EMPFEHLUNG 58BuchbesprechungHilke Lorenz,Heimat aus <strong>de</strong>m Koffer.Vom Leben nach Flucht und Vertreibung,Ullstein, Berlin 2009, 300 SeitenTitel und Einband lassen die Vermutung aufkommen, daßes sich hier um ein traurig-nostalgisches Vertriebenen-Buch han<strong>de</strong>ln könnte. Diese Vermutung hat sich nichtbestätigt. Es geht zwar um Erinnerungen an die schwerenJahre nach <strong>de</strong>m Krieg. Aber HilkeLorenz nähert sich dieser Zeit in einererfrischend offenen Grun<strong>de</strong>instellung,für die Neugier, Anteilnahme, Achtungfür die Betroffenen bezeichnend sind.Wehleidigkeit o<strong>de</strong>r eine politisch-i<strong>de</strong>ologischvorgefertigte Attitü<strong>de</strong> liegen ihrfern. Sie berichtet von Gesprächen, diesie mit Vertriebenen geführt hat in <strong>de</strong>rAbsicht, sich ihre Geschichte von ihnenselbst erzählen zu lassen und dabei zuzeigen: Die Flüchtlinge aus <strong>de</strong>m Ostensind in erster Linie Menschen; Menschenmit einer oft großartigen Lebensleistung,die in unserer Erinnerungskultureinen ehrenvollen Platz einnehmensollten.Damit heben sich Geist und Sprachedieses Buches wohltuend ab von <strong>de</strong>mTon, in <strong>de</strong>m über die Vertriebenen in<strong>de</strong>r Öffentlichkeit heute vielfach verhan<strong>de</strong>ltwird. Ich erinnere nur an dieAuseinan<strong>de</strong>rsetzungen um das Zentrumgegen Vertreibungen. In diesem Zusammenhangist über die Vertriebenen manches Gute undVerständnisvolle gesagt wor<strong>de</strong>n, aber auch manches, wasbesser nicht gesagt wor<strong>de</strong>n wäre. Statt ihre Lei<strong>de</strong>n undLeistungen zu würdigen, wur<strong>de</strong>n die Vertriebenen nichtselten so dargestellt, daß wir uns fast dafür entschuldigenmüssen, daß es uns gegeben hat und immer noch gibt.Wobei beson<strong>de</strong>rs auffällt, daß fast ausschließlich über unsgesprochen und geschrieben, aber wenig mit uns gere<strong>de</strong>twur<strong>de</strong>.Bei Hilke Lorenz ist das schon im Ansatz an<strong>de</strong>rs. 1962als Tochter von aus Schlesien vertriebenen Eltern geboren,ist sie bereits mit zwei Büchern über die Nachkriegszeithervorgetreten: „Kriegskin<strong>de</strong>r. Das Schicksal einer Generation“,List Verlag 2003, 303 Seiten - seit 2005 auch alsTaschenbuch erhältlich - und „Weiterleben als sei nichtsgewesen? Deutsche Schicksale zwischen Hakenkreuz undBun<strong>de</strong>sadler“, Verlag Droemer/Knauer 2005, 311 Seiten.Auch in <strong>de</strong>m neuen Buch „Heimat aus <strong>de</strong>m Koffer“ geht esum Kriegs- und Nachkriegsfamilien, hier mit <strong>de</strong>r Frage:Wie haben die Vertriebenen - und ihre Kin<strong>de</strong>r - innerlichund äußerlich angeschlagen durch <strong>de</strong>n Heimat- undBesitzverlust, herausgerissen aus ihren sozialen Bezügen,unwillkommen in ihrer neuen Umgebung, nicht selten alsHabenichtse und Dahergelaufene verachtet, ihre Einglie<strong>de</strong>rungund häufig sogar ihren Aufstieg zu Stan<strong>de</strong> gebracht?Wie haben sie das eigentlich geschafft?Dabei kommt Erstaunliches zu Tage: So erzählt HilkeLorenz von einer alten Dame, die bis zur Flucht am 16.April 1945 in Johannesmühle in <strong>de</strong>r Neumark gelebt hatund dann mit ihren Eltern über Sachsen nach Bayern verschlagenwur<strong>de</strong>. Dort erlebte sie, was es heißt, ein Flüchtlingsmädchenzu sein. Überall, selbstin <strong>de</strong>r Tanzstun<strong>de</strong>, haftete ihr dieserMakel, dieser Mangel an Gleich- undVollwertigkeit an. Sie litt darunter so,daß sie beschloß, <strong>de</strong>n Umzug <strong>de</strong>rFamilie nach Hessen zu einer kleinenKorrektur ihrer Ausgangslage zu nutzen:Sie ließ sich nicht mehr alsFlüchtling registrieren und gab sicheine neue I<strong>de</strong>ntität: „Als sie vom bayrischenKelheim ins hessische Kostheimumzog, schien ihr <strong>de</strong>r Zeitpunktfür die Reduktion <strong>de</strong>r Wahrheit gekommen.Das Gefühl <strong>de</strong>s Ge<strong>de</strong>mütigtwer<strong>de</strong>ns,das sie permanent belastete,sollte aus ihrem Leben verschwin<strong>de</strong>n.Sie wollte nicht länger als „noch einFlüchtlingsmädchen“ abgehakt wer<strong>de</strong>n,als summiere dieses Wort kurz und bündigalle möglichen Schwächen, Defiziteund Mängel“ (S. 71).Gefragt, wo sie eigentlich herkam,antwortete sie von jetzt ab „nördlichvon Berlin“, was ja nicht falsch war.Und Hilke Lorenz fügt hinzu: „Eine kleine sprachlicheVagheit - „nördlich von Berlin“ - und schon war das prägendsteKapitel im Leben <strong>de</strong>r damals 18-jährigen einfachausgeblen<strong>de</strong>t. Sie schloß es, sagte sie, auf viele Jahre „ganzbewußt und mit Vorsatz“ in ihrem Inneren ein. Dort, wosich niemand zu suchen traute. Ihr späterer Mann fragtenicht viel, ihren bei<strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn erzählte sie nicht davon.Mit einem großen blin<strong>de</strong>n Fleck, stellte sie fest, ließ sichgut leben. Zumin<strong>de</strong>st einige Zeit lang“ (S. 73 f.) Wie esdazu kam, daß sie das Abgespaltene im Alter dann dochwie<strong>de</strong>r annehmen konnte, ist im Weiteren spannend undbewegend auf über dreißig Seiten nachzulesen.Eine an<strong>de</strong>re Lebensgeschichte ist aus <strong>de</strong>r Perspektiveeiner Enkelin, Thea mit Vornamen, erzählt, die, außeror<strong>de</strong>ntlicherfolgreich in ihrem Beruf, daran erinnert, was sieihrer ostpreußischen Großmutter und Mutter verdankt.„Diese Erfolge sind für sie auch ein „Ätsch-Ruf“ an dieAdresse <strong>de</strong>s Schicksals, das nicht allen die gleichenStartvoraussetzungen beschert. Aber vielleicht war Hartnäckigkeitdas Vermächtnis <strong>de</strong>r Großeltern und <strong>de</strong>r Mutteran die Enkelin“ (S. 259). Und Thea fügt hinzu: „Ich glaube,sie (Großmutter und Mutter) sind gestärkt aus dieser
59MELDUNGENKatastrophe <strong>de</strong>r Vertreibung hervorgegangen“. „Wenn ichmir vorstelle, wie die Menschen heute schon <strong>de</strong>pressivwer<strong>de</strong>n, wenn sie mit einem Schnupfen aufwachen o<strong>de</strong>rdas Auto nicht anspringt.“ Für Thea be<strong>de</strong>utet Erbe nichtWeitergabe von Verlust. Großmutter und Mutter sind für sieechte Mutmacher“ (S. 260).Diese Beispiele müssen genügen. Sie sollen Interessewecken für dieses Buch, das gegen das Vergessen und gegeni<strong>de</strong>ologische Verzerrungen <strong>de</strong>n Blick auf das Vertreibungs-Schicksalund seine tapfere Annahme durch dieMenschen aus <strong>de</strong>m Osten lenkt. Wie auch die bei<strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren,ist es wie<strong>de</strong>r ein sehr menschliches Buch, das HilkeLorenz hier vorgelegt hat, - geschöpft aus <strong>de</strong>m verarbeitetenErleben von Menschen, die inzwischen zwar alt, aberweiter unter uns sind.Christian-Erdmann Schott Evangelisches Erbe bewahren und vermittelnAus <strong>de</strong>r Arbeit <strong>de</strong>r Stiftung „Evangelisches Schlesien“HANS-JOCHEN KÜHNEDer Stiftungsrat <strong>de</strong>r Stiftung „Evangelisches Schlesien“kam am 13. März 2010 in Weimar zu seiner turnusmäßigenSitzung zusammen. Die Stiftung will die evangelischeTradition Schlesiens wach halten, die Geschichte <strong>de</strong>s evangelischenSchlesien vermitteln und evangelisches Leben inSchlesien för<strong>de</strong>rn.Der Vorstand berichtete über die Arbeit <strong>de</strong>s vergangenenJahres. Neue Projekte wur<strong>de</strong>n beraten und <strong>de</strong>r Haushaltfür 2010 beschlossen.Ein beson<strong>de</strong>rer Anziehungspunkt <strong>de</strong>r Stiftungsarbeitsind die Exkursionen und Tagesfahrten nach Schlesien. Fürdie im vorigen Jahr eröffnete Evangelische SchlesischeBibliothek in Görlitz konnten ein Computer-Arbeitsplatzeingerichtet und die Voraussetzungen geschaffen wer<strong>de</strong>n,um <strong>de</strong>n gesamten Buchbestand zu erfassen und über dasInternet bekannt zu machen. Damit besteht nun auch einegute Möglichkeit, aus schlesischen Nachlässen Schriftgutund persönliche Aufzeichnungen aufzunehmen und alsZeitzeugnisse zu erhalten.Großes Interesse und Unterstützung fand <strong>de</strong>r Vorschlag,gemeinsam mit <strong>de</strong>m Schlesischen Museum zu Görlitz einProjekt über die Suche evangelischer Spuren in Schlesiendurch junge Polen durchzuführen. Die Ergebnisse sollen imRahmen <strong>de</strong>s Evangelischen Kirchentags 2011 in Dres<strong>de</strong>neiner breiten Öffentlichkeit vorgestellt wer<strong>de</strong>n.Eine zentrale Frage bleibt, wer sich für die Geschichteund Kirchengeschichte <strong>de</strong>r Heimat <strong>de</strong>r Vertriebenen inZukunft verantwortlich weiß und wie die Geschichte <strong>de</strong>sProtestantismus Mittel- und Osteuropas in unser heutigesGeschichtsbewusstsein und in das Leben unserer Kircheund Gemein<strong>de</strong>n eingebracht wer<strong>de</strong>n kann. Dieser Aufgabewollen wir uns als kirchliche Stiftung bewußt stellen undhierzu auch ein Gespräch mit <strong>de</strong>m neuen Bischof <strong>de</strong>rEvangelischen Kirche Berlin-Bran<strong>de</strong>nburg-schlesischeOberlausitz führen.Für die Leitungsaufgaben <strong>de</strong>s Stiftungsrates wur<strong>de</strong>nOKR i.R. Dr. Hans-Jochen Kühne als Vorsitzen<strong>de</strong>r und Dr.Ulrich Schmilewski als Stellvertreter in ihren Funktionenbestätigt und bis 2012 wie<strong>de</strong>rgewählt.Dem Stiftungsrat gehören Vertreter <strong>de</strong>r EvangelischenKirche Berlin-Bran<strong>de</strong>nburg-schlesische Oberlausitz, <strong>de</strong>rGemeinschaft evangelischer Schlesier e.V., <strong>de</strong>s Vereins fürSchlesische Kirchengeschichte e.V., <strong>de</strong>r Evangelisch-Augsburgischen Kirche in Polen, <strong>de</strong>r Schlesischen evangelischenKirche A.B. in Tschechien und <strong>de</strong>r Stiftung SchlesischesMuseum zu Görlitz an.Andreas Neumann-Nochten zum 50. GeburtstagAndreas Neumann-Nochten, <strong>de</strong>r nun schon seit einigen Jahren zusammen mitPastor Mag. Dietmar Neß <strong>de</strong>n „<strong>Gottesfreund</strong>“ redigiert, feiert am 19. April 2010seinen fünfzigsten Geburtstag. Dazu gratulieren wir ihm herzlich. Wir danken fürseinen Einsatz in Redaktion und Planung, aber auch für seine lesenswerten Beiträgeund für die von ihm selbst gezeichneten Bil<strong>de</strong>r, die er immer wie<strong>de</strong>r zur Auflockerungund Illustration in die Texte einfügt, und wünschen ihm für das neue Lebensjahrund überhaupt für die Zukunft Gottes Segen.Wir freuen uns, daß wir in ihm einen Redakteur gefun<strong>de</strong>n haben, <strong>de</strong>r dieInteressen <strong>de</strong>r Lesergemein<strong>de</strong> im Auge hat, die Schlesische Oberlausitz und daspolnische Schlesien nicht aus <strong>de</strong>m Blick verliert und unseren verehrten Senior-Redakteur,Dietmar Neß, einfühlsam unterstützt und entlastet.Für <strong>de</strong>n VorstandDr. Christian-Erdmann Schott