahlreiche Aufsätze und<br />
Bücher zur Baugeschichte des 20. Jahrhunderts und zur zeitgenössischen<br />
Architektur.
New Glarus – Tellspielfieber im Wilden Westen<br />
Eine Reise in die äusserste Heimat<br />
Peter Haffner<br />
Rund 400000 Schweizer sind im Laufe der Zeit nach Amerika ausgewandert. Dabei sind unzählige Ortschaften mit<br />
Schweizer Namen gegründet worden. Der in Kalifornien sesshafte Journalist Peter Haffner hat für ‹Passagen› einen<br />
dieser Orte besucht – und zu unserer Beruhigung festgestellt: In New Glarus, Wisconsin, pflegen nicht nur die Nach-<br />
fahren der einstigen Immigranten aus der Schweiz bis heute heimisches Brauchtum ❙<br />
Auf der Suche nach erschwinglichem Land: New<br />
Glarus, rund zweieinhalb Autostunden nordwestlich<br />
von Chicago gelegen, ist ein Bergdorf, wie es<br />
schweizerischer nicht sein könnte. Sonnengebräunte<br />
Chalets, geschmückt mit Wappen, Sinnsprüchen<br />
und Blumentrögen, sitzen auf sanftgeschwungenen<br />
Hügeln und schnuppern den Geruch<br />
von Fondue, der aus heimeligen Gasthöfen<br />
dringt.<br />
Nur kleine Unstimmigkeiten verraten, dass wir<br />
hier nicht in der Schweizer Alpenwelt sind, sondern<br />
im Mittleren Westen der USA, im Green<br />
County im Süden von Wisconsin. Die Strassen<br />
sind rechtwinklig im Gitter angelegt wie überall<br />
in Amerika, die Glocken der Reformierten Kirche<br />
bleiben bis auf Samstagabend stumm, und nicht<br />
zuletzt die Überfülle an Folklore signalisiert, dass<br />
New Glarus am ‹Little Sugar River› ein Ort in der<br />
Fremde ist: Viele der 2111 Einwohner sind Nachfahren<br />
der Schweizer Immigranten, die 1845 die<br />
Reise über den Atlantik angetreten hatten.<br />
In Glarus, ihrer Heimat, hatten sie keine Zukunft<br />
mehr für sich gesehen. Die für ihre Textildrucke<br />
und Baumwollgewebe berühmte Heimindustrie<br />
war nach 1840 innert weniger Jahre zusammengebrochen;<br />
die neuen Fabriken am Taleingang<br />
43
Switzerland/South Carolina, USA Basel/Basel-Stadt, Schweiz
waren für Bewohner des Hintertals nur schwer<br />
erreichbar. Missernten trugen zur Krise bei.<br />
Insgesamt rund 400000 Schweizer sind im Laufe<br />
der Zeit in die Neue Welt aufgebrochen, die Mehrzahl<br />
im 19. Jahrhundert. ‹Taufgesinnte›, Schweizer<br />
Anabaptisten genannt, suchten nach erschwinglichem<br />
Land, Mormonen ein neues Zion in Utah.<br />
Bauern und Kaufleute rechneten mit Expansionsmöglichkeiten,<br />
Handwerker hofften, der Fabrikarbeit<br />
zu entrinnen, und manche waren ganz einfach<br />
vom Fernweh gepackt. In der Wahlheimat<br />
fanden sie sich meist rasch zurecht; die Schweiz<br />
als direkte Demokratie und die USA als zwar nur<br />
repräsentative Republik waren sich doch recht<br />
ähnlich. Als Westeuropäer hatten die Schweizer<br />
auch nicht unter rassischer und ethnischer Diskriminierung<br />
zu leiden wie andere Immigranten.<br />
New <strong>Helvetia</strong>s: Theobald von Erlach (1541-1565)<br />
gilt als der erste Schweizer, der seinen Fuss auf<br />
amerikanischen Boden setzte; er stand in französischen<br />
Diensten, spätere Auswanderer folgten<br />
meist den britischen Kolonialisten. Der Berner<br />
Aristokrat Christoph von Graffenried gründete<br />
1710 die Siedlung New Berne in North Carolina,<br />
und bald schossen zahlreiche Ortschaften mit<br />
Schweizer Namen aus dem Boden – von Tell City,<br />
Indiana, bis zu Grütli, Tennessee. Das 1804 gegründete<br />
Vevay, Indiana, geht auf Jean Jacques<br />
Dufour zurück, der den Weinbau in Amerika einführte;<br />
Immigranten aus der italienischen Schweiz<br />
begannen um die Jahrhundertwende mit der Winzerei<br />
in Kalifornien. Schweizer Familien bewässerten<br />
die Wüsten des Imperial Valley im Süden<br />
des Staates und legten den Grundstein für die intensive<br />
Landwirtschaft, die heute halb Amerika<br />
mit Früchten und Gemüsen versorgt. Selbst die<br />
Hauptstadt Kaliforniens ist eine Schweizer Gründung:<br />
Johann August Sutter, wegen eines Konkurses<br />
aus der Schweiz geflohen, hatte da Ländereien<br />
erworben und 1839 die Kolonie ‹New <strong>Helvetia</strong>› errichtet.<br />
Als zehn Jahre später Gold entdeckt und<br />
er von gierigen Glücksrittern überrannt wurde,<br />
gründete sein Sohn die Siedlung Sacramento.<br />
Schweizer wissen das naturgemäss besser als<br />
Amerikaner. Wie auch, dass es der Welschschweizer<br />
Radrennfahrer und Mechaniker Louis Chevrolet<br />
war, der 1900 als 22jähriger nach Amerika auswanderte<br />
und elf Jahre später die Autofirma startete,<br />
die seinen Namen trug – ein Schweizer Markenzeichen<br />
made in USA.<br />
Swiss Center of North America: Im Unterschied zu<br />
anderen Einwanderergruppen haben die Schweizer<br />
kein Zentrum, das ihre Geschichte dokumentiert.<br />
Das soll sich ändern; 1999 ist New Glarus<br />
zum Standort des Swiss Center of North America er-<br />
koren worden. Kommt genug Geld zusammen,<br />
wird das ein Neubau werden; ein langes horizontales<br />
Quader, dessen kühle Architektur schweizerische<br />
Nüchternheit ausstrahlt. Kaye Gmur, die<br />
Administratorin, wagt noch nicht so recht darauf<br />
zu hoffen – vielleicht wird man sich mit dem Umbau<br />
des alten Spitals zufrieden geben müssen,<br />
wo sie jetzt ihr Büro hat. Bisher sind drei Millionen<br />
Dollar zusammengekommen, teils staatliche Gelder<br />
aus den USA und der Schweiz, teils Firmenspenden<br />
aus beiden Ländern. Kein Museum soll<br />
es werden, sondern ein Ort des kulturellen Austausches,<br />
der historischen Forschung und der geschäftlichen<br />
Beziehungspflege, betont Kaye. Das<br />
geplante Zentrum soll auch die Website von Swiss<br />
Roots betreuen, über die Amerika-Schweizer ihre<br />
Abstammung erforschen und Kontakte knüpfen<br />
können.<br />
Ab in den Wilden Westen: Die Gründungsgeschichte<br />
von New Glarus ist insofern ein Sonderfall,<br />
als die Emigration von politisch führenden Persönlichkeiten<br />
organisiert wurde. In Sorge um die<br />
wirtschaftlich Bedrängten bildeten sie ein ‹Auswanderungs-Comité›,<br />
namens dessen zwei Emissäre,<br />
der Appellationsrichter Niklaus Dürst und<br />
der Schmied Fridolin Streiff, nach Amerika geschickt<br />
wurden mit dem Auftrag, im ‹Wilden Westen›<br />
Land für Siedler zu kaufen. Am 8. März 1845<br />
brachen die beiden auf. Es dauerte eine Weile, bis<br />
sie fündig wurden. Fruchtbaren Boden für Getreide<br />
und Viehwirtschaft gab es wohl, doch Wälder für<br />
Nutzholz waren rar, und ohne Holz konnte man<br />
nicht bauen. Am 17. Juli tätigten sie den Kauf der<br />
480 Hektar Land des künftigen New Glarus.<br />
Im ‹Historical Village› des Dorfes steht eines der<br />
kleinen Holzhäuser, ein Original der Gründerjahre,<br />
das von den bescheidenen Verhältnissen zeugt,<br />
in denen die Pioniere lebten. Mitte August 1845 waren<br />
135 von ihnen, dreissig Familien insgesamt,<br />
am Bestimmungsort eingetroffen.<br />
Nur fünf Familien blieben. Einige zogen weg, andere<br />
verkauften ihre Landrechte, einzelne starben.<br />
Der Deutsche Wilhelm Streissguth, der als<br />
erster Pfarrer amtete, legte in einem Brief vom<br />
2. September 1850 den Glarner Kirchenbehörden<br />
Rechenschaft ab über den Zustand seiner Gemeinde.<br />
Streissguth, angereist per Bahn, Schiff<br />
und Postkutsche «mit ächt amerikanischer Schnelligkeit<br />
und Unsicherheit sowohl für das Leben, als das Gepäck<br />
der Reisenden», war vorgewarnt, in der Schweizerkolonie<br />
stünde nicht alles zum besten. Streitereien<br />
und Familienfehden waren ausgebrochen,<br />
die Freiheit war zur Zügellosigkeit geworden.<br />
Frisch in der Wildnis angekommen, hätten manche<br />
den Kopf verloren, schreibt Streissguth, und<br />
den Eltern sei die Kontrolle ihrer Kinder entglit-<br />
45
46<br />
ten. Einige Mädchen hätten im Alter von vierzehn,<br />
fünfzehn Jahren geheiratet, und der Arzt,<br />
ein gewisser Dr. Blumer, lebe gar in Sünde mit einer<br />
Minderjährigen. Trotz all dem war der Pfarrer<br />
zuversichtlich, seine Schäfchen auf den rechten<br />
Weg zurückführen zu können.<br />
Was ihm auch gelang. Einmal etabliert, zog die<br />
Kolonie weitere Schweizer an. 1910 eröffnete die<br />
Pet Milk Farm; bald der Hauptarbeitgeber der Region,<br />
der Hunderte von Arbeitskräften auch aus<br />
der Schweiz rekrutierte. Margaret Duerst, eine<br />
reizende 86jährige Dame, ist die Tochter eines<br />
Schweizer Bauern, der 1915 nach New Glarus emigrierte.<br />
Als er genug Erspartes hatte, kaufte er einen<br />
Hof, wo sie als drittes von sechs Kindern aufwuchs.<br />
Zu Hause wurde Schweizerdeutsch gesprochen,<br />
doch in Margarets eigenem Haushalt – auch<br />
sie heiratete einen Schweizer – war dann Englisch<br />
die Regel.<br />
Die Rösti bleibt auf dem Tisch: Von der Heimat<br />
bewahrte man die Sitten und Gebräuche; die Rösti,<br />
die auf den Tisch kam, die Spiele, die man<br />
spielte. Und die Tatsache, dass man, wie Margaret<br />
sagt, «sehr konservativ» war: Nichts durfte weggeworfen,<br />
der Teller musste leergegessen werden.<br />
An die Wegwerfmentalität der Amerikaner wollten<br />
sich die Schweizer nicht gewöhnen; bis heute, in<br />
die fünfte Generation, hat sich die helvetische Tugend<br />
der Sparsamkeit erhalten.<br />
Dass in der Gegend einmal Hunderte von Bauernhöfen<br />
standen, bezeugen verfallene Scheunen,<br />
durch die der Wind pfeift. Jetzt sind es nurmehr<br />
achtzehn Betriebe, die das Erbe der von Schweizern<br />
begründeten Milch- und Käsewirtschaft weiterführen.<br />
Die Voegeli Farm, die 1854 die Milch für<br />
die erste Käserei in New Glarus lieferte, hat sich<br />
durch alle Zeitwirren gehalten – ihre Schweizer<br />
Braunkühe-Zucht geniesst Weltruf.<br />
Doch wer die Nase dafür hatte, konnte noch sein<br />
Glück machen, als es mit der Landwirtschaft bereits<br />
bergab ging. Hans Lenzlinger, gebürtiger St.<br />
Galler, Sohn einer Hotelierfamilie, Koch und Skilehrer,<br />
ist so etwas wie der Dorfkönig von New<br />
Glarus geworden. Das stattliche New Glarus Hotel<br />
im Zentrum, 1853 erbaut, ist in seinem Besitz wie<br />
das Chalet Landhaus Inn, ein ausladender Bau<br />
am Dorfrand – beides Marksteine rustikaler Architektur,<br />
wo Heerscharen von Touristen logieren,<br />
die ‹Americas Little Switzerland› besuchen.<br />
Abenteuerlust hatte Lenzlinger 1969 nach New<br />
Glarus gebracht, einem Ort weit genug von der<br />
Schweiz entfernt und doch der Heimat so nahe,<br />
dass er von seinen Erfahrungen im Fremdenverkehr<br />
profitieren konnte. Lenzlinger, ein Mann von<br />
jovialer <strong>Pro</strong>fessionalität, hat seine Geschäftspartner<br />
zu Freunden gemacht und seine Freunde zu<br />
Geschäftspartnern; kein Verein und kein Vorstand,<br />
der mit ihm nicht irgendwie verbunden wäre. Honorarkonsul<br />
der Auslandschweizer, pflegt Lenzlinger<br />
die Kontakte zu Behörden und Politikern<br />
dies- und jenseits des Atlantiks so unkompliziert<br />
wie die zur Stammkundschaft, für die er immer<br />
wieder in der Küche steht. In die Schweiz zurückzukehren<br />
könnte er sich nicht vorstellen; hier ist<br />
doch alles ein bisschen offener für einen, der seine<br />
Chancen zu packen weiss.<br />
Tellspielfieber: Nun, da die Zuwanderung aufgehört<br />
hat und Schweizer der Visaschwierigkeiten<br />
wegen lieber nach Kanada emigrieren, braucht es<br />
fremdes Blut, soll Schweizer Folklore wie Ländlermusik,<br />
Jodeln und Fahnenschwingen überleben.<br />
In den alljährlichen Wilhelm-Tell-Festspielen,<br />
die rund hundert Laiendarsteller auf Trab halten,<br />
stehen denn auch mehr und mehr Amerikanerinnen<br />
und Amerikaner auf der Bühne; einmal vom<br />
Festspielfieber gepackt, würden sie aus reiner<br />
Lust an der Exotik zu eifrigen Wahlschweizern,<br />
versichern einem die Abstammungsechten augenzwinkernd.<br />
Deborah Krauss Smith, Dirigentin der Monroe<br />
Swiss Singers und des Männerchors New Glarus,<br />
fürchtet Nachwuchsprobleme: Es sind Leute in<br />
den Vierzigern, die die Lücken in den Chören füllen<br />
– eine Generation, die noch ihre Wurzeln<br />
sucht, nach der aber eine kommt, die damit wenig<br />
anzufangen weiss. Das Repertoire ist schweizerisch,<br />
und Lieder wie ‹Alpufzug›, ‹Vo Luzärn uf<br />
Weggis zue› und ‹Min Vatter isch en Appezeller›<br />
werden im Originaldialekt gesungen. Doch man<br />
singt nicht alle Strophen, da man soviel Unverständlichkeit<br />
dem amerikanischen Publikum nicht<br />
zumuten kann. Deborah hat Deutsch in der Schule<br />
gelernt; ihre Grossmutter, eine Aargauerin, die<br />
1921 als 18jährige aus reiner ‹Wanderlust› emigrierte<br />
und Kindermädchen war, hatte so rasch<br />
wie möglich Amerikanerin werden und ihr Schweizertum<br />
ablegen wollen. Was allerdings nicht soweit<br />
ging, dass sie nicht Glarner Kalberwurst oder<br />
Berner Bretzeli aufgetischt hätte.<br />
Umgekehrt ist es bei Elda Schiesser. Als Amerikanerin<br />
geboren, möchte sie nichts so sehr wie<br />
Schweizerin sein, wie auch ihre Tochter Linda, die<br />
sich richtig zu Hause fühlt, wenn sie im Glarnerland<br />
in den Ferien ist. Auf die Frage, was in ihrem<br />
Haushalt spezifisch schweizerisch sei, rufen beide<br />
wie aus einem Munde: «Alles!» Sagt man ihnen,<br />
dass sie in ihrer herzlichen Mitteilsamkeit einen<br />
doch eher waschechte Amerikanerinnen dünken,<br />
sind sie fast ein bisschen pikiert. Ihr Haus in New<br />
Glarus ist ein kleines Museum; Trachtenpuppen,<br />
Antiken und Dokumente erinnern an die geliebte<br />
Wunschheimat.
Scherenschnitte: Elda, der man die 88 Jahre nicht<br />
ansieht, ist eine gefeierte Scherenschnitte-Künstlerin.<br />
Auf das Hobby, das zur Berufung wurde, war<br />
sie gekommen, als sie im Schweizer Heimatwerk<br />
in Zürich auf ein Büchlein über diese Volkskunst<br />
stiess. Die Technik brachte sie sich selber bei. Ihr<br />
Ruhm drang bis ins Weisse Haus nach Washington,<br />
wo sie 2002 den präsidialen Weihnachtsbaum<br />
mit einem ihrer Werke schmücken durfte. Das<br />
hat den Ruf der ‹cut-up-girls›, wie Elda und Linda<br />
geheissen werden, unter den Amerikanern im<br />
Dorf tüchtig gefördert. Zumal Elda nun nicht nur<br />
Schweizer Heuwagen in ihrer Motivsammlung<br />
hat, sondern auch eine veritable Harley Davidson.<br />
Mit Genugtuung durfte sie überdies feststellen,<br />
dass im Glarnerland Scherenschnitte wieder populär<br />
wurden, nachdem sie bereits ein Jahrzehnt<br />
damit im Geschäft war. Vielleicht werden dereinst<br />
die Schweizer von den Amerikanern lernen,<br />
was Volkskunst ist – wie die Indianer Nordamerikas,<br />
denen weisse Anthropologen die Sitten und<br />
Gebräuche ihrer Ahnen beibrachten.<br />
Wer noch in der Schweiz aufgewachsen ist, erlebt<br />
die Unterschiede zwischen den Kulturen hautnah.<br />
Der Urner Toni war Austauschstudent der ETH an<br />
der University of Wisconsin in Madison, wanderte<br />
1981 ein und begann als diplomierter Agronom<br />
zu bauern. Seine Frau Esther, gebürtige Thunerin,<br />
verbrachte im Rahmen des Landjugend-Austausches<br />
1983 ein Amerikajahr. Die beiden heirateten,<br />
führten einen Hof, gingen konkurs, bauten einen<br />
neuen auf und managten schliesslich Hans Lenzlingers<br />
Landhaus Chalet Inn. Heute ist Toni Finanzberater,<br />
und Esther arbeitet bei Roberts, einem<br />
Laden, der Schweizerprodukte verkauft. Trotz<br />
der Rückschläge, die sie einstecken mussten, sehen<br />
die beiden ihr Amerika-Abenteuer positiv –<br />
in der Schweiz wäre es ihnen kaum möglich gewesen,<br />
so viel Verschiedenes auszuprobieren. Sie<br />
beide möchten jedenfalls nicht zurück, wohl aber<br />
die Tochter, die sich während ihrer Schweiz-Ferien<br />
von einer grossen Verwandtschaft aufgenommen<br />
fand; von Onkeln, Tanten und Cousinen, die<br />
sie in Amerika nicht hat.<br />
Wer emigriert, mag mehr gewinnen, als er verliert<br />
– doch der Gewinn ist nicht garantiert, während<br />
der Verlust gewiss ist. Seine Schweizer Erfahrungen<br />
kann man mit amerikanischen Freunden<br />
nicht teilen, seine amerikanischen nicht mit<br />
Schweizern. Das ist das Paradox der Horizonterweiterung,<br />
die das Leben in zwei Welten bringt.<br />
Yodeling Cheesemaker: Dass der Lebenslauf in<br />
Amerika weniger vorgespurt ist als in der Schweiz,<br />
hat auch Ernst Jäggi erfahren, der 1955 als Meisterknecht<br />
aus dem bernischen Innertkirchen nach<br />
New Glarus zog, um Bauer zu werden. Als Ernst<br />
mit 24 in Amerika ankam, hatte er hundert Dollar<br />
in der Tasche und konnte kaum ein Wort Englisch.<br />
Drei Jahre arbeitete er sieben Tage die Woche<br />
in einer Käserei, ohne einen einzigen freien Tag.<br />
Dann ging er zurück in die Schweiz, fand eine<br />
Frau, kaufte Land in New Glarus, spekulierte ein<br />
bisschen an der Börse, tourte als ‹yodeling cheesemaker›<br />
für ein schönes Werbehonorar durch die<br />
USA, bevor er das Chalet Landhaus Inn für fünfzehn<br />
Jahre managte. Heute ist Ernst 75, putzmunter<br />
trotz der <strong>Pro</strong>gnose eines Arztes, der ihn seinerzeit<br />
eines Herzfehlers wegen dienstuntauglich<br />
erklärt hatte und meinte, er werde nicht lange leben.<br />
In den Tell-Spielen gibt ‹Ernie› seit neustem<br />
den Attinghausen: «Das ist der, der stirbt!», sagt er<br />
und lacht.<br />
Nun führt Ernst eine Autowaschanlage in New<br />
Glarus und mokiert sich eine bisschen über seine<br />
Brüder in der Schweiz, die nach ihrer Pensionierung<br />
die Hände in den Schoss gelegt hätten. Nein,<br />
wäre er daheim geblieben, hätte er es nie so weit<br />
gebracht, meint er. Eigenes Haus, keine Schulden,<br />
Zeit für sein Maler-Hobby, und vier Hektar Wald,<br />
wo er nach Lust und Laune wüten kann.<br />
Und immer wieder neue Überraschungen: Eben<br />
hat seine Tochter Annemarie, eine Coiffeuse, geheiratet<br />
– einen Bergbauern im schweizerischen<br />
Gstaad, wo sie jetzt lebt. ¬<br />
Peter Haffner, 1953 in Zürich geboren, ist Reporter für Das Magazin<br />
des Tages-Anzeigers und Kulturkorrespondent des Blattes in<br />
den USA. Er lebt in Kalifornien. Seine jüngste Buchpublikation<br />
Grenzfälle. Zwischen Polen und Deutschen erschien als Band 213 der<br />
von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen Anderen<br />
Bibliothek.<br />
47
Engelberg/Arkansas, USA
Arlesheim/Basel-Land, Schweiz
Hohe Einsätze in Las Vegas Der unermüdliche Unternehmer Peter Buol<br />
MaryLou Carroll Peter Buol, Sohn schweizerischer Auswanderer aus dem Graubünden, brachte es in Las Vegas zu Ansehen und<br />
Peter Buol<br />
Foto: UNLV Special Collections<br />
50<br />
hohen Ehren. Nicht als Künstler oder Spieler, sondern als spielfreudiger Unternehmer mit pragmatischem Einschlag<br />
und politischem Stehvermögen. Die amerikanische Historikerin MaryLou Carroll hat seine Karriere bis zum letzten<br />
Einsatz recherchiert. Rien ne va plus! ❙<br />
Der Gründungsbürgermeister von Las Vegas: Als<br />
Peter Buol am 1. Juni 1911 sein Amt antrat, hatte<br />
er 100000 Dollar an Lotteriegewinnen verschwendet<br />
und in der neu organisierten Stadt Las Vegas<br />
den Bergbau, das Versicherungsgeschäft, den Liegenschaftshandel<br />
und die Wüstenlandwirtschaft<br />
gefördert. Buol wurde mit einem Mehr von zehn<br />
Stimmen zum Gründungsbürgermeister von Las<br />
Vegas, Nevada, gewählt. Dieses Amt hatte er während<br />
zwei Jahren inne, danach wirkte er 1913-14<br />
als Abgeordneter in der Staatsversammlung und<br />
1915-18 im Staatssenat von Nevada. Buols öffentliches<br />
Wirken gründete auf seinem Willen, das<br />
Wirtschaftswachstum und die Investitionstätigkeit<br />
im Südosten Nevadas anzukurbeln. Seine siebenjährige<br />
Amtstätigkeit lässt darauf schliessen,<br />
dass seine wirklichen Ambitionen ausserhalb der<br />
Politik lagen; er war weder ein eifriger Kampagnenführer<br />
noch ein beflissener Legislator. Tatsächlich<br />
erweisen die Aufzeichnungen Buol als<br />
durch häufige Abwesenheit glänzenden Entscheidungsträger,<br />
der gerne Legislatursitzungen versäumte,<br />
um Bergwerke vor Ort zu besichtigen und<br />
geschäftliche Opportunitäten aufzuspüren. Buol<br />
förderte das lokale Geschäftsleben von Las Vegas<br />
energisch, warb um die Gunst ausländischer Investoren<br />
(aus Schottland) und setzte sein eigenes<br />
kleines Vermögen aufs Spiel, um einen raschen<br />
Wirtschaftsaufschwung zu bewirken. Buol wurde<br />
nie müde, diese Ziele zu verfolgen. Sein Leben<br />
lang erlitt er immer wieder finanzielle Verluste,<br />
und als er starb, hinterliess er keine bedeutenden<br />
Sach- und Vermögenswerte. Auch wenn er als Gesetzgeber<br />
kaum geschichtliche Spuren hinterlassen<br />
hat, so fallen seine Zähigkeit, sein Optimismus,<br />
sein Gespür für Geschäftschancen (in den<br />
Augen der Amerikaner ein hervorstechendes nationales<br />
Merkmal) und sein unerschütterlicher<br />
Pioniergeist schwer ins Gewicht, wenn wir die<br />
<strong>Pro</strong>sperität des heutigen Las Vegas würdigen, wo<br />
Risikofreudigkeit und Zukunftsglauben vor fast<br />
allen anderen Attributen rangieren. Ausserdem<br />
verstand er es, den Zugriff der Las Vegas Land &<br />
Water Company, einer Filiale der San Pedro, Los<br />
Angeles and Salt Lake Railroad, auf die Land- und<br />
Wasserrechte zu lockern, als sich die städtische<br />
Organisation und wirtschaftliche Entwicklung von<br />
Las Vegas im Anfangsstadium befanden. Peter<br />
Buol favorisierte ein antimonopolistisches Modell<br />
in der frühen Stadtplanung von Las Vegas und widerspiegelte<br />
typische US-amerikanische Annahmen,<br />
Erwartungen und Einschränkungen bezüglich<br />
Expansion und Geschäftsgelegenheiten.<br />
Per Postkutsche in die Wüstenstadt: Peter Buol<br />
wurde am 1. Oktober 1873 als Sohn schweizerischer<br />
Einwanderer in Chicago geboren, fast auf<br />
den Tag genau zwei Jahre nach der verheerenden<br />
Feuersbrunst in dieser Stadt. Der Brand, der am<br />
Abend des 8. Oktober 1871 begonnen hatte, frass<br />
eine 5 km breite Schneise durch die Stadt und<br />
tobte ungehindert weiter bis in die Morgenstunden<br />
des 10. Oktober 1871. 300 Menschen kamen<br />
dabei ums Leben, und mindestens 100000 verloren<br />
ihre – einfache oder luxuriöse – Unterkunft.<br />
Als Peter Buol zwei Jahre später geboren wurde,<br />
war der Wiederaufbau von Chicago schon auf bestem<br />
Wege und versprach das Ausmass der Zerstörung<br />
mehr als wettzumachen.<br />
In einem Chicagoer Adressbuch von 1877 ist ein<br />
Frank Buol mit den Vermerken «schweizerischer<br />
Abstammung, wohnhaft an der 145 Wells Street, Beruf:<br />
Koch» aufgeführt. Peter Buols Eltern – Frank Buol<br />
und Peters Mutter, deren Name nicht belegt ist –<br />
kamen im Jahr 1869 in die Vereinigten Staaten.<br />
Als einer von fünf Söhnen ging Peter bei seinem<br />
Vater, der Küchenchef war, in die Lehre und verdiente<br />
schon früh seinen Lebensunterhalt, indem<br />
er im Gastronomiebetrieb seines Vaters mitarbeitete.<br />
Seine Schulbildung beendete er nach acht<br />
Jahren; danach arbeitete Buol für seinen Vater, indem<br />
er zunächst als Koch tätig war, dann für ver-
schiedene Eisenbahnlinien Mahlzeiten zubereitete<br />
und servierte und schliesslich die Essenszubereitung<br />
und den Service für Erstklassgäste auf der<br />
Santa Fe-Eisenbahnlinie beaufsichtigte. Laut einer<br />
Quelle führte Buol um 1900 einen grossen Gastronomiebetrieb<br />
in Chicago, wo er täglich 5000<br />
Kunden bediente! Nach zehn oder mehr Jahren als<br />
Service-Chef auf Eisenbahnlinien quer durch den<br />
Kontinent zog Buol nach Kalifornien und liess<br />
sich schliesslich in Nevada nieder. Er kam um<br />
1904 (mit 31 Jahren) per Postkutsche in der Wüstenstadt<br />
Las Vegas an und begann nach verwertbaren<br />
Ressourcen zu forschen – als eine solche<br />
erwies sich auch sein Talent, hoch risikoreiche Unternehmungen<br />
bei gewinnorientierten potentiellen<br />
Investoren und Konsumenten zu vermarkten.<br />
Besiedlung oder Okkupation?: Las Vegas, spanisch<br />
‹Wiesen›, bot den Reisenden des 19. Jahrhunderts<br />
inmitten einer Wüstenlandschaft eine erfrischende<br />
Fülle von artesischen Brunnen an und erfreute<br />
sich besonderer Beliebtheit bei spanischen Reisenden,<br />
die nach Mexiko unterwegs waren. Im Jahr<br />
1855 errichteten mormonische Missionare auch<br />
eine Missionsstation und eine Militärfestung und<br />
versuchten in der später als Las Vegas bekannten<br />
Landschaft ortsfeste Landwirtschaft zu betreiben.<br />
Die Mormonen gaben ihr Vorhaben nach zwei Jahren<br />
auf, aber die Festung blieb bestehen und ist<br />
heute die älteste historische Stätte in Las Vegas.<br />
Spanier und Mormonen der Region litten unter<br />
den Raubzügen der Süd-Paiute-Indianer, die im<br />
heutigen Las Vegas einen Minderheitenstatus innehaben,<br />
aber weitgehende Autonomie geniessen.<br />
Ein Gebiet mit einer Fläche von ungefähr 720 Hektar<br />
wurde im späten 19. Jahrhundert an William<br />
Clark, Senator von Montana, verkauft, der das<br />
Land im Jahr 1905 parzellenweise für den Bau der<br />
Verbindung der Union Pacific Railroad zwischen<br />
Salt Lake City, Utah und Los Angeles versteigerte.<br />
Den ‹Verkäufen› von Land zwecks Besitznahme<br />
und Expansion durch die (christlichen) Weissen<br />
standen in den USA des 19. Jahrhunderts die Landverluste,<br />
-verkäufe oder -diebstähle der indianischen<br />
Gemeinschaften, Stämme und Kulturen<br />
gegenüber. Gegen Ende des Jahrhunderts wurden<br />
Wüstenregionen wie Las Vegas, die früher als ungeeignet<br />
für die Nutzung durch Weisse erachtet<br />
worden waren, zunehmend von Weissen besiedelt,<br />
die der Eisenbahn, dem Bergbau, der Landwirtschaft,<br />
der Holzindustrie und anderen expandierenden<br />
Industriezweigen der USA nachfolgten<br />
oder als christliche Missionare tätig waren. Die<br />
Zunahme der weissen Okkupation (Immigranten<br />
und Einheimische) lief parallel zur Entvölkerung<br />
der Indianergebiete. Dies erklärt auch, warum es<br />
hier so viele Festungen und Militärdenkmäler gibt.<br />
Wasserquellen und Honigmelonen: Bald nach<br />
seiner Ankunft in Las Vegas um 1904 erkannte<br />
Peter Buol die grosse Bedeutung unterirdischer<br />
Quellen und Grundwasserleiter für die Entwicklung<br />
der Stadt. Gegen Ende 1905 hatte Buol das<br />
Vegas Artesian Water Syndicate gegründet, das<br />
Brunnen bohren sollte, um Wasser für die Landwirtschaft<br />
zu beschaffen. Wie ein Zeitzeuge aus<br />
Nevada im Jahr 1913 berichtet, pflanzte Buol<br />
gleich nach seiner Ankunft einen 6 Hektar grossen<br />
Pfirsichgarten an. Laut einer anderen Quelle<br />
baute Buol ein Jahr später auch 16 Hektar Honigmelonen<br />
an. Die landwirtschaftliche <strong>Pro</strong>duktion<br />
versprach jedoch keine befriedigende Rendite,<br />
dies trotz der zahlreichen artesischen Brunnen,<br />
welche Buol geschickt lokalisierte und bohrte.<br />
Der Wüstenboden im Mohave war zu alkalisch,<br />
um hohe Ernterträge von Feldfrüchten abzuwerfen.<br />
Trotzdem setzte Buol seinen Versuch mit<br />
dem Anbau von Nahrungsmitteln fort und verschickte<br />
seine Erzeugnisse per Eisenbahn. Im<br />
Jahr 1913 besuchte Buol Schottland, um Investoren<br />
für den Wohnbau in Las Vegas zu finden. Er<br />
steuerte Land- und Wasserrechte bei, und die Investoren<br />
verpflichteten sich zur Zahlung von<br />
100000 Dollar. Obwohl die Finanzierung schliesslich<br />
scheiterte und nur 20000 Dollar bezahlt wurden,<br />
kam es doch zum Bau des Wohnviertels, das<br />
den Namen ‹Scotch 80’s› erhielt. Heute ist es eine<br />
exklusive Vorstadt von Las Vegas.<br />
Peter Buol verdiente als Bürgermeister von Las<br />
Vegas 15 Dollar im Monat. Zusammen mit seiner<br />
Gattin Lorena Patterson von Booneville, Missouri,<br />
und seiner Adoptivtochter Dorothy führte er in<br />
Las Vegas während rund zwanzig Jahren ein ruhiges<br />
Familienleben in angenehmen Verhältnissen.<br />
1925 zog er nach Kalifornien. 1937 erlitt er einen<br />
Schlaganfall, 1939 verstarb er in Kalifornien.<br />
Peter Buols Lebensspanne war nach modernen<br />
Massstäben gemessen nicht sehr lang. In den 66<br />
Jahren, die ihm vergönnt waren, kultivierte er<br />
eine nonchalante Gleichgültigkeit gegenüber<br />
dem Risiko, einen unerschütterlichen Optimismus,<br />
einen genialen Sinn für Marketing, ein<br />
gutes Gefühl für den richtigen Zeitpunkt und politisches<br />
Gespür. Seine Geburtsstadt Chicago und<br />
die Stadt, in der er seine politische Tätigkeit begann,<br />
Las Vegas, waren bei ihrer Gründung just<br />
auf solche Qualitäten und Charaktere angewiesen.<br />
¬<br />
Aus dem Englischen von Ernst Grell<br />
MaryLou Carroll lebt in Chicago, Illinois, wo sie am Columbia<br />
College Chicago Amerikanische Geschichte lehrt.<br />
51
Wenn die Cowboys jodeln Ein Kulturaustausch der besondern Art<br />
Bart Plantenga Woher kommt und wohin führt das Jodeln? Der Mann, der über diese brennende Frage ein ebenso dickes wie<br />
«Gemeinsames Merkmal aller<br />
Jodelformen ist die Lauterkeit<br />
und Ehrlichkeit der Aussage.<br />
Im Jodel gibt es keine Ironien,<br />
keine Sarkasmen, keine Lügen.»<br />
(Tiny Bill Cody)<br />
52<br />
unterhaltsames Buch verfasst hat, gibt Antworten. In einer Abkürzung rund um die Welt und mit Echos aus allen<br />
Himmelsrichtungen ❙<br />
« …als ich von einer hohen Alpenweide zur Seite her<br />
den grell jauchzenden Reigenruf eines Sennen vernahm,<br />
den er über das weite Thal hinüber sandte; bald antwortete<br />
ihm von dort her durch das ungeheure Schweigen<br />
der gleiche übermüthige Hirtenruf: hier mischte sich<br />
nun das Echo der ragenden Felswände hinein; im Wettkampfe<br />
ertönte lustig das ernst schweigsame Thal…<br />
so spricht die Klage der Thiere, der Lüfte, das Wuthgeheul<br />
der Orkane zu dem sinnenden Manne, über den<br />
nun jener traumartige Zustand kommt, in welchem er<br />
durch das Gehör wahrnimmt (…), dass sein innerstes<br />
Wesen alles jenes Wahrgenommenen Eines ist… »<br />
(Richard Wagner*)<br />
Viehhüter in CH und USA: Der Eidgenössische Jodlerverband<br />
würde Wagner zustimmen. Für ihn ist<br />
Jodeln ein organisches, urschweizerisches, mystisches<br />
Rudiment, das im identitätstiftenden<br />
Nationalismus der romantischen Epoche im vorletzten<br />
Jahrhundert wurzelt.<br />
Schweizer Älpler und amerikanische Cowboys weisen<br />
mehr Ähnlichkeiten auf, als man gemeinhin<br />
vermuten würde. Beide verkörpern bestimmte<br />
kulturelle Mythen, die mit dem Typ des rauen<br />
Burschen assoziiert sind. Beide sind Viehhüter, und<br />
das Leben als Viehhüter ist alles andere als einfach.<br />
Es erfordert Fähigkeiten im Umgang mit den<br />
Tieren, zu denen der Gebrauch bestimmter Herdenrufe<br />
und oft auch das Jodeln gehören. Schweizer<br />
Jodel und Cowboy-Jodel sind einander ähnlich<br />
und doch verschieden. «Beide Stile besitzen die bemerkenswerte<br />
Eigenschaft, dass sie einen seelenbefreienden<br />
Fluss der Noten auslöse», sagt Eastside Dave<br />
Kline, ein Pennsylvania-Schweizer Jodler, der inspirierende<br />
Alpenklänge zum sogenannten ‹Mountain<br />
Folk› verarbeitet. «Ich bin mit schweizerischen<br />
und anderen Jodelklängen aufgewachsen, die mich auf<br />
eine ganz bestimmte, magische Art und Weise inspiriert<br />
haben.»<br />
Die nach dem offiziellen Muster des eidgenössischen<br />
Verbandes gestrickten Jodelgesänge funk-<br />
tionierten die urtümlichen, in freier Landschaft<br />
gesungenen ‹Naturjodel› (freie, spielerische Improvisationen)<br />
in eine stark strukturierte Kammermusik<br />
um. Diese meidet gerne den hellen ‹Iiihhh›-Klang<br />
zu Gunsten des sonor gedehnten,<br />
nostalgischen ‹Uoohhh›, das durch den vorangehenden<br />
Gleitvokal machtvoll lanciert wird. Was<br />
aber nicht heisst, dass Schweizer Jodel nicht auch<br />
zu frenetischen, atemberaubenden Tempi eskalieren<br />
können. Schliesslich ist Jodeln auch Lappalie,<br />
Farce, Ornament und Berufsoption in einem<br />
und erklingt heute in den flachsten Ebenen und<br />
den betriebigsten Städten der Welt.<br />
Mit der Stimme auf die Welt reagieren: Das<br />
Schweizer Jodeln ist ein grosser topografischer Dialog<br />
zwischen Mensch und Umwelt, der zu tiefreichenden<br />
Verbindungen mit dem Gegenüber ‹dort<br />
draussen› inspiriert. Ironischerweise ein grosser<br />
Klang in einem kleinen Land. Die Jodel der Cowboys<br />
dagegen wecken das Gefühl der Intimität,<br />
von etwas Kleinem in einem weiten Land. Ihr charakteristischer<br />
‹eee›-Sound verleiht ihnen gleichzeitig<br />
etwas Unheimliches und etwas Fröhliches.<br />
Jimmie Rodgers näselnde Jodel klingen wie beiläufige<br />
Messerstiche oder Hupsignale einsamer Züge.<br />
Tommy Johnsons Blues-Jodel klingen wie Windstösse,<br />
die pfeifend durch ein Einschussloch in<br />
der Seele fahren.<br />
Tiny Bill Cody, der kanadische Vaudeville-Cowboy,<br />
sieht das Cowboy-Jodeln als «etwas eher Intimes, Verwundbares,<br />
Absichtsloses – ein persönliches Manifest<br />
der reinen Freude oder Melancholie des Augenblicks.»<br />
Mike Johnson, der schwarze jodelnde Truckfahrer,<br />
der Countrysound und Schweizerstil vermischt,<br />
sagt: «Mein erster Einfluss war Johnny Weissmüllers<br />
Tarzanschrei. Später wurde ich inspiriert durch das<br />
Schweizer Jodeln, wie es Elton Britt und andere pflegten,<br />
die über den einfacheren, stimmbänderschonenden<br />
Jodelstil eines Jimmie Rodgers hinaus gelangen wollten.<br />
Der Cowboystil gibt mir ein entspanntes, warmes Ge-
fühl, während der Schweizer Stil bei mir eher Rückenschauer<br />
und Blutwallungen hervorruft.» Cody gibt<br />
ihm recht: «Der Schweizer Jodel ist viel energischer,<br />
plakativer. Der Sänger steht leidenschaftlich für eine<br />
Sache ein (Liebe, Politik, Natur) und ist vollkommen<br />
überzeugt, dass dies mitgeteilt werden muss.»<br />
Janet McBride, die texanische Grande Dame des<br />
Cowgirl-Jodelns, sagt: «Der Schweizer Jodel basiert<br />
stärker auf harmonischen Begleitstimmen, deren Zusammenwirken<br />
die schönsten Jodelklänge ergibt, die<br />
man sich nur denken kann.» Der Tschecho-Texaner<br />
Randy Erwin, Meister in vielen Jodelstilen, bemerkt:<br />
«Der Blues-Jodel ist gewissermassen der Hauptgang,<br />
und die schnellen Schweizersachen sind das Dessert,<br />
das auf einer langen Tradition beruht und relativ stark<br />
reglementiert ist. Der Cowboyxstil ist ein Bastard, der<br />
sich umtun kann, ganz wie es ihm beliebt, weil niemand<br />
weiss, woher er eigentlich stammt. Wenn ich meine<br />
Jodel singe, höre ich Afrikaner, Iren, Blues, Hawaiigitarren,<br />
Hillbilly und Burschen in Lederhosen, die sich<br />
auf die Kniee klatschen.»<br />
Kommunikative Magie: Somit ist alles, was Sie<br />
jemals über das Jodeln gehört haben, falsch. Unsere<br />
Kultur hat uns darauf konditioniert, das Jodeln<br />
als etwas Marginales, Ärgerliches wahrzunehmen<br />
– als Symptom dafür, dass unsere Kultur mit<br />
schwerwiegenden Mängeln behaftet ist. In Wirklichkeit<br />
ist das Jodeln aber eine hochwirksame<br />
Kommunikationsform. Dieser Umstand wird satirisch<br />
verarbeitet in Tim Burtons Film Mars Attacks:<br />
die Helme der anrückenden Marsbewohner zerspringen,<br />
ihre knolligen Köpfe zerplatzen, so dass<br />
ihre grünliche Hirnmasse hoch aufspritzt, wenn<br />
sie den theatralisch übersteigerten Jodel des Sängers<br />
Slim Whitman hören. In Disneys Home on the<br />
Range, erfährt der Schurke Alameda Slim, dass<br />
sein Jodeln nicht nur Rindvieh, sondern auch Menschen<br />
hypnotisiert. Er hofft, diese Gabe zur Beeinflussung<br />
der Massen verwenden zu können,<br />
damit er zum Präsidenten gewählt wird. In George<br />
und Ira Gershwins Musical Strike Up The Band<br />
(1927), einer bissigen Antikriegssatire, wird das<br />
Jodeln als Geheimwaffe eingesetzt, um die Schweizer<br />
Armee aus ihrem Versteck hervorzulocken<br />
und damit einen lächerlichen Krieg zu beenden.<br />
Jodeln als entwaffnendes Stimmexercitium!<br />
Das mag weit hergeholt erscheinen, ist es aber keineswegs.<br />
In seiner 1936 erschienenen Abhandlung<br />
Magic & Technique in Alpine Music beschrieb Manfred<br />
Bukofzer die magischen Kräfte verschiedener<br />
Alpenklänge in Verbindung mit bestimmten<br />
mystischen Worten. Der Kuhreihen war mystisch,<br />
weil er den Kuhhirten an seine Herde band und<br />
böse Geister und Krankheiten verscheuchte. Quellen<br />
aus dem 17. Jahrhundert beschreiben, wie<br />
heimwehkranke Schweizer Söldner desertierten,<br />
Amok liefen oder sogar starben, wenn sie bestimmte<br />
Alpengesänge hörten. Es wurde ein Gesetz<br />
erlassen, das das hysterieerregende Jodeln in<br />
Gegenwart von Schweizer Soldaten untersagte.<br />
Tatsächlich beeinflusst der für das Jodeln charakteristische<br />
Oktavsprung das Nervensystem anders<br />
als gewöhnlicher Gesang.<br />
Was ist nun eigentlich ein Jodel? Begrüssung?<br />
Warnung? Freudiger Ausbruch? Frommes Geheul?<br />
Aufmunterungsruf eines Hirten an die mit dem<br />
üppigsten Euter ausgestattete Kuh der Herde?<br />
Oder eine nervenstrapazierende ‹Variation über<br />
Eselslaute›, wie Walter Scott im Jahr 1830 befand?<br />
Wahrscheinlich all dies zusammen.<br />
Der Jodel unterscheidet sich von anderen Gesangspraktiken<br />
durch seine Betonung des abrupten Luftstosses,<br />
der entsteht, wenn die Stimme vom tieferen<br />
Register der Bruststimme zur hohen Kopfstimme<br />
(Falsett) überwechselt und umgekehrt.<br />
Ohne Kehlkopfhüpfen kein Jodel. Ein echter Juutz<br />
ist wortlos und stellt keine eigentliche ‹Musik›<br />
dar, sondern ein akustisches Signal, das meist<br />
von Hirten verwendet wird, um sich untereinander<br />
und mit ihren Herden zu verständigen. Ed<br />
Sanders von der Gruppe ‹The Fugs› nennt es «einen<br />
hausgemachten Morsecode für Bergbewohner.»<br />
Jodeln ist geografisch allgegenwärtig und kommt<br />
in jeder musikalischen Sparte vom Jazz bis zur<br />
Oper, vom Hip-Hop bis zum Techno vor, obwohl es<br />
immer noch meist mit der Welt der Alpen assoziiert<br />
wird.<br />
Das Jodeln kommt in Amerika auf: Wohl eines der<br />
umstrittensten Themen meiner Nachforschungen<br />
ist die Frage, wann und wie das Jodeln nach<br />
Amerika importiert wurde. Die gängige, herkömmliche<br />
Ansicht ist die, dass dies nicht vor 1815, also<br />
200 Jahre nach den ersten Einwanderungen von<br />
Europäern, geschah. Das heisst, dass die amerikanischen<br />
Ureinwohner wohl damals bereits jodelten.<br />
Ihre Gesänge enthalten oft ‹stimmliche<br />
Pulsationen, Falsett, Nasaltöne.› Es gibt Anhaltspunkte<br />
dafür, dass westafrikanische Sklaven ihre<br />
Jodel via die afrikanische ‹Sklavenküste›, u.a. aus<br />
den von den jodelnden Pygmäen bewohnten Gegenden,<br />
mitbrachten. Der Landschaftsarchitekt<br />
Frederick Olmstead hörte in den 1850er Jahren in<br />
South Carolina ein seltsames ‹Negerjodeln›, das<br />
er als «langen, lauten musikalischen Ruf» beschrieb,<br />
der sich «abwechselnd hob und senkte und dann in das<br />
Falsett übersprang», Klänge, wie sie bei den formlosen<br />
Rufen der schwarzen Landarbeiter üblich<br />
waren. Laut Harold Courlander waren diese zweckgebundenen<br />
Rufe, die «afrikanische Vokaltechniken<br />
wie Jodel und echeoartige Falsetti verwendeten», eine<br />
Art Soulmusik der Erntefelder. Einige dieser Skla-<br />
53
Muothatal/Schwyz, Schweiz
Sugarcreek/Ohio, USA
56<br />
vengesänge gehen auf beschwörende Pygmäenjodel<br />
zurück, die eng mit dem Wald als wichtigem<br />
Hort von Mysterien und Lebensgrundlage<br />
verbunden sind. Jazzsänger Leon Thomas glaubte,<br />
Pygmäen sängen durch seine einzigartige Stimme,<br />
deren anthropologische ‹Verbalenergie› immer<br />
eine Steigerung erfuhr, wenn er seinen Pygmäen-<br />
Jodel-Scatgesang ertönen liess.<br />
Auch echte Cowboys – Schwarze, Weisse, Mexikaner<br />
– jodelten wahrscheinlich, obschon keiner von<br />
ihnen das Jodeln zum Beruf machte. Die Cowgirljodlerin<br />
Liz Masterson aus Colorado meint dazu:<br />
«Es scheint durchaus logisch, dass Kuhhirten diese hohen<br />
Töne verwendeten, wenn sie durch ihre Herde ritten.<br />
Wenn die Tiere ihr dumpf dröhnendes ‹Muuuuh›<br />
ausstossen und plötzlich einer ‹Uiiih› dazwischen schreit,<br />
kann er sicher sein, dass sein heller Ruf die ganze Herde<br />
übertönt. Noch heute höre ich, wenn ich hin und wieder<br />
auf Ranches zu Besuch bin, diese schrill-schrägen<br />
Rufe. Und man kann effektiv einen Jodel darin hören,<br />
wenn diese Leute ihr ‹Uiii-ipp tschiii-ipp tschiii-ipp› erschallen<br />
lassen.»<br />
Wilf ‹Montana Slim› Carter, Sohn eines Schweizer<br />
Baptistenpredigers, verkörperte – authentisch und<br />
popmusikalisch stilisiert – den Geist des freiheitsliebenden,<br />
auf Güterzügen herumstreunenden<br />
‹Yodeling Cowboys› mit seinem alpenländisch beeinflussten<br />
Western-Jodel.<br />
Frühe Schweizer Einwanderer: Nach Meinung des<br />
mennonitischen Archivars Leonard Gross gelangte<br />
der Jodel mit den ersten Schweizer Einwanderern<br />
nach Nordamerika. Er erklärt: «Meine Frau – sie<br />
ist Schweizerin, und ihr Vater, der als mennonitischer<br />
Prediger in Twann lebte, war ein guter Jodler –, meine<br />
Frau sagt, das Jodeln gehe auf eine sehr alte Überlieferung<br />
der Schweizer Mennoniten-Brüder zurück. Es ist<br />
naheliegend, dass Schweizer Brüder, die direkt von der<br />
Schweiz nach Nordamerika auswanderten, ein paar<br />
Jodler mitnahmen.»<br />
Deutsche Mennoniten und Amische gehörten zu<br />
den ersten Immigranten in den 1670er Jahren.<br />
Diese Kriegsflüchtlinge und religiös Verfolgten<br />
kamen vom Pfälzergebiet über Rotterdam nach<br />
Pennsylvania. Sie sprachen Schweizer Dialekte<br />
und sangen alte Arbeitslieder, von denen einige<br />
Jodelelemente enthielten. Die Jodlerin Betty Naftzinger,<br />
die als Tochter eines Schweizer Farmers<br />
bei Kutztown, Pennsylvania, geboren wurde, erinnert<br />
sich, dass sie in den 1940er Jahren beim Pflügen<br />
der Felder das Jodeln erlernte.<br />
Einige Schweizer Immigranten siedelten sich im<br />
18. Jahrhundert in South Carolina, Maryland und<br />
Pennsylvania an. Andere zogen nach Westen (1820-<br />
1900) und gründeten in Texas und Indiana deutsche<br />
und schweizerische Einwanderergemeinden.<br />
Amische aus dem Bernbiet und dem Emmental<br />
gründeten im ländlichen Indiana die Gemeinden<br />
Berne und Geneva. Hier bewahrten sie ihre folkloristischen<br />
Bräuche, u.a. auch ihren alemannischen<br />
Dialekt und das Jodeln, eine akzeptable,<br />
nichtkommerzielle Form der Unterhaltung, die<br />
den sozialen Zusammenhalt stärkte. Und Milchmädchen<br />
brachten ihren Kühen Jodelständchen<br />
dar.<br />
Einwanderer aus dem Kanton Glarus liessen sich<br />
in Wisconsin nieder, wo sie in den 1840er Jahren<br />
die Städte New Glarus und Monroe gründeten.<br />
Um 1900 zählte Wisconsin 8000 Schweizer Einwanderer.<br />
Der Appenzeller Jodler Louis Alder<br />
emigirierte nach Monroe und gründete dort das<br />
Monroe Yodel Quartet (1921). Die Moser Brothers,<br />
eine Schweizer Jodlerfamilie, absolvierten eine<br />
Nordamerika-Tournee und liessen sich danach<br />
in Wisconsin nieder; im Jahr 1933 traten sie im<br />
Schweizer Pavillon an der Chicago Worlds Fair<br />
auf. Rudy Burkhalter wuchs in Basel auf, wo er<br />
das Handharmonikaspiel und das Jodeln erlernte.<br />
Er wurde ein renommierter Komponist in Wisconsin<br />
und schrieb in den 1950er Jahren Jodellieder<br />
wie ‹Will You Teach Me How To Yodel› für Walt<br />
Disney TV-<strong>Pro</strong>duktionen. Die Jodelgruppe Edelweiss<br />
Stars aus New Glarus gab zwischen 1950<br />
und 1996 in ihrer Region Konzerte. Betti Vetterli<br />
(Schweizerin der dritten Generation) und Martha<br />
Bernet (1927 in Leissigen geboren) waren ein populäres<br />
Jodelduo, das bei seinen Konzertauftritten<br />
Reklame für in Winsconsin hergestellte Milchprodukte<br />
machte.<br />
Als Urheberin der Jodelpartien in Walt Disneys<br />
Film von 1937 Snow White & the Seven Dwarfs<br />
zeichnete die ‹Swiss Family Fraunfelder.› Der Jodler,<br />
Lehrer und Musiker Reynard Fraunfelder brachte<br />
seine Familie vom aargauischen Wildegg nach<br />
Kalifornien und später nach Wisconsin. Er war<br />
Mitkomponist zahlreicher Jodelstücke in Disney-<br />
<strong>Pro</strong>duktionen und gab seine Jodelkunst an seine<br />
Kinder weiter. Sein Sohn Rheiny jodelte den Part<br />
von Dopey in den ‹Silly Songs.›<br />
Echos der Tradition: Als ich im Jahr 2005 in der<br />
Mennonite Historical Society forschte und am<br />
Goshen College Vorlesungen hielt, entdeckte ich<br />
aus den 1970er Jahren stammende Tonaufnahmen<br />
von informellen Gemeindetreffen mit Jodelmusik,<br />
einige vor Ort gemachte Aufnahmen von<br />
Alan Lomax und ein Liederbuch mit Schweizer<br />
und Pop/Country-Jodelsongs. In der Zeit, da ich<br />
meine Vorlesungen hielt, trugen mehrere Mennoniten<br />
aus der Umgebung Jodelimprovisationen<br />
vor.<br />
<strong>Helvetia</strong>, ein Dorf in den Appalachen in West Virginia,<br />
wurde 1869 von Schweizern besiedelt. Seine<br />
Bewohner bewahren die Schweizer Volkskultur,
indem sie Schweizerdeutsch sprechen, Handharmonika<br />
spielen und jodeln. Die Familie des Jodlers/Käsers<br />
Bruce Betler wanderte in den 1870er<br />
Jahren vom Berner Oberland und vom Kanton Aargau<br />
ein. Er kommentiert: «Die <strong>Helvetia</strong>ns wachsen<br />
mit Schweizer Volksliedern auf. Und manche von diesen<br />
enthalten Jodel.»<br />
Eine Welle von Jodelmusik kam in den 1820er Jahren<br />
nach Nordamerika mit professionellen Sängerfamilien<br />
aus dem Tirol und der Schweiz, die ersten<br />
Popstars der Welt, die für Publika von heimwehkranken<br />
Immigranten musizierten. Ableger<br />
der erfolgreichen Österreicher Jodlerfamilie Rainer<br />
sorgten dafür, dass das Jodeln um die Jahrhundertmitte<br />
zur ganz grossen Mode avancierte. Die<br />
Hutchinson Familie (‹New Hampshire Rainers›)<br />
machte das Jodeln so populär, dass sogar Operndiven<br />
Lieder im ‹mountain style› in ihr Repertoire<br />
aufnahmen. Vaudeville-Theater und Schallplattenindustrie<br />
gaben dem Jodeln weiteren Auftrieb.<br />
Die ‹Bärtschi Yodel-Band›, der Schweizer Tenor<br />
Arnold Inauen, Jacob Jost und der schweizerisch-amerikanische<br />
Männerchor nahmen zwischen<br />
1900 und 1927 erfolgreiche Jodelplatten<br />
auf. Der schweizerisch-amerikanische Jodler Fred<br />
Zimmerman nahm 1925 den Song ‹I Miss My<br />
Swiss› mit dem berühmten Orchester von Paul<br />
Whiteman auf.<br />
Richtig berühmt wurde das Jodeln aber erst durch<br />
Jimmie Rodgers, Amerikas erstem Country-Superstar,<br />
der eine fruchtbare Synthese verschiedener<br />
amerikanischer Musikstile – Hillbilly, Jazz, Blues,<br />
Hawaiimusik, Cowboy und Einwanderersongs –<br />
vornahm. Er machte das Jodeln absolut trendig<br />
und schuf dadurch eine kommerzielle Notwendigkeit.<br />
Manche behaupten, sein Jodeln sei von<br />
im Schweizer Stil jodelnden Sängern beeinflusst<br />
worden, die er in Vaudeville-Zeltshows gehört<br />
hatte.<br />
Mythos und Musik: Wir verwechseln oft die mythische<br />
Schweiz mit der geografisch und ethnomusikalisch<br />
gesehen ‹richtigen› Schweiz. Wahrnehmung<br />
erzeugt Wirklichkeit. McBride erinnert<br />
sich: «Einer der ersten Jodelsongs, die ich lernte, war<br />
‹Chime Bells› [vom irisch-irokesischen ‹Swiss Style›-<br />
Jodler Elton Britt]. Sie wissen ja, wie der geht. ‹Out<br />
on a mountain so happy and free›. Diese ‹mountains›<br />
waren in meiner Phantasie natürlich die Schweizer Alpen.»<br />
Der beliebte Jodelsong ‹She Taught Me To<br />
Yodel› stellt wie viele andere Popsongs (‹Yodel<br />
Polka,› ‹Swiss Maid›) das Leben in der Schweiz auf<br />
eine unterhaltsame, leicht konsumierbare Art und<br />
Weise dar. «I went across to Switzerland / Where all<br />
the Yodelers be / To try to learn to yodel / With my<br />
yodel-oh-ee-dee / I climbed a big high mountain / On a<br />
clear and sunny day / And met a yodelin’ gal / Up in a<br />
little Swiss chalet / She taught me to yodel.» Unterdessen<br />
kam ‹Jodelkönig› Peter Hinnen, der jodelnde<br />
Schweizer Popstar, und kehrte die Richtung<br />
der Beeinflussung um, indem er Anleihen beim<br />
Cowboyjodeln machte, mit dem er aufgewachsen<br />
war und von dem er sich für Jodelhits wie ‹Auf<br />
meiner Ranch bin ich König› (‹El Rancho Grande›<br />
1934) inspirieren liess.<br />
Kurz gefasst: Siedler aus den Alpenregionen stiessen<br />
mit ihren Trecks ins Landesinnere vor und<br />
trafen dort andere Einwanderer. Der flottierende<br />
Schweizer und Afrikaner Jodel vermischte sich in<br />
den Appalachen mit britisch-irischen Volksballaden<br />
und später im Westen mit mexikanischen<br />
Songs und Musiziergut anderer europäischer Einwanderer,<br />
um sich schliesslich alle möglichen<br />
Spielarten der Popularmusik wie Blues, Hillbilly,<br />
Rockabilly etc. anzuverwandeln.<br />
Die Vermischung von im entfernten Sinne schweizerischen<br />
Elementen mit vage cowboyartigen<br />
Merkmalen zu echt spannenden experimentellen<br />
<strong>Pro</strong>duktionen zeugt vom ungebrochenen Siegeszug,<br />
den das Jodeln im Bereich der zeitgenössischen<br />
Musik angetreten hat – vom Widerhall der<br />
Berge bis zu den elektronisch erzeugten Echoeffekten<br />
im Aufnahmestudio. ¬<br />
Aus dem Englischen von Ernst Grell<br />
Bart Plantenga hat in den vergangenen zwanzig Jahren eigene<br />
Radiosendungen in New York (WFMU - ‹Wreck This Mess›), Paris<br />
(Radio Libertaire) und Amsterdam (Radio Patapoe) produziert.<br />
Als Belletristikautor hat er Beer Mystic, Spermatagonia: The Isle of<br />
Man und Paris Sex Tête veröffentlicht. Sein Buch YODEL-AY-EE-<br />
OOOO: The Secret History of Yodeling Around the World ist die erste<br />
global ausgerichtete Abhandlung über diese geheimnisvolle<br />
Gesangsart. Zur Zeit arbeitet er am zweiten Band, Yodel in Hi-Fi,<br />
einer Jodel-Musikzusammenstellung für Rough Guide, einem<br />
3-CD Set für Music & Words sowie einem Dokumentarfilm über<br />
das Jodeln. Er lebt heute in Amsterdam.<br />
* Richard Wagner, Beethoven (1870), Sämtliche Schriften und Dichtungen,<br />
Bd. 9, S. 74 (zitiert nach Richard Wagner, Werke, Schriften<br />
und Briefe, ed. Sven Friedrich, Berlin: Directmedia 2004)<br />
57
Die Frau mit der Friedenspfeife Naomi Pfenningers Indianer-Festivals<br />
Dorothee Vögeli Wer in der Schweiz die indianische Kultur hautnah erleben möchte, kann dies tun. An sogenannten Indianer-Fe-<br />
Naomi Pfenninger<br />
Foto: Walter Maissen<br />
58<br />
stivals. Organisiert werden solche Festivals von Naomi Pfenninger. Was möchte die Amerikanerin mit indiani-<br />
schen Wurzeln mit dieser Form der Kulturvermittlung erreichen? Dorothee Vögeli hat die Schweizer ‹Squaw› be-<br />
sucht ❙<br />
‹Native American›: Naomi Pfenninger gehört zur<br />
Bevölkerungsgruppe der ‹Native Americans›. Für<br />
die zierliche Frau mit dem langen Haar und den<br />
schmalen, dunklen Augen hat der entsprechende<br />
Ausweis vor allem eine symbolische Bedeutung:<br />
Im Vergleich zu ihren im Reservat der Onondaga<br />
lebenden Stammesgenossen war Naomi Pfenninger<br />
schon immer privilegiert. Aufgewachsen ist<br />
sie im weissen Amerika, als Tochter eines Indianers<br />
und einer eingewanderten Irin. Sie heiratete<br />
dort einen Schweizer, der als Austauschstudent<br />
in ihrem Elternhaus wohnte, und folgte diesem<br />
ins Limmattal. Hier zog sie zwei Töchter gross,<br />
daneben arbeitete sie als Sekretärin in amerikanischen<br />
Grossfirmen. Doch je älter Naomi Pfenninger<br />
wird, um so stärker beschäftigen sie ihre indianischen<br />
Wurzeln. Vor zehn Jahren hat sie mit<br />
ihrem Lebenspartner begonnen, in der Schweiz<br />
Indianer-Festivals zu organisieren. Ziel ist es, der<br />
Bevölkerung die indianische Kultur näher zu bringen.<br />
«Wir wollen zeigen, dass es diese Kultur noch gibt<br />
und gleichzeitig die Winnetou-Mystifizierungen relativieren»,<br />
sagt sie.<br />
Das Konstrukt ‹Indianer› ist ein moderner Mythos.<br />
Es waren die Eroberer und Siedler, aber auch die<br />
frühen Touristen und Fotografen wie Edward S.<br />
Curtis (1868 – 1952), die mit ihrem nostalgischen<br />
Blick auf die untergehende Kultur der nordamerikanischen<br />
Ureinwohner dieses Konstrukt genährt<br />
haben. Nach wie vor gelten Federschmuck und Tipi<br />
als <strong>Pro</strong>totypen der indianischen Kultur. Dabei wurde<br />
und wird immer noch übersehen, dass die Indianer<br />
in verschiedene Volksgruppen mit sehr unterschiedlichen<br />
Sprachen und Bräuchen aufgesplittert<br />
sind. Einen Einblick in diese Vielfalt möchte Naomi<br />
Pfenninger der Schweizer Bevölkerung geben.<br />
Denn: «Die originäre indianische Kultur lebt in den<br />
Reservaten weiter.» Dort beobachtet sie, wie die Bewohner<br />
– auch dank der vom Staat geförderten<br />
Autonomie – wieder Stolz auf ihre verschüttete,<br />
von den Europäern vereinnahmte Vergangenheit<br />
entwickeln und ihren eigenen Zugang zu ihren<br />
kulturellen Wurzeln zu finden versuchen. Indianische<br />
Tänze, indianische Musik und natürlich das<br />
indianische Kunsthandwerk werden nicht zuletzt<br />
auch aus ökonomischen Gründen wieder gepflegt.<br />
Dass dabei manche Klischees weitergetragen werden,<br />
ist ihr bewusst. Doch auch das sei Teil der lebendigen<br />
indianischen Kultur.<br />
Erdverbundenheit: Ihr wichtigster Besitz ist eine<br />
kleine Dose, gefüllt mit Erde aus der Heimat. Als<br />
die damals 20jährige ihr Dorf und ihre Familie<br />
verliess, gab ihr der Vater dieses symbolische Geschenk<br />
in die Fremde mit. Die Erdverbundenheit<br />
ihres Vaters, die gleichzeitig Ausdruck des indianischen<br />
Lebensgefühls sei, präge auch sie, sagt<br />
die Amerikanerin, die ein hervorragendes Schweizerdeutsch<br />
mit amerikanischem Akzent spricht.<br />
Ihr Vater – Buchhalter von Beruf – hat seine leiblichen<br />
Eltern nie kennengelernt. Im Zuge der damals<br />
üblichen Assimilation der Indianer wurde er<br />
als Säugling von Weissen adoptiert. Die Frage<br />
nach seinen wahren Wurzeln sei nie ein Thema<br />
gewesen, erinnert sich Naomi Pfenninger. Auch<br />
sie hat ihre Abstammung nie sonderlich beschäftigt,<br />
wollte sie doch als Jugendliche möglichst so<br />
sein wie alle anderen. Schon als Kind haben sie<br />
jedoch die indianischen Volksfeste (Powwow) im<br />
Reservat des Onondaga-Stamms fasziniert, das in<br />
der Nähe ihres Heimatdorfs im US-Bundesstaat<br />
New York liegt und das sie mit ihrer Familie regelmässig<br />
besucht hat. Der prachtvolle Federschmuck,<br />
die leuchtenden Farben der Kleidung,<br />
der Rhythmus der Trommeln und das oft tagelang<br />
dauernde Geschichtenerzählen gehören zu<br />
ihren eindrücklichsten Kindheitserinnerungen.<br />
Heute möchte sie mehr über die indianischen<br />
Traditionen wissen. Weil dieses Wissen nicht über<br />
schriftliche Quellen, sondern in Form von erzählten<br />
Geschichten, Bräuchen und Zeremonien weitergegeben<br />
wurde, lässt es sich laut Naomi Pfenninger<br />
intellektuell nicht erschliessen. Gerade<br />
deshalb sei die indianische Kultur zweifellos anfällig<br />
für Esoterik. Gleichzeitig fasziniert die Halbindianerin<br />
die Möglichkeit des individuellen Zugangs.<br />
Die sinnlich-archaische Symbolik der indianischen<br />
Kultur kann sie problemlos mit dem<br />
christlichen Glauben verknüpfen. Sie ist deshalb<br />
ein aktives Mitglied der christlich-amerikanischen<br />
Kirche geblieben. «Ob ich nun Gott oder Grosser Geist<br />
sage, ist nicht so wichtig. Doch soll man dankbar sein<br />
für das, was man hat.»<br />
Im Reservat: Ihre Informationen über die indianischen<br />
Ausdrucksformen holt die Wahlschweizerin<br />
direkt vor Ort, bei ihren Freunden in den Reservaten,<br />
die sie regelmässig besucht. «Mich schrecken<br />
die Armut und das soziale Elend nicht ab – im Gegen-
Winterthur/Zürich, Schweiz Chicago/Illinois, USA
60<br />
teil: Die Einfachheit ist für mich ebenso Ausdruck von<br />
Spiritualität. Natürlich ist es auch für Indianer schön,<br />
sechs gleiche Tassen zu haben. Wegen ihres symbolischen<br />
Werts ist aber die Pfeife des Onkels oder die Feder<br />
des Vaters an der sonst kahlen Wand viel wichtiger.»<br />
Während ihren Besuchen in den Reservaten ist ihr<br />
zudem klar geworden, dass die Pflege der Traditionen<br />
die grassierende Depression und den damit<br />
verbundenen Alkoholismus etwas eindämmen<br />
kann, stärkt doch das Sich Besinnen auf die gemeinsamen<br />
Wurzeln das Zusammengehörigkeitsgefühl.<br />
Das Erlernen der traditionellen Tänze und<br />
Handwerkskunst hole viele indirekt aus dem Teufelskreis<br />
heraus, ist sie überzeugt. Auch darum engagiert<br />
sie indianische Musiker, Tänzer und Kunsthandwerker<br />
für die Festivals in der Schweiz.<br />
Im Vordergrund der folkloristischen Darbietungen,<br />
zu denen das Erzählen von Geschichten gehört,<br />
steht nicht nur der Wunsch, eine amerikanische<br />
Minderheit ins Licht zu rücken und gleichzeitig<br />
punktuell Perspektiven zu geben. Genauso soll der<br />
kulturelle Austausch gepflegt werden. Weil die Indianer<br />
während ihrer Tourneen durch die Schweiz<br />
bei Gastfamilien wohnen, wird dieses Ziel auf der<br />
privaten Ebene erreicht. Aus den Begegnungen<br />
entstehen immer wieder Freundschaften, ja sogar<br />
Lebensbeziehungen. Doch auch mit den in<br />
der Regel sehr interessierten Festivalbesuchern<br />
ergeben sich Kontakte. Manche irritiert der Glitzer<br />
und Glimmer, den die heutigen Indianer gerne<br />
einsetzen. Doch sind für Naomi Pfenninger eben<br />
gerade auch kitschige Elemente Ausdruck «einer<br />
lebendigen Kultur, die nicht im 18. Jahrhundert stehengeblieben<br />
ist».<br />
Die positiven Aspekte zeigen: Ganz bewusst wird<br />
an den Indianer-Festivals das Kapitel der Domestizierung<br />
und Verfolgung der amerikanischen Ureinwohner<br />
ausgeblendet. Ab und zu wird dies von<br />
den Zuschauern kritisiert. «Ich sage jeweils, dass<br />
unsere Festivals nicht der Ort sind, um dieses Thema<br />
eingehend zu beleuchten. Man muss zudem bedenken,<br />
dass viele Völker auf der Welt unter Ungerechtigkeiten<br />
ebenso gelitten haben wie die Indianer. Konzentriert<br />
man sich auf die traurigen Episoden innerhalb einer<br />
langen Geschichte, wird die Gegenwart blockiert.» Sie<br />
kenne genug Landsleute, die die Vergangenheit<br />
nicht verarbeiten könnten. «Aber wir müssen<br />
weitergehen, indem wir die viel weiter zurückliegenden<br />
positiven Aspekte unserer Kultur pflegen.» Dazu<br />
gehörten die aktuellen <strong>Pro</strong>gramme zum Erwerb<br />
der indianischen Sprachen, die in den Reservaten<br />
initiiert worden sind.<br />
Immer wieder erhält sie Anfragen von Schweizern,<br />
die vertiefte Bekanntschaften mit ‹richtigen›<br />
Indianern suchen. Diese Sehnsucht nach Ursprünglichkeit<br />
in einem reichen hochentwickelten<br />
Land wie der Schweiz erstaunt sie nicht. Weshalb<br />
aber das Interesse an archaischen Kulturen in der<br />
Schweiz viel grösser als in den umliegenden Ländern<br />
ist, kann sie nicht erklären. Tatsache sei auf<br />
alle Fälle, dass es nirgendwo so viel Literatur über<br />
die Indianer gebe wie in der Schweiz. Auch den<br />
von Naomi Pfenninger engagierten Indianern, für<br />
die sie während ihres Aufenthalts Ausflüge auf<br />
den Titlis oder nach Zermatt organisiert, fällt die<br />
hiesige grosse Sympathie für die indianische Kultur<br />
und die oft herzliche Kontaktaufnahme auf.<br />
In diesem Zusammenhang erwähnt Naomi Pfenninger<br />
eine Episode, die für sie unvergesslich ist:<br />
An einem Indianer-Festival in den Bergen gesellte<br />
sich ein Alphornbläser zufälligerweise dazu. Er<br />
übergab sein Instrument den Indianern und probierte<br />
deren Flöten aus. Solche spontanen Formen<br />
des kulturellen Austausches seien einfach wunderbar.<br />
Zu Hause, wo das Herz schlägt: Auch sie hat die<br />
Schweiz anfangs als fremdartig empfunden. Als<br />
junge Frau kam ihr das Limmattal wie ein einziges<br />
Dorf ohne Land vor. Mit der Zeit merkte sie<br />
aber, «dass es auch hier Natur gibt, wenn man sie<br />
sucht». Nur im Herbst hat sie manchmal Heimweh<br />
– nach dem Indian Summer mit seinen unbeschreiblich<br />
leuchtenden Farben. ‹The American<br />
way of life› hat ihre Kindheit geprägt. Entsprechend<br />
schwierig war es für sie, sich in der Schweiz<br />
einzuleben. Einkaufszentren, Fast-Food und Parkhäuser<br />
gab es in den sechziger Jahren noch nicht.<br />
Wenn sie im Dorfladen einkaufen musste, wurde<br />
sie nervös: Da sie Selbstbedienungsläden gewohnt<br />
war, wusste sie nicht, wieviel ein Kilo Rüben ist<br />
und wie man ‹carrots› auf Schweizerdeutsch sagt.<br />
Die Amerikanisierung der Schweiz im Lauf der<br />
letzten Jahrzehnte bedauert sie: «Das Spezielle, die<br />
Eigenart ist verlorengegangen.»<br />
«Home is where the heart is», sagt sie. Und weil ihr<br />
Herz bei ihren Töchtern in der Schweiz ist, sie<br />
sich aber genauso mit ihrem Heimatdorf und ihren<br />
Freunden in den Reservaten verbunden fühlt,<br />
hat sie eigentlich drei Heimaten. So geht sie nach<br />
Hause, wenn sie in die USA reist, und kommt<br />
heim, wenn sie wieder in die Schweiz zurückkehrt.<br />
Sie könnte sich vorstellen, einmal für längere<br />
Zeit in einem Reservat zu leben. Denn gerne<br />
würde sie sich Zeit nehmen für Zeremonien, die<br />
sie bis jetzt noch nie gesehen hat. Doch bald wird<br />
sie Grossmutter. Deshalb wird ihre Heimat in<br />
nächster Zeit vor allem die Schweiz sein. ¬<br />
Dorothee Vögeli, geboren 1960 in Zürich, Studium der Philosophie<br />
mit <strong>Pro</strong>motion, seit fünf Jahren bei der Neuen Zürcher Zeitung als<br />
Redaktorin im Ressort Zürich tätig, Schwerpunktthemen Ausländer/Soziales.