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<strong>Reimar</strong> OLTMANNS, 1949 in Schöningen / Helmstedt geboren, lebst als freier Autor in Graz /<br />
Österreich. In Deutschland war er Pressesprecher im Niedersächsischen Kulturministerium,<br />
schrieb über drei Jahrzehnte Reports und Reportagen u.a. für die Frankfurter Rundschau, Stern,<br />
Spiegel und Die Zeit. Zahlreiche Buchveröffentlichungen u.a. „Sicherheit, Ordnung, Staatsgewalt<br />
– Freiheit in Deutschland“ (gemeinsam mit Peter Koch 1978), „Du hast keine Chance, aber nutze<br />
sie“ (1980): - „Der Intrigant oder die Machtgier der Christlichen Regenten“ (1985), - „Möllemänner<br />
oder Die opportunistischen Liberalen“ (1988) , „Keine normale Figur in der Hütte. Reportagen<br />
zur Wendezeit (1989), „Frauen an die Macht. Protokolle einer Aufbruch-Ära (1990) sowie „Vive la<br />
francaise – Die stille Revolution in Frankereich“ (1995) und zu guter Letzt „Spurensuche in<br />
verbrannter Erde“ (2009)
<strong>Reimar</strong> <strong>Oltmanns</strong><br />
Kein schöner Land in dieser Zeit.<br />
Verlorene Illusionen.<br />
Reportagen, Berichte, Porträts. Erzählungen zur Zeitgeschichte.<br />
<strong>Band</strong><br />
2 ( 1980-2010)
Kein schöner Land in dieser Zeit. Verlorene Illusionen.<br />
10<br />
<strong>Band</strong> 2<br />
9783842333130<br />
Für Hilde, Anne, Yvonne, Carla, Jannick, Irmgard<br />
„Reportage ist die Königin der journalistischen Kunst“<br />
A-8010
Index<br />
Spurensuche ..................................................................................................................................... 1<br />
Vorwort<br />
1980 ..................................................................................................................................... 3<br />
Berlin im Kalten Krieg: lebenslustig und kunterbunt<br />
Jungsozialisten – Was sie wollten, wer sie sind<br />
Alternatives Deutschland: Die Würde des Sponti est unantastbar<br />
Frührentner im Jugendfreizeitheim „Gelse“ in Berlin<br />
Ausgewandert in die Hoffnung – Landkomunen<br />
1981 ................................................................................................................................... 51<br />
Peepshow und Bürgerkrieg – die Frankfurter Buchmesse<br />
Am Strand von Tunix<br />
Puma und Adidas – Krieg der Tröpfe<br />
Jugendcliquen in Deutschland<br />
1983 ................................................................................................................................... 83<br />
Wirtschaft der alternativen Szene<br />
1984 ................................................................................................................................... 95<br />
Betrogene Betrüger: größtes journalistisches Gaunerstück<br />
Voilà, das ist Monsieur Möllemann (*1945+2003)<br />
1986 ................................................................................................................................. 111<br />
Die Bonner Republik – Verlust an Wirklichkeit<br />
1987 ................................................................................................................................. 119<br />
Deutschland von übermorgen: Frankfurts City<br />
1988 198 ................................................................................................................................. 133<br />
Saufgelage in Ossis Bundeshaus-Bar in Bonn<br />
1989 ................................................................................................................................. 139<br />
Propaganda-Minister oder der häßliche Deutsche Deutsche<br />
Politik-Darsteller verborgener Sehnsüchte<br />
1990 ................................................................................................................................. 151<br />
Frauen-Macht : Partisanin des permanenten Aufbruchs<br />
Politik-Karriere braucht einen Fernseh-Mann<br />
Kalter Krieg der Männer<br />
Im Leben von ganz unten nach ganz oben - Politikprofil der Bundesministerin Renate Schmidt<br />
1992 ................................................................................................................................ 223<br />
Frankreich: Geschichten in gemeinsam erlebter Einsamkeit<br />
Viva Maria, arriverderci Macho - Frauen erobern Italien<br />
1993 ................................................................................................................................ 233<br />
Entenhausen liegt an der Saône<br />
Fremd im eigenen Land<br />
Scarlett: nachts auf See, tagsüber im Komitee<br />
Im Club der Nukleokraten
1994 .............................................................................................................251<br />
Gekämpft, gesiegt, vergessen – französische Widerstandskämpferinnen<br />
Bordellkultur von einst – Drangsal mit der Prostitution<br />
Fremdenlegion: „Alles ist besser als die Heimat“<br />
Mademoiselle chante les blues – Patricia Kaas<br />
Air France-Pilotin - „Sei schön und halte den Mund“<br />
1995 .............................................................................................................273<br />
Katholische Kirche – „Beim nächsten Papst wird alles anders“<br />
Wallfahrten zu Charles de Gaulle (*1890+1970)<br />
Museen, Grands Palais – „Frische Luft für die Gesellschaft“<br />
Frankreichs Première Dame, die Grenzen überschritt<br />
1996 .............................................................................................................289<br />
Grösstes Frauen-Gefängnis Europas – Väter, Freier, Wärter<br />
Armut in Frankreich: Freier Fall ins Elend<br />
SOS-Attentats: Keine Zeit für Wut und Tränen<br />
1997 .............................................................................................................305<br />
Gewalt in Familien, misshandelte Französinnen<br />
2005 .............................................................................................................311<br />
Detemido – torturado – desaparecido – Elisabeth Käsemann<br />
2007 .............................................................................................................317<br />
Elisabeths Badinters Rendezvous mit der Zukunft<br />
2008 .............................................................................................................324<br />
Zeitgeschichte: Reiche Kommunisten von einst -<br />
Unaufhaltsamer Niedergang der PCF in Frankreich<br />
2009 .............................................................................................................336<br />
Matriarchat in Deutschland und seine Folgen<br />
2010 .................................................................................................................343<br />
APO-Jahre - Hitler-Jahre: Knüppel um Knüppel in Hannover an der Leine und sonstwo<br />
Deutschland - in Erinnerung an den Polizistensohn Ralf Liehr
Vorwort<br />
Spurensuche<br />
« Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten<br />
Unmündigkeit » Immanuel Kant aus dem Jahre 1784<br />
Reportagen biegen Wirklichkeiten nicht zurecht, lassen sich nicht in erwartete<br />
ideologische Grundraster und Grundannahmen zwängen – sie sprengen deren Rahmen. Die<br />
klassische Reportage ist geeignet, gravierende, symptomatische Abläufe gleichsam vergangener<br />
Jahrzehnte nach außen zu kehren ; Geschehnisse, die uns auf die eine oder andere Weise immer<br />
wieder beschäftigen, Vorkommnisse, die sich in unser Gedächtnis eingenistet haben.<br />
Spuren gilt es zu sichern , nicht alles den Trampelpfaden zu überlassen. Spurensicherung<br />
nach kleinen Menschen vergangener Epochen, längst verschütterter Schicksale, die uns doch einst<br />
auf irgendeine Weise berührten, prägten ; Fährten und Beschreibungen aus Deutschland,<br />
Frankreich, Italien, Südamerika, Afrika, Asien – vielerorts.<br />
Meine Milieu-Beschreibungen und Berichte über die Mächtigen, Verbannten wie<br />
Ausgesperrten in vielen Ländern, in ihren Epochen belichten die Wirklichkeit, zeigen Denkweisen,<br />
Gefühle, Ohnmachts-Momente und Handlungs-Abläufe einer scheinbar vergangenen Ära.<br />
Vorgeblich – Schauplätze, gar Anlässe mögen sich verändert haben, Grundbedingungen,<br />
Kreislaufspiralen zwischen Ursache und Wirkung hingegen - die sind geblieben. Sie schaffen sich<br />
fortwährend ihre eigene Aktualität. Noch immer hungern Abermillionen von Menschen, hat sich<br />
die Schere zwischen arm und reich bedrohlicher, krasser geöffnet – werden weltweit mit Folter<br />
durch Psychopharmaka « Geständnisse » erpresst, begleiten bestialische Kriege unser Dasein.<br />
Fortschritt ?<br />
Vier Jahrzehnte sind kein Tag – was wir wollten, was wir aus uns- und mit unserer<br />
Identität gemacht haben – oder einfach geschehen liessen ; Fragmente, Zerstückelung, Fratzen. Die<br />
politische Routine in nahezu allen Hauptstädten der Welt entpuppt sich zunehmend geschmeidiger,<br />
konturloser zu einer TV-soap in einem spanischen Zeremoniell des Proporzes. Die Wirklichkeit,<br />
der Alltag in den beschriebenen Ländern indes – dort draußen in Provinzen, Regionen – folgen<br />
ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit, den Lebensgefühlen, Erfordernissen – auch Verzagtheiten von<br />
Menschen, die wir sprachlos am Wegesrang stehen lassen. Ihnen galt meine Aufmerksamkeit. Aus<br />
Jahren des Protests, des Aufbegehrens, des beherzten Hinterfragens widersprüchlicher Aufrisse ist<br />
eine Epoche des Überdrusses, Verdrusses – eben sattsamer Gleichgültigkeit des Fühlens und<br />
Eintönigkeit des Denkens geworden. Deshalb sind Rückblicke, Rückbesinnungen wichtiger denn<br />
je ; vielleicht für eine Neu-Orientierung. Hoffnung ?<br />
Deutschland, in dem ich aufwuchs und lange Jahre meines Lebens verbrachte, war mir<br />
nie gleichgültig. Aber die Jahre des Protests, des Aufbegehrens „im langen Marsch durch die<br />
Institutionen“ hat sich zu alljärlichen „Osterspaziergang“ des Johann Wolfgang von Goethe der<br />
Selbstdarsteller entwickelt . Ernüchterung ?<br />
Dieses Buch « Spurensuche » von nahezu vier Jahrzehnten ist ein Stück<br />
Geschichtsbegleitung, Reportagen als Geschichtsbeschreibung. Das zu einer Zeit, in der weltweit –<br />
US-Präsident Barack Obama ausgenommen – auffallend weniger politisch<br />
1
schöpferische »Talente » in Staatsämter drängen – ein Mittelmaß sich daran macht,<br />
« Wohlstandssicherung » nach dem globalen Finanzkollaps zu betreiben. Im Namen der Freiheit<br />
und gegen den allgegenwärtigen Terrorismus schränken Politiker weltweit einst bitter erkämpfte<br />
Freiheitsrechte immer mehr ein, werden Unschuldsvermutungen eines jeden Bürgers allmählich ins<br />
Gegenteil verkehrt. Was der Sicherheit zugefügt, geht der Freiheit ab. Grundlagen für einen<br />
autoritären, alles und jeden kontrollierenden Überwachungs-Kontinent sind längt gelegt ; für<br />
Europa und insbesondere für Deutschland gilt sie allemal.<br />
Spiel mit dem Feuer – « Liberty dies by inches – Freiheit stirbt zentimenterweise » und<br />
das Rückgrat bricht knorpelweise .<br />
R. O.<br />
Graz (Austria), Oktober 2010<br />
2
1980<br />
Berlin im Kalten Krieg: lebenslustig und kunterbunt<br />
Jungsozialisten – Was sie wollten, wer sie sind<br />
Alternatives Deutschland: Die Würde des Sponti est unantastbar<br />
Frührentner im Jugendfreizeitheim „Gelse“ in Berlin<br />
Ausgewandert in die Hoffnung – Landkomunen<br />
3
BERLIN IM KALTEN KRIEG: LEBENSLUSTIG UND<br />
KUNTERBUNT - ENDZEIT-STIMMUNGEN IN DEN<br />
ACHTZIGERN<br />
metall-magazin, Frankfurt am Main - 03. September 1980<br />
Grenzübergang Herleshausen/Wartha an einem Samstagmorgen im August. Langsam<br />
schiebt sich die auf 200 Meter angestaute Autokolonne an den DDR-Kontrollpunkt heran. Eine<br />
Blechlawine, die fürs Wochenende nach West-Berlin rollt. Vollgestopfte Touristenbusse aus dem<br />
Süden der Republik, Familienkutschen mit Thermoflaschen, Stullen und Kindersicherheitssitzen.<br />
Die meisten aus dem Frankfurter Raum, hin und wieder ein paar unorthodoxe Gestalten, Latzhose,<br />
Jesus-Latschen und den obligaten "Atomkraft, nein danke"-Aufkleber am Heck ihrer Kleinkarosse.<br />
Ihr Gegenüber: zackige DDR-Grenzer, die den eingebläuten Stechschritt wohl kaum<br />
verlernen werden. Die Haare im Nacken sind liniengerade abgestutzt, die Ohren frei rasiert.<br />
Preußische Sozialisten auf der einen, westdeutsches Allerlei auf der anderen Seite. Ein<br />
notgedrungenes, unterkühltes tête-à-tête, das seit Jahren aus den Schlagzeilen raus ist. Die Fragen<br />
der DDR-Grenzer sind knapp, kein überflüssiges Wort, ihre Blicke sind geschult und routinesicher,<br />
keine auffällige Geste - ein zurückgenommenes Verhalten wie vielerorts.<br />
Das alles dauert nur wenige Minuten - Reisepass und Kfz-Schein abgeben - warten - ein<br />
Stück vorfahren - Identitätskontrolle - weiter geht's. Und dennoch brechen in solchen Momenten<br />
deutsch-deutsche Eigenarten auf, wenn auch manchmal nur für Sekunden. In diesem Augenblick<br />
wären Sätze wie "Freie Fahrt für freie Bürger" undenkbar, da wird weder gemault noch gemotzt.<br />
Der Bundesbürger begegnet der personifizierten DDR-Staatsmacht still, artig, bisweilen devot.<br />
Vielleicht ist es der Angst einflößende Habitus, die Uniform als Garant für Kompetenz, Zugriff<br />
und Selbstsicherheit, die schlummernde Rudelsehnsüchte abermals wecken. Vielleicht kommen<br />
auch Berührungsängste hoch. Nur kann die DDR-Staatsgrenze West der augenscheinliche Grund<br />
dafür nicht sein. Hohe Sichtschutzwände versperren nämlich den Blick auf Drahtzäune,<br />
Selbstschussanlagen, Panzersperren, Beobachtungstürme. - Herleshausen-Wartha präsentiert sich<br />
international. Beinahe so, als bestünde jenes Monstrum aus Tretminen und Todesstreifen nur in<br />
den wirren Köpfen einiger Fantasten.<br />
Aber auch das ist Herleshausen-Wartha. Der Beginn einer unendlich erscheinenden Fahrt<br />
auf der Transitstrecke nach Westberlin. "Bleiben Sie strikt unter hundert". hatte der<br />
bundesdeutsche Grenzer dem Hanauer Elektroschweißer Eberhard Polikeit noch empfohlen.<br />
Denn die Kontrollen sind engmaschig, die Strafen horrende und unerbittlich.<br />
Westberliner Transit-Profis, die da zigmal im Jahr durch die DDR pesen, wissen das nur<br />
allzu genau. Oft fahren sie am Wochenende "nur mal kurz" in den Harz oder in die Lüneburger<br />
Heide, weil sie der Stadtkoller zu zerfressen droht. Unzählige halten sich erst gar nicht an das<br />
vorgegebene Tempolimit, lassen es gleich mit 120/130 angehen, stochern munter drauflos. Da<br />
versteht es sich von selbst, dass hochempfindliche Funkmessgeräte ausschlagen und die<br />
Transitautobahn somit zu einer sicheren aber auch lukrativen Devisenquelle geworden ist.<br />
Immerhin passieren jährlich an die 16 Millionen Autofahrer die deutsch-deutschen Grenzen.<br />
Sollten sich nur jeder achte in einer Radarkontrolle verfangen, brächte dies bei einem<br />
durchschnittlichen Bußgeld von 100 Mark insgesamt 200 Millionen Mark in den DDR-Staatssäckel.<br />
4
An diesem Sommermorgen jedenfalls quält sich nach dem Kontrollpunkt Herleshausen-<br />
Wartha eine Autotraube zähflüssig über eine schmale Baustellenspur, Tempo vierzig ist angesagt,<br />
immer wieder müssen die Fahrbahnen gewechselt werden, mal links, mal rechts - kilometerweit. In<br />
der Kolonne tuckert der blaue Golf-Diesel des Hanauer Elektroschweißers Eberhard Polikeit. Mit<br />
seiner Frau und den beiden Kindern befährt der 35jährige zum ersten Mal die Transitstrecke<br />
Herleshausen-Berlin. Tacho, Asphalt, Blechlawinen - kein Blick auf die weiträumige, scheinbar in<br />
sich ruhende, bisweilen pittoreske Landschaft, kein Gedanke an Städte wie Erfurt, Weimar, aber<br />
auch Jena, die Polikeit links und rechts liegen lässt. Lediglich jene Hinweisschilder, die<br />
vermeintliche Radarkontrollen signalisieren, interessieren noch. - Ein Sommerausflug nach Berlin<br />
im längst verblassten achtziger Jahrzehnt.<br />
Kurz vor dem Hermsdorfer Kreuz ein Raststätten-Schild. Mittag ist zwar längst vorbei,<br />
aber der Picknickkorb soll nicht umsonst gepackt worden sein. Vor der Abfahrt - darauf hat<br />
Polikeit genau geachtet -nochmals ein Raststättenhinweis. Aber plötzlich wird er unsicher, habe er<br />
doch den Zusatz vermisst. Schließlich dürfte nur auf ausgewiesenen Transitplätzen geparkt werden.<br />
Für einen Moment ist Polikeit sich unschlüssig, was er nun machen soll. Die Räder hat er allerdings<br />
schon in Richtung Raststätte eingeschlagen, will dann aber lieber schnurstraks weiterfahren. Keine<br />
Wende, ein kleiner Schnörkel, mehr nicht.<br />
Vierhundert Meter danach - ein Vopo-Streifenwagen überholt Polikeit, er wird an den<br />
Autobahnrand gewunken. "Sie haben gegen die Straßenverkehrsordnung der Deutschen<br />
Demokratischen Republik verstoßen", erklärt der Polizist. "Nein, das kann nicht sein", erwidert der<br />
verdutzte Polikeit. "Doch, Sie haben auf der Autobahn gewendet", bedeutet der Vopo. "Aber dies<br />
würde mir im Traum nicht einfallen", kontert Polikeit. "Es besteht kein Zweifel, Sie sind rückwärts<br />
gefahren." - "Ich sagte Ihnen schon, das stimmt einfach nicht." - "Wenn Sie es genau wissen<br />
wollen, Sie haben eine Leiteinrichtung überfahren!" Damit ist der Disput beendet. Aus einer<br />
eindringlichen Belehrung "über die Gefährlichkeit des Überfahrens von Leiteinrichtungen" heraus<br />
legt der Vopo-Mann dann, beinahe dramaturgisch, das Bußgeld fest - 50 Mark. Auf der Quittung<br />
heißt es: "Sie haben ... ... schuldhaft eine Ordnungswidrigkeit nach §§ 1 (1) + 6 (1) StVO begangen,<br />
indem Sie die Verkehrsleiteinrichtungen missachteten."<br />
Irgendjemand muss Eberhard Polikeit bei seiner Lappalie beobachtet haben, als er<br />
halbherzig die Raststätte ansteuerte. Vielleicht vom Wachturm oberhalb des Hermsdorfer Kreuzes,<br />
möglicherweise stand die Vopo-Streife getarnt in Lauerstellung. Polikeit hätte am liebsten<br />
kehrtgemacht und wäre nach Hause gefahren, so ungehalten war er. Zornig über die ihm mir<br />
nichts, dir nichts abgeknöpften 50 Mark, verdrossen über die offenkundig allgegenwärtige Vopo-<br />
Beschattung - die Transitautobahn quasi als westdeutscher Laufsteg, von dem jeder x-beliebig<br />
heruntergeholt und zur Devisenbeschaffung der DDR zur Kasse gebeten werden kann. Aber er<br />
fuhr weiter, nunmehr in Hab-Acht-Stellung, sich stets halbwegs vergewissernd, ob sich nicht doch<br />
hier oder dort ein Vopo plötzlich vom Grün der Büsche abhebt.<br />
Wie auch immer, Eberhard Polikeit entkrampfte sich merklich, als er die<br />
Grenzkontrollstelle Dreilinden kreuzte. Endlich hatte er es geschafft. Auf der Westberliner Avus<br />
entlud Polikeit seine unterdrückten Aggressionen und drehte kräftig auf. "Freiheitsgefühl" nannte<br />
er das, wähnte er sich doch im freien Westen, jedenfalls bis zum Hohenzollerndamm, in dem er<br />
einbog. Mit 80/90 brauste Polikeit in Richtung Tempelhof. Diesmal überholte keiner seinen blauen<br />
Golf, diesmal wurde er von einer Radarkontrolle geblitzt; drei Punkte in der Flensburger<br />
Verkehrssünderkartei waren ihm sicher.<br />
5
Über 1, 3 Millionen Touristen, mehr als Hamburg, München oder die Bundeshauptstadt<br />
Bonn besuchen, bevölkern jährlich diese Stadt. Westberlin, einst als Fronstadt des Westens und als<br />
Sperrspitze apostrophiert, ist heute zu einem Durchlauferhitzer geworden. Eben ein deutsches<br />
Mekka der ewig stehen gelassenen Koffer.<br />
Wohl keine bundesdeutsche Abschlussklasse, die nicht einen der doppelstöckigen<br />
Sightseeing-Busse zur Stadtrundfahrt besteigt. Und wohl kein Kegel- oder Gesangverein, der sich<br />
vom Klischee "Berlin bleibt Berlin" abschrecken ließe. Die 160 Kilometer lange Mauer, dieser<br />
seltsame "antifaschistische Schutzwall" aus Beton und Bedrückung, offener Furcht und verkappten<br />
Ängsten; die Bernauer Straße mit ihren alles überragenden Klettergerüsten für Staatspräsidenten,<br />
Schaulustige und jene, die das "Vaterland unentwegt im Herzen tragen"; der Reichstag, die<br />
Freiheitsglocke, die Gedächtniskirche, die Kongresshalle, die Deutsche Oper, die Philharmonie, das<br />
bombastische Internationale Congress Centrum (ICC), natürlich der Kudamm, auf dem es wie eh<br />
und je nach Freiheit, Frechheit und Benzin riecht.<br />
Wie ein Acht-Millimeter-Film flimmert die Außenfassade beinahe atemlos an einem<br />
vorbei. Nur ab und zu ein Päuschen, hier und dort ein Gruppenbild, das wahrscheinlich erst im<br />
Fotoalbum seiner Bedeutung gerecht werden dürfte, und immer wieder surren die Kameras -<br />
natürlich aus der Doppeldecker-Perspektive.<br />
Die Touristenführer mit Mikrophon und aufgesetzter Heiterkeit spulen ihr Programm<br />
kabarettreif herunter. Altbekannte Einlagen, die so gar nicht zum hochgezüchteten<br />
Selbstverständnis dieser Weltstadt passen wollen, aber so offenherzig und blauäugig vorgetragen<br />
werden, dass aufkommende Peinlichkeiten oft in Mitleid umschlagen. Es ist ja auch verdammt<br />
schwer, jeden Tag im Doppeldeckerbus durch die Stadt zu kurven, jeden Tag an derselben Stelle<br />
sein Witzchen zu reißen; noch dazu auf berlinerisch und möglichst unnachahmlich in der Diktion.<br />
Da heißt eben tagtäglich aufs neue die Philharmonie "Schwangere Auster", das Konfektionshaus<br />
am Zoo "Bikini" - oben was, unten was und in der Mitte nischt", die Baubehörde am Fehrbelliner<br />
Platz "Haus der 500 Schlafzimmer".<br />
Ein banaler Humor, der mit der viel gerühmten "Berliner Schnauze" wenig Gemeinsames<br />
hat, dafür aber eine merkwürdige Auf-Teufelkomm-raus-Mentalität freilegt. Überhaupt zeichnen<br />
sattsam bezahlte Imagemacher aus dem gesamten Bundesgebiet ein verzerrtes, aufgemöbeltes<br />
Profil von dieser Zwei-Millionen-Stadt. Was da so jährlich an kostspieligen Hochglanzbroschüren<br />
vom Senat auf den Markt und damit in den Papierkorb geworfen wird, lässt Unvergleichliches<br />
erahnen. Dabei wimmelt es nur so von Superlativen, es strotzt von Klischees - keines scheint<br />
abgedroschen, jedes erlebt regelmäßig seine Neuauflage. - Durchatmen.<br />
Da bleibt Berlin nicht nur Berlin, das nun mal "eine Reise wert ist", da sind die<br />
"Kreuzberger Nächte lang - Punk macht krank". Da tanzten, tranken und grölten Mitte der<br />
achtziger Jahre Abend für Abend die fein betuchte links-liberale Intellektuellen-Schickeria vom<br />
"Sender Freies Berlin" in der griechischen In-Kneipe "Terzo Mondo" in Charlottenburg auf und an<br />
den Tischen; immer er Suche nach Nähe und Durchbruch, Zuneigung und Beachtung. "Ja, ja, "<br />
tönte es da ungefragt aus der Rundfunk-Ecke, "durch Berlin , das Paris des Osten, weht immer<br />
noch ein leichter Hauch der goldenen zwanziger Jahre", eine "Dreifaltigkeit, diese Achse Paris-<br />
London-Berlin. Wir mit unserem Sender sind dabei." - Und wenn schon mal ein Künstler dem<br />
"Spree-Athen" ade gesagt, dann geht er allenfalls nach New York oder Rom. Nein, eines kann den<br />
Berlinern und ihren Zugereisten nicht vorgeworfen werden. Mit internationalen Vergleichen geizen<br />
sie keineswegs. So muss selbst der Bahnhof Zoo für eine exklusive Variante herhalten, liegt er doch<br />
"in der Mitte zwischen Moskau und Paris". Und natürlich dieser Kudamm, diese Prachtstraße,<br />
6
"dieses größte Kaffeehaus Europas", auf dem einst Schreiber und Genies, Mätressen und Gigolos,<br />
Zuhälter und Zocker einträchtig an den Tischen hockten. Nicht zu vergessen, "Zille sein Milljöh",<br />
der die bittere Armut und Trostlosigkeit Berliner Arbeiter porträtierte. Bilder, die gegenwärtig<br />
Hochkonjunktur haben. Ließ´sich doch die soziale Misere von damals heute auf die idyllische<br />
Popo-Klitsche auf dem Hinterhof reduzieren.<br />
Keine westdeutsche Großstadt poliert derart an ihrer Außenwirkung wie Berlin. Mit 48<br />
Millionen Mark verfügt der Senat über den "welthöchsten Werbeetat" in nur einer<br />
Legislaturperiode. Beinahe so, als könne das verlorene Wichtigkeitsgefühl einer Hauptstadt mit PR-<br />
Aktionen kompensiert werden, als könnten Millionen-Spritzen aus dem Bonner Bundesetat jene<br />
Langzeitfolgen des Zweiten Weltkrieges ungeschehen machen.<br />
Besucher, die die Stadt abgrasen, spüren kaum etwas von ihren tiefen Identitätskrisen.<br />
Gibt es doch die wachgeküsste Kulturszene aus Philharmonie, Deutsche Oper, Galerien,<br />
Bücherstuben, ulkigen Kneipen ohne Polizeistunde. Rockt und jazzt es im "Folkpub" oder im<br />
"Riverboat" nicht etwa in allen Stilrichtungen von 1900 bis zum Jahre 2020? Leben die Rockstars<br />
Nina Hagen, David Bowie oder Iggy Pop nicht etwa in Berlin? Und dieser viel geschmähte<br />
Kudamm. Ist er etwa menschenleer oder blutarm? Gut, aus einer Bummelallee wurde ein<br />
Rummelplatz; ein Bouletten-Boulevard, eine Pommes-frites-und-Curry-Wurst-Chaussee; flankiert<br />
von Pornoschuppen und Peepshows, Rue de Kiez mit vielen winzigen Straßenkläffern, Strichern<br />
samt Laufkundschaft; eben viel Plastik, viel Reklame. Aber was will das schon besagen, war der<br />
Kudamm doch in Wirklichkeit immer eine eigenwillige Collage - ein bisschen Hamburger<br />
Jungfernstieg, ein bisschen St.-Pauli-Reeperbahn. Menschentrauben strömen hier Tag für Tag auf<br />
und ab. Geschäftsleute aus West-Europa, Asien und Nordamerika, Schulklassen,<br />
Reisegesellschaften, kaum eine Fremdsprache, die der Ku'damm nicht kennt. Meist sind die<br />
vorgeschobenen Café-Veranden voll besetzt, weitere Hotels, natürlich in Zoo nähe, sollen<br />
hochgezogen werden, bis 1985 sind 3.000 neue Zimmer fest eingeplant, damit noch mehr<br />
Touristen allabendlich im "Alt-Berliner-Biersalon" der hessischen Sechsmannkapelle ein Umtata<br />
zuhören können. Dort, wo das Wachstum und seine Gedanken daran offenkundig grenzenlos ist -<br />
dort ist Berlin.<br />
Die Spree-Metropole der achtziger Jahre - tatsächlich zieht sich nicht nur die eine Mauer<br />
durch die Stadt. Vielmehr sind es zwei, vielleicht auch drei, die letzteren unsichtbar. Sie<br />
zerschneiden diese 848 Quadratmeter große Fläche. Etwa so, wie es der frühere Chefredakteur der<br />
Berliner "Abend", Jürgen Engert, einmal beschrieb: "Hier in Berlin können Sie ein Bankräuber in<br />
Neukölln sein, Transvestit in Charlottenburg, Regierungsrat in Schöneberg und Industrieller in<br />
Wilmersdorf - in diesem Mixt um Kompositum beißt sich nichts."<br />
Dem Touristen zwischen Kudamm und Zoo, zwischen Savigny- und Stuttgarter Platz<br />
indes bleibt der Zugang zum labilen und komplizierten Berliner Innenleben versperrt. Zu sehr<br />
klebt er an den ihm vorgesetzten Abziehbildern der zwanziger Jahre; einem eingeimpften und<br />
herbeigeredeten Mythos, der schon über vielerlei Selbstzweifel hinweghalf.<br />
Aber all dies erspart manchem Besucher jene lästige Identifikationskrise, von der sich die<br />
Mehrzahl der Westberliner bisher nicht zu befreien vermochte. Die Stadt, zugeschnitten auf die<br />
Funktion einer Metropole, ist in Wirklichkeit nur ein Rumpf, der sein Umland verlor. Bürger<br />
zwischen Abriss und Kulisse. Grüne Villenvororte des Westens - ein Stück verblasster bürgerlicher<br />
Selbstdarstellung aus der Wilhelminischen Epoche. Im Osten abbruchreife Mietskasernen ohne<br />
Bad und Klo. Im Norden Neubauten, die sich zum Märkischen Viertel und zur Gropiusstadt<br />
zusammenschlossen. Fenster wie symmetrisch aneinandergereihte Schiffsluken, Grünflächen nach<br />
7
Planquadraten. Schlafstädte aus der Retorte euphorischer Architekten. - Zerschnitten werden die<br />
Kieze aus schwülstiger Vergangenheit und nüchterner Gegenwart durch großflächige Boulevards,<br />
Avenuen, Stadtautobahnen.<br />
Berlin krankt an seinem Anspruch, den die Wirklichkeit nicht einlösen kann. Die Stadt<br />
zerreibt sich zwischen Gegenwart und Geschichte. Das verlorene Hauptstadt-Gefühl ist längst<br />
noch nicht überwunden, die Suche nach einem politischen Gleichgewicht scheint endlos. Berlin -<br />
das ist eine Metropole im Wartestand. Der S- und U-Bahnhof Friedrichstraße, ein Labyrinth an<br />
Gängen und Treppen, sein heimliches Sinnbild, Bahnhof Friedrichstraße ist der einzige<br />
Geltungsbereich für DM West und Ost, eine Schmuggel-Station für unverzollte Waren, ein<br />
Knotenpunkt der deutsch-deutschen Innenausstattung.<br />
Hilfesuchende Ostrentner schleppen sich, mit Taschen, Tüten und Koffern vollgepackt,<br />
in den Westen, den sie "drüben" nennen. Überall lauern DDR-Polizisten, Ihr Ton ist kaltschnäuzig<br />
und blechern, ihr Arbeitsplatz gleicht einer Verladerampe, auf der sich westdeutsche Touristen<br />
willenlos herumkommandieren lassen. Auch sie wollen nach "drüben", wenngleich sie den Osten<br />
der Stadt meinen. Mittendrin sprachlose Türken, Pakistanis und Afrikaner. Die einen gehen, die<br />
anderen kommen - meist illegal, oft auf der Suche nach einem Stückchen Wohlstand, einem<br />
Quäntchen Geborgenheit. - Wer auch immer den Bahnhof Friedrichstraße passiert, ob von West<br />
nach Ost oder umgekehrt, er will nach "drüben". Nirgends im deutschen Sprachgebrauch wird das<br />
Wort "drüben" so häufig benutzt wie in Berlin. "Drüben" ist ein Synonym, gleichsam für die DDR<br />
und die Bundesrepublik. Es erspart dem Berliner die ihm unliebsame DDR-BRD-Abkürzung,<br />
konserviert vielleicht den schmalen Pfad an Gemeinsamkeiten, rechtfertigt aber zumindest, sich als<br />
eine Stadt im Wartestand zu begreifen.<br />
Überall in Europa hat sich die Gesellschaft in den letzten beiden Jahrzehnten rapide<br />
gewandelt, ist die Zeit kurzlebiger, sind die Maschinen, die digitale Verarbeitung schneller<br />
geworden - werden die Menschen allmählich überflüssig, Wohl in keiner westdeutschen Stadt sind<br />
die Kontraste derart scharf geschnitten, prallen Widersprüche derart unversöhnlich aufeinander.<br />
Berlin ist ein Schauplatz der deutschen, innerdeutschen, gesamtdeutschen Konflikte, ein<br />
Austragungsort des Nord-Süd- und Ost-West-Gegensatzes. Mauer, Schießbefehl,<br />
Geheimdienstinsel, Springer-Konzern, Studentenrevolte 1968, Kommune und Kinderladen, RAF-<br />
Terroristen, Morde, Entführungen, Gastarbeiter-Gettos, Asylantenbahnhof. Systemverweigerer<br />
und Alternativler, Arbeitslose und Großraumcomputer.<br />
"Berlin ist gar keine Stadt", schrieb Heinrich Heine (*1797+1856) im Jahre 1830, "Berlin<br />
gibt bloß den Ort dazu her, wo sich eine Menge Menschen, und zwar darunter viele Menschen von<br />
Geist, versammeln, denen der Ort ganz gleichgültig ist." Tatsächlich war die Stadt schon immer ein<br />
Kristallisationspunkt der Extreme.<br />
Zu Zeiten finsterer Reaktion in Europa war Berlin eine Herberge für Verfolgte und<br />
entwickelte sich zu einer Stätte der geistigen Erneuerung. Berlin war nicht nur Preußens Gloria, das<br />
war vielmehr die deutsche Stechschritt-Metropole. Die bürgerliche Revolution von 1848 hatte nicht<br />
den Hauch einer Chance, wurde sie auf der Straße zertrampelt. Bismarcks Sozialistenjagd nahm<br />
hier ihren Ausgang. Weimars frisch gekeimte Demokratie endete in Berliner Barrikadenkämpfen,<br />
von hier aus wollte der Führer die Welt unterjochen - tausendjährig und blutrünstig.<br />
Aber auch das war Berlin. Eine Stadt der härtesten Klassengegensätze. Ein "Paris des<br />
Ostens" mit 30.000 Millionären und ein bisschen mehr. Ein teils bornierter, teils dekadenter<br />
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Geldadel, für den beispielsweise Lessings "Minna von Barnhelm" erst salonfähig wurde, nachdem<br />
eine französische Übersetzung vorlag.<br />
Hunderttausende schlecht bezahlte Arbeiter fristeten unbeachtet ihr Hinterhof-Dasein.<br />
Ob aus den Provinzen Schlesien, Pommern oder Ostpreußen - mit Beginn der Industrialisierung im<br />
19. Jahrhundert überfluteten ausgemergelte, halb verhungerte Tagelöhner, Handwerker und<br />
Kleinbauern die Stadt. Die Matzkes, Lehmanns , Schulzes und Maletzkes -die Kleine-Leute Namen<br />
- malochten bei Siemens, Borsig und AEG. Berlin wuchs zur größten Industriestadt des<br />
Kontinents; auf den Knochen einer Armen-Armee, für die das Leben schwer, das Sterben so<br />
einfach war.<br />
An die 170.000 Einwohner zählte die Stadt um 1800. Eine halbe Million waren es schon<br />
1871, dem Jahr der Reichsgründung, zu Beginn des Zweiten Weltkrieges lebten über vier Millionen<br />
Menschen in Berlin. - Erinnerungen an verflossene Jahrzehnte verklären meist den Blick, Realitäten<br />
verschieben sich, Nostalgien dominieren. Dokumente hingegen sind unbestechlich. Berlin im Jahre<br />
1846: "10.000 prostituierte Frauenzimmer, 12.000 Verbrecher, 12.000 latitiernde Personen (das<br />
heißt Personen, die ihren Aufenthalt vor der Polizei verbergen), 18.000 Dienstmädchen (von denen<br />
etwa 5.000 der geheimen Prostitution nachgehen), 20.000 Weber (die bei der Arbeit sämtlich ihr<br />
Auskommen nicht finden). 6.000 arme Kranke, 6.000 Almosenempfänger, 3.000 bis 4.000 Bettler,<br />
2.000 Bewohner der Zuchthäuser und Strafanstalten. 1.000 Bewohner des Arbeitshauses, 700<br />
Bewohner der Stadtvogtei (dem Kriminalgefängnis), 2.000 uneheliche Kinder, 2.000 Pflegekinder,<br />
1.500 Waisenkinder; das ist nahe der vierte Teil der Einwohner der ganzen Hauptstadt."<br />
Die Mietskasernen im Billigbau, ob in Kreuzberg, Wedding, Tiergarten oder Neukölln -<br />
sie waren allesamt ein Machwerk profitsüchtiger Hausbesitzer. Korrupte Beamte und skrupellose<br />
Spekulanten Repräsentanten dieser Stadt - bereicherten sich auf Kosten der Arbeiter. Sie kassierten<br />
Wuchermieten und trieben die Bodenpreise in einsame Höhe. Hier ein Tipp, dort ein Geldschein.<br />
Erst dann wurde Bauland ausgewiesen. Um die Jahrhundertwende lagen die Berliner Bodenpreise<br />
zehnmal höher als in London. - Da versteht es sich geradezu von selbst, dass für Schulen und<br />
Krankenhäuser das Bauland zu teuer war. Wo sollten diese öffentlichen Einrichtungen auch<br />
entstehen, wenn nicht in den Hinterhöfen.<br />
Über vier Personen lebten durchschnittlich in einem Raum, 13 Prozent aller Arbeiter<br />
hausten in Kellern, die sie sich nachbarschaftlich mit Ratten und Mäusen teilten. Licht war Luxus<br />
und kam allenfalls aus der Leitung. Die Räume waren nass und kalt. Geheizt wurde übers ganze<br />
Jahr. Das Klo lag im Zwischenstock - ein Scheißhaus für die ganze Kompanie. Oder wie Rainer<br />
Joedecke in 'Geo' schrieb: "Zum Baden, wenn's mal sein muss, gehst du in die städtische<br />
Badeanstalt. Deine Kinder spielen in der Hofgruft unter der Wäsche, zwischen Mülltonnen. Rote<br />
Zettel kleben im Hausflur: Du sollst deine Kinder und Hunde vom Rattengift fernhalten. Du bist<br />
müde, von der Schicht, die Kinder plärren, der Kerl im ersten Stock prügelt wieder mal seine Olle.<br />
Gehst du halt in die Kneipe. Schnaps ist billig und hilft gegen alles ... ... 24 Stunden am Tag hast du<br />
Zeit, dein Elend zu ersäufen. Wenn's nicht hilft, kannst du ja immer noch dene Olle verdreschen."<br />
In der Tat: "Zille sein Milljöh". Wie mühsam es für die Arbeiter war, auch nur die<br />
kleinsten Verbesserungen durchzusetzen, belegt ein Schreiben des Herrn Dr. med. Stryck vom 5.<br />
März 1887 seines Zeichens Eigentümer des Hauses Adalbertstraße 74, Er beschwerte sich beim<br />
Polizeipräsidium, das ihm auferlegt hatte, noch zwei weitere Klos zu installieren. Dr. Stryck im<br />
Originalton: "Richtig ist, dass die Mieter von zehn Wohnungen auf je ein Klosett angewiesen sind.<br />
Dazu kommt, dass sämtliche männliche Personen ihre Arbeitsstelle außer dem Haus haben, mithin<br />
von 5 bis 5 1/2 früh bis 6 1/2 bis 7 Uhr abends nicht zu Hause sind. Diese benutzen also in den<br />
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seltensten Fällen das Klosett im Hause, da der Stuhlgang meist im Laufe des Tages erfolgt.<br />
Dasselbe ist bei den schulpflichtigen Kindern der Fall, die doch meist ihr Bedürfnis in dem<br />
Schulgebäude befriedigen. Da die kleinen Kinder gewöhnlich ein Töpfchen zu dem Geschäft<br />
benutzen, so bleiben also nur die Frauen übrig, und davon sind in jeder Wohnung durchschnittlich<br />
nur eine. Es würden also auf je ein Klosett zehn bzw. elf Personen kommen. Nimmt man aber die<br />
doppelte Zahl, also zwanzig Personen an, die ein Klosett benutzen, so können auch hieraus kaum<br />
Unzuträglichkeiten entstehen. Denn eine solche Sitzung nimmt im Durchschnitt, incl. Ordnung der<br />
Kleider, was bei den Frauen wohl nicht notwendig sein dürfte, 3 bis 4 Minuten oder auch 5<br />
Minuten in Anspruch; rechnet man auf eine Sitzung sogar 10 Minuten, so werden 12 Tagesstunden<br />
allein schon Zeit genug bieten zur Benutzung des Klosetts für 72 Personen, wobei angenommen<br />
wird, dass jede Person täglich einmal Stuhlgang hat, was bekanntlich bei Frauen nicht der Fall ist,<br />
von denen die meisten nur alle zwei bis drei Tage einmal Stuhlgang haben."<br />
Auch die pathetisch so gepriesenen zwanziger Jahre änderten nichts an der miesen Lage<br />
der Arbeiter. Berlin war oben hui und unten pfui. Über eine halbe Millionen Menschen hatten sich<br />
hoffnungslos in ihrem Elend verkrochen - in den Mietskasernen versteckt. Eine Umfrage der AOK<br />
aus dem Jahre 1912: "Eine in Berliner Volksschulen unter Kindern von sechs und mehr Jahren<br />
durchgeführte Statistik ergab: 70 Prozent hatten keine Vorstellung von einem Sonnenaufgang, 76<br />
Prozent kannten keinen Tau, 49 Prozent hatten nie einen Frosch, 53 Prozent keine Schnecke, 87<br />
Prozent keine Birke, 59 Prozent nie ein Ährenfeld gesehen; 66 Prozent kannten kein Dorf, 67<br />
Prozent keinen Berg, 89 Prozent keinen Fluss. Mehrere Schüler wollten einen See gesehen haben.<br />
Als man nachforschte, ergab es sich, dass sie einen Fischbehälter auf dem Markt meinten."<br />
Sechzig Jahre danach - man schreibt das Jahr 1980. Die Kreuzberger Gneisenaustraße,<br />
eine breite Allee mit ausgewachsenen Kastanienbäumen in der Fahrbahnmitte. Typische Berliner<br />
Hinterhöfe. Die dreckigste Bruchbuden haben die Deutschen inzwischen verlassen, Türken zogen<br />
dort ein. Den Armen aus Pommern, Vorpommern, Schlesien und Ostpreußen folgten die Armen<br />
aus Anatolien. Eine unscheinbare Gesetzmäßigkeit.<br />
Kreuzberg heißt "Klein Istanbul" oder "Klein Ankara". Jedes viertes Kind ist türkisch,<br />
über 80.000 Ausländer leben schon über Jahre in diesem ausgegrenzten Getto; nicht selten mit acht<br />
oder mehr Personen in einer Drei-Zimmerwohnung. Vor der Eingangstür der Hausnummer 60<br />
spielen türkische Mädchen "Hinkefuß" auf dem Trottoir, Frauen stricken auf den Fensterbrettern.<br />
An der Hausmauer lehnt ein Mittvierziger, der den Schnaps wie Limonade trinkt und<br />
Unverständliches über den Fußball-Bundesliga-Absteiger Hertha BSC stammelt. Im Hausflur<br />
riecht's nach Katze, Knoblauch und Bratkartoffeln. Die an der Wand angebrachte Namenstafel ist<br />
als Wegweiser gedacht. Wer zu Asragus will, kann gleich vorne rechts die Treppe benutzen.<br />
Wer zu den Wohngemeinschaften, zu den Spontis, Alternativlern, Verweigerern oder<br />
Aussteigern will, muss in der Gneisenaustraße, Hausnummer 60 , automatisch über den Hinterhof<br />
und dann fünf Stockwerke hoch. Vorbei an ausgebrannten Mopeds und einem ausgeschlachteten<br />
Lloyd, an Plastiktüten voller Industriemüll, leeren Flaschen und ausgelatschten Schuhen. Aus den<br />
Treppen sind schon einige Stiegen herausgerissen, die Flurbeleuchtung funktioniert nicht. Wie im<br />
vergangenen Jahrhundert gibt's auf jedem zweíten Stockwerk das obligate Scheißhaus; Duschen<br />
waren und bleiben Prívat- und damit Glückssache.<br />
Paradoxien unserer Epoche. Vor allem Jugendliche aus dem Wohlstands-Deutschland<br />
zieht es nach Kreuzberg. Junge Menschen, die Not und ihre Linderung nicht kennengelernt haben,<br />
dafür aber Auto, Stereo- oder später auch die CD-Anlage ihr eigen nennen können, die in einem<br />
nie da gewesenen Überfluss aufwuchsen und dennoch die Wegwerf-Gesellschaft ablehnen, die<br />
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suchen hier ihren unverwechselbaren Geruch - Stallgeruch. Ihre Lebensphilosophie: "Ob<br />
Sonnenschein oder Regen, wir sind dagegen" - "Kein Schwanz ist so hart wie das Leben" - "Was ist<br />
das für ein Land, in dem morgens um sieben die Sonne aufgeht".<br />
Ein bunt zusammengewürfeltes Völkchen prägt heute das Elendsquartier von einst. Zu<br />
ihm gehören alte, gebrechliche Endsiebziger aus Anhänglichkeit oder weil ihnen die Ein-Zimmer-<br />
Neubauwohnung im Norden der Stadt zu teuer ist. Aber auch düstere Bars mit Billardtischen,<br />
Puffs und Pornos, Oma-Kneipen, in denen alte Leute nachmittags auf dem Plüschsofa Schultheiss-<br />
Bier oder Kognak trinken und dabei unentwegt schwatzen. Spielhallen mit Flipper und Kicker<br />
liegen gegenüber der Mauer, Krämerläden gibt es an jeder Ecke, Kartoffelläden zum Beispiel, in<br />
denen es nur Kartoffeln und Zwiebel gibt. Einige Straßenzüge sind fest in türkischer Hand -<br />
türkische Geschäfte, Kneipen und Moscheen, Schleier und Turbane auf den Bürgersteigen.<br />
Trotzdem streunt noch ein Straßenkläffer durch die Gegend, der so gar nichts Orientalisches an<br />
sich hat, vielmehr an die fünfziger Jahre erinnert, an die Familienbadetage in der aufgestellten<br />
Zinkwanne -der deutsche Spitz.<br />
Die Schlagzeilen, die Kreuzberg nun seit einigen Jahren hergibt, sind symptomatisch für<br />
Berlin. Vorbei sind die Zeiten, als die Stadt im Mittelpunkt internationaler Krisen stand;<br />
Hungerblockade der Sowjets 1948/49, der Volksaufstand 1953 in Ostberlin, der Mauerbau aus dem<br />
Jahre 1961. Die sozialliberale Ostpolitik der Regierungen Brandt/Scheel und Schmidt/Genscher<br />
(1969-1982) nahm dem Berliner die seit Jahrzehnten aufgeladene Angespanntheit. - Endzeit-<br />
Stimmungen. Zudem sicherte das Vier-Mächte-Abkommen von 1972 endlich die Bindungen zur<br />
Bundesrepublik ab, das Chruschtschow-Ultimatum war vergilbt, die Stadt hatte nun die lang<br />
ersehnte Ruhe, sich selbst zu finden.<br />
Aber ausgerechnet in dieser Phase, als Ost und West einmal übereinstimmten, dass "die<br />
Lage Westberlins seit dem Kriege noch nie so gut gewesen war", schlug die Stimmung schlagartig<br />
um: Schwermut, Lebenspessimismus und Nörgeleien - die Berliner begannen zu säuern.<br />
Exemplarisch eine Zeitungskarikatur: Zwei Alte gehen durch den Wald, er sagt zu ihr: "Findeste<br />
nich ooch, Cläre, selbst det Laub raschelt nicht mehr wie früher."<br />
War ihr Leben nicht erträglicher geworden? Konnten die Berliner nicht jetzt ihre<br />
Verwandten in der DDR besuchen - und das dreißig Tage im Jahr? Oder leiden die Berliner seither<br />
an Selbstwertverlusten, stört sie gar die Langeweile? Etwa so, wie es Cyrus Sulzberger in der "New<br />
York Times" formulierte: "Westberlin, das berühmteste Symbol der westlichen Welt im letzten<br />
Viertel unseres Jahrhunderts und ein Leuchtturm der Freiheit in der geografischen Mitte des<br />
kommunistischen Europas, scheint verurteilt, in der Versenkung der Geschichte zu verschwinden -<br />
und es gibt vermutlich nichts, um das zu verhindern."<br />
Allzu lange vermischten Westberliner Politiker Entspannungsfortschritte mit ihren<br />
Hauptstadt-Sehnsüchten, verwechselten sie den ungehinderten Zugang mit Smoking-Empfängen<br />
im Schloss Bellevue, dem Sitz des Bundespräsidenten. Berlin wollte sich erst gar keine Atempause<br />
gönnen. Alte Botschaftsgebäude, Speers albtraumhafte Architektur, Autoparkplätze und<br />
Gedenktafeln verführten die Stadt zu gigantischen Höhenflügen. Fortan sollte Berlin<br />
• Drehscheibe zwischen Ost und West,<br />
• internationales Luftverkehrskreuz,<br />
• Sitz ständiger Einrichtungen der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in<br />
Europa,<br />
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12<br />
• Kontaktstelle der Europäischen Gemeinschaft zum COMECON,<br />
• Sitz von Unterorganisationen der UNO sein. Eben eine Stadt, die nur den<br />
internationalen Zuschnitt duldet. Darin waren sich im Berliner Abgeordneten-Haus<br />
alle einig - von der CDU bis zur SPD. Es blieb schließlich Egon Bahr, dem<br />
Architekten der Ostverträge vorbehalten, die Größenordnung zu bestimmen. "Da<br />
kann ich nur sagen: Meine Stadt ist provinziell geworden. Damals war ja noch ein<br />
Rest von Größe in den Trümmern. Fratzenhaft, aber furchtbar herausfordernd."<br />
Erst allmählich und zudem unwillig erkannte Westberlin seine eigentliche<br />
Herausforderung. Der Kalte Krieg hatte über Jahre innerstädtische Probleme zugeschüttet. In<br />
Wirklichkeit war Westberlin Anfang der siebziger Jahre nicht in der Lage, auch nur halbwegs mit<br />
einer westdeutschen Großstadt zu konkurrieren. Die Aufsichtsräte renommierter deutscher<br />
Unternehmen hatten der Stadt bereits während der Blockade den Rücken gezeigt, beim<br />
Chruschtschow-Ultimatum folgten ihre Vorstände, nach dem Bau der Berliner Mauer zogen die<br />
Konzerne auch ihre Forschungs- und Entwicklungsstäbe ab. Verschollen war auch das<br />
Großbürgertum, jene 150 reichen Familien, die ihr Kapital in der Schweiz, Lichtenstein und in der<br />
Bundesrepublik anlegten.<br />
Es blieben die kleinen Leute, Hilfsarbeiter, Arbeiter, Putzfrauen, Dienstpersonal.<br />
Zwischen sechs und sieben bevölkern sie die Straßen, fahren die U-Bahnen in Zwei-Minuten-<br />
Abständen zum "roten Wedding", wo AEG, Schering und Schwartzkopff produzieren. "Wer nie<br />
bei Siemens war, bei AEG und Borsig, der weeß noch nich, was Arbeit heißt, der hat noch<br />
manches vor sich", sagten einmal die Akkordwickler der AEG-Brunnenstraße.<br />
Die Schlagzeilen des Jahres 1979 hingegen sollten noch ungeahnt und unvorhersehbar die<br />
wirtschaftliche Lage kommender Jahrzehnte bestimmen: AEG entlässt jeden dritten Arbeitnehmer.<br />
- Kerzenfirma Scheidemantel feuert die letzten hundert Beschäftigten. - Konkurs der Raebel-<br />
Werke, wo ist das Urlaubsgeld der Arbeiter geblieben? - Krupp verkauft Berliner Werk, Unklarheit<br />
über Arbeitsplätze. -Massenexodus bei Philips.<br />
Die Bilanz im Jahre 1980: In zwei Jahrzehnten sind 130.000 Arbeitsplätze wegrationalisiert<br />
worden; die Einwohnerzahl von Darmstadt. Friedhofsruhe überschattet manche traditionsreiche<br />
Fabrikhalle. Anfang der sechziger Jahre hatten noch 300.000 Menschen einen Industriejob,<br />
inzwischen sind es nur noch knapp 170.000. Nicht spektakulär, eher leise und unscheinbar sieben<br />
die Betriebe ihre Arbeiter aus. Ein Indiz dafür sind die vielen Verhandlungen, vor den Arbeits- und<br />
Sozialgerichten. In 3.200 Verfahren im Jahre 1978 erstritten die Gewerkschaften 13 Millionen Mark<br />
für ihre Mitglieder.<br />
Dabei kassieren Großunternehmer jährlich stattliche 15 Milliarden Mark an Berlin-<br />
Förderung, subventioniert Bonn den Senatshaushalt mit 54 Prozent. - Gewiss, Berlin wäre ohne<br />
Bundeszuschüsse nicht lebensfähig, ein politischer Preis, der die Industrie-Investitionen im Jahre<br />
1979 gar auf 1,3 Milliarden Mark klettern ließ. In Wirklichkeit aber wird die Berlin-Förderung "als<br />
Honorar für Arbeitsplatzvernichtung missbraucht", mutmaßt Berlins gestrenger IG-Metall-Boss<br />
Horst Wagner (1980-1989).<br />
Daran ändert auch das 14-Punkte-Programm des Westberliner Senats wenig oder gar die<br />
40 Berlin-Beauftragten bundesdeutscher Konzerne. Hinter den viel versprechenden Begriffen wie<br />
Industrieansiedlung, Forschung und Entwicklung, Technologie und Innovation, verbirgt sich eine<br />
schamlose Subventionsmentalität. Längst liegen wissenschaftliche Gutachten vor, die unzweifelhaft
elegen, wie kurzatmig und perspektivlos die Wirtschaftspolitik dieser Stadt angelegt ist. Doch<br />
Berlin leistete sich einen liberalen Wirtschaftssenator, der brisante Expertisen, wie die der Baseler<br />
Prognos AG (Kostenpunkt: 337.000 Mark), erst einmal monatelang unter Verschluss hält. Einfach<br />
deshalb, weil ihm das Prognos-Ergebnis mehr als unangenehm ist. Und wenn schon mal öffentlich<br />
debattiert wird, dann bestimmt ein seltsamer Kammerton die Diktion. Eine verquere Mischung aus<br />
Wehleidigkeit und Unvermögen saß da auf den Parlamentsbänken im Berliner Abgeordnetenhaus.<br />
Gegensätze zwischen SPD/FDP Senat und einer ausgelaugten, über Jahre vermiefte CDU-<br />
Opposition zerflossen bis zur Unkenntlichkeit; sind sie nicht doch alle Berliner, stolz auf diese<br />
Stadt, ab und zu auch trübsinnig an der Mauer, "die oft auch die Grenze ihres Horizonts ist",<br />
bemerkt Michael Pagels (DGB-Vorsitzender 1982-1990). Berlins einsamer Aufstieg zur Provinz.<br />
Wie Steuermilliarden verschleudert werden, beweist ein Forschungsbericht der<br />
Technischen Universität (TU) Berlin:<br />
• Fast 30 Prozent des gesamten Industrieumsatzes entfällt auf die Herstellung von nur<br />
zwei Produkten. Zigaretten und Kaffee. Durch rationelle und hoch automatisierte<br />
Produktionsverfahren sind dafür aber nur 2,5 Prozent (5.000) aller in der Berliner<br />
Industrie beschäftigten Arbeitskräfte notwendig. Einst im Jahr 1977 wurde diesen<br />
beiden Branchen eine Umsatzsteuerpräferenz in Höhe einer viertel Milliarde Mark<br />
gewährt. Das bedeutet: Für jeden Arbeitsplatz brachte der Staat 110.000 Mark auf.<br />
• Im Jahre 1962 erhielt die Zigarettenindustrie in Berlin mit ihren 4.300 Beschäftigten<br />
genauso viel Umsatzsteuervorteile wie die gesamte Berliner Elektroindustrie mit ihren<br />
112.500 Arbeitnehmern. In den ersten zehn Jahren ihrer Kapazitätsverlagerung nach<br />
Berlin konnten die fünf Zigarettenkonzerne etwas mehr als eine Milliarde Mark nur<br />
an Umsatzsteuerpräferenzen einstreichen. Damit hätten sie beispielsweise ihre Löhne<br />
und Gehälter (300 Millionen Mark) finanzieren können, wenn sie diese Kosten nicht<br />
schon über ihre Zigarettenpreise kalkuliert hätten.<br />
• Seit dem Jahre 1977 ist Berlin mit 37 Prozent Deutschlands größter Kaffeeplatz.<br />
Durch geschickte steuerrechtliche Firmenkonstruktionen verdienen die beiden<br />
großen Kaffeeröster gleich zweimal: an der Hersteller- und an der<br />
Abnehmerpräferenz.<br />
• Auch für die Süßwarenbranche erwies sich Berlin als attraktiver Standort. Der<br />
Steuerzahler musste ihre 522 Arbeitsplätze allein im Jahre 1977 mit 55 Millionen<br />
Mark subventionieren - pro Arbeitsstelle mit 106.000 Mark<br />
Die Philosophie der Berlin-Förderung, so das Gutachten: "Je kapitalintensiver die<br />
Produktion, das heißt je geringer der Einsatz der menschlichen Arbeitskraft ist, desto größer der<br />
Steuervorteil." Ob die Baseler Prognos Studie oder die Expertise Berliner Wissenschaftler:<br />
Unabhängig voneinander prophezeiten sie einen weiteren Rückgang der Industriebeschäftigung. In<br />
Zahlen: Danach werden bis 1985 nochmals 28.000 Arbeitsplätze vernichtet sein.<br />
Bereits vor drei Jahren kritisierte der einstige Vorsitzende der IG-Metall, Eugen Loderer<br />
(*1920+1995), "die kurfristigen unternehmerischen Interessen und die damit verbundenen<br />
Subventionsmentalitäten". Ein Memorandum der Berliner Gewerkschaften aus den späten<br />
siebziger Jahren appellierte eindringlich an den Senat, die Struktur-Probleme anzupacken. Die<br />
DGB-Forderung: "Steuerliche Vorteile sollen künftig nur noch dann gewährt werden, wenn<br />
Arbeitsplätze erhalten bleiben und möglichst neue dazukommen. Den Unternehmen weiterhin<br />
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lind zu vertrauen, indem auf die selbstheilenden Kräfte der Marktwirtschaft gesetzt wird, ist für<br />
den DGB Berlin keine akzeptable Politik." - Allerdings für den früheren liberalen<br />
Wirtschaftssenator Wolfgang Lüder (19751981): Er will "Ruhe an der Förderfront". wittert er doch<br />
hinter den DGB-Vorstellungen gleich verkappte Investitionslenkungen aus dem linken SPD-Lager.<br />
Berlin in den achtziger Jahren - "das ist keine stinknormale Stadt, noch nicht einmal eine<br />
normale Großstadt", orakelte der damals Regierende Bürgermeister Dietrich Stobbe (1977-1981).<br />
Berlin '80 -"das war doch hier schon immer eine dörfliche Veranstaltung", befindet er FDP-<br />
Abgeordnete Volker Hucklenbroich (*1925+2004) . Berlin '80 - "es ist, als ob das 20. Jahrhundert<br />
über keine Fantasie mehr verfüge, als ob unsere Politiker und Architekten nichts mehr auszusagen<br />
hätten, als ob unsere Universitäten und Hochschulen nur noch Technokraten herausgebracht<br />
hätten", bemängelt der ehemalige FDP-Justizsenator Hermann Oxfort (*1928+2003).<br />
Eine Stadt erstickt im Kleinkram. Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht her ein "Skandal" ,<br />
dort ein "Skandälchen" hochgeblasen wird. Von den 1.894 Opernplätzen beispielsweise sind 620<br />
ständig reserviert. Freilich kostenlos, ein Selbstbedienungsladen für Spitzenbeamte, Chefärzte,<br />
Wissenschafts-Elite und natürlich Politiker aus allen Parteien inklusive ihrer Mätressen.<br />
Rekorddefizit des Hauses an der Bismarckstraße: 49 Millionen Mark. Da streiten sich die<br />
Honoratioren zu prominenten Sendezeiten im Funk und Fernsehen über die rechte Dosis Tausalz,<br />
über die Müllabfuhr, über Pöstchen wie Posten und neuerdings sogar über den frisch gekürten<br />
"Rockbeauftragten des Senats von Berlin". Es wird Zeitgeschichtlern späterer Jahre vorbehalten<br />
sein, Dekadenz und Zerrissenheit dieser Epoche qualitativ einzuordnen.<br />
Wo immer in Westberlin Probleme auftauchen, etwa in der Stadtsanierung, im<br />
Wohnungsbau oder bei den Altbaumieten, wo immer Beschlüsse gefasst werden müssen oder<br />
Verantwortlichkeiten da zu sein hätten, eines passiert mit chronischer Sicherheit: Gremien werden<br />
berufen, die ihrerseits Parlamentsausschüsse zugeordnet sind, mit denen sich wiederum die<br />
Behördenchefs umgeben. Oft werkelt im Schöneberger Rathaus eine heimliche Allparteien-<br />
Koalition herum, werden konfliktträchtige Entscheidungen liegen gelassen oder zerredet. - Die<br />
Verschmelzung zwischen Amt und Mandat, zwischen Exekutive und Legislative ist total;<br />
Ämtergeschachere, Ämterpatronage, Posten um Pöstchen.<br />
Dabei verlassen jährlich etwa 80.000 Menschen Westberlin. Fast eine halbe Million<br />
Einwohner ist älter als 65 Jahre; der Anteil der alten Menschen an der Bevölkerung ist hier um die<br />
Hälfte höher als in anderen Städten. Auf 18.000 Geburten im Jahr kommen 39.000 Tote. Bis 1990<br />
wird die Einwohnerzahl um gut 250.000 sinken, wird die durchschnittliche Altersstruktur der des<br />
Bundesgebietes angepasst sein.<br />
Aber da sind ja noch die Ausländer. Von Gastarbeitern zu sprechen, wäre nicht korrekt,<br />
denn Gäste kommen und gehen. Die 220.ooo Türken, Italiener, Griechen, Serben und Kroaten -<br />
die werden bleiben. Ihnen ist es verdanken, dass sich Berlin heute noch eine "Zwei-Millionen-<br />
Metropole" nennen darf.<br />
Zu Beginn des laufenden Schuljahres meldeten sich 500 türkische Mädchen und Jungen<br />
mehr zum Unterricht an als Statistiker errechnet hatten. So sind die Kreuzberger Grundschulen<br />
hoffnungslos überfüllt. In den sogenannten 'bürgerlichen" Gegenden Charlottenburgs und<br />
Zehlendorfs, dort wo die Professoren dieser Stadt in ihrer Milieudichte noch sonntägliche<br />
Hauskonzerte betulich zelebrieren, da regte sich der Mittelstands-Unmut, als dort erstmalig ein<br />
türkisches Kinderkontingent den Schulhof betrat. Überall dort, wo Ausländer massiert auftreten,<br />
äußert sich unterschwellig Feindseligkeit, werden vergessen geglaubte Ressentiments wach -und<br />
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Westberlin ist eine ihrer Hochburgen. Denn jeder zehnte Einwohner gilt als Ausländer, auch wenn<br />
er seit Jahrzehnten an der Spree lebt, seine Kinder geboren wurden.<br />
"Türken raus" kritzelten Einheimische an ihre Pissecke. "Türken sind Penner", sagt<br />
Alfons, der Taxifahrer. Und Penner ist das schlimmste Schimpfwort zwischen Kreuzberg und<br />
Wedding. Die Folge: Gettos entstehen, weil sich eingefleischte Vorurteile und Berührungsängste<br />
einander abwechseln. Für Touristen-Unternehmen allerdings sind Gettos im uniformierten<br />
Deutschland interessant, man wenigstens eine Sightseeing-Tour durch Kreuzberg Exotik<br />
versprechen, und ein Blick über die düstere Mauer inbegriffen. Jedenfalls kurven tagtäglich<br />
fortwährend Doppeldeckerbusse durch die Naunynstraße, dass sie nunmehr eine Sackgasse hergibt.<br />
Auch für die SPD, die gerade dort ihren traditionsreichen Ortsverein auflösen musste - zu viele<br />
Türken, zu wenig Sozialdemokraten Berliner Prägung aus dem ehedem legendären Facharbeiter-<br />
Milieu.<br />
Berlin, was nun? Negativ-Schlagzeilen sind der Stadt allemal sicher. Und dennoch sagen<br />
ihre Zukunftsforscher eine positive Entwicklung voraus. Hans Buchholz, Geschäftsführer der<br />
Gesellschaft für Zukunftsfragen, glaubt:<br />
• Verschiedene Berliner Stadteinheiten, die räumlich und historisch gewachsen sind,<br />
werden zu Stadtinseln gruppiert,<br />
• Natur- und Grünstreifen trennen diese Stadtinseln stehen "Mobile Homes" als<br />
Alternative zum innerstädtischen Wohnen. In diesen Grüngürteln gibt es Sport,<br />
Erholungs- und Freizeiteinrichtungen sowie Schrebergärten.<br />
Berlin, am Anfang des dritten Jahrtausends, wird eine Metropole mit der modernsten<br />
Technologie sein. Kabelfernehen, Satelliten-Anschlüsse, sind selbstverständlich. Lokalprogramme<br />
senden rund um die Uhr, DSL-Internetverbindungen, On-line Einkäufe gehören zum Alltag.<br />
Fernheizungen versorgen alle Wohnungen, Solardächer. Die U-Bahn fährt nur noch<br />
computergesteuert. Das Benzinauto ist aus der City verbannt und durch Elektrocars ersetzt. Ein<br />
großer Teil der Straßen ist in Fußgängerbereiche umgewandelt - auch der Kudamm. Windräder und<br />
Sonnenkollektoren zieren die Dächer. Die Energieversorgung der Stadt ist rationell und vorbildlich.<br />
Die Stadtsanierung wird im Jahr 2005 abgeschlossen sein. Die Ästhetik des Stadtbildes ist erhalten,<br />
wenn nicht verbessert.<br />
Vielleicht können schon in zehn bis zwanzig Jahren Westberliner in DDR-<br />
Naherholungsgebieten ihr Wochenende verbringen, wird der berüchtigte Wannseekoller eine vage<br />
Erinnerung sein. Und schon wieder gibt es wieder Bonner Politiker, die sich für Westberlin<br />
verheißungsvolle Zukunftsvisionen ausmalen, gar ins Schwärmen geraten. Westberlin, eine<br />
internationale Drehscheibe in der Ost-West-Beziehung, eine zollfreie Stadt, ein Messezentrum, ein<br />
Umschlagplatz der Konsumgüterindustrie. Profitieren sollen sie alle von dem neuen Handelsplatz,<br />
die Comecon-Staaten ebenso wie die EU-Länder. Wird Westberlin eines Tages wieder Hauptstadt<br />
mit Regierung und Parlament? Das wohl nicht oder dann doch? Und wenn, dann nur eine<br />
europäische, eine multikulturelle Metropole verschiedener Sprachen, Ansichten, Eigenarten,<br />
Temperamenten Lebensansprüchen - Lebensgewohnheiten.<br />
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HOFFEN AUF HEIDI - JUSO-ANSPRUCH, MORAL UND<br />
WIRKLICHKEIT - WAS SIE WOLLTEN, WER SIE SIND<br />
stern 17. Januar 1974 / Rowohlt Verlag, Reinbek 25. Mai 1980<br />
Wenn Bundeskanzler Willy Brandt (1969-1974) über seine politische Vergangenheit<br />
nachdenkt, pflegt er zu sagen: "Mit 30 Jahren war ich ein engagierter Sozialist." Willy Brandt hat<br />
seit damals 30 Jahre gebraucht, um sich vom Sozialisten zum "praktischen Sozialdemokraten" zu<br />
entwickeln, so der schleswig-holsteinische SPD-Landesboss Jochen Steffen (*1922+1987).<br />
Die 30jährigen Sozialisten dieser Tage schaffen das schneller. Wolfgang Roth, 32, bis<br />
Ende Januar 1974 Chef der Jungsozialisten und oft beschworener Beelzebub bürgerlicher<br />
Sozialistenfurcht, kann sich schon am Ende seiner Amtszeit rühmen, alle Brandt-Stationen hinter<br />
sich zu haben. Wurde Roth noch vor zwei Jahren von der Hamburger SPD gerüffelt, weil er<br />
gemeinsam mit Kommunisten auf politischen Kundgebungen gesprochen hatte, so weist er heute -<br />
in der beginnenden Ära von Ausgrenzung politisch Andersdenkender und Berufsverbote - jede<br />
Zusammenarbeit mit der DKP zurück: "Mir ist es mittlerweile zuwider, mit den Kommunisten<br />
gegen Berufsverbote zu protestieren."<br />
Ob als wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Deutschen Städtetag, später sodann bei dem<br />
Skandal der geschüttelten gewerkschaftseigenen Wohnungsbaugesellschaft "Neue Heimat" in<br />
Hamburg (hohe Mieteinnahmen, satte Spesen mit horrenden Gehaltskonten) - der Diplom<br />
Volkswirt Wolfgang Roth empfahl sich für wichtige Schlüsselpositionen oft mit dem als Witzchen<br />
zu verstehenden Hinweis: "Was interessiert mich heute noch mein linkes Geschwätz von gestern."<br />
-Seither ist Sendepause.<br />
Da war es dann nach SPD-Stallgeruch-Maßgaben doch irgendwie schon naheliegend,<br />
solch ein in der Öffentlichkeit wahrgenommenes "Jung-Talent" nicht auf den hinteren Plätzen des<br />
Plenums Platz "verkümmern" , sondern sogleich zum stellvertretenden Vorsitzenden der SPD-<br />
Bundestagsfraktion aufsteigen zu lassen; wegen der Roth'schen Schubkräfte - mithin bis zum<br />
Vizepräsidenten der Europäischen Investitionsbank (EIB) in Luxemburg (1993-2006).<br />
Junggenossen von der Basis haben dieses unstete Hin und Her ihres „Genossen“<br />
Wolfgang auf der Suche nach einem markanten Aufstiegs-Profil kommen sehen. Sie betrachten den<br />
"begnadeten Opportunismus" über ihren scheidenden Vorsitzenden schon seit langem mit<br />
Misstrauen, verdeutlicht der Kieler Juso-MdB Norbert Gansel (1971-1997). Nur in Bonn an den<br />
Trögen der Macht, zwischen Dienstwagen, Diplomatenpässen, Diäten und Damenkost grassiert<br />
Fieber allenthalben bei den Jusos - kein Gelbfieber, allenfalls Bedeutungsfieber. Roths Stellvertreter<br />
Johano Strasser, der wie andere Juso-Prominente der Karrieremacherei verdächtigt wird, gibt zu:<br />
"Wir Bundesvorstandsmitglieder haben Verständigungsschwierigkeiten mit unserer Organisation."<br />
Das war nicht immer so. Unter dem Einfluss der Außerparlamentarischen Opposition<br />
hatten sich die Jusos noch auf ihrem Bundeskongress 1969 "mit hohem moralischen Anspruch"<br />
(Strasser) zum Ziel gesetzt, die SPD kompromisslos zu demokratisieren. Doch schon vier Jahre<br />
später ist ihnen die Luft ausgegangen. Statt die Partei auf Jusos-Linie einzuschwören, zerstritten<br />
sich die Junggenossen in Flügelkämpfen. Wolfgang Roth: "In den Juso-Organen, zum Beispiel im<br />
Bundesausschuss, sitzen Leute, mit denen man nicht reden kann."<br />
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Seit Monaten fighten die Jusos-Fraktionen um die wahre Ideologie. In Hamburg und<br />
Berlin bildete sich eine radikale Gruppe, die auf einer Volksfront mit Kommunisten beharrt und<br />
die derzeitige Wirtschaftsordnung als ein System begreift, in dem sich der Staat nur noch als Diener<br />
oder als "Büttel" der Großindustrie ("Staatsmonopolistischer Kapitalismus") begreift. Die<br />
rebellischen "Antirevisionisten", eine Gruppe von Hannoveraner Studenten, gehen weiter. Sie<br />
halten die SPD eigentlich für überflüssig, weil sie als Regierungspartei in Bonn nur "das bestehende<br />
kapitalistische System stabilisiert", so ihr Sprecher, der Jura-Student Gerd Schröder (Bundeskanzler<br />
1998-2005). Er und die Seinen wollen in den Betrieben und Schulen gegen das Großkapital<br />
agitieren.<br />
Streitereien und Abspaltungen innerhalb der Jungsozialisten will nunmehr eine rothaarige<br />
Junggenossin verhindern: Heidi-Wieczorek-Zeul, 30, (Bundesministerin für wirtschaftliche<br />
Zusammenarbeit 1998-2009) Chefin des Juso-Bezirks Hessen-Süd, wird in München die Nachfolge<br />
des angepassten Wolfgang Roth antreten. Die Rüsselsheimer Gesamtschullehrerin gilt unter den<br />
Sozialdemokraten als engagierte Politikerin, die vor keinem Konflikt in und mit der Partei<br />
zurückschreckt. Sie will den frustrierten Junggenossen, die auf Kongressen "zum totalen<br />
Ausflippen in eine endlose Grundsatzdiskussion neigen" (Johano Strasser) mit markigen Sprüchen<br />
zur schnellen Eintracht treiben: "Wir praktizieren die Zusammenarbeit mit Kommunisten , wenn<br />
es darum geht, in konkreten Aktionen gemeinsam gegen antidemokratische Tendenzen zu<br />
kämpfen."<br />
Doch solche Äußerungen der "roten Heidi" (Partei-Jargon) stehen in krassem Gegensatz<br />
zu den geheiligten Grundsätzen der SPD, wonach eine Kooperation mit Kommunisten in jedem<br />
Fall "streng verboten ist und zu einem Parteiausschlussverfahren führt", wie SPD-<br />
Vorstandssprecher Lothar Schwartz versichert.<br />
Auf dem kommenden Bundeskongress in München werden die leidigen<br />
Abgrenzungsprobleme der Jusos zu den Kommunisten freilich zweitrangig sein. Strasser: "Keine<br />
müßigen Streitereien um die richtige Weltanschauung." Unter dem Druck der nach links<br />
abgewanderten Basis will der Bundesvorstand konkret arbeiten. Auf einem geheimen Treff im<br />
Seehotel in Romanshorn am Bodensee einigten sich die Genossen über Weihnachten auf<br />
"Maßnahmen", die die "sozialdemokratische Regierungspolitik zu verwirklichen hat".<br />
Die Bundesregierung soll ultimativ aufgefordert werden, die Kontrolle und Lenkung von<br />
Investitionen "global" einzuführen und die Macht der Unternehmer mit direkten Eingriffen zu<br />
beschneiden. Ein Katalog, der die "Arbeitsmarktpolitik" der Bundesanstalt für Arbeit oder auch die<br />
"Änderung des Bundesbankgesetzes" einschließt, soll die Gesamtpartei zu "ersten Schritten" in<br />
Richtung auf Durchsetzung einer demokratischen Investitionslenkung veranlassen. Wie das alles in<br />
der Praxis aussehen könnte, wissen bislang nicht einmal die Jusos.<br />
Die Jusos drohen damit, ihren Parteivorsitzenden Willy Brandt (1964-1987) als Kanzler<br />
des Kapitals zu attackieren, wenn ihr Katalog nicht unverzüglich Programm der SPD wird. Wer<br />
"auf eine demokratische Investitionslenkung verzichtet", wirkt "zu Lasten der abhängig<br />
Beschäftigten". Damit verliert die Regierungspolitik ihre Legitimationsbasis", heißt es bei den Jusos.<br />
Jochen Steffen prophezeit: "Das wird der Sprengsatz für den nächsten Parteitag."<br />
Auf den neuen Konflikt hat sich die Partei noch nicht eingestellt. Bislang fällt der<br />
Parteirechten zu den Jusos nur Handgreifliches ein. Der Parteirechte, einst Münchner<br />
Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel zu Willy Brandt: "Ich rate dir, Strasser und Co. aus der<br />
Partei rauszuschmeißen." Und der eigens vom Bundeskanzler zur Beobachtung der SPD-<br />
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Randgruppen beauftragte Vorstandskollege Bruno Friedrich (*1927+1987) kam nach langer<br />
Forschung zu der Erkenntnis, dass "diese Flügelkämpfe der Partei schaden."<br />
Im Hintergrund all jener Fernseh-Rüpeleien mit einstudierter Empörungsrhetorik<br />
durchlitten vornehmlich die Jusos Erstaunliches, Unerwartetes. Sie wussten zunächst so gar nicht,<br />
was in Zeiten "freier Liebe und offener Promiskuität" (wer zwei Mal mit derselben pennt, gehört<br />
zum Establishment ) mit ihrem Aushängeschild namens Johano Strasser geschehen sein mag.<br />
Gerade unter Jungsozialisten wurde befreiend oft und überall durch die Betten querbeet gehüpft.<br />
Eigentum als Verfügungsgewalt galt es abzubauen, sexuelle Besitzansprüche erst recht. - Hilflos,<br />
achselzuckend standen nun Jung-Politiker am Wegesrand, als ausgerechnet ihr Star, ihr<br />
"Chefideologe", ihr "Wuschelkopf Johano" von einer Strafkammer des Landgerichts Mainz im<br />
Oktober 1970 in fünf Fällen des Straftatbestandes der "Beleidigung" zu 1.200 Mark Geldstrafe oder<br />
ersatzweise 20 Tagen Haft rechtskräftig verurteilt worden ist. Der Grund: Pornografie an der<br />
Strippe.<br />
Bei den Jusos machte seinerzeit verstohlen der Begriff "Telefonmanie" schnelle Runde;<br />
ein Provinz-Porno ohne spektakuläre Züge. Gemeint waren damit all die in Gerichtsakten<br />
festgehaltenen Telefon-Ferkeleien ihres Johano Roberto Strasser, seines Zeichens Habilitand an der<br />
Mainzer Universität und stellvertretender Vor-sitzender der Jungsozialisten. Nach Lust und Laune<br />
griff er zum Telefon und wählte wahllos die Nummern junger Mädchen in Mainz-Gonsenheim an.<br />
Da wurde am Hörer flugs aus Johano Strasser ein Herr Dr. Schneider, der zu "den Damen oder<br />
Teenagern lispelte und stöhnte. Eben ein Herr Dr. Schneider, der mit der einen Hand den Hörer<br />
hielt, mit der anderen sich befriedigte". So und nicht anders sah es das Gericht in letzter Instanz als<br />
erwiesen an, dass Strasser einige Dutzend Male bei der Hausfrau Gerda Schmidt im Vorort Mainz-<br />
Gonsenheim durchklingelte - mal habe er Tochter Rita,13, mal Mutter Gerda über Monate seine<br />
vulgär-saftigen Porno-Fantasien ins Ohr geflüstert, gesäuselt, gesungen - stets mit neuen Sex-<br />
Sprüchen in arg Verlegenheit gebracht; Ohrwürmer des Dr. Schneider sozusagen. Dabei stammelte<br />
Doktor Schneider alias Dr. Strasser ins Telefon ohne Unterlass: "Pass mal auf, du hast doch<br />
zwischen den Beinen ein kleines Löchlein...".<br />
Berlins Wissenschaftssenator Werner Stein (SPD) weigerte sich im Jahre 1973 daraufhin,<br />
Strasser an der Pädagogischen Hochschule Berlin als Didaktik-Professor zum Beamten auf<br />
Lebenszeit zu ernennen. Strasser sah sich eiligst in der Opferrolle einer "Schmutzkampagne". So<br />
düngte er sich in der Provinz-Porno-Posse als Leidtragender der um sich greifenden Berufsverbote.<br />
Ein Roman im Mai, ja gewiss, aber auch die vergessen geglaubte "Telefonanie" im Mai in den<br />
Jahren vor der Frauenbewegung in diesem Land.<br />
Es war keines der viel zitierten, empörenden Berufsverbote eines Linken aus politischer,<br />
systemkritischer Überzeugung, mit dem der Berliner Senat ihren Parteigenossen Johano Strasser<br />
belegte. Es war vielmehr die Ablehnung der Übernahme ins Beamtenverhältnisses des einstigen<br />
Didaktik-Professors an der Pädagogischen Hochschule in Berlin, weil dieser rechtskräftig verurteilt<br />
worden ist. "Als wir noch Götter waren im Mai", betitelte Johano Strasser seine romantisch<br />
komponierten Reminiszenzen einer politischen wie auch philosophischen Lebensorientierung nach<br />
Jahrzehnten - gefühlsverklärt, Legende um Legenden.<br />
Ja, ja - dass das nur "solche Geschichten bleiben, die man den Enkeln erzählen kann, es<br />
gibt eine Menge Leute, die haben ein Interesse daran", textete und sang ehedem der Liedermacher<br />
Franz-Josef Degenhardt über den "fast autobiografischen Lebenslauf eines westdeutschen Linken".<br />
"In Saint Germain des Près , da ist er länger geblieben, Sartre hatte gerade den "Ekel" geschrieben.<br />
Er lebte mit der Nutte Marie-Thérèse und hörte sich nachts besoffen an Jazz ... ...".<br />
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Genosse Johano hingegen zog es in eine beschauliche, wohl behütete Villa am Starnberger<br />
See. Nirgendwo in Deutschland leben mehr Millionäre als in Strassers Ambiente. Stille,<br />
Straßenbilder, Stuck an der Decke, Stuck im Kopf, Buchdeckel, Kalendersprüche, Gespräche mit<br />
dem Literaturnobelpreisträger Günter Grass, Rot-Wein, Waffen-SS, Poesie-Alben. Die, ja, die -<br />
signiert Johano in seiner Eigenschaft als Präsident des deutschen P.E. N. in unnahbarer<br />
Erlesenheit. Dort, wo Fürstin Gloria Turn und Taxis wenigstens in den Sommermonaten in ihrem<br />
Schloss weilt - eben reich und schön, nun da ist es zum Dr. Strasser nicht weit, ganz in der Nähe.<br />
Dort wird gibt es des Abends am Kamin wie eh und je beim Tee bei Strasser immer noch ein- und<br />
dasselbe Thema: Arbeiter, Ausbeutung, Entfremdung, Verarmung im 20. -auch 21. Jahrhundert -<br />
immerfort auf gutem Polster. Sicher? - Ganz sicher.<br />
Da nehmen sich die früheren Flügelkämpfe sozialistischer Gesinnungen wie Possenspiele<br />
aus fehlgeleiteten Kinderstuben vergilbter Zeiten aus. Strasser wollte ohnehin derlei<br />
Glaubenskriege beendet wissen. Damals wollte der couragierte spätere Hochschullehrer Detlef<br />
Albers (*1944+2008), Kopf und Wortführer der legendären Stamokap-Gruppe, ("Unter den<br />
Talaren - Muff von 1.000 Jahren") den Genossen klarmachen, dass die "SPD weiß Gott nicht die<br />
einzige Partei der Arbeiterklasse ist". Kärrnerarbeit. Und schon damals wollte Johano Strasser<br />
versuchen, den Vorwurf Willy Brandts abzublocken, der da lautete: "Was weiß denn der Strasser<br />
über die Arbeiterbewegung?" Und Brandt sagte weiter: "Wir sind keine Studentenvereinigung. Wir<br />
wollen davon abgehen, den konkreten Problemen mit allgemeinen Grundsatzerklärungen<br />
auszuweichen." Grundsätzliches freilich erwarten die Genossen nur von ihrem Kongressgast.<br />
Herbert Wehner (*1906+1990) hat sich angesagt, um der Parteijugend mal wieder die Richtung zu<br />
weisen.<br />
Die ehrgeizige Heidi Wieczorek-Zeul eifert unterdessen ihrem Vordermann Roth nach.<br />
Die zukünftige Bundesvorsitzende will nicht nur bei den Jusos mitmischen. Sie möchte bei den<br />
Landtagswahlen in Hessen ein Mandat ergattern. Jochen Steffen über seine Juso-Zöglinge: "Die<br />
betreiben eben Doppelstrategie. Das ist die zu Theorie aufgedonnerte Selbstverständlichkeit, dass<br />
man in einer Demokratie oben und unten arbeiten muss, wenn man etwas erreichen will."<br />
Dass sie neben ihrem Ämtergezerre nicht die zentrale Grundwerte-Diskussion in den<br />
achtziger Jahren als exemplarische Auseinandersetzung zwischen Haben und Sein, jung wie alt,<br />
Naturzerstörung und Lebensbejahung begriffen haben, hat die politischen Jugendorganisationen<br />
allesamt an den Rand ihrer Existenz gedrängt. Sie nennen sich in ihrer Bezeichnung zwar alle<br />
>jung
Stamokap, Antirevisionisten und Revisionisten - artete in Glaubenskämpfe aus. Theorie-Ayatollahs<br />
verwechselten Uni-Seminare mit politischer Basis-Arbeit. Sie fochten so verkrampft und<br />
bedingungslos, als seien sei dazu auserkoren, morgen den Sozialismus im Lande einzuführen. Als<br />
den System-Erneuerern dann die viel gerühmte Basis davon lief, fehlte es natürlich nicht an<br />
entsprechenden Erklärungsmustern: "Die Jugend", hieß es im unverwechselbarer Juso-Deutsch, "<br />
ist wieder bereit, Ideologien zu übernehmen. Es besteht die Tendenz, Ideologien militant und<br />
undifferenziert zu vertreten. Faschistoide Tendenzen treten wieder hervor."<br />
Ihr derzeitiger Vorsitzender Gerhard Schröder (1978-1980), ein eloquenter Rechtsanwalt<br />
aus Hannover, empfindet sich nicht selten in der Rolle eines Notars auf dem Friedhof. Aber<br />
darüber nachdenken kann Schröder nur, wenn er nicht gerade eine "große Rede redet" oder vor<br />
Fernsehkameras auf dem Berliner SPD-Parteitag der Nation Gewichtiges über das Versagen der<br />
"Carter-Administration in Washington" mitzuteilen hat. Dann findet er schon mal zum Kernpunkt<br />
zurück, warum seine Organisation vom Aussterben bedroht ist. Dass die Jusos als SPD der<br />
achtziger Jahre bezeichnet wurden, sei "der programmatisch größte Quatsch gewesen, der je<br />
verkündet worden ist", sagt Schröder.<br />
Erfunden von einem seiner Vorgänger, die er lieber aus dem Gedächtnis streichen<br />
möchte, als sich intensiv mit ihrer Amtsführung zu befassen. Der Nachfolger über seine Vorgänger<br />
Wolfgang Roth (1972-1974) und Heidemarie Wieczorek-Zeul (1974-1977): "Die sind doch in Bonn<br />
herumgelaufen und haben die Backen auf-geblasen, quasi als Kanzler der Jungen."<br />
Jusos-Politik zu jener Zeit war Jet-Set - zumindest in der Führungsspitze. Kein Erdteil<br />
wurde ausgelassen, um ihre Friedenspolítik zu verkünden. In der Bonner Bundesgeschäftsstelle<br />
glaubte nicht wenige, in einem Reisebüro zu sein. Andere sahen in ihrer Zentrale eine Dependance<br />
zum Auswärtigen Amt, dritte eine Hauptabteilung des Innendeutschen Ministeriums. Roth in<br />
Moskau, Strasser mit Freundin in Havanna, Roth in Ost-Berlin, Strasser mit Freundin II in Rom,<br />
Jusos in Mexiko-City. Welt hieß bei manchen nur noch "world", auch sonst ließen schon kleine<br />
Details und Bewegungen den internationalen Zuschnitt erkennen. Vor allem dann, wenn ihr selbst<br />
ernannter Anwalt kleiner Leute, Chefideologe Johano Strasser, aufgeregt-aufgelöst bei der juso-<br />
Sekretärin Petra Bauer in Bonn anrief. Er habe sein "credit-cards" Booklet -von Diners bis<br />
american express - verschusselt. Strasser: "Es muss wohl in der Villa Hassler in Rom passiert sein,<br />
da wo doch auch unser Willy immer nächtigt." Und ihr Pressesprecher Klaus-Detlef Funke konnte<br />
sich gar nicht wieder beruhigen, wenn er aus den Tageszeitungen erfuhr, dass "der Roth zu den<br />
bekanntesten deutschen Politikern" zählt.<br />
Journalisten gingen in ihrer Geschäftsstelle ein und aus, Informationen aus vertraulichen<br />
SPD-Sitzungen und aus dem Kanzleramt wurden gehandelt wie auf dem Basar von Istanbul.<br />
Natürlich machten die Jusos auch Innenpolitik - und zwar so kräftig, dass ihnen oft eine Schlagzeile<br />
zu den Abendnachrichten in der tagesschau sicher war. Und jeder war stolz, freute sich. Willy<br />
Brandt auf Deutschland, die jusos auf ihre Meldung. Da sollte beispielsweise per Beschluss des<br />
weltgewandten Bundesvorstandes kein Bundesbürger monatlich mehr als 5.000 Mark verdienen.<br />
Wenige Jahre später will keiner mehr davon etwas wissen. Eigentlich seien sie schon immer<br />
dagegen gewesen, Roth, der inzwischen im Bundestag als wirtschaftspolitischer Sprecher seiner<br />
Fraktion Platz genommen hat, Funke, der zum Verlagsleiter des SPD-Organs "Vorwärts"<br />
avancierte. Da legte er sich nicht nur einen amerikanischen Straßenkreuzer zu (Atomkraft - nein<br />
danke), da wollte er auch gleich einige Genossen "wegen Inkompetenz" blitzschnell feuern. Als<br />
schließlich Klaus-Detlef Funke vom SPD-Präsidium gefeuert wurde, war für ihn der Sozialismus<br />
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eendet. Langsam und unauffällig ließ er seine Genossenmitgliedschaft einschlafen, langsam und<br />
unauffällig ertastete er sich gut dotierte Pöstchen in der TV-Unterhaltungsindustrie.<br />
"Ruinös ist das alles gewesen", sagt Gerhard Schröder (SPD-Chef von 1999-2004)<br />
rückblickend. "Die sind von einer linksliberalen Presse hochgeschrieben, geradezu aufgeblasen<br />
worden, geradezu aufgeblasen worden. Dann ist einer gekommen und stach in diesen Luftballon.<br />
Die Folge war, der Ballon schrumpfte nicht auf seine richtige Bedeutung, sondern platzte. Vor den<br />
Trümmern stehen wir heute."<br />
Natürlich lässt sich die stetige Juso-Talfahrt nicht allein mit desolaten<br />
Erscheinungsformen in ihrer Führungsspitze abtun. Denn parallel zur Sozialdemokratie büßten<br />
automatisch auch Jungsozialisten bei Jugendlichen an Zugkraft ein. Eine der Hauptursachen dürfte<br />
vor allem darin liegen, dass sich ihre Doppelstrategie spätestens ab Mitte der siebziger Jahre als<br />
Blindgänger entpuppte. Die These von der Doppelstrategie, sowohl die Basis für langfristige<br />
politische Ziele zu mobilisieren als auch in Parteigremien und Parlamenten für eine sozialistische<br />
Reformpolitik einzutreten, zerfloss bald bis zur verwirrenden Unkenntlichkeit. Jusos, die in den<br />
Bundestag gewählt wurden, schmiegten sich beinahe nahtlos den dort vorherrschenden Abläufen<br />
zwischen Kalkül und Sachzwang an. Kaum ein Signal ging noch von der ehemaligen Crew Karten<br />
Voigt (1976-1998 ) Wolfgang Roth (1976-1993 ) und Norbert Gansel (1976-1993 ) aus. Sie<br />
verblasste bis zur Austauschbarkeit, nicht zuletzt bei der Abstimmung um die Anti-Terror-<br />
Gesetzgebung, die den Rechtsstaat in ein fortwährendes schräges Licht rückte. Da mussten<br />
Politiker wie der Schriftsteller Dieter Lattmann (1972-1980 ) und Gymnasiallehrer Karl-Heinz<br />
Hansen ( 1969-1982) den einstigen Juso-Opponenten vormachen, dass sie ihre Stimme nicht von<br />
vornherein für eine ganze Legislaturperiode dem Fraktionsvorstand überlassen hatten, in Bonn<br />
nicht ihr politisches Dasein als "Stimmvieh" (Dieter Lattmann) zu verplempern trachten.<br />
Der resignative Anflug verstärkte sich erst recht an der Basis. Das Ende der Reformära<br />
brachte allmählich die Einsicht, mit Beschlüssen auf Parteiebene wenig ausrichten zu können. "Die<br />
gingen in die Ortsvereine", berichtet Schröder, "wollten mitbestimmen und bekamen reihenweise<br />
von alteingesessenen Genossen eins vor die Köpfe, wenn sie mit ihren ewigen Reformdiskussionen<br />
auftauchten. Die Alten sitzen halt mit einer Bierruhe da und sorgen schon für zusammengemanagte<br />
Mehrheiten." Die weitgehende Gleichschaltung der SPD zur "Kanzler-Partei", in allen wichtigen<br />
parteipolitischen Beschlüssen, der pragmatische Ansatz, Politik im wesentlichen nur noch<br />
instrumentell zu begreifen, erstickten Juso-Politik auch dort, wo sie noch vorhanden war.<br />
Erforderliche Spiel-räume, die für Jugend-Organisationen lebenswichtig sind, um überhaupt an<br />
Schüler oder Lehrlinge heranzukommen, gingen verloren. Im Spannungsfeld zwischen<br />
Regierungspolitik, "alles im Griff zu haben", und dem tiefen Unbehagen unter den Jugendlichen<br />
konnten sich die Jusos kaum behaupten. Sie durften zwar noch "Sozialismus" sagen, aber jede<br />
öffentliche Erklärung unterlag der Zensur des Parteiapparates - ein Maulkorb, den<br />
Bundesgeschäftsführer Egon Bahr (1976-1981 ) für geboten hielt, um der SPD möglichst ein<br />
einheitliches Profil zu verpassen.<br />
Damit begann aber nicht nur eine Politik gähnender Leere, sondern Felder mussten<br />
geräumt werden, die lange Zeit zum klassischen Juso-Terrain gezählt hatten. Ob chronische<br />
Jugendarbeitslosigkeit, Schüler-Aktivitäten zum Bildungsnotstand, Hochschulgruppen oder<br />
Kernenergie - Jusos starrten meist paralysiert auf politische Ereignisse, die an ihnen vorbeiliefen.<br />
Schröder: "Was soll ich eigentlich einem Betriebsjugend-Funktionär erzählen, wenn der mich auf<br />
das Lehrstellen-Problem anspricht. Der weiß doch ganz genau, dass die Zahlen, die auf dem Tisch<br />
liegen, getürkt sind. Beschwichtigungen, "der Schmidt wird es schon richten, nimmt der mir nicht<br />
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mehr ab. Und dann wird uns vorgeworfen, wir seien in der Gewerkschaftsjugend nicht genügend<br />
verankert und die DKP wäre zu stark."<br />
Völlig hilflos und unorientiert reagieren Jugendsekretäre der Partei auf die Alternative<br />
Bewegung. Ein Hinweis darauf, wie stark die sogenannten "Kader der Sozialdemokratie" im<br />
eigenen Saft schmorten und alles andere geringschätzig außer acht ließen. Sie qualifizierten<br />
Aussteiger zunächst zu Sektierern und bürsteten solche als irrelevant herunter. Folglich gab ihr<br />
früherer Juso-Chefideologe Johano Strasser, in der Zeitschrift "Langer Marsch" über Spontis und<br />
Tunix-Leute die Devise aus, die aber gerade Strasser unbedacht seit seiner Mainzer Vor- und<br />
Ausfälle charakterisiert, die da lautet: "Die leben ja mit ihrer zentralen Unfähigkeit,<br />
Triebbefriedigung aufzuschieben, nur frühkindliches Verhalten an den Tag." Gleichzeitig vertraute<br />
man auf die bewährte Einbindungspolitik wichtiger Strömungen, die sich in Bürgerinitiativen<br />
niederschlugen. Strasser sah schon einen bemerkenswerten Erfolg darin, dass fast alle Bürgerinitiativen<br />
in die SPD-Baracke kamen "und mit uns Sozialdemokraten diskutierten". Mit derlei<br />
Dynamik aus Lust, Wollust wie Fantasie sollte die verknöcherte Parteistruktur endlich wieder zum<br />
Tanzen gebracht werden. Strasser-Jahre. - Jahre vergehen, nichts will geschehen.<br />
Nachtrag -Nach vielen flüchtig erlebten Augenblicken trafen sie sich endlich Heidemarie<br />
Wieczorek-Zeul und Johano Strasser wieder; dieses Mal allerdings in der Buchhandlung Habel zu<br />
Wiesbaden. Ein angegraut Johano Strasser las aus seiner Lebensbiografie "Als wir noch Götter<br />
waren im Mai"; ein wenig pathetisch, ein wenig überhöht, gefühlsverklärt. Eben wie Rückblicke halt<br />
tso daher kommen, Retrospektiven auf Bonns wilde Jahre, Jusos, Karriere, Bedeutung, TV-<br />
Sendungen mit Sendungsbewusstsein, Parkett und Puder, Tickets , Toasts und Lippenstift. - Er las<br />
viel Vorgekostetes, Vorzensiertes vor über sein "politisch ambivalentes Leben", auf Reisen, Jet-Set,<br />
Wendepunkte, Neuorientierungen. Die Kumpanin von ehedem, Heidemarie Wieczorek-Zeul,<br />
Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit, sprach einleitend zu ihrem "Freund<br />
Johano", wie von einem Menschen von einem anderen Planeten, von einem Polit-Drummer-Boy<br />
oder Lebens-Zocker, aus der adaptierten "Oberschicht", mit dem sie seit ihrem "gemeinsamen<br />
Anfang" eine vierzigjährige Freundschaft verbindet. Eigentlich hat Heidemarie Wieczorek-Zeul<br />
wenig verändert, Haare immer noch rot gefärbt, rot ist ihre Gesinnung geblieben, keine Skandale,<br />
keine Politik-Deformationen, kein Wichtigkeits-Getue, spitzbübisch ihr Lächeln wie eh und je,<br />
offenherzig, mitunter leidgeprüft. Hab-Acht-Stellung. Ausnahmefrau. Sei seien zusammen in die<br />
Buchhandlung gekommen, um beim Zuhörer "Leselust" zu entfachen. - Über die andere, sonst<br />
übliche Lust vom Jusos-Bonn von einst und sonstwo, etwa im Hotel „Esplanade“, die durfte erst in<br />
den Raum, als der Vorhang längst gefallen war.<br />
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„DIE WÜRDE DES SPONTI IST UNANTASTBAR"<br />
Die Frankfurter Batschkapp - ein Treffpunkt für das andere Deutschland<br />
Der Spiegel 21/1980 vom 19. Mai 1980<br />
"Okay, ich lebe halt heute und das ist für mich wichtig. Ich denke eben nicht an<br />
morgen und schon gar nicht an übermorgen, sonst würde mir schwindelig." (Wölfchen<br />
aus der Batschkapp)<br />
Es gelten nur Augenblicke ! (Tunix - Wandzeitung)<br />
Es war mal wieder eine dieser Kaputtmacher-Nächte in der Batschkapp, dem Frankfurter<br />
Kulturzentrum e.V. - dort draußen am öden Vorstadtrand in Eschersheim, eingekeilt zwischen<br />
breiten Ausfallstraße, Eisenbahnschienen und Betonklötzen.<br />
Nächte, die Wölfchen schon zu Hunderten erlebt hat, meistens hinterm Tresen, zwischen<br />
Export- und Pilskisten. Nächte, die ihm immer wieder endlos erscheinen und ihn stumpfsinnig<br />
aufwühlen. Acht bis zehn Stunden klebt die Szene oder das, was sich dafür hält, an seiner Theke.<br />
Leute zwischen 15 und 20, die vor Kaputtheit so ziemlich alles in sich hinein-schlucken,<br />
was nach Alkohol riecht.<br />
Typen aus Frankfurts City, aus umliegenden Kleinstädten und Dörfern aus dem Taunus.<br />
Sie kommen jedes Wochenende in die Batschkapp, um Bier, Zigaretten, Musik und Menschen zu<br />
konsumieren. Typen mit Hoffnung auf Nähe, mit Hoffnung auf Durchbruch.<br />
Theo und Jochen "kontrollieren" Nähe und Durchbruch. Sie postieren sich von 20 bis 24<br />
Uhr an den Eingang und kassieren von jedem zwei Mark Eintritt, wenn's nicht gerade ein Freund<br />
ist.<br />
Durch ihre Schleuse drängt sich so ziemlich alles, was sich "das andere Deutschland"<br />
nennt: Stadtindianer, Stadtguerillas, einfache RAF-Sympathisanten aus Folterkomitee und roter<br />
Hilfe, Spontis und Frauengruppen, Gastarbeiterkinder aus der Umgebung, arbeitslose Mädchen<br />
und Jungen, heimatlose Mischlinge aus amerikanischen Garnisonstädten.<br />
Um die 250 Leutchen dürfen laut Ordnungsamt die Batschkapp maximal bevölkern. Doch<br />
an den Samstag sind es 500 bis 600 Freaks, die den Schuppen füllen. Einen Schuppen, der wie sein<br />
Völkchen kein einheitlich geprägtes Gesicht hat, der eigentlich alles und nichts ist. Auf keinen Fall<br />
aber ist die Batschkapp eine der üblichen, kommerziellen Discos, auch wenn die Kaputtmacher-<br />
Nächte Disco-Abende heißen.<br />
Mit den anonymen und spontanen Vortänzern zum Beispiel aus Homburg oder<br />
Offenbach, auf der großräumigen Bühne erinnert der verstaubte Saal an die Kinderzeiten des Rock<br />
'n' Roll Mitte der fünfziger Jahre. Die langen Bänke könnten auch in de hessischen Äppelwoi-<br />
Liveschau "Zum Blauen Bock" eine respektable Kulisse abgegeben.<br />
Die Wände sind weiß getüncht worden, aber nur so weit, wie Fingerspitzen die Farbrollen<br />
trugen. Der Treck nach Gorleben mit seinen zahlreichen Etappen ist minutiös auf Kalk<br />
nachgepinselt, Konterfeis von Genossen, die wegen terroristischer Anschläge einsitzen.<br />
23
"Wir werden euch rächen, der Kampf geht weiter" - in der Batschkapp zumindest mit<br />
Sprüchen, die Klo und Theke schmücken. Aber auch solche wie "Freiheit für Grönland" - "Die<br />
Würde des Sponti ist unantastbar" - "Sonnenschein oder Regen, wir sind dagegen".<br />
An den Disco-Abenden ist Nobby der wichtigste Mann. Er hockt abgeschirmt in einem<br />
Glaskasten, steuert die gleißenden Scheinwerferstrahlen, die mit ihren bunten Reflexen den zur<br />
Decke ziehenden Zigarettenqualm zerschneiden. Vor allem reguliert Nobby - jedenfalls versucht<br />
er's - Nähe und Durchbruch, soft und hart, wild und weich.<br />
Und dann gibt es noch Bernhard, Karo und Moni. Sie arbeiten hauptsächlich in dieser<br />
Nacht im "Elfmeter", dem Vereinslokal, das eine Treppe unter der Batschkapp liegt und auch von<br />
der Maybachstraße direkt angelaufen werden kann.<br />
Während in der Batschkapp die Freaks allmählich saunen, sitzen die Jugendlichen im Elfer<br />
locker auf ihrem Hocker, lesen ihren "Pflasterstrand", das Zentralorgan der Spontis, die<br />
"tageszeitung" aus Berlin oder auch den "Informations-Dienst zur Verbreitung unterbliebener<br />
Nachrichten".<br />
Für die Batschkapp-Leute sind ihre Medien, die einst auf Flugblättern entstanden,<br />
inzwischen unentbehrlich geworden. Sie alle geben sich zutiefst davon überzeugt, dass ihre<br />
Alternativ-Periodika ehrlicher sind als die auflagenstarken Gazetten zwischen Hamburg und<br />
München, die noch dazu ihre Gedanken und ihre Gefühle ignorieren oder zuweilen kriminalisieren<br />
- je nach politischer Konjunktur.<br />
Edgar, ein 21jähriger Pädagogikstudent, erzählt seinem Freund Vieto in aller<br />
Ausführlichkeit von seiner Wohngemeinschaft (WG) in Sachsenhausen, die er vor zwei Wochen<br />
verlassen hat. Er hätte in den letzten Monaten immer stärker die Beobachtung gemacht, dass in<br />
gemischten WGs die Sexualität verdrängt werde. Die Mädchen würden mit ihrem Trip, weg vom<br />
"seelenlosen Vögeln", hin zur Zärtlichkeit, derart dominieren, dass er, Edgar, Frauen zusehends<br />
einseitiger als neutrale Instanz wahrnehme.<br />
Edgar über sich: "Bin ich mit einer zusammen, denke ich mir schon von vornherein, die<br />
will mit mir sexuell nichts zu tun haben. Wenn das dann aber doch nicht stimmt, kriege ich nichts<br />
mehr geregelt. Ich komme bei Mädchen immer schnell ins Säuseln. Dann verhalte ich mich so, was<br />
ich unter Säuseln verstehe, und wäre am liebsten der Sensibelste aller Zeiten, schwanzlos, sexuell<br />
ungefährlich, nicht vorlaut, bescheiden und trotzdem nett. Ich steh' sozusagen unterm sensiblen<br />
Leistungsdruck."<br />
Edgar jedenfalls hat für sich daraus die Konsequenz gezogen. Er flüchtete in eine<br />
Männer-WG, um den Psycho-Druck loszuwerden. Ein Kollektiv in allen Ehren, es gebe aber "in<br />
jeder Person Bereiche, in denen sie aus eigener Kraft und Anstrengung den Weg zur<br />
Weiterentwicklung auftun kann".<br />
Grundsatzbetrachtungen über Sinn und Zweck eines Kollektivs provozieren Mike.<br />
Einmal kann Mike "das intellele Geseiere auf den Tod net leiden, zum anderen arbeitet und lebt er<br />
in einem Kollektiv. Mike ist ein Typ von der Arbeiterselbsthilfe (ASH) draußen in Bonames.<br />
Vor ein paar Wochen hatte er Vieto bei einer Entrümpelungsaktion in Sachsenhausen<br />
kennengelernt. Da packte und stapelte er gerade Sperrmüll und altes Geschirr auf seinen ASH-<br />
LKW.<br />
2 4
Die ASH hat sich inzwischen zu einem relativ großen Alternativ-Unternehmen gemausert.<br />
Über 30 Leute, Frauen und Kinder, sind dort engagiert. Haushaltsauflösungen, Entrümpelungen,<br />
Transporte, An- und Verkauf von Antiquitäten, Aufarbeitung und Wiederherstellung alter Möbel in<br />
einer Holzwerkstatt und dann gibt es noch eine Druckerei.<br />
Mike meint, Kopf und Bauch seien bei der ASH nicht mehr getrennt. Denken und Fühlen<br />
gehören eben zusammen - ob in der Freizeit oder bei der Arbeit. Und vor allem könne da keiner<br />
den Chef raushängen lassen. "Alle sind gleich, und das ist für uns total wichtig. Alle haben die<br />
gleichen Rechte und das gleiche Interesse bei den Diskussionen abends, wenn es darum geht, was<br />
anders werden muss oder soll."<br />
Mike, gerade 18 geworden, will mitreden und mitbestimmen und nicht nur mechanisch<br />
vor sich hin-malochen. In der "bürgerlichen" Gesellschaft hat er keine Lehre durchgehalten, auch<br />
sonst hat er laufend seine Jobs gewechselt.<br />
"Wieso has du denn so schnell bei deiner zweiten Arbeitsstelle aufgehört, wo du nur zwei<br />
Monate geschafft hast", will Vieto wissen.<br />
Mike: "Weil, da fing das so an, mit Überstunden. Man wusste, wenn man nicht wollte,<br />
konnte man gehen. Hat mir total nicht gefallen. Und das Klima überhaupt und so, warste als Arsch<br />
hingestellt, weil du eben neu angefangen hattest, hattest keinen Brief in der Tasche, keinen<br />
Gesellenbrief. Da hab' ich mir gedacht, nehm' ich lieber meine Papiere und geh'."<br />
Vieto fragt weiter: "Aber soviel Kohle wirste doch bei der ASH auch nicht kriegen?"<br />
Mike: "Um die Kohle geht's bei mir net. Guck mal, ich hab doch jetzt hier erst mal mein<br />
Essen, ich hab' alles, ich hab' auch Geld, aber ich kann hier zum Beispiel sagen, wenn mir das nicht<br />
passt, damit ich das los bin, kann ich sagen: Hört mal zu, das und das geht nicht, dann wird darüber<br />
diskutiert. Das kann man in'ner normalen Firma nicht. Bei der ASH ist Abwechselung drin. Fährst<br />
LKW, biste im Verkaufslager, kommst mit Leuten zusammen, die wollen was von dir, denen<br />
kannste entgegenkommen."<br />
Die meisten dieser Jugendlichen glauben, den Grundwiderspruch zwischen Denken und<br />
Fühlen, zwischen Kopf und Bauch auflösen zu können. Ein Kollektiv, das die bürgerlichen<br />
Spielregeln außer Kraft setzt, in dem rationales Handeln nicht konträr zu den Gefühlen abläuft.<br />
Auch die Batschkapp, das "Frankfurter Kulturzentrum e.V.", ist ein solches Kollektiv. Die<br />
Batschkapp gehört den Frankfurter Spontis, die nicht ohne Hintersinn diesen Namen wählten.<br />
Batschkapp nennen die Frankfurter im Volksmund eine Mütze, genauer gesagt ihre Schirmmütze.<br />
Unter dieser Mütze soll für alle Platz sein, die mit der etablierten Gesellschaft "wenig am Hut<br />
haben".<br />
"Es soll versucht werden", so skizzierte das Batschkapp-Kollektiv Ende 1977 seine<br />
Konzeption, "ein Programm zu entwickeln und durchzuführen, das einerseits nicht-professionellen<br />
Kulturinitiativen Raum bietet und andererseits berechtigten Freiheitsbedürfnissen breiter Schichten<br />
Rechnung tragen will."<br />
Die Tatsache, in einem Kollektiv zu arbeiten, heißt aber noch lange nicht, ein anderer<br />
oder neuer Mensch zu sein. Die Entscheidung, das Studium sausen zu lassen, Lehrstellen<br />
auszuschlagen, bedeutet keineswegs, sich selbst gefunden zu haben. Offen miteinander umzugehen,<br />
Gefühle zu äußern, solidarisch gemeinsam Sachen durchzusetzen, all das sind noch keine Garanten<br />
für Einvernehmlichkeit.<br />
25
Hier prallen Wirklichkeit und Wunschvorstellung hart aufeinander. Hier wissen Wölfchen,<br />
Theo, Nobby und Moni manchmal nicht mehr, was an ihrer Arbeit eigentlich noch alternativ ist.<br />
Hier werden sie oft von Freaks in ein Rollenverständnis hineingedrängt, das ihnen zuwider ist.<br />
Sie wollen keine Barmixer. keine Rausschmeißer und keine Garderoben-Mädchen sein. Sie<br />
sind keine Angestellten nach Tarifvertrag, mit einem Achtstundentag, Lohnsteuerkarte und<br />
Sozialversicherung. Sie verdienen keine Gelder, auch wenn das Bier wieder teurer wird. Trotzdem<br />
müssen sie sich anmotzen lassen, als seien sie Disco-Jobber, die aus dem Laden ihren<br />
kommerziellen Nutzen ziehen.<br />
Für Wölfchen und Genossen ist es eben verdammt schwierig, den Leuten klarzumachen,<br />
was ein Kollektiv ist, welche Lebensphilosophie sich dahinter verbirgt und was es bewirken will.<br />
Dass es dabei nicht um Profit geht, dass die Batschkapp-Typen hinterm Tresen, am Eingang und<br />
in der Küche beim Broteschmieren ein Stück alternativer Identität suchen, dass sie sich schon<br />
deshalb vom üblichen Glimmer-Konsum grundsätzlich unterscheiden.<br />
Gerade an solchen Samstagen wie diesem ist das Kollektiv mit den Nerven runter, restlos<br />
ausgelaugt. Wenn die Jungs, so gegen vier Uhr morgens, die letzten Bierleichen auf die Straße<br />
getragen haben, ist für sie noch lange kein Feierabend. Da kommen keine Putzfrauen, die den<br />
Laden für die nächste Nacht wieder herrichten.<br />
Dann heißt es fürs Kollektiv sauber machen, Theke putzen, Klos schrubben, Kotze<br />
wegwischen. In den frühen Morgenstunden gleicht die Batschkapp einem verlassenen Schlachtfeld<br />
- Pappbecher und Zigarettenstummel bedecken den Boden, Bierflaschen wie Munitionshülsen,<br />
Qualm wie Kanonenschmauch.<br />
"An und für sich würden wir lieber weiter über unsere Blumen reden, aber wir versacken<br />
hier in der Arbeit und Problemen", schrieb das Kollektiv schon wenige Monate nach der<br />
Batschkapp-Eröffnung Anfang 1978 im "Pflasterstrand", der "Zeitung für Frankfurt".<br />
"Zu einer inhaltlichen Diskussion sind wir gar nicht mehr gekommen. Nach den<br />
Veranstaltungen haben wir erst festgestellt, ob sie gut oder schlecht waren. Und das drückte sich<br />
nur in positiven Ausflipps oder<br />
in totalem Frust aus."<br />
Doch auch zwei Jahre später ist die Situation im Batschkapp-Kollektiv keine andere.<br />
Gereizt, missmutig, aufgerieben mit sich und den anderen ziemlich am Ende, trinkt das Kollektiv<br />
morgens um fünf Uhr noch ein Bier.<br />
Jeder ist sich darüber im Klaren, dass es nicht so weitergehen kann, jeder spürt, dass ihre<br />
Perspektive in kaum zwei Jahren zerronnen ist. Alle reden und schreien durcheinander, aber keiner<br />
weiß, wie sie sich aus ihrer Misere herauswinden können. Nur eines ist unmissverständlich klar<br />
geworden. Mit acht Jugendlichen lässt sich die Batschkapp nicht mehr organisieren, das geht an die<br />
Substanz und bedroht das ganze Projekt.<br />
Schon am Nachmittag müssen sie wieder antreten, Schnitzel braten, Bier ran karren,<br />
kaputte Stühle reparieren, für kommende Veranstaltungen neue Plakate kleben.<br />
Wölfchen, Theo, Jochen, Karo, Nobby, Bernhard und Moni, dieses Batschkapp-Kollektiv<br />
- sie sind nicht nur Kinder unserer Zeit, sie sind vor allem Frankfurter Kinder. Eine Stadt, die sie<br />
zu Gegnern dieses Staates werden ließ, eine Stadt, für die sie Hass und Verachtung empfinden,<br />
2 6
ohne die aber ihr Weltbild erst recht lädiert wäre - eine Art Hass-Liebe, die keinen Stillstand kennt,<br />
immer neue Nahrung und auch Märtyrer findet.<br />
Wölfchens oder Theos Entwicklung, ihr einsamer Weg in die Sponti-Szene, wäre anders<br />
verlaufen, lebten sie nicht in Frankfurt. Vielleicht wären in anderen Städten, etwa München oder<br />
Stuttgart, aus ihnen Jusos oder Jung-Unionisten geworden.<br />
Aber in Frankfurt? Eine Junge Union, die nicht mehr anzubieten hat als "wir wollen, dass<br />
Alfred Dregger Bundeskanzler wird" - Dregger, der Biedermann aus dem katholischen Fulda, dem<br />
man in Sponti-Kreisen alles zutraut.<br />
Auch die Jusos haben den Jugendlichen in dieser Stadt weitgehend ade gesagt. Sie<br />
verschanzten sich in all den Jahren immer mehr im SPD-Haus, mauschelten nur noch mit<br />
Berufspolitikern aus Bonn und Wiesbaden herum. Frankfurt Anfang der achtziger Jahre ist<br />
eventuell die Bundesrepublik von übermorgen.<br />
Batschkapp-Abende im Spätsommer 1979: Elke ist fast jeden Tag hier, selbst wenn keine<br />
Disco läuft. Elke sagt von sich: "Ich bin sinnlos", und lacht dabei kess.<br />
Elke ist ein Nordweststadt-Kind, also in Beton praktisch groß geworden. Das wäre aber<br />
nur halb so schlimm, wenn sie etwas mit sich anzufangen wüsste. Seit zwei Jahren ist die 17jährige<br />
von der Hauptschule runter, zwei Jahre ohne Lehrstelle und ohne Job.<br />
Sie hat es aufgegeben, sich noch irgendwo zu bewerben. Sinnlos. Eine Perspektive gleich<br />
Null, ein Selbstwertgefühl gleich null, wenigstens eine Afro-Dauerwelle gleich neu. Mutter gab ihr<br />
die 70 Mark dafür.<br />
Zu Hause, da draußen in der Nordweststadt, bei ihren Eltern, zwei jüngeren Brüdern und<br />
dem Dackel Stupsi, in der 75-Quadratmeter-Wohnung im sechsten Stock, geht ihr "alles so<br />
ziemlich auf den Keks".<br />
Mit ihrem Vater, einem Elektriker, gibt es nur ein Thema: "Entweder findest du jetzt bald<br />
eine Lehrstelle, oder du kannst nur noch Putzfrau werden." Aber wer will schon mit 17 seine<br />
Zukunft aufs Putzen stützen.<br />
Die Jugendheime, die Elke so kennt, sind auch nicht gerade lustig. Das wäre etwas für 13-<br />
oder 14jährige Bubis, meint sie. Ewig wird Billard gestoßen, Baby-Fußball gebolzt, ab und zu Disco<br />
bei Dosenbier und Wurstbrötchen, ein arbeitsloser Sonderschüler als Thekentyp, Hansi heißt er.<br />
Betreuer, die meist in ihrem "Mitarbeiterraum" sitzen, einen auf Selbstfindung machen<br />
oder Mau-Mau spielen. Die Räume kalt und ungemütlich, nur ein Dia vom Strand aus Palma de<br />
Mallorca schmückt die kahl-graue Wand.<br />
Aber die Batschkapp, das ist für sie ganz was anderes. Schlägereien -okay, Rauschgift -<br />
okay. "Das gibt es in den städtischen Jugendheimen auch, das macht null Unterschied." In der<br />
Batschkapp ist mehr los, nicht alles nur auf "Meerschweinchenhöhe".<br />
Elke würde gern den Tresen machen, würde gern mitarbeiten. Denn hier zu putzen,<br />
glaubt sie, das sei ein anderes Putzen als das, was ihr Vater ständig als Berufsziel im Auge hat.<br />
Schon zweimal hat Elke bei Moni angefragt, wie es denn wäre mit der Mitarbeit und so.<br />
Moni war da sehr zurückhaltend. Denn die Batschkapp sei nicht irgendein Laden, sondern ein<br />
Kollektiv.<br />
27
"Wir haben 'n Beziehung zu dem, was wir hier tun", soll Moni gesagt haben. Auch 'ne<br />
politische, weil das "die Alternative ist".<br />
Na gut, dachte Elke. Was Alternatives, das wäre schon prima. Sie müsste einfach mal mit<br />
zuhören, wenn die über Beziehungen und Politik reden. Die Frauengruppe, die von Zeit zu Zeit in<br />
der Batschkapp tagte, war nichts für sie. Nicht etwa weil Elke die Mädchen blöd fand. "Die<br />
laberten so gestochen daher, da kriegte ich nichts gescheckt."<br />
Anders bei der Roten Hilfe. Das war echt konkret, Knast und so. Haftbedingungen für<br />
politische Gefangene, die kaputtgehen, "mausetot" gemacht werden. Die Genossen, auch<br />
Rechtsanwälte wie der Willy, die es ja wissen müssen, sagten immer: "Wir müssen raus aus der<br />
Isolation, sonst verrecken wir auch noch."<br />
Die Genossen von der roten Hilfe empfahlen ihr zunächst einmal den "Pflasterstrand",<br />
den manche auch "Plastikstrand" schimpfen, weil er ihnen nicht kämpferisch genug ist.<br />
Ihr erster Artikel, zu dem sich Elke quälend durchrang, beschäftigte sich mit der<br />
Todesursache von Ulrike Meinhof. Den Namen kannte sie ja schon von der Baader-Meinhof-<br />
<strong>Band</strong>e. Später erzählte sie der Moni, dass die Selbstmordgeschichte ziemlich komisch sei.<br />
Moni ging auf Elkes Version nicht ein, hatte auch den Artikel nicht gelesen. Aber seither<br />
beurteilte das Kollektiv-Mädchen Elkes Entwicklung außerordentlich positiv. Sie hatte nach einer<br />
Beratung mit den Genossen auch keinerlei Einwände mehr, wenn Elke mal an der Theke aushalf.<br />
Elke blühte auf, endlich eine Aufgabe, endlich hinterm Tresen. Nach kurzer Zeit kamen<br />
ihr auch die richtigen Sprüche über die Lippen. Motzte einer über das "scheißteure Bier", sagte sie:<br />
"Du hast wohl 'nen Vogel. Meinste, wir machen hier die Preise, meinste, dass wir hier Kohle<br />
verdienen?`Da hast wohl keine echte Beziehung zur Batschkapp. Wir sind hier nämlich 'n<br />
Kollektiv."<br />
Willy, der Rechtsanwalt, der auch Tresendienst macht, meint: "Nach bürgerlichen<br />
Ansprüchen ist da kene einzige normale Figur in der Hütte drin."<br />
Wölfchen hätte eigentlich Tresendienst. Aber er saß im Hof vor der Batschkapp und<br />
zählte die Züge, die nur zehn Meter von ihm entfernt in Richtung Köln rauschten. Er war fertig. Er<br />
war fertig, sah das Projekt als gescheitert an, er würde am liebsten aus dem Ausstieg wieder<br />
aussteigen. Dann fiele er aber, das war ihm unzweideutig klar, in ein tiefes Loch, in ein Nichts.<br />
Es war eine Ferne zwischen der bürgerlichen Welt und der Alternative, die Wölfchen<br />
noch nie so konkret wie in diesem Moment empfunden hatte, die für ihn immerhin sechs Jahre<br />
seines 22jährigen Lebens ausmacht.<br />
Wölfchens Bruch mit dieser Gesellschaft passierte auf der Straße, genau im Kettenhofweg<br />
51. Damals war er noch 16, noch Schüler, damals redete auch noch niemand von einer Alternative.<br />
Damals tobte im Westend der Häuserkampf, Stein um Stein, Knüppel um Knüppel.<br />
Schon bei der ersten Demonstration führten Polizisten Wölfchen im Schwitzkasten ab.<br />
Wölfchen heute: "Ich hatte da überhaupt noch nicht durchgeblickt. Am Straßenrand lieferten sich<br />
Zivile und Demonstranten eine blutige Schlägerei. Ich war so blöd und hab' versucht, mit den<br />
Zivilen zu diskutieren, weil ich dachte, das sind normale Passanten."<br />
"Da hab' ich einen Kinnhaken kassiert und sechs Bullen packten mich, warfen mich in<br />
den Mannschaftswagen. Erst nach 24 Stunden war ich wieder frei. Da bin ich rausgekommen, und<br />
2 8
es war um mich geschehen. Das letzte Portiönchen Vertrauen, das ich noch zum Staat hatte, war<br />
weg. Von da war ich bei jeder Demonstration, bei vielen Hausbesetzungen dabei."<br />
Gemeinsame Kämpfe, das schließt die Reihen, macht unterschiedliche Auffassungen<br />
nebensächlich. Vor allem aber ist vielen eine zunächst unüberwindlich erscheinende Schwellenangst<br />
genommen: zuzuschlagen.<br />
Eine Tatsache, die Wölfchen in der Batschkapp zugute kommt, wenn Rocker oder<br />
Besoffene Schlägereien inszenieren. Dann holt er einen alten Besenstiel unterm Tresen hervor und<br />
geht hemmungslos dazwischen.<br />
Wölfchen befand sich am Ende des Häuserkampfes in einer brenzligen Phase. Er bestand<br />
zwar noch sein Abitur - das war dann aber auch alles.<br />
"Damals habe ich mir geschworen", erinnert er sich, "nicht zu studieren, mich nicht noch<br />
einmal herum jagen zu lassen. Und eine Lehre kam für mich auch nicht in Frage, weil ich wusste,<br />
ich werd' nach einer Woche wieder rausgeschmissen. Ich bin keiner, der auf Kommando springt."<br />
Trotzdem dachte er sehr lange übers Kommando nach, über Rote Armee Fraktion,<br />
Stadtguerilla, Rote Zellen.<br />
Dass Wölfchen heute nicht auf den Fahndungsplakaten des Bundeskriminalamtes<br />
abgebildet ist, hat im wesentlichen zwei Gründe. Zum einen merkte er recht schnell den<br />
gravierenden Unterschied zwischen einem öffentlichen ausgetragenen Häuserkampf, der ja sogar<br />
von Teilen der Bevölkerung mitgetragen wurde, und dem Leben der Stadtguerilla im Untergrund.<br />
Er kannte noch ein paar Leute sehr genau. Er sah auch, wie sehr sie sich veränderten, "Ihr<br />
Alltag", sagt Wölfchen, "ist der totale Stress."<br />
Zum anderen hatte es Mitte 1977 in der Frankfurter Sponti-Bewegung einen Knacks<br />
gegeben. Nach der Ermordung von Buback und Ponto sowie der Entführung von Schleyer war für<br />
die Mehrheit der Undogmatischen die Kriegsführung der Stadtguerilla nicht mehr nachvollziehbar.<br />
Denn das Prinzip der Roten Zellen, "sofort und überall den bewaffneten Kampf<br />
beginnen", artete für die Spontis in eine rein "militärische Konfrontation" mit der Staatsgewalt aus.<br />
Wölfchen sagt: "Warum ich eigentlich ein Linker geworden bin, weiß ich gar nicht so<br />
recht. Ich habe nichts gelesen, noch nicht einmal ein kleines Bändchen vom alten Marx. Wenn wir<br />
aufdrehten, dann meist ohne großes Grundwissen."<br />
Befreiung erträumten sich viele von der Batschkapp -insbesondere ihr Kollektiv.<br />
Zumindest, als sie für den Schuppen, in dem früher die Diskothek "La Baya" hauste, den Zuschlag<br />
bekamen. Genau 40.000 Mark Abstand mussten gezahlt werden, und nochmals 100.000 Mark<br />
wurden reingesteckt, damit das Ordnungsamt nicht ständig mit der Schließung drohen konnte.<br />
Eine ganz schöne Summe für Wölfchen, Theo, Karo, Moni und für das Kollektiv<br />
insgesamt - gesammelt oder geliehen in und von der Szene, zu der die Karl-Marx-Buchhandlung<br />
ebenso zählt wie das "Strandcafé", die Kneipe "Größenwahn" oder auch der "Pflasterstrand". Aber<br />
lang gehegte Erwartungen, die die Spontis mit ihrer Batschkapp verknüpften, rechtfertigten solch<br />
kostspielige Investitionen.<br />
Zunächst gab es wohl keinen, der nicht von der Batschkapp schwärmte. Er wurde<br />
gehämmert und gemeißelt, geschreinert und geschrubbt. Das nicht nur wenige Wochen, sondern<br />
über ein Jahr.<br />
29
Stützpfeiler mussten gezogen, Notbeleuchtungsanlagen installiert, Toiletten ausgebaut,<br />
Heizungskörper angebracht werden. Aus einer vermoderten Abstellhalle im Keller entstand ein<br />
ansehnlicher Übungssaal für Laienspiel, Folklore- und Musikergruppen.<br />
Aber die Pläne gingen noch viel weiter. Eine Tischlerei sollte eingerichtet werden, eine<br />
Nähwerkstatt war geplant, Schülern, denen zu Hause wenig Platz und Ruhe blieb, bot das Kollektiv<br />
einen Extraraum an, um ungestört lernen zu können.<br />
Es dauerte relativ lange, ehe das Kollektiv seine vom Publikum zugedachte Funktion<br />
begriff. Keiner wollte es nämlich zunächst so richtig wahrhaben, dass sie sich unversehens und<br />
ungewollt in die Rolle wiederfanden, die sie eigentlich schon der Vergangenheit zugeschrieben<br />
hatten.<br />
Nämlich in der unergiebigen Rolle des permanenten Abarbeitens an Gesellschaft und<br />
Institutionen, wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen. Nun war es nicht mehr der Häuserkampf,<br />
sondern die leidvollen Disco-Abende, die Kaputtmacher-Nächte, nur sie zählten bei den Freaks.<br />
Beinahe vergessen schien der hoffnungsvolle Versuch, eine Gegenkultur zu gründen.<br />
Denn die Politszene, mit der das Kollektiv fest rechnete, verschwand leise, aber ganz plötzlich aus<br />
dem Blickfeld. Insbesondere an den Disco-Abenden, konnten sie schlecht über den<br />
"antimperialistischen Kampf" diskutierten.<br />
Dann dominierte stets die Sozial-Szene, ein Heer von arbeitslosen Jugendlichen aus dem<br />
Frankfurter Norden, Typen mit Hoffnung auf Nähe, mit Hoffnung auf Durchbruch, auch wenn es<br />
die Fäuste sind.<br />
Wölfchen: "Wenn hier eine Gewaltnummer abläuft, sind wir oft machtlos. Denn wir<br />
haben mit den Bullen nichts zu tun, die sind gegen uns, auch in solchen Situationen. Wir müssen<br />
halt versuchen, uns gezielt zu wehren. Da liegen dann die Knüppel hinterm Tresen. Wenn wir<br />
selbst eine draufkriegen, haben wir halt Pech gehabt. Aber Schiss haben wir keinen."<br />
Viele Spontis haben schon im Batschkapp-Kollektiv gearbeitet, viele sind auch schnell<br />
wieder ausgestiegen, weil sie Angst hatten. Nur Wölfchen und Theo sind praktisch von Anfang an<br />
dabei. Manchmal kriegen sie einen Koller, wollen alles hinschmeißen.<br />
Doch am nächsten Abend stehen die beiden erneut an ihrem Platz. "Schließlich haben wir<br />
das Ding hier aufgebaut", erklärt Theo beinahe treuherzig, "Und 60.000 Mark Schulden müssen wir<br />
auch noch an die Szene zurückzahlen."<br />
Wölfchen gesteht: "Okay, ich lebe halt heute, und das ist für mich wichtig. Ich denke eben<br />
nicht an morgen und schon gar nicht an übermorgen, sonst würde mir schwindelig."<br />
3 0<br />
.
ABGESCHOBEN VERWAHRT, VERWAHRLOST . . .<br />
Frührentner dieser Jahre - Jugendfreizeitheim "Gelse" im Falkenhagener Feld zu<br />
Berlin<br />
Metall-Magazin, Frankfurt a/M 8/80 vom 16. April 1980<br />
Rüdiger hat es sich ausgerechnet: 512mal schließt er während seiner Arbeitszeit mit 64<br />
Einzelschlüssel Räume auf und wieder zu, öffnet mit dem Vierkantschlüssel verriegelte Toiletten -<br />
und das Tag für Tag von 2 Uhr mittags bis 10 Uhr abends, Monat für Monat, Jahr für Jahr.<br />
Auch wenn seine athletische Gestalt auf manchen Angst einflößend wirken könnte, so<br />
fürchtet Rüdiger sich doch seit Jahren insgeheim davor, "ein Messer oder eine Kugel in den Rücken<br />
zu bekommen". Seine "Wach- und Schließgesellschaft" hat ihn nämlich mit einem besonders<br />
delikaten Objekt betraut. Der 1.600 Quadratmeter große Neubau, in dem er seine Rundgänge<br />
macht, ist mit all den architektonischen Raffinessen der Neuzeit ausgestattet. Die Wände in der<br />
Halle, einst in grau, haben etwas von der früheren Kälte verloren. Realistische Maler pinselten<br />
überlebensgroße Menschen auf die Leerflächen, eben handfeste Menschen mit Charakterköpfen,<br />
konsequenten Blicken und stählernen Mienen. Im verqualmten Raum nebenan gibt's Limonade,<br />
Bier und kleine Snacks, aber nur "auf Selbstbedienung".<br />
Der Stallgeruch drängt sich dort unverwechselbar auf. Es riecht nach altem Bahnhof. In<br />
der Billard- und Kickerecke stehen Leute, die seit eh und je kein Zuhause mehr haben oder sich<br />
nur bei den rollenden Kugeln heimisch fühlen. Bierfahnen, südlicher Haschgestank, Schweiß,<br />
Parfüm, Toilettenmief, Zigarettenqualm - ineinander übergehende Gerüche, die oft undefinierbar<br />
sind. Vor der Treppe zum ersten Stock liegen ein paar Leute auf dem Boden, die im Volksmund<br />
Penner genannt, die "Schließer" Rüdiger oft genug wegscheucht, die sich dennoch wieder einnisten,<br />
hartnäckig, wie sie sind. In der ersten Etage gibt es Kinoprogramme, ein Teestübchen mit weichen<br />
Polstersesseln, Ruhe und Leseräume.<br />
Schauplätze, die Rüdiger im Auge behalten muss. Wenn er seinen Neubau kurz nach 22<br />
Uhr schließt, räumt er mit seinen Kollegen den gröbsten Dreck beiseite: leere Kornflaschen,<br />
Bierdosen in Hülle und Fülle, abgebissene und zertretene Brote, aber auch zerdepperte<br />
Waschbecken. Überbleibsel eines Tages, die Rüdiger nicht der Putzkolonne überlässt. Sie würde<br />
sich in den frühen Morgenstunden strikt weigern, in solch einem wüsten Chaos sauber zu machen.<br />
Tatsächlich verbirgt sich hinter Rüdigers Wach- und Schließgesellschaft das Bezirksamt Spandau,<br />
hinter dem Neubau das Jugendfreizeitheim "Gelse" im Falkenhagener Feld; der Schließer Rüdiger<br />
fungiert als Heimleiter, und die Jugendlichen, die hier verkehren, sind schon längst auf ihrer<br />
Endstation angekommen.<br />
Kinder unserer Zeit, dreizehn, fünfzehn oder auch achtzehn Jahre alt, die oft ein<br />
Frührentner-Dasein führen, noch ehe sie richtig erwachsen wurden; die tagtäglich darauf warten,<br />
dass mal irgendetwas Spannendes passiert, dass sie etwas von der großen Welt abgekommen und<br />
sei es nur ein Quäntchen Glanz und Glimmer. Sozialarbeiter dieser Tage, die den Mut verloren<br />
haben, die saft- und kraftlos in ihrem Mitarbeiterzimmer herumhängen und gelangweilt in<br />
Illustrierten blättern, die sich aufs Türen-Auf- und Zuschließen beschränken, die ihre "Leck-micham-Arsch-Mentalität"<br />
für jedermann ersichtlich vor sich hertragen und auf die "beschissene Welt<br />
schimpfen.<br />
31
Dabei glaubt Rüdiger, 37 Jahre alt, gerade einer anderen "beschissenen Welt" entkommen<br />
zu sein, nämlich der eines Brauerei-Facharbeiters in der Fabrik. Über sechzehn Jahre hatte er dort<br />
gearbeitet, zum Schloss durfte er sogar Schichtführer nennen. "Ich habe die Schnauze restlos voll<br />
gehabt in dieser Mühle, ich war nur noch deprimiert, weil mir alles so aussichtslos erschien."<br />
Justament zu dieser Zeit suchte das Bezirksamt Berlin-Spandau, Abteilung Jugend und Gesundheit,<br />
Erzieher, die im neu erbauten Jugendfreizeitheim "Gelse" eine Aufgabe sehen. Ein Arbeitskollege<br />
brachte Rüdiger mit einem gewissen Alfons Brawand zusammen, der sich nicht daran störte, dass<br />
Rüdiger keine Ausbildung zum Sozialarbeiter durchlaufen hatte. "Das macht nichts", soll Brawand<br />
ganz loyal gesagt haben, "die holste berufsbegleitend nach." Rüdiger war merklich unsicher auf dem<br />
Amt und sagte artig: "Herr Brawand". Doch der duzte ihn gleich wie einen alten Kumpel. Ihm<br />
käme es insbesondere darauf an, Praktiker, wenn auch ohne Ausbildung, auf die neu geschaffenen<br />
Planstellen zu hieven. Von arbeitslosen Akademikern wolle man weniger etwas wissen, "Die sind<br />
links verdorben, hetzen nur die Jugendlichen auf und machen den Behörden unnötige Arbeit", hieß<br />
es lapidar. Dagegen passte ein Typ wie Rüdiger offenbar sehr gut ins selbst gezimmerte<br />
Stellenprofil.<br />
Rüdiger konnte nicht im entferntesten ahnen, warum das Amt ausgerechnet auf<br />
"Praktiker" baute. Er hatte nicht die leistete Vorstellung von dem, was ihn erwarten würde. Seine<br />
anfängliche Unsicherheit überspielte er stets damit, dass er sich mit einer "berufsbegleitenden<br />
Ausbildung" beruhigte. Auch verengte Rüdiger, vielleicht ungewollt, seinen Blick für gewissen<br />
Begleiterscheinungen, die ihn wahrscheinlich schon damals nachdenklicher hätten stimmen<br />
müssen. Doch er war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, mit seiner Ablösung von der Fabrik,<br />
vom eingefahrenen Schichtdienst und nun dem plötzlichen Neubeginn als Sozialpädagoge<br />
sozusagen, dem Eltern ihre Kinder anvertrauten, abschoben, wenn auch nur stundenweise.<br />
Denn so ein Jugendfreizeitheim eröffnet weitaus mehr Möglichkeiten, sowohl für die<br />
Jugendlichen als auch für ihre Betreuer, dachte Rüdiger, als er zum ersten Mal vor der Eröffnung<br />
staunend durch die brandneue "Gelse" schlenderte. Er merkte offenbar nicht, dass er die<br />
Einrichtung eher nach seiner eigenen Hobbylage begutachtete als nach der der Kinder, für die sie<br />
eigentlich mal gedacht war. Über 2,5 Millionen Mark hatte der Staat in dieses Prestigeobjekt<br />
investiert.<br />
Über 50.000 Mark kostete allein das Tonstudio, 40.000 Mark verschlang die Großküche,<br />
skandinavische Sessel - vergleichbar einem Hotel-Foyer - verschönerten die Lese-und Spielräume.<br />
Eine großflächige Bühne für Beatbands und Laienspielgruppen war vorhanden, es konnte<br />
Basketball, Volleyball und Tischtennis gespielt werden, Kicker und Billard gab's wie<br />
selbstverständlich. Theater-und Ballettgruppen, Sportvereine und Briefmarkensammler - sie alle<br />
sollten hier unterkommen. Es fehlte an nichts, alles schien bis ins Detail maßstabsgetreu<br />
durchgeplant und vorprogrammiert. Die zuständigen Ämter meinten, ganze Arbeit geleistet zu<br />
haben.<br />
Die Spandauer Honoratioren aus Partei und Ämtern, Baufirmen mit ihren Angestellten,<br />
Architekten und notgedrungen auch die neuen Erzieher wollten ihr Jugendfreizeitheim im<br />
exklusiven Kreis in gebührender Form einweihen: quasi als Übergabe-Veranstaltung mit Bierfass,<br />
Sekt, Orangensaft und den obligaten kleinen Häppchen. Und natürlich hatte Brawand zuvor mit<br />
seinen Leuten kräftig die Hofberichterstattung in Funk und Lokalpresse angeleiert. So gab es unter<br />
den Jugendlichen im Falkenhagener Feld nur ein Thema: "Amtsärsche saufen und fressen sich im<br />
neuen Jugendfreizeitheim voll." Während Brawand vor dem erlauchten Halbrund das Bauwerk als<br />
ein Projekt "für die Welt von übermorgen" pries, luchsten die Jugendlichen draußen vor der Tür<br />
3 2
durch die Scheiben . Zwar hatte sich eigentlich keiner vorgenommen, Rabatz zu machen. Doch als<br />
sie die Herren in ihren feinen Anzügen vor sich sahen - auch Rüdiger zog seinen besten Zweireiher<br />
an -, da muss eine unbändige Wut in ihnen hochgekommen sein. Es mögen dreißig oder auch<br />
vierzig gewesen sein, die das Haus stürmten. Die feierliche Übergabe-Veranstaltung artete in eine<br />
schlimme Massenschlägerei aus. Keiner blieb verschont, auch Alfons Brawand musste Fausthiebe<br />
einstecken.<br />
Erstmals sah sich Rüdiger mit seiner Realität konfrontiert, die er bisher beiseite geschoben<br />
hatte. Erstmals überhaupt fragte er sich, woher die Jugendlichen kommen, die er fortan betreuen<br />
sollte. Und erstmals gingen seine Blicke ein wenig bewusster, ein wenig nachdenklicher über den<br />
Horizont des Jugendfreizeitheims hinaus. Was er sah, waren graue Betonhöhlen mit symmetrisch<br />
angeordneten Gucklöchern. Langsam und mit Hilfe anderer Kollegen aus dem benachbarten<br />
Klubhaus dämmerte es ihm, wo er tatsächlich gelandet was. In Spandau, einem der wichtigsten<br />
Neubaugebiete Westberlins - dort, wo sich Wohnsilos, Polizeischießplätze, Friedhöfe, Kleingärten<br />
und Müllhalden scheinbar friedlich miteinander vertragen.<br />
Das Jugendfreizeitheim "Gelse" liegt am Rande des Falkenhagener Felds, einer räumlich<br />
zerrissenen Betonwüste mit mehr als 30.000 Menschen. Früher zogen hier Arbeiter und kleine<br />
Angestellte hinaus, die sich ihr Häuschen in der Idylle mühsam zusammengespart hatten. Auf den<br />
noch freien Plätzen mauerte in den sechziger Jahren der soziale Wohnungsbau seine Häuser hoch.<br />
Einheitliche Pläne lagen zu keiner Zeit vor, deshalb wurden Läden, Post, Kirchen, Schulen und<br />
Spielplätze auch irgendwo verstreut an die Peripherie verlagert. Nur soviel stand fest: alleinstehende<br />
Rentner sollten aus dem Stadtzentrum, wo sie Wohnungen blockierten, in dieser erdrückende<br />
Neubaugebiet verfrachtet werden. Für sie waren damals die eineinhalb-Zimmer-Appartements<br />
gedacht. Als die alten Leute dann nicht kamen, weil sie den sozialen Wohnungsbau nicht bezahlen<br />
konnten und lieber in gewohnter Umgebung sterben wollten, da riss man kurzerhand die<br />
Zwischenwände ein und legte jeweils zwei Appartements zusammen. So entstanden Drei-<br />
Zimmerwohnungen. Vornehmlich in der Siegener Straße und im Spekteweg, gleich in der<br />
Nachbarschaft zum Jugendfreizeitheim. In den Blöcken 655, 656, 657 leben seither die<br />
kinderreichen Familien, nicht selten sechs bis acht Menschen in drei Zimmer zusammengepfercht.<br />
Sie waren natürlich allesamt recht herzlich willkommen, als die "Gelse" einige Wochen<br />
nach dem Prügeldebakel fürs Publikum geöffnet wurde. Doch bevor die Girlanden stiegen, die<br />
Beatbands aufspielten und eigens dafür engagierte Ballett-Tänzerinnen den Betonbau-Kinder ihre<br />
Akrobatik vorführten, hatte Alfons Brawand in doppelter Hinsicht Vorsorge getroffen. Nach dem<br />
ersten Reinfall konnte er sich schon aus optischen Gründen keinen weiteren Prestigeverlust mehr<br />
leisten. Drei Einsatzwagen der Polizei standen abrufbereit in der Nebenstraße, Brawand blieb mit<br />
ihnen über ein Sprechfunkgerät, das er bei sich trug, in ständigem Kontakt. Aber jene Jugendlichen,<br />
denen der etwaige Knüppeleinsatz galt, die waren zur offiziellen Einweihung erst gar nicht<br />
erschienen. Die hatte Brawand nämlich jeweils mit einem Zwanzigmarkschein zuvor bestochen.<br />
"Macht euch einen schönen Tag!", soll er ihnen gesagt haben. Darauf sind Dino, Liebel, Ito,<br />
Ristow, Becker, Kaiser, Hotte, Ricci und Accer abgezogen. "Ist das ein Angsthase, dieser<br />
Amtsarsch", feixten sie und zogen durch Spandaus Kneipen, Geld genug hatten sie ja.<br />
Allmählich begriff Rüdiger auch, was Alfons Brawand wohl unter einem richtigen<br />
Praktiker verstand. Leute, die sich weniger von ideellen Zielsetzungen leiten lassen, die kaum<br />
Skrupel kennen, wenn es darum geht, ihren eigenen Erfolg und einen reibungslosen Ablauf zu<br />
sichern, die sich auch nicht groß um pädagogische Grundsätze in einem Jugendheim kümmern.<br />
Sonst wäre Brawand ja nicht auf die Idee verfallen, Zwanzigmarkscheine auszuteilen, nur um der<br />
33
lieben Ruhe willen. Er hätte sich ebenso gut vor der Eröffnungsveranstaltung, an der ihm soviel<br />
lag, mit den renitenten Jugendlichen zusammensetzen und mit ihnen über ihre Vorstellungen<br />
sprechen können. Denn eines war doch ziemlich klar: Diese Jugendlichen wollten etwas, nur was,<br />
das wusste keiner. Rüdiger jedenfalls hatte sich fest vorgenommen, mit Dino und Co.<br />
Berührungspunkte zu finden. Doch er tat sich ungemein schwer.<br />
Dino und Co., das waren 15 Leute zwischen 18 und 23 Jahren, die sich in einem Klub<br />
zusammengerottet hatten -"Trink-Dich-Frisch" nannten sie ihn. Jugendliche, die in ihrem Leben<br />
noch nie aus Spandau rausgekommen sind, die tagein, tagaus durch ihr Neubauviertel lungern. Die<br />
meisten stammen aus zerrütteten Familien. Vater arbeitslos und Alkoholiker, Mutter laufend<br />
schwanger, an Streitereien mangelt es nicht, nur am Geld. Die meisten sind seit ihrem Schulabgang<br />
arbeitslos. Jugendliche, die seit ihrer Kindheit machen konnten, was sie wollten - sie blieben doch<br />
die begossenen Vorstadt-Köter, eben Straßenkläffer, die keiner hören will und keiner ernst nimmt.<br />
Zärtlichkeit und Nähe haben sie nie kennen gelernt, Lehrstellen gab's auch keine, nur die ewige<br />
Langeweile und ein Nichtstun, das aggressiv macht. Und das Jahr für Jahr im grauen Beton mit<br />
seinen Schiffsluken und der quälenden Enge.<br />
Da holt sich dann ein jeder, was er braucht, sucht sich seine Nischen in einer Gesellschaft,<br />
die dichtgemacht hat, die keine Chancen eröffnet, die von solchen Jugendlichen einfach nichts<br />
wissen will und mit dem Begriff "Randgruppe" für sich ein beruhigendes Vokabular erfand. Setzt<br />
sich dieses Grundgefühl erst einmal fest - nutzlos zu sein, nicht gebraucht zu werden - dann sind<br />
Raubzüge, Körperverletzungen, Autodiebstähle eine der unweigerlichen Antworten - nicht aus<br />
Kriminalität, vielmehr aus Verzweiflung. Schließlich wollen Dino und Co. sich ihre Sehnsüchte,<br />
ihre Träume nach Freiheit, Autobahn, Disco und Mädchen nicht vermasseln, nicht zertreten lassen.<br />
Sie wollen nicht dastehen nur mit einer lumpigen Mark in der Hand und noch eine weitere Abfuhr<br />
riskieren. Sie sind zwar Frührentner, das heißt für sie aber noch lange nicht, den ganzen Tag am<br />
Fenster zu hocken und Mutter immer beim Staubsaugen zu helfen.<br />
Unversehens geriet der zunächst unbeleckte Rüdiger in ein Dickicht sozialer Probleme,<br />
auf die er nicht vorbereitet war, aus denen es aber keinen Ausweg gab. Wie sollte er eine Lehrstelle<br />
besorgen, wie sollte er ihnen die Trinkerei, die Kokserei abgewöhnen? Gut, Verhütungsmittel für<br />
die Mädchen hätte er vielleicht organisieren können, und mit dem Jugendrichter sprach er ohnehin<br />
von Zeit zu Zeit. Rüdiger, der aus der strumpfsinnigen Fabrik geflohen, ausgestiegen war, der den<br />
Mief der Brauerei nicht mehr ertragen hatte und an einen sozialen Aufstieg glaubte, er sah sich<br />
plötzlich einer noch "beschisseneren Welt" gegenüber - Jugendlichen, die teilweise noch nicht<br />
einmal die Möglichkeit bekamen, am Fließband zu stehen und für die ein Disco-Abend das höchste<br />
der Gefühle wäre, wenn sie doch nur das nötige Geld hätten.<br />
Aber die Kinder vom Falkenhagener Feld waren zum Teil schon über Jahre ohne Job, und<br />
von ihren Eltern kriegten sie auch nicht die ersehnten Groschen. Deshalb gingen sie in die "Gelse",<br />
auf der Suche nach Nähe, nach Geborgenheit, nach Durchbruch. Da standen sie nun in dem<br />
bombastischen Neubau, der alles andere war als ein Jugendfreizeitheim. Vielleicht ein<br />
Offizierskasino, vielleicht ein Soldatenheim, so hygienisch und steril schlug schon das Äußere<br />
durch. Die skandinavischen Klubsessel, das Tonstudio und die Großraumküche für eine ganze<br />
Kompanie. Die "Gelse" war das traurige Resultat ehrgeiziger Reißbrett-Bürokraten, die über<br />
"jugendpflegerische Aufgaben" lamentierten, aber insgeheim ihre Bedürfnisse nach<br />
Großmannssucht und Millionenetats verwirklicht sehen wollen.<br />
Schon ein halbes Jahr nach der Eröffnung war von dem Glanz nichts mehr da. Wie sollte<br />
es auch? Jugendliche, die zu Hause nicht einmal ihr eigenes Zimmer hatten, die nie viel Spielzeug<br />
3 4
esaßen, die sich in der Konfliktbewältigung stets auf ihre Fäuste verließen - die mussten diesen<br />
Heimwohlstand einfach als eine ungeheure Provokation empfinden. Da verbarrikadierten sich nach<br />
22 Uhr die "Trink-Dich-Frischler" im Klubraum. Das Heim sollte geschlossen werden, doch Dino<br />
und Co. wollten nicht gehen. Gutes Zureden quittierten sie mit lautem Gejohle. "Holt doch die<br />
Bullen", holt doch die Bullen, das ist unser Raum, das ist unser Raum ...". Sie schmissen den<br />
Kühlschrank und eine Kommode vom ersten Stock auf die Straße und flüchteten erst durchs<br />
Fenster, als Rüdiger mit dem Beil ein Loch in die Tür schlug, um mit dem Gartenschlauch das<br />
Zimmer unter Wasser zu setzen.<br />
Nachbarn aus den gegenüberliegenden Einfamilienhäusern zogen gegen die übenden<br />
Beatbands zu Felde. Ein Lärmschutzwagen des Berliner Senats registrierte, dass die zulässige<br />
Lärmgrenze um vierzig Prozent überschritten sei. Das Bauamt hatte vergessen, in die Außenwand<br />
eine Schallisolierung einziehen zu lassen (Kostenpunkt: 40.000 Mark). Folglich durften fast zwei<br />
Jahre lang auch Musikgruppen nicht mehr proben. Ohne großes Aufhebens kürzte das Bezirksamt<br />
Spandau für die geplanten Neigungsgruppen die finanziellen Mittel um zwanzig Prozent. Mit<br />
ganzen 750 Mark musste das Heim jährlich auskommen, wenn es sich Kleinmaterial besorgte. Die<br />
Illusion von einem intakt funktionierenden Jugendfreizeitheim wurde jäh zerstört.<br />
In all den Jahren registrierte Rüdiger nicht ein einziges Mal auch nur einen aufmunternden<br />
Satz. Keine Äußerung, die Mut machte, kein Hinweis, der als Unterstützung oder Rückendeckung<br />
gewertet werden könnte. Dabei hätten sich doch gerade die Beamten einmal fragen lassen müssen,<br />
welchen Unsinn sie dort hin gebaut haben, Menschen in Beton einzupassen und selbstgefällig von<br />
"übergeordneten jugendpflegerischen Aufgaben" zu philosophieren. Wie sollen sich Jugendliche in<br />
einem Heim wohlfühlen, in dem alles DIN-genormt zugeht; angefangen vom künstlichen<br />
Freizeitangebot -Kicker, Flipper, Billard - bis hin zur Schadensregulierung. Nach dem Motto: So,<br />
nun sind wir mal ein Stündchen artig. Eine solche antiquierte Konzeption musste von vornherein<br />
zum Scheitern verurteilt sein.<br />
Über eines sind sich alle im Klaren. Man könnte die "Gelse" dichtmachen, es wäre kein<br />
herber Verlust, es gäbe wohl auch kaum jemanden, der ernsthaft protestieren würde, nicht einmal<br />
die verbliebenen Jugendlichen. Höchstens die Montagabende müssten sie dann aus ihrem<br />
Programm streichen. Montags kommt es schon vor, dass sich mal fünfzig oder sechzig Jugendliche<br />
für ein Weilchen in der "Gelse" aufhalten. Nicht etwa, weil etwas Besonderes abläuft, sondern weil<br />
in einem kalten, kalten Raum, Schallplatten, sogar neue CDs aufgelegt werden. "Disco" sagen alle<br />
dazu, eben Saturday-night-fever zum Wochenbeginn, wo doch für die meisten zwischen Sonn- und<br />
Werktagen ohnehin kein Unterschied besteht. Hotte fühlt sich für die Scheibe zuständig, als der DJ<br />
von der Gelse immerhin. Wenigstens einmal in der Woche sieht er, dass er gebraucht wird. Keiner<br />
kennt sich nämlich so gut mit der Anlage aus, keiner kann auch so gut Englisch wie Hotte.<br />
Kerstin hat sich schon des öfteren gefragt, woher Hotte eigentlich so gut Englisch kann.<br />
Hotte antwortete ihr die Frage natürlich: "Det ha ich ma selba bejebracht." Hotte ist der Bruder<br />
von Dino, dem Chef der "Trink-Dich-Frisch-Clique". Acht Kinder zählen sie zu Hause. Eine<br />
Dauerarbeit haben Dino und Hotte bis heute nicht gefunden. Eine Zeit lang fuhr Hotte Wäsche<br />
aus. Damals ging er noch mit Uschi, damals sparte er noch für eine Wohnungseinrichtung. Als die<br />
Reinigung dann Pleite machte, sein Chef über Nacht mit dem restlichen Geld nach<br />
Westdeutschland türmte, standen noch die letzten beiden Monatslöhne aus. Seinen Boss und sein<br />
Geld sah er nie wieder. Inzwischen ist sein Gespartes aufgebraucht, mit Uschi ist er fertig, und zu<br />
einer echten Arbeit hat er keine Lust mehr. "Selbst wenn die mir heute den besten Job anbieten",<br />
erklärt Hotte vom Discositz. Aber nun kann Hotte ja nicht sein ganzes Leben in der "Gelse", DJ<br />
35
spielen, Disco mimen, Starallüren mimen, wenigstens im Probelauf. "Nee,", sagt er, "vielleicht bis<br />
dreißig, irgendwann um diesen Dreh mache ich bestimmt einen richtig großen Satz." - Nur wohin,<br />
das weiß er noch nicht.<br />
3 6
LANDKOMMUNE FOHRENBACHHOF - AUSGEWANDERT<br />
IN DIE HOFFNUNG<br />
You may say I am a dreamer,<br />
But I am not the only one,<br />
I hope some day you'll join us,<br />
And the world will live as one.<br />
(John Lennon)<br />
"Du hast keine Chance, aber nutze sie" Rowohlt Verlag, Reinbek vom 25. April 1980<br />
Eigentlich ist Volker der Motor in der niederbayerischen Landkommune Fohrenbachhof.<br />
Da kann es nachts ruhig spät geworden sein, weil man neugierigen Städtern das alternative Leben<br />
auf dem Lande zu erklären versuchte, da können morgens die anderen sieben Mitbewohner noch<br />
schlafen, er melkt um sechs Uhr die beiden Ziegen Luna und Lolita. Aber auch sonst: Ganz gleich<br />
mit welcher Arbeit Volker gerade tagsüber beschäftigt ist, ob er Geschirr spült, im Garten Unkraut<br />
jätet oder an der Kreissäge steht, für einen Hofrundgang, der auch Stunden dauern kann, hat er<br />
immer Zeit. Ihm ist es einfach wichtig, um Jule seinen Arm zu legen, Irene zu küssen oder Hilde zu<br />
streicheln. Volker versteht sich auf Zärtlichkeit, auf die, wie er sagt, denn sie sei "nun mal unser<br />
größtes Kapital".<br />
Mit Hilde verbindet Volker schon eine jahrelange, enge Freundschaft. Jonas haben sie<br />
ihren einjährigen Sohn genannt. Doch Hilde spricht wenig von Volkers Hauptgangliegen der neuen<br />
Zärtlichkeit. Ihr geht es mehr um Sinnlichkeit und Selbstbesinnung. Oft liegt sie auf ihrem Bett und<br />
lauscht per Stethoskop ihren Herztönen. Töne, die sie auch in der Natur wahrzunehmen glaubt.<br />
Hilde schwört auf autogenes Training und Selbstmassage. Nur so ließen sich körperliche und<br />
seelische Verkrampfungen langsam lösen, nur so wäre ein Neuanfang in ihrem Leben möglich<br />
geworden. Eine gelockerte Hilde, die mit Hammer und Nagel am Dachstuhl zimmert, Holz klein<br />
hackt, aber auch Stunde um Stunde mit ihrem Stethoskop in sich versunken am Weiher sitzt.<br />
Erich dagegen trägt schwer an seinen eigenen Zweifeln, die er als Luxus deklariert. Er ist<br />
der Intellektuelle in der Kommune. "In der bürgerlichen Gesellschaft", erklärt Erich , "wird sich<br />
wohl keiner den Luxus erlauben, Skrupel zu haben." Auf dem Fohrenbachhof kann er es aber,<br />
meist ungestört, bisweilen auch selbstquälerisch. Theologische oder philosophische Fragestellungen<br />
halfen ihm dabei nicht entscheidend weiter. Erich meint, die Menschen mögen ihn nicht, sie wollen<br />
höchstens etwas von ihm. Deshalb kämen in ihm regelmäßig Berührungsängste hoch. Die<br />
kontrolliert er, indem er sich laufend einredet, er im Grunde sei es ja, der die Leute ablehnt - vor<br />
allem wegen ihrer graumäusigen Durchschnittlichkeit. Dies wäre in der Stadt schon so gewesen,<br />
dies sei nun auf dem Lande auch so. Erich spricht selten mehr als nur das Nötigste. Er ist ein Typ,<br />
der die reduzierte Sprache bevorzugt. Am liebsten sitzt er am Schreibtisch oder unter der Markise<br />
und liest Biografien, die verflossene Jahre nachzeichnen. Kaum etwas, was ihn aus seiner<br />
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vordergründigen Ruhe brächte. Und wenn, dann verschließt sich Erich noch mehr und taucht für<br />
lange Spaziergänge in den angrenzenden Wäldern unter -allein natürlich.<br />
Erich bezeichnet Irene als seine Frau, auch wenn sie unverheiratet sind und die beiden die<br />
Ehe als "bürgerliches Privateigentum in einer Männergesellschaft" charakterisieren. "Aber was soll<br />
ich zu ihr sagen", fragt er ein wenig hilflos, "Geliebte, das passt , Freundin ist mir zu flach und<br />
Lebensgefährtin zu oberschichtig." Also ist Irene seine Frau in der Fohrenbachhof-Kommune,<br />
noch dazu, wo sie ebenfalls einen Sohn haben, der Jan gerufen wird. Irenes Betonung liegt auf dem<br />
Wörtchen Gefühl. "Mensch, guck mal", sprudelt es aus ihr heraus, "wir leben auf dem Land, das ist<br />
unheimlich schön. Wenn das Wetter prächtig ist, wir unter dem Birnbaum zusammensitzen und<br />
Wein trinken. Das alles nach einem Tag, an dem wir ein Dach abgedeckt oder Heu reingeholt<br />
haben. Dann stellt sich einfach ein Lebensgefühl und ein Körpergefühl her, das die vermieften<br />
Stadtexistenzen gar nicht kennen; sozusagen ein Extra, ein Bonus für uns." Irene scheut sich nicht<br />
vor pathetisch klingenden Vergleichen, um sich und ihre Gefühlsansprüche zu erklären. Sie will<br />
jemanden lieben und hassen. Ihm sagen können, dass er eine "alte Arschgeige" ist, dass er seinen<br />
"erbärmlichen Scheiß" alleine machen soll, dass er gegenwärtig mit ihr kaum rechnen darf, weil sie<br />
bitter enttäuscht sei. Sie will es ihm einfach sagen können, ohne ihn gleich zu verlieren und ihm<br />
"grundsätzlich ihre Zuneigung zu entziehen". Ein Verhalten, das in der Stadt die wenigsten<br />
tolerierten; nicht einmal die eigene Familie oder die Mitbewohner in Wohngemeinschaften, in<br />
denen Irene zeitweilig lebte.<br />
Dafür bietet die Stadt zu viele Nebenschauplätze, zu viel Ablenkung, zu viele Ersatz-<br />
Freundschaften, zu viele Verdrängungsmöglichkeiten. Auf dem Fohrenbachhof jedoch, in der<br />
niederbayerischen Einöde, sind extreme Gefühlssprünge erlaubt, selbst wenn es für den einen oder<br />
anderen schmerzlich ausgeht. Denn wen es hierher verschlägt, der muss schon ein Quantum an<br />
Entschlossenheit mitgebracht haben, das Alteingefahrene hinter sich zu lassen. Sein Anliegen, in<br />
aller Abgeschiedenheit zu leben, verträgt sich nicht mit dem üblichen Stadtverhalten. Es würde ihm<br />
auch gar nicht gelingen, City-Allüren auf dem Lande zu kopieren, Konflikte auszuweichen, sie in<br />
Alkohol zu ertränken oder sie vorteilheischend herunterzuspielen. Auf dem Fohrenbachhof kann<br />
keiner vor sich selbst und vor den anderen flüchten. Außer in der Gruppe gibt es keine<br />
zwischenmenschlichen Kontakte, nicht einmal ein Telefon. Außer dem Hof gibt es nichts, nur eine<br />
durchdringende Ruhe, die jeden zuschnürt, der mit ihr nicht umzugehen weiß.<br />
Der Fohrenbachhof liegt tief im Niederbayerischen eingegraben, umgeben von<br />
großflächigen Feldern und dichten Wäldern, fernab von Bundesstraßen und Fabriken. Passau, die<br />
nächstliegende Stadt, haben manche einheimischen Bauern erst zwei- oder drei Mal in ihrem Leben<br />
gesehen. Der Hof war früher ein verlassenes, klappriges Gehöft mit zwei Hektar Land ohne<br />
Kanalisation und Elektrizität. Hätten ihn Erich, Irene, Hilde und Volker im Jahre 1975 nicht für<br />
85.000 Mark aufgekauft, er wäre allmählich verfallen. Es war ein Konjunkturpreis zu jener Zeit,<br />
weil in der Alternativen-Bewegung viele Freaks ihr Stadt-Getto mit einem beschaulich anmutenden<br />
Bauernhof einzutauschen versuchten. Die Gegend lässt einen Neuankömmling ihre Verlassenheit<br />
spüren. Für Tourismus ist der Landstrich nicht bizarr genug, für Industrieansiedlungen sind die<br />
Anfahrtswege zu weit. Armut und Arbeitslosigkeit werden in Niederbayern noch mit dem<br />
sonntäglichen Amen beantwortet. Kaum ein Bauer könnte hier ohne Nebenverdienst über die<br />
Runden kommen. Ein Hof, der halbwegs rentabel bewirtschaftet wird, benötigt en Betriebskapital<br />
etwa zwischen 150.000 und 200.000 Mark. Ihn zu erwerben, würde mindestens 2.5 Millionen Mark<br />
erfordern.<br />
3 8
Als Erich, Irene, Hilde und Volker mit ein paar Büchern und Klamotten auf ihren<br />
Fohrenbachhof zogen, konnten sie sich längst nicht mehr zur Jugend rechnen, obwohl sie es taten.<br />
Nur Irene steckte noch in den Zwanzigern, die anderen drei hatten bereits die Trau-keinem-überdreißig-Schallmauer<br />
durchbrochen. Sie gehörten zu jenen, denen die Fähigkeit zur alltäglichen<br />
Anpassung den Lebensnerv zu rauben schien. Sie gaben Positionen auf, die ihnen ein gesichertes<br />
Einkommen und eine kalkulierbare Beamten-Laufbahn eröffnet hätten. Die Soziologen Erich,<br />
Hilde und Volker hatten über Jahre darauf hingearbeitet, einmal als Hochschullehrer Studenten<br />
auszubilden. Irene durchlief noch die Studienreferendarzeit. Sie wollte eigentlich Studienrätin<br />
werden. Aber je länger Irene sich auf ihre Beamtenlaufbahn vorbereitete, desto mehr empfand sie<br />
das bürgerliche Leben als eine Notgemeinschaft, die aber "richtig ihre Krallen nach mir ausstreckte.<br />
Immer war ich nur auf dem Prüfstand", sagt Irene. "Bei meinen Eltern musste ich gute Schulnoten<br />
nach Hause bringen, die Uni sollte ich möglichst mit einem Einser-Examen verlassen, um<br />
überhaupt noch die Chance einer Anstellung zu haben, im Referendariat versuchte mich dann der<br />
Staat zu testen, ob ich ein ordentlicher Mensch bin, ob ich ein gewissenhafter Beamter werde, ob<br />
ich auch akkurat angezogen bin, ob ich auch das Gefragte dezent aber unzweideutig in ihrem Sinne<br />
formulieren kann, ob ich in einwandfreien Verhältnissen lebe, ob ich ein dreckiges oder sauberes<br />
Auto fahre."<br />
Und dann der innere Zwiespalt: "Du stehst vor deinen Schülern, sollst sie auf Leistung<br />
trimmen, mit Zensuren massiv Druck ausüben, obwohl dir selbst die aberwitzige<br />
Leistungsschinderei zuwider ist." Und dann die Ohnmacht: "Am schlimmsten waren nicht die<br />
Schüler, sondern ihre Eltern, mit denen du als fortschrittlicher Lehrer eigentlich zusammenarbeiten<br />
wolltest. Aber die kamen nur alle naselang angelaufen, um zu hinterfragen: , . Machtest du es nicht,<br />
gönntest du den Schülern eine Atempause, schon musstest du dich vor dem Direktor<br />
verantworten. Wild gewordene Eltern hatten sich bei ihm beschwert. Sie hätten den Eindruck, ihr<br />
Sohn lerne zu wenig. Der Chef nickte verständnisvoll, und du warst wieder unter einem<br />
beschissenen Rechtfertigungszwang."<br />
Und dann die Konsequenz: "Als ich meine Entscheidung gefällt hatte, dass ich in eine<br />
Landkommune gehe, da fühlte ich mich unheimlich befreit. Es war ein Gefühl, dass mich die<br />
Institutionen mit ihrer ewigen Bevormundung und Entmündigung am Arsch lecken können, dass<br />
ich mich endlich nicht mehr unauffällig, opportunistisch und ekelhaft verhalten muss, um mich zu<br />
behaupten." Nur in einem Punkt plagte Irene anfänglich das schlechte Gewissen. Ihr Vater hatte<br />
sich als Postbote im Hannoverschen im wahrsten Sinne die Hacken abgelaufen, damit seine<br />
Tochter studieren kann und es in der Beamtenhierarchie, von der er immer sprach, ein wenig<br />
weiterbringt als er. Mit Irenes kärglichem Landleben und einem unehelichen Sohn dazu musste sie<br />
zwangsläufig die lang gehegten Hoffnungen ihres Vaters enttäuschen.<br />
Allmählich reagierten die Eltern von Erich, Hilde und Volker. Hatte doch mit ihren<br />
Kindern alles wie am Schnürchen geklappt, gab es noch nicht einmal wie in anderen Familien einen<br />
plötzlichen Knall, der einen Bruch mit der Gesellschaft rechtfertigte, kein Berufsverbot, keinen<br />
Rausschmiss. Ganz im Gegenteil: Alles verlief gradlinig und erwartungsgemäß. Der Ausstieg ihrer<br />
Kinder aus dem Beruf traf die Eltern deshalb um so unverhoffter und unvorbereiteter. Sie haben<br />
ihn bis heute nicht verarbeitet, er hat Narben hinterlassen.<br />
Bei Erich und Volker kam aber etwas anderes hinzu. Beide verstehen sich als Sozialisten<br />
mit dem einstigen Anspruch, die bundesdeutschen Gesellschaftsstrukturen radikal zu verändern.<br />
Einen Anspruch, den sie als SDS-Mitglieder in Frankfurt mit in die APO-Bewegung einbrachten,<br />
aber zu keiner Zeit einlösen konnten. Das hat sie verhärtet und bitter gemacht. Erich und Volker<br />
39
zählen nämlich quasi zur Nachhut der "Frankfurter Schule". Ihnen gehen heute noch Adorno-,<br />
Horkheimer- und Marcuse-Zitate auf dem Acker spielerisch über die Lippen, so als würden sie den<br />
praktischen Nachweis für die Richtigkeit der Kritischen Theorie liefern wollen. Etwa die Marcuse-<br />
Überlegung: ein neues Verhältnis zur Natur sei ein zentrales Moment der "Umwertung aller<br />
Werte".<br />
Ihr Auszug aufs Land beruht im wesentlichen auf zwei Eingeständnissen. Zum einen:<br />
"Kein sozialistischer Ansatz in den letzten Jahren ist in nennenswerterem Umfang über den<br />
zumeist intellektuellen Umkreis ihrer Schöpfer hinausgegangen", erklärt Erich. Zum anderen: Es<br />
war die Linke, die zwar stets von Massenpolitik und Massenbewegung, von Bewusstseinsprozessen<br />
und Proletariat redete, in Wirklichkeit aber in ihrem eigenen Theoriedunst erstickt, weil sie unfähig<br />
war, einen praktischen Bezug zu ihrer konkreten Utopie herzustellen, und deshalb kläglich<br />
scheiterte. Eine Linke, die dem elitären Irrglauben verfiel, allein mit Rationalität und Aufklärung sei<br />
die Hauptarbeit auf dem Wege zu einem "neuen Menschen" schon geleistet, und dabei<br />
Lebensgefühle und -zusammenhänge derer verschmähte, die sie eigentlich mit ihrer Politik<br />
erreichen wollte. Und eine Linke, die offenkundig nicht merkte, dass nicht sie die Institutionen,<br />
sondern die Institutionen sie verändert haben.<br />
Volker wollte nicht länger mit einem hohen politischen Anspruch durch die Mensa laufen.<br />
Er hatte den Studenten etwas über egalitäre und soziale Bewegungen oder Selbstorganisationen zu<br />
erzählen, quasi einen auf Idealismus zu machen, um in Wirklichkeit sein ganzes Leben darauf<br />
auszurichten, nur in der Universitätshierarchie hochzukommen. Und Erich spürte in den<br />
Lehrveranstaltungen seine Machtlosigkeit. Die Hochschule war für ihn kein Freiraum mehr, kein<br />
Ort der offenen, geistigen Auseinandersetzung, sie hatte für ihn die Gestalt eines<br />
Durchlauferhitzers. Immer mehr Studenten strömen in die Hochschulen, um in immer kürzerer<br />
Zeit mit irgendeiner Qualifikation ab gefrühstückt zu werden. Eine regelrechte Verschulung von<br />
Vorlesungen hat sich eingeschlichen - ausgelöst durch Erlasslawinen der Kultusbürokratie. Die<br />
Universität als Lernfabrik, als Zuliefererbetrieb für gewisse theoretische Bedürfnisse in der<br />
Gesellschaft. Erich: "Okay, jedes Jahr ein Streik, bei dem nichts rauskommt, den man routinemäßig<br />
abhaken kann. Aber sonst rollt die politische Entwicklung der Anti-Kernkraft-, der Ökologie- und<br />
Alternativbewegungen über die Hochschulen hinweg. Ich sah keinen Sinn mehr darin, mich als<br />
aufgeklärter linker Mensch in diesem Beruf zu verschleißen, Soziologen zu produzieren, die dann<br />
irgendwann doch ein Arbeitslosendasein fristen. Dann lasse ich doch den ganzen<br />
Kathedersozialismus und versuche meinen eigenen Kram zu machen, indem ich meine<br />
Vorstellungen und Ideen wirklich umsetzen kann ...".<br />
Erich und Volkers Auslassungen sind von vielen städtischen Freunden missverstanden<br />
worden. Manche spotteten über ihren Rückzug ins Private, andere glaubten gar, ihr Verhalten sei<br />
gänzlich unpolitisch und nur durch resignative Anflüge erklärlich. Doch beides ist falsch. Wer sich<br />
lediglich zurückzieht, der kann auch wiederkommen. Erich, Irene, Hilde und Volker denken aber<br />
nicht im entferntesten daran, eines Tages wieder anzuknüpfen, wo sie 1975 aufhörten. Sie zogen<br />
sich nicht zurück, sie brachen endgültig mit dieser Gesellschaft. Ein Bruch, der irreparabel ist.<br />
Ihnen ist absolut klar, keiner wird in seinem alten Beruf jemals den Anschluss wieder finden<br />
können. Selbst wenn er es nach Jahren reuig wollte, der Staat würde seinen Beamtennachwuchs<br />
wohl zuallerletzt aus linksorientierten Landkommunen rekrutieren. Ihr Einschnitt bedeutet nicht<br />
nur den Endpunkt einer bürgerlichen Karriere. Sie haben sich ebenfalls vom viel gerühmten<br />
sozialen Netz in diesem Lande losgesagt.<br />
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Doch alle wussten um den schmalen Grad, auf dem sie sich bewegten. Und alle hatten<br />
auch ein wenig "Angst vor dem Sprung in den neuen Lebenszusammenhang". Denn wann und wo<br />
lassen sich eindeutig die Grenzlinien ziehen, etwa zwischen kleinfamiliären Verhaltensweisen und<br />
tatsächlich neuen Formen des Miteinanders, wo endet die unterdrückende Gruppennorm, wo<br />
beginnt die befreiende Solidarität, wann hat jemand eine Neurose und wann sagt man, ja endlich,<br />
das ist die neue Identität, wann ist die zu leistende Arbeit nicht entfremdet, sondern<br />
selbstbestimmt, inwieweit muss man sich noch kapitalistischen Marktzwängen unterordnen?<br />
Fragen, auf die alle Kommune-Mitglieder Antworten finden mussten, wollten sie sich<br />
nicht zu bloßen Wald- und Wiesenexistenzen degradieren, bei denen zwar kein Schuldirektor und<br />
keine Kultusbürokraten, sondern dafür Hofschrate das Sagen haben. Eines war allen so ziemlich<br />
klar. Ein Ausstieg verheißt noch lange keinen neuen Einstieg. Keiner wusste, ob sie nicht schon<br />
nach einem Jahre zerrüttet und zerstritten vor einem Scherbenhaufen stehen. Viel hatten sie von<br />
anderen Landkommunen gehört, die sie auch teilweise besuchten - von deren Zerbrechlichkeit, von<br />
dem ständigen Kommen und Gehen, von den überspannten Erwartungen des Alles oder Nichts,<br />
von Landkommunen, die mehr ihren Zweck als Zwischenstation auf dem Weg ins transzendentale<br />
Indien erfüllten, von menschlichen Enttäuschungen, angesiedelt zwischen sexuellen<br />
Befreiungswünschen bei gleichzeitig tief verinnerlichtem Besitzdenken, manche kapitulierten auch<br />
vor der harten körperlichen Arbeit oder der Einsamkeit, andere klagten über den radikalen<br />
Konsumverzicht, Gebrauchsgüter, die in der Stadt so niedrig eingeschätzt wurden und nun auf<br />
einmal doch zu fehlen scheinen.<br />
Erich, Irene, Hilde und Volker machten etwas Vernünftiges. Sie fuhren Monate durch die<br />
USA, klapperten eine Landkommune nach der anderen ab. Sie wollten lernen, Erfahrungen<br />
sammeln und Rückschlüsse ziehen, den immerhin gibt es seit Ende der sechziger Jahre an die 2.000<br />
Landkommunen-Projekte in den Vereinigten Staaten. Sie sahen Kollektive , die in ihrer Rigidität<br />
und Radikalität nicht zu bremsen waren. "Der Kampf gegen die Scheiße in uns ist ein Teil des<br />
Aufbaus einer neuen Gesellschaft", hieß es da. Und ihre eigene Scheiße bezog sich keineswegs nur<br />
auf äußere Begleiterscheinungen wie politische Unterdrückung oder Rassismus. Sie meinten damit<br />
vielmehr den persönlichen Besitz an Gebrauchs-und Konsumgütern, denen gleichfalls Liebe,<br />
Sexualität, eben die ganze Privatsphäre zugeordnet wurden. Als Idealzustand galt, wenn jedes<br />
Bedürfnis eines Kommune-Mitglieds, ob es ein Buch lesen will, einen Spaziergang macht oder sich<br />
einfach für eine gewisse Zeit zurückziehen möchte, durch Gruppendiskussion geregelt wird. Wer<br />
der Gruppe eine derart herausragende Vormachtstellung zuerkennt, der muss zwangsläufig jede Art<br />
von Zweier-Beziehung bekämpfen. Der muss natürlich Monogamie als störend empfinden, weil<br />
sich die jeweiligen Partner in erster Linie auf sich und nicht auf die Gruppe beziehen. Deshalb<br />
wurde in vielen Landkommunen auch folgerichtig das "Pärchen-Unwesen" zerschlagen, um für die<br />
anderen ohne Schuldgefühle offen zu sein - und zwar politisch, persönlich und sexuell.<br />
Natürlich beobachteten die vier instabile Gruppen, die völlig ausgeflippt waren, denen<br />
jedes Selbstverständnis für alternative Lebensformen fehlte, obwohl sie in der Land-Szene<br />
herumhingen. Typen, die in Plastik-Hütten hausten, zwischen Autowracks und lebenslustigen<br />
Ratten, ohne Wasser und Strom. Herumstreunende Jugendliche aus den Großstädten, oft<br />
vollgekifft und abgefüllt, die sich in den Landkommunen auspennen und durchfressen konnten, bis<br />
sie irgendwann weiterzogen. Mütter, die teilweise nicht wussten, von welchem Mann ihr Kind kam,<br />
aber mit ihrem zwölfjährigen Sohn den Beischlaf probierten, damit der Junge nicht unnötig unter<br />
dem Ödipus-Komplex zu leiden habe. Natürlich gab es auch Landkommunen, die nach<br />
schwierigen Anläufen recht gut funktionierten und wo man glaubte, sich Stein für Stein seinen<br />
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Lebensidealen zu nähern. Doch der Trip durch Kalifornien - das war schon ein bisschen das Ende<br />
eines Traums, einer abgehobenen Vision. Manches, was zunächst nach Befreiung aussah, erwies<br />
sich als ausgemachte Konfusion von tief verunsicherten Menschen, die die Zivilisation hingerichtet<br />
hat.<br />
Aber nun standen Erich, Irene, Hilde und Volker den ersten Tag im Spätsommer 1975<br />
vor ihrem Traum, dem Fohrenbachhof im Niederbayerischen. Nur - da war nichts mehr von der<br />
kalifornischen Sonne und dem Easy-Rider-Gefühl übriggeblieben, kein pittoresker Blickwinkel,<br />
kein kontemplatives Moment. Denn es regnete unentwegt, der Lehmboden war glitschig<br />
aufgeweicht und die neue Landkommune watete im städtischen Gang über den Matsch-Hof. Junge<br />
Leute, die in ihrem Leben noch keine Mistgabel in der Hand gehalten hatten, die keine Schwielen<br />
kennen, lediglich ihren Schreibknubbel am rechten Mittelfinger, die standen nun da, an diesem<br />
nasskühlen Sommertag, und schauten ziemlich verzagt drein. Keine Wasserleitung funktionierte,<br />
von der Kanalisation ganz zu schweigen, Stromleitungen, die rausgerissen an nassen Wänden<br />
baumelten, in den Räumen roch es nach feuchtem Schimmel, wurmstichige Holzbohlen hier und<br />
dort , kurzum: alles wirkte trist und tot.<br />
Vor allem bei Irene schlug der unbehagliche Neubeginn schnell auf die Psyche durch.<br />
Gut, sie alle wussten schon recht lange, was und wie viel noch gemacht werden musste - aber das<br />
waren doch bisher mehr oder weniger theoretische Überlegungen gewesen. Als Irene noch in der<br />
Stadt wohnte und des Öfteren an den Fohrenbachhof dachte, da waren es die Butzenscheiben, der<br />
Birnbaum und ihr Töpferhandwerk, das sie recht bald erlernen wollte. Und je mehr sie sich über<br />
Kollegen, Eltern und Schüler ärgerte, desto schnuckeliger erschienen ihr die Butzenscheiben, desto<br />
üppiger sollte die Birnbaum-Ernte ausfallen.<br />
Irene spürte ihre Beklemmungen, ihre Verwirrungen. Sie fragte sich, ob die Idee mit der<br />
Natur nicht ein Hirngespinst gewesen sei. Die sogenannte Natur hatte sie nur durch die<br />
Sonntagsnachmittagsspaziergänge mit ihren Eltern kennengelernt, ein Promenadenlauf, den sie<br />
immer hasste, weil er sich so kleinbürgerlich artig und damit borniert ausnahm. Später hockte sie<br />
meist in verqualmten Buden und Bier verstunkenen Kneipen - das war die Studentenzeit. Man<br />
redete über Sein oder Nichtsein, über den französischen Existenzialismus und über die neue Linke;<br />
keine Naturfrische, sondern stumpfe Blässe, tief liegende Augenringe und die Nickelbrille waren<br />
und natürlich auch Gauloises und Roth Händle, die wie ein selbstverständliches Ritual auf dem<br />
Tisch lagen.<br />
Dann kam die Phase mit den Fedajinen-Tüchern, das wachgeküsste Bewusstsein für die<br />
Probleme der Dritten Welt. In ihrem Bekanntenkreis hatten die meisten solch ein Fedajinen-Tuch.<br />
Und wenn es abends mal kurz zum Griechen, Türken oder Libanesen essen gingen, da hatten sie<br />
alle ihre Tücher umgelegt. Sie begrüßten den Wirt und sein Personal ganz emphatisch, einfach<br />
stellvertretend für die Freiheitskämpfer im Nahen Osten oder auch nur als Sympathiebeweis für die<br />
südlichen Regionen. Irene jedenfalls empfand solche Abende besonders schön und schick.<br />
Aber hier, auf dem Fohrenbachhof, konnte sie nicht mehr schnell um die Ecke zum<br />
Libanesen. Da saß sie in der Küche und schaute auf diese ewig grüne Wiese. "Wenn sie doch mal<br />
eine andere Farbe hätte", dachte sie sich. Aber immer dieses gleichbleibende Grün. Sie überlegte,<br />
ob ihr Ausbruch aufs Land nicht doch nur eine Flucht sei, der Fohrenbachhof eine seelische<br />
Mülldeponie für Schutt und Schlacke, den sie aus der Stadt mitgebracht hatte. Oder ob die Natur<br />
nicht einfach ein Projektionsventil für verschwiegene Wünsche und Hoffnungen ist, die man sich<br />
in der Stadt untereinander nicht eingesteht, weil es zu sentimental klingt, wo doch selbst der<br />
Umzug auf einen heruntergekommenen Hof noch eine sozialistische Perspektive hat. Und die<br />
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Natur? War es das, was sie suchte, glaubte sie hier ihre verschwiegenen Hoffnungen und Wünsche,<br />
die sie ja selbst nur vage oder flüchtig kannte, verwirklichen zu können? Sie bezweifelte es am<br />
ersten Tag, der kalt, nass und ungemütlich war.<br />
Für Hilde dagegen bot das heillose Durcheinander die einmalige Chance, neue<br />
Lebensbezüge herzustellen und alteingefahrene Strukturen auszuhebeln. Sie schaffte sich mühelos<br />
ins Chaos rein. Das Wort Lebenszusammenhang hatte bei allen eine zentrale Bedeutung. Da wurde<br />
nicht nur renoviert, sondern die Werkelei schuf einen neuen Lebenszusammenhang für die<br />
Landkommune. Erich sagt: "Wir spielen auf dem Fohrenbachhof nicht Bauer, wir arbeiten auch<br />
nicht mit den Bauern. Sondern wir produzieren bestimmte Sachen für uns, die wir früher nicht<br />
kannten. Wir produzieren nicht nur Bewusstsein, sondern mit diesem Bewusstsein ein kleines Stück<br />
gesellschaftliches Sein - freilich nur für uns, nicht für andere."<br />
Es war Hilde, die irgendwo im Umkreis einen Boiler auftrieb, ihn anmontierte und einen<br />
Wasserhahn dran schweißte. So hieß der erste neue Lebenszusammenhang die Auflösung der<br />
traditionellen Rollen zwischen Männer und Frauen. Jeder machte alles, in einem<br />
Rotationsverfahren. das nach vier Jahren zu einer Selbstverständlichkeit geworden ist. Und die<br />
Maxime lautet: "Keine Arbeit sollte wertvoller sein als eine andere." Erich kann inzwischen<br />
fabelhaft abwaschen - und das dreimal am Tag. Volker versteht sich ausgezeichnet mit der<br />
Waschmaschine. Hilde pflanzt im Garten, Irene mistet den Stall aus. Tags darauf ist es umgekehrt.<br />
Die Landkommune will keine Spezialisierung aufkommen lassen. Jeder soll nachvollziehen können,<br />
was die jeweilige Arbeit des anderen bedeutet. Für einen Fremden wirkt das alles sehr unorganisiert.<br />
Mal ist einer im Garten, mal beim Dachdecken, mal beim Erdbeeren-Einmachen, dann mal wieder<br />
nicht.<br />
Doch diese undeutsche Arbeitsweise hat einen entscheidenden Vorteil. Keiner trägt allein<br />
die viel zitierte Verantwortung, womit er auf die anderen Druck ausüben und sie unterdrücken<br />
kann. Jedenfalls können Hierarchien so kaum entstehen, denn der gemeinsame<br />
Arbeitszusammenhang verbindet die Gruppe. Erich fiel die Umstellung besonders schwer.<br />
Theoretisch fand er es nur logisch, so und nicht anders vorzugehen. Aber in der Praxis sah das<br />
schon düsterer aus. Ihm schien nichts richtig voranzukommen. Er vermisste die ein bürgerliches<br />
Leben lang eingeübte Verbindlichkeit. Mal hilflos, mal wild entschlossen packte er mit an, jeden<br />
Tag an einer anderen Stelle. Doch das Bad, das ursprünglich schnell eingebaut werden sollte, war<br />
erst nach einem halben Jahr fertig. Es brauchte seine Zeit, bis sich Erich auch innerlich von seinen<br />
Effizienzvorstellungen und dem selbsterzeugten Termindruck lösen konnte.<br />
In dieser Phase entfernte sich die Gruppe immer stärker von der Gesellschaft. Langsam<br />
entwickelten sie ihr Eigenleben, das von äußeren Einflüssen ziemlich unbehelligt bleibt. Zwar ist es<br />
nicht so, dass politische Ereignisse in den Metropolen oder auch anderswo nicht zu ihnen<br />
vordringen, dafür gibt es die Frankfurter Rundschau, aber sie haben kaum noch ihr Gewicht. Wenn<br />
um 20 Uhr die Tagesschau läuft, der Einmarsch russischer Truppen in Kabul die<br />
Aufmachermeldung ist, dann beschäftigt sich die Landkommune mit einem ihr näherliegenden<br />
Tagesereignis. Ihr Hahn hinkt und die Hennen warten. "Ein neuer muss her", sagt Volker. "Das<br />
finde ich gemein. Drei Jahre hat er uns die Treue gehalten. Können wir ihn nicht leben lassen und<br />
in Pension schicken?" erwidert Irene.<br />
Die Kommune sitzt in ihrem Wohnzimmer an einem großen Tisch. Das Tagwerk ist<br />
vollbracht, der Feierabend angebrochen, und jeder weiß etwas zu erzählen aus der Welt des Hofes -<br />
und dazu benötigt keiner einen Fernseher oder ein Radio. Auf das allabendliche Schätzchen legen<br />
sie besonders großen Wert, betont Hilde. Die Fehrenbach-These: Arbeit ist Freizeit, Freizeit ist<br />
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Arbeit. So findet es keiner lästig, wenn am Hofabend des Verhältnis zum Schwein<br />
"problematisiert" wird. Das Schwein heißt nur Schwein - und das stimmt einige nachdenklich. Zur<br />
Kuh sagen sie Klara, zum Esel Nelle, zu den Schafen Luna, Lolita, zu den Ziegen Mimi und<br />
Mariechen. Und zum Schwein? Zwei Fraktionen taten sich zeitweise bei diesem Thema auf. Die<br />
eine sah im Schwein nur einen Fleischhaufen, der irgendwann mal pfannengerecht hergerichtet<br />
werden muss. Die andere sagte, diese Namenslücke sei ein bedenkliches Zeichen. Die Kommune<br />
müsse wirklich einmal ihr Verhältnis zu den Viechern überprüfen. Schließlich wolle man von Klara<br />
ja auch nur Milch und von Luna, Lolita auch nur Wolle. Okay, meinten jene, die das Schwein gern<br />
anonym lassen wollten. So wurde aus dem Schwein Max, und alle waren zufrieden.<br />
Freizeit soll aber auch ein Stück Besinnung sein -natürlich über sich selbst und vielleicht<br />
über sein Verhältnis zum Hof. Was zu Anfang keiner für möglich hielt und jeder weit von sich<br />
wies, ist inzwischen eingetreten, der SDS-Mann von einst, der mit Schriften hervortrat, "Die<br />
Revolution ist vorbei, wir haben gesiegt", schmückt Weihnachten seinen riesengroßen<br />
Tannenbaum, der bis unter die Decke reicht" und bestückt ihm mit "richtigen Kerzen". Um fünf<br />
Uhr nachmittags läutet Volker zur Bescherung, die Gruppe singt Weihnachtslieder, bevor er aus<br />
der Bibel Markus- und Matthäus-Passagen vorliest. Manchmal bevorzugt er auch russische<br />
Märchen, weil sie so gut zum Hof passen. Besonders "Das weiße Entchen", hat es ihm angetan.<br />
"Rituale sind wichtig", beteuert Volker, "weil das Leben, vor allem hier draußen auf dem Lande,<br />
sonst eine freudlose Geschichte wäre. Es hat halt langfristig keinen Sinn, überbrachte Formen des<br />
Bürgertums abstrakt zu negieren", sagt der Soziologe.<br />
Am Silvesterabend geht Volker jedenfalls auf den Hof knallern, an der Sonnenwende<br />
hüpft er mal kurz übers Lagerfeuer. Mit Knallfröschen hatte er das letzte Mal als Schulbub zu tun,<br />
die Bedeutung der Sonnenwende lernte er als Pfadfinder vor 15 Jahren kennen - damals, als sie auf<br />
ihren Zeltplätzen "Wir lagen vor Madagaskar und hatte die Pest an Bord" auf ihrer Mundorgel<br />
schmetterten.<br />
Apropos Feuer, zu ihm hat Volker eine besondere Affinität, wohl weniger zum Löschen,<br />
aber das gehört nun mal dazu. Er ist nämlich Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr Ruhstorf. Die<br />
Gruppe war erstaunt , als sie von Volkers Feuerwehr-Engagement hörte. Volker meinte, das müsse<br />
man im "Nachbarschaftszusammen-hang" sehen. "Natürlich, sagten die anderen. "Wir können<br />
hilfsbereit und solidarisch sein. Das versteht sich von selbst. Deshalb brauchst du nicht gleich so<br />
'ne komische Uniform anzuziehen, die verdammte Ähnlichkeit mit der SS-Maskerade hat, nur der<br />
Totenkopf fehlt noch."<br />
Oft ist sonntags für ihn der Uniform-Tag. Dann geht's im roten Ruhstorfer Feuerwehr-<br />
Bus zur Fahnenweihe nach Österreich oder querbeet durch die Nachbardörfer, hier ein<br />
Schlückchen, dort ein Männerwort. Doch Hohn und Spott vergingen recht bald. Vielleicht war<br />
Volkers Feuerwehr-Uniform genau das richtige, um die freiwillige Selbstisolation im<br />
Niederbayerischen wenigstens stundenweise zu durchbrechen, um überhaupt mal zu erfahren, was<br />
die Dorf-Insider im fernen Umkreis über die Landkommune tuschelten. Denn Anlässe gab es ja<br />
genug.<br />
Im Rahmen der Schleyer-Fahndung tauchten im Herbst 1977 unverhofft dreizehn mit<br />
Maschinenpistolen bewaffnete Polizisten auf dem Hof auf. Sie durchsuchten sämtliche Schränke<br />
und Schubläden, fotografierten sogar den Hof und Stall. Die Beamten verhielten sich zwar korrekt<br />
und der entführte Arbeitgeberpräsident Hanns-Martin Schleyer (*1915+1977) wurde bekanntlich<br />
auf dem Hof auch nicht gefunden, doch wilde und wüste Spekulationen machten die Runde.<br />
Einheimische Bauern, die sich regelmäßig in der Kneipe Göttlinger zum Weizenbier und<br />
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Doppelkopfspiel treffen, äußerten ganz offen ihr Unbehagen. Die Polizei wäre nie und nimmer<br />
dort mit Maschinenpistolen im Anschlag hineingegangen, hieß es lapidar. Kommunisten und<br />
Anarchisten würden auf dem Fohrenbachhof hocken. Das seien alles verlauste Gestalten. In solch<br />
brenzligen Situationen war es schon wichtig, dass Volker über die Feuerwehr seine Außenkontakte<br />
sorgsam pflegte, dass Kommandant Brüller am Stammtisch seinen Doppelkopf-Mitspielern<br />
widersprechen konnte. Und sich allmählich bei den Unwilligen die weniger spektakuläre Erkenntnis<br />
durchsetzte, den Fohrenbachhofern gehe es vielmehr darum, ob sie ihre Roggen- und<br />
Gerstenfelder mit Chemikalien oder mit ihrem Kompost düngen sollten. Diesen Stimmungswandel<br />
kann sich Volker als sein Verdienst anrechnen. So entpuppte sich ein weitaus harmlosere Thema<br />
zum Dauerbrenner, an dem sich auch der Pfarrer unauffällig beteiligt. Die unverheirateten Paare,<br />
die unehelichen Kinder, keiner will einen Trauschein oder den kirchlichen Segen. Wissen die<br />
Frauen überhaupt - von welchen Männern die Kinder abstammen? Machen die Gruppensex oder<br />
nicht? Das sind heute die Fragen, die die Gemüter immer aufs neue bewegen.<br />
Es war ein bedeutsamer Tag in der jungen Fohrenbachhof-Geschichte, als im Sommer<br />
1979 erstmals die Feuerwehrmannschaft plus Löschwagen auf dem alternativen Hof vorfuhr.<br />
Kommandant Brüller, im Zivilberuf Dachdecker, hatte kurzerhand eine Übung auf dem<br />
Fohrenbachhof angesagt. Irene kriegte sich gar nicht wieder ein, sie flitzte in die Diele, um den<br />
Biervorrat zu kontrollieren. "Wir müssen Bier holen", sagte sie in einem fort. Pit, ein ausgeflippter<br />
Lehrer, der gerade zu Besuch war, eilte in seinem schwarzen BMW zu Göttlinger und brachte<br />
gleich fünf Kisten mit. Keiner wusste so recht, wie viel die Feuerwehr wegschluckt. Aber nach<br />
Volkers Alkoholpegel zu urteilen, den er stets nach den Übungen hatte, schienen schon fünf Kisten<br />
arg knapp bemessen. Hilde, die ein wenig geschlafen hatte, kam verblüfft in die Küche: "Mensch,<br />
gut mal, die Feuerwehr ist da. Das hätte ich ja nicht gedacht." Selbst Erich, einer der Ruhigsten,<br />
hoppelte etwas schneller über den Hof. "Bier reicht nicht, wir müssen auch Stullen anbieten",<br />
befand er. Die plötzliche Hektik schien verständlich. Letztlich ging es ja auch gar nicht ums<br />
Löschen, sondern einfach darum, dass die Kommune sich von den Einheimischen akzeptiert fühlte<br />
- quasi durch Kommandant Brüller und seine Mannen übermittelt.<br />
Nun standen die Feuerwehrleute unten am Weiher und spritzten mit einem Mords-atü<br />
Wasserfontänen auf die nahestehenden Bäume. Volker blieb auffällig in Brüllers Nähe, ein bisschen<br />
wie sein persönlicher Referent. Hilde, die ihn beobachtete, konnte mit seinem Verhalten wenig<br />
anfangen. "Merkwürdig", dachte sie, "in Frankfurt an der Uni, da hatte Volker mit seinen<br />
Vorgesetzten ständig Autoritätsprobleme. Aber wenn der Feuerwehr-Typ ihm etwas sagt, dann<br />
springt er." Die Übung dauerte keine halbe Stunde. Dafür zog sich die Biertrinkerei bis weit in die<br />
Nacht hinein. Und tatsächlich war es eine der milden und sternklaren Sommernächte unter dem<br />
Birnbaum, von denen die betonerfahrenen Städter schwärmen, wenn sie ans Landleben denken.<br />
Die Feuerwehr-Mannen und die Landkommune saßen im Kreis, Kommandant Brüller war ihr<br />
Mittelpunkt. Bierlallend erzählt er eine Schote nach der andern, auf nNiederbayerisch versteht sich.<br />
Irene, Hilde und Erich lachten meist recht gequält, denn trotz vierjähriger Fohrenbach-Erfahrung<br />
verstanden sie den Kommandanten nicht. Volker, der am Lagerfeuer herum kokelte, hatte es da<br />
einfacher. Als der Kommandant "etwas Alternatives" sehen wollte, holte Volker den alternativen<br />
Esel Nelle aus dem Stall. Brüller glaubte ein Witzbold zu sein und setzte sich in seiner Feuerwehr-<br />
Montur auf Nelle. Nicht einmal seine Offiziersmütze nahm er ab. Erst ritt er gemächlich, ganz<br />
souverän, doch dann wurde Nelle zusehends schneller. Alles brüllte und Kommandant Brüller lag<br />
auf dem Acker ... Rodeo auf Niederbayerisch<br />
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Nur Ute missfiel die Zweckentfremdung ihrer Nelle. Ute musste lange drum kämpfen, bis<br />
sie in der Gruppe den Ankauf von Nelle durchgesetzt hatte. Sie verbindet ein ganz zärtliches,<br />
beinahe mütterliches Gefühl mit dem Esel. An Regentagen kann sie Stunden mit ihrer Nelle im<br />
Stall verbringen. Auf den ausgiebigen Spaziergängen ist Nelle ihr treuester Begleiter. Ute stieß erst<br />
später auf die Fohrenbach-Landkommune. Sie kommt aus Berlin, ihren Lehrerberuf hat sie ebenso<br />
aufgegeben wie ihren Mann. Nikolaus, ihren 15jährigen Sohn nahm sie allerdings mit auf den Hof.<br />
Er ist ein gebeutelter Junge, der wenig Fröhlichkeit verbreitet. Nikolaus würde lieber in der Stadt<br />
leben als zwischen Hühnern und Misthaufen. Aber was soll er machen? Keiner außer Ute will ihn<br />
für längere Zeit haben. So bleibt ihm nur der Fohrenbachhof. Ute, ein wenig rund und pummelig,<br />
lebt in s ich gekehrt, schweigsam und anspruchslos. Ganz selten kommt es vor, dass sie mal<br />
explodiert. Wenn, dann aber unüberhörbar -Tassen und Wurstsalat flogen schon aus dem<br />
Küchenfenster.<br />
Vier Jahre Fohrenbachhof, das war für die Gruppe keine Spielerei. Das war überaus harte<br />
körperliche Arbeit, oft acht bis zehn Stunden am Tag, bei einem durchschnittlichen Stundenlohn<br />
von 1,90 Mark. Heute kann jeder ein Zimmer sein eigen nennen, die Felder werden pünktlich<br />
bestellt, die Ställe sind intakt, Kirschen und Erdbeeren füllen die Weckgläser, eine kleine<br />
Getreidemühle fürs Brotmachen wurde angeschafft, eine Käsemolkerei ist im Entstehen,<br />
Fohrenbachhof-Kartoffeln sind inzwischen in der Frankfurter Sponti-Szene zum Begriff geworden.<br />
Aber was für Erich, Irene, Hilde und Volker noch viel wesentlicher ist, sie sind<br />
zusammengeblieben, keiner stieg aus dem Ausstieg wieder aus. Ganz im Gegenteil: Während in<br />
anderen Landkommunen die Fluktuation zum größten Problem wird, wächst der Fohrenbachhof<br />
um Leute, die auch bleiben möchten.<br />
Vor zwei Jahren kamen John und Angela mit ihrer kleinen Tochter Rebecca. Benjamin,<br />
ihr jüngstes Kind, wurde ein Jahr später geboren. John bezeichnet den Fohrenbachhof als "die<br />
beste Landkomune", die er bisher erlebt hat. "Wir wollen hier unseren Weg zwischen bürgerlicher<br />
Anpassung und den neuen Heilslehren aus Poona suchen", erklärt John. Er muss es wissen. Denn<br />
John ist der typische Freak, unverbildet, welterfahren, launisch und putzmunter. Niederbayern hat<br />
John jedenfalls seine Handschrift schon aufgedrückt. In zwölf Landkommunen zog er Gemäuer<br />
hoch, baute Schornsteine und verputzte Wände, "Abends", sagt John, "da hab ich das Gefühl, dass<br />
ich was ganz Wertvolles für die Gemeinschaft getan habe, weil sich jeder über meine Mauern freut,<br />
und ich kriege so meine Selbstbestätigung." John ist Engländer und wuchs in Leeds auf. Als<br />
Schiffsfunker fuhr er Jahre zur See. Der Endpunkt für ihn war eine stürmische Nacht vor Island.<br />
Achtzehn Stunden hatte er schon gearbeitet, da sollte er auf Weisung des Kapitäns noch eine<br />
stotternde Maschine reparieren. Er hat es gemacht, hinter aber gekündigt. "Viele alte Werte sind in<br />
diesem Moment einfach aus der Luke geflogen. Ich habe mich gefragt, warum, was soll das?"<br />
John holte seine gesparten 2.000 Pfund Sterling vom Konto und ist durch Europa bis<br />
nach Indien getrampt. Er hat gesoffen, LSD geschluckt, gedealt, gevögelt, gestohlen und seine<br />
Mundharmonika gespielt. John über seine Rauschgift-Phase: "Ich habe so viel erlebt. Dreckiges<br />
und auch Gutes in der Zeit. Das war eine totale Hirnwäsche, bis ich selber gemerkt habe, dass ich<br />
neue Werte in meinem Leben brauchte. Es war chaotisch, ich bin halb verrückt geworden im<br />
bürgerlichen Sinn. Da waren Zeiten, da wusste ich einfach nicht mehr, was richtig oder falsch war.<br />
Ich konnte nur schwer antworten, wenn mich jemand was fragte. Ich konnte nur sagen: "You<br />
know, do what you wanna do, man!" So war das.<br />
In Italien saß John vier Monate wegen illegalen Drogenbesitzes im Knast, dann wurde er<br />
ohne Gerichtsverhandlung abgeschoben. Über Griechenland ging er in den Vorderen Orient. Ich<br />
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wollte immer schon nach Afghanistan. In Istanbul habe ich einen deutschen Fixer getroffen. Wir<br />
sind zusammen durch die Türkei , durch den Iran bis nach Afghanistan getrampt. Ich war in Herat,<br />
das ist gleich die erste größere Stadt, wenn du rüberkommst. Solltest du dir ruhig merken. Ich war<br />
da aber ganz entsetzlich magenkrank mit hohem Fieber. Zwei Tage war ich schlimm beieinander.<br />
Ich konnte nicht schlafen, es war sehr heiß im August. Und zu meinem Freund habe ich gesagt,<br />
komm, gib mir einfach einen Schuss. Irgend etwas, was mich ein bisschen betäuben könnte. Weil<br />
ich Haschisch nicht mehr riechen konnte. Ich habe ihn beschwatzt, der wollte erst nicht. Na ja,<br />
dann doch. Und die Wirkung, die hat mir gut gefallen. Ich war immer an Drogen interessiert. Und<br />
da unten ist es optimal mit den Drogen. Ich hatte Geld und konnte in der Apotheke seelenruhig<br />
einkaufen. Fünf Monate später habe ich 2.000 Tabletten zurückgeschmuggelt, in einer kleinen<br />
metallenen Zigarrenkiste. An der Grenze habe ich die einfach in den Arsch gesteckt. Ungefähr die<br />
Hälfte konnte ich für prima Geld in Frankfurt und Darmstadt verkaufen."<br />
Ein Schock-Erlebnis brachte John nach zwei Jahren Drogenkonsum allmählich von der<br />
Fixe runter: "In Amsterdam, wo ich immer eingekauft habe, war ich auf einem Hausboot, da war<br />
immer en Haufen Fixer. Eines Abends bin ich da hingegangen, und da kratzte vor meinen Augen<br />
einer ab. Die haben diskutiert, was sie mit ihm machen sollen. Da war kein Gefühl mehr, da war<br />
nichts mehr drin, nur eine eiskalte Junkey-Mentalität. So ein Arschloch, dachten die, warum muss<br />
er ausgerechnet hier abkratzen. Werfen wir ihn einfach in den Kanal. Polizei können wir jetzt nicht<br />
rufen, ist zu viel Stoff an Bord."<br />
Nach dieser Uraufführung packte John Angst und Panik, mal selbst irgendwann<br />
abzunibbeln und ähnlich zu verrecken. Er flog von Amsterdam nach England zu seinen Eltern und<br />
ließ sich "trockenlegen", wie er es nennt. Er brauchte Monate - aber John schaffte es.<br />
Zurück in Deutschland, lernte John in einer Münchner Wohngemeinschaft seine Angela<br />
kennen. Es waren bewegte Zeiten, und John dachte immer nur an das Heute, "weil morgen ein<br />
ganz anderer Tag beginnt". Denn nichts sei von Dauer, auch nicht die Zweier-Beziehungen.<br />
Angela, noch verheiratet, liebte zwar John, schlief aber noch mit ihrem Mann. Es fiel ihr unendlich<br />
schwer, sich total von ihm zu lösen. Das wiederum trieb John "fast zum Wahnsinn". Er ist ein<br />
Freak, den die Eifersucht ab und zu böse erwischt. Aber es ist ihm wohl zuzuschreiben, dass<br />
Angela eines Tages aus dem beziehungslosen Allerlei raus wollte und nur mit ihrem John aufs Land<br />
zog. Damals in der Stadt kam es keinem in den Sinn, auch nur einen Satz über Kinder zu verlieren,<br />
selbst in den sinnlichsten Momenten nicht. Auf dem Lande dagegen war der Wunsch auf einmal<br />
da, er wurde immer stärker und kommt auch nach zwei Kindern immer wieder.<br />
John sagt, ohne die Kinder könne er heute nicht mehr sein. Wenn John am Sonntag zum<br />
Weizenbier-Frühschoppen zu Göttlinger geht, nimmt er seine kleine Rebecca, kurz Beckie genannt,<br />
natürlich mit. Sie sitzt dann auf seinem Schoß und schlabbert Eis, manchmal pinkelt sie ihrem<br />
Vater auch auf die Hose. "Das macht nichts", meint John, "das trocknet wieder". und wischt mit<br />
seinem Hemdsärmel die Eisreste von Beckies Schnute.<br />
Es gibt wohl keinen auf dem Hof, der John nicht mag. Das liegt aber nicht nur an seiner<br />
handwerklichen Begabung, die die Intellektuellen bewundern, oder an seinem exzellenten<br />
Hanfanbau, von dem alle genüsslich profitieren. Vielmehr hat John eine natürlich Art, mit sich und<br />
seinen Problemen umzugehen. Er hat keine Komplexe, während die anderen schon ihr Dasein<br />
manchmal als Komplex empfinden. So kann John ungeniert über seinen psychischen Schutt reden,<br />
den er noch nicht abgetragen hat. Eine Offenheit, um die ihn die Übrigen insgeheim beneiden, weil<br />
sie nur unentwegt darüber theoretisieren, in Wirklichkeit aber sorgsam darauf achten, dass ihr<br />
"Müll" hermetisch verschlossen bleibt.<br />
47
Johns größtes Problem ist es, wenn er aus irgendeinem nichtigen Anlass melodramatisch<br />
wird. Wenn Hof-Besucher sich zum Beispiel über die britischen Gewerkschaften lustig machen<br />
und bei solcher Gelegenheit auch noch schwer gebechert wird. Dann flippt John regelrecht weg.<br />
Nicht etwa, dass er sich mit den Besuchern anlegt und denen eine scheuert, "viel schlimmer", sagt<br />
John, "dann hau ich der Angela eins in die Fresse, dabei hat sie keinen Pieps gesagt. Blöd ist nur",<br />
fährt er fort, "die Angela ist kein Prügeltyp, die schlägt nicht zurück. Dann wären wir ja quitt. Aber<br />
Angela sagt nur, sie würde das nicht mehr lange aushalten. Gott sei Dank, schon ein halbes Jahr ist<br />
nichts mehr passiert."<br />
John glaubt auch zu wissen, woher seine unkontrollierbaren Aggressionsschübe rühren. In<br />
gewissen Abständen wird John aus dem alternativen Lebenszusammenhang herausgerissen. Das<br />
macht ihn missmutig und sauer. Entweder verdingt er sich in Fabriken am Fließband, fährt mit<br />
einem Fischkutter von Cuxhaven aus drei Monate zur See oder er ist mit Maurerkelle und<br />
Wasserwaage unterwegs. John muss Geld verdienen, sich als Arbeitskraft verkaufen. Trotz<br />
Weizenanbau, Tierhaltung und Kartoffelernte, trotz minimaler Ansprüche überhaupt - eines blieb<br />
für die Landkommune bislang ein unerreichbarer Traum: völlig autark von der deutschen<br />
Wirklichkeit existieren zu können, den alternativen Lebenskontext strikt von der kapitalistischen<br />
Welt zu trennen.<br />
Der Hof mit seinen zwei Hektar Anbaufläche ist zu klein, ihr landwirtschaftliches<br />
Programm gleicht einem Kolonialwarenladen. Während professionelle Bauern sich immer mehr<br />
mit der Elektronik befassen und nur noch die Monokultur ihr Überleben sichert, nimmt sich der<br />
Fohrenbachhof wie eine romantische Reminiszenz aus dem vergangenen Jahrhundert aus. Nun war<br />
es ja auch nicht das erklärte Ziel, Landwirtschaft unter ökonomischen Gesichtspunkten zu<br />
betreiben. Sie soll eher die Selbstversorgung sichern. "Basisbedürfnisse", nennt Erich das, "ohne<br />
sich auf Geld- und Marktbeziehungen einlassen zu müssen."<br />
Er selbst weiß allzu gut, dass seine Darstellung geschönt ist. Jeder muss monatlich 500<br />
Mark in den Hof reinbuttern. Woher nehmen, wenn nicht stehlen? Gut, John geht jobben, Erwin,<br />
ein anderer Freak, bastelt griechischen Schmuck und zieht damit durch die Städte, Irene übersetzt<br />
nebenbei noch aus dem Englischen, die Kopfarbeiter Erich und Volker publizieren einiges über<br />
alternative Philosophien. Aber die anderen? Richtig, sie sind weiter denn je von jedweder<br />
Marktbeziehung entfernt. Doch waren sie gleichzeitig noch nie derart von einer anderen Institution<br />
abhängig, die bekanntlich Staat heißt: Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe, Sozialhilfe erhalten jene,<br />
die ständig auf dem Fohrenbachhof leben. Ein Zustand, mit dem keiner zufrieden ist und der wohl<br />
auch kaum von Dauer sein dürfte. Ganz davon abgesehen, dass die ewigen Behördengänge, das<br />
Sich-Ausfragen-Lassen, sich und fremden Leuten Rechenschaft abzulegen, Beklemmungen<br />
hervorrufen, die alles andere als alternativ sind. "Was sollen wir machen", fragt Volker. "Wir haben<br />
uns in eine Gegend mit teurem Ackerland reingesetzt, wir haben selber viel zu wenig Land und mit<br />
unserem Projekt bald die Grenze erreicht."<br />
Die ursprüngliche Idee, die Natur als Instrumentarium gegen den westdeutschen<br />
Kapitalismus und seine Abhängigkeiten einzusetzen, funktioniert auf dem Fohrenbachhof nur<br />
bedingt. Gut, es gäbe Möglichkeiten, dieses Dilemma zu verringern. Klein Fleisch mehr zu essen,<br />
Vegetarier zu werden. Tatsächlich haben viele Landkommunen Fleisch, Kaffee, Bier etc. abgesetzt,<br />
um ihre Haushaltskasse zu entlassen. Und auf Fleischkonsum zu verzichten, hätte noch einen<br />
weiteren Vorteil. Man würde mit dem Grundprinzip, das eigentlich auch ihres ist, -kein Leben zu<br />
töten, um selbst zu leben -, endlich übereinstimmen. Dennoch, die Diskussion darüber blieb<br />
widersprüchlich und halbherzig. Im Grunde genommen wollte keiner von seinem saftigen<br />
48
Schnitzel oder Steak lassen. Für John wäre so etwas unvorstellbar. Wenn er vom Bau kommt und<br />
müsste mit einer Kartoffelsuppe und Kräutertee vorlieb nehmen! Schon ein Bier-Stopp würde John<br />
zu "grundsätzlichen Überlegungen" veranlassen.<br />
Das alternative Leben auf dem Lande, die großen Erwartungen, die leisen<br />
Enttäuschungen - es wäre pure Illusion anzunehmen, dass Romantik heile Welt bedeutet, dass<br />
Genügsamkeit Grundwidersprüche aufhebt, dass Abgeschiedenheit von der Zivilisation<br />
gesellschaftliche Konflikte dieser Tage zudeckt. Sicherlich leben die Mitglieder der Fohrenbachhof-<br />
Kommune nicht mehr so fremdbestimmt, so perspektivlos, so dumpf vor sich hin wie viele andere<br />
in diesem Land. In der Tat, ein Stück Selbstverwirklichung. Aber auch die Fohrenbachhofer<br />
kämpfen mit ihren Ungereimtheiten, die sie manchmal bis ins Unerträgliche belasten. Eine solche<br />
Ungereimtheit kennzeichnet ihr Verhältnis zum Besitz. Eigentum im bürgerlichen Sinne wurde<br />
weitgehend abgeschafft.<br />
Von den acht Leutchen könnte jeder im Grundbuch stehen, jeder hat eine Vollmacht über<br />
das gemeinsame Konto, auf das sie selber ihre 500 Mark einzahlen und ihre Erlöse aus den<br />
landwirtschaftlichen Produkten überweisen lassen. Besitz existierte eigentlich nur als<br />
Zweierbeziehung zwischen Irene und Erich, Hilde und Volker, Angela und John. Auch ihre Kinder<br />
kannten kein eigenes, sondern nur noch Gemeinschaftsspielzeug. Das bürgerliche Überbleibsel der<br />
festen Pärchen erklärt sich aus den teils miserablen, teils grotesken Erfahrungen, die andere<br />
Landkommunen mit ihrer Gruppenpromiskuität gemacht haben. Sie ist vielerorts der gefährlichste<br />
Sprengsatz, weil dabei immer iirgendjemandauf der Strecke bleibt, der dann früher oder später das<br />
Weite sucht.<br />
Erich, Irene, Hilde und Volker schien aber das gemeinsame Projekt zu wichtig, als dass sie<br />
sich auf derlei possierliche Vabanque-Spielchen einlassen wollten. Deshalb verständigten sie sich zu<br />
Anfang allesamt auf ein sogenanntes Inzest-Tabu in ihrer Großfamilie. Das bedeutet: striktes<br />
Verbot für jeden, mit dem Partner des anderen ins Bett zu gehen. Wer das Fremde will, solle nach<br />
Frankfurt oder München fahren zu einem Mann oder einer Frau, die mit dem Hof nichts zu tun<br />
haben. Das ging auch vier Jahre gut, wenngleich Volker in den letzten zwölf Monaten zusehends<br />
häufiger ganz demonstrativ auf Wilhelm Reich verwies. Volkers Motto: "Lest Reich und handelt<br />
danach." Was soviel heißt: gerade in einer Landkommune, in einer Gruppe, die sich schon über<br />
Jahre kennt, gemeinsam arbeitet, gemeinsam Freizeit verbringt, sollte es doch möglich sein, sich<br />
auch in dieser Lust-Frage vom "kleinbürgerlichen Sumpf" zu befreien und damit angstfrei seine<br />
Gefühle, sein sexuelles Verlangen mit verschiedenen Partnern auszuleben. Das klingt fantastisch<br />
und ist es sicherlich auch, aber doch vor allem für jene, die genügend Ichstärke besitzen, um<br />
Verschmähung, Liebesentzug, Demütigung ertragen zu können und selbst bei der plastischen<br />
Vorstellung, "meine Hilde ist gerade zu Erwin ins Bett gekrochen", weiter in der guten Stube<br />
hocken zu bleiben und seelenruhig am alternativen Wein zu nippeln.<br />
Wer das kann, der sollte nicht nur Wilhelm Reich lesen, er sollte in der Tat auch danach<br />
handeln. Und es ist ja auch "verdammt schwer", befindet Irene, "nicht mal mit anderen nachts<br />
zusammen sein zu dürfen. Jeder denkt dran, keiner tut's. Du sitzt abends mit Volker unterm<br />
Birnbaum, Lagerfeuer und so. Erich ist schon lange im Bett, du verbringst da wahnsinnig schöne<br />
Stunden und dann trennen sich beider Wege. Das ist doch irgendwie bescheuert." Dabei hat Irene<br />
schon tagsüber Schwierigkeiten. Etwa, wenn sie mit Volker den Weidezaun repariert. Irene:<br />
"Komisch, wir haben uns plötzlich nicht mehr wie normal angeschaut. Das waren Blicke, die den<br />
anderen auszogen, sagenhaft war das."<br />
49
So sagenhaft war es dann doch wieder nicht, als Volker und Irene am Hofabend unter<br />
dem Tagungsordnungspunkt "Verschiedenes" der erstaunten Kommune berichteten, dass sie in<br />
Frankfurt, wohin sie der Kartoffeltransport führte, miteinander geschlafen hätten, ja, dass sie es<br />
nicht einmal bereuten, "weil es wirklich wahnsinnig lustvoll und schön gewesen ist." (Irene). Die<br />
Genossen in der Frankfurter Wohngemeinschaft hätte das ganz toll gefunden, prima, sollen die<br />
gesagt haben, dass so etwas bei euch möglich ist. Die Reaktion der Fohrenbach-Kommune<br />
hingegen war arg betreten. Erich kriegte zunächst keinen Ton raus und saß kauzig in seiner Ecke.<br />
Hilde bekam einen Heulkrampf, John meinte, "die haben einen echten Vogel", Pit, der Besucher,<br />
prophezeite, Volker werde sich hier auf Kosten anderer eine regelrechte dörfliche Vielweiberei<br />
aufbauen. Volker verstieg sich in eine "Vorwärtsstrategie", wie er später zugab. "Ich habe der Irene<br />
ja schon zwei Mal angeboten, dass ich ihr das nächste Kind mache. Gut, das erste ist von Erich, das<br />
zweite kommt aber von mir." Und Irene bemerkte dann noch: "Ich finde es gar nicht witzig, wenn<br />
ich sehe, welche kleinbürgerlichen Gefühle sich bei euch wieder eingeschlichen haben." –<br />
Ausnahme-Zustände auf dem Fohrenbachhof.<br />
Ausgerechnet zu jener Zeit, in der über den Zweier-Besitz radikaler nachgedacht wurde<br />
als je zuvor, als alle in sich gingen und überlegten, ob man an diesem "Besitzverhältnis" nicht doch<br />
etwas ändern müsse, um die Gruppe als Ganzes nicht zu gefährden, in dieser Phase wurde auf einer<br />
anderen Ebene der Besitzgedanke Mein und Dein wieder eingeführt. Die Kinder stritten sich<br />
laufend um die wenigen Spielsachen. Jedes wollte Besitz ergreifen. Hilde thematisierte das Problem:<br />
"Das sind Widersprüche", gesteht Hilde, "die wir hier auf dem Hof nicht mehr lösen. Vielleicht in<br />
einem größeren alternativen Zusammenhang, der für uns nur in Italien sein kann."<br />
Vielleicht in zwei, vielleicht auch erst in fünf Jahren will die Landkommune nach Italien<br />
ziehen, möglichst mit einer noch größeren Gruppe ein altes Dorf aufkaufen. Volker erklärt: "Wenn<br />
wir noch mehr Kinder kriegen, wird der Fohrenbachhof wirklich zu klein, und in Italien wird dann<br />
auch keiner mehr auf die Sozialhilfe angewiesen sein, weil wir da mit Sicherheit genügend Land<br />
kaufen können." Aber eines steht unumstößlich fest: sie wollen erst auswandern, wenn sie gute<br />
Freaks gefunden haben, die ihren Hof im alternativen Sinn weiterführen. Zwei von ihnen könnten<br />
Heiner und Jochen sein. Zwei 17jährige Schüler aus Geesthacht. Sie kamen eines Tages mitten in<br />
der Schulzeit von Hamburg runter getrampt. Heiner und Jochen hatten "die Schnauze gestrichen<br />
voll, von der Schule, von den Lehrern, von ihrem Elternhaus".<br />
Aber ursprünglich wollten sie nur vierzehn Tage ausspannen. Daraus wurden sechs<br />
Wochen. Während ihre Klassenkameraden Tag für Tag büffelten, arbeitete Jochen an der<br />
Kettensäge, Heiner fuhr Trecker. Viel von der Zukunft erwarten die beiden ohnehin nicht. Das<br />
Abitur soll noch gemacht werden. Aber dann? Achselzucken. "Eine Landkommune", meint<br />
Jochen, "das ist schon eine gute Sache. Hier wirst du nicht ständig angeschissen, musst nicht<br />
laufend irgendeinen sinnlosen Kram erledigen, hier bringste echt deinen Kopf mit deinem Bauch<br />
zusammen." Und auf Zweier-Beziehungen angesprochen glaubt Heiner, "da braucht sich keiner<br />
große Sorgen zu machen, das lösen wir auf unsere Art."<br />
50
1981<br />
Peepshow und Bürgerkrieg – die Frankfurter Buchmesse<br />
Am Strand von Tunix<br />
Puma und Adidas – Krieg der Tröpfe<br />
Jugendcliquen in Deutschland<br />
51
PEEPSHOW UND BÜRGERKRIEG - RÜCKBLICK AUF EINEN<br />
PREMIERENABEND DER FRANKFURTER BUCHMESSE<br />
Die Frankfurter Lese-Präsentation ist mit über 7.000 Ausstellern und 280.000<br />
Besuchern die wichtigste und größte Buchmesse der Welt – Jahrein , jahraus das<br />
literarisch-gesellschaftliche Großereignis in Deutschland; ein Jahrmarkt aus Showbiz und<br />
Eitelkeiten. - Man sagt, Verleger Vito von Eichborn habe nicht nur eine Bierflasche als<br />
Bettvorleger.<br />
CULT, Hamburg vom 1. November 1981<br />
Da stehen sie nun auf der Bühne, bedeutungsschwer, aber immerhin ohne<br />
Zeremonienmeister. Zurück aus dem fernen Libanon - die bundesdeutsche Heimat hat sie wieder.<br />
Hanna Schygulla, ihre Lippen so breit geöffnet, dass der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter<br />
in der achten Reihe Kastrationsängste befallen. Einen halben Schritt zurück präsentiert sich Bruno<br />
Ganz, der manierliche Selbstzweifler. Er schaut so sensibel und weltfremd drein, dass die Seufzer<br />
der "Konkret"-Kolumnistin Peggy Parnass, "Bruno, oh Bruno", schon unterkühlt wirken. Allen<br />
voran turnt der angestrengte Volker Schlöndorff. Träte er als Situationskomiker auf, ihm wäre der<br />
Stibitz-Slogan "zack-zack, ein Huhn, zwei Gänse" sicher. Da aber Herr Schlöndorff etwas mit Film<br />
zu tun hat, lässt sich seine Gestik auch in "zack-zack, ein Bambi, zwei Oscars" umdeuten.<br />
Wir sind nicht etwa bei den Glanz- und Glimmer-Festivals in Cannes oder gar Venedig.<br />
Wir hocken betonversunken inmitten von Frankfurts City im "Elysee-Cinema", eingekeilt zwischen<br />
Würstchenbuden, Peepshows und Billardtischen. Dieses "Elysee"-Kino hat soeben die<br />
Weltpremiere von Schlöndorffs "Fälschung" hinter sich gebracht. Einer Verfilmung, die der<br />
literarischen Vernichtung des gleichnamigen Romans von Nicolas Born (*1937 +1979)<br />
gleichkommt, der 1979 erschien.<br />
Schlöndorffs Weltpremiere zählte zum Auftakt der diesjährigen Buchmesse<br />
gewissermaßen als eine Große-Koalitions-Veranstaltung zwischen dem Rowohlt Verlag sowie den<br />
Kino-Firmen United Artists und Bioskop Film sozusagen.<br />
Wenn Egomanie tatsächlich ein unverkennbarer Ausdruck dieser Jahre sein sollte, dann in<br />
diesem exklusiven Kino-Rund. Es sind immer wieder dieselben Figuren - Leute aus Film-Dunst,<br />
Mediendünkel, die überall und nirgendwo dabei sein und gesehen werden wollen, die keine<br />
Milchkanne am Wegesrand stehen lassen. Es sind berufsgeübte Wichtigtuer dieser achtziger Jahre,<br />
die das Privileg genießen, sich unentwegt selbst zu beklatschen oder auch zu bemitleiden und sich<br />
der Aufmerksamkeit ihres Publikums auch noch sicher sein dürfen. Bei derlei Affektiertheit<br />
scheint’s austauschbar, wer da gerade auf der Bühne den Entertainer abgibt, solange es im<br />
Inzuchtladen nicht allzu lasziv kracht und der progressive Anstrich in der Außenausstattung noch<br />
ein Quäntchen Zugkraft verheißt.<br />
Da versteht es sich von selbst, dass Dezenz längst verpönt, zaghafter Zweifel mittlerweile<br />
belächelt wird. Was macht das schon, dass Literatur zur filmischen Arbeitsfolie verkommt, dass<br />
Nicolas Borns (*1937+1979) eigentliche Reflexion über den heuchlerischen Zustand des deutschen<br />
Scheckbuch-Journalismus - aufgezeigt an einem stern-Reporter im Libanon - bis zur<br />
Unkenntlichkeit zurechtgebogen wird. Dafür jagt auf Schlöndorffs Leinwand eine Attraktion die<br />
andere ästhetisch und showbesessen. Alle sechs Sekunden ein Irrsinnsbild, aus allen Ecken und<br />
Enden wird geschossen, die "Holiday-Inn"-Ruine schluckt fünftausend Liter Sprit, Schlöndorffs<br />
5 2
Pyro-Szenario brennt lichterloh. Bürgerkrieg in Beirut, Schlöndorff der Held im Libanon; und wir<br />
sind alle mittendrin, Mann oh Mann.<br />
"Beirut als Science-Fiction für die Städte der Bundesrepublik", sagt Herr Schlöndorff<br />
weitsichtig, "fantastisch, hautnah, atemberaubend", sagt sein Publikum. Ein Claqueur kommt selten<br />
allein. Schon gar nicht ins Nobelhotel "Frankfurter Hof", wo nach dem Film-Debüt die Party der<br />
selbst gezüchteten Eitelkeiten und Extravaganzen beginnt. Aber zunächst muss die "Elysee"-<br />
Gesellschaft erst einmal raus auf die Straße. Der Kintoppversion vom Bürgerkrieg in Beirut stellt<br />
sich zum Kino ein bulliger Wasserwerfer entgegen. "Mammut" wacht erst wenige Stunden auf dem<br />
Vorplatz.<br />
Zuvor war er an der Startbahn West-Front im Einsatz. Dort draußen am Flughafen, wo<br />
sich Tausende von Menschen Baum um Baum, Furche um Furche gegen den bürgerkriegsnahen<br />
Polizeiaufmarsch stemmten. Nunmehr soll "Mammut" im Rahmen der freiheitlich-demokratischen<br />
Grundordnung alles verteidigen, was mit Büchern und Filmweltpremieren zusammenhängt. Vor<br />
der Alten Oper, jenem Parade-Neubau wiedererstarkten CDU-Bewusstseins, zieht eine<br />
Hundertschaft in Stellung. In verdeckten Seitengassen lauern mobile Einsatztrupps auf ihren<br />
gepanzerten Fahrzeugen sprungbereit. Hubschrauber kreisen über der Innenstadt, irgendwo heulen<br />
Polizeisirenen auf.<br />
Schnellstraßen, Hochhäuser, Abgase und Smogalarm. Trinkwasser, das teilweise<br />
ungenießbar ist, Flüsse, die zu Kloaken vergammeln. In den vergangenen 30 Jahren wurden bereits<br />
3.700 Hektar Wald, das entspricht rund sechstausend Fußballplätzen, für Wachstum und<br />
Wohlstand abgeholzt. Über drei Millionen Bäume fallen der Startbahn 18 des Flughafens zum<br />
Opfer.<br />
Der 21jährige Alexander, ein ehemaliger Theologiestudent, hockt draußen im Wald vor<br />
einer provisorischen Holzkapelle, die für ökumenische Gottesdienste hergerichtet wurde. Er liest in<br />
dem Buch "Zärtlichkeit und Schmerz". Eine gelassene und zugleich doch sehr angespannte<br />
Atmosphäre durchdringt den Wald, so, als ob es zwischen technologischem Fortschritt und<br />
Rückbesinnung auf die Urwüchsigkeit der Lebenslust keine Zwischentöne mehr gäbe. In Minuten-<br />
Abständen dröhnen im Tiefflug Jumbos und Airbusse aus anderen Kontinenten ihrer Landebahn<br />
entgehen.<br />
Unterdessen hat Schlöndorffs Premierengesellschaft direkten Weges die Edel-Herberge<br />
namens "Frankfurter Hof" erreicht. Gott sei Dank - Beirut ist fern und war nur im Kino,<br />
Frankfurt, die Rhein-Main-Metropole, l ist zwar nah, aber nicht hautnah.<br />
Salon 14, Film, Flanell und Fummel, Akkuratesse im Gesicht und am Zwirn, Aigner, Yves<br />
Saint Laurent, Christian Dior, Coco Chanel - Kameras surren, Blitzlichter blitzen. Ob nun links<br />
oder rechts gestrickt, ob in der Hierarchie unten oder oben, einer wie der andere pustet sich in<br />
Siegerpose auf. Deutschland kennt nur Sieger. Und fortwährend fliegen flüchtige Blicke zum<br />
Eingang, wer da noch alles unverhofft kommen mag. Herein rauscht Alice Schwarzer mit ihrer<br />
Damenflotte. Enthusiastisch durchkämmt der Emma-Trupp die Menge. Hier ein Küsschen, dort<br />
ein Küsschen, "toll Schwester, dich hier wiederzusehen, vor allem, dass du dich unter diese<br />
"ekeligen Chauvis traust". Frauen-Avantgarde in Luxus-Hotels. Ganz im Gegensatz dazu der<br />
schriftstellernde Burkhard Driest. In Wolfsmanier kreist er im Salon, um im rechten Augenblick<br />
den richtigen Damen sein im Knast einstudiertes Standardliedchen vorzujaulen: "Bist du einsam<br />
heut' Nacht".<br />
53
Nur das Äußere , das "Outfit" im neudeutschen Sprachgebrauch dieser Tage, aus<br />
Plastiktüte samt baumelnden Männer-Täschchen eines nicht bestellten Herren, will so gar nicht ins<br />
erlesene Ambiente passen. Eine Ausnahme-Figur kämpft sich da mit Ellenbogen „zur Tankstelle“<br />
vor. Mit fettig-abgekämpften Haar, unrasiert und rot unterlaufenen Augen feiert Jungverleger Vito<br />
von Eichborn im "Frankfurter Hof" eine Premiere, sein persönliches Verlagsdebüt in diesem<br />
Gründungsjahr. Dabei ist er ganz allein - mal mir nichts, dir nichts - an die Bar gekommen. Übers<br />
lachen, wohnen, essen, vögeln, über Huren, Puffs, Ganoven mit oder ohne schmutzigen Sprüchen<br />
sucht er sein Verlagsprofil kommender Jahre pointiert zu schärfen. Ausnahmslos alle aus der<br />
feingeistigen Damenwelt geben sich, spielen verdutzt. Die aus Jamaika herbeigeeilte Jung-Filmerin<br />
Rechs Jungmann-Spree gackert emphatisch: "Hier tut nun wirklich etwas arg weh". - "Ach",<br />
ergänzt die Grünen-Politikerin Petra Kelly (*1947 +1992): "Vito, "Du bist immer besoffen, das<br />
macht mich so betroffen". – Verleger-Karrieren dieser Tage.<br />
Szenenwechsel: Jürgen, ganz auf New-Wave geziert, findet Flirten mit derlei Frauen<br />
langweilig, Filme öden ihn ohnehin an, Literatur reißt ihn nicht vom Hocker. Autistisch liebt er nur<br />
sich selbst, allenfalls noch seine sporadische Alltagspoesie. In den "Frankfurter Hof" kam er mit<br />
seinen Freunden, um "endlich mal wieder gut zu fressen und ordentlich einen wegzuschlucken".<br />
Folgerichtig gastiert die New-Wave-Generation nur am Buffet. Jürgen hat nicht einmal seinen<br />
Klepper-Mantel ausgezogen, der Kragen steht hoch, die Haare kurz geschoren - noch.<br />
Gegenüber den New-Wavies wirkt ein APO-OPA, ehemals ein Frankfurter<br />
Studentenrebell, wie ein verblichenes Überbleibsel aus der Requisitenkammer aus einer verlorenen<br />
Zeit, vielleicht eines verlorenen Lebens. Seit nunmehr zwei Stunden steigt der Enddreißiger<br />
Michael K. zwei Verlegern hinterher. Der APOOPA, mit schulterlangem Haar und obligatorischer<br />
Nickelbrille, will es endlich wissen. Gespannt fixiert er jede Geste der Herren, die ihm zum<br />
literarischen Durchbruch verhelfen sollen. Aber es wird ein Einbruch. Doch nur der Durchbruch<br />
zählt.<br />
Wenn für Günter Amendt die Peep-Show die "äußerste Form sexueller Verelendung" ist,<br />
dann ist die Buchmesse Deutschlands Edelbordell. Wie heißt es in Schlöndorffs verfälschter<br />
Fälschung: "Ich habe keine Angst, mein Leben zu verfälschen, nur Angst davor, dass ich es eines<br />
Tages nicht bemerke und weitermache:" Es ist 23 Uhr, Herr Schlöndorff wird zum letzten Mal<br />
abgelichtet, Herr von Eichborn erklärt noch immer Alice Schwarzer, warum er gegen "Schwanz-<br />
Abschneiderinnen" zu Felde ziehen werde - die letzten Premierengäste verlassen unbemerkt den<br />
Salon 14.<br />
5 4
AM STRAND VON TUNIX "BLEIBT NICHT EINSAM -<br />
BACKT GEMEINSAM"<br />
Erkundungen in einem unbekannten Land - Sozialreportage von 1945 bis heute -<br />
Deutschland 1975-1978<br />
Hg. Friedrich G. Kürbisch<br />
Verlag J.H. W. Dietz Nachf.<br />
Berlin/Bonn vom 3. September 1981<br />
Eine süddeutsche Kleinstadt am Samstagnachmittag im Spätsommer. Die engen Gassen<br />
glänzen wie blank gewienert, die Butzenscheiben in den akkurat gestrichenen Fachwerkhäusern<br />
spiegeln das Straßengeschehen wider. Von der Barockkirche signalisieren Zwiebeltürme<br />
absolutistische Tradition. Der Schlosspark erinnert an die weiträumige und symmetrische<br />
Gartenanlage Nymphenburgs in München.<br />
Im Kleinstädtchen Donaueschingen am Rande des Schwarzwaldes ist alles beschaulich<br />
und überschaubar. Kaisers Kaffee-Geschäft liegt gegenüber den Redaktionsstuben des Südkurier,<br />
der schon seit fast drei Jahrzehnten dpa-Funkbilder aus aller Welt im Schaufenster aushängt - so,<br />
als sei und bliebe das Kabel- und Satellitenfernsehen eine Fiktion für die kommenden<br />
Jahrhunderte. In der Auslage der "Hofbuchhandlung" steht Johannes Mario Simmels (*1924<br />
+2009) Bestseller "Alle Menschen sind Brüder". Nebenan offeriert der Ortspriester im Schaukasten<br />
der Diözese seinen Gläubigen eine Pilgerfahrt nach Rom. Vis-à-vis gibt's das Bistro<br />
"Schinderhannes". Vor dem Eingang stehen die Gastarbeiter im "Sonntagsstaat"; mit<br />
Blockabsätzen, enggeschnittenen Hosen, bunten Hemden und Krawatten. Sie unterhalten sich oder<br />
spielen Karten. Kaum einer nimmt Notiz von ihnen. Sie bleiben, wie immer, unter sich.<br />
Auf dem Marktplatz vorm Café Hengstler ist der Jugendtreff. Vierzehn- bis<br />
sechzehnjährige Mädchen, in Röhrenhosen, Pumps, Flatterblusen und klassisch geschnittenen<br />
Herren-Jacketts, mit Nina-Hagen-Punk-Frisur getrimmt, sitzen da, kichern und wispern<br />
untereinander; ab und zu wird auch mal eine Reggae-Disco-Platte gedrückt, solange Taschengeld<br />
oder Selbstverdientes reichen.<br />
Ein paar Tische weiter trinken die Jungs, zwischen achtzehn und zwanzig, Coca oder<br />
Bitter Lemmon. Die einen, ganz in Leder, das Haar à la James Dean kurz nach hinten gekämmt, im<br />
Nacken Lineal gerade abgestutzt, die Ohren freirasiert, die anderen mehr à la "Easy Rider", in<br />
Rohleder-Stiefeln, ausgewachsenen und buntgeflickten Jeans, die Haare wuschelig und schulterlang,<br />
die Bartstoppeln zentimeterkurz, Sonnenbrille. Bei Hengstler -ein wenig Langmut, ein Quäntchen<br />
Langeweile. Dafür geht's draußen auf dem Marktplatz um so lebhafter zu. Hondas, Suzukis und<br />
BMWs stehen dort aufgebockt. Keiner dieser röchelnden Öfen hat unter 500 Kubik. Ein paar<br />
Meter entfernt parken die Minis, Renaults und Golfs. Fast alle mit dem Rallye-Streifen und den<br />
obligaten breiten Felgen. Der Marktplatz von Donaueschingen bedeutet diesen Motorfans sowie<br />
wie einem Rallye-Fahrer die Ankunft in Monte Carlo oder einem Rennradprofi die Einfahrt ins<br />
vollbesetzte Stadion. Hier werden Fahrzeiten zwischen Donaueschingen und dem Nachbardorf<br />
Hüfingen unterboten, der Kumpel mit PS- und Kubikstärke überboten.<br />
Eigentlich ist in Donaueschingen nichts spektakulär, alles deutsch-normal. Im Ort und in<br />
der Umgebung gibt es keine Linken, keine Rauschgiftsüchtigen, keine organisierten Kernkraft-<br />
55
Gegner und auch keine Landkommunen. Die Menschen arbeiten strebsam in der Landwirtschaft,<br />
in Textil- und Uhrenfabriken, in Gießereien und in der Holzverarbeitung. Viele jobben noch nach<br />
Feierabend. So können sie ein Häuschen ihr eigen nennen, den auf Hochglanz polierten<br />
Mittelklassewagen ebenfalls. Gartenzwerge zieren den im Rasen eingelassenen Springbrunnen, die<br />
Schwarzwald-Uhr das Wohnzimmer. Und auf der Sparkasse vermehrt sich das bescheidene<br />
Guthaben stets ein wenig. Alles hat hier seine wohlerträumte Ordnung und läuft in den<br />
vorgegebenen Bahnen.<br />
Auch das Volksfest an diesem Wochenende. Der Spielmannzug intoniert die Polka "Drei<br />
rote Rosen". Mäzen Heribert, mit Mallorca-Bräune, Satintuch und beigem Samtpulli, lässt für die<br />
46 Mann eine Runde Bier springen. Die Leute sitzen auf den Holzbänken, schmausen<br />
Zwiebelkuchen und nippen frisch gekelterten Wein. "Brot für die Welt" wird gesammelt. Der Erlös<br />
geht an Pater Schenk aus Donaueschingen für seine Mission auf den Philippinen. Ein Stand der<br />
Gefangenenhilfs-Organisation amnesty international - von Lehrern betreut - klärt über Folter und<br />
Todesstrafe auf. Aus Freiburg im Breisgau angereiste Studenten verteilen Plaketten mit der<br />
Aufschrift "Atomkraft - nein danke". Am Abend stimmt der Trompetenchor "kein schöner Land<br />
in dieser Zeit" an. Manche summen, andere lallen mit. Auch die Jugendlichen sind dabei. In<br />
blauweißer Tracht schwingen sie die Fahne der Fürstenberger. Wie in jedem Jahr ist ihnen ein<br />
gefälliges Kopfnicken und der kräftige Händedruck der Stadt-Honoratioren gewiss.<br />
Über Jahre ließ Harald Heidenreich kein Volksfest, keinen Schützenfest-Bummel, keine<br />
Marktplatz-Rallye aus. Wo, was los war, war auch er. Wie seine Freunde hockte der damals<br />
18jährige in Eisdielen, Pinten und Discos oder lief seinerzeit mit dem ´laut aufgedrehten<br />
Kassettenrecorder unterm Arm durch die malerisch versonnene Altstadt. Sie schauten und pfiffen<br />
den Mädchen nach, bis Harald seine Bärbel fand und mit ihr Händchen haltend über den<br />
Marktplatz spazierte. Für Politik und Parteien hat er sich nie sonderlich interessiert, zu einer Wahl<br />
ist er bis heute nicht gegangen.<br />
Haralds Vater ist ein kleiner Angestellter beim Kreiswehr-Ersatzamt in Donaueschingen,<br />
seine Mutter kümmerte sich Jahr für Jahr um ihre sieben Kinder. In einer Drei-Zimmer-Wohnung<br />
wuchs Heidenreich auf, mit seinen sechs Geschwistern teilte er sich einen Schlafraum. Harald<br />
absolvierte die Hauptschule und mache eine Lehre als Installateur. Zum Abschluss gab ihm der<br />
Berufsschuldirektor den weisen Rat: "Üb immer treu und Redlichkeit." Für Donaueschingen nichts<br />
Außergewöhnliches. Und Harald dachte sich noch: "Hier bin ich geboren, hier lebe ich, hier will ich<br />
auch bleiben." Kleinstadt-Idylle nach der Abschluss-Feier.<br />
Am selben Abend klapperte Harald Heidenreich seine Discos und Pinten ab. Er stand<br />
teilnahmslos an der Theke, trank abwechselnd Cola oder Bier und starrte in die grellen Licht-<br />
Reflexe. Da war wenig vom Travolta-Glanz (John Travolta, * 1954, amerikanischer Schauspieler,<br />
Sänger, Entertainer, Scientologe) und seinem Saturday-night-feaver zu spüren. Es kotzte ihn an.<br />
Kurz nach Mitternacht fuhr er nach Hause, packte Jeans, Hemden, Pullover und Unterwäsche.<br />
Seine erst kürzlich gesparten dreihundert Mark nahm er sich aus Mutters Küchenschrank. Auf den<br />
Garderobentisch legte er einen Zettel: "Bin weg. Gruß Harald."<br />
Seither sind für ihn die Eltern und Geschwister, Freundin Bärbel, die Marktplatz-<br />
Kameraden - Donaueschingen überhaupt - passé. Nur einen hat er mitgenommen. Seine besten<br />
Freund Gerry. Der war schon mit vierzehn von zu Hause rausgeflogen und hatte zuletzt bei seiner<br />
Freundin in Hüfingen gewohnt. Nun war auch dort Schluss. Als die beiden gegen 3.30 Uhr in<br />
Freiburg auf die Autobahn gingen, ließ Gerry eine Pink-Floyd-Kassette laufen. Wohin sie eigentlich<br />
wollten, wussten sie selber nicht; vielleicht nach Göttingen, wo Haralds Bruder wohnte, vielleicht<br />
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nach Hamburg, vielleicht aber auch nach Berlin. "Wir werden schon sehen", sagte Harald.<br />
"Irgendwann kommen wir schon irgendwo an und treffen irgendwelche Typen."<br />
Irgendwann, irgendwo, irgendwen - eines war beiden gewiss, dass alles ungewiss ist, Sie<br />
stocherten ziellos nach Norden. Morgens waren sie in Bremen, nachmittags in Cuxhaven, am<br />
nächsten Tag in Hamburg, am darauffolgenden in Berlin. Eine kleine Odysee, denn zu Hause<br />
hatten sie kaum über den Tellerrand gucken dürfen, und groß herumgekommen waren sie auch<br />
noch nicht, wenn man von zwei Reisen nach Freiburg einmal absieht.<br />
Nun standen Harald und Gerry auf dem KuDamm mit seinen unzähligen Restaurants und<br />
seiner x-beliebigen grellen Plastik-Reklame. Sie schauten drein wie ungläubige Berlin-Touristen, die<br />
sie eigentlich nicht sein wollten, warfen einen Blick über die Berliner Mauer (1961-1989), die sie nur<br />
vom Fernsehen kannten. Alles schien erschien ihnen ein wenig unwirklich. Da gab's keinen<br />
überschaubaren Marktplatz mehr, keine Butzenscheiben und keine Fachwerkhäuser. Dafür zog ein<br />
Sektenpulk in Mönchskutte und Irokesen-Haarschnitt durch die Straßen. Junge Typen in ihrem<br />
Alter bimmelten und rasselten mit ihren Klingelbeuteln. "Jesus lebt", schrien sie unentwegt. Da<br />
standen verquollene Jugendliche in den U-Bahnschächten, ängstlich und wibbelig warteten sie auf<br />
ihre Heroin-Erlöser. Und immer wieder sahen sie die Sight-seeing-Busse im Doppeldecker-Format,<br />
die die westdeutschen und internationalen Touristen von einer vermeintlichen Attraktion zur<br />
anderen karrten.<br />
Drei Wochen irrten Harald und Gerry durch die Stadt. Sie schliefen im Auto und aßen an<br />
Würstchen-Buden. Sie schlenderten nachts über den Stuttgarter Platz mit seinen Privat-Puffs und<br />
Pornoschuppen. In der Potsdamer Straße trafen sie auf zwei Mädchen. Die eine stellte sich als Ina,<br />
die andere als Lena vor. Beide dürften so um die vierzehn gewesen sein. Zwanzig Mark sagten sie.<br />
Es war nachmittags um drei. In der Disco "Early Bird" erlebten sie eine Massenschlägerei im<br />
Schummerlicht. Englische und französische Troupiers probten mit Bierflaschen und Stuhlbeinen<br />
eine NATO-Variante. In der Jebenstraße, hinterm berüchtigten Bahnhof Zoo, wurden sie von<br />
Strichjungen verjagt. Und auf dem Savigny-Platz kauften sie sich ihren ersten Joint. Das Gramm<br />
für zehn Mark.<br />
Dem Irgendwann und irgendwo folgte in der Pinte "Nulpe" in der Yorkstraße der<br />
irgendjemand. Zufall war es, dass er Johannes heißt und aus Donaueschingen kommt. Zufall auch,<br />
dass Johannes einen Typen namens Werner kennt, der ebenfalls aus Donaueschingen abgehauen<br />
ist. Zu Hause, in der ordentlichen Kleinstadt, sind sie sich nie begegnet, in der "Nulpe", im<br />
heruntergekommenen Kreuzberg, lernen sich die Vier kennen. Da war es dann schon kein Zufall<br />
mehr, dass sie gemeinsam in eine Wohngemeinschaft zogen. Für Johannes und Werner, sie lebten<br />
bereits zwei Jahre überall und nirgends in West-Berlin, ist die Großstadt zu groß. Für Harald und<br />
Gerry war die Kleinstadt zu klein geworden.<br />
Vier Jugendliche in diesen Tagen. Nichts ist besonders auffällig an ihnen, eher scheint<br />
alles bundesdeutsch normal. Harald lernte Installateur, Gerry Elektriker und Werner Tischler. Sie<br />
bestanden ihre Gesellenprüfungen und hatten einen krisenfesten Arbeitsplatz. Johannes machte das<br />
Abitur und schaffte fürs Jura-Studium problemlos den Numerus clausus. Alle vier hatten die von<br />
ihren Eltern in sie gesetzten Erwartungen erfüllt und standen in ihrer Umwelt keineswegs als<br />
Versager da. Dennoch sind sie es, die sich der Gesellschaft versagten. Nach außen unauffällig und<br />
schweigsam. Dabei lassen sich ihre Beweggründe von keinem modernistischen Klischee ableiten,<br />
keine gängige Polit-Maxime trifft auf diese vier Aussteiger zu.<br />
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In der Kreuzberger Gneisenaustraße, einer breiten Allee mit ausgewachsenen<br />
Kastanienbäumen in der Fahrbahnmitte, fanden sie ihre Bleibe. Es ist ein typischer Berliner<br />
Hinterhofblock aus den vergangenen Jahrhundert. Vor der Eingangstür spielen türkische Mädchen<br />
"Hinkefuß" auf dem Trottoir, Frauen stricken auf den Fensterbrettern. An der Hausmauer lehnt<br />
ein Mittvierziger, der den Schnaps wie Limonade trinkt und Unverständliches über den Fußball-<br />
Bundesligaverein Hertha BSC stammelt. Im Hausflur riecht es nach Katze, Knoblauch und<br />
Bartkartoffeln. Die an der Wand befestigte Namenstafel ist als Wegweiser gedacht. Wer zu Matzkes<br />
will, kann gleich vorne rechts die Treppe benutzen. Zu den Wohngemeinschaften geht's<br />
automatisch über den Hinterhof und dann fünf Stockwerke hoch. Vorbei an ausgebrannten<br />
Mopeds, leeren Flaschen und ausgelatschten Schuhen. Aus den Treppen sind schon einige Stiegen<br />
herausgerissen, die Flurbeleuchtung funktioniert nicht. Auf jedem zweiten Stockwerk gibt's ein Klo,<br />
Duschen sind individueller Luxus.<br />
Im fünften Stock unterm Dach kleben auf dem Türrahmen die Schildchen der Mieter<br />
Harald, Gerry, Johannes und Werner, Nachnamen tun nichts zur Sache. Wer hier herkommt, weiß,<br />
wohin er will. Die Wohnungstür steht meist sperrangelweit offen. Zu klauen ist ohnehin nicht viel.<br />
Sofa, Tisch und Stühle sind vom Sperrmüll, der Fernseher stammt aus den fünfziger Jahren,<br />
geschlafen wird auf Matratzen. Ein paar Bücher stapeln sich im Regal zwischen Nähzeug und<br />
verklebten Teetassen. Eines heißt: "Autonomie und Getto", ein anderes ist von Ernest Hemingway<br />
(*1899+1961): "Wem die Stunde schlägt". An der Wand hängen zwei Gitarren, auf dem<br />
Wohnzimmertisch steht ein Schachbrett neben zwei heruntergebrannten Kerzen, die<br />
frischgewaschenen Jeans liegen ungebügelt im Korb. Der Gemeinschaftsraum ist ihr Zentrum,<br />
dazu hat jeder noch sein eigenes Zimmer - das alles für 350 Mark. Dieser Betrag plus Nebenkosten<br />
muss monatlich aufgebracht werden. Sonst spielt Geld kaum eine Rolle. Auch die Zeit ist ihnen<br />
unwesentlich. Ob es nun gerade morgens, schon abends oder bereits einen Tag später ist - keiner<br />
verliert darüber wesentliche Gedanken. Oft ist es erst das ausgedruckte Datum auf dem<br />
abonnierten Tagesspiegel, das sie für einen Augenblick in die Gegenwart zurückholt.<br />
Als Harald, Gerry, Johannes und Werner vor drei Jahren ihre Wohngemeinschaft<br />
gründeten, verknüpfte niemand damit konkrete Vorstellungen oder auch festorganisierte<br />
Tagesabläufe. Sie hatten keine politischen Ideen oder alternative Lebensmodelle parat, die sie<br />
umsetzen wollten. Nur in einem waren sie sich einig: Alles sollte anders werden, als es bisher war.<br />
Sie wollten aus ihrer Umwelt ausbrechen, die sie geprägt hatte, sie wollten sich in ihren Berufen<br />
nicht weiter verplanen und fremdbestimmen lassen. Viel wichtiger war ihnen das Bedürfnis nach<br />
einer neuen Sinnlichkeit, sie suchten engen zwischenmenschlichen Kontakt, der nicht intensiv<br />
genug sein konnte - sei es durch Gespräche, Musik oder auch Zärtlichkeit.<br />
Jeder fühlte sich vereinzelt, sah sich von der Gesellschaft isoliert, erlitt mit Gefühlen und<br />
Erwartungen laufend Einbrüche, empfand die Masse Mensch als anonym und stumm, die sich<br />
gänzlich der Konsumwelt verschrieben hat. Doch keiner glaubte, sich allein dem äußeren Druck<br />
widersetzen zu können. So galt ihre Hoffnung einer Wohngemeinschaft auf dem Berliner<br />
Hinterhof in der Gneisenaustraße Nr. 60. "Wir sind zwar klein, aber ein Anfang ist doch da",<br />
sagten sie damals. Gemeinsam planten die Vier, ihre Vergangenheit abzuarbeiten, um das Vakuum<br />
Gegenwart auszufüllen. An die Zukunft dachte keiner. Sie galt als eine undefinierbare,<br />
metaphysische Größe.<br />
Dabei machten Harald, Johannes und Werner zunächst gar nicht den Eindruck von<br />
jungen Werthern Anfang der achtziger Jahre. Johannes, ein hochgeschossener Typ mit langen<br />
blonden Haaren und Nickelbrille, sprang von einer alternativen Idee zur anderen. Da sollte eine<br />
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Hobelbank besorgt werden, dann wollten alle gemeinsam töpfern, schließlich war es die<br />
Tischtennisplatte, die noch fehlte. Werner, von etwas untersetzter Gestalt und weitaus ruhiger,<br />
organisierte Kühlschrank und Geschirr. Harald , mit seinem strähnigen schwarzen Haar und<br />
wieselflinken Augen, backte nach Mutters Küchenrezept seinen ersten Apfelkuchen. Nur Gerry saß<br />
meist stoisch in der Sofa-Ecke, schaute gelegentlich von seinem Comic-Heft trübsinnig hoch und<br />
verkroch sich immer sehr schnell unter seinem Bettlaken.<br />
Gerry, sagen seine Freunde, "hat mit seinen zwanzig Jahren den Abgang von<br />
Donaueschingen nach Berlin nicht gepackt". Je länger er in Kreuzberg lebt, desto einsilbiger und<br />
melancholischer wird er. Zurück in den Schwarzwald will er aber auch nicht. Aus ihm ist, wenn<br />
überhaupt, nur selten einen Satz herauszulocken. "Ich weiß nicht ..." lautet seine Standardfloskel.<br />
Harald: "Was glaubst du denn, wo so manchmal deine Lustlosigkeit herkommt, deine Apathie, so<br />
ein bisschen?" Gerry: "Das hab ich mich schon gefragt. Hab keine Antwort gefunden." Harald:<br />
"Hast du dich gefragt oder bist du von uns gefragt worden?" Gerry: "Hab mich selber gefragt. Hab<br />
rumgehangen bei der Arbeit und auch keine Lust gehabt. Aber genau gewusst, dass ich es doch<br />
machen muss. Ich weiß nicht." Gerrys Anhaltspunkte ist seine Matratze. Oft schläft er drei Tage in<br />
einem durch. Johannes: "Da macht er nicht mal ein Kaffeepäuschen." Auch alle Versuche, Gerrys<br />
Zimmer ein wenig heimisch herzurichten, blieben umsonst. Als die Gruppe ihre Räume tapezierte,<br />
bekam auch Gerry seine Rauhfaserstreifen. Die Hälfte der Bude beklebte er. Dann war er plötzlich<br />
weg.<br />
Seit drei Jahren begnügte er sich nunmehr mit der alten Matratze. Ein altes, rostiges<br />
Fahrrad vom Vormieter steht ebenso an seiner Zimmerwand wie die Tapetenrolle im Farbeimer .<br />
Wenn Gerry eine Freundin hat, verschwindet er für zwei bis drei Wochen. Zwischendurch jobbt er<br />
hin und wieder, wenn's Geld knapp wird. Er findet auch jedes Mal eine Stelle. Denn Elektriker sind<br />
in West-Berlin gefragte Leute. Denn klotzt er wie früher für einen Monat ran und steigt fürs<br />
nächste Vierteljahr wieder aus. Im letzten Jahr musste Gerry jedenfalls eine zweite Lohnsteuerkarte<br />
beantragen. Auf der Ersten war für die zahlreichen Firmenstempel kein Platz mehr.<br />
Wurde Gerry in der Großstadt zum Flippie, so entwickelte sich sein bester Freund Harald<br />
zum Hippie - zumindest vordergründig. Er kaufte sich ein kleines Kreuz und lässt es seither vom<br />
rechten Ohrläppchen baumeln. Auch von seinem blau-rot-gemusterten Tüchlein kann Harald sich<br />
nur schwer trennen. Er trägt es am liebsten Tag und Nacht. Freiheiten, die in Donaueschingen<br />
undenkbar gewesen wären. Doch mit derlei Requisiten will Harald nicht darüber hinwegtäuschen,<br />
dass er - trotz aller neuen Hoffnungen - über ein halbes Jahr in den Seilen hing. Beginnt Gerry<br />
seine Sätze mit "ich weiß nicht", so hat Harald "einfach das Gefühl, dass es mir in der Gesellschaft,<br />
wie sie im Moment ist, überhaupt nicht gefällt."<br />
Es ist ein vages Gefühl, das ihn aber dazu brachte, in sechs Monaten nicht einmal auf die<br />
Straße zu gehen. Selbst zu seinem 21. Geburtstag ließ er sich Wein und Bier holen. Harald schlief<br />
lieber in den Tag hinein, verlor sich über Stunden in Rock 'n' Roll-Tonbändern, die Werner<br />
mitgebracht hatte. Fing an, auf der Gitarre Griffe zu üben, um das Lied "Ein Hase saß im tiefen<br />
Tal ..." melodisch begleiten zu können. Die meiste Zeit stand er jedoch wie ein Greis am<br />
Küchenfenster, blickte auf niedriggelegenere Dächer, zählte Schornsteine und Fernsehantennen<br />
oder stierte eine mausgraue Mauer auf dem Hinterhof an, die sich an trüben Tagen kaum von der<br />
dichten Wolkendecke abhob. "Ich fühlte mich allein, war nervlich fertig und zitterte am ganzen<br />
Körper", umschrieb er seinen Gemütszustand. In Wirklichkeit hatte ihn das Heimweh gepackt, er<br />
war depressiv und spürte seine Orientierungslosigkeit. In diesen Augenblicken am Küchenfenster<br />
dachte er nicht an seinen selbstsicheren Ausspruch "irgendwann, irgendwo, irgendwen", als er mit<br />
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Gerry eines Nachts Hals über Kopf aus Donaueschingen getürmt war, weil ihnen alles "zu eng"<br />
erschien.<br />
Er sah nur den alten, heimischen Marktplatz, das Café Hengstler vor sich, erinnerte sich<br />
an die spannenden Wettfahrten zum Nachbarort Hüfingen und vor allem an die vielen Leute, die er<br />
kannte und die natürlich auch ihn kannten. "Also, wenn ich in Donaueschingen die Straße rauf lauf,<br />
so fünfhundert Meter lang, da sind mindestens zehn Bekannte, die mich anhalten und sich mit mir<br />
unterhalten", verklickerte Harald beim Abendessen die neue Erkenntnis. Er sagte es so<br />
eindringlich, als kämen seine Freunde aus einer anderen Stadt. Nun war er aber nicht mehr in<br />
Donaueschingen, sondern in seiner Wohngemeinschaft in Kreuzberg. In diesem "Dreckloch", wie<br />
er plötzlich sein neues Zuhause nannte, "zwischen Türken, Müll, Ratten, einem Scheißhaus für<br />
dreißig Mann, und da wollen wir alles anders machen", beschimpfte er Johannes und Werner, die<br />
sich seinen Ausbruch nicht erklären konnten. "Was ist hier eigentlich alternativ", schnauzte Harald<br />
herum. Er wartete die Reaktion erst gar nicht ab, sondern antwortete gleich selbst: "Wenn Scheiße<br />
für euch eine Alternative ist, dann bin ich eben ein Spießer."<br />
Abhauen wollte er noch am selben Abend. Doch er blieb. Über eine Woche verschanzte<br />
Harald sich in seinem Zimmer und redete mit niemanden. Johannes und Werner vermuteten<br />
schon, Harald werde doch über kurz oder lang aus der WG aussteigen und auf den Marktplatz nach<br />
Donaueschingen zurückkehren. Harald machte aber etwas anderes. Er malte einen großen<br />
Laubbaum in grünen und braunen Farben an seine weiß-graue Zimmerwand. Für ihn war's ein<br />
bisschen Schwarzwald in dem Häusermeer Kreuzberg. Deprimiert und ratlos hockte er in seiner<br />
Bude. Blinde Wut kam in ihm hoch, schlug dann wieder in neues Leiden um. Er konnte sich nicht<br />
erklären, was die Auslöser für seine tiefen Stimmungsschwankungen eigentlich waren. Er glaubte,<br />
nur er allein könne damit fertig werden. Doch je mehr er sich vergrub, desto größer wurden seine<br />
Gefühlssprünge, desto passiver und phlegmatischer reagierte er. Dabei gab es für ihn keinen<br />
ersichtlichen Grund.<br />
Schließlich hatte ihn keiner gezwungen, mit dem Elternhaus zu brechen und in eine<br />
Wohngemeinschaft nach Kreuzberg zu ziehen. Er konnte ja wieder heimgehen. Seine Eltern<br />
würden sich freuen, zumal es keinen Krach gegeben hatte. Sie haben ihn ohnehin nicht verstanden.<br />
Im letzten Brief, den er von seiner Mutter bekam, schrieb sie: "Was haben wir dir angetan, dass du<br />
uns so missachtest." Aber darum geht es ja nicht. Ursprünglich hoffte er, sich am ehesten in<br />
Kreuzberg zu verwirklichen. Hier muss er nicht im kleinen Horizont ständig funktionieren, sich<br />
anpassen und sich laufend reinreden lassen. Hier muss er nicht arbeiten, wenn er nicht will. Hier<br />
muss er nicht sein Fassaden-Lächeln aufsetzen, wenn er keine Lust dazu hat. Hier könnte er sich in<br />
alternativen Gruppen engagieren, Brote backen, Autos zusammenflicken, sanitäre Anlagen<br />
verlegen. Hier könnte er in Teestuben, in Pinten, in Buchläden mit vielen Leuten reden, denen es<br />
sicherlich nicht viel anders ergeht - und nicht nur so ein oberflächliches Geschwätz über Status und<br />
Stars, sondern echte Gespräche. Deshalb sind sie ja nach Kreuzberg gekommen, der Harald, der<br />
Gerry, der Johannes und der Werner.<br />
Aber anders als Gerry, der keinen seiner Freunde richtig an sein Innenleben<br />
herankommen ließ, versuchte Harald in Marathon-Diskussionen mit Johannes und Werner<br />
auszuloten, warum ihn seine Gefühle blockierten, warum er bisher matt und mutlos blieb, warum<br />
er so kontaktscheu war und sich noch nicht einmal auf die Straße traute. Da war nicht nur der<br />
gewohnte Marktplatz, zu dem Harald sich irgendwie zurücksehnte. Ganz unvermittelt sprach er<br />
von seinen Kindheitserlebnissen, die er als "wahnsinnig schön" empfand und die ihm "vom Gefühl<br />
her" heute fehlen. "Alle sieben Kinder schliefen in einem Raum und fast jeden Abend haben wir<br />
6 0
gespielt." Oder er erzählte, wie ihm sein großer Bruder Anton mit sechs Jahren die erste Mark<br />
geschenkt hatte. Oder wie er als Vierzehnjähriger mit seinem kleinen Fahrrad zum ersten Mal ein<br />
Auto überholte. Harald: "Es war totaler Wahnsinn, das Rad hatte nämlich nur eine Übersetzung<br />
von eins zu eins."<br />
Johannes und Werner hörten aufmerksam zu. Sie ließen Harald Stunden über seine<br />
Kindheit berichten, die er sich als ein Stück heile Welt bewahren wollte. Harald entging in seinem<br />
Erzählfluss offenbar, dass er längst bei einem anderen Thema gelandet war. Er sprach nun von<br />
seinem Vater, der noch mit 48 Jahren wöchentlich drei Mark Zigarettengeld von der Mutter<br />
zugeteilt bekam. der sich mit 53 Jahren den ersten Wagen, einen Opel Kadett, leisten konnte. Der<br />
mit seinem Opel-Stolz jährlich aber nur um die 600 Kilometer fuhr, weil ihm das Benzingeld fehlte.<br />
Der trotzdem jeden Samstag, wenn's nicht regnete, wie ein kleiner Bub vor der Haustür sein Auto<br />
wusch und polierte. Und der sich immer darüber erregen konnte, wenn Nachbarn oder<br />
Arbeitskollegen mit ihren neuesten Modellen angeberisch durch de Kleinstadt fuhren.<br />
Inzwischen ist der Alte 66 Jahre, sein Gesicht ist eingefallen und voller Falten. Seit er<br />
pensioniert ist, weiß er mit sich und seiner Umgebung nichts mehr anzufangen. Während seines<br />
ganzen Lebens hat er nur gearbeitet, so zehn bis zwölf Stunden am Tag, aber nie gelernt, selbst<br />
seine Freizeit mit Hobbies spielerisch zu gestalten. So sitzt der halbglatzige Herr meist vorm<br />
Fernseher, döst vor sich hin, weil er für Politik und Show wenig übrig hat. Nur wenn am Samstag<br />
vor der Spätausgabe der Tagesschau zur Ziehung der Lottozahlen umgeschaltet wird, zum<br />
Hessischen Rundfunk, springt er hoch, vergleicht seine drei Tipp-Scheine, um dann wieder<br />
zusammenzusacken. Mutters Errungenschaft, fährt Harald fort, ist die neue Stereoanlage mit<br />
eingebauten Kassettenrecorder. Fünf Jahren haben sie dafür gespart. Beim Kauf nahmen die Eltern<br />
natürlich auch gleich ein paar Platten mit. Außer Rudolf Schock, Heino und die Egerländer<br />
Marschmusik fiel ihnen nichts weiter ein. So steht der Apparat als Vorzeigestück in der Wohnstube<br />
und wird kau eingeschaltet, weil sie ja nicht tagein-tagaus dieselben Melodien hören können.<br />
Staub und Flusen wären jedoch auf dem teuren Stück undenkbar. Darauf achtet Mutter<br />
schon. Und dann erinnert sich Harald an die immer wiederkehrende Stereotype seiner Mama:<br />
"Schaffe Harald, schaffe Harald. Mach es so wie die Gaby, die schafft bei Aldi in der<br />
Buchabteilung, oder wie Irene, die zählt das Geld uff die Sparkass". Womit seine ältere Schwestern<br />
gemeint waren. Natürlich haben die es zu etwas gebracht. Mit zwanzig geheiratet, zwei Kinder<br />
bekommen, wieder einen Halbtagsjob angenommen, Geschirrspüler, Gefriertruhe und einen<br />
Gartengrill gekauft. Einmal im Jahr geht's nach Gran Canaria, um dort am Strand Dosenbier zu<br />
trinken. "Die sind ja bekloppt", räsoniert Harald. "Die wissen doch gar nicht mehr, wer sie<br />
eigentlich sind."<br />
Wer er selber ist, weiß Harald auch nicht so genau. Seine Gefühlssprünge, die total<br />
Depressionen, seine Apathie fangen ihn immer wieder ein. Mal ist es die totale Identifikation, mal<br />
die totale Verweigerung, mal will er noch in derselben Nacht abhauen, mal plant er über Jahre in<br />
der Wohngemeinschaft zu bleiben. Die etablierte Erwachsenenwelt mag in diesen Jugendlichen<br />
"verweichlichte Kinder" sehen, die nur deshalb ängstlich und kopflos sind, weil ihnen alles<br />
abgenommen wurde und sie alles vorfinden, was sie scheinbar brauchen. Aber Haralds Stabilität<br />
und die seiner Freunde ist nicht das "soziale Netz" Bundesrepublik - nicht die Lohnfortzahlung im<br />
Krankheitsfall, nicht die Rentenversicherung, kein Bausparvertrag, keine vermögenswirksamen<br />
Leistungen.<br />
Die Wohngemeinschaft in Kreuzberg findet ihr Gleichgewicht vielmehr in der<br />
Negativabgrenzung gegenüber dieser Gesellschaft. Harald und Co. machen sich nichts aus der<br />
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Konsumkultur, die soziale Rangskala der Karrieren auf Lebenszeit hat für sie keine Bedeutung.<br />
Aber die einstigen Handwerker wollen sich auch nicht vom "Profitgeier und Polier" in Fabriken<br />
oder auf dem Bau kaputtmachen lassen. Ob mit Flanellanzug im Büro oder mit dem Blaumann am<br />
Fließband - Maloche ist es allemal und die tötet Gefühl und Fantasie. Umgebung und Milieu zu<br />
erleben, Typen kennen zu lemen, unendlich viel Zeit für sich und andere zu haben, winzige Details<br />
wahrzunehmen und weiterzugeben - kurzum wetterfühlig zu sein und Sensibilität ausleben zu<br />
können, das alles ist ihnen erheblich wichtiger als der große Wurf strategischer Überlegungen à la<br />
Bonn oder eines Lohnzuwachses um 6.8 Prozent, den Funktionäre ausgemauschelt haben.<br />
Die Aussteiger in der Gneisenaustraße sehen im Bundesbürger einen "Wohlstands-<br />
Pinguin", der sich in seinem schwarz-weißen Einheitstrikot als Frontkämpfer versteht: für<br />
Wirtschafts-Wachstum und Weltmeisterschaft. "Das ist der Grund", wiederholt Harald, "warum es<br />
mir momentan in der Gesellschaft überhaupt nicht gefällt." Wenn Harald von Gesellschaft spricht,<br />
dann meint er nicht jene, die Soziologen oder Politologen analysieren und auseinanderpflücken. Er<br />
ist kein Theoretiker und will es auch gar nicht sein. In den Bücherregalen dieser Wohngemeinschaft<br />
steht kein Karl Marx (*1818 +1893) , Mao Zedong (*1893+1976) oder Herbert Marcuse<br />
(*1898+1979). Und selbst wenn sie dort stünden, käme keiner auf die Idee, seine Lebenssituation<br />
mit Zitaten dieser Theoretikern zu verallgemeinern. So ist ihre Wohngemeinschaft auch nicht ein<br />
Team junger Leute, die sich gemeinsam auf ihre Examen vorbereiten, zusammen Semesterarbeiten<br />
schreiben und sich über Grundsatzfragen oder Berufschancen die Köpfe heißreden. Dieser Typus<br />
von WG hat sich bei den Aussteigern überlebt. Ob die Leute studieren, einen akademischen<br />
Abschluss haben oder Hauptschüler sind, ist zweitrangig. Ihnen kommt es mehr auf den<br />
Konsensus im Zusammenleben an, sich und die Lebensphilosophie der anderen zu begreifen.<br />
Dabei urteilen Harald, Gerry, Johannes und Werner aus ihrer Erlebniswelt und ihren unmittelbaren<br />
Erfahrungen heraus. Sie sind nicht die abgeklärten Überflieger, die sämtliche aktuellen<br />
Vorkommnisse mit routinesicherem Blick in ihre selbstgezimmerten Denkschemata einordnen,<br />
seelenruhig in der Gruppe ihre Statements abgeben und allmählich zu Zyniker werden.<br />
Als Johannes noch von der Uni nach Hause kam, löste er oft ausufernde Debatten in der<br />
Gruppe aus. Mindestens zweimal in der Woche , wenn er seine Seminartage hatte, war er hinterher<br />
so hektisch und aufgekratzt, dass gleich alles aus ihm heraussprudelte. Für die anderen drei<br />
verkörperte Johannes den "politischen Durchblicker", der impulsiv und messerscharf ihre schon<br />
seit drei Jahren vollzogene Abgrenzung zu diesem Staat mit politischen Daten und Fakten<br />
untermauern konnte. Und Johannes brauchte diese Gespräche, um sich seiner zu vergewissern. Sie<br />
gaben ihm aber auch ein bisschen Genugtuung. Er verstand es nämlich, seine Betroffenheit auf die<br />
Gruppe zu übertragen.<br />
Der 18. Oktober 1977 hat sich im Gedächtnis der Vier fest eingeprägt. Nicht etwa, weil<br />
seit der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer der Bundesrepublik der<br />
Atem stillstand oder bei den Polizeirazzíen ganze Häuserblocks gefilzt wurden. Daran hat sich die<br />
Berliner Szene seit der Geiselnahme des CDU-Politikers Peter Lorenz (Entführung am 27. 2. 1975<br />
durch Terroristen der Gruppe 2. Juni; *1922+1987) gewöhnt. Erstmals wurde in der<br />
Wohngemeinschaft über Selbstmord geredet - eine Diskussion, die sich noch nachhaltig auswirken<br />
sollte. Johannes kam an diesem Abend von der Uni und sagte nur knapp: "Sie sind tot." - "Wer<br />
sind sie", fragte Werner. "Na wer schon", reagierte Johannes unwirsch. "Baader, Ensslin, Raspe."<br />
Johannes war derart aufgelöst und geschockt, als sei seine Mutter oder einer der engsten Freunde<br />
beim Verkehrsunfall unverhofft aus dem Leben gerissen worden. Er griff gleich zur Weinflasche,<br />
setzte sie ex an und hörte gar nicht wieder auf zu schlucken. Der knappe Satz "Sie sind tot" und der<br />
6 2
darauffolgende spontane Ausbruch verblüfften Harald, Gerry und Werner zunächst. Denn als vor<br />
rund zwei Wochen Hanns Martin Schleyer verschwand, da hatte Johannes noch erklärt, er könne<br />
sich mit "der politischen Konzeption der RAF (Rote Armee Fraktion 1970-1998; verantwortlich<br />
für 34 Morde, zahlreiche Banküberfälle, Sprengstoffattentate) und ihren Gewalttaten nicht<br />
identifizieren".<br />
Am Nachmittag hatte ihm ein Kommilitone auf dem Weg in den Hörsaal von den<br />
Selbstmorden in Stuttgart-Stammheim berichtet. "Ich glaubte, der wollte mich verscheißern",<br />
erzählte Johannes seinen Freunden. "Ich bin nicht mehr in die Vorlesung gegangen, rannte zum<br />
Kiosk und kaufte mir zwei Zeitungen. Da sah ich dann die Schlagzeilen. Da hab ich plötzlich den<br />
Eindruck gehabt, mir lässt jemand die Luft raus. Es war im Moment nichts mehr da, was man<br />
diesem Machtapparat, dieser ganzen Struktur, dieser ganzen Maschinerie hätte entgegensetzen<br />
können. Und das hat mich traurig und bestürzt gemacht." -"Aber Johannes, die sollen sich doch<br />
selbst erschossen haben, hast du vorhin noch gesagt", schränkte Werner ein. Johannes aufgebracht:<br />
"Selbstmord oder Mord, das ist doch nicht die wesentliche Frage. Die Leute sind tot, sie sind nicht<br />
mehr da, sie sind weg." Betroffenes Schweigen. Keiner will etwas sagen, auch nicht. Nach dem<br />
Abendessen setzen sich die Vier in ihre Sofaecke, zünden Kerzen an und wollten eigentlich ihre<br />
Schachpartie vom Vortage fortsetzen. Doch bevor das erste Spiel beendet war, kam das Thema<br />
wieder hoch. Werner, der damit anfing, konnte mit Johannes' rätselhaftem Verhalten wenig<br />
anfangen. Für ihn stellte sich die Frage, was Johannes trotz entgegengesetzter Beteuerungen ein<br />
stiller Sympathisant der Terrorszene, der nur momentan die Contenance verloren hatte, oder<br />
welche seelischen Hintergründe gab es, dass ihr Freunds seine Person so stark mit dem Schicksal<br />
toter Terroristen verband.<br />
"Das geht ja nicht nur mir so", versuchte Johannes zu erklären. "In der Uni waren viel<br />
baff und erschlagen, haben nicht mehr den Mund aufgekriegt. Für mich war die RAF eine<br />
Opposition, ich hatte das Gefühl von Sicherheit und Stärke, weil ich gesehen habe, wie sechzehn<br />
oder siebzehn Mann über sechzig Millionen in Schach halten konnten. Es ist doch egal, ob jemand<br />
in die Zellen gegangen ist und den Leuten die Waffen an den Kopf gelegt hat. Für mich sind es die<br />
ganzen Verhältnisse, die Haftbedingungen, verstehst du, Werner ? Wenn ich dich jetzt in diesem<br />
Zimmer einsperre, und ich unterwerfe dich einer Kontaktsperre, und du springst nachher aus dem<br />
Fenster raus, dann ist das Mord. Die hatten ja keine Möglichkeit mehr, was sollten die noch<br />
machen. Ich hätt mich wahrscheinlich auch umgebracht, wenn die Frage des Selbstmordes aktuell<br />
gewesen wäre."<br />
Eine Konjunktiv-Formulierung, die keine zwei Monate später ihre Aktualität bekam. Es<br />
war gegen Mittag. Johannes hatte ausgeschlafen und beim Aufstehen niemanden angetroffen. Er<br />
setzte sich an den noch stehen gelassenen Frühstückstisch, rührte aber nichts an, sondern schrieb<br />
einen Abschiedsbrief an seine Freunde. "Das Telefon klingelte, zumindest war er sicher, dass es<br />
klingeln würde, da er den Anruf erwartet hatte. Das Fenster stand weit offen, so weit, wie es<br />
eigentlich nur im Sommer üblich war. Und einer der Fensterflügel bewegte sich. Auch die Uhr<br />
tickte noch in seiner Vorstellung. Aber nur, um auf diese Weise die Zeit verstreichen zu hören. Der<br />
flüchtig gedeckte Frühstückstisch, der nahe am Fenster stand, war leicht mit Schnee bedeckt. Das<br />
Zimmer schien unverändert, bis auf die Kälte, die den Raum rasch angefüllt hatte. Er lag unten im<br />
Hof auf dem Teppich aus Schnee, leicht verkrümmt, unbeweglich, bis auf eine Strähne im Haar, die<br />
der Wind ab und zu bewegte. Seine Welt drehte sich nicht mehr, und die andere schien noch nichts<br />
davon gemerkt zu haben. Als dann der Bruch ihn erschrak, vergewisserte er sich seines Willens.<br />
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Schon oft hatte er diese Vorstellung, zu verletzten, doch wusste er um die Unbedingtheit und<br />
Unwiederbringlichkeit dieses Schrittes."<br />
Über eine Stunde benötigte Johannes für seine Zeilen. Er ließ sie auf dem Küchentisch<br />
liegen und kletterte im grünen Pyjama auf das Fensterbrett, schaute vom fünften Stock auf den<br />
Steinboden unter auf dem Hinterhof, stieg wieder runter, dann wieder rauf. Plötzlich packten ihn<br />
von hinten zwei Hände und rissen ihn vom Fensterbrett, so dass der Küchentisch gleich mit<br />
umflog. Werner war durch die offenstehende Haustür gekommen. Er sah einen bibbernden<br />
Johannes, der in sich versunken nach unten schaute, aber offensichtlich den Mut verloren hatte,<br />
einen halben Meter vorwärts zu gehen.<br />
Für den 23jährigen Johannes, wie er später erzählte, war dieser Moment ein "Gefühl der<br />
Befreiung, also es ist aus. Herrgott, ich muss mich nicht mehr auseinandersetzen. Ich muss<br />
niemanden mehr sagen, dass ich mich unverstanden fühle". Unverstanden von seinen Eltern,<br />
unverstanden in der Uni, unverstanden von seiner Freundin Eva, unverstanden von seinen<br />
Mitbewohnern. Befreiung von seinen Eltern, zu denen er keinen Kontakt mehr hatte. Befreiung<br />
von der Uni, zu der er nicht mehr ging, Befreiung von seiner Freundin Eva, die er nicht mehr sah.<br />
Befreiung von der Wohngemeinschaft, indem er sich aus dem Fenster stürzen wollte.<br />
Johannes "pisst auf diese Welt", die ihn fix und fertig macht. "Dass ich in eine<br />
Gesellschaft mit ihrer rotzigen Arroganz und Selbstherrlichkeit hineingeboren worden bin, dafür<br />
kann ich nichts", sagte er. "Wir sind doch alle mit Werten vollgepfropft, die fadenscheinig sind. Im<br />
Kindergarten und in der Schule hat man mich ideologisch getrimmt und versucht, durch Prügel<br />
abzurichten. Mein Vater machte mit meiner Mutter und mir dasselbe, wenn er besoffen war. Und<br />
das war in der Woche mindestens zweimal. Bundeswehr und Uni geben einem dann den letzten<br />
Schliff. Allround gebildet, von überall seinen Touch bekommen wird man losgelassen als ein<br />
angeblich nützliches und wesentliches Glied innerhalb der Gesellschaft. - Psychische Krüppel sind<br />
die Karriere-Denker und Ehrgeizlinge, aber die merken noch nicht einmal, dass sie politisch und<br />
sozial entmündigt sind. Die Leute begreifen einfach nicht, in welchen Abhängigkeiten sie leben, wie<br />
ihre Bedürfnisse nach Selbstdarstellung und Selbstverwirklichung auf den Konsum gelenkt werden.<br />
Die leben in Sozialwohnungen, bei denen sich die Architekten am Reißbrett einen<br />
runtergeholt haben. Das sind die wahrsten Kasernen, denen fäll die Decke auf den Kopf, da<br />
kommt nicht mehr genug Licht ins Fenster. Die Scheiße steckt überall drin, bis ins letzte Detail.<br />
Aber das hat alles Modellcharakter in der Bundesrepublik. Die Politiker machen in Aufsichtsräten<br />
und Gesellschaften ihre Geschäfte, belügen die Bevölkerung, weil sie die schlimmen Pannen in den<br />
Kernkraftwerken verheimlichen. Und wenn ich mir die Zeitungen angucke, dann weiß ich doch<br />
ganz genau, wir haben dpa oder AP. Das sind vorgefasste, ideologisch abgestimmte Nachrichten,<br />
die das ganze System untermauern. Das ist alles abgefuckt, soviel Unehrlichkeit, Mauschelei und<br />
Vorgaukelei. Und die Politiker stellen sich immer kackfrech hin und reden von Solidarität, Toleranz<br />
und Sozialstaat."<br />
So wie Johannes denkt, sehen auch Harald, Gerry und Werner die deutsche<br />
Bundesrepublik. "Das ist doch die Wirklichkeit", sagt Gerry. Harald meint: "Über einige Jahre<br />
müssten regelmäßig Parteitage mit Tausenden von Leuten besetzt werden." Werner hat dazu keine<br />
Lust. "Das gibt nur Prügeleien mit den Bullen." Er will lieber auswandern. - "Auswandern in die<br />
Hoffnung", das sagt und wiederholt er immer wieder. Nur wohin, weiß er aber noch nicht: "Mal<br />
sehn".<br />
6 4
Sie hauten nicht ins ferne asiatische Hinterland ab und besetzen auch keine Parteitage.<br />
Harald, Gerry, Johannes und Werner gingen gemeinsam an den "Strand von Tunix". Über 20.000<br />
Jugendliche waren Anfang 1978 nach West-Berlin gekommen, um ihr Drei-Tage-Fest zu feiern. Ein<br />
Meeting der bundesdeutschen Subkultur, die mit Theater, Sketch, politischen Diskussionen, Rock<br />
und Beat, Reggae und Liebe sich als Gegenöffentlichkeit zur Gesellschaft präsentierte. "Uns langt<br />
es jetzt hier" -- "wir hauen ab" -- "und das wollen wir doch mal sehen", hießen ihre Parolen. Es war<br />
das erste Mal, dass sich die vier Donaueschinger aus ihrem Berliner Hinterhof-Dasein befreiten.<br />
Unter buntbemalten Stadtindianern, Feministinnen und Schwulen, Mescalero-Typen,<br />
Grünen und Roten "haben wir endlich gemerkt. dass wir überhaupt nicht allein sind", bemerkt<br />
Johannes. Harald glaubt: "Wir waren immer ein bisschen isoliert, und ich habe mich auch<br />
vereinsamt gefühlt. Eine Macke habe ich aber nicht. Dafür sind wir schon zu viele." Und Werner<br />
schwärmte von der U-Bahn, die er sonst gar nicht mochte: "Die war so proppenvoll mit<br />
irgendwelchen Typen.<br />
Das hat zum ersten Mal Spaß gemacht. Dasa war alles so offen, man hat erzählt, gesungen<br />
und echt gelacht." Auf dem Tunix-Kongress gab's keine politischen Rezepte, da wurden auch keine<br />
langangelegten Strategien ausgetüftelt. Viel wichtiger war den meisten eine neuerlebe<br />
Gemeinsamkeit. Johannes stellte in diesem Moment nicht mehr sich selber infrage, "wir stellten<br />
endlich die Öffentlichkeit dorthin, wo sie längst hingehört, ins Kackquadrat. Für die Tageszeitung<br />
Welt war das Festival ein "Tummelplatz von Linksextremisten und ihren Sympathisanten,<br />
Randalierern und Chaoten". Harald, Gerry, Johannes und Werner hingegen fühlten sich in<br />
doppelter Hinsicht erleichtert. Ihre Heimatstadt Donaueschingen schien endgültig vergessen, und<br />
nun war es ihnen auch gelungen, aus dem schmorenden Saft der Wohngemeinschaft<br />
rauszukommen.<br />
Seither arbeiten sie in der alternativen Szene. Installateur Harald erneuert Waschbecken<br />
und Klos in Kneipen wie "Meisengeige" oder "Kiste Teeladen", legt Leitungen und repariert<br />
schrottreife Autos. Aus Tischler Werner wurde ein "Babysitter", weil die Mütter im "Frauenhaus-<br />
Zentrum für misshandelte Frauen und deren Kinder" Schichtdienst haben. Johannes, von dem<br />
seine Eltern in Donaueschingen träumten, er werde sich als Dr. jur. im Heimatörtchen<br />
niederlassen, fährt tagsüber den alternativen Wein in die makrobiotischen Läden; abends sitzt er im<br />
Taxi. Alternativler chauffiert er umsonst, Leuten aus dem Hotel Kempenski und anderen<br />
Nobelherbergen schlägt er's drauf. Nur Gerry, der die Pink-Floyd-Kassette drückte, als er mit<br />
Harald aus Donaueschingen abdampfte, macht noch den alten Striemel. Er hat noch seine<br />
Lohnsteuerkarte, hin und wieder schläft er drei Tage in einem durch oder ist mal für zwei bis drei<br />
Wochen ganz untergetaucht. - Den Marktplatz von Donaueschingen will keiner mehr wiedersehen.<br />
65
PUMA UND ADIDAS - EINE DEUTSCHE PROVINZ-POSSE -<br />
KRIEG DER TRÖPFE<br />
Hinter seiner putzigen Fassade durchlebt Herzogenaurach seit Jahrzehnten seine<br />
eigene Gesetzmäßigkeit, die Hass, Rivalität und Leibeigenschaft bedeutet. Die beiden<br />
Sportartikel-Großfirmen adidas und puma haben das fränkische Nest in zwei<br />
unversöhnliche Lager gespalten.<br />
Titanic, Frankfurt a/M - 01. März 1981<br />
Hinter Butzenscheiben und Fachwerkfassaden, der altdeutschen Heimeligkeit, verstecken<br />
sich manche Misthaufen, die so niemand lüften mag. Zumindest im fränkischen Herzogenaurach,<br />
Kreis Erlangen-Höchststadt, nageln heute wie ehedem Landleute tote Eulen an ihre Scheunentore,<br />
intoniert Gitarrist Günter Grube in der mit fünfzehn Alpenveilchen und fünf Flamingoblumen<br />
dekorierten Gaststätte im Turnerheim die altbekannte Volksweise "Es war im Böhmerwald, wo<br />
meine Wiege stand". Da beklagt sich Alfred Wachs vom Gartenbauverein über "die von<br />
Herzogenaurach kaum noch abwendbare Apokalypse. Wir werden bald sterben - allen voran die<br />
jüngere Generation, weil sie sich in Kellerbars unbehelligt tot säuft."<br />
Herzogenaurach im Fränkischen hat dichtgemacht, vom Innenleben der Kleinstadt dringt<br />
nur spärlich etwas nach draußen. In sich gekehrt schlummern die Menschen vor sich hin. Nichts,<br />
so will es scheinen, kann die wohlerträumte Ordnung arg erschüttern. Alles hat hier seine<br />
Akkuratesse. Die eng verschlungenen Gassen glänzen wie blankgewienert, eingelassene<br />
Springbrunnen mit Gartenzwergen zieren den Rasen um die Einfamilienhäuser, von den beiden<br />
Kirchentürmen bimmelt's all' Viertelstund'. Zink und Messing sind allgegenwärtig. So mancher<br />
Tränensack triefte an diesem Ort schon vor Wohlbefinden - deutscher Gemütlichkeit.<br />
Trotzdem ist Herzogenaurach mit keiner anderen gefühlsverklärten Provinz vergleichbar.<br />
Denn unter der beschaulichen Oberfläche durchlebt das Nest seit drei Jahrzehnten seine eigene<br />
Gesetzmäßigkeit, die Hass, Rivalität und Leibeigenschaft bedeutet. Zwei unversöhnliche Lager<br />
stehen einander gegenüber. Der Aurachfluss, der die Kleinstadt spaltet, gilt als ihre<br />
"Demarkationslinie". Eine Provinzburleske, könnte man meinen, hießen die Erbfeinde nicht adidas<br />
und puma, eben jene internationalen Sportkonzerne, die sich in ihrem Heimatdorf einen<br />
Religionskrieg leisten - Streifen um Streifen, Stolle um Stolle. Diesseits des Aurachflusses<br />
produziert adidas mit 770 Mitarbeitern seinen Drei-Streifen-Sportschuhe, der Wasser, Licht und<br />
Wind symbolisieren soll; immerhin 40.000 Paare pro Tag. Jenseits ist puma zu Hause, der<br />
aggressive, unverwüstliche, um dessen federweiche Tatzen 550 Beschäftigte kümmern (5.000<br />
täglich).<br />
Das Hüben und Drüben der Aurach hat über all die Jahre die eine Familiensippe von der<br />
anderen feinsäuberlich sortiert. In diesem 16.300 Einwohner zählenden Städtchen wäre es verpönt,<br />
wenn der Vater etwa bei puma am Reißbrett stünde und die Mutter bei adidas Schnürsenkel<br />
einzöge. Und es ist noch keine drei Jahre her, da machte eine Liebesgeschichte zwischen Pumanern<br />
und Adidaner in den Kneipen die Runde. Dem adidas-Verkaufsfahrer Reinhart Schäfer war das<br />
absonderliche Ansinnen gekommen, die puma-Packerin Anita Bechthold zu ehelichen. Die beiden<br />
Familien liefen Amok vor Angst um Ansehen und Arbeitsplatz, die Firmen drohten für den Fall<br />
der Heirat unverhohlen den Rausschmiss an. adidas-Reinhart und seine puma-Anita wanderten aus,<br />
wie man in Herzogenaurach zu berichten weiß.<br />
6 6
Für Armin Dassler,(*1929+1990) den puma-Chef, "ist dieses verfluchte Familiensplittung<br />
in den Fabriken" so etwas wie Rassenschande. Keiner seiner Mitarbeiter würde es - gar in seiner<br />
gewichtigen Gegenwart - wagen, den Namen adidas auszusprechen. Im puma-Werk verständigte<br />
sich selbst der Betriebsrat darauf, von "denen da drüben" oder kurz von "Dingda" zu reden.<br />
Als mich der 50jährige Dassler im Gasthof Schuh in Dondörflein zum Steinhäger-trinken<br />
einlud, konnte ich im Rahmen einer journalistischen Befragung natürlich nicht ausschließlich auf<br />
puma herumreiten. Mindestens drei Mal war es unvermeidlich, adidas auch akustisch wahrnehmbar<br />
zu benennen. Schließlich wechselte der Ex-Gladbacher Berti Vogts nicht von puma zu "Dingda".<br />
Auch ist der 53malige Nationalspieler Rainer Bonhof beim 1. FC Köln nicht der einzige puma-<br />
Spieler in einer bei "Dingda" unter Vertrag stehenden Mannschaft. Ferner trug ja selbst puma-<br />
Pressesprecher als aktiver Spieler von Schalke 04, Bayern München sowie in der Nationalelf keine<br />
"Dingda-Kicker", sondern die Konkurrenz-Schlappen.<br />
Der puma-Chef sitzt breit auf der Bank, mit seiner puma-Nadel am Revers. Neben ihm<br />
seine Public-Relations-Mitarbeiter. Der eine im puma-Schiedsrichterhemd, der andere in puma-<br />
Tenniskluft. Hinter der Theke zapft Bauer Schuh, ein Hobby-Gastronom, im puma-Trainingsanzug<br />
und puma-Turnschuhen, Bier, Mama Schuh, im weißen Küchenkittel und puma-Tretern, brät in<br />
der Küche für die Gäste Scheufele. Und Fräulein Schuh, die unverheiratete Tochter des Hauses, ist<br />
dafür abgestellt, dem puma-Chef in puma-T-Shirt, puma-Strümpfen und puma-Joggingschuhen<br />
regelmäßig den Steinhäger nachzukippen. Da versteht es sich dann von selbst, dass Mama Schuh<br />
den puma-Chef irgendwann nach Mitternacht mit einem vom Schäferhund abgewandelten Verslein<br />
liebevoll verabschiedet. "Werde auch du Mitglied im puma-Verein, denn in der Liebe zu puma<br />
erkennt man die Seele des Menschen."<br />
Die Leute in dieser verstohlenen Gegend dulden keine Zwischentöne. Sie betrachten es<br />
als ihre ureigenste Verpflichtung, auch unaufgefordert Front zu beziehen. Zu bitter war einst die<br />
Armut, zu rasant der wirtschaftliche Aufstieg mit adidas und puma. Eine offenkundig von Gott<br />
mitgegebene Mischung aus untertänigem Bekenntnisdrang und dienstbeflissener Uniformiertheit<br />
sind die Spätfolgen.<br />
Tatsächlich gleicht Herzogenaurach einem Olympiadorf im Fachwerklook. Schon<br />
morgens um 4 Uhr, wenn die Müllabfuhr die Straßen durchkämmt, tragen die Männer den weiß<br />
gestreiften adidas-Blaumann. Gegen 7.30 Uhr strömen Kinderscharen zur Carl-Platz-Schule. Ganze<br />
Fußballmannschaften versammeln sich da im Vorhof. Statt Ranzen oder Jeansbeutel schultern die<br />
meisten ihre adidas-oder puma-Familientasche. Gemüsehändler Viktor Tourinaire von der hinteren<br />
Gasse öffnet um 8 Uhr seinen Laden - als puma-Trainer verkleidet. Um 9.30 Uhr fährt<br />
Lokalredakteur Ekkehardt Kubec in sein Blättchen. Sein Wagenaufkleber: "Puma macht's mit<br />
Qualität". Bereits um zehn Uhr treffen sich die ersten Arbeitslosen im Café Römer am Markt -<br />
ausnahmslos im Dress der elf Besten. Vis-à-vis liegt die Buchhandlung Jung. Schaufensterlang<br />
präsentiert der einzige Bücherladen am Ort Fußball-Fotobände von Welt- und<br />
Europameisterschaften. Nur Polizei und Feuerwehr blieb das Elastik-Allerei bislang versagt - noch.<br />
Ein Prototyp der Trainingsanzugskultur ist Heiner Kaltenhäuser, der langjährige<br />
Hausmeister vom Rathaus. Für den stets glattfrisierten Heiner bestehen keinerlei Zweifel, dass die<br />
adidas-Klamotten die schönsten, praktischsten und saubersten sind, die sich unsereins so vorstellen<br />
kann". Der Hausmeister Heiner beurteilt dies nicht zuletzt aus intimer Sicht seiner Mitbürger.<br />
Herzogenaurach sei nämlich die Stadt der versenkten Blicke. "Jeder achtet hier darauf, was für'n<br />
Schuhwerk du trägst." Immerhin habe ihm seine Mutter "als Baby adidas über die Muttermilch<br />
eingetrichtert".<br />
67
Für Kaltenhäuser und seine Freunde ist ihre adidas-Muttermilch auch eine politische<br />
Gesinnungsfrage. Denn hinter den drei Streifen gruppieren sich die Roten, hinter puma verstecken<br />
sich die Schwarzen der Stadt, die seit zehn Jahren den CSU-Bürgermeister Ort auf ihrer Seite<br />
wissen. Keine Kneipe, kein Geschäft, kein Hotel, das sich nicht in dieses selbst gestrickte Raster<br />
fügen ließe. Kaltenhäuser und Co. ("Wir sind die Sozis") verkehren nun mal nicht im pumabevorzugten<br />
Auracher Hof oder in der "schwarzen" Krone. Tabus, die schon seit Jahrzehnten<br />
existieren und bisher niemand zu lockern trachtete. Statt dessen hocken die roten Adidianer<br />
wochentags in der "Kastanie", dreschen Schafskopf und lassen das Bier durchlaufen. Die Kastanie<br />
ähnelt einer fränkischen Wohnstube, die nur Stammkundschaft kennt. Wenn sich doch mal ein<br />
Auswärtiger über die Hemmschwelle wagt, wird es in der Kastanie schrecklich still.<br />
Ganz anders am Wochenende. Dann heißt es high noon in Herzogenaurach. Der<br />
Stellvertreterkrieg zwischen puma und adidas, zwischen Roten und Schwarzen, erlebt Sonntag für<br />
Sonntag facettenreiche Varianten. Wie verwandelt marschieren Kaltenhäuser und Frau an den<br />
Stadtrand. Selbstverständlich in der obligaten Sonntagsausgeh-Uniform; schließlich hat jeder noch<br />
ein zweites Paar gute Turnschuhe im Schrank. Mit viel Reißbrett-Geschick haben es die Stadtplaner<br />
verstanden, die Fußballplätze der beiden todverfeindeten Vereine keine 100 Meter Luftlinie<br />
auseinanderzulegen. Oben auf dem kleinen Hügel residiert der FC Herzogenaurach, der von puma<br />
gesponsorte Club, derzeit Kellerkind in der Bayernliga, der höchsten Amateurspielklasse. Unter<br />
quasi im Souterrain ist der Arbeitersportverein (ASV) zu Hause, von adidas gepäppelt und im<br />
oberen Drittel der Landesliga platziert.<br />
Kein Sonntag vergeht in diesem Frankenstädtchen ohne Zwischenfälle, mal mehr, mal<br />
weniger spektakulär. Das letzte Spiel zwischen FC und ASV - damals kickten beide noch in<br />
derselben Klasse - war folgenschwer, puma säbelte adidas wiederum kappte in die Waden, puma<br />
seinerseits landete versteckte Nierenschläge. Bier- und Colaflaschen flogen übers Spielfeld,<br />
Sanitäter, Bahre, Krankenwagen.<br />
Dessen ungeachtet machten sich puma-Kinder derweilen auf des Gegners Platz an der<br />
adidas-Familienloge, einer alten Gartenbank, zu schaffen. Prompt hauten adidas-Ordner puma-<br />
Kinder, puma-Väter gerieten in Rage und prügelten los – Stellvertreter-Kriege in Herzogenaurach.<br />
Als an diesem Sonntag der Schlusspfiff die Anspannung abblies und das Spiel alle<br />
Beteiligten geschafft hatte, zog sich ein jeder in sein Vereinshaus zurück. Bei den Pumanern, den<br />
knappen Siegern, ließ der Konzern den Sekt auffahren. Im adidas-Haus traute sich kein Spieler zu<br />
den Fans. Vorn an der Theke allerdings keimte der Trotz. Eine abgedroschene Gestalt im<br />
Lodenkult, die so gar nicht zu den Roten passen will, gab da plötzlich den Takt an. Zahn heißt sie<br />
und wohnt in der Ansbacher Straße 2. Aber in Herzogenaurach kennt ihn jeder nur als "den<br />
Führer", weil sich der wirre Rentner für den Rest seines Lebens entschlossen hat, als Hitler-<br />
Imitator Ver- und Bewunderung zu erregen.<br />
Bislang war Rentner Zahn "nur" in der nahe gelegenen US-Base aus "Führer "<br />
aufgetreten. Vornehmlich verhökerte er das auf einem Porzellanteller eingebrannte Konterfei seines<br />
vermeintlichen Ebenbildes, las und dozierte aus der amerikanischen Ausgabe von "Mein Kampf"<br />
und ließ sich gemeinsam mit US-Soldaten ablichten; als Souvenir für die daheimgebliebenen<br />
Familien in Kentucky und Virginia. Zuletzt machte "Hitler-Zahn" von sich reden, als er zum<br />
Fasching US-Boys im Spalier antreten ließ und vor ihnen mit Führergruß auf-und abmarschierte.<br />
Nun stand dieser Unhold nach der verlorenen Schlacht im ASV-Sportheim vorn an der<br />
Theke und suchte, biertrunkene ASV-Anhänger wieder aufzumuntern. "Aber eins, aber eins, das<br />
6 8
leibt bestehen, der ASV wird niemals untergehen", grölte es durch den Saal. "Treu unser Herz,<br />
adidas unser Schuhwerk" - ein fränkischer Sonntag im ASV-Sportheim.<br />
Am darauffolgenden Montag verfassten die Jusos eine Resolution, in der sie die<br />
bescheidene Frage aufwarfen, "was denn in dieser Stadt noch alles passieren muss, bevor die<br />
aufgehetzte Bevölkerung endlich begreift, dass der Konkurrenzkampf zwischen adidas und puma<br />
um die Weltmärkte gewiss nicht in Herzogenaurach auf dem Fußballplatz entschieden werde". Und<br />
im unverkennbaren Juso-Deutsch forderten die Junggenossen "eine sozialpsychologische<br />
Untersuchung dieser grotesken Situation". Nur ein Pauker und ein Pfarrer meldeten sich im<br />
kleineren Kreis noch zaghaft zu Wort. Gewerbeoberlehrer Hacker beklagte sich über "den<br />
Psychoterror, den er tagtäglich in der Schule verspüre. "Es ist einfach fürchterlich. Hasserfüllte<br />
Jugendliche bilden puma- und adidas-<strong>Band</strong>en und schlagen blindlings aufeinander ein, die<br />
Konzerne kassieren die Gelder, und die Erwachsenen hauen sich wie in der Steinzeit die<br />
Wurfschleuder um die Ohren." Pfarrer Sterzl indes mahnte umsichtig zur Besonnenheit, damit "der<br />
Familienhass nicht von der Bild-Zeitung unnötigerweise ins Rampenlicht des öffentlichen<br />
Interesses gerückt wird." Von nun an war's auffallend still in Herzogenaurach.<br />
Ich war auf der Suche nach den Urhebern dieser Diadochenkämpfe und landete<br />
zwangsläufig auf dem Friedhof. Unverhofft traf ich auf den beschwichtigenden Pfarrer Sterzl,<br />
jenen katholischen Priester, dem Bürger und sogar die Ortsbanken einen eminenten Einfluss<br />
nachsagen. So munkelt man beispielsweise in der Stadt, seiner diskreten Intervention sei es<br />
zuzuschreiben, dass Schlabbermäuler in den Pornofilmen kurz entschlossen aus Herzogenaurach<br />
verbannt wurde. Ich bat den Pfarrer, mich doch zu den Gräbern der inzwischen legendären<br />
Dassler-Brüder zu begleiten.<br />
Rudolf Dasslers Familiengrab (puma) liegt via-à-vis der Friedhofskapelle. Er war der ältere<br />
von beiden und starb bereits 1974. "Gottesfürchtige Menschen sind sie beide gewesen". verrät mir<br />
der Pfarrer, denn sie kamen aus einer bitterarmen Familie. Ihr Vater verdingte sich als<br />
Fabrikarbeiter, die Mutter rubbelte die Wäsche gutsituierter Bürger. Als 15jähriger Bub arbeitete<br />
Rudolf bereits in der "Fränkischen Schuhfabrik". Mitte der zwanziger Jahre begannen die beiden<br />
Brüder in der Schlappenschusterstadt Herzogenaurach mit der Produktion von Sportschuhen. Der<br />
erste Großauftrag kam vom heimatlichen Sportverein. Die beiden Brüder galten als unzertrennlich.<br />
Rudolf übernahm Organisation und Verkauf, Adolf bastelte an neuen Schuhkonstruktionen.<br />
Bereits 1928 belieferten die Brüder deutsche Olympiateilnehmer in Amsterdam mit Dassler-<br />
Produkten. 1936 rannte der vierfache Goldmedaillen-Gewinner Jesse Owens (*1913+1980;<br />
innerhalb von 45 Minuten fünf neue Weltrekorde) in Dassler-Sprintern.<br />
Zwei Jahre nach Kriegsende kam es zum unwiderruflichen Bruch. Nach einem heftigen<br />
Streit stürmte Rudolf Dassler (*1898+1974) aus dem gemeinsamen Büro und gründete auf der<br />
anderen Seite der Aurach seine puma-Fabrik. Bruder Adolf nannte fortan seine Produkte adidas.<br />
Mit ihrer Trennung spaltete sich auch die Arbeiterschaft. Ein Großteil blieb bei adidas, der Rest<br />
zog zu puma.<br />
Als Motive, die zum Zerwürfnis führten, mussten bislang die beiden Frauen der Dassler-<br />
Brüder herhalten, streitbare Hyänen angeblich, die prestigesüchtig ihre Männer zur Weißglut<br />
kitzelten. Von Kabale bis Hiebe - eine Story, die so intim und noch dazu schlüssig erscheint,<br />
vergräbt sie doch elegant jene unrühmlichen Tage, als in Deutschland noch Fußballschuhe aus<br />
braunem Leder geleimt wurden. Adolf Dassler produzierte Frontstiefel, Rudolf war Soldat. Sein<br />
Pech dürfte es gewesen sein, dass er für sich den Krieg schon früher als beendet erklärt hatte, sich<br />
nach Herzogenaurach durchschlug und dort den Nazis in die Hände fiel. Er war bereits im<br />
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Güterwaggon auf dem Weg ins KZ Dachau, als die Amerikaner ihn befreiten, aber ihrerseits den<br />
ihnen undurchsichtig erscheinenden Dassler ein Jahr im Internierungslager Hammelburg<br />
festhielten.<br />
Zu jener Zeit dürfte sich Adolf Dassler wohl kaum um die Rehabilitierung seines Bruders<br />
gekümmert haben. Ein Foto zeigt Rudolf Dassler in den "schlimmsten Tagen meines Lebens" mit<br />
einer Büste unterm Arm. Er nannte es "mit dem Kopf unterm Arm und trotzdem ungebrochen".<br />
Die beiden Brüder wechselten nie mehr ein Wort miteinander. Als Rudolf starb, ließ sein<br />
Bruder im Kommuniqué-Stil lediglich verlauten: "Aus Gründen der Pietät möchte die Familie<br />
Adolf Dassler zum Tod des Rudolf Dassler keinen Kommentar abgeben."<br />
Mittlerweile bin ich mit Pfarrer Sterzl auf der anderen Seite des Friedhofs angelangt und<br />
stehen vor zwei Gruften breiten Adi-Dassler-Grab, dem größten in Herzogenaurach. Er hat sich<br />
1978 ins Jenseits verabschiedet. Geschäftlich konnte sich der adidas-Chef weitaus besser<br />
durchsetzen als sein puma-Bruder; nicht zuletzt aufgrund seiner engen Freundschaft zum früheren<br />
Bundestrainer Sepp Herberger, die ihm beim Deutschen Fußballbund eine Monopolstellung<br />
einbrachte. Schon seit Jahren ist adidas weltweit der Branchenführer. In Zahlen: Über 12.000<br />
Beschäftigte, davon 2.500 in der Bundesrepublik, produzieren heute in 18 Ländern der Welt täglich<br />
über 200.000 Paar Sportschuhe. Hinzu kommen Spielbälle, Trikots, Trainingsanzüge, Badehosen.<br />
Der Umsatz beläuft sich auf weit über eine Milliarde Mark.<br />
So mancher Fußballstar, plaudert der Pfarrer, habe er schon an das Dassler-Grab geführt,<br />
Beckenbauer, Overrath und Uwe Seeler. Bei Uwe Seeler fällt ihm sogleich ein Zitat des<br />
evangelischen Theologie-Professors Helmut Thielicke (*1908+1986) ein. Als "uns Uwe" im Jahre<br />
1961 für 1,5 Millionen Mark nach Italien wechseln wollte, habe dieser ja einen offenen, mit<br />
Leidenschaft formulierten Brief an Seeler gerichtet: "Wenn Sie dieser Versuchung widerstehen,<br />
dann wäre das ein leuchtendes Fanal, die Menschen zur Besinnung zu rufen." Pfarrer Sterzl, der<br />
wohl manchmal ein Witzchen macht und dabei ganz unschuldig lacht, sagt dies natürlich nicht<br />
ohne Hintergrund. Auch er wolle in Herzogenaurach über Jahre ein Fanal setzen und die beiden<br />
Dassler-Brüder miteinander versöhnen. Oft sei er sich vorgekommen wie "ein Zehnkämpfer<br />
Gottes". ("Aber zitieren Sie das bitte nicht!") Ich verabschiede mich von Pfarrer Sterzl an der<br />
Friedhofstreppe, die abwärts zur Straße führt. Als ich unten angekommen bin und mich noch<br />
einmal nach oben zu ihm umdrehe, entdecke ich, dass Pfarrer Sterzl tatsächlich ein Zehnkämpfer<br />
Gottes ist - er trägt puma-Turnschuhe.<br />
Herzogenaurach in diesen Tagen. Die neureichen Erben der erdverwachsenen<br />
Schlapppenschuster von einst residieren heute im Verborgenen. Hermetisch von der Außenwelt<br />
abgeschirmt und für Fremde "off limits", grenzt ein groß flächtiger Park mit englischen Rasen an<br />
das adidas-Fabrikgelände. Dort reiht sich eine Villa an die andere. Der Familien-Clan hält auf<br />
Distanz zum Dorfpöbel, duldet der Weltruf doch nur den internationalen Zuschnitt. Da stattet der<br />
Präsident von Togo in Begleitung einer 52jährigen Delegation adidas einen Besuch ab. Ihm folgt<br />
der katholische Bischof von Peru. Franz Beckenbauer fliegt aus New York ein, auf einem adidas-<br />
Symposium diskutieren Sepp Maier und Cassius Clay die Frage, ob "die Spaßvögel im Sport<br />
aussterben" - natürlich live über Monitor. Maier in Herzogenaurach. Mohammad Ali in New York.<br />
Wohl kein bei adidas unter Vertrag stehender Spitzensportler, der in Herzogenaurach<br />
noch nicht vorgeführt wurde. Ob Uwe Seeler, Willi Holdorf, Werner von Moltke, Wolfgang<br />
Overrath, Fritz Walter, Jürgen Grabowski, Franz Beckenbauer, Michel Jazy, Mark Spitz oder Ilie<br />
Nastase -sie alle handelten im spanisch-rustikal gestylten adidas-Sporthotel (Baukosten: vier<br />
7 0
Millionen Mark) ihre Exklusiv-Werbe-Verträge aus. Beckenbauer jedenfalls kann nach seinem<br />
letzten Herzogenaurach-Trip mehr als zufrieden sein. Garantiert adidas doch nunmehr eine<br />
lebenslange Pauschale von jährlich 150.000 Mark.<br />
Da mag puma selbstverständlich nicht hintanstehen. John Aki Bua, Olympiasieger von<br />
1972 im 400-Meter-Hürdenlauf, beglückt Herzogenaurach seit zwei Jahren. puma-Dassler ließ ihn<br />
aus Uganda einfliegen, "um der optischen Übermacht der Konkurrenz im Dorf etwas<br />
entgegenzusetzen". So gibt der verschüchterte "Vorzeige-Neger im Frankenland" brav seine<br />
Autogrammstunden. Sonst hockt er in der PR-Abteilung der Firma und schreibt mit dem Bleistift<br />
in ein Leitz-Schulheft seine Memoiren.<br />
Überhaupt nimmt puma-Dassler jede Milchkanne mit, wenn es darum geht, sich fett<br />
gedruckt in der Lokalpresse wiederzufinden. Mal besingt ihn Udo Jürgens zum Geburtstag, mal<br />
tanzt er mit "Frau Minister Ertl" Walzer. Dann steckt er sich "für sein Mäzenatentum die Goldene<br />
Ehrennadel seines mit 300.000 Mark verschuldeten Fußball-Klubs an. Und schließlich informiert<br />
sich der puma-Chef mit 25 Landwirten über die Schweinezucht in seiner Region. Die Schlagzeile<br />
am darauffolgenden Tag in den Nordbayerischen Nachrichten ist ihm gewiss: "puma-Dassler war<br />
vom kapitalen Zuchteber beeindruckt."<br />
So erlebt die alte Fehde der verstorbenen Brüder heutzutage in der Lokalpresse eine<br />
verfeinerte Neuauflage. Alljährlich zur Faschingszeit äußern die Narren von Herzogenaurach "ihren<br />
Traum", der die beiden Firmen und damit die Stadt wiedervereinigen soll. "Endlich haben sich die<br />
Genossen für immer zusammengeschlossen. Ja ihr Leut, das war nicht dumm, die Firma heißt jetzt<br />
adi-pum." Doch darauf sollte die Bevölkerung nicht erst warten. Ein Flug nach Taiwan könnte<br />
jedem den "Seelenfrieden" verschaffen. In den Hallen B und C der dortigen Sportartikelfabriken<br />
produzieren adidas und puma gemeinsam. Dort kostet eine Lohnminute nämlich nur 5 Pfennig.<br />
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JUGENDCLIQUEN IN DEUTSCHLAND - "SONST LÄUFT<br />
EBEN NICHT VIEL – DIE GEMEINSAM ERLEBTE<br />
LANGEWEILE IM VERLOREN SEIN"<br />
Irgendeinen Sinn wird das doch schon haben (Uli)<br />
But it’s all right, Ma, it’s life and life only (Bob Dylan)<br />
"Du hast keine Chance, aber nutze sie"<br />
Rowohlt Verlag, Reinbek/Hamburg<br />
14. Februar 1982<br />
Zu Anfang war es ziemlich merkwürdig zwischen Ulli und Anna. Und dieser Anfang<br />
dauerte fast über ein Jahr. Sie lernten sich bei Robbi auf der Terrasse kennen. Dort, wo in<br />
feierlicher Entspanntheit getrunken, geschnupft und gefixt werden durfte. Bei Robbi traf sich die<br />
Clique meistens. Vor allem zum Wochenende, wenn sich seine Eltern mit dem Grill aufs Land<br />
verzogen, um aufzutanken. Natürlich konnte nicht jeder bei Robbi vorbeischauen. Die Clique<br />
achtete schon darauf, unter sich zu bleiben. Man war viel zu vertraut miteinander, als dass andere<br />
Typen noch auf die Terrasse gepasst hätten. Außerdem gab es in Aachen wenige Gestalten, die zu<br />
ihnen gepasst hätten, das glaubten sie jedenfalls - das glaubten sie jedenfalls. Keiner von ihnen<br />
betrachtete sich und den anderen als einen verstümmelten Spießer, als jemanden, der auch nur<br />
halbwegs hinter dem vorgegaukelten So-und-nicht-Anders stand, das sie unentwegt zu Hause oder<br />
auch in der Schule zu hören bekamen.<br />
Robbi galt als Leichtfüßler in der Gruppe, obwohl er sich im Gymnasium schwerer tat als<br />
seine ständigen Gäste und schon einmal backengeblieben war. Sein Elternhaus hatte ihn nie<br />
wohlbehütet, dafür aber immer wohlbetucht ausgestattet. Schon eine Woche nach der<br />
Führerschein-Prüfung, die er genau zu seinem 18. Geburtstag ablegte, kurve "Kind Robbi" mit<br />
Vaters 350-Metallic-Mercedes durch Aachens City - Blinkhupe hier, Blinkhupe dort. "Kannste mir<br />
mal den Schlüssel geben" war auch die einzige Gesprächsebene, die Robbi mit seinem Stiefvater<br />
fand. Sonst war Funkstille. Er kannte seinen neuen Vater erst seit vier Jahren, - einen Chirurgen,<br />
dessen Lebensinhalt hauptsächlich aus Knochen und Geld bestand.<br />
Andy, gerade erst siebzehn geworden, zählte jeder zu seinem besten Freund. Ein<br />
Gemütskerl, groß, dick, breit, mit vielen Pickeln im Gesicht, lange, strähnige Haare, immer in<br />
buntgefleckten und verwaschenen Jeans. Andy, litt unter seinem Fettkomplex, genoss es aber<br />
sichtlich, der größte Schluckspecht in der Clique zu sein. "Von nix kommt nix", war sein<br />
Standartspruch. "Und du weißt ja, wenn man säuft oder auch kifft, findet man sehr schnell ein paar<br />
Freunde." Andy hatte viele Kumpels in der Stadt. Ab und zu kippte er frühmorgens vor der<br />
Physikstunde noch schnell einen Flachmann herunter, um seine zittrigen Finger, die ihm oft lästig<br />
waren, unter Kontrolle zu bringen. Selbstverständlich vergaß Andy nie sein obligates Kaugummi,<br />
wenn er den Klassenraum betrat und allseits mit seinem "Hallo, ah, Hallo" einen guten Morgen<br />
wünschte.<br />
Ulli wohnte erst zwei Jahre in Aachen. Er kam als 15jähriger mit seiner Mutter aus<br />
Iserlohn angereist, kurz, nachdem die Scheidung seiner Eltern ausgestanden war. Seinen Vater sah<br />
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er alle halbe Jahre einmal, wenn er vom NATO-Hauptquartier in Brüssel, wo er als Bundeswehr-<br />
Oberstleutnant diente, in Aachen Zwischenstation machte, bevor er zu seiner Freundin nach Köln<br />
weiterfuhr. Die Clique wurde für Ulli, einen entwurzelten Jungen, der schon überall und nirgends<br />
gewohnt hatte, ein bisschen sein zu Hause. Sonst lief eben nicht viel. Weder in der Schule noch mit<br />
seiner Mutter. Sie war nervlich kaputt, kam abends abgeschlafft vom Krankenhaus und klagte<br />
ständig darüber, als Ambulanzschwester kein Blut mehr sehen zu können. Heulkrämpfe und<br />
hysterische Schübe lagen bei ihr in unmittelbarer Nachbarschaft. Die Einsamkeit zermürbte sie, vor<br />
allem fehle ihr jemand, mit dem sie sich richtig aussprechen konnte.<br />
Und dann waren da noch Gisela und Dorle, denen alles stank, denen alles so eng erschien,<br />
langweilig und doof, die richtig Action wollten - und das nicht nur vorm Fernseher. Und die<br />
Aachen bei jeder Gelegenheit mit einem Kuhdorf verglichen. Alles schien besser, nur die etwa<br />
250.000 zählende Einwohnerstadt war und blieb beschissen. Zwei Mädchen von sechzehn aus<br />
Beamtenhaushalten. Giselas Vater zählt Steuergelder auf dem Finanzamt, Dorles Papa stellt<br />
Personalausweise in der Einwohnermeldebehörde aus.<br />
Robbis Terrassen-Clique -das waren keine Kinder von Traurigkeit, Larmoyanz und<br />
Selbstmitleid, die über Leistungsdruck klagten und Existenzängste, Verzagtheiten plagten. Zwar<br />
gingen sie alle zum Gymnasium "Brüsseler Ring", doch die hart angezogene Schraube des Numerus<br />
clausus griff bei ihnen nicht - ein ausgeleiertes Gewinde, nicht mehr und nicht weniger. Ebenso<br />
verpufften Sanktionen ihrer Eltern wirkungslos, wenn sie überhaupt noch angedroht wurden. Denn<br />
die Alibis funktionierten nach den Wochenend-Eskapaden so fabelhaft, dass die Eltern nur noch<br />
selten nachfragten: teils aus Bequemlichkeit, teils aus Gewöhnung. Etwa, als Gisela mitten in der<br />
Woche gegen 21 Uhr sich noch mit einem Lehrer treffen wollte, um ein Dia-Projekt für den<br />
kommenden Unterricht vorzubereiten. Am nächsten Morgen rief der Vater vorsichtshalber an und<br />
erkundigte sich bei dem besagten Geographie-Lehrer ganz dezent, ob solche sicherlich<br />
wünschenswerten außerschulischen Veranstaltungen denn so spät stattfinden müssten. Der<br />
Pädagoge, selbst erst 32 Jahre alt, konnte mit vielen plausiblen Erklärungen aufwarten. Giselas<br />
Vater schien beruhigt. Offensichtlich auch deshalb, weil sich der Pauker lobend über die Leistung<br />
seiner Tochter ausließ. So etwas hören Eltern selten und doch allzu gern. Verborgen blieb indes:<br />
Die Dia-Geschichte wurde mit Disco-Glimmer vertauscht, bei sanfter Musik zwischen "rain and<br />
tears" - fernab von Leistung und Zensuren.<br />
So fanden schließlich alle Eltern dieser Clique nichts Außergewöhnliches daran, wenn ihre<br />
Söhne übers Wochenende zu Robbi gingen und dort auch nächtigten. Immerhin ist es der Sohn<br />
eines angesehenen Chirurgen in der Stadt. Eigentlich ein Umgang, der doch nicht besser sein<br />
könnte. Und die Mädchen waren zur besagter Zeit gerade immer bei einer Freundin oder<br />
umgekehrt. Oder auch bei Oma im Nachbardorf.<br />
Robbis Feste begannen immer dann, wenn der Metallic-Mercedes seiner Eltern hinter der<br />
Kreuzung verschwand. Das war oft am Samstag gegen drei. Bis vier Uhr trudelten die meisten ein.<br />
Erst einmal ging es im Zweitwagen, einem Alfa-Sud, den wochentags Robbis Mutter fuhr, ins Café<br />
Domberg nach Holland. Im Café Domberg aß die Clique manierlich Pflaumenkuchen oder<br />
Käsetorte mit Sahne, dazu trank sie ein Kännchen Kaffee. Wenn die Rechnung bezahlt wurde,<br />
legte Robbi wie selbstverständlich ein "Trinkgeld" aufs Tablett - einen Fünfzig-Mark-Schein. Café<br />
Domberg zeigte sich durch seinen Oberkellner erkenntlich -ganz nach Art des Hauses. An der<br />
Garderobe gab's ein Päckchen in Silberfolie - Haschisch. Es versteht sich von selbst, dass Robbi<br />
und Co. nicht nur für ein Eigenbedarf einkauften. Denn in Holland ist Haschischkonsum legal und<br />
daher weitaus billiger als in der Bundesrepublik auf den Schwarzmärkten. Einmal verhökern sie den<br />
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egehrten Stoff unter der Woche in Robbis Zimmer oder in Aachens Beton-Vorstädten, zum<br />
anderen signalisierte Achim aus dem fernen Emden in Ostfriesland seine Nachschubwünsche.<br />
Dann wurde schon für 100 0der 2oo Mark im Café Dornberg geordert. Achim leistete nämlich<br />
seinen Wehrdienst beim Heer im Ostfriesischen ab und versorgte auf diesem Weg den frustrierten<br />
und ausgeflippten Teil dieser Kompanie.<br />
Robbi löhnte auch nicht selten allein aus eigener Tasche. Das verbot die Solidarität. Stets<br />
schmiss die Clique zusammen oder Achims Überweisungen waren rechtzeitig postlagernd in<br />
Aachen eingetroffen. Regelmäßig am Mittwoch machten die fünf Kassensturz. Man konnte ja nie<br />
so recht wissen, wie gesättigt oder hungrig Aachen und Umgebung tatsächlich war. Mit dem<br />
Alkohol lief das schon einfacher. Den brachte sich jeder selber mit. Nur im Notfall öffnete Robbi<br />
Stiefvaters Hausbar. Aber nur im Notfall. Ulli stand auf Lambrusco, Andy schleppte kistenweise<br />
seinen Doppelbock an, die Sechserpackung für 3,98 Mark von Tengelmann. Bärbel und Ingrid<br />
waren auf Gin aus, den sie sich an der Grenze zollfrei besorgten.<br />
Manchmal, vor allem wenn es am Samstag regnete und auf der Terrasse keiner gemütlich<br />
durchgezogen werden konnte, kriegten sie einen Koller. Da hatte Andy oder auch der Ulli die<br />
spontane Idee, doch mal kurz nach Osnabrück oder sonstwohin zu stochern, einfach mal kurz über<br />
die Autobahn belgen, quer durchs Ruhrgebiet, mit der Lichthupe einen Zampano mimen, hart<br />
auffahren und sich wieder souverän zurückfallen lassen. In Osnabrück ein Bierchen in der<br />
"Quellenburg" zu Sutthausen zu schlucken und im Affentempo sofort wieder nach Hause,<br />
möglichst rechtzeitig vor dem Aktuellen Sportstudio. - "Es klingt dumm", sagt Ulli heute. "Wir<br />
tobten auf unseren Spritztouren Marlboro- und Reval-Sehnsüchte aus der Werbung aus, die uns<br />
Tag für Tag eingehämmert worden sind. Freiheiten, die wir uns gerade erst erkämpft hatten.<br />
Abenteuer, die wir suchten, selbst ist der Mann. Geländefahrten, Autobahnen. Wir wussten das<br />
alles, aber es gab uns irre viel Selbstbestätigung. Wir glaubten jedenfalls damals, so und nicht anders<br />
könnte unsere Freiheit aussehen."<br />
Die Sommer-Monate des Jahres 1977 hingegen verliefen ziemlich einsilbig, ja monoton.<br />
Trotz Hasch-Umsatz hatte die Robbi-Clique kaum Geld. Gemeinsame Ferien lagen nicht mehr<br />
drin. Viel nerviger aber war die schlichte Tatsache, dass Robbis Eltern schon drei Wochen nicht<br />
aufs Land rausfuhren. Da konnten keine Feten mehr steigen, die Haschgeschäfte mussten<br />
notgedrungen auf öffentlichen Plätzen in der City abgewickelt werden, was natürlich das Riskio<br />
maximierte. So im Jugendzentrum Büsch, einer kirchlichen Einrichtung oder auch in der engen<br />
Stehkneipe gegenüber dem Theater, wo sonst hauptsächlich Bühnenarbeiter ihr Pils tranken und<br />
sich über den Allüren einiger Schauspieler aufregten.<br />
Der 17jährige Ulli wusste zu jener Zeit oft nicht, wie er nach Hause kam, manchmal<br />
wachte er auch verkatert und verquollen in Betten fremder Leute auf, die ihn irgendwo aufgegabelt<br />
hatten. "Das ging drei Wochen, bis wir davon runterkamen. Wir haben da Böckchen-Rekorde<br />
aufgestellt, Doppelbock-Böckchen, zwölf Stück mussten es schon in der Regel sein. Der Rekord<br />
steht allerdings auf 19, und wir haben es sogar auf 21 gebracht. Wir waren eben eine richtige<br />
Clique", meint Ulli. "Damals lief alles gemeinsam ab, saufen gehen, schäkern, blödeln, lachen,<br />
gegenseitig verarschen, demoralisieren und wer am längsten durchhält und andere Scherze." Eine<br />
richtige Clique bedeutet aber auch, "nicht abseits stehen, keine Schwächen zeigen, alles mitmachen<br />
und nachahmen, was Robby und Andy oder auch Alfa Junior alles auf der Latte hatten, auch wenn<br />
es der letzte Scheiß war. " - Ihre Latten.<br />
Am letzten August-Wochenende verschwand der Metallic-Mercedes mit Robbis Eltern<br />
endlich wieder hinter der Kreuzung. Gegen vier, so hoffte Robbi, könnten alle da sein. Erst Fahrt<br />
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nach Holland, dann einen duften Abend mit vielen Spielchen, die jeder kannte, mal Posthörnchen,<br />
mal Senftöpfchen. Doch nach der langen, unfreiwilligen Pause ließ es sich an diesem Samstag<br />
schleppend an. Schließlich zischten Robbi und Andy allein über die Grenze, mürrisch wie sie<br />
waren, aber der Shit musste geholt werden. Ulli kreuzte nach sechs, Dorle noch eine Stunde später<br />
auf. Gisela kam erst um halb neun und brachte Anna mit, die allen fremd war, jedoch lebhafte<br />
Neugierde auslöste. Anna, obwohl erst vierzehn, fast unscheinbar, klein und zierlich, zog<br />
unweigerlich die Blicke auf sich. Vielleicht, weil so gar nichts von ihr ausging, was mit den Cliquen-<br />
Mädchen vergleichbar gewesen wäre.<br />
Seltsam, wie das Äußere knirschte. Lagen doch keine zwei Jahre zwischen Annas<br />
Pummeligkeit und dem unverkennbaren Anflug von Verhärmtheit bei Gisela und Dorle keine<br />
Zwischenstufe mehr - auf dem Weg in die Welt, die sich erwachsen nennen darf. Anna jedenfalls<br />
kannte keine Schminke, keinen Lidschatten. Sie trug eine beige Cordhose, einen braunen Pulli mit<br />
Ärmelschonern, ausgelatschte Knöchelstiefel, einen Umhängebeutel, der selbstgestrickt war und<br />
auf dem sie eine Ostermarschierer-Plakette befestigt hatte. Aber nicht als politisches<br />
Erkennungszeichen. Als Anna das Ding beim Trödler entdeckte, kam es ihr gar nicht in den Sinn,<br />
dass ihre neue Plakette ein politisches Symbol der Protestbewegung in den sechziger Jahren war.<br />
Wie sollte sie es auch wissen. Damals, als die Oster-Leute über die breiten Straßen der Großstädte<br />
zogen, da war Anna ja erst drei Jahre alt.<br />
Anna und Gisela hatten sich beim Tanztee getroffen. Für Anna war es überhaupt die erste<br />
Tanztee-Veranstaltung, zu der sie allein hindurfte. Sie musste zu Hause lange und mit äußerster<br />
Beharrlichkeit gegen ihren Vater, einen Berufsschullehrer, drum kämpfen. Anna wollte ihre eigene<br />
Freiheit, ihre eigenen Abende - zumindest am Wochenende. Sie wollte ihre Scheu abstreifen, die sie<br />
zusehends isolierte. Anna wohnte nämlich mit ihrer Familie nicht in Aachens City, sondern zehn<br />
Kilometer hinter der belgischen Grenze, wo ihre Eltern vor Jahren gebaut hatten -, aus<br />
Preisgründen, wie sie immer sagten. Heute zahlen sie als Wahl-Belgier monatlich 400 Mark Steuern<br />
mehr als in der Bundesrepublik.<br />
Anna spürte schon seit Längerem eine innere Unruhe und einige Ungereimtheiten. Schon<br />
als kleines Kind hatte der bloße Anblick von Männern sie ängstigen können. Wenn sie bei einer<br />
Freundin spielte und der Vater kam nach Hause, lief sie brüllend davon. Spätestens seit der<br />
Tanzschule, die ihr generös zugestanden worden war, schwankte Anna zwischen ihrer Scheu und<br />
"rosaroten Träumchen". Um so enttäuschter war die 14jährige vom Aachener Tanztee am<br />
Samstagnachmittag. Das roch alles zu sehr nach biederem Foxtrott, auch wenn man sich heute<br />
nicht mehr artig anfasst. Schüchterne Gehversuche von verklemmten Eintänzern, die mit<br />
linkischen Bewegungen ihre Unsicherheit kaum verbergen konnten. Jünglinge, die Annas<br />
unterschwellige Ängste eher verstärkten, statt sie abzubauen. Gisela hingegen, lässig und<br />
schnodderig, entsprach schon mehr dem unausgesprochenen Gefühl nach zeitgemäßer Libertinage.<br />
Gefühle, die in einen ungewissen und unüberschaubaren Abend mündeten. Nur über eines war<br />
sich Anna von vornherein im Klaren, als sie mit Gisela zu Robbi ging. Sie würde wohl kaum mit<br />
dem letzten Bus nach Hause fahren wollen und einem Riesenkrach mit ihrem Vater entgegensehen.<br />
Robbi machte auf Anna einen zwiespältigen Eindruck. Einerseits konnte er es sich nicht<br />
verkneifen, ihr per Wohnungsrundgang alle Insignien der Familie Neureich exemplarisch<br />
vorzuführen. Andererseits belustigte sich Robbi über seine Eltern, indem er unaufgefordert ihre<br />
Hochzeitskarte aus der Schreibtischschublade holte und über den Leitspruch: "Die Ehe ist ein<br />
Schlachtfeld, wir wollen es mit Rosen übersäen", zynisch grunzte. Die Clique saß auf der Terrasse.<br />
Als Anna sich dazuhockte, kamen ihr die ersten süßlichen Haschschwaden entgegen, die allmählich<br />
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die ganze Wohnung durchdrangen. Frank Zappas Rock oder die Rhythmen der Gruppe "Meatloaf"<br />
untermalten den langsamen Abgang in eine sinnliche Besinnungslosigkeit.<br />
Anna suchte die unauffällige Nähe von Ulli, der ihr auf Anhieb gefiel. Er war groß und<br />
blond, sein Gesicht war nicht so schmierig-verschmitzt wie das der anderen, sondern hatte noch<br />
Konturen. Auch Ulli fand Anna frischer als die Alkoholikerinnen, mit denen er sonst seine Abende<br />
verflüssigte. Ulli kiffte auch nicht in einem fort. Er verordnete sich zwischendurch schon einen<br />
Schluck Lambrusco. Eigentlich sei er ja Amateurfunker mit starken Frequenzen, erzählte er ihr. Er<br />
würde gerne durch Tunnel spazieren und mit Leidenschaft Gras schnuppern. Je länger sich die<br />
beiden unterhielten, je einvernehmlicher sie kicherten, desto unwilliger schaute Gisela drein, die<br />
sich zu Recht verdrängt fühlte. Dorle störte das nicht weiter, sie hatte genug mit Andy und Robbi<br />
zu tun. Aber Gisela war an diesem Abend auf Ulli abgefahren. Hätte sie beim Tanztee geahnt, dass<br />
sie quasi eine Konkurrentin mit anschleppt, sie hätte den Teufel getan und der Anna noch<br />
zugeredet, doch mitzukommen.<br />
Nur war es allerdings nicht so, dass Ulli und Gisela fest miteinander gingen. So etwas gab<br />
es in der Clique nicht. Die zwischen-menschlichen Beziehungen schienen nach außen<br />
unkomplizierter zu sein. Sie nannten ihre Partnerschaften "Senftöpchen-Spiel": Da konnte jeder<br />
mal mit jedem, je nach Zufall, Laune und momentaner Sympathie. Darüber wurde auch nicht groß<br />
geredet oder gar gestritten. Meist war es schon sehr spät - Gedanken und Sinne bereits im Jenseits.<br />
Für Gisela spielten auch nicht so sehr ihre Empfindungen zu Ulli eine Rolle als vielmehr der<br />
Versuch einer Fremden, sie zu relativieren.<br />
Nachdem sie ein 0,2 Liter-Glas Caribic-Rum ex getrunken hatte, lag Gisela eine<br />
Viertelstunde später wie scheintot da. "Wir haben alle möglichen Wiedererweckungs-Versuche<br />
unternommen", erinnert sich Ulli. "Wir hatten Angst, dass sie ins Koma fällt." Dann kriegte Gisela<br />
einen Anfall und nur Ulli durfte sie im Arm halten. Wollte er sich langsam zurückziehen, weil er<br />
glaubte, sie schliefe nun tief, fing sie hysterisch an zu schreien. Erst als sich Ulli zu ihr im<br />
Nebenzimmer ins Bett legte, wurde Gisela friedfertig und döste ein.<br />
Anna saß für ein paar Augenblicke da und überlegte, was diese Gisela-Inszenierung sollte<br />
und ob es doch nicht besser sei, wenn sie jetzt nach Hause führe. Das war es mittlerweile zu spät.<br />
Sie kehrte auf die Terrasse zurück, auf der man Obacht geben musste, nicht über ein leeres<br />
Flaschen-Arsenal zu stolpern. Zwischenzeitlich bekam Robbi auch noch von einem Alfred<br />
unerwarteten Besuch. Ein Typ, der so blass und klebrig wirkte, dass nur seine Lederklamotten<br />
glänzten. Der wollte schnell zwei "Zwanziger" holen und blieb dann einfach. Robbi und Andy<br />
hingen ganz schön in den Seilen. Sie hatten plötzlich etwas Vergreistes und Zerfressenes an sich.<br />
Auf Anna machten beide den Eindruck wie junge Versuchskaninchen, denen man das Gehirn<br />
ausgeknipst hat, um sie unter Alkohol- und Drogeneinfluss langsam beim Altern zu beobachten. So<br />
verging Stunde um Stunde. Richtige Sätze brachten sie gar nicht mehr heraus. Ein Gelalle und<br />
Gestammele war das, nur ab und zu von einer Schmusemusik unterbrochen, die Dorle als<br />
"Nachtprogramm" bezeichnete.<br />
Es muss so gegen fünf Uhr morgens gewesen sein, als sich die Robbi-Gesellschaft<br />
auflöste. Dorle, inzwischen ebenfalls arg weggetreten, spielte noch halbwegs die Hausdame und<br />
zeigte Anna ein Gästezimmer, wo sie sich hinlegen konnte. Doch Anna hatte kaum die Decke über<br />
sich gezogen, da stand dieser Alfred im Zimmer. Anna: "Ich wusste überhaupt nicht mehr, wie mir<br />
geschah. Ich kriegte überhaupt nichts geregelt. Diese Spannung. Ich wusste überhaupt nicht, was<br />
das war. Dann hat der die ganze Zeit versucht, mit mir zu schlafen, das hat mir unheimlich weh<br />
getan. Und auf einmal schlief der mit mir. Und ich fragte ihn hinterher, hör mal, wie denkst du dir<br />
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das eigentlich. Du wusstest doch überhaupt nicht, ob ich das wollte. Sagte der, das wäre ihm<br />
scheißegal. Man könnt auch zuviel über was reden und deshalb würd' man am besten überhaupt<br />
ruhig sein. Da war ich fertig. Und ich habe gedacht, jetzt bringst du dich um. Ich verging vor<br />
schlechtem Gewissen. Ich fühlte mich einfach unheimlich beschissen."<br />
Anna schleppte sich um acht Uhr zum ersten Bus. An Ulli, der noch mit Gisela im<br />
Nebenraum schlief, wagte sie nicht zu denken. Kaum zu Hause angekommen setzte es dreizehn.<br />
Nicht etwa, dass Annas Vater brüllte oder sie schlug. Das macht ein Pädagoge doch nicht. Er<br />
verhängte statt dessen einen "Strafkatalog", wie er seine notwendig erscheinenden Maßnahmen auf<br />
eine Formel brachte. Hausarrest acht Wochen, davon vier Wochen im eigenen Zimmer.<br />
Taschengeldkürzung von 35 auf 20 Mark monatlich, Fernsehverbot ebenfalls vier Wochen, striktes<br />
Verbot zu telefonieren oder Gespräche anzunehmen. Der Vater hatte gesprochen, die Mutter<br />
nickte stumme, Anne zitterte und weinte.<br />
Sie verzog sich auf ihr Zimmer, was blieb ihr auch anderes übrig. Nun starrte sie in ihrer<br />
kleinen Butze auf den alten Kleiderschrank. der vor ein paar Jahren noch das Schlafzimmer ihrer<br />
Eltern schmückte, schaute auf ihr Lundia-Regal, in dem sich Kafka, Beckett und Walser<br />
aneinanderreihten. Anna lag auf ihrer Matratze und versuchte ihre Gedanken zu bündeln, was ihr<br />
aber nicht gelang. Sie fühlte sich elend, kotzübel, wenn sie an die zurückliegenden Stunden dachte.<br />
Und sie hatte eine unbändige Wut auf ihren Vater, der sich da hinstellte, quasi als<br />
Inquisitionsrichter, und nur noch subtil seine Straferlasse herunter ratterte. War ihr nächtliches<br />
Fernbleiben nicht Opposition genug? Musste er noch eins draufsetzen? Aber er war ihr ja schon<br />
längst einige Erklärungen schuldig.<br />
Plötzlich erinnerte sie sich wieder an Ulli und seine Tunnelspaziergänge. Das empfand sie<br />
als witzig. Doch der Tunnel reichte nicht aus, um sie aus ihrem Tief herauszuholen. Sie wollte ihre<br />
eigene Freiheit, ihre eigenen Abende. Und was ist beim ersten Mal daraus geworden? Sie mochte<br />
Ulli. Und was machte der? Er ging vor ihren Augen zu einer durchgedrehten Gisela ins Bett, die<br />
doch sonst so auftrumpfte, zuletzt beim Tanztee. Und was machte sie? Sie schaute sich Stunde um<br />
Stunde kaputte Typen an. Sie hatte dagesessen, neugierig und angewidert zugleich, um hinterher<br />
von jemanden angegangen zu werden, den sie nicht kannte, der nicht mir ihr redete, der noch nicht<br />
einmal seine Lederjacke auszog. Für einen Moment fiel Anna ihre Freundin Katja ein, die eine<br />
Klasse über ihr war. Katja, die natürlich Annas Hemmungen gegenüber Jungen längst bemerkt<br />
hatte und daraus schon des Öfteren ihre heimliche Überlegenheit ableitete, sagte stets: "Wat willste,<br />
dat is eben so." Das war meist ihr Schlussspruch nach ausgiebigen Unterhaltungen, um über den<br />
eigenen bitteren Nachgeschmack hinwegzutäuschen.<br />
Anna lag auf ihrer Matratze und konnte nicht einschlafen, obwohl sie sich hundemüde<br />
fühlte. Ihr ging einfach ihr Vater nicht mehr aus dem Sinn. Nicht etwa, weil er mit drakonischen<br />
Strafen aufwartete, als sie nach Hause kam. Sie hielt ihn vielmehr schon seit Längerem für absolut<br />
unglaubwürdig, besser gesagt, für einen skrupellosen Heuchler. Er, der sich da in Sachen Disziplin<br />
und Moral aufplustert, hat jahrelang der Familie vorgelebt, wie man es nach seiner eigenen<br />
Auffassung doch angeblich unter keinen Umständen machen sollte. Er ist eben doch nur ein Mann<br />
des kategorischen Konjunktivs, dachte sich Anna im Stillen. Sie versuchte sich alles noch einmal ins<br />
Gedächtnis zurückzurufen. Ihr schien das schon eine Ewigkeit her, dabei lag der verhängnisvolle<br />
Anfang keine fünf Jahre zurück.<br />
Ein Kuraufenthalt ihres Vaters in Badenweiler veränderte das Familienleben auf einem<br />
Schlag. Er kam nämlich nicht, wie alle erwartet hatten, allein nach Hause, sondern brachte seine<br />
neue Liebschaft gleich mit. Paula, die acht Jahre jünger als Mutter war, arbeitete zwar noch für eine<br />
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geraume Zeit als Bibliothekarin in Bremen, zog dann aber ganz zur Familie nach Aachen. Anna<br />
und ihre vier jüngeren Geschwister konnten mit Paula zunächst nichts Rechtes anfangen. Bis sie<br />
merkten, dass sich die ganze Angelegenheit zu einem Dauerzustand entwickelte.<br />
Paula, zu der die Kinder später Tante sagen durften, erhielt ihre zwei eigenen Räume im<br />
neuerbauten Haus, ihre Eltern richteten sich zwei getrennte Schlafzimmer ein. Ob an Feiertagen<br />
oder an gewöhnlichen Wochenenden - Paula hatte ihren festen Platz am Familientisch. Anna fand<br />
es als Neunjährige zwar seltsam, dass eine alleinstehende Frau bei ihnen den direkten Anschluss<br />
suchte. Aber es gab in der ersten Zeit keinen Grund zum Misstrauen. Denn selbst ihre Mutter, eine<br />
frühere Volksschullehrerin, ließ sich - zumindest den Kindern gegenüber - nichts anmerken. Nun<br />
war ja ihr Heim vom Architekten von vornherein auf Zuwachs entworfen worden. Warum sollte<br />
Paula nicht dort mit wohnen. Wegen Miete und so. Sonst hätten sie die Zimmer vielleicht<br />
anderweitig vergeben. Doch nicht einmal in einer verhältnismäßig kleinen Ferienwohnung im<br />
Südschwarzwald, wo Paula selbstverständlich mit hinfuhr, wurden die Kinder hellhörig. So nach<br />
dem Mittagessen, wenn Mutter mahnte, Anna solle beim Abtrocknen nicht so laut quasseln. Papa<br />
und Paula hätten sich ein bisschen hingelegt.<br />
Die über Jahre vorgetäuschte familiäre Harmonie nahm jedoch ein schnelles Ende.<br />
Geschockt standen die Kinder eines Abends am Küchentisch auf und verkrochen sich in ihre<br />
Zimmer. Dabei hatten sie wenige Minuten zuvor noch "au ja, das ist ja toll" gejubelt. Ihr Vater<br />
fragte sie ganz in der Art des Pädagogen, was sie denn davon hielten, noch ein kleines<br />
Geschwisterchen zu bekommen. Und die Kinder schauten wie auf Kommando zu ihrer Mutter<br />
hinüber. Aber nicht ihre Mutter, sondern Paula brachte Julia zur Welt.<br />
Als der kleine Wurm von Julchen, wie sie den Nachzügler liebkosten, erst einmal da war,<br />
wollte ihn keiner wieder hergeben. Doch mit Julias Geburt, das hatten sich die Erwachsenen vorher<br />
offensichtlich nicht vorstellen können, funktionierte ihr abgekartetes Spiel vor den Kindern nicht<br />
mehr. Ein Säugling legt Emotionen frei, auch in der Partnerbeziehung. Anna überlegte sich in<br />
diesem Moment: Konnten sich Paula und Mutter ihren Vater noch teilen, um Julia krachte es<br />
ständig zwischen den beiden. Ein Kampf, der schäbig, fies und rücksichtslos ausgetragen wurde.<br />
Die Kinder, bislang kaum lautstarke Konflikte gewöhnt, erlebten nunmehr ein Gezeter und<br />
Geschreie wie nie zuvor. Der Streitpunkt war immer derselbe. Paula musste tagsüber arbeiten.<br />
Mutter versorgte die kleine Julia. Paula glaubte, Mutter wolle Julia vergiften oder sonst irgendwie<br />
raffiniert umbringen. Mutter sagte, Paula sei irre und hysterisch. Das Ende der Geschichte: So<br />
plötzlich, wie Paula nach der Kur des Vaters auftauchte, so plötzlich verschwand sie dann nach fast<br />
fünf Jahren auch wieder. Sie nahm natürlich Julia mit und lebt heute irgendwo im Westerwald. In<br />
Aachen ist sie jedenfalls seither nicht mehr gesehen worden. Das Thema Paula war und blieb tabu,<br />
an Julia wagt keiner zu rühren.<br />
Als Anna die ganzen Ereignisse noch einmal Revue passieren ließ, rückte ungewollt das<br />
Verhalten ihrer Mutter in den Vordergrund. Sie konnte sich an keine Situation erinnern, in der sich<br />
ihre Mutter jemals beklagt oder gar geheult hätte. Anna hatte Schwierigkeiten, ihre Mutter richtig<br />
und gerecht einzuschätzen. Sicherlich besaß Mutter stärkere Nerven als Paula. War es aber nicht ein<br />
Stück Selbstaufgabe, nur um der Kinder willen? Oder mehr Angst, den Mann sonst ganz zu<br />
verlieren? Es lag noch gar nicht so lange zurück, da sprachen beide kurz über die unrühmliche<br />
Vergangenheit. Mutter meinte, sie solle sich nicht zu viel Gedanken machen, zwischen Vater und<br />
ihr sei alles so weitergelaufen. Auch in intimer Hinsicht hätte es während der Paula-Ära keine<br />
Unterbrechung gegeben. Wie auch immer, zumindest vertraute Anna ihrer Mutter noch. Was sie<br />
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von ihrem Vater nicht mehr behaupten konnte. Wenn sich nur die Gelegenheit bot, ging sie ihm<br />
aus dem Weg. Und sie spürte tiefe Beklemmungen, musste sie mit ihm alleine reden.<br />
Aber reden musste Anna. Insbesondere in ihrer jetzigen Lage. Sie überwand sich dennoch<br />
nicht, zu ihrer Mutter zu gehen. Sie hatte das Gefühl, ihr den Schock ersparen zu müssen, erzählte<br />
sie ihr, was sich wirklich in der vergangenen Nacht ereignet hat. Sie wollte ihr nicht weh tun. Das<br />
hätte sie ja bereits getan, würde sie ihr offen gestehen, dass sie schon seit Längerem das Rauchen<br />
angefangen hatte. Deshalb verschwieg Anna ihr auch das. Anders wäre es, bekäme sie plötzlich ein<br />
Kind. Da würde Mutter sie nicht rausschmeißen. Sie würde ihr helfen. Ganz sicher. Anna vertraute<br />
sich niemande an. Nicht mehr an diesem Sonntag, sondern während ihres Arrests kritzelte sie zwei<br />
kleine Verse in ihr Tagebuch, von denen sie sich Stärke und Klarheit erhoffte, aber nicht bekam.<br />
ANNAS VERS ÜBER ILLUSIONEN<br />
"Was macht es so schwer zu verlieren,<br />
was einem ja doch nicht gehört,<br />
Träume vom „Hätte“ und „Könnte“ wollen erhalten,<br />
was längst ist zerstört.<br />
Was macht es so schlimm zu vergessen,<br />
was aus war, bevor es begann,<br />
Träume vom „Hätte“ und „Könnte“ setzen fort,<br />
was niemals fing an.<br />
Träume gehören in die Nacht,<br />
wie Vampire zerfallen sie bei Tageslicht."<br />
ANNAS ZEILEN ÜBER DIE EINSAMKEIT<br />
Kommunikation, wir stehen nebeneinander<br />
und tun so, als sprächen wir miteinander,<br />
doch im Grunde reden wir aneinander vorbei,<br />
Ich würd diese Wand so gerne durchbrechen<br />
und dir zeigen, was ich fühle."<br />
Aus dem melancholischen Tief zog sich Anna relativ schnell raus. Ihr Einsamkeitsgefühl<br />
dagegen, ihr Eindruck, unverstanden vor sich hinzuleben, und die Ohnmacht, dem anderen nicht<br />
vermitteln zu können, was man eigentlich meint, das hielt nach wie vor an. Eine innere Leere, die<br />
der gleichförmige Alltag mit seinen fest eingeteilten Zeiten und Abläufen nicht auszufüllen<br />
vermochte. Gut, Ablenkungen gab es, aber eben nur Ablenkungen .Anna hatte Ulli schon fast<br />
verdrängt oder vergessen, als dieser etwa nach einem halben Jahr in ihrem Blickwinkel wieder<br />
auftauchte. Ulli versuchte erst gar nicht, den starken Cliquen-Maxen zu mimen. Sie hatte auch<br />
nichts an sich, was ihn dazu hätte ermuntern können. Ganz im Gegenteil: Anna kapierte intuitiv,<br />
wie zerbrechlich und haltlos dieser Uli war, wie krampfhaft er sich nach einem ruhende Pol sehnte,<br />
an dem er sich auf- und hochrichten konnte, wie krampfhaft er von seiner Schule, seiner Clique<br />
und seiner Funkanlage sprach: all das, möglichst in einem Satz untergebracht. Ein Ulli in dieser<br />
seelischen Verfassung, das war Annas Stunde.<br />
Sie besuchte ihn einfach zu Hause. Oft stand sie zwei Mal in der Woche nachmittags vor<br />
seiner Wohnungstür. Manchmal klingelte sie auch vergeblich. Nicht Ulli, sondern Anna war über<br />
sich am meisten erstaunt, wie sie ihre Minderwertigkeitskomplexe langsam, aber erfolgreich abtrug.<br />
So verbrachten sie Nachmittag für Nachmittag: keine Abende oder Nächte, die Anna zu Hause sein<br />
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musste. Es waren Gespräche zwischen zwei Heranwachsenden, die keine Kinder mehr sein<br />
wollten, auch wenn sie zuweilen noch als solche behandelt wurden, für die aber das<br />
Erwachsenendasein etwas Chaotisches verhieß und sie immer wieder in ihren Gedanken und<br />
Empfindungen in ihre Kindheit zurückfielen, weil sie diese unaufgeräumt hinterlassen hatten. Eine<br />
Unordnung, für die sie nichts konnten, die sie damals auch nicht richtig wahrnahmen und jetzt um<br />
so deutlicher nachvollzogen. Es war ein Unbehagen, diese Vergangenheit am liebsten ganz schnell<br />
noch vergangener zu machen, sie einfach auszuradieren.<br />
Und es waren Gespräche, die offenlegten, dass im wesentlichen daraus ihre Dynamik und<br />
Unruhe resultierten, dass der Ablösungsprozess vom Elternhaus dadurch gekennzeichnet war, dass<br />
sie beide versucht hatten, auftausenden Erinnerungen möglichst davonzulaufen. Es war aber auch<br />
die Erkenntnis, dass diese Freiheit, die sie sich soeben mühevoll erkämpft hatten und nunmehr<br />
vorfanden, nicht ihre Freiheit sein konnte. Dass diese Freiheit ihnen nicht weiterhalf, sich selbst zu<br />
suchen und ihre Identität zu finden. Eine aufgestülpte, künstliche und vermarktete Freiheit, die<br />
keinerlei Spielräume für Antworten und Orientierungen schuf; weder auf das, was sie getrennt<br />
erlebt hatten, noch für das, was Ulli und Anna vielleicht gemeinsam erreichen wollten. Diese<br />
Freiheit überließ einen jeden sich selbst, isoliert und stumm wie eh und je, seinen Ängsten<br />
ausgeliefert.<br />
Diese Freiheit gönnte keinem eine Atempause, schnelllebige Ereignisse zu begreifen,<br />
einzuordnen. Schon war wieder etwas anderes da, auf das man vordergründig reagierte. Mit dieser<br />
Freiheit psychisch klar zu komme, hieß für Ulli und Anna zunächst, in der Vergangenheit zu leben,<br />
auch wenn man erst 17 Jahre alt ist. Denn in dieser Freiheit kann nur der unbekümmert agieren,<br />
der ihre Regeln ohne ein Körnchen Nachdenklichkeit übernimm. Aber dann ist diese frisch<br />
erkämpfte Freiheit schon eine tote Freiheit, getragen vom Stumpfsinn und Langeweile.<br />
So empfanden Ulli und Anna. Eine Gefühlsebene, die sie eng zusammenschmiedete. Ulli<br />
erzählte von seinen Disco-Abenden: "Das war echt monoton, mit irgendwelchen Weibern<br />
rumalbern über belanglose Sachen und so. Nach zwei Wochen hat mir das gestunken und ich fing<br />
wieder an, Elektronik zu basteln." Anna ergänzte: "Wenn ich in eine Discothek durfte, wurde ich<br />
dort immer traurig. Es ist eine gemeinsam erlebte Einsamkeit. Die warten alle darauf, dass<br />
irgendetwas passiert, dass sie irgendeinen Kontakt kriegen. Aber es passiert nichts. Keiner fängt an.<br />
Dabei tun sie immer so locker, doch in der Beziehung zu anderen tun sich alle unheimlich schwer."<br />
- Ängste, Verlustängste.<br />
Die gemeinsam erlebte Einsamkeit sieht Anna nicht nur in Discotheken. Sie vermutet sie<br />
überall dort, wo Jugendliche sich treffen. Anna meint: "Die meisten sind überhaupt nicht mehr<br />
motiviert. Die haben keine Lust mehr, die haben ja alles, ihr technisches Spielzeug, Fernseher,<br />
Computer, Handy, Laptop, M3 usw. Viele sind so kaputt und überdrüssig von allem." Auch sei es<br />
ein ständiges Warten darauf, dass etwas Neues passiert, worauf alle erst wie wild aus sind, um sich<br />
schon bald wieder gelangweilt abzuwenden. Anna über ihre Klasse: "Gruppenarbeit und<br />
Diskussionen finden viele bescheuert. Die wollen lieber den Frontalunterricht wie früher. Die<br />
sagen immer, sie wüssten gar nicht, warum sie eine Begründung abgeben sollen, wenn sie etwas<br />
blöde fänden. Soll doch der Lehrer erzählen." Und in der Berufsschule hätten junge Lehrerinnen<br />
sogar Angst, verprügelt zu werden. Schulalltag vielerorts.<br />
Laufend würde Annas Vater als Feuerwehr in solche Klassen gerufen. "Die kommen<br />
besoffen in die Schule und schlagen sich da die Köpfe ein. Oft wissen sie nicht einmal, warum sie<br />
sich keilen. Geht ein Lehrer dazwischen, kriegt der auch gleich eine gewischt. Dann sind da noch<br />
Prostituierte, immer zwei oder drei in jeder Klasse, die werden dann schon mit 16 und 17 Jahren<br />
8 0
schwanger. Kein Lehrer will eigentlich in solche Klassen gehen. Auf den Konferenzen streiten sie<br />
sich nicht selten darum, wer das rein muss. Von wegen Disziplinierungsmaßnahmen. Wenn die<br />
Zeugnisse kriegen, nehme sie das und schmeißen es zerrissen in den Papierkorb. Das ist ihnen<br />
scheißegal. Die Verhältnisse sind einfach katastrophal."<br />
Ulli kann die Aggressionen verstehen. "Die müssen dauernd etwas leisten. Das geht mir<br />
auch gegen den Strich. Wir wissen doch gar nicht mehr, wofür wir das machen. Wir stagnieren alle<br />
und merken es nicht einmal. Wenn mein Alter mal bei mir vorbeischaut und mir sagt, dann sage<br />
ich dem, nichts muss ich, bla-bla-bla. Der ist nur durch den Krieg was geworden, Stunde Null und<br />
so. Sonst wäre der heute nie Oberstleutnant, wenn die an solchen Heinis keinen Nachholbedarf<br />
gehabt hätten."<br />
Ohne dass sich Ulli und Anna dessen bewusst waren, sortierten sie ihren seelischen Müll,<br />
den sie schon über Jahre mit sich herumschleppten. Ulli löste sich auch mehr und mehr von seiner<br />
Clique. Äußere Anlässe halfen ihm dabei. Achim, der Bundeswehr-Soldat in Emden mit den<br />
Haschsendungen, hatte einen Selbstmordversuch hinter sich. Robbi lag nach einem<br />
selbstverschuldeten Autounfall mit einer Oberschenkelhalsfraktur im Krankenhaus und Gisela<br />
sagte dem Gymnasium gerade geräuschlos ade. Aber noch etwa anderes kam hinzu. Ulli hatte sich<br />
eingestehen müssen, dass ihn die regelmäßige Sauferei kaputtmachte - noch nicht einmal so sehr<br />
körperlich, vielmehr seelisch. Seine Depressionsschübe kamen jedenfalls in immer kürzeren<br />
Abständen. Auch bereitete es ihm Mühe, sich aus seinem Tran-Zustand wachzurütteln. "Erst vier<br />
Monate vor dem Abi wurde mir klar, dass ich demnächst gar nicht mehr zur Schule gehe. Da fing<br />
bei mir die Motorik zu laufen an." Vielleicht war es auch seine Furcht, in einer jugendlichen<br />
Halbwelt zu versacken und irgendwann nicht mehr die erforderlichen Reserven mobilisieren zu<br />
können, um sich daraus zu befreien. Ulli berichtete Anna in allen Einzelheiten, was er und die<br />
Clique auf ihren Touren schon alles erlebt hatte.<br />
Eine Clique, die wochentags in Aachen Hasch verhökert, gerät schnell in ein Milieu, in<br />
dem Gesetzmäßigkeiten herrschen, die sich kaum von der Unterwelt unterscheiden. In Aachen-<br />
Kronenberg, einer Satelliten-Vorstadt, gibt es keine Puffstraße und keine illuminierte<br />
Geschäftigkeit. Da steht irgendwo an irgendeiner Ecke ein Lieferwagen. Passanten, die da<br />
vorbeigehen, können nicht wissen, dass der VW-Bus oder Ford-Transit mit Matratzen polsterweich<br />
ausstaffiert ist. Sie können auch nicht ahnen, dass es 13 oder 14jährige Schülerinnen sind, die sich<br />
darin verdingen, nachdem sie ihre Freier auf der Straße oder in der Kneipe aufgegabelt haben. Ulli<br />
lernte damals eine 13jährige Angela kennen, die im herumhing. Keiner hätte im Lokal vermutet,<br />
dass Angela noch so jung war. Sie hatte schon die vielleicht unfreiwillige Reife einer 23jährigen. Sie<br />
wollte Hasch, konnte es aber nicht bezahle. Ulli ist mit ihr gegangen, bis er drei Kreuzungen weiter<br />
vor einem Lieferwagen mi Kölner Kennzeichen stand. Für einen wollte Angela mit ihm m<br />
Laderaum "abbumsen gehen", sich "kurz durchvögeln lassen", wie sie es nannte. "Der Lieferwagen-<br />
Trick", meinte Ulli, "ist eine todsichere Sache. Die MEK, ein mobiles Einsatzkommando,<br />
sozusagen. Die Mädchen sparen viel Zeit, verdienen dabei, die Zuhälter natürlich noch mehr, und<br />
alle werden kaum geschnappt. Das ist doch viel risikoloser, als wenn sie in Aachen in der<br />
Promenadenstraße stehen, gleich hinter C & A und von der Polizei erwischt werden."<br />
Wenn Ulli der Anna so erzählte, dann hielt sie seine Darstellung schon für glaubwürdig.<br />
Auch sie hatte schon einiges in der Schule gehört. Was sie ein wenig störte, war seine schnörkellose<br />
Routine. Etwa wenn er ihr die Philosophie des Babystrichs verklickerte: "Die ganzen Babystriche<br />
sind nur für eine geraume Zeit ertragreich, weil die Professionellen dagegen kämpfen. Denn der<br />
Babystrich drückt die Preise. Aber die 14- bis 16jährigen Mädchen sind schon nach zwei Jahren<br />
81
verbraucht. richtig ausgelutscht, die sind null und haben für den Zuhälter keinen Gebrauchswert<br />
mehr. Allein dadurch, dass sie forciert worden sind, diesen Job zu machen, quasi von der<br />
Schulbank runter. Denn viele wollen lieber etwas Junges als was Älteres. Wer zwei oder drei Jahre<br />
auf dem Babystrich war", glaubt Ulli "der hat keinen Willen mehr. Der verschwindet in einem der<br />
üblichen Bordelle oder kippt nach Marokko in Alis Bettenlager runter."<br />
In der Puff-Gegend von Köln, da sind sie mal mit Robbi einige Wochen regelmäßig<br />
hingefahren. Da haben Robbi , Andy den Larry gespielt und so getan, als seien sie die Jung-<br />
Zuhälter aus der Provinz. Verhandelt haben sie auch, in einer Kaschemme am Billardtisch, beim<br />
Kugelstoßen und Picolotrinken. Der eine Lude, so um die 25 muss er gewesen sein, stellte sich als<br />
Migo vor und hatte offenkundiges Interesse. Nachschub aus den Dörfern und Kleinstädten zu<br />
bekommen. Robbi trat in solchen nicht ungefährlichen Gesprächen immer am abgeklärtesten auf,<br />
so als habe er in seiner Region vierzehn Vierzehnjährige laufen, von denen er alsbald drei "in<br />
Pension" schicken müsse. Erst als der Migo "Ware für die Beschauung und Besamung" sehen<br />
wollte, mied die Clique das Puff-Revier zu Köln - Todestypen nannten sich Robbi und Co. zu jener<br />
Zeit.<br />
Aber all das ist inzwischen für Ulli Vergangenheit. "Ich führte ein schizophrenes Leben.<br />
Ich suchte Action, dann bastelte ich wieder an meiner Elektronik, und in Wirklichkeit brauchte ich<br />
jemanden, mit dem ich mich richtig unterhalten konnte." Pendelschläge von einem extremen Punkt<br />
zum anderen. Früher gab ihm die "Action-Macker-Phase" Halt, heute ist es Anna. Nach<br />
zweijähriger Freundschaft spricht Ulli schon von einer "praktischen Ehe, die wir führen". Anna ist<br />
für ihn zum Programm geworden. Kaum ein Satz, den er ausspricht, in dem Anna nicht vorkäme.<br />
Dabei beurteilen beide ihre Zukunft so ziemlich konträr.<br />
Anna ist davon überzeugt, dass es in der Bundesrepublik im nächsten Jahrzehnt zum<br />
"großen Knall" kommt. "Es flippen immer mehr Menschen aus -und nicht nur Jugendliche. Ich<br />
frag mich manchmal, was für wen eigentlich da ist. Sind die Maschinen, Computer für uns da,<br />
damit unser Leben leichter wird, oder sind wir nur noch da, dass die Maschinen laufen, Profite um<br />
Profite? Aber die werden auch noch Kühlschränke zu den Eskimos transportieren." Weil alles so<br />
ungewiss ist, will Anna auch keine Kinder haben; selbst von Ulli nicht, der das gerne möchte. Er<br />
sagt dann meistens: "Zum großen Knall kann es schon allein deshalb nicht kommen, weil alle dazu<br />
erzogen worden sind, gar keinen großen Knall zu machen."<br />
Ulli und Anna schimpfen nicht auf die Gesellschaft, auf Parteien oder Verbände.Die sind<br />
ihnen fast gleichgültig. Sie äußern lediglich Empfindungen. Es ist so schwer, überhaupt einen Sinn<br />
in dem Ganzen zu sehen. Und sie beruhigen sich mit der Feststellung: "Irgendeinen Sinn wird das<br />
doch alles schon haben."<br />
Vielleicht wird Ulli mal ein guter Taxifahrer oder auch ein Akkordfritze am Fließband,<br />
vielleicht wird er es schaffen, als Geographie-Lehrer vor einer Klasse zu stehen, was sein Berufsziel<br />
ist. Er weiß es nicht, denn seine Schulnoten sind zu schlecht, und genügend Lehrer gibt es allemal.<br />
So schiebt Ulli mit seiner Anna die Ungewissheit vor sich her. Am liebsten verkriechen sich die<br />
beiden unter der Bettdecke und schmusen, laufen durch die Wälder, schauen Filme oder versinken<br />
in Büchern. Ungeachtet, was auf sie noch zurollt, an einem wollen Ulli und Anna bedingungslos<br />
festhalten - an ihrer Heirat: "Aber erst muss Anna noch ihr Abi machen, und bis dahin vergeht<br />
noch ein ganzes Jahr."<br />
8 2
Wirtschaft der alternativen Szene<br />
1983<br />
83
"ENGAGIERT UND ERNSTHAFT, SPIELERISCH UND<br />
EXPERIMENTELL“ DIE WIRTSCHAFT DER<br />
ALTERNATIVEN SZENE<br />
Während die offizielle Wirtschaft in der Krise steckt, blüht und boomt die<br />
Wirtschaft im Untergrund. Noch nie wurde in Deutschland so viel schwarz gearbeitet,<br />
gehandelt und verbucht, auf betrügerische Weise oder hart am Rande der Legalität<br />
finanziert und transferiert, im Do-it-yourself-Verfahren und per Nachbarschaftshilfe<br />
erarbeitet und in Selbsthilfegruppen organisiert. Würden all diese ökonomischen<br />
Tätigkeiten steuerlich erfasst, gäbe es weder Haushaltsdefizite noch Nullwachstum.<br />
Spiegel-Buch, Hamburg 2. Mai 1983<br />
Die Konzern-Philosophie steht nirgendwo geschrieben. Gleichwohl hat sie sich jeder<br />
Unternehmens-Angehörige nachhaltig eingeprägt. "Soyez réalistes, exigez l'impossible" - seid<br />
realistisch, fordert das Unmögliche. Ein vierstöckiges Backsteingebäude erinnert an die<br />
Fabrikarchitektur der Gründerjahre, weiß übertünchte Anbauten an den hastigen Bauboom der<br />
Nachkriegszeit. Nur der Firmenvorplatz liefert einen Hinweis auf die achtziger Jahre. Autotrauben<br />
aus allen Teilen der Republik wühlen den Sandboden auf, schwere Lastkraftwagen schieben sich<br />
aneinander vorbei.<br />
Vor drei Jahren hat sich der Konzern, die "Allgemeine Sortiments- und<br />
Handelsgesellschaft", im Urselbachtal niedergelassen, umgeben von Wiesen und Wäldern,<br />
eingekeilt zwischen Ackerzäunen und dörflicher Fachwerkidylle. Lediglich die an der Peripherie des<br />
Firmengeländes verlaufene Autobahn sichert den schnellen Zugriff nach Frankfurt am Main - jener<br />
Wirtschafts- und Bankenmetropole, ohne die der steile Aufstieg des Handelskonzerns undenkbar<br />
gewesen wäre.<br />
Die Historie des Unternehmens ist die klassische Entstehungsgeschichte bundesdeutscher<br />
Schattenökonomie. Was mit Schwarzarbeit in einem Frankfurter Hinterhof begann, mündete in die<br />
bürgerliche Rechtsform einer GmbH. Den Anfang machte eine Fünf-Mann-Truppe mit Maler- und<br />
Renovierungsarbeiten in Frankfurter Großbürger-Wohnungen. Mit unversteuerten Geldern (Slogan<br />
von damals: "Cash in die Täsch") wurden klapprige VW-Busse sowie TÜV-überfällige Laster<br />
aufgekauft und in nächtlicher Heimarbeit wieder zusammengeflickt. In der zweiten Phase kamen<br />
auf diese Weise Transporte, Umzüge, Entrümpelungen zustande.<br />
Im dritten Abschnitt spezialisierte sich das Team auf den An- und Verkauf von<br />
Gebrauchtmöbeln. Nach dem Motto "learning by doing" begann nunmehr der Aufbau einer<br />
Werkstatt zur Möbelrestaurierung. Eine moderne Druckerei, die bis zum DIN-A2-Format das<br />
Rhein-Main-Gebiet mit Anzeigenblättern, aber auch PR-Broschüren versorgt, schuf das zweite<br />
Standbein. Daraus entwickelte sich die Planung eines Cafés und schließlich die Idee eines<br />
angeschlossenen Restaurants - eine Art Kommunikationszentrum für Theater-, Informations-und<br />
Diskussionsveranstaltungen.<br />
Inzwischen bewegt die "Allgemeine Sortiments- und Handelsgesellschaft"<br />
Millionenbeträge. Entgegen einem depressiv ausgerichtetem Konjunkturbarometer sowie<br />
wirtschaftlichen Struktureinbrüchen erschließt sich die Handelskette unvermutete<br />
Wachstumsnischen. Trotz Hochzinspolitik konnte sie sich im Jahre 1981 etwa ihr 25.000<br />
8 4
Quadratmeter großes Firmenareal für 2,2 Millionen Mark kaufen. Trotz mannigfacher<br />
Unternehmenspleiten baute sie in den angrenzenden Orten Bad Homburg und Kirdorf weitere<br />
Produktionsstätten auf, investierte in Maschinen und Fuhrpark. Trotz Einstellungsstopp vielerorts<br />
engagierte sie unentwegt neue Mitarbeiter.<br />
Ob Gesellschafter, Manager oder Angestellte - manchmal ungläubig, zuweilen euphorisch<br />
sehen sich die Betreiber der "Allgemeinen Sortiments- und Handelsgesellschaft" mit ihrem<br />
Ertragssegen konfrontiert. Ein Overhead-Projektor wirft im Konferenzsaal expansive Zukunfts-<br />
Visionen auf die Leinwand. Und immer wieder zirkuliert im Konzern der eine, scheinbar alles<br />
erklärende Satz: "Wir befinden einfach in einem wahnsinnigen Investitions-Rausch."<br />
Natürlich ist die "Allgemeine Sortiments- und Handelsgesellschaft mbH" kein<br />
bundesdeutscher Konzern im herkömmlichen Sinne, hielte er einem Bilanzsummenvergleich mit<br />
den kleinsten unter den großen Unternehmen erst gar nicht stand. Denn hinter der "Allgemeinen<br />
Sortiments- und Handelsgesellschaft mbH" verbirgt sich tatsächlich die "Arbeiterselbsthilfe (ASH)<br />
- ein selbstverwalteter Betrieb aus dem alternativen Deutschland.<br />
Unter der westdeutschen Gegenwirtschaft freilich nimmt die "Arbeiterselbsthilfe" eine Art<br />
Konzernstellung ein. Und das nicht nur, weil die 40 ASH-Mitarbeiter einen für Alternative<br />
traumhaften Umsatz von jährlich 1,2 Millionen Mark erreichen. Auch ihr Außenverhältnis passt<br />
sich nahtlos in die juristischen Normen der kapitalistischen Wirtschaftsordnung ein. So werden<br />
Gebäude nebst Grundstücken nach allen Regeln fiskalischer Kniffe von einem "Verein zur<br />
Selbsthilfe", der gemeinnützig und damit steuerbegünstigt ist, mit monatlichen Raten erworben.<br />
Das Sortimentgeschäft dagegen betreibt die im Handelsregister beim Amtsgericht eingetragene<br />
GmbH. Steuerberater und Rechtsanwälte stehen helfend zur Seite, wenn es darum geht, gegenüber<br />
der Renten- und Sozialversicherung ein fingiertes Monatseinkommen in Höhe von 1.200 Mark<br />
netto pro Mitarbeiter anzumelden, wenn es ferner darum geht, ASH-Angestellte zu, um auf diesem<br />
Wege Arbeitslosengelder zu kassieren, obwohl in Wirklichkeit keiner um seinen alternativen Job<br />
bangen muss.<br />
Im Innenverhältnis hingegen gibt es keine unternehmerischen Finessen, wird keinerlei<br />
Hierarchie zwischen nach außen deklarierten Gesellschaftern, Managern und Angestellten geduldet.<br />
Vielmehr sieht sich die ASH, wie sie von sich sagt, als ein "Reservat für Sensible und Utopisten".<br />
Für alteingesessene Handwerks- sowie Industrie- und Handelskammern im Rhein-Main-Gebiet<br />
indes verkörpert die ASH "den Zoo des Kapitalismus" schlechthin. Was heißt, dort draußen im<br />
Urselbachtal dominieren keine Chefs, keine Meister, keine Vorarbeiter. Folglich zählt sich auch<br />
niemand zum Fußvolk der Nachgesetzten. Alle fühlen sich gleichberechtigt und<br />
gleichverantwortlich für Investitionen, Etat-Umschichtungen, Einstellungen oder Entlassungen.<br />
Realistisch zu sein, das Unmögliche zu fordern, diese allgegenwärtige ASH-<br />
Unternehmensmaxime zieht nur vordergründig auf Absatzmärkte, die es zu erobern gilt. In ihrer<br />
Tiefenschärfe reflektiert sie eine fundamentale Abkehr von der bundesdeutschen<br />
Mehrheitsgesellschaft -sowohl soziokulturell als auch ökonomisch. Sie gilt dem Versuch, neue<br />
Inhalte und Formen des menschlichen Miteinanders zu ertasten, um aus dieser andersgearteten<br />
Interessenlage heraus die wirtschaftlichen Bedürfnisse selbst zu bestimmen.<br />
Wer keine Vorgesetzten und Nachgesetzten akzeptiert, setzt auf Einsicht und<br />
Eigenverantwortung. Wer die Aufteilung zwischen Kopf und Handarbeit aufzuheben trachtet,<br />
sucht der unweigerlichen Entfremdung durch Sachzwänge sowie Expertokratie zu entgehen. Wer<br />
ferner den täglichen Betriebsablauf so organisiert, dass jeder nach einem ausgetüftelten<br />
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Rotationsprinzip alle anfallenden Aufgaben zu erledigen hat, glaubt an eine egalitäre, auf gleichem<br />
Wissen beruhende Ausgangsposition, die erst gemeinsames Engagement ermöglicht. Und wer<br />
außerdem die oft strikte Trennung zwischen Arbeitsbereich und Privatsphäre einebnet, will sein<br />
rationales Handeln mit seiner nicht selten widerstrebenden seelischen Befindlichkeit in Einklang<br />
bringen.<br />
Nur so ist es zu erklären, warum die nach außen deklarierten ASH-Gehälter nach innen<br />
keinerlei Bedeutung haben. Da nimmt sich halt ein jeder, was er braucht. Und das ist gemeinhin<br />
nicht sonderlich viel. Denn das Wesensmerkmal der Alternativen ist ihr Eid auf den Arbeitsfaktor<br />
Idealismus, der sich nun mal nicht in eine finanziell greifbare Größenordnung umrechnen lässt.<br />
Herkömmliche, meist arbeitsrechtlich festgeschriebene Ver- und Gebote sind außer Kraft<br />
gesetzt, Strafen oder Sanktionen untereinander verpönt. Begriffe wie Disziplinierungsmaßnahmen<br />
scheinen Formulierungen aus einem fremden Kulturkreis zu sein. Allenfalls der ab und zu fällige<br />
"Liebesentzug" der Gruppe zum einzelnen, der mitunter in eine zeitweilige Isolation führen kann,<br />
soll "Fehlverhalten" im ASH-Unternehmen korrigieren helfen.<br />
Die alternative Bewegung, die Mitte der siebziger Jahre in den städtischen Gettos von<br />
Berlin und Frankfurt ihren Ausgangspunkt nahm, hat in der Bundesrepublik längst einen<br />
volkswirtschaftlichen Stellenwert erklommen. Gewiss sind es wohl kaum die bis zum gängigen<br />
Klischee vermarkteten lila Latzhosen oder der inzwischen allseits obligate Hirsebrei, der den<br />
Alternativen eine ernst zu nehmende ökonomische Stellung zu wies.<br />
Wohl aber Schreinerbetriebe und Frauenkneipen, Anwaltskollektive, alternative<br />
Drogenberatung und Psycho-Therapie-Gruppen, der alternative Weinhandel ebenso wie die Öko-<br />
Druckerei, die Naturkostläden und Bio-Bauernhöfe auf dem Lande, die Keramik-Werkstatt, die<br />
Trödel-Shops und die Second-hand-Boutique, die Textil- oder Töpferläden, die Buchhandlungen,<br />
Kinos, Galerien, Theater, Zeitungen, Magazine der auch die Selbstfindungsgruppen.<br />
Mittlerweile hat die alternative Szene in jeder westdeutschen Großstadt ihr Heimatrecht<br />
angemeldet. Eine kunterbunte Gegengesellschaft, die sich nicht damit begnügt, Fahrräder zu<br />
reparieren und zu bemalen oder Wolle zu spinnen, die gleichfalls HiFi-Anlagen baut, mit Video-<br />
Geräten, Computer hantiert, Windräder konstruiert, mit Sonnenkollektoren und<br />
Elektronikrechnern umzugehen weiß.<br />
Die anfängliche Verachtung, die den Aussteigern aus der Wohlstandsecke allzu oft<br />
emotional entgegenschlug, das Vorurteil, sei seien die kaputten Parasiten der Republik, ist<br />
inzwischen einer behutsameren Betrachtungsweise gewichen. Immerhin arbeiten und leben<br />
zwischen 80.000 und 130.000 vornehmlich junge Leute in 12.000 bis 15.000 Projekten - und das<br />
bundesweit. Auf etwa 400.000 Menschen wird die Zahl deren geschätzt, die Alternativgruppen<br />
unterstützen - sei es durch Geld, durch sporadische Mitarbeit oder auch nur als Kunden.<br />
Nach einer demoskopischen Untersuchung des Marplan-Instituts stehen fast 20 Prozent<br />
der Bundesbürger zwischen 14 und 45 Jahren dem alternativen Leben höchst aufgeschlossen<br />
gegenüber. Das heißt, etwa sechs Millionen Menschen in Deutschland liebäugeln mit grün<br />
gefärbten Lebensformen - weniger konsumieren, Umwelt schützen, gesund leben, handwerklich<br />
arbeiten, mehr Muße, mehr Sinnlichkeit in einer durch zunehmender menschlicher Kälte<br />
entäußerten Welt.<br />
Dessen ungeachtet bewegt sich ein Großteil der alternativen Ökonomie in einer<br />
"Grauzone des Erwerbsverhaltens". Ihre effektiven Leistungen finden kaum Niederschlag im<br />
8 6
Bruttosozialprodukt. Zum einen sprengt die alternative Ökonomie das bisher eingespielte Schema<br />
von Erwerbs- und Nichterwerbsrollen in der Gesellschaft. Ihr individueller Zuschnitt sowie ihre<br />
Eigendefinition von Arbeit und Leben setzen ein qualitativ verändertes Berufs- und<br />
Arbeitsmarktverhalten voraus - ein weitreichender, bisher kaum abschätzbarer wirtschaftlicher und<br />
sozialer Wandel, den aber weder die Erwerbstätigen- noch die Arbeitslosenstatistik hinreichend<br />
berücksichtigen. Aussteiger oder Verweigerer fallen aus dem staatlichen Erfassungsraster heraus.<br />
Amtliche Erhebungen sind daher ein untaugliches Mittel, Grauzonen des alternativen<br />
Erwerbsverhaltens auszuleuchten. Sie lassen keinerlei Aufschlüsse sowie zukunftweisende<br />
Interpretationen zu, sie verschließen sich mit ihrer teils starren, teils überholten Erfassungskriterien<br />
einem bislang unbekannten Phänomen - der alternativen Wirtschaft.<br />
Zum anderen entzieht sich die alternative Ökonomie selbst der offiziellen Wertschöpfung,<br />
weil die meisten ihrer Betriebe weder Steuern noch Sozialabgaben abführen wollen. Selbst<br />
kontrollierbare Absatzmärkte liefern kaum vergleichbare Ansatzpunkte, zufällige Stichproben<br />
schlagen meistens fehl. Denn für alternative Erzeugnisse oder Dienstleistungen gibt der Markt in<br />
der Regel eine Marktpreise her. Finanzwissenschaftler, wie Klaus Gretschmann von der Universität<br />
Köln, haben aus diesem Grund die alternative Ökonomie im Bereich der Schattenwirtschaft<br />
angesiedelt, jenem informellen Sektor, in dem traditionell die Schwarzarbeit blüht und gedeiht.<br />
Doch schon in ihren Kernpunkten unterscheidet sich die alternative Ökonomie von der<br />
Steuerhinterziehenden Schwarzarbeit, geht ihre Wirtschafts- und Lebensphilosophie von gänzlich<br />
anderen Grundsätze aus. Alternative Projekte sind gemeinwirtschaftlich ausgerichtet, orientieren<br />
sich ausschließlich an neuen Bedürfnissen und dem tatsächlichen Gebrauchswert. Der hohe<br />
persönliche Einsatz und der Arbeitsfaktor Idealismus gleichen konkursträchtige<br />
Betriebskalkulationen aus. So betrachtet zeigt die alternative Wirtschaft ein Mehr an moralischer<br />
Legitimation als der Steuer abführende Normalbetrieb.<br />
Ihr unveräußerliches Kennzeichen ist ferner Arbeitszufriedenheit statt Profitinteresse.<br />
Ihre Güter und Dienstleistungen verdrängten kaum andere, da sie den etablierten<br />
Wirtschaftskreislauf nur selten erreichen, sondern sich ihre Zielgruppen in den städtischen Gettos<br />
des alternativen Deutschlands suchen.<br />
So unterschiedlich die Beweggründe fürs alternative Wirtschaften sein mögen, so<br />
heterogen die Zielvorstellungen von Bunten oder Grünen sind, so diffus und laienhaft für<br />
Außenstehende sich ihre Betriebe auch ausnehmen - dennoch haben sich im Laufe der Jahre neun<br />
Alternativ-Gebote herauskristallisiert, die als unumstößlich gelten:<br />
• Jeder Betrieb wird selbstverwaltet. Chefs und Hierarchie sind abgeschafft. Jedem<br />
Mitarbeiter sind sämtliche Informationen zugänglich. Alle Unternehmens-<br />
Entscheidungen werden gemeinsam getroffen.<br />
• Jeder macht jeden Job. Spezialisierungen gibt es nicht, weil sie zur Entfremdung<br />
gegenüber der Arbeit und zum heimlichen Ausbau etwaige Machtpositionen<br />
beitragen.<br />
• Konkurrenz untereinander und zu den anderen Alternativprojekten finden nicht statt.<br />
• Alle bekommen den gleichen Lohn, oder es werden überhaupt keine Gelder verteilt.<br />
Jeder nimmt sich nur soviel aus der Betriebskasse, wie er tatsächlich braucht.<br />
87
• Kapital darf allerhöchstens ein Mittel zum Zweck sein, niemals darf seine<br />
Vermehrung zum Selbstzweck geraten. Privates Eigentum an Produktionsmitteln ist<br />
ausgeschlossen. Der Betrieb gehört allen, die am Projekt beteiligt sind. Wer<br />
ausscheidet, wird nicht ausgezahlt.<br />
• Konsum und Luxus werden generell auf das Nötigste und ebenfalls Sinnvolle<br />
beschränkt.<br />
• Nur nützliche, das heißt ökologisch saubere Produkte werden hergestellt, und nur<br />
sozial sinnvolle Dienste werden angeboten.<br />
• Die Trennung von Arbeit und privatem Leben wird aufgehoben. Der Betrieb dient<br />
nicht nur zum Lebensunterhalt, sondern soll gleichzeitig soziale Sicherheit und<br />
Geborgenheit vermitteln.<br />
Jugendliche, die sich im Sinne Erich Fromms von einer Welt abwenden, "die sich um<br />
Sachen und um das Besitzen von Sachen dreht", die deshalb mit Kopf und Bauch ausgewandert<br />
sind - und das im eigenen Land - diese Jugendlichen zählen in den seltensten Fällen zu den<br />
Begüterten dieser Republik. Aussteiger verfügen über keine gutgefüllten Bankkonten, kennen keine<br />
dehnbaren Dispositionskredite oder zinsgünstige Existenzgründungs-Darlehen. Ihr ständiger<br />
Wegbegleiter in den alternativen Lebenszusammenhang heißt vielmehr Kapitalmangel. Ein Dasein,<br />
das täglich aufs Neue durch Unterkonsum und Selbstausbeutung gemeistert werden muss.<br />
Für die Arbeiterselbsthilfe, dort draußen im Urselbachtal, vor den Toren Frankfurts,<br />
gehört das Leben an der Hungerschwelle inzwischen zur Unternehmens-Geschichte. Es war ein<br />
dorniger Existenzkampf, über den die Anteilseigner der "Allgemeinen Sortiments- und<br />
Handelsgesellschaft" heute gern mit einem Quäntchen Genugtuung berichtet. Michael, Stefan,<br />
Roswitha hocken am runden Nussbaum tisch im weitläufig ausgebauten ASH-Café. Roswitha sagt:<br />
"Zwei Jahre sind wir über Hinterhöfe und Schrottplätze gezogen. Es gab nur Billig-Bier und jeden<br />
zweiten Tag Spaghetti. Nur wenn es uns einigermaßen ging, leerten wir gemeinsam eine Zwei-Liter-<br />
Flasche von Aldi aus.<br />
Michael erzählt: "Natürlich hatten wir kein Geld. Und wo kein Kapital ist, da bleiben halt<br />
nur die Schrottplätze. Aber es waren deprimierende Drecklöcher. Im Winter haben wir uns in einer<br />
schimmelfeuchten Baracke alle in einem Umkreis von zwei bis drei Metern um einen Kohleofen<br />
gedrängt. Wir guckten durch ein vergittertes Fenster auf die Schrottberge und sahen nicht einmal<br />
dort eine Perspektive für uns, weil hier schon Neubauten angesagt waren." Stefan ergänzt: "Wir<br />
zogen in die leerstehende Fabona-Fabrik um. Dort hatte der Wind jeden Schlupfwinkel<br />
ausgemacht. Mit zehn Mann wohnten wir in einem durch Gipswände notdürftig hergerichteten<br />
Zimmer. Vor der großen Tür begann gleich unser Möbelverkaufsraum. Auf der Suche nach<br />
passenden Möbeln standen die Kunden plötzlich vor unseren Matratzen."<br />
Roswitha meint: "Ein Albtraum war das damals. Über achtzig Stunden malochten wir in<br />
der Woche. Wir renovierten, tapezierten, restaurierten, nachts schrieben wir die Verkaufs-<br />
Flugblätter und Zeitungsannoncen. Morgens bibberten wir überreizt den ersten Kunden entgegen.<br />
Und das alles für einen Stundenlohn von maximal 30 Pfennig. Einige sind dann vom Ausstieg<br />
wieder ausgestiegen. Die haben sich gesagt: Aber für die meisten gab es nur eine Alternative:<br />
weitermachen oder untergehen. Zurück ins normale Leben? Nein Danke."<br />
So harrten Michael, Stefan, Roswitha und Co. Jahr um Jahr in ihren Verliesen aus, bis sie<br />
endlich ihre Marktlücke fanden und sich zu einer bürgerlichen GmbH durchgenagt hatten. Ihre<br />
8 8
gemeinsame und immer wieder ins Gedächtnis zurückbeorderte Erfahrung aus den siebziger Jahren<br />
half ihnen dabei. Es waren jene Zeiten, in denen in Frankfurt die Häuserkämpfe zu paramilitärischen<br />
Auseinandersetzungen entglitten, in denen der Spruch "keine Macht für niemand" die<br />
Entfremdung artikulierte, die zwischen Staat und Jugendlichen oft in Zehntelsekunden entstehen<br />
konnte und heute in der alternativen Szene fortlebt.<br />
Der damals vollzogene Bruch ließ noch keine volkswirtschaftliche Eigendynamik erahnen,<br />
wurde zunächst erst einmal gar nicht zur Kenntnis genommen.<br />
Anfang der achtziger Jahre hingegen existiert bundesweit eine Wirtschaft, die ihre eigenen<br />
Maßstäbe in sich trägt. So sind alternative Betriebe in erster Linie für Grüne, Bunte, Heteros,<br />
Homos, Ökos und Sparökonomen da. Fast 65 Prozent aller Unternehmen werkeln fürs eigene<br />
Milieu. Die übrigen 30 Prozent zählen zu den reinen Eigenarbeits-Projekten, die sich auf Therapie-<br />
und Frauengruppen oder Stadtteil-Zentren konzentrieren.<br />
Eine alternative Bewegung, deren wichtigstes Ziel die Selbstverwirklichung oder auch die<br />
neue Sinnlichkeit ist, sieht natürlich kaum ihr Primat darin, irgendeine Ware herzustellen und diese<br />
im bürgerlich-kapitalistischen Sinne an den Mann oder auch die Frau zu bringen. Der Berliner<br />
Politologe Joseph Huber recherchierte, dass nur zwölf Prozent im engeren Sinne produktiv tätig<br />
sind - in der Landwirtschaft und im Handwerk. Ganze neun Prozent der Szene engagieren sich in<br />
Handel und Verkehr, 18 Prozent widmen sich ausschließlich der politischen Arbeit. Den<br />
Löwenanteil von 60 Prozent machen Buchläden, Kinos, Galerien, Theater, pädagogische<br />
Einrichtungen, Zeitschrift und Publikationen aus.<br />
Die alternative Presse - meist Stadtteilzeitungen oder Flugschriften - begreift sich als<br />
Gegenöffentlichkeit für unterbliebene, oft auch zu kurz gekommene Nachrichten in den<br />
professionellen Medien. Ihr Wesensmerkmal ist Spontaneität und Betroffenheit. Die Trennung von<br />
Machern und Konsumenten ist Größenteils aufgehoben. Schon 1976 kamen nach einer<br />
Bestandsaufnahme des Bonner Familienministeriums 100 alternative Publikationen auf dem Markt.<br />
Zwei Jahre später schlossen sich die zwölf größten alternativen Stadtillustrierten zur "Szene-<br />
Programm-Presse" zusammen und erreichten seither eine Gesamtauflage von über 200.000<br />
Exemplaren. Bereits 1980 zählte das alternative Deutschland über 240 Zeitungen.<br />
Gegenwärtig addiert sich die Gesamtauflage auf mehr auf 1,6 Millionen Exemplare<br />
monatlich.<br />
An der Spitze der Gegen-Öffentlichkeit rangieren die beiden Frauen-Zeitschriften Emma<br />
(Auflage: 130.000) und Courage (70.000), gefolgt von Zitty, Berlin (45.000), Szene, (Hamburg<br />
(40.000), Oxmox , Hamburg (42.000), tageszeitung, Berlin (15.000), Pflasterstrand, Frankfurt<br />
(15.000), Auftritt, Frankfurt (25.000), Stadtrevue, Köln (22,00), Hamburger Rundschau (18.000),<br />
Blatt, München (15.000) und dem Plärrer aus Nürnberg mit 10.000 Exemplaren.<br />
Die oft verbreitete Ansicht, der Ausstieg aus der bundesdeutschen Gesellschaft ziehe<br />
sogleich eine radikale Abkopplung vom eingespielten Wirtschaftsgefüge nach sich, ist ein<br />
Trugschluss. Betriebswirtschaftlich gesehen, können zahlreiche Projekte nur überleben, weil ihnen<br />
Zuschüsse aus dem etablierten Wirtschaftskreislauf sicher sind. Nur etwa 40 Prozent der<br />
Einnahmen in den alternativen Projekten stammen aus eigenständig erwirtschafteten Erlösen, an<br />
die 60 Prozent rekrutieren sich überwiegend aus Zuschüssen von Kirche und Staat. Oder sie<br />
89
fließen aus Eigensubventionen wie etwa abgezwackten Privateinkommen, Solidaritätsspenden,<br />
Fördervereinen und so weiter.<br />
Folglich sind alternative Betriebe gegenwärtig auch kaum imstande, ihre Leute zu<br />
ernähren. In der Hälfte der Projekte beziehen alle Mitarbeiter ihre Überlebensgelder von<br />
Ehepartnern, Eltern, Freunden, oder sie kassieren Sozialleistungen wie BAföG, Wohn-,<br />
Arbeitslosen- und Sozialhilfe - im modernen Hochdeutsch Hartz IV genannt. Weitere 30 Prozent<br />
der Unternehmen können nur einem Teil ihrer Mitglieder ein kleines Salär auszahlen. Lediglich 20<br />
Prozent der alternativen Projekte erwirtschaften für alle Mitarbeiter ein regelmäßig abrufbares<br />
Gehalt: Monatliche Vergütungen, die sich zwischen 500 und 1.000 Mark, in den seltensten Fällen<br />
um die 1.500 Mark bewegen. Und die auch oft nur deshalb diese Größenordnung erreichen, weil<br />
Steuern, Kranken- und Rentenversicherungsbeiträge erst gar nicht abgeführt werden.<br />
Im Herbst 1978 gründeten Alternativen und ihre Sympathisanten in Berlin das "Netzwerk<br />
Selbsthilfe e. V." In der Praxis bewährt sich dieser eingetragene Verein als eine Bank ohne Zinsen.<br />
Er vergibt nach Maßgabe seines Kreditausschusses Darlehen und Zuschüsse an unterkapitalisierte<br />
Projekte, "die<br />
• demokratische Selbstverwaltung praktizieren<br />
• nicht auf indiviuellen Profit ausgerichtet sind;<br />
• modellhaft alternatives Lebens- und Arbeitsformen erproben beziehungsweise<br />
emanzipatorischen oder aufklärerischen Charakter haben;<br />
• mit ähnlichen Projekten kooperieren statt konkurrieren;<br />
• personell und organisatorisch Kontinuität und längerfristig wirtschaftliche<br />
Tragfähigkeit gewährleisten".<br />
Mitglied des Netzwerkes kann jeder werden, der bereit ist, monatlich einen Spendenbetrag<br />
zu zeichnen. Ihr Erkennungszeichen, ein rasendes Sparschwein, hat auf diese Weise schon über<br />
vier Millionen Mark verschluckt und in mehr als 100 Alternativ-Betrieben bundesweit wieder<br />
ausgespuckt. Ob beim unabhängigen Jugendzentrum in Hannover, im Bremer Frauenhaus, bei der<br />
Frankfurter Arbeiterselbsthilfe oder in der Berliner "Fabrik für Kultur, Sport und Handwerk" - die<br />
Bank ohne Zinsen planiert für die oft idealistischen Lebensziele zumindest ein Stück es Weges und<br />
sorgt dafür, dass sich Alternative nicht nur um sich selbst, sondern auch um Ausländer und<br />
Behinderte, Drogenabhängige und Trebegänger kümmern können.<br />
Dass in der Bundesrepublik innerhalb eines knappen Jahrzehnts eine im wahrsten Sinne<br />
des Wortes alternative Wirtschaft entstand und dass diese Gruppierung, die wegen ihrer<br />
vielschichtigen Struktur wohl besser als "Szene" bezeichnet wird, immer noch wächst, bringt nicht<br />
zuletzt mit Krise des Wirtschafts-Wachstums zusammen. Denn die Grenzen des wirtschaftlichen<br />
Wachstums sind zugleich Grenzen des Sozialstaats. Der vor allem in den siebziger Jahren<br />
vertretene Staatsanspruch, für den Bürger alles regeln und lenken zu wollen, wird künftig schon aus<br />
finanziellen Gründen nicht mehr einzulösen sein. Die atemberaubenden technologischen<br />
Innovationsschübe, auf den Weltmärkten, insbesondere in den Bereiche Mikroelektronik und<br />
Informationstechnologie, drücken in diesem Jahrzehnt den Arbeitsfaktor Mensch immer stetiger<br />
und unausweichlicher aus dem Wettbewerb heraus.<br />
Dem technischen Wandel und der damit verbundenen Rationalisierung fielen schon<br />
Anfang der siebziger Jahre jährlich drei Prozent aller Arbeitsplätze zum Opfer. Vertrauliche<br />
9 0
Gutachten der Industriegewerkschaft Metall gehen bereits davon aus, dass dieses Land Ende der<br />
achtziger Jahre sechs Millionen arbeitslose Menschen beherbergen dürfte.<br />
Während die Mehrzahl der etablierten Politiker noch immer glaubt, die negativen Folgen<br />
des technischen Fortschritts und der Wirtschaftskrise mit den konventionellen Wachstumsrezepten<br />
kurieren zu können, fehlt es der Alternativbewegung an Motivation, diesen mitzutragen. Kaum<br />
einer weiß, welche Fundamente die pathetisch hochgepriesene Zukunft noch hat. Unübersehbar<br />
dagegen ist, wie Wälder vernichtet, Städte zubetoniert, Flüsse und Luft verseucht werden oder<br />
Kernkraftwerke mit ihren uneinschätzbaren Risiken entstehen - und das alles nur um des<br />
Wachstums willen. Die geradezu trotzigen Anstrengungen, durch einen erneuten wirtschaftlichen<br />
Boom wieder eine Dekade des Wohlstands und damit der sozialen Versorgung erreichen zu<br />
können, lassen geflissentlich außer acht, dass gerade dieses Wachstum den emotionalen und<br />
psychischen Grundbedürfnissen der Alternativszene diametral entgegensteht.<br />
Für die alternative Schattenwirtschaft kommentierte der Frankfurter Pflasterstrand, das<br />
Zentralorgan der Spontis, die eklatanten Einbrüche der bürgerlichen Wirtschaft so: "Diese Krise ist<br />
keine Flaute, sie hat Substanz. Die Überflussgesellschaft ist realisiert, und in ihrer Realisierung<br />
steckt ihr Zerfall. Liest man die Wirtschaftsseiten der Zeitungen genau, kommt eine simple<br />
Botschaft heraus: Ökonomisches Wachstum gibt es immer dann, wenn bei breiten Schichten<br />
Mangel und Bedürfnis herrschen. In einem Zeitalter, in dem 98 Prozent einen Kühlschrank und<br />
jeder Zweite ein Auto besitzt, stagnieren die Märkte: Mehr Konsum mit anderen Produkten,<br />
Kapitalisierung des Dienstleistungsgewerbes, Verkabelung, Digitalisierung der TV-Kanäle - all dies<br />
wird den ökonomischen Verfall bremsen, aufhalten vielleicht, aber irgendwann ist selbst das<br />
hungrigste Schwein einmal satt . . . Eine Alternative dazu müsste, ebenso wie die Krise selbst, mehr<br />
Substanz besitzen, auf einen völlig anderen Umgang mit Zeit, Geld, Arbeit und Konsum<br />
hinarbeiten, die notwendige Stagnation des Wachstums umverteilen."<br />
Zu ähnlichen Ergebnissen wie der von Daniel Cohn-Bendit herausgegebene Pflasterstrand<br />
(1976-1990) kam der von Alternativen viel gelesene Franzose Alain Touraine seines Zeichens ein<br />
Industriesoziologe des sozialen Wandels Mitte der siebziger Jahre. Er schrieb: "Wir leben in einer<br />
Zwischenzeit, in der sich kulturelle Veränderungen und gesellschaftliche Konflikte so sehr<br />
vermische, dass sie sich nicht voneinander trennen lassen", textete Touraine in seinem Buch<br />
"Jenseits der Krise" (Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1976). Gemeint ist damit ein schleichender<br />
Strukturumbruch in den westlichen Arbeitsgesellschaften, der sich erst allmählich und nur über<br />
veränderte Werteinstellungen in der Praxis durchzusetzen vermag. Touraine benennt fünf<br />
aufeinanderfolgende Entwicklungsphasen des Übergangs von der Industriegesellschaft in die<br />
nachindustrielle Gesellschaft: Soziale Krise, kulturelle Krise, kultureller Wandel, sozialer Wandel,<br />
politische Auseinandersetzung.<br />
Er prophezeite ein Auseinanderbrechen der Gesellschaft in große technokratische<br />
Einheiten auf der einen Seite und eine Bewegung der Verweigerung und Gewalt auf der anderen.<br />
Die neuen, klassenunabhängigen, gesellschaftlichen Strömungen, so Touraine, müssten zum<br />
Gegenangriff übergehen, um die Herrschaft über die Entwicklungskräfte zu übernehmen. Ihr Ziel<br />
sei die Wiederherstellung sozialer Beziehungen, der Bestand einer Gesellschaft, die sich als Netz<br />
kommunikativer Beziehungen und nicht mehr als Energie verbrauchende Maschine definiere.<br />
Touraine: "Wollen wir aus der Krise herauskommen, so müssen wir lernen, die neuen Ufer, auf die<br />
wir zusteuern, die Imperien, die sich herausbilden, und die Kräfte, die ihnen im Kampf<br />
entgegentreten können, ins Auge zu fassen."<br />
91
Ob bewusst oder unbeabsichtigt, ob aus eigener unternehmerischer Kraft oder mit Hilfe<br />
der angeschlagenen kapitalistischen Wirtschaft - in die Rolle einer sozial-ökonomischen Avantgarde<br />
ist die alternative Bewegung bereits hineingewachsen. Beinahe unmerklich und für viele noch<br />
immer nicht erkennbar, hat sie die Grenzen überschritten, die gemeinhin das Wirtschaftliche vom<br />
Kulturellen, den Gelderwerb von der Selbstverwirklichung trennen. Die althergebrachte These, die<br />
Bedeutung schattenökonomischer Betriebsamkeit nehme besonders in Depressionszeiten zu, ist<br />
sicher richtig. Aber sie reicht nicht mehr aus, die Existenz der Alternativ-Bewegung zu erklären.<br />
Denn sie verkürzt die Alternativ-Wirtschaft auf eine mehr oder minder saisonale<br />
Erscheinungsform, die sich bei entsprechender Konjunktur auch wieder eindämmen ließe. Was der<br />
alternativen Schattenwirtschaft dagegen ihre Dimension gibt, ist die Tatsache, dass sie schon heute<br />
volkswirtschaftlich und sozialpolitisch bedeutende Felder besetzt und mit ihren facettenreichen<br />
Wesensmerkmalen neu gestalten dürfte.<br />
Einen deutlichen Hinweis darauf lieferte eine Untersuchung des Zentralinstituts für<br />
sozialwissenschaftliche Forschung der Freien Universität Berlin. Anhand von 64 Berliner<br />
Alternativ-Projekten wiesen Wissenschaftler nach, welche öffentlichen Aufgaben die so genannte<br />
Aussteiger-Generation in eigener Regie bereits übernommen hat und weitsichtig lösen will.<br />
Auszüge aus der Stellungnahme:<br />
9 2<br />
• Beschäftigungspolitisch schaffen Alternativprojekte Arbeitsplätze. Allein in Berlin<br />
haben sie aus eigener Kraft mindestens 4.000 bis 5.000 Arbeitsplätze neu eingerichtet.<br />
Es ist allgemein bekannt, dass Großunternehmen trotz aller Riesensubventionen in<br />
den letzten zehn Jahren keinen Arbeitslosen von der Straße geholt haben. Der<br />
Zuwachs an Arbeitsplätzen kommt heute ausschließlich von Klein- und<br />
Mittelbetrieben sowie von Dienstleistungsprojekten. Dies gilt für alle westlichen<br />
Industrieländer.<br />
• Wirtschaftspolitisch tragen Alternativ-Projekte dazu bei, die durch Konzentration<br />
und Monopolisierung schwer beschädigte Struktur von Kleinbetrieben wieder<br />
aufzubauen. Kleinbetriebe und Einrichtungen vor Ort sind das A und O einer<br />
lebensnahen Versorgung der Bevölkerung.<br />
• Stadtpolitisch helfen Alternativ-Projekte damit, mehr Lebensqualität zu ermöglichen.<br />
Sie sind überwiegend Stadtteil- und auf die Nachbarschaft bezogen. Sie sind ein<br />
Stück praktizierte Stadtteil- und Gemeinde-Entwicklung.<br />
• Jugendpolitisch sind Alternativ-Projekte weit wirksamer als vergleichbare staatliche<br />
Einrichtungen. Die Einbindung in lebendige Arbeits- und Lebenszusammenhänge<br />
erfolgt in Alternativ-Projekten eben tatsächlich und ist keine aufgepfropfte<br />
institutionelle Kontrolle.<br />
• Sozialpolitisch sind Alternativ-Projekte Kosten sparend und in der Methode<br />
wegweisend. An Sozialarbeiterschulen werden sie nicht umsonst als eine Möglichkeit<br />
"präventiver Sozialarbeit" betrachtet. Sie entlasten Arbeitsmarkt und Sozialhaushalt<br />
gleichermaßen, indem sie Menschen auffangen, die anderenfalls als sozial<br />
Benachteiligte den Sozialstaat in Anspruch nehmen müssten. Darüber hinaus<br />
schaffen die Projekte für ihre Mitglieder Einkommen, erübrigen teure Gebäude-,<br />
Einrichtungs-, Betriebs- und Personalkosten und ersparen Arbeitslosen- und<br />
Sozialgelder.
Folgerichtig beantragen die 64 Alternativprojekte einen finanziellen Zuschuss vom<br />
Berliner Senat. Mit zunächst 20 Millionen Mark sollen weitere 500 neue Arbeitsplätze eingerichtet<br />
werden. Schon in naher Zukunft würden jährlich etwa 40 bis 50 Millionen Mark benötigt, weil nur<br />
"die echte Hilfe zur Selbsthilfe" den Menschen Arbeitsplatz orientierte Perspektiven vermitteln<br />
könne. Zu dem von Aussteigern und Verweigerern bisher ungewohnten Ansinnen, ihre Arbeit mit<br />
der Unterstützung von Steuergeldern auszubauen, machte der Berliner Hochschullehrer Peter<br />
Grottian den Parlamentariern folgende Rechnung auf. "Wenn Arbeitsmarkt-Programme von 960<br />
Millionen Mark lächerliche 1.517 Arbeitsplätze gebracht haben und die laut Helmut Schmidt<br />
(Bundeskanzler 1974-1982) investierten 55 Milliarden Mark bei angeblich 900.000 erhaltenen oder<br />
neu geschaffenen Arbeitsplätzen pro Arbeitsplatz 55.000 Mark an Steuergeldern gekostet haben,<br />
wird die Frage erlaubt sein, wie viele selbstorganisierte Arbeitsplätze in kollektiven<br />
Alternativbetrieben mit diesem Geld hätten geschaffen werden können."<br />
Das langsame Eindringen der Alternativ-Bewegungen in die etablierten sozialen<br />
Versorgungssysteme und in die offiziellen Wirtschaftskreisläufe bestätigt die Theorie des<br />
Sozialwissenschaftlers Gerd Vonderach. Der Oldenburger Hochschullehrer entwickelte die<br />
inzwischen weithin anerkannte These, dass sich die alternative Schatten-Ökonomie "eine neue Art<br />
von Selbständigkeit" abzeichnet. Sie sei Resultat eines krisenhaften Strukturumbruchs und werde<br />
vor allem von jungen Menschen als Ausweg aus erschwerten Berufskarrieren und als Alternative zu<br />
den vorherrschenden Arbeitsrollen angestrebt. Ausgangspunkt und Wertorientierung der neuen<br />
Selbständigen, so Gerd Vonderach, unterschieden sich von den Selbständigen bisheriger Art.<br />
Denn, so seine Analyse, die meisten neuen Selbständigen fänden weder durch ererbten Besitz oder<br />
familiäre Tradition noch in professioneller Weise zur selbständigen Existenz. Ihre Arbeit sei<br />
einerseits für sie ökonomisch notwendig, andererseits aber Ausdruck ihres Versuchs,<br />
selbstbestimmte und unentfremdete Arbeits- und Lebensformen zu entwickeln. Vonderach: "Der<br />
neue Selbständige ist einerseits engagiert und ernsthaft, andererseits spielerisch und experimentell.<br />
"So kennt er für seinen Job im Vergleich zur bürgerlichen Gesellschaft nur eine geringe<br />
Professionalisierung, in den seltensten Fällen eine diplomierte Qualifikation für seinen Beruf.<br />
Gleichwohl kann er auf ein meist überdurchschnittliches Schul- und Ausbildungsniveau verweisen.<br />
Berufliche Fertigkeiten lernt er erst bei der Arbeit.<br />
Eigenschaften dieser Art lassen wohl kaum auf eine Sorte Mensch schließen. Die teilweise<br />
ganz vollzogene Abwendung von den erwerbswirtschaftlichen, bürokratischen Arbeitsformen und -<br />
inhalten ebnet vielmehr im alltäglichen Leben die Chance zur Selbstverwirklichung und zur<br />
Sinnvermittlung. So glaubt Vonderach, dass de oder Selbständigkeit "als eine praktische Dominanz<br />
des kulturellen Selbstentfaltungsanspruchs über die Effektivitätsprinzipien der vorherrschenden<br />
berufswirtschaftlichen Sphäre" verstanden werden sollte.<br />
Dennoch zwingt die chronische Unterkapitalisierung und schwache Konkurrenz-Situation<br />
viele neue Selbständige zu Kompromissen zwischen ihren Ansprüchen und der wirtschaftlichen<br />
Realität. So fließen die Grenzen vom informellen Schattensektor zum formellen Absatzmarkt<br />
nahtlos ineinander über - ein ökonomisches Spektrum, das von Eigen- und Gemeinschaftsarbeit<br />
bis hin zur Geld- und Erwerbswirtschaft reicht. Dessen ungeachtet sind die Weichen in Richtung<br />
eines zweigeteilten Wirtschaftssystems in Deutschland längst gestellt. Die alternative<br />
Schattenwirtschaft bildet den Ausgangspunkt.<br />
Sie verkörpert schon heute einen Gegenbereich der dezentralen Produktion und<br />
Versorgung, der sich von der zentralen Großtechnologie und Bürokratie abhebt. Für Jugendliche,<br />
die offiziell arbeitslos sind, ohne je gearbeitet zu haben, ist er zumindest zeitweilig eine Art<br />
93
Auffangbecken. Für ältere Menschen, die aus dem Berufsleben ausgesiebt worden sind, könnte die<br />
alternative Schattenwirtschaft ein Übergangsstadium bis zur Pensionierung sein. Ganz im Sinne<br />
eines abgewandelten Zitats von Emile Durkheim (französischer Soziologe, Ethnologe<br />
*1858+1917), der schon 1895 notierte: "Wäre es auch richtig, dass wir gegenwärtig unser Glück in<br />
einer industriellen Zivilisation suchen, so ist es keineswegs gewiss, dass wir es später nicht<br />
anderwärts suchen werden."<br />
9 4
1984<br />
Betrogene Betrüger: größtes journalistisches Gaunerstück<br />
Voilà, das ist Monsieur Möllemann (*1945+2003)<br />
95
BETROGENE BETRÜGER - GRÖßTE JOURNALISTISCHE<br />
GAUNERSTÜCKE ALLER ZEITEN<br />
Die Haupt-Akteure :<br />
Henri Nannen (*1913+1996) war der Hans Albers des deutschen Journalismus. Ein<br />
Mann der Legenden nicht nur auf der Reeperbahn nachts um halb eins; mit verbrannter Erde sein<br />
Leben bestrittenn<br />
Peter Koch (*1938+1988) wollte bedeutend werden, hatte Rasierklingen an den<br />
Ellenbogen. Es reichte nur zur Fußnote einer Stern-Skandalgeschichte. Mit 1,5 Millionen Euro<br />
Abfindung nach Hause geschickt<br />
Thomas Walde war einer der fundiertesten Journalisten im deutschen Blätterwald; verlor<br />
im Sog der Sensationen den Überblick. Tragisch. Opfer des Hamburger Presse-Milieus<br />
Gerd Heidemann ein Mann mit Nazi-Affinitäten, Nazi-Lieder, Göring-Maskerade und<br />
einer Ehefrau mit BDM-Frisur: hoch gepokert, alles verloren - in den Knast eingefahren. Vom<br />
Star-Reporter zum Sozialhilfeempfänger<br />
Die sogenannten Hitler-Tagebücher und ihre Veröffentlichung in der Hamburger<br />
Illustrierten stern gilt als einer der größten Skandal in der Geschichte der deutschen<br />
Presse, als Paradebeispiel für Scheckbuch-Journalismus. Der stern hatte für 4,65 Millionen<br />
Euro 62 Bände gefälschter Tagebücher erworben. Auf einer Pressekonferenz kündigte<br />
Chefredakteur Peter Koch an, "große Teile der deutschen Geschichte müssen<br />
umgeschrieben werden". Beschaffer, Gerd Heidemann, ließ sich in Siegerpose zu einem<br />
"Victory"-Zeichen hinreißen. Welterfolg.<br />
Gerd Heidemann musste wegen Unterschlagung eine Haftstrafe von vier Jahren<br />
und acht Monaten Haft antreten; lebt seither von Sozialhilfe. Konrad Kujau (*1938+2000)<br />
wurde durch seine Fälschung populär und gleichfalls wegen Betrugs mit vier Jahren und<br />
sechs Monaten Freiheitsentzug belegt. Aufgrund seiner Kehlkopf-Krebserkrankung<br />
verbüßte Kujau lediglich drei Jahre Haft. Er starb im Jahr 2000.<br />
Chefredakteur Peter Koch trat von seinem Amt zurück - notgedrungenerweise. Er<br />
ließ sich für sein Tagebuch-Abenteuer mit einer stattlichen Abfindung in Höhe von 1,5<br />
Millionen Euro belohnen. Als neuer Blattmacher im Springer-Verlag scheiterte Peter Koch<br />
mit seiner Illustrierte "Ja" abermals. Sie musste schon nach wenigen Ausgaben wegen<br />
mangelnder Auflage und wirtschaftlichen Misserfolges eingestellt werden. Er starb im<br />
Alter von 50 Jahren 1989 auf seinem Landsitz in Florida an Krebs.<br />
Auftritt, Rhein-Main-Illustrierte, Frankfurt a/M vom 3. September 1984<br />
Es war einer jener seltenen Sommertage, der die Gemüter ungeahnt vibrieren lässt. Im<br />
klinkerverputzten Hamburg, der Hochburg des Hochmuts, kriechen die Bürger aus ihren Burgen.<br />
Der Volkspark wimmelt voller euphorischer Menschen samt lebenslustiger Hunde. Auf der<br />
Außenalster ziehen Segelboote ihre beschaulichen Schleifen. Und in der Fabrik rockt Ulrich Klose,<br />
damals Regierungschef der Hansestadt (1974-1981), in Udo Lindenbergs Aufbruch-Stimmung<br />
hinein - ("Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt und sonst gar nichts").<br />
9 6
Nur am Ausschläger Elbdeich plätschert das Wochenende eher freudlos vor sich hin.<br />
Genauer gesagt auf der "Carin II", einer Privatjacht, die dem stern-Journalisten Gerd Heidemann<br />
gehört. Heidemann, auch Gerdsche genannt, zählt allseits unbestritten zu den hochkarätigen<br />
Rechercheuren der Illustrierten - und das schon seit mehreren Jahrzehnten. Eben der<br />
"hartnäckigste, raffinierteste Reporter Deutschlands, der zäheste Spürhund, der sich überhaupt<br />
denken lässt". Eben ein klassischer Karriere-Mann, der sich während seiner Laufbahn nicht einmal<br />
eine Gegendarstellung, keine Klage, keinen Prozess einhandelte, wie der stern großspurig kundtat.<br />
An diesem Wochenende im Jahre 1978 hockt der stern-Star ein wenig gelangweilt in<br />
seinem Schiffssalon. Ihm missfällt jeder Stillstand, jede Minute, die Heidemann mit Heidemann zu<br />
konfrontieren droht. Er hasst erst recht jeden Urlaub, den er immer wieder als eine "empfindliche<br />
Strafe" wahrnimmt. Ferien zu machen, auszuspannen, das hieße ja, von der nahezu manischen,<br />
ureigensten Besessenheit, vom rasenden Fanatismus abzuschalten, sei es auch nur für ganze sechs<br />
Wochen. Wenn innere Ruhe als Bedrohung empfunden wird ...<br />
Aus dem Bord-Kassettenrecorder scheppert stattdessen der Radetzky-Marsch,<br />
Heidemann, in der Prachtuniform des Reichsmarschalls Hermann Göring (*1893+1946), wartet<br />
auf seinen Erbseneintopf. Das Ambiente um ihn herum: Göringsches Tafelsilber, Göringsche<br />
Aschenbecher. Selbst die Kissenbezüge stamme aus Görings Bademantel. In der Kombüse bekocht<br />
ihn Gina. Natürlich hat Gina wasserblaue Augen, ist groß wie blond, eine Frau, die an Lebensborn<br />
wie Rassenglück erinnert, an jene vollends entgeisterten Arierinnen, die den Führer ein Kind<br />
schenkten; alsbald darf Gina sich dennoch Frau Heidemann IV. nennen. Szenen wie aus<br />
Hollywood, nur mit dem kleinen Unterschied, dass derlei Anwandlungen im Hamburg der siebziger<br />
Jahre irgendwo auf einem Kahn im Wasser der Wirklichkeit entsprachen.<br />
Keine anderen als der ehemalige Waffen-SS-General und unbelehrbare Verteidiger der<br />
Reichskanzlei Wilhelm Monke (*1911+1977) wie auch der frühere Waffen-SS- General und<br />
Himmler-Intimus Karl Wolff (*1900+1984) werden in wenigen Wochen später die Heidemanns als<br />
Trauzeugen zum Standesamt eskortieren. Wolff, ein Nazi-Karrierist und Scherge, der wegen<br />
Ermordung von 300.000 Juden zu fünfzehn Jahren Zuchthaus verurteilt worden war. Wolff, den<br />
Heidemann stets als "Wölfchen" liebkost; einfach, weil er doch so "ein netter Mann ist".<br />
Die "Carin II" - das war einmal Görings Schiff. Im Jahre 1937 bekam er es im Werte von<br />
1,3 Millionen Reichsmark von der Automobilindustrie geschenkt. Im Jahre 1973 kaufte es<br />
Heidemann im ziemlich verrotteten Zustand einem Bonner Druckerei-Besitzer für immerhin<br />
160.000 Mark ab. Zwischenzeitlich diente es unter dem Namen "Prince Charles" dem englischen<br />
Königshaus als Prominentenjacht. Die "Carin II" - sie wurde zu Heidemanns Refugium. Eine tief<br />
verwurzelte, emotionale Heimstatt, für die er sein Haus veräußerte, für die er sich bei der<br />
Deutschen Bank wegen der immensen Renovierungskosten sogar um 300.000 Mark verschuldete<br />
(Kontonummer: 521.815.101)<br />
Eine Affinität, die Heidemann geschickt mit Geschäftsinteressen oder "zeitgeschichtlichen<br />
Nachforschungen" zu kaschieren wusste, aber tatsächlich bereits im Jahre 1945 ihren nachhaltig<br />
prägenden Ausgangspunkt nahm. Damals war Gerd Heidemann gerade dreizehn Jahre alt, als die<br />
aus Holland zurückbeorderte Panzer-Division "Hitler-Jugend" in Dorfmark am Rande der<br />
Lüneburger Heide ihm das Zerlegen von MGs und Schießen beibrachte, Pimpf Heidemann mit<br />
"feucht-glänzenden Augen" zu den 17jährigen Waffen-SS-Männern aufblickte.<br />
Auf diesem Geisterboot schuf Gerd Heidemann sich nach all den verwirrenden<br />
Verirrungen eines Reporterlebens seine Wirklichkeit; die der Nazis ("Kamerad-weißt-du-noch"), die<br />
97
der Waffenhändler, Neofaschisten und Geheimdienstagenten. Allesamt gingen sie auf der "Carin<br />
II" liebend gern ein und aus. Saufgelage, Weiber, Blutfahne, Fressplatten vom Hotel<br />
Intercontinental mit Lachs- und Kaviarschnittchen samt Reh-rücken-Filet, Nazi-Lieder, Göring-<br />
Maskerade, Görings Lokusschüssel und natürlich der lallende Eintrag ins Heidemann'sche<br />
Bordbuch. Der Starreporter auf Recherche, auf Rechnung des stern selbstverständlich.<br />
Auf diesem Kahn, der traumatisch minutiös jenes braune Despoten-Dasein aktualisiert,<br />
fand Heidemann endlich seinen ersehnten Platz, seine NS-beseelte Genugtuung oder<br />
Anerkennung, seine menschlichen Bezugspunkte. Gerd Heidemann war richtig angekommen, er<br />
konnte sich allmählich zu dem häuten, der er schon immer war. Ein autoritätshöriger,<br />
enthusiastischer Verehrer überlebensgroßer Männer", hart wie Stahl und mit eisenbeschlagenen<br />
Schuhabsätzen - hießen sie nun SS-Wolff, SS-Mohnke, Schlächter Barbie in Lyon, Stern-Nannen<br />
oder Stern-Koch. Wer auch immer von den drahtigen "Mustermännern" sein Gegenüber war.<br />
Heidemanns Hingabe bestand aus winselnder Abhängigkeit.<br />
Mit den Hitler-Tagebüchern, dem bislang umfangreichsten Fälschungswerk der<br />
Geschichte, wollte Heidemann zum Gröraz, zum größten Reporter aller Zeiten werden. Neun<br />
Millionen Mark (4,65 Millionen Euro) blätterte der Verlag Gruner + Jahr für Konrad Kujaus<br />
Falsifikate hin, auf etwa 20 Millionen Mark beläuft sich der Gesamtverlust. Es war der letzte<br />
Versuch eines ausgebrannten Reporters, dem drohenden Rausschmiss mit dem "Bravourstück"<br />
doch noch die entscheidende Wende zu geben, der Weltöffentlichkeit nach konspirativer Vorarbeit<br />
eine Weltsensation zu präsentieren, den "größten journalistischen Scoop seit Watergate" (politische<br />
Vertrauens- und Verfassungskrise in den Vereinigten Staaten von 1972-1974).<br />
Denn vor nichts zitterte der damals 49jährige Heidemann mehr als vorm stern, der<br />
größten deutschen Illustrierten (Auflage: 1,49 Millionen), den Fußtritt zu kassieren. Schon längst<br />
hatte er nicht mehr die Leistungskraft früherer Jahre, Schulden plagten ihn, Pfändungsbescheide<br />
flatterten ins Haus. Das, was Heidemann darstellte oder hermachte, verdankte er ausschließlich<br />
seiner Illustrierten. Ihr verschrieb er sich, von ihr ließ er sich enteignen. Sie ermöglichte ihm den<br />
einzigartigen Aufstieg vom Elektriker zum First-Class-Jetset, sie machte ihn x-beliebig gefügig,<br />
bestimmte durchschlagend seine Höhen und Tiefen. Heidemann merkte nicht, dass dieser Stern<br />
ihn hingerichtet hat, Stück um Stück mehr in den Wahnsinn trieb, seine Glanz- und<br />
Glimmerexistenz nicht mehr als ein beklagenswerter Trümmerhaufen war.<br />
Die gefälschten Hitler-Tagebücher verletzten bekanntlich ja nicht nur das geschichtliche<br />
Bild der Deutschen samt ihrer Millionen-Opfer. Sie sind gleichfalls Ausdruck eines beispiellosen<br />
Grenzgänger- oder Scheckbuch-Journalismus, der die Fronten zwischen Reportern, V-Leuten und<br />
Agenten gefährlich verwischt, folgerichtig in Medien-Exzessen endet. Die Käuflichkeit von<br />
Nachrichten wie Informanten zählt seit zwanzig Jahren in den internen Redaktionsabläufen zur<br />
bewährten Praxis - und dies ausnahmslos, ob Spiegel, Focus, Stern, oder auch Bunte; vom<br />
Privatfernsehen um RTL und SAT 1 ganz zu schweigen.<br />
Gewiss ohne Heidemanns "Beschaffung" hätte der stern Hitlers Tagebücher wohl kaum<br />
drucken können. Doch seine Lebens - wie Reporter-Geschichte ist ohne Henri Nannen so nicht<br />
denkbar und der stern ohne Nannen ebenfalls nicht. In Wirklichkeit sitzen vor dem Hamburger<br />
Landgericht neben Heidemann/Kujau die verantwortlichen Manager und Chefredakteure auf der<br />
Anklagebank. Es sind Spitzenverdiener eines "maroden spätkapitalistischen<br />
Monsterunternehmens", die den Führer in der Öffentlichkeit wie eine Delikatesse servierten,<br />
schrieb Ex-Autor Erich Kuby (*1910+2005) in seinem Buch, "Der Stern und die Folgen". Ob<br />
hemmungslose Profitgier oder kaltschnäuzige Knüller-Mentalität, "die wöchentliche Aufschneiderei<br />
9 8
is eben hin zur Fälschung", bemerkt der einstige Nannen-Stellvertreter Manfred Bissinger, "sei der<br />
eigentliche Nährboden gewesen, in diesem Klima konnte Heidemann gedeihen."<br />
Dieser stern, der sich seinen Lesern mit einfühlsamen Sozialreportagen, mit Serien gegen<br />
Berufsverbote, Militarismus, Folter, Rüstungswahn empfiehlt, in diesem stern spielte Henri<br />
Nannen "das Schwein", um den stern zu retten" (Nannen über Nannen). Er beritt Frauen nach<br />
Lust und Laune; alle staunten, tuschelten und schauten weg. Er bürstete seine verängstigten<br />
Mitarbeiter menschenverächtlich ab, furzte in den Konferenzen herum, ließ seine Leute im<br />
Gestank schmunzelnd strammstehen. Er feuerte oder heuerte Redakteure von einer Minute zur<br />
anderen. Wer aufmuckte - gegen den "Hans Albers des Journalismus"- der bekam in späteren<br />
Jahren nicht etwa den neureich als TV-event aufgemotzten "Henri-Nannen-Preis", sondern nicht<br />
selten Hausverbot - postwendend. Und wer gar zaghafte Schwäche zeigte, den beutelte er oft<br />
genüsslich bis zur Selbstaufgabe. Sie hießen Peter Heinke, Wolfgang Barthel oder auch Paul-Heinz<br />
Kösters - sie schieden alle - über kurz oder lang, Jahre hin, Jahre her - freiwillig nicht nur vom stern<br />
- aus ihrem Leben. Ein Redakteur um die 50 Jahre alt, flehte ihn weinend an, ihn doch wenigstens<br />
erst in einem Jahr zu feuern, wenn sein Sohn das Studium beendet habe. Fehlanzeige. Dieser<br />
"perfekte", "radikale Opportunist", wie Erich Kuby ihn charakterisierte, der sich bei Nannen<br />
immerhin 16 Jahre verdingte, prügelte sein Blatt mit Bauch und Geruchssinn zum einsamen Erfolg;<br />
zu acht Millionen Lesern wöchentlich.<br />
Unter Nannens Ägide brodelte ein Klima, das in Kasernen oder Gefängnissen den<br />
zermürbenden Alltag durchdringt.<br />
Eine luxuriöse Psycho-Folter, der sich kaum einer entziehen kann, der auch nur halbwegs<br />
in diesem Haifischbecken überleben will. Der einstige Stern Reporter Kai Hermann trat ihm<br />
jedenfalls vor Zorn im Jahre 1978 die Glastür ein, weil er sich der Auflage willen wieder einmal<br />
über eine Absprache hinweggesetzt hat und das Konterfei der Christine F. ("Wir Kinder vom<br />
Bahnhof Zoo") fast identifizierbar auf den Titel pustete. Dem Triebtäter Nannen folgte der<br />
Kompaniefeldwebel Peter Koch, der Mann "mit den Rasierklingen an den Ellenbogen".<br />
Diese "deutschen Großhans-Arroganten" stapften gut gelaunt über Leichen. Was macht<br />
es schon es da schon, wenn sich eine Redakteurin vor beruflicher Ohnmacht ihre Pulsadern<br />
aufritzt, quasi in letzter Minute gerettet wird. Ein Bonner Korrespondent sich aus dem Fenster<br />
stürzen will, weil er dem "Leistungsknüppel" nichts mehr entgegen zu setzen hatte, nunmehr als<br />
Bonner Frührentner sein Leben mit Hilfe der Anonymen Alkoholiker meistert. Ein anderer, der<br />
den einjährigen Aufenthalt in der psychiatrischen Klinik regelrecht als "Befreiung" feiert, ein<br />
weiterer mit 40 Jahren ins Gras beißt, weil der dem Stress nicht mehr standhielt und sich zu Tode<br />
soff. Was macht es da schon, wenn der frühere "stern"-Reporter Karl Robert Pfeffer in Beirut,<br />
Hans Bollinger und Wolfgang Stiens am Victoria-See in Uganda erschossen werden. Ihre Leichen<br />
geben zumindest soviel her: eine hautnah erlebte Illustrierten-Story mit faktenreichem<br />
Betroffenheit-Habitus, von der Nannen schon längst geträumt hatte - im doppelseitigen,<br />
Vierfarbformat versteht sich.<br />
Für die stern-Oberen ist die Welt, ist jedermann käuflich, alles verfügbar, der ganze<br />
Erdball ein einziger Puff; Spesen selbstverständlich qua Ersatzbeleg für "Übersetzungskosten".<br />
Bekanntlich 9,34 Millionen für die Tagebücher, 100.000 Mark für die degoutante Serie über<br />
Marianne Bachmeier (*1950+1996 - sie hatte im Gerichtssaal den mutmaßlichen Mörder ihrer<br />
Tochter erschossen), ganze 80.000 Mark für den Kronzeugen gegen den KGB, 250.000 Mark für<br />
Beckenbauer, 125.000 Mark für Jimmy Carter usw. usf. Und einen Chefredakteur Peter Koch, der<br />
sich seine Tapeten fürs neue Haus im Villenvorort Övelgönne an der Elbchaussee aus New York<br />
99
einfliegen lässt, ansonsten aber die Erster-Klasse-Flüge als nicht standesgemäß pfeift. Stattdessen<br />
lieber wie der Serienheld Lord Carrington aus dem Soap Denver-Clan mit einem Lear-Jet andere<br />
Länder beglückt. So mal eben nach Madrid (Kostenpunkt 18.000 Mark), vier gestotterte Fragen an<br />
den damaligen Ministerpräsidenten Felipe Gonzalez (1982-1996), dann zum Spanferkel-Menu,<br />
zwischendurch einen kleinen Fick. Schließlich wieder nach Hamburg in die Redaktion, um die<br />
"Faulenzer" zusammenzuscheißen, "weil der stern kein Mädchen-Pensionat, keine Invalidenstation<br />
und kein Sozialwerk ist."<br />
Gerd Heidemann jedenfalls war die Anti-Figur zum lauten Möchtegern-Reporter. In<br />
seinem meist blauen Anzug mit Tüchlein und dem ewigen Seminargesicht hätte er auch gut einen<br />
gestandenen Abteilungsleiter im Supermarkt an der Hamburger Alster abgeben können. Ein<br />
zurückhaltender Typ, leise, gleichmütig, bescheiden. Heidemanns Kapital: er hat eine ausgeprägte<br />
Nase für die Schwächen anderer. Sein Risiko: Wenn er sich voll mit seiner jeweiligen Rolle<br />
identifiziert, kann er nicht mehr auf Distanz gehen - weder zu seiner Maske noch zu dem<br />
Gesprächspartner. Die Gedankenwelt muss er sich erarbeiten. Denn er ist derjenige, der täuscht,<br />
manipuliert, reinlegt.<br />
Zwei klassische Szenen aus dem Arsenal der stern-Recherche. Gemeinsam mit Thomas<br />
Walde, Ressortchef Zeitgeschichte, er promovierte über die Nachrichtendienste, reist Heidemann<br />
zum angeblichen Fundort der Tagebücher nach Börnesdorf in der damaligen DDR. Dort war zu<br />
Kriegsschluss die Junker Ju 352 abgestürzt, die vermeintliche Aufzeichnungen Hitlers nach<br />
Berchtesgaden in Sicherheit schaffen sollte. Heidemann:<br />
Doktor Walde und ich flogen am 14. November 1980 nach West-Berlin, übernachteten im<br />
Hotel 'Schweizer Hof' und fuhren am nächsten Morgen vom Bahnhof Zoo mit der S-Bahn zum<br />
Bahnhof Friedrichsstraße." In Ost-Berlin warteten bereits zwei Agenten des Ministeriums für<br />
Staatssicherheit (MfS) auf die stern-Leute. Der Tag schließt mit einem "fürchterlichen Besäufnis,<br />
denn wir hatten zwei Flaschen Whisky mitgebracht. Als erster kippte ein Stasi-Mann um, donnerte<br />
mit dem Kopf an die Heizung. Heidemann weiter: "Doktor Walde und ich gingen dann noch<br />
einmal in die Hotelhalle. Inzwischen war Walde so voll, dass er Dummheiten machte. Er klappte<br />
seinen Kugelschreiber auf, in dem ein Namens-stempel war, und drückte seine volle Adresse auf<br />
die Meldezettel und auf den Empfangstresen an der Rezeption. Die Sache war nicht ungefährlich -<br />
denn die MfS-Leute hatten uns gar nicht angemeldet."<br />
Am nächsten Morgen mit dicken Kopf und ein paar Alka-Seltzer-Tabletten intus in<br />
Börnesdorf. Heidemann stellte sich dem Dorfbewohner Göbel als Neffe des Bruchpiloten Liebig<br />
vor. Um die Bewohner gesprächig zu machen, verteilte er westdeutschen Kaffee. Am Grabe seines<br />
"Onkels" legt er bedächtig mit ernster Miene Blumen ans Kreuz.<br />
Für Übervater Nannen ist Heidemann sein ausgemachter Lieblingsreporter, mit dem er<br />
sich duzt. Denn kaum einer wie Heidemann hat Nannens handwerklichen Rat so beherzigt: "Ein<br />
Reporter, der keine Frauen aufreißt, ist kein richtiger Reporter." Und Heidemann reist und reißt.<br />
Kaum kehrte von seinen Ausflügen zurück, musste er dem grunzenden Nannen unverzüglich<br />
Bericht erstatten. Hier mit Etta Schiller gebumst, dabei sogar das Tonband laufen lassen. Frau<br />
Schiller trennte sich gerade vom damaligen Wirtschaftsminister Karl Schiller (*1911+1994,<br />
Bundesminister für Wirtschaft 1966-1973) zu Beginn der sozialliberalen Koalition im Jahre 1972.<br />
Etta Schiller war verzweifelt, suchte Halt. Heidemann lieferte Halt mit Tonband- Aufzeichnungen<br />
aus dem Bett. Schlagzeile im stern: "Kabale und Hiebe". Dort mit Edda Göring geschlafen, um das<br />
Mokkaservice vom Reichsfeldmarschall abzustauben. Immer schauspielerte Heidemann dieselbe<br />
1 00
Masche mit überhöflichem Getue. "Dürfen wir stören?" - "Aber wir wollen Ihnen keine Umstände<br />
machen." - "Das ist aber sehr freundlich von Ihnen." - "Dürfen wir wieder vorbeischauen."<br />
Nur auf fernen Kontinenten kehrt er den "Fremdenlegionär" heraus. stern-Reporter<br />
Peter-Hannes Lehmann, der am liebsten in englischen Militärhemden herumläuft, schildert ein<br />
Erlebnis mit seinem Kumpanen Gerd: "Als es in Guinea-Bissau plötzlich krachte, haben wir uns<br />
hinter einen Termitenhaufen geworfen. Es war kein Feind zu sehen. Nur wildes Geschieße.<br />
Während ich mich so flach wie möglich machte, fluchte Gerd: "Scheiße, hier gibt's ja nichts zu<br />
fotografieren, überhaupt kein Motiv." Dafür spätestens aber am Abend in Mombasa. Da holt<br />
Heidemann sich drei "Negerweiber" aufs Hotelzimmer, stellt sie unter die Dusche, hantiert mit<br />
dem Selbstauslöser. Ist es etwa Rassismus, vielleicht lästiger Hormon-Überschuss oder was treibt<br />
ihn immer wieder in derlei Abenteuer? Ab welchem Punkt wird journalistische Besessenheit<br />
krankenscheinpflichtig?<br />
Die stern-Redaktion, die im Verlag als arrogant gilt, arbeitete immerhin über dreißig Jahre<br />
mit ihm zusammen. "Immer, wenn es brenzlich wird, muss Gerd Heidemann ran. Immer, wenn's<br />
ums Bescheißen geht." Heidemann hingegen ist nicht der einzige im stern, der Nazi-Trophäen<br />
sammelt. Einige Kollegen hatten schon vor ihm mit diesem einträglichen Geschäft begonnen. Stolz<br />
zeigt Heidemann ihnen seinen SS-Ehrendolch, wandert damit von Stockwerk zu Stockwerk.<br />
Dieser stern, der stets so viel Wind ins Land pustet, wenn er den Mächtigen der Republik<br />
angebliches Fehlverhalten nachweisen will, für diesen linksliberalen aufgeklärten stern ist der rechts<br />
gestrikte Heidemann "übergroß". Wo war die angeblich so selbstbewusste Redaktion, als nach der<br />
merkwürdigen ZDF-Fernsehsendung Peter Koch alle Skeptiker, veritable Historiker, die an der<br />
Echtheit der Hitler-Tagebücher arge Zweifel hegten; sie coram publico als Dummköpfe, Fälscher<br />
und Neider bezeichnete? Am nächsten Morgen saßen sie einträglich im Konferenzraum<br />
zusammen, jubelten ihrem Chef-Koch für die Meisterleistung zu. Endlich eine Sensation, endlich<br />
wieder in aller Munde. Ganz nach dem Motto: "Was so teuer ist, kann nur echt sein."<br />
Geldgier mit ein gegerbten Parvenü-Allüren hatten bei allen Beteiligten am Unternehmen<br />
"Grünes Gewölbe" jäh den Verstand ausgeschaltet. Heidemann wurde vorab 1,5 Millionen<br />
zugesagt, Walde sollte mit 560.000 Mark beteiligt werden, Co-Autor Leo Pesch rechnete sich Extra-<br />
Gagen in Höhe von 280.000 Mark aus. Kritische Einwände, es könne doch gar nicht möglich sein,<br />
dass Hitler sich bei solch einem Konvolut seiner Aufzeichnungen (60 Bände) nicht einmal<br />
verschriebe, konterte Dr. Walde mit der Bemerkung: "Unser Führer verschreibt sich nicht."<br />
Für die Konzernspitze war es ein sinnliches Erlebnis, ein Hitler-Tagebuch in den Händen<br />
zu halten. Ganz egal, was sie auch verhökert, Bananen, Autos oder ein Magazin, Geld muss es<br />
bringen. Auszug aus Bissingers Buch, Hitlers Stern-Stunde-Kujau, Heidemann und die Millionen:<br />
"Am 9. März 1981 bekam das Unternehmen Grünes Gewölbe einen neuen Mitwisser.<br />
Manfred Fischer (*1934 +2002), damals Vorstandschef von Gruner + Jahr, fuhr zu einer Sitzung<br />
der Konzernzentrale nach Gütersloh. Dort traf er seinen Boss, den Inhaber, Noch-<br />
Vorstandsvorsitzenden und designierten Aufsichtsratsvorsitzenden von Bertelsmann, Reinhard<br />
Mohn (Konzernumsatz: 6,04 Milliarden Mark jährlich). Der wollte Fischer an seinem sechzigsten<br />
Geburtstag am 29. Juni zu seinem Nachfolger machen. Fischer bat um ein Gespräch unter vier<br />
Augen.<br />
Das Sekretariat wurde angewiesen, keinen Besucher vorzulassen, dann zog Fischer<br />
Heidemanns Dossier aus der Aktentasche und legte es 'durchaus ein bisschen stolz' dem<br />
Bertelsmann-Boss vor. Mit dem Finger fuhr er über die Aussage von Hitlers Chefpilot Baur, in der<br />
101
von wichtigen verlorenen Dokumenten die Rede war. 'Die haben wir jetzt gefunden.' Fischer langte<br />
wieder in seine Tasche und legte mehrere Hitler-Tagebücher auf den Tisch. 'Das sind die<br />
Tagebücher'. Hier sind sie.' Mohn nahm die Kladden in die Hand, 'war fasziniert' und sagte:<br />
'Ungeheuer Manfred!' Und dann fielen die Sätze, die später die Runde machten: "Das ist das<br />
unglaublichste Manuskript, das je meinen Schreibtisch passiert hat. Das ist die Sensation des<br />
Jahrhunderts. Es ist unglaublich, wenn es stimmt.'<br />
Tatsächlich entsprach nach Geldforderung wie such nach Heidemann Auftreten präzis<br />
dem Befund, den sich die Herren aus dem provinziellen Gütersloh über einen Hamburger<br />
Journalisten gezimmert hatten. Heidemann erhält blind jede Summe, die er will. Als zum Beispiel<br />
am 27. Januar 1981 die Banken schon geschlossen haben, Heidemann hingegen die erste Rate in<br />
Höhe von 200.000 Mark anfordert, muss Vorstandsmitglied Peter Kühsel die Summe am<br />
Spätschalter des Hamburger Flughafens lockermachen. In den folgenden Jahren kassiert<br />
Heidemann in regelmäßigen Abständen zwischen 200.000 bis 900.000 Mark. Über das Geld kann<br />
er quasi verfügen, wie er will, Rechenschaft fordert niemand von ihm.<br />
"Auch in den letzten Wochen vor dem Auffliegen der Fälschung", heißt es in der Sterninternen-Klug-Untersuchungskommission,<br />
"ist der Mythos von der Echtheit der Tagebücher im<br />
Ressort Zeitgeschichte noch so stark, dass man sich sagt, selbst wenn Heidemann in psychiatrische<br />
Behandlung müsse, dann aber erst nach der Beschaffung der letzten fehlenden Stücke." Als die<br />
Hitler-Sondernummer in der stern-Grafik ausgelegt war, griff Gerd Heidemann feist zum<br />
Telefonhörer, wählte eine Nummer in Südamerika. Er tat so, als telefonierte er mit dem Hitler-<br />
Vertrauten Bormann, der bereits nach stern-Recherchen nach-weislich nicht mehr lebt.<br />
Heidemann: "Martin, wir haben zwölf Doppelseiten." Und Kujau erinnerte sich an folgendes<br />
Erlebnis: "Plötzlich stand er auf, stützte seine Hände auf den Schreibtisch und fragte: "Konni<br />
glaubst du, Hitler ist im Himmel? ... "<br />
Nach einem Jahr Untersuchungshaft recherchierte Gerd Heidemann aus dem Gefängnis<br />
heraus jedenfalls eine völlig neue, unerwartete Spur. Die endgültige Story über den Ort, an dem<br />
Jesus Christus begraben wurde. Bislang hat Gruner + Jahr die Weltrechte noch nicht gekauft.<br />
102
"VOILÀ, DAS IST MONSIEUR MÖLLEMANN" (*1945<br />
+2003) - SEIN UND SCHEIN DEUTSCHER POLITIK-ELITE<br />
Er passte sich an. Er verhielt sich servil nach oben. Und er redete schnodderig<br />
über die Kleinen hinweg. Er stand früh auf und trat forsch auf. Er war pausenlos aktiv,<br />
ohne sich um Inhalte zu kümmern. Er stand für viele deutsche Karrieristen im<br />
Politikgeschäft. Rasant verlief sein Aufstieg nach oben; Bundestagsabgeordneter,<br />
Staatsminister im Auswärtigen Amt, Bildungs- und Wirtschaftsminister, Vizekanzler der<br />
Republik etc. Eine politische Bilderbuch-Karriere, die am 5. Juni 2003 mit seinem<br />
Fallschirm-Todessprung jäh endete. Hintergründe waren undurchsichtige<br />
Finanzgeschäfte, Verdacht auf Steuerhinterziehungen, Hausdurchsuchungen,<br />
Parteiausschluss aus der FDP. Der Name Möllemann geriet zu jener Zeit zu einem<br />
Synonym verbogener Charaktere in der Politik, die die Grenzen zwischen Legalität und<br />
Kriminalität überschritten hatten. - Der menschliche Sumpf und Tragödien deutscher<br />
Machteliten. Kurz vor seinem Tod hatte der Deutsche Bundestag seine Immunität<br />
aufgehoben. Frau wie Kinder hinterließ Möllemann ein Erbe von drei Millionen Euro<br />
Schulden. Er wurde auf dem Zentralfriedhof im westfälischen Münster bestattet<br />
Momentaufnahmen aus dem Möllemann-Leben.<br />
Der Spiegel, Hamburg vom 4. August 1984 - Nr. 39/ 1984<br />
An diesem Morgen greift Jürgen W. Möllemann etwas fahrig zum Radiowecker, der ihn<br />
exakt zehn Minuten vor den 6-Uhr-Nachrichten in die Wirklichkeit der Agentur-Meldungen aus<br />
aller Welt, der Bonn-Meldungen, der Möllemann-Meldungen zurückholt. Seine Hand gleitet über<br />
das Bettregal, auf dem die geladene Politiker-Pistole liegt, zum Radioknopf. Er dreht lauf auf.<br />
An diesem Tag vermelden die 6-Uhr-Nachrichten nichts Spektakuläres. Aber das ist es<br />
gerade, was Möllemann antreibt. Er wittert seine "Marktlücke", boxt sich konsequent in die<br />
Frühmagazine, "wo die doch zu Tagesbeginn eine unheimliche Faktennot haben und deshalb<br />
gerade die Geschichten aus Amerika bringen - wegen der Zeitverschiebung, versteht sich".<br />
Im Bademantel hastet er zum Telefon, wählt die Bonner Nummer 23 20 98. Für die<br />
Redakteure der Nachrichtenagentur ddp zählen die morgendlichen Möllemann-Anrufe schon zur<br />
Routine. Der Deutsche Depeschen Dienst gehört zu den kleineren Agenturen in der Bundeshauptstadt.<br />
Für Möllemann ist "dieser Laden besonders fleißig, weil er natürlich schwächer ist".<br />
"Hier Möllemann, guten Morgen Herr Schmidt, ich habe wieder was auf der Pfanne, was<br />
ihr gleich raus-jagen könnt. Sieht ja sonst ziemlich mau aus." Da bitte dann der Herr Schmidt um<br />
etwas Geduld, er schreibe gleich alles mit. Eine halbe Stunde später läuft alles über den Ticker.<br />
Das macht dem Politiker Möllemann Spaß, "denn man merkt, es geht. Da liegen doch die<br />
Politiker noch faul im Bett, dann muss ich schnell für die FDP eine Stellungnahme abgegeben, aber<br />
nicht 08/15. Meine Kollegen machen um sieben Uhr das Radio an, und schon hören sie wieder den<br />
Möllemann. Und die Partei sagt, Mensch, da hast du ja schon wieder. Da sag' ich, Mensch, was hab'<br />
ich denn gesagt? Da merke ich, die Leute hören Nachrichten".<br />
In der Fraktion ist er auch schon kritisiert worden, weil er morgens um sieben zum dritten<br />
Mal in drei Tagen über den Sender lief. Da hat sich der Lambsdorff (Bundeswirtschaftsminister<br />
1977-1984; FDP-Chef 19881993) zu Wort gemeldet und Möllemann verteidigt. Er finde es<br />
103
unmöglich, dass die Kollegen, die zu faul seien, einmal früh aufzustehen, den kritisierten, der fleißig<br />
arbeite, sich pressemäßig vernünftig verhalte. "Na gut", sagt Möllemann, "vielleicht habe ich<br />
manchmal auch zu dick gebuttert."<br />
So hat Möllemann schon in manchen Interviews einen Versuchsballon gestartet. Da<br />
erklärte er, noch in der sozialliberalen Regierungszeit, er sei dafür, Hans-Dietrich Genscher<br />
(Bundesaußenminister 1974-1992) zum Bundeskanzler zu machen. Denn die CDU hätte doch<br />
ihren Helmut. Nur Helmut zu heißen, reiche für den Kohl (19821998) im Kanzleramt auf Dauer<br />
sicherlich nicht aus.<br />
"Diese Meldung lief bombig, überall. Da hat Genscher mich hinterher angerufen und<br />
meinte, ich sollte doch nicht zu dick buttern, das würde uns nur in arge Schwulitäten bringen. Ich<br />
erwiderte, aber Herr Genscher, hören Sie mal, das war doch nur ein Vorschlag, ein<br />
diskussionswürdiges Denkmodell. Was die Journalisten daraus machen, dafür kann ich doch nicht.<br />
Nun ja, schließlich habe ich die Sache nicht weiter verfolgt."<br />
Wirbel zu entfachen, mit "Highlights" in aller Munde zu sein, das verschafft ihm lang<br />
ersehnte Anerkennung, das ist ihm allemal wichtiger als Kärrnerarbeit; ganz im Sinne des stoischen<br />
Philosophen Epiktet, den er für sich reklamiert: "Nicht die Tatsachen, sondern Meinungen über<br />
Tatsachen bestimmen das Zusammenleben."<br />
Und Meinungen hat er viele. Mal eben das Ende der sozialliberalen Ära in den Stenoblock<br />
diktieren, den damaligen israelischen Ministerpräsidenten Menachem Begin (*1913+1992) einen<br />
"Kriegsverbrecher" nennen, den Einmarsch sowjetischer Truppen in Polen "binnen zweier<br />
Wochen" prophezeien, von der Gefahr "eines neuen Weltkrieges" reden.<br />
Innerhalb von vierzehn Tagen jettet er um den halben Globus. Mal eben nach New York<br />
zum UNO-Generalsekretär, einen Abstecher nach Washington zum US-Verteidungsminister<br />
Caspar Weinberger (*1917+2006). Vom Pentagon direkt zu Fidel Castro (Regierungschef 1959-<br />
2006) nach Havanna, dann weiter nach Amman zu König Hussein (*1935+1999).<br />
Auf dem Rückflug nach Bonn-Wahn baut er auch noch eine Unterredung mit dem<br />
libyschen Staatschef Muam-mar el-Gaddafi in Tripolis ein, der prompt Möllemanns Einladung zum<br />
Besuch der Bundesrepublik akzeptiert.<br />
"Ein stärkeres Engagement bringt mehr Erfahrungen, mehr Bekanntschaften, mehr<br />
Wirkungsmöglichkeiten", erklärt er, "und ein bisschen muss man gewiss auf dem Klavier spielen<br />
können. Das ist ein ganz merkwürdiger Mechanismus. In dem Moment, wo ich mit PLO-Chef<br />
Jassir Arafat (*1929 +2004) geredet hatte, habe ich gesagt, jetzt will ich mit Gaddafi sprechen. Da<br />
hat er gesagt, da soll der Möllemann mal kommen."<br />
Oder Castro oder die amerikanische Regierung, das ergibt sich nacheinander. "Im Grunde<br />
genommen ist das wirklich ein Abenteuer. Die ganze protokollarische Behandlung, dass da also der<br />
Staatschef von Südkorea sowie Sambia draußen warten mussten, bis ich meine Gespräche beendet<br />
hatte. Die arabischen Gastgeber entschuldigten die Termin-Verzögerung höflich mit der<br />
Bemerkung, 'voilà, das ist Monsieur Möllemann aus der République fédérale d'Allemagne'. Das<br />
macht einem Spaß, das motiviert ungeheuer."<br />
An diesem Morgen gibt er dem "Frieden" eine Nachrichtenchance - eine Meldung, mit<br />
der er den Grünen den Wind aus den Segeln nehmen will. Einfach deshalb, weil er mit der<br />
Standardformel von "Effizienz und knall-harten Fakten", den Dreisprengkopfmittelstrecken-<br />
Raketen, Anti-Raketen-Raketen, Trident 2, SS 20, Pershing 2, ICBM-Raketen, Luft-Luft-Raketen,<br />
1 04
operativ-taktischen Raketen in den öffentlichen Diskussionen nicht mehr ankommt. "Möllemanns<br />
Vorschlag für Zone ohne Kernwaffen", lautet nunmehr seine Schlagzeile.<br />
Dabei handelt es sich um eine uralte FDP-Idee, die bereits Mitte der sechziger Jahre zur<br />
Parteiprogrammatik gehörte. Aber Möllemann weiß, wie man Nach-richten verhökert, wie man<br />
verstaubte, in der Sache längst überholte FDP-Propaganda als "brandneu" serviert, "wo doch die<br />
Politik ohnehin von Wiederholungen lebt."<br />
Um acht Uhr sitzt er mit seiner Frau Carola Möllemann-Appelhoff, einer Lehrerin und<br />
FDP-Rathaus-Politikerin in Münster, am Frühstückstisch, als seine "Auffassung über eine<br />
atomwaffenfreie Zone im Geltungsbereich der KSZE-Schlussakte von Helsinki" aus dem Radio<br />
dröhnt. In solchen Glücksminuten kann er sich gar nicht beruhigen, er klopft sich triumphierend<br />
auf den durchtrainierten Schenkel. "Carola", sagt er da, " der Tag beginnt. Bin wirklich gespannt,<br />
was der Dicke dazu meint."<br />
Die Ansichten des "Dicken", wie Möllemann seinen Parteivorsitzenden Hans-Dietrich<br />
Genscher nennt, durchdringen sein Seelenleben. Dieser Genscher bestimmt Höhen und Tiefen,<br />
bewirkt Euphorie oder Motivationsabfall. Ihm hat er sich unmerklich verschrieben, dem Ziehvater<br />
verdankt er so ziemlich alles, was aus ihm in Bonn geworden ist.<br />
Ohne Genscher wäre Möllemann ein Hinterbänkler geblieben. Genscher brachte ihn über<br />
den parteipolitischen Proporz-Anspruch ins Fernsehen, schickte ihn auf Erkundungs-fahrt um den<br />
Globus, ohne Genscher hätte Möllemann nie und nimmer in die Vermittlung von Arabien-<br />
Geschäften einsteigen können.<br />
Mit Genscher im Hintergrund schafft er das Entree, avancierte zum jüngsten<br />
Staatsminister der Regierung Kohl, zum Landesvorsitzenden und Spitzenkandidaten der nordrheinwestfälischen<br />
FDP. Und über Genscher knüpfte Möllemann seine <strong>Band</strong>e zu Lambsdorff, die<br />
immer dichter, immer menschlicher gediehen, bis er im Grafen "so etwas wie einen Onkel"<br />
ausmachte; zu dritt betrieben sie die Bonner Wende.<br />
Einfach außergewöhnlich, fast übermenschlich umwerfend, muss dieser Genscher auf ihn<br />
wirken, eine von Außenstehenden bislang nicht erkannte faszinierende Persönlichkeit, die ihn selbst<br />
in den späten Abendstunden in "Kuhlmanns Eck" , der Stammkneipe in Münster, als<br />
charismatisches, väterliches Über-Ich beschäftigt: Möllemanns profane wie distanzlose Elogen auf<br />
den Meister geraten zu langatmigen Selbstgesprächen.<br />
Nach misslungenen Veranstaltungen hat er sich in seiner ziemlich einseitigen Bindung oft<br />
gefragt: "Was würde wohl Genscher dazu sagen?" Und überhaupt hat doch auch Genscher<br />
angedeutet, "dass Vorsicht geboten sei vor den fanatischen, verbiesterten, verkrampften Gesichtern<br />
aus der Friedensecke".<br />
"Schon wenn die von ihren Ängsten lamentieren", fährt Möllemann fort, "kommt es in<br />
mir übel hoch. Als hätten wir etwa keine Ängste. Die hatte ich gewaltig im Flugzeug beim ersten<br />
Fallschirmsprung. Auch noch als ich im Wahlkampf für die Partei vom Himmel geplumpst bin.<br />
Immer wieder habe ich den inneren Schweinehund überwunden."<br />
Mit der leise gemeinten Bemerkung, "erst am letzten Sonntag hat Genscher bei uns zu<br />
Hause wieder angerufen", erhöht Möllemann unter seinen Zuhörern gern die abgeschlaffte<br />
Aufmerksamkeit. Natürlich will einer unverzüglich wissen, was Hans-Dietrich Genscher denn so<br />
wollte: "Eigentlich gar nichts. Der klingelt immer mal durch, wenn er am Wochenende Langeweile<br />
hat und vom Telefon nicht lassen kann. Diesmal musste er die Namen der Personen raten, die sich<br />
105
gerade im Zimmer aufhielten. Das war selbstverständlich die ganze Familie einschließlich der<br />
Schwiegereltern. Dann hat doch die freche Maike zu ihm noch gesagt. 'Du bist im Fernsehen<br />
immer so ein Lachsack, manchmal und so.' So etwas hört der Genscher sehr gern, das bringt ihm<br />
halt Spaß."<br />
Es ist ja auch nicht so, dass Genscher "nur bei uns anruft", verrät Möllemann, "Carola<br />
und ich fahren auch schon mal zu ihm nach Hause, da in Bonn-Pech.<br />
"Außer Lambsdorff und Mischnick kommen da nur sehr wenige von der Partei aufs<br />
Grundstück. Da sitzen wir munter mit ihm und seiner Barbara am Swimmingpool, knabbern<br />
Salzstangen, trinken Campari. Des Öfteren sind Genscher und ich richtig magnetisiert, da lassen<br />
wir zwischen uns nur so die Erdkugel tanzen. - Das ist schon befriedigend, da weiß ich dann auch,<br />
wofür ich das alles so mache. Da merkst du dann urplötzlich, dass der mit dir turnt, dich auch nicht<br />
im Regen stehen lassen will, wenn es heikel wird. Das gibt mir natürlich die Möglichkeit, in der<br />
Fraktion ganz schön selbstbewusst aufzutreten."<br />
"So, Freunde, sage ich dann, die Sache sieht völlig anders aus, da geht's lang. Fragt nicht<br />
lange, vergeudet die kostbare Zeit nicht, ich weiß es ganz genau, das habe ich alles mit den<br />
zuständigen Stellen überprüft. In Wirklichkeit weiß jeder von den Kollegen, dass ich Genschers<br />
Libero bin."<br />
Nur wenn Genscher seinen Möllemann "zusammenscheißt", ihn mit Nichtachtung straft,<br />
dann zweifelt Möllemann, ob er auf Dauer in der Politik bleiben soll, zieht sich sein Magen<br />
zusammen, Essstörungen plagen ihn.<br />
"Herr Genscher", reagiert er dann, "hören Sie mal zu, das können Sie mit mir wirklich<br />
nicht machen. Dann guckt der mich sibyllinisch an und erklärt, wir müssen nüchtern rekapitulieren.<br />
Dann sage ich, Herr Genscher, Loyalität und Solidarität ist keine Einbahn-, sondern eine<br />
Zweibahnstraße."<br />
"Er hat mich ja mehrfach im Regen stehen lassen. Zum Beispiel als ich für die Einführung<br />
der Neutronenbombe in der Öffentlichkeit eingetreten bin, wo wir uns doch zuvor sorgfältig bis<br />
ins Detail abgestimmt haben. Als die heftigen Proteste kamen, distanzierte er sich einfach. Dies<br />
führte dazu, dass ich erklärte, Herr Genscher, so geht das nicht mehr. Entweder wir ziehen das<br />
künftig gemeinsam durch, dann müssen wir Risiko-Sharing machen."<br />
"Das ist eine Situation, in der es nicht darum geht, dass er als Außenminister eine<br />
öffentliche Erklärung abgibt, hiermit identifiziere ich mich, aber es darf auch nicht das Gegenteil<br />
der Fall sein, wo doch jeder weiß, was gespielt wird. Auch mit dem Kabinettsposten als<br />
Staatsminister im Auswärtigen Amt war das ja so eine Sache. Den hatte er mir schon zur<br />
Bundestagswahl 1980 zugesagt."<br />
Drei Jahre hat Möllemann auf eine Berufung in ein Staatsamt gewartet. "Ganze 36<br />
Monate", sagt er, "das ist eine verdammt lange Zeit, das haut rein" - dieses Ausharren, diese<br />
Ungeduld, diese Unsicherheit, dieses Ausgeliefertsein. "Mensch, da merkte ich auf einmal, wie ich<br />
zusehends dünnhäutiger, sensibler wurde, Mensch, Möllemann, verdeutlichte ich mir, reiß dich<br />
zusammen, das darfst du auf keinen Fall zeigen, das zieht erst recht nicht."<br />
Aber was er auch anpackte, wo immer er Luft holend herum düste, der alles<br />
entscheidende Genscher-Satz galoppierte nah und dennoch uneinholbar vor ihm her: "Möllemann,<br />
wir müssen jetzt was tun. Bei nächster Gelegenheit kommen Sie in die Regierung rein, das<br />
verspreche ich Ihnen."<br />
1 06
"Ja, ja, da habe ich mich riesig gefreut. Der Möllemann wird was", sagt Möllemann, und er<br />
ist ja auch was geworden.<br />
In Kuhlmanns Kneipe, wenn die Uhr die Zwölf überrundet, zieht er gern Bilanz. Das geht<br />
so lange, bis Axel Hoffmann, der Referent, den Euro-Piep auf den Tisch legt - diesen schmalen,<br />
einem Funkgerät ähnelnden Apparat den Hoffmann dann mahnend aus der Jackett-Tasche holt,<br />
um anzudeuten, Möllemann möge zum Schluss kommen.<br />
Ansonsten funktioniert der Euro-Piep als das I-Tüpfelchen eines ausgeklügelten<br />
Informationssystems. Ob auf ihren wahlkämpfenden Tourneen durch die Provinz, in den<br />
Flugzeugen oder nachts in den Hotels, der Euro-Piep sorgt für die Gewissheit, dass ihnen nichts<br />
Wesentliches entgehen kann.<br />
Der Kanal eins ist dem Bonner Büro reserviert, der zweite gilt Möllemanns Ehefrau<br />
Carola, der dritte seinen Public Relations treibenden Geschäftspartner in München, und die vierte<br />
Linie bleibt Genscher für den Fall vorbehalten, dass "der mal anbeißt".<br />
Immer, wenn es piept und rot aufleuchtet, wissen die beiden, dass irgendwo "der Hammer<br />
geschwungen wird". Dann rast einer zum nächstliegenden Telefon. Und immer sind es dieselben<br />
hastigen, halb verschluckten Wörter, die in den Hörer sausen. "Was ist los, was ist passiert, na was<br />
denn schon?"<br />
Meist kehrt er dann enttäuscht zurück, weil die aufgeregte Erwartung sich so gar nicht der<br />
Bonner Banalität fügen mag. Da erklärte eben nur ein "FDP-Zausel aus Baden-Württemberg, es<br />
geht doch nicht an, dass uns jeder Furz, den Herr Möllemann lässt, als besonders wohlriechend<br />
verkauft wird, bloß weil er ein Vertrauter unseres Parteivorsitzenden Genscher ist". Da hat er<br />
seiner Sekretärin lediglich geantwortet: "Frau Perlewitz, beruhigen Sie sich. Das hat keine Eile.<br />
Dem gebe ich nächste Woche eins zwischen die Augen."<br />
Mit 27 Jahren ist er nach Bonn gekommen, ins Zentrum seiner Aufsteiger-Sehnsüchte.<br />
"Achten Sie mal auf den", empfahl die "Bild"-Zeitung ihrem Millionen-Publikum schon, als sich<br />
Möllemann noch am MdB-Telefon mit dem Spruch "Hier die Städtischen Bühnen" zu erkennen<br />
gab.<br />
Popularität, das hat er schnell begriffen, hebt den Marktwert. Früh verknüpfen sich<br />
konkrete Assoziationen mit Bonn - der Ort von Angebot und Nachfrage, ein Börsenplatz, auf dem<br />
Politiker ihre Aktien makeln.<br />
Möllemanns Management als Imageträger, die Wählerstimme als Kundenauftrag, für die<br />
es zudem fünf Mark gibt, das Parteiprogramm als konjunkturbedingte Produktpalette. die F.D.P.<br />
mit ihren drei exklusiven Punkten als erlesene Großstadt-Boutique für den gehobenen,<br />
finanzkräftigen Mittelstand und noch für einige darüber.<br />
Er kann sich unumwunden eingestehen, dass seine FDP-Mitgliedschaft nicht mehr als<br />
eine von Tantiemen bestimmte Firmenzugehörigkeit bedeutet, etwa "die bei Opel oder VW"; dass<br />
er im Jahre 1969 mit Beginn der sozialliberalen Ära aus der CDU nach siebenjähriger<br />
Verbundenheit austrat, weil keine Partei in der Bundesrepublik "Risiko und Chance so gerecht<br />
verteilt wie die FDP".<br />
Da können noch "wirkliche Blitzkarrieren gestartet werden", vergewisserte er sich damals<br />
vorsichtshalber, und er brauchte auch Themen, an denen er sich empor-hangeln konnte.<br />
107
Die Bildungspolitik, der er im Bundestag vier Jahre gewissenhaft nachging, das zählebige<br />
Gezeter um Hochschulrahmengesetz, die fusseligen Bafög-Regelungen, Bund-Länder-Kommission,<br />
Kultusministerkonferenz, all die ermattende Kleinarbeit versprach seinem Ego bald keine<br />
Reizschwelle, keine neugierig aufgenommene Selbstentfaltung mehr.<br />
Folglich hat ihn sein marktlückengeprüftes Bewusstsein zur Palästinensischen<br />
Befreiungsorganisation (PLO) gebracht, intuitiv den Trend kommender Jahre im Bauch, dazu noch<br />
ein Novum für ihn und natürlich für seine FDP. In der VIP-Lounge des Beiruter Flughafens<br />
empfingen ihn PLO-Revolver-Männer wie einen Staatsgast.<br />
In einer als tollkühn erlebten Zickzackfahrt ging es durch verwirrende Gassen, vorbei an<br />
aufgetürmten Straßenbarrieren, Plätzen und ausgebrannten Autos. In der Rue Université Arabe 155<br />
sicherten Jugendliche mit ihren Kalaschnikows das Portal, "Ja, ja, spannend, wahnsinnig spannend<br />
ist das da, Schmauch und Rauch am Horizont."<br />
Im vierten Stock, in einer konspirativen Wohnung, residierte sein Gesprächspartner im<br />
Kampfanzug mit umgeschnalltem 9-mm-Colt und blank polierten Patronen im Gurt. Gläserne<br />
Nippes-Fische auf den Regalen, Brokatdeckchen, zierlich vergoldete Stühle und dann ein höchstens<br />
16jähriger Jung im grünen Military-Look, der für ihn die Seven-Up-Limonadenflasche mit dem<br />
Griff seiner Maschinenpistole öffnete.<br />
Exakte 87 Minuten dauerte die vorsichtig abtastende Unterhaltung, die bei Schummerlicht<br />
ablief, weil es keinen Strom gab in der Stadt. 87 Minuten, das weiß er noch hundertprozentig. Er<br />
hatte seine Uhr gestellt, wie einst bei den Pfadfindern, mit denen er Madagaskar besingend auf<br />
Erkundungsfahrt war.<br />
Keineswegs nur die oft gefälligen Medien in der kleinen Bundesrepublik, sondern Welt<br />
weit raunte die Presse über einen acht Punkte umfassenden Geheimplan zur Befriedung der<br />
Nahost-Region unter Einbeziehung des Selbstbestimmungsrechts der Palästinensern sowie ihrer<br />
staatlichen Souveränität. Ein streng vertrauliches Papier, das Möllemann in stiller Abstimmung mit<br />
der Bonner Vertretung Arafat übergeben haben soll.<br />
Natürlich lag im Köfferchen kein ernst zu nehmendes Dossier, wie stets war es eine<br />
wahllos gebündelte Zettelwirtschaft. Ein Übersetzungsfehler hatte die westliche Allianz erschreckt.<br />
Und Möllemann war Opfer seiner Knüller-Prophetie geworden, die im Beiruter Hotel "Napoléon"<br />
ein deutscher Journalist allzu genau genommen hatte.<br />
Für den Möllemann-unerfahrenen Berichterstatter im Libanon sind Bonner Bugwellen-<br />
Usancen auch nicht von vornherein zu durchschauen. Vor allem, wenn da einer anreist, der sich<br />
zwischen Trümmerbesichtigungen aus der Jeep-Perspektive und Friseurbesuchen in<br />
Hintergrundgesprächen an der Hotel-Bar als "Genschers Minenhund" andient.<br />
Nach Rückkehr sah Möllemann sein jähes politisches Ende, den Abgrund seiner Karriere<br />
vor sich. Keiner aus der Fraktion, keiner in der Partei, der auch nur ansatzweise auf die misslichen<br />
Begleitumstände verwies. Alle-samt ließen sie ihn dort stehen, wo er schon immer stand - in<br />
Genschers Vorzimmer, gestikulierend und sich hektisch anbiedernd, obwohl ihm dort nach dem<br />
Beiruter Abenteuer kein kesser Spruch mehr unter dem Schnäuzer heraus flutschen wollte.<br />
Allenfalls sein Selbstmitleid streichelte ihn noch in einer Sprache, die sonst so gar nicht zu<br />
seiner verkarsteten Diktion passte, insbesondere dann, wenn er über schwächere Kollegen herfiel.<br />
1 08
"Unbarmherzig die Beschimpfungen und Drohungen von allen Seiten Tag und Nacht,<br />
grausam dieses Sperr-feuer, die alles durchbohrende Häme, Beirut sei kein geeignetes<br />
Übungsgelände der Bundeswehr-Reserve, Genscher, ich erkannte ihn nicht wieder, so stinkmies<br />
schiss er mich zusammen. Ich dachte, das packe ich nicht mehr. Jetzt geben sie mir milde lächelnd<br />
den Genickschuss. So etwas habe ich vorher noch nicht erlebt."<br />
Nach Beirut sagte er: "Ich will nicht mehr nach Appeldorn. Meine Brüder wollen auch<br />
nicht mehr nach Appeldorn." Jener kleinen Dorfgemeinschaft bei Kalkar am Niederrhein, in der er<br />
seine weniger begüterte Kindheit ertrug, die erste Ehe mit einer umsorgenden Verkäuferin einging.<br />
Dort, wo er sich im Besitz der frisch erworbenen Abgeordneten-Immunität mit einem<br />
funkelnagelneuen Audi unaufgefordert zeigte, Lichthupenimpulse die erhoffte Anerkennung aus<br />
dem örtlichen Seelenleben heraus leuchteten: "Das ist doch der Jürgen aus der großen Politik."<br />
Er sagte: "Ich will nicht mehr nach Beckum, dieses läppische Beckum", wo er für kurze<br />
Zeit als Lehrer arbeitete. Und das "bei einem reaktionären Rektor", der ihn öfter als einen<br />
"Dünnbrettbohrer" zu entlarven suche, "so unverschämt war dieser Kerl".<br />
Erinnerungen an Appeldorn und Beckum lähmen ihn. Diese Vergangenheit hat er<br />
überwunden: Staatsminister im Auswärtigen Amt - in dieser Position erst kann er sich in der<br />
äußeren Darstellung so akzeptieren, wie es der Logik seiner Gefühle entspricht.<br />
Immer wieder lugt Möllemann begierig und staunend auf die Insignien Bonner<br />
Staatsmacht. Irgendwo kann er es immer noch nicht richtig fassen, bricht aus ihm ein unsicheres,<br />
unbeholfenes Lachen heraus. Irgendwie ist er sich in solchen intensiven Momenten selber<br />
unheimlich, dass seine Lebensmaxime so rasch Wirklichkeit wurde. "Irgendwas mache ich mal,<br />
dann komme ich ganz groß raus."<br />
Und das ausgerechnet im Auswärtigen Amt, in einem großflächigen, mit Velourteppichen<br />
ausgelegten Büro, das einer schnörkellosen Hotel-Suite ähnelt, "ganz dicht beim Dicken", den er ja<br />
fernsehwirksam an der Seite des Bundeskanzlers vertreten soll.<br />
"Mensch, Jürgen", sagt er sich da zu sich. Die Bundesluftwaffe, der 280er Dienst-<br />
Mercedes mit Fahrer und Autotelefon. Mal eben durch Münsters City, zwei persönliche<br />
Referenten, zwei Sekretärinnen, die Sicherheitsbeamten, die Empfänge in der Godesberger<br />
Redoute, Gobelin, Satin, die Cocktails bei den Saudis, Akkuratesse in Gesicht und Zwirn, "mit<br />
Carola bei Frau Bundespräsident zum Teetrinken". Das überwältigt den Mann aus Appeldorn:<br />
"Das ist schon ein wenig wie Weihnachten und Pfingsten auf einen Tag." So hatte seine erste<br />
Amtshandlung darin bestanden, erst einmal diese Bonner Kinofassade den Schwiegereltern und<br />
den Kegelbrüdern vorzuführen. Und alle staunten. Nur einen Besucher wollte der Staatsminister<br />
nicht so recht verknusen. Seinen um fünf Jahre jüngeren Bruder Norbert, der aus Berlin angereist<br />
war.<br />
Norbert, ein Lehrer, der in Kreuzberg das alternative Tischlerhandwerk ausübt, sucht<br />
schon seit Jahren in der Vergangenheit nach seiner Identität.<br />
Wenigstens einmal wollte er mit Bruder Jürgen reden, richtig reden, wo sie doch beim<br />
Tode ihrer Mutter sprachlos, schnurstraks nach der Beerdigung auseinandergelaufen sind.<br />
Er wollte seinen Bruder fragen, warum er, der Junge aus der Sattlerfamilie, sich eigentlich<br />
derart auf die Bildungsbürger fixiere. Er wollte ihn fragen, ob der Bruder denn nicht merke, dass<br />
109
eine krasse Trennung von Persönlichkeit und Staatsfunktion ihn allmählich, aber systematisch<br />
verbiege, hinrichte.<br />
Das alles wollte der Nobert Möllemann aus der Berliner Gegenkultur mit seinem großen<br />
Bruder einmal offen bereden. Deshalb war er nach Bonn gekommen, um ein Stück Vergangenheit<br />
aufzuarbeiten, mit den eigenen Enttäuschungen wie Unfertigkeiten umgehen zu können. Doch<br />
Nobert, der sich so viel vorgenommen hatte, brachte keinen zusammenhängenden Satz über die<br />
Lippen. Beide saßen sich stumm im Restaurant des Bundestages gegenüber.<br />
Es war ein nasskalter Herbstabend, der Bruder reiste vorzeitig ab. Jürgen W. Möllemann<br />
zieht sich auf sein Appartement zurück. Noch vor dem Einschlafen konzipiert er die<br />
Pressemeldung 127 im fortlaufenden Jahr, schreibt eine Notiz für seine Sekretärin Frau Walter.<br />
"Bitte die Einschaltquote meiner letzten Fernsehsendung beim WDR feststellen."<br />
Postscriptum. -23 Jahre später - am 5. Juni 2003 -stürzte sich Jürgen W. Möllemann auf<br />
dem Übungsgelände Marl-Leomühle mit seinem Fallschirm in den Tod. Knapp eine halbe Stunde<br />
zuvor hatte der Deutsche Bundestag zwecks Strafverfolgung Möllemanns Immunität aufgehoben.<br />
Daraufhin durchsuchten Polizei und Staatsanwaltschaft Möllemann-Geschäftsräume und seinen<br />
privaten Bungalow. Der am 9. Juli 2003 vorlegte Abschlussbericht der Staatsanwalt über die<br />
Todesursache Möllemanns, schloss ein Fremdverschulden aus. Im Dezember 2oo4 wurde ein<br />
Insolvenzverfahren über seinen Nachlass eröffnet. - Die Akte Jürgen Wilhelm Möllemann ist damit<br />
geschlossen.<br />
1 10
1986<br />
Die Bonner Republik – Verlust an Wirklichkeit<br />
111
ERINNERUNGEN AN DIE BONNER REPUBLIK - VERLUST<br />
VON WIRKLICHKEIT IM MACHTGETTO. EIN MANN<br />
NAMENS HEINER GEIßLER<br />
Einst glich Bonn am Rhein einer dunstigen Käseglocke, unter der gewachsene<br />
Bindungen verkümmerten, ungezwungene Mitmenschlichkeit nahezu Ausnahmen waren.<br />
Das Politik-Milieu am Rhein schien geprägt vom Überlebenskampf jedes einzelnen: Ein<br />
Überleben mit Aktenzeichen im Fraktionszwang, mit Intrigen und Affären, mit<br />
Staatskarossen und Helikoptern, in Parteizentralen und Lobbyburgen, behütet von<br />
Staatssicherheitsbeamten und Schützenpanzerwagen, zwischen Stacheldrahtverhauen und<br />
Videokameras. Nichts kennzeichnet den Verlust von Wirklichkeit, die Deformation der<br />
eigenen Person deutlicher als das einstige schrille Politiker-Leben des CDU-<br />
Generalsekretärs und Bundesministers Dr. Heiner Geißler. Ein Mann, der von sich sagte,<br />
in Bonn sei er schmerzfrei geworden. Ein Jesuiten-Schüler, der ohne knallharte<br />
Konfrontation nicht mehr leben konnte. Diagnose: suchtkrank. Ursache: Bonn - bis zu<br />
jenem Tag des 10. Dezember 2003 jedenfalls, an dem die Parteizentrale - das "Konrad-<br />
Adenauer-Haus" - gesprengt wurde. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war auch die Ära<br />
Geißler Vergangenheit.<br />
Der Intrigant oder Die Bonner Operetten-Republik, Eichborn-Verlag, Frankfurt a/M 11. November 1986<br />
Das Konrad-Adenauer-Haus liegt an der Friedrich-Ebert-Allee, einer vierspurigen<br />
Ausfallstraße Richtung Bad Godesberg. Der schmucklose, zehnstöckige Beton- und Glaskasten<br />
grenzt an die britische Botschaft, vis-à-vis haben Polizeipräsident aber auch Sozialdemokraten ihre<br />
Bonner Heimstatt gefunden. Nachts wachen unübersehbar die knallig roten, fast drei Meter hohen,<br />
über zwölf Meter breiten CDU-Leuchtbuchstaben auf dem Dach der Parteizentrale über die<br />
provinziell schlummernde Bundeshauptstadt Bonn. Nur der auf dem Steigenberger Hotel postierte,<br />
blau-illuminierte Mercedes-Stern signalisiert von Ferne eher einvernehmliche Zweisamkeit.<br />
Weihnachtsfeier im Bonner Konrad-Adenauer-Haus, der Parteizentrale der CDU.<br />
Lametta geschmückte Tannenbäume, ein von Steigenberger arrangiertes Büfett für knapp 20.000<br />
Mark, schummrige Wohnzimmer-Beleuchtung, Akkuratesse in Gesicht und Zwirn.<br />
An diesem Abend suchen Menschen die Nähe anderer, denen sie in der Hauptstadt sonst<br />
nicht nah sein dürfen. Durch die herausgeputzte Weitläufigkeit bundesdeutschen<br />
Aufsichtsratsinterieurs, einem holzgetäfelten Verschnitt aus Kunst und Knoll, dröhnt gedämpft der<br />
Stereo-Sound, "Yes Sir I can buggy". Im Arbeitszimmer des Herrn Dr. Kohl (CDU-<br />
Parteivorsitzender 1973-1998) tanz das Adenauer-Sekretariat mit der abgeordneten Sicherheit aus<br />
dem Bundeskriminalamt in die Nacht hinein.<br />
Die meisten kennen sich schon recht lange, aber nur für den Dienstgebrauch. Dieser wird<br />
im Adenauer-Haus von Pietät und Takt diktiert. Keine hautengen Blue-Jeans, klein Blouson,<br />
allenfalls zart aufgetupftes Make-up mit blass bemalten Lippen. Vergilbte Benimm-Regularien<br />
kleinstädtischer Tanzschulen prägen unausgesprochen Umgang und Beritt, unterscheiden<br />
feinsäuberlich zwischen Empfindung und Empfindsamkeit, zwischen Schüchternheit und<br />
Verklemmtheit.<br />
1 12
Dass auf dem Kieler CDU-Bundesparteitag 1979 barbusige, aus Paris eingeflogene<br />
Ballettdamen über die Bühne huschten, war für den Vorsitzenden ohnehin eine<br />
"Geschmacklosigkeit sondergleichen", die sich nicht wiederholen dürfe. Dafür halten es die<br />
Männer aus Präsidium und Parteibürokratie mit Walther von der Vogelweides "Lieder von der<br />
niederen Minne" - verdeckte Techtelmechtel mit "unebenbürtigen Mädchen".<br />
Der scheinbar endlos lange, schmale Flur im zehnten Stockwerk des Konrad-Adenauer-<br />
Hauses ist das vertraute Bonn-Interieur des Dr. jur. Heinrich Geißler ( Jahrgang 1930, CDU-<br />
Generalsekretär von 1977 bis 1989, Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit von 1982<br />
bis 1985). Geißlers Milieu. Wenn die Fahrstuhltür sich beiseite schiebt, springt dem Ankömmling<br />
das stattlich-staatliche Konterfei des Parteivorsitzenden entgegen. Helmut Kohl milde lächelnd im<br />
bewährten Dialog mit der wissbegierigen Jugend. Auf dem mit gelben Teppich ausgelegten Flur<br />
und im Sitzungszimmer neben den überall präsenten Überwachungsmonitoren hat sich die<br />
Ahnengalerie der CDU-Kanzler samt ihrer Wahlplakate wie in einem Museum angesammelt.<br />
Konrad Adenauer (*1876+1967, Bundeskanzler 1949-1963), der "keine Experimente" wollte und<br />
mit seiner reduzierten Sprache den "Wir-sind-wieder-wer-Konsens" im Nachkriegs-Deutschland<br />
einläutete. Ludwig Erhard (*1897 +1977, Bundeskanzler 1963-1966), der als "Mister<br />
Wirtschaftswunder" den aufbrechenden Widersprüchen einer schnell wachsenden Industrienation<br />
mit seiner "formierten Gesellschaft" zu begegnen glaubte. Und schließlich Kurt-Georg Kiesinger<br />
(*1904+1988, Bundeskanzler 1966-1969, der schöngeistige Übergangsregierende während der<br />
Großen Koalition in den sechziger Jahren.<br />
Heiner Geißlers Räumlichkeiten liegen exakt unter den knalligen CDU-Leuchtbuchstaben.<br />
Das U steht fürs Büro, zugleich auch sein Wohnzimmer mit Video, Fernseher und CD-Spieler.<br />
Unterm D sind Sekretariat und Abstellraum für Kühlschrank, Gefrier-Box nebst Pressearchiv<br />
platziert. In dieser Aktenkammer isst der Generalsekretär mit Vorliebe zu Abend - und das immer<br />
hast, fast immer allein. Ihm ist es allemal angenehmer, sich vom Chinesen in Aluminium-Folien<br />
verpackte Platten servieren zu lassen, als sich in Bonner Restaurants den nur zu bekannten<br />
Gesichtern zu nähern. Und unter dem C verbirgt sich sein winziges Schlafverlies. Ein schmales,<br />
kärgliches Zimmer, eine Pritsche als Bett, Tisch und Stuhl, ein Spind als Schrank, eingebautes Klo,<br />
Dusche. Schnörkellose, triste Lebensumstände, diktiert von der gängigen Vorstellung von<br />
Funktionalität und Effizienz. -Bonner Jahre. Junggesellen-Jahre.<br />
Das einzige Private, das er sich genehmigte, ist eine zwei mal zwei Meter große Fotowand.<br />
Schwarz-weiße Bilder, halbmatt, zeigen ferne Gipfel. Es sind die Spitzen des österreichischen<br />
Zillertals. Dort, wo die Geißlers ihre Vorfahren ausfindig gemacht haben, die als berüchtigte<br />
Raufbolde und Dickschädel um sich schlugen. Die Zillertal-Zinnen sollen einen direkten Hinweis<br />
auf die Gemütswallungen des Generalsekretärs liefern, "nur über den Wolken kann die Freiheit<br />
grenzenlos sein". Er präsentiert sich keineswegs nur in der Superrolle à la Henry Kissinger (US-<br />
Außenminister 1973-1977), er will darüber hinaus auch noch als Reinhold Messner der CDU<br />
gesehen werden. Verwegen, unwiderstehlich, unverwüstlich. Ein Image-Mann mit Image-Gesetzen,<br />
der das politische Gewerbe in unmittelbarer Nachbarschaft schauspielernder Stuntmen ansiedelt,<br />
der sich ansonsten kontaktscheu in sich verkröche, sympathisierte das Publikum nicht nachweislich<br />
mit seiner Bergsteiger-Pose. Immerhin so beeindruckend nachhaltig, dass selbst die alternative<br />
Tageszeitung in Berlin ihn ironisch zum "attraktivsten Mann der Politszene" kürte.<br />
Auf dem Flur schräg gegenüber wachen Nächtens zwei Polizisten des<br />
Bundeskriminalamtes über die Unversehrtheit dieses Unions-Kastellans in der Mönchzelle.<br />
Augenscheinliche Parallelen zu dem früheren BKA-Präsidenten drängen sich auf. Horst Herold<br />
113
(1971-1981) reduzierte sich Privatleben ebenfalls auf null. Er hatte sich in der Wiesbadener<br />
Elektronik-Zentrale nach jahrelanger Terroristenjagd systematisch zugemauert, von der Außenwelt<br />
hermetisch abgeschottet. Mit seiner Frau redete der ranghöchste Polizist der Republik nicht mehr,<br />
ließ sich schließlich scheiden. DISPOL-, PISA-, LISA, PIOS und der INPOL-Fahndungscomputer<br />
waren längst zu seinem alleinigen Bezugspunkt geworden, ein Gegenüber, über das er x-beliebig<br />
verfügen, mit dem er sich reibungslos verständigen konnte.<br />
Meistens tief in der Nacht, wenn sich Dr. Geißler von der aufreibenden Tagesroutine<br />
entfernt weiß, arbeitet er "für unsere gemeinsame Zukunft, für eine Gesellschaft mit<br />
menschlicherem Gesicht". Er braucht nicht viel Schlaf, er hasst ihn eigentlich. Will er doch seine<br />
kostbare Zeit effektiv nutzen, um Visionäres der Wirklichkeit ein Stückchen näher zu bringen. Für<br />
seine Politikaufrisse benötigt er keine Menschen, er verachtet sie insgeheim. Er liebt die abstrakte<br />
Planung. Die Gesellschaft mit empirischen Instrumentarien in Segmente zu zerlegen, weitsichtig<br />
Entscheidungsbedarf von morgen und übermorgen vorzubereiten, das fasziniert ihn ungemein -<br />
etwa beim Krankenhausbau.<br />
Schon seit 1977 macht Heiner Geißler aus Koffern Politik. Sich in Bonn für die<br />
angepeilten Jahrzehnte ein bisschen einzurichten, sich womöglich lebensfroh einzugestehen, dass<br />
diese Stadt keineswegs nur aus verqualmten Buden, Aktenböcken und flanellgarnierten<br />
Prestigefiguren besteht - solch naheliegende Gedanken rührten sich in ihm bisher nicht. Bonn sei<br />
nolens volens eine vertrackte Raumkapsel, in der viel schwadroniert werde, die geschwätzige<br />
Verlogenheit sich von der einen in die andere Alltagspathologie transferiere. Nein, beschied<br />
Geißler, dies sei nun wirklich nicht seine Umgebung. Er wolle ja schließlich das neue Deutschland<br />
bauen, zukunftsweisende Perspektiven entwerfen. Deshalb könne ihn auch niemands zu den<br />
Cocktail-Empfängen locken, wo Gewichtiges und Nettes sich augenzwinkernd in seltener Noblesse<br />
mit ihren ewigen Déjà-vu-Erlebnissen therapieren.<br />
Seine Welt, sein Milieu ist ein Betonkasten aus zehn Etagen -das Konrad-Adenauer-Haus.<br />
Dort - managt er mit monotoner Beharrlichkeit ein Vierecks-Verhältnis, seinen Lebensinhalt:<br />
Politik und nochmals Politik, Taktik und nochmals Taktik, Strategie und nochmals Strategie, Macht<br />
und nochmals Macht.<br />
Überall surrt es auf Geißlers Etage zu Bonn.. Überall arbeiten die kleinen Reißwölfe vor<br />
sich hin. Im Kopierraum neben der Kaffeeküche, in den Sekretariaten unter den Schreibtischen.<br />
Immer, wenn vertrauliche Informationen übers Telefon den Leitungsstab erreichen, werden sie<br />
aufgeschrieben und unverzüglich den jeweiligen Adressaten ausgehändigt. Die speichern dann ihre<br />
exklusive Neuigkeit im Kopf, und der Reißwolf zerhackt das Papier. Spione vielleicht, Misstrauen<br />
überall.<br />
Gleich neben seinem Schlafverlies stapeln sich über 160 vollgepfropfte Presseordner, die<br />
mir mir quasi cool nebenbei zeigt. Sie füllen seine Aktenschränke. Selbst für den CDU-<br />
Generalsekretär eine bemerkenswerte Anzahl. Von einem durchschnittlichen Parlamentarier erst<br />
gar nicht zu sprechen, der in vier Jahren im Bundeshausarchiv etwa eine halbe Leitzmappe<br />
zusammen-bringt. - Unausgesprochen und dennoch ausnahmslos machen sich am Gedruckten<br />
Leistungskriterien fest. - Geißler Gipfel.<br />
Pressedokumentationen entpuppen sich Knall auf Fall als untrügerische Bonn-<br />
Seismografen. Sie zeigen Zugehörigkeit oder Außenseitertum an. Die Teilhabe an der Macht<br />
spiegelt sich in der Quantität angehäufter Zeitungsstapel und Agenturmeldungen wider.<br />
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Heiner Geißler hat kein Zuhause mehr. Freunde kann er auch keine benennen. Allesamt<br />
sind sie ihm entrückt. Schemenhaft blieben ein paar Namen in Erinnnerung - aus Schule,<br />
Studienzeit und Junger Union. Lang ist es her, zu lang für politische Charaktere seines Kalibers.<br />
Und heute? "Das lässt der Job nicht zu", murrt er knapp. Wenn, dann sind die pflegsam<br />
behandelten Bekannt-schaften allenfalls "politischer Natur". Seine alltäglichen Kontakte kappte er<br />
schon in jungen Jahren, damals, als er aufbrach, die politische Spitze zu erobern. Wäre er kein<br />
hochkarätiger CDU-Politiker, sondern ein medizinischer Fall der Drogenberatung in Bonn.<br />
Diagnose: suchtkrank. Ursache Politik in Bonn. Keine Frage, viele Symptome würden den<br />
Verdacht innerer Verwahrlosung erhärten.<br />
Im ordentlichen Mainzer Vorort Gonsenheim lebt seine Familie - ist auch er dort<br />
polizeilich gemeldet. Von außen Eigenheim, von innen Villa mit acht Zimmern, Schaffellteppiche,<br />
Atrium, Goldfische im kleinen Teich. Für ihn gibt das Ambiente nichts her, ist Attrappe, die sich<br />
beziehungsarm aneinanderfügt. Schaublindpackung. Kein hospitalistischer Blick, sondern die<br />
Sichtweise des einstigen Familienministers, der auszog, den Deutschen wieder heimatfühlende<br />
Nestwärme, Geborgenheit und Familiensinn einzuschärfen, der gegen "die Camping-Sozialisten"<br />
unentwegt zu Felde zieht, "weil der Sozialismus entwurzelte Menschen braucht, damit er ihn<br />
manipulieren kann".<br />
Dabei ist es Heiner Geißler selber, der nach den Jahren in Bonn seiner Familie fremd<br />
geworden ist. Wo die Entfremdung begann, was der eigentliche Auslöser dafür war, wer will das im<br />
Nachhinein noch auseinanderhalten, zumal Politiker-Erfolge die Schatten überstrahlen und für<br />
lichte Momente vorsorglich eine Dunkelkammer reserviert ist. Entfremdung vollzieht sich ja meist<br />
unmerklich, achselzuckend, lässt in den seltensten Fällen ohnmächtige Aggressionen herauskommen.<br />
Jedenfalls wollte der "Bonn-Geißler" seine Familie aus dem "mörderischen Hauptstadt-<br />
Geschäft" unbedingt heraushalten, die Pressemeute von seiner Haustüre in Gonsenheim<br />
verscheuchen.<br />
Vor dem kleinen Sitzungssaal im Konrad-Adenauer-Haus wartet ein Fernsehteam des<br />
Westdeutschen Rundfunks mit ihrem Berichterstatter Ernst-Dieter Lueg (*1930+2000) schon über<br />
eine halbe Stunde auf den CDU-Generalsekretär. Eingeschnürt vor stickiger Casino-Atmosphäre<br />
aus Gummibaum, Rundlampen und Bohnerwachsgeruch fläzen sich die Kamera- und Tonmänner<br />
in den Garnituren. Endlich.<br />
Ein Postensteher öffnet die Tür. Heiner Geißler kurvt um die Ecke. Hektik und Gestik<br />
haben jedweden Zweifel weggefegt. Keine Frage, "zu Geißler drängt's, an Geißler hängt's". - "Wie<br />
viel Minuten", will er wissen. "Drei", ist die Antwort. "Um was geht es eigentlich noch?", fragt er<br />
nun. Stichwort: Kriegsdienstverweigerung. Kommando: Kamera läuft, Ton ab, Klappe. Nach drei<br />
Minuten und zwanzig Sekunden: "Hat ja prima hingehauen. Macht es gut Jungs, bis zum nächsten<br />
Mal". sagt er, weg ist er. An diesem Tag hatte schon früh morgens der Bayerische Rundfunk die<br />
Aufwartung im Ministerium gemacht. Ein Termin beim NDR steht noch aus. Und in Kürze wird<br />
Geißler als Winzer verkleidet mit Bauern aus der südlichen Pfalz frisch gekelterten Wein auf einem<br />
Bollerwagen zu Helmut Kohl ins Kanzleramt karren -selbstverständlich für den "Bericht aus Bonn"<br />
am Freitagabend.<br />
Fernseh-Mattscheiben sozialisierten Geißler zu einem Zeitgenossen des eingefrorenen<br />
Dauerlächelns. Sein nonverbales Repertoire meidet spontane, unkontrollierte, intensive Affekte, da<br />
diese mitunter Nervosität, Zynismus, Kontaktschwäche, Unverbindlichkeit freilegten. Sein<br />
Gesichtsausdruck verrät kaum Auffallendes - außer der gezielten Steuerung des ewigen<br />
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Dauerlächelns. Langsam zieht Geißler sein Mundwinkel hoch, langsam rasten seine Lachfalten auf<br />
dem gen-wünschten Charmepegeln ein. Im Zeitlupentempo dreht er seine Mimik behutsam zurück.<br />
Ein Ausbund von Freundlichkeit, ein Vorbild möchte er in seiner Wunschvorstellung abgeben,<br />
Identifikationen glaubt er so auf sich zu vereinen.<br />
Diese kraftzehrende, nach außen gerichtete Theatralik begräbt individuelle Bedürftigkeit,<br />
persönliche Konturen zerfließen allmählich ins Unkenntliche. Das Magnetfeld allgegenwärtiger<br />
Sachlogik und politischer Zweckmäßigkeit geht einher mit der Abstraktion des Ichs.<br />
Unaufgefordert, beinahe beflissen unterdrückt da ein jeder seine persönliche menschliche<br />
Anteilnahme: elementare Lebensgefühle verdorren.<br />
Auf dem Sportplatz Gronau am Rhein im Bonner Regierungsviertel gleich neben dem<br />
Abgeordneten-Hochhaus Langer Eugen wartet im Dunkel ein Bundeswehr-Hubschrauber auf<br />
seinen Passagier. Von hier ist das Bundeshaus kaum mehr als einen Steinwurf entfernt, das<br />
Kanzleramt liegt unmittelbar dahinter. Es ist ein grauslig-diesiger, nasskalter Dezember-Abend.<br />
Böige Winde und anhaltende Regenfälle haben schon einige Tage zuvor den Rhein über die Ufer<br />
getrieben, die Promenade weitflächig überspült, die Bänke aus ihren Halterungen fortgerissen,<br />
Treibgut klatscht ans Gemäuer der Uferstraße. Auch der Fußballplatz, auf dem in freundlicher<br />
Jahreszeit Ex-Nationalspieler Wolfgang Overrath Bierrunden Parlamentariern das Ballkullern lehrt,<br />
suppt unter lehmig aufgewühltem Wasser.<br />
Nicht weit vom Anstoßpunkt steht der Helikopter. Die Piloten vom BMVg, wie das<br />
Bundesministerium für Verteidigung im Kürzel heißt, warten gelangweilt , Frau Dorothea Göbel,<br />
Geißlers treu ergebene Assistentin, bibbert dem Abflug entgegen. Die "Bundeswehr-Männer", sagt<br />
Frau Göbel, waren ausgesprochen hilfsbereit, verstauten flugs die Geißler'schen PR-Sektflaschen,<br />
die sie resolut über den triefenden Rasen geschleppt hatte. Die Bundeswehr ist für diesen Abend<br />
und für den nächsten Morgen geordert worden, weil nach dem Terminplan "Gesindepflege" auf<br />
dem Programm steht -Kurzvisite des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit und<br />
Generalsekretär der Christlich Demokratischen Union in seinem Wahl-kreis 161, Landau, Südliche<br />
Weinstraße.<br />
Ein Direktmandat, das Geißler schon 1980 im ersten Anlauf eroberte und seither bequem<br />
hält. Vereinbarungsgemäß hatten auch die beiden Limousinen ihre Stellungen bezogen. Die aus<br />
dem Ministerium vor dem Kanzleramt, aus dem Heiner Geißler abgeholt werden soll, die aus dem<br />
Adenauer-Haus in der Pfalzklinik Landeck, wo Geißler landen soll.<br />
Die Bonner "Schedule", was soviel wie Zeittafel bedeutet, ist mittlerweile durcheinander<br />
geraten; Geißler "taucht und taucht nicht auf - fährt und fährt nicht vor". Die Maschinerie steht<br />
still.<br />
Stille zieht auch durchs Regierungsviertel. Vom Langen Eugen schimmern nur vereinzelt<br />
Lichter aus Büro-fenstern. Nur wenige Bundestagsabgeordnete harren noch in ihren<br />
Dienstzimmern. Sie haben eine sitzungs-freie Woche. Die Straßen menschenleer, hin und wieder<br />
ein paar Autos, Panzerspähwagen der Polizei. Irgendwo versteckt piepsen Sprechfunkgeräte des<br />
Objektschutzes. Scheinwerfer liefern die Silhouetten von Amtsgebäuden, hinter denen sich<br />
Kakteen oder Gummibaumgewächse abwechseln und endlose Flure verbergen. Lediglich der Lange<br />
Eugen überragt dieses lieblos dahin gestoppelte Häusergekrümel aus den Nachkriegsjahren -Bonn<br />
ein Provisorium.<br />
Die Ruhe und die frische Brise am Rhein erinnern an ein ausgestorbenes Seebad zur<br />
Winterzeit. So mitten drin, so eng auf Tuchfühlung mit der politischen Macht, umgeben von ihrer<br />
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dumpfen Alltäglichkeit, da sind die Mächtigen entrückter unnahbarer, austauschbarer denn je.<br />
Gleichbleibende Sterilität trocknet Gefühle aus, kappt Bezugspunkte, zermürbt Fantasie. In<br />
Frankfurt am Main, Hamburg, München, Berlin, in den Ballungszentren des Ruhrgebiets, dort, wo<br />
die Menschen sich in ihrer Widersprüchen an konkreten Widerständen wund reiben, dort sind die<br />
Mächtigen des Landes fassbar. Im eingeweckten Regierungsviertel, noch dazu aus der<br />
Hubschrauberperspektive vor dem Abflug, verlieren sich verlässliche Konturen in eine geordnete<br />
Unkenntlichkeit.<br />
Der Generalsekretär konferiert mit seinem Helmut Kohl bereits seit mehreren Stunden;<br />
Gespräche, die nicht enden wollen ... ...<br />
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1<br />
18
1987<br />
Deutschland von übermorgen: Frankfurts City<br />
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DEUTSCHLAND VON ÜBERMORGEN - UNBÄNDIGE<br />
AGGRESSIONEN IN FRANKFURTS CITY<br />
Märkte geöffnet, neue Konsum-Tempel gebaut, riesige Büroflächen hochgezogen.<br />
Arme, Arbeitslose und Alte umgesiedelt - im Umland "versteckt". Bankfurt, Krankfurt,<br />
Zankfurt. Das CDU-Vermächtnis einer maroden Metropole; für Profite optimal, für<br />
Menschen seelenlos. Alle 23 Sekunden passiert ein Verbrechen. Jeden dritten Tag bringt<br />
sich ein Mensch um. Jeden Tag werden Frauen wehrlose Opfer einer Vergewaltigung.<br />
Hinter neureichen Fassaden nistet Wut, Verzweiflung, Hass. Frankfurt Ende der achtziger<br />
Jahre - das sind Ereignisse in einer durch Ohnmacht und Gewalt gekennzeichneten<br />
Wirklichkeit - Bilder einer deutschen Metropole.<br />
Vorwärts, Bonn vom 28. Februar 1987 – Spiegel-Buch, Hamburg vom 2. September 1981<br />
Vom Taunus her betrachtet gleicht Frankfurt einer panoptischen Filmvision des<br />
kommenden Jahrhunderts. Silhouetten liefern den Aufriss einer schnörkellosen Metropole der<br />
scharfen Spiegelglas-Kanten, die mehr Digitaluhren als Bäume, demnächst vielleicht auch mehr<br />
Brunnen als Parkflächen, mehr Grashalme als Arbeitsplätze kennt. In Spiegelglas verkleidete<br />
Wolkenkratzer überragen wahllos ein mausgraues Häuser-Gekrümel. An die drei Dutzend Beton-<br />
Bananen prägen die so genannte "städtebauliche Dominanz" für Versicherungen, Banken,<br />
Gewerkschaften, Konzerne - und natürlich fürs Fernsehen mit seinem 331 Meter hohen<br />
Turmschaft. An den ausgefransten Stadträndern haben sich wachstumsbesessene Industriegiganten<br />
festgebissen. Riesenkrebse, die Flüsse verseuchen, Wiesen vergiften und trickreich eine Schneise<br />
nach der anderen in die angrenzenden Wälder schlagen.<br />
Frankfurt am Main, das ist die Metropole für die Wirtschafts- und Finanzwelt in diesem<br />
Land, ein Banken- und Börsenimperium mit 338 Kreditinstituten. Über 600.000 Mitarbeiter im In-<br />
und Ausland lassen sich aus dieser Stadt steuern. Der Umsatz ihrer Produkte kletterte erst 1986 auf<br />
mehr als 50 Milliarden Mark. Frankfurt am Main - das ist auch der Verkehrsknotenpunkt der<br />
Republik. Allein der Flughafen: Über 235.000 Starts und Landungen, über 17 Millionen Menschen<br />
schnaufen jährlich über die computergesteuerten Verladerampen. Frankfurt am Main ist schließlich<br />
die teuerste Stadt in Europa. Einer Expertise des Europäischen Management-Zentrums zufolge<br />
muss ein Unternehmen mit einem Jahresumsatz zwischen 36 bis 72 Millionen Mark für den<br />
Unterhalt eines Verkaufsmanagers und dessen Büro in Frankfurt rund 231.000 Mark per anno<br />
aufwenden. Frankfurt am Main - das ist teuerste Stadt in Europa. Einer Expertise des<br />
Europäischen Management-Zentrums zufolge muss ein Unternehmen mit einem Jahresumsatz<br />
zwischen 36 bis 72 Millionen Mark für den Unterhalt eines Verkaufsmanagers und dessen Büro in<br />
Frankfurt rund 231.000 Mark per anno aufwenden.<br />
Frankfurt am Main - das ist aber auch der Kristallisationspunkt der ausgebufften<br />
Werbebranche zwischen Glanz und Glimmer, zwischen Empfindungen und Befindlichkeiten,<br />
zwischen Stars und Strips - eben ein Warentextmarkt für Deutschland. Übersättigt und ausgelaugt<br />
ist er allemal, auf dem es aber stets neue Konsumgier und Kauflust zu entfachen gilt. Ob Marlboro,<br />
Camel oder West, ob Durchbruch oder Aufbruch, nicht weniger als 300 Werbeagenturen proben<br />
hier produktbezogene Enthemmungsstrategien.<br />
Tatsächlich sind Bankfurt, Zankfurt, Krankfurt längst zu Synonymen für Frankfurt<br />
geworden. Eine Stadt, die sich selber frisst, die Lebensräume abkappt und Nischen zuschüttet. Hier<br />
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wurden schon Häuser besetzt, als noch nirgendwo von Hausbesetzungen die Rede war. Hier wurde<br />
demonstriert, spekuliert, kaputtgemacht, gewuchert, vergeudet, radikaler, brutaler, besinnungsloser<br />
als in irgendeiner vergleichbaren Stadt.<br />
Zum Dunstkreis der sattsam Arrivierten dieser Rhein-Main-Region zählen ihre exquisiten<br />
Klubs: Rotary Club, Union Club, Handelsclub, einflussbesessene Inzuchtvereinigungen. Eine<br />
vornehmlich konservative Welt ist das, die den Frankfurter Sparkassen-Werbeslogan aus den<br />
fünfziger Jahren zum Credo erhob. "Haste was, biste was." Einst Walter Wallmann (1977-1986) als<br />
Oberbürgermeister, dann Wolfram Brück (1986-1989) seit 1995 beinahe zwei Jahrzehnte die<br />
CDU-Kommunalpolitikerin Petra Roth finden in diesen diskreten Kapital-Klubs ihre fundamentale<br />
Stütze, seit sie mit einem Erdrutschsieg im Jahre 1977 die absolute Mehrheit im Stadtparlament<br />
gewonnen haben. Schon damals sagte sich erst zaghaft, dann immer vehementer der CDU-Staat<br />
dieser Tage an; stets auf der Suche nach Alternativen zu den Alternativen.<br />
Denn früher, krasser, auch gewalttätiger als anders wo in Deutschland, Berlin<br />
ausgenommen, hatte sich hier ein aufgetan: Stadtindianer, Stadtguerillas, einfache RAF-<br />
Sympathisanten aus Folterkomitee und roter Hilfe, Sponti und Grüne, Homos und Heteros,<br />
Frauengruppen und Gastarbeiterkinder, arbeitslose Mädchen und Jungen, heimatlose Mischlinge<br />
aus amerikanischen Kasernen, Rocker und Punks - eine kunterbunte Verweigerungs-Gesellschaft,<br />
die alles oder nichts ist, die kein einheitliches Gesicht hat, die ihre Vitalität aus eigenen und<br />
fremden Widersprüchen bezieht und sich nur in einem Punkt einig weiß: in der Negativ-<br />
Abgrenzung gegenüber der Wirklichkeit.<br />
Dieses Gegenkultur, von der bürgerlichen Welt oft als "Neurosen- und Exhibitionismus-<br />
GmbH" belächelt, arbeitet sich seit einem Jahrzehnt am Widerstrebenden ab. Ständig auf der Suche<br />
nach sich selbst, absprungbereit zu einer lang herbeigesehnten, neuen Identität. Frankfurt ist für die<br />
Spontis ihr Schauplatz, für den sie Hass und Verachtung empfinden, der sie zu Gegnern dieses<br />
Staates werden ließ, ohne den aber ihr Weltbild erst recht lädiert wäre. Eine Hassliebe, die keinen<br />
Stillstand kennt, immer neue Nahrung findet.<br />
So steht's im PflasterStrand (1976-1990), dem Zentralorgan der Spontis, geschrieben: "<br />
Frankfurt - eine erotische Stadt. In Berlin ist alles so halbseiden, selbst die Subkultur lebt von der<br />
Staatskrediten. In Hamburg gibt es mehr Häuser im englischen Stil, dafür sind die Leute stämmig<br />
und wetterfest. In Berlin machen die Punks das, was hier vor zehn Jahren die Anarchos gemacht<br />
haben. In Frankfurt weigern sich die Punks, das kaputtzumachen, was uns kaputtmacht. Sie<br />
machen lieber das kaputt, was sie kaputtmacht. Alle Leute fragen sich, was machen<br />
Hunderttausende in Poona, aber niemand fragt sich, was machen Fünfzigtausende in Höchst.<br />
München ist auch eine schöne Stadt, von Dachau aus gesehen.<br />
Gewiss, Frankfurt ist nicht Deutschland und die Sponti-Szene auch die viel zitierte<br />
deutsche Jugend. Aber wenn Ernst Blochs (*1885+1977) These von der Ungleichzeitigkeit zutrifft,<br />
dann zwischen Frankfurt und dem Rest des Landes. Frankfurt, Mitte der achtziger Jahre ist<br />
eventuell die Bundesrepublik von übermorgen. Parallelen, die nicht augenscheinlich verlaufen, oft<br />
erst durch Zeitlupentempo im nachhinein greifbar werden. Tatsächlich ist Frankfurt eine<br />
Metropole, die Verwirrung stiftet, gedankliche Grenzüberschreitungen auslöst; eben eine<br />
Metropole der bewussten Missverständnisse und unbewussten Genauigkeiten, Alles, was in<br />
Frankfurt passiert, ist missverständlich und genau. Schon allein deshalb wäre Frankfurt nach dem<br />
Zweiten Weltkrieg (1939-1945) die ehrlichere Hauptstadt für dieses Land gewesen. Ein<br />
Missverständnis ist schon die Außenausstattung der Stadt. Menschen wurden entwurzelt, an ihren<br />
Rand ausgebürgert und vom Beton verschluckt. Urbane Viertel mit alter Bausubstanz und Parks<br />
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wurden achtlos dem Erdboden gleichgemacht. Beton entstand, Banken und Bonzen zogen dort<br />
ein.<br />
Genau sind dagegen Profite oder auch Spekulations-Gewinne an der Börse zu kalkulieren,<br />
scheinbar. Grund und Boden sind im Zentrum ausverkauft, bei Quadratmeterpreisen bis zu 14.000<br />
Mark. Genau ist auch die Zahl derer, die eine Wohnung bitter benötigen: 20.500, wobei 1.000<br />
Luxuswohnungen leer stehen. Genau ist die Zahl von 153 Häusern mit insgesamt 430 Wohnungen,<br />
die zuletzt den Bulldozern und Spekulanten zum Opfer fielen. Genau sind auch die Manager, die in<br />
ihren klimatisierten Hochhäusern den Panorama-Blick ihr eigen nennen und die Stadt unter sich<br />
wissen. Kaum eine Dollar-Talfahrt ohne Intervention der Deutschen Bundesbank, kein<br />
Metallarbeiter-Streik ohne Eugen Loderer (1972-1983; *1920+1995) und später Franz Steinkühler<br />
(1989-1992) samt der Bank für Gemeinwirtschaft, keine Hoffnung auf sichere Arbeitsplätze im<br />
Norden und Süden des Landes, wenn Banken mit Sitz in Frankfurt, kränkelnde Unternehmen<br />
Kredite oder Bürgschaften entziehen.<br />
Ein deutsches Missverständnis ist auch die Sozialdemokratie in dieser Stadt, die<br />
programmatisch und emotional abgewirtschaftet hat. Eine Orts-SPD, weil links von der<br />
Bundespartei, förderte die Spekulationsprofite am Börsenplatz Frankfurt, City-Zerstörung und<br />
Mietwucher. Genau sind dafür Skandale und Affären, bis auf Heller und Pfennig, Euro und Cent.<br />
Millionen-Verluste der Hessischen Landesbank (Helaba) bei merkwürdigen Investitionen unter<br />
SPD-Aufsicht. Spenden-Geschichten, die in Wirklichkeit Schmiergelder waren.<br />
Ein weiteres Frankfurter Missverständnis ist ferner, dass jeder vierte Polizeibeamte ein<br />
Versetzungsgesuch eingereicht hat. Vielen ist es egal, wohin, nur raus aus dieser Stadt. Genau<br />
waren und sind aber ihre paramilitärischen Aufmärsche und ihre Knüppelaktionen - gegen alles,<br />
was nach Demonstrant riecht und nach Hausbesetzer aussieht.<br />
Missverständnisse über all die Jahre, das macht nervös, so viel Genauigkeit und<br />
Geschäftigkeit macht sarkastisch. Denn die viel zitierte Betroffenheit ist offenkundig nur eine<br />
winzige Nische, die noch bleibt, um sich in einem hoffnungsvollen Rest zurechtzufinden. Sie ist die<br />
Maxime der Spontis und Frankfurt ihre Hochburg. So wie es Daniel Cohn-Bendit, der<br />
Studentenführer vom 68er Pariser Pflaster von einst, meinte: "Beim Bau der Barrikaden wurden die<br />
Grundlagen für die Entstehung neuer emotionaler Beziehungen gelegt. Diese Barrikaden-<br />
Gemeinschaft verkörperte den großen Einbruch der Zukunft in die Gegenwart. Diese Nacht hat<br />
viele Psychiater arbeitslos gemacht."<br />
Es sind vornehmlich die Psychotherapeuten, die in Frankfurt einer ungeahnten<br />
Hochkonjunktur entgegensehen. Wie die Lufthansa legte auch das Sigmund-Freud-Institut (1960<br />
gegründet, seit 1995 Forschungseinrichtung) eine allerdings auf Jahre währende Warteliste an.<br />
Hunderte von Menschen halten ihren Grundwiderspruch zwischen Denken und Fühlen, zwischen<br />
Kopf und Bauch zusehends schwerer aus. Der Besuch beim Psychiater gerät zur all wöchentlichen<br />
Routine; zählt im Bildungsbürgertum und einer arbeitslosen akademischen Jugend zum<br />
gesellschaftsfähigen, ichbezogenen Gesprächsstoff dieser Jahre.<br />
Das Bundesamt für Verfassungsschutz schreibt über die Spontis: "Die schwer<br />
überschaubare undogmatische links-extremistische Bewegung besteht nach wie vor aus zahlreichen<br />
meist kleinen Gruppen - oft nur lockere, kurzlebige Zusammenschlüsse ohne feste Mitgliedschaft<br />
und Programm - die die bestehende soziale und politische Ordnung revolutionär beseitigen wollen.<br />
Sie lehnen die marxistisch-leninistische Konzeption ab und treten für Autonomie, Spontaneität und<br />
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Selbstorganisation der 'Unterdrückten' ein, von denen sich einige deshalb auch ausdrücklich<br />
Spontan-Gruppen oder 'Spontis' nennen."<br />
Linksextremistisch, wenngleich undogmatisch im Sinne Lenins, trotzdem revolutionär,<br />
auch wenn es sich oft nur um kurzlebige, lockere Zusammenschlüsse handelt? Ein Sponti , der<br />
solche Verfassungsschutz-Weisheiten ernst nimmt, ist in Wirklichkeit kein Sponti. Selbst<br />
Revolution, dieses rote Wörtchen, ist heute stumpf geworden. Zumindest für den Autokonzern<br />
BMW, der mit ihr wirbt, um seine schnellen Renner unters Volk - auf die Autobahnen zu bringen.<br />
Sponti-Betroffenheit kennt ganz andere Varianten - sie ist für Außenstehende in der Tat<br />
schwer zu überschauen. Vor allem reicht das verschlissene politische Links-Rechts-Vokabular nicht<br />
mehr aus, um sie zu erfassen. Auf eine ideologische Größenordnung ist sie ohnehin nicht mehr zu<br />
bringen. Hinter der Sponti-Wahrnehmung verbirgt sich, wie es Heinz Stephan Herzkas in der<br />
Zeitschrift psychosozial formulierte, der neue "Empfindungsmensch". Er ist misstrauisch<br />
gegenüber Institutionen, organisierten Gruppen und durchgeplanten Aktionen. Seine<br />
Lebensphilosophie ist vielmehr von dem Grundgefühl getragen, "dass die Organisiertheit der<br />
Gesellschaft den eigenen Grundwerten zuwiderlaufen und auf ihn verstümmelnd wirke" (Herzka).<br />
So glauben die meisten Jugendlichen, den Grundwiderspruch zwischen Denken und Fühlen,<br />
zwischen Kopf und Bauch nur in einem alternativen Lebenszusammenhang auflösen zu können.<br />
Ein Lebenszusammenhang, der die bürgerlichen Spielregeln außer Kraft setzt, in dem rationales<br />
Handeln nicht konträr zu den Gefühlen abläuft.<br />
Der PflasterStrand berichtet in jenen Jahren vom "Volk ohne Traum" am Main und<br />
schreibt: "Der große Traum von 1968 ist ausgeträumt, der alte schreckliche Traum der Deutschen<br />
der 50er, ein Leben in Frieden und eigenem Häuschen, wird nostalgisch wieder aufgewärmt,<br />
erreicht uns auch, aber ist noch zu schwach, um wirksam zu werden. Unsere Armut ist, keine<br />
Träume zu haben. Dass wir damit wieder dem übrigen Volk näherstehen als noch vor Jahren,<br />
macht die Lage nicht erträglicher. Der gemeinsame Mangel stärkt nicht, er hetzt gegeneinander<br />
auf."<br />
Frankfurt in diesen Tagen, Szenen aus dieser Stadt. Im mit Blumen geschmückten Dekor<br />
der Paulskirche, jenem historischen Gemäuer republikanischer Tradition, haben sich Manager,<br />
Minister, Stadtväter und Universitäts-Professoren eingefunden. Ein pompöser akademischer<br />
Festakt ist angesagt. Drei hochkarätigen Industriellen soll aus Dankbarkeit und Anerkennung die<br />
Ehrensenatorenwürde der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität verliehen werden. Unter den<br />
Geehrten: Rolf Sammet (*1920 +1997), Präsident des Chemieverbandes und Vorstands-<br />
Vorsitzender der Hoechst AG. Gerade dieser multinationale Konzern hat es in jüngster Zeit<br />
verstanden, einen Umweltskandal nach dem anderen zu inszenieren. Und nach einer Studie der<br />
Arbeitsgemeinschaft Rhein-Wasser-Werke gilt die Hoechst AG als der größte Wasserverschmutzer<br />
der Bundesrepublik. Mitte der 50er Jahre überschritt der Jahresumsatz des Konzerns erstmals eine<br />
Milliarde Mark. Ende der achtziger Jahre erreichte der Konzern mit über 170.000 Beschäftigten<br />
einen Jahresumsatz von 46 Milliarden Mark. Im Jahre 1994 wurde der Frankfurter Chemiekonzern<br />
in die französische Holding Rhône-Poulenc zur Aventis S.A. überführt. Der Name Hoechst<br />
verschwand 2004 ganz aus der Öffentlichkeit.<br />
Im Festsaal der Paulskirche im achtziger Jahrzehnt jedenfalls intonierte das<br />
Kammerorchester der Musikhochschule für den Hoechst-Manager Rolf Sammet noch Vivaldis<br />
"Concerto Grosso", draußen vor der Tür kreischten Polizei-Sirenen, rotierten Hubschrauber im<br />
Niedrigflug, fegten Wasserwerfer den Paulsplatz menschenleer. Etwa 300 Jugendliche waren dem<br />
Demonstrationsaufruf des Allgemeinen Studentenausschusses (ASTA) der Universität gefolgt, um<br />
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gegen die zu kürenden Ehrensenatoren zu protestieren. Auf ihre Transparente hatten sie in großen<br />
Lettern gepinselt: "Die Schweine von heute sind die Braten von morgen." - "Umweltschutz ist<br />
wichtiger als de Gewinne der Farbwerkbosse." - "Aus Liebe zu den Senatoren kauft<br />
Schweineschwänzchen und Schweineohren."<br />
Von Sperrgittern und Wasserwerfern verbarrikadiert, von Polizeihundertschaften nebst<br />
Reiterstaffeln eingekreist, doziert im Kirchen-Interieur Uni-Ehrensenator Hartwig Kelm über die<br />
"schweigenden Mehrheiten" von Studierenden und Lehrenden, die sich aus der "Umklammerung<br />
von brutaler Gewalt und rücksichtsloser Missachtung demokratischer Gesetzmäßigkeiten" befreien<br />
wollen.<br />
Privatbankier Johann Philipp Freiheit von Bethmann (*1924+2007), der der hessischen<br />
CDU mit ihrem rechtslastigen Landeschef Alfred Dregger (*1920+2002) orakelt in seinem<br />
Festvortrag über die von Vertrauenskrisen geschüttelten westlichen Demokratien. Ihm fehle es<br />
insbesondere an politischer Führung in diesem Land. Vor allem sei es aber "der alles regelnde<br />
Wohlfahrtsstaat, der als riesig umverteilende Sozialbehörde mehr und mehr den Charakter der<br />
beschützenden Herrschaft- und Ordnungseinrichtung verliere." Politik und Perspektive,<br />
Akkuratesse im Gesicht und am Zwirn - in Frankfurt kommt und geht ein Ehrensenator selten<br />
allein. Draußen auf dem Paulsplatz fliegen Eier, Farbbeutel, Jauchetücher, Schweineschwänze,<br />
Stinkbomben, verdrecktes Main-Wasser wird kübelweise ausgekippt. Und immer wieder stimmen<br />
Jugendliche ihr eigens für diesen Tag getextetes Liedchen an: "In einer Kirche sitzen zu Frankfurt<br />
am Main Leute, die nichts nützen, und lassen keinen rein. Sie schwingen große Reden von ihrem<br />
Bürgerglück und schmieden schon die Waffen der Giftmüll-Republik."<br />
Zwei Welten, zwei gegensätzliche Milieus knallen aufeinander, die einander nichts zu<br />
sagen haben, die sich gegenseitig abstoßen, die folglich kaum noch Berührungspunkte kennen, die<br />
sich im Grunde aber gegenseitig bedingen. Frankfurt in diesen Tagen, der achtziger Jahre, Szenen<br />
aus dieser Stadt. Wie an jedem Samstag schieben sich Menschentrauben über den Eisernen Steg,<br />
eine schmale Fußgängerbrücke, die über den Main führt. Am Sachsenhäuser Ufer ist Flohmarkt-<br />
Zeit. Ein Treffpunkt für Trödler und Gaukler, für professionelle Schausteller und Schüler, die<br />
Nippes und Comix anpreisen. Aber auch Alternativler aus den umgebenden Landkommunen<br />
haben da ihre makrobiotischen Stände, heimgepilgerte Poona-Jünglinge treten im Pulk auf und<br />
lassen den plötzlichen Exodus aus dem transzendentalen indischen Jenseits erahnen. Und dann<br />
gibt's noch die Punks, die Angehörige des sogenannten "Schwarzen Blocks". Ihr Äußeres:<br />
Lederklamotten, Stiefel und Sporen, Bürstenschnitt mit Ohrringen. Ihr Habitus: Sie trinken schon<br />
frühmorgens Bier wie Limo und geben einen dummen Spruch nach dem anderen zum Besten.<br />
"Kein Schwanz ist so hart wie das Leben" - "Auch Flöhe husten manchmal".<br />
Von Flöhen und Hustinetten wollte jedenfalls keiner mehr etwas wissen, als an die 50<br />
Jugendlichen in der routinierten Manier einer Klebekolonne ihre Transparente und Plakate<br />
befestigten. "Wir lassen uns nicht einschüchtern", flattert es auf einmal vom Eisernen Steg. Ein<br />
durchgestrichenes 129a deutet an, dass es sich um die vom Staat unter Strafe gestellte<br />
Unterstützung einer terroristischen Vereinigung dreht. Auslöser für diese Aktion war eine bereits<br />
Wochen zurückliegende Demonstration gegen "Isolationsfolter" gewesen. Auf den Flugblättern<br />
heißt es nunmehr: "Das Kleben dieses Plakats wurde zum Anlass genommen, um gegen Jürgen D.<br />
und Miriam G. Haftbefehl zu erlassen ! In der Begründung des Ermittlungsrichters Kuhn<br />
(Bundesgerichtshof) steht: 'Die Forderung um Zusammenlegung von politischen Gefangenen stellt<br />
den Tatbestand der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung dar.' "<br />
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Polizei rückt an, Visiere runter geklappt, Knüppel gezogen, Wasserwerfer in der obligaten<br />
Lauerstellung. Ihrer Aufforderung, die Straße unverzüglich zu räumen, folgen nur schaulustige<br />
Passanten und verängstigte Trödler. Zurück blieben etwa 150 Demonstranten. Ein seltsames<br />
Gemisch aus Punks, RAF-Sympathisanten und Hausbesetzern baut sich da spontan gegen die<br />
Staatsmacht auf. Aus Müllkasten werden Barrikaden, aus Bierflaschen gefährliche Wurfgeschosse.<br />
Für die Wohlsituierten dieser Stadt erlebt der "Bürgerkrieg" eine Neuauflage. Ihr Leitspruch: "Das<br />
Maß der jetzt aber voll." Doch für die distanzlosen Jugendlichen ist ihre Straßenschlacht "ein<br />
Rodeo auf hessisch, Gewalt-Momente in Frankfurt". Denn "wir gehen hier kaputt, und du gehst<br />
mit", lautet ihre Maxime. Über vier Stunden dauert die Massenschlägerei. Knüppel um Knüppel,<br />
Flasche um Flasche. Die Folgen: kilometerlange Autostaus auf den breiten Ausfallstraßen nach<br />
Süden, Verkehrschaos in die City, krankenhausreife Polizisten, Landfriedensbruch, Widerstand<br />
gegen die Staatsgewalt, Körperverletzung etc.<br />
Frankfurt im Sommer 1981, Szenen aus dieser Stadt. Aus dem Radio scheppert der<br />
Sechzigerjahre-Evergreen des Schlagersängers Drafi Deutscher (*1946+2005 "Marmor, Stein und<br />
Eisen bricht, aber unsere Liebe nicht ...". Auf dem UKW-Kanal 100 bis 104 meldet sich der 25-<br />
Watt-Sender "Radio Isnogud" (zu Deutsch is nix gut). Ein Sprecher verkündet: "Wir brauchen<br />
keine Konzession, und wir machen auch keine." Denn "Radio Isnogud" lebt und überlebt im<br />
Schatten der Frankfurter Hochhäuser. Pfeilschnelle Gestalten sausen über die Dachböden. Sie<br />
zerren Antennen und Kabel hinter sich her und senden, was das Zeug hält. Heimlich. Und dabei<br />
wird ihnen langsam klamm. "Radio Isnogud" trifft sich an verborgenen Orten und heckt flüsternd<br />
finstere Pläne aus. Die Peiler von Post und Polizei heften sich verstohlen an seine Fersen. Kurzum,<br />
alles wie im Krimi und "einfach zum Kotzen".<br />
Jeden ersten und dritten Montag im Monat strahlt "Radio Isnogud" sein Programm aus,<br />
das sich nach einem bösen Comic-Wicht nennt. Terminhinweise für Demonstrationen, ob<br />
verboten oder genehmigt, Veranstaltungskalender aus dem Alternativen-Zentrum Batschkapp, dem<br />
Café Größenwahn oder aus "Inder-City", einer leerstehenden Eisenbahnhalle. Seit Monaten peilten<br />
Post und Polizei die Stadt nachdem ominösen Piratensender aus. Stets Fehlanzeige. Wie einst die<br />
Tupamaros (1963-1985) im fernen Uruguay, hatte nunmehr die "Isnogud-Intendanz" zu einem<br />
Geländespiel auf dem verwaisten Fabrik-Areal der Seifenfirma Mouson ("Die mit der<br />
Postkutsche") geladen, und alle kamen. Den Journalisten folgte die Polizei und ihr natürlich der<br />
grüne Peilwagen. Von den "Isnogud"-Leuten jedoch keine Spur, nur der Sender tönte irgendwo.<br />
Ganz im Stil einer hautnahen Kojak-Inszenierung hechelten Polizisten trotz offener Tore<br />
über den Zaun. Über eine Stunde gestikulieren, rätseln 15 Zivilbeamte und 3o Uniformierte, wo<br />
der Schwarzsender nun eigentlich steckt. Sie durchkämmen Hof und Häusertrümmer, latschen<br />
durch Pfützen und krabbeln unter Kellertreppen. Als nur noch der verrottete Fabrikturm<br />
übrigblieb, muss erst einmal die Feuerwehr um Amtshilfe gebeten werden. Schließlich fährt die<br />
Leiter aus, Beamte klettern hinauf, schlagen Scheiben ein. Mit Suchscheinwerfern geht's in die<br />
Räume. Für Radio "Isnogud" kein Grund, Funkstille einzulegen. "Our fantasy is your desaster",<br />
tönt es da. Eine Stunde später. Der Polizisten-Troß stapft die Feuerwehrleiter hinunter. Ein<br />
Beamter von der Spurensicherung bringt eine Angel mit, ein anderer eine Plastiktüte. Im Beutel: ein<br />
Kassettenrecorder, Transistoren und Spulen. Die "Isogon"-Freaks waren längst ausgeflogen. Der<br />
Feierabend hatte seine Beamten wieder.<br />
Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht solche oder ähnliche Vorfälle registriert werden, mal<br />
dramatisch, mal weniger spektakulär. Längst hat sich die breite Mehrheit daran gewöhnt. Es ist ein<br />
schleichender Gewöhnungsprozess ans Ungewöhnliche in dieser Stadt, der das ohnehin nicht stark<br />
125
verankerte Unrechtsbewusstsein trübt, gleichzeitig aber noch von den hohen Postulaten<br />
unantastbarer Freiheits- und Lebensrechte ausgeht - Paradoxien dieser Zeit.<br />
Aber nicht die Gewalt, nicht die paramilitärischen Konfrontationen, mit dem<br />
Polizeiapparat sind erklärte Sponti-Ziele. Vielmehr treffen Happning artige Proteste, künstlerische<br />
Clownerie und private Muße als Selbstfindung sein eigentliches Lebensgefühl. Doch nur wenige<br />
wussten um den schmalen Pfad, auf dem sie sich bewegten. Denn wann und wo lassen sich<br />
eindeutig die Grenzlinien ziehen, etwa zwischen kleinfamiliären Verhaltensweisen und tatsächlich<br />
neuen Formen des Miteinanders, wo endet die unterdrückende Gruppennorm, wo beginnt die<br />
befreiende Solidarität, wann hat jemand eine Neurose, wann sagt man, ja, endlich, das ist die neue<br />
Identität, wann ist die zu leistende Arbeit nicht entfremdet, sondern selbstbestimmt, inwieweit<br />
muss man sich noch kapitalistischen Marktzwängen unterordnen?<br />
Die Grenzen sind oft fließend. Lehrlinge, Schüler und Studenten, Arbeitslose, Freaks und<br />
freiwillige Aussteiger zogen Ende der siebziger Jahre den aus der Ferne endlos erscheinenden<br />
Fluchtweg entlang, den andere, meist aus der Achtundsechziger-Generation bereits vorausgegangen<br />
waren: ob nach Nepal, Poona oder zur Landkommune in Niederbayern bleibt dabei einerlei. Doch<br />
nun ist ein Umkehrtrend erkennbar. Vorsichtig ertasten sie sich die Rückkehr ins städtische Getto.<br />
"Ach", stöhnt Uwe Döhn nach leidvollen Wanderjahren stellvertretend für die Frankfurter Szene,<br />
"hätte diese Erde doch einen Notausgang! Doch wohin ich auch schau, sehe ich doch nichts als<br />
Ausweglosigkeit. Nichts geht mehr, die letzte Kugel rollt im Todesroulette der Zivilisation."<br />
Frankfurt galt ihnen früher nur noch als ein "Hundeklo", neuerdings ist von "Heimat" und<br />
"Lebensraum" die Rede.<br />
"Wer nicht kämpft geht unter, wer kämpft reibt sich auf " - dieses Sponti-Grunddilemma<br />
hat sich in all den Jahren nicht auflösen lassen. Gleichwohl ist der stille Rückzug aus der<br />
Wirklichkeit einer erneuten Abrechnung mit ihr gewichen. Darin mag einer der Gründe liegen,<br />
warum die Konfrontation zwischen dem Staat mit seiner strukturellen Gewalt und der Verweigerer-<br />
Kultur mit ihren ungesetzlichen Widerstand an Härte zunimmt, in den achtziger Jahren sogar<br />
brenzlig eskalieren wird.<br />
Was der neuen Jugendbewegung ihre übergreifende Dimension gibt ist die Tatsache, dass<br />
die Aussteiger-Philosophie weit ins Lager der so genannten politischen Mitte reicht. Ausstieg aus<br />
der Kernenergie, Ausstieg aus dem Konsum, Ausstieg aus der Wegwerf-Gesellschaft. Gerade das<br />
Rhein-Main-Ballungszentrum mit seiner kaputten Metropole Frankfurt hat die Schwelle von<br />
Wachstum und Vernichtung längst überschritten. Trotzdem jagen Staat und Wirtschaft<br />
atemberaubende Modernisierungsprozesse im beginnenden Zeitalter der Globalisierung<br />
hemmungsloser durch denn je. Sie zerstören natürliches Leben, um künstliches Leben zu schaffen,<br />
von dem keiner eine Vorahnung hat, wie es einmal tatsächlich aussehen dürfte.<br />
Schnellstraßen, Hochhäuser, Abgase, Smogalarm, Trinkwasser, das teilweise ungenießbar<br />
ist, Flüsse, die zu Kloaken vergammeln. In den vergangene 30 Jahren wurden bereits 3.700 Hektar<br />
Wald, das entspricht rund 6.000 Fußballplätzen, für Wachstum und Wohlstand abgeholzt. Über<br />
drei Millionen Bäume sollen 1981 für die neue Startbahn des Flughafens gekappt werden - und im<br />
Jahre 2009 für eine weitere Land- und Startpiste wieder und wieder werden intakte Grünreservate<br />
dem Erdboden gleich gemacht. Massiver Widerstand war und ist bereits angesagt: "Wir sind keine<br />
Hippies oder Landstreicher, sondern Menschen, die trotz Androhung von Knast und Prügel dem<br />
Staat trotzen", so steht's auf der Gemeinschafts-Pinnwand. Rund um die Uhr kreist ein<br />
Wachdienst, mit Handys ausgestattet, ums Besetzer-Dorf.<br />
1 26
Vorzeitige Schulabgänger, Studenten, Jugendliche, die nur gelegentlich jobben, Arbeitslose<br />
- das ist der Stamm der 40 Dauerbewohner. Hier dreht es sich kaum um alternative Lebensformen,<br />
auch nicht um die dienstbeflissene politische Feinabstimmung, hier wird Widerstand praktiziert.<br />
Pfarrer Wulf Boller aus dem Örtchen Walldorf ließ bei einer kleineren Holzfälleraktion<br />
vorsichtshalber schon einmal seine evangelischen Glocken bimmeln. "Wir handelten wie im<br />
Bauernkrieg", erklärte Pfarrer Boller, "ein kirchliches Zeichen in einer revolutionären Situation, in<br />
der alle gegen einen übermächtigen Gegner zusammenstehen müssen." Der 21jährige Alexander,<br />
eín ehemaliger Theologie-Student, hockt vor der provisorischen Holzkapelle, die für ökonomische<br />
Gottesdienste hergerichtet wurde. Er liest in dem Buch "Zärtlichkeit und Schmerz". Eine gelassene<br />
und zugleich doch sehr gespannte Atmosphäre durchdringt das Besetzerdorf, so, als ob es<br />
zwischen technologischen Fortschritt und der Rückbesinnung auf die Urwüchsigkeit, die<br />
Bewahrung der Lebenslust keine Zwischentöne mehr gäbe. - In Minuten-Abständen dröhnen<br />
überm Dorf im Tiefflug Jumbos und Airbusse aus anderen Kontinenten ihrer Landebahn entgegen.<br />
"Wussten Sie, dass Frankfurt menschlich gesehen heute Vorbild ist?" tönte es einst in der<br />
Hauspostille des Oberbürgermeisters Walter Wallmann -einer anheimelnden<br />
Informationsbroschüre mit feinstem "Corporate Design", ein Glanzpapier, das mit 230.000<br />
Exemplaren den Weltstadt-Habitus heraus posaunt. "Nirgendwo in Europa können Sie so gut<br />
Geschäfte machen wie in Frankfurt", empfahlen sich die Rathaus-Herren auf dem englischsprechenden<br />
Markt.<br />
Die zerrissenen, grau belegten Zustände von ehedem, die kaum zufälligen Parallelen mit<br />
den Kloaken von New York, Liverpool und Berlin, damals, als Frankfurt in der Beliebtheitsskala<br />
mit Wanne-Eickel konkurrierte - all das scheint ignorant verdrängte Vergangenheit. Der<br />
Schriftsteller Ernst Herhaus (Kapitulation, Aufgang einer Krankheit, 1977) ein Chronist<br />
verflossener Tage, skizzierte "Frankfurt als ein Paradies und Canossa des Denkens, eine Symbiose<br />
aus Raubritterei, Schwerstarbeit und skrupelloser Theorie, berühmt durch den Ungehorsam und<br />
seinen Pessimismus, entschlossener als je zuvor, dem Rest seiner Zukunft abzutrotzen ...". Und<br />
Herhaus-Kollege Gerhard Zwerenz, der mit dem Rücken zur Stadt lebt, fürchtet, "dass auf die<br />
besinnungslose Ausbautätigkeit der sozialdemokratischen Stadt Frankfurt nun ein Rückschlag<br />
erfolgt, und dieser Rückschlag versucht, alte, überholte Strukturen wieder herzustellen. Wenn das<br />
gelingt, wird es sehr teuer werden, zweitens wird man damit Klassenstrukturen, die mit der<br />
demokratischen Grundordnung nicht übereinstimmen, auch restaurieren müssen. Davon<br />
abgesehen, fürchte ich, dass sich neue Konfliktfelder auftun, von denen die Baumeister des neuen<br />
restaurativen Frankfurts sich noch keine Vorstellung machen".<br />
"Nein, nein", sagt der Oberbürgermeister. "Ach, Sie können Ihren Notizblock einmal<br />
beiseite legen." Eine Stadt, in der die höchsten Umsätze, Gewinne und Steuererträge erwirtschaftet<br />
werden. Eine Stadt, die zur internationalen Drehscheibe für Waren und Güter avancierte. "Nein",<br />
erklärt Wolfram Brück, "die Stadt ist immer Kultur-träger gewesen, die Stadt ist Freiheit, die Stadt<br />
bedeutet Kultur, die Stadt ist westliche Zivilisation und Rationalität. Die Stadt heißt auch<br />
permanenter intellektueller Konflikt. Wer Stadt entwickeln wollte im Sinne von Disneyland, der irrt<br />
sich. Stadtluft macht frei, und hier in Deutschland steht Frankfurt in der allerersten Reihe der<br />
bürgerlichen Städte mit einer Freiheitsgewährung, die draußen auf dem Land nie hätte errungen<br />
werden können."<br />
Harmoniebeseelte Künstlichkeit, verkrampfte Anstrengungen nach neudeutscher<br />
Wohligkeit prägen trotz solcher kalenderreifen Lippenbekenntnisse die Rathaus-Herren und ihre<br />
emsigen Plakat-Schausteller. Schließlich darf sich die Frankfurter Zeil berühmteste und<br />
127
umsatzkräftigste Einkaufsstraße der Republik nennen. Über 80.000 Passanten, mehr als eine<br />
Milliarde Umsatz jährlich - und das auf nur 600 Metern. Fast 700 Plantagen wurden auf den Beton<br />
der U-Bahn-Röhren gepflanzt, an ein künstliches Bewässerungssystem angeschlossen. Dazu<br />
Hunderte von Parkbänken aufgestellt, ein paar Brunnen und Pavillons mit surrealen Effekten<br />
hergerichtet: eben ein artifizieller und scheinbar doch richtiger Wald mitten in der Stadt der Türme<br />
und Banken, im Aktionsradius der Manager und Bonzen.<br />
Vordergründig menschelt es auffällig laut in dieser Stadt. Gerade deshalb will sich ihr<br />
Oberbürgermeister künftig noch weitaus augenscheinlicher, weitaus "menschlicher" verausgaben,<br />
keimfrei und klug dazu. Frankfurt sei wieder "in", auch sein Renommee wüchse über die<br />
Stadtgrenzen hinaus, murmelt "Der Spiegel" Gedanken verloren. Das mag sicherlich fürs<br />
bildungsbürgerliche Ambiente und seine aufgemöbelten Großvillen am Museumsufer zutreffen.<br />
"Identifikationsbauten" heißen die umstrittenen Prestige-Projekte in unverkennbarer Amtsdiktion.<br />
Über sechs Milliarden Mark pumpte die Verwaltung über Rücklagen und Kredite in Neubauten<br />
und Stadtsanierung. Allein die alte Oper, dieser restaurierte Musen-Tempel früherer Epochen<br />
verschlang 200 Millionen Mark.<br />
Tatsächlich zerfressen aber unbändige Aggressionen die so herausgeputzte Innenstadt.<br />
Aggressionen der Angst, Aggressionen der gemeinsam erlebten Einsamkeit, der Isolierung,<br />
Aggressionen der Selbstbehauptung, Aggression der Triebe. Alle 23 Sekunden passiert ein<br />
Verbrechen. Jeden dritten Tag beendet ein Frankfurter freiwillig sein Leben. Ob nun Selbstmord<br />
oder Verkehrstod, ob äußere oder innere Aggression, die Grenzen sind fließend, längst nehmen<br />
sich die Zahlen nicht mehr viel.<br />
Immer häufiger wird die Schusswaffe zum unentbehrlichen Wegbegleiter. Schon in der<br />
City gelingen all monatlich zwei Morde. An die 25 Brandanschläge registriert die Feuerwehr in<br />
derselben Zeitspanne. Allein bei Rauschgiftdelikten klettert die Statistik auf 6,7 Fälle täglich.<br />
Gemeinhin teilt die Polizei Rauschgifttote nur noch unter fortlaufender Nummerierung mit. Halb<br />
resigniert, halb ohnmächtig spult sie ein Fahndungssonderprogramm nach dem anderen ab - immer<br />
mit der elegischen Gewissheit, "dass die Szene von uns nicht zu säuber ist", wie der<br />
Polizeipräsident bekennt.<br />
Alle 24 Stunden werden in Frankfurt Frauen Opfer einer Vergewaltigung. Und jeder<br />
Schüler tobt seine Wut im Durchschnitt für 35 Mark an PC-Rechnern oder Projektoren aus.<br />
Immerhin schlagen derlei Demolierungen im Stadthaushalt mit insgesamt 2,4 Millionen Mark zu<br />
Buche. Einmal stündlich, exakt 8.951 Mal im vorigen Jahr, reagieren sich irgendwelche Bürger<br />
irgendwo an Telefonzellen, Mülleimern, Wasserhäuschen oder Autos ab. Dabei handelt es sich nur<br />
um offizielles, meist frisiertes Zahlenmaterial. Die Dunkelziffer liegt weitaus höher; sie übertrifft<br />
um ein Fünf- bis Zehnfaches die amtlichen Prozentsätze. Dieses Frankfurt steigerte binnen zehn<br />
Jahren seine Kriminalitätsrate um hundert Prozent und dieses Frankfurt steht vor allen anderen<br />
deutschen Großstädten einsam, beinahe unerreichbar an der Spitze. Und das, obwohl seine<br />
Einwohnerzahl nicht im entferntesten an Berlin, Hamburg oder München heranreicht.<br />
Der Zeitgeist quetscht sich in die Polizeiberichte, die in ihrer unnachahmlichen Diktion<br />
zwar keinen Rauschgifttoten, kein Phantombild auslassen. Die Motive jugendlicher Selbstmörder<br />
indes bleiben in der Grauzone. So wird in Frankfurt am Main mit seinem geschmeidigen<br />
Wachstums-Konservatismus die Erosion verwaltet, werden Tote akkurat mitgeschrieben,<br />
Statistiken als Selbstzweck angereichert. Frankfurt in diesen Tagen - bedrückende Ereignisse,<br />
Befindlichkeiten in einer durch Aggressionen gekennzeichneten Wirklichkeit.<br />
1 28
Tatort eins: Dreieichstraße in Sachsenhausen. Mittagszeit. Die 14jährige Anita hat sich<br />
nach Schulschluss auf den Heimweg gemacht. Drei Mädchen, darunter Anitas Freundin Katrin,<br />
lauern ihr entgegen. Katrin ist nämlich empört über Anita. Sie hat angeblich die "Freundespflicht"<br />
verletzt, gar "Geheimnisse" über den Freund Edgar verraten. Deshalb sei nunmehr ein Denkzettel<br />
unumgänglich.<br />
Katrin und Kumpaninnen packen die arglose Anita. Zwei halten sie fest, die Dritte schlägt<br />
hemmungslos zu. Erst mit den Fäusten, dann mit Füssen, schließlich mit einem Stock. Selbst<br />
Anitas Weinen und Bibbern kann nicht verhindern, dass die drei ihr brennende Zigaretten in die<br />
Arme drücken und den Pullover versengen. "Wir verbrennen dir auch noch das Gesicht", soll<br />
Katrin in ihrem ungestillten Zorn der einstigen Freundin angedroht haben. Die fünf Mark, die<br />
Anita bei sich trug, musste sie rausrücken. Eine dreiviertel Stunde dauerte für Anita die Qual auf<br />
der belebten Dreieichstraße zur Mittagszeit. Viele Passanten zogen ihres Weges - keine Reaktion.<br />
Für die erpressten fünf Mark kauften sich Katrin und Helferinnen übrigens eine Packung<br />
Zigaretten.<br />
Schließlich am späten Nachmittag, schnappte die Polizei die jungen Peinigerinnen. Die<br />
Kripo meint: Dieses seien die Resultate der Fernseh-und Videoerziehung. Die Boulevard-<br />
Zeitungen klotzten mit gewohnten Gewalt-Instinkt: Das sind die "Folter-Mädchen". Eine neues<br />
US-Untersuchung besagt: Das amerikanische Durchschnittskind sieht bis zu seinem 15. Lebensjahr<br />
die Totalvernichtung von 21.000 Menschen. Im Unterhaltungsprogramm flimmern alle dreizehn<br />
Minuten realistische Brutalität. im Kinderprogramm hingegen schon alle elf Minuten über die<br />
Mattscheibe.<br />
Tatort zwei: Frankfurt-Sachsenhausen. In einer der typischen Kneipen geht die Post ab.<br />
Aus der Musikbox hämmert Johnny Cash's "The Streets of Laredo". An der Theke hängt der<br />
41jährige Toni. Von Beruf eigentlich Arbeiter. Doch schon seit geraumer Zeit, wie insgesamt<br />
32.000 Frankfurter, ohne Job, ohne Aufgabe, ohne Selbstbestätigung. Toni kippt Biere und Körner<br />
in sich hinein. Irgendwann, so gegen Mitternacht lallt er apathisch: "Ich hab' die Rosi umgebracht."<br />
Mehr bringt er nicht über seine Lippen, da der schwere Seegang ihn schon längst überwältigt hat.<br />
Dieser karge Satz reicht indes für seine Mitsäufer aus, die Polizei zu benachrichtigen. Als<br />
die Beamten in der Wohnung eintreffen, regt sich nichts. Sie müssen die Tür aufbrechen. Im<br />
Schlafzimmer finden die Männer des 8. Reviers die offensichtlich erwürgte Rosi. Daneben schläft<br />
Toni. Er hat zum Alkohol sich auch mit Schlaftabletten vollgepumpt. Über Jahre litt Toni an der<br />
als Bedrohung empfundenen Einsamkeit in dieser Stadt. Schneidend wie bedrückend empfand er<br />
sie. Aus diesem Grunde war er ja einen Monat zuvor mit Rosi zusammengezogen. Ein Neubeginn<br />
sozusagen. Doch die inneren Aggressionen, der Alkohol hatte ihn schon schon längst hingerichtet,<br />
bis zur Besinnungslosigkeit mit ihm Fußball gespielt. Aber immer wieder schienen Toni Biere wie<br />
Körner ein probates Mittel, leichtfüßig die nagenden Depressionen mit der ersehnten Euphorie zu<br />
vertauschen. Er suchte eine Nähe, die er nicht kannte, die ihn zudem restlos überforderte. Der<br />
inneren Aggressionen folgte die äußere, dann wieder die innere - zu guter Letzt der Knast.<br />
Des Abends wagt sich die 70jährige Rentnerin Johanna Richter aus dem bürgerlichen<br />
Dornbusch-Viertel ohnehin nicht mehr auf die Straße. Aber sie traut sich wenigstens zur<br />
Mittagszeit auf die Zeil. Dort tätigt die rüstige Dame meist ihre Lebensmitteleinkäufe. Jedenfalls bis<br />
zu besagtem Freitag. Soeben will Johanna Richter zum Fleischerstand gehen, als ihr Timo, 16, und<br />
Harald,17, einen Handkantenschlag in Richtung Kniekehle versetzen. Johanna Richter stürzt zu<br />
Boden. Die beiden Jungen entreißen ihr die Tasche. Die Beute 6.000 Mark. Die Inflation in den<br />
zwanziger Jahren, die Geldabwertung nach dem Zweiten Weltkrieg haben Johanna Richter<br />
129
gegenüber den Banken unsäglich misstrauisch gemacht. Tragisch für die betagte Rentnerin, die auf<br />
diese Weise ihr gesamtes Bargeld verlor.<br />
Timo und Harald -das sind Wohlstandskinder unserer Zeit, die der Wohlstand dieser Tage<br />
rigoros ausgeschlossen hat. Sie wuchsen in der Nordweststadt, also in Beton auf. Timo und Harald,<br />
zwei Jugendliche ohne Leerstelle, ohne Job, die ohne Selbstwertgefühl vor sich hinleben. Ihre<br />
Familien leiden unter arger Zerrüttung. Früher prügelte sie der Vater, damit sie nicht prügeln. Dann<br />
schlug sie die Mutter, damit ihnen die Schlägereien ein für allemal vergehen. Heute ist der Vater<br />
arbeitslos und Bierdosentrinker, Mutter laufend schwanger. An Streitereien mangelt es nie - nur am<br />
Geld. So zählen sie zu den 36.000 Sozialhilfeempfängern dieser Stadt, Menschen, die sich ihrer Not<br />
schämen und ihr Dasein an der Armutsschwelle fristen.<br />
Jugendliche, die seit ihrer Kindheit machen konnten, was sie wollten. Sie blieben doch die<br />
begossenen Vorstadt-Köter, eben Straßenkläffer, die keiner hören will und keiner ernst nimmt.<br />
Vom aggressiven Betteln in den U-Bahnschächten ("He Oma, mal ganz schnell fünf Mack rüber,<br />
sonst gibt's eins auf die Nuss") hatten beide genug, wegen der Kleckerbeträge und so. Deshalb<br />
spezialisiert sie sich kurz entschlossen auf die Handtaschen der Omis. Schließlich wollen Timo und<br />
Harald ihre Sehnsüchte nach Freiheit, Autobahn, Disco und Mädchen nicht vermasseln lassen,<br />
nicht nur mit einer lumpigen Mark dastehen, um abermals eine weitere Abfuhr zu riskieren. In<br />
Zahlen: Insgesamt zwei Drittel aller Raubüberfälle auf deutschen Straßen gehen auf die Gruppe der<br />
16 bis 25jährigen.<br />
Tatort drei: gutbürgerliches Milieu, Kneipen-Milieu im Westend zu Frankfurt am Main.<br />
Hier rekeln sich nach Dienstschluss die Herren des Imponiergehabes, der Rücksichtslosigkeit, die<br />
Männerwelt der Schwänze, umgarnt von Flanell nebst Yves Saint Laurent Rive Gauche. Wer hier<br />
als Marketing-Manager etwas verkaufen , Umsatz machen will - der muss sich Geltung verschaffen.<br />
Und Geltung kommt in dieser Gesellschaft nun einmal von der potenziellen Möglichkeit einer<br />
Vergeltung.<br />
An einem der hinteren Tische mit trügerischem Kerzenlicht hocken Bernhard, Eddy und<br />
Werner. Allesamt sind sie schon etwas älteren Kalibers, Profis genannt. Der Arbeitstag ist längst<br />
passé, dennoch können sie von ihm nicht lassen. Ihr Bordmittel in den Jobs zu überleben, das heißt<br />
noch und nöcher Geldscheine zu ziehen, bedeutet aggressive Selbstbehauptung - und das Tag für<br />
Tag. Die spärlichen Stunden des Abends gelten sozusagen der seelischen Nachbereitung der als<br />
völlig normal empfundenen Gewaltprotzerei. Vielleicht eint die Drei auch eine Art Hass-Liebe. Sie<br />
konkurrieren heftig miteinander, können aber nicht ohne den anderen. Sonst breitete sich ja eine<br />
gefährliche Stille aus. Das bindet sie, das treibt Bernhard, Eddy und Werner in ihren stärkenden<br />
Männerbund.<br />
Bernhard hat vor zwei Wochen eine neue Sekretärin angeheuert, "ne frische", wie er<br />
glaubt. "Bald werde ich sie über den Tisch ziehen. Hab ihr ja schon bei der Einstellung gesagt,<br />
3.500 brutto und einen Bums inklusive." Eddy will am nächsten Morgen seinem Texter "eins<br />
kräftig zwischen die Augen geben. You know, der Mann ist unfähig, der hat das Schreiben mit den<br />
Füssen gelernt, you know". Und Werner würde solche Pfeifen am liebsten sofort die Gehälter<br />
kürzen. Statt dessen "decke ich die jetzt so mit Arbeit ein, dass die auch am Wochenende ihre<br />
faulen Ärsche nicht pflanzen können. Wir sind doch keine Weichspüler, Mensch noch mal".<br />
Aber nun reicht ja der Gesprächsstoff über die allgegenwärtige Agentur kaum für eine<br />
ganze Nacht. Und außerdem wollen die drei sich hin und wieder über weniger brisante Themen<br />
streiten dürfen. Ihr zündender Funke ist dieses Mal die stramme Uniform. Eddy kämpfte für die<br />
1 30
US-Armee schon in Korea."Die Jungs waren einfach nicht hart genug." Bernhard steht auf den<br />
israelischen Geheimdienst: "Hoch-intelligent, stählerne Nerven." Der etwas jüngere Werner<br />
schwärmt von Mogadischu von der GSG9Elitetruppe des Bundesgrenzschutzes: "Eine<br />
Präzisionsarbeit par excellence". Derlei Heroensprüche regen Hermann sichtlich an. Er hütet schon<br />
seit etwa zwei Stunden einsam die Aperitif-Bar. Mit der Bemerkung, dass er Kampfflieger der<br />
Bundesluftwaffe gewesen sei, bringt sich der kurz geschorene Hermann in die trinkfeste Runde ein.<br />
Hermann bedeutet, dies könne jeder Kenner schon daran sehen, "weil ich niemals mit den<br />
Wimpern zucke und dem Feind zuallererst in die Augen schaue." Die Uhr zeigt auf eins. Die<br />
erfolgreichen Herren wollen aufbrechen, aber noch hören sie sich einen Halbsatz von diesem<br />
Hermann neugierig an, nämlich den, "dass ich auch ein Killer war". Ein ganz gewöhnlicher Abend<br />
in einer Kneipe im Westend zu Frankfurt am Main.<br />
Frankfurt-Ginnheim, die beschauliche Idylle der Kleingärtner. Gartenzwerge, eingelassene<br />
Springbrunnen, Radieschen, Tulpen und Äppelwoi. Hier hat auch der 41jährige Bahner Heinz<br />
Schröder sein eingezäuntes Refugium. Hier will er vom Alltag abschalten, im ärmellosen<br />
Unterhemd Holzhacken, Laube streichen, Beete ziehen. Hier bei Schröder dominiert aber ebenfalls<br />
die deutsche Gründlichkeit, die deutsche Ordnung, die deutschen Vorurteile, die deutsche Raserei.<br />
An diesem Sonntag erdreisten sich zwei Türken mit ihrer kleinen Tochter zu einem<br />
Spaziergang in der Nähe des Kleingarten-Vereins. Und statt des Feldweges erlauben sie sich gar,<br />
quer über den Acker zu laufen, der an Schröders beäugten Refugium angrenzt. So etwas mag<br />
Bahner Heinz Schröder nun gar nicht. Ganz nach dem Motto, im Hauptbahnhof so viele Türken<br />
und jetzt noch hier auf dem Acker. Zunächst schreit er nur: "Ihr Türken-Säue, runter vom Acker!"<br />
Als der eine daraufhin den Kopf schüttelt, der andere bloß lacht, holt Schröder ein etwa zwei Meter<br />
langes Kantholz, rennt hinter den nunmehr flüchtenden Türken her und drischt unentwegt auf sie<br />
ein.<br />
Derweil holt Anneliese Romberger, die die Auseinandersetzung beobachtet hatte, von der<br />
Nachbar-Parzelle Verstärkung. Frau Romberger befürchtet nämlich, "der Herr Schröder kann das<br />
gegen die Kanaken nicht allein durchstehen". Stets hilfsbereit, wenn es sich um solche Fälle dreht,<br />
rennt der 47jährige Siegfried Osten los, macht flugs den Konflikt zu seiner ureigensten<br />
Angelegenheit. Nach circa siebzig Metern springt er den einen Türken direkt an. Der wiederum<br />
wehrt sich jetzt mit seinem Taschenmesser, stößt Siegfried Osten in den Bauch. Alltag in Frankfurt<br />
am Main.<br />
Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht solche oder ähnliche Vorfälle notiert werden. Längst<br />
hat sich die Mehrheit auch an die Street Gangs "Ducky Boys" und "Atomic Duke Kamerun", an<br />
Rauschgift, Waffenhandel , Zuhälterei gewöhnt. Von der Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis<br />
genommen, von verantwortlichen Institutionen geflissentlich heruntergespielt, steht dieses schöne<br />
CDU-Frankfurt vor einer neuen Dimension der Brutalisierung. Statistiken waren selten ein<br />
zuverlässiger Gradmesser, den qualitativen, unterschwelligen Wandel zu erfassen. Den Wandel der<br />
Werte und Normen, die irreparable Zerklüftung in eine Oben- Unten-Gesellschaft.<br />
Dieses Frankfurt - das ist ein hoffnungsloser Fall. Die alten Leute haben sich in den<br />
unwirtlichen Wohngettos versteckt, schlucken nicht selten ihre Todesangst in seelenlosen<br />
Altenheimen mit Aufmunterungsliedern wie "Gloria, Viktoria, Schnaps ist gut gegen Cholera"<br />
herunter. Sie wollen einfach nicht ins Stadtbild aus Profit, angestrengte Nettigkeit und hastiger<br />
Superlative passen. Anneliese Müller-Alt, eine 93jährige Dame, lebte 42 Jahre im selben Haus. Zwei<br />
neue Eigentümer verboten ihr über zwei Jahre, Wäsche zu waschen, Besucher zu empfangen. Sie<br />
rissen Leitungen heraus, sperrten der betagten Frau den Zugang zur Speisekammer. Dann hatten<br />
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sie Anneliese Müller-Alt endlich in eines der Altenheime verfrachtet, in denen bekanntlich "eine<br />
erfüllte und mitgestaltete Lebensphase beginnt", und konnten endlich mit riesigen Profitmarge die<br />
Miet- in Eigentumswohnungen umwandeln. Die alte Dame lebte, vegetierte weiter, Tag für Tag mit<br />
einer Dosis Psychopharmaka – Ruhe auf Rezept.<br />
In kürzester Zeit sollen nunmehr auch noch die 3.000 Nutten vertrieben werden, Bordell-<br />
und Pornobetriebe will die Konservativen dieser Stadt zurückerobern, ein gutbürgerlicher Wohn-<br />
und Geschäftsbezirk soll dort entstehen. Das Bahnhofsviertel ist das letzte bizarre Relikt aus<br />
Frankfurts wilder Zeit - eben eine Bannmeile, innerhalb der sich die Extremen hautnah berühren:<br />
Puffs und Bürgertum, Religion und Kommerz, Deutsche und Exoten, Arme und Reiche, Gläubige<br />
und Ungläubige. Hier gibt es Massagesalons neben Asylantenheimen. Aussteiger residieren im<br />
selben Haus wie die Wohngemeinschaft der Callgirls. Pelzeinkäufer nisten neben den berüchtigten<br />
Umschlagplätzen für Heroin. Hier finden sich Moscheen in Hinterhäusern, indische Tempel in<br />
Garagen und Koranschulen neben dem sogenannten Badehaus mit Sauna-Service - und das alles<br />
auf engstem Raum. Das Bahnhofsviertel ist ein verwegener, widersprüchlicher Bezirk. Vielleicht<br />
überhaupt das kunterbunteste, irrste Stadtviertel Deutschlands -jedenfalls eine ungemeine<br />
Provokation für Stadtplaner feinsäuberlicher Verhältnisse.<br />
Wohin mit den Prostituierten, wohin mit den Ausländern, die im Bahnhofsviertel siebzig<br />
Prozent der Bevölkerung ausmachen? Keiner weiß es genau, keiner will es genau wissen. Vielleicht<br />
ins unbehauste Gewerbegebiet am Osthafen, vielleicht an den Gleiskörper der Deutschen<br />
Bundesbahn, vielleicht nach Offenbach oder Hanau, Großgerau oder Dreieich. Achselzucken.<br />
Spätestens in zwei Jahren soll "das Herzstück der Stadt" puff-frei sein. Dann bliebe schließlich<br />
noch genügend Zeit, "in eindrucksvoller Weise die Organisationskraft der Stadt zu beweisen" und<br />
sich für die Olympischen Spiele im Jahre 2004 zu bewerben. Jedenfalls sind dafür bereits 250.000<br />
Mark veranschlagt worden. "Frankfurt am Main - das ist ein hoffnungsloser Fall ... ... Den<br />
Frankfurtern ist nicht mehr zu helfen, allenfalls kann man Mitleid haben mit den Bewohnern einer<br />
so armseligen, vom Reichtum zerstörten Stadt", bemerkte die "Frankfurter Allgemeine Zeitung"<br />
schon vor mehr als einem Jahrzehnt.<br />
1 32
1988<br />
Saufgelage in Ossis Bundeshaus-Bar in Bonn<br />
133
POLITIKER-KLASSE UNTER SICH - SAUF-GELAGE IN<br />
OSSIS-BAR ZU BONN<br />
Die Bundeshaus- Bar als Wohnzimmer-Ersatz und mit der Whisky-Flasche<br />
"verheiratet": FDP-MdB Detlef Kleinert (1969-1998)<br />
Als Mätresse von Bundeskanzler Willy Brandt (1969-1974) Jahre später auf sich<br />
aufmerksam gemacht: Heligine Boelesch-Ihlefeld<br />
"Deutschland ist das einzige Land, wo Mangel an politischer Befähigung den<br />
Weg zu den höchsten Ehrenämtern sichert." (Carl von Ossietzky in "Die Weltbühne" )<br />
Nahezu 4,3 Millionen Menschen sind alkoholabhängig. Nahezu 40.000<br />
Suchtkranke begleitet die Flasche in den Tod; Männer wie Frauen; Jahr für Jahr.<br />
"Wahlen verändern nichts, sonst wären sie verboten" (Graffito in einem Bonner<br />
Fußgängertunnel)<br />
PFLASTERSTRAND, Frankfurt a/M WIENER, München 1. September 1988<br />
Gelallt haben die Herren Politiker nicht nur einmal an Oswaldos Theke. So heißt der<br />
44jährige italienische Barkeeper des Bundeshauses, den die Abgeordneten kurz "Ossi" rufen. Zur<br />
informellen, "zweckungebundenen Kontaktaufnahme" soll dieses Refugium mit seinen 60<br />
Quadratmetern und 87 Cordsamtpolstern dienen. Nur zu verständlich, dass der<br />
Bundestagspräsident ein Fotografierverbot anordnete, dass das Tageslicht aus dem angrenzenden<br />
Restaurant dieser "Moon-light-Atmosphäre" aus VIP-Lounge und Nacht-Klub im diskreten<br />
Halbdunkel nichts anhaben kann, dass hier fast jede "MdB-Entjungferung" gebührend begossen<br />
wird - vor der Mittagspause.<br />
Als "entjungfert" gilt ein Bonner Politiker, wenn er im Plenum der verwaisten Stühle seine<br />
erste Rede ablesen darf; das passiert meistens morgens zwischen 9 und 11 Uhr. Dort mufft es noch<br />
kalt und unnachahmlich nach Bohnerwachs samt Linoleum wie einst in den Bahnhofswartesälen<br />
der Adenauer-Jahre - und dieses Bundeshaus ist der größte Verladebahnhof dieser Republik.<br />
Dafür vermittelt Ossis Bar jene behagliche Nestwärme, die schon am Morgen den<br />
anstehenden Tag vergessen lässt. Während die Newcomer ihre für den Wahlkreis gedachten<br />
Turnübungen im Parlament vorführen, kippt derweil vornehmlich die eingesessene liberale<br />
Bügelfalten-Kundschaft ihren gewohnten Pegel für den 16stündigen Arbeitsmythos in sich hinein.<br />
Jägermeister, Fernet Branca, Bier, Steinhäger; hin und wieder ein Quarkbrot, um die Leber zu<br />
entlasten. Dort gibt der in Hannover mit dem Alkohol verheiratete Detlef Kleinert die allseits<br />
akzeptierte Weisheit von sich: "Wenn man drin ist, dann kann man rausgucken" - als<br />
Morgenandacht sozusagen. Da hockt er am Telefon und gibt die ersten wichtigen Anweisungen<br />
seiner Sekretärin durch, um sogleich wieder zum Tagungsordnungspunkt "Früh-Witzchen"<br />
zurückzukommen. Kleinert hat seine Hand noch am Hörer und posaunt voller Lebensfreude in die<br />
verkaterte Runde, "die eine Hand am Telefon, die andere am Kitzler, das ist der deutsche Arbeiter-<br />
und Bauernsohn Karl-Eduard von Schnitzler".<br />
Aber richtig zur Sache kommen die Volksvertreter und Pressekollegen mit ihren<br />
Assistentinnen wie den Journalisten-Damen erst am späten Nachmittag, wenn im Raumschiff-<br />
1 34
Bonn die gemeinsam erlebte Einsamkeit droht, wenn innere Spannungen wie äußerliche<br />
Gewichtigkeit ihren Seelenausgleich benötigen.<br />
Dann breitet sich unter Ossis Klientel das intensive Gefühl aus, als seien sie alle in einem<br />
kleinen Verlies unter der Erde. Allenfalls eine namentliche Abstimmung im Plenum oder kurzfristig<br />
anberaumte Fraktionssitzungen könnten die ehrenwerte Ossi-Gesellschaft wieder an die<br />
Erdoberfläche spülen.<br />
Klaus Altmann (*1933+2001), FDP-Korrespondent im Bonner Studio des Westdeutschen<br />
Rundfunks, schluckt seinen Rosé wie Mineralwasser und lamentiert zum wiederholten Male über<br />
die Kanzlerschaft Willy Brandts, seinen Wahlkampf-Sonderzug, der es ihm besonders angetan hat,<br />
und natürlich über "Willys nächtliche Damen-Besuche irgendwo bei Osnabrück auf dem<br />
Abstellgleis da". Nach dem sechsten Glas drängt Altmann zur Toilette. Auf dem Weg dorthin trifft<br />
er auf eine Besuchergruppe aus Oberhausen. Sie sucht offenkundig Bonn, das Bonn der<br />
Fernsehlegenden. Aber wo ist dieses Bundes-Bonn jetzt, hier inmitten des Bundeshauses? Rosé-<br />
Altmann blickt in ratlose Gesichter. Menschen, die nicht im leisesten ahnen können, dass ihnen ein<br />
Teil der Bonner Wirklichkeit mit glasigen Augen gegenübersteht - ein vom Alkohol gekrümmter<br />
Mattscheiben-Mann, der überdies mit seinem eckigen Gang größte Mühe hat, bei Ossi wieder sein<br />
Plätzchen einzunehmen.<br />
Auch ich trinke mein fünftes großes Bier und mische mich in Altmanns Tiraden ein:<br />
"Aber Herr Altmann, das wissen wir hier schon alle zu genau. Was wir nicht kennen, ist die<br />
Geschichte, wie Sie tagsüber im Abgeordnetenbüro des Herrn Dr. Menne (*1904+1993) mit seiner<br />
Sekretärin unterm Schreibtisch in flagranti von ihm erwischt worden sind. Das hat er mir<br />
zumindest so erzählt, seine Sekretärin musste schließlich ihre Sachen packen, bekam die<br />
Kündigung." Altmann: "Herr Kollege", wenn Sie noch solch einen Scherz vom Stapel lassen, habe<br />
ich allen Grund, mir gleich eine ganze Flasche von diesem Zeug zu bestellen, nicht wahr Ossi ?" -<br />
"Selbstverständlich Herr Altmann, es ist ja noch früh am Abend."<br />
Am Tresen plauscht derweil der Mainzer FDP-Staatssekretär Professor Rumpf in eitler<br />
Koketterie mit Bonns Klatsch-Kolumnistin Almut Hauenschild. Dabei reißt Frau Hauenschild ,<br />
wie sie sich sibyllinisch entschuldigt, hier nur ihre "Schicht" ab. Früher, als sie noch in München<br />
klatschte, spürte sie die Haute-Volée im Bayerischen Hof auf; als Arbeitskollegen vom Reporter-<br />
Kollegen "Baby Schimmerlos" im Milieu der Schickeria sozusagen. Heute menschelt Frau<br />
Hauenschild mit den Wohlbeleibten aus Politik und Wirtschaft, um ihren Bonner Bauchladen als<br />
freie Journalistin bedienen zu können. Jedenfalls ist ihr die Schlagzeile des kommenden Tages<br />
schon gewiss: "Wo Detlef Kleinert zum Schiffversenken ruft."<br />
Eine ihrer Vorgängerinnen wurde zu Beginn der siebziger Jahre auch plötzlich ganz<br />
unvermittelt gerufen - aus dem Bundeskanzleramt im Palais Schaumburg des Willy Brandt.<br />
Gleichsam füllte Heli Ihlefeld-Bolesch Münchens Druckspalten mit vielerlei Nippes exklusiv aus<br />
dem Zentrum der Macht. War sie unter anderem nach eigenen öffentlichen Bekundungen in erster<br />
Linie doch die "Geliebte von Willy Brandt"; in erster Linie deshalb, weil da noch so mancher<br />
Minister oder auch mal ein Staatssekretär über ihre Bettkante hüpfen durften. Nur über Bars,<br />
ausgerechnet diese vermieften Bars, Hotelbetten oder gar Liegesitze in Staatskarossen - da konnte<br />
Heli sanft und introvertiert lächeln, "irgendwie fürs Fußvolk - genau wie Ossis abgestumpfte<br />
Tresen-Romantik", beschied sie und flüsterte in den Telefonhörer im Keller-Büro in der<br />
Dahlmannstraße. "Bin schon auf dem Weg." Irgendwie schon naheliegend und auch folgerichtig<br />
hat Frau Ihlefeld drei Jahrzehnte später von ihren Bonner Jahren Sittsames aus dem Nähkästchen<br />
geplaudert. Mitteilungsdrang. "Auf Augenhöhe" mit den Männern der Macht nannte sie ihre in<br />
135
Buchdeckel gepackten Spickzettel verblasster Zyklen. Wenn es nur bei der Augenhöhe geblieben<br />
wäre - sie hätte sich mit ihrem Mätressen-Mythos, aber auch ihrer Familie daheim einen großen<br />
Gefallen getan.<br />
Unterdessen steht an Ossis Bundeshaus-Bar Kleinerts Freund Helmut Herles von der<br />
"Frankfurter Allgemeinen Zeitung" neben seinem Matador. Auch Herles zählt zum Schnaps-<br />
Klüngel, er wirkt auf mich, als verführe er nach dem Motto: Ich kriege die Gerüchte, und du<br />
bekommst bei nächster Gelegenheit in die FAZ.<br />
Herles, einst Berichterstatter beim Vatikan, klagt Kleinert sein Leid über den immensen<br />
Druck der Frankfurter Zentralredaktion, dass da die schreiberische Konkurrenz groß sei, dass er<br />
eben nicht alles so durchbekomme, wie sie es sich hier in der Bundeshaus-Bar so ausmalen. Nur<br />
fehlt dem baumlangen Kleinert nach diesem strapaziösen Arbeitstag zwischen Theke und<br />
Ausschusssitzungen einfach der Nerv. Er will "anständige Berichte" sehen und sonst gar nichts.<br />
Herles antwortet seinem Kleinert, dass er ja oft über "menschliche Situationen" schreibe,<br />
damit diese von den großen Ereignissen hier in Bonn nicht zugeschüttet werden. Dass seine<br />
Politiker etwas mit der Macht zu tun haben, das erwähnte er häufig gar nicht mehr. Er, Herles,<br />
habe sich längst darauf verständigt, die kleine, oft mickrige Welt auf die große Bonner Bühne zu<br />
zimmern, wie ja schon Walter Boehlich (*1921+2006) über ihn in der Satire-Zeitschrift "Titanic"<br />
zu Recht geschrieben habe. Ja, ja, die kleine Welt als große Bühne." ... ... gespielt werden auf ihr vor<br />
allem Stücke, die niemanden, und schon gar nicht der staatstragenden FAZ, weh tun: Komödien<br />
und wenn es hoch kommt, allenfalls Provinzpossen, beileibe keine Stücke von Mord und Gewalt<br />
und Verschwörung, keine Eifersuchtsdramen, keine Tragödien."<br />
"Herr Herles", hat einmal ein Frankfurter Kollege zu ihm gesagt, "Sie sind doch ein<br />
Insider, Sie kennen Bonn doch wie ich meine Westentasche, Sie schreiben doch immer so hübsche<br />
Geschichten über die Bonner Zustände - und dabei sind Sie äußerst vorsichtig bedacht mit Ihren<br />
Formulierungen aus hätte und wäre, würde und könnte ...".<br />
Folglich widmet Kleinert seinen siebten Trinkspruch dem Nachrichtenmagazin "Spiegel",<br />
dessen Artikel ihn schon so manches Mal in Weißglut versetzten, die er als unflätig abtut. "Prost,<br />
Prost meine Herren, wer liest heutzutage noch den 'Spiegel', nicht einmal mehr Agnes Miegel."<br />
Trinkspruch Nummer acht: "Nun lasst uns noch einen verlöten, vielleicht gehen wir morgen schon<br />
flöten." Trinkspruch Nummer neun: "Ach, wie schon ist die Lütje Lage, sie rinnt so munter den<br />
Schlund herunter."<br />
Bemerkenswert dieses Trink-Szenario, dachte ich, und das manchmal auch schon zur<br />
Mittagszeit, während im Plenum die Gemüter sich in künstlicher Aufgeregtheit langweilen. Gerade<br />
jene FDP-Politiker-Klasse, die in der Öffentlichkeit gerne von der "leistungsorientierten<br />
Wohlstandselite" spricht, ähnelt in Ossis Bundeshaus-Bar einem Vertreter-Kegelverein aus einer xbeliebigen<br />
Vorstadt.<br />
Den 55jährige Rechtsanwalt Detlef Kleinert kenne ich schon seit fast zwanzig Jahren.<br />
Damals, auf einer FDP-Wahlveranstaltung in Hannover, erlebte ich ihn zum letzten Mal. Es war<br />
eine gut besuchte Versammlung, in der die Liberalen ihre Klientel für die neue Ostpolitik der<br />
Regierung Brandt/Scheel gewinnen wollten. Neugierig waren die Leute, diskutieren wollten sie.<br />
Zumindest solange, bis Kleinert sich als Hauptreferent - direkt aus Bonn mit Verspätung kommend<br />
- auf den Weg machte.<br />
1 36
Schwankend erklomm er das Podium. An die zwanzig Minuten redete er, "Witzchen"<br />
reißend, wahllos aus dem Stehgreif über sein Bonner Erlebnismilieu daher - allerdings darauf<br />
achtend, dass der Nachschub seiner Bier-Korn-Gedecke nicht versiegte. Mir blieb als lernwilligem<br />
jungem Mann ein Kleinert-Standard-Satz im Gedächtnis haften: "Liebe Freunde", verkündete er,<br />
"eines ist doch so klar wie der Korn. So oder so, ohne die FDP läuft gar nichts, ja gar nichts in<br />
diesem Land. Mit gutem Grund hat mich der Genscher gerade gefragt, ob ich nicht bei ihm<br />
Staatssekretär werden wollte."<br />
Statt dessen lenkt Kleinert insgeheim sein Augenmerk darauf, wo und wie er ohne viel<br />
Arbeitsaufwand abkassieren kann. Ob nun im niedersächsischen Kasino-Krimi tatsächlich<br />
Roulette-Millionen in die Parteikassen geflossen sind - das werden wohl erst in mühseligen<br />
Verhandlungen die Gerichte klären können. Unstrittig hingegen ist, dass der FDP-Politiker<br />
Kleinert an der Spielbank Bad Bentheim/Bad Zwischenahn eine Unterbeteiligung hält, die ihm<br />
rund zehn Prozent der Kasino-Erträge einbringt. Es sei schließlich "nicht ehrenrührig", sich an<br />
einem Unternehmen zu beteiligen, meinte Kleinert lapidar. Damals wiederholte Kleinert die ihm<br />
offenkundig bedeutungsvolle Genscher-Offerte gleich mehrere Male. Jedenfalls solange, bis das<br />
Publikum grölte und lachte. Nur eine ältere Frau, die am Rande des Saals mir gegenübersaß,<br />
murmelte vor sich hin: "Mein Gott, was ist aus ihm geworden." Als die Dame sichtlich bedrückt<br />
frühzeitig ging und sich kopfnickend von mir verabschiedete, wusste ich noch nicht, dass es<br />
Kleinerts Mutter war.<br />
Gewiss, Detlef Kleinert ist kein Einzelfall in der alkoholisierten Bonner Operetten-<br />
Republik. Aber für ihn ist der Alkoholkonsum nun einmal kein Feierabend-Vergnügen. Deshalb ist<br />
er auch nicht nur Volksvertreter. Tatsächlich zählt er längst zu den Schnaps-Lobbyisten im Bonner<br />
Parlament. Sie repräsentieren immerhin nahezu vier Millionen Menschen. Folglich kann in Ossis<br />
Bar sich alles nur um eines drehen - um Suff und Klatsch, Klatsch und Suff. Und dabei bleibt es<br />
einerlei, ob sich seine Kunden nun Politiker oder Journalisten nennen. "Ich kenne selbst begabte<br />
Kollegen", schrieb Leo Brawand, ehemalige Chef des Hamburger manager magazins, "die sich bis<br />
in die Psychiatrie getrunken haben."<br />
Doch scheinbare Ausnahmesituationen gestatten derlei Grenzüberschreitungen. Und<br />
Ossis Bar im Bundeshaus zu Bonn ist eine solche.<br />
In der hintersten Bar-Ecke hat sich Hans-Jürgen Wischnewski (*1922 +2005) gemütlich<br />
eingerichtet. Sein unverkennbar schwerer Seegang erlaubt es ihm nicht mehr, vorne an der Theke<br />
den Whisky zu kippen. Sichtlich angeödet schaut Helmut Schmidts früherer Staatsminister im<br />
Kanzleramt und SPD-Schatzmeister drein. "Alles weg, Referent weg, Auto weg, Fahrer weg",<br />
stammelt er vor sich hin. Langsam sackt Ben Wisch unter den Tisch.<br />
Unverhofft, gleichwohl mit Gegröle willkommen geheißen, schaut auch noch Möllemann<br />
(*1945+2003) für einen "kurzen Drink" vorbei. Schnell die Situation erkennend, kann<br />
selbstverständlich auch er einen seiner Lieblingsjokes zum besten geben. Möllemann im<br />
Originalton: "Genscher und Möllemann fliegen mit der Bundesluftwaffe zum Staatsbesuch nach<br />
Gabun. Kurz vor der Landung in Libreville sagt Genscher zu Möllemann: ' Bitte stellen Sie sich<br />
darauf ein, hier ist nicht nur ein Affe Präsident, der heißt auch noch so, nämlich Bongo.' "<br />
Aber es ist nicht so, dass Möllemann an Ossis Bar nur von exotisch fernen Kontinenten<br />
zu berichten weiß. Auch sein zwar vertraut-loyales Verhältnis zum besagten Genscher sei<br />
keineswegs spannungsfrei, "Herr Kollege Wolfgramm, das können Sie mir ruhig abnehmen, wenn<br />
ich Ihnen das mit einem Beispiel verdeutlichen darf."<br />
137
Erst kürzlich habe Genscher angerufen und ihn tatsächlich gefragt, ob er denn betrunken<br />
aus der Bundeshaus-Bar gekommen sei. "Nein , Herr Genscher, wirklich nicht, das können Sie mir<br />
ruhig glauben". hatte Möllemann geantwortet. Der Sachverhalt sei dieses Mal ganz, ja völlig anders.<br />
Er lasse sich gerade die Zähne schleifen und bekomme beim Zahnarzt laufend Spritzen. Deshalb<br />
könne er dann kaum sprechen. Darauf habe Genscher wirklich geantwortet: "Dann lassen Sie sich<br />
jeden Tag eine Spritze geben, solange ich im Urlaub bin."<br />
Sigmund Freud hätte an diesem frischen Möllemann mit seinen fortwährenden Genscher-<br />
Geschichten seine wahre Freude gehabt, als er bemerkte: "Wir wissen, es besteht bei der Masse der<br />
Menschen ein starkes Bedürfnis nach Autorität, die man bewundern kann, der man sich beugt, von<br />
der man beherrscht, eventuell sogar misshandelt wird ...". Auf sich bezogen brachte Möllemann das<br />
einmal auf die einfältige wie zutreffende Formel: "In Bonn regieren Zuckerbrot und Peitsche."<br />
Wie im Staatstheater haben sich die Kleinerts, Mölle-, Gatter- und Bangemänner an den<br />
Bar-Wänden mit ihren Fotos im Postkartenformat verewigt, als gelte es, beizeiten für ihr<br />
womöglich vorzeitiges Ableben Vorsorge zu treffen, sich ein sentimentales Denkmal zu setzen:<br />
"Für Ossis Gäste, stets das Beste", kritzelte Möllemann in großen Lettern unter sein Konterfei.<br />
1 38
1989<br />
Propaganda-Minister oder der häßliche Deutsche<br />
Politik-Darsteller verborgener Sehnsüchte<br />
139
DER PROPAGANDA-MINISTER ODER DER HÄSSLICHE<br />
DEUTSCHE<br />
Die stählerne Karriere des Wolf Feller oder wie sich das CSU-Parteibuch beim<br />
Bayerischen Rundfunk (BR)auszahlt . Über dreißig Jahre hat Wolf Feller dort verbracht. Er<br />
gab sich immer so, als sei er dort aufgewachsen. "Das Fernsehen ist zum Teil kaputt<br />
gemacht worden durch die Fellers und Lojewskis", urteilte der damalige ZDF-<br />
Chefredakteur Klaus Bresser.<br />
Männer Vogue, München 1. Dezember 1989<br />
Wäre Hörigkeit ein Begriff für gesellschaftliche Anerkennung, hätte ihn Wolf Feller,<br />
Programmdirektor des Bayerischen Rundfunks, längst für sich reklamiert. Ohnehin lässt der CSU-<br />
Sheriff, der sich auf dem Bildschirm gelegentlich wie Jerry Lewis ausnimmt, keine Milchkanne am<br />
Wegrand stehen, um sich als allwissender Fernsehmacher zu verkaufen - Feller als "Vitalo", Feller<br />
als "kampferprobter Durchblicker" oder Feller, als einer, der weiß, wo "der Braten liegt".<br />
Verständlich, dass für den 59jährigen Parteisoldaten der BR "der liberalste Sender der<br />
Bundesrepublik" ist. Um Lippenbekenntnisse war er nie verlegen: "Ich bin stolz darauf, im<br />
Gegensatz zu so vielen anderen in meiner Branche keine opportunistischen Metamorphosen<br />
durchgemacht zu haben." Dabei reicht als Strafandrohung der CSU-Zensoren schon wohldosierter<br />
Liebesentzug, um ihren Wolf auf Parteilinie samt Sprachregelung einzuschwören. Manchmal, so<br />
wissen Kenner der "bayerischen Verhältnisse" zu berichten, werde von der CSU-Parteizentrale<br />
direkt bei Feller angeklingelt und ein gesondertes Fernsehteam zur Entgegennahme eines<br />
"parteiamtlichen Statements mit Kommentar" bestellt. Dann mault Feller zwar zuweilen - "mich<br />
laust der Affe"-, aber auf "Direktiven der Partei- und Staatsspitze reagiert er, so der "Spiegel", "wie<br />
ein Pferd auf die Sporen".<br />
Über dreißig Jahre hat Feller bislang beim BR verbracht. Er gibt sich in seinem Büro so,<br />
als sei er dort aufgewachsen. "Ich habe in diesem Klangkörper angefangen als Tutti-Geiger, war<br />
dann Solist und schließlich Dirigent. Vom Fahrer bis zum Hauptabteilungsleiter kenne ich alle."<br />
Der journalistische Werdegang dieses Mannes gerinnt zum klassischen Beleg scheinbarer Potenz,<br />
die in immer neuen Hörigkeiten, in auswegloser Selbstverleugnung mündet. Beharrlich managt er<br />
ein Vierecksverhältnis - seinen Lebensinhalt: Propaganda, Taktik, Strategie, Macht. Ein typisches<br />
Beispiel lieferte die Bundestagswahl 1987, als es "dem übereifrigen Wolf" (CSU-Parteijargon)<br />
vorbehalten blieb, den angetrunkenen Franz Josef Strauß vor die Kamera zu locken. Feller: "Herr<br />
Ministerpräsident, die Frage, ob Sie nach Bonn gehen, weiß ich ohnehin, dass Sie bejahen werde.<br />
Sie werden nämlich nach Bonn fliegen und die Koalitionsverhandlungen führen. Die andere Frage<br />
erspar' ich mir, denn zuerst werden Sachprobleme gelöst und dann erst Personalprobleme." Strauß:<br />
"Richtig, Richtig !" Feller: "Vielen Dank, Herr Ministerpräsident!"<br />
Fellers Haut verschorfte rapide, "um schmerzfrei Salzsäure" aushalten zu können. "Non<br />
mi frega niente" - das juckt mich nicht - gehört zu seinen Standardfloskeln im Sender. Rom hat auf<br />
ihn spürbar Eindruck gemacht, zumal er seine italienischen Sprachkenntnisse derart zu verfeinern<br />
verstand, dass er nun eine Pizza selber bestellen kann. Bekanntlich übte sich Feller Anfang der<br />
achtziger Jahre als Italien-Korrespondent der ARD. Damals residierte er im Palazzo Torlonia und<br />
scharte römische Prominenz um seinen mit Delikatessen beladenen Tisch.<br />
1 40
"Selbstsüchtig, eitel und unkollegial", ist das Kollegenurteil über ihn. So pflastern Leichen<br />
seinen Weg. Bekanntestes Opfer wurde die Journalistin Franca Magnani (*1925+1996), die er<br />
durch tägliche Sticheleien (zu Neudeutsch: Mobbing) dazu brachte, das Handtuch zu schmeißen.<br />
Feller stolz: "Die durfte Däumchen drehen und viel Zeitung lesen." Einst zählten die Magnani-<br />
Reportagen zu den ARD-Glanzstücken. Aber wie bemerkte schon ZDF-Chefredakteur Klaus<br />
Bresser: "Das Fernsehen ist zum Teil kaputtgemacht worden durch die Fellers und Lojewskis."<br />
Blieb der Öffentlichkeit ein kleiner Trost: Der Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch<br />
veröffentlichte im Jahre 1990 unter dem Titel „Eine italienische Familie “die ungewöhnliche<br />
Biografie; erlebte Zeit-Geschichte im faschistischen und antifaschistischen Italien – Franca<br />
Magnani-Geschichte.<br />
141
POLITIK-DARSTELLER: VERBORGENE SEHNSÜCHTE<br />
NACH IDENTIFIKATION MIT DEN MÄCHTIGEN DIESER<br />
REPUBLIK<br />
Windmachen zu Lande und zu Luft, Sitzfleisch kultivieren zum Überdruss,<br />
Smoking-Auftritte in erlesenen Gesellschaften - nichts ist erfolgreicher als der Erfolg<br />
Keine normale Figur in der Hütte Athenäum Verlag - Frankfurt am Main 21. September 1989<br />
"Parteifunktionäre und Berufspolitiker", urteilt der US-amerikanische Soziologe Gerhard<br />
Lenski in seinem 1966 erschienenen Buch "Macht und Privileg", "zeichnen sich durch eine<br />
einzigartige Qualität aus, als eine innerhalb von zwei Klassensystemen gleichzeitig." Der Klasse<br />
Politiker-Hauptstadt-Klasse und der Parteiklasse draußen in den Regionen. Reisen in deutsche<br />
Provinzen, wie an diesem Abend nach Landau in der Südpfalz versöhnen Bundesminister (1982-<br />
1985) und CDU-Generalsekretär Heiner Geißler (1977-1989) gelegentlich. Hier wird ihm<br />
unweigerlich bewusst, dass er sich doch aufseitender politischen, moralischen und historischen<br />
Wahrheit weiß. Eine unteilbare Wahrheit, die ihm einleuchtend erklärt, warum er geworden ist, der<br />
er ist.<br />
Auf dem Vorplatz der Pfalzklinik Landeck driftet der Bundeswehr-Hubschrauber runter.<br />
Für die Insassen dieser psychiatrischen Heilanstalt ist die Landung eines solchen olivgrünen Vogels<br />
schon ein selten spannender Augenblick in ihrem durch Psychopharmaka dränierten Leben. Einige<br />
von ihnen säumen die notdürftig hergerichtete Absperrung. Sie rufen "Bravo, Bravo - "Helau,<br />
Helau" - "Hoch lebe der Minister" - "Gott schütze den Minister."<br />
Der Minister krabbelt ein wenig benommen aus dem Helikopter, hält für einen Moment<br />
inne, schnuppert vor sich hin. "Ein verrückter Empfang, wer hat denn das hier organisiert", will er<br />
wissen. Hauptstadt-Würde, ist gfragt. Winkend wendet er sich nun den Scheinwerfern der<br />
wartenden Autos zu. Die aufgeregten Neugierigen aus der Klinik stehen unbeholfen Spalier, hoffen<br />
in ihrem freundlichen Gejohle vielleicht auf ein "grüß Gott" vom hohen Herren. Vergebens. Sie<br />
bleiben halt dort, wo sie hingehören, wo die Gesellschaft sie hingepackt hat - am Wegesrand. Aber<br />
möglicherweise waren es auch nur Begrüßungsreflexe an der Südlichen Weinstraße, die Heiner<br />
Geißler so unbeholfen dreinschauen ließen. Immerhin wedelt der Minister mit seinen dafür<br />
geübten Arm solange, bis er Kautzmann entdeckt, den örtlichen Parteifunktionär.<br />
Kautzmann wirkt untersetzt-geschniegelt. Er könnte gut einen langgedienten<br />
Stabsfeldwebel der Bundeswehr abgeben, der sich nach seiner Entlassung "in die freie Wirtschaft"<br />
als Sektionschef der Eduscho-Kaffee-Filialen in Rheinland-Pfalz bewährt. Kautzmann entschied<br />
sich als "streitbarer Demokrat", freilich sorgsam planend, für die Partei-Demokratie, avancierte in<br />
Landau geschwind zum CDU-Geschäftsführer und Stadtrat, hechelte und mauschelte sich vor<br />
allem zielstrebig zur "rechten Hand des Generalsekretärs" im Wahlkreis empor. Er verkörpert<br />
sozusagen den Prototyp einer Randpersönlichkeit. Ein Mensch, der seine Lebensmöglichkeit<br />
vornehmlich in einflussreiche Beziehungen sucht, daraus seine Stärke bezieht, mit dieser<br />
Geschaftlhuberei aber auch steht und fällt.<br />
Dabei ziert Kautzmann sich peinlich-gerührt, wenn Frau Göbel ihn als "einen<br />
unbezahlbar-soliden Goldjungen" hätschelt. Seit er in Geißlers engstem Umkreis herum zirkelt,<br />
wiederfährt ihm ohnehin eine honorige Aufwertung, nämlich der "ungekrönte König von Landau"<br />
1 42
zu sein. Schon betrachtet er "das ehrenvolle Amt des Oberbürgermeisters" als die nächste Stufe.<br />
Seine beiden Sekretärinnen halten ihn dagegen für "einen ausgemachten kleinbürgerlichen<br />
Arschkriecher", der in Geißlers Abwesenheit "die Mitarbeiter so zusammenscheißt, dass in der<br />
Nachbarschaft die Fenster zufliegen", notiere ich mir in meinem Bonner Tagebuch. Nur in<br />
Geißlers Beisein "zerfließt er vor devoter Manierlichkeit und spielt den Anstands-Wauwau".<br />
Geißlers Eintauchen in Landau geht schon Wochen zuvor eine generalstabsmäßige CDU-<br />
Betriebsamkeit à la Kautzmann voraus. Wenn Bonn in Landau weilt, obliegt jeder Schritt<br />
Kautzmanns Regie; eine vom örtlichen Parteiapparat organisierte Fremdbestimmung. Er filtert<br />
Leute und Schauplätze argwöhnisch durch, ob sie tatsächlich für die Union in der Öffentlichkeit<br />
verdaulich sind. Beinahe jede Minute muss durchgeplant, auf Effizienz abgeklopft werden. Die so<br />
angebahnten "menschlichen Begebenheiten", etwa das sechste Bürgergespräch "Kuchen im kleinen<br />
Kreis", sind Teil der seit Jahren bewährten "Strategie der weichen Welle", befindet Kautzmann in<br />
der Pose eines Konzernmanagers. "Harte Konfrontationsgeschichten", fährt er wissend fort,<br />
"laufen hier nicht. Der Parlaments-Klamauk führt in Landau häufig zu der Rechenaufgabe: zehn<br />
Packen weniger neun Packen." Aber Kautzmann wäre nicht Kautzmann: Ans Einpacken will er<br />
noch nicht einmal im Suff gedacht haben.<br />
Apropos Suff - zumindest heute Abend sollen nach Kautzmanns Gelöbnis die<br />
Veranstaltungen trocken durchgezogen werden. Denn nicht jeder Geißler-Aufenthalt ist ja den<br />
Hackepetergesichtern gewidmet. Es ist noch nicht allzu lange her, da hatte Geißler beim<br />
Festkommerz der uniformierten und mit Degen bewaffneten Burschenschaftler die Festrede in der<br />
Landauer Stadthalle gehalten. Unter dem Motto "Ehre, Freiheit, Vaterland" soffen sich Chargierte,<br />
die Abordnungen aus Politik, Wirtschaft, Kirche und Armee fürchterlich die Hucke voll.<br />
"Schwört bei dieser blanken Wehre, schwört ihr Brüder allzumal: Fleckenrein sei unsere<br />
Ehre, wie ein Schild von lichtem Strahl", grölte es durch die Reihen. Heiner Geißler stellte folglich<br />
in seiner Laudatio die knallige Frage: "Deutschland - wo liegt es?", um mit zurückgenommener<br />
Stimme auf Goethe und Schiller zu verweisen. "Wir kennen die Realität in Europa, aber wir<br />
erkennen sie deswegen nicht an", rief er dann von seinem Redeschwall fortgetragen gen Osten.<br />
Wenn Rhetorik des Generalsekretärs einmal der gutgemeinte Versuch war, mit Emotionen die<br />
technokratisch ausgelaugte Sprache zu erneuern, so hat sie in ihrer Wirkung längst die gesalbte<br />
Qualität apokalyptischer Wanderprediger übertroffen.<br />
Weltuntergangs-Stimmung, Endzeit-Gefühle, verstümmelte Seelen, eine Nation ohne<br />
geistig-politische Leitideen, ein depressives Jammertal diese Bundesrepublik etc. usw., usf., "wenn<br />
Deutschland nicht gottlob als einzige Hoffnung eine für Jahrzehnte straffgeführte CDU-<br />
Bundesregierung hätte".<br />
Hätte Geißler doch nur hier die Sozialdemokraten "als fünfte, Moskau-hörige Kolonne,<br />
als Spionage- und Sabotagetrupp der Kommunisten" geziehen, hätte er doch nur der "Volksfront-<br />
Friedensbewegung" erklärt, "dass der Pazifismus der 30er Jahre Auschwitz erst möglich gemacht"<br />
habe. Anderswo wäre ihm derlei übel genommen worden.<br />
Hätte er doch nur hier seinen hochdekorierten Burschen, zum 734. Male Bert Brecht<br />
(*1998+1956) zitierend, auf die vaterlands- und geschichtslosen Sozi-Gesellen eingedroschen,<br />
ihnen ein "politisches Verbrechen" kurzerhand angehängt, von dem sich "die anständigen<br />
Deutschen" distanzieren müssen. "Wer die Wahrheit nicht weiß, ist ein Dummkopf. Wer die<br />
Wahrheit weiß und Lüge nennt, ist ein Verbrecher." Hätte er doch hier die angstvollen Gegner<br />
eines "Kriegs der Sterne", des SDI-Weltraumforschungs-Programms, als "unmoralisch"<br />
143
gebrandmarkt. Hätte er doch nur hier verdeutlicht, dass die Sozialdemokraten im Stil "der Nazis<br />
gegen die, Juden" Kampagnen gegen seine Union entfachen. Hätte der CDU-Generalsekretär doch<br />
nur hier ein "Schlagwort über die neue Armut" in der Bundesrepublik verloren und gesagt, dass<br />
dieses Gerede "der größte Schwindel" sei, "den wir in der Nachkriegszeit erlebt habe".<br />
Hier, in der Landauer Stadthalle, bei den grauen Eminenzen mit Schmissen und ihren<br />
abgerichteten Jungvolk-Korporationen, wäre er mit seiner Betrachtungsweise stets passend<br />
platziert. Dieser enthemmte Geißler hätte ja nicht nur rühmlich "der Wahrheit eine Gasse<br />
geschlagen", als bibelfester Katholik hätte er sicherlich auch unmissverständlich zu verstehen<br />
gegeben, wie wichtig ihm das Alte Testament in der Bundespolitik geworden ist: "Auge um Auge,<br />
Zahn um Zahn."<br />
Die rechten Burschen jedenfalls wären mit Karacho auf die Bänke gestiegen; auf ihren<br />
Schultern, mit einem Spielmannszug vorneweg, wäre der Generalsekretär zum Rathausplatz<br />
getragen worden. Und dort hätte er dann seine Visionen von Harmonie, Vaterland und Partei<br />
aufsagen dürfen. "Kauert nicht in den bequemen Ecken des privaten Glücks oder der Resignation,<br />
sondern kommt und arbeitet mit am Aufbau einer freien und gerechteren Welt ... Wenn niemand<br />
mehr Kinder bekommt, hat unser Land keine Zukunft ... Nicht nur Gutes tun, sondern auch<br />
darüber reden". So marschierten die Burschen allein, artig und fromm, auch erst um Mitternacht,<br />
natürlich mit Fackeln und Trommeln, die drei Strophen der Nationalhymne wie selbstverständlich<br />
auf ihren Lippen. Bis zum frühen Morgen hallte das "Deutschland, Deutschland über alles", Bier<br />
verklärt durch Landaus Straßen.<br />
Nein - heute soll sich nach Kautzmanns Drehbuch der Minister a.D. (1982-1985) "in ganz<br />
bescheidener Weise als rundum sympathischer, vernünftiger Kerl darstellen". Für solche<br />
Biedermann-Aktionen eignen sich die umliegenden Dörfer. Wenn Heiner Geißler "den Jungen mit<br />
der Mundharmonika" auflegt, liebäugelt er heftig mit vibrierender Anteilnahme. Die kann er im<br />
Örtchen Silz einheimsen, einer proper aufgeräumten Gemeinde mit Butzenscheiben und<br />
Fachwerkfassaden, wo wie ehedem Landleute tote Eulen an ihre Scheunen nageln. Verständlich,<br />
dass vom dörflichen Innenleben nur Spärliches nach draußen dringt, und die Weisheit, "dass mir<br />
der Hund der Liebste sei, sagst du oh Mensch sei Sünde, der Hund bleibt mir im Sturme treu, der<br />
Mensch nicht einmal im Winde", nach wie vor ihre Gültigkeit besitzt. Ansonsten verstehen sich die<br />
Leute hier seit jeher auf ein genügsames Leben in Dankbarkeit und Pflichterfüllung.<br />
So viel Staat, so viel Politiker-Prominenz, das macht in Silz eine Menge her. Überall CDU-<br />
Plakate: Dr. Heiner Geißler kommt. Bei aller Ferne, bei mancher Nörgelei, letztendlich ist es doch<br />
"unser Staat" - "der Vater Staat", der in der Geißler-Kautzmann-Karawane stattlich repräsentiert<br />
vor dem Kultursaal stoppt. Undurchsichtig lächelnd schreitet Geißler zu seinem Publikum. Der<br />
Raum ist brechend voll, Jung und Alt bunt gemischt, dazwischen gehobene Mittelstandstupfer. Da<br />
fällt es selbst einem tingelnden Polit-Profi auf Anhieb nicht so leicht, die Versammelten an<br />
Physiognomie und Kleiderordnung einwandfrei zu taxieren. Erst stürmischer Applaus,<br />
warmherzige Ovationen nehmen ihm den Anflug von Irritation. Und Kautzmanns Röntgenblick<br />
signalisiert unzweideutig, dass es menscheln darf.<br />
Da steht er nun, dieser großangekündigte Dr. Geißler, dieses Politik-Fernseh-Ereignis zu<br />
den Abendnachrichten schlechthin, aus der Hauptstadt eingeflogen, seinen Charme versprühend,<br />
seine Referentin Frau Göbel wie immer in der ersten Reihe sitzend, seinen Fahrer Riemann an der<br />
Eingangstür postiert, seine beiden Sicherheitsbeamten jeweils links und rechts mit abzugsbereiter<br />
Pistole hinter sich wissend, seinen Kautzmann mitten im Raum unter den Leuten diagonal im<br />
Visier. Er ist zweifelsfrei ein Chamäleon von besonderen demagogischen Qualitäten, ein Sophist,<br />
1 44
der spitzfindig "die Leit, auch was für Leit" einbalsamiert. Als Staatsmann "von denen da oben"<br />
reiste er an, als einer von ihnen, "der kleinen Leuten", will er wieder von hinnen ziehen. Der Duden<br />
definiert die Sophistikation als einen "reinen Vernunftschluss, der von etwas, was wir kennen, auf<br />
etwas anderes schließt, von dem wir keinen Begriff haben, dem wir aber trotzdem objektive Realität<br />
zuschreiben."<br />
In den dreizehn Oppositionsjahren (1969-1982) der Union hatte Heiner Geißler wenig<br />
Skrupel, uralte antidemokratische Ressentiments, hohle Vorurteile, abgenutzte Klischees gegen "die<br />
Klasse da oben" mitzutragen, wo immer er auftrat, kräftig anzuheizen, sich quasi als Sprachrohr<br />
rechtschaffender Kleinbürger mit ihren angesparten Aktienpaketen von Veba bis VW coram<br />
publico zu empören: "Die Erblast sozialistischer Misswirtschaft" zuvörderst, "das Bonzentum im<br />
gewerkschaftseigenen Unternehmen Neue Heimat" hier, "Falschspieler der sozialliberalen<br />
Koalition" dort, aber auch "Sozialisten können wirklich nicht mit Geld umgehen, das haben sie<br />
doch längst bewiesen." All die speziell in einem gesonderten Mitarbeiter-Stab ausgetüftelten,<br />
unterminierenden Tiraden entsprachen den grobschlächtigen Instinkten derer, die sich als "kleine<br />
Leute" verschaukelt, von "den Großen" unentwegt ausgenommen fühlen, die ja angeblich allesamt<br />
permanent in die eigene Tasche wirtschaften.<br />
Heiner Geißler war sich zu jener Zeit überhaupt nicht zu schade, die inzwischen lauthals<br />
beklagte Staats- und Parteien-Verdrossenheit im Lande nachhaltig zu schüren. Obwohl zuvörderst<br />
seine CDU sowie die Schwester CSU im undurchsichtigen Sumpf von Steuerhinterziehungen,<br />
Schmiergeldern, ausländischer Briefkasten-Firmen tief drinstecken - und das keineswegs nur in der<br />
Milliarden-Affäre, aufgedeckt im Jahre 1980, um den Düsseldorfer Flick-Konzern.<br />
Schließlich war es doch kein anderer als sein Bundeskanzler Helmut Kohl (1982-1998),<br />
der vielversprechend hingebungsvoll, seine Hand aufhielt, als der Flick-Konzern ihn bar mit<br />
insgesamt 260.000 Mark beglückte. Vielleicht mag Helmut Kohl in seiner "finanziellen<br />
Zuwendungsphase, diesem weiten, differenzierten Feld" und den damit verknüpften, knallharten<br />
Erwartungen irritiert an 40. Präsidenten der Vereinigten Staaten Ronald Reagan (1981-1989;<br />
*1911+2004; ) gedacht haben, über den er später einmal mit idealisiertem Unterton sagte: "Wenn<br />
er ja sagt, meint er ja. Wenn er nein sagt, meint er nein. So möchte ich auch sein." Seit die<br />
CDU/CSU die Regierungsverantwortung 1982 übernommen hat, kann Heiner Geißler natürlich<br />
diese Korruption suggerierende Grob-Schnitzerei nicht mehr ungestraft fortsetzen. Doch diffizil zu<br />
nuancieren, unter nach oben wie oben nach unten zu kehren, hat er ebenso fein raus wie das<br />
knallharte, kalkulierte Putzmachen.<br />
Natürlich weiß ein Mann wie Geißler um verborgene Sehnsüchte nach Identifikation mit<br />
den Mächtigen dieser Republik. Sonst wäre der Aufschrei bei ihren Verfehlungen ganz gewiss nicht<br />
so groß. Natürlich kennt er die Vorbehalte gegen seine denunziatorischen Rammhämmer. Ihm ist<br />
aber vor klar, dass er im Silzer Kultursaal nur etwas bewegen kann, wenn er der bodenständigen<br />
Verwachsenheit mit Rapunzel und Reblaus glaubwürdig huldigt. Also fühlt er sich in seinem<br />
Wahlkreis Menschen und Landschaft "so eng verbunden, dass für mich ein Stück zu Hause<br />
wahrhaftig wurde". Das habe auch der Bundeskanzler bemerkt, "bei dem ich gerade noch war, der<br />
mir wohl deshalb besonders aufdringlich auftrug, Ihnen seine besten Grüße und Wünsche zu<br />
übermitteln. Sie können sich vielleicht ausmalen, wie knochenhart die Regierungsgeschäfte<br />
heutzutage sind. Aber unser Bundeskanzler kneift nicht vor unserer Zukunft. Er sitzt auch keine<br />
Probleme aus, er stellt sich unerschrocken den Schicksalsfragen und arbeitet unerbittlich für eine<br />
Wende zum Besseren."<br />
145
Schon aus diesem Grunde "gibt es Leute, die würden es am liebsten sehen, wenn ich jeden<br />
Morgen zwei SPD-Leute zum Frühstück verspeisen würde. Aber das kann ja nicht Sinn und Zweck<br />
der Politik sein. Die Politik hat schließlich den Menschen zu dienen. Den Menschen helfen zu<br />
leben", derart anspruchslos putzt er seinen Bekenntnis-Charakter heraus. Denn "eine Partei wie die<br />
CDU ist nicht dazu da, um die eigenen parteipolitischen Interessen in erster Linie im Auge zu<br />
behalten", heuchelt er ungesenkten Blickes von der Bonner Operetten-Republik (1949-1989).<br />
"Arbeitslosigkeit ist mehr als eine statistische Größe, die Monat für Monat die Zahl derer<br />
anzeigt, die in einer Gesellschaft abseits mit ihren seelischen Belastungen stehen", trug der Minister<br />
Geißler (1982-1985) von einst, theatralisch auf bedächtig getrimmt seinem gläubig dreinschauenden<br />
Publikum vor. "Denn wir leben nun einmal in einem Land, in dem der Wert des einzelnen<br />
Menschen daran gemessen wird, was er ist und was er hat." - Basta.<br />
"Haste was, biste was", sagten ja bereits die bundesdeutschen Sparkassen in den fünfziger<br />
Jahren. "Auch meine Eltern haben kein Geld gehabt. Wir waren keine reichen Leute". bringt<br />
Geißler sich tellerwaschend als Soziallegende in die Dorfgemeinschaft ein. Der Vater arbeitete als<br />
Landmesser in Rottweil, wurde von den Nazis sogar mehrere Male wegen seiner Kritik<br />
zwangsversetzt, Mutter kochte Eintopf für die ganze Woche, Erbsen, Linsen, Graupen, "Fünf<br />
Kinder waren wir am Tisch, trugen ohne Murren gegenseitig unsere Sachen auf."<br />
Und heute? "Der Staat war vor kurzem noch bankrott. Irgendwann, wenn die<br />
Verschuldung so weitergegangen wäre, hätten wir eine Währungsreform bekommen. Und wer ist<br />
dann der Leidtragende? Das sind nicht die Leute, die Grundstücke und Häuser haben, sondern das<br />
sind doch Sie hier, wir alle miteinander, die Masse der kleinen Leute. Die Staatsverschuldung ist die<br />
unsozialste Politik, die es gibt. Wir haben über 300 Milliarden Mark Schulden, die müssen wir mit<br />
Zins und Zinseszins zurückbezahlen. Wer aber zahlt sie denn zurück? Doch nicht die Älteren in<br />
unserem Land. Nein, die junge Generation.<br />
Wir trinken auf ihre Kosten einen kräftig über den Durst, schmeißen das Geld zum<br />
Fenster hinaus. Wir müssen sparen und nochmals sparen, wie wir es in den vergangenen Jahren<br />
schon erfolgreich gemacht haben. Machen wir endlich damit Schluss, endgültig Schluss ... Nein",<br />
posaunt Heiner Geißler zum wiederholten Male seine Rede-Dramaturgie auslebend und wie aus<br />
dem Wahlkampf-Bilderbuch seinen Daumen Richtung Saaldecke streckend, "seien wir doch mal<br />
ehrlich zu uns selber. Die CDU fragt die Bürger in Wirklichkeit, ob sie tatsächlich die Kurpfuscher<br />
von gestern zu den Vertrauensärzten von morgen wählen wollen. Doch ganz gewiss nicht.<br />
Deshalb, weiter so Deutschland - stabile Preise, stabile Renten, mehr Arbeitsplätze. Das ist die<br />
CDU. Das ist unsere Zukunft und das alles in schwarz-rot-gold. Haben Sie gerade den Urschrei der<br />
sozialen Marktwirtschaft gehört?"<br />
Natürlich soll dieser imaginäre Parteien-Knall eine Richtungsentscheidung symbolisieren.<br />
"Die Grünen, diese Melonenpartei, außen grün, innen rot, sind sozusagen der politische<br />
Volkssturm der SPD, das letzte Aufgebot des Parteivorsitzenden Willy Brandt (1964-1987;<br />
*1913+1992), um durch Wählertäuschung und Tricks an die Macht zu kommen." - Im Kultursaal<br />
johlen die Leute vor Begeisterung. So viel kostenlos-inszeniertes Polit-Entertainment, so viel<br />
kabarettreife, angestrengte Lockerheit, die da aus Bonn eingeflogen worden ist. Heiner Geißler<br />
schaut sich strahlen, lustvoll um, weil sein tausendfach eingeübtes Pathos, seine tausendste<br />
Wiederholung die Menschen nach wie vor von den Bänken holt. Auch Frau Heike Göbel klatscht<br />
im Dreier-Takt zum 1.500 Male. "Das hälste im Kopf nicht aus, wie er das immer wieder<br />
hinkriegt", sagt sie zum Fahrer Riemann. Fahrer Riemann zitiert brav den Chef: "Ein Politiker, der<br />
nicht reden kann, ist nur die halbe Miete wert." Da höre ich eine ältere Frau in den hinteren<br />
1 46
Reihen, die ein Verslein aufsagen will - vor Ergriffenheit versteht sich. Sie dringt im Getöse freilich<br />
kaum durch. Es ist die dritte Strophe des Kanzler-Kohl-Liedes, getextet vom Heimatsänger<br />
Gotthilf Fischer, dem Leiter des gleichnamigen Chores: "Nicht klagen, nicht verzagen, aufwärts<br />
schauen, Gott vertrauen, höre auf mit dem Wehklagen, denn du wirst dir selbst nur schaden."<br />
"Machen wir endlich Schluss, endgültig Schluss damit. Wir machen nämlich keine<br />
Stimmungspolitik, wir sind ja auch keine Stimmungsdemokratie", hatte Heiner Geißler in den<br />
Raum gedonnert. Über Schuldenabbau, über den Versorgungsstaat, über das satte Haben-Land<br />
Bundesrepublik sprach er nun. Keineswegs über unseren Erdball, mit jährlich über 1,6 Billiarden<br />
Mark militärischer Rüstung, der ein Atomwaffenarsenal beherbergt, das in seiner Sprengkraft 16<br />
Milliarden Tonnen herkömmlichen Sprengstoffs TNT entspricht. Eine Welt, auf der das reichste<br />
Fünftel der Bevölkerung über 71 Prozent des Welteinkommens verfügt; ein Globus, auf dem 500<br />
Millionen Menschen hungern, 600 Millionen Menschen ohne Arbeit sind und eine Milliarde in<br />
tiefster Armut leben - damit endgültig Schluss zu machen, auch den weiteren abenteuerlichen<br />
Ausbau von Atomkraftwerken zu stoppen, das hatte Heiner Geißler in der Silz Kulturhalle<br />
natürlich nicht gemeint.<br />
Das atomare Desaster in der früheren Sowjetunion, denn "Tschernobyl" im Jahre 1986,<br />
eine der schwersten nuklearen Katastrophen überhaupt - das hatte Geißler in der Silzer Kulturhalle<br />
natürlich nicht gemeint. Denn dieser Reaktor sei nun mal ein "typisches Konstrukt der<br />
proletarischen Revolution" murmelt er beschwichtigend. Pastoral schließt er aus jenem Unglück die<br />
gläubige Erkenntnis: "Wer der Auffassung ist, mit dem Tod sei alles zu Ende, der kann halt mit<br />
dem so genannten Restrisiko naturgemäß weniger leben als derjenige, der diese irdische Existenz<br />
als eine vorläufige und gleichzeitig auf eine ganzheitlich unendliches Ziel ausgerichtet begreift." -<br />
Geißler-Stunden, CDU-Jahre.<br />
Heiner Geißler misstraut einer total transparenten, aufgeklärten Welt, in der die Menschen<br />
ihren rationalen Erkenntnissen folgen sollen. Ihm schwebt ein Dasein vor, in dem die Tugenden<br />
wie Anpassungsfähigkeit, Loyalität und Selbstdisziplin die Garanten des wissenschaftlichtechnischen<br />
Fortschritts im Dickicht des Sachzwang-Staates sind. Er fordert eine Rückbesinnung<br />
auf den Glauben an Gott, die Pluralität des Lebens, die Notwendigkeit von Autorität, Hierarchie,<br />
Ordnung, Stabilität, Führung und Elite. Praktisch Erlebtes steht gegen Gedachte oder Erwartetes,<br />
Sein gegen Sollen, Leben gegen System-Begriffe. "Unsere Werte beruhen nicht auf dem, was wir<br />
haben, sondern auf dem, woran wir glauben", postulierte Geißler schon in seiner Rede zum<br />
konstruktiven Misstrauensvotum gegen den sozialdemokratischen Bundeskanzler Helmut Schmidt<br />
(1974-1982).<br />
Warum gutgläubig Zufriedene mit Problemen oder Verantwortlichkeiten überlasten, sie<br />
mit düsteren Stimmungen und Befindlichkeiten der Nation, Depression, Angst und Frustration<br />
unnötig konfrontieren? Wozu leistet sich ein Land wie Deutschland ihre leistungsfähigen<br />
Subsysteme aus Wirtschaft, Wissenschaft, Industrie, Recht und Verwaltung? Kann nicht "das<br />
Vertrauen der Bürger in die parlamentarische Demokratie neu gefestigt, unser Land aus der<br />
schwersten Wirtschafts- und Sozialkrise der Nachkriegszeit herausgeführt, die geistigen und<br />
moralischen Grundlagen unseres Zusammenlebens erneuert, unsere Jugend wieder Hoffnung für<br />
eine lebenswerte Zukunft" gegeben werden?<br />
Geißler und seine Union als Hoffnungsträger einer staatswirtschaftlich- sowie<br />
sozialpolitischen Wende, einer konservativen Gegen-Reformation am Ende des auslaufenden 20.<br />
Jahrhunderts. Der Generalsekretär als intellektuelle Speerspitze eines neukonservativen Denkens,<br />
ein Geißler, der sich offensiv mit dem Volk gegen die ordnungswidersetzenden Weltverbesserer<br />
147
verbünden will. Nicht etwa die Weltwirtschaftskrise, die rasanten technologischen<br />
Strukturveränderungen, die Globalisierungen ausufernder Finanzmärkte, der Bruch mit<br />
unbegrenztem Wachstum, die leeren Kassen schlechthin sind nach Meinung des Sozialphilosophen<br />
Günter Rohrmoser (*1972+2008) , einst Hochschullehrer an der Universität Hohenheim und CSU-<br />
Sympathisant. "der letzte Grund unserer Misere, sondern die Tatsache, dass wir mit den überfüllten<br />
Kassen geistig und moralisch nicht zurechtgekommen sind".<br />
Für den markanten Denker Rohrmoser ist "die Konstruktion einer geschichtslosen, in<br />
ihrer nationalen Identität verunsicherten und eines gemeinsamen Ethos sich selbst beraubenden<br />
Industriegesellschaft Bundesrepublik zusammengebrochen". Folglich befinden sich nach<br />
Rohrmosers Befund auch die traditionellen Parteien in einem Identitätsverlust oder verändern ihre<br />
Identität wie ein Chamäleon je nach der Richtung, in der der Zeitgeist zu wehen scheint". Und er<br />
sieht zudem die Gefahr, dass aus einem "taktischen, situationsbezogenen Opportunismus ein<br />
prinzipieller Opportunismus zu werden droht".<br />
Auf die Union an der politischen Macht gemünzt, erlebe die CDU "die Stunde des<br />
Offenbarungs-Eids." Denn die wachsende Kritik an Helmut Kohl (CDU-Bundeskanzler 1982-<br />
1998) dürfe nicht die Einsicht vergessen lassen, "dass die CDU weitgehend Kohl ist, dass ihre<br />
Mentalität und ihre innere Verfassung sich in seiner Position widerspiegeln, er ist der Ausdruck<br />
einer gewissen Dumpfheit, Provinzialität und eines diffusen Populismus, der die Partei beherrscht<br />
...".<br />
Den Utopisten dieser Ära ist es faktisch zuzuschreiben, dass der Politik ihre<br />
Steuerungsfähigkeit verlorenging, die Integrationskraft der parlamentarischen Demokratie<br />
schwindet, durch die "widernatürliche Gleichmacherei" der Sozialstaat als Umverteilungsinstanz<br />
missbraucht wurde. Die Progressiven, allen voran die Sozialdemokratie, haben demnach<br />
abgewirtschaftet, weil sie den innigen Wunsch nach einem überschaubaren, verlässlichen, stabilen,<br />
berechenbaren Dasein ignorierten, sie die Begrenztheit des Fortschritts, die Rohstoff- und<br />
Ressourcen-Knappheit, die Stagnation der Industrie, die zunehmende Krisenanfälligkeit von<br />
Großorganisation in einer Welt freier Märkte nicht rechtzeitig erkannt haben.<br />
So auch "die dramatischen Folgen des Umschlags des Fortschritts in sein Gegenteil und<br />
die Erfahrung, dass alle Versprechen, aus denen seine Dynamik gespeist wurde, sich als unerfüllbar<br />
herausstellen"; betonte der wortgewaltige Tendenz-Wenden-Prediger Günter Rohrmoser in seinem<br />
im Jahre 1983 veröffentlichten Buch "Die Krise der politischen Kultur". Er kündigte eine über<br />
Jahre währende Tendenzwende an, die tief "in die Verfassung und den Zustand des öffentlichen<br />
und privaten Lebens" eingreift, es nachhaltig verändert, "als es uns bewusst sein mag". "Heimat",<br />
"Kultur" oder auch "Nation" sind ihm Synonyme für eine gemeinsam erlebte, traute Welt, die<br />
jedem Hoffnung und Glauben belässt, die monogame Ehe und Familie zur wichtigsten<br />
Voraussetzung erklärt, den ersehnten sozialen Aufstieg zu meistern, sich überhaupt in der<br />
arbeitsteiligen, höchst undurchsichtigen Computer- und Roboter-Gesellschaft zurechtzufinden, der<br />
drohenden Vereinsamung, aber auch der Anonymität zu entrinnen.<br />
Um dieser Rosskur zum Durchbruch zu verhelfen und die Tendenzwende für Jahrzehnte<br />
durchgreifend voranzutreiben, müssen nach Günter Rohrmoser "die Mächte des Nihilismus und<br />
der Destruktion" gebannt werden, "bedarf es des Rückgriffs auf andere Reserven als die einer<br />
Moderne, deren Tag sich zu neigen beginnt. Geistige Wende ist die Wende zur Wirklichkeit, die<br />
Programmierung eines Lebens, das nach dem Entzug des süßen Giftes der Utopie sich fragte, wie<br />
Selbstentfaltung ihren Sinn behalten kann".<br />
1 48
Tatsächlich beruht die aus den USA importierte neokonservative Krisentheorie auf zwei<br />
zentralen Eckpfeilern: zu viel Sozialstaat, zu viel Demokratie. So sei das Debakel in den westlichen<br />
Industrie-Nationen ausschließlich ihrer aufmerksamen Sozialfürsorge anzukreiden, die sich zu einer<br />
aufgeblähten Umverteilungs-Bürokratie entwickelt habe. Der New Yorker Sozialwissenschaftler<br />
Irving Kristol , einer der schärften Verfechter eines klassischen Unternehmer-Kapitalismus in den<br />
Vereinigten Staaten, ist davon überzeugt, dass die bisherige Politik, "die massive Eingriffe des<br />
Staates in den Markt erlaubt, gegenüber Sitte und Moral jedoch absolute Laissez-faire erlaubt, für<br />
eine bizarre Umkehrung der Prioritäten" stünde. Anspruchsdenken, Versorgungsidylle,<br />
Gleichmacherei, staatliche Entmündigung, Verkümmerung bewährter Tugenden sie das Ergebnis.<br />
Des Menschen große Erwartung liege aber "in einem geistig und moralischen neubelebten<br />
Kapitalismus".<br />
Nach dem erprobten Muster, schont die Reichen, sie machen aus Gold Güter und aus<br />
beiden irdisches Glück, entpuppt sich der Neokonservativismus in den achtziger Jahren als die<br />
ideologische Plattform, auf der eine Politik der Rückverteilung zugunsten der Besserverdienenden<br />
verwirklicht werden soll.<br />
149
1<br />
50
1990<br />
Frauen-Macht : Partisanin des permanenten Aufbruchs<br />
Politik-Karriere braucht einen Fernseh-Mann<br />
Kalter Krieg der Männer<br />
Im Leben von ganz unten nach ganz oben - Politikprofil der<br />
Bundesministerin Renate Schmidt<br />
151
PARTISANIN DES PERMANENTEN AUFBRUCHS - ANTJE<br />
VOLLMER<br />
Biografie. Antje Vollmer wurde am 31. Mai 1943 in Lübbecke/Westfalen geboren.<br />
Im Jahre 1962 bestand sie ihr Abitur und studierte in Berlin, Heidelberg, Tübingen und<br />
Paris evangelische Theologie. Anno 1968 wurde sie Vikarin an einer Berliner Kirche,<br />
arbeitete von 1969 bis 1971 als Assistentin an der Kirchlichen Hochschule Berlin und<br />
bestand 1971 ihre zweites Theologisches Examen. Von 1971 bis 1974 widmete sich Antje<br />
Vollmer als Pastorin in einem Team-Pfarramt in Berlin-Wedding der Seelsorge. In dieser<br />
Zeit promovierte sie bei Helmut Gollwitzer (*1908+1993) zum Dr. phil. und absolvierte ein<br />
Zweitstudium in Erwachsenenbildung mit Diplomabschluss.<br />
Von 1976 bis 1983 war sie als Dozentin an der Heim-Volkshochschule in Bethel<br />
tätig. Im Jahre 1979 kam ihr Sohn Johann auf die Welt, unehelich - ein Novum in der<br />
Kirchengeschichte. In den siebziger Jahren wirkte Antje Vollmer politisch aktiv in der Liga<br />
gegen den Imperialismus im Umfeld der 1970 gegründeten maoistischen<br />
Kommunistischen Partei Deutschland (KPD/AO), trat dieser Partei aber nie bei, die sich<br />
1980 wieder aufgelöst hat. Obwohl Antje Vollmer erst im Jahre 1985 Mitglied der Partei<br />
"Die Grünen" wurde, gelangte sie über eine offene Liste der Arbeitsgemeinschaft<br />
"Bauernblatt" bei den Wahlen 1983 in den Deutschen Bundestag.<br />
Anfang 1984 wählte die Fraktion der Grünen einen neuen Vorstand, der<br />
ausschließlich aus sechs Frauen bestand. Die Theologin wurde Fraktionssprecherin. Von<br />
diesem "Weiberrat" (Eigenjargon) sollte ein Signal ausgehen, dass auch in der Politik "die<br />
Zeit der Männer vorbei ist" (Antje Vollmer). Für das Bundestags-Feminat galt sie als eine<br />
der Hauptinitiatorinnen. Im Zuge der Rotation legte Antje Vollmer im April 1985 ihr<br />
Mandat nieder - kam aber nach den Wahlen im Jahre 1987 wieder als Abgeordnete ins<br />
Parlament. Bei der Bundestagswahl 1990 scheiterten die westdeutschen Grünen an der<br />
Fünf-Prozent-Hürde.<br />
Von 1994 bis 2005 war Antje Vollmer wieder Mitglied der Volksvertretung. Seit<br />
dem 10. November 1994 bekleidete sie zudem für diesen Zeitraum das Amt einer Vize-<br />
Präsidentin des Deutschen Bundestages. Mit ihrer Initiative Grüner Aufbruch '88<br />
versuchte Antje Vollmer, einen innerparteilichen Erneuerungsprozess voranzutreiben -<br />
zwischen den sich bekämpfenden Flügeln aus "Fundis" und "Realos" zu vermitteln. Im<br />
Dezember 1989 verlieh ihr die Internationale Liga für Menschenrechte die "Carl-von-<br />
Ossietzky-Medaille. Zu ihrer Auszeichnung hieß es: Antje Vollmer sei "eine der wenigen,<br />
die in der Öffentlichkeit der Bundesrepublik Deutschland Aufgaben wahrnimmt, die viele<br />
vernachlässigen: Sie setzt sich für jene ein, deren Stimmen nicht gehört werden - für Sinti<br />
und Roma, Zwangsarbeiter und andere Nazi-Verfolgte sowie die Gefangenen in den<br />
Hochsicherheitstrakten." Sieben Jahre später wurde die streitbare Theologin mit dem<br />
Cicero Rednerpreis, 1998 mit dem Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken geehrt.<br />
Eigentlich wollte Antje Vollmer sich schon immer nach relativ kurzer Zeitspanne<br />
von der Bundespolitik in Bonn, später in Berlin verabschieden, aufhören, aussteigen -<br />
wieder zu sich selbst, zu ihrer Authentizität zurückfinden, zu ihrem ursächlichen<br />
Ausgangspunkt. Gelungen ist ihr das freilich nie so ganz - jedenfalls bis dato 2005. Als sie<br />
1983 als Abgeordnete in den Bundestag kam, fühlte sie sich zunächst als "stille<br />
1 52
Beobachterin" - sieben Jahre später hat sie sich erneut in diese Wartestellung<br />
zurückgezogen. Das sei kein Abschied vom "grünen Projekt". Nur, so Antje Vollmer,<br />
sollte eine ökologische Partei im vereinten Deutschland auf dem Fundament eines<br />
Neuanfangs zwischen Ost- und Westgrünen stehen. Da sei sie "viel zu neugierig", um<br />
sich eines Tages doch vielleicht wieder einzumischen. Eine Partisanin des permanenten<br />
intellektuellen Aufbruchs.<br />
Frauen an der Macht, Protokolle einer Aufbruchs-Ära athenäums programm by anton hain Frankfurt a/M 26.<br />
November 1990<br />
Donnerstag, der 5. Mai 1983. Ich gebe zu, ihre Unsicherheit fasziniert mich.<br />
Überlegenheitsgefühl sind nicht ausgeschlossen. Sie fiel mir gleich auf in Bonn. Welcher Kontrast<br />
zum Politikeinerlei. Bubi-Kopf, große Augen, Pulli, Jeans, Kapuzenmantel aus der Pennäler-Zeit.<br />
Ziemlich schüchtern, auffällige Berührungsängste. So eine Frau ausgerechnet als<br />
Bundestagsabgeordnete unter all den stattlich herausgeputzten Vorzeige-Figuren! Dabei gab sich<br />
Antje Vollmer so, als wolle sie sich irgendwie dafür entschuldigen, mit den Grünen den Sprung in<br />
den Bundestag geschafft zu haben.<br />
Seinerzeit hatten die Grünen als basisdemokratische und ökologische Protestbewegung<br />
mit 2.167.431 Stimmen die Fünf-Prozent-Hürde gemeistert. Das alternative Deutschland klagte<br />
sich, von der Sache kommend, laut ins etablierte Gefüge ein, sucht mit und in Negativ-<br />
Abgrenzungen Durchbruch und Halt. Die Situation Anfang der achtziger Jahre glich der APO-<br />
Zeit. Damals kämpfte eine rebellierende Jugend gegen eine Große Koalition im Bundestag und in<br />
manchen Ländern. Jetzt setzen sich die Grünen in Bonn ebenfalls mit einem stillschweigenden All-<br />
Parteien-Bündnis auseinander. Der Ausbau von Atomkraftwerken und die "Notwendigkeit"<br />
ökonomischer Zuwachsraten hatten CDU/CSU, SPD und FDP enger zusammenrücken lassen, als<br />
es die Sitzordnung im Bundestag deutlich machte.<br />
Bonner Politik schrumpfte auf ein zentrales Anliegen: mit welchen Mitteln ein oder zwei<br />
Prozent mehr Wirtschaftswachstum erreicht werden könnten. Kennzeichnend für den politischen<br />
Umgangston, für die vielzitierte "Dialogfähigkeit" in diesem Jahrzehnt war die eine Äußerung des<br />
Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Alfred Dregger (*1920+2002) über die Grünen.<br />
Er nannte sie "politisch verkommen", weil sie in der Bundesversammlung die Nationalhymne<br />
"Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland ..." nicht mitgesungen hatten.<br />
Jedenfalls wollte ich an jenem Donnerstagmorgen auf der Pressetribüne des Bundestags<br />
die "Wiederbelebungsversuche" des Parlaments durch die Bundestagsfraktion der Grünen<br />
mitbekommen. Über Jahre mied ich diese Pressetribüne. Die Ära hatte schon längst begonnen, in<br />
der Identität in der Politik mehr durch als durch Charakter und Persönlichkeit bestimmt wurde. In<br />
der Politik etablierte sich allmählich das Kabinett der austauschbaren Identitäten. Der Aufstieg trug<br />
ein Motto: "Sage mir, wer dein Image macht, und ich sage dir, wer du nicht bist!" Zum Zeitalter des<br />
Persönlichkeitsstylings und des Treatment-Designs ist die beste Persönlichkeit keine Persönlichkeit.<br />
Da stand Antje Vollmer nun am Rednerpult des Bundestages und sollte der<br />
Regierungserklärung des Kanzlers Paroli bieten. Ihre Stimme zitterte und war ständig in Gefahr,<br />
wegzukippen. Ich war irritiert und enttäuscht. Ihr parlamentarischer Auftritt in Sachen Agrarpolitik<br />
erfüllte nicht meine von Bonn geprägten Erwartungen. Paroli bieten hieß für mich, auf derselben<br />
Klaviatur rhetorisch gewieft zu klimpern - am besten noch satter, abgefeimter, zynischer. Antje<br />
Vollmer mühte sich vor meist gelangweilt Zeitung lesenden Männern um Aufmerksamkeit.<br />
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Und gewiss hatte sie unterschwellig auch Angst vor dem Sprung ins Polit-Milieu. Wie<br />
lassen sich eindeutig Grenzen ziehen zwischen Absichten und tatsächlich neuen Formen des<br />
Streites? Wann hat jemand eine Profilneurose und wann sagt man, ja endlich, das ist die neue<br />
politische Identität? Ich hatte so meine Zweifel, Widersprüche und meine Schubläden. Die zog ich<br />
auf, noch ehe Antje Vollmer ihre Rede beendet hatte, "diese Art von Geschäft in der Politik könne<br />
auf Dauer niemand betreiben, ohne Schaden an Leib und Seele zu nehmen", hatte ich mein Bild<br />
über diese Frau abgerundet - vorschnell, wie sich bald herausstellen sollte.<br />
Ich dachte mir: Wieder eine Person, die mit pastoralem Sendungsbewusstsein die<br />
Gesellschaft beglücken wollte. Jetzt setzt sie unverdrossen wie gebeutelt ihren Anspruch fort.<br />
Typisch Frau - sie dürfte kläglich hier an den politischen Schauplätzen der Krisenmanager. Doch<br />
Antje Vollmer versagte nicht. Ganz im Gegenteil.<br />
Die Frauen-Aufbruchs-Ära, die in der Kinderladen-Bewegung der siebziger Jahre ihren<br />
Ausgangspunkt nahm, hatte längst die Männer-Trutzburg Bonn erreicht. Sie ist gleichsam eine<br />
Antwort auf Vertrauensverluste und Visionenlosigkeit. Antje Vollmer steht für Tausende von<br />
Frauen in diesem Land, die die Aufbruchs-Ära eingeleitet haben.<br />
Im Laufe der Jahre habe ich lernen müssen, dass sich hinter ihrer Unscheinbarkeit eine<br />
unvermutete Portion Härte und Durchsetzungsvermögen verbirgt. Sie brachte den<br />
"gesellschaftlichen Dialog" mit einsitzenden RAF-Terroristen in Gang. Bundespräsident Richard<br />
von Weizsäcker (1984-1994) gab einigen Gnadengesuchen lebenslänglich Verurteilter statt. Wobei<br />
sie Moral und Recht, Legitimität und Legalität, Politik und Gewissen auf die ihr eigene unbeugsame<br />
Art und Weise vereinte. Als die Grüne Partei sich in Fraktionskämpfen selbst zu eliminieren<br />
drohte, war sie es, die mit der Gruppe "Grüner Aufbruch '88" zu vermitteln suchte. Antje Vollmers<br />
Überlegungen brachen die Definitionsgewalt der Männer in der intellektuell chronisch untersorgten<br />
Hauptstadt.<br />
Als ich Antje Vollmer zum letzten Mal in ihrem Haus in Kirchdornberg bei Bielefeld<br />
besuchte, da hatten sie die Jahre in Bonn deutlich gezeichnet. Müde war sie des ewigen Gezerres in<br />
Bonn auf den Parteitagen. Und immer die Angst, die Politik könne sie endgültig davontragen, ihr<br />
den Rest an privater Sphäre nehmen, sie für die Apparate zurecht schleifen. "Nein", sagte sie, "ich<br />
will nicht mehr. Andere Frauen müssen für mich weitermachen. Man muss auch Abschied nehmen<br />
können. - Und ich kann ja vielleicht irgendwann einmal wiederkommen."<br />
Das Bundestagsmandat im Schutze der Immunität, der Diplomaten-Status - all jene<br />
Privilegien sind für Antje Vollmer im Gegensatz zu den meisten Männern in Bonn keine Frage von<br />
Sein oder Nichtsein. "Denn jeder ist ersetzbar - erst recht, wenn die parlamentarische Routine die<br />
Menschen dort zu ersticken droht. Für mich erwarte ich Ruhe in einem großen Abstand zu allem."<br />
Auf der Rückfahrt von Bielefeld fiel mir eine Passage aus Heinrich Bölls (*1917+1985)<br />
"Frauen vor Flusslandschaften " ein. Da heißt es:"Wubler: Du hast gelernt, dass Politik ein<br />
schmutziges Geschäft ist.Erika: was nicht bedeutet, dass Schmutz schon Politik ist."<br />
Als Antje Vollmer im Jahre 1983 - für sie eigentlich unerwartet - mit den Grünen in den<br />
Deutschen Bundestag einzog, fühlte sie sich eher als eine stille Beobachterin ihrer Fraktion. Sie war<br />
nicht einmal ordentliches Mitglied dieser ökologischen Partei, die von den Bonner Polit-Profis mit<br />
einem müden Lächeln - dank ihres unkonventionellen Parteiprogramms und nicht-hoffähigen<br />
Auftretens - weniger begrüßt als beargwöhnt wurde. Für die damals vierzigjährige Antje Vollmer<br />
ging alles rasend schnell: Keine sechs Wochen lagen zwischen dem ersten Gedanken an eine<br />
Kandidatur und ihrer Wahl zur Bundestagsabgeordneten.<br />
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Sie kam aus der ländlichen Bildungsarbeit, der sie sich über sieben Jahre lang mit einem<br />
Engagement gewidmet hatte, das zu ihren bemerkenswertesten wie nachhaltigsten Eigenschaften<br />
gehört. Als Dozentin in der Erwachsenenbildung in Bethel besaß sie noch genügend Energie, um<br />
sich in einer Bauernoppositionsgruppe - die in Westfalen das "Bauernblatt" herausgab - mit<br />
agrarpolitischen Problemstellungen auseinanderzusetzen. In ihrem Tagebuch " ... und wehret euch<br />
täglich" beschrieb die studierte Theologie ihre Arbeitsstelle mit der ihr eigenen Wehmütigkeit als<br />
einen "Ort für die Suche nach dem Selbstbewusstsein der Menschen des ländlichen Raumes". Vom<br />
Lindenhof, der Begegnungsstätte für Jung und Alt, nach Bonn.<br />
Damals traten die Grünen in Nordrhein-Westfalen mit einer offenen Liste an ( das<br />
machen sie heute nicht mehr), die für eine politische Grundüberzeugung stand: Die Grünen<br />
wollten damit Vertretern von Basisbewegungen volksnahen Einfluss auf ihre parlamentarische<br />
Arbeit sichern. Deshalb suchten sie eine Zusammenarbeit mit dem "Bauernblatt". Die Landwirte<br />
blieben skeptisch und wollten nicht von ihren Höfen weg. Antje Vollmer war zur rechten Zeit auf<br />
dem rechten Platz, und zudem war auch bei den Grünen der Gedanke virulent, dass eine Frau -<br />
natürlich - ein Plus wäre. Auf der Delegiertenversammlung der Grünen in Geilenkirchen. wo die<br />
Landeslistenplätze vergeben wurden, schnupperte Antje Vollmer zum ersten Mal die Atmosphäre<br />
eines mit fünfhundert Menschen gefüllten Saales, war überwältigt und rannte immer wieder raus.<br />
Der Kandidatenbefragung konnte sie sich freilich nicht entziehen, und es dauerte Stunden. Ihre<br />
anfängliche Irritation wich plötzlich dem Gefühl von Kontinuität.<br />
Diesen Wandel hielt sie in ihrem Tagebuch fest: "Für einen Moment stellte sich für mich,<br />
seinerzeit auf der Delegiertenversammlung in Geilenkirchen, meine ganze Lebenserfahrung auf den<br />
Kopf. - Alles, was mir bisher Schwierigkeiten gemacht hatte, hier bei den Grünen, gerät zu meinen<br />
Gunsten ...". Neugierig und couragiert wie sie ist, begibt sie sich tags darauf auf Erkundungsfahrt,<br />
versucht sich ein Bild von den Grünen zu machen, von einzelnen Personen, von den Flügeln und<br />
Richtungen innerhalb der Partei, von den Drahtziehern und den Kritikern, von der Grünen Art zu<br />
streiten, zu diskutieren, Probleme auszutragen. In ihrem ersten relativen kurzen Wahlkampf zog<br />
Antje Vollmer vor allem über Land, von Dorf zu Dorf, wo sie sich plötzlich als Rednerin in Sachen<br />
grüner Politik wiederfand. Auch hier kein Anflug von Selbstgefälligkeit, sondern kritische<br />
Selbstreflexion, darüber, dass sie zu zaghaft sei, noch zu sehr Dozentin, zu viel referiere und nicht<br />
nahe genug an die Leute herankomme. Antje Vollmer im Jahre 1983: erste Gehversuche als<br />
Politikerin und der feste Vorsatz, es muss anders, besser werden. Ihre Vorstellung vom Bonner<br />
Abgeordneten-Dasein deckte sich nicht mit der Realität, dazwischen schoben sich die von den<br />
Medien vermittelten Klischees.<br />
Blickwechsel für Antje Vollmer; Einzug ins Hochhaus Tulpenfeld, ein von Hässlichkeit<br />
strotzender Betonklotz - der Bienenstock von Hunderten mehr oder weniger fleißigen<br />
Abgeordneten. Im fünften Stock die Geschäftsführung der Grünen. Für Antje Vollmer, gewöhnt<br />
an Arbeit im Grünen und in Ruhe, muss der Schock ziemlich groß gewesen sein: Hier klingelten<br />
die Telefone und schlugen die Türen ohne Unterlass, hier herrschte den ganzen Tag eine Rushhour<br />
der Informationen und Neuigkeiten. Ungewohnt war für sie der vom Frankfurter Sponti-<br />
Organ "Pflasterstrand" (dem alten) beeinflusste Sprachstil. welcher der in Sachen Sprache sensiblen<br />
Antje Vollmer Entgegenkommen abverlangte. Acht Stockwerke darüber richtete sich Antje<br />
Vollmer mit sieben Mitgliedern der Fraktion ein. Es gab für sie viel zu lernen: Lektion Nummer<br />
eins, die Flut der Papiere zu kanalisieren, damit man seine Tasche überhaupt nach Hause tragen<br />
kann, wo die Arbeit noch kein Ende nimmt. Trotz Wirrwarr und lockerem Chaos, wilden<br />
Diskussionen und theoretischen Unklarheiten - Antje Vollmer sah, dass viele ihrer Zukunftsideen,<br />
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die in ihrer Studentenzeit nur Papier gewesen waren, von den Grünen in Angriff genommen<br />
wurden: angefangen bei der Rotation der Mandate, über die Offenheit der Partei- und<br />
Fraktionssitzungen bis hin zur Frauenparität.<br />
Damals, in den APO-Jahren, war die Herausbildung politischer Machtzentren detailliert<br />
reflektiert worden. Und nun sollten es die Grünen sein, die als Erste die Rotation in den führenden<br />
Ämtern der Partei beschlossen und auch weitestgehend befolgten. Oder: Die Ursachen der<br />
Unterdrückung der Frau waren in der deutschen Linken seit August Bebel (*1840+1913) und Clara<br />
Zetkin (*1857+1933) aufgearbeitet worden. Aber es blieb wiederum den Grünen vorbehalten,<br />
ihren meisten Landesverbänden die Frauen-Parität als Ziel vorzugeben.<br />
Für Antje Vollmer bedeuteten diese aufsehenerregenden Ansätze der Grünen so etwas<br />
wie "Edelsteine", deren weitreichender Wert noch nicht allen klar war. Schon die Rotationsregelung<br />
hieß im Kern, dass die Grünen den konventionellen Abgeordnetenstatus nicht anerkannten. Sie<br />
war eine Attacke gegen das Berufspolitikertum, da die Grünen Politiker und Politikerinnen in ihren<br />
Reihen für ersetzbar erklärten. Sie war eine Kampfansage gegen die ausufernde politische Macht,<br />
die mit der parlamentarischen Routine verbunden ist. Für Antje Vollmer war klar, dass damit<br />
Spontaneität, Basisverbundenheit und die Herkunft aus dem Berufsalltag für die Durchsetzung von<br />
Zielen fruchtbar gemacht wurden und aus der Eindimensionalität von Langzeit-Politikern ein<br />
konstruktiver, zukunftsweisender Weg gefunden wurde. Es war für sie eine spannende Erfahrung<br />
zu sehen, wie die Grünen Probleme auf neue Weise anpackten.<br />
Antje Vollmer verließ ihre Rolle als stille Beobachterin und wurde, nachdem sie aus<br />
Rotationsgründen im April 1985 ihr Bundestagsmandat niedergelegt hatte, ordentliches<br />
Parteimitglied. In dieser Parlamentspause fand sie Zeit, über eine sie bedrängende Frage<br />
gründlicher nachzudenken: Gibt es noch Frauen-Utopien? Was treibt die Frauen an, über ihre<br />
Tagtraumfetzen hinauszugehen? Begeben sie sich auf die Schiffe (Ernst Bloch *1885+1977), um<br />
neues Land, einen neuen Kontinent zu entdecken?<br />
Antje Vollmer, die ihre Gedanken ungern im Kämmerlein verstauben lässt, sondern sie<br />
lieber als Provokation in die Welt schickt, gab ein Buch heraus mit dem märchenhaften Titel "Kein<br />
Wunderland für Alice?". Dort veröffentlichte sie einen ihrer liebsten Aufsätze, dessen zentrale<br />
Botschaft lautet: "Es ist nicht nur der Mangel an utopischen Leitbildern von Frauen an der Front<br />
des Neuen, der Frauen gelähmt hat, ihre eigene Zukunft zu entwerfen. Es war auch nicht nur die<br />
gewisse Aussicht auf das Schafott und die sichere eigene Niederlage, die sie zurückhielt. Es war<br />
auch nicht nur der klassische enge Zuschnitt ihres Lebens und die mangelnde Teilnahme an der<br />
gesellschaftlichen Produktion und dem öffentlichen Leben, der sie auf Dauer hatte zurückzerren<br />
können von dem, das unaufhaltsam vorwärtsdrängt. Es ist die ewige immer gleiche, nie endende,<br />
Kräfte auszehrende Sisyphus-Arbeit, Hoffnungen zu Grabe tragen zu müssen. Niederlagen als<br />
Geschlagene zu überleben und die Verdammung zur Passivität in allen großen gesellschaftlichen<br />
Konflikten ...<br />
Für die Mehrzahl der Frauen gilt, dass alle großen Ereignisse - selbst die mit glückhaftem<br />
Ausgang - auf sie zuallererst ihre Schatten werfen. Diese Schatten haben das Gewicht von Fesseln,<br />
wie kein Mann sie trägt. Sie zu sprengen bedeutet eine unmenschliche Kraftanstrengung. Der Weg<br />
von Frauen - trotz dieses Wissens - in die erste Reihe der großen Menschheitsutopien ist länger, da<br />
sie viel mehr hinter sich und außer acht lassen müssen. Deswegen ist er auch radikaler. Einmal<br />
vorne angekommen, führt selten ein Weg zurück." Wenn Antje Vollmer schreibt, dann meint sie<br />
es ernst. Sie gehört zu jenen Frauen, die nach vorne stürmen - an die Front des Neuen. Ernst<br />
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Blochs Prinzip Hoffnung wird hier weitergedacht, aus dem Philosophie-Seminar ins Leben geholt:<br />
quasi als gutmachende Anleitung für den Kampf um Recht und Gerechtigkeit.<br />
Antje Vollmer, die von sich sagt, sie möchte mal so leben, dass insbesondere Frauen<br />
denken, was sie kann, das kann ich auch, stellt ihr Leben und ihre Arbeit unter den Druck<br />
größtmöglicher Authentizität. Sie weiß um ihr Sendungsbewusstsein in der Bonner Raumstation, in<br />
der sie "dicke Bretter" zu bohren hat. Aber gerade dieser Anspruch lässt sie oft verzagt<br />
dreinschauen und sogar des Nachts in ihren Träumen noch schuften. Ihr Politik-Dasein ist<br />
bestimmt von einem abgeschotteten Verhalten gegenüber einem Milieu, in dem Radikalität und<br />
Unbestechlichkeit gegen sich selbst Fremdbegriffe sind; Eigenschaften, die für die bei allen<br />
Erfolgen bescheiden gebliebene Antje Vollmer charakteristisch sind - vom Gerede und Gehabe<br />
längst abgelöst worden. Ihr Einstieg in die Bundes-Politik war insofern leicht, als sie konkurrenzlos<br />
ihre Arbeit aufnehmen konnte. Ob in der Friedens- oder in der Frauenpolitik - bei den Grünen<br />
wurde damals überall gerangelt. Nur von der Landwirtschaft verstand keiner etwas. Zur<br />
Zufriedenheit aller übernahm sie die Verantwortung für ein unpopuläres Arbeitsfeld. Es gelang ihr,<br />
eine Alternative zur EU-Agrarpolitik zu entwickeln, die auf eine beachtliche Resonanz nicht nur bei<br />
den Landwirten, sondern auch bei der CDU stieß, die begründete Ängste um ihr Wählerpotenzial<br />
hegte. Das Leben der Bauern kannte sie noch vom Lindenhof, mit diesen Menschen fühlte sie sich<br />
verbunden: "Im Loyalitätskonflikt hätte ich mich für die Bauern und nicht für die Grünen<br />
entschieden." Das Jahr 1983 war für Antje Vollmer ein Aufbruchsjahr zu anderen Ufern. Ein<br />
unvermuteter Aufbruch, der Erinnerungen an andere Aufbrüche in ihrem Leben weckte. Mit zehn<br />
Jahren wollte sie unbedingt aufs Gymnasium.<br />
Ein Wunsch, mit dem sie innerhalb ihrer Familie aus der Reihe tanzte. Mit zwanzig hatte<br />
sie es endlich geschafft, wegzukommen aus der beklemmenden Kleinstadt Lübbecke im<br />
Westfalenland: raus, möglichst weit weg - Berlin, Paris, Damaskus, Madrid, Rom. Dann kam das<br />
Studium und Studentenbewegung - theoretisches Neuland. Es schlossen sich an drei Jahre als<br />
Pastorin in einem Berliner Arbeiterviertel. Sie wurde dreißig und fing noch einmal von vorne an,<br />
hängte die "theologische Amtsperson" an den Nagel. Neuer Beruf, neue Lebenswelt, neue Freunde.<br />
Immer auf der Suche, getrieben vom Drang aus dem Leben etwas zu machen. Das Glück scheine<br />
ihr günstig gewesen zu sein, meint sie rückblickend lakonisch. Als Antje Vollmer die Parteiarbeit<br />
aufnahm, überschatteten die Politik der Grünen starke Auseinandersetzungen in der<br />
Fraktionsführung. Das ist nach Jahren immer so. Damals bestand die Fraktionsführung aus Otto<br />
Schily ( 1980 Mitbegründer der Grünen, 1990 SPD-Bundestagsabgeordneter, 1998-2005<br />
Bundesminister des Inneren), Petra Kelly (Alternativer Nobelpreis 1982 - *1947 +1992) und<br />
Marieluise Beck-Oberndorf ( 2002-2005 parlamentarische Staatssekretärin im Ministerium für<br />
Familie, Frauen, Gesundheit, Ausländerbeauftragte).<br />
Alle drei hatten vor allem eins gemeinsam, sie konnten nicht miteinander. Antipathien.<br />
Diese Situation schien nicht nur für Antje Vollmer prekär. Es konnte nicht darum gehen, sich blind<br />
für eine Person zu entscheiden. Das hätte nur unnötige persönliche Verletzungen mit sich<br />
gebracht, den lähmenden Zustand der Partei verlängert. Für Antje Vollmer und Gleichgesinnte<br />
stellte sich die Frage, wie eine allseits akzeptable Lösung aussähe. Was einst Utopie war und nun<br />
knallharte Wirklichkeit wurde - zum Missvergnügen vieler männlicher Grünen - das war das<br />
Feminat der Bundestagsfraktion der Grünen. Es war eine Geburt in schwerer Stunde, doch - wie<br />
Antje Vollmer meint - zur rechten Zeit. Mit einem Machtputsch der Frauen -wie es von den<br />
Medien männertreu dargestellt wurde - hatte das Konzept nichts gemein. Antje Vollmer und ihre<br />
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Mitstreiterinnen probierten lediglich, einen konstruktiven und perspektivreichen Ausweg aus einer<br />
schwierigen, weil verfahrenen Lage zu finden.<br />
Im weitesten Sinne eines Lösungskonzepts hatte das Feminat einen neuen Umgang<br />
miteinander, ein Verhalten, das auf Zusammenwirken und Zusammenarbeiten und gegen das von<br />
eigenen Interesse angetriebene Intrigenspiel in der Politik setzte. Es war ein Konzept, das<br />
Gegensätze austragen und nicht zukleistern wollte. "Es gab darauf ungeheure<br />
Machtauseinandersetzungen mit den Männern, die das Feminat politisch zu diskreditieren<br />
versuchen." Hier zeigte sich die Gefahr von Ferne, die die Grünen dann einholte. Antje Vollmer<br />
sah damals schon genauer, aus der Distanz einer, die nicht in die Machtkämpfe verstrickt ist. Die<br />
Grünen hatten in ihrer kurzen Geschichte ein atemberaubendes Tempo mit ihren Ideen,<br />
Forderungen und Konzepten vorgelegt; allmählich emanzipierten sich jedoch diese Entwürfe von<br />
ihnen und wurden gesellschaftsfähig. Der Erfolg der Grünen stand in seinem Zenit, und die<br />
Gedankengeber von einst drohten sich in parteiinternen Flügelkämpfen aufzureiben.<br />
Antje Vollmer, die für alles Neue ein untrügerisches Gespür hat und diesem mit Energie<br />
auf die Sprünge zu helfen versteht, stellte ein merkwürdiges Phänomen fest: Kaum hatten einige<br />
Grüne einen ungewöhnlichen Gedanken in die Diskussion geworfen, meldete sich gleich jemand,<br />
der hier nur einen Stein des Anstoßes erblickte und den Gedanken im Keim erstickte. Zurück blieb<br />
der blasse Schein einer Idee. Die Folge war, dass der Elan der Grünen nachließ. Antje Vollmer<br />
brachte die Talfahrt auf den Punkt: Nichts ist so praktisch wie die überkommene Praxis. Der<br />
Parteiapparat der Grünen mutierte auf erschreckende Weise in die Formen der traditionellen<br />
Parteibürokratien. Deren Strukturen hatten sich in Jahrzehnten bürgerlicher Machtverwaltung<br />
herausgebildet. Antje Vollmer in den politischen Diskussionen der APO-Zeit geschulter Blick<br />
erkannte innerhalb der Grünen Partei erste Anzeichen eines in Funktionalität und Hierarchie<br />
erstarrenden Parteilebens.<br />
Sie traf den Kern dieser Entwicklung mit einer Geschichte. In der DDR habe ihr jemand<br />
mal einen Zettel zugesteckt, der in ihren Augen revolutionärer sei als so manches Zitat von Rosa<br />
Luxemburg: "Wie Rosse gehn die gefangenen Element' und alten Gesetze der Erde. Und immer ins<br />
Ungebundene geht eine Sehnsucht." Exakt hier zeige sich, so Antje Vollmer, das Grunddilemma:<br />
Was haben Parteien mit ungebundenen Sehnsüchten zu tun? Nichts - eben! Antje Vollmers<br />
Diagnose wenige Monate nach ihrem Parteieintritt. Ob in der Phase, die zum Fraktions-Feminat<br />
führte, oder in der Zeit bis zum zehnjährigen Geburtstag der Grünen Partei - es gelinge den<br />
Grünen zeitweilig gar nicht und mittlerweile immer weniger - so Antje Vollmer -, sich aus der<br />
Paralyse des Selbstbeharkens und des Selbstmitleidens zu befreien.<br />
Die Flucht in die Verbalradikalität und die endlose Scheindebatten seien die Konsequenz.<br />
Im Spannungsverhältnis zwischen sich verselbständigenden Apparaten bei gleichzeitig egalitären<br />
Strukturen waren längst die Grenzen des politisch und menschlich Möglichen und Erträglichen<br />
erreicht worden. Antje Vollmer sah als Ursache meistens ein soziales Problem, das alle Parteien<br />
hinreichend kennen: Wohin mit den verdienten Funktionär (inn)en? Auch die Antwort der Grünen<br />
auf diese Frage war bislang eine traditionelle gewesen: Hinein mit ihnen in die Mitarbeiterstäbe und<br />
Geschäftsstellen. Der Apparat gebiert so sich selber. Zusammen mit dem Blockdenken braute sich<br />
da ein hochexplosives Gemisch zusammen. Die politischen Debatten in den Orts- und<br />
Kreisverbänden wurde dagegen seltener, "eine Auszehrung der Basis" war schon damals<br />
unverkennbar. Antje Vollmer gab jedoch nie auf. Unscheinbar ging sie voran. Hinter der Etikette<br />
der Schüchternheit verbarg sich ein in der Politik ungewohntes Stehvermögen.<br />
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Schon damals fiel den politischen Beobachtern zu Bonn auf, dass Frauen an der<br />
politischen Macht ihre Arbeit nicht mit Samthandschuhen ausführen, sondern mit jener Härte, die<br />
scheinbar ein Privileg der Männer ist. Ein kluger Kopf erkannte damals in der Frankfurter<br />
Allgemeinen Zeitung: "Frau Vollmer bezeichnet sich selbst als sehr deutsch und sehr<br />
protestantisch, und mancher in der Fraktion wünschte sich, sie übte mehr Nachsicht gegenüber<br />
den kleinen menschlichen Schwächen." Zu Zeiten des Fraktions-Feminats brachen bislang<br />
unterschwellige Konflikte mit den Grünen-Männern offen aus. Erstmals prallte das<br />
Selbstverständnis der Macher brüsk ab bei den Grünen Frauen auf dem Weg zur Macht. "Zum<br />
ersten Mal in der Geschichte haben Frauen in einer Fraktion die Führung übernommen", sagte<br />
Antje Vollmer nicht ohne einen gewissen Stolz. Dabei kam es den Grünen-Frauen gar nicht darauf<br />
an, die Männer zu entmachten. Der Spiegel betitelte damals seinen Bericht über den Wahlsieg der<br />
sechs Frauen mit der Überschrift "Spitze entmannt" und traf damit den Nerv männlicher<br />
Machtvorstellung. Die Kollegen der "sechs tapferen Schneiderleininnen" (Antje Vollmer, Waltraud<br />
Schoppe, Annemarie Borgmann, Heidemarie Dann, Erika Hickel und Christa Nickels) waren<br />
sichtlich verschreckt.<br />
Der abgesägte Otto Schily sprach vom "falschen Weg einer geschlechtsspezifischen<br />
Lösung". Und der Ex-Fraktionsgeschäftsführer Joschka Fischer flüchtete sich in zynische Sprüche<br />
über "die gequetschten Schwanzträger". Der Alt-Sponti erkannte gleichwohl die Stoßkraft der<br />
Bewegung: "Jene letzte Burschenschaft namens Bundestag vergeht seitdem in ängstlicher Häme<br />
über den Weiberrat der Grünen, denn, meine Güte, wo kommen wir denn hin, wenn dieses<br />
Beispiel Schule macht . . . Unser Weiberrat wird es nicht leicht haben, denn er (er!) wird sowohl mit<br />
den sattsam bekannten Vorurteilen der Bonner Versammlung zu kämpfen haben als auch mit den<br />
zurückgestellten Bedenken. Ambitionen und Ehrgeizen grüner Klemmchauvis, ganz zu schweigen<br />
von den ungelösten und verdrängten politischen Problemen der grünen Bundestagsfraktion."<br />
Fischers Einsicht folgte aber sogleich eine Verniedlichung, so, als würde es sich hierbei nur um ein<br />
Puppenstück handeln: "Zudem ist es schon ein Genuss, die allgemeine Verunsicherung der<br />
Republik durch die grüne Weiberherrschaft zu erleben." Männer-Sprüche.<br />
Bei den Frauen hingegen hörte sich das anders an. Christa Nickels (1998-2001<br />
parlamentarische Staatssekretärin bei der Bundesministerin für Gesundheit), auch nicht auf den<br />
Mund gefallen: "Mir hat jemand am Abend der Wahl gesagt: Jetzt haben die Frauen die Herrschaft<br />
übernommen: Nicht die Herrschaft, sondern die Arbeit." Die Grande Dame des Deutschen<br />
Bundestages, Hildegard Hamm-Brücher (Staatsministerin im Auswärtigen Amt 1976-1982, FDP-<br />
Austritt 2002), begeisterte sich: "Eine tolle Sache, damit kann ich mich nur solidarisieren." Die<br />
CSU-Abgeordnete Ursula Männle gratulierte Waltraud Schoppe zum Erfolg. Die Sozialdemokratin<br />
Anke Fuchs fand, was da passierte, "ganz prima". Frauen-Solidarität. Mit dem Feminat sollte ein<br />
anderes Politik-Stil entwickelt werden. Statt Konkurrenzneid und Profilierungssucht - Kooperation<br />
und Kollegialität. Es war der Versuch, Politik mit anderen Mitteln zu betreiben. Staat des Kriegs<br />
der Prominenten und Karrieristen um Fernsehauftritte und Zeitungsmeldungen ging es um das<br />
uneitle Engagement, um richtige Lösungsvorschläge.<br />
Antje Vollmer bekannte schon damals freimütig, dass sie keine Lust habe, ein Polit-Star zu<br />
werden. "Ich habe aber ein unheimliches Interesse, dass sich Frauen in ähnlicher Situation, in der<br />
wir alle mal gewesen sind. in uns wiederfinden. Von daher denke ich, dass wir unheimlich große<br />
Wirkungen haben werden auf die Entwicklung von Frauen, dass sie lernen, sich Sachen zuzutrauen,<br />
die sie sich vorher nicht zugetraut haben." Der Unmut der Grünen-Frauen jener Partei, wo vieles in<br />
der Praxis anders ablief, doch einiges nur auf dem Papier, war groß. Denn im Bonner Männer-<br />
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Domizil bildeten die Grünen-Männer keine Ausnahme. Machismo gab es links wie rechts. Doch -<br />
erstmals in der Hauptstadt überhaupt - waren die Frauen nicht mehr bereit, den alltäglichen<br />
Chauvinismus der Männer hinzunehmen. Die angebliche Chancengleichheit bei den Grünen, so<br />
stellte die Frauengruppe der Grünen fest, sei "nur die Verschleierung der permanenten<br />
Unterdrückung von Frauen". Antje Vollmer profilierte sich als eine scharfe Kritikerin der<br />
männlichen Politikformen bei den Grünen. Joschka Fischer (Bundesminister des Auswärtigen<br />
1998-2005) und der einstige Pariser Studentenrebell wie späterer Frankfurter Berufs-Sponti Daniel<br />
Cohn-Bendit sah sie als typische Repräsentanten an. Im Streitgespräch mit dem letzteren schimpfte<br />
sie: "Da braut sich doch etwas zusammen: Mackertum, männlich bestimmte Formen, Politik zu<br />
machen, sind an allen Fronten im Vormarsch." Sie sprach von der "Verhandlungstaktik nach<br />
Zocker-Mentalität". "Es ist für mich kein Zufall, dass dabei Männer den Ton angeben." Als<br />
Synonym für überkommenes männliches Verhalten kreierte sie das Schlagwort von der "Fischer-<br />
Gang". Dahinter steckte kein Vernichtungswille, sondern eher die Lust, spielerisch Tendenzen auf<br />
einen Begriff zu bringen. Diese Suche nach neuen Wörtern, der Wille zur eigenen, unverbrauchten<br />
Sprache geht einher mit ihrer unverkennbaren Suche nach politischem Neuland. Der Begriff<br />
"Fischer-Gang" wurde die Parole zur Verteidigung der politischen Bedeutung des Feminats.<br />
Die Frauen des Feminats suchten die Konfrontation mit jenem Typus von politisch<br />
aufgeklärtem, scheinbar durchsetzungsfähigerem Mann, der sie - allen Floskeln zum Trotz - wie<br />
einen netten Hausfrauenverein behandelte: Sie sind zur Genüge bekannt, diese unglaublich<br />
progressiven, innig verständnisvollen Repräsentanten ihres Geschlechts, die mit ihrem routinierten<br />
Wortgeklingel vor jeder Tür ihr Liedchen singen. Die Grünen-Frauen wollten raus aus ihrer<br />
therapeutischen Rolle, die die Männer, Zweierbeziehungen geübt, so gerne den Frauen, mit ihrer<br />
"Naturbegabung zum Kompromiss", überlassen: zwischen den Fronten zu vermitteln, den<br />
Hitzköpfen die Hand zu reichen, den Kampfhähnen Wärme zu geben und wie eine Mutter da zu<br />
sein, wenn der Junge sich das Knie aufgeschlagen hat. In der Tat: Die medienpotenten Cracks der<br />
Grünen zogen sich den nach bürgerlichen Muster für ihre Auftritte maßgeschneiderten Anzug an,<br />
auch wenn sie sonst in ausgefransten Jeans herumliefen.<br />
Die Mehrheit der Grünen nahm damals ein kritisches Verhältnis gegenüber einer<br />
möglichen Zusammenarbeit mit der SPD ein. In der Öffentlichkeit jedoch entstand ein anderes,<br />
verzerrtes Bild, das von Joschka Fischer und Otto Schily dominiert wurde, die sich schon damals<br />
als grüne Minister in einem möglichen Bundeskabinett Oskar Lafontaines (SPD-Vorsitzender<br />
1995-1999) empfahlen. Antje Vollmer: "Schau Joschka Fischer und Waltraud Schoppe (Frauen-<br />
Ministerin in Niedersachsen 1990-1994) an. Sie bekommen ihre politischen Anliegen<br />
unterschiedlich deutlich rüber. Woran liegt das? Mit Qualitätsunterschied ist das nicht zu erklären.<br />
Er polarisiert, sie nicht. Polarisierung hat so per se einen höheren politischen Wert. Diese Medien<br />
haben ein größeres Interesse, Politik über Leute wie Fischer zu machen, als über Leute wie<br />
Waltraud. So wird mit uns Politik gemacht. Das hat für uns eine eigene Dynamik, wir laufen<br />
Gefahr, die Politik zu machen, die die Öffentlichkeit will." Die Medien für die Transportierung<br />
grüner Inhalte in die Öffentlichkeit zu nutzen, das stellte Antje Vollmer dagegen.<br />
Dem Feminat gelang es, Kampagnen gegen das Kraftwerk Buschhaus, gegen Dioxin zu<br />
initiieren und eine breitangelegte Initiative zur Deutschlandpolitik zu starten. Die Kraft resultierte<br />
aus der Geschlossenheit der Fraktion, um die das Feminat kämpfte. Dabei kam es den Grünen-<br />
Frauen nicht darauf an, ihren politischen Stellenwert qua demonstrativer Negativ-Abgrenzung an<br />
den Männern in Bonn dingfest zu machen. Wenn sie sich mit ihnen anlegten, verfolgten sie stets<br />
konkrete Ziele. Antje Vollmer wehrte sich vehement dagegen, dass der Machtkampf bei den<br />
1 60
Grünen ausschließlich eine Auseinandersetzung zwischen Männern und Frauen sei. Sie wusste, dass<br />
es um die Macht ging und der Frauenvorstand bei den Grünen im Zentrum der Macht war. Damals<br />
äußerte sie: "Meines Erachtens geht es um eine Auseinandersetzung zwischen bestimmten<br />
Männern, die ein programmatisches, im Grunde genommen bürgerliches Politik-Modell anstreben,<br />
und Frauen wie Männer in der Fraktion, die an den grünen Grundsatzentscheidungen festhalten<br />
wollen, die sagen: Wir wollen keine Berufspolitiker und keinen Personenkult, sondern wir wollen in<br />
Form einer besonders solidarischen Zusammenarbeit oppositionelle ökologische Politik machen."<br />
Polarisierung, die Stärke der Männer - eben.<br />
Der Kampf um die innerparteiliche Macht - das war für Antje Vollmer schon ein Kampf<br />
um den politischen Stil. Sie erinnert sich in diesem Zusammenhang an die Auseinandersetzungen<br />
und Aktionen der rebellierenden Studenten in der 68er Zeit. Damals hatten sich die Männer und<br />
Frauen in gleicher Stärke engagiert. Doch wer damals das Wort führte und in vorderster Front<br />
stand, das waren vor allem die Männer - Repräsentanten eines ganz bestimmten Stils. Diskussionen<br />
wurde nicht geführt, sondern an sich gerissen. Es dominierte eine unterschwellige Aggressivität.<br />
Die Frauen zogen den kürzeren. Zweifellos hat Antje Vollmer ihre politische Prägung in den<br />
Jahren des Aufbruchs aus der restaurativen bundesdeutschen Enge, in der Studentenbewegung,<br />
erfahren. In jener Ära herrschte noch die Ansicht vor, junge Mädchen sollten lieber nicht aufs<br />
Gymnasium gehen. Ihre dürftigen Bildungs- und Berufschancen sollten nur eine garantieren: den<br />
Erhalt von Heim und Herd. Eine Generation lief sich die Hacken ab, um aus der vermieften<br />
Heuchelei der Wirtschaftswunderkinder auszubrechen. Und Antje Vollmer war dabei. Im<br />
Streitgespräch mit einem Helden des Mai '68, Daniel Cohn-Bendit, das politische Enfant terrible<br />
der vereinigten Spießer, beschrieb sie, wo dieses Dabeisein ein Ende hatte - bei den<br />
Straßenkämpfen: "Ich habe die aus der Studentenbewegung noch in genauer Erinnerung. Wenn<br />
sich eine bestimmte Militanz auf der Straße breitmacht, können die Frauen bestenfalls das<br />
Hinterland darstellen, aber keinesfalls in der ersten Reihe mitkämpfen. Ich stehe doch bei solchen<br />
Demonstrationen angstschlotternd am Ende der Straße, wehrlos.<br />
Männer bestimmten die Auseinandersetzung. Wenn das zur Hauptform politischer<br />
Auseinandersetzung wird, haben Frauen nichts mehr zu bestellen." Die Erfahrung und ihre Folgen.<br />
Es blieb das Wissen um einen Zensor, der die politische Kultur dominiert. Das Faustrecht von<br />
gestern wurde die Rhetorik von heute. "Wenn ich eine Rede schreibe zum Beispiel, habe ich<br />
natürlich die Stellen im Kopf, an denen Joschka Fischer lächelt oder Thomas Ebermann (ehemals<br />
Kommunistischer Bund, 1987/1988 Fraktionssprecher der Grünen im Bundestag) abwinkt. Der<br />
männliche Stil ist als Zensor im Kopf." Ihre Eindrücke haben sich im Laufe der Jahre erhärtet.<br />
1987 veröffentlichte sie in der Tageszeitung ihren Aufruf "Boykottiert das Hauptquartier", der die<br />
Auseinandersetzung um die Krise der Grünen Partei eröffnete. Letztendlich bildete dieser Aufsatz<br />
für eine kritische Bestandsaufnahme der grünen Bewegung - was sie wollten, was sie wurden . Mit<br />
den Fundies und Realos hatten sich in der Partei schon längst zwei Blöcke gebildet, die um die<br />
Meinungsführerschaft erbittert kämpften. Das heißt: statt um den Konsens um Mehrheiten. Antje<br />
Vollmer sah neue Götter auf den linken Hausaltären. Sie schlug sich auf die Seiten der Schwachen,<br />
nämlich der Basis, der wortlosen Minderheiten und prangerte den Niedergang jenes grünen Elans<br />
an, der einst für alle charakteristisch war und nunmehr nur noch eEinzelnebeschwingte. Warum<br />
sollen Ebermann und Schily als Sprecher gewählt werden? Antwort: weil jedermann sofort darauf<br />
kommt, dass sie die Sprecher sind! So war das. "Selten habe ich mich so wütend und so<br />
ohnmächtig gefühlt", klagte die Ketzerin.<br />
161
In Distanz zu den tagespolitischen Themen stellte sie die Frage nach den grundlegenden<br />
Vorstellungen der Grünen, der Linken und Alternativen. Es war ein Appell an alle, jene produktive<br />
Unruhe wiederzufinden, ohne die eine Bewegung im parlamentarischen Trott erstarrt. Bekanntlich<br />
war Antje Vollmer, die frisch vom Land kam, von den in Beton gegossenen Parteizentralen wenig<br />
angetan. Mit zunehmender Verblüffung musste sie feststellen, wie sehr sich manche<br />
Gleichgesinnten der neuen Umgebung anglichen, der Beton der Macht an ihnen fraß, bis hin zur<br />
"Betonisierung des Kopfes der Parteispitze". - Politische Werdegänge. Aber etwas zu erkennen und<br />
zu wissen, damit gibt sie sich nicht zufrieden. Mit Hartnäckigkeit und treffsichereren Stichworten<br />
rückt sie an gegen zementierte Verhältnisse, gegen die Elitebildung innerhalb der Partei. Typisch:<br />
Wer Antje Vollmer über Jahre ihres politischen Wirkens beobachten konnte, lernt sie schätzen:<br />
ihren klärenden Rigorismus und ihre hoffnungsgetragene Kampfbereitschaft, die direkt zur Sache<br />
geht, wenn es um die Sache geht.<br />
Im schrillen Polit-Geschäft dieses Jahrzehnts ist Antje Vollmer eine<br />
Ausnahmeerscheinung, Ihr Engagement in ihrer Arbeit zeigt, wie eine Frau, die ihre<br />
Kampfbereitschaft nicht wie ein Markenzeichen vor sich herträgt, mit analytischem Blick und<br />
Sensibilität eine beachtliche Resonanz erzielt. Für sie ist Parlamentarismus nicht nur konformes<br />
Abstimmungsverhalten, sondern der Versuch, Meinungs- und Denkprozesse der Menschen<br />
aufzunehmen. Dafür steht sie ein, eine Eigenbrötlerin, die Spuren hinterlässt. Zeiten der<br />
Selbstfindung der Grünen-Frauen: Wechselbäder zwischen Resignation, Ohnmacht und Aufbruch.<br />
Auf ihrem "feministischen Ratschlag" im November 1989 in Bonn setzte sich die Erkenntnis<br />
durch, dass auch die Grünen eine "stinknormale chauvinistische Partei" sei, ohne ernsthafte<br />
frauenbewusste Politik. Eine Partei , in der die Macher vor den Trümmern das Sagen hatten.<br />
Folgerichtig kehrten die engagierten Frauen um Regina Michalik der Partei den Rücken, gingen<br />
dorthin zurück, woher sie gekommen waren: in die autonome Frauenarbeit. Auf dem<br />
"feministischen Ratschlag" in Bonn gewann auch die Erkenntnis an Boden, dass die neuen Frauen<br />
an der Macht von den herrschenden Spielregeln vereinnahmt würden.<br />
Das Grüne Haus begann zu bröckeln. Der Erosionsprozess der ökologischen Bewegung<br />
entzündete sich an den Frauen. Es waren aber grüne Mandatsträgerinnen, die nach der Einführung<br />
der Frauenquote von einem "Rollback der Männer" sprachen, davon, dass die Frauenquote die<br />
Qualität der Politik kaum verändert habe. Über dieses Klima zwischen Protest und Karriere,<br />
Unbeugsamkeit und Anpassung schrieb Jutta Ditfurth (Bundesvorsitzende der Grünen 1984-1988)<br />
später, im Jahre 1989, unter der Überschrift "Profiteure in der Flaute" in der Hamburger<br />
Wochenzeitung Die Zeit: "In unserem alltäglichen politischen Alltag knallten Ansprüche auf die<br />
Praxis, Den Kopf voll mit Simone de Beauvoirs (*1908+1986) 'Das andere Geschlecht'<br />
beobachtete ich irritiert, wie Männer in studentischen Teach-ins Reden schwangen und sich, zurück<br />
in den Bänken, von Freundinnen den Nacken kraulen ließen. Bei den seltenen Reden der Frauen<br />
stieg der Geräuschpegel demonstrativ. Aus vielen offensichtlichen Widersprüchen dieser<br />
Kulturrevolte wuchsen die Wurzeln für die erfolgreichen Bewegungen der siebziger Jahre. Wir<br />
lernten ... Mir wird schwindelig von der Geschwindigkeit, mit der Leute, ihre eigene Geschichte<br />
fanatisch leugnend, in all den Jahren von links nach rechts an mir vorbeirasen.<br />
Da kungeln sie nun rosa-grün, müde, zynische Männer zwischen vierzig und fünfzig, im<br />
Bierkeller oder im Schloss. Ihnen gegenüber SPD-Apparatschiks wie Karsten Voigt (seit 1999<br />
Koordinator der deutsch-amerikanischen Zusammenarbeit), Wolfgang Roth (Vizepräsident der<br />
Europäischen Investitionsbank 1993-2006) oder Gerhard Schröder (Bundeskanzler 1998-2005) aus<br />
der ersten Anpassungsgeneration der APO . . . Seit die Grünen am Tropf der Harmoniesucht<br />
1 62
hängen, trudeln sie in den Sumpf der Mittelmäßigkeit, dessen Ufer alle rechts liegen . . . Gerade die,<br />
die gestern Marx und Lenin auswendig aufsagten, anstatt sie zu verstehen und weiterzuentwickeln,<br />
werfen denen, die noch Linke sind und selten Dogmatiker waren, die eigene Vergangenheit vor.<br />
Wie sie Marx vergöttern, den ich schätze, so beten sie heute mit zunehmender Entschlossenheit,<br />
zum goldenen Kalb kapitalistischer Marktwirtschaft. Sie grenzen wie Antje Vollmer am liebsten<br />
nach links aus und öffnen sich nach rechts. Was ist auch schon die Utopie sich befreiender<br />
Menschen gegen einen warmen Platz im Kreis bürgerlicher Honoratioren? Die Grünen werden zur<br />
persönlichen Beute. Eine Idee, die wahrhaftig zur persönlichen Bereicherung gedacht war, stirbt . .<br />
.".<br />
Am Ende der Feminatszeit 1985 - Antje Vollmer hatte infolge der anstehenden Rotation<br />
ihr Bundestagsmandat niedergelegt - holten sie die Folgen des 'Deutschen Herbstes 1977' ein. Das<br />
Schicksal der RAF-Gefangenen hat Antje Vollmer nie losgelassen: "Es konnte mir nie gleichgültig<br />
werden - selbst wenn ich es gewollt hätte." Gemeinsam mit ihrer Freundin der Grünen-<br />
Bundestagsabgeordneten Christa Nickels, schrieb sie einen Brief an die inhaftierten RAF-Mitglieder<br />
- ein Zeichen, auf einander zuzugehen. Regelmäßig besuchten die beiden Frauen RAF-Gefangene,<br />
die sich vom Terrorismus losgesagt hatten. Sie bemühten sich, Hafterleichterungen und<br />
Haftverkürzungen durchzusetzen. Und sie versuchten, mit denen ins Gespräch zu kommen, die<br />
noch stur auf der Linie der RAF waren.<br />
Antje Vollmer hoffte herauszufinden, "ob die Hardliner unter Umständen nicht bereit<br />
waren, andere Wege einzuschlagen. Das heißt keineswegs: Amnestie für alle. Aber wenn unsere<br />
Gespräche einen Sinn haben sollten, dann müssen wir denen genauso etwas abringen wie der<br />
Gesellschaft. Wir versuchten, unsere Erfahrungen mit dem gewaltfreien Widerstand zu vermitteln.<br />
Gerade wir Grünen müssen nach Methoden suchen, wie wir der Gewalt der Militanten gewaltfreien<br />
Widerstand entgegensetzen." Verständlich, dass eine Einzelkämpferin wenig auszurichten<br />
vermochte. Antje Vollmer hatte sich viel vorgenommen, vielleicht zu viel, obwohl ihr die Medien<br />
für die von ihr angestrebte neue Nachdenklichkeit breiten Raum gaben. Dabei nahm sie in Kauf,<br />
bei ihren fast ausweglosen Vermittleraktivitäten für naiv und lebensfern gehalten zu werden. Ein<br />
Vorwurf, den sie offensiv ins Positive zu verkehren suchte. "Naivität ist unsere Waffe", diktierte sie<br />
den Bonner Journalisten in ihre Schreibblocks. Es war ihr damaliger Fraktionskollege und einst<br />
prominenter RAF-Verteidiger Otto Schily (SPD-Übertritt 1997, Bundesminister des Inneren 1998-<br />
2005), der ihr in den Rücken fiel.<br />
Er wollte den Dialogversuch der beiden Politikerinnen keineswegs als "Christenpflicht"<br />
gewertet wissen. Im Gegenteil, Otto Schily warf ihnen vor, "großen politischen Schaden<br />
angerichtet" zu haben. Es sei "unverantwortlich", so Schily in einer Presserklärung, "in nahezu<br />
devotem Ton gegenüber Personen, die in gewissenloser und aberwitziger Realitätsverkennung<br />
Mord und Gewalt propagierten und praktizierten, um Gespräche zu ersuchen." Antje Vollmer ließ<br />
sich nicht beirren. "Wir haben mit vielen Politikern und mit vielen Gefangenen darüber geredet<br />
oder zu reden versucht. Die Wahrheit ist: Es gibt seit Jahren kein einziges Lösungskonzept außer<br />
dem, das Ulrike Meinhof (*1934+1976) ein halbes Jahr vor ihrem Selbstmord - am 9. Mai 1976 - in<br />
Stuttgart-Stammheim geschrieben hat." In der Tat waren es Worte der Ausweglosigkeit. Ulrike<br />
Meinhof: "Wie kann ein isolierter Gefangener den Justizbehörden zu erkennen geben,<br />
angenommen, dass er das wollte, dass er sein Verhalten geändert hat? Wie? Wie kann er das in einer<br />
Situation, in der bereits jede, absolute jede Lebensäußerung unterbunden ist? Dem Gefangenen in<br />
der Isolation bleibt, um zu signalisieren, dass er sein Verhalten geändert hat, überhaupt nur eine<br />
Möglichkeit, und das ist Verrat . . . Das heißt, es gibt in der Isolation exakt zwei Möglichkeiten:<br />
163
Entweder sie bringen einen Gefangenen zum Schweigen, das heißt, man stirbt daran oder sie<br />
bringen einen zum Reden. Und das ist Geständnis und der Verrat. Das ist Folter, exakt Folter . . .".<br />
Zur Erinnerung: Am 1. Februar 1989 gingen 50 Gefangene der RAF abwechselnd und<br />
gemeinsam in den Hungerstreik, sie forderten Zusammenlegung und humane Haftbedingungen.<br />
Doch die Länder-Justizminister blieben hart. Antje Vollmer warf den verantwortlichen Politikern<br />
vor, eine Chance, den Hungerstreik zu verhindern und somit die Lage in den Gefängnissen zu<br />
entspannen, vertan zu haben. Im Klartext: Der "gesellschaftliche Dialog" sie am Desinteresse der<br />
Politiker kläglich gescheitert. Für Antje Vollmer, die sich selbst als Partisanin bezeichnet, die aus<br />
den eingefahrenen Rechts-links-Schablonen auszubrechen versucht, war diese Erfahrung nicht neu.<br />
Doch sie kennt ihre Stärken: "Es ist zwar ein Vorteil, dass ich langfristig und hartnäckig an einer<br />
Geschichte dranbleibe, mich nicht von aktuellen Erfordernissen antreiben lasse. Die Kehrseite ist<br />
aber meine Schwäche, dass ich nur schlecht etwas beiseite legen kann, was ich mir einmal<br />
vorgenommen habe. Diese Zähigkeit bedingt meine Art von Unbeweglichkeit. Und das kostet eben<br />
viel Kraft. Denn in einer aussichstlos erscheinenden Situation ist es ja nicht ausgemacht, dass man<br />
nicht weiterkommt." Sie will keine falsche Sicherheit, weder bei sich noch bei anderen.<br />
Sie möchte Zweifel wecken an starken Urteilen, das Denken in Bewegung setzen. Die<br />
Hoffnung, dass ihr dies gelingt, treibt sie voran. Aber es gibt Situationen, "in denen ich mich auf<br />
weiter Flur verloren fühle, was ja nicht ganz stimmt. Denn gute Freunde gibt es ja. Doch das<br />
Gefühl ist nachhaltig da, meistens ohne einen direkten Auslöser: allein gefressen zu werden. Daraus<br />
entsteht dann meine Art Bockigkeit, es packen zu wollen, die Stimmung, es doch irgendwie zu<br />
schaffen. Ich rede mir dann ein, dass meine Vorhaben ohne Risiko seien. Schwäche ist in<br />
Wirklichkeit eine Form der Stärke, wenn es einem gelingt, dieses Schwachsein auszuhalten." Diese<br />
Einsicht unterscheidet Antje Vollmer von Politikern wie Otto Schily. Dieser Typus riskiert sich<br />
selbst nicht so stark, kalkuliert den Einsatz seiner Identität genauer. Die Frage war Antje Vollmer<br />
schon immer präsent, woher ihre Besessenheit komme, etwas in Bewegung zu setzen, keinen<br />
Stillstand zuzulassen. Die damalige Konstellation bei den Grünen polarisiert die Partei in zwei fest<br />
unversöhnliche Lager. Diese Partei ähnelte einem Schlachtfeld der harten Flügelkämpfe, die viele<br />
resigniert zum Austritt oder in den Ohnmacht trieben. Die Grünen, die sich als eine Partei des<br />
Jugendprotestes begriffen, verloren im Dauerstreit um Posten und Programmpunkte vornehmlich<br />
die Jugend weitgehend aus dem Blickwinkel. Vor der Bundestagswahl 1980 bis zur Wahl 1987 sank<br />
der Anteil der 18- bis 25jährigen bei den Grünen -Wählern von 43 auf 23 Prozent. Der Anteil der<br />
Erstwähler schrumpfte gar von 20 auf 6 Prozent. Die damalige Vorstandssprecherin der Grünen,<br />
Verena Krieger (Grünen-MdB 1987-1989): "Ich habe vor zehn Jahren als Jüngste angefangen und<br />
bin heute immer noch die Jüngste." - Gemeinsam mit großen Teilen des linken Flügels verließ sie<br />
1990 die Partei.<br />
Mit der Gruppe Aufbruch '88 wollte Antje Vollmer die Grünen aus ihrer Lethargie<br />
herausholen. Die Spaltung der Grünen geisterte damals durch so manchen Kopf. "Wir befanden<br />
uns alle in einer äußerst kritischen Situation, die durch eine bedrohliche Entfernung von den<br />
gesellschaftlichen Problemen und Zerstörungen von Zukunftshoffnungen gekennzeichnet war."<br />
Der Zeitpunkt schien überfällig, eine Bilanz der acht Jahre Parteiarbeit zu ziehen, auch unter<br />
Verarbeitung des Praxisschocks, den die Grünen in den Jahren im Parlament erlitten hatten. "Viele<br />
Mitglieder retteten sich in die Routine, und die Parteigremien ähnelten mehr einer Ansammlung<br />
von Strömungsvorsitzenden. Wir mussten raus aus diesen Flügelkämpfen zwischen Realos und<br />
Fundis. Wir brauchten eine Kulturrevolution - dringender denn je." Mit dem Manifest, das die<br />
Gruppe '88 zur Urabstimmung stellen wollte, sollte eine verbindliche, von allen Mitgliedern der<br />
1 64
Partei legitimierte und damit richtungweisende Vorentscheidung für die Weiterentwicklung grüner<br />
Programme und für die Neugestaltung grüner Parteistrukturen herbeigeführt werden. Die<br />
Urabstimmung war ein Signal in der Demokratisierungsdebatte, die so exemplarisch war wie die<br />
Diskussion über die Quotierung der Frauen.<br />
Antje Vollmer wurde damals von vielen als versöhnlerisch kritisiert. Doch es blieb etwas<br />
hängen: In der Frauen-Arbeit setzte sie neue Schwerpunkte, die über die Feminismus-Debatte<br />
hinausgingen – Erwerbsarbeit und Arbeitszeitverkürzungen sollten in der neuen Mütterpolitik auf<br />
einen Nenner gebracht werden.“ Als der Startschuss für den Aufbruch 1988 gegeben wurde, da<br />
fragte ich mich dann nicht mehr nach dem Erfolg – ich sah nur unser Engagement. Rückblickend<br />
kann ich sagen, dass der Aufbruch 88 – trotz der gescheiterten Ur-Abstimmung – für die Grünen<br />
wichtig war und noch ist. Gerade an den Bedingungen der einstigen Opposition in der DDR sehen<br />
wir, was hier auch sein könnte und warum die Bundesrepublik ein demokratisches<br />
Entwicklungsland ist.“<br />
Regelmäßig inszeniert Antje Vollmer seither einen lauten Generalangriff auf die Partei.<br />
Zwei Jahre nach dem Aufbruch klagte sie den überfälligen Generationswechsel ein. Er habe nicht<br />
stattgefunden; nun müsse über „Filz“ und die „Nomenklatura“ innerhalb der Grünen gesprochen<br />
werden. Ein Jahr später forderte Antje Vollmer ihre Mitstreiter zu einem generellen Neuanfang<br />
unter dem Motto „Deutscher Umbruch“ auf. Antje Vollmer empfahl ihrer Partei, sich im<br />
vereinten Deutschland den Bürgerbewegungen zu öffnen, schließlich seien sie es gewesen, die den<br />
einstigen Ostblock nachhaltig verändert hätten.<br />
Über Resonanzen ihres politischen Engagements kann sich Antje Vollmer nicht beklagen.<br />
Trotz ihres politischen Erfolgs wird sie der Politik erst einmal den Rücken kehren und nicht in das<br />
erste gesamt-deutsche Parlament gehen. Für manchen Außenstehenden mag ihr Entschluss<br />
unverständlich sein. Doch für sie steht fest, wer die Politik nicht verlassen kann, der wird<br />
unmerklich seiner Sprache, seines Denkens und seiner Gefühle enteignet: „Viele Frauen haben eine<br />
andere Einstellung zu Macht und Mandat. Sie gehen nicht in dem Maße eine Symbiose mit der<br />
Politik ein wie so viele Männer, die nur noch ihre politische Karriere im Kopf haben. Die Frauen<br />
wissen, dass sie ein Mandat auf Zeit haben, und verlieren deshalb nicht die Verbindung zu den<br />
alten Lebenszusammenhängen.<br />
Für Antje Vollmer gibt es vor allem einen Grund, warum sie sich von der Hauptstadt<br />
vorerst verabschieden will. „Als ich in die Politik ging, war mein Sohn Johann gerade vier Jahre alt.<br />
Mittlerweile ist er zwölf. Wenn ich nochmals vier Jahre im Parlament bleibe, dann hätte ich wirklich<br />
kein Kind haben sollen. Es ist in meinem Leben keine Randfigur. Hinzu kommt, dass meine Rolle<br />
bei den Grünen zusehends intensiver wird. Ich kann Kind und Politik nicht so einfach verbinden.<br />
Andere schaffen das vielleicht. Ich nicht.“<br />
Ihr zentrales Anliegen ist, Frauen Hoffnungen zu vermitteln, Zutrauen, in die Offensive<br />
zu gehen. Das gehört zum festen ihrer Überzeugungen. Über die SPD-Frauen schrieb Antje<br />
Vollmer in der Vorwärts-Ausgabe, die zum 125jährigen Jubiläum der Sozialdemokratie erschien. Sie<br />
verglich die SPD-Frauen vor allem mit den Frauen der Grünen – unter der Überschrift „Die letzte<br />
intakte deutsche Großfamilie und ihre Frauen“. Großfamilie bedeutete einmal Sicherheit, dann<br />
Angst, wenn man sie verlässt. „Für Frauen ist das komplizierter. Einerseits müssen sie den Druck<br />
der SPD-Großfamilie aushalten, andererseits haben sie schon bestimmte Funktionen übernommen.<br />
Gleichzeitig kehren die Frauen, die in der Politik, dieser Großfamilie den Rücken. Sie leben mit der<br />
Fähigkeit des Verlassenkönnens und der Eigene-Wege-gehen-Könnens. Sonst wären sie in Bonn<br />
und anderswo nicht angekommen.“<br />
165
Nur in Bonn, ihrer Fluchtburg sozusagen, holt sie die Großfamilien-Struktur der SPD<br />
wieder ein. Der Unterschied zu den Frauen der Grünen ist für Antje Vollmer trotz der<br />
Quotenregelung beträchtlich. Wenn die SPD-Frauen Erfolg haben wollen, müssen sie sich der<br />
Männer-Zustimmung vergewissern. So waren jedenfalls bisher die Frauen-Karrieren in der SPD<br />
angelegt. Die Grünen-Frauen hingegen akzeptieren den Mann als eine Art Zensor im Kopf nicht<br />
mehr.<br />
Rückblickend auf die Jahre in Bonn, möchte sie nicht behaupten, auf einen unfruchtbaren<br />
Acker gepflügt zu haben. Bonn hatte ja immer den Vorteil eines Mediums für ihre Botschaften an<br />
die Öffentlichkeit. Das Feminat der Grünen, die Quotenregelung in der SPD, überhaupt die<br />
zunehmende Frauen-Präsenz im Parlament bis hin zu den Anstößen in die CDU/CSU-Fraktion<br />
hinein sind letztlich auch durch die grünen Botschaften in Bewegung geraten. Ohne diesen Frauen-<br />
Aufbruch hätte es nie einen direkten Draht zwischen der feministischen Frauen-Zeitschrift emma<br />
bis hin zu den katholischen Frauen gegeben. Ohne diesen Frauen-Aufbruch wäre das politische<br />
Agieren der Rita Süssmuth (Bundesministerin 1985-1988, Präsidentin des Deutschen Bundestages<br />
1988-1998) – so nicht denkbar gewesen. Antje Vollmer: das ist die Polit-Revolution in Permanenz<br />
– ein Aufbruchkonzept von unten.<br />
Es hat sein Motto: „Meine Mutter Rebekka Jacobowsky hat immer zu mir gesagt: Es gibt<br />
im Leben immer und überall mindestens zwei Möglichkeiten. Niemals , sagt der Oberst, für einen<br />
Mann von Ehre gibt es immer nur eine einzige Möglichkeit. Eben sagte Samuel Jakobowsky.“ –<br />
Der Frauen-Aufbruch hat erst begonnen.<br />
166
FRAUEN-KARRIERE BRAUCHT EINEN FERNSEH-MANN -<br />
AUFSTIEG UND FALL DER IRMGARD SCHWAETZER<br />
"Frauen an die Macht" Protokolle einer Aufbruchsära athenäums Programm by anton hain, Frankfurt a/M 03.<br />
Oktober 1990<br />
Wir sind auf dem Weg ins Büro. Nebeneinander gehen Irmgard Schwaetzer und <strong>Reimar</strong><br />
<strong>Oltmanns</strong> durch die endlosen Gänge des Auswärtigen Amtes in Bonn, da meint sie plötzlich<br />
unvermittelt: "Ich trage keine Stöckelschuhe, weil man mit hohen Absätzen auf den langen Fluren<br />
hier nicht vorwärtskommt."Aber sonst werden schon mal ein paar tausend Euro via Kreditkarte<br />
vom Konto abgebucht, wenn Irme, wie die Politik-Männer sie nennen, dem textilen Mittelmaß ein<br />
bisschen den Flair einer Liz Taylor abzutrotzen glaubt. Dabei lächelt die Politikerin irgendwie<br />
mädchenhaft, die hellen grauen Augen aufmerksam in Hab-Acht-Stellung.<br />
Zweifellos: Der politische Werdegang der Staatsministerin Irmgard Schwaetzer (1987-<br />
1991) passt zu den neunziger Jahren. Ihre Karriere in Bonn stellt so etwas wie die Antwort auf die<br />
vermeintliche "Neue Weiblichkeit" dar. Der Umstand, dass das althergebrachte, zerschlissene<br />
Rollenbild der Frauen aufgeweicht wurde, bot ihr die Möglichkeit, fast ohne frauenpolitische<br />
Konzeption die Geschäfte in Bonn in Angriff zu nehmen. Sie zählt zu jenem unnahbaren Typus<br />
moderner Frau, der sein ausgeprägtes Selbstbewusstsein in der Botschaft zusammenfasst: Ich bin<br />
stark, so leicht kann mich keiner.<br />
Irmgard Schwaetzer, Jahrgang 1942: Unterkühlt bis schnodderig, herb-sachlich bis<br />
zurückweisend. Emotionen, wenn es sie denn gibt, werden erst einmal im Zaum gehalten. Und<br />
wenn ihr doch jemand etwas anhaben könnte? Für diesen Fall bleibt die Flucht in die Mädchenpose<br />
mit schelmischen Lächeln oder auch Kullertränen. Die jedenfalls kullerten im Frühjahr 1992, als ihr<br />
ärgster Widersacher Jürgen W. Möllemann (*1945+2003) verhinderte, dass sie nach dem Rückzug<br />
von Außenminister Hans-Dietrich Genscher (1974-1992) seine Nachfolgerin wurde. Da nannte<br />
Irme ihren Parteifreund "Du intrigantes Schwein" und rannte tränenüberströmt aus dem<br />
Fraktionssaal. Aber solch ein kindliches Ausrasten im erwachsenen Polit-Theater der Männer gilt<br />
als Ausnahme. Normalerweise flüchtet sie in brenzligen Situationen in die Mädchenpose mit<br />
schelmischem Lächeln als die ihr bewährteste Umgangsform: "Inzwischen gehört es längst,<br />
besonders vor den Fernsehkameras", schrieb Jürgen Leinemann im Spiegel, "zum politischen<br />
Handwerkszeug der Staatsministerin, es ist ebenso Teil der öffentlichen Maske wie ihrer privaten<br />
Persönlichkeit."<br />
Ich zitiere ihr gegenüber den Schweizer Bankdirektor Roland Rasi, der die heutige<br />
Aufgabe der emanzipierten Frau in höheren Positionen so charakterisiert: "Man muss denken wie<br />
ein Mann, sich geben wie ein junges Mädchen, aussehen wie eine Dame und arbeiten wie ein<br />
Pferd." - "Ja, erwiderte sie, "das ist es, genau. Nur: Ich habe früh gelernt, in männlichen Kategorien<br />
zu denken und mich entsprechend zu verhalten. Schon der Ton in Bonn ist an Ruppigkeit nicht<br />
mehr zu überbieten." Ansonsten kann sie sich nicht über das Hauptstadt-Leben beklagen, auch<br />
wenn die Eintracht mit den Polit-Profis manchmal zu wünschen übrig lässt. Sie suchte sich unter<br />
den FDPlern ihre Mentoren aus, die schon mal Lambsdorff oder Genscher hießen. In die<br />
versteckten Bonner Gefechte unter dem Banner des kleinen Unterschieds scheint diese Frau nicht<br />
involviert zu sein -vorerst jedenfalls nicht - noch nicht.<br />
167
Wir haben jetzt ihr Büro erreicht, dessen Schnörkellosigkeit dokumentiert, warum ihr<br />
nachgesagt wird, sie betreibe Politik wie eine leitende Angestellte im Zweitberuf. Ihr Arbeitszimmer<br />
gleicht einem Beratungssaal für Aktionäre. Nichts Privates, nichts, was auf die Person Irmgard<br />
Schwaetzer schließen lässt. Hier regiert das Kalkül, nicht die Fantasie. Politische Romantik ist ein<br />
Fremdwort im ausgewogenen Wortschatz der berechnenden Vernunft. Wen wundert's, dass selbst<br />
Sibylle Krause Burger, eine ansonsten eher einfühlsam verständnisvolle "Hofschreiberin", die<br />
Irmgard Schwaetzer als eine "Madame Mittelmanagement aus der Waschmittelbranche"<br />
charakterisierte.<br />
Über Jahre hatte ich Irmgard Schwaetzer nicht mehr gesehen. Nur Schlagzeilen, wie die in<br />
der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ("Wo man solche Frauen ansetzt, bleibt nichts ungetan") und<br />
viele ähnlich lautende, hielten zwangsläufig in den Jahren des Frauen Auf bruchs zu neuen Ufern<br />
mein Interesse an der Karriere von Irmgard Schwaetzer wach. Und jetzt war ich hier, um ihre<br />
Karrierebausteine zu sondieren - dem Phänomen ein Quäntchen alltäglicher Folgerichtigkeit<br />
abzugewinnen. Mit zwei Tonbandgeräten bewaffnet (jeder eines zur eigenen Überprüfung des<br />
Gesagten), sitzen wir uns, bemüht, zuweilen misstrauisch, gegenüber. Eine Situation, die mich an<br />
Interviews mit Hans-Dietrich Genscher erinnert, der bei solchen Gesprächen sogar die Büro-<br />
Gummibäume argwöhnisch beäugte.<br />
Von Genscher muss die erste Frau der FDP im Laufe ihrer Politikerinnen-Jahre gelernt<br />
haben, ihre Sprache neutral zu halten, bis hin zur phrasenhaften Austauschbarkeit. Dabei redet<br />
Irmgard Schwaetzer so distanziert über sich und das sie unmittelbar umgebene Geschehen, als lebe<br />
sie auf einem anderen Planeten, als beträfe sie der Bonner Alltag mit seinen Winkelzügen und<br />
taktischen Rochaden überhaupt nicht. Ich muss eingestehen: Bei anderen Frauen, die ich im<br />
Politik-Milieu getroffen, begleitet, beobachtet, mit denen ich gesprochen hatte, konnte ich teilhaben<br />
an manchem Hoch und Tief des Seelenlebens, an Verzagtheit und Erfolg. Hier nicht. Mein<br />
Eindruck blieb, ich konnte ihn zu Positiven hin drehen und wenden, wie ich wollte: Irmgard<br />
Schwaetzer erschien mir wie eine Dolmetscherin in eigener Sache, das heißt ihre Karriere. Alles<br />
andere, das Leben, die Menschen, der Alltag schlechthin - all das murkste abgeblockt vor sich hin.<br />
Sie halte überhaupt nichts von emotionsgeladenen Diskussionen, sagte sie mir mehrmals. So<br />
kommen wir nicht weiter, sage ich zu mir. Jeder Satz stellt zum Beweis, dass hier eine psychische<br />
Verfassung - gefühlsverloren oder auch ausgetrocknet - in sich ruht: Von "motiviert" über stramm<br />
leistungsorientiert" bis hin zu "erfolgreich"; dann schließt sich wieder der Kreis. Konsequent wurde<br />
und wird hier gebaut. Augen zu und durch - der Aufstieg ist nah - sehr nah.<br />
Karrierebaustein Nummer eins: Ihren Durchbruch aus der Anonymität einer<br />
parlamentarischen Hinterbänklerin ins bundesdeutsche Scheinwerferlicht schaffte Irmgard<br />
Schwaetzer im Herbst 1982 - ganze zwei Jahre später, nachdem sie - mit Glück - über den<br />
nordrhein-westfälischen Landeslistenplatz 14 noch in den Bundestag gerutscht war. Auf dem<br />
Berliner Wende-Parteitag der FDP fand nicht nur die dreizehnjährige sozial- liberale Ära ein jähes<br />
Ende, Irmgard Schwaetzer galt als Neuentdeckung der Saison. Es folgte der Machtwechsel am<br />
Rhein mit seinen hässlichen Begleitumständen.<br />
Zweifelsohne ist Irmgard Schwaetzer die Tochter der bundesdeutschen Wende der Ära<br />
Helmut Kohl (1982-1998). Früher als andere Frauen in der FDP, die im politischen Geschäft um<br />
Identität kämpfen mussten, hatte sie erkannt, dass moralische Unbestechlichkeit bei den Liberalen<br />
eine vergilbte Tugend ist. Die Bonner Frauenriege der FDP, einst Aushängeschild für einen<br />
emanzipatorisch-fortschrittlichen Kurs der Partei, mochte mit dem Parteivorsitzenden Hans-<br />
Dietrich Genscher (1974-1985) nicht mitziehen und überwarf sich mit ihm. Sie stemmte sich gegen<br />
168
den Sturz Helmut Schmidts als Bundeskanzler (1974-1982). Zu ihnen zählten u.a. Helga<br />
Schuchardt (Mitglied des Deutschen Bundestages 19721983, FDP-Austritt 1982), Ingrid Matthäus-<br />
Maier (Bundestagsabgeordnete 19761999, FDP-Austritt 1982, SPD-Eintritt 1983) und Hildegard<br />
Hamm-Brücher (FDP-Staatsministerin im Auswärtigen Amt 1976-1982). Von ihr stammt die<br />
seinerzeit vielbeachtete Bemerkung zum Politikverständnis jener Tage: "Ich kann doch nicht einen<br />
Kanzler mein Misstrauen aussprechen, dem ich vor drei Monaten mein Vertrauen ausgesprochen<br />
habe." Irmgard Schwaetzer konnte.<br />
Als einziges weibliches Mitglied ihrer Fraktion unterstützte Irmgard Schwaetzer die Wahl<br />
Helmut Kohls zum Kanzler der Republik. Ihre Distanz zu den Weggefährtinnen beschrieb sie so:<br />
"Ich habe mir dann gesagt: Das bringt nichts, ich verabschiede mich. Hier gehöre ich nicht mehr<br />
hin." - Und verschwand. In jenen Jahren hatte es Hans-Dietrich Genscher ohnehin missfallen, dass<br />
sie regelmäßig mit den Fraktions-Linken frühstückte. Schon kurz vor der Wende, Frauen-<br />
Emanzipation hin, Frauen-Selbstbestimmung her, da hatte er sie kurzerhand umbeordert. Danach<br />
nahm sie an die Treffen des konservativen Zirkels des damaligen Schatzmeisters Richard Wurbs<br />
(Vize-Präsident des Deutschen Bundestages 1979-1984) teil. Rechtsdenkende Abgeordnete,<br />
Beamte, Geschäftsleute, Anwälte, Notare, Immobilien-Makler, Handwerksmeister sammelten sich<br />
damals um den Bauunternehmer Richard Wurbs, der auch einmal als Vize-Präsident des<br />
Parlaments mit obligatem Glöckchen-Bim-Bim Sitzungswochen einzuläuten verstand.<br />
Es waren FDP-Männer, die nicht in Versuchung gerieten, eigenständig Politik zu<br />
formulieren, Abgeordnete, die wohl kaum je ein Regierungsamt erklimmen würden, die ihre<br />
Aufgabe mit einem Platz in den hinteren Reihen hinreichend gewürdigt sahen und dennoch von<br />
Institutionen gestützt, ihren Führungsanspruch in der Republik dezidiert einsetzten. Es ist eine<br />
nach draußen eher sprachlose Macht-Elite, ohne deren Zustimmung nichts läuft, kein<br />
Gesetzentwurf die parlamentarischen Gremien passiert, der größere Koalitionspartner, ob SPD<br />
oder CDU/CSU, oft kuscht, keine wie auch immer angelegte Karriere denkbar wäre. Eben "ein<br />
Geheimbund", wie Hans-Dietrich Genscher diesen Klub charakterisierte.<br />
Irmgard Schwaetzer, die sich in den Jahren zuvor energisch den Anschein einer<br />
"Fortschrittlichen" zugelegt hatte, gab sich nun in ihrem politischen Konzept als Schülerin von<br />
Otto Graf Lambsdorff (Bundeswirtschaftsminister 1972-1984) zu erkennen. Seine Idee von der<br />
Marktwirtschaft wurde zu ihrem Credo. In die neue politische Landschaft passte sie damit<br />
fugendicht hinein. Das sollte sie freilich nicht daran hindern, sechs Jahre später, auf dem<br />
Wiesbadener FDP-Parteitag im Herbst 1988, mit dem gut platzierten Hinweis darauf, dass sie eine<br />
Frau ist ("ich bin schon immer eine Frau gewesen"), gegen ihren Förderer und Lehrmeister um den<br />
Chefposten anzutreten, ihn niederzumachen. Ererfolglos<br />
Immerhin avancierte die ehemalige Pharmazeutin auf dem Berliner Wendeparteitag des<br />
Jahres 1982 zur Generalsekretärin der FDP (1982-1984) - als erste Frau in der Parteigeschichte.<br />
Obwohl sie nur 200 von 382 abgegebenen Stimmen erhielt, wurde sie damit Nachfolgerin des<br />
legendären Karl-Hermann Flach (*1929+1973) und auch Günter Verheugen (Generalsekretär<br />
1978-1982, Übertritt zur SPD). Beide hatten bekanntlich für den Liberalismus Beträchtliches<br />
geleistet und mit Erfolg versucht. dem Bild der kleinen Partei zwischen den Blöcken der großen<br />
Volksparteien CDU/CSU und SPD Konzeption und eigenständige Konturen zu geben.<br />
Der fliegende Regierungswechsel zur CDU/CSU offenbarte bei den Liberalen einen ihrer<br />
gravierendsten Identitätsverluste. In der Bevölkerung hatte sich weitestgehend die Ansicht<br />
durchgesetzt, dass die FDP-Macht kein Gewissen hat und das Gewissen keine Macht. Noch vier<br />
Monate vor der nächsten Bundestagswahl im Jahre 1983 lagen die Liberalen laut<br />
169
Umfrageergebnisse bei knapp 1,5 Prozent der Wählerstimmen. In den zwischenzeitlichen<br />
Landtagswahlen war die Partei gleichfalls überall an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert. Die<br />
gewendeten Liberalen zogen sodann aber vornehmlich mit Leihstimme von der konservativen<br />
Klientel mit 7 Prozent in den neu gewählten Bundestag ein.<br />
Irmgard Schwaetzer fiel die Aufgabe zu, die FDP aus ihrer schwersten Krise zu führen<br />
und die Glaubwürdigkeitslücke für die kommenden Wahlen zu schließen. Mit ihrem Aufstieg zur<br />
Generalsekretärin lernte sie schnell, die Tastatur der Selbstbeherrschung in der Intrigen-Hochburg<br />
Bonn zu bedienen - vorerst zumindest. Zielstrebigkeit und Ehrgeiz hatten sie schon immer<br />
ausgezeichnet. Ihre Wahl zur Generalsekretärin wurde von vielen Parteimitgliedern zunächst als<br />
"Werbegag" belächelt. Nach bestandener Bundestagswahl 1983 wurde aus dem Werbegag ein<br />
"garstiges Karriereweib". - Männerneid. Sie fragte schnippisch zurück: "Ist Karriere für Frauen<br />
etwas Unanständiges?" Und sich selbst gestand sie ein: "Meine größte Schwäche ist, dass ich andere<br />
häufig überfordere. Ich mache es ihnen auch reichlich schwer, mich zu mögen."<br />
Phasen des Umbruchs decken Gebrochenheit auf, die der allseits akzeptierte<br />
Zweckrationalismus sonst zu übertünchen versteht. Die Gebrochenheit der Bundesrepublik ist<br />
gleichsam ein Stück FDP-Geschichte, die seit über vier Jahrzehnten an ihren Identität<br />
herumdoktert. Mehrheitsbeschaffer, Steigbügelhalter, Zünglein an der Waage, "Unfaller-Verein"<br />
(Konrad Adenauer). "Pendler-Partei" (Herbert Wehner), "Depot eines Opportunismus"(Franz-<br />
Josef Strauß): An eingängigen Etikettierungen dieser Partei hat es nie gemangelt.<br />
Die gravierendsten Widersprüche deutscher Innenpolitik schlugen schon zu Beginn der<br />
achtziger Jahre voll und anhaltend auf die FDP durch, die nicht annähernd über die Reserven einer<br />
sozial eingebetteten Volkspartei verfügt und deren Wirtschafts- und sozialliberaler Flügel sich<br />
zeitweilig unversöhnlich entzweite. Sie wollte den Rechtsstaat unantastbar verwalten, den puren<br />
Ökonomismus in den bahnbrechenden Aufschwung treiben und obendrein dem Umweltschutz<br />
noch das Wort reden. So präsentierten sich die Liberalen als eine Organisation mit zwar<br />
zahlreichen Aktionspapieren, aber ohne Programm.<br />
Im Jahre 1971 nach Christus wird der "Liberalismus" definiert. 1988 die "liberale Politik".<br />
1971 versucht die FDP in einer historischen Ableitung ihrer Position: anglo-amerikanische<br />
Verfassungstradition. Französische Revolution, Kant, Wilhelm von Humboldt. John Stewart Mill,<br />
Friedrich Naumann. 1971: "Reform des Kapitalismus"; 1988 kommt der Kapitalismus nicht mehr<br />
vor, statt dessen die "Renaissance der Individualität" im Übergang von der "Industriegesellschaft<br />
zur Informationsgesellschaft". 1971 wird die "Demokratisierung des Staates" gefordert, während<br />
1988 nur "weniger Staat" gewünscht wird. 1988 taucht das Wort "Demokratisierung" überhaupt<br />
nicht mehr auf, nicht einmal der Begriff "Demokratie". 1971 sieht sich die FDP in einem<br />
"historischen Prozess". 1988 glaubt sie in der "Mitte" die Wählerschaft gefunden zu haben, hält<br />
eine Verteidigung der "labilen demokratischen Kultur" für dringend geboten etc. Schlagworte,<br />
Schlagzeilen.<br />
Zu Recht leitete Irmgard Schwaetzer aus diesem "Gemischtwarenladen" die berechtigte<br />
Forderung nach einer kompakten, für den Wähler nachvollziehbaren Programmdiskussion mit<br />
neuer Verbindlichkeit ab. Sie wollte nach der Wende unverbrauchte Kräfte mobilisieren und<br />
zusammenschließen. - Aber sie scheiterte. Mit einem winzigen Zeitaufwand stampfte sie im Nu ein<br />
Grundsatzprogramm aus dem Boden. Eine Kostprobe: Wenn einer klaut, weil er etwas haben, was<br />
er nicht bezahlen kann, dann bestrafen ihn die Gerichte eher mild. Wenn aber einer stiehlt, weil er<br />
das Diebesgut verkaufen will, um mit dem Geld Rauschgift zu kaufen (Beschaffungskriminalität),<br />
dann wird er ungleich härter bestraft. Frau Schwaetzer findet das seltsam und ungerecht. Liberal<br />
170
heißt für sie, dafür zu sorgen, dass derlei Messen mit zweierlei Maß aufgehört. Nur, wie will sie da<br />
etwas erreichen? Nicht durch Maßnahmen in der Politik oder der Justiz. Nein - vielmehr durch<br />
Orientierungsangebote liberaler Nachdenklichkeit. Allein das Vorhandensein eines erfolgreichen<br />
Liberalismus in der Politik könne Richter dazu bringen, die sogenannten gesellschaftlichen<br />
Aufgaben, wie sie in den großen Parteien bis zum Überdruss propagiert würden, niedriger zu<br />
hängen und im konkreten Fall liberaler ihres Amtes zu walten.<br />
Als "Parteitheoretikerin" kam sie - zur Erleichterung mancher Parteigenossen - nicht weit.<br />
Irmgard Schwaetzer begriff schnell, dass ihr programmatisches Anliegen eine Art Spielwiese war.<br />
Ihr fehlte die Unterstützung ihres Vorsitzenden Genscher. Er hatte seiner Generalsekretärin von<br />
Anfang an das Gefühl vermittelt, sie zu gebrauchen statt zu brauchen. Im Bonn jener Jahre für<br />
Frauen nichts Neues. Genscher hielt sie wohl seinerzeit als Generalsekretärin für wichtig, um<br />
weibliche Wählerstimmen auf Nebenschauplätzen zu gewinnen -"Spielwiesen" genannt.<br />
Für Irmgard Schwaetzer waren es bewegte Jahre, in denen Anspruch und Wirklichkeit in<br />
einem krassen Missverständnis zueinander standen. Offiziell leitete sie zwar die<br />
Programmdiskussion, tatsächlich hatte sie aber wenig zu melden. Schon deshalb, weil die Herren<br />
derlei Diskussionen samt Thesen für mehr als überflüssig hielten. Hatten sie doch ganz andere<br />
Sorgen. In einem Parteien-Handstreich auf die Verfassung sollte damals eine Generalamnestie<br />
erwirkt werden, um sämtliche Strafverfahren gegen höchste Repräsentanten von Staat, Parteien und<br />
Industrie aus der Welt zu schaffen.<br />
Und zwar für alle, die zum Vorteil ihrer Parteien Steuern hinterzogen, Politik mit<br />
Geschäft undurchsichtig vermischten, Schmiergelder kassierten, auf dunklen internationalen<br />
Kanälen weitergaben und sich wegen Untreue, Betrug, Urkundenfälschung, den<br />
Bestechungskriterien der Vorteilnahme und Vorteilsgewährung verantworten mussten. Immerhin<br />
standen nahezu 700 Ermittlungsverfahren an: in 22 Fällen die SPD, in 170 die CDU und in 510<br />
Untersuchungen die FDP betreffend. - Der Staat als Supermarkt der Selbstbedienung der Politiker-<br />
Klasse. Natürlich schnitten die Herren "Selbstbediener" ihre Generalsekretärin vom<br />
Informationsfluss ihrer abenteuerlichen Selbstamnestie ab. Irmgard Schwaetzer zog die<br />
Konsequenz, als sie von dem Coup erfuhr. Sie schloss sich dem Widerstand gegen das<br />
Amnestiegesetz an und brachte es unvorhergesehen zu Fall. Generalsekretärin wollte sie dann<br />
freilich auch nicht mehr sein - im Jahre 1984.<br />
Karrierebaustein Nummer zwei: Dass "Macht ein Faszinosum" ist, das hatte Irmgard<br />
Schwaetzer mittlerweile längst erkannt. Und von ihr konnte und wollte sie wohl auch nicht mehr<br />
lassen. Folglich kandidierte sie auf dem Parteitag in Münster 1984 für das Amt des Schatzmeisters.<br />
Offenbar als Anerkennung für ihre unbeugsame Haltung gegenüber dem Amnestievorhaben erhielt<br />
sie 322 Ja-Stimmen das beste Wahlergebnis in ihrer Politikerinnen-Laufbahn. Dabei war die<br />
finanzielle Lage der FDP mehr als katastrophal. Bereits Mitte der siebziger Jahre schienen die<br />
Liberalen nahezu bankrott. Damals konnte sich die Partei nur mit einem 6-Millionen-Kredit über<br />
Wasser halten, den ihr die SPD vermittelte. Ein Schuldenstand von insgesamt 10,8 Millionen Mark<br />
belasteten die Parteikonten, die Zinsen vermochte die FDP kaum noch zu tilgen. Der informelle<br />
Spitzenzirkel um Hans-Dietrich Genscher fürchtete aus gutem Grund um seine "politische<br />
Unabhängigkeit". Keiner wusste jedoch, wie dem drohenden Fiasko zu entgehen sei. Abermals<br />
bestätigte sich eine zum Klischee ausgefranste Lebensweisheit: Wenn Männer ihre Konten heillos<br />
überzogen haben, ist es die Kärrnerarbeit der Frauen, aus rote wieder schwarze Zahlen zu machen.<br />
- Es war die unspektakuläre Zeit der Irmgard Schwaetzer, ihre Monate als Bundesschatzmeisterin,<br />
still und unauffällig im Hintergrund.<br />
171
Sie entwarf eine weitaus bescheidenere Strategie der Geldeinnahme. Die Jahre des<br />
Überflusses waren vorbei. Sie verhandelte mit Banken wegen Schuldenabbau und<br />
Stillhalteabkommen. Sie verließ sich nicht auf anonyme, zweifelhafte Spenden aus der<br />
Großindustrie (allein sechs Millionen Mark vom Kaufhaus-Konzern Horten ), reiste durch<br />
Provinzen und sammelte Hundertmarkscheine Tausender Bürger auf Parteiveranstaltungen ein,<br />
und sie versprach, keine "unsinnigen Parteifähnchen" mehr zu kaufen. Jedenfalls gelang es ihr, die<br />
Parteifinanzen halbwegs in Ordnung zu bringen.<br />
Karrierebaustein Nummer drei: Der Frauen-Aufbruch ging voran; Stück um Stück<br />
entstand ein anderes Frauenbild - die unabhängige, selbstbewusste, selbst-bestimmte Frau, eben ein<br />
feministischeres Frauen-Bild. Aus der Werbung verschwanden die Schmollmünder; statt dessen<br />
erschienen in den Anzeigen und Fernseh-Spots zusehends häufiger geschäftstüchtige, dynamische<br />
Frauen im Nadelstreifen-Kostüm. Es war die Zeit, in der die Grüne-Frauenministerin in<br />
Niedersachsen Waltraud Schoppe (1990-1994), die Männer in Bonn warnte: "Wenn Frauen erst<br />
mal die Machtfrage stellen, dann werden die Geschlechterkämpfe allerdings noch viel rigoroser und<br />
die Positionskämpfe auch. Frauen gegen mit der Macht immer noch zu zögerlich um."<br />
Auch als - vor allem wegen ihrer Zeit als Generalsekretärin - das einst innige Verhältnis<br />
zwischen Hans-Dietrich Genscher und Irmgard Schwaetzer längst den Tiefpunkt erreicht hatte -<br />
Genscher wäre nicht der wetterfühlige Taktiker des beinahe dauerhaften FDP-Machterhalts, wenn<br />
er es nicht verstanden hätte, abermals den Frauen-Aufbruch durch Irmgard Schwaetzer an sich zu<br />
binden. Während sie noch in den Medien Rede und Antwort stand, "warum es zwischen Genscher<br />
und mir auf einmal nicht mehr klappte", hatte dieser für sie schon den Posten der Staatsministerin<br />
im Auswärtigen Amt reserviert. Sie musste nicht lange überlegen. "Das war für mich eine Chance,<br />
noch einmal etwas völlig anderes zu lernen. Ich war ja hauptsächlich als Sozialpolitikerin<br />
abgestempelt, was in der FDP nicht immer ganz einfach ist. Nun hatte ich die Möglichkeit, in die<br />
Europa-Politik einzusteigen." Ihre Hauptaufgabe: Sie sitzt dem Staatssekretärs-Ausschuss für<br />
Europafragen in der Bundesregierung vor, der gemeinsame Positionen aus den verschiedenen<br />
Ministerien erarbeitet. So fährt sie regelmäßig nach Brüssel, wo sie ihrem Dienstherren in<br />
finanzpolitischen und verworrenen Agrarfragen zu vertreten hat.<br />
Unter den Vierzigjährigen in Bonn nimmt Irmgard Schwaetzer gewiss eine Sonderstellung<br />
ein. Sie war Generalsekretärin, Schatzmeisterin, sammelte einschlägige Erfahrungen als<br />
Staatsministerin und durfte als krönender Abschluss in der alten Bundesrepublik vier Jahre als<br />
letzte fungierende Bundesministerin (1991-1994) für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau der<br />
Bonner bürgerlich-liberalen Koalition unter Helmut Kohl angehören; als Belohnung, als Abgang<br />
gewissermaßen. Insbesondere - alles, was mit Parteispendenaffäre, Amnestieversuche der<br />
Selbstbediener zusammenhing - sie wusste viel, vielleicht zu viel. Sie hatte nichts damit nichts zu<br />
tun. Im Gegenteil: Irmgard Schwaetzer verhinderte Schlimmeres, Anrüchigeres, das die<br />
Vertrauensbrüche, Vertrauens-Verdrusse, Entfremdung zwischen Bürgern und denen "da oben" in<br />
der Politik , forcierte hätte.<br />
Karriere-Baustein Nummer vier: Nichts lag für Irmgard Schwaetzer also näher, als im<br />
Oktober 1988 auf dem Wiesbadener FDP-Bundesparteitag den historischen Versuch zu wagen, als<br />
erste Frau sich an die Spitze einer Regierungspartei wählen zu lassen. Und das ausgerechnet bei<br />
einem Mitkonkurrenten, dessen Namen ein einprägsames Synonym für Macht und Unmoral, für<br />
die unsaubere Verquickung von "Geld und Politik" wurde - ein Mann, der deshalb von der 7.<br />
Großen Strafkammer des Bonner Landgerichts rechtskräftig zu einer Geldstrafe von 180.000 Mark<br />
verurteilt worden ist. Aber auch ein Mann, ohne den ihre atemberaubendste Karriere so nicht<br />
172
denkbar gewesen wäre, von dem sie sich politisch nur in feinen Nuancen unterschied. Schließlich<br />
war Otto Graf Lambsdorff (FDP-Vorsitzender 1988-1993, Wirtschaftsminister 1977-1982 u. 1982-<br />
1884) über Jahre ihr Lehrmeister und ihr tatkräftiger Förderer gewesen.<br />
Langanhaltende Augenblicke, inszenierte Possen der Selbstdarstellung auf dem<br />
Wiesbadener FDP-Bundesparteitages spiegeln auch die kleinbürgerliche Enge eines Vereins wieder,<br />
der sich großbürgerlich gibt und auch noch liberal nennen darf. Sicherlich spült jede Nation<br />
Politiker nach oben, die sie verdient. Und die Geschichte der Bundesrepublik zeigt, dass die<br />
Beziehungen zwischen Staat, Parteien und Gesellschaft zerbrechlich sind. Es gab nachhaltige<br />
Störungen, die rückblickend zumindest teilweise erklären, warum parallel zum Staatsverdruss,<br />
Männerverdruss und Vertrauensschwund der allgemeine Konsens breite Risse zeigt und warum<br />
Partei-, Verbands- und Verwaltungseliten offenkundige Widersprüche konzeptionslos<br />
niederwalzen. Doch gerade Zeiten solcher Stagnationen waren das Fundament, auf dem die Frauen<br />
ihren Aufbruch wagen und durchhalten konnten.<br />
Der Wiesbadener Parteitag war für Irmgard Schwaetzer eine Chance zum Aufbruch.<br />
Doch für sie und damit vorerst für die Frauen bei den Liberalen bis dato war der Parteitag dann<br />
schließlich ein Konvent der verpassten Chancen, weil sie nicht den Mut hatten, Corman publico<br />
einen moralischen Kreuzzug gegen ihren Kontrahenten zu starten - eben in die feministische<br />
Offensive zu gehen. Sie fürchteten sich davor, diese Männer zu desavouieren und unterlag.<br />
Vielleicht war Irmgard Adam-Schwaetzer auf dem Wiesbadener FDP Parteitag im<br />
Umgang mit Otto Graf Lambsdorff auch deshalb so zögerlich, weil damals gewiss wurde, was über<br />
Jahre in Bonn Nahrung zu Spekulationen und Schlagzeilen gegeben hatte: Nach 17 Jahren<br />
Ehejahren trennte sich der Chemiker Wolfgang Adam mit der Bemerkung von ihr: "Ich halte dich<br />
mit der Politik nicht mehr aus." Sie erwiderte: "Es macht keinen Spaß, Politik zu machen, wenn<br />
man keine Liebe kriegt." Kaum ein Mann musste bei Empfängen, Cocktail-Partys und Vernissagen<br />
den mitgebrachten Ehemann spielen, obwohl er Adam heißt und Chemiker von Beruf ist. Kaum<br />
ein anderer Mann ließ aus sorgender Eifersucht und Angst vor schlüpfrigen Peinlichkeiten seine<br />
Politfrau mit über 1oo Polizeifahndern in Bonn und Umgebung suchen, weil er seine "Irme"<br />
telefonisch nicht erreichen konnte. Dabei hatte er nur, wie sich später herausstellte, die falsche<br />
Telefonnummmer gewählt.<br />
Frau Adam-Schwaetzer sagt: "Nein, der Punkt war, dass jeder das Gefühl hatte, der<br />
andere zeigt nicht mehr Interesse für die berufsbedingten Probleme des anderen, fragt nicht, was<br />
ihm durch den Kopf geht, wenn er zu Hause ist. Ich habe mir immer gewünscht, dass mir so etwas<br />
nicht passiert. Darum bin ich jeden Abend von Bonn nach Düren gefahren, habe ihn tagsüber<br />
immer angerufen, egal wo ich war. Ich denke, dass wir jetzt für beide die richtige Entscheidung<br />
getroffen haben. Jeder hat nun die Möglichkeit, sein eigenes Leben zu gestalten. Er trifft sich viel<br />
lieber mit Computer-Freaks."<br />
Sie sagt über ihren neuen Liebhaber: "Wenn ich seine Stimme nur höre, habe ich schon<br />
einen Orgasmus. Er hält zu mir." Udo Philipp, einst Playboy-Redakteur, einst ZDF-Korrespondent<br />
in Bonn und einst Rüstungs-Lobbyist über sie: "Es ist ein Traum. Sie sieht so jung aus." - Die<br />
Regenbogenpresse erinnerte an üppig Liz Taylor mit dem Ex-Maurer und Ex-Trinker wie Ex-<br />
Schläger Larry Fortensky. Als Irmgard Schwaetzer und Udo Philipp ich das Ja-Wort gaben (Bild-<br />
Zeitung: "Wir haben uns verliebt") trug die Braut ein blaues Wollgeorgette-Kleid mit Seiden-<br />
Satinpapseln.<br />
173
Vorher zeigte sie sich zu Abend in Bonns Gesellschaften in Röcken, die aussahen, als<br />
seien sie von der Heilsarmee. Zwanzig Fotografen scharrten vor dem Standesamt in Berlin-<br />
Charlottenburg. Aber nur Ex-Bild-Chefredakteur Peter Boenisch (*1927+2005)) war dazu<br />
bestimmt, das Hochzeitsfoto zu knipsen. Dem privazen Fernsehsender SAT1 blieb es vorbehalten,<br />
live aus dem Bonner Bauministerium und natürlich an den Platz des Geschehens - in der Weltstadt<br />
Berlin - zu schalten. Im Fernsehstudio in Berlin lächelte das Brautpaar versonnen in die Kameras.<br />
Im Studio Bonn prosteten hohe Ministerial-Beamte mit ihren randvoll gefüllten Champagne-<br />
Gläsern der "Liz Taylor aus der FDP" zu; Live-Schaltung Bonn-Berlin. "Frühstücks-Fernsehen".<br />
Der SAT1-Chef lobte seinen Reporter: Ich finde es richtig, die Einschaltquoten zu heben, indem<br />
Sie sich so verehelichen." Frau Ministerin strahlt errötet über beide Wangen, Philipp schnurrte:<br />
"Irme, wie habe ich das gemacht!"<br />
"Herzlichen Glückwunsch" trompeteten Referatsleiter und Direktoren auf einmal da, wie<br />
bestellt und im Chor aus einer scheinbar erwachsenen, aber letztlich wachsweichen Männer-Welt.<br />
Denn das Büfett kam letztlich vom Party-Service des KaDeWe. Für den Beaujolais aus dem<br />
Weinhaus Nöthling sah sich wieder der Bräutigam zu einem besonderen Dank veranlasst - kaum<br />
verständlich, mit schwerer Stimme vor sich hinlallend, nuschelnd. Nur so viel wusste Philipp<br />
gefühlsübermannt noch anzudeuten: Ja, er habe eine leibhaftige Ministerin geehelicht. Das ginge so:<br />
auflauern, spazieren gehen, trinken, essen, bekochen, Klappe zu. Männer-Karriere mit berühmten<br />
Frauen.<br />
Zurück nach Bonn zu Beginn der neunziger Jahre -Irmgard Adam-Schwaetzer begleitet<br />
mich aus ihrem Dienstzimmer des Auswärtigen Amtes und es geht wieder über den langen,<br />
schmalen Flur. Sie habe aufgehört, sich über sich selbst Gedanken zu machen, als sie hier im<br />
Auswärtigen Amt zu arbeiten begann - dazu habe sie keine Muße, es sie hier alles zu schnelllebig,<br />
zu kurzatmig. Erst seit kurzem stelle sie sich wieder ein paar Fragen über sich. Eigentlich<br />
bevorzuge sie es, die persönlichen Beweggründe für ihren Ehrgeiz und die politischen Ambitionen<br />
im Dunkel zu lassen: "Ich will gar nicht so genau wissen, was mich antreibt." Eine Spur des<br />
Unerkannt-Geheimnisvollen gehört zum erotischen Flair der Macht einfach dazu - das wird sie<br />
wissen.<br />
Postskriptum. -Es ist verzerrend, vielleicht auch ungerecht. Aber es gibt Menschen,<br />
deren Lebenswerk oder auch politisches Engagement sich im Gedächtnis auf ein Schlüsselerlebnis<br />
reduzieren. Da flimmerte Ministerin Schwaetzer von der Mattscheibe des SAT1-Frühstücks-<br />
Fernsehens. Übermächtige Gefühle, rote Wangen, wie Liz Taylor in ihren besten Tagen an der<br />
Seite ihres Schlägers Larry Fortensky. Erinnerung an die Melodie des verkitschten Schlagers "rain<br />
and tears, it's all the same" (Regen und Tränen ist immer dasselbe). Von ihrem zweiten Ehemann<br />
Udo Philipp trennte sich Irmgard Schwaetzer im Jahre 2000 abrupt. Nach ihrem jähen Ende oder<br />
auch Rausschmiss aus der Politik betreibt sie in Berlin die Firma "Management Finder", eine<br />
Personalberatung. Endstation. Mittlerweile nach all den Jahren, Jahrzehnten mit weißgrau<br />
melierten Haarschopf weiß sie um sich, schaut offenen Blickes, Entspannung im Hier und Jetzt.<br />
"Die Mühle des Ministeramts", wie sie betont, das öffentlich gehetzte Leben auf der Bonner<br />
Bühne, die inszenierten Angriffe auf der Polit-Bühne, das vom Ex-Ehemann Udo Philipp<br />
veranstaltete PR-Theater, der tägliche, ängstliche Blick in die Boulevard-Zeitungen, ja danach war<br />
sie schon süchtig geworden, bestimmten ihr Oben oder Unten, ihre Gefühlsschübe - damals im<br />
Treibhaus zu Bonn. Lang ist es her. -Schilderungen der Irmgard Schwaetzer wie aus einem anderen<br />
Leben.<br />
174
SITTENGEMÄLDE: KALTER KRIEG DER MÄNNER - DAS<br />
POLITIKERINNEN-DASEIN DER MARIE-SCHLEI<br />
Die Pädagogin und Politikerin Marie Schlei wurde am 26. November 1919 in<br />
Reetz in Pommern als Kind einer Arbeiterfamilie geboren. Ihren Lebensunterhalt verdiente<br />
sie sich als Verkäuferin und Postangestellte. In Berlin nutzte sie 1947 die Chance, ohne<br />
Abitur Lehrerin zu werden, stieg im Arbeiterbezirk Wedding bis zur Schulrätin auf. Seit<br />
1969 agierte sie für die SPD im Bundestag, wurde im Jahr 1974 unter Helmut Schmidt<br />
parlamentarische Staatssekretärin im Kanzleramt, zwei Jahre später gar Ministerin für<br />
wirtschaftliche Zusammenarbeit. Dort bliesen Medien-Männer im Treibhaus zu Bonn zur<br />
Schlei-Treibjagd. Rücktritt. Nach der Bundestagswahl 1980 kehrte sie als Vize-Vorsitzende<br />
in die SPD-Fraktion zurück. Am 1. November 1981 erklärte die Berlinerin ihren Rücktritt,<br />
konnte keine Hoffnung mehr haben, den Krebs zu besiegen, der sie über all die Jahre in<br />
Bonn begleitet hatte. - Marie Schlei starb am 21. Mai 1983 in Berlin.<br />
"Frauen an der Macht" athenäums programm by anton hain, Frankfurt a/M 4. September 1990<br />
"Die Zukunft hat viele Namen Für die Schwachen ist sie die Unerreichbare Für<br />
die Furchtsamen ist sie die Unbekannte Für die Zapferen ist sie die Chance. Victor Hugo<br />
Wir lernten uns an der Theke kennen, im Bonner bürgerlich-rustikalen "Kessenicher<br />
Hof". - Marie Schlei, seit wenigen Monaten parlamentarische Staatssekretärin im Bundeskanzleramt<br />
und <strong>Reimar</strong> <strong>Oltmanns</strong>, Bonn-Korrespondent, jung und neugierig, immer auf der Suche nach der<br />
Nähe zur Macht und den Mächtigen. Kontakte zu pflegen gehörte zu meinem Job und befriedigte<br />
die Eitelkeit. Marie Schlei saß am Tresen und prostete mit rebellischem Lächeln ihren<br />
Parteigenossen zu.<br />
Ich mochte den "Kessenicher Hof", die SPD-Stammkneipe rechts gestrickten<br />
"Kanalarbeiter", der "Freunde für saubere Verhältnisse" (Egon Franke, *1913 +1995,<br />
Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen 1969-1982). Hier lief das Kontrastprogramm zum<br />
staatlich inszenierten Vorzeige-Bonn der Alleskönner und des bedeutungsvollen Gehabes, Bonpoly<br />
genannt, wo der seelische Ausnahmezustand als normal gilt. Die Bonner Alltagswirklichkeit sah<br />
ganz anders aus, war geprägt von einem Hauptstadt-Hospitalismus unter männlicher Regie.<br />
Ich konnte manchen Parlamentariern vom Gesicht ablesen, dass sie sich in steriler<br />
Abgeschiedenheit und Kälte der Parteiapparate nicht besonders wohlfühlten, wo Gefühle belächelt,<br />
Hoffnungen begraben, der Leidensdruck umgeleitet und Enttäuschungen standhaft genommen<br />
wurden: Klinisch-rein hatte das Seelenleben der Abgeordneten nach außen hin zu sein.<br />
Zum Glück gab des den "Kessenicher Hof" - Fluchtort nicht etwa für Aussteiger, sondern<br />
für den kurzfristigen angeschlagenen Biedersinn, der im Gewand des Bundestagsabgeordneten<br />
daherkam. Das Interieur des "Kessenicher Hof" hatte nichts Neureiches, war vom Haupt-Stadt-<br />
Flair verschont geblieben. Hier dominierte die verkitschte Stoffblumen-Atmosphäre von<br />
Bahnhofswartesälen aus den fünfziger Jahren, und es roch nach Bratkartoffeln. Hier konnte man<br />
sich wohlfühlen, war man irgendwie für kurze Zeit zu Hause, als Zwischenstation sozusagen.<br />
Klar, dass hier am Abend nach den Sitzungen die aufgestaute Spannung Ausgleich<br />
verlangte. Und - das war genau so wichtig - in dieser Gesellenrunde aus Politikern oder auch<br />
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solche, die sich dafür hielten - in diesem lockeren Bier-Verbund ließ sich so mancher Wunsch nach<br />
Fortkommen ein Stückchen weiter vorantreiben.<br />
Im "Kessenicher Hof" also ging regelmäßig die Post ab, und mit von der Rutschpartie<br />
waren einige wenige erlesene Hofschreiber, die sich auf absolute Diskretion verstanden. Die<br />
durften mit bechern, und ihnen wurden auch alkoholbedingte "Ausfallerscheinungen"<br />
nachgesehen. Egon Franke war der Boss und nicht nur hier. Ohne das Ja des Bundesministers für<br />
innerdeutsche Beziehungen lief in der Sozialdemokratie nichts. Ein SPD-Politiker konnte sich auf<br />
den SPD-Landeslisten für die Bundestagswahlen nur dann abgesichert fühlen, eine<br />
Gesetzesvorlage, vor allem zur Entlastung der Frauen, besaß nur dann eine Chance, wenn Egon<br />
sein Plazet gab. Und wenn Egon im "Kessenicher Hof" erschien, direkt aus den<br />
Kabinettssitzungen, mit seinen Eindrücken und Mutmaßungen, dann wurden die Ohren gespitzt,<br />
und das Schwatzen unterblieb einstweilen.<br />
Damals waren Frauen in der Politik eigentlich nicht vorgesehen - allenfalls geduldet als<br />
"Konzessionsdamen" am Rande mit Alibifunktion. In Bonn wurde jede Frau mit Mandat wie eine<br />
importierte Exotin taxiert, zuweilen auch behandelt. Es herrschte Krieg in dieser Stadt, der kalte,<br />
subtile in der Öffentlichkeit halbwegs versteckte Krieg zwischen Männern und Frauen. Eine große<br />
Koalition hatte sich gebildet, ohne Programm, nur auf der Grundlage von Vorurteilen: die große<br />
Koalition der Männer. Noch nie lief die parteiüber-greifende Verständigung so leicht. Man war sich<br />
darüber einig, dass Politikerinnen keine Weichen schalten und keine Perspektiven zu entwickeln<br />
imstande seien; dass es ihnen an Kompetenz fehlte. Wenn eine Frau den Weg nach Bonn geschafft<br />
hatte, wurde sie dort in selbst-zweiflerische Defensive getrieben. Die Angst, hier nicht zu bestehen,<br />
wurde zu ihrem Wegbegleiter.<br />
Bonn in den siebziger Jahren: Jahre der Ausgrenzung, Intoleranz, der<br />
Vernichtungsfeldzüge, der Diskriminierung Andersdenkender. Die Republik rüstete auf dem<br />
elektronischen und gesetzgeberischen Überwachungsstaat; der RAF-Terrorismus kulminierte;<br />
Berufsverbote als Ausdruck des Feind-Denkens in diesem Land.<br />
Wir schrieben das Jahr 1974. Die sozialliberale Koalition wurde unter Helmut Schmidt<br />
fortgesetzt. Die Aufbruchphase seines Vorgängers Willy Brandt ("wir wollen mehr Demokratie<br />
wagen") war durch dessen Rücktritt abgebrochen worden. Helmut Schmidt, der Kanzler (1974-<br />
1982) - und Marie Schlei wurde seine parlamentarische Staatssekretärin (1974-1976) später<br />
Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit (1976-1978).<br />
Doch zurück an den Tresen des "Kessenicher Hof". Ich traf Marie Schlei häufig dort,<br />
auch in anderen Kneipen und Bars. Sie hatte die ihr von den Männern zugewiesene Rolle begriffen<br />
und akzeptiert und sich in informellen Nischen eingerichtet. Ihr blieb - Staatssekretärin hin,<br />
Ministerin her - letzten Endes keine andere Wahl, als sich an die Bartheke zu setzen, wenn sie<br />
Aufmerksamkeit und Einfluss gewinnen wollte. Die Nischen waren und blieben die Einflusszonen.<br />
Als wir uns näher kannten, sagte sie mir einmal: "Ich musste mein Auskommen mit diesen<br />
Männern suchen und meine Ideen durchbringen. Da war mir jede Bar recht. Veränderungen gehen<br />
nur mit ihnen, und das wird noch sehr lange so sein."<br />
Frauen in der Politik interessierten mich damals reichlich wenig. Das weibliche Geschlecht<br />
hatte in Bonn und auch anderswo im politischen Geschehen nicht viel zu bestellen, wenn es um die<br />
Macht ging. Und die faszinierte mich außerordentlich. Die Damen waren vorzeigbare Farbtupfer<br />
im dunkelgrauen Männer-Einerlei - ein Grüppchen von dreißig Frauen im Parlament, der prozentual<br />
geringste weibliche Anteil in der Nachkriegsgeschichte.<br />
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Marie Schlei gegenüber hatte ich natürlich Vorbehalte. Sie passte auf den ersten Blick<br />
genau in die von Männern entdeckte politische Marktlücke. Sie vereinte die ideal-typischen<br />
Eigenschaften einer Mutter. Immer warm- und offenherzig, wollte sie anderen helfen und<br />
Geborgenheit vermitteln. Das war in Bonn eine Seltenheit. Marie Schlei als Mutter der Politik und<br />
zugleich von den Männern in Amt und Würden gesetzt als Beispiel dafür, wie überflüssig die<br />
feministische Frauenbewegung sei. Objektiv betrachtet bildete Marie Schlei ungewollt die<br />
Speerspitze gegen den aufkommenden Feminismus, den sie in seiner Aussagekraft paralysieren<br />
sollte. Dafür schien sie den SPD-Männern mehr als geeignet zu sein. Denn jenen militanten<br />
weiblichen Typus, den Christa Randzio-Plath in ihrem bemerkenswerten Buch "Frauen-Macht"<br />
charakterisiert, wollten die Männer nicht in ihre angestammten Bereiche lassen. "Eine Frau, die<br />
Frauen sich wünschen, muss eine aus der Frauenbewegung sein und gegen Krieg und Abrüstung,<br />
Gewalt, Ausbeutung und Armut, Sexismus und Diskriminierung kämpfen. Sie aber wollen Männer<br />
nicht und lassen sie deshalb nicht an die Macht."<br />
Marie und ich hatten eine Gemeinsamkeit, wir beide hielten Ausschau: Marie nach<br />
Entscheidungsträgern, ich nach Informanten. Offen gesagt, mir war das burschikose Auftreten der<br />
Marie Schlei anfangs sehr unangenehm und ging mir ziemlich auf die Nerven. Ich musste immer an<br />
eine Marktfrau denken, die sich mit unerschütterlicher Fröhlichkeit in alles einmischt. Als ich Marie<br />
Schlei eines Tages im Kanzleramt traf, wo sie Schnaps mit Witz für eine Gruppe angereister<br />
Feuerwehrleute und später, im Kellnerinnen-Dress, auch noch für die hohen Herren der Politik<br />
servierte - da fiel bei mir die Schublade ins Schloss.<br />
Aber das Bild war schief, kannte ich doch eine Marie Schlei, die viel und heftig über die<br />
Männer in Bonn klagte und die Emanzipation der Frau auf die Tagesordnung setzte. Und ich fragte<br />
mich, wieso gerade so eine Frau nach Bonn geholt wurde. Da musste doch eine Absicht<br />
dahinterstecken. Diese Frau fiel doch nicht vom Himmel ins Kanzleramt. Man hatte sie hierher<br />
gestellt, weil sie ins Bild passte, das man von einer Hauptstadt geben wollte.<br />
Den Trümmerfrauen der ersten Stunde, die den Kriegsschutt der Männer weggeräumt<br />
hatten, folgten nun - nach Jahren in Heim und Herd - die Landes-Mütter. Frauen wie Marie Schlei<br />
hatten nach draußen die Intaktheit eines Milieus menschlicher Ignoranz glaubwürdig darzustellen.<br />
Der politische Gestaltungswille und der Drang nach Veränderung fristeten damals in Bonn ein<br />
dürftiges Schattendasein. Wenn in späteren Jahren Begriffe wie Staatsverdrossenheit, der stille<br />
Rückzug ins Private zu den häufigsten benutzten Schlagwörtern des gesellschaftlichen Unbehagens<br />
wurden, dann auch deshalb, weil die von der politischen Männer-Kultur vorgetäuschte<br />
omnipotente Leistungsfähigkeit, der Machbarkeitswahn, in einem kläglichen Verhältnis zu den<br />
tatsächlichen Ergebnissen stand. Man nannte das Vertrauenskrise und begegnete ihr mit Krisenmanagement.<br />
Es waren die Jahre, in dem der SPD-Politiker Erhard Eppler (Bundesminister für<br />
wirtschaftliche Zusammenarbeit 1968-1974) ein viel beachtetes Buch schrieb: "Das Schwierigste ist<br />
Glaubwürdigkeit". Es war die Stunde der Marie Schlei. Sie zimmerte im guten Glauben mit an einer<br />
morschen Bühne, wo Vertrauen, Kompetenz, gar menschliche Integrität die Hauptrollen spielen<br />
sollten. Was ihre Politiker-Kollegen nicht mehr rüberbrachten - diese Glaubwürdigkeitsdefizite<br />
vermochte sie zeitweilig auszugleichen: Eben dafür war sie da, war sie ins Kanzleramt, später ins<br />
Entwicklungshilfeministerium geholt worden - Mütter-Jahre, Maries Jahre.<br />
Marie Schlei vereinte Eigenschaften einer weich-herzigen Mutter, die Verhärtungen,<br />
Rüpeleien, Machenschaften abzufedern vermochte. Schnell hatte man ihr im Bonn der<br />
"Zampanos" - wie sie die Männer in Anspielung an den Fellini-Film "La Strada" nannte - ein<br />
Etikett verpasst: Mal hieß sie "Mutter Marie", mal "Mutter Courage". Marie Schlei verstand die ihr<br />
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zugedachte Rolle in der Politik keineswegs falsch. Sie wusste nur zu gut, dass sich "Unabhängigkeit<br />
nicht kaufen lässt". Ihr schwebte deshalb auch kein Frauen-Aufbruch, schon gar kein Frauen-<br />
Durchbruch, keine Autonomie vor. "In Bonn war ich die Trösterin, die die Arme ausbreitete, um<br />
alle vom Kanzler auf den Schlips Getretenen wieder aufzumuntern. Und wenn ich selbst zum<br />
Kanzler musste, brauchte ich immer einen Notizblock und ein Taschentuch zum Weinen."<br />
Doch Marie Schlei musste sich mit Härte als Frau durchsetzen. Quasi als Selbstschutz<br />
kultivierte sie in ihrer scheinbar klassenbewusst-groben Manier das arrivierte Arbeiter-Mädchen:<br />
"Ick bin dat typisch chancenbehinderte Menschenkind. Mutter war Fabrikarbeeterin, Vater<br />
Klempner. Mensch, ich lass mir doch nicht verscheissern." Das war einer ihrer Standardsätze -<br />
nicht nur am Tresen. Doch hinter ihrem scheinbar burschikosen Selbstbehauptungswillen gab es<br />
Selbstzweifel, lauerte eine sie lähmende Resignation.<br />
Marie Schlei war zumindest gut beraten, den an ihr nagenden Krebs wie ein<br />
"Staatsgeheimnis" zu hüten. Die Ärzte im Berliner Virchow-Krankenhaus hatten sie gewarnt, wenn<br />
sie weiter so besessen arbeite, sei das glatter Selbstmord. Aber auf die Ärzte wollte oder konnte sie<br />
nicht hören. Sie hatte noch die Kraft, um ihrem "Haustier", wie sie den Krebs bezeichnete, einige<br />
Lebensdaten abzutrotzen. Bekannt wurde sie damals in der Öffentlichkeit mit dem Stempel "Mama<br />
Kanzleramt". Marie Schlei erlebte einen ungeahnten Durchbruch. Sie war nämlich in der Lage - wie<br />
ihre Fraktionskollegin Renate Lepsius in ihrem 1987 veröffentlichten Buch "Frauenpolitik als<br />
Beruf" bemerkte - "mit ihrem Charme und ihren strahlend blauen Augen und ihrer Persönlichkeit,<br />
Menschen zu faszinieren. Sie machte das auch mit einer großen dramaturgischen Darstellungskunst<br />
...". Die Gefühlslage der Nation war bestimmt von der Mutter-Suche. Und in Marie Schlei hatten<br />
sie eine gefunden. Sie wurde mit verheißungsvollen Tönen salonfähig gezeigt, kompetent für alle<br />
Lebensfragen. Sie jagte von Talkshow zu Talkshow, von Interview zu Interview. Die Bonner<br />
Sprechblasen-Kultur bedurfte einer Auffrischung.<br />
Wenige Monate vor ihrem Tod im Sommer 1982 fuhr ich immer wieder nach Berlin-<br />
Reinickendorf, besuchte Marie Schlei in ihrem Fünf-Zimmer-Reihenhaus der<br />
Arbeitergenossenschaft "Freie Scholle" im Allmendeweg 112. Damals konnte ich noch nicht<br />
ahnen, dass ich meine mit Marie Schlei aufgenommenen Tonband-Protokolle erst Jahre später<br />
veröffentlichen sollte. Ich hatte zu jener Zeit auch keine Mutmaßung darüber, dass es in diesem<br />
Land des neunziger Jahrzehnts zu einem Frauen-Aufbruch kommen würde. Wie sollte ich auch.<br />
Mich interessierte das Schicksal einer Frau, die in Bonn, zuletzt als Entwicklungshilfeministerin,<br />
verheizt, ein Opfer der Intrige geworden war. Ich wollte hören und sehen, wie Marie Schlei den<br />
Kalten Krieg der Männer verarbeitet hatte.<br />
Ein kraftzehrendes Leben intensiv erfahrener deutscher Widersprüchlichkeiten lag hinter<br />
ihr. Ihre einst hell-wachen blauen Augen hatten sich längst zu Sehschlitzen verengt, ihre Wangen<br />
waren eingefallen, ihre Lippen waren rissig, auf der Stirn perlte Schweiß. Wehmut, die sie zu<br />
verbergen suchte, Trauer und Verzagtheit. Sie hatte ihr Gegenüber geortet - den Tod.<br />
Als ich mich von Marie Schlei verabschiedete, klingelte es an ihrer Tür. Reporter baten um<br />
Einlass. "Mein Kampf mit dem Krebs" hieß ihr Bericht über Marie Schlei. Fotos von der<br />
todkranken Frau wollten sie "möglichst hautnah" schießen.<br />
Erst ihren politischen Aufstieg als "Mama Kanzleramt", dann ihren Rausschmiss aus dem<br />
Kabinett, nun der Einbruch in die Privatsphäre mit ihren nahenden Krebstod: mit illustrer<br />
Gründlichkeit gnadenlos vorgeführt, umschmeichelt - vermarktet.<br />
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Marie Schlei starb im Alter von 63 Jahren am 21. Mai 1983 - eine "Sozialdemokratin aus<br />
dem Bilderbuch", wie die "Augsburger Allgemeine" ihren Bericht einfühlsam betitelte.<br />
Von ihren Genossen aus Bonn mochte sie vor ihrem Tode die meisten nicht mehr sehen.<br />
LEBENS-PROTOKOLL DER MARIE SCHLEI:<br />
"Als ich im Jahre 1969 - direkt nach der Operation in den Bundestag ging, hatte ich<br />
wieder Mut gefasst. Ein langer Weg der Ungewissheit lag hinter mir: Es schien jetzt so, als hätte ich<br />
den Krebs besiegt. Ich schöpfte Hoffnung, weil keine neuen Krebszellen entdeckt wurden. Es war<br />
wie der Beginn eines neuen Lebens.<br />
Und es machte mir Mut, dass meine Berliner Partei mir zutraute, der Herausforderung in<br />
Bonn gewachsen zu sein.<br />
Dieser Weg von Berlin nach Bonn war für mich ein einschneidender Bruch. Ich war<br />
damals schon fünfzig Jahre alt. (In diesem Lebensabschnitt wird man nicht mehr für besonders<br />
lernfähig gehalten.) Zudem hatte ich mir - Arbeitertochter ohne Abitur - in Berlin etwas<br />
Ungewöhnliches aufgebaut. Ich hatte viel arbeiten müssen, bis ich Schulrätin wurde.<br />
Bei meinem Abschied von Berlin wusste ich, dass ich eine Lücke hinterließ: Ich hielt mich<br />
ja nicht für austauschbar. Für viele war ich ein Mensch, der aussprach, was sie vielleicht dachten,<br />
aber öffentlich zu sagen sich nicht trauten. Die Beziehungen, die zwischen Schulräten, Lehrern,<br />
Rektoren und Schulkindergärtnerinnen entstanden, waren wirklich freundschaftlich. Wir wollten<br />
vieles an der Schule verändern. Jahrelang beschäftigten wir uns mit der Umgestaltung der<br />
Lehrerausbildung oder der Anerkennung der Vorschule. Durch Überzeugungskraft schafften wir<br />
es, dass Kinder aus sogenannten einfachen Verhältnissen mehr wurden als angelernte Arbeiter, sich<br />
für einen Beruf qualifizierten. Wir erreichten, dass Mädchen auf weiter-führende Schulen gingen, so<br />
dass in den siebten Klassen Jungen und Mädchen im Verhältnis von 50:50 waren.<br />
Ich habe für meine Veränderungsvorschläge Lehrer, Eltern, Auszubildende gewonnen.<br />
Dabei lernte ich, was Reformen tatsächlich bedeuten: nämlich die Menschen dort abzuholen, wo<br />
sie stehe, das heißt, sich nicht als Heilsprediger aufzuspielen und sich nicht die Lebenskonzeption<br />
anderer anzumaßen.<br />
Schon unsere Sprache ist der Beweis für Verfremdung und Entfremdung. Mit unserer<br />
Schein-Fremdsprache versuchen wir, einfache Menschen, denen diese Sprache nicht geläufig ist, zu<br />
diskriminieren, auszugrenzen. Dadurch wird eine neue Klasse geschaffen. Wir unterhalten uns ja<br />
nicht mehr, wir verfremden -quasi eine neue Sozialtechnik - mit Satz-bau und Wortschatz. Dies<br />
führt zwangsläufig zu einer Entdemokratisierung unseres Miteinanders. Unsere Sprache verbindet<br />
uns immer weniger - mit ihr schaffen wir als Ausdruck unsere Identität neue Schranken. Auch ich<br />
ertappe mich immer wieder dabei, dass ich Fremdwörter, die im Journalismus gang und gäbe sind,<br />
einfach übernehme.<br />
Als ich in der Nachkriegszeit nach Berlin gekommen war, lernte ich als Erstes wie man<br />
berlinert, weil ich mich mit den Arbeiterkindern unterhalten und ihnen etwas beibringen wollte.<br />
Vom Lernen habe ich immer viel gehalten. Meine Eltern hatte ich verloren, meinen Mann, meine<br />
Heimat, die Aussteuer, auch ich verdient hatte: Nur was ich gelernt hatte, das blieb mir und konnte<br />
mir nicht genommen werden.<br />
Für mich war es immer wichtig, mit dem anderen mitzudenken. Meine Mutter erzog mich<br />
im christlichen Sinne. Von meinem Vater lernte ich den gewerkschaftlichen Grundsatz, für den<br />
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anderen mitzusorgen. Wir waren sehr arm, und ich trug in meiner Kinder- und Jugendzeit die<br />
Kleider meiner älteren Cousine.<br />
Jedes von uns in den folgenden Jahren erkämpfte sozialpolitische Gesetz habe ich als<br />
einen Gedenkstein für meine früh im Elend gestorbenen Arbeitereltern angesehen. Menschen wie<br />
sie haben sich nicht vorstellen können, dass im Laufe einer Generation die soziale<br />
Lebenswirklichkeit der deutschen Arbeiterschaft so positiv verändert werden könnte.<br />
Jahrelang drückte mich ein Schuldgefühl gegenüber meinen Eltern, obwohl ich doch<br />
nichts mehr tun konnte. Mein Vater starb, als ich siebzehn war. Meine Mutter starb auf der<br />
Landstraße, auf der Flucht vor sowjetischen Truppen. Wie hätte ich mich gefreut, wenn ich mit<br />
ihnen hätte teilen, für sie an ihrem Lebensabend hätte sorgen können.<br />
Mein Leben in Berlin, das heißt meine Arbeit als Lehrerin, füllte mich aus. Der<br />
Lehrerberuf ist etwas Wundervolles. Die Beziehung zu jungen Menschen eröffnet ungeahnte,<br />
immer neue Möglichkeiten. Und was ich gab, bekam ich auf unterschiedliche Weise zurück.<br />
Vielleicht klingt das wie eine allzu egoistische Einstellung, aber es ist andererseits eine, bei der man<br />
selber nichts zurückhält.<br />
Anfang der siebziger Jahre waren wir in der Gleichberechtigung der weiblichen Menschen<br />
ein gutes Stück vorangekommen. Das war Kärrnerarbeit gewesen. Damals war es normalerweise<br />
so: Auch wenn Mädchen gute Zeugnisse bekamen, blieben sie auf der Hauptschule. Die Jungen<br />
dagegen, auch mit miserablen Noten, wurden ganz selbstverständlich auf weiterführende Schulen<br />
geschickt. Ich redete wie ein Wasserfall auf die Eltern ein, ihrer Tochter doch eine Chance zu<br />
geben, die Realschule oder das Gymnasium zu besuchen. Wir hatten ein Schulsystem mit einer<br />
zehn-jährigen Schulzeit für Jungen und Mädchen entwickelt. In Berlin arbeitete ich in Zirkeln, die<br />
in ihren Reformbestrebungen beherzter waren als die Kreise in der Bundesrepublik, vor allem im<br />
methodisch-didaktischen Bereich.<br />
Insgesamt gesehen verspürte ich kein Bedürfnis, woanders zu wirken, zumal ich ja wusste,<br />
dass ich in Bonn keine Schulpolitik machen würde, weil dafür die Bundesländer zuständig sind. Ich<br />
wusste auch, dass all das, was ich in der Entwicklungs- und Erziehungspsychologie und in der<br />
Didaktik gelernt hatte, hier in Bonn nichts zählen würde. Berlin war also eine ganz andere Welt, wo<br />
Aufgeschlossenheit, Bewegtheit, Lachen und Weinen eine Rolle spielten. Wer lacht und weint denn<br />
heute noch - und sind Lachen und Weinen nicht gerade die Eigenschaften, die den Menschen vom<br />
Tier unterscheiden; Merkmale, die direkt ausdrücken, welche Gefühlsspanne der Mensch hat?<br />
Der Erfolg unserer schulpolitischen und pädagogischen Bemühungen in Berlin schien<br />
nach Jahren greifbar nahe gerückt. Klar, dass auch enge menschliche Bindungen gewachsen waren,<br />
die durch meinen Weggang jäh auseinandergerissen wurden.<br />
In der Sozialdemokratie hatte ich mich bis dahin eher als Zaungast gefühlt. Ich setzte<br />
mich nur, sozusagen im kleinen Rahmen, in den Arbeiterbezirken Wedding und Reinickendorf für<br />
sie ein, ohne Aufsehen zu erregen. Kontakte mit der Bevölkerung hatte ich über meine Funktion<br />
als Lehrerin, Rektorin und schließlich als Schulrätin. Hier machte ich mir vielleicht einen Namen als<br />
jemand, der sich um Gerechtigkeit bemüht und beharrlich und einfallsreich für die Rechte von<br />
Kindern und Eltern eintritt.<br />
Das hatte sich wohl bis zu Herren in der Berliner Parteizentrale herumgesprochen. Sie<br />
meinten, ich sollte doch meine Durchsetzungsfähigkeit, mein Engagement und meine Art, Politik<br />
zu machen, im Bundestag unter Beweis stellen. Die Genossen sagten: 'Wenn du nicht gehst, dann<br />
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wird mit Sicherheit ein Mann in das nächste Parlament kommen.' Mit diesem psychologischen<br />
Trick haben sie mich erwischt. Letztlich war es genau das Argument, das mich nach Bonn gehen<br />
ließ. Ich wäre mir anderenfalls selbst ziemlich unglaubwürdig vorgekommen. Denn ich regte mich<br />
fortwährend darüber auf, dass in den führenden Gremien so wenig Frauen saßen. So versuchte ich<br />
immer, Frauen in obere Schulpositionen zu bringen, zum Beispiel wenn eine Rektorenstelle neu<br />
besetzt werden musste. Und in den Parteiversammlungen war ich es, die sich seit eh und je darüber<br />
mokierte, dass zwar über die Hälfte der Menschheit Frauen sind, aber in der Politik nichts, aber<br />
auch gar nichts zu melden hätten. Von daher gesehen konnte ich dieses - überraschende - Angebot<br />
nicht ausschlagen. Hätte ich abgelehnt, dann wären unsere Frauen zu Recht verärgert gewesen und<br />
hätten mich mit ihrem berechtigten Vorwurf getroffen, ihnen eine Chance vermasselt zu haben.<br />
Für mich persönlich war die Entscheidung für Bonn eine Art Lebenswende.<br />
Wie alle Menschen hatte ich große Angst vor dem Krebs und war zutiefst erschlagen, als<br />
es mich unvermittelt traf. Zum Glück blieb ich fest verankert in meiner Arbeit und Fürsorge für<br />
meine damals sechzehn- und siebzehnjährigen Kinder Christine und Ulrich, so dass schon diese<br />
Beanspruchung wie ein Heilmittel auf mich wirkte. Und allmählich gelang es mir, meine<br />
Todesangst zu verdrängen, so dass mir noch Lebens-kraft blieb.<br />
Früher hatte ich immer gesagt, wenn ich einmal Krebs habe, dann fahre ich sofort gegen<br />
einen Baum - gegen eine uralte Eiche im Weserbergland, die mir dort unmittelbar nach dem Krieg -<br />
in ihrer ruhigen Gelassenheit zu einer Art Symbol geworden war.<br />
Nach all dem Leid, dem Unrecht und der Grausamkeit, die von Nazi-Deutschland<br />
ausgegangen sind, sah ich in dem Baum ein Symbol dafür, dass es an der Zeit war, endlich unsere<br />
Friedenshaltung gegenüber den Polen unter Beweis zu stellen. Das wünschte ich mir - ich, die auch<br />
eine Heimatvertriebene war, und auch in Anbetracht der Tatsache, dass elf Millionen Deutsche ihr<br />
Zuhause verloren hatten und in die Bundesrepublik integriert werden mussten. Es war ein für mich<br />
sehr bewegendes Erlebnis, dass die Deutschen fähig waren, diesen Schritt zu gehen, dass es mit den<br />
Ostverträgen Willy Brandts möglich war, das Bewusstsein der Menschen zu verändern.<br />
Als Heimatvertriebene konnte ich gut nachempfinden, dass die älteren Menschen ihre<br />
Verwurzelung in der Heimat verstärkt spüren - es wird dann alles wieder lebendiger - die alten<br />
Beziehungen bekommen eine neue Intensivität. Dazu die Traurigkeit über den Heimatverlust und<br />
die Erinnerung an die Nöte, die man als Flüchtlinge durchleben musste. - Die Ostverträge - das war<br />
eine großartige Friedensleistung der Deutschen gegenüber den Polen, die nie in Frage gestellt<br />
werden darf.<br />
Als ich wusste, dass der Krebs mein Wegbegleiter sein würde, fuhr ich nicht gegen die<br />
Eiche, sondern nach Bonn. Ich war besessen von der Absicht, in den mir noch verbleibenden<br />
Jahren etwas zu bewirken, gesellschaftliche Veränderungen zugunsten der Frauen anzustoßen. Ich<br />
nahm mir gar nicht die Zeit, über diesen Schicksalsschlag Krebs nachzugrübeln. Das erlaubte ich<br />
mir nicht.<br />
Bis dahin kannte ich keinen der Herren aus der Bonner Politik persönlich. Die ersten<br />
Wochen als frische Bundestagsabgeordnete in Bonn reduzierten sich auf mehr oder weniger<br />
schüchterne Begegnungen mit prominenten Männern, die ich bisher nur vom Radio oder, später,<br />
vom Fernsehen kannte. Ich neigte anfangs dazu, sie zu überhöhen. Hießen sie nun Willy Brandt<br />
(*1913 +1992), Herbert Wehner (*1906 + 199o), Helmut Schmidt, der legendäre Chefdenker Carlo<br />
Schmid (*1896 +1979) oder vielleicht auch andere. Doch meine Einstellung gegenüber den<br />
Führungs-Figuren änderte sich schnell. Sie kamen mir menschlich näher, als ich merkte, wie nervös<br />
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und angespannt sie waren. Sie mussten ein Arbeitsvolumen bewältigen, das ich für unmenschlich<br />
hielt, und sie standen unter einem immensen Erfolgsdruck.<br />
Ich war völlig andere Arbeits- und Umgangsformen gewöhnt. (Allein schon das<br />
Rheinländische war mir irgendwie fremd.) Mein angestammtes Milieu glich einer Art Kinderwelt<br />
mit unverklemmten, geraden Menschen. Ich musste ich lernen, meine Zeit noch zielbewusster<br />
einzuteilen und mit noch weniger Schlaf auszukommen. Ich musste mein Arbeitstempo enorm<br />
steigern, um all den Verpflichtungen nachzukommen, wie die Fraktion zusammenzuhalten,<br />
Kompromisse zu finden, Plenarreden vorzubereiten; und ich wollte Kontakte aufbauen zu den<br />
Menschen. So musste ich mir gewisse Fähigkeiten regelrecht antrainieren, wie Texte schnell<br />
durchzuarbeiten und Sachverhalte rasch zu rekapitulieren. Erst als ich diese Norm erfüllen konnte,<br />
glaubte ich, nicht ganz überflüssig zu sein.<br />
Und trotzdem hatte ich das Gefühl, Schütze im letzten Glied zu sein. Ich sah mich<br />
plötzlich mit so vielen parlamentarischen Könnern konfrontiert, die mir meine Wissenslücken<br />
verdeutlichten - was ich, Preußin und Pädagogin, die ich nun mal bin, als sehr unangenehm<br />
empfand. Eine Abgrenzung meinerseits von der doch von Männern vorgegebenen Arbeitsnorm<br />
gab es nicht: Ich hatte Respekt vor ihren Leistungen und ihrer Fähigkeit, unterschiedlichste<br />
Politikbereiche zusammen-zubringen.<br />
Mit der Zeit wurde mir klar, dass Bonn auch eine Arena für Karrieristen ist -ein<br />
Schauplatz bundesdeutscher Politik, der von absichtlichen Verdrehungen und Unterstellungen lebt,<br />
wo verletzende Polemik einen Eigenwert darstellt und entsprechend kultiviert wird. Ich bekam<br />
auch mit, wie groß die psychischen Probleme der Kollegen mit sich selber waren, wie die Politik-<br />
Szenerie sie fertig machte, während sie sich gleichzeitig als omnipotent darzustellen versuchten.<br />
Bonn hat mir zunächst imponiert. Dann merkte ich, dass da oft nur eine Show nach der<br />
anderen abgezogen wird, um im Rampenlicht zu stehen. Persönliche Eitelkeit trieb viele umher. Ich<br />
traf auf hartgesottene Handwerker, die stundenlang isoliert in ihren Zimmern vor sich<br />
hinwerkelten, und wenn sie dann endlich zum Vorschein kamen, dann ballerten sie mit Zynismus<br />
und Polemik aus allen Rohren. Da stellt man sich natürlich die Frage, wieso Veranstaltungen wie<br />
der Bundestag solche Verhaltensdeformationen zur Folge haben. Mein Motto lautete dagegen<br />
immer: Mensch mit Menschen zu sein. Weshalb lebt man denn sonst? Ich habe meine Aufgabe als<br />
Volksvertreterin nie als Job aufgefasst. Wer diese Einstellung hat, der ist hier fehl am Platze.<br />
Wenn ich mir die Bonner Qualifikationskriterien anschaue, dann möchte ich am liebsten<br />
von einer Studienräte-Republik sprechen. Wer rhetorisch geschickt ist, wer eine gute<br />
Schulausbildung verfügt und sich noch Doktor nennen darf, der hat für eine Karriere in Bonn eine<br />
optimale Ausgangsposition. Aber das Volk setzt sich nicht nur aus Juristen, Oberstudienräten,<br />
Politologen und Soziologen zusammen, in unserem Volk leben zig Millionen sogenannter einfacher<br />
Menschen: Diese Menschen müssen doch mitbeteiligt werden.<br />
Und dann kommt hinzu: Die Politik muss nachvollziehbar sein. Nehmen wir zum Beispiel<br />
die Facharbeiter. Sie wissen, dass sie wichtige Exportprodukte herstellen und fühlen sich auch gar<br />
nicht - wie die marxistische Theorie behauptet - entfremdet, weil sie nur einen Teil des Produktes<br />
produzieren. Nein, ihre Fantasie reicht weit genug, um ihre Arbeit zum Endprodukt in Beziehung<br />
zu setzen. Und sie wissen genau, wohin ihre Produkte gehen; auch, dass ihre Arbeit die<br />
wirtschaftlich notwendigen Devisen bringt, ohne die wir schlecht dastünden. Ohne ihre Arbeit<br />
wäre unser Lebensniveau viel niedriger; für Reformen hätten wir mit Sicherheit kein Geld, von der<br />
Entwicklungshilfe für die Dritte Welt ganz zu schweigen. Und so manche wissenschaftliche<br />
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Institution müsste ersatzlos gestrichen werden, wenn in den Fabriken nicht ein beträchtliches<br />
Bruttosozialprodukt erwirtschaftet würde. Aber, so frage ich mich, wie steht es mit dem<br />
gesellschaftlichen Ansehen unserer Facharbeiter?<br />
Ich persönlich war nie eine Männerfeindin, obwohl es bei vielen Männern auffällig nur um<br />
ein Thema geht: Wie wird man mit dieser oder jener Person fertig, wie kann man auf die Arbeit<br />
abwälzen, wie kann man sie diskriminieren und für die eigenen Ziele gebrauchen. Es gibt ja die<br />
Möglichkeit, zu schweigen und mit einer gewissen Gleichgültigkeit alles über sich ergehen zu<br />
lassen. Ich habe meistens meinen Mund ziemlich weit aufgemacht und meine Meinung gesagt. Die<br />
Männer können es aber nicht ertragen, die zweite Geige zu spielen. Das Bonn der Politik ist ein<br />
sprechender Ausdruck unserer Gesellschaft - die leider immer noch eine Männer-Gesellschaft ist,<br />
wo Männerinteressen höher als Frauenbelange angesehen sind. Obwohl mehr als die Hälfte der<br />
Bevölkerung Frauen sind, sitzen in den Führungsgremien vor allem Männer. Da ist etwas<br />
Grundsätzliches nicht in Ordnung, und das ist auch nicht im Sinne des Grundgesetzes.<br />
So tüchtige Frauen wie Käthe Strobel (*1907 +1996), Katharina Focke oder Antje Huber<br />
sind ja in Bonn nicht an ihrer Regierungsverantwortung gescheitert. Viele der von ihnen<br />
durchgesetzten Reformen halfen Millionen Menschen. Nein, nicht im Amt sind sie gescheitert,<br />
sondern an der Bonner Männerwelt, die schnell alle Vorurteile parat hat, wenn einer Frau ein<br />
Fehler unterläuft, wie jedem Mann doch auch.<br />
Da reichen dann diskriminierende Wörter wie ,glücklos' ,graue Maus' , 'Kabinettsdame',<br />
'farblos' aus. Männer halten es eben nicht aus, wenn eine Frau die Nummer eins ist. Als<br />
Mitarbeiterinnen sind die Frauen anerkannt, ja sie können mittlere Führungspositionen erreichen<br />
wie etwa in der Fraktion, in den Bundestagsausschüssen oder in den diversen Arbeitskreisen. Die<br />
überwiegende Anzahl derer, die in Bonn Meinung machen, die Ministerialbürokraten, die<br />
Journalisten, die Parteileute, sind Männer, die in der Bewertung Männer-Maßstäbe anlegen. Für<br />
diese Männer ist die Ordnung gestört, wenn eine Frau ganz oben ist, beispielsweise als Ministerin.<br />
Da spielt sicher das Unbewusste auch eine Rolle. Wenn Frauen Karriere machen, dann ist das für<br />
Männer eine Art Palastrevolution.<br />
Die Bonner Meinungsmache spielt sich am Biertisch oder an der Bar im Bundeshaus ab.<br />
Dort sitzen die Männer zusammen, schieben sich Informationen zu, kungeln Jobs aus, werten sich<br />
gegenseitig auf und setzen Urteile über andere in Umlauf: Männerbünde im alten Sinne modern<br />
verpackt in einer beschränkten Nadelstreifenanzug-Mentalität. Sicher, Frauen können heute an<br />
solchen Stammtischsitzungen teil-nehmen. Aber die Frauen, die ich kenne, lehnen das ab, weil sie<br />
meinen, ihre Zeit in Bonn besser nutzen zu können.<br />
Dass die Frauen in der Politik eine Minderheit sind, das ist auch das Problem bei der<br />
vielzitierten weiblichen Solidarität. Aber wir Frauen vermögen eine andere Art der menschlichen<br />
Beziehungen zu entwickeln, eine andere Art des Umgangs in den Ministerien und mit der Presse.<br />
Ich denke dabei an die Abertausende von Briefen, die ich erhielt, in denen oft zu lesen stand: "Ich<br />
wende mich an Sie, weil Sie eine Frau sind." Demzufolge scheint in unserem Volk der Wunsch<br />
virulent zu sein, gerade Frauen in der Politik zu sehen, weil und insofern diese für Menschlichkeit<br />
stehen. Doch die Ellenbogen-Politik der Männer dominiert. Darin sind die Bonner Männer stark.<br />
Aber solche Werte und Umgangsformen haben heutzutage auch in den Regierungsetagen nichts<br />
mehr zu suchen. Wir Frauen hingegen sind darin geübt, direkt und frei zu beschreiben, was wir<br />
fühlen, meinen, erfahren. Darin liegt auch die Schwierigkeit, Veränderungen durchzusetzen: Wenn<br />
wir Frauen etwas reformieren wollen, sind wir ja meistens selbst noch Suchende, und wir werden<br />
183
dann von Männern als Aufrührerinnen und Umstürzlerinnen disqualifiziert. Dabei nehmen wir nur<br />
die Herausforderung ernst, die Gesellschaft ein wenig menschlicher zu gestalten.<br />
Insgesamt hinkt das Bonn der Politik der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung des<br />
Geschlechter-Verhältnisses hinterher. In diesem Punkt ist das Bewusstsein und die daraus<br />
resultierende Haltung dort unterentwickelt. Nach dem Krieg war es ungemein schwer, den<br />
Gleichberechtigungsgrundsatz in der Verfassung zu verankern: An den Hindernissen, die sich der<br />
Sozialdemokratin Elisabeth Selberg (*1896+1986) in den Weg stellten, wäre schon erkennbar<br />
gewesen, was uns Frauen in der westdeutschen Gesellschaft noch bevorsteht. Während der<br />
Jahrzehnte der konservativen, ja restaurativen Regierung unter Adenauer sind die krassen<br />
Benachteiligungen und das Überfordertsein der Frauen überhaupt nicht ins Blickfeld gerückt<br />
worden. In der entscheidenden Wiederaufbau-Phase wurde versäumt, Frauen-Anliegen und die<br />
Notwendigkeit ihrer gesellschaftlichen Akzeptanz aufzunehmen.<br />
Damals war alles viel zu materialistisch ausgerichtet. Auch die konkreten Vorstellungen<br />
der Frauen waren seinerzeit ziemlich verschwommen. Sonst hätte es wahrscheinlich zu einem<br />
längerem Atem gereicht und zur Klarheit darüber, was für eine Sisyphusarbeit noch zu bewältigen<br />
ist, um aus dem schwer erkämpften Verfassungsgrundsatz Wirklichkeit werden zu lassen. Dieses<br />
Problem ist in seiner ganzen Schärfe nicht angegangen worden. Deshalb wurden auch keine<br />
Kampfformen entwickelt. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir uns doch eingestehen, dass die<br />
Frauen, die sich seinerzeit um Parteimandate bemühten, als wahlstrategisch platzierte auf<br />
Stimmenfang für die Männer-Welt geschickt wurden. Dabei forderten die Fakten in diesem Land<br />
ein anderes Vorgehen. Es dauerte ja zum Beispiel sehr lange, bis in den Gewerkschaften die<br />
schlechte Bezahlung von Frauen, der niedrigere Lohn für dieses Arbeitskräftereservoir, thematisiert<br />
werden konnte. Das wurde oft verhindert durch die Heuchelei und den Neid der Männer, die ihre<br />
Existenz gefährdet sahen. Es war ja für den Nicht-Facharbeiter nicht leicht, nachzuvollziehen, dass<br />
seine Arbeit nach nur vierzehn Tage Anlernzeit von einer Frau übernommen werden konnte. Und<br />
sie wollte auch noch den gleichen Lohn haben! Das war zu viel fürs männliche Gemüt:<br />
Einkommen bedeutet eben gesellschaftliches Ansehen und den Anspruch auf die Moral des<br />
Stärkeren.<br />
Dennoch stand ich immer in einer gewissen Distanz zur Frauenbewegung, die mit ihrer<br />
Art des Kampfes um Gleichberechtigung, mit ihren Methoden und ihrem Sprachgebrauch die<br />
Mehrzahl der Menschen nicht erreichte. Etwas durchsetzen heißt für mich zuerst, die Leute dort<br />
abzuholen, wo sie tatsächlich stehen. Ich kann einen Emanzipationskampf nicht so führen, als gäbe<br />
es nur Akademikerinnen oder Frauen mit guter Schulbildung. Die Frauen, die die Hausarbeit<br />
verrichten und die Kindererziehung über-nehmen, also zig Millionen Frauen, die werden dabei<br />
vernachlässigt.<br />
Ganz im Sinne des schwedischen Wirtschaftswissenschaftlers Gunnar Myrdal (Nobelpreis<br />
im Jahr 1974, *1898+1997), der einmal sagte, er kenne niemanden, der zugunsten seiner Ideale<br />
bereit ist, seine Privilegien aufzugeben, ist es auch bei den Männern, die trotz aller Sonntagsreden<br />
ihre Privilegien vehement verteidigen. Die Frauen müssen lernen wie die Männer, sie müssen<br />
wissen, wohin sie wollen, und dass, wer Einfluss nehmen will, hart arbeiten muss. Wir Frauen<br />
haben eine andere Lebensdevise einzubringen. Wer werden dann eines Tages schaffen, was der<br />
deutsch-amerikanische Philosoph und Psychoanalytiker Erich Fromm (*1900+198o) fordert. Er<br />
verlangt, dass wir unser Leben nicht vom Haben, von der Gier nach Besitz bestimmen lassen,<br />
sondern uns auf eine Lebens-weise einlassen, die vom Sein geprägt ist, davon, dass der Mensch<br />
einen Eigenwert hat, der Mensch an sich gilt, also die Frau soviel wie der Mann.<br />
184
Wenn ich nur an meine Cousine denke, dann sehe ich, wir haben uns schon ein Stück in<br />
diese Richtung bewegt. Mit 47 Jahren war es ihr endlich möglich, sich fortzubilden. Sie hatte die<br />
Schule nicht besuchen dürfen und war Verkäuferin geworden. Ihr Leben war ziemlich mühselig.<br />
Mithilfe des Arbeitsförderungsgesetzes konnte sie sich kostenlos zur Sekretärin ausbilden lassen.<br />
Das war schon von Kindesbeinen an ihr Wunsch gewesen. Heute ist sie Sekretärin im<br />
Lehrerseminar. Wenn ich diesen Fortschritt anderen zu verdeutlichen versuche, wird leider allzu oft<br />
nur auf die kurze Zeit der Geldzuwendung hingewiesen - mehr nicht. Nach dem Motto, was nichts<br />
kostet, ist nichts wert.<br />
Ich persönlich habe mich nie auf Positionen beworben. Das klingt vielleicht etwas<br />
überheblich. Ich wurde aufgefordert, mich für die Rektorenstelle zu melden und später mich als<br />
Schulrätin zu bewerben. Und ich wurde aufgefordert, für den Bundestag zu kandidieren. Die SPD-<br />
Spitze bat mich, Helmut Schmidts parlamentarische Staatssekretärin und schließlich<br />
Entwicklungshilfeministerin zu werden. Die Sucht nach Ämtern, koste es, was es wolle, hat mich<br />
nie getrieben. So etwas liegt mir völlig fern. Dieses Hecheln nach Bedeutung und Macht war in<br />
meiner Zeit ganz den Männern vorbehalten.<br />
Als Beispiel für die ortsübliche männliche Karriere-Kultur muss ich mir nur den einstigen<br />
Juso-"Rebell" Wolfgang Roth (Vorsitzender der Jungsozialisten 1972-1974) vor Augen führen. Er<br />
meldete sich nach seinen schlagzeilenträchtigen Juso-Eskapaden für den Parteivorstand, für den<br />
Bundestag sowieso und dann marschierte er Schnurstraks nach oben auf den stell-vertretenden<br />
Fraktionsvorsitz zu. Durch sein feingesponnendes Selbstanmeldungsnetz fiel dann eine Frau: Ich<br />
hatte mir die hellwache Renate Lepsius als meine Nachfolgerin gewünscht. Aber in Sachen<br />
Selbstanmeldung sind in Bonn die Frauen den Männern weit unterlegen. Für die ist das oft ein<br />
egomanisches Muss.<br />
Sie planen für sich ihre Karrierestufen, wann und unter welchen Bedingungen sie dies<br />
oder jenes erreichen können - und vor allem, mit welchen Entscheidungsträgern sie sich gut zu<br />
stellen haben. Bei uns Frauen hingegen ist das in erster Linie ein vieldiskutierter Findungsprozess,<br />
der sich ganz offen in der Gruppe abspielt. Schon deshalb sind wir Frauen nie auf diese für uns<br />
seltsame Idee gekommen, Selbstanmeldung zu betreiben und das politische Handeln dieser<br />
Maßgabe unterzuordnen. Wir Frauen redeten miteinander über unsere Leistungsgrenzen, über<br />
unsere Handicaps im politischen Betrieb. Ich sah Frauen - auch Männer -, die seit Jahren ohne viel<br />
Medienrummel kompetent schufteten, aber nie etwa , obwohl sie viel eher einen Anspruch darauf<br />
hatten, eins höher zu rücken.<br />
Jedenfalls war Karriere für mich nie ein Thema; ich brauchte mir nichts zu beweisen. Viel<br />
später allerdings, als ich üblen Attacken ausgesetzt war, da wollte ich schon den klaren Beleg dafür<br />
antreten, dass eine Frau - in diesem Fall Marie Schlei - eine von den vielen ist, die etwas kann.<br />
Macht hatte ich auch - aber eine vertretbare Macht, die nicht darauf ausgerichtet war, andere<br />
Menschen zu verletzen, zu verdrängen, zu demütigen oder gar zu zerstören. Was ich im Unterricht<br />
von meinen Mädchen und Jungen an Verhaltensweisen gefordert hatte, versuchte ich auch in Bonn<br />
in die Tat umzusetzen. Mein Lebensversuch war es, immer Suchende zu sein, immer wieder zu<br />
wagen, sich und die Umgebung in Frage zu stellen. Das ist sicherlich nicht die einzige Lebensform,<br />
aber es ist eine sehr intensive, mitunter auch gefährliche.<br />
Helmut Schmidt musste mir lange zureden, um mich als Staatssekretärin im Kanzleramt<br />
zu gewinnen. Er kam auf mich zu und sagte: >Du wirst mein Staatssekretär
nachteiligten in unserer Gesellschaft. Ich denke nur an die Dynamisierung der<br />
Hinterbliebenenrente, an die Mitbestimmung, an die Sicherung der Betriebsrenten. Was so ein<br />
Staatssekretär, der ja ein Staatsminister ist, zu tun, welche Aufgaben er zu bewältigen hat, das<br />
konnte ich mir zwar vorstellen, genau gewusst habe ich es freilich nicht.<br />
Dann wurde ich Staatssekretärin. Ich musste zwischen Kanzler und Fraktion als<br />
Bindeglied arbeiten. Unablässig, immerfort galt es, in strittigen Sachfragen zu informieren und zu<br />
vermitteln. Das Stellenprofil des parlamentarischen Staatssekretärs hat sich in der Zwischenzeit<br />
erheblich verändert. Früher hatte er vor allem eine vermittelnde Funktion, war mehr oder weniger<br />
der Abgesandte der Fraktion bei den alltäglichen Regierungsgeschäften. Heute ist der parlamentarische<br />
Staatssekretär eher ein Junior-Minister, damit die unweigerlichen Loyalitätsbrüche im Wettbewerb<br />
um die richtige Lösung vermieden werden. Wenn nämlich vertrauliche Informationen aus<br />
den Ministerien zu früh in die Fraktionen gelangen, kommt es zu Reibungsverlusten.<br />
Es war wohl Herbert Wehner, der mich in diese Position brachte. Ich sollte im<br />
Kanzleramt Verbindungen herstellen, Ergänzungen ermöglichen. Es sollten ja ein Neuanfang der<br />
sozialliberalen Koalition sein. Mit dem Kanzler Willy Brandt wusste Wehner, was lief. Helmut<br />
Schmidt kannte er zwar aus der Fraktion und aus dem Finanzministerium, aber er konnte nicht<br />
vor-hersehen, wie er als Kanzler sein und auf die Abgeordneten wirken würde. Jedenfalls sollte ich<br />
im Umgang mit den Parlamentariern verbindlich sein, auch mal leise reden und nicht nur fordern,<br />
mir meine Meinung nicht nur im Kanzleramt formen, sondern vor allem in der SPD-<br />
Bundestagsfraktion genau hinhören. Herbert Wehner war der Ansicht, dass ich das alles<br />
beherrschte. Als ich später Bundesministerin wurde, schrieb mir Herbert Wehner einen schönen,<br />
sehr knappen Brief: "Marie, das gibt es nur einmal, das kommt nie wieder." Demnach musste er mit<br />
meiner Arbeit, mit meiner Art, zufrieden gewesen sein. Diese Zeilen haben mich ganz glücklich<br />
gemacht. Denn ich machte oft ein Fragezeichen hinter mich, weil die Aufgaben so umfassend<br />
waren, dass ein 48-Stunden-Tag eigentlich nicht ausreichte.<br />
Es war - unausgesprochen - meine Aufgabe, den Kanzler ständig auf etwas hinzuweisen<br />
und als jemand nach außer darzustellen, der nicht arrogant ist, der andere nicht bevormundet, eben<br />
als Mann, der Herz hat und mit Menschen umgehen kann. Er empfing ja dann auch<br />
Frauengruppen oder eine Feuerwehrmannschaft, die sich beim Löschen des Großbrandes in der<br />
Lüneburger Heide hervorgetan hatte. Aber jedes Mal war es ein Ringen mit dem Terminkalender.<br />
Mit lag sehr daran, einen Kanzler Helmut Schmidt zu zeigen, der gut zuhörte und nicht immer<br />
selber redete. Für mich war das wichtig, damit zum Beispiel gerade auch die Frauen in Deutschland<br />
ernster genommen wurden als bisher.<br />
Es muss doch möglich sein, dachte ich mir, dass Gruppen von Bürgern, die in Bonn zu<br />
Besuch sind, auch mal den Kanzler sehen und in den Park des Palais Schaumburg gehen dürfen.<br />
Wir sollten in Bonn doch nicht wie in einer abgehobenen Isolierstation herum werkeln und quasi<br />
als Alleinunterhalter ins Land ziehen; mit dem Wissen darüber, welches Thema nach den demoskopischen<br />
Untersuchungen am besten in der Bevölkerung ankommt. Wir sollten doch teilhaben am<br />
Leben, an den Widersprüchen, Verzagtheit und Hoffnungen der Menschen, daran, was sie denken<br />
und was sie bewegt. Auch Schriftsteller wie Heinrich Böll (*1917+1985), Günter Grass, Susanne<br />
Engelbrecht und Taddäus Troll (*1914+1986)fanden ja zu uns, zumal sie zu Willy Brandt zeitweilig<br />
ein geradezu inniges Verhältnis hatten - später war es angespannt.<br />
Ich glaube, die Pflege menschlicher Beziehungen spielt sich auf sehr unterschiedlichen<br />
Ebenen ab; sie wird oft schon im kleinsten Bereich vernachlässigt und bleibt unterentwickelt. Dann<br />
klagen alle über die Eiszeit der Herzen. Diesen frostigen Stil, diese abweisenden Umgangsformen<br />
186
versuchte ich im Kanzleramt zu ändern. Das fanden viele nicht gut. Ich habe zuweilen Briefe, die<br />
nach draußen gingen, dreimal zurückgehen lassen, weil sie wie ein Formblatt, mit genormten<br />
Sätzen, abgefasst waren. Ich stellte mir vor, welche Wirkung solche Briefe auslösten; da wandten<br />
sich Bürger mit ihren Problemen direkt an den Bundeskanzler, und sie erhielten ein abweisendes,<br />
unverständliches Null-Acht-Fünfzehn-Schreiben als Antwort zurück. Ich habe die Referenten<br />
immer wieder neu formulieren lassen, weil sie unfähig oder auch nicht willens waren, etwas<br />
verständlich auszudrücken, die Bürger lieblos mit x-beliebigen Paragrafen eindeckten. Ohne<br />
Verständnis, ohne Anteilnahme, ohne reale Hilfestellungen wurden die Briefe im Schnellverfahren<br />
herunter diktiert. Das sprach sich schnell herum, dass ich so etwas nicht durchgehen ließ, und eine<br />
Flut von Briefen kam dann auf mich zu. Man glaube, dass ich die Post für alle machen könnte. Die<br />
Konsequenz war, dass ich einen zusätzlichen Referenten als Briefeschreiber benötigte. Da<br />
intervenierte hilfreich der Bundeskanzler persönlich, was ungewöhnlich ist, weil er sich um die<br />
Verwaltung ja nicht kümmern muss.<br />
Helmut Schmidt nahm mich überall dorthin mit, wo er bei schwierigen Verhandlungen<br />
Verhärtungen der Positionen vorhersah. Diese Versteinerungen aufzulösen oder erst gar nicht<br />
aufkommen zu lassen, das war meine Aufgabe, und sie ist mir gelungen. Ob bei Mao Tse-tung<br />
(*1893+1976) in China, bei Lyndon B. Johnson (*1908+1973) oder später bei Gerald Ford (*1913<br />
+2006) in Washington oder auch bei Alexej Kossygin (*1904+198o) in Moskau, selbst beim<br />
Bundespräsidenten Gustav Heinemann (*1899+1976) -dort, wo es brenzlig zu werden drohte, wich<br />
ich keinen Zentimeter von Helmut Schmidts Seite. Er wollte vorbeugen, und ich strahlte vor.<br />
Bevor ich ihn zum damaligen Bundespräsidenten begleitete, wo er sich seine Ernennungsurkunde<br />
abholen sollte, meinte er zu mir, dass in meiner Gegenwart die Gespräche friedlicher,<br />
aufgeschlossener und angenehmer verlaufen würden.<br />
Helmut Schmidt befürchtete, dass uns das Ausland für zu stark, zu mächtig, zu reich hielt.<br />
Seine Ängste waren nur zu berechtigt. Denn wenn wir aus unserer tatsächlichen wirtschaftlichen<br />
Stärke heraus Politik gemacht hätten, dann hätte man doch nur mit Misstrauen gegenüber uns<br />
Deutschen reagiert. Für meine Begriffe hat Helmut Schmidt diesen Trapezakt gut absolviert. Er<br />
bemerkte im kleinsten Kreis oft: wenn bloß die bundesrepublikanischen Wirtschaftsrepräsentanten<br />
und die Pressevertreter im Ausland nicht so protzig auftreten würden.<br />
Vielleicht gehört es auch zu meinen Eigenarten, dass ich mir immer alle möglichen<br />
Probleme auflade. Wenn ich dann hart angegangen worden bin, habe ich mir das aber nie gefallen<br />
lassen. Ich mochte nicht, wenn ich im Arbeitsverhältnis nur als Frau angesehen wurde, der die<br />
Ministerialbeamten oft mit gequälten Höflichkeiten und Komplimenten begegneten. Darauf habe<br />
ich meistens sauer reagiert. Wie, wenn sich eine Frau so verhalten würde? Dieses ganze Theater ist<br />
doch absurd und verlogen. Denn hinter den Masken stecken doch Ab-sichten. Das musste ich in<br />
Bonn lernen. Andererseits entwickelte sich in diesem Bonn eine mir sehr wertvolle Frauen-<br />
Freundschaft mit Loki Schmidt, mit der ich oft zusammen war.<br />
Zu Helmut Schmidt fühlte ich mich schon wegen der Sachaufgaben hingezogen. Wir<br />
sagten uns auch zuweilen offen die Meinung, ohne uns irgendetwas zu verübeln. Manchmal haben<br />
unsere Gespräche einen Austauschcharakter gehabt. Und es war für mich immer ein<br />
Erfolgserlebnis, wenn er sich meinen Ratschlag zu Eigen machte. Es kam auch vor, dass ich ihm<br />
via Loki - der sicherste Weg überhaupt -meine Meinung über dieses oder jenes sagen konnte.<br />
Helmut Schmidt bedankte sich tags darauf kurz bei mir und ging dann Schnurstraks zur<br />
Tagesordnung über. Das war typisch für Schmidt. Typisch war auch, dass wir uns im Kanzleramt,<br />
187
und nur dort, in der von ihm für alle Mitarbeiter verordneten angelsächsischen Form - Vorname<br />
und Sie - anredeten.<br />
In den Jahren, die ich in Bonn war, lag unglaublich viel Gift der Luft; eben<br />
Vernichtungswille und Macht-gier. Da dominierte der Hass über die neue Entspannung- und<br />
Deutschlandpolitik. Ich sehe noch diese böse blickenden Gesichter aus den Reihen der Fraktion<br />
von CDU/CSU vor mir. Bilder, Ausdrücke, Gesten, die sich mir tief eingeprägt haben. Das war<br />
irgendwie mein allgemeiner Eindruck: Gesichter, die sich in der Masse auflösten. Auf der Bonner<br />
Regierungsbank sitzend, stellte ich mir die Frage: Wer bleibt in diesem Plenarsaal als Mensch und<br />
Persönlichkeit übrig? Die einen strampelten sich vor und für die Medien ab. Die anderen waren<br />
dienende Zulieferer in der Fraktion, blutleer, austauschbar. Schon ihre Physiognomie verriet, dass<br />
hier eine bestimmte Klasse ihrem Geschäft nachging. Ich dachte mir, es müssten andere Gesichter<br />
dort mal auftauchen. Einfach deshalb, weil sich die Menschen - die Menschen mit ihren Sorgen<br />
und den Schwierigkeiten, mit dem Leben fertig zu werden -, mit den glatten, allwissenden, über<br />
alles redenden Politikern kaum identifizieren können. In Bonn dominiert die Masse. Damit meine<br />
ich jetzt nicht etwas Quantitatives, sondern ein Merkmal, nämlich das Unstrukturierte,<br />
Vordergründige. Ja, Courage haben und sich ins politische Geschehen ungeschützt einbringen, das<br />
sind seltene Eigenschaften, die immer mehr verlorengehen im taktisch-strategischen Ränkespiel.<br />
Und Vertrauensbrüche gibt es überall auf diesem Weg.<br />
Es ist ein Faktum, dass jemand, der acht oder zwölf Jahre in der Politik tätig war, selbst<br />
bei bester Berufsausbildung, nur sehr schwer in seinen früheren Beruf zurückfindet. Ein<br />
pensionierter Bundeswehr-General hat es mitunter einfacher, in der Wirtschaft sein Auskommen<br />
zu finden. Aber viele sind materiell von der Politik abhängig. Der Druck nimmt deshalb zu. Von<br />
daher wohl dieses Kleinmachen des anderen, das Her-ausstellen der eigenen Person, dieses<br />
Aufblähen und Aufplustern wie Puter: Mir fällt in diesem Zusammenhang kein besserer Vergleich<br />
en. Was für ein Gegacker und Geschnatter.<br />
Wir Politiker haben doch aber die originäre Aufgabe, Mehrheiten zu suchen, zu<br />
argumentieren und zu überzeugen. Als Arbeitskreisvorsitzende einer Fraktion kann ich zum<br />
Beispiel den ganzen Laden per Verdikt schmeißen. Aber ich kann auch Meinungen zusammenführen,<br />
Klärungsprozesse forcieren und Schlussabstimmungen reifen lassen. Doch solch ein<br />
Verfahren ist viel mühseliger. Wichtig scheint mir vor allem eins zu sein - in Bonn Mensch zu<br />
bleiben und nicht die Deformation zum Maß aller Dinge zu erheben.<br />
Ich habe in Bonn gearbeitet, als sei ich jung und gesund trotz Herzfehler und Krebs.<br />
Geschont habe ich mich nicht. Doch abends, wenn ich aufreibende Reisen oder anstrengende<br />
Debatten hinter mir hatte, bekam ich Beschwerden. Ich wollte zwar die Nacht zum Tag machen,<br />
aber mein rechter Arm und die Hand schwollen taubendick an, so dass ich meine Bluse mit einer<br />
Schere aufschneiden musste. Der Verdrängungsprozess funktionierte ansonsten ausgezeichnet.<br />
Erst einmal überlistete ich mich mit der mittlerweile widerlegten These, wenn sich fünf Jahre keine<br />
neuen Krebszellen bilden, dann sei ich geheilt. Zum zweiten ermunterten mich die Mitmenschen,<br />
im Alltag anzupacken und nach vorne zu schauen, Zukunftsperspektiven zu entwickeln. Meine<br />
Motivation war so stark, dass ich meine Krankheit zeitweilig vergessen konnte.<br />
Mein Politikverständnis unterschied sich vom herkömmlichen. Das merkte ich an<br />
manchen Reaktionen. Wenn Außenstehende mitbekamen, dass ich als parlamentarischen<br />
Staatssekretärin im Bundeskanzleramt in meiner terminfreien Zeit im Büro Pakete schnürte und<br />
die in DDR schickte, erntete ich Kopfschütteln, Ja, es ist mein Traum, dass die Deutschen eines<br />
Tages in einem Land vereinigt leben können. Wenn ich nicht Wiedervereinigung sage, dann<br />
188
deshalb, weil das Deutschland in den Grenzen von 1937 meint. Ich gebe diese Hoffnung auf die<br />
Einheit der Nation nicht auf. Dieser Traum wird eines Tages in Erfüllung gehen. Davon bin ich<br />
überzeugt. Und mich bewegt, wie ein Mensch wie Herbert Wehner darum kämpfte, dass die<br />
Substanz der einen Nation nicht verloren ging. Herbert Wehner hat trotz aller Anfeindungen<br />
immer versucht, daran zu erinnern und darauf hinzuweisen, dass wir verpflichtet sind, uns für<br />
menschliche Erleichterungen für die Millionen von Menschen im anderen Teil unseres Vaterlandes<br />
einzusetzen.<br />
Am 17. Juni 1953 hatte ich meine Neuntklässler mit auf die Straße genommen, um ihnen<br />
zu zeigen, wie es aussieht, wenn Arbeiter etwas wollen. Dass der Aufstand durch russische Panzer<br />
und durch SED-Funktionäre niedergeschlagen wurde - das sitzt bei mir noch heute tief. Das klingt<br />
vielleicht etwas pathetisch. Aber ich denke an die 17 Millionen Menschen, die nie die Chance<br />
hatten, in einer Demokratie zu leben, sondern von der Hitler-Diktatur in eine andere totalitäre<br />
Form hineingepresst wurden. Das kann eigentlich jemand, der in Freiheit aufgewachsen ist, nicht<br />
nachvollziehen, was es heißt, von einem Totalitarismus in den anderen zu kommen. Und auf der<br />
westdeutschen Seite ist diese Kaufmannsgesinnung, die in Wirklichkeit so vieles unerledigt lässt.<br />
Diese auf das Materielle, auf das Habenwollen ausgerichtete Existenzweise eines Großteils der<br />
Bundesdeutschen muss überwunden werden. Was bedeutet schon die viel zitierte Eigenleistung?<br />
Das hieß im Jahre 1945 bei uns ja auch nicht Eigenleistung, sondern Hilfe und Zuweisungen durch<br />
die westlichen Alliierten. Wir sollten - gerade auch die jungen Menschen - mit derlei Begriffen<br />
etwas nachdenklicher umgehen.<br />
Die Menschen in der DDR liegen mir am Herzen. Die zwischenmenschlichen<br />
Beziehungen sind dort von mir Anteilnahme geprägt. Die Nachbarn haben sich noch etwas zu<br />
sagen und helfen sich gegenseitig, und die Familien schieben die Alten nicht einfach ab. Ich sehe<br />
die Menschen dort und bin immer wieder erstaunt, dass sich trotz SED soviel Mitmenschlichkeit<br />
erhält. Wenn es irgendwann in der Zukunft einmal zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten<br />
kommen sollte, dann kann diese Zukunft nicht so aussehen, dass die DDR-Bürger die<br />
Gewohnheiten und Eigenschaften der Menschen hier gänzlich übernehmen. Dort haben die<br />
Frauen schon einen anderen gesellschaftlichen Stellenwert erreicht. Was beispielsweise dort für<br />
junge Mütter getan wird, das ist schon vorbildlich.<br />
Es kam mir nie darauf an, mit großen Politik-Entwürfen auf mich aufmerksam zu machen<br />
oder als eine Art Alleinunterhalterin in den Medien aufzutreten. Mein Politikverständnis war<br />
geprägt von den Kontakten mit der Bevölkerung, davon, um die Sorgen der Menschen zu wissen.<br />
Mir war klar, dass ich mit dieser Einstellung kaum einen Blumenstrauß gewinnen würde. Aber diese<br />
Art des Umgangs waren eben meine Art und der Grund, warum ich mich in Bonn abrackert.<br />
Angst: ja, Angst hatte ich in Bonn oft. Obwohl ich nachweislich nicht auf die Schnauze<br />
gefallen bin und nicht mit meiner Meinung zurückhalte. Aber im Plenum des Deutschen<br />
Bundestages, vis-à-vis mit der oft zähne-fletschenden Männer-Meute -da überkam mich schon die<br />
Angst. In solchen Momenten am Rednerpult fühlte ich mich total alleingelassen. Sicherlich steht<br />
jeder dort oben unter besonderer Anspannung und einem gewaltigen Leistungsdruck - zumal bei<br />
Fernsehübertragung. Alles erstarrt in Würde - und doch werden Redner verunglimpft. Das sind oft<br />
reine Schaukämpfe, Hahnenkämpfe - mehr nicht. Damit wird viel Zeit verplempert. In den<br />
seltensten Fällen geht es im Plenarsaal um Erkenntnisse, die für die Meinungsbildung in der<br />
Bevölkerung wichtig sind und kontroverse Diskussionen entfachen. Nur selten werden in den<br />
Reden aus Fakten beurteilungsfähige Zusammenhänge entwickelt. Der Schlagabtausch, die<br />
Zwischenrufe, dieses Ping-Pong-Gehämmere - das alles hat sich mittlerweile verselbstständigt. Ich<br />
189
musste immer wieder darüber staunen, zu welcher Niveaulosigkeit Abgeordnete des Deutschen<br />
Bundestages fähig sind.<br />
Im Plenarsaal hatte ich auch ein traumatisches Angsterlebnis, das noch über Jahre an mir<br />
kleben sollte. Es ist diese vernichtende, ja wollüstige Art der Männer, mit einer sich wehrenden<br />
Frau umzugehen. Also: Zur Debatte stand die Große Anfrage der CDU/CSU-Opposition, ob<br />
während eines Norwegen-Urlaubs im Jahre 1973 des damaligen Bundeskanzlers Willy Brandt<br />
dessen persönlicher Referent, der DDR-Spion Günter Guillaume (*1927+1995), Zugang zu "streng<br />
geheimen" oder "Cosmic-Dokumenten" hatte. Damals war die sozialliberale Koalition durch den<br />
Rücktritt Willy Brandts in eine tiefe Krise geraten. Die Medien liefen auf Hochtouren und regten<br />
sich bissig darüber auf, und in der Bevölkerung schien die Empörung über Brandts Frauen-<br />
Geschichten - daraus wurde bekanntlich Erpressbarkeit abgeleitet - samt der "Vermittler-Dienste"<br />
des Guillaume - jedenfalls schien sich die aufgeheizte Volkes Stimme über angeblich solch einen<br />
Kanzler gar nicht wieder beruhigen zu wollen. -<br />
Ich dachte, wenn man jeden Politiker nur nach den eigenen moralischen Maßstäben<br />
beurteilt, dann könnte man Bonn doch zumachen. Wenn Guillaume tatsächlich Frauen-<br />
Geschichten gedeckt hätte, kann man deshalb gleich auf Erpressbarkeit schließen? Was soll da<br />
schon gewesen sein, was Rut, Brandts damalige Frau (*1920+2006) ), nicht gewusst hätte? Die<br />
wusste doch längst Bescheid und ein Teil der Presse auch. Die strebten doch dieselben<br />
Lebensweisen an. Die haben mir ja selber die Matratzengeschichten erzählt, um sich in Bonn als<br />
Kraftprotz darzustellen - oder um sich mal von seiner Alten zu erholen, vielleicht auch um<br />
Geheimnisse herauszukriegen. Ich finde es bekotzt, wie instrumental hier Frauen behandelt<br />
werden. Willy hat sich auch mit Frauen umgeben, um zu sagen: Ich kann mir nicht helfen, ich find'<br />
mich einfach hübsch.<br />
Als ich zu Herbert Wehner ins Zimmer kam, da hatten sich die Herren schon alles<br />
ausgedacht, nämlich dass ich - frisch im Amt - in der Großen Anfrage der Opposition Rede und<br />
Antwort stehen sollte. Als nichts ahnende Frau sollte ich in die Bütt steigen, weil die<br />
kenntnisreichen und zuständigen Männer offenkundig angeschlagen waren. Denn in Wirklichkeit<br />
stand wohl die geheuchelte Sittsamkeit der Bonner Männer-Gesellschaft auf dem Prüfstand. Jeder<br />
wusste nur zu gut, was die Herren Kollegen so alles trieben, angefangen von den heimlichen Puff<br />
und nächtlichen Barbesuchen.<br />
Dass die Männer mich in dieser heiklen Angelegenheit quasi als Kanonenfutter<br />
vorschickten, habe ich im ersten Moment gar nicht begriffen. Infamität hatte ich ihnen nie von<br />
vornherein unterstellt. Ich wusste nur, dass es ein verdammt schwieriges Unterfangen sein würde,<br />
dass sie mich jagen würden.<br />
Ich war nicht verbittert, sondern tief empört über die Menschen, die Brandt im<br />
Kanzleramt umgaben. Die hätten doch seine Mentalität besser kennen müssen, nämlich dass er<br />
ungern mit jemanden bricht, vertrauensselig und nicht verwaltungspingelig ist. Ich empörte mich<br />
darüber, dass so etwas überhaupt geschehen konnte: ein DDR-Agent als persönlicher Referent<br />
getarnt. Willy Brandt hatte doch ein Anrecht darauf, gewarnt und geschützt zu werden.<br />
Formal schien es auch nicht korrekt zu sein, dass ich die Anfrage der CDU/CSU-Fraktion<br />
beantworten mussten. Zuständig war ja der beamtete Staatssekretär Manfred Schüler (1974-1981<br />
Chef des Bundeskanzleramtes), der zudem noch sämtliche Geheimdienstaktivitäten des Landes für<br />
die Bundesregierung koordinierte. Und es war Prinzip, dass der beamtete Staatssekretär im<br />
Parlament Rede und Antwort stehen muss, wenn es die Sachlage erfordert. Ich hatte keinen<br />
190
Aktenzugang, denn die Unterlagen waren la alle bei Schüler im Panzerschrank. Wäre ich früher mal<br />
im Innenausschuss tätig gewesen, hätte ich eine gewisse sachliche Voraussetzung mitgebracht. Aber<br />
ich war ja für Sozialpolitik zuständig und hatte folglich über Geheimdienste keinen blassen<br />
Schimmer. Nur die Männer stellten sich hin und meinten doppelbödig, bedeutungsvoll, dass diese<br />
Fragestunde für mich eine Art Bewährungsprobe darstelle. Ich erhielt zu den Fragen von den<br />
Referenten des Kanzleramts vorgeformte, meist lapidare, kaum erhellende Antworten - das war<br />
alles. Und vor meinem Bundestags-Auftritt las ich die Presseausschnitte zur Guillaume-Affäre, um<br />
die Öffentlichkeit wieder-käuend zu informieren. Aberwitzig.<br />
Weshalb ausgerechnet ich in die Arena geschickt wurde, das war mir schon klar. Mit der<br />
Glaubwürdigkeit einer Frau sollte ich dafür sorgen, dass der neue Bundeskanzler eine Weile heil<br />
bliebe und sein Vorgänger nicht allzu heftig attackiert und in den Schmutz gezogen werde. Helmut<br />
Schmidt musste sauber gehalten werden, Willy Brandt durfte nicht allzu sehr bespritzt werden.<br />
Fast neunzig Minuten wurde ich beschossen. Eine Frage jagte die andere, die mich wie<br />
Hiebe trafen. Ich kam mir absolut verlassen vor, keiner war da, der mir bei-stand. Der Kanzler saß<br />
im Plenum mit Willy Brandt. Ich fühlte mich vom strengen Blick Herbert Wehners nicht<br />
ermuntert, weil er genau wusste, dass alles schiefgehen könnte. Ich war starr vor Angst. Das<br />
Schlimmste waren die Gesichter in der CSU/CSU-Fraktion. So viel Häme in den Visagen, so viel<br />
Chauvinismus hatte ich in dieser geballten Form noch nicht erlebt. Sie sahen nicht nur einen<br />
gejagten Politiker, sie sahen eine gejagte Frau. Anders kann ich mir diese Gesichter nicht erklären.<br />
Jagdfieber. Es waren erniedrigende und auf den Nachweis mangelnder Intelligenz zielende<br />
Attacken. Und ich kam mir da auch dumm vor. Das gelang den Männern ja nicht nur bei mir. Fast<br />
alle Frauen damals, ob Katharina Focke oder Antje Huber, kannten das Gefühl, gedemütigt zu<br />
werden. Mit dieser dummen Art sollten wir verunsichert werden.<br />
Es widersprach meiner Mentalität, nicht offen zu sein, also Fragen so dürftig zu<br />
behandeln, dass keine Antwort daraus wird. Es gibt ja Beantwortungstechniken, wie man mir vielen<br />
schönen Worten nichts sagt. Nur, diesen Stil wollte ich für mich nicht akzeptieren, weil ich ihn in<br />
einer parlamentarischen Demokratie unpassend halte. Während die Fragen auf mich einprasselten,<br />
dachte ich nur. Du darfst Willy Brandt nicht kränken, du musst auf Helmut Schmidt und Herbert<br />
Wehner acht-geben, Schlimmes verhüten, du musst wie eine Kanzlerin der Sozialdemokratie die<br />
SPD jetzt aus dem Schlamassel ziehen. Schon einmal in meinem Leben hatte ich solch einen<br />
Schreckensaugenblick erfahren. Das war auf der Flucht, die Russen dicht hinter uns. Mein Mann<br />
vermisst. Mit meinem kleinen Kind und einem Rucksack auf dem Rücken, ohne Ziel vor Augen:<br />
Ich wollte weg, nichts wie weg, weiterziehen.<br />
Als die Fragestunde zu Ende war, hatte sich in mir das Misstrauen festgesetzt, weil ich<br />
mich instrumental behandelt fühlte. Ich konnte gut gemeinte Worte nicht mehr als solche<br />
aufnehmen. Ich dachte nur, jetzt wollen sie mich trösten, damit ich nicht über den Jordan gehe.<br />
Gewiss hätte ich auch so reagieren können, dass ich als Staatssekretärin zurückgetreten wäre. Ein<br />
Jurist hätte sich wahrscheinlich schneller eingearbeitet und bessere Aussagen zugunsten Willy<br />
Brandts formuliert. Dass ich das nicht konnte, das hat mich sehr bedrückt und beschämt. Ich habe<br />
zwar standgehalten, aber nicht die bestmögliche Verteidigung geführt.<br />
Ich fand das nicht ausreichend - daher wohl auch zum Teil das Trauma, das mich nicht<br />
mehr losließ. Ich hatte immer die Vorstellung, man müsste die Fähigkeit haben, seine Grenzen zu<br />
überspringen, über sich hinauszuwachsen. Dass in dieser Phase die Medien mich halbwegs fair<br />
beurteilten, tröstete mich etwas.<br />
191
Engagement für die Karriere und Konkurrenz: das ist die Antriebsfeder vielerorts. Aber in<br />
Bonn, wo so viele ihren Durchbruch suchten, hat sich dieser seelenlose Ehrgeiz für manchen<br />
bedrohlich verselbständigt. Um so schlimmer dann, wenn das Ende drohte, der Rausschmiss aus<br />
dem Kabinett. Ich habe miterlebt, wie aus ehemals starken, einflussreichen Repräsentanten<br />
sozialdemokratischer Politik quasi gebrochene Streichhölzer wurden. Im Jahre 1978 mussten drei<br />
Männer und ich aus dem Kabinett zurücktreten. Helmut Schmidt wollte unbedingt ein Kabinetts-<br />
Revirement mitten in der Legislaturperiode, um die neuen Minister für den nächsten Wahlkampf<br />
gut vorzubereiten. Das kam für mich ganz plötzlich; ich hatte mich innerlich darauf eingestellt,<br />
wenigstens vier Jahre im Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit meiner Arbeit nachgehen<br />
zu können. Mit mir mussten der Arbeits- und Sozialminister Walter Arendt, (*1925+2005) der<br />
Bildungsminister Helmut Rohde und der Verteidigungsminister Georg Leber ihren Schreibtisch<br />
räumen. Verwundungen bei den drei Männern und bei mir.<br />
Für Walter Arendt, den Arbeiterführer aus dem Ruhrgebiet, musste sein Bonner Abgang<br />
in dieser Form ein zerstörendes Erlebnis gewesen sein. Aschfahl, in sich zusammengesunken wie<br />
ein alter Mann, wortkarg nahm er seine Entlassungsurkunde entgegen. Er hat sein Verhalten zu<br />
Helmut Schmidt nie wieder in Ordnung bringen können, was er vielleicht auch gar nicht mehr<br />
wollte. Georg Lebers Beziehung zum Kanzler entspannte sich erst, als er von ihm zum Papst<br />
mitgenommen wurde. Helmut Rohde hat immer darunter gelitten, dass er im Kabinett, und wohl<br />
insbesondere bei Helmut Schmidt, nicht die Resonanz fand, die er brauchte; dass seine Vorlagen<br />
schnell abgehandelt wurden und in den Aktenkoffern verschwanden. Dabei hatte er in kurzer Zeit<br />
gute Arbeit geleistet, eine Akzentverschiebung von der Universität zur betrieblichen Ausbildung<br />
vorgenommen. Rohde wusste, dass seine Stunden im Kabinett gezählt waren.<br />
Häufig folgen Ministerabgänge einer anderen Dramaturgie. Gewöhnlich fängt es in den<br />
Medien zuerst zu klicken ab, mit Floskeln wie: Aus Kanzler-Nähe war zu erfahren ... ... Wenn sich<br />
solche Hinweise wieder-holen, können die betroffenen Personen davon ausgehen, dass gegen sie<br />
etwas ausgekocht wird. Folge-richtig informierten wir uns über unsere Entlassung zuerst aus der<br />
Morgenzeitung. So früh am Morgen habe ich das nicht glauben können. Ich ging noch davon aus,<br />
dass man so etwas einem direkt ins Gesicht sagt. Fehl-anzeige. Dann glaubte ich, dass sich da<br />
jemand unbefugt den Mantel der Kanzler-Nähe umhängte, um eine Kanzler-Meinung zu<br />
präjudizieren. Andererseits war ich mir ziemlich sicher, dass Helmut Schmidt niemals über mich<br />
mit Journalisten geredet hatte -zumindest nicht über solche personell weitreichenden Dinge. Das<br />
traute ich ihm nicht zu, obwohl er ja gerne mal was erzählte. Und im übrigen hätte er mich auch<br />
ohne die Zeitungen loswerden können. Er musste mich doch kennen als eine, die ganz verständig<br />
auf den Platz geht, wo sie noch gebraucht wird. Diese Art, meinen Abgang einzufädeln, war<br />
überhaupt nicht in Ordnung. Ich war von ihm als Arbeitspartner völlig enttäuscht und davon, dass<br />
mir die Aufgabe genommen wurde, auf die ich mich eingestellt hatte, nämlich gezielt den<br />
Menschen in der Dritten Welt Selbsthilfe zu ermöglichen. Im Vergleich zu anderen bin ich aber<br />
seelisch heil raus-gekommen. Wenn man von der Politik nicht abhängig ist und in seinen Beruf<br />
zurück kann - das stabilisiert einen enorm.<br />
Helmut Schmidt warf mir vor, das Ministerium nicht straff genug zu führen und zu viel zu<br />
reisen. Auch mein Umgang mit den Staatsfinanzen entsprach nicht seinen Vorstellungen. Seine<br />
Kritik war aber nicht berechtigt. Denn in der Entwicklungshilfe wird Geld eben anders ausgegeben<br />
als in anderen Teilen der Verwaltung . von der Langwierigkeit der Projekte und von der Mentalität<br />
der Menschen in der Dritten Welt ganz zu schweigen. Die Arbeit hat dort nun mal nicht den<br />
192
Stellenwert wie in hoch industrialisierten europäischen Ländern. Auf Schmidts Einwände bin ich<br />
anfänglich nicht immer eingegangen, weil ich von der Sache ein anderes Verständnis hatte.<br />
Aber ich merkte zunehmend deutlicher, dass gegen mich als Ministerin für wirtschaftliche<br />
Zusammenarbeit Meinung gemacht wurde. Eine negative Stimmung ballte sich da zusammen, die<br />
sich auch auf den Kanzler auswirkte. Er machte mir Auflagen und wies mich auf meine Grenzen<br />
hin. Ich sollte nämlich nicht noch einmal wagen, gegen die Regierungsmeinung und am Kabinett<br />
vorbei die Erhöhung meines Haushalts durchzusetzen. Mein Verhalten entsprach nicht der<br />
Kabinettsdisziplin in einer Kanzler-Demokratie. Ich hatte mit Unterstützung meiner Fraktion<br />
gegen seinen erklärten Willen eine Mehrheit im Parlament hinter mich gebracht und meinen<br />
Entwicklungshilfe-Etat nach Beratungen im parlamentarischen Haushaltsausschuss erheblich<br />
gesteigert. Vorbei am Kanzler, vorbei am Finanzminister hatte ich gewagt, mehr Gelder locker zu<br />
machen, weil es einfach riskiert werden musste. Denn solche Signale waren und sind für die Dritte<br />
Welt wichtig - sehr wichtig.<br />
Eine weitere Auflage des Kanzlers war ultimativ: Bis dann und dann sollte ich meinen<br />
Staatssekretär und einige Abteilungsleiter entlassen. Helmut Schmidt verfolgte wohl die Absicht,<br />
ein Kabinettsrevirement bis zu einem bestimmten Zeitpunkt abzuschließen. Bei den anderen<br />
Bereichen war scheinbar schon alles klar. Nur bei und mit mir gab es Probleme. Dabei war es nicht<br />
Trotz oder dergleichen - so etwas wie Bockigkeit, nein. Ich wollte nur eine gewisse Zeit eingeräumt<br />
haben, um mich um meine Mitarbeiter zu kümmern. Weisungs-recht hat er ja, daran ist nicht zu<br />
rütteln. Wir hatten einen Termin für die Ablösung von Professor Udo Kollatz ausgehandelt, aber<br />
der war nicht zu halten. Eins kam zum anderen - schließlich musste ich daran glauben und aus dem<br />
Kabinett ausscheiden. Ich kannte Helmut Schmidts Art, manche Dinge zu . Aber er hätte von mir<br />
wissen müssen, dass ich auf den Abgeordneten-Platz zurückgehe und nicht an einem Ministeramt<br />
klebe. Aber wie er meinen Rauswurf aus dem Kabinett über die Medien zuvor ließ, das war nicht<br />
die feine Art, das hat mich doch ziemlich getroffen.<br />
Ich hatte den Einfluss der Medien auf die Politik völlig falsch eingeschätzt. Als<br />
parlamentarische Staatssekretärin im Kanzleramt widerfuhr mir eine durchgängig wohlwollende<br />
Berichterstattung unter dem Stichwort "Mutter Marie". Dieses gewohnte Erfolgsgefühl verleitete<br />
mich dazu, noch offenherziger und vertrauensseliger zu sein und mir dann manchmal meinen vorlauten<br />
Mund zu verbrennen. Deshalb kümmerte ich mich als Ministerin nicht viel um die Presse.<br />
Ich pflegte natürlich Kontakte zu Journalisten, aber nicht in der Absicht, dass sie mich nach oben<br />
schreiben. Anbiedern wollte ich mich nicht. Wieso auch - schließlich war ich doch jemand. Die<br />
übliche Selbstanmeldung für Positionen habe ich nie betrieben: Ich wurde aufgefordert, mich als<br />
Schulrätin zu bewerben, ich wurde aufgefordert, für den Bundestag zu kandidieren. Um die<br />
Aufgabe als Staatssekretärin im Kanzleramt zu über-nehmen, musste Helmut Schmidt mir lange<br />
zureden. So war das bei mir.<br />
Damals im Ministerium musste sehr viel verändert werden. Es schien mir wichtig, andere<br />
Beziehungen, einen anderen Umgang untereinander zu entwickeln. Ich wollte überkommene<br />
Arbeitsformen durch neue ersetzen. Abbau von Reibungsverlusten im Statusgerangel hieß mein<br />
Stichwort. Da habe ich wieder sehen können, wie schwierig es ist, Bewusstsein zu verändern und<br />
aus einem veränderten Bewusstsein eine neue Haltung abzuleiten. Ich wollte durchsetzen, dass<br />
jeder Referent mit der Ministerin direkten Kontakt auf-nehmen könnte. Hier schlummerten doch<br />
so viele Fähigkeiten, die von der reglementierten Bürokratie blockiert wurden.<br />
Was ich da machte, war für Bonner Ministerial-Verwaltungs-Verhältnisse eine kleine<br />
Kulturrevolution. Aber selbst die CDU-Leute zogen mit. An Leistungswillen und politischer<br />
193
Fantasie mangelte es uns nicht. Trotzdem wurde das Ministerium vielerorts madig gemacht. Wir<br />
hatten gegen das unausgesprochene Vorurteil anzukämpfen, wir würden die deutschen Steuergelder<br />
im Busch verschwinden lassen. Aber meine Arbeit zeitigte gute Resonanz. Es klappte beinahe alles.<br />
Ich kriegte rechtzeitig Gelder für Entwicklungshilfe-Projekte, die ich an die Weltbank weiterleitete.<br />
Ich reiste zur UNO nach New York, um dort meine Vorstellungen über die Dritte und Vierte Welt<br />
zu erläutern. Gerade in der Entwicklungshilfe spielen ja Psychologie und der Zeitpunkt des Geld-<br />
Transfers eine äußerst wichtige Rolle. Der damalige Weltbank-Präsident Robert McNamara (1968-<br />
1981) bescheinigte mir, diese Politik mit Fingerspitzen-gefühl zu beherrschen. Ich hatte für die<br />
Bundesrepublik zum ersten Mal mit den Freiheitsbewegungen Afrikas Kontakt aufgenommen - mit<br />
den revolutio-nären Freiheitsbewegungen, die aller Voraussicht nach schon in einigen Jahren die<br />
Regierung ihres Landes bilden würden. Und so ist es ja dann auch in den meisten Fällen<br />
gekommen. Mein Ziel war es, unsere Entwicklungshilfe nicht als Mittel der Ost-West-Konflikte -<br />
quasi als Stellvertreter-Krieg - einzusetzen.<br />
Dann begann in den Medien der Abschuss auf Raten. Man stellte mich dort als<br />
Dummchen hin, als totale Fehlbesetzung, als jemanden, der sich in die große Politik verlaufen<br />
habe. Dieselben Medien, die mich zuvor im Kanzleramt als "Mama mit der Schmalzstulle "in der<br />
Hand gefeiert haben. Was war denn eigentlich passiert? Ich begriff es nicht. Ich wusste aber, dass<br />
man mich so nicht kleinkriegen konnte. Ich plante meine Offensive, und die sollte in Afrika,<br />
genauer in Botswana, Sambia und Kenia, stattfinden.<br />
Ich lud sie ein - die Herren Berichterstatter. Ich wollte beweisen, dass ich keine blutige<br />
Anfängerin war - ein Bonner "Schießbuden-Mädchen", das nur deshalb überlebt. weil sie<br />
"Witzchen reißt". Auf die Frage, warum ausgerechnet ich Entwicklungshilfeministerin geworden<br />
sei, soll SPD-Chef Willy Brandt seinerzeit geantwortet haben: "Weil der Bundespräsident ihre<br />
Ernennungsurkunde unterschrieben hat."<br />
Ich hatte mich sehr gut vorbereitet auf diese Afrika-Reise im März 1977. Doch diese Reise<br />
brach mir das Genick. - So was von ahnungslos! Dabei wurde ich sogar vorgewarnt. Bei der<br />
Abreise vom Pariser Flughafen Orly kündigte mir Dirk Koch vom Bonner Spiegel-Büro an: "Ich<br />
werde Sie fertig machen, Verlassen Sie sich drauf." Sollte das ein Scherz sein?<br />
Ich wusste zwar, dass die Spiegel-Chefetage einige Minister aus dem Kabinett Schmidt<br />
herausschießen wollte, aber dass ich hier aufs Korn genommen wurde -das kam mir nicht in den<br />
Sinn. So flog ich ab, im festen Glauben an das Gute im Menschen. Und dabei saß einer der<br />
Intriganten mit an Bord, mein Pressesprecher im Ministerium, Hans Lerchbacher, der sich wohl<br />
einiges vom Fall der Marie Schlei versprach. Es muss da wohl eine Beziehung zum Spiegel<br />
bestanden haben. Der Spiegel machte den Auftakt für eine bundesweite Pressekampagne gegen<br />
mich. Unter der bösartigen Überschrift "Die Frau überschätzt ihre Möglichkeiten -Mutter Marie in<br />
Afrika" versuchte das Magazin den Eindruck zu erwecken, ich hätte diese Staatsreise mit einem<br />
Neckermann-Urlaub verwechselt: Marie Schlei auf Safari-Tour sozusagen.<br />
Das klang dann so: "Spät abends im Holiday-Inn zu Gaborone saß die Bundesministerin<br />
im Garten mit ihrer Begleitung in lockerer Runde zusammen. Höhepunkt der lauen Nacht unter<br />
dem Kreuz des Südens: Von Frau Schlei begeistert angefeuert, sprang ihr Persönlicher Referent in<br />
voller Montur in den Swimmingpool. Unter dem schallenden Lachen seiner Vorgesetzten<br />
entledigte er sich im Wasser des Anzugs. Andere Hotelgäste, schwarze und weiße, sahen erstaunt<br />
zu, wie sich die (Schlei und ihre Truppe) amüsierten. Noch anderntags schwärmte die Abgesandte<br />
der Bundesrepublik Deutschland. " Zum Schluss wurde noch der damalige Sprecher der<br />
CDU/CSU-Bundestagsfraktion Jürgen Gerhard Todenhöfer (CDU-MdB 1972-1980) als<br />
194
fachkundiger Kronzeuge meiner Inkompetenz zitiert, der mit mir gar nicht in Afrika war. "Die<br />
Frau, sagte Todenhöfer deshalb generalisierend, "ist riesig nett, wenn sie auf Abgeordnete zugeht<br />
und ihnen die Krawatte zurechtrückt. Aber es war ein Akt der Inhumanität von Helmut Schmidt,<br />
sie mit diesem Amt zu betrauen."<br />
Nach diesem Spiegel-Vorbericht fielen sämtliche Medien in der Bundesrepublik über mich<br />
her. Da war zu lesen, ich hätte dem Finanzminister von Kenia gesagt: "Sie sind der einzige<br />
Finanzminister, der nicht bis drei zählen kann ...", und über die mich begleitende Sambia-<br />
Ministerin: "Morgens weckt sie mich, abends bringt sie mich ins Bett, und zwischendurch lockt sie<br />
mir Geld heraus." Was ist das für ein Journalismus! Und mein Pressesprecher Hans Lerchbacher?<br />
Er rief in den Redaktionen an und spielte Schmollmündchen. Und tags darauf stand es schwarz auf<br />
weiß in den Zeitungen. Ich traute meinen Augen nicht: "Pressesprecher Lerchbacher sagte klipp<br />
und klar: 'Ich kann doch nicht die Ministerin zurückpfeifen. Diese Frau war auf ihrem Afrika-Trip<br />
nicht zu bremsen. Sie drosch immerzu noch einen drauf, als würde im Busch Skat gespielt.' " Diese<br />
Häme, diese Gehässigkeit. - Und keiner, der mich schützte -nicht die Partei, nicht der<br />
Regierungssprecher Klaus Bölling (1974-1981).<br />
Ich stand allein im Bonner Ring. Die auflagenstarken Zeitungen des Springer-Konzerns<br />
hatte ich ohnehin gegen mich. In deren Augen war ich "besonders kommunistenfreundlich", weil<br />
ich Ländern der Dritte Welt Entwicklungshilfe-Gelder zukommen ließ, die im Ost-West-Gezerre<br />
wohl nicht eindeutig -zumindest zeitweilig nicht - für den Westen waren. Ganz anders lauteten die<br />
Berichte der deutschen Botschaften in Botsuana, Kenia und Sambia an das Auswärtige Amt in<br />
Bonn.<br />
Aus Botsuana hieß es: "Der Besuch stellt einen Höhepunkt in den deutsch-botswanischen<br />
Beziehungen dar ... Frau Schlei verstand es, ihre entwicklungspolitische Hauptaufgabe überzeugend<br />
als vom politischen Gesamtkontext untrennbar hinzustellen ... Aus interner Sicht verdient die<br />
spontan-verständnisvolle Redaktion Frau Schleis auf spezifisch bilaterale Probleme hervorgehoben<br />
zu werden." - Über die bundesdeutsche Schreiber-Kolonne vermeldete die Botschaft in Lusaka:<br />
"Auf Seiten der gleichzeitig anwesenden Journalistengruppe war eine vorprogrammierte Animosität<br />
gegen den Besuch als solchen zu spüren.<br />
Sachliche Berichterstattung war daher zumindest von einigen der Angehörigen dieser<br />
Gruppe nicht ohne weiteres zu erwarten. Nachdem während meiner hiesigen Dienstzeit nunmehr<br />
mindestens vier vom Bund geförderte Journalistengruppen in meinem Amtsbereich ohne her<br />
sichtbar gewordenen Nutzen für den Informationsstand des deutschen Nachrichtenkonsumenten<br />
tätig geworden sind, nehmen meine Zweifel an der Zweckmäßigkeit des entsprechenden<br />
Mitteleinsatzes quasi-eruptive Formen an." Und in Nairobi wurde notiert: "Ein Teil der<br />
begleitenden Journalisten interessierte sich weniger für die Probleme Kenias und die<br />
Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik als für das Auftreten des neuen Ministers."<br />
Das war ein Trost, änderte aber nichts: Ich musste das Entwicklungshilfeministerium<br />
verlassen. Ich ging zurück auf meinen Abgeordneten-Platz in der Bundestagsfraktion. Herbert<br />
Wehner, zu dem ich immer ein Vertrauensverhältnis hatte, nahm mich auf. Ich wurde seine<br />
Stellvertreterin im Fraktionsvorsitz - die erste Frau in der SPD. Ich wusste also, dass meine letzten<br />
Jahre in Bonn angebrochen waren.<br />
Durch die Bonner Jahre begleitete mich die Ungewissheit, dass der Krebs mich noch<br />
besiegen könnte. Ich betäubte mich durch Arbeit, hastete von einem Termin zum anderen. Und<br />
dann wurden neue Krebszellen entdeckt -kurz nach meiner Entlassung als Ministerin. Mein Bonner<br />
195
Leben veränderte sich gewaltig. Alle vier Wochen eine Woche lang chemotherapeutische<br />
Behandlung. Damit musste ich leben. Ich konnte die Therapie-Phasen weitgehend so legen, dass sie<br />
in die sitzungsfreien Wochen des Parlaments fielen. Der Wahlkampf 1980, unterwegs zu<br />
Parteiveranstaltungen von der Nordsee bis zu den Alpen. Bis Februar 1981 habe ich weiterhin<br />
Zukunftspläne gemacht.<br />
Da entdeckte ich an meinem rechten Arm Lymphstörungen. Fünfzig rote Flecken. Doch<br />
anstatt zum Arzt zu gehen, bin ich wieder nach Bonn geflogen - Termine ... Aber aus den Flecken<br />
wurden Geschwüre, eiternde Beulen. Ich kriegte Fieber. Ich wollte nicht mehr ins Krankenhaus.<br />
Als ich bewusstlos wurde, holten meine Kinder den Notarzt. Ich wurde abtransportiert. Wieder<br />
Intensivstation, wieder Infusionen. Es war ein Punkt erreicht, da wollte ich nicht mehr leben. Diese<br />
unerhörten Schmerzen. Blutvergiftung, Lungenentzündung, Rippenfellentzündung. Thrombose,<br />
Eiterbeutel in der Lunge - nein, ich wollte nicht mehr. Und ein Medikament nach dem anderen.<br />
Angst - Angst vor der Behandlung, Angst vor den weißen Kitteln. Diese dauernden<br />
Untersuchungen, die Schnitte am Hals wegen der künstlichen Ernährung ... ich wollte nicht mehr.<br />
196<br />
Aus Bonn - Blumen, Briefe, Besucher. Aber ich konnte es nicht mehr ertragen ... ...
Im Leben von ganz unten nach ganz oben -<br />
Politikprofil der Bundesministerin Renate Schmidt<br />
"Frauen an der Macht" athenäums programm by anton hain, Frankfurt a/M 4. September 1990<br />
Biografie - Renate Schmidt (Mädchenname Pokorny) wurde am 12. Dezember 1943 im<br />
hessischen Hanau geboren. Nach der Vorstellung ihres Vaters, eines Kürschnermeisters, sollte<br />
Tochter Renate keine höhere Schule absolvieren, möglichst bald heiraten, Kinder bekommen und in<br />
der Zwischenzeit ein paar Jahre berufstätig sein - zur Aufbesserung der Haushaltskasse. Folglich<br />
ging Renate Schmidt ohne Abitur vom Gymnasium ab. Sie fing in der Fabrik ganz unten an - mit<br />
Akkordarbeit.<br />
Im Jahre 1961 heiratete sie, mit achtzehn bekam sie ihr erstes und 1970 ihr zweites Kind. In Nürnberg<br />
qualifizierte sich Renate Schmidt in einem Großversandhaus namens Quelle erst zur Programmiererin,<br />
schließlich zur Systemanalytikerin.<br />
1972 wurde sie als aktive Gewerkschafterin zur Betriebsrätin gewählt. Ein Jahr zuvor war sie der<br />
SPD beigetreten. Gemeinsam mit ihrem ersten Mann Gerhard Schmidt gegründete sie im Jahr 1973<br />
eine Gruppe der Sozialistischen Jugend Deutschlands - "Die Falken",die sie bis 1978 leitete. Ihr<br />
Mann Gerhard, ein Architekt und Hochbautechniker, gab 1974 seinen Beruf auf, um sich ganz als<br />
"Hausmann" um die Familie zu kümmern. Er starb 1984 an einer Herzmuskelentzündung. Sie hat<br />
aus erster Ehe drei Kinder und vier Enkelkinder.<br />
Im Jahre 1998 heiratete Renate Schmidt in zweiter Ehe den Maler und Sozialwissenschaftler Hasso<br />
von Henninges.<br />
Sie gehörte den Deutschen Bundestag von 1980 - mit kurzer Unterbrechung - bis 2009 an. In der<br />
Zeitspanne von 1997 bis 2003 fungierte Renate Schmidt als stellvertretende SPD-Parteivorsitzende.<br />
Bereits nach der Bundestagswahl 1987 rückte Renate Schmidt in den Führungszirkel der SPD auf.<br />
Sie wurde stellvertretende Fraktionsvorsitzende des Bundestages sowie Vorsitzende des Arbeitskreises<br />
"Gleichstellung für Frau und Mann." Dem Arbeitskreis gehören alle weiblichen Mitglieder<br />
der Fraktion sowie drei Männer an. In dieser Eigenschaft hat die Politikerin maßgeblich den<br />
"Gesetzentwurf zur Gleichstellung von Frauen und Männern im Berufsleben" beeinflusst, gestaltet.<br />
Bevor Renate Schmidt "Fachfrau für Frauenfragen" wurde, widmete sie sich dem Bafög und dem<br />
Tierschutz.<br />
Von 1991 bis 2000 war die Nürnbergerin zugleich Landesvorsitzende der SPD in Bayern. Bei den<br />
Landtagswahlen 1994 und 1998 kandidierte sie jeweils als bayerische Spitzenkandidatin ihrer Partei<br />
für das Amt des Ministerpräsidenten. Sie konnte sich allerdings nicht gegen Amtsinhaber, dem<br />
CSU-Politiker Edmund Stoiber (1993-2007) durchsetzen. Vom 22. Oktober 2002 bis zum 22.<br />
November 2005 verantwortete Renate Schmidt im zweiten Kabinett Schröder als Bundesministerin<br />
den Bereich Familie, Senioren, Frauen, Jugend. Im Jahre 2009 zog sie sich aus der Bundespolitik<br />
zurück.<br />
197<br />
2
Renate Schmidt traf ich zum erstenmal auf einer SPD-Veranstaltung in Nürnberg. Es war<br />
Wahlkampfzeit. Ich kam von dort angereist, wohin Renate Schmidt, damals 36 Jahre alt, als Bundestagsabgeordnete<br />
wollte. Natürlich hatte mich die Bonner Männerwelt in den Jahren meines<br />
Korrespondenten-Daseins geprägt -- in meinen Wahrnehmungen, in meinem Unterscheidungsvermögen<br />
zwischen wichtigen Leuten und aufgeblähten Randexistenzen - und mir die Selektionsmaßstäbe<br />
in den Kopf gesetzt, ob jemand für die Politik tauglich ist oder nicht.<br />
Beharrlich klopfte ich Kandidaten nach dem vorherrschenden Männer-Suchbild ab: Politik<br />
als Lebensinhalt, das Beherrschen von Taktik und Strategie im Dienst der Karriere und ein ausgeprägter<br />
Machtinstinkt. Konsequenterweise hatte ich das allseits verbindliche Verhaltenmuster<br />
übernommen, das Überlebensprinzip: "Immer frisch und fröhlich über deine Kaputtheit hinwegjonglieren,<br />
sonst nimmt dir niemand mehr etwas ab und du stehst bald allein im Wald. Sei im persönlichen<br />
Umgang nicht laut, sondern nett leise. Freue dich nach Maßen, denn Gefühle sind verräterisch.<br />
Beiss dir auf die Zähne, wenn dir zum Lachen ist. Reiss dich zusammen und lass dich nicht<br />
hängen. Kopf hoch und nach vorn geblickt, wenn du down bist. Das Leben ist hart und will so<br />
genommen werden. Punkt!"<br />
Zugegeben: Als Renate Schmidt mir im Nürnberger KOMM - jugendliches Kommunikationszentrum<br />
- gegenübersaß, war ich gleich damit beschäftigt, meine Schubladen aufzuziehen, die<br />
ich für Argwohn, Vorbehalte und unbedarfte Nettigkeiten reserviert hatte. Und ich dachte so vor<br />
mich hin: Was will diese nette Renate Schmidt ausgerechnet an den Schalthebeln der Macht in Bonn<br />
bewirken ? Sie wird wohl wieder einmal einen klassischen Fall der Frauen abgeben, die mit ihren<br />
Anspruch der Wirklichkeit den Krieg erklären. Und wahrscheinlich dort landen, wo viele ihrer<br />
Leidensgenossinnen gelandet sind - im Abseits, zur Freude und Befriedigung der Männerriege.<br />
Da saß ich nun ihr gegenüber und hegte Misstrauen: Entweder ist sie total naiv und wird<br />
gerade deshalb von den SPD-Männern als weibliches Aushängeschild aufs Podest gehoben. Oder sie<br />
wird in Bonn bald nicht mehr die sein, die sie war, werden Ranküne und Intrigen sie allmählich<br />
zerfressen.<br />
Ich hatte mir schon lange vorgenommen, minutiös den Zusammenhang von politischem Werdegang<br />
und seelischer Deformation nachzuzeichnen - von der Kandidatenkür unter rauhbeinigen Genossen<br />
bis hin zum Fraktionszwang in Bonn. Ich wollte dem chronischen Verstellungstreiben unserer<br />
Politiker-Klasse, genährt aus einem verzerrten Wirklichkeitsbewusstsein aufgrund ihres Doppellebens.<br />
-denkens und Doppelrollenspiels, nachgehen. Mich interessierte deshalb die Tatsache, wie eine<br />
um Anerkennung kämpfende Frau, im öffentlichen Auftritt gehemmt und unsicher zudem, es<br />
schaffte, den SPD-Männern ihren "Erbhof", genannt Bundestagsmandat, abzutrotzen. Und Renate<br />
Schmidts Ausgangsposition war zudem alles anders als glücklich: Ohne Abitur ging sie vom Gymnasium<br />
ab und verdiente sich ihr erstes Geld als Schichtarbeiterin in der Fabrik.<br />
198
Als wir uns im Nürnberger KOMM trafen, waren wir beide als "Hoffnungsträger" auf<br />
einer SPD-Veranstaltung vorgesehen - zumindest laut Parteiregie. Die SPD versuchte den Kontakt<br />
zur damaligen Aussteiger-Generation zu halten und schickte Personen an die Diskussionsfront, die<br />
über Sensibilität und Glaubwürdigkeit verfügten. Eine auf Profitmaximierung ausgerichtete<br />
Wegwerf-Gesellschaft sah sich übergangen und links - rechts ist richtiger - liegengelassen: In der<br />
zweiten Hälfte der siebziger Jahre hatte sich dank der Jugend in der Bundesrepublik mehr verändert<br />
als in Jahrzehnten zuvor. Von der Mehrheit der Gesellschaft nicht registriert, war ein abgrundtiefer<br />
Riss zwischen der nachwachsenden Generation und der oft selbstgefälligen Erwachsenenwelt<br />
entstanden. Erstmals in der deutschen Geschichte stand ein Staat vor der Situation, dass ihm nicht<br />
nur ein paar Sekten, sondern ein beachtlicher Teil seiner jüngeren Jahrgänge wegkippten. Die<br />
scheinbar historisch verbriefte Selbstverständlichkeit, die Jugend übernehme schließlich die Werte<br />
der Erwachsenen, griff offenbar nicht mehr.<br />
Renate Schmidt und ich hockten im KOMM wie Fuhrleute zusammen, bei Bier und Korn.<br />
Es war ihre Offenheit, ihr schalkhaftes Lachen, das mein vor allem Frauen in der Politik gegenüber<br />
kultiviertes Vorurteil aus den Angeln hob. Ihr Lachen signalisierte Lebensfreude und Durchsetzungskraft,<br />
von apokalyptischen Weltschmerz-Befindlichkeiten keine Spur. Sie sprach schnell, als<br />
wollte sie keine Zeit verplempern. Was sie sagte, war klar und pointiert.<br />
Ja, ja, sie wolle nach Bonn, in die Arena männlicher Überheblichkeit, wo de déformation<br />
professionelle Zuhause ist, wo "diese im Windkanal geformten Figuren" - wie es ihr Kollege Dieter<br />
Lattmann (SPD-MdB 1972-1980) einmal formulierte - eine Sprechblase nach der anderen aufsteigen<br />
lassen. In Bonn wollte sie dem Männer-Gehabe Paroli bieten. Starke Worte, dachte ich. Einige<br />
Jahre später las ich im sozialdemokratischen Vorwärts ein Porträt der Renate Schmidt, mit der Überschrift:<br />
"Wie aus der Wundertüte". Genau diesen Eindruck machte sie auch auf mich.<br />
Seit unserem ersten Gespräch habe ich mich intensiver mit dem Leben dieser Renate Schmidt, mit<br />
ihrem Denken, Fühlen und Handeln, beschäftigt. Ich begleitete sie auf ihren Terminen durch<br />
bayerische Dörfer und natürlich in Bonn, ging bei ihr zu Hause in Nürnberg ein und aus. Ich lernte<br />
die ihr nahestehenden Menschen kennen und auch jene, von denen sie sich - zumindest zeitweilig -<br />
abhängig glaubte.<br />
Bei den Schmidts in der Goldweiherstraße war alles ganz anders, als ich es mir - "verbonnt"<br />
wie ich war - vorgestellt hatte. Bizarr schien mir das Leben der Schmidts auf den ersten Blick; ich<br />
sah nicht, dass sich in ihrem Familienkreis ein Frauen-Aufbruch andeutete, der Jahre später die<br />
gesamte Gesellschaft erfassen sollte. Die Schmidts waren auf ihrer Art des Zusammenlebens und in<br />
ihrer Alltagsbewältigung herkömmlicher Familien um Lichtjahre voraus. Der Ehemann Gerhard<br />
hatte vor fünf Jahren seinem Beruf als Hochbautechniker ade gesagt und kümmerte sich fortan als<br />
Hausmann um die Kinder, die Küche und den Kachelofen.<br />
199
Gerhard Schmidt machte auf mich in keiner Weise den Eindruck, dass sein Leben an der<br />
Seite einer Politikerin sinnentleert und er nun als Hausmann auf dem Abstellgleis gelandet sei. Im<br />
Gegenteil: Er nahm Aufgaben wahr als Ratgeber und Begleiter in den politischen Wirren. Nur hin<br />
und wieder stöhnte er in "der Art von Hausfrauen" über den vielbeschäftigten Partner. Ich notierte<br />
mir: "Gerhard hat das Mittagessen schon vorgekocht, Erbensuppe gibt es. Einfach deshalb, weil er<br />
so noch genügend Zeit fürs Staubsauen, Abstauben , Bettenmachen und Waschen hat." Auch erzählte<br />
er mir, dass er nie mit leerem Magen einkaufen gehe. Wenn er nämlich hungrig sei, koste der<br />
Einkauf gleich einen Zwanziger mehr. Im Laufe der Jahre habe er ohnehin gelernt, gezielt auf die<br />
Sonderangebote im Supermarkt zu achten. Und im übrigen: Es wird das gegessen, was er auf den<br />
Tisch bringt. - Rollentausch.<br />
Gelegentlich ist Hausmann Gerhard seiner oft abwesenden Politikerin Renate gram. Meist<br />
dann, wenn sie die Bonner Geschäftigkeit mit nach Hause, in die Villa Kunterbunt bringt - "wo man<br />
eh so wenig Zeit füreinander habe". Laufend bimmelt das Telefon, unlustig dreinschauende Männer<br />
mit Flanell-Gebaren buffen die Tür auf. "Dann geht es bei uns zu wie im Taubenschlag oder wie bei<br />
Hempels unter dem Sofa; das sollen die doch gefälligst in Bonn zwischen ihren ungebrauchten<br />
Ikea-Möbeln ausmachen; doch da werden dann meistens nur die Stimmen für irgendwelche<br />
Delegierten-Versammlungen oder Parteitage hochgerechnet " - so der Ehemann Gerhard. Seiner<br />
Renate konzediert er einen auf Enttäuschungen gefassten Idealismus. Irgendwann wird dieses<br />
Gebäude jedoch zusammenkrachen, weil sie in Bonn, in dieser Intrigensuppe, nicht mehr durchhält.<br />
Aber immerhin sei er dann ja noch da, der sie auffangen könne.<br />
Gezielt gedemütigt in seinem Selbstwertgefühl sah sich Hausmann Gerhard allerdings, als<br />
die Münchner Abendzeitung in ihrer Nürnberger Lokalausgabe mal wieder unter chronischer<br />
Themennot litt. Gerhard Schmidt in seiner Gutmütigkeit ließ sich ahnungslos als "Paradiesvogel"<br />
zum Spott der männlichen Leser vorführen. Nach dem Motto: Männer guckt mal, welche Flops<br />
unter euch sind!<br />
Dabei war seine Idee gewesen, den Männern zu zeigen, dass es möglich ist, als Mann mit dem<br />
Rollentabu zu brechen. Fast eine Seite war dem Boulevard-Blatt jene "human-touch-story" wert.<br />
Schlagzeile: "Seine Ehefrau machte Karriere im Beruf und in der Nürnberger SPD - Bügelfreie<br />
Wäsche mag Hausmann Schmidt sehr." Auf den Bildern saugte "Putzteufel Gerhard" den Teppich,<br />
in der Küche kochte der "Chef höchstpersönlich" wie in seiner "gemütlichen Werkstatt", und für<br />
einen abendlichen Politikempfang im Hause Schmidt arrangierte er ein üppiges und beschauliches<br />
Blumenbesteck. Zu guter Letzt wurde er mit seinen Berichten aus der "zünftigen Männergesellschat"<br />
zitiert: "Einer meinte mal, dass ich ein prima Kumpel sei, auch wenn ich den ganzen Tag<br />
daheim hocke. Aber vielleicht haben die Männer, wenn sie über mich lächeln Angst, dass ihre Frau<br />
auf die Idee kommen könnte, beruflich Karriere zu machen."<br />
200
Gerhard wagte sich vierzehn Tage nicht mehr vor die Tür, mied den Supermarkt und die<br />
Kneipen - gehänselt wurde er freilich weiterhin. Als ich mit dem engagieren Sozialdemokraten<br />
Gerhard Schmidt im Arbeiterviertel Nürnberg-Zabo eines Abends eine Biertour machte, lebten an<br />
den Kneipentheken schnittpunktartig aggressive Männer-Ängste auf - Ängste der Männer, die nach<br />
neuer Nahrung schielten und deshalb Hausmann Gerhard stets willkommen hießen. Mal unkten<br />
Lachfrösche, es müsse für in zu Hause am Kopftopf doch arg langweilig sein. Mal wurde er als<br />
Schlappschwanz tituliert, der ja sogar seinen Ehering an der linken Hand trüge. Mal war er ein<br />
verweichtlichter Mama-Junge, ein beruflicher Versager, ein Nassauer obendrein, der sich noch<br />
immer sein Taschengeld zuteilen liesse. - Bierlallende Männerbünde zur Aufbruchszeit der Frauen.<br />
Szenenwechsel: Freitag, Bonner Hauptbahnhof, Gleis zwei. Der Intercity Zug Germania<br />
fährt um 11.23 Uhr nach Nürnberg. In den Sitzungswochen des Parlaments versucht Renate<br />
Schmidt , diesen Zug zu bekommen. Häufig reist sie nicht allein. Auch ich bin dieses Mal mit von<br />
der Partie. Auf mich macht sie einen kleinlauten, abgekämpften Eindruck. Die Angespanntheit, die<br />
sie in Bonn unter Strom setzt, weicht allmählich der Leere: Selbstzweifel nach Feierabend. Die<br />
Woche über in Bonn: das bedeutet für sie Sitzungen über Sitzungen in verqualmten Räumen bis tief<br />
in die Nacht. Unterm Strich ist wieder nichts Sonderliches herausgekommen; ewiges Wortgeklingel<br />
und nassforsche Schaustellerkünste vor Mikorofon und Kamera, von ihr "Polit-Entertainment"<br />
genannt. Ermattet sagt sie in meine Richtung: "Die Männer sitzen da und bestätigen sich laufend nur<br />
gegenseitig, wie wichtig sie doch für dieses Land seien, obwohl sie in Wirklichkeit allesamt vernichtend<br />
wenig voneinander halten. Das ist einfach zum Kotzen, wie sich da eine Fiktion an die andere<br />
reiht."<br />
Es ist sicherlich kein Zufall, dass sie sich in solchen Momenten daran erinnert, wie ihr vor<br />
Weihnachten 1979 die Kandidatur für diesen Bundestag angeboten worden ist. "Ich hab' es mir<br />
schlicht und einfach wie die meisten Frauen nicht zugetraut." Aber sie ging. Auch wenn sie die<br />
Versager-Ängste mittlerweile überwunden hat, nasse Hände hat Renate Schmidt noch immer, wenn<br />
sie vorn am Rednerpult des Plenums gegenüber der Männer-Meute Stellung bezieht. Und vor allem<br />
dann, wenn diese Herren darauf erpicht sind, sie zu diskreditieren, ihr die Ernsthaftigkeit ihres<br />
Anliegens zu bestreiten, sie zum lächerlichen, unbeholfenen "Schießbuden-Fräulein" abzustempeln.<br />
Zwischenrufe wie "Sie sind sicherlich ganz gut im Bett, aber ..." oder "Zur Sache Schätzchen, Sie<br />
reden besser als Sie aussehen" sind keine Seltenheit: Fünfzehn Minuten redete die Frau Abgeordnete<br />
Schmidt-Nürnberg, und das Protokoll des Bundestages verzeichnet insgesamt 47 Unterbrechungen<br />
dieses Kalibers, Sie sind ein greller Farbtupfer im Sittengemälde dieser Republik, Ausdruck des<br />
männlichen Trotz-Prinzips: Die Frauen bellen ihre Emanzipationsrhetorik, die Karawane zieht<br />
weiter.<br />
Dabei wissen Frauen wie Renate Schmidt, wie weitverbreitet die Kategorie Karriere-Mann<br />
ist. Da sitzen Politiker, die sich mit ihrem Getue nicht nur Amüsement verschaffen, sondern gleichsam<br />
ihren Identitätskern zu verstecken suchen; vor sich selbst flüchtende Männer mit ihren fortwährenden<br />
sie bestätigenden "Beziehungskisten".<br />
201
In die Bonner Annalen eingegangen ist die "Busengrabscher-Geschichte" des Bundestagsabgeordneten<br />
der Grünen, Klaus Hecker. Er musste bekanntlich 1983 seinen Platz räumen, weil<br />
die grünen Frauen nicht über seine sexuelle Anmache geschwiegen haben. Der Herr Abgeordnete<br />
Hecker liebte es, in den Büro-Hinterzimmern des Bundestages seinen Kolleginnen an den Busen zu<br />
greifen. Immerhin kann sich Hecker eines zugute halten: Schneller als geplant schrieb die damalige<br />
Familienministerin Rita Süssmuth (1985-1988) ein Forschungsprojekt aus: "Die sexuelle Belästigung<br />
der Frauen am Arbeitsplatz" - außerhalb Bonns, versteht sich.<br />
Aus gutem Grund ist auch zu Zeiten des Frauen-Aufbruchs im offiziellen Bonn Sex und<br />
Politik eines der Tabu-Themen. US-Wisscnschaftlerinnen gingen n einer Forschungsstudie ("A<br />
sexuel profil of men in power") dem Spannungsverhältnis von Macht und Sex nach. Danach benötigt<br />
ein Politiker eine immer größere Dosis, um dieselbe Euphorie zu empfinden. Und weil Politik nun<br />
mal süchtig mache, müsse der Politiker größere Erfolge und Siege verbuchen , um sein minimales<br />
Wohlbefinden zu erreichen. Dies führe, so die US-Studie, zu dem zwanghaften Drang, andere zu<br />
beherrschen, präge die Atmosphäre von Dominanz und Kontrolle in seinen Büros ebenso wie sien<br />
verstecktes Sexualleben. Der Polit-Macho sei ständig auf der Jagd nach Frauen, nach symbolischen,<br />
meist zwanghaften sexuellen Machtspielen. Das ist in Washington nicht anders als in Bonn oder auch<br />
Berlin.<br />
Angewidert und abgehärtet könnte frau in Bonn und Berlin zur Tagesordnung übergehen.<br />
Renate Schmidt kann und will gerade das nicht. Sie ist nicht nach Bonn gekommen, um sich hier von<br />
den Männern neu sozialisieren zu lassen. Nein - im Gegenteil: "Die Männer müssen vielmehr mit<br />
sanfter Gewalt zur Übernahme der Verantwortung gezwungen werden. Ich bin ich."<br />
Ergo: Der Frauen-Marsch durch die Institutionen hat längst begonnen. Es ist ein Langlauf gegen<br />
die hier agierenden Männer der Macht, die sich in dieser bedrückenden Atmosphäre stets aufs neue<br />
überflügeln müssen, Herkunft wie Inhalte getrost beiseite schieben und Petitessen zu Hahnenkämpfen<br />
stilisieren und nicht selten brenzlige Grenzfälle für "das Maß der Mitte" halten.<br />
So kommt es nicht von ungefähr, dass das Wort "Mensch" zum Hauptvokabular der<br />
Renate Schmidt zählt. "Ich halte mich für eine Seele von Mensch und vermittle hoffentlich, dass ich<br />
Menschen mag." Oder: "Für mich ist es die Motivation in der Politik, dsass Menschen ein Gefühl<br />
dafür bekommen, dass das Leben durch Solidarität besser wird. Das ist eine Frage des Systems. Die<br />
Anlage zum Guten steckt in jedem." Aber auch: "Es macht mich krank, wie Menschen oft mit<br />
Menschen umgehen." Und so, als habe sie schon ihre neue Funktion als Bonner Politik-Mama<br />
übernommen, fügt sie ironisch hinzu: "Alle Mühseligen und Beladenenen finden bei mir ein Zuhause."<br />
202
Auf der Bahnfahrt am besagten Freitag nach der Sitzungswoche gen Nürnberg hockt im<br />
Zugabteil vis-à-vis von uns ein offenkundig mitgenommener älterer Mann, den ich auf Anhieb<br />
nicht gleich erkenne. Nur ein Diplomaten-Koffer deutet darauf hin, dass er irgendwie etwas mit der<br />
Bonner Politik zu tun haben müsse. Als es dann im Zugabteil zischte, sein in der Aktentasche<br />
verstautes Bierdosen-Arsenal die Aufmerksamkeit auf ihn lenkte, war ich keineswegs überrascht. In<br />
Bonn nichts Neues. Schließlich habe ich sie hinreichend oft beobachten können, diese Repräsentanten<br />
deutscher Politik.<br />
Mit diesen Bierdosen knackenden Herren hatte es eine besondere Bewandtnis. Es war<br />
Renate Schmidts langjähriger SPD-Kollege vom Nürnberger Nachbarwahlkreis, Egon Lutz (*1934,<br />
SPD-MdB 1972-1991). Mit ihm zusammen stellt sie in Nürnberg und Umgebung Öffentlichkeit her.<br />
Kein Zeitungsfoto ohne Lutz, der sie zuweilen in inszenierter männlicher Siegerpose eigens fürs<br />
Wahlvolk emphatisch umarmen darf. Das heißt aber aber auch, keine Profilierung ohne den anderen<br />
in Nürnbergs Arena sei es beim Kaninchenzüchterverein, auf den Parteitagen oder bei den Philatelisten.<br />
Schließlich wies angeblich der "schlaue Egon" die damals unerfahrene Renate Schmidt in die<br />
taktischen Finessen der Macht ein. Mittlerweile hat er beinahe zwanzig Jahre Bonner<br />
Abgeordneten-Dasein auf dem Buckel - zwanzig Jahre in der SPD-Bundestagsfraktion, die ihn<br />
gekennzeichnet haben. Deutlich ist Lutz sein Leidensdruck anzumerken. Wie so viele Männer vor<br />
und nach ihm glaubte auch er, der einstige Senkrechtstarter aus dem Gewerkschaftsapparat, an<br />
seinen jähen Politik-Durchbruch. Jahre verwandte er darauf, Ernst Blochs (*1885+1977) Prinzip<br />
Hoffnung für sich umzusetzen: Staatssekretär hatte er werden wollen, ob im Arbeits- oder Verkehrsministerium<br />
- egal, Hauptsache Staatssektretär. - Gescheiterte Männer-Karrieren, über die niemand<br />
sprechen mag. Verlierer-Typen.<br />
Verlierer bekommen eben kaum Zuspruch und Aufmerksamkeit, bleibt meist nur heimlicher<br />
Spott. Der ist ihnen sicher, gewiss und das nicht zu knapp. Das ist in der Politik-Klasse nicht<br />
anders als überall in den von Konkurrenzkämpfen zerrissenen Betrieben dieser Republik. Zwei<br />
Bonner Politiker in einem Zugabteil, die für mich Auf- und Abbruch repräsentieren. Dass diese<br />
bizarre Konstellation schon recht bald das ganze Land erfassen sollte, konnte ich damals, im Jahre<br />
1982, noch nicht erahnen. Dort der gebrochene Mann, der sich in der Hauptstadt verausgabt und<br />
verloren hatte, weil ihm die Amts-Mächtigen nicht jene Amts-Identität gaben, wofür er sich<br />
jahrelang krummgelegt hatte. Hier eine Frau, deren Zuschnitt schon ein anderes Verhalten verrät.<br />
"Ich bin die Renate", sagt sie oft schlicht, wenn sie auf fremde Menschen trifft, die sie begrüßen will.<br />
Sie deutet auf Egon Lutz und meint vielleicht zahlreiche Männer in Bonn: "Der hat sich in dieser<br />
Mühle verschleißen lassen. Das will ich nicht." Und: "Irgendwann will ich mal etwas anderes<br />
machen. Vielleicht eröffne ich einen Laden, koche viel und gut, sammle Pilze und lese Krimis. In<br />
diesem Bonn kommt man eben zu nichts."<br />
203
Einige Jahre sind mittlerweile vergangenen. Nich immer fährt das Gespann Schmidt/Lutz<br />
freitags nach einer enervierenden Sitzungswoche gen Nürnberg, Aus der Renate Schmidt von einst,<br />
die sich manchmal für ihre Existenz in der Männer-Welt entschuldigte, ist unterdessen die stellvertretende<br />
SPD-Fraktionsvorsitzende des Bundestages geworden. - Der Frauen-Aufbruch und seine<br />
Schnittpunkte. Schon ihr großes Büro im Bundeshaus, mit Vorzimmer, Referentinnen und Sekretärinnen,<br />
deutet daraufhin, dass diese Frau mitstrickt an der Macht und den Machbarkeiten in dieser<br />
Republik: Jahrelang unterdrückte Frauen-Visionen werden allmählich eingeklagt.<br />
Renate Schmidt ist schlanker geworden - trägt ein knallrotes Kostüm auf Taille, ihre Haare<br />
sind leicht ergraut. In der vergangenen Situngswoche legte sie mehr als sechstausend Kilometer<br />
zurück. Dauerwahlkampf in Deutschland. Wahlkampf für Frauen uind für die Sozialdemokratie. Da<br />
kann es kein Privatleben mehr geben, selbst nicht in den kleinsten Nischen.<br />
Es ist ein Tag wie - beinahe - jeder andere im Leben der Renate Schmidt. Aktion "Durchrauschen"<br />
ist angesagt, Besuch in einem Münchner Altenheim, Podiumsdiskussion über Wohnungsbau, Visite<br />
in einem Kindertagesheim, Präsidiumssitzung der bayerischen SPD; um fünf Uhr mit dem Zug nach<br />
Nürnberg, mit dem Mietwagen weiter nach Ansbach, um acht Uhr auf dem Podium, Thema:<br />
Rentenpolitik. Sie macht dazu die Fußnote: "Ich halte diese Art von Politik für ziemlich albern" - und<br />
verschwindet zum nächsten Termin.<br />
Als ich mich von ihr im Bundestag verabschiedete, sagte ich zu ihr, sie möge doch aufpassen,<br />
dass dieser hoffnungvolle Frauen-Aufbruch nicht jene Frauen fresse, die ihn erkämpft haben,<br />
Denn Frauen-Kultur - das sei doch - dies hätte ich als Mann gelernt - eine andere Besinnung, ein<br />
anderes Politik-Verständnis. Es könne doch nciht angehen, sich in einem additiven Ergänzungsverhältnis<br />
zu den Männern zu sehen, im Terminstress Halt zu suchen und sich dort zu verbrauchen.<br />
Renate Schmidt stand schon wieder absprungbereit an der Türschwelle, und ihre Sekretärin Frau<br />
Walter redete dazwischen, weil sie München an der Telefonstrippe hatte.<br />
Wenige Monate später klingelte Renate Schmidt bei mir zu Hause an. Traurig war sie,<br />
niedergeschlagen. Ihr Freund habe sie gerade verlassen, und das ausgerechnet mit der Bemerkung:<br />
Sie sei ja sowieso nie da, ständig auf Achse. Das hätte wohl alles keinen Sinn mehr mit ihr. Unter<br />
einer Partnerschaft stelle er sich etwas anderes, Intensiveres vor. - Rollentausch. Und weiter: "Aber<br />
wenn wir Frauen in der Politik Erfolg haben wollen, müssen wir so leben und arbeiten." Und sie fügt<br />
selbstzweifelnd hinzu: "Was ist denn eigentlich Erfolg?"<br />
Im Laufe der Zeit ist es zunehmend einsamer um Renate Schmidt geworden - zumindest privat. In<br />
der Tat ist es extrem schwierig, unter diesen von Männern geschaffenen Politik-Bedingungen, dauerhafte<br />
Beziehungen aufzubauen und zu halten. Renate Schmidt: "Da gibt es dann plötzlich<br />
niemanden mehr, den ich anrufen und fragen kann, ob man nicht gemeinsam Silvester feiern sollte."<br />
- Der Frauen-Aufbruch in der Politik und sein einstweiliger Preis.<br />
204
AUFBRUCH DER RENATE SCHMIDT:<br />
"In Bonn bin ich nicht auf einer Isolierstation oder in einem Treibhaus. Tag für Tag holt<br />
mich die oft bedrückende Wirklichkeit vieler Menschen ein. Wir haben hier viel auszuhalten -<br />
Frauen und Männer völlig unterschiedslos. Vielleicht lastet der Druck auf den Frauen eine Spur<br />
mehr. Es kann aber auch sein, dass wir Mechanismen entwickelt haben, damit eher zurechtzukommen<br />
mit dieser ständigen Überforderung, in die wir uns selber hineintreiben und in die wir hineingetrieben<br />
werden. Der Anspruch, den Menschen an dich stellen, ist enorm. In jeder Bürgersprechstunde<br />
wird mir dies erneut klar. Die Leute machen ja fast ausschließlich die Politik für ihr persönliches<br />
Glück oder Unglück verantwortlich.<br />
Ich kann mich dieser Verantwortung nicht einfach entziehen. Da kommen Menschen<br />
erwartungsvoll in meine Sprechstunde - und ich weiß wirklich nicht, was ich für sie tun kann. Das<br />
bereitet mir zuweilen schlaflose Nächte. Aber es ist nun einmal so: Es gibt menschliche Schicksale,<br />
die mich überfordern. In solchen Situationen sage ich mir immer zuerst, um Himmels willen, das<br />
kann doch wahrlich nicht meine Aufgabe sein. Doch dann kommt sogleich der zweite Gedanke,<br />
nämlich die Forderung an mich, dass ich das nicht einfach wegdrücken, einfach zur Tagesordnung<br />
übergehen kann. Es geht hier doch um menschliche Schicksale - von Sozialhilfeempfängern, von<br />
Leuten, die seit vielen Jahren arbeitslos sind. Ich werde wieder Briefe schreiben, jemanden vom<br />
Arbeitsamt auf die Pelle rücken, versuchen, die Verbindungen, die ich einmal hatte, aufleben zu<br />
lassen. Das alles werde ich versuchen, und doch weiß ich, im Grunde genommen erreichst du wenig,<br />
um nicht zu sagen, überhaupt nichts: Du änderst die Verhältnisse nicht.<br />
Ich habe nicht die Macht, die man mit meiner Position verbindet, so als könnte ich schalten<br />
und walten, wie ich wollte - nur weil ich hier im Parlament in der "Zentrale der Macht" sitze. Ich weiß<br />
doch ganz genau, wäre ich Personalchefin eines Betriebes, müsste ich glasklar Markt-adäquate<br />
Maßstäbe an die Menschen anlegen. Es wäre schließlich meine Aufgabe, effiziente Arbeitskräfte<br />
einzustellen. Und an dieser Erfüllung meiner Funktion würde ich ja selbst gemessen Das heißt, ich<br />
weiß nur zu gut, dass ich als Personalchefin Menschen mit bestimmten psychischen Konstellationen<br />
nicht einstellen würde - dürfte. Ich weiß, dass für diesen Menschen, der bei mir in der Sprechstunde<br />
sitzt und glaubt, ich sei die personifizierte Macht, dass für diese etwas grundlegend anderes notwendig<br />
wäre. Aber die Zeit habe ich nicht, weder die Ausbildung noch die Kapazität , um dem, der mir<br />
mit großen Erwartungen gegenübersitzt, wirklich zu helfen - indem ich ihm vielleicht sage: 'Der und<br />
der bist du, und in dieser Verfassung kannst du nicht in einen normalen Betrieb hinein. Das wirst du<br />
nicht durchhalten, weil du für dich und deine Kollegen im Arbeitsablauf eine Belastung bist. Du<br />
würdest den Betriebsablauf nur stören, weil du nicht 'funkionierst'. Wenn du da unbedingt hin willst,<br />
weil du rein musst, denn du musst schließlich Geld verdienen -, dann solltest du erst einmal eine<br />
psychotherapeutische Behandlung beginnen. Dann musst du noch dieses oder jenes lernen. Und<br />
dafür brauchst du Geld, denn ohne Geld läuft nichts.'<br />
205
All das müsste ich ihm sagen. Und ich weiß doch, diese Möglichkeit gibt es noch nicht,<br />
auch wenn ich sie mir gut vorstellen kann. Das ist die permanente Überforderung, mit der wir<br />
konfrontiert sind. Unsere Macht wird von draußen völlig überschätzt. Als glaubte man, wir säßen an<br />
einem Schalthebel und könnten per Dekret und Einfluss von oben die gesellschaftlichen Instrumentarien<br />
entscheidend bewegen. Wir können aber nicht die Mechanismen und Strukturen, die unser<br />
aller Leben bestimmen, einfach aushebeln. Nur: das lässt sich oft nicht so einfach sagen. Solche<br />
Gespräche sind in ihrem Strickmuster weitaus komplizierter. Von der hohen Erwartungshaltung<br />
lassen wir uns anstecken und stürzen uns allzu oft in Scheinaktivitäten - irgendwelche Telefonate und<br />
Briefe - , weil wir nicht den Mut aufbringen, unumwunden zu sagen: 'Das geht nicht.' Wir alle sitzen<br />
in einem Boot, das sich Bonn nennt, und jeder legt sich kräftig in die Riemen. Das sieht dann so aus,<br />
als könnten wir alles lösen. Ich stemme mich dagegen und versuche, das Land und die gesamtgesellschaftliche<br />
Entwicklung nicht aus den Augen zu verlieren. Das omipotente Gehabe in den Bonn und<br />
anderwo ist Augenwischerei. Manchmal ist das eine inszenierte Fassade aus der Kinowelt.<br />
Aber was wir allerdings können, das ist: ein Problem nach dem anderen zu lösen, Schritt für Schritt.<br />
In Einzelgesprächen, Veranstaltungen, Diskussionen. Dabei merke ich, dass ich im Grunde genommen<br />
Optimistin bin, und zwar im positiven Sinne. Ich stelle mir immer vor, wie es gehen könnte.<br />
Vielleicht habe ich ein zu idealistisches Menschenbild. Manchmal erwische ich mich auch bei dem<br />
Gedanken: Wenn sie das doch nur so machen würden, dann ginge es bestimmt voran. Aber das<br />
hängt mit meiner perspönlichen Lebenserfahrung zusammen.<br />
Ich habe nämlich in meinem Leben gelernt, nur wenn ich beharrlich bin, mich mit anderen<br />
zusammentue und versuche, nicht gleich die ganze Welt zu verändern, sondern zuerst das, was<br />
einem am nächsten ist, das heißt sich zu beschränken und konkrete Ziele zu verfolgen - nur dann<br />
sind die Erfolge da, ist man einen Schritt weiter.<br />
Doch die Bereitschaft, politische Zusammenhänge zu begreifen, komplizierte Sachverhalte zu<br />
verstehen, hat rapide abgenommen. Einfach deshalb, weil die Leute nicht mehr willens sind, all das<br />
aufzunehmen und sich damit unentwegt auseinanderzusetzen. Das hat mit dem vielzitierten<br />
Glaubwürdigkeits-Verlust oder der vielzitierten Parteienverdrossenheit zunächst einmal überhaupt<br />
nichts zu tun. Die Menschen schrecken vor der Kompliziertheit der Sachverhalte zurück. Ich werde<br />
dafür bezahlt, dass ich mich jeden Tag zehn bis vierzehn Stunden mit Politik beschäftige.<br />
Aber selbst ich brauche mehrere Tage, um Neuerungen auf einem Gebiet, auf dem ich<br />
mich normalerweise auskenne, zu verstehen. Da frage ich mich, wie soll ein Mensch, der in einem<br />
völlig anderen Beruf schuftet und auch nicht an zusätzliche Informationen ohne weiteres herankommen<br />
kann - wie soll er das alles begreifen. Machen wir uns nichts vor, die Infomationen in den<br />
elektronischen und gedruckten Medien sind auch deshalb reichlich verwirrend, weil die Journalisten<br />
selber leider nichts mehr verstehen.<br />
206
Seit Wochen versuche ich, den Journalisten klarzumachen, dass der letzte Rentenkompromiss<br />
die Benachteiligung der Frauen nicht aufhebt. Es will mir nicht gelingen, mein Anliegen in die<br />
Öffentlichkeit zu bringen. Und zwar deshalb, weil die Journalisten es nicht kapieren. Es ist zu<br />
kompliziert, sie können daraus keine lockere Story stricken. Jetzt muss ich mir ausdenken, was ich<br />
ihnen für eine Geschichte liefern kann, als Themenaufbereiterin sozusagen. Ich weiß dann auch, das,<br />
was sie dann veröffentlichen werden, wird höchstwahrscheinlich in der Sache nicht hundertprozentig<br />
korrekt sein. Aber vielleicht kriege ich ein paar fette Überschriften. Die brauche ich, um hier<br />
Druck machen zu können.<br />
Ich versuche, den Leuten zu verdeutlichen, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der es<br />
eine allgemeine Wohlstandsmehrung, von bestimmten Gruppen abgesehen, nicht mehr geben wird,<br />
dass wir weniger konsumieren, uns an eine andere Art des Lebens gewöhnen müssen. Je früher,<br />
desto besser. Das paßt offenkundig nicht in das auf Wachstum trainierte Lebenskonzept. Wenn ich<br />
das in Referaten, Diskussionen und Versammlungen klarzumachen versuche, auch dass wir für die<br />
Lebensumstände in Mexiko, Bangladesh oder in Afrika verantwortlich sind, dann werde ich als<br />
spinnerte Moralistin angegriffen, als jemand, der gegen die deutschen Arbeitnehmer sei. Spinnert sei<br />
ich zum Beispiel auch, wenn ich auf einem Gewerkschaftskongress kritisiere, dass es schlicht Unsinn<br />
ist, eine Milliarde Euro auszugeben, um per Bahn von Nürnberg nach München fünfzehn Minuten<br />
schneller zu sein, gleichzeitig aber die ländliche Anbindung dieser Zugverbindung zu kappen und<br />
den öffentlichen Nahverkehr auf diese Weise zu beseitigen. Seitdem ich kein Auto mehr habe, bin<br />
ich mir verstärkt darüber im klaren, um was es in der Verkehrspolitik kommender Jahre gehen sollte.<br />
Ich bin auf intakte Zugverbindungen angewiesen. Aber diese Rede wurde bei den Gewerkschaftern<br />
als ein entschieden zu "grünes" Plädoyer ausgelegt. Schon die Tatsache, dass ich mein Auto<br />
abgeschafft habe, ist vielen suspekt.<br />
In Nürnberg fahre ich meist mit dem Fahrrad und versuche, auf die Blechkiste zu verzichten.<br />
Mir ist klar, dass es so nicht weitergehen kann - nicht zuletzt aus Gründen der Umwelt, der<br />
Energie, auch verkehrspolitisch nicht. Es wäre doch töricht von mir. wenn ich mich selbst nicht<br />
entsprechend verhalten würde. Gut, wenn jemand in der Oberpfalz wohnt, dann braucht er einen<br />
fahrbaren Untersatz. Aber für jemanden im Ballungsgebiet besteht keine Notwendigkeit mehr, ein<br />
eigenes Auto zu haben. Viele empfinden das als eine unzumutbare Einschränkung der Lebensqualität.<br />
Entscheidend ist doch, die Verkehrspolitik angesichts der immensen Gefahren vernünftig zu<br />
regeln. Das wollen viele freilich nicht begreifen, die hören nicht mehr zu. Da kann ich erklären, so<br />
viel ich will.<br />
Ähnlich ergeht es mir an den Informationsständen mit der Asyl-Frage. Die Menschen<br />
wollen keine Erläuterungsversuche mehr hören, sie wollen ihren Missmut abladen. Sie wollen dir<br />
sagen, dass die SPD spinnert ist; sie wollen nichts, aber auch gar nichts über die Genfer Flüchtlingskonvention<br />
hören. Und wenn ich versuche zu differenzieren und zu erläutern, dann schalten sie ab:<br />
'Das Boot ist voll' und damit basta. Was spielt es da für eine Rolle, dass wir heute wegen der Pille<br />
weniger Menschen in Deutschland sind. Was wäre denn, wenn es mit der vorhergehenden Geburtenrate<br />
so weitergegangen wäre?<br />
207
Andererseits sind die Menschen im Vergleich zu früher sensibler und informierter. Sie<br />
engagieren sich gerade für Gerechtigkeit auch im kleinsten. Sie kämpfen dafür, dass es in diesem<br />
Land gerecht zugeht. Diese Art von Gerechtigkeit könnten wir letztendlich nur herstellen mit einen<br />
wahnsinnig großen bürokratischen Apparat. Mit der Folge, dass selbst kleinere Freiheiten drastisch<br />
eingeschränkt würden. Das halte ich für ausgeschlossen. Auch weiß ich nicht, ob die Einzelfall-<br />
Gerechtigkeit durchgängig funktioniert, ob also gesetzliche Lösungen zu allen Wechselfällen des<br />
Lebens tatsächlich mehr in Ordnung bringen. Soll das vorher in der Politik wirklich bis ins kleinste<br />
Detail perfekt geplant werden? Wer kann diese totale Durchorganisation wirklich wollen?<br />
Kein Sozialdemokrat hat im Jahre 1975, als das Fremdengesetz in der heutigen Form und<br />
das Abkommen mit Polen beschlossen wurden, daran gedacht, dass im Jahre 1989 Monat für Monat<br />
zigtausend Polen hierherkommen und behaupten, sie seien Deutsche, und Leistungen genau auf<br />
Grund dieses Gesetzes verlangen. Kein Mensch hat damals an so etwas gedacht. Was damals richtig<br />
und vernüntig war, entpuppt sich heute als blödsinnig und falsch. Das forciert unweigerlich das<br />
Gefühl von Ungerechtigkeiten.<br />
Oder das Bafög, das war wirklich ein gutes Gesetz. Die CDU/CSU/FDP-Koalition<br />
(1982-1998) konnte es sehr leicht kippen, weil es viele Einzelfälle gab, die den Menschen arg aufstießen.<br />
So erhielt der Sohn eines gut verdienenden Arztes Bafög, weil sein Vater irgendwelche<br />
Abschreibungsmöglichkeiten vorweisen konnte. So etwas ist leider nicht auszuschließen. Der<br />
Gesetzgeber kann nicht alles regeln, für jede Schlitzohrigkeit vorsorglich einen Paragrafen parat<br />
haben. Es wird immer Lücken geben, die ausgenutzt werden. Aber viele Menschen sind nicht mehr<br />
bereit, das hinzunehmen. Den Verdruss kriege ich manchmal ungeschützt ab - und habe nicht<br />
einmal Gelegenheit, die ursprüngliche Absicht zu vermitteln. Gleichzeitig sind wir hier in den Regierungs-<br />
wie auch Parlamentsapparaten viel zu schwerfällig. Statt zu sagen: So, jetzt ändern wir diesen<br />
Punkt, nicht mehr, wird gleich alles über den Haufen geschmissen. Und dann werden wieder neue<br />
Ungerechtigkeiten geschaffen.<br />
Klar, ich selbst bin auch nicht durchgehend gut, und habe meine Macken. Und ich bin mir<br />
völlig darüber im klaren, dass ich manchmal etwas anders machen sollte, Aber das schaffe ich dann<br />
nicht, eben weil ich ein ganz normaler Mensch bin. Die hehren Ansprüche, die Rita Süssmuth<br />
(Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen, Gesundheit,1985-1988, Präsidentin des Deutschen<br />
Bundestages 1988-1998) in ihrer Rede an uns Abgeordnete adressiert hat. Natürlich möchte jeder<br />
Mensch ein guter Mensch sein, ein Mensch also, der seinen eigenen moralischen Prinzipien folgt.<br />
Und das gilt für einen Abgeordneten wie für jeden Menschen. Wir sind doch um keinen Deut besser.<br />
Auch wir verstoßen ab und an gegen unsere moralischen Prinzipien und tun etwas, was wir an, was<br />
wir an und für sich mit uns nicht vereinbaren können - das steht außer Frage. Rita Süssmuth hat uns<br />
Abgeordnete auf ein zu hohes Podest erhoben. Ich möchte gern nach wie vor die Renate Schmidt<br />
sein, wohnhaft in einem vergammelten Haus in der Goldweiherstraße in Nürnberg. Dort lebe ich<br />
schon seit Jahrzehnten. Und dort werde ich auch dann bleiben, falls ich jemals Ministerin (2002-<br />
2005) werden sollte - und ich werde weiterhin mit meinem Fahrrad um die Ecken kurven und mit<br />
der Verkäuferin über den Butterpreis schwatzen. Ich möchte hier in der Hauptstadt das Gefühl<br />
behalten, ich kann wieder zurück ohne Verluste.<br />
208
Ich war gerne Betriebsrätin und gerne in der Datenverarbeitung, Momentan bin ich noch<br />
gerne hier in Bonn, und ich denke, meine nächste Arbeit werde ich auch gerne machen, ob als<br />
Ministerin oder anderswo. Natürlich würde ich mich freuen, wenn ich in ein sozialdemokratisches<br />
Bundeskabinett käme, weil es aus meiner Sicht eine Menge anzupacken gibt. Ich werde aber keine<br />
Träne vergießen, wenn dieser Zug an mir vorbeirauscht. An meinen persönlichen Leben wird sich in<br />
den Grundzügen nichts ändern. Ich werde, auch wenn das manchem unverständlich ist, mein Leben<br />
wie bisher leben. Ich werde nach wie vor keine Hausangestellte beschäftigen - na ja, vielleicht lasse<br />
ich mal mein Haus verputzen; bevor alles abbröckelt.<br />
Aber ich lege Wert darauf, dass ich bei Veranstaltungen als erste begrüßt werde. Nicht, weil<br />
ich die Frau Abgeordnete bin, sondern weil als Vertreterin des Souveräns agiere, als Volksvertreterin.<br />
Da reagiere ich sehr allergisch. Doch die Renate Schmidt, die möchte ich mir so gut wie irgend<br />
möglich erhalten. Manchmal geht es da recht heftig in mir zu, denn das ist nicht leicht. Im Moment<br />
habe ich deshalb ziemliche Konflikte mit meinem Freund. Er hat den Verdacht, dass die Bundes-<br />
Politik und die damit verbundene Öffentlichkeit meines Lebens mich stark verändern, dass ich das<br />
positive Geschehen zu sehr in mein Leben, in meine Gefühlswelt einbeziehe. Ich hingegen meine,<br />
dass er da ungerecht ist.<br />
Er war Anfang der siebziger Jahre in Chile, wurde dort unter dem Diktat des Generals<br />
Augusto Pinochet (*1915+2006) im Jahre 1973 im Fußballstadion in Santiago gefangen gehalten,<br />
gefoltert. Mit großer Mühe ist Thomas von meinem Kollegen - damals war ich noch nicht im<br />
Bundestag - herausgeholt worden. Zurück in Deutschland , wollte er das Protokoll seiner Erfahrung<br />
in chilenischen Gefangenenlager an und unter die Menschen bringen. Aber hier interessierte sich<br />
kaum noch jemand dafür. Sein Schicksal und das Schicksal Tausender ermordeter, gefolterter<br />
Menschen schienen bereits in dieser atemberaubenden Schnelllebigkeit dieser Jahre der berühmte<br />
Schnee von gestern zu sein. Er schreibt jetzt Bücher, forscht und arbeitet als Taxifahrer oder Museumspädagoge.<br />
Wir beide sind uns freilich nicht so sicher, ob wir zusammenbleiben können, wollen,<br />
sollen ... Vielleicht hat sich unsere Gemeinsamkeit ja überlebt.<br />
Wir haben jedenfalls unsere fortwährenden Auseinandersetzungen. Er definiert sich im<br />
Gegensatz zur etablierten Gesellschaft, die ich wiederum für ihn verkörpere. Abgrenzung. Ich bin<br />
nämlich jene, die nachweislich Erfolg hat. Da ist bei ihm Skepsis angesagt. Er will nicht kapieren,<br />
dass ausgerechnet ein Mensch wie ich Erfolg haben kann. Er fragt sich zunehmend misstrauischer,<br />
passt sie sich etwa ganz heimlich doch nicht zu sehr an? Welchen Preis muss sie eigentlich für ihren<br />
Durchbruch zahlen?<br />
209
Also, ich weiß es nicht. Mir sagte jemand vor ein paar Jahren auf einer Veranstaltung: Dass<br />
so jemand wie du Abgeordnete ist! Es muss irgendwas dran sein. Ich habe ja einen rasanten Aufstieg<br />
in einer vergleichswiese kurzen Zeit in einer relativ großen, von Männern beherrschten Fraktion<br />
gemacht. Dieses Politikerinnen-Dasein ist meinem Freund suspekt. Gewiss färbt die<br />
Abgeordneten-Tätigkeit in der Politik-Kaste auf meine persönliche Entwicklung ab. Es wäre töricht<br />
von mir, das zu leugnen. Nach diesen zehn Jahren im Deutschen Bundestag bin ich anders, eben<br />
sicherer in meinem Umgang mit diesem Mandat und seinen Begleitumständen geworden. Vielleicht<br />
übertreibe ich etwas: aber es ist schon schwierig, sich in diesem Bonn nicht auffressen zu lassen.<br />
Mit meinem Mann Gerhard habe ich oft über den Einfluss der Politik aufs Privatleben<br />
gesprochen. Gerhard hatte zu Recht Angst , dass unser privates Refugium en 'gläsernes Haus' werde.<br />
Versuche in dieser Richtung, vor allem von Journalisten, blocke ich zunehmend ab; dieses vorlaute,<br />
nassforsche Hineinwuchern. Mich und alle Menschen, zu denen ich engere Beziehungen habe,<br />
macht diese Art von Aufdringlichkeit wahnsinnig. Zum Beispiel zu Hause in Nürnberg: Wir kochen<br />
zusammen. Plötzlich Telefon, irgendeine Redaktion. Mein Freund meint, ich wäre in solchen<br />
Momenten sofort präsent und könnte von der einen auf die andere Minute über Gen-Technologie,<br />
den Familien-Lastenausgleich oder über was weiß ich noch abrufbereit reden; ja, dass ich immer an<br />
der richtigen Stelle lachen würde - wie eine Schauspielerin auf derPolitik-Bühne.<br />
Aber das ist übertrieben. Sicher bin ich jetzt in einer Funktion, in der mir das oft passieren<br />
kann, mehr als früher. Und es kann sein, dass ich nicht mehr die Distanz zu mir selbst finde, die ich<br />
haben sollte. Dennoch behaupte ich, dass ich nicht völlig verkorkst bin, und das lasse ich mir auch<br />
nicht von meinem Freund einreden. Gut ist, dass er mich darauf aufmerksam macht, denn die<br />
Gefahr einer Deformation besteht.<br />
Nur: Thomas hat mittlerweile das seltsame Gefühl, er sei eine Art Naturschutzgebiet für<br />
mich, wo ich als Freiwild von der Öffentlichkeit nicht x-beliebig greifbar bin. Zugegeben: Es ist<br />
manchmal schwierig, nein zu sagen und Journalisten unmissverständlich klarzumachen, dass ich gar<br />
nicht daran denke, jetzt, an meinem letzten freien Tag in diesem Moment, mit dem Zug von Nürnberg<br />
nach München zu fahren, drei Stunden im Studio zu sitzen, nach Schminkerei und allem Pipapo<br />
die Sendung zu machen und nachts zurückzufahren.<br />
Es ist vom psychischen Ablauf her verdammt kompliziert, den Mittelweg zu finden: Wann<br />
sage ich nein, wan ja. Irgendwie sind Politikerinnen und Politiker eitle Menschen, die öffentlich<br />
wirken müssen und andere bewegen wollen. Man muss diese kokette Eitelkeit unter Kontrolle<br />
bringen, diese staatstragende Schauspielerei. Man darf sich nichtr mit hineinziehen lassen und der<br />
Sucht der Bewunderung nachgeben. Wenn ich aufhörte, darüber nachzudenken, dann würde ich<br />
mich verlieren. Nur: alleine darüber zu grübeln, das hilft nicht weiter. Daraus muss man die Konsequenzen<br />
ziehen. Und das ist nicht einfach - hier in Bonn oder auch Berlin - anderswo.<br />
210
In den Bonner Jahren meiner Abgeordneten-Tätigkeit habe ich mich nicht nur äußerlich<br />
verändert. Ich bin heute viel sicherer. Ich weiß, was ich hier tun kann und was nicht. Ich kenne den<br />
Apparat ziemlich genau und komme mit ihm zurecht. Meine so genannte politische Karriere erkläre<br />
ich mir daraus, dass ich eine Mischung bin, die es nicht so häufig gibt. Da ist einmal mein Lebensweg,<br />
meine Lebenserfahrungen. Ähnliches gibt es in der SPD-Bundestagsfraktion nicht oft und<br />
kommt den Erfordernissen der Genossinnen - also der Frauen - und der Männer gleichermaßen<br />
entgegen.<br />
Ich meine den Typus erwerbstätige Frau, die Beruf und Kinder miteinander vereinbart, die<br />
auch unter Schwierigkeiten - mit ihrem Mann andere Formen der Partnerschaft versuchte. Eine Frau<br />
mit Erfahrungen in einem privatwirtschaftlichen Betrieb. Eine Frau, die in der Gewerkschaft aktiv<br />
war. Eine Frau, die diese Kombination mit ins politische Geschehen einbringt. Eine Frau schließlich,<br />
die auf ihre Weiblichkeit Wert legt und gerne mal flirtet. Die nicht glaubt, die Emanzipation werde<br />
verraten und die Welt ginge unter, wenn ihr jemand in den Mantel hilft.<br />
Diese Mischung aus vielen Komponenten verschafft mir Resonanz. Hinzu kommt, dass<br />
ich effektiv arbeiten, mich auf meine Ergebnisse verlassen kann. Das konnte ich schon immer, viel<br />
arbeiten, und ich mochte es gerne. Es gibt natürlich Tage, da möchte ich am liebsten gar nichts tun.<br />
Aber meine Disziplin ist es dann, die überwiegt. Seit spätestens meinem fünfzehnten Lebensjahr<br />
habe ich ein ausgeprägtes Pflichtbewusstsein. Und dieses Pflichtbewusstsein hilft mir über persönliche<br />
Kümmernisse hinweg, was nicht immer ein Vorteil sein muss. Wenn ich sage, das mache ich,<br />
dann geht es meist auch. Jedenfalls bemühe ich mich. Ich kippe nicht gleich um - schon gar nicht auf<br />
diesem Polit-Karrusell im Männer-Land.<br />
Ich bin Vorsitzende des Arbeitskreises "Gleichstellung für Frau und Mann", und meine<br />
Leitidee hier lautet, wir werden in der Gleichberechtigung nichts erreichen, wenn sich die Männer<br />
nicht verändern. Die ersten siebzig Jahre der Frauenbewegung waren geprägt von Veränderungen<br />
der Frauen. Es waren Frauen, die sagten, wir müssen mehr lernen, wir müssen uns in die Männer-<br />
Angelegenheiten mehr einmischen, wir müssen dort unsere Position kriegen. Ergo: Wir müssen, wir<br />
müssen, wir müssen ... Die Frauen haben sich verändert und sie müssen sich weiter verändern, das<br />
ist klar.<br />
Aber jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, wo allein durch Veränderungen der Frauen überhaupt<br />
nichts Entscheidendes passieren wird. Aus der Frauen-Frage ist längst eine Männer-Frage geworden.<br />
211
Die Männer sollten endlich erkennen und lernen, dass auch sie ihr Leben einzuschränken<br />
haben. Viele können sich das Abenteuer Leben nur mit hundertfünfzig Überstunden im Monat<br />
vorstellen. Wir möchten nämlich erreichen, dass die Männer sich am Leben der Frauen, am Leben<br />
ihrer Kinder tatsächlich beteiligten. Dass dieses Leben für sie in der ganzen Tragweite erfahrbar,<br />
erfassbar wird. Für mich ist jetzt der Punkt erreicht, dass wir uns in der Politik fragen sollten, was<br />
können wir tun, welche Rahmenbedingungen können wir schaffen, damit Männer mit einem neuen<br />
Bewusstsein ihr neues Selbstverständnis in die Praxis umsetzen können. Die Familienarbeit muss<br />
deshalb einen höheren Stellenwert bekommen. Das haben wir in der Fortschritt-90-Kommission<br />
mit Oskar Lafontaine (*1943, SPD-Parteivorsitzender 1995-1999), dann als Berliner Parteitagsbeschluss<br />
festgeschrieben. Sie ist neben der ökologischen Erneuerung ein zentrales Anliegen der<br />
Sozialdemokratie im kommenden Jahrzehnt. Also, die Vereinbarkeit von Kindern und Beruf soll<br />
nicht nur Thema der Frauen, sondern gleichfalls der Männer sein. Das lässt sich nicht abrupt umsetzen.<br />
Bewusstseinswandel.<br />
Gesetzgeberisch gehen wir dieses Problem mit aller Konsequenz an. Wir planen und schaffen<br />
Rahmenbedingungen, die es Frau wie Mann ermöglichen, in gewissen Zeiträumen ihres Lebens<br />
andere Prioritäten zu setzen. Dabei ist die berufliche Tätigkeit nicht mehr so wichtig. Kinder und<br />
Familie, die Partnerschaft stehen im Mittelpunkt. Ich möchte, dass es für den Mann regelrecht, schon<br />
unter rein materiellen Aspekten, unsinnig wird, zu leben wie bisher.<br />
Dafür sind gravierende Bewusstseinsveränderungen unerlässlich. Ich kann mit Hilfe der<br />
Politik diese Diskussion entscheidend in Bewegung setzen. Ich kann und will nicht in den privaten<br />
Bereich hineinregieren. Im Moment wollen wir den Blick darauf lenken, was Frauen tatsächlich zu<br />
tun haben. Wir veranstalteten unlängst eine Anhörung zum Thema "ein bisschen Haushalt, sagt<br />
mein Mann". Wir wollen erreichen, dass die oft belächelte Familien-, Hausarbeit drastisch aufgewertet<br />
wird. Ich bin froh darüber, dass in der Fortschritt-90-Kommission dieses zentrale Frauen-<br />
Anliegen akzentuiert uind einhellig - auch mit den Männern - herausgearbeitet worden ist.<br />
212
Vor nicht langer Zeit habe ich auf einem Kongress in Berlin den Präsidenten der Bundesvereinigung<br />
der Deutschen Arbeitgeberverbände, Herrn Dr. Klaus Murmann (1986-1996) getroffen.<br />
Er betonte, wie sehr die Industrie die Qualitäten der Frau zu schätzen wisse, insbesondere ihre<br />
ausgeprägte Bereitschaft zur Teamarbeit; dass gerade Frauen heutzutage unverzichtbar im Bereich<br />
industrieller Fertigungen seien. Sein Tenor: Wir brauchen Frauen in den Werks-, Montage-, Fließbandhallen,<br />
in den Labors, an den Bildschirmen dringender denn je. Darauf sagte ich quasi als<br />
Erwiderung, mich würde schon einmal interessieren, wer seine flotten Anzüge in die Reinigung<br />
gebracht, wer das Hemd von meinem verehrten Vorredner gebügelt habe. Ich fragte ganz einfach<br />
und schilderte dann ein fiktives Einstellungsgespräch im Jahre 2008, bei dem die Personalchefin<br />
Renate Schmidt Herrn Dr. Klaus Murmann, 37 Jahre als, drei Kinder, nach Lektüre seiner Personalunterlagen<br />
anschaut und fragt: 'Lieber Herr Dr, Murmann, wann haben Sie denn eigentlich Ihren<br />
letzten Eltern-Urlaub genommen? Merkwürdig, Sie waren ja niemals teilzeitbeschäftigt, obwohl Sie<br />
drei Kinder haben, wie denn das?' Antwort: ' Auch, also wissen Sie - Haushalt, Kinder, das macht<br />
noch immer in bewährter Manier meine Frau.' - 'Schade, Herr Dr. Murmann, dann kommen Sie<br />
leider für die angestrebte Führungsposition bei uns nicht in Betracht, weil Ihnen offenkundig<br />
wichtige Erfahrungen fehlen, die wir für unerlässlich halten. Sie haben nämlich keinen Qualifikationsnachweis,<br />
ob Sie wirklich einen Haushalt führen, sich selbständig um die Kinder kümmern<br />
können. Schade.'<br />
Ich klopfe Murmann abschließend aufmunternd auf die Schulter und tröste ihn: ' Aber Sie<br />
sind ja jung und Ihre Kinder recht klein. Sie können das bislang Versäumte noch gut nachholen.<br />
Sonst haben Sie ja ausreichende Leistungsnachweise. Wenn Sie in drei bis vier Jahren wieder einmal<br />
vorbeischauen, haben wir sicherlich eine entsprechende Position für Sie parat.'<br />
Ergo - in diese Richtung muss sich das Bewusstsein aller orientieren. Die Männer müssen<br />
sich gewaltig ändern. Sie müssen erkennen, dass die Frauen nicht mehr dazu bereit sind, die<br />
ausschließlich von Männern aufgestellten Kriterien, die vielleicht für deren Karrieren förderlich sind,<br />
wie Naturgesetze zu akzeptieren.<br />
So wird die Emanzipationgeschichte definitiv nicht verlaufen, dass die Frauen weiterhin<br />
sagen, wir werden uns nicht mehr anpassen wegen der beruflichen Inaktheit des Mannes. Wir<br />
machen das auf Dauer nicht mehr mit, dass diese zum Beispiel 150 Überstunden für ein funkelnagelneues<br />
Metallic-Auto kritiklos schlucken , die Kinder allein uns anvertrauen, sich selbst nicht mal<br />
ein Quäntchen darum kümmern - für die nächsten Menschen keine Zeit haben, die Partnerschaft als<br />
einen vernachlässigbaren Nebenschauplatz betrachten - das Zuhause quasi als Jugendherberge. So<br />
läuft das Leben mit vielen Frauen nicht weiter. Das werden wir nicht mitmachen. Punktum.<br />
Wenn uns die Industrie und der Öffentliche Dienst nicht die Zeit konzedieren, die wir für<br />
andere Menschen benötigen, dann sollen sie uns den Buckel runterrutschen. Die Ära, in der wir für<br />
Kinder, Haushalt, letztlich für das Gelingen der Partnerschaft allein verantwortlich waren, zählt im<br />
Grunde schon zur Vergangenheit. Weitreichende Konsequenzen diskutieren wir jetzt konkret an<br />
einzelnen Maßnahmen, die in das Gleichstellungsgesetz hineingehören. Es gelingt uns schon mittelfristig,<br />
ein neues Bewusstsein, ein hinterfragendes Selbstverständnis zu erzeugen.<br />
213
Christoph Zöpel (*1943, Staatsminister im Auswärtigen Amt 1999-2003) hat die Tiefenschärfe<br />
der Dimension unserer Absichten in der Fortschritt-90-Kommission erkannt - auf den<br />
Punkt gebracht: die tatsächliche Gleichstellung von Frau und Mann<br />
ist einer der größten reformerischen Impulse, die wir in den nächsten Jahrzehnten offensiv bewältigen<br />
wollen. Dies dürfte im Prinzip eine Revolution werden - eien unblutige Revolution. Und das<br />
wird neben der ökologischen Umgestaltung und dem Zusammenwachsen beider deutschen Staaten<br />
das zentralen Thema des zwischenmenschlichen Zusammenlebens werden. Auch diese Mauer wird<br />
fallen. Ob in Bonn oder Berlin die Hauptstadt ist - das ist wirklich einerlei.<br />
In diesem Zusammenhang finde ich es geradezu niedlich, wenn ich in der Partei gefragt<br />
werde, warum ich mich ausgerechnet für das scheinbar kompetenzarme Ministerium für Jugend,<br />
Familie, Frauen und Gesundheit interessiere, ja, dafür optiere. Derzeit wird dieses Ministerium in<br />
seiner qualitativen Tragweite noch sehr verkannt, unterschätzt - zumindest in der Sozialdemokratischen<br />
Partei. Es kommt doch nicht von ungefähr, dass überall dort, wo die Grünen mit der SPD<br />
eine Regierungskoalition eingehen, sie dieses Ressort beanspruchen. Das Umwelt- und das Frauenministerium<br />
werden künftig die politischen Administrationen sein, von denen entscheidende<br />
Weichenstellungen ausgehen. Natürlich werde ich um mehr Kompetenzen kämpfen. In diesem<br />
Ministerium sehe ich die Chance für reale Veränderungen - gerade in einer Zeit, in der die allgemeinen<br />
politischen Gestaltungsspielräume zusehends enger werden.<br />
Selbstverständlich diskutieren wir auch über Fragen zum Strafrechtsparagrafen 218. Hier<br />
zeichnet sich deutlich ein Wertewandel ab. Mittlerweile denken und reden nur noch wenige nach<br />
dem Motto: "Mein Bauch gehört mir." Nach dem, was ich in den letzten Jahren gelernt und bei<br />
meiner Tochter miterlebt habe, steht für mich fest, dass für mich persönlich eine Abtreibung niemals<br />
in Frage kommt. Und ich hoffe, dass ich nie in so eine bedrückende Situation gerate. Meien Tochter<br />
- sie ist allein erziehende Mutter von zwei Kidern - hat mich bei ihrer ersten Schwangerschaft<br />
angerufen und geweint. Ich habe gesagt, Jenny, das ist kein Grund zum Heulen, weder so noch so.<br />
Wenn du sagst, du willst das Kind nicht - gut, du weißt, dass es Wege gibt, das Kind nicht<br />
zur Welt zu bringen. Wenn du das Kind willst, da sage ich dir ehrlich, wo fünf Personen satt werden,<br />
wird doch wohl ein sechster Mensch genug zu beißen bekommen. Ich glaube, ich habe meine Tochter<br />
Jenny nicht beeinflusst, Sie hat hin und her überlegt - allein, denn sie hatte damals keinen festen<br />
Freund. Jenny kam schließlich zu dem Ergebnis, dass sie nicht abtreiben will. Ich muss sagen, dass<br />
ich mich über ihre Entscheidung gefreut habe.<br />
Beim zweiten Kind lebte Jenny mit einem jungen Mann seit längerer Zeit in einer gemeinsamen<br />
Wohnng. Sie waren bei der Beratungsstelle und hat eine Indikation gehabt. Mein großer Sohn<br />
Alexander fuhr sie zur Klinik. Vor der Eingangstür sagte sie zu ihm: 'Du, drehe um, es geht nicht,<br />
ich kann nicht.' Eine Abtreibung gegen das eigene Gefühl ist unmöglich. Ich weiß, dass manche<br />
Frauen dabei seelisch einbrechen. Ich sage nicht, dass das bei jeder Frau so ist. Manche kommen<br />
damit gut zurecht.<br />
214
Ich habe meine Kinder in dieser Frage nie beeinflusst, weil ich meine, das ist eine ganz<br />
persönliche Entscheidung. Nur meinen Söhnen rede ich nachhaltig ins Gewissen, dass ihre Verantwortung<br />
ebenso groß ist wie die der Frau, und dass sie solch eine Verantwortung nur übernehmen<br />
sollten, wenn sie tatsächlich dazu bereit sind, und zwar langfristig.<br />
Mein Mann, Gerhard, war im Dezember 1983 sehr krank geworden. Die Ärzte hatten<br />
zunächst eine Herzkrankgefäß-Geschichte diagnostiziert, und Gerhard muss dem allem auch keine<br />
allzu große Bedeutung beigemessen haben. Erst viel zu spät stellte dich durch eine Röntgenaufnahme<br />
heraus, dass er eine Herzmuskelentzündung hatte, mit einer nur nch 25prozentigen Herzleistung.<br />
Es ist nie geklärt worden, welche Ursachen dafür ausschlaggebend waren.<br />
Da wurde ich, gerade vierzigjährig, unverhofft Großmutter und mein Gerhard lag im<br />
Krankenhaus, psychisch völlig unten. Ich bin in dieser fürchterlichen Zeit nahezu täglich zwischen<br />
Nürnberg und Bonn hin und her gependelt: Morgens hier in Nürnberg, abends wieder in Bonn usw.<br />
Das war der helle Wahnsinn. Dann sprachen wir mit dem Arzt, grundsätzlich, und er meinte, dass<br />
nur eine Herz-Transplantation Heilung versprechen könne. Gerhard sagte, das mache ich auf<br />
keinen Fall. Das kann ich verstehen: irgendwie ist das irrsinnig. Niere ja, aber Herz: nein. Ich habe<br />
auch noch nie eine Organspende unterschrieben, weil ich das Gefühl habe, irgendwie gibt es Grenzen.<br />
Der Mensch ist doch kein Ersatzteillager oder inzwischen doch ?<br />
Immerhin hatte sich Gerhard wieder aufgerappelt, war vital und lebenslustig, wobei klar<br />
war, dass er nur sehr eingeschränkt leben könne. Er fuhr zur Kur, und ich reduzierte meine Bonner<br />
Tätigkeit stark. Ich habe in Bonn und in Bayern der Partei gesagt, wenn es um Termine und Veranstaltungen<br />
ging, ich kann nicht mehr und damit basta. Und zu mir: 'Renate, du bist zwar noch<br />
Bundestagsabgeordnete, mache halbwegs deine Arbeit - aber ab jetzt alles eine Nummer kleiner.'<br />
Im Jahr 1984 haben wir noch einen sehr schönen Urlaub in der Bretagne verlebt. Wir erholten<br />
uns gut und waren beide frohen Mutes. Ich reiste dann mit dem Bundestagsausschuss in die<br />
Vereinigten Staaten. Der Arzt hatte sich geradezu euphorisch geäußert, dass es toll sei, wie Gerhard<br />
sich erholt habe. Wir fingen wieder an, kleine Pläne zu schmieden, redeten über unsere silberne<br />
Hochzeit und derlei Geschichten. Aber große Zukunftsprojekte wollten wir nicht machen. Wir<br />
sagen uns: 'Was wir jetzt haben, das hamm er', darüber hinauis wollten wir erstmal nicht schauen.<br />
Eine Woche später, nachdem ich aus den USA zurück war, hatte ich Sitzungswoche in<br />
Bonn. Ich war nicht zu Hause. Gerhard wollte in der Stadt etwas erledigen. Er ist im Jahre 1984 auf<br />
der Straße zusammengebrochen und war innerhalb von Sekunden tot. Wenn jemand mit Herzrhythmusstörungen<br />
sich plötzlich aufregt, erklärte mir der Arzt, kann es trotz guter Erholung passieren,<br />
dass es abrupt aus ist.<br />
215
Erst haben die Streifenbeamten bei meinen früheren Arbeitgeber, einem Versandhaus,<br />
angerufen, weil sie in Gerhards Tasche einen Einkaufsschein gefunden hatten. Dann kamen sie<br />
endlich bis Bonn durch. Ein Polizist fragte mich, ob ich einen Gerhard Schmidt kenne, der sei<br />
gerade im Zentrum von Nürnberg tot zusammengebrochen. Ich antwortete. Gerhard Schmidt gebe<br />
es viele, das müsse ein Irrtum sein. Ausgerechnet an diesem Tag war von meiner Familie niemand<br />
erreichbar. Mein Sohn Alexander musste vor Gericht sen Kriegsdienstverweigerungsverfahren<br />
durchboxen, Jenny war unterwegs, men Kleinster auf Klassenfahrt.<br />
Auf der Rückfahrt nach Nürnberg war mir klar, dass ich mich von der Bonner Politik<br />
verabschieden, mein Bundestagsmandat aufgeben, vielleicht als Systemanalytikerin in Nürnberg in<br />
Lohn und Brot gehen würde. Ich wollte künftig zu Hause bei meinen Kindern sein. Irgendwie hatte<br />
ich dem Politiker-Leben am Rhein schon innerlich ade gesagt, sagen müssen. Andererseits wusste<br />
ich, dass ich jetzt nicht, quasi als leidgeprüfte Krisenmanagerin, ins Leben meiner erwachsenen<br />
Kinder hineinregieren kann. Vielleicht war es wirklich ein Zufall, dass meine Kinder einhellig der<br />
Auffassung waren, ich sollte in Bonn weitermachen, nicht aus Verzweifelung alles hinschmeißen.<br />
Zum Schluss drehte sich alles um Florian, meine anderen Kinder lebten mit ihren Partnern schon<br />
längst in Wohngemeinschaften. Florian wollte ich nicht allein zu Hause lassen. Ins Internat wollten<br />
wir ihn natürlich auch nicht 'abschieben'.<br />
Tagelang haben wir beraten, wie wir nun unser Leben in Nürnberg gestalten wollen.<br />
Alexander und seine Freundin machten mir das Angebot, in unser Haus zurückzuziehen, was für die<br />
beiden sicher nicht leicht war. Wir mussten das ganze Haus umgestalten fast ganz umbauen. Wichtig<br />
war, dass jeder seine Rückzugsmöglichkeit hatte. Ich habe dann sechs Wochen Holz gestrichen usw.,<br />
bis endlich alles stand. Ich selbst wohne in dieser Zeit im Gartenhäuschen, zwischen Bäuschen und<br />
Bäumen - dieses laubenähnliche Refugium wurde mein Domizil. Im Haus war ja wegen der Kinder<br />
kein Platz mehr. Ich habe also geschuftet, um über das Schlimmste hinwegzukommen.<br />
Ausgerechnet in dieser Zeit kam die bayerische SPD mit dem Vorschlag, dass ich ihren<br />
Vorsitz (1991-2000) übernehmen sollte Zunächst erklärte ich nur das ich unter keinen Umständen<br />
macen könne, weil ich überhaupt nicht wüsste, wann ich wie ich mich wieder fangen würde: dass ich<br />
in solch einer Lage nicht als bayerische SPD-Chefin durch die Lande reisen könnte, um den CSU-<br />
Staat zu kritisieren und strahlenden Optimismus zu verbreiten - das verstehe ich doch wohl von<br />
selbst.<br />
In den ersten Bonner Wochen hatte ich regelrecht Schwierigkeiten , im Plenum des<br />
Bundestages überhaupt ein Wort über die Lippen zu bringen. Ich weiß es noch genau, ich sollte über<br />
den Zivildienst reden. Teilweise begriffen die Kollegen gar nicht, was mit mir geschehen war, oder<br />
wollten es nicht verstehen - als könnte ich schnurstraks zur Tagesordnung übergehen. Ich brauchte<br />
lange, bis ich endlich wieder konnte. Bis dahin war ich ganz in Abwehrstellung.<br />
216
Der richtige Zusammenbruch blieb nicht aus. Es passierte, als ich das erste Mal allein zu<br />
Hause war. Vorsorglich hatte ich mich ja über lange Wegstrecken den Kindern angeschlossen. Insgeheim<br />
fürchtete ich mich wohl davor, allein zu sein. Doch das läßt sich ja nicht immer umgehen. Die<br />
Kinder waren in den Pfingstferien ins Zeltlager gefahren. Ich merkte auf einmal, wie sehr ich alles,<br />
was passiert war, zugeschüttet, abgeschüttelt, verdrängt hatte - das heißt, mir keine Atempause,<br />
keine Verarbeitungsphasen zugestanden hatte.<br />
An diesem Tag nun sollte ich morgens nach München zur Verleihung des Umweltpreises<br />
der SPD fahren. Ich wachte früh auf und bemerkte, dass ich mit riesengroßen roten Quaddeln am<br />
ganzen Körper übersät war. Dieser Allergieschub warf mich ins Bett. Ich war erschrocken und<br />
fragte mich, wie es dazu habe kommen können, zumal ich mich doch tags zuvor pumperl gesund<br />
gefühlt hatte. Mir ging es drei Wochen schlecht. Der verdrängte Schmerz hatte sich auf seine Weise<br />
nachdrücklich gemeldet. Dieser Rückschlag - das hieß wohl, dass ich endlich allein sein wollte, ohne<br />
Anlenkungen. Ich wollte mich wiederfinden.<br />
Früher konnte ich unbeschwert flirten, die Männer, wenn ich etwas von ihnen wollte, mal<br />
witzig, mal direkt und schroff anhauen. Nun ertappte ich mich dabei, wie ich eine Männer-Phobie<br />
kultivierte. Ja, jedem, der sich mir in den Büros nur ein bisschen freundlich näherte, habe ich gleich<br />
meine spitzen Krallen unter die Nase gehalten: permanent in Alarmbereitschaft. Ich konnte<br />
niemanden an mich heranlassen, erst recht nicht in Bonn, das mir immer aberwitziger erschien.<br />
Ich tat das einzig Vernünftige: Mit meinem Sohn Flo fuhr ich für mehrere Wochen nach<br />
Finnland, in völlige Einsamkeit. Ich muste niemanden sehen, keine Erwartungen erfüllen - weder<br />
von mir noch von anderen . Ganz allmählich fand ich wieder zu mir zurück - fand letztlich auch<br />
meinen Durchsetzungs- imd Kampfeswillen, meine beinahe unverschämte Neugierde auf andere<br />
Menschen wieder. Nach zwei Jahren.<br />
Wenn wir alle nicht nochmals zusammengezogen, quasi als Familien-WG zusammengerückt<br />
wären - ich hätte mit der Bundespolitik definitiv aufgehört. Es wäre für mich unvorstellbar<br />
gewesen, dass ich in Bonn oder Berlin über die sträflich vernachlässigte Familienpolitik Reden halte,<br />
während das damals vierzehnjährige Flo in Nürnberg allein gewesen wäre. Das hätte ich nie ausgehalten.<br />
Wir leben in einer Ausbruchsära, die mich unmittelbar betrifft und mit mir Millionen von<br />
Frauen in diesem Land. Ihren Bedürfnissen nach umfassender Akzeptanz, nach Ausbau ihrer selbstverständlichen<br />
Rechte, aber auch der rigiden Umkehr von der zerredeten Frauen- in die anstehende<br />
Männerfrage, weiß ich mich verpflichtet. Deshalb mache ich weiter in Bonn, später auch in Berlin.<br />
Das ist auch der Grund, warum ich als Spitzenkandidatin der bayerischen SPD in den Jahren 1994<br />
und 1998 mit viel Elan in die Wahlschlachten zog, um die nahezu erdrückende Vormachtstellung der<br />
CSU zu brechen. Ich zog von Dorfkneipe, vom Marktplatz zu Marktplatz. Aussichtslos. Damals<br />
noch.<br />
217
Noch im Jahre 1968 hätte ich auf die Frage: 'Bist du eine Feministin?' mit Unverständnis<br />
reagiert. Heute bin ich sauer, wenn ich von Feministinnen ausgegrenzt werde. 1968 war bei mir noch<br />
das Bedürfnis vorherrschend, Männern zu gefallen; heute dominiert der Wunsch, als Frau gut zu<br />
bestehen. Wir sind zwar inhaltlich noch in die Leichtlohngruppe des Bundestages, aber leicht haben<br />
wir es deswegen nicht. Nur: wir haben inzwischen festgestellt, dass wir eine Macht sind, die es<br />
systematisch auszubauen gilt.<br />
Ich habe gemischte Gefühle beim Gedanken an das Jahr 1968. Seinerzeit durchlief die<br />
Bundesrepublik nach der Restaurationsphase der Nachkriegsjahre, gleichfalls eine Aufbruchsphase.<br />
Ich habe das Gefühl, damals nicht wirklich dabeigewesen zu sein: Die Heldinnen sind immer die<br />
anderen. Ich bedauere, dass ich nicht studiert , kaum nächtelang Diskussionen geführt habe und<br />
keine WGs kenne. Ich habe ehedem Männer als Maßstab akzeptiert, ja sie regelrecht gesucht, teils<br />
um zu gefallen, teils um mich mit ihnen beruflich zu messen. Mittlerweile weiß ich, dass ich ohne die<br />
Erfahrung jener Jahre nicht dort wäre, wo ich bin.<br />
Im Jahr 1961 erwarte ich, knapp achtzehnjährig, ein Kind, heiratete, kann als 'in Schande<br />
Gefallene' mein Abitur nicht machen nicht machen, werde Programmiererin - damals ein Männerberuf.<br />
Ich komme zum Entsetzen meiner Kollegen nach der Geburt eines zweiten Kindes 1963 wieder<br />
in den Beruf zurück, werde schlechter bezahlt als die Männer. Muss, als mein Mann Gerhard mit<br />
dem Studium fertig ist, erneut die Kämpfe um Haushalt und 'wer-bringt -die-Kinder-in-den-<br />
Kindergarten' ausfechten - uind gewinne fast immer. Im Jahre 1969 ein kurzer Flirt mit der Deutschen<br />
Kommunistischen Partei (DKP), der mit dem Einmarsch der Sowjets in Prag abrupt ein Ende<br />
hat.<br />
1968 nehme ich mir zum Entsetzen meiner Vorgesetzter mehrere Male frei, um auf<br />
Demonstrationen zu gehen: gegen die Notstandsgesetze, für den Nulltarif im öffentlichen Nahverkehr,<br />
gegen die US-Streitkräfte in Vietnam, Sitzstreik am Plärrer in Nürnberg (links-alternative<br />
Stadtzeitung): Besetzung des Schauspielhauses. Ich schwenke eine rote Fahne auf der Bühne. Nein<br />
- keine Frauengruppen, nichts Frauenbewegtes; ich habe mich durchgesetzt bei den Männern -<br />
zotigen Witzen setzte ich noch eins drauf, schließlich leben wir im Zeitalter der so genannten sexuellen<br />
Befreiung.<br />
1970 Geburt des dritten Kindes; erstes gewerkschaftliches Engagement: in dem Betrieb, in<br />
dem ich arbeite, tut der Betriebsrat nichts, es gibt keine Betriebsversammlungen - wir setzen eine<br />
durch.<br />
1971 Eintritt in die SPD - Willy wählen, mehr Demokratie wagen.<br />
1972 Wahl in den Betriebsrat und die Konfrontation mit anderen Frauenleben: unterbezahlte<br />
Arbeit, verkappte Leichtlohngruppen, Frauen, die früh um drei Uhr aufstehen um nach der<br />
Fahrt mit Werkbussen um 6.30 Uhr mit der Schicht-Arbeit zu beginnen; teilweise mit ihren Kindern,<br />
die im Betriebskindergarten untergebracht werden. Ich kriege mit, dass Betriebsratskolleginnen<br />
Schulunen nicht mitmachen, weil ihre Männer dagegen sind, und wenn sie doch dabei sein wollen,<br />
für eine Woche vorkochen, vorputzen, vorzubügeln haben. Ich agiere gegen Leichtlohngruppen, für<br />
Frauen in Gewerkschaftsgremien und Tarifkommissionen - ich bin plötzlich frauenbewegt und<br />
immer noch stolz, wenn mich jemand als 'einzigen Mann im Betriebsrat' bezeichnet.<br />
218
In der SPD engagiere ich mich in einer Bürgerinitiative, die einen Aktivspielplatz für<br />
Kinder einrichten will. Es kommt zu ersten öffentlichen Auftritten. Im Jahre 1972 müssen wir uns<br />
entscheiden, wie es mit der Familie weitergehen soll: zwei Berufe, Gewerkschaft, SPD, Aktivkinderspielplatz,<br />
Falkengruppe, drei Kinder, von denen zwei abwechselnd Schwierigkeiten mit der<br />
Mengenlehre und Lateinvokabeln haben - das ist zu viel. Wir entscheiden uns für den besser bezahlten<br />
Beruf (meinen) - Gerhard wird Hausmann, was ihm den Spott von Freunden, die Nichtakeptanz<br />
vor allem der Genossen und die Häme mancher Nachbarn einbringt und die der Gewerkschaft mir<br />
endgültig den Ruf, eine Emanze zu sein. Es wurde auch Zeit ... ...<br />
Mit Beginn des achtziger Jahrzehnts kandidierte ich völlig ungeplant und unvorbereitet für<br />
den Deutschen Bundestag - und wurde gewählt. Meine schon in der Betriebsratsarbeit deutlich<br />
hervorgetretene Tendenz, mich um Minderheiten zu kümmern, setzt sich im Bundestag fort. Eine<br />
dieser Minderheiten sind die Frauen, ob Ausländerinnen oder erwerbstätige Frauen, ob Familienfrauen<br />
oder Mütter, die wieder in den Beruf wollen. Eine Mehrheit wird zur Minderheit gemacht.<br />
Politik für Frauen bleibt in einem ungesicherten Rahmen. Normalerweise werden Probleme durch<br />
Gesetze und Rechtsansprüche gelöst. In der Frauenpolitik sieht der Regelfall anders aus: Modellvorhaben,<br />
die fast nie nach der "Modellphase" weitergeführt werden, selbstausbeuterische Selbsthilfegruppen,<br />
Stiftungen, ABM-Maßnahmen und Forschungsvorhaben. Die Frau als defizitäres Wesen.<br />
Seit 1987 bin ich nun die Frauen-Frau in der SPD-Bundestagsfraktion. Vorher war ich die<br />
Bafög-Frau, die Tierschutz-Frau, die Zivildienst-Frau, die Familien-Frau. Bei Konflikten wurde ich<br />
zumindest ernst genommen. Doch Frauenpolitik war und ist kein normales Politikfeld. Da Männer<br />
unseren Forderungen häufig hilflos gegenüberstehen, ziehen sie unsere Forderungen und die sie<br />
einklagenden Frauen ins Lächerliche.<br />
Dies erklärt aber nicht die zunehmende Aggressivität vieler meiner Genossen gegenüber<br />
Frauen-Forderungen. Frauenbewegung in der SPD gibt es schließlich nicht erst seit 1968. Meine<br />
Großmutter durfte noch nicht wählen: der Arbeitsplatz meiner Mutter konnte gegen ihren Willen<br />
von meinem Vater gekündigt werden: gleicher Lohn für gleiche Arbeit, nicht etwa gleichwertige,<br />
wurde in der Weimarer Republik nicht einmal von den Gewerkschaften anerkannt. Dass sich das<br />
und vieles geändert hat, ist nicht zuletzt das Verdienst von Sozialdemokratinnen. Diese Veränderungen<br />
wurden von den Männern akzeptiert. Die letzten siebzig bis hundert Jahre der Frauenbewe-<br />
Das bedeutet konkret: Es reicht nicht mehr, dass Männer im Bundestag für die Ausbildung von<br />
Mädchen in gewerblich-technischen Berufen, für Frauenförderung im öffentlichen Dienst, für die<br />
befristete Quote votieren. Sie müssen nun auch die Ausbildung in Säuglingspflege und Hauswirtschaft<br />
für Jungen, verbindlichen Väterurlaub und Teilzeit-Arbeitsmöglichkeiten für Väter, die<br />
Inkaufnahme des bisher Frauen vorbehaltenen Karriere-Knicks ins Auge fassen. Die Männer<br />
müssen ihre Defizite auszugleichen beginnen.<br />
219
Viele Männer können sich die positiven Möglichkeiten einer solchen Veränderung nicht<br />
vorstellen. Eimal wegen ihrer Erziehung, zum anderen wegen ihres Lebensstils., der auf die Zuarbeit<br />
einer (Ehe-)Frau abgestellt ist und von der Unveränderbarkeit unserer Arbeits- und Lebensstrukturen<br />
ausgeht.<br />
Männer sind als Politiker, Gewerkschaftsfunktionäre, Arbeitgeber, Vorgesetzte und Kollegen<br />
Forderungen von Frauen ausgesetzt - und als Ehemänner oder Partner. Und da liegt die große<br />
Schwierigkeit, vor der beide Geschlechter stehen: Die Forderungen der Frauen richten sich ja nicht<br />
nur an die anonyme Gruppe der Männer, sondern vor allem an den eigenen Mann. Das heißt, wir<br />
haben Forderungen an den, den wir lieben. Dies hat manchmal den Verlust der Liebe, manchmal die<br />
Aufgabe der Forderungen oder, wenn es beide schaffen, den Gewinn von zusätzlichen Verstehen,<br />
größerer Unabhängigkeit, mehr Chancen für wirkliche Partnerschaft und Liebe zur Folge.<br />
Der Quotenbeschluss der SPD ist deshalb nicht das Ende einer Entwicklung, sondern der<br />
Anfang eines neuen Kampfes. Damit ist die Chance gegeben, dass wir uns endlich überall einmischen<br />
können. Das Erstaunen ist groß, wenn wir jetzt unseren Anspruch anmelden auf eine Steuerreform,<br />
die nicht nur Ökologie und Ökonomie, sondern auch Fraueninteressen, Frauenbedürfnisse<br />
berücksichtigt. Die Abwehr ist groß, wenn wir die verbindliche Quote im öffentlichen Dienst<br />
fordern. Der hundert Jahre alte Dreh, Frauenthemen zu Nebenthemen zu erklären, hat sich längst<br />
noch nicht ausgeleiert. Nur: vierzig Prozent der Frauen werden aus dem so genannten Nebenthemen<br />
Hauptthemen machen. sicher? Ganz sicher !<br />
Schon die Frauenbewegung Anfang der siebziger Jahre hat die Sozialdemokratinnen<br />
deutlich erkennen lassen, dass zwar nur eine sozialistische Partei ihre Vorstellungen von Demokratie<br />
verwirklichen kann, dass aber nur ein aktiv vertretener Feminismus diesen Sozialismus demokratisch<br />
verändern kann. Die sozialdemokratischen Frauen sind nicht länger bereit, die Interessen der Frauen<br />
hinter ein vermeintiches sozialdemokratisches Gesamtinteresse zurückzustellen. Die Frauenfrage ist<br />
für sie kein Nebenwiderspruch, sondern ihr brennendstes Problem.- Insofern freue ich mich auf die<br />
neuen Frauen - auch und vielleicht gerade aus der einstigen DDR. Mit der Einführung der Quotenregelung<br />
im Jahre 1988 (40-Prozent-Geschlechter-Quote für Amt wie Mandat) ist den Frauen in der<br />
SPD der erste Durchbruch gelungen, dessen Folgen gegenwärtig noch nicht abzuschätzen sind.<br />
Ich war ja in der beneidenswerten Situation der mensten Männer hier in den deutschen<br />
Parlamenten - ob im Bund oder in den Ländern: Gerhard war zu Hause und hielt den Laden am<br />
Laufen. Letztendlich musste ich mich um nichts kümmern: nicht um das Auto, den Haushalt, die<br />
Wäsche, den Einkauf usw. Nach Gerhards Tod war das alles plötzlich anders. Die Kinder halfen mit<br />
nach Kräften. Aber irgendwo ist da eine Barriere, wo ich mir sage, das mache ich lieber selber.. Es<br />
war zudem auch wichtig für mich, mich auf etwas Neues einzulassen, Gewohnheiten über Bord zu<br />
kippen.<br />
220
Wenn ich mir meinen beruflichen wie privaten Werdegang verdeutliche, dann meine ich,<br />
dass ich bei der Regierungsübernahme der SPD ein Ministerium wie das für Familie, Frauen, Jugend<br />
und Gesundheit in den Griff kriegen würde. Es ist schade, dass dies weder Rita Süssmuth (*1937,<br />
Bundesministerin- 1985-1988) noch ihre Nachfolgerin Ursula Maria Lehr (*1930, Bundesministerin<br />
1988-1991) mit konkreten Aktionsprogrammen gelungen ist.<br />
Rita Süssmuth ist eine 'erfolglose' Ministerin gewesen, wenn Erfolg nicht nach Schlagzeilen,<br />
sondern danach gemessen wird, welche tatsächlichen Maßnahmen, sie durchgesetzt hat., auf<br />
den Wege gebracht hat. Da ist leider nichts. wenn wir von einigen Modellversuchen einmal absehen.<br />
Rita Süssmuth ist eine 'erfolgreiche' Ministerin gewesen, wenn Erfolg danach gemessen wird, dass en<br />
Thema ins Bewusstsein der Bevölkerung dringt. Das bedeutet ja mehr, als etwas darzustellen. Rita<br />
Süssmuth - das ist ihre Leistung - hat bewusstseinsverändernd eingegriffen. Gesetzgeberisch<br />
profitierte sie letztendlich nur von dem, was ihe Vorgänger Heiner Geißler (*1930, Bundesminister<br />
1982-1985) schon in Angriff genommen hatte.<br />
Das ist ihr Schwachpunkt. Ihr Defizit ist wohl, dass sie, wie viele Frauen, nicht erkannte,<br />
wann die Macht hatte. Deshalb konnte sie damit auch nicht ungehen und wurde auf das ranghöhere,<br />
aber bedeutungslose Amt des Bundestagspräsidenten (1988-1998) versetzt. In ihrer Partei, die<br />
lautstark den 'Abschied von der Männergesellschaft' verkündete, verkümmert die Frauen-Männer-<br />
Frage. Wen wundert es, dass die CDU ihren frauenpolitischen Parteitag sang- ud klanglos kippte?<br />
Selbst Ursula Maria Lehr, als ihre Nachfolgerin, konnte im Ministerium nicht eine einzige Initiative<br />
für die Frauen konzipieren oder einen Gesetzentwurf auf den Weg bringen.<br />
Also, wenn ein Bundeskanzler Gerhard Schröder (*1944, Amtszeit 1998-2005) mich fragen<br />
würde, ob ich das besagte Frauen-Ministerium verantwortlich übernehmen wolle, dann sage ich ihm<br />
erst einmal, dass ich mich über das Vertrauen freue. Zugleich stelle ich aber meine Forderungen, um<br />
wirklich eine durchschlagende Arbeit leisten zu können: Unser in den Bundestag eingebrachte<br />
Gleichstellungsgesetz wird Wirklichkeit, ich will die Federführung für die Frauen-Förderung des<br />
öffentlichen Dienstes des Bundes im Frauen-Ministerium verankern - und nicht im Innenministerium<br />
belassen, da gehört sie einfach nicht hin; und ich brauche Geld. Wenn Gerhard Schröder meint,<br />
das sei alles sehr vernünftig, ginge aber erst nach der nächsten Wahl, dann würde ich ihm antworten:<br />
'Wissen Sie, Herr Bundeskanzler, dann machen Sie mich erst nach de nächsten Wahlen zur Frauenministerin<br />
- vorher nicht. Frauen, die diese Fassade verzieren, haben dort nämlich schon genügend<br />
eingesessen.'<br />
Ohne Druck läuft in den Regierungsapparaten und anderswo in diesem Land nichts. Wenn<br />
ich nur daran denke, wie das groß herausposaunte Frauen-Ministerium entstanden ist und was nicht<br />
alles damit angestellt werden sollte: Frauen-Gesetze, -Erlasse, -Förderungen etc. Es war damals mit<br />
dem neuen Umweltministerium - 1986 - ins Leben gerufen worden. In der Öffentlichkeit entstand<br />
der Eindruck, die Regierung Helmut Kohl (1982-1998) ziehe die Konsequenzen. Ja. aber wie sahen<br />
die aus. Der damalige Umweltminister Walter Wallmann (*1932; 1986-1987) erhielt für seine Arbeit<br />
Unterstützung aus dem Ressorts Forschung und Technologie sowie Wirtschaft: er konnte über die<br />
erforderlichen Fachkräfte und Geld verfügen. Rita Süssmuth hingegen durfte sich zwar Frauenministerin<br />
nennen lassen - aber sie hat gar nichts bekommen. Nach den Bundestagswahlen gestand man<br />
ihr eine 'gemeinsame Federführung' mit den anderen, in Wirklichkeit zuständigen Ministern zu, die<br />
ungebrochen das Sagen haben.<br />
221
Rita Süssmuth bekam keinerlei politischen Gestaltungsspielraum. Auch ihre Nachfolgern<br />
Ursua Maria Lehr wurde wohlwissend nicht mi einem Veto-Recht ausgestattet. Sie kann im Kabinett<br />
zu rechtsverbindlichen Folgewirkungen nicht definitiv nein sagen. wenn es um eine weitere Benachteiligung<br />
der Frauen geht. All die wichtigen Instrumentarien, mit denen die CDU-Frauen etwas<br />
bewegen könnten, die wurden ihnen in ihrer politischen Alltagsarbeit nicht zugestanden. Und für die<br />
in der Öffentlichkeit hochgepriesene Frauenförderung des Bundes, die eine Schrittmacherfunktion<br />
übernehmen sollte - für ist Frau Ursula Maria Lehr nicht einmal in eigener Regie verantwortlich. Die<br />
liegt wohlbehütet beim Innenminister Wolfgang Schäuble ( 1989-1991 und 2005-2009) nach wie vor<br />
in Männer-Hand. Der behandelte Frauen-Angelegenheiten so, als sei unser Anliegen eine höchst<br />
sensible Verschlusssache, von der die Öffentlichkeit verschont, ja geschützt werden muss. Die Folge:<br />
keine Diskussion, keine Maßnahmen in den Verwaltungen, keine Initiative - nichts, gar nichts.<br />
Sendepause. Stagnation.<br />
Das würde mit der SPD um kein Jota anders werden, wenn wir die Frauenförderung des<br />
Bundes in solch einem Frauen fernen, unbeweglichen Mammutapparat ließen und die dafür eigentlich<br />
zustöndigen Minister-Frauen davon fernhielten.<br />
Wir Frauen müssen in diesen Männer-Vereinen der politischen Vereinsmeier künftig Punkt<br />
für Punkt die Diskrepanz zwischen Reden und Handeln ins Bewusstsein rücken; sonst wird alles<br />
zerredet.<br />
222
1992<br />
Frankreich: Geschichten in gemeinsam erlebter Einsamkeit<br />
Viva Maria, arriverderci Macho - Frauen erobern Italien<br />
223
GESCHICHTEN IN GEMEINSAM ERLEBTER EINSAMKEIT<br />
Trotz Selbstbewusstsein und Wille zum Widerstand gegen Zeitläufe der modernen<br />
Welt. - Bäuerinnen kämpfen mit ihren Familien im Alpenvorland ums Überleben, um Sein<br />
und Sinn ihres Lebens. Seillonnaz ist ein abgelegtes Dorf - unbeachtet, belächelt - halb<br />
vergessen. An den steilen Hängen des Rhône-Tals liegen ihre Weinberge. "Früher haben<br />
wir fast so viele Muskeln wie die Männer gehabt".<br />
Frankfurter Rundschau 5. September 1992<br />
Vom Rhône-Tal aus betrachtet ist das französische Bauerndorf Seillonnaz mit seinen 120<br />
Einwohnern nicht auszumachen. Optisch zu dominant ziehen die Kühltürme der<br />
Kernkraftwiederaufbereitungsanlage Super Phènix in Malville die Blicke auf sich. Verschlungen<br />
führt eine schmale Asphaltstraße an den Weinbergen entlang hinein ins 600 Meter hoch gelegene,<br />
verschachtelt anmutende Alpenvorland.<br />
Auf den Neuankömmling wirkt Seillonnaz wie ein verarmtes Überbleibsel aus längst<br />
verschollener Zeit. Die Schule ist seit Jahrzehnten geschlossen, der Priester schaut zum<br />
sonntäglichen "Vater uns" gerade mal alle vier Wochen vorbei. Nur ein Ehrendenkmal für die<br />
zwölf Gefallenen aus dem Ersten Weltkrieg mahnt im Dorf unübersehbar zur Patriotentreue. Es<br />
gibt keine Restaurants oder Herbergen. Nicht einmal ein Kolonialwarenladen ist zu finden. Nur<br />
jeden sechsten Tag versorgt Monsieur Brizard als épicier (Kleinkrämer) mit seinem Verkaufslaster<br />
die Landfamilien mit Lebensmitteln.<br />
Es kommt nicht von ungefähr, dass die Regionalzeitung "Le Progrès" vom Leben dieses<br />
Bauerndorfes nichts Bemerkenswertes zu berichten weiß. "Zu belanglos", lautet der Kommentar.<br />
Allenfalls wenn in Seillonnaz jeweils in den Augusttagen das Ofenfest (la fête du four) steigt,<br />
traditionsbewusste Bäuerinnen wie einst ihre Mütter im Dorfofen Brote backen - dann schickt<br />
Bürgermeister Aimé Trischetti ein "Familienfoto" in die Redaktion, die dieses auch zweispaltig<br />
abzudrucken pflegt. "Irgend-wie", meint der 69jährige Sozialist, der seit drei Jahrzehnten dem Ort<br />
vorsteht, "ist es schon der Höhepunkt des Jahres, wenn wir uns allesamt schmunzelnd in der<br />
Zeitung wiederfinden."<br />
Doch trotz so viel pittoresker Beschaulichkeit durchlebt Seillonnaz in diesen Monaten<br />
eine Existenzkrise. Die Menschen haben Angst - es geht um Hofverlust, Tierverlust, Landverlust -<br />
Identitätsverlust. Und Seillonnaz ist überall in Frankreich, wo das meiste Getreide, Mais und<br />
Rindfleisch in Europa produziert wird. Das Land ist noch immer der zweitgrößte Agrar-Exporteur<br />
der Welt nach den USA.<br />
Spätestens seit der beschlossenen Reform der EU-Agrarpolitik, die ab dem Jahre 1993 die<br />
kostspielige Überproduktion der etwa zehn Millionen EU-Bauern drastisch einschränken soll und<br />
die Stilllegung und-rentabler landwirtschaftlicher Flächen forciert, lebt Frankreichs<br />
Landbevölkerung in Aufruhr. Ziel der EU-Agrarreform ist es, die Preissubventionen für<br />
landwirtschaftliche Erzeugnisse zu senken und dafür Bauern direkte Einkommenshilfen zu zahlen.<br />
Dies soll zu einer merklichen Verringerung der Produktion von Getreide, Milch und Fleisch führen<br />
und außerdem ermöglichen, die EU-Märkte für Einfuhren aus Drittländern zu öffnen.<br />
Immerhin verschlingen derzeit die Ausgaben für die Landwirtschaft die Hälfte des<br />
gesamten EU-Haushaltes. Den größten Teil der 33 Milliarden Euro aus dem EU-Agraretat<br />
kassieren die Lagerhaltungsfirmen - als Folge der Überproduktion. Überall rumort es unter den<br />
224
Bauern in Frankreich. An die 300.000 Höfe sollen nach EU-Maßgaben über kurz oder lang<br />
verschwinden. Nach einer Lagebeurteilung des Pariser Innenministerium steht dem Land ein<br />
"heißer Herbst der Bauernrevolte" bevor. Die bisherigen spektakulären Protestaktionen stufen die<br />
Ministerialen dabei lediglich als "Vorspiel" ein. Etwa die Blockaden von Autobahnen, Nationalstraßen<br />
und Brücken rund um Paris. Wütende Bauern hatten in Südfrankreich , der Loire-Region<br />
bei Chartres und in Nantes tonnenweise Gemüse und Ost auf die Straße gekippt; "um einmal die<br />
Schmerzgrenze der französischen Bevölkerung zu testen", wie es Jacques Laigneau vom<br />
Koordinationsausschuss spontaner Bauern-Rebellionen lakonisch formulierte. Empörten<br />
Autofahrern legten sie kurzerhand Stacheldrahtrollen unter die Räder. - Endzeitstimmung.<br />
Ohnehin sind die Verkaufskurse von Obst und Gemüse die niedrigsten seit Jahrzehnten -<br />
und die Bauern erleiden Absatzverluste. Über 3.000 Tonnen Birnen landeten in der Gegend von<br />
Aix-en-Provence im Juli auf der Mülldeponie, weil sich keine Abnehmer fanden. Und die EU<br />
belohnt solche Vernichtungsaktionen auch noch im Durchschnitt mit 3,40 Cent pro Kilo -Europa<br />
zu Beginn der neunziger Jahre.<br />
Aber auch die französischen Politiker bleiben in ihrem Sommerurlaub nicht verschont. In<br />
Auxerre drängten 60 Landwirte auf das Grundstück des Chefs der EU-Kommission Jacques Delors<br />
(Präsident der EU-Kommission 1985-1995), und versprühten Entlaubungsmittel. Im<br />
südfranzösischen Arles verhinderten Polizisten, dass Demonstranten die Wohnung von<br />
Justizminister Vauzelle besetzten. Statt dessen hinterließen Bauern auch hier Gemüse- und<br />
Obstberge.<br />
Wer nach Gründen sucht, warum Hunderttausende von französischen Bauern heute teils<br />
mit offenen Aggressionen dem Staat gegenüberstehen, warum für viele die etablierten Parteien<br />
kaum noch wählbar sind, und die rechtsradikale "Front National" des Jean-Marie Le Pen sich über<br />
Zulauf freuen kann - der sollte das Lebensgefühl der französischen Bauern nicht vergessen. Es<br />
wird von einem Bewusstsein getragen, in ein vorbestimmtes Leben gepresst zu werden -<br />
vorausgesetzt man wähnt sich auf der Gewinnerseite. Frankreichs leistungsorientierte öffentliche<br />
Meinung ist längst dazu übergegangen, sich in stereotypen Floskeln und plakativen Kürzeln<br />
untereinander zu verständigen -vornehmlich, wenn es um Schicksalsfragen der Bauern geht.<br />
Lebensgefühl und Selbstwahrnehmung lassen sich zunehmend heftiger von bedrohlichen<br />
Momenten leiten, "dass unsere Existenz auf dem Lande so ziemlich sinnlos ist. Als erklärten uns<br />
die Städter für verrückt, weil wir unser Bauern-Dasein, unser Land lieben. Es ist aber inzwischen<br />
so, als würde uns jäh der Boden unter den Füssen fortgerissen. Manchmal denke ich, wir haben all<br />
die Jahre umsonst geschuftet", sagt die 41jährige Bäuerin Jacqueline Laurencin aus Seillonnaz. Der<br />
Bauern-Alltag der Madame Jacqueline ist geprägt von harter körperlicher Arbeit und Ausdauer.<br />
Ihre Anforderungen sind typisch für eine große Zahl von Bäuerinnen, ohne die nun einmal nichts<br />
funktioniert in Frankreich und anderswo.<br />
Seit 22 Jahren ist Jacqueline mit ihrem Mann Robert verheiratet. Sie ist Mutter zweier<br />
Söhne, die auch mal Landwirte werden wollen. Früher einmal - nach dem Abitur - hatte sie unten<br />
im Tal als Sekretärin gearbeitet. Heute hingegen bedauert sie die sauerstoffarmen Schreibtisch-<br />
Menschen. Heute möchte Jacqueline nicht mit ihnen tauschen, auch wenn sie auf dem Hof doppelt<br />
so viel schuftet und sich in der Industrie ein paar Euro mehr verdienen lassen. "Nein", beteuert sie<br />
selbstbewusst, "hier in den Voralpen kann ich mein Leben selber gestalten, mitbestimmen,<br />
weitgehend Endscheidungen treffen. Wir Frauen auf dem Land sind viel selbstständiger und auch<br />
autonomer als so manche Städter das wahrhaben wollen. Einige Emanzipationsdebatten aus dem<br />
fernen Paris wirken auf mich wie Berichte von einem anderen Planeten. Das alles ist bei uns schon<br />
225
ganz leise gelebte Wirklichkeit - notgedrungener weise versteht sich." Meist, wenn Ehemann<br />
Robert von Seillonnaz aus mit seinem Trecker zu den Demonstrationen ausrückt, ist es seine Frau,<br />
die daheim den Hof in Gang hält.<br />
Und Bauer Robert ist diesen Tagen fast ständig unterwegs. Jacqueline findet es richtig,<br />
"dass mein Robert in vorderster Front mit marschiert. Nur wenn wieder tonnenweise unsere doch<br />
kostbaren Lebensmittel auf der Mülldeponie oder Straßen weggekippt werden, habe ich<br />
Beklemmungen, bekomme ich ein schlechtes Gewissen. Irgendwie fühle ich mich so, als würden<br />
wir uns selber aufgeben", sagt Jacqueline.<br />
Das Anwesen der Familie Laurencin umfasst 53 Hektar Land und zwei Hektar Weinberge.<br />
Dazu kommen zwanzig Milchkühe und 15 Kälber. Jeden Morgen und jeden Abend treibt Madame<br />
Jacqueline "Cherie," "Vicky", "Lilly", "Florence" oder auch "Josiane" über die Dorf-Hauptstraße<br />
Richtung Wiesen, abends Richtung Gehöft. Anders als bei den reichen Bauern im Tal, die über<br />
großflächige Weiden verfügen, gibt es im Alpen-Vorland nur kleine, vereinzelte Grasflächen. Also<br />
lässt Bäuerin Jacqueline ihre Kühe sich rund ums hügelige Dorf sattfressen -gemolken wird im<br />
Stall.<br />
Beinahe täglich hockt Jacqueline mehrere Stunden vor Formularen, muss sie Rechnungen<br />
schreiben, Zuschüsse beantragen oder beim Finanzamt um Zahlungsaufschub für die nächste<br />
Steuerrate nachsuchen.<br />
Einen Steinwurf von der Bäuerin entfernt wohnt der Bürgermeister Aimé Trischetti mit<br />
seiner Frau Henriette. Beide sind 68 Jahre alt, seit vier Jahrzehnten verheiratet und haben drei<br />
Söhne aufgezogen. Auch sie sind Bauern - Weinbauern.<br />
In ihrer großräumigen Wohnküche tickt eine alte Wanduhr. - Behaglichkeit. Sie deutet<br />
vielleicht an, dass die Familie Trischetti schon einmal bessere Tage in Seillonnaz erlebt hat. Die<br />
Gesichtszüge der Madame Henriette verraten kaum etwas von dem, womit sie quasi ein halbes<br />
Jahrhundert ihr Tagwerk bestritt. An den steilen Hängen im Rhône-Tal liegen ihre Weinberge. Und<br />
Wein-Arbeit - das ist Frauen-Arbeit. Hier hat sie ihre Weinstöcke gepflegt, gebunden und<br />
beschnitten. Kaum etwas lässt sich hier maschinell verrichten. In den Sommermonaten ist<br />
Henriette schon früh morgens um 6 Uhr bis etwa 10 Uhr in den Weinbergen. Dann wird es zu<br />
heiß. Und schließlich muss sie auch noch das Mittagessen vorbereiten. Zur Zeit der Weinlese hat<br />
Madame Henriette für 30 befreundete Mithelfer zu kochen.<br />
Aber irgendwie liegt ein bisschen Wehmut im Gesicht der Madame Henriette. -<br />
Umbruchzeiten für Frankreichs Bäuerinnen. "Natürlich", bemerkt sie, "der technische Fortschritt,<br />
die Maschinen erleichtern vor allem uns Frauen das Leben. Früher haben wir doch fast so viele<br />
Muskeln wie die Männer gehabt. Nur Geld konnten wir nie genügend verdienen. Es blieb immer<br />
Mangelware. Wenn wir mal etwas haben, müssen wir zum Beispiel einen Trecker kaufen, weil der<br />
alte nur noch Schrott ist."<br />
Verständlich, dass Madame Henriette sorgenvoll in die Zukunft blickt. Verständlich auch,<br />
dass sie lieber von den Erfolgserlebnissen früherer Jahre erzählt. Als im Mai 1968 Frankreichs<br />
Studenten in Paris die Revolution probten, fand in Seillonnaz ein ganz anderer Aufbruch statt - das<br />
Wasser war da. Jeder Hof, jeder Haushalt wurde an die Kanalisation angeschlossen. Vorher<br />
mussten die Frauen noch das Wasser vom Dorfbrunnen in Eimern nach Hause schleppen, und die<br />
Wäsche wurde im Bach gewaschen.<br />
226
Dass der Brunnen der Gesprächs- und Klatsch-Knotenpunkt des Dorfes war, ist kaum<br />
verwunderlich. Der Bürgermeister meint: "Vom Brunnen waren wir allesamt abhängig, und die<br />
Familien handelten solidarisch." - Wendezeiten. Nunmehr mit Wasser verlagerte sich das<br />
Dorfgeschehen immer mehr in die Küche des Bürgermeisters und seiner Frau Henriette. Hier<br />
kommen die Bauern mit ihren Landfrauen hin, um zu reden und zu klagen - bei gutem Wein.<br />
In der Tat sieht die viel besprochene Gemütslage des Dorfes alles andere als<br />
hoffnungsvoll aus. Trotz zigfacher Heiratsinserate - regional wie national - will es beispielsweise<br />
dem relativ gutgehenden Landwirt Jean-Luc mit seinen 38 Jahren nicht gelingen, eine Frau zu<br />
finden - über eine Nacht hinaus an sich zu binden; Monat für Monat, Jahr für Jahr ist der Bauer auf<br />
der Suche. Routinegeübt füllt er wieder im Tabakladen einen neuen Lottoschein aus, bringt Frau-<br />
Suchanzeigen zur gegenüberliegenden Post im Tal. Nach dem fünften Pastis murmelt er: "Was wir<br />
hier machen an diesem schönen Fleck, ist die gemeinsam erlebte Einsamkeit." Ein Flug nach Polen<br />
in die Masuren sollte die beschworene Frauen-Wende, den allseits erhofften Durchbruch bringen -<br />
Jean-Luc auf Brautschau in Olsztyn. Junge Polinnen werden ihm vorgeführt. Jean-Luc bezahlt für<br />
eine Nacht, für die nächste Nacht. Jean-Luc versteht nur Bahnhof, Sprachprobleme. Viel Wodka,<br />
große Geldausgaben, Vermittlungsgebühr, Flug, Hotel. Nur ein anschmiegsames junges Masuren-<br />
Mädchen für Seillonnaz im französischen Alpenvorland - Fehlanzeige.<br />
Vis-á-vis von ihm wohnt Pascal mutterseelenallein in einem Zwölf-Zimmer-Haus. Als<br />
Bankangestellter dort unten im Tal hoffte er auf Aufstieg und Anerkennung. Jahre vergehen,<br />
Jahrzehnte verfliegen im Nu - Pascal steht immer noch akkurat am Schalter mit eingefrorenem<br />
Dauerlächeln. Nichts, so scheint es, will sich bewegen, weil er offenkundig vergessen hatte, ein<br />
bisschen länger zur Schule zu gehen, sich im Bankfach weiter ausbilden zu lassen. Stillstand bei der<br />
all wöchentlichen Chrom-Versiegelung. Nur seine junge Frau Monique hatte sich bewegt, zog es<br />
plötzlich ganz unvermittelt in die Stadt. Sie könne doch nicht ihr ganze Leben lang auf den Alpen<br />
starren. Sie könne doch nicht ewig ihr Dasein damit verbringen, ihrem Mann bei seiner liebevollen<br />
Autopolitur zuzuschauen -und das Samstag für Sonnabend immerfort in Seillonnaz im<br />
Alpenvorland. Das soll Monique ihrem Pascal zum Abschied gesagt haben. Abgang. Frauen-<br />
Aufbruch. Seither stottert sich Pascal auf Suche nach neuem Glück durch Gassen und Boulevards.<br />
Aber imgrunde, beschwichtigt Pascal, benötige er auch dríngend keine neue Frau. Seine Mutter<br />
Ramona umhebt ihn ohne Unterlass, bekocht ihn, putzt im Haus und bügelt seine Krawatten. Und<br />
wenn Pascal wieder auf die Autopolitur-Tube drückt, dann steht nicht selten Mutter Romana ganz<br />
in der Nähe, lächelt warmherzig, verständnisvoll. Mutteridylle in Seillonnaz.<br />
Und am Berghang lebt schließlich noch der Lehrer Michel. Auch er ist in seiner Freizeit<br />
Bauer, Kuh- und Weinbauer. Seit über einem Jahr lebt Michel mit seiner Tochter Sandra und ihrem<br />
Hund Rock allein. Fluchtigartig - wie offenkundig gezielt in Dörfern - hatte auch seine Frau<br />
Isabelle ihren Michel verlassen. Sie habe es einfach satt mit anzusehen, wie Gatte Michel als kleiner<br />
Bauer so leidenschaftlich-besessen im Schlamm herum wurschtelt, sonst für nichts Zeit hat und<br />
noch immer keine schwarzen Zahlen schreibt. Gemeinsam erlebte Einsamkeit der Männer.<br />
Hin und wieder - meist zu Abend - treffen sich die verbliebenen Landfrauen bei Henriette<br />
in der Küche. Nach den jüngsten EU-Beschlüssen und neuerlichen Frauenflucht aus dem Dorf<br />
kennen sie nur noch ein Thema. Sie wissen nicht, wie es tatsächlich weitergehen soll, wer überlebt<br />
und wer untergeht. Und sie haben Angst vor dem Ausverkauf ihres Dorfes Seillonnaz. Mahnend<br />
zeigen sie in Richtung der Region Ardèche - dort, wo sich der deutsche Jet-Set eingekauft, die<br />
Preise gedrückt habe. "Nein, das wollen wir hier nicht erleben. Da mögen die Schecks noch so<br />
227
hoch sein, schließlich geht es auch um unsere Bauern-Identität", sagt Madame Henriette und<br />
schenkt frisch gekelterten Wein nach.<br />
228
VIVA MARIA, ARRIVERDERCI MACHO - FRAUEN<br />
EROBERN ITALIEN<br />
In Gedenken an die römische Fernsehjournalistin Franca Magnani. Sie war eine<br />
Symbol-Figur italienischer Frauen-Autonomie und kompetenter Reportagen. Berichte, die<br />
zu Glanzstücken der ARD vornehmlich in den siebziger Jahren zählten. In Deutschland<br />
herrschte damals noch Kalter Krieg gen Ostenblock und insgeheim gegenüber<br />
selbstbewussten Frauen. Anlass genug für den CSU nahen Bayerischen Rundfunk, Franca<br />
Magnani, die mit einem Kommunisten verheiratet war, vom Bildschirm zu verbannen.<br />
Franca Magnani (*1925+1996) starb an einer Krebserkrankung in Rom.<br />
Alles wandelt sich, alte Klischee-Bilder verstauben. Auch die Vorstellungen in unseren<br />
Köpfen müssen sich ändern. Die Frauen der Mittelmeerländer sind längst nicht mehr die Flamenco<br />
tanzenden Zigarettenarbeiterinnen aus der Bizet-Oper "Carmen". Auch nicht mehr jene ergebenen<br />
Familien-Frauen, die italienische Männer so gern priesen (und betrogen). Martina I. Kischke<br />
Frankfurter Rundschau vom 21. März 1992 12<br />
Im Jahre 1973 spöttelte die Mailänder Tageszeitung "Corriere della Sera" über die<br />
Mitglieder der italienischen Frauenbewegung als "Generale ohne Heer". Zwei Jahre später<br />
mutmaßte dasselbe Blatt, dass "hier eine politische bedeutsame Kraft entsteht, mit der Regierung<br />
und Parteien rechnen müssen". Wiederum sechzehn Jahre danach fragen Journalisten vom<br />
"Corriere della Sera", "wann nunmehr der Tag der Frau in einen Tag der Männer umgewandelt<br />
wird. Die Frauen schaffen sich den Mythos einer eigenen Moral und vergessen dabei, dass auf der<br />
moralischen Ebene alle Menschen gleich sind." Offensichtlich sind Italiens Männer irritiert.<br />
Wohl kaum ein anderes Land spült derartige soziale Veränderungen zwischen Männern<br />
und Frauen an die Oberfläche, wie es gegenwärtig in Italien geschieht. Alte Rollenbilder, tradiertes<br />
Rollenverhalten befinden sich im industrialisierten Norden in Auflösung, und im<br />
traditionsverbundenen, ärmeren Süden weicht die klassische Männlichkeits-Ideologie langsam auf. -<br />
Italia in den neunziger Jahren.<br />
Dabei wurde sie schon vielerorts für tot erklärt, die italienische Frauenbewegung, die in<br />
den siebziger Jahren fast die radikalste in Europa war. Geändert haben sich jedoch lediglich die<br />
Ausdrucksformen ihrer Arbeit - die auf Autonomie bedachten Italienerinnen sehen wohl kaum ihr<br />
Hauptanliegen daran, unentwegt schlagzeilenträchtige Szenarien frei Haus für die<br />
Abendnachrichten zu liefern. Vergilbt ist auf vielen römischen Mauern der Kampfesruf<br />
verflossener Jahre noch halbwegs lesbar: "Tremate, tremate, le streghe son' tornate" (Zittert, zittert,<br />
die Hexen sind wieder da). Vorbei ist mittlerweile jene legendäre, revolutionär-angehauchte Ära<br />
allgemeiner Frauen-Rebellion. - Zeiten, in denen es möglich war, per Schnellballsystem innerhalb<br />
von 24 Stunden siebzigtausend Frauen telefonisch für Massendemonstrationen zu mobilisieren. Mit<br />
erhobenen Händen formten Feministinnen das Zeichen der Vulva und drohten vor dem "Palazzo<br />
der Väter" (Parlament), die Männer zu kastrieren. Mit Parolen wie "il potere e maschio" (die Macht<br />
ist männlich) wuchsen Zorn und Verbitterung. Der frühere Ministerpräsident Amintore Fanfani<br />
(*1908+1999) prophezeite drohend: "Eure Männer werden Euch verlassen."<br />
12 Mariangela Gioacchini<br />
229
Nur ein präzises Erinnern lässt die Kontinuität der femininen Wende in den neunziger<br />
Jahren in Italien erkennen. Zu groß war zunächst der Nachholbedarf an Gleichberechtigung in dem<br />
stets von Politikern und Päpsten beherrschten Land. Erst im Jahre 1946 durften Italienerinnen<br />
erstmals in ihrer Geschichte überhaupt wählen. Durch Demonstrationen und Diskussionen gelang<br />
es ihnen dann im Sinne der Gleichberechtigung, die Freigabe des Schwangerschaftsabbruches und<br />
ein neues Familienrecht (neunjährige Dispute) durchzuboxen. Erfolgsmomente. Gewiss - seither ist<br />
es ruhiger um die italienische Frauenbewegung geworden. Weil sie es ablehnt, sich im alltäglichen<br />
Kampf verschleißen zu lassen. Nur ist ihr Einfluss freilich und damit auch ihre Macht reichen<br />
mittlerweile in alle Schichten der italienischen Gesellschaft hinein. Anders als in Deutschland<br />
konnten sich Feministinnen südlich der Alpen sehr schnell von ihrem universitären, mitunter<br />
ideologielastigen Zirkel-Dasein befreien. Beizeiten hatten sich Italiens-Frauen darauf verständigt,<br />
dass der "Feminismus keine politische Bewegung ist, sondern die Kraft, die sich Frauen gegenseitig<br />
geben", bemerkt Roberta Tatafiore, Chefredakteurin "Noi Donne".<br />
Jeder Versuch, Frauen-Politik und Frauen-Kultur in Italien nachzuvollziehen, sollte von<br />
der Tatsache ausgehen, dass nicht etwa die politischen Institutionen, sondern einzig und allein die<br />
italienische Familie das stärkste Gremium des Landes ist.<br />
Der äußeren Grunderneuerung folgte zwangsläufig auch eine innere Renovierung - die<br />
eigentliche Kulturrevolution des Landes. "Die italienische Frau", urteilte Psychologie-Professor<br />
Fernando Dogana, "befand sich offenbar in einer Übergangsphase zwischen der Konditionierung<br />
durch die Tradition und der Orientierung an neuen kulturellen Leitbildern." Mit Beginn der<br />
achtziger Jahre begann der allmähliche Werte- und Sittenwandel Italiens, das Aufräumen mit<br />
frauenfeindlichen Bräuchen, etwa dem Jungfräulichkeitswahn im Süden oder der Konservierung<br />
alter Tabus im weiblichen Unterdrückungs-Mechanismus des Kirche-Kinder-Küche-Kreislaufes.<br />
Bei den Frauen Italiens hatten sich die Meinung durchgesetzt, dass es sinnlos sei, auf bessere Zeiten<br />
und verständnisvollere Männer zu warten - der Begriff "Affidamento" (vertrauen, sich verlassen<br />
auf) war geboren. Und mit ihm die erste zaghafte Hinwendung zu einer nur von Frauen erlebten<br />
Frauen-Gesellschaft. Für Italiens Frauenbewegung ist die männliche Akzeptanz nichts<br />
Erstrebenswertes mehr. Sie wollen keine weitere Gleichheit erreichen. Denn: Gleichheit bedeutet<br />
für sie die Orientierung an männliche Maßstäben. Kategorien und Inhalte, die sie ablehnen, weil es<br />
ihnen darauf ankommt, Frausein nicht als "Mangel" hinzunehmen, sondern als Fremdheitsgefühl in<br />
einer von Männern genormten Welt.<br />
Ob Rückzug oder Resignation vom italienischen Mann - die Politik des "Affidamento"<br />
baut zielstrebig nur Frauenbezüge unter Frauen auf; quasi ein kleines Frauen-Land im italienischen<br />
Staatenbund. Gemeint sind nämlich ausschließlich die Beziehungen der Frauen untereinander.<br />
Dabei dreht es sich nicht nur um Freundschaften. Frauen sollen sich vielmehr in ihrer Gegenwelt<br />
in ihrem Denken, Fühlen, Handeln und in ihrer aktuellen Alltagsbewältigung nur auf Frauen<br />
beziehen. Verständlich, dass in solch einem Lebenszusammenhang die Sexualität keinen intensiven<br />
Stellenwert mehr hat. Ob hetero oder homo - Sex holt man sich irgendwo und mit irgendwem -<br />
ganz unverbindlich, versteht sich. Ohnehin belegen jüngste repräsentative Umfragen, dass<br />
zusehends mehr Frauen in den neuen Rollen Schwierigkeiten mit ihrem "Latina Lover" haben. Die<br />
Frauen scheinen kaum noch bereit zu sein, Körper und Seele für schnelllebige Dienstleistungen zur<br />
Verfügung stellen zu wollen.<br />
"Abends lässt er sich von seiner Mamma üppig Mangiare servieren, benimmt sich wie ein<br />
veralberter Minderjähriger, und dann sucht er mich nachts unter der Bettdecke - mit mir nicht",<br />
230
meint die 32jährige Pharmazeutin Valeria Carnevale aus Bologna während der Mittagszeit vor ihrer<br />
Apotheke auf dem ehrwürdigen Piazza Maggiore.<br />
Doch auch der einst legendenumwobene "Latin Lover" hat sich mittlerweile zu Wort<br />
gemeldet. Zwischen Padua und Palermo geißelte er in Umfragen die für ihn offen-kundig neu<br />
entdeckte "weibliche Frigidität" - Gesellschafterkampf auf Italienisch. Überall dort, wo sich Frauen<br />
zusammenschließen, sind sie dabei, neue Bezugspunkte aufzubauen, ungeahnte Gemeinsamkeiten<br />
etwa mit Frauen der katholischen Kirche zu entdecken: Sie sagen den Männern ade - Italia im<br />
neunziger Jahrzehnt.<br />
Rau, bisweilen bissig-frostig ist es geworden, das Klima zwischen italienischen Frauen und<br />
Männern. Der Übergang von Tradition zur Moderne hat viele Reibungs-punkte - und auch Opfer.<br />
Plötzlich fühlen sich manche Männer in ihrem Ego bedroht. Und: Sie schlagen zurück. Nur in<br />
einem Jahr wurden in Italien 800.000 Frauen von ihrem Ehegefährten krankenhausreif geprügelt.<br />
Jede dritte Frau wird misshandelt. Und immer wieder tönt es unisono als Rechtfertigung aus der<br />
Männer-Ecke, wie es der sozialistennahe "Espresso" schrieb: "Vor allem die Berufstätigkeit und<br />
Karrieresucht der Frauen sind schuld an den Krisen im Bett." Immerhin: Das erste "Frauenhaus"<br />
Italiens, in dem Misshandelte Schutz finden können, öffnete vor einem Jahr in Bologna seine<br />
Pforten.<br />
Jetzt schon sind die Langzeitfolgen des Geschlechterkampfes absehbar. Im Jahre 1996<br />
wird es in Italien mehr Menschen im Alter von über 60 Jahren geben als Jugendliche unter<br />
neunzehn Jahren. Mit der niedrigsten Geburtenrate in Europa wird die italienische Bevölkerung in<br />
den nächsten drei Jahrzehnten um sechs Millionen Menschen schrumpfen und auf 51 Millionen<br />
Einwohner zurückgehen. Nur der Wandel in den Ansichten und im Handeln der italienischen Frau<br />
wird wohl kaum aufzuhalten sein. "Die Frauen sind längst der Eckpfeiler, der tragende Boden<br />
unseres Wirtschaftswunders", bekannte unlängst die Publizistin Marie Antonietta Macciocchi.<br />
Ohne "Donne in carriere" (Frauen in der Karriere) geht kaum noch etwas im Land. Über 67<br />
Prozent der Frauen sind mittlerweile im Dienstleistungssektor beschäftigt. 32 Prozent sind in den<br />
Angestelltenberufen tätig. In den vergangenen fünf Jahren erhöhte sich der weibliche Anteil unter<br />
den Angehörigen der freien Berufe und der Unternehmerinnen sogar um 48 Prozent.<br />
Und die Männer? "Der Mann ist ein Luxus, er bietet wenig Schutz, ist unwirtschaftlich.<br />
Wir ernähren uns besser allein. Das Bemerkenswerte ist", sagt Grüne-Politikerin Letizia Battaglia<br />
aus Palermo, "dass die neuen Unterdrückungsversuche nicht von den Erzkonservativen kommen,<br />
sondern von den sogenannten Fortschritt-lachen aus den angeblich progressiven Managerstuben<br />
und Gewerkschaften."<br />
Immerhin - der Wandel im Denken der italienischen Frau brachte ein verblüffendes<br />
Umfrage-Ergebnis über die Sexualität am Arbeitsplatz zutage. Mehr als zwanzig Prozent der<br />
befragten Männer nämlich bekannten, "sexuellen Annäherungsversuchen" von Kolleginnen<br />
ausgesetzt zu sein. - Die Mehrheit der Männer hatte freilich nichts dagegen.<br />
231
232
1993<br />
Entenhausen liegt an der Saône<br />
Fremd im eigenen Land<br />
Scarlett: nachts auf See, tagsüber im Komitee<br />
Im Club der Nukleokraten<br />
233
ENTENHAUSEN LIEGT AN DER SAÔNE, UND ALLE<br />
TUCKERN HIN<br />
Pariser Automobil Ausstellung mit dem 2CV Neuling im Jahre 1949. Über sechzig<br />
Jahre später "Enten"- Nostalgie -"Enten"-Festival vielerorts in Europa. Der "Dö-<br />
Schöwo" ist nämlich kein Wagen, sondern eine Lebenseinstellung. Schon die<br />
Baskenmütze durfte beim Einsteigen nicht verrutschen. Vier Räder unterm Regenschirm<br />
wollte Citroen -über sieben Millionen wurden gebaut. Über zwei tausend "Entianer" aus<br />
ganz Europa trafen sich auf Schloss Rochteaillée-sur-Saône zum großen Festival der<br />
Enten.<br />
Die Weltwoche, Zürich vom 2. September 1993<br />
Aus den Lautsprechern des Schlosses scheppern französische Chansons vergilbter<br />
Epochen. Pascal Danels Ohrwurm oder auch Adamos wollen und wollen nicht enden, obwohl es<br />
sommerlich arg heiß ist. Atmosphäre wie Ambiente lassen frankophile Klischeegemüter auf-atmen:<br />
Weit und breit keine McDonald's-Läden, keine Atomkraftwerke, keine neu gebauten Trassen des<br />
Hochgeschwindigkeitszuges TGV, dafür viele Baskenmützen, Schnauzbärtchen, viel Rotwein, viel<br />
Weißbrot - und das auch noch auf einem erlesenen Château aus dem 15. Jahrhundert, das die<br />
umliegende Landschaft des Saône-Tals anschmiegsam überragt.<br />
Auf dem Schlossvorplatz von Rochetaillée-sur-Saône bei Lyon tummelt sich derweil ein<br />
seltenes Generationengemisch um ihren Geliebten: Es sind Mätressen aus Frankreichs Gegenwelt<br />
des Modernisierungsrausches. Eben Weggefährtinnen, denen es an Status, Leistung, Schnelligkeit<br />
und Aggressivität fehlt - Enten genannt. Seit eh und je sind sie Blech gewordener Ausdruck eines<br />
Lebensgefühls, das ein und denselben Namen trägt: 2 CV (CV steht für Cheval Vapeur, die<br />
französische Steuer-PS), in deutscher Zunge auch als "Döschöwo" liebkost. Immer wenn Adamos<br />
"neige" fällt, fliegen ölverschmierte Putzlappen in die Lüfte. Leidenschaftlich wird mitgesungen.<br />
Denn hier trotzen zweitausend "Entianer" aus vielen europäischen Ländern der neuzeitlichen<br />
Wirklichkeit ihre Daseinsberechtigung ab. Hier leben in Wehmut umarmte Automobil-Nostalgien<br />
verklärt fort, haucht der Enten-Stamm seinen Legenden neuen Atem ein.<br />
Meist schon zu Beginn der Sommermonate kriecht Frankreichs eingefahrene 2-CV-<br />
Gemeinde trotzig raus aus den kasernierten Vorstädten. Dort, wo sich enge Wohnsilos,<br />
Polizeischießplätze, Friedhöfe, Kleingärten samt Müllhalden scheinbar noch friedlich vertragen.<br />
Raus aus den zubetonierten, durch Jugendkrawalle berüchtigten banlieues - weg aus der gemeinsam<br />
erlebten Sprachlosigkeit in den hastig verstopften Metropolen Paris, Lyon Marseille oder Toulouse.<br />
Sommerzeit - das ist und bleibt nun einmal Enten-Zeit. "Das lassen wir uns von niemanden<br />
rauben", bedeutet der 30jährige Tischler Philippe Abbadie aus Lyon. Phillippe, von athletischer<br />
Gestalt mit offenem Gemütsblick, ist einer der unzähligen Enten-Präsidenten der Republik.<br />
Mittlerweile gibt es landesweit 40 Klubs mit etwa je 30 Mitgliedern, die sich flugs in einer<br />
gesellschaftlichen Nische aufgetan haben - und es werden immer mehr. Ob in England,<br />
Deutschland, Italien oder auch in Portugal - überall mausern sich unverhofft Döschwo-Vereine.<br />
Folglich tuckerten sie allesamt aufs Schloss Rochetailléesur-Saône - ins Europa der Enten, wenn<br />
auch nur für ein Wochenende. Monat für Monat hecheln 2-CV-Kolonnen durch die französische<br />
Republik. Klubbesuche, Gespräche, Ersatzteiltausch, gemeinsames Essen ist angesagt. Präsident<br />
Philippe weiß auch warum: "In diesen sprachlosen Jahren geht alles, aber auch alles in die Brüche -<br />
234
nichts stimmt mehr. Vater arbeitslos, Opa besoffen, Eltern oft geschieden, Kinder ohne<br />
Lehrstellen, rohe Gewalt an vielen Schulen, wilde Rasereien auf den Straßen und im Fernsehen<br />
ewig diese Plastikreklame von der üppigen Welt, die uns alle hungrig macht." Philippe fragt: "Was<br />
bleibt uns noch?" Er antwortet sogleich: "La 2CV, c'est pas une voiture, c'est une facon de vivre." -<br />
Der 2CV ist kein Auto, sondern eine Lebenseinstellung. Und er fügt hinzu: "Wenn alle eine Ente<br />
führen, wäre die Gesellschaft friedlicher. Überall kochen doch zunehmend bedrohliche<br />
Aggressionen hoch."<br />
Elisabeth, die ihm zuhört, nickt auffällig in die Entianer-Runde. Zugehörigkeit ist gefragt.<br />
Hinter jeder Döschöwo-Erzählung - auch ohne Katalysator - kanalisiert sich meist ein Stück<br />
Biografie oder auch Lebensskizze, für die es sonst kaum noch einen Platz zu geben scheint. Ob<br />
Herkunft, Bezugspunkte samt Identität - die Ente zieht sich wie ein roter Faden durch mancherlei<br />
Lebensgeschichten - ein Wegbegleiter aus Blech. Die 24jährige Kindergärtnerin Elisabeth Perpoil<br />
aus Saint Avertin sagt: "Als ich Kind war, reparierte mein Vater jedes Jahr mit ein paar Kollegen<br />
einen 2 CV für die Tombola von Sankt Eloi. Mit acht Jahren habe ich mir vorgenommen, mein<br />
erster Wagen nach dem Führerschein muss eine Ente sein. Wir haben sechs Wracks gekauft und an<br />
die zweitausend Stunden gearbeitet. Da steht er nun, mein Deux Chevaux, sogar mit neuen<br />
Sicherheitsgurten und Bremsbelägen."<br />
Wohl noch kein Fahrzeug in der Geschichte Frankreichs hat die Seelenlage der Gemüter<br />
derart beschäftigt, bewegt, aufgewühlt - oder auch solch länderüber-greifende Identifikationsschübe<br />
ausgelöst wie die Ente. Zunächst galt sie als Urtyp eines Primitivautos schlechthin, als Arbeitstier<br />
(Einheitsfarbe grau) und rollte vornehmlich vor Fabriktore oder auch Bauernhöfe. In den sechziger<br />
und siebziger Jahren stieg sie zum existenzialistischen Image-Gefährt französischer Intellektueller<br />
auf. Wer damals in jenen Zeitläufen der heute schon legendär-verklärt anmutenden<br />
Studentenrevolte auch nur ein wenig auf sich hielt, las nicht nur in verrauchten Bars schwierige<br />
Texte des Philosophen Jean-Paul Sartre(*1906+1980), rauchte Gauloises in Kette, nein, der parkte<br />
sein Statussymbol Deux Chevaux natürlich im Pariser Stadtteil Saint-Germain-des-Près. Wo denn<br />
auch sonst.<br />
Tatsächlich vermochte bisher kein noch so technologisch hochgezüchtetes Vehikel aus<br />
den Werken Renault, Peugeot oder Citroen an ihre Grandeur anzuknüpfen. Die skurril verpackte<br />
Enten-Mechanik, Sparsamkeit des Motors, sanft wiegende Federung, die im Stil einer<br />
Sardinenbüchse mit zurückgerolltem Dach zu fahren ist - all das ist in der Autowelt unnachahmlich<br />
geblieben. Sicherlich auch ein Grund dafür, warum in Europa eine Enten-Bewegung entstand.<br />
Dabei ist die Entstehungsgeschichte des Autos so abenteuerlich wie seine tiefauslagende<br />
Kurvenlage. - "Vier Räder unterm Regenschirm" wollte in den dreißiger Jahren Citroen-<br />
Generaldirektor Pierre-Jules Boulanger (*1885+1950) bauen lassen. Dieses Häutchen sollte auch<br />
den Landarzt, die Weinbäuerin und natürlich den Dorfpfarrer im landwirtschaftlich geprägten<br />
Frankreich zu überzeugten Citroen-Fahrern machen. Einzige Vorgabe an die Konstrukteure im<br />
Pariser Vorort Levallois: Der Wagen müsste in der Lage sein, zwei Bauern samt einem Sack<br />
Kartoffeln oder einem Fass Wein auch über Feldwege zu kurven, vom Village zur Ville zu bringen.<br />
Das TPV ("Toute Petite Voiture" - ganz kleine Auto) dürfe nicht mehr als drei Liter Benzin auf<br />
100 Kilometer schlucken und habe so geräumig zu sein, dass die Baskenmütze beim Einsteigen<br />
nicht vom Kopf rutscht. Sollte zudem noch eine Kiste mit Eiern auf dem Rücksitz liegen, so dürfe<br />
keines während der Fahrt zerbrechen.<br />
Über sieben Millionen Enten verließen die Pariser Werkshallen -durchschnittlich 400 am<br />
Tag. Verständlich das mittlerweile auf dem Schloss Rochetaillée-sur-Saône Ersatzteile wie<br />
235
Antiquitäten gehandelt werden. Überhaupt durchlebt Frankreich eine nie für möglich gehaltene<br />
Renaissance alter Blechkarossen. Fernab von schnelllebigen Superlativen und dem<br />
potenzprotzenden Milieu aus der Reklamewelt neuer Automobile wuchs in diesem Schatten eine<br />
Wirtschaftsbranche mit Millionenumsätzen samt Arbeitsplätzen heran - der kapitalkräftige<br />
Oldtimer-Markt. Was einst verspielt begann, entpuppt sich zunehmend als eine ernst zu nehmende<br />
Wachstumsbranche - die Auto-Nostalgie.<br />
"Ich habe in einer kleinen Garage im Hinterhof begonnen. Heute kann ich eine Werkstatt<br />
mein eigen nennen", sagt der 50jährige Jean-Pierre Payet aus Briord im Rhône-Tal. Seine<br />
Auftragsbücher sind üppig gefüttert. International bis nach Japan hat der Tüftler Anzeigen in<br />
Fachzeitschriften geschaltet. Von überall rufen ihn Liebhaber vergangener Auto-Epochen an und<br />
wollen sogleich für etwa 12.000 Euro ein Stückchen mobile Vergangenheit mit nach Hause<br />
nehmen.<br />
Eigentlich wollte Restaurateur Jean-Pierre Jurist werden. Doch schon die kurzweiligen<br />
Fahrten mit seinem 5-Chevaux-Citroen zur Uni wiesen seinen Berufsweg in eine andere Richtung.<br />
Seither bastelt er maßstabsgetreu die "Vorahnen des Autos" zusammen. Oldtimer beginnen für ihn<br />
nämlich erst dort, wo Holz-teile handwerklich eingebaut werden müssen - Filigranarbeit. Seine Frau<br />
Josette nickt ermüdet. Sie ist es nämlich, die die Abendstunden, zuweilen des Nachts an der<br />
Nähmaschine verbringt, mühselig die Sitzbezüge vergangener Tage schneidert und anpasst. -<br />
Terminarbeit.<br />
Übers Wochenende ist das Oldtimer-Paar meist unterwegs, grast alte Höfe und Dörfer ab.<br />
So mancher Zeitgenosse hält das einstige Volksauto - sieht wie ein Frosch aus - noch heute seit<br />
dem Zweiten Weltkrieg in Ställen oder Scheunen verborgen - für den Notfall sozusagen. Denn<br />
immerhin gab es auf den 2-Chevau-Citroen Benzinmarken. Und das will auch noch in Frankreichs<br />
Ära der TGV-Schnellzüge etwas heißen.<br />
236
FREMD IM EIGENEN LAND<br />
Betreuerin Muriel Mercier aus Lyon kümmert sich um "Immigrés" in<br />
Abschiebehaft. Nach 24 Stunden werden 80 Prozent aller Asylanträge abschlägig<br />
beschieden. Ihre Aufgabe ist es, diese "vogelfreien Existenzen" in angelegten<br />
Handschellen ins Flugzeug zu verfrachten. Frankreich ist für die CIMADE-Helferin<br />
"inneres Ausland" geworden.<br />
Freitag, Berlin vom 9. Juli 1993<br />
Das Gesicht des Fremden<br />
Was uns an den Zügen des Fremden in Bann zieht,<br />
spricht uns an stößt uns zurück, beides zugleich:<br />
"Ich bin zumindest genauso einzigartig und daher liebe ich ihn",<br />
sagt der Beobachter. "Aber ich ziehe meine Einzigartigkeit vor<br />
und daher töte ich ihn", kann er weiter folgen.<br />
Vom Herzschlag zum Faustschlag –<br />
das Gesicht des Fremden zwingt uns, die verborgene Art,<br />
wie wir die Welt betrachten, ... offenzulegen."<br />
Julia Kristeva in "Fremde sind wir uns selbst", Edition Suhrkamp, 1990<br />
Schon die äußeren Merkmale des Arbeitsplatzes von Muriel Mercier sagen mehr über die<br />
innere Gereiztheit des Einwanderungslandes Frankreich mit seinen ausländischen<br />
Neuankömmlingen aus, als es so manche wohlfeile Formulierung aus dem Pariser Politik-Milieu<br />
erahnen lässt. Das massive Eingangsportal in der rue Diderot in Lyon ist auch tagsüber fest<br />
verschlossen. Klingelanlage und Namensschilder wurden schon vor einem Jahr abgebaut - aus<br />
Sicherheitsgründen. Nichts deutet darauf hin, dass in diesem beschaulich anmutenden Altbau-<br />
Viertel die französische Flüchtlingsorganisation CIMADE ihren Sitz hat - ein versteckter<br />
Umschlagplatz für Akten und Abschiebungen.<br />
Seit vier Jahren betreut die Sozialpädagogin Muriel Mercier die Ausgestoßenen der<br />
Republik. Und es werden immer mehr. Allein im Jahre 1992 wurden nach offiziellen Angaben<br />
42.859 Ausländer des Landes verwiesen. Oft begleitet sie ihre Zöglinge in angelegten Handschellen<br />
bis hin zur Abflughalle, an der die Flieger für ferne Kontinente auf ihre Passagiere ungeduldig<br />
lauern. Sie tut das, weil Muriel "diese quasi vogelfreien Existenzen" auf ihrer letzten Fahrt nicht<br />
ganz dem Gutdünken der berüchtigten Sonderpolizei "Compagnie Républicaine de Sécurité" (CRS)<br />
ausgeliefert sehen will. Muriel sagt: "Jahr für Jahr wird es kälter, fühle ich mich schon als Fremde<br />
im eigenen Land."<br />
Frau Mercier hat im Grunde zwei Arbeitsplätze. Denn die Hälfte des Tages verbringt sie<br />
hinter Mauern, Stacheldraht und Gitter - im Abschiebelager der Sonderpolizei-Einheit CRS von<br />
Saint-Foyes-Les-Lyon. Dieses Camp, von dem es zwei Dutzend in Frankreich gibt, ist die<br />
Endstation aller Sehnsüchte. Tag für Tag kurven Polizeieskorten in Windeseile vor, als gelte es, in<br />
Sachen Ausländer eine "Staatskrise" zu bewältigen. Uniformierte liefern verängstigte Menschen für<br />
den Rausschmiss aus Frankreich ab - in Handschellen versteht sich.<br />
237
Meist sind es Leute aus Nordafrika und neuerdings auch aus den früheren<br />
Ostblockstaaten. Irgendwo auf der Straße oder an den Bars geschnappt in den angrenzenden<br />
Départements Ain, Rhône, Loire. Immer wieder dieselben Vergehen: keine Arbeitspapier. Und ab<br />
geht die Post. Knappe 24 Stunden Polizeigewahrsam, Zivilrichter im Schnellverfahren, maximal<br />
sieben Tage im Abschiebelager -Frankreich ade. Sich übers Asylverfahren einen Platz "im Land der<br />
Sonne" zu ergattern, ist praktisch aussichtslos. In durchschnittlich 50 Tagen liegt ein richterliches<br />
Urteil vor. Im Jahr 1992 wurden insgesamt 47.400 Asylanträge gestellt und 80 Prozent abschlägig<br />
beschieden.<br />
Sich gar eine Französin oder einen Franzosen als letzten Ausweg für eine Scheinehe zu<br />
angeln - auch dieser weitaus kostspieligere Weg ist mittlerweile nahezu chancenlos: Frankreichs<br />
Ausländer-Polizei sitzt nämlich ungefragt mit auf der Bettkante. Nachforschungen über "un amour<br />
véritable" (wahrhaftige Liebe) laufen vielerorts -bei Verwandten, am Arbeitsplatz, in der<br />
Nachbarschaft. Deshalb glaubt der Bürgermeister von Toulouse, Dominique Baudis, zu wissen,<br />
dass die Hälfte der in seiner Region geschlossenen Partnerschaften "regelrechte Scheinehen" sind.<br />
Wenn im Standesamt zu Toulouse "Leute mit ausländisch klingenden Namen" (Baudis) auftauchen,<br />
gar ein Aufgebot bestellen wollen, unterrichtet der Bürgermeister unbesehen sogleich den<br />
Staatsanwalt, der seinerseits die Ausländerpolizei zu Vorortkontrollen einsetzt. Eine langjährige<br />
Aufenthaltsgenehmigung gibt es sowieso für den ausländischen Partner der sogenannten Mischehe<br />
(1991: 33.000) erst ein halbes Jahr nach der Trauung. "Und nur dann", bekundet der Stadtvorsteher<br />
selbstgewiss, "wenn mir abgesicherte Berichte vorliegen, dass die amour véritable voll und ganz<br />
funktioniert." - Intimkontrollen auf Französisch.<br />
"Irgendwie, auf welche Weise auch immer", befindet Muriel, "sehen sie sich alle auf Dauer<br />
in solch einem Abschiebelager wieder. Frankreich kennt schon lange kein Pardon, kein<br />
Augenzwinkern mehr, erst recht mit der neuen Regierung." Das Abschiebecamp Sainte-Foyes-Les-<br />
Lyon wurde im Jahre 1984 angesichts der steigenden Bedarfszahlen in Betrieb genommen, hat 24<br />
Betten. Fluchtmöglichkeiten gibt es so gut wie keine. Nachts leuchten gleißende Scheinwerfer das<br />
Gelände aus. Ein Areal, das durch Mauern, Gitter und Stacheldraht schnörkellos gesichert wird.<br />
Alle dreißig Tage lösen sich Sondereinheiten der CRS-Polizei ab.<br />
Kontakte zur Außenwelt bestehen während der meist siebentägigen Verweildauer so gut<br />
wie keine. Befindlichkeiten der Ausgestoßenen, ihren seelischen Ausnahmezustand schlechthin - all<br />
jene Unwägbarkeiten haben die Pariser Politik-Männer vorsorglich Frauen wie Muriel von der<br />
CIMADE übertragen - zur Gewissensberuhigung sozusagen. Schließlich bürgt schon dieser Name<br />
der Flüchtlingsorganisation für Seriosität samt französischer Tradition. Waren es doch<br />
ehrenamtliche CIMADE-Helfer, die zu Beginn des Zweiten Weltkrieges Franzosen aus Elsass-<br />
Lothringen evakuierten, in den Konzentrationslagern den Schmerz vor dem Tode zu lindern<br />
suchten. Hingebungsvolle Frauen, die sich auch um die Tausende und aber Tausende von<br />
Franzosen-Flüchtlingen kümmerten, die sich Anfang der sechziger Jahre nach dem ruinösen<br />
Algerien-Krieg mittellos nach Frankreich retteten.<br />
Und in dieser Kontinuität sieht Muriel den Flüchtlingsexodus dieser Jahre. Unbehagen<br />
befällt sie, wenn Muriel laut die Frauen-Rolle in der von Männern veranstalteten Welt hinterfragt.<br />
Sie murmelt: "Wir Frauen sind noch immer für die Drecksarbeit zuständig und haben zu alledem<br />
noch lieb, weich wie auch offenherzig sein." Muriel hatte sich gerade um eine Marokkanerin<br />
gekümmert, die im Lager ihren Kopf wie eine Wahnsinnige unentwegt an die Wand knallte.<br />
Empfindliche Brustschmerzen hatte diese Frau. Und immer wieder schrie die junge Marokkanerin:<br />
"Lasst mich raus aus dieser Hölle." Ihr zweimonatiges Baby , das sie derzeit stillen musste, was ihr<br />
238
eim Abtransport kurzerhand genommen worden. Immerhin konnte Muriel erreichen, dass Mutter<br />
und Kind wieder zusammen kamen -natürlich gemeinsam ausgewiesen werden.<br />
Verständlich, dass vom Lager-Leben kaum etwas nach draußen dringt. Sonst würde das<br />
humane Bild vom "Frankreich der Franzosen und der Menschenrechte" (Gaullisten-Führer Jacques<br />
Chirac, Staatspräsident 1995-2007 ) einen Knacks bekommen. Selbstmordversuche, Hungerstreiks<br />
und auch Schlägereien sind an der Tagesordnung im Lager, dort wo die Nerven blank liegen wie<br />
vielleicht nirgendwo sonst. Kaum einer weiß genau, mit welcher Drangsal er im Heimatland zu<br />
rechnen hat. Wandert er ins Gefängnis, wird er gar gefoltert -in der Türkei, in Marokko, Burundi<br />
oder anderswo? "Ja, ja", bemerkt Jean-Claude Barreau, Berater in Ausländer-Fragen des neuen<br />
Innenministers, "das wissen wir sehr genau, dass dies ein großes Problem ist. Lösen aber lässt es<br />
sich nur, indem wir Frankreich durch die Geburtenpolitik wieder mit Franzosen bevölkern. Dann<br />
steht einer neuerlichen Integration ausländischer Kinder nichts im Wege."<br />
Fernab von der großen Bevölkerungspolitik widerfuhr Madame Muriel dieser Tage eine<br />
ganz andere Genugtuung. Eines Nachmittags wollte sie in einem Café auf dem Place Bellecour in<br />
Lyon eine Torte naschen. An einem Nachbartisch erblickte sie auf einmal Mohammed, den sie aus<br />
dem Lager kannte und der schon nach zwei Tagen nach Marokko abgeschoben worden war. Nun<br />
war er flugs wieder da. Mohammed strahlte über beide Wangen und wedelte mit seinem gültigen<br />
Visum, das er sich in Rabat für gute 3.000 Euro von einem Botschaftsangestellten besorgt hatte. -<br />
Beide freuten sich spitzbübisch.<br />
239
SCARLETT: NACHTS AUF SEE, TAGSÜBER IM KOMITEE<br />
Schon als junges Mädchen begleitete Fischerin Scarlett vom Hafen Le Guilvinec<br />
ihren Vater zum Fang in den Golf von Biskaya. Seit Jahrzehnten kämpft sie ohne Unterlass<br />
ums Überleben. Billigimporte drücken Preis und Moral -zum Sterben zu viel, zum Leben<br />
zu wenig.<br />
Frankenpost, Hof vom 27. Juni 1993<br />
Die Kulisse im kleinen bretonischen Hafen von Le Guilvinec mit seinen fünftausend<br />
Menschen könnte den Hintergrund einer Roman-Verfilmung verflossener Jahre abgeben.<br />
Beschaulich wie überschaubar regt sich alltägliche Geschäftigkeit, als lebten jene wohlbehüteten<br />
Zeitläufe aus Romantik und Renaissance ungeahnt fort. So manche Butzenscheiben in den akkurat<br />
grau gestrichenen Fischer-Natursteinhäusern spiegeln das Dorfgeschehen wider. Wind und Wasser<br />
prägen Leute und Landschaft - Felsbuchten, Granitklippen, das Auf und Ab der Gezeiten, die<br />
Gewalt der Herbst-oder Frühjahrsstürme.<br />
Zwanzig Jahre ununterbrochener Aufschwung hat der Ort hinter sich. An die dreißig<br />
hoch technisierten Dampfer liefen hier alle drei Monate zur Blütezeit vom Stapel. Meist in den<br />
Abendstunden lehnen sich wartende Frauen mit ihren Kindern aus den Fenstern des Fischer-<br />
Hauses, johlen oder winken ihren Männern entgegen, die mit ihren Kuttern heimwärts tuckern: den<br />
Meer knapp zwei Wochen Kabeljau, Steinbutt, Langusten oder Seelachs auch Quappen abgetrotzt<br />
haben - handwerklich versteht sich.<br />
Nichts, so wollte es über Jahrzehnte scheinen, vermochte das bretonische<br />
Selbstwertgefühl zu beeinträchtigen. Seit jeher ist es getragen von einem unbändigen<br />
Behauptungswillen gegenüber der französischen Republik, können sich auch heute noch die Leute<br />
an der Küste schwerlich damit abfinden, ein Teil Frankreichs zu sein. Und ihr entlegenstes<br />
Département Finistère bedeutet nicht nur "Ende des Festlandes". - Hier ist die Bretagne ein<br />
unverkennbares Land der Frauen. Überall in dieser Region haben Frauen markant das Sagen, liegen<br />
Geschäfte oder auch das finanzielle Desaster im Überlebenskampf als Fischer-Familien<br />
ausnahmslos in ihren Händen. Zunächst notgedrungener weise, weil die Männer als Matrosen oder<br />
Kapitäne oft Wochen, gar Monate auf See waren; mittlerweile zunehmend selbstbewusster,<br />
unabhängiger, unnachgiebiger - zuweilen auch leidenschaftlicher.<br />
Bretagne - Mitte der neunziger Jahre - fortwährende Krisen-Zeiten: das sind Frauen-<br />
Zeiten. Dabei haben sie lediglich eine unscheinbare Kontinuität bewahrt. Im Städtchen<br />
Douarnenez, so wissen heimische Chronisten zu berichten, hat es schon im Jahre 1902 erste<br />
Frauen-Unruhen Frankreichs gegeben. Über 2.000 Arbeiterinnen einer Fischkonservenfabrik traten<br />
von sich aus in den Streik - erstritten höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. Wohl in<br />
keiner französischen Region wie der Bretagne mit ihren 1.100 Küsten-Kilometern und an den<br />
2.000 Schiffen - sie machen etwa die Hälfte des französischen Fischfangs aus - sind die Kontraste<br />
derart scharf geschnitten, prallen Widersprüche so unversöhnlich aufeinander.<br />
Es sind Frauen - junge wie alte - die sich in den Häfen etwa in Brest oder Lorient<br />
verdingen. Sie tragen schon des Morgens um 5 Uhr Körbe voller Schollen, Äschen, Steinbutten<br />
oder Barschen, sortieren und stapeln den Fang in Kisten, schleppen ihn auf Lastwagen, flink,<br />
geschickt, schweigsam, mit erprobter Routine vieler Generationen. Hafenarbeit - das ist<br />
Kärrnerarbeit, Frauen-Plackerei allemal. An den Wänden der Lagerhalle haben sie in großen<br />
240
Lettern ihren doppelsinnigen Leitspruch gepinselt: "Survivre ou mourir"-überleben oder sterben -<br />
heißt es da lapidar.<br />
Gewiss hat sich das auch die einzige selbstständige Fischerin der Region, die 37jährige<br />
Scarlett Le Core gesagt, als sie den Kampf gegen die fischende Männerwelt aufnahm. Schon ihr<br />
Vater fuhr zur See, schon als sechsjähriges Mädchen begleitete sie ihn bei Wind und Wetter,<br />
säuberte Netze wie Reusen, schleppte Kisten zur Auktion. Verständlich, dass auch Scarlett<br />
Fischerin werden wollte, "weil ich praktisch auf See geboren wurde, und die Freiheit auf Meer<br />
unbeschreiblich ist". Nur - sie durfte nicht. Zehn Jahre vergingen. Kochen lernte sie, servierte in<br />
Bars Weine, puderte in Kosmetikläden betuchten Damen zartes Rouge auf die Wangen, heiratete,<br />
bekam drei Kinder.<br />
Erst die Frauen-Aufbruchjahre in den Siebzigern ließen Scarlett trotzig werden. Zunächst<br />
ging sie heimlich zur Fischerschule, bestand die Prüfungen. Nunmehr kaufte sie sich demonstrativ<br />
ein Boot. Endlich wurde ihr beruflicher Wunschtraum Wirklichkeit. -Sarclett fuhr allein zur See. Sie<br />
erinnert sich: "Neid und Frauen-Feindlichkeit schlugen mir anfangs entgegen, Häme und auch<br />
Spott." Naheliegend war es, dass sich jener Argwohn auch auf ihren Mann Jean-Pierre übertrug. -<br />
Einen Großfischer-Matrosen, der von sich aus Haushalt, Hausputz und Kinder-Obhut mit Frau<br />
Scarlett teilt, sobald er an Land weilt. Er, der Jean-Pierre, sei ein Butt ohne Flossen, raunte es durch<br />
die Gassen von Guilvinec. Eben kein in der Fischertradition stehender Familienvater, lässt gar sein<br />
Weib auf hoher See, Kinder mit Au-pair-Mädchen allein zu Hause, Essen nur auf der Tiefkühltruhe<br />
und so weiter.<br />
Nur ganz allmählich konnten sich die mannbedachten Seeleute von Guilvinec damit<br />
abfinden, dass neben Scarlett mittlerweile auch noch fünf weitere Frauen mit ihren Booten -<br />
allerdings mit Matrosen - bis zu fünf Meilen von der Küste entfernt auf Fischfang gegen. Für<br />
Scarlett und Kolleginnen ist ihre Unabhängigkeit ein unveräußerbares Lebensmerkmal ihres<br />
Daseins - beruflich wie privat.<br />
Von April bis Oktober eines jeden Jahres fahren sie schon morgens um 5 Uhr hinaus aufs<br />
Meer, kehren nach vier Stunden in den Hafen zurück, verkaufen die soeben gefangenen Fische.<br />
Mittags kocht Mutter Scarlett zu Hause, macht Einkäufe in den Supermärkten. Gegen 13 Uhr<br />
präpariert sie die Netze für den nächsten Fischfang. Dann tuckert Scarlett wieder raus, um für die<br />
Auktion um 17 Uhr frische Quappen, Langusten oder Seezungen anbieten zu können. Nach dem<br />
Abendessen gegen 20 Uhr kurvt sie mit ihrem klapprigen Renault-Kombi nochmals in den Hafen,<br />
erneut treibt sie es auf See - oft bis nachts um eins. Sie sagt: "Ich will um jeden Preis meine<br />
Selbstständigkeit. Eine Stempeluhr wie in den Fabriken wäre Quälerei für mich. Dafür arbeite ich<br />
bis zum Umfallen. Wir Frauen rackern ohnehin drei Mal so viel wie die Männer. Ein alter Fischer<br />
kam letztens an mein Boot und sagte zu mir: " Wir wussten eigentlich ja schon immer, dass du eine<br />
gute Fischerin bist' - Da hatte ich ein paar Sekunden Gänsehaut."<br />
Nur in diesem Jahr, der schwierigsten Fischer-Krise überhaupt, ist Starletts<br />
Tagesrhythmus arg durcheinander geraten, Handlungsbedarf besteht, Frauen-Solidarität ist<br />
angesagt. Verständlich, dass es Madame Scarlett keine ruhige Minute auf See oder zu Hause hält.<br />
Ihre Kinder brachte sie in solch bewegten Zeiten vorsorglich bei ihrer Mutter unter. Als Vize-<br />
Präsidentin des örtlichen Komitees "Femmels de Marins Pêcheurs" reiste sie kreuz und quer durch<br />
die Region, trommelte verstummte Fischer-Frauen zusammen.<br />
"Frauen, seid nicht kleinlaut", sagt Scarlett zu ihren Leidensgefährtinnen, "wir sind stärker<br />
als die Männer. Unser Kampf beginnt erst jetzt." Zunächst waren es nur vierzig, dann stieg ihre<br />
241
Anzahl auf 150 Frauen, die sich im Maison du pêcheur zu Guilvinec nunmehr regelmäßig<br />
einfinden. Ursprünglich sollte dieses alte Haus einmal für die Männer die administrative<br />
Anlaufstelle sein, ihr Knoten- und Kontaktpunkt sozusagen. Mittlerweile führen auch dort ihre<br />
Frauen auffällig Regie. Sie heißen Christine, Malou, Marylène, Janine oder auch Scarlett. Sie sind<br />
zwischen 30 und 40 Jahre als und haben zu Hause alle zwei bis vier Kinder an ihrer Seite -<br />
Verzweiflung ist ihr Wegbegleiter. So manche Familie hat sich noch vor wenigen Jahren hoch<br />
verschuldet, den Männern für den Fischfang ein Schiff zwischen 1,1 bis 1,6 Millionen Euro<br />
gekauft. Christine sagt: "Wenn wir nichts tun, werden wir allesamt mit offenem Maul verrecken.<br />
Die Männer haben genug geredet, verhandelt. Wir warten nicht auf bessere Zeiten. Jetzt ist die<br />
Stunde der Frauen. Wir haben die Nase voll."<br />
Über Monate haben die Fischer-Frauen von Guilvinec mit ansehen müssen, wir ihre<br />
Einkünfte rasant dahin schmolzen - bis zahlreiche Familien überhaupt nichts mehr im Kochtopf<br />
hatten, Schiffe und Häuser vom Konkursrichter Schnurstraks versteigert wurden. Seit Monaten<br />
stürzt das Einkommen französischer Fischer im freien Fall. Die meisten verdienen heute nur noch<br />
ein Drittel des Wertes von 1990. Allein im vergangenen Jahr mussten 600 Familien wegen<br />
Überschuldung eine eidesstaatliche Erklärung ihre Zahlungsunfähigkeit (früher Offenbarungseid)<br />
leisten. Scarlett berichtet: "Früher kam mein Mann Jean-Pierre, der als Matrose oft 14 Tage auf See<br />
ist, immerhin mit etwa 1.550 Euro nach Hause. Jetzt sind es nur noch 110 Euro. Erst habe ich<br />
mich geschämt. Dann stellte ich fest, dass wir ja nicht alleine sind - und begann zu kämpfen."<br />
Täglich treffen sich die Überlebenskomitee-Frauen im Fischerhaus. Täglich kreisen ihre<br />
Gedanken um ein und dieselbe Frage: wie können wir und unsere Nachbarn diese Zeiten<br />
durchstehen. Arbeitsteilung ist angesagt. Christine sitzt am Telefon, verhandelt mit Banken und<br />
Lebensmittelläden, mit der Elektrizitätsgesellschaft, bitte um Stundung. Strom und Essbares.<br />
Marylène schnürt mit einer Frauen-Gruppe derweil Fresspakete.<br />
Meist am Nachmittag bis hinein in die späten Abendstunden sind militante Aktionen an<br />
der "Bewusstseins-Front" angesagt. Militant deshalb, "weil die Politiker-Männer, diese Jahrmarkts-<br />
Narren aus dem arroganten Paris, unsere Frauen-Sprache offenkundig nicht verstehen wollen",<br />
mutmaßt Christine erbost. Immer wieder ging es des Nachts mit den Zügen nach Paris ins<br />
Fischerei-Ministerium oder nach Brüssel zur EU-Kommission, um dort früh morgens aufdringlich<br />
Politiker samt Referentenstab aufzuscheuchen.<br />
In der Tat: Eine Flut von Fisch-Billigimporten, meist aus Nicht-EU-Ländern, vor allem<br />
aber auch aus Osteuropa überschwemmt Frankreich. Ursprünglich wollte die EU-Kommission in<br />
Brüssel den Meeren des Kontinents eine Verschnaufpause einräumen, sollte sich der Fisch-Bestand<br />
erholen. Folglich wurde der Import beschlossen. In Zahlen: Aus allen Meeren der Welt holten<br />
Schiffe Anfang des Jahrhunderts zwei Millionen Tonnen heraus: nunmehr gehen über 100<br />
Millionen Tonnen Fische ins Netz. Dabei wurde in Brüssel offenkundig die Folgewirkung außer<br />
Acht gelassen; nämlich die Existenzvernichtung Zehntausender europäischer Fischer. -Paradoxien<br />
dieser Zeit.<br />
Immerhin können die Fischer-Frauen aus der Bretagne schon einige Teil-Erfolge für sich<br />
verbuchen. Gemeinsam mit ihren Männern haben sie es geschafft, dass der französische Staat<br />
ihnen bei der Umschuldung ihrer teuren Schiffskäufe behilflich ist, ihnen eine Direkthilfe von rund<br />
45 Millionen Euro zukommen lässt. Und die EU in Brüssel führte Fisch-Mindestpreise ein, an die<br />
sich die Billigimporteure zu halten haben - offiziell zumindest. Und noch ein ganz anderer<br />
Gesichtspunkt gibt den Frauen Mut, ihren Kampf fortzuführen. Die Präsidentin der "Association<br />
des femmes de marins et comité de survie", Christine Nedellec wagt eine Prognose kommender<br />
242
Jahre, vielleicht Jahrzehnte, wenn sie sagt: " Hier in der Bretagne ist etwas an Frauen-<br />
Empfindungen, Frauen-Maßstäben, Frauen-Macht entstanden. Das haben wir nicht vermutet und<br />
das kann uns jetzt niemand nehmen."<br />
243
IM CLUB DER NUKLEOKRATEN<br />
Ungeachtet weltweiter Kritik an der friedlichen Nutzung der Kernenergie setzt<br />
Frankreich gerade in Jahren des Klimawandels und enorm gestiegener Energiekosten<br />
unbeirrt auf weitere Expansion seiner 58 Atomreaktoren, die 80 Prozent des<br />
Stromverbrauchs erzeugen.<br />
Die französische Regierung wertet den systematischen Ausbau und<br />
umfangreichen Export ihrer Kernenergie in sogenannte industrielle Schwellenländer als<br />
aktiven Beitrag gegen Erderwärmung, gegen Treibhausgase. Mit Ende des Jahres 2008<br />
wird der staatliche Stromkonzern EDF den angeblich sichersten französischen<br />
Druckwasserreaktor-Typs EPR der Welt in Betrieb nehmen. Eine enge Kooperation mit<br />
England ist unter Dach und Fach.<br />
Während nur Deutschland - weltweit als einziges Industrie-Land - ganz aus der<br />
atomare Stromversorgung aussteigen will, setzt Frankreich auch in Zukunft ganz auf seine<br />
Kernkraftwerken. Sie ist im Land unumstritten. Mittlerweile erobern sich in der Atom-<br />
Nation Frankreich immer mehr Frauen Schlüsselpositionen in den AKWs. Im<br />
Kernkraftwerk Le Bugey im Rhônetal, einst klassische Männer-Domäne, führen sie<br />
inzwischen wie selbstverständlich Regie.<br />
Freitag, Berlin vom 7. Mai 1993<br />
Der mit Monitoren bepflasterte Kontrollraum kennt nur Männer-Gesichter. Gesichter, die<br />
auch unbeobachtet keinen Zweifel aufkommen lassen dürfen. Etwa ein Dutzend Operateure und<br />
Ingenieure luchst im Überwachungszentrum des französischen Kernkraftwerkes Le Bugey im<br />
Rhône-Tal unaufhaltsam auf Bildschirme, Farbskalen, Schalter samt Knöpfen. Völlig abgeschottet,<br />
ohne Tageslicht, so steuern bislang diese auserkorenen Männer-Mannschaften die atomare<br />
Stromversorgung von etwa 13 Milliarden Kilowattstunden in einem Jahr, eine Energie-Produktion,<br />
die etwa 3,3 Millionen Tonen Heizöl entspricht.<br />
Im Werk Le Bugey und auch anderswo in Frankreich verstand es sich in den vergangenen<br />
zwei Jahrzehnten nahezu von selbst, die Atom-Männer in sensiblen Kommandozentralen der 61<br />
Kernkraftwerke der Republik als "Tabu" zu behandeln. Zu unangefochten nimmt sich ihre Position<br />
zwischen Leben und potenzieller Massenvernichtungsgefahr aus, zu autoritär und sicher kam ihre<br />
scheinbar in sich ruhende Selbstgewissheit männlicher Machbarkeit daher. Unausgesprochen - aber<br />
im alltäglichen Verhalten nachhaltig vermittelt: Wir sind der zivile Atomstaat Nummer eins in der<br />
Welt, die nukleare Festung Europas, la France als atomare Avantgarde schlechthin. Wir haben<br />
einen omnipotenten Leistungswillen. Unser Motto heißt: Tout nucléaire -Atomstrom total. Dabei<br />
stehen wir konsequent in der Tradition der Fünften Republik. Erst ließ Charles de Gaulle<br />
(*1890+1970) die Bombe zur militärischen Abschreckung bauen, dann überzogen wir nach dem<br />
Ölschock Anfang der siebziger Jahre das Land systematisch mit Reaktoren - eine Tat des Friedens,<br />
friedlich durchgesetzt.<br />
Atom und Männlichkeit in einem Atemzug zu nennen, scheint jedenfalls im Dunstkreis<br />
der französischen Kernkraftwerke nur folgerichtig zu sein. Selbstwahrnehmung und Lebensgefühl<br />
sind hier seit jeher getragen von einem Bewusstsein, zur Elite des Landes, zu einer hochkarätigen,<br />
abgeschotteten Kaste der Republik zu zählen. Denn Frankreich verfügt über keine nennenswerten<br />
Energiequellen. Dank der Atomkraft gelang es in den letzten zwanzig Jahren, die Kosten für<br />
244
Energieimporte um die Hälfte zu reduzieren - somit die Wirtschaftskraft der Nation beträchtlich zu<br />
stärken.<br />
Praktisch bildet der nationale Stromversorger Electricité de France (EDF) mit seinen<br />
145.000 Angestellten, als größter Stromexporteur Europas, einen Staat im Staates - weder von der<br />
Politik maßgeblich kontrolliert, noch gesellschaftlich mit seinen ehrgeizigen Atomprogrammen<br />
thematisiert, gar kritisiert. In Frankreich ist das kein zentrales Thema. Immerhin durften die<br />
Abgeordneten des Pariser Parlaments gelegentlich auch schon mal über Energiepolitik debattieren -<br />
dreimal in den vergangenen zwanzig Jahren. Neue Minister können kommen, alte Regierungen<br />
gehen, nur gegen den Club der Nukleokraten "gegen diesen militärisch-industriellen Komplex,<br />
hatte bisher so niemand eine reelle Chance", beteuert Madame Huguette Bouchardeau, die Anfang<br />
der achtziger Jahre als Umweltministerin scheiterte. Allesamt bilden sie eine Kaste: dieselbe<br />
Eliteschule, dasselbe Pariser Wohnviertel und die gleiche Denkweise: Ermattet fügt sie hinzu:<br />
"Selbst Sozialisten, die als Atomkraftgegner Industrieminister wurden, kamen als Befürworter<br />
wieder heraus."<br />
Aber auch sonst ist in Frankreich die Akzeptanz der Kernenergie in allen<br />
gesellschaftlichen Lagern sehr hoch. Ob links oder rechts in der politischen Gesäßgeografie des<br />
Parlaments, als technikfreundlich und fortschrittlich empfunden sie sich allesamt. Lediglich die<br />
beiden Umweltparteien gingen auf Distanz zur "nuklearen Festung", aber eher kleinlaut und<br />
halbherzig. Denn ausgesprochene Gegner des Atomstroms sind auch sie keineswegs. Immerhin<br />
betragen die umweltzerstörenden Kohlestoff-Emissionen in Frank-reich nur 1,9 Tonnen pro<br />
Einwohner eine im internationalen Vergleich äußerst niedrige Zahl.<br />
Gewiss, die mitunter rigorose Ablehnung der Kernenergie, die über Jahre andauernden<br />
Protestmärsche samt AKW-Blockaden wirken in Deutschland vornehmlich bei den Grünen und<br />
auch Teil der Sozialdemokratie identitätsstiftend. Diese leidenschaftlich vorgebrachte Anti-<br />
Atomkraft-Politik beeinflusst junge Generationen in ihrem Denken, Fühlen und Handeln<br />
maßgeblich. Sie zählt zu den letzten verlässlichen Erkennungsmerk-malen politischer<br />
Gesinnungsethik in dem konturlosen und abgefeimten Allerlei politischer "Kultur". Aber die<br />
überwältigende Mehrheit der Franzosen ist diese beherzte Form dauerhaften Aufbegehrens fremd.<br />
Geht es doch um die Versorgungslage der Nation, die nun einmal ganz oben in der Werteskala<br />
rangiert. In Frank-reich bringt es selbst die großspurigste Atompolitik, welcher Regierung in Paris<br />
auch immer, nicht fertig, so zu provozieren, dass die alten ideologischen Klassengegensätze<br />
ausgehebelt würden und sich eine Protestbewegung bildete.<br />
Während sich in Berlin die Stromversorger und Politiker von SPD und Grünen zumindest<br />
zeitweilig konsensfähig um Gedanken über den "Einstieg in den Ausstieg" mühten, gar eine<br />
Verlängerung der Laufzeiten bestehender Kernkraftwerke pauschal ablehnten, gibt es in der<br />
französischen Sprache nicht einmal eine Entsprechung für das bedeutungsschwere Wort<br />
"Ausstieg". In Paris jedenfalls werden solche Gedankenspiele von vornherein abwegig genannt.<br />
Statt dessen soll bis spätestens zur Jahrtausendwende die Vision Wirklichkeit und der "Reaktor der<br />
Zukunft" REP 2000 einsatzbereit sein, technologisch ausgereifter, noch sicherer, heißt es. EDF-<br />
Generaldirektor Jean Bergougnoux sprach sogar von einem "erheblichen Bedarf" neuer<br />
Kernkraftwerke, mit denen er das Land überziehen beabsichtige. Selbst die Möglichkeit, dass ein<br />
Reaktorkern schmelzen könne, wird nunmehr öffentlich ins Kalkül einbezogen, aber nur um<br />
Angst-schwellen stückchenweise weiter abzubauen. Eine aberwitzige Eventualität, die früher stets<br />
kategorisch ausgeschlossen worden war.<br />
245
In Frankreich regt sich allein deshalb kein auffälliger Protest. Und die deutschen<br />
Stromkonzerne sind mit Beteiligungen samt Investitionen munter dabei - vorsichtshalber und für<br />
den Fall, dass die Laufzeiten deutscher Kernkraftwerke jäh enden, Braunkohle wie erneuerbare<br />
Energie für eine Exportnation immer noch kein Ersatz darstellen. Allein im Jahre 1991 steckte<br />
Frankreich knapp 140 Milliarden Euro in seine Atom-kraft. Zu Beginn des achtziger Jahrzehnts<br />
beanspruchte der Reaktorbau ein Fünftel aller französischen Investitionen. Und die Strompreise<br />
sind nicht nur die weitaus günstigsten in Europa, sie fielen auch zudem noch um zehn Prozent,<br />
"weil wir", so frohlockte es aus der EDF-Zentrale in Paris, "konsequent auf die absolut modernste<br />
Technologie gesetzt haben".<br />
Irgendwie ist das gigantische Atomprogramm Frankreichs schon ein wenig der Stoff, aus<br />
dem einst die Träume von Armeegenerälen und Atomgläubigern gebastelt wurden. Schließlich sind<br />
die EDF-Herren des Brennstoffkreislaufes allesamt Absolventen französischer Eliteschulen, die<br />
Kaderschmieden für den Staat und dessen Rückgrat. Für die meisten ist die École Polytechnique,<br />
die renommierteste der französischen Grandes Écoles, lediglich eine Art Vorschule. Bis ins Jahr<br />
1975 blieb diese bekannteste Ingenieurschule Frankreichs ausnahmslos Männern vorbehalten.<br />
Frauen mit noch so exzellenten mathematischen oder naturwissenschaftlichen<br />
Eingangsqualifikationen wurde der Zugang verwehrt. Allmählich nun rücken die ersten<br />
ausgebildeten Frauen in Spitzen-Positionen nach. Immerhin belegen mittlerweile etwas weniger als<br />
ein Drittel Studentinnen jene begehrten Plätze an den Grandes Écoles. Nach erfolgreichem<br />
Abschluss steht nochmals eine dreijährige Zusatz-Ausbildung an der École de Mines bevor.<br />
Unter diesen Bedingungen versteht es sich von selbst, dass Frauen in französischen<br />
Kernkraftwerken in verantwortlicher Position eigentlich nicht vorgesehen waren. Und das in einem<br />
Land, in dem weit über 43 Prozent aller Frauen voll berufstätig sind, in dem es -anders als in<br />
Deutschland - ausreichend Krippen- und Kindergartenplätze - vor allem durchgängig<br />
Ganztagsschulen gibt. Verständlich, dass für 80 Prozent aller Französinnen ein Leben ohne Beruf<br />
undenkbar ist und ihr Einstieg in klassische Männer-Domänen als die wichtigste Veränderung in<br />
den vergangenen zwanzig Jahren beurteilt wird. Verständlich auch, dass sich gar 82 Prozent ein<br />
Leben ohne festen Partner vorstellen können. Es entzog sich dem männlich zugeschnittenen<br />
Anforderungsprofil des EDF-Mangements noch Anfang der achtziger Jahre, dass jemals Frauen als<br />
Ingenieur-innen, Physikerinnen, Chemikerinnen oder Mathematikerinnen Atomkraft-Kader führen<br />
können. Allenfalls schien denkbar, den Damen die Verantwortung für die sonnig muntermachende<br />
Gelb- und Blautönung der labyrinthischen Korridore der Kernkraftwerke zu übertragen.<br />
Das weiträumige Kasino des Kernkraftwerkes Le Bugey: Draußen wachen Kühltürme,<br />
drinnen Palmen. Mittagszeit. Nur ein flüchtiger Blick in den Speisesaal für Führungskräfte verrät<br />
schon, dass sich in Frankreich in den letzten fünf Jahren mehr verändert hat als in den 25 Jahren<br />
zuvor. Die Frauen sind da. Ausnahmslos an allen Tischen essen, diskutieren, gestikulieren, feixen<br />
und rumoren Frankreichs jüngste Atom-Managerinnen. "Unvorstellbar war diese vitale Frauen-<br />
Präsens in unseren Kernkraftwerken noch vor einigen Jahren. Jetzt ist sie aber längst eine von uns<br />
Männern ausgesuchte Realität", bemerkt EDF-Direktor Albert Leconte. Dabei lacht er schelmisch,<br />
als seien les Dames de l'atome soeben gerade von einem anderen Planeten gekommen.<br />
Mit den Frauen zog zunächst ein psychosozialer Klimawechsel in die einstige französische<br />
Männer-Trutzburg Kernkraft und Nuklearforschung ein, deren langfristige Folgewirkung qualitativ<br />
noch gar nicht auszumachen ist. Immerhin arbeiten nunmehr über 3.000 Frauen in<br />
Kernkraftwerken (14 Prozent) und an die 5.000 Frauen in der Nuklearforschung (24 Prozent) - als<br />
246
Wissenschaftlerinnen in Führungsetagen versteht sich. Insgesamt verfügt das Land über ein<br />
Potenzial von 27.000 Ingenieurinnen.<br />
Die Ingenieurin Isabelle Taillois-Galbano meint: "Auch wenn wir es mit viel Mühe<br />
geschafft haben, hier im Kernkraftwerk zu arbeiten, so sind doch in erster Linie Frauen in unserem<br />
Denken, Fühlen und Handeln. Unser Frausein verträgt nun einmal schlecht diese unbegründete<br />
Männer-Herrschaft aus der Steinzeit, dieses undurchsichtige Cocorico-Getue. Partnerschaft,<br />
Transparenz und Einfühlungsvermögen sind gefragt denn je. Solange wir Frauen in der Minderheit<br />
sind, werden wir von diesen Machos nur halbwegs geduldet. Aber dieses Mann-Verhalten bricht<br />
ein. Mal sehen, was dann auf uns zukommt."<br />
Ihre Alltagswirklichkeit ist bestimmt von steriler Abgeschiedenheit und der Kälte der<br />
Apparate mit all den peinlich genauen Sicherheitsauflagen. Dort, wo Gefühle belächelt,<br />
Hoffnungen begraben, der Leidensdruck umgeleitet und Enttäuschungen standhaft genommen<br />
werden. Klinisch-rein hat das Seelenleben der Kernkraft-Frauen ohnehin zu sein. Tagsüber am<br />
Reaktor, abends in der Freizeit in den von der EDF nur für Mitarbeiter gebauten Wohnsiedlungen.<br />
"Einmal EDF - immer EDF, auch privat EDF", murmelt die 31jährige Murielle Vivier-Bessard. "Ja,<br />
ja richtig, auch mein Vater war schon bei der EDF", fährt sie süffisant fort.<br />
Das Leben der Murielle Vivier-Bessard scheint in gewisser Weise symptomatisch für den<br />
französischen Frauen-Aufbruch zu sein. In ihrem Arbeitszimmer türmen sich hohe Papierberge auf<br />
ihrem Schreibtisch. Und irgendwo blickt da ein Bubikopf mit großen hellen Augen in auffälliger<br />
Hab-Acht-Stellung heraus. Ihre äußeren Merkmale wollen so gar nicht zum französischen Schick<br />
passen: Pulli und Jeans, ziemlich schüchtern schaut sie drein, latente Berührungsängste.<br />
Wenn sie oder ihre Kolleginnen von den Männern sprechen - und das müssen sie allzu oft<br />
tun - so heißt es nur lapidar: "Ceux d'en haut"- "die da oben" -als Synonym für den Mann, als<br />
Kürzel für die Männer-Welt in den Kernkraftwerken an den Kommandozentralen versteht sich -<br />
noch. Seit einem Jahr leitet Murielle Vivier-Bessard die Abteilung Buchhaltung des<br />
Kernkraftwerkes, als Chef-Buchhalterin mit 30 Mitarbeitern. Sie verdient etwa 2.500 Euro<br />
monatlich.<br />
Als die Angestellte zum ersten Mal ins Werk kam, befand sie: "Angst vor der<br />
französischen Atomtechnik habe ich nicht, sondern durch Wissen begründetes Vertrauen.<br />
Dennoch muss ich einen hohen Preis für mein berufliches Fortkommen zahlen. Aber ich will - und<br />
zwar bar." Gerade erst hatte Murielle Vivier-Bessard in Clermont-Ferrand geheiratet. Um der<br />
Karriere willen ließ sie ihren Mann, einen Bankangestellten, zurück. Und dieser kann in Le Bugey<br />
und Umgebung trotz emsiger Anstrengungen keine Anstellung finden."Also wird er wohl<br />
langfristig einfach so kommen", mutmaßt Murielle, "als Hausmann, warum denn eigentlich nicht.<br />
Die Männer sind doch sowieso in einer gesellschaftlichen Krise, suchen verbissen nach einer neuen<br />
Identität." Aber noch ist es nicht selbstverständlich, dass Frauen in leitenden Positionen akzeptiert<br />
werden. -Immer wieder fragen ich mich stereotyp die Herren, wie viele Kinder ich denn schon zu<br />
Hause hätte, wenn es Sachprobleme zu erörtern gilt. Quasi als Qualifikationsnachweis für meinen<br />
Job im Kernkraftwerk. Es ist nervig und beschämend zugleich. Dabei wollen wir mit diesen<br />
Männern zusammen-arbeiten. Wir sind hier keine militanten Feministinnen. Nur sie müssen<br />
endlich in ihrem Verhalten begreifen, dass wir nicht die Püppis der Nation sind."<br />
Isabelle, die zugehört hat, signalisiert Einvernehmen. Isabelle Taillois-Galbano ist<br />
Ingenieurin in Le Bugey, für die Einstellung von Technikern verantwortlich. Sie ist eine eloquente<br />
Frau von 33 Jahren, Mutter dreier Kinder und eine mathematisch-physikalisch versierte<br />
247
Wissenschaftlerin, die die von Männern kalkulierten Leistungskriterien voll und ganz erfüllt. Sie<br />
könnte es durch ihre Qualifikation, das weiß jeder im Werk, mit all den Herren leicht aufnehmen,<br />
wenn man doch nur ließe. Vielleicht wird Isabelle ja die zweite Frau Frankreichs, die ein<br />
Kernkraftwerk leitet. Es hätte ihr schon gefallen, die erste gewesen zu sein. Bekanntlich wurde es<br />
ihre Kollegin Martine Griffon-Foucault in Le Blayais, die sie aus der gemeinsamen Studienzeit in<br />
Paris kennt und schätzt.<br />
Frankreich feierte damals mit großer Presse die erste Chefin eines Kernkraftwerkes, seine<br />
Madame Martine, überschwänglich als nahezu auferstandene Jeanne d'Arc der Neuzeit, mit<br />
wehenden blonden Haaren vor dem Reaktor, im Segelboot, zu Pferd und auch kuschelig an der Bar<br />
- ganz im Stil: So verführerisch kann Atomspaltung sein. Isabelle Taillois: "Würdelos war das für<br />
uns Frauen in den Kernkraftwerken alle. Als hätten unsere strengen Anforderungen in<br />
Wissenschaft, Technik samt Sicherheit etwas mit illustrer, voyeuristischer Erotik zu tun."<br />
Und was passiert nicht alles in diesen Jahrzehnten in Frankreichs sicher gewähnten<br />
Atommeilern. Für Männer sind es noch routinegeübte Petitessen. Für die Frauen hingegen sind es<br />
alarmierende Vorkommnisse, die sie nicht mehr ruhen lassen. Ihre Alarmglocken schrillen, sagen<br />
sie, beruhigen sie, versichern sie. Aber - hier im Atomkraftwerk - wachen sie über ein Leben, das<br />
ihnen sind schon fortwährende bedenkliche Ausnahmesituationen genehmigt hat - und das in<br />
einem schleichenden Gewöhnungsprozess, der sich da Alltag nennen darf.<br />
Explosion im Atomreaktor. Bei einer Natriumexplosion im südfranzösischen<br />
Atemforschungszentrum Cadarache kam ein Arbeiter ums Leben, vier wurden verletzt. Nach<br />
Angaben der Präfektur des Départements Bouches-du-Rhône geschah das Unglück bei Arbeiten<br />
zum Abbau eines vor zwölf Jahren stillgelegten Versuchsreaktors. Die Explosion ereignete sich<br />
gegen 19 Uhr im Trakt des ehemaligen Reaktors "Rapsodie", eines Prototyps für den Schnellen<br />
Brüter. In Kraftwerken dieses Typs, die mehr radioaktiven Brennstoff erzeugen, als sie<br />
verbrauchen, wird das Kühlmittel Natrium eingesetzt, das bei der Berührung mit Sauerstoff in die<br />
Luft geht.<br />
Erdstöße erschüttern das südfranzösische Atomforschungszentrum Cadarche. Zu<br />
Testzwecken haben Nuklearexperten einen Mini-Gau gezündet. Immer wieder er-schüttern<br />
neuerdings Erdstöße die Fundamente der Anlage. In den letzten vier Monaten bebte der Boden<br />
insgesamt 40mal. Seither gab die Erdkruste unter dem 50 Kilometer nordöstlich von Marseille<br />
gelegenen 1.625 Hektar großen Areal keine Ruhe mehr.<br />
Anderenorts sind Haarrisse am Deckel des Reaktordruckbehälters entdeckt worden: am<br />
Stutzen des Reaktordeckels der Kernkraftwerke Fessenheim und Le Bugey; Grund für den Defekt<br />
sei Korrosion des Materials, sagt man, die durch Temperaturen bis zu 300 Grad nach rund 50.000<br />
Betriebsstunden entstanden sei. Angesichts tiefreichender Materialfehler an der Naht-stelle<br />
zwischen Sekundär- und Primärkreislauf mussten mehrere Röhren ausgewechselt werden. Beim<br />
Hoch-drucktest des Primärkreislaufes im Block 3 des Kernkraftwerkes Le Bugey trat ein Liter<br />
Wasser pro Stunde aus dem Deckel des Reaktordruckgefäßes aus.<br />
Als es in Tschernobyl krachte, an die 70.000 Menschen starben und Millionen von<br />
Menschen radioaktiv verseucht wurden, da erinnerte sich die Ingenieurin an ihre ersten Angst-<br />
Zustände in der Kindheit. Vage Erinnerungen schienen plötzlich wieder erlebbar. Kennedy wurde<br />
1963 in Dallas ermordet. Isabelle Taillois war damals drei Jahre als. Die Familie hörte seinerzeit<br />
Radio. Für sie als Dreißigjährige ging damals die Welt unter. Beim Atomkraft-Desaster von<br />
Tschernobyl dachte sie nur: "Diese blöden Russen." Zu Mittag aß sie weiter unbesorgt ihren<br />
248
Kopfsalat. Angeblich hatten sich die radioaktiven Wolken nicht über den Rhein nach Frankreich<br />
gewagt.<br />
249
250
1994<br />
Gekämpft, gesiegt, vergessen – französische Widerstandskämpferinnen<br />
Bordellkultur von einst – Drangsal mit der Prostitution<br />
Fremdenlegion: „Alles ist besser als die Heimat“<br />
Mademoiselle chante les blues – Patricia Kaas<br />
Air France-Pilotin - „Sei schön und halte den Mund“<br />
251
GEKÄMPFT, GESIEGT - VERGESSEN, VERSTORBEN<br />
Tausende von Französinnen waren aktiv im Widerstand gegen deutsche<br />
Besatzungsmacht. Fünfzig Jahre nach Kriegsende erinnern sich nur wenige an die<br />
weibliche Résistance. Dabei war der Sieg niemals männlich, sagt die 89jährige Jeanne<br />
Moirod (*1905+1997) aus Oyonnax an der Schweizer Grenze. Sie haben gekämpft,<br />
geschossen, Bomben gelegt, wurden verhaftet, vergewaltigt - von der Gestapo gefoltert.<br />
Tagesspiegel, Berlin vom 12. November 1994<br />
Die Schlachten von einst wurden aus aktuellem Anlass nochmals geschlagen: nunmehr<br />
gemächlichen Schrittes von ergrauten Herren. Frankreich zelebriert die fünfzigjährige Gedenkfeier<br />
der Befreiung und Selbstbefreiung von deutscher Nazi-Herrschaft.<br />
Frankreich erinnert sich gern seiner Wiederauferstehung als "Grande Nation", die jene<br />
dunklen Jahre auch der französischen Kollaboration mit dem nationalsozialistischen Deutschland<br />
vergessen machen soll. Kein anderes Land durchlebt Schmach und Ohnmacht der Besatzungszeit<br />
mit seinem Vichy-Regime erneut mit solch selbstquälerischer Genauigkeit wie Frankreich inmitten<br />
der neunziger Jahre. In Deutschland mag die Nachkriegs-Ära zu Ende gehen - im Nachbarland<br />
Frankreich hingegen scheint die Aufarbeitung jener Schreckensjahre erst begonnen zu haben.<br />
Das pittoresk anmutende Industriestädtchen Oyonnax mit seinen 23.000 Einwohnern<br />
liegt im Dickicht des Jura-Gebirges im Südosten der Republik. Hier im unzulänglichen Buschwald<br />
dieser Region Haut Jura pulsierte einst die Hauptader des französischen Widerstands.<br />
Heute ziehen - wie damals im Jahr 1943 - ehemalige bewaffnete Widerstandskämpfer<br />
demonstrativ durch dieselben verwinkelten Gassen auf den Platz zur alten Post um ihren Toten zu<br />
gedenken. Seinerzeit waren auch kämpfende Frauen dabei. Mittlerweile - nach 50 Jahren - sind die<br />
Französinnen der Résistance scheinbar spurlos von der Bildfläche verschwunden. Kaum jemand in<br />
der französischen Öffentlichkeit kann sich noch fünf Jahrzehnte danach daran entsinnen, dass<br />
gerade "les femmes résistantes" das eigentliche Rückgrat jener Befreiungsfeldzüge waren. Ohne die<br />
Zehntausende von Frauen als Waffenbeschafferinnen, Verbindungsagentinnen oder auch als<br />
kämpfende Kameradinnen einer Sabotagegruppe - die Republik könnte militärischen<br />
Eigenleistungen der Libération wohl kaum für sich beanspruchen. Ein Ergebnis, das Frankreich<br />
politisch einen gebührenden Platz unter den Siegermächten der Nachkriegs-Ära einräumte.<br />
Die Frauen im Widerstand, sie haben gekämpft, geschossen, Bomben gelegt, sie wurden<br />
verhaftet, vergewaltigt, als Informationsträgerinnen von der Gestapo besonders grausam gefoltert.<br />
Und sie wurden allenthalben vergessen. Gerade diese Französinnen aber haben mit den Männern<br />
obsiegt. Zu Kriegsbeginn gehörten allein 600.000 Französinnen dem Komitee der Frauen gegen<br />
den Faschismus an. Unter den dreitausend Agenten, der gaullistischen Alliance waren 700 Frauen.<br />
Und im Konzentrationslager Ravensbrück bekannten sich drei Viertel der 7.000 internierten<br />
Französinnen zur Résistance.<br />
In einem schmucken Häuschen in der Rue Diderot zu Oyonnax treffen sich neuerdings<br />
ältere Damen regelmäßig zu einem Kaffeekränzchen bei "unserer Jeanne", wie sie sagen. Alltäglich<br />
war der Widerstand französischer Frauen, unspektakulär allemal. Sie heißen Pépette, Lisette oder<br />
auch Andrée. Sie sind zwischen 70 und 90 Jahre alt. Unterschiedlich ist ihre Herkunft, gegensätzlich<br />
sind ihre politischen Anschauungen. Die 89jährige Jeanne war Zeit ihres Lebens<br />
Trotzkistin, die 71jährige Andrée freundete sich nach dem Kriege mit den Gaullisten an. Aber eines<br />
2 52
verbindet die Damen an der Kuchentafel - ihr gemeinsam erlebter, durchlittener Kampf gegen<br />
deutsche Besatzer - und das in der Résistance.<br />
Tatsächlich war es auch ein intensives Gefecht gegen die traditionell zementierte<br />
Frauenrolle, eine Art emanzipatorischer Ausbruch aus ihrem umzäunten Hausfrauen-Dasein -<br />
zeitweilig zumindest. Im Widerstand wurde für manche Französin ein Quäntchen ihrer Vision<br />
Wirklichkeit: das eigene Leben selbstständig zu verändern, in Frankreich auch "Kulturevolution"<br />
genannt. Bei der Résistance gab es folglich keine Dienstgrade.<br />
Es war gemeinsam mit den Männern erlebte Gleichberechtigung in dieser Ausnahme-<br />
Epoche. Ihre Résistance-Kollegin Lucie Aubrac (*1912+2007) sprach sogar euphorisch von der<br />
"tiefen und radikalen Bewusstseinsentwicklung durch den Widerstand - auch "von einer neuen<br />
Frau", die aus der Résistance entstanden sei. Mithin sind es Frauen-Kriegserlebnisse früherer Jahre,<br />
die die Damen entscheidend prägten; Geschehnisse, die des Gesprächs noch bedürfen -<br />
augenblicklich scheinbar vergilbte Ereignisse, die die Résistance-Frauen in ihrer Tiefenschärfe nicht<br />
ruhen lassen.<br />
In Wirklichkeit offenbart sich die Kuchentafel bei Jeanne zudem als ein femininer<br />
Daseins-Verbund. - Eine Frauen-Gemeinschaft alter Damen, die noch fortwährend nach<br />
Deutungen dafür sucht, warum nach dem Kriege Frankreichs Männer-Macht die Frauen erneut an<br />
die gesellschaftliche Peripherie verbannte. Dabei dürfte sich eigentlich die 89jährige Jeanne Moirod<br />
kaum beklagen. Zählt sie doch zu den seltenen Frauen der Republik, die nach 1945 die "Medaille<br />
der Résistance" (1.024 Männer und sechs Frauen), gar die "Medaille des Militärs" bekam. Dessen<br />
ungeachtet ist es vielleicht gerade die hochdekorierte Frau, die das allseitige Männer-Gebaren<br />
beargwöhnt. "Egoisten sind sie. Dieser Sieg war niemals männlich, auch wenn sie jetzt eigene<br />
Herren-Gruppen gründen und in den Städten marschierend posaunen. Die Frauen waren und sind<br />
einfach viel zu bescheiden."<br />
Rückblende: Über sechs Millionen Menschen waren im Jahre 1940 auf der Flucht.<br />
Hauptsächlich Mütter mit ihren Kindern schleppten sich durch das Land, organisierten ihr<br />
Überleben. Zwei Millionen Männer waren in Gefangenschaft. Und die Deutschen bauten<br />
zusehends immer mehr Lager zu Festungen aus. Aus Frankreich war unversehens ein Land der<br />
Frauen geworden - im Jura die Jahre der Jeanne. Immer nachts, von der Gestapo unbemerkt,<br />
schlich die damals 30jährige Hilfsarbeiterin einer Glasfabrik in die unwegsamen Jura-Berge - jedes<br />
Mal 30 bis 40 Kilometer, schlecht beschuht, schlecht ernährt, nur mit einer Pistole als<br />
Wegbegleiter. Den Bäcker, den Fleischer, den Pfarrer und auch den Lehrer hatte die Gestapo<br />
allesamt "wegen Beihilfe zur Sabotage" schon standrechtlich erschossen. Nun lastete auf Jeanne<br />
allein die Verantwortung, unbewohnte Berghütten als Versteck ausfindig zu machen - und vor<br />
allem, die Kameraden dort auch unbemerkt hinzubringen.<br />
Und es kamen immer mehr Männer, die sich dem französischen Widerstand anschlossen.<br />
- Vielleicht einfach auch deshalb, weil sie sich nicht zum Arbeitsdienst nach Deutschland<br />
deportieren lassen wollten. Ihr Haus im Ort war unversehens zur Drehscheibe der Résistance im<br />
Jura geworden. Hier wurden Untergrund-Zeitungen hektographiert, hier liefen konspirative<br />
Adressen zusammen, wurden Schlupfwinkel für Menschen und Waffen ausgesucht. Es war Jeannes<br />
Haus – ein Haus in Frauen-Regie.<br />
Jeanne sagt: "Wir hatten nicht einmal Zeit, unsere Toten zu beweinen - so sehr stockte der<br />
Atem in uns." Gleich nach dem Krieg mit dem vielen zerstörten, niedergebrannten Gemäuer, als<br />
die Not unerträglich daherkam, es keine Wohnungen, kaum Essbares in unseren Kellerverstecken<br />
253
gab, krempelte Jeanne als Vize-Bürgermeisterin von Oyonnax wieder die Ärmel hoch, um die<br />
Knappheit zu lindern - vom Widerstand im Gebirge zu den Trümmern in den Städten. "Richtig zur<br />
Besinnung", ergänzt ihre Kollegin Pépette, "sind wir erst im hohen Alter gekommen. Erst jetzt<br />
fragen wir uns immer ängstlicher, welch ein Glück wir doch an unserer Seite hatten, so heil davon<br />
gekommen zu sein."<br />
"Im Widerstand", äußert Andrée, "sind wir andere Frauen geworden. Und dieses<br />
Anderssein haben wir uns bis heute bewahrt." Mit einem dezenten Fingerzeig deutet Madame<br />
Andrée auf das Nachbarhaus. Dort lebt noch eine Familie, deren Eltern beherzt in der<br />
Kollaboration ihr Auskommen suchten. Es sind Wunden, die in Frankreich nicht vernarben<br />
wollen; wenigstens in dieser Generation nicht mehr. Folglich ist es für die Frauen ein "Ding der<br />
Unmöglichkeit", dass etwa Kinder oder Enkel in eine Kollaborationsfamilie einheiraten. Auch<br />
käme niemand auf diese absonderliche Idee, weil sie inzwischen alle hinlänglich wissen, "wie wir<br />
gelitten haben, welche Schmerzen es zu ertragen galt". - Vergangenheitsbewältigung auf<br />
Französisch<br />
Nach dem Kriege wurden 127.000 Kollaborationsverfahren eingeleitet, 80.000<br />
Gerichtsurteile gesprochen; darunter 6.800 Todesstrafen verhängt, von denen 1.500 vollstreckt<br />
worden sind.<br />
Es waren entwürdigende Frauen-Bilder, die um die Welt gingen, die sich vor allem ins<br />
deutsche Gedächtnis eingruben: kahl geschorene Französinnen, die sich mit der Gestapo oder auch<br />
Soldaten der Wehrmacht eingelassen hatten. Die alte Dame weint. Ihr Vater wurde von Franzosen<br />
verraten, ist erschossen worden. Die Tochter Andrée blieb allein zurück mit ihren zwei kleinen<br />
Brüdern. Für beide hatte sie zu sorgen und ihre Freizeit hieß - Widerstand.<br />
Verständlich, dass Résistance-Gruppen zu einer Art Familien-Ersatz gediehen; eben zu<br />
einer eingeschworenen Solidargemeinschaft. Es blieb den eigenen Kindern vorbehalten, Tabus<br />
anzutasten. Nämlich jene sorgsam gehüteten Vorbehalte im Umgang mit den Deutschen. Als<br />
Jeannes erst 16jährige Nichte Pierrette mit einem Schüleraustausch Deutschland besuchen wollte,<br />
war Jeannes spontane Reaktion: "Du bist wohl verrückt geworden. Solange ich lebe, fährst du nie<br />
in dieses Land, merke dir das!" - Das Mädchen antwortete: "Aber du selber warst es, die mir immer<br />
sagte, wir müssen zwischen dem normalen Deutschen und den Gräueltaten der Nazis<br />
unterscheiden. Das macht unsere Lehrerin im Geschichtsunterricht schließlich auch." In diesem<br />
Moment erschrak Jeanne darüber, wie sie unbedacht alte Feindbilder auf die junge Generation<br />
übertrug, unvermittelt weitergab. Und sie antwortete knapp: "Das stimmt schon. Vieles hat sich<br />
geändert gehe hin." Zwischenzeitlich ist Nichte Pierrette mit einem Deutschen aus Frankfurt<br />
verheiratet. Wenn Jeanne in Widerstandskreisen über Pierrette und ihren Mann Erich spricht, liegt<br />
ihr häufig ein Hinweis auf der Zunge - als Rechtfertigung sozusagen: "Er war nicht beim Militär<br />
und ist nämlich ein netter Schoko-Bäcker."<br />
Triste November-Tage auf Frankreichs Friedhöfen, auch Soldaten-Friedhöfen. Gedenk-<br />
Momente. Fanfarenstöße vielerorts. Jedes Jahr zum 11. November -gesetzlicher Feiertag des<br />
Waffenstillstandes im Ersten Weltkrieg - besuchen die betagten Widerstandsfrauen wie Jeanne<br />
noch die Grabstätten ihrer im Kriege verlorenen Großväter, Väter und Söhne. Im vergangenen<br />
Jahr fuhren sie erstmals auch nach Dagneux - zur deutschen Begräbnisstätte, die östlich von Lyon<br />
liegt. Hier fanden 20.000 Gefallene aus beiden Weltkriegen ihre letzte Ruhe. Die Frauen vom<br />
Widerstand aus Oyonnax gedachten der Toten beider Länder.<br />
2 54
Nur mit einem können und wollen sich viele alte Damen der französischen Résistance<br />
nicht abfinden. Als am 14. Juli 1994 erstmals wieder deutsche Truppen im Rahmen des Eurocorps<br />
auf den Champs Elysées mit marschierten, da wurden traumatische Erinnerungen wach. Da haben<br />
so manche kurzerhand den Fernseher abgeschaltet. "Sicherlich", sagt Jeanne, "Deutschland und<br />
Frankreich sind endlich Partner geworden - vergessen können wir aber nicht."<br />
255
DRANGSAL MIT DER PROSTITUTION<br />
Die einst weltberühmte Bordellkultur früherer Jahrzehnte ist in Frankreich längst<br />
passé. Vielmehr gelten spätestens seit 2003 drakonische Strafgesetze, die Prostitution,<br />
Zuhälterei und Frauenhandel aus fernen Ländern als einen Akt "gegen die<br />
Menschenwürde" mit Geldbußen, gar Gefängnis ahnden. Aus dem Straßenbild sind<br />
Liebesdamen ganz verschwunden, nachdem Freier wie Prostituierte wegen des<br />
Straftatbestands des "sexuellen Exhibitionismus" vor Gericht gestellt wurden. Lediglich in<br />
sündhaft teuren "night clubs" großer Städte bieten Frauen - als Gäste getarnt - ihre Ware<br />
Sex diskret an. Nur im Untergrund wuchert weiterhin das kriminelle Geschäft mit<br />
"käuflicher Liebe" - nach dem "Ehrenkodex" einer Sekte.<br />
Frankfurter Rundschau 28. Mai 1994<br />
Vor der schmuddeligen kleinen Bar Américan auf dem Boulevard de la Pomme Nummer<br />
35 zu Marseille parken an diesem Wochenende ausnahmslos schnelle Flitzer: Hochkarätige<br />
Limousinen, wohl keine unter 80.000 Euro zu haben. Das will etwas heißen in dieser Hafenstadt, in<br />
der über hunderttausend Menschen unterhalb der Armutsgrenze dahinvegetieren. Erst recht<br />
bedeutet diese Parade von Zuhälter-Karossen etwas zu einer Zeit, in der das angrenzende<br />
Opernviertel, früher einmal Hochburg der Prostitution, vor sich hinzu schlummern scheint -<br />
vordergründig zumindest.<br />
Was die Polizei über all die Jahrzehnte nicht vermochte, schaffte offenkundig die<br />
Immunseuche Aids. Frankreich ist das HIV-Land Nummer eins in Europa. Laut Statistik zählt die<br />
Republik knapp 26.000 Aidskranke, darunter 4.100 Frauen. Wie ausgestorben wirken Bars oder<br />
Spielhöllen.<br />
Friedlich vereint sitzen Marseilles "Macs" (Zuhälter) nun in der an geschmuddelten Bar<br />
auf dem Boulevard de la Pomme. An einem Tisch die arabischen Herren-Repräsentanz mit einem<br />
Glas Pfefferminztee und ihrem Tric-Trac-Spiel. Am anderen Tisch die französischen Luden beim<br />
Pastis samt Karten-Allerlei. Nur ihre hin und her geworfenen Code-Wörter signalisieren, dass die<br />
Prostitution in Frankreich - und damit in ganz Westeuropa - unter einer wohlgeordneten<br />
Oberfläche eine neue Dimension erreicht hat: auch "Sklavinnen-Kartell" genannt. Von der<br />
"Chandelle" (Frau, die auf der Straße steht), über eine "caravelle" (auf dem Flughafen), eine<br />
"entrainneuse" (an der Bar), "Amazone" (am Steuer), über Bestellung von "de la chair fraîche"<br />
(Frischfleisch) bis zur "Serveuse Montante" (im Hotelzimmer) kreist einsilbig jenes<br />
Sprachrepertoire aus ihrer Arbeitswelt.<br />
Noch nie in diesem Jahrhundert schnellte der Frauenhandel derart in Rekordhöhe, noch<br />
nie wurden Tausende von Frauen so international lückenlos durchorganisiert, verschleppt,<br />
geschlagen, misshandelt - als Freiwild zur Prostitution abgerichtet. Die Männer verwalten ihre<br />
Frauenstäbe von Amsterdam bis Paris, von Barcelona bis Berlin, von Mailand bis Moskau, von<br />
Frankfurt bis Budapest und lassen die Prostituierten oft im Zehn-Tage-Rhythmus von einer Stadt<br />
in die nächste rotieren. In ihrem Metier funktioniert der europäische Binnenmarkt jedenfalls schon<br />
reibungslos.<br />
Offiziell geben sich die Zuhälter dieser Tage als ehrenwerte Besitzer von Bars wie<br />
Nachtklubs aus. Die Wachstumsbranche Ware Frau gebiert Menschenhändler, die sich in ihrem<br />
Anforderungsprofil kaum von dem Einkäufer eines Großunternehmens unterscheiden mögen. Der<br />
2 56
Marktpreis für junge Frauen beläuft sich derweil um die 5.000 Euro. Und überhaupt - wer sich<br />
heute in Frankreich "goldene Hoden verdienen" will ("se faire des couilles en or") passt sich in<br />
seinem Gebaren in die Attitüden eines kapitalen auf Arbeitsplätze bedachten gesellschaftlichen<br />
Umfelds nahtlos ein. Wer will denn schon etwas gegen seriös firmierende Reiseveranstalter, gar<br />
Künstlervermittler sagen, die junge Ballettgruppen aus Russland oder Gabun zu ihren<br />
"Inszenierungen" an die Côte d'Azur verfrachten? Auftritte, die nur zwei Schauplätze kennen: das<br />
Hotelbett, wenn es gut geht; ganz sicher aber die Liege im Transporter am Straßenrand.<br />
Marseilles Zuhälter zocken natürlich nicht grundlos in der Bar Américan auf dem<br />
Boulevard de la Pomme. Einen "Gefahrenherd", wie sie es nennen, gilt es zu beobachten. Auf der<br />
anderen Straßenseite liegt ein Anwesen, das ihnen die sicher gewähnte Erwerbsquelle zu nehmen<br />
scheint. Es ist das größte der landesweit fünfzehn Trutzburgen für Frankreichs Frauen, die sich<br />
von der Prostitution befreien, die aussteigen wollen. Eben ein "Schutzbunker für Huren" (Camp de<br />
retranchement pour les putes), wie er im Volksmund genannt wird. Und es werden immer mehr<br />
der offiziell etwa 200.000 Prostituierten der Republik, die in die Obhut der katholischen Kirche<br />
flüchten -notgedrungen sozusagen.<br />
Immer wieder ist es derselbe Grund, den die Frauen angeben, wenn er ihnen nicht schon<br />
ersichtlich ins Gesicht geprügelt wurde. Männergewalt und nochmals Zuhältergewalt. Zwei Drittel<br />
der Prostituierten Frankreichs mussten sich im Hospital schon ambulant behandeln lassen.<br />
Spätestens seit dem gesetzlichen Verbot der Irma-LaDouce-Romantik in den Stundenhotels Mitte<br />
der siebziger Jahre gehören Fausthiebe zum gewöhnlichen Tagesverlauf. Zuhälter haben es halt<br />
schwerer, die Gelder von ihren Opfern an unübersichtlichen Ausfallstraßen einzutreiben.<br />
Prostitution ist in Frankreich zwar seit jeher vom Staat erlaubt, doch nur von Frauen, die<br />
sich offiziell registrieren lassen, sich wöchentlich einer ärztlichen Kontrolle unterziehen und ihren<br />
gültigen Gesundheitspass auf dem Straßenstrich bei sich haben. Bordelle, wie in Deutschland<br />
üblich, mussten in Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg schließen. Offiziell hat der Staat schon<br />
seit Jahrzehnten der Zuhälterei den Kampf angesagt. Auf der Strecke bleiben Frankreichs<br />
Prostituierte, die sich in einem Zwei-Fronten-Krieg befinden; auf der einen Seite Zuhälter, auf der<br />
anderen Polizisten - meist ebenfalls Männer. Außer der Gendarmerie - nur für Festnahmen<br />
zuständig kümmert sich kaum jemand um misshandelte Frauen. Auch in den Sozialämtern ist die<br />
Hilfe eher kümmerlich. In Marseille stapeln sich in dieser Behörde hinter den Schreibtischen Kisten<br />
voller Kondome, die an viele Frauen aus dem Gewerbe im Sechserpack samt Sozialhilfe- Scheck<br />
(etwa 400 Euro monatlich ) verteilt werden. "Sonst", urteilt Referatsleiterin Bernadette Fichard,<br />
"verwalten wir nur noch den Notstand; besser gesagt eine Erosion. Denn geholfen wird uns von<br />
dieser Regierung nicht. Es fehlt an Geld, Gebäuden und Personal. Tatsächlich sind es<br />
Berührungsängste dieser Herren -wenigstens tagsüber."<br />
An diesem Nachmittag liefert die Polizei die 23jährige Ninou im Schutzbunker ab. In<br />
ihren guten Tagen stand sie am Boulevard Michelet. Zu jener Zeit absolvierte Ninou noch eine<br />
Ausbildung zur Drogistin und ging nur in den Abendstunden gelegentlich auf den Strich. Als die<br />
Drogerie unverhofft Konkurs anmeldete, fand Ninou - wie so viele junge Mädchen in Frankreich -<br />
keine Lehrstelle mehr. Die Prostitution wurde ihr Broterwerb. Schon zwei Mal hatten die<br />
Zivilfahnder Ninou gestellt - damals in ihren besseren Tagen. Seinerzeit beklagten sich Anwohner,<br />
weil sie vor ihren Wohnungen auf Kondomen ausgerutscht waren. Wegen "öffentlichen<br />
Ärgernisses" bekamen Ninou und ihre Kollegin Sylvie seinerzeit eine Ordnungsstrafe von 500<br />
Euro. Seither war Ninou auf dem Boulevard Michelet nicht mehr gesehen worden. An diesem<br />
Freitagnachmittag stoßen die Zivilfahnder auf der Straße nach Cassis auf ein bekanntes Gesicht,<br />
257
das am Wegesrand nach Kundschaft Ausschau hält. Es ist Ninou. Ein Gesicht voller Blutergüsse,<br />
aufgeschlagene Lippen - die Frau ist zum Anschaffen geprügelt worden. Täglich muss sie 200 Euro<br />
abgeben. Auch wenn solche Frauen verzweifelt sind - eine Grundregel aus dem Mac-Milieu haben<br />
sie verinnerlicht: Unterwerfung, Gehorsam und Schweigen sind selbstverständlich. Frankreichs<br />
Massen-Zuhälterei funktioniert nach dem Kodex einer Sekte.<br />
Nun also bringt die Zivilstreife Ninou in den Schutzbunker am Boulevard de la Pomme.<br />
Dort sitzt sie dann Christian Metterau gegenüber, dem Leiter des Empfangs- und<br />
Orientierungskomitees "Le Nid". So nennt sich diese schon in den vierziger Jahren gegründete<br />
katholische Hilfsorganisation des Paters Talvas, einem Arbeiterpriester, der sich zur Lebensaufgabe<br />
gemacht hatte, Prostituierten zu helfen. "Nicht predigen, sondern sehen, zuhören, urteilen,<br />
handeln, von den Bedürfnissen der Prostituierten ausgehen", war die Devise des Paters. Als eine<br />
der Ursachen für die Prostitution in seinem Land sieht der Pater die Tatsache, "dass Staat und<br />
Kirche sich im katholischen Frankreich seit Jahrhunderten nicht einig geworden sind, der Frau eine<br />
gleichberechtigte Rolle in der Gesellschaft zuzuweisen. Schon das französische Gesetz betrachtet<br />
die männliche Begierde als normal und notwendig. Das weibliche Angebot hingegen als unzüchtig<br />
und unehrlich. Ganz im Sinne der vorherrschenden Meinung in der Kirche, wonach nun einmal die<br />
Frau der Ursprung des Sündenfalls ist."<br />
Und die Prostituierten kamen zu ihrem Pater. Vornehmlich in der Nachkriegszeit, als viele<br />
Frauen Witwen waren, als das Geld und die Lebensmittel fehlten. Doch jetzt, in den neunziger<br />
Jahren, steigt der Anteil der Hilfe suchenden Liebesdienerinnen wieder an. Bedrückt sitzt Christian<br />
Metterau mit Ninou im Empfangsraum. Der 44jährige Diakon weiß nicht mehr, wo er die junge<br />
Frau noch unterbringen soll. Wegschicken kann er sie nach seinem Selbstverständnis auch nicht.<br />
Erst in der vergangenen Woche nahm er nervlich erschöpfte Prostituierte aus den armen Ländern<br />
Afrikas auf, vor allem aus Ghana. Einst ließen sie sich vom "Mythos Côte d'Azur" anlocken oder<br />
zum Broterwerb verschleppen. Jetzt wurden sie von ihren Zuhältern wegen "Überalterung"<br />
ausrangiert.<br />
Ninou, die im kahlen Aufnahmesaal kaum ein Wort herausbringt, fürchtet abgewiesen zu<br />
werden, abermals für ihren Zuhälter an den Ausfallstraßen zu Marseille marschieren zu müssen.<br />
"Wir sind schon lange in einer krassen Ausnahmesituation", verdeutlicht Christian Metterau, "nur<br />
keiner will das Elend des Nutten-Daseins in seiner Tragweite wirklich wahrhaben. Vom Staat<br />
bekommen wir keinen Cent, viele Helferinnen arbeiten hier noch rund um die Uhr unentgeltlich.<br />
Und unsere fünfzehn Häuser in ganz Frankreich sind brechend voll. Etwa zwei Drittel der Frauen<br />
wollen raus aus der Prostitution -wenn sie nur können."<br />
Immerhin beherbergte Le Nid landesweit in den letzten zehn Jahren etwa 15.000 Frauen,<br />
die den Absprung suchten. Seit fünf Jahren hilft Christean Metterau. Aber wohl keiner weiß besser<br />
als er, dass es für den Problemfall Prostitution keine Standardlösungen gibt. Er sagt: "Hier wird am<br />
deutlichsten, welch eine psychische Macht Zuhälter über diese Frauen bis hin zu ihrer<br />
Unterwerfung haben." Manche Frauen betteln am Morgen um Aufnahme - am nächsten Tag gegen<br />
Abend sind sie schon wieder verschwunden - gesichtet an ihrem Arbeitsplatz auf dem Strich. Dabei<br />
hatte sie keiner in ihrem Versteck dazu gezwungen oder gar an ihren "Mac" verraten. Sie waren es<br />
selber, die den "Freund" anriefen, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen, wollten sie doch<br />
"nur" in Erfahrung bringen, ob sie vermisst, gebraucht werden. Sie sehnen sich nach einem<br />
Liebesbeweis.<br />
Schon ein kurzer Blick in die sogenannten Le-Nid-Personalakten der Außenseiter-Frauen<br />
zu<br />
2 58<br />
Marseille liefert einen seismografischen Teilausschnitt gesellschaftlicher
Zustandsbeschreibungen dieser Jahre. Marie-Louise, 30 Jahre alt, Heimkind, selbst Mutter von zwei<br />
Söhnen, vom Vater auf den Strich geschickt, als sie fünfzehn war, Brandnarben im Gesicht,<br />
Alkoholikerin, ohne Berufsausbildung, vor dem Zuhälter, "Kater Drago" genannt, geflohen, seit<br />
vier Monaten im Heim. Seelischer Zustand: Wechselbäder zwischen Depressionen und<br />
Übertreibungen. Oder Yvonne, 23 Jahre alt, in Algier geboren, mit 18 von einem nordafrikanischen<br />
Zuhälterring nach Marseille verschleppt, suchte mit anderen Frauen aus Tunesien und Marokko<br />
Männer auf Schiffen im Hafen auf. Berufsausbildung: Schneiderin, seit sechs Monaten in Marseille.<br />
Psychischer Befund: Kontaktgestört, spricht nicht. Oder Carla, 18 Jahre alt, aus dem<br />
Erziehungsheim in Toulon wegen Missbrauchs durch Sozialarbeiter geflohen, an der Côte d'Azur<br />
in Hotels zunächst als Zimmermädchen, dann als Callgirl, Tätowierungen an Beinen als<br />
Erkennungsmarke, Krankenhausaufenthalt wegen gebrochener Rippen, von der Polizei gebracht,<br />
möchte zu ihrem Zuhälter zurück, seit drei Wochen hier, Analphabetin, Zustand: rebellisch,<br />
Prognose: Rückfall.<br />
Besonders jüngere Frauen betrachten ihren Aufenthalt im Schutzbunker lediglich als eine<br />
Zwischenstation, als eine Art Erholungspause, bevor sie sich wieder in den Straßen verdingen.<br />
Meist sind sie von der Polizei oder auch von den Sozialämtern gebracht worden. Auffallend hoch<br />
ist die Analphabetenquote unter dem Nutten-Nachwuchs. Laut Aktenauskunft sind 18 Prozent<br />
dieser Frauen des Lebens und Schreibens unkundig.<br />
Die Mehrzahl der misshandelten Frauen ist froh, einen Zufluchtsort gefunden zu haben.<br />
Ein Refugium, in das sie ohne Papiere und ohne Arbeitserlaubnis aufgenommen werden, das ihnen<br />
Schutz bietet - vielleicht auch einen Neuanfang ermöglicht. Ob bei handwerklichen<br />
Gruppenarbeiten, Kochkursen oder auch bei Alphabetisierungsunterricht - fast jeden Abend<br />
kreisen die Gespräche immer wieder um die gleichen Themen: Wie kann ich der Prostitution<br />
entkommen, wie schaffe ich es, mein Auskommen anderweitig zu finden, gelingt es, wieder<br />
Kontakte zu meiner Familie zu finden?<br />
Die Uhr am Eingang des Schutzbunkers zu Marseille zeigt auf Mitternacht. Es klingelt an<br />
der Haustür, eine Frau bittet um Einlass. Die Außenbeleuchtung macht jede Erklärung überflüssig:<br />
Die eine Gesichtshälfte der Frau ist stark angeschwollen. Helferin Danielle, die Nachtdienst hat,<br />
winkt die Frau stumm herein. Als sie im Sanitätsraum feuchte Umschläge zur Schmerzlinderung<br />
vorbereitet, murmelt sie: "Hier ist das Hauptschlachtfeld des Frauenkampfes."<br />
259
FRANKREICHS FREMDENLEGION - ALLES IST BESSER ALS<br />
DIE HEIMAT<br />
Armee ohne Nachwuchsprobleme - 8.500 Männer aus 120 Ländern - Frankreichs<br />
fremde Söhne<br />
Bonner General-Anzeiger vom 23. April 1994<br />
Von Ferne betrachtet, könnte das ockerfarbene Gebäude in der Rue d'Ostende in<br />
Straßburg ein Generalkonsulat sein. Eine mit Stacheldraht versehene zweieinhalb Meter hohe<br />
Mauer schützt die französischen Beamten vor unliebsamen Überraschungen. Tagsüber bilden sich<br />
hier zwischen altehrwürdigen Kastanienbäumen kleine Menschentrauben. Wortfetzen in<br />
verschiedensten Sprachen fliegen hin und her. Alle warten. Alle sind ungeduldig.<br />
Ein Nationalitäten-Gemisch aus Polen, Ungarn, Russen, Engländern, Deutschen wie auch<br />
Schweizern harrt in Reih und Glied der Dinge. Keine Familien, keine älteren Menschen. Es sind<br />
Bubengesichter, kaum älter als 18 Jahre alt; Übernächtigte, die sich in Straßburgs Rue d'Ostende<br />
ihres Einlasses vergewissern. Gelangweilte, Orientierungslose, Gescheiterte, aber auch Idealisten<br />
und Romantiker treibt es dort hin.<br />
Sie alle wähnen sich auf der Flucht, verlassen ihre Heimatländer - meist nur mit einer<br />
kleinen Reisetasche; fast immer, ohne sich zu verabschieden. Auch wenn sich diese Jugendlichen<br />
untereinander allenfalls meist nur mit gestikulierenden Händen verständigen können, so hat sie<br />
doch meist eines hierher geführt: Sie waren arbeitslos, manche auch ohne je gearbeitet zu haben;<br />
andere sind gar kriminell geworden.<br />
Suche nach Akzeptanz, nach Nähe, Hoffnung auf einen Sinn im Leben, auf dem Weg in<br />
neue, noch unbekannte Länder - das eint sie. Nur ein kleines Hinweisschild verrät, wohin der<br />
Exodus geht: Légion ètrangère - auch Frankreichs Söldnertruppe genannt. Stunde um Stunde<br />
haben die Neuankömmlinge auf ein kunterbuntes Soldaten-Plakat am Portal zu starren, das einen<br />
radikalen Lebenseinschnitt signalisieren soll.<br />
Kinn gereckt, den Kopf unterm legendären weißen Képi kahl geschoren. Unterarme wie<br />
Keulen, Epauletten rot-grün. Augen stramm gen Sanddünen, Meer und blauen Himmel gerichtet:<br />
Im Schulungsraum der Legionärs-Kaserne zwischen museumsreifen Maschinengewehren mit der<br />
französischen Fahne an der Wand inspiziert Major Olivier Souville, Kommandant des<br />
Rekrutierungsbüros gnadenlos die Neuankömmlinge. Und es werden Mitte der neunziger Jahre<br />
immer mehr, die ihren Rettungsring zur Söldner-Truppe auswerfen.<br />
Nach offiziellen Angaben sollen es allein im vergangenen Jahr mehr als 10.000 gewesen<br />
sein - davon kamen allein zwei Drittel der Bewerber aus den früheren Ostblock-Staaten.<br />
Unerwartete Zuläufe zur Fremdenlegion waren und sind seit eh und je en Reflex auf politische und<br />
wirtschaftliche Krisen, Zusammenbrüche, erlittene Kriege. "Veränderungen auf der ganzen Welt<br />
wirken sich ganz direkt auf die innere, soziale wie psychologische Verfassung und natürlich auch<br />
auf die Kampfkraft der Legion aus", urteilt ihr Pressesprecher René Tomatis.<br />
Spanische Kommunisten suchten nach ihrem gegen Franco verlorenen Bürgerkrieg Mitte<br />
der dreißiger Jahren Zuflucht bei der Legion. Nach dem Zweiten Weltkrieg heuerten hochrangige<br />
SS-Chargen an, um sich so unter anderem Namen der deutschen Strafverfolgung zu entziehen.<br />
2 60
Ob nach dem Ungarn-Aufstand 1956, nach dem Prager Frühling 1968 oder nunmehr<br />
nach dem Offenbarungseid der Warschauer-Pakt-Staaten - es sind vor allem ausgemusterte<br />
polnische, russische und ehemalige DDR-Soldaten der Nationalen Volksarmee, die jetzt als Söldner<br />
für Frankreich kämpfen.<br />
Knappe 8.500 Mann aus 120 Ländern beherbergt die Legion. Jährlich kommen<br />
durchschnittlich 1.500 Neu-Legionäre mit Fünf-Jahres-Verträgen dazu. "Wenn wir wollten",<br />
befindet Lieutnant-Colonel Richard Pau vom Hauptquartier aus Aubagne, "könnten wir ohne<br />
großes Aufsehen eine 100.000-Mann-Eingreif-Truppe aller Sprachen, aller Rassen auf die Beine<br />
stellen. Nur das ist eine politische Entscheidung und die wird in Paris getroffen.<br />
Nachwuchsprobleme kennen wir jedenfalls nicht." Denn zu den Vertrags-Kämpfern aus fernen<br />
Ländern stoßen noch ein Drittel französische Elite-Soldaten. Es sind Absolventen der<br />
Offizierskriegsschule Saint-Cyr. Sie bilden das Rückgrat der Interventionstruppe.<br />
Vorbei sind jedenfalls die Zeiten, in denen sich junge Männer in billigen Spelunken von<br />
Legionärs-Anwerbern mit Prostituieren im Gefolge betrunken machen ließen, sich im Vollrausch<br />
für die Légion verpflichteten - und anschließend in der Kaserne wieder aufwachten. Heute werden<br />
vier von fünf Bewerbern wieder nach Hause geschickt - oft zurück in die Strafverfolgung, fast<br />
immer in die Arbeitslosigkeit.<br />
Passé sind jene romantisch untermalten Legenden von Legionären auf Kamelen vor dem<br />
Würstenfort Siddi bel Abbès. Aus den Legionären sind in den neunziger Jahren hoch qualifizierte<br />
Spezialisten geworden. Ihr Fachgebiet heißt Krieg. Und wenn es den nicht zu führen gilt, bauen sie<br />
Straßen durch den Dschungel von Guayana, observieren Frankreichs Atom-Atoll in der Südsee<br />
oder im Raumfahrtzentrum von Kourou. Überall dort verdienen die Legionäre das Doppelte ihres<br />
ursprünglichen Gehalts; etwa 1.000 Euro bei freier Kost und Logis.<br />
Routinegeübt ist in Straßburgs Rekrutierungskaserne Majors Souvilles Röntgenblick:<br />
Bedrohlich korrekt sitzt die Uniform des Kommandanten. Sie ist Ausdruck einer über Jahrzehnte<br />
versteckte Selbstgewissheit, noch vor den amerikanischen Ledernacken als die härteste, brutalste<br />
Truppe überhaupt zu gelten. Letztendlich ist es die Bindungslosigkeit der Söldner, wohl aber auch<br />
ein Stück brachialer Zuneigung, die in der Legion belobigt werden. Ganz im Sinne von Colonel<br />
Boileau, der als Kommandeur des 6. Sturmpionierregiments seinen pädagogischen Auftrag<br />
umschrieb: "Natürlich wird der Legionär zum bedingungslosen Sterben erzogen." - "Nur steuerbar<br />
muss das alles sein", bedeutet der Rekrutierungs-Major und wendet sich seinen Jungs zu. "Tiens,<br />
voilà du boudin" (ran an die Blutwurst), posaunt Monsieur Souville an diesem Morgen zum<br />
wiederholten Male. Kaum einer versteht's. Noch nicht. Aber die Jugendlichen nicken wissbegierig.<br />
Wie bei einer Pferdeversteigerung lässt sich der Major die Zähne zeigen, Muskeln wie<br />
Brustkorbumfang vorführen. Nach wie vor ist der Körper wichtiger als der Kopf. Eineinhalb<br />
Dioptrien zu viel sind schlimmer als der niedrigste Intelligenzquotient. Sodann entlässt der<br />
Inspizient die Jugendlichen mit einem Zitat. Der ehemalige Befehlshaber der französischen<br />
Truppen in Algerien General Georges Cartoux, sagte über seine Söldner: "Sie jammern nicht, sie<br />
haben keine schwangeren Ehefrauen und keine im Sterben liegende Mutter. Sie stehen für keine<br />
Sache und für keine Idee. Kein General in der Welt kann sich eine bessere Truppe wünschen als<br />
diesen heimatlosen Haufen ohne Vaterland."<br />
Ob Ledernacken, Stalinschüler oder die Leibstandarte Adolf Hitler - allesamt benötigten<br />
sie Führer, Volk, Partei oder Vaterland, um in den Abgrund zu rennen. Heute hingegen braucht<br />
etwa die französische Fremdenlegion lediglich 17 Millionen arbeitslose Menschen in Europa als<br />
261
Korsettstange, um sich auch ohne Fahneneid zu erneuern. In der Legion kurz "Frischblutzufuhr"<br />
genannt.<br />
In einer Zeit atemloser weltweiter Kleinkriege, ob am Golf, in Kambodscha, dem<br />
ehemaligen Jugoslawien oder auch in Angola und Somalia, will sich die Fremdenlegion als häufig<br />
eingesetzter UN-Ordnungsfaktor - die schnellste französische Eingreiftruppe schlechthin - keine<br />
unangenehmen Beurteilungen mehr gefallen lassen. Genugtuung ist gefragt. Und das mythisch<br />
eingehauchte Selbstwertgefühl dieser Tage bei Frankreichs Legionären versteckt sich nicht mehr<br />
hinter vergilbten militärischen Ritualen.<br />
Ihr Lieutenant-Colonel Richard Pau vom Hauptquartier im südfranzösischen Aubagne<br />
frohlockt: "Gerade die Golfkrise und die Ohnmacht auf dem Balkan offenbaren doch, wie wichtig<br />
es ist, eine Truppe zu haben, die auf Pfiff hin bereit ist, in ein Krisengebiet geschickt zu werden.<br />
Viele Nationen beneiden uns heute um unsere Légion étrangère."<br />
Szenenwechsel. Durch das Offizierskasino im Château, einem Herrenhaus aus dem 18.<br />
Jahrhundert, sind Floskeln zu hören. "Mon capitaine ..., respect mon colonel ..." Benimm wie<br />
Bewegung lassen im Hauptquartier in Aubagne keinen Zweifel aufkommen, dass hier noch<br />
Männer-Rituale aus längst verstaubter Kolonialzeit ungeahnt fortleben. Auf dem Kasernenvorplatz<br />
prunkt eine weiß gefleckte Weltkugel in Bronze. Jeder helle Punkt signalisiert: hier kämpfte schon<br />
die Legion - klimaerprobt, weltweit. Natürlich gilt es, diese Weltkugel zu bewachen, natürlich findet<br />
hier der Aufmarsch einer Ehrenkompanie weißer Képis statt. Trommelwirbel, Fanfaren, würdiges<br />
Daherschreiten mit exakt 76 Schritten in der Minute, Hand auf der Brust, die Mareillaise als<br />
Begleitmusik - alles im Zeitlupentempo.<br />
Nicht wie vom Bronze-Ball auf dem Appellplatz steht seit etwa einer Stunde der<br />
frischgebackene Legionär Ernst Hasinger aus Bochum in voller Montur stramm. Hinter ihm rankt<br />
in großen Lettern auf einem Sockel geschrieben: "Legia Patria Nostra" - Die Legion ist unser<br />
Vaterland. Seit einer Stunde ist von ihm fortwährend nur ein Satz zu hören: "Je suis un âne" (Ich<br />
bin ein Esel). Strafexerzieren für ein liederlich gemachtes Bett.<br />
Wie 60 Prozent seiner Kameraden, so hat auch er sich nach französischem Gesetz einen<br />
anderen Namen zulegt. "Bochum", stammelt der frisch gekürte Legionär aus Deutschland auf<br />
einmal in seinem Ruhrpott-Französisch, "da will ich nie wieder hin. Da wird viel gequatscht und<br />
wenig getan."<br />
"Mein Vater", fährt der Legionär Ernst fort, "ist schon seit Jahren arbeitslos, er rennt nur<br />
noch in die Kneipe und zum Taubenschießen. Mutter schuftet für einen Billig-lohn beim Kaufhof<br />
in der Wurstwarenabteilung, abends bügelt sie unsere Hemden. Und ich habe mich zwei Jahre<br />
vergeblich um eine Berufsausbildung bemüht und schließlich vor Langeweile Spielautomaten<br />
geknackt. In eine Jungarbeiterklasse für Hilfsarbeiter wollten die mich stecken. Nullbock - weg war<br />
ich zur Fremdenlegion. Jetzt will ich Franzose werden. Dies wollen meine Kameraden aus Cottbus<br />
und Rostock auch."<br />
In Frankreich wurden ihm erst einmal die Haare kurzgeschoren. Bei jedem Ungehorsam<br />
hagelt es ohnehin einen Glatzkopf. Und bei der Legion rennen viele kahlrasierte Zeitgenossen im<br />
Laufschritt über den Hof. Über vier Monate wurde Ernst und die Kameraden auf einem isolierten<br />
Campus in der Nähe der Kleinstadt Castelnaudry so hart im Nahkampf "geschliffen" und als<br />
Scharfschütze "abgerichtet", dass jeder Dritte vor Ende des Drills abmusterte. Befund:<br />
dienstuntauglich geworden auf einem der zahllosen 50-Kilometer-Gewaltmärsche.<br />
262
Immerhin hat Ernst den Legionärs-Grundschliff überstanden und darf zur Belohnung<br />
nun auch das Képi blanc tragen. Nur unruhig ist er geworden. Deshalb lassen ihn ja seine<br />
Vorgesetzten über eine Stunde strammstehen und "Esellaute" von sich geben. Derweil laufen im<br />
Kommunikations-Video-Zentrum des Hauptquartiers wieder brandneue Kriegsfilme von den<br />
Kämpfen aus Sarajevo über die Bildschirme.<br />
Ernst weiß das, weil er die Drehungen der Parabolanlagen häufig verfolgen kann. Als<br />
aktuelle wie logistische Informationen sind sie sehr wichtig für die Legion, falls Frankreichs Söldner<br />
doch den Marschbefehl zu einer Intervention bekommen sollten. Keine 24 Stunden könnten sie<br />
dort sein. Vertragssoldat Hasinger sagt: "Eigentlich müssten wir dort mit dem Bajonette<br />
aufräumen. Und uns nicht dafür entschuldigen, wenn wir vergewaltigten Frauen in dieser Kälte<br />
Brot und Decken geben. Auch unsere Jungs gehen drauf - und es ändert sich nichts."<br />
Aber freilich noch lieber würde Ernst als Frankreichs neuer Legionär in der Südsee Wache<br />
schieben - "wegen der Bezahlung, des Klimas und der schönen Frauen."<br />
263
PATRICIA KAAS - MADEMOISELLE CHANTE LE BLUES<br />
Lothringen, Lolita uns Lili Marleen lassen grüßen. Patricia Kaas kam als<br />
„Aschenputtel“ aus ärmlichen Verhältnissen ins Pariser Glitzer-Milieu. Erinnerungen an<br />
legendäre Chanson-Epochen um Edith Piaf, Juliette Gréco wurden wach. Mit ihrem<br />
Debüt-Album "Mademoiselle chante le blues" schaffte das Arbeiterkind von der<br />
französisch-deutschen Grenze im Jahre 1988 den Durchbruch. Seither ist sie mit ihrer<br />
vitalen Bühnenpräsenz Frankreichs erfolgreichste Sängerin - ein Mythos in jungen Jahren.<br />
Dabei gehört das klassische Chanson kaum zum Repertoire, dafür Popmusik und Jazz.<br />
Zum Aufstieg, Erfolg, Reichtum gesellten sich für Patricia Kaas Einsamkeit.<br />
Zerbrechlichkeit. Selbstzweifel. Identitätskrisen.<br />
Leipziger Volkszeitung vom 21. Februar 1994<br />
Da steht sie nun auf einer Bühne in der Provinz, im gleißenden Scheinwerferlicht als<br />
Femme fatale, die den Blues hinhaucht, als sei's ein Liebesschwur. Zerbrechlich sieht Patricia Kaas<br />
aus, knabenhaft wirkt sie im hautengen schwarzen Mini, scheu schaut sie aus ihrem spitzen,<br />
aschfahlen Porzellan-Puppen-Gesicht, wenn da nur nicht ihre verruchte Stimme von gewaltigem<br />
Format wäre. Zurück von einer Welttournee in Moskau, Tokio, Kanada und in den USA - die<br />
französische Heimat hat sie wieder. Und Frankreichs Provinz, schon seit Jahren auf der Suche nach<br />
einer Bühnenattraktion, weiß das gebührend zu würdigen.<br />
Verständlich, dass vor derlei Auftritten Dezenz verpönt, zaghafter Zweifel an Kaas und<br />
Karriere schnippisch belächelt wird. Spätestens seit dem Auftritt der Patricia Kaas in den heiligen<br />
Hallen des Pariser "Olympia" Ende der achtziger Jahre gilt sie als "chanteuse extraordinaire" - eben<br />
als gefeierter Superstar.<br />
Dabei ist die die Geschichte der Kaas die anheimelnde Lebensskizze eines französischen<br />
Aschenputtels dieser Jahre. Sie ist aus dem Stoff, aus dem amerikanische Filmregisseure ihre<br />
Tellerwäscherstreifen auf dem Weg nach ganz oben basteln. Patricia - ein verarmtes Arbeiterkind<br />
aus einer kinderreichen Bergmannsfamilie, groß geworden im Kohlenstaub, Auftritte in Bierzelten<br />
und zweitklassigen Schuppen, in denen sie über Jahre gegen feuchtfröhliche Lärmwogen<br />
anzusingen hatte. Und Mutters Teddybär von damals ist auch heute allabendlich mit dabei.<br />
Einstweilen "begnügt" sich Patricia Kaas damit, sich als Erneuerin des französischen<br />
Chansons feiern, liebkosen, umjubeln zu lassen. In kürzester Zeit schaffte sie den Durchbruch.<br />
Weltweit verkaufte sie von ihrem Debütalbum, "Mademoiselle chant le blues", mehr als 15<br />
Millionen Tonträger. Ihren größten Erfolg in Deutschland und der Schweiz verbuchte die Kaas im<br />
Jahre 1993 mit ihrem Lied Je te dis vous. Es wurde 550.00 Mal verkauft. Sie ist damit die erste<br />
französische Sängerin, der im deutsch-sprachigen Raum solch ein bemerkenswerter Erfolg gelang.<br />
Intuitiv kennt das Phänomen Kais drei Zielgruppen. Für den einen weckt sie die Mutterinstinkte,<br />
bei den anderen die Beschützerseele und beim Dritten Lolita-Fantasien.<br />
Überall sind Musikhallen wie Pavillons überfüllt. Überall gilt es, Sehnsüchte nach dem<br />
scheinbar schon vergessenen französischen Chanson einzufordern, wieder wach zu küssen. Und<br />
alle kommen sie kunterbunt - die Papas, Omis, Mütter, Töchter, aber auch die Rocker von nebenan<br />
und die Träumer aus den Vorstädten. Kein Zweifel: Diese knabenhaft wirkende junge Frau zählt zu<br />
der Riege französischer Künstler, die auf der Basis des französischen Chansons eine eigene<br />
2 64
Liedform entwickelt haben. Da spielen Blueselemente ebenso hinein wie Rock- und<br />
Jazzinspirationen.<br />
Krisenzeiten sind seit jeher in Frankreich immer auch Zeiten des Chansons; ein wenig<br />
nostalgisch, ein wenig versonnen - aber immerfort vital. Das war in der Ära einer Edith Piaf<br />
(*1915+1963) und Juliette Gréco oder auch der Dichtersänger Georges Brassens (*1921+1981) ,<br />
Jacques Brel (*1929+1978) und Leo Ferré (*1916+1993) nicht anders. Denn zwischen den<br />
politischen Nachrichten und Chansons gibt es für den Franzosen eigentlich noch keinen großen<br />
Unterschied - noch nicht. "Zu allen Zeiten", urteilte der Impresario Jacques Canetti, "war das<br />
Chanson ein soziales und politisches Phänomen ersten Ranges. Es ist der treueste Spiegel der<br />
Volksstimmung."<br />
Die Menschen strömen in die Konzerte der Popchanson-Lady, weil da eine "von uns" auf<br />
der Bühne steht, weil die Kaas anders ist als die geklonten Glamourfiguren amerikanischer<br />
Tiefkühl-Erotik á la Madonna. Intensität mit Identität sind gefragter denn je in Frankreichs<br />
wirtschaftlich verwirrenden Krisenjahren, in denen täglich an die tausend Menschen in die<br />
Arbeitslosigkeit entlassen werden. Parallelen tun sich auf, werden sogleich arglos verklärt, zum<br />
Klischee verschlissen. Rückblende. Paris 1935. Edith Piaf ist gerade zwanzig Jahre alt. Meist mit<br />
einer Rose zwischen den Lippen, flaniert sie auf den Pariser Straßen. Nur eine kleine, verwinkelte<br />
Dachkammer gewährt ihr Unterschlupf. Mit Verve und seltener, zäher Lebenslust intoniert sie, nur<br />
von einem Banjo begleitet, auf den Boulevards ihre Chansons von "Les Amants", "Les toits de<br />
Paris" wie auch den "Legionär".<br />
Zu jener Zeit träumten Touristen im romantisch untermalten Saint-Germain-des-Prés<br />
noch von besinnlichen Stunden der Melancholie à la francaise. Und Edith singt, singt und singt -<br />
sie singt ums Überleben. Ihren ersten Vertrag bekam die Piaf von einem bordellähnlichen Cabaret<br />
in Pigalle. Natürlich gesellten sich die Männer des Nachts zu ihr; von P'tit Louis bis zum<br />
Muskelprotz aus der Unterwelt. Sie gab ihnen ihren Körper - nicht aber ihre Seele. Edith Piaf<br />
lachte darüber, bemerkte nur: "Das Leben wird immer nur aus Betten, bezahlten, auch unbezahlten<br />
bestehen. Ich muss aber singen, sonst verrecke ich." - Selbst dann noch, als Nazi-Deutschland Paris<br />
besetzte. - Lang ist es her.<br />
Wenn Patricia Kaas im eng anliegenden schwarzen Leder, in Seidenstrümpfen und<br />
Stiefelletten den Blues singt, dann tanzt sie ihn. Atemlose Stille begleitet sie, die <strong>Band</strong> schweigt, sie<br />
scheint mit dem Lied von "Lili Marleen" allein zu sein; ein bisschen lasziv, ein wenig kindlich,<br />
sorglos und treuherzig allemal. Und wenn sie Edith Piafs "La vie en rose" ins Mikrofon flüstert,<br />
sind die langen Jahre verflogen, die vergangen sind zwischen gestern und heute. Nonstop singt<br />
Patrica Kaas da fast zwei Stunden lang aus ganzen Leibeskräften. Sie zittert, bebt, schreit,<br />
kokettiert, animiert, ziert sich, mimt Lolita und den Vamp, die Klagende, den Clown, die<br />
Verletzende. Und mit ihrem Chanson "Je te dis vous" liefert sie sich in ihrer intimen<br />
Zerbrechlichkeit aus, will Abend für Abend die Erfahrung auf sich vereinen, wie viel Tiefe und wie<br />
viel Privatsphäre das Publikum von Mademoiselle Patricia zu vertragen noch bereit ist -<br />
Seelenstriptease genannt.<br />
Auch Deutschland, dieses große, für die Franzosen immer etwas unheimliche<br />
Nachbarland, ist an solchen Kaas-Abenden der französischen Provinz immer wenigstens zeitweise<br />
präsent. Nicht etwa deshalb, weil Patricia im lothringischen Stiring-Wendel fünfzig Meter von der<br />
deutschen Grenze aufwuchs und ihre Mutter eine Deutsche war. Es sind die Ereignisse in<br />
Deutschland: Die Brandschatzung an Asylanten-Herbergen und die Gewalt gegen ausländische<br />
Mitbürger. Es sind diese Nachrichten, die ihrem schon vergessen geglaubten Lied über dieses Land<br />
265
fortwährend eine unvermutete Aktualität geben. Und Patricia singt: "L'Allemagne, wo ich<br />
Kindheitserinnerungen von gegenüber habe. Leninplatz und Anatole France, l'Allemagne, wo die<br />
Vergangenheit eine Beleidigung ist und die Zukunft ein Abenteuer; wo ich die Einbahnstraße<br />
kenne, weiß, wo die Gewehre schlummern und wo die Nachsicht ihre Grenzen hat." -Betretenheit.<br />
Der Vorhang fällt. Seltsam knirscht es in solchen Momenten, wenn Patricia Kaas sich<br />
allein wähnt und sie sich nur mit ihrem Teddy in ihrer Sofaecke weiß. In sich ruhende Stille mochte<br />
sie bisher so gar nicht ertragen. Bewusst verausgabt hatte sie sich in den letzten beiden Jahren fast<br />
bis zur Besinnungslosigkeit - landauf, landab mit über 200 Konzerten vor 800.000 Zuschauern. In<br />
ihrer scheinbar selbstsicheren Unmittelbarkeit ließ sie keine Gelegenheit aus, sich selbst und ihren<br />
Zuhörern zu beweisen, dass mit ihr eine neue Zeit des Chansons angebrochen sei.<br />
Identitätsfragmente prallen da nunmehr offenkundig unversöhnlich aufeinander, die sie nach dieser<br />
Erfolgsära einen Ausweg herbeisehnen lassen. Sie sagt: "Freunde in meinem Alter habe ich sowieso<br />
keine gehabt. Dazu fehlte immer die Zeit. Ich hatte ja immer nur mit Menschen zu tun, die weitaus<br />
älter waren als ich." - Katerstimmung.<br />
Trist schaut der "kleine Diamant" (Alain Delon) drein. "Nein", befindet Patricia Kaas,<br />
"ich will ich selbst sein und nicht nur wegen meiner Stimme geliebt werden. Dabei hatte sie noch<br />
soeben den Geschlechterkampf auf Französisch leicht amüsiert in ihrem Lied "Hommes qui<br />
passent, Maman" (Männer, die vorüberziehen, Mama) auf die Bühne gebracht. Eben Männer als<br />
flüchtige Gestalten, die sich mit gequältem Lächeln aus intensiven Begegnungen davonstehlen,<br />
"mecs", die über Liebe reden wie über Autos - alles austauschbar, alles käuflich. Und Frauen, die<br />
diesen Kindsköpfen verfallen sind, sich in Wirklichkeit aber in einem Netz der Solidarität ihrer<br />
Mütter, Freundinnen und Kolleginnen wiederfinden, "Nein", befindet Patricia Kaas da plötzlich,<br />
"ich will das Kleinmädchen-Image abschütteln. Ich brauche keine Lehrer, der mir sagt, 'du musst so<br />
oder so singen'. Ich brauche da nichts zu lernen - ich habe es. Bisher hatte ich gar keine Zeit, das<br />
alles richtig zu begreifen, was mit mir geschah." - Identitätsbrüche und ein erstarktes<br />
Selbstbewusstsein in Frankreichs Frauenjahren.<br />
Da war die Armut mit den sechs Geschwistern; die Mutter, die zum ersten Mal in ihrem<br />
Leben mit Tochter Patricia zum Vorsingen nach Paris fuhr und ihr immer wieder einflößte: "Du<br />
musst singen und kämpfen, mein Kind." So hockte sie schon als 13jährige vor dem<br />
Badezimmerspiegel , zog sich rote Lidschatten über ihre Samtkatzenaugen, das Gesicht<br />
überlebensgroß in der Nachaufnahme.<br />
Immer wieder übte die kleine Patricia die Dietrich-Pose, studierte die Lili Marleen ein, wie<br />
es die Mama ihr vorgemacht hatte. Da stand dieses junge Mädchen des Abends im Kneipenqualm<br />
ganz nah an den langen Tischen voller Maßkrüge und sah die aufgedunsenen Sorgenfalten - dort,<br />
wo die Kumpel Kohlenkrise wie Zechensterben wenigstens für ein paar Augenblicke vergessen,<br />
einfach runterspülen wollten. Wenn sie zu singen begann, wurde es plötzlich mucksmäuschenstill;<br />
so sehr füllte Patricias Stimme den Raum. Immerhin verdiente die damals 13jährige auf diese Weise<br />
ihr erstes Geld. Zur Belohnung ging es für Mama und Patricia an die Côte d'Azur. "Das war das<br />
erste Mal, dass wir das Meer sahen, überhaupt Ferien machten. Wir waren nämlich arm, sehr arm",<br />
ergänzt dir mit dem ein gegerbten Stolz eines Arbeiterkindes.<br />
Paris war natürlich der Knotenpunkt der Kaas-Karriere. Mal als Kindweib, mal als<br />
weiblicher Lausbub oder auch als vom Blues Gezeichnete und vom Rock Umgetriebene - mit<br />
diesem Repertoire suchte sie in der mondänen Pariser Glitzerwelt Nähe und Durchbruch. Da<br />
waren die Produzenten, die sie zunächst ins Bett ziehen, bevor sie ihr den Weg ins<br />
Aufnahmestudios zeigen wollten. Da waren abgegriffene Songschreiber, die ihr sinnentleerte, aber<br />
2 66
dollarträchtige Texte einredeten, mit denen sie dann sogar im Elysée Palais bei Staatspräsident<br />
Francois Mitterrand vorsingen durfte. Da war insgesamt ein abweisendes, erkaltetes Pariser<br />
Künstler-Milieu mit Gesichtern, die sie noch kurz zuvor auf der Mattscheibe bewundert hatte. Und<br />
da war ein Mann, der ihr mit seinem Macho-Gebaren zunächst Unbehagen einhauchte, sich aber<br />
als einfühlsamer Wegbegleiter in der subaltern-mondänen Pariser Glitzerwelt entpuppte - Gérard<br />
Depardieu. Er jedenfalls holte das lothringische Aschenputtel nach Paris und half ihr mit seiner<br />
Frau Elisabeth, einer Songtexterin, die erste Schallplatte "Jalouse" zu produzieren.<br />
Und heute? - Patricia Kaas sitzt in ihrer sechzig Quadratmeter großen Wohnung aus dem<br />
16. Jahrhundert im Pariser Saint Germain. Ein bisschen neureich, ein bisschen kindlich-verspielt<br />
schaut es da aus. Stuckverkleidete Räume, freiliegende Deckenbalken, ein Kamin, der die meist<br />
fröstelnde Patricia zu wärmen versteht. Und vielerorts harren Plüschtiere der Dinge, die da noch<br />
kommen mögen, "Ja, bemerkt sie, "die Teddys halten wenigstens noch zu mir. Seit meinem<br />
internationalen Durchbruch habe ich viele Freunde von früher verloren. Dieser Erfolg hat schon<br />
seinen Preis. Er hat mich ein bisschen einsam gemacht. Auch wenn ich neue, sympathische<br />
Menschen treffe, weiß man nie, ist es Patricia Kaas, die Sängerin, die sie ansprechen, oder bin ich<br />
wirklich ich, Patricia gemeint? Wenn man oben angekommen ist, wird die Luft dünn.<br />
Aus gutem Grund lässt Patrica Kaas im Zeitlupentempo via Video ihr Chanson-Leben<br />
passieren. Und sie erkennt vieles genau, hintergründig zudem. Längst, so will es scheinen, ist sie<br />
unbemerkt zu einem Mythos geworden.<br />
Nur mit sich selbst mag sie sich nicht identifizieren. Sie fragt sich, "wer bist du eigentlich,<br />
was willst du, wo sind deine Anliegen, deine durchlebten Erfahrungen?" Sie sagt: "Ich habe mir<br />
viele meiner Fernsehauftritte und -interviews angesehen. Nur könne ich mich in dem von mir<br />
inszenierten Bild überhaupt nicht wiederfinden. Dabei wusste ich doch, wovon ich reden wollte:<br />
von der Liebe, von der Freundschaft, von der Frau. Als ich jung war, sah man in mir nur die<br />
stimmbegabte Kleine. Ich war persönlich nie gemeint. Jetzt kämpfe ich als Frau um Akzeptanz.<br />
Früher hatte ich Angst, traute mich nicht, das zu sagen. Nun erst recht." - Selbstvertrauen.<br />
Es sind die Lieder einer vielleicht verhärteten jungen Frau in einer arg grau gewordenen<br />
internationalen Entertainment-Szene. Eben einer Patricia Kaas, die ihr Frausein allmählich<br />
akzeptiert, die sich immer mehr traut, sie selbst zu sein. Es sind die Chansons einer Grenzgängerin<br />
zwischen Deutschland und Frankreich. Aber auch einer Grenzgängerin, die erst in der Schule<br />
Französisch lernte, weil zu Hause deutsch gesprochen wurde - die nunmehr Englisch büffelt, gilt es<br />
mit neuen Produktionen alsbald die USA zu erobern.<br />
An diesem Tag fliegt Patricia Kaas in ihre "Zukunft" - nach London zu Songmanager<br />
Robin Millar. Der weltweit agierende englische Musikkönig hatte ihr schon vorher bedeutet, dass<br />
sie einen Teil ihres französischen Publikums abschreiben müsse, wenn sie mit Englisch<br />
daherkomme. "Okay", sagt Patricia Kaas, "Freunde in Frankreich habe ich schon verloren, nun<br />
auch einen Teil der Fans." Nur eines vergaß Patricia Kaas nicht. Vor ihrem Abflug nach London<br />
unterschrieb sie geschwind noch einen Scheck in der gelangweilten Freundlichkeit einer Diva.<br />
Dieses Mal an ihren Bruder in Deutschland, der als Arbeiter sein Tagwerk versieht. Er hatte sie<br />
seinerzeit Abend für Abend für 50 Euro zu ihren Auftritten in das Saarbrücker Tanzlokal<br />
"Rumpelkammer" begleitet; als Aufpasser sozusagen, "weil die Patricia doch so zerbrechlich ist."<br />
Deshalb bleibt ihr Kinderzimmer im lothringischen Forbach für sie auch reserviert. "Man weiß ja<br />
nie, was kommt", sollen die Geschwister ihrer Jüngsten kürzlich gesagt haben.<br />
267
"SEI SCHÖN UND HALTE DEN MUND"<br />
Mannequins", sagt Francine Labarre. Mutter von zwei Kindern, in ihrem Cockpit<br />
vor dem Abflug von Paris nach Toulouse. So manche ihrer Kolleginnen hatten sich<br />
"sexuellen Belästigungen" zu erwehren. Air France ist zusammen mit der<br />
niederländischen KLM nach ihrem Umsatz die größte Fluggesellschaft der Welt. Nur<br />
Frauen als Flugzeugführerinnen - das war in Frankreichs Jet-Set-Männern ein Dorn im<br />
Auge. Bitterkalt war das Verhältnis zwischen Männer und Frauen. Geschlechterkrieg. Viele<br />
Pilotinnen ängstigten sich dem Abbau ihrer Rechte, vor Kündigungen. "Dieses neue<br />
Europa", so die Frauenrechtlerin Giséle Halimi, "wird kein Europa der Frauen sein."<br />
Recklinghäuser Zeitung vom 8. Januar 1994<br />
Der Wind weht vom Westen, es ist Freitag. An diesem Tag wird kaum noch etwas gehen<br />
auf Frankreichs Flughäfen. Streiks durchziehen das Land. Es sind die schwersten Arbeitskämpfe,<br />
die die französische Fluggesellschaft Air France seit ihrem 60jährigen Bestehen erlebt. Über<br />
zweitausend Arbeiter und Angestellte harren auf den Landebahnen der beiden Pariser Airports<br />
Charles de Gaulle und Orly der Dinge, die da kommen mögen. Angst um ihre Arbeitsplätze treibt<br />
sie zu diesem Schritt. Flüge werden zu Dutzenden annulliert.<br />
Mit vierstündiger Verzögerung schieben sich Passagiere des Air-Inter-Fluges 34902 von<br />
Lyon nach Toulouse die Gangway hoch. Im Cockpit der Mercure haben derweil Kapitän mit Co-<br />
Pilot samt Bordtechniker ihre Instrumenten-Überprüfung abgeschlossen. Wie meist vor dem<br />
Abflug, ist die Tür zum Cockpit offen, schauen die Passagiere flüchtig hinein. Nicht so der<br />
Bildhauer Jean-Claude Ramboz aus Bourg-en-Bresse. Als der 55jährige Mann im Cockpit nur<br />
Frauen vor den Apparaturen sitzen sieht, bricht der Unmut dieser Streiktage aus ihm heraus. "Was<br />
ist denn hier für eine Versammlung? Seit wann sitzen Stewardessen schon im Cockpit? fragt der<br />
Künstler frotzelnd. "Wir sind Pilotinnen und keine Mannequins, Monsieur", schleudert ihm<br />
Francine Labarre entgegen. "Ach ja, Pilotinnen", erwidert er scheinbar amüsiert, "wenn ich das hier<br />
so sehe, dann begreife ich, warum nicht nur Air France und Co., sondern ganz Frankreich mit<br />
diesen Frauen aus den Fugen gerät."<br />
Pilotinnen, die derlei Tiraden immer wieder mal ausgesetzt sind, wissen nur zu gut, dass es<br />
kalt geworden ist in Frankreich. "Bitterkalt", ergänzt Francine Labarre, "was das Verhältnis Männer<br />
und Frauen anbelangt." Kaum eine Woche vergeht, in der sich solche oder zuweilen auch<br />
aufdringliche Anmache-Possen an der Cockpit-Tür abspielen. "Natürlich werden jene Auftritte nur<br />
von Männern bewusst geprobt - respektlos und frauenfeindlich sind sie allemal". urteilt Madame<br />
Francine. "Irgendwie fährt die 32jährige Mutter von zwei Kindern fort, "scheint die erstrittene<br />
Hemmschwelle wieder flöten zu gehen. Ich weiß auch nicht, was neuerlich in die Männer gefahren<br />
ist. Ich kann doch nicht jedes Mal sagen, pass auf, mein Mann ist auch Pilot bei Air France, wiegt<br />
85 Kilo und ist 1,93 Meter groß. Wenn ich den rufe, lässt er dich am langen Arm vertrocknen."<br />
Jedenfalls haben Francine und ihre Kolleginnen Brigitte und Colette schon ihre ersten<br />
Konsequenzen gezogen - als Schutzmaßnahme sozusagen. Seither verzichten sie darauf, Passagiere<br />
an Bord ausdrücklich als Kommandantin Colette nebst Frauenbesatzung zu begrüßen. Und die<br />
Cockpit-Tür bleibt verschlossen.<br />
Für die "femmes pilotes françaises" spülten jene bewegten Streiktage aus dem Herbst<br />
1993 keineswegs nur wirtschaftliche Minuszahlen an die Oberfläche. Sie alle ahnen, was bislang<br />
2 68
noch niemand im Klartext zu formulieren wagte: Emanzipation schön und gut,<br />
Gleichberechtigung, Frauenförderung auch, falls es denn wirklich noch sein muss - aber bitte doch<br />
nur dann, wenn die Kasse stimmt. Unter dem vorherrschenden Eindruck einer ökonomischen<br />
Krise droht Frankreichs Frauenpolitik sich dem Nullpunkt zu nähern. Wie es schon immer war,<br />
sind es die Französinnen, die zuerst nach Hause geschickt werden, "warten da doch noch", wie es<br />
der Pariser Unternehmerverband höflich auszudrücken pflegt, "ungeheure brachliegende<br />
Arbeitskapazitäten - mit Küche und Kind".<br />
Die staatliche Fluggesellschaft Air France durchlebt mit ihren 44.000 Beschäftigten seit<br />
ihrer Gründung die schwerste Finanz- und Strukturkrise. Obwohl schon vor zwei Jahren 5.000<br />
Arbeitsplätze ersatzlos gestrichen wurden, schnellte das Gesamtdefizit auf die Rekordhöhe von 1,4<br />
Milliarden Euro. Um die drittgrößte europäische Fluggesellschaft nicht weiter in die Verlustzone<br />
abstürzen zu lassen (die Rentenversicherung wurde schon beliehen), sollten auf Geheiß der<br />
Regierung Balladurs weitere 4.000 Menschen ihre Beschäftigung verlieren, das weltweite<br />
Streckennetz um 30 minusbringende Fluglinien und 15 Zielflughäfen gekappt werden. Löhne wie<br />
Gehälter sollten gekürzt - zumindest aber eingefroren werden.<br />
Früher war der Flugverkehr in Europa strikten Abläufen unterworfen. Sowohl die Tarife<br />
als auch die Anzahl der Flüge mussten von den jeweiligen nationalen Behörden genehmigt werden.<br />
Ende der achtziger Jahre begann die EU-Kommission die engen Regeln aufzubrechen. Mit Beginn<br />
des Jahres 1993 kann nun jede europäische Fluggesellschaft jeden Ort in Europa anfliegen -sooft<br />
sie will, zu welchem Preis sie will.<br />
Allesamt sind es die Nebelkerzen dieser Jahre, die da unisono zu den allabendlichen<br />
Nachrichtensendungen in den jeweiligen Landessprachen in ganz Europa hochgehen: Effizienz<br />
und Leistungsbereitschaft, neue Märkte, neue Absätze, neue Produkte - aber Lohneinbußen.<br />
"Dieses Europa", bekundete die französische Frauenrechtlerin Gíséle Halimi, "wird kein Europa<br />
der Frauen sein; es ist ein Europa der Männer nach ihrem Strickmuster. Wie Mosaiksteine werden<br />
jetzt möglichst unauffällig unsere Rechte abgetragen. Den Frauen fehlt es an Überblick. Erst in<br />
einem Jahrzehnt werden wir Frauen wahrscheinlich erkennen, dass diese Europapolitik in sich<br />
geschlossen gegen uns Frauen gerichtet war." Seit in Europa die Airline-Einkünfte<br />
zusammenbrechen, seitdem die Kapazitäten nicht mehr national zu verteilen sind, offenbaren sich<br />
falsche Prognosen, falsch errechnete Zuwachsraten, an denen über Jahre gearbeitet worden war.<br />
Wunschprojektionen und Wirklichkeit. Nach einhelliger Expertenmeinung dürften am<br />
Ende des Jahrzehnts nur noch drei große Fluggesellschaften überleben -British Airways, Lufthansa<br />
und Air France.<br />
Szenenwechsel. Paris, Rue Christoph Colomb, Sitz der französischen Pilotinnen - der<br />
"Association des Pilotes Françaises" mit ihren etwa 300 Mitgliedern. Schon im Jahre 1971<br />
gründeten Frauen ihren eigenen Fliegerverband. Formal ging es den Französinnen darum, endlich<br />
auch für Frauen den bis 1973 versperren Zugang zur nationalen Hochschule zur zivile Luftfahrt<br />
(Ecole Nationale d'Aviation civile) durchzuboxen. Es gelang. Gesellschaftlich wie emotional wich<br />
die feminine Pilotinnenoffensive im Verbandsinnenleben einer zunächst zaghaften, dann aber<br />
vehementen Rückbesinnung auf unveräußerbare Fraueneigenschaften.<br />
Schon ein kurzer Blick in die französische Pilotinnengeschichte gewinnt in diesen Wochen<br />
an Aktualität. Sie verdeutlicht, dass Frankreichs Fliegerinnen schon immer die Nation zu<br />
faszinieren vermochten. Nur kaum jemand konnte sich daran erinnern, dass es Pilotinnen waren,<br />
die Fliegergeschichte schrieben.<br />
269
Bereits 1919 flog beispielsweise Adrienne Bolland über den Kanal, ein Jahr später über die<br />
Anden. Im selben Jahr erhielten dreizehn Frauen ihre Pilotenlizenzen für Ballons. Und im Jahre<br />
1934 brach die Französin Hélène Boucher alle Geschwindigkeitsrekorde. Nur: so spektakulär sich<br />
auch die fliegerischen Leistungen ausnahmen, dass es Frauen waren, wurde in besagter Ära der<br />
militärisch-männlichen Tugenden der Öffentlichkeit bis zum heutigen Tag allenfalls halbherzig<br />
vermittelt.<br />
Folglich besinnen sich Frankreichs Pilotinnen in ihrem Verband auf die allzu oft<br />
unterdrückte Frauenfliegergeschichte. Einfach, um jungen Mädchen, die Pilotinnen werden wollen,<br />
Selbstbewusstsein mitzugeben. Trainingsläufe, bevor die Männer kommen; im Cockpit und sonst<br />
wo. Martine Tujague weiß als Vorsitzende der Pilotinnen-Association nur zu gut, wie wichtig in der<br />
Vorbereitungsphase auch das psychologische Rollenspiel mit Männern ist. Sie sagt: " Viele Frauen<br />
sind extrem vorsichtig, trauen sich nicht, ihren Mund aufzumachen, haben Angst, einen Fehler zu<br />
begehen. Denn nach wie vor ist das ein gegerbte Misstrauen, das uns die Männer entgegenbringen,<br />
groß. Irgendwie glauben sie immer noch nicht so recht, dass Ruhe, Ausdauer und Standhaftigkeit<br />
wirklich auf der Frauenseite zu finden sind."<br />
Schon ihre Pilotinnenausbildung kennt einen zusätzlichen Härtegrad -<br />
Frauendiskriminierung auf Französisch. Längst sind derlei Verunglimpfungen zu Beginn des<br />
Unterrichts bei Air France aktenkundig, allesamt Routine - und keiner der Verantwortlichen will<br />
sich darüber monieren. (Buchtitel: Danielle Décuré: "Vous avez vu le Pilote? C'est une femme!"<br />
Verlag Robert Laffont, Paris.) Fluglehrer zu Beginn der Lektion: "Es ist ein Skandal, dass jungen,<br />
hübschen Frauen Geld gegeben wird, ausgerechnet Pilotinnen zu werden, während Familienväter<br />
ohne Arbeit vor der Tür warten." Fluglehrer am Ende der Stunde: "Verstehen Sie eigentlich,<br />
warum ich Ihnen keine zusätzlichen Hausaufgaben aufgebe, nicht mehr Zeit investiere? Wenn Sie<br />
ehrlich sind, geben Sie zu, dass Sie nur hier sind, um einen Mann zu finden. Bonne journée,<br />
amusez-vous bien, mesdames!" (Einen schönen Tag, amüsieren Sie sich gut, meine Damen.)<br />
Trotzdem: Immerhin fliegen derzeit 49 Pilotinnen für Air France rund um den Globus. "Wenn es<br />
in den kommenden Jahren noch die Hälfte ist, können wir von Glück sprechen", mutmaßt Suzy<br />
Oberlin, Pilotin und Vize-Vorsitzende der Association.<br />
Im stuckverkleideten Büro zu Paris sitzen drei von insgesamt 3.800 Pilotinnen im Land.<br />
Sie heißen Martine, Suzy und Francine. Es sind Frauen, die schon über Tausende von Flugstunden<br />
auch in fernen Kontinenten absolviert haben. Frauen, die gleichwohl in Frankreich eher am Rande<br />
ihr Fliegerleben gestalten. Einfach deshalb, weil sie sich nicht als "Sweethearts of the Air"<br />
betrachten lassen wollen. Sie wollten Pilotinnen sein, die sich eher unauffällig im Männermilieu<br />
durchsetzen. Wohl aber auch nur um den Preis, frauenspezifische Identitätskerne als<br />
Männerinteressen verkleidet zu haben. Sonst hätte der Pilotinneneinbruch in die militärisch<br />
gewebte Fliegerhochburg Mann wohl noch weitere Jahre auf sich warten lassen.<br />
Irgendwie sind im Lebensweg der Martine Tujague mit ihren 52 Jahren Weichenstellungen<br />
vorhanden, die an die Schriftstellerin Elisabeth Eberhardt erinnern lassen. - Spurensuche. Weil die<br />
Gesellschaft die Schriftstellerin Elisabeth Eberhardt zu Beginn dieses Jahrhunderts nicht als<br />
Pionierfrau gewähren ließ, verkleidete sie sich als Mann und zog durch Nordafrika. Weil Martine<br />
Tujague in Frankreich nur Stewardess, aber keine Pilotin sein konnte, zog es Martine Mitte der<br />
achtziger Jahre für den nationalen Linienverkehr nach Gabun.<br />
Flieger-Erfahrung hatte Madame Martine zur Genüge sammeln können. Irak und Iran<br />
führten Krieg. Es war der Westen, der Saddam Hussein (*1937+2006) mit modernsten Waffen<br />
aufrüstete, um die Macht unliebsamer Ayatollahs zu schmälern. Man schreibt das Jahr 1986. Einmal<br />
2 70
wöchentlich befindet sich Martine in der Nacht mit einem Co-Piloten und ihrer randvoll beladenen<br />
Maschine im Anflug auf Bagdad. Der übliche Linienverkehr war schon längst eingestellt worden.<br />
Funkverbindungen gab es nicht. Ab der Grenze der irakischen Lufthoheit wird sie von heimischen<br />
Abfangjägern begleitet und mit Radar bis Bagdad geführt. Blindlandung auf dem Flughafen<br />
Bagdad, kein Licht brennt in der irakischen Hauptstadt - aus Sicherheitsgründen wegen des<br />
iranischen Bombardements. Waffen entladen, auftanken, ein wenig schlafen und wieder heißt es<br />
"take off for Paris". Richtig zur Besinnung kam Martine erst, als sie ihren Job verlor - Zeit zum<br />
Nachdenken.<br />
Mit großen Plakaten warben zu dieser Zeit französische Unternehmen Pilotinnen an. So<br />
nach dem Motto: So spannend und erfolgreich kann die Emanzipation in der Luft sein. Pilotinnen<br />
kommt zu uns! Und Martine war gekommen. Freilich ahnte sie zuerst nicht, worauf sie sich einließ.<br />
Als ihr dies bewusst wurde, als sie klärende Gespräche mit ihren Chefs suchte, kam es lapidar von<br />
den Herren: "Sei schön und halte den Mund" (Sois belle et tais-toi).<br />
"Überhaupt", meint ihre Stellvertreterin Suzy, "sind wir Frauen in dieser Branche<br />
offenkundig dafür da, nur um den Mund zu halten. Das geht mit der Bezahlung los (für Pilotinnen<br />
etwa 3.000 bis 4.500 Euro im Monat) und endet bei Gesetzesvorstößen." In diesen Jahren<br />
untersagte es ein französisches Gesetz, dass weibliche Piloten auch nachts fliegen. Martine war aber<br />
nur unterwegs, wenn es stockdunkel wurde.<br />
Suzy Oberlin , Mutter von drei Kindern , war einem Berufsskandal auf die Spur<br />
gekommen. Vor zehn Jahren kam die heute 51jährige Pilotin den Männerpraktiken angehender<br />
Kommandanten auf die Schliche: dem teuer bezahlten, betrügerischen Handel mit vertraulichen<br />
Prüfungsfragen, um Flugzeugführer zu werden. Madame Suzy mochte damals nicht schweigen -zog<br />
vor Gericht und flog aus ihrem Unternehmen raus wegen "der höchst unerfreulichen<br />
Nestbeschmutzung eines ganzen Berufsstandes", wie ihr ein Manager zum Abschied bedeutete.<br />
Sicherlich wurden sodann noch neue Stellen als Pilotin angeboten. Aber nur mit weitaus<br />
schlechterer Bezahlung als für männliche Kollegen üblich.<br />
Es gibt Ausbildungs-Camps für Piloten in Arizona, USA. Frankreich schickt seine<br />
angehenden Flugzeugführer dort zu Intensivkursen hin. In der Männer-Gesellschaft lernt als<br />
einzige Frau auch Estelle Denoyes. Das heißt, wenn Estelle überhaupt noch aufnahmefähig ist.<br />
Denn die 23jährige aparte Frau aus Bordeaux wird beharrlich von ihrem Kommilitonen Albert<br />
sexuell belästigt -tagsüber, abends, immerfort.<br />
Als zu Weihnachten Estelles Verlobter Jean-Luc zu Besuch kommt, stellen sie gemeinsam<br />
den Belästiger zur Rede. Kurzerhand liegen beide am Boden. Der Verlobte bewusstlos, Estelle mit<br />
gebrochenem Unterarm. Amerikas Polizei drängt zur Anzeige, besteht sogar darauf. Frankreichs<br />
Ausbilder für Air France und Co. hingegen raten kategorisch ab, solch einen "unschicklichen Staub<br />
aufzuwirbeln". Auch hätte sie vor einem französischen Gericht mit einem solchen Strafbegehren<br />
keine Chance - anders als in Amerika. Und schließlich seien die Konsequenzen für Ruf und<br />
Karriere negativ.<br />
In der Tat: Der Sexualbelästiger Albert beglückt heute als Air-France-Pilot ferne<br />
Kontinente. Estelle -flog von der Pilotenschule. Nach diesen Vorfällen wollte sich auch niemand<br />
ihrer annehmen, um die Ausbildung fortsetzen zu können. Folge: arbeitslos - Frauenniederlage.<br />
"Nein", sagt Martine Tujague, "diese wirtschaftliche Air-France-Krise ist bei genauerer<br />
Betrachtung zudem eine bemerkenswerte Männer-Krise." Gerade in Frankreich sind die<br />
Fluggesellschaften traditionell schon immer Instrumente nationalstaatlicher Männerpolitik gewesen.<br />
271
Pleiten über Pleiten, ob die Milliardenverluste beim Prestige-Vogel Concorde oder auch jetzt der<br />
erstaunliche Schwächeanfall bei Air France, pflastern den Weg. Insofern brach schon in diesen<br />
Streikwochen so manche männliche Selbstüberschätzung zusammen. Suzy sagt: "Für die Herren<br />
Piloten zählt nur Air France und sonst nichts auf der Welt."<br />
Das Telefon klingelt. Am anderen Ende der Leitung meldet sich aufgeregt Kollegin<br />
Françoise aus dem Gericht - vom Tribunal de Creteil. Endlich. Nach zehnjährigem Streit konnte<br />
Suzy Oberlin vor Richtern einen ersten Teilerfolg erzielen. Pilot Christian Marie, der seinerzeit die<br />
streng vertraulichen Prüfungsaufgaben teuer verkaufte, ist mit weiteren vier Flugkomparsen zu<br />
einem Jahr Gefängnis auf Bewährung verurteilt worden. Ausdrücklich wiesen die Richter in ihrer<br />
Urteilsbegründung darauf hin, dass Monsieur Marie bereits vorbestraft sei - wegen "sittlicher<br />
Verfehlung". Ein Cockpit bei Air France dürfte er wohl nicht wiedersehen.<br />
Die Pilotinnen strahlen vergnügt, "Auf Martine", sagt Suzy, "weiter geht's."<br />
2 72
1995<br />
Katholische Kirche – „Beim nächsten Papst wird alles anders“<br />
Wallfahrten zu Charles de Gaulle (*1890+1970)<br />
Museen, Grands Palais – „Frische Luft für die Gesellschaft“<br />
Frankreichs Première Dame, die Grenzen überschritt<br />
273
BEIM NÄCHSTEN PAPST WIRD ALLES ANDERS<br />
"Gott suchen, Gott finden", wollen in Frank-reich immer mehr Jugendliche. Nur<br />
ein geschlechtsloses Priester- und Nonnenleben kommt fast keinem mehr in den Sinn.<br />
Endzeitstimmung im Land der Kathedralen - trotz Wallfahrten und Weihwasser zu<br />
Lourdes. Ende der Aufklärung, Renaissance der Mythen.<br />
Die Rheinpfalz, Ludwighafen 16. Dezember 1995<br />
Scheinbar endlos fällt der frühsommerliche Regen über weitläufige Täler, verwandelt<br />
Frankreichs Landgemeinden in tiefen Morast und lässt Wasser durch so manches marode<br />
Kirchengebälk gurgeln. Mitten in einem Meer von Weinbergen im Beaujolais liegt eine große<br />
verwilderte Grünanlage. Und mitten in diesem urwüchsigen Park steht ein anspruchsloses<br />
Pfarrhaus. Seit acht Jahren ist der 63jährige Martin Froquet Landpriester in der Ortschaft Villié.<br />
Morgon, die etwa 60 Kilometer nördlich von Lyon liegt. Seit acht Jahren ist der Priester praktisch<br />
mit seiner Marie-Pierre verheiratet. Jeder weiß es und alle schweigen, vielsagend versteht sich.<br />
"Man nennt mich Martin und duzt mich hier", sagt der katholische Ordensträger sogleich<br />
kameradschaftlich zur Begrüßung. Unwiderruflich vorbei sind die Zeiten, in denen der Landpriester<br />
in Frankreich von seinem Glockenturm aus eine unumstrittene - keusche - Autorität gewesen ist,<br />
Maß und Moral bestimmte. Vor zwanzig Jahren noch zähle der Ortsgeistliche zu den Honoratioren<br />
des Dorfes; gleich neben dem Bürgermeister, dem Lehrer oder auch dem Arzt. Mittlerweile sind<br />
Seelsorger, wie Martin aufmerksam registrierte, Randfiguren.<br />
Passé ist scheinbar jene Ära, in der noch so mancher katholischer Seelsorger auch als<br />
45jährige noch wie Buben wirkten, sich in ihrer Freizeit allenfalls um Bienenstöcke kümmerten.<br />
Eben als Priester noch Weile hatten, ihr Gebetsbuch im Schatten der Obstbäume ihrer Gärten<br />
versonnen "runter zu murmeln".<br />
"Diese romantisch verklärten Seelsorger", bedeutet Martin, "sind verschwunden, gibt es<br />
nicht mehr. - Andere Zeiten, andere Priester. Und die wenigen werden immer weniger." Noch vor<br />
30 Jahren zählte die katholische Kirche Frankreichs als älteste Tochter Roms insgesamt 41.500<br />
katholische Seelsorger. Praktisch hat sich ihre Anzahl bis heute halbiert. Hinzu kommt, dass von<br />
den aktiven Pastoren nur ein Viertel unter 60 Jahre alt ist. Jeder vierte Seelsorger musste gehen, nur<br />
weil er seine Frau lebte. - Endzeitstimmung.<br />
Fühlten sich vor fünfzig Jahren jährlich noch etwa 1.400 Männer zum Priester berufen, so<br />
sind es heute mal gerade noch hundert, wenn es gutgeht. Besuchten im Jahre 1946 noch 33 Prozent<br />
den sonntäglichen Gottesdienst, so reduzierte sich der Kirchengang ab dem Jahre 1991 auf knapp<br />
acht Prozent. Immerhin gelten offiziell 80 Prozent der 57 Millionen-Bevölkerung als katholisch.<br />
Aber lediglich ein Fünftel bekennt sich noch uneingeschränkt zu den Dogmen aus Rom.<br />
Allein in jüngster Vergangenheit haben an die zehntausend Priester ihrer Kirche den<br />
Rücken gekehrt. Unterschiedlich waren die Demissionsformulierungen. Einheitlich indes die<br />
Abschiedsgründe, die da unisono lauteten. "Lasst uns in Frieden mit dem weiblichen Geschlecht<br />
leben, selbstbestimmend und gleichberechtigt auch. Hört auf, die katholische Kirche<br />
selbstzerstörerisch zugrunde zu richten. Sagt ja zur Ehescheidung, ja zur Empfängnisverhütung, ja<br />
zur Abtreibung, ja zur Frauenordination, endlich ja zur Priesterehe - und die Gotteshäuser werden<br />
brechend voll sein."<br />
2 74
Szenenwechsel von der Beaujolais-Region in die Pyrenäen. - Der französische<br />
Wallfahrtort Lourdes gilt als katholische Trutzburg einer religiös verschworenen Gegenwelt zur<br />
Gegenwart. Lourdes in den Pyrenäen mit seiner schwerblütigen Kirchengeschichte war stets<br />
Seismograph katholischer Umwälzungen, seit jeher galt es als ehernes Symbol für den<br />
uneingeschränkten Machtanspruch des Papstes. Mitte der neunziger Jahre ist der Ort zu einem<br />
Refugium des klerikalen Fundamentalismus geworden - ein Mekka für Mythen und Legenden zu<br />
Zeiten einer rational und fortschrittserpichten Jahrhundertwende.<br />
Gemächlich schiebt sich ein Pilger-Pulk vor die Dreifach-Basilika. Die Kirche, nach Pius<br />
X. benannt, wurde 1958 zur Hundertjahrfeier geweiht. Hier hatte Bernardette Soubirous, Tochter<br />
eines verarmten Müllers, mehrere Marienerscheinungen der "unbefleckten Empfängnis". "Das<br />
Gotteshaus ist fast 200 Meter lang, 80 Meter breit, fasst 25.000 Gläubige. Vorbei sind die Zeiten, da<br />
ausschließlich Kranke auf wahre Wunder hofften: Bis heute sind 2,5 Millionen Körperbehinderte<br />
gen Lourdes befördert worden. 3.500 Heilungen stellten Ärzte fest, als Wunder erkannte die<br />
katholische Kirche 65 Genesungen an.<br />
Moment-Aufnahmen aus Lourdes sind Nachrichten aus einer Gegenwelt, die dem<br />
Atheismus mit moralischem Rigorismus zu trotzen sucht. Längst ist Lourdes auf Geheiß Johannes<br />
Paul II. (*1920+2005) zum makellosen Refugium der römischen Kurie geworden. Da fesselt der<br />
französische Priester George Morand die Gläubigen vor dem Kirchenportal mit den Bekenntnissen<br />
als Teufelsaustreiber. Über zehn Jahre notierte er seine Erfahrungen. In dem Buch "Verlasse diesen<br />
Menschen, Satan" kommt der 63jährige zur Einsicht, dass psychische Krisen, gar Schreikrämpfe,<br />
eindeutige Alarmsignale seien. "Buße, Buße, nur beten heilt", schallt es ihm folgsam entgegen.<br />
Deutschlands Militärbischof Johannes Dyba (*1929+2000) feiert mit 25.000<br />
Uniformierten internationale Soldatenwallfahrt. Die Bundeswehr ist mit dreitausend Mann dabei.<br />
Selbst vierzig kranke Armee-Männer hat der Bischof einfliegen lassen. Auf dem Kreuzweg tragen<br />
sie die Soldaten im Gleichschritt. Mittendrin postiert sich Dyba und doziert: "Wer wisse, dass Gott<br />
ihn gewollt hat, der könne nie mehr so ganz down und out sein." Die Bundeswehr nickt<br />
einvernehmlich. Verständlich, dass unter kirchlicher Obhut viel gesungen wird: Sonderurlaub in<br />
Südfrankreich, Trinklaune, Feiertagsstimmung.<br />
Überall wimmelt es vor Uniformen. Im Pilgerhandbuch steht geschrieben, dass eine<br />
"Verbrüderung im Rahmen einer Wallfahrt" passieren sollte. Ganz im Sinne des Lagerpfarrers<br />
Schadt, der im Feldgottesdienst predigt: "Jungs, wir spielen um und für das Leben. Unsere Jungfrau<br />
Maria ist die Trainerin und Gott der Präsident." Dann wirft er einen Fußball auf die Betenden:<br />
"Weil wir gewinnen werden. Amen."<br />
Vor dem Portal der Dreifach-Basilika harren zehn schwangere Frauen, Mitglieder der<br />
"Union pur la vier" - einer traditionellen Vereinigung, die einzig und allein dem Vatikan die<br />
rettende Wahrheit zugesteht. "Abgetriebene Föten taufen und christlich beerdigen, Monseigneur"<br />
steht auf ihrem Transparent.<br />
Dahinter haben sich etwa 50 Herren aufgebaut: Männer der Anti-Abtreibungs-<br />
Kommandos. Seit Monaten wissen sie die Schlagzeilen und die Kardinäle auf ihrer Seite.<br />
Wendezeiten in Frankreich, wo Schwangerschaftsunterbrechungen seit Mitte der siebziger Jahre<br />
einvernehmlich geregelt sind: Überall stürmen militante Fundamentalisten OP-Stationen in<br />
Krankenhäusern. Und immer ist ein katholischer Priester dabei, wenn es gilt, ein kirchliches Rodeo<br />
gegen die Abtreibung zu inszenieren. So in Grenoble - dort kettete sich Pater Gérard Calvet im<br />
Oktober 1994 in der Universitätsklinik mit acht Mitstreitern an Krankenbetten.<br />
275
Als der Benedektiner sich im Januar 1994 mit seinem Gefolge vor Gericht verantworten<br />
musste, war ihm eines gewiss: Die Geldstrafe von 760 Euro zahlt der Erzbischof von Paris; die<br />
Gefängnisstrafe wurde ohnehin auf Bewährung ausgesetzt. Verständlich, dass jene Herren-<br />
Gesellschaft der Anti-Abtreibungskommandos in Broschüren ihre "Erfolgsbilanzen" siegesgewiss<br />
verteilen: mal eine Massen-Demonstration vor der Oper zu Paris, mal Ärzte und<br />
Krankenschwestern eingeschüchtert.<br />
Noch nie war die katholische Kirche in Frankreich so zerrissen, derart gelähmt, von<br />
Spaltung bedroht wie im Augenblick. Eine christliche Gemeinschaft verweigert sich der<br />
Wirklichkeit und straft jene ab, die sich mit ihr auseinandersetzen.<br />
Der vom Papst ins Abseits beförderte Bischof von Euvreux, Jacques Gaillot, ist zu jenen<br />
nach Paris in die Rue du Dragon 7 gezogen, für die der 59jährige - auch als Kirchenrepräsentant -<br />
da zu sein glaubte: zu den Armen, Obdachlosen und Sozialhilfeempfängern. Längst ist Gaillot zum<br />
Synonym, auch zum Symbol, der Kirchenspaltung geworden.<br />
Etwa 50.000 Menschen zog es auf die Straße, über 100.000 Gläubige demonstrierten mit<br />
ihrer Unterschrift gegen seine Amtsenthebung. Einfach deshalb, weil er vorlebte, "dort präsent zu<br />
sein, wo wir es als Kirche leider häufig nicht sind" - bei Obdachlosen, Aidskranken,<br />
Homosexuellen, Asylsuchenden. Wichtiger als Messen, Prozessionen und mystische Wallfahrten<br />
war ihm, das Evangelium vorzuleben. "Eine Kirche, die nicht dient, dient zu nichts", ist eine seiner<br />
Standard-Formulierungen.<br />
Dabei konnte Gaillot nicht ahnen, dass sich Frankreichs Kardinäle schon 1983, nur ein<br />
Jahr nach seiner Ernennung, darauf verständigt hatten, den Papst zu seiner Abberufung als Bischof<br />
zu bewegen. Damals was Jacques Gaillot der einzige Oberhirte der Republik, der gegen eine<br />
Entschließung der Bischofskonferenz stimmte. "Den Frieden mit atomarer Abschreckung<br />
gewinnen", verlautbarte sie damals. Der Ort dieser Handlung war die Dreifach-Basilika zu Lourdes.<br />
2 76
WALLFAHRT ZU CHARLES DE GAULLE<br />
Vor mehr als drei Jahrzehnten starb Charles de Gaulle - Vater der 5. Republik. Sein<br />
Wohnort ist zum Wallfahrtsort geworden. Über eine halbe Millionen Menschen pilgern<br />
jährlich nach Colombey-Les-Deux-Eglises in der Champagne. Sehnsucht nach dem<br />
ÜberVater, Rückbesinnung auf Herkunft - auf Frankreichs Geschichte .<br />
Die Rheinpfalz, Ludwigshafen 14. November 1995<br />
In der französischen 370-Seelen-Gemeinde Colombey-Les-Deux-Eglises gibt es<br />
neuerdings drei Altäre. Zwei, die seit eh und je in der Dorfkirche stehen, und einen, der zu Ehren<br />
des Gründers der Fünften Republik, Charles de Gaulle, errichtet wurde - zu seinem 25jährigen<br />
Todestag am 9. November 1985 im Souvenirladen der Madame Demange gleich auf der<br />
Hauptstraße, hinter zwei riesigen Fahnen in Farben der Trikolore.<br />
Ihn - den de-Gaulle-Altar - zieren unzählige Teller, T-Shirts und Taschen, Aschenbecher,<br />
Feuerzeuge, Salzfässer, Barometer, Eieruhren, Käseplatten, Briefmarken, Blumenvasen und<br />
natürlich de-Gaulle-Büsten als parareligiöse Devotionalien in allen Größen; Video- und CD-<br />
Tonkassetten, der Wimpel mit Kreuz und Kirche, eben Lothringer Kreuze in allerlei Varianten,<br />
zum Anhängen oder als Ring in blau-emaillierten Herzen, auch ins V-Zeichen des Siegers<br />
eingelassen.<br />
Postkarten zeigen den General mal als Retter der Nation auf einem Schlachtschiff im<br />
Ärmelkanal, mal als würdigen Greis an der Seite seiner Frau Yvonne. Und auf dem Porzellan-<br />
Aschenbecher steht geschrieben: "Hier ist Frankreich zu Hause. Hier ist Vaterland. Es war der<br />
General - er malte unseren Ort auf die Weltkarte."<br />
Da stehen sie nun, Seite an Seite in der ersten Reihe der überfüllten, kleinen Dorfkirche -<br />
und das noch nach Jahrzehnten, Jahr für Jahr. Die Alt-Gaullisten, die Erzfeinde der Pariser Machtund<br />
Prestige-Politik oder auch nur die leiblichen Enkel des Generals. Alle Jahre wieder dröhnt die<br />
Orgel, antwortet der Chor. Aus dem Gesang lösen sich Worte: Tod - Schlachtfeld - Vaterland.<br />
Eine schlichte, elfenbeinfarbige Marmorplatte schmückt das Grab de Gaulles - am 22.<br />
November 1995 wäre er 105 Jahre alt geworden. Die goldene Prägeschrift beschränkt sich auf das<br />
Notwendigste. De Gaulle und seine Frau ruhen Seite an Seite mit ihrer behinderten Tochter Anne.<br />
Kein Kranz, keine Blumen. Das hatte der General schon 1952 testamentarisch verfügt. Die<br />
Mehrheit der Franzosen, so ermittelten Meinungsforscher, glaubt nicht, "dass sie zu Lebzeiten<br />
noch einmal einen Staatsmann vom Format de Gaulles erleben werden." Und 23 Prozent der<br />
Befragten halten de Gaulle für ebenso bedeutend wie Napoléon. Immerhin wurden etwa 4.000<br />
Bücher nach Schätzungen des "Instituts Charles de Gaulle" in aller über den ehemaligen<br />
Präsidenten verfasst.<br />
Oft baut sich Madame Demange bedächtig vor dem de Gaulle-Altar auf. Das verlangt<br />
schon ihr Verkaufsritual. Folglich gehen ihre Blicke auch hinaus auf den dörflichen<br />
Hauptboulevard. Dort, wo sich Menschenkolonnen gemächlichen Schrittes Richtung Friedhof<br />
schieben. An die 600.000 Touristen finden jährlich ihren Weg nach Colombey-Les-Deux-Eglises.<br />
Eine unvermutete Nostalgie-Welle verklärter, auch längst vergilbter Jahre des Gaullismus<br />
schwappt über das Land. Die Republik erinnert sich auffällig hin-gebungsvoll ihres Gründers. Die<br />
eigentlich große Versöhnungswelle mit ihrem einst eher unbeliebten, autokritischen aber<br />
277
wortgewaltigen General Charles de Gaulle hat in Frankreich ein Vierteljahrhundert nach seinem<br />
Tode erfasst. Erst jetzt zu seinem 25jährigen Todestag (am 9. November 1995) und seinem 105.<br />
Geburtstag (am 22. November 1995) scheinen die Gegner von ehedem, vornehmlich die<br />
Intellektuellen der Republik, zur Versöhnung bereit zu sein.<br />
Und es gibt in Frankreich zusehends mehr Menschen, die ans Grab de Gaulles wallfahren.<br />
Längst hat sich dieses eher ärmliche Dorf, umgeben von melancholisch angehauchten Wäldern in<br />
der Champagne, von kastanienbraunen Felder und schmutziggrauen Häusern zum neuen Lourdes<br />
politischer Pathos-Pilger gemausert.<br />
In solchen Momenten seufzt die 48jährige Souvenir-Madame laut: "Der Polit-Zirkus mit<br />
theatralisch vorgebrachten Touristengefühlen lebt in Lourdes für die katholische Kirche. Und wir<br />
hier betreiben einträglichen Fassadenputz für die gaullistische RPR-Parteipolitik. Frankreich, fragen<br />
wir uns inzwischen alle, was ist bloß los mit Dir?"<br />
Immerhin: Noch nie waren die Vertrauensverluste in die Politik-Klasse so dramatisch wie<br />
heute. Noch nie gab es solch vollmundige Versprechungen verbunden mit krassen Wortbrüchen.<br />
Noch nie gab es so viele Menschen ohne Brot und Arbeit. "Und dann inszeniert sich", fährt<br />
Madame fort, "die Grande Nation mit ihren kostspieligen atomaren Testversuchen, auch noch<br />
großspurig als Supermacht, auf dem Mururoa-Atoll. Frankreich gegen den Rest der Welt. Diese<br />
Politiker sind geradewegs dabei, das Erbe des Generals, unsere Fünften Republik, zu verspielen.<br />
Denn, der hatte stets auf den sozialen Ausgleich geachtet." Ihre Mutter, die zuhört, nickt stumm.<br />
De Gaulles Außenpolitik war seiner Zeit voraus. Er proklamierte als Ziel die Auflösung<br />
der Militärblöcke und umschrieb sei Engagement für ein "Europa vom Atlantik bis zum Ural" auch<br />
als "die Überwindung von Jalta"; er empfing Ungarn, Tschechen, Bulgaren besuchte Polen und<br />
Rumänien. Oft sprach er davon, dass Europa wieder ein Kontinent "seiner alten Nationen" werden<br />
müsse. Seine Europa-Politik "vom Atlantik bis zum Ural" gilt heute als visionär, seine Ansicht von<br />
der Überlegenheit des Nationalen gegenüber den Ideologien als bestätigt.<br />
Demonstrativ hatte Frankreich unter seiner Führung zu den inzwischen fünf<br />
Nuklearmächten der Erde aufgeschlossen. Es war de Gaulle, der m Februar 1960 die erste<br />
Explosion einer französischen Atombombe über der algerischen Sahara mit einem freudigen<br />
"Hurra Frankreich" begrüßte.<br />
November-Tage - das waren in Frankreich schon immer de Gaulle-Tage oder auch<br />
Wallfahrts-Augenblicke. Colombey-Les-deux-Eglises ist ein kleiner Ort am Ostrand der<br />
Champagne im Département Haute Marne. dreihundert Kilometer östlich von Paris gelegen. Hier<br />
gibt's keine Industrie, kaum Städte, nicht einmal Wein wächst. Statt dessen viel Vieh, ein wenig<br />
Weizen und vor allem eine überlebensgroße Erinnerung an Charles de Gaulle. Kurzum:<br />
Nirgendwo, so will es scheinen, ist Frankreich französischer als hier: tiefernst und tiefkatholisch.<br />
Auf dem Landsitz des Generals La Boisserie" steht in der Bibliothek der Lehnstuhl vor<br />
dem Spieltisch, an dem de Gaulle vor einem Vierteljahrhundert bei den Abendnachrichten<br />
einschlief. Es ist ein kompaktes, solides Herrenhaus aus dem Jahre 1843, ganz mit Wein<br />
bewachsen. Der Berufssoldat de Gaulle hatte es 1934 gekauft. Auf Wunsch des Generals und ohne<br />
staatliche Zuschüsse wurde in den fünfziger Jahren ein Turm angebaut, in dem er sich sein<br />
Arbeitszimmer einrichtete. Ein heller Raum mit Kachelboden und drei Fenster, die den Blick<br />
freigeben auf fünfzehn Kilometer Wald und Wiesen ohne ein einziges Haus. Einen Steinwurf<br />
entfernt ragt heute ein 43 Meter hohes Lothringer Kreuz aus Stahl und Marmor in die Höhe. Zu<br />
Lebzeiten hatte sich de Charles de Gaulle gegen solche monumentalen Ehrungen gewehrt. "Das<br />
2 78
würde nur die Feldhasen verscheuchen", sagte er. Trotzdem schlug er für alle Fälle einen Standort<br />
vor. In den Sockel eingehauen sind die Worte: "Es existiert ein Pakt, 20mal 100 Jahre alt, zwischen<br />
der Größe Frankreichs und der Freiheit dieser Welt. Ch.d. G."<br />
"Die Einsamkeit ist meine Freundin. Mit wem sonst soll man sich zufriedengeben, wenn<br />
man einmal mit der Geschichte verabredet war", so dachte, so redete, so schrieb de Gaulle.<br />
Zumindest in "La Boisserie" hat de Gaulle sein Leben lang sendungsbewusst immer wieder darauf<br />
gewartet, von der Geschichte gerufen zu werden. Hier wartete er auf den Einmarsch der<br />
Wehrmacht, der ihn ins Exil nach London trieb und schließlich nach Kriegsende zum Präsidenten<br />
der Republik machte. Hier wartete er zwölf Jahre lang, nach dem Zusammenbruch der Vierten<br />
Republik bis zur Algerien-Krise 1958, die ihm seine zweite Präsidentschaft eintrug. Und hier<br />
wartete er auch auf das Resultat jener für ihn folgen-schweren Volksabstimmung nach den<br />
Studenten-Unruhen im Mai 1968. Er hatte nicht begreifen wollen, dass die großen Stunden der<br />
einzelgängerischen Chefs vorbei waren. Und hier erwartete er letztlich auch den Tod, der ihn am 9.<br />
November 1970 ereilte, als er gerade an einem weiteren Kapitel seiner Memoiren schrieb. Titel:<br />
"L'effort" - Die Anstrengung.<br />
Jedes zweite Wochenende flüchtete de Gaulle aus dem ihm verhassten Elysée-Palast nach<br />
Colombey zur Familie. Schwiegersohn de Boissieu, langjähriger Generalstabschef des Heeres, Sohn<br />
Philippe, auch Kulturminister André Malraux (*1901 +1976) waren gelegentlich dabei und durften<br />
mitreden. Nur hier taute der General auf, soweit seine Anstandsregeln dies überhaupt zuließen. Mit<br />
seiner Frau Yvonne hat er sich gesiezt. Von sich selbst sprach er in der dritten Person.<br />
Naheliegend, dass aus seiner Bibliothek Geschichte aus allen Ecken weht. An dieser Stätte<br />
der Zurückgezogenheit wurde zwischen den "Erbfeinden" von einst der deutsch-französische<br />
Freundschaftsvertrag von 1963 vorbereitet. Und Konrad Adenauer war der einzige Regierungschef,<br />
der die Ehre hatte, von de Gaulle in seinem Haus empfangen zu werden. Wie weit die beiden<br />
Staatsmänner ihrer Zeit vorausdachten, belegt der Hinweis, dass schon Charles de Gaulle<br />
(*1890+1970) und Konrad Adenauer (*1876+1967) sich darüber Gedanken machten, ob der<br />
deutsch-französischen Vertrag völkerrechtlich potentiell für Gesamtdeutschland seine Gültigkeit<br />
habe. De Gaulle antwortete mit der prophetischen Bemerkung, dass die Wiedervereinigung als<br />
"natürliches Schicksal des deutschen Volkes" anzusehen sei.<br />
Irgendwie schlägt diese verschlafene Colombey-Les-Deux-Eglises den bizarren Bogen von<br />
Weltpolitik samt Heldenverehrung zu typischer französischer Sentimentalität zwischen Citroen und<br />
Kinderbettchen. Hier fand de Gaulle jene Leute, die bis heute die Republik weitaus stärker prägten<br />
als die fernsehgeübten, wortgewaltigen Intellektuellen aus dem Quartier Latin der auch die<br />
showgeübte Schickeria auf der Croisette von Cannes. La France profonde, wie es heißt, das wahre,<br />
tiefe Frankreich - ohne das in Frankreich keine Mehrheit zu finden ist. So betrachtet, ist de Gaulle<br />
Stätte seiner Zurückgezogenheit nicht nur Wallfahrtsort, sondern Sammel- punkt und<br />
Bekennerplatz der gaullistischen Bewegung schlechthin.<br />
Früh am Morgen hatte Staatspräsident Jacques Chirac (1995-2007) am Tage seiner<br />
Amtsübernahme im Mai 1995 in Colombey-Les-Deux-Eglises am Grab von General de Gaulle<br />
einen Kranz niedergelegt. Das ganze Dorf begleitete ihn. Am Nachmittag fuhr er mit offenem<br />
Wagen, einem Citroen-Mazeration, eskortiert von Fanfare und Kavallerie der Garde auf dem<br />
beflaggten Champs-Elysées. Sichtlich bewegt entzündete Chirac dort im Beisein des<br />
Parlamentspräsidenten und zahlreicher Vertreter seines Algerien-Regiments ( Algerien-Krieg 1954-<br />
1962) und einer begeisterten Menschenmenge am Grab des Unbekannten Soldaten - die<br />
Gedenkflamme.<br />
279
"Der Gründervater unserer Fünften Republik", bekundete Bernadette Chirac, "war unter<br />
uns. Er hat das politsche System geprägt, uns geprägt - de Gaulle ist stärker denn je in Frankreich<br />
verankert. Er kommt gleich hinter Karl dem Großen."<br />
2 80
FRISCHE LUFT FÜR DIE GESELLSCHAFT<br />
Als Kunststudentin an der Pariser École du Louvre lebte die Konservatorin Marie-<br />
Françoise Poiret schon im 19. Jahrhundert - in den Museen und Grands Palais. Ob nun in<br />
der Provinz in Bourg-en-Bresse am Musée de Brou oder dann wieder im Musée d'Orsay,<br />
der Louvre, das Musée national d'art moderne oder auch das Centre Pompidou - eine<br />
zentrale Frage durchdrang jedwede Epochen. Wie viel Architektur braucht die Macht, um<br />
sich zu profilieren. Wie viel Macht braucht die Architektur, um von sich reden zu machen?<br />
- Männer-Grandeur. Frauen-Befunde.<br />
Frankfurter Rundschau vom 19. August 1995<br />
Als junge Kunststudentin an der École du Louvre lebte Marie-Françoise Poiret schon ein<br />
bisschen wie im 19. Jahrhundert; genauer gesagt im Paris der Museen und Grands Palais, die in<br />
ihrer Monumentalarchitektur allenfalls drei Fixsterne vergangener Jahrhunderte dulden: Kunst,<br />
Kultur und natürlich Paris als "wahrlich kulturelle Hauptstadt der Welt" - als markanter Brennspiegel<br />
einer vom französischen Kunstverständnis geprägten Epoche.<br />
Es waren erst die siebziger Jahre dieses Jahrhunderts, in denen Frankreichs Frauen<br />
erstmals ihre Selbstfindung in Sachen Kunst wie auch Architektur suchten. Jene Ära des Aufbruchs<br />
schuf ein offenes, diskussionsfreudiges Klima. Erstmals wurde der gesellschaftliche Zustand der<br />
Republik transparent anhand der Kunst reflektiert - ein latente Antifeminismus der Kulturnation<br />
wurde dabei ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt. Es waren auch die Jahre der Fotografin<br />
Annette Messager, die nachfolgende Frauen-Generationen beeinflussen sollten. In ihrer Pariser<br />
Ausstellung des Jahres 1977, "Die Porträts der Geliebten", geißelte sie mit ironisch-bissigem<br />
Blickwinkel das von der Werbeindustrie vorfabrizierte Image der Feminität. In ihren späteren<br />
Exponaten rückte Annette Messager das eigene Verlangen, ihre Gefühle in den Mittelpunkt. Oder<br />
auch die Malerin Anne Marie Jugnet. Mit ihren Botschaften wehrt sie sich gegen das "Gefühl des<br />
Blindwerdens" durch unentwegte Reizüberflutung samt austauschbarer Bilder-Bombardements in<br />
Massenmedien.<br />
Zumindest aus diesem noch zaghaft keimenden gesellschaftlichen Klima eines<br />
künstlerischen Frauen-Empfindens heraus entwickelte Marie-Françoise Poiret ihr Berufsziel: Sie<br />
wollte Konservatorin werden. Nur Französinnen , die waren in über zweitausend Museen der<br />
Republik nicht vorgesehen. Dementsprechend tauchte der französische Frauenanteil an den<br />
Kulturgütern der Nation in früheren Jahrzehnten auch in keiner Statistik auf.<br />
Frankreich im Sommer '95 - ein Bild macht Furore und gibt zugleich den Blick frei auf die<br />
scheinbar konservierte kulturelle Gemütslage der Republik. Im Pariser Musée d'Orsay hängt<br />
neuerdings auch Gustave Cour- bets kleines Bild "L'Origine du monde" (Ursprung der Welt). Es<br />
zeigt, wie der Pariser "Nouvel Observateur" schrieb, "ein seidenglattes Geschlecht mit einsamer<br />
Begierde" - einen Frauenkörper ohne Gesicht. Dafür einen liegenden Torso mit geöffneten Beinen.<br />
Im Jahre 1866 hatte es Gustave Courbet gemalt. Seither war es weitgehend der Öffentlichkeit<br />
entzogen. Kaum jemand ahnte, dass die "gesichtslose Vagina" seit 1955 der französische<br />
Psychoanalytiker Jacques Lacan in seinem Landhaus versteckte. Er starb und seine Erben<br />
spendeten es dem Staat, um so der Erbschaftssteuer zu entgehen.<br />
Die französische Kunst hatte ihr Thema - ihr sommerliches Frauenthema. Gewiss wird<br />
dabei vordergründig über Grenzüberschreitungen, dumpfe Zurschaustellung, gar<br />
281
Frauendiskriminierung geredet. Aber allenfalls in winzigen Sprechblasen oder Begleitsätzen zum<br />
üppig veröffentlichten Vierfarbfoto in fast ausnahmslos allen Illustrierten; als Entlastung des<br />
sittsam genormten Anstands sozusagen. "Ja", stöhnt die Kasseler Leiterin der documenta '97, die<br />
Pariser Kuratorin Catherine David, unser Kunstbegriff ist revisionsbedürftig. Kunst ist nun mal<br />
kein weibliches Konsumprodukt."<br />
Wohl in keinem anderen Land der westlichen Welt ist die Verbindung zwischen Kunst,<br />
Machtpolitik samt ihrer Identitätsgeschichte so prestigebedacht eng gezurrt wie in Frankreich.<br />
Wohl keine Kulturnation starrt so inständig auf längst verflossene Jahrhunderte, die da Grandeur -<br />
Männer-Grandeur -verhießen, um "für Ruhm und Stabilität" der Republik zu sorgen, wie es in<br />
zahlreichen Erlassen so mancher Innenminister unterschiedlichster parteipolitischer Couleur<br />
geschrieben stand. Wenn überhaupt jemand sich in Frankreich in einem Museum engagieren<br />
durfte, musste er sich nach seinem obligatorischen Kunststudium bis dato einem individuellen<br />
Tauglichkeitstext unterziehen. Weltweit ein einmaliges, vornehmlich Frauen selektierendes Männer-<br />
Spektakel. Eben ein willkürliches Prüfungsverfahren, das keine allgemein gültigen<br />
Qualifikationskriterien kannte. Marie-Françoise spielte für ihr Konservatoren-Examen noch<br />
"Monopoly", wie sie es nennt. "Qui, quoi, où" (wer, was, wo) waren in jenem Beziehungsgeflecht<br />
allemal hilfreicher als Kenntnisse und Ideen.<br />
Marie -Françoise sagt: "Frauen werden in ihrem Selbstwertgefühl nicht gestärkt und auch<br />
nicht ermutigt, in die Männer-Domänen einzudringen, wenn sie unter Männer-Dominanz<br />
ausgebildet werden." Erst mit der Schaffung des "Instituts International d'Historie des Arts et du<br />
Patrimonie" - im Jahre 1993 in der Ära des sozialistischen Kulturministers Jack Lang (1981-1993)<br />
wurden allgemein verbindliche Ausbildungswege beschlossen, eine Ungerechtigkeitslücke gestopft.<br />
"Das brachte", bemerkt die im Jahre 1994 ernannte Direktorin der Musée de France, Françoise<br />
Cachin, "viel frische Luft in diese miefige Gesellschaft hinein." Ein von der Außenwelt<br />
abgeschirmtes Milieu, dem seit dem 19. Jahrhundert keinerlei Veränderungen widerfuhr. Hieß ihre<br />
Institution, die immerhin 34 Staatsmuseen verwaltet und zudem die Aktivitäten weiterer tausend<br />
unter ihrer Obhut betreut, doch bis nach dem Zweiten Weltkrieg noch bezeichnenderweise<br />
"Musées Napoléon".<br />
Ganz plötzlich waren sie da - Frankreichs Frauen in den männlich geschützten<br />
Kulturhochburgen von ehedem. Der leise Frauenmarsch durch die ehrwürdigen Institutionen,<br />
durch die Vernissagen der Schlösser und der oft verschlummerten Provinzmuseen der Republik<br />
hatte begonnen - nachhaltig und alsbald in der Überzahl.<br />
Im gesamten Kulturbereich Frankreichs vermochten Französinnen in den vergangenen<br />
vier Jahren ihr Engagement (auch in Teilzeitarbeit) um 30 Prozent steigern. In Zahlen: Anno 1988<br />
waren es 51,4 Prozent im Jahre 1992 schon 81,4 Prozent. Im Bereich der Bildenden Künste<br />
erreichten Studentinnen ein Patt. An der renommierten École du Louvre sind die Frauen auf dem<br />
Vormarsch. Nur noch 534 Männer lernten im Jahr 1994 an dieser Hochschule, die die<br />
Konservatoren ausbildet. Dafür saßen im selben Zeitraum insgesamt 2.438 Frauen (82 Prozent) in<br />
den Hörsälen.<br />
Mit der 59jährigen Kunsthistorikerin Françoise Cachin - sie ist die Enkelin des<br />
neoimpressionistischen Malers Paul Signac (*1863 +1935) - steht seit 1994 zum ersten Mal<br />
überhaupt eine Frau an der Spitze der französischen Museen. Immerhin zählt der Louvre in Paris<br />
jährlich mit fünf Millionen Besucher, das Centre Pompidou betreten täglich 26.000 Menschen (pro<br />
Jahr 7,7 Millionen). Ob Französinnen oder Touristinnen - auf jeden Fall sind es Frauen, die die<br />
Mehrheit der Museumsbesucher stellen.<br />
2 82
"Das große Problem Frankreichs ist", gesteht Madame Cachin, "dass man immer Geld für<br />
Prestige-Investitionen hat. Geht es dann aber um den Unterhalt, den Alltag, die weniger<br />
medienträchtigen und glanzloseren Posten, schließen sich die Geldhähne." Immerhin stehen dem<br />
Land laut Kulturbudget 1995 insgesamt 2,04 Milliarden Euro zur Verfügung. Es war eine alte<br />
Forderung der einst regierenden Sozialisten, dass der Kulturetat im Gesamthaushalt des Staates<br />
wenigstens ein Prozent ausmachen sollte. Dieses ehrgeizige Ziel ließ sich zeitweilig auch erreichen.<br />
Nur mit dem politischen Akzent: In der Mitterrand-Ära (1981-1995) wurden keine der sogenannten<br />
großen Projekte des Präsidenten außerhalb der Hauptstadt realisiert.<br />
Szenenwechsel - ins ländliche, innere Frankreich. Das Musée de Brou im Kleinstädtchen<br />
Bourg-en-Bresse im Dreieck zwischen Genf, dem Ort Macon und der Metropole Lyon vermittelte<br />
bis weit in die siebziger Jahre hinein den Eindruck provinzieller Verschlafenheit - bis die Frauen<br />
aus dem fernen Paris kamen und einen "verwahrlosten Schatz" vorfanden.<br />
Ob in den Museen in Bordeaux, St Etienne oder auch Grenoble -unmerklich belegte die<br />
Kunst in Frankreich verschiedene Regionen mit aufs Land verschickte Restauratorinnen. In Bourgen-Bresse<br />
war es ein Kloster neben einer Kirche aus der Frührenaissance. Imposant von außen,<br />
hoch und hell im Interieur steht sie am Stadtrand. Gebaut wurde die Eglise de Brou in den Jahren<br />
1505 bis 1536 im Auftrag Margaretes von Österreich von dem flämischen Baumeister Louis von<br />
Boghen. Sie ist, so wissen Kunstführer zu berichten, "eines der drei Gebäude der Welt, die aus<br />
Liebe errichtet wurden." Margarete, Tochter des Kaisers Maximilian von Österreich, wollte ihrem<br />
Mann ein Denkmal setzen. Er, der Herzog Philibert der Schöne von Savoyen (1480-1504) , starb<br />
nämlich nach nur dreijähriger Ehe im Alter von 24 Jahren.<br />
Drei Kreuzgänge sind dem Gotteshaus angebaut worden. Hier versteckte sich früher ein<br />
Kunstmuseum vor der Öffentlichkeit wie einst die Augustinermönche ihren Sammeleifer.<br />
Mittlerweile könnte jenes Provinzmuseum als dezenter Hinweis gedeutet werden, was Frauen zu<br />
leisten vermögen, wenn man sie nur ließe.<br />
In einem kleinen, hinteren Erker hockt die 48jährige Museumsdirektorin Marie-Françoise<br />
Poiret an ihrem Schreibtisch. In früheren Jahren, da hatte Marie-Françoise nur den Louvre im<br />
Kopf. Unvorstellbar war für sie, sich einmal von Paris zu verabschieden. Als ihr die Direktorinnen-<br />
Position (Verdienst monatlich 3.100 Euro) Ende des siebziger Jahrzehnts angeboten wurde, da<br />
wusste sie auf Anhieb nicht, "wo dieses verdammte Provinznest liegt". Doch Marie-Françoise<br />
nahm an, weil sie wusste, dass jeder Direktor dem Museum seinen individuellen Stempel aufdrückt<br />
- für Marie-Françoise ihre Frauendiktion.<br />
Zehn Jahre später ist das Musée de Brou für Eingeweihte kaum wieder zu erkennen. Ob<br />
in den Büros, Bibliotheken oder auch Ausstellungshallen - weit und breit sind es nur Frauen, die<br />
begutachten, werkeln, richten; zehn an der Zahl. Männer fehlen in der Führungsetage; aber es gibt<br />
fünf Pförtner oder Aufseher im Erdgeschoss.<br />
Unbehagen äußern jene Museumsfrauen, weil die Öffentlichkeit zur Jahrhundertwende<br />
Frauen in der Kunst immer noch für ungewöhnlich hält. Für die Museumsfrauen sind<br />
Künstlerinnen eine Selbstverständlichkeit. Dabei ließen sich Marie-Françoise mit ihren Kolleginnen<br />
wohl kaum auf einen Stellungskrieg zwischen weiblicher und männlicher Kultur ein. Sie lacht und<br />
murmelt: "Eher führen wir hier subversiv Regie." - "Ja, ja", fährt sie fort, "der Bürgermeister hat<br />
einen Fehler gemacht, mich hier einzustellen. Wir krempeln Stück um Stück das ganz Museum<br />
um."<br />
283
Was so viel heißt: raus mit den vermotteten Utensilien napoleonischer Beutezüge, die<br />
irgendwo in den Kellern einlagern; raus mit den Exponaten lokaler Größen längst verblichener<br />
Tage. Es waren vornehmlich Männer aus dem 19. Jahrhundert, deren Konterfeis Schleifen und<br />
Kränze eine verstaubte Würde verliehen.<br />
Das Provinzmuseum Brou und seine Konservatorinnen - das sind Frauenbrüche oder<br />
auch der langsame Abschied von glorreich hochgehaltenen Männertagen, die da als Kunst<br />
daherkamen. Auch wenn ihr Etat zurzeit keine Ankäufe zulässt, wollen sie rein in die<br />
zeitgenössische Kunst, wollen ausstellen, thematisieren, diskutieren, wollen rein in die Schulen, um<br />
für Kinder den eher abstrakten Kunstbegriff erlebbar zu vermitteln.<br />
Wenn da nur nicht die Geldsorgen wären. Marie-Françoise verwaltet jährlich etwa 140.000<br />
Euro für neue Präsentationen und den jeweiligen Katalogdruck. Die Stadt kommt mit etwa 550.000<br />
Euro für Personalausgaben, Computer- und Telefonkosten, Strom etc. auf. In der Mitterrand-Ära<br />
(1981-1995) stand den Museumsfrauen für den Ankauf von Kunstwerken ein von Paris<br />
bezuschusster Betrag zwischen 23.ooo und 180.000 Euro zur Verfügung - je nach Haushaltslage.<br />
Nur in diesem Jahr bekommt das Brou-Museum wie auch viele andere on der Republik nicht<br />
einmal mehr einen Cent aus Paris.<br />
"Als wir noch reich waren", begeistert sich Brou-Konservatorin Marie-Dominique Nivière<br />
noch im nach- hinein, "da machten wir drei Ausstellungen im Jahr." "Nein", unterbricht Marie-<br />
Françoise, "wir haben 1982 auch schon mal zwölf Vernissagen organisiert. Da hatten wir Frauen<br />
einen richtigen Kunsthunger in dieser Region."<br />
Es war die Zeit, als Marie-Françoise in den Niederlanden auf den Bildhauer Richard Serrat<br />
stieß. Sie kamen überein, dass er mit zwei neu entworfenen Skulpturen dem Klosterrundgang<br />
Eintönigkeit nimmt. Der amerikanische Künstler sorgte für Wirbel in dem Städtchen Bourg-en-<br />
Bresse. Wütende Artikel in den Medien, Flugblätter besorgter Bürger, Protestgeschrei vierlerorts.<br />
Nur Marie-Françoise mit ihren Frauen blieb eisern - sie setzen Richard Serrat durch. Mit<br />
diesem Prestigekampf haben sie sich aber auch erst selber behaupten können. Seither steigt die<br />
Besucherzahl ihres Museums stetig. In früheren Zeiten kamen jährlich etwa 40.000 Menschen, um<br />
Frankreichs Epoche im 19. Jahrhundert zu bestaunen. Unter ihrer Frauenregie sind es inzwischen<br />
circa 120.000 Besucher - ist das Musée de Brou zum attraktiven Touristenfaktor dieser Region<br />
geworden.<br />
Nur eines ist geblieben, wie es schon immer war, wenn auch nur als Ritual. Wenn sich die<br />
Direktorin Marie-Françoise Poiret in den Abendstunden auf den Heimweg macht und sich vom<br />
Museumspförtner Jacques verabschiedet, ruft dieser - die Mütze aufsetzend - ein "bonne soirée,<br />
"Mademoiselle" hinterher.<br />
2 84
PREMIÈRE DAME, DIE RISKIERTE, GRENZEN ZU<br />
ÜBERSCHREITEN<br />
Der fortwährend schrille Bruni-Sarkozy-Boulevard in Frankreich der Neuzeit lässt<br />
an den laut-losen Abgang der Danielle Mitterrand erinnern, die länger Première Dame de<br />
la France (1981-1995) war als jede ihrer Vorgängerinnen seit Napoleon III. Mit ihrer<br />
Menschenrechtsorganisation "France Libertés" half Danielle Mitterrand weltweit<br />
entrechteten, unterernährten, hungernden, von Kriegen oder vom tödlichen Aids-Virus<br />
bedrohten Menschen. Aus Sicht der französischen Oberschicht war sie ein ungeliebtes<br />
"Aschenputtel" der Nation. Dabei hatte die Ehefrau von François Mitterrand (*1916<br />
+1996) mehr bewegt als jede ihrer Vorgänger- und wohl auch Nachfolgerinnen bis zum<br />
heutigen Tag.<br />
Freitag, Berlin vom 24. März 1995<br />
Leise spricht Danielle Mitterrand, wenn es um die Bedeutung der "Grande Nation" - ihren<br />
Glanz, Grandeur und Glorie geht. Auffallend leise, fast gelangweilt. "In vielen eitlen Politik-<br />
Männern dieser Tage", befindet sie lakonisch, "da spuckt noch der Macht-Mythos verblichener<br />
Jahre, als lebten wir noch in einer Monarchie. Sie dulden nur schmückende Ehefrauen als Insignien<br />
gütiger Nächstenliebe, aber keine Frauen, die sich für einklagbare Menschen- und damit auch für<br />
Frauenrechte einsetzen. Das schmerzt mich. ...".<br />
Sie steht am Fenster im obersten Stockwerk des "Palais de Chaillot" am Pariser<br />
Trocadéro. Nicht etwa im Elysée-Palast, dem Amtssitz des Präsidenten mit seinen 395 Räumen<br />
und knapp tausend Komparsen, hat sie ihr Domizil, sondern in den Büroräumen der von ihr 1986<br />
gegründeten Menschenrechtsorganisation "France Libertés" - Engagement gegen Terror, Gewalt,<br />
Rassismus und Elend in der Welt; Frankreich wie selbstverständlich inbegriffen. Was für Danielle<br />
Mitterrand soviel heißt wie "an einer Front der Frauen zu kämpfen, für die Ausgeschlossenen und<br />
Entrechteten einzutreten". In den Büros von "France Libertas" ereilen die über-wiegend jungen<br />
Mitarbeiterinnen Notrufe aus der Türkei, dem Irak, Algerien - aus Bosnien, Tschetschenien oder<br />
China. Immer wieder sind es die gleichen Alarmberichte: Folter, Mord, Vergewaltigungen oder<br />
Ausrottung dort, wo so etwas wie ein alltäglicher Ausnahmezustand herrscht.<br />
Und mittendrin agiert eine kleine zierliche Frau mit fast mädchenhafter Stimme, die es<br />
ablehnt, eine Chefrolle wahrzunehmen, "weil wir eine Gruppe von Gleichberechtigten und<br />
Gleichgesinnten sind, voilà." In über 60 Ländern ist "France Libertas" mittlerweile engagiert, der<br />
dafür erforderliche Haushalt wird aus dem Grundkapital von 27 Millionen France (4,12 Millionen<br />
Euro) und Spenden abgedeckt.<br />
Es ist in Frankreich kein Geheimnis, dass Danielle Mitterrand nie Lust verspürte, sich<br />
protokollarischen Artigkeiten zu unterwerfen, wie sie für die Gattin des Präsidenten bis dahin<br />
üblich waren. - Sie lacht darüber und erklärt mir zu diesem Thema knapp: "Zeitverschwendung,<br />
teilweise geschmacklos, auf jeden Fall überflüssig. Man lässt sich doch nicht selbstgefällig im Elysée<br />
nieder, dort kann man allenfalls ein Werkzeug sein."<br />
Geheiratet hatte Danielle Gouze ihren François im Jahr 1944. Sie war die Tochter eines<br />
atheistischen Schuldirektors und Freimaurers. Sie einte die Résistance gegen die deutschen<br />
Besatzer, die gemeinsame Vision von einer gerechteren, einem sozialistischen Frankreich. Es<br />
scheint heute fast vergessen, aber im Jahre 1981 gewann François Mitterrand die Wahlen mit dem<br />
285
Versprechen, dieses neue Frankreich gestalten zu wollen. Schon 18 Monate später kam ihm<br />
dergleichen nicht mehr über die Lippen. Nunmehr gehörten Computer samt Hochtechnologie,<br />
Kernkraftwerke, TGV-Schnellzüge und das Bildschirmtextgerät "Minitel" zu seinem<br />
Lieblingsvokabular - die Terminologie eines fundamentalen Sinneswandels. Längst hatte der<br />
Präsident die "Union der Linken" verabschiedet - fortan suchte er die Symbolik eines Charles de<br />
Gaulles (*1890+1970), ganz besonders war er in monumentale Bauten verliebt, die das<br />
Unvergängliche seiner Amtszeit zu dokumentieren vermochten.<br />
Danielle gehörte in seiner engsten Umgebung zu den wenigen, die sich dieser bizarren<br />
Wendung des "Wahl- monarchen" entgegenstemmten, " Aber er ist Mitterrand, ich bin Sozialistin",<br />
sagte sie oft ein wenig verschämt und ungefragt. Die Ehe war längst auseinander. François lebte in<br />
einem präsidialen Parallelhaushalt mit der Kunsthistorikerin Anne Pingeot am Pariser "Quai<br />
Branly" zusammen. Mit ihr verbindet ihn auch die gemeinsame z1wanzigjährige Tochter Mazarine.<br />
Ein reines Staffagen-Dasein fristeten die Bewacher der "Garde Républicaine", die stets ungerührt<br />
und pflichtversessen seine eigentliche Wohnung in der "Rue de Bièvre" bewachten. -<br />
Staatsgeheimnis.<br />
Im Gegensatz zu Deutschland und vor allem den angel-sächsischen Staaten sind im<br />
romanischen Frankreich in der Öffentlichkeit außerhäusige Bettgeschichten, längere Amouren,<br />
dauerhafte Zweisamkeiten und damit auch uneheliche Kinder geradezu tabu. Vornehmlich dann,<br />
wenn es den Namen eines hochgestellten Mannes aus Politik, Wirtschaft oder Verwaltung als<br />
Erzeuger auf dem Geburtsschein einzutragen gilt. Zu sehr ist die familiäre Daseinsfürsorge der<br />
Männer zu einem scheinbar unanfechtbaren Dogma geworden. Dabei weiß die Republik insgesamt<br />
etwa 1,2 Millionen uneheliche Kinder in ihren stolzen Reihen. Nur Heimlichtuereien pflastern den<br />
Karriere-Weg im Dunstkreis des gesellschaftlichen Anstands. Dabei gelten doch auch unter den<br />
Männern des Pariser Etiketten-Milieus nur die "besten Jäger" als förderungswürdig für den<br />
erhofften Aufstieg, der sich im Kürzel "PDG"("Président Directeur Général") nennt. Und François<br />
Mitterrand gefiel sich schon immer in der Rolle des "homme à femmes" - als diskreter Frauenheld<br />
der Republik. Einer Frauen-Zeitschrift bekundete er: "Frauen lieben, das ist wie Blumen lieben."<br />
Tatsächlich nimmt nun ein vom Krebs gezeichneter Mann Abschied - von seiner Macht,<br />
von der Politik, von seinem Leben. Und während des Schlusschorals für die "Ära Mitterrand" wagt<br />
er es wohlbedacht, sich mit seiner ihm verblüffend ähnlich sehenden illegitimen Tochter Marzarine<br />
im Pariser Restaurant "Le Divellec" in der "Rue de l'Université" zu zeigen. Schließlich galt es, mit<br />
Freunden ihre Aufnahme in die Elite Hochschule "Ercole nNormalesuperiere zu feiern. Heimlich<br />
geschossene Fotos und Reportagen aus der Schlüsselloch-Perspektive - ein Urknall im Frankreich<br />
der Männer. "Eine ganze Macho-Gesellschaft zitterte", schrieb die Satire-Zeitung "Charly Hebdo"<br />
mit hämischen Unterton.<br />
Verständlich, dass derlei von Mitterrand offenkundig beabsichtigte Indiskretionen sein<br />
Vorgänger, der liberal-konservative Valéry Giscard d'Estaing, "bedauerlich" fand. Verständlich<br />
auch, dass sich der gaullistische Innenminister Charles Pasqua "tief schockiert" zeigte und<br />
Sozialistenchef Henri Emmanuelli gar von einem "absoluten Tiefschlag" wetterte. Frankreichs<br />
Männer-Phalanx in einer Großen Koalition vereint oder Geschlechterkampf auf französisch. Nur<br />
Danielle Mitterrand, die eigentlich betroffene Ehefrau, blieb ganz gelassen. Sie äußerte frohgemut:<br />
"Wären wir alle ehrlicher miteinander, es blieben uns diese lüsternen Schlüsselloch-Effekte einer<br />
gesellschaftlichen Doppelmoral erspart. François und ich, wir haben uns noch sehr viel zu sagen."<br />
Von Danielle Mitterrands Abschied an der Seite ihres Mannes mag so eigentlich niemand<br />
in Frankreich Kenntnis nehmen. Er findet praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.<br />
2 86
Dabei ist die einstige Buchbinderin länger die "Première Dame de la France" gewesen als alle ihre<br />
Vorgängerinnen - Napoléon III. und die Ära Charles de Gaulle eingeschlossen.<br />
Sie wird politisch in der Dritten Welt mehr bewegt, gezielter in die Innenpolitik<br />
eingegriffen haben als so manche der berufenen Münder des "Corps diplomatique" oder die<br />
politischen Klassen Frankreichs überhaupt.<br />
"Leb wohl, Danielle, man mochte dich nicht besonders, aber Respekt hatte man schon<br />
vor Dir", schrieb lediglich das Magazin "L'événement du jeudi". Merklich unterkühlt war dieses<br />
"Adieu" -geradezu emphatisch erschienen dagegen die Zeilen über den vermeintlichen Neubeginn<br />
mit Marie-Josèphe Balladur als der künftig "Ersten Dame" am Hofe der Republik. Zweifelsfrei<br />
steht Madame Balladur in einer nahtlosen Kontinuität großen Frauen des französischen Staates.<br />
Vergangene, verschollen geglaubte Standes-Regularien erleben eine ungeahnte Renaissance. "Wenn<br />
ich im Elysée bin", gesteht sie freimütig, "wird sich so manches gewaltig ändern. Anstand, Moral<br />
und Werte sind heute gefragter denn je." Wird das Terrain so vermessen, dann weiß sie im<br />
heimatlichen Chamonix in den Alpen als Fabrikerbin nicht nur das Großbürgertum an ihrer Seite.<br />
Im Alltag achtet Madame streng auf zwei arg vernachlässigte Vorgaben. Die Balladur-Kinder haben<br />
ihren Vater in der "Sie-Form" anzusprechen, und sie überwacht mit peinlicher Genauigkeit, dass<br />
ihr Ehemann, der "Doudou", nicht zu viel zunimmt, wenn er einmal Zeit für den häuslichen<br />
Kamin hat. Frankreich in Wendezeiten!<br />
Das schließt die Kasten-Philosophie ein: Es ist fest gezurrte Traditionen der französischen<br />
Oberschicht - Frauen haben sich zuvörderst als Schmuckstück ihres Mannes darzustellen.<br />
Sogenannte Traumkleider weisen die gesellschaftliche Richtung, das Schloss von Versailles bildet<br />
den emotionsgeladenen Hintergrund, wenn es sich um stilsichere Momentaufnahmen<br />
republikanischer Daseinsbewältigung handelt. Hießen sie nun Yvonne de Gaulle, die sich "Tante<br />
Yvonne" umschmeicheln ließ, oder war es die unnahbare Anne-Aymone Giscard d'Estaing - mit<br />
familien- und harmoniebetonter Weiblichkeit- sie alle wussten und mussten mit Frankreichs<br />
großen Männern ihren Staat zu machen; ob beim Teekränzchen oder auf Kunstausstellungen -<br />
geflüsterte Neuigkeiten gab es allemal.<br />
Die Modehäuser Chanel, Dior, Chardin schufen ihren Blickwinkel auf feminine<br />
Wirklichkeitsaus-schnitte der letzten Jahrzehnte, wobei den Vorzeige-Damen stets ein gebührender<br />
Platz eingeräumt wurde - genauer gesagt ihren Prestige-Kleidern aus der "Haute Couture" im<br />
Pariser Mode-Museum. Dabei ist die französische Nation so unendlich stolz darauf, einen Umsturz<br />
im Sinne der Gleichheit aller Staatsbürger erlebt zu haben - nur nicht für die Frauen in der Politik.<br />
Das bleibt Männer-Sache. Diese "Herren-Mentalität" gesteht den Frauen alle nur erdenklichen<br />
Privilegien zu, aber einklagbare Rechte? Die gab es früher nicht und die soll es auch in den<br />
kommenden Jahren des konservativen Neubeginns nicht geben.<br />
Es versteht sich, bei diesen Klischees dürfte Danielle Mitterrand als eine unberechenbare,<br />
zänkische Politiker-Gemahlin in die grob gefrästen Annalen der französischen Oberschicht<br />
eingehen, die sich so ganz und gar nicht dem höfischen Zeremoniell der Männer fügen wollte. In<br />
ihrem Büro bei "France Libertés" hängen Bilder, Fotos, Masken oder Gemälde von naiven Malern,<br />
die Danielle Mitterrand von ihren Reisen in Staaten der Dritten Welt mitgebracht hat, wenn sie zu<br />
Aids-Stationen in Afrika, den Obdachlosen von Dacca oder den Straßenkindern von Manila<br />
unterwegs war. Mit besonderer Hingabe hat sie sich stets nach dem kurdischen Volk gewidmet. Im<br />
irakischen Kurdengebiet entging sie 1992 nur knapp einem Attentat, als eine Autobombe<br />
explodierte. Sieben Menschen fanden den Tod.<br />
287
"Bin ich Französin oder Kurdin? Ich weiß es nicht mehr", sagte sie bei ihrer Rückkehr<br />
nach Paris. Tonnen um Tonnen an Nahrung und Medikamenten schickte sie auf die Reise: die<br />
Gattin des Präsidenten als Flugbegleiterin gleich neben den Kisten. Szenen Kräfte zehrende<br />
Selbstbehauptung in den Jahren der bewusst riskierten Regelverletzungen, des Affronts gegen<br />
Frankreichs etablierte Machteliten, die sich an Export-Ambitionen und eine flankierende<br />
Außendiplomatie zu halten pflegen, wenn es um die Dritte Welt ging. Es krachte zusehends<br />
heftiger zwischen den Außenpolitikern am Quai d'Orsay und Madame. Immer wieder waren es<br />
dieselben Interessenkonflikte. Frankreich verkaufte Waffen oder Atomkraftwerke - natürlich als<br />
Entwicklungshilfe deklariert.<br />
Ob in China, Südamerika oder auch in Marokko - die unliebsame Danielle Mitterrand<br />
hatte längst ihre Paralleldiplomatie in Sachen Menschenrechte aufgebaut. Ihr blieb es vorbehalten,<br />
auf höflich unterkühlten Staatsempfängen Politiker-Frauen wie Hillary Clinton oder auch Olga<br />
Havel zu einem Netzwerk in puncto Zivilgesellschaft und Bürgerrechte zu motivieren. Sie blieb das<br />
stete Ärgernis, woraus schon 1990 der gaullistische Abgeordnete Erich Raoult die rigide Forderung<br />
ableitete, dieser "Brachialsozialistin" müsse "das Handwerkzeug genommen werden".<br />
Aber ihre Grenzüberschreitungen ließen sich nicht nur geografisch verfolgen, Danielle<br />
Mitterrand wollte auch den Text der französischen Nationalhymne erneuern. Diktion wie Inhalt<br />
der "Marseillaise" waren ihr zu "kriegerisch", besonders Formulierungen von den "brüllend wilden<br />
Soldaten, die unsere Söhne und Frauen erwürgen und "deren Blut unsere Ackerfurchen tränkt"<br />
störten ihr Empfinden. Natürlich ein aussichtsloser Vorstoß, aber es entsprach ihrem<br />
Selbstverständnis. "Ich habe es satt, wie ein Paket des Präsidenten herum geschoben zu werden,<br />
artig Chrysanthemen-Shows zu eröffnen und die Pariser Mode zu repräsentieren. Mein ganzes<br />
Leben hatte ich einen Faltenrock und einen Pullover für den Winter und einen anderen Faltenrock<br />
und ein T-Shirt für den Sommer", konnte sie in aller Öffentlichkeit poltern.<br />
Ausgerechnet in diesem Jahr des Abschieds ist Danielle Mitterrand noch zusätzlich in eine<br />
unerwartete Ausnahmesituation geraten. Eine Herzoperation zwang sie, sich mehr Ruhe und Muße<br />
zu verordnen - sich Momente der Besinnung zu gönnen, der Fragen an eine sich schon auflösende<br />
Ära.<br />
Von ihrem Büro lässt sie den Blick herabgleiten auf das Weichbild der Metropole, die im<br />
letzten Monat vor der Präsidentenwahl viele bunte, überlebensgroße Männer-Plakate und über vier<br />
Millionen Quadratmeter leer- stehende Bürofläche kennt, aber keine Schmuddelkinder mehr<br />
duldet. Wer kein Geld hat, der wird aus diesem hypermodern herausgeputzten Paris der Alt- und<br />
Neureichen in die kaum vorzeigbaren Vorstädte, an die soziale Peripherie vertrieben wie in kaum<br />
einer anderen westlichen Hauptstadt. Dort, wo nach den Wahrnehmungen des<br />
Präsidentschaftskandidaten Jacques Chirac schon "die Gerüche und der Lärm" auf viele<br />
Einwandererfamilien schließen lassen.<br />
Auf ihrem Schreibtisch liegt das Gesprächskonzept für ihren letzten Termin an diesem<br />
Tag, es wird um den "Europäischen Pass gegen Rassismus" gehen. Erst vor wenigen Wochen ist<br />
der siebzehnjährige Komorer Ibrabim Ali in Marseille von Wahlhelfern der rechts- radikalen "Front<br />
National" des Jean-Marie Le Pen während einer Kundgebung zur Präsidentschaftswahl von hinten<br />
erschossen worden.<br />
Als ich mich schon verabschiedet habe, ruft sie mir noch hinterher: "Wer nicht handelt,<br />
begeht ein Verbrechen. Ich werde mit France Libertés kämpfen, bis ich umfalle..."<br />
2 88
1996<br />
Grösstes Frauen-Gefängnis Europas – Väter, Freier, Wärter<br />
Armut in Frankreich: Freier Fall ins Elend<br />
SOS-Attentats: Keine Zeit für Wut und Tränen<br />
289
VÄTER, FREIER,WÄRTER<br />
Das französische Gefängnis Fleury Maronis ist Europas größte Haftanstalt für<br />
Frauen. Ein restlos überfüllter Frauen-Knast mit Haftrevolten, Geiselnahmen, Ausbrüchen;<br />
ein SingSing aus Selbstverletzungen, Selbstmorden, Selbstverstümmelungen. Für<br />
Rauschgiftsüchtige und HIV-infizierte bedeutet Fleury-Mérogis Endstation - die letzte<br />
Bleibe vor ihrem Tod. Meist im Morgengrauen fährt der Bestattungsbus zu den<br />
Sammelgräbern des Städtchen Thiais. Friedhofsruhe im Vollzug. Kein Politiker mahnt im<br />
Land der Menschenrechte Reformen an. Mit "Landgraf-Werde-hart-Parolen" wird<br />
Frankreich unter Nicolas Sakorzy regiert. - Bleierne Zeiten.<br />
Trierischer Volkfreund vom 25. Oktober 1996<br />
Es gab Zeiten, da fuhr der Bestattungsbus schon früh im Morgengrauen zum Sammelgrab<br />
der Frauen - genauer gesagt: Zum Friedhof des Städtchen Thiais, das südlich von Paris liegt. Dort<br />
hatte die Gefängnisleitung in Fleury-Mérogis, der größten französischen Frauenhaftanstalt in<br />
Europa, gleich auf Verdacht mehrere Sammelgrababschnitte der Nummer 104 bis 146 in den<br />
Reihen 22, 23, und 24 für seine Insassinnen reservieren lassen. Vor-sichtshalber, weil von Fleury-<br />
Mérogis ein merkwür-diger Sog auf in ganz Frankreich inhaftierte Frauen ausging -auch<br />
Selbstmordwelle genannt.<br />
Immerhin schnellten in Frankreich die Suizidfälle von 1979 bis 1995 in insgesamt 183<br />
Strafanstalten mit 58.000 Häftlingen (etwa 4.500 Frauen) von jährlich 37 auf 107<br />
Gefängnisselbstmorde in die Höhe. Und in Fleury-Mérogis reichte der Freitod von vier Frauen<br />
binnen weniger Tage aus, um eine Selbstmordketten-Reaktion in Haftanstalten von Rennes bis<br />
Marseille auszulösen.<br />
"Die Haft der Frauen ist durch und durch härter als die der Männer", urteilt<br />
Anstaltsdirektor Bernard Cuguen vom Centre National d'Orientation in Fresnes, der na- tionalen<br />
Gefangenenverteilerstation. "Keiner will es wahrhaben", fährt Cuguen fort, "aber wir wissen es<br />
mittlerweile sehr genau. Frauen in Gefängnissen sind einsamer, von der Außenwelt isolierter, auch<br />
in ihrer Haft verlassener als Männer." Allein daraus ergebe sich schon eine ohnmächtige<br />
Angriffslust.<br />
Doch im Gegensatz zu den Männern sei die Aggressivität der Frauen nicht gegen andere,<br />
sondern gegen sich selbst gerichtet; Selbstverletzungen, Selbstverstüm-melungen, Selbstmord. Die<br />
Psychologin Marie-Cécile Bourdy aus Fleury-Mérogis ergänzt: "Früher starb eine Anzahl von<br />
Frauen draußen, kurze Zeit nach Haftentlassung. Häufig an einer Überdosis Heroin, was eigentlich<br />
nur ein verfehlter Selbstmord war. Heute hingegen suchen sie schon lieber im Knast den Tod, weil<br />
die Haftbedingungen noch härter geworden sind, und die Zuflucht sich als Sackgasse erweist. Sie<br />
erleben Momente tiefer Traurigkeit und Selbstzweifel. Dabei sind es im wesentlichen sehr junge<br />
Frauen. Einst hatten wir den Frauen-Selbstmord so gut wie nicht gekannt. Heute machen es die<br />
Frauen wie die Männer - sie erhängen sich in ihren Zellen. Und das meist nachts, ohne ein Wort zu<br />
hinterlassen. Ab zum Sammelgrab."<br />
Wenn es wieder einen Selbstmordversuch in Fleury-Mérogis gegeben hat, werden<br />
präventiv im Knast etwaige Suizidkandidatinnen aus ihren Zellen geholt und im Nachbartrakt nackt<br />
zwischen zwei Matratzen eingebunden -und das über Stunden. Erst dann darf der bereits<br />
vollzogene Selbstmord übers Radio öffentlich gemacht werden. So gesehen befinden sich die<br />
2 90
Gefängnisfrauen in einem permanenten Aufbruch, Umbruch, Umschluss - tagein, tagaus. Folglich<br />
ist in Frankreichs Frauenhaft Fleury-Mérogis so gut wie nichts intim. Alles unterliegt der Umzug<br />
signalisierenden Guckloch-Öffentlichkeit. Angst heißt der unabänderlicher Wegbereiter und -<br />
Flurbegleiter in jenen entsagungsreichen Zeiten des Freiheitsentzugs.<br />
Dabei gehörte Frankreichs Frauengefängnis Fleury-Mérogis mit seinen dreitausend<br />
inhaftierten Frauen auf 2.400 Plätzen lange Zeit noch zu den halbwegs vorzeig-baren Haftanstalten<br />
des Landes. Ob kleine, aber gut gepflegte Zellen, ob Bibliotheken, Gesprächsräume oder auch die<br />
Krankenstation - vornehmlich in den siebziger Jahren ließ sich das Frauen-Gefängnis Fleury-<br />
Mérogis vorführen als Paradebeispiel eines auf Resozialisierung bedachten Frauenstrafvollzug. -<br />
Lang ist's her; ein Torso ist von allem geblieben. Heute heißt es: Kein Geld für einen<br />
gesellschaftsnahen Strafvollzug, kein Geld für eine leistungsgerechte Arbeitsentlohnung, auch keine<br />
finanziellen Mittel für Renten- und Krankenversicherung.<br />
Dafür drei oder manchmal sogar vier Frauen, die in einer acht Quadratmeter großen Zelle<br />
zusammenhausen. Ein Frauen-Knast voller Drogen samt ihren Kurieren. Sind doch exakt 80<br />
Prozent der Frauen rauschgiftsüchtig und gar 45 Prozent HIV-infiziert. Für viele Frauen ist der<br />
Gefängnisbau von Fleury-Mérogis Endstation - die letzte Bleibe vor dem Tod.<br />
"Uns reicht's", sagen sie da. "Wir essen nicht mehr, wir waschen uns nicht mehr, lasst uns<br />
in unseren Betten verrecken. Wir rühren uns nicht mehr von der Stelle, nehmen keinen Teller,<br />
keinen Becher mehr an." Verweigerung. Naheliegend, dass in diesem Vollzugsmilieu ein<br />
Kindheitsschock schon immer als neben-sächlich belächelt wurde, als unglaubwürdig, halt als nicht<br />
gerichtsverwertbar abgetan wird. Und das, obwohl sich etwa bei der Hälfte der Frauen in Fleury-<br />
Mérogis jenes traumatische Urerlebnis in ihren Gefühlsabläufen eingenistet hat - der sexuelle<br />
Missbrauch vieler Töchter durch ihre Väter, die sexuelle Nötigung der weiblichen Häftlinge durch<br />
so manche Wärter. Junge Mädchen von Fleury-Mérogis, zwischen 13 und 20 Jahren alt, wissen von<br />
jenen Männer-Übergriffen in jenen Grauzonen - sie alle schweigen. Gewohnheitsrecht.<br />
Glaubwürdigkeit ist gefragt. Einmal kriminell, immer unglaubwürdig, heißt es. Erst verge- waltigen<br />
Väter ihre Töchter, Erzieher in Heimen folgen. So betrachtet bewahren dann einige französische<br />
Vollzugsbeamten in ihren meist eigens dafür flüchtig hergerichteten Zellenseparé lediglich eine<br />
unscheinbare Kontinuität männlicher Alltagszugriffen dieser Jahre. Einmal Freiwild, immer<br />
Freiwild.<br />
Längst hat sich die französische Öffentlichkeit - von Berührungsängsten getragen<br />
augenzwinkernd darauf verständigt, einen explosiven Notstand notdürftig zu verwalten.<br />
Verantwortlich dafür sind insgesamt 18.000 schlecht bezahlte Vollzugsbeamte mit einem<br />
Durchschnittsgehalt von monatlich mehr oder weniger von tausend Euro. Die Folge in diesen<br />
Jahren: Im ausgegrenzten Fleury-Mérogis haben zwei Wärter bis zu fünfhundert Frauen beim<br />
Rundgang zu beaufsichtigen. Mit 1,4 Prozent des Staatshaushalts, weniger als 3,5 Milliarden Euro<br />
ist die Justiz ohnehin am unteren Ende der Politikerinteressen angesiedelt.<br />
Am Punkt 34,40 Meter im Sammelgrab des Friedhofs von Thiais wird an diesem Morgen<br />
die 24jährige Laurence verscharrt. Ein Mädchen, das wegen Diebstahl im Trakt D6 E, Zelle vier<br />
zum 25. Male eingesperrt worden war, diesmal drei Monate. Todesursache: Heroin. Gefunden<br />
wurde Laurence in einem der Stundenhotels; ganz in der Nähe der Haftanstalt. Bei ihr lag noch ein<br />
verschmierter Zettel. Auf ihm stand: "Ich lächele und gehe fröhlich. Die Menschen sollen Laurence<br />
in guter Erinnerung behalten. Nicht wie eine Kranke, die hässlich, mager, unschön aussah, sondern<br />
wie eine Frau, der man Blumen wenigstens ans Grab mitbringt. Adieu."<br />
291
Dabei hatte Laurence ihre Strafe schon verbüßt, sich - wieder in Freiheit - bei der<br />
Wiedereingliederungs-Organisation ARAPEGE, beim Bewährungshelfer - um Unterkunft und<br />
beim Arbeitsamt gar um einen Job als Verkäuferin bemüht. Doch wie immer widerfuhren ihr<br />
Absagen - Fehlanzeigen über Fehlanzeigen in diesen bedrückenden Jahren der<br />
Massenarbeitslosigkeit.<br />
Vielleicht zählte Laurence in Fleury-Mérogis zu jenen Frauen, die im Knast letztendlich<br />
ihr Zuhause fanden. Meist, wenn Laurence wieder eingeliefert wurde, soll sie sich lauthals mit dem<br />
Hinweis getröstet haben: "Wenn man hier rauskommt - das ist das Schlimmste. Wir lernen hier<br />
nämlich nicht zu leben. Im Gegenteil. Wir lernen, uns suchtzerfressen an die Tabletten zu halten,<br />
auf die Post, auf das Essen, auf den Hofgang, auf die Kommandos zu warten. In der Freiheit bleibt<br />
mir nur der Straßenstrich. Für Bauch und Kiff reicht das schon."<br />
Als Laurence aus der Haftanstalt entlassen wurde, brachte man ihre Zellennachbarin Joelle<br />
gleich für acht Tage in Isolierhaft. Sie hatte es gewagt, eine Wärterin als "unterversorgtes<br />
Arschloch" zu beschimpfen. Andere Häftlinge, wie beispielsweise Chantal, weigerten sich<br />
wiederholt, "ihr Aspirin" einzunehmen. Die Gefängnisleitung hat das Recht, weibliche Häftlinge bis<br />
zu 45 Tage ohne rechtsstaatliche Kontrolle in eine spezielle Abteilung verfrachten zu lassen. Und<br />
Isolierhaft (le mitard) bedeutet in Fleury-Mérogis leere, durchnässte, abgedunkelte Zellen, ohne<br />
Decken, kein Besuch, keine Beschäftigung, kein Spaziergang, kein menschlicher Blickkontakt. -<br />
Essen wird unter der Tür durchgeschoben.<br />
Joelle, 28 Jahre alt, ist wegen ihrer Taschenspielertricks hierher gekommen - immer<br />
wieder, immer länger. Mittlerweile riskiert sie gar schon einem kleinen Rück-blick. "Als ich hier<br />
ankam", erzählt Joelle, "bin ich fast durchgedreht. Ich habe nicht kapiert, was hier vor sich geht.<br />
Ich bin mit acht oder zehn jungen Mädchen zusammengekommen, die sich alle kannten. Ich, so<br />
blöd wie ich war, hatte gedacht, dass sie wegen der gleichen Sache hier sind. Aber sie kannten sich<br />
allesamt aus Fleury-Mérogis. Ich habe erst hier verstanden, was das bedeutet, im Knast zu leben.<br />
Sie waren hochgradig rückfällig. Seit einem Jahr sehe ich sie weggehen und wiederkommen." -<br />
Fleury-Maronis ein Durchlauferhitzer.<br />
Fleury-Mérogis - das größte Frauengefängnis in Europa. Haftrevolten, Ausbrüche,<br />
Geiselnahme überziehen ansonsten die französische Republik vielerorts: in Paris, Nancy,<br />
Dunkerque oder Nimes. Und immer wieder sind Polizeieinheiten oder gar Kompanien der<br />
französischen Armee in Aktion. Nur in Fleury-Mérogis herrscht Fried hofsruhe. Kein Politiker<br />
verliert ein Wort über die Zu- stände im französischen Strafvollzug, mahnt gar Reformen an.<br />
Lediglich die Sprecherin der französischen Grünen, die Ärztin Dominique Voynet (Ministerin für<br />
Umwelt und Naturschutz 1997-2001), mag sich über die Innenausstattung französischer<br />
Gefängnisse erregen. Einzelkämpferin. "Entsetzliche Missstände", schimpft sie. "Die meisten<br />
Frauen in Fleury-Mérogis gehören nämlich nicht in den Knast, sondern ins Krankenhaus , in eine<br />
Langzeittherapie. Nein", fährt sie fort, "Frankreich ist dabei, seine Gefängnisse aus Kostengründen<br />
für Aids-Kranke als Warteschleifen auf dem Wege zum Tod umzufunktionieren."<br />
2 92
MONSIEUR MAIGRET IST EINE FRAU IN PARIS<br />
Frankreich verfügt über die meisten Sicherheitskräfte in Europa. Doch<br />
Polizistinnen wie Polizisten haben das Gefühl, von der Bevölkerung verachtet zu werden.<br />
Pistole in der Tasche - Stimmung auf Halbmast, Übergriffe auf Revieren, hohe<br />
Selbstmord- und Scheidungsraten, schlechte Moral, schlechte Arbeitsbedingungen,<br />
schlechte Bezahlung - Überstunden. Jeder zweite Franzose hält die "femmes-flics nicht für<br />
richtige Frauen.<br />
Frankfurter Rundschau 7. September 1996<br />
Im Untergeschoss, einem früheren Kohlenkeller, befinden sich die Privatquartiere des<br />
Polizei-Reviers von Montbéliard: einem 35.000 Einwohner zählenden Städtchens nahe der<br />
Schweizer Grenze, etwa 80 Kilometer von Basel entfernt. Das Souterrain, auch "U-Boot" genannt,<br />
ist sehr gut besucht von den 170 Ordnungshütern und zehn Polizistinnen, die hier täglich ihrem<br />
Dienst nachgehen. Fensterlos reihen sich Kantine neben Umkleideraum aneinander.<br />
Wie vielerorts in Frankreich wagt es auch in Montbéliard kein Ordnungshüter mehr, seine<br />
Uniform außer der Dienstzeit - etwa auf dem Heimweg - zu tragen. Der Polizeistatus schützt die<br />
Beamten keineswegs vor Aggressionen. Folglich herrscht vor den Spinden auf kleinstem Raum<br />
Hochbetrieb. Hauptwachtmeisterin Simone Cuvelier, 32, sagt: "Wir haben schon recht lange das<br />
Gefühl, bei der Bevölkerung unbeliebt zu sein und von staatlichen Institutionen verachtet zu<br />
werden." Ganz nach dem Überlebensmuster, Pistole in der Tasche, Stimmung auf Halbmast,<br />
versucht jeder, schnell in eine beliebtere, zivile Rolle zu schlüpfen - "nur raus aus den Polizei-<br />
Klamotten".<br />
Dafür sind um den großen Tisch in der Kantine die Sandwiches üppig, da das Essen hier<br />
sehr preiswert ist. Muss doch ein junger Polizist monatlich mit circa 1.230 Euro auskommen.<br />
Gebrutzelt wird hier rund um die Uhr. Koch Laurent, ein Muskelprotz mit Schürze, unterhält sich<br />
mit seiner Kollegin Hauptkommissarin Marie-Julia Aranda über die französischen Geiseln, die in<br />
Algerien entführt worden sind. "Wenn sie ermordet wären", erklärt der Küchenchef, "hätten wir<br />
zum Maschinengewehr gegriffen und wären auf die in Barbès losgesprungen." (Barbès ist ein<br />
Ausländerviertel in Paris und gilt als Synonym für Überfremdung.) Kommissarin Maria-Julia<br />
erwidert kühl: "Wenn alle gescheitert sind, die Politiker, die Arbeitgeber, die Erzieher, die Eltern,<br />
dann bricht alles auf uns ein." Und sie fragt: "Aber was können wir eigentlich tun gegenüber<br />
diesem Scheißhaufen an Elend?<br />
Mit der Maschinenpistole herumzufuchteln, das ist keine Lösung. Doch<br />
Sozialarbeiterinnen sind wir schließlich auch nicht." Kollegin Jacqueline, die zuhört, erhärtet die<br />
Identitätskrise der französischen Polizei. Sie bemerkt: "In einer zunehmend regelloseren<br />
Gesellschaft werden wir als Ordnungskräfte für nahezu alles verantwortlich gemacht, und unser<br />
Ruf rutscht in den Keller. Dabei ist die Situation so erstarrt, dass es keinen Sinn macht, Fleiß oder<br />
sogar Verständnis zu zeigen. Vorbeugung, Abschreckung durch Anwesenheit. Dass ich nicht lache.<br />
Angst haben wir."<br />
Unerwartet, geradezu über Nacht, erfahren alte Fragen des Polizisten-Selbstverständnisses<br />
in Montbéliard und anderswo in der französischen Republik eine verschärfte Aktualität - auch als<br />
"Polizei-Krise" gebrandmarkt. Ob Jacqueline Simone oder Marie-Julia - gemeinsam mit 15.000<br />
Kollegen machten sie sich in Sonderzügen zur Demonstration gen Paris auf. Auf ihren<br />
293
Transparenten stand geschrieben: "Schlechte Moral, schlechte Arbeitsbedingungen, schlechte<br />
Bezahlung - wir haben es satt" (Pas le moral, de mauvaises conditions de travail, mal payés; on en a<br />
marre). Tatsächlich steigen in kaum einem anderen Beruf so viele junge Männer und Frauen bereits<br />
während der Ausbildung wieder aus, drücken Krankheit, Tod und vorzeitige Aufgabe das<br />
"durchschnittliche Dienstaustrittsalter" auf knapp 55 Jahre. In kaum einem anderen Beruf lassen<br />
sich die Menschen so häufig von ihrem Ehepartner scheiden. Kein anderer Beruf hat ein so<br />
negatives Image wie der der "flics" (Polizei).<br />
Da prügeln in den Kommissariaten um Marseille Beamte Nordafrikaner schon mal<br />
krankenhausreif. Da verabreden sich Polizeioffiziere zu bewaffneten Raubzügen in der Innenstadt<br />
von Lyon. Da vergewaltigen Staatsbeamte Frauen sozusagen bei Verhören auf ihren Dienststellen<br />
in Paris oder Toulouse. Das sind gerichtskundige Alltagsschilderungen illegaler Polizeigewalt im<br />
Nachbarland Frankreich Mitte der neunziger Jahre.<br />
Zudem - in keinem anderen Beruf gibt es eine derartige Selbstmordgefährdung wie in dem<br />
des französischen Gendarmen. Laut offizieller Statistik des Waisenamtes der Polizei tötet sich in<br />
Frankreich alle neun Tage ein Uniformierter von eigener Hand. Neunzig Prozent der Beamten<br />
benutzten zum Selbstmord ihre Dienstpistole der Marke Nanurhin. Auffallend ist, dass es fast<br />
ausschließlich Männer sind, die den Freitod wählen.<br />
Die Pariser Soziologin Frédérique Mezza-Bellet nennt in einer internen<br />
Suiziduntersuchung für das Innenministerium drei Gründe, warum immer mehr Polizisten<br />
Selbstmord begehen. Sie schreibt: "Die Arbeitsbedingungen sind dürftig. Sie ermöglichen kein<br />
stabiles Familienleben mehr. Aus der hohe Scheidungsquote resultieren extreme Überschuldungen.<br />
Vornehmlich bei Männern sind geistige Verschleißerscheinungen zu konstatieren, die zum finalen<br />
Todesschuss gegen sich selbst führen. Ständig dasselbe Elend oder dieselben tristen Zustände vor<br />
Augen zu haben, einen Alltag zwischen schnell wechselnder Angst und Routine, Gefahr und<br />
Langeweile zu erleben - das greift letztendlich die psychische Konstitution an, schiebt gefühlsarme<br />
Reaktionen oder auch Selbstwerterlebnisse beiseite. In Wirklichkeit kann die Erinnerung an den<br />
mitverursachten gewaltsamen Tod eines Bürgers nur halbwegs unterdrückt, tatsächlich aber nie<br />
vergessen werden."<br />
Dabei sind Frankreichs Politiker in ihrer Selbstdarstellung prestigebewusst darauf bedacht,<br />
die innere Sicherheit zu einem prosperierenden Eckpfeiler französischer Politik ausgebaut zu<br />
haben. Tatsächlich verfügt die französische Republik pro Einwohner über die meisten<br />
Sicherheitskräfte in Europa. Die "Police National" kann auf 126.163 Beamter, die dem<br />
Verteidigungsministerium unterstehen, "Gendarmerie National" auf 80.000 Polizisten<br />
zurückgreifen. Hinzu kommen nach weitere 80.000 Hilfssheriffs privater Sicherheits-dienste. Allein<br />
in der Hauptstadt Paris sind ständig 20.000 Polizeibeamte im Einsatz. Und für besondere delikate<br />
Konflikte - Raub, Geiselnahme, Bombenanschläge, Demonstrationen - stehen die 16.000 auf<br />
Straßenkampf trainierten Polizisten der "Compagnies républicaines de sécurité" (CRS) in über<br />
sechzig Einheiten - übers Land verteilt - bereit.<br />
Für die Verbrechensbekämpfung vor Ort sowie für die Ausstattung der Polizei gibt der<br />
Staat von 1995 bis 1999 insgesamt etwa 3,05 Milliarden Euro aus. Mit weiteren 380.000 Euro sollen<br />
zudem viertausend neue Hilfspolizisten bezahlt werden.<br />
Nur Frauen als Polizistinnen, noch dazu in Führungsetagen - die waren in Frankreich bis<br />
1975 gar nicht vorgesehen. Bestätigte doch eine eigens in Auftrag gegebene Untersuchung der<br />
2 94
französischen Regierung zudem, "dass die Polizisten-Funktionen mit dem Frausein unvereinbar<br />
ist."<br />
Szenenwechsel - zwei Jahrzehnte später. Im Zimmer 315 am Quai des Orfèvres - dem Sitz<br />
der Brigade Criminelle - liegt im Schrank die Ausrüstung für eine Polizistin in diesen Tagen: Jeans,<br />
Jacke, Pistole, Funkgerät, Hand-schellen, Sportschuhe. Am Schreibtisch sitzt im kurzen Rock mit<br />
eleganter Bluse eine Frau, die im Jahre 1989 den härtesten Job der Hauptstadt-Gendarmen bekam.<br />
Seither ist die 46jährige Martine Monteil die Vorgesetzte von 110 Beamten. Zum ersten Mal in der<br />
französischen Kripo-Geschichte wurde eine Frau Chefin der Pariser Sittenpolizei und des<br />
Rauschgiftdezernats.<br />
Auf dem Montmartre hat Martine Monteil es mit korsischen Zuhältern zu tun, mit<br />
Straßenmädchen am Place Pigalle, mit brasilianischen Transvestiten im Bois de Boulogne und mit<br />
verdeckter Kinderprostitution am Gare de Lyon. Wenn Martine Monteil von aufgeregten<br />
Menschen in ihrem Büro aufgesucht wird, lautet die angsterfüllte Frage meist: "Pardon Madame,<br />
wo ist eigentlich der Kommissar?" An die tausend Mal hat die Karriere-Polizistin gelangweilt<br />
geantwortet: "Monsieur Maigret ist nun mal eine Frau in Paris. Und die bin ich!"<br />
Erste Hinweise auf eine feminine Berufsauffassung und auch auf qualitative<br />
Veränderungen in der Polizeiarbeit lieferte Martine Monteil schon als junge Kommissarin im 17.<br />
Arrondissement, dem undurchsichtigen Liebes-viertel unterhalb des Monmartre. Ein Serbe hatte<br />
drei Frauen vergewaltigt und erwürgt - immer in einer Tiefgarage. Nur die zweifelsfreien Beweise,<br />
um den Mann zu überführen, reichten nicht. Eine Nacht hat Martine Monteil dann mit dem Täter<br />
geredet, ihn systematisch verhört, ohne Notizblock und Aktenordner, ihm alle Einzelheiten<br />
beharrlich immer wieder vorgehalten - bis er mürbe wurde. Er gestand.<br />
Ihr antiker Schreibtisch in der fünften Etage des Polizei-Hauptquartiers ist nahezu leer.<br />
"Akten brauche ich nicht, ich weiß die Einzelheiten auch so, schließlich habe ich Jura studiert und<br />
Examen gemacht. Da wird das Gedächtnis durchtrainiert", strahlt sie siegesgewiss.<br />
Madame Martine zählte zum zweiten Frauen-Jahrgang auf der Polizeischule in Saint-Cyrau<br />
Mont d'Or, die seit 1975 auch Polizistinnen ausbildet. Es ist eine Frauen-Generation, die in<br />
Frankreich erst ganz allmählich, dann aber immer deutlicher Ermittlungsmaßstäbe verschob -hin<br />
zur kriminalistischen Frauen Wahrnehmung Ihre einstige Mitschülerin Mireille Ballestrazzi leitet<br />
heute das Kripo-Regionalbüro im korsischen Ajaccio, und Danielle Thièry sorgt sich um die<br />
Flugsicherheit bei der Air France. Als diese drei Frauen noch die Schulbank drückten, da haben sie<br />
sich auf eine weibliche Ausgangsposition verständigt, die es nunmehr im Polizieialltag umzusetzen<br />
gilt. "Wenn wir dort draußen irgendwo im Einsatz sind, wird es einen neuen Röntgenblick geben.<br />
Wir werden Vergewaltiger durch die ganze Republik jagen und erst mit einem Geständnis Ruhe<br />
geben."<br />
Nur so ist es mittlerweile zu erklären, warum in Frank-reich die zu Protokoll gegebenen<br />
Vergewaltigungsfälle um zwölf Prozent gestiegen sind. Madame Martine bedeutet:"Durch die<br />
erstarkte Frauen-Präsenz in unseren Straßen trauen sich immer mehr Vergewaltigungsopfer, das<br />
Verbrechen zu benennen und Strafanzeige zu erstatten. Wir haben auch unseren Polizistinnen das<br />
Bewusstsein geschärft: Achtet auf diese Männer, auf ihre Bewegungen, auf ihre Blicke."<br />
Mittlerweile verfügt Frankreich über 31.000 Polizistinnen. Das entspricht einer Quote von<br />
15 Prozent. (In Deutschland beträgt der Frauenanteil circa sieben Prozent).<br />
295
"Die Polizistinnen sind natürlich keine Wundertiere", urteilt Michel Richardot, Direktor<br />
der Staatlichen Hochschule für Polizei in Saint-Cyr am Mont d'Or. "Aber sie haben unsere Arbeit<br />
qualitativ erheblich verbessert in diesen sozial zerrissenen Zeiten. Sie sind scharfsinnig, nicht so<br />
draufgängerisch, eben rechts-staatlicher als Männer. Keine Polizistin ist in einem der berüchtigten<br />
Gewaltskandale verwickelt. Frauen in Uniform können nachweislich vor allem eines - den<br />
öffentlichen Frieden in Polizei-Revieren oder auch im Stadtviertel wieder herstellen."<br />
2 96
ARMUT IN FRANKREICH - FREIER FALL INS ELEND<br />
Die Konjunktur läuft, aber gleichzeitig steigt die Arbeitslosigkeit. Menschen<br />
bleiben draußen vor der Tür. Über 2,5 Millionen Französinnen leben von Sozialhilfe, eine<br />
halbe Millionen ziehen obdachlos durchs Land - jeder vierte Jugendliche bleibt ohne Job.<br />
In ehemals reichen Bergarbeiterdörfer - wie hier in Le Chambon Feugerolles in der Loire -<br />
oder in vielen banlieues großer Metropolen prägt und bestimmt nur noch die halbwegs<br />
versteckte Not ihren Alltag. Schriller Überlebenskampf. "Wir Frauen schämen uns hier in<br />
Frankreich noch, wenn uns die Armut erwischt. Das ist nicht normal", sagt die 48-jährige<br />
Annie Bonnard .<br />
Neue Osnabrücker Zeitung 29. Februar 1996<br />
Nur ein schmaler, gewundener Dienstbotenaufgang führt auf den Dachboden eines<br />
verwinkelten Apartementhauses in der Rue Salengro im Loire-Städtchen Le Chambon Feugerolles<br />
in der Nähe von St. Etienne. Hinter einer antiken Holztür ohne Namensschild versteckt sich die<br />
Armut dieser Region - Frauen-Armut. Die 48jährige Annie Bonnard kommt seit neun Jahren<br />
nahezu täglich zum "Colletif Chômeurs", zur Bürgerinitiative der Arbeitslosen in diesem ehemals<br />
reichen Bergarbeiter-Ort.<br />
"Einfach deshalb", wie sie knapp bemerkt, "um die krankmachende Isolation zu<br />
durchbrechen und ein bisschen Not mit den kostenlosen Fresspaketen der "restaurants du coeur"<br />
zu lindern. Wir Frauen verstecken und schämen uns hier in Frankreich immer noch, wenn uns die<br />
Armut erwischt hat. Das ist doch nicht normal. Schließlich sind wir in der Mehrheit", fügt sie<br />
trotzig hinzu.<br />
Immerhin können die Frauen vom "Collectif Chômeurs" sechs Nähmaschinen und drei<br />
Bügeleisen ihr eigen nennen. Geschneidert wird wochentags in drei Gruppen zur<br />
"Wiedereingliederung", wie es offiziell bedeutungsvoll heißt. Tatsächlich geht es den Frauen darum,<br />
für sich und ihre Kinder wenigstens halbwegs tragbare Klamotten zu nähen. "Sonst bliebe uns ja<br />
nichts", murmelt Annie irgendwie rechtfertigend.<br />
Annie Bonnard ist keineswegs verbittert. Aber viel über Einzelschicksale zu reden, eine<br />
sogenannte Betroffenheits-Mimik wachzurütteln - das hat sie längst aufgegeben. Derlei Szenarien<br />
öden sie an. Madame Annie deutet kurz auf ihren leicht gespreizten Mittelfinger der rechten Hand.<br />
Jedenfalls will Annie das oft zerkratzte Innenleben jener in Not geratenen Frauen in der<br />
Öffentlichkeit nicht breitgetreten wissen - nicht mehr.<br />
Dabei läuft nichts mehr - so gar nichts mehr - in Le Chambon Feugerolles. An die 55<br />
Prozent der Einwohner und jede zweite Frau lebt ohne Broterwerb. Viele handwerkliche<br />
Kleinbetriebe haben geschlossen, die einst einträglichen Bergwerke liegen brach, Häuser des<br />
sozialen Wohnungsbaus stehen leer, Läden verfallen, etliche Bars und Hotels machten stickum<br />
dicht. Das jährliche Pro-Kopf-Einkommen beträgt durchschnittlich nur noch 4.150 Euro während<br />
es sich etwa im Ring um Lyon noch auf etwa 21.400 Euro beläuft. Und Steuern nimmt die<br />
Kommune lediglich ganze 280 Euro je Einwohner im Jahr ein. Minusrekorde der Republik,<br />
Armutszahlen.<br />
"Die Kinder dieser Stadt", flüstert die Sozialarbeiterin Véronique Rullière hinter<br />
vorgehaltener Hand, "lernen hier vieles kennen - Hunger, Alkohol, Cannabis, Prostitution,<br />
Schulden. Das alles spielt sich mehr oder weniger auf den hundert Metern zwischen Jugendhaus<br />
297
und Supermarkt ab, der Kleinstadt-Meile. Nur arbeitende Eltern, die haben die Jugendlichen noch<br />
nie erleben dürfen." Dafür aber unisono ein nachhaltig prägendes Erwachsenen-Milieu, das der<br />
rechtsradikalen Front National mit über einem Drittel aller Wählerstimmen in Le Chambon<br />
Feugerolles ihr Vertrauen gab.<br />
An die 800.000 Schul- und Universitätsabgänger, beinahe 24 Prozent der Altersgruppe bis<br />
zu 25 Jahre, sind in Frankreich ohne Beschäftigung. Jeder vierte Jugendliche ist ohne Stelle - das<br />
sind drei Mal so viele wie in Deutschland. Und die Benachteiligung verdoppelt sich zudem noch für<br />
junge Mädchen und Frauen. Nicht nur, dass sie bei gleicher Qualifikation nach wie vor um ein<br />
Drittel weniger als Männer verdienen. Ihre Arbeitslosenquote macht immerhin über 14 Prozent aus<br />
- und das seit Jahren (Männer 12,2 Prozent).<br />
Ob allein stehende ältere Frauen, die das Rentenalter noch nicht erreicht haben, ob<br />
kinderreiche Mütter oder auch junge Mädchen, die von zu Hause fortgegangen sind - ihre<br />
Endstation heißt Arbeitslosigkeit, ohne An spruch auf Unterstützung oder gar Hoffnung auf<br />
Einstellung irgendwann und irgendwo bei irgendwem. Wenigstens in dieser Sparte sind die<br />
Französinnen überproportional präsent - und das durchgängig mit etwa 60 Prozent. Denn mit<br />
Sozialhilfe können erst jene kinderlosen Frauen rechnen , so das Gesetz, die das 25. Lebensjahr<br />
vollendet haben.<br />
2 98<br />
Bis an die 300.000 Jugendliche, so schätzt der Regierungsbeauftragte für gesellschaftliche<br />
Wiedereingliederung, Roland Morceau, vagabundieren durch die Republik, ziehen verarmt<br />
und hungernd der Sonne und dem Festspielkalender hinterher. Karitative Vereinigungen<br />
veranschlagen die Zahl der Zugvögel, die in ihrer Gesellschaft keine Perspektive finden, auf das<br />
Dreifache.<br />
Im Wahlkampf erklärte Präsidenten-Kandidat Jacques Chirac ( 1995-2007) samt seinem<br />
Gefolge als gaullistischer Erneuerer der Nation zumindest rhetorisch der Arbeitslosigkeit und dem<br />
gesellschaftlichen Ausschluss "den Krieg". Erst wenige Monate an der Macht, verhängten sie über<br />
südfranzösische Touristen-Metropolen ein "Bettelverbot". Seither werden nicht nur die<br />
Lebensmittelabteilungen der Supermärkte durch Video-Kameras rund um die Uhr wie Banken<br />
überwacht. Auf den Parkplätzen spüren Ordnungsdienste mit abgerichteten scharfen Maulkorb-<br />
Wachhunden auf Bordsteinen kauernde Habenichtse auf.<br />
"Armut", empörte sich die Pariser Liga für Menschen- rechte, "ist unter Chirac öffentlich<br />
zur Schande erklärt worden". Die Tageszeitung "Le Monde" machte gar landesweit "eine<br />
armenfeindliche Stimmung" aus, die gar im "Schatten des Rassismus noch verschlimmert" werde.<br />
An diesem Nachmittag bei den mittellosen Frauen von Le Chambon Feugerolles schaut<br />
Annie mit ihrer Kollegin Céline verstohlen stundenlang aus dem Fenster im ersten Stock der<br />
Vorratskammer ihrer Bürgerinitiative. Als Armen-Auffangsbecken fühlen sich die etwa zwanzig<br />
Frauen um Annie gleichsam für die vom französischen Komiker Coluche im Jahre 1985 gegrün-<br />
dete Wohlfahrtsorganisation "resto du coeur" (Armen-Essen) verantwortlich.<br />
Allein in ihrem Loire-Städtchen konnten sie im vergangenen Winter 918.460 Essen<br />
kostenlos - insgesamt 292 Tonnen Lebensmittel - ausgeben. Und das in einem Örtchen, aus dem<br />
ein Drittel der Bewohner irgendwie schon weggelaufen ist. Mit anderen Worten: Etwa 16.000<br />
Bürger durften sich im Winter durchschnittlich zwei Monate lang einmal wöchentlich bei den<br />
"Resto-Frauen" satt essen. Madame Annie strahlt, zeichnet sie doch eingegangene Spenden ab.<br />
Hinter den Frauen stehen auf dem Tisch Lebensmittel-Kisten voller Camembert-Käse, Hamburger,
Kaffee, Marmelade, ganz 658 Liter Speiseöl und sogar sechs Dutzende Sardinen-Dosen, die<br />
Verwalterin Annie schon in den Herbsttagen in verschließ- bare Regale oder Kühltruhen<br />
einzuräumen hat - als "stille Reserve" für hungernde Mitbürger in harten Wintertagen sozusagen.<br />
An diesem Nachmittag verlieren sich die Blicke der beiden immer wieder im Weitwinkel-<br />
Panorama der gegenüberliegenden Straßenseite. - Dort, wo Wohnungslose, Bettler und neuerdings<br />
auffallend häufiger Frauen in Kellerabgängen oder auf schmutzüberzogenen Rinnsteinen dösend<br />
auf irgendeine x-beliebige 2-Euro-Brothappen samt Rotwein-Schlückchen warten.<br />
Die Ausgeschlossenen von Le Chambon Feugerolles sitzen unfreiwillig Kulisse für eine<br />
bizarre, schon Kino reife Wirklichkeit, die so manche überzeichneten Karikaturen längst zu<br />
übertreffen vermag. Sie hocken vor einem wandhohen Katzen-Plakat. "Können die Katzen wählen,<br />
so würden sie Whiskas kaufen" (Si les chats pouvaient choisir, ils achèteraient Whiskas), lautet jene<br />
großflächtige Werbebotschaft an diesem bebilderten Plakatgemäuer auf dem Boulevard de Gaulle.<br />
Und Annie Bonnard fragt: "Nur Katzen, nur für die? - Nein, ich habe es erlebt. So manche alte<br />
Frau ernährt sich heimlich von Kitekat. Schon Whiskas ist zu teuer."<br />
Vielleicht deshalb weiß Annie Bonnard als betroffene Zeitchronistin der<br />
Ausgeschlossenen ("Les exclus") dieser Epoche aus Le Chambon Feugerolles zu berichten: "Wer<br />
wie ich lange genug aus dem Fenster starrt, auf der Suche nach Gesichtern und Gestalten, die ich<br />
seit Jahren beobachtet habe, der ist unweigerlich ein Zeuge des Übergangs dieser Stadt zum<br />
Armenhaus der reichen französischen Republik. Und wir Frauen werden die Verliererinnen sein.<br />
Dieses Land hat seine Balance verloren. Eindeutig."<br />
Seit zehn Jahren ist Madame Annie ohne feste Anstellung. Als Näherin hatte sie sich in<br />
einer Textilfabrik ihren Lebensunterhalt verdient. Das Unternehmen machte pleite. Ihr Mann<br />
Jacques ließ sie mit drei Töchtern allein zurück. Erst gab es für sie den Alleinerziehenden-Zuschuss<br />
des Staates in Höhe von 840 Euro monatlich - und das zehn Jahre lang.<br />
Seit 1989 lebt Annie mit ihren Töchtern von der Sozialhilfe, in Frankreich kurz RMI -<br />
Revenu minimun d'insertion -genannt. Ganze 670 Euro bekommt sie monatlich für vier Personen.<br />
Pro Tag sind es etwa 22 Euro -ein Baguette kostet nahezu ein Euro, manchmal auch ein bisschen<br />
weniger.<br />
Wie Annie richteten sich in Frankreich nach einer Untersuchung des Pariser Centre<br />
d'hébergement et de réadaption (Zentrum für Wiedereingliederung) insge- samt 2.5 Millionen<br />
Frauen auf ein Leben mit dem staatlich genehmigten Existenzminimum ein - derzeit 380 Euro.<br />
Immerhin: Zwölf Millionen der insgesamt 57 Millionen Französinnen und Franzosen<br />
hängen in irgendeiner Form von staatlichen Überlebenszuschüssen (Mindestrente,<br />
Mindesteinkommen, Arbeitslosengeld, Sozialhilfe) ab. Fünf Millionen müssen weniger als mit dem<br />
Existenzminimum von derzeit 380 Euro auskommen. Vom Arbeitsplatzverlust bis zur letzten<br />
Existenzsicherung - der Sozialhilfe -dauert es im Durchschnitt kaum länger als zwei Jahre. Über 3,3<br />
Millionen Menschen sind auf der Suche nach dauerhaften Jobs. Über 2,4 Millionen Arbeitsplätze<br />
subventioniert der französische Staat aus seinem Budget. Über eine halbe Millionen Frauen ziehen<br />
in ihrer Eigenschaft als SDF "Sans domicile fixe" (ohne festen Wohnsitz) von Flussbrücke zu<br />
Flussbrücke; etwa von der Seine, über die Saône und Rhône bis zur Loire. Die einst kulissenreife<br />
Clochard-Romantik wird in Frankreich zwar immer noch weinbeseelt besungen - allerdings längst<br />
nicht mehr an den sperrigen Schauplätzen, sondern nostalgisch verklärt an den Kino-Bars der<br />
Filmpaläste des Bürgertums.<br />
299
Der Überlebenskampf vieler Familien findet seit eh und je unter Ausschluss der<br />
Öffentlichkeit statt. Region Rhône-Alpes, Hauptstadt Lyon, Boulevard des Brotteaux. Auf dem<br />
Schreibtisch der 48jährigen Madame Noelle Boyer-Zeller von der Fédération syndicale des familles<br />
monoparentales (Interessenverband alleinerziehender Frauen) liegen die neuesten statistischen<br />
Erhebungen. Allein im vergangenen Jahr sind die Stromsperrungen wegen Nichtbezahlung um fünf<br />
Prozent, die Kündigung allein erziehender Frauen um neun Prozent gestiegen. Und ein Drittel der<br />
in den achtziger Jahren geschlossenen Ehen sind schon wieder getrennt. Über zwei Millionen<br />
Jugendliche unter 25 Jahren - jeder zehnte - lebt in Frankreich nur noch bei einem Elternteil, zu<br />
über 80 Prozent bei den allein erziehenden Müttern.<br />
Was soviel heißt: Jahrelange Hochkonjunktur für die umsichtige Madame Noelle und<br />
ihren Verband. "Ja, ja", sagt sie, "es stimmt schon, dass die wirtschaftliche Maschine wieder läuft.<br />
Nur wer einmal durchs Raster gefallen ist, der bleibt chancenlos draußen. Und das sind zuerst<br />
Frauen mit Kindern." Düster schaut Madame in die Zukunft. Nach einem Bericht der Genfer<br />
Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) wird in Frankreich die Arbeitslosenquote im Jahr 2000<br />
auf 14 Prozent steigen (1995: 12,2 Prozent). "Aber immerhin", sagt Madame. "hat unsere Post im<br />
vergangenen Jahr schon en Sparbuch für Obdachlose geschaffen. Das ist doch auch schon was."<br />
3 00
KEINE ZEIT FÜR WUT UND TRÄNEN<br />
In einem Pariser Restaurant feierte sie mit ihrem Mann Hochzeitstag, als die<br />
Bombe explodierte und ihre Beine zertrümmerte. Im Klima von Terror und<br />
Bürgerkriegsneurosen boxte sie mit ihrer Selbsthilfegruppe S.O.S.-Attentats<br />
Entschädigungsgesetze durch. Das Leben der Françoise Rudetzki oder die Geschichte<br />
einer ungewöhnlichen Frau.<br />
Tagesspiegel, Berlin vom 25. Februar 1996<br />
Auf den ersten Blick sieht das alte Backsteinareal am Invalidendom erdrückend andächtig<br />
aus. Nicht nur die Militärhistorie aller Schlachten dieser Republik bis 1945 fand ihre ausgesucht<br />
verschnörkelte Heimstatt. Ihr Innenraum beherbergt schließlich das Nationaldenkmal der<br />
Franzosen - die Grabstätte Napoléons samt anderer berühmter Kriegshelden. Schweigeminuten,<br />
gemächliche Schritte meist soldatischer Männer-Gangarten tagaus, tagein.<br />
Wenn da auf dem "Corridor de Metz" unter den Arkaden nicht neuerdings eine Frau ihre<br />
Büroräume bezogen hätte, die noch dazu keiner der männlichen Erwartungshaltungen zu<br />
entsprechen vermag. Françoise Rudetzki gehört zu den behinderten Frauen der französischen<br />
Republik, die als zusammengeflicktes Terroropfer daher- kommen. Flink humpelt die 48jährige<br />
Juristin und frühere Boutiquenbesitzerin mit ihrem Krückstock des Weges, ehe sie ihr<br />
Arbeitszimmer erreicht. Die Gründerin von S.O.S.-Attentats, einer Selbsthilfeorganisation "von<br />
Opfern für Opfer" von Terroranschlägen, verkörpert die Gewalt moderner Kriegsführung.<br />
"Auch Terrorexplosionen in den Innenstädten sind Varianten eines Krieges, wenn auch<br />
meist mit subversiven Mitteln", so Françoise Rudetzki. "Insofern hat es schon eine innere Logik,<br />
dass ich hier bei den Kriegsversehrten im Verteidigungsministerium der Republik sitze." Und das in<br />
Frankreich, einer jahrhundertalten ausrangierten Kolonialmacht, die sich in den letzten Jahrzehnten<br />
unfreiwillig zu einer Hauptzielscheibe des internationalen Dritte-Welt-Terrorismus wie der<br />
algerische fundamentalistische Islamistische Heilsfront (FIS) entwickelt hat. Wollen jene<br />
nordafrikanischen Terroristen mit fortwährenden Anschlägen die französische Politik doch<br />
geradezu zwingen, dem westlich eingestellten algerischen Regime die politische und materielle<br />
Unterstützung zu entziehen.<br />
Wohl in keinem anderen Land der westlichen Welt hat der Terror so rasant zugenommen<br />
und zu verständlichen Bürgerkriegsneurosen bei Französinnen und Franzosen geführt. Allein auf<br />
Korsika - dem französischen Nordirland - wurden im vergangenen Jahr 37 Menschen ermordet.<br />
Zudem notierten die Verwaltungen insgesamt 602 Bombenanschläge, die weit über 50 Millionen<br />
Euro Sachschäden verursachten. Seit dem Jahre 1990 explodierten exakt 3.103 Sprengsätze.<br />
"Symbole der Kolonialmacht" wie das Finanzamt von Bastia wurden in Schutt und Asche gelegt.<br />
La France im Spätsommer 1995 - eine Nation gerät in Panik. Ob in Paris, Lyon, Marseille<br />
oder auch Bordeaux - überall gibt es wahllose, furchterregende Bombenalarme, 1.374 an der Zahl.<br />
Acht Terroranschläge, teils in der Pariser Metro, teils auf verkehrsreichen Boulevards, sind bereits<br />
verübt worden. Bilanz: sieben Tote und 160 (teils Schwer-) Verletzte.<br />
Niemals zuvor dominierten derart viele Uniformen die von Touristen bevölkerten<br />
Straßenbilder. 32.000 zusätzliche Polizisten, etwa dreitausend Soldaten, an die neun- tausend<br />
Zöllner überwachten Flughäfen wie Bahnhöfe, Grenzen, Kernkraftwerke oder Museen,<br />
Parkverbote vor Schulen und anderen "exponierten Gebäuden". Sperrgitter von Paris bis hinein in<br />
301
die ab gelegensten bretonischen Orte sollten verhindern, dass Autos vor den Schulen parken:<br />
Außer dem Lehrpersonal durfte ohne- hin kein Erwachsener mehr das Schulgelände betreten. In<br />
Paris sind zirka 7.000 Abfalleimer zugeschraubt oder gleich ganz entfernt worden, damit sie nicht<br />
etwa als potenzielles Bombenversteck herhalten können. Letztlich wurde praktisch jeder im Land<br />
von einem "gespenstischen Klima des Terrors", so die konservative Tageszeitung "Le Figaro",<br />
erfasst, ganz gleich, ob er nun einkaufen geht und seine Tasche durchsuchen lassen muss, ob er mit<br />
der Metro fährt und sein Blick unweigerlich kurz unter den Sitz schweift, ob er einen Bogen um die<br />
Telefonzellen und Mülltonnen schlägt, auch jede herumstehende Plastiktüte gilt es fortwährend<br />
misstrauisch zu beäugen. "Paris hat Angst", titelte das Boulevard-Blatt "Le Parisien". Und der<br />
gaullistische Premierminister Alain Juppé (1995-1997 ) antwortete beruhigend: "Frankreich wird<br />
nicht kapitulieren."<br />
Für Experten hingegen waren jene Attentatsserien lediglich Neuauflage von diversen<br />
politisch motivierten Terror-Aktionen mit unterschiedlichen Absichten: Paris eine Kapitale des<br />
Stellvertreterkrieges zwischen Nord und Süd, Arm und Reich, Kirchen und Moscheen. Zum ersten<br />
Mal wurde Paris in den Algerienwirren 1960 bis 1961 von gezielten Terrordetonationen erschüttert.<br />
Vor zehn Jahren versuchte der Iran mit terroristischen Mitteln auf die Nah- und Mittelostpolitik<br />
Frankreichs Einfluss zu nehmen. Seit dem Jahr 1987 hat es in Frankreich 297 Terroranschläge<br />
gegeben. In dieser Zeit wurde S.O.S.-Attentats geboren. Diese Vereinigung von 2.220<br />
Terroropfern, die die Gesetzgebung und damit die Entschädigungen in Frankreich noch<br />
maßgeblich verändern sollte, ist nicht etwa eine Schöpfung des Roten Kreuzes, auch nicht der<br />
Behörden, sondern das Werk einer damals von der Bombenwucht schwer verletzten 38 jährigen<br />
Einzelgängerin.<br />
Am 23. Dezember 1983 saß Françoise Rudetzki mit ihrem Mann im Pariser Restaurant<br />
"Le Grand Vélour". Beide hatten sich vorgenommen, zu ihrem zehnten Hochzeitstag festlich zu<br />
dinieren. Aber draußen explodierte eine Bombe, und eine durch den Raum fliegende Metalltür<br />
zertrümmerte ihr beide Beine. Sieben Wochen lag Françoise in Lebensgefahr, zehn Jahre blieb sie<br />
an den Rollstuhl gefesselt. Erst ganz allmählich gehorcht das rechte Bein dem Gehirn. Das linke<br />
nicht: Françoise schiebt es mit einer Vierteldrehung der Hüfte nach vorn. Sie sitzt jetzt nicht mehr<br />
im Rollstuhl. Sie steht und bewegt sich auf Krücken. Insgesamt 41 chirurgische Eingriffe hat sie<br />
seit der Explosion vor dem Restaurant über sich ergehen lassen müssen: über ein Jahr bleibt das<br />
Krankenhausbett ihre Hauptstütze, hat sie immer wieder eine Serie von Vollnarkosen auszuhalten.<br />
Die Ärzte meinten: "Beim nächsten Mal können wir nur eine örtliche Betäubung vornehmen. Sie<br />
müssen halt die Zähne zusammenbeißen." Françoise hat ihre Zähne heftig zusammengebissen:<br />
"Manche schöpfen ihre Lebenskraft im religiösen Glauben. Aber ich habe keinen. Ich hole mir<br />
meine Energie aus dem Leben und aus der Hoffnung, auf eine gerechtere Welt. Dabei hatte sie so<br />
gar keine Zeit, keinen Sinn für Wut und Tränen."<br />
Zwischenzeitlich beobachtete Françoise, wie das beschädigte Restaurant binnen drei<br />
Wochen stattlich repariert worden war. Wie selbstverständlich hatte der Besitzer eine<br />
Versicherungssumme erhalten. Eben einen Betrag, der auch noch ausreichte, um für die<br />
Neueröffnung Werbeanzeigen zu platzieren, Sendeminuten in Funk und Fernsehen zu kaufen. Nur<br />
die Entschädigung von Opfern - die war in Frankreich nicht vorgesehen.<br />
Und Françoise weiß, wovon sie redet. "Sprechen wir", fährt sie fort, "von der jungen<br />
Sekretärin Michèle, einem Opfer in der Pariser RER-Bahn. Trotz ihrer Proteste wurde ihr<br />
blutüberströmter, halbnackter Körper von einem Passanten fotografiert. Das ist strafbar. Nur<br />
3 02
einige Tage später sah sie sich doppelseitig mit ihren Verletzungen voyeuristisch aufgeblättert in<br />
einer Illustrierten wieder. Hilfe, gar einen Rechtsbeistand, hat Michèle bis heute nicht bekommen.<br />
"Sprechen wir vom Betonmischer Albert, an den Beinen seit dem Metro-Attentat schwer<br />
verletzt. Er leidet auch zusätzlich noch an Hörstörungen. Aber Albert darf nach langem<br />
Krankenhausaufenthalt nicht mehr nach Hause. Seine Wohnung in einem Hochhaus wird<br />
unentwegt von Flugzeugen überflogen. Sein Département Val de Marne kann ihm mangels Masse<br />
keine andere Wohnung anbieten. Seiner schwangeren Frau Fabienne kann trotz der drei Millionen<br />
Arbeitslosen keine Haushaltshilfe zur Hand gehen. Ein finanzieller Haushaltszuschuss wird offiziell<br />
nicht gezahlt.<br />
Sprechen wir auch noch vom stets filmreif inszenierten Betroffenheitsgehabe des<br />
Premierministers in seinem Salon Matignon, wenn die Augen auf ihn gerichtet sind. Sonst stapeln<br />
und verstauben dort die Briefe in Säcken von Angehörigen, die um Hilfe bitten, einfach deshalb,<br />
weil sie die Beweisführung des Todes eines Verwandten beim Anschlag zu führen haben. Oder<br />
sprechen wir auch noch kurz von George und Felix. Über einen ganzen Monat lagen sie mit ihren<br />
Knochenbrüchen auf sich allein gestellt in der Orthopädie. Sie haben nicht einmal einen kurzen<br />
Besuch von Psychologen oder Psychiatern zwecks seelischer Hilfestellung bekommen. Keine Zeit<br />
hatten die Ärzte, jagten sie doch sinnigerweise von Pressekonferenz zu Fachkolloquien. Ihr<br />
Hauptthema: "psychologische Betreuung der Kriegsneurosen von Terroropfern im Rampenlicht<br />
der Öffentlichkeit."<br />
Françoise sitzt neuerdings an ihrem Schreibtisch im Arbeitszimmer des weiträumigen<br />
Invalidendoms. Über zehn Jahre diente notgedrungener weise die beengte Privatwohnung im 8.<br />
Pariser Arrondissement als zentrale Anlaufstelle für Attentatsopfer. Sie korrespondierte,<br />
informierte, überzeugte monatelang - und fast immer vergeblich. Keiner mochte die Frau im<br />
Rollstuhl ernst nehmen. Oft in den Abendstunden tütete sie mit ihrem Mann, Handelsdirektor<br />
einer Modegesellschaft, unverdrossen etwa Protestaktionen nach einer Fernsehsendung ein.<br />
Kärrnerarbeit einer Einzelkämpferin.<br />
Als Françoise eines Tages den fehlenden Schadenersatz - somit die längst überfällige<br />
finanzielle Versorgung - für Terroropfer in der Sécurité sociale (BfA - Bundesversicherungsanstalt)<br />
rügte und ein Gesetz forderte, da hatte sie den Nerv ihrer Landsleute freigelegt. "Meine Arbeit wird<br />
fortgesetzt, solange die Not nicht gelindert und kein Ort des Zuhörens, keine psychische Hilfe<br />
geschaffen wird. Wir lehnen die Todesstrafe strikt ab. Wir wollen keine Rache. Aber wir Opfer<br />
werden es nicht zulassen, dass Frankreich dem Staatsterrorismus so schnell nachgibt. Wir sollten<br />
uns schämen", verkündete sie damals in die laufenden Kameras.<br />
Die Republik schrieb das Jahr 1986; in Frankreich herrschte die Atmosphäre des<br />
Bombenterrors. In den darauffolgenden Tagen erreichten Françoise Rudetzki 50 Postsäcke, jeder<br />
einzelne zwanzig Kilo schwer. Und bei Jacques Chirac, seinerzeit Premierminister in Paris, gingen<br />
500.000 Postkarten mit Unterschriften für eine Gesetzesinitiative ein. "Madame, sagen Sie mir bitte<br />
unverzüglich, was ich für S.O.S.-Attentats tun kann. Es wird geschehen", bekundete dieser geübten<br />
Blickes hingebungsvoll.<br />
So und nicht anders setzte Françoise Rudetzki in Frankreich ihren Garantiefonds durch,<br />
der in Hauptzügen dem deutschen Opferentschädigungsgesetz entspricht. Damit ist Frankreich das<br />
einzige Land, das über ein eigenes Gesetz zum Schutz von Terroropfern verfügt. Es besteht im<br />
wesentlichen aus einem speziellen Versicherungsfonds, der den betroffenen Menschen und ihren<br />
Familien sämtliche durch ein Attentat erlittenen Schäden ersetzen soll. Er wird durch einen<br />
303
jährlichen Aufschlag von etwa 76 Cents finanziert, die jeder Franzose pro privatem<br />
Versicherungsbeitrag zahlen muss.<br />
Mittlerweile tritt Françoise Rudetzki mit ihrer Organisation S.O.S.-Attentats als<br />
Nebenklägerin in über 200 gerichtlichen Terrorverfahren des Landes auf. Alle vierzehn Tage steht<br />
S.O.S.-Attentats in den Amtsstuben von Richtern und Staatsanwälten der größten Prozesse. So soll<br />
verhindert werden, dass sich die Justiz wieder zum Faustpfand der Politik machen lässt, aus<br />
Gründen der Zweckmäßigkeit Terroristen in ihre Heimatländer -in die Freiheit - abgeschoben<br />
werden. Systematisch hat Françoise Rudetzki ein Netzwerk aus Rechtsanwälten und Ärzten<br />
geflochten. "Nur unsere Wachsamkeit schützt uns vor Mauscheleien. Irgendwie haben wir in<br />
Frankreich im Laufe der letzten Jahre verdrängt, dass wir doch ein durch und durch verkappt<br />
romantisches Land mit einer ganz gehörigen Portion Machismo sind. Wir müssen im Gericht<br />
Worte der Opfer wieder lauter werden lassen. Terroristen haben kein ausschließliches<br />
Erklärungsmonopol. So vertrackt sind die Zeiten."<br />
Das Telefon klingelt. Am anderen Ende der Leitung erkundigt sich Justizminister Jacques<br />
Toubon (1995-1997) nach ihrem Wohlbefinden. "Wir müssen endlich die juristischen Grenzen in<br />
Europa abschaffen", sagt Francoise ihm an diesem Abend. "Denn ein potenzieller Täter sollte<br />
zwingend in einem Land vor Gericht gestellt werden, in dem er gefasst wird. Die<br />
Auslieferungsverfahren verschleppen Prozesse und dünnen Anklagen aus. Somit gerät<br />
Gerechtigkeit immer noch zum x-beliebigen Spielball europäischer Interessenpolitik. Dieses muss<br />
ein Ende haben. Warum entkommen die Terroristen der Rechtssprechung in Europa immer<br />
noch?" fragt sie Jacques Toubon. , - Eine höchst berechtigte Frage, befindet der Justizminister.<br />
Darauf Francoise Rudetzki: "Monsieur, auf, auf nach Brüssel."<br />
3 04
1997<br />
Gewalt in Familien, misshandelte Französinnen<br />
305
MISSHANDELTE FRAUEN - GEWALT IN FAMILIEN<br />
Arbeitslosigkeit, Versager-Ängste - soziale Miseren führen in Frankreich zu immer<br />
mehr Gewaltausbrüchen gegen Frauen. "Er schlägt Sie - lehnen Sie Gewalt ab", heißt es<br />
überall auf einem Plakat des Amtes für Frauenrechte. Es will aufmerksam machen auf<br />
einen verdeckten Notstand: Männer-Gewalt gegenüber Frauen. - S.O.S. - Über 35.000<br />
Französinnen sind auf der Flucht - Angst vor Schlägen, Vergewaltigungen, Demütigungen.<br />
Jede siebte Frau ist Opfer sexueller Übergriffe. - Immerhin: Vierzig Frauenhäuser bieten<br />
Schutz. Über 150 Organisationen geben für Frauen-Klagen vor Gericht Rechtshilfe. Dabei<br />
dreht es sich nicht um Horrorvisionen aus der Kinowelt. Es handelt sich um französische<br />
Alltäglichkeiten - versteckt, bagatellisiert, verschwiegen, verharmlost. Frauen-<br />
Misshandlungen<br />
Frankfurter Rundschau 31. Mai 1997<br />
Die Alltäglichkeit der Gewalt vermittelt sich im Pariser Osten, genauer gesagt im 11.<br />
Arrondissement mit scheinbar beruhigend monotoner Stimme. Insgesamt 58 Anrufe , Frauen-<br />
Notrufe, gehen täglich im ersten Frauenhaus der französischen Republik in der Cité Prost Nr. 8<br />
ein. Das sind immerhin 95.000 Hilfsappelle bei der Frauenorganisation "Solidarité des femmes" in<br />
viereinhalb Jahren. Und all diese Telefonate drehen sich immer wieder um den gleichen<br />
Tatbestand. "Violence et Viol"; Gewalt und Vergewaltigung, geschlagene, geschundene Frauen -<br />
Etappen der Gewalt, die gewöhnliche Männer-Gewalt im Frankreich dieser Tage, Jahre,<br />
Jahrzehnte.<br />
Die 38jährige Telefonistin Isabelle führt dir Telefonstatistik, weil es in puncto<br />
Männergewalt weder eine offizielle Datenerhebung noch aussagekräftige Faktensammlung in der<br />
Regierung zu geben scheint. Das ist schließlich auch der Grund, warum gleich neben der<br />
Telefonzentrale und der Bettwäscheausgabe im Frauenhaus die frühere Kindergärtnerin Christine<br />
Poquet nunmehr wöchentlich sämtliche Zeitungen der Republik auf der Suche nach Gewalt in<br />
Familien, Brutalität gegen Frauen auswertet. Christine meint: "Irgendwie müssen wir hier immer<br />
noch den absurden Beweis antreten, dass es zwischen Menschenrechten und dem Status einer Frau<br />
einen kausalen Zusammenhang gibt.<br />
Es reicht nicht, dass wir zusammengeschlagen werden. Wir müssen es auch noch<br />
zweifelsfrei beweisen." Und Kollegin Monique Bergeron, die ebenfalls fleißig mit ausschnippelt,<br />
ergänzt: "Wer diese Berichte hintereinander liest, glaubt an Horror-Visionen in Filmen - nur nicht,<br />
dass derlei Männer-Übergriffe Tag für Tag in Frankreich passieren. Letztendlich ist es die rohe<br />
Form der Machtverhältnisse. Unsere französische Gesellschaft ist krank und erlaubt solche<br />
Gewaltform. Handgreiflichkeiten gegen Frauen - das ist keine bedauerliche Panne des Mannes,<br />
sondern eine gesellschaftliche Erscheinung: ein Virus dieser Jahrzehnte."<br />
Immerhin wissen jene beherzten Frauen zu berichten, dass es in Frankreich eine jährliche<br />
Dunkelziffer von nahezu vier Millionen Frauen gibt, die geschlagen und vergewaltigt werden,<br />
körperliche Verletzungen davontragen. So seien in Frankreich durchschnittlich etwa 35.000 Frauen<br />
auf der Flucht - aus Angst vor Schlägen, Demütigungen. In jeder fünften Ehe, so schätzen sie bei<br />
"Solidarité des femmes", erzwingen sich Frankreichs Männer mit Gewalt den Beischlaf. In<br />
Deutschland ist nach einer Studie des Bundesfamilienministeriums jede siebte Frau Opfer sexueller<br />
Übergriffe. Frauen sind demnach in ganz Westeuropa von sexueller Gewalt mehr bedroht als durch<br />
andere Schwerdelikte wie Raub oder Wohnungseinbrüche.<br />
3 06
Schlimm sieht Jacqueline aus, die gerade von zwei Pariser Gendarmen uns Frauenhaus in<br />
der Cité Prost Nr. 8 gebracht wird. Ihr linkes Auge ist grünblau. Beule auf der Stirn. Pflaster auf der<br />
Nase. Sie zittert. Ihre Hand zur Faust geballt, flucht Jacqueline: "Ich hasse ihn nur noch."<br />
Weinkrämpfe. Ein Prügeldrama in einer unauffälligen Dreizimmerwohnung am Pariser<br />
Außengürtel; angezettelt von ganz "normalen" Männern. Und Polizist Olivier Delattre murmelt<br />
routinegeübt: "Für uns ist das Alltag. Etwa 60 Prozent unserer Noteinsätze gelten handgreiflichen<br />
Familienkrächen, bei denen zu cirka 95 Prozent die Frauen Opfer sind."<br />
Tatsächlich setzt eine schleichende Verarmung in Jahren der Massenarbeitslosigkeit -<br />
vornehmlich der französischen Mittelschicht - ein unvermutetes Aggressionspotenzial frei. Ein<br />
Viertel der erwerbstätigen Bevölkerung kann nämlich seinen Lebensstandard nicht mehr halten.<br />
Martine de Maximy, Familienrichterin am Pariser Amtsgericht, sieht die Hauptursache für<br />
neuerliche Kälte mit ihren Konfliktfeldern in der wirtschaftlichen Krise und dem sozialen<br />
Ausschluss ganzer Bevölkerungsgruppen. Madame de Maximy äußert besorgt: "Auch das Ausmaß<br />
an Brutalität in angeblich bessergestellten Familien ist beachtlich. Angst vor der Zukunft lauert<br />
dort. Die Gewaltanwendung wird kulturell durch das Bild der Männlichkeit in der Öffentlichkeit<br />
verstärkt. Der männliche Stereotyp frohlockt mit solch einem Verhalten. Dann haben diese<br />
Versagerangst vor Leistungsabfällen. Das macht irgend- wann bitter. Oft wird unvermutet wahllos<br />
zugeschlagen; meist zu Hause Frau wie Kind. Fast die Hälfte aller Vergewaltigungen findet in<br />
Frankreich in der Familie statt. Grausam."<br />
Die Pariser Psychoverhaltens-Forscherin Christine Dessieux hat bei einer<br />
Langzeituntersuchung von 600 Französinnen herausgefunden, "dass manche Frauen sich<br />
gegenüber ihrem Mann in einer Art 'ehelicher Prostitution' befänden. Sie sagen ganz offen, 'stimmt,<br />
ich bin die Hure und die Magd." So weiß die Lyoner Gerichtsärztin und stellvertretende<br />
Vorsitzende des Verbandes S.O.S. Femmes, Dr. Liliane Daligand zu berichten, dass "nach einer<br />
Vergewaltigung selbst in Langzeittherapien bei diesen Frauen nur schwer von einer Heilung<br />
gesprochen werden kann. Es kann allenfalls eine Vernarbung der seelischen Verletzung geben."<br />
Jahrelange Untersuchungen von Gewaltforscherinnen an der Universität Portiers in<br />
französischen Krankenhäusern über die seelische Langzeitfolgen unmittelbarer männlicher<br />
Aggressionen bei zweitausend Frauen ergaben, dass<br />
• 43 bis 47 Prozent unter Angstgefühlen litten;<br />
• 16 bis 30 Prozent bei Anspannung zitterten;<br />
• 10 Prozent waren selbstmordgefährdet;<br />
• 20 Prozent klagten über Traurigkeit;<br />
• 32 Prozent verloren ihr Selbstwertgefühl;<br />
• 14 Prozent flüchteten in Alkohol.<br />
Die Telefonistin Isabelle vom Frauenhaus im Pariser Osten war vor fünfzehn Jahren<br />
gleichsam Zielscheibe eines prügelnden Ehemannes. "Ich war einfach verliebt", sagt sie heute fast<br />
entschuldigend. Und dieses Adjektiv verliebt, das tönt schon ein wenig so wie verfahren, vertan,<br />
verloren - vielleicht auch verrückt, weil Gewalt als einzige Form der "Zuwendung" übriggeblieben<br />
ist. Schon damals schloss sich die einstige Sekretärin Isabelle der französischen<br />
Frauenbefreiungsbewegung an. Seither nimmt Isabelle Hilfsschreie ihrer Leidensgenossinnen<br />
entgegen - Tag für Tag, Jahr für Jahr sitzt sie am Telefonhörer des Frauenhauses. Sie beachtet: "Im<br />
307
Vergleich zu früheren Jahren durchleben wir eine Wende in Frankreich. Geprügelt und misshandelt<br />
wurde schon immer in den Familien hinter verschlossenen Türen. Und das nicht zu knapp. Nur<br />
mit dem Unterschied: Die Frauen sind jetzt couragierter geworden, verklagen ihre Ehemänner oder<br />
benennen ihre Peiniger vor Gericht. Sie flüchten und machen ihr Leid öffentlich."<br />
"Masken runter" ("Bas les Masques") hieß die erste Fernsehsendung im Jahre 1995, in der<br />
Frauen über ihr Schicksal am Tatort Familie, zugerichtet mit Handkantenschlägen , öffentlich<br />
berichteten. In Zahlen: Im Jahre 1982 registrierten Frankreichs Gerichte 2.459 Strafanzeigen wegen<br />
Vergewaltigung. Dreizehn Jahre später - im Jahre 1995 - waren es 7.069 Strafverfahren. Eine<br />
Steigerungsrate um 65 Prozent - ausnahmslos qua Strafanzeige von den Opfern angestrengt. Wobei<br />
seit dem Jahre 1994 strafverschärfend gilt, wenn ausdrücklich Ehemänner oder Lebensgefährten als<br />
Täter überführt werden.<br />
Noch in die siebziger Jahren hinein konnten Frankreichs Ehemänner ihre Frauen<br />
verdreschen, ihnen die Zähne ausschlagen - nichts geschah. Privatsache. Noch bis Mitte des<br />
neunziger Jahrzehnts mussten sich muslimische Nordafrikanerinnen vielerorts zwischen Paris und<br />
Marseille stillschweigend Beschneidungsriten unterwerfen. Schmerzhafte Misshandlungen, da nach<br />
alter Tradition in 26 afrikanischen Ländern den Mädchen im Kindesalter die Klitoris entfernt wird.<br />
Männliche Lust- und Gebärkontrolle. Immerhin kam es nach informellen Berechnungen 1992<br />
noch zu 23.000 Frauenbeschneidungen. Es gab keinerlei öffentliche Kritik.<br />
Bis in die späten achtziger Jahre war es absolute Privatsache, was sich tatsächlich in<br />
französischen Familien ereignete. Es war die Frauenbewegung im siebziger Jahrzehnt, die die<br />
Republik damals nahezu unbemerkt mit einem flächendeckenden Netz von Zufluchtsstätten,<br />
Beratungsstellen und Krisenzentren überzog. Für Französinnen wie Carole Damiani von der<br />
Pariser Opferhilfe (Aide aux victimes) kümmerten sich nicht der französische Staat, sondern<br />
"einzig und allein die aufgeschreckten Feministinnen in ihren politisch besten Jahren um<br />
malträtierte Geschlechtsgenossinnen. Sorge für Brot, Kleidung, Unterkunft, Zuwendung,<br />
Gespräche. Ohne diese Zwischenlösungen wären die Zustände auch der Tausende von Müttern<br />
unerträglich gewesen."<br />
Catherine vom Aufnahmezentrum aus Besançon hingegen richtet ihr Augenmerk auf ein<br />
neuerliche Flucht-Phänomen. "Frauen kommen zu uns und sagen, dass sie es nicht mehr aushalten,<br />
obwohl sie nicht geschlagen worden sind. Sie dürfen nichts tun in ihrem Gefängnis. Sie werden<br />
eingeschlossen und ohne Schlüssel zurückgehalten. Sie bekommen kein Geld. Sie können nicht<br />
einmal einkaufen. Sie dürfen sich nicht kleiden, wie sie wollen. Und um alles müssen sie inständig<br />
bitten." An die 150 Organisationen bieten Frauen in ganz Frankreich mittlerweile kostenlose<br />
juristische Beratung und psychische Betreuung an.<br />
Allein im Verband "Solidarité des femmes" stehen in der französischen Republik über<br />
vierzig Frauenhäuser bereit. Betreuerin Patricia Montageron von der Frauengruppe "la paranthèse"<br />
(die Klammer) verfügt in jedem Département auch noch über eine größere Anzahl von<br />
unerkannten Wohnungen. "Als Geheimwaffe allenthalben. So groß ist mittlerweile der Bedarf, weil<br />
wir Stück um Stück mit den Tabus aufgeräumt haben", beteuert die Sozialpädagogin. Dabei will es<br />
vielen Französinnen einfach nicht in den Kopf, dass sich jener Mann, den sie am Anfang als<br />
Freund und Partner erlebten, den sie liebten, irgendwann als Gewalt-Gegner entpuppte.<br />
"Aber immerhin", fährt Patricia fort, "in der Mitterrand-Ära (1981 bis 1995) ist es uns<br />
ganz gelungen, endlich die Tabus zu brechen und das Strafrecht für uns Frauen einzunehmen."<br />
Früher war Brutalität gegen Frauen, wenn überhaupt, ein Kavaliersdelikt, allenfalls ein Vergehen -<br />
3 08
niemals ein Verbrechen. Und gar Ehefrauen - die waren in der französischen Rechtsprechung erst<br />
gar nicht vorgesehen.<br />
Anders als in Deutschland wird nunmehr die Vergewaltigung in der Ehe im Nachbarland<br />
ebenso hart bestraft wie die Vergewaltigung einer fremden Person. Verabschiedet von der<br />
Nationalversammlung am 23. Dezember 1990. Strafmaß zwischen zehn und fünfzehn Jahre<br />
Freiheitsentzug. Außerdem hat die Frau bei solchen Delikten keine Möglichkeit mehr, das von ihr<br />
angezeigte Strafverfahren zurückzunehmen - selbst wenn der Vergewaltiger sich formal als reuiger<br />
Ehepartner auszuweisen vermag. Allerdings müssen nach dem französischen Rechtsverständnis die<br />
Opfer die Strafanzeige stellen. Als Zwischenstufe reicht gleichwohl auch ein Vermerk im<br />
Meldebuch auf dem Polizeirevier - der sogenannten "main courante" aus.<br />
Indes - Frauenrechtlerinnen und Sozialpolitiker Frankreichs reicht es mittlerweile nicht<br />
mehr aus, dass laut novelliertem Gesetz aus dem Jahre 1992 auch Gewerkschaften automatisch bei<br />
sexueller Belästigung am Arbeitsplatz die Gerichte anrufen können. Die Republik steht demnach<br />
vor einer Prozesslawine. Allein 20 Prozent aller Frauen, so die gerichtsverwertbare Aktenlage der<br />
Gewerkschaften, fühlen sich an ihrem Arbeitsplatz sexuell belästigt, drangsaliert.<br />
"Nein", bedeutet Liliane Daligand vom S.O.S. Femmes gemeinsam für die französischen<br />
Frauenverbände gegen Gewalt, "der Staat muss den Kampf selbst aufnehmen wie etwa gegen Aids<br />
und Prostitution. Allein schaffen wir das nicht mehr."<br />
Das glaubt auch der Sozio-Anthropologe an der Universität Lyon II, Daniel Welzer-Lang.<br />
Er ist der Meinung, dass das Gewaltproblem malträtierter Frauen nicht zu lösen sei, "wenn sich<br />
keiner um die gewalttätigen Männer kümmere. Seit nahezu einem Jahrzehnt betreut Welzer-Lang<br />
mittels geduldiger Gesprächstherapien etwa 150 prügelnde Ehemänner. Sein alter Vorschlag: "Wir<br />
müssen uns viel stärker in die private Sphäre mit Alkohol-, Drogenverboten und Zwangstherapien<br />
einmischen. Das Refugium Familie hat sich ein für allemal überlebt - ein Schlachtfeld sozialer Kälte<br />
und der Rücksichtslosigkeit für Frauen ist das da vielerorts." Ganz im Sinne der in Frankreich<br />
populären Rockgruppe "Nique ta mère" als jugendliche Hoffnungsträger, als Ausdruck<br />
verwahrloster Gewalterlebnisse in der französischen Republik. Zu deutsch: "Fick deine Mutter".<br />
309
3<br />
10
2005<br />
Detemido – torturado – desaparecido – Elisabeth Käsemann<br />
311
DETENIDO - TORTURADO - DESAPARECIDO -<br />
VERHAFTET, GEFOLTERT, VERSCHWUNDEN IN<br />
ARGENTINIEN - BEERDIGT AUF DEM FRIEDHOF<br />
LUSTNAU IN TÜBINGEN<br />
Friedhöfe - Endstationen - Innehalten ... ... "Der Mensch ist erst dann wirklich tot, wenn<br />
niemand an ihn denkt" - Bertolt Brecht<br />
„Denken heißt Überschreiten Prinzip Hoffnung"<br />
"Die Sehnsucht des Menschen ein wirklicher Mensch zu werden"<br />
auf dem Bergfriedhof zu Tübingen Ernst Bloch *8. Juli 1885 in Ludwigshafen am<br />
Rhein + am 4. August 1977 in Tübingen Carola Bloch * am 22. Januar 1905 in Lodz; + am<br />
31. Juli 1994 in Tübingen<br />
Elisabeth Käsemann * am 11. Mai 1947 in Gelsenkirchen + am 24. Mai 1977 in Buenos<br />
Aires<br />
Mir ging an diesem denkwürdigen Tag des 8. März 1977 im fernen Buenos Aires der<br />
Name der deutschen Soziologiestudentin und Entwicklungshelferin Elisabeth Käsemann aus<br />
Tübingen nicht mehr aus dem Sinn. Aus der Redaktion in Hamburg kam die Nachricht: Autos<br />
ohne Kennzeichen hatten vor ihrer Wohnung in Buenos Aires gestoppt. Kreischende Bremsen.<br />
Türen wurden aufgerissen. Männer sprangen heraus. Sie drangen in ein Haus ein und fielen über<br />
Elisabeth her. Handschellen, Kapuze über'n Kopf, Spray in die Augen. Elisabeth Käsemann wurde<br />
von Soldaten abgeführt, in eines der Auto gezerrt. Türen schlugen zu. Motoren heulten auf. Die<br />
Autos rasten davon. Die junge Frau, die Argentiniens Schergen abholen, wird in der Öffentlichkeit<br />
nicht mehr lebend gesehen. Es ist, als hätte die Erde sie verschluckt. Anschuldigungen, Gerüchte<br />
lauteten seinerzeit, sie hätte mal zu jemandem aus dem linken Montonero-Umfeld - der<br />
Stadtguerilla -Kontakte gehabt, gefälschte Papiere zur Ausreise besorgt. Nur Belege gab es nicht:<br />
Fehlanzeige. Vermutungen, Verdächtigungen -mehr nicht.<br />
So oder ähnlich muss es in der Nacht vom 8. auf den 9. März 1977 geschehen sein, als die<br />
deutsche Staatsbürgerin Elisabeth Käsemann in Buenos Aires von ihren Folterern abgeholt,<br />
geraubt, gekidnappt worden ist. Ausgerechnet an diesem Tag trafen wir aus Sao Paulo (Brasilien)<br />
kommend in Buenos Aires ein - auf der Suche mach dem Verbleib weiterer hundert Deutscher<br />
oder auch Deutschstämmiger , die während 1976 bis 1983 spurlos in Argentinien wie vom<br />
Erdboden verschluckt worden sind. -<br />
"Detenido - torturado - desaparediso - verhaftet, gefoltert, verschwunden"; über 30. 000<br />
Menschen in dieser verdüsterten Epoche.<br />
In Elisabeths Alter und Leben, ihrem Werdegang, ihrer Wahrnehmungen als auch<br />
gesellschaftspolitischen Ansichten konnte ich Ähnlichkeiten zu meiner Biografie entdecken.<br />
Parallelen, die mich aufwühlten. Nur mit dem folgenschweren Unterschied, dass mich mein<br />
Veränderungswille in den Journalismus - als Instrument der Aufklärung - trieb. Elisabeth hingegen<br />
setzte sich auf die andere Seite des Tisches - zu den Armen, Farbigen, Entrechteten,<br />
3 12
Ausgestoßenen oder zu den Verdammten dieser Erde, um mit Frantz Fanon (*1925+1961) zu<br />
sprechen - dem Vordenker der Entkolonialisierung.<br />
Rückblick auf eine Biografie. -Elisabeth, Tochter des Tübinger Theologie-Professors<br />
Ernst Käsemann (*1906+1998), studiert um 1968 Soziologie an der Freien Universität in West-<br />
Berlin. Sie diskutierte immer und immer wieder mit dem SDS-Vordenker und<br />
Gesellschaftsarchitekten Rudi Dutschke (*1940+1979). APO-Jahre, Rebellen-Jahre. Jahre der<br />
Träume, der Entwürfe von Skizzen oder auch Utopien nach einer gerechteren Welt, einer neue<br />
deutschen Republik. Elisabeth wollte nicht warten auf bessere Zeiten, nur in Studenten-Milieus<br />
diskutieren, theoretisieren und dort in solch einem praxisfernen akademischen Umfeld kleben<br />
bleiben. - Hoffnung.<br />
Ihren Unterhalt verdiente sie sich mit Übersetzungen und Deutsch-Unterricht. Den<br />
besorgten Eltern im fernen Tübingen schrieb Elisabeth: "Diese Entscheidung, hier in Buenos Aires<br />
zu bleiben, und nicht mehr nach Deutschland zurückzukehren, fällte ich nicht aus persönlichen<br />
Gründen, sondern aus ideellen. Sie entspringt meiner Verantwortung als Mensch. Ich werde arm<br />
sein, ich werde manchmal mich zurücksehnen nach allem, was ich zu Hause hatte."<br />
In ihren nahezu 300 Folterzentren verschleppten die argentinischen Militärs politische<br />
Gefangene aller Schattierungen: Peronisten, Kommunisten und Bürgerliche, Christen, Juden und<br />
Atheisten - eben Menschen, den der vorauseilende Gehorsam fremd geblieben ist. Es gab<br />
Zeugenaussagen, die beweisen, dass Elisabeth Käsemann als "Mitglied einer politischen<br />
oppositionellen Gruppe" im Folterzentrum "El Vesubio" interniert und zugerichtet worden war -<br />
bis Todesschüsse in den Rücken und ins Genick aus nächster Nähe am 24. Mai 1977 hinrichteten.<br />
Es gab Zeugenaussagen, die zweifelsfrei belegen, wie Elisabeth um ihr Leben flehte, auf<br />
Knien kroch, winselte und immer wieder auf Spanisch mit ihrem harten deutschen Akzent<br />
beteuerte: "Das ist die Wahrheit, das ist die Wahrheit...". Sie lag angekettet am Boden,<br />
untergebracht in Verschlägen, die an Hundehütten erinnerten. Nichts half, niemand half. Eine<br />
englische Freundin, die ebenfalls interniert, gefoltert worden war, diese Weggefährtin kam nach<br />
gezielt-massiver Intervention Englands wieder frei. -England.<br />
Nicht so Elisabeth Käsemann. Es ist ein Frauen-Schicksal, das mich auch Jahrzehnte<br />
danach zornig, bitter, verächtlich werden lässt - unvergessen bleibt. Wie der deutsche Botschafter<br />
Jörg Kastl (1977-1980) mit schrägem, süffisantem Grinsen im fernen Buenos Aires mir beim<br />
Hummer-Menü seine Lebensweisheit verdeutlicht: "Wer in einem - äh - Span- nungs-feld in die<br />
Schuss -äh - linie gerät, der ist in Gefahr."<br />
Dabei hatte das Auswärtige Amt genaue Hinweise, wo Elisabeth Käsemann gefangen<br />
gehalten wurde. Aber die Diplomaten unternahmen nachweislich nichts, um das Leben einer<br />
deutschen Staatsbürgerin, dieser jungen Studentin aus der Gefahrenzone zu holen. Mittlerweile gilt<br />
es verbrieft, dass weder die Botschaft in Buenos Aires, noch das Außenministerium mit Hans-<br />
Dietrich Genscher (FDP) an der Spitze noch Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) sich jemals<br />
nachhaltig bemühten, intervenierten -um das Leben einer gefolterten Frau aus kirchlichem Haus<br />
aus den Klauen der Militärjunta zu retten. Die englische Regierung hingegen intervenierte<br />
fieberhaft und hatte letztendlich Erfolg. Heimflug für eine gefolterte Geisel nach London-<br />
Heathrow.<br />
Für Deutschland hieß insgeheim die Moral der Geschichte: Eine verkaufte Mercerdes-<br />
Karosse wiegt eben mehr als ein Atem. Schubladen auf, Schubladen wieder zu. Ende der<br />
Durchsage. Argentiniens Propaganda-Trick über eine vermeintliche Terroristin, der angeblichen<br />
313
Ulrike Meinhof (*1934+1976) Südamerikas, hatte funktioniert. Eine "Terroristin", die in<br />
Wirklichkeit eine friedfertige Sozialarbeiterin in den Armenviertel war, zeitigte Wirkung.<br />
Bemerkenswert an dieser diplomatischen Vertretung der Deutschen in Buenos Aires war,<br />
wem sie da sonst so ihre Fürsorgepflicht angedeihen ließ. Vornehmlich dann, wenn es in der<br />
Nachkriegs-Epoche um Alt-Nazis ging, waren bundesdeutsche Diplomaten stets hilfsbereit zur<br />
Stelle. Tatsache ist, dass SS-Massenmörder Adolf Eichmann (*1906+1962 , für die Ermordung von<br />
sechs Millionen Juden zentral mitverantwortlich), vor seiner Entdeckung im Jahre 1962 in<br />
Argentinien in der deutschen Botschaft zu Buenos Aires unter falschem Namen Schutz, Obhut,<br />
Gespräche und gefälschte Ausweispapiere suchte. Ein Einzelfall? Den deutschen Diplomaten zu<br />
Südamerika waren über Jahre offenkundig flüchtende Nazis mehr wert, wichtiger, dringlicher, als<br />
etwa helfende Kontakte zu einer angereisten Soziologie-Studentin - mit kesser Lippe ohnehin als<br />
"linke Spinnerin" abgetan. Bei Eichmann und Co. stimmte zumindest eines einvernehmlich:<br />
Herkunft, Gedanken-Nähe, Karriere-Muster, Beamten-Apparate - unverwechselbar der Stallgeruch.<br />
Es galt in Deutschlands betulichen Diplomaten-Kreisen zu Bonn und anderswo Ende der<br />
sechziger bis Mitte der siebziger Jahre hinein als ein "offenes Geheimnis", wer noch und schon<br />
wieder auf dem Erdball in Sachen Diplomatie unterwegs war, wie reibungslose ihre informellen<br />
Nazi-Kontakte funktionierten. Jeder wusste es, keiner sprach darüber. - Als junger Reporter, in<br />
vielen Ländern unterwegs, habe ich es zunächst glauben wollen - dann aber notgedrungen zur<br />
Kenntnis nehmen müssen, wie viele Braunröcke aus der Nazi-Zeit unter dem Schutz der "Corps<br />
diplomatique unbehelligt und betucht zudem überwinterten. -Schon-Zeiten. Garstige Zeiten.<br />
Folgerichtig gab Außenamts-Staatssekretär Günther von Well (FDP *1922+1993) nach<br />
einem Treffen mit General Videla im Jahre 1978 in Buenos Aires freimütig zu, dass das Thema der<br />
verschwundenen, gefolterten, ermordeten Deutschen in Argentinien überhaupt nicht angesprochen<br />
worden sei. Operation "Leisetreterei" hieß das damals hinter vorgehaltener Hand -ausschließlich<br />
standen deutsche Exportlieferungen im Werte von drei Milliarden Mark im Mittelpunkt - Waffen<br />
und nochmals Waffen, Kampf-Panzer und nochmals U-Boote, Maschinenpistolen insbesondere<br />
für den Straßenkampf gegen eine rebellierende Jugend. Schnellfeuerwaffe G3 - Made in Germany.<br />
Am 10. Juni 1977 kehrte die Leiche Elisabeth Käsemanns im Frachtraum einer Lufthansa-<br />
Maschine nach Deutschland zurück, wurde sie in ihrer Heimatstadt Tübingen beerdigt. Die Eltern<br />
hatten über Mittelsmänner den Leichnam ihrer Tochter für 22.000 Dollar freikaufen können. Vater<br />
Ernst Käsemann musste nach Argentinien reisen, um den Leichnam seiner Tochter ausgehändigt<br />
zu bekommen. Der zerschundene Körper hatte weder Haare noch Augen. Gerichtsmediziner in<br />
Tübingen konstatierten: dass Elisabeth von hinten durch vier Schüsse abgeknallt worden war , was<br />
auf eine typische Exekution hinweist.<br />
Elisabeth Käsemann wurde am 16. Juni 1977 auf dem Friedhof Lustnau in Tübingen<br />
beigesetzt. An diesem Tag erklärten ihre Eltern: "Wir haben heute unsere Tochter Elisabeth<br />
bestattet. Am 11. Mai 1947 geboren, am 24. Mai 1977 von Organen der Militärdiktatur in Buenos<br />
Aires ermordet, gab sie ihr Leben für Freiheit und mehr Gerechtigkeit in einem von ihr geliebten<br />
Lande. Ungebrochen im Wollen mit ihr einig, tragen wir unsern Schmerz aus der Kraft Christi und<br />
vergessen nicht durch sie empfundene Güte und Freude."<br />
Finale des Verbrechens - im Auftrag der Koalition gegen die Straflosigkeit vieler<br />
Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Argentinien während der Militärdiktatur erstattete am 25.<br />
März 1999 Rechtsanwalt Roland Deckert Strafanzeige im Fall Käsemann. Das Amtsgericht<br />
Nürnberg erließ am 11. Juli 2001 Haftbefehl gegen den früheren argentinischen General Carlos<br />
3 14
Guillermo Suárez Mason. Er stand unter konkretem Verdacht, die Ermorderung Elisabeth<br />
Käsemanns befehligt zu haben.<br />
Ihr Scherge, Carlos Guillermo Suárez Mason (*1924+2005), der in Argentinien den<br />
Beinamen "der Schlächter des El Olimpo" trug, wurde für die Entführung von 254 Personen und<br />
der illegalen Adoption von Kindern verschwundener Kritiker verurteilt. Im Jahre 1979 sagte er<br />
angeblich gegenüber einem Vertreter der US-Botschaft, dass er jeden Tag zwischen 50 und 100<br />
Todesurteile unterzeichne. Italien, Deutschland und Spanien hatten seine Auslieferung beantragt. -<br />
Abgelehnt.<br />
Im November 2003 wurden Auslieferungsanträge der deutschen Justiz gegen die<br />
Beschuldigten Jorge Rafael Videla, ehemaligen Präsidenten der Militärjunta und gegen Ex-Admiral<br />
Emilio Eduardo Massera erlassen. - Die Anträge aus Deutschland wurden am 17. April 2007 vom<br />
Obersten Gerichtshof Argentiniens abgewiesen - die Akte Elisabeth Käsemann endgültig<br />
geschlossen.<br />
Nur wenige der geheimen Gefangenenlager oder Folterzentren sind nach den Jahren der<br />
Militärdiktatur (1976-1983) als Gedenkstätten erhalten geblieben. Die Gebäude von "El Vesubio",<br />
in der Elisabeth Käsemann ihr Leben ließ, wurden vorsorglich abgerissen. Ein früheres<br />
Folterzentrum im Stadtteil Belgrano von Buenos Aires diente in den 90er Jahren als Partykeller -<br />
ein ehemaliges Junta-Mitglied hatte ihn gemietet, um dort die Hochzeit seiner Tochter zu feiern.<br />
315
3<br />
16
2007<br />
Elisabeths Badinters Rendezvous mit der Zukunft<br />
317
ELISABETH BADINTERS RENDEZVOUS MIT DER<br />
ZUKUNFT -FRAUEN UND MÄNNER ERFINDEN SICH NEU<br />
- HOFFNUNG<br />
Die französische Philosophie-Professorin Elisabeth Badinter wurde 1944 geboren.<br />
Sie ist Autorin namhafter Werke, die die Geschichte, Philosophie und Soziologie der<br />
Frauen reflektieren. Sie ist damit ideengeschichtlich die bedeutendste Nachfolgerin der<br />
Schriftstellerin Simone de Beauvoir, die im Jahre 1986 starb. Simone de Beauvoir war<br />
Begründerin des französischen Feminismus nach 1968. Mit 22 Jahren heiratete Elisabeth<br />
Badinter den Politiker und späteren Justizminister Robert Badinter.<br />
Ihre drei Kinder bekam sie innerhalb von dreieinhalb Jahren während ihrer<br />
Abschlussexamen an der Universität. Als sich zu Beginn der siebziger Jahre der<br />
Feminismus in Frankreich zusehends heftiger artikulierte, entdeckte Elisabeth Badinter<br />
die Kompliziertheit des häuslichen Lebens als Mutter. Als Vertreterin des<br />
Differenzdenkens geht Elisabeth Badinter von einem grundlegenden Unterschied der<br />
Geschlechter aus. Daher müssen Frauenrechte besonders betont werden, weil die<br />
universalistische Theorie Frauen schon immer benachteiligt hat, indem sie den Mann mit<br />
dem Menschen gleichsetzt.<br />
In ihrem neusten Buch "Der Konflikt - Die Frau und die Mutter" (2010) rekapituliert<br />
Elisabeth Badinter: In weniger als zehn Jahren (zwischen dem Ende der siebziger<br />
und dem Beginn der achtziger Jahre) vollführte die feministische Theorie eine Wende um<br />
180 Grad. ... Frauen sollten wieder zurück zu Heim und Herd. - Nicht etwa, um wieder die<br />
Männer zu bedienen, sondern ausschließlich zum allgegenwärtigen Wohle des Kindes.<br />
Freiheiten, die sich Frauen einst erstritten, werden durch das neuerliche Diktat einer all<br />
umsorgenden Mütterlichkeit bedroht. Sie argwöhnt, dass Frauen durch die Hintertür des<br />
Kindes abermals ihre Selbstständigkeit verlören.<br />
"Vive la française - Die stille Revolution in Frankreich" Rasch und Röhring Verlag, Hamburg 2. März 1997<br />
In einem der stattlichen Bürgerpaläste am Pariser Jardin du Luxembourg ist, sozusagen,<br />
die Zukunft zu Hause, die Zukunft der Frauen. In einem weiträumigen Appar- tement, umgeben<br />
von Gemälden aus dem 18. Jahr- hundert, auserwählter Kunst und seltenen, wert- vollen alten<br />
Büchern, lebt, denkt - schreibt Elisabeth Badinter, 51jährige Philosophieprofessorin an der École<br />
Polytechnique. Wer sie zum ersten Mal besucht, könnte meinen, dort, zwischen den lindgrünen<br />
Wänden und grauen Spannteppichen mit den tannengrünen Sitz- polstern wirke Abgelebtes,<br />
Überholtes, Vergangenes - geduldet und abgeschottet - fort. Andererseits fühlt er sich dort auch<br />
versucht, die hastige, sich überstürzende Gegenwart, die herbeigeredeten, schließlich geglaubten<br />
Trends oder Tricks der Bewusstseinsindustrie samt ihrer Marktforschung als Hirngespinste<br />
abzutun. Ein Ort wie außerhalb der Zeit, an dem man verschnaufen, sich be- sinnen und wieder<br />
erinnern kann: ans Wesentliche. An den Kern der Ordnung.<br />
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Auf dem Balkon der Wohnung bleibt der Blick am gegenüberliegenden Panthéon haften,<br />
in dem Rosseau, Voltaire, der Geist der Unsterblichkeit liegen. "Hier", sagt Elisabeth Badinter, "sind<br />
meine Wurzeln. Alles liegt im 18. Jahrhundert. Ich könnte kein aktuelles Buch schreiben ohne diese<br />
stets Rückbesinnung auf die Auf- klärung."<br />
Elisabeth Badinter trägt keinen Schmuck. Sie schminkt sich nicht, verschmäht noch das<br />
zarteste Rouge. Soviel gewollte Unscheinbarkeit kann im Paris der aufge-setzten Äußerlichkeiten<br />
kein Zufall sein. Auch nicht Nachlässigkeit. Madame ohne falsche Bescheiden- heit: "Ich wollte nie<br />
die Tochter des reichen Vaters oder das Anhängsel eines einflussreichen Politikers sein." Ihr Vater,<br />
Marcel Bleustein-Blanchet, war einst Frankreichs Tycoon in der Werbung. Ihr Mann, Robert Badinter,<br />
schaffte als Justizminister (1981-1995) unter François Mitterrand (*1916+1996, Präsident von<br />
Frankeich 1981-1995) zu Beginn seiner Amtszeit die Todesstrafe ab. Drei Kinder hat die Wissenschaftlerin<br />
großgezogen. Ihre drei Kinder Judith, Simon und Benjamin bekam sie inner- halb von<br />
dreieinhalb Jahren während ihrer Abschluss- examen an der Universität.<br />
Elisabeth Badinter ist eine wegweisende Persönlichkeit. Ihre Dominanz und Vehemenz,<br />
das, was sie antizipiert und vorhersieht, ihr Denken und Vordenken - das ist die Zukunft der Frauen.<br />
Und ihre Wohnung, ihre Vor- lesungen oder Seminare sind Lern-, auch Bewusstseins- refugien für<br />
Studentinnen und jene jungen Herren, in denen die Philosophin den "versöhnten Mann" erkennt.<br />
Weil er in der Lage ist, die altüberkommene Männlich- keit in Frage zu stellen, etwas von der<br />
gefürchteten Weiblichkeit anzunehmen und dadurch letztlich eine neue Männlichkeit zu finden.<br />
"Er hat die beiden verstümmelten Männer", sagt die Professorin prononciert, "den harten<br />
Mann (Macho) und die Antwort auf ihn, den weichen Mann (Softie), hinter sich gelassen."<br />
Viele Bücher hat Elisabeth Badinter geschrieben, be- deutende Werke. Es sind Bücher, die<br />
schon jetzt unser Denken beeinflussen, das der nachfolgenden Genera- ionen wohl noch nachhaltiger.<br />
Die Hochschullehrerin sieht ihre Lebensaufgabe darin, das - ziemlich erbärm- liche - Geheimnis<br />
der Männlichkeit zu lüften. Das Ende angemaßter männlicher Vorherrschaft mit wissen- schaftlich<br />
fundierter Akribie zu untermauern.<br />
"Wir erfinden uns gerade neu", urteilt sie, "das ist das Aufregendste in dieser Epoche."<br />
In ihrem Buch "Mutterliebe", erschienen 1980, wies Elisabeth Badinter nach, dass die<br />
immer wieder, auch pathetisch beschworene "Mutterrolle" als unumstöß-liches gesellschaftliches<br />
Fundament in Wirklichkeit erst mit dem Aufstieg des Bürgertums begann. Historisch belegte die<br />
Autorin, dass der Mythos der aufopferungs-vollen Mutterschaft, dieses naturgegebenen Monopols,<br />
den Frauen angedichtet worden ist.<br />
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Erst am Ende des 18. Jahrhunderts mühte sich Ärzte, Moralisten und Administratoren in<br />
Frankreich, den Frauen-Mythos als Mutterinstinkt aufzuwerten - der Frau die Funktion einer<br />
"Gebärmaschine" zuzuweisen. Im Hintergrund standen wirtschaftliche Interessen, das Volk der<br />
Franzosen in einer großen Anzahl zu erhalten. Die Philosophie der Aufklärung ersetzte die Theorie<br />
des natürlichen und göttlichen Ursprungs väterlicher Gewalt durch die Idee der Beschränkung dieser<br />
Macht.<br />
Zentraler Ausgangspunkt war vielmehr die Gleichheit von Mann und Frau in der Erziehung.<br />
Das 19. Jahr- hundert war geprägt von Appellen, eine gute Mutter zu sein. Heftigst wurden<br />
Frauen gesellschaftlich gebrand- markt, die ihrer Mutterrolle nicht im gewünschten Um- fang<br />
nachkamen. Erst in dieser Epoche entstand die Vorstellung, dass Fürsorge und Zärtlichkeit der<br />
Mutter für die Entwicklung und das Wohlbefinden des Babys unersetztlich sind.<br />
Demzufolge kritisierte Elisabeth Badinter und mit ihr schon die feministischen Bewegungen<br />
der sechziger Jahre das von Sigmund Freud entworfene Frauenbild als Hauptverantwortliche<br />
für das Glück des Kindes. Durch scheinbare Selbstauf-opferung, so Freud, findet die Mutter ihre<br />
Erfüllung in ihren Kindern. Sie sei verantwortlich für das psychische Wohlbefinden ihrer Kinder. Mit<br />
den sechziger Jahren begann Elisabeth Badinter mit den feministischen Bewegungen in Frankreich,<br />
diesen Mythos von der natürlichen Mutter- schaft grundlegend zu zerstören. Im Klartext: Mutter-<br />
liebe ist nichts Selbst- verständliches mehr, mütterliche Fürsorge ist Arbeit, für die Entgelt zu verlangen<br />
ist. Badinter: "Mutterliebe ist ein wandelbares Gefühl, kein Instinkt. Die Väter nehmen mehr<br />
Anteil an ihren Kindern, sie werden mütterlicher, während die Frauen männlicher werden."<br />
Sechs Jahre später präsentierte die Philosophin der Öffentlichkeit ihr Werk "Ich bin du".<br />
Darin fragt sie: Der Busch ist weit weg, wenn er nicht schon abgeholzt wurde, und wo haben Männer<br />
eigentlich noch die Chance , ihre Männlichkeit unter Beweis zu stellen? Wohl nirgendwo in der<br />
westlichen Hemisphäre. Andro- gyn sind die Zeiten, die Geschlechter sind sich sehr viel ähnlicher<br />
geworden. Es sind Individuen, die Ge- schlechtermerkmale von Mann und Frau in sich ver- binden<br />
wissen und diese Zweigeschlechtigkeit je nach Erfordernis ausleben. Sie konstatiert: "Mit diesem<br />
neuen Modell der Ähnlichkeit wird die traditionelle Be- stimmung der Gattung in Frage gestellt.<br />
Unsere Identität, sogar unsere Natur sind Ver- änderungen unterworfen. Wir befinden uns<br />
in einer Phase der Mutation." Sie folgert: Ärzte laborieren an Mütter-Maschinen. Die Entwicklung<br />
eines Kindes liegt nicht mehr im Bauch der Frauen, sondern in der Hand von Wissenschaftlern.<br />
"Kinder können heute außerhalb des weiblichen Körpers gezeugt werden. Ich reagiere auf die<br />
Vorstellung, dass man einem Mann einen Embryo ein- pflanzt mit Panik - aber es wird kommen und<br />
zwar sehr bald." Männliche Paviane haben den Beweis längst erbracht, für die Wissenschaft erbringen<br />
müssen. Wenn aber Männer und Frauen zusehends ähnlicher werden, folgert Elisabeth Badinter,<br />
was geschieht dann mit der männlichen Identität in der Postmoderne?<br />
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"XY - Die Identität des Mannes" heißt folgerichtig ihre nächste Publikation von 1992.<br />
Damit will sie den Beweis für die Umkehrung einer dominanten Kultur mit ihrem "schwachen<br />
Geschlecht" antreten. Es gelingt. Sie schreibt: "Als Modell ist das Patriarchiat tot, es ist intellektuell,<br />
moralisch und sozial am Ende ... Seit Entstehung des Patriarchiats hat sich der Mann als privilegiertes<br />
Menschenwesen definiert, stärker, mutiger, intelligenter, verantwortungsbewusster, schöpferischer<br />
oder rationaler als Frauen. " Nur verfüge die Medizin mittlerweile über hinreichende Er-<br />
fahrungen, Ergebnisse und Statistiken, die bewiesen, dass Männer in Wirklichkeit das schwache<br />
Geschlecht darstellen. Die Sterblichkeit bei männlichen Säuglingen ist weitaus höher, Männer leiden<br />
unter mehr Krank- heiten - physisch wie psychisch - und sie sterben auch früher als Frauen.<br />
Für Elisabeth Badinter zählt das Fehlen einer Identität zu den schmerzlich gelebten<br />
Erscheinungen dieser Zeit. Viele Männer wissen seit dem feministischen Umbruch nicht mehr so<br />
recht, wie sie eine Beziehung zu Frauen und welche sie aufbauen sollen. Angst vor Andro-gynität,<br />
vor der Ähnlichkeit der Geschlechter. Ängste vor Rollenverlusten - Verluste des Mannes, seiner<br />
über- kommenen, unzeitgemäßen Männlichkeit. Angeknackst ist die männliche Herrschaft, die<br />
Frauen seit jeher symbolisch und tatsächlich zum Objekt machte. Von ihnen wurde und wird noch<br />
immer - ein kulturelles Gesellschaftsspiel - sexuelle Verfügbarkeit diskret wie selbstverständlich<br />
eingefordert. "Aus männlicher Sicht", rekapitulierte Pierre Bourdieu (*1930 +2002), einst<br />
Soziologie-Professor am Collège de France, "wirken diejenigen Frauen, die das stillschweigende<br />
Verhältnis der Verfügbarkeit unter-brechen und sich ihres eigenen Körperbildes in gewisser Weise<br />
wieder bemächti- gen, 'unweiblich' oder wie Lesben." - Kulturver- werfungen - Identitätsbrüche.<br />
Erst leise und zaghaft, unbestimmt vielerorts und vage, dann immer deutlicher rückte ein<br />
Schauplatz der Ge- schlechter zwangsläufig in den Mittelpunkt - das Bett. Es ist nun einmal der<br />
Austragungsort der Verführung, Verfügung und Verweigerung, der sexuellen Leiden-schaften mit<br />
ihren leichtgängigen Lippenbekenntnissen der Lust und des Lustverlustes. Dort, auf den weichen<br />
Federn der Matratze, findet die eigentliche Kultur-revolution dieser Tage statt - zuweilen ein wenig<br />
verschämt oder auch verdutzt; in ihrer qualitativen zumindest nicht auszumachen - noch nicht.<br />
Für Elisabeth Badinter wird das traditionelle Rollen-muster aus Liebe und Leiden- schaft<br />
bald passé sein. Vorbei deshalb, weil der Motor dieser scheinbar unge- stillten Sehnsüchte abhanden<br />
gekommen ist. Die Gesell- schaft kennt keine Tabus mehr, aber diese Verbote waren es gerade, die<br />
den Reiz der Übertretung aus- machten. Ende der Sexualität? Madame Badinter lacht kopfschüttelnd<br />
amüsiert und sagt: "Die Sexualität ist eine Sache für sich. Im Alltag ist die Beziehung zwischen Mann<br />
und Frau heute viel stärker als früher von Ge- fühlen wie Ähnlichkeit, Zärtlichkeit und Freundschaft<br />
geprägt. Die Mann-Frau-Beziehung ist heute generell komplex. Wir suchen die Transparenz der<br />
Beziehung, das vollkommene Einverständnis, wir sorgen für- einander. Daneben existiert die<br />
erotische Beziehung, die auf Spannung und Polarität aufbaut. Ich denke, dass man in der Partnerschaft<br />
in erster Linie Komplizen-schaft und Zärtlichkeit sucht und dann erst Gegen-sätzlichkeit und<br />
Leidenschaft. Man möchte jemanden haben, mit dem man Gefühle oder Ideale teilt. In dem<br />
Moment, in dem man die Schlafzimmertür hinter sich schließt, ändern sich das natürlich...".<br />
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Gewiss haben es die Frauen weltweit in den vergangenen drei Jahrzehnten weitreichend<br />
verstanden, traditio-nelles Geschlechterverhalten aufzubrechen. So stellen heute Frauen insgesamt<br />
40 Prozent aller Jura und Medizinstudierenden auf dem Erdball. Vor dreißig Jahren brachten sie es<br />
mal gerade eben vier Prozent. - Bewusstseinswandel.<br />
Vielerorts ängstigen sich heute die Frauen aus gutem Grund, dass sie zuallererst Opfer der<br />
Neustrukturierung der Arbeitswelt werden. Elisabeth Badinter hingegen schaut überraschend<br />
zuversichtlich in die Zukunft. "Die Gefahr", bemerkt sie, "wird total überschätzt. Sicher, in Krisen<br />
leben immer wieder archaische Reaktionen auf. Aber die Frauen sind heute in so vielen Bereichem<br />
in so qualifizierten Positionen und schlicht nicht mehr weg- zudenken, dass man diese jetzige Krise<br />
nicht mit den voraus-gegangenen vergleichen kann." Ein Frauen-bollwerk in Frankreichs Arbeitswelt,<br />
in der Armee, in den Atomkraftwerken, an den Universitäten und anderswo.<br />
Sehr unterschiedlich hingegen sind Art und Weise, Methoden und Mittel, mit denen Frauen<br />
ihre Ziele voranbrachten - zum Teil ja auch erreichten. In Frankreich jedenfalls begegnen sich die<br />
Geschlechter freundlicher, aufmerksamer als anderenorts, hat ein Krieg zwischen Männer und<br />
Frauen, wie etwa in den USA oder auch in Deutschland, nicht stattgefunden.<br />
Für Elisabeth Badinter driftet der amerikanische Feminismus in die falsche Richtung, die<br />
männliche Sexualität insgesamt radikal abzustrafen, grundsätzlich in Frage zu stellen. Feindberührungen.<br />
Letztlich stilisiert diese US-kulturalistische Variante des Femi- nismus den Penis als todbringende<br />
Waffe. Verge- waltigung wird zum Paradigma der Heterosexualität erhoben. Und sie bemerkt:<br />
Diese Art des feministischen Denkens in der weiblichen Sexualität verlangt "eine Art von Gleichheit,<br />
die sich nach meinem Kulturverständnis nicht geben sollte". Sie kritisiert zudem diese Art der<br />
Frauen-Wahrnehmung, sich zusehends nur als Leid- tragende zu sehen, die des besonderen gesellschaft-<br />
lichen Schutzes bedürfe. Madame Badinter warnt ein- dringlich davor, den zentralen Unterschied<br />
zwischen Männer und Weiblichkeit auf das Biologische zu redu- zieren, weil die Frauen ihre<br />
in den letzten 30 Jahren mühsam er- kämpften Rechte unversehens wieder verlieren könnten. Besonders<br />
wehrt sich Elisabeth Badinter gegen die "Unsitte", alle Frauen pauschal wie grobschlächtig über<br />
einen Kamm zu scheren. Sie meint, dass die Unter-schiede zwischen Frauen in ver- schiedenen<br />
Lebenssituationen und sozialen Schichten deut- lich gravierender sind, als etwa zwischen Männer<br />
und Frauen mit einem ähnlichen Lebensstil. Durch solch einen wichtigen "feministischen Irrtum",<br />
so befürchtet Badinter, wird sich das Verhältnis zwischen Frauen und Männern weiter verschlechtern.<br />
- Graben- kämpfe über Kontinente hinweg.<br />
Wenn ein Amerikaner jedenfalls einer Lady auf Busen und Beine schaue, erzählt Madame<br />
Badinter zum Frauen-Verständnis , werfe man ihm vor, ein Schwein zu sein. Wenn ein Franzose das<br />
tue, finde eine Frau das charmant, selbst dann, wenn sie sich als Feministin begreife. "Und" - fragt<br />
die Philosophieprofessorin - "ist nicht ein Mann, der mir den Hof macht, viel ungefähr-licher als<br />
einer, der es nicht tut?" Mit einer Feststellung fährt sie fort: "Bei uns haben Männer und Frauen<br />
weniger Angst voreinander. Die Statistiken zeigen übrigens, dass es auf der anderen Seite des Atlantiks<br />
sehr viel mehr Vergewaltigungen gibt. Ist nicht der harte amerikanische Feminismus mit ein<br />
Grund dafür?"<br />
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Elisabeth Badinter zieht Bilanz zwischen den Ländern - ein zwischenzeitliches Frauen-<br />
Remüsee. Sie verdeut- licht: "Mir scheint, dass in Frankreich größere Erfolge erzielt werden - durch<br />
die Tradition der Beziehung zwischen Mann und Frau. Die Feministinnen in Deutschland befanden<br />
sich oder sind immer noch im Krieg mit den Männern. In Frankreich wäre das nicht vorstellbar. Die<br />
meisten Frauen wollen einen Lebens-gefährten, Kinder, ein erfülltes Privatleben, Sport treiben und<br />
kulturell aktiv sein, womöglich einen Geliebten haben - und arbeiten. Die französischen Frauen<br />
haben sich immer eine Art Komplizenschaft mit den Männern, die sie kritisieren, bewahrt. Das was<br />
sehr günstig für die Veränderung des männlichen Verhaltens. In den USA und in Deutschland<br />
herrscht hingegen ein weitaus aggressiverer Ton. Die Deutschen führen Krieg mit ihren Männern.<br />
Doch es braucht viel Feingefühl, Ausdauer, um den Mann, mit dem man lebt, zu ver- ändern. Man<br />
braucht das Gesetz wie die Kompli- zenschaft. Die amerikanischen Feministinnen halten uns für zu<br />
nachsichtig. Aber ich finde, die Situation der franzö-sischen Frau ist wesentlich besser als die der<br />
Ameri-kanerinnen und der Deutschen. Denn wir haben mehr Rechte, mehr Gleichheit, auch in der<br />
Mentalität." - Die stille Revolution der Französinnen.<br />
Nur selten steht Elisabeth Badinter wie jetzt in den frühen Abendstunden auf ihrem<br />
Balkon, dort, wo sich ihre Gedanken beruhigen, ihre Blicke das Panthéon umspielen, durchdringen<br />
können. Von fern leuchtet Sacré Coeur über Paris.<br />
"Das nächste Jahrhundert", sagt sie auf einmal, "wird definitiv die Verwirklichung des Androgynen<br />
bringen. Das bedeutet die Möglichkeit, beide Seiten seiner Persönlichkeit ausleben zu können. Wir<br />
Frauen haben hier in Frankreich schon mehr erreicht, als wir vor drei Jahrzehnten zu hoffen wagten.<br />
Nur müssen wir auf der Hut sein. Diese Bewegung nach rechts als Sinnbild des neuen Glücks<br />
scheint mir absurd. Feministinnen, die ihr Leben den Kindern widmen, sind keine Feministinnen<br />
mehr", sagt sie, schließt die Balkontür und fügt noch hinzu: "Das Erkennen der Einsamkeit ist eine<br />
Kraft und kein Ziel."<br />
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2008<br />
Zeitgeschichte: Reiche Kommunisten von einst -<br />
Unaufhaltsamer Niedergang der PCF in Frankreich<br />
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Zeitgeschichte: Reiche Kommunisten von einst - Unaufhaltsamer<br />
Niedergang der PCF in Frankreich<br />
Russische Kuriere schmuggelten bis in die fünfziger Jahre Dollarnoten und Goldbarren<br />
nach Frankreich , um ihre notleidenden Genossen beim Kampf gegen das kapitalistische System zu<br />
unterstützen. In den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts war der damalige KP-Chef<br />
Georges Marchais (*1920+1997) auf die Hilfe aus Moskau nicht mehr angewiesen. Der Arbeiter-<br />
Sohn und Maschinenschlosser steuerte inzwischen ein gigantisches Wirtschaftsimperium. Von<br />
Tante-Emma-Läden über Supermärkte, vom kleinen Buchhandel bis zur Großdruckerei, vom Reisebüro<br />
bis zum Möbelhaus. Frankreichs Kommunisten machten seinerzeit von der Öffentlichkeit<br />
nahezu unbemerkt Profit. Selbst wenn in Stadtparlamenten öffentliche Aufträge vergeben wurden,<br />
wirtschaftete die KPF über Mittelsmänner auf eigenes Konto. Jahrzehnte später: Schulden über acht<br />
Millionen Euro Defizite. Die einst vom brasilianischen Star-Architekten Oscar Niemeyer erbaute<br />
KPF-Parteizentrale öffnete sich als Schauplatz obskurer Modeschauen, gar christlicher Wohlfahrt-<br />
Veranstaltungen. Ursache: Mitgliederschwund, Geld-Desaster, Vertrauens-schwund - und aus<br />
Moskau keinen Cent mehr dazu. Rück- und Ausblick. Abgesang einer Epoche.<br />
Stern, Hamburg 16.März 1978 / 06. November 2008 °<br />
Geld ist die Verbrüderung der Unmöglichkeiten. Es zwingt das sich Widersprechende zum<br />
Kuss". Was Karl Marx (* 1818+1883) Mitte des 19. Jahrhunderts im "Kapital" philosophierte,<br />
führten gut 100 Jahre später Frankreichs Kommunisten in der Praxis vor: Angetreten zum Kampf<br />
gegen die großen Monopole, baut die KPF selbst riesige Wirtschaftskonzerne auf. Und im Kampf<br />
gegen die Kapitalisten marschieren vorweg parteieigene "Kapitalisten". An ihrer Spitze der 57 Jahre<br />
alte Bauer, Winzer, Tierzüchter, Obsthändler und Unternehmer Jean-Baptiste Doumeng<br />
(*1920+1987). Moment-Aufnahmen aus dem bizarren Leben eines kommunistischen Spitzen-<br />
Funktionärs in Frankreich; aufgenommen vor mehr als drei Jahrzehnte; jenen reichen Partei-Jahren.<br />
Retrospektive. Geschichts-Stunde.<br />
Auf dem Telefonbord des Jean-Baptiste Doumeng liegt das Dior-Brillenetui gleich neben<br />
der Lenin-Plakette. In der Bücherwand gegenüber stehen die Bibel und die Schrift des einstigen<br />
französischen KP-Prominenten Jacques Duclos (*1896+1975) über "die erste Internationale". Es<br />
war eben der markante Duclos, der jemals das beste Wahlergebnis für die KP in Frankreich erreichen<br />
konnte - bei der Präsidentschaftswahl 1969 mit 21,27 Prozent aller Stimmen. - Lang, lang ist's her.<br />
Indes: Vor dem Doumeng-Anwesen sind kreuz und quer die sechs Wagen der vierköpfigen Familie<br />
geparkt: Citroen CS, Mercedes und Landrover für den Hausherren, Renault R 16 für die Hausfrau.<br />
Alfas 2000 GTV für die beiden Söhne. Auf dem der Alfas liegen mit Hammer und Sichel<br />
geschmückte Mitgliedskarten der kommunistischen Jugendbewegung.<br />
Dem Stilleben entspricht der Lebensstil - auch in längst vergilbten Epochen. Sonntagmorgen<br />
im südfranzösischen Noe: Jean-Baptist Doumeng, der Hausherr in Windjacke und karierter<br />
Mütze inspiziert per Landrover einen Teil seiner Ländereien. Alles ist nicht zu schaffen in dem<br />
riesigen Gebiet, das sich in der Ebene der Haute-Garonne vor den schneebedeckten Bergen der<br />
Pyrenäen im Süden Frankreichs erstreckt. Nur schnell vorbei an den Fußballfeld großen Rinderstallungen<br />
- 1.000 Stück Vieh werden hier pro Woche verkauft. Weiter geht's über holprige Feldwege<br />
und das eigene Flüsschen hügelan zur Perle des Besitzes: dem Reitstall mit den Araber-Vollblütern.<br />
__________________________<br />
° unter Mitarbeit von Peter Koch<br />
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Wie viele Pferde es sind ? Der Hausherr weiß es nicht: "Zehn, vielleicht 20." Sohn<br />
Michel,23, und Mitglied der kommunistischen Jugendbewegung, der mit einem der Hengste als<br />
Springreiter an der nächsten Olympiade in Moskau teilnehmen will, korrigiert: "Es sind 24." Neben<br />
den Stallungen die private Reithalle, so groß, dass sie gut als Hangar einer Boeing 707 dienen könnte.<br />
Dahinter dann der offene Parcours. Auf dem Rückweg ein kurzer Stopp vor einem Haus aus unverputztem<br />
Feldstein, davor ein Hühnerstall und ein kleiner Blumengarten. Es ist das Geburtshaus des<br />
Patron, sein Vater war Tagelöhner; seine Mutter, die als Amme die Kinder begüterter Bürger im<br />
nahen Städtchen Noé nährte, starb hier an Auszehrung, als der Junge Jean-Baptist 16 Jahre alt war.<br />
Bei der Rückkehr springen vier Hunde den Hausherrn an: gefleckte Dogen, ein Schäfhund<br />
und der fohlengroße Barsoi "Kopek", eine zottelige Windhundart, die in ihrer sibirischen Heimat<br />
Wölfe jagt. Von der Straße her sieht das Wohnhaus unscheinbar aus, eine Betonmauer ohne Fenster,<br />
darauf ein Schrägdach. Zum Garten hin springt das Haus wie eine Muschel auf, durch bodentiefe<br />
Fensterfronten dringt Sonnenlicht in die gut 100 Quadratmeter große Wohnhalle, ein Balkon vor<br />
dem Schlafzimmer im ersten Stock ist zugleich Sprungbrett in den drei Meter tiefen Swimming-Pool<br />
- beheizt und mit Unterwasser-Beleuchtung.<br />
Die Mittagstafel, ein großer runder Holztisch mit drehbarem Innenteil, ist schon gedeckt.<br />
Der 23jährige Michel gibt dem Diener - einem gleichaltrigen Marokkaner - knapp Order: "Sie<br />
können jetzt servieren!" Gänseleberpastete und ein schwerer 69er Monbazillac-Weißwein beginnen<br />
auf dem Innentisch ihre Karussellfahrt. Der Hausherr philosophiert dazu: "Meine Lebenserfahrungen<br />
haben mir bewiesen, dass der Kapitalismus überholt ist". sagt er und rollt dabei die Konsonanten,<br />
"in spätestens 30 oder 50 Jahren ist es vorbei. Dann wird die Gesellschaft der Menschen<br />
wissenschaftlich so organisiert sein, dass Gleichheit und Gerechtigkeit herrschen. Das ist mein<br />
innigster Wunsch."<br />
Der Hausherr ist Kommunist, Selfmade-Kommunist. Im Sterbejahr seiner Mutter gründete<br />
er mit zwei Freunden die kommunistische Partei seines Heimatortes. Der 16jährige Hirtenjunge,<br />
der keine Zeit für die Schule hatte, war vom Gemeindepfarrer und Dorfbriefträger - beide wegen<br />
aufrührerischer politischer Ideen nach Noé strafversetzt - in Marx und Engels, auch Kant und Hegel<br />
unterwiesen worden. Er wollte sich damit nicht abfinden, dass bei der Ordnung der Welt in Reiche<br />
und Arme die Reichen immer nur die anderen sein sollten. Jean-Baptiste Doumeng hat es geschafft.<br />
"Ich bin der reichste Kommunist der Welt", kann er heute von sich sagen. Wie reich genau, erzählt<br />
er nicht, vielleicht weiß er's nicht. Nur: "Für 20 Millionen Dollar würde ich meinen Platz nicht<br />
räumen."<br />
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Er ist ausgewiesen als Präsident, Generaldirektor oder Teilhaber von rund 40 Unternehmen.<br />
Sein wahrer Einfluss aber ist nicht nur an Posten ablesbar. Mit Nikita Chruschtschow<br />
(*1894+1971) ging Jean-Baptiste Doumeng auf Bärenjagd. Leonid Breschnew (*1906+1982)<br />
empfängt ihn in Moskau am Flughafen - eine Ehre, von der KPF-Chef Georges Marchais<br />
(*1920+1997) nur Zeit seines Lebens träumen konnte. Doumeng gilt als die graue Eminenz der<br />
Kommunistischen Partei Frankreichs, als ihr heimlicher Schatzmeister. Früher hatte er auch einmal<br />
offizielle Posten in der Partei, bis 1964 saß er im Zentralkomitee. Für solche Ämter lassen ihm heute<br />
seine Geschäfte keine Zeit mehr.<br />
Doumeng, der trotz Goldrandbrille mit wuchtigem Kopf, seinen breiten Händen und der<br />
gedrungenen Gestalt noch immer so aussieht wie der Charakter-Darsteller des französischen Films<br />
Jean Gabin (*1904+1976) in der Rolle eines Bauern des Midi, wickelte sein erstes Geschäft nach<br />
dem Krieg ab: der Tausch französischer Kartoffeln gegen tschechische Traktoren. "Das war etwas<br />
schwierig", sagt Doumeng, "weil die damalige Tschechoslowakei noch keine Volksrepublik war." Mit<br />
dem Gewinn gründete Doumeng die "Union landwirtschaftlicher Genossenschaften des Südwestens".<br />
Im Genossenschaftswesen glaubte er merkantile Effizienz des Kapitalismus und moralische<br />
Ansprüche des Kommunismus synchronisieren zu können. Nunmehr handelt Doumeng - immer<br />
im Namen und Auftrag solcher Kooperativen von inzwischen 250.000 Bauern und Winzern - mit<br />
Fleisch, Getreide und Wein, mit Torte aus St-Tropez mit Haute Couture von Jacques Esterel<br />
(*1917+1997), mit Immobilien und Traktoren. Selbst aus Scheiße macht Doumeng inzwischen<br />
Geld. Er fand heraus, dass die Exkremente der Rinder einen hohen Prozentsatz unverdauter proteinreicher<br />
Nahrungsbestandteile enthalten, und entwickelte ein heute weltweit exportiertes Trennverfahren,<br />
das aus Rindermist wieder Rindernahrung macht.<br />
Als Geheimnis seines Geschäftserfolgs hält er die Selbsterkenntnis parat: "Ich bin eben<br />
klüger als die anderen." Und: "Ich hab' eben mit den Ländern des Ostblocks Verträge abgeschlossen<br />
- ohne Vorauskasse, Zahlung erst bei Lieferung -, als die Kapitalisten noch zu furchtsam waren." In<br />
der Tat: Der Osthandel war und blieb Motor und Haupteinnahmequelle aller seiner Unternehmungen.<br />
Über seine Firma Interagra - in einem Hinterhof von Toulouse ein Dreizimmerbüro, in<br />
Paris eine komfortablere Zentrale in der Rue Auber nahe der Oper - hat er praktisch ein Monopol<br />
für den Handel zwischen Frankreich und der Sowjetunion. Jährlicher Umsatz: etwa 1,8 Milliarden<br />
Euro. Über Interagra wickelte Doumeng seine spektakulären Geschäfte ab: Er verscherbelte an die<br />
Russen Kühlhausbutter West-Europas zum Niedrigstpreis und kassierte dabei Hunderte von Millionen<br />
Euro an Exportsubventionen. Die Russen ihrerseits zweigten ein gut Teil der Billigbutter ab und<br />
verkauften sie mit Aufpreis nach Chile des Salvador Allendes (Präsident Chile 1970-1973;<br />
*1908+1973). "Ich habe den Kapitalismus in den Dienst des Kommunismus gestellt", sagt<br />
Doumeng - und wenn's mal umgkehrt läuft, stört es ihn auch wenig. Hauptsache, dass rote Zahlen<br />
bei ihm Plus bedeuten.<br />
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Und das dann nicht nur bei ihm. Wie viele Millionen Provision von Doumengs Geschäften<br />
jährlich auf die KPF-Konten fließen, ist eines der bislang und nie gelüfteten Geheimnisse in der<br />
ohnehin nicht gerade publikumsfreudigen Parteizentrale an der Place du Colonel Fabien in Paris.<br />
Und wohl selbst dem französischen Fiskus wird es nie gelingen, diese Transaktionen zu durchleuchten.<br />
Wie auch? Doumeng wickelt seine Osthandelsgeschäfte über die "Banque Commerçiale pour<br />
l'Europe du Nord" BCEN) ab, ein Geldinstitut am Boulevard Haussmann, dessen einstöckige<br />
unscheinbare Marmorfassade an die Außenfront einer Fahrschule erinnert. Die Aktien der BCEN<br />
gehören zu 99,7 Prozent der sowjetrussischen Staatsbank und der Moskauer Außenhandelsbank<br />
BCEN, 1921 gegründet und inzwischen auf einer Bilanzsummer von annähernd 2 Milliarden Euro<br />
als größte Auslandsbank Frankreichs, ist zugleich auch die Hausbank der KPF. Damit ist Vorsorge<br />
getroffen, dass aus Doumengs Geschäften vorab Provisionen auf KPF-Konten abgezweigt werden<br />
können, ehe die endgültige Gutschrift auf das Interagra-Firmenkonto erfolgt. - Satte, sorgenfreie<br />
Jahre. Doumeng hat auf die Fragen nach der Höhe seiner Zahlungen an die Partei eine Standardantwort:<br />
"Ich zahle meinen Beitrag und gebe der Partei ab und zu Spenden: eher 1.000 Francs als zwei<br />
Francs."<br />
Wer so viel bäuerlichem Charme nicht erliegt, dem liefert Doumeng noch einen zweiten<br />
Hinweis auf seine scheinbare Harmlosigkeit: "Sehen Sie, die 'Humanité hat noch nie über mich<br />
geschrieben." Schlüssiger ist indes nie der eigentliche Beweis für Doumengs Bedeutung geliefert<br />
worden. Das ehemalige KP-Zentralorgan "L'Humanité" ( gegründet 1904, im Jahr 1994 verschwanden<br />
Hammer und Sichel im Zeitungskopf) schwieg, als Doumeng 1976 wegen Weinpanscherei zu<br />
23 Millionen Francs Strafe verurteilt wurde. Die KPF schloss die Augen, als Doumeng sich mit dem<br />
kapitalistischen Erzfeind, dem Bankier Guy de Rothschild (leitete von 1967 bis 1979 die Familienbank,<br />
*1909+2007) in einer Vertriebsgesellschaft für Obst und Gemüse zusammentat. Doumeng:<br />
"Ich kenne alle Rothschilds beim Vornamen". Kein entrüsteter Kommentar in der KPF-Gazette<br />
prangerte Doumeng an, als er 1972 eine Millionen Hektoliter billigen algerischen Wein importierte,<br />
obwohl Südfrankreich zur selben Zeit nicht wusste, wohin mit den aus der eigenen Überschussproduktion<br />
stammenden Weinvorräten.<br />
Weshalb auch einen Mann angreifen, der schließlich auf dreifache Weise der Partei Nutzen<br />
bringt: als Finanzier, als Aushängeschild für kommunistische Unternehmer-Freundlichkeit und<br />
schließlich als Modell für eigene Finanzakrobatik. Denn die Abschaffung des Kapitalismus erfordert<br />
zunächst einmal Kapital - mehr als es Doumeng der Partei zukommen lassen konnte. Und da die<br />
direkte Expropriation der Expropriateure (laut Karl Marx die Enteignung der Enteigner) nach dem<br />
Vorbild Stalins, der 1907 bei einem Überfall in Tiflis auf Geldboten des Zaren 375.000 Rubel<br />
eroberte, nicht mehr in die Zeit passt, müssen andere Wege gefunden werden. Zumal sich die KPF<br />
mit ihrem neuen Kurs aus dem Jahre 1976 nach größerer Unabhängigkeit von Moskau, eine ihrer<br />
Haupteinnahmequellen zugeschüttet hatte: das direkte Geld aus Moskau. Zur Erinnerung: Während<br />
der zwanziger und dreißiger Jahre , selbst noch nach dem Zweiten Weltkrieg verkehrten ständig<br />
Kuriere mit Dollarbündeln im doppelbödigen Koffer zwischen Moskau und Frankreich.<br />
329
Der Geldsegen versiegte aber spätestens, als Georges Marchais (KPF-Generalsekretär<br />
1972-1994) die Revolutionsanweisung von der "Diktatur des Proletariats" aus dem Programm der<br />
KPF tilgte, ein Vorgang, den das US-Magazin Newsweek damit verglich, dass die katholische Kirche<br />
plötzlich das Dogma von der unbefleckten Empfängnis verwerfen würde. Und für eine Partei, die<br />
sich gegen industrie-finanzierte Bürgerparteien durchsetzen muss, langten auch nicht mehr die<br />
Zinsen aus dem inzwischen schon zur Legende gewordenen Goldschatz der republikanischen<br />
Regierung Spaniens, den Frankreichs Kommunisten im Bürgerkrieg (1936-1939) zum größten Teil<br />
nach Paris verfrachten konnten. Die beiden Lastwagen-Ladungen Gold wurden mit dem Frachtdampfer<br />
Cap Pinede nach Frankreich verschifft - Direktor der Cap Pinede-Reederei "France<br />
Navigation" , eines Gemeinschafts-Unternehmens russischer und französischer Kommunisten, war<br />
der junge seinerzeit von den Nazis verschleppte und internierte KP-Funktionär Georges Gosnat.<br />
Als Schatzmeister der KPF verwaltete und wachte Gosnat (*1914+1982) über das Parteivermögen.<br />
Zur Erinnerung: Allein die erste Runde des Präsidentschafts-Wahlkampfes aus dem Jahre<br />
1978 kostete die Partei mindestens 7,7 Millionen Euro. Für eine einzige Parteiversammlung, etwa im<br />
Pariser Vorort Poissy, wurden 16.000 Plakate und 150.000 Traktate mit Marschais-Parolen gedruckt.<br />
Kosten: 31.000 Euro Und schon vor dem Wahlkampf hatte die KPF hohe Propaganda-Ausgaben.<br />
Im September 1977 nach der Aufkündigung des Zusammengehens mit den Sozialisten, gab die KPF<br />
1,6 Millionen Euro aus, um den Französinnen und Franzosen den plötzlichen Kollisionskurs gegen<br />
den bisherigen sozialistischen Partner François Mitterrand (Staatspräsident 1981-1995;<br />
*1916+1996) klarzumachen. - Kommunisten, die aus dem Vollen schöpfen konnten.<br />
Artikel 51 des KPF-Parteinstatuts bestimmt: "Die Finanzierung der Partei erfolgt über<br />
Beiträge, Spenden, Diätenrückzahlungen und durch die Unternehmen der Partei." Eine staatliche<br />
Parteieninfanzierung gibt es in Frankreich nicht. Seit dem Jahr 1973 veröffentlicht die KPF eine<br />
Bilanz von Einnahmen und Ausgaben - seit sie ihr neues, vom Brasilia-Architekten Oscar Niemeyer<br />
konstruiertes gläsernes Hauptquartier an der Place Colonel Fabien bezog. Slogan: "Wir sind so<br />
durchsichtig wie unser Haus." Das hinderte freilich die Pariser Staatsanwaltschaft im Jahre 2001 nicht<br />
daran, gegen den damaligen KPF-Vorsitzenden Robert Hue (1994-1998) ein Ermittlungsverfahren<br />
wegen Korruption einzuleiten. Danach sollen über 3.5 Millionen Euro Bestechungsgelder für nie<br />
erbrachte Leistungen im Rahmen der illegalen Parteienfinanzierung in den Jahren 1984 und 1994 in<br />
die Kassen der kommunistischen Partei geflossen sein. Auch wenn Robert Hue vom Vorwurf<br />
undurchsichtiger Finanztransaktionen als Gegenleistung für Aufträge in kommunistisch regierten<br />
Städten vom Gericht freigesprochen wurde, "König Geld" war schon immer seit Jahrzehnten ein<br />
klebriger Wegbegleiter der Genossen. Indes, schon der bereits im Jahre 1977 veröffentlichte Etat<br />
weist nur drei der im Statut genannten Einnahmequellen aus.<br />
330
Danach kassierte die Partei an<br />
o Mitgliedsbeiträgen im Jahre 1977 noch 6,92 Millionen Euro. Jedes der damals 500.000 KPF-<br />
Mitglieder (im Jahre 2006: nur noch 138.000) muss ein Prozent seines Einkommens an die Partei<br />
abführen;<br />
o Diäten-Rückflüssen von etwa 1,3 Millionen Euro. Jeder über KPF-Liste in irgendein öffentliches<br />
Amt gewählte Funktionsträger - vom Abgeordneten der Nationalversammlung bis hin zum Bürgermeister<br />
des 5.000 Seelen-Ortes Port-Saint-Louis im Département Bouches-du-Rhône - muss seine<br />
vom Staat gezahlten Einnahmen an die Parteikasse abliefern. Verfügte die KPF im Jahre 1978 noch<br />
über 86 Abgeordnete (20,5 Prozent) in der Nationalversammlung, so sackte ihr Stimmenanteil im<br />
Jahre 2007 auf 4,3 Prozent mit 15 Sitzen zusammen. Die Folge: Seit 1958 konnten die Kommunisten<br />
erstmals im Pariser Parlament keine eigene Fraktion mehr bilden. Überdies blieben die<br />
Genossen auf einen hohen Schuldenberg aus ihren Wahlkämpfen sitzen. Für eine Rückerstattung<br />
dieser Auslagen hätte die KPF 5,0 Prozent der Wählerstimmen erreichen müssen. - Finanz-<br />
Desaster.<br />
o In früheren, sorglosen Jahrzehnten bekam jeder KPF-Offizielle - damals Parteichef<br />
Georges Marchais eingeschlossen - von der Partei den Monatslohn eines "hochqualifizierten Metallfacharbeiters<br />
der Region Paris ausgezahlt - im Jahre 1978 genau 815 Euro. So überweist der Multifunktionär<br />
Georges Valbon (*1924+2009) Bürgermeister von Bobigny (1965-1996) bei Paris, einst<br />
Vorsitzender der Départment-Verwaltung von St. Denis und Mitglied der Regional-Verwaltung,<br />
jährlich insgesamt 21.100 Euro auf das Parteikonto Nr. 4890 bei der sowjetgeführten "Banque<br />
Commerçiale pour l'Europa du Nord". Doch stehts reicht das den Funktionären rückgezahlte<br />
Facharbeiter-Gehalt für gehobenen Lebensstandard, weil Spesen, Dienstwagen, Chauffeur und<br />
Hausangestellte hinzukommen. Zur damaligen Zeit etwa konnte sich Parteichef Georges Marchais<br />
auch mit dem offiziellen Minimun-Lohn einen Landsitz in Champigny kaufen;<br />
o Spenden und Sammlungen schlugen seinerzeit mit 7,7 Millionen Euro zu Buche. Auf<br />
jeder Parteiversammlung rappelte KPF-Jungvolk wie Bettelmönche mit der Sammelbüchse. Neben<br />
dem Pförtner in der Parteizentrale forderte noch immer, fünf Jahre nach dem Einzug, ein Schild zur<br />
Spendenaktion für die Abzahlung des Neubaus auf. Ehedem: Im Vorwahljahr 1977 richtete das<br />
Politbüro einen "nationalen Wahlkampf-Fonds" ein und erließ Spendenaufrufe. Bisheriger Eingang:<br />
900.000 Euro. An jedem 1. Mai schwärmen Tausende von Parteigenossen mit Mai-Glöckchen-<br />
Gebinden aus. Die vier Stengel, die sie für 27 Cents auf dem Pariser Großmarkt holen, verkaufen sie<br />
zum Preis von einem Euro - damals. Mehrwertschöpfung zum Wohle der Partei: 311,76 Prozent.<br />
Gesamteinnahmen des 1. Mai 1977: 770.230 Euro.<br />
Alljährlicher Höhepunkt der Francs/Euro-Kollekte ist alljährlich im September das Fest<br />
der "Humanité". Allein der Eintritt zu diesem Mammutspektakel kostete seinerzeit 12 Francs (1,85<br />
Euro) und erbrachte 12 Millionen Francs ( 1,85 Millionen Euro). Dessen ungeachtet zahlen<br />
Konsum-Konzerne bis zu 700.000 Euro Standgebühren (zum Beispiel der Apéritif-Hersteller<br />
Ricard ). Sie locken zudem kommunistische Festbesucher mit Sprüchen an wie: "Das Fußfallspiel<br />
findet unter dem Exklusiv-Patronat von Coca-Cola statt." Immerhin gelang es den Veranstaltern<br />
trotz eines Eintrittspreises von 20 Euro im Jahre 2009 insgesamt die Aufmerksamkeit von zwanzigtausend<br />
Jugendlichen für Tage auf sich zu lenken. Einnahme: 400.000 Euro.<br />
331
So intensiv schien jedenfalls der Drang der Kapitalisten zu Kommunisten, dass es sich die<br />
Partei inzwischen leisten konnte, unbotmäßige Firmen von der Werbe wirksamen Teilnahme am<br />
Polit-Jahrmarkt auszuschließen. Seinerzeit führte der Direktor des Fête du l'humanité und Herausgeber<br />
gleichnamiger Zeitung (1974-1994) , Politbüromitglied Roland Leroy schwarze Listen jener<br />
Firmen, die das Jahr über nicht in "L'Humanité Dimanche" inserierten. Die Brauerei Kronenburg<br />
durfte zu besagter Zeit genausowenig aufs Fest wie der Getränkekonzern Schweppes, das Mineralwasser<br />
Evian oder der Champagner-Produzent Taittinger. Gleichwohl kamen so im Jahr 1976 - als<br />
Beispiel - 18,5 Millionen Euro auf die Einnahmeseite des offiziellen Etats. - Lang ist's her.<br />
Ausgegeben wurden diese beträchtlichen Summen laut Rechenschaftsbericht des Parteischatzmeisters<br />
Georges Gossnat fürs Zentralkomitee (1,53 Millionen Euro), für nachgeordnete<br />
Funktionäre (6,15 Millionen Euro), für Verwaltungskosten (5,4 Millionen Euro) und für Propaganda<br />
(5,4 Millionen Euro). Dass diese Bilanz frisiert war, bewies der französische Investigations-Journalist<br />
Jean Montaldo in seinem 1977 im Verlag Albin Michel veröffentlichten Buch "Les Finanes du PCF,<br />
le parti plus capitaliste de France" eindrucksvoll wie unwidersprochen.<br />
Nach dieser Aufschlüsselung der Mitgliedsbeiträge (ein Prozent des Gehaltes) müssten<br />
über die Hälfte der französischen Genossen weniger als 220 Euro monatlich verdienen und damit<br />
weit unter dem gesetzlich garantierten Mindestlohn von damals 270 Euro liegen. Dass die Genossen<br />
beitragsehrlich waren und sind, dafür sorgen schon KPF-Betriebsgruppen und die kommunistisch<br />
stark beeinflusste Gewerkschaft CGT mit ihren 700.000 Mitgliedern . Tatsächlich fehlt schon immer<br />
in dem offiziellen Etat der im Statut erwähnte Einnahmeposten "Unternehmen der Partei". Darüber<br />
mochte Georges Grosnat in seinem Rechenschaftsbericht nur sagen: "Sicherlich, unsere Partei<br />
musste Wirtschaftsunternehmen gründen. Aber die sollen ihr nur helfen, das Erscheinen der<br />
'L'Humanité', den Betrieb von Druckereien und Verlagen zu sichern. Deshalb ist es unnütz, darüber<br />
öffentlich zu spekulieren, wieviel Geld im einzelnen diese Wirtschaftspolitik erbringt."<br />
Kenner schätzen, dass dabei noch einmal die gleiche Summe zusammenkommt, wie sie die<br />
offizielle Bilanz ausweist. Denn die KPF hat sich im Laufe der Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg ein<br />
riesiges Imperium von Wirtschaftsunternehmen aufgebaut. Mitte der siebziger Jahre gehörten dem<br />
Konzern der Partei der Antimonopolisten etwa 300 Firmen an. Neben dem Zentralorgan<br />
"L'Humanité" (Auflage damals 198.000, im Jahre 2006: 50.000 ) und dessen Sonntagsausgabe (einst<br />
500.000, nunmehr 80.000 Exemplare) erschienen zwischen Marseille und Dünkirchen weiter 160<br />
kommunistische Publikationen . Von der Kinderzeitschrift "Pif" - die der Hamburger Verlag Gruner<br />
+ Jahr unter dem Titel "Yps" in der Bundesrepublik übernommen hat - über die in Toulouse erscheinende<br />
Provinz-Zeitung "Nouvelle de Toulouse" bis zum arabischen Gastarbeiter-Blatt "L'Immigrés<br />
d'Afrique du Nord".<br />
332
Parallel zum Zeitungsmarkt belieferte die KPF über ihre Verlags- und Vertriebsorganisation<br />
CDLP - die seinerzeit zweitgrößte Frankreichs - 40 ihrer angeschlossenen Büchereien und über<br />
100 öffentliche Bibliotheken kommunistisch regierter Gemeinden. Außerdem fungiert die CDLP als<br />
Dachorganisation weiterer 20 Buchverlage. So für "Edition sociales" ,die hauptsächlich marxistische<br />
Literatur herausgibt und mit dem "gemeinsamen Buch-Programm" von Kommunisten und Sozialisten<br />
einen 1,8-Millionen-Bestseller landete. So auch für die "Editions la farandole", die Kinderbücher<br />
auf den Markt bringt, und für die Buchgemeinschaft "Club Diderot", dem immerhin über<br />
100.000 Mitglieder angehören.<br />
Von Paris aus steuert die KPF über ihre Holding-Gesellschaft GIFCO 23 spezialisierte<br />
Liefer- und Beratungsfirmen in die Provinz hinein. So versorgt die SOCOPAP die seinerzeit 1.813<br />
kommunistische Rathäuser mit Büromaterial, die SOFCOL liefert Schulmöbel, die Firma "Les<br />
Sports" baut Sportanlagen, und das Unternehmen Ferrandon installiert Heizungen. Unter dem<br />
Dach der GIFCO baute die KPF einen Staat im Staate auf. Die GIFCO-Tochter SOGIR hilft<br />
Gemeinden, durch neue Computer-Technologien ihre Daten zu speichern. Die erfassten Personalien<br />
der Bürger - ob Kommunisten oder nicht - sind für die Partei jederzeit abrufbar.<br />
Mit der 1960 erstmals ausgegebenen Parole "Mit dem Giebel zur Straße" ("Du Pignon sur<br />
rue") begann die KPF rapide Gebäude und Grundstücke anzuschaffen. Mitte der siebziger Jahre<br />
war sie Eigentümerin von über 130 Parteihäusern, von neun solventen Verwaltungsgesellschaften<br />
und zahlreichen kleinen Immobilienfirmen, deren Aufgaben sich oft darauf beschränkten, Parteihäuser<br />
oder auch nur Büchereien zu verwalten. In einem der expansivsten Wirtschaftszweige, dem<br />
Tourismus, haben die französischen Kommunisten mit ihrem Reiseunternehmen "Tourisme et<br />
Travail" den fünften Branchenplatz erobert. Gemeinsam mit der CGT-Gewerkschaft verkaufte das<br />
PCF-Reisebüro an 2,7 Millionen Franzosen Pauschalurlaube weltweit. Eine andere kommunistische<br />
Reisefirma "Loisir et vacances", warb für Billig-Reisen nach Moskau, nach Budapest oder auch nach<br />
Ost-Berlin in der früheren DDR. Der Slogan aus damaliger Epoche klingt wie eine Parole aus einer<br />
fremden Welt des vergangenen Jahrhunderts:" Der Sozialismus lebt! Fahrt hin und seht ihn euch<br />
an!"<br />
Hauptaugenmerk galt dem Aufbau eines Mechanismus, öffentliche Gelder über Parteifirmen<br />
in die Parteikassen zu leiten, um damit Progaganda-Schlachten zu gewinnen und Wählerstimmen<br />
finanzieren zu können. Filzokratie in den Kommunen wurde damit zum System. Ein perfektes<br />
Beispiel dafür ist die pittoreske südfranzösische Stadt Arles, einst Hauptstadt der römischen Provinz<br />
Gallia Transalpina. In diesem Städtchen mit seinem historischen Gemäuern und nahezu 52.000<br />
Einwohnern in der Region Provence-Alpes-Côte d'Azur genießen Kommunisten seit Jahrzehnten<br />
das Vertrauen ihrer Bürger, regieren in der Nachkriegszeit - ohne Unterlass. Geradezu zwangsläufig<br />
ist daher, dass die KPF es schon in den siebziger Jahren ohne Aufschrei vermochte, die gesamte<br />
Wirtschaft der Stadt in ihre Abgängigkeit zu bringen: vom Kleinkrämerladen über den Supermarkt<br />
bis zum Bestattungsunternehmen. Wer in Arles Geschäfte machen will, kommt an der Kommunistischen<br />
Partei nicht vorbei. Um sich öffentliche Aufträge zu sichern, hat die KPF das Beratungsunternehmen<br />
"Sud-Est-Equipement" gegründet. Diese Firma, in deren Direktorium nur Kommunisten<br />
saßen, hatte vornehmlich die Aufgabe , für kommunale Projekte ein Gutachten anzufertigen,<br />
und anschließend die Aufträge u vergeben, gegen Höchstgebote zugunsten der KPF.<br />
333
Ein makabres, einprägsames Beispiel war der neue Friedhof auf den weitflächigen neun<br />
Hügeln im Süden dieser Stadt. Er war vor Jahrzehnten, im Jahr 1971, ein bedrückendes, nie enden<br />
wollendes Wahlkampfthema. KP-Bürgermeister Jacques Porret, 51, Pfeifenraucher und Mercdesfahrer<br />
(auch er führt seine etwa 1.000 Euro Diäten) monatlich an die Partei ab), sagte damals: "Für<br />
die Armen ist das Sterben zu teuer. Wir Kommunisten werden einen Friedhof bauen, auf dem jeder<br />
seinen Platz findet und keine 400 Euro Bestattungsgebühr zahlen muss. Auch das gehört zur<br />
Gerechtigkeit und zur Qualität des Lebens."<br />
Die Oberaufsicht über das Projekt bekam der Architekt Laurence Manolakakakis, Widerstandskämpfer<br />
und KP-Stadtrat. Der schob das Auftragspaket weiter an die Sud-Est-Equipement.<br />
Die vergab den Auftrag an die Baufirma Chavagnas, obwohl sie teurer als die Konkurrenten war.<br />
Der Grund: Ihr Chef kannte den Trick der indirekten KPF-Finanzierung und zahlte von vornherein<br />
8.000 Euro (fünf Prozent des Endpreises ) als Provision an die Genossen-Organisation Sud-Est-<br />
Equipement. Indes: Von keiner Behörde mehr belästigt, konnte Chavagnas nun auf dem Friedhof<br />
bauen: Massengräber, eines wie das andere, austauschbar, bis zur Unkenntlichkeit verlaufen sich<br />
suchende Blicke , wo in 50 Meter langen Gräbern Sarg neben Sarg kommt und die Toten auf schlichten<br />
Holzkreuzen nur noch eine Nummer erhalten.<br />
Auch als die Kommune eine Kläranlage in der Rhône, ene Saline in Giraud, einen Großraumparkplatz<br />
im Stadtzentrum baute - immer kassierte die Genossenfirma Sud-Est-Equipement.<br />
Allein im Jahre 1976 nahmen die roten Kapitalisten 200.000 Euro für die Vermittlung von Aufträgen<br />
ein. In der Praxis bedeutete dies, dass jeder Bürger von Arles ungewollt einen Parteibeitrag zahlt:<br />
etwa 4 Euro pro Kopf. Sud-Est-Equipement-Manager Roger Teboul deponiert über seine Dach-<br />
Organisation GIFCO in der Pariser Rue de Dessous des Berges, die Gelder auf ein Konto bei der<br />
sowjetischen Banque Commerçiale pour l'Europe du Nord. Konto-Inhaber: KPF-Schatzmeister<br />
Georges Grosnat. - Satte Jahre mit Millionen-Summen französischer Kommunisten.<br />
Die Duplizität der Ereignisse. Als der Kommunismus in den Ostblock-Staaten zu Beginn<br />
der Neunziger zusammenbrach, Jahre zuvor bereits Auflösungserscheinungen zeitigte - in jener Ära<br />
traten in Frankreich zwei Vater-Figuren ab, die die französische Nachkriegeschichte geprägt haben.<br />
Mit dem Tod des roten Multi-Millionärs Jean-Baptiste Doumeng ,67, im April 1987 aus dem<br />
südfranzösischen Noe trat ein Mann von der Bühne ab, der die "Prinzipien des Bauerntums und des<br />
Marxismus" unter einen Hut brachte und die "Ausbeutung des Kapitalismus" zu seinem Prinzip<br />
erkor. Wenn und wann auch immer die EU-Kommission aus ihrer Überschussproduktion Lebensmittel,<br />
Butter-Berge oder Milchseen verkaufte, KPF-Mitglied Doumeng machte mit dem Ostblock<br />
die Geschäfte. So zahlten etwa die Moskauer Käufer für eine Rindfleischlieferung von 175.000<br />
Tonnen im Jahre 1985 genau 175 Millionen Dollar an Doumeng. Obwohl Doumeng zweifelsfreie<br />
Transaktionen zugunsten der KPF nicht nachgewiesen werden konnten, galt er als der "heimliche<br />
Finanzier" der Partei. Auffällig war zudem, dass mit seinem Abgang sich Frankreichs Kommunisten<br />
Schuldenberge anhäuften, ein finanzielles Desaster seinen Ausgangspunkt nahm. Die Ära der Vaterfigur<br />
Jean-Baptiste Doumeng als Geldbeschaffer aus dem Ostblock war damit jäh zu Ende.<br />
334
Mit dem Abgang des Alt-Stalinisten Georges Marchais als Generalsekretär der KP begann<br />
ein nahezu unaufhaltsamer Aderlaß - Ausverkauf der Partei. Er starb im November 1997 nach einer<br />
Herzattacke in Paris im Alter von 77 Jahren. Über Jahrzehnte regierte er seine Genossen mit eiserner<br />
Faust, erstickte Demokratisierungen im Keim. Alles, was aus Moskau kam, verteidigte der volkstümliche<br />
Metallarbeiter als ein Dogma; so die blutige Unterwerfung des Ungarn-Aufstands 1956 wie<br />
auch den Einmarsch sowjetischer Truppen in Prag (1968) und Afghanistan (1979). Als Frankreichs<br />
Kommunisten sich neuen linken sozialen Bewegungen öffnen wollten, gar die Umbenennung der<br />
Partei verlangten, konnte er derlei Reformversuche noch abwehren. Die Folge: Wählerschwund.<br />
Ehedem scharten sich um die 700.000 Mitglieder bei den Kommunisten; zu Beginn des Jahres<br />
2000/2004 waren es nur noch 138.000 Getreue. Auch die vielzitierten Wählerstimmen fielen im<br />
freien Fall. Im Jahre 1978 konnte Marschais und Genossen noch 5.870.402 Stimmen (20,5 Prozent)<br />
und damit 86 Parlamentssitze ergattern; im Jahre 2007 musste seine Nachfolgerin Marie-George<br />
Buffet, einen drastischen Vertrauensschwund verzeichnen - einen Rückgang auf 1.115.719 Wählerstimmen<br />
(4,3 Prozent). Insgesamt haben über 2,3 Millionen Wähler der KPF den Rücken gekehrt.<br />
Aderlaß<br />
Verheerend wirkten sich dürftige Wahlergebnisse auf die ehemals prall gefüllten Bankkonten<br />
aus. Da die KPF bei den Parlamentswahlen 2007 unter der Fünf-Prozent-Marke blieb, wurden<br />
ihr nach französischem Gesetz die Rückvergütung der Wahlkampfkosten versagt. Millionen-Verluste<br />
- acht Millionen Euro. Daran konnte auch die glaubwürdige Reformerin Marie-George<br />
Buffet(Ministerin für Jugend und Sport von 1997-2002) als neu gewählte Generalsekretärin wenig<br />
ausrichten. Es gelang ihr nicht, den Abwärtstrends ihrer KPF noch zu stoppen. Bei der Präsidentschaftwahl<br />
2007 bekam die bekennende Feministin 1,94 Prozent der Stimmen; die KPF als plittergruppe,<br />
die neue soziale Bewegung der trotzkistischen Partei LGR des Postboten Olivier Besancenot<br />
als Sammelbecken einer neuen Linkspartei auch enttäuschter KPF-Wähler. Den Niedergang der<br />
KPF dokumentieren zweifelsfrei die Wahlergebnisse zur französischen Präsidentsschaftswahl aus<br />
dem Jahre 2007. Der ledige Vater Besancenot schaffte es auf Anhieb im ersten Wahlgang 1.498.581<br />
Stimmen auf sich zu vereinen.<br />
335
Die bombastisch anmutende KPF-Parteizentrale am Pariser Place Colonel-Fabien in<br />
diesen Tagen. Auf den langen Fluren herrscht Funkstille, weit und breit keine Menschen, viele<br />
Räume sind verweist, warten auf eine wie auch immer finanzierte Zukunft, auf Agenturen aus der<br />
"sozialen Wirtschaft", aus der Versicherungsbranche. Um die Euro-Not halbwegs zu lindern,<br />
vermieteten KPF-Chefs ihre Räume gar schon an weltanschauliche Erzfeinde; mal liefen Models<br />
von Pariser Courturiers über den Laufsteg in ihren Hallen auf und ab, mal durften christliche Sekten<br />
in Räumen der Kommunisten in ihrem Halleluja "Gott" um Erlösung bitten. - Gegen Bares versteht<br />
sich. Selbst das Ende der schon Jahre währenden Mund-zu-Mund-Beatmung des einstigen Paradestücks<br />
der Tageszeitung "L'Humanité" scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein. Die 1904 von<br />
dem Sozialistenführer Jean Jaurès (*1859+1914) Tageszeitung dümpelt magersüchtig im roten<br />
Bereich mit einer knappen 50.000-Auflage vor sich hin. Das Blatt unterhält keine Auslandskorrespondenten<br />
mehr und hat nur noch 58 Redakteure. Indes: Der Verkauf des Zeitungsgebäudes in der<br />
Pariser Vorstadt St. Denis an starke Immobiliengesellschaften dürfte offenkundig 15 Millionen Euro<br />
bringen. Das könnte die angesammelten acht Millionen Euro Haushaltslöcher der Partei wettmachen.<br />
Vorerst. Tafelsilber. Die Ära dogmatischer KPF-Marxisten-Leninisten in Frankreich ist<br />
unwiderruflich zu Ende. Ein Notgroschen bleibt allerdings noch in Reserve: Die französische<br />
Tageszeitung Le Monde berichtete, dass die KPF den Wert einiger in ihrem Besitz befindlichen<br />
Kunstwerke habe schätzen lassen: Werke von Pablo Picasso, Fernand Leger sowie Marcel<br />
Duchamps Spottbilder der Mona Lisa. Die hatte die KPF im Jahre 2005 für 99 Jahre ans Centre<br />
Pompidou verliehen. Na denn.<br />
336
2009<br />
Matriarchat in Deutschland und seine Folgen<br />
337<br />
6
MATRIARCHAT IN DEUTSCHLAND: "MUTTER, WAS HAST<br />
DU AUS MIR GEMACHT?" - BILANZ DER VATERLOSEN<br />
GESELLSCHAFT. EIN LEBEN LANG IN THERAPIE.<br />
Über den deutschen Autor und Politiker Jörg-Ulrich Vandreier 13 28.September 2008<br />
Leidensprozesse im Matriarchat der Nachkriegszeit: Intentionen von Alexander<br />
Mitscherlich (*1908+1982) in seinem Werk "Auf den Weg zur vaterlosen Gesellschaft" vorgelebt<br />
und durchlitten. Möglicherweise sollte nicht der Autor, sondern die Psychoanalyse selbst therapiert<br />
werden. In den "wilden Jahren" bei den Liberalen als Kandidat und auf Parteitagen auf den Putz<br />
gehauen; vergeblich auf Parteikarriere gehofft. Mutter schenkte ihrem Sohnemann 1963 eine<br />
Schallplatte der dänischen Schlagersängerin Gitte Henning: "Ich will nen Cowboy als Mann - nimm<br />
doch gleich den von nebenan, denn der ist bei der Bundesbahn." Filius wurde Sachbearbeiter bei<br />
der Landwirtschaftlichen Narzissmus verflossener Epochen - nichts ist aufregender als nostalgisch<br />
verklärt in jenen Mama-Jahren der Berufsgenossenschaft.<br />
Narzissmus verflossener Epochen – nichts ist aufregender als nostalgisch verklärt in jenen<br />
Mama-Jahren der Nachkriegszeit zu wühlen, immer wieder aufs Neue herumzuwühlen. Der Autor<br />
bei einer Lesung: "Meine Mutter hatte sich auf das Sofa gelegt. Mein Herz, mein Herz es schlägt<br />
immer ... unregelmäßiger. - Ihre Augen traten hervor. Ich kann nicht mehr . Die Sonne hatte<br />
zwischenzeitlich ihren Höchststand überschritten. Die Schatten der Hocken wurden länger und<br />
dann und wann strich ein kühler Luftzug über das Stoppelfeld. Meine Mutter hatte sich wieder<br />
erhoben und wandte sich dem Abwasch zu. War ja doch nicht so schlimm mein Junge ".<br />
Flurschäden: Der deutsche Buch-Autor Jörg-Ulrich Vandreier aus Barsinghausen bei<br />
Hannover fest in Frauen-Hand; links die Schwester, rechts die Ehefrau. Für die Öffentlichkeit<br />
bebildert er gern sein Leben als mahnendes Beispiel. Fluchtversuche aus dem Matriarchat dieser<br />
Jahre - aussichtslos. Ob nun in der Psychotherapie oder beim Heilpraktiker - längst waren aus den<br />
Müttern von einst Feministinnen geworden. Frauen-Jahre.<br />
Leidenswege, Gefühlsrinnsale aus den fünfziger Jahren. Geschichten der Jungen. "Er", der<br />
schwule Friseurmeister Rolf Heuer aus dem niedersächsischen Diepholz, ein Freund des Autors, "<br />
litt unter der Strenge und Macht seines Vaters, einem allgewaltigen Dorfpfarrer". Freund Rolf aus<br />
dem Friseursalon musste sein Anderssein verstecken, durfte allenfalls einfühlsam beim<br />
Haareschneiden um den Sessel herumturteln. Ja, ja, Rolf schien all das im Überfluss zu haben, "<br />
nach dem ich mich so sehnte: Die Auseinandersetzung mit dem Starken. Ich hingegen lebte in der<br />
ständigen Angst, meine selbstlose Mutter zu enttäuschen, musste Schwachem nachgeben. Während<br />
Machtstreben eine Überzeugung enthält" (da irrt der Autor), "und zum Beziehen einer eigenen<br />
Haltung zwingt, erschwerte die Lebensangst meine Orientierung." - Auf der Suche nach starken<br />
Männern. - Mama-Jahre.<br />
Die Einleitung in das Vandreier-Werk (VW) aus den fünfziger Jahren würde der<br />
Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich, wenn er denn noch lebte, als eine "ambivalente<br />
Gefühlsspannung des Kindes" bezeichnen. Eben eines verwöhnten Vandreier-Sohnemanns bei<br />
mütterlicher Vollverpflegung , der die damals mit Beruf und Haushalt überforderte Frau an das<br />
13 „Im Schatten der Ruinen blühten Honigblumen – Kindheitserinnerungen an Aschen aus den 50erJahren“ Schröderischer<br />
Verlag. Bassum,1997 (ISBN 3-89728017-5)<br />
338
idealtypische Wunschdenken an ihre Pflichten im "Heim und Herd" erinnerte. Gehätschelt,<br />
umsorgt, auch bevormundet von Nachkriegsmüttern, die die Wünsche ihre Jungs befriedigten, wo<br />
und wann immer sie auch rumorten. Knaben-Gesellschaften mit mütterlich angedichtetem<br />
Madonnen-Kult späterer Jahre.<br />
Der Autor: "Ich kam nach Hause. Wie jeden Mittag befand sich meine Mutter am Herd ...<br />
Ihre 46jährige Schwester, Tante Hilde, saß neben der Tür, las, häkelte, aß Petersilie oder<br />
Mohrrüben. Meine Großmutter nähte an der Maschine nahe am Fenster. Alles wartete auf meine<br />
drei Jahre alte Schwester Gudrun, die das Diepholzer Gymnasium besuchte. Mit uns Kindern<br />
kehrte das Leben zurück in die zwei kleinen Zimmer der ausgebauten Scheune eines Bauernhofes.<br />
Der Morgen der drei Frauen verlief ereignislos. Das Gespräch drehte sich um die schöne alte<br />
Heimat, um die verpassten Chancen in Pommern und um die Rückständigkeit der einheimischen<br />
Bevölkerung."<br />
Trennung erzeugt Sehnsucht und Hoffnung, das wissen wir seit eh und je. Der Tod des<br />
Vaters, der in einem Armen-Grab auf dem Diepholzer Friedhof im Jahre 1947 seine letzte Ruhe<br />
fand, wird zur "tragischen Liebe" erkoren, die sich nicht mehr erfüllen kann. Legendenbildung statt<br />
Aufklärung. Jörg-Ulrich Vandreier liest leise vor, wenn er gerade mal diese Textpassade erwischt.<br />
Nachhaltigkeit ist angesagt. Diese "große" Liebe im Vandreier-Haus des Matriarchat fehlender<br />
Männer wird idealisiert wie idyllisiert. (Backsteinhäuser sind natürlich rot und der Schulhof ein<br />
wehmütiges Asservat ehrwürdiger Linden-Bäumen). Nur, so will es scheinen, ist diese nachträglich<br />
verkitschte Liebes-Vehemenz nicht zu widerlegen. Sie ist ein Teil des Fertigwerdens mit dem<br />
Kriegsdesaster, der Überlebens-Strategie in jenen verklemmten, ungepuderten Zeiten. Sie ist eine<br />
seelische "Notwendigkeit, der sich auch Fantasielose kaum werden entziehen können", schrieb<br />
Rüdiger Wurr in seinem Buch "Prinzen und ihre Mütter" (Klett-Cotta , Stuttgart, 1985).<br />
Der Autor: "Meine Mutter sah mir sofort an, dass sich meine Laune nach unten bewegte.<br />
'Hast du in der Schule Ärger gehabt?' In meinen kurzen 'Nein' war zu erkennen: Ich wollte meine<br />
Gemütsbewegungen alleine bewältigen. ... Mit einem hatte meine Großmutter endgültig aufgehört<br />
zu nähen, sie fiel förmlich in sich zusammen. Ihre wasserblauen Augen schauten sehr traurig aus<br />
dem Fenster (auf verschneiten ) Landschaften und Wiesen zu dem weit entfernten Bauernhof, dem<br />
einzigen Haus, das von ihrem Platz aus zu sehen war. Dann trat Großmutter mit der ganzen Kraft<br />
auf das Pedal der Nähmaschine. Die mechanische Nadel fuhr rasend auf und nieder, und meine<br />
Großmutter schob mit ihrem ganzen Gewicht den Stoff gegen die blitzende Nadel. ... ... Jetzt kam<br />
meine Schwester Gudrun aus Diepholz nach Hause drei Jahre älter ist war sie. Auf dem Flur<br />
stampfte Gudrun den Schnee von den Schuhen. ... ... Am liebsten wäre ich aus dem engen Zimmer<br />
in den Hof gelaufen, doch meine Mutter schmeckte zum letzten Mal die Suppe ab. Ihrem<br />
Gesichtsausdruck war zu entnehmen, dass sie mit ihrer Kochkunst sehr zufrieden war. Ein<br />
nochmaliges Verlassen des Zimmers hätte den notwendigen Respekt vermissen lassen."<br />
Unbedachte Sätze des Autors lassen längst vergessene Rückschlüsse zu. Es sind<br />
offenkundig landläufig aufgedröselte Beiläufigkeiten über seelische Verfassungen wie<br />
Verklemmtheiten vieler in den fünfziger Jahren. Ob Buchschreiber Vandreier oder auch so manch<br />
anderer, sie wurden nach Maßgabe von Alexander Mitscherlich Opfer des Matriarchat. Vandreier<br />
schrie mehr als einmal: "Mutter, was hast du aus mir gemacht?" -Alexander Mitscherlich<br />
(*1908+1982) schrieb zu den ambivalenten Gefühlsverwirrungen : "Das Kind wird mehr oder<br />
weniger zum Objekt, an dem sie ihre (Mutter) Unlustspannungen auslässt. Diese unsere<br />
Gesellschaftsentwicklung immanente Belastung der Mutter-Kind-Beziehung zu bagatellisieren oder<br />
gar in madonnenähnlichen Überhöhungen der oft unschuldigen, gereizten, an ihre Pflichten<br />
33 9
gefesselt fühlende Mutter zu verleugnen mag zwar einem idealtypische Wunschdenken genügen,<br />
erleichtert aber weder Müttern noch Kindern das Leben. Es erspart freilich der Gesellschaft, sich<br />
zu verändern."<br />
In Deutschland waren es politisch markante Frauen-Verhinderungsjahre - bewusst<br />
geförderte Heim-und-Herd-Zuweisungen aus der Politik, die das Land um Jahrzehnte<br />
zurückwarfen. Über Jahre, Jahrzehnte stets dieselbe Ausgangslage: geringere Qualifikation;<br />
mangelnde Teilhabe an Berufen in Industrie wie Handel, kaum Ganztagsschulen, Frauen-Leicht-<br />
Lohn,schlechte Bezahlung. Unverständlich, dass FDP-Politiker Jörg -Ulrich Vandreier kein Wort<br />
über spezifische gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge besagter Aufbau-Epoche verliert. -<br />
Fehlanzeige.<br />
Mit seinen narzisstischen Mama-Betrachtungen und wehmütig verklärten Blicken wirkt<br />
das Büchlein wie eine schlechte Kopie von F. C. Delius Schilderung aus den Fünfzigern: "Der Tag<br />
an dem ich Weltmeister wurde." Gelegentlich fühlt sich der Leser in die Rolle eines stillen<br />
Beobachters seiner Psycho-Therapie-Stunde hineinversetzt. "Nenndorfer Gespräche" nannte der<br />
Autor das einmal. Er ,das Hilfe suchende Bübchen, "Uli" genannt, bei seinen tiefenpsychologisch<br />
ergründeten Couch-Plaudereien (Krankenkassen-Vollkasko) im Städtchen Bad Nenndorf. Sein<br />
Gegenüber - natürlich eine Frau - hatte gemeinsam mit "Uli" herauszufinden, "an welchen Punkt<br />
meines Lebens mein Selbstbewusstsein einen Knacks bekommen hatte". Kärrnerarbeit. Mutter und<br />
kein Ende. Vandreier rechtfertigt sich: "Ja, ja, gewiss doch, meine Mutter sah für ihre 45 Jahre sehr<br />
gut aus. Dunkles, welliges Haar, lebhafte, grau-grüne Augen, ein freundliches, leicht slawisch<br />
wirkendes Gesicht und eine wohlgeformte Figur verliehen ihr Anmut und Charme. Sie war stets<br />
auf ihr Äußeres bedacht und kleidete sich trotz der begrenzten finanziellen Mittel wie sie es als<br />
Großstädterin gewohnt war: Sportlich, elegant und geschmackvoll." - Nur Mama-Jahre?<br />
Weiter im Originalton: "Meine Mutter war vor dem Kriege in der Landwirtschaftskammer<br />
Stettin gewesen. Ich stellte mir in Gedanken vor, wie sie den ganzen Tag an einer solchen<br />
Schreibmaschine saß - für Tierärzte schrieb. Unwillkürlich musste ich an die Männer-Namen<br />
Pümeyer und Niemann denken und daran, wie begehrt sie damals war; Nebenbuhler um die Mama-<br />
Gunst zu schwerer Stunde. Naheliegend, dass der Autor seine Mutter in diesem Zusammenhang<br />
fragen lässt, was denn überhaupt Heimat sei? Die Wiesen, die Felder von einst, die Marsch-Äcker<br />
von heute? Achselzucken. Traurig schauen die Frauen drein - Mutter, Großmutter, Tante ,<br />
Schwester inbegriffen. Vor ihnen sitzt Sohnemann "Uli". Nur er hört den Weltschmerz bibbern.<br />
Solch rührselig angedichtete Textpassagen eignen sich abermals, einen Blick in Bücher<br />
kompetenter Kenner seelischer Deutungen, emotionaler Aufarbeitungen zu riskieren. Der<br />
Gießener Psychoanalytiker Horst Eberhard Richter (Der Gotteskomplex, Rowohlt, 1979) hätte<br />
"Uli" Vandreier "reaktionäre Überkommenheit" konzediert. Richter formulierte: " In der deutschen<br />
Romantik (Ende des 18. bis weit in das 19. Jahrhundert) gewann das Bild der Frau tatsächlich eine<br />
wichtige Rolle. Aber bei genauen Hinsehen stellte sich heraus, dass es genau um jene männliche<br />
narzisstische Verklärung des Frauenbildes handelt (ähnlich wie beim Autor) die gerade nicht dazu<br />
geeignet war, den Status der Frauen zu verändern.<br />
Diese "gefühlshaften Innerlichkeiten" sind in Europa vornehmlich den Deutschen<br />
vorbehalten. Es sind meist "gestandene" Männer, die des Abends an der Biertränke entweder vor<br />
"Madagaskar liegend die Pest" besingen oder gefühlstriefend ihrer Mama verflogener Jahre<br />
nachempfinden, Jörg-Ulrich Vandreier inklusive. Spätestens auf Seite 109 des "Honigblumen-<br />
"Buches ("Nun, etliche Jahre später, saß meine Mutter mit ihrer kleinen schwarzen Tasche endlich<br />
wieder vor mir") drängt sich für interessierte Leser die Frage auf, wen es hier eigentlich zu<br />
340
therapieren gilt; den Autor oder nicht vielleicht doch die Psychoanalyse insgesamt. Ein Einzelfall<br />
auf einer ansonsten noch intakten Bühne?<br />
"Schön wäre es", berichtet Vandreier, "bei uns in der Kirchengemeinde zu St. Markus in<br />
Barsinghausen", halten selbst Seelsorger das theologische "Doppelgebot der Liebe" nicht mehr aus.<br />
Männer in schwarzen Talaren, denen das Liebeswerben so mancher Frauen zu Kopf gestiegen ist;<br />
ganz nach dem Lebensgefühl: wer ist der attraktivste Pastor fürs weibliche Geschlecht weit und<br />
breit. Es sind halt schon entgeisterte Theologen, die ihre unnachahmliche Feindschaft auf offenem<br />
Kirchen-Mark austragen; sei es des Sonntags von der Kanzel, im Kirchenchor oder selbst vor<br />
jungen Knaben im evangelischen Kindergarten. Alltags-Satire. Bitterernst. Tatsächlich sind es<br />
verwirrte Pastoren, die stickum in psychoanalytischen Gesprächstherapien - ihre Obhut suchen.<br />
Jede Woche zwei Mal mit der Üstra-Stadtbahn Hannover-Barsinghausen und zurück.<br />
Mittlerweile ist es schon zu einer Mode der Moderne geworden, dass man etwa seelische<br />
Krankheiten, Depressionen, Antriebsschwächen, Verzagtheiten, Einsamkeiten allein schon durch<br />
Reden, Zuhören kurieren kann. In Hannover oder Frankfurt am Main war Sigmund Freud<br />
(*1856+1939) für jedes Aperitif-Parlieren mit Betroffenheits-Getue ein viel zitierter viel gefragter<br />
Zaungast. Kaum jemand aus dem links-intellektuell angehauchten Jet-Set-Schicki-Micki-Milieu, der<br />
nicht von seinem Seelen-Doktor zu berichten weiß; ganz nach dem Erfolgs-Dünkel: Es gibt gar<br />
keine Psychoanalyse, es gibt nur Psychoanalytiker. Sie hören wenigstens noch zu in einem Land<br />
schnelllebiger, erkalteter Allerwelts-Phrasen. Deutschland ein Land, in dem zumindest eine<br />
Charakter-Eigenschaft verbindlich zu sein scheint, die da lautet: "Was interessiert mich mein<br />
Geschwätz von gestern noch."<br />
So gesehen ist es sogar irgendwie folgerichtig, dass Buch-Schreiber Vandreier nach einem<br />
halben Leben auf der Couch, sein Mama-Schicksal einem früheren Missionar in Afrika anvertraute<br />
- die Therapie-Karriere bei einem Scharlatan unverbrauchte Höhepunkte suchte - und wohl auch<br />
fand. Zwischen den Zeilen seines Buches wird deutlich, dass der Autor Zeit seines Lebens auf der<br />
Suche nach Nähe und Durchbruch war; Weiber-Nähe, Karriere-Durchbruch für diesen "Uli"-<br />
Jungen. Bert Hellinger heißt der Glücksbringer aus dem fernen Südafrika, wo er als Missionar mit<br />
neuen, ungewohnten Stellungen die ermattete Zweisamkeit auffrischte - "Lebenshilfemethoden"<br />
genannt. Da tut es nichts zur Sache, dass die Wiener Psychoanalytische Vereinigung diesem<br />
Psycho-Guru verklemmter Seelen die Anerkennung seiner "Ausbildung" verweigerte.<br />
Hellinger, ehedem katholischer Mönch der Marianhiller Missionare lässt Aufstellen -nicht<br />
etwa in "Missionarsstellung". Gleichwohl gilt es alte vertraute Familienmitglieder neu mit xbeliebigen,<br />
fremden Personen ganz frisch zuzuordnen; Auge an Auge, Lippe an Lippen , Zunge auf<br />
Zunge. Schmatzen. Es gilt Vergangenes, Verklemmtes, Verdrängtes abermals emotional in die<br />
Gegenwart zurückzuholen, erlebbar zu machen. Gefühlsausbrüche. Kritiker, wie der Schweizer<br />
Werner Haas, Klinischer Psychologe und Supervisor , sezieren die Hellinger-Methode. Werner<br />
Haas schreibt: "Magische Rituale würden dort eine Therapie ersetzen, anstatt einer Diagnose werde<br />
ein 'Orakel' veranstaltet und Ursachenforschung erschöpfe sich im Nachbeten der Okkult-Lehren<br />
des Meisters über die Entstehung von Krankheiten und Leid". - Wieder ein Guru.<br />
Zumindest werden Männer und Frauen so aufgebaut, hingestellt, dass sie der speziellen<br />
Wahrnehmung der Familiensituation - in diesem Fall die des Autors - entsprechen. Jörg-Ulrich<br />
Vandreier rekapituliert in seiner Lesung: "Es war auch noch dazu eine besonders schöne Frau, die<br />
mich beglückte und meine Mutter spielte. Sodann habe ich gemerkt, wie sehr ich damals als Junge<br />
in meine Mutter verliebt war, in mir auch ein starkes sexuelles Verlangen nach meiner Mutter<br />
pochte. Sie war das A und O meines Lebens."<br />
34 1
Es waren vaterlose Zeiten vielerorts nach den Kriegen auf diesem Kontinent. Männer, die<br />
in den späteren Vorstellungen ihrer Söhne kaum noch eine Rolle spielen. Aus gutem Grund suchen<br />
klassisch geschulte Therapeuten in all den Jahren Vandreiers Hauptaugenmerk ein wenig auf seinen<br />
1947 an Kriegsverletzungen verstorbenen Vater zu lenken. - Gleichgültigkeit. Kein Interesse, keine<br />
Vorstellungskraft - selbst in Hellingers Familienaufstellung mochte der Autor seinen Erzeuger nicht<br />
finden. ("Der hat doch hier überhaupt nichts verloren") - Indes: Überall wie nirgends lauerte,<br />
winkte, schmuste, redete, schimpfte die Mama, die er abgöttisch liebte, liebkoste - ein Liebesgefühl,<br />
das nicht weichen will.<br />
Immerhin, weiß Vandreiers Ehefrau Monika zu berichten, kümmert sich ihr Mann,<br />
neuerdings als SPD-Mitglied, mehr in Sachen Umweltschutz um " Klimawandel" und "Bodengifte"<br />
in seiner Region. Schwerpunktverlagerung. Hin und wieder soll er gar als Früh-Rentner im Alter<br />
von 64 Jahren im Foyer des niedersächsischen Landtags zu Hannover im Lodenmantel mit<br />
Baskenmütze gesichtet worden sein. Das will schon was heißen, nach all den bitteren "Mama"-<br />
Jahren. Nur auch dort ist die längst verstorbene Frau diskret dabei: im Aktenköfferchen als Buch;<br />
für alle Fälle versteht sich.<br />
342
2010<br />
APO-Jahre - Hitler-Jahre: Knüppel um Knüppel in Hannover an der Leine<br />
und sonstwo Deutschland - in Erinnerung an den Polizistensohn Ralf Liehr<br />
343
APO-Jahre - Hitler-Jahre: Knüppel um Knüppel<br />
in Hannoveran der Leine und sonstwo Deutschland -<br />
in Erinnerung an den Polizistensohn Ralf Liehr*<br />
Die Mörder sind unter uns, auch wenn sie nicht getötet haben. Ob als Hitlerjungen gegen<br />
die Juden, etwa im SA-Parteilokal "Schwarzer Adler" im niedersächsischen Schöningen<br />
(siehe Bild oben), oder später als Polizisten gegen Protestierer etwa der Rote-Punkt-<br />
Demonstration in Hannover Ende der sechziger Jahre - selbst Familien vermochten sich<br />
vorm Polizeiknüppel nicht zu schützen. Kinder erhängten sich.<br />
15. Oktober 2010<br />
Zum 41. Jahrestag der Außerparlamentarischen Opposition (APO) in Deutschland. - Er<br />
war noch sehr jung an Jahren, damals während der spontanen Demonstrationen, der Straßenschlachten,<br />
auch der "Rote Punkt"-Blockaden gegen unbotmäßige Fahrpreiserhöhungen im öffentlichen<br />
Nahverkehr. Mein weitaus jüngerer Cousin Ralf Liehr* in Hannover an der Leine schien noch<br />
unberührt vom jugendlichen Protest, nicht einmal 16 Jahre war er alt. Scheu war diese Junge, sehr<br />
sensibel zudem. Er redete nicht viel, blieb eher unnahbar, las lieber still in sich hinein. Wenn er<br />
sprach, dann meist bedacht und leise. Ich kannte ihn recht gut, früh hatten wir Freundschaft<br />
geschlossen, spielten in den ersten Jahren auf der Nordsee-Insel Borkum an den tosenden Stränden<br />
"Huckepack".<br />
Ralfs Schicksal war sein Vater Lothar, der sich mein Onkel nennen durfte. Ein Mann, der<br />
mit dem Knüppel aufgewachsen, durch den Knüppel sozialisiert worden ist. "Privatunterricht" oder<br />
auch "Erklärungsmuster" für Braun-Röcke, wie man es auch nennen mag, das hatte er als HJ-Pimpf<br />
auch vom Polizeihauptmann und zeitweiligen KZ-Kommandanten zu Moringen Karl Stockhofe<br />
(Juni 1933) in den Wäldern des Elm bekommen. Da hockte HJ-Heißsporn Lothar mit seiner Schwester<br />
Lilli (Schöningens adrette BDM-Kassiererin) im Wiesengrund. Elm-Idylle: Schwester Lilli*<br />
fütterte einen beseelten KZ-Aufseher, Bruder Lothar lauschte wohlbedacht Stockhofes Aphorismen<br />
zu Lebensweisheiten des neuen "Herren-Volkes", beim Picknick versteht sich. Das Tausendjährige<br />
Reich zerfiel gottlob recht bald, Deutschland wurde befreit.<br />
Die Fotos aus damaliger Zeit und nicht nur diese überlebten noch mehr als sechs<br />
Jahrzehnte. Es war halt für die Liehr-Familie mit ihrem weit verzweigten Familienanhang "die<br />
schönste Zeit ihres Lebens" (Schwester Lilli) - eine Jugend in Deutschland der Nazis." ... ... BDM-<br />
Dienst, weiße Bluse, schwarzer Rock, Turnhemd mit Harkenkreuz-Rhombus auf der Brust , natürlich<br />
die schwarzen Leinen-Turnschuhe auf den Füßen und einen allgegenwärtigen Bruder im<br />
Agitations-Gepäck; einem unverbesserliches Braun-Hemd-Jüngelchen, dem offenkundig zentral nur<br />
eines im Gedächtnis haften geblieben ist: Die "Bewunderung" seiner Schwester in schneidiger<br />
Uniform. "Was waren das doch für prächtige, unwiederbringliche Momente, Schwesterlein."<br />
344<br />
2
Im südniedersächsischen Camp Moringen (später Frauen-KZ) wurden seinerzeit<br />
vornehmlich Kommunisten, Arbeiter, Intellektuelle - unisono Juden interniert. Im kleinstädtisch<br />
geprägten Kleinbürger-Milieu deutsch-nationaler Gesinnung ging es seinerzeit zuvörderst darum,<br />
wie etwa der Hitler-Junge Liehr mit seinen Kumpanen im einst rot angehauchten Schöningen gegen<br />
örtliche Juden "zur Sache " zu gehen hat. Schließlich war er bereit, "für Deutschland zu sterben".<br />
Das wiederholte er gern und auch immer wieder - auch ungefragt. Da wurden überall in den blank<br />
gewienerten Gassen des Städtchens jüdische Läden kurzerhand ausgeräumt, Scheiben zerdeppert,<br />
Kassen geplündert, Frauen mit zerrissenen Kleidern auf den Marktplatz gezerrt, ihre Männer in<br />
SA-Gewahrsam nächtens gefoltert.<br />
Im Südosten Niedersachens , in Braunschweig und seinem Umland.,etwa Schöningen, tritt<br />
seit jeher "kleinbürgerliche Radikalität an die Stelle des ländlichen Konservativismus", orakelte<br />
schon beizeiten Oberlandesgerichtspräsident Rudolf Wassermann (*1925+2008). Die Braunschweiger<br />
ließen sich schon oft von extremen Bewegungen mitreißen. In der Stadt Heinrich des<br />
Löwen zwangen 1918 die Bürger den Welfen-Herzog Ernst August (*1897+1953) zum Thronverzicht.<br />
Und dort, wo der sozialdemokratische Krankenkassen-Angestellte und spätere DDR-<br />
Ministerpräsident Otto Grotewohl (*1894+1964) zum Justizminister ernannt wurde. marschierten<br />
1931 riesige SA-Kolonnen stundenlang durch das Stadt-Zentrum. 1932 wurde der Österreicher<br />
Adolf Hitler bekanntlich vom Braunschweiger Innenminister zum Regierungsrat ernannt, damit er<br />
deutscher Staatsbürger wurde und somit für die Reichstagswahl 1933 kandidieren konnte.<br />
Zu jener Zeit versammelte sich die "Kleinstadt-Elite" um den Hitler-Jungen Liehr im<br />
Städtchen Schöningen am Elm , all abendlich zum Fanfaren-Stoß vor dem stattlichen<br />
SA-Uniformgeschäft seiner Tante Grete Schloms auf dem Markt; ein Fanfaren-Stoß auf das<br />
"Tausendjährige Reich" - "Nun lasset die Fahnen fliegen", schallte das Liehr-Kommando in jenen<br />
Jahren in die Gassen hinein. Und zum Tanzen ging Hitlers Herrenrasse natürlich in den Legenden<br />
geschmückten "Schwarzen Adler" mit seinen prächtig ausstaffierten Parkettsaal - abends. Denn<br />
tagsüber schlugen SA-Mannen in seinen Kellerräumen auf den Kegelbahnen jüdische Mitbürger<br />
zum KZ-Abtransport in Viehwagen windelweich.<br />
Der Historiker Burkhard Jäger schrieb: "Viele ältere Schöninger kennen den 'Schwarzen<br />
Adler' noch aus eigener Anschauung. In den frühen sechziger Jahren ein Bauwerk (siehe Bild oben),<br />
dessen repräsentative Architektur in einem eigentümlichen Kontrast zu den Indizien für Verfall und<br />
Niedergang stand: blinde, teilweise eingeworfene Fenster, ein abblätternder grauer Fassadenanstrich.<br />
Im Jahre 1963 fiel das Gebäude der Spitzhacke zum Opfer, um Platz für das neue Rathaus zu<br />
schaffen. ... Es war das ehemalige NS-Parteilokal in Schöningen, eines der Folterzentrum der Nationalsozialisten,<br />
wie sie nach der Machtübernahme auch im Freistaat Braunschweig eingerichtet<br />
wurden.<br />
345
"Zum Schluss der Vernehmung fragte mich ..., ob ich Schläge bekommen hätte. Als ich ja sagte,<br />
bekam ich Schläge. Er fragte mich, ob ich es noch zu sagen wagte, ich hätte Schläge bekommen, Als<br />
er mich wieder fragte, antwortete ich mit nein- Jetzt bekam ich Schläge, weil ich fälschlicherweise<br />
nein gesagt hatte. Als er mich wieder fragte, wusste ich nicht, was ich antworten sollte. Jetzt bekam<br />
ich Schläge, weil ich nicht geantwortet habe." "Am 1. Mai 1933, einem Tage, als im Schwarzen Adler<br />
öffentlicher Tanz stattfand. wurden mein Bruder H. , ich und ein gewisser K. ... in den Tanzsaal<br />
geführt und von dem ... Söllingen dem tanzenden Publikum vorgeführt mit den Worten: 'Dies sind<br />
die größten Verbrecher aller Zeiten!' Die Tanzenden machten sich über uns lustig."<br />
Erinnert sei hier an den Schöninger Einzelhändler Abraham Lauterstein - an Familie Kurt<br />
und Helene Heinemann, an den Lebensmittelhändler Kurt Gölsch oder an den Spediteur Hugo<br />
Kugelmann und viele Namenlose dieser Stadt. Private Dramen haben sich abgespielt, immer wieder<br />
Gewaltausbrüche, schlimmste Misshandlungen, bis endlich, ja endlich ein Viehtransporter die<br />
Malträtierten abholte. Atempause. Verschnaufpause. - Bus ins KZ, in den Tod. Wenn HJ-Pimpf<br />
Liehr noch nicht direkt am Folter-Einsatz beteiltigt sein durfte, sondern "nur" am Portal Wache<br />
stand, so hatte Ralfs Vater Lothar , den sie als "Löthchen" liebkosten, immerhin eines in die Nachkriegszeit<br />
mit "hinüberretten" können. Der Knüppel als Drohgebärde, der Knüppel als Ordnungsfaktor,<br />
als wegweisende moralische Instanz sozusagen.<br />
Zweifelsfrei war Hitler-Junge-Liehr, selbst in seiner Familie zuweilen als Knüppel-Liehr<br />
gescholten, auch nach dem Kriege ein Mann der ersten Stunde; zunächst als nächtlicher Kohlen-<br />
Dieb auf den Abstellgleisen des Bahnhofs, wo er mit Briketts beladenen Waggons seine Säcke füllte.<br />
Sodann ganz nach den Roman-Motto des Gottfried Keller (*1819+1890) "Kleider machen Leute",<br />
in der frischen eingepassten Ausgeh-Uniform der neu sortierten Ordnungshüter für den freiheitlichen<br />
Rechtsstaat: mit Koppel, Knüppel, Helm und Stiefel, Motorrads-Montur; Wendehälse mit<br />
hehren Lippenbekenntnissen.<br />
Naheliegend, dass Ralfs Vater sein "Knüppeltalent" nach dem Krieg nicht verkümmern<br />
ließ und bei der Bereitschaftspolizei zunächst in Wuppertal seinen sozialen Aufstief dingfest<br />
machte. Alle freuten sich, waren richtig stolz auf ihn, wenn er mit der frischen, pellfeinen Ausgeh-<br />
Uniform eines Polizisten Schöningens Niedernstraße, dem Geschäftsboulevard, hoch- und runter-,<br />
runter- wie hochmarschierte. "Siehe, da läuft doch "unser Löthchen", tönte es vom Butzenfenstersims<br />
des Fahrradhändlers Kröckel. Endgültig vergangen, vergessen schienen auch jene unliebsamen<br />
Momente, in denen sich "uns Löthchen" im verwaschenen "Blaumann" eines Elektriker-Lehrlings<br />
zu zeigen hatte. "Lehrjahre sind eben keine Herrenjahre", weissagte er da.<br />
In Hannover an der Leine hingegen, in der weitläufigen Großstadt, in den offenbar verwegenen<br />
roten Gassen von einst - der Harmänner und jener "unappetitlicher SDS-Rebellen um den<br />
Klub Voltaire - ja da war Ralfs Vater Lothar Liehr mit Schlagstock, mit Schlagring in all den Jahren<br />
ein gefragter, ein erfolgreicher Mann; Herrenjahre. Beförderung um Beförderung kletterte er in der<br />
Rangskala eins rauf: Einsatz um Einsatz, Straßenzug um Straßenzug haute er im Trommeltakt auf<br />
Köpfe junger Menschen; auch zwei Mal, wenn es sein musste und alle "so erregt schienen" . gar bis<br />
an die Einfahrt-Schranke zum Krankenhaus. Immer "druff, feste druff. Heidewitzka Herr Kapitän",<br />
konnte er sich auch Tage danach noch aufbrausend ereifern.<br />
346
Irgendwie nachvollziehbar, dass sich solch gewissenhafte "Ordnungshüter" unter SPD-<br />
Regie auch noch Dienstschluss von ihren Schlagstöcken nicht trennen mochten; dieser "Talisman"<br />
für Liehr wohlbedacht zum Küchenbesteck mitzählte. Familienvater Liehr hatte ihn jedenfalls gleich<br />
griffbereit neben seinen Stuhl platziert, vorsorglich. Mutter Ramona* war deprimiert. Auch diese<br />
Rute hatte sie ja schon zu spüren bekommen. Sie reichte alsbald die Scheidung ein und schloss sich<br />
einem anschmiegsamen Schoko-Bäcker an. Immer, wenn Sohnemann Ralf beim Essen vergaß,<br />
seinen Arm zu heben, "gab es mit dem Knüppel eines auf die Rübe". - "Wer nicht hören woll, muss<br />
fühlen", bollerte er kapidar. Jedenfalls bis zu jenem denkwürdigen Abend, an dem nach einem<br />
gezielten Tränengas-Einsatz gegen Jugendliche am "Aegi" in der niedersächsischen Metropole",<br />
auch der Junge Ralf am Küchentusch noch sein Schlagquantum verabreicht wurde. Ralf rannte<br />
aufgebracht schreiend, brüllend, weinend aus dem Mietshaus in der Dietrichstraße 10. Seither war er<br />
für seinen Vater "irgendwie verschwunden", nicht mehr ansprechbar - bis zum Stankt-<br />
Nimmerleinstag, verlautbarte es da.<br />
Einige Jahre später erhängte sich Sohnemann Ralf an einem Baum in Hannovers Innenstadt.<br />
Prügel, Zerrüttungen in der Familie, Leistungsdruck, Vereinsamung - Langzeitfolgen. Ralf<br />
Liehr*, geboren am 15. Mai 1957, gestorben am 1. Dezember 1976. Seit nunmehr vier Jahrzehnten<br />
ist mein Cousin Ralf "persona non grata" - keine Bilde, keine Briefe, keine Gespräche, keine Erinnerungen.<br />
Ausradiert. - Friedhof, wenn überhaupt, unbekannt.<br />
"Aus Lügen, die wir glauben, werden Wahrheiten, mit denen wir leben",dichtete der Kabarettist<br />
Oliver Hassencamp (*1921+1988). Spuren verwischen, damals wie heute. Ich denke auch<br />
nach Jahrzehnten noch an ihn und an seine bedrückenden Verhältnisse, in denen er zu leben hatte,<br />
mein Cousin Ralf. - Deutsche Verhältnisse.<br />
----------------------------------------------------------<br />
*) Namen vom Autor geändert<br />
*) Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig, vom Verfasser nicht beabsichtigt.<br />
*) Literatur: Burkhard Jäger: Nationalsozialismus in Schöningen - Spuren. Ereignisse. Prozesse. ISBN: 3-932082-18-4, Schöningen, 2006<br />
*) Literatur Wolfgang Benz und Barbara Distel (Hrsg): Der Ort des Terrors - Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager<br />
<strong>Band</strong> 2. ISBN: 3 406 52962 3, München, 2005<br />
347