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kinetische kunst der gegenwart - WIENAND KUNSTBUCH VERLAG

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KINETISCHE KUNSTDER GEGENWARTHerausgegeben von Marc Wellmannfür das Georg-Kolbe-Museum Berlin


UmschlagabbildungZILVINAS KEMPINASO2, 2006Magnetband, VentilatorMaße variabelDiese Publilkation erscheint anlässlich<strong>der</strong> Ausstellung:ROMANTISCHE MASCHINENKINETISCHE KUNST DER GEGNWARTim Georg-Kolbe-Museum, Berlin28. Juni bis 6. September 2009Kurator: Marc WellmannProjektmanagement: Christiane WankenAssistenz: Thomas PavelÖffentlichkeitsarbeit: Achim Klapp


InhaltEinführung: Beseelte Konstruktionen | Marc Wellmann ......................................... 8Von <strong>der</strong> Utopie zur Ironie | Heinz Stahlhut ............................................................... 18Kinetic Art und Cyber Art | Peter Weibel ...................................................................... 28KÜNSTLERRobert Barta ......................................................................................................... 38Thomas Baumann ................................................................................................. 42Michael Elmgreen und Ingar Dragset .................................................................. 46Peter Fischli | David Weiss ................................................................................. 50Zilvinas Kempinas ................................................................................................. 54Julius Popp ............................................................................................................ 58Michael Sailstorfer ................................................................................................ 62Ariel Schlesinger ................................................................................................... 66Johanna Smiatek .................................................................................................. 70BIOGRAPHIENKünstler ................................................................................................................. 76Autoren................................................................................................................... 93Bildnachweise / Impressum.................................................................................. 965


6NAUM GABOKinetische Konstruktion, 1919/201985 rekonstruiertMetallstab mit elektrischem MotorHöhe 61,5 cmBerlinische Galerie, Berlin


Einführung: Beseelte KonstruktionenMARC WELLMANN8Die Kinetische Kunst ist in ihrer heutigen Ausformungeine relativ junge Gattung und ein Produkt vonEntgrenzungstendenzen <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne. Ihre „Geburtsstunde“– Naum Gabos Kinetische Konstruktionvon 1919/20 (S. 6/7) – ist in einer deutlich umrandetenSchnittmenge von künstlerischen, wissenschaftlich-physikalischenund industriellen Motivendes frühen 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts verortet, die im folgendenBeitrag von Heinz Stahlhut, Von <strong>der</strong> Utopie zurIronie, ausführlicher besprochen werden und die denAusgangspunkt für eine kurze Geschichte <strong>der</strong> KinetischenKunst mit beson<strong>der</strong>er Berücksichtigung desWerks von Jean Tinguely (1925–1991) bilden. Danachgeht Peter Weibel in Kinetic Art und Cyber Art. Vomvirtuellen Volumen zum virtuellen Environment denaktuellen Entwicklungen dieser Kunstform nach, diesich als entscheiden<strong>der</strong> Wegbereiter von Computer<strong>kunst</strong>und von interaktiven Installationen darstellt.Hier seien ältere Berührungspunkte zwischenSkulptur und Mechanik behandelt, die ideengeschichtlichmit <strong>der</strong> Entstehung <strong>der</strong> KinetischenKunst in <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne verbunden sind und die denHintergrund für das Konzept <strong>der</strong> Ausstellung RomantischeMaschinen – Kinetische Kunst <strong>der</strong> Gegenwartbilden. Das Georg-Kolbe-Museum ist alsSkulpturenmuseum seit seiner Gründung im Juni1950 vor allem mit <strong>der</strong> figürlichen Plastik des 19.und 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts befasst. Doch richtet sich dasInteresse mittlerweile auch verstärkt auf den seitden 1960er Jahren erweiterten Skulpturenbegriff bishin zu aktuellen zeitgenössischen Tendenzen <strong>der</strong>dreidimensionalen Kunst. Dabei spielt <strong>der</strong> dialogischeKontrast zur Tradition eine beson<strong>der</strong>e Rolleund die damit einhergehende Befragung <strong>der</strong> klassischenFunktion <strong>der</strong> Bildhauerei als Körper<strong>kunst</strong>.Bildhauerei und Kinetik berühren sich bereits inden Mythen, die sich um Hephaistos (lat. Vulkan),den Gott des Feuers und <strong>der</strong> Schmiede, ranken, demneben wun<strong>der</strong>samen mechanischen Erfindungenauch außerordentliche plastische Fähigkeiten zugesprochenwurden. Als <strong>kunst</strong>voller Handwerker soller menschenähnliche Automaten geschaffen haben,unter an<strong>der</strong>em den bronzenen Riesen Talos, <strong>der</strong> dieInsel Kreta zur Zeit von Minos bewachte. Noch eindringlicherim Zusammenhang dieses Themenkreisesist jedoch <strong>der</strong> Prometheus-Pandora-Mythos.


Der Titan Prometheus ist <strong>der</strong> Sage nach ein Menschenformer,<strong>der</strong> für seine Kreaturen das Feuer vomSonnenwagen des Helios stahl. Als Strafe für denFeuerraub des Prometheus schuf Hephaistos imAuftrag von Zeus eine künstliche Frau aus Lehm, dieden Menschen zugeführt wurde. Aus <strong>der</strong> ebenfallsmitgegebenen „Büchse“ (eigentlich „Krug“) entwichendie verschiedensten Plagen, mit denen dasEnde des Goldenen Zeitalters, in dem die Menschheitvon Arbeit, Krankheit und Tod verschont gebliebenwar, eingeläutet wurde. Die strukturelle Verwandtschaftdieser Erzählung mit dem alttestamentarischenSchöpfungsmythos ist evident. Weniger interessierenhier die Analogien zwischen Pandoraund Eva als vielmehr die motivisch ähnlich beschaffeneFigur eines Bildhauer-Demiurgen, <strong>der</strong> aus Ton(hebr. adhama) einen Menschen formt und ihm denOdem des Lebens einhaucht. Von hier aus führt eindirekter Weg zur Legende des Golems von Rabbi Löwo<strong>der</strong> zu Mary Shelleys Briefroman Frankenstein orThe Mo<strong>der</strong>n Prometheus.Die Grenzziehung zwischen dem Künstlichenund dem Natürlichen, dem Leblosen und dem Beseeltenist eine Frage, die seit <strong>der</strong> Antike immer wie<strong>der</strong>zur Kunst <strong>der</strong> Bildhauerei führt. Als Urvater <strong>der</strong>griechischen Bildhauerei lässt sich <strong>der</strong> sagenumwobeneMechaniker und Architekt Daidalos benennen.Außer <strong>der</strong> Konstruktion des Minotaurus-Labyrinthssowie jener Flügel, die seinen Sohn Ikarus das Lebenkosteten, wurden Daidalos in <strong>der</strong> Antike dieSchaffung von äußerst lebensechten Statuen für denminoischen Hof zugeschrieben, die im Gegensatzzur früharchaischen Plastik die steife Haltung aufgaben,die Arme abwinkelten, die Beine auseinan<strong>der</strong>stelltenund die Augen öffneten. 1 Die Lebensähnlichkeitmeinte nicht sklavische Naturtreue, wie dieKünstlichkeit von Lebendabformungen o<strong>der</strong> die Todesnähevon Wachsfiguren vor Augen führt, son<strong>der</strong>neine eigentümliche Beseelung des Stofflichen, die<strong>der</strong> plastischen Kunst gegeben ist. Die in Ovids Metamorphosenerzählte Geschichte von Pygmalion,<strong>der</strong> sich in eine von ihm selbst geschaffene Aphrodite-Statueverliebt, die dann durch göttliche Fügungzum Leben erweckt wird, handelt von <strong>der</strong> Überschreitung<strong>der</strong> Grenze zwischen dem Leblosen unddem Natürlichen durch den künstlerischen Akt. RoheMaterie verwandelt sich in den Händen des Bildhauerszu einer Form, die den Rang des Lebendigenzwar nicht von vornherein beansprucht, aber durchausin den Verdacht geraten kann, mit <strong>der</strong> göttlichenSchöpfung zu konkurrieren. In diesem Sinne richtetesich das biblische Abbildungsverbot vor allem gegenplastische Bildwerke. Die rigide Ablehnung desStatuen- und Götzen-Kults, wie sie die hebräischeKultur bei den Ägyptern und später bei den Griechenund Römern erlebte, setzte sich in den Gemeindendes Christentums und dann im Islam fort. Im frühenMittelalter wurde die Bildhauerei nur im Kontext <strong>der</strong>Architektur geduldet. Erst ab dem 12. Jahrhun<strong>der</strong>temanzipierte sich diese Kunstform wie<strong>der</strong> von ihrerFunktion als dienen<strong>der</strong> Bauschmuck hin zur autonomenFreiplastik. Weitaus stärker als Maler warenBildhauer mit dem Vorwurf demiurgischer Anmaßungkonfrontiert. Auch war ihre Kunst in ähnlichenmagisch-mythischen Zusammenhängen lokalisiertwie die <strong>der</strong> Konstrukteure von Maschinen undAutomaten.Die Leistungen von Daidalos und Hephaistoswurden noch auf dem Horizont antiker Mechanik mitihren durchaus avancierten Kenntnissen von Hebel-,Wasser- und Dampfkraft imaginiert, wie sie unteran<strong>der</strong>em durch die Bücher Herons von Alexandrienbezeugt sind. Während <strong>der</strong> heute geläufige Begriff„Maschine“ auf eine technische Apparatur hindeutet,<strong>der</strong>en Funktion im Sinne einer eindeutigen Zweckgebundenheitrational beherrschbar scheint ist das9


Kinetic Art und Cyber Art.Vom virtuellen Volumen zum virtuellen EnvironmentPETER WEIBEL28Die <strong>kinetische</strong> Kunst erreichte in den 1960er Jahrenihre große geschichtliche und populäre Wirksamkeit.Ausstellungen wie Rörelse i Konsten, Mai– September1961, im Mo<strong>der</strong>na Museet, Stockholm, organisiertvon K.G. Hulten, als Bewogen Beweging zuerstim Stedeljik Museum, Amsterdam, März– April 1961,gezeigt, und Kinetic and Optic Art Today, AlbrightKnox Art Gallery, Buffalo 1965, Licht und Bewegung– <strong>kinetische</strong> Kunst, Kunsthalle Düsseldorf, 1966, belegendies. Die Titel dieser Ausstellungen erklären,aus welchem Problemfeld <strong>der</strong> Kinetismus stammtund in welchem Umfeld er sich entwickelt hat, nämlichdie Verschränkung des Problems <strong>der</strong> Darstellungvon Bewegung mit dem Problem <strong>der</strong> Darstellungvon optischen Phänomenen. In beiden Fällenwurde die bloße Darstellung aufgekündigt und an dieStelle <strong>der</strong> Darstellung trat die wirkliche Bewegung,das wirkliche Licht, <strong>der</strong> wirkliche Regenbogen undoptische Täuschungen wurden als solche erkennbar.Reale Bewegung und reales Licht wurden zu Medien<strong>der</strong> Kunst, Wahrnehmungsphänomene, optischeTäuschungen wurden nicht als Instrumente, son<strong>der</strong>nals Sujet, nicht als Darstellungsmittel, son<strong>der</strong>nals Erlebnisziel eingesetzt. Pontus Hulten hatte bereits1955 in <strong>der</strong> Galerie Denise René, Paris, die AusstellungLe Mouvement (mit Agam, Bury, Cal<strong>der</strong>,Duchamp, Jacobsen, Soto, Tinguely, Vasarely) kuratiertund mit seinem Text Petit moments des artscinétiques versehen. Roth, Macke, Piene, Tinguely,Spoerri, Bury, Klein u.a. waren 1955 in <strong>der</strong> AusstellungVision in Motion – Motion in Vision, Hessenhuis,Antwerpen, vertreten, <strong>der</strong> Titel eine Anspielung aufdas Buch von Moholy-Nagy Vision in Motion, Chicago,1947.Die Chronologie <strong>der</strong> Kinetischen Kunst datiertzurück bis 1900, aber ihr eigentlicher Beginn ist1920. Ihre Quellen sind vielfältig: Avantgarde-Film(Walther Ruttmann, Viking Eggeling), Konstruktivismus,Bauhaus, De Stijl, Futurismus, ebenso ihre Stationen(arte cinetica, 1914–1916, Der Wiener Kinetismus,1920–24 von Franz Cizek etc.).Die wichtigste Quelle ist <strong>der</strong> russische Konstruktivismus,<strong>der</strong> geometrische Objekte ohne mimetischeFunktion herstellte (Tatlin, Rodchenko, ElLissitzky, Gabo, Pevsner). Naum Gabo zeigte 1920 inMoskau seinen Studenten, dass eine einzige Linie


aus Draht, durch Bewegung mit Hilfe einer Uhrfe<strong>der</strong>,zu einem Volumen werden kann, genauer zu einemvirtuellen Volumen. Diese Kinetische Konstruktionvon 1919/20, die er auch 1922 in Berlin zeigte, wardas Ergebnis seines Manifests, das er ebenfalls 1920verfasst hatte und auch von seinem Bru<strong>der</strong> AntoinePevsner unterschrieben wurde. Das Realistische Manifest,das eigentlich ein Konstruktivistisches Manifestwar (Konstruierter Kopf Nr.1 hieß bereits 1915eine Skulptur von Naum Gabo), gilt als Beginn desKonstruktivismus.Aus dem Realistischen Manifest von Gabo undPevsner: „wir verneinen das volumen als räumlicheausdrucksform; <strong>der</strong> raum kann ebenso wenig miteinem volumen gemessen werden wie eine flüssigkeitmit dem metermaß. was könnte <strong>der</strong> raum dennnoch sein außer eine undurchdringbare tiefe? dietiefe ist die einzige ausdrucksform des raumes“ […]wir schalten in <strong>der</strong> plastik die (fysische) masse alsplastisches element aus. je<strong>der</strong> ingenieur weiß, dassstatik und wi<strong>der</strong>standskraft eines gegenstandesnicht von <strong>der</strong> masse abhängen. ein beispiel genügt:die eisenbahngleise. trotzdem leben die plastiker indem vorurteil, dass masse und umfang unzertrennlichseien. […] wir befreien uns von dem tausendjährigen,aus ägypten stammenden irrtum <strong>der</strong> <strong>kunst</strong>,dass nur statische rytmen ihre elemente sein könnten.wir verkünden, dass als grundform unseres zeitempfindensdie wichtigsten elemente <strong>der</strong> <strong>kunst</strong> die<strong>kinetische</strong>n rytmen sind.“Gabos Kinetische Konstruktion, die schon im Titeldie historische Verbindung von Konstruktivismusund Kinetismus ausdrückt (1941 erschien übrigensin Prag ein Buch von Zdenek Pesanek mit dem explizitenTitel Kinetismus, <strong>der</strong> den missing link in <strong>der</strong>Entwicklung von Avantgarde-Film und <strong>kinetische</strong>rSkulptur präsentiert), verweist nicht nur auf die motorbetriebeneBewegung, ein Agens für alle künftigen<strong>kinetische</strong>n Skulpturen, von George Rickey bisJean Tinguely, son<strong>der</strong>n auf einen weiteren, eher geheimenMotor <strong>der</strong> Entwicklung zum Kinetismus, dieScheinbewegung, die Virtualität, denn diese Linievon Gabo erzeugte ein Scheinvolumen. Die Virtualitätverbindet die Kinetik mit <strong>der</strong> Op Art. Die KinetischeKunst steht offensichtlich zwischen Konstruktivismusund Op Art, steht mit ihnen in Verbindung, unddas verbindende Element sind offensichtlich Wahrnehmungsphänomene.Diese Einsicht führt uns überrein maschinelle Kategorien <strong>der</strong> Kinetik hinaus undmacht den Weg frei, die analoge mechanische Kinetikzur digitalen elektronischen Kinetik voranzutreiben.Bewegliche Teile sind mehr als nur Maschinen-NAUM GABOKinetische Konstruktion, 1919/20Metallstab mit elektrischem MotorHöhe 61,5 cm29


Robert Barta38ROBERT BARTATimemachine, 2009Aluminum, Spanplatte,12V-Motor, steuerbaresNetzgerät, Modelleisenbahn250 x 250 x 90 cmDie Arbeiten des 1975 in Prag geborenen und in SanFrancisco und München ausgebildeten KünstlersRobert Barta irritieren auf virtuose Weise die (vermeintlichen)Gewissheiten des alltäglichen Lebens.Das beginnt schon mit <strong>der</strong> Sprache, die wir gemeinhinals praktikables Medium zur reibungslosenÜbermittlung von Informationen ansehen. Diese Vorstellungwird von Bartas Werktiteln gehörig gegenden Strich gebürstet, wenn ein Schild World closedahead ankündigt. Was auf den ersten Blick zu verheißenscheint, die Welt werde uns bald zu Füßenliegen – schließlich bedeutet close ahead, dass etwaszum Greifen nahe ist – erweist sich bei näheremHinsehen als Warnung vor dem möglichen Absturz.Denn <strong>der</strong> Text world closed ahead zeigt in Wahrheitden Rand <strong>der</strong> Welt an. Gleichermaßen nehmen diebeiden mit <strong>der</strong> Lehne zueinan<strong>der</strong> auf zwei riesigenSchaukelkufen montierten Stühle von blind date denWortsinn ernst und verunmöglichen den (Blick-)Kontakt.Das angesichts <strong>der</strong> <strong>der</strong>zeitigen Finanzkriseschon beinahe visionäre All eyes on me, ein Golfgrün,das <strong>der</strong> Künstler 2007 in <strong>der</strong> Lobby <strong>der</strong> FrankfurterBundesbank einrichtete, stellt das großmäuligeGehabe bloss, das alle Aufmerksamkeit fürdie anstehende Meisterleistung beim Einlochen einfor<strong>der</strong>t,indem eben diese durch verborgene Magnetenrund um das Loch verunmöglicht wird.Überhaupt scheint das abrupte Anhalten, dieklägliche Verlangsamung o<strong>der</strong> die Umkehrung vonzielgerichteter Bewegung zu Bartas Spezialitäten zugehören. So irritierte er 2003 in <strong>der</strong> Installation Buyone get one for free!, <strong>der</strong>en Titel ironisch auf die Verkaufspraxisanspielt, den Wunsch nach einem Produktmit Versprechen auf ein Freiexemplar desselbenzumeist überhaupt erst zu wecken, die Alltagserfahrungdes Betrachters. Denn dieser sah sich imansonsten leeren Raum mit zwei, noch dazu gegenläufigwan<strong>der</strong>nden Sonnenstrahlen konfrontiert, dievermeintlich durch ein rundes Fenster hoch oben imRaum einfielen. Und während in Drehmoment von2005 sich nicht die Mischtrommel eines Betonmischfahrzeugesdrehte, son<strong>der</strong>n das massigeFahrzeug selbst um die fixierte Trommel rotierte,erscheint Rolltreppe (2005) wie die Optimierung <strong>der</strong>gewöhnlichen Heimwerkerleiter, da man die Leiter-


Thomas Baumann42Thomas Baumanns Wallsilver ist eine maschinengetriebeneSkulptur, die in ihren periodischen Kontraktionenständig neue Formvarianten zum Vorscheinbringt. Ein Rahmen, mit Silberfolie bespannt, dahinterein computergesteuerter Motor und dazu die entsprechendeMechanik – diese Versuchsanordnungreicht, um zu demonstrieren, welch unendliche Vielfaltim Mechanismus einer endlichen Apparatur angelegtsein kann. Dabei geht das auf einer Art Sockelaufbauende Arrangement über den Aspekt <strong>der</strong>„Autogenese“ hinaus – sprich: jenen verblüffend animistischenEffekt, wonach die Skulptur, unabhängigvon aller Betrachterleistung, mit einem Eigenlebenausgestattet ist. Da ist zunächst die anthropomorpheProjektion, wonach den immer neuen Krümmungenund Faltungen, welche die Maschinerie hervorbringt,zwangsläufig etwas Organisches eignet. Als würdesich eine verhüllte Figur in endlosen Verrenkungenüben und doch nicht aus <strong>der</strong> übergestülpten Hautschlüpfen können. Und mehr noch: Der potenziellunendliche Zyklus aus Deformation und Re-Formationweist auf ein allgemeines Moment hin, nämlichauf ein dezidiert „maschinisches“ – im Gegensatz zueinem bloß „repräsentierenden“ – Unbewussten. EinUnbewusstes, das mehr mit den Brüchen und Einschnitteninnerhalb eines kontinuierlichen Energiestromeszu tun hat als mit dem immer schon Verdrängtenund Unterdrückten.Das Paradoxe an einer Arbeit wie Wallsilver ist,dass sie gleichsam ohne subjektives Zutun, ohnejeglichen „menschlichen Faktor“, son<strong>der</strong>n einzigüber den sich entfaltenden maschinellen Prozesseine Ahnung davon vermittelt, was Subjektivität ausmacht.Wie das Spontane und Emotive, das man gemeinhinmit Subjektivität und Individualität verbindet,aus <strong>der</strong> programmierten Selbsttätigkeit des maschinellenGefüges resultieren und nicht dessen„An<strong>der</strong>es“ darstellen. Genau darin liegt die gespenstischeAnmutung begründet, in <strong>der</strong> Apparatur seigleichsam etwas Lebendiges am Werk, als sei darinetwas Subjektartiges gefangen gehalten, das in immerneuen Deformierungen seinen Ausdruck sucht.Das scheinbar geordnete, vorprogrammierte undselbsttätige Wie<strong>der</strong>holungsverhalten ist es, im Zugedessen die sich entwickelnden Differenzen etwas zutiefstSubjektives – von befreienden Abweichungen


THOMAS BAUMANNWallsilver, 1999/2007(12 Phasen)Technische Folie, Antennen,Steuerung, Motor180 x 180 x 33 cm43


Zilvinas Kempinas54Der 1969 in Litauen geborene Künstler Zilvinas Kempinasist in den letzten Jahren durch ein Werk hervorgetreten,das sich insbeson<strong>der</strong>e durch die skulpturaleVerwendung von abgespulten Magnetbän<strong>der</strong>nauszeichnet. Er arbeitet mit diesem Material nichtwegen dessen Eigenschaft als Datenspeicher, son<strong>der</strong>nin Form von raumgreifenden Installationen, beidenen die schwarz-glänzenden Bän<strong>der</strong> zwischen dieWände eines Raumes gespannt werden und so dievorhandene Architektur zu einem flirrenden Environmentverwandeln (Parallels, 2007–2008). Die Betrachterspiegeln sich in den Streifen und verursachendurch ihre Bewegungen Luftzirkulationen, diesich sowohl kinetisch als auch optisch auf dieInstallation auswirken.Eine an<strong>der</strong>e Werkserie fußt auf <strong>der</strong> einfachen,aber verblüffend wirkungsvollen Idee, Magnetbandschleifenim Luftstrom von Ventilatoren zirkulierendschweben zu lassen. Sie werden in dieser Anordnungzu beweglichen Zeichnungen im Raum, <strong>der</strong>en ephemere,sich ständig verän<strong>der</strong>nde Erscheinung voneiner berückenden Leichtigkeit und Eleganz geprägtist. Bei <strong>der</strong> ersten Begegnung ist man über die lakonischeWirkung und clevere Funktionsweise <strong>der</strong>Werke erstaunt. Auch ist ihnen ein komisches Elementnicht abzusprechen.Zilvinas Kempinas hat dieses Prinzip bereits ineiner Vielzahl von Varianten ausgeführt. Mit einemo<strong>der</strong> mehreren Standventilatoren o<strong>der</strong> auch mit einerganzen Batterie von Bodenventilatoren, <strong>der</strong>enkombinierten Luftströme eine lange Magnetbandschleifetragen, die sich in erhaben gemächlicherWeise durch den Raum schlängelt und die Schwerkraftzu überwinden scheint (Flying Tape, 2004).Magnetbän<strong>der</strong> dienen seit ihrer Erfindung in den1930er Jahren als Datenspeicher. Zunächst für analogeTonsignale, später für Computerdaten und Videoaufzeichnungen.Sie finden bis heute ihre Anwendungin Camcor<strong>der</strong>n, doch stehen sie kurz davor,von einer neuen Technik ersetzt zu werden. ZilvinasKempinas äußert sich über den Werkstoff folgen<strong>der</strong>maßen:„Das Band von Videokassetten hat perfekteskulpturale Eigenschaften; es ist ein Material, daskurzlebig erscheint, aber langlebig ist, super leicht,rein schwarz, extrem dünn, flexibel, es hat eine glänzendeOberfläche, die das Licht reflektiert, und wird


ZILVINAS KEMPINASO2, 2006Magnetband, VentilatorMaße variabel55


Julius Popp58JULIUS POPPbit.reflection, 2008/09Spiegel, Elektronik, ScheinwerferMaße variabelJulius Popp entwickelt interaktive Maschinenskulpturenund Installationen an einer interdisziplinärenSchnittmenge von Kunst und Wissenschaft. Der 1975in Nürnberg geborene Künstler hat zunächst eineAusbildung als Werbefotograf absolviert und in diesemBereich auch zwei Jahre gearbeitet, bevor er1998 nach Leipzig zog, um an <strong>der</strong> dortigen Hochschulefür Grafik und Buch<strong>kunst</strong> zu studieren. ImFrühjahr 2009 schloss er sein Studium als Meisterschülervon Astrid Klein ab. Seit 2005 hat Julius Poppmit wachsendem Erfolg an internationalen Ausstellungsprojektenteilgenommen. Er beschäftigt sich inseinen technisch hochgradig avancierten Arbeiten,die unter an<strong>der</strong>em Diskussionen mit dem MassachusettsInstitute of Technology und dem FraunhoferInstitut in Bonn nach sich zogen, mit zwischenmenschlicherKommunikation als Bausteine von sozialenStrukturen.Bekannt geworden ist Julius Popp vor allem mit<strong>der</strong> 2001 begonnen Wasserfall-Installation bit.fall,mit <strong>der</strong> er erstmals 2006 auf <strong>der</strong> Art Unlimited in Baselreüssierte. Unter an<strong>der</strong>em wurde die Arbeit nochim Mildred Lane Kemper Art Museum, St. Louis, in<strong>der</strong> Kestnergesellschaft Hannover, auf dem Karlsplatzin Wien, im Projektraum <strong>der</strong> Kunsthalle Nürnbergund im Oboro Art Centre, Montréal gezeigt. Beibit.fall handelt es sich um eine durch 320 Magnetventilegesteuerte Konstruktion, die mit herunterfallendenWassertropfen Buchstaben und Wörterschreiben kann. Die Zeichen materialisieren sich nurkurze Zeit während ihres von <strong>der</strong> Schwerkraft beschleunigtenFalls in ein Becken, von dem aus dasWasser wie<strong>der</strong> hochgepumpt wird. Das Beson<strong>der</strong>eist jedoch, dass <strong>der</strong> real zirkulierende Wasserkreislaufmit dem immensen Datenstrom des Internetsverbunden ist und sich durch diese Schnittstelle mitimmer neuen Informationen auflädt. Ein Algorithmusfiltert aus einer vorher festgelegten Anzahl vonNachrichtenwebseiten diejenigen Wörter mit <strong>der</strong>höchsten statistischen Relevanz heraus, welche dieMaschine für kurze Zeit im Medium herunterfallen<strong>der</strong>Wassertropfen sichtbar werden lässt. Der Betrachterbegegnet bei bit.fall in ungemein sinnlicherund vielleicht in Stück weit auch erhabener Weiseden riesigen, unsichtbaren Informationsflüssen, diewir sekündlich produzieren. Die Verknüpfung mit

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