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Wolfgang Bittner - Welt der Arbeit

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Lesekultur als Prophylaxe gegen GewaltPlädoyer für eine zivilisatorische NotwendigkeitVon <strong>Wolfgang</strong> <strong>Bittner</strong>Der britische Schriftsteller und Nobelpreisträger William Golding sagt über das20. Jahrhun<strong>der</strong>t: "Ich glaube, dass dies das gewalttätigste Jahrhun<strong>der</strong>t <strong>der</strong> Menschheitsgeschichtewar.“ Der französische Ökologe René Dumont sieht es "nur als einJahrhun<strong>der</strong>t <strong>der</strong> Massaker und Kriege". Und <strong>der</strong> Historiker Eberhard Jäckel nennt esunter Hinweis auf die beiden <strong>Welt</strong>kriege, den Faschismus und die Vernichtungsverbrechensogar "das deutsche Jahrhun<strong>der</strong>t".Sicher, man hat nach Aufklärung, industriellem und technischem Fortschritt kaum mehrmit diesem Rückfall in eine Barbarei, die mit dem Phänomen "Auschwitz" nicht hinreichendzu beschreiben ist, rechnen können. Aber das 20. Jahrhun<strong>der</strong>t als beson<strong>der</strong>sherausragend zu bezeichnen, was die Gewalt betrifft, erscheint mir doch etwas weitgehend.Wir stehen unserer unmittelbaren extremen Vergangenheit nur näher als denlänger zurückliegenden Epochen, die absolut nicht friedlicher waren. Denken wir anLeibeigenschaft, Inquisition, Sklaverei und Kolonisation, an die zahlreichen Kriege, vondenen die Geschichtsschreibung berichtet: Unterdrückungskriege, Freiheitskriege, NapoleonischeKriege, Unabhängigkeitskriege, Sezessionskrieg, Dreißigjähriger Krieg,Türken-, Ungarn-, Hunneneinfälle, Kreuzzüge, römische Imperialpolitik, Eroberungsfeldzüge<strong>der</strong> Perser, Mazedonier, Assyrer...Jede Zeit hatte ihre Gräuel, und ich bin zutiefst davon überzeugt, dass die Summe allenLeidens auf dieser <strong>Welt</strong> über die Jahrhun<strong>der</strong>te gleich geblieben ist. Zwar hege ichdie Hoffnung, dass es besser werde, gewaltfreier, friedvoller, humaner; aber ich sehedafür momentan keine Anzeichen. Wir brauchen gar nicht nach Afrika, Südamerika,Afghanistan o<strong>der</strong> Irak zu schauen; seit dem Terroranschlag vom 11. September 2001in New York und Washington, aber auch seit den Morden in Erfurt vom 26. April 2002,als ein 19-jähriger Schüler sechzehn Menschen erschoss, wissen wir, dass Gewaltständig und überall gegenwärtig ist, dass sie – immer noch – je<strong>der</strong>zeit auch uns treffenkann. Nur die Formen <strong>der</strong> Gewalt verän<strong>der</strong>n sich von Zeit zu Zeit.Dennoch sind wir aufgefor<strong>der</strong>t, ihr zu begegnen, wo es nur geht. Das ist eine unsererAufgaben, die uns als Menschen, als sich fortentwickelnden geistigen Wesen, gestelltsind. Es ist sozusagen <strong>der</strong> Stein des Sisyphos, den wir immer wie<strong>der</strong> bergauf zu wälzenhaben, so schwer es auch fällt. Diese Erkenntnis hat hier und da auch Eingang indie Literatur gefunden.*Seit jeher beschäftigen sich Schriftsteller – mehr o<strong>der</strong> weniger zentral – mit <strong>der</strong> Gewaltproblematik.Als Beispiele aus <strong>der</strong> Antike mögen Homers "Odyssee" und "Ilias" sowieSophokles' "Antigone" genügen. Im mitteleuropäischen Raum angesiedelt sindspäter das Nibelungenlied o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Simplicissimus. Auch bei den Klassikern spielt dieGewaltproblematik eine wesentliche Rolle. Zu nennen sind beispielshalber Schillers"Räuber" und "Wilhelm Tell", Goethes "Egmont" und "Götz von Berlichingen", Kleists"Michael Kohlhaas", Lessings "Nathan <strong>der</strong> Weise", Shakespeares Königsdramen. DieListe lässt sich – freilich sehr unvollständig – weiterführen mit Büchners "Woyzeck" und"Dantons Tod", Dostojewskis "Schuld und Sühne", Fontanes "Effi Briest", Hauptmanns"Weber", Kafkas "Prozess", Werfels "Musa Dagh", Brechts "Mutter Courage", Orwells"1984", Hemingways "Wem die Stunde schlägt", Dürrenmatts "Versprechen" und "Besuch<strong>der</strong> alten Dame", Bölls "Ansichten eines Clowns", Walsers „Tod eines Kritikers“,Grass’ „Im Krebsgang“.In diesen Werken geht es häufig um absolute, unverhüllte Gewalt, nicht selten aberauch um Formen indirekter, nicht gleich als solcher erkennbarer Gewalt. Mit strukturel-1


ler Gewalt haben wir es dagegen bei Fontanes "Effi Briest" o<strong>der</strong> Dürrenmatts "Besuch<strong>der</strong> Alten Dame" zu tun, mit institutioneller Gewalt in Kleist "Kohlhaas", Hauptmanns"Weber" o<strong>der</strong> Kafkas "Prozess".Auch in <strong>der</strong> gegenwärtigen Kin<strong>der</strong>- und Jugendliteratur finden wir zahlreiche Beispielevon Jorge Amado bis Arnulf Zitelmann. Ganz abgesehen von den immer noch lesenswertenund aktuellen Klassikern auf diesem Gebiet: Mark Twain, Charles Dickens,Friedrich Gerstäcker, B. Traven, Jack London o<strong>der</strong> Robert Louis Stevenson.*Im täglichen Leben werden wir ständig mit den unterschiedlichsten Formen direkterund indirekter Gewalt konfrontiert. Ob auf <strong>der</strong> Straße, beim Autofahren, im Betrieb, aufdem Schulhof, in <strong>der</strong> Bahn o<strong>der</strong> sogar in <strong>der</strong> Familie: überall begegnet uns – mehr o<strong>der</strong>weniger – Gewalt. Ein Betrunkener pöbelt Passanten an, im Park ist jemand überfallenworden, <strong>der</strong> Vorgesetzte schikaniert die Sekretärin, zwei Schüler nehmen einem an<strong>der</strong>endie Mütze weg, ein Vater prügelt... Je<strong>der</strong> hat ein Gefühl dafür, was Gewalt ist. Sofortfallen uns hun<strong>der</strong>t weitere Beispiele dafür ein. Aber eine Definition zu geben, istnicht einfach. Liegt denn Gewalt vor, wenn jemand ein Auto zerkratzt o<strong>der</strong> seine Aggressionenan einer Straßenlaterne auslässt? Ist das Gewalt, wenn jemand Schutzgel<strong>der</strong>kassiert o<strong>der</strong> wenn sich Kin<strong>der</strong> auf dem Schulhof anspucken?Im Strafrecht ist Gewalt ein Zwangsmittel zur Einwirkung auf das Verhalten an<strong>der</strong>er. Eswird also auf die Willensfreiheit eines an<strong>der</strong>en Menschen Einfluss genommen. Daskann sowohl durch physische Kraft geschehen, als auch durch Betäubung beispielsweisemit Narkotika, durch Hypnose o<strong>der</strong> durch psychische Einwirkung. Darunter fallenStraftatbestände wie Raub, Entführung, Erpressung und Nötigung. Jemand schlägt einenan<strong>der</strong>en, bemächtigt sich seiner o<strong>der</strong> droht ihm, um ihn zu einer bestimmten Handlungbeziehungsweise Unterlassung zu zwingen. Dagegen geht das Strafrecht bei Deliktenwie Mord, Körperverletzung und Sachbeschädigung vom Ergebnis aus; das heißtjemand wird getötet, verletzt o<strong>der</strong> eine Sache wird beschädigt beziehungsweise zerstört.Suchen wir nun nach einer allgemein gültigen Definition für Gewalt, müssen wir denBegriff über das Strafrecht hinaus vom Sprachgebrauch im täglichen Leben her entwickeln.Danach ist Gewalt jede Kraft- o<strong>der</strong> Machteinwirkung auf Menschen o<strong>der</strong> Sachen,und zwar in negativer Weise. Es ist ein Unterschied, ob ein Schüler einen Gleichaltrigenunflätig beschimpft – eine Zankerei – o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Lehrer einen Schüler (das wäreGewalt in Form negativer Machteinwirkung). Es ist auch nicht dasselbe, ob ein Mitschülereinem an<strong>der</strong>en die Mütze wegnimmt (eine Rangelei, ein Schabernack) o<strong>der</strong> obdas ein aggressiver älterer Schüler tut. Ganz eindeutig liegt Gewalt vor, wenn einer denan<strong>der</strong>en erpresst o<strong>der</strong> zusammenschlägt o<strong>der</strong> wenn jemand das Mobiliar demoliert.Nach <strong>der</strong> Statistik, hat eine so definierte Gewalt unter Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen in denletzten Jahren stetig zugenommen. Das trifft nicht nur auf die USA o<strong>der</strong> Russland zu,son<strong>der</strong>n auch auf mitteleuropäische Län<strong>der</strong> wie Deutschland o<strong>der</strong> Österreich. Wir fragenuns natürlich, woran das liegt. Ausgehend von <strong>der</strong> Annahme, dass <strong>der</strong> Mensch apriori we<strong>der</strong> gut noch böse ist, vielmehr unterschiedliche Anlagen in sich trägt, gewinnendie gesellschaftlichen Bedingungen für seine Entwicklung ausschlaggebende Bedeutungund Erziehung stellt ein unerlässliches Regulativ dar. Unter diesen Voraussetzungensind vor allem vier Faktoren für das Anwachsen von Gewalt festzustellen: Erstensdie zunehmende Polarisierung in <strong>der</strong> Gesellschaft, zweitens die Einengung gesellschaftlichenBewusstseins auf materielle Werte und damit einhergehend eine deutlicheIgnoranz gegenüber Kultur, drittens die negativen Vorbil<strong>der</strong> in den Medien, viertensein nicht befriedigter Abenteuerdrang.*2


Zur Polarisierung in <strong>der</strong> Gesellschaft:Die Kluft zwischen Arm und Reich wird immer größer. In Deutschland, einem <strong>der</strong>reichsten Län<strong>der</strong> <strong>der</strong> <strong>Welt</strong>, gibt es zurzeit etwa zehn Millionen Menschen, die arbeitslossind, Sozialhilfe erhalten o<strong>der</strong> nur über ein Einkommen am Rande des Existenzminimumsverfügen. Die Bedingungen in an<strong>der</strong>en Län<strong>der</strong>n sind zumeist noch schlechter(über eine Milliarde Menschen leben heute in absoluter Armut, Millionen verhungern).Mitbetroffene sind die Kin<strong>der</strong>. Sie sehen auf <strong>der</strong> einen Seite diesen immensen Reichtum,dass manche Leute sich alles, aber auch alles, leisten können. Das Fernsehenspiegelt ihnen Scheinwelten vor, in denen gesunde, attraktive Menschen in geräumigenund bestens eingerichteten Wohnungen leben, womöglich bedient von Personal, in <strong>der</strong>Tasche die unerschöpfliche Kreditkarte und in <strong>der</strong> Garage den Sportflitzer o<strong>der</strong> Straßenkreuzer.Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite fehlt ihnen das Geld, ihre einfachsten Lebensbedürfnissezu befriedigen. Wen wun<strong>der</strong>t es, dass solche Kin<strong>der</strong> und Jugendlichen nachWegen suchen, ihre Defizite auszugleichen – und sei es mit Gewalt und durch kriminelleHandlungen. Oft ist ihnen anfangs gar nicht bewusst, auf was sie sich da einlassen.Hinzu kommt, dass ihnen Bezugspersonen fehlen, Vorbil<strong>der</strong> in Familie und Gesellschaft.Wenn sie sich einmal auf <strong>der</strong> schiefen Bahn <strong>der</strong> Kriminalität und moralischenVerwil<strong>der</strong>ung befinden, rutschen sie leicht tiefer hinein.Ähnlich ist es mit dem Rassismus. Wer mittellos ist, keine Orientierung hat, nichts,worauf er stolz sein kann, ist wenigstens Deutscher, Italiener, Franzose o<strong>der</strong> Brite,Weißer, Arier o<strong>der</strong> Rechtgläubiger... Er hält seine Anschauungen für die einzig richtigenund bekämpft jeden An<strong>der</strong>sdenkenden. Fremde, vor allem Auslän<strong>der</strong>, sind unerwünscht.Sie passen nicht ins Bild, sind an<strong>der</strong>s, nehmen angeblich den <strong>Arbeit</strong>splatzweg, die Freundin und die Wohnung; sie werden als min<strong>der</strong>wertige Eindringlinge undgefährliche Konkurrenten angesehen, als Kanaken, Nigger, Ungläubige usw., die es imExtremfall zu eliminieren, auszumerzen gilt.Gewalt, Kriminalität, Rassismus – das sind immer wie<strong>der</strong> behandelte Themen in <strong>der</strong> Literatur.Und die Lektüre solcher Bücher kann dazu beitragen, aufzuklären, Bewusstseinzu schaffen; sowohl bei den Benachteiligten – soweit sie zum Lesen gebracht werdenkönnen – als auch bei den Bevorzugten. Man kann über die Geschichten nachdenken,über Handlungsweisen, Wertvorstellungen, Lebensentwürfe, lernt an<strong>der</strong>e Biographien,an<strong>der</strong>e gesellschaftliche Bereiche kennen, womöglich positive Ansätze, kann darüberdiskutieren. Oft gibt es eine Identifikation des Lesenden mit dem Protagonisten, undauch das kann für die Persönlichkeitsentwicklung gerade von Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichenför<strong>der</strong>lich sein.Übrigens brauchen es nicht unbedingt so genannte Problembücher zu sein, die sich einemeinzigen Thema widmen, wie es in <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>- und Jugendliteratur häufig vorkommt.Sie sind nicht selten arg konstruiert, eine typische Schullektüre, für die es dannsogar Unterrichtseinheiten gibt, und werden dann nur als Pflichtlektüre hingenommen,jedenfalls weniger aus Interesse und mit Vergnügen gelesen. Es können ebenso undmanchmal noch besser Gesellschafts-, Abenteuer-, Adoleszenz-, Kriminal-, Sciencefiction-o<strong>der</strong> historische Romane sein, die im Rahmen einer vielfältigen Geschichte dasVerhältnis <strong>der</strong> handelnden Personen zur Gewalt, Kriminalität, zu Intoleranz und Fanatismus,zum Rassismus o<strong>der</strong> Rechtsradikalismus eher beiläufig, darum aber nicht wenigerwirkungsvoll klären. Gute Bücher können prägend sein, sie können Menschensogar verän<strong>der</strong>n. Denn sie erzeugen innere Bil<strong>der</strong>, und zwar im Gegensatz zum Fernsehen,das äußere Bil<strong>der</strong> vermittelt und dem Zuschauer selbst bei akzeptablen Filmendurch die Aneinan<strong>der</strong>reihung zumeist kurzer, aktionsreicher Sequenzen keinen Raumfür unmittelbare Reflexionen lässt.*Zur Beschränkung auf materielle Werte:Das Prinzip heißt heute: Immer mehr und am meisten für mich. Was zählt, sind überwiegendmaterielle Werte. Wozu Kultur? Die haben wir doch sowieso, meint man. Sie3


ist allerdings auch nicht messbar. Also bemüht man sich erst gar nicht darum. Übersehenwird dabei, dass die Materie lediglich die Basis bieten kann, auf <strong>der</strong> sich ein menschenwürdigesLeben entwickelt. Diese nicht neue Erkenntnis, ist in den letzten Jahrenmehr und mehr in Vergessenheit geraten.Wenn in den öffentlichen Haushalten gestrichen wird, trifft das zuerst die Kultur. Damerkt man es angeblich am wenigsten. Zugleich beklagt man allerorten die Zunahmevon Vandalismus, Intoleranz, Gewalt und Kriminalität. Man wun<strong>der</strong>t sich darüber, dassdie Patentanmeldungen und Erfindungen zurückgehen, die Kreativität in <strong>der</strong> Wirtschaftnachlässt. Als ob Verzicht auf Kultur ohne Wirkung bliebe. Die 2001 veröffentlichtePISA-Studie hat belegt, dass es vielen Jugendlichen nicht nur an <strong>der</strong> Technik des Lesensermangelt, son<strong>der</strong>n dass auch die Lesekompetenz fehlt, das heißt verstehendes,reflektierendes Lesen. Ein erschütterndes Ergebnis, noch dazu für den KulturstaatDeutschland, <strong>der</strong> peinlicher Weise in <strong>der</strong> internationalen Gesamtbewertung einen <strong>der</strong>hinteren Plätze einnimmt.In einer <strong>der</strong>art unkulturellen Atmosphäre können sich Eigenschaften wie Toleranz,Friedfertigkeit, Mitgefühl, Hilfsbereitschaft, Mitmenschlichkeit nur schwer entwickeln.Stattdessen gedeihen neben Gewalt und Kriminalität auf dem Boden <strong>der</strong> Unwissenheit,Borniertheit und Intoleranz beson<strong>der</strong>s <strong>der</strong> Nationalismus und Rassismus. Da helfenauch weltweite Vernetzung und Globalisierung nicht. Denn <strong>der</strong> rund um den Globus viaInternet stattfindende Informationsaustausch hat keine individuell-moralische Qualität.Und Globalisierung dient den westlichen Industrienationen dazu, ihre Einflussgebieteund Absatzmärkte weltweit auszudehnen, aber lei<strong>der</strong> nicht dazu, Armut, Hunger undNot zu beseitigen und global Humanität zu verbreiten, Bildung, einen wenigstens minimalenWohlstand und Frieden. Eine zunehmende Verrohung weiter Teile <strong>der</strong> <strong>Welt</strong>bevölkerungist die Folge.*Zu den negativen Vorbil<strong>der</strong>n in den Medien:Kin<strong>der</strong> und Jugendliche werden ständig mit einer Vielzahl von unsäglich schlechten Filmenberieselt. Es ist eine Illusion anzunehmen, dass dies bei einem Fernsehkonsumvon bis zu vier Stunden am Tag keine Wirkung habe. Zum Teil sehen die Kin<strong>der</strong> dieErwachsenenprogramme mit Sex und Crime, Kitsch und Schund. Konfliktlösungen indiesen Trivialstreifen erfolgen fast immer durch Gewalt. Hauen, stechen, schießen istangesagt. Es muss knallen und krachen, brüllen und kreischen. Emotionen sind gefor<strong>der</strong>t.Wenn du nicht so willst wie ich, schlage ich zu o<strong>der</strong> ziehe die Pistole. Und dieseVorbil<strong>der</strong> sollten keine Auswirkungen haben?Das trifft auch auf Computerspiele und Videos zu. Schon bei den Zeichentrickfilmenfängt es häufig an, dass Gewalt bagatellisiert wird; die Opfer werden misshandelt, erschossen,plattgemacht, und sie stehen danach wie<strong>der</strong> auf und agieren mit <strong>der</strong> ihneneigenen Hektik weiter. In den Vorabendfilmen begleiten Beschimpfungen, Ruppigkeitenund sogar Tätlichkeiten die ansonsten inhaltlich dürftigen Dialoge und banalen Handlungen,selbst in den "Lovestories". Man ist hinterhältig, hämisch, zynisch, verlogen,gewaltbereit, man schreit und fetzt sich – das bringt Spaß und Tempo und kommt an.Als ich mich vor einigen Jahren fragte, warum meine Kin<strong>der</strong> plötzlich so rüde miteinan<strong>der</strong>umgingen, stieß ich darauf, dass sie regelmäßig Filme sahen, in denen ihnen dasvorgelebt wurde.Den Produzenten solcher Produkte geht es nur um ihren Gewinn. Sie haben ihr Gewissen– falls sie je eines hatten – ausgeschaltet. Ein aggressives Marketing sorgt dafür,dass selbst die peinlichsten, schamlosesten und kitschigsten Erzeugnisse noch auf denBildschirm kommen. Wenn damit mehr zu verdienen ist, wird auch noch Schlimmeresproduziert. Wir wissen von den Horror- und Zombie-Filmen, in denen zum Zeitvertreibeines fragwürdigen Publikums gefoltert, gemordet und zerstückelt wird. Nicht wenigeUnterhaltungsfilme gehen heute in diese Richtung; die Grenzen verschieben sich im-4


mer mehr ins Extreme. Wir brauchen uns unter solchen Umständen nicht zu wun<strong>der</strong>n,dass die Gewaltbereitschaft statistisch messbar unter Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen gestiegenist.Immer wie<strong>der</strong> ist zu hören, <strong>der</strong> Einfluss <strong>der</strong> audiovisuellen Medien, insbeson<strong>der</strong>e desFernsehens, auf die Kin<strong>der</strong> werde überbewertet, sie wüssten zwischen Fiktion und Realitätzu unterscheiden. Aber Kin<strong>der</strong> sind aufnahmebereit, sie orientieren sich an Vorbil<strong>der</strong>n,und das von ihnen Aufgenommene hat prägende Kraft. Die Beispiele sprechenfür sich. Lehrer berichten von schweren Verletzungen nach Schlägereien auf demSchulhof und dass die Schüler sich bewaffnen. Einem Siebzehnjährigen wird von einemMitschüler, einem so genannten Kickboxer, das Nasenbein zertrümmert; ein Fünfzehnjährigerwird so zusammengeschlagen und -getreten, dass er halbtot ins Krankenhauseingeliefert werden muss; einem Mädchen wird von Halbwüchsigen vor dem Supermarktdas Einkaufsgeld weggenommen. Bedrohungen des Lehrpersonals sind inden Großstadtschulen keine Ausnahmeerscheinung mehr. Bluttaten wie in Erfurt sindnur die Spitze des Eisbergs.Der US-Militärpsychologe und Gewaltforscher Dave Grossmann, Autor des Buches„Wer hat unseren Kin<strong>der</strong>n das Töten beigebracht?“, wirft den Medien vor, das Töten zutrainieren. Er war über zwanzig Jahre Ausbil<strong>der</strong> von Elitesoldaten unter an<strong>der</strong>em an<strong>der</strong> Militärakademie West Point und konstatiert Parallelen zwischen den von Jugendlichenkonsumierten Gewaltfilmen und solchen, die beim Militär zur Herabsetzung <strong>der</strong>Tötungshemmungen eingesetzt werden.Nun kann man das Fernsehen nicht isoliert betrachten. Es ist ein Spiegel unserer Gesellschaft.Friedfertigkeit, Toleranz und Vernunft haben zurzeit keinen hohen Stellenwert.Das zeichnet sich natürlich in den Medien ab, die wie<strong>der</strong>um prägend sind – eineverhängnisvolle Wechselwirkung. Viele Medien haben sich zu einem reinen Wirtschaftszweigentwickelt, in dem es kaum noch moralische o<strong>der</strong> ästhetische Maßstäbegibt, wo in erster Linie Einschaltquoten und Auflagenhöhen zählen, für die so genanntenMacher Karriere und Verdienst. Erst recht trifft das auf die Videoindustrie zu.In einem „Spiegel“-Interview sagte Grossmann: „Wir müssen uns endlich <strong>der</strong> Größedieses weltweiten Phänomens bewusst werden. Es ist eine ganze Kultur <strong>der</strong> Gewaltentstanden – ein neues, medial vermitteltes Produkt. Nur dass es sich hier um ein giftigesund abhängig machendes Produkt handelt, das von <strong>der</strong> Medienindustrie bewusstan Kin<strong>der</strong> vermarktet wird... Da wächst eine ganze Generation von Kin<strong>der</strong>n heran, diegefährdet ist.“Grossmann schlägt deswegen eine gesetzliche Regulierung vor: „Mediale Gewalt solltewie Pornographie gehandhabt werden: ein Produkt, das Erwachsene haben können,vor dem Kin<strong>der</strong> aber geschützt werden. Wer Kin<strong>der</strong>n trotzdem Zugang verschafft,macht sich strafbar.“ In <strong>der</strong> Tat dürfte freiwillige Selbstkontrolle kaum nützen, dennGewalt ist gefragt und bringt viel Geld ein. Wirkungsvolle Gesetzesregelungen sindnicht in Sicht. Die Vermarkter wehren sich vehement gegen Beschränkungen, so dassKin<strong>der</strong> und Jugendliche auf absehbare Zeit Konsumenten von Gewaltdarstellungenbleiben und somit den Einflüssen solcher Gehirnwäsche ausgesetzt sein werden.Da kann die Kin<strong>der</strong>- und Jugendliteratur einen Gegenpol bilden. Es gibt immer nochgenügend Autorinnen und Autoren, die – ohne pädagogischen o<strong>der</strong> moralisierendenImpetus – ein humanes Anliegen haben und nicht in erster Linie eines hohen Gewinneswegen schreiben; die auf gutem literarischen Niveau phantasievolle, anregende, unterhaltsame,vielleicht auch lehrreiche, provokative o<strong>der</strong> sonst wie interessante Geschichtenerzählen. Und die Menschen, beson<strong>der</strong>s Kin<strong>der</strong>, lieben Geschichten. Wir brauchenVerlage und Medien, die diese Art Literatur för<strong>der</strong>n; und wir brauchen Pädagogen, Bibliothekareund Buchhändler, die diese Art Literatur propagieren. Uns steht hier ein5


Schatz zur Verfügung, <strong>der</strong> heutzutage großenteils brach liegt. Da genügt es allerdingsnicht, Bücher wie die „Rote Zora“ trivial zu verfilmen, um sie hinterher als „Buch zumFilm“ um zwei Drittel gekürzt neu herauszubringen.*Zu den Defiziten an Abenteuer:Ein weiterer wesentlicher Faktor für die Zunahme von Gewalt unter Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichenist offensichtlich ein nicht befriedigter und nicht zu kompensieren<strong>der</strong> Abenteuerdrang.Sowohl die städtische als auch die ländliche Umgebung bietet kaum nochFreiräume; <strong>der</strong> Abenteuerspielplatz ist ohne Reiz, alles ist durchforstet, asphaltiert, betoniertund reglementiert. Aber Kin<strong>der</strong> und Jugendliche wollen etwas erleben, sie sindwissbegierig und neugierig, sie langweilen sich, wenn nichts los ist. Und in unserer immersteriler werdenden Erwachsenen-Umwelt ist kein Platz mehr für außergewöhnlicheErlebnisse und Abenteuer. Die schafft man sich dann, indem man Randale macht o<strong>der</strong>verbotene Wege geht. S-Bahn-Surfen, Crashrennen, Alkohol- und Drogenmissbrauch,Automatenglücksspiele, unterschiedlichste Formen von Vandalismus o<strong>der</strong> die vielenGraffiti, sogar Jugendkriminalität, sind ein Symptom dafür, wie auch für ein immensesReservoir an brachliegen<strong>der</strong> kreativer Potenz.Nicht selten ist dieser unerfüllte Abenteuerdrang mit ein Grund für rechtsextreme Aktivitäten.Jugendliche suchen nach Orientierung, nach Perspektiven. Sie lassen sich leichtbegeistern, und Lagerfeuerromantik, Naturverbundenheit, Körperertüchtigung, Kameradschaft,auch Mystizismus und das vermittelte Zugehörigkeitsgefühl, ziehen sieschnell in ihren Bann. Ideologen und Fanatiker haben dann leichtes Spiel.Die virtuellen <strong>Welt</strong>en <strong>der</strong> Computerspiele, nach denen manche süchtig sind, o<strong>der</strong> dieChatting-Ecken des Internets, in denen Realität beliebig manipuliert wird, bieten hierkeinen akzeptablen Ersatz. Der Psychologe <strong>Wolfgang</strong> Bergmann, Autor des Buches"Computerkids", schreibt zum Phänomen einer technologisch-medial geprägten Kindheit:"Diese Kin<strong>der</strong> lehnen sich nicht gegen ... Autoritäten auf. Sie weichen ihnen vielmehraus, schieben sie beiseite und haben damit – an<strong>der</strong>s als die Generationen vor ihnen– offenbar kaum Probleme. In Computerspielen wie 'Mortal Kombat' o<strong>der</strong> 'doom'wird mit ungeheurer destruktiver Kraft gespielt und abgeschossen, schnell und glattund beiläufig...“Hier stoßen wir also wie<strong>der</strong> auf das Phänomen prägen<strong>der</strong> Gewalt in den Medien. Bergmannfährt fort: „Zwar werden noch die Helden und die Bösen unterschieden, abernicht nach moralischen Kategorien, son<strong>der</strong>n nach Zweckmäßigkeit <strong>der</strong> dramaturgischenÖkonomie. Töter sind sie alle, und sie töten ohne Zögern und Konflikte. In denguten alten Gary-Cooper-Western wie 'Zwölf Uhr mittags' gab es diesen Gewissenseinspruchdurchaus noch – die Frage: Darf ich überhaupt töten? Was ist Notwehr, wasMord? Gewalt musste immer erst die Gewissensinstanz passieren, bevor sie legitimiertund akzeptiert (und genossen) werden konnte. All das mögen die mo<strong>der</strong>nen Produzentendem Publikum nicht mehr zumuten. Sie wissen: Die Ängste und Bedenken <strong>der</strong>Stimme des Gewissens versetzen nicht in Spannung, son<strong>der</strong>n langweilen. Sie findenkeine emotionale Resonanz. Diese neue Medienwelt ist grandios und destruktiv, allmächtigund grausam."Nun wird gesagt, dass <strong>der</strong> private Austausch im Internet, die Vernetzung im intimenKontakt, positive Auswirkungen auf unser gesellschaftliches Leben habe. Menschenaus allen Län<strong>der</strong>n <strong>der</strong> <strong>Welt</strong> kommunizieren miteinan<strong>der</strong>, sie schreiben sich E-Mails,sprechen sich aus, sogar Kin<strong>der</strong> nutzen diese Möglichkeiten digitaler Technik. Schönund gut. Aber wenn es um die Entlastungs-Kommunikation im Internet geht, ist auchein kritischer Blick angezeigt. Sie schafft lediglich eine Pseudonähe, Intimität ohnewirkliche menschliche Begegnung, im Zweifel ohne Identität. Dagegen ist das Buch –wenn es etwas taugt – ein ernstzunehmendes, substanzielles Gegenüber. Es verbindet6


Menschen, Autor und Leser überall auf <strong>der</strong> <strong>Welt</strong>, auf geheimnisvolle, unaufdringlicheWeise in ihrem innersten Wesen.*Lesen kann Ventil und Katalysator sein. Literatur bietet Zuflucht und Anregungen, siekann das Leben farbiger machen, den Horizont erweitern. Sie schafft Bewegung imKopf. Und <strong>der</strong> Leser ist bei sich. Während die Computerbil<strong>der</strong> "<strong>der</strong> Zeit enthoben, vomRäumlichen befreit, in übermenschliche Geschwindigkeiten und an<strong>der</strong>e Potentialitäteneingebunden" sind, "ohne Wi<strong>der</strong>hall in <strong>der</strong> Erfahrung des Zuschauers o<strong>der</strong> Spielers",ist das Betrachten eines Bildes im alten Sinn immer auch "Reflexion aufs eigene Selbstund auf das in ihm enthaltene, oft ungewusste, oft entstellte Humane an sich" (so Bergmann).Das gleiche gilt für das Lesen.Der Fernsehjournalist Roger Willemsen hat in diesem Zusammenhang davon gesprochen,„dass sich lauter Menschen, die nichts von einan<strong>der</strong> wissen, in einer Solidargemeinschaftüber einer <strong>Welt</strong> zusammenschließen und kraft ihrer gemeinschaftlichen Erfahrungvielleicht davon träumen, wie Kant sagte, ‚es könne künftig besser werden, undzwar mit uneigennützigem Wohlwollen, wenn wir selbst nicht mehr sind, und die Früchte,die wir aussäen halfen, nicht einernten werden’.“Das klingt schwärmerisch. Aber gäbe es statistische Untersuchungen darüber, würdeman sicherlich zu dem Ergebnis kommen, dass sich Kin<strong>der</strong>, die lesen, weniger gewalttätigund überhaupt aufgeschlossener, toleranter und sozialer verhalten. Jedenfalls istdas meine Beobachtung über Jahre hinweg. Da ersetzt das Buch – und das ist ein weitererAspekt in diesem Spektrum – vielleicht auch ein wenig den familiären Austausch,<strong>der</strong> vielfach nicht mehr stattfindet und den kein Computerspiel zu simulieren vermag.Die Auswüchse <strong>der</strong> Zivilisation, in <strong>der</strong> wir leben, nehmen weiter zu. Es bedarf heutekeines Atomschlages mehr, um die Menschheit zu vernichten. Keiner kann sich mehrentziehen – das ist neu. Ziel müsste sein, vernünftiger, natürlicher, humaner, auch liebevollerund bescheidener zu leben. Dazu kann Literatur – gerade die Kin<strong>der</strong>- und Jugendliteratur– einen wesentlichen Beitrag leisten, sensibler machen, aufgeschlossenerfür Fragen des Zusammenlebens und <strong>der</strong> menschlichen Existenz.Insofern ist Leseför<strong>der</strong>ung, wie auch ein Netz von Bibliotheken mit fachkundiger Beratungund von Jugendzentren, eine unabdingbare zivilisatorische Notwendigkeit. Das istin unserer Zeit für ein funktionierendes Gemeinwesen, für eine demokratisch organisierteGesellschaft, die den Anspruch erhebt ein Kulturvolk zu sein, lebenswichtig undallemal billiger als die Behandlung von Verletzten, von Straftätern und Drogenabhängigen.Darauf kann nicht oft genug hingewiesen werden, denn die Entwicklung geht zurzeitin die entgegen gesetzte Richtung. Wir sollten das nicht hinnehmen.7

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