29.11.2012 Aufrufe

Zur Darstellung künstlerischer Existenz in Thomas Manns frühen ...

Zur Darstellung künstlerischer Existenz in Thomas Manns frühen ...

Zur Darstellung künstlerischer Existenz in Thomas Manns frühen ...

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

„Das wären nun dreißig Jahre. Nun kommen vielleicht noch zehn, oder auch<br />

noch zwanzig, Gott weiß es. Sie werden still und geräuschlos daherkommen und<br />

vorüberziehen wie die verflossenen, und ich erwarte sie mit Seelenfrieden.“ 76<br />

Mit dieser Hoffnung auf das Jenseits und die harmonische Wiedervere<strong>in</strong>igung mit<br />

dem „Ure<strong>in</strong>en“ kann Friedemann sich noch bis zu se<strong>in</strong>em dreißigsten Lebensjahr<br />

am Leben halten – auf Kosten se<strong>in</strong>er Kunst. Friedemanns Absage an se<strong>in</strong> mensch-<br />

lich-warmes Gefühl, das die ruhige Sphäre se<strong>in</strong>er Enthaltsamkeit zerstören kann,<br />

kann als Absage ans Irdische und Physische überhaupt verstanden werden. Davon<br />

ausgehend ist die strikte E<strong>in</strong>haltung se<strong>in</strong>er umgrenzten ästhetischen Sphäre mit der<br />

Ablehnung e<strong>in</strong>er menschlichen ‚Heimat’ gleichzusetzen, welche die Voraussetzung<br />

für die Fortsetzung des Menschengeschlechts wäre. Die tödliche Gefahr se<strong>in</strong>er Ab-<br />

sage erfährt Friedemann eigentlich erst nach dem Theatererlebnis im neunten und<br />

schließlich durch die Heimsuchung im Garten im letzten Kapitel.<br />

Charakteristischerweise wird die Titelfigur im Grunde „androgyn“ dargestellt. Ihr<br />

Gegenstück bilden die Charakterzüge Gerdas, der Held<strong>in</strong> dieser Erzählung. Den<br />

Haltungen des androgynen Ästheten stehen diejenigen der Held<strong>in</strong> gegenüber. Sie<br />

trägt mehr oder weniger männliche Züge, er h<strong>in</strong>gegen „mann-weibliche“ (siehe<br />

oben). In e<strong>in</strong>er an traditionellen Geschlechterrollen festhaltenden Gesellschaft kann<br />

sich <strong>in</strong>folgedessen niemand <strong>in</strong> Gerda verlieben, ausgenommen der kle<strong>in</strong>e Johannes<br />

Friedemann. In auktorialer Perspektive wird <strong>in</strong> die Thematik des ästhetischen<br />

‚Zwitterzustandes’ unauffällig e<strong>in</strong>geführt:<br />

Die Herren waren verblüfft und hatten vorderhand noch ke<strong>in</strong> Urteil; die Damen<br />

aber waren geradeheraus nicht e<strong>in</strong>verstanden mit dem Se<strong>in</strong> und Wesen Gerdas<br />

von R<strong>in</strong>nl<strong>in</strong>gen.<br />

Frau Hagenström erläutert das noch etwas detaillierter:<br />

„Sehen Sie, sie ist durchaus nicht häßlich, man könnte sie sogar hübsch f<strong>in</strong>den:<br />

und dennoch entbehrt sie jedes weiblichen Reizes, und ihrem Blick, ihrem La-<br />

chen, ihren Bewegungen fehlt alles, was Männer lieben.“ 77<br />

76 Ebd., S. 94.<br />

77 Ebd., S. 95.<br />

36

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!