Herausforderndes Verhalten in der Kita
Herausforderndes Verhalten in der Kita
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Brita Schirmer, <strong>Herausfor<strong>der</strong>ndes</strong> <strong>Verhalten</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> KiTa<br />
V<br />
© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gött<strong>in</strong>gen<br />
ISBN Pr<strong>in</strong>t: 9783525701638 — ISBN E-Book: 9783647701639
Brita Schirmer, <strong>Herausfor<strong>der</strong>ndes</strong> <strong>Verhalten</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> KiTa<br />
� FRÜHE BILDUNG<br />
UND ERZIEHUNG �<br />
© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gött<strong>in</strong>gen<br />
ISBN Pr<strong>in</strong>t: 9783525701638 — ISBN E-Book: 9783647701639
Brita Schirmer<br />
Brita Schirmer, <strong>Herausfor<strong>der</strong>ndes</strong> <strong>Verhalten</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> KiTa<br />
<strong>Herausfor<strong>der</strong>ndes</strong> <strong>Verhalten</strong><br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> KiTa<br />
Zappelphilipp, Trotzkopf & Co.<br />
Vandenhoeck & Ruprecht<br />
© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gött<strong>in</strong>gen<br />
ISBN Pr<strong>in</strong>t: 9783525701638 — ISBN E-Book: 9783647701639
Mit 5 Abbildungen<br />
Brita Schirmer, <strong>Herausfor<strong>der</strong>ndes</strong> <strong>Verhalten</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> KiTa<br />
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ISBN 978-3-525-70163-8<br />
ISBN 978-3-647-70163-9 (E-Book)<br />
Umschlagabbildung: Noam Armonn / Shutterstock.com<br />
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Satz: SchwabScantechnik, Gött<strong>in</strong>gen<br />
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ISBN Pr<strong>in</strong>t: 9783525701638 — ISBN E-Book: 9783647701639
Inhalt<br />
Brita Schirmer, <strong>Herausfor<strong>der</strong>ndes</strong> <strong>Verhalten</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> KiTa<br />
E<strong>in</strong>leitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7<br />
Trotzkopf: K<strong>in</strong><strong>der</strong> mit aggressivem <strong>Verhalten</strong> . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11<br />
1. Was kann ich beobachten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12<br />
2. Was muss ich wissen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13<br />
3. Was kann ich tun? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30<br />
Den Aggressionen vorbeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30<br />
Der Umgang mit Aggressionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36<br />
Elterntra<strong>in</strong><strong>in</strong>g . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50<br />
Zappelphilipp: Das K<strong>in</strong>d mit Aufmerksamkeitsdefi zit-/<br />
Hyperaktivitätsstörung AD(H)S . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51<br />
1. Was kann ich beobachten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52<br />
2. Was muss ich wissen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55<br />
3. Was kann ich tun? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65<br />
<strong>Verhalten</strong> <strong>der</strong> Erzieher<strong>in</strong>nen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65<br />
<strong>Verhalten</strong> <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71<br />
Behandlungsmöglichkeiten außerhalb <strong>der</strong> KiTas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79<br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong> wie vom an<strong>der</strong>en Stern:<br />
Mädchen und Jungen mit Asperger-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83<br />
1. Was kann ich beobachten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84<br />
2. Was muss ich wissen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87<br />
3. Was kann ich tun? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98<br />
Unterstützung im Alltag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98<br />
Wie Integration gel<strong>in</strong>gen kann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109<br />
Übergänge <strong>in</strong> die KiTa und Schule gestalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132<br />
Zusammenarbeit mit den Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135<br />
1. Was kann ich <strong>in</strong> <strong>der</strong> KiTa beobachten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136<br />
2. Was muss ich wissen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136<br />
3. Was kann ich tun? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145<br />
Wie Elternarbeit funktionieren kann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145<br />
Typische Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146<br />
E<strong>in</strong> Elterngespräch führen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149<br />
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152<br />
Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158<br />
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Brita Schirmer, <strong>Herausfor<strong>der</strong>ndes</strong> <strong>Verhalten</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> KiTa<br />
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E<strong>in</strong>leitung<br />
Brita Schirmer, <strong>Herausfor<strong>der</strong>ndes</strong> <strong>Verhalten</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> KiTa<br />
E<strong>in</strong>ige K<strong>in</strong><strong>der</strong> fallen den Erzieher<strong>in</strong>nen 1 durch ihre <strong>Verhalten</strong>sweisen <strong>in</strong> <strong>der</strong> KiTa<br />
immer wie<strong>der</strong> auf. Von den üblichen Hilfen, die man ihnen gibt, damit sie sich<br />
<strong>in</strong> die Gruppe und den Alltag e<strong>in</strong>fügen können, sche<strong>in</strong>en sie nicht o<strong>der</strong> nur zu<br />
wenig zu profi tieren. Zu diesen K<strong>in</strong><strong>der</strong>n gehören jene mit aggressivem <strong>Verhalten</strong>,<br />
jene mit AD(H)S und die mit Asperger-Syndrom. Auf den ersten Blick mag es<br />
so ersche<strong>in</strong>en, als würde es sich um drei sehr unterschiedliche K<strong>in</strong><strong>der</strong>gruppen<br />
handeln. Auf den zweiten Blick jedoch wird klar, dass es viele Überschneidungen<br />
gibt. E<strong>in</strong> großer Teil <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> mit Asperger-Syndrom hat zusätzlich AD(H)S<br />
und e<strong>in</strong> beträchtlicher Teil <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> mit AD(H)S verhält sich ungewöhnlich<br />
oft aggressiv. Das <strong>Verhalten</strong> <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> mit aggressivem <strong>Verhalten</strong>, mit AD(H)S<br />
und auch mit Asperger-Syndrom führt zu mehreren sekundären Problemen.<br />
E<strong>in</strong>es dieser sekundären Probleme besteht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gefahr sozialer Isolation.<br />
Oft werden diese K<strong>in</strong><strong>der</strong> nach e<strong>in</strong>iger Zeit von den an<strong>der</strong>en K<strong>in</strong><strong>der</strong>n abgelehnt,<br />
weil die sich vor ihnen fürchten o<strong>der</strong> sich <strong>in</strong> ihrem Spiel immer wie<strong>der</strong> von<br />
ihnen gestört fühlen. Verschiedene Untersuchungen bestätigen, dass es vielen<br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong>n mit Entwicklungsstörungen schwerfällt, Kontakte zu an<strong>der</strong>en K<strong>in</strong><strong>der</strong>n<br />
aufzubauen und Beziehungen zu gestalten (Sarimski, Schaumburg 2010, S. 124).<br />
Befragungen von Eltern und Erziehern ergaben, dass schon sehr junge K<strong>in</strong><strong>der</strong> mit<br />
unterschiedlichen Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungen seltener Freundschaft en schließen als K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />
gleichen Alters ohne Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung (ebd., S. 125). Beson<strong>der</strong>e Zurückweisung<br />
erfahren aber <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e K<strong>in</strong><strong>der</strong> mit aggressivem, streitsüchtigem <strong>Verhalten</strong><br />
(Albers, Jungmann, L<strong>in</strong>dmeier 2009, S. 210). Der Ausschluss aus <strong>der</strong> Interaktion<br />
ihrer Peer-Group – so bezeichnet man die Gruppe <strong>der</strong> Gleichaltrigen – birgt aber<br />
e<strong>in</strong> Risiko für die Entwicklung e<strong>in</strong>er negativen Selbste<strong>in</strong>schätzung und verh<strong>in</strong><strong>der</strong>t<br />
wie<strong>der</strong>um die Möglichkeiten, überhaupt Freunde zu fi nden.<br />
Ke<strong>in</strong>e Freunde zu haben und nicht dazuzugehören, kann zu Stress führen und<br />
begünstigt das Gefühl <strong>der</strong> E<strong>in</strong>samkeit. E<strong>in</strong>same K<strong>in</strong><strong>der</strong> zeigen weniger Empathiefähigkeit.<br />
Das muss nicht unbed<strong>in</strong>gt darauf zurückzuführen se<strong>in</strong>, dass bei<br />
ihnen die Empathiefähigkeit grundsätzlich schwach ausgebildet ist. Vielmehr<br />
kann es ihnen auch an Übung fehlen, sich <strong>in</strong> an<strong>der</strong>e e<strong>in</strong>zufühlen (Stachura 2009,<br />
S. 49ff .). Damit kann e<strong>in</strong> verhängnisvoller Kreislauf entstehen: Zu wenig Freunde<br />
zu haben, führt zu e<strong>in</strong>er ger<strong>in</strong>geren Entwicklung <strong>der</strong> Empathiefähigkeit, wodurch<br />
es wie<strong>der</strong>um erschwert wird, Freunde zu fi nden. Es erhöht sich damit zugleich<br />
1 Die weibliche Bezeichnung Erzieher<strong>in</strong>nen wurde angesichts <strong>der</strong> Tatsache gewählt, dass die<br />
überwältigende Mehrzahl <strong>der</strong> Pädagogen <strong>in</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>gärten weiblichen Geschlechts ist. Selbstverständlich<br />
sollen sich auch Erzieher angesprochen fühlen. Darüber h<strong>in</strong>aus wird aus Gründen<br />
<strong>der</strong> besseren Lesbarkeit bei den Personenbezeichnungen das männliche Geschlecht gewählt,<br />
auch wenn beide Geschlechter geme<strong>in</strong>t s<strong>in</strong>d.<br />
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ISBN Pr<strong>in</strong>t: 9783525701638 — ISBN E-Book: 9783647701639
Brita Schirmer, <strong>Herausfor<strong>der</strong>ndes</strong> <strong>Verhalten</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> KiTa<br />
8 E<strong>in</strong>leitung<br />
auch das Risiko, Opfer von Mobb<strong>in</strong>g zu werden, e<strong>in</strong> Phänomen, das auch <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
KiTa beobachtet werden kann.<br />
E<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e sekundäre Schwierigkeit resultiert aus dem Risiko für die kognitive<br />
Entwicklung. Ihr <strong>Verhalten</strong> h<strong>in</strong><strong>der</strong>t diese K<strong>in</strong><strong>der</strong> oft daran, altersgerechte<br />
Erfahrungen zu machen, z. B. weil sie nicht die dafür erfor<strong>der</strong>liche M<strong>in</strong>destaufmerksamkeit<br />
herstellen können o<strong>der</strong> weil sie aus Gründen e<strong>in</strong>er verän<strong>der</strong>ten<br />
Wahrnehmungsverarbeitung die Aufgabenstellung nicht verstehen.<br />
Lernen ist aber auch e<strong>in</strong>e Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>gsfrage. Beim Lernen verän<strong>der</strong>t sich die<br />
Anzahl <strong>der</strong> Verb<strong>in</strong>dungen zwischen den Nervenzellen im Gehirn und auch die<br />
Stärke <strong>der</strong> Verb<strong>in</strong>dungen zwischen ihnen so weit, dass sich auch die Intensität<br />
<strong>der</strong> übertragenen Reize erhöht. Jedes Lernen erleichtert also das Weiterlernen.<br />
Das heißt, dass bei K<strong>in</strong><strong>der</strong>n, <strong>der</strong>en <strong>Verhalten</strong> ihre soziale und kognitive Entwicklung<br />
gefährdet, an<strong>der</strong>e neurologische Strukturen und Organisationen im<br />
Gehirn aufgebaut werden, als dies bei neurotypisch entwickelten K<strong>in</strong><strong>der</strong>n <strong>der</strong><br />
Fall ist. Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite gibt es die Gewissheit, dass jede gelungene soziale<br />
Interaktion, je<strong>der</strong> Lernerfolg im Gehirn se<strong>in</strong>e Spuren h<strong>in</strong>terlässt und von positiven<br />
Gefühlen begleitet ist.<br />
E<strong>in</strong>e dritte Konsequenz aus dem beson<strong>der</strong>en <strong>Verhalten</strong> e<strong>in</strong>iger K<strong>in</strong><strong>der</strong> besteht<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> dadurch ausgelösten beson<strong>der</strong>en Belastung <strong>der</strong> Erzieher<strong>in</strong>nen. Stress verursachen<br />
allen Menschen vor allem Situationen, <strong>in</strong> denen sie sich ausgeliefert fühlen<br />
und auf die sie – tatsächlich o<strong>der</strong> sche<strong>in</strong>bar – ke<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>fl uss nehmen können. Die<br />
erzieherischen Bemühungen erweisen sich nämlich bei e<strong>in</strong>igen K<strong>in</strong><strong>der</strong>n e<strong>in</strong>fach<br />
als nicht ausreichend erfolgreich, was zu dem Gefühl <strong>der</strong> Machtlosigkeit führt.<br />
Wenn e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d häufi g negativ auff ällt, wird se<strong>in</strong> <strong>Verhalten</strong> manchmal nur noch<br />
vor dem H<strong>in</strong>tergrund <strong>der</strong> bisherigen, zumeist schwierigen Erfahrungen mit ihm<br />
<strong>in</strong>terpretiert. Dieses Phänomen <strong>der</strong> Erwartungshaltung gegenüber e<strong>in</strong>es K<strong>in</strong>des<br />
kann als Reizgeneralisierung <strong>in</strong>terpretiert werden. Man kann dadurch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en<br />
Kreislauf aus negativer <strong>Verhalten</strong>serwartung geraten, die sich durch das <strong>Verhalten</strong><br />
des K<strong>in</strong>des immer wie<strong>der</strong> bestätigen. Wenn man das <strong>Verhalten</strong> des K<strong>in</strong>des dann<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> eigenen und durchaus verständlichen Frustration entsprechend kommentiert,<br />
gibt es für das K<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e Motivation, sich anzustrengen: »Die Erzieher<strong>in</strong><br />
schimpft ja sowieso immer.«<br />
Das vorliegende Buch soll dazu beitragen, das <strong>Verhalten</strong> dieser K<strong>in</strong><strong>der</strong>n besser<br />
zu verstehen und als Erzieher<strong>in</strong> neue Handlungsoptionen im Umgang mit<br />
ihnen entwickeln zu können. Diese Mädchen und Jungen brauchen frühzeitig<br />
kompetente erzieherische Unterstützung, denn ihre <strong>Verhalten</strong>sweisen »verwachsen<br />
sich nicht schon mit <strong>der</strong> Zeit«, wie manchmal behauptet und gehofft wird.<br />
Entwicklungsför<strong>der</strong>nd <strong>in</strong> <strong>der</strong> KiTa zu wirken, bedeutet, proaktiv zu handeln, statt<br />
auf das <strong>Verhalten</strong> problematischer K<strong>in</strong><strong>der</strong> nur zu reagieren und damit den Problemen<br />
im Grunde immer h<strong>in</strong>terherzulaufen. Das eröff net dann zugleich auch die<br />
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ISBN Pr<strong>in</strong>t: 9783525701638 — ISBN E-Book: 9783647701639
Brita Schirmer, <strong>Herausfor<strong>der</strong>ndes</strong> <strong>Verhalten</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> KiTa<br />
E<strong>in</strong>leitung 9<br />
Möglichkeit, die an<strong>der</strong>en K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>in</strong> ihren Kontakten mit den beson<strong>der</strong>en K<strong>in</strong><strong>der</strong>n<br />
besser zu begleiten, ungewöhnliches <strong>Verhalten</strong> zu erklären, Fragen beantworten<br />
zu können und Grausamkeiten zu verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n.<br />
Manchmal haben sich Versuche des Umgangs mit dem ungewöhnlichen <strong>Verhalten</strong><br />
e<strong>in</strong>es K<strong>in</strong>des als nicht angemessen erwiesen und die Situation hat sich<br />
nicht o<strong>der</strong> nicht ausreichend verän<strong>der</strong>t. Trotzdem ersche<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>em die eigenen,<br />
bisher gezeigten Reaktionen auf das <strong>Verhalten</strong> als die e<strong>in</strong>zig möglichen. Der<br />
Kommunikationswissenschaft ler Paul Watzlawick beschreibt diesen Zustand<br />
<strong>der</strong> Kommunikation <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch Anleitung zum Unglücklichse<strong>in</strong> im Kapitel<br />
Der verlorene Schlüssel o<strong>der</strong> »mehr desselben«: Man hält bed<strong>in</strong>gungslos an e<strong>in</strong>geübten<br />
<strong>Verhalten</strong>sweisen fest, die sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vergangenheit e<strong>in</strong>mal als s<strong>in</strong>nvoll<br />
und erfolgreich erwiesen haben. Watzlawick geht davon aus, dass Menschen<br />
dazu neigen, solche <strong>Verhalten</strong>smuster <strong>in</strong> <strong>der</strong> Folgezeit als die e<strong>in</strong>zig möglichen<br />
zu betrachten, weil ihnen ke<strong>in</strong>e Handlungsalternativen zur Verfügung stehen<br />
(Watzlawick 2002, S. 27f.).<br />
Auch die Zusammenarbeit mit den Eltern dieser K<strong>in</strong><strong>der</strong> kann Sie herausfor<strong>der</strong>n<br />
und kompliziert se<strong>in</strong>. Die Arbeit mit den K<strong>in</strong><strong>der</strong>n wird für Erzieher<strong>in</strong>nen<br />
zusätzlich erschwert, wenn sie sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zusammenarbeit mit den Eltern macht-<br />
und ratlos fühlen. Der Elternarbeit ist deshalb e<strong>in</strong> eigenes Kapitel gewidmet.<br />
Das vorliegende Buch soll den Lesern helfen, ihr Verständnis für ungewöhnliche<br />
<strong>Verhalten</strong>sweisen e<strong>in</strong>iger K<strong>in</strong><strong>der</strong> und zugleich die eigene pädagogische<br />
Handlungskompetenz zu erhöhen. Dieses Wissen hilft letztlich nicht nur dem<br />
K<strong>in</strong>d: Aktives, konzeptgeleitetes Pädagogenverhalten reduziert auch die Arbeitsbelastung<br />
<strong>der</strong> Erzieher<strong>in</strong>nen, die sich als erfolgreich und wirkungsvoll <strong>in</strong> ihrer<br />
Arbeit erleben können.<br />
© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gött<strong>in</strong>gen<br />
ISBN Pr<strong>in</strong>t: 9783525701638 — ISBN E-Book: 9783647701639
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© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gött<strong>in</strong>gen<br />
ISBN Pr<strong>in</strong>t: 9783525701638 — ISBN E-Book: 9783647701639
Brita Schirmer, <strong>Herausfor<strong>der</strong>ndes</strong> <strong>Verhalten</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> KiTa<br />
Trotzkopf: K<strong>in</strong><strong>der</strong> mit aggressivem <strong>Verhalten</strong><br />
© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gött<strong>in</strong>gen<br />
ISBN Pr<strong>in</strong>t: 9783525701638 — ISBN E-Book: 9783647701639
Brita Schirmer, <strong>Herausfor<strong>der</strong>ndes</strong> <strong>Verhalten</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> KiTa<br />
12 Trotzkopf: K<strong>in</strong><strong>der</strong> mit aggressivem <strong>Verhalten</strong><br />
1. Was kann ich beobachten?<br />
Das K<strong>in</strong>d wird schnell wütend<br />
E<strong>in</strong>ige K<strong>in</strong><strong>der</strong> werden bei den ger<strong>in</strong>gsten Anlässen sehr wütend. Sie attackieren<br />
dann unkontrolliert an<strong>der</strong>e K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Erwachsene, werfen o<strong>der</strong> zerstören<br />
Gegenstände. Manchmal werfen sie sich auf den Boden, schreien laut o<strong>der</strong> sie<br />
beschimpfen K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Erzieher<strong>in</strong>nen im Rahmen ihrer eigenen, bisher entwickelten<br />
sprachlichen Möglichkeiten.<br />
In diesem Zustand kann man diese K<strong>in</strong><strong>der</strong> oft nicht ansprechen und auch<br />
nicht anfassen. Diese Situationen können ausgelöst werden, wenn die Erzieher<strong>in</strong><br />
sie zu etwas auff or<strong>der</strong>t (»Setz dich an den Tisch, wir wollen essen!«) o<strong>der</strong> ihnen<br />
etwas gefällt, was an<strong>der</strong>e K<strong>in</strong><strong>der</strong> gerade benutzen, und sie es haben wollen, ihnen<br />
das jedoch versagt wird. Diese Zustände können auch entstehen, wenn e<strong>in</strong>e<br />
angenehme Situation unterbrochen wird, weil die Eltern das K<strong>in</strong>d beispielsweise<br />
abholen wollen.<br />
Sche<strong>in</strong>bar grundlose Angriff e<br />
An<strong>der</strong>e K<strong>in</strong><strong>der</strong> sche<strong>in</strong>en ohne Grund und ohne eigene starke Emotionen an<strong>der</strong>e<br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong> anzugreifen und zu ärgern. Sie zerstören <strong>der</strong>en Bauwerke, schubsen sie<br />
auf dem Spielplatz o<strong>der</strong> erkämpfen sich beispielsweise rücksichtslos den Platz<br />
auf <strong>der</strong> Schaukel.<br />
Belastungen <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Erzieher<strong>in</strong>nen<br />
Wer Aggressionen ausgesetzt ist, leidet unter Stress. Das gilt auch, wenn die<br />
Aggression von e<strong>in</strong>em Kle<strong>in</strong>k<strong>in</strong>d ausgeht. Viele Erzieher<strong>in</strong>nen s<strong>in</strong>d auf den<br />
Umgang mit schwierigen K<strong>in</strong><strong>der</strong>n und aggressivem <strong>Verhalten</strong> durch ihre Ausbildung<br />
nicht ausreichend vorbereitet. Sie erleben sich als wenig kompetent <strong>in</strong><br />
ihrer Arbeit, immer wie<strong>der</strong> entgleitet ihnen das K<strong>in</strong>d o<strong>der</strong> die Situation. An<strong>der</strong>e<br />
fühlen sich auf diese Herausfor<strong>der</strong>ung vorbereitet, leiden aber langfristig unter<br />
dem hohen Stress, dem sie ausgesetzt s<strong>in</strong>d.<br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong> mit auff älligem <strong>Verhalten</strong>, die sich nur schwer <strong>in</strong> die Gruppe <strong>in</strong>tegrieren<br />
lassen und diese stören, erfor<strong>der</strong>n mehr Aufmerksamkeit als die an<strong>der</strong>en<br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong>. Sie ziehen damit Aufmerksamkeit und Energien von den Erzieher<strong>in</strong>nen<br />
ab, die <strong>der</strong> Leitung und Kontrolle <strong>der</strong> ganzen Gruppe dienen sollte. Dadurch<br />
wird die Ausgangslage <strong>der</strong> pädagogischen Situation erschwert und belastet. Die<br />
pädagogische Präsenz <strong>der</strong> Erzieher<strong>in</strong> für die ganze Gruppe kann so nicht immer<br />
gewährleistet werden und das abweichende <strong>Verhalten</strong> des K<strong>in</strong>des wird <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Folge als Ursache von Stress wahrgenommen.<br />
Auch die K<strong>in</strong><strong>der</strong> werden durch das abweichende <strong>Verhalten</strong> e<strong>in</strong>iger Gruppenmitglie<strong>der</strong><br />
belastet. E<strong>in</strong>zelne K<strong>in</strong><strong>der</strong> fürchten sich vor K<strong>in</strong><strong>der</strong>n, die aggressiv<br />
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Brita Schirmer, <strong>Herausfor<strong>der</strong>ndes</strong> <strong>Verhalten</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> KiTa<br />
Was muss ich wissen? 13<br />
s<strong>in</strong>d. Sie suchen räumliche und folglich auch emotionale Distanz zu ihnen und<br />
akzeptieren sie nicht als Partner.<br />
Folgen für die K<strong>in</strong><strong>der</strong> selbst<br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong> agieren <strong>in</strong> <strong>der</strong> KiTa grundsätzlich wie jedes menschliche Wesen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />
sozialen Geme<strong>in</strong>schaft . Da ihr <strong>Verhalten</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em sozialen Kontext stattfi ndet,<br />
ist es notwendig, dass sie die Regeln erlernen und e<strong>in</strong>halten, die <strong>in</strong> diesem<br />
Zusammenhang gelten o<strong>der</strong> gesetzt werden. Mit Regeln s<strong>in</strong>d nicht nur die von<br />
den Erwachsenen aufgestellten geme<strong>in</strong>t, son<strong>der</strong>n auch die, die die K<strong>in</strong><strong>der</strong> für ihr<br />
<strong>Verhalten</strong> untere<strong>in</strong>an<strong>der</strong> etablieren. K<strong>in</strong><strong>der</strong> müssen die Regeln also erst e<strong>in</strong>mal<br />
kennen und dann auch e<strong>in</strong>halten, um nicht aus <strong>der</strong> Gruppe ausgeschlossen zu<br />
werden.<br />
Häufi ges Übertreten von Regeln hat für die aggressiven K<strong>in</strong><strong>der</strong> selbst oft negative<br />
Folgen: Selbstgefährdungen, Erschwerungen des Lernens und <strong>der</strong> Entwicklung<br />
sowie langfristig soziale Isolation können aus diesem <strong>Verhalten</strong> resultieren.<br />
Die aggressiven K<strong>in</strong><strong>der</strong> werden nicht als Spielpartner gewählt, an<strong>der</strong>e K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />
wollen sie beispielsweise nicht an <strong>der</strong> Hand halten, wenn die K<strong>in</strong><strong>der</strong>gruppe e<strong>in</strong>en<br />
Spaziergang unternimmt und sie werden nicht zu K<strong>in</strong><strong>der</strong>geburtstagen e<strong>in</strong>geladen.<br />
Meist werden sie sozial nur von den K<strong>in</strong><strong>der</strong>n akzeptiert, die ähnliche <strong>Verhalten</strong>smuster<br />
zeigen. Zu denen fühlen sie sich h<strong>in</strong>gezogen, denn <strong>der</strong>en <strong>Verhalten</strong>smodelle<br />
bestätigen sie <strong>in</strong> dem, was sie selbst tun und die fürchten sich nicht<br />
vor den Aggressionen.<br />
2. Was muss ich wissen?<br />
»Nichts errät e<strong>in</strong> Mensch so schnell wie die <strong>in</strong>nere Unsicherheit e<strong>in</strong>es an<strong>der</strong>en und<br />
fällt darüber her wie e<strong>in</strong>e Katze über e<strong>in</strong>en krabbelnden Käfer« (Musil 1970, S. 1352).<br />
Oft ist es nicht nur das aggressive <strong>Verhalten</strong> e<strong>in</strong>es K<strong>in</strong>des, das für Erzieher<strong>in</strong>nen<br />
alle<strong>in</strong> mit größten Anstrengungen o<strong>der</strong> gar nicht auszuhalten ist. Beson<strong>der</strong>s<br />
schwierig wird es, wenn sie die Ursache für die Aggressionen nicht erkennen und<br />
verstehen können. Die E<strong>in</strong>stellung <strong>der</strong> Bezugspersonen zu den K<strong>in</strong><strong>der</strong>n än<strong>der</strong>t<br />
sich grundlegend, wenn sie e<strong>in</strong>e Ursache für ungewöhnliches <strong>Verhalten</strong> kennen<br />
(Delacato 1985, S. 107). Je plausibler die Erklärungen für das <strong>Verhalten</strong> e<strong>in</strong>es<br />
Menschen s<strong>in</strong>d und je s<strong>in</strong>nhaft er sie dem Außenstehenden ersche<strong>in</strong>en, umso<br />
weniger wird er sich von dem konkreten <strong>Verhalten</strong> gestört fühlen.<br />
Es wird außerdem leichter, aggressives <strong>Verhalten</strong> zu ertragen, wenn man<br />
grundsätzlich davon ausgeht, dass das <strong>Verhalten</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ursächlichen Zusam-<br />
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14 Trotzkopf: K<strong>in</strong><strong>der</strong> mit aggressivem <strong>Verhalten</strong><br />
menhang zu verstehen ist und man weiß, dass man es bee<strong>in</strong>fl ussen kann. Wenn<br />
man Wege fi ndet, zu agieren, statt auf e<strong>in</strong> <strong>Verhalten</strong> immer nur zu reagieren, gibt<br />
dies Sicherheit im Umgang mit dem entsprechenden K<strong>in</strong>d, wobei die Sicherheit<br />
die Angst und den Stress reduziert. E<strong>in</strong>e Erhöhung <strong>der</strong> Sicherheit <strong>der</strong> Erzieher<strong>in</strong><br />
kann dem aggressiv handelnden K<strong>in</strong>d ebenfalls mehr Sicherheit und Orientierung<br />
geben.<br />
Was s<strong>in</strong>d Aggressionen?<br />
Brita Schirmer, <strong>Herausfor<strong>der</strong>ndes</strong> <strong>Verhalten</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> KiTa<br />
Paul schlägt Cel<strong>in</strong>e und macht dabei e<strong>in</strong> wütendes Gesicht. Das kle<strong>in</strong>e Mädchen hatte<br />
se<strong>in</strong> Lego-Haus umgeworfen. »Ich beobachte dieses aggressive <strong>Verhalten</strong> mit Sorgen«,<br />
sagt die Mutter. Der Vater w<strong>in</strong>kt ab: »Er ist eben e<strong>in</strong> richtiger Junge!«<br />
Wer von beiden hat recht? Ist Pauls <strong>Verhalten</strong> e<strong>in</strong>e Aggression o<strong>der</strong> e<strong>in</strong> ganz<br />
normales <strong>Verhalten</strong> o<strong>der</strong> gar beides?<br />
Bereits mit <strong>der</strong> Defi nition des Begriff s <strong>der</strong> Aggression beg<strong>in</strong>nen die Probleme.<br />
Nicht immer s<strong>in</strong>d sich alle Menschen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bewertung des <strong>Verhalten</strong>s e<strong>in</strong>es<br />
K<strong>in</strong>des e<strong>in</strong>ig. Es ist nicht e<strong>in</strong>fach zu entscheiden, was Aggressionen s<strong>in</strong>d und<br />
was nicht.<br />
Das hat damit zu tun, dass es ke<strong>in</strong> aggressives <strong>Verhalten</strong> an sich gibt, son<strong>der</strong>n es<br />
erst durch die Bewertung e<strong>in</strong>es Beobachters als solches verstanden wird. Vielfach,<br />
aber eben nicht immer, s<strong>in</strong>d sich alle Beobachter e<strong>in</strong>ig.<br />
Der Begriff <strong>der</strong> Aggression ist also e<strong>in</strong> Konstrukt, das auf <strong>der</strong> Interpretation<br />
von <strong>Verhalten</strong> beruht. Eigene Urteile über die normative Angemessenheit des<br />
<strong>Verhalten</strong>s, aber auch über die Absichten des Handelnden spielen dabei e<strong>in</strong>e<br />
Rolle. So wird jemand, <strong>der</strong> auf e<strong>in</strong>en Konfl ikt reagiert, als weniger aggressiv<br />
wahrgenommen als jemand, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Konfl ikt <strong>in</strong>itiiert.<br />
Auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Literatur fi ndet man zur Klärung <strong>der</strong> Frage wenig Hilfe, denn teilweise<br />
wird die Aggression <strong>in</strong> <strong>der</strong> Literatur nicht deutlich gegen an<strong>der</strong>e auff ällige<br />
<strong>Verhalten</strong>sweisen abgegrenzt (Essau, Conradt 2004).<br />
Der Begriff Aggression stammt vom late<strong>in</strong>ischen Verb aggre<strong>der</strong>e (= h<strong>in</strong>zutreten,<br />
herantreten, h<strong>in</strong>zukommen) und bedeutet später kriegerischer Angriff . Das<br />
Adjektiv aggressiv wurde im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t gebildet und hat die Bedeutung<br />
von angriff slustig, herausfor<strong>der</strong>nd (Drosdowski, Grebe, Köster et al. 1963, S. 14).<br />
Gegenwärtig fasst man unter <strong>der</strong> Bezeichnung Aggression unterschiedlichste<br />
<strong>Verhalten</strong>sweisen zusammen. Dabei gibt es zwei Standpunkte: Der erste geht<br />
von dem late<strong>in</strong>ischen Verb aggre<strong>der</strong>e aus und defi niert die Aggression unter dem<br />
Aspekt <strong>der</strong> gerichteten Aktivität. Demzufolge wird Aggressivität als e<strong>in</strong>e Aktivität<br />
verstanden, die destruktiv se<strong>in</strong> kann, aber auch alle positiven, das Leben gestal-<br />
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Brita Schirmer, <strong>Herausfor<strong>der</strong>ndes</strong> <strong>Verhalten</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> KiTa<br />
Was muss ich wissen? 15<br />
tenden Aktivitäten be<strong>in</strong>haltet (Ste<strong>in</strong>er 1985, S. 8f.) Der Begriff <strong>der</strong> Aggression ist<br />
damit aber auch beliebig ausdehnbar.<br />
Vertreter des zweiten Standpunktes h<strong>in</strong>gegen verb<strong>in</strong>den den Begriff <strong>der</strong><br />
Aggression <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em viel engeren S<strong>in</strong>ne mit <strong>der</strong> Schädigung e<strong>in</strong>er Person o<strong>der</strong><br />
e<strong>in</strong>es Gegenstandes. Auch bei den Vertretern dieses Standpunktes gibt es wie<strong>der</strong><br />
zwei verschiedene Auff assungen.<br />
Nach <strong>der</strong> ersten fasst man solche <strong>Verhalten</strong>sweisen als aggressiv auf, die von<br />
e<strong>in</strong>er Absicht zur Schädigung geleitet s<strong>in</strong>d. Der zweiten Auff assung folgend nennt<br />
man das <strong>Verhalten</strong> e<strong>in</strong>e Aggression, das faktisch e<strong>in</strong>en Organismus schädigt,<br />
unabhängig, ob dies nun beabsichtigt war o<strong>der</strong> nicht (Werbik 1971, S. 233).<br />
Doch wie will man die Absicht e<strong>in</strong>es K<strong>in</strong>des sicher feststellen können? Außerdem:<br />
Indem man dem K<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e Intention se<strong>in</strong>es <strong>Verhalten</strong>s unterstellt, geht man<br />
zugleich davon aus, dass es Alternativen, Kontrollmöglichkeiten und ggf. die<br />
Möglichkeit <strong>der</strong> Unterlassung se<strong>in</strong>es Handelns hat und deshalb auch zwangsläufi g<br />
für se<strong>in</strong> <strong>Verhalten</strong> verantwortlich ist. Bei K<strong>in</strong><strong>der</strong>n muss dies jedoch ke<strong>in</strong>esfalls<br />
zutreff en.<br />
Hier wird <strong>der</strong> zweiten Auff assung gefolgt und es werden im Weiteren unter<br />
dem Begriff <strong>der</strong> Aggression alle Handlungen zusammengefasst, die als Beleidigung,<br />
Bedrohung, Herabsetzung o<strong>der</strong> Demütigung e<strong>in</strong>es o<strong>der</strong> mehrerer an<strong>der</strong>er<br />
Menschen bzw. die Beschädigung, Verletzung o<strong>der</strong> Zerstörung von Lebewesen<br />
o<strong>der</strong> Gegenständen <strong>in</strong>terpretiert werden, unabhängig davon, ob dies beabsichtigt<br />
war o<strong>der</strong> nicht.<br />
Normale Aggressionen?<br />
In <strong>der</strong> Umgangssprache s<strong>in</strong>d die Term<strong>in</strong>i Aggression und Aggressivität negativ<br />
besetzt. Man beschreibt damit zumeist e<strong>in</strong> unerwünschtes <strong>Verhalten</strong> und übersieht<br />
leicht, dass je<strong>der</strong> Mensch aggressives Potenzial hat. Alltagsbeobachtungen<br />
zeigen, dass Aggressivität zum Spektrum menschlicher Ausdrucks- und Kommunikationsmöglichkeiten<br />
gehört. Auch Aggressionen s<strong>in</strong>d Gefühle, die je<strong>der</strong><br />
kennt. Ihr Auft auchen und ihr Verschw<strong>in</strong>den entziehen sich zumeist <strong>der</strong> eigenen<br />
Kontrolle.<br />
<strong>Verhalten</strong>sforscher verweisen darauf, dass K<strong>in</strong><strong>der</strong>, ohne zuvor entsprechend<br />
angewiesen worden zu se<strong>in</strong>, von selbst Aggressionen benutzen, um ihren sozialen<br />
Handlungsspielraum auszutesten (Eibl-Eibesfeldt 2000, S. 212) Aus den Reaktionen<br />
<strong>der</strong> Umwelt erlernen sie, was erlaubt ist und was nicht (Eibl-Eibesfeldt<br />
1973, S. 94). Erst im Laufe <strong>der</strong> Persönlichkeitsreifung erlangt das K<strong>in</strong>d Kontrolle<br />
über se<strong>in</strong>e aggressiven Impulse. Die normale von <strong>der</strong> beson<strong>der</strong>en Aggression zu<br />
unterscheiden, ist deshalb nicht ohne Weiteres möglich.<br />
In welchem Rahmen und welchem Umfang e<strong>in</strong>e Gesellschaft Aggression<br />
toleriert, ist kulturell codiert – abhängig von den sozialen Interpretationen des<br />
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Brita Schirmer, <strong>Herausfor<strong>der</strong>ndes</strong> <strong>Verhalten</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> KiTa<br />
16 Trotzkopf: K<strong>in</strong><strong>der</strong> mit aggressivem <strong>Verhalten</strong><br />
<strong>Verhalten</strong>s und wird über Lernprozesse ver<strong>in</strong>nerlicht. Illustrierend mag dafür<br />
die körperliche Züchtigung von K<strong>in</strong><strong>der</strong>n durch ihre Eltern erwähnt werden, die<br />
im Laufe <strong>der</strong> letzten Jahrhun<strong>der</strong>te sehr unterschiedlich bewertet wurde – früher<br />
als probates Mittel <strong>der</strong> Erziehung akzeptiert und heutzutage <strong>in</strong> Deutschland<br />
gesetzlich verboten.<br />
Während das angeborene Aggressionspotenzial e<strong>in</strong> Leben <strong>in</strong> sozialen Bezügen<br />
durchaus nicht beh<strong>in</strong><strong>der</strong>t, können bereits ger<strong>in</strong>gfügige Än<strong>der</strong>ungen von Umweltbed<strong>in</strong>gungen<br />
das bestehende Gleichgewicht verän<strong>der</strong>n und zur Herausbildung<br />
nicht angemessener <strong>Verhalten</strong>sweisen führen. So können Fehlfunktionen entstehen,<br />
die die Interaktion mit an<strong>der</strong>en bee<strong>in</strong>trächtigen. Bei e<strong>in</strong>igen Menschen tritt<br />
aggressives <strong>Verhalten</strong> sogar so massiv auf, dass es das soziale Mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> hochgradig<br />
belastet o<strong>der</strong> sogar zerstört. So gehören aggressive <strong>Verhalten</strong>sstörungen zu<br />
den häufi gsten Störungsbil<strong>der</strong>n im K<strong>in</strong><strong>der</strong>- und Jugendalter (Cordes 2000, S. 2)<br />
und s<strong>in</strong>d <strong>der</strong> häufi gste Grund dafür, e<strong>in</strong>e psychologische bzw. psychotherapeutische<br />
Hilfe <strong>in</strong> Anspruch zu nehmen (Petermann 1998, S. 1016).<br />
Aber auch e<strong>in</strong> zu ger<strong>in</strong>ges Aggressionspotenzial kann das K<strong>in</strong>d <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er sozialen<br />
Entwicklung beh<strong>in</strong><strong>der</strong>n, weil es den an<strong>der</strong>en nicht ausreichend die Grenzen<br />
ihres Handelns aufzeigen kann. Diese K<strong>in</strong><strong>der</strong> können ihre Interessen nicht<br />
durchsetzen.<br />
Wenn im Folgenden von aggressivem <strong>Verhalten</strong> gesprochen wird, dann ist<br />
damit das problematische, über e<strong>in</strong> gewöhnliches Maß h<strong>in</strong>ausgehende und <strong>in</strong><br />
unserer Kultur nicht mehr akzeptierte aggressive <strong>Verhalten</strong> geme<strong>in</strong>t.<br />
Welche K<strong>in</strong><strong>der</strong> s<strong>in</strong>d aggressiv <strong>in</strong> <strong>der</strong> KiTa?<br />
Betrachtet man nur das <strong>Verhalten</strong> und nicht die Schwere <strong>der</strong> Folgen, ist <strong>der</strong><br />
Mensch <strong>in</strong> aller Regel <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en Phase <strong>der</strong>art körperlich aggressiv, wie<br />
<strong>in</strong> se<strong>in</strong>em dritten Lebensjahr (Possemeyer 2004, S. 152).<br />
Aggression kommt bei beiden Geschlechtern vor (Etzold 2001, S. 40). Allerd<strong>in</strong>gs<br />
gibt es Unterschiede h<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong> Art <strong>der</strong> e<strong>in</strong>gesetzten <strong>Verhalten</strong>smuster.<br />
Die Jungen s<strong>in</strong>d vom Vorschulalter an und auch über weitere Entwicklungsphasen<br />
h<strong>in</strong>weg deutlich aggressiver als Mädchen (Eggert-Schmid Noerr 1992, S. 56ff .).<br />
Dies gilt <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e für die Interaktion von Jungen untere<strong>in</strong>an<strong>der</strong>.<br />
In e<strong>in</strong>er Erzieher<strong>in</strong>nen-Befragung <strong>in</strong> 46 Dortmun<strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>tagesstätten wurden<br />
die <strong>Verhalten</strong>sauff älligkeiten von 1075 K<strong>in</strong><strong>der</strong>n e<strong>in</strong>geschätzt: 14,4% <strong>der</strong><br />
Jungen und 5,0% <strong>der</strong> Mädchen zeigten aggressives <strong>Verhalten</strong> (Agi, Hennemann,<br />
Hillenbrandt 2010, S. 44).<br />
Im Rahmen e<strong>in</strong>er Langzeitstudie h<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong> Entwicklungstendenzen von<br />
über 1000 K<strong>in</strong><strong>der</strong>n im Alter von fünf bis 14 Jahren <strong>in</strong> Montréal wurden vier<br />
Entwicklungsl<strong>in</strong>ien identifi ziert:<br />
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Brita Schirmer, <strong>Herausfor<strong>der</strong>ndes</strong> <strong>Verhalten</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> KiTa<br />
Was muss ich wissen? 17<br />
– 17% <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> waren niemals aggressiv,<br />
– 28% zeigten Aggressionen zunächst auf e<strong>in</strong>em hohen Niveau, im Laufe <strong>der</strong><br />
Zeit wurden diese jedoch immer ger<strong>in</strong>ger<br />
– 4% waren grundsätzlich hoch aggressiv,<br />
– <strong>der</strong> Rest, <strong>der</strong> die größte Gruppe ausmachte, hatte e<strong>in</strong> relativ ger<strong>in</strong>ges Aggressionsniveau,<br />
das sich ebenfalls noch weiter reduzierte (Kernberg, Hartmann<br />
2009, S. 487f.).<br />
Zu e<strong>in</strong>em ähnlichen Ergebnis kam auch e<strong>in</strong>e <strong>in</strong> Pittsburgh durchgeführte Studie<br />
(ebd., S. 488).<br />
Wie entstehen Aggressionen?<br />
Aggressionen s<strong>in</strong>d <strong>Verhalten</strong>sweisen, die kulturübergreifend, alters- und<br />
geschlechtsunabhängig vorkommen. Es gibt e<strong>in</strong>e angeborene Bereitschaft , sich<br />
aggressiv zu verhalten. Sie wird von <strong>in</strong>dividuellen Erfahrungen, wie von sozialen<br />
<strong>Verhalten</strong>sweisen gegenüber <strong>der</strong> Aggression geför<strong>der</strong>t, umgeformt, reduziert, <strong>in</strong><br />
legitime Kanäle und Aktivitäten geleitet o<strong>der</strong> kann unterdrückt werden (Eibl-<br />
Eibesfeldt 1999, S. 554).<br />
Aggressivität kann auch ganz an<strong>der</strong>s betrachtet werden: nämlich als e<strong>in</strong>e Kompetenz<br />
im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er (allerd<strong>in</strong>gs sozial nicht angemessenen) Strategie, bestimmte<br />
Problemsituationen zu meistern. Das K<strong>in</strong>d hat damit e<strong>in</strong>e Möglichkeit gefunden,<br />
mit e<strong>in</strong>er bestimmten Situation umzugehen. Die Aggression ist damit aus se<strong>in</strong>er<br />
Perspektive zwar durchaus s<strong>in</strong>nvoll, nur entstehen ihm und se<strong>in</strong>er Umwelt<br />
dadurch neue, an<strong>der</strong>e Schwierigkeiten.<br />
Aus diesem Grund ist es wichtig, <strong>Verhalten</strong>salternativen zu kennen, zu entwickeln<br />
und dem K<strong>in</strong>d zu vermitteln, um ihm dadurch neue Entwicklungsmöglichkeiten<br />
zu eröff nen. Um entscheiden zu können, was man tun kann, damit es<br />
bei e<strong>in</strong>em K<strong>in</strong>d nicht zu unangemessenem E<strong>in</strong>satz von Aggressionen kommt,<br />
muss man zunächst überlegen, warum und wie sie entstehen. Allgeme<strong>in</strong> kann<br />
aggressives <strong>Verhalten</strong> als Ergebnis e<strong>in</strong>es multifaktoriellen bzw. multikausalen<br />
Geschehens begriff en werden, <strong>in</strong> das:<br />
– biologische<br />
– psychologische<br />
– psychosoziale<br />
– soziologische und<br />
– situative Faktoren e<strong>in</strong>greifen.<br />
Aus diesem Grund beschäft igen sich auch verschiedene Wissenschaft en mit dem<br />
Problem <strong>der</strong> Aggression. Beg<strong>in</strong>nen wir mit den biologischen Faktoren.<br />
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Brita Schirmer, <strong>Herausfor<strong>der</strong>ndes</strong> <strong>Verhalten</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> KiTa<br />
18 Trotzkopf: K<strong>in</strong><strong>der</strong> mit aggressivem <strong>Verhalten</strong><br />
Die biologischen Faktoren<br />
Gerade um die Möglichkeiten pädagogischen Handelns e<strong>in</strong>schätzen zu können, ist<br />
es notwendig, biologische Grundlagen menschlichen <strong>Verhalten</strong>s zu kennen. Nur<br />
dann wissen wir, <strong>in</strong> welchem Maße wir e<strong>in</strong>greifen können und wo die Grenzen<br />
jeglicher pädagogischer Intervention gezogen s<strong>in</strong>d. E<strong>in</strong>e umfassende Darstellung<br />
<strong>der</strong> biologischen Faktoren würde aber den Umfang dieses Buches sprengen. So<br />
werden nur jene Aspekte dargestellt, die für das Arbeitsfeld von Erzieher<strong>in</strong>nen<br />
relevant s<strong>in</strong>d.<br />
Hormone: Es existiert e<strong>in</strong> Zusammenhang zwischen dem Auft reten von Aggressionen<br />
und <strong>der</strong> Konzentration bestimmter Hormone im Körper des jeweiligen<br />
Menschen. Beson<strong>der</strong>s wichtig ist <strong>in</strong> diesem Zusammenhang e<strong>in</strong>e Untersuchung<br />
von 800 KiTa-K<strong>in</strong><strong>der</strong>n <strong>in</strong> Nürnberg: Man maß den Zusammenhang zwischen<br />
aggressivem <strong>Verhalten</strong> und dem Spiegel des Stresshormons Cortisol und setzte<br />
ihn <strong>in</strong> Beziehung zu <strong>der</strong>en <strong>Verhalten</strong>. Dabei konnten zwei Gruppen von K<strong>in</strong><strong>der</strong>n<br />
identifi ziert werden, die durch ihr aggressives <strong>Verhalten</strong> auffi elen.<br />
Die erste Gruppe umfasste die reaktiv-aggressiven K<strong>in</strong><strong>der</strong>, die 5% <strong>der</strong> untersuchten<br />
Gruppe ausmachten, die an<strong>der</strong>e die <strong>in</strong>strumentell-aggressiven, umfassten<br />
3–4% (vgl. Possemeyer 2004, S. 155).<br />
Die reaktiv-aggressiven K<strong>in</strong><strong>der</strong> s<strong>in</strong>d zugleich ängstlich und impulsiv. Sie fühlen<br />
sich schnell von an<strong>der</strong>en angegriff en und reagieren darauf aggressiv. Man nennt<br />
ihr <strong>Verhalten</strong> deshalb auch heiße Aggression. Von allen untersuchten K<strong>in</strong><strong>der</strong>n<br />
hatten sie die höchsten Cortisolwerte. Dies ist e<strong>in</strong> Zeichen dafür, dass die Erregungsschwelle<br />
ihres autonomen Nervensystems niedrig ist und sie schon bei<br />
ger<strong>in</strong>gen Anlässen mit Stress reagieren (vgl. ebd.).<br />
Instrumentell-aggressive K<strong>in</strong><strong>der</strong> h<strong>in</strong>gegen s<strong>in</strong>d furcht- und mitleidslos und<br />
handeln aggressiv, um an<strong>der</strong>e zu dom<strong>in</strong>ieren und ihre Ziele zu erreichen. Man<br />
bezeichnet dies als kalte Aggression. Ihre Cortisolwerte s<strong>in</strong>d am niedrigsten von<br />
den untersuchten K<strong>in</strong><strong>der</strong>. Dies könnte sie veranlassen, verstärkt nach Stress<br />
auslösenden Situationen zu suchen, um sich dadurch aufzuputschen und e<strong>in</strong><br />
mittleres Niveau an Cortisolausschüttung zu erreichen (vgl. ebd.).<br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong> haben also genetisch bed<strong>in</strong>gte Anlagen für ihren Hormonhaushalts, die<br />
sie dazu veranlassen, unter bestimmten Bed<strong>in</strong>gungen mit Aggressionen gegenüber<br />
<strong>der</strong> sozialen und natürlichen Umwelt zu reagieren. Die e<strong>in</strong>en s<strong>in</strong>d schnell gestresst<br />
und verspüren Angst, die an<strong>der</strong>en suchen geradezu Stress auslösende Situationen.<br />
Die erste Gruppe von K<strong>in</strong><strong>der</strong>n benötigt also e<strong>in</strong>e ruhige und angstfreie Umgebung,<br />
die zweite mehr Aufregung und Aktion, damit sie nicht mit Aggressionen<br />
reagieren müssen (Amrhe<strong>in</strong> 2009, S. 76f.). So ist auch zu erklären, warum es<br />
nicht die optimalen Entwicklungsbed<strong>in</strong>gungen gibt, die für alle K<strong>in</strong><strong>der</strong> gleichermaßen<br />
wirksam s<strong>in</strong>d, denn je nach genetischer Disposition benötigen K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />
unterschiedliche Bed<strong>in</strong>gungen. Daher müssen die Aktivitäten <strong>der</strong> Gruppe,<br />
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Brita Schirmer, <strong>Herausfor<strong>der</strong>ndes</strong> <strong>Verhalten</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> KiTa<br />
Was muss ich wissen? 19<br />
die räumlichen Rahmenbed<strong>in</strong>gungen und vieles an<strong>der</strong>e mehr schon im Vorh<strong>in</strong>e<strong>in</strong><br />
so durchdacht se<strong>in</strong>, dass die Bedürfnisse <strong>der</strong> beiden genannten Stressgruppen<br />
unter den K<strong>in</strong><strong>der</strong>n angemessen <strong>in</strong> die Gestaltung des Gruppenlebens e<strong>in</strong>fl ießen.<br />
Ernährung: Die britische Organisation Natural Justice untersucht wenig beachtete<br />
Ursachen für Krim<strong>in</strong>alität und weist auf die Bedeutung <strong>der</strong> Ernährung für<br />
das <strong>Verhalten</strong> h<strong>in</strong>.<br />
In e<strong>in</strong>er Studie gaben Wissenschaft ler dieser Organisation e<strong>in</strong>er Gruppe von<br />
Jugendlichen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Strafanstalt täglich e<strong>in</strong>en Cocktail aus Vitam<strong>in</strong>en, Spurenelementen<br />
und Fettsäuren, e<strong>in</strong>er Kontrollgruppe h<strong>in</strong>gegen e<strong>in</strong> Sche<strong>in</strong>medikament.<br />
Die Versuchsgruppe war nach neun Monaten deutlich weniger wegen<br />
Tätlichkeiten aufgefallen und beg<strong>in</strong>g e<strong>in</strong> Drittel weniger schwere Verstöße gegen<br />
die Haft ordnung (Th orbrietz 2003, S. 128). E<strong>in</strong>e weitere Untersuchung konnte<br />
bestätigen, dass auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Schule e<strong>in</strong>e Ernährungsumstellung zu erstaunlichen<br />
Verän<strong>der</strong>ungen im <strong>Verhalten</strong> <strong>der</strong> Schüler führte (Spurlock 2006, S. 250ff .).<br />
Die Ernährung <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> KiTa ist also nicht nur von großer Bedeutung<br />
für ihr physisches, son<strong>der</strong>n auch für ihr psychisches Gedeihen. Was die K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />
essen, sollte gründlich überlegt se<strong>in</strong>. Im S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong> präventiven Maßnahmen, mit<br />
denen <strong>der</strong> Entwicklung e<strong>in</strong>es unangemessen Niveaus <strong>der</strong> Aggression vorgebeugt<br />
werden kann, können somit schon auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong> Gestaltung des Speiseplans,<br />
d. h. also auch auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong> Auswahl des Essensanbieters o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Organisation<br />
<strong>der</strong> KiTa-Küche s<strong>in</strong>nvolle Maßnahmen ergriff en werden.<br />
Wenn Sie konzeptionelle Überlegungen <strong>in</strong> Ihrer E<strong>in</strong>richtung anstellen, wie<br />
Sie mithilfe gesun<strong>der</strong> und ausgewogener Ernährung günstige Bed<strong>in</strong>gungen für<br />
die physische und zugleich für die soziale Entwicklung <strong>der</strong> Mädchen und Jungen<br />
schaff en können, br<strong>in</strong>gt dies sicher auch e<strong>in</strong>e hohe Motivation für Eltern, ihr<br />
K<strong>in</strong>d bei Ihnen betreuen zu lassen.<br />
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20 Trotzkopf: K<strong>in</strong><strong>der</strong> mit aggressivem <strong>Verhalten</strong><br />
Die K<strong>in</strong><strong>der</strong> ernähren sich im K<strong>in</strong><strong>der</strong>garten nicht<br />
gesund und ausgewogen:<br />
Ja, alles o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelne<br />
Mahlzeiten.<br />
– Besprechen Sie beim Elternabend<br />
gesunde KiTa-Mahlzeiten.<br />
– Gestalten Sie Wandzeitungen<br />
mit entsprechenden<br />
Informationen für die<br />
Eltern.<br />
– Beraten Sie e<strong>in</strong>zelne Eltern<br />
h<strong>in</strong>sichtlich des Essens ihrer<br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong>.<br />
– Vermitteln Sie Wissen über<br />
gesunde Ernährung an die<br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong>.<br />
– Klären Sie die Eltern über<br />
den Zusammenhang zwischen<br />
Ernährung und <strong>Verhalten</strong><br />
auf.<br />
– Machen Sie deutlich, dass<br />
Süßigkeiten – die alle K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />
lieben – ke<strong>in</strong> geeignetes<br />
Instrument s<strong>in</strong>d, an<strong>der</strong>weitig<br />
fehlende Aufmerksamkeit<br />
und Zuwendung im<br />
Umgang mit dem K<strong>in</strong>d zu<br />
kompensieren.<br />
Abb. 1: Checkliste Ernährung<br />
Brita Schirmer, <strong>Herausfor<strong>der</strong>ndes</strong> <strong>Verhalten</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> KiTa<br />
Br<strong>in</strong>gen die K<strong>in</strong><strong>der</strong> das Essen<br />
von zu Hause mit?<br />
Ne<strong>in</strong>, es wird im<br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong>garten gekocht.<br />
Führen Sie mit dem<br />
Koch e<strong>in</strong> Gespräch<br />
über Ihre Vorstellungen,<br />
was die K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />
essen sollen und<br />
erteilen Sie e<strong>in</strong>deutige<br />
Anweisungen.<br />
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Ne<strong>in</strong>, es gibt e<strong>in</strong>en Anbieter,<br />
von dem das Essen<br />
bezogen wird.<br />
Verhandeln Sie mit dem<br />
Essensanbieter über das<br />
Menü. Legen Sie fest, was<br />
Sie von ihm im Interesse <strong>der</strong><br />
K<strong>in</strong><strong>der</strong> und ihrer Arbeitssituation<br />
erwarten. Kann er das<br />
nicht leisten, wählen Sie e<strong>in</strong>en<br />
an<strong>der</strong>en Anbieter. Legen Sie<br />
vertraglich fest, dass es ke<strong>in</strong>e<br />
Abweichungen vom Menü<br />
geben darf. Seien Sie bereit,<br />
e<strong>in</strong>en etwas höheren Betrag<br />
für das bessere Essen zu kalkulieren<br />
und den Eltern dies<br />
zu vermitteln.
Brita Schirmer, <strong>Herausfor<strong>der</strong>ndes</strong> <strong>Verhalten</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> KiTa<br />
Was muss ich wissen? 21<br />
Pränatale Risikofaktoren: Auch pränatale Entwicklungsbed<strong>in</strong>gungen können<br />
Risikofaktoren darstellen. Als biologische Ursachen für aggressives <strong>Verhalten</strong><br />
nimmt man u. a. Schwangerschaft skomplikationen, niedriges Geburtsgewicht<br />
und neuropsychologische Defi zite aufgrund e<strong>in</strong>er Schädigung des zentralen<br />
Nervensystems an. Daneben gibt es Anzeichen dafür, dass das Rauchen während<br />
<strong>der</strong> Schwangerschaft die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit erhöht, dass das K<strong>in</strong>d sich später<br />
aggressiv verhält (Könneker 2004, S. 52).<br />
Psychosoziale Faktoren<br />
Die psychosoziale Perspektive richtet ihren Fokus u. a. auf das Lernen aggressiver<br />
und nichtaggressiver <strong>Verhalten</strong>smuster. Aggressionen s<strong>in</strong>d grundsätzlich durch<br />
Erziehung bee<strong>in</strong>fl ussbar. Der <strong>Verhalten</strong>sforscher Irenäus Eibl-Eibesfeldt verweist<br />
darauf, dass es Kulturen gibt, <strong>in</strong> denen aggressive Tugenden durch Erziehung<br />
geför<strong>der</strong>t und zugleich gegen Gruppenfremde ausgerichtet werden (Eibl-Eibesfeldt<br />
2000, S. 21). Unterschiedliche Kulturen haben verschiedene Konzepte von<br />
legitimer Aggression hervorgebracht (Schubert 2003, S. 133ff .).<br />
Zum Teil werden Aggressionen <strong>in</strong> hochstilisierten Ritualen kanalisiert. E<strong>in</strong><br />
Beispiel aus <strong>der</strong> europäischen Kultur wäre <strong>der</strong> Stil des griechisch-römischen<br />
R<strong>in</strong>gens. Aus <strong>der</strong> japanischen Kultur wäre das Ritual <strong>der</strong> Sumo-Kämpfer, aus<br />
<strong>der</strong> polynesischen <strong>der</strong> ritualisierte Kampfgesang des Haka vor jedem Ereignis<br />
e<strong>in</strong>er Mannschaft ssportart, wie dem Rugby, o<strong>der</strong> aus Schimpfwettkämpfen bei<br />
den Inuit <strong>in</strong> Grönland zu nennen.<br />
Wenn also ritualisierte Formen des Auslebens von Aggressionen Bestandteil<br />
<strong>der</strong> menschlichen Kultur s<strong>in</strong>d, dann wäre zu fragen, ob nicht auch schon <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
KiTa Formen des <strong>in</strong>szenierten und ritualisierten Auslebens von Aggressionen<br />
gefunden werden sollten. Dabei handelt es sich nicht um Tobereien und ähnliche<br />
Beschäft igungen zum Abbau motorischer Anspannungen und überschüssiger<br />
Energien. Es sollten vielmehr Wege gefunden werden, <strong>in</strong> denen Aggressionen <strong>in</strong><br />
sozialer Interaktion sozial verträglich ausgelebt, kanalisiert, kontrolliert, reduziert<br />
und schließlich von den K<strong>in</strong><strong>der</strong>n auch refl ektiert werden können. Wenn schließlich<br />
e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d mit hohem Aggressionspotenzial den an<strong>der</strong>en darüber berichten<br />
kann, wann und aus welchem Grund es wütend wird, dient dies <strong>der</strong> <strong>in</strong>dividuellen<br />
Entwicklung ebenso wie <strong>der</strong> <strong>der</strong> ganzen Gruppe. Darüber h<strong>in</strong>aus können K<strong>in</strong><strong>der</strong>,<br />
die zu ihrem eigenen Nachteil e<strong>in</strong> zu niedriges Aggressionspotenzial aufweisen,<br />
<strong>in</strong> Form des ritualisierten Erlebens und <strong>in</strong>szenierten Ausdrückens von Aggressionen<br />
e<strong>in</strong>en Nachteilsausgleich erwerben.<br />
Man geht heute davon aus, dass alle K<strong>in</strong><strong>der</strong> bestimmte Fähigkeiten beson<strong>der</strong>s<br />
schnell lernen. Man spricht daher auch von privilegiertem Lernen (Stern 2005,<br />
S. 271). Voraussetzung für die Entfaltung <strong>der</strong> Möglichkeiten des privilegierten<br />
Lernens ist allerd<strong>in</strong>gs, dass die körperlichen und emotionalen Grundbedürfnisse<br />
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Brita Schirmer, <strong>Herausfor<strong>der</strong>ndes</strong> <strong>Verhalten</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> KiTa<br />
22 Trotzkopf: K<strong>in</strong><strong>der</strong> mit aggressivem <strong>Verhalten</strong><br />
e<strong>in</strong>es K<strong>in</strong>des befriedigt s<strong>in</strong>d. Zu diesen durch Anlagen vorbereiteten Fähigkeiten<br />
gehört das Potenzial <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong> Grundformen <strong>der</strong> sozialen Interaktion,<br />
wie die Empathie und die Aggression.<br />
E<strong>in</strong>e Unterscheidung zwischen privilegiertem und nicht privilegiertem Lernen<br />
lässt sich auch auf neurologischer Ebene, also im Gehirn, nachweisen (ebd.). K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />
br<strong>in</strong>gen von Geburt an damit beson<strong>der</strong>s günstige Voraussetzungen mit, um<br />
soziales <strong>Verhalten</strong>, e<strong>in</strong>schließlich aggressiven und dazu alternativen <strong>Verhalten</strong>s, zu<br />
erlernen. Dieser Prozess ist genetisch vorbereitet und kann durch entsprechende<br />
pädagogische Maßnahmen <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Entfaltung optimal geför<strong>der</strong>t werden.<br />
Lernen am Erfolg: Alle wichtige Bezugspersonen spielen für das Erlernen von<br />
aggressivem und nicht-aggressivem <strong>Verhalten</strong> e<strong>in</strong>e beson<strong>der</strong>e Rolle. Der Th eorie<br />
sozialer Interaktion zufolge besteht die letztlich fatale Möglichkeit, dass Eltern<br />
das aggressive <strong>Verhalten</strong> ihres K<strong>in</strong>des gleichsam tra<strong>in</strong>ieren, <strong>in</strong>dem sie es durch<br />
Zuwendung noch verstärken. Demnach belohnen o<strong>der</strong> verstärken sie das <strong>Verhalten</strong>,<br />
<strong>in</strong>dem sie dem K<strong>in</strong>d Aufmerksamkeit zuwenden, wenn es sich aggressiv<br />
verhält, beispielsweise <strong>in</strong>dem sie es von unangenehmen Anfor<strong>der</strong>ungen entlasten<br />
o<strong>der</strong> sie dieses unerwünschte <strong>Verhalten</strong> dulden (Cordes 2000, S. 86 o<strong>der</strong> Brezovsky<br />
1985, S. 28f.). Das K<strong>in</strong>d lernt auf diese Weise, dass Aufmerksamkeit <strong>der</strong><br />
Eltern o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Bezugspersonen erlangt werden kann, wenn es sich unangemessen<br />
verhält. Genauso kann es lernen, sich gegenüber Anfor<strong>der</strong>ungen zu verweigern,<br />
wenn es mit se<strong>in</strong>em <strong>Verhalten</strong> erfolgreich ist:<br />
»Diese negative Verstärkung erfolgt beispielsweise dann, wenn e<strong>in</strong> Elternteil e<strong>in</strong>e For<strong>der</strong>ung<br />
an das K<strong>in</strong>d stellt, das K<strong>in</strong>d sich weigert, diese For<strong>der</strong>ung zu erfüllen, o<strong>der</strong> sie<br />
e<strong>in</strong>fach ignoriert, und das Elternteil sich nicht durchsetzt. Möglicherweise beg<strong>in</strong>nt das<br />
Elternteil zunächst zu schimpfen. Wenn das K<strong>in</strong>d auf se<strong>in</strong>er Weigerung besteht, kann<br />
die Situation bis h<strong>in</strong> zu lauten Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzungen o<strong>der</strong> körperlichen Aggressionen<br />
gegen das K<strong>in</strong>d eskalieren.<br />
Schließlich zieht sich das Elternteil zurück. Dadurch werden <strong>der</strong> Ungehorsam des<br />
K<strong>in</strong>des und se<strong>in</strong>e Aggressivität negativ verstärkt, das Elternteil stellt ke<strong>in</strong>e For<strong>der</strong>ungen<br />
mehr. Der Rückzug des Elternteils aus <strong>der</strong> Situation wird ebenfalls negativ verstärkt,<br />
da das K<strong>in</strong>d se<strong>in</strong> aggressives <strong>Verhalten</strong> e<strong>in</strong>stellt. So wird das <strong>Verhalten</strong> <strong>der</strong> Eltern wie<br />
auch das <strong>Verhalten</strong> <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> verstärkt: Das K<strong>in</strong>d wird <strong>in</strong> Zukunft mit größerer Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit<br />
auf For<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Eltern Ungehorsam zeigen und aggressiv reagieren,<br />
wenn es zur Erfüllung e<strong>in</strong>er For<strong>der</strong>ung gedrängt wird. Die Eltern werden mit ger<strong>in</strong>gerer<br />
Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit das K<strong>in</strong>d dazu zw<strong>in</strong>gen, ihre For<strong>der</strong>ungen zu erfüllen.<br />
Da das K<strong>in</strong>d <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung erfolgreich ausweichen konnte, wird es sich wahrsche<strong>in</strong>lich<br />
beim nächsten Mal erneut wie<strong>der</strong>setzen. Je mehr e<strong>in</strong> Elternteil fortfährt, unangenehme<br />
For<strong>der</strong>ungen zu stellen, desto <strong>in</strong>tensiver wird die Weigerung des K<strong>in</strong>des. So lernt das<br />
K<strong>in</strong>d, dass es mit negativen <strong>Verhalten</strong>sweisen Erfolg hat.« (Essau, Conradt 2004, S. 126f.)<br />
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Brita Schirmer, <strong>Herausfor<strong>der</strong>ndes</strong> <strong>Verhalten</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> KiTa<br />
Was muss ich wissen? 23<br />
Die Tatsache des falschen Lernens darf nicht zu Verurteilungen <strong>der</strong> Eltern führen,<br />
denn die Eltern wollen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel tatsächlich nur das Beste für ihre K<strong>in</strong><strong>der</strong>. Sie<br />
erkennen nicht, dass sie durch unangemessene Nachsichtigkeit und Inkonsequenz<br />
bzw. durch Aufmerksamkeit und Zuwendung <strong>in</strong> <strong>der</strong> falschen Situation genau das<br />
unerwünschte <strong>Verhalten</strong> sogar noch belohnen und stabilisieren.<br />
Diese E<strong>in</strong>sichten s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> diesem Kontext nun primär wichtige Anregungen für<br />
das <strong>Verhalten</strong> <strong>der</strong> Erzieher<strong>in</strong>nen. Derartige Fußfallen des pädagogischen Alltags<br />
liegen ja nicht nur im Elternhaus aus, son<strong>der</strong>n sie werden auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> KiTa gestellt.<br />
Wichtig ist deshalb, die schwierigen Situationen gründlich zu analysieren, um<br />
<strong>der</strong>artige Fehler zu vermeiden. Sie münden nämlich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Aggressionsspirale.<br />
Lernen am Modell: Lernen am Vorbild spielt beim Erwerb aller <strong>Verhalten</strong>smuster,<br />
und somit auch von Aggressionen, e<strong>in</strong>e große Rolle. Diese Form des Lernens<br />
heißt Modell- o<strong>der</strong> Imitationslernen.<br />
Es gibt die Möglichkeit, dass K<strong>in</strong><strong>der</strong> aggressives <strong>Verhalten</strong> durch Beobachtung<br />
und Imitation an<strong>der</strong>er Personen erlernen (Bullerjahn 1996, S. 40). Im Rahmen<br />
e<strong>in</strong>er Untersuchung wurden K<strong>in</strong><strong>der</strong>n aggressive und friedliche Modelle vorgeführt<br />
und anschließend ihr Spielverhalten beobachtet. Die K<strong>in</strong><strong>der</strong> ahmten<br />
gleichermaßen das aggressive wie das friedliche <strong>Verhalten</strong> nach (Eibl-Eibesfeldt<br />
1999, S. 549). An<strong>der</strong>s sieht es allerd<strong>in</strong>gs aus, wenn man die K<strong>in</strong><strong>der</strong> nach <strong>der</strong><br />
Beobachtung von aggressivem <strong>Verhalten</strong> e<strong>in</strong>er Frustration aussetzt, <strong>in</strong>dem man<br />
ihr Spiel für kurze Zeit unterbricht. Haben sie dann Gelegenheit z. B. zum Spiel<br />
mit e<strong>in</strong>er Puppe, verhalten sich die K<strong>in</strong><strong>der</strong>, die das aggressive <strong>Verhalten</strong> modellhaft<br />
bei e<strong>in</strong>em Erwachsenen beobachtet hatten, dem Spielzeug gegenüber aggressiv.<br />
Haben die K<strong>in</strong><strong>der</strong> e<strong>in</strong> nicht-aggressives Modell o<strong>der</strong> gar ke<strong>in</strong>es gehabt, ist ihr<br />
<strong>Verhalten</strong> auch nach <strong>der</strong> Frustration nicht aggressiv (Essau, Conradt 2004, S. 105).<br />
Haben die K<strong>in</strong><strong>der</strong> erst e<strong>in</strong>mal gelernt, <strong>in</strong> bestimmten Situationen aggressiv<br />
zu reagieren, übertragen sie diese Reaktion bald auch auf an<strong>der</strong>e Kontexte, die<br />
den ursprünglichen ähnlich s<strong>in</strong>d (ebd., S. 104). Durch Aneignung aggressiver<br />
<strong>Verhalten</strong>smodelle wird die Entwicklung moralischer Normen bee<strong>in</strong>fl usst und<br />
es werden den K<strong>in</strong><strong>der</strong>n unangemessene Problemlösungsstrategien vermittelt.<br />
Aggressive K<strong>in</strong><strong>der</strong> verfügen erwiesenermaßen über weniger positive, fl exible,<br />
ausdiff erenzierte o<strong>der</strong> effi ziente Problemlösungsstrategien (Petermann, Natzke,<br />
Petermann, Brokhaus 2005, S. 211).<br />
E<strong>in</strong>ige K<strong>in</strong><strong>der</strong> beg<strong>in</strong>nen im Alter von fünf bis sechs Jahren, eigene moralische<br />
Motivationen aufzubauen. Bei an<strong>der</strong>en erfolgt dies erst später und für e<strong>in</strong>ige<br />
wird das Nachdenken über die Begründung des eigenen <strong>Verhalten</strong>s niemals<br />
beson<strong>der</strong>s wichtig.<br />
Unter e<strong>in</strong>er moralischen Motivation versteht man die Bereitschaft , unter normalen<br />
Bed<strong>in</strong>gungen nicht unmoralisch zu handeln, also vor allem an<strong>der</strong>e nicht zu<br />
schädigen. Dabei dürfen die Dimension <strong>der</strong> kognitiven moralischen Urteilsfähig-<br />
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Brita Schirmer, <strong>Herausfor<strong>der</strong>ndes</strong> <strong>Verhalten</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> KiTa<br />
24 Trotzkopf: K<strong>in</strong><strong>der</strong> mit aggressivem <strong>Verhalten</strong><br />
keit und die Dimension <strong>der</strong> moralischen Motivation nicht mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> vermischt<br />
werden. E<strong>in</strong> komplexeres Verständnis <strong>der</strong> Situationen führt nicht zwangsläufi g<br />
dazu, dass e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d se<strong>in</strong> Handeln an moralischen Normen orientiert. Entscheidend<br />
ist, dass e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d das, was es für richtig hält, auch dann tut, wenn es den<br />
eigenen aktuellen Bedürfnissen zuwi<strong>der</strong> läuft . Ohne moralische Motivation bleibt<br />
das moralische Wissen folgenlos, umgekehrt ist das Urteilsvermögen Voraussetzung<br />
dafür, dass auch tatsächlich moralisch gehandelt wird (o. V. 2003, S. 52f.).<br />
Allerd<strong>in</strong>gs wurde im Rahmen e<strong>in</strong>er Untersuchung am Max-Planck-Institut für<br />
psychologische Forschung <strong>in</strong> München deutlich, dass es Diskrepanzen zwischen<br />
dem moralischen Wissen, das man z. B. über Modelle erwirbt, und moralischer<br />
Motivation gibt.<br />
Es s<strong>in</strong>d also zwei D<strong>in</strong>ge zu berücksichtigen: K<strong>in</strong><strong>der</strong>n müssen moralische Normen<br />
vermittelt werden (»Man schlägt nicht, wenn jemand am Boden liegt.«)<br />
und man muss zugleich die Motivation des K<strong>in</strong>des stärken, diese Normen auch<br />
<strong>in</strong> Konfl iktfällen zu berücksichtigen (vgl. das Kapitel über K<strong>in</strong><strong>der</strong> mit AD(H)S,<br />
Abschnitt Impulskontrolle verbessern).<br />
Selbstwertgefühl: Auch das Selbstwertgefühl steht im Zusammenhang mit<br />
dem Grad <strong>der</strong> Bereitschaft zu Aggressionen. K<strong>in</strong><strong>der</strong> mit e<strong>in</strong>em großen und stabilen<br />
Selbstwertgefühl zeigen die ger<strong>in</strong>gste Aggressionsbereitschaft , die höchste<br />
dagegen jene mit e<strong>in</strong>er hohen, aber <strong>in</strong>stabilen Me<strong>in</strong>ung von sich. Menschen mit<br />
ger<strong>in</strong>gem Selbstwertgefühl liegen dazwischen (Baumeister 2003, S. 70ff .).<br />
Beson<strong>der</strong>s auff ällig s<strong>in</strong>d K<strong>in</strong><strong>der</strong> mit e<strong>in</strong>em übersteigerten, nicht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Realität<br />
begründeten Selbstbild, die kritisiert o<strong>der</strong> beleidigt werden. Sie zeigen e<strong>in</strong><br />
beson<strong>der</strong>s hohes Aggressionspotenzial (ebd.).<br />
Mangelnde Anerkennung im gesellschaft lichen, familiären und freundschaft lichen<br />
Umfeld kann zu e<strong>in</strong>em mangelnden Selbstwertgefühl führen. E<strong>in</strong>ige K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />
mit aggressivem <strong>Verhalten</strong> haben e<strong>in</strong>en Weg gefunden, um Anerkennung zu<br />
bekommen. Sie erhoff en sich durch ihr <strong>Verhalten</strong> die Bestätigung von Gleichaltrigen<br />
(Petermann, Natzke, Petermann, Brokhaus 2005, S. 211).<br />
E<strong>in</strong>ige <strong>der</strong> weniger selbstbewussten K<strong>in</strong><strong>der</strong> neigen eher dazu, an<strong>der</strong>en negative<br />
Absichten h<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong> eigenen Person zuzusprechen. Sie vermuten bei an<strong>der</strong>en<br />
ausgesprochen häufi g fe<strong>in</strong>dliche Ziele, dies gilt <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e auch <strong>in</strong> nicht<br />
e<strong>in</strong>deutigen Situationen (Essau, Conradt 2004, S. 106). Vorhandene Wut erhöht<br />
noch e<strong>in</strong>mal die Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit zu glauben, dass ihnen <strong>der</strong> Schaden <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />
mehrdeutigen Situation absichtlich zugefügt wurde (ebd., S. 109).<br />
Auch ihr eigenes <strong>Verhalten</strong> nehmen diese K<strong>in</strong><strong>der</strong> häufi g falsch wahr. Sie haben<br />
die Tendenz, die positiven Konsequenzen ihres <strong>Verhalten</strong>s zu überschätzen<br />
(ebd., S. 129).<br />
Diese K<strong>in</strong><strong>der</strong> brauchen e<strong>in</strong>en Dolmetscher, <strong>der</strong> ihnen das <strong>Verhalten</strong> <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en<br />
und die Folgen ihres eigenen Handelns erläutert. E<strong>in</strong>e wirkungsvolle Hilfe<br />
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Brita Schirmer, <strong>Herausfor<strong>der</strong>ndes</strong> <strong>Verhalten</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> KiTa<br />
Was muss ich wissen? 25<br />
könnten hier z. B. die im Kapitel über K<strong>in</strong><strong>der</strong> mit Asperger-Syndrom erläuterten<br />
Comic-Strips se<strong>in</strong>.<br />
Die Anerkennung <strong>der</strong> Leistungen <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> ist also e<strong>in</strong> wichtiger Aspekt<br />
im Umgang mit ihnen. Nicht selten vergisst man gerade bei den Mädchen und<br />
Jungen, die im KiTa-Alltag so viel Kraft kosten, ihre positiven Eigenschaft en und<br />
ihr regelkonformes <strong>Verhalten</strong> zu loben.<br />
Erziehungsverhalten: E<strong>in</strong> ungünstiges Erziehungsverhalten kann das Auft reten<br />
von Aggressionen unterstützen. Dazu gehören zu viele o<strong>der</strong> zu wenige soziale<br />
Regeln bzw. das pädagogisch falsche <strong>Verhalten</strong>, nicht konsequent auf <strong>der</strong>en E<strong>in</strong>haltung<br />
zu achten sowie zu hart, ohne unmittelbar erkennbaren Zusammenhang<br />
mit dem Fehlverhalten o<strong>der</strong> völlig <strong>in</strong>konsequent zu strafen (Könneker 2004, S. 52).<br />
E<strong>in</strong>ige K<strong>in</strong><strong>der</strong> zeigen Aggressionen, weil es ihnen hilft , ihre B<strong>in</strong>dung zu den<br />
Eltern, die sich – vielleicht aus Überlastung – daran gewöhnt haben, nicht o<strong>der</strong><br />
nicht ausreichend auf die K<strong>in</strong><strong>der</strong> zu reagieren, aufrechtzuerhalten (Essau, Conradt<br />
2004, S. 125).<br />
Auch Misshandlungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Familie können ihre Spuren h<strong>in</strong>terlassen. 25–40%<br />
<strong>der</strong> misshandelten K<strong>in</strong><strong>der</strong> geben die Gewalt weiter (Possemeyer 2004, S. 158). Es<br />
ist wichtig, bei dem Verdacht <strong>der</strong> K<strong>in</strong>desmisshandlung das zuständige Jugendamt<br />
zu unterrichten, um das K<strong>in</strong>d zu schützen.<br />
Sich selbst erfüllende Prophezeiungen:<br />
Die Erzieher<strong>in</strong> hatte früher schon Noahs älteren Bru<strong>der</strong> Konrad <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gruppe. Konrad<br />
ist e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d, das sie sehr viel Kraft gekostet hat. Immer wie<strong>der</strong> me<strong>in</strong>t sie nun, die gleichen<br />
schwierigen <strong>Verhalten</strong>sweisen aufb litzen zu sehen. »Du bist wie de<strong>in</strong> Bru<strong>der</strong>«, kommentiert<br />
sie das. Irgendwann hört Noah auf, sich anzustrengen. Es hat ke<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n. Die<br />
Erzieher<strong>in</strong> <strong>in</strong>terpretiert se<strong>in</strong> <strong>Verhalten</strong> immer nur auf <strong>der</strong> Grundlage ihrer Erfahrungen<br />
mit se<strong>in</strong>em großen Bru<strong>der</strong>.<br />
Sich wie<strong>der</strong>holende, negative Bewertungen e<strong>in</strong>es <strong>Verhalten</strong>s – im Abschnitt Was<br />
s<strong>in</strong>d Aggressionen? wurde <strong>der</strong> Bewertungsaspekt bereits angesprochen – können<br />
im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er sich selbst erfüllenden Prophezeiung wirken. Die Erzieher<strong>in</strong>, die<br />
e<strong>in</strong> <strong>Verhalten</strong> beurteilt, sieht dabei nicht von ihren bisher gemachten Erfahrungen<br />
ab, beobachtet nicht den konkreten E<strong>in</strong>zelfall und überträgt – <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e<br />
bei familiären Zusammenhängen zwischen verschiedenen K<strong>in</strong><strong>der</strong>n – ihr Urteil<br />
h<strong>in</strong>sichtlich des <strong>Verhalten</strong>s des e<strong>in</strong>en K<strong>in</strong>des auf ihre Beurteilung des an<strong>der</strong>en<br />
K<strong>in</strong>des. Bei ansche<strong>in</strong>enden <strong>Verhalten</strong>sähnlichkeiten verschiedener K<strong>in</strong><strong>der</strong> werden<br />
solche Mechanismen <strong>der</strong> Übertragung aktiviert und können den K<strong>in</strong><strong>der</strong>n<br />
aufgrund falscher E<strong>in</strong>schätzung durch die Erzieher<strong>in</strong> langfristig schaden.<br />
Videospiele und Fernsehen: K<strong>in</strong><strong>der</strong> können beim Fernsehen mit aggressivem<br />
<strong>Verhalten</strong> und mit problematischen Modellen für Konfl iktlösungen konfrontiert<br />
werden. Im Jahre 1992 g<strong>in</strong>g man davon aus, dass im bundesdeutschen Fernsehen<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> Woche ungefähr 500 Mordszenen gezeigt wurden (Deegener 2002, S. 40).<br />
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