Alltag – Leben mit vie12 I N N E N W E L TPRIM. UNIV.-PROF. DR.MICHAEL MUSALEKAnton-Proksch-InstitutMackgasse 7-11, A-1237 WienTel.: +43.1.880 10 811E-Mail: musalek@api.or.atwww.api.or.atALLTAGWAS BEDEUTET DIE DIAGNOSESCHIZOPHRENIE FÜR BETROFFENE?Vorab gesagt, wäre es erfreulich, wennPatienten nicht erst dann zum Facharzto<strong>der</strong> <strong>in</strong> die Kl<strong>in</strong>ik geschickt würden, wennpsychotische Anzeichen auftreten, son<strong>der</strong>nbereits zum Zeitpunkt <strong>der</strong> erstenWesensverän<strong>der</strong>ung. Das ermöglicht e<strong>in</strong>efrühzeitige Behandlung und erspart unnötigenLeidensdruck. Betroffene versuchendie Diagnose zu vermeiden, da diesezutiefst stigmatisierend ist. Die psychotischeWirklichkeit wird nicht selten alsdas Reale erlebt. Trotzdem baut sichdurch die typischen Symptome bei schizoi<strong>der</strong>Psychose e<strong>in</strong> großer Leidensdruckauf. Die Diagnose und die Aussicht aufBehandlung werden dann als Erleichterungempfunden. Wichtig ist, demPatienten zu signalisieren: E<strong>in</strong>e Psychoseist we<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Geisteskrankheit, noch ist<strong>der</strong> Patient verrückt. Durch konsequenteBehandlung lassen sich schwere Episodenmil<strong>der</strong>n und damit auch die sozialenFolgen abfe<strong>der</strong>n.WELCHE PROBLEME BRINGT DIEERKRANKUNG IM ALLTAG MIT SICH?Menschen mit Psychosen s<strong>in</strong>d übermäßigsensibel und können wi<strong>der</strong>sprüchlicheImpulse nur schwer abgleichen. Konflikteo<strong>der</strong> emotionaler Stress, den Gesunde problemlos„wegstecken“, münden rasch <strong>in</strong><strong>in</strong>nerer Anspannung, Misstrauen o<strong>der</strong> Angst.Es kann auch se<strong>in</strong>, dass sich Betroffene zumSelbstschutz abkapseln und <strong>in</strong> ihre eigene,wahnhafte Welt zurückziehen. Aus <strong>der</strong>Sicht <strong>der</strong> Betroffenen ist dies verständlich,denn <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>spruch zwischen „<strong>in</strong>nen“ und„außen“ führt zu großer Unsicherheit. VonAußenstehenden wird dieses Verhaltenjedoch als „seltsam“ o<strong>der</strong> gar bedrohlichempfunden. Vor allem <strong>in</strong> akuten Erkrankungsphasensche<strong>in</strong>en psychotische Menschenaggressiv und fe<strong>in</strong>dselig. ZumKrankheitsbild können auch Aufmerksamkeitsstörungen,Schwierigkeiten beimabstrakten Denken o<strong>der</strong> Entscheidungsschwächegehören – Symptome, welche dieganz normale Handlungsplanung im Alltagzusätzlich erheblich erschweren können.STICHWORT GENDER MEDICINE:WIE GEHEN BETROFFENE FRAUENUND WIE BETROFFENE MÄNNERMIT DER ERKRANKUNG UM?Wie bei an<strong>der</strong>en Erkrankungen auch, zeigenMänner, die an e<strong>in</strong>er Psychose leiden, weitweniger Krankheitse<strong>in</strong>sicht als Frauen. DieVulnerabilität (Empf<strong>in</strong>dsamkeit) des starkenGeschlechts ist höher und damit auch dieAggressivität. Männer mit Psychose haben<strong>in</strong>sgesamt e<strong>in</strong>e etwas schlechtere Prognoseals Frauen. Das kann auch daran liegen, dassdie Erkrankung bei Frauen meist später auftritt(zwischen dem 25. und 30. Lebensjahr).Somit haben Frauen zum Zeitpunkt <strong>der</strong>ersten Episode mehr psychosoziale Kompetenzenerworben, was das Fortschreiten <strong>der</strong>Krankheit verzögert.BEZIEHUNGENWAS KÖNNEN BETROFFENE IMUMGANG MIT ANDEREN TUN?Die Diagnose Schizophrenie wirkt auf vieleBetroffene wie e<strong>in</strong>e Schublade, aus <strong>der</strong> eske<strong>in</strong> Entr<strong>in</strong>nen gibt. Sie haben Angst, abgestempeltzu werden o<strong>der</strong> mit dem Etikett„schizophren“ die Umwelt zu verschrecken.Wichtig ist, sich selbst zu respektierenund mit dem eigenen Wahrnehmenund Er<strong>leben</strong> umgehen zu lernen.Ich rate Patienten, es so zu sehen: AlsMensch mit Psychose s<strong>in</strong>d Sie sensibler,fe<strong>in</strong>fühliger, vielleicht auch kreativer als seelischrobustere Zeitgenossen, die mit <strong>der</strong>sprichwörtlichen „dicken Haut“ ausgerüstets<strong>in</strong>d. Damit haben Sie die Aufgabe, beson<strong>der</strong>sgut auf sich aufzupassen. Die Erkrankung„managen“ heißt vor allem vordenkenund planen. Schauen Sie auf sich und mutenSie sich nicht zu viel zu. Ihre fe<strong>in</strong>enAntennen schlagen rasch Alarm, wenn Sieetwa zwiespältigen Situationen ausgesetzts<strong>in</strong>d, die nicht e<strong>in</strong>deutig e<strong>in</strong>zuordnen s<strong>in</strong>d.Zum Beispiel, wenn sich Menschen ambivalentverhalten, <strong>der</strong>en Worte also etwasan<strong>der</strong>es ausdrücken als die Mimik o<strong>der</strong> dieKörpersprache. Betroffene sollten, wennmöglich, versuchen, E<strong>in</strong>deutigkeit herzustellen.Ebenso wichtig ist es, hohen Leistungsdruck,Stress und emotionale Konflikte zuvermeiden o<strong>der</strong> zum<strong>in</strong>dest niedrig zu dosierenund Entlastungen zu organisieren.
SCHIZOPHRENIElen FacettenStellen Sie sich Ihr seelisches Wohlbef<strong>in</strong>denwie e<strong>in</strong> Konto vor: Je mehr Sie „im Plus“s<strong>in</strong>d, Ihr Wohlfühl-Guthaben also vermehren,umso mehr emotionale Rücklagenhaben Sie <strong>in</strong> Phasen, <strong>in</strong> denen es nicht sogut läuft.WIE SIEHT ES MIT PARTNERSCHAFTUND SEXUALITÄT AUS?E<strong>in</strong>e liebevolle, harmonische Beziehung zuführen steht auf <strong>der</strong> Wunschliste <strong>der</strong> meistenMenschen ganz oben. Das ist beiPatienten mit Psychose nicht an<strong>der</strong>s – vielenvon ihnen bleibt e<strong>in</strong>e stabile Liebesbeziehungjedoch verwehrt. In e<strong>in</strong>er (Liebes-)Beziehung geht es um Gefühle undKommunikation – bereits für Gesunde birgtdas im Alltags<strong>leben</strong> e<strong>in</strong>e Menge Konfliktstoff,umso mehr für Menschen mitPsychose, die auf emotionalen Stress sehrsensibel reagieren. Mit e<strong>in</strong>em Partner, <strong>der</strong>Verständnis für die Symptome <strong>der</strong> Krankheithat – ohne deshalb den Betroffenen„<strong>in</strong> Watte zu packen“ und die eigenenInteressen h<strong>in</strong>tanzustellen –, kann e<strong>in</strong>eBeziehung dennoch gel<strong>in</strong>gen. ErfüllteSexualität ist e<strong>in</strong> wesentlicher Teil e<strong>in</strong>erglücklichen Beziehung und auch Menschenmit Psychose wollen (und müssen) daraufnicht verzichten. Manche Medikamente –darunter solche, die zur Behandlung <strong>der</strong>psychotischen Symptome e<strong>in</strong>gesetzt werden– können das Sexual<strong>leben</strong> und dieSexualfunktionen jedoch bee<strong>in</strong>trächtigen.Dann leidet z.B. die Libido, was sich durchLustlosigkeit und Des<strong>in</strong>teresse bemerkbarmacht. Sollten sexuelle Probleme auftreten,die möglicherweise mit Medikamenten <strong>in</strong>Zusammenhang stehen, sollten Betroffeneden behandelnden Arzt darauf ansprechen.Oft kann durch e<strong>in</strong>e Än<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Dosiso<strong>der</strong> die Umstellung auf e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>esMedikament das Problem gelöst werden.KÖNNEN MENSCHEN MITSCHIZOPHRENIE EINE FAMILIEGRÜNDEN?Schizophrenie tritt meist im späten jugendlicheno<strong>der</strong> im jungen Erwachsenenalter <strong>in</strong>Ersche<strong>in</strong>ung, bei Männern bereits zwischendem 16. und dem 25. Lebensjahr. E<strong>in</strong>er Zeitalso, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Betroffene gerade <strong>in</strong> Ausbildungstehen o<strong>der</strong> studieren. Durch denAusbruch <strong>der</strong> Krankheit können die beruflichenWege meist nicht weiterverfolgt werden,folglich haben die Betroffenen ke<strong>in</strong>enJob und ke<strong>in</strong> ordentliches E<strong>in</strong>kommen. Beimanchen Formen von Psychose bestehtdarüber h<strong>in</strong>aus auch e<strong>in</strong> erhöhtes Risiko fürdie K<strong>in</strong><strong>der</strong>, an e<strong>in</strong>er Psychose zu erkranken.Grundsätzlich spricht aus mediz<strong>in</strong>ischerH<strong>in</strong>sicht jedoch nichts dagegen, dassMenschen mit Psychose Nachwuchs zeugenund e<strong>in</strong>e Familie gründen.SELBSTMANAGEMENTWELCHE ANZEICHEN KÖNNEN EINENRÜCKFALL ANKÜNDIGEN?Menschen mit Psychose s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regelbeson<strong>der</strong>s sensibel und verfügen über e<strong>in</strong>facettenreiches Sensorium. Dieses solltensie als „Frühwarnsystem“ nützen, umVerän<strong>der</strong>ungen an Körper und Seele rechtzeitigwahrzunehmen und e<strong>in</strong>zuschätzen.Ob sich e<strong>in</strong>e Episode ankündigt, erkennenBetroffene selbst am besten. Es ist wichtig,„zum Experten se<strong>in</strong>er Krankheit“ zu werdenund Warnsymptome ernst zu nehmen.Folgende Symptome werden häufig alsAnzeichen dafür genannt, dass sich e<strong>in</strong>eneue Krankheitsepisode ankündigt:• Schlafstörungen• beunruhigende, Angst machende Träumeo<strong>der</strong> Gedanken• erneutes o<strong>der</strong> ausgeprägteres Stimmenhören• verworrene Gedanken und Kommunikationsprobleme• Entscheidungsschwäche• Energielosigkeit und Verlust des Interessesan normalen Aktivitäten• depressive StimmungOft s<strong>in</strong>d es auch nahe Angehörige, diezuerst wahrnehmen, dass sich <strong>der</strong> Erkrankte<strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Verhalten o<strong>der</strong> Denkenverän<strong>der</strong>t. Betroffene sollten daher lernen,diese H<strong>in</strong>weise ihrer Angehörigen ernst zunehmen und sich – im Idealfall geme<strong>in</strong>sam– an den Arzt zu wenden.WIE SOLLTE MAN SICH IN EINEMKRISENFALL VERHALTEN?Wenn Betroffene den E<strong>in</strong>druck haben,dass ihre Symptome schlimmer werden,ist umgehend <strong>der</strong> Arzt zu konsultieren.Ohne ärztliche Hilfe kann sich <strong>der</strong> psychischeZustand erheblich verschlechtern.VORURTEILEMIT WELCHEN VORURTEILEN WERDENBETROFFENE HÄUFIG KONFRONTIERT?„Unwissenheit ist die Quelle aller Ängste“,lautet e<strong>in</strong> weiser Spruch. Mit Vorurteilenverhält es sich ebenso. Psychosens<strong>in</strong>d bis heute weitgehend unverstandenepsychische Störungen. Der <strong>in</strong> <strong>der</strong>Bevölkerung geme<strong>in</strong>h<strong>in</strong> ger<strong>in</strong>ge Wissensstandist <strong>der</strong> „ideale“ Nährboden fürviele Irrtümer und Mythen, die rund umdiese Erkrankung kursieren.Die häufigsten Vorurteile gegenüber <strong>der</strong>Diagnose Schizophrenie s<strong>in</strong>d:• Schizophrenie ist unheilbar.• Die Betroffenen s<strong>in</strong>d unberechenbarund gewalttätig.• Schizophrenie ist e<strong>in</strong>e Geisteskrankheit.Aus <strong>der</strong> Stigmatisierung entsteht Diskrim<strong>in</strong>ierung,die sich auf vielfältige Weiseausdrückt: von <strong>der</strong> Abneigung, Menschenmit e<strong>in</strong>er schizophrenen Erkrankung zu beschäftigen,bis h<strong>in</strong> zur sozialen Ausgrenzung.SIND MENSCHEN MITPSYCHOSE „GEFÄHRLICH“?Zwar lässt sich e<strong>in</strong> etwas erhöhterProzentsatz von Straftaten bei Menschenmit Psychose f<strong>in</strong>den. Ausschlaggebends<strong>in</strong>d jedoch die absoluten Zahlen, welchedas Risiko für den E<strong>in</strong>zelnen ausdrücken,Opfer e<strong>in</strong>es Verbrechens zu werden. Undhier zeigt sich: Straftaten werden weitaushäufiger von e<strong>in</strong>em Gesunden verübt alsvon e<strong>in</strong>em Menschen mit Psychose.Auch wenn die mediale Berichterstattungüber „Psycho-Täter“ etwas an<strong>der</strong>es vermutenlässt: Das Krim<strong>in</strong>alitäts- und GefährlichkeitsrisikoSchizophrener gegenüber<strong>der</strong> Allgeme<strong>in</strong>bevölkerung ist nichtdef<strong>in</strong>itiv erhöht. Problematisch wird dieSituation nur dann, wenn die Erkrankungakut aufflammt und nicht behandelt wird.Psychotische Straftäter s<strong>in</strong>d meist nicht <strong>in</strong>das psychiatrische Versorgungssysteme<strong>in</strong>gebunden, werden also nicht medikamentösbehandelt und stehen häufigunter akutem und chronischem AlkoholundDrogene<strong>in</strong>fluss.13